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Geschichtliche Grundhegriffe

Historisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache
in Deutschland

Das Lexikon ,,Geschichtliche


Grundbegriffe" ist das Ergebnis
langfristiger Forschung, an dem Ver-
treter vieler Fachrichtungen mit-
gearbeitet haben.
In 20 bis 60 Seiten langen Artikeln
werden die Leitbegriffe der politi-
schen und der sozialen Welt
historisch-kritisch untersucht und
vör allem daraufhin befragt, wie sie
im Gefolge der Französischen und
der Industriellen Revolution ihre
modernen Sinngehalte gewonnen
haben, die unser heutiges Bewußt-
sein prägen.
Das Gesamtwerk umfaßt fünf Bände
und konzentriert sich auf ca.
120 Termini. Es berücksichtigt die
soziale Reichweite des Sprach-
gebrauchs, seine schichtenspezifische
Verwendung, die sozial bindende
und präge~de Kraft der Begriffe,
ihre politische und polemische Ver-
wendung und schließlich die Ab-
sicht der Sprachsteuerung und deren
Erfolge.
Bei der ~alyse solcher Phänomene
wird die Begriffsgeschichte zur
Sozialgeschichte selber. Dadurch
unterscheidet sich dieses Lexikon
sowohl von philosophischen wie von
rein philologischen Unternehmen
ähnlicher Art.
Inhalt des zweiten Bandes

Ehre, Reputation
Eigentum
Einheit
Emanzipation
Entfremdung
Entwicklung, Evolution
Fabrik, Fabrikant
Familie
Fanatismus
Faschismus
Feudalismus
Fortschritt, Progreß
Freiheit
Friede
Geschichte, Geschichtlichkeit,
Geschichtsphilosophie, Historie
Historismus
Gesellschaft, bürgerliche
Gesellschaft, Gemeinschaft
Gesetz
Gewaltenteilung
Gleichgewicht, Balance
Gleichheit
Grundrechte,_Menschen- und·
Bürgerrechte, Volksrechte
Geschichtliche Grundbegriffe
Historisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland
Band 1 A-D
GESCHICHTLICIIE
GRUNDBEGRIFFE

Historisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland

Heraui;gegeben von
Ouo Brunner Werner Conzc Rcinhort Koselleck

Band 1
A-D

Ernst Klett Verlag Stuttgart


HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAG DES ARBEITSKREISES FÜR MODERNE
SoziALGESCBICRTE E. V.

Alle Rechte vorbehalten


Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages
©Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1972. Printed in Germany
Unveränderter Nachdruck 1974 .
Einbandentwurf E. Dambacher, Korb
Druck: Manfred Dörler, Schanbach, Uhlandstraße 15
ISBN 3-12-903850-7
Vorwort

Nach langen Jahren der Vorbereitung wird hiermit der erste Band des Lexikons
„Geschichtliche Grundbegriffe" vorgelegt. Die Herausgeber denken daran zurück,
daß ihr Plan stufenweise entwickelt, verändert und präzisiert wurde, bis er die end-
gültige Gestalt gewann, in der das Werk nunmehr zu erscheinen begonnen hat.
Auf dieser Wegstrecke haben wir vielfältig Rat und Hilfe erfahren. Unser größter
Dank gilt den Autoren, die sich oft vielen Mühen unterzogen und die sich an der Ge-
samtplanung beteiligt haben.
Wir danken dem aus Bundesmitteln geförderten Arbeitskreis für moderne Sozial-
geschichte. Er hat das Lexikon teilweise :finanziert und vor allem durch Beratungen
und Arbeitstagungen wichtige Hilfen geleistet. Ebenso gilt unser Dank der Deut-
schen Forschungsgemeinschaft. Durch ihre :finanzielle Unterstützung wurde die Re-
daktion in den letzten Jahren so ausgestattet, daß der große Arbeitsaufwand
einigermaßen bewältigt werden konnte und ein schnelles Erscheinen der folgenden
Bände erwartet werden darf.·
Wir danken den Teilnehmern der vorbereitenden Tagungen, unter ihnen besonders
den Professoren Kurt Baldinger und Werner Betz, die uns in der Anlaufphase be-
rieten und Abgrenzungshilfe leisteten. Ein besonderer Dank gebührt Herrn Dr. Horst
Stuke, dem unermüdlich hilfreichen Geschäftsführer des Arbeitskreises, den Mit-
arbeitern der Heidelberger Redaktion Herrn Dr. Karl Martin Graß, Frau Helga
Reinhart, Frau Christa Schönrich, Herrn Reinhard Stumpf und auch Frau
Dr. Dorothee Mußgnug, die lange in der Heidelberger Redaktion tätig war.
Ebenso danken wir allen Studenten, die in Seminaren und durch Belegsuche oder
mit Anregungen zum Gelingen beigetragen haben. Ferner sind alle Mitarbeiter am
Lexikon zahlreichen Instituten, besonders der philologischen und philosophischen
Nachbarbereiche und deren Mitgliedern für mannigfache Hilfe .dankbar, ganz be-
sonders der Heidelberger Universitätsbibliothek, ohne deren Entgegenkommen das
Lexikon, das auf Tausenden, oft schwer erreichbaren Quellen beruht, nicht hätte
zustande kommen können.
Schließlich, aber nicht zuletzt wissen wir uns dem Ernst Klett Verlag .dankbar ver-
pflichtet. Verleger und Mitarbeiter, Frau Kurtz, Herr Dr. Dieckmann und Herr
Jaehnke haben keine Mühe geschent, um den ersten Band, dem im Jahresabstand
vier weitere folgen, dem Publikum zuzuführen. So bleibt nur der Wunsch offen, daß
der Leser einigen Gewinn davontragen möge. Für jede Kritik und Anregung, vor
allem für die folgenden Bände, wissen sich die Herausgeber dem künftigen Leser
dankbar verbunden.

Hamburg und Heidelberg ÜTTo BRUNNER WERNER CoNzE


im April 1972 REINHART KosELLECK

V
IIlnweise zur Benutzung

1. Zum Schriftbild
Nachgewiesene Quellenzitate stehen in K ursivdruck, Zitate aus der Sekundärliteratur
in NormaUruck mit Anführungszeichen. Begriffe sind durch 'Häkchen' gekenn-
zeichnet, ebenso Wörter, die als solche hervorgehoben werden sollen. Die Bedeutung
von Wörtern und Begriffen steht in Anführungszeichen.
2. Zur Zitierweiae
Um das Nachschlagen von Zitaten auch dann zu ermöglichen, wenn die kritische
Ausgabe nicht zur Hand ist, wird bei „Klassikern" (zum Begriffs. S. XXIV unter
3.1) und Lehrbuchverfassern von der inneren Zitierweise (nach Teil, Buch, Para-
graph bzw. Band, Kapitel, Abschnitt) reichlich Gebrauch gemacht. In vielen Fällen
tritt sie auch zu der äußeren Zitierweise (nach Band und Seite mit Erscheinungsort
und -jahr) hinzu.
Ist ein Werk streng systematisch gegliedert, kann die innere Zitierweise abyekürzt
werden, z. B.
F'BA:NOIS BA001'1, The Advancement of Learning l, 7, 3 = Buch 1, Kap. 7, § 3:
Entsprechend können abgekürzte (a) und altsführliche (b) innere Zitierweise in
einer einzigen Belegformel. miteinander gekoppelt werden, z. B.
(a) Huoo GROTIUs, De iure belli ac pacis .2, 4, 2, hg. v. B.J.A. de Kanter-van Hettinga
Tromp (Leiden 1939), 172.
SAMUEL Pul'ENDORF, De jure naturae et gentium 2, 5, 9 (1688; Ndr. Oxford, London
1934), 191.
(b) KANT, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre,§ 49, Allg. Anm. D [=innere Zitierweise].
AA Bd. 6 (1907), 329 [ = äußere Zitierweise].
Bei der äu{Jeren Zitierweise stehen Erscheinungsort und -jahr in Klammern; auf die
Klammer folgt, durch ein Komma abgetrennt, die Seitenzahl ohne nähere Kenn-
zeichnung. Mehrere Seitenzahlen werden durch Punkte voneinander getrennt.
Antike Autoren werden auf die in der Altphilologie übliche Weise zitiert, z.B.
PLATON, Pol. 445 d; 587 d.
Zeitschriftentitel werden lesbar abgekürzt. Die dabei verwendeten Abkürzungen
finden sich im allgemeinen Abkürzungsverzeichn~s (S. IX ff.).
Die im Verzeichnis t1er benutzten Quellenreihen, Sammelwerke und Werkausgaben
(S. 925 ff.) und in der Bib~iographie t1er Lexika, Wörterbücher und Nachschlagewerke
(S. 930 ff.) aufgeführten Titel werden unter den dort genannten Siglen abgekürzt
zitiert, d. h. ohne .Herausgeber und Erscheinungsort. Die Siglen der Lexikon-
bibliographie bestehen meist in den Zunamen der Verfasser bzw. Herausgeber.
Bei den Erscheinungsorten bedeutet „Frankfurt" ohne Zusatz immer Frankfurt/
Main, „Freiburg" ohne Zusatz immer Freiburg/Breisgau.
3. Sonstiges
Zur Motlernisierung deutscher Quellenzitate ab 1700 s. S. XXV unter 3. 4.
Die manchen Artikeln am Ende beigegebene Li,reraturangabe beschränkt sich auf
begriffsgeschichtliche Literatur im engeren Sinne. Der letzte Band wird einen
Namens- und einen Begri8Bindex enthalten, der alle behandelten Quellenautoren
und Begriffe nachweist.

VI
Inhalt

Mitarbeiterverzeichnis VIII
Abkürzungsverzeichnis IX
Einleitung XIII
Adel, Aristokratie 1
Anarchie, Anarchismus, Anarchist 49
Angestellter 110
Antisemitismus 129
Arbeit 154
Arbeiter 216
Aufklllruug 2~

Ausoabme:nutand (neceBSitas publioa, Belagerungszustand, Kriegszustand,


Staatsnotstand, Staatsnotrecht) 343
Autarkie 377
Autorität 382
Bauer, Bauernstand, Bauerntum 407
Bedürfnis 440
Beruf 490
Bildung 508

Brüderlichkeit, Bruderschaft, Brüderschaft, Verbrüderung, Bruderliebe 552


Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat 583
Bürger, Staatsbürger, Bürgertum 672
Cäsarismus, Napoleonismus, Bonapartismus, Führer, Chef,. Imperialismus 726
Christentum 772
Exkurs: christlich-sozial 815
Demokratie 821
DiktatUr 900
Verze.ir.hniR der benutzten Quellenreihen, Sammelwerke und Werko.usgo.ben 925
Bibliographie der Lexika, Wörterbücher und Nachschlagewerke 930

VII
Verzeichnis der Mitarbeiter

Redaktor des ersten Bandes: BEINHART KosELLECK


in Verbindung mit CHRISTIAN MEIER
Redaktion: KARL MARTIN GRASS (1965-1968), REINHARD STUMPF (1968-1972)

IIANSBOLDT Ausnahmezustand
WERNER CONZE Adel 1. 11.2-111
Arbeit
Arbeit.er
Bauer
Beruf
Demokratie VI-VII
DIETERÜROH Cäsarismus
lI'M'A KrM-WAWRZINEK Bedürfnis 1-IV
.TüRG"EN Kociu Angestellter
BEINHART KosELLECK Einleitung
Bund
Demokratie IV.1
ANNETTE KuHN Exkurs: christlich-sozial
PETER CHRISTIAN LUDZ Anarchie 1. 11.2-VI
llANs MAIER Demokratie III. IV.2-4. V
CHRISTIAN MEIER Adel 11.1
Anarchie 11.1
Demokratie 1
JOHANN BAPTIST MÜLLER Bedürfnis V-VI
THOMAS NIPPERDEY Antisemitismus
ERNSTNOLTE Diktatur
HANNAHRABE Autarkie
HoRSTRABE Autorität .
HANS LEO REIMANN Demokratie II
TRUTZ RENDTORFF Ohristentum
MANFRED RIEDEL Bürger
REINHARD RüRUP Antisemitismus
WOLFGANG SCHIEDER Brüderlichkeit
HoRsTSTuKE Aufklärung
RUDOLF VIERHAUS Bildung

VIII
Abkürzungsverzeichnis

Hier nicht angeführte Abkürzungen s. Verzeichnis der Quellenreihen und Sammel-


werke (S. 925).
AA Akademie-Ausgabe CIC Corpus iuris canonici
abgedr. abgedruckt (bei) Conv. Lex. Conversationslexikon
Abg. Abgeordneter dass., ders., dasselbe, derselbe, die-
Abg.-Hs. Abgeordnetenhaus dies. selbe
Abh. Anhandlung, -en d.Gr. der Große
Abschn. Abschnitt d. i. das ist
Abt. Abteilung Diot. Dictionnaire, Dictionary
Ac. fran9. Academie fran9oise Dig. Digesten
(-9aise) Diss. Dissertation
ahd. althochdeutsch dt. deutsch
Akad. Akademie
allg. allgemein, -e ebd. ebenda
ALR Allgemeines Lo.nd-Reoht ed., ed. oditio, edition, edition;
für die Preußischen editor, editeur
Staaten eingel. v., eingeleitet von,
Anh. Anhang Einl. Einleitung
Anm. Anmerkung Enc., Enz. Encyclopädie, Enzyklo-
Arch. Archiv pädie, ·Encyclopaedia,
Art., art. Artikel, articulus, article Encyclopedie etc.
Aufl. Auflage engl. englisch
Aufs. Aufsätze Erg. Bd., Ergänzungsband, -heft
Ausg. Ausgabe Erg.H.
ausg. ausgewählt erw. erweitert
Ausg. Abh. Ausgewählte Abhand- etym. etymologisch
lungen europ. europäisch
Ausg. Sohr. Ausgewählte Schriften ev. evangelisch
Ausg. Werke Ausgewählte Werke
f., ff. folgende
bayr. bayerisch f. für
Bd., Bde. Band, Bände Forsch. . Forschung, -en
bearb. bearbeitet Forts. Fortsetzung
Beih. Beiheft, -e Fragm. Fragment, -e
Beitr. Beiträge franz. französisch
bes. besonders Frh. Freiherr
betr. betreffend · Fschr. Festschrift
Bibl. Bibliothek
Bl., Bll. Blatt, Blätter GBL Gesetzblatt
Br. u. Sohr. Briefe und Schriften gedr. gedruckt
gen. genannt [bei Namen]
c. capitulum, chapitre, gen. general, -e
chapter germ. germanisch
ca. circa germanist. germanistisch

IX
AWdlnangnenelehab

Ges. Gesellschaft Nachgel. Nachgelassene Schriften,


ges. gesammelt Sehr„ -Werke, -Papiere
Ges. Abh. Gesammelte Abhand- -Werke,
lungen -Papiere
Ges. Aufs. Gesammelte Aufsätze Ndr. Nachdruck, Neudruck
Gesch. Geschichte neolog. neologisch
Ges. Sehr. Gesammelte Schriften NF Neue Folge
griech. griechisch nhd. neuhochdeutsch
Grundr. Grundriß niederl. niederländisch
GSlg. Gesetz(es)sammlung nord. nordisch
GW Gesammelte Werke Nr. Nummer

H. Heft, -e
o. J. ohne Jahr
Habil.-Schr. Habilitationsschrift
o.O. ohne Ort
Hb. Handbuch
o. s. ohne Seite
hg. v. herausgegeben von
ökon. ökonomisch
hist. historisch, historique,
österr. österreichisch
historical
Hwb. Handwörterbuch
p. page, pagina
i.A. im Auftrag päd. pädagogisch
idg. indogermanisch philol. Philologie, Philology,
Inst. Institut philologisch, philo-
ital. italienisch logique, philologioal
philos„ phil. philosophisch, philoso-
Jb„ Jbb. Jahrbuch, Jahrbücher phicus, philosophique
Jber. Jahresbericht, -e Philos. Philosophie
Jg. Jahrgang polit. politisch, politique, poli-
jur. juristisch tical
poln. polnisch
Kap. Kapitel preuß. preußisch
kath. katholisch Progr. Programm
kgl. königlich prot. protestantisch
Kl. Klasse '[bei Akademie- ps. pseudo- [bei Namen]
abhandlungen]
Kl. Sehr. Kleine Schriften
qu. quaestio
Konv. Lex. Konversationslexikon

lat.
\
lateinisch R. Reihe
Lex. Lexikon Realenc„ RE Realencyclopädie
Lfg. Lieferung rev. revidiert
Lit. Literatur Rev. Revue, Review
luth. lutherisch Rez. Rezension
RGBl. (1.) Reichsgesetzblatt,
mhd. mittelhochdeutsch -blätter
Mitt. Mitteilungen rhein. rheinisch
Mschr. Maschinenschrift(lich) russ. russisch

X
Altkürzangnerzeicbnis

s., s.o., s. u., siehe, -oben, -unten, -dort Obers., übers. Obersetzung, übersetzt
s. d. u.d. T. unter dem Titel
s. Seite ung. ungarisch
sächs. sächsisch ·Unters. Untersuchungen
sämtl. sämtliche unv. unverändert
Sb. Sitzungsbericht, -e
SC. ergänze
Sehr. Schrift, -en
v., vv. Vers, -e
Sehr. u. Schriften und Fragmente Verh: Verhandlungen
Fragm. Veröff. Veröffentlichung, -en
schweiz. schweizerisch
Vers., -vers. · Versammlung
sect., Sekt. Section, Sektion
Vjbll. Vierteljahresblätter
Ser., ser. Serie, serie Vierteljahresheft, -e
Vjh.
SozÖk. Sozialökonomik Vierteljahr(es)schrift
Vjschr.
SozWiss. Sozialwissenschaften vol., vols. volume, volumes
Sp. Spalte
span. spanisch
Sten.Ber. Stenographische(r) WA Weimarer Ausgabe
Bericht(e) Wb. Wörterbuch
Suppl. (Bd.) Supplement, westf. westfälisch
Supplementband wiss., Wiss. wissenschaftlich, Wissen-
S. V. sub verbo schaft, -en
sw Sämtliche Werke wohlm. wohlmeinend
synon. synonymisch

t. tome, tomus
theol., theol. theologisch, theologique z. Zeile
Tit. Titel zit. zitiert (bei)
Tl. Teil Zs. Zeitschrift

XI
Ernst: Wovon ick einen BegriU
habe, das kann ich auch
mit Worten ausdrücken.
Falle Nicht immer; und oft
wenigstens nicht so, daß andre
durch die Worte vollkommen
eben denselben Begriff bekom-
men, den ick dabei habe.
LESSING

Einleitung

Die soziale und politische Sprache kennt eine Menge von Leitbegriffen, Schlüssel- oder
Schlagwörtern. Manche tauchen plötzlich auf und verblassen schnell, viele Grund-
begriffe haben sich dagegen seit ihrer Bildung in der Antike durchgehalten und
gliedern noch heute - wenn auch in veränderter Bedeutung - unser politisch-
soziales Vokabular. Neue Begriffe sind hinzugetreten, alte haben sich gewandelt
oder sind abgestorben. Immer hat sich die Mannigfaltigkeit geschichtlicher Er-
fahrung vergangener oder gegenwärtiger Zeiten in Begriffen der verschiedenen
Sprachen und in ihren Übersetzungen niedergeschlagen. In Anbetracht dieses all-
gemeinen Befundes hat das vorliegende Lexikon eine bewußte Auswahl getroffen.

1 Der Zweck des Lexikons


Das Lexikon konzentriert sich auf die Untersuchung und Darstellung von rund
130 geschichtlichen Grundbegriffen.

1.1 Unter geschichtlichen Grundbegriffen sind nicht die Fachausdrücke der


historischen Wissenschaften zu verstehen, die in eigenen Handbüchern und Me-
thodenlehren dargelegt werden. Vielmehr handelt es sich hier um Leitbegriffe der
geschichtlichen Bewegung, die, in der Folge der Zeiten, den Gegenstand der histori-
schen Forschung ausmacht. Dabei ist die Historie als Wissenschaft - zwangsweise
- auf den Wortgebrauch verwiesen, der in dem jeweiligen Sachbereich ihrer Frage-
stellung vorherrscht. Keine historische Forschung kann umhin, die sprachliche
Aussage und Selbstauslegung vergangener oder gegenwärtiger Zeiten als Durch-
gangsphase ihrer Untersuchung zu thematisieren. In gewisser Weise ist die gesamte
Quellensprache der jeweils behandelten Zeiträume eine einzige Metapher für die
Geschichte, um deren Erkenntnis es geht.
Das Lexikon beschränkt sich deshalb auf solche Ausdrücke, von deren Tragweite

XIII
Einleitung

und durch deren Anwendung Strukturen und große Ereigniszusammenhänge er-


schlossen werden können. Zu diesem Zweck sammelt es ·
zentrale Verfassungsbegriffe;
Schlüsselworte der politischen, der wirtschaftlichen und der gesellschaft-
lichen Organisation;
Selbstbenennungen entsprechender Wissenschaften;
Leitbegriffe politischer Bewegungen und deren Schlagworte;
Bezeichnungen dominierender Berufsgruppen und sozialer Schichtung;
theoretisch anspruchsvolle K,ernbegriffe, auch der Ideologien, die den
Handlungsraum und die Arbeitswelt gliedern und auslegen.
Es handelt sich also um Bausteine für ein Forschungsgebiet, das die soziale und po-
litische Sprache, speziell ihre Terminologie, zugleich als Faktoren und als Indikatoren
geschichtlicher Bewegung betrachtet. Daß die Auswahl von einer gewissen Willkür
geleitet wurde, liegt schon in der Natur der'Sprache, in der Vielschichtigk11it. 1mil
Mannigfaltigkeit ihrer Ausdrucksmöglichkeiten beschlossen. Auch deshalb wurde
innerhalb dieses grob umrissenen Rahmens die Fragestellung eingeengt und präzisiert..

1.2 Die leitende Fragestellung ist, die Auflösung der alten und die Entstehung der
modernen Welt in der Geschichte ihrer 'begrifflichen Erfassung zu untersuchen.
Dieses Gesamtthema hat ..ll:inschränkungen zur Folge, die, wie wir hoffen dürfen,
der methodischen Klarheit und der inhaltlichen Ergiebigkeit zugute kommen.
Das Lexikon behandelt vorzüglich und forschungsintensiv den Zeitraum von rund
1700 bis an die Schwelle unserer Gegenwart. Der Schwerpunkt der :Untersuchungen
liegt auf der „neuzeitlichen" Begrifflichkeit, die mehr umfaßt als nur „moderne"
Bedeutungen. Gerade die Überlappungen und Verschiebungen „moderner" und
„alter" Wortbedeutungen werden erfragt. Deshalb wird in die Antike, auf das
Mittelalter, auf Renaissance, Reformation und Humanismus zurückgegriffen, soweit
die Wortgeschichte der Begriffe aus diesen Zeitaltern herrührt. Ferner werden nur
Begriffe des deutschen Sprachraums, wenn auch im Anschluß an die europäische
Tradition, untersucht. Schließlich werden nur solche Begriffe analysiert, die den
sozialen Umwandlungsprozeß im Gefolge der politischen und der industriellen Re-
volution erfassen bzw., von diesem Vorgang betroffen, umgewandelt, ausgestoßen
oder provoziert werden.
Das Lexikon ist also insofern gegenwartsbezogen, als es die sprachliche Erfassung
der modernen Welt, ihre Bewußtwerdung und Bewußtmachung durch Begriffe, die
auch die unseren sind, zum Thema hat. Nicht aber war beabsichtigt, das gesamte
politische und soziale Vokabular unserer aktuellen Gegenwart in seiner Herkunft
aufzuzeigen. Ebensowenig war beabsichtigt, eine linguistisch abgestützte politische
Semantik zu liefern, wenn auch das Lexikon für diese - weithin noch brachliegende
- Fragestellung nützliche Vorarbeit liefert. Vielmehr werden Leitbegriffe aus der
vorrevolutionären Zeit über die revolutionären Ereignisse und Wandlungen hinweg
in unseren Sprachraum hinein verfolgt (etwa 'Bürgerliche Gesellschaft', 'Staat', die
aristotelischen Verfassungsbegriffe), werden Neologismen dargestellt, die diesem Ge-
schehen entsprechen (z. B. 'Cäsarismus', 'Kommunismus', 'Antisemitismus',
'Faschismus'), und es werden Bedeutungsgeschichten von solchen Wörtern unter-
sucht, die erst zu modernen Begriffen aufrücken (wie 'Klasse', 'Bedürfnis', 'Fort-
schritt' oder 'Geschichte').

XIV
1.3 Der heUristische Vorgrift' der Lexikonarbeit besteht in der Vermutung, daß
sich seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein tiefgreifender Bedeutungs-
wandel klassischer topoi vollzogen, daß 8.l.te Worte neue Sinngeha.lte gewonnen
haben, die mit Annäherung an unsere Gegenwart keiner Übersetzung mehr be-
dürftig sind. Der heuristische Vorgriff führt sozusagen eine „Sattelzeit" ein, in der
sich die Herkunft zu unserer Präsenz wandelt. Entsprechende Begriffe tragen ein
Janusgesicht: rückwärtsgewandt meinen sie soziale und politische Sachverhalte,
die uns ohne kritischen Kommentar nicht mehr verständlich sind, vorwärts und uns
zugewandt haben sie Bedeutungen gewonnen, die zwar erläutert werden können,
die aber auch unmittelbar verständlich zu sein scheinen. Begrifflichkeit und Begreif·
barkeit fallen seitdem für uns zusammen.
Dieser Vorgriff hat sich, von bezeichnenden Ausnahmen abgesehen, bewährt. Die
untersuchten politisch-sozialen Begriffe indizieren - auf ihre Geschichte hin be-
fragt - einen langfristigen und tiefgreifenden, manchmal plötzlich vorangetriebe-
nen Erfahrungswandel. ·Alte Begriffe haben siehiri ihrem Bedeutungsgehalt den sich
verändernden Bedingungen der modernen Welt angepaßt. Ohne daß sieh die Worte
geändert hätten, haben ?.. R. 'Demokratie', 'Revolution', 'Republik' oder 'Ge-
schichte' einen deutlich festzustellenden Übersetzungsvorgang vollzogen. Manchmal
entstanden fast völlige Neuprägungen, wie 'Klasse' oder 'Sozialismus'.,.-- alte Aus-
drücke, die erst unter ökonomischen Planungen und geänderten wirtschaftlichen
Bedingungen zu zentralen Begriffen aufrückten. Hier wird der Übergang zu Neo-
logismen fließend, so wie es umgekehrt tradierte Worte gibt, die einen schleichenden
politischen und gesellschaftlichen Bedeutungsschwund erleiden, wie 'Stand' oder
'Adel'.
Der heuristische Vorgriff führt also zu einer Schwerpunktbildung, die von der ge-
schichtlichen Fragestellung nach Dauer oder Überdauern der Herkunft und nach
Wandel oder Umbruch durch die revolutionäre Bewegung bestimmt ist. Alle Be-
griffsgeschichten zusammen bezeugen neue Sachverhalte, ein sich änderndes Ver-
hältnis zu Natur und Geschichte, zur Welt und zur Zeit, kurz: den Beginn der
„Neuzeit".
· Es ist eine vorerst noch nicht eindeutig beantwortbare Frage, ob der skizzierte Be-
deutungswandel im Bereich der politisch-sozialen Terminologie, der analog natür-
lich für alle Epochenschwellen registrierbar ist, seit rund 1750 beschleunigt statt-
gefunden hat. Dafür sprechen viele Indizien. Dann wäre die „Neuzeit" aufgrund ihres
beschleunigten Erfahrungswandels auch als eine „neue Zeit" erfahren worden.
Plötzlich aufbrechende, schließlich anhaltende Veränderungen machen den Er-
fahrungshorizont beweglich, auf den die ganze Terminologie, besonders ihre rele-
vanten Begriffe, reaktiv oder provokativ bezogen werden. Zunächst ist es auffallend
und ein vom Lexikon bestätigtes Ergebnis bisheriger Forschung (STAMMLER), daß
seit etwa 1770 eine Fülle neuer Worte und Wortbedeutungen auftauchen, Zeugnisse
neuer Welterfassung, die die gesamte Sprache induzieren. Alte Ausdrücke werden
mit Gehalten angereichert,. die nicht nur zum Vorfeld deutscher Klassik und des
Idealismus gehören, sondern die in gleicher Weise die Terminologie für Staat und
Gesellschaft - wie diese Bezeichnungen selber - neu profilieren.
Es seien deshalb einige Kriterien genannt, kraft derer sich qer langfristige Vorgang
seitdem gliedern läßt, ohne daß sie schon in alle einzelnen Artikel des Lexikons
hätten eingehen können, zumal sie auch deren Ergebnis sind.

XV
Einleitung

l.31 Im Zuge der sich auflösenden ständischen Welt dehnt sich der Anwendungs-
bereich vieler Begriffe aus, es· handelt sich im Sinne eines aktuellen Schlagwortes
um eine Art Demokratisierung. Zwar hatte schon, nachdem die Buchdruckerkunst
erfunden war; der religiöse, soziale und politische Flugschriftenstreit seit der Re-
formation alle Stände erfaßt. Aber erst in der „Aufklärung" beginnt sich - nach
ihrer vorübergehenden Einengung auf das Französische - die politische Sprache
auszudehnen. Ehedem standesspezifische Ausdrucksfelder werden ausgeweitet. Blieb
bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die politische Terminologie auf die
Spitzen der Aristokratie, auf Juristen und Gelehrte beschränkt, so erweitert sich der
Kreis der Beteiligten seitdem sprunghaft auf die· Gebildeten. Dem entiRprir.ht dil'I
emporschnellende Zahl der Zeitschriften und der Wandel von der intensiven Wieder•
holungslektüre der immer gleichen Bücher zur extensiven Lesegewohnheit, die das
stets neu Anfallende verzehrt (Engelsing). Schließlich, etwa seit dem Vormärz,
dehnt sich der Resonanzboden der Öffentlichkeit, wächst die Zahl der unteren
Schichten, die bewußt in den politischen Sprachraum eintreten. Empfängerkreise,
Schreiber~ und Rednerkreise werden größer, ohne freilich nach Umfang und Schich-
tung zur Deckung zu kommen. Zahlreiche Begriffe dringen, oft als Schlagworte,
durch die Risse der gesellschaftlichen Schichtung in andere· Kreise über. Dabei
mochten sie ihren Sinn ändern: '.l'reßfreiheit' war den Konservativen 'Preßf:rech-
heit', während sie 1848 bei illiteraten Bauern noch als Befreiung von Druck und
Lasten verstanden werden konnte. Aber weniger diese Umdeutungen sind wirksam
geworden; gerade mit identischen Gehalten verlagerte sich der soziale Stellenwert
eines Begriffs.
Andererseits fransen mit der Aushöhlung der ständischen Hierarchie auch· die
darauf zielenden Bedeutungen aus, sie sind nicht mehr griffig. 'Ehre' oder 'Würde'
können ständisch nicht mehr eindeutig zugeordnet werden, sie werden privatisiert
oder ausgedehnt auf die 'Nation', das 'Volk'. 'Stand' selber zerfällt in wirtschaft-
. liehe, gesellschaftliche oder berufliche Elemente, · die zuvor alle gemeinsam in
der entsprechenden politischen Standesbezeichnung auf einen Begriff gebracht
worden waren. Neue Allgemeinbegriffe, auch im Kleid alter Worte, drängen
hoch: wie der ehemals ständisch-ehrwürdige Bürgerbegriff zu einem potentiellen
Oberbegriff aufrückt, der alle anderen Standesbezeichnungen ausschließt oder
verschluckt.

l.32 Ein zweites Kriterium der auf ihren Begriff gebrachten neuen Erfahrungen ist
die Verzeitlichung der kategorialen Bedeutungsgehalte. "Oberkommene topoi werden
gefühlsmäßig aufgeladen, sie gewinnen Erwartungsmomente, die ihnen früher nicht
innewohnten. Die auf Wiederholbarkeit und endliche Vollzähligkeit hin angelegte
Triade der aristotelischen Herrschaftsformen wird unterlaufen und überholt. 'Re-
publik', ehemals ein Sammelbegriff für alle Verfassungen, wird zum Parteibegriff,
erhebt aber als solcher den Anspruch, die einzig legitime Verfassung zU sein. Aus
dem systematischen Oberbegriff wird ein geschichtlicher Zielbegriff, ein Erwartungs-
begriff, dem sich der 'Republikanismus' als Bewegungs- und Integrationsbegriff zu-
ordnet. 'Demokratie' rückt bald an die Stelle der Republik, wenn auch im deutschen
Sprachraum mit schwankender Durchschlagskraft, aber mit dem gleichen Anspruch,
einzig legitime Verfassung zu sein. Das hat wiederum ZUr Folge, daß nicht mehr
'Aristokratie' oder 'Monarchie' als Herrschaftsformen die theoretischen Gegen-

XVI
Eiuleituns

begriffe sind, sondern daß sich 'Demokratie' durch bewegliche Qualifikationen aus-
weisen muß, je nachdem wie sie mit.dem Liberalismus, dem Cäsarismus oder dem
Sozialismus usw. verbunden wird.
Zahlreiche -ismus-Bildungen tauchen auf, Promotoren und Indikatoren eines auf
verschiedenen Schichten verschieden schnell vorangetriebenen Prozesses, ohne daß
die -ismen diesen Prozeß je zur Gänze erfassen könnten. Geschichtsphilosophische
Fluchtlinien imprägnieren das ganze Vokabular. So löst sich z. B. 'Emanzipation'
von seinem natürlichen, generationsbedingten Rhythmus, dehnt seine zunächst
personenbezogene, juristische Bedeutung der Mündigwerdung auf die Ablösung
ständischer Vorrechte aus, um schließlich ein allgemeiner, verschieden besetzbarer
Zukunftsbegriff zu werden, der nicht nur ständische Herrschaft persönlicher Art,
sondern „Herrschaft überhaupt" zu beseitigen verspricht. 'Herrschaft' selber ge-
winnt, soweit ihr persönlicher Vollzug von Verwaltungsinstitutionen übernommen
wird, eine schillernde metaphorische Bedeutung, die sich weiterhin aus der alten
Antithese von „Herr und Knecht" speist.
Andererseits werden Worte definiert, wie zuerst 'constitution' von VATTEL, die den
Veränderungskoeffizienten kommenden Wandels in rlen Verfassungsbegriff selber
aufnehmen. 'Demokratie' ist für FRIEDRICH SCHLEGEL gerade wegen ihrer Unerfüll-
barkeit· Legitimationstitel aller künftigen Verfassung. Oder: 'Bedürfnissteigerung'
wird seit rund 1780 zum temporalen Bestandteil bisher statisch begriffener 'Be-
dürfnisse'.
Schließlich tauchen Ausdrücke auf, die die geschichtliche Zeit selber artikulieren.
Die reflexiv verstandene 'Entwicklung', der unendliche 'Fortschritt', die 'Geschichte
schlechthin',' die zugleich ihr eigenes Subjekt und Objekt sei, die 'Revolution', die
aus dem Kreislauf ihres vormaligen Sinnes ausschert und zum allgemeinen Be-
wegungsbegriff mit gleitender Zielskala aufrückt - all diese neuen Begriffe zeich-
nen sich durch Zeitbestimmungen aus, die prozessuale Sinngehalte und Erfahrungen
bündeln:

1.33 Ein weiteres Kriterium, das den Raum der beginnenden Neuzeit gliedert, ist
die auftauchende Ideologisierbarkeit vieler Ausdrücke. Der Verlust anschaulich hin-
genommener Zuordnungen von sozialen Gegebenheiten und deren Benennungen
charakterisiert eine neuzeitliche Erfahrung. Deshalb steigt der Abstraktionsgrad
vieler Begriffe, die keinen Wechsel der Ereignisse oder Wandel der Sozialstrukturen
mehr einzuholen vermögen - oder eben nur auf dem Wege zunehmender Ab~
straktion. Seitdem häufen ·sich die Kollektivsingulare: aus den konkreten 'Ge-
schichten' wird die 'Geschichte an sich', aus den sachbezogenen einzelnen Fort-
schritten wird der 'Fortschritt selber', aus den Freiheiten ständischer Vorrechte
wird die allen gemeinsame 'Freiheit', die seitdem durch immer neue Epitheta be-
stimmt werden muß ('sozial', 'ökonomisch', in einem alten und auch neuen Sinn
'christlich', 'politisch' usw.)., um konkreten Sinn zu gewinnen.
Solche Wortbildungen der Kollektivsingulare eignen sich in der ihnen eigentüm-
lichen Allgemeinheit und Mehrdeutigkeit zu Leer- urid Blindformeln, die nach
Klassen- und Interessenlage der Sprecher verschieden und gegenläufig verwendbar
sind. Seitdem lassen sich zahlreiche Begriffe, je nach der Hintergrundsperspektive
der Beteiligten, ökonomisch, theologisch, politisch, geschichtsphilosophisch oder
sonstwie ideologisieren. Diese begriffsgesohiohtlich erfaßbaren Vorgänge bezeugen

XVII
Einleitung

einen strukturellen Wandel: die zunehmende Entfernung aus· überschaubaren


Lebenskreisen von relativer Dauer, während die gesteigerten Abstraktionsgrade der
Begriffe - wenn auch auf Kosten ihrer Ideologisierbarkeit - neue Horizonte
möglicher Erfahrung setzen. Das Optimum einer Verfassung wird etwa an den
Etappen der Französischen Revolution gemessen, die nur noch historisch eingeholt
werden können. Historisierung und Ideologisierung ergänzen einander und ver-
wandeln zahlreiche Begriffe in Modellformeln, deren Evidenz parteigebunden
bleibt.

1.34 Die Standortbezogenheit jeglichen Wortgebrauchs, an sich Ain alter histori-


scher Befund, vervielfältigt sich entsprechend der Pluralisierung der gesellschaft-
lichen Welt. Damit wächst die Chance, aber auch der Zwang zur Politisierung.
Immor mehr Personen werden anget1prochen, beteiligt, mobilisiert. Es mag fraglich
sein, ob das propagandistische V cikabular der Schimpf- und Fangwörter zugenom-
men hat, aber seine Reichweite und Wirkung haben sich sicher vergrößert. Pole-
mische Gegenbegriffe steigern ihren Stellenwert. Das Wortpaar des 'Aristokraten'
und des 'Demokraten', WortRohöpfungen des späten 18. Jahrhunderts, waren noch
ständisch beziehbar und einzugrenzen. Der 'RP.volutionii.r' und der 'Reaktionär'
sind frei verfügbare, fungible Selbst- und Feindbezeichnungen, die sich stets re-
1woil uzieren lu1tn, oder die, mehr nooh, unter einem Zwang .zur Reproduktion
stehen. Der langfristig drängende industrielle und soziale Umwandlungsprozeß hat
auf der politischen Ebene Neologismen und sprachsteuernde Taktiken· hervor-
gerufen, wozu auch die Produktion von Schlagworten gehört. Aber nicht nur
Schlagworte, auch Begriffe mit theoretischem Anspruch werden in praktischer Ab~
sieht geprägt oder verwendet. Ob der Adressat eines bürokratischen Schriftwechsels
als adliger 'Stand' oder als 'Eigentümer' und Mitglied einer besitzenden Klasse an-
gesprochen wurde, worauf etwa die preußischen Reformer großen Wert legten, das
war politisch und ökonomisch von gleich großer Folge.
Diplomatische, bürokratische und propagandistische Wendungen färbten sich gegen-
seitig ein. All das mag mutatis mutandis für alle Zeitalter gelten. Neu dagegen ist
die Rückkoppelung geschichtsphilosophischer Zukunftsentwürfe und ihrer Begriffe
in die politische Planung und deren Sprachsteuerung. Das Verhältnis des Begriffs
zum Begriffenen kehrt sich um, es verschiebt sich zugunsten sprachlicher Vorgriffe,
die zukunftsprägend wirken sollen. So entstehen Begriffe, die über das empirisch
Einlösbare weit hinausweisen, ohne ihre politische oder soziale Tragweite einzu-
büßen. Im Gegenteil. Inwieweit dabei eine 'Säkularisation' theologischer Bedeu-
tungsstreifen vorliegt, wird in einschlägigen Artikeln mit erfragt.

1.35 Alle genannten Kriterien, die Demokratisierung, die Verzeitlichung, die


Ideologisierbarkeit und die Politisierung bleiben unter sich aufeinander verwiesen.
Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit behalten sie heuristischen Charakter, um
den Gebrauch neuzeitlicher Terminologie gegen deren vorrevolutionären Zusam-
menhänge abgrenzbar zu machen. Aus dem heuristischen Vorgriff folgt nun keines-
wP.gR, daß ihn die Geschichte jedes Begriffs bestätigen müßte. Vielmehr gibt es zahl-
reiche Konstanten, die sich über die Schwelle von etwa 1770 hinweg durchhalten.
Um die Ausdrücke in ihrer Andersartigkeit - oder Gleichartigkeit - während der
Zeit vor rund 1770 zu erkennen, bedarf es deshalb des Rückgriffs in die Vorver-

XVIII
Einleitung

gangenheit, die wieder ihre eigene Geschichte hat. Diese mag von Wort zu Wort
verschieden sein und wird deshalb in zeitlich unterschiedlicher Tiefe zurückverfolgt.
Die Entstehung der Neuzeit in ihrer begrifflichen Erfassung iRt nur nar.hzuvoll-
ziehen, wenn auch und gerade die früheren Sinngehalte der untersuchten Worte
oder wenn die Herausforderung zu Neubildungen mit in den Blick gerückt werden.
Diesen Gesamtvorgang zu erfassen, dient die historische Analyse geschichtlicher
Grundbegriffe, die das Lexikon vorlegt. Historisch-positivistische Bestandsauf-
nahme und gegenwärtige Aktualität sind nicht Selbstzweck des Lexikons, gleich-
wohl gehen beide in die Untersuchungen ein.

1.4 Das Ergebnis ist demnach dreifach zu bestimmen:


1.41 Erliltens dient das Lexikon dP.r Tnfnrmnl.inn. DiA philologischen Wörterbücher,
etwa der Grimm oder Trübner, verlassen uns bekanntlich oft, wenn es darum geht,
den politischen oder sozialen .Bedeutungsraum zu erfassen. In den Wortfeldern der
hier behandelten Zentralbegriffe finden sich viele neue Belege, oft auch Erstnach-
weise oder Übersetzungsvorgänge aus dem Lateinischen, Französischen oder Eng-
lischen. Zahlreiche Zitate und Literaturhinweise machen das Lexikon zu einem
A1111k11nftsmittel. Insofern dient die Begrifl.'11ge11uhiuhLe in diesem Lexikon als Hilfs-
wissenschaft für die SoY;al- und Sprachwissenschaften.

1.42 Zweitens wird über eine derartige Bestandsaufnahme hinaus der Um·wand-
lungsprozeß zur Moderne thematisiert - ent~prechend un11erem heuristischen Vor-
griff. Hierin ist der spezifisch geschichtswissenschaftliche Beitrag im Lexikon ent-
. halten: und hier unterscheidet sich das vorgelegte Lexikon von philosophischen oder
philologischen Unternehmen ähnlicher Art. Die Begriffsgeschichte führt über eine
Systematisierung oder Addition historischer Quellenbelege hinaus. Sie führt viel-
mehr interpretierend heran an die in den Begriffen sich niederschlagende Erfahrung,
und sie schlüsselt, soweit möglich, die in den Begriffen enthaltenen theoretischen
Ansprüche auf. Sie fragt ausdrücklich nach dem jeweils epochalen Evidenzwandel,
wie er sich sprachlich in den Begriffen artikuliert hat.

1.43 Damit wird drittens eine semantologische Kontrolle für unseren gegenwärtigen
Sprachgebrauch ermöglicht. Ungewollte oder eigenmächtige Übertragungen gegen-
wärtiger Sinngehalte in vergangene Wortbedeutungen lassen sich überprüfen.
Heute gängige Ausdrücke und Schlagworte werden in ihrer historischen Hinter-
grundsbedeutung erhellt. Definitionen müssen dort nicht mehr ungeschichtlich und
abstrakt bleiben, wo sie dies aus Unkenntnis der historischen Herkunft sind; sie
können die überkommene Bedeutungsfülle oder Bedeutungsarmut der Begriffe ein-
beziehen. Der Verfremdungseffekt durch vergangene Erfahrung mag dann der
gegenwärtigen Bewußtseinsschärfung dienen, die von historischer Klarstellung zu
politischer Klärung führt. ·

2 MethOde
Die begri:ffsgeschichtliche Forschung und die Semantologie haben in den letzten
Jahrzehnten im In- und Ausland eine Reihe neuer Fragen und Methoden erschlos-
sen. Das vorliegende Lexikon hat Anregungen der Sprachwissenschaft und der philo-

XIX
Einleitung

sophischen Ter:minologiegeschichte aufgenommen, beruht aber auf einer weiter-


entwickelten historischen Methode, um die Begriffsgeschichte für die Geschichts-
und Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen. Insofern erhebt diese Begriffs-
geschi!)hte nicht den Anspruch, eine völlig selbständige Disziplin der historischen
Wissenschaften zu sein. Ihre Methode ergibt sich aus dem Zweck des Vorhabens,
sie ist begriffsgeschichtlich. Diese Methode zielt weder auf eine Wortgeschichte noch
auf eine Sach- oder Ereignisgeschichte, noch auf eine Ideen- oder Problemgeschichte.
Freilich bedient sie sich deren Hilfen. In erster Linie ist sie

2.1 historisch-kritisch. Die Vorkenntnis historischer Gegebenheiten oder Ereig-


nisse wirft Fragen auf, die zunächst an die Worte heranführen, deren Begrifflichkeit
untersucht werden soll. Die Wortgeschichte dient als Einstieg, insofern jede Unter-
suchung durch das Wort hinduruhgeht, das einen politisch-sozial Wichtigen Sach-
verhalt bezeichnet oder entsprechende Erfahrungen, Gedanken oder Theoreme in
sich birgt. Die Textanalysen kreisen die Bedeutungsgehalte der Worte ein. Nun
haftet zwar eine Bedeutung am Wort, aber sie speist sich ebenso aus dem gesproche-
nen Kontext, 11ie ent.<1pringt zugleich der Situation, auf die sie sich bezieht. Der
Wortgebrauch wird untersucht. Analysen solcher konkreter Lagen, aus denen
soziale und politische Bedeutungen historisch ableitbar sind, indem sie darauf zu-
rückverweisen, gehören seit jeher zur historisch-kritischen Methode.
Fragen nach dem cui bono werden aufgeworfen. Schließt der Sprechende sich ein
oder aus, wenn er einen bestimmten Begriff verwendet 1 Wer ist der Adressat 1 Die
Frage nach dem Gegenbegriff erhält so ihren konkreten Bezugspunkt. Ein polemi-
scher Gehalt läßt sich nicht immer oder selten nur aus dem Wort selber ableiten.
Man denke an den (Stadt-) Bürger um 1700, den (Staats-) Bürger um 1800 und den
Bürger(= Nichtproletarier) um 1900. Aus dem Wort 'Bürger' selbst folgt weder
die ständische, noch die politische oder - wie beim 'Bourgeois' - die soziale Zu•
ordnung des Begriffs; Umgekehrt gibt es Begriffe, die sich unabhängig von politi-
schen Situationen gleichsam neutral durchhalten. Gerade die altständische Begriffs-
welt, deren Auflösung wir untersuchen, kennt deren viele.
Deshalb wird auch nach der sozialen Reichweite eines Begriffs gefragt: welche
Terminologie ist schichtenspezi:fisch 1 Für welche Stände, Klassen, Gesellschaften,
Kirchen, Sekten usw. sind welche Begriffe eigentümlich 1 Definitionen des 'Bauern'
stammen fast nur von oberen Ständen; das gilt nicht mehr für den 'Landwirt' oder
'Ökonomen', der mit seiner Selbstbezeichnung eine neue soziale Position erstrebt.
So wird die bindende, prägende oder sprengende Kraft von Worten und Begriffen
untersucht. Bei der Analyse solcher Phänomene nähert sich die Begriffsgeschichte
unmittelbar der Sozialgeschichte. .
Wortbedeutungen und ihre sozialen oder politischen Inhalte, dahinter stehende
Intentionen erfragen - all das läßt sich mit der überkommenen bistorisch-pbilo-
logischen Methodik, wenn auch in spezialisierter Fragestellung, leisten. Die Worte
werden in ihrem vergangenen sozialen und politischen Kontext gelesen, die Zu-
ordnung von Wort und Sachverhalt wird interpretiert, das begriffliche Ergebnis
definiert..

2.2 Nun liegt in diesem Verfahren immer eine Rückübersetzung vergangener Wort-
gehalte in unser heutiges Sprachverständnis beschlossen. Jede Wort- oder Begrüi's-

XX
Einleitung

analyse führt von einer Feststellung vergangener Bedeutungen zu einer Festsetzung


dieser Bedeutungen für uns. Dieser Vorgang wird von der Begrift'sgeschichte metho-
disch reflektiert. Aber die Summe konkreter Begrift'sanalysen verwandelt sich aus
einer historischen Bestandsaufnahme zur Begriffsgeschichte erst durch das dia-
chronische Prinzip. Indem die Begrift'e im zweiten Durchgang der Untersuchung
aus ihrem Kontext gelöst werden und ihre Bedeutungen durch die Abfolge der
Zeiten hindurch verfolgt und dann einander zugeordnet werden, summieren sich
die jeweiligen historischen Begriffsanalysen zur Geschichte des Begriffs. Erst auf die-
ser Ebene wird die historisch-philologische Methode begrift'sgeschichtlich überhöht.
Nur so kann z.B. die soziale Dauer einer Bedeutung und können dem korrespon-
dierende Strukturen in den Blick kommen. Durchgehaltene Worte sind für sich ge-
nommen kein hinreichendes Indiz für gleichbleibende Sachverhalte. Erst die dia-
chronische Tiefengliederung eines Begriffs erschließt langfristige Strukturänderun-
gen. So ist der schleichende und langsame Bedeutungswandel von der 'societas
civilis' zur 'Bürgerlichen Gesellschaft', die schließlich bewußt als vom Staat ge-
trennt konzipiert wird, eine sozialgeschichtlich relevante Erkenntnis, die nur auf
der Reflexionsebene der Begriffägeschichte erreicht werden kann.
Die Frage nach zeitlichen Schichten und sozialen Strukturen läßt sich freilich
nicht nur diachronisch beantworten. Erst das jeder Begriffsgeschichte zugrunde
liegende Vorgebot, geschichtlichen Wandel und Dauer zugleich aufzuspüren, maoht
es möglich, das Mißverhältnis zwischen chronologisch aufzählbaren Wortbedeutun-
gen und dem systematischen Anspruch eines geschichtlichen Begrift's in den Blick
zu rücken. Nur dann können Verwerfungen sichtbar werden, die zwischen alten
Wortbedeutungen, die auf einen entschwindenden Sachverhalt zielen, und neuen
Gehalten desselben Wortes auftauchen. Dann können Bedeutungsüberhänge be-
achtet werden, denen keine Wirklichkeit mehr entspricht, oder Wirklichkeiten
scheinen durch, deren Bedeutung unbewußt bleibt. Wie ein Wort etwa aus einem
religiösen zum sozialen Begrift' wird, was für eine bestimmte Bedeutungsschicht
von 'Bund' gilt, oder wie juristische Titel sich zu politischen Begrift'en wandeln, um
schließlich in der Wissenschaftssprache und in der Propaganda aufzutauchen, was
etwa für 'Legitimität' zutrifft, das kann zwar nur diachronisch erfaßt werden. Aber
die Mehrschichtigkeit der Bedeutungen führt über die strikte Diachronie hinaus.
Die Begriffsgeschichte kl.ärt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf, die in
einem Begriff enthalten ist. Die geschichtliche Tiefe, die nicht identisch ist mit ihrer
Chronologie, gewinnt einen systematischen oder einen strukturellen Charakter.
Diachronie und Synchronie werden also begriffsgeschichtlich verflochten.

2.3 Das vorwaltende Interesse an der Geschichtlichkeit der behandelten Grund-


begrift'e unterscheidet die verwendete Methode von Ansätzen der modernen Sprach-
wissenschaft, speziell der sturkturalistischen Linguistik. Auch wenn einer zukünf-
tigen Annäherung vorgearbeitet wird, verbleibt unser Schwerpunkt im Bereich der
sozialen Strukturgeschichte. Die Beziehung vom 'Wort' zur 'Sache' wird behandelt,
der Begrift' wird in seiner politisch-sozialen, nicht in seiner linguistischen Funktion
thematisiert. Gleichwohl werden sprachwissenschaftliche Zugrift'e verwendet.
Der semasiologisehe Aspekt, der alle Bedeutungen eines Terminus anvisiert, wird
eingeengt auf die Sektoren, die das soziale und politische Gefüge und dessen Ver-
änderung eindecken. Es wird also nie das ganze Bedeutungsfeld eines Wortes aus-

XXI
Einleitung

gemessen.· Für unsere Fragestellung unerhebliche Neben- oder Zweitbedeutungen


werden ausgefällt.
Umgekehrt wird auch das andere Extrem vermieden, nämlich für vorgegebene Sach-
lagen oder Problemstellungen alle Wortbedeutungen aller vorliegenden oder auf-
tauchenden Vokabeln zu suchen. Der onomasiologische Aspekt, der alle Bezeich-
nungen für einen vorgegebenen Sachverhalt notiert, wird nur insofern berücksich-
tigt, als Nachbarbezeichnungen und Synonyma die historische Vielfalt oder als neu
sich aufdrängende Benennungen soziale und politische Veränderungen indizieren.
Auch wenn der semasiologische Zugriff einen arbeitstechnisch bedingten Vorrang
hat, weil die Begriffe von den sie tragenden Worten her angegangen werden, tritt
der onomasiologische Zugriff alternierend in den Vordergrund, da der Wandel ge-
schichtlicher Strukturen, also außersprachliche Inhalte, im sprachlichen Medium
gesucht werden.
Statistische Vollständigkeit anzustreben übersteigt die finanziellen und personellen
Voraussetzungen des Lexikons, .auch wenn gelegentlich Auszählungen von Belegen
unsere historischen Interpretationen abstützen. Bedeutungsschichten eines Wortes
und Benennungsvorgänge durch verschiedene Worte werden also beide registriert,
um die Begriffe zu ermitteln, die auf politische und soziale Sachverhalte und deren
Wandel zielen.

2.4 Die Unterscheidung zwischen Wort und Begrift" ist im vorliegenden Lexikon
pragmatisch getroffen worden. Es wird also darauf verzichtet, das sprachwissen-
schaftliche Dreieck von Wortkörper (Bezeichnung) - Bedeutung (Begriff) - Sache
in seinen verschiedenen Varianten für unsere Untersuchung zu verwenden. Gleich-
wohl läßt sich von der historischen Empirie her sagen, daß sich die meisten Wiirfiflr
der gesellschaftlich-politischen Terminologie definitorisch von solchen Wörtern
unterscheiden lassen, die wir hier 'Begriffe', geschichtliche Grundbegriffe nennen.
Der Übergang mag gleitend sein, denn beide, Worte und Begriffe, sind immer mehr-
deutig, was ihre geschichtliche Qualität ausmacht, aber sie sind es auf verschiedene
Weise. Die Bedeutung eines Wortes verweist immer auf das Bedeutete, sei es ein
Gedanke, sei es eine Sache. Dabei haftet die Bedeutung zwar am Wort, aber sie
speist sich ebenso aus dem gedanklich intendierten Inhalt, aus dem gesprochenen
oder geschriebenen Kontext, aus der gesells'chaftlichen Situation. Ein Wort kann
eindeutig werden, weil es mehrdeutig ist. Ein Begriff dagegen muß vieldeutig blei-
ben, um Begriff sein zu können. Der Begriff haftet zwar am Wort, ist aber zugleich
mehr als das Wort. Ein Wort wird - in unserer Methode - zum Begriff, wenn die
Fülle eines politisch-sozialen Bedeutungszusammenhanges, in dem - und für den
- ein Wort gebraucht wird, insgesamt in das eine Wort eingeht.
Was alles geht z. B. in das Wort 'Staat' ein, daß er zu einem geschichtlichen Begriff
werden kann: Herrschaft, Gebiet, Bürgertum, Gesetzgebung, Rechtsprechung, Ver-
waltung, Steuer, Heer, um nur das Geläufigste zu nennen. Alle, in sich mannigfachen,
Sachverhalte mit ihrer eigenen Terminologie werden vom Wort 'Staat' aufgegriffen,
aufihren Begriff gebracht. Begriffe sind also Konzentrate vieler Bedeutungsgehalte.
Wortbedeutungen und das Bedeutete können getrennt gedacht werden. Im Begriff
fallen Bedeutung und Bedeutetes insofern zusammen, als die Mannigfaltigkeit ge-
schichtlicher Wirklichkeit in die Mehrdeutigkeit eines Wortes so eingeht, daß sie nur
in dem einen Wort ihren Sinn erhält, begriffen wird. Ein Wort enthält Bedeutungs-

XXII
möglichkeiten, der Begriff vereinigt in sich Bedeutungsfülle. Ein Begriff kann also
klar, muß aber vieldeutig sein. Er bündelt die.Vielfalt geschichtlicher Erfahrung
und eine Summe von theoretischen und praktischen Sachbezügen in einem Zusam-
menhang, der als solcher nur durch den Begriff gegeben ist und wirklich- erfahrbar
wird. Überspitzt formuliert: Wortbedeutungen können durch Definitionen exakt
bestimmt werden, Begriffe können nur interpretiert werden.
Am Beispiel des Begriffs 'Staat' läßt sich auch unsere Verwendung des
Ausdrucks 'Terminologie' erläutern. 'Recht' ist ein Begriff, 'Rechtsprechung' da-
gegen ein - sachbezogener ~ Terminus. Das Lexikon baut, genau gesprochen,
nicht auf beliebigen Wörtern auf, sondern auf der sozialen und politischen Termino-
logie. Ein Terminus versammelt in sich die Merkmale eines vorgegebenen Sach-
verhaltes, seine Bedeutung kann sach- oder fachspezifisch, wenn auch verschieden,
defl.iliert werden. Ein Begri:ffliegt erst dann vor, wenn diejenigen Becfoutungen ein-
zelner Termini, die einen gemeinsamen Sachverhalt bezeichnen, jenseits ihrer bloßen
Bezeichnungsfunktion in ihrem Zusammenhang gebündelt und reflektiert werden.
In der Geschichte eines Begriffs verschiebt sich nicht nur eine Bedeutung des Wor-
tes auf eine andere, sondern der ganze in da.'il Wort. eingegangene K omple.x ve.rii.nrle.rt
sich in seiner Zusammensetzung und Bezogenheit. Eine Begriffsgeschichte birgt in
sich immer den Prozeß vieler Komponenten. Alk Begriffe, in denen sich ein ganzer
Prouß semiotisch zmammenfaßt, entz~kn sich der Definition; definierbar i1Jt nur dail,
was keine Geschichte hat (NIETZSCHE).

2.5 Daß die Geschichte sich in bestimmten Begriffen niederschlägt lind überhaupt
zur Geschichte wird, wie sie jeweils begriffen wird, ist die theoretische Prämisse
der hier angewandten historischen Methode. Insofern liegt unser Vorhaben nicht
nur in der Mitte zwischen einer Wortgeschichte, an der sie nicht haften bliebe, und
einer Sachgeschichte, die sie nicht liefern wollte. Es interpretiert die Geschichte
durch ihre jeweiligen Begriffe so wie es die Begriffe geschichtlich versteht: die Be-
griffsgeschichte hat die Konvergenz von Begriff und Geschichte zum Thema ..
Diese Konvergenz wird freilich nicht als Identität von Begriff und Geschichte ver-.
standen oder dahingehend verflacht. Der naive Zirkelschluß vom Wort auf den
Sachverhalt und zurück wird durchbrochen. Zwischen beiden besteht eine Span-
nung, die bald aufgehoben wird, bald wieder aufbricht, bald unlösbar erscheint.
Wortbedeutungswandel und Sachwandel, Situationswechsel und Zwang zu Neu-
benennungen korrespondieren auf je verschiedene Weise miteinander. Im Schnitt-
punkt solcher insgesamt geschichtlicher Vorgänge liegt ein jeweiliger Begriff. Man
denke etwa an die Institutionsgeschichte der 'Säkularisation' und die ·dem ent-
sprechende und doch weit abführende Geschichte desselben Ausdrucks.
Unsere Methode pendelt deshalb zwischen semasiologischen, onomasiologischen
sowie sach- und geistesgeschichtlichen Fragestellungen hin und her: alle sind er-
forderlich, um den geschichtlichen Gehalt eines Begriffs zu erfassen. Ein treffender
Begriff mag sogar fehlen, er kann tastend gesucht werden, er kann von alters her
sich anbieten, aber nicht mehr stimmen, neue Worte treten hinzu, Bindestrich-
bildungen häufen sich, weil neue Erfahrungen oder Hoffnungen formuliert sein
wollen (vgl. etwa 'Social-Demokratie'). Gerade die Unzulänglichkeit bestimmter
Begriffe für bestimmte Ereignisse oder Zustände macht sich sprachlich bemerkbar,
wie etwa die schwerfällige Auseinandersetzung über die Verfassung des alten deut-

XXIII
sehen Reiches in der frühen Neu.zeit erweist. Mangelnde Treffsicherheit, das Ver-
blassen von Worten oder deren Aufladung erschließen einen Erwartungshorizont
filr sprachliche Prägungen, der endlich erfüllt wird: ein neuer Begriff ist da - wie
'BundeSBtaat' um 1800 für das sich auflösende Reich.
Unsere Methode erarbeitet also keine Sachverhalte aus den sprachlich vorgegebenen
Quellen. Ebensowenig beschränkt sie sich auf die geistigen Äußerungen vergangener
Zeitgenossen. Sie vermeidet die Geistesgeschichte als eine Geschichte der Ideen oder
als Reflexhistorie materieller Prozesse. Sie führt vielmehr heran an die in den je-
weiligen Begriffen enthaltene Erfahrung und an die in ihnen angelegte Theorie,
sie deckt also jene theoriefähigen Prämissen auf, deren Wandel sie thematisiert.
In der Praxis gibt es zahlreiche Vollzüge oder Verhaltensweisen, die vor ihrer
sprachlichen Benennung zutagetreten - wie solche, die erst durch ihre sprachliche
ErfaBBung zu geschichtlichen Phänomenen wurden. llie sprachliche Erfassung zielt
h11idesmal auf Vorgänge, die außerhalb der Sprachbewegung liegen, die aber nur
hinreichend nachvollzogen und begriffen werden können, wenn der Wandel der Be-
griffe selbst thematisiert wird. Das sucht diese Begriffsgeschichte zu leisten. Sie
verweist also auf den Strukturwandel der Geschichte - insofern bleibt sie Hilfe der
SozialwiBBenschaften; aber nur im Medium der Begriffe - insofern gründet sie auf
ihrer eigenen Theorie. Beide Aspekte werden in den verschiedenen Artikeln auf ver-
HChi1itl1i.ue ·Weitle heru.W:1geu.rbeitet oder bevorzugt.

3 Quellen
Sowenig wie alle genannten methodischen Ansätze für alle Stichworte verfolgt
werden, sowenig dienen alle Quellenbereiche jedem Artikel. Die verwendeten Quel-
len richten sich natürlich nach dem Stichwort selber. Sie können aus allen Lebens-
bereichen und WiBBenschaften stammen, wenn sie nur für die politische und soziale
Terminologie wichtig geworden sind. Besonders für geschichtliche Grundbegriffe
können theologische oder juristische, ökonomische oder naturwissenschaftliche
Texte bedeutsamer sein als etwa solche der Historiographie.
Formal lassen sich unsere Quellen in drei Gruppen teilen:

3.1 In alle Artikel ist die Lektüre repräsentativer Schriftsteller eingegangen. Es ist
die Ebene der ,,Klauiker'' - oft nach. Gesamtausgaben zitierbar -, der Philo-
sophen, der Ökonomen, der Staatsrechtler, insgesamt der Lehrbuchverfasser oder
der Dichter und der Theologen.

3.2 Entsprechend den zu erfragenden Bedeutungsfeldern reicht die Streuweite


der Quellen weit in den Alltag hinein. Sie erfaßt Zeitschriften, Zeitungen, Pamphlete,
ebenso Akten der Stände und Parlamente, der Verwaltung und Politik; schließlich
Briefe und Tagebücher - um nicht zu reden von scheinbaren Zufallsfunden in der
Sekundärliteratur.

3.3 Drittens gehört zu jedem Artikel die Mindestlektüre der großen Wörterbücher.
In jedem Fall ist - auch auf Fehlanzeigen hin :-- die Ebene der historisch gewor-
denen Lexika und Enzyklopädien befragt worden. Auf dieser Ebene hat sich das

XXIV
Einleiauag

Wissen und Selbstverständnis der Generationen niedergeschlagen, erst der gelehrten,


dann der gebildeten Welt, schließlich der publizistisch erfaßten Öffentlichkeit. Die
Differenz der dreiEbenen bzw. Quellengruppen zu erfassen, bleibt immer aufschluß-
reich für die Begriffsbildung und ihre Wirkung.

3.4 Zitate werden häufig in extenso gebracht, um jene Interpretation freizugeben,


die aus einer Belegsammlung unsere .Begriifsgeschichte macht. Deutsche Quellen-
zitate werden bis 1700 in ursprünglicher Schreibweise zitiert. Danach werden sie
modernisiert, zumal nicht alle Quellen im Original greifbar waren. Nur dort, wo die
eigentümliche Schreibweise auf die Begriffsgeschichte eines Wortes zurückschließen
läßt-wie bei 'Social-Demokratie', die zur 'Sozialdemokratie', oder wie bei 'Race',
die zur 'Rasse' wird -, ist immer die quellengetreue Schreibweise beibehalten
worden.

4 Gliederung und Darstellung


4.1 Das Lexikon ist alphahetiseh gegliedert. Eine systematische Einteilung oder
Gruppierung von Begriffen nach Sachgebieten wie etwa Politik, Wirtschaft usw.
oder nach zeitlichen Dimensionen wie etwa Traditionsbegriffe, Begriffe, die sich 21ur
Gänze wandeln und Neologismen, ist :f1ir unsere Fragestellung nnilurohführbar.
Jede solche Einteilung bedeutet einen interpretatorischen Vorgriff, der sich nicht
durchhalten läßt.
Eine Reihung etwa der Begriffe 'Tyrannis', 'Despotie', 'Diktatur', 'Cäsarismus',
'Faschismus' mag sachgeschichtlich aufschlußreich sein, aber sie würde die Ge-
schichte in einer Weise systematisieren, wie es von den Begriffen nicht vorauszu-
setzen ist. Oder Begriffe, die heute verschiedenen Sachbereichen zugewiesen werden
müßten, wie 'Staat' und 'bürgerliche Gesellschaft' oder 'Staat' und 'Stand', konnten
früher, freilich nicht ausschließlich, dasselbe meinen. Auch der Traditionsgehalt
eines Begriffes deckt sich nirgends mit dem anderer auf eine so exakt zu bestim-
mende Art, daß die zeitliche Tiefenlage gleichbleibender Bedeutungen einen ge-
meinsamen Nenner abgeben könnte. Nur reine Neologismen ließen sich nach diesem
Prinzip ausgliedern. Jede solche Einteilung vergewaltigt also die Geschichte zu-
mindest einiger Begriffe. Das neutrale Alphabet bietet hier allein die Chance, so
elastisch und der geschichtlichen Bewegung so angemessen wie möglich zu verfahren.

4.2 Innerhalb eines Artikels müssen freilich oftmals Stichwortgruppen zusammen


behandelt werden. Ohne Parallel- oder Gegenbegriffe einzubeziehen, ohne Allgemein~
und Spezialbegriffe aufeinander zuzuordnen, ohne Überlappungen zweier Ausdrücke
zu registrieren, ist es gar nicht möglich, den Stellenwert eines behandelten Begriffs
für das soziale Gefüge oder eine politische Frontstellung zu ermitteln. Über-
schneidungen, überhänge oder Ausgliederungen von Bedeutungen können nur unter·
sucht werden, wenn wechselnde Wortgruppen in einem Artikel zugleich auftauchen,
etwa 'Einung', 'Liga und Union' im Artikel „Bund, .Bündnis".
Verschiedene Worte, deren Bedeutungsgehalte fast völlig konvergieren - wie
'Historie' und 'Geschichte' im 19. Jahrhundert.....,..., können nur zusammen untersucht
werden. Oder Worte aus zunächst verschiedenen Begriffsfeldern mögen zusammen-
finden und alternierende Parallelbegriffe werden wie 'Revolution' und 'Bürger-

XXV
Eialeituag

krieg': gelegentlich austauschbar können sie ebenso Gegenbegriffe werden, was sie
gemeit1sam zu ueruck1:1ichtige11 fordert. Oder ein Wort kann sich ausfächern in ver-
schiedene Begriffe. Eine Eindeutschung des Wortes 'Staat' (statuR, M.11.t) leistete der
Ausgliederung rein ständischer Bedeutungen Vorschub. Erst danach, gegen Ende
des 18. Jahrhunderts, wurde 'Staat' zu einem Zentralbegriff, und seitdem können
'Staat' und 'Stand' - anfangs im Wort 'status' zusammengehörig - sogar zu
Kontrastbegriffen werden. 'Stand' taucht demnach sowohl im Artikel „Staat" auf
wie im Artikel „Stand und Klasse", die schon wegen unserer Hypothese einer Sattel-
zeit zusammengehören.
Wann ein Begriff als Grundbegriff definiert werden kann, hängt letztlich von der
Beachtung des ganzen Sprachhaushalts ab. Nun läßt sich freilich die Gesamtheit
auch nur der politisch-sozialen Terminologie so wenig umgreifen wie die Vergangen-
heit in toto wiederherstellbar iot. Um fc0tzustcllen, was ein Grundbegriff 1:1ei, muß
also - im Grunde das Problem jeder Interpretation - erfragt werden, was eigent-
lich vorausgesetzt sein sollte. Die wünschenswerte, aber uneinlösbare Kenntnis des
gesamten Sprachzusammenhanges wird jedenfalls heuristisch berücksichtigt, wenn
die Darstellung eines Begriffs nicht an einem Stichwort hängen bleibt. Sonst würde
nicht nur seine Qualität als Begriff, sondern auch seine Funktion als Grundbegriff
verfehlt. Deshalb enthält das Lexikon eine Reihe von 8ohwerpunktartikeln, in
denen geschichtlich sich beclingP.nrlr. Begriffe zusammengefaßt werden.

4.3 Die Länge der Artikel schwankt demgemäß. Je nach Ergiebigkeit reicht sie,
von Ausnahmen abgesehen, von 20 bis 60 Seiten. Damit wurden viele Autoren zu
einer Beschränkung genötigt, die in einem starken Mißverhältnis zur geleisteten
Vorarbeit und zur Menge der geRammelten Belege steht. Da Vollständigkeit auch
hier unmöglich bleibt, wurde der dargestellten methodischen Begrenzung der Vor-
rang eingeräumt, was immerhin den Vorteil hat, daß noch manche Monographien
zu erwarten sind, die über die Artikel hinausgreifen werden.

4.4 Grundsätzlich gliedern sich alle Artikel in drei Teile: in den Vorspann, der die
Wort- und Begriffsgeschichte an die frühe Neuzeit heranführt, in den Hauptteil,
der die Entfaltung der neuzeitlichen Begrifflichkeit thematisiert, und in den Aus-
blick, der auf den gegenwärtigen Sprachgebrauch hinweist. Je nach dem behandel-
ten Begriff fallen natürlich clie Gliederung und Gewichtung dieser drei Teile ver-
schieden aus.
Im Vorspann kommen Antike - etwa der aristotelische oder der klassisch-römische
Begriff ~· kirchliche Tradition, Humanismus, französische oder deutsche Wort-
geschichte zur Sprache. Sachgeschichtliche Einblendungen ergeben sich von selbst.
Dabei wird immer vermieden, durch Raffung der Vergangenheit eine vermeintliche
Gegenwelt hochzustilisieren. Oft zeigt sich, daß Begriffsgehalte dieser „ Vorgeschich-
ten" tiefin das 19. und 20. Jahrhundert hineinreichen. Sie bieten dann den Unter-
grund oder werfen strukturale Fragen auf, von denen die modernen Erfahrungs-
gehalte, die in den Hauptteil fallen, um so deutlicher erschlossen werden können.
Im Hauptteil ergänzen sich - gemäß unserer Methocle - synchronische Quer-
scb,n.ittsanalysen und diachronische Tiefenbestimmungen. Gerade der wechselnde
Zugriff erhellt die Geschichte eines Begriffs, die nie auf eine feste Ursprungsbedeu-
tung reduzierbar ist. Für die Darstellung bleibt die zeitliche Abfolge leitend: Dauer,

XXVI
Einleitung

Wandel und Neuheit lassen sich nur chronologisch erfassen und somit historisch
interpretieren. Die Begriffsgeschichte ist, streng genommen, „Zeitgeschichte" der
Begriffe.
Damit mag auch für unsere eigene Zeit, auf die der Au8blick verweist, der historisch-
kritische Anspruch unserer Begriffsgeschichte durchklingen. Es würde die Methode
ändern und den Umfang sprengen, wenn der gegenwärtige Sprachgebrauch in
seinem schnellen Wechsel und mit seinen universalen Neologismen eigens unter-
sucht werden sollte. Für eine politische Semantologie der Gegenwart leistet das
Lexikon allenthalben Vorarbeit.

4.5 Als Autoren konnten Gelehrte gewonnen werden, die den Begriff von ihrem
eigenen Fach her historisch am besten erfassen. Damit wurden notwendigerweise
fachliche Präferenzen gesetzt, die manchmal duruh besondere, eigens gezeichnete
Ahimhnitte anderer Verfasser ergänzt werden. Auch gemeinsame Ausarbeitung eines
Artikels erwies sich, wenn die Gelegenheit sich bot, als vorteilhaft. Schließlich war
es günstig, einige Artikel entlang der Chronologie auf mehrere Autoren zu verteilen.
Insgesamt arbeiten außer Hiiitorikern Vertret.P.r viP.lP.r Fakultäten am Lexikon mit:
Juristen, Ökonomen, Philologen, Philosophen, Theologen und Sozialwissenschaftler.
Wenn sich die vorgelegten Artikel über die methodisch durchgängigen Gesichts-
punkte und die daraus folgende Gliederung hinaus weiter unterscheiden, so ist das
natürlich auch und nicht zuletzt durch die individuelle Verantwortlichkeit der Ver-
fasser und ihre eigenen begriffsgeschichtlichen Fragen bedingt. Sowenig wie ein
geschichtlicher Begriff läßt sich seine Geschichte endgültig festlegen.

REINHART KosELLECK

XXVII
Adel, Aristokratie

I. Einleitung. II. 1. Adel und Aristokratie in der Antike. a) Die Verfassung. h) Der Stand.
2. Umwertung durch Stoa und Christentum. 3. Substantielle Konstanz des Adelsbegriffs
bis zum 18. Jahrhundert. 4. Aktualisierung (um 1600) und Zurücktreten (um 1700) des
Aristokratiebegriffs. 5. Adel als „intermediäre Gewalt". 6. Differenzierung des Adels im
Rechtssinn i:in 18. Jahrhundert. 7. Adelskrise vor der Revolution. 8. Die Wortbildung
'Aristokrat' vor und nach 1789. 9. Erschütterung und Behauptung des Adels 1789/
1815. 10. Adel im Wandel des Verfassungsrechts seit 1803/1815. 11. Kompromisse zwischen
Restauration und Revolution. 12. Die gescheiterte Entscheidung 1848/1849. 13. Fort-
setzung und Entschärfung der Adelsdiskussion nach 1848/1849. III. Ausblick.

I. Einleitung
'Adel', ahd. adal, edili „edles Geschlecht, die Edelsten", verwandt mit ahd. uodal,
odal, odil „Erbsitz, Heimat" bezeichnete im Deutschen - analog in allen anderen
8prachen und Kulturen - die durch Vorrang der Rechte und Pß.ichten vor uem
Volk, ?.1mii.t1hAt 1for Rauem, vom Hochmittelalter an auch der Stadtbürger, hervor-
gehobene Herrenschicht, deren Stand erblich und demgemäß stets darauf gerichtet
war, sich durch geschlossenes Konnubium vom Volk abzuschließen. Kennzeichen
des Adels waren: Landsässigkeit mit Herrschaft über landarbeitende Menschen
und, darauf beruhend, Freisein zum Waffen- und Kriegsdienst, alsdann zu den
Führungsstellen in der Kirche sowie später zum Hof- und Staatsdienst. Zur recht-
lichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Machtstellung des Adels gehörten
ein anspruchsvolles Selbstbewußtsein, Typusstilisierung und „Tugend"-Ethos so-
wie die Anerkennung des adligen Status und Prestiges dumh das Volk. All dies
verband sich zum Begriff des Adels, der demgemäß (prinzipiell unangefochtene)
Herrschaft von Menschen über Menschen1 in einer bei allem faktischen Wandel
statisch begriffenen Sozialordnung bedeutete und eben dieser Herrschaftsstellung
wegen den Prinzipien der modernen Revolution zum Opfer fiel.
'Aristokratie' gehört zu den auf Platon und Aristoteles zurückgehenden Begriffen
der Herrschafts- oder Regierungsform der Polis, in späterer Übertragung jedes
Staates. Er übte seit seiner Rezeption im 13. Jahrhundert - analog zu-+ Mon-
archie und -+ Demokratie - eine starke Wirkung auf die politische Theorie in
Europa aus und wurde darin so eng mit dem Problem des Adels verbunden, daß
beide Begriffe in einem Artikel zusammengefaßt werden müssen.

II.
1. Adel und .Aristokratie in der Antike
Vom Gesichtspunkt der Wirkung auf das Abendland, besonders Deutschland,
liegt unser Interesse in erster Linie beim griechischen Begriff der 'Aristokratie'
sowie bei der römischen 'Nobilität'. Steht diese als politischer Stand in unmittel-

1 So die den Adel als „Aristokratie" und „Feudalismus" treffende Formel SAINT-SIMONS

(Z'acli<m de Z'homme aur Z'homme); L'organisateur (1819/20), Oeuvres, t. 4 (1869; Ndr.1966),


192.

1-90385/1 1
Adel D. 1. Adel und Aristokratie in der Antike

barer Kontinuität zum frühmittelalterlichen romanisch-germanischen Adel, so


diente jene als Begriff der Politik seit dem Hochmittelalter dazu, die gegebene bzw.
sich wandelnde Verfassung theoretisch zu begreifen. Es sei dazu angemerkt, daß
Züge der altgriechischen Adelsethik in der „Politik" sowohl Platons wie Aristoteles'
allgemein, wie auch bei der Entwicklung des Begriffs 'Aristokratie', lebendig ge-
blieben waren, vor allem in der Zuordnung von 'Adel' und 'Tugend' ( deenj)2.
Daß dergestalt ein Bogen von der Stellung und den Wertungen des homerischen
bis zu den späten Erscheinungsformen des europäischen Adels gespannt werden
und darin ein geschichtlicher Idealtypus gefunden werden kann, ist von Otto
Brunner hervorgehoben worden 8 • WERNER CoNZE

a) Die Verfassung. Das Wort deitno"(]aTla ist geprägt worden, um - anknüpfend


an &Aiyaqzla und &,µo"(]aTla - die „Herrschaft der Besten" zu bezeichnen'. "Ae1ino1
wurde damals nicht unbedingt nur abstrakt im Sinne von „besonders gut" (im
umfassendsten Verstand, nämlich Tapferkeit wie Einsicht, Besonnenheit und Ge-
rechtigkeit enthaltend) gebraucht. Es könnte zugleich „adlig"' gemeint. haben,
insofern der Adel beanspruchte, vornehmlich oder ausschließlich selbst diese Tu-
genden zu besitzen. Belege dafür gibt es jedoch bis zum 4. Jahrhundert nicht, und
es ist jedenfalls zu vermuten, daß ße1ino1 - im Unterschied zu den verwandten
"aJ.oi "dyaD<J(, dyaf>ol, sal)J.o/, XerJ<nO/, WOhJ auch /JeÄTlfnOI - besonders Wenig auf
ständische Terminologie zugespitzt war; also besonders ungetrübt im ethischen
Sinne verstanden wurde. Eben dadurch war es geeignet, den umfassenden Anspruch
wiederzugeben, der in der „Herrschaft der Besten" enthalten war 5 •
Die Prägung des Begriffes de1ino"eaTla muß zwischen 450 und 420 v. Chr. geschehen
sein6 ; ob eher von der Theorie her oder aus Bedürfnissen politischer Agitation, ist
unklar. Die Prägung gehört jedenfalls in den Zusammenhang sich zuspitzender
Gegensätze zwischen politischen Richtungen und Verfassungen, angesichts derer
man sich zugleich bewußt wurde, wie l'J.nzulänglich die gängigen quantitativen, vom
institutionellen Aufbau ausgehenden Kriterien der Verfassungsunterscheidung und
-klassifikation waren. Es ist kein Zufall, daß damals wieder sehr vage, prätentiöse
Begriffe für Verfassungen geprägt wurden (neben dem vom Subjekt her unbestimm-
ten deiino"{lal'la z. B. der vom Inhalt her unbestimmte narewf: :n;oÄ1Tela), und daß
gleichzeitig THUKYDIDES diese Begriffe zwar mied, zugleich aber das Bedürfnis
hatte, die alten quantitativen Bezeichnungen durch adjektivische Bestimmung zu

2 Vgl. WERNER JABGER, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2 (Ndr.

Berlin, Leipzig 1944), 324 :ff.


• Orro BBUNNER, Adeliges Landleben und europäischer Geist (Salzburg 1949), 61 :ff.
'Vgl. ABlsTOTELES, Pol. 1279 a 35; ders., Rhet. 1365 b 35. Zur relativen Chronologie der
Verfassungsterminologie JACQUELINE DE -RoMILLY, Le classement des constitutions
d'Herodote 8. Aristote, Rev. des etudes grecques 72 (1959), 81 :ff.
1 Erster Gebrauch in diesem Sinne: HERODOT 3, 80 :ff. in theoretischem Zusammenhang.

Vgl. ABTHUB W. H. ADXINs, Merit and Responsibility (Oxford 1960), 178 f. Einen Teil
des Anspruchs bezeichnet PrNDAB um 470: Oligarchie als Herrschaft der aorpol: Pyth. 2,
88. Vgl. ders., 01. 9, 29; PLATON, Menex. 238 c. d.
• Terminus post wohl HERODOT 3, 81. Auffällig das Fehlen in Ps. X:e:NOPHON, Ath. polit.
Erster indirekter Beleg: ABlsTOPHANEB, Av. 125 (414 v. Chr.). PLUTARCH, Kimon 15,
3 bezeugt das Wort, kaum zuverlässig, für 460.

2
a) Verfuaung A•eJ

differenzieren1 • Es artikulierte sich damals also ein Ungenügen sowohl an zahl-


reichen Verfassungen wie an der überkommenen Terminologie. Auf diesem Boden
wuchs fieuno~arla.
Sie sollte ausgezeichnet sein vor allem durch die Besonnenheit ( aaxpeomMJ), Zucht
und Gewissenhaftigkeit ( tixelßeia) 8 ihrer Träger, durch strenge Sittenaufsicht, kurz:
durch das Walten guter alter Auffassungen und Bräuche ( moµla, maEla, mfreia
"oµiµa) 8 , das weithin verlorengegangen war und nun vermißt wurde. Das Ideal
richtete sich also vornehmlich in die Vergangenheit, auf Bewahrung, Wiederher-
stellung, diese freilich in verbesserter, idealer Form.
In dem neuen Begriff kam einerseits der Anspruch und das Selbstverständnis der
Oligarchen insgesamt zum Ausdruck1°. Andererseits' verwandte die Theorie das
Wort, um erstens gute von schlechten Oligarchien. zu unterscheiden, zweitens den
idealen „besten Staat" zu begreifen. Endlich wird man in Athen und anderwärts, in
Theorie wie Praxis die wiederz11belebende „väterliche Verfassung", in der demo-
kratische mit oligarchischen Elementen gemischt waren, als fieicn~la ausgegeben
und verstanden haben11• Literarisch ist der Begriff, soweit unsere Quellen reichen,
vor allem in der Theorie zu Hause. Bei den attischen Rednern (demokratischer
Zeit) kommt er nicht vor, die Historiographie bevorzugt ÖÄiyaexla: wenn auch
Thukydides' konsequente Abneigung gegen den ihm 'gewiß verlogen vorkommenden
Begriff koino Schule gomo.oht hat, so scheint es gleichwohl, da.ß ihn die Historiker
im allgemeinen wenigen, besonders bevorzugten Verfassungen vorbehielten. Die
Geschichte des Begriffs innerhalb der Theorie ist bedingt durch eine bis heute fort-
wirkende Eigenart der griechischen Verfassungsterminologie: Bei aller Freude (zu-
mal Platons) an der Bildung immer neuer Termini (n:Äo11ToHC?arla, -r:1µ0HC?arla, -r:iµaexla,
n°"BfJO"eada, l>saTeo~la, ÖXÄoHearla, xs1eo"eada u. a.) ist für die Griechen stets ein
kleiner Kanon von Begriffen maßgAbend gewesen, auf den man, so unzulänglich er
war, alle Erscheinungen letztlich zurückzuführen suchte. Dessen Kern wurde durch
die quantitativ bestimmten Begriffe µopaexla, dÄiyaexla und ßr/µo"'1afla ausgemacht.
In der nächsten Schicht gesellten sich die primär qualitativ bestimmten -r:tJeawt, und
de1cn0Heada (sowie seltener noÄinla oder nµo~la) hinzu. Waren die Kernbegriffe
samt -r:tJeawt, im wesentlichen festgelegt, so wurde fieicnoHeaTla - entsprechend den
verschiedenen Denkansätzen, Erkenntnissen und (oft von praktischen Ansprüchen

7 Tlrox.YDmEs 3, 82, .2; 8, 64, 3 (wohl in ironischer Anspielung). Im allgemeinen spricht


er von ÖÄiyaexla; Differenzierung: 3, 62, 3; 4, 74, 3; 4, 78, 3; 4, 126, 2; 5, 81, 2; 6, 38, 3;
8, 53, 3; 8, 89, 2.
8 GusTAv GBOSSMANN, Politische Schlagwörter aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges

(phil. Dies. Basel 1950), 70 ff.; vgl. HEBODOT 3, 81, 3.


9 AmsTOTELES, Pol. 1293 b 42 f.; vgl. PLUTABCJH, Kimon 15, 1 ff.; HBBODOT 3, 80, 5.
10 Vgl. Tlrox.YDmES 3, 82, 8. LBONABD WBIBLBY, Greek Oligarchies (London 1896;
Ndr. Rom 1968), 38 ff.
11 Vgl. dazu ALBXANDER Fun, The Ancestral Co~itution (London 1953). Im einzelnen
etwa PLUTABCJH, Perikles 3, 2; Tlrox.YDmBB 8, 24, 4 mit 38, 3. Femer Tuux.YDIDES 8,
97, 2 (irV :iwÄ&-i1>iio'ui = fli!ww"l!an<iO'Om?) und 53, 3; AlusTOTELBS, Pol. 1273 b 36;
1274 a 21; T:u:RA.snuouos, in: Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. HlllB.llANN
DIBLB, 6. Aufl., Bd. 2 (Berlin 1952), 322 ff.; XmromoN, Hell. 2, 3, 47; IsoXJU.TBS,
Panath. 151 ff.

3
Adel Il. 1. Adel und Arl9ttokratie in der Antike

bestimmten) Tendenzen - immer wieder anders verstanden und mit anderen


Inhalten besetzt.
SOKRATES soll mit Q(]UITO'l<(]aT:la die positive Variante der oAiyaexla begriffen haben:
in ihr werden die Ämter nicht nach Maßgabe des Zensus, sondern auf Grund der
Einhaltung des Gebräuchlich-Rechtlichen besetzt ('voµiµa)1 2 • In diesem Sinne er-
hielt der Begriff seinen Platz im Schema der Verfassungen als die Spielart der
Herrschaft von wenigen, die das Wohl des ganzen Gemeinwesens im Auge hat,
sich nach dem Recht richtet, das Einverständnis der Regierten besitzt und deren
Prinzip die Tugend istl3.
PLATON dagegen benutzte das Wort in der „Politeia", um die eine gute, ideale
Form von Verfassung zu bezeichnen, innerhalb derer zwischen der Herrschaft eines
einzelnen und derjenigen mehrerer kaum zu unterscheiden ist: es ist eine Verfas-
t1ung {nameu1:1 d(/i1JTo"(laTia), u. U. zweifa.ch (ßaaikla und li.eiaTO'l<(]aT:la) benannt.
Was sonst praktisch noch a~i<JT:o'l<eaT:la hieß, setzte Platon dort alR rpii..hT:1.1~or;. noAinla
oder nµo"eaT:la bzw. nµaexla gegen die beste Verfassung ab14• Im „Politikos"
dagegen kam er auf die eben genannte, üblichere Bedeutung zurück10•.
Eine dritte Variante findet sich bei IsoKRATES, in Platons „Menexenos" und in-
direkt (ohne Benutzung des Wortes) bei TBUKYDIDRS in der Leichenrede des
Perikles18• Dort ist jeweils die. Rede von der attischen Demokratie, und es wird
behauptet, in ihr gelangton die Broten in die .Ämter. Einmal heißt e1:1, ua1:1 Volk.
habe die Macht, man könne die Verfassung „Demokratie" nennen, aber es sei in
Wirklichkeit eine „Aristokratie mit Einverständnis des Volkes". Isokrates sagte,
die Demokratie ge'brauche Aristokratie, d. h. Verwaltung durch die Besten. Er
lehnte es ab, Ariotokratic für eine Verfassung zu halten, sah iu ihr vielmehr ein
Prinzip der Ämterbesetzung, allgemeiner: der Verwaltung, das in jeder der drei
(Grund-)Verfassungen {mit denen allein er rechnet) gelten könne. Die eigent-
lichen und ursprünglichen Bestimmungen der Verfassung (Verteilung der politi-
schen Rechte, der Kompetenzen zwischen den Organen usw.) wurden hier also
völlig relativiert. Entscheidend war die Besetzung der Ämter. Wo man die Besten
wählte, war die Herrschaft der Besten verwirklicht: dieses neue Programm der
<Jei<IT:o"eaT:la ließ die Verfassung zur Neben-, Politik zur Glückssache werden, wesent-
liches Mittel zur Garantie und Besserung der Zustände wurde die „Pädagogik"
(naidela) 17 , kurz: aei<JT:O"(]aT:la signalisierte die Ohnmacht der Menschen und der
Gesellschaften angesichts der politischen Probleme.

12 XENOPHON, Mem. 4, 6, 12.


18 Dies die Summe der verschiedenen Bestinlmungen der o(!l>al noi..iT:elai im Gegensatz
zu den naee"ßaaei,.
u PLATON, Pol. 445 d; 587 d; 544 f; 547 c.
11 PLATON, Politi.kos 291 e; 301 a; 302 d; ihnlich ders., Nomoi 712 c, wo allerdings auf
Grund der neuen Unterscheidung zwischen noÄiT:e{a und <JT:aaiwT:e[a eine andere Ein-
teilung gatmffen wird. Vgl. zu Sparta dere„ Pol. 544 o; 545 a.
18 lsoKRA.TES, Panath. 131 f. 153; PLATON, Menex. 238 c; 239 a; Tlrox.YDIDES 2, 37, 2;

vgl. dere. 8, 97, 2; 8, 53, 3. '


1 7 Vgl. dazu ÄISCHINES 1, 4: Monarchie und Oligarchie hängen von den T:eonoi T:Ö:W
etpE<IT:'f/'l<OT:OW ab und sind nur durch Polizei und Mißtrauen zu schützen; die Demokratie
ist der Staat der Gesetze.

4
a) Verfassung Adel

Bei ARISTOTELES finden sich dann alle drei Bedeutungen des Wortes nebeneinander.
..l!ligenttiche Aristokratie ist ihm nur (wie in l'latons „Politeia 11 ) der beste Staat. ~r
allein beruht auf den an Tugend schlechthin besten und nicht nur den auf Grund irgend-
einer Voraussetzung guten Männern. In ihm nur fällt die Tugend des Bürgers mit
der des Mannes völlig zusammen, ist die deBT~ Richtschnur und Maß aller Politik,
wird deren Erzeugung im umfassendsten Sinne zum Gegenstand öffentlicher Für-
sorge gemacht18 • Weil die Verwaltung nach Maßgabe der Tugend hier wie dort das
Wesentliche ist, ist die Aristokratie mit dem (guten) Königtum verwandt, teilt sie
mit ihm die Rolle der besten Verfassung. Abstrakt genommen ist das Königtum
vorzuziehen; sobald aber mehrere an Tugend Gleiche vorhanden sind, gilt die
umgekehrte Reihenfolge19• Neben dieser idealen Form wurden aber auch andere
Verfassungen 'Aristokratie' genannt, und Aristoteles schließt sich-teilweise nolens
vola111:1a0 - uitll:lelll Sprachgebrauch 11.11. E1:1 haiufolL 1:1ich <labei Ulli Ve!'fa1:11:1uug1m,
die vom Zuschnitt der Oligarchie oder Politie sind, sich aber gleichwohl von beiden
unterscheiden, einerseits und vor allem um solche, in denen nicht nur Reichtum,
sondern auch Tugend bei der Bestellung der Beamten maßgebend ist, anderer-
seits um solche Mischungen von Oligarchie und Demokratie, die zur Oligarchie
neigen (im Gegensatz zur Politie, die zur Demokratie neigt) 21.
Prinzip der Aristokratie ist nach Aristoteles die den~ (samt ihrer Voraussetzung,
der nai8ela) 22 • Dieses Prinzip gilt aber eigentlich nur für den schlechthin besten
Staat. Die zweite Aristokratie hat es nur gemischt mit anderen, geht im übrigen
nur von einer relativen dt,>BT~ aus. Die Mischung von Oligarchie und Demokratie
aber beruht auf einer Kombination von Freiheit und Reichtum. Die Berücksichti-
gung des Reichtums mäßigt die demokratische Komponente und ermöglicht da-
mit - auf Grund besonderer soziologischer Voraussetzungen 23 - die einzige von
den drei guten Verfassungen, die das Prinzip der Tugend nicht kennt. Stellt man
nun gewisse Formen dieser Mischung zu den Aristokratien, so muß man voraus-
setzen, daß die Wohlhabenden infolge ihrer Wohlhabenheit auch Tugend besitzen.
In der Tat ging man damals vielfach davon aus, daß mit größerem &ichtum auch
Bildung zur Tugend [nai8ela] •.. eher verbunden zu sein pfie,gf, 24• Diese Voraus-
setzung aber trifft nach Aristoteles zwar oft, doch keineswegs immer zu25 • Er be-
tont deswegen, daß das Prinzip der Tugend zu Reichtum und Freiheit hinzutreten

18 .ARISTOTELES, Pol. 1293 b 3 ff.; 1293 b 12 f.; 1294 a 24; 1288 b 37; 1289 b 5.
19 Ebd. 1288 a 32 ff.; 1289 a 31; vgl. ebd. 1310 b 2; 1289 a 39; ders., Nik.om. Eth.
1160 a 36; Pol. 1286 b 5.
20 Vgl. ebd. 1293 b 10 ff. mit 1273 a 23 und 1273 a 31; 1307a12; 1307 a 16 u. ö.
21 Ebd. 1293 b 7 ff. (vgl. 1294 a 23: deicn:o"eaT:la µdMaT:a); 1293 b 20; 1293 b 36. Zur

Aristokratie als gemischter Verfassung, je besser gemischt, um so dauerhafter, ebd.


1297 a 6; 1298 b 6; 1307 a 7 ff.; vgl. ebd. 1308 b 24; über die Nähe zur Politie ebd.
1294 a 28; 1295 a 31.
n Ebd.1294 a 9; 1293 b 40; 1283b21;1288 b 11; 1307 a 9; ders., Nikom. Eth.1131a29;
ders., Rhet. 1366 a 5; 1365 b 33.
23 -+ Demokratie I.

u .ARlsTOTELES, Pol. 1293 b 36; 1294 a 17; vgl. TlruKYDmEs 6, 89, 1.


16 .ARlsTOTELES, Pol. 1294a17 ff.; 1301b40; 1317 b 39; ders., Nik.om. Eth. 1131a28;
1161 a l; ders., Pol. 1293 b 42 ff.; 1294 a 9; vielleicht auch 1288 a 11; 1288 a 14 f.; an-
dererseits ebd. 1317 b 39.

5
Adel D. 1. Adel und Aristokratie in der Antike

müsse - um dann schließlich für die dritte Form der Aristokratie. doch darauf
zu verzichten26.
In allen drei Bedeutungen war Aristokratie - wenn auch auf durchaus verschiedene
W11ise - gutes Gegenbild der Oligarchie. In den beiden relativen Formen stellte sie
genaugenommen nur ein Prinzip dar, das modifizierend zu anderen hinzutrat. Wenn
Aristoteles. im Blick auf sie sagte, die wesentliche Bestimmung der Aristokratie
sei, daß die Ämter nach Maßgabe der Tugend besetzt und verwaltet würden2 7 , so
verstand er sie nicht anders als Isokrates. Ebenso, wenn er ein anderes Mal davon
spricht, daß Demokratie und Aristokratie zu vereinbaren seien 28• Nur brachte ihn
die Notwendigkeit, alle Verfassungen in seinem Sechserschema zu rubrizieren, zu-
sammen mit einem verbreiteten Sprachgebrauch dazu, unter dem Titel „Aristo-
kratie" ein Sammelbecken für einigermaßen wohlverwaltete, also von guten Män-
nern regierte Verfassungen einzurichten. An solchen wie an vielen anderen Stellen
wird deutlich, wie stark Aristoteles in der „Politik" Rflinfl P.igenen Bestimmungs-
merkmale für Verfassungen, wie Bürgerbegriff und Ämterordnung, überholte. Auch
seine Theorie kam immer wieder dazu, das Heil in so unpolitischen Kriterien wie
der Güte der Regierenden zu suchen.
Im Fall der deuno"lllJTia kam freilich difl VP.rftihnmg durch eine praktische Beob-
achtung hinzu: die relativen Aristokratien der zweiten Art waren für Aristoteles
wie für viele seiner Zeitgenossen offenbar noch wesentlich vom Adel beherrscht.
Und so wenig wir die Verhältnisse genauer überblicken können; so scheint doch
Anlaß bestanden zu haben, zwischen den selteneren mehr aristokratisch, durch
herkömmliche adlige Normen bestimmten Oligarchien und den üblichP.n, die sich
vor allem durch Reichtum und Streben danach auszeichneten, zu unterscheiden.
Sofern die Adelsstaaten nooh überdauert hatten, waren sie wohl zumeist noch tradi-
tionell gefestigt und lagen abseits der bewegteren Gebiete. Wenn nach Aristoteles
die Wohlhabenderen zugleich die Guten sein sollten, so, weil neben der Bildung zur
Tugend „Wohlgeborenheit" bei ihnen eher zu finden war 21i. Ferner heißt es, 'Adel',
wörtlich „Wohlgeborenheit" (6Vyhs1a), bedeute aUen ReWlaum und Tugend 30• Häu-
fig hätten gute Väter gute Kinder31 • Auch die Wahl nach Maßgabe der Tugend
( de1rnl"&J") konnte praktisch nur Regel sein, wo ein alter Adel noch seine führende
Stellung bewahrte, die tfe1rno1 also stillschweigend mit den Adligen, die Tugend
mit deren Normen gleichgesetzt wurden.
Angesichts dieser Identifizierung von „Aristokratie" und „Adelsstaat" könnte
de1rno"l!aTla damals zugleich die Bedeutung „Adel" im Sinne der diese Verfassung
tragenden Schicht angenommen haben. Wir besitzen keinen Beleg dafür, sehen

•• Ebd. 1307 a 9; vgl. 1294 a 9; 1294 a 15 ff.; zuletzt mit der Rückkehr zur gängigen
Auffassung 1294 a 24; dazu 1293 b 20; 1293 b 33 ff.; 1307 a 10. ·
17 Ebd. 1279a35; 1288all; 1294a9; 1299b26; 1309a.3; ders., Rhet. 1365b34

(zur na1&la .,, vno J10µ0J1 "81µh71 vgl. Also:enras 1, 8). Zur Verwaltung vgl. ABlsTOTELES,
Pol. 1308 a 3 ff.
18 Ebd. 1308 b 39; vgl. 1318 b 27 ff. An sioh handelt es eich in eolohen Fällen wohl doch

um Demokratien, ebd. 1292 a 9; 1318 b 27 ff.; 1319 a 2.


19 Ebd. ums b 36.
• 0 Ebd. 1294 a 20; vgl. 1283 a 37; 1301b3; 1301b40; ders., Rhet. 1365 b 35.
3 1 Ders., Pol. 1238 8. 36; strenggenommen war die Wohlgeborenheit aber ein Prinzip der

Oligarohie: ders., Nikom. Eth. 1131 a 28; ders., Pol. 1283 a 1; 1317 b 39.

6
lt) Stan•

aber, daß dAiyaexla damals auch die Gesamtheit der dJJyoi IJexovre,, der „Oligarchen"
bezeichnen konnte (wie umgekehrt &jµo, nach einer gegenläufigen Wortgeschichte
zugleich im Sinne von „Demokratie" gebraucht wurde: die Logik lag zuletzt darin,
daß das noMrevµa Tij' n&Aew, [die politische Vollbürgerschaft] die noJ.ii-ela [Verfas-
sung] darstellte) 82• ttblicherweise wurden die Oligarchen freilich dJJyoi, die
Adligen im allgemeinen 1'aÄol "dyaol, irrf>Aol, ano00aio1, XerJOTol, am genauesten:
etlye11ei,, ye11vaioi, !WiaTel&ti oder . ähnlich genannt88 • Nur insofern sie für die
aristokratische Verfassung waren, nannte Aristoteles sie einmal deiOTOHQaTiHOl8'.

b) Der Stand. Neben den allgemeinen Adelsbezeichnlingen, die alle von den
Merkmalen der „Güte", Edelkeit, Kenntlichkeit, Feinheit oder Wohlgeborenheit
ausgjngen, standen - von Polis zu Polis vers~hieden - die älteren sozial bestimm-
ten und je '3pezifi.schen wiA 'JIF.fll/ln(!fl1 (Guti11hP.sitier), lmroßdTa1 (Pferdezüchter),
lmisi, (Ritter), naxe~ (Dicke), die aber nach dem 5. Jahrhundert nur noch selten.-
es sei denn in Aussagen über die frühere Zeit ~ gebraucht wurden. ·
Ob der griechische Adel je ein genau abgegrenzter Stand gewesen ist, ist unbekannt.
Immerhin ist für die frühe (homerische) Zeit mit einer selbstverständlichen Einheit
von Wohlgeborenheit (samt göttlichem Segen), Tugend (zumal kriegerischer) und
Reichtum (zuw11.l 11.n L11.nd) zu rechnen. Noch in archaischer Zeit aber ist der alte
Tugendkanon ins Wanken geraten und der Vorranp; der Adlip;en vielfach bezweifelt
worden. Teilweise begann der Adel wohl auch damals schon, sich in eine breitere
Schicht von Wohlhabenden einzuschmelzen. Noch im 6. Jahrhundert wurde in
Athen der Anspruch auf Gleichheit aller Staatsbürger erhoben, der dann zur Demo-
kratie führte 35• Die Sophisten behaupteten teilweise die Gleichheit aller Menschen
(einschließlich Sklaven), begannen außerdem, auf Grund neuer Maßstäbe die Be-
griffe dyaDO, und sogar w,,m;, (ursprünglich „wohlgeboren") neu zu deuten: wer
tapfer und gerecht ist, hieß es z. B., ist, selbst wenn er von Sklaven stammt,
adliger (eeyB11dOT~) als die, die nur leeres Vorurteil als solche erscheinen läßt88•
Endlich war jetzt Tugend für jeden erlernbar. Diese radikalen Einsichten sind bei
Platon und Aristoteles wieder gemäßigt worden. Die Auslese der Besten in der
„Politeia" soll zwar allein nach Maßgabe der Vortreff'lichkeit erfolgen; doch glauben
Platon und Aristoteles an die Erblichkeit guter Anlagen. Und wenn diese auch
weder unbedingt noch ausschließlich war, so wurde da.mit doch eine ttberlegen-
heit des Adels wenigstens als Regel behauptet37• Kyniker, Epikureer und Stoiker
aber griffen insofern auf die Sophistik zurück, als sie die ständisc}ien Unterschiede für

"Ders., Pol. 1293b41; 1305a.40; 1305b28; LYSIAS 6, 30; 18, 4; 26, 21; eventuell
ebenso 18, 12. TlroxYDmES 6, 39, l; HERODOT 3, 81, l; 3, 82, l; vgl. ClmisTuN Mimm.
Drei Bemerkungen zur Vor- Ulld Frlihgesohiohte des Begriffs Demokratie, in: Disoordia.
concors, Fsohr. EDGAR BoNJOUB, Bd. 1 (Ba.sei 1968), 18 ff.; ders., Entstehung des
Begriffs 'Demokratie' (Frankfurt 1970), 1 ff. - Demokratie I.
11 Vgl. GEORG BusoLT, Griechische Staatskunde, Bd. 1 (München 1920), 210 f.

" .AmsTOTELES, Nikom. Eth. 1131 a. 29.


111 - Demokratie I.
11 EUJ1.IPIDE8, Fragm. 495, 40 ff. Dazu Al>KINB, Merit, 156 ff. 176 ff. Vgl. WALTD
HAEDIOKE, Die Gedanken der Griechen über Familienherkunft Ulld Vererbung (Halle
1936), 74 ff. 88 ff. 102 ff.
17 JA.EGER, Pa.ideia., Bd. 2, 324 ff.

7
Adel Il. 1. Adel und Aristokratie in der Antike

gleichgültig erachteten. Ihr Ideal einer philosophischen Lebensführung konnte der


Adlige wie der Sklave erfüllen. Neu war dabei, daß es, vornelunliuh und am wirksam-
sten bei der Stoa, um innerliche Werte ging. Die Entwertung der sozialen Außenwelt
ging mit der Verinnerlichung der Werte einher: das stoische Ideal der Weisheit
implizierte die Unabhängigkeit von äußeren Gütern und äußerlicher Schicklichkeit,
ein Leben gemäß der Natur und des darin sich äußernden göttlichen Willens. Der
Pflichtbegriff der Stoa konnte ebenso wie die Unabhängigkeit des Weisen zu einem
neuen, nichtstä.ndischen Adelsbegriff führen. Die Konsequenz dessen formulierte
SENECA: bona m.ens omnibus patet, omnes ad hoc sumus nobiles . . . Platonem non
accepit nobi'lem pki'/,os<Ypkia, sed fecit . . . non facit nobi'lem atrium p'lenum fumosis
imaginibus ... animus facit nobi'lem ... intuendum est non unde veniant, sed quo eaness.
Da dieser neue Adelsbegriff und die anderen Wertungen der hellenistischen Philo-
sophie die Realität gleichsam hinter sich ließen, hätten sie aioh mit einer atändi-
schen Gesellschaftsordnung durchaus vertragen können. Einen eigentlichen Adel
aber hat es gleichwohl in Griechenland seit dem 4. Jahrhundert nur noch teilweise
oder rudimentär gegeben. Die Adelsideale und der adlige Stil stammten aus der
Frühzeit und waren unter den Bedingungen tiefgreifender sozialer Wandlungen,
der weithin herrschenden Demokratie und einer ,, Verwirtschaftlichung'' des Lebens
mehr oder WAnigAr verbraucht worden (außer in Randgebieten und in Fällen einer
„Verstaatlichung" des Adels wie in Sparta). An die Stelle des Adels trat P.inp, Hour-
geoisie89, bestehend aus Leuten mit Geld, mit Muße, da.her am ehe.".lten mit Bildung,
die weniger Anlaß hatten, Unrecht zu tun, also „bessere Leute" waren. Sie sind
aber als solche, soweit wir sehen, nie ernsthaft für adlig gehalten worden (so sehr
sie sich selbst dafür halt.P.n mor.ht.P.n). Tm g11.nr.1m hat. sich der. Adel an die Reichen
angelehnt, während sich die Reichen nicht an die Adligen assimilieren konnten.
Diese Bourgeoisie regierte in den Oligarchien und stellte seit dem 4. Jahrhundert
zunehmend auch die Beamten und Ratsherren in den Demokratien. Unter der
kräftigen Einwirkung der hellenistischen Monarchien schrumpfte endlich der Unter-
schied zwischen den beiden Verfassungen40 , wurde eigentliche Demokratie un-
möglich.
Ein neuer Adel hat sich in Griechenland erst unter dem römischen Imperium
gebildet, als Teil eines Reichsadels, der durch den neuen römischen Begriff des
Amtsadels ermöglicht wurde. Die hellenistischen Reiche kannten zwar verschiedene
Adelsstände' (etwa den makedonischen oder kappadokischen), ·soweit wir sehen
aber keinen Reichsadel.
In Rom gab es nach- und nebeneinander verschiedene Arten von Adel, ursprünglich
die patricii. Das Wort ist abgeleitet von patres, dem Terminus für die Geschlechts-
häupter, die zugleich den Senat bildeten, meint also die Abkömmlinge von Ge-
schlechtern41. Das Patriciat ist spätestens seit etwa 450 abgeschlossen gewesen, eine

as SENECA, Epist. 44. Vgl. HAEDICKE, Familienherkunft, 151 ff.


39 Dazu MICHAEL RosTOVTZEFF, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenisti-
schen Welt, Bd. 2 (Darmstadt 1962), 888 ff.
4 0 -+Demokratie I.

41 Vgl. ALFRED ERNOUT / .ANTOINE MEILLET, Dictionnaire etymologique de la langue


latine, 4° ed. (Paris 1959), 487.

8
b) Stand Äclel

Zeitlang bestand kein oonnubium zu Plebeiem (445 [wieder 1] eingeführt). Caesar


und Augustus haben das Patrioiat erweitert 42 .
Mit dem Aufrücken plebeisoher Familien in die Magistrate bildete sich dann aus
Patriciem und Plebeiem ein neuer Adel unter dem Namen 'nobiles' 43. Was auch
immer das Wort (wörtlich: die „Bekannten", „Kenntlichen") ursprünglich be-
zeichnet haben mag, es wurde wohl schon im 4. oder 3. Jahrhundert v. Chr. termino-
logisch festgelegt, zunächst auf die Inhaber curulisoher Magistrate (Consulat,
Praetur, curulische Aedilität) samt deren männlichen Nachkommen. Sie bildeten
die relativ kleine Führungsschicht innerhalb des Senats. Diese waren ausgezeichnet
durch besondere Rechte, z. B. das ius imaginum, d. h. das Recht, Bilder magistra-
tischer Ahnen im Hause aufzustellen und im Leichenzug mitzuführen. Darin wurde
das Signet dieses Adels deutlich, die Leistung für die res publica, die im Magistrat
vollbracht wurde und sich in der Erlangung von Magistraten dokumentierte, derer
man gedachte und die zugleich die Nachkommen verpflichtete. In beispielloser
Weise hat in Rom Adel und Führung der res publica praktisch das gleiche bedeutet.
Wer Politik trieb, gehörte praktisch immer zum Adel (von Geburt aus oder -was
die geringe Zahl der Nachrückenden anging - durch Assimilation) und vor allem
auch umgekehrt: wer zum Adel gehörte, trieb Politik. Das galt im weiteren Sinn
für den ganzen Senatorenstand, im engeren Sinne für die Nobilität, die sich eben
dadurch relativ klar aus allen anderen heraushob, daß auch die Bekleidung der
höchsten Magistrate und die Führung des Senats in der Hand eines nur langsam
sich ergänzenden engeren Kreises von Geschlechtern lag. Als die Zahl der curuli-
schen Magistrate so weit vermehrt werden mußte, daß jeder zweite bis zur Praetur
kam, das alte Kriterium also sinnlos wurde, wurde ein neues maßgeblich: die
Bekleidung des Consulats (seit etwa 200 v. Chr.). In der Kaiserzeit wurde die
Nobilität zum Petrefakt: so weit wir sehen (bis Anfang des 2. Jahrhunderts) galten
nur noch die Nachkommen der Consuln der Republik und vielleicht noch der
augusteischen Zeit, dafür jetzt auch in weiblicher Linie, als nobiles 44 •
Das Kriterium des Amtes oder der Leistung ist für den römischen Adel spezifisch.
Es ist indirekt wirksam auch in der Herausbildung weiterer Adelskreise, etwa der
senatorischen Familien. Daneben gab es die domi nobiles, die Adligen der zahlreichen
Municipien. Innerhalb der republikanischen Gesellschaft gingen diese jedoch auf
im Ritterstand, dem ordo equester, der nach Maßgabe des Zensus die wohlhabende
Schicht umfaßte, mit der die Senatoren vielfältig verbunden waren und aus denen
sie sich ergänzten46,
Neben 'patricii' und 'nobiles' erfüllten in der Republik 'boni' 46 und 'optimates' 47

H ERNST MEYER, Römischer Staat und Staatsgedanke, 3. Aufl. (Zürich, Stuttgart 1964),
30. 376. 413; CllmsTIAN MEIER, Res publica amissa (Wiesbaden 1966), 28, Anm. 22.
u Vgl. HERMANN STBABBUBGER, Art. Nobiles, RE Bd. 17/1 (1936), 785 ff'.; dazu aber
ADAM ÄFZELIUS, Zur Definition der römischen Nobilität vor der Zeit Ciceros, Classica et
Mediaevalia 7 (1945), 153 ff'.
"MATTHIAS GELZEB, Die Nobilität der Kaiserzeit, Kl. Sehr„ Bd. 1 (Wiesbaden 1962), 136 ff'.
u Vgl. MEIER, Res publica amissa, 64 ff'., bes. 85.
" Dazu THADD.lus Snra:o, De Romanorum viro bono, Rozprawy Akademii Umiejetno,ci,
Ser. 2, Bd. 21 (Krakau 1903), 251 ff'.; MEIER, Res publica amissa, 75. 92. 176.
' 7 Ältester Beleg: ENNIUs, Tragödienfragm. 294 V. Die übrigen :&lege bei HERM4NN
STRASBUBGEB, Art. Optimates, RE Bd. 18/1 (1939), 773 ff'.

9
Aclel ll. 1. Aclel uncl Aristokratie in cler Antike

die Funktion von Adelsbezeichnungen, letzteres wahrscheinlich als Übersetzung


von ßeicnoi. 'Boni' bezeichnete spätestens zur Zeit Ciceros die breite Schicht der
boni at locupletes, der , ,besseren Schichten'' also, konkret: der Senatoren und Ritter.
'Optimates' meinte wesentlich den Senatsadel, insbesondere diejenigen, die die
Sache des Senats entschieden verföchten48 (wie übrigens im engeren Sinne auch
'boni'). CICEROS Versuch, das Wort auf alle Verteidiger der Verfassung bis zu den
Freigelassenen auszudehnen, steht vereinzelt da 49 • 'Optimates' gehörte in den
Bereich der Propaganda, wo es den ethischen Anspruch und damit die Begründung
des politischen Anspruchs der Nobilität artikulierte. Die Gegner des Senats mieden
es. Wenn SALLUST sagte: uti quisque locupktissimus et iniuria validior, quia pt'ae-
sentia <lefendebat, pro bono ducebatur, so gilt das ebenso für optimates60• Als agitato-
risches Schimpfwort gegen den Adel benutzte man dagegen gern 'nobilitas'&l.
Spezielle Kritik gegen die nobiles iiuhLewn ilie howines novi. Sallust sagte, jene
meldeten Ansprüche ez aliena virtute an,. die diese aus eigener virt'U8 nicht sollten
stellen dürfen 62 •
Im Griechischen wurde 'optimates' vornehmlich mit ßeicnoi und deicno"(?an"o'
wiedergeg11h11n, woh11i d11r politif.mhA Rinn meist. den ständischen überwog. Da begeg-
nete denn auch gelegentlich deiai-o"eai-la für die Gesamtheit der „Optima.ten"53.
Die Historiker verwendeten den Ausdruck aber nur, sofern sie sich mit seinen
ethischen Implikationen identifizierten. Sonst sprach man von faotio, pauci, no-
biles, dviyaex"'ol, mnai-ol etc. Die aristokratische Verfassung hieß bei CICERO opti-
matium dominatus, optimatium praeclarus status u. ä.; die dort Herrschenden firmier-
ten als <lelecti oder eben optimates54.
In der Kaiserzeit wurde der ordo senatorius - wie der ordo equester - zum fest
umrissenen Stand. Senator wurde man als Nachkomme eines Senators oder durch
kaiserliche Verleihung. Die Senatoren bildeten den obersten Reichsadel; einen zwei-
ten bildeten die Ritter - Tacitus spricht einmal auch von „equestris nobilitas" -,
di11 jedoch in der Spätantilee allinählich im Senatorenstand aufgingen. Noch zur
Zeit GREGORS VON ToURs nennen sich die Abkömmlinge des alten Reichsadels in
Gallien senatores 55• Der Senator trug samt Frau und Kind- seit dem 2. Jahrhundert
gesetzlich festgelegt - den Titel „clarissimus". In späterer Zeit wurden verschie-
dene Rangklassen - übrigens auch bei den Rittern - durch andere, meist super-
lativische Titel ausgezeichnet.
Als allgemeine Adelsbezeichnung kam in der Spätantilee auch 'nobilis' wieder auf58•
Im Blick auf den galloromanischen senatorischen Adel konnte man von nobilium

0 Das Wort ist seit den Gracchen (vgl. MEIER, Res ·publica a.missa, 133. 428) ohne die
Nuance „konservativ" nicht mehr gebraucht worden.
" CICERO, Pro Sestio 96 ff.
60 SALLUST, Bist. 1, 12.
11 Auctor ad Herennium 1, 8.
II SALLUl'IT, ,Jug11rt.h11. Rä, 25; vgl. ebd. 37 f.
18 PLUTABCH, C. Marc. 7, 2 als einziger eindeutiger Beleg; ähnlich ist wohl ebd. 16, 4 zu

verstehen.
H CICERO, Rep. 1, 43; 1, 68; 3, 23.
11 KARL FBricDB.ICH STaoHEXER, GermanentUDl' und Spitantik.e (Zürich 1965), 192 ff.
68 WILHELlll ENSSLIN, Art. Nobilissimus, RE Bd. 17/1 (1936), 799.

10
II. 3. Konstanz dr.11 Adelshegriß'e bis zum 18. Jahrhundert Adel

universitas sprechen57 • Das Verschwinden der alten Grundlage dieses Adels provo-
zierte einen neuen Adelsbegriff, wenn etwa APOLLINARIS Smomus schreibt: remotis
gradibus dignif,aJ;um, per quos solebat ultimo a quoque summus quisque discerni,
solum erit posthac nobilitatis indicium litteras nosse 58• Auf die Dauer wuchs dann
aber der alte Adel mit dem neuen germanischen zusammen. CHRISTIAN MEIER

2. Umwertung durch Stoa und Christentum

Bezeichnungen mi:d Begriffsbestimmungen des Adels standen also in spätrömischer


bzw. frühmittelalterlicher Zeit zur Verfügung, als neue Träger adeliger Herrschaft,
Gefolgschaft und Amtsgewalt innerhalb germanisch-romanischer Monarchien in
die römische Adelstradition eintraten. Es wurde hervorgehoben, daß die soziale
Selbstsicherheit der Adeligen sowie die ihnen gezollte Hochachtung in der Gesell-
i;chafL schon früh - in Athen seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. - angefochten 1mfl
unter den ökonomisch-politischen Bedingungen im Hellenismus fragwürdig gewor-
den waren. Wo immer Adel sich hielt oder sich ne'Q. bildete, d. h. vor allem in der
römischen Republik und im PrincipaL, wirkLe Jiese Antinomie zwischen Anspruch
und Anfechtung fort,: adelige Rangordnung und Herrschaft in der politischen Welt
einerseits, „Tugendadel" ohne Rücksicht auf Abstammung und Prestige in der
„innerlichen" Welt der (vorwiegend stois(lh-)philo1mphisch Gebildeten anuererseits.
Diese Antinomie wurde durch das Christentum aufgenommen, überholt und dem
christlichen Europa tradiert. So wenig davon die Rede sein kann, daß aus dem
Neuen Testament für die in der römisch-hellenistischen Welt geltenden Begriffe
von Adel und Aristokratie irgendwelche .Änderungen gefolgt wären, da die politisch-
soziale Welt als solche nicht Gegenstand der christlichen Botschaft war, so stand
doch in den Evangelien und den Briefen die Zugehörigkeit der Glaubenden (ohne
alle irdische Rangordnung) zum Reich Gottes über der Ehre und dem Ansehen
aller „Gewalten" in der Welt. Damit war, ähnlich wie in der Stoa, die Umkehrung
der in der Welt gültigen Stufung von Hoch und Niedrig, Reich und Arm, König
und Bettler, Herr und Knecht nicht nur möglich, sondern zwingend (und im Hin-
blick auf das bevorstehende Weltgericht „wirklich". Aus der neutestamentlichen
Paradoxie des Christenstandes jenseits und doch inmitten der „Welt" ergab sich,
daß in der christlichen Tradition der stets festgehaltene Begriff des Adels als
„'l'ugendadel" (aus „nobilitas" folgte „virtus", sofern „virtus" bewiesen wurde,
die ihrerseits wieder auf „nobilitas" zurückdeutete) jederzeit potentiell aufgehoben
war, mochte faktisch die Herrschaftsordnung durch eine „christliche" Ethik auch
noch so· stark gestützt erscheinen.

3. Suhstantielle Konstanz des Adelshegrift's bis zum 18. Jahrhundert

Entsprechend der sozialgeschichtlichen Kontinuität des Adels von der „Antike"


zum „Mittelalter", wie sie besonders für GaHien erwiesen ist, wurden auch die
Bezeichnungen des ehrenvollen Ranges wie potens, nobilis, inluster ( = Angehöriger

11 7 KARL FlwmBIOH STBOHEKlm, Der senatorische Adel im spätantiken Gallien (Tübingen


1948), passim, bes. 60.
68 .Al>OLLINABIS Smomus, Epist. 8, 2, 2.

11
Adel Il. 3. Konstanz des Adelsbegmfs Lis zum 18. Jahrhundert

der ersten Rangklasse), optimas, procer ohne Unterbrechung und ohne Rücksicht
auf Sprache und nationale Zugehörigkeit fortgeerbt. Diese Bezeichnungen wurden
auf die Adeligen des romanisch-germanischen FrankAnreiohs sowie später auf den
ostfränkisch-deutschen Adel angewandt 59 • Dabei lassen sich zwei Hauptschichten
unterscheiden: Familien der nobilissimi, inlustri, aus denen die höchsten Amts-
träger (duces, marchiones, comites erster Klasse, d. h. Großgrafen) sowie der höchste
Klerus des Reichs hervorgingen. Daneben bzw. darunter standen diejenigen, die,
in den Urkunden von Angehörigen der ersten Gruppe als „Umstand" angeführt,
seit dem 8./9. Jahrhundert als deren Vasallen nachweisbar sind und seit dem
10./11. Jahrhundert, meist im Dienste dieser Herren oder der Kirche, ihre eigenen
Burgen erhielten. Beide Gruppen gemeinsam waren von allen übrigen; besonders
von den kleinen Waffenträgern und Dienern, sozial stark abgehoben. In diesen
Edelfreien ist der frühmittelalterliche Adel zu sehen, wenn sie auch noch nicht im
Gesamtbegriff zusammengefaßt wurden. Erst seit dem 10., in großem Ausmaß seit
dem 11. und 12. Jahrhundert ging aus der Schicht der kleinen Krieger und Reiter
der später sog. „niedere Adel" hervor. Sein Aufstieg war verquickt, aber nicht
durchweg identisch mit der Bildung des neuen Standes der MiniAt.Ari11.litä.t. Bilil .zum
13. Jahrhundert verschmolzen die heterogenen Elemente in Auf- und Abstieg (alte
Edelfreie, neue Ministerialen) zu einem einzigen „Adel", der von nun an - nach
unten abgosohlossen - in diesem Gesamtbegriff ('edel', 'Edelmann') zusammen-
gefaßt, gleichwohl aber zunehmend bis zum 18. Jahrhundert nach Titel- und Rang-
klassen unterteilt und seit dem ausgehenden Mittelalter in einen „höheren" und
„niederen" Adel geschieden wurde (s. u. S. 14) 60 • Sowohl die Adeligen der fränki-
schen und frühdeutschen Zeit wie auch die Angehörigen des GesamtadelR seit dem
13. Jahrhundert wurden bis zum modernen Umhruch stets gemäß der spätantiken
Dichotomie begriffen: entweder in der ursprünglichen Geschlossenheit oder in der
sLuiächen, dann christlichen Brechung. Prototypisch stehen hierfür zwei frühmittel~
alterliche Zeugnisse 61• Derligeda Chorbischof THEGAN, Verfasser der Vita Ludwigs
des Frommen, verurtßilte den Erzbischof Ebo von Reims als unerwünschten Rat-
geber des Kaisers, weil er ex originalium servorum stirpe war. Als Geblütsloser habe
Ebo zwar ein Freier (liber), aber nicht einAdliger (nobilis) werden können 62 • Zwar
sah Thegan, daß das hohe Kirchenamt und die Heiraten von Verwandten Ebos den
Weg zur Qualität des nobilis öffneten; aber für ihn gab es keinen nobilis ohne

H Vgl. neuerdings KABr. FERDINAND WERNER, Bedeutende Adelsfamilien i.m Reiche


Karls des Großen, in: Karl der Große, 3. Aufl., Bd. 1 (Düsseldorf 1967), 83 ff., bes. 86 ff.
126 ff.
eo Die Sozial- und Rechtsgeschichte der Bezeichnungen für die Titel- und Rangklassen
sowie die landständischen Kurien (Herren, Ritter) darzustellen, ist nicht Aufgabe un-
seres Artikels. Außer den rechts- und verfaBBungsgeschichtlicben Handbüchern sei ver-
wiesen auf: Deutscher Adel 1430---1555. Büdinger Vorträge 1963, hg. v. HELLMUTH
RöSSLER (Darmstadt 1965).
s1 Zitiert und interpretiert bei KABr. SCHMID, Geblüt, Herrschaft, Geschlechtsbewußtsein.
Grundfragen zum Verständnis des Adels im Mittelalter (Habil.-Schr. Freiburg 1962),
10 ff. (noch ungedruckt).
u THEGAN, Vita ffiudowici imperatoi:,is, c. 44, MG SS Bd. 2 (1829), 599; vgl. auch c. 20,
ebd., 595.

12
II. 3. Konstanz des AdelsbegriJls his zum 18. Jahrhundert Adel

Geblüt. Adel sollte nicht erworben werden können 63. Dagegen steht, ebenfalls aus
dem 9. Jahrhundert, die Belehrung der DHUODA, der Gemahlin des adligen Käm-
merers Ludwigs des Frommen, für ihren Sohn, einen nobilis natus, über die fragi-
litas dignitatum auf Grund des christlichen Weltverständnisses: duo nativitates in
homine esse noscuntur; una carnalis, altera spiritualis, sed nobilior spiritualis quam
carnalis . . . 1n paupertate etenim mentis tuam nobilitatem supplici corde latitare
.~emper 6 4. Der Adel einer christlichen Glaubensbewährung wurde also ausdrücklich
für „adliger" gehalten als ein unchristlicher bloßer Geblütsadel. Aus dieser Kluft
zwischen geblütslosem Christenadel und achristlichem Erbadel mußte also, wenn
Vollkommenheit erreicht und Adel bestätigt werden sollte, gefolgert werden, beides
zu verbinden. Auf solcher Verbindung beruhte die „Adelskirche" des frühen und
hohen Mittelalters. Für Bischof IBrich von Augsburg wurde gegen Ende des 10. Jahr-
hunderts in Anspruch genollllllen, daß er als adliger Bischof ein „väterliches Erbe"
( paterna hereditas) im Doppelsinn von adligem Geschlecht und christlicher Gottes-
kindschaft besitze65. Es gehörte infolge dieser doppelten, widersprüchlichen und
doch vereinbaren Wertung weithin zur Topologie mittelalterlicher (Heiligen-) Bio-
graphien, daß 'nobiliR' im P.hfln hfl~michneten Sinne durch 'nobilior' gesteigert und
(]eblüt von edler Lebensbewährung, Geburtsadel von Seelenadel unterschieden
wurden 66 • In der alt- und mittelhochdeutschen Sprache hat dieWortfamilie 'adel'/
'edel', der im Lateinischen eine große Anzahl von Bezeichnungen wie nobilitas
(nobilis), generositas, prosapia u. a. entsprach, erst seit der Salier- und klarer noch
seit der Stauferzeit auch eine ethische, vom Geblütserbe absehende Bedeutung an-
genommen. Offenbar hat die Sprache nur zögernd die antik-christliche Tradition
in dieser Richtung übemommen67.
Die Selbstsicherheit, mit der sich der Adel begriff, und die Anerkennung, die er in
der sozialen Ordnung genoß, wurden bis zum 18. Jahrhundert immer von neuem
durch die Wirklichkeit der politisch-sozialen Ordnung bestätigt. Denn das adlig-
herrschaftliche Gefüge blieb durch alle Wandlungen und Krisen hindurch bestehen.

13 Vgl. KARL BosL, Früh.formen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa (München,

Wien 1964); ders., Die Gesellschaft in der Geschichte des Mittelalters (Göttingen 1966),
mit Angaben weiterer und älterer Literatur.
84 JoA.cm:na: WoLLA.SCH, Eine adlige Familie des frühen Mittelalters, Arch. f. Kulturgesch.

39 (1957), 150 ff.


11 SCHMID, Geblüt, 13 f.; GERHAlID, Vita sancti Oudalrici episcopi, MG 88 Bd. 4 (1841),

384:. - Vgl. auch KARL BosL, Der Adelsheilige. Idooltypus und Wirklichkeit, Gesellschaft
und Kultur im merovingischen Bayern des 7. und 8. Jahrhunderts, in: 8peculum historiale,
Fschr. JoHANNEs SPÖRL (München 1965), 167 ff.
88 SCHMID, Geblüt, 21 f. - Vgl. u. a. HANs SCHMlTz, Blutsadel und Geistesadel in der
hochhöfischen Dichtung (phil. Diss. Bonn 1940); KARL VossLER, Adel der Geburt und der
Gesinnung bei den Romanen, in: Aus der romanischen Welt, Bd. 1 (Leipzig 1940), 50 ff.;
ERNST RoBERT ClraTIUs, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 6. Aufl..
(Bern, München 1967), 188 f.; BRUNNER, Adeliges Landleben, 74 ff. mit Zitaten aus
Mittelalter und früher Neuzeit.
87 HERTA ZUTT, Adel und edel. Wort und Bedeutung bis ins 13. Jahrhundert (phil. Diss.

Freiburg 1956; Mschr.); FRIEDRICH MAURER, 'Ober Adel und edel in altdeutscher Dich-
tung, in: Adel und Kirche, Fschr. Gerd Tellenbach, hg. v. JOSEF FLECKENSTEIN u.
KARL SCHMID (Freiburg, Basel, Wien 1968), 1 ff.

13
Adel D. 3. Komtanz det Acloltbeiriffa bis zum 18. Jabrb-tlert

Stärker als die christliche Leugnung adliger magnanimitas als .eines weltlichen
Höchstwertes wirkte die christliche Anverwandlung an das weltlich Gegebene, das
christlich legitimiert oder christlich „ veredelt" wurde. In diesem Zusammenhang
steht vor allem die Sakralisierung des „Heils" großer Geschlechter, besonders der
Könige(-+ Monarchie). Vom 10./11. Jahrhundert an verstärkte sich die christliche
Bindung des Adels und damit die christliche Färbung des Adelsbegriffs durch die
cluniazensische Reform, die Gottesfriedensbewegung, in der die als Christen ange-
sprochenen Adeligen sich zur Begrenzung ihrer Fehden verstanden, ferner die An-
wendung des alten Begriffs der „militia Christi" (ursprünglich auf waffenlos kämp-
fende Kleriker bezogen) auf den Ritter des „heiligen Krieges" (Heidenkrieg, bewaff-
nete Wallfahrt, Kreuzzug), des „miles christianus" 68 • Der Anruf und der Zwang der
Kirche zur Verchristlichung des Adels wurden von da an immer aufs neue wieder-
holt. Die Parzivaldichtung und die Ritterorden waren der höchste Ausdruck dessen.
So wurden die adeligen Herren vom König bis zum Edelfreien zunehmend in die
Macht der Kirche eingefügt. Doch blieb diese Kirche trotz der Reformbewegung
und des Investiturstreits vorwiegend eine Adelskirche, wenn auch nicht mehr Eigen-
kirche adliger Herrschaft.
Auf diese Verchristlichungstendenz folgte· - tiicherlich nicht ohne Wirkungszu-
sammenhang mit ihr - die bereits hervorgehobene Verschmelzung zum Gesamt-
adel, der begrifflich differenziert und zusammengefaßt in die Verfassung des Reichs
und der neu entstehenden „Länder" einbezogen wurde.
Die „Heerschildordnung" begriff den Adel als geschlossene und gestufte Gesamtheit
vom König und seinen unmittelbaren „homines ligii", den geistlichen und welt-
lichen Reichsfürsten (domini terrae), über die Grafen und freien Herrn (bereits
UntervaRn.Uen) bis zu den Rittern, die, größtenteils ursprünglich unfreie Dienst-
mannen (ministeriales), im Dienste des Königs oder der Fürsten, in den Adel
aufstiegen und die untersten Stufen der Heerschildordnung besetzten. Damit war
der Adel (nobilitas) nicht mehr nur die Qualität des princeps, nobilis oder potens,
sondern bezeichnete einen geschlossenen Stand, der durch die Heerschildordnung
lehensrechtlich sowohl in seiner Einheit wie in seiner Vielfalt als „Wehrstand"
(defensores im Sinne der auf Platon zurückgehenden Dreiständelehre) definiert war.
Die Vielfalt wurde wiederum gebündelt durch die Zweiteilung in einen hohen (vom
König bis zu den freien Herren, die im späteren Mittelalter übereim1timmend
„Herren" genannt wurden) und einen niederen Adel (Ritter und, in gewisser Distanz,
das Patriziat bedeutenderer Städte) 69 • Diese gegliederte Rechtsstellung des Adels
innerhalb der Lehens- und Wehrverfassung des Reichs blieb, zuzüglich der reichs-
rechtlichen Hervorhebung der Kurfürsten (13./14. Jahrhundert), in der Grund-
struktur bis zum Ende des Reichs 1803/06 erhalten. Damit war der Adelsbegriff
reichs- und staatsrechtlich fixiert. Auf solche Weise war das Reich trotz und sogar
mit Hilfe der erst allmählich herrschaftsintensiv werdenden Landesherrschaften
88 Vgl; CA.RL ERDMANN, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens (Stuttgart 1935).
III Vgl. zum Patriziat: Deutsches Patriziat 1430-1740. Büdinger Vorträge 1965, hg. v.
HELLMUTH RösSLER (Limburg 1968), ferner zu Einzelbeispielen WALTER FÜRNROHR, Das
Patriziat der Freien Reichsstadt Regensburg zur Zeit des immerwährenden Reichstags,
in: Verb. d. Hiat. Vereins f. Oberpfalz u. Regensburg 93 (1952), 153 ff. - HANNs HUBERT
. HOFMANN, Nobiles Norimbergenses, Zs. f. bayr. Landesgesch. 28 (1965), 114 ff.; FRIEDRICH
v. KLoOKE, Das Patriziatsproblem und die Werler Erbsä.lzer (Münster 1965).

14
D. 3. :Komtanz des AdeJahegri«s bis mm 18. Jabrb-dert Adel

(Territorien) ein adeliger Personenverband oder eine gestufte, große Aristokratie


:nlit monarchischer Spitze. Das Reich war als adelige „Heerschildordnung" verfaßt.
0 edels Reich! von tleinem adel so sein alle geadelt, schrieb der Verfasser der „Refor-
matio Sigismundi" (1439) im Bewußtsein dieser Reich-Adel-Beziehung70, die bis
zum Zusammenbruch des Refohs lebendig blieb und im 16./18. Jahrhundert durch
zahlreiche kaiserliche Nobilitienmgen bekräftigt wurde. Allerdings war dieser Be-
griff des Adels als Adel des Reichs schon von der Stauferzeit an gebrochen, da nur
der reichsfürstliche Teil des hohen Adels - dazu seit dem 16. Jahrhundert endgültig
festgelegt: auch noch wenige Reichsgrafen und Reichsäbte sowie die Reichsritter-
schaft vornehmlich des Südwestens - in unmittelbarer Lehensbeziehung zum
König bzw. Kaiser stand (Reichsstandschaft auf den Reichstagen). Der übrige Teil
des hohen Adels sowie die große Zahl der „landsässigen" Ritter gerieten lehensrecht.-
lich in den Bereich der ,,Länder", d. h. der seit dem 15. Jahrhundert gefestigten und
das Monopol legitimer Gewaltanwendung beanspruchenden Fürstenstaaten (Land-
standschaft auf den Landtagen). Indem die Landesherren sich um die Wende vom
15. zum 16. Jahrhundert endgültig mit diesem Anspruch durchsetzten, geriet der
nichtförst.linh11 Adel in die Krise; er verlor mit dem Recht auf die Fehde entschei-
dend an autonomer Macht; seine Herrschaftsstellung wurde durch die Überordnung
des friedestiftenden, Rechtsprechung und Verwaltung tendenziell an Hich ziehenden
Staates eingeschränkt; die Zeit des· durch Fehde selbstmächtig Recht heischenden
Adels ging um 1500 zu Ende. Der (nichtfürstliche) Adel geriet zunehmend unter den
Zwang, sich durch Hinwendung zum Hof- und Staatsdienst neu zu formieren,
seine Grund- und Hausherrschaft auf dem Lande dadurch zu halten und auszu-
bauen, daß er sich mit der landesherrlichen Gewalt ins Benehmen setzte, und den
neuen Bedingungen dadurch Rechnung zu tTagen, daß er auf der Familienbasis
des Landguts nicht nur Land-, sondern zunehmend auch Hof- und Staatsdienstadel
(Militär, Gericht und Verwaltung) wurde, in Abwehr gegen das durch Reichtum
und Bildung konkurrierende Stadtbürgertum.
War der Adel erst im Spannungsfeld von Reich und Territorium zwischen 1200
und 1500 zum festen Rechtsbegriff geworden, so entsprach dem die zunehmende
Artikulation· adligen Bewußtseins, adeliger-. Ehre und (adelsgemäßer) Tugend in
der Ritterdichtung der Stauferzeit und den spätmittelalterlichen, außerordentlich
zahlreichen, streng verfaßten Adelsgesellschaften bzw. -genossenschaften zum
gegenseitigen Rechtsschutz im Geiste ständischer Exklusivität71 • Das traditionelle
Adelsethos wurde verfeinert, ja z. T. ästhetisiert, in strenge Formen gebracht und
jeweils den gewandelten Erscheinungsformen des Adels aufgnmd neuer Bedingun-
gen eingefügt. Das heißt: die Stellung des Adels in seiner Gliederungsvielfalt änderte
sich; und somit wurde Adel jeweils gewandelt in seiner Umwelt begriffen.
Doch über diesem Wandel der politisch-sozialen Verhältnismäßigkeit blieb die
Konstanz der Kriterien und der Grundsubstanz des Begriffs bestehen. Das galt
auch für die traditionelle Kehrseite christlicher Anfechtung. Die ursprünglich
stoische Lehre von der „natürlichen" Gleichheit der Menschen ist offenbar nie
70 LoTHAR GB.All' zu DoJINA., Reformatio Sigismundi (Göttingen 1960), 150 f.
71Vgl. BEBNll'.AllJ> HEYDENREICH, Ritterorden und Rittergesellscha.ften. Ihre Entwick-
lung vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit (phil. Dias. Wfuzburg 1960); HERBEBT
ÜBENAUS, Recht und Verfassung der Gesellschaften mit St. Jörgensohild in Schwaben
(Göttingen 1961).

15
Adel II. 3. Konstanz des AdelshegriJfs bis zum 18. Jahrhundert

völlig aus der Tradition verschwunden gewesen. Gemäß GREGORS DES GROSSEN
Satz: Omnes namque.homines natura aequales sumus72 wurde die „aequalitas" der
Menschen (von Natur oder in der christlichen Gotteskindschaft) der „inaequalitas"
des Adels gegenübergestellt73. Die soziale Ungleichheit war stets - gemäß der Regel
des HL. BENEDIKT - in der gloriosa fraternitatis equalitas der Religiosen, darüber
hinaus prinzipiell in der allgemeinen Gotteskindschaft der Christen aufgehoben 74.
Dabei konnte 'Adel' als wirklicher Adel bestätigt werden, wenn etwa „Adelsheilige"
dem weltlichen Treiben ihres Standes entsagten und die vita evangelica suchten75;
andererseits aber wurde (topologisch) christlicher Seelenadel bloßem adligen Geblüt
(ohne Tugendbestätigung) entgegengesetzt. Über die übliche, sozial ungefährliche
Spiritualisierung der christlichen Gleichheit hinaus konnte es im späten Mittelalter
zu harter Adelskritik oder - bei Schwärmern und Täufern - zur Verwerfung des
Adels überhaupt kommen. Inmitten solcher Unruhe über den Adel, zwischen An-
griff und Abwehr, entstanden gelehrte Distinktionen, durch die der Ad11h1h11griff
nach ethischen Kriterien aufgefächert wurde, so z.B. bei JOHANN NIDER (1380 bis
1438), der den Topos aufnimmt 76 : Nobilitas ... consistit in sola per virtutes anirM
perfectione und sodann unterscheidet: a) nnhilitn.~ .~11.pP.rn11t11orali1 et infusa (bei Ado.m
und Eva, König Saul u. a.), b) nobilitas natu,ralis et acquisita (der ägyptiRohe Josef,
König David u. a.), c) die eigentlichen Adeligen, bei denen vornehme Geburt und
Tugendbewährung zusallllllentreffen: nobilitas conata [cognata] et operosa, d) die
PerverRion des Adels (Strauchritter): nobilitas conata et umbrosa. Bei solcher Ein-
teilung war es möglich, den (über-)natürlichen Seelenadel auf die Kirchengeschichte
beschränkt sein zu lassen und den wahren Adel zu rechtfertigen: vera nobilitas sei
die Verbindung von dispositio ad virtutes notabiles und einer Abstammung ex genere
notabile. In ihm verhirnlfl Rich a.ntiqtta pa.rentela cum actualibus virtutibus. Nider
bringt zu diesem klassischen Zusammenhang viele Belege, beginnend mit Boäthius,
bei. Alle Adelsliteratur bis zum 18. Jahrhundert ist erfüllt vom Adel-Tugend-
Topos77, der ebenso anklagend wie verteidigend verwendet werden konnte und

72GREGOR DER GRossE, Moralia 21, 15, zit. BoSL, Frühformen (s. Anm. 63), 132.
73Als Beispiel aus dem 12. Jahrhundert (ca. 1184/86) vgl. ANDREAS CAPELLANUS, De
amore, hg. v. E. Trojel, 2. Aufl. (München 1964), 23 f. Dort der plebeius ad plebeiam: ...
hominu universos ab initio prodiit una natura, unaque omnu uaque ad hoc tempus tenuiaset
aequalitas; diese sei wichtiger als inaequalitas nobilitatia. Die plebeia bestreitet dies und stellt
dagegen: nobilitas eni1n et 'popularitas in diverais seribus „non bene conveniunt nec in una
aede morantur" (Bezug auf Ovm, Metam. 2, 846). Spätes Zeugnis dieses (vermutlichen)
Topos bei GERHARD llAGEMANN, De omnigena hominis nobilitate (Cölln 1696), Buch 3,
Tit. 1, 54 f., zit. FRIEDRICH GEORG AUGUST SCHMIDT, Fortgesetzte Beytrige zur Geschichte
des Adels (Leipzig 1795), 20 ff.
7' Zu S. BENEDICTI Regula 2, 18 (non convertenti ex servitio praeponatur i111Jenuua) s. den
Exkurs über die Auslegungsgeschichte (Regelkommentare bis zum 15. Jahrhundert) mit
vielen Belegen für einen christlichen bzw. „geistlichen" Adel im Gegensatz zum „:fleisch-
lichen" Adel bei KLA.us S1,,'HREINER, Sozial- und standesgeschichtliche Untersuchungen
zu den Benediktinerkonventen im östlichen Schwarzwald (Rt.nttga.rt 196'), 112 ff.
76 BosL, Der Adelsheilige, passim; HAGEN KELLER, „Adelsheiliger" und Pauper Christi
in Ekkcbcrto Vita sancti Ha.imerodi, in: Adt1l uud Kirche (s. Anm. 67), 307 ff.
78 Zit. SCHREINER, Benediktinerkonvente, 98 ff.
77 Vgl. CuRTIUs, Europäische Literatur, 186 f.; DOHNA, Reformatio Sigismundi, 150 f.,

mit Belegen.

16
II. 3. Konstanz des Adelshegmrs his zum 18. Jahrhundert Adel

daher oft einen gewissermaßen schwebenden Sinn ergibt, so etwa bei WOLF HELM-
HARD voN HoHBERG {1664):

Im Adel die Natur nicht Urüerscheiil ursachet


Von dem gemeinen Volk, wo Tugend ihn ni.cht machet78 ;
oder bei LASSEN:
Was ist Adel ohne Tugend:
Anders nichts als Rauch und Dampf;
Was ziert anders unsre Jugend,
Als die Tugend und ein Kampf:
Darum Edel von Geblüt
Sei auch Edel von Gemüt7·9.

Die begri:ft'liche Differenzierung konnte noch sehr viel weiLer getrieben werden als
bei Johann Nider. Dafür lag offenbar im adelskritischen Spätmittelalter ein
besonders starkes Bedürfnis vor. JOHANNES GERSON 80 z.B. stellte neben den Adel
im üblichen Sinn (nobilitas parentalis) den verliehenen Adel (nobilitas honestalis)
und (in stoisoh-philosophi&oher Tradition) den natürlic.hen Vernunft11.nP.l (ti.nhi.liln..~
na.turalis - j11ilü:io rat1:onis). Diesen drei Adelsarten, die nicht moraliter. . . laudabiles
seien, stellte er wiederum drei Arten adliger Lebensführung gegenüber, die allein
moralisch definiert waren: nobilitas virtualis (ex assuefactione vel habituatione vir-
tutum moralium), deren Überhöhung m1:r nobilitas heroi.calis, und die nobilitas super-
naturalis des gläubigen Christen. Dieser Christenadel sollte über allen andern-stehen
oder alle andern durchdringen: Nulla nobilitas eligibilior est, nulla dignior, quam esse
Ohristianum re et nomine. Bezeichnenderweise führte aber auch dies Übertrumpfen
des bloßen Geblüts durch naturgegebene Geistesveranlagung, durch moralische
Kraft, vor allem aber durch den christlichen Gnadenstand, nicht zu der sozial-
revolutionären Ablehnung des Abstammungsadels überhaupt. Die Antinomie
wurde hart ausgesprochen, aber im allgemeinen im Sinne einer dauernden ständi-
schen Ordnung aufgelöst; so z.B. in den Versen auf einem Holzschnitt mit dem
Titel „Der Adel" von LUKAS CRANACH D • .Ä., die an das bekannte „Sprichwort"
erinnerten:
Da Adam reut und Eva spann,
Wer war doch da ein Edelmann?,
und dagegen setzten:
Es ist wohl wahr, doch weil gewiß
Der Adel Gottes Ordnung ist,
Solln wir ihm sein ge'bührli.ch Ehr
Erzeigen nach St. Pauli Lehrei.

78 W. H. v. HoBBERG, Der Habspurgische Ottobert (Erfurt 1664), 18, 465, zit. BRUNNEB,
Adeliges Landleben, 75.
79 JOHANN LAssEN, Adellohe Tischreden (Nürnberg 1661), 38.
80 J. GERSON, De nobilitate, zit. ScmtEINEB, Benediktinerkonvente, 94 f.
81 Zit. EBERHARD Fror. SCHENK zu SCHWEINSBERG, Die Wandlung des Adelsbildes in der
Kunst, in: Deutscher Adel (e. Anm. 60), 1 f.

2-90385/1 17
Aael D. 4. AktaalDienmg aaa Zurücktreten des Bepiffs

Der Geblütsadel wurde auch durch die Behauptung bestätigt, daß gerade der
Christenadel am großartigsten von Menschen vornehmer Herkunft verwirklicht
werde. Der „Adelsheilige" des Früh~ und Hochmittelalters wirkte nach, wenn
Gerson davon sprach, daß humilitas purpurata wirksamer sei als vilitas. So brauch-
ten auch MEISTER EcKEHARTS Adel der Seile82 oder TAULERS hoher a.del ... ei'ltS
geistlichen lebe'1t888 nicht als Verwerfung des Adels aufgefaßt zu werden, wenn auch
- besonders in den Wirren des 15. Jahrhunderts und der Reformationszeit - üb-
liche Adelskritik zu Haß und Aufruhr gesteigert und damit das Edelsein einfacher
Menschen (z.B. ed'ler Bauer oder Ackermann) 84 scharf antithetisch gegen den Adel
von Geblüt gesetzt wurde.
Doch wurde solche Adelsverneinung wieder überdeckt und zurückgedrängt, als vom
16.-18. Jahrhundert die europäische Adelskultur in enger Verbindung mit den
Fürstenhöfen zu ihrer späten und höchsten Blüte gesteigert wurde. TYPisch für
diese Zeit wurde der.Hofadel, der sich-trotz Familien- und Landgutbeziehungen-
vom Landadel abhob, besonders wenn er im Übergang zum Beamtenadel durch
Nobilitierung sich genealogisch erweiterte und damit der Abschließungstendenz des
Ad~ls infnlgA ÜhATRpannung des Abstammungsprinzips (.Ahnenprobe, Adelsmatri-
keln) entgegenwirkte. Im Maße wie, besonders im 18. Jahrhundert, sowohl alter
Landadel wie neuer Hofadel in den (Militär- oder „Civil"-) Dienst der '.Fürsten-
staaten eintraten, wurde der Staat zu einer nicht mehr gegen den Adel, sondern
mit dem Adel verwirklichten Herrschaftsorganisation, so daß die überlieferte
Tugendverpflichtung des Adels als Dienst für den Staat und damit für das Gemein-
wohl neu konkrotisiort worden konnte. Je mcb,r „.Ämter" und „Stellen" von de11
Fürstenstaaten für notwendig erachtet und angeboten wlirden, desto mehr Alt-
oder Neuadelige strömten in diese ein, so daß die Staaten in der großen Breite ihrer
personellen Spitzen gegliederte Adelsgesellschaften waren und sich damit dem
adeligen Personalverband des Heiligen Römischen Reichs (deutscher Nation) sozial
anglichen, auch wenn diese Staaten - von den „Republiken" (-Republik) der
Reichsstädte abgesehen - gemäß der seit der Aristoteles-Rezeption des 13. Jahr-
hunderts tradierten Lehre der Regierungsformen „monarchisch", das Reich· aber
seit dem 16. Jahrhundert - mindestens von allen, die daran politisch interessiert
waren - als eine „Aristokratie" begriffen werden konnte.

4. .ßmalisierung (um 1600) und Zurücktreten (um 1700) des


AristokratiebegrUl's

'Aristokratie' als gelehrt-rezipierter Begriff wurde im 16. Jahrhundert durch die


Auseinandersetzung um die Reichsverfassung zum politischen Kampfbegriff. Aus
den Machtkämpfen zwischen Kaiser und Reichsständen sowie aus den Reichs-
reformbestrebungen des 15. und 16. Jahrhunderts (Formel „Kaiser und Reich")
folgte, daß das Reich als eine Monarchie, eine Aristokratie oder in einer - ver-

81 MBlsTBB E<lKlmABT, in: Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hg. v. FRANZ
PJrBDl'J'EB, Bd.. 2/1 (Leipzig 1857), 416 ff.
88 Die Predigten Taulers, hg. v. FERDINAND VETTER (Berlin 1910), 285.
"FBnmmCH v. B:mzoLD, Aus Mittela.lter und Renaissa.Iice (München, Berlin 1918), 75 ff.;
vgl. GÜß'HEB FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg, 5. Aufl. (Darmstadt 1958).

18
B. 4 . .Aktualisierung und Zariicktreten des Begrijfs Adel

schieden formulierbaren - Verbindung beider als imperium mixtum staatsrechtlich


begriffen werden konnte. Die Auseinandersetzung darum gipfelte in der Zeit der
Konfessionskriege. BomN verwarf die Vermischung der Herrschaftsformen und
definierte das Reich als eine pure aristocratie, composee de trois ou quatre cents per-
sonnes pour le plus (Reichsstände) 86• Keiner dieser Reichsstände sei allein souverän;
die Souveränität komme nur dem Reichstag im ganzen zu; durch ihn sei die Einheit
des Reiches realisiert. Diese aristokratische Interpretation der Reichsverfassung
gipfelte bei CHEMNITZ (1640) 88 in der Definition, daß das Reich keine monarchia
a'l'istocratica, sondern eine aristocratia monarchice ez parle a,dministrata sei, freilich
nur in Bezug auf die administratio accidentaZ~, nicht aber bezüglich der bei den
Reichsständen und damit beim (aristokratischen) Reichstag liegenden a,dminist'l'atio
essentiaZis. Gegenbegriff zu dieser reichständischen Aristokratie war bei Chemnitz
der absoZutus dominatus der Habsburger. Der Aristokratie gehörte die Freiheit, der
Monarnhi11 nAT Habsburger die Unterjochung zu (3, 1). Diese begriffliche Verbindung
von Freiheit und Adelsverfassung im Gegensatz zum fürstlichen Absolutismus blieb
im 17./18. Jahrhundert eine Möglichkeit politischer Programmatik; sie wurde in
Englo.nd 1688/89 realisiert, führte aber selbst dort nir.ht. v.m r11in ariRtokratischen
Interpretation 1far V11rfaRRung, sondern zur .Wiederaufnahme der J,ehre von der
gemischten Regierungsform; in Frankreich blieb die aristokratische Programmatik
durch das 18. Jahrhundert hindurch stets in der eben bezeichneten Frontstellung
gegen die absolute Königsherrschaft lebendig. In Deutschland dagegen kam eR nicht
zu einem kaiserlichen, sondern zu einem vervielfältigten Absolutismus (seit 1648)
„souveräner" Einzelstaaten. Das Reich ließ sich nach 1648 gleichwohl weniger als
vorher in die Definition einer Aristokratie pressen, RO daß seit Conring, Pufendorf
und Leibniz der Streit um die Definition der Reichsverfassung mit Hilfe der aristo-
telischen Herrschaftsbegriffe keine Aktualität mehr besaß. Die Deutschen waren -
von den Reichsstädten abgesehen - im allgemeinen so mit der Vielzahl ihrer kaum
je als fragwürdig angesehenen Monarchien und ihren meist jenseits der Adelskritik
stehenden Landesvätern vertraut, daß Aristokratie als Begriff und politisches Pro-
gramm weit hinter der Monarchie zurücktrat und jegliche politische Aktualität
verlor. Bei ZEDLER87 erschien der Begriff noch unter dem lateinischen Stichwort
Aristocratia, im Text auch als Atistoc'l'atie (in Antiqua statt in Fraktur und damit
von bereits eingedeutschten Fremdwörtern abgehoben). Es ist aufschlußreich, daß
Monarchie bereits, in Fraktur gesetzt, als eingedeutscht empfunden wurde, währ.end
Aristocratie und Democratie noch durch das Schriftbild als Gelehrtenbegriffe her-
vorgehoben wurden. Dem entsprach es, daß Zedlers Artikel, der die Aristocratie

85 JEAN BODIN, Six livres de la republique 2, l; vgl .. auch 2, 6. Hierzu und zum Folgenden
ERIK WoLF, Idee und Wirklichkeit des Reiches im deutschen Rechtsdenken des 16. und
,17. Jahrhunderts, in: Reich und Recht in der deutschen Philosophie, hg. v. KABL LABENZ
·(Stuttgart, Berlin 1943), 70 ff.; FRIEDRICH HERMANN SOllUllERT, Die deutschen Reichs·
tage in der Staatslehre der frühen Neuzeit (Göttingen 1966), passim; ders., Französische
Sto.atstheorie und deut11che Reichsvorfüooung im 16. und 17. Jahrhundert, in: Frankreich
und das Reich im 16. und 17. Jahrhundert (Göttingen 1968), 20 ff., bes. 23 ff.
88 lln>PoLYTHUS A LAPIDE [d. i. BoGISLAv PmLIPP v. (,'HEMNrrzj, Diesertatio de ratione

status in imperio nostro Roma.no-Germanico (Amsterdam 1640), 1, 2. 17; vgl. SOllUllEBT,


Reichstage, 553 ff., bes. 556 f.
8 7 ZEDLER Bd. 2 (1732), 1457.

19
Atlel ß. 5. Atlel als „intermetliäre Gewalt"

als diejenige Regierungsform definiert, in welcher eine gewisse Anzahl von Bürgern
die Mafestät hat, keine aktuellen Bezüge enthält. Es wird lediglich vermerkt, daß
VP.nP.dig h.ie.ruon noch heutiggs Tages ein morlr!WÜ'l'digcs E1DCmpcZ sei, und anschließeml
werden Vor- und mehr noch Nachteile der Aristocratie im Anschluß an die gelehrte
Politikwissenschaft der Zeit (Wolff, Müller) und gelegentlich auch antike Beispiele
knapp dargestellt. Ein Hinweis auf den hundert Jahre früher noch aktuellen Streit
um den aristokratischen Charakter des Reichs fehlt. Dies Bild des in der politischen
Theorie abstrakt abgehandelten, in der politischen Wirklichkeit aber nur als Rand-
erscheinung auftretenden aristokratischen Modells klassischer Regierungsform ist
auch in der „Deutschen Encyclopädie" 88 noch unverändert beibehalten worden.
Neben Venedig wurden immerhin Genua, Amsterdam, Zürich, Bern und Basel als
europäische Aristokratien (sie'; eingedeutschte Schreibweise!) bezeichnet; die Auf-
gliederung in verschiedene Arten. der Aristokratie wurde über Zedler hinaus ver-
feinert weitergetrieben. Eine politische ProhlP.ma.t.ik - außer einigen allgemeinen
Regeln - etwa daß Patriotismus, Staatswissensch<J,ft, Einigkeit und Gleichheit der
Senatoren Voraussetzung für das Bestehen einer Aristokratie seien - wurde aber
nicht entwickelt. Aristokratie war im Reich des 18. Jahrhunderts keine Alternative
zur Monarchie. Sie war ein Begriff traditioneller politischer Theorie ohne erregende
Problematik und konkret politischen Bezug88 • Es war immerhin lehrreich, daß es
auch in Europa des 18.. Jahrhunderts Aristokratien gab, die als Beispiele dieser
klassischen Regierungform beobachtet werden konnten, durchweg Stadtstaaten,
die „Republiken" (-+Republik) genannt wurden: Aristokratie wird zu den Frei-
staaten (Republiken) gezähltoo.

5. Adel als ,,intermediäre Gewah"

F'ür die Tatsache der adeligen Adaptation an die Monarchien wurde stattdessen in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im mittelbaren Bezug zum klassischen
Begriff der 'medii' (-+Mittelstand) und in unmittelbarer Anknüpfung an MoNTES-
QUIEu91 der Begriff der pouvoirs intermidiaires oder rangs intermediai'l'es eingeführt.
Dieser Begriff enthielt auf neue Weise die alte Verbindung von ständischer Ver-
fassung und politischer Freiheit in sich; Montesquieu wollte den pouvoirs inter-
midiatres die Aufgabe zuweisen, durch ihre Zwischengewalt der Zerreißung des
Staats in einen etat populai'l'e ou bien un etat despotique vorzubeugen. Der Begriff
mußte (und sollte bei Montesquieu) nicht streng auf den Adel allein angewandt
werden. Der Württemberger FRIEDRICH CARL VON MOSER z. B. verstand ihn im aus-
drücklichen Anschluß an Montesquieu auch nur allgemein ständisch, d. h. sowohl

88 Dt. Enc., Bd. 1 (1778), 760.


88 Dies wird bestätigt durch die beiden repräsentativen Fürstenbelehrungen Osterreichs
und Preußens im 18. Jahrhundert: Recht und Verfassung des Reichs in der Zeit Maria
Theresias. Die Vorträge zum Unterricht. des Erzherzogs Joseph, hg. v. HJDBlU.NN Comw>
(Köln, Opladen 1964), 211. 217 f.; CARL GoTTLIEB SVABEZ, Vorträge über Recht und Staat
1746-1798, hg. v. Htil"wann Conrad u. Gerd Kleinheyer (Köln, OpJaden 1960), 11. 473. -
Vgl. auch SOHEIDEMANTEL Bd. 1 (1782), 195.
90 Dt. Enc., Bd. 1 (1778), 760. Vgl. auch HÜBNER 2. Auß. (1737), 78. 799.

•1 MoNTESQutEU, Esprit des Jois 2,4; vgl. 3,7.

20
D. 6. Diß'ereDZienuag im 18. Jahrhundert Adel

adelig wie bürgerlich. Es fehle den Deutschen diejenige Mittel- oder vermittelnde
Macht, welche Montesquieu sogar für die Stütu einer guten Monarchie und für das
Salz ansieht, daß solche nicht in die Verwesung oder zum Despotismus ühergehe: le tierb
Etat, wie er ... in Frankreich war, das Unter-Haus, das in Engelland so oft zwischen
demKönigeunddenendemHofeergebenenPairsdasGleichgewichthält,derStaaten-Rat,
so zwischen dem Erbstatthalter und den General-Staaten inne-stehet 92• Es war aber
bezeichnend für die deutschen Zustände, daß 'Mittelstand' als Verfassungsbegriff,
der „Zwischengewalt" Montesquieus entsprechend, meist auf den Adel als den
eigentlichen politischen Stand 'zwischen' Monarch und Volk allein bezogen wurde.
Besonders konsequent in dieser Richtung war JOHANN GEORG SCHLOSSER, der 1787
vom Mittelstand zwischen dem Regenten und dem Volk sprach, den er dem Adel
gleichsetzte; diesen begriff er politisch als Landstand, der ein Gegengewicht der Sou-
veränität sein könne. Auf diesem Mittelstand (= Adel) beruhe allein die Scheidewand
zwischen Monarchie und Despotie 9 3.
Auch KANT hat (1798) noch über den Adelstand als einen erblichen Mittelstand
zwischen ihm [dem Souverän] und den übrigen Staatsbürgern gehandelt, hat diesen
„Mittelstand" aber von Grund auf verworfen (s. u. S. 29 f.) 94• Aufgeklärter Despo-
tismus und Revolution ließen die Ideologie eines adeligen Mittelstandes in einer
durch ständische Freiheit eingeschränkten Monarchie nicht aufkommen. Adel (Ari-
stokratie) als politisch ausschlaggebende bzw. ve1fä1:111ungsstabilisierende inter-
mediäre Gewalt mochte (allein in England weitgehend konstitutionalisiert) in
Frankreich und Deutschland oppositionell oder irrealistisch optimistisch auf den
Begriff gebracht worden sein. Im Grunde war dies doch nur ein letzter erfolgloser
Versuch, altständische Libertät in den modernen Staat eingefügt zu erhalten -
entgegen den Prinzipien praktischer Aufklärung, denen gegenüber der alte Adels-
begriff mit l'leiner Kombination von Abstammung, Ehre und Tugend keinen Bestand
mehr haben sollte.

6. Differenzierung des Adels im Rechtssinn im 18. Jahrhundert


Wurde bis zum Ende der vorrevolutionären Zeit am Gesamtbegriff 'Adel' (vom
Ritter bis zum Fürsten) festgehalten, so war dieser Adel doch vielfältig rechtlich
und funktionell gegliedert. Bei dieser Gliederung konkurrierten Kriterien des stän-
dischen Selbstschutzes mit denen staatlicher Rechtssetzung. Demgemäß wurde in
der „Deutschen Encyclopädie" (1778) 'Adel' im allgemeinen Verstande definiert als
eine vorzügliche Ekre und Würde, die nicht nur der Geburt, sondern aiuch dem Amte
fol,get 95• Diese Würde sei von den. Landesherren erteilt und gewöhnlich erblich.
Im einzelnen ergebe sich: 'Adel' sei 1) entweder persönlicher oder Geschlechts-Adel; zu
dem ersteren gehört z. E. der Amts-Adel, der mit einer gewissen Bedienung verknüpft ist.
2) Entweder alter oder neuer (Bedeutung der Ahnenprobe, die nicht nur für das
Sozialprestige wichtig war, sondern vor allem rechtliche Konsequenzen besaß).
3) Entweder der höhere oder niedere. Zum höheren gehören: Kaiser, Kurfürsten, Her-

92F. C. v. MOSER, Patriotische Briefe (Frankfurt 1767), 62 f.


88J. G. SCHLOSSER, Von dem Adel, Kl. Sehr., 2. Aufl.., Bd. 6 (Frankfurt 1794), 103. 106.
H KA.lrr, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 49, Allg. Anm. D. AA Bd. 6 (1907), 329.
u Dt. Enc., Bd. 1 (1778), 217 f.

21
Adel II. 6. DUferenzieraq im 18. Jahrhundert

zoge, Fürst,en, Grafen. Zum niederen ReickmUersckaft und lanilsässiger Adel. Dem
entsprach im Reich, daß nur der höhere Adel Standschaft im Reichstag besaß,
während in viAlen J.andt.agen Herrenstand und Ritterstand voneino.ndor unter-
schieden waren. Der niedere Adel fühlte sich genötigt, auf seine geachtete Zugehörig-
keit zum Gesamtadel zu pochen; er strebte andererseits Aufstieg in den Herrenstand
an. Der Begriff des niederen Adels war vielfach prestigekränkend 98• 4) Entweder
geistUcher oder weltlicher. Jenen haben ErzbiscMfe, BiscMfe, Äbt,e. Diese Einbezie-
hung der Landesherrschaft ausübenden hohen Geistlichkeit in den Adelsbegriff war
eine der Eigentümlichkeiten des Reichsadels, die diesen von allen übrigen euro-
päischen Adelstypen abhob. 5) Entweder Land- oder Stadtadel. Hier war also das
in seiner Stellung stets und besonders gegen Ende des Reichs umstrittene Patriziat
mit einbezogen. Seine bürgerlich-adelige Zwischenstellung war ein politisch-gesell-
schaftliches und ein rechtliche.s Problem. 6) Entweder unmittelbar oder mittelbar
(landsässig). Aus dieser Unterscheidung ergab sich die schwierige Sonderstell11ng
der Reichsritterschaft, deren Streben, zum „höheren" Adel aufzusteigen, Kritik
herausforderte 97 •
Mochten die komplizierte Verfassung des Reichs und der zunehmende Personal-
bedarf der Staaten an Stellen, die Adelsrang erforderten, auch immer von neuem zu
Nobilitierungcn anreizen und damit eine Vermehrung des Adels insgesamt begün-
stigen, so machte sich doch gerade in der Spätzeit der Adelsherrschaft, d. h. vom
Ausgang des Dreißigjö.hrigcn Krieges bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, der Vor-
rang des alten Geschlechts gegenüber den neu Hinzutretenden verstärkt geltend.
In oder an den alten Adelsfamilien suchte man nicht nur alte Topoi zu bestätigen
(z. B.: Es ist gewiß in der Tugend der Elt,ern und V orelt,em eine recht wunderwürdige
und geheime Kraft, dieselbe auch auf die Kinder und Nachkommen zu bringen und
fortzupflanzen, daß also der kluge Heide Seneca nicht uneben beschrieben:: generosa in
ortm semina ezsurgunt suos) 98, sondern auch die Fähigkeit der Edelleute zu patrio-
tischer Bewährung vor allen Männern ohne Geschlechtstradition hervorzuheben:
Von den Vertretern alten Adels wurde erwartet, daß sie das Interesse des Landes-
fürst,en um das Wachstum des gesamt,en Landes nach dem allgemeinen Ausspruch
magni viri, mazimi duces, optima faciunt pro patria mit recht patriotischem Eifer
allezeit besorgen99• Doch war im Begriff des Geschlechtsadels neben der Adelspflicht
des patriotischen Dienstes für Fürst und Land auch das Selbstbewußtsein gegenüber
<lem Landesherrn enthalten. Typisch dazu etwo. eine Hausinschrift des ANDREAS

"Vgl. z.B. di~ Schrift für die Eigenständigkeit und Achtung des niederen Adels: Cmll-
STIAN LUDWIG SOHEIDT, Historische und Diplomatische Nachrichten von dem hohen und
niederen Adel in Teutschland (Hannover 1759). - Zum Aufstieg der Ritter in den Herren.-
stand am Beispiel Niederösterreichs vgl. ÜTTO BBmmEB, Zwei Studien zum VerhA.Jtnis
von Bürgertum und Adel, in: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl.
(Göttingen 1968), 276 :ff.
87 Als Beispiel der rechtshlstorischen Kontroversliteratur hierzu S..uroEL LUTZ [Luoros],

Vorlä.uffig, doch gründlicher Bericht vom Adel in Teutschland (Frankfurt 1721), in


scharfer Abwehr gegen reichsritterschaftliche tiberhöhung.
88 LillPBEOHT JoH. v. DEM BussOHE (1642-1693), zit. JoAOBDt: Liln>E, Aristokratie,
Hofadel und Staatspatriziat in Kurhannover, Bd. 1 (Göttingen 1963), 4.
88 JoH. FBIEDBIOH PlrEFFINGEB, Historie des braunachweig-lüneburgischen Hauses, Bd. 2
(1732), 181 f„ zit. L.uiPE, Aristokratie, ßd. 1, 5.

22
II. 7. Adelskrise vor der Revolution Adel

GoTTLIEB VON BERNSTORFF (1753) in Dreilützow, in der die Unabhängigkeit des


altadeligen Gutsherrn gepriesen und hinzugesetzt wird:
Der Fürstengunst zwar hoch, doch Freiheit höher schätzt,
Und nicht des Pöbels Wahn zu seinem Richter setzt,100•
In der „Deutschen Encyclopädie" (1787) wurde dieser Bedeutung des Geschkchts-
adels dadurch Rechnung getragen, daß ihm ein eigener, ausführlicher .Artikel außer
dem allgemeinen Adelsartikel gewidmet wurde 101. Darin wurde vor allem auf die
Unterscheidung gegenüber dem Briefadel sowie auf die Abstufungen nach Rang und
Abstammungsalter (4-32 Ahnen) abgehoben, woraus differenzjerende Benennungen
wie Turnier-, Stiftsmäßiger, Landtagsmäßiger, Rittermäßiger Adel abgeleitet wurden.
Als Vorrechte, die z. T. bereits überfällig geworden seien, wurden genannt: Ritter-
schlag, Turnierfähigkeit, Wappen mit Schild und Helm, Duellvorrang, Besitz von
Rittergütern, Gerichtsstand.
So hatte sich der ursprüngliche Adelsbegriff, wonach trotz aller Unentbehrlichkeit
eines jeweils neu geschaffenen Amtsadels doch das Prinzip des Geblüts und Ge-
aohleohts vorherrachend blieb, auch und g11r11.i111 in der Zeit des zum „Absolutismus"
strebeni111n Fürstenstaates gehalten.
Selbst in der Monarchie der preußischen Staaten, in denen nach den Stände-
kämpfen des 17. Jahrhunderts und den Reformen Friedrich Wilhelms I. die Selbst-
herrlichkeit des Adels gebrochen und seine Söhne zu „Dienern", besonderR 7.n Offi-
7.ieren des Königs geworden waren, blieb der Vorrang des Geburtsadels erhalten.
Das wurde auch im „Allgemeinen Landrecht" (ALR) im einzelnen bestätigt, wenn-
gleich der Adelsstand als ein ganzes, und zwar als der einzige politische Stand· des
Staates angesehen wurde, dem die Verteidigung des Staate.s sowie die Unterstützung
der äußeren Würde und inneren Verfassung desselben102 zugewiesen war103. Also selbst
dort, wo - wie in Preußen - der Adel besonders konsequent und rechtsbegrifflich
festgelegt zum „Staatsstand" geworden war, war das keiner Minderung, sondern
eher einer Erhöhung des alten Geblütsprinzips mit Hilfe der Einfügung in den
Staat, der damit zum monarchischen Adelsstaat wurde, gleichgekommen.

7. Adelskrise vor der Revolution1°'

Hatten bis zum 18. Jahrhundert Bejahung deR adeligen Vorrangs auf Grund vor-
nehmer Abstammung und lnfragestellen dieses Vorrangs mit stoisch-philosophi-
scher oder christlicher Begründung stets nebeneinander bestehen, ja sogar sich in
gewisser Hinsicht gegenseitig bestätigen können, hatte also schärfste Adelskritik den

100· Zit.ebd., 13.


1o1 Dt. Enc., Bd. 12 (1787), 70 ff.
m ALR § 1, II, 9.
108 Vgl. REIN11ART KosELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines

Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791bis1848 (Stuttgart 1967), 78 ff.
1 °' Die Dissertation von JOHANNA SCHULTZE, Die Auseinandersetzung zwischen Adel und

Bürgertum in den deutschen Zeitschriften der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts,
1773-1806 (Berlin 1925) ist begriffsgeschichtlich z. T. anregend, vor allem aber nützlich
wegen vieler Belegstellen. Diese betreffen vorwiegend freilich die Jahre nach Ausbruch
der Französischen Revolution.

23
Adel II. 7. Adelskrise vor der Revolution

Adel als Institution und allgemein anerkannten Begriff nicht zerstören können und
wollen, so kam diese Verbindung des prinzipiell Unvereinbaren durch die Auf-
klärung an ihr Ende. Sowohl vom Effizienzdenken der Ökonomisten wie voin
Gedanken der Menschenwürde und Menschengleicheit aus ergab sich die Folgerung,
daß der Adel dem Fortschritt entgegenstehe und nicht mehr als gott- und natur-
gegeben hingenommen werden könne. Im Maße wie neue Vorstellungen des Wirt-
schaftskreislaufs und der Menschenrechte in neuen Modellen der Gesellschaft und
des Staates sich mit Tendenzen zu Reformen oder „Revolutionen" (--+ Revolution)
verbanden, geriet der Adelsbegriff aus der überlieferten Sicherheit in die Krise.
Schon die Kameralisten, besonders Becher und Schröder, sahen ihre Grundsätze
einträglicher Staatswirtschaft im Widerspruch zur unrentablen Existenzweise der
Adeligenlos. JOHANN GEORGE LEIB (1708) legte das Kriterium der Nützlichkeit
oder Zuträglichkeit für das Land an die einzelnen Stände an und stellLe den Adel
als durchaus unnütz dar: Die vom Adel ... haben . . . zwar von ihren Lehn- und
RiUer-Gütern reichliche Nahrung, allein sie nähren sich erstlich mit den Bauern sauren
Schweiß und Blut, halten den edlen Segen Gottes zu Nachteil des Landes mehrenteils
auf Teurung, verhindern dadurch die Vermehrung derer Untertanen und schicken
ZU{J"leich vieles Geld vor Kleidung und andere zu ihrem Unterhalt benötigte Sac/i,en ·in
fremde Lander und bringen dagegen wenig oder nichts vom Gelde wieder ins Land.
Von solcher Wertung aus stellte Leib die ]!]delleute in die Reihe der Hof-Leute,
Richter, Advokaten, Soldaten, Müßiygänger und BeUler1° 6 • Ähnlich bezog J USTI (1755)
den Adel in sein Axiom ein, daß niemand ein unnützes Mitglied des gemeinen
Wesens sein dürfe und wandte sich gegen das Vorurteil des Adels, sein Stand werde
durch Oommercien, Manufakt,uren und andere dem Staat nützliche Unternehmungen
verunehret1° 7 • Der traditionell gegen die neuerkannten Gesetze des Wirtschaftskreis-
laufs verstoßende Adel wurde selbstverständlich auch durch die Physiokraten -
vgl. besonders das „Tableau economique" von Quesnay - abgelehnt, ohne daß
daraus (ebenso wenig wie bei Adam Smith) gefolgert worden wäre, den Adel als
politisch .bevorrechtigten Stand überhaupt abzuschaffen. Vielmehr hielt man es
für möglich, den Adel mit seinen Sonderrechten und -pflichten beizubehalten, ihn
aber in ökonomischer Hinsicht zri modernisieren, so daß er sich dadurch zeitgemäß
bewähren konnte. MösER suchte die Lösung darin, den Adelsbegriff nach englischem
Vorbild als Kronehre auf den Haupterben des Geschlechts zu beschränken und von
solchem Adel die Edelbürtigkeit (Fähigkeit zu Kroneh,rp,n) der Nachgeborenen be-
grifflich zu scheiden. Dadurch sei dem politischen Gemeinwesen ebenso wie den
wirtschaftlichen Ansprüchen gedient. Dann könne es dabei bleiben, daß zwar nicht
der Adel, wohl aber die Edel,gebornen ... Handlung oder Gewerbe treiben dürften108•
Für den Gutsherrn, auch wenn er nicht Handel und Gewerbe trieb, ergab· sich aus
der Anpassung an die moralische und ökonomische Aufklärung, daß er sich selbst

105 Vgl. den Überblick bei KURT ZIELENZIGER, Die alten deutschen Kameralisten (Jena
1914), 199 ff. 295 ff.
106 J. G. LEIB, Von Verbesserung Land und Leuten, Erste Rede (Leipzig, Frankfurt 1708),

7 f.
107 JoH. HEINR. GoTTLOB v. JusTI, Staatswirthschaft, Bd. 1 (Leipzig 1755), 403. 405.
§§ 384. 386.
108 JusTus MösER, Warum bildet sich der deutsche Adel nicht nach dem englischen?,

Patriotische Phantasien, SW Bd. 7 (1954), 203 ff., bes. 208.

24
II. 7. Adelskrise vor der Revolution Adel

eines Teils adeliger Vorrechte, die aus Grund- und Leihherrschaft herrührten, frei-
willig begeben, also seinen Adel als Machtstellung reduzieren sollte, um sich als
Ökomom tüchtig und als Philanthrop wahrhaft „edel" (im moralisch-philosophi-
schen Sinne) zu erweisen (Bauernbefreiung!). Der zeitgemäß aus dem alten ',l'ugend-
oder Christenadel entwickelte Begriff des „philosophischen Adels", der etwa noch
bei CHRISTIAN GoTTLmB Rrncrns (1735) „ausgefallen" war, weil er, obwohl wün-
schenswert, sich nicht praktizieren lasse10 9 , wurde auf solche Weise praktisch mög-
lich, ja ·notwendig zur Modernisierung der Adelstradition, und zwar in einem
historischen Moment, in dem die alte Rede von der Zugehörigkeit des Geistes- oder
Tugendadels zum Geblütsadel zunehmend als fragwürdig erschien110. Als literari-
sches Vorbild für den Adeligen neuer Art, der durch zweckmäßige Reformen sein
Volk als Junker Vater, als ein Mann, der seines Gkichen nicht hat, beglücken sollte,
stellte PEl:l'l'ALOZZI seinen ZeiLgenossen den Junker Arner vor111 - einen „Herrn"
in zeitangemessener Form, der den für die Sozialordnung unentbehrlichen Adel auf
moderne Weise vorleben sollte. Ähnlich wollte J. G. SCHLOSSER Adel in seiner poli-
tisch-gesellschaftlichen Stellung, speziell im Umkreis der fürstlichen Höfe erhalten
sehen, obwohl ihm der Rollenverlust des ursprünglich adeligen (Krieger-)Standes
bewußt war und er dessen Ansprüchen ein starkes bürgerliches Selbstbewußtsein
entgegensetzte112 •
Doch nicht durchweg ließ der wachsende bürgerliche Stolz es zu, den Adelsvorrang,
und sei es in modern eingeengter Weise, noch anzuerkennen. Es wurde beobachtet,
daß auch unter Fürsten, die ohne Unterschied des Standes ihre Diener zu wähkn
anfingen, ein neuer Geist auflebte, den Schlosser 1787 eine Revoluzion nannte 113 •
W1LHEJ,M J,unwm WEKHRLIN wandte sich gegen die fiskalische Tiraney des Adels,
durch die er die Verschwendung der Höfe und die Ausschweifung ihrer Entwürfe
:finanziere114• Gegen die Begriffsverbindung 'Adel'/(ständische) 'Freiheit' wurde
'Adel' mit 'Anarchie' in Beziehung gesetzt und als unzeitgemäß einer aufgeklärten
Regierung und Verwaltung entgegengestellt. Für diese Vorstellung einer vergan-
genen oder untergangsreifen Adelsverfassung wurde aus der Rechtssprache das
Adjektiv 'feudal' mit scharf pejorativem Sinn übernommen (_.. Feudalismus). So
sprach der Halberstädter JOHANN AUGUST EBERHARD (1769) gegenüber Fr. C. v.
Moser von der Gefahr, daß die ganze Anarchie des Feudalgouvernements wieder-
hergestellt zu werden drohe11 6 •

109 Cnn. G. Rmoros, Zuverläßlicher Entwurf von dem landsässigen Adel in Deutschland
(Nürn,berg 1735), 5.
110 ADELUNG Bd. 1 (1774), 144 f. unterscheidet 'Adel' in eigentlicher vom 'Adel' in figür-

licher Bedeutung (= Erhabene Eigenschaften des Geiste&, Hoheit der Seele) und bemerkt
zum Adjektiv 'adelig', daß dessen figüi-liche Bedeutung veralte, vermutlich, weil die Sache
selbst bei unserm heutigen Adel aus der Gewohnheit gekommen ist.
m JoH. HEINRICH PESTALOZZI, Lienhard und Gertrud (1781-87), SW Bd. 3 (1928), 51. 139.
112 8cm.ossER, Von dem Adel (s. Anm. 93).

ua Ebd., 176 ff.


114 W. L. WEKHRLIN, Steuren oder Anleihen?, Chronologen 3 (1779), 68.
115 J. A. EBERHARD, Rez. in: Allg. Dt. Bibl. 9/2 (1769), 97; vgl. WOLFGANG ZORN, Reichs-

und Freiheitsgedanken in der Publizistik des ausgehenden 18. Jahrhunderts (1763-1792),


in: Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und
20. Jahrhundert, Bd. 2 (Heidelberg 1959), 33.

25
Adel II. 7. Adelskrise vor der Revolution

Über, alle Reduktion und Anpassung des Adels einerseits, Verwerfung von „Feuda-
lismus" andererseits führte JOHANN CHRISTIAN MAJER in. Wielands „Teutschem
Merkur" (1774) hinaus, indem er Leistung und Verdienst an die Stelle erblicher
Vorrechte zu setzen forderte. In einem aufgeklärten Zeitalter, bei einer verfeinerten
Nation sollte aller Rang und Stand der Bürger niclit erblich; sondern persönlich; niclit
zufällig, sondern verdienstlich ... eingerichtet ... sein ... Die ganze Stufen-Folge des
Rangs und der verschiedenen Stände sollte nach der Klassifikation der Verdienste
eingerichtet, danach allein sollte der Maßstab von aller bürgerlichen Ehre genommen
werden. Auf den höchsten Stufen des Verdienstes sollte dieser ehrwürdige Ausschuß
der Nation ... mitten inne zwischen dem Regenten und dem ganzen Volk stehenll&.
Majer übernahm also den Gedanken des Mittelstandes oder ~ er vermied bezeich-
nenderweise diesen Standesbegriff - besser der Vermittlung, legte ihm die Funktion
des Gleichgewiclit-Haltens zu, löste ihn vom Erbadel und setzte einen völlig neuen
Adelsbegriff: man kann diesen vorzüglichen Teil der Nation den Adel nennen; aber
dieser sei rein persönlich und beruhe auf der Auslese - Majer braucht dies Wort
noch ebensowenig wie 'Elite' - des verständigsten u'nfl edelgesinntesten Teils der
Nation, mit dr.RR!ln HilfP. der Fürst nicht na.ch dem alten Herkommen und owig nach
der Väter Weise, sondern nach dem jedesr1w,ligen Maß des Zeitalters ... die gemeine
Wohlfahrt seines gesamten Volks befördern könne. Der Sache, wenn auch nicht der
Bezeichnung nach bedeutete Majers Forderung den Sprung vom 'Adel' (nach der
Väter Weise) zur 'Elite' (in einem aufgeklärten Zeitalter und unter einer kultivierten
Nation), Leistungs- und Charakterauslese in einer Nation mit monarchischer Ver-
fasimng und einem notwendig neuen Verhältnis zwischen Fürst und Volk. Implizit
war damit ein demokratisches Gesellschaftsprinzip ausgesprochen, da das Substrat
des persönlichen Verdienstadels sozial unbegrenzt war. Majer ging sogar so weit zu
betonen, daß die vorzüglichen Eigenschaften und Er/ordernisse des Adels . . . ihre
Beziehung und Verhältnis zum jedesmaligen Systeme der ganzen Völkerschaft hätten;
so in der bisherigen Geschichte, so in der Gegenwart und Zukunft, freilich mit
Abbruch der ganzen erbadligen Tradition.
War auch dieser Sprung vom 'Adel' zur 'Elite' noch nicht allgemein typisch 117 für
das deutsche Bewußtsein um 1780, so war doch durch eine derartig auf die Spitze
getriebene politische Aufklärung das Ende des Adels bzw. seine Unvereinbarkeit
mit dem gegenwärtigen „Zeitalter" erklärt und das alte Wort zur Bezeichnung für
einen neuen Begriff gemacht worden.
Selbstverständlich hat zur Reflexion iiber die Adelskrise ._auch die Amerikanische
Revolution beigetragen. So erschien 1783 in der „Berlinischen Monats-Schrift"
eine Ode an die Freiheit Amerikas, in der die bessere 1;.fmisphäre gepriesen wurde,
wo süße Gleichmut wohnet, und Adelsbruf,
.
Europens Pest, die Sitte der Einfalt niclit
~

Befieckt, verdienstlos bessern Menschen


Trotzt, und vom Schweiße des f!a,,;d'm,anns schwelget.

118J. C. MA.TER, Beyträge zur Geschichte der Menschheit, Teutscher Merkur 6 (1774), 244 ff.
11 7Zwar nicht typisch, aber doch auch nicht vereinzelt; vgl. z.
B. A. L. v. Scm.özER,
Neugierden eines Weltbürgers, Stats.Anzeigen 2 (1782), 316: Stehet für Europa, i'1!.8Vl'lder-
keit für Deutschland, GlückseUgkeit zu erwarten, aolange Gehurt und Salbung daB MO'll-Opol
der menachlicken Glückseligkeit haben? solang man glückselig sein kann, ohne niäzlich zu aein?

26
ll. 8. Die Wortbildung 'Aristokrat' vor und nach 1789 Adel

ScHLÖZER setzte diesen Versen die ernüchternde Bemerkung hinzu: Adel gibts
freilich in Amerika nicht, im europäischen Verstande, d. i. Geburtsadel; aber in
einem handelnden Lande entsteht . . . ein anderer Adel, genannt Geld-Adel, der weit
ärger wie der vorige kneift118 • Damit war die alte Einsicht, daß Adel des Reichtuma
bedürfe und Reichtum Adel schaffen könne, zu einem neuen Topos (Geldadel an-
stelle von Erbadel) gemacht und die Begriffsgeschichte von Aristokratie im „Kapi-
talismus" eröffnet worden.

8. Die Wortbildung 'Aristokrat' vor und nach 1789

Bezeichnend für die Adelskrise um 1780 war es, daß - als polemische Partei-
bezeichnung zu dem gleichzeitig entstehenden Wort 'Demokrat' (-+Demokratie) -
das Substantiv 'Aristokrat', nicht im gelehrten, sondern im öffentlich-politischen
Bereich, geprägt wurde. Schon in den achtziger Jahren ist es in Frankreich, den
Niederlanden119 und Deutschland gebraucht und alsbald nach dem Ausbruch der
Französischen Revolution viel verwendet worden. Schon 1774 steht in ScHUBARTS
„Deutscher Chronik"1 20: Wie mutlos sind nioht auf einmal diese stolGen Aristokraten
[die Venezianer] geworden. ScHLÖZER übernahm 1783 einen Artikel „Kakistokratie
in Holland" 121 , in dem die reine Aristokratie allgemein (und speziell in Holland) als
entweder dumm oder tyrannisch, manchmal beides zugleich, bezeichnet wurde. Zu
solcher Aristokratie = Kakistokratie gehörten für den Autor des Artikels unsere
hochmütigen Aristokraten oder die aristokratischen Auswürflinge; er braucht ferner
auch den bezeichnenden Begriff der aristokratischen Partei. War entsprechend einem
Sprachgefühl, das 'Aristokratie' als eingedeutscht empfand und demgemäß bei
weiteren Wortableitungen, so :vor allem 'Aristokratism(us)', nicht mehr bewußt an
das Griechische anzuknüpfen brauchte, das Wort 'Aristokrat' einmal eingeführt,
so war es, wie bereits die Belege vor 1789 zeigen, der politischen Wertung unter-
worfen. Das brauchte alsbald nicht nur abwertend zu geschehen. Vielmehr konnten
'Aristokratie', 'Aristokrat', 'Aristokratismus' nach 1789 auch achtbare (Eigen-)
Bezeichnungen werden. PESTALOZZI schrieb 1792 in einem Brief an Fellenberg über
„Lienhard und Gertrud", er habe durch diesen Roman den reinen Aristokratismus
retten wollen122 •
Von 1789/90 an wurden die Wörter 'Aristokrat', 'aristokratisch' sowie auch der
meist pejorativ gebrauchte Tendenzbegriff 'Aristokratismus' für einige Jahrzehnte,
d. h. über die Grenze von 1815 hinweg bis zur Revolution von 1848, viel verwendet
und zu schlagwortartigen „Partei"-Bezeichnungen (-+Partei) popularisiert123• Ein

118Ders„ Die Freiheit Amerikas: eine Ode, Stats-Anzeigen 4 (1783), 143.


119Da.rauf verweist besonders ROBERT R. P ALMER, The Age of Democratic Revolution
(Princeton 1959), 14 ff.
m Dt. Chronik 1 (1774), 585.
121 Stats-Anzeigen 4 (1783), 123 ff., bes. 124.
122 PESTALOZZI, zit. LUDWIG FERTIG, Der Adel im deutschen Roman des 18. und 19. Jahr-

hunderts (phil. DiBB. Heidelberg 1965), 56.


123 Vgl. KRuG Bd. 1(1827),184, Art. Aristokratie: ... Bind die A:iudriicke Arürtokrat und

Ariatokrati8mU8 fa8t gkichgeltend mit De8p0t und Dupoti8mU8 geworden. Die Verteufelungs-
wirkung des zum Schlagwort degradierten klassischen Begriffs beschreibt BARTHOLD
GEORG NIEBUHR, Geschichte des Zeitalters der Revolution, Vorlesungen an der Uni-

27
Adel ß. 8. Die Wortbildung 'Aristokrat' vor und nach 1789

frühes Beispiel hierfür ist der Mainzer „Aristokraten-Katechismus" (1792), in dem-


typiRr.h für nie Jah~e der Französisc.hen Revolution - „Demokraten" und „Axif!to'
kraten" einander entgegengesetzt und diese weit bessere und vortrefflicheren Men-
schen als die gemeinen Bürgers- und Bauernkanalien genannt werden. Den Aristo-
kraten sei es in Deutschland noch immer gelungen, ihre Stellung zu behaupten,
weil, wie der Aristokrat sagt, wir die Bürger und Bauern in Deutschland viel dümmer
gehalten haben als die französischen Aristokraten die ihrige, wobei vor allem die
Religion sich als nützlich erwiesen habe124. Mit der Parteibezeichnung 'Aristokraten'
war fortan die Vorstellung verbunden, daß diese seit den Zeiten der Eroberungen
und des Faustrechtes schwere Lasten auf die unterjochten N azionen geladen hätten
und daß mit der Revolution ihre geschichtliche Rolle ausgespielt sei. Jegliche Tätig-
keit von „Aristokraten" in Gegenwart und Zukunft war daher notwendig anar-
chistisch und fortschrittsfeindlich125. Demgemäß rückten für „Demokraten" die
Richtungen der Aristokraten, Volksfeinde und Gegenrevolutionisten eng zusam-
menl26.
In solcher polemisch zugespitzten Weise war das Extrem der ideologischen Zwei-
partei1m-Dir.hotomiA - R.11fgAlrlii.rt revolutionärer Demokratismus (ohne Adel) gegen:
kirchlich-restaurativen Aristokratismus (bei Erhaltung bzw. Neuanpassung des
Adels) für das politische Bewußtsein einer breiter werdenden Öffentlichkeit
ausgedrückt. Dieser Gegensatz wirkte bifl zur Revolution von 1848 kräftig fort
und läßt sich von den deutschen „Jakobinern" 127 bis zu den Demokraten und
Sozialisten um 1848 immer von neuem belegen. Es ist jedoch bezeichnend für die
deutsche Begriffsgeschichte von 'Adel' und 'Aristokratie', daß sie sich nicht in
diesen Ausschließlichkeitsanspruch zweier unvereinbarer Fronten pressen läßt. Die

versität Bonn im Sommer 1829, Bd. 1 (Hamburg 1845), 197: Begibt man sich aber unter
die Herrschaft dunkler Worte, deren Sinn man nicht versteht, so gibt man sich dem Teufel hin.
Der Name 'Aristokrat' machte, wie früher 'Ketzer', zum Gegenstande des Hasses und der
Verfol,gung, ohne daß man nach den peraönlichen Gesinnungen des einzelnen fragte.
Vgl. Loa.ENZ v. STEIN, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich,
2. Aufl. (Leipzig 1848), 499; CARL B. STÜVE, Über die gegenwärtige Lage des König-
reichs Hannover (Jena 1832), 17.
124 ANDREAS JOSEF HoFMANN, Der Aristokraten-Katechismus (Mainz 1792), 3. 11. Gl!lOIW

FoRSTER st.ellte 1797 den raschen Bedeutungswandel des bis vor kurzem nur gelehrten
Begriffs fest: Der Mißbrauch der SMhe hat oft den SpradllJWTILUCh ueii;nde.rt, 1(.nd ein. Wort,
das ursprünglich nur eine gute Bedeutung hatte, mit einer ausschließend schlimmen gestempelt.
Aristokratie, Herrschaft der Besten, wäre die wünschenswerteste Regierungaform, wenn sie
irgendwo existierte. Allein das verhaßt gewordene Wort bedeutet fetzt den stets betrogenen
Völkern gerade das Gegenteil: He"schaft der Ärgsten ( Kakiatokratie); Ober die Beziehung der
Staatskunst auf das Glück der Menschheit, Kl. Sehr., Bd. 6 (Berlin 1797), 310, Anm.
126 ANDREAS RIEDEL, Aufruf an alle Deutschen zu einem antiaristokratischen Gleichheits-

bund (1792), in: FRrrz VALJAVEC, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutsch-
Ja.nd 1770-1815 (München 1951), 505 ff., beR. 506.
128 Eudämonia oder deutsches Volksglück 1 (1795), 300.

UT Hierzu vgl. bes. HEINRICH SCHEEL, Süddeutsche Jakobiner. Klaesenkämpfe und re-
publikanische Bestrebungen im dP.utschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts (Berlin 1962)
sowie WALTER GRAB, Demokratische Strömungen in Hamburg und Schleswig-Holstein
zur Zeit der ersten Französischen Republik (Hamburg 1966).

28
II. 9. Erschütterung und Behauptung 1789/1815 Adel

Tradition brach um 1790 keineswegs ab, vielmehr mußte die Realität zwischen den
Extremen begriffen werden.

9. Erschütterung und Behauptung des Adels 1789/1815

Als der Adel in Frankreich 1789/90 revolutionär beseitigt wurde, blieben die Deut-
schen noch in ihrer alten Ordnung des Reichs und der Fürstenstaaten. Als aber
das Reich zerbrach, fanden die weithin adelsfeindlichen Reformen der deutschen
Staaten in oder neben einem napoleonischen System statt, das den Adel nicht
beseitigen, sondern modernisieren wollte. So wurde die deutsche Adelswelt nach
1800 zwar schwer erschüttert und geachwächt, aber nicht aufgehoben. In jenen
Jahren lief begrift'sgeschichtlich die Tradition aus, und alte Topoi unterlagen dem
Zwang der Ideologisierung an oder zwischen den politischen Fronten der Revolu-
tion nnil GP.gP.mevolution. Die Krise des Adelsbegriffs wurde politisch akut. Die
Erfahrung, daß politische Ordnung ohne Adel möglich war. und diese Möglichkeit
bejaht oder verneint werden konnte, während der Adel im deutschen Bereich trotz
einschneidender Rechtseinbußen noch fortbestand, wurde maßgebend für die Be-
griffsbildung.
Mochten die radikalen Formulierungen deutscher „Jakobiner", in denen Adel nur
noch als Begriff eines rohen ~·eudalsystems erschien, auch mit dem Scheitern der
Jakobinerherrschaft in Frankreich zurückgegangen und unwirksam geworden sein,
so war das Modell einer adelsfreien Republik allgemeiner Gleichheit doch auch
für Deutschland aufgestellt worden, und es gab in den neunziger Jahren viele
Äußerungen, die mehr oder weniger darauf drängten, den Adel gänzlich abzu-
schaffen. Für KANT (1795) war Erbadel im Gegensatz zum Amtsa.del198 nur noch ein
geschichtlich fixierter Begriff, zugehörig einer Regierung von alten Zeiten (des Lehns-
wesens, das fast gänzlich auf den Krieg angelegt war), widersprüchlich zur republi-
kanischen Repräsentativverfassung der Zukunft. Nur für eine Übergangszeit, so
meinte Kant (1797), könnten die Stellen und Vorrechte des Erbadels noch bestehen-
bleiben, lJis selbst in der öffemlichen Meinung die Einteilung in Souverän, ·Adel und
Volk der einzigen natürlichen in Souverän und Volk Platz gemacht haben wird:129•
Kant sah im erblichen Adel lediglich eine temporäre, vom Staat autorisierte Zunft-
genossenschaft, die sich nach den Zeitumständen bequemen muß und dem allgemeinen
Menschenrechte, das so lange suspendiert war, nicht Abbruch tun darf. Er hob den
grundlegenden Satz der traditionellen Verfassungslehre auf, daß Adel konstitutiv
und damit unentbehrlich für jede gute Verfassung sei. Adel sei nur ein Akzidenz
der Konstitution und könne daher Recht (das kein ewiges Recht sei) und Stellung
durch Verfassungsänderung verlierentao.
Diese Feststellung Kants, daß Adel der politischen Verfassung nicht dauerhaft in-
härent, sondern nur ein Akzidenz sei, war grundlegend für die Begriffsbestimmung
des Adels im Zeitalter der Staatsreformen, sowohl Preußens wie der Rheinbund-

128 KANT, Zum ewigen Frieden, 2. Abschn„ 1. Definitivart. AA Bd. 8 (1912), 351, Anm.
119 Ders„ Metaphysik der 8itten, .ltechtslehre, § 49, Allg. Anm. D. AA Bd. 6 (1907), 329.
130 Ebd„ .Anhang 8 C. AA Bd. 6,.370. Vgl. auch ders., Über den Gemeinspruch: Das mag

in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), 2. Abh.: Vom
Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht (Gegen Hobbes). AA Bd. 8, 289 ff.

29
Ad"I D. 9. Ersehüttenmg und Behauptung 1789/1815

monarchien. Dazu trat Kants (zwar traditionelle, aber auf neue Weise idealistisch
wirksame) Unterscheidung zwischen Edelmann und edler Mannl 31, die zum zeit-
gemäßen Glauben an das Ziel einer „Veredlung" der Menschen, besonders bei den
preußischen Reformen paßte. Die alte Vorstellung der allein adelnden Tugend
innerhalb der gleichwohl ihrer selbst sicheren Adelswelt schlug um in die Zuversicht,
daß jedermann im Emporstreben zum Guten132 edel und daß damit Adel alter Art
ersetzt werden könne. Wenn HARDENBERG (1807) forderte: Jede Stelle im Staat,
ohne Ausnahme, sei nicht dieser oder jener Kaste133 - der erbliche Adel wird mit

131 Ders„ Zum ewigen Frieden, 2. Abschn„ 1. Definitiva.rt. AA Bd. 8, 351, Anm.
1 3 z KARL AuG. FRH. v. IIARDENBERG, Ober die Reorga.nisation des Preußischen Staats, ver-
faßt auf höchsten Befehl Sr. Majestät des Königs (Riga.er Denkschrift, 12. 9. 1807), in:
Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, Bd. 1/1, hg. v.
GEORG WINTER (Leipzig 1931), 314; hier auch das folgende Zitat.
1 33 Mit 'casta' (lat. castus „rein") bezeichneten die portugiesischen Indienfahrer des
16. Jahrhunderts die Btrong voneinander gesonderten Sozialgruppierungtiu iu Irulien. In
dieser Bedeutung gela.ngte das Wort im 17. Jahrhundert ins Französische ('caste' seit
1676 belegt: }'EW), fand jedoch erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Eingang in
die Wörterbücher, zuerst offenbar in die 3. Aufl. des Dict. Ac. fran9. von 1740 (s. Lrrl'lnl:).
Entsprechend definierte rlie 5. Aufl.. des Dict. de Trevoux kurz darauf (1743) 'co.stc' als
nqm que l'on donne aux Tribua, dana leaquellea aont divi8ea lea ldoldtrea dea Indea Orier,;tales
(t. l, 1784). Im Deutschen findet sich 'Casto' ··-dem Französischen entlehnt und zunächst
ebenfalls in der auf Indien begrenzten Bedeutung - seit dem beginnenden 18. Jahr-
hundert (1726 belegt: KLuGE/MrrZKA). JoH. GEORG PuRMANN begriff noch 1781 in der
Dt. Enc. als Oasten ausschließlich diejenigen Stämme oder Ordnungen ... , in welche die
Indoataner eingeteiU aind (Bd. 5, 277). In dieser engen "Redeutlmg registrierte der strenge
Purist CAMPE noch 1813 (Fremdwb„ 2. Aufl„ 176) das Wort 'Caste' als Stamm nach indiachem
Sprachgebrauche; im Gegensatz zu ADELUNG (Bd. 1, 1774, 2. Aufl. 1793) und zu seinem
eigenen Deutschen Wörterbuch (CAMPE Bd. 1, 1807) ließ er jetzt jedoch das Wort zum
deutschen Wortschatz zu und empfahl, .es folglich 'Kaste' zu schreiben. Wieweit sich der
Kastenbegriff im 18. Jahrhundert gleichzeitig von der Fixierung an die indischen Gesell-
schaftsformen lösen und damit verallgemeinern konnte, lassen die Lexika der. Zeit nicht
erkennen. Spätestens seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, besonders seit
der Französischen Revolution, wurde 'Kaste' in Deutschland zum „Schlagwort im Munde
der bürgerlichen Aufklärung" (GoMBERT), das polemisch auf Adel und Offizierstand
angewendet und in vielfachen Zusammensetzungen wie 'Kastengeist' (Ende des 18.
Jahrhunderts nach frz. 'esprit de caste'), 'Kastenehre', 'Kastenzunft', 'Kastensinn'
u.ä. Verbreitung fand. So setzte JoH. GoTTFRIED SEUME 1797 Adelainn und Kaatengeiat
gleich, der die mei8ten Staaten, ao viel ihrer die M enachengeachichte nennt, so lange
niederdrückte und zerrüttete; Zwei Briefe über die neuesten Veränderungen in Rußland
seit der Thronbesteigung Pauls des Ersten, SW 5. Aufl„ Bd. 5 (1853), 71. Zu Beginn des
19. Jahrhunderts scheint die polemische Verwendung längst geläufig gewesen zu sein;
sie steigerte sich besonders, als man nach 1806/07 dem Kastengeist des preußischen Adels
die Schuld am Zusammenbruch zuschrieb (Belege bei GoMBERT und LADENDORF). Daher
konnte der preußische General ÜTTO FRIEDRICH v. DIERICKE in seiner Verteidigungs-
schrift „Ein Wort an den Preußischen Adel" (Berlin 1817), 34 die Worte Caatenzunft,
Castenatolz, Gastendruck, Castengeiat und Castenainn Lieblingsau.adriicke einiger unaerer
gallaiichtigen Zeitachriftatelle,r nennen. - Vgl. KELLER, Ober den Kastengeist (Erlangen
1823); LrrrRi t. 1 (1863), 503; GRIMM Bd. 5 (1873), 262; ALBERT GOMBERT, Weitere

30
II. 9. Erschütterung und Behauptung 1789/1815 Adel

Hilfe des außereuropäischen Begriffs verbannt - , sondern dem Verdienst und der
Geschicklichkeit und Fähigkeit aus allen Ständen offen1H, so führte das für ihn zu dem
großen Zweck der Veredelung der Menschheit 130. Die Öffnung zur sozialen Freiheit
konnte - analog zum alten Topos des edlen Bauern-'---- sogar ausdrücklich als Weg
zur Veredelung der arbeitenden Klasse1 36 aufgefaßt werden.
Durch derartige Wendungen wurde die oben (S. 26) hervorgehobene Tendenz ver-
stärkt. 'Adel' durch 'Elite' im moralischen und im produktiven Sinne zu ersetzen
(keine Aristokratie als die der Talente und Tugenden) 137. Bezeichnenderweise
tauchte, wenn auch noch selten, auch das im Französischen seit dem 17. Jahrhundert
gebräuchliche Wort gelegentlich schon auf, so bei Hardenbergs Mitarbeiter ScHA,RN-
WEBER (die Elite des höheren Gewerbestandes, 1811)138. Blieb die Wortwendung auch
noch vereinzelt, so war der Gedanke der Auslese (Elite) nach Gesinnung, Charakter
und Leistung in betontem Gegensatz zum privilegierten, erblichen Adel konstitutiv
für alle Bereiche der Preußischen Reform.
Doch mündete die Auseinandersetzung um den Adelsbegriff in Deutschland keines-
wegs einseitig und überwiegend in die Richtung der Elite-Vorstellung. In der Publi-
zistik der Zeit um 1800 tauchten auch alle traditionellen Argumente adelskritischer
und -apologetischer Art noch auf.
Aber die gelehrte Überlieferung und Topologie, wie sie vor allem noch FRIEDRICH
G. A. SCHMIDT (1795) vertrat1 39, wenn er mit Hagemann (1696) daran erinnerte,
daß humana soc,ietas reg·itur inaequalitate, verblaßte allmählich und trat hinter
zeitgemäßer, populärer Polemik zurück, wenngleich auch Schmidt mit seiner
Gelehrsamkeit (explizit gegen die Jakobiner) aktuell zu sein versucht hatte. Ob
gelehrt oder populär, in jedem Fall galt die Feststellung CHRISTIAN GARVES
(1792), daß der Adel zur Partei140 im Staat geworden sei. Hinter jeder Meinung oder
Begriffsbestimmung stand das neue Faktum: „die Verwandlung des Adelsstandes
in eine Partei, die um ihre Vorrechte kämpft"141.
Daher gab es neben den zahlreichen Adelskritiken auch Apologien des Adels, so
z. B. bei AUGUST VON KoTZEBUE (1792), für den nicht nur Tüchtigkeit, sondern
auch Seelenadel erblich, ständische Ordnung ein Gebot der Natur und der Adel ein

Belege zu farbigen Worten, Zs. f. dt. Wortforsch. 7 (1905/06), 148 f.; LADENDORF (1906),
162; TB.ÜllNEB Bd. 5 (1939), 104; FEW Bd. 2 (1949), 479; KLuaEfMxrZKA 18. Aufl. (1960),
356; Dm>EN, Etymologie (1963), 315. - Stand und Klasse. R. STUMPF
18' liARDENllERG, zit. WINTER, Reorganisation, 314.
185 Ebd., 306.

ua Reskript vom 5. 3. 1809, in: Ergänzungen und Erläuterungen der Preußischen Rech~­
bücher, hg. v. HEINRICH GRlF, LUDWIG v. RÖNNE, Aua. HEINRICH SmoN, Bd. 4 (Breslau
1843), 420.
187 Vgl. Braunschweigisches Journal 2 (1790), 270.
18 8CHRlsTIAN FRIEDRICH SCRARNWEBER, zit. KosELLECK, Preußen, 196.
1ae Smmn>T, Fortgesetzte Beyträge (s. Anm. 73), bes. 20 ff. Zur publizistischen Aus-
einandersetzung vgl. JOHANNA ScmutTZE, Adel und Bürgei:tum (s. Anm. 104).
110 Cim. GA.RVE, Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur

und dem gesellschaftlichen Leben, Bd. 1 (Breslau 1792), 349 f.


Hl So KosELLECK, Preußen, 80 im Anschluß an Garve.

:n
Adel II. 9. Erschütterung und Behauptung 1789/1815

Band zwischen Fürst und Volk war, so daß der Volksstaat wie die Despotie (Türkei!)
verhindert werdeI42.
Aus den vielfältigen Versuchen, den Adelsbegriff dem Wandel der politischen Ver·
hältnisse anzupassen, ragt FRIEDRICH BUCHHOLZ (1805) hervor, weil er am extremsten
mit der Ablehnung des Geburtsadels den Gedanken verband, einen neu begriffenen
Adel nach napoleonischem Vorbild zu stiften. Für Buchholz blieb in Mm Begriffe
[des Adels] selbst noch immer eine Realität übrig; denn der Adel sei unzerstörbar, so
lange es große Gesellschaften gibt, welche durch die Macht zusammengehalten werMn
sollen. Es werde immer Personen geben müssen, die kraft ihrer Intelligenz und Nähe
zum impulsierenden Staatschef Mr ganzen Regierungsmaschine den Impuls geben;
die würden immer der AMl einer Nation sein. Solchen Naturad,el setzte Buchholz
scharf von der vergangenen Feudalaristokratie ab, die er als unnatürlich bezeichnete.
Den natürlichen Adel einer modernen Nation, wo die Gleichheit neben Mr Souveränität
stattfind,et und beide für und durcheinander 11orh.a111.dP.n .~ind, fänd Buchholz in der
französischen Ehrenlegion beispielhaft verwirklicht. Sie sei, ihrem Wesen nach, eine
moralische Institution zur Aufrechterhaltung der Gleichheit und 8ü:herung Mr Herr-
schaft d.er Tugend, eine neue Aristokratie naoh dom Grundaatz, daß sich die m·it ihr
'Verbundenen V ortm:lP. 'm:cht über d1'.e LebensdauC!T des in sie aufgenommenen I ndivi-
duums hinaus erstrecken sollten. Sie wirkte daher nicht als Körper, sondern nur als
Organ MS ganzen Staates. In bezug auf diesen sei sie eine Aristokratie, in sich selbst
aber eine Demokratie1'3.
Diese Neuadelskonzeption ging mit dem Modell des napoleonischen Herrschafts~
systems dahin und entsprach um so weniger den deutschen Bedingungen, als der
politische Kompromiß zwischen den fürstenstaatlichen Regierungen und dem Erb-
adel nicht aufgegeben, vielmehr von 1815 an neu geschlossen wurde.
Dazu hatten der Gegenschlag Edmund Burkes gegen die Französische Revolution
und das für die deutsche Selbstbehauptung gegenüber Frankreich für viele will-
kommene englische Vorbild beigetragen, wie es besonders durch Ernst Brandes,
August Wilhelm Rehberg und Friedrich Gentz hervorgehoben wurde. REHBERG
vor allem wendete für Deutschland (1803) wie Burke fü;r England die alte Lehre
von der „natürlichen" Ungleichheit (Aristoteles) an und vertrat die These, daß der
Adel, insofern er auf ererbten Landbesitz begründet sei, den Bürgerlichen zwar
freie Mitbewerbung um hohe Stellen zugestehen solle, trotzdem aber prädisponiert
sei zur Führung im Staats- und Militärdienst. Rehberg präludie1·te weit mehr als
Kant und Buchholz dem 19. Jahrhundert in Deutschland, wenn er einerseits die
Adelsvorrechte einschränken und so dem Bedürfnisse der Zeiten zuvorkommen wollte,
andererseits aber die überlieferte Grundüberzeugung gegenrevolutionär hervor-
kehrte, daß die Vorzüge Mr adligen Abkunft tief in der Natur MS Menschen und in
den ersten Grundzügen aller bürgerlichen Ordnung liegen, und es ein ebenso vergebliches
als frevelhaftes Unternehmen sein würde, sie zerstören zu wollen144 . In ähnlichem

1'2 A. v. KOTZEBUE, Vom Adel (Leipzig 1792), paBBim, bes. 130. 232. Adel als Mittelstand
zwischen Fürst und Volk findet sich auch sonst noch mehrfach, z.B. bei PmLIP:e v. ARNIM
(1793), zit. JOHANNA SCHULTZE, Adel und Bürgertum, 49 f.
143 FRIEDRICH BUCHHOLZ, Der neue Leviathan (Tübingen 1805), 72 f. 172 ff.
1 " AuG. WILH. REHBERG, Über den deutschen Adel (Göttingen 1803), bes. 261.

32
11. 9. Erschütterung und Behauptung 1789/1815 Adel

Sinne hatte· BRANDES (1792) der revolutionären Gleichheitsforderung den Begriff


der natürlichen Aristokratie entgegengesetztl45 ,
Beim FREIHER;RN VOM STEIN verband sich diese Überzeugung mit einer praktisch
angestrebten Konzeption, den Adel in einer politischen Verfassung dauerhaft einzu-
bauen, die durch wirkungsvolle staatliche Zentralisation einerseits, Mitverantwor-
tung und Selbstverwaltung der bäuerlichen und bürgerlichen Eigentümer anderer-
seits gekennzeichnet sein sollte. Steins Wunsch, die Kräfte dieser breiten grund-
besitzenden Mittelschicht politisch zu aktivieren, widersprach es nicht, daß er den
Adel nach wie vor als den ersten politischen Stand ansah. Allerdings sollte dieser
auf seinen ursprünglichen Begriff gebracht und sowohl durch historische Rück-
besinnung wie durch Einfügung in einen modernisierten Staat reformiert werden.
Stein riet dazu, den Adel a·uf seine ursprüngliche Bestimmung zurückzubringen, ihn
nur mit Geburt und Gutsbesitz nach einer gewissen Stufenfolge zu verbinden und· den
übrigen [gütorlosen, armen Adel] in diß ganoo Masse der Staatsbürger zurücktreten
zu lassen146 . Ein an Zahl verringerter, zu politischer Verantwortung verpflichteter,
auf Grund seines Reichtums dazu prädestinierter, weil unabhängiger Adel sollte
in einem Oberhaus politisch richtungweisend vertreten sein. Der alte Begriff des
ArlelR, cle11Mn virt,1111 11ich in öffentlichem Dienst bewähren und Ehre bringen f$Ollte,
wurde damit von Ht.fiin auf die erneuerte und sozial erweiterte Nation übertragen.
Reichtum vereinigt das eigene Wohl des Grundbesitzers mit dem allgemeinen, und durch
die J1Jrinnerung der 1'aten der Voreltern verbindet sich der Ruhm der Nation mit der
F amilienehre14 7 •
Steins ausgeprägter historisc4er Adelsbegriff wurde in der Romantik noch stärker
historisiert und damit vom Radikalit:1muti aufgeklärter Adelsverneinung entfernt.
FRIEDRICH SCHLEGEL wies in seinen „Philosophischen Vorlesungen" (1804/06) dem
Ailel aller<ling nur als Kriegerstand bzw. als K1'iegerkaste einen angesehenen Platz
in der ständischen Verfassung an, die jenseits vom Republikanismus und einer abso-
lut despotischen Herrschaft des Königs der Freiheit der Bürger und der Bildung
... des Menschengeschlechts am förderlichsten sei. Bezeichnend waren dabei der aus-
drückliche Bezug auf das Mittelalter, die Verbindung von Landbesitz und Krieger-
beruf, die Bezeichnung des Adels als den ersten Stand, der das Ganze repräsentiert,
das Eigentum, die Ehre und die Ruhe der Nation sichert und erhält. Schlegel betonte
die Erblichkeit des Adels so stark, daß er, wenn auch mit einer Verwahrung gegen
die kulturhemmende Starrheit dee Systems, an die Kasten der indischen Verfa11.~ung
ankniiprt.e148 • Für AnAM MÜLLER stand (1808/09) die göttliche Institution des
Adels, insofern dieser seiner ursprünglichen Verfassung getreu bleibt, im Zentrum
seiner Politik. Nicht auf die Konservierung als privatrechtlich sächlich-privilegierten

140 ERNST BRANDES, Über einige bisherige Folgen der französischen Revolution in Rück-
sicht auf Deutschland (Hannover 1792), 129.
148 STEIN, Denkschrift zum Finanzplan Hardenbergs v. 12./13. 9. 1810, Br. u~ Sehr.,

Bd. a (1961), 404 f.


147 Ders., Beurteilung des Rehdigerschen Entwurfs über Reichsstände, 8. 9. 1808, Br.

u. Sehr., Bd. 2/2 (1960), 853. Zum stark ausgeprägten Adelsbewußtsein Steins nach
1815 vgl. WERNER GEMBRUCH, Freiherr vom Stein im Zeitalter der Restauration (Wies-
baden 1960), 43 ff.
m F. SCHLEGEL, Philosophische Vorlesungen 1800-1807, SW Bd.13 (1964), 148.150 f.

3-90385/1 33
Adel ß. 10. Adel im 'Wandel dee Verfassungsrechts

Starul,, der sich castenweise zusammenhalte, sondern auf die öffentlich-rechtliche


Stellung des Adels in einer ständischen Verfassung müsse die Anstrengung gerichtet
sein, durchaus im Gegensatz zrir Konstitutionskünstelei unserer Tage, die nichts sei
als der immer unglückliche Versuch, ein Su"ogat der Ständeverhiiltnisse des Mittel-
alters zu finden 149 • Mit einem solchen Adelsbegriff, der aus einem romantischen
Mittelalterverständnis gewonnen war, wurde der Adel untrennbar mit der „Gegen-
revolution" verbunden; ein Kompromiß mit dem modernen Staat war auf solcher
Grundlage nicht möglich. Dem romantischen Adelsbegriff war daher vielfach senti-
mentale Wehmut und Erinnerung an eine verlorene, edlere Welt eigentümlichl 50 •

10. Adel im Wandel d~ Vert'888magueehts seit 1803/1815

Während in Frankreich der Adel im Rechtssinn, ungeachtet des Bemühens um


Erneuerung bzw. Restauration unter Napoleon 1. und den Bourbonen (1814-1880),
mit dem Ancien Regime endgültig zu bestehen aufgehört hatte, überdauerte er in
Deutschland das Ende ·des alten Reichs. Allerdings änderten sich die i;echtlichen
Attribute des Adelsbogri:ft'o ocit 1808/1806 (Säkularisierung, .Mediatisierung), 11eiL
der Deutschen Bundesakte von 1815 sowie durch zahlreiche Reformgesetze der
deutschen Staaten erheblich. Viele, aber noch nicht alle adligen Vorrechte fielen den
Neuregelungen ~um Opfäi·.
Obgleich alle geistlichen Fürsten sowie der größere Teil der kleineren weltlichen
Fürsten und reichsunmittelbaren Grafen 1803/06 als Landesherren ausgeschieden
waren, wurde in der Bundesakte 1815 gleichwohl der traditionelle, spezifisch
deutsche Begriff des „hohen Adels" aus der alten Reichsverfassung übernommen.
Zu ihm gehörten 1) die souveränen Fürsten (Art. 1) und 2) die seit 1806 mittelbar
gewordenen ehemaligen Reichsstände urul, Reichs-Angehörigen (Art. 14). Diese mediati-
sierten Angehörigen des ehemaligen Reichsadels sollten in ihren Häuptern die ersten
Standesherren in dem Staate, zu dem sie gehören, sein und sollten mit ihren Familien
die privikgierte Klasse in demselben bilden, insbesondere in Ansehung der Besteuerung.
Außerdem wurden ihnen weitere Vorrechte, vor allem die Ebenbürtigkeit mit den
souveränen Fürsten, privilegierter Gerichtsstand und Ausübung ihrer Gerichts-
herrschaft garantiert. Zwar wurde gelegentlich bestritten, daß die souveränen Für-
sten überhaupt noch unter den Adelsbegriff zu bringen seien und daher die mediati-
sierten Standesherren allein den hohen Adel zu bilden hii.ttenm. Doch offiziell wurde
(unter Einschluß der souveränen Fürsten) daran festgehalten, daß die Kriterien
des „hohen Adels" ehemalige Reichsunmittelbarkeit, Reichsstandschaft und Lan-
deshoheit darstellten1&2.

m ADAM MÜLLER, Die Elemente der Staatskunst, Bd. 1 (Berlin 1809), 258 f. 264. 268.
9. Vorlesung.
160 Besonders typisch in JOSEPH FB.H. v. EICHENDOBJ!TS Dichtungen. Vgl. bes. seinen

E888y: Der Adel und die Revolution, Werke u. Sehr., Bd. 2 (1957), 1022 ff.
1u So K.uu. FRIEDRICH VoLLGRAFF, Gibt es noch einen hohen Teutschen Adel in dem Sinne
und Begriffe, den man damit doctrinell bis zur Auflösung des deutschen Reiches verband ?
(Darmstadt 1823). Auch K.uu. JOSEPH MrrrEBJU.IEB bestreitet, daß der Begriff 'hoher
Adel' noch brauchbar sei; Art. Adeln, ERsCH/GBUBER 1. Sect„ Bd. 1 (1818), 388 ff.
161 HEINZ GoLLWITZER, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung
der Mediatisierten 1815-1918 (Stuttgart 1957), 32 ff. 398.

34
ll. 11. Kumpruw.iue zwischen Restauration una Revolution A.ae1

Der niedere Adel war in den deutschen Staaten, teils schon seit den achtziger
Jahren, teils erst unter französischer Herrschaft, erheblich in seiner Rechtsstel-
lung gefährdet und gesetzlich eingeschränkt worden (Bauernbefreiung, Militär-,
Finanz-, Steuerreformen); doch waren viele Privilegien, so besonders die adlige
Grund- und Gerichtsherrschaft, das Patronatsrecht, Ebenbürtigkeitsschranken
und Vorrechte bei Ämterbesetzungen in erheblichem Ausmaß erhalten geblieben,
und an Stelle alter Landstandschaft wurde in den Konstitutionen nach 1815
(in Preußen seit 1823 in den Provinziallandtagen) aufs neue der Vorrang adliger
Repräsentation (erste Kammern) festgelegt.
Der Adel war also trotz aller Erschütterungen im Deutschen Bund der maßgebend
herrschende Stand („souveräne Fürsten") und in den deutschen Staaten der höchste
politische Stand mit rechtlichem und gesellschaftlichem Vorzug vor den öffentlich
tätigen Vertretern des Bürgerstandes geblieben. Die Anfechtung und Rechtsminde-
rung des Adola in der Zeit der Revolution und Napoleons ist all'lo durnh fliA NP.n:-
festigung des Adels nach 1815 wenn nicht aufgewogen, so doch aufgehalten worden.
Aber die Erschütterung war nicht vergessen, und den verfassungs- und privat-
rechLliche11 Sichem11g1m der Adelsstellung entsprach keineswcg0 eine nouo Siohor
heit im Begriff des Adels. Nicht nur hatten die Mediatisierten die Erfahrung
gemacht, daß ihre reichsrechtlich ererbte „Souveränität" „widerrechtlich" anulliert
worden war, sondern aunh dP.m niederen Adel drohte ständig die Gefahr, daß seine
Vorrangpositionen durch weitere Reformgesetzgebung in den einzelnen Staaten
vermindert oder schließlich gänzlich aufgehoben werden könnten. Dagegen gab es
keine anuere Sichenwg al1:1 die weidlich genutzte Möglichkeit adligen Einfl.USßCß o.uf
Grund verfassungsrechtlich garantierter Macht und persönlicher Einwirkung. Ten-
denziell war also trotz der Stabilisierung um 1815 die verfassungsrechtliche Basis
des Adelsbegriffs weiterhin im Gleiten. RoT'.l'ECK betonte im vielbenutzten ;,Staats-
recht der constitutionellen Monarchie", daß dem Adel zwar nicht abgesprochen
werden könne, was bloß von der Willkür des Regenten abhänge oder was privatrecht-
lich ererbt oder erworben werden kann ... , daß ihm aber niemals einiges positive Vor-
recht anders als durch fortwährend freie Gewährung der Gesamtheit, demnach jeden
Augenblick widerrufen durch. die gesetzgebende Macht; zugestanden werden könnel 53•
So war der durch den Fall des alten Reiches und die staatlichen Reformen arg
reduzierte und verstörte Adel im konstitutionellen Staatsrecht zwar rechtlich be-
stätigt, aber auf längere Sicht keineswegs gesichert worden. Der Adelsbegriff war
nicht mehr ein notwendiger und unabänderlicher, ·sondern nur noch ein möglicher
und umstrittener Bestandteil der politisch-sozialen Ordnungl 54 •

11. Kompromisse zwischen Restauration und Revolntion


In der Zeit zwischen 1815 und 1848 lagen die extremen Möglichkeiten einer kon-
servativen Adelsrestauration und einer radikalen Adelsabschaffung außerhalb der
Realität. Trotzdem wurde diese seit 1790 drohende Alternative immer von neuem

168 JoH. CmusTOPH FRH. v. ÄBETIN / ÜARL v. ROTTECK, Staatsrecht der constitutionellen
Monarchie, 2. Auß., Bd. 3 (Leipzig 1840), 18.
154 Zu Einzelheiten der Rechtsstellung und der unterteilenden Bezeichnungen des Adels·

begriffe nach 1815 s. MrrrERMAIEBS Art. Adel I, ERSCH/GRUJIER 1. Se.et., Bd. 1 (1818),
37911'.

35
Adel II. 11. K.uwpromisse zwischen Restauration und Revolution

lebendig, so schon unmittelbar nach der Neuordnung von 1815 in der Fehde zwi-
schen den verfeindeten Jugendfreunden (des Göttinger Hainbundes) GRAF FRIED-
RICH LEOPOLD zu STOLBERG und JOHANN HEINRICH Voss (1818/19) 1 5 5 • Allerdings
wurde hier kaum etwas Neues gesagt. Der persönlich :verletzende Streit sei hier nur
deswegen erwähnt, weil er das als existenzbedrohend empfundene Auseinander-
treten der Prinzipien und Lebensanschauungen. zwischen Adelsbehauptung und
fortschrittlich leistungsbewußtem Brügerstolz, zwischen Geboremn und Tüchtigen 156
auf die Spitze trieb. Stolberg drückte die Idee des Adels in zeittypischer Idealisierung
überkommener Vorstellungen so aus: Sie beruht, wie alks, was groß ist im Menschen,
auf Aufopferung des Geringeren, um das Höhere zu ergreifen. Der Adel muß ent-
sagen jedem kaufmännischen und nieiirigen Gewerbe. Drei Bestimmungen wurden ihm
gegeben: Veredelter Landl!au, dessen ehedem auch Könige sich nicht schämten; Staats-
verwaltung; Verteidigung des V ateilandes1 57 • Stolberg stand selbstverständlich in der
Tradition des Montesquieu'schen „Mittelstandes". Voss vemointo dies als ge-
schichtlich überholt und lehnte ab, daß eim mue Korporation geschaffen werden
könne, welche durch ihr Vermimn jedesmal die Vereinigung der Regierung und des
größten Teils der Regierten hemmen und zernichten kann158• Er verdammte das
Bündnis von Junkern und Päpst und klagte die Edelleute an: Sie wollen dumm
machen, damit sie fortgelten für erbklug zu den ersten Ämtern de,, Btaal.e.s, dessen
Bürger, dessen Gelehrte ihmn SpoUnamen sind, dessen Lasten ein wenig mitzutragen
sie filr großmütige Aufopferung erklären. Ihr Erbdrohmnrecht begeistert sie ... ; dies
fortzuerben auf ihre Dröhnlinge, sie reizen umeinander, datr Volk auf den Fürsten,
den Fürsten auf das Volk; dies zu verteidigen, ergeben sie sich dem dunkelnden Papst
und dem anarchischen SatanaslH.
So sehr in soluher Sicht - sowohl des Angreifers wie des Apologeten - Adel und
Aristokratie (gemeinsam mit der kirchlichen Hierarchie) in die Gegenaufklänmg
und Gegenrevolution verwiesen wurden, so wenig war doch die Position von Voß
radikal-republikanisch oder revolutionär. Daß diese Position in Deutschland nach
· 1815 zunächst fast gänzlich fehlte, war für die Adelskonzeption der politisch,· d. h.
vorwiegend liberal denkenden Bürger jener Zeit typisch. Die deutschen Liberalen
hielten sich im allgemeinen zwischen den Polen der Verteidigung oder der Verwer-
fung des Adels. Während auf konservativer Seite, z. B. bei ANCILLON und bei
STAHL, zunehmend eine Adelsideologie ausgebaut wurde, in der die alte Erblich-
keits- und Tugendlehre fortgesponnen und die Zusammengehörigkeit von Adel,
Monarchie und Kirche betont wurde180, standen die Liberalen von Anbeginn vor

IH F. L. GRAF STOLBERG, Über den Zeitgeist, in: Drey kleine Schriften (Münster 1818),
71 ff.; J. H. Voss, Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier?, Sophronizon 1 (1819), H. 3,
4 ff.; HEINlUCH EBERHARD GOTTLOB PAULUS, Voß und Stolberg oder der Kampf des
Zeitalters zwischen Licht und Verdunkelung (Stuttgart 1820).
168 Voss, Sophronizon 1 (1819), H. 3, 20.
167 STOLBERG, Brief an den Grafen Westphal v. 1. 2. 1816, zit. JOHANNES JA.NSSEN, Fried-

rich Leopold Graf zu Stolberg, Bd. 2: 1800-1819 (Freiburg 1877), 354 f.


158 Voss, Sophronizon 1 (1819), H. 3, 83.

1 59 Ebd„ 111.
180 FRIEDRICH ÄNCILLON, Über den Geist der Staatsverfassungen (Berlin 1825), 86:

Ohne Adel gibt ea keine MO'flßrckie, acmdern morgenländiaiken, Deapotiamua oder eine kimig-
licke Derrwhratie. FmEDRICH J ULIUS STAHL, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche

36
D. 11. Kompromisse zwischen Restauration und Revolution Adel

der Schwierigkeit, die alte „J!'eudalaristokratie'.', die durch Gewalt, die Sfiirke, die
Tyrannei, ja die Straßenräuberei der Ritter des Mittelalters 161 zustande gekommene
Macht des Adels, zu verwerfen, ihn in seinen Rechten aber trotzdem zu achten
und sich mit einer begrenzten politischen Funktion des Adels in der Staatsverfas-
sung abzufinden.
Die Lexika der Zeit gaben dem aktuell bleibenden Adelsproblem weiten Raum.
M1TTERMAIER entwickelte 1818 die Frage rein historisch und lieferte damit der
vorsichtigen, etwa auf der Linie des ausdrücklich genannten Freiherrn vom Stein
liegenden politischen Beurteilung von RAu die Grundlage: der Erbadel sollte dem
Zeitgeiste angemessen werden; der britische Majoratsadel wurde als Vorbild hin-
gestellt162. KRUG lehnte in seinem Lexikon (1827) dagegen betont unhistorisch den
Realadel (im Gegensatz zum Nominal- oder Titularadel) vom Naturrecht her ab,
ließ aber trotzdem, ohne klare Konkretisierung, das ursprüngliche und natürliche,
nicht dagegen das spätere und erkünstelte Adelsinstitut gelten163. Die ausführlichste
und wohl als prototypisch zu bezeichnende Adelsin~erpretation des deutschen
Liberalismus gaben WELCKER und RoTTECK im „Staats-Lexikon" (1834), in dem
sie die zum Grunde liegenden vernunftrechtlichen Überzeugungen historisch ein-
kleideten und damit empirisch zu begründen versuchten164. Welcker verwarf alle
hyperaristokratischen und mystisch religiösen Adelstheorien (259), besonders christ-
lich-konservative Theorien (Fr. Schlegel, Adam Müller u. a.) ebenso wie verschwom-
mene Gesinnungsbegriffe wie natürlicher Adel, Ad.el d.es Herzen.~, Meimmgs-, Ver-
dienst-, Geld- oder Gelehrtenadel (265), um damit die Bahn für seine historische
Beweisführung freizumachen, mit der er Adel und Aristokratie zugleich ablehnte
und neu begründete, soweit mit dem Recht und dem Wohl der Staatsgesellschaft ver-
einbarlich (162). Welcker stellte den Adelsbegriff in das Geschichtsbild von der
ursprünglichen Gemeinfreiheit (der höchste allgemeine altdeutsche Stand war ... die
Vollfreiheit oder das Vollbürgertum. Freiheit war der Uradel, der einzige Adel unserer
deutschen Vorfahren;. 312) und der Verfallsgeschichte des Adels im -+Feudalismus
(Feudal-Despotie, Feudal-Anarchie; 313), um für seine Zeit den Fall aller unbegrün-
deten, auf Feudalismus beruhenden Vorzugsrechte festzustellen bzw. zu fordern,
sodann aber die friedliche Vereinigung zeitgemäß gerechtfertigter Vorrechte eines
extrem politischen Standes (Oberhaus, Pairieadel)1 65 mit dem konstitutionellen System
(Berlin 1863), 297 ff. bezeichnete den Adel als Triiger der Partei der Le,gitimität, die Stahl
weder einer absolutistischen noch einer altstltndischen, sondern der stltndisch konstitutionellen
Monarchie zuordnen will. - Als Beispiel für die „Mittelstands"-Tradition (Montesquieu):
FRIEDR. WILH. DIETRICH v. GEISLER, Über den Adel als einen zur Vermittlung zwischen
Monarchie und Demokratie nothwendigen Volksbestandtheil (Minden 1835).
1e1 So in HEINRICH LuDENS Nemesis 4 (1815), 475; ebd., 471 wird der Adel bezeichnet als
gefallen, entwürdigt und entehrt; mit ihm sei die große Idee, wekher er das Dasein dankt,
unterge,gangen.
162 ERScH/GRUBER 1. Sect., Bd. 1 (1818), 379 ff.

m KRUG Bd. 1 (1827), 37 ff.


164 ÜARL WELCKER, Art. Adel; ÜARL v. RoTTECK, Art. Aristokratie, ROTTECK/WELCKER

Bd. 1 (1834), 258 ff. 675 ff.


166 Vgl. hier~u auch WELCKER, Art. Staatsverfasswig, RoTTECK/WELCKER Bd. 15 (1843),

81 f., wo er im Sinne der Vermittlung ein drittes Organ, einen Senat, ein Oberha'U8 nach dem
Vorbild Englands eingeführt wissen wollte, in dem neben dem grundbesitzenden, erblichen
Adel auch Spitzen der Kirchen und der Wissenschaft sitzen sollten.

37
Aclel U. 11. Kompromi11e zwischen Restauration ana Revolution

(3.50) für notwendig zu halten. Adel und Aristokratie wurden also abgelegt, insofern
es sich um die Aktualität des seit der Französischen Revolution ausgebrochenen
Kampfes der Aristokraten gegen die Demokraten, d. h. gegen die Völker handelte; sie
sollten aber mit Hilfe des geschi~htlichen Rückgriffs auf die noch unverderbte Vor-
zeit historisch legitimiert (in jener alten, echt, deutschen al"lgemeinen Nobi,lifiit aller
freien Vollbürger; 353) und der liberalen Staatsverfassung als zur bürgerlichen Gesell·
schaft offen eingefügt werden; denn die konstitutionelle Monarchie sei für ein
mündiges Volk (689) nur möglich, wenn ihr ein demokratisches Element mit aristo-
kratischer Beimischung (692) eingefügt werde. Solcherart suchten die Liberalen den
Spalt zwischen 'Demokratismus' und 'Aristokratismus' zu überbrücken und im
vorgestellten geschichtlichen Dreischritt die alte Le~e von der gemischten Verfas-
sung auf liberale Weise neu zu fassen. So stellte auch das „Conversations-Lexikon
der Gegenwart"188 fest: der eckte Aristokratismus verträgt sich mit wahrem Liberalis-
mus und ist eins mit ihm und setzte diesen „echten Aristokratismus" ab gegen einen
falschen und unechten Aristokratismus im Sinne eines Liberalismus, ... der sich noch
mehr von den Schlacken demokratischer Tendenzen gereinigt haben wird. Und
FRIEDRICH ScHMITrHENNER bemerkte 1838: Der Liberalismus steht der Aristokratie
so wenig entgegen, da{J man dieses letztere System [das liberal-aristokratische] unbe-
denklich als dasjenige aller tieferen Staatsgelehrten bezeichnen kann167 • In ähnlichem
Sinne harmonisierend trat der Württemberger PAUL AORATIUS PFIZER 1842 für die
Mischung der drei klassischen Elemente ein. Alles spreche für einen verfassungs-
mäßigen und gesetzlichen Adel neben dem monarchischen Staatsoberhaupt, der aber
keineswegs ein blo{Jer Adel der Geburt ... , sondern auch· ein Adel des Verdienstes und
der Talente oder der persönlichen Würdigkeit, ein Adel des Geld- oder Grundbesitzes sein,
ja sogar in der Volksvertretung selbst enthalten sein kann, so daß das arist.okratische
Element in die Vertreter des dem Volke vorbehaltenen Teils der Staatsgewalt unmittelbar
gelegt wird168•
Diese Beispiele des zeittypischen Kompromisses der Liberalen mit einem „echten"
Aristokratismus, die leicht vermehrt werden könnten, zeigen, daß man auf liberaler
Seite nicht müde wurde, der Dichotomie „Aristokratie - Demokratie" auf dem
Boden der gegebenen und verbesserungfähigen konstitutionellen Monarchie zu
widerstehen, um den Adel aus einem zwecklosen, wenn nicht, gefährlichen Gliede der
Gesellschaft, was er gegenwärtig bei uns unleugbar ist, zu einem naturgemäßen, kräfti-
gen, für sich selbst und für die bürgerliche Gesellschaft nützlichen l nstitute zu er-
keben11J11. In solcher Naturlehre des Staats konnte, so war die Meinung, ein offener,
öffentlich rechtlich institutionalisierter, vermittelnder Adel als Träger des als un-
entbehrlich angesehenen „aristokratischen Prinzips" nicht fehlen.
Gegenüber diesem liberalen Kompromiß standen sowohl die restaurativen wie die
revolutionären Adelskonzeptionen in ihrer Wirkung zurück, verstärkten sich aber

m BBOCXHAus, CL Gegenwart, Bd, l (1838), 221 f.


117 FBIEDBIOH SOBMlTl'JIENNEB, Neue Jbb. d. Geech., d. Staats. u. Cameralwiss. 2
(1838), 227 f.
118 PAUL AOHA.TIUS PnzEB, Gedanken über Recht, Staat und Kirche, Bd. l (Stuttgart
1842), 361 f. . .
118 CARL BIEDEB.MAirif, 'Ober die ~euesten BeBtrebungen zur Wiedererhebung des Adels,
in: Das deutsche Nationalleben in seinem gegenwärtigen Zustande und in seiner fort.
schreitenden Entwicklung betrachtet [Programm der Dt. MonatBSchr.] (Leipzig 1841), 188.

38
ll. 11. Kompromiase zwischen Restauration und Revolution Adel

nach der Julirevolution 1830 und in der Zuspitzung der vierziger Jahre. Auf konser-
Yativer Seite, besonders ausgeprägt in „Berliner Politischen Wochenblatt" nnd itn
Kreis um Friedrich Wilhelm I:V., wurde Adel im politischen Zusammenhang einer
ständisch-konstitutionellen Monarchie sowie in scharfer Absetzung von der sozial
schonungslosen bürgerlichen „Aristokratie des Geldes" und dem ihr zugehörigen
französischen Modell eines „Bürgerkönigtums" gesehen170• Bei Demokraten und
Radikalen, Jungdeutschen, Junghegelianern und Sozialisten dagegen waren die
Brücken zur Aristokratie abgebrochen. Hier wurde jegliche Adelsanpassung oder
-erneuerung verworfen. Schon HEINRICH HEINE schrieb 1832: Alle Konstitutionen,
selbst die beste, können uns nichJ,s helfen, solange nicht das ganze Adeltum bis zur
letzten Wurzel zerstört ist 171• Bei allen radikalen Gruppen, besonders den Sozialisten,
setzte sich der Gedanke einer Zeitwende fest, durch die der Adel uneingeschränkt in
die verderbte Vergangenheit verwiesen wurde. Immer niih.er rückt dM große Zeitpunkt
heran, wo die beülen Prinzipien, . . . niimlich das aristokratische und demokratische,
gegeneinanderüber auf den Kampfplatz treten werden. Ein Kampf wird entstehen auf
Tod und Leben, und er wird sich nur endigen mit der gänzlichen Vemichtung dM einen
Partei (1838); dabei wurden bereits die gefährlichen Erben der feudalen Despoten, die
industriellen Geldaristokraten und die liberal-bürgerlichen Geistesaristokraten mit
einbezogen172 •
So wurde jede politische „Naturlehre" korumrvativcr oder liberaler Prägung, duroh
die ein institutionalisierter Adel oder ein der politischen Verfassung innewohnendes
aristokratisches Element begründet wurden, von den Radikalen verworfen. Adel
konnte für sie nur als historisch vergangen oder als gegenwärtig anachronistisch
bzw; überfällig begriffen werden. So definierte der junge MARX (1843) das konstitu-
Liunelle (lieuLsche uder englische) ZweikammerllilysLem als ein Nebeneinander von
Mittelalter und moderner Zeit: Adel in der Pairskammer als dem ständischen
Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft (der Stand schlechthin) neben der Abgeord-
netenkamm.er als der politischen Repräsentation dM bürgerlichen Gesellschaft. Die
lrürgerliche Gesellschaft hat dann in der ständischen Kammer den Repräsentant ihrer
mittelaltrigen, in der Abgeordnetenkammer ihres politischen (modernen) Daseins. Der
Fortschritt besteht hier gegen das Mittelalter nur darin, daß die stäriilische Politik zu
einer besonderen politischen Existenz neben der staatslrürgerlichen Politik herabgesetzt
ist173 •

170 Wm..FGANG SCHEEL, Das „Berliner Politische Wochenblatt" und die politische und so-

ziale Revolution in Frankreich und England. Ein Beitrag zur konservativen Zeitkritik
in Deutschland (Göttingen, Berlin, Frankfurt 1964).
171 HEINRICH HEINE, Französische ZUBtände (1832), Zwischennote zu Art. IX. SW Bd. 5

(1908), 149. Daß die Grenze zur „liberalen Partei" hin fließend war, sei angemerkt. Die
Ablehnung der „Feudalarietokratie" verband Gemäßigte und Radikale in liberaler
Grundüberzeugung. Vgl. dazu den sich zur „liberalen Partei" rechnenden, jeglichen Erb-
adel scharf ablehnenden JoH. CmuSTIAN FLEISOBlUUEB, Die deutsche privilegierte Lehn-
und Erbaristokratie, vernunftmäßig und geschichtlich gewürdigt für gebildete Deut.sehe
aller Claesen (Neustadt/Oder 1831) mit Anlehnung an Kant.
m KARL SOlliPPEB, Gütergemeinschaft (Paris 1838; ungedr. Ma.nuekript), zit. Wou-
GANG SCHIEDEB, Anf"ange der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahr-
zehnt nach der Julirevolution von 1830 (Stuttgart 1963), 319, Anhang m.
17 a KARL MARx, Kritik der Regelsehen Staat.ephilosophie, MEW Bd. 1 (1957), 318.

39
Adel ll. 12. Die gescheiterte Entsebeidung 1848/1849

Im Maße wie Marx und Engels sodann bis 1847/48 die Theorie der in „Klassen-
kämpfen" fortschreitenden Geschichte ökonomisch bedingter Herrachaftsstruk-
turen entwickelten, war der Adel mit dem in seinen Resten gegenwärtig unter-
gehenden -+ Feudalismus in eine durch die Bourgeoisie schon überwundene Phase
der Geschichte verwiesen. Füi: Preußen sah ENGELS 1847 den Beginn einer neuen
Epoche ... , den Sturz des Absolutismus und des Adels und den Aufstieg der Bour-
geosie174. Soweit der gutsbesitzende Adel mit Mitteln der rationellen Landwirtschaft
zum industriellen Grundeigentümer geworden war, wurde für Engels sein Sturz
dadurch überdeckt, daß er teilweise selbst sclwn zur Bourgeoisie übergegangen sei175,
Adel und Aristokratie waren solchergestalt historisiert, d. h. in der Geschichte auf-
gehoben: sie waren für die Begriffsbestimmung der zukünftigen Gesellschaft aus-
geschieden.

12. Die gescheiterte Entscheidung 1848/1849

In der Reichsverfassung von 1849 ist der liberale Adelskompromiß, allerdings mit
erheblichen Zugeständnissen an die Linke, konstitutiv geworden. Es wurde ent-
schieden:
1) Der souveräne Hochadel, d. h. die Fürsten, blieben insofern unangetastet, als sie
regierende Häupter von konstitutionellen Monarchien blieben und ihre staatlichen
Hoheitsrechte dadurch behielten, daß diese nicht in die Kompetenz des Reiches
übergingen. Die Würde des Reiclisoberhauptes sollte einem der regierenden Fürsten
übertragen werden (§ 68). Damit war am Begriff des Reichs als einem Hochadels-
bund, wenn auch bundes- und nationalstaatlich modernisiert, gegen die demokra-
tisch-republikanische Minderheit festgehalten worden. Diese Entscheidung blieb
trotz Unterbrechung und .Änderungen nach dem Scheitern der Frankfurter Natio-
nalversammlung grundsätzlich bis 1918 gültig und bewußtseinsprägend.
2) Der Adel als Stand, von den Fürsten abgesehen, wurde aufgehoben. Alle Standes-
vorrechte wurden abgeschafft, die Gleichheit vor dem Gesetz hergestellt. Es gab
prinzipiell keine Sonderstellungen des Adels mehr, so daß alle aus Grund- oder
Gutsherrschaft herrührenden Rechte und Einnahmen sowie die Patrimonial-
gerichtsbarkeit und grundherrliche Polizei, Zehnt- und Jagdberechtigungen, Steuer-
vergünstigungen, Familienfideikommisse, Lehensverbände, Ämter- und Militär-
dienstvorrechte fortfielen(§§ 137. 164-173).
Damit war der Adel als solcher gemäß dem Grundrecht der bürgerlichen Gleichheit
aus dem Recht ausgeschieden. Es sollte weder im Staatsrecht noch im bürgerlichen
Recht noch einen Adel geben, auch nicht in der Ersten Kammer des Reiches, dem
Staatenhaus. Die Vertreter der demokratischen Linken wollten daraus die Folge-
rung gezogen wissen, daß damit Adel überhaupt abgeschafft sei und nur noch der
Geschichte angehöre. Doch die liberale Mehrheit scheute diese Konsequenz. Auch
ERNST MoRITZ ARNDT, der sich in seiner Rede 1848 als Republikaner bezeichnete,
hatte schon 1814 den Adel nicht beseitigen, sondern ihm vielmehr auf einen auf
Grundbesitz ruhenden Majoratadel reduzieren wollen178 ; er beschwor nun die Ehre
174 FRIEDRICH ENGELS, Die preußische Verfaseung, MEW Bd. 4 (1959), 35.
175 Ebd„ 47.
178 E. M. ARNDT, Über künftige ständische Verfassungen in Deutschland (1814), Werke,

Bd. 13 (1908), 228.

40
II. 12. Die gescheiterte Entscheidung 1848/1849 Adel

unserer Geschiclite, diese heiligen Gefühle, die jedes Ilaus, jeder Stand, jede Hütte
in sich hat, und mahnte, die Ehren der Namen, den Glanz der Geschichte gegen die
gleichmachende Unbarmherzigkeit und Uniformität zu bewahren. Adel war
für ihn Geschichte, Erinnerung, die jedoch nicht völlig vergangen sein, sondern
eine unendliche Gewalt des Fortwirkens behalten sollte, die nicht ehrfurchtslos ab-
gebrochen werden dürfe177 • BESELER bejahte solche Kontinuität, im Einklang mit
dem Grundsatz der Reform und im Gegensatz zur Re·volution. Die historisch-soziale
Bedeutung des Adels sei nicht erloschen, wenn seine Vorrechte beseitigt worden
seienl 78. Auch JAKOB GRIMM argumentierte historisch. und erkannte die glanzvolle
Adelsgeschichte des Mittelalters an; doch begriff er die Geschichte vom bürger-
lichen Selbstbewußtsein aus, sah den Adel seit langem absinken, die bürgerliche
Freiheit und Leistung aber steigen und folgerte - im Gegensatz sowohl zu liberal-
konservativen Bewahrern wie demokratischen Radikalen-: es scheine ihm, daß
der Adel aussterben müsse, aber er glaube nicht, daß er mit seinen Titeln und seinen
Erinnerungen getilgt werden darf. Grimm beantragte daher, daß keine Erhebung.
weder in den Adel noch aus einem niederen in den höheren Adel mehr stattfinden solle.
So werde der noch bestehende Adel geschont, aber nach und nach selbst erlüsclten179.
Ohne Gewaltsamkeit sollte der Adel in die bürgerliche Welt aufgehen. Für die
Demokraten konnte es auch solche Schonung nicht mehr geben. Der Adel war für
sie eine Kaste, eine Scheidewand, ein. 'Vernunft- und rechtswidriges Institut 1 so. So
gesehen schloß 'Adel' sowohl 'Menschheit' wie 'Volk' als C'TBgenbegriffe aus. MORITZ
MoHL bezeichnete den Adel als erbl-iclie Kaste; darin liege seine Wesenheit, darin das
verletzende Unrecht, daß er dem Anspruche der Menschlte-it: Jeder .~oll nur nach seinem
Verdien.~te Geltung haben, geradezu zuwiderläuft. Erst wenn der Adel aufgehoben sei,
erst dann, wenn es nur noch e·in Volk, keine zu1e1: 11er.~chiedenen Rat;en mehr gibt, erst
dann werde die Freiheit wahrhaft und fest gegründet sein. Mohl wies auf die Folgen
des Widerspruchs hin, die die Nationalversammlung zu verantworten habe, wenn
sie auf der einen Seite den Adel rechtlich abschaffe, ihm aber auf der anderen Seite
seine Familiengeltung durch Namen, Titel und Wappen weiterhin sichern wolle :
Wenn Sie heute die Standesprivilegien aufheben, den Adel aber fortbestehen lassen,
so bleibt er ... eine abgeschlossene Kaste; es bleibt seine Familienabsonderung; es bleibt
seine höhere gesellschaftliche Stellung; es bleibt sein Einfluß auf die Höfe; es bleibt sein
staatlicher Einfluß; ... es bleibt das Bestreben des Adels, durch Erwerbung von Grund
und Boden sich, wenn auch nicht eine rechtliche Territorial-Herrlichkeit, doch eine
dieser ähnliche Stellung zu gründen ... Dazu trltgt bei, daß durch den Vorzug seiner
gesellscha.ftUchen Stellung dem Adel reiche Hefraten erleichtert sind181•
Das war in der Tat die Realität eines Adelsbegriffs, der zugleich abgeschafft und
bewahrt worden war, bis 1918! Da die Reichsverfassung von 1849 nicht in Kraft
trat, blieb die Wirklichkeit der folgenden Jahrzehnte noch hinter der Rechts-
setzung der Paulskirche zurück. Während die Reichsverfassung von 1867/71 die
Linie von 1849 aufnahm, blieben in den einzelnen Staaten, vor allem in Preußen,

177 Ders., Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 2 (1848), 1299 f.


1 78 CARL GEORG BESELER, ebd., 1333 f.
179 .J. GRIMM, ebd., 1310 f.

1 8 0 So der Grazer Trrus MA.RECK, ebd., 1301.


lBl M. MOHL, ebd., 1295 f.

41
Aiel D. 13. Fortaetsang - • F.abchirfaag •er Aael&diakauion

Adelsvorrechte - von der faktischen Geltung im Sinne der Mohlschen Prognose


abgesehen - privat- und öffentlich-rechtlich, besondere in den ersten Kammern
und in den Hofgesellschaftsordnungen, in erheblichem Umfange bestehen. So blieb
der Adel bis zu einem gewissen Grade - in den Ländern ungleichmäßig stark -
über die Distinktion der Frankfurter Reichsverfassung hinaus noch im Verfassungs-
recht der deutschen Staaten und damit im politischen Bewußtsein der Deutschen
erhalten.

13. Fortsetzung and Entaehiriung der Adelsdiskuuion nach IMBJl.84.9

Durch das Scheitern der Revolution, die vorläufige, mehr verfassungsrechtliche als
gesellschaftliche Wiederherstellung der „Ordnung" von 1815 und die Hinwendung
zu einem „realpolitischen" Bewußtsein auf der Grundlage des neuen industrie-
wirtschaftlichen Aufschwungs wurde die Tendenz verstärkt, Adel und Aristokratie
der Leidenschaft von Parteikämpfen mehr als vorher zu entziehen. In dieser Lage
ergaben sich neue Möglichkeiten geistiger Durchdringung des Problems, ehe es von
den sechziger und siebziger Jahren an verßachte und obsolet wurde. Höhepunkt der
Auseinandersetzung waren Lorenz von Steins Abhandlung·über ,,Demokratie und
Aristokratie" (1854:)181 und H„rr.twuw Wu.genere Artikel im „Staats- und Gesell-
s~baftslexikon" (1M9)188, ·
STEIN suchte die Konsequenzen aus den politisch-sozialen Begegnungen Englands,
Frankreichs und Deutschlands, besondere aus der Wirrnis 1848/49 in Deutschland
zu ziehen, indem er die vordergründigen Kämpfe dieses Jahres in seine geschicht-
liche Theorie einordnete; d. h. er stellte die gegenaä.tzlichen Prinzipien von Aristo-
kratie und Demokratie in das BezugBBystem von Staat und Gesellschaft sowie von
Verfassung und Verwaltung hinein. 'Aristokratie' wurde, indem er sie generell der
höheren Klasse und damit nicht notwendig für alle Zeiten dem grundbesitzenden
Adel zuordnete, als gesellschaftspolitischer Gegenbegriff zu 'Demokratie' und zu-
gleich als Prinzip des Unterscn:ieds als der Besonderheit (Gegensatz: Gleichheit) sowie
der Erlialt1u11UJ (Gegensatz: Bewegung) gefaßt (319). Stein war bestrebt, die beiden
von ihm als „feindlich" begriffenen Prinzipien aus wissenschaftlichem Bedürfnis
und entschiedenem politischen Willen zu entideologisieren. Er stellte dar, daß sie als
reine Prinzipien die Tendenz zur AuBBChließlichkeit und damit zur Zerstörung in
sich trügen, daß aber die Versöhnung beider angestrebt werden müsse. Erst die
Durchdringung beider ist das wahre Leben der GesellsChaft (319). Ermöglicht werde
dies dadurch, daß der Kampf beider Klassen und Prinzipien mit ihren Entartungen
(Demagogie, Reaktion) um die Bemä.chtigung des Staates dadurch entschieden wor-
den sei bzw. entschieden werde, daß der Staat die Vereinbarong ermöglicht und beide
Klassen bzw. Prinzipien in der Volksvertretung repräsentiert würden (334). Die
Teilung in drei Stände sei zugunsten der Einsetzung zweier Körper an deren Stelk
aufgehoben worden (335). Das Zweikammersystem (mit· einer aristokratischen
Pairskammer wie im britischen Oberhaus) sei geschichtlich die Lösung gewesen und

181 L. v. STEIN, Demokratie und Aristokratie, BB()()][HAUS, Gegenwart, Bd; 9 (1854),


306ff.
1 9 1 WAGBNBB Bd. 1 (1859), 321 ff., Art. Adel; vgl. Art. Aristokratie, ebd., Bd. 2
(1859), 532 ff.
ll. 13. Fortsetmng und Ent11chärfun1 der AdeWiskmsion Adel

werde auch eine Lösung bleiben, öbgleich sich neuerdings eine neue EnLzweiung
ergeben habe, die zu neuer politischer Versöhnung zu führen sei: nämlich die
Spaltung von Kapital und Arbeit, die als moderne Verwandlung des Gegensatzes
von Aristokratie und Demokratie gedeutet wurde. Die alte grundbesitzende Aristo-
kratie sah Stein in die neue des gewerblichen Kapitals aufgegangen; d. h. die histo-
rische Erscheinung einer Erbadelsaristokratie war im Versinken; das alte und
immer neue Prinzip der Aristokratie aber war als Problem neu gestellt. Stein über-
führte damit die Diskussion um die Aristokratie in die Frage um die „herrschende
Klasse" als Gegenstand der politischen Soziologie. Er sah die Versöhnung beider
Prinzipien besonders für Deutschland als aussichts1eich an und verneinte damit
auch die sich aufdrängende These, daß die Aristokratie der modernen Nation
widerspreche, da in Deutschland das Ziel der Demokratie .... ein durchaus nationales
sei und daher angenommen werden könne, daß das aristokrati1mhe Prinzip ihr in
dieser Beziehung im Wege steht (329). .
Ging Lorenz von Stein mit dieser von der Entzweiung zur VP.rsöhnung führenden
Begriffsbestimmung von 'Aristokratie', bei der der Adel ohne aktuelles Interesse war,
politisch auf den modernen deutschen Nationalstaat zu, so lag die gleiche Absicht
auch der originell konservativen Konzeption HERRMANN WAGENERS zugrunde.
Er wollte allerdings nicht allein das aristokratische Prinzip, sondern auch den Adel
als traditionellen Träger der Aristokratie den modernen, d. h. nationalen und
sozialen Bedürfnissen anpassen. Die theologisch-naturrechtliche Begründung des
Adelsstandes und der Aristokratie, die Betonung des Grundbesitzes und die histo-
rische Kont:inuität des Standes (1, 383), die Erhaltung des traditionell erblichen
Adels, des „romantischen" Adels (Stahl) mit der echten Ritterlichkeit (Gegensatz:
da.~ .~chlechte Junkertum; 1, 385), schließlich die Ablehnung der liberalen
Verfallsvorstellung (ausdrücklich gegen Welckers Artikel im Staatslexikon
gerichtet; 1, 326 f.) - all das wies Wagener zunächst nur als einen entschiedenen
Vertreter der zeitüblichen konservativen Anschauungen aus. Doch ging er weit dar-
über hinaus. „Historische Kontinuität" verstand Wagener als Bewahrung und FO'f't-
bildung des Adels, den er geschichtlich in fortgesetztem Aufstieg und Verfall begriff:
er beschwor das warnende Beispiel des ursprünglichen Adels der V ollfreien, die dem
Lehns-Adel wichen, ferner die Erfahrungen des französischen Feudal-Adels, der zu
einer ebenso gehaßten als einflußlosen Kaste verknöcherte ... und über Nacht als
Sf,aatsdrohne ausgetrieben wurde (1, 380 f.). Im Gegensatz dazu stand für Wagener
der englische Adel, den er als geschichtliches Vorbild für seinen Adelsbegrifl' und
seine Adelsreform ansah. Dieser wollfl nichts anderes sein alsdasHaupteinesinallen
seinen Gliedern aristokratischen Volkes, dessen Freiheit er stets vertreten habe, bei
Bewahrung seiner Vollfreiheit und seines politischen Einflusses: dieser Adel habe
mit dem stärksten Standesgefühl die flüssigste fkenze verbunden und das Adelsrecht
stets als ein politisches Recht betrachtet (I, 381). Der englische Adel kam dem
Wagenerschen Postulat eines stets wandlungsfähigen Adels innerhalb der politi-
schen Verfassung sehr nahe. Kontinuierlicher Kern eines erblichen Grundadels,
Anschluß des neu entstehenden Geldadels an diese historische Aristokratie und schließ-
lich Hinzutreten eines Adels der Intelligenz (Besitzer des immateriellen Kapitals) -
das waren die Elemente, aµs denen ein moderner Adel sich zusammensetzen sollte
(1, 365). Dies Ergebnis, das übrigens keineswegs in ein parlamentarisches System
mit einer Adelskammer eingefügt werden sollte, wurde von Wagener sowohl histo-

43
Adel II. 13. Fortsetzung und Eotsehirfung der Adeliidi1kussion

ri.Hch-induktiv (englisches Beispiel, deutsche Ansatze) als auch deduktiv von einem
formal-historischen Adelsbegriff gewonnen. 'Adel' war für ihn ein höchst re"lativer
Begriff (1, 329), ein Relationsbegriff; 'Adel' sei nicht, wie meist gesagt werde -
Wagener nennt Haller, Welcker, Bluntschli184 - etwas der Person oder einer Familie,
einem Stande Inhärierendes (1, 330), sondern die Auszeichnung, welche die höchste
Zentralgewalt im Staate oder . • . die höchste moralische Gewalt, also Gott, mit der
Summe gewisser ausgezeichneter Eigenschaften oder mit moralischen und physischen
Gütern des einzelnen Menschen nach ihrer eigenen Natur verbindet, im politischen
Sinne also die Relation der eigentümlichen Interessen der Staatsgewalt . . . zu den
bleibenden moralischen oder physischen Gütern einzelner Menschen. Der Mensch könne
mit bestimmten Eigenschaften adelig sein, wenn die höchste Autorität diese Eigen-
schaften als für ihre eigenen 1nteressen förderlich auszeichnet. Es ist also das der Adel,
was adelig macht (1, 328). Von einem solchen Begriff aus konnte es auch und sollte
es möglichst weitgehend Erbadel geben, aber nur in der Beziehung der höchsten
Staatsgewalt zu die.~en Familien (ebd.), deren Geschlecht aus der niederen leiblichen
Sphäre von Fleisch und Blut auf das höhere politische Gebiet des Geistes erhoben werden
sollte (1, 378). Analog der Metamorphose des Staates (ebd.) sollte also Adel stets
staatsrechtlich neu begründet und nur politisch begriffen werden; er durfte nur ein
qualißzicrtcs Erbrecht besitzen (1, 379). Die TradiLiun ue1:1 Adels sollte also nur soweit
gelten, als sie Menschen bilden half, die dem Staat politisch etwas wert waren. Der
Schwerpunkt der Adelstheorie Wageners lag also ni.cht mR-hr im lndi'vidiium und 1:m
Vorrecht, das dieses erbt, sondern im Staatszustand und in demjenigen öffentlichen
Interesse, welches die Veretbung eines solchen immateriellen Kapitals für den Staat
wünschenswert macht (1, 329). Wagener sah das Wirkungsfeld solchen Adels der
Abstammung, des Besitzes und des Geistes vor allem in der kommunalen und
ständischen Selbstverwaltung185 sowie im Staats- und Hofdienst. Erhaltung des
Adels lehnte Wagener ab, wenn sie nicht durch Verjüngung gerechtfertigt würde
(1, 380). Das hieß zugleich, für einen Adel der Zukunft sorgen, in dem das Element
des Erbadels enthalten sein müsse, da der reine Personal-Adel überall ebenso das
Symptom wie die Quelle des Verfalls der Staaten gewesen ist (1, 325). In diesem Zu-
sammenhang nahm Wagener den schon im Vormärzl 8 6 geläufigen Gedanken auf,
daß auch Nordamerika kein adelloses Land, vielmehr der Weiße Adeliger und ...
der Farbige Hintersasse, Unfreier und Sklave sei, woraus sich die Begriffe des Natio-
nalitäts-Adels auf der Basis des Bluts (ebd.) und des Raceadel.~ (I, 329) ableiteten.·
Hatte Lorenz von Stein in seiner politischen Soziologie der sozialen Bewegung den
Adelsbegriff bereits hinter sich gelassen, sich aber noch des Begriffs der Aristokratie

lH BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 1 (1857), 29 ff., Art. Adel. Dort die der Wagenerschen
Kombinationskonzeption entgegenstehende liberale Trennung von Erbadel und Indivi-
dtuiladel.
185 Die Beziehung von Aristokratie und Selbstverwaltung findet sich auch bei konservativ
gerichteten Liberalen wie HEINRICH v. SYBEL: Das Wesen des selfgovernment sei ari8to-
krati&ch; zit. HELLMUT SEIER, Die Staatsidee Heinrich von Sybels in den Wandlungen der
Reichsgründungszeit 1862/71 (Lübeck, Hamburg 1961), 53 f. sowie bei RUDOLF GNEIST,
Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, 2 Bde. (Berlin 1857/60).
181 Vgl. RoTTEcx:/WELCKER Bd. 1 (1834), 688: Hautaristokratie, ..• auf die acharf hervor-

tretende V erackiedenheit . . • der Racen begründet.

44
Il.13. Fortsetzung und Entschärfung der Adelsdiskussion Adel

in moderner Verwandlung bedient, so hielt Wagener an Aristokratie als ständisch-


staatspolitischer Institution und am Adel als deren Träger geschichtlich, d. h. von
der Vergangenheit herkommend für alle Zukunft fest. Er stand damit gewisser-
maßen auf dem Gipfel zwischen alter Adelsdiskussion und den soziologischen Sub-
stitutionen „herrschende Klasse" und „Elite". Darauf wies er durch sein allgemeines
Urteil hin, Adel sei nur dann 'IJ,nd insoweit politischer Adel, als er die jedesmal herr-
schende Gesellschafts-Klasse ist, und er sinkt in demselben Maße zu einer dem Unter-
gange geweihten privilegierten Klasse oder Kaste herab, als er anfängt, Privilegium und
Vorrecht anstatt der Pflicht und des Rechtes, und die Früchte ansiatt der Arbeit der
Herrschaft zu suchen (1, 380). Andere konservative Versuche blieben hinter Wagener
zurück, so z. B. die als Reaktion auf die Revolution von 1848 zu verstehenden
Bücher über den Adel von F1scHER187 (sittliches Prinzip der Ritterlichkeit, Abwehr
des Partikularismus-Vorwurfs der demokratischen, antiaristokratischen Verfechter
einer teutschen Einheit) und E1sENHART188 (historische und naturrechtliche Begrün-
dung im Anschluß vor allem an Aristoteles und Adam Müller), so auch selbst
RIEHL1s 9 , der trotz konservativer Partnerschaft mit seinem Adelsbegriff von
Wagener abgelehnt wurde, weil er den Adel, wie die Bauern, zu den „Mächten des
Beharrens" rechnete und-damit Wageners „ Verjüngungs"-Absicht erschwerte. In der
Tat bezog Riehl die Aristokratie als „sozialen Stand" primär auf den selbständigen,
unabhängigen, grundbesitzenden Adel (156), sah ihre Blütezeit im Mittelalter, ihren
Verfall seit dem 16. Jahrhundert und ihre Fragwürdigkeit in der Begriffsverwirrung
der Gegenwart (abzulehnende Ausweitungen wie Geldaristokratie, Beamtenaristo-
kratie, Gelehrtenaristokratie u. s. w.; 155 f.) sowie in ihrer eigenen Unsicherheit:
daß sie nach dem genauen Begriffe ihrer selbst sucht, daß sie schwankend geworden,
wieweit sie d'ie Grenzen der eigenen Körperschaft erstrecken soll (155). Riehls Thema
war die Kritik der Verneinung des aristokratischen Berufes (160). Diese Kritik wies
aber kaum in die moderne Bewegung, der Wagener sich zu stellen suchte, sondern
in die Beharrung des Standes der sozialen Sek-ranke (im Gegensatz zum vierten Stand
der sozialen Schrankenlosigkeit; 162) oder eines vermittelnden Standes im Gefolge
der alten Mittelstandslehre (221) inmitten einer historischen Gesellschaft, die es gegen
den Sozialismus - ein drittes gebe es nicht (227) - zu bewahren galt. Der These,
der Schwerpunkt der Aristokratie liegt in dem, was sie gewesen (160), entsprach die
politische Aufgabe, die Riehl der Aristokratie stellte: Der politische Beruf der
Aristokratie ist nur noclt efo abgeleiteter; er quillt aus dem bezeichneten sozialen
Berufe. Es sei die Bedeutung der ersten Kammern, das historische Prinzip der gesell-
schaftlichen Gliederung politisch zu vertreten, zu wachen, daß das Staatsleben seine
geschichtliche soziale Grundlage nicht verlasse (167). Riehl entsprach mit diesem
sozialkonservativen Begriff von Adel und Aristokratie einem weitverbreiteten
Gefühl der Furcht vor rascher Modernisierung, mit der sein Begriff nicht vereinbar
war.
187 LAURENZ lliNNmAL FlsCHER, Der teutsche Adel in der Vorzeit, Gegenwart und
Zukunft vom Standpunkte des Bürgerthume betrachtet, 2 Bde. (Frankfurt 1852), bes.
Bd: 1, XIII. 265 ff. 293 ff.
1 99 HuGo EISENHART, Über den Beruf des Adels im Staate und die Natilr der Pairiever-
fassung (Stuttgart, Tübingen 1852).
189 WILHELM HEINRICH R1EHL, Die bürgerliche Gesellschaft (1851; 2. Aufl. 1853; 6. unv.
Aufl: Stuttgart 1861).

45
Adel 11.13. Fortsetzang-d Enl8ehirfung der AdeWiskmeion

Die Riehlsche These, daß die mittelalterliche Aristokratie der Mikrokosmm der Ge-
sellschaft (170) gewesen sei, wurde 1856 von ScHÄFFLE zum Stichwort eines Adels-
reformprojekts gemacht, in dem er den Adel aufgrund seiner Herkunft, Erziehung
und umfassenden, über den Standesegoismus hinausgehenden Lebenspraxis nach
wiederum englischem Vorbild als Spitze, nicht als Regierung oder organisierte
Herrschaft, der verschiedenartigen nationalen und gesellschaftlichen Repräsenta-
tionen anerkannt wissen und in einer „Adelsassoziation" oder -„genossenschaft"
korporiert sehen wollte. Ähnlich wie Wagener wollte er nicht allein das Blutserbe
( Race), sondern den vielseitigen Geist zur Grundlage der Adelszugehörigkeit machen:
Nicht die Racebefähigung, sondern die auf der Kontinuität des adeligen Familien-
besitzes und auf der Vielseitigkeit der 'JYf'aktischen Lebensstellung 'beruhende Kontinuität
und Universalität der Standesl>ildung und der Erziehung verschafft dem Adelsstande
sein eigentümliches Primat im geistigen Gesamtleben1 90 •
Den bemerkenswerten konservativen Adelstheorien der fünfziger Jahre stand auf
liberaler Seite nichts gleicherweise Neuartiges gegenüber. WELCKER erweiterte
seinen Ad11l11a.rt.ikel in der 3. Auflage des „Staatslexikons" (1856) erheblich, änderte
ober nichts o.n seiner ursprünglichen Auffal!l!ung1 81. Wenngleich T1uaTSCHKE in der
„Gesellschaftswissenschaft" (1859) als Auffassung seiner Zeit feststellte, daß es ent-
weiJ,er einen politischen oder gar keinen Adel gibt und daß Teilnahme an Verfassung
und Verwaltung des Staates der einzige Weg ist, den Adel zu erhalten192, so wurden
die deutschen Liberalen in den folgenden Jahren entgegen ihrer Neigung zum Adels-
kompromi.ß noch einmal schwerer denn je vorher davor gewarnt, Adel als „politi-
schen Adel" zu bejahen, da durch Bismarck das Bündnis von Adel und Reaktion
von neuem hergestellt schien. Durch die Entscheid\ing von 1866 :fiel die Hemmung
für die große Mehrheit der Liberalen, die sich der Nationalliberalen Partei zuwandte,
fort, so daß die Reichsgründung im Zeichen einer n1111en adlig-bürgerlichen Har-
monie stand. HERMANN BAUMGARTEN forderte dazu auf, diese endgültige Zuwen-
dung geschichtlich zu begreifen. Ausgehend von dem allgemeinen Satz: In jedem
monarchischen Staate ist der Adel der eigentlich politische Stand sowie von seinem
Gegen-Satz: Der Bürger ist geschaffen zur Arbeit, aber nicht zur Herrschaft, stellte er
dar, wie der deutsche Adel sich dem Partikularismm und AbsolUtismm verbunden
und damit dem Bürgertum mit seinem national-liberalen Einheitsstreben im Wege
gestanden habe. Nach der furchtbaren Belastungsprobe des preußischen Verfas-
sungskonfilkts aber habe gerade daR adelig beherrschte Preußen die nationale Sache
zu seiner eigenen gemacht. Mit der Entscheidung von Königgrätz schien für Baum-
garten auch die Kluft zwischen einem (bürgerlichen) Liberalismus, der regierungs-
fähig werden müsse, und dem deutschen (Hoch-)Adel überbrückbar zu sein. Baum-
garten hoffte, daß unser hoher Adel am der falschen Stellung, in welche ihn der un-
glückliche Gang unserer Kaiserpolitik verlockt hat, zurückkehrte zu dem unendlich ehren-
1Jollen und segensreichen Berufe einer wahren Aristokratie198• Das Einmünden des

190 ALBnT EBl!lllJliRD FJWCV.H.IUH ScHil'l'LE, Der modeme Adelsbegriff (1856), Ges. Aufs.

(Tübingen 1885), 56 ff., bes. 72.


191 RorrECJK/WELCJKER 3. Auß.., Bd. 1 (1856), 173 ff.
191 HEINBICH v. ThlillTBCHKE, Die Gesellsohaftswissensoh (1859; Ndr. Halle 1927), 21.
118 H;EB111ANN B.A.UMGABTEN, Der deutsche LiberaJism.us. Eine Selbstkritik (1866), in:
Historische und politische Aufsitze und Reden (Straßburg 1894), 76 ff., bes. 95 ff. 214 ff.

46
m. Ausblick Allel

deutschen Adels in den Nationalstaat erschien den Liberalen als die Versöhnung.
nach vielfältiger Entzw~iung; das lag in der Kontinuität des aus dem Vormärz
stammenden liberalen Adelsbegriffs. Unter seinem Zeichen stand die Gründung des
Deutschen Reichs als eines „ewigen Bundes" der deutschen Fürsten, wie die Prä-
ambel der Reichsverfassung verkündete.

m. Ausblick
Seitdem unterlagen die Begriffe 'Adel' und 'Aristokratie' einem fortschreitenden
Bedeutungsschwund im Zusammenhang des modernen Gesellschaftswandels. Wohl
blieb der Adel als fürstlicher Hochadel mit seinen verfassungsrechtlich gesicherten
Vorrechten sowie als „niederer Adel" in gesellschaftlicher und de facto auch in
politischer Vorrangstellung be~tehenl 94 ; dem entsprach etwa seine Stellung in der
„Hofgesellschaft"l95 und eine gewisse Angleichung des Lebensstils von Adeligen
und der sogenannten „lJilrgerlichen gentry" 196 in Offizierkorps und studentischen
Korporationen. Aber er wurde sowohl auf bürgerlich-liberaler Seite wie vom prole-
to.rieohen Sozialismu11 zunehmend al11 ärgerlicher Anachroni11mus empfnnil1m.
In der Reichsverfassung von 1919 (Art. 109, Abs. 3) wurde der verbliebene Rest
adeliger Stellung beseitigt: Öffentlichrechtliche Vorrechte oder N a,chteik der Geburt
oder du Sta1uks sind auftuheben. Adelsbeuichnttingcn golton nur als Teil des Namens
und dürfen nicht mehr verliehen werden. In Deutsch-Österreich wurde im Gesetz vom
3. April 1919 (Staats-Gesetzblatt Nr. 211) darüber hinaus die radikale Folgerung
gezogen: Die Führung der aufgehobenen Adelsbezeichnungen, Titel und Würden ist
untersagt. Seitdem war in beiden Staaten 'Adel' kein Begriff des öffentlichen oder
privaten Rechts mehr - , mit Ausnahme des Namensschutzes im Deutschen Reich.
Das Traditionsbewußtsein im und um den Adel blieb jedoch stark, sowohl in der
Polemik wie in der Apologie, in der neukonservative Ideologien eine gewisse Rolle
spielten. Ein sittlich anspruchsvoller Adelsbegriff ('Adel' traditionell gegen 'Despo-
tismus') wirkte bei den zahlreichen (besonders preußischen) Adeligen im Wider-
stand gegen Hitler nach.
Der Begriff 'Aristokratie' blieb bis zu einem gewissen Grade anpassungsfähig. Die
seit dem ausgehenden 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert möglichen Wortverbindun-
gen wie vor allem 'Geldaristokratie' und 'Geistesaristokratie' wurden weiterhin
verwandt, und solche Ausweitung erlaubte wiederum; daß 'Aristokratie' katim
noch - es sei denn gelehrt-hi11toriRcli - alR Regierungsform, um so mehr aber als
„Prinzip", Element oder als Naturnotwendigkeitl 97 begriffen und verwendet wurde.

lH Der niedere Adel buteht in der Gegenwart weniger in Vorrechten ala in einer auf ehren-
vollen historischen Erinnerungen beruhenden erblicken Titulatura'U8zeichnung von guell-
achajtlicker Bedeutung, welche der Staat anerkennt, verleiht und gegen Mißbrauch schützt;
Staatslexikon, 4. Aufl.., Bd. 1 (1911), 81.
195 Vgl. RUDOLF VIERHAUS, Einleitung zu: Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg
(Oött.ingAn 1960), 14 ff.
1 91 Dieser gelegentlich verwandte Begriff wird hervorgehoben im Art. Adel, Konservatives
Handbuch, 3. Aufl.. (Berlin 1898), 9.
187 Auch der Ideenvertreter demokratischer Richtung hebe sich aus der Ma.sse heraus und

gestehe praktisch die Naturnotwendigkeit einer geWiaaen Aristokratie zu. So FBIEDRICR


NAUMANN, Demokratie und Kaisertum (1900), Werke, Bd. 2 (1964), 138 f.

47
Adel m. Ausblick

FRIEDRICH N.A.UMANN beschrieb (1900) die politisch-sozialen Zustände -des Deut-


schen Reiches mit Hilfe der drei Aristokratien: agrarische,, industrielle, klerikale
Aristokratie1 98, und ROBERT MICHELS (1911. 1925) suchte seinem Dilemma, die
oligarchisch gelenkte egalitäre Demokratie zu verstehen, dadurch bis zu einem
gewissen Grade zu entgehen, daß er die Begriffe demokratische Aristokratie und
aristokratische Demokratie verwendete199. C.A.RL BRINKM.A.NN schließlich wollte
die Verschwommenheit solcher und zahlreicher ähnlicher Verwendungen des Aristo-
kratiebegriffs dadurch überwinden, daß er der primären oder vorkapitalistische,n
Aristokratie, die dem Kapitalismus entgegengesetzt war, die sekundäre oder kapitalisti-
sche Aristokratie entgegenstellte 20°, in der Brinkmann nicht etwa nur die Unter-
nehmeraristokratien und Arbeiteraristokratien wahrnahm, sondern auch eine Mannig-
faltigkeit von materialen Aristokratisierungsbahnen aufgrund der sich herausbilden-
den Hierarchie der Leistungen und Ertragsanteile in einer zunehmend differenzierten
industriellen Gesellschaft 201.
Dieser Ansatz zur soziolugitmh präziseren, aufgefächerten Verwendung des Aristo-
kratiebegriffs ist kaum fortgeführt worden, da die soziale Welt der technisierten
Industriegesellschaft neue, angemessenere Bezeichnungen und Begriffe herausge-
fordert hat. Diesem Anspruch dienten die modem1m Theorien der „Herr-
schaft", vor allem bei Max Weber 202 , der „Klasse" („herrschende Klasse") 203 und
der „Elito"2<14.
WERNER CONZI!:

198 Ebd., passim.


199 ROBERT MICHELS, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie,
hg. v. WERNER CoNzF., 2. Ndr. d. 2. Aufl. (8tuttgart 1969), 1 ff.'
°
20 CARL BRINKMANN. Die Aristokratie im kapitalistischen Zeitalter, Grw1dr. d. 8m:Ök„

Bd. 9/1: Die gesellschaftliche Schichtung im Kapitalismus (Tübingen 1926), 23 ff„


bes. 31 f.: Wenn der Kapitali&mus sich die ihm gemäßen gesellschaftlichen Verhältnisse
zunächst am leichtesten durch die grundsätzliche Bekämpfung des Aristokratischen als eines
Außerwirtschaftlichen, Irrationalen, Organischen schafft, so ist er, an die Herrschaft ge'langt,
doch bald gezwungen, zur weiteren Verwirklichung seiner eigenen Ziele wieder darauf zurück-
zugreifen.
IOl Ebd., 33.
202 MAX WlilRF.R., Die Typen der Hernichaft, in: Wirtaoho.ft und Gosolleohnft, 3. Aufi.

(Tübingen 1947), 122 ff.


803 Seit Lorenz von Stein und Karl Marx; allgemeinere Verbreitung seit UAETANO MoscA,

Elementi di scienza politica (Turin 1895; 2. Aufi. 1922).


u04 HANs PETER DREITZEL, Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine soziologische Begriffs-
analyse (Stuttgart 1962) enthält einige begriffsgeschichtliohe Hinweise.

48
Anarchie
Anarchismus, Anarchist

1. Einleitung. II. 1. 'Anarchie' in der Antike. 2. Mittelalter und Reformaticin. 3. Die Lexiko-
graphie des 17. Jahrhunderts. 4. Staatsformenlehre des 16. und 17. Jahrhunderts. 5. Ethik
des 17. Jahrhunderts. 6. Entfaltung im 18. Jahrhundert. 7. Zeitkritik der Aufklärung.
8. 'Feudalanarchie'. 9. Erste Anklänge eines positiven Bedeutungsgehalts. 10. Rotteck/
Welcker. III. 1. Historisierung, Ideologisierung und Politisierung 1789-1830. 2. Not-
wendiger Zwischenzustand und positives Endziel. 3. Auflösung des Anarchie-Despotie-
Modells. 4. 'Anarchiste' und 'Anarchist'. 5. Traditionelle Bedeutung und konservative
Reaktion 1790-1830. 6. Ideologisierung und Soziologisierung der Anarchie als „Zustand"
1790-1830. 7. Übertragung auf Philosophie, Ethik und Religion seit 1800: 'Anarchie'
und 'Anarchismus'. 8. Übertragung auf die Literatur 1794-1855. 9. Übertragung auf Wirt-
schaft und Gesellschaft. 10. Niederschlag der historischen Entwicklung in der lexiko-
graphischen Literatur 1790-1830. IV. 1. Begriffserweiterung und Begriffsaufweichung.
2. Zwischen Utopie und Organisation. a) Vorläufer: William Godwin. b) Pierre-Joseph
Proudhon. c) Moses Hess. 3. Konservative und liberale Reaktion besonders in der lexiko-
graphischen Literatur seit 1830. V. 1. Der Anarchismus. 2. Anarchistischer und eoztallstl-
scher Marxismus 1890-1910. 8. Literarischer Anarchismus. 4. Emma. Goldmann. VI. Aus-
blick.

I. Einleitung
'Anarchie' entstammt griech. dvaexla „Führer- oder Herrschaftslosigkeit". Der
Begriff wurde technisch gebraucht für den Zustand ohne Kommandeur oder ohne
Magistrate. In der Verfassungstheorie spielte er keine große Rolle, diente im ganzen
nur dazu, „Ungebundenheit" und „Zügellosigkeit" zu charakterisieren. Über die
erst im Mittelalter latinisierte Form'anarchia'gelangte der Begriff dann in den beiden
Bedeutungen „Herrschafts-" und „Gesetzlosigkeit" in fast alle Sprachen der Welt.
Besonders im 16. und 17. Jahrhundert erweiterte sich die Bedeutung von 'Anarchie',
vor allem im englischen und französischen Sprachraum1 , von „Autoritätslosigkeit"
bis zur „moralischen Anarchie", zu „Unordnung", „Chaos" und „Desaster". Im
deutschen Sprachraum tritt 'anarchia' erstmals 1684 in der Bedeutung „Herrscher-
losigkeit" bei NEHRING und 'Anarchie' in gleicher Bedeutung 1709 bei WÄCHTLER
auf 2 •
Seine eigentliche Entfaltung erfuhr der Begriff im 18. Jahrhundert, und im Verlauf
der Französischen Revolution wurde er in das politische Tagesgeschehen hinein-
gezogen. Seine komplexe Geschichte ist zu erhellen, indem die semantischen von
den pragmatischen Aspekten unterschieden werden. Semantisch hat der Anarchie-
begriff sich im Verlauf seiner Geschichte kaum gewandelt: dv-aexla, „ohne Herr-
scher"~nd im weiteren Sinne „ohne (staatliche) Autorität". Unter pragmatischem
Aspekt hat der Anarchiebegriff sowohl positive wie negative Bedeutungserweite-
rungen erfahren. Aufklärung, deutscher Idealismus, idealistisch-utopischer Sozia-
lismus haben dazu beigetragen, daß er sich von einem negativ zu einem positiv

1 Vgl. OED vol. 1 (1933), 307 f.; LrrrRll: t. 1 (Ausg. 19156), 408.
2 Nach SCHULZ/BASLER Bd. 1 (1913), 33.

4-90385/t 49
Anarehie D. 1. 'Anarchie' in der Antike

besetzten Begriff wandelte. Ursprünglich im Rahmen der Herrschaftsformenlehre


angesiedelt, wurde er mehr und mehr aus dieser herausgelöst und historisiert. Höhe-
punkt dieser Entwicklung war seine erneute Formalisierung als Verfassungsbegriff
bei Proudhon und Moses Hess. Neben dieser Entwicklungslinie läßt sich jedoch
fest.stellen, da.ß sich im Zuge der Historisierung des Begriffs der Anwendungsbereich
für .'Anarchie' mit negativem wie mit positivem Bedeutungsgehalt stark erweitert
hat. Liberale, Ko:r;iservative und Progressive fast aller politischen Schattierungen
haben Anarchie als enthüllenden und verhüllenden Begriff in wechselnden Zusam-
menhängen verwandt.
PETER CHRISTIAN Lunz

n.
1. 'Anarchie' in der Antike

Das Wort d11aexla ist seit der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts bezeugt, könnte
aber - wie etwa µ011aexla - durchaus älter sein. Ihm voraus geht das Adjektiv
d11aexoi;, das schon bei HoMER die Führerlosigkeit einer Mannschaft he;r,Ai~hnP.ta.
Vielleicht war auch das Substantiv zunächst nur militärisch gemeint. Die Auswei-
tung des Sinn11 a.ufjede Art der Ilemin- uder Führerlosigkeit einer Gruppe und dann
speziell auf das. Nichtvorhandensein von Magistraten (= dexonei;) in einer Polis
lag jedoch nur allzu nahe und müßte dann bald erfolgt sein.
Im strengen terminologischen Verstand blieb das Wort immer an die militärische
Führerlosigkeit4 sowie an den Zustand ohne Magistrate (etwa als Bezeichnung eines
Jahres, für das es keinen Archonten gab, später dann des Interregnum in Rom)
gebunden 6 • Darüber hinaus ist es in klassischer und unmittelbar nachklassischer
Zeit nur in vagem Sinn, und zwar zunächst für die Ungebundenheit und Zügellosig-
keit gebraucht worden, die aus Ungeführt- oder Unbeherrschtheit resultiert, zu-
weilen auch geradezu für Ungehorsam6 und endlich gelegentlich für den allgemeinen
Zustand einer Unordnung. Diese übertragenen Bedeutungen gingen vermutlich von
den Verhaltensweisen konkreter „an-archischer" Gruppen aus, auf welche etwa
Wendungen wie die von der &JµMieov<; d11aexta, der wild brüllenden Herrenlosigkeit
eines Volksauflaufs, oder die von der 11avn"1} d11aexla, der frechen Unbeherrscht-
heit eines Matrosenlagers, anspielen 7 • Eine gewisse Schärfe innerhalb der Verfas-
sungstheorie hat d11aexla erst im Hellenismus gewonnen, vielleicht überhaupt nur
a HoMBB, Il. B 703. 726.
'So z.B. HEBODOT 9, 23,2; XENOPHON, Ana.b. 3, 2, 19. Im Sinne von „Undiszipliniertheit ·
des Heeres" THu:KYDIDES 6, 72, 3 f. Im gleichen Sinn: d-ia;la. Gegenteil: e&ra;la und daß
alles "a-rd "6aµo11 abläuft.
6 Am8TOTELB8, Athen. Pol. 13,1; ders., Pol. 1272 b 12; XENOPHON, Hell. 2, 3, 1. Gena.u
entsprechend .AmsTOTELES, Pol. 1272 b 8: d"oaµla für den Zustand ohne Kosmoi (die
kretischen Oberbeamten). Rom: D10NYs VON HALIKABNASS, Antiqu. Rom. 9, 69, 1;
CA.SSIUS D10, Historie.rum Roma.norum quae supersunt, ed. Urs Philipp Boissevain, t. 1
(Berlin 1895), 11 aus Joannes Antiochenus.
•So in dem berühmten Ausspruch des Kreon in SOPHOKLES' „Antigone", v. 672: dvaexla<;
~e µe'i/;011 ~ l&i "~611. Gegensatz: neif>aexla; zit. ANTIPHON, in: Die Fragmente der
Vorsokratiker, hg. v. HERMANN DIELS u. WALTHER KRANZ, 12. Aufl., Bd. 2 (Berlin,
Zürich 1966), 365, 87 B 61. Ähnlich schon Alsc:HYLos, Septem 1030. ·
7 AlsOHYLOs, Agam. 883; EuBIPIDES, Hec. 607; Iph. Aul. 914.

50
n. 1. '.Anarchie' in der .Antike .Anarchie

im Umkreis des hellenisierten Juden Philon von Alexandria (ca. 25 v. Chr. bis
ca. 40 n. Chr.), unseres einzigen Zeugen dafür.
Auf Poleis angewandt findet sich das Wort sonst nur in eben dem vagen Sinn von „ Un-
gebundenheit", „Zügellosigkeit" und „ Unordnung", und zwar beiAischylos und Pla-
ton, einmal auch bei Aristoteles. Bald nach der Entmachtung des Areopags, nämlich
458, warnt AISCHYLOS sehr dringend, weder ein unbeherrscht-ungebundenes ( ll„aexo~
bzw. ä„ae~o.-) no.ch ein despotisch-beherrschtes (c5eamn:mlµwo.-) Leben gutzu-
heißen8. Damit klingt zum ersten Mal das Thema an, das dann für Platon so wichtig
wird: die Kritik an der für übermäßig erachteten Freiheit der Demokratie als Un-
gebundenheit, und dies im allgemeinen Sinne, nicht nur den Regierenden, sondern
den hergebrachten, für dauernd richtig erachteten „&µoi gegenüber, das heißt in
Hinsicht auf Recht, Sitte und Erziehung, letztlich auf die gesamte Lebensordnung.
Für Aischylos war zwar die maßgebende Rolle der Volksversammlung und vieles
andere, was die neuen „lsonomien" auszeichnete, gut und begrüßenswert, nicht
aber die Selbstherrlichkeit des Volkes in der Loslösung von uralten dauerhaften
Ordnungen. PLATON führte die Kritik näher aus, wenn er etwa die Demokr&tieieine
süße, unbeherrsclite und buntscheckige Verfassung nannte. Er meinte, sie ginge so
weit, daß auch dem Vieh Anarchie eingepflanzt werde. Der Lehrer zittere vor den
Schülern, die Alten ahmen die Jungen naeh, damit sie nicht. als mürrisch und despo-
tisch erscheinen, Esel bewegten sich frei und vornehm und wichen vor keinem aus.
Nur llegWende, die sich wie llegi6rte, und Regierte, die steh wie Regierende geben,
werden im privaten Kreis und öQentlich gelobt und geehrt. Man kümmere sich weder
um· die geschriebenen noch um die unge11chriebenen Gesetze. DiA füu1le der Bürger
werde zart, so daß sie, wenn ilinen einer auch noch so wenig Dienst auferlegen will,
sogleich unwillig werilen und es gar nickt ertragen. Weder Ordnung ('rdEi.-) noch
Notwendigkeit (d"d""71) bestimmt das Leben in dieser Verfassung!'.
Was Platon damit schildert, ist aber nicht als 'Anarchie' begrüren, sondern als
'Demokratie'. Es sind die Auswirkungen speziell der dieser eigenen „Unersättlich-
keit nach Freiheit" 16• Die Ungebundenheit, Unbeherrschtheit, der Unwille zu ge-
horchen ist nur ein Merkmal neben anderen, etwa der Hybris, der Schwelgerei
(da<»r:la) und dem Fehlen von Scheu und Ehrfurcht (d„alc5eia) 11 • Interessant
ist die Formel d„aexta "al dJloµta, die einmal für die Verfassung des demokrati-
schen Menschen gebraucht wird12 : Nichtachtung des Nomos verknüpft sich mit Un-
beherrschtheit und akzentuiert sie.
Etwas Ähnliches wie Platon meint ARISTOTELES mit der Formel des ·„Leben, wie
jeder will" (Cfjll cb.- {:Jmlkr:al r:,_.pa. Dieses ist ihm zufolge eines der Kennzeichen der

8 .AlsoHYLOs, Eum. 525. 696. Zu ·beachten ist, daß die Warnung einmal den „alten Mäch-
ten", den Erinyen, einmal den neuen, der Athene, in den Mund gelegt ist.
•PLATON, Pol. 558 c; 562 e; 563 o.. b. c; 562 d; 563 d; 561 d. Vgl. das Ideal, stets im Hin-
blick auf die Regierenden zu leben, von klein auf das Regieren und Sich-regieren-Lassen
zu üben. Die dJlae:;cta ist aus dem ganzen Leben aller Menschen und der unter den Menschen
llihAnrl11n Tiarfl :r.u Antfernfln; dara., Nom. 942 a. c.
10 Ders., Pol. 562 c.
11 Ebd: lJ60 e.
1ll Ebd. 575 a.
18 ARlsTOTELES, Pol. 1317 b 13; 1310 a 31; 1319 b 29. Vgl. PLATON, Pol. 560 e: sie nen-

nen Anarchie Freiheit.

51
Anarchie Il. I, 'Anarchie' io der Aulike

Demokratie (neben solchen der Zusammensetzung der Vollbürgerschaft, der Organi-


sation etc.). Genau gesagt stellt es eine Seite der demokratischen Freiheit und
Gleichheit dar, und zwar die der Politik abgewandte. Es ist dies ein altes Programm,
das in Athen in bewußtem Kontrast zu Sparta aufgestellt worden ist14• Die Bürger
wollen frei sein, keine öffentliche Instanz soll sie erziehen, ihre Kinder formen, ihr
Leben beaufsichtigen. Aristoteles sagt einmal, es ginge um das Nichtregiertwerden,
am liebsten von keinem, wenn aber dies nicht, so doch im WechseZ (von Regierenden
und Regierte:h) 15• Aber dies wird als Freiheit begriffen, als Teil der Demokratie
(eigentlich nur der extremen). Das Wort 'Anarchie' fällt in diesem Zusammenhang
nicht, obwohl es gewisse Züge dieser Freiheit, dieses Widerwillens gegen das Regiert-
und Beherrschtwerden durchaus hätte beschreiben können. Es heißt nur an einer
Stelle, daß die Ungebundenheit der Sklaven, Frauen und Kinder zu Demokratie und
Tyrannis gehöret&.
Nur einmal sagt Aristoteles, die Demokratien in Theben und Megara seien wegen
der d11aexla "d' di-a;ia, die dort in einer bestimmten Situation geherrscht habe,
von den Reichen verachtet und für schwach gehalten. und deswegen gestürzt wor-
den17. Aber in der großen Summe seiner Aussagen über das Nichtfunktionieren von
Verfassungen und besonders auch von Demokratien steht diese ganz vereinzelt da.
Unter den zahlreichen Gründen für Verfassungsumsturz rangiert sie - und noch
dazu verkoppelt mit dTa~la - nur indirekt, eben indem sie die - zu diesen Grün-
den zählende - Verachtung erzeugen kann. Auffa:i.llig ist1 daß der Begriff bei den
Historikern und Rednern außer im technischen Sinn nirgends bezeugt ist.
Die Wahrnehmung von „A n-arr.hie" iRt. also in der klassischen.und direkt nachklassi-
schen Zeit einerseits auf den führungs- bzw. rcgicrungstechnischen Tatbestand be-
schrankt und verliert sich andererseits in allgemeinen Bemerkungen und Bildern
von der Ungebundenheit des Lebens. Ein genauerer Begriff der - völligen oder
praktischen - Herrschaftslosigkeit war damals offenbar nicht zu gewinnen. Das
hängt gewiß damit zusammen, daß man es auch nicht fertigbraehte, verschiedene
Arten von Herrschaft als solche begrifflich zu scheiden. Man ist immer dabei stehen
geblieben, die Subjekte der Herrschaft zu unterscheiden, und nur indirekt, nämlich
von ihnen aus, konnte man dann auch Arten von Herrschaft erfassen. Es war selbst-
verständlich:· immer herrschte bzw. regierte irgendein Faktor. Die Frage nach der
Art einer Herrschaft wurde theoretisch als Frage nach der Art der Herrschenden
aufgp,fa.ßt, wobei die institutionelle Einrichtung modifizierend hinzukommen konnte.
Als Kriterien im einzelnen dienten, ob eigelll!üchtig oder im allgemeinen Interesse,
ob mit oder ohne Übereinstimmung mit den Beherrschten, ob gemäß den Gesetzen
oder wider sie geherrscht wurde. Man konnte auch, wie Platon, feststellen, daß, wo
einer, wenige oder das Volk herrsche, keine Politeia sei, sondern nur eine „Polis-

14 THUKYDIDES 2, 37, 2; 7, 69, 2; ISOKRA.TES, Pana.th. 131. Wahrscheinlich antwortet schon


A:IsCHYLOs, Eum. 530 f. auf ähnliche Wünsche oder Forderungen. Zum Ganzen vgl. GusTAV
GRossMANN, Politische Schlagwörter aus der Zeit des Peloponnesiechen Krieges (phil.
Diss. Basel 1950), 79 f.
10 AltISTOTELEB, Pol. 1317 b 15.
18 Ebd. 1319 b 28; vgl. 1313 b 33, wo die gleiche Sache als Weiberherrackaft in den HäWJern

bezeichnet wird.
17 Ders., Pol. 1302 b 28. 31.

52
II. 1. 'Anarchie' in der Antike Anarchie

verwaltungsart" oder eine „Parteigenossenschaft" 18. Im übrigen gab es nur einzelne


Aussagen über die Organisation der Regierung.
Den Zlllitand einer Herrschaftslosigkeit sich vorz1111t.ellen oder den Zustand unwirk-
samer Herrschaft als 'Anarchie' im Sinne einer gesteigerten Unordnung begrifflich
zu erfassen oder gar gutzuheißen, überstieg die Möglichkeiten des auf die Polis
konzentrierten Denkens; höchstens konnte man für eine graue Vorzeit Tyrannis
und Anarchie als die beiden Möglichkeiten einer vorrechtlichen Gesellschaft an-
nehmen19. Um Unordnung aber zu erfassen gab es die verschiedensten Möglich-
keiten. Zunächst wurden die Begriffe ~vavoµla und dvoµla konzipiert für den
Zustand, in dem der Nomos nicht galt. Beide stammten-'·- samt ihrem Gegenbegriff
wvoµla - aus einer Zeit, in der es nur ein Muster der Polisordnung gab und also
begrifflich nur zwischen dessen guter und schlechter Ausprägung unterschieden
werden konnte 20• Dieser schlechte Zustand galt als der Nährboden aller möglichen
Miß11t.ii.nde, unter anderem der Tyrannis 21 . Seit dem 5. Jahrhundert wurde dann
der gesamte Boden der Möglichkeiten von Verfassungen gleichsam aufgesiedelt.
Monarchie, Oligarchie, Demokratie, de_ren gute und schlechte Ausprägungen sowie
Mischungen nahmen ihn restlos in Besitz. Seitdem war für einen Zustand der Ano-
mia kein eigener Platz mehr, das Wort sank zurück zur Bezeichnung des rechtlosen
Verhaltens, des Frevels, zuweilen des Zustands der Rechtlosigkeit. Seine Rolle als
Nährboden der Tyrannis übernahm bei Platon die Demokratie, zumal inihrer Über-
steigerung22. Bei Aristoteles traten verschiedenerlei Entartungen verschiedener
Verlassungen an deren Stelle. Da wurde dann detaillierter gefragt. Es ging um
konkrete Mißstä.nde wie die Überziehl,IIlg des Prinzips einer Verfä.s11nng, a11ßen-
politische Einflüsse u. ä. In einem Wort: die Polisordnung wurde wesentlich als
Politeia, als jeweils so oder so geartete Bürgerschaft oder Verfassung, nicht abstrakt
als „Staatsordnung" aufgefaßt und betrachtet. Die Gegensätze bestanden zwischen
den Politeiai, nicht zwischen Ordnung und Unordnung. Man hatte nicht eigentlich
einen Staat, und man hatte nicht die anspruchsvollen Ordnungsvorstellungen wie
gegenüber einer rationalen Verwaltung, neutralen Gerichtsbarkeit und Polizei, die
als solche, durch alle Verfassungen den Gegensatz zur Anarchie freigaben. Was als
Unordnung zu begreifen war, war im allgemeinen konkreter, man fand •aeaxrl
(Erschütterung), anfat!; (heftige innere Auseinandersetzungen, Zwietracht, u. U.
Bürgerkrieg), dTa~la (Ungeordnetheit), dvoµla (Rechtlosigkeit) oder auch dµei~la
(Störung der Vertrauensgrundlagen in der Bürgerschaft, Aufruhr, Bürgerkrieg).
Auch die Zügellosigkeit war als dieoÄ.aala besser bezeichnet23 •

18 PLATON, Leg. 712 e; 832 c.


19 !SOKRATES, Paneg. 39. Entsprechend AR!sTOTELES über die Tiere: Zool. 488 a 11. 13;
553 b 17.
2 ° CHRISTIAN MEIER, Drei Bemerkungen zur Vor- und Frühgeschichte des Begriffs De-

mokratie, in: Discordia concors, Fschr. EDGAR BoUJOUR, Bd. 1 (Basel 1968), 7; ders.,
Entstehung des Begriffs 'Demokratie' (lfrankfurt 1970), 15ff.
21 So bes . .ANO:NTI40S J .illBLICm 7, 12, Dnrm.s/K RA N:r., Fragmente, Bd. 2, 404, 16 (s. Anm. 6).
22 PLATON, Pol. 563 e; 564 a.
23 Die Belege können hier nicht im einzelnen aufgeführt werden; eillig~ btJl G11.ossMANN,

Schlagwörter (s. Anm. 14). Zur dµet~la ist ANONYMos JAMBLICm 7, 9 (s. Anm. 21) und
MrcHAEL RosTOVTZEFF, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt,
Bd. 3 (Darmstadt 1962). 1317. 1440 anzuführen.

53
Anuchic II. 1. 'Anarchie' in der Antike

Nur eine Ausnahme gibt es, die die Regel bestätigt: PHILON voN ALEXANDRIA, der
mit der Möglichkeit von Anarchie im Sinne eines herrschaftslosen Zustands von
Poleis (und ganzen Ländern) rechnet und mehrfach vom Gegensatz zwischen dex'1
und dvaexla ausgeht 24 • Anarchie erzeugt Ochlokratie, die Herrschaft des Pöbels2 5 •
Sie ist die Quelle alles Schlimmen. 'Al?x~ dagegen bedeutet Rettung, und zwar
zumal dort, wo Recht und Gerechtigkeit in Ehren gehalten werden2 6. Es ist nicht
ganz einfach zu erkennen, ob ein verfassungstheoretisches System hinter Philons
Aussagen steckt. Er ist nicht um jeden Preis für dgx?j. Tyrannis verurteilt er nicht
weniger scharf als Ochlokratie und Oligarchie 27 . 'Demokratie' scheint ihm die beste
Verfassung zu sein, andererseits spricht er von der Notwendigkeit eines hiio•a•11~ und
eines ~yeµ<hv und lobt das Königtum 28 • Vermutlich versteht er unter 'Demokratie' vor
allem eine Verfassung, in der es um das Recht jedes einzelnen und insofern um die
Gleichhei~ gut bestellt ist, wobei es nicht das schlechteste ist, wenn ein König regiert.
Vielleicht meint er hier sogar geradezu eine gemischte Verfassung. D!tnn gäbe es einen
guten Sinn, daß er von der dex'1 in Hinsicht auf das Gemeinwesen (wie von Gott in Hin-
sicht auf den Kosmos) alles Gute erwartet 29 • Andererseits sind' dval?xla und d•a~la
nicht Oberbegriffe für die schlechten Verfassungeu, t!omltirn uertiu Entstehungs-
grund. Immerhin ist festzuhalten, daß - - wie weit nun aus den Erfahrm13An i!P.r
hellenistischen Zeit, aus denen der Juden oder auf Grund theologisr.her Voraus-
setzungen - hier erstmals 'Anarchie' im Sinne von Herrschaftslosigkeit als ein
Zustand äußerster Unordnung begriffen worden ist.
Verschiedentlich ist auch behauptet worden, in hellenistischen Abhandlungen,
etwa bei Zenon oder Aristipp, sei ein herrschaftsfreies Gemeinwesen konzipiert und
empfohlen worden 8 0. Dafür besitzen wir keinerlei Auhaltspunkte. Zenon hätte
solche „Anarchie" bestenfalls für die Weisen befürwortet. Aristipp rechnet unver-
kennbar mit Herrschenden bzw. Regierenden. Im übrigen gab es :r.war utopische
Schilderungen von Inseln, auf denen es allen gut geht, auf denen vielleicht auch -
wie in Jamboulos' Sonnenstaat - alle Arbeiten von allen im Wechsel verrichtet
wurden. Aber zu deren Funktionieren gehörte auch und gerade Regierung. Hier
wurde also nur die Abwechslung in den Funktionen, die im Politischen Merkmal der
Demokratie ist, zum äußersten getrieben. Von Anarchie ist keine Rede. Es ging
auch hier nur um die Modalitäten von Herrschaft und Regierung. Anarchie als
positives Programm, das bestätigt sich hier, setzt mindestens Staat voraus.

2' PHILON VON ALllANDBIA, De somnüs 2, IM. 289. Vgl. ders., Quod det. potiori insid.
solea.t 141.
26 Ders., De agricultura. 45 f.; De somniis 2, 286 f.

28 Ders„ De somniis 2, 289. 154.


ll"I Ders., De agricultura. 45 f.; Quod omnis probus liber sit 45; De decalog. 155 u. ö.
18 Ders., De agricultura. 45. THOl\IAS ALAN SINCLAIR, A History of Greek Political Thought,

2nd ed. (London 1967), 298 f. 302. ·


18 PmLoN VON ALEXANDBIA, De decalog. 155.
80 Zmm'!t. von GEORG ADLER, Gesohiohtc des Sozialismus und Kommunismus von l'l&to bis

zur Gegenwart (Leipzig 1899), 46 ff. Vgl. auch ders., Art. Anarchismus, Hwb. d. Sta.a.ts-
wiBB., 3. Aufl., Bd. l (1009), 444 ff. Im Anschluß da.ran MAx NETTLAU, Der Vor-
frühling der Anarchie (Berlin 1925), 12 ff. sowie OscAR J!sZI, Art. Ana.rchism, Encyclo·
paedia ofthe Social Sciences, vol. 2 (New York 1930), 47. Ferner Enc. Brita.nnica., llth
ed., vol. 1 (1910), 914 f.

54
D. 2. Mittelalter und Reformation Anarehie

Die Römer haben 'Anarchia' nicht gekannt. Sie sprechen von seditio, tumultus,
perturbatio u.ä. Die lateinische Form 'anarchia' ist erst im Mittelalter geprägt
worden 31 •
CHRISTIAN MEIER

2. Mittelalter und Reformation

Das Mittelalter - vom Gedanken der Weltmonarchie, der sich vom römischen
Weltreich her durchgehalten hatte, beherrscht - kannte keine eigenständigen
Staatslehren. In der Staatsauffassung des Mittelalters sind deshalb, wie Rudolf
Treumann hervorgehoben hat, die beiden großen Erscheinungen seines Lebens,
Kirche und Lehenswesen, gleichsam wie ein Reflex ausgeprägta 2 • Der Welt-
monarch- der Kaiser - und der Weltbischof - der Papst- besaßen direkt von
Gott stammende Macht. Entsprechend zielten die Staatslehren des Mittelalters
darauf ab, die Superiorität der einen über die andere Macht bzw. deren Gleich-
rangigkeit darzustellen. Die einflußreiche Lehre THOMAS VON AQUINS baute auf der
Staat.sform1mlAhrA ilP.'I Aristoteles auf und kannte unter den Entartungsformen wie
ilieser nicht die Anarchie. So ist in der „Summa Theologiae" der Begriff 'Anarchie'
nicht enthalten88• Ähnliches gilt für die Staatslehre d~s MilSILIUS VON PADUA, der
sich ebenfalls an die aristotelische Lehre der Herrschafts- und ihrer Entartungs-
formen hielt - obwohl er die Universalmonarchie bereits in Frage stellte. Auch hei
LUTHER ist kein Nachweis für den Terminus 'Anarchie' zu findenH. Dement-
sprechend sind auch die zahlreichen Sekten fies Mittelalters, wie die Waldenser in
Südfrankreich und Norditalien zu Beginn des 13. Jahrhunderts, die Bettelmönche,
die Katharer und Albingenser, die James Joll im Anschluß an Norm.an Cohn
„gnostische Häretiker" genannt hat, nur in der geistes- und sozialgeschichtlichen
Retrospektive als Früh- und Vorformen anarchistischer Bewegungen zu sehen11•
Die Geschichte der mittelalterlichen Häresien kennt die Begriffe der Anarchie und
des Anarchismus noch nicht. Ebensowenig ist von der früh ausgebildeten und im

81 Vgl. TLL t. 3 (1931). Das ,,Mittellateinische Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahr-
hundert", Bd. 1 (München 1959/67), 616 übersetzt 'anarchia' mit „im Turnus wech-
selnde Herrschaft" und zitiert (unter Bezug auf Aristoteles, Pol. 1319 b) ALBEBTUS
MAaNUs, Pol. 6, 4 e, p 587 b, 10: eat anarchia cirwlaria principat'IJA, dict.a ab <Ztlcx, quod, ut
circ?tm, d C%(!Xf1• quod, ut principatua. ·
82 Vgl. RUDOLB' TBEIDtlANN, Die Monarchomachen. Eine Darstellung der revolution.Aren

Staatslehren des 16. Jahrhunderts (phil. Dias. Heidelberg; Leipzig 1895), 18 ff.
83 Thomas benutzte nicht das griechische Original, sondem die lateinische Aristoteles-

übersetzung Wilhelm von Moerbekes. Die Aristotelesstelle Pol. 1302 b enthält in dieser
Übersetzung den Begriff 'a.narchia' nicht, die Stelle Pol. 1319 b wird lateinisch mit
anarchi,a servorum wiedergegeben. Diesen Ausdruck hat Thomas jedoch in seinen
Kommentar nicht aufgenommen.
M PIIILIIT DilllTz, Wörterbuch zu Dr. Ma.rt.in L11thAr11 Aohriften, Bd. 1 (Leipzig 1870).
86 Das gilt auch für Norman Cohns Beschreibungen des Anarcho-Kqmmunismus der

Taboriten in .Böhmen, die gegen Eigentum und Steuern uml für Zerstörung der Städte
waren und noch um 1420 den Plan einer weltweiten anarcho-kommunistischen Ordnung
aufgestellt haben; NoB.MAN CoHN, Das Ringen um das Tausendjährige Reich (Bern,
München 1961), 36; JAMES JoLL, Die Anarchisten (Berlin 1966), 13 ff.

65
Anarchie n. 3. Lemographie des 17. Jahrhunderts
Mittelalter wieder verlebendigten (Johannes von Salisbury, Thomas von Aquin
u. a.) Lehre vom Tyrannenmord eine begri:fis- und wortgeschichtliche Verbindung
zu 'Anarchie' und 'Anarchismus' gegeben 36 •

3. Die Lexikographie des 17. J abrhunderts

Für die Entfaltung des Begriffs 'Anarchie' im 18. Jahrhundert und seine spätere
Entwicklung sind der Rückbezug auf den griechischen Ursprung und die Ausein-
andersetzung vor allem mit Aristoteles, wie sie im 16., 17. und frühen 18. Jahr-
hundert geführt wurde, bedeutsam. Auf den griechischen Ursprung des Wortes
wurde in fast allen Lexika der Zeit (Ar.sTED, MICRAELIUS, FURETIERE, NEHRING)
verwiesen. Dauzat spricht von der Latinisierung des Ausdrucks in den Übersetzun-
gen des Aristoteles 37 • In Frankreich schrieb NIKOLAUS VON ÜRESME schon 1361
anarchie 38 , in England findet sich zunächst (1539) anarchie, dann bei BACON (lßO!'i)
anarchy 39 • In Deutschland dagegen hält sich bis ins 18. Jahrhundert hinein die
lateinische Form anarchia4°.
Alle Lexika der Zeit, in denen 'Anarchie' verzeichnet ist, beschränkten sich auf
kurze Hinweise, in denen 'Anarchie' als Herrscherlosigkeit oder Herrsohafts-
losigkeit definiert wurdc 41 : Anarchia est, q•uando in civitate nullus senat'Us, judicia,
'leges (MwRAELIUS 1661); Etat qui n'a point de Chef veritable (FuRETIERE 1690); ein
gemeines Wesen, so kein Ober-Haupt hat (NEHRING 1710).

98 Im Anschluß an RAOUL ALLIER, Les anarchistes du moyen l\ge, Rev. 'de Paris, 15. 8.
1894 hat TREUMANN, Mon.archomachen, 45 ff. die nicht verifizierbare ThARA aufgestellt.,
daß seit dem 13. Jahrhundert die „Brüder vom freien Geiste" die Lehre vom Tyrannen-
mord in den Rahmen einer anarchistischen Doktrin gestellt hätten. Ferner ist auch bei
Peter Cheltschizki in der Hus-Nachfolge der Begriff der Anarchie nicht belegbar; vgl.
CARL VoGL, Peter Cheltschizki. Ein Prophet an der Wende der Zeiten (Zürich, Leipzig
1926).
37 Nouveau dictionnaire etymologique et historique, ed. ALBERT DAUZAT, JEA.>; DUBOIS,

HENRI MITTERAND (Paris 1964), 32.


88 Anarchie est quant Z'on franchist aucuns serfs et met en grans offices; NIKOLAUS VON

ÜRESME, zit. Dictionnaire general de la langue fran98-ise, ed. ADoLPHE HATZFELD, ARsENE
DARMESTETER, ANTOINE THOMAS, t. 1 (Paris 1904), 93. Nikolaus von Oresme hat auch die
lateinische Ausgabe dP.R AriRt.Ot.f'llAs ins Fra.nzösische übersetzt und die lateinischen Begriffo
ins Französische übertragen; vgl. RICHARD KoEBNER, Despot and DeapoLlsm: ViciRRi-
tudes of a. Pulitical Term, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 14 (1951),
275 ff„ bes. 284 f. Auch FURETIERE 3° M„ t. 1 (1708), o. S.; t. 1 (Ausg. 1721), 383 schreibt
anarchie und definiert: Etat qui n'a 'jJOint de Chef veritable; ou plutßt qui n'en a 'jJOint du tout,
a
et oll, chacun vit aa fantaisie, et sans aucun respect pour Zes loix.
39 FRANCIB BACON, The Advancement of Learning (1605; Ndr. London 1960), 229; vgl.

OED vol. 1 (1933), 307 f.


40 Erstmals 'Anarchie' bei JoH. CHRISTIAN WlcHTLER, Commodes Manual oder Hand-

Buch (Leipzig l 70!l). NF.HTUNA (1710), 40 übernimmt den Ausdruck in Jatainiacher Spraoho,
fügt allerdings hinzu: Gall. anarchie.
n Eiue gewfa1:1e Ausnahme stellt Alsted dar, der Anarchie zwar im ltahmen des Abschnitts
„Politica" behandelt, jedoch lediglich definiert: anarchia est magnum malum; ALsTED
3. Aufl„ Bd. 3 (1649), 219. Vgl. auch MicRAELIUS 2. Aufl. (1662; Ndr. 1966), 113,
der seiner Definition hinzufügt: MajU8 est malum, quam tyrannis.

56
D. 4. Staatsformenlehre des 16./17. Jahrhunderts Anarchie

4. Staatsformenlehre des 16. und 17. Jahrhunderts

Erstmals in den „Discorsi" MACHTAVEJ.J.TR wurde 'Anarchie' im Rahmen. der


Verfassungslehre präzisiert. Im Anschluß an die aristotelischen sprach auch
Machiavelli von drei „guten" Formen der Herrschaft: der Monarchie, der Ari-
stokratie und der Demokratie. Die guten sind die drei ... genannten; die
schlechten sind drei andere, we'lche von jenen dreien <ib/W,ngen, und jede derselben
ist der ihr nächstverwandten so ähnlich, daß gar leicht eine in die andere überspringt;
denn die Monarchie wird leicht Tyrannei, die Aristokratie leicht Oligarchie, die De-
mokratie verwandelt sich leicht in Anarchie42 • Der Topos: Demokratie produ-
ziert Anarchie findet somit bei Machiavelli erstmals seinen klaren Ausdruck.
Ferner hat Machiavelli das alte Kreislaufmodell der Herrschaftsformen wieder
aufgegriffen. Für ihn hat dieses Modell, durch die ausdrückliche Einbeziehung
der Generationenabfolge, den Charakter eines „Gesetzes": Da nun jede Regierungs-
form im An/ang einige Ehrfurcht einflößt, so hielt sich die Volksherrschaft eine
Zeitlang, aber nicht lange, zumal wenn die Generation, we'lche sie eingefüh?;t
hatte, verschwunden war. Schnell kam es zur ZügeUosigkeit, wo weder Bürger
nocli Magistrat gefürchtet wurde. Ein jeder lebte nach seiner Art, man fügte sich täglich
tausend Unbilden zu: so daß man, durch die Not gezwungen, teils angeregt durch einen
wohlf'IWinenden Mann, teils um einer so"lohen Anarehie zu entgehen, von neuem zur
Monarchie zurückkehrt und von dieser von Stufe zu Stufe in der nämlichen Art und
aus den entwickelten Ursachen wieder zur Anarchie zurückkommt 43 • BomN sieht
in der Anarchie außerdem eine spezifische Folge der Wahlmonarchi11: Mai.~ M1.
toutes Monarchies electives, il y a un danger qui advient toujours, c'est qu'apres la
mort du Roy, l'estat demeure en pure Anarchie, sans Roy, sans seigneur, sans gouverne-
ment44. In beiden Fällen tritt die zeitliche Einordnung der Anarchie in die Ver-
fassungstypologie klar hervor. Das gilt noch mehr für Bodins früher erschienenen
„Methodus ad facilem historiarum cognitionem" (1572). Dort fragt sich Bodin, ob
Aristoteles zu Recht eine herrschaftsfreie civitas einer ausgeformten respublica
zeitlich vorordnen könne. Indem Bodin dies verneint, definiert er jeden Zustand
ohne Gesetze und Herrschaft, letztlich ohne Souverän, als .anarchia. Mit dieser
Ausweitung erreicht' Anarchie' eine neue Bedeutungsebene. 'Anarchie', in qua nullus
paret, nullus imperat 45 , wird zum Gegenbegriff jeder gesetzlichen potestas imperii.
Wo eine hominum multitudo sine magistratibus et imperiis lebe, dort gebe es keine
civitas: haec igitur congregata multitudo, non civitas debuit, sed dvaexla, vel alio
quam civitatis nomine vocari: cum ejusmodi homines dn&Mße, sint, ut est apud
Homerum, ieal dfi.eµt!;ot. Ebensowenig handele es sich natürlich um eine Republik,
auch wenn es (vorstaatliche) Familien oder Kollegien gebe 46 • In Verbindung damit
ist Bodins kritische Ausmalung anarchischer Zustände zu sehen, die im Überhand-

•2 NrccoLO MACHIA.vELLI, Vom Staate, Ges. Sehr., hg. v. Banns Floerke, Bd. 1 (München
1925), 12.
• 3 Ebd., 14f.

"JEAN BontN, Les six: livres de la. rtlipublique 6, IS (11S83; Nclr • .Aalen 1901), 975.
ü JEAN BoDIN, Methodus ad fa.cilem historiarum cognitionem (1650; Nd.r • .Aalen 1967), 283.

"Ebd., 157. 159. Die latinisierte Form 'ana.rchia' taucht erst im späteren Teil der Schrift
auf; ebd., 283.

57
Anarchie D. 4. Staateformenlelue dN 16./17. Jahrhunderts

nehmen von .Mord und Totschlag, dem Ausbruch der Gefangenen und vor allem
der fehlenden Rechtsprechung gipfelt'7. Auch dieser Aspekt deutet auf den
Neuansatz hin. Die bei RotteckfWelcker mitverarbeitete Fo.BBung der Anarchie als
„widerrechtlich" klang im Ausgang von Renaissance und Reformation erstmals an.
Bei ÄLTBUSIUS {„Politica", 1614) wurde in dem Abschnitt Änaf'chia p,/,gnat cum
natura (c. 18) die Anarchie als mit der rechten Vernunft und mit dem Natur-
recht kämpfend bezeichnet: Quae cum ita sunt, recte concludo, anarchiam pugnare
cum recta ratione et jure naturali, et ideo damnandam 0 .
Die Steigerung von Tyrannis zur Anarchie wurde, obwohl bei Aristoteles bereits
angelegt, erst von BARTHOLOMAEUS KECKERMANN herausgearbeitet: A.narchia est
deterior tyrannide, quia in tyrannide_ aliqua est imago vel vestigium reipublicae
vel leges ac statuta quibus reipub. forma comprehensa fuit, etiam si istae leges veZ
statuta a Tyranno vioZentur. Sed in A.narchia omnes dominantur, neque ull,ae sunt
leges vel constitutione8, quibus reipublicae r.orpUI! trilnm:rP. possi.t.49• Keckermann
wertete in Interpretation des Aristoteles (ohne allerdings einen Beleg anzuführen)
die Anarchie gegenüber der Tyrannis ab: Recte A.ristotele& monet in Politica A.n-
arckiam esse quavis tyrannide deteriorem; quia nempe A.narchia similis est Zatronum
coetui, ubi nec principes, nec subditi officium faciunt, cum tamen in tyrannide aubditi
possint secundum leges vivere60. Er definierte 'Anarchie' im Anschluß an Aristoteles
o.ls Herrscher- und als llerrschaftslosigbiL: A.•1wrclt'ia est, ubi p'latlt reapublica
destituitur principe, sive capite; atque adeo ubi nullum est regimen, sed quilibet vivit
pro suo arbitrio 51 • Er unterschied zwischen Anarchie von Seiten der Herrschenden
und von Seiten des Volkes bzw. der Untertanen. Die Figuren: anarchia -polyar-
chia - tyrannis (auf Seiten der Herrschenden) und democra'tia, dxJ.oieearla und
d"czexla (o.uf Seiten der Beherrschten) standen sich gegenüber. Im Anschluß an
Xenophon, Platon und Cicero führte er aus: Ochlocratia statim importat A.narchiam;
itaque non tam vitiosa est Respublica quam nulla52 • Wesentlich für Keckermanns
Interpretation des Anarchiebegriffs scheint der Hinweis zu sein, daß im Falle der
Anarchie jedes imago reipublicae fehle. 'Anarchie' nahm damit, ähnlich wie bei
Bodin, eine Sonderstellung im Rahmen des Systema disciplinae politicae ein 53•
Der von Machiavelli geprägte Topos: Demokratie produziere Anarchie trat bei HoB-
BES wieder hervor. Bei ihm kam jedoch gegenüber Machiavelli erstmals die sozial-
kritische Variante der später bei Helvetius und Holbach voll ausgeprägten ldeo-

41 Del'll., Rep. 6, 5 (S. 975 f.).


48 JOHANNES ALTHUSIUS, Politica, c. 18 (3. Aufl. 1614; Ndr. Aalen 1961), 284.
49 KEOKERMANN (1614), 421; ä.hnlich MIOBAELIUS (vgl. Arim.. 41); ·

ID KEclKERMA.NN (1614), 421 f.


61 Ebd., 421.
68 Ebd., 559.
118 In dem Staa.tsrechtslehrbuch von HEnm.:cc:e: FRH. v. CoooBJI, Juris publici prudenti&

(Frankfurt/Oder 1695) wird die Ana.rchie nicht beha.ndelt. Hinweise &uf Ana.rcbie aJs
Herrscha.fts. oder VerfaJlsform von Herrscho.ft fehlen &uch bei VEIT LUDWIG v. SEOKEN-
DORFF, Teutscher Fürstenstaat, 3. Auß.. (Frankfurt 1665) und SAMUEL v. PUFENDOBJI',
De statu imperii Germa.nici (Genf 1667). Vgl. femer Kll'BT ZIELENZIGER, Die alten
deutschen Ka.meralisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Na.tionaJökonomie und zum
Problem des Merkantilismus (Jena 1914). Bei den in dieser Arbeit beh&ndelten Autoren
steht Ana.rcbie ebenf&lls nicht im Vordergrund der Betrachtung.

58
ll. 5. Ethik des 17. Jahrhunderta Anarchie

logiekritik der Aufklärung hinzu: Tliet-e be otlwr names of government, in tlw histories,
and books of poZi,cy; as tyranny, and otigarchy: but tlwre are not tlw names of other
forms of governmenf., b1d of the same forms misZiked. For tlwy that are discontented
under monarchy, calZ it tyranny: and tlwy that are displ,eased with aristocracy, calZ it
oZigarchy: so aZso, tlwy which find tlwmselves grieved under a democracy, call it anarchy,
which signi'fia want of government; and yet I think no man believes, that want of
government, is any new kind of government54• 'Anarchie' als Verfallsform politischer
Herrschaft gewann dadurch - wie bei Bodin - ein Moment des Konkreten, das
den Begriff' aus der seit Jahrhunderten mitgeführten Form des bloßen terminus
technicus herauszulösen begann5s.

5. Ethik des 17. Jahrhunderts

Von LEIBNIZ wurde Anarchie erstmals mit dem monstrum atlwismi in Verbindung
gebracht58. Das Bewußtsein einer nahenden europäischen Krise und die Instabilität
der überkommenen ethisch-religiösen Werte ließen ihn von 'Anarchie' wie von
'Revolution' sprechen67 • Damit wurde der Begriff' der Anarchie nicht nur auf den
ethisch-philosophischen Bereich übertragen; damit wurde er nicht nur immer
mehr zur allgemeinen Charakterisierung dessen, was - gegenüber einer etablierten
Zivilisation - „nicht sein darf"; mit 11iner imlr.hen 1lbertragung sind erste Ansätze
der Hera.uslösung von '.Anarchie' aus dem Kreislaufmodell der Verfassungslehre
erkennbar. 'Anarchie' wurde auf eine höhere AbstraktionBStufe gehoben, die einer
erneuten Konkretisierung unmittelbar vorausgeht.
Im englischen Sprachraum gebrauchte MILTON (1667) den Begriff der Anarchie
sowohl im ethisch-religiösen ( eternal anarchy) wie im literarischen Bereich. Auch er
suchte, wie später Bolingbroke und Godwin, die „Freiheit". Jedoch begann die
Freiheit für ihn mit Gott und nicht mit den Menschen. Milton kämpfte gegen die
Hierarchie der Kirche, die er als das Haupthindernis der Freiheit innerhalb des
Christentums ansah. Diese Haltung erklärt auch seinen Kampf gegen Tyrannei

"T:aollliS HOBBBS, Leviathan 2, 19. Works, vol. 3 (1839), 171; vgl. ders., Philosophical
Rudiments Concerning Government and Society, ebd., vol. 2 (1841), 93: Formen, by giving
namea, do 'U81/ßUy not orily aigni/y the thinga them-aelvea, b'Ut alao their own a/fe.cti<nu, aa lvve,
hatrwl, anger, afllt the li~. Whence it 1uvppe1l8 that what une 1/Wn calls a <kmocracy, another
caUa an anarchy.
66 Als terminus technicus ist der Begriff etwa auch bei SPINOZA (1670) nachzuweisen, der

von den anarchiae tempora spricht; Tractatus theologico-politicus, Opera, ed. Carl Hermann
Bruder, t. 3 (Leipzig 1846), 143.
18 LEIBNIZ an G. Spitel, 10./20. 2. 1670, .AAR. 1, Bd. 1 (1923), 85 f. über das Monstrum des

Atheismus, a qoo nihil praeter Anarchiam univeraalem atque everaionem Socief.atia humanae
exa']JUtari poteat.
17 WEBNEB CoNZE, Leibniz als Historiker (Berlin 1951), 48 f. bei der Interpretation des in

Anm. 56 genannten Briefes. Im englischen Sprachraum ganz ähnlich RALPH CuDWORTH,


The True Intellectua.l System of the Universe (1678; Ndr. Stuttgart 1964), 319, wo sich
auch der bisher früheste Beleg für 'anarchist' findet: ..• that the Egyptiana were univeraaUy
Atheiata and Anarchiata BOOh aa ••• reaolve,d all into Senaleaa Matter aa the firat and higheat
Principle. Die ersten englischen Belege für 'anarchism' finden sich etwas früher bei EDwARD
DERllilG (1642) und THOllliS BLoUNT (1656); vgl. OED vol. l (1933), 307.

59
Anarchie Il. 6. Entfaltung im 18. Jahrhundert

und Monarchie. Für ihn war Revolution ein apokalyptischer Kampf zwischen
Freiheit und Tyrannei. In diesem religiösen Erwartungshorizont wird auch die
Anarchie angesiedelt, die eine Folge von Tod und Sünde sei:

Then Both from out HeUgates into the waste


Wide Anarchy of Chaos damp and dark
Flew divers ... 58

Wortgeschichtlich ist die Verstärkung der Beschreibung des Zustandes der Anarchie
durch die ungebräuchliche (erst im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wieder
auftretende) Häufung anarchy of chaos aufschlußreich für die kosmisch-religiöse
Hintergrundsbedeutung.

6. Entfaltung im 18. Jahrhundert


Im 18. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution, vor allem in den Jahren
1735 bis 1780, erfuhr der Begriff 'Anarchie' eine mehrfache Ausfaltung. Dies wird
äußerlich deutlich an der Häufung der Belege69 und der Verbindung mit neuen
Kontextbegriffen .. Die verschiedenen bisher bestehenden. Denkfiguren bleiben,
differeuzieren sich aber und werden von nf\tlfln 'ßflcif111t.imgRR11hichbm überlagert.
Der Topos: Demokratie er:r.euge Anarchie drang dabei bis in die lexikographische
Literatur vor. So heißt es bei HÜBNER, 'Anarchie' sei eine verdorbene Demokratie60.
Auch der Topos persönlicher Herrscherlosigkeit klingt nach: Anarchie ... signifie
proprement Z'etat d'une ville, d'une Republique, etc. ou il n'y a ni Chef, ni Roi, ni
Som1er1u:n 61 • Er wurde erweitert in n' ALEMBERTS und DIDEROTS „Encyclopedie", in
der nicht nur negativ von Seiten des Herrschers definiert, sondern auch der Zustand
von Seiten der Beherrschten beschrieben wurde: 'Anarchie' sei un desordre dans un
etat, qui consiste en ce que personne n'y a assez d'autorite pour commander et faire
respecter les lois, et que par consequent le peuple se conduit comme il veut, sans subordi-
nation et sans police62.
Neu im 18. Jahrhundert ist die Verbindung des Begriffs der Anarchie mit dem der
Despotie. Während 'Despotie' einschließlich 'despotic' und/oder 'despotical' bereits

68 JoBN Mn.TON, Paradise Lost, book 10, v. 282 ff„ ed. R.E.C. Houghton (Oxford 1969).
Der Beleg für eternal arwrchy bei JOHNSON (Ausg. 1854), 49.
69 Allerdings ist die Zahl der Nullbelege in der lexikographischen Literat.ur nicht Ullbedeu-

tend. In folgenden Lexika. ist 'Anarchie' nicht verzeichnet: JoH. FRIEDRICH GLEDITSCH
(Verleger), Allgemeines Oeconomisches Lexicon (Leipzig 1731); BAYLE 5° ed„ t. 1 (1740);
HERMANN Bd. 1 (1739); ZINCKE 2. Aufl. (1744); JABLONSKI 2. Aufl. (1748); Wohlm. Unter-
richt (1755); HALLE Bd. 2 (1780), 703 ff.
eo HÜBNER 8. Aufl. (1717), 90.
81 MORlllRI18° ed„ t. 1 (1750), 400. In die 1. Aufl. (1674) hatte Moreri 'anarchie' noch nicht

aufgenommen.
62 Encyclopedie, t. 1(1751),407. Ganz ähnlich auch bei CHAMBERS vol. 1 (Ausg. 1750), s. v:

Anarchy, the want of government in a naticm, where no supreme authority i8 Wdged, either in
the prince or other rulers; but the poople live at Zarge, and all things are in oonfusicm. Diese
frühe Definition ist in die Enc. ßrita.nnica., 3rd ed. (1797) u. 5th ed. (1810) übernommen
worden.

60
II. 6. Entfaltung im 18. Jahrhundert Anarchie

durch Hob bes in die politische Diskussion der Zeit eingeführt worden war 63 , .setzte
die Aufnahme des Anarchiebegri:ffs erst später ein. In diesem Zusammenhang ist
auf eine neue Variante des Kreislaufmodells hinzuweisen: Anarchie erzeugt
Despotie/Despotismus, Despotie/Despotismus erzeugt Anarchie. Damit einher-
gehend werden Anarchie und Despotie auch miteinander verglichen und aneinander
gemessen: Anarchie ist schlechter/besser als Despotie. Despotie ist besser/schlechter
als Anarchie, beide smd identisch - jedenfalls hinsichtlich ihrer pragmatischen
Funktion, insbesondere hinsichtlich der Stoßrichtung ihrer Polemik. Immer wieder
wurde 'Anarchie' in einen unmittelbaren Zusammenhang mit 'Despotie/Despotis-
mus' gebracht84 - im Unterschied zum 19. Jahrhundert, wo dieser Zusammenhang
verloren ging. Schon bei F:ENELON waren despotisme ( despotisme tyrannique) und
anarckie identisch. Sie zogen ihre Identität au.s ihrer negativen Absolutheit: beide
waren der „Freiheit" und der „Ordnung" entgegengesetzt. Weder Anarchie noch
Despotie anerkannten Gesetz und Ordnung: La liberte sans ordre est un libertinage
qui attire le despotisme; l'ordre sans la liberte est un esclavage qui se perd dans l'an-
archi'.e65. Für n'ALEMBERT und DIDEROT gilt ähnliches: On peut assurer que tout
gouvernement en general tend au despotisme ou a l' anarchie 66 • - Auch bei BENTHAM
wurden, freilich ins Ethische gewendet, anarchical und despotical miteinander in Ver-
bindung gebracht: In tke ßrst case, let him ask himself wkether his principle is not
despotical, and hostile to all the rest of human race? - 1n tke second case, .wketker
it is not anarchical, and wketker at tliis rate tkere are not as many different
standards of right and wrong as tkere are men? 61 Eine Korrespondenz von
Anarchie und Despotie nahm auch MoRELLY in seiner Kritik am Staat des
aufgeklärten Absolutismus an. Er sprach von der natürlichen Anarchie mit
einem despotischen Herrscher an der Spitze 68 • Ein solcher unmittelbar kritischer
Gebrauch des Wortes 'Anarchie' scheint allerdings nicht häufig gewesen zu
sein (vgl. unten). RAYNAL sah in der Gewaltenteilung zwar ein anarchisches

83 Vgl. KoEBNER, Despot and Despotism, 288 (s. Anm. 38).

" Die Definition von 'despotique' ( ce mot signifie un pouvoir absolu, ou plutl>t arbitraire,
ne reconnoissant aucunes loix) bei VoLKNA (Ausg. 1762), 44 zeigt deutlich die Ver'Wa.ndtscha.ft
zur Bestimmung der Anarchie. Allerdings weist ALBERT LORTHOLARY, Le mira.ge russe en
Fra.nce au XVIIIe siecle (Paris 1951), 135 zu Recht da.rauf hin, daß kein „exakter" Sinn
n011 Wortes 'rlespotisme' im 18. Jahrhundert festzustellen sei. Zur Entwicklungsgeschichte
von 'Despot' und 'Despotismus' vgl. auch ROBERT DERATHE, Les philosophes et le des-
potisme, in: Utopie et institutions au XVIIIe siecle. Textes, thl. l'IEB.RE FRANCASTEL
(Paris, Den Haag 1963), 57 ff. Es verdient Beachtung, daß Koebner und Derathe keine
Verbindungslinie zum Ana.rchiebegriff ziehen. ·
85 FRAN901s DE FENELON, Examen de conscience sur les devoirs de la royaute (1734),

Ecrits et lettres politiquiis, ed. Charles Urbain (Paris 1920), 95.


88 Encyclopedie, t. 1(1751),407. In Deutschland ähnlich JoH. BERNHARD BASEDOW, Prac-

tische Philosophie für alle Stände, 2. Aufl., Bd. 2 (Dessau 1777), 200: • . • eine
Staatsveränderung, eine Anarchie, oder die Despoterey.
• 7 JEREMY BENTHAM, An Introduction to the Principles of Mora.ls a.nd Legislation, ed.
Wilfried Ha.rrison (1823; Ndr. Oxford 1948), 130.
88 MORELLY, Le na.ufra.ge des lles flotta.ntes ou la Basilie.de du celebre Pilpä (1753), zit.

RICHARD X. CoE, Morelly. Ein Rationalist auf dem Wege zum Sozialismus (Berlin 1961),
210.

61
Anarchie D. 6. Entfahung ÜD. 18. Jahrhundert

Prinzip, behauptete jedoch, daß dieses nulle fois plus funeste que le <1espotisme 69 sei.
Eine spätere Variante zugunsten der Anarchie zeigt sich bei »'ALEMBERT, der aus
der egaliti metaphysique die Anarchie entspringen ließ und O.UB der inigalitl nwrale
den Despotismus 70. Für VoLTAIRE hat sich, im historischen Rückblick, die Anarchie
in ganz Europa unter Karl dem Großen in den Despotismus verwandelt, der aus
!!ich selbst heraus wieder neue Anarchie erzeugte: V ous avez vu en ltalie, en France,
en Allemagne, l'anarchie se tourner en <lespotisme sous Oharlemagne, et le <lespotisme
det,ruit par l'anarchie sous ses <1escendants71 •
Hier ist ferner auf die Differenzierung der eigentlichen Verfassungslehre hinzu-
weisen, die zu einer Auffächerung des Bedeutungsgehalts von 'Anarchie', 'Despotie'
usw. führte. MoNTESQUIEU hatte in seiner politischen Theorie; abweichend von
Aristoteles, drei Archetypen der Herrschaft unterschieden: despotische Herrschaft,
Monarchie und Republik (konstitutionelle Herrschaft). „Den -despotischen Herr-
schaftsformen eignet Terror, Kom1ption und Anarchie"72. In der historischen
Betrachtung waren Tyrannis und Anarchie Entartungsformen der Republik:
ll est vrai que ceuz qui CON'ompirent les republiques grecques ne devinrent pas toujours
tyrans. O'est qu'ils s'etoient plus attacMs a l'eloquence qu'a l'art miZitaire; outre qu'il
y avoit dans le coewr <1e trnu les Grecs une haine impklcable oontrc oeuz qui renversoient
le gouvernefMnt republicain; ce qui fit que l' anarchie Mgenera en aneantissement, au
lieu <1e se changer en tyrannie 78 •
Bei JusTI, der an die Lehre der Herrschaftsformen von Mqntesquieu anknüpfte
und sich mit ihr kritisch auseinandersetzte, wurden die aristotelischen Herrschafts-
und ihre Entartungsformen neu kombiniert und mit dem Degriff des D011p0Lismus
in Verbindung gebracht. Er 1:111ra.ch eLwa. von aristokratischen Despoten". Tyrannis
und Despotismus waren für ihn Entartungsformen der Monarchie, die ihrerseits nur

88 G. TH. F. RAYNAL, Histoire du parlement d' Angleterre (1748), zit. LoRTHOLARY, Mirage,
339 (s. Anm. 64).
70 JEAN LE RoND »'ALEMBERT, Essai sur les lllements de philosophie (1805; Ndr. Hildes-

heim 1965), 203. Wie d'Alembert hat auch Diderot, entgegen anderen Auffassungen,
'Anarchie' nicht positiv gewertet, auch wenn er, wie im folgenden Zitat, die „Anarchie
der ~atur" höher einstuft als die staatlichen Gesetze; DENIS DmEROT, Supplement au
voyage de Bougainville (um 1775), Oeuvres oompl., M. J. Assllzat, t. 2(Paris1875), 247:
il a'en rompit (von den Federn der Gesellschaftsmaschine) plUB da11,11 un jour, 80'US l''tat
de ll.giBlation, qu'il ne a'en r<»npait sn un an BO'U8 l'anarchie de nature.
71 VOLTAIRE, E1!88.i sur les moeurs et l'eaprit des nations depuis Charlemagne jusqu'a noe

jours (1756), Collection oomplette des oeuvres, t. 3 (London 1770), 342.


72 Vgl. E. V.WALTER, Policies of Violence: From Montesquieu to the Terrorists, in: The Criti-

cal Spirit. Essays in HonorofHerbert Ma.rcuse, ed. KURT H. WoLFFu. a. (Boston 1967), 121 ff.
78 MoNTESQUIEU, De l'esprit des loie 8, 2. Oeuvres oompl., t. 2 (1951), 351. Vgl. auch seine

„Penslles": Dana de certaina tro'llhles et conf'UBiona oli chaque citoyen eat ehe/ de parti, comment
peut-cm aaaeoir un gouvernement, a moina que ce ne 8oit celui qui a'etablit pour ainsi dire,
de lui-mßme: qui eat le tyrannique; ou celui qui n'eat que la privation du gouvernement; qui
f'.Rf. l'anarchique?; Oeuvre11 compl., t. 1 (1949), 1430. Ferner ebd., 1467: l'anarchi~ eBt con-
traire au Droit naturel.
"JoH. HEINR. GoTTLIJ!lll v. JusTI, .Natur und Wesen der Staaten als die Quelle aller
Regierungswissenschaften und Gesetze (Mitau 1771), 143. Mischformen der Herrschaft
aus :Monarchie,' Aristokratie und Demokratie, bei Ablehn\ing der deapotiBchen Regierunga-
form, fordert auch KLüGEL Bd. 3 (1784), 34 ff.

62
II. 6. Entfaltung im 18. Jahrhundert · Anarchie

eine der Arten der Republik, also konstitutioneller Herrschaft, war 75 '. Despotie/
Despotismus wurde, sozusagen als „Unform", als „Vorform", jedenfalls als negative
Herrschaftsform, aus der eigentlichen Lehre der Verfassungsformen ausgeklam-
mert: Die despotische GewaU gehöret nicht unter die RegierungsfMmen, weil der
Endzweck der Republiken (= Regierungsformen) dabei nicht sf4ttfindet. Sie ist
vielmehr ein Ungeheuer unter den Beherrschungsarten, das den Abscheu des mensch-
lichen Geschlechts höchst verdienterweise auf sich ziehen muß. Allein auch hier kann
der Adel nicht die notwendige Stütze ausmachen78 • Klar kommt dies auch bei KRÜNITz
zum Ausdruck: Als eine besondere Regierungsform ist der Despotismus(= ,,Despo-
terey") nicht zu betrachten 77 • Bei BIELEFELD tritt die bezeichnete Tendenz für den
Begriff 'Anarchie' hervor: Er unterschied in seinen „Institutions politiques" (1760)
trois formes regulieres de Gouvernement und Gouvernements vicieux dans les trois
fiJrmes, behandelte dann die Gouvernements Oomposes ou Miztes und widmete erst
den folgenden Paragraphen der Anarchie, wo er definierte: On appelle Anarchie,
lMsque l' Etat n'a point de Chef, quand chacun yvit asa fantaisie, au mipris des Loix
quand le desMdre et la confusion y regnent. On sent bien que c'est za le plus grand vice
dont un Gouvernement soit susceptible, et qu'une pareille situation prece.de immediate-
ment la ruine de l'Etat7 8. Mit dieser Erweiterung des Bezugsfeldes von 'Anarchie'
durch die Verbindung mit und Absetzung von 'Despotie' bzw. 'Despotismus' und
ihre schließliche Heraw;löt1ung aus der eigentlichen Herrschaftsformenlehre rücken ·
beide Begriffe stärker in die historisch-soziale Dimension hinein. Allerdings sind
'Despotie', 'Despotismus' 79 sowie 'Tyrannis' 80 und nicht 'Anarchie' die zentralen
Begriffe, an denen sich die Zeitkritik des 18. Jahrhunderts immer wieder auflädt.
Trotz erster Ansätze einer historischen Konkretisierung ist der Bedeutungsgehalt
von 'Anarchie' (ähnlich wie bei 'De.spotie') noch relativ starr. 'Despotie' und
'Anarchie' charakterisieren Zustände, die im Gegensatz zu Freiheit, Ordnung und
Gesetz stehen. Auch wenn Differenzierungen im einzelnen vorgenommen werden,
sind doch beides Begriffe zur Bezeichnung dessen, was nicht sein darf. Diese Bin-
dung von 'Anarchie' an 'Despotie' wird später aufgelöst (s. u.).
76 JusTI, Sta.a.tewirthschaft oder Systematische ·Abhandlung aller ökonomischen und
Cameral-Wissenschaften, 2. Aufl., Bd. 1 (Leipzig 1758), 36:ff. Ähnlich wie bei Justi findet sich
Montesquieus Einfluß auch bei Roussea.u, für den Ochlokratie, Oligarchie und Tyrannis
Verfallsformen der Demokratie, Aristokratie und royaute sind. Im gleichen Zusammenhang
spricht Roussl!lAU von der Anarchie a.Is der Auflösungsform des Staates und des gouverne- .
ment; Contrat social 3, 10.
78 JusTI, Abhandlung vom Wesen des Adels, in: ders., Gesammelte Politische und Finanz-

schriften über wichtige Gegenstände der Sta.a.tekunst, der Kriegswissenschaften und des
Cameral- und Finanzwesens, Bd. 1 (Kopenhagen, Leipzig 1761), 159.
77 KRüNITZ Bd. 9 (1776), 123.

78 JAKOB FR:a!:DR. FRH. v. BIELEFELD, Institutions politiques, t. 1 (Den Haag 1760), 24 f.


79 Vgl. vor allem RoBERT DERATHi, Les philosophes et le despotisme (s. Anm. 64). .
80 Im Medium der Begriffe 'tyran', 'gouvernement tyrannique' und der Konfrontation von

'roi' und 'tyran' hat JEAN MEBLIER den französischen absolutistischen Sta.a.t kritisiel't;
Le testament, ed. Rudolf Charles, t. 2 (Amsterdam 1864), 270 :ff. Obwohl er den Begriff'
'Anarchie' nicht verwendet, ist er von der Geschichtsschreibung des Anarchismus immer
wieder als einer der ersten Anarchisten bezeichnet worden. Gegen diese Interpretation
wendet sich MAURICE DoM:MANGET, Le eure Meslier. Ath6e, communiste et rivolutionnaire
sous Louis XIV (Paris 1965), bes. 331 :ff.

63
Anarchie II. 7. Zeitkritik der AufkJämng

7. Zeitkritik der Aufklärung


Zunächst ist sowohl eine ins Soziologische übergehende Ausweitung der negativen
Bedeutung von 'Anarchie' wie eine Verlagerung des anarchischen Zustandes in
historische und prähistorische Frühphasen sowie ferne Länder festzustellen. Schon
SPERANDER definierte 'Anarchie' im Unterschied zu Nehring als ein Regiment ohne
Haupt, da der gemeine Pöbel dasselbe führet 81 • In ZEDLERS Definition ist die Abwehr-
haltung der frühbürgerlichen Gesellschaft gegen die Aristokratie eingegangen:
In der Politik heißt es ein so"lcher Staat, da kein Regent ist und jedermann nach seinem
eigenen Gefallen lebet. Dergleichen eräußert sich, wenn Aufruhr entst,ehet und das
gemeine Volk den Vornehmern die Hälse zu brechen suchet, da denn diese Pest nicht
eher kann abgeschaffet werden, bis endlich ein Monarch entstehet, der die unruhigen
Köpfe wieder zu Paaren treibt und das Land oder Stadt wieder in Ruhe setzet 82 •
Um die mittelalterliche Unterscheidung von Universalmonarchie und Universal-
episkopat zu kennzeichnen, formulierte RAYNAL gegen Ende de11 18. Jahrhunderts:
L'eglise et l'empire sont dans l'Anarchie 83 • VOLTAIRE vor allem hat im Rahmen seiner
mit einer heftigen Sozial- und Zeitkritik verbundenen Geschichtsphilosophie und
Geschichtsschreibung 'Anarchie' zuerst als kulturelle Verfallsform begriffen:
... dans ce chaos de coutumes toute.~ bizarres, toutes contradictoires; dans l'examen de
cette barbarüi, de cett.e anarchie ... 84 'Anarchie' war jetzt nicht mehr nur Gesetz-
losigkeit, Unordnung und Chaos, sondern dem bizarren Chaos mittelalterlicher Ge-
bräuche vergleichbar in der Perspektive der Aufklärung schlechthin barbarisch.
In Deutschland haben neben vielen anderen Moses Mendelssohn und Ludwig
Wekhrlin den Begriff 'Anarchie' kultur- und sozialkritisch verwendet. MENDELS-
SOHN verband in seiner Verteidigung der wirklichen, der echten Aufklärung
'Anarchie' mit negativ besetzten ethischen Kategorien wie „Egoismus" und
„lrreligion": Mißbrauch der 4.ufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu
Hartsinn, Egoismus, Irreligion und Anarchie. Mißbrauch der Kultur erzeuget
Üppigkeit, Gleißnerei, Weichlichkeit, Aberglauben und Sklaverei 85• WEKHRLIN
erweiterte dieses Bezugsfeld um das-Wort 'Pfa:ffendruck': So oft ein Staat, in dem
Anarchie, Faulheit, Unwissenheit, Pfaffendruck und Aufruhr herrschen, von einem
anderen reformiert wird: so scheint's eine Wohltat für beide zu sein 86 •

81 SPERA.NDER (1728), 34. Damit stimmt wörtlich überein SCHWESER (AnRg. l 768), 22.
82 Z1mLER Bd. 2 (1732), 56. In der Enc. Britannioa, 3rd. ed., vol. 1 (1797), 654 werden
konkrete historische Beispiele angeführt: A narchy i8 BU'P'J108ed to have reigned after the
delitge, before the foundation of monarckiu. We Btill find it obtain in Beveral parta, particularly
of Afriro and America ... The Jewi&k kiatory pruent8 numerous inatances of anarckiea.
88 RAYNAL, Histoire philosophique et politique des etablissements et du commerce des

. Europeens dans les deux Indes, t. 10(Genf1781), 84. CLAUDE .ADRIEN HELvETIUS spricht
von der anarckie du inter8t8 nationaua:; De l'homme, de ses facultes intellectuelles et de
son education (1772), Oeuvres compl., t. 4 (London 1781), 95.
8' VOLTA.IRE, Questions sur l'encyclopedie pa.r des amateurs, Collection des oeuvres, t. 46

(1776), 164 (s. Anm. 71).


86 MosEs MENDELSSOHN, Über die Frage: Was heißt aufklären? (1784), Ges. Sehr., Bd. 3
(1843), 403.
88 WILH. LUDWIG WEKBRLIN, Über die Sottisen des Tages. Ein Gelegenheitsstück, Das
graue Ungeheuer 5 (1785), 350.

64
n. 8. •J<'eudalanarchie' Anarchie

8. 'Feudalanarchie'

Ein deutlicher Ausdruck des sich entfaltenden Begriffs der Anarchie und seiner
Herauslösung als negativer Bei- und Nebenbegriff aus der klassischen Verfassungs-
lehre ist mit dem Begriff 'Feudalanarchie' gegeben. Er ist wahrscheinlich von
VOLTAIRE geprägt worden, der vor allem in seinem ,,Essai sur les moeurs et l'esprit
des nations" die Institutionen und Bräuche des Mittelalters - und damit die
seiner Zeit - kritisierte. In diesem Zusammenhang handelt er nicht nur von der
anarchi,e genera"le de l' Europe, der seit dem Tode Friedrichs II. bestehenden inneren
Anarchie in Deutschland, sondern spricht auch von der anarchie feoda"le des Mittel-
alters: Vous avez deja observe que dans "les commencements de l'anarchi,e feodale
presque toute.~ les villes etai,ent peupUes plUt6t de serfs que de citoyens 81 • Auch MABLY
sprach von der monstrueuse anarchie du gouvernement feoda"le 88 • Freilich gilt für die
Schriftsteller der französischen Aufklärung, daß sie mit solchen Formulierungen
aus der historischen Perspektive kritisieren und verändern wollten 89•
Im deutschen Sprachraum ist der Begriff 'Feudalanarchie' in den Lexika des
17., 18. und 19. Jahrhunderts noch nicht verzeichnet90• Wenn auch JOHANN JACOB
und FRIEDRICH CARL MosER sowie lsAAK ISELIN das Feudalsystem ausführlich
kritisierten91, vermittelten sie diese Kritik doch nicht durch den Begriff 'Feudal-
anarchie'. C. D. Voss sprach zwar 1797 von der Anarchie des Faustrechts im Mittel-
alter92. Jedoch taucht der Begriff 'Feudalanarchie', soweit wir sehen, erstmals in'
GARVES Übersetzung und Erläuterung zum 3. Buch des Thukydides (1794) auf, wo
Garve bemerkt: Als in den mitt"lern Zeiten di,e Feudal-Anarchie di,e Staaten in eine
Menge kleiner Herrschaften zersplitterte, die ihre Streitigkeiten untereinander, ohne
di,e Hilfe des größern Staates, welchem sie angehörten, abzuwarten', durch Krieg und
Trakw,ten selbst ausmachen und sich ihre Sicherheit durch ihre eigene Macht und durch
ihre Bündnisse verschaUen mußten •.. 93•
.Besonders Voltaire, Iselin und Garve brachten zum Ausdruck, was JusTI 1758
\rorsichtig gefragt hatte: Ob denn die Lehensverfassung überhaupt eine solche Ein-
richtung sei, di,e mit unserem heutigen Zustande übereinstimmet und folglich femer

37 VOLTAIRE, Essai sur les moeurs et l'esprit des nations, 238 (s. Anm. 71); vgl. ders.,

Histoire du parlement de Paris (1773), Collcction des ceuvres, t. 36 (1773), 9 f.


88 G. B. DE MilLY, Observations sur l'histoire de Fra.nce 2, 6. Oeuvres compl., t. 2 (Paris

o. J.), 322.
89 Dazu CARL L. BECKER, The Heavenly City of the Eighteenth-Century Philosophers
(New Haven, London 1932; Ndr. 1965), 71 ff.
90 Obwohl NEHRING (1710), s. v. ausführlich die verschiedenen Arten des Feudum be·

schreibt, taucht der Begriff 'Feuda.la.narchie' nicht auf. Auch LOEBEL Bd. 2 (1797), 22 f.
gebraucht den Begriff 'Feudalana.rchie' nicht, obwohl er sich kritisch zum Feudalsystem
äußert. ,
91 FmEDR. CARL FmI. v. MOSER, Politische Wahrheiten, 2 Bde. (Zürich 1796), passim;

vgl. JoH. JACOB/FmEDR. CARL FmI. v. MosER, Freie Worte aus der Zeit des Absolutismus
des 18. Jahrhunderts (München 1912), 66 f. Da.zu FRrrz V A.LJAVEO, Die Entstehung der
politischen Strömungen in Deutschland, 1770-1815 (München 1951), 45.
92 CHBJsTIAN DANIEL Voss, Handbuch der allgemeinen Sta.a.tswissenscha.ft nach Schlözers

Grundriß bearbeitet, Bd. 2/1 (Leipzig 1797), 52.


13 CHRISTIAN GARVE, SW Bd. 5 (Breslau 1801), 409, Anm.

5-90385/1 65
II. 8. 'Feudalaaarchie'

beizubehalten sei?94. Nicht nur das sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts schnell
ausdehnende Bewußtsein zweier Klassen: der Lehenslierren und der Bürger,
sondern auch die damit eng verbundene Kritik der Loiboigonsohaft (Moser, Schlözer,
Wekhrlin) 95 und die Kritik an der mittelalterlichen Lehnsverfassung und überhaupt
am sklavischen Territoriel- Staatsrecht des :Mittelalters98 sind im Zusammenhang mit
dem Begriff 'Feudalanarchie' zu sehen. IsELIN verband bereits 1770 'Anarchie' mit
Sklaverei, in die jeder Staat verfallen mußte, in dem - wie im Mittelalter -
Legislative, Exekutive und Jurisdiktion nicht genügend voneinander getrennt
würden97• In Frankreich wird, wie Otto Brunner in der Interpretation St. Simons
und Thierrys schreibt, dann der Adel für „alles Unrecht" in der Umstrukturierung
des Bürgertums verantwortlich gemacht98• Die Verbindung zwischen Königtum
und Bürgertum vom 12. bis 18. Jahrhundert sei nur durch den Konflikt des Adels
im Ancien regime mit dem Bürgertum zerstört worden. Zweifellos kommt darin -
mit dem Erkennen der „Wir.ht.igkeit. flp,r Ge8Chic.ht.e" (Rufeland 1788) - das
gesellschaftskritische Element in der Geschichtsschreibung der Enzyklopädisten
und Aufklärungsphilosophen zum Ausdruck. Andererseits - und deshalb ist
Voltaire nicht allein typisch - bemühte man sich, im Anschluß an die von Montes·
quieu aufgestellten Grundsätze, les sources des lois feodales 99 zu erforschen und die
historische Vergangenheit nicht nur an den allgemeinen Ideen des eigenen Zeitalters
zu messen100• In Deutschland forderte HUFELAND, die Geschichte des Mittelalters
durch Sammlung von Tatsachen aus dem Mittelalter aufzulösen, die uns bis jetzt fast
noch gänzlich fehlen101. Rufeland bezweifelte bereits, wenn auch noch vorsichtig,
die von der Aufklärung (in diesem Falle von Kant) vorgetragene Abwertung des
Mittelalters gegenüber der „Republik": Aber nun jene Anarchie des Mittelalters? -

"JusTI, St.a.a.tswirt.hscha.ft, Bd. 2, 404 (s. Anm. 75).


85 Vor allem bei JOB. JACOB Mosu, Von der Teutschen Unterth.anen Rechten und Pfilchten

(Frankfurt, Leipzig 1774); ANsELMUS RABiosus [d. i. WEKBRLIN], Reise durch Ober-
Deutschland (Salzburg, Leipzig 1778).
"Vgl. Anmerkungen über Schlossers B:cief politischen Inhalts [in dieser Zs. 1785], Journal
von u. für Deutschland 3/1 (1786), 300 ff., bes. 305. Ferner: [ERNST FERDINAND KLEIN?],
Rez. v. Nachricht von den Schlossersehen Briefen über die Gesetzgebung überhaupt und
den Entwurf des Preußischen Gesetzbuchs insbesondere [Frankfurt 1789], Annalend. Ge-
setzgebung u. Rechtsgelehrsamkeit in den Preuß. Staaten 4 (1789), 326 ff., bes. 327.
H 18.UX IsELIN, Schinzna.ch oder über die .Anfil.nge der bürgerlichen Weisheit, Vermischte
Sehr„ Bd. 1(Zürioh1770), 267.
88 OTTO BRUNNEB, „Feudalismus". Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, in: ders., Neue

Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. (Göttingen 1968), 128 ff., bes. 140 ff.;
vgl. EBEBBARD WBIB, Geschichtsschreibung und Staa.tsauffa.ssung in der französischen
Enzyklopädie (Wiesbaden 1956), 38 ff. Vgl. auch ERNST-WOLFGANG BöCKENFÖRDE, Die
deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert (Berlin 1961), 90, der
im Anschluß an Weis die Begriffe 'Feudaldespotie' und 'Feudalanarchie' in den gleichen
Zusammenhang stellt.
ee MoNTBSQUIJllU, De l'esprit des lois 30, 2. In diesem Sinne spricht er von den lois feodale8
•.• , qui cmt produit la r~"le avee une inclination a l'anarchie, et i'anarchie avee une tendence
aZ'ordre et aZ'harmonie; ebd. 30, 1. Oeuvres compl., t. 2, 883.
100 Vgl. WEIS, Enzyklopii.die, 33 ff.

101 GoT'l'LmB HUJl'ELAND, Ueber den Warth und Nutzen der Geschichte des Mittelalters.

Eine Vorlesung, Der Teutsche Merkur 3 (1788), 8 ff., bes. 26.

66
n. '· Erste Anklänge eines positinn Bedeutungsgehalts Anarchie

wie ist diese mit jenem Prinzip zu vereinigen? Was ist nun also dieser Lehre wegen
wichtiger als die Untersuchung, ob entweder diese Hypothese gewiß und ungezweifelt
an dieser Klippe scheitern, oder ob vielleicht jene Anarchie der größern Teile der
Menschengattung nicht so gefährlich gewesen als die geschraubte Ordnung im Römischen
Staat, dessen Bürger vielleicht Ruhe, aber nicht Glück genossen, und ob nicht vielleicht
jene scheinbare oder wahre Anarchie der einzige Weg war, durch den beßre Regierungs-
formen möglich wurden ?102 . Hier klingt jenes historische Verständnis der - jetzt auf
das Mittelalter zurückbezogenen-Anarchiean, das besonders bei Adelung und Schei-
demantel zu einer positiven Wertung vergangener Formen der Anarchie geführt hat.
In der Konkretisierung des Begriffs 'Anarchie' als 'anarchie fäodale' in Frankreich
und als 'Feudalanarchie' bzw. 'Anarchie des Mittelalters' in Deutschland sind zwei
Bedeutungsfelder angelegt: Einmal wird 'Anarchie' zum geschichtsphilosophischen
Perspektivbegriff, mit dessen Hilfe im Medium der Vergangenheit Gegenwartskritik
geiibt wird. Zum anderen sind erste Ansätze zu einem historischen Verstehens-
begri:ff erkennbar. Damit ist der Anarchiebegriff in seiner Streuweite beweglicher,
fungibler geworden.

9. Erste Anklänge eines positiven Bedeutungsgehallll

Schließlich wurde 'Anarchie' in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, vor allem von
den Aufklärungsphilosophen und -schriftstellern, auch in positiver Bedeutung
gebraucht. Während BossUET die Anarchie noch allgemein als diese furcht.bare
Quelle unzähliger Zerrüttungen 108 bezeichnete, hat MosEs MENDELSSOHN befürchtet,
daß die Anarchie nur 'durch den Despotismus gesteuert werden kann. Dennoch hob
er in positiver Bewertung der Anarchie hervor: l n jeder Republik ist der Geist des
Widerspruchs nicht nur eine notwendige Folge, sondern öfters auch eine heilsame
Stütze der Freiheit und des allgemeinen Wohlstandes 10'. Scheidemantel, die „Deutsche
Enzyklopädie" von 1778 und Adelung stellten die Anarchie erstmals als Gesell-
schaftsformation in den Vordergrund. Zwar erstrebten sie, ähnlich wie die englischen
Utilitaristen sowie Klügel und Justi, immer noch das Ideal der gemeinschaftlichen
Glückseligkeit106. 'Anarchie' war jetzt jedoch - ähnlich wie bei B0Drn1os - eine
dem Staat entgegengesetzte Sache, so wie sich die gleiche und ungleiche Gesellschaft
voneinander unterscheiden1 07. Vorstaatliche und staatliche Gesellschaft standen

los Ebd.
108 JACOB BENIGNUS ßossuET, Einleitung in die Geschichte der Welt und der Religion,
fortgesetzt v. Joa. ANDREAS CRAMER„2. Aufl., Bd. 3 (Leipzig 1761), 211.
1 °' MosEs MENDELSSOHN, Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften,

Ges. Sehr., Bd. 2 (1843), 31. Vgl. auch den Zusatz WIELANDS zu: Die Regierungs-
kunst oder Unterricht eines alten Persischen Monarchen an seinen Sohn. Ne.eh dem
Englischen, Der Teutsche Merkur 2 (1773), 167 ff., bes. 177: Ea i8t wohl wahr, d,aß ohne
Freiheit phi"°8ophieren noch ein wenig achlimmer iat ala gar nicht phi"°8ophieren.
1o5 SCHEIDEMA.NTEL Bd. 1 (1782), 138.
1 oe BonIN, Methodus, 158 (s. Anm. 45).

107 ScHEIDEMA.NTEL Bd.1,138 Diese Unterscheidung geht offenbar aufDARIES zurück, der die

societa.s aequa.lis als anarchia definierte, die erst durch Einführung des imperium, ähnlich
wie bei Bodin, zur societe.s ine.equalis wird; zit. ÜTTO v. GIERKE, Johannes Althusius und
die Entwicklungdernaturrechtlichen Staatstheorien (1880; Ndr. Aalen 1968), 104, Anm. 76.

67
Anarehie D. 9. Erste Anklänge eines positiven Bedeutongsgehalts

sich wie Anarchie und Staat gegenüber. Mehrere Familien bildeten - wie bei
Bodin - zunächst eine 'Anarchie' genannte Gesellschaft: Anarchie ist der Name
einer sokhen Gesellschaft, die mehrere Familien errichten, sich einander gegenseitig zu
verteidigen, ohne einen gemeinschaftlichen Oberherrn anzunehmen108. ADELUNG
artikulierte den Gegensatz von Staat und Gesellschaft noch stärker, als er definierte,
Anarchie sei derjenige Zustand einer bürgerlichen Gesellschaft, nach wekhem sie kein
gemeinschaftUches Oberhaupt hat, und eine sokhe bürgerliche Gesellschaft selbst, im
Gegensatze des Staates im engeren Verstande 109• Obwohl Adelung Anarchie noch als
Zustand bezeichnet, kann der Bewegungscharakter, das allmähliche Eintauchen des
Begriffs in die historische Zeit, nicht übersehen werden. Sozialgeschichtlich ist dies
als Verweltlichung des christlichen Bruderschaftsdenkens, und dessen Übertragung
auf Bünde, Sekten und genossenschaftliche Vereinsformen zu interpretieren.
Entsprechend wurde 'Anarchie' als positive Urform von Gemeinschaft und
Gesellschaft gesehen: Dergleichen Anarchien gab es häufig in den ersten Zeiten nach
der Sündflut, und hieraus sind nach und nach Republiken und Staaten erwachsen110•
JusTI hob den positiven Zustand der Anarchie hervor unter Berufung u. a.
auf die Bibel: Als man nach der Zeit schon ein Eige11,tum ei11,gefüliret wnd Gesell-
schaften gemacht hatte, so ist in vielen Ländern diese eigene Herrschaft über sich selbst
geblieben, und niemand ist im Stande gewesen, dem andern Befekle zu geben, a'llßer
was sich der Hausvater vor Recht und Befehle über seine Kinder und Familie ange-
maßet hat. Man hat Zeugnisse der alten Schriftsteller, daß dergleichen Anarchien lange
Zeit in der Welt gedauert haben, und selbst die Bibel gibt uns Zeugnis, daß die Israeliten
verschiedene Mal in einer sokhen Anarchie gelebet haben111• SCHEIDEMANTEL· sah
ebenfalls die historische Dimension. Die Geschichte gebe den niichsten Grad zur
Staatsverfassung, weil die Oberhäupter der Familien die Notwendigkeit eines gemein-
schaftlichen Zwangsregiments einsehen und mit Willen OOet- aus Zwang die Anarchie
nach und nach in Republik OOet- wohl gar Monarchie verwandeln. Jedoch nicht nur in
der prähistorischen Urzeit war Anarchie die erste Form, in der sich Menschen
zusammenfanden, sondern auch die alten Deutschen hatten in Friedenszei-
ten ein anarchisches Bündnis unter sich112• Eine Verbindung zwischen 'Anarchie'
als Verfassungsbegrifi und 'Anarchie' als soziologischer, auf Fainilie, Gemeinschaft
und Gesellschaft bezogener Kategorie nahm BROCKHAUS' „Conversations-Lexikon"
von 1814 vor. 'Anarchie' wurde definiert als ein Volksverein ohne gemeinschaftliche
Regierungs/orm113 - und dainit ohne Autorität, Hierarchie und Gewalt. Erst in
der Erläuterung zu dieser Definition wurde 'Anarchie' dann als Zustand der Unord-
nung und Auflösung charakterisiert.

1os Dt. Enc., Bd. 1 (1778), 465.


109 ADELUNG 2. Auß., Bd. 1 (1793), 267.
110 Dt. Enc., Bd. 1, 465.
111 JusTI, Ob ein Premierminister einem Staate zuträglich sei, Ges. Polit. u. Finanzschr.,

Bd. l (1761), 236 f.


1 1ll ScHEIDEMANTEL Bd. 1, 138.
118 BROCKHAUS 2. Auß., Bd. 1 (1814), 190.

68
II. 10. RotteckJWeleker Anarchie

10. RotteckfWelcker

Die Ausprägungen des Anarchiebegriffs im 18. Jahrhundert werden politisch


überlagert durch die Französische Revolution, die in ihrem Verlauf neue Realitäten
schuf, welche gerade auf den Begriff der Anarchie stark einwirken.
Rotteck und Welcker versuchten, den historisch abgerissenen Faden wieder zu
knüpfen, indem sie den Begriff der Anarchie aus der aktuellen Tagespolemik heraus-
lösten. Sie stellten damit auch die durch die Französische Revolution unterbrochene
Verbindung zum 18. Jahrhundert wieder her. Gerade RoTrECKS Artikel „Anarchie"
von 1819 und 1834114 enthalten zahlreiche direkte und indirekte Hinweise auf das
18. Jahrhundert. Zugleich gibt der durch Rotteck vermittelte Blick aus dem 19. in
das 18. Jahrhundert erste Aufschlüsse darüber, wie die Geschichte des Begriffs
'Anarchie' weiter verlaufen ist, welche Bedeutungen aufgenommen und weiter-
entwickelt und welche neu hinzugekommen sind.
Rotteck nahm das Anarchie-Despotie-Modell auf und entschied in rationalistisch-
liberaler, in gewissem Sinn für das frühe 19. Jahrhundert typischer Stoßrichtung:
Anarchie sei weit weniger grauenvoll und weit weniger trostlos als die Despotie ...
Auch ist sie naturgemäß weit weniger da'Uef'nd ... ; denn sie besteht in dem ungeregelten
Kampf vieler vereinzelter Kräfte ... Die Anarchie ... wird nicht leicht ein chronisches
Übel, sondern findet ihre Heilung gewöhnlich baU in den aus ihr selbst heroorgehenden
Antrieben und Kräften der Widerstrebung 115•
Das Mittelalter wurde von Rotteck und auch von Welcker ausdrücklich und beinahe
mit Erbitterung aus dieser allgemeinen Bestimmung der Anarchie ausgeklammert.
Der Begriff 'Feudalanarchie' klingt an: Freilich gibt es auch Ausnahmen ... , und
eine der auffallendsten wie der kläglichsten ist die fast das ganze Mittelalter hindurch
vorherrschend gebliebene,Lehens- und Faustrechtsanarchie 116• Demgemäß wurde der
spezielle Begriff Anarchie des Mittelalters 117 verwendet und die Kritik des mittel-
alterlichen Feudalsystems mit Heftigkeit geführt: Wer haJJ,,e denn die Millionen
freier Eigentümer in Leibeigentum und Gutsherrschaft gestürzt, wer anders als eben
die faustrechaiche Anarchie und Despotie des Feudalismus? 118 • Andererseits wurde
der Feudalismus bzw. das mit ihm eng verbundene Allodialsystem von Rotteck
keineswegs gänzlich abgelehnt. Er prangerte zwar Sklaverei, Unterdrückung und
die anarchische Zerreißung des Vaterlandes als negative Kennzeichen von Allodium
und Feudum an, hob aber auch hervor: Das Allodialsystem, welches frilher natur-
gemäß ohne Adelstand war und jetzt den dem Feudalsystem reichlichst entsprossenen
Feudaladel staatsbürgerlich umgestaltet, bildet auf seiner vaterliil11ilisohen, freien
demokratischen Grundlage zunächst die Idee des Vaterlandes, der patriotischen Einheit
und der gleichen staatsbürgerlichen Würde und Freiheit aus. Die besonderen aristo-

m Der Artikel „Anarchie" wurde unverändert in die 2. und 3. Auflage (Bd. 1, 1845 u.
1856) des „Staats-Lexikons" von RoTTECK/WELCKER übernommen.
110 RoTTECK, Art. Anarchie, RoTTECK/WELCKER Bd. 1 (1834), 548.
116 Ebd.

m WELCKER, Art; Alodium und Feudum, RoTTECKjWELCKER 3. Aufl., Bd. 1 (1856), 446.
Im ebenfalls von Welcker verfaßten Art. „Mittelalter" wird 'Anarchie' nicht verwandt.
llB WELCKER, Art. Alodium und Feudum, 447.

69
Anarehle II. 10. Rotteek/Weleker

kratischen Schutz- und Treuverbindungen des Feudalsystems und des mit i.hm ver-
bundenen Rittertums entwickelten vorzugsweise die höchste persönliche Treue, Ehre
und feine Sitte118• Die im 18. Jahrhundert in Deut.achland eher verstreuten Tenden-
zen, die in der Anwendung des Begriffs 'Anarchie' auf das Mittelalter gelegen haben,
wurden damit bei Rotteck/Welcker zusammengefaßt120• Wesentlich ist, daß diese
'Anarchie' aus. ihrer generellen Definition herausgenommen wurde. Dies deutet
darauf hin, daß die im Begriff 'Feudalanarchie' bzw. 'Anarchie' des Mittelalters
enthaltenen Inhalte so speziell waren, daß sie in der historisch späteren Ausprägung
des Begriffs 'Anarchie' nicht weitergegeben wurden.
In seiner expliziten Auseinandersetzung mit Anarchieauffassungen des 18. Jahr-
hundert.a konzentrierte sich Rotteck auf die Frage, wie Anarchie in ihrem Verhältnis
zur Gesellschaft, und damit zum Staat, zu bestimmen sei. Er lehnte ausdrücklich
Anarchie als außer- und als zwischenstaatlichen Zustand ab und ließ ferner auch die
Diskussion iiher die Abfolge und da1;1 Verhältnis der Herrschaft.aformen zueinander,
die im 17. und 18. Jahrhundert von großer Bedeutung war, hinter sich. Anarchiß,-
wenn man ihre Bedeutung nicht allzuweit ausdehnen und dadurch eine Begriff.~­
verwirrung herv<>'f'bringen will, ist bloß ein Gebrechen oder eine Krankheit eines dem
Recht oder der Natur nach als gesellschaftlich gedachten Zustandes121 • Gleichermaßen
wendete er sich sowohl gegen die positive Anwendung des Anarchiebegriffs aUf die
Gesellschaft oder die kleinen G:emeinschaften (Bund, Sekte, Bürgergesellschaft,
Verein) als auch gegen die negative Ausklammerung und Verteufelung der Anarchie
vom Standpunkt der „Ordnung" aus, wie sie sich bei einigen Autoren des 18. Jahr-
hunderts herauszubilden begannen und im Zusammenhang mit der Französischen
Revolution dann ihren Höhepunkt gefunden haben. Die Ablehnung der Anarchie
als außergesellschaftlichem bzw. -staatlichem Zustand ist nicht nur in Rottecks
politischer Theorie begründet, sondern auch in dem Bemühen um eine Ent.achärfung
des gegnerischen politischen Vokabulars. Denn mit der Festlegung des Bedeutungs-
gehalt.a der Anarchie auf nicht.staatliche Zustände wurde ein großer Schritt vor-
wärts in die Richtung der Ideologisierung und einer mit ihr einhergehenden
Polarisierung des Begriffs'Anarchie' zur bestehenden Ordnung von 1815 getan.Wenn
Anarchie als „Krankheit" (die wichtigste Definition Rottecks) bestimmt wird, ist
die Möglichkeit des Heilens, des Aufhebens von Anarchie mitgedacht, während die
Definition der Anarchie als außergesellschaftlichem (= nicht.staatlichem) Zustand
die Kluft zwischen bestehender „Ordnung" und revolutionärer „Unordnung"
aufreißt. Für Rotteck ist 'Anarchie' stillschweigend nioht ein Gegenbegriff zu jeder
beliebigen, etwa der damaligen staatlichen, Ordnung, sondern zum Reoht.a-
staat. Wer diesen verhindert, fördert letztlich Parteikämpfe um Herrschaft und
damit Anarchie. Die Auffaesung Rottecks eröffnete weitere Perspektiven. Der
klaesische Topos der Herrenlosigkeit bzw. des Fehlens eines Herrschers (Herr-
schaft.alosigkeit) wurde differenziert: Anarchie ist der Zustand der bürgerlichen

119 Ebd., 451.

uo Noch 1852 bei GusTAv DIBzEL, Deutschland und die abendländische Civilisation
(Stuttgart 1852), 184 sind .Anklänge an den Begriff 'Feudalanarchie' zu finden, wenn er
davon spricht, daß die deutschen Fürsten ihre Freiheit in 1ehr ungeordneter, anarchilcker
Weile auffaßten.
111 ROTTECK, Art . .Anarchie, RoTTECK/WELCKD Bd. 1 (1834), 546.

70
ll. 10. Rotteek/Welcker Anarehie

Gesellschaft, worin keine geregelte, als rechtmäßig erscheinende oder wenigstens einige
Bürgschaft der Dauer gebende Gewalt besteht oder wirksam ist122 • Rotteck unterschied
mehrere Möglichkeiten der Anarchie: Gesellschaften, in denen keine positive, jedoch
natürliche Gewalt besteht, und solche, in denen 4ie natürliche Gewalt zwar noch
nicht hervorgetreten, jedoch angelegt ist: Es ist hiernach auch unnötig, den BegriO
der Anarchie zu beschränken auf das Ermangeln oder auf di,e Unwirksamkeit einer
positiv eingesetzten Gewalt: wiewohl freilwh historisch die rein natürlwhe Gesellschafts-
gewalt sehr wenig vorkommt, sondern fast überall da, wo ein wirklWher Staatsverband
oder bürgerlicher Verein in die Erscheinung triU, auch schon eine positiv - sei es durch
förmliches Gesetz, sei es durch b'loße SiUe oder Gewohnheit - angeordnete Gewalt
vorkommt. Übrigens mögen wir in unsern Begriff der Anarchie wohl auch den Zustand
aufnehmen, wo unter einem durch die Natur (namentlich durch Verwandtschafts- oder
naohbarliclte usw. Verhältnisse) verbundenen oder zur Verbindung angetriebenen
Volke noch keine gemeinsame, also weder natürlwhe noch positive Autorität anerkannt
wird123 • Diese Form der Anarchie wurde als der guten Ordnung des Gemeinwesens
vorangehendl24. bestimmt, und in dem Artikel von 1819 fügte Rotteck ausdrücklich
hinzu: . . . sie ist kein widerrechtlwher Zustand 126• Dem stehe gegenüber 'Anarchie'
als später eingetretene Verderbnis oder Krankheit, als nachfolgender Zustand128 , Auf
sie, die in der überwiegenden Zahl der Fälle widerrechtliche Anarchie sei (jedoch
nicht zu sein brauche) 197, richtete Rotteck sein Hauptaugenmerk: Von praktischem
Interesse sind uns ... die Fragen: welches sind in der Regel die Ursaohen der Anarchie,
und welches sind die den meisten Er/olg verheißenden MiUel zu ihrer Aufhebung ?128 •
Von Rottecke Bestimmung der vorangehenden und der nachfolgenden Anarchie
aus ist also ebenfalls eine Verbindungslinie zum geschichtephilosophiechen und
historischen Verständnis des 18. JahrbunderlA zu ziehen. Situationsgebunden sind
dagegen die Merkmale seiner Anarchiedefinition, die auf' Anarchie' als gegnerischen
Parteibegriff verweisen. Rotteck warnte eindringlich vor der manipulativen
Benutzung des Anarchiebegriffs im politischen Tageskampf: In der neuesten Zeit iat
nwhl selten eine ganz maß'loae Furcht vor dem, mit Anarchie verwechselten, Wehen
des nach· Staatsverbesserung strebenden Zeitgeistes das Motiv oder auch die angeblicke
Gefahr des Einbrechens solcher Anarchie der Beschönigungsgrund von Maßregeln
gewesen, welche gerade, wenn nwht eine unverwüatlwhe Liebe zur Gesetzlichkeit und
Ordnung die edleren Völker erfüllte, jenes Unkeil, welchem die steuern sollten, käuen
l&er1J<wrofen können 1111• Was waren nun die einzelnen Bedeutungsverschiebungen, die
die Umbruchszeit von 1800 hervorgerufen hat und auf die Rotteck und Welcker
bereite reagiert hatten 1

111 Ebd.
118 Ebd., 547.
tKEbd.
125 RoTTECK, Art. Anarchie, EBSCH/GBUBER I. Sect., Bd. 3 (1819), 468.

Ull ROTTECX, Art. Anarchie, ROTTECX/WELCKEB Bd. l (1834), 547.


117 ROTTEcx, Art. .Anarchie, EBSCH/GBUBEB 1. Sect., Bd. 3, 468 f.
m RoowrEcx, Art. Anarchie; RoTTECX/WELOUB Bd. 1 (1834), 547.
119 Ebd., 550.

71
Anarchie m.1. Historisieruag, ldeologisienmg, Politisierung l.789-1830

m.
1. Historisierung, Ideologisierung und Politisierung 1789-1830

Der bereits vor der Französischen Revolution in Gang gesetzte Prozeß der Histori-
sierung d~ Anarchiebegriffs strebte in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts
einem Höhepunkt entgegen,· freilich von verschiedenen Ausgangspunkten aus. Die
Historisierung ~de jetzt zur politisch-ideologischen Dynamisierung. In diesem
Zusammenhang muß die Französische Revolution und die Reaktion auf sie in
Frankreich und Deutschland an erster Stelle genannt werden. Wichtig ist jedoch
auch die englische Tradition von Milton über. Locke, Bolingbroke, Biirke, Paine
bis hin zu Godwin. Beide Traditionsströme, der französische und der englische,
haben auf das Anarchieverständnis in Deutschland um die Jahrhundertwende und
weiter, besonders im frühen 19. Jahrhundert, eingewirkt. Anarchie war immer
weniger „Zwischenzeit", „Zustand" - obwohl der Begriff diese Bedeutung weiter
mitträgt. Der aus Aristoteles abgeleitete und der Montesquieusche Verfassungs-
begriff zerfielen. 'Anarchie' wurde jetzt auch zum glücklichen Ort der Freiheit in
der „natural society" und damit zum Parteibegriff, zur ideologisch-politischen
Waffe, zum Kampfbegriff. So ist 'Anarchie' bei Friedrich Schlegel, Wieland, Görres
und Arndt bis hin zu Proudhon, dem jungen Bakunin und Moses Hess Normal-
zustand, Endziel oder glückliche Frühzeit einer geschichtlichen Bewegung.
Mit der unmittelbaren Politisierung der Anarchie in geschichtsphilosophischer
Perspektive trat auch die Neuprägung 'Anarchist' zunächst in Frankreich, dann in
Deutschland hervor. Im politischen Tageskampf bezeichneten sich die verschiede-
nen politischen und sozialen Gruppen gegenseitig als „Anarchisten". So wurden
nach 1800, nach dem Verblassen der Tageskämpfe der neunziger Jahre, von Konser-
vativen und Liberalkonservativen, jedoch auch von den späteren Kommunisten
mehr und mehr jene Outsider, jene sozial-marginalen Gruppen genannt, die nicht
durch Status und ·Prestige im Boden der bürgerlichen Gesellschaft verwachsen
waren. Gleichermaßen beginnt der Begriff 'Anarchist' die Funktion der Selbst-
verständigung für diese sozialen Outsidergruppen zu übernehmen.
Ebenfalls neu und in den Kämpfen der Französischen Revolution ausgebildet ist
der Ausdruck 'anarchiser'. MIBABEAU gebrauchte dieses Wort erstmals 1790 und
zwar warnend, als er vor der Nationalversammlung begründete, daß ein Gesetz,
welches die Emigranten aufforderte, Frankreich im Falle der Gefahr zu unter-
stützen, verfassungswidrig sei: La loi S'IJ.r 'les emigrations est, je vous k repeu, une
chose hors de votre puissance, parce qu'elk est impraticable; et qu'il est hors de votre
SO{Jesse de faire une loi qu'il est impossible de faire eUcuter, mime en anarchisant
toutes 'les parties de l'empire. n est prouve par l'experience de tous 'les temps, qu'avec
l'execution la plus despotique, la plus concentree dans 'les mains des Busiris, une
. pareille loi n'a jamais eu executee, parce qu'elle est inezicutable130.
Im Zuge der sozialen Differenzierung im frühen 19. Jahrhundert und der Dynami-
sierung des Anarchiebegriffs sind sowohl eine Bedeutungserweiterung wie .eine
Bedeutungspolarisierung und eine Bedeutungsverschiebung zu verzeichnen. Die

iao H. G. DE Miiu.BEAU, Collection complette 4es travaux, ed. Etienne Mejan, t. 5 (Paris
1792), 402 f. Weitere Belege bei BRUNOT t. 9 (1937), 828, Anm. 2; vgl. FREY (1925), 153.

72
m. 2. Notwendiger Zwischenzustand und positives Endziel Anarchie

tradierten Denkfiguren und Topoi werden verändert. Die Relationen von Anarchie
und Despotie/Despotismus und Anarchie und Tyrannis erhalten sich zwar einerseits,
weisen jedoch andererseits, durch die Erfahrungen der Revolution bedingt, eine
Reihe neuer Momente auf. Auch der Topos: Demokratie. erzeugt Anarchie erhält
neue Nuancen. Anarchie steht nun vor allem im Kontext mit 'desordre', 'revo-.
lution', 'insurrection' 1a1.
Neue Kombinationen und plastische Verbindungen treten im unmittelbaren
Zusammenhang mit der Revolution und in den auf sie folgenden Jahrzehnten in
Fülle hervor1a 2 • Im konservativen Lager wurde 'Anarchie' schnell, schon anfangs
der neunziger Jahre, zum Abwehrbegriff, jedoch in verschieden starker Konkretion
und Stoßrichtung. Der konservative Gegenbegriff zu 'Anarchie' war 'Ordnung'
('ordre'), bisweilen auch 'Gesetz und Ordnung'. Trotz ihres vagen Inhalts besaßen
jedoch 'ordre' wie 'desordre' eine außerordentliche Expressivität, da das ethische
mit dem politischen Moment verbunden wurde.
Schließlich wurde 'Anarchie' auf zahlreiche Begriffsfelder übertragen, die jenseits
von Verfassung, Staat und Herrschaft liegen: Philosophie, Wissenschaft, Religion,
Kunst und Literatur, Ökonomie.

2. Notwendiger Zwischenzustand und positives Endziel

Schon früh waren in Frankreich nach Reginn der Revolution Stimmen laut gewor-
den, die den späteren Verlauf der Revolution verhindern wollten. Als einer der
ersten warnte VAUBLAN0 133 im Frühjahr 1792 vor Anarchie: Ich fürchte nichts als
die Anarchie ... Ich fürchte weder die Gegenrevolution noch den Krieg. Die Frank-
reiche.r müßten da.~ tierächtlichste Volk auf dem Erdboden sein, wenn sie nicht

181 Dies gilt nicht erst für die Zeit ab 1869, für die es JEAN DuBOIS, Levocabulairepolitique
et social en Fra.nce de 1869 a 1872 (Paris 1962), 66 ff. belegt.
182 Neben allgemein gebräuchlichen Zusammensetzungen wie „.Anarchie und Unordnung",

„Anarchie und Zerrüttung" stehen etwa: „.Anarchie und Brotmangel" (CAMPE 1789);
„temps de trouble et d'anarchie", „ecole d'a.narchie", „a.narchie des pouvoirs" (Pamphlet
1791); „Freiheit durch .Anarchie zernichten" („Minerva" 1791); „anarchisches Rauben
und Morden" (KERSAINT 1792); „I'hydre de I'a.narchie" (VAUBLANC 1792); „a.narchie et
la terreur" („Courrier Republicain" 1795); „Greuel der Anarchie" (WIELAND 1795, ebenso
Schiller); „wahrhafte .Anarchie", „Zm1La.nd religiöser .Anarchie" (NovALIS 1799); „völlige
Anarchie", „politische .Aha.rchie", „verderbliche .Anarchie" (KRuG 1800 bzw. 1802);
„Anarchie und Bürgerkrieg" (Sem.EGEL 1805-1806); ,,.Anu.rohie der Grundherren"
(C. J. KB.Aus 1808); „Parteisucht und Anarchie" (GoETHE 1810 im Zusammenhang mit
„Selbstsucht und Tyrannei"); „große deutsche Anarchie" {ARNDT 1815); „gründliche
.Anarchie" (SCHLEGEL 1820-1823); „anarchie turbulente" (DE TRACY 1823); „.Anarchie
des Pöbels" (RixNER 1823); „.Anarchie des Begriffs", „Sinn und Geist der Anarchie",
„Hang zu einer unruhigen Freiheit und .Anarchie" (bei den Griechen), „wilde Volks-
.Anarchie", „unruhige Freiheit und Anarchie", „Anarchie von w1ten, .Anarchie von oben"
(Scm.EGEr, 1827); „gesetzlose .Anarchie" (GUTZKOW 1839); „anarchie industrielle'' (PRouD-
XON 1840); „Produktionsanarchie" (SCHULZ 1843); „.Anarchie des Liberalismus", „Anarchie
des Terrorismus", „.Anarchie der materiellen Interessen" (HESS 1843); „geordnete
.Anarchie" (RUGE 1849).
188 Vincent-Ma.rie Comte de Vaublanc-Viennot (1756---1845), 1791 in den Reihen der

Konstitutionellen, Gegner der Gironde, später begeisterter .Anhänger Napoleons.

73
Anarchie m. 2. Notwendiger Zwischenzmtand - · poeitives Endziel
triumphierten. Was ich fürchte, ist die Auflösung des Staats, die Anarchie, die bereits
ihr schreckliches Haupt emporhebt. Das Heil van Frankreich ist in euren Händen.
Erklärt euch, daß ihr die konstituierten Mächte respektiert wissen wollt, daß ihr jede
Verletzung der Konstitution mit der äußersten Schärfe rügen werdet und daß ihr, um
sie zur Vollziehung zu· bringen, die Minister eben so gewiß schützen als si,e bestt afen
werdet, wenn si,e sich von ihr entfernen134• Solchen Äußerungen gegenüber ist bereits·
im Jahre 1792 die Anarchie verteidigt worden. So behauptete J. DELAUNAY am
2. Oktober 1792 im Nationalkonvent: Ohne Zweifel war ein Augenblick von Anarchie
nötig, um den Untergang unserer Feinde zu vollenden 136• Im Zuge der Verzeitlichung
und Ideologisierung der Anarchie tritt dann eine Häufung der positiven Bedeutun-
gen von 'Anarchie' auf. So wies etwa der Arzt RENE LEVASSEUR, Mitglied des
Konvents, der zur Montagne hielt1 38, in seinen Erinnerungen ·darauf bin, daß das
letzte Mittel der Rettung nach dem Tuileriensturm (10. 8. 1792) darin bestanden
habe, sich jener Hilfsquellen zu bedienen, welche die AnarohiA hot. Die Anarchie
sei zur ,,bewegenden Kraft" geworden, zur anarchie nicessaire, zur „Waffe": Die
Anarchie allein gewann die Schlachten, verjagte den Feind von unsuem Bod.en, ebnete
ikr RP.p?1.hlt:lr. d.P.n W eg1 31 .
'Anarchie' und 'Anarchist' wurden jetzt (1795) auch von jenen Revolutionären, die
von ihren Gegnern zur gleichen Zeit als „Anarchisten" angeprangert wurden, auf
den revolutionierten Staat angewandt: Den Volkstribunen Gracchus (Babeuf) ver-
setae der Anblick dieser anarchischen Zustände in zornige Empörung 188• Die Anwen-
dung des Begriffs 'Anarchie' auf die politischen Gegner ist also nicht nur auf Seiten
der Konservativen zu finden. Allerdings geht mit der Handhabung des Begriffs auf
der „Linken" die Reflexion seiner Verwendung im pohtischen Raum unmittelbar
einher.Ich weiß, schreibt BuoNARROTI später, daß schon der Wunsch, ohne Parteilich-
keit das zu prüfen, wo4! zu kennen in unserem Interesse liegt, Anarchie, Rebellion
genannt werden wird, die Lieblingsausdrücke des Hofes vor und nach 1789, von
Lafayette, von Dumouriez, des Senates von Venedig, des Papstes und des Gt-oßtürken,
welche allein bedeuten, daß die Besitzer der Macht sich in dieser um. jeden Preis

"'VAUBLANC, zit. WIELAND, Das Versprechen der Sicherheit, Freiheit und Gleichheit
(2. 4. 1792), SW Bd. 31 (1857), 179. Vgl. auch den Redeauszug, den JoH. WILHELM v .
.ARollENHOLZ, Historische Nachrichten vom neuem Frankreich, Minerva 2 (1792), 376 ff.
mitteilt. Ähnlich KERBAINT, der ebenfalls schon 1792 vor dem Konvent verlangte, dem
anarchischen .Rauben und M<mlen ein Ende zu machen; zit. WIELAND, Die französische
Republik (1792), AA 1. Abt., Bd.. 15 (1930), 122 A.
186 DELAUNAY, Rede v. 2. 10. 1792, zit. WIELAND, Franz. Republik, 556.
131 Levasaeur war zweimal vom Comite de Salut Public zum Kommissar gewählt und mit
umfassenden Vollmachten ausgestattet worden; vgl. PAUL K.i.GI, Genesis des historischen
Materialismus (Wien, Frankfurt, Zürich 1965), 186 ff,
187 LEVASSEUR, Memoires (1829/31), zit. K.i.G1, Genesis, 188.

131 FBAN90m..NoiiL BABEUF, Brief an Germain vom 10. Thermidor des Jahres 3 (28. Juli
1795), Auag. Sehr., hg. v. G. u. C. Wn.LARn (&rlin 1956), 111. Gemeint i1t die duroh die
Revolution bedingte Notlage der Arbeiter, der „wahren Produzenten". In seiner histori-
schen Detrachtung dtll" Haltung Babeufa spricht .ALFB:mn EsPINAS, La pbiloaophie aociaie
du XVIIIe sioole et la ;Revolution (Paris 1898), 210 von Babeuf als einem „type particulier
du revolutionaire professionel", der 1789 „de plus en plus .•• a l'anarchie et a la dic-
tature" gelangt sei.

74:
ill. 2. Notwendiger ZwiseheDZDStand und positives Endziel Anarchie

behaupten woUen139 • Die positive Bewertung der Anarchie und die Verwendung des
Begriffs im politischen Tageskampf hängen eng miteinander zusammen. 'Anarchie'
war auf Seiten der „Linken" Rnwohl :Rewegungsbegri:li, die Geschichte vorwärts-
treibend, Verfestigungen zerstörend, gleichermaßen aber auch Kampfbegriff. Indem
man die Waffen des Gegners übernahm, hoffte man, ihn um so wirkungsvoller zu
treffen.
Diese Denkfigur hält sich in sich ständig wiederholender Form bis 1830 und 184:8,
ja sie ist lebendig bis in die unmittelbare Gegenwart des 20. Jahrhunderts hinein.
In Deutschland hatte zuerst WmLAND den „Zwischenzustand", den Levasseur und
Delaunay meinten, interpretiert: So ist nur zu sehr zu besorgen, daß die Anarchie
(deren 'Namen die Feinde der neuen Konstitution, mit handgreiflichem Mißbrauch
desselben, dem momentanen Zustande des Übergangs aus dem politischen Todeskampf
in ein neues Leben beil,egen), daß, sage ich, die Anarchie, mit allen ihren Abscheulich-
laliten wirklich eintreten ... würdeu0 • Wieland konnte, als vorsichtiger Beobachter,
der er im Unterschied etwa zu Forster und Görres geblieben war, seine Zwiespältig-
keit der Anarchie gegenüber nicht verbergen141• Unter dem Eindruck der Fran-
zösischen Revolution hat in Deutschland vor allem der junge FICHTE das Bild der
Freiheit eines „staatslosen" Zustandes immer wieder beschworen - ohne allerdings
den Begriff 'Anarchie' zu verwenden: Bloß dadurch also, daß wir selbst es uns auf-
legen, wird ein positives Gosctz verbindlich für uns . ... Aber, iior all.en D1:ng1m., un:e
komm• denn der Staat zu einem Rechte. das keiner von den einzelnen Mitgliedern h.at,
aus denen· er besteht?IH.
Die wichtigste Rolle in der Rezeption der positiven Bedeutung von 'Anarchie' in
Deutschland spielten Johann Georg Forster und der junge Görres. FoRS~R hatte
schon 1790 die Anarchie positiv vom Despotismus abgehoben: Es liR,gt ,,chon in der
Natur der Sache, daß die Folgen der Anarchie, wie schwarz dieMialingedesDespotis-
mus sie auch schildern mögen, nur Kinderspiele sind gegen die Schandtaten beleidigter
Sklaventreibef' 143• GöRRES hatte sich 1797 mit den Mitgliedern des Klubs der

139 Fn.IPPO MIOHELE BuoNABROTI, Babeufund die Verschwörung für die Gleichheit (1828),
dt. v. Anna u. Wilhelm Blos (Stuttgart 1908), 315. Ähnlich Edinburgh Rev. 17 (1819),
427: Anarchy ia one of the moat vague and ambiguoua worda in language. lt meana, in the
way in which it ia U8ed by the friends of dupotiam, the utter diaaoluti.<m of all govemment,
and also every intermediate at.age o/ government between that and absolute power. They paint
as strongly aa possihle, and it ia impossibk they can paint too strongly, the evilB to which the
diasolution of government givu birtk. Thia they caU anarchy.
uo WIELAND, Unparteyische Betrachtungen über die dermalige Staats.Revolution in
Frankreich (1790), AA 1. Abt., Bd. 15 (1930), 346.
m ln einer Anmerkung zu dem mitgeteilten Auszug aus der Rede Delaunays (s. Anm. 135)
fügt er etwa. hfuzu: Gutehen wir ehrlich, daß ein Augenblick von vier Jahren ein langer
Augenblick ist/ Koskull datiert die Wendung in Wielands Stellung zur Französischen
1 Revolution auf Anfang 1791 mit dem im Januar erschienenen Aufsatz „Ausführliche Dar-
stellung der in der fro.nzösisohen Na.tionalveraammfong am 26. und 27. November 1790
vorgefallenen Debatten" (AA 1. Abt., Bd. 15, 655 ff.); HARALD v. KosKULL, Wielands
Aufsätze über die französische Revolution (phil. Diss. München; Riga. 1901), 39 ff.
1'll FICHTE, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische
Revolution (1793), AA 1. Abt., Bd. 1 (1964), 237. 268.
u 3 GEORG FORSTER, Ansichten vom Niederrhein (1790), Sä.mtl. Sehr., Bd. 3 (1843), 267.

75
Anarchie m. 2. Notwendiger Zwisehenzustand und positives Endziel
„Freunde der Freiheit" und den Mainzer Klubisten um Forster für eine eigene
cm.rhenanische Republik eingesetzt und seinen publizistischen Kampf gegen
„Despotismus" und „Aristokratismus" vor allem in der Zeitschrift „Das Rothe
Blatt" geführt. Besonders eine Reise nach Paris enttäuschte ihn dann tief und
führte zur Abkehr von den frühen Gedanken. In den Jahren 1796 bis 1799 war er
jedoch stark von der zunächst (1784---1787) von LudwigWekhrlin und später von
Georg Friedrich Rebmann herausgegebenen Zeitschrift „Das graue Ungeheuer"
beeinfiußt1" . In seiner für das Anarchieproblem wichtigsten Schrift aus dem Jahre
1797 „Der allgemeine Frieden, ein Ideal" finden sich neben den Einflüssen Kants
und Fichtes auch Gedanken von Herder und Condorcet. Gegen Kant gerichtet
behauptete Görres, daß Demokratie ihrem Wesen nach nicht Despotismus sein
müsse: Demokratie verhiilt sich vielmehr zur Despotie wie jede menschliche Autokratie
:zur hyporphyaiaohtm Theokratie. Es mag sein, daß die&e Verfassung um le-ü:htesten in
Anarchie sioh auflöst, den meisten inneren Stürmen ausgesetzt ist, dem Parteigeist den
freiesten Spielraum verschafft, für das gegenwärtige, alle vorhergegangene und noch
manche kommende Menschenges~hlechter schlechterdings gar nicht paßt, so sind das
alles doch nur lnkonvenienzen, die nicht der Form, sondern nur der Materie, der
dieselbe angepaßt werden soll, aufgebürdet werden müssen145• Die Demokratie ist die
Gesellschaftsform für voll ausgebil.dete Menschen; deren Steigerungsform, die
Anarchie, !ltellt GörrP.11 als Ge.se.llschafts- und Lebenaform für Gottheiten do,rlH, und
im „Rothen Blatt" hat er ein Jahr später die Anarchie als die vollendete Regie-
rungsform definiert: Wenn der Übergang aus dem Stande der Barbarei in den der
Gesellschaft der erste Schrill zu dieser Kultur ist: so ist der Übergang aus der des-.
potischen Regierungsform in die f'epräsentative der zweite; der Übergang von dieser in
die rein demokratische der driUe, t1ind i/.e.r mts dieser in die Anarchie endlich d.er
letzte 147• Resignierend fügte er allerdings hinzu: Ich glaube, daß die Periode der
Anarchie in ihrem ganzen Umfange, d. h. die Zeit, wo die Menschen keine Regierungs-
form haben, weil sie keine bedürfen, in der endlichen Zeit nicht eintreten wird 148• Eine
Vorwegnahme des Denkens von Comte ist in Görres' historischer Stufenlehre der
Herrschaftsformen nicht zu übersehen. 'Anarchie' wird hier im wörtlichen Sinne als
Herrschaftslosigkeit, die die Menschen gleichsam in asymptotischer Kurve zu
erreichen verpflichtet seien, verstanden. Die Aufhebung der Herrschaft von Men-
schen über Menschen wird - erstmals unter Verwendung des Ausdrucks 'An
archie' - programmatisch als geschichtsphilosophisches Ziel festgestellt.
NovALIS verklärte die Anarchie in einer Symbiose von Natur und Freiheit: Die
ganze, Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt tJCrmischt sein.
Die Zeit der allgemeinen Anarchie - Gesetzlosigkeit - Freiheit - der Naturstand
der Natur - die Zeit vor der Welt (Staat). Diese Zeit vor der Welt liefert gleichsam
die zerstreuten Züge der Zeit nach der Welt - wie der Naturstand ein sonderbares Bild
des ewigen Reichs ist. Die Welt des Märchens ist die durchaus entgegengesetzte~ Welt
1" Vgl. MAX BRAUBAOH, Vorwort zu: JOSEPH GöBRES, Ges. Sehr., Bd. 1 (1928), XXI ff.
1'5 GöRRES,Der allgemeine Frieden, ein Ideal (1797), ebd., 29.
m Ebd., 29 f.
H7 GöRRES, Mein Gla.ubensbekenntnis (1798), ebd., 1915. Zum Wort 'Anarchie' macht
Görres - da.rauf hinweisend, daß diese positive Bedeutung der Anarchie noch nicht ein-
gebürgert war - die Anmerkung: Man mi/Jverateke mich nicht/
HB Ebd., 196.

76
m. 3. Auflöaung det Aaarebie-Despc;tie-Modells Anarchie

der Welt der Wahrheit (GeschwhJ,e) - und eben darum ihr so durchaus ähnlwh, wie
das Ohaos der vollendeten Schöpfung 149 • Aber erst FRIEDRICH SCHLEGEL erhöhte in
seinen Jenenser Vorlesungen zur Transzendentalphilosopbie (1800-1801) den
Begrift' der Anarchie dann zur absoluten Freiheit. 'Anarchie' war mit 'Freiheit'
identisch: . . . es ist Freiheit die erste Bedingung der Phantasie und der letzte Zweck
des reinen Verstandes, Verstand ist die Einwirkung aus dem Höhern ins EndlWhe, der
Zweck ist, den Schein zu vernwhJ,en oder das Endlwhe. Wie dieser Zweck errewht wird,
dies führt uns ·auf die Freiheit. Eine Gesellschaft nach diesem BegriU der Freiheit
wird Anarchie sein - man mag sie nun nennen das Rewh Gottes oder das goldene
Zeitalter. Das Wesentlwhe wird allemal Anarchie sein150• Die Rückblende ins Poli-
tisch-Historische vollzog ERNST MoRITZ ARNDT, gleichermaßen progressiver wie
christlich-nationaler, neukonservativer Ideologe. Diese geistige Haltung kommt in
seiner Beurteilung der Studentenunruhen nach den Freiheitskriegen zum Ausdruck.
D11.R ffärfln unter den deutschen Studenten begreift er durchaus doppelsinnig: Der
deutsche Studentenstaat steht als etwas, das seinesglewhen nwht hat, als etwas Einziges
und durchaus Eigentümliches da und ist in seiner kleinen Anarchie mit allen seinen
V or.eügen und Gobroohen ein echtes Bild afN großin de.iit1che.n Ana.rch.ie, diR. SP.# ifR.m
Ausgang~ der Hohenstaufen nttn in ,l,i,e 560 Jahre bestanden hatm.

S. Außösung des Anarchie-Despotie-Modells

Die besonders durch die Französische Revolution verstärkte Dynamisierung des


Anarchiebegrüfs zeigt sich - wenn auch erst in: Ansätzen - schon bei IMMANUEL
KANT. Zwar heißt es noch in der „Kritik der reinen Vernunft" (1787) und ähnlich in
„Zum ewigen Frieden" (1795): An/änglwli war ihre Herrschaft, unter der Verwaltung
der Dogmatiker, despotisch. Allein, weil die Gesetzgebung noch die Spur der alten
Barl>arei an 8Wh hatte, so artete sie durch innere Kriege nach und nach in völlige
Anarchie aus162• Damit wird der Topos: Despotie ruft Anarchie hervor, reproduziert.
In der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (1798) jedoch wurde Anarchie
vom Despotismus in einer Weise abgehoben, die erste Ansätze einer Dynamisierung
und Historisierung erkennen läßt. Kant unterscheidet vier Kombinationsmöglich-
keiten von Gesetz, Freiheit und Gewalt: A; Gesetz und Freiheit ohne Gewalt (An-
archie); B. Gesetz und Gewalt ohne Freiheit (Despotism); 0. Gewalt ohne Freiheit und
Gesetz (Barbarei); D. Gewalt mit Freiheit und Gesetz (Republik)1 68 • Daß Anarchie im
Gegensatz zu Despotismus mit 'Gesetz' in Verbindung gebracht wird, ist neu.
Gleichermaßen blieb jedoch die Wechselwirkung zwischen Anarchie und Despotie

10 NovALIS, Das allgemeine Brouillon (1798-1799), Schriften, 2. Aufl., Bd. 3 (1968), 280 f.
110 Flmmmou SOBJ.EGEL, Philosophische Vorlesungen 1800-1~, SW Bd. 12 (1964), 84.
111 EmisT MoRITz AmmT, "Ober den deutschen Studentenstaat (1815), Werke, Bd. 13
(1908), 275 ff.
1611 KANT, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede (1781), AA Bd. 4 (1903), 8. Vgl. auch

ders., Zum ewigen Frieden (1795), ebd., Bd. 8 (1912), 341 ff., wo Kant da.s Anarchie-
Despotie-Modell hinsichtlich der äußeren Staatsverfassung verwendet.
118 KANT, Anthropologie in.pragmatischer Hinsicht (1798), AA Bd. 7 (1907), 330 f. Vgl.
dazu KANTs handschriftlichen Nachlaß, AA Bd. 15 (1913), 647 f. sowie: Die philoso-
phischen Hauptvorlesungen Immanuel Kante, hg. v. ARNOLD KowALBWSXI (München,
Leipzig 1924), 372.

77
.Anarchie m. 3. Aaflöeung des Anarehie-Despotie-ModeDs
erqalten. - F. So]JLEGEL (1796) nahm zwar wechselseitige Entstehungsbedingungen
von Anarchie und Despotismus an: Despotismus und Anarchie sind innigst ver-
bunden, führen sich gegenseitig her'bei und verstärken sich gegenseitig. Daher kann der
anarchische Geist der neuesten Periode von 1760 an eben gar nickt befremdend sein:
es ist nicJus weiter als das Phiinomen und die Fru,cJu des auf den höchsten Grad gestiege-
nen Despotismus; g'leiche Ursachen haben überall g'leiche Wirkungen, Despotismus
führt überall zur Anarchie, Anarchie zum Despotismus, bis beide oder eines von beiden
so hoch steigt, daß sie sich beide vernic7uen164 • Andererseits bestimmte Schlegel den
absoluten Despotismus als ein ung'leich größeres politisches Übel als selbsi Anarchie156•
In der zeitgenössischen Literatur sind weitere Ausprägungen dieser Verbindung
von Anarchie und Despotie zu finden. So wurden von JOHANN ERIOH VON BERGER,
einem Mitglied des zu dieser Zeit von Fichte geleiteten Freundschafts- und li-
terarisch~politischen Freundschaftsbundes der „Freien Männer" in Jena (1795), von
GEORG FRIEDRICH RlirRMANN (1796) Despotie und .Anarchie gleichgesetzt1H. Nach
dem „Neuen Teutschen Merkur" von 1793 erzeugte Anarchie Alleinhe"schaft oder
die Obergewalt eines andern Volkes167 • In einer späteren Schrift hat Berger (1816) der
anarchischen Schreckenszeit der Revolution die dumpfe Stil'le der Bonapartischen
Tyrannei folgen laBBen168• KBuG hat in einer seiner letzten staatspolitischen Arbeiten
(1816) die unmittelbare Demokratie zunächst in Pöbelhemchaft (Ochlokratie) und
dann wieder in Anarchi~ oder Despotie ausmünden sehen159• FRIEDRICH PERTHES
schrieb noch 1880, die neue Revolution mit der von 1789 vergleichend: Noch ein-
mal wird Europa den bluligen Lauf durch die Anarchie zur Despotie beginnen160• .
Die nationalistisch-ideologische Verdeutschung des Kreislaufmodells Anarchie-
Despotie findet eich bei FRIEDRICH LUDWIG JAHN: Anarchie (= Waltlosigkeit)
erzeuge Revolution (Umwälzung), diese Diktatur und wiederum Anarchie: Walt-
losigkeit stürzt in den Kreislauf der Umwälzung. Sind deren erste Schauer vorüber,
so liegt das Volk in einer Abspannung, wo ihm Ruhe das erste Bedürfnis scheint.
Jede Umwälzung bringt ihren eigenen Ruhwart hervor. Ist er dann nur selbstbestallt,
selbstwaltig und selbstsiicJuig, so hört die Ruhwartschaft (Diktatur) durch seinen
eigenen Walteraub (Usurpation) auf, den er sich durch Zwingherrenkünste zu sichern

1" F. Sem.EGEL, Vorlesungen über Universalgeschichte (Wintersemester 1805/06), SW


Bd. 14 (1960), 232. Vgl. ebd., 2M.
111 Dere., Vereuoho übor den Begriff des Republikanismus (1796), SW Bd. 7 (1900), 25.
™ JoH. ERlOH v. BERGER, Die Angelegenheiten des Tages (Sohleewig 1795), 65. Vgl. o.uoh
GEORG FRIEDRICH REBllliNN, Vollständige Geschichte meiner Verfolgungen und meiner
Leiden (Amsterda.m 1796), 160: ••. daß ich in einem fremden Lande, viilkicht unter den
Streichen der Söufünge dea Deapotiam'U8 oder der Anarchie, mein Grab finde. In Frankreich
lhnlioh SYLVAIN MAm!JCHAL, im Vorwort zu seinem „Dictionnaire des Athes a.noiens et
modernes" (Paris 1796), dt. u. d. T.: Was ist ein Atheist T (Leipzig o. J.), 10.
167 Betrachtungen über die Rede des Boetie und über die Alleinherreohaft, Der neue

Teutsche Merkur 2 (1793), 241.


ue J, E. v. B111nmm, Ueber Volb-Illigenthümliohkeii uud den Geg6111111.Lz zwi.Huhen den
mehrem Völkern, Kieler Blätter 2 (1816), 31.
1611 WILHELM T!u.uGOTT KBuG, Das Repräeenta.tivsystem, oder Ursprung und Geiet der

stellvertretenden Verfassungen (Leipzig 1816), 34.


118 CLmmNs THEonoB PEBTHES, Friedrich Perthes' Leben nach dessen sohriftliohen und

mündliohen Mitteilungen, 4. Au1l., Bd. 3 (Gotha. 1857), 305.

78
m. '· 'Anarelüate' und •Anarebist' Anarchie

sucht, bis auch die Zwinghemcliaft in W altl.osigkeit u1ntergeht. Das ist die Sündenbahn
eines waltescheuen Volks161 • Die identifizierende Verbindung beider Begriffe beginnt
sich hier durch die Einfügung neuer Zwischenglieder aufzulösen.
Die radikale Trennung von Anarchie und Despotie schließlich wurde interessanter-
weise von der Staatswissenschaft eingeleitet. In besonders eindringlicher Weise
und im Zuge der allgemeinen Soziologisierung und Historisierung stehend hat
CHRISTIAN DANIEL Voss 1797 in seiner Bearbeitung von Schlözers „Grundriß der
Staatswissenschaft" 'Anarchie' präzisiert. Er wies darauf hin, daß - nach ei'Tlil'I"
richtigen Bestimmung der Begriffe - in Frankreich während der ganzen Zeit der
Revolution nie eine Anarchie stattgefunden habe; denn stets ist eine von der Gemeinde
anerkannte höchste Gewalt in derselben dagewesen und ausgeübt worden . . . Wo von
bösartigen Machthabern im Namen und durch die von der Gemeinde anerkannte
Gtwalt gtraubt und ge'MQf'det wird, alsu '"ir,111,um.d geget~ die Regenten·Per&on oder den
Awüber der gemißbrauclllln· höchsten Gewalt seines Lebens sicher ist, da ist wohl
Tyrannei, aber keine Anarchie. Mit einer solchen Tyrannei läßt sich aber nicht nur
die strengste Handliabung der Gerechtigkeit in jedem anderen gesellschaftlichen Ver-
hältnisse . . . ge"nken, 1cmdern auch. dure.h se.hr 1n".e.1.P. n.1~~f.nriJ1r.hP. BPlR,ge az., fakti.!ch
dartun; auch findet dann immer eine be8timmte und von der Nation als rechtmäßig
und güUig anerkannte höchste Autorität (König, 8ultan, National- Versamm'lwng,
Wohlfahrtsausschuß) statt, kraft deren die Tyrannei ausgeübet wird. In dem Zustande
der Anarchie aber ist nichts dergleichen wahrzunehmen. Daher a) entweder jeder ein-
zelne seine und seiner Familie persönliche und Sacheigentums-Sicherheit durchaus in
allen V erhältnisstm selbst be8orgen muß, oder b) ·sich auch wohl einzelne Personen oder
Korporationen allein durch List O<kr Macht zur Ausübung einer momentellen höchsten
Gewalt aufwerf6n, aber auch stets immer einer den and6m verdrängen182• Eine solche
radikale Trennung von Anarchie und Despotie/Tyrannis war sicherlich auch eine
der Vorstufen zur Bestimmung der Anarchie als positiver Verfassungsform, wie sie
schließlich bei Proudhon und Moses Hess zu finden ist. Wieweit sie auf das all-
gemeine gesellschaftliche Bewußtsein der Zeit - im Vergleich etwa mit den Auf-
fassungen Wielands und anderer - gewirkt hat, muß jedoch dahingestellt bleiben.

4. 'Anarchiste' und 'Anarchist'


Das Wort 'anarc;:histe', für das ein griechisch-lateinisches Vorbild fehlt, ist in der
Französischen Revolution entstanden: Wort und Begriff sind erstmals für das Jahr
1791 nachgewiesen worden188• Für die Zeit zwischen 1792 und 1797 finden sich im

181 FmEDR. LUDWIG JAHN, Runenblätter (1814), Werke, hg. v. Carl Euler, Bd. 1(Hof1884),
408.Vgl.K.H.SCHEIDLER, Art. Gewalt, sprachlich, EBSOH/GRUBER 1. Sect., Bd.65 (1857), 308.
112 Voss, Handbuch, Bd. 2/1, 51 f. (s . .Anm. 92).
188 Lea monarchiatea B<mt bien dans le CIJ8 de diaputer d' amour pour Louis X VI avec des

traitres, de VÜ8 anarckiates; Grands Remerciements aux Jacobins, 28. 2. 1791, zit. Tm!:ODOR
RAmrr, Der Einfluß der französischen Revolution auf den Wortschatz der französischen
Sprache (phil. Dies. Gießen; Darmstadt 1908), 137; daran anschließend FREY (19~),
152. Vgl. FRIEDRICH SE!LEK, Die Entwicklung der dtiut1mheu Kultur im Spiegel des
deutschen Lehnworts, 2. Aufl., Bd. 4 (Halle 1925), 116: „Recht in Umlauf kamen diese
Worte ['Anarchie' und •Anarchist'] bei uns erst seit dem ersten anarchistischen Kongreß
in London 1881".

79
Anarchie m. 4. .Anarcbiste'
1 un• 'Anarehlat'
französischen Sprachraum eine Fülle von Hinweisen. Fast stets wird die Bezeich-
nung nach dem Sturz des KönigstUIDB im Herbst 1792 „als gehässige Bezeichnung
für die Jakobiner gebrauoht"1" . 'Überwiegend ist das Wort in den Jahren nach
1792 mit einem negativen, abwertenden Akzent versehen worden165• Als CHA.RLOTTE
CORDAY im Juli 1793 beim Verhör das Messer, mit dem sie Marat erstochen hatte,
vorgelegt bekam und gefragt wurde, ob sie es kenne, erwiderte sie: Ja, das ist das
Messer, mit dem ich den Anarchisten getötet habe166• Seit 1793 wurden Anarchisten
mit agitateurs gleichgesetzt, qui veUlent parvenir au tr8ne a travers les cadolvres167 •
Bald häufen sich die Kontextbegriffe wie anarchistes et tyrans168 • BRISSOT führte in
seinem „Manifeste" schon 1792 in Verbindung mit Anarchist auf: sclUrats, ...
desorganisateurs, ... traUres, ... ap8tres de l'assassinat, ... barbares, ... brigands,
•.. cann~bales, ... terroristes; etwas später: anarchistes et patriotes169• Ausführlichere
Definitionen aus der Zeit finden sich in Frankreich jedoch erst in den Jahren 1797
und 1798, zunii.ohRt hAi JEAN FRAN901s L.A. !LuPE, in dessen Definition die negativ
bewerteten Anarchisten gegenüber einem möglicherweise positiv (zumindest neu-
traler) gesehenen Anarchiebegri:ff abgegrenzt wurden: Remarquez cependant qu'il y
a encore une figure de style revolutionnaire dans ce nom d' anarchiste, que depuis deuz
ans on affe.de de donner aw: brigands, au:z; assassins, qui, dans ce moment mime, font
couler le sang agrands '{f,ots dans vingt cantons cle la France, avec l'impunite et~
avec/,a protection la dki,dee, AM l'on ne nous fera pas prendre le ohange: vos anarchistes
ne veulent po·int l'anarchie; ils savent tres-bien ce qu'ils veUlent; ils veUlent le pouvoir,
tel qu'ils l'ont partage avec Robespierre. Je ne crois pas qu'ils l'aient jamais; mais,
en attendant qu'ils rt,gnent, ils assassinent quand ils le peuvent, et c'est toujours quelque
chose170• Weiterhin ist 'anarchist' in einer Botschaft des Direktoriums aus dem
Jahre VI (1798) ebenfalls abwertend definiert worden: Par „anarchistes", le
DireCtoire e:Ucutif entend ces hommes couverts de crimes, entacMs de sang et engraisse.Jr
de rapines, ennemis des lois qu'ils n'ont pas faites et de tout gouvernement ou ils ne
gouvernent pas, prechent la liberte et pratiquent le despotisme, parlent de fraternite
en egorgeant leurs freres et se traguent de desinteressement en partageant leurs clepouilles;

184.FELDMA.NN (1911/12), 248 f.


116 Die Jakobiner selbst &rkennen dies in der Abwehr der Kritik und bereiten damit den
Umsohwung zum positiven Gebrauoh der Begri.lfe '.Awi.rchist' und 'Anarchismus' in ihrem
Selbstverständnis vor: M. Jloed,erer dit que tous lea membrea de cette Socii,U qui ne penaent
a
paa comme lea OomitbJ doivent a'atterulre etre appeUa anarckiatea, /actieu:r:, republicaniatea;
Sitzung der Societe des amis de la constitution am 8. Juli 1791, zit. La societe des Jacobins.
Recueil de documenta pour l'histoire du Club des Jacobins de Paris, ed. FBAN90IS .AL-
PHONSE AULABD, t. 2. (Pa.ris 1891), 598.
188 Mitgeteilt bei FELDMA.NN, 248.

117 Archives parlement&ires, 16.-17. Jan. 1793, zit. FBEY, 152.


188 SAINT-JUST auf der Sitzung des Konvents a.m 15. 4. 1794, zit. FBEY (1925), 152.

11t JA.OQUJDS PIERRE BlWlsOTs ManifooL „A tous les republlcains de Fra.nce, sur la. societe
des Jacobins" vom 24. 10. 1792 ist von BRUNOT t. 10/1 (1939), 51 ausgewertet worden. Die
Zusammenfügung anarckiatea et 'JKUriotea bucht BRUNOT t. 9/2 (1937), 912 für das Jahr
1804.
l70 JEAN FBAN90IS LA HARPE, Du fänatisme d&ns la langue revolutionnaire (Paris 1797),

106.

80
m. 4. 'Anarehiate' und 'Anarohiat Anarchie

tyrans, esclaves, adukiteurs serviles du dominateur adroit qui les subjugue, capables
en un mot de tous les ezds, de toutes les bassesses et de tous les crimes171• .Heide De-
finitionen enthalten eindeutig die verschiedenen Merkmale konservativ-reaktio.
närer Abwehr, die sich ebenso in bezug auf den Begriff 'jacobin' feststellen lassen.
In Deutschland findet sich der früheste Nachweis in WIELANDS „Göttergesprächen"
(1793): Die Maximen der französischen Freihe.itsschwärmer und Anarchisten wurden
angeprangert, weil sie geraden Weges in den primitiven Zustand zurückführen172 •
Der Hamburger FERDINAND BENEKE sprach 1794 von Bluthunden und Anarchisten
und meinte damit die Jakobiner173•
Görres und Wieland haben das Wort 'Anarchist' aus dem Französischen über-
nommen und im deutschen Sprachraum wirklich eingeführt17'. GöRRES beklagte
sich 1798: Aus meinem Namen und meinen Haaren beweisen sie in einem Akrostichon,
daß ich ein Blutmensch, ein Anarchist sei176• Als er ein Jahr später enttäuscht der
Revolution den Rücken gekehrt hatte, sprach er von Moderantisten und Anar-
chisten, von Girondisten und Jakobinern11e.
F. SCHLEGEL hat 1805 den Begriff zur Charakterisierung einer Gruppe innerhalb des
Protestantismus verwandt: Die Protestaritm zerfallen ... in politircher Hin1icht in
drei Hauptkl,o,.y,,en: wütende Anarchisten, solche., die der alten ständische.n und mo-
narchische,n Verfassung getreu bleiben oder dahin zurückkehren wollen, die Lutheraner
nämliclt, dann drittens die Reformierten, die, wiewohl keine offenbaren Anarchisten,
aber immer heimliche, Republikaner zu sein pfie,tjen177.
Der Begriff ist also von Anfang an wenig präzise und deshalb früh fungibel ge-
wesen. Hier zeigt sich noch deutlicher als beim Anarchiebegriff, daß sich die prag-
matischen und semantischen Aspekte des Begriffs immer weniger decken. Der
Begriff 'Anarchist' weist auf eine Ausdehnung der ganzen Denkfigur hin. Er ist
zwar bald nach seinem Aufkommen in das Vokabular der Parteienbezeichnungen
aufgenommen worden178, hat sich aber nicht durchgesetzt. Anfang des 19. Jahr-

171 Journal de deba.ts, 13. floreal an VI, zit. BRUNOT t. 9/2 (1937), 847. Mit Recht fügt

ßrunot hinzu: „Rien n'est plus loin d'une definition que cette dia.tribe contre les ter-
roristes".
172 WIELAND, Göttergespräch 12, SW Bd. 31 (1857), 477. Der für dieses Gespräch ange-
nommene Tag ist der 21. Januar 1793, der Tag der Hinrichtung Ludwigs XVI. Hinweis
bei LADENDORF (1906), 5 f„ auf den sich auch Kr.uGEjMrrziu.18. Aufl. (1960), 21 bezieht.
173 FERDINAND BENEKE in seinem Tagebuch am 31. Oktober 1794, zit. VALJAVEO, Poli·

tische Strömungen, 449 (s. Anm. 91).


m So auch KLuGEjMrrZKA 18. Aufl. (1960), 21.
175 GöRRES, Anzeiger zum rothen Blatt (1798), Ges. Sehr„ Bd. 1(1928),145.
178 GöRRES, Rede, gehalten a.m lOten Messidor 7ten Jahres in1 Dekadentemll6l zu Koblenz,

Ges.Schr„ Bd. 1, 527.


177 F. SOHLEGEL, Vorlesungen über Universalgeschichte, SW Bd. 14 (1960), 218 f. An der

gleichen Stelle spricht er von den Wiedertäufern als den wütenden Anarchisten.
17s Für Frankreich: faction du anarchiatea (1795), zit. FBEY (1925), 152; Zu aMrchiatu
(1797), zit. BRUNOT t. 9/2, 835. - Für Deutschland: LEOPOLD v. GERLAOH unterschied
(um 1813) drei Parteien, die der Aristokraten, der Demokraten und die Partei der Anar-
chisten, deren Anhänger Studenten, DokWren, Buihhiindl,er seien, die nicht wissen, wie ea
in der Welt aussieht, und sich über alles wegsetzen; Denkwürdigkeiten aus dem Leben
Leopold von Gerla.chs, hg. v. seiner Tochter, Bd. 1/2 (Berlin 1891/92), 9.

6-90385/1 81
Anarchie m. 5. Komervative Reakti- 1790-1830
hunderts war '.Anarchist' weniger gebräuchlich, der konkrete Zusammenhang
'.Jakobiner' = '.Anarchist' löste sich auf179• Der konservative Bedeutungsgehalt
bleibt überwiegend: Kontextbegriffe sind vor allem 'Atheist', 'Demagoge' u. a.1so.
Wenn man das politische Vokabular zu Anfang des 19. Jahrhunderts aufgliederte
nach seinem Gebrauch bei „rechten" und bei „linken" Gruppierungen,. wäre
'.Anarchist' viel stärker als 'Anarchie' den „rechten" Gruppierungen zuzuschlagen.
Ähnliches trifft für einen Kontextbegriff von 'Anarchist' zu, den fast gleichzeitig
ent.standenen Begriff 'ideologiste'181; während 'ideologie' eher (wie zu dieser Zeit
noch .'Anarchie') zwischen den Lagern steht.

5. Traditionelle Bedeutung ODd konseryative Re~on 1790-1830


Die Sa.ttelteit des .Anarchiebegrifls ist wesentlich dadurch ausgezeichnet, daß Über-
la1ierungen stattfinden, daß Rir.h jahrhundertealte Bedeutungen halten und mit
neuen Inhalten verschmolzen werden. So ist 'Anarchie' in der Literatur als „Zu-
stand"182, als negative Vor-, Zwischen- oder Unform von Regierung, Staat und Herr-
schaft auch in den Jahren nach 1790, vor allem in der Zeit von 1793-1798, immer
wieder zu verzeichnen. Semantisch hat sich der .Anarchiebegriff insofern kaum ge-
wandelt. Nicht nur wendete sich die eigentliche Reaktion unter Benutzung der
Begriffe '.Anarchie' und '.Anarchist' gegen die Französische Revolution und die
Jakobiner, sondern auch zunächst positiv eingestellte Interpreten wurden nach
und nach abgeschreckt, vor allem durch die mit der Enthauptung Ludwigs XVI.
eingeleitete Herrschaft des revolutionären Terrors. Archenholz berichtet einen Aus-
spruch des ExpräsiuenLen der fre.nz!Ssisohen Nationalversammlung GuADET a.ua
dem Jo.hre 1792: Ick seufze so wie M. Vaublanc, und sckon Zange habe ich geseufzt,
über die Anarchie und die Unordnung, die in diesem Augenblicke ·das Königreich
zerriJttenlBI. WIELAND, dessen Begeisterung für die Revolution früh abkühlte18',
sprach 1792 von der anarchischen Zerrüttung Frankreichs, von der Anarchie als der
Äuflöaung des StaatesW. SCHLOSSER leugnete, in Auseinande~etzung mit Machia-

179 Hinzuweisen ist allerdings noch auf die Wortbildung 'jacobin-all&l'chiste' im napoleoni-
schen Frankreich. Wie CABL EULER, Friedrich Ludwig Jahn (Stuttgart 1881), 230 mitteilt,
Bind sowohl Jahn wie auch Sch&rnhorat &le „jacobin-&Il&l'ohiste" bezeichnet worden. In
keinem Lmikon des frühen 19. Jahrhunderte, d&B '&Il&l'ohiste' bzw. 'Anarchist' verzeichnet,
findet eich ein Hinweis, daß diese Bezeichnung für die Jacobiner gebriuchlich gewesen sei.
Die Erliuterungen lauten partiaan. de Z'anarchie - Dict. Ac. fr&n9., t. 1 (1811), 59 - oder,
wie bei Campe, der d&B Wort erstm&le 1813 aufnimmt: Guetzloaer, Zügelloaer; C.ülPE,
Fremdwb„ 2. Auß. (1813), 109.
180 Vgl. AUGUST BECXBBS Geheimbericht &n Metternich (1847): Geschichte des religiösen
und atheistischen FrühsoziaJismue, hg. v. Ernst Barnikol (Kiel 1932), 28.
181 J!UologiBle zuerst bei BBBNARDIN DE SAINT-PIEBBE, Harmonie de la nature; 1796 hat
DBSTtJTT DB Tiu.OY idiologie erstma.le verwandt, zit. BBUNOT t. 9/2 (1937), 847.
181 So etwa KABL SALOHO Z.6.0IIABIÄ, Über die wllkomwtW11te Sta.&te-Verf&seung (Leipzig
1800), 14: ft'. Z&ch&riA spricht statt von 'Herrscha.ftaformen' von 'Beherrechungsformen'.
111 Mual1BB1Tlll .l!..'LIB GuADET, Rede v. 20. 2. 1792, zit. ABomcNHoLZ, Hiat. Nachrichten,
Minerva 2 (1792), 3 (s. Anm. 134:).
w Vgl. Anm. 14:1.
111 WIBLAND, SW Bd. 31(1857),177. 179 (11. Anm. 184:).

82
m. 5. Konservative Reaktion 1790-1830 Anarehie

vellis Geschichte von Florenz, schon 1798 die Vorzüge jeglicher Reformen, da, vor
allem wenn der Unterlanden Regenten zu reformieren anfängt, meist, statt einer Ver-
besserung des Regiments, eine Anarchie zu erfol,gen pfkgt1M. Auch der Topos: De-
mokratie erzeuge Anarchie im Sinne des Verfalls, bleibt bestehen. So wurde im
„Neuen Tentschen Merkur" 1794 die demokratische Verfassung als die loseste Art
von Oligarchie bezeichnet, deren Freiheit . . . den Staat oft in den höchst traurigen
Zustand der Anarchie setze1B7•
Eine besondere Variante des Topos: Anarchie als Verfallsform von Herrschaft,
hat dann HEGEL ausgeprägt. In seiner frühen Arbeit Über ,,Die VerfaBBung Deutsch-
lands" (1801/02) setzte er sich intensiv mit der Frage auseinander, ob das damalige
Deutschland ein 'Staat' sei. Gegenbegriff zu 'Staat' war ihm dabei 'Anarchie', in
verstärkter Form: offene Anarchie. Eindeutig er~lärte er: Deutschland ist kein Staat
mekrJ.l!tl. Jedoch Deutschland sei auch nicht offene Anarchie189, sondern, wie er später
in den „Vorlesungen iiher Clie Philrnmphie der aeschichte" formulierte: konstituierte
Anarchie, wie sie noch nie in der Welt gesehen worden ist190. Hier sind also bei einer
generell negativen Bewertung der Anarchie einmal die }!öglichkeit ihrer Auf-
hebung und zum anderen Abstufungen o.no.robisohor ZustQn.de mitgesehen. Ferner
ist Hegels Anarchiebegriff im Zusammenhang mit der Föderalism11s-Z1mtralismus-
Diskussion zu interpretieren. In der Schrift von 1801 setzte er sich mit der Ma-
schinentheorie des (zenti.ralistischen) preußischen Staates auseinander und kämpfte
gegen. die maschinistische Hierarchie des Staates. Sein Gegenbild war anfangs die
französische Republik181. Allerdings ist Hegels Verhältnis zu Staat und Politik
komplex. Schon für den jungen Hegel lag die· eigentliche Wahrheit in der Macht
des Staates: Die Interessen des Staates sind die Kraft, die bestimmt, was
recht und unreclu ~et. Sicherlich war Ilegel nicht antiliberal. Er wollte den konsti-
tutionellen, wenn auch nicht den parlamentarischen RechtBStaat. Deshalb sollte
der Bürger als Mitglied einer Gemeinschaft durchaus nicht vom Staat verdrängt
werden. In seiner Auseinandersetzung mit NapoleoJ]. wird dies deutlich. Die Gewalt
des Erobuers wollte er so beschaffen wissen, daß dem Volke, das er aus zerstreuten
Völkchen geschaffen hatte, ein Anteil an dem, was alle betrifft, eingeräumt wird192.
Mit dem herkömmlichen Sinn von 'Anarchie' als Zustand geht die konservative
Reaktion einher. Der große Altkonservative VON DER MARWITz sah, im Zuge der
Auseinandersetzung mit Hardenberg (1812), die Anarchie einmal als vollstiindige

181 JoH. G:soBG SomossBR, Von den Staats.Reformen. "Ober eine Stelle des Ariswteles,
Kl. Sehr., 2. Aufl., Bd. 4 (Basel, Frankfurt 1794), 268.
1 87 Betrachtungen über Aufruhr und bürgerliche Unruhen, Der Neue Teutsche Merkur 3
(1794), 293.
188 HEGEL, Die Verfassung des Deutschen Reichs, hg. v. Georg Mollat (Stuttgart 1935), 1.
181Ebd„ 66. .
190HDGJDL, Vorlosungon übor dfo Philosophie der Gesohiohte, SW Bd. 11 (1928), 546. Vgl.
ders„ Beurteilung der im Druck erschienenen Verhandlungen in der Versammlung der
Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre .1815 und 1816 (1817), SW Bd. 6
(1927), 349 ff.
111HEGEL, Verfassung, 25 f.
181 Ebd„ 120 f.

83
Anarchie m. 6. Ideologisierung und Soziologisierung 1790-1830
.Anarchie, die nach der Vernichtung der Stände und des Adels auch die Macht des
Regenten zerbricht, sowie, ähnlich wie die Despotie, als Nichtstaat,193 ,
GENTZ in seiner Polemik gegen Görres konfrontierte 'Anarchie' mit 'Verfassung'
und sprach vom Zustande der Zerrüttung und Anarchie, aus we'lcher die verbündeten
Mächte Frankreich rissen194• Die Stimme Metternichs, des noch einmal zusammen-
gehaltenen Europa nach dem Wiener Kongreß, klingt durch seine Worte, wenn er
den unpräzisen, emotional aufgeladenen und leer werdenden Inhalt des Begriffs
der Anarchie mit politischer Frontstellung gegen Görres angreift: Oder ist es etwaJ
anderes als gewaltsame S]Wach- und I<kenvermischung, wenn man Worte wie Zer-
rüttung, Anarchie, Wiedergeburt, nachdem man sie von einem Staate, der sich soeben
in einer wahren politischen Auflösung befand, gebraucht hat, in demselben Redesatze
auf Deutschland anwendet, bl,oß weil es diesem an einem FöderativS'gsteme mangelt,
das alle deutschen 8taatskünstler befriedigte?1116 • Huropa und vor allem Deutschland
sollten Ruhe haben: 'Fortschritt', 'der Geist der Unruhe', „Nationalstaat"
waren METTERNICH und seinen Ideologen verhaßt: Unser Feind ist die Anarchie,
unsere Freunde sind d~, we'lche sie bekämpfen196• Die bewegungsfeindlichen Akzente
in die&er politi.!chen Theorie vertrugen !ich jedoch gut mit der ldtiulogitiitirWlg 1for
Herrschaftstheorie. So sprach Metternich in bezug auf die liberalen und revolutio-
nären Kräfte in Belgien, Polen und Italien nach dem Ausbruch der Julirevolution
von der anarchistischen Faktion, die JungdeutAchen in der Schweiz waren für ihn
die Ekmente der Anarchie197 • Die Konservativen haben damit im Gegenzug den
Begriff der Anarchie vollends politisch und geschichtsphilosophisch fungibel ge-
macht.

6. Ideologisierung tmd Soziologisierung der .Anarchie ala „ZW1tand" 1790-1830

Neben dem Fortbestehen des tradierten verfassungspolitischen Begriffs 'Anarchie'


trat seit 1790, durch die konkreten Erfahrungen in der Französischen Revolution
bedingt, eine soziologisierte, auf die Gesellschaft übertragene Variante dieses
Anarchiebegriffs hervor. So wurde schon 1'790 im „Neuen Teutschen Merkur" von
den Übeln und Schrecken der Anarchie gehandelt, die die Bande der Gesellschaft
auflösten1118• Und EDMUND BURKE stellte 'Anarchie' in einer im „Neuen Teutschen
Merkur" nachgedruckten Schrift in den Zusammenhang von Unordnung, ... Be-
kidigung des Eigentums, ... grausamen Mordtaten, unmenschlichen Konfiskationen,
Tyrannei unsinniger hohns]Wechender Klubs, die sich selbst eigenmächtig zu Herren

198 FRIEDRICH AUGUST v. D. MiltWITz, Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Be-
freiungskriege, hg. v. Friedrich Meusel, Bd. 2/2 (Berlin 1913), 88.
19' FRIEDRICH v. GENTZ, Staatsschriften und füiefe, hg. v. Hans v. Eckardt, Bd. 2 (München
1921), 26 ft'. .
185 Ebd., 27 f.
181 METTERNICH, zit. ALFBED STERN, Geschichte Europas seit den Verträgen von 1815 bis

zum Frankfurter Frieden von 1871, Bd. 4 (Stuttgart, Berlin 1905), 208.
1 97 METTERNICH, zit. ebd., 386. 407.
198 Politisch-philosophische Gespräche, Der neue Teutsche Merkur 3 (1790), 205.

84
W. 6. Ideologisierung und Soziologisienmg 1790-1830 Anarchie

des Landes aufgeworfen ltabenm. Die Ideologisierung des Anarchiebegrift's im Rah-


men der konser\l'ativen .Keaktion, die politisch-ideologische Zurechnung der
Anarchie zu revolutionären Eliten wird hier besonders deutlich. Im Zuge der
konservativen Reaktion, ihres sich in der bürgerlichen Gesellschaft trotz aller Un-
ruhen festigenden Ehr- und Moralbegriffs, tritt bereits 1792 erstmals Anarchie in
Verbindung mit Zügelwsiglceit auf- eine Verbindung, die später vor allem Campe
wieder aufnehmen wird200.
ARCHENHOLZ sah im gleichen Jahr die immer wachsende Anarchie speziell in Frank-
reich - und übertrug damit den Anarchiebegriff in das Arsenal außenpolitischer
Kampfbegriffe201 . Auch RoTTECK hat 'Anarchie' in diesem Zusammenhang ge-
braucht: Unter dem Vorwand der Anarchie könnten despotisch gesinnte Minister
anderer Höfe sich gewaltsam in die inneren Angelegenheiten eines Landes ein-
mi!chen~00.·
In einem 1796 in der „Eudämonia" anonym vorgetragenen Angriff gegen Fichte als
Führer der rebellierenden Jugend in Jena heißt es, daß Fichte bei den Studierenden
anstaU der christlichen Religionsübung einen seltsamen Vernunft-Gottesdienst und
anstatt der Ordnung im Staate Anarchie einzuführen suche203• WIELAND kämpfte
1798, besonders in den „Gesprächen unter vier Augen", gegen die Folgen der
Französischen .Revolution. Das grenzenlose Elend du Anarchie, die Gleichheit, die
in Wahrheit .Anarchie 11ei, die Verbindung von Ana.rcli.i~ und 'l'e.rrorismu.s gp.hen
von seiner gewandelten Haltung einen Eindruck2 °'. Auch GöRRES begriff 1798
'Anarchie' als die Auflösung alles gesellscltaftlichen Verbandes2 05 , wenn er auch nach
wie vor gleichfalls gegen „Aristokratism" und die „Reaktion in Preußen" war.
Die Verschiebung der Fronten in Deutschland, die Vermischung von Revolutio-
närem und Reaktionärem, hat er selbst reflektiert. Die in di11ser Haltung znm AnR-
druck kommende Verbindung von traditionsbewußtem und liberalem Denken war
für diese Periode seines Lebens typisch.

188 EDMUND BURKE, Das Recht der Völker, ihre Staatsverfassungen willkürlich abzuändern,
ebd. 3 (1791), 258. Es handelt sich um Auszüge aus Burkes: An Appeal from the New to
the Old wp.igs, in Consequence of Some La.te Discussions in Parliament, Relative to the
Reflections on the French Revolution (London 1791).
200 Rede LA FAYETTES v. 30. 4. 1792 in Rancennes, zit. ABcHENHOLZ, Rist. Nachrichten,

Minerva 3 (1792), H. 13, 142 (s. Anm. 134).


101 .ABcHENHoLZ, Politische Betrachtungen über die neuesten Vorf"alle in Frankreich,

Minerva 3 (1792), H. 14, 389.


202 ROTTECK, Art. Anarchie, RoTTECK/WELCKER Bd. 1 (1834), 549.
208 Anläßlich der Ostern 1795 in Jena ausgebrochenen Studentenunruhen erschien dieser

Angriff gegen Fichte unter dem Titel „Verunglückter Versuch, im christlichen Deutschland
eine Art von öffentlicher Vernunft-Religionsübung anzustellen"; zit. MAx BRAUBACH,
Die „Eudämonia" (1795--1798). Ein Beitrag zur deutschen Publizistik im Zeitalter der
Aufklärung und der Revolution, Rist. Jb, 47 (1927), 321 f.
2 °' WIELAND, Gespräche unter vier Augen (1798), SW Bd. 32 (1857), 166. 137. 163.
ao& GöRRES, Der allgemeine Frieden, 21 (s. Anm. 145). Vgl. ders., Anzeiger zum rothen Blatt,
77 (s. Anm. 175): Mit dem einen Arme werden wir den Ari8tok'l'ati8m bekämpfen, mit dem
andern dem U'Tl{Jekeuer der Oliacky ina Geaiiht greifen •u:nÄ noch Sfiirke genug übrig beluilten,
auch der Anarchie, wenn sie bei una Ankä'Tl{Jer finden aoUte, Trotz zu bieten.

85
Anarchie m. 7. Philosophie, Ethik und Religion seit 1800
Der Pariser Jakobinergegner und führende Mitarbeiter des „Ami des loix:", PouL-
TIER, stellte 1799 'Anarchie' in eine Reihe mit Rache, Denunziation, MO'fd, ... und
Plünderung und schrieb alle diese Wotj;e den Jakobinern zu208• Schließlich hat vor
allem GENTZ schon seit 1806 die politisch-soziologische Zurechnung der Anarchie
vorangetrieben. Die Funktionen des Staates verkümmerten bei Einbruch gewalt-
tiitU;er Total-Revolutionen und der damit verknüpften absoluten Anarchi,e21Y1. 1817
sprach er in seiner Analyse des Wartburgfestes von der Anarchie der Ansichten und
Meinungen 208 , und schon 1815 hatte er an Metternich über den König Maxim.jlian I.
von Bayern geschrieben, daß dieser der aufrichtU;ste Bewunderer und zärtlichste
Liebhaber der' greulichen Anarchie sei, die er unter dem Namen einer Verfassung über
sein Land verhängte20ll. Im Jahre 1831, in seinen „Betrachtungen über die politische
Lage Eilropas", hob er die Anmaßungen der Parteien, die zur Anarchie führen,
hervor210• Gentz hat besonders in der Zeit der Demagogenverfolgungen nach den
Karlsbader Beschlüssen entscheidend mit dazu beigetragen, den Begriff der .An·
archie fungibel zu machen. Er rechnete den Begriff nicht nur bestimmten politi-
schen Ideen, bestimmten sozialen Gruppen zu, sondern verwendete 'Anarchie'
auch bewußt als Kampfbegriff; FRANZ VON BAADER ist ihm darin, auf Seiten der
katholisch-konservativen Reaktion, gefolgt: Wenn ich übrigens bisher der ver-
nünftU;en ·Freiheit der Bewegung der' 1ntelligenz in der' Soziefii,t das W orl S]Wach urid
nachwies, wie sich dieselbe mit der freien Entwicklung der Religiositiit allerdings ver-
trägt, so bin ich doch weit entfernt, den Zustand der' Anarchie und Losgebundenheit
aller Meinungen und Doktrinen (denn auch das V erbrechen hat nun seine öffentliche
Doktrin und sein ged,rucktes System), in welchen die Soziefii,t det'malen hineingeraten
ist, nicht für ein schreiendes Übel derselben und für das Skandal unserer Zeit anzuer-
kennen,211. Damit bildete sich auch in Deutschland mehr und mehr eine Terminologie
des „Klassenkampfes" heraus. Kontextbegriffe zu 'Anarchie' wie 'Mord', 'Plün-
derung' schufen eine Atmosphäre der Angst und Abwehrhaltung im deutschen
Bürgertum, die auch die folgende Periode nach 1830 ideologisch bedingten.

7. Vhertragung auf Philosophie, Ethik und Religion seit 1800:


'Anarchie' und 'Anarchismus'

Mit der konkreten Anreicherung und ·Politisierung von 'Anarchie' nach dflr Fran-
zöi1ischen Revolution geht die Übertragung auf neue Bezugsfelder, Philosophie und
·Literatur vor allem, einher. Mit dieser "Übertragung war sowohl eine Bedeutungs-
erweiterung wie eine Bedeutungsverwischung des Anarchiebegriffes verbunden.
KANT führte in der Vorrede zur 1. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" schon
1781 gegen die Herrschaft der „Metaphysik" aus: Anfänglich war ihre Herrschaft,

108 PoULTIEB, zit. ABclraNHoLZ, Beiträge zur Geschichte der wieder aufgestandenen
Jacobiner, Minerva. 3 (1799), 552.
• 07FRIEDRICH v. GENTZ, Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen Gleich-
gewichts in Europa. (1806), At.aa.tMohr. u. Briefe, Bd. l (1921), 154 (s. Anm. UM.).
BOB Ders., 'Ober das Wa.rtburgfest (1817/18), ebd., Bd. 2, 35.
909 GJCNTZ a.n Metternich, Wien, 3. 6. 1819, ebd., Bd. 2, 157.

810 Ebd., 110.

111 FRANZ v. BAADEB, 'Ober die Freih~it der Intelligenz. Antrittsrede bei Eröffnung der

Ludwig-MaximiUa.ns-Universitii.t in München (1826), SW Bd. 1/1 (1851). 14.6.

86
m, 7, Philosophie, Ethik - · R~lipon 11e.it 1800
unter der Verwaltung der Dogmatiker, despotisch. Allein, weil die Gesetzgebung noch
die Spur der alten Barbarei an sich katte, so artete sie durch innere Kriege nach und
nach in völlige Anarchie aus212. GEORG IMMANUEL WENZEL hat in seinem philo-
sophisch-staatsbürgerlichen Lehrbuch (1804) Anarchie ganz traditionell als Verfalls-
form ·(Mangel aller Re,gif!/fung) des Zwischenreiches ( inte'fregnum) zwischen zwei
Monarchien gedeutet21a. Kants Schüler und Nachfolger in. Königsberg, WILHELM
TRAUGOTT KRUG, beklagte schon 1801, daß auf dem Gebiete der Philosophie noch
bis auf den heutigen Tag die vollkommenste Anarchie bestünde und daß viele' •.• sogar
in dieser Anarchie aas Heil der Wissenschaft suchten214• Er hob 1819 in einer Para-
phrase zur Vorrede der 1. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" hervor: Sowie
nun der Dogmatismus ein philosophischer Despotismus ist, so kann man den Skepti-
zismus einen philosophischen Anarchismus nennen. Denn da er in der Philosophie
gar keine sicheren Erkenntnisprinzipien zuläßt, so müßte auf dem Gebiete dieser
Wissenschaft eine gänzliche Anarchie stattfonden216 . In die Geschichte der Philosophie
hat Krug als erster den Begriff philosophischer Anarchismus aufgenommen. 1802 un-
terschied er drei Methoden des Philosophierens, die thetische, antithetische und
synthetische. Der thetischen Methode ordnete er die Begriffe Dogmatizism, philo-
sophischer Despotism zu; der antithetischen Methode: Skeptizism, philosophischer
Anarchism und der synthetischen Methode: Kritizism, philosophischer Repu-
blikanism216. Krug ist für die Vbertragung von 'Anarchismus' und 'Anarchie'
auf die Philosophiegeschichte auch deshalb von Bedeutung, weil er diese Vber-
tragung bewußt reflektierte: Neuerlich hat man den BegriU der Anarchie auch auf
die Wissenschaften, namentlich auf die Philosophie, übertragen und daher von einem
philosophi.~chen Anarchismus geredet. Da es aber auf dem Gebiete der Wissenschaften
und namentlich auf dem der Philosophie eine herrsolumile Autorität oder ein obrigkeit-
liches Ansehn nicht geben soll: so ist jener Ausdruck nur uneigentlich zu verstehn.
Er soll nämlich bedeuten, daß es einer Wissenschaft noch an gewissen, von allen als
wahr anerkannten Prinzipien fe1Ue217 • Neben Krug haben auch andere Schüler Kants
den Begriff der Anarchie aus der Herrschaftsformenlehre übernommen; So spricht
CARL CHRISTIAN ERHARD SCHMID, einer der wenigen unbedingten Anhänger Kants,
von der sittlichen Anarchie21&.
Novil.1s hat den Begriff 'Anarchie' ebenfalls verwandt. Er setzte einerseits
Freiheit, Unendlichkeit des Denkens im Rahmen eines philosophischen. Systems

911 KANT, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede (1781), AA Bd. 4 (1903), 8. Vgl. auch
WILHELM l>ILTBEY, der von der Anarchie der Me.taphysilc spricht; Weltanschauungslehre,
Ges. Sehr., hg. v. Bernhard Groethuyeen, Bd. 8 (LeipZig, Berlin 1931), 254.
118 GoT'l'PR. iMMANuEL WENZEL, Vollstii.ndiger Lehrbegriff der gesamten Philosophie, dem
Bedürfnisse der Zeit gemäß eingerichtet, Bd. 3 (Linz, LeipZig 1804), 534.
9u W. T. KRua, Entwurf eines Neuen Orga.noil's der Philosophie oder Versuch über die

Prinzipien der philosophischen Erkenntnis (Meißen, Lübben 1801), XVI.


111 Ders., Fundamentalphilosophie oder urwissenschaftliche Grundlehre, 2. Aufl. (Jülichau,
Freistadt 1819), 273.
118 Ders., Ober die verschiedenen Methoden· des Philosophierens und die verschiedenen

Systeme der Philosophie in Rücksicht ihrer allgemeinen Gfiltigkeit (Meißen 1802), 16 ff'.
Weitere Belegstellen: ders., System der praktischen Philosophie, Bd. 3 {Wien 1819), 303.
117 K1ma 2. Aufl., Bd. 1 (1832), 134.
m C. cB:a. E. Somm>, Versuch einer Moralphilosophie, 4. Aufl., Bd. 1(Jena1802), 253.

87
Anarchie m, ß, tlhertragnng Allf die Literatur 179'-llöß
von der Anarchie ab: Das eigentliche Philosophische System muß Freiheit und
Unendlichkeit, oder, um es auffallend auszudriicken, Systemlosigkeit, in ein System
gelwacht, sein. Nur ein solches System kann die Fehler des Systems vermeiden und
weder der Ungerechti.gkeit noch der Anarchie bezogen (= bezichtigt) werden219 • Häu-
figer bei Novalis ist jedoch die positive Sicht der Anarchie, wie sie auch bei Schlegel
als Ausdruck idealistisch-romantischen Denkens zu finden ist: Wahrhafte Anarchie
ist das Zeugungselement der Reli.gion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr
glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor22°. Und SCHLEGEL formulierte
(1805/06): Indessen hat die Reformation doch insofern Anteil . ; ., als sie indirekt
durch die Anarchie das Gute hervorbrachte221. Dieses Verständnis von Anarchie hat
noch Proudhon und auch Moses Hess'beeinßußt. Auch die Jungdeutschen Laube
und Gutzkow haben Novalis' und Schlegels Anarchiebegriff übernommen.
HEGEL hat in der „Phänomenologie des Geiste11" (1807) im Autichnitt „Der sich
entfremdete Geist --.,. Die Bildung" das Selbstbewußtsein in der Situation des
8chreckens, des Terrors beschrieben. Das Bewußtsein wisse sich dabei eins mit dem
·allgemeinen Willen, aber nwht als das unmittelbarseiende Wesen, weder ihn (den
allgemeinen Willen) als die revolutionäre Regierung fHl,p,r al.~ ilie. d1'.e Ariarchis ;u
kon.~tituieren strebende Anarchie, noch sich als Mittelpunkt dieser Faktion oder der ihr
entgegengesetzten, sondern der allgemeine Willen ist sein reines Wissen und Wollen,
und es (das Bewußtsein) ist allgAmP.i11er Wille, a'ls dieses reine Wissen und Wollen992 •
In der Wechselwirkung d,e,s reinen Wissens mit sich selbst steuert das Selbstbewußt-
sein zwischen der revolutionären Regierung der Französischen Revolution, der
Anarchie und der Reaktion hindurch. Die Anarchie in dieser Sicht bleibt ein
Interimistikum ohnP. geschichtliche Eigenkraft.

8. tlhertragung auf die Literatur 1794-1855


GoETHE hat den Begriff der Anarchie in Deutschland zuerst bewußt in den literari-
schen Bereich übertragen. In der Betrachtung des literarischen Lebens seiner Zeit
sprach er - in positiver Rückprojektion - von der 'aristokratischen Anarchie':
Im ganzen war jedoch jener Zustand eine aristokratische Anarchie, ungefähr wie der
Konfiikt jener, eine bedeutende Selbständi.gkeit entweder schon besitzenden oder zu er-
ringen strebenden Gewalten im Mittel,alter2 23• Auch SCHLEGEL übertrug 'Anarchie'
in positiver Wertung auf den literarischen Bereich. DaR Schöpferische, jedoch auch
die Unstetheit, das Chaotische - Merkmale des Anarchiebegriffs - wurden jetzt
zur schöpferischen Kraft, welche die Grenzen zwischen den noch institutionalisier-
ten Formen auch in Philosophie und Kunst durchbricht: Die Philosophie poetisiert
und die Poesie philosophiert: die Geschichte wird als Dichtung, diese aber als Ge-
schichte behandelt. Selbst die Dichtarten verwechseln gegenseiti.g ihre Bestimmung;
eine l'!jf'ische Stimmung wird der Gegenstand eines Dramas und ein dramatischer Stoff
wird in lyrische Form gezwängt. Diese Anarchie bleibt nicht an den äußern Grenzen
219 NovA.LIS, Philosophische Studien aus dem Jahre 1795/96 (Fichte-Studien), Schriften,
2. Aufl., Bd. 2 (1965), 288 f. Vgl. ders., Das allgemeine Brouillon, 173 (s. Anm. 149).
22o Ders., Die Christenheit odor Europa (1799), Schriften, 2. Aud., Bd. 3 (1968), 517.
221 F. SCHLEGEL, Vorlesungen, 219 (s. Anm. 177).
222 HEGEL, Phänomenologie des Geistes, SW Bd. 2 (1927), 458.
223 GoETBE, Ta.g- und Jahreshefte zu 1794, HA Bd. 10 (1959), 44.~.

88
m. 8. Übertragung auf die Literatur 1794-1855 Anarchie

stehen, sondern erstreckt, sich über das ganze Gebiet· des Geschmacks und der Kunst.
Die hervorbringende Kraft ist rastk>s und unstet-. Goethe hat später, anknüpfend
an die englisch-französische Tradition, die Anarchie, wenn auch in einem Schlegel
entgegengesetzten Sinn, als ein historisch notwendiges Ausgangsstadium inter-
pretiert, als eine Stufe der Entwicklung ins „Weite" und „Diffuse", der neue
Festigkeit und ein allgemeiner Konsensus folgen muß. Freilich hat er sich mit dieser
Interpretation gleichermaßen von der Romantik distanziert: Ob wir gleich, was
Wissenschaft und Kunst betrifft, in der seltsamsten Anarchie leben, die uns von jedem
erwünschten Zweck immer mehr zu entfernen scheint; so ist es doch eben diese Anarchie,
die uns na:ch und nach aus der Weite ins Enge, aits der Zerstreuung zur Vereinigung
drängen muf11'2D. Die Beunruhigung durch die Unrast der Romantik klingt in diesen
Sätzen ebenso nach wie die Zuversicht der in die neue Zeit hineinragenden Klassik.
Oanz anders die Junghegelianer Bruno Bauer, Arnold Ruge, Ludwig Feuerbach
und die Jungdeutschen, Gutzkow und Laube vor allem, jedoch auch HEINRICH
HEINE. Heine, beeinflußt vor allem von Saint-Simon, sah visionär den Kommunis-
mus als sozialistische Weltrevolution heraufziehen. Deren Diktatur gegenüber nahm
Napoleon .die Züge einer lächerlichen Figur an, die Heine ironisierte: Es war eine
sonnig-marmorne Hand, eine mächtige Hand, eine von den beiden Händen, die das
vielköpfige Ungeheuer der Anarchie gebändigt und den Völkerzweikampf geordnet
hatten226• Du.mit erweist sich auch Heine als ein Repräsentant jener in den poli-
tischen Kämpfen des Vormärz sich herausbildenden Intelligenz, die mit dem
Begriff 'Anarchie' die falsche Gemeinschaftsideologie, das „falsche Bewußtsein"
der frühbürgerlichen Gesellschaft interpretieren, ironisieren und durchbrechen
wollen: Nur 0arom war die Anarchie an der Tagesordnung, weil alle die Einigkeit
wünschten227 • LAUBE bejahte die Anarchie als Ziel der Menschheitsentwicklung:
Anarchie ist das Ziel der Entwicklungsgeschichte228• Er hat, wie Walter Dietze heraus-
arbeitet, klar zwischen Anarchie als „Herrschlosigkeit" und „Unordnung" unter-
schieden229. Einer solchen zur positiven Bewertung neigenden Verwendung von
'Anarchie' korrespondiert der Gebrauch verstärkender Attribute, wenn 'Anarchie'
negativ gemeint ist. So hat GUTZKOW schon Ende der dreißiger Jahre die Anarchie
nur noch als gesetzlose Anarchie230, .als allgemeine Anarchie, das Chaos der Bildungs-

zu F. SCHLEGEL, Über das Studium der griechischen Poesie (1797), Kritische Sohr., hg.
v. Wolfdietrich Rasch (München o. J.), 115. Im 20. Jahrhundert hat FRANZ KÖRNER
die philosophische Anarchie als Vielfalt der Systeme ähnlich positiv bewertet; Die Anarchie
der philosophischen Systeme (Leipzig 1929), 8.
226 GOETHE, Geschichte der Farbenlehre (1808), HA Bd. 14 (1960), 42. Da.gegen SCHILLER,

Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen (1793/95), SA Bd. 12/2
(o.J .), 121 ff.
228 HEINRICH HEINE, Ideen. Das Buch Legra.nd (1826), SW Bd. 3/2 (o. J.), 159. Heines

Schilderung bezieht sich auf den Aufenthalt Napoleons in Düsseldorf Anfang November
1811.
227 KARL GUTZKOW, Aus den Briefen eines Narren an eine Närrin (1832), GW Bd. 3 (Frank-

furt 1845), 46.


128 HEINRICH LAUBE, Das Neue Jahrhundert, Bd. 2 (Fürth 1833), 298.
2211 WALTER l>mTZE, Junges Deutschland und deutsche Klassik, 3. Aufl. (Berlin 1962), 182.
230 So in seiner Kritik an Theodor Mundt; GUTz:s:ow, Vergangenheit und Gegenwart

(1839), Werke, hg. v. Reinhold Gensel, Bd. 8 (Berlin, Leipzig o. J.), 113.

89
Anmelaie

losigkeit, die Tyrannei der BiUlung81Jef"aclüung231 gesehen. Und LUDOLF WIENBARG,


ursprünglich, jedenfalls im ästhetischen Bereich, richtunggebend für diese Ge-
neration, hat diese interpretierend den Begriff 'Anarchie' negativ verwandt und
gleichzeitig erklärt: Es war eine strah'lende LeberuUgkeit in allen diesen Gestalten,
ein inneres, heroisches Ungestüm drängte die Gemüter ins Leben und aus jeder häuslich
dürftigen Beschränkung heraus, der Schwung der Gemüter drängte gegen jede Fessel
und drohte Sie zu zersprengen. Und doch zerftoß das Ganze niclü in Anarchie, denn die
verborgene Einheit zügelte wieder den Übermut, diese Einheit ... des Lebens, der
Kunst und der Schönheit,· welches im Mannigfaltigen das Identische festhält2112. In
solchen .Äußerungen wird deutlich, daß die Jungdeutschen - als Außenseiter
der Gesellschaft und am Rande des Scheiterns - unbedenklich jegliche Unordnung
als Chaos und Anarchie bekämpften, nachdem sie eich in dieser Gesellschaft ein-
gerichtet hatten. Soga:r der Standpunkt der Regierungen wurde jetzt übernommen:
Man will es den Regierungen glauben, daß die Gefahren d,er Anarchie groß seien, man
hat diese Anarchie erlebt und wünsclü niclü ihre Wiederkehr233.
Noch stärker ist die Abwehr der Anarchie naturgemäß bei den konservativen
Schrift.11t.t11lP.rn und konservativ-liberalen Professoren. RosENKBANZ' nogo.tivc Rück-
projektion der Anarchie (Anarchie der deutschen Tendenzen, ... Anarchie der deut-
schen KuUurJW steht ebenso in diesem Zusammenhang wie später RICHARD WAG·
NERS Zurückweisung von Carlyles Interpretation der Französischen Revolution:
die durch diese ausgelöste grauenhafte Weltanarchie kann dem deutschen Volk um so
eher erspart bleiben, als es bereits seine Revolution, die Reformation, gehabt hat'IN>.
Die Bedrohung durch die neue Zeit im allgemeinen und die nackte Angst vor der
Zerstörung der - romauti11ch1:1n - Kultur iet bei ErnHENDORFF ebenso zu finden
wie· bei Brentano, Arnim und Tieck. Eichendorft' identifizierte 'Anarchie' mit
'Barbarei' und 'Kommunismus': Hinter diesen letzten Trümmern einer tausend-
jährigen Kultur lauert freilich die Anarchie, die Barbarei, und der Kommunismus;
der Proletarier hat an der willkommenen Bresche, wie zur Probe, schon die Sturmleitern
angelegt8.

9. Vhertragung auf Wirtschaft und Gesellschaft

Die Übernahme des Begriffs 'Anarchie' im Rahmen der Nationalökonomie hat früh
begonnen, findet einen Höhepunkt jedoch erst in den vierziger Jahren des 19. Jahr-
hunderte. Schon 1792 sprach ANDR.E CB:ENIER von der schreckenvollen Anarchie,

1181 GUTZKOW, Die Ritter vom Geiste, Bd. 2 (Berlin, Leipzig o. J.), 271.
m LUDOLll' WmNBABG, Ästhetische Feldzüge (1834), hg. v. Walter Dietze (Berlin, Weimar
196'), 70.
•GUTZKOW, Vom Baum der Erkenntnis. Denksprüche (1852/68), Werke, Bd. 12 (o. J.), 61.
184 KARL ROSENKRANZ, Die Poesie und ihre Geschichte. Eine Entwicklung der poetischen
Ideale der Völker (Königsberg 1855), 668. 675.
m RICHARD WAGNER, Einleitung zum 3. und 4. Bande, C}es. Sehr. u. Dichtungen, 4. Aufl.,
Bd. 3 (Leipzig 1907), 6 f. THOMAS CABLYLE hatte das lweaking-out of unitJM&al mankind into
.ÄMrehy, into the faith and practice of No-GotJemment verkündet; History of Friedrich II
of Pruesia called Frederick the Great, Works, vol. 19/8 (London 1898), 2.
1181 EIOHENDORFI', Die geistliche Poesie in Deutschland, SW Bd. 8 (1961), 136.

90
m. 10. Le::dka 1790-1830 Aaarebie

die besO'nders in unsern schönsten Häfen herrsc'/itoa7 • BAADER brachte 1801 die all-
gemeine Anarchie d,es Welthandels mit dem Despotismus defo Nationen in Verbin-
dung238. Die Herauslösung des klassischen Topos „Anarchie und Despotie" aus der
Herrschaft.sformenlehre zeigt sich auch hier. Erst vierzig Jahre später wird der bei
Baader erstmals angedeutete, nach 1800 immer breiter gestreute Bedeutungsgehalt
des Begriffs 'Anarchie' auch in der Wirt.schaft voll sichtbar. KARL GRÜN beschränk-
te seine Anwendung noch auf den Handel (Anarchie des Handels; ... anarchistischef"
Handel) 239 • MARx verwendete 'Anarchie' erstmals 1847 als industrielle Anarchie, im
„Kommunistischen Manifest" (1847/48) als Anarchie in der Produkt,ion'IAO. Auf-
schlußreich ist, daß er den Begriff weder in den ökonomisch-philosophischen
Manuskripten (1844) noch in seiner Auseinandersetzung mit Proudhon (1845, 1847)
aufnahm. Es ist deshalb möglich, daß Marx den Begriff von WILHELM SCHULZ
(1843) übernommen hat. In Schulz' sozialkritischer Analyse der Zeit taucht dann
ein ganzer Fächer von Bedeutungen auf. Sie sind um den wirt.schaftlichen Bereich
konzentriert (anarchische Bewe.gung der Produkt,ion) 241 , führen von dort jedoch in
fast alle Bereiche der Gesellschaft: Anarckje in der Gesellschaftslehre, defo Wissen-
sch.a.ft, il.er Kunst; ... An.arch.ie und Zerfall.enhm:t in dR.r ii.lithRJ.i.~nhßn Prndukt,inn; ...
Anarchie defo Meinungen und Interessen; ... inkonsistentes und Anarchisckes242 •
Der Anarchiebegri:ff hatte seine Funktion als terminus technicus der .Herrschaft.s-
lehre endgültig verloren, er war zum kultur- und zeitkritischen Begriff geworden.

10. Niedenchlag der hiatorischen Entwicklung


in der lexikographiachen Literatur 1790--1830

Der Wandel des Anarchiebegrift's aus der vorrevolutionären über die revolutionäre
bis in die nachrevolutionäre Phase hat seinen Niederschlag in Lexika und begrift's-
geschichtlich relevanten Wörterbüchern aller Art gefunden. Die Herauslösung des

1137 ANDRE CHENIER, Über die neuesten Intrigen der französischen Demagogen, Minerva 3
(1792), H. 13, 17.
1138 FRANZ v. BAA.PER, Berichtigung des öffentlichen Urteils über den na.turrechtlichen
Grund gegen die Aufhebung der Zünfte (1801), SW Bd. 6/2 (1854), 6.
1139 KARL GRÜN, Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien, Briefe und Studien

(Darmstadt 1845), 163 f,


:uo MARx/ENGELB, Kommunistisches Ma.nüest, MEW ßd. 4 (1959), 485. Vgl. MARx, Lohn-
arbeit und Kapital, MEW Bd. 6 (1959), 397 ff. Bei Engels Belegstellen erst in: Die Ent-
wicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1877), MEW Bd. 19 (1962), 189:
<lie in <ler Pro<luktüm ke"acken<le Anarchie; geseUsekafaWhe Pro<lukti<msanarehie, ebd.,
223. 227; Anarchie der Pro<luktüm in <ler Gesellschaft, ebd., 215 f. Daß Marx und Engels
den Begriff 'Ana.rchie' sparsam verwandten, ist besonders deshalb bemerkenswert, weil
Ma.rx sich mit Proudhon auseinandergesetzt hat und Engels Godwins „Politica.l Justice"
früh bekannt war (vgl. seinen Brief vom 17. März 1845 an Marx).
:ui WILHELM: So.HtJLZ, Die Bewegung der Produktion. Eine geschichtlich-sta.tistische Ab-
handlung zur Grundlegung einer neuen Wissenschaft des Staa.ts und der Gesellschaft
(Zürich, Winterthur 1843), 63. Na.eh KARL Mrar..c.u:, Deutscher Frühsozialismus. Gesell-
schaft und Geschichte in den Schriften von Weitling und Rees (Stuttgart, Berlin 1931),
49 spricht auch Wilhelm Weitling von der ,,Anarchie der Produktion".
:ui SCHULZ, Bewegung, 116. 153. 172 f. 150. 173. 116.

91
Anarchie m.10. Lexika 1790-1830

Begriffs aus der Herrschaftsformenlehre wird in dieser Entwicklung ebenso deutlich


wie das Heraufkommen völlig neuer Bedeutungen243 • JoHANN FERDINAND RoTHS
„Gemeinnütziges Lexikon für Leser aller Klassen" (1791) verzeichnete, noch
durchaus in der Tradition des 18. Jahrhunderts, Anarchie als verdorbene Demokratie.
Das Wiener „Allge_meinnützige Geschichts- und Staatswörterbuch" von 1794
definierte 'Anarchie' als Zustand einer bürgerlichen Gesellschaft, welche kein gemein-
schaftliches Oberhaupt hat (weitere Belege: La ·democratie pure degenere facilement
en Anarchie)244• J. H. CAMPE brachte 1801 neben Regierungs- und Gesetzlosigkeit
erstmals die - später bei RotteckfWelcker und der lexikographischen Literatur
der fünfziger und sechziger Jahre sehr einflußreiche - Bedeutungsvariante Zügel-
losigkeit240. G. S. MELLIN dagegen definierte 1806 noch ganz traditionell: Regierungs-
losigkeitMll, ebenso BROCKHAUS 1809: Gesetzlosigkeit247• In der „Encycl:opaedia Bri-
tannica" von 1797 und 1810 wird, gleichlautend wie 1750 bei ÜHAMBERS, die Bedeu-
tung „Herrscherlosigkeit" ( where no supreme authority is lodged, either in the prince
or other rulers) hervorgehobenMll. Bei Mozrn sind für den deutsch-französischen
Sprachraum folgende Bedeutungen verzeichnet: etat sans ckef ou gouvernement;
Regierungslosigkeit; Gesetzlosigkeit; confusion, Msordre, ckaos249 • 1Rl7 WllTOP. im
BROCKHAUS ein Volksverein ohne gemeinschaftliche Regierungsform mit Anarchie
bezeichnet1160•
Hervorzuheben ist die relativ herkömmliche Bestimmung der Anarchie einerseits
- im Zu.~ammenhang mit dem Begriff eines sich auflösenden Staates -, die

243Auch die Nullbelege sind beachtenswert - weisen sie doch da.rauf hin, daß 'Anarchie'
von den deutschen Sprachforschern nicht als deutsches, sondern immer nur als Fremdwort
angesehen wurde. CAMP.lll nimmt 1791 'Anarchie' in seine „Versuche deutscher Sprach-
bereicherung" nicht auf, obwohl er selbst das Wort schon 1789 verwendet hatte; Briefe aus
Paris, hg. v. Helmut König (Berlin 1961), 244. Dementsprechend führt er das Wort zwar
in seinem Fremdwörterbuch (1801; s. Anm. 244), nicht jedoch in seinem „Wörterbuch der
deutschen Sprache" (CAMPE Bd. 1, 1807) an. Aus dem gleichen Grunde ist 'Anarchie'
vermutlich nicht verzeichnet bei: HEYNATZ Bd. 1 (1795); GRIMM Bd. 1 (1854); LORENZ
DIEFENBACH/ERNST WÜLCKER, Hoch- und niederdeutsches Wörterbuch der mittleren und
neueren Zeit (Ba.sei, Leipzig, Frankfurt 1885). Andererseits ist das Wort aber auch nicht
in HEYNATZ, Antiba.rbarus, Bd. 1 (1796) enthalten. -Trotz der auffallend häufigen Ver-
wendung des Begriffs 'Anarchie' im Bereich der Philosophie wird der Begriff von KARL
HEINR. Lunw. PöLITz, Encyklopädie der gesammten philosophischen Wissenschaften
(Leipzig 1808) nicht behandelt, wohl aber von GEORG SAMUEL ALBERT MELLIN,
Allgemeines Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (Magdeburg 1806), 179.
m Vgl. CATEL t. 1 (1800), 59. Hier ist auch das Wort 'ana.rchiste' mit der deutschen Über-
setzung „Anarchist" verzeichnet, das außer bei CAMPE, Fremdwb. (1801), 152 im
deutschen Sprachraum nicht lexikographisch festgehalten worden ist.
M 6 Man kann daher aueh Zügellosigkeit für Anarchie aagen. So heißt ea z.B. in der Schweize-
rischen Bürgereidesformel: „. . . mit einem gerechten Haaae gegen die Anarchie oder Zügel-
losigkeit"; CAMPE, l!'remdwb., 152.
246 MELLIN, Wörterbuch, 179 (vgl. Anm. 243).

M7 BROCKHAUS Bd. 1 (1809), s. v.


MB Enc. Brita.nnica, 3rd. ed., vol. 1(1797);4th ed., vol. 1 (1810); ÜHillBEBS vol. 1 (Ausg.
1750), s. v.
MB Mozm, dt. Tl., Bd. 1 (1811), 45.
260 BROCKHAUS 4. Aufl.., Bd. l (1817), 187.

92
IV. 1. Begrlilaerweltel'UlllJ uad Begrl«1111ulweichu11g Anarchie

Radikalisierung der negativen Bedeutung von 'Anarchie' bis hin zu „Chaos" an-
dererseits. Darüber hinaus ist darauf zu verweisen, daß die
Definitionsmerkmale,
die Chr. D. Voß vorgeschlagen hatte, auch Eingang in die Lexikographie gefunden
haben. So heißt es im BROCKHAUS von 1827: Anarchie sei der Zustand nicht sowohl
der Gesetzlosigkeit, sondern vielmehr des Mangels einer mit Erfol,g befehlenden Macht251 •
RoTrECK hatte zuvor (1819) geschrieben: Anarchie ist der Zustand eines gemeinen
Wesens oder einer politischen Gesellschaft, worin keine (positiv angeordnete) Ober"
gewalt besteht oder anerkannt wird252 • Schließlich ist der Beachtung wert, daß die
konkreten Ereignisse der Französischen Revolution mit dem Begriff'Anarchie' kaum
in Verbindung gebracht wurden253• Ebenso ist der Begriff 'Anarchist' selten ver-
zeichnet und - wenn er aufgenommen wurde - nicht konkret politisch definiert
oder beschrieben worden264.

IV.

I. Begriffserweiterung und Begrifl'saufweichwig

In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde 'Anarchie'
einerseits noch einmal auf den Begriff gebracht (Proudhon, Hess), andererseits
wird die Aufweichung der tradierten Bedeutungsgehalte - gerade in ihrer immer
stärkeren Polarisierung - in Italien, Deutschland und Frankreich offen sichtbar,
und die verhüllende Funktion des Begriffs tritt erstmals in seiner Geschichte klar
hervor. ·
Revolutionäre (MAZZINI 1831) gebrauchten den Begriff sowohl in unpolitischer
Beschreibung der .~ch,rP.ckli.chen Fol,gen der Revolution256 wie als Instrument der
politischen Entlarvung. Ähnlich wie bereits Buonarroti formuliert jetzt der re-
präsentative Programmatiker des neobabeuvistischen Kommunismus jakobinischer
Tradition .ALBERT LAPONNERAYE (1838): Sie wollen die Anarchie, sagen die Männer
an der Macht. Anarchie! Sie geben diesen Namen allem, was nicht zu ihrem System
gehört. Was ist aber das Ergebnis ihres Systems weiter als die niederdrückendste, die
unheilvollste Anarchie ?258. Weitere Nachweise sind in der radikalen Flugblattliteratur
in Deutschland zu finden. So hieß es etwa im Februar 1832 im „Westboten":

261 Ebd., 7. Aufl., Bd. 1 (1827).


1162 RoTTECK, Art. Anarchie, EBsCH/GRUBER 1. Sect„ Bd. 3 (1819), 467.
1163 Die Enc. Britannica (1797 u. 1810), in der zahlreiche konkrete Beispiele aufgeführt

sind, erwähnt die .Französische Revolution nicht. BROCKHAUS 3. Aufl„ Bd. 1 (1814)
bezieht lediglich in einem Nebensatz die Französische Revolution mit ein. Demgegenüber
ROTTECK, Art. Anarchie, 469 (s. Anm. 252).
254 ÜA.llll'E, .Fremdw., 2: Aufl. (1813), 109 definiert: ein Gesetiloaer, Zügelloaer. B. (=Mit-

arbeiter Dr. Anton Bernd) hat Gesetzatürmer dafür vorgeschlagen. Vgl. CATEL t. 1 (1800),
59: Partisan de Z'anarchie, fauteur de tr<YUbZes; Mozm, franz. Tl„ 2° ed„ t.1 (1826), 46: Parti-
san de Z'anarchie, Regierungsfeind, Gesetzfeind.
1165GrusEPPE MAzZINI, Aphorismus, Schriften, hg. v. Ludmilla ABBins, Bd. 1 (Hamburg
1868), 196.
218 ALBERT LAPoNNERAYE (1838), zit. ROGER GARAUDY, Die französischen Quellen des

wissenschaftlichen Sozialismus (Berlin 1954), 188.

93
Anarehie IV. 1. .Begriffaerweitenmg un• Begrifr.aufweiebung
Wir könnten die Frage aufwerfen, was denn eigentlich Anarchie sei. Stall aller Antwort
dürften wir nur auf den Zustand Deutschlands verweisen, wo die Anarchie in der
erbiirni/,ichsten Gestalt uns entgegentritt. Denn was heißt Anarchie? Abwesenheit einer
gesetzmäßigen Regierung. Wo aber ist ein wahrh<zft gesetzmäßiger Zustand in Deutsch-
land? ... Doch es ist wahr, in Deutschland, als einer Gesamtheit, besteht keine An-
archie, denn wie kann Anarchie in einem Dinge bestehen, das selbst nicht besteht, das
ein bloßes Gedankending ist und nur am Oh<zmpagnertische der Frankfurter Junker
einige Realitiit"hat, woran es allerdings zuweilen etwas anarchisch hergehen mag•
. . . Heißt Wegräumung einer solchen schmachvollen, die Menschheit entehrenden
Willkürherrsch<zft Anarchie, nun ja, dann bin ich ein Anarchist. Und in den sog.
konstitutionellen Staaten? In einigen ists beinahe etwas besser, in andern noch schlim-
mer. Bayern z. B. hat eine Verfassung, aber die Regierung erkliirl im Landtags-
abschiede, daß sie sich nicht daran kehre. Dort geht die Anarchie vom Kabinett aus257.
'.Anarchie' ist also - ironisch und ernst verwendbarer - Kampfbegriff von „rechts"
wie von „links".
Der Junghegelianer ARNOLD RuGE unterschied 1849 zwischen theoretischer An-
archie (als thcorctisohcr Freiheit) und geordneter Anarch·ie (als Selbstregierung des
Volkes) 258, nachdem er schon in einem seiner Briefe an Marx (1843) vom freien Staat,
der keinem Herren gehört, geschwärmt hatte269• Der Linkshegelianer WmTH analysier-
te 'Anarchie' ideologiekritisch, rechnete ihre Abwehr den politischen Kunstgriffen
der Konservativen zu und stellte den Begriff in den Zusammenhang von Freiheit
und Aufklärung: Oder wollen die c!-eutschen Republikaner vielleicht die Anarchie,
sollte oder müßte durch ihr System etwa das Eigentum der wohlliabe,nden Bürger und
die lJfjentliche Ordnung in Gefahr gesetzt werden? Lasse man sich nicht durch das Ge-
spenst der Anarchie beunrohigen! Es ist dies nichts weirer, als ein Kunstgriff der
Gegner der Aufkliirung und Freiheit28o.
In der polemischen Lehrbuch- und Zeitschriftenliteratur wirkten sich wortge-
schichtlich interessante Begriffserweiterungen aus281 • Nachdem Hegel schon 1807
'Anarchie' und 'Entfremdung' in einem Zusammenhang verwendet hatte, drang
diese Verbindung jetzt, wenn auch noch nicht politisch artikuliert, in die eigentliche
politische Tagesliteratur vor: Die Reaktionäre nennen das Anar;.hie und von einigen
unserer Partei ist es aooh zugegeben worden, daß sie unser eigentliches Streben ist,
eine plumpe Aufrichtigkeit, die den schärfsten Tadel verdient, weil sie uns viele der
tüchtigsten H(J,nde und Köpfe entfremdet hat. Leider ist es nur zu wahr, das Volk ist
noch lange nicht in allen seinen Schichten politisch gebildet genug, um einzusehen,
daß einzig und allein die Revolution in Permanenz, mit anderen Worten Anarchie,
das Heil der Völker ist282 •

I
267 Westbote, Nr. 50 (19. 2. 1832).
268 ARNOLD RuGE, Die Gründung der Demokratie in Deutschland (Leipzig 1849), 73.

269 ARNOLD RuoE o.n Karl Marx (Mirz 1843), in: MAB.x, Frühe Schriften, hg. v. Siegfried
Landshut, Bd. 1 (Stuttgart 1953), 429.
210 JoH. GEORG Auo. WIRTH, Die politisch·reformatorische Richtung der Deutschen im
16. und 19. Jahrhundert (Beße.Vue 1841), 222.
211 Vgl. Anm. 132.
• JAXOB RADIXE, Lehrbuch der Demagogie (Leipzig 1849), 64.

94
a) Vorläufer: William Goclwin Anarchie

Der konservativ-reaktionäre Bedeutungsgehalt des Begriffs hat sich, wie aus diesem
Zitat ersichtlich, endgültig verfestigt. Diejenigen, die der Anarchie einen positiven
Bewegungscharakter verleihen, waren an den Rand der sich mehr und mehr
etablierenden bürgerlichen Gesellschaft gedrängt. Zweifellos liegt hier einer, wenn
nicht der wesentliche Grund, der zur Formulierung anarchistischer Utopien und
zum Kampf unter der Fahne der Anarchie geführt hat. Vous aviez, heißt es in ei-
nem Leitartikel des „Globe" a briser une hierarchie brtdale, des inegalites repoussan-
tes est une unite oppressive; vous leur avez oppose la negation de toute hierarchie,
c'est-a-dire l'anarchie; la negation de toute inegalite, c'est-a-dire egalite absolue; la
negation de toute unite, c' est-a-dire la liberte 26a.

2. Zwischen Utopie und Organisation

a) Vorläufer: William Godwin. Abseit.'1 vom kontinentaleuropäischen Geschehen


war die englische Entwicklung vorangegangen. Durch die englische Rezeption
der Gedanken Montequieus und Rousseaus und durch die Rückwirkung besonders
Godwina 11uf die naohrevolutioniire Epoche in Frankreich und Deutschland war
der Einfluß des engli.Schen Dissidententums auf das kontinentaleuropäische Staats-
und Gesellschaftsdenken stark gewachsen. Das gilt besonders für Max Stirner und
Moses Hess sowie für den utopischen Sozialismus überhaupt wie später für Bakunin.
Schon 1756 war EDMUND BURKES „A Vindication of Natural Society" erschienen.
Seine Verteidigung der natural society, die er als union of many families bezeichnete
und deren „Freiheit" und „Einfachheit" er nicht müde wurde zu beschwören,
hat starke Ausstrahlungskraft besessen -:- besonders auf William Godwin. Burke
konfrontierte die natural society („Freiheit") der künstlich geschaffenen political
society. In ihr finden sich: hierarchy, ... subordination, mithin the reciprocation
of tyranny and slavery. (Tyrannei war für Burke identisch mit Despotismus, the
simplest form of government). Jedoch auch die Aristokratie war nur dem Namen nach
vom Despotismus zu unterscheiden, ja sie stand in der Rangskala noch unter
ihm284 •
Die extremste Form des Despotismus war der schon von Montesquieu verabscheute
asiatic. despotism. Burke stellte 'Despotismus', 'Tyrannei' und 'Anarchie' in einen
Zusammenhang265 • Allerdings seien 'Despotismus' und 'Tyrannei' eher abzulehnen
als 'Anarchie': ... the greatest part o/ tlte guvenmwnls on earth must be concl~
tyrannies, impostures, violations o/ the natural rigJas of mankind, and worse than the
most disorderly anarch~.
Sicherlich ist es gerechtfertigt, Burkes starken Einfluß auf Godwin hervorzuheben;

1A Aux Liberaux, Le Globe. Journal de la doctrine de Saint-Sinion, 7. Jg., Nr. 33,


2. 2. 1831, s. 1.
- EDIWND BtrBlUI:, A Vindication of ~atural Society (1756), The Works, rev. ed., vol. 1
(Boston 1865), 37. Die Rangskala negativer Herrschaftsfon:nen sieht wie folgt aus: Aristo-
kratie, Tyrannei, Despotismus, Anarchie.
1186 Ebd., 34. Allerdings verwendet Burke das Wort 'anarchy' nur einmal, während 'ty-
ranny' und 'despotism' in zahlreichen Abwandlungen erscheinen.
118 Ebd., 34. Auch für tyranny verwendet er das Attribut diaorderZy; ebd„ 37.

95
Anarehie IV. 2. Zwiaehen Utopie und Organisation

ihn aber als „anarchistischen Vorläufer von Godwin" zu interpretieren267 , ist so-
wohl geistes- wie wortgeschichtlich ungenau. Auch Godwins Anarchismus entsprang
einem extremen Individualismus. Die - ebenfalls bei Milton268, Swift, Locke,
Bolingbroke und Adam Smith angelegte - Trennung von Staat und Gesellschaft
zielte auf eine rationale und gleichermaßen natürliche 'Gesellschaft ohne Regierung
und Herrschaft. Diese für Rousseau und die an ihn anschließenden Denker so un-
gewöhnlichen Auffassungen sind schon bei Locke ausgeprägt, bei dem bereits „the
state of nature" gleich dem „state of reason" war. BoLINGBROKE sah in der ab-
soluten Freiheit ebenso die (negativ gewertete) Anarchie wie in der absoluten
Demokratie. Die absolute Freiheit wie die absolute Demokratie hat er deshalb
gleichermaßen verurteilt. Absolute Demokratie war für ihn - obwohl sie weniger
weit von der „Natur" entfernt ist als die Monarchie - tyranny and anarchy both289.
GonwIN glaubte, daß die Anarchie der personal security des einzelnen gefährlicher
sei als der Despotismus; jedoch anarchy in its own nature is an evil o/ short duration
... despotism is as perennial as anarchy is transitory270 • Godwin hob auch deshalb
die positiven Züge der Anarchie hervor, weil sie der community frische Kräfte ver-
mittele: Anarchy awakens niind, diffuses eturgy and entet·prise tltfö·uglt tlw cum-
munity, though it does eUect this in thebest manner271 • Anarchie bleibt also nicht mehr
Zwischenzustand im verfassungs- und herrschaftstheoretischen Sinn. Damit wurde
der in ßurkes „natural society" angelegte Begriff der schöpferischen Freiheit des
einzelnen, über die Vermittlung Rousseaus272 , mit dem Begriff 'Anarchie' ver-
schmolzen. Dennoch interpretierte Godwin, der stärker der Tradition Lockes als
der Rousseaus verhaftet ist, 'Anarchie' individualistisch-rationalistisch („state of
reason "). Um diese positive Bedeutung von• Anarchie' abzusichern273, nahm Uotlwin
den klassischen Topos Anarchie/Despotie wieder auf, indem er ihn dreifach vari-
ierte: Anarchie könne in Despotismus ausmünden; sie könne zu einer Abmilderung
des Despotismus - und sie könne schließlich zur wirklichen Freiheit(,, true liberty")
führen. Godwin suchte diesen Gedanken auch historisch zu konkretisieren274 •

267 So P!ERRE R.urns [d. i. RUDOLF GRASSMANN], William Godwin, der Theoretiker des

kommunistischen Anarchismus (Leipzig 1907), 8 ff. In gewisser Weise auch NETTLAU,


Vorfrühling, 55 (vgl. Anm. 30). F. E. L. Plq:ESTLEY hebt zu Recht hervor, daß Burke
und Godwin vor allem hinsichtlich der Verurteilung des Despotismus zu vergleichen sind;
Critical Introduction and Notes zu: WILLIAM GoDWIN, An Enquiry Concerning Political
Justice and its Influence on Moralsand Happiness (1793), cd. F. E. L. Priestley, vol. 3
(Toronto 1946), 39.
2119 JOHN Mn.TON, Paradise Lost, Bücher 2 u. 9.
2119 HENRY SAINT-JOHN BoLINGBROKE, Dissertation on Parties, Works, vol. 1 (Philadelphia

1841), 178.
1170 GoDWIN, Enquiry (s. Anm. 267), ed. R. A. Preston, vol: 2 (New York 1926), 185. 186,

vgl. 48.
271 Ebd., 187.
272 Vgl. LEBLIE STEI'IIEN, History of English Thought in the Eighteenth Century, 3rd. ed.,

vol. 2 (New York 1927), bes.186 ff.


279 HELENE SAITZEFF, William Godwin und die Anfänge des Anarchismus im 18. Jahr-

hundert (phil. Diss. Heidelberg 1907), 65 nennt diese Tradition „aus dem Gedankenkreis
des radikalen Dissidententums stammend".
274 GoDWIN, Enquiry, vol. 2, .188 (s. Anm. 270).

96
b) Pierre-Ju~epb Pruudbon Anarchie

Godwins Einfluß, nicht nur auf den Hauptstrom der Entwicklung des Anarchie-
begriffs, sondern auch auf seine Freunde und Zeitgenossen besonders in der Literatur
war beträchtlich. So sind Spuren seines Anarchiebegri:ffs bei seinem Freund SHEL-
LEY zu finden. In seiner philhellenischen Lyrik treten freilich, im Unterschied
zu Godwins rationalem Individualismus, die leidenschaftli~h-verzweifelten, die
romantischen und irrationalen Züge stärker in den Vordergrund276. Die Zer-
rissenheit der romantischen Intelligenz, ihre Visionen und ihr Haß auf Staat und
Kirche spiegeln sich in Shelleys Lyrik. Einerseits wertet er - in seinem Gedicht
„The Mask of Anarchy", das er kurz nach dem blutig niedergeschlagenen Aufstand
in Manchester (1819) geschrieben hat - 'Anarchie' negativ: Murder, Fraud, and
Anarchy276. Andererseits war ihm der Einbruch der Anarchie die letzte Hoffnung,
Tyrannei und Despotismus zu zerstören277 :
That multitud,inous anarchy did sweep
And hurst around their walls, like idle foam,

1nto the shadow of her pinions wide


A.narchs and priests, who feed on gold and blood

The Anarchies of Africa unlea.'h


Their t,empest-winged cities of the sea,
To speak in thunder to the rebel world.
b) Pierre-Joseph Proudhon. PROUDHON griff den Begriff 'Anarchie' vor allem in
seiner Kampfschrift „Qu'est-ce que la propriete 1" (1840) auf: Oom'TJ'W l'homme
cherche la justice dans l'egalite, la societe cherche l'ordre dans l'anarchie278 • Dabei
verglich er Gerechtigkeit und Gleichheit - als letzte vom Menschen unabhängige
Wahrheiten - mit der verite matMmatique. Diesem positiven Bedeutungsgehalt
von 'Anarchie', der Proudhons Werk bis in die nachgelassenen „Carnets" durch-
zieht279, stellte er die herkömmliche negative Definition von 'Anarchie', gegenüber:
Anarchie, absence de maUre, de souverain, telle est la forme de gouvernement dont nous
approchons tous les jours, et que l'habitude inveteree de prendre l'hom'fl'W pour regle et sa
volonte pour loi nous fait regarder com'fl'W le comble du desordre et l' expres.,ion du chaoßlß0 •
Proudhons Ideologiekritik bediente sich vor allem politisch-ökonomischer Argumente

271 HENBY NolL BRAILSFORD, Shelley, Godwin and their Circle (London, New York,
Toronto 1949), 86.ff. -
27' PERCY BYSSHE SHELLEY, The Complete Poetical Works, ed. Thomas Hutchinson

(Ndr. London, New York, Toronto 1961), 340, v. 101.


277 Ders., Ode to Liberty (1820), v. 129 f. 42 f., ebd., 606. 604; Hellas (1821), v. 299 ff., ebd.,

459.
27s PRoUDHON, Oeuvres compl., t. 5 (1926), 339.
279 Allerdings finden sich in einigen Werken Proudhons, seit der 1852 erschlenenen Schrift

„Du principe federative", auch schon andere Bedeutungen der Anarchle (als „unerreich-
bares Ideal"). In der Literatur hat CARL GRÜNBERG, Art. Anarchlsmus, Wb. d. Volks-
wirtsch., Bd. 1 (1898), 68f. darauf hingewiesen.
280 PRouDHON, Qu'est-ce que la propriete ?, Oeuvres compl., t. 5; 339. Proudhon merkt

dort zum Begriff 'Anarchie' an: Le Bens ordinairement attribue au mot anarckie ut abaence
de principe, abBence de regle; d'<JU vient qu'on l'a fait ayn<>nyme de deaordre.

7-90385/1 97
Anarchie IV. 2. Zwischen Utopie nnd Or1aniaation

(l' anarchi,e des forces economiques ) 281 • Darin unterschied er sich von Babeuf und Buo-
narroti, jedoch auch von Laponneraye. '~igentum' wurde zum Schlüsselbegriff, 'Des-
potismus' ?.um negativ besetzten Gegenbegriff: La propriBM engenilre neoessairement le
despotisme'JB2. Proudhon forderte die Abschaffung des Eigentums und begründete da-
mit seine Freiheitslehre. Die Freiheit war aber nicht jene individualistische Freiheit,
wie sie Burke und Godwin beschrieben, im Gegenteil: La liberli est anarchie, parce-
qu' elle n'admet p<l!I le gouvernement de la volonte, mais seulement l'autmite de la loi,
c'est-a,dire de la necessite ... La liberte est essentiellement organisatrice'1ß8.- Dement-
sprechend wurde 'utopie' abgewertet: Tomberions-nous fatalement dans l' anarchie,
de l'anarchie dansi'utopie, de l'utopie dans le chaos?W.Aus der Verbindung von Frei-
heit, Gleichheit und Organisation schaffen sich jenseits aller oppression die Menschen
la plus haute perfection de la societe ... dans l'union de l'ordre et de l'anarchie286 •
In einem seiner spätesten Briefe (1864) formulierte Proudhon durchaus folgerich-
tig: Die Anarchie ist ... eine Regiemng.~Jnrm. nif,p,r VP.rfn.R.~u:rujlß&. Im An11chluß an
Proudhon sprach schließlich GARNIER-PAGES von der anarchie positive'lß7 •
Proudhoiis Lehre hat in Frankreich und Deutschland nachgewirkt - in Frankreich
besonders in den zahlreichen „clubs" und „ateliers", die auch in den vierziger
Jahren fortbestanden (z. B. „Les amis du peuple"). Deren Anhänger vertraten,·
unter Bezug auf Proutlhon, das individuelle Glück als Mittel zur allgemeinen Har-
monie188.
In Deutschland lassen sich direkte Einflüsse Proudhons bei Karl Grün, Wilhelm
Marr, Karl Vogt, Moses Rees und schon relativ früh (1848) bei Michael Bakunin
nachweisen289 • So hoffte GRÜN, den Begriff 'Anarchie' mit Hilfe der Wissenschaft
in bestimm.te JJ'om1en fassen zu können. Grün ist von Proudhon wie von Marx be-
einflußt: Das endliche Ziel selbst hat Proudhon in seinem Hauptmemoire in genialer
Weise richtig bezeichnet, indem er es Anarchie nennt. Allerdings, Anarchie ist da.~ Ziel.
Anarchie heißt Herrschaftslosigkeit, also die Entfernung jeder Selbstentäußerung, jeder

281 Ders., Idee glmere.le de la revolution au XIXe siecle, Oeuvres compl., t. 6 (1924), 128.
282 Ebd., 341.
283 Ebd„ 343 f.
2" PRoUDHON, Carnet Nr. 5 (1847), Carnets, 6d. Pierre Haubtmann, t.2 (Paris 1961), 134. Im

übrigen sei darauf verwiesen, daß dies eine der wenigen Belegstellen zu dem in der For.
schung noch wenig behandelten Problem.komplex .Anarchie - Utopie ist.
286 PRouDHON, Oeuvres compl., t. 5, 346.
288 PRouDHON am 20. August 1864, Correspondance, 6d. Jeröme Am6d6e La.nglois, t. 14

(1875), 32, zit. MAX NETTLAU, Der .Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine
historische Entwicklung in den Jahren 1859-1880 (Berlin 1927), 5.
287 LOUIS ANTOINE GARNIER-PAGES, Histoire de la Revolution de 1848, 2• ed., t.5 (Paris

1866), 470.
288 Vgl. LORENZ v. STEIN, Der Socia.Iismus und Communismus Frankreichs von 1830 bis

1848, 2. Aufl. (Leipzig 1855), passim; ferner NETTLAu', Vorfrühling, 141 (vgl . .Anm. 30).
288 KARL VOGT schrieb im Dezember 1849: Komm denn, du süße, welterlöaende Anarchie,

welcher daa bedrückte Gemüt dea Regierten wie des Regierenden entgegenaeufzt, als der einzigen
Retterin aua diesen Zuatänden der Verdumpfung, kamm und erlöae una von dem Übe],, daa man
Staat nennt, zit. NETTLAU, Vorfrühling, 165; vgl. 162.

98
e) MoseaHess Anarchie

Selbstentfremdung, reine Selbstbestimmung des sozialen Menschen290 • MARR setzte


ebenso wie Proudhon Freiheit mit An-Archie gleich291 und schrieb: Daß die Mon-
archie· . . . nicht bestehen kann, ergibt sich von selbst. Die Polyarchie, welche sich im
reinen Repräsentativsystem ausspricht, ist eben/alls durch Theorie und Geschichte vor
dem Richterstuhle der Individualität verurteilt. Seinen wahren AU8druck findet der
Individualismus erst in der Omnwrchie, welche gerade dadurch, daß sie die He1rschaft
aller ernst nim1nt; die Herrschaft des oder der einzelnen unnötig macht - Anarchie
wird292 • Vor allem Marr hat Proudhon in seinem Kampf gegen den „autoritären
Kommunismus" unterstützt, den später Bakunin, z. T. mit den gleichen Argumen-
ten, gegen Marx wieder aufnahm. MosEs HEss hat besonders 1843 die absolute
Gleichheit, den französischen Kommunismus einerseits (gemeint ist Proudhon) mit
der absoluten Freiheit, dem deut.~chen Atheismus andererseits verbinden wollen293
um den Bruch in der Geschichte, den Bruch zwischen Frankreich und Deutschland,
zu kitten: Diesen Bruch haben die Franzosen 1~nd De1dschen z1"8f.a11d.e gebracht, die
erstern, indem sie die Anarchie in der Politik, die andern, indem sie dieselbe Anarchie
in der Religion hervorriefen294•

c) Moses Hr.u. Eine letzte Aufgipfelung erfährt der Anarchiebegri:ff in den Jahr-
zehnten nach der Französischen Revolution bei MosEs HEss. Bei ihm treffen die
Ansätze Babeufs und Proudhons einerseits, Montesquieus andererseits mit, seiner
eigenen spiritualistischen (Jeschichtsphilosophie zusammen. Noch einmal tritt die
ganze Fülle der revolutionären und nachrevolutionären Bedeutungsgehalte hervor.
Hess sah, sicherlich noch über Proudhon hinausgehend, Anarchie einmal als Auf-
hebung aller Autorität und Hierarchie, zum anderen als den positiven Status der
Freiheit: Die Anarchie, auf welche sich die beiden Erscheinungen, Atheismus und
Kommunismus, zurückführen lassen, die Negation aller Herrschaft im geistigen wie
im sozialen Leben, erscheint zunächst als schlechthinnige Vernichtung aller Bestim-
mung, mithin aller Wirklichkeit. Aber es ist in der Tat nur das äußerliche Bestim1nt-
werden, die Herrschaft des einen über den andern, was die Anarchie aufhebt. Die Selbst-
bestimmung wird hier so wenig negiert, daß viel1nehr deren Negation (die durch das
Bestimmtwerden von außen gesetzt) wieder: aufgehoben wird. Die durch den Geist ge-
schaffene Anarchie ist nur eine Negation der Beschränktheit, nicht der Freiheit 296 •
Atheismus und Kommunismus, die beiden großen, wieder zu versöhnenden Mächte
der Zeit, führte er sowohl auf die Anarchie zurück, wie er sie mit Anarchie identi-
fizierte: ... aller Kommunismus und Atheismus, aller Anarchie ... 296 • Entsprechend
wurden auch Atheisten, Kommunisten und Anarchisten in einem Atemzug genannt297 •

290 GRÜN, Soziale Bewegung, 448 (s. Anm. 239). Vgl. auch GEORG ADLER, Die Geschichte
der ersten Sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland mit besonderer Rücksicht
auf die einwirkenden Theorien (Breslau 1885), 94; NETTLAU, Vorfrühling, 161. ,
291 WILHELM MARR, Anarchie oder Autorität ? (Hamburg 1852), 128.
292 Ebd., 108.
293 MosEs HEss, Sozialismus und Kommunismus (1843), Ausg. Sehr., hg. v. Horst Lade-

macher (Köln 1962), 154.


294 HEss, Philosophie der Tat (1843), ebd., 137.
296 Ebd., 143.
296 Ebd.

297 Ebd., 144.


Anarehie IV. 3. Konservative und liberale Reaktion seit 1830

Hess sah mit der Französischen Revolution einen absoluten historischen Neuanfang
gegeben. Dieser Neuanfang ließ die frühere Geschichte der Menschheit, die in einer
wortgeschichtlich bedeutenden Weise charakterisiert wird - absolute Religion, ...
absoluter Staat, ... Monarchie, ... Despotismus, ... der Absolutismus der himm-
lischen und irdischen Tyrannen und Sklaven sind einige der von Hess gebrauchten
Begri:ffe298 - hinter sich. Dem stehe die neue Geschichte gegenüber: Das 1ndividuum
fängt wieder mit sich, die Geschichte mit Anno 1 an, macht in raschen Zügen, a'IJ,f den
Schwüngen des Geistes, den Weg von der Anarchie der abstrakten Freiheit aus durch
die Knechtschaft zum Zetzt,en Male und gelangt endlich zur wirklichen Freiheit299•
Hess unterschied, noch vor Marx, die Anarchie der abstrakten Freiheit nach der
Revolution von einer weiter zurückliegenden, roheren Form der Anarchie: Kom-
munismus und Anarchie tauchten auch damals auf, niimlich Bärenkommunismus,
}'reiheit als Bchrankenlosigkeit300• Die historische Frühphase der Anarchie wurde
noch einmal mehrfach aufgegliedert: Anarchie des ,Li,beralismus, ... Anarchie des
Terrorismus, ... Anarchie der materiellen lnteressen301• Alle diese Formen der
Anarchie seien historisch überholt. Die Gegenwart strebe einer dritten Form zu,
einer Synthese von revolutionärem Terror („die Tat") und Tugendhaftigkeit. Dies,
die Synthese aus Robespierre, Babeuf, Saint-Just einerseits, Montesquieu anderer-
seits und schließlich Burke und Godwin, ist gemeint, wenn Hess 'Anarchie' dahin-
gehend bestimmt, di,e äußerlichen Schranken in Selbstbeschränkung, den äußeren
Gott in den innern, das materielle Eigentum in geistiges umzuschaffen300 • Hess for-
derte, über die Revolution zur SiUlichkeit fortzuschreiten, das bisher unbegriffene
Symbol der Tugend mit neuem Inhalt zu füllen. Der Bezug auf Montesquieus Begriff
der Tugend, die dieser der Republik zugesprochen hatte, ist explizit: Die Vor-
liiujer der Revolution haben diese Lösung des Rätsels geahnt, Montesquieu schon sagte,
die Republik sei nicht möglich ohne Tugend3 03• Hess hat damit niobt nur den Anarchie-
begrifi' in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am schärfsten historisiert und
differenziert, er hat auch - aus dem Abstand zur Französischen Revolution __:_
eine Synthese der letzten Jahrzehnte herzustellen versucht, die wesentlich um den
Begriff der Anarchie konzentriert ist.

3. Konservative und liberale Reaktion besonders in der


lexikographischen Literatur seit 1830

Seit 1830 und besonders seit 1848 versuchten Liberale, Konservative und Re-
aktionäre, sich von Anarchie und Anarchismus abzusetzen und im Zuge der sich
festigenden bürgerlichen Gesellschaft das Prinzip einer vemünftigen Positivitä.t

298 Ebd., 138.


H•Ebd.
800 Ebd., 145.

80l Ders„ Das Zusammenhalten der materiellen und Privatinteressen (1843), Philos. u.
sozia.listische Sohr. 1837-1850, hg. v. Auguste Comu u. Wolfgang Mönke (Berlin 1961),
249.
802 HEss, Philosophie der Tat, 143 f.

308 Ebd., 146.

lOQ
IV. S. Kouenadve und Jlherale Reakdon seit 1830 Anarchie

ideologisch zu verankern. Dafür war fast jedes Mittel der Beschuldigung recht.
So wurde die deutsche Nationalversammlung vom Katholischen Verein Deutsch-
lands im Jahre 1848 warnend darauf hingewiesen, daß die ;1."ußerung falsch ver-
standener Freiheits'begriffe anarchische Bewegungen in manchen Teilen Deutschlands
erre,gt hätten804• Anarchie wurde jetzt als Verbrechen gegen den Swat, als Hochverrat
und .Rebellion805, jedoch auch als Abnormität, als ein Gebrechen des gesellschaftlichen
V erhäUni&ses806 angeprangert. Eine solche Abwertung wurde im Rahmen des er-
weiterten Verfassungsbegriffs, wie er sich schon Anfang des Jahrhunderts heraus-
gebildet hatte, vorgenommen: Anarchie sei der Zustand eines Staates, da die rich-
tende und ausübende Gewalt entweder aufgehört hat oder doch so gehemmt und gesunken
ist, daß den Gesetzen weiter kein Nachdruck gegeben werden kann3 07 •
Neben der Depravierung stand das Bemühen um Erklärung. Die soziologische
Zurechnung ist ebenso fortgeschritten wie der demagogische Appell an die ein-
sichtsvol'le Meh.rhe.it (Mitt,elst.anil), die niemals in der Geschichte einen anarch.ischen
Zustand dauernd gefordert und Ordnung um Verwirrung zu tauschen gewünscht hätte.
Dagegen sind solche anarchischen Zustände von der Intelligenz und derem abstrakten
Fr8',heitsprineip (BLUNTSOHLI) immer wieder ins Leben gerufen worden. Aber auch
die roheste, unterste. Volksklasse ebenso wie Aristokratie und Pfaffentum haben die
Anarchie gefördert, um im Ohaos der Anarchie Vorteile zu erringen308.
Ferner findet die Entwicklung zur „positiven" Anarchie hin auch einen gewissen
Niederschlag in der lexikographischen Literatur. In HERDERS „Conversations-
Lexikon" (1854) heißt es: ... seit 1848 kennt man auch die 'gemütliche' Anarchie,
wo die nicht mehr befehlen, die befeklen sollten, die des Gehorsams Entledigten ihre
Freiheit jedoch n.icht zu roher Gewalt mißbrauohen309 • Und LORENZ VON STEIN setzte
sich in der Enzyklopädie „Die Gegenwart" mit Proudhons Lehre auseinander:
Denn das ist der Oharakter der Proudhonschen Arbm,ten überha~pt, daß sie durchaus
nur negativ sind, daß sie an die Stelle dessen, was sie aufheben, nichts anderes zu
setzen wissen, als den nicht entwickelten, von Proudhon genannten Satz: daß die
„Anarchie, das ist die Herrscherlosigkeit, überhaupt die rechte Art des Gemeinwesens
sei". Es ist natürlich nicht wohl möglich eine so'lche Kritik darzustellen, da sie in
lauter negative Sätze ausZäuft31°.
Andererseits wird die „negative" Philosophie der Outsidergruppen, ihre Kritik am
Staat und dessen Bürokratismus durchaus ernst genommen: Alle diese sozialistischen

8M Verwahrung an die deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der ersten Ver·


sa.mmlungen des katholischen Vereins Deutschlands am 3., 4., 5. und 6. Oktober zu Mainz.
Amtlicher Bericht (Mainz 1848), 161.
806 PlERER 2. Aufl.„ Bd. 2 (1840), 46. Diese Passage wurde dann im Art. Anarchie der

4. Aufl.., Bd. 1 (1857), 453 ausgelassen.


808 MEYER, große .Ausg., Bd. 1 (1841), 718.
so7 PIERER 2. u. 4. Aufl.. (s. Anm. 305). Ähnlich RorrEOK (1833, 1845, 1856;vgl.Anm.114f.);
BROCKHAUS 9• .Aufl.., Bd. 1 (1843), 318; Allg. dt. Conv. Lex., Bd. l (1833), 358; MEYER,
große Ausg., Bd. 1 (1841), 718; WIGAND Bd. 1(1845),411; HERDEB Bd. 1(1854),173.
308 MEYER, große Ausg., Bd. 1 (1841), 719.

809 HERDER Bd. 1, 173.


310 LORENZ v. STEIN, Der Sozialismus und Kommunismus in FrankreiCh, Die Gegenwart 1

(1848), 393.

101
Anarchie V. 1. Der Anarehismua

und kommunistischen Syste~ haben aber, so wenig Positives sie gekistet h.aht>:n. '"nd
"leisten können, ein 'Jf'Oßes Verdienst, nämlich den Anstoß zu einer neuen Betrachtung
der Menschheit, wie sie 8'icli als „wußers1,aatliche 11w1l8chliche. Ge~inscha/t" zeigt,
gegeben zu haben. Sie führten die Wissenschaft wie den praktischen Staatsmann auf
den Be'}f'iU der Gesellschaft und machten darauf auf~rksam, daß selbst bei der
größten äußerlichen Ordnung des Staatswesens doch in der Gesellschaft, auf welcher
solch ein Staat ruht, die größeste Anarchie herrschen kann . . . Die Staaten ]Jwropas
befi,nden sich heutzutage fast ohne Ausnah~ auf dem Wege zu solchen Zuständen,
und es ist vor alkm Schuld des hi,beralismus, daß schon ein so großes Stück dieses
Weges zurückgekgt ist. Denn der Liberalismus sucht alles Heil in einer bestimmten
Form der staatlichen ZustiJ,nde und in der vollsten Ignorierung der gesell8chaftlichen311,
Diese Kritik am Liberalismus führte zur Formulierung der eigenen vom Gedanken
des Organismus getragenen UtOpie: Daher wird auch in Frankreich die Quelk der
Revolutioo und der Anarchie nioht dwoh dioson odor jenen formelkn politischen
Mechanismus verschlossen werden, sondern durch eine Abkitung und Verteilung der
Macht von der Spitze in den ganzen Körper, durch die Wiedererweckung des wahren
BegriUs der Gliederung, des Organismus, der den Charakter des germanischen Staates
bestimmt, der auch dem fränkischen Staate zu Grunde lag und ikr durr.h mma'fllische
und abstrakt philosophische Grund.,ätze verdrängt worden ist312•
Der Begriff 'Anarchie' hat damit bei den Konservativen keine neuen Inhalte er-
halten. Er wurde als eines der Instrumente der Abwehr nach „links" zwar weiterhin
benutzt, jedoch im Grunde leidenschaftslos. Es nimmt daher nicht wunder, daß
der Begriff 'Anarchismus', im Gegensatz zu 'Anarchist', seinen Ursprung nicht im
konservativen Lager hat.

V.
1. Der Anarchismus

Obwohl die Begriffe 'Anarchismus' und 'Anarchist' vereinzelt schon im 17. Jahr-
hundert313, im Verlauf und in. den Jahren nach der Französischen Revolution
('anarchiste') sowie Anfang des 19. Jahrhunderts (Krug: 'philosophischer Anarchis-
mus') auftauchen, beginnt sich 'Anarchist' als positive Selbst- und negative Fremd-
bezeichnung erst seit den dreißiger l„Westbote") und vierziger Jahren (PROUDHON
1840: je suis anarchiste) 31' durchzusetzen. WILHELM MARR gab, nachdem er wegen
seiner Verbindungen zu Wilhelm Weitling aus der Schweiz ausgewiesen worden
war, seit 1844 die Zeitschrift „Blätter der Gegenwart für soziales Leben" heraus,
in der die Worte 'Anarchist' und 'anarchistisch' häufiger vorkommen816•

811 W AGENER Bd. 2 (1859), 213.


812 ßLUNTSCBLI/ßRATEB Bd. 1 (1857), 231.
8ta Hinweiee in: OED vol. 1 (1933), 307 f.
31' PRouDHON, Qu'est-ce que la propriete?, Oeuvres conipl., t. 5 (1926), 335. N11:TTLAu

erwii.hnt die im Juli und August 1841 erschienene Zeitschrift „L'Humanitaire"; Vor-
frühling, 138 f. (s. Anm. 30).
811 Vgl. JOHANN LANGHARD, Die anarchistische Bewilgung in der Schweiz von ihren An-
fängen bis zur Gegenwarl und die internationalen Führer (Berlin 1903), 2 f. In der anonym

102
V, 1. Der Anarchismus

Anarchisme wird im LARoussE 1866 als systeme politique begriffen, d'apres lequel
la societe pourrait se gouverner sans gouveTnement etabli, ou du moins sans gouverne-
ment central316 • In Deutschland kam das Wort 'Anarchismus' erst in den siebziger
und achtziger Jahren in Umlauf (Schulz) 317 • Die vielfältigen, noch unerforschten
Beziehungen des Anarchismus zum Darwinismus und der seit 1880 deutlich wer-
dende Einfluß der Entwicklungslehre auf den Anarchismus reflektierte BISMARCK
in einem Gespräch mit Lothar Bucher auf seine Weise: Sie werden unte'f den Anar-
chist,en nie einen rechten Naturforscher finden, einen Chemiker wohl, aber keinen Mann,
der so recht mit Lust und Liebe das Wachsen und Gedeihen in der Natur beobacht,et
und zu seinem Studium macht. Solche Leut,e wissen zu gut, daß die ganze Natur und
die ganze Kultur auf allmählicher, organischer Entwicklung beruht318 •
Marx und Engels sprachen, mit negativer Absetzung gegen Bakunin, ebenfalls erst
in den siebziger Jahren, häufiger von (sogenannten) Anarchisten und Anarchismus319 •
Für Schulz' Auffassung spricht auch, daß der 1. Internationale Anarchistische Kon-
greß erst 1881 in London stattfand. Weiterhin istMAx STIRNERalsVorläuferan-
archistischen Denkens erst nach 1892 über Frankreich in Deutschland wieder be-
kannt geworden. Sein bereits 1845 erschienenes Hauptwerk „Der Einzige und sein
Eigentum" ist im öffentlichen Bewußtsein lange Zeit verschollen gewesen. Obwohl
die Begriffe 'Anarchie', 'Anarchist' und 'Anarchismus' in ihm nicht enthalten sind,
ist Stirner von den anarcho-syndikalistischen Zeitschriften „La Revolte" und
„Les Temps nouveaux", jedoch auch von der „Revue blanche", dem „Mercure de
France", der „Revue rouge" und anderen eher der Sensation dienenden Zeitschriften
als der „Philosoph der Anarchie" gefeiert worden320• Stirners Aufwertung vergleich-
bar, wurde in der gleichen Zeit Rousseau in Frankreich zum vrai pere de l' Anarchis-
me: toute la tMorie se deduit de ses principes891.

erschienenen Schrift: Die geheimen deutschen Verbindungen in· der Schweiz seit 1833
(ßa.&el 1847) werden in der Vorrede anarchistiache Bestrebungen und anarchistiache Wiih-
lereien in der Schweiz erwähnt; zit. LANGHARD, Anarchistische Bewegung, 3. Unter dem
Eindruck der Juniereignisse 1848 in Frankreich entstanden in schneller Reihenfolge eine
Reihe von Arbeiten, in denen der „revolutionäre Anarchismus" beschworen wird: ERNEST
CoENDEROY, De la revolution da.ns l'homme et dans la societe (Brüssel 1852); JOSEPH
Di.JACQUE,La. questionrevolutionnaire(NewYork 1854). Vgl. NETTLAu, Vorfrühling, 205ff.
811 LAROU88B t. 1 (1866), 319.
117 SCHULZ/BASLER Bd. 1 (1913), 33.
118 BISMARCK, Gespräch mit L. Bucher, zit. FBANz MBFFBBT, Zur Theorie und Kritik des

Anarchismus, Soziale Rev. 6 (1906), 211.


819 Vgl. etwa ENGELS, Die europäischen Arbeiter im Jahre 1877, MEW Bd. 19 (1962), 122:

Von der Schweiz aua, wo diese 'Anarchisten', wie sie aich aelb8t nannten, zuerat Wurzel ge-
achl,agen hatten, verbreiteten aie aich nach Italien und Spanien.
no LUIGI FABBBI, Die historischen und sachlichen Zusammenhänge zwischen Marxismus
und Anarchismus, Arch. f. Sozialwiss. u. Sozialpolitik 26 (1908), 594 f. In diesem Sinne
auch die Stirner-Deutung von GEORG ADLER, Stirners anarchistische Sozialtheorie, Fest-
gaben für WILHELM LBXIS (Jena 1907), 1 ff. Ferner wertete Jomr HENRY MA.OKAY
Stirner auf; Max Stirner. Sein Leben und Werk (Berlin, Leipzig 1898).
111 PAUL DESJABDINS, L'idee anarchiste, Rev. bleue, 3° s6r„ t. 52 (Paris 1893), 803,

Anm.4.

103
Anarchie V. 2. Anarchistischer und sozialistischer Manismus 1890-1910

Während sich der russische Anarchismus in den sechziger und siebziger Jahren
herauszubilden begann (Netschajef, Bakunin, Kropotkin), zeigen sich die ersten
Spuren der französischen (Reclus, Cafi.ero, Ch. Guerin), spanischen (Salvator,
Oller, Bisbal), niederländischen (Rienzi, Chroiset, van Rees) und italienischen
(Merlino, Malatesta)32a, schweizerischen (James Guillaume) und amerikanischen
(Tucker, Warren, Most) anarchistischen Bewegungen in den siebziger und acht-
ziger Jahren des 19. Jahrhunderts. In der neueren (Paul Eltzbacher) und neuesten
(George Woodcock, Oskar Jaezi) Literatur sind diese vielfältigen, Bewegungen
häufig, am eindringlichsten vielleicht von Irving L. Horowitz323, zu klaSBifizieren
gesucht worden. Horowitz unterscheidet den „utilitaristischen" (Godwin), den
„friedlichen" Anarchismus, den „Anarcho-Syndikalismus" (Pelloutier, Lagardelle,
Sorel), den „kollektivistischen" (Bakunin, Kropotkin), „konepiratorischen" (Most),
„kommunistischen" (Malatesta), „individualistischen" (Warren, Tucker) und den
,,pazifistischen" (Tolstoi, Gandhi) Anarchismus.

2. Anarchistischer und sozialistischer Marxismus 1890-1910

Wie auch immer die verschiedenen Bewegungen, die eich selbst als 'anarchistisch'
bezeichnet haben, aufgegliedert werden mögen, die Geschichte des Anarchismus
und Anarcho-Syndikalismus als einer internationalen Bewegung begann spä~.11tens
mit dem 1. ordentlichen Kongreß der Internationalen Arbeiteraseociation im Jahre
1866 in Genf324. Trotz aller inneren Gegensätze zwischen Marx und den sich vor
allem in der „Federation Jurasienne" sammelnden Bakunin-Anhängern hatte
MARX 1872 erklärt, alle Sozialisten 'V6f'stehen unter' Anarchie dieses: Ist einmal das
Ziel der proletarischen Bewegung, die Absclwffung der Klassen, erreicht, so ver-
schwindet die Gewalt des Staates325. Er hatte allerdings im gleichen „privaten Zir-
kular" die Anarchisten als „Spalter" der Internationale bezeichnet. ENGELS und
er bemühten sich fast bei jeder Gelegenheit, den Anarchismus als Feind jeglicher
Organisation, die Anarchisten als Freunde des Ohaos326 und als Erben des bürger-

822 Vgl. FABBBI,Zusa.mmenhä.nge, 579.


318 IBVING LoUIS HoROWITZ, EinleitUng zu: The Anarchists (New York 1964), passim. Vgl.
auch JoLL, Anarchisten (s. Anm. 35); HENBYX GROSSlllANN, Art. Anarchismus, Wb. d.
Volkswirtsch., 4. Aufl„ Bd. 1 (1931), 97 ff.
au Vgl. zum Ablauf und zur Vorgeschichte: RoLF R. BIGLEB, Der libertäre Sozialismus in
der Westschweiz. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte und Deutung des Anarchismus
(Köln, Berlin 1963), 30 ff.
826 MA:B.x/ ENGELS, Die angeblichen Spaltungen in der Internationale (1872), MEW Bd. 18

(1964), 50.
3211 Vgl. dazu ENGELS an Ph. van Patten, 18. 4. 1883: Die Anarchisten ... erkli.iren, die

prolet,ariache Revolution mü&se damit anfang6'1l, daß sie die politische Organisation des
St.aates alJschafjt. Aber die einzige OrganiBatwn, die das siegende Prolet.ariat fertig vwfindet,
iBt eben der Staat. Er mag der Änderung bedürfen, ehe er seine neuen Funktionen erfüllen kann.
Aber ihn in einem solchen Augenblick zersüiren, das hie/Je, den einzigen Organismus zerst.ören,
vermittel8t dessen das siegende Proktariat seine eben eroberte Macht geltend machen ... kann;
MEW Bd. 36 (1967), 11.

104
V. 2, Anarchistischer und sozialistischer Manismus 1890-1910 Anarchie

liehen Individualismus zu charakterisieren und ihnen alle Eigenschaften wirklicher


Sozialisten abzusprechen. Besonders Kautsky, Turati und Plechanow sind ihnen
hierin gefolgt327 • Der maßgebliche theoretische Kopf des Austromarxismus, MAX
ADLER, hat allerdings noch nach 1922 bekannt, daß zwischen Sozialismus und
Anarchismus, was das Ziel anbetrifft, kein wesentlicher Unterschied bestehe328 •
Die Gegensätze zwischen Marx und Bakunin, vor allem in der Organisationsfrage
(besonders in den Jahren 1864 bis 1872), konnten freilich damit nicht wegretuschiert
werden - auch nicht in historischer Retrospektion. BAKUNIN hatte in seiner 1870
geschriebenen Arbeit „Gott und der Staat" eindeutig formuliert: Mit einem Wort,
wir werfen alle privilegierte, patentierte, offizielle und legale Gesetzgebung, Autorität
und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem. allgemeinen Stimmrecht hervor-
gegangen sind, da wir überzeugt sind, daß sie nur immer zum Nutzen einer domi-
nierenden ·und i,usbeutenden Minorität gegen die Interessen der ungeheuren ge-
knechteten Majorität sich wenden können. In diesem Sinn sind wir wirklich Anar-
chisten329. Bisweilen verwandte Bakunin zur Selbstcharakterisierung auch die
Ausdrücke 'collectiviste', 'collectivisme'. Wie der Titel seines genannten Buches
bereit.<i zeigt, wendete sich Bakunin nicht nur gegen die staatliche Gesetzgebung
oder die bürgerliche Ordnung, sondern wesentlich auch gegen die religiös-kirch-
lichen Institutionalisierungen. Im Gegenzug gegen die Marxisten betonten die
russischen Anarchisten (etwa Axelrod, Kropotkin), daß der Anarchismus „im Volk
geboren" wurde (born among the people) und von daher seine schöpferischen Ideen
erhalte330• Die über die Stellung der „Organisationsfrage" immer wieder auf-
brechende Spannung zwischen Anarchisten, Sozialisten und Marxisten wurde auch
auf dem Anarchisten-Kongreß von 1907 (Amsterdam) sichtbar, als trotz aller
Beschwörungen der grande Famille du socialisme universel der holländische Anar-
a
chist CHROISET ausrief: L'anarchie veut meUre chaque individu 'IMme de developper
librement toutes ses facultes. Or l' organisation a pour resultat fatal de limiter, toujours
a
plus ou moins, la liberte de l'individu. Anarchie est donc oppose tout systeme d'or-
ganisation permanente331 • Wie neuerdings vor allem James Joll gezeigt hat, ist das
Bündnis des spanischen Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus mit dem Kom-
munismus noch im spanischen Bürgerkrieg wesentlich auch an der Organisations-
frage gescheitert332 • Wichtiger für die Begriffsgeschichte ist jedoch, daß das Wort
'Anarchist' seit den siebziger Jahren vom bürgerlich-konservativen Lager ausgehend.

327 GEORGIJ WALENTINOWITSCH PLECHANOW, Anarchismus und Sozialismus (Berlin 1894),


17 ff.; ebenso später: NIKOLAI IWANOWITSCH BuCHARIN, Anarchismus und wissenschaft-
licher Kommunismus (Hamburg 1919).
228 MAx ADLER, Die Sta.a.tsa.uffässung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unterscheidung von

soziologischer und juristischer Methode (Wien 1922; Ndr. Darmstadt 1964), 242. Vgl. zu
Adler jetzt: PETER HEINTEL, System und Ideologie. Der Austromarxismus im Spiegel der
Philosophie Max Adlers (Wien, München 1967), bes. 301 ff.
829 MICHAEL BAKUNIN, Gott und der Sta.a.t (1871), hg. v. Max Nettlau, 2. Aufl. (Leipzig
1922), 38.
aao PETER KRoPOTKIN, Modern Science and Anarchism (New York 1908), 5.
881 Congres anarchiste tenu a Amsterdam, a.o-0.t 1907. Resolutions approuvees par le

Congres anarchiste tenu a Amsterdam. Compte-rendue analytique (Paris 1908), 43.


882 JoLL, Anarchisten, 247 ff. (s. Anm. 35). Die Losung der spanischen Anarchisten lautete

- nach Joll - jahrzehntelang „Frieden den Menschen, Krieg den Institutionen!"

105
V. 3. Literari.eher Anuehiama1

in die sozialistisch-kommunistischen, die syndikalistischen und anarchistischen


Bewegungen Eingang fand und - als Reaktion darauf - von diesen dann in
immer neuen Diffe~enzierungen und Abwo.ndlungcn zur Selbstbenennung verwen-
det wurde. Der Anarchismus diente somit der Selbstbestimmung eines in den
ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch unartikulierten positiven Grup-
penbewußtseins333. ALPHONB CoURTOIB, langjähriger Sekretär der dem Anarcho-
Syndikalismus nahestehenden „Societe d'economie politique", und zahlreiche
andere Autoren der Zeit versuchten jetzt, eine thiori,e de Z'anarchisme zu konstruie-
ren33'. Mit dem Ausbau der Doktrin hängt die immer weiter sich ausbreitende
Dynamisierung und Entleerung des Begriffs 'Anarchismus' zusammen: lndivi-
dualisme, . . . . servilisme, . . . collectivisme, .. '. at'Misme und anarchisme werden in
einem Zusammenhang gebraucht8811 • In Anlehnung an Proudhon und Bakunin
verengte sich die Bedeutung von 'Anarchismus' immer mehr auf die Erlangung der
lihertt! alw1l1JJR.. Hillr, wnr<le. 'Anarchie' vollkommen zum Bewegungs- und Ent-
scheidungsbegriff: L'anarchie, c'est l,a liberle constante des ckangeme~, bis die
zukünftige Gesellschaft und damit ein neuer fester Zustand erreicht sei: Anarchie,
a a a
aujourd'hui, c'est l'attaque, c'est la gue"e toute autorite, tout pouvoir, tout Etat.
Dans l,a societe future, l' anarchie sera la defense, l'emp&kement apporte au ritablis-
sement de toute autorite, de tout pouvoir, de tout Etat38'1. Wie schon in Ansätzen bei Mo-
ses Iless wandelw 1:1ich bei Cuuam in der vorweggenommenen erreichten Anarchie
der Begriff des Anarchismus vom Bewegungsbegriff zum Verfassungsbegriff zurück.

3. Literarischer Anarchismus
Neben der Entwicklung der Begriffe 'Anarchie' und 'Anarchismus' im Rahmen des
Marxismus-Sozialismus sind Anarchosozialismus und -kommunismus sowie literari-
scher Anarchismus und - letztlich unpolitischer - Anarchoindividualismus mit
dem Naturalismus, dem Frühexpressionismus und schließlich dem Surrealismus
eine eigene Synthese eingegangen. Freilich sind die Übergänge hier fließend ge-
blieben. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde besonders in den
politischen und Künstlerzirkeln in Paris, Wien, Leipzig und Berlin 'Anarchismus'
in völlig neuen - positiven wie negativen - Verbindungen gebraucht. Dadurch
ist gleichsam eine historisch zweite Phase der Begriffsausdehnung eingeleitet wor-
den, die bis auf unsere Tage reicht888 : 'Anarchie' und 'Anarchismus' blieben positive
wie negative Bewegungsbegriffe: Anarchie! He"sckaftilose Ordnung, aufgebaut auf
der sittlichen Kraft freigewordener Einzelmenschen! U"eligion der Menschheit, GUiu-
'bensbelrenntnis der Zukunft und der Zukünftigen!•. Helmut Kreuzer hat darauf

888 PETER HEniTz, Art. Anarchismus, RGG 3. Aufl., Bd. l (1957), 353 ff.
IN Vgl . .AI.PHONS CoURTOIS Fn.s, Anarchisme theorique et collectivisme pratique (Paris
1885), 42.
886 MIOBELIB DE RIENZI, L'Anarchisme (Brüssel 1893), 7 ff. Vgl. JEAN GRAVE, La soci~te
mourante et I'ana.rchie (Paris 1898).
aae RIENZI, L'Ana.rchisme, 9.
187 CARLO Cil'IERO, Anarchie et communisme (Paris 1899), 5. ·
818 Vgl. dazu vor allem HELMUT KREUZER, Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung
(Stuttgart 1968), 279 ff.
818 THEODOR Pr.mVIER, Anarchie (Weimar 1919), 10.

106
V. 4. Emma Golclmann Aauehie

hin1tewiesen, daß die sozial-marginalen „Anarchobohemiens" allein den Künstler


als „l'homme revolte" und den literarischen Anarchismus als fast religiöse Lebens-
doktrin begriffen. Werfel, Toller, Hasenclcvcr, Bochor haben in ihren literarischen
Frühphasen Anarchisten und Revolutionäre in ihrem „spiritualistischen Destruktio-
nismus und Utopismus" (Kreuzer) hymnisch gefeiert: So hört mein Freiheitslied:
Ihr Lumpenhunde, Saufkumpane! Gaukler, Gecken! Onanisren! Päilerasten! Feti-
schisten! Kaufleute, Bürger, Aviatiker, Soldaten! Lot.i.is, Dirnen! Ihr großen Metzen!
Syphilitiker! Bri.i,d,er, Menschenkinder alle! Erwacht! Erwacht! Ich rufe euch zum
hitzigen Aufruhr, zuf' brennendsren Anarchie. Zum bösen Widerstreit begeistere, reize
ich euch. Revolution! Revolutionäre! Anarchisten!8'°. Ebenso leidenschaftlich wird
der literarisch-politische Anarchismus verdammt: Der Anarchismus (als Wunsch-
traum gütiger, vom· Staate enttäuschter, sehr geistvoller Dilettanten psyckok>gisch
durchaus begreiflich) ist in Wahrheit das reaktionärste politische Programm, ist der
Triumph der Faust, die A.pothe.ose de.r rohen Ge:11.1alt, 1:.~t if,p,r lrr.~inn8'l..

4. Emma Goldmann
Nach den vor allem von Emerson und Thoreau sowie von Proudhon beeinflußten
anarchistischen Denkern Benjamin R. Tucker und J osiah Warren842 war EMMA
GOLDMANN (1869-1940) nicht nur die wichtig11te VerLreLerin des amerikanischen
Anarchismus, sondern auch der internationalen anarchistischen Bewegung im 20.
Jahrhundert. Tucker hat die amerikanischen Anarchisten einmal „simply unterrified
Jeffersohian democrats"843 genannt. Dieser Ausspruch könnte auch von Emma
Goldmann stammen. Sie nahm sowohl die englische Tradition und besonders
Godwins Gedanken, aber auch Ideen des in den neunziger Jahren ebenfalls in
Amerika bekannt gewordenen Stirner wieder auf: Anarchism is the only philosophy
which brings to tnan the consciousness of himself, ... is the arbiter and pacißer of the
two forces for individual and social karmon'fl". Für Emma Goldmann zwang der
Anarchismus die Menschen, to tkink, to investigate, to analyse every prop.osition.
Er war die eigentliche Innovationskraft des 20. Jahrhunderts. Deshalb kam ihm
auch die Bedeutung einer pkilosophy of a new social orde.r zuM&. Der Anarchismus
war jedoch nicht nur Philosophie, sondern auch Anleitung zur direkten Aktion:
Anarchism stands for direct action8411 • Doch trat diese Bedeutung bei den amerika-
nischen Anarchisten in den Hintergrund.

140 JOHANNES R. BECHER, Verfall und Triumph, 2. Teil, Versuche in Prosa (Berlin 1914), 13.
au KURT Rn.LEB, Nach Thomas Mann: Franz Werfel (1918), in: PAUL PöBTNEB, Litera-
turrevolution 1910--1925. Dokumente, Manifeste, Programme, Bd. 2 (Neuwied, Berlin
1961), 425.
842 Dazu jetzt WILLlill O. REICHERT, Toward a New Understanding of Anarchism, The

Western Polit. Quartorly 20 (1967), 856 ff.


1411 Zit. NETTLAU, Vorfrühling, 114.
"'EMMA GoLDMANN, Anarchism: What lt Really Stands For, in: dies., Anarchism and
Other Essays (New York 1910), 58. ·
146 Ebd., 56.

"'Ebd., 71.

107
Anarchie VI. Ausblick

VI. Ausblick
In der akademischen Literatur des 19. Jahrhunderts findet sich emtmals die Ver-
bindung von 'Anarchie' und 'Nihilismus' (die Anarchie MS Bakunin od,er der
Nihilismus von hetde)347 • Auch die schon von Rotteck gebrauchte Charakterisierung
der Anarchie als „Verwirrung" wurde auf die verfassungspolitische Literatur über-
trage~. So sprach ÜTTo MEJER davon, daß Despotie und Anarchie Formen nicht
'der Verfassung, sondern der Verfassungsverwirrung sind348• Dies macht deutlich, daß
das negative Bezugsfeld, welches mit 'Anarchie' oder 'Anarchismus' in Verbindung
gebracht wurde, ständig weiter gewachsen ist. In den Lexika wurde in den siebziger
und achtziger Jahren 'Anarchie' häufiger der fehlenden Gewalt Ms Staates kon-
frontiert349. Diesen Zusammenhang reflektierte auch MAX WEBER in „Politik als
Beruf", wo er Staat (Gewalt) und Anarchie konfronticrtelllin. BIMMEL 11etzte 'Anarnh.ie'
in seiner „Soziologie" {1908) mit Wurzellosigkeit und Mangel an festem Lebensgefühl
gleich361. Er traf mit dieser Bezeichnung ein Charakteristikum des Anarchismus
schon des 19. Jahrhunderts: die Entwurzelung der radikalen Intelligenz, ihre
·existentielle Unsicherheit. Die Verbrauchtheit des Begriffs 'Anarchie', seine Beliebig-
keit und Auswechselbarkeit nach 1918 ließen Georg Bimmel in einem seiner letzten
Briefe an den Grafen Keyserling deutlich werden: All jenen Persönlichkeiten ... ist
Festigkeit gleich Erstarrtheit, FeRf,gr,-nn.gllltliP.i:t, RO'T'ni.e.rtheit. Ihr Wesen, das rein6
· Fluktuation ist und widerstandslos dahin ßießt, wo Eitelkeitsbefriedigung, Erregungs:
maximum, intellektueller Glanz sie jeweils locken, fordert diese Wertgleichung. Von
allen habe ich den Eindruck: sie können alle auch anders - es ist schließlich ein Zufall
Mr Situation und nicht von innen her notwendig, ob sie reaktionö,r od,er revolutionär,
freigeistig od,er katholisierend, autorifär oder ana,rchisch sind362•
In der politischen Sprache der hochentwickelten westlichen Industriegesellschaften
des 20. Jahrhunderts werden die Begriffe 'Anarchie', 'Anarchist' und 'Anarchismus'
weiter verwandt. Sie sind jedoch seit den zwanziger Jahren, seit den letzten großen
politischen Auseinandersetzungen von Anarchisten und kommunistischen Marxisten
entleert und haben ihre frühere Funktion weitgehend verloren.
Im marxistisch-kommunistischen Sprachhaushalt werden 'Anarchie' und 'Anarchis-
mus' in dem von Marx geprägten Sinne allerdings systematisiert bis in die Gegen-
wart hinein weiter benutzt. Der von Wilhelm Schulz erstmals gebrauchte und von
Marx und Engels dann aufgenommene Begriff 'Anarchie der Produktion' ist zu
einem festen Bestandteil der marxistisch-leninistischen Kunstsprache geworden:
Anarchie der Produktion ist die gesetzmäßig und unvermeidlich auftretende Planlosig-
keit der kapitalistischen Produktion auf der Grundlage der Wirkung des Grundwider-
srwuchs des Kapitalismus zwischen gesellschaftlicher Produktion und rwivatkapitalisti-

an RUDOLF MEYER, Der Emancipationska.mpf des vierten Standes, 2. Aufl., Bd. 1 (Berlin
1882), 44.
348 ÜTTO MEJER, Einleitung in do.e Deutsche Staatsrecht, 2. Aufl. (Freiburg 1884), 8.
349 HERDER 2. Aufl„ Bd. 1 (1875), 144.
860 MAx WEBER, Politik als Beruf (1919), Ges. polit. Sehr. (München 1921), 397.
861 GEORG SIMMEL, Soziologie, 3. Aufl. (München, Leipzig 1923), 293.
862 Zit. GEORG SIMMEL, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. v. Michael

Landmann (Frankfurt 1968), 249.

108
VI. Ausblick Anarchie

scher Aneignung363. 'Anarchismus' wird definiert als kleinbürgerliche, antimarxistische


ldeol,ogie, die jede staatliche Organisation· ablehnf.3M. 'Anarchismus' und 'Anarchist'
dienen sowohl dazu, den äußeren Klassengegner zu diffamieren wie die Angriffe
gegen die etablierte Ordnung aus dem eigenen Lager abzuwehren. Freilich sind die
Begriffe auch hier entleert; die Farbigkeit und differenzierende Kraft, die auch die
marxistische Sprache noch in den zwanziger Jahren besaß356, ist verlorengegangen.
Die Begriffe werden in West wie in Ost als Abwehrbegriffe mehr oder weniger
manipulativ verwendet.
Die historisierenden Enkel der Anarchisten in den fünfziger und sechziger Jahren
Daniel Guerin368, Max Nomad357, I. L. Horowitza5s beschreiben 'Anarchie' und
'Anarchismus' historisch, nicht ohne resignierend den verblaßten und gleichsam
pejorativen Sinn der Begriffe zu erwähnen. Allerdings scheint die von Guerin ge-
troffene Unterscheidung des „anarchistischen lmlividuali1:11llW:!" SLirners und des
„societären Anarchismus" Proudhons, Moses Hess' und Bakunins für die Analyse
der Protestbewegungen der Gegenwart fruchtbar zu sein. Dadurch wird eine
Deutung der Tradition des politisierenden und literarisierenden Anarchoindividu-
alismus möglich.
Generell werden 'Anarchie', 'anarchisch', 'Anarchist', 'Anarchismus', 'anarchistisch'
heute jedoch eher mit „Störung" des etablierten Organisationssystems von Wirt-
schaft und Gesellschaft gleichgcsctzt8811 •

Literatur

GEORG ADLER, Gesohichte des Sozialismus und Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart
(Leipzig 1899); ders., Art. Anarchismus, Hwb. d. Staatswiss., 3. Aufl., Rcl. 1 (1909),
444 ff.; JAMES JOLL, The Anarchists (London 1964; dt. Frankfurt, Berlin 1966); M.u
NETTLAU, Bibliographie de l'anarchie (Brüssel, Paris 1897); ders., Der Vorfrühling der
Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864 (Berlin
1925); ders., Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung
in den Jahren 1859-1880 (Berlin 1927); U. DIERSE, Art. Anarchie, Anarchismus, Hist.
Wb. d. Philos., Bd. 1 (1971), 267 ff.
PETER CmusTIAN Lunz

333 MEYERS neues Lexikon, Bd. 1(Leipzig1963), 247.


334 Ebd.
356 Der frühe GEORG Lu:K!.os etwa sprach von anarchiBtiachen Ill'Ußicmen und Utopien, von
Gefühlsanarchie •.. , Recht,aanarchie ... , anarchistiach-individualistischem Rebellentum ••. ,
Anarchie dea modernen K ünatlertuma .•. , anarchischem oder zufälligem ZUBammenhang .•• ,
SuhjektiviBmua oder anarchistischen Stimmungen; Sehr. z. Ideologie u. Politik, hg. v.
Peter Lud.Z (Neuwied, Berlin 1967), 345 ff.
a5 e DANIEL Gu:ERm, L'Anarchisme. De la doctrine 8. l'action (Paris 1965).
3 57 M.u Nol\1AD, Politica.l Heretics. From Plato to Mao Tse-tung (Ann .Arbor 1963).
368 Vgl. Anm. 323.

359 Vgl. den Diskussionsbeitrag zu: Planung in der Marktwirtschaft. Vorträge, Schriftenr.

d. Friedrich-Na.umann-Stiftung z. Politik u. Zeitgesch., H. 7 (Stuttgart 1964), 144.

109
Angestellter
1. Einleitung: Der Begriff im staatlich-öffentlichen Bereich seit 1800. 1. 'Angestellter'
und 'Beamter'. 2. Die Abhebung vom Lohnarbeiter. II. 1. Vom Industriebeamten zum In-
dustrieangestellten (1850-1890); a) Die Zweiteil~g der Arbeitnehmerschaft. b) Das
Problem der Staatsbeamtenähnlichkeit; c) 'Angestellter' als Oberbegriff zu 'Beamter im
Industriebetrieb'. d) 'Betriebsbeamter' und 'Angestellter' in der Gesetzgebung. 2. Vom
„Beruf" zur „Stellung" (1880-1900). a) Die Veräußerlichung des Berufsinhalts. b) Inter-
eBBengemeinsamkeit und staatliche Sozialinterventionen als Voraussetzungen des überbe-
trieblichen Angestelltenbegriffs. 3. 'Angestellter' und 'Arbeiter' in ihrer Abgrenzung bis
1911. a) Begriffliche Unschärfen. b) 'Ailgestellt~r' gegen 'Handlungsgehilfe' und 'Privat-
beamter'. c) Das Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) und der 'neue Mittelstand'. III.
Ausblick.

1. Einleitung: Der Begrift' im staatlich-öft"entlichen Bereich seit 1800

1. 'Angestellter' und 'Beamter'


'Angestellter' entstand im 19. Jahrhunderl aus dem substantivisch gebrauchten
Partizip Perfekt von 'anstellen'. Wahrscheinlich der Soldatensprache entstammend,
bedeutete das Verb u. a. seit dem 15./16. Jahrhundert „jemanden - vor allem
Angehörige der sozialen Unterschichten - mit wiederholten Handlungen beauf-
tragen, in Dienst nehmen" 1 • Gegen Ende des 18. Jahrhunderts bezog es sich zu-
gleich auf „Ämter und Bedienungen" aller Art 2 • Trotz prinzipieller Aufrechterhal-
tung dieses weiten Anwendungsbereiches rückten 'anstellen' und mehr noch
'Anstellung' seit 1800 in die Nähe von 'Amt' und 'Beamter'. Die zeitgenössische
staatsbeamtenrechtliche Literatur benutzte jene Begriffe, sobald sie die dem Ver-
hältnis zwischen absolutistischem Herrscher und Fürstendiener angemessenen, im
18. Jahrhundert vorherrschenden privatrechtlichen Vertragstheorien überwand und
das Verhältnis des Beamten zum Staat, der erfolgreichen Emanzipation der Büro-
kratie aus der Kontrolle ihres monarchischen Schöpfers entsprechend, als Anstel-
lungsvertrag zu bestimmen begann, in dem sich öffentlich- und privatrechtliche
Momente verschränktena. MEYERS „Konversations-Lexikon" definierte 1857 'An-
stellung' als Übertragung eines Dienstes und Gewährung eines gewissen damit ver-

1 Vgl. ZEDLER Bd. 2 (1732), 784: Anatellen heisset bei einem Gute dem Gesinik wnd Ar-

beitern dasjenige anbefeklen, was dieselben von Zeit zu Zeit verrichten sollen; weitere Belege
RWB Bd. 1 (1914/32), 740 f.; TRÜBNER Bd. 1 (1938), 103.
1 Vgl. ADELUNG 2. Aufl„ Bd. 1 (1793), 282 ff.; CAMPE Bd. 1 (1807), 185.

3 Vgl. als eines der frühesten Beispiele: Joa. MICHAEL SEUFFERT, Von dem Verhältnisse

des Staats und der Diener des Staats gegeneinander im rechtlichen und politischen Ver-
stande (Würzburg 1793), 133: Der Diener des Staats erhäU al8o durch denAnatellungsverlrag
ein forwährendes Recht, dem Staate besondere Dienate zu leisten, welches ihm einaeitig nicht ent-
zogen werden kann, mithin ist die Entlassung widerrechtlü:h. Außerdem N1coLAus TluDDÄUS
GÖNNER, Der Staatsdienst aus dem Gesichtspunkt des Rechts und der Nationalökonomie
betrachtet (Landshut 1808), Anhang S.V über das bayerische „Anstellungsreskript";
KARL ALBERT v. KAMPrz/FRANz JosEPH FRH. v. STEIN, Über die Entschädigungsberech-
tigung der Staats-Diener bei Aufhebung ihrer Stellen (Frankfurt 1808), 5 f. über die
Rechte des Dienst-Anatellungs-Verlrags al8 wohlerworbene Rechte.

110
I. 1. 'Angestellter' und 'Beamter' Angeatellter

bundenen Einkommens, ins"besondeTe aber die Verleihtt!llfl eines öffentlichen Amtes,


und dieses Amt selbst'. Die Affinität von 'Anstellung' und 'Amt' wurde dadurch
gefördert, daß die Stellung des (Staats-)beamten ein Merkmal auszeichnete, das in
'Anstellung' immer mitgemeint war: eine gewisse Stetigkeit des Dienstverhältnisses
und des damit verbundenen Entgelts. Entsprechend konnte 1840 'Anstellung' mit
'Versorgung' gleichgesetzt werden 6 • Festes Entgelt in Naturalien oder Geld (Gehalt)
gewährte der Anstellende eher im Sinne eines angemessenen Unterhalts denn als
Tauschäquivalent für meßbare Einzelleistungen. Die Affinität von 'Amt' und 'An-
stellung' prägte den frühen Gebrauch von Angestellter. In dem Maße, in dem
'Staatsdiener' und 'Beamtel'' Bezeichnungen für Mitglieder einer rechtlich und sozial
privilegierten und klar definierten Gruppe wurden, diente 'Angestellter' - zunächst
noch neben 'Offiziant' - als selten benötigte Sammelbezeichnung für jene nicht
mehr als herrschaftliche Diener ansprechbare öffentlichen Bediensteten, denen der
Beamtenstatus, der langsam klare Um.risse gewann, versagt blieb, sowie als Ober-
begriff zur Zusammenfassung dieser Staats- und Gemeindebediensteten mit den
eigentlichen Beamten. 1809 trat ein Bericht des Oberamts und der Frohnverwaltung
Pforzheim dafür ein, die Persi>nalfrohnfreiheit auf jedes Subjekt anzuwenden, das die
ganze oder die meiste Zeit im Dienste he'l"Tschaftlicher oder Landesve'T'Tichtungen mittel-
oderunmittelbarangestellt ist, z.B. Zöllner, Weidgeselkn, Ohausse,ewarle, Flußknechte . ..
Jeder von ihnen müsse jedoch als Bürgerund Untertan alle an dieser Eigenschaft haf-
tende Dienste und Onera ( z. B. Umlagen von Zugfrohndiensten auf Güter und Schatzung,
. . . N aturalprästationen von Zugfrohnen zum Wegemachen, Flußbauwesen) . . . der
Herrscha~ sowohl als der Gemeinde leisten, wenn nämlich ein solcher Angestellter einen
eigenen Zug (d. h. ein eigenes Gespann) hat 6• C. F. VON WIEBEKING schlug 1815
vor zu unterscheiden, t11elclui Ange.stellte eigentli.ch Stn,at.~dümer sind, ~ie vielleicht nur
J ahrgehalte und Pensionen "beziehen sollten; und welche andere Angestellte ihren Gehalt
von den Vorstehem der SteUen erkalten möchten, um der Staatskasse nicht in der Folge
unerschwingliche Pensionen aufzubürden. Mit diesen letztem mechanischen Individuen
wird leicht gewechselt werden können, wenn sie nicht mehr ihre Schuldigkeit tun,
welches "bei denen von der Regierung Angestellten große Schwierigkeiten hat 7 • - 1847
forderte VON REDEN die Ver"besserung der Gegenwart und Sicherung der Zukunft

& MEYER Bd. 1 (1857), 886; 1842 verstand MEYER, große Ausg., Bd. 3, 153 unter 'an·

stellen': Jemandem ein Amt iibertragen (eine A118tellung geben), ihn in Die1l8t nehmen.
5 Vgl. PIERER 2. Aufl„ Bd. 2 (1840), 146.

'Vom 16. Oktober 1809, Generallandesarchiv Karlsruhe, Abt. 74, Fase. 2482. (Ich ver-
danke den Hinweis auf diesen frühen Beleg Frau Dr. Hannah Rabe, Düsseldorf.)
7 CARL FRIEDRICH RrrrEB v. W1EBEKING, Vorschläge zur Einrichtung einer Staatsver-

waltung i:gi allgemeinen und der Verwaltungszweige insbesondere (München 1815), 44. -
Die „Statistische Übersicht von der gestiegenen Bevölkerung der Haupt- und Residenz.
Stadt Berlin in den Jahren 1815 bis 1828 und der Communal-Einnahmeri und Ausgaben
derselben in den Jahren 1805 bis 1828" (Berlin 1829) führt in einer Statistik der Berliner
Hauseigentümer, Häuser und Mietserträ.ge u. a. 439 Offi,zia:nten als Eigentümer (von 7208)
an, offenbar unter Einbeziehung der Beamten (Anhang, o. S.); JoH. FRIEDRICH BENZEN·
BERG, Schreiben an den König bei der Überreichung der Gemeinde-Ausgaben der Städte
Düsseldorf, Elberfeld, . . . Berlin, Leipzig und Paris (Düsseldorf 1835), 60 druckt diese
Statistik ab, ersetzt jedoch 'Offizianten' durch AngestelUe. (Für diesen Hinweis danke ich
Herrn G. Liebchen, Berlin.)

111
Angestellter I. 2. Abhebung vom Lohnarbeiter

derjenigen Angestellten des Staats, der Gemeinde usw., deren Diensteinnahmen selbst
zur Befriedigung ihrer und ihrer Familien notwendigsten Bedürfnisse nicht aureicht 8 • -
1863 faßte eine preußische Statistik Postbeamte, -hilfsarbeiter und -unterbeamte
als die bei der k. Postverwaltung Angestellten zusammen 9 • Häufig bleibt unentscheid-
bar, ob es sich bei 'Angestellter' um das substantivierte Partizip oder bereits um
ein Substantiv handelte10.

2. Die Abhebung vom Lohnarbeiter

Wenn auch die öffentliche Bedeutung von 'Angestellter' bis gegen Ende des Jahr-
hunderts dominierte11, wurde -'Angestellter' nicht völlig auf diese eingeengt. 'An-
gestellte' waren für ERscH/GRUBER 1853 neben Staatsbediensteten auch Personen
im Privatdienst, so etwa Haushofmeister, Kammerdiener und Schauspieler12. Vor-
wiegend meinte 'Angestellter' den Gehalt empfangenden, d. h. den in seinem öko-
nomischen und sozialen Status Markt- und Leistungsfaktoren nur sehr vermittelt
ausgesetzten abhängigen Inhaber einer relativ festen Dienststellung.
Während 'Beamter' dieser Bedeutung immer mehr entsprach, fiel andererseits die
als Produkt dei: Industrialisienmg entstehende Lohnarbeiterschaft aus dem An-
wendungsbereich von 'Anstellung' und 'Angestellter' heraus, obwohl es während
des 19. Jahrhunderts nie ganz unmöglich wurde, Arbeiter als 'Angestellte' zu be-
zeichnen. Der formal freie, immer kurzfristiger kündbare, die Arbeitskraft als Ware
behandelnde Arbeitsvertrag widersprach den Merkmalen von 'Angestellter' ebenso
wie die dem industriellen Arbeiter spezifische Bezahlungsart, der Lohn. Dessen
Begriff verengte sich mit der Durchsetzung erwerbswirtsohaftlicher Prinzipien zur
Bezeichnung eines schwankenden, vom Arbeits- und Gütermarkt wie von der
Leistung des Arbeiters unmittelbar abhängigen, in immer kürzeren Perioden be-
rechneten, jederzeit unterbrechbaren Äquivalents für geleistete Arbeit (meist Hand-
arbeit)13. 'Lohn' (des Arbeiters, Handwerkers, Gesindes, Tagelöhners und Fuhr-

8 FRIEDRICH WILH. FRH. v. REDEN, Erwerbsmangel, MaBBenverarmung, MaBBenverderb-


nis - deren Ursachen und Heilmittel (1847), zit. Die Eigentumslosen. Der deutsche Pau-
perismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenöBBi·
sehen Literatur, hg. v. ÜARL JANTKE u. DIETRICH Rn.GER (München 1965), 461 ff., bes.
483. Vgl. ebenso F. W. v. REDEN, Erwerbs- und Verkehrs-Statistik des Königstaats
Preußen. IIi vergleichender Darstellung, Bd. 1 (Darmstadt 1853), 277.
9 Jb. f. d. amtliche Statistik d. Preuß. Staats 1 (1863), 617.

1o IIi einer Kritik am deutschen ProfeBBOr schrieb GEORG HERWEGH 1840: Ea iat das
acküne Vorrecht unseres Jahrhunderts, da{J ea eine Wahrheit nur dann als Wahrheit anzu-
erkennen hat, wenn sie aua dem Munde eines Patentierten, eines Angeatellten kommt; Werke,
hg. v. Hermann Tardel, Bd. 2 (Berlin, Leipzig 1909), 158.
11 Noch der Art. Anstellung, in: MEYER 4. Aufl., Bd. 1 (1885), 620 handelt fast aus-

schließlich vom öffentlichen Dienst.


1s ERBCH/GRUBER 1. Sect., Bd. 56 (1853), 54, Art. Gehalt.
18 Schon Zedlers Lexikon verstand 1738 entgegen früheren Bedeutungen, die etwa in

„Gotteslohn" nachwirken, unter 'Lohn' vor allem die eine Seite eines erwerbswirtschaft-
lichen Tauschaktes, von dem ehrwürdige und unschätzbare Tätigkeiten (Priester, Richter,
Lehrer, Ärzte) ausgenommen sein mußten; ZEDLER Bd. 18 (1738), 280 b f. Klar zeigt sich
die Verengung des Begriffs bei ADELUNG Bd. 3 (1777), 245 f.

112
a) Die Zweiteilung der Arbeitnehmencbaft Angestellter

manns)14 trat in klaren Gegensatz zu 'Gehalt'. Darunter verstanden ERSCH/GRUBER


1853: was jemand bestimmtes als ..4.ngestel~ et'hält15• Der sich erst mit der Indu-
strialisierung bildende, noch keineswegs eindeutige Unterschied zwischen Gehalt
empfangenden Angestellten (vor allem in Staatsstellung) und Lohn erhaltenden
Beschäftigten (darunter Industriearbeitern) bezeichnete zugleich ein soziales Pre-
stigegefälle: Gehalt war vornehmer als Lohn, der für niedrigste Arbeiten gewährt
wurde16•

II.

1. Vom Industriebeamten zum lndmtrieangestellten (1850-1890)

a) Die Zweiteilung der Arbeitnehmerschaft. Auf Personenkreise der privaten Wirt-


schaft wurde 'Angestellter' anscheinend zuerst im I,ndustriebetrieb angewandt. Eine
Minderheit industrieller Arbeitnehmer - Prokuristen, Buchhalter, Werkfülirer,
Ingenieure, Kassierer,. Registratoren, Schreiber, Materialverwalter und Zeichner,
z. T. auch Meister und Boten - nahmen ihre betrieblichen Funktionen, im Gegen-
Rat?. ?.11 fl1m ArhP.itP.rn im hP.rP.it.t1 vP.rgeaellacha.fteten Produktionssektor, noch nicht
als Kollektive wahr. Dies und der Charakter ihrer nicht produktorientierten Tätig-
keiten, Loyalitätsbedürfnisse des Unternehmers, die Bedeutung der Erfahrungs-
komponente in ihrer Qualifikation angesichts der Individualität früher Unterneh-
mungen und die geringe Verbreitung allgemeiner und fachlicher Bildung begrün-
deten das Interesse des Unternehmers, sie durch finanzielle Sonderleistungen,
größere Arbeitsplatzsicherheit und Bezahlung in Form von Gehalt gegenüber den
Lohnarbeitern zu privilegieren. Klar hob sich dadurch bereits in der ersten Phase
der Industrialisierung die Gmppe der später al11 'Angestellte' hezeichneten Personen
aus der Gesamtarbeitnehmerschaft eines Betriebes heraus17 • Entsprechend entstand
innerbetrieblich das Bedürfnis nach ihrer Benennung, als die allgemeine und recht-
liche Literatur, die Lexika und die Statistik noch keinen Begriff dieser Arbeitnehmer-
kategorie brauchten oder besaßen.
In den Industriebetrieben galten sie als Beamte, viel seltener - und zwar vor allem
in Süddeutschland - als Angestellte. W. SIEMENS schrieb 1858: Die Beamten
bleiben bei uns, weil sie aus Erfahrung wissen, daß wir niemand entlassen, wenn er
nichts verschuldet hat, selbst wenn wir nichts für ihn zu tun haben18 • - Um 1870
formulierte der Freiburger Industrielle KARL MEz: An der Herrschaft (des Unter-

UEbd.
u Vgl . .Anm. 12.
1e Vgl. ebd. und MEYER 4. Aufl. Bd. 6 (1888), 1016.
17 Diese und viele der folgenden Angaben stützen sich auf ErgebniBBe einer Studie des

Verfassers über industrielle Organisation und Angestelltenschaft in1 19. und frühen 20.
Jahrhundert: JÜRGEN KocKA, Unternehmensverwaltung ilnd Angestelltenschaft am Bei-
spiel Siemens 184'1-1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deut-
schen Industrialisierung (Stuttgart 1969). Für die Möglichkeit der Akteneinsicht danke
ich der Archivabteilung des Werner-von-Siemens-Instituts für Geschichte des Hauses
Siemens in München, besonders ihrem Leiter Dr. v. Weiher.
18 WERNER SIEMENS, Brief an seinen Bruder Wilhelm v. 14. 5. 1858, zit. RICHABD EBREN-
BERG, Die Unternehmungen der Brüder Siemens (Jena 1906), 462.

8-90385/1 113
II. 1. Vom lndaatrlelieamten zum lntlustrieansestellten

nehmers) sollen die ständigen Arbeiter und Angestellten (Aufseher, Verwalter, Commis,
DirekWren) einen gebührenden Anteil bekommen19• An meine Beamten und Arbeiter
wandte sich 1872 der Berliner Fabrikant W. BoBOHEBT20 • Eine der ersten industrie-
organisatorischen Publikationen stellte 1874 fest: Es ist durchaus notwendig, daß jeder
Angestellte wisse, in was seine Beschäftigung besteht 21 • 1878 lobte RoESKY die
K.ruppschen Etablissements: In diesen fühlt sich der Beamte gleich einem Staats-
beamten und der Arbeiter nicht minder 22 •
b) Das Problem der Staatsbeamtenähnlichkeit. Letztlich resultierte die Anwen-
dung der Begriffe 'Beamter' und 'Angestellter', die über die Dimension der bisher
ausreichenden Berufsbezeichnungen (Kaufmann, Handlungsgehilfe, Ingenieur etc.)
abstrahierend hinausgriffen, aus dem Doppelcharakter der industriellen Unterneh-
mung, die Güter sowohl produzierte wie als Ware auf dem Markt verwertete, also
sowohl technisches wie kaufmännisches Personal benötigte und zudem neue ver-
waltende Stellen entstehen ließ. Die Kooperation verschiedener Berufe im Industrie-
betrieb durchkreuzte die bisher vorwiegend gültigen, rein beruflich definierten
OrdnungsStrukturen und forderte einen berufsneutalen Begriff.
Die Bezeichnung gewisser von privaten .Gesellschaften oder Einzelpersonen be-
schäftigter Arbeitnehmer als 'Beamter' wurde durch staatsbeamtenähnliche Züge
ihrer Situation nahegelegt: durch die Bezahlungsform des Gehalts, das häufig (auch)
Senioritätsgesichtspunkten folgte, durch ihre relativ gesicherte Stellung, durch den
schriftlichen, „büromäßigen" Charakter ihrer Arbeit und, zumindest für viele von
ihnen, durch die Teilhabe an delegierter Anordnungsbefugnis. Andererseits setzte
die dennoch drohende Kündigungsmöglichkeit, die Abhängigkeit ihrer Bezahlung
von Leistungs- und Marktkriterien, der Mangel eines auf formalen Qualifikationen
fußenden Berechtigungswesens und das Fehlen einer öffentlich-rechtlichen Unter-
mauerung ihres Dienstverhältnisses, generell: der Unterschied zwischen einer öffent-
lichen Behörde und einer privatwirtschaftlichen Unternehmung, dieser Beamten-
ähnlichkeit auch schon um die Jahrhundertmitte objektive Grenzen. Da 'Beamter'
zunehmend ein öffentliches Dienstverhältnis meinte, dessen Modell der Staats-
beamte war, der sein Amt als Dienst an der Allgemeinheit der Pflicht gemäß und in
würdiger Nähe zur Obrigkeit wahrzunehmen beanspruchte, bedeutete die Anwen-
dung des Begriffs auf privatwirtschaftliche Arbeitnehmer zugleich einen ideologi-
schen Identifikationsversuch mit der sozial akzeptierten, prestigebesetzten Gruppe
der (Sta.ats-)Bea.mten.

c) 'Angestellter' a1s Oberbegriff' zu 'Beamter im Industriebetrieb'. Dieser Wider-


spruch zwischen der realen Situation solcher Arbeitnehmer, deren sich vergrößernde
Mehrheit fremdbestimmte Tätigkeiten ohne Autoritätsbefugnis ausübte und -
besonders nach 1873 - von der Gefahr sozialen Abstiegs bedroht war, und dem
19 RoBBBT KÖNIG, Karl Mez, der Vater der Arbeiter. Ein deutsches Fabrikantenleben der
Gegenwart (Heidelberg 1881), 66 f.
10 W. :BoBCHBBT, Partnerschaft als Aktienunternehmen, Der Arbeiterfreund 10 (1872),
333ff.
11 JJCAN JAOQUJIS BoUROART, Die Grundsätze der Industrieverwaltung. Ein praktischer
Leitfaden (Zürich 1874), 52 f.
11 EDUABD RoBSKY, Die Verwaltung und Leitung von Fabriken, speziell von Maschinen-
fabriken (Leipzig 1878), 19.

114
e) 'Angestellter' als OberbegrUr za 'Beamter im Industriebetrieb'

immer klarer am Staatsbeamtenmodell ausgerichteten Anspruch ihres Begriffs lag


der sprachlichen Wandlung zugrunde, die etwa seit 1890 'Angestellte' auch in jenen
Betrieben durchsetzte, die bisher nur 'Beamte' und 'Arbeiter' gekannt hatten. Das
Wachstum der Unternehmen, die Verwissenschaftlichung der Technik, das Streben
nach optimaler Verwertung der Arbeitskraft, steigende Anforderungen an die Ge-
nauigkeit des Rechnungswesens und die Effektivität der Marktbehandlung bei
zunehmender Konkurrenz, mit Verwaltungsarbeit verbundene Ansprüche des Staa-
tes (Steuern, Versicherungen) und wirtschaftlicher Organisationen- (Kartelle, Ver-
bände) an die Betriebe vermehrten in diesen die arbeitsvorbereitenden und kon-
trollierenden, konstruktiven, merkantilen und allgemein-verwaltenden Tätigkeiten,
die im Zuge der auf den Bürosektor ausgreifenden Arbeitsteilung von neuen Perso-
nalkategorien in neuen Stellen ausgeführt wurden 28• Dadurch entstand eine breite
Unter- und Mittelschicht von Büroarbeitern ohne die Merkmale, die den ersten
Fabrikbeamten ihre Privilegierung eingetragen hatten. Die Unternehmensleitungen
gestanden ihnen den innerbetrieblich mittlerweile verfestigten, privilegierten Be-
amtenstatus auch keineswegs automatisch zu. Für diese Zeichner, Schreiber, Meister
und Vizemeister, Kalkulanten, Korrespondenten, Magazin- und Lo.borgehilfen folgte
der Beamtenstatus nicht mehr notwendig aus ihrer Funktion, sondern wurde als
ein mit Vorteilen verbundener Rang durch Entscheidung der Firmenleitung, meist
als Belohnung für langjähriges Dienen und Wohlverhalten, vetliehen 24• Er funk-
tionierte somit als Differenzierungsmittel der unteren Arbeitnehmerschaft und
damit als personalpolitisches Integrationsinstrument in der Hand der Unterneh-
mensleitung25.
Durch diese relative Einengung des Beamtenbegriffs auf einen Teil des Büro- und
Werkstattpersonals entstand das Bedürfnis nach einem neuen Begriff, der die
Kategorien der Betriebsbeamten, der noch nicht fest angestellten Beamtenanwärter
und des übrigen Büropersonals der Großbetriebe zusammenfaßte. Der bereit-
stehende, lokal bereits verwandte, noch nicht eindeutig festgelegte, tendenziell aber
die Inhaber relativ fester Dienststellungen meinende Begriff des Angestellten bot
sich an. Siemens & Halske schrieben in diesem Sinne 1890: Indem wir hiermit unsere

13 Schon 1872 saßen im Konstruktionsbüro der Firma Siemens & Halske, Berlin, 5 niedrig

bezahlte und kaum noch selbständig arbeitende Zeichner. 1892 verfügte allein die
Starkstromabteilung über 2 Konstruktionsbüros mit zusammen 57 Angestellten - 1903
(1909) standen in den Siemens-Schuokertwerken 2580 (5270) Angestellte 9691 (18 582)
Arbeitern gegenüber. Vgl. Anm. 17.
14 Neben Beispielen aus dem Siemens-Archiv (vgl. Anm. 17) zeigt eine Feststellung

des Werkmeister-Verbandes von 1884 das Problem. Dessen Werbeblatt zäkUe zu den
W erlcmeiatern nickt nur die Bwmten, die dieaen Titel direkt führten, aondem die Privat-
be,amten aller lnduatrien, die eine Meiateratelle veraehen; Deutscher Werkmeister-Verband
1884-1909. Fschr. zur 25jährigen Jubelfeier (Düsseldorf 1910), 16. Dem „Titel" (Beamter)
ist die funktionale Kategorie (Privatbeamter, in andern Fällen: Privatangestellter oder
Angestellter) gegenübergestellt.
25 Angesichts des Fehlens eindeutiger funktionaler Kriterien überließ der Reichstag

1888 die Entscheidung, ob bestimmte Büro-Hilfsarbeiter als 'Betriebsbea:mte' oder als


'Gehilfen' gelten sollten, dem einzelnen Arbeitsvertrag, d. h. letztlich der Entscheidung
des Unternehmers; Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 108, 66: Begründung des Regierungs-
Entwurfs eines Alters- und Invalidenversicherungsgesetzes v. 22. 11. 1888.

115
Angestellter Il. 1. Vom Induatrlelieamteu zum Industrieangestellten

neueste Geschäftsordnung unseren Herren Angestellten zur Kenntnisnahme ...


und N achachtung ii'bergeben, bestimmen wir ... 28• Ähnlich früherem Vorgehen staat-
licher Behörden definierte die „Dienstordnung für die Angestellten der S & H A.-G."
von 1897: Die Gesellschaft unterscheidet bei ihren Angestellten 1. Unterbeamte, 2. Hilfs-
beamte (Diätare), 3. Beamte ... Welcher Klasse von Angestellten der einzelne angeh-Ort,
. . . wird ihm beim Eintritt oder bei späteren Änderungen schriftlich mitgeteilt27 •

d) 'Betriebsbeamter' und 'Angestellter' in der Gesetzgebung. Die Begriffswahl der


Gewerbe- und Sozialgesetzgebung reflektierte diesen Wandel vom Beamten zum
Angestellten und half mit, ihn auch außerbetrieblich einzubürgern. 1881 bemühte
sich der Gesetzgeber erstmals um eine Klärung des Begriffes 'Betriebsbeamter'.
Angesichts der mancherlei Zwischenstufen zwischen gewöhnlichen Arbeitern und wirk-
lichen Betriebsbeamten scheiterte dieser Versuch 28 • Da die gesetzesauslegenden
Behörden und Gerichte, denen die Abgrenzung der Arbeiter von den Betriebs-
beamten dadurch überlassen blieb, diese immer klarer als Personen mit Leitungs-,
Aufsichts- und Repräsentationsbefugnissen eingrenzten 29 , wurde eine wachsende
Anzahl von Technikern, Handlungsgehilfän llnd Riirogehilfen, die sich nach Be-
zahlungsart, Tätigkeit und Selbstverständnis von den Lohnarbeitern unterschieden,
nicht als Beamte, sondern als Arbeiter behandeW10• Als der Gesetzgeber den dadurch
entstehenden Widersprüchen Rechnung trug, indem er - auf den Druck der
betroffenen Interessenorganisationen hin - diese nicht als Beamte geltenden Tech-
niker, Meister etc. den Betriebsbeamten zur Seite stellte, deutete er, offenbar in
Verlegenheit um einen adäquaten Sammelbegriff, 'Angestellter' als solchen an.
1890 erstreckte sich das Gewerbegerichtsgesetz auch auf Betriebsbeamte, Werk-
meister und mit höheren technischen Dienstleistungen betraute Angestellte 31•
Die Novelle zur Gewerbeordnung von 1891 regelte erstmalig das Dienstverhältnis
der von Gewerbeunternehmungen gegen feste Bezüge beschäftigten Personen, welche nicht
lediglich vorübergehend mit der Leitung oder Beau/sichtigung des Betriebes oder einer
Abteilung desselben beauftragt (Betriebsbeamte, Werkmeister oder ähnliche Angestellte)

28 Siemens-Archiv•Akte Nr. 32/Lo 588.


17 Siemens-Archiv-Akte Nr. 32/Li 754.
28 Vgl. den Regierungsentwurf zum Unfallversicherungsgesetz vom 8. 3. 1881 (§ 1 und

Begründung) sowie den Bericht der Kommission am 21. 5. 1881, Sten. Ber. Dt. Reichs-
tag, Bd. 65, 222. 228. 237; Bd. 66, 834.
29 Vgl. K. SCHICKER, Die Reichsgesetze über die Krankenversicherung der Arbeiter und
über die eingeschriebenen Hülfske.ssen (Stuttgart 1884), 4; E. VON WoEDTKE, Unfall-
versicherung der in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen,
2. Auß. (Berlin 1888), 106; Auszug aus der Anleitung des Reichs-Versicherungsamts,
betr. den Kreis der nach dem lnvalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899 versicherten
Personen, vom 6. 12. 1905, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 281, 172 ff.: Anlage E zum Ent-
wurf eines Angestelltenversicherungsgesetzes, 174.
30 Diese größtenteils aus Gehaltsempfängern bestehende Gruppe, die nicht mehr zu den

Beamten rechnete, hatte es schon 1881 dem Regierungsentwurf unmöglich gemacht, das
Gehalt als eindeutiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Beamten und Arbeitern zu
benutzen. Vgl. Anm. 28.
a1 Vgl. das Gesetz betr. die Gewerbegerichte vom 29. 7. 1890, § 2, RGBl., 141.

116
a) Die Veräußerlichung des Berufsinhalts .Angestellter

oder mit höheren technischen Dienst'leistungen betraut sind (Maschinentechniker, Bau-


techniker, Ohemiker, Zewhner und derg'/,ei,chen) 32 •
Ähnlich wie die innerbetriebliche Sprache hatte damit die Gesetzesterminologie der
Entstehung einer mit dem Beamtenbegriff nicht mehr faßbaren, sich dennoch durch
Bezahlungs- und Tätigkeitsart, durch .Arbeitsplatz und Selbstbewußtsein von
den Lohnarbeitern unterscheidenden industriellen .Arbeitnehmergruppe Rechnung
getragen.

2;, Vom „Beruf" zur „Stellung" (1880-1900)

a) Die Veräußerlichung des Berufsinhalts. Der Durchsetzung von Angestellten in


industriellen Unternehmen lief etwa seit 1890 die Einbürgerung von 'Angestellter'
als Sammelbezeichnung für .Arbeitnehmer aus verschiedenen Wirtschaftszweigen
parallel. So vertrat der „Deutsche Privat-Beamten-Verein" 1891 in einer Petition
zur Steuergesetzgebung das Interesse der Staatsbürger, di.e gegen festes Entgelt mit
einem geringen oder mitt'leren Einkommen q},s Angestellte Privater in den verschi.eden-
sten Berufsarten und Erwerbszweigen fiitig sind3D. Wie zunächst nur innerhalb der
Betriebe, so dent.ete der Gebrauch von 'Angestellter' nun auch gesamtgesellschaft-
lich darauf hin, daß die „Stellung" des .Arbeitnehmers in bestimmten Zusammen-
hängen bedeutsamer wurde als seine Berufszugehörigkeit.
Zu solcher Verwischung der beruflichen Gliederung trug bei, daß im Zuge zunehmen-
der .Arbeitsteilung und Differenzierung auch in Bereichen außerhalb der Produktion
Tätigkeiten entstanden, die mit den herkömmlichen Berufsbezeichnungen nicht
mehr erfaßt werden konnten. Die Berufsbezeichnung 'Handlungsgehilfe' versagte
vor dem nur mechanisch Abschreibenden, der im Handelskontor angestellt wurde,
als die vermehrte kaufmännisch-verwaltende .Arbeit systematisch zerlegt und teil-
weise mechanisiert wurde 84• So erkannten die Gerichte nur die Stenotypistinnen als
Handlungsgehilfinnen an, di.e bei der Formung des Inhalts der Schriftstücke selbst-
fiitig beteiligt waren 30• Mechanische, routinisierte Bürotätigkeiten, die aus der her-
kömmlichen Berufsstruktur herausfielen, vermehrten sich auch in den Bürogroß-
betrieben der Versicherungsgesellschaften, die schon vor 1880 mehrere hundert
Personen beschäftigten, in den Rechtsanwaltsbüros und der sich ausdehnenden
staatlichen und kommunalen Verwaltung. Solche .Arbeitnehmer wechselten ihre
Erwerbstätigkeit, die sie kaum mehr als „Beruf" im emphatischen Sinne, als befrie-
digende Vergegenständlichung der eigenen Subjektivität durch .Arbeit verstehen
konnten, schnell und ohne Qualifikationsschwierigkeiten. Die durch arbeitsteilige
Vereinfachung erreichte Auswechselbarkeit und Mobilität des Personals über ein-
zelne Wirtschaftszweige hinweg diente dem Gesetzgeber als Begründung, als er zu

31 Vgl. das Gesetz betr. die Abänderung der Gewerbeordnung („Arbeiterschutzgesetz")

vom 1. 6. 1891, RGBl„ 261 ff., § 133 a.


33 Privat-Beamten-Zeitung. Organ des Deutschen Privat-Beamten-Vereins 7 (1891), 12.
34 Schon vor 1850 beschäftigten große Handelskontore spezialisierte Teilarbeiter, für die es

keine besonderen Namen gab; vgl. Allgemeine Encyclopädie für Kaufleute und Fabrikanten,
4. Auß. (Leipzig 1841), 256.
86 Vgl. HEINZ PoTTHOFF, Der Begriff des „Angestellten", Arbeitsrecht 1 (1914), 106.

117
Angestellter Il. 2. Vom „Beruf" mar ,,Stellq" (1880-1900)

Versicherungszwecken verschiedene Berufsgruppen zusammenfaßt.Po (1889), die


später als '.Angestellte' galten 36• Mit Hinweis auf diese Mobilität forderten .Angestell-
tenvertreter nach der Jahrhundertwende ei.u ei..tdu1itliche1:1 .Angestelltenrecht, damit
ein Beamtet-, der etwa in dem einen Jahr in einem Handelsgeschäft, im nächsten in
einem RechtsanwaltsbUreau und im übernächsten im Bureau eines Wohltätigkeits-
vereins wtig ist, nicht mehr mit jedem Stellungswechseln unter andere Rechtsverhält-
nisse kommt37. Technologisch und arbeitsorganisatorisch bedingte Änderungen in
der Berufsstruktur, die die Arbeit niederer .Angestellter tendenziell von ihrem be-
stimmten Inhalt lösten, konstituierten mithin gemeinsame Interessen bisher isoliert
agierender, rein beruflich definierter Gruppen. Als sprachlicher Niederschlag dieser
veränderten Verhältnisse setzte sich der berufsneutrale Begriff des .Angestellten
durch 38 •

b) Interessengemeinsamkeit und staatliche Sozialinterventionen als Vnraussetzun•


gen des überhetriehliehen Angestelltenhegrift's. Die Entstehung gemeinsamer Inter-
essen verschiedener Berufsgruppen aus verschiedenen Wirtschaftszweigen als.Basis
der Entstehung von Gruppe und Begriff der .Angestellten Wurde durch die Wirt-
schaftskrise von 1873 unq die darauf folg1mile wirtschafte- und sozialpolitische
Umorientierung mit ihren .Ansätzen zu interventionsstaatlicher Sozialpolitik und
deren Tendenzen zur GrupPonbildung im gesellschaftlichen Dereich gefördert. Nach
der gemeinsamen, ihr Beamtenselbstverständnis bedrohenden Erfahrung der
Krise schlossen sich 1881 .Angestellte verschiedener Berufe im „Deutschen Privat-
Beamten-Verein", Magdeburg, zusammen. Buchhalter, Ingenieure, Werkführer,
Markscheider, Revierförster, Gutsbeamte, Bankdirektoren, wissenschaftliche Hilfs-
arbeiter, Hütten-Inspektoren, Gemeindeschreiber und ähnliche Kategorien mani-
festierten durch ihren Beitritt zu diesem hauptsächlich Versicherungsleistungen
anbietenden Verein erstmalig gleiche Interessen in Form von Versicherungsbedürf-
nissen, die sich durch die entstehende, auf Arbeiterverhältnisse zugeschnittene
staatliche Sozialversicherung unbefriedigt wähnten 39 • Damit bürgerte sich der
Begriff 'Privatbeamter', der in der Rechtssprechung mindestens etwa seit 1840
eine Rolle gespielt hatte, in der Öffentlichkeit ein4 0. Während im unternehmena-
internen Gebrauch kaum Gefahr bestand, 'Beamter' mit 'öffentlicher Beamter' zu
verwechseln, erforderte der von der betrieblichen Situation abgelöste Sprachge-
brauch einen Zusatz wie 'Privat-', je mehr 'Beamter' sich auf den öffentlichen Bereich

81 Vgl. die Begründung zum Regierungs-Entwurf für das Alters- und Invaliden-Versiche-

rungsgesetz vom 22. 11. 1888, Sten. Ber. Dt, Reichstag, Bd. 108, 66.
37 So Hmz Po'l'l'HOFl!' am 6. 3. 1905 im Reichstag, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 203,

5012.
88 Vgl. den entsprechenden, allerdings auf die Arbeiter bezogenen Gedankengang bei
KARL MA.Bx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Rohentwu,rf (Berlin 1953),25.
89 Nach der Liste der ersten Pensionäre des Vereins, Privat-Beamten-Zeitung 16 (1900),

68.
' 0 Vgl. die Entscheidungen des Preußischen Obertribunals vom 16. 6. 1843 und 9. 1. 1849,

in: LUDWIG v. RöNNE, Ergänzungen und Erläuterungen der Preußischen Rechtsbücher


durch Gesetzgebung und Wissenschaft, 4. Aufl., Bd. 1 (Berlin 1858), 175. Einer breiteren
Öffentlichkeit scheint der Begriff aber erst nach 1880 gebräuchlich geworden zu sein;
vgl. MEYER 6. Aufl„ Bd. 16 (1907), 357.

118
b) lnteressen1emeimamkeit und Sozialinterventionen Angestellter

einengte41. An der Abtragung beruflicher Unterscheidungslinien wirkten die staat-


lichen Sozialinterventionen mit, die primär nicht die Berufszugehörigkeit, sondern
die „soziale und wirtschaftliche Stellung" 7.nm Kriterium der Verteilung von
Pflichten und Ansprüchen machten. Auf dieser Grundlage faßten das Alters- und
Invalidenversicherungsgesetz (AIVG) von 1889 und seine Novellen schrittweise
immer mehr Arbeiter und unter 2000 Mark pro Jahr verdienende Betriebsbeamte,
Handlungsgehilfen und sonstige AngestelUe zusammen<l2. Die erste rechtliche, für
spätere Kategorienbildungen entscheidende Zusammenfassung der Berufsgruppen,
die man bald allgemein als 'Angestellte' ·bezeichnete, geschah nach Versicherungs-
gesichtspunkten, und zwar nicht um sie von den Arbeitern zu unterscheiden, son-
dern um sie in gleicher Weise wie diese vor wirtschaftlicher Not (und politischer
Radikalisierung) zu behüten. Angesichts der Sozialversicherung, der Steuergesetz-
gebung und der arbeitsrechtlichen Be1:1Lillllllungen, soweit sie für IIandel und
Industrie gemeinsam galten, rückte die „Stellung" des Arbeitnehmers, sein wirt-
schaftlicher und sozialer Status, in den Vordergrund und damit das, was ihn mit
Angehörigen anderer Berufe verband. Neben 'Privatbeamter' erfüllte 'Angestellter'
das sich dadurch stellende Bedürfnis nach einem Sammelbegriff. Das 1896 verab-
RnhiP.ilP.t.fl f'rll!lflt?. zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs bedrohte jeden mit
Strafe, der als AngestelUer, Arbeiter oder Lehrling eines Gesohä/tsbetriebes Geschäfts-
oder Betriebsgeheimnisse mißbrnuchtc". Do.ro.uf hatte der „Deuteehe Privat-Beam-
ten-Verein" Einfluß genommen, um die Interessen der Angestellten des Handels und
der 1ndustrie zu vertreten u.
Erstmals faßte 1895 die Berufsstatistik nioht leitende Beamte, ü'berhaupt das wissen-
schaftlich, technisch oder kaufmännisch gebiUJ.ete Verwaltungs- und Aufsichts-, sowie
das Rechnungs- und Bureawpersonal, Prokuristen, Disponenten, Buchhalter, Rech-
nungsführer, Ges_chäfts- und Handlungsreisende sowie die im Betrie'be 'beschäftigten
Ilechner und Schrei'ber als 'Angestellte' zusammen45 • Noch 1882 hatte sie höheres
Verwaltungs- und Aufsichts-, sowie das Rechnungs- und Bureawpersonal als 'Gehülfen'
summiert48 • ·

Auch ohne zusammenfassende Absicht bürgerte sich 'Angestellter' nach 1890 ein:

u 'Privatbeamter' schloß Arbeitnehmer aus nichtindustriellen Bereichen ein und hatte


damit einen weiteren Bedeutungsinhalt als der in Industriebetrieben gebrauchte. Terminus
'Beamter'.
u Vgl. Anm. 36; Regierungs-Entwurf zur Novelle zum AIVG vom 19. 1. 1899, Sten. Ber.
Dt. Reichstag, Bd. 172, 695 f. Das Invalidenversicherungsgesetz vom 13. 7. 1899 (RGBl.,
393 ff.) schloß Betriebsbeamte, Werkmeister und Tech:n,ikt:r, H andlungsgehiilfen und -Lehr-
linge ... , sonstige Angestellte, deren dienstliche Beschäftigung ihren Hauptberuf bilbJ,
sowie Lehrer und Erzieher ein(§ 1), weil die Linderung der wirtBChaftUchen NotJ,a,ge der Haupt-
zweck des Gesetzes ist, die Lebenslage vieler hier in Betrooht kommender Persun,en sich aber
nicht al8 wesentlich giinBtiger bezeichnen 'läßt, wie bei denjenig~, die al8 Arbeiter oder unter-
geordnete Betriebsbwmte ihre Arbeitskraft für Andere verwerten (Begründung, Sten. Ber.
Dt. Reichstag, Bd. 172, 696).
u Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs vom 27. 5. 1896, § 9, RGßl., 147 f.
"Privat-Beamten-Zeitung 11 (1895), 14 f. .
0 Vgl. Statistik d. Dt. Reiches, NF 111(Berlin1899), 58: Berufszählung vom 14. 6. 1895.

" Vgl. ebd., NF 2, TI. 1 (Berlin 1884), 63: Berufsstatistik vom 5. 6. 1882. Im Gegensatz
zu 1895 zählten die Meister 1882 noch zur Gruppe der Gehilfen, Arbeiter und Tagelöhner.

119
Angestellter D. 3. 'Angestellter' und 'Arbeiter' bis 1911

Ein Angestellter des Oomtoirs, einer der besseren Buchhalter ... war ein großer wohl-
genährter Mann mit goldigem Zwicker und goldiger Uhrkette (WETTSTEIN-ADELT
1893) 47 •

3. 'Angestellter' und 'Arbeiter' in ihrer Abgrenzung bis 1911


a) Begriftliche Unschärfen. Klar grenzte der Begriff 'Beamter' die früheren Ange-
stellten von den Arbeitern ab, indem er diese als herrschaftsunterworfene Gegen-
gruppe, jene als Träger delegierter Herrschaft und Vermittler interpretierte: Wer
bildet den natürlichen wertvollen Vermittl.er zwischen d,em Arbeitgeber und den mur-
renden Arbeitermassen? d,er Beamte. Und: Solange diese kl.einen Autoriäten den Agitato-
ren im Wege stehen dicht neben d,em A'lbeiter, so lange hat es gute Wege mit de'! Furcht
vor dom UmBturr, (Deutscher Privat-Beamten-Verein 1889) 48 • Diei:mi; durch
Unternehmer geförderte Beamtenbewußtsein stärkte die Zuverlässigkeit und das
Dienstethos der Angestellten und verhinderte ihre Solidarisierung mit den Lohn-
arbeitern. Die sprachliche Wendung vom 'Beamten' zum 'Angestellten' reflektierte
die Umstrukturierung dieses Personals, innerhalb dessen die untergeordneten, auto-
ritätslosen, ungesicherten Arbeitnehmer zunahmen. Damit verlor jenes am büro-
kratischen Modell orientierte 8elbstbewußtsein an Berechtigung, so wie der tat-
aii.oh linlw 111111 1l11r ~priichliche Unte.rschied gegenüber den .Arbeitern an Sohü.rfo.
Trotz seiner Tendenz, Lohnempfänger auszugrenzen und sich als Gegenbegriff zu
'Arbeiter' zu etablieren49 , war der noch nicht häufig gebrauchte, unverfestigte
Angestelltenbegriff noch nicht immer klar von 'Arbeiter' abgesetzt. 1891 schrieb
ein Sozialist : Heute noch Inhaber eines seinen Mann e;rnäh'lenrkn Detailhandels-
geschäftes - nach einem oder zwei Jahren, wenn sich in der Nähe ein großes Magazin
etabliert hat - entweder Angestellter (Lohnarbeiter) in diesem großen Warenhaus oder
... Hausierer 50. Gegenbegriff zu 'Angestellter' war hier 'Selbständiger', aber nicht
'Arbeiter'. Ähnlich schrieb der DHV 1895: Jede'! sozial denkenrle Kaufmann wird
von Herzen wünschen, daß es seinen Angestellten gut geht, denn zufriedene Arbeiter
1.eisten doppelte Arbeit51.
In einzelnen Fällen diente 'Angestellter' als Oberbegriff für Beamte und Arbeiter.
1903 schrieb ein Ingenieur über „Siemens & Halske": Im Jah'le 1897 zählte man in
Berlin 6000, in Wien 2000, in Petersburg 1000, in London 3000 A'lbeiter, außerdem
zusammen 2000 Beamte, .~o daß die gesamte Gesellschaft etwa 14000 Angestellte hatte 5 2 •
In solchem Gebrauch erhielt sich neben der auf die Inhaber einer relativ gesicherten
Dienststellung eingeengten Bedeutung der ursprünglich weite Umfang des Wortes,

67 MINNA WETTSTEIN-ADELT, 31/ 8 Monate Fabrik-Arbeiterin (Berlin 1893), 26 f.


' 8 Privat-Beamten-Zeitung 5 (1889), 3.
49 Vgl. etwa den Sprachgebrauch in der Firma Siemens, das Gesetz zur Bekämpfung des

unlauteren Wettbewerbs oder die Einteilung der Statistik von 1895, die Selbständige,
Angestellte und Arbeiter unterschied.
60 ALBERT AUERBACH, Der Kaufmann und die Sozialdemokratie (Berlin 1891), 6; ähnlich

.2.2 f.
61 Mitteilungen des Dt. Handlungsgehilfen-Verbandes 2 (1895), 109.
68 Vgl. EMIL KRELLER, Die Entwicklung der deutschen elektrotechnischen Industrie und

ihre Aussichten auf dem Weltmarkt (Leipzig 1903), 21.

120
h) 'Ang1111telher', 'Bandluagsgehilfe', 'Privatbeamter' Angestellter

den noch ein Lexikonartikel 1908 an erster Stelle nannte: Angestellter ist derjenige,
der von einem andern zur V O'fnahme einer gewissen Tätigkeit bestellt wi'fd 53 •
Noch 1911 gebrauchte STRESEMANN, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, diesen
weiten Angestelltenbegriff im Reichstag. Er sprach sich gegen eine einheitliche
Versicherung für Angestellte und Arbeiter aus; weil damit gewissermaßen die gemein-
same Idee des Klassenkampfes aller Angestelltenschichten in Deutschland auch in der
FO'fm der Versicherung das Siegel aufgedrückt erhalten sollte 54 •
Berufliche Mobilität und Sozialgesetzgebung hatten zwar insofern die Voraus-
setzung der Entstehung von Gruppe und Begriff der Angestellten geschaffen, als
sie die Berufs- und Wirtschaftszweigzugehörigkeit des einzelnen in ihrer Bedeutung
reduzierten. Eine klare Abgrenzung der entstehenden Gruppe „nach unten" leisteten
sie jedoch nicht. Vielmehr behandelte das AIVG die versicherungspflichtigen Ange-
stellten genauso wie die Arbeiter urnl beLonLe die Gleichheit ihrer wirtschaftlichen
und sozialen Lage. Während in den Unternehmen die Angestelltenzugehörigkeit in
Grenzfällen durch Dezision gelöst wurde, fehlte außerhalb der Betriebe das prak-
tische Bedürfnis nach einer klaren Trennung von Arbeitern und Angestellten. Diese
Situation und der seltene Gebrauch von 'Angestellter' hatten zur Folge, daß vor
rnoo 'ArhAitAr' noch nicht als klarer, eindeutig unterschiedener Gegenbegriff zu
'Angestellter' fungierte.

b) 'Angestellter' gegen 'Handlungsgehilfe' und 'Privatbeamter'. Seine Spitze rich-


tete der Angestelltenbegriff gegen das, wovon er abstrahierte: gegen die Berufs-
bezeichnungen. Gerade jene, die das berufsständische Denken, das sich in der
Bezeichnung 'Handlungsgehilfe' reflektierte, als ideologische Verschleierung einer
dauernden, fremdbestimmten Abhängigkeit ablehnten, benutzten den Begriff des
Angestellten, um den Arbeitnehmercharakter dessen zu betonen, der sich selbst
noch gern als junger Kaufmann stilisierte 55 • Die sozialistische Publikation „Der
Handels-Angestellte" schrieb 1892: Nein, die Handels-Angestellten haben andere
Interessen wie die Chefs, aber dieselben Interessen wie Arbeiter anderer Berufe. Und
deswegen müssen die Handels-Angestellten, besonders die Handlungsgehilfen, lernen,
sich als Arbeiter zu fühlen, als Arbeiter zu denken .. : 56• Der die Transport- und
Packereiarbeiter 57 einschließende Begriff des 'Handels-Angestellten' diente dem
Aufruf zur Solidarisierung aller Arbeitnehmer, aller Unselbständigen im Handel
und darüber hinaus. Dagegen bedauerte 1890 ein Harmonieverband, der sich an der
patriachalischen Vergangenheit orientierte, daß der Gehülfe nicht mehr vom Prinzipal
als Fleisch von seinem Fleisch ... angesehen werde 68 • - Als der Leipziger Verband

63 MEYER 6. Aufl.., Bd. 1 (1902), 519, Art. Angestellter~


64 Am 20. 10. 1911, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 268, 7452.
66 Vgl. etwa JOHANNES RUDOLF GUTHEIL, Ratgeber für Stellungsuchende und M:uster-

Bewerbungsschreiben oder: Wie jeder junge Kaufmann sicher Stellung findet, 12. Aufl..
(Berlin 1900).
6 8 Der Handels-Angestellte 1 (1892), Ausg. v. 15. Oktober.
67 Bezeichnenderweise trug die Zeitschrift zunächst den Untertitel Organ für die Interessen

aller im Handelsgewerbe beschäftigten Personen und diente gleichzeitig dem „Verband


der Geschäftsdiener, Packer und Berufsgenossen" als Sprachrohr.
68 GEORG HlLLER, Die Lage der Handlungsgehilfen. 3. Flugschrift des Verbandes Deutscher

Handlungsgehülfen zu Leipzig (Leipzig 1890), 10.

121
Angeetellter n. 3. 'Angestellter' und 'Arbeiter' bis 1911

Deutscher Handlungsgehülfen sich nach 1905 einem stärker gewerkschaftlichen


Standpunkt annäherte, gab er sich den Untertitel: Berufsvereinigung '1er Kauf-
männischen Angestellten in Hand,el und Industrie 69 • Der mittelständisch-natio-
nalistische DHV vermied noch 1926 tunlichst die Bezeichnung 'kaufmännischer
Angestellter' in programmatischen Äußerungen und zog 'Kaufmannsgehilfe' vor&o.
Ähnlich, doch später wandte sich' Angestellter' gegen 'Beamter' und 'Privatbeamter'.
Noch nach der Jahrhundertwende galten 'Privatbeamter' und 'Privatangestellter'
als Synonyme. 1903 verlangte ein nationalliberaler Antrag im Reichstag die Vor·
bereitung einer, den eigenartigen wirtscliaftlichen Verhältnissen der Privatbeamten
(Privatangestellten) entsprechenO-en ... Versicherung 61 • Der erste gewerkschaftliche
Technikerverband nannte sich noch 1904 Bund <ler technisch-industriellen Beamten
(Butib). Den im Privatbeamtenbegriffmitgemeinten Anspruch auf Staatsbeamten-
ähnlichkeit konkretisierten die Angestellten seit 1900 in ihrer ersten gemeinsam
vorgebrachten sozialen Forderung: dem Verlangon naoh oincr sto.atsbeamten-
ähnlichen Pensionsversicherung. Der Kampf um diese Einrichtung verstärkte die
intentionale Komponente der Bezeichnung 'Privatbeamter' und wies ihr eine
agitatorisohc Funktion zu 62•
Je klarer jedoch die Ausoinandcmctzungen um die Angestelltenversicherung rlie
Vergeblichkeit jenes Wunsches nach Beamtenähnlichkeit aufdeckten, desto deut-
licher zeigLe 'Privatbeamter' eine Ideologisch-elitäre Tendenz und trat allmählich
:i:uriick. 1907 sagte der SPD-Abgeordnete HEINE im Reichstag: Wir stehen der Frage
der Privatangestellten oder, wie man jetzt, um <ler Sache einen noch sc'höneren Namen
zu geben, zu sagen pfiegt, <ler Privatbeamten, mit großem Interesse gegenüber 63 • Von
1907 ab vermied der Butib weitgehend das Wort in seinen Publikationen. Zur Ange-
stelltenversicherung schrieb er 1907, daß man nicht nur eine Versicherufi{/ einer
oberen Schicht mit „Beamtencliarakter" wünscht, sonO-ern daß die l1 /s bis 2 Millionen
Angestellten aller Berufe, vom einfachsten Bureauschreiber und Verkäufer an, dem
neuen Gesetze unterliegen sollen84 •
Der Begriff des Angestellten rückte den Arbeitnehmercharakter des Beschäftigten
in den Vordergrund und betonte so seine Abhängigkeit statt den Inhalt seines
Berufes. Er rückte das vielen Gruppen Gemeinsame in den Blickpunkt und destru-
ierte das von der wirtschaftlichen Entwicklung überholte Sonderbewußtsein. Die
nüchterne Abstraktion des Angestelltenbegriffs, der inlmer auch Polemik gegen die
überkommene Berufsstruktur, gegen überholten Patriarchalismus oder quasi-obrig-
keitliches Beamtenbewußtsein enthielt, machte ihn unbrauchbar für berufaständi-

58 Vgl. Epochen der Angestelltenbewegung 1774-1930, hg. v. Gewerkschaftsbund der

Angestellten (Berlin 1930), 118 f.


80 Vgl. „Der sozialpolitische Wille der deutschen Kaufmannsgehilfen, beschlossen auf dem

17. Deutschen Kaufmannsgehilfentag am 19. und 20. 6. 1926 in München", in: ÜTTo
THIEL, Die Sozialpolitik der deutschen Kaufmannsgehilfen (Hamburg 1926), 45 ff.
81 Vgl. Sten. Ber. Dt. ReiohsLag, Btl. 203, 469 (Nr. 37 der Anlagen).
11 Vgl. dazu HEINZ Po'I'l'HOl'll', Die Organisation des Privatbeamtenstandes, hg. v. Deut-

schen Brennmeister-Bunde (Berlin 1904), 7.


88 Am 14. 3. 1907, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 227, 479.
84 Deutsche Industriebeamten-Zeitung; Zs. f. d. sozialen Interessen der Privatangestellten;

· Organ des Butib 3 (1907), 312.

122
c) AVG und 'neuer Mittelstand' Angestellter

sches oder nationalistisches Pathos. Die Assoziation maßvoller Mittelmäßigkeit, die


ihm später besonders in Ausdrücken wie „kleiner" Angestellter, „mittlerer" Ange-
stellter oder „Angestelltenkultur" anhaftete 86, hatte vor dem. Ersten Weltkrieg
stärker als heute ideologiekritische Funktion. Andererseits fehlte ihm auch das
revolutionäre Pathos, das in '(Lohn-)arbeiter' mitschwingen konnte. Ein Begriff, der
noch 1911 weit genug war, Beamte als Angestellte des Staates einzuschließen,
betonte zwar den Arbeitnehmerstandpunkt, doch nicht in antagonisierender Weise.
Die solidarisierende Kraft von 'Arbeiter' blieb dem Angestelltenbegriff immer fremd.
Gerade seine Farblosigkeit, seine Flexibilität, sein zunächst künstlicher, wenn nicht
gar Verlegenheitscharakter prädestinierten ihn als Bezeichnung einer Gruppe, die
ihren gesellschaftlichen Standort ebensowenig wie außenstehende Beobachter ein-
deutig oder gar einheitlich bestimmen konnte. Das hohe Maß an unanschaulicher
Aln1LrakLiun de1:1 Begrift'l! entsprach der Heterogenität derer, die er zusammen-
faßte.

c) Das Angestelltenversichenmgsgesetz (AVG) und der 'neue Mittelstand'. Die


zehnjährige Agitation für das AVG von 1911 diente als Kristallisationskem, um den
sich die bisher nur latenten, gemeinsamen Angestellteninteressen formierten. Im
Kampf um dieses Gesetz stellten sich die Angestellten erstmals einer breiten Öffent-
lichkeit als soziale Gruppe dar. Pr·iml.nn1{JP.RfA'lltR. a.llM Rl'orn.j,,,, 'tll!!re.inigt E'llchl forderte
1904 der Vertreter des Werkmeister-Verbandes in seiner Schrift Die Organisation
des Privatbeamt.enstandes66 • Durch Versammlungen, Broschüren, Parlamentsdebat-
ten bürgerte sich der Begriff des '(Privat-)Angestellten' endgültig im allgemeinen
Sprachgebrauch ein. Während 'Privatbeamter' zu veralten begann, setzte sich
neben 'Privatangestellter' -häufig als synonyme Abkürzungsform - 'Angestellter'
durch. Der Zentrums-Abgeordnete SrrrART sagte 1903 im Reichstag: die Zahl der
Angestellten, der Privatbeamt.en beläuft swh wohl auf 1 Million 67 • Doch schloß 'An-
gestellter' im Gegensatz zu 'Privatangestellter' bis in die zwanziger Jahre öffent-
liche Beamte ein 68 • Erst in der Auseinandersetzung um das AVG verlor der Ange-
stelltenbegriff seine bisher noch mögliche Anwendbarkeit auf alle Arbeitnehmer und
verfestigte sich mit der Gruppe, die er meinte. Er gewann seinen für die folgenden
Jahrzehnte entscheidenden, wenn auch in Einzelheiten modifizierten Bedeutungs-
umfang. Als angestelltenversicherungspßichtig bezeichnete das Gesetz von 1911:
1. Angestellte in leitender Stell'ung, ... 2. Betriebsbeamt.e, Werkmeister und andere
Angestellte in einer ähnlwh gehobenen oder höheren Stellung ohne Rückswht auf ihre
Vorbildung, Bureauangestellte, soweit sie nwht mit niederen oder lediglwh mechani-
schen Dienstleistungen beschäftigt werden, ... 3. Handlungsgehilfen und Gehilfen

85 Vgl. S1EG1!'BIED KRAcAUER, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland (1930;
3. Aud. Allensbach, Bonn 1959), 4: Hwnderttauaende von .Angeatellten bevölkern tä.glich die
Straßen Berlina ... Die lntellektutllen Bind entwe,der aelbat .Angutellte, oder aie aind frei,
und dann iat ihnen der .Angutellte aeiner .Alltäglichkeit wegen gewöhnlich unintereaaant.
88 PoTTBo:n, Organisation, 14.
·67 Am 14. 2. 1903, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 187, 7944 f.
88 Das AVG umfaßte begrifflich auch die öffentlichen Beamten, doch waren diese insofem

von der Versicherungspflicht befreit, als sie öffentliche Pensionsansprüche besaßen. Diese
praktische Nichtanwendbarkeit des AVG auf die Beamten dürfte dazu beigetragen haben,
claß 'Beamter' aufhörte, Unterbegriff von 'Angestellter' zu 11ein.

123
Angestellter D. 3. 'Angestellter' und 'Arbeiter' bis 1911

in Apotheken, 4. Bühnen- und Orchestermitglieder ohne Rücksicht auf den Kunstwert


der Leistungen, 5. Lehrer und Erzieher, 6. bestimmte Mitglieder von SchiQsbesatzungen.
Als Versicherungspflichtgrenze galt ein Jahresverdienst von 5000 Mark 69 •
Dieser Berufsgruppenkatalog und damit die Umgrenzung des Angestelltenbegriffs
waren Resultat eines mehrjährigen, vielschichtigen Interessenkampfes und -aus-
gleichs, in dem Definitionen meist die Rolle ideologischer Begründungen von Forde-
rungen spielten. Die verwickelte Beziehung zwischen Interessen und Begriff machte
dessen systematische Analyse unmöglich und verurteilte spätere juristische und
sozialwissenschaftliche Definitionsversuche zum Scheitern.
Initiator und treibende Kraft der „Privatbeamtenbewegung", die seit 1901 auf das
Gesetz hinarbeitete, war die Forderung der meisten, noch auf beruflicher Basis
organisierten Angestelltenverbände nach einer staatsbeamtenähnlichen Pensions-
versicherung70. Da ihre große Mehrheit gleich den Arbeitern der bestehenden 8ozial-
versicherung bereits aneehörte 71 , m11 ß ilie Agitn.t,ion der Ange,<>tellten als Auiidruck
eines Sonderbewußtseins verstanden werden, das sich durch das au/den Handarbei-
terstand zugeschnittene AIVG unbefriedigt erklii.rte72 • DiA gAgAniiber dem Produk-
tionssektor „verspätete" Industrialisierung der Bürobereiche, die von einer Ange-
stelltenkat,egorie zur andern wechselnden, gleichwohl von den Lohnarbeitern abset-
zenden Merkmale ihrer Arbeitssituation und gesamtgesellschaftlich· vermittelte,
antiproletarische Ilesseniimenis haLLen Zlll' Fulge, daß die sich in ihrer Mehrheit
berufsständisch oder nach dem Beamtenmodell verstehenden Angestellten, die
untereinander wenig verband, was sie nicht auch mit vielen Arbeitern teilten,
dennoch in einem glichen: dem Bewußtsein und Wunsch, nicht zu jenen zu gehören,
für die sich Beruf weitestgehend in Klassenlage aufgelöst hatte m;td deren ökono-
misch-soziale Situation von proletarischer Unsicherheit gekennzeichnet war. Aus
dieser nur negativen Gemeinsamkeit - die ihre positive Definition unmöglich
machte 73 - erwuchs in der Krise von 1900 die Forderung nach versicherungs-

89 Vgl. das Versicherungsgesetz für Angestellte vom 20. 12. 1911, RGBl., 989 ff., § 1.
70 Vgl. die Liste der im „Haupta.usschuß zur Herbeiführung einer staatlichen Pensions-
und Hinterbliebenen-Versicherung der Privatangestellten" zusammengeschlossenen An-
gestellten-Verbände, in: Die staatliche Pensions- und Hinterbliebenen-Versicherung der·
Privat-Angestellten, Schriften des Deutschen Werkmeister-Verbandes 1, 3. Aufl.. (Düssel-
dorf 1906), 14 f. Zum Folgenden genauer KocKA, Unternehmensverwaltung, 536 ff.
71 Nach einer Statistik verschiedener Angestellten-Verbände, die die Regierung bearbeitete,

gehörten 68,29 % aller männlichen und 93,57 % aller weiblichen Angestellten der beste-
henden Alters- und Invalidenversicherung an (1903). Vgl. Die wirtschaftliche Lage der
Privatangestellten. Denkschrift über die im Oktober 1903 angestellten Erhebungen,
bearb. im Reichsamt des Innern (Berlin 1907), 17.
79 Solche Äußerungen seitens verschiedener, meist kaufmännischer Angestelltenorgani-

sationen finden sich spätestens seit 1895. Vgl. ALFONS ENNESCH, Zur Frage der Pensions-
und Hinterbliebenen-Versicherung für Privatbeamte, Schriften des Butib 9 (Berlin 1906),
42 ff.; Privat Beamton-Zcitung 11 (1805), 124. 135.
78 Auf die Frage der Regierungsbeamten an die ihre Wünsche vorbringenden Angestellten-

vertreter, was ein Privatangestellter denn eigentlich sei, arbeitete der Haupta.usschuß
1903 eine Selbstdefinition aus, die diese negative Gemeinsamkeit betonte: Als Privat-
angeatelltt im Sinne dieses Gesetzes gelten Persunen, welche gegen Gehalt im Privatdien8te
oder bei 81,aatUchen, kommunalen oder kirchl,ichen Behörden in noch nicht, mit Pensüm&-

124
c) AVG und 'neuer Mittelstand' Ange1tellter

politischer Privilegierung. Den Erfolg dieses Strebens nach Sonderbehandlung ver-


dankten die Angestellten der mittelständischen Politik einiger Parteien und der
Regierung und der unter Arbeitgebern verbreiteten Furcht, durch eine einheitliche
Versicherung aller Arbeitnehmer deren Solidarisierung im Arbeitskampf zu er-
leichtern 74, sowie der Konkurrenz der Parteien um die sich schnell vergrößernde,
noch nicht festgelegte Wählergruppe und finanziellen Erwägungen der Regierung.
Das Absetzungsstreben der Angestellten und die ihm entgegenkommende Politik
der bürgerlichen Parteien wie der Regierung fanden ihre gemeinsame Formulierung
im Schlagwort vom 'neuen Mittelstand'. ObwohLsich Angestelltengruppen in ihrer
bedrohten Unterscheidung von der Arbeiterschaft schon früh dem 'Mittelstand' zu-
gerechnet hatten 76 , wurde dieser Begriff in den neunziger Jahren ausschließlich mit
Hinblick auf kleine und mittlere Bauern, Gewerbe- und Handlungstreibende politi-
siert76 (->-Mittelstand). Erst 18~7 wies GusTAV l::!CHMOLLER auf die höheren besser
lw.mh.lt.e.n Arbf'.1:t.P.r, d1i>. We.rkm.e.1:stu, St.e.ige.r, Mont.e.itre, Vora.rbe1:ter als eines der tüch-
tigsten, energischsten, z11,kun/"8reichsten Elem.e.nte hin und bezeichnete sie zusammen
mit dem höh.ern Verwaltungspersonal al,s Kern des neu sich bildenden Mittelstandes 77 .
Das sich in der Folgezeit langsam verbreitende, verschwommene Wort vom 'neuen
Mittelstand' erlaubte es, in Anwendung auf Privatbeamte, Handlungsgehilfen ~nd
sonstige Angestellte, teilweise auch auf öffentliche Beamte, die ständisch-hierar-
chi1:1ehen, auf eine doppelte Bedrohung und Frontstellung, auf Unten1tiitzung-
bedürftigkeit und -würdigkeit hinweisenden Implikationen des Mittelstandsbegriffs
mit zukunftsfroher Zuversicht zu verbinden: Wenn also der alte Mittelstand im
Rückgang ist, so entwickelt sich ein neuer Mittelstand, der zum mindesten finanziell
jenen ersetzt7 8 • Je stärker sich das Interesse der bürgerlichen Parteien, besonders
seit 1906/07, auf die neue Gruppe der Angestellten als Mittel- und Bindeglied zwi-
schen verschiedenen Gesellschaft,sklassen, als Stütze gegen die Sozialilemokratie 79 rich-
tete, desto häufiger erschien sie als Kernpunkt des Mittelstandes, desto klarer wurde

berechtigung a'UB(/esf,attden Stellen be11chäftigt sind, soweit sie nicht als gewerbliche .Arbeiter
(Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge, Fabrikarbeiter etc.), als Tagelöhner und Handarbeiter oder
als Gesinde Dienate verrichten. Vgl. Jb. f. d. soziale Bewegung der Industriebeamten 1
(Berlin 1907), 129. Zur Kritik vgl. PoTTHOFF, Der Begriff des „Angestellten", Arbeits-
recht 1 (1914), 97 f.
7' Vgl. Stresemanns Stellungnahme im Reichstag, oben S. 121.
76 Vgl. Privat-Beamten-Zeitung 5 (1889), 3 sowie den Aktionsaufruf des Deutschen

Handlungsgehülfen-Verbands, Deutsche Handelswacht 1 (1894/95), o. S.


78 Vgl. Huoo BÖTTGEB, Vom alten und neuen Mittelstand (Berlin 1901), 3. 41 ff.
77 Vgl. GusTAV SCHMOLLEB, Was verstehen wir unter dem Mittelstande? Hat er im
19. Jahrhundert zu- oder abgenommen?, in: Die Verhandlungen des Achten Evangelisch-
sozialen Kongresses, abgehalten zu Leipzig am 10. und 11. Juni 1897 (Göttingen 1897),
154. Auch zählte Schmoller die in Staats-, Gemeinde-, .Aktiendienst .Angestellten zu den
breiten neuen Bekiekten eine11 Mittelstandei! •.. , die schwer ins Gewicht fallen; ebd., 153.
78 POTTHOFF, Privatbeamtenstand (vgl. Anm. 62), 6. Ausdrücklich zitiert Potthoff Schmol-

ler (ebd., 7); ähnlich schon 1901 bei Bö'I'TGER, Mittelstand, 40. Marbach macht darauf
aufmerksam, daß mit neuer Mittelstand eigentlich der unselbständige Mittelstand gemeint
war, zu dem auch alte Berufe, wie der des Buchhalters, rechneten; vgl. FRITZ MARBACH,
Theorie des Mittelstandes (Bern 1942), 196 ff.
79 So der Abgeordnete Lmz (Reichspartei) am 14. 3. 1907, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd.

227, 481.

125
Aqeltellter II. 3. 'Angestellter' und 'Arheiter' bis 1911

die Sonderversicherung als wesentliches Stück Mittelstandspolitik herausgeatelJtSO;


dagegen sprachen Sozialdemokraten vom sogenannten neuen Mittelstand 81 • Indem er
ganze Ar1eiLud1.w.ergruppeu ueLuuL vuw PruleLariaL uuLenmhied und eine tatsäoh-
Iich über äußerliche und ideologische Merkmale kaum hinausreichende Gemeinsam-
keit zwischen diesen Arbeitnehmern und dem selbständigen „Mittelstand" vorgab8 2 ,
indem er auf unklare Weise die Vermittlung klassengesellschaftlicher Gegensätze
und somit Stabilisierung versprach83, fungierte der Begriff des neuen Mittelstandes
als ideologisches Schlagwort gesellschaftlicher Integrationsbemühungen, in deren
Dienst letztlich auch das AVG als privilegierende Sonderversicherung stand.
Wie sich die Angestellten als soziale Gruppe nur in absetzendem Gegensatz zu den
Arbeitern formieren konnten, so mußte der jetzt erst eindeutige Konturen gewin-
nende Angestelltenbegriff dieses Distanzierungsstreben spiegeln und eine Front-
stellung gegen die Arbeiter aufnehmen, die ihm bisher fehlte. ·Die Privilegierung
einer Gruppe setzte ihre Definition voraus. Nachdem sieh diese jedoch als unmöglich
erwies 84, bestimmte der sieh im wesentlichen durchsetzende Regierungsentwurf den
Kreis der Versicherungspfliohtigen, indem er die durch 30jährige Prazis des Reichs-
versicherungsamtes erläuterte Fassung des A.rbeite'f"1)ersioherungsgesetzes zugrunde-
legte85, Damit entschieden über den Angestelltenstatm1 fli11flA A rl11.iif.nel1meri'l Kri-
terien, die zu einem ganz anderen Zweck formuliert worden waren. Was· vor 1900
unter dem Gesichtspunkt der Versicherungsbedürftigkeit und unter ständiger Ein-
flußnahme der betroffenen Interessengruppen zusammengefaßt worden war, um
ebenso wie die Arbeiter geschützt zu, werden, wurde nun - zuzüglich einiger besser
Verdienender - als Arbeitnehmer in beamtenähnlichen gehobenen Stellungen ...

88 So der Nationalliberale v. HEYL am 14. 3. 1907, ebd., 467 und TRIMBORN (Zentrum)

am 20.. 10. 1911, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 268, 7439. Stresemann gebrauchte den
Begriff vom 'neuen Mittelstand' mit Berufung auf Schmoller; vgl. Gusuv STRESEMANN,
Die Stellung der Industrie zur Frage der Pensions-Versicherung der Privatangestellten
(1906), in: Wirtschaftspolitische Zeitfragen (Dresden 1910), 49.
81 So SOHMIDT (SPD) am 20. 10. 1911, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 268, 7444.
81 Vgl. THEODOR GEIGER, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer

Versuch auf statistischer Grundlage (Stuttgart 1932), 120 f. 128 f.


88 Vgl. EMIL LEDERER/JAKOB MARsCHAK, Der neue Mittelstand, Grundr. d. Soz. Ök.,

9. Abt., Tl. 1 (1926), 122.


"Die Minderheit der Angestellten, die nach 1905 für eine einheitliche Versicherung von
Arbeitern und Angestellten eintrat, argumentierte mit der Unmöglichkeit, eine klare
Trennung zWischen beiden Gruppen zu ziehen. Vgl. Vor der Entscheidung! 16 Gutachten
zur Frage der Pensions-Versicherung, Schriften des Werkmeister-Verbandes 5 (Düsseldorf
1907), 16. Die U11möglichkeit einer klaren Abgrenzung der Angestellten von den Arbeitern
gab der Vertreter der Reichsregierung in der abschließenden Lesung des AVG zu. Vgl.
Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 268, 8184. 8187.
81 Vgl. die .!ußerung des Regierungsvertreters CABPAB, ebd., 8181. Vgl. auch den Regie-
rungs-Entwurf zum AVG vom 20. 5. 1911, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 281 (Nr. 1035 der
Anlagen),· bes. 93. Als Anlage E (172 ff.) wurde die „Anleitung des Reichsversicherungs-
amtes, betr. den Kreis der nach dem Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899
versicherten Personen", beigefügt, als das 1905 entstandene Resümee der Auslegungs-
arbeit von Behörden, Gerichten und Kommentaren auf der Basis der Arbeiterversicherung.
l>ort seien, so der Regierungsvertreter, alle diue Begriffe achon voUatändig entwickeU und
/utgde,gt.

126
m. Aushlick Angestellter

zwischen dem Prinzipal und dem Arbeiter86 präsentiert, um vor den andern Arbeit-
nehmern privilegiert zu werden. Abgesehen davon, daß diese Kennzeichnung fak-
tisch nicht zur Auswahl des anges.telltenversicherungspfiichtigen Personenkreises
benutzt wurde, traf sie keineswegs auf alle aufgezählten Berufsgruppen zu 87 • Sie
diente vielmehr als ideologische Rechtfertigung einer ganz anders entstandenen
Entscheidung.

ID. Ausblick
Wenn das AVG auch nur den Kreis der versicherungspflichtigen Angestellten um-
riß, so bedeutete das in einer Situation, in der es noch keinen festen allgemeinen
Angestelltenbegriff gab, die Entscheidung darüber, wer überhaupt Angestellter -
im Gegensatz zum Arbeiter -war, zumal der Angestelltenbegriff des AVG in andere
Gesetze des Sozial- und Arbeitsrechtes übernommen wurde und so seine gruppcn-
strukturierende Kraft verstärkte. In Praxis und Diskussion der nächsten Jahrzehnte
galt oft mangels be1515erer Kriterien als Angestellter, wer angestelltenversicherungs-
pff,ichti.g ist88.
Die Identifikation von Versicherungs- und allgemeinem Angestelltenbegriff wurde
durch die spätere (1924) Ausweitung des AVG-.Hcrufägruppcnko.t!Llogs o.uf die nio -
deren Büroangestellten crlciohtcrt8 9 • Die Klassifizierung der Angestelltentätigkeiten
als „gehoben" und „beamtenähnlich" und damit die Begründung ihrer .Privilegie-
rung erschien dadurch allerdings noch fragwürdiger als bei ihrer Verkündung 1911,
zumal der technologische _Fortschritt ständig neue, oft sehr arbeitsteilig-routini-
sierte, wenig qualifizierte Tätigkeiten hinzufügte. Der mittelständische Anspruch
der Angestellten und ihre soziale Verortung als Position zwischen den Klassen
(LEDERER) verloren fortschreitend an Berechtigung, wenn das Wort vom 'neuen
Mittelstand' auch noch nach der viele deklassierenden Wirtschaftskrise das ideolo-
gische Selbstverständnis zahlreicher Angestellten ausdrückte und in politischen wie
in wissenschaftlichen Diskussionen als Alternative zu klassengesellscha.ftlichen Vor-
stellungen fortwirkte 90• Für Juristen und Sozialwissenschaftler wurde es zunehmend

88 Vgl. den Regierungs-Entwurf zum AVG vom 20. 5. 1911, Sten. Ber. Dt. Reichstag,

Bd. 281 (Nr. 1035 der Änlagen), 68 ff. und Staatssekretär DELBRÜCKS Begiündung im
Reichstag am 19. 10. 1911, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 268, 7432 f. Der Entwurf unter-
schied sich von der Endfassung u. a. dadurch, daß er die Bureauangestellten, soweit sie
§ 1, Abs. 2 der endgültigen Fassung nannte, noch nicht, dafür aber die später weggelas-
senen ka.ufminnischen Lehrlinge einbezog.
87 Etwa auf die große Gruppe der Ladengehilfen und -lehrlinge trafen Kriterien wie

Beamtenähnlichkeit oder gehobene Stellung ... _zwi&cken dem Prinzipal und dem Arbeiter
nicht zu.
88 Dies stellte 1931 LUDWIG HEYDE fest; Arl. Angestellte und Angestelltenbewegung, in:

Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens, Bd. 1 (Berlin 1931), 50.


89 Vgl. das Angestelltenversicherungsgesetz, Neue Fassung vom 28. 5. 1924 (RGBI. 1,
563 ff.), § 1. -
90 Lederer vertrat 1912 noch die These von der „Zwischenstellung" der Angestellten -

zwischen Arbeit und Kapital; Em:r. LEDERER, Die Privatangestellten in der modernen
Wirtschaftsentwicklung (Tübingen 1912), 25 f. 215 f. 290. 1926 sah er die Basis dieser Mittel-
stellung schwinden; LEDEREii./Mil.sCHA.K, Der neue Mittelstand, 141. Doch noch 1932

127
Angl'.stellter m. Auahlick
schwieriger, Grundlage und Einheit des Angestelltenbegriffs zu bestimmen. Wäh-
rend sich jene u.a. auf die „Verkehrsanschauung" beriefen - die doch ihrerseits
engstens von Gesetzgebung und Rechtsprechung bestimmt war91 - , schlugen einige
V()n diesen eine Revision des Begriffs und der von ihm gemeinten, sich tendenziell
ohnehin den Arbeiterverhältnissen angleichenden Wirklichkeit vor92• Doch wie die
Entstehung der begrifflichen Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern
auf das engste mit sozialen und politischen Interessenkonflikten und -ausgleichen
verknü,pft war, so stehen ihrer Revision starke Interessen entgegen, solange die
Begriffsdifferenz nicht all ihren Wirklichkeitsgehalt verliert.
JÜRGEN KOCKA

hatte sich Geiger mit dem „neuen Mittelstand" und der Affinität seiner ständischen An-
sprüche zu nationalsozialistischen Versprechungen auseinanderzusetzen; GEIGER, Soziale
Schichtung, 98 ff. 109 ff. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Begriff kaum mehr an-
gewandt. Zur Verwendung von Mittelstandsbegriff und -theorien in der sozialwissenschaft-
lichen Diskusaion vgl. SIEGll'RIED BRAUN, Zur Soziologie der Angestellten (Frankfurt
1964), 24.
91 Vgl. H. SCHÜLER-SPRINGORUM, Wer ist Angestellter?, Der Betriebsberater 13 (1958),

237.
92 Vgl. Zur Neuabgrenzung der Begriffe Angestellter und Arbeiter. Ein Ausschußbericht,

hg. v. d. Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e. V. (Berlin 1959), bes. 19 ff.; GÜNTER
HARTFIEL, Angestellte und Angestelltengewerkschaften in Deutschland (Berlin 1961),
110 ff.

128
Antisemitismus

I. Einleitung. II. 1. 'Semitismus' und der säkulare Begriff des Juden als VoraUBBetzungen.
2. Entstehung und Verbreitung des Begriffs 'Antisemitismus'. 3. Bedeutung und Funktion
des Begriffs 'Antisemitismus'. III. 1. Entwicklungen im Kaiserreich. 2. Der Begriff 'Anti-
semitismus' im Nationalsozialismus. IV. Ausblick.

1. Einleitung
Das Wort 'Antisemitismus' ist eine Neubildung aus dem letzten Drittel des 19. Jahr-
hunderts. Seit der Antike und zumal seit der frühchristlichen Zeit hat es in Europa
eine Judenfeindschaft gegeben, die wesentlich vom Religionsgegensatz bestimmt
war. Im Mittelalter bildete sich infolgedessen eine ständische Absonderung der
Juden heraus, die Glaubensgemeinschaft wurde zur isolierten Lebensgemeinschaft,
die religiöse Judenfeindschaft verband sich mit der Feindschaft gegen eine außerhalb
der ständischen Gesellschaft stehende Gruppe. Das Wort 'Antisemitismus' meint
demgegenüber eine grundsätzlich neue judenfeindliche Bewegung, die sich seit dem
Jilnde der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zunä.chstin Deutschland, Osterreich
und Ungarn, dann vor all~m in Frankreich und unter anderen Bedingungen in
Rußland und anderen ost- und südosteuropäischen Ländern ausbreitete. Deutsch-
land ist das Ursprungsland dieser Bewegung und zugleich die Heimat des Begriffs
'Antisemitismus', der von hier aus - vielfach ausdrücklich als aus dem Deutschen
übernommenes Fremdwort bezeichnet - rasch in andere Sprachen eindrang:
antisemitism (engl.), antisemitisme (franz.), antisemitismo (span., ital.}, aHTH-
ceMHTHBM (russ.), antiszemitizmus (ungar.), antisemitism (rumän.) usw.
Als Schöpfer des Begriffs 'Antisemitismus' gilt im allgemeinen der deutsche Schrift-
steller Wilhelm Marr, dessen judenfeindliche Agitationstätigkeit 1879/80 ihren
Höhepunkt erreichte; Belege für diese Annahme sind jedoch nicht vorgelegt
worden. Die Wortbildung 'antisemitisch' ist bereits 1865 im RoTTECK/WELCKER-
schen „Staatslexikon" nachzuweisen, wo das Königtum unter tlen Jutlen als eine
antisemitische Geburt bezeichnet wurde1. Es handelt sich dabei jedoch um eine
zufällige und folgenlos gebliebene Formulierung, die etwa dem im gleichen Jahr
im ~,Staatswörterbuch" von BLUNTSCHL1/BRATER zu belegenden unsemitisch ent-
spricht2. Ähnlich dürfte es sich auch mit einer gelegentlich behaupteten, aber nicht
nachgewiesenen frühen Verwendung des Wortes durch Ernest Renan verhalten 3 ,
denn von einem etwaigen Wortgebrauch bei Renan gibt es jedenfalls keine Kon-

i GusTAV WEIL, Art. Semitische Völker, RoTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 13 (1865), 328.
In der 1. und 2. Aufl. fehlen entsprechende Artikel.
2 FERDINAND Hrrzm, Art. Semitische Völker und semitisches Recht, BLUNSCHTLI/BRATEB

Bd. 9 (1865), 398.


s Vgl. Jüdisches Lexikon, hg. v. GEORG HERLITz u. BRUNO KmsCHNER, Bd. 1 (Berlin
1927), 331; ebenso S.ALÜ WITTMAYER BARON, A Social and Religions History ofthe JeWB,
vol. 2 (New York 1937), 287; von hier aus ist diese Vermutung in zahlteiche andere Arbeiten
übernommen worden.

9-90385/1 129
Aadaemitismus ß. I. 'Semitümu' unll tler llÜulare Begriff tles Jullen

tinuität zu dem um 1880 in der politischen Diskussion auftauchenden Begriff.


Auch in Frankreich gilt Marr als der Schöpfer des Wortes 'Antisemitismus''.

n.
I. 'Semitismns' und der säkulare Begrift' des Juden als Vora1188ebungen

Sprach- und sachlogische Voraussetzung der Entstehung des Begriffs 'Anti-


semitismus' ist die Bildung und allgemeine Verbreitung des Begrifi's 'Semitismus'.
Der Begriff 'Semiten' entstammt der theologisch-historischen Literatur des .späten
18. Jahrhunderts. Er wurde vermutlich 1771 von A. L. VON ScHLÖZER im An-
schluß an die Völkertafel ini ersten Buch· Moses, Kap. 10 geprägt 0 und wenige
Jo.hrc oplitcr von J. G. E101IHORN in die Sprachwit1t1".ll.1Juhaft eingeführt (Semiten
bzw. semitische Swmme als Träger der semitischen S'[Wache) 8• Die neuen Begriffe
bürgcrten sich in der Sprachwissenschaft rasch ein und fänden trotz naheliegender
Einwände ~ die „semitische" Sprachfamilie und die als Nachkommen Sems ge-
nannten Völker sind keineswegs identi1111h - auch Eingang in die Völk~rkunde 7 •
Zugleich wurde mit diesen Begriffen „Geist und Charakt.flr" dieBer Völker, die
Summe ihrer llegabungen und Leistungen, der Typus ihrer Kultur beschrieben
(r.. R von Chr. Laasen und E. Renan) 8• Gobinco.u• hat dann durch den entschie-
denen und terminologisch :fixierten Gebrauch des Begriffs 'Rasse' die linguistisch-
ethnologischen Begriffe naturalistisch . fundiert, aus dem geschichtlichen Volks-
charakter wurde ein Rassencharakter.
Gleichzeitig mit dem Begriff 'Semiten' wurden die ebenfalls der Sprachwissenschaft
entstammenden Begriffe 'lndo-Europäer', 'Indogermanen', 'Arier' in die allgemeine
Terminologie der Geisteswissenschaften aufgenommen; beide Sprachgruppen wur-
den auch als Völkergruppen einander gegenübergestellt. Die Verschiedenartigkeit
wurde sehr bald als eine Verschiedenwertigkeit verstanden, das „Semitentum"
wurde zur dunklen Folie für die positiv akzentuierte Darstellung des Wesens der
indo-europäischen bzw. arischen Völker10• Die Orientalisten Paul de Lagarde und

' Vgl. ROBERT F. BYRNES, Antisemitism inModemFrance, vol. l (New Brunswick 1950), 81.
'AtrG. LtJDWIG v. Scm.özER, Fortsetzung der Allgemeinen Welthistorie, Bd. 31 (Halle
1771), 281; vgl. WOLFGANG FRH. v. SODEN, Art. Semiten, RGG 3. Aufl., Bd. 5 (1961),
1690; FRIEDRICH SCHMIDTKE, Art. Semiten, LThK. 2. Aufl., Bd. 9 (1964), 653 ff.
'JoH. GoTTFRIED EICHHORN, Einleitung in das Alte Testament, Bd. l (Leipzig 1787),
45 ff.; vgl. dazu auch EBNEST RENAN, Histoire generale et systeme compare des langues
semitiques, t. l (Paris 1855), 2.
7 Vgl. Rhein. Conv. Lex., Bd. 7 (1827), 280, Art. Linguistik; HÜBNER 31. Aufl., Bd. 4

(1828), 249, Art. Semitische Sprachen.


8 CHmsTIAN LAssEN, Indische Alterthumskunde, 4 Bde. (Bonn 1847/61); E. RENAN,
Etudes d'histoire religieuse, 5e ed. (Paris 1862); ders., Histoire gen6rale (s. Anm. 6.)
Vgl. auch &eine anderen Werke: Lo judaisme, comme raoe et comme religion (Paris 1883)
und: Histoire du peuple d'Israel, 5 vol. (Paris 1887/94).
8 JOSEPH ARTHtrR CoMTE DE GOBINEAtr, Essai sur l'in6galite des races humaines, 4 t.

(Paris 1853/55; fast genau hundert Jahre nach RoUBlle&us berühmtem „EBBai").
1o Vgl. die in Anm. 8. 9 u. 11-13 genannten Schriften, sowie allgemein: The Jewish
Encyclopedia, vol. l (New York, London 1901; Ndr. 1964), 641 ff.

130
II. 1. 'Semitismus' und der säkulare Begriff des Juden Antisemitismus

Adolf Wahrmund haben in Deutschland aus dieser wissenschaftsgeschichtlichen


Tradition heraus ihre entschiedene Judenfeindschaft entwickelt11• Seit der Mitte
des 19. Jahrhunderts wurden dann diese spekulativen Begriffe der linguistischen
und ethnologischen Wissenschaften in den allgemeinen Sprachgebrauch der Ge-
bildeten übernommen und zugleich in die politische Diskussion eingeführt. Das
BLuNTSCHLI/BRATERsche (1857, 1865) und das RoTTECK/WELCKERsche (4. Aufl.
1865) Lexikon enthalten entsprechende .Arlikel1 2 • Bei BLUNTSCHLI wurden „Arier"
und „Semiten" zwar gemeinsam vor allen anderen Völkergruppen herausgehoben,
aber alle positiv verstandenen Werte wurden den Ariern zugeschrieben, während
die Semiten negativ charakterisiert wurden; die Arier waren danach zur Herrschaft
und Zivilisierung der Welt berufen. Beide Gruppen wurden im Anschluß· an
Gobineau mit dem Terminus der Rasse als biologischer Abstammungseinheit
beschrieben13 •
Gleichzeitig mit dieser Entwicklung vcründorton die Begriffe 'Judo' und 'Juden-
tum' ihren Sinn. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war der Begriff 'Jude' durch
die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft definiert. Zwar wurden die Juden
als Lebens- und Abstammungsgemeinschaft auch als 'Volk' bezeichnet, aber dieses
Volk war nurch Reine. R.flligion konstituiert. Daneben wurde das Wort '.Tudf\' sf\it
dem Mittelalter als Synonym für eine vor allem in der jüdischen Minorität ver-
breitete Art von Geschäftsgeist als l::lchimpfwort gebraucht. 'Hei dieserµ Wort-
gebrauch konnte man, wie die alte Rede von „beschnittenen und unbeschnittenen
Juden" zeigt, auch über den Kreis der Religions- und Volkszugehörigen hinaus-
gehen; der Begriff blieb aber auf das Verhältnis einer ständischen Gesellschaft und
ihrer Wirtschaftsgesinnung zu einer außerhalb dieser Gesellschaft stehenden Gruppe
bezogen, und er blieb noch in seiner Erweiterung an die Religionszugehörigkeit
gebunden.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts gewannen die Begriffe 'Jude' und 'Judentum' eine
säkulare und nicht-ständisch gebundene Bedeutung. Zunächst freilich intensivierte
sich die theologische Auseinandersetzung mit dem Judentum. Die protestantische
Theologie der Aufklärung, des Idealismus und des Liberalismus und die Religions-
philosophie verstanden bei ihren Versuchen einer Neuinterpretation des Christen-
tums das, was ihnen anstößig war, als Erbe des Judentums, gegen das die eigent-
liche Wahrheit des Christentums neu zur Geltung zu bringen sei. Diese Theologie
war daher von Semler über Hegel, :Fichte und Schleiermacher bis zum Theologen
Lagarde ausgesprochen antijudaistisch. Indem nun diese Theologie das Christentum
anthropologisierte, wurde auch 'Judentum' zu einer nicht nur theologischen, son-

11 Vgl. z.B. PAUL DE LAGARDE, Die Religion der Zukunft (1878) u. Die graue Inter-
nationale (1881), in: Dt. Sehr., 4. Auß., (München 1940), 255 ff. 367; Lagarde benutzte
differenzierend die Begriffe 'Juden' und 'Semiten'. ADOLF WAHRMUND, Das Gesetz des
Nomadenthums und die heutige Herrschaft der Juden (1887; 2. Auß. Berlin 1892); Wahr-
mund spraoh vom „Aaio.tiamua" und vom „Nomo.dontum" dor Juden.
i2 Vgl. Anm. 1. 2. u. 13.
19 Jou. KAsPAR BLUNTSCHLI, Art. Arische Völker .und arische Rechte, BLUNTSCKLI./

BRATER Bd. 1 (1857), 319 ff. - Auch ein Jude, MOSES HEss, übernahm, wenn auch mit
anderem Akzent, diese Gegenüberstellung: Dynamische Stofflehre (Paris 1837), 32 f. 36;
vgl. o.uoh Anm. 23.

131
Antisemitismus II. 1. 'Semitismus' und der silkulare Begri« des Juden

dern auch anthropologischen Kategorie. Zugleich wurde ein „Geist" des Judentums
konstruiert, der weit über den Bereich des Religiösen hinaus das Insgesamt des
politischen, sozialen und kulturellen Lebens der Juden einheitlich verstehbar
machen sollte. Der Geist des Judentums wurde als Volks- und Nationalgeist oder
(und) als weltgeschichtliches Prinzip aufgefaßt und blieb, gerade mit seiner negativ
kritischen Tendenz, keineswegs auf das Judentum des Alten Testaments beschränkt.
Diese Konstruktion ermöglichte die allmähliche Ablösung des Begriffs 'Judentum'
von der Religion14. In Philosophie und Wissenschaft wurden solche Deutungen, im
allgemeinen mit mehr oder minder negativen Wertungen verbunden, vielfach
üblich1 5• Die Hypostasierung einer historisch festgestellten Eigenschaft zum
„Wesen" des Judentums haben dann vor allem zahlreiche Sozialisten vorgenom-
men. Sie knüpften an die ältere Identifikation von Jude und Wucher etc. an und
übertrugen diese Beziehung aus der ständischen in die bürgerliche Gesellschaft;
dabei verwendeten sie den Begriff 'Jude' von vornherein in einem eindeutig säku-
laren Sinn. Zumal in Frankreich hat sich im Anschluß an Fourier, besonders bei
Toussenel und Leroux, die Identifikation des als Nation aufgefaßten Judentums
mit Handel, Banken, Kapitalismus und Ausbeutung ausgebildet,18•
In Deutschland sind für diese Position die Thesen von KABL MARX aus seinem
Aufsatz „Zur Judenfrage" von 1844 charakteristisch17. Die Juden seien weder
Religionsgemeinschaft noch Volk, ihre Nationalität eine schimiirische ... : Suchen
wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis
der Religion im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums?
Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden?
Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Das gelte auch für die
Religion: ihre Grundlage sei das praktische Bedürfnis, der Egoismus . . . Der Gott
der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott gewO'Tden. Der Wechsel ist der
wirkliche Gott des Juden. Inzwischen sei der praktische Judengeist zum praktischen
Geist der christlichen Völker geworden; ... aus ihren eigenen Eingeweiden erzeugt
die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden. Das Judentum sei der höchste
praktische Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung1 8 •

u Vgl. HEGEL, Theologische Jugendschriften, hg. v. Hermann Nohl (Tübingen 1907), 243 ff.;
LUDWIG FEUERBAOH, Das Wesen des Christentums (Leipzig 1841), Kap. 12; BRUNO
BAUER, Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, Bd. l (Zürich, Winterthur 1843), 71: Der
Jude müsse, um Mensch zu werden, seine Religion und das sclbimäre Privilegium sein.er
Naticmalität ganz und gar aufgeben; ders., Die Judenfrage (Braunschweig 1843). - Zu
den Junghegelianern ELEONORE STERLING, Er ist wie du. Aus der Frühgeschichte des
Antisemitismus in Deutschland 1815-1850 (München 1956), lll ff.; zur anthropologischen
Verwendung des Wortes 'Jude' in der Populä.rliteratur vgl. ebd., 76.
u Vgl. HEINRIOH LEO, Vorlesungen über die Geschichte des jüdischen Staates (Berlin
1828); .ARTHUR SOHOPENHAUER, Parerga 2 (1852), SW 2. Aufl., Bd. 6 (1947), 402 ff.
l& Dazu EDMUND SILBERNER, Sozialisten zur Judenfrage (Berlin 1962), 16. 46. 57 u.
passim. Schon der Saint.Simonist ENFANTIN hat, freilich positiv, definiert: Die Juden, das
ist der Handel; ebd., 14.
17 KARL M:ARx, Zur Judenfrage, MEW Bd. l (1957), 347 ff.; die Schrift richtete sich gegen
die Abhandlung Bruno Bauers zur Judenfrage; freilich war das Thema der Judenfrage nur
Anlaß, das allgemeine Thema der Emanzipation zu behandeln.
lB Ebd., 348. ·372 f. 374 f.

132
Il. 1. 'Semitismus' und der säkulare DegriJI des Juden Antisemitismus

Auch in der fast ein Jahrhundert währenden Diskussion um die Judenemanzipation


hat sich der Begriff der Juden allmählich säkularisiert. Seit dem späten 18. Jahr-
hundert wurde:n die Juden allgemein als „Nation" mit einem besonderen „National-
charakter" bezeichnet. Während die Befürworter der Emanzipation diese besondere
„Nationalität" als Folge der Unterdrückung ansahen und aufheben wollten, indem
sie das Judentum auf bloße Religion oder Konfession reduzierten, betonten die
Gegner der Emanzipation gerade den ursprünglichen, keineswegs von außen er-
zwungenen Sondercharakter der jüdischen „Nationalität". Sie gaben der Nationali-
tät neben der Religion ein eigenes Gewicht, stellten sie mit der Zeit über die Religion
und lösten sie schließlich ganz von ihr. So galten die Juden als Volk im Volk, als
Staai im Staat, als Nation in rler Nation 19 • Die Juden sind ein durchaus fremdes Volk,
schrieb ARNDT, und es komme darauf an, den germanischen Stamm so sehr als möglich
von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten 20 • Und HEGEL, der sich gegen solche
Tendenzen wandte, bemerkte doch, daß die Juden sich nicht bloß als eine besonrlere
Religionspartei, sonrlern als einem fremrlen Volke zugeMrig ansehen sollten 21 • Der
rationalistische Theologe HEINR. EBERH. GOTTLOB PAULUS veröffentlichte 1831
im Kampf um die Judenemanzipation in Baden eine Schrift: Die jüdische National-
absonderung nach Ursprung, Folgen und Besserungsmitteln, und der Judenfeind
ScHOPENHAUER bemerkte 1851: „JW1ische Konfession" sei ein grundfalscher ...
Ausdruck ..• Vielmehr ist „Jüdische Nation" das richtige 22 • Solche Auffassungen
finden sich seit den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in der
Publizistik aller Richtungen, blieben allerdings zunächst in der Minderheit.
Ähnlich wie der Begriff 'Nationalität' wurde etwas später auch der Begriff 'Race'
im Sinne der Abstammungsgemeinschaft gebraucht23• Nur bei einer Minder-
heit aber, zumal natürlich bei den Judenfeinden, hatte der Begriff einen unauf-
hebbar deterministischen Charakter; für die Mehrheit derjenigen, die das Wort
gebrauchten, war „Rasse" offenbar nur ein Faktor neben anderen, geschichtlichen,
religiösen oder sozialen Faktoren, denen im allgemeinen und auf die Dauer höhere
Bedeutung zugemessen wurde. Daher konnten die Liberalen den Begriff der Rasse
nach der Jahrhundertmitte anscheinend leichter adaptieren als den emer jüdischen
Nation.
Im Sinne dieser neuen Tendenzen, das Judentum zu definieren, gab es dann im
allgemeinen Sprachgebrauch eine terminologische Differenzierung: für die „bloße"

19 Eine Fülle von Belegen, die freilich oft ungenau zitiert und nicht chronol.Ogisch fixiert

sind, bei STERLING, Er ist wie du, paBBim.


20 ERNST MoRITz ARNDT, Ein Blick aus der Zeit auf die Zeit (Germanien [d. i. Frank·

furt] 1814), 188.


21 HEGEL, Rechtsphilosophie, § 270, .Anm.
22 SCHOPENHAUER, Parerga 2, SW Bd. 6, 280.
83 Zum Gebrauch der Begriffe 'Race', 'Racenreinheit', 'orientalisches Blut' etc. im Vor-
märz vgl. STERLING, Er ist wie du, 47. 81. 98 f. ll3 (Gutzkow). 126. 130 ff. 139 ff. Der
„Telegraph für Deutschland" sprach schon 1841, S. 547 vom Vorurteil der Race. Zur Ver-
wendung des Begriffes 'Rasse' für die Juden vgl. RICHARD WAGNER, Das Judentum in
der Musik (1850), Ges. Sehr. u. Dichtungen, Bd. 5 (Leipzig 1873), 83 ff. und BRUNO
BAUER, Art. Das Judentum in der Fremde, WAGENER Bd. 10 (1862), 614 ff. In den
siebziger Jahren war der Rassebegriff, etwa bei Dühring, Marr und Naudh, aber ebenso
bei Moses Hess schon ganz scharf ausgeprägt.

133
Antisemitismus D. 1. 'Semitismas' und der säkulare Begrlif des Jaden

Religionszugehörigkeit setzte sich die offizielle Bezeichnung 'Israelit' durch 24;


daneben aber blieb bei Christen und Juden die Bezeichnung 'Jude' gebräuchlich,
und mit ihr meinte man etwas mehr als die Religionszugehörigkeit. Auch geLaufLe
Juden wurden vielfach von Juden und Christen weiterhin als •Juden' bezeichnet.
Der judenfeindliche W. MENZEL konnte in seiner Polemik gegen das ,,Junge Deutsch-
land" ohne weiteres vom Jungen Palästina sprechen 25 • Auch im liberalen Bürger-
tum verbreitete sich der neue Begriff vom Juden, der entscheidend durch die
Abstammung bestimmt war. So bemerkte z. B. der liberale Historiker L. lliussER
1862 zu dem populären Wort von den „getauften Juden": Mit dem Wechsel der
Religion ändert nach Ansicht des Volkes der Israelit die natürliche Eigentümlichkeit
nicht, die ihn vom Christen scheidet; er mag konfessionell zu den letzteren gehören,
in allem übrigen bleibt er, was er vorher gewesen 28 .
Häusser hielt diese Ansicht durchaus nicht für falsch, auch für ihn war es in erster
Tänie. dü!. Veirsckiede.nheit der Race., durch die die Abneigung der ohriatliohon Bo
völkenmg gegen die Juden bedingt war. Unter liberalen Prämissen mußten solche
'Überlegungen jedoch im allgemeinen politisch und· gesetzlich folgenlos bleiben.
BLUNTSOIILI z. B. hob in seinem Artikel „Juden" trotz einer „rassischen" Inter-
pretation und der außerordentlich negativen Wertung der Semiten ausdrücklich
hervor, daß aus Rassenunterschieden keinerlei rechtliche Konsequenzen mehr ge-
zogeu werueu könnLen, uml er setzte hinzu: Die Jugen sind langst keine ...
Volksfremden mehr, sondern Volksgenossen. Die Juden sind in Deutschland zu
Deutschen ... geworden21.
Seit Beginn der siebziger Jahre wurde dann der Begriff 'Semit' immer häufiger als
modisches, halbwissenschaftliches ·Synonym für 'l'ude' verwandt. Dieser neue
Wortgebrauch blieb im allgemeinen unreflektiert, hatte jedoch eine ganz spezi-
fische Bedeutung. Denn der Begriff 'Semit' gab dem neuen Begriff des Juden,
der durch die Abstammung bestimmt war, 1:1prachlich Ausdruck. 1879 erklärte
z. B. der jüdische Historiker H. BRESSLAU, daß er, obwohl er den Begriff 'Semit'
als sachlich falsch und irreführend ablehnen müsse, den Ausdruck Jude nur zur
Bezeichnung der Abkunft, nicht de; Religion anwenden werde: Um jedes Mißver-
ständnis auszuschließen, bemerke ich, daß ich diejenigen im Sinne dieser Erörterungen
als Juden betrachte, deren beide Eltern als Jude geboren sind 28• ÜTTO GLAGAU, der

H Zum Kampf um die eigentliche Benennung zur Zeit der beginnenden Emanzipation
- 'Juden', 'Israeliten', 'Hebräer', 'Mosaisten' - vgl. für Preußen ALFRED STERN, Ab-
handlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit (Leipzig 1885),
246. 255. 260.
15 WOLFGANG MENZEL, Cottasches Literaturblatt (1837), 93 u. ö.; vgl. GABRIEL RIESSER,

Jüdische Briefe, 2 Bde. (Berlin 1840/42), paBBim; auch: ders„ Ges. Sehr., hg. v. M. lsler,
Bd. 4 (Frankfurt, Leipzig 1868), 37 ff.
18 LUDWIG lllussER, in: Verh. d. 2. badischen Kammer 1861-63, 6. Beilagenheft, 134.
17 J. K. BL'UNTSOIILI, Art. Judcn„BLUlllTllOIILI/BBA.TJDB Bd. 5 (1860), 444.
18 fu.R.Ry BRESSLAU, Zur Judenfrage. Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heinrich
von 'l'reitschke, 2. Aufl. (Berlin 1880), 5; jetzt in: Der Berliner AntisemitismUBBtreit,
hg. v. WALTER BoEBLICH (Frankfurt 1965), 54. Vgl. EuGEN Dümmm, Die Judenfrage als
Racen-, Sitten- und Culturfrage (Karlsruhe, Leipzig 1881), 4: Wenn ich im Fol,ge'IUJ,en kurz-
weg von Jwn rede, so brauche ich diese Bezeichnung in ihrem natürlichen Sinn, also für

134
II. 1. 'Semitismus' una der säkulare Begriff lies Jullen Antisemitismua

der Meinung war, bei den Juden handle es sich weniger um den Glauben al,s um ·
die Race, schrieb von einem Gründungsunternehmer, .er habe alle Konkurrenten
überflügelt: uwl doch ist er nicht einmal semitischer, sondern bloß .germanischer
Abkunft. Andere Autoren begnügten sich mit dem zusammenfassenden Begriff
Semiten 29 • 'Semitismus' konnte schließlich in diesem Sinne im BROCKHAUS als
eine Bez:eichnung für das ausschließlich vom ethnologischen Stawlpunkt aus betrachtete
Judentum definiert werdenso.
In die im 19. Jahrhundert entstandenen säkularen Begriffe des Juden und des
Judentums waren viele der in der Tradition der abendländischen Judenfeindschaft
erwachsenen negativen Vorstellungen eingegangen. Die Begriffe boten sich daher
schon im frühen 19. Jahrhundert als Inbegriff des Negativen an: Was man Ver-
werfliches uwl Verhaßtes wahrnehmen oder erdichten mochte, - Zerstörendes uwl Va-
terlund/e·indl-iclIBs ·im Gebiete der Politik, UnsiUUc'/tes in d,em dtr M<>ral oder der
;t"sthetik, Frivoles, dem Christentum uwl allen Heiligen Feindliches in dem der
Rez.ig·ion - das ... wurde den Juden oder „ji14ischem Wesen, ji/4ischem Hasse,
jüdischen Leidenschaften, jüdischer Frechheit" usw. zugeschrieben 31• Solche negativen
Wmt.nngP.n 1mrl Vorstellungen dominierten in der Blütezeit des proemanzipa-
torischen Liberalismus keineswegs„11ie w11.r1m oft nnr unt.erschwellig vintlent, aber
sie waren vorhanden. Und sie prägten nun insbesondere den Bedeutungsgehalt der
in den siebziger Jahren sich verbreitenden ßegrüfe '8emiten', '8emitentum' und
'Semitismus' 32 • 'Semit' (oder 'Jude') konnte einfach als abwertende Bezeichnung
gebraucht werden 3 3.
Insbesondere aber gewannen die vereinzelten Ansätze zur ldentifilmtion von Ju-
dentum und Modernität nun erheblich an Gewicht und Resonanz und verbanden
sich zu einem einheitlichen Vorstellungskomplex. Alle Komponenten der Modeme
und der eigenen Gegenwart, die man negativ bewertete, konnten mit den Begriffen
'Semitismus', 'Semitentum', 'semitisches Wesen', 'semitische Talente', 'semitischer
Geist' verknüpft werden. 'Semitismus' usw. war mehr als nur das vom ethnologischen

Abstammung und Race. Dühring sprach auch schon von Halb- und Viertelsjuden oder auch
Dreiviertel8juden neben Vollblutjuden,· ebd., 144.
19 0. GLAGAU, Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin (Leipzig 1876), 317. 343;

vgl. Die deutsche Wacht (März 1880), 281: Semiten. Juden oder gdaufte Juden. Auch
BISJllARCK sprach im Sommer 1879 davon, er wolle den reckten Flügel der Nationalliberalen
•.• von den Semiten •.• (Lasker und Bamberger) trennen; zit. Lucros FBH. v. BALLBAusEN,
Bismarck-Erinnerungen (Stuttgart, Berlin.1920), 163 f.
80 BROCKHAUS 14. Auß., Bd. 14 (1895), 847; ähnlich ·:MEYEB 5. Auß., Bd. 15 (1897),

899: Semitismus, Bezeichnung für die Gesamtheit der Juden als Volksstamm, ohne Rücksickt
auf die Religion.
31 RmssER, Jüdische Briefe (1840), Ges. Sehr., Bd. 4, 133.
31 Für Frankreich vgl. SILBERNEB, Sozialisten, 65 über den Gebrauch von 'Arier' und

'Semit' bei den BlanquiiteD Ende der Bechziger Jahre.


83 Im preußischen Abgeordnetenhaus z. B. erwibnte der . Abg. ])B, :MEYBB (Breslau)

am 22. 11. 1880, es sei eine Tat8acke, daß man den .Na1men „Jude" iiberka1q)t 8Ckon als etn
Brandmal gebrauCht, da/J man aagt, man aei mit dem M enacken, den Butrebungen, den
Tendenzen, den <kdanken deaaelben fertig, aobald man beka1q)tet hat, der Mann aei ein Jude,
sei ein Semit; Sten. Ber. Preuß. Abgeordnetenhaus (1881), Bd. 1, 255.

135
Aotisemimmu• ll. 1. 'Semimmm' und der 1äkulare Begrift' des Juden

Standpunkt betrachtete Judentum, es war ein Zerrbild der Moderne 34• 'Semitismus'
war Synonym oder Umo.ohc für den Ko.pito.liamuo, für die o.uo den Bindungen von
Zünften, Ständen und Kirchen sich befreiende bürgerlich-liberale Gesellschaft, für
ihre antagonistische und pluralistische Struktur, für die Auflösung der Tradition,
für die Traditionskritik der Literaten, für die Macht der Presse, für linksliberale,
aufklärerische und westlich-demokratische, ja auch schon für sozialistische Ideen,
für den „Materialismus" und die „Veräußerlichung" der Zivilisation, schließlich
für den vermeintlichen Mangel an nationaler Integration, an wahrem Deutschtum
im Reich von 1871.
Diese Identifikation von Modernität und Judentum hing mit der modernen Juden-
frage zusammen. Emanzipation der Juden und Ausbildung der Moderne waren
gleichzeitig verlaufen. Die Emanzipation, die nicht nur Eintritt in die bürgerliche
Clesellschaft, sondern auch innere Ablösung vom traditionellen Judentum bedeutete,
hatte ein „neues" Judentum geschaffen. Die soziokulturelle Assimilation war aber
noch keineswegs vollendet, und'darin hatten bestimmte Besonderheiten der jü-
diimhen Minorität, die traditionskritische Po.c;ition der jüdischen Intelligenz, die
im Vcrglcioh zum Gesamtvolk' disproportionale Berufsverteilung der Juden und
ihre spezifische Wirtscha.fts~eba.rung ihre Ursache. Der Anteil der Juden o.m kapi·
talistischen System, am kritischen Journalisten- und Literatentum und an poli-
tiin:h link~ttilienden l!'Uhrung1:1gruppen war relativ hoch, das Judentum stand in
einer charakteristischen „Nähe" zu den Einrichtungen der Moderne. Die von den
Judengegnern vorgenommene Identifikation von Judentum und Modernität ist
allerdings allein als Reaktion auf solche Nähe nicht zu erklären, die entscheidende
Rolle spielten vielmehr alte Judenfeindschaft, Vorurteile gegen die Minorität und
Opposition gegen die Moderne überhaupt.
Für die siebziger Jahre nun ist der Gebrauch des Begriffs 'Semitismus' oder ent-
sprechender Begriffe vor allem Ausdruck einer Fundamentalkritik an den Prin-
zipien und Erscheinungsformen der modernen liberalen Gesellschaft. So urteilte
TREITSCHKE 1879 in diesem modernitätskritischen Sinn: Unbestreitbar hat das
Semitentum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-Unwesens großen
Anteil, eine schwere Mitschuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage, der
ieae Arbeit nur noch als Geschäft betrachtet und die alte gemütliche Arbeitsfreudigkeit
:unseres Volkes zu ersticken droht 36 • In den „Ära"-Artikeln der „Kreuzzeitung" von
1875 war die damalige Politik des Reiches als Judenpolitik und als Banquiers-
Liberalismus unter semitischer Führung diffamiert wordenH, und GLA.GAU meinte:
Das Judentum ist das angewandte, bis zum Extrem durchgeführte Manchestertum ...
Die soziale Frage ist wesentlich Gründer- und J udenfrage 87 • DÜHRING schließlich

84 Vgl. die Äußerung des Abg. DR. MEYEB (Breslau), ebd.: Man aagt, man faaae unter dem

Namen „J'l«IR:nJ;um" gewisse kranke und verwerfliche Bestrebungen der Zeit zuaammen.
86 HEINRICH v. TBEITSOHKE, Unsere Aussichten (1879), zit. BOEHLICH, Antisemitismus-

streit, 9.
an Kreuz.Zeitung (1875), Nr. 148 ff.
87 0. Gu.GAU, Der Bankerott des Nationalliberalismus und die „Reaktion" (Berlin 1878),

71, zit. PAUL W. MA.ssmG, Vorgeschichte des politischen Antisemitis:mus (Frankfurt 1959),
10. Ähnlich Naudh: das Judentum sei die Religion dea Mancheatertuma; H. NAUDH [d. i.
H. G. NoRDMANN], Professoren über Israel (1880), zit. BoEHLICH, Antisemitismusstreit,
186.

136
D. 2. Entstehung des BegrUfs 'Antisemitismus' Antisemitismus

schrieb: Warum ist der Deutsche Geist gegenwärtig so unheimisch bei sich selbst?
Weil er sich nicht bloß in der Religion, sondern auch im Geistesleben und namentlich
in der Literatur vergessen und an das Judentum veräußert hat 38 • Manche der Kritiker
gingen so weit, von einer drohenden oder wirklichen Herrschaft des Judentums
über Deutschland und die Welt zu sprechen, so MARR im Sommer 1879: Ich bin
überzeugt, ich habe ausgesp;ochen, was Millionen Juden im stillen denken: Dem Semi-
tismus gehört die Weltherrschaft 39 • Und CoNSTANTIN FRANTZ schloß 1876 eine
Polemik gegen den allgemeinen Materialismus, den Kultus des Erfolges, die Ver-
drängung des Christentums mit den Worten: Wer regiert denn nun eigentlich im
neuen Reiche? und wozu haben die Siege von Sadowa und Sedan gedient, wozu sind
denn die Milliarden erbeUtet, wozu wird Kultur gekämpft, wenn nicht vor allem zur
Beförderung der Judenherrschaft? Und da will man uns von dem Aufschwung unserer
Nationalität reden, wo viel mehr ein rechter Deutscher vor diesem verjudeten Neu-
d.e.1,i.scnt1tm. e.iriR.n fiiTmlir.hR.n Ti:lrR.l P.m.pfinikn m.iir.ht.&0 •
Es kann kaum überraschen, daß sich das Schlagwort 'Semitismus' in Deutschland
in den siebziger. Jahrfm imtAr dem Eindruck der Wirtschaftskrise, des Kultur-
kampfes und des Niedergangs dos Liboro.lismus mit großer Schnelligkeit ver-
breitete: mit Recht konnte man 1879 den Begriff Semitentum als neudeutschen
Jargon charakterisieren41 • Angesichts der seit Mitte der siebziger Jahre einsetzen-
den, zunächst vor allem vuu KornfürvaLiveu uud ZenLrumspublizisteuU getragenen
judenfeindlichen Bewegung konnte die Bildung eines entsprechenden Gegenbegriffs
beinahe nur noch eine Frage der Zeit sein.

2. Entstehung und Verbreitung des Begriffs 'Antisemitismus'

Im Spätsommer 1879 schwoll die judenfeindliche Bewegung zumal in Berlin er-


heblich an; STÖCKER hielt seine ersten judenfeindlichen Reden (19. 9. 1879: „Unsere
Forderungen an das moderne Judentum") und verhalf damit der Bewegung zum
Durchbruch in die Öffentlichkeit der politischen Versammlungen und zur Massen-

38 DÜHRING, Judenfrage, 32.


39 WILHELM MARR, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht con-
fessionellen Standpunkt aus betrachtet {Bern 1879), 46 ff. Zum häufigen Gebrauch des
Wortes 'Semitismus' vgl. ders., Vom Jüdischen Kriegsschauplatz. Eine Streitschrift
(Berlin 1879), 3 ff.
•° C. FRANTz, Literarisch-politische Aufsätze {München 1876), XVII.
'1 MANUEL JOEL, Offener Brief an Heinrich von Treitschke (1879), zit. BoEHLICH, Anti-
semitismusstreit, 22 f. Im Sommer 1879 bezeichnete der Abgeordnete LöwE (Calbe) im
Reichstag das Epitheton semitisch als wohlfeil undschkcht,Sten. Ber. Dt. Reichstag (1879),
II, Bd. 1, 1074, und wenige Monate später erklärte H. BRESSLAU in seiner Antwort an
·Treitschke diesen Gebrauch des neuerdings in .Aufnahme gekommenen Ausdrucks Semit
als bloße Konzession an einen zwar· populären, aher darum nicht minder ungenauen
Sprachgebrauch; Zur Judenfrage, 5 und zit. BmmLiorr, Antisemitismusstreit, 54 (s. Anm.
28). Belege dieser Art ließen sich häufen.
49 Uber die antijüdische Literatur und Publizistik der siebziger Jahre vgl. MAssrnG, Vor-
geschichte; außerdem KURT WAWRZINEK, Die Entstehung der deutschen Antisemiten-
parteien 1873-1890 (Berlin 1927); PETER G. J. Pul.ZER, Die Entstehung des politischen
Antisemitismus in Deutschland und Osterreich 1867-1914 (Gütersloh 1966).

137
Antisemitismus D. 2. Entstehung ties Begriffs 'Antisemitismus'

wirksamk:eit; TREITSCHKE veröffentlichte im November 1879 seinen ersten Artikel


zur Judenfrage und machte damit die Bewegung zum Thema der allgemeinen
publizistischen Diskussion, machte sie gesellschaftsfähig. Der Kappzaum der
Scham war dieser „tiefen und starken Bewegung" abgenommen&a. In diese Zeit fällt
die Entstehung des Begriffs 'Antisemitismus'. Der erste bisher bekannte Beleg
findet sich in der „Allgemeinen Zeitung des deutschen Judentums" vom 2. 9. 1879,
wo die Ankündigung eines antisemitischen Wochenblatts durch MARR erwähnt wurde.
Diese Stelle ist insofern überraschend, als Marr selber nur eine socialpolitische
bzw. antijwische, nicht aber eine „antisemitische" Wochenschrift angekündigt
hatte"'. Die Formulierung 'antisemitisch' dürfte daher von dem Mitarbeiter der
„Allgemeinen Zeitung" entweder selbst geprägt oder aber - wahrscheinlicher -
in Berlin, woher die Meldung stammte, aufgegriffen worden sein.
Es ist zu vermuten, daß der Begriff im Frühherbst 1879 im Umkreis Marrs in
Berlin entstanden ist, ein eindeutiger Beleg dafür ist jedoch nicht beizubringen.
Die Bildung des Wortes lag „in der Luft", und Marrs Name ist schon von Zeit-
genossen in diesem Zusammenhang genannt worden; es darf jedoch nicht übersehen
werden, daß Marr auch im Spii.ija.ht 1879 durchweg nöch die Vokabel antijwisch
und erst von 1880 an antisemitisch, diese aber auch dann nicht ammahmRlos, ge-
brauchte". Eine programmatische Einführung des Begriffs findet sich bei ihm
ebensowenig wie an anderer Stelle. Der Begriff wurde weder definiert noch kom-
mentiert, war jedoch in der Praxis für jedermann hinreichend verständlich. Sicher
ist, daß der Begriff 'Antisemitismus' nicht wie der Begri:ff'Semitismus' aus der Wis-
senschaft stammte, sondern gleich als politisches Schlagwort geprägt wurde, und
zwar zunächst als Selbstbezeichnung einer Parteirichtung. Ende September 1879
wurde in Berlin durch Inserate zur Bildung einer antisemitischen Liga aufgerufen,

&a THEODOR MoMMSEN, Auch ein Wort über unser Judenthum, 3. Ndr. (Berlin 1880), 11;

auch zit. BoEHLICH, Antisemitismusstreit, 220.


"Allgemeine Zeitung des deutschen Judentums v. 2. 9. 1879, S. 564; MABR hatte in der
1. Aufl. seiner Broschüre „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum", die erst-
mals im Frühjahr 1879 (nicht 1873, wie immer wieder behauptet) bei Costenoble in Bern
erschien, auf dem Einband eine aocialpolitische Wochenackrijt angekündigt (ebenso 3. Aufl.;
in der 5. u. 12. Aufl., ebenfalls 1879, fehlt diese Ankündigung). In einer weiteren Schrift
im Sommer 1879 „Vom Jüdischen Kriegsschauplatz" erwähnte er selber die frühere An-
kündigung einer antijiidischen Wochenachrijt (19 f.); gleichzeitig forderte er jetzt zur
Bildung einer antijiidischen Vereinigung auf (23).
u Zu MABRs Sprachgebrauch vgl. seine Broschüren: Der Sieg desJudenthums (s. Anm. 39);
Vom Jüdischen Kriegsschauplatz (s. Anm. 39); Wählet keinen Juden! Der Weg zum Sieg
des Germanenthums über das Judenthum. Ein Mahnwort an die Wähler nichtjüdischen
Stammes aller Konfessionen, 2. Aufl. (Berlin 1879). Diese Broschüren lagen alle bereits im
August 1879 vor, der Begriff 'Antisemitismus' findet sich in ihnen nicht. Von November
1879 bis März 1880 redigierte Ma.rr „Die deutsChe Wacht. Monatsschrift f'lir nationale
Kulturinteressen (Organ der antijüdischen Vereinigung)'', Berlin (bei O. Hentze); im Spät-
jahr 1879 findet sich das Wort 'antisemitisch' vereinzelt, seit Anfang 1880 dann häufiger
in der „Deutschen Wacht", ohne daß der veränderte Sprachgebrauch irgendwie begründet
wurde. Im Frühjahr 1880 begann Marr dann mit der Herausgabe von „Antisemitischen
Heften" (Chemnitz 1880).

138
ß. 2. Entstehung des Begriffs 'Antisemitismus' Antisemitismus

Anfang Oktober erschienen· die Statuten des Vereins „Antisemiten-Liga""· Diese


„Antisemiten-Liga" die wenig mehr als ein Schattendasein führte, erregte die Auf-
merksamkeit auch der großen liberalen Zeitungen, die im Spätjahr 1879 mit immer
neuen Berichten und Meldungen über die „Liga" aufwarteten. Wenn Marr 1880
feststellte, sie sei in Wahrheit mehr ein Name als eine Kraft 41 , so war damit die
Bedeutung dieses Vereins sehr genau bezeichnet: die „Antisemiten-Liga" be-
schäftigte die Phantasie, trug den Gedanken einer Sammlungsbewegung gegen den
'Semitismus' in weite Kreise und machte den Begriff 'Antisemiten' binnen weniger
Wochen populär"8 •
Der endgültige Durchbruch des neuen Schlagwortes fällt in das Jahr 1880. Während
man 1879 durchweg noch von der „antijüdischen Bewegung", der „Judenhetze",
dem „Judenkrieg", dem „neugermanischen Judenhaß", „Judenfeinden" oder
„judenfeindlichen Schriften" sprach, änderte sich das im folgenden Jahr deutlich.
TREITSCHKE hatte 1879 nur an einer einzigen Stelle von Antisemitenvereinen ge-
sprochen. MoMMSEN war dagegen ein Jahr später das Vokabular schon -ganz
geläufig: die Mißgeburt des nationakn Gefühls, der Feldzug der Antisemiten (4);
Adolf Wagner, auch ein entsohiOOencr Antisemit (5f.); der eifrige Antisemit (13);
ein richtiger verbissener Antisemit (14). Inzwischen war mit 'Philosemit' auch schon
ein von den Antisemiten geprägter Gegenbegriff entstanden49 • Mommsen sprach von
pro- und antisemitischen Stimmungen (15), und Treitschke polemisierte im Spätjahr
1880 bereits gegen den blinden philosemitischen Eifer der Fortschrittspartei 60 • Für
die Durchsetzung des Begriffs 'Antisemitismus' wurde besonders die gegen die recht-
liche und soziale Stellung der Juden gerichtete Petitionsbewegung von 1880/81
von Bedeutung: die von über 250 000 Bürgern unterzeichnete Petition wurde im
politischen Sprachgebrauch ziemlich allgemein als „Antisemiten-Petition" be-
zeichnet; sie führte weite Kreise des deutschen Volkes dahin, sich mit der „Juden-

H Der Aufruf zur Bildung einer „Antisemiten-Liga" erschien als Inserat in der „VoSBischen

Zeitung" v. 26. 9. 1879; am 27. 9. 1879 wurde er in der „Germania" im redaktionellen Teil ab-
gedruckt, wobei im Kommentar auch von einer antisemitischen. Liga gesprochen wurde.
Die Statuten erschienen Mitte Oktober: Statuten des Vereins „Anti-Semiten-Liga",
Berlin (0. Hentze), Anfang Oktober 1879 (7 Seiten). Die „Antisemiten-Liga", die von
Marr schon im Sommer }879 gefordert worden war (s. Anm. 44), entstand nach einer Dar-
stellung der „Deutschen Wacht" (April 1881) besonders unter Ma"'s Mitwirkung (lS).
Insofern ist es sachlich sicherlich nicht unberechtigt, Marrs Namen mit der Entstehung
und Verbreitung des Begriffs 'Antisemitismus' in Verbindung zu bringen.
17 W. M.4.RR, Der Judenkrieg, seine Fehler und wie er zu organisieren ist. Antisemitische

Hefte 1 (Chemnitz 1880), 15; die „Antisemiten-Liga" hielt 1879 lediglich eine einzige öf-
fentliche Veranstaltung ab.
u Schon Mitte Oktober 1879 veröffentlichte ein Anonymus eine Persiflage auf die
„Antisemiten-Liga": Der Anti-Verjüdelungsverein. Ein Komisches Epos von 10 Gesängen
vonJuliusSimplex. - Am28.November inserierte in der „VossischenZeitung" bereits ein
I. antisemitisches Restaurant.
0 TREITSCHKE, Uns'ere Aussichten, zit. BoEHLICH, Antisemitismusstreit, 7 (s. Anm. 35).

MoMMSEN, Judenthum (s. Anm. 43); auch zit. BoEHLICH, Antisemitismusstreit, 211. 213.
221 ff. .
60 TREITSCHKE, Zur inneren Lage am Jahresschlusse (1880), zit. BOEHLICH, Antisemitis-

musstreit, 225. ·

139
Antisemitismus II. 3. Bedeutung und Funktion des Begrift's

frage" und den Forderungen der Antisemiten zu beschäftigen51 . Während die


„Allgemeine Zeitung des deutschen Judentums" sich noch im August 1880 von den
Begriffen 'Antisemiten' und 'antisemitisch' durch Anführungszeichen distanzierte,
wurde diese Übung schon zum Jahresende aufgegeben. 1881" erschienen dann
bereits mehrere Publikationen, die den Begriff 'Antisemitismus' in irgendeiner
Form im Titel führten5 2 , und 1884: folgte ihnen die erste „Geschichte" des Anti-
semitismus unter dem Titel Die antisemitische Bewegung in Deutschland58. Von den
Gegnern und von neutralen Beobachtern wurden jetzt alle Vertreter antijüdischer
Tendenzen als „Antisemiten" charakterisiert; bei den Vertretern dieser Tendenzen
selbst gab es Unterschiede: Treitschke hat sich nie als „Antisemit" bezeichnet oder
gefühlt; STÖCKER hat sich zwar nie vom Antisemitismus distanziert, hat aber seine
Bewegung im allgemeinen - im Unterschied von den unkirchlichen rassischen
Antisemiten - als antifüdisch oder christlich-sozial bezeichnet 54 ; seine Anhänger
aber, wie z. B. H. Leuss und H. v. Gerlach, verstanden sich wiederum als „Anti-
semiten".

3. Bedeutung und Funktion des BegriJrs 'Antisemitismus'

Eine eigentliche Diskussion um den Begriff 'Antisemitismus' hat es nicht gegeben.


Lediglich die „Allgemeine Zeitung des deutschen Judentums" protestierte in aller
Form gegen den Begriff mit seinem Schein der Wissenschaftlichkeit, mit dem man
sich außerhalb des geschichtlichen Begriffs der Nationalität stelle: Sollte mit diesem
klingenderen Wort doch nur der ganz gemeine J udenhaß verd,eckt und der öffentlichen
Meinung insinuiert werden, daß es nur einen Kampf gegen die Rasse gelte, daß man
mit ihm (dem Kampf) auf nationalem Boden stehe 55• Noch in dem gleichen Aufsatz
wurde jedoch resignierend festgestellt: Aber das Wort hat sich bei Feind und selbst
bei Freund eingebürgert, und da behalten wir es der Kürze wegen vorüiufig bei56 • -Von

n Text der Petition: SCllULTHESS, Geschichtskalender (1880), 208 ff.; vgl. dazu die Verhand-
lungen im Preuß. Abgeordnetenhaus am 20./22. 11. 1880: Sten. Ber. (1881), Bd. 1,
226 ff. mit zahlreichen Beispielen für den Sprachgebrauch in der „Judenfrage".
61 PAULUS CABSEL, Die Antisemiten und die evangelische Kirche (Berlin 1881); KARL

FlsCRER,Antisemiten und GymnasiaJ.1.ehrer. Ein Protest (Berlin 1881); LUDWIG QumnE,


Die Antisemitena.gita.tion und die deutsche Studentenschaft, 2. Aufl. (Göttingen 1881), u. a.
68 ERICH LEHNHABDT, Die Antisemitische Bewegung in Deutschland, besonders in Berlin,

nach VoraUBBetzungen, Wesen, Berechtigung und Folgen dargelegt. Ein Beitrag zur Lö-
sung der Judenfrage (Zürich 1884).
64 Vgl. AnoLF STÖCKER, Sozialdemokratisch, sozia.Iietiech und christlich-sozial (1880), in:

Christlich-Sozial, Reden u. Aufs„ 2. Aufl. (Berlin 1890), 215 ff.; WALTER FRANK, Hof-
prediger Adolf Stöcker und die christlich-soziale Bewegung (1928; 2. Aufl. Hamburg
1935), 83; 229 (-+Christentum mit Exkurs: christlich-sozial).
66 So in einem Rückblick am 25. 7. 1882, S. 489. Einwände gegen den Begriff 'Semitismus'

e. S. 134; vgl. LUDWIG BAMBERGER, Deutschthum und Judenthum (1880), zit. BoEHLICH,
Antiscmitismusstreit, 159.
68 Vgl. auch den Leitartikel von L. PmLIPPBoN, Wie steht es gegenwärtig um den „Anti-
semitismus"? (26. 4. 1881), 267 f. Da von einzelnen Organisatoren der studentischen
„Antisemiten-Petition" 1880 gegen die Bezeichnung 'Antisemiten' protestiert worden war,
schlug QumDE, Antisemitenagitation, 17 vor, sie statt dessen Semitophoben oder vielleicht
am paaaendaten Semitoklaaten zu nennen.

140
II. 3. Bedeutung -a Funktion tlea Begriffa Antisemitismus

Deutschland aus wurde der Begriff 'Antisemitismus' rasch in andere Länder ge-
tragen. In Österreich ist er bereits zu Beginn der achtziger Jahre nachweisbar,
ebenso in Ungarn, wo es schon Mitte der siebziger Jahre erste Ansätze zu einer
judenfeindlichen Organisation gegeben hatte 67 ; in Frankreich findet er sich eben-
falls seit Beginn der achtziger Jahre, so z. B. in dem Titel einer kurzlebigen Zeit-
schrift L' Antisemitique von 1883 oder in E. DRUMONTS Plan einer Alliance anti-
semitique universelle von 1886 58 • Die Bedeutung des Begriffs 'Antisemitismus'
blieb jedoch in diesen Ländern ebenso vage wie in Deutschland. Bei den ver-
schiedenen Strömungen, die alle in den Antisemitismus ausliefen, schrieb 1884
E. LEHNHARDT, war ein 'bestimmter, faßbarer Begriff mit dem Wort Antisemitismus
gar nicht zu verbinden 59• Man konnte von einem nationalen, einem sozialen, einem
religiösen und einem rassischen Antisemitismus 80 oder von der Richtung des Anti-
semitismus, welche sich Mäßigung und Zurückhaltung zur Aufgabe gemacht habe,
und dem extremen und gewalttätigen Antisemitismus61 , von den radikalen Anti-
semiten und einem vernünftigen Antisemitismus nationaler und christlich-sozialer
Prägung sprechen 82 ; neben den konservativen Antisemitismus Stöckers trat schon
1880 il11r r11.ililrnl 1rnt.ikonservat.ive, demokratische Antisemitismus Henricis, und
in den späten achtziger Jahren bezeichneten die Radikalen die Oemä.ßigten bereits
als Scheinantisemiten oder falsche Antisemiten und polemisierten gegen einen
Talmi-Antisemitismus oder gegen den Quartalsantisemitismus der Mit1äufer83• In
Frankreich konstatierte LEROY-BEAULmu in ähnlichem Sinne: L'antisemitisme est,
en meme temps, une gue"e de religion, un confiit de races, une lutte de classes64• Gerade
in seiner Unbestimmtheit aber lag, wie S. W. BARON treffend herausgearbeitet hat,
zunächst die besondere Stärke des Begriffs 'Antisemitismus' und damit seine poli-
tische Funktion: „The very term 'anti-Semitism' became a source of strength to
those who gathered under it ... Such an omnibus term could easily cover a multi-
tude of motives and impulses" 6 5.
'Antisemitismus', soviel stand für die verschiedenen Anhängergruppen wie für die
Gegner fest, meinte Feindschaft gegenüber Juden und Judentum, und zwar in
einem von der traditionellen Judenfeindschaft, wie sie etwa gleichzeitig in Ost-
und Südosteuropa noch anzutreffen war, durchaus unterschiedenen Sinn. Der
ö7 Belege für Osterreich bei Pu:LzER, Entstehung, 123 ff. (s. Anm. 42).
68 Vgl. BYRNES, .Antisemitism, 135. 233 (s. Anm. 4); 1882 erschien bereit in der „Rev.
politique et litteraire" ein Aufsatz unter dem Titel „La question antisemitique" (ebd.,
111). - Die Wirkung der Vorgänge in Deutschland ist belegbo.r in zwei Aufsätzen von
H. KUHN: La. question juive enAllemagne, Rev. du monde catholique71 (1881), 70ff., 147 ff.
GB LEHNHARDT, .Antisemitische Bewegung, 56.
eo STÖCKER, vgl. .Antisemitische Correspondenz (Januar 1888), 21.
8 1 WILHELM Fmr. v. IlümEBSTEIN (1885), zit. FRANK, Stöcker, 137.

82 LEHNHARDT, .Antisemitische Bewegung, 70. 94.


8 3 Scheinantieemiten bzw. fa18che Antisemiten nannte BoECKEL (1887) die Vertreter des

konservativen, christlich-sozialen .Antisemitismus Stöckerscher Prägung; zit. WAWRZINEK,


.Antisemitenparteien, 67 (s. Anm. 42). Zu Talmi·AntiBemitiBmUB vgl.: Talmi-Antisemitis-
mus. Von einem zielbewußten .Antisemiten [d. i. HUBERTUS FRH. v. SCHORLEMER] (Gro-
ßenhain 1895); QuarlaleantisemitismUB s. .Antisemitische Correspondenz 3 (Januar 1888), 5.
8' ANATOLE LEROY-BEAULIEU, I..es juifs et l'antisemitisme. Israel chez les nations, 88 ed.

(Paris 1893), 12.


8 ~ BARON, History ofthe Jews, vol. 2, 296 (s. Anm. 3).

141
ß. 3. Bede„lUDIJ und Funktion a„ Begriß'1

Begriff definierte nicht nur einen alten Feind in neuer Weise, sondern beschrieb mit
der neuen Definition einen neuen Feind. Zunächst: 'Antisemitismus' benannte die
säkular gewordene Verhaltensform der Judenfeindschaft und ihre Ideologie; er
richtete sich nicht gegen die Religion der Juden und basierte nicht auf der Religion
der Christen, die Religionsfrage und die theologische Legitimierung wurden se-
kundär.
Sodann, das ist das Entscheidende: Der Antisemitismus verstand sich als eine
Reaktion auf die durch die Emanzipation neu und anders gestellte „Judenfrage",
und er war, das ist die Wahrheit dieses Selbstverständnisses, eine post-emanzi-
patorische Bewegung. Der unmittelbare Zweck der Antisemit.en-Liga sei es, die uns
widerwärtigen Juden wieder in die Schranken zurückzuweisen, welche eine unbedacht,e
Gesetzgebung zu unserem Schaden aufgehoben hat 88 • Der Antisemitismus richtete
sich nicht mehr gegen eine ständisch abgesonderte, relativ machtlose Gruppe mit
eigenen Lehensformtm; er richtete sich auch nicht mehr gegen den bloßen Anspruch
dieser Gruppe, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden, sondern er richtete sich
gegen eine nunmehr der Gesellschaft selbst zugehörige und mächtig gewordene,
wenn auch nicht voll assimilierte Gruppe.
Diese Tatsache wurde - trotz des Widerspruchs der Liberalen, die im Antisemitis-
mus nichts anderes als die Reaktivierung alter Vorurteile sahen• 7 - auch außer-
halb des Lagers der eigentlichen Antisemiten im allgemeinen anerkannt: Die
antisemitische Bewegung . . . ist durch den immer mehr wachsenden wirtschaftlichen
und politischen Einff,uß der von den früheren Schranken befreiten jüdischen Bevöl-
kemng veranlaßt .und strebt danach, diese Schranken wieder aufzurichten und die
Juden aus den öffentlichen Ämtern zu verdrängen, ja sie ganz zu vertreiben•&.
Der Kampf gegen scheinbare oder tatsächliche jüdische Machtpositionen in der
Gesellschaft, gegen die sogenannte „Judenherrschaft", war es, in dem sich die
Antisemiten aller Richtungen einig waren. Der wahre „Oulturkampf" nicht gegen
die Religion der Juden, nicht gegen die gesamte Judenschaft, aber gegen den Christen-
tum und deutsches Wesen bedrohenden jüdischen Geist und gegen die unserem nationa-
1.en Wohlstande tödliche jüdische Geldherrschaft ist dringend notwendig geworden und
glücklicherweise auch schon weithin populiir89•
1894 hieß es bündig im „Staatslexikon" der Görres-Gesellschaft: Juda ist eine
Macht. Der Antisemitismus setzt sich derselben entgegen70 • Diese Formel deckte ebenso
die Ziele der radikalen, schon im biologischen Sinne rassisch denkenden Anti-
semiten, wie die der konservativen oder christlich-sozialen Antisemiten, die weniger
die Juden als den „jüdischen Geist", den „Semitismus" bekämpften und die Juden
bei Wahrung ihrer formalen Rechtsstellung „nur" aus den staatlichen Ämtern
(Schule, Justiz) verdrängen wollten.
Die bei der Wahl des Begriffs 'Antisemitismus' prätendierte Wissenschaftlichkeit,
mit der an die Stelle der älteren naiv-emotionalen Judenfeindschaft eine reflek-
88 NAUDH, Professoren, zit .. BOEHLICH, Antisemitismusstreit, 183 (s. Anm. 37).
87 Vgl. z.B. BAMBERGER, Deutschthum, zit. BoEHLICH, Antisemitismusstreit, 161 (s.
Anm.55).
88 MEYER 5. Aufl., Bd. 1 (1893), 684.
H Germania, Leitartikel v. 9. u. 10. 9. 1875 (Nr. 207. 208). Im selben Sinne argumentierten
Stöcker und seine „Christlich-Soziale Partei".
70 Sta.a.tslexikon, Bd. 3 (1894), 530.

142
D. 3, Bedeutung und Funktion des Begriffs Antisemitismus

tierte und theoretisch begründete Position gesetzt werden sollte, hat sich im all-
gemeinen Sprachgebrauch nicht durchgesetzt. Nur einige der Theoretiker des ras-
sischen Antisemitismus sahen in der „ Wissenschaftlichkeit" der neuen Bewegung
ein wesentliches Moment. .
Sozialer Träger der unter dem Begriff des Antisemitismus vereinten Bewegung
waren Gruppen, die sich durch das liberal-kapitalistische System benachteiligt
fühlten: Handwerker, Kleinhändler und ein zunächst noch geringer Teil der Land-
wirte, sowie Angehörige der alten Führungs- und Bildungsschichten, deren Aus-
sichten im Gefüge der Gesamtgesellschaft durch die Dynamik der kapitalistischen
Entwicklung bedroht zu sein schienen; dazu kamen die ideologisch - vom inte-
gralen Nationalismus, von der romantisch-pessimistischen Kulturkritik, von der
Sorge um die christliche Lebensgestaltung des Volkes oder vom Antiliberalismus
undAntikapitalillmus-motiviertenKräfte. Die Frage, warum gerade diese Grup-
pen Träger der Bewegung des Antisemitismus geworden sind, ist Gegenstand zahl-
reicher soziologischer Theorien. So hat man den Antisemitismus der Gebildeten als
einen kollektiven Nationalstolz interpretiert, der ihre Deklassierung durch die
kapitalistisch-industrielle Schicht· und das Trauma ihrer enwungenen Identi-
fikation mit dem ehemals bekämpften Obrigkeitsstaat kompensierte 71• Oder es
wird diesen Schichten in einer Krise ein besonderes Maß von Orientierungslosigkeit
zugcsohriobon, weshalb sie für die vom Antisemitismus gebotene Situationser-
klärung und Verhaltensregelung spezifisch anfällig seien72 • Die begri:ffsgeschicht-
liche Analyse kann solche Theorien weder diskutieren noch um eine weitere
Theorie vermehren.
Der Antisemitismus verstand sich als Reaktion auf die moderne Judenfrage. Aber
der Rekurs auf die Judenfrage kann das Phänomen in keiner Weise zureichend
erklären. Soziologisch wie ideologisch ist der Antisemitismus eine Protestbewegung
gegen die Ideen von 1789, gegen die liberale Staats- und Gesellschaftsordnung und
die mit ihr verbundene kapitalistische Ordnung. Die wirtschaftliche und soziale
Krise nach dem Gründerkrach hatte in Deutschland den Boden für eine solche
Bewegung bereitet. Hochkonservative und Teile des Zentrums hatten sie um 1875
zum Kampf gegen Bismarck und die Nationalliberalen benutzt, ihre Zeit war
schließlich gekommen, als sich 1878/79 die große innenpolitische Wende in Deutsch-
land vollz'og. Denn die antisemitische Agitation von Treitschke über Stöcker bis
zu Marr und Dühring galt mit ihren nationalistischen, kulturkritischen, monar-
chisch-konservativen, christlichen, antikapitalistischen oder antisozialistischen Ar-
gumenten den Juden als den exponierten Vertretern der „modernen" Entwicklung,
des liberalen Systems. Die traditionellen Vorurteile gegen die Juden verflochten
sich mit dem Kampf gegen den Liberalismus. LAGARDE z. B. meinte: Juden und
Liberale sind naturgemäß Bundesgenossen, denn jene wie diese sind nicht Naturen,
sondern K unstprodukt,e: Wer nicht will, daß das Deutsche Reich der Tummelplatz

71 lliNs PAUL BAHRDT, Soziologische Reflexionen über die gesellsc:ti.aftlichen Voraussetzun-


gen des Antisemitismus in Deutschland, in: Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in
der Endphase der Weimarer Republik, hg. v. WERNER E. MossE u. ARNOLD PAUCKER
(Tübingen 1965), 135 ff.
79 WALDEMAR GURIAN, Antisemitism in Modem Germany, in: EBBays on Antisemitism,

ed. KOPPELS. PmsoN, 2nd ed. (New York 1946), 218 ff.

143
AnliliewililiwWI Il. S. Bedeutung und Funktion des Begriffs

der homurwuli werde, der muß gegen Juden und Liberale ... Frontmachen 13 • Über die
katholische Agitation von 1875 urteilte eine jüdische Zeitung: Indem sie auf die
Juden losschlagen, glauben sie, den ganzen modernen Staat, die ganze liberale Tendenz
der Gesellschaft zu tre:ffen 74 • Und LUDWIG BAMBERGER konstatierte 1808: Der
Angriff gegen die Juden ist nur eine Diversion im heutigen großen Feldzug gegen
den Liberalismus 1 5. Die deutschfreisinnige Partei und ihre Nachfolgerinnen schließ-
lich hießen bei den Antisemiten nur die Judenschutztruppe 16•
Aber nicht nur in seiner konkreten politischen Frontstellung, sondern auch in
seinem innersten Kern war der Antisemitismus eine antiliberale Bewegung. Es war
kein Zufall, daß TREITSCHKE 1879 in seinem ersten antisemitischen Artikel gegen
die weichliche Philanthropie unseres Zeitalters polemisierte und feststelleh zu können
glaubte, daß durch die Entwicklung der letzten Jahre der naive Glaube an die un-
fehlbare sittliche Macht dett Bildung erschüttert sei und Tausende zum Nachdenken
über den Wert unserer Humanität und Aufklärung gezwungen wordfm seien 77 • Schon
wenige Monate später polemisierte M. Busen im Namen der Selbsterhaltung der
Völker gegen doktrinäre „Humanität" und empfindsam angekränk,elten Kosmo-
politismus und malte die Ausweisung aller Juden aus Deutschland aus 78 , zog
H. NAUDH gegen die Bildung und die Lehre von der grundsätzlichen Gleichheit
der Menschen zu Felde 79 ; und LAGARDE erklärte bündig: Mit der Humanität
müssen wir brechen: denn nicht das aUen Menschen Gemeinsame ·ist ·unsere e·igenste
Pflicht, sondern das nur uns Eignende ist es. Die Humanität ist unsere Schuld, die
Individualität unsere Aufgabe80 •
Angst und Sorge um die Nation und um die überlieferte Kultur, um die monar-
chische Verfassung und um die traditionelle Sozialordnung und den durch sie
garantierten Status wurden die bestimmenden Faktoren .. Demgegenüber erschien
der selbstverständliche Wert der Gleichheit ebenso fragwürdig wie die Werte der
Humanität und der Aufklärung und eine an diesen Werten orientierte Bildung.
Der Antisemitismus ist darum zugleich Symptom und Folge der Tatsache, daß die
Wertvorstellungen der bürgerlich-liberalen Welt ihre Verbindlichkeit zu verlieren
begannen, ist Symptom einer Krise der modernen Gesellschaft. Weit über den
Rahmen des Parteipolitischen hinaus konnte der Antisemitismus deshalb von An-
fang an als eine Ideologie der Unzufriedenheit mit der modernen Gesellschaft und
des Widerspruchs gegen ihre konstitutiven Prinzipien fungieren.
Trotz des Antiliberalismus ist der Antisemitismus keine konservative Bewegung,
so sehr er auch politisch den Konservativen zugute kam. Er enthielt wesentliche

78 LA.GARDE, Die graue Internationale, Dt. Sohr„ 370 f. (s. Anm. 11).

"Allgemeine Zeitung des Judentums (1875), 1, zit. JACOB ToURY, Die politischen Orien-
tierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar (Tübingen 1966), 250.
71 BAMBERGEB, Deutschthum, zit. Bmmr.rCH, Antisemitismusstreit, 156.
78 TOURY, Orientierungen, 206. Der Ausdruck wurde auch von Juden gebraucht.
77 TBEITSCHKE, Unsere Aussichten, zit. BoEHLICH, Antisemitismusstreit, 5 f.
78 M. BusCH, Beiträge zur Beurteilung der Judenfrage, Die Grenzboten 39 (1880), H. l, 557.

7 9 NAUDH, Professoren, zit. BoEHLICH, Antisemitismusstreit, 184.


80 LA.GARDE, Programm für die konservative Partei Preußens (1884), Dt. Sohr., 433.

144
ß. 3. Bedeutung unll Funktion lles BegriJfs Antisemitismus

demokratisch-revolutionäre Elemente81, ist zugleich aber auch von vornherein


eine ausgesprochen antisozialistische Bewegung. Der Antisemitismus muß darum
als ein Phänomen sui generis angesehen werden.
Der Antisemitismus ist nicht nur eine antiliberale, sondern zugleich auch eine
nationalistische Bewegung. TREITSCHKES Forderung an die isr<Ulitischen Mit-
bürger war, sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen,
seine Erwartung richtete sich auf ein gek'l'äftigtes Nationalgefühl 82 • MAHR gab als
Grund für die Macht der Juden an, daß das Gefühl einer deutschen Nationalität,
geschweige eines deutschen Nationalstolzes in den germanischen Liindern nicht exi-
stierte&3, für STÖCKER war das christlich-soziale Motiv ebenso integrierender Be-
standteil seines Antisemitismus wie für IIENRICiund BöcKELdasdeutsch-nationale".
Besonders deutlich ist das bei LAGARDE ausgesprochen: Ganz abgesehen von dem
l nhalte des Judentums ist es unerwünscht, weil es frerruJ, ist und durchaus als etwas
Undeutsches und Widerdeutsches empfunden wird ... Jeder 1.ms Zästi',ge ,Jude ist ein
schwerer Vorwurf gegen die Echtheit und Wahrhaftigkeit unsres Deutschtums ... Je
schärfer wir unseren Oharakte'!' a.ls Nation ... au.~bilden, desto weniger Platz bleibt
in Deutschland für die Juden ... Deutschland muß voller deutscher Menschen und
deutscher Art werden, so voll von sich wie ein Ei: dann ist für Palästina kein Raum
in ihm85 • MoMMSEN nannte den Feldzug der Antisemiten 1880 deshalb die Mißgeburt
des nationalen Gefühls und sprach von einem selbstrnörrlerisclten Treiben des National-
gefühls86. Und BAMBERGER meinte: Gerade der Oultus r1er Nationalität ... artet
leicht dahin aus, den Haß gegen anrlere Nationen zum Kennzeichen echter Gesinnung
zu machen. Von diesem Haß gegen das Fremdartige jenseits der Grenze bis zum Haß
gegen das, was sich etwa noch als frerru1artig in der eigenen Heimat ausfindig machen
läßt, ist nur ein Schritt&?.
Die Unsicherheit des deutschen Nationalbewußtseins und das Bemühen, die Ge-
wißheit der nationalen Identität ständig zu intensivieren, mündete zum Teil in
den Antisemitismus: das noch Fremdartige des nicht voll assimilierten JudentuIIlB,
seine wirklichen und seine vermeintlichen internationalen Beziehungen wurden zu
etwas Unerträglichem, ja, der „Jude'" wurde zu einem Gegenbild konstruiert, dem
gegenüber erst die Nation - über alle Stammes-, Klassen- und Konfessions-
gegensätze hinweg - mit sich selbst sollte identisch werden können. In diesem

81 BmmxEL und Am.w.uwT führten ihre Wahlkämpfe mit der Pal'Qle Ge.gen Junker und

Juden, vgl. MAsBING, Vorgeschichte; 93 u. ö.; Antisemiten-Spiegel, 2. Aufl. (Danzig 1900),


401.
82 TREITSCBKE, Unsere Aussichten, zit. BoEHLIOH, Antisemitismusetreit, 5. 8. 12.
83 MARR, Der Sieg des Judenthums, 11 (s. Anm. 39).
8 ' STÖCKER, zit. MA.sBING, Vorgeschichte, 35. 61; H:ENRIOI, ebd., 81 f.; LIEBERMANN,

ebd„ 82; ÜTTO BoECKEL, Die Juden, die Könige unserer Zeit, 13. Aufl. (Leipzig 1887).
8 ' LA.GARDE, Die Stellung der Religionsgesellschaften im Staate (1881), Dt. Sehr., 291.

370; ders„ Programm (s. Anm. 80), ebd., 423 f. Schon 1853 schrieb er: Ea ist unmöglich,
eine Nation in der Nation zu dulden. Und eine Nation 8ind die Juden; über die gegenwärti-
gen Aufgaben der deutschen Politik, ebd., 30. Rasseantisemit war Lagarde nicht, er hielt
eine Assimilation, freilich nur bei Aufgabe der jüdischen Religion, für möglich.
86 MOMMSEN, Judenthum, 4, zit. BOEHLIOH, Antisemitismusetreit, 211 (s. Anm. 43).
87 BAMDERGER, Deutsohthum, zit. BoEHLIOH, Antisemitismusetreit, 157.

10-90385/1 145
Antisemitismus m. 1. Entwicklungen im Kaiserreich
Sinne ist der Antisemitiamuo oin Symptom für die Loslösung des railikalen und
integralen Nationalismus von dem gemäßigten Nationalismus der Liberalen.

III.

1. Entwicklungen im Kaiserreich

·Seit 1879/80 entstanden in Deutschland antisemitische Parteien und Sammlungs-


bewegungen. Das neue Schlagwort wurde jedoch außer in der Antisemiten-Liga
nur im Deutschen Antisemitenbund von 1884 aufs Panier geschrieben; die anti-
semitischen Parteien verzichteten zunächst auf diese Etikettierung. Unabhängig
vom jeweiligen Parteinamen wurden jedoch die Mitglieder dieser Parteien im all-
gemeinen nicht nur von Gegnern und NP.nt.mlt>.n als „Antisemiten" bezeichnet,
sondern sie nannten sich - abgesehen von einem Teil von Stöckers „Christlich-
Sozialer Partei" - auch selber so, und seit der Mitte der achtziger Jahre trat in
der antisemitischen Bewegung dann o.uoh offiziell der Begriff 'Antisemitismus'
immer stärker in den Vordergrund. 1885 gründete TH. FRITSCH die Ant·iscmiti11cl1e
OO'l'respondenz, die seit Frühjahr 1888 als Oentral-Organ der deutschen Antisemiten
erschien; 1886 wurde mit der De·utsclten Anl:isemitischen Vereinigung ein proviso-
rischer Dachverband geschaffen; 1887 ließ sich der hessische Antisemitenführer
0. BoECKEL nach seiner Wahl in den Reichstag als erster Abgeordneter im Reichs-
tagsalmanach als Antisemit eintragen88 • Wir deutschen Antisemiten wurde zur ge-
läufigen Wendung 89, und MARR sprach sogar von seinen lieben Mitantisemüen 90•
1891 wurde von liberalen Kreisen der Verein zur Abwehr des Antisemitismus ge-
gründet.
Unter den eigentlichen Antisemiten, für die der Antisemitismus das Zentralstück
ihres politischen Programms war, gab es hinsichtlich der Organisation des Anti-
semitismus zwei Standpunkte. Für Boeckel galt nur derjenige als Antisemit,
der sich für die Aufhebung der Judenemanzipation und zugleich für wirtschaftliche
und soziale antikapitalistische und antifeudale Reformen einsetzte 91 • Diese Be-
stimmung tendierte auf die Bildung einer fest abgegrenzten geschlossenen Partei.
Dagegen vertrat Theodor Fritsch den Standpunkt, daß der Antisemitismus in
erster Linie als parteipolitisch nicht gebundene Weltanschauung interpretiert
werden müsse: es sei die Aufgabe der antisemitischen Bewegung, nicht eine be-
sondere Partei zu bilden, sondern möglichst alle Parteien mit dem antisemitischen
Ge.danken zu durchdringen 92 • Auf dem Bochumer Deutschen Antisemitentag von
1889 setzte sich zunächst der Gedanke der Antisemitenpartei durch, jedoch wur-

8s WAWBZINEK, Antisemitenparteien, 76.


89 So in der „Antisemitischen Correspondenz" (Januar 1888).
90 AntisemitischeCorrespondenzv.1.10.1888,11. Es erschienen außerdem „Antisemitische

Volkskalender" (1888), „Neue Lieder patriotischen und antisemitischen Inhalts" (1888)


u.a.
91 Vgl. WAWBZINEK, Antisemitenparteien, 67.
H FRrrsOR trat zeitweise aber. auch für eine Partei mit eigenen Abgeordneten ein, um
den latenten An.tiaemitiam'U8 a'U8 den. aUen Parteien heraUtJZUfJären; Antisemitische Corres-
pondenz v. l. 10. 1888; zit. WAWRZINEK, Antisemitenparteien, 72.

146
m. 1. Entwiekluagen im Kaiserreich Antisemitismus

de der Begriff 'antisemitisch' als ausschließlich negativ kritisiert 83• Die neue Partei
wurde schließlich .Antisemitische deutsch-soziale Partei genannt. Ein Jahr später
jedoch gründete Boeckel eine .Antisemitische Volkspartei, und als 1890 fünf anti-
semitische Abgeordnete in den Reichstag gewählt wurden, nannten sich vier von
ihnen unter Boeckels Führung Fraktion der .Antisemiten84 ; schon 1893 änderte aber
auch Boeckel den Namen seiner Partei in Deutsche Reformpartei96•
Das Jahr 1893 brachte mit 2,9% der Stimmen bei der Reichstagswahl und 16 Ab.
geordneten den Höhepunkt des parteipolitischen Antisemitismus älterer Prägung.
Auch für die folgenden Jahre - bis zu den Wahlen von. 1907 - lassen sich noch
zahlreiche antisemitische Abgeordnete nennen, aber das eigentliche antisemitische·
Parteiwesen entwickelte sich stark rückläufig 98• Ständige Parteispaltungen, die
minimale Wirksamkeit im Reichstag, die geringe Integrität der Führer und vor
allem die Wirtschaftsentwicklung, die auch dem kleinen Mittelstand die Anpassung
an das industriell-kapitalistische System erlaubte - das waren die wesentlichen
Gründe für den Rückgang der antisemitischen Parteien. Die antisemitischen
Gruppen wurden zu sektenähnlichen Gebilden. Sie haben freilich gerade in dieser
Sektenexistenz den Antisemitismus 1) zu einem umfassenden „System", das Er-
klärung und Lösung aller Weltprobleme bot, entwickelt; sie haben ihn 2) in der
Nachfolge der radikalen Antisemiten der Entstehungszeit endgültig mit der bio-
logisoh-deterministisch aufgefaßten, pseudowissenschaftlich gewordenen Rassen-
lehre verbunden; sie haben 3) seine Ziele radikalisiert: an die Stelle der Zurück·
drängung des jüdischen Einflusses und der Stellung der Juden unter Fremdenrecht
traten mehr. oder minder explizit die Forderungen nach Ausweisung oder Ver-
nichtung der Juden 97 : sie haben 4) im Zuge der ansteigenden Klassenkämpfe die
antisozialistische Komponente ihrer Ideologie verstärkt: neben den „jüdischen"
Kapitalismus trat - im Anschluß an manche ältere Vorbilder, z. B. Dühring -
gleichgewichtig· der „jüdische" Sozialismus, und zwischen beiden wurde eine
imaginäre Einheit konstruiert. TH. FRITSCH mit seiner Zeitschrift ;,Der Hammer"
und seinem .Antisemitenkateck~smus 98 kann als Exponent· dieser Gruppe gelten.
Von diesem sektierenschen Antisemitismus distanzierte sich die überwiegende
Mehrheit des deutschen Bürgertums. Der Begriff 'Antisemitismus' hatte als Name

sa Diskufl8ionsbeitrag PAUL FÖRSTERS, zit. WAWRZINEK, Antieemitenparteien, 75.


"WAWRZINEK, Antisemitenparteien, 82, Anm. 54.
n In Östcrreioh bildeten sich ebenfalls antisemitische Organisationen, o.ber weder die
radikalen und alldeutschen RaBBeantisemiten um Schönerer noch die antisemitische
christlich-soziale Partei Luegers nahmen den Begriff in ihren Namen auf. Für die Verwen-
dung des Begriffs 'Antisemitismus' vgl. ELMAR v. RUDOLF [d. i. RUDOLF v. ELMAYER-
VESTENBRUGG], Georg Ritter von Schönerer, der Vater dee politischen Antisemitismus
(München 1936), 58 (für 1887) und RICHARD KBAI.m, Karl Lueger und der christliche
Sozialismus, Bd. 1 (Wien 1923), 52 (für 1890). 198 (christlicher Antisemitismus).
88 Die in der Literatur zumeist benutzten W e.hlstatistiken sind irreführend, weil von der

Fraktion der Wirtschaftlichen Vereinigung im Reichstag ausgegangen wird; deren Mit-


glieder waren aber nur z. T. Antisemiten.
97 Parteitag der Deutschen Reformpartei 1899: SOHULTHEss' Europäischer Geschichts-

kalender, 69 ff.
88 Seit der 26. Aufl. 1907 hat er den negativen Titel fallen gelassen und das Werk „Hand-

buch der Judenfrage" genannt.

147
Antisemitismus m. 1. Entwicklungen im Kaiserreich
und Schlagwort jener Richtungen im Bürgertum keinen iut~u. X.lang; di11 11x-
tremsten Formen des Antisemitismus waren als „Radauantisemitismus" dis-
qualifiziert. Wichtiger als Parteien und Sekten wurde für den Antisemitismus eine
Reihe von Verbänden, in denen sich der Antisemitismus mit mittelständischer
Wirtschafts- und Sozialpolitik oder mit Nationalismus und Imperialismus verband:
die 1893 gegründete mächtige Interessenvertretung der deutschen Landwirtschaft,
der „Bund der Landwirte", der zumal in seiner DorfagitationundinseinerPubli-
zistik ausgesprochen antisemitisch war; die wichtigste Gewerkschaftsorganisation
der Angestellten, der 1893/95 von Parteiantisemiten gegründete „Deutschnationale
Handlungsgehilfenverband" 99, der weniger in der Propaganda als dadurch, daß er
keine Juden aufnahm, antisemitisch orientiert blieb; die „ Vereine deutscher Studen-
ten", die sich im Zusammenhang mit der Antisemitenpetition gebildet hatten; und
schließlich der „Alldeutsche Verband", der, nachdem der aus dem völkisch-antisemi-
tiichen Deutschbund hervorgegangene H. Cla00 1008 den Vorsitz übernommen haLLe,
sich immer eindeutiger zum Antisemitismus bekannte. Auch ein Teil der Korpora-
tionen und Burschenschaften ging mehr oder minder offen zum Antisemitismus
über. Der feudal und LrauiLiunell bestimmte Antisemitismus des Offizierskorps wirkte
über das lnstiL~t des Reserveoffiziers g1m1ilfl 11.nf niA jiinge.rp, uat.ionaliiti.llchfl Tnt.el-
ligenz und verstärkte die Tendenz zur antisemitischen ldeologie1oo.
Für die Ausbreitung einer den Antisemitismus begünstigenden Haltung waren so-
dann bestimmte ideologische Entwicklungen wichtig. Die Kulturkritik von LA-
GARDE und LANGBEHN, die das Unbehagen an der Moderne mit antisemitischem
Einschlag formulierte, fand um die Jahrhundertwende große Resonanz101. Rasse-
theorien - im Anschluß an die Rezeption und Übersetzung Gobineaus durch den
Lagarde-Schüler L. ScHEMANN102 und die Vorstellungen des Sozialdarwinismus -
fanden popularisiert Eingang in die allgemeine Bildung; der große Erfolg des aus
dem Bayreuther Wagnerkreis hervorgegangenen H. ST. CHAMBERLAIN mit seinem
Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" (1899) ist dafür symptomatisch.
Nationalistische, mittelständische, kulturkritische und antiliberale Tendenzen ver-
banden sich in dieser Situation immer stärker mit rasseantisemitischen Gedanken.
Die Rassetheorien fixierten endgültig den biologischen Sinn des Begriffs 'Rasse' und
erhoben ihn zum obersten Erklärungsprinzip der geschichtlichen Welt: der Begriff
der Rasse wurde historisiert und ideologisiert, ehe er politisiert wurde. Mit der
Historisierung des Rassebegriffs vollendete sich die Naturalisierung der politisch-

99 Das Wort 'deutschnational' war bis 1914 im allgemeinen völkisch-antisemitisch gemeint:

deutsch-nationale Vereine schlossen Juden von der Mitgliedschaft aus.


ioo Class bezeichnete sich selbst als Antisemit: Mit meiner Wahl in die Hauptleitu111J kam
der erate entBckiedene AntiBemit in dieae Körperackaft; HEINRICH Cx.Ass, Wider den Strom
(Leipzig 1932), 88. - Zur Haltung des Offizierkorps vgl. das Gutachten des „Verbandes
der Deutschen Juden": Das jüdische Bekenntnis als Hinderungsgrund bei der Beförderung
zum preußischen Reserveoffizier, hg. v. M. J. LoEWENTRAL (Berlin 1911).
101 Vgl. hiel'Zu PULZEB, Entstehung, 69 ff. 189 ff.· (s. Anm. 42) und allgemein FmTz
STERN, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in
Deutschland (Bem, Stuttgart, Wien 1963).
ios GOBINEAU, Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen, dt. v. Ludwig Schemann,
4 Bde. (Stuttgart 1898/1901; vgl. Anm. 9); Schemann gehörte zum Bayreuther Wagnet·
kreis. Übrigens hat schon Bluntschli Gobineau benutzt (s. Anm. 13).

148
m. 1. Eotwicklaugeo im Kaiserreich Aotisemitisma1

sozialen Welt. Das Volle war nicht mehr religiös konstituiert, seine Eigenart war
· nicht mehr durch Geschichte, Sprache und Kultur bedingt, sondern durch die Rasse
bestimmt: 'Volle' hörte auf, ein geschichtlicher Begriff zu sein, wurde zum bloßen
Naturbestand. Damit aber wurde jede Assimilation, an die noch Treitschke ge-
glaubt hatte, unmöglich: die Abkehr vom Liberalismus wurde zur Abkehr von der
europäischen und christlichen Tradition, wenn die Entwicklung des Menschen aus
individuellem Willen gegenüber dem Faktor Blut und Rasse kaum noch Bedeutung
hatte.
Verbände einerseits und kultur- und zeitkritische Theorien andererseits haben
antisemitische Vorstellungen in größeren Teilen der Gesellschaft, wenn auch zu-
meist in abgeschwächter Form, virulent gemacht. Auch wo solche Vorstellungen
nicht akzeptiert wurden, galten sie vielfach doch als mögliche, nicht illegitime
Positionen, denen man nicht mehr grundsätzlich Widerstand leistete. Schließlich
breitete sich darüber hinaus auch ein „latenter", nicht weiter theoretiRch expliziter
Antisemitismus aus, etwas, was F. NAUMANN als antisemitische Gesellschaftsstimmung
charakterisierte103, also die Beibehaltung und Fixierung oder die Erneuerung anti-
jüdischer Vorurteile, die ihre potentielle Rechtfertigung in jenen antisemitischen
Theorien hatten. Selbst bei den liberalen Parteien dieser Zeit lassen sich antisemi-
tische Stimmungen und Rücksichten auf antisemitische Wähler nachweisen104 •
Die Haltung der Sozialdemokratie gegenüber dem Antisemitismus blieb zunächst
schwankend. Zwar lehnte F. ENGELS 1890 den Antisemitismus als eine Reakt,ion
mittelaUerlicher, untergehe'llile<r Gesellscha/tsschichün gegen die moderne Ge.,ellschaft
ab10 6,gleichzeitig aber schrieb F. MEHRING in der „Neuen Zeit": Über den Brutali-
täten, welche der Antisemitismus, mehr in Worten als in Taten, gegen die Juden be-
geht, darf man die Brutalitäten nicht übersehen, welche der Philosemitismus, mehr in
Taten als in Worten, gegen jeden begeht, der, sei er nun Jude oder Türke, Ohrist oder
Heide, dem Kapitalismus widerstrebtloe. Man wandte sich einerseits gegen die
Antisemiten als die Vertreter der Antikultur (W. LIEBKNECBT)101, glaubte aber an-
dererseits: Ja, die He"en Antisemiten ackern und säen, und wir Sozialdemokraten
werden ernten. Ihre Erfolge sind uns also keineswegs unwillkommenlos. In diesen
Zusammenhang gehört auch der zu Unrecht A. Bebe] zugeschriebene, wohl aus
Österreich stammende Satz: Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen

20 3 l!'BIEDRIOB NAUMANN, Die Leidensgeschichte des deutschen Liberalismus (1908),


Werke, Bd. 4 (1964), 292.
lH Hien;u TOURY, Orientierungen, 181 f. 206 (s. Anm. 74) und einige Bemerkungen bei
Pur.zER, Entstehung, 159 f. zu Mitgliedschaften von Liberalen in Vereinen und Organisa-
tionen, die keine Juden aufnahmen. Die Beziehung der Nationalliberalen zum „Bund der
Landwirte'' und ihre Stichwahlunterstützung für antisemitische Kandidaten gehören in den-
selben Zusammenhang. Die „Kreuz-Zeitung" sprach 1888 vom Privat-Anti8emiti8mU8 man-
cher Fi:eisinnigen und Sozialdemokraten; vgl. .Antisemitische Correspondenz v. 15. 10. 1888.
2o 5 Brief ENGELS' v. 9. 5. 1890, zit. VICTOR ADLER, Aufsätze, Reden und Briefe, Bd. 1
(Wien 1922), 7; vgl. auch Sn.BERNER, Sozialisten, 154 (s. Anm. 16); PULZER, Entstehung,
213.
201 FBANz Mlmm:NG, Die Neue Zeit 9/2 (1890/91), 587.
20 7 WILHELM LIEBXNEOHT, Reichstagsrede v. 30. 11. 1893, zit. Sn.BERNER, Sozialisten, 209.
2os Lnu!XNEOHT, Rede über den Kölner Parteitag (Bielefeld 1893), 28; vgl. Sn.BERNER,
Sozialisten, 205.

149
Aalllemkhunm m. 2. 'Antisemitismus' im Nationalsozialismus
Kerlsl°'. Auf dem Parteitag von 1893 erst nahm die Partei endgültig und eindeutig
ablehnend zum Antisemitismus Stellung, und in der Praxis erwies sich dann die
sozialistisch organisierte Arbeiterschaft als die einzige große Bevölkerungsschicht,
die dem .Antisemitismus gegenüber fast vollständig immun war.· ·
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte sich die Situation äußerlich beruhigt:
die radikalen Antisemitenparteien waren verschwunden, die wilden Versamm-
lungen und Pressekampagnen hatten aufgehört, der Grundsatz der gesetzlichen
GleiChberechtigung war trotz mancher gesellschaftlichen Diskriminierung zu keiner
Zeit ernsthaft gefährdet worden. Gleichwohl war der Antisemitismus auf lange Sicht
nicht ohne Wirkung geblieben: ein latenter Antisemitismus war weit verbreitet,
und große Teile der wilhelminischen Gesellschaft hatten Bestandteile des „anti-
semitischen Gedankens" in ihr Weltbild aufgenommen. Dieser Antisemitismus hatte
keine bestimmte Zielsetzung, kein konkretes Programm, keine praktischen Kon-
sequenzen, aber er war eine mögliche und mit anderen Positionen kombinier-
bare „weltanschauliche" Position geworden. Die Beziehung auf die „Judenfrage"
hatte sich bei diesem „weltanschaulichen" Antisemitismus gelockert; er wurde
deshalb auch durch die tatsächliche Entwicklung der „Judenfrage", die fortschrei-
tende Assimilation der Juden, nur wenig beeinflußt.

2. Der Begrift' 'Antisemitismus' im Nationalsozialismus


Diese Situation änderte sich mit der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg
und der Revolution: der latente Antisemitismus wurde..,.... im Zeichen der Suche
nach einem „Sündenbock" - aktuell. Der Antisemitismus bestimmte die Agitation
radikal nationalistischer Gruppen, die ihre Schlagworte aus dem Arsenal der älteren
antisemitischen Literatur entnahmen, ohne ihrerseits neue Elemente hinzuzufügen,
und diese Agitation fand breite Resonanz. Entscheidend für die weitere Entwick-
lung wurde die Verbindung von Antisemitismus und Nationalsozialismus. HITLER,
der unter dem Eindruck des österreichischen Antisemitismus eines Lueger und
Schönerer vom schwäclif,ichen Weltbürger zum fanatischen Antisemiten geworden
war110, wollte den epigonalen Antisemitismus seiner politischen Gesinnungsgenossen
in einen p'lanmäßigen Antisemitismus verwandeln111• Das gelang ihm in dreifacher
Hinsicht: 1) Hitler hat die Theorie des Antisemitismus konsequent systematisiert.
Dom ltlteren Scheinantisemitismus, der fast schlimmer war als überhaupt keiner,
wurde von Hitler ein wissenschaftlicher Antisemitismus entgegengestellt112• Seine
„Wissenschaftlichkeit" wurde gesichert durch den Einbau in eine radikale Rassen-
theorie mit universalem Anspruch. Die Rassentheorie wurde zur einzigen Basis
des Antisemitismus gemacht. 2) Der Antisemitismus der nationalsozialistischen
Politik sollte nicht mehr „weltanschaulich" unverbindlich sein, sondern er sollte
108 Hierzu die eindeutige Äußerung BEBELS bei HERMANN B.ABR, Der Antisemitismus

(Berlin 1893), 21.


uo A. Hrrr.ER, Mein Kampf, 54. Aufl. (München 1933), 69.
111 Ebd., 628.
111 Beide Formulierungen .ebd., 132. Eine interessante Variante dieses Begriffs in einer
Rede v. 13. 8. 1920, zit. llANs Buomami: u. a., Anatomie des SS-Staates, Bd. 2 (Olten,
Freiburg 1965), 307; ä.hnlich in einem Briefv. 16. 9. 1919, zit. ERNST DEUERLEIN, Hitlers
Eintritt in die Politik und die Reichswehr, Vjh. f. Zeitgesch. 7 (1959), 203 f.

150
m. 2. 'Antjsemitismus' im Nationalsozialismus Antisemitismus

sich auszeichnen durch Konsequenz und Praxis, d. h. auf die Entfernung der Juden
überhaupt zielen113• 3) Schließlich gab Hitler dem Antisemitismus einenanderen und
neuen Stellenwert, indem er die „Judenfrage" ins Zentrum seines Kampfes rückte.
Er versuchte gerade mit dem Antisemitismus dem deutschen Volk in dieser FrOIJe
den großen, einigenden Kampfgedanken zu sckenken114. Der Jude wurde zum wich-
tigsten Antisymbol der nationalsozialistischen Propaganda, in der nun die verschie-
denen Stoßrichtungen eines nationalen, wirtschaftlichen, kulturellen und biolo-
gischen Antisemitismus und alle Unzufriedenheiten mit dem liberal-demokratischen
System gebündelt wurden. In diesem Sinne hat dann, wie Hitler darlegte, die
nationalsozialistische Bewegung die JudenfrOIJe ganz anders vorwärtsgetrieben. Sie
hat es vor allem fertiggel>racht, dieses Problem aus d,em engbegrenzten Kreise oberer
und· kleinbürgerlicher Schichten herauszuheben und zum treibenden Motiv einer
großen Volksbewegung umzuwandelfi115.
Der Antisemitismus wurde zum Bestandteil· eines umfassenden politischen Kon-
zepts. Dabei richtete Hitler seinen Antisemitismus nicht nur gegen das deutsche
Judentum, sondern gegen das „internationale Judentum", gegen „Juda" bzw.
„Alljuda": der Antisemitismus bekam im Nationalsozialismus eine weltgeschicht·
liehe Dimension im Sinne eines manichäischen Weltbildes.
Obgleich nach der Machtergreifung Hitlers zunächst in Deutschland und während
des Krieges dann im größten Teil Europas dieser Antisemitismus skrupellos in die
Praxis umgesetzt wurde, geriet der Begriff 'Antisemitismus' überraschenderweise
in Mißkredit. 1935 gab das Reichspropagandaministerium eine Anweisung an die
deutsche Presse: Das Prop<11Jandaministerium bittet, in der Judenfr<11Je das Wort
antisemitisch oder .Antisemitismus zu 1Jermeiden, weil die deutsche Politik sich nur
gegen die Juden, nicht aber gegen die Semiten schlechthin richtet. Es soll stattdessen
das Wort antijüdisch gel>ramht werden118. Das war eine eindeutige, mit außen-
politischen Rücksichten begründete „Sprachregelung", der noch im gleichen Jahr
die Anweisung, arisch durch deutschblütig zu ersetzen, parallel ging117 • Ganz uner-
wartet kam diese Maßnahme nicht, und sie hatte auch nicht nur außenpolitische
Gründe: in der Prope,ganda der sog. „Kampfzeit" der NSDAP, in den Äußerungen
Hitlers und schließlich in den offiziellen Verlautbarungen des „Dritten Reiches"
war ebenso wie im internen Sprachgebrauch der Nationalsozialisten selten von
„Semiten", vielmehr fast immer von „Juden" die Rede. Auch die Begriffe 'Anti-
semitismus' und 'antisemitisch', die in den politischen Auseinandersetzungen der
Zeit jedermann geläufig waren, waren im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten
seltener, als man vermuten würde. Der 'Antisemitismus' als „Weltanschauung"
war ein integrierender Bestandteil der nationalsozialistischen „Weltanschauung"

ua In dem in Anm. 112 zit. Brief heißt es am Schluß über den Anti8emitiamus der Vernunft:
Sein letztes Ziel aber mufJ unverrückbar die Entfernung der Juden iiherhaupt sein.
1u HrrLER, Mein Kampf, 628 f.
115 Ebd.
118 Anweisungen der Pressekonferenz der Regierung des Dritten Reiches v. 22. 8. 1035,

zit. BERNING (1964), 14.


111 RunderJaß des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Innern v. 26. 11. 1935, zit.

BERNING (1964), 22. - Zu 'Jude' bzw. 'jüdisch' im Sprachgebrauch des Nationaleozialie-


mue vgt VICTOR KLEl'dPERER, Die überwältigte Sprache. Aue dem Notizbuch eines Philo-
logen. „LTJ" (Darmstadt 1949), 187 ff.

151
Antisemitismus IV. Ausblick

geworden, der 'Antisemitismus' als politische Bewegung war in der national-


sozialistischen „Bewegung" aufgegangen: wer Nationalsozialist war, war in der
Regel auch Antisemit, aber er hatte keinen Grund mehr, sich besonders als solchen
zu bezeichnen. 1944 machte man schließlich im „Handbuch der Judenfrage"
- dem alten „Antisemitenkatechismus" FRITSCHS - noch den vergeblichen Ver-
such, das unzutreUende Schlagwort 'Antisemitismus' durch den Begriff Antijudais-
mus zu ersetzen118•
Im Zusammenhang mit der Vernichtung des deutschen und europäischen Juden-
tums, der furchtbaren „Realisierung" des radikalen rassischen Antisemitismus,
spielte deshalb die Vokabel 'Antisemitismus' keine oder nur eine nebensächliche
Rolle: man sprach vom „Kampf" oder von „Aktionen gegen die Juden", von einer
„Endlösung der Judenfrage", von „Sonderbehandlung" usw. 119 Der Begriff
'Antisemitismus' war zwar nicht völlig außer Gebrauch - selbst Hitler verwandte
ihn noch während des Krieges gelegentlich in seinen „Tischgesprächen" 120 - ,
aber er wurde angesichts eines systematischen Massenmordens objektiv unbrauch-
bar. Daneben findet sich aber auch der in seiner Tendenz durchsichtige Versuch,
.Antisemitismus und „Endlösung" voneinander zu trennen. So schrieb z. B. Höss,
der Kommandant von Auschwitz, in den Aufzeichnungen aus der Zeit der Gefan-
genschaft: Heute sehe ich auch ein, daß die Judenvernichtung falsch, grundfalsch war.
Gerade durch diese Massenvernichtung hat sich Deutschland den Haß der ganzen Welt
zugezogen. Dem Antisemitismus war damit gar nicht gedient, im Gegenteil, das Juden-
tum ist dadurch seinem Endziel viel näher gekommen121 • 'Antisemitismus' war für
Höss definiert als Kampf gegen die Vorherrschaft des Judentums: die Massen-
vernichtungen hatten sich nach seiner Interpretation lediglich als ein untaugliches
Mittel in diesem Kampf erwiesen, sie sagten daher nichts aus über die Richtigkeit
und Zulässigkeit des Antisemitismus.

IV. Ausblick
Das Wort 'Antisemitismus' ist nach 1945inDeutschland zweifeUos häufiger gebraucht
worden als in den zwölf Jahren vorher. Wissenschaft, Publizistik und Pädagogik
haben den Antisemitismus als ein Schlüsselphänomen analysiert. Dabei ist die
Bedeutung des Begriffs'Antisemitismus' außerordentlich erweitert worden: er meint
nicht mehr nur die antijüdische Bewegung seit dem ausgehenden 19. Jah.rhundert
- die man nun meist als „modernen Antisemitismus" bezeichnet -, sondern alle
judenfeindlichen Äußerungen, Strömungen und Bewegungen in der Geschichte.

118 THEODOR FRrrsCH, Handbuch der Judenfrage, 49. Aufl. (Leipzig 1944), 18 u. passim;
die Kritik am Begriff 'Antisemitismus' findet sich auch schon in früheren Auflagen, aber
der Ersatzbegriff 'Antijudaismus' fehlt noch in der 48. Aufl. von 1943.
11 9 Vgl. JOSEF WULF, Aus dem Lexikon der Mörder. „Sonderbehandlung" und verwandte
Wörter in nationalsozialistischen Dokumenten (Gütersloh 1963).
120 Vgl. HENRY PlCKER, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1942, hg.

v. Percy Ernst Schramm (Stuttgart 1963), 361. 472.


111 RUDOLF Höss, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, hg. v.
Martin Broszat (Stuttgart 1958), 148. Vgl. Höss' Bemerkung über die antisemitischen
Hetzereien des „Stürmer": Die Zeitung hat viel Unheil angerichtet, aie hat dem ernathaften
AntisemitiBmUB nicht genutzt, aondern im Gegenteil böaen Abbruch getan; ebd., 109.

152
IV. Ausblick Antisemitismus

.Antisemitismus ist so zu einem „Synonym für eine unfreundliche oder feindselige


Haltung den Juden gegenüber" geworden122. Versuche, die ältere, nicht rassisch
bestimmte Judenfeindschaft als '.Antijudaismus' oder '.Antimosaismus' vom mo-
dernen .Antisemitismus abzusetzen, sind praktisch erfolglos geblieben: im allge-
meinen Sprachgebrauch hat sich der Begriff '.Antisemitismus' in seinem weitesten
Sinne im wesentlichen durchgesetzt. Auch die Wj.ssenschaft wird diesen Sprach-
gebrauch berücksichtigen müssen; für ein angemessenes historisches Verständnis
des Phänomens 'Antisemitismus' kann sie jedoch auf den älteren, engeren Begriff
nicht verzichten12s.
THOMAS NIPPERDEY
REINHARD RüRUP

12 9 SILBERNER, Sozialisten, 290; um eine irreführende Ausweitung des Begrift's handelt es


sich jedoch, wenn Silberner definiert: Anti8emit i8t jedermann, der den Juden feindae'lig
geainnt i8t, •u:rwbhängig davon, ob seine Anklage ganz oder teilweise stimmt oder einfac/r,
grundlos i8t; ebd., 291.
123 In dem nach Abschluß des Manuskripts erschienenen Buch von ISMAB ELBOGEN, Ein

Jahrhundert jüdischen Lebens. Die Geschichte des neuzeitlichen Judentums, hg. v. Ellen
Littmann (Frankfurt 1967), 635 w:ird erwähnt, daß der jüdische Journalist MoBITZ STEIN-
SCHNEIDER beansprucht habe, das Wort 'Antisemitismus' zuerst gebraucht zu haben, und
zwar in einem persönlichen Brief, in dem er sich gegen Renans AUffassungen vom Charak-
ter der „Semiten" gewandt habe. Diese Mitteilung dürfte sich auf mündliche Überlieferung
gründen, sie enthält weder Quellenangaben noch eine Datierung; eine Verbindung von
einem eventuellen Wortgebrauch bei Steinschneider zur politischen Begriffsbildung von
1879 ist nicht zu erkennen.

153
Arbeit

I.· Einleitung. II. 1. Griechisch-römisches Verständnis. 2. Die jüdisch-christliche Über-


lieferung. 3. 'Arbeit' im Hochmittelalter. 4. Reformation. 5. Zwischen Abbrach und Be-
wahrung der Tradition: Philosophie im 17./18. Jahrhundert, Aufklärong, Kameralismus.
6. Die Okonomisierung: Physiokraten, Adam Smith. 7. Die Fortbildung des ökonomischen
Arbeitsbegriffs: Ricardo, Wirtschaftsliberalismus. 8. Die Bedeutung der Französischen
Revolution. 9. Die idealistische Philosophie gegenüber Okonomismus und Revolution:
Kant, Fichte, Hegel. 10. Freiheit und Fortschritt: liberaler Arbeitsbegriff. 11. Romantisch-
konservative Abwehr. 12. 'Arbeit' als Grundlage einer Gesellschaft der Gleichheit: Früh-
sozialismus, Junghegelianer, Marx. 13. 'Arbeit' in der Auseinandersetzung mit dem
Sozialismus. 14. 'Nationale Arbeit'. III. Ausblick.

I. Einleitung*
'Arbeit', das bewußte Han<leln zur Befriedigimg von Bedüf'fnissen, darüber hinaus als
Teil der Da11m:n~~erfiillung des Menschen 1 , hat eine auf die früheste Überlieferung
zurückgehende, noch keineswegs voll aufgearbeitete Begriffsgesohiohto, deren
Traditionszusammenhang im 18. Jahrhundert abgebrochen: wurde. Bis dahin, und
darüber hinaus immer noch weiter nachwirkend, war das deutsche Wort, ebenso
wie die entsprechenden Wörter in den antiken und europäischen Sprachen, begriff-
lich mehrdeutig. Neben die ursprünglich vorwaltende passive Bedeutung „Mühe,
Qual, Last" im manuellen Sich-Plagen trat schon früh, spätestens im Hochmittel-
alter häufig verwendet, die aktive Bedeutung einer bejahten und gesuchten An-
strengung um eines Zieles willen, die nicht allein Handarbeit sein mußte, bis schließ-
lich auch das gefertigte Objekt menschlicher Tätigkeit, sein Werk, 'Arbeit' genannt
werden konnte. War oder wurde 'Arbeit' also äquivok, so stand' Arbeit' andererseits
.in der Mitte eines Wortfeldes, das differenzierende Bezeichnungen von 'Mühe' bis
'Werk', 'sich mühen' bis 'werken', 'schaffen' bereitstellte. Anscheinend entspricht
diesem deutschen Befund sowohl onomasiologisch wie semasiologisch auch ·die
Wortgeschichte in den anderen europäischen Sprachen2 • Schon GRnm resümierte:

• Die Abschnitte II. 1 und II. 5 (teilweise) sind von MANFRED RIEDEL verfaßt und nur gering-
füg~g geändert worden. Für die Abschnitte II. 3 und II. 9 danke ich M. Riedel für mehrere
Belege. Außerdem danke ich Horst Stuke für kritische tlberprUfung und Otto Dann für
Arbeitshilfe im Zusammenhang mit seiner noch ungedruckten Dissertation über Fichtes
politische Philosophie.
1 BROCKHAUS, Enz., Bd. 1 (1966), 656.
2 Vgl. z. B. Gumo KEEL, Laborare und operari. Verwendungs- und Bedeutungsgeschichte

zweier Verben für „arbeiten" im Lateinischen und Galloromanischen (phil. Dies. Bem;
St.-Gallen 1942). Dort wird 'labor', 'laborare' in einer Zwitterstellung zwischen einem
„aktiven" und „passiven" Begriff erkannt („Mühe haben, leiden, sich anstrengen, er-
streben, pflügen, ackern"), während 'operari' allgemein„opus facere" bedeutet und darüber
hinaus (Vulgata) für religiöse Arbeit und spirituelles Wirken verwandt wurde. - KURT
BALDINGER, Vom Affektwort zum Normalwort. Das Bedeutungsfeld von agask. trebalh
„Plage, Arbeit", in: Etymologica, Fschr. w ALTHERV. wARTBURG (Tübingen 1958), 59 ff. -
Vgl. auch die extensivere Zusammenstellung von META KRUI'P, Wortfeld Arbeit,
Schlüsselwörter, Bd. 2 (1964), 258 ff.; HARTMUT GBA.A.CH, Labour and Work, ebd., ~87 ff.

154:
U. 1. Griechileh römiaehea Ventändnis
0 Arbeit

Während in der älteren Sproohe die Bedeutung von molestia und schwerer Arbeit
vorherrschte, die von opus, opera zwrückt,rat, tritt umgedreht in der heutigen diese vor
und jene erscheint seltenera.

II.

.Griechisch-römisches Verständnis

In der frühgriechischen Adelswelt (Homer) wurde körperliche Arbeit des Krieger-


adels im allgemeinen nicht für würdig erachtet. Doch wurde bei HEs1on der Acker-
bau des freien Landmanns - nicht Arbeit (l(!'Yov), sondern Faulheit (de(!'Yla) sei
eine Schande - als göttliche Bestimmung für den Menschen hoch geachtet4. Im
Maße wie die soziale Ordnung durch Geld-, Stadt- und Seewirtschaft sich wandelte,
wurde solcher Auff&SSung der Boden entzogen und die Arbeit (ländlich und ge-
werblich) als Handarbeit (ndvo~. "ono~) unterhalb des Vollbürgerstandes (noUT1J~)
den Unterschichten bis hin zu den Sklaven zugewiesen und damit abgewertet.
Die alte Wertschätzung der ländlichen Arbeit fand bei XENOPHON noch einmall',
verbunden mit dem Hinweis auf Wehrtüchtigkeit, umfassenden Ausdruck, aber
PLATON zählte die Ackerbauer unter die Klasse der Dienenden, und bei AR1sTOTE-
LES8 standen sie mit Handwerkern, Händlern und Lohnarbeitern auf gleicher
Stufe. Die Abwertung der Handwerks- und Lohnarbeit gehörte schon den ältesten
Zeiten an und war auch außergriechischen Völkerschaften eigen. So berichtet
1IERODOT 7, daß fast alle Barbaren diejenigen, welche die Gewerbe lernen, und der"en
Abkömmlinge geringer schätzen, die von gewerblichem Tun aber Entbundenen für edel
halten, am meisten die zum Kriegsdienst Bestimmten; Platon sprach sich zwar gegen
den Müßiggang aus 8, aber die Lebensweise des körperlich Arbeitenden war ihm
unvereinbar mit der deenj, der bürgerlichen Tugend. Nur wer die Tugend besaß,
war fähig, Bürger zu sein9 • Auf der Tüchtigkeit für die Polis beruhte nach klaBBisch-
politischer Ansicht die bürgerliche Gesellschaft ("owwvla noJ..m"1j). Nicht Arbeit
(ndvo~). sondern angemeBBene Tätigkeit (nea~i~) kennzeichnete den Bürger. Arbeit
und Bürgertugend (deenj) auf der einen10, Arbeit und Bildung (nai6ela) auf der
anderen Seitell standen einander gegenüber. Dazu kam als dritter Gegenbegriff
die Muße (axoJ..tj), welche als Ziel und Zweck (TeÄo~) der als unvermeidlich ange-
sehenen Beschäftigung (daxoJ..la) galt11.
Die untergeordnete Stellung der Arbeit wird besonders deutlich an der Differen-

a GBDOI Bd. l (1854), 539.


' HESioD, Erga. 299 ff.; AlmB:B AYMABD, L'idee de tra.vail dans la. Grace a.rcha.ique,
Jouma.l de psychologie normale et pathologique 41(1948),29 ff.; KL. PAULY Bd. 1 (1964),
490 ff. .
a XENOPHON, Oecon. 4 ff.
8 .ARlsTOTELES, Pol. 1317 a 23; 1330 a. 26.
7 HERODOT, Rist. 2, 167.

e PLATON, Pol. 421 d.


8 ABisTOTELEs, Pol. 1276 b 16 ff.; 127_8 a. 11.
10 Ebd. 1278 a. 5 ff.

11 Ebd. 1337 b 1 ff.


u Ebd. 1334 a 15.

155
Arbeit II. 1. Grieehisch-römisehes Verstllndnls

zierung der menschlichen Tätigkeit bei ARISTOTELES. Oberster Begriff war Tätig-
sein überhaupt, eveeyeia, Am-Werk-Sein, das sich entweder a.ls Handeln, nea~ir;,
oder als Hervorbringen, nolriair;, darstellte. Die Unterscheidung gründete in den
verschiedenen Zwecken des Tätigseins, das, auf äußere Gegenstände gerichtet, ein
von ihm ablösbares Werk (leyov) zum Resultat und insofern den Charakter der
Arbeit hatte oder, innerhalb der Menschenwelt, der Polis sich bewegend, stets
betrieben werden mußte, um diese als Werk zu erhalten 13. Dabei wurde die ständige
Tätigkeit der Praxis, alles was zur Regierung und Bestimmung der zu einem guten,
d. h. tugendhaften und glücklichen Leben ( eJ Cijv) vereinigten Menschen gehörte,
der Arbeit des Hervorbringens übergeordnetu.. Nach klassisch-politischer An-
schauung blieb auch die zur „Kunst" (rexvri) gesteigerte Form der Arbeit stets dem
unterlegen, der sie zu gebrauchen wußte. Die Praxis, das ethisch-politische Handeln,
beherrschte die Poiesis, das Arbeiten; die Klugheit des Handelns, q;eo111Jatr;, war
HerrRchaftRwiRSen, <laR nicht jedermann, sonrlern mir rlem Hausherrn und dem
Politiker zukam16. ·
Die Differenz von Poiesis und Praxis lag der späteren Unterscheidung zwischen
„Künsten" und „Gosohäfton" zugrunde. Sie bestimmte bis über die Schwelle der
Neuzeit hinaus die Rangordnung des menschlichen Tätigseins. Dazu gehörte die
Trennung der Künste und Geschäfte von der Arbeit im engeren Sinne, d. h. den
Tätigkeiten, die auf Anwendung körperlicher Kräfte (Heben, Tragen, Laufen usf.)
beruhen. Diese Trennung war mit der modernen Entgegensetzung von körperlicher
und geistiger Arbeit nicht identisch, weil die Form der Tätigkeit bei Künsten und
Geschäften nicht als Arbeit, sondern als „Wissen" (q;eo111Jc11r;, Texvri) begriffen
wurde. Künste und Geschäfte setzten Arbeit, körperliche Dienste und Handrei-
chungen, Werkzeuge des Tuns 16 voraus, waren aber nicht selbst Arbeit.
Zwar wurde schon in der Spätantikeim Kynismus und Stoizismus der Lastcharakter
der Arbeit umgewertet; bei den Kynikern wurde Arbeit, novor;, Tugendmittel17;
die Stoiker18 prägten die Wörter e.Vnovla, „Fleiß" und q;iÄonovla, „Liebe zur Arbeit".
Doch die mittlere Stoa (Poseidonios) kehrte zur Arbeitsverachtung besonders des
Handwerks zurück. Diese kam bei CICERO klassisch zum Ausdruck, der die freien,
edlen Künste (artes liberal,es) von den unfreien, niedrigen und verächtlichen unter-
schied (qui liberales hahendi, qui sordidi sint)1 9 • In der Begründung folgte Cicero
der klassisch politischen Ansicht: die artes libera.les (Architektur, Medizin, Landbau,
Wissenschaften) beruhten auf der rpedVfJat~, lat. prudentia, der Tugend des freien
Mannes; ihr Zweck war dauernder Nutzen (utilitas) oder Ehre (honos) und nicht
die bloße Notwendigkeit ( necessitas) oder die vergängliche Lust ( voluptas) ; für
diese sorgten, wie Cicero mit TERENZ formulierte, Fischhändler, Fleischer, Köche,
Geflügelhändler, Fischer19•. Das Kriterium der Unterscheidung war entweder ein
18 ARlsTOTELES, Nik. Eth. 1094 a 1-18; Pol. 1254 a 5 ff.
14 PLATON, Euthyd. 289 c; Krat. 390 b; Pol. 601 c; 258 e.
15 ARlsTOTELES, Nik. Eth. 1140 a 25-28; End. Eth. 1219 b 2-5; PLATON, Symp. 209 e.
l& ARlsTOTELES, Pol. 1254 a 5-8.
17 KRATES, Ep. 208.
18 STOBA.IOS, 2, 105, 7 ff.
19 CIOEBO, Off. 1, 42, 150, zum Folgenden auch 151-153; vgl. auch SENECA,Ben. 6, 15 f.;

QUINTILIAN, Inst. ora.t. 12, 7, 8-12.


19a TERENZ, Eun. v. 257.

156
II. 1. Grieehisch-römischea Verstänclnis Arbeit

politisches (die freien Künste sind die des Freien würdigen Künste) oder ein
philosophisches, das mit dem Gegensatz von Körper und Seele gegeben war; es
konnte aber auch ein juristisches sein: für die operae liberales (Richter, Ärzte)
konnte ein honO'Tarium, für die operae illiberaks nur Lohn (merces) empfangen
werden19b.
Der bäuerlichen Tradition Roms entsprechend, auf der bis zum 2. Jahrhundert
v. Chr. die Wehrverfassung beruht hatte, wurde der Landbau freier Männer von
der Mißachtung der Arbeit ausgenommen. Zeugnis dessen ist die lateinische
Agrarliteratur (M. Porcius Cato, „Liber de agri cultura"; M. Terentius Varro,
„Rerum rusticarum") wie auch die Dichtkunst (Vergil, „Georgica"). Am folgen-
reichsten wurde VERGILS Erzählung vom Ursprung der ars colendi und aller
„Künste", die mit menschlicher Arbeit verbunden waren 20 • Ihr mythischer Hin-
tergrund war das Ende des „Goldenen Zeitalters", in dem es labor sowohl als
Mühe wie als werkende Tätigkeit noch nicht gegeben hatte; Jupiter verwandelte
die bisher friedliche, nahrungsspendende Natur und zwang die Menschen durch
Mangel (egestas) und Leid (labor) zur Tätigkeit: LabO'T omnia vincit improbus et
duris urgens in rebus egeslas 21• Schon in der Spätantike wurde Vergil jedoch so
verstanden, daß labor improbus die vom Menschen geleistete Arbeit sei; tatsächlich
meinte der Satz Vergils nicht den Sieg der menschlichen Arbeit über die Natur,
sondern deren Bezwingung durch labor und egestas, die, als Unheilsmächte in
allen Dingen wirkend, zur Tätigkeit nötigten 22 • Gleichwohl war der Satz vom Sieg
der Arbeit (labor omnia vincit) seit Vergil in aller Munde, wurde zum Topos und
beeinflußte noch Tugend und Arbeitsethik der europäischen Adelswelt 23 • Daß
dieser Deutungswandel oder gar eine frühe Ambivalenz des Verständnisses so leicht
möglich war, erklärt sich offensichtlich daraus, daß lat. labor spätestens seit dem
1. Jahrhundert v. Chr. als doppelsinnig erscheint, indem es sowohl navo(;' wie
ivefrysia entsprechen konnte. CICERO hob labor ausdrücklich von dolor ab: I nterest
aliquid inter laborem et do'/mem. Bunt finitima omnino, sed tamen differt aliquid.
Anschließend definierte er: Labor est functio quaedam vel animi vel corporis gravioris
operis et muneris, do'/m autem motus asper in cO'TpO'Te alienus a sensibus 24• Gewann
labor die Bedeutung von mühevoller, auf Leistungsziele gerichteter Tätigkeit,
so konnte sich dieser Begriff mit virtus verbinden, in die Nähe der hochgewerteten
industria rücken und dem Römer erstrebenswert sein, der durch la-
bor, d. h. tätige, tapfere Bewährung (besonders militärisch) Ehre gewinnen wollte 21•

ieb FoRCELLINI Bd. 2 (1940), 673,s. v. honorarium; vgl. ULPIAN, Dig. 50, 13, 1.
so VERGIL, Georg. 1, 43 ff.
11 Ebd. 145 f.
81 HEINRICH ALTEVOGT, Labor improbus. Eine Vergilstudie (Münster 1952).
18 MACRoBros, Sat. 5, 16, 7. Vgl. zum Fortleben (oder zur Rezeption T) etwa JoHANN
FlsCHART, Das glückhafte Schiff von Zürich, hg. v. G. Baesecke (Halle 1901), 4: Dann
nichts i8t alao schwer und scharf, das nicht die Arbeit unterwarf (1277). Der 'Satz wird auch
in die frühen Lexika übernommen. Vgl. z. B. BASILIUS FA.BEB, Thesaurus eruditionis
soholasticae (Leipzig 1605), 326: Labor, et Laboa, animi aeu corporia in re aliqua oooupatio,
Arbeit/Mühe (1. Auß. 1571).
H Cicuo, Tuso. 2, 35.
S& Vm:TOR Pöscm., Grundwerte römischer Staatsgesinnung in den Geschichtswerken des
Sallust (Berlin 1940), 12 ff.

157
Arbeit II. 2. Jüdisch-christliche 'Oberlieferung

Diese Ablösung des Begriffs von niedriger Knechts- oder Handwerksarbeit wirkte ins
Mittelalter hinein und verband sich mit der christlichen Arbeitstradition.

2. Die jüdisch-christliche Vherlieferung


Hier verschmolz frühchristliche mit der antiken Arbeitsauffassung, bestätigte
sie scheinbar ('Arbeit' = „Mühsal"), stellte sie tatsächlich aber von Grund auf in
_Frage. Die sich daraus ergebende Spannung wurde bestiinmend für den Arbeits-
begriff im christlichen Europa bis zur modernen Revolution. Dem „Goldenen
Zeitalter" des griechischen Mythos entsprach der „Garten Eden", in den Gott,
der selbst als Schöpfer seine Arbeit getan hatte, den Menschen setzte, ihn zu bear-
beiten und zu bewahren26• Die Arbeit war also „Auftrag" des als Schöpfer arbeiten-
den Gottes an den Menschen, die Schöpfungsarbeit schon im Paradiese fortzusetzen.
Mit der Erschaffung des Menschen war demnach die Arbeit mitgegeben, worauf
in der christlichen Tradition stets Wert gelegt worden ist 27, in ~pätmittelalterlichen
Bettelmönchpredigten häufig mit sozial-, besonders adelskritischem Unterton. Mit
der AustrAihnng fl.11R dem Paradies und dem lfluch Gottes über den Acker (So soll
rm,n der Aclr.e.r t1e.r'ff.1(C.ht sein 1im de.ine.twilkn; unter Mühsal sollst du dich von ihm
nähren . . . 1m Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zum Erd-
bod(ln a11.ri.wkk8hrat)a&, der o.uf do.fl gottwidrigc, schuldhafte Verhalten des Menschen
folgte, wurde die Arbeit zur „Mühsal", konnte sich also mit dem griech. novoi;
verbinden. Der Fluch Gottes lag auf den Bedingungen, unter denen die Arbeit
getan werden_ mußte. Wird sie trotzdem oder gerade wegen ihrer Mühsal als „Got-
tesdienst" getan, so ruht der „Segen" Gottes auf ihr. Damit war schon vom Alten
Testament her eine .Abwertung körperlicher Arbeit - wie bei den Griechen -
prinzipiell nicht möglich, im praktischen Leben mindestens abgeschwächt. Feldbau
und Handwerk wurden geachtet, wenngleich es keinen Preis der Arbeit als solcher
gab 29, wohl aber bei den Rabbinen die Betonung des erzieherischen Werts der
Arbeit bis zur Mahnung: Liebe die Arbeit30•
Die Evangelien und Briefe des Neuen Testaments stehen in dieser jüdischen
Tradition. Ihr Thema ist nie die Arbeit an und für sich selbst, sondern nur die dem
eigentlichen Sinn der Existenz des Menschen unter- oder eingeordnete Arbeit;
diese ist nicht nur notwendig, da sie dem Lebensunterhalt dient, sondern von der
Qualität des Menschen als Person vor Gott unablösbar und zur Bewahrung vor
Laster und Faulheit wertvoll. Wer nicht tätig ist, soll auch nicht essen 31 • Arbeit ist
28Gen. 2, 15.
27Vgl. z.B. AUGUSTIN, De Genesi ad litteram 8, 8. CSEL Bd. 28/2 (1894), 242.
2s Gen. 3, 17-19.
29 LUTHERS Übersetzung von Pe. 90, 10: wenna [das ·Leben] köatlick.gewesen ist, so ists

mühe und erbeit gewesen (endgültige Fassung 1531/45; WA Dt. Bibel, Bd. 10/1,
1956, 403) ist falsch; es müßte statt dessen heißen: das meiste da.ran ist Leid und Ent-
täuscku711J. Vgl. dazu WALTER BIENERT, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel (Stuttgart
1954), 136. Bienerte Untersuchung vermittelt den neuesten }~orschungsetand zu dem viel-
fä.ltig erörterten Problem. Vgl. auch (materialreich) HENRI RoNDET, Elemente pour une
theologie du travail, Nouvelle Rev. theol. 77 (1955), 27 ff. 123 ff.
80 SCHEMA.JA, 1. Jahrhundert v. Chr., zit. JOHANNES LEIPOLDT, Der soziale Gedanke in
der altchristlichen Kirche (Leipzig 1952), 77.
81 2. Thess. 3, 10.

158
D. 2, Jüdisch-ehristliehe Vberlieferung Arbeit

unerläßlich für jeden Menschen ohne Unterschied des Standes. Sie soll aber nicht
nur um des Unterhalts oder gar um materiellen Gewinns willen, sondern „um Gottes
willen", damit aber auch für den „Nächsten" und für die „Gemeinde" „von Her-
zen" getan werden, erfüllt von der „Freude" des „neuen Menschen in Christus" 82 •
Dabei wurde auch geistliches, missionarisches Handeln als Arbeit angesehen. Das
Apostelamt war wichtiger als die nur dem Unterhalt dienende Arbeit; aber beides
bedeutete Arbeit im Sinne von Mühs~l und schwerer „Sklavenarbeit" (~onor;) 83 ,
die als Dienst an Gott und den Menschen aus Berufung und als Pflicht verstanden
wurde. Paulus „arbeitete" {~omav) sowohl als Apostel wie als Handwerker und
bekannte sich ausdrücklich dazu. Arbeit wurde von solcher Wertung aus nicht
unterteilt in höher- oder geringerwertige, in mehr oder weniger ehrenhafte. Die
Gleichheit der Menschen vor Gott wurde vielmehr der üblichen sozialen Rang-
ordnung mit ihrer Auf- und Abwertung der Tätigkeiten übergeordnet.
Alle Arbeit war deshalb Erfüllung des Lebens, sofern sie im christlich-brüderlichen
Geiste mit Gebet verrichtet wurde. Sie war in ihrem Wert demnach nicht an einen
Status und dessen „Ehre" gebunden, woraus in praxi gefolgert werden konnte,
daß „Sklavenarbeit" zum Christendienst erhoben und geachtet wurde, gleichgültig,
welche Achtung sie in der hellenistisch·römi.eohcn Welt genoß. Die Zugehörigkeit
z11r Gemeinde Christi (laor; f>eoii) hob den Unterschied zwischen Herrn und Sklaven
auf. So war es verständlich, daß die Apologeten die Arbeitsamkeit der Christen
betonten und dem den tatenlosen Luxus der vornehmen Heiden entgegensetzten34•
AUGUSTIN sprach vom Wert der Handarbeit, auch für die Mönche, und verlieh dem
Handwerk seine Arbeitsehre. Er betonte die Arbeitspflicht und Anerkennung aller
ehrlichen Arbeit (ohne Betrug} vor Gott, an dessen Werk der Mensch durch seine
ihm wesensmäßig eigentümliche Arbeit Anteil hat. Bei ihm findet sich demgemäß
in starker Betonung die Ranggleichheit jeder Arbeit vor Gott, sofern sie als Gottes-
dienst, redlich und ohne Jagen nach Gewinn getan wird. Was immer die Men-
schen ... ohne Betrug arbeiten, ist gut, gleich ob als Hirten, wie viele Patriarchen,
oder als Schuster, wie griechische Philosophen, oder als Zimmermann, wie der
heilige Joseph 36 • So blieb der christliche Arbeitsbegriff lebendig, in bewußter Aus-
einandersetzung mit dem antik-hellenistischen, mit dem er andererseits immer
wieder kompromißhafte Verbindungen einging38•
Der christliche (jüdische) Komplementärbegriff zu 'Arbeit' war (Sabbat-, Sonn-
tags-) 'Ruhe', die nicht nur „Ausruhen" (vgl. das Ausruhen Gottes nach seiner
Schöpfungsarbeit am siebenten Tage), sondern ungestörte Hinwendung zu Gott er-
möglichen sollte. Damit war die Arbeit begrenzt: sie sollte keinen Eigenwert be-
82 Zahlreiche Belegstellen bei BIENERT, Arbeit, 191 ff. (Jesus). 285 ff. (Urgemeinde und
Paulus).
88 Ebd., 316.
u CLE!llENs, Paed. 3, 11, 64 a.
36 AUGUSTIN, De opere monarchorum 13, 14. CSE~ Bd. 41 (1900), 555. Vgl. HELMUT

HOLZilTEL, Die sittliche Wertung der körperlichen Arbeit im christlichen Altertum


(theol. DiBB. Würzburg 1941), 122 ff.
81 Vgl. Tlmo So:nmERLAD, Das Wirtschaftsprogramm der Kirche des Mittela.ltere (Leipzig

1903); IGNA.Z SEIPEL, Die wirtechafteethiechen Lehren der Kirchenväter (Wien 1907), bes.
130 ff.; als Monographie ergiebig: AUGUST .ADAM, Arbeit und Besitz nach Ratherus von
Verona (Freiburg 1927). Dort Arbeit als Christenpflicht, 76 ff.

159
Arbeil II. 3. 'Arbeit' im Hochmittelalter
sitzen. Die Tage der Arbeit (auch sie mit Beten) erhielten ihren Sinn nur, wenn der
„geheiligte" arbeitsfreie Feiertag sie regelmäßig unterbrach. „Ruhe" war also nicht
gleich dem römischen otium {„Muße"). Der christliche Gegenbegriff zu 'Arbeit' war
'Müßiggang' (otiositas), gegen die schon Paulus seine Arbeitsermahnungen gab.
Das Gegensatzpaar labor - otiositas wurde fortgesetzt weiter tradiert. Otiositas
inimica est animae 3 7.
Max Weber hat es als „Fabel" bezeichnet, daß der Arbeit „im Neuen Testament
irgend etwas an neuer Würde hinzugefügt wurde" 38 ; mit diesem schroffen Satz
wehrte Weber ein modernes Mißverständnis ab. In der Tat ging es bei Jesus, den
Aposteln und Kirchenvätern nirgends um einen Selbstwert der Arbeit, der mit
modern idealistischen Wendungen umschrieben werden kann. Andererseits darf
die prinzipielle Aufhebung des sozial bedingten antiken Arbeitsbegriffs durch das
grundlegend andere christliche Bezugssystem nicht unterschätzt werden. Der
christliche Arbeitsbegriff unterschied sich grundsätzlich vom griechischen und
enthielt weitreichende Konsequenzen in sich. Zunächst entstand, da die griechisch-
römische Wertung der Arbeit fortlebte, die oben erwähnte Spannung, mochte sie
auuh in der politisch-gesellschaftlichen Praxis durch „weltliche" Kompromi111111
verdeckt werden.
Der christliche Arbeitsbegriff im Sinne des „laborare ex orationc" und als „mi-
nisterium ex :fide in Deum"S 9 LraL iIDlller von neuem aus dieser Verdeekung hervor,
vor allem in den Mönchsregeln von dem bcncdiktinischen „ora et labora" bis zu
den Franziskanern40 • Damit war für das allgemeine Bewußtsein ein entscheidender
Schritt über die ständegebundene Arbeitswertung hinaus getan, sei es im Sinne
faktischer Aufwertung jeglicher Arbeit in der „Welt", sei es in asketischer {mön-
chischer) Abkehr von der Welt, sei es in Verbindung mit der Vorstellung, sich durch
Arbeit {„gute Werke") Verdienste vor Gott zu erwerben. All solchen Umdeutungen
oder Abweichungen lag - stets wach gehalten oder neu bewußt gemacht -
der neutestamentlich-frühchristliche „Dienst"-Charakter der Arbeit zugrunde, wie
er sich als spezifisch christliche Arbeit, als praktizierte caritas in der Diakonie vom
Urchristentum bis zur Gegenwart bewährt hat.

3. 'Arbeit' im Hochmittelalter

In der älteren deutschen Wortgeschichte von 'Arbeit' 11teht die nr11priingliche


passive Bedeutung noch ganz im Vordergrund. In den althochdeutschen Glossen 41
diente 'arbeit' zur Übersetzung von labOT, tribulatio, pressu'Ta; afflictio, impo'Ttunitas,

37 HL. BENEDIK'l', Regula monachorum, c. 48. Hierzu und zum Folgenden vgl. FRANZ

STEnraACH, Der geschichtliche Weg des wirtschaftlichen Menschen in die soziale Freiheit
und politische Verantwortung (Köln, Opladen 1954).
38 MAx WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft (Tübingen 1925), 800.
3 9 BIENERT, Arbeit, 390. 396.
40 Vgl. FRANz VON ASSISI, Testament, Nr. 21: ad reppellendam optiositatem; in: Les
opuscules de Saint Fran90is d'Assise, ed. DAMIEN VoRREUX, PAUL BAYART (Paris 1955),
150.
41 Die althochdeutschen Glossen, hg. v. E. STEINMEYER u. E. SIEVERS, 5 Bde. (Berlin
1879-1922).

160
II. 3. 'Arlieit' im Boohmit&elal&er Arbeit

tempest,as, procella. Bei NoTK.E.R war in loco aQlictionis - in dirro arbeitsamin


werlte4 2 • Auch Christi Leiden und Sterben, die Verfolgungen der Jünger und Hei-
ligen, die Schrecken des Jüngsten Gerichts hießen 'arbeit', ebenso Schmerz, Leiden,
Anfechtung, Bedrängnis, Entbehrung, Kampfbedürfnis und Gefahr (Kaiser-
chronik v. 9286: die heiden k8men in gr8z arbeit: s1, wurden allermeist erslagen)'a.
Von hier aus muß die Ausbildung der mittelalterlich-christlichen Tugendethik im
Ritter- und Priester- bzw. Mönchsstand gesehen werden: sie forderte die ;,arbeit",
indem sie die müezecheit ausschloß, aber eine solche, die dem jeweiligen Stand an-
gemessen war. So der mönchische labor oboedientiae, „arbeit der gehorsamkeide",
die in Gebeten und gei.Stlich-asketischen Übungen, aber auch in karitativerTätig-
keit, vor allem den Armen und Kranken gegenüber besteht. Analog dazu die
„ritterliche arebeit" der Dichter des 12./13. Jahrhunderts, d. h. die Mühe und Qual
die der Ritter aktiv bejahend auf sich nehmen mußte, um ~re und minne zu ge-
winnen. 'Arbeit' war hier also ein Dienst, rein weltlich als Frauendienst oder
darüber hinaus Frauen-, Herren- und Gottesdienst. WALTHER VON DER VoGEL-
WEIDE z. B. wollte werben umbe werdekeit / mit unverzageter arebeit4'. So verstanden
blieb Arbeit letztlich auf Gott, das summum bonum der Scholastik, bezogen, wenn
auch praktisch die ritterliche „arcbcit" in Kampf- und Minnedienst wohl meist
einer kaum christlich zu begründenden Hingabe an die „ Welt" gleichkam. Durch
Arbeit im a(llig-rittergewäßen Sinne wurde 'werdekeit' (innere Würde) gewonnen
und „Tugend" verwirklicht. Nicht die Arbeit als solche hatte Würde oder war eine
Tugend; sie war vielmehr nach wie vor Mühe und Pein. Aber die Bewährung in
dieser „arebeit", die der Ritter geradezu suchen mußte, brachte Würde, Ansehen,
Ehre. Entzog sich der Ritter seiner standesgemäßen Arbeit, so wurde er ehrlos.
Manuelle Arbeit war unter seiner Würde. Zweifellos war die oben genannte Bedeu-
tung von labor in diese Vorstellung von „arebeit" eingegangen. In solcher ritter-
lichen „arebeit" war der Bedeutungsübergang vom passiven Dulden der Mühsal
zum aktiven, mühevollen Tätigsein deutlich angelegt. Im Unterschied dazu haben
die übrigen Laienstände (Bürger- und Bauernstand) eine vergleichbare Tugend-
ethik der „arebeit", die naturgemäß zu einer Neuwertung vor allem der körperlich-
handwerklichen Arbeit hätte führen müssen, nicht oder erst später entwickelt.
Daß Arbeit (labor) im aktiven und affirmativen Sinne nicht auf den Ritterstand
beschränkt blieb, sondern im späteren Mittelalter sich mit bürgerlichem Bewußt-
sein vr.rband, st;eht außer Zweifel. Ein frühes Zeugnis bildet das Lübische Kaufe
mannstestament von BERTOLD RucENBERG (1364): die Güter, die er besitze, habe
er gewonnen meo graviori cum labore4r>.

42 Die Belege zu den Glossen und zu Notker s. bei IIILDBURG GEIST, Arbeit. Die Ent-
scheidung eines Wortwertes durch Luther, Luther-Jb. 13 (1931), 85 f.
48 Ebd., 92. Viele Belege aus mittelhochdeutschen Dichtungen bei GEBTRUD SCHWARZ,

'arebeit' bei mittelhochdeutschen Dichtern (phil. Diss. Bonn; Würzburg 1937).


44 WALTHER VON DER VOGELWEIDE 66, 34f. (Lachmann).
u ERICH MABCHKE, Das Berufsbewußtsein des mittelalterlichen. Fernkaufmanns, in:
Beiträge zum Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Menschen, hg. v. PAUL WILl'EBT
(Berlin 1964), 308.

11-90385/1
161
Arheil D. 3. 'Arlieit' im Hochmittelalter

Die scholastische Philosophie sah den Nutzen dieser Arbeit vor allem in drei
Dingen: Primo ad otium tollendum, secundo ad corpus domandum, ... tertio ... ad
quaerendum victum48 • Im allgemeinen galt, daß Arbeit eine Pflicht für diejenigen
sei, die keine Mittel haben, sich am Leben zu erhaltert 47, aber sie war nicht all~
gemein .Pflicht. THOMAS erklärte ausdrücklich, daß nur die Notwendigkeit zur
körperlichen Arbeit zwinge: Sola enim necessitas victus cogit manibus operari48 •
Darüber hinaus suchte die kirchliche Lehre nach Einschränkungen der körperlichen
Arbeit. Hier machte sich der Einfluß der griechischen Philosophie (Aristoteles)
wieder stärker bemerkbar, die 'Überordnung des „beschaulichen" und die Ver-
achtung des „tätigen Lebens": Vita contemplativa simpliciter melior est quam vita
activa4 9. So konnte Thomas 60 behaupten, das Gebot der körperlichen Arbeit sei
nicht allgemein verpflichtend ( praeceptum de labore manum non obligat aliquem
singulariter), womit das Ledigsein des Priester- und Ritterstandes von der Arbeit
im engeren Sinne seine Rechtfertigung erfuhr. Die Rezeption der Politik des Aristo-
teles und die politisch-soziale Rangordnung seiner Zeit, denen Thomas schon von
seiner Herkunft her verpflichtet war, ließen ihn sich von einem radikalen christ-
lichen Arbeitsbegriff entfernen.
Aber wenn auch in der distributio afficiorum 61 die Arbeit der Geistlichen und des
Adels höherstand als die der Handwerker' und Bauern, so konnte doch die neu
übernommene griechische Philosophie nic.:hL so weit einwirken, daß di11 körp11rlinh11
Arbeit dieser Schichten der Mißachtung anheimfiel. Die christliche Wertung blieb
erhalten oder setzte sich, besonders bei den Bettelmönchsorden, wieder verstärkt
durch. Mochte z. B. BERTHOLD VON REGENSBURG (Mitte 13. Jahrhundert) auch
die Laien und körperlich Arbeitenden in die „niederen Chöre" einordnen52, so
umschrieb er doch einen für alle Stände gültigen, christlichen Arbeitsbegriff:
alliu diu antwerk 00,er ander arbeit, sie sin geistlich oder weretlich, die eht der werlte
nützelich und erlich sind, . . . die sol man arbeiten mit der triuwe und mit der gerehti-
keit, daz es iu nütze werde an libe und an sele. Die „Nützlichkeit" der Arbeit be-
stimmte so ihren Wert, gab ihr aber doch auch immer noch oder immer wieder einen
geringeren Rang als den des geistlichen Lebens. Dies wurde von MEISTER EcKEHART
als edel bezeichnet im betonten Unterschied zum arbeitsamen Dasein, das nur
nütze war 63 • Ähnlich sprach TAULER vom Nutz des schauenden Lebens, weil es erlaube
zu wircken ohne Arbeit/ dann Arbeit kömmt von nirgend anders/ denn von Über-
ladung der Oreaturen; ein rechtschauender Mensch sei aller Oreaturen und damit
auch aller Arbeit ledig. So blieb der Religiose höher eingestuft als alle übrigen Men-

48 TuoMAs VON AQUIN, Quaestiones quodlibetales 7, art. 17.


47 Ders., Summa theologica 2, 2, qu. 187, art. 3. 5.
•s Ders., Summa contra gentiles 3; 135.
49 Ders., S. th. 2, 2, qu. 182, art. 1. 2.

5o Ders., Quaest. quodl. 7, art. 17.


51 Ders., S. contr. gent. 3, 134.
iz BERTHOLD VON REGENSBURG, Vollständige Ausgabe seiner Predigten, hg. v. Franz
Pfeiffer, Bd..1 (Wien 1862), 145 ff. 562.
63 MEISTER EcKEIIA.RT, in: Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hg. v.

FRANZ PF~IFFER, Bd. 2/1 (Leipzi~ 1857), 18.

162
D. 4. Reformation Arbeit

sehen; er war ohne Arbeit der Not des kreatürlichen Lebens enthobenH. Das hin-
derte aber nicht, daß trotzdem im Spätmittelalter besonders die bürgerlich-hand-
werkliche Arbeit in den Städten hoch bewertet und damit die reformatorische Lehre
vom -+ Beruf vorbereitet wurde.

4. Reformation

Dieser Lehre lag der Arbeitsbegriff des Neuen Testaments zugrunde. Nur wurde
dieser nun wiederum aufs neue radikal angewandt; damit steigerten sich die
Möglichkeiten des christlichen Arbeitsbegriffs. Mit der Gleichheit der Wertung
jeder im christlichen Gehorsam getanen··Arbeit sollte Ernst gemacht werden. Der
Vorrang der Arbeit der Religiosen 'Wurde verneint oder gar als Müßiggang ge-
brandmarkt.
Die harte Arbeit des Bauern und Handwerkers hatte schon vor Luther als Gottes-
dienst aufgefaßt und dem Beten gleichgestellt werden können. Etliche Menschen
beten wenig mit dem Munde und wird doch die Arbeit ihrer Hände von Gott als ein
Gebet geachtet 6 5. LUTHER wurde nicht müde, dies immer von neuem zu wiederholen.
Die vita activa wurde der vita contemplativa nicht mehr untergeordnet. Denn alle
Christen waren für ihn warhafjti,g geystlichs stands 68 • Als Maßstab für den Wert
einer Arbeit galt allein, wieweit sie gläubig dienend getan wurde, nicht dagegen,
was sie vor Menschen galt oder was sie an Gewinn einbrachte, auch nicht im Sinne
des „guten Werks" als Verdienst vor Gott. Die erbeit sei nütze und fruchtbar .. „ so
Christus dazu kompt . . . Das ist, wo der glaube ist . . . Darumb darU mans niemand
scliuld geben, wo wir mit unser erbeit und mühe nichts oder wenig ausrichten denn
unserm unglauben oder je der schwachheit unsers Glaubens 67 • So mußte selbst der
Reiche arbeiten, auch ohne um seines Lebensunterhalts willen dazu gezwungen
zu sein. Denn die Arbeit war Gottes Gebot für alle ohne Unterschied des Standes.
Der Christ arbeitete und überließ Gott die Sorge. Gott gibts im Glauben durch die
Arbeit, nicht als ob es die Arbeit mache 68 • Aber das rechte mittel ist: Nicht faul und
müssig sein, auch nicht auU eigen erbeit und thun sich verlassen, sondern erbeiten
und thun und doch alles von Gott allein gewarten. Das ist so viel gesagt: Es mus alles
im glauben und trawen zu Gott geschehen 69 • Arbeit um Gottes und des Nächsten willen
machte den Christen zu Gottes Larve, d. h. zum Mitarbeiter und Vollstrecker des
göttlichen Willens auf Erden80• Daraus ergibt sich, daß Luther die :Arbeit nicht

H Jox. TAULER, Nachfolgung des armen Lebens Christi, Tl. 2, § 41, zit. KLARA VoNTOBEL,
Das Arbeitsethos des deutschen Protestantismus (Bern 1946), 58. Dort für Luther und die
Wirkung der Reformation (s. den folgenden Abschnitt) zahlreiche Belege.
66 So der Dominikaner MAB.Kus VON WEIDA um 1500, zit. NIKOLA.US PAULUS, Die Wertung

der·weltlichen Berufe im Mittelalter, Bist. Jb. 32 (1911), 747. Vgl. _JOHANNES ERBEN,
J,utherund die neuhochdeutsche Schriftsprache, M.&.URER/STROH 2. Au11.„ Bd. 1 (1959), 454.
68 LUTHER, WA Bd. 6 (1888), 407.
67 Ebd., Bd. 22 (1929), 83.
68 Ebd., Bd. 29 (1904), 441 ('Übersetzung).

69 Ebd„ Bd. 31/l (1913), 437.


eo ~bd., 436 (Auslegung des 147. Psalms, 1532). Zur Interpretation dieser Stelle vgl.
WALTER BIENERT, Art. Arbeit III. Theologisch, RGG, 3. Au11.., Bd. l (1957), 544 (sein
Stellennachweis für „Gottes Larve" ist zu berichtigen).

163
Arheit II. 4. Reformation

„ um der Arbeit willen" 81 wertete. In diesem gelegentlich geäußerten Mißverständnis


kommt eine aus der protestantischen Arbeitslehre weiterentwickelte umdeutende
Auffassung zum Ausdruck, die auf die moderne Arbeitswertung vorausweist.
CALVIN stand mit seinem Verständnis der Arbeit nahe bei Luther und ist nicht oder
nur bedingt vom späteren Puritanismus her zu deuten, in dem der (weltliche)
Erfolg der Arbeit mit dem Erwählungsglauben (Prädestination) verbunden wurde.
Die Konsequenzen des radikal-christlichen und damit neuen Begreifens der Arbeit
reichten weit, wobei hier freilich unerörtert bleiben muß, inwiefern es sich dabei
jeweils primär um Wirkungen der Reformation oder um das Aufnehmen refor-
matorisch-protestantischen Denkens für primär politisch-wirtschaftliche Zwecke
gehandelt hat. .
Solche weitreichenden Folgen waren ungeachtet des theologisch begründeten
Verständnisses der Reformatoren selbst: a) Die Leugnung des Wertes einer vita
oontcmplo.tiva im gcistliohcn und im Religiosonstand mit dem durch die soziale
Erfahrung bestätigten Argument, die (zu zahlreichen) Mönche und Geistlichen
arbeiteten nicht, seien faul und unnütz. Demnach haben gemeynigklich die pauren
und arbeytende leut rneer einen standt der volkomenheyt wann die geistlichen. Denn
im gebot der arbeyt seien alle andre gebott deß ge,9etz.9 gotte., 11erfa,9,9pJ. (Wir.Nr.ir.r. T.rnr.K
1523) 82 • Wenn Linck (wie Luther) gleichwohl leibliche und geistliche Arbeit unter-
schied, so war letztere nicht mehr auf den Mönchsstand, aber auch nicht allein
auf Theologen und Pfarrer, sondern im Sinne von geistlicher Übung auf alle
Christenmenschen bezogen. Geistlich arbeyt ist, dardurch die hoffertige seele, der
eygne wille, Eygene klugheyt gedempffet wirt durchs wort gottes 83 • Wenn vom Arbeits-
gebot aus die Kritik auch auf den Adel ausgedehnt wurde, so war damit schon der
späteren revolutionären Gegensätzlichkeit von privilegierten, parasitären und
nutzbringenden, schaffenden Ständen präludiert.
b) Die Verurteilung des Nichtstuns„oben"entsprach dem Kampf gegen die Arbeits-
scheu „ unten", d. h. vor allem gegen das Betteln, ausgehend von Schriften wie
„Arbeit und Bettel" (1523) von Wenzel Linck oder von Luthers „Ordnung eines
gemeinen Kasten" (1523): Keine betteler unnd bettleryn sollen ynn unnserm kirch-
spiell ynn der stadt nock dorffern, gelidden werden, dann welche mit alder oder kranck-
keitt nickt beladen, sollen arbeiten oder aus unnserm kirckspiell ..• kynwegk ge-
trieben werden".
Damit war nicht minder als durch die Ablehnung der geistlichen oder adligen Muße
eine Aufwertung des Arbeitsbegriffs verbunden. Nicht nur wurde die Faulheit
konsequenter als bisher als verwerflich empfunden, sondern die kirchliche Hoch-
schätzung des Bettels für die Almosen nehmenden „freiwilligen Armen" (vqr
allem Bettelmönche) und für die Almosen gebenden, gottwohlgefä.llig verdienst-

81 KABL HoLL, Der Neubau der Sittlichkeit, Ges. Aufs. z. Kirchengesch., Bd. 1,

6. Aufl. (Tübingen 1932), 262; ähnlich WERNER ELERT, Morphologie des Luthertums,
Bd. 2 (1932; verb. Ndr. München 1958), 468 ff.; dagegen DIENERT, Art. Arbeit III,
544 unter Berufung auf Karl Barth.
12 WENZEL LINK, Von Arbeit und Betteln (1523), Werke, hg. v. Wilhelm Reindell, Bd. 1
(Marburg 1894), 155.
83 Ebd„ 160.

"LUTHER, WA Bd. 12 (1891), 23.

164
D. 4. Reformation Arlieit

vollen Reichen wurde von nun an (im protestantischen Bereich) verworfen. Wurde
die christliche .Armut, das Leben von Spenden anderer, abgetan und der Bettler
als eine unsittliche Erscheinung angesehen, die beseitigt werden mußte, so ergab
sich daraus der Gedanke, daß Arbeit sowohl Strafe wie Zucht und Erziehung sein
und daher von der Obrigkeit erzwungen werden konnte. Dem entsprachen Arbeits-
und Zuchthäuser, die seit dem 16. Jahrhundert von calvinistischen Ländern,
besonders Holland, ausgingen. Labore nutriw, labore pkctw; Durch Arbeit ich er-
nehre mich, durch Arbeit man bestrafet mich; Miseris et malis, so und ähnlich lauteten
die Hausinschriften dieser Arbeitshäuser (hier Hamburg und Dessau) 65 , die auch
in lutherischen Territorien schon vor SPENERS Vorschlag eines Armen~, SckaO-
und Zuchthauses in Frankfurt (Main) eingerichtet wurdenss.
c) Aus der neuen, radikal christlichen Wertung der Arbeit folgte die Tendenz zur
Arbeitsgesellschaft, in der es prinzipiell außer durch Krankheit oder im Kinder-
und Greisenalter keine sittlich begriindete Befreiung von Arbeit im Doppelsinne
von tätigem Schaffen und harter Mühe mehr geben durfte. Das hieß, den allge-
meinen Christenstand zu einer allgemeinen Arbeitspflicht in Beziehung zu setzen,
Christus (um 1650) in der Arbeiter-Zunft, den Teufel aber in der Müßiggänger-
Zunft zu sehen~l7, um schließlich (um 1750) pietistisch zu bedenken, daß die Arbeit
zum Christentum geMre 68 und solcherart die allgemeine Gleichheit vor Gott in der
Welt wirken zu lassen. Da aber vom christlichen Arbeitsbegriff ein Streben nach
sozialem Aufstieg und sozialer Mobilität ebensowenig abgeleitet werden konnte
wie Programme sozialer Wandlung oder gar eines sozialen Umsturzes, folgte aus
solcher Gleichheit keine sozialrevolutionäre Gleichmachung, sondern blieb die ge-
stufte Ordnung unangefochten, ja durch den christlich begründeten Fürstenstaat
neu legitimiert, erhalten (- Beruf). Gleichen Rang und gleiche Ehre aller Arbeit
im „Christenstand" zu betonen, hieß daher auch keineswegs, in der politisch-wirt-
schaftlichen Praxis die Vielfalt der jeweils durch ständisch bedingte.„Ehre" unter-
schiedenen Arbeit abzubauen. Auch wurde das Wort 'Arbeit' in der Umgangs-
sprache des 16. bis 18. Jahrhunderts noch keineswegs gleichmäßig auf alle mensch-
liche Tätigkeit im Sinne des angestrengten, zielgerichteten Schaff'ens angewandt.
Die Bedeutmigstradition von „Mühe" und „Qual" wirkte fort, so auch beim Ver-
bum 'arbeiten', das sich als „tätig schaff'en" bis in die Gegenwart hinein in großen
Teilen des deutschen Sprachbereichs, vor allem des Südens ('schaffen' statt 'arbei-
ten') nicht durchgesetzt hat. Auch die Wort- und Begriffsgeschichte· von - 'Ar-
beiter' paßt zu jener ursprünglichen Bedeutung von „Mühe und Arbeit". Das
Zögern der Sprache, einen allgemeinen Arbeitsbegriff anzunehmen, in dem das

16 ÄLFB.ED MÜLLER-ABMACK, Genealogie der Wirtschaftsstile (Stuttgart 1944), 240.


18 ELERT, Luthertum, Bd. 2, 471. Vgl. EBERHARD SCHMIDT, Einführung in die Geschich-
te der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. (Göttingen 1965), 187 ff.
17 JoH. MICHAEL DILHERR (1~9), Erinnerung an die Handwerksleute / wie groß ihre

Glückseligkeit sey / wann sie und ihre Kinder sich in der Gottesfurcht üben, zit. J OH.
BALTHABAR SCHUl'P,Lehrreiche Schrifften, hg. v. Justus Burchard Schupp, Bd. 1,2. Aufl.
(Frankfurt 1677), 887.
88 NIKOLAUS- Lunw. GRAF v. ZINzENDORF, zit. OTTO UTTENDÖRFER, Alt-Herrnhut.

Wirtschaftsgeschichte und Religionssoziologie Herrnhuts während seiner ersten zwanzig


Jahre 1722-1742 (Herrnhut 1925), 44.

165
Arheit II. 4. Reformation

„Werken" das „Sich-Abmühen" überdeckt, ist aufschlußreich und beachtenswert,


auch noch füT die Zeit seit dem 18. Jahrhundert, als die Wirkung des christlichen
Arbeitsbegriffs schwächer wurde und die moderne Wandlung des Arbeitsbegriffs
das allgemeine Bewußtsein zunehmend durchdrang.
Gegen Fehldeutungen im Anschluß an Max Weber89 ist festzuhalten, daß der
christliche Arbeitsbegriff durch die protestantische Neuwertung nicht modernisiert
wurde, sondern durch unmittelbaren Rückbezug auf das Alte und Neue Testa~ent
wiederhergestellt werden sollte. So konnte die moderne Wirtschaftsdynamik
(„Kapitalismus") durch den protestantischen Arbeitsbegriff zwar erleichtert oder
ermöglicht, keinesfalls aber verursacht werden. Zwar wendet sich Elert 70 gegen die
Rede vom „quietistischen" Luthertum, verneint Weltflucht und Askese bei.Luther
und seinen Nachfolgern und betont, daß diese nicht wirtschaftsfeindlich gewesen .
seien, vielmehr Zins nehmen, kaufen und verkaufen für nützlich, natürlich und ver-
nünftig erachtet hätten; Eiert zitiert z. B. Luther: Ge7,d haben, erwerben, trachten
nach der narung non est malum, quia labor impositus ex Gen. oder führt Belege
dafür an, daß Kauf und Verkauf unentbehrlich und eines Christen nicht unwürdig
zu sein brauchten. Aber er stellt dem selbst Luthers Wort entgegen, daß kauff-
handel ... rattben 1md stelen sei. Denn im Handelsgeschäft ist notwendig ein Streben
nach Gewinn um des Gewinns willen und ein „gefährliches", weil schwer begrenz-
bares Überspringen bloßer Bedarfsdeckungswirtschaft enthalten. Der christliche
Arbeitsbegriff, auch in seiner lutherischen Ausprägung, erlaubte wohl Erbeiten,
daß man Güter kriegt, das ist recht71 , ließ also zu, daß der Mensch durch Arbeit
in Auskömmlichkeit und Wohlstand lebte, wenn es ihm möglich war; er gestattete
aber nicht, darin den Inhalt des Lebens oder gar das Streben zu Akkumulation und
Expansion von Kapital und Wirtschaftsmacht zu sehen. Zum christlichen (lutheri-
schen) Arbeitsbegriff gehörte Zufriedenheit im Hinblick auf irdischen Besitz, an
dem das „Herz" nicht hängen sollte. In der modernen Erwerbswelt aber darf es
reine Zufriedenheit nicht mehr geben, weil sie prinzipiell Stillstand oder Rück-
schritt bedingt. So führt keine Brücke von christlicher Arbeit zum modernen
„Kapitalismus". Die moderne Arbeitswelt ist achristlich, im Kern antichristlich,
mochte das auch in ihrem Aufkommen verschleiert werden; denn in der politisch
sozialen Praxis gab es genug fließende Übergänge vom Arbeitsethos des Pro-
testantismus zur modernen Wertung der Arbeit.
Gleichwohl ist selbst für den Calvini&mus und die reformierten Kirchen zu betonen:
zwar mögen ein stärkerer Hang zur Arbeitsaskese (als im Luthertum) praktisch zu
Gewinnhäufung bei anhaltender persönlicher Enthaltsamkeit und die Prädesti-
nationslehre zu einer höheren Wertschätzung des Arbeitserfolges in der „Welt"
geführt haben; aber auch das kommt nur einer Ermöglichung, nicht einer unmittel-
baren Verursachung gleich. Es sind ungewollte Folgen, für die sich in der cal-
vinistischen Dogmatik und Arbeitsauffassung selbst keine unmittelbare Begrün-
dung findet. Offensichtlich aber ist der oben festgestellte Bezug von allgemeinem

89 MAx WEBER, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Ges. Aufs.
z. Religionssoziologie; Bd. 1, 5. Aufl. (Tübingen 1963), 17 ff.
70 ELERT, Luthertum, Bd. 2, 466 ff., bes. 492 ff. Vgl. LUTHER, WA Bd. 27 (1903), 343;

Bd. 15 (1899), 295.


71 LUTHER, WA Bd. 29 (1904), 551.

166
II. 5. Altbruch und Bewahrung der Tradition Aüeit

Christenstand zu allgemeiner Lebenserfüllung durch Arbeit als „Beruf" im Cal-


vinismus noch energischer und konsequenter als im Luthertum entwickelt worden.
· Das betraf Deutschland freilich nur am Rande. Für die deutsche Begriffsgeschichte
von 'Arbeit' sind der Katholizismus auf der einen, das Luthertum auf der anderen
Seite bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in erster Linie maßgebend geblieben,
wenn auch in zunehmender Verbindung mit „modernen" Einflüssen.

S. Zwischen Abbruch und Bewahrung der Tradition:


Philosophie im 17./18. Jahrhundert, Aufldirung, Kameralismus

Im Wirkungszusammenhang der Bedingungen und Kräfte, die im 17./18. Jahr-


hundert in Europa die „Modeme" heraufführten, wurde '.Axbeit' sowohl im antiken
(nachwirkenden oder rezipierten) wie im christlichen Traditionsverständnis von
Grund auf erschüttert, mochten auch beide Begriffsüberlieferungen, besonders die
christliche, noch lange nachwirken oder dem modernen Denken angepaßt bzw.
entgegengesetzt werden. Im Maße wie die christliche. Prägung und Wertting von
, '.Axbeit' an zwingender Macht einbüßte, konnte die in der europäischen Stadt seit
dem hohen Mittelalter de facto vorhandene „bürgerliche" Wertung der .Axbeit als
Leistung für Ziele, Planung und Erfolg in der „ Welt" ungehemmter hervortreten,
ausgesprochen und schließlich auf den Begriff gebracht werden. Je schwächer der
moraltheologische Bestimmungsgrund wurde, um so leichter konnte der .Axbeits-
begriff vom christlichen Glauben und der ihm zugeordneten Ethik gelöst werden.
Bedingung dessen war zunächst die Ausbildung des (Fürsten-)Staates mit seinem
Merkantilismus auf allmählich wirkungsvoller werdenden technologischen Grund-
lagen. Die auf Macht und Wachstum zielende Energie der politisch-technisch-wirt-
schaftlichen Kraftentfaltung im 17./18. Jahrhundert beruhte auf einer Überzeu-
gung, wie sie in FRANCIS BACONS Motto zur Utopie „Nova Atlantis" ausgedrückt
wurde: scientia et potentia in idem coincidunt. Bacon !letzte damit prototypisch den
Beginn für eine Epoche, in der der Arbeitsbegriff schrittweise, zuerst wohl in Eng-
land, von seiner Tradition emanzipiert wurde. Ziel der „neuen Wissenschaft"
waren in scharfer Antithetik zur Scholastik nicht Argumente, sondern Techniken
(artes), nicht die Besiegung des Gegners durch Disputation, sondern der Natur
durch Arbeit (illic [d. h. in der scholastischen Philosophie] enim ad'Vef'sariw dis-
putatione vincitur et constringitur, hie natura, opere72 ; vgl. die Formulierung des
Prinzips der Manufakturperiode: Manifestissimum autem est, in omni opere magno,
quod manus hominis p1'aesf4t, sine instrumentis et machinis, vires nec singulorum
intendi, neo omnium coire posse)728 • Am Schluß des Werkes berief sich Bacon auf
Gottes Machtspruch {Im Schweiße deines Angesichts ... ): die Natur per labores
varios (non per disputationes certe, aut per otiosas ceremonias magi,cas) tandem et
aliqua ex parte ad panem homini p1'aebendum, id est, ad U8'U8 vitae humanae subi:.
gitur73 •

79 FRANcrs BACON, Novum organum, Dispositio. Works, vol. 1 (Ndr. 1963), 136; ähnlich
Nov. org. 1, 2; 1, 3; 1, 11. ·
7 11& Ders., Nov. org., Praefätio. Works, vol. 1, 152.
78 Ders., Nov. org. 2, 52. Works, vol. 1, 365. Vgl. ders., De dignitate et augmentis scientia-

rum 3, 5; 5, 2.

167
Arbeit II. 5. illmieh uncl Bewahrung cler Tradition

HoBBES steigerte diesen Emanzipationsvorgang: alle Theorie gehe am Ende auf


Handlung (actio) oder Arbeit (operatio) aus; der Nutzen der Wissenschaft liege in
der „ Technik", Körper und innere Bewegung zu messen, Lasten zu bewegen,
Schiffe zu treiben, Werkzeuge herzustellen usf.7 4• Entscheidend war, daß Hobbes
Tätigkeit bzw. Arbeit und Macht (potentia) miteinander koordinierte. Er ersetzte
das Summum bonum der christlichen Moralphilosophie, an das die Ruhe der
Kontemplation und nicht menschliche Tätigkeit heranreicht, durch ein Glück, das
im ungehinderten Fortschreiten zu immer weiteren Zielen bestand75 • Damit wurde
'Macht' zu einem anthropologischen ( primo ergo loco pono, morem omnium hominum
esse, ut perpetuo atque indesinenter potentiam unam post aliam per omnem vitam
persequantur)7 6 und 'Arbeit' zu einem gesellschaftlichen Grundbegriff. LOCKE ent-
deckte, daß Arbeit, indem sie die Dinge veränderte, Recht schaffe 77 • Die Ent-
deckung stand bei ihm noch im dogmatischen Zusammenhang des Naturrechts.
Aber Locke brach mit der klassischen Voraussetzung einer unveränderlichen
Naturordnung, indem er, in einer selber naturrechtlichen Ausdrucksweise, die bei-
den, schon bald als selbstverständlich angenommenen Thesen aufstellte, daß Arbeit
1) dem Menschen ein ursprüngliches Eigentumsrecht an Dingen sowie an Grund
und Boden und 2) den Dingen ihren Wert verleihe: The labour of his body, and the
work of his hands, we may say, are properly his. Whatsoever then he removes out of
the state that nature hath provided, and left it in, he hath mixed his labour with it, and
joined to it something that it is his own, and therel>y makes it his property . . . for it
is labour indeed that put the differerwe of value on every thi'N] . . . 1 think it will be
but a very modest computation to say, that of the prodt.teU of the earth useful to the life
of man, nine-tentM are the effects of labour ... Labour makes the far greatest part of
the value of thinga we enjoy in this world7•.
Damit beginnt die Geschichte des modernen Begri6a der Arbeit, ihre nicht mehr
christlich begründete Emanzipation von der untersten Stufe der Rangordnung
menschlicher Tätigkeiten, ihre Erhebung z11 einer 11pe.zi.fi!ch meD.11Chlichen Potenz,
ja letztlich ihre Ablösung vom MeW1Chen und ihre Erhölumg zum abstrakten,
wirkenden Subjekt(labourmakes .. .). Every tlit'l!f t9'tM world, lllel eei bei D. Huu,
is 'P'JA'Chue,J, by labotw, aftli ovr passions are IM ottlr MWU o/ z.bottr". Indem die
bürgerliche Gesellschaft sich nicht mehr, wie bisher, im repräsentativen Handeln
der Herr11chaftlstinde darstellte, 1oadem Arbeit als Auseinandenet&ung der Men-
schen mit der Natur einen gesellllcJ:aaftlichen Fw:i.ktiouwert erhielt, 1et.zte der Pro-
.zeB der Ver!1elb11tii.ndigung de11 Begrißs ein: er löete !lieh au1 der Verschränkung
mit Armut (nicht mehr n°"°' und ne-1la gehörten .zuaammen, aondem Arbeit und
Reichtum); er begann lieh auch von aeiner Verbindung mit „Mühe" und „Last"
zu lösen. Die Techniken (artes) sollten zur Arbeitserleichterung führen. DESCARTES
sprach lilChon von der Tendenz des facilil,er toU8 les Mta et tlimi-,.tMJr le travail des

74 TBOllUS HoBBES, De corpore 1, 1, 6 f.


n Ders., Leviathan 1, 11; vgl. ders., De homine 9, 8; 9, 10.
78 Ders., Lev. 1, 11. Opera, t. 3 (Ndr. 1961), 78.
77 Jo:e:N LoCJtE, Two Treatises of Government 2, 5, 26 ff.

7s Ebd. 2, 5, 27; 2, 5, 40; 2, 5, 42.


78 DAVID HuME, Essays 2, 1. Works, vol. 3 (Ndr. 1964), 293.

168
Il. 5. ilhruch 11ntl Bewahrung tler Tradition Arheil

hommes 80, ein Gedanke, der in den Utopien (Morus und Campanella) bereits aus-
gesponnen worden war. Lag in diesem Gedanken die Konsequenz, Arbeit als Mühsal
durch Technik so weit wie möglich zu ersetzen, so konnte der Entlastungsgedanke
umgekehrt - auf dem Grunde christlicher Arbeitsbejahung - auch zur Vorstellung
führen, daß die Arbeit um so mehr Freude bereiten werde, je weniger sie notwendig
und qualvoll sein werde. So LEIBNIZ: Man möchte sagen, die Handwe;rksl,eute arbeiten
jetzo mehr aus Not. Wenn man ihnen alk N otdurU verschaffen wird, werden sie nichts
arbeiten. Ich sustiniere das contrarium, daß sie alsdann mit Lust mehr als jetzo aus
Not tun werden 81 •
Zugleich verlor sich der Gegensatz zwischen 'Künsten' und 'Geschäften' (indem
beide zur Arbeit überhaupt, d. h. unabhängig von spezifischen Zwecken und
Richtungen des Tätigsein:s, wurden), auch zwischen 'Arbeit' und 'Muße' bzw.
'Müßiggang' (an dessen Stelle ein neuer trat, der Gegensatz zwischen 'Arbeit' und
'Spiel', wobei beide als 'Beschäftigungen' galten, d. h. als Anfüllung der Zeit, im
Unterschied zur Muße, die nun als „leere Zeit" (Kant) gedacht wurde: Je mehr
wir beschiiftigt sind, je mehr fühkn wir, daß wir 'leben, und desto mehr sind wir uns
unseres Lebens bewußt. In der Muße fühlen wir nicht allein, daß uns das Leben so
vorbeistreicht, sondern wir fühlen auch sogar eine LebloBigkeit82 • Sohließlioh änderte
sich der Gegensatz zwischen 'Natur' und 'Arbeit',indem an 'Arbeit' das Moment
der die Natur nachahmenden 'Kunst' (ars, TEXll'f/) schwand, so daß sie, universell
geworden, die Ordnung der Natur immer schon überstieg. Nicht mehr Arbeit
bzw. Kunst und Nachahmung, sondern Arbeit und Vermittlung (zwischen Mensch
und Natur) gehörten von nun an zusammen. Betrachtet man von hier aus Struktur
und Inhalt des Begriffs, wie er uns im deutschen Sprachbereich am Beginn des
18. Jahrhunderts entgegentritt, wird deutlich, daß sich der angedeutete Wandel
zwar abzeichnet, aber im ganzen doch die traditionellen Momente noch überwiegen.
So wurde der Begritf zunächst noch an die „Verrichtungen" der klassisch-aristo-
telischen Ökonomie gebunden: Arbeiten sind in. ikf' Ökonomie diejenigen Verrick-
tungen, wdche eift Hauswirt fliuf dem Felde, Wiesen., in Weinbergen und sonst daM
Jrikr über zu besorgen hat (ZEDLER 1132)11 , oder er wurde vorzu.gsweise dem
Umkreis der biblischen Arbeitstopologie zugerechnet: ..4.rbeu, liues Wort hat in
heiliger Schrift Mancherlei Veratand . ..4.Uo Weutet u alla"/tattd Miüt,e utti Arbeit
du Leibes vtld (}emüts ... E1 wirtl genommen für tli8 Sünien-.Ärbeit, JM ist, fii.r
w t!bel ud Uttrdt ... , für lie Straf-..4.rbeit, M, tMn ftc.\ vmer Ut.en P . mv,fJ
abarbeiten und müde machen ... , für die schtoere .Ämü- und Erlöaungs-.Ärbeit OMilti
. : . für Zank, Ha6er, allalei Üppigkeit UM Ungl,üclc ... für Kreuz, Leükn und
Trübsal ... und eMlick für <Jl,falei Fal,schheit, Betrug, Unrecht utt.d Venwrteilvttg".
Die Wörterbücher registrieren auch sonst den traditionellen Begriffsbest&nd. Im

• 0 RENE DESCARTES, Discours de la methode, Tl.· 1. Oeuvres, t. 6 (1902), 6. Vgl. auch ders.,
Regulae ad directionem ingenui, Nr. 7. 8. Oeuvres, t. 10 (1908), 391. 397 ff.; ders„ Brief
an Picot, preface zu: Principes de la. philosophie. Oeuvres, t. 9 (1904), 2. 15. 18. 20.
81 G. W. LEIBNIZ, Societät und Wirtschaft (1671 ?), AAR. 4, Bd. 1 (1931), 559 ff., bes. 560.
88 1. KANT, in: Eine Vorlesung Kants über Ethik, hg. v. PAUL MENZER (Berlin 1924), 201.

83 ZEDLER Bd. 2 (1732), 1149 ff.


84 Ebd., 1148. Zu 'Vervorteilung' (modern 'Übervorteilung') vgl. ADELUNG 2. Aufl., Bd. 1

(1793), 962; Bd. 4 (1801), 1167.

169
Arbeit ll. 5. Abbruch und Bewahrung der Tradition

allgemeinen werden die Begriffe 'Kunst' .und 'Arbeit' getrennt aufgeführt, wobei
'Arbeit' auch unter den Titeln: Dienst, Werk, Mechanik, Industrie auftreten kann.
Im „Dictionnaire fran9ais-allemand-latin" (1660) heißt es: Art/Kunst/Ars -
arts liberaux/die freien Künste/artes ingenua, liberales ... art mechanique/Hand-
werk/mechanica, unterschieden von: Travail/Arbeit/Opera, Travail qu'on prend a
faire quelque chose/Mühe und Arbeit/die man auf etwas anwendet/Nisus, conatus,
Le grand travaille surmonte tout, Arbeit überwindet alles/Labor improbus omnia vincit,
Avec grande travail/mit großer Mühe/Industrie.
Eine ähnliche Problemlage ergibt sich auf dem Gebiet der Philosophie. Hier lassen
sich Beharrung µnd Bewegung in den Grundlagen des Begriffs genau unterscheiden.
Bei THOMASIUS z.B. hingen Arbeit (in bloßer Redlichkeit) und Armut noch inso-
fern zusammen, als Arbeit ohne Verstand ('Witz') nicht zu Reichtum, umgekehrt
aber bloßer Witz, losgelöst von Arbeit, zur Betrügerei führt. Der traditionelle
Zusammenhang der verschiedenen Begriffsmomente wird eigentümlich antithetisch
zugespitzt, der Prozeß ihres Auseinandertretens wird sichtbar: Jedoch ist es die
Arbeit nicht allein, dadurch man reich wird, sondern es gehöret auch eine Geschick-
lichkeit oder Witz dazu. Arbeit ist ein Werk des Leibes, Geschicklichkeit aber ein
Werk des Gemüts, und kann keines ohne das andere sein, wenn man klüglich handeln
will. Witz ohne Arbeit verwandelt sich in Betrug und Spitzbüberei. Esels-Arbeit aber
ohne Witz bringet nicht Reichtum, sondern Disteln, und lässet sokhe Leute unter ihrer
täglichen Arbeits-Last in der höchsten Armut stecken 85 • CHRISTIAN WoLFF erweiterte
den Arbeitsbegriff über das Gebiet des Körperlichen hinaus und bemühte sich um
eine allgemeine Definition; die Verallgemeinerung führte jedoch nicht zu einer
näheren Angabe, welche Phänomene (Kopfarbeit, Geistesarbeit usf.) damit im
einzelnen verbunden sind. Die Arbeit ist die Mühe, welche man auf die Hervor-
bringung von körperlichen und unkörperlichen Sachen und zur Beförderung der Be-
quemlichkeit, des Vergnügens und des Wohlstandes anwendet . . . Menschen sind ver-
bunden, sowohl körperliche als unkörperliche Sachen hervorzubringen; deswegen muß
jeder Mensch arbeiten, und keiner darf müßig gehen 86 • Dieser Satz, der die protestan-
tische Arbeitsfreudigkeit der Frühaufklärung einschloß, ~de andererseits wieder
relativiert. Denn Wolff hob ausdrücklich hervor, daß, wiewohl auch der Reiche
arbeiten müsse, die Arbeit als solche von unserem Stande und Vermögen abhängig
sei; es gab nach wie vor niedrige, unanständige, d. h. nicht zum Stande passende
Arbeiten: Derowegen muß ein Vornehmer und Reicher dergkichen Arbeit nicht
selbst tun, die er durch einen geringen Menschen kann ve"ichten lassen und naclt
Gebühren belohnen: viel weniger gar selbst mit dergleichen ihm unanständiger Arbeit,
oder auch mit andern, damit sich Arme zu nähren p'fl,egen, etwas zu erwerben suchen 87 •
Dem entsprach, daß Wolff an anderer Stelle den Arbeitsbegriff auf die Bedingungen
des zeitlichen Vermögens einschränkte. Hierunter verstand er einen (begrenzten)
Vorrat von Dingen, die zur Notdurft, zum Vergnügen und Wohlstand seines

86 CmusTIAN THOMASIUS, Von der Klugheit in bürgerlicher Gesellschaft, in: Kurtzer


Entwurff der Politischen Klugheit (Frankfurt, Leipzig 1725), 255. Kap. 8, § 9.
89 CHR. WOLFF, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts (Halle 1754), 80, § 124.
87 Ders., Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, 3. Aufl. (Halle 1752),

356 f., § 524 f.

170
II. 5. Abbruch und Bewahrung der Tradition Arbeit

Lebens dienten 88• Dadurch wurde die Allgemeinheit des Arbeitsgebots noch weiter
relativiert: D·ie Verrichtungen, welche der Mensch vornimmet, ze-itliches Vermögen
zu erwerben, werden Arbeit genennet. Da wir nun gesehen haben, wie weit er verbunden
ist, nach zeitlichem Vermögen zu streben(§ 522);· so verstehen wir zugleich, wie weit
er zu arbeiten verbunden ist. Nämlich er m'lfß so viel arbeiten, als ohne Abbruch seiner
Gesundheit .. . und der zulässigen Ergötzlichkeit seines Gemütes geschehen kann 89 • Die
Maschinenarbeit und die Herstellung von Maschinen in den Manufakturen be-
handelte auch Wol:ff unter dem oben erörterten Aspekt der Arbeitserleichterung.
Arbeit blieb Arbeit der Hände und des Körpers, ihr Zweck war die Sicherung der
menschlichen Notdurft und Bequemlichkeit; Maschinen dienten dazu, daß viele
Arbeit, welche sonst mit Menschen-Händen zur Notdurft zu verrichten wäre, leicht
geschieht: wodurch den Menschen dasjenige, was sie zu ihrer Nahrung und Kleidung,
auch sonst zu ihrer Bequemlichkeit brauchen, in geringerem Preise verschafft. wird,
als sie sonst nicht haben würden (1723) 90 •
Während also im allgemeinen Sprachgebrauch der Mühsal-Charakter, die alte
Vorstellung gesellschaftlicher Niedrigkeit der Arbeit, andererseits aber auch die
sie aufhebende Arbeit „im Christenstand" noch durch das ganze 18. Jahrhundert,
ja darüber hinaus weiterwirkten und demgemäß üblicherweise Arbeit auf Bauern
und Handwerker, nicht dagegen z. B. auf Kaufleute, die 'handelten' oder 'Hand-
lung' trieben, angewandt wurde, war doch im 17./18. Jahrhundert die aktive Be-
deutung von 'Arbeit' als zielgerichteter Tätigkeit soweit fortgeschritten, daß Wolff
einen sehr weit umfassenden, allgemeinen Arbeitsbegriff (s. o.) zeitgemäß formulie-
ren konnte.
Damit war die gegen Ende des 18. Jahrhunderts populärphilosophisch und im
Sprachgebrauch sich ausbreitende Tendenz angedeutet, die Arbeit vom Druck
ständischer Fixierung zu emanzipieren, sie säkularisiert auf den Menschen allge-
mein zu beziehen und als „Tätigkeit" zu begreifen, die ihm den Weg zu seiner
und seiner Mitmenschen „Glückseligkeit" eröffne. Das Wort 'Arbeit' enthielt, wie
gezeigt wurde, traditionell solche Erweiterungsmöglichkeit in sich, war aber doch
andererseits wiederum traditionell so stark nach .:unten" hin belastet, daß 'labour'
im Sinne von Locke (s.o. S. 168) nicht ohne Hemmung durch Arbeit allein wieder-
gegeben werden konnte. 'Tätigkeit' und 'Arbeit' ergänzten sich im gewünschten
Sinne, konnten dann auch tautologisch und schließlich synonym verwendet werden.
Die ihnen zugehörige Tugend der diligentia, sedulitas, industria, des Fleißes, der
'Industriosität', der 'Arbeitsamkeit' machten den Menschen erst recht eigentlich
zum Menschen, für den es als ein Unglück angesehen wurde, daß er so sehr zur
Untätigkeit geneigt ist 91 • CHRISTIAN GARVE formulierte 1798 zeitgemäß: Alles ver-
einigt sich also dahin, daß der Hauptzweck des Menschen und die Quelle seiner

8s Ebd., 350, § 513.


89 Ebd., ~6, § lS23.
90 Ders., Vemünfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge (1723;

4. Aufl. Halle 1741), 476. Kap. 11, § 233.


91 KANT, Über Pädagogik, AA Bd. 9 (1923), 470. Zum Problem der „neuen" Kardinal-

tugend diligentia s. OTro FRIEDRICH BoLLNOW, Wesen und Wandel der Tugenden (Frank-
furt 1958), 50 ff.

171
ArbelL D. 5. Ahllruela un• Bewabntag der Tradition

Glückseligkeit in seiner Tätigkeit liege 92 ; und in christlicher Aufklärungssprache


hieß es: Du hast uns al'le zu einem gemeinnützigen Leben, o Gott, zu Arbeit und
Glückseligkeit hast Du uns geschaffen . . . Die Arbeitsamkeit ist ja wohl eine der
großen Absichten, zu welchen Du mich ins Dasein berufen und mir mein vernünftiges
Leben gegeben hast. Nur Tätigkeit ist Leben 93 • In diesem Sinne, nicht notwendig
explizit mit dem Gedanken technischer Entlastung verbunden, aber ihm doch
verwandt, wurde der Zusammenhang von Arbeitsamkeit, Arbeit, Tätigkeit und
Glück in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer von neuem ausgesprochen.
Arbeit sollte immer weniger Last sein und immer mehr zur Lust werden. Die Quel'le
al'les wahren Vergnügens ist Arbeit (MösER 1774:) 94• Und denkt nicht, daß das Arbeiten
etwas Beschwerliches sei; durch Gewöhnung finde man viel Vergnügen daran und
möge gar nicht mehr ohne Arbeit 'leben 95 • Dazu gehörte die bewußte Absetzung von
der überwundenen Verachtung der Arbeit in der Voraufklärung. JOHANN ANDREAS
CR.AMER dichtete:
Daß Arbeit keine Sklaverei,
Daß sie das Glück des Menschen sei!98
Diest-m Bewußtsein war ein bürgerlicher Stolz gegenüber der Welt des Adels
impliziert, wie er durch SomLLERS Verse („Die Glocke"):
Arbeit ist des Bürgers Zierde,
Segen seiner Mühe Preis -
m das allgemeine Bildungsgut des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert
einging.
Die Bedeutung von 'Arbeit' als beglückender Tätigkeit wurde in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts im scharfen Gegensatz zur klassischen Tradition der
nawela, eng mit 'Bildung' und 'Erziehung' verbunden. Die Pädagogen der Zeit
wie Basedow, Iselin, Pestalozzi gingen theoretisch und praktiaeh dieser Beziehung
nach. Es wurde nicht allein betont, daß Kinkr <Jrbewn lernen und die Neigttill{/
zur Arbeit in der Schule kultiviert werden müsse 97 , sondern da..B dies Dicht „Dressur",
sondern „Menschenbildung" sein und zur „Würde" de11 Menschen führen sollte.
Kann der Mensch a'lfkrs, als für sich glücklich uttd für ~e ftützlich leM, tkr aUe seine
Bemühungen dahin richtet, die Menge der zum Glücke i.es meftlellici\M GucJ1,l,~,chtes
nötigen Güter zu veN11ehren, die VollkotMeenAeit tkraelbetit zu erköhert., aUel um lieh
Aerum ... zu verschönern, die gerechte Verteilung kr GtMer, tlie die Ntitur erzeugt,
der Fleiß vermehrt und die Kunst vervollkommnet, zv 'befördern, dwck aein Beispiel
und durch 1eine Lehren die Liebe und die Kenntnis des Guten tu verbreiten. Und hierzu

92 Cmt. GARVE, Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre

{Breslau 1798), 178.


93 JoH. GOTTLOB MAREZOLL, Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht, Bd. 1 (Leipzig
1798), 59. .
H JusTUS MösER, Patriotische Phantasien, SW Bd. 4 (1943), 15.
96 JOACHIM HEINR. CAMPE, Sittenbüchlein für Kinder aus gesitteten Ständen (o. 0. 1798),

16.
98 JoH. ANDREAS ÜRAMER, Sämmtliche Gedichte, Bd. 2 (Leipzig 1782), 285.

97 K&NT, Über Pädagogik, 471 f.

172
D. 5. Abbruch und Bewahrung der Tradition Arbeit

sollen unsere jungen Leute in Philanthropinen vorbereitet werden (ISELIN 1776) 98.
PESTALOZZI faßte zusammen (1781): Arbeit ist ohne menschenbiZdenden Zweck nicht
Menschenbestimmung99.
Die Verbindung von 'Arbeit' und 'Bildung' wirkte als eine der mächtigsten Trieb-
kräfte in das bürgerliche und proletarische Bewußtsein des 19. Jahrhunderts
(z. B. 'Arbeiterbildungsvereine'!) hinein.
Die Applikation von 'Arbeit' (labour) auf Eigentumsstreben und Wertschöpfung
(Locke) oder auch andere planmäßige Verbesserung des Lebens, war bis zur Mitte
des 18. Jahrhunderts in Deutschland offenbar noch nicht üblich, obwohl ein „mo-
derner" Veränderungs- und Machtwille ('Aufnehmen', 'Wachstum', 'Flor', 'Ge-
winst', 'Macht'; „Über-alles-Sein", wenn man „nur will" usw.) in Inhalt und
Diktion das kameralistische Schrifttum erfüllte 10o. Menschliche Tätigkeit wurde
bei allen Kameralisten von Becher bis Justi nach Nutzen und Erfolg gemessen.
Jede Arbcitakraft Gollto mögliohßt .ilwcokmäßig genutzt worden. Auoh Bottler und
Tagediebe waren ·in die Arbeit zu stellen, Zuchthäuser sollten zugleich Werkhäuser
sein: dann was nutzet ein Dieb, der um 50 Gulden ist gehängt worden, sich oder
diesem, dem er gestohlen? Da er doch in einem Werkhaus in einem Jahr wohl viermal
s011iel wieder 11erdienen kann 101 • Niemand sollte mehr ein 1mniitze., MitgliR.d (k,,
ye.mefr1.en We..~e.n.~ Rein .. F.s Rei Pflicht der Menschen, dem Staate durch ihren Fleiß
und Arbeit nützlich zu werden (JusTI 1755) 102 • Das alte christliche Arbeitsgebot
für alle war also verwandelt auf den Nutzen des 'Staates' oder des 'gemeinen We-
sens' bezogen, wobei Justi betonte, daß die Bemühung um eigenen „Gewinst"
zugleich auch der Allgemeinheit zugute komme. Aber so sehr das Prinzip allgemei-
ner nutzbringender Tätigkeit und das Ziel, den Reichtum des Staates besmndig zu
vermehren, Justis große Themen sind, so hat er dafür doch noch nicht den .Ai-beits-
begri:ff zur Verfügung. Um das Ziel des Reichtums und gesteigerter Macht zu er-
reichen, seien drei Hauptwege gangbar: Vermehrung der Einwohner des Landes,
d·ie Oommercien m:it fremden Völkern und. Bergwerke, also Vervielfältigung der
Arbeitshände, Handelskapital und vermehrte Ur-(Metall-)Produktion103• 'Arbeit'
als Begriff und Prinzip der Produktionskraft war zwar schon impliziert, aber noch
nicht formuliert. Das Wort 'Arbeit' brauchte Justi zwar einerseits schon deutlich
für geistige, disponierende Tätigkeit (für Regenten, Räte und Bediente im ,',Ca-
meralwesen", andererseits aber auch noch traditionell: Man kann alle Gewerbe in
drei Hauptarten einteilen, 1) in bloß handelnde Gewerbe, 2) in Gewerbe, die zugleich
arbeiten und handeln, und 3) in Gewerbe, die allein arbeiten und gar nicht handeln10 4 •

98 lsAAK lsELIN, Antwort an Schlossers Schreiben über die Philanthropinen, Ephemeriden

(1776), 3. Stück; in: Pädagogische Schriften, hg. v. Hugo Göring (Langensalza 1882), 307.
99 JoH. HEINRICH PESTALozzr, Christoph und Else (1781/82), SW Bd. 7(Berlin1940), 321.
100 Vgl. die vielen Beispiele in der Sammlung von KmtT ZIELENZIGER, Die alten deutschen

Kameralisten (Jena 1914).


161 JoH. JOACHIM BECHER, Politische Diseurs von den eigentlichen Ursachen dess Auf-

und Abnehmens der Städt, Länder und Republicken (1668; 2. Au1l. Frankfurt 1673),
244 f., Tl. 2, Kap. 26; zit. ZIELENZIGER, Kameralisten, 238 f ..
102 JoH. HEINRICH GoT'rLOB JusTI, Staatswirthschaft, Bd. l (1755; 2. Aufl.. Leipzig 1758,

Ndr. Aalen 1963), 403. 406, §§ 384. 388.


103 Ebd., 159, § 133.
10 ' Ebd., Bd. 2 (Ndr. 1963), 375. 714, §§ 280. 616.

173
Arbeit D. 6. Ökoaomisieruag

Die Unterscheidung von 'arbeiten' (Bauern, Handwerker, Manufäkturisten) und


'handeln' (Kaufleute) war im 18. Jahrhundert noch allgemein üblich. Vgl. z. B.
ScHLÖZERS „Stats-Anzeigen", wo die Neue Ordnung für die Solinger Fabriken unter
ihrem Grundsatz besprochen wird, daß das Arbeiten und Handeln einem und dem
nämlichen Handwerks-Bruder nicht gestattet, mithin dem Arbeitenden das Handeln
und dem Handelnden das Arbeiten oder Fabrizieren untersagt sein sozzee1 os.
Eine weitere Annäherung an den „nationalökonomischen" Arbeitsbegriff, in dem
die Unterscheidung von 'Arbeit' und 'Handlung' aufgehoben wurde, bedeutete die
auf protestantischem Untergrund aufsitzende Vorstellung von produktiven, nütz-
lichen Tätigkeiten im Gegensatz zu den Müßiggängern im „Pöbel" und im Adel
bzw. der Geistlichkeit. Schon Becher sah Bauern, Handwerker und Kaufleute als
wirtschaftlich nützlich an. LEIB hob wenig später (1700) auf den „nahrhaften",
weil produktiv schaffenden Untertanen ab: daher komme die ganze Nahrung auf
den Bauer/Handwerksmann und Kaufmann bloß und alleine an108• LAU (1717)
bezeichnete diese drei Stände .im Anschluß an den Engländer Josias Child als die
Haupt-Pfeiler eines Staats, oder er sah sie als fleißige Bienen und einträgliche
Kühe .. . :iwelche die Königreiche und Provinzen mit Milch und Honig/d. i. Silber
und Gold/anfüllen und überströmen 107 •

6. Die Ökonomisierung: Physiokraten, Adam Smith

Mit solcher Scheidung zwischen „nützlichen", schaffend tätigen Menschen einer-


seits, „unnützen", privilegiert Genießenden andererseits war das ökonomisch und
moralisch begriffene Leistungsprinzip zum Maßstab der (nicht mehr traditionell
gesehenen) Gesellschaft gesetzt. Darin lag die Voraussetzung dafür, daß Arbeit
von nun an als produktive Leistung gewertet, grundsätzlich alle unter diese Be-
stimmung fallende Tätigkeit als 'Arbeit' bezeichnet und nach ihrem ökonomischen
Effekt gemessen werden konnte. Auf die Umwertung der Arbeit in del'. Philosophie
seit Descartes gründete sich die Entwicklung der „Politischen" oder „National-
ökonomie" wie sie in Frankreich im „Tableau economique" (1758) Quesnays und
in Schottland im „Wealth of Nations" (1776) von Adam Smith gipfelte. Die theo-
retischen Ansätze des Kameralismus im raumwirtschaftlich zurückstehenden
Deutschland wurden dadurch überholt. Rezeption und Verarbeitung der neuen
Systeme der „Ökonomisten" wurden dort seit den sech,ziger Jahren zunehmend
zum Bedürfnis.
Zur gleichen Zeit, als es noch üblich war, 'Arbeit' von 'Kunst', 'Arbeitsamkeib' von
'Kunstfleiß' im traditionellen Verstande zu unterscheiden, beide mit Mäßigkeit ... ,
häuslicher Tugend ....• Einschränkung des Luxus verbi,mden zu wissen und diese
überlieferten Wertungen für die vernunftbeherrschte Epoche der Friedrich II, der

101 [WINDSCHEIDT ?], W &hrhafte Beschreibung des Zustandes, worin die Solinger Fabriken,
durch die Neue Ordnung vom 15. März 1777, ~ersetzt worden, in: SCHLÖZEBS Stats-An-
zeigen 2 (1782), 448.
10• Joa. GEORG LEm, Von Verbesserung Land und Leuten (Leipzig, Frankfurt 1708);
zit. ZIELENZIGER, Kameralisten, 374 f.
1o 7 THEODOR LUDWIG LAu, Politische Gedanken (1717); ders., Entwurff einer wohleinge-
richteten Policey (1717); zit. ZIELENZIGER, Kameralisten, 394. 402.

174:
D. 6. Ökonomisierung Arbeit

Joseph II, der Maria-Tkeresen gelten zu lassen 1 os, wilrde in Deutschland durch die
„nationalökonomische" Rezeption der Sprung zum modernen Arbeitsbegriff getan.
War im Kameralismus bereits alle menschliche Tätigkeit utilitarisiert worden,
ohne daß ein dem gemäßer neuer Arbeitsbegriff gebildet worden war, wurde 'Arbeit'
bei den Physiokraten, sodann bei den Smithianern (deren Vorläufer seit PETTY):
Tkat Labour is the Fatker and active principle of W ealth as Lands arte the
Motker 109 zu einem Zentralbegriff ihres Systems, in dem der aufgeklärte Eu-
dämonismus ökonomisch begründet wurde. Doch war es für das neue Ver-
ständnis von Arbeit nicht genug, daß das Schwergewicht der Glückseligkeitslehre
vom moralischen Zustand und der Zufriedenheit der Seele in sich ausdrücklich auf
den äußerlichen Zustand 110 und das natürliche Reckt des Menschen zu Genießungen
gelegt wurde 111 , so daß das physische Glück zum Grund von der moralischen Glück-
seligkeit der Menschen wurde112• Entscheidend wurde vielmehr, darauf beruhend,
die Forderung nach „Vervielfältigung" der „Produktion" und nach „Wachstum"
des individuellen wie des „Nationalreichtums". In das theoretische System einer
grundsätzlich wachsenden Wirtschaft hineingestellt, wurde ATbeit zum Produk-
tionsfaktor, zum Mittel nicht nur der Existenzerhaltung, sondern darüber hinaus
der Bildung wachsenden „Kapitals", auch dies sowohl individuell wie als Fond
der Nation verstanden. Die Menge der genießbaren Sacken ... muß unaufhörlich
vervielfältiget werden ... ; desto glücklicher wird die ganze Gesellschaft . . . Diese
Materien zum Glück der Menschen herbeischaffen und vervielfO.ltigen, ... verteilen,
umformen und verarbeiten und auch Ve'farbeitet wieder verteilen: dieses sind .die
zwei großen Geschäfte, welche der menschlichen Gesellschaft ihre Glückseligkeit zu-
bereiten118. Das bewußte Streben nach grundsätzlich erwünschtem, durch Arbeit
bewirktem Wachstum, nach unaufhörlicher Vermehrung der Productionen (bezeich-
nender physiokratischer Neologismus zu einer auf Wachstumseffekt zielenden
Arbeit!) und nach Vervielfältigung derer ... Natur-Producte 114 erforderte logisch
die Bemühung um eine Definition der Arbeit als des Weges zum „Glück" durch
wirtschaftliches Wachstum. Physiokratisch hieß demgemäß Arbeit das Mittel, der
wohltätigen Wirkungen der Erde uns teilhaftig zu machen und die Produkte verar-
beitet und umgeformt in den Güter- und Geldkreislauf zu bringen115, oder allge-
meiner politisch (nicht philosophisch) definiert: Arbeit (politisch) ist immer eine
bestimmte Anstrengung der der Willkür unterworfenen Kräfte, um dadurch besonderen
Effekt wirklich zu machen118• Auch diese Definition stand im System der Physio-

108 So WII.JI. LUDWIG WEXBRLIN, Die Privattugend der heutigen Regenten, Chronologen 1
(1779), 286 ff.
169 WILLIAM PE'l'l'Y, A Treatise ofTaxes and Contributions (London 1662), in: TheEoonomic

Writings of Sir William Petty, ed. CHARLES HENRY HuEL, vol. 1 (Cambridge 1899), 68.
110 JoH. AUGUST Scm.ETTWEIN, Allgemeine Sätze von der Glückseligkeit der Staaten
(Mainz 1782), 3.
111 Ders., Die wichtigste .Angelegenheit für das ganze Publicum: oder die natürliche

Ordnung in der Politik, Bd. 2 (Karlsruhe 1773), 69.


1 t 1 Ebd., 288.
118 Ebd., 277 ff.

m Ebd., Bd. 1 (1772), 7. 14.


116 Ebd., 74 ff.
118 Dt. Enc., Bd. 1 (1778), 703.

175
Arheit II. 6. Ökonoinisierung

kraten: Arbeit sollte „interessant" sein, zum „Glück" führen und konnte nur in
·freier „Konkurrenz" ihren „Effekt" für Gewinn und Wachstum haben. Verviel-
fältigung und Arbeitsteilung (so besonders schon Turgot vor Smith) ließen sich
steigern, so daß die Vermehrung des Reichtums, sowohl für den Staat wie für alle,
auch die ärmeren Bürger, aus vernünftig angesetzter Arbeit folgen sollte. Alle
Lebenserfordernisse entstünden aus den Arbeiten der Nation; die Arbeit ist also
der ursprüngliche Fond, der ein Volk mit allen Notwendigkeiten und Bequemlich-
keiten dieses Lebens versorgetll 7.
Aus dem ökonomischen Verständnis der Arbeit war alle Mühsal, Pein und Verachtung,
aber auch der Bezug von redlicher Arbeit zu christlich treu gelebter Armut verbannt.
Arbeit sollte mit Hilfe ökonomischer Ratio zur Freude werden118• Oberster Wert
war das Streben nach Glück im materiellen und moralischen Sinne. Dies aber konnte
nur durch Befriedigung der „Bedürfnisse" erreicht werden. Die Bedürfnisse wie-
derum forderten Arbeit und weckten den Trieb zur vernünftigen Arbeitsamkeit,
d. h. einer fortgesetzten Vervielfältigung der Arbeitsleistung durch verbesserte
Technik, Organisation und Arbeitsmoral. Der Beziehung von Arbeit und Bedürfnis
entsprach ausdrücklich die von Production und Oonsumtion, die beide das ganze
Werk des „Systems" der natürlichen Ordnung in der Politik ausmachtenue.
Bedürfnisnachfrage und Arbeitsangebot standen in einem wirtschaftlichen Kreis-
lauf, in dem es (bei den Physiokraten) zunächst noch Wertschöpfung nur durch
Arbeit in der Urproduktion gab, in dem aber „umformende" und „verteilende"
Arbeit gleichwohl im Interesse aller lag. So kam es bereits zur Formulierung eines
„Systems" der Interdependenz aller Menschen durch die Beziehungen ihrer Be-
dürfnisse und die Beziehung ihrer Arbeit in einer grande unite d'inter&s; dazu gehörte
der Kernsatz K.uu; FRIEDRICIIS VON BADEN, daß die Menschen nicht anders als
durch erfolgreiche Arbeit in der Gesellschaft glücklich leben könnten: que par
leurs sucds mutuels. L'inter8t de chacun est le m8me que l'interet des tous 120•
Neben die traditionelle Pflicht zur Arbeit, an der betont festgehalten wurde, trat
im ,,System" der „Ökonomisten" das (Natur-)Recht auf Arbeit, worin die Freiheit
der Wahl (Art und Ort) eingeschlossen war. ScHLETTWEIN hat diesen dann häufig
wiederholten, später variiert sowohl in den Liberalismus wie in den Sozialismus
eingehenden Grundsatz klassisch formuliert (1773): Dies ist die wesentliche Ge-
rechtigkeit, daß ein jeder Mensch nach seinem eigenen Gefallen arbeiten darf, was

117 SCHLETrWEIN, Allgemeine Sätze, 5.


118 In der Formulierung QuESNAYS: la plua grande diminutWn. posaible de travail penible
avec la plua grande jQUissance possible; zit. HEINRICH HERKNER, Arbeit und Arbeitsteilung,
Grundr. d. SozOk., 2. Aufl., Bd. 2/1 (1923), 273.
119 Schlettwein glaubte an die Möglichkeit fortschreitender W ohlstandsmaximierung,

weil der Mensch nur arbeitet, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, weil die Industrie bei einem
Volke in dem Maße zunimmt, in welchem sich bei selbigem die Bedürfnisse vervieZfäUigen;
ScHLETTWEIN, Allgemeine Sätze, 8; vgl. ders., Angelegenheit, Bd. 1, 125.
m KARL FRIEDRICH VON BADEN, Abrege des principes de l'ooonomie politique (1770;
Karlsruhe 1786), 43. 45. Vgl. dazu neuerdings die Einbeziehung der Rezeption des physio-
kratischen Systems durch Karl Friedrich in die Wirtschafts- und Sozialpolitik, speziell
die Arbeitserziehung in Baden bei J-OLANDE E. RUMMER, Die Uhren- und feine Stahlwaren-
fabrik im Pforzheimer Waisenhaus, in: Die Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie,
hg. v. ERICH MABOBKE (Pforzheim 1966), 77 :ff. 87 :ff.

176
II. 6. Ökonomisierung Arbeit

und wie er will, und daß er seine Arbeiten freiwilligen Li,ebhabern überlassen kann,
in welchem Preis er will. Diese Freiheit ist einem jeden Menschen vermöge seines
Wesens interessant und die absolute Gerechtigkeit gibt sie einem jeden. Also ist es ein
natürliches, unveränderliches Eigentumsrecht der Menschheit, die eigenen Kräfte und
Geschicklichkeiten nach eigenem Gefallen zu brauchen, und jede mögliche Arbeit zu
verrichten, dadurch ein Mensch Genießungen erwerben kann 121.
Dieser Grundsatz hatte auflösende Konsequenzen für die Wirtschafts- und Sozial-
ordnung: Bauernbefreiung stand gegen Grunduntertänigkeit, Gewerbefreiheit gegen
Zunftzwang und monopolistische Privilegierung, Freizügigkeit gegen Ortsgebun-
denheit, Entfesselung der Konkurrenzwirtschaft gegen jegliche Bindung, d. h.:
überall sollte Arbeit befreit und damit die Leistung zur Gewinnsteigerung frei-
gesetzt werden, z.B. die Landwirtschaft nicht mehr ein bloßes Mittel des Unterhalts
und damit von gar keinem Nutzen für einen heutigen Staat, sondern ein Gewerbe, für
selbigen von unendlicher Wichtigkeit sein122 • Das Postulat vom Recht auf freie
Arbeit wurde auch rein ökonomisch begründet und führte im Wirtschaftsmodell
des (zur „Harmonie" strebenden) freien Spiels der Kräfte zu Theorien über Ar-
beitspreis und Arbeitslohn, wobei die Arbeit bzw. der Arbeiter als Ware erscheinen
und freie Arbeitsverträge auf dem Arbeitsmarkt geschlossen werden123• Folge-
richtig ergab sich in diesem Zusammenhang auch sogleich der Begriff der 'Ar-
beitslosen'. Sowohl der selbst verschuldeten wie der unverschuldeten Arbeitslosig-
keit sollte ökonomisch vernünftig und nicht mit unrentablen, karitativen Pal-
liativmitteln begegnet werden; denn eine weise Staatsverwaltung und Polizei kann
keine arbeitslose Menschen dulden 124• Der Begriff der Arbeitslosigkeit ist also im
Ansatz des ökonomischen Arbeitsbegriffs konsequent mit gegeben.
'Arbeitslosigkeit' und 'Arbeitsloser' setzten sich als weithin verbreitete Begriffe
freilich erst auf dem Boden des voll ausgebildeten Industriesystems, d. h. in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Sie gehörten jedoch prinzipiell von
Anfang an zum ökonomisch begründeten Gesellschaftsbegriff und unterschieden
sich in ihrer Bedeutung scharf von 'Armut' und den 'Armen'.
Daß im neuen wirtschaftlichen „System" das Bettelwesen noch weniger seinen
Platz in der Gesellschaft haben konnte als vorher schon in den protestantischen
Staaten, versteht sich von selbst. Auch hier sollten die Mittel zu seiner Bekämpfung
ökonomischer als in den „Arbeits- und Zuchthäusern" angewandt werden. Diese
waren im Grunde nur noch vertretbar, wenn sie als Manufaktur einen günstigen
Standort hatten und der Gedanke der Strafe aus ihnen verbannt wurde, damit auch
dergleichen Unglückliche dort freiwillig nutzbringend arbeiten konnten125• Folge-
richtig war auch die von den Physiokraten noch kaum, von der britischen National-

121 ScHLETTWEIN, Angelegenheit, Bd. 2, 185 f. u. ö . .Ähnlich Dt. Enc., Bd. 1 (1778), 703.
12 2 AltTHUR YoUNG, Politische Arithmetik ... An die ökonomischen Gesellschaften in
Europa gerichtet (1774), dt. v. Clm. J. KB.Aus (Königsberg 1789), 54. Darauf fußend
ALBRECHT THAER: Die Landwirtschaft i8t ein Gewerbe, welchea zum Zweck hat, durch Pro-
duktion .•. vegekibilischer und tierischer Bttbatanzen Gewinn zu erzewJen oder Geld zu er-
werben; Grundsätze der rationellen Landwirtschaft, Bd. 1 (Berlin 1809), 3, § 1.
123 So z. T. schon vor der Blüte des Smithianismus in Deutschland in der Dt. Enc., Bd. 1

(1778), 703 ff. in mehreren Artikeln.


124 Ebd., Bd. 1 (1778), 708; Bd. 3 (1780), 505.
12 5 Ebd., Bd. 3, 503 ff., bes. 506. Dazu leicht widersprüchlich: ebd., Bd. 1, 708 f.

12-90385/1 177
Arbeit D. 6. Ökonomisierung

ökonomie dagegen offen vollzogene Umwertung des Verhältnisses von Arbeit und
Luxus. Im Hinblick auf den Produktionsanreiz eines hohen Konsums konnte der
Luxus nicht länger verpönt sein; Arbeit sollte Überfluß erzeugen und damit nicht nur
eine allgemeine Steigerung des Lebenszuschnitts, sondern auch Luxus inmitten des
Wirtschaftswachstums ermöglichen. Arbeit schaffe Reichtum und somit verstärk-
ten Geldumlauf. Dieser vergrößert den Luxus, und dieser die Konsumtion: erstlich
indem er die Zahl der Menschen vermehrt; zweitens indem er macht, daß sie weichlicher
und besser leben und drittens, indem er Anlaß zur Verschwendung gibt. All das wurde
als „Glück" begehrt - eine Umwertung der Werte auf Grund ökonomisierter
Arbeit12e.
Ohne Zweifel war der neue Arbeitsbegriff der „Ökonomisten" (nicht allein physio-
kratischer Richtung) in seiner Konzeption und seinen Verwirklichungstendenzen
eine der wesentlichen Voraussetzungen für die „Revolution" sowohl im industriellen
wie im politisch-sozialen Sinne. Doch ist dem einschränkend hinzuzufügen, daß
seine Verfechter von den sechziger bis zu den achtziger Jahren: zwar Reformen
wie Ba.uernbefreiung und Gewerbefreiheit wünschten, je~och keine Sozialrevolu-
tionäre waren; den Effekt und die Ziele jeglicher Arbeit, auch wenn sie von ihren
Hemmungen befreit waren, sahen sie stets begrenzt in der Achtung des zum
Menschenrecht erklärten Eigentums sowie in dem Grundsatz, daß die Pff,icht zu
arbeiten zu den natürlichen Pff,ichten gehöre; wer aber durch die Beobachtung dieser
Pflicht höhere und wichtigere Pff,ichten übertritt, handelt unrecht127 • Die Arbeit sollte
also wohl ökonomisch, aber nicht sittlich entfesselt sein. Überhaupt ist festzu-
halten, daß Vorstellungen und Wertungen der antik-christlichen Tradition nicht
nur nicht kraft des ihnen eigenen Schwergewichts weiter lebendig blieben, sondern
künftig auch ausdrücklich ·festgehalten oder wenigstens nicht offen bekämpft
'Wurden, soweit sie nicht quietistisch selbstgenügsam den erwünschten Wachstums-
prozeß allzu offensichtlich störten. Besonders Topoi und Sprichwörter, die Fleiß,
Treue und Redlichkeit des Menschen in seiner Arbeit lobten, blieben erwünscht,
da diese die notwendige Arbeitsdisziplin unter den beginnenden modernen Bedin-
gungen ebenso förderten, wie das traditionell stets der Fall gewesen war. Dem
Geflecht von Kompromissen einerseits, Konflikten andererseits, die sich seit dem
ausgehenden 18. Jahrhundert zwischen den mannigfachen Realisierungen alter und
moderner Begriffe, Vorstellungen und Wertungen der Arbeit ergeben haben, im
einzelnen nachzugehen, übersteigt den Umfang dieses Artikels.
Mit ADAM SMITH begann zwar nicht so eindeutig, wie behauptet wird, „die Ent-
wicklung der Auffassung, daß die Arbeit die eigentliche 'Quelle des Reichtums',
d. h. der einzige Produktion~faktor fm wirtschaftli ehern Sinne" sei 128, a her die in die-
ser Richtung liegenden Ansätze der „Ökonomisten" seiner Zeit hat Smith zusammen-
gefaßt, intensiv durchdacht und vor allem zu weiter Wirkung gebracht 129. Den

1 19 YoUNG, Polit. Arithmetik, 58. Vgl. allgemein: WERNER SoMBART, Luxus und Ka.pi-
taJismus (München, Leipzig 1913), bes. 133 ff. ·
117 Dt. Enc., Bd. 1, 703.
m So ERICH C.ARELL, Art. Arbeit, Hwb. d. SozWiss., Bd. 1'(1956), 231.
1n Smith wirkte in Deutschland rasch, aber sehr begrenzt, durch die Übersetzung von
Jos. FB. SOBILLER (1776/78), sodann außerordentlich stark durch die von GARVES (1794).

178
II. 6. Ökonomisierung Arbeit

Arbeitsbegriff befreite er vom Vorrang der agrarischen als der allein wertschaffenden
Arbeit (Physiokraten) und entwickelte die zentrale Bedeutung der Arbeit im
Wirtschaftskreislauf: Arbeit liege primär aller Wertschöpfung und Preisbildung
zugrunde; sie sei der wahre Maßstab des Tauschwerts al"ler Güter 130• Arbeit war nicht
nur durch Erschließnng neuen Landes und neuer Bodenreichtümer oder durch
Vermehrung der Arbeitshände („Population"), sondern vor allem durch verbesserte
Technik und Organisation der Arbeit („Arbeitsteilung") in ihrem Effekt zu stei-
gern, d. h. „produktiver" zu machen. Doch konnte Arbeit als der einer wachsenden
Wirtschaft zugrundeliegende Produktionsfaktor nur d!mn in ihren Möglichkeiten
ausgeschöpft werden, wenn sie in einem ungehemmten, „harmonisch" funktio-
nierenden Geld- und Güterkreislauf wie eine Ware frei beweglich war.
Fassen wir die im Werk Adam Smi~hs versammelte Reflexion der „Ökonomisten"
über'Arbeit'in ihren politisch-sozialen Implikationen zusammen, so ergibt sich:
a)'Arbeit'wurde zu einem Hauptbegriff der ökonomischen Theorie und damit der
alsbald zur Spezialdisziplin werdenden Wirtschaftswissenschaft (Politische Öko-
nomie, Nationalökonomie, Sozialökonomie). Als solcher spielt er seit Smith seine
Rolle in der Dogmengeschichte dieses Fachs.
b) Der Ökonomismus besaß für seine Verfechter den Rang einer aufgeklärten
Weltdeutung („natürliche Ordnung"), in der die Arbeit eine bis dahin nicht ge-
kannte zentrale Stellung einnahm. Durch Arbeit (im neuen Verständnis) entstand
„Vervielfältigung" der Lebensmöglichkeiten, konnten die „wachsenden" Bedürf-
nisse und das Streben nach „wachsendem" Glück befriedigt werden. „Glückselig-
keit" brauchte nicht mehr in der Verbindung von Arbeit und Gebet oder gar durch
weltabgewandte Kontemplation erhofft zu werden. Sie ergab sich vielmehr aus eigener
Kraft, aus „productive powers" und „Industrie", durch die materielle Werte und
erleichterte Lebensbedingungen geschaffen wurden. In solchem Arbeitsglück fühlten
sich die Menschen des aufgeklärten Geistes selbst bestätigt. Sie dankten dem Schöp-
fer der Erde für die Freigabe ihrer Energie zum vernünftigen Gebrauch ihrer
Kräfte.
c) Die sozia-len Konsequenzen des von der Ökonomie bestimmten Begriffs waren
weitreichend. Daß alle liberalen Reformen der Wirtschafts- und Gesellschafts-
verfassung, in erster Linie Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit, von der neuen
Arbeit her, sei es naturrechtlich moralisch, sei es ökonomisch131, begründet wurden,
trifft den Kern der sozialen Problematik der Begriffswandlung. Im ökonomisch
freien System gab es prinzipiell keine Privilegien, Herrschafts- und Monopol-
stellungen. Damit waren der Adel, aber auch wirtschaftlich Privilegierte aller Art,
besonders die zünftigen Handwerksmeister getroffen. Soziale und politische Fol-
gerungen waren unvermeidlich. Dei: durch freie, wertschaffende Arbeit bestimmten
Tauschwirtschaft entsprach eine bürgerliche Leistungsgesellschaft, in der prin-

130 ADA.111 SMITH, An lnqliiry into the Nature and Causes ofthe Wealth ofNations, 2 vol.
(London 1776), zit. die tJbersetzung von CHRISTIAN GARVE u. d. T.: Untersuchung über
die Natur und die Ursachen des Na.tionalreichthums, Bd. 1 (Frankfurt, Leipzig 1796), 48.
131 Als Beispiel der häufigen ökonomischen Argumentation für Abschaffung der Frohn-

die~ vom Begriff der freien Arbeit her: CHR. JAKOB KRAus, Gutachten über die Auf-
hebung der Privatuntertänigkeit in Ost· und Westpreußen (1802), Vermischte Sohr.,
hg. v. Hans v. Auerswald, Bd. 1 (Königsberg 1808), 173 ff.

179
Arlieit n. 6. Ökonomisiemog

zipiell kein Platz für einen privilegierten Adel mehr war, mochte auch praktisch
diese Konsequenz noch nicht gezogen werden. Smith selbst war nicht bereit, adels-
feindliche Folgerungen aus seiner Theorie herzuleiten, sondern neigte dazu, die
Über- und Unterordnung der Menschen infolge von Vermögen und Geburt als
gegeben hinzunehmen. Darüber hinaus ergab sich für ihn systemimmanent aus dem
ökonomischen Begriff der Arbeit (Arbeitsteilung, Produktionsverhältnisse der
Manufakturen) eine neue soziale Schichtung dadurch, daß Unternehmer Arbeit
gaben und Arbeiter für einen niedrigen Lohn, der sich nach Angebot und Nachfrage
für die „Ware" Arbeit sowie nach den Preisen zu richten hatte, abhängig arbeiteten.
So stieß bereits Smith auf die später (Ricardo, Marx) schärfer durchdachte Gegen-
sätzlichkeit von Arbeit und „Kapital", in der er jedoch noch kein soziales Problem
sah. Im Gegenteil war Smith vom gemeinsamen Interesse der Unternehmer und
Arbeiter im Geiste des Harmoniedenkens überzeugt. Das steigende Angebot pro-
duzierter Güter in der arbeitsteiligen Gesellschaft zivilisierter Nationen müsse zu
vermehrtem Konsum führen, und so ve'l'lweitet sich ein al1,gemeiner Überfluß übe'/'
alle Klassen der Gesellschaft 132 • Smith wandte sich daher gegen die verbreitete Auf-
fassung, daß nur ein am Existenzminimum ausgerichteter Lohn die Arbeiter (aus
Not) zum Fleiß antreibe. Er kehrte dieses alte Argument um, sah in der Möglichkeit,
den Lohn zu erhöhen, das natü'l'liche Ermunterungsmittel des Fleißes 133 und ver-
mochte das Glück der Gesellschaft nur dann verwirklicht zu sehen, wenn ihre Glie-
der nicht arm und elend seien134• Auch die labouring poors, in deren (in England
allgemein gebräuchlichem) Namen die traditionelle Verbindung von Arbeit und
Armut ausgedrückt war, sollten - wiederum moralphilosophisch und zugleich
ökonomisch begründet - am wachsenden Wohlstand durch (nicht zuletzt ihre
eigene) Arbeit teilhaben. Diese Umkehrung des alten Grundsatzes, die Arbeit,
d. h. die abhängige Handarbeit, in der Besitzlosigkeit zu halten, der modernisiert
als These in den „Kapitalismus" einging, wurde in Deutschland von den Smithia-
nern übernommen und von der „Freihandelsschule" fortgesetzt. Noch zurückhalten-
der als in der Adelsfrage verhielt sich Smith zur Frage des (na.chheutigerTerminologie)
tertiären Bereichs der Berufe. Zur ökonomisch begriffenen Leistungsgesellschaft
gehörten für ihn nur die produkJ,iven Tätigkeiten (Urproduktion, Verarbeitung,
Verteilung). Auf diese allein applizierte er den Begriff der Arbeit, wogegen die
unprodukJ,iven, ökonomisch nicht wertschaffenden Dienstboten, Landesregenten,
Militär-und Zivilbeamte, Pfarrer, Ärzte, übet"haupt alle Ge'leh'l'te, ferner Schauspieler,
Tänzer, Sänger usw. nichts hervorbrachten, wofür man eine gleiche Quantität Arbeit
erkaufen könnte 135•
Schärfer konnte der Traditionsbruch des Gesellschafts- und Arbeitsbegriffs kaum
bezeichnet werden. In einer durch „self-interest" verbundenen und auf Arbeits-
teilung beruhenden Gesellschaft der Produktion und Konsumtion (Arbeit und
Bedürfnis) ergab sich eine soziale Umwertu~g von Grund auf: die „Praxis" der
(alten und neuen) Herrschaftsstände wurde als unproduktiv abgewertet. Vom Maß-

188 SMITH/GARVE, Ne.tionalreichthum, Bd. 1, 8 ff.; Bd. 2 (1796), 5 ff.; das Zitat Bd. 1, 18.
1aa Ebd., Bd. 1, 138.
134 Ebd., 133.

1as Ebd., Bd. 2, 98 ff., bes. 100.

180
D. 7. Fortbildung des ökonomischen Begmls Arbeit

stab wertschaffender Arbeit aus gesehen, rückten diese neben Gesinde und Ko-
mödianten(-+ Gesellschaft, bürgerliche).
d) Auch und gerade weil die neue Ökonomie individuelle Freiheit des wirtschaften-
den Menschen im System des Tauschs und Wettbewerbs forderte, war sie auf
die „Nation" oder den „Staat" · bezogen. ('Politische' oder 'National-
ökonomie', dt. 'Staatswirtschaft'). Alle Literatur der „Ökonomisten" war national-
staatlich (im vorrevolutionären Sinne) durchdrungen. Durch Arbeit sollte Wohl-
stand, Reichtum, Macht entstehen. 'Arbeit' war also nicht nur der je individuelle,
sondern in ihrer Summe als Gesamtheit der Produktionsfaktor für den Reichtum
der Nation. Durch Arbeit als Kollektivobjekt wurde jeweils der National-Fon<l,
die später als „Sozialprodukt" bezeichnete Größe, geschaffen. The annual labour
of every nation is the /und which originally supplies it with all the necessaries arul
conveniencies of life ... 136• Die deutschen Smithianer haben diesen Ausgangspunkt
in der Regel mehr oder weniger wörtlich genommen. CHRISTIAN JAKOB KRAUS
prägte dabei den Begriff N ationalarbeit137 • Damit erhielt Arbeit vom Nationalstaat
ihren politischen Wert - sowohl im Rückblick auf Vorstufen primitiver, wie im
Hinblick auf die Konkurrenz gegenwärtiger „zivilisierter" Nationen, mit denen
und demgemäß auch mit deren Arbeit die eigene Nation durch ein kosmopolitisches
Band verknüpft sein sollte.

7. Die Fortbildung cles ökonomischen Arbeitsbegriffs:


Ricardo, Wirtschaftsliberalismus

Dogmengeschichtlich lag RICARDOS Bedeutung darin, daß er den Arbeitsbegriff


von Smith aufnahm, schärfer durchdachte und konsequenter als Smith - wenn
auch nicht ohne logische Widersprüche - zur Grundlage seiner Wertlehre sowie
indirekt auch seiner Verteilungslehre machte (1817) 138 • Arbeit wurde - in der Ver-
bindung von „lebendiger" und „vorgetaner" Arbeit (Kapital) - eindeutiger als
vorher zum einzigen Produktionsfaktor. Der Wert eines Gutes od,er die Menge von
irgen<leinem andern, für die es sich vertauschen wird, hängt ab von der verhältnis-
mäßigen Menge Arbeit, die zu dessen Produktion notwendig ist. Daraus ergab sich,
daß der „natürliche" Preis einer Ware (im Gegensatz zum variablen Marktpreis)
allein durch Arbeit zustandekam. In der arbeitsteiligen, weitgehend auf Lohnarbeit
beruhenden Wirtschaftsgesellschaft folgte aus der Wertschöpfung durch Arbeit
das Problem der Verteilung des Sozialproduktes durch Rente, Lohn und Profit.
Ricardo entwickelte die folgenreichen Theorien von der doppelten Bestimmung
des Lohns durch das Existenzminimum („natürlicher" Lohn) und durch den ver-

188 Der erste Satz des Smith'schen Werks! Garve übersetzt: Die Arbeit, wel,ehe je.de Nation
jährlich, verrichtet, ist der Fond, der sie ursprünglich mit allen . . . Notwendigkeiten und
Bequemlichkeiten des Lebens versorgt; ebd., Bd. 1, 1. GEORG SARTORIUS, Handbuch der
Staatswirthschaft . . . nach Adam Smith's Grundsätzen (Berlin 1796), 1 spricht in der
Wiedergabe dieses Satzes vom Produkt der Arbeit eines Volkes.
137 CHR. J. KRAus, Staatswirthschaft, Bd. 1 (Königsberg 1808), 6. Als weitere Beispiele

für Adam Smiths Rezeption in Deutschland vgl. SARTORIUS, Handbuch und AUGUST
FERDINAND LuEDER, "Ober Nationalindustrie und Staatswirthschaft (Berlin 1800).
138 Das Folgende zunächst im Anschluß an ALFRED Ä.MoNN, ·Art. Ricardo, Hwb. d.

SozWiss., Bd. 9 (1956), 13 ff.

181
II. 8. Französische Revolution

fügbaren Lohnfonds sowie von der Korrelation Profit - Lohn mit den gegenläufi-
gen Tendenzen zur Lohnsteigerung einerseits, zum Druck auf die Löhne anderer-
seits je nach Arbeitsangebot und -nachfrage („Marktlohn"). Die sozialen Impli-
kationen deSBen (Konflikt zwischen „Kapital" und „Arbeit") wurden zwar von
Ricardo, der klarer als Smith auf reine Ökonomie (in Praxis und Theorie) ausging,
noch nicht thematisiert, aber sie drängten sich den Zeitgenossen der Krisenzeit
1817 bereits weit stärker auf als den optimistischen Ökonomen und 1776. Die Eigen-
tümlichkeit des Begriffs im Verhältnis iu seiner Umwelt lag also bei Ricardo darin,
daß 'Arbeit' potentiell eine politisch-gesellschaftliche Bedeutung erhalten hatte
wie nie zuvor, daß aber just in diesem historischen Moment die Ökonomisierung
des Begriffs so weit getrieben wurde, daß 'Arbeit' zwar ins Zentrum des wirtschaft-
lichen Systems gestellt, dort aber isoliert und damit philosophisch und politisch
reduziert wurde. Die im ökonomischen Sinne wertschaffende Arbeit war moralisch
wertfrei geworden. Andererseits wies der am Beginn des wissenschaftlichen Fachs
die Nationalökonomie139 stehende Begriff mit seiner Implikation des sozialen Kon-
flikts unverschleiert darauf hin, daß „reine" Ökonomie sozial schonungslos war.
Die Zustände der in Bewegung geratenen Gesellschaft am Beginn der frühen In-
dustrialisierung kamen solcher Entschleierung entgegen. EDUARD GANS fragte
1830, ob die jetzt freigelassene Arbeit aus der Korporation in die Despotie, aus der
Herrschaft der Meister in die Herrschaft der Fabrikherrn verfal"len solle140• Ähnliche
Zeugnisse der Sorge über die „Freilassung" der Arbeit ließen sich für die dreißiger
und vierziger Jahre häufen. AUf der anderen Seite hielt sich der optimistische
Glaube an Harmonie durch Konkurrenz, an allgemeine Wohlstandssteigerung und
die im Industriesystem liegenden Chancen aller arbeitenden Menschen mit der
Möglichkeit der individuellen und genossenschaftlichen „Selbsthilfe", wie sie be-
sonders von SCHULZE-DELITZSCH seit 1850 verkündet wurde141• Traditionelle
Arbeitsethik verband sich dabei mit dem Gedanken, nicht nur ein kleines Ver-
mögen zu ersparen, sondern in den vielfältigen neuen Berufsmöglichkeiten sozialen
Aufstieg durch Arbeit zu erreichen. Die „entfesselte" Arbeit erfüllte also liberale
Ökonomen mit Optimismus, forderte aber auf der anderen Seite die Abwehr der
Konservativen und den Kampfwillen der Sozialisten heraus. Diese beiden Reaktio-
nen sind ohne die Wirksamkeit sowohl der Französischen Revolution wie der
deutschen Philosophie des transzendentalen Idealismus nicht zu verstehen.

8. Die Bedeutung der Französischen Revolution

Die revolutionären Ereignisse in Frankreich (1789-1795) standen mitten in der im


Gange befindlichen Neubildung des Arbeitsbegriffs. Explizit und theoretisch wurde
dieser durch die Revolution kaum über das hinausgebracht, was durch Ökonomis-
mus und politische Philosophie der Aufklärung bereits erreicht worden war. Gleich-
wohl nimmt die große Revolution in der Geschichte des Begriffs eine wegweisende

189 Vgl. HEGELS Bemerkung über die St,aats-Ökcmomie ala eine der WiaaeMchaften, die in
neuerer Zeit als ihrem Boden entstanden ist; Rechtsphilosophie, § 189.
· 140 E. GANS, Rückblicke auf Personen und Zustände (Berlin 1836), 99 f.
141 Belege bei WERNER CoNZE, Möglichkeiten und Grenzen der liberalen .Arbeiterbewegung

in Deutschland. Das Beispiel Schulze-Delitzsch (Heidelberg 1965).

182
II. 8. Französische Revolution Arbeit

Stellung eiri, da in ihr verwirklicht wurde (oder werden sollte), was bisher für den
europäischen Kontinent nur in der Welt des Gedankens gelebt hatte. In vielfacher
Hinsicht war die Revolution für den Arbeitsbegriff von Bedeutung. Die längst ent-
wickelte Scheidung zwischen produktiven und unproduktiven Klassen oder zwi-
schen dem arbeitenden „Dritten Stand" und den privilegierten, „müßiggehenden"
Ständen des Adels und der Geistlichkeit wurde politisch aktualisiert durch die
Identifizierung des Dritten Standes mit der Nation, die damit zu einer von den
„Parasiten" befreiten, auf allgemeine Arbeit gegründeten Leistungsgemeinschaft
wurde142 • Dem entsprach der Fundamentalsatz im Titel 1 der Verfassung von
1791 : Que tous les citoyens sont admissibles aux pl,acest et emplois sans autre distinction
que celle des vertus et des talents. Die in der Literatur der Ökonomisten geläufige Ver-
bindung von Arbeit und Nation wurde damit politisiert und dem entstehenden
neuen Gesellschaftsbegriff entsprechend demokratisiert. Da in der für den späteren
Liberalismus wirksamen ersten Phase der Revolution nicht die Arbeit, wohl aber
das Eigentum zu den grundlegenden Menschenrechten gehörte, konnte die For-
derung der „Freiheit" mit dem Prinzip mobiler Arbeitskraft im freien Spiel der
wirtschaftlichen Kräfte verbunden werden. In der zweiten Phase (Verfassung von
1793) trat das Problem der „Gleichheit" neben oder vor das der „Freiheit". Dem
(fast) allgemeinen und gleichen Wahlrecht entsprachen Forderungen der Eigen-
tumsbeschränkung („Maximum des Besitzes"), so.wie der Preis- und Lohnfest-
legung. Das bedeutete .indirekt eine Aufwertung der Arbeit urid des durch Arbeit
Erworbenen. In der „Declaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1793
wurde demgemäß bestimmt: das Recht auf Eigentum sollte in sich die freie Ver-
fügung über die Früchte der Arbeit und des Fleißes der Bürger enthalten (Art. 16);
die freie Wahl der Arbeit sollte garantiert sein (Art. 17); es sollte kein bindendes
Dienstverhältnis (domesticite) mehr geben, sondern lediglich freie Arbeitsverhält-
nisse (Art. 18), die „Gesellschaft" sollte die Fürsorgepflicht für die „Unglücklichen"
haben, sei es, daß si~ Arbeit beschaffte, sei es, daß sie Unterstützung gewährte
(Art. 21, ähnlich schon in Titel 1, 10 der Verfassung von 1791 und 1794 im ALR
Tl. 2, Tit. 19, § 1. 2). Die Pflicht zur Arbeit war hierin, wenn auch nicht ausge-
sprochen, enthalten; vom „Recht auf Arbeit", wie später bei Fourier, war dagegen
noch nicht ausdrücklich die Rede. Immerhin war der Zusammenhang zwischen einer
sich nicht nur formal verstehenden Demokratie der Gleichheit mit dem Problem
der Arbeit bereits sichtbar, allerdings noch nicht ausdrücklich auf eine vorwiegend
durch industrielle Lohnarbeit· bestimmte Arbeitsverfassung gerichtet. Der Sans-
cullottismus war vielmehr noch in erster Linie auf „freie" Arbeit kleiner Eigen-
produzenten in Land und Stadt bezogen. Daher ergab sich wohl der Bezug des
Gleichheitsprinzips auf die Arbeit, vor allem der Kleingewerbetreibenden, aber noch
nicht die völlige Durchdringung der Staats- und Sozialverfassung mit Arbeit als
konstitutiven Prinzip143. Babeuf (1797) ging über diese kleinbürgerlich-demo-
kratische Stufe hinaus. und wies voraus auf den Sozialismus (s. u. S. . 196 ff.).

142Vgl. ABBE EMMANUEL SIEYES, Qu'est-ce que le tiers etat? (Paris 1789).
ua Hierzu ALBERT SoBOUL, Das Problem der Arbeit im Jahre lt, in: Jakobiner und
Sansculotten, hg. v. WALTER MARKOV (Berlin 1956), 151 ff.; vgl. Die Sa.nsculo.tten von
Paris, hg. v. WALTER MARKOV u. ALBERT SoBOUL (Berlin 1957).

183
Arbeit II. 9. Idealistische Philosophie

9. Die idealistische Philosophie gegenüber Ökonomismus und


Revolution: Kant, Fichte, Hegel

Die durch den Ökonomismus und die politisch-sozialen Emanzipationstendenzen


umgewertete Arbeit wirkte auf die deutsche Philosophie des transzendentalen
Idealismus und fügte sich den philosophischen Systemen Fichtes und Hegels ein,
während KANT an dieser Entwicklung noch kaum teilnahm, ja sich bewußt von
ihr abwandtet". Kant hat daher auch seine Ethik (Tugendlehre) nicht explizit
mit dem Begriff der Arbeit in Beziehung gesetzt. Doch wurde - so besonders von
den Männern der preußischen Reform - die Befreiung des Menschen (um seiner
Autonomie und „Würde" willen) und damit seiner Arbeit von aller entwürdigenden
Fremdbestimmung (--+- Bauer) mit Recht von Kant hergeleitet. Ferner wurde - in
direkter oder indirekter Wirkung - Kants Pßichtbegriff (freies Anerkennen der
„Nötigung" gegen die von Natur bestehende „Neigung") vielfach mit dem tra-
ditionsentbundenen, alles durchdringenden Arbeitsbegriff, wie er im Laufe des
19. Jahrhunderts die neue „bürgerliche Gesellschaft" durchdrang, verbunden,
wenn dies auch gewiß nicht der Philosophie Kants gemäß war. FICHTE dagegen
nahm die Nationalökonomie tleiner Zeit zwar in Grundzügen auf, behandelte sie aber
nicht kritisch im einzelnen, auch nicht im „Geschloßnen Handelsstaat". Der
Arbeitsbegriff Fichtes ist weniger ökonomisch als snthropologisch zu verstehen.
Arbeit erschien als Konkretion des dem Menschen schlechthin zugehörigen Prädi-
kators absolute Tätigkeit oder Wirksamkeit in der Sinnenwelt (Natur), die nichts
anderes als Ausdruck der Freiheit sind145 • Die Natur hat die Menschen ... zur
Freiheit bestimmt, d. i. zur Tätigkeit 146• Durch fortgesetzte Arbeit der gesellschaftlich
verbundenen Menschen, d. h. freier und vernünftiger Wesen (so wird der Natur-
gewalt die möglichst größte gebildete und geordnete Masse von vereinigter Vernunftkraft
gegenübergestellt)1 47 wird der Zivilisationsprozeß erzwungen. Arbeit bringt also
Fortschritt148 , deutlich sichtbar im materiell-ökonomischen Bereich, der jedoch nur
als Voraussetzung zum eigentlichen Ziel der Freiheitsverwirklichung (absolute
Forderung einer besseren Welt)1 49 gewertet wird. Arbeit soll im Zuge der Bewegung
zu einer neuen Natur, die immer durchschaubarer und durchsichtiger werde, auf-
hören, Last zu sein; - denn das vernünftige Wesen ist nicht zum Lastträger bestimmt160•
Sie soll leichter werden und abnehmen (Vervielfältigung der menschlichen Kraft
durch Mechanik}1 51• Denn der eigentliche Zweck der Arbeit war für Fichte nicht

114 Vgl. z. B. seine traditionsbestimmte Ablehnung der Lockeschen, später von den

Nationalökonomen sowie von Fichte und Hegel fortgeführten Ableitung des Eigentums
von Arbeit anstelle von occupatio: KANT, Die Metaphysik der Sitten (1797), Rechtslehre,
Tl. 1, § 16. AA Bd. 6 (1907/14), 267.
m J. G. FICHTE, Das System der Sittenlehre (1798), Einleitung,§§ 4. 7. SW Bd. 4 (1845),
3 ff., bes. 9.
m Ders„ Grundlage des Naturrechts (1796), § 18, 2. SW Bd. 3 (1845), 211.
147 Ders., Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806), SW Bd. 7 (1846), 43.

m So mehrfach bei Fichte; vgl. bes.: Die Bestimmung des Menschen (1800), SW Bd. 2
(1845), 265 ff., bes. 277; ders„ Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, SW Bd. 7, 42 ff.
u 9 Ders„ Die Bestimmung des Menschen, SW Bd. 2, 265.
160 Ebd„ 268 f. Vgl. auch: Der geschloßne Handelsstaat (1800), SW Bd. 3, 422 f.
in Ders„ Grundzüge, 44.

184
II. 9. idealistische Philosophie Arbeit

fortgesetztes Wirtschaftswachstum und W ohlstandssteigenuig, sondern Entlastung


des Menschen von der Mühsal, um Muße und damit einen würdigen Zustand zu
erreichen, auf den der Mensch ein Anrecht habe. Das absolute Eigentum aller sei
freie Muße zu beliebigen Zwecken, nachdem sie die Arbeit, welche die Erhaltung ihrer
selbst und des Staates von ihnen /ordert, vollendet haben . . . Endzweck aller Ver-
bindung der Menschen zum R,echte ist Freiheit, d. i. zuvörderst Muße. Diese ist also
der eigentliche Zweck und die Arbeit nur das au/gedrungene Mittel162 • 'Freiheit' war
deni.nach sowohl Tätigkeit wie Muße, d. h. tätiges Wirken zur Erhebung über Not-
durft und Plage, um ledig dessen in vollem Sinne Mensch sein zu können. .Arbeit
war zu diesem Endzweck erforderlich, aber im Maße wie der Fortschritt zunahm
immer weniger ein Zwang, der den Menschen bedrückte und seiner Bestimmung
zur Freiheit entfremdete. Nie konnte .Arbeit für sich selbst Sinn oder Zweck haben;
sie war lediglich unentbehrliches, bejahtes Mittel, nicht nur zur je individuellen
Lebensmeisterung, insofern .Arbeit all~in Leben ermöglichte und Eigentum be-
gründete, sondern vor allem zur allgemein menschheitlichenVervollkommnung;
sie entbehrte dabei des Lustcharakters, den ihr die aufgeklärten EudämoniRtfm
zugemessen hatten. So realistisch Fichte den Entlastungsvorgang durch fort-
gesetzt vernünftigeren Gebrauch von .Arbeit sah, so ging doch diese, den National-
ökonomen verwandte Sicht beim Blick in die Zukunft zur Utopie über und wies
damit auf den frühen Sozialismus voraus. Mochte Fichte im Bezug seines .Arbeits-
begriffs auf die beginnende industrielle Welt hinter Hegel noch zurückstehen, so
ist doch zu betonen, daß noch nie zuvor .Arbeit als Kraft der Verwandlung im
Zivilisationsprozeß so uinfassend, von traditioneller Topologie gelöst und der
„Revolution" seiner Zeit gemäß begriffen worden ist, wie Fichte es gewagt hat.
Das ökonomische Verständnis war im anthropologischen aufgehoben; klar wurde
nicht nur von .Arbeit der produzierenden, verarbeitenden und Handel treibenden
Stände, sondern auch von .Arbeit der im ökonomischen Sinne Unproduktiven,
besonders des von Fichte höchstgewerteten Gelehrtenstandes gesprochen. Der Un-
gelehrte ist bestimmt, das Menschengeschlecht auf dem Standpunkte der Ausbildung,
die es errungen hat, durch sich selbst zu erhalten, der Gelehrte, nach einem klaren Be-
griffe und mit besonnener Kunst dasselbe weiterzubringen ... Die Arbeit des Gelehrten
und das Tagwerk seines Lebens wird eben jenes einsame Nachdenken sein; zu dieser
Arbeit ist er nun (in der Erziehung) sogleich anzuführen, die andere mechanische
Arbeit ihm dagegen zu erlassen 163 •
Fichtes Auffassung von der noch als Last drückenden, in der Zukunft aber zu-
nehmend entlasteten und darum Freiheit ermöglichenden .Arbeit wurde mehrfach
um 1800 in Verbindung mit dem Ziel der „Veredlung" des Menschen ähnlich for-
muliert. So erhoffte sich ScHLEIERMACHER die Hinwendung zu einem .freieren
Dasein und damit zur Religiosität, wenn der Druck mechanischer und unwürdiger
Arbeiten geschwunden sein werde. Ein Sklave ist jeder, der etwas verrichten muß,
was durch tote Kräfte sollte können bewirkt werden. In der Zukunft sah er die glückliche
Zeit,da jeder seinen Sinn freiwerde üben und brauchen können164• Auch HEGEL

162 Ders., Das System der Rechtslehre (1812), NW Bd. 2 (1834), 542. 544.
168 Ders., Reden an die deutsche Nation (1808), SW Bd. 7 (1846), 426 f.
164 FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, 'Ober die Religion (1799), 4. Rede. SW 1. Abt., Bd. 1
(1843), 353.

185
Arheit Il. 9. Idealistische Philosophie

sah diesen Entlastungs- und Befreiungsprozeß, doch ohne utopische Hoffnung und
mit tieferem Blick für die Dialektik von - Emanzipation und - Entfremdung.
des Menschen durch die moderne Arbeit - eine Widersprüchlichkeit, die jenseits
der zeitgemäßen Einseitigkeiten (Fortschritt oder Niedergang des Menschen durch
entfesselte Arbeit) in scharfer Prägnanz zuerst von Hegel durchdacht worden istl55.
Hegel verstand Arbeit ökonomisch-sozial, anthropologi~ch, metaphysisch und ge-
schichtlich; er fügte sie als einen seiner zentralen Begriffe seinem - besonders
hier nicht „harmonischen" - System im ganzen ein158 • Den ökonomischen Begriff
übernahm er, soweit er für seine politische Philosophie wichtig war, von Stewart und
Smith, später ergänzt durch die Lektüre von Say und Ricardo. 'Arbeit' war für
Hegel die allein dem Menschen eigene zielgerichtete Tätigkeit zur Bedürfnis-
befriedigung; bei zunehmender Aufteilung und Spezialisierung der Arbeit nahm
sie für ihn einen immer abstrakteren Charakter im System der Bedürfnisse ein, als
das die auf Arbeitsteilung beruhende bürgerliche G~sellschaft erscheint. So wie der
alten bürgerlichen Gesellschaft Arbeit im Sinne von :novo• ferngehalten bzw. in ihren
Unterbau verwiesen worden war, so war in der neuen bürgerlichen Gesellschaft
Arbeit als der einzige Produktionsfaktor und Maßstab der (wirtschaftlichen)
Werte konstitutiv für den Zusammenhang der Wechselbeziehungen der Menschen
im sozialökonomisch definierten System. Wenn bei zunehmender Abstraktion des
Produzierens der Mensch von der immer mechanischer werdenden Arbeit am Ende
wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten lassen kann 157, durch die der
Mensch die Natur betrügt, so drückte Hegel damit nur eine Tendenz technisch fort-
schreitender Arbeitsentwicklung aus, enthielt sich dabei aber eines utopischen
Optimismus und sah stattdessen das Niedrigerwerden des Menschen im mechani-
sierten Getriebe. Der Mensch werde durch die Abstraktion ikr Arbeit mechanischer,
abgestumpfter, geistloser. Das Geistige, dies erfüllte, selbstbewußte Leben, wird ein
leeres Tun ... Er kann einige Arbeit als Maschine freilassen; um so formaler wird
sein eigenes Tun ... Es werden also eine Menge zu den ganz abstumpfenden, ... die
Geschicklichkeit beschränkenden Fabrik-Manufaktur-Arbeiten, Bergwerken us/. ver-
dammt, ... und diese ganze Menge ist der Armut, die sich nicht helfen kann, preis-
gegeben ... Fabriken, Manufakturen gründen gerade auf das Elend einer Klasse ihr

u& Der Arbeitsbegriff Hegels ist in der Literatur, besonders in jüngster Zeit, oft und ein-
gehend interpretiert worden. Vgl. vor allem KARL LöWITH, Von Hegel zu Nietzsche,
2. Aufi. (Stuttgart 1950; 5. unv. Aufi. 1964), 286 ff.; GEORG Lux:!cs, Der junge Hegel
und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft (Zürich, Wien 1948), 407 ff. 431 ff.;
HERBERT MAttcusE, Reason and Revolution. Hegel and the Rise of Social Theory, 2nd ed.
(London 1955), dt. u. d. T.: Vernunft und Revolution (Neuwied, Berlin 1962); JOACHIM
RITTER, Hegel und die französische Revolution (Köln, Opladen 1967), 35 ff.; MANFRED
RIEDEL, Theorie und Praxis im Denken Hegels (Stuttgart, Berlin 1965), 62 ff. Schließlich
wurde herangezogen: MANFRED RIEDEL, Bürgerliche Gesellschaft. Untersuchungen zu
einer Kategorie der klassischen Politik und des modernen Naturrechts (noch ungedruckt).
168 Zum folgenden: G. W. F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes (1807), bes. Abschn.

IV A. VII Ac. SW Bd. 2 (1927; 4. Aufi. 1964), 148ff. 53lff.; ders., Rechtsphilosophie
(1821), § 182 ff. SW Bd. 7 (1928), 262 ff.; ders., Vorlesungen über die Philosophie der
Weltgeschichte, hg. v. Georg Lasson (Leipzig 1930), passim.
157 Ders., Rechtsphilosophie, § 198.

186
II. 9. idealistische Philosophie Arheit

Bestehen 1 ss. Damit war die (später so genannte) proletarische Klassenbildung im


Industriesystem mehr vorausgesehen als schon für die eigene Umwelt festgestellt.
Vor allem aber wurde die Arbeit im modernen Wirtschaftssystem allgemein, d. h.
nicht allein auf Fabrikarbeiter bezogen, zum fortgesetzt vom Menschen selbst
betätigten Movens seiner Entfremdung.
Die auf dem Bleibenden vorher getaner Arbeit aufgebaute und fortwährend weiter
formierte Welt wurde von Hegel in ihrer lastenden Unausweichlichkeit und Mäch-
tigkeit gesehen: ein ungeheures ·System von Gemeinscliaftlichkeit und gegenseitiger
Abhängigkeit, ein sich in sich bewegendes Leben des Toten, das ... als ein wildes Tier
einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung beAlarf169• Diese Bemerkung
wies über die bloße Arbeitswelt der bürgerlichen Gesellscliaft auf das objekiive
Sittliche, die sittlichen Mächte, den Staat, d. h. auf die Freiheit als die eigentliche
Bestimmung des Menschen. .
Die Arbeit als Prädikat d.es Menschen im System der Bedürfnisse und als konstitu-
tives Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft lag dem Staat wohl zugrunde, sollte diesem
als der Wirklichkeit der konkreten Freiheit aber untergeordnet und also nicht sel.bst
eigentümlich sein. Arbeit wurde nie als Zweck an und für sich selbst, sondern stets
nur als Vermittlung verstanden, zunächst vom Bedürfnis zur Befriedigung, sodann
von dieser zur Freiheit. Hier lag nun (im Unterschied zu Fichte) die Hegelsche
Aporie, daß die aufkommende Wirtschaftsgesellschaft durch Arbeit zwar bewirkt
und gesteigert, dadurch aber Freiheit keineswegs nur ermöglicht, sondern auch ge-
fährdet oder erniedrigt wurde. Lehnte Hegel die antike Zuweisung der Arbeit zu.m
Sklaven sowie der Freiheit zu.m arbeitsbefreiten Bürger ab, erkannte er 'Arbeit'
vielmehr als wesensbestimmend für den zur Freiheit aufsteigenden Menschen
schlechthin180, so erhob sich die bedrückende, von Hegel wohl gesehene, aber noch
nicht zu Ende gedachte Frage einer neuen Erniedrigung des arbeitenden Menschen
unter den modernen Produ.ktionsbedingungen der Gegenwart und der Zukunft.
'Arbeit' blieb aber, wie schon au.s dem Vorstehenden deutlich wurde, für Hegel
nicht auf den sozialökonomischen Bereich beschränkt. Vielmehr begriff er sie als
das den Menschen (im Gegensatz zum Tier) spezifisch Auszeichnende; damit aber
stand die Arbeit für ihn im metaphysisch-historischen Bezug zum Werden des Geistes
oder zur Verwirklichung des Prinzips der Freiheit im weltgeschichtlichen Prozeß.
Hegel legte „das Herstellungs-Tun des Menschen unmittelbar im Herstellungs-
geschehen des Geistes" aus181 • Im Mythos vom Sündenfall sah er nicht mehr vor
allem die Belastung der Arbeit durch den göttlichen Fluch über den Acker, sondern
die dem Menschen gegebene geschichtliche Bestimmung: Der Geist soll frei und das,
was er ist; durch sich selbst sein162• Die Arbeit des Menschen entspricht der Arbeit
158 Ders., Jenenser Realphilosophie, hg. v. Johannes Hoffmeister, Bd. 2 (Leipzig 1931),

232. 257. '


159 Ebd., Bd. 1 (1932), 240.
180 Vgl. in diesem Zusammenhang die Herausstellung des „Knechts" gegenüber dem

„Herrn": Phänomenologie des Geistes, Abschn. IV A.


181 RIEDEL, Theorie und Praxis, 62. Vgl. besonders HEGELS Einleitung in die Philosophie

der Weltgeschichte: Die Vernunft in der Geschichte, hg. v. Johannes Hoffmeister, 5. Aufl.
(Hamburg 1955). ,
182 HEGEL, System der Philosophie, Logik, § 24, Zusatz 3. SW Bd. 8 (1929), 96. Vgl.

R1EDEL, Theorie und Praxis, 65.

187
Arbeit Il. 10. Liheraler Arbeitsbegrilf

des Weltgeistes, d. h. dem Willen Gottes. Arbeit wurde so zum „metaphysischen


Bewegungsprinzip" im Gange des Geistes (Freyer) 163 ; in diesem war die „formie-
rende" Arbeit innerhalb der „bürgerlichen Gesellschaft" aufgehoben. Hegel fragte
ausdrücklich, ob der Mensch ein Recht habe, sich so'lche unfreien Zwecke zu setzen,
die allein darauf beruhen, daß das Subjekt ein Lebendiges ist? Er antwortete, das
Lebendigsein sei weder etwas Herabwürdigendes, noch gäbe es eine höhere Geisti,g-
keit ... , in der man existieren könnte. Der höhere Kreis des Guten stelle gerade auf
dem Grunde dieser unfreien Zwecke sich her, und zwar durch Arbeit, durch das
Heraufheben des Vorgefundenen zu einem aus sich Erschaffen. Die Unfreiheit der
Zwecke erhob die Arbeit zur Freiheit einer „zweiten Natur", die eine „vergeistigte"
war, eine Welt des Geistes, die ein Höheres sei als die physische Naturwelt 164• Indem
solcherart die Arbeit des Arbeiters aus Existenzbedürfnis mit der Arbeit des ob-
jektiven Geistes in Beziehung gesetzt wurde, war es möglich, die Geschichte des
neueren Europa unter dem Gesichtspunkt des sich beschleunigenden Fortschritts
auf Grund schöpferischer und schaffender (bürgerlicher) Tätigkeit und Arbeit zu
sehen. In dieser wende sich der Mensch zur Welt, „verhält sich praktisch zu ihr,
ist in ihr seiner selbst sicher und läßt sie darum frei, wie er selbst frei iRt" 165 . In der
Entfesselung der Arbeit - mit allen oben angedeuteten Gefahren, aber trotzdem
im Einklang mit dem Weltgeist und der Annäherung an dessen Ziel - sah Hegel
das Signum seiner Zeit und des kommenden 19. Jahrhunderts 166•

10. Freiheit und Fortschritt: liberaler Arbeitsbegriff

Die Ökonomisierung der Arbeit seit der Mitte des 18. Jahrunderts hatte nicht nur
in die Dogmengesohichte eines neuen wissenschaftlichen Faches geführt, sondern
warf grundlegende Fragen des Verständnisses der in den „Revolutionen" als Ende,
Beginn oder Übergang begriffenen Zeit auf. Was auf der philosophischen Re-
flexionsstufe Hegels hierzu bereits gedacht, prognostiziert oder auch nur ange-
deutet worden war, das wurde im weiteren Verlauf des Jahrhunderts - immer neu
angestoßen durch die Wandlung der sozialen Umwelt - aufgefächert und in aus-
einanderlaufenden breiten Strömen ideologisiert. Der erste dieser Ströme kann
(annähernd) dem Liberalismus zugeordnet werden. Bei aller Vielfalt und Wider-
sprüchlichkeit im einzelnen ist bis in ·die sechziger Jahre die Verbindung von
'Arbeit' und 'Freiheit' innerhalb eines optimistischen, am Gedanken des Fort-
schritts orientierten Weltbildes für die Liberalen typisch gewesen. Bei ERscH/
GRUBER wurde 'Arbeit' noch rein ökonomisch, wenn auch kritisch zu Smith, im
Anschluß an Hufeland, Say .und Storch mit der damals üblichen Tendenz abge-
handelt, daß es sich nicht allein um Werktäti,gkeit, sondern auch um Geistestäti,gkeit

183 HANs FREYER, Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahr-

hunderts (Leipzig 1921), 57; dazu R!EDEL, Theorie und Praxis, 68, Anm. 90.
184 Im Anschluß an RIEDEL, Theorie und Praxis, 69; die Zitate bei.HEGEL, Rechts-

philosophie,§ 123, Zusatz.§ 272, Zusatz; die „Zusätze" fügte Eduard Gans aufgrund von
Vorlesungsnachschriften 1833 hinzu.
186 RIEDEL, Theorie und Praxis, 76 ff., bes. 77; HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie

der Weltgeschichte, passim.


1 19 HEGEL, Phänomenologie des Geistes, Abschn. VII A c.

188
II. 10. Liberaler Arbeitsbegriff Arbeit

handele1 67 • Mochte die geistige Arbeit als ökonomisch produktiv oder als wertvoll
an und für sich selbst angesehen werden, jedenfalls wurde damit nicht nur der
Arbeitsbegriff der Nationalökonomie über Smith hinaus erweitert, sondern auch
die Bedeutung des Wortes' Arbeit' als jede menschliche Tätigkeit, welche mit deut-
licher Vergegenwärtigung eines zu erreichenden Zweckes unternommen und vollbracht
wird16B für ein breiteres Bewußtsein endgültig durchgesetzt. Noch immer wirkte
bis dahin die alte Vorstellung Arbeit, ... gewöhnlich mühselige Tätigkeit 169 nach.
Diese alte Auffassung wurde von FRIEDRICH LIST in seinem Artikel im „Staats-
lexikon" (RoTTECK/WELCKER 1834) nur noch im rohen Naturzustand sowie im
wilden und patriarchalischen Zustande für passend gehalten und· historisch als
notwendige Schule für die rohe Menschheit begriffeni damit diese sodann auf dem
Wege zu den Fortschritten der Zivilisation der Segnungen der freien und freiwilligen
Arbeit teilhaftig werden könne. List übernahm also die Vorstellung von der Ge-
schichte. als eines durch Arbeit (geistig und körperlich) fortschreitenden Zivilisa-
tionsprozesses und steigerte dabei wie die Saint-Simonisten die Arbeit zum Prinzip,
das einst die ganze Erde besiegen und beherrschen und friedestiftend den bisher das
Leben der Völker bestimmenden Krieg ablösen werde. Die schöpferische, bauende
und erhaltende Arbeit erschien ihm als das Prinzip des Friedens, während der
Krieg, Gegenbegriff zu Frieden, nicht nur die Früchte der Arbeit zerstöre, sondern
ihr als destruierende Macht der Herrschenden die Ehre nehme. List erkannte, daß
die Arbeitenden, die einst unter den durch Kriegsübung Herrschenden standen,
aufstiegen; schon führt hier die geistige Arbeit zu Ehren und Würden, die körperliche
zu Achtung und Ansehen; Arbeit stehe über dem Müßiggang und der rohen Gewalt.
Diesen auf eine glückliche Zukunft weisenden Anzeichen stellte List freilich den
düsteren Hinweis auf die Entwürdigung der arbeitenden Klassen auch unter den
freien Bedingungen seiner Zeit gegenüber, setzte dem allerdings die Überzeugung
entgegen, daß durch ökonomischen Fortschritt und verantwortungsbewußte Politik
die Lebenshaltung verbessert und die Daseinswürde aller arbeitenden Menschen
erreicht werden würde. Alle, auch die nicht unmittelbar wertschöpfende Arbeit sei
produktiv, sofern alle Berufsgruppen im rechten Verhältnis zueinander stünden,
das Potential der gesamten Arbeit also zweckmäßig verteilt sei. List ging über die
Lehrmeinung hinaus, daß sich das Wirtschaftssystem ohne Eingriff von selbst
harmonisiere und erhob die vorsorgende Wirtschaftspolitik zum Rang produktiver
Arbeit. Im nationalen System der politischen Ökonomie erhielt Arbeit daher einen
engeren, stärker voluntaristischen Bezug zur Nation, als es bislang in den Systemen
der Ökonomisten der Fall gewesen war. List stand mit den Liberalen und liberal-
demokratiscY. Gerichteten grundsätzlich in einer Linie, wenn er die Emanzipation
der Arbeit als Grundlage für den staats- und gesellschaftspolitischen Fortschritt
ansah und dies der dunkel·zurückliegenden Zeit entgegensetzte, in der eine freie
Arbeitsgesellschaft unter dem Druck der schädlichen Herrschaft ·privilegierter

187 R. v. BossE, Art. Arbeit, ERSCH/GRUBER 1. Sect., Bd. 5 (1820), 106 ff. im Anschluß

an HEINRICH STORCH, Cours d'economie politique, Bd. 1 (Berlin, Halle 1815), 128; ähnlich
z.B. KARL HEINIUCH LUDWIG PöLITz, Die Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit,
Bd. 2 (Leipzig 1827), 50. 72 ff.
188 PöLITz, Staatswissenschaften, Bd. 2, 72.

u 9 ERScH/GRUBER, 1. Sect., Bd. 5, 106.

189
Arheit n. 10. Liheraler Arheitshepilf
Arbeitsverächter (Müßiggänger) verhindert worden war. List sah, daß nur in
freien, religiösen Liindern Arbeit von den Menschen bejaht und darum nicht nur
mit Freude, sondern auch wirtschaftlich effektiv geleistet werde170 , während in
despotischen und sittlich verdorbenen Arbeit verachtet, mißmutig verrichtet werde und
daher die teuerste seim. Der liberaldemokratische Abgeordnete LöWE steigerte dies
liberale Credo an den nicht nur wirtschaftlichen, sondern sittlichen Fortschritt
1848 in der Paulskirche: Ist früher das Vorrecht heilig gewesen, so ist heute die Arbeit
heilig; die freie Arbeit, der Fleiß und die Tätigkeit ... ist heute die höchste Ehre1 72 •
Von da aus war es nur noch ein kleiner Schritt, wenn Arbeit selbst zur modernen
Religion, zum eigentlichen Sinn des Lebens überhaupt wurde - ein logisch zwar
ungereimter, aber einer bürgerlichen Hochstimmung gemäßer Schluß, der kon-
servativer und christlicher Wertung ebenso widersprach wie der liberalen Wurzel
im Eudämonismus des 18. Jahrhunderts. Denn die alte Triade „Bedürfnis - Ar-
beit - Genuß" war tendenziell aufgehoben, wenn die Arbeit selbst zum Genuß
werden sollte und somit auch der Nötigungscharakter des Verhältnisses von Be-
dürfnis und Arbeit zwar nicht geleugnet, aber ideologisch gelindert wurde. Diese
letztmögliche, weniger von der Theorie als im praktischen Leben sich aufdrängende
Konsequenz aus der ökonomisch und ethisch begriffenen Arbeit wurde in erster
Linie von Unternehmern des 19. Jahrhunderts gezogen. Sie stand im Gegensatz
zur Erfahrung der Lohnarbeiter und zur sozialistischen Theorie ihrer Fürsprecher,
aber auch zum traditionellen Arbeitsverständnis der Mühsal und des wohlverdien-
ten „Feierabends". Die gruppentypische Arbeitsaskese der Unternehmer in der
Frühindustrialisierung und z. T. weit darüber hinaus, die durch den Zwang zum
Kapitalgewinn in der wachsenden Industriewirtschaft und - anfangs noch ele-
mentarer____: durch die Existenzgefährdung der jungen Unternehmen herausgefor-
dert wurde, hatte bcgriffsgcschichtlich vielfältige Wurzelstränge. Liberalutilita-
ristische Vorstellungen waren mit christlichen vermischt; lutherisch begründete
Berufspflicht, calvinistische Bewährungsforderung, letztere z. T. auf dem Umweg
über die Wirkungen eines säkularisierten Puritanismus (BENJAMIN FRANKLIN:
Bedenke, daß die Zeit Geld ist}1 73, wirkten zusammen, um die - unbeschadet aller
lnterpretationskontroversen - von Max Weber richtig gesehene „innerweltliche
Askese" kapitalistischer Unternehmer (vorwiegend) protestantischer Herkunft zu
erzeugen.
Harte Arbeitsforderungen sich selbst und den Arbeitern gegenüber, „Rastlosigkeit",
Arbeit als Gottesgebot und Erfüllung des Lebens, Bcwö.hrungsbewußtsein in der
v 0 n Gott gesegneten Arbeit, Gewinnstreben für das Wachstum der Unternehmung,

170 FRIEDRICH LisT ging später der Frage nach, inwiefern Religionen, Sekten, Institutio-

nen der Arbeitsproduktivität nützlich oder schädlich sefen: Darum sind Manogamie,
.Christentum und Freiheit geeigneter, die Entwicklung der produktiven Kräfte und der Arbeit
zu begünstigen als Polygamie, Mohammedanismus und Kmchtschaft •.. Darum gibt es
sogar einen bemerkeniwerten Unterschied der produktiven Kraft zwischen den Anhängern
der verschiedenen christlichen Sekten; Le systeme nature! d'1foonomie politique (1837;
dt. Übers.), Schriften, Bd. 4 (1927), 529.
171 Ders., Art. Arbeit, RoTTECK{WELCKER Bd. 1 (1834), 646.

1 7 2 Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 5 (1848), 3899.


178 Zur Interpretation vgl. EDUARD BAUMGARTEN, Benjamin Franklin (Frankfurt 1936),

93 ff. gegen Mil: WEBER, Prot. E~ (s. Anm. 69), 31 ff.

190
II. 10. Liberaler Arbeitsbegrift' Arbeit

nicht dagegen für persönlichen Genuß oder gar Luxus - Der Genuß ist also unier
das Kapital, das genießende Individuum unter das kapitalisierende subsumiert
(KARL MARX 1844) 174 ---' Erziehung zur Arbeit und durch Arbeit, Scheu vor jeg-
licher Zeitaufopferung, außer der „Berufsarbeit", dem Gottesdienst und - weit
verbreitet - der Tätigkeit für das öffentliche.Wohl175 - das alles kennzeichnet
den Arbeits- und Berufsbegriff vieler oder jedenfalls der als repräsentativ geltenden
Unternehmer vor und nach der Jahrhundertmitte. Bei keiner anderen Berufsgruppe
hat sich der moderne (ökonomisch-moralische) Begriff der Arbeit mit den christ-
lichen, besonders protestantischen Überlieferungen, z. T. mit Hilfe alter, für diese
Verbindung nützlicher Topoi (zu „Arbeit und Fleiß"), derartig eng und zweck-
mäßig verbunden. Ein ähnlicher Rigorismus der Arbeit ist wohl nur noch im Ge-
lehrtenstand, d. h. in akademischen Berufen, vor allem bei Professoren und höheren
Beamten anzutreffen gewesen. Nur trat dort anstelle des Kapitalgewinnstrebens,
ja oft mit starkem Affekt gegen Erwerbs8inn und Genußssucht, das Selbstbewußt-
sein der „geistigen", autonom zweckfreien Arbeit. Von diesen beiden Richtungen,
den führenden Bürgern der Bildung und des Besitzes, wurde die Arbeit noch lange,
wenn auch nach der Reichsgründung mit abnehmender Intensität, weiter im öko-
nomisch-ethischen und idealistisch-christlichen Sinne begriffen176 • Verfolgen wir
diese Linie von der Wende der Revolution (1848) in die fünfziger und sechziger
Jahre hinein, so erkennen wir, daß zwar die Grundlage des aktiven Optimismus
beibehalten, dessen Überschwang aber eher „realistisch" zurückgenommen als
gesteigert wurde. So wurde in späteren Auflagen des „Staatslexikons" der ur-
sprüngliche Artikel von List im wesentlichen beibehalten, jedoch die Antithese
Arbeit und Frieden gegen hemchaftlichen Müßiggang 'l!-nd Krieg aufgegeben und
Zusätze sozialökonomischer Art gemacht, die der weitergegangenen Entwicklung
und der politischen Aktualität (Sklavenfrage in Amerika) angepaßt waren177 •
Solchem Realismus der fünfziger Jahre entsprach auch MANGOLDTS gegen jede
sozialistische Utopie, aber auch liberale Illusion gerichteter Artikel im „Deutschen
Staatswörterbuch" (BLUNTSCBLI/BRATER Bd. 1, 1857, 263 ff.).
Charakteristisch für die Begriffsentwicklung seit der Jahrhundertmitte war fernei;
die gesteigerte Einbeziehung der „sozialen Frage" in den Zusammenhang von
Freiheit und Arbeit. Schon in den dreißiger und vor allem in den vierziger Jahren
war ein „reiner" Liberalismus mit dem Glauben an die fortgesetzte ökonomische
Selbstheilung selten gewesen, vielmehr immer wieder um der sozialen Frage willen
eingeschränkt worden178• In BROCKHAUS' „Die Gegenwart" ist die den deutschen

m K. MAB.x,Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Erg.Bd. 1(1968),556.


176 Vgl. (mit weiterer Literatur) FRIEDRICH ZUNKEL, Der rheinisch-westfälische Unter-
nehmer 1834-1819 (Köln, Opladen 1962), 66 ff.; WOLFGANG KöLLMANN, Sozialgeschichte
der Stadt Barmen im 19. Jahrhundert (Tübingen 1960), 107 ff.
178 Vgl. WOLFGANG Hocx, Liberales Denken im Zeitalter der Paulskirche (Münster 1957),

108 ff. (mit Belegen).


177 _)!'. LIBT/'J!-. D. FRIEDLÄNDER, Art. Arbeit, RoTTEcx/WELCKER 3. Aufl., Bd. l (1856), 633ff.
178 Auf Belege, die der weiteren Differenzierung dienen würden, muß hier verzichtet

werden. Vgl. Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz, hg. v. WERNER CONZE (Stutt-
gart 1962); Die Eigentumslosen, hg. v. CARL JANTKE u. DIETRICH HILGER (Freiburg,
München 1965), passim.

191
Arbeit II. 10. Liberaler Arbeitsbegriff

Liberalismus charakterisierende soziale Richtung repräsentativ festgehalten worden:


zunächst Bejahung des freien Systems in der harmonischen Verbindung von Kapital,
Geist und Arbeit, Aufweis dessen im Entwicklungsgang der Geschiclae, Feststellung
der zunehmenden Demokratisierung der drei Potenzen und damit Übergang zur
besorgten Feststellung, daß schrankenlose Freiheit, unlJeschränkte und organisations-
lose Freiheit der Arbeit zur modernen Gefahr der Zentralisation von Kapital, Geist
und Arbeit geführt habe. Daraus aber seien soziale Strukturprobleme entstanden,
zu deren Lösung das grundsätzlich freie System erheblicher, eingreifender Hilfen
bedürfe. Die Gleichheit melde ihren Anspruch in der Freiheit oder aber gegen sie
an. Die Frage sei gestellt, ob und durch welche Mittel das Prinzip der freien
Arbeit im liberalen Industriestaat gegen die Programme der Sozialisten oder gar
Kommunisten gehalten werden könne. Die Aussöhnung wurde darin gesehen, daß
die wahre Gleichheit, daß jeder Innerlich-Befähigte zu allem gelangen könne, im Staat,
der zur Staatsgesellschaft heranreife, gewährleistet, die Berechtigung aber durch die
Befähigung bedingt sein müsse. Die Folgen der unorganisierten Arbeit seien schreck-
lich. Soziale Hilfe müsse staatsgesellschaftlich, also nicht karitativ, gegeben werden.
Nur eine soziale Freigabe der im freien System noch unentwickelten Arbeit können
den Zwiespalt überwinden, wie er sich auftue zwischen Berechtigung und Befähigung,
zwischen Gleichheit und Ungleichheit im Genuß, zwischen den Begriffen, welche die
Neuzeit· . .. rastlos bis zur äußersten Spitze verfolgt, und der Möglichkeit ihrer materiel-
len Befriedigung. Die Arbeit ist es, ih~e Natur, ihr Wesen, ihre Gestaltung und ihr
Organismus, welche alle Staatseinrichtungen, jedes gesellschaftliche Verhältnis feststellt,
und die eben kennt ihr so wenig/ 179 • Arbeit wurde damit zur Grundlage einer sozial
gerechten und ökonomisch effektiven, freien und gleichwohl organisierten Leistungs-
gesellschaft. Unter dem Druck solcher zeitgemäßen Forderungen wurde selbst die
im Gefolge von Prince-Smith und Bastiat popularisierte Freihandelsschule sozial
befrachtet, freilich in einer Weise, die dem System nicht zu widersprechen brauchte,
d. h. durch „Organisation" von Arbeit in der „Selbsthilfe" wirtschaftlicher „Asso-
ziationen" oder „Genossenschaften", wie sie vor allem von SCHULZE-DELITZSCH
propagiert wurden. Zwar verwendete Schulze die sozialistisch okkupierte Formulie-
rung „Organisation der Arbeit" nicht; faktisch aber handelte es sich um die Ein-
führung des genossenschaftlichen Organisationsprinzips in die Lehre von der freien
Arbeit. Er forderte in diesem Sinne, zu handeln, zu organisieren 186 und er verstand
unter freier Arbeit nächst dem, was üblicherweii;e uie Freihandelsschule darunter
begriff, auch den freien Zusammenschluß der in genossenschaftlicher Selbsthilfe
konkurrenzfähigen Kleingewerbetreibenden oder auch der solcherart besser als in
isoliertem Zustande durchhaltenden und zu einem allgemeinen Mittelstande auf-
steigenden Arbeiter. In solcher Weise sozial abgesichert pries er in extrem liberaler
Weise die freie Arbeit ... , wie sie die innere Erlösung zugleich mit der äußeren Be-
freiung der ArbeitermitNotwendigkeitnach sichzieht181 • Sie werde, da Arbeit überhaupt
die wirkende Hauptmacht im Haushalt der Menschheit sei, die Menschheit im ganzen
und großen frei machen, indem sie den Eintritt bewußter Massen in die Kultur-

1 79BROCKHAUS, Gegenwart, Bd. 1 (1848), 560 ff. 583 ff.


lso HERMANN SCHULZE-DELITZSCH, Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus
(1863), Sehr. u. Reden, Bd; 2 (1910), 173.
181 Ders., Freie Arbeit, ebd., 243.

192
II. 11. Romantisch-konservative Abwehr Arbeit

bewegung vermittelt, welche ohnedem nicht durchführbar ist. Der endliche vollständige
Sieg dieses großen Prinzips ist der Sieg <ier Menschlichkeit, das Endziel unserer gesell-
schaftlichen Entwickl1.f,ng 182 • So nahm der Praktiker der Genossenschaftsbewegung
zu relativ später Stunde noch einmal die liberale Utopie einer Selbstverwirk-
lichung der Menschheit durch die Freiheit der Arbeit auf.
Nicht minder folgenreich als der soziale Zusatz zum liberalen Arbeitsbegriff war die
dem Neuhumanismus und der idealistischen Philosophie entstammende geistig-
sittliche Korrektur. Wandten sich die Vertreter der philosophisch-historischen
Wissenschaften überhaupt, wie so oft, von der modernen Arbeitswelt ab und hul-
digten sie demgemäß einer Ideologie der schönen Nutzlosigkeit, dann trugen sie
zum Begreifen der Arbeit in der industriellen Epoche nichts bei. Wichtig dagegen
waren Versuche des Verstehens und der Versöhnung, für die DROYSEN repräsentativ
ist. Indem er, nicht ohne Vorwurf gegen die von der Sittlichkeit abstrahierende bloße
Ökonomie mit ihren banausischen Folgen für das Leben, das System <les wirtschaft-
lichen Lebens in der großen Weltökonomie aufgehoben und so das bloß Sinnliche
in <ler sittlichen Sphäre geadelt und vergeistigt sah, war es ihm möglich, auf seine
Weise, in der Nachfolge Hegels, den Fortgang der Arbeit in der Geschichte der
Freiheit zu sehen: den unendlichen Fortschritt von dem bornierten Vorrecht des
Nichtarbeitens in der antiken Welt zur sittlichen Anerkennung <ler Arbeit im Christen-
tum. Und auch da hat es erst <ler tiefeingreifenden Reformation bedurft, um die
Arbeit zu ihrer Ehre zu erheben, sie zu emanzipieren. Die freie Arbeit ist das gl,änzende
Ergebnis der großen Bewegung der Aufkl,ärung im 18. Jahrhundert geworden 183•

11. Romantisch-konservative Abwehr

Wie sich die Konservativen von Anfang an als „gegenrevolutionär", d. h. gegen die
Franzfüiische Revolution und ihre philosophischen Voraussetzungen gerichtet ver-
standen, so entwickelten sie ihre sozialökonomischen Ansichten in Abwehr gegen die
liberale Nationalökonomie und ihre Anwendung, gegen das Gewinnstreben oder den
„Materialismus" (F. Schlegel). So lehnten sie auch die Ökonomisierung von
Arbeit und Arbeitsteilung ab, wiesen aber dennoch - besonders früh FRIEDRICH
SCHLEGEL - dem Arbeitsbegriff eine zentrale Stellung in ihrem politischen Denken
zu und berührten sich darin mit frühsozialistischen Vorstellungen184• Ihre Vor-
stellung vom 11dlen christlichen Mittelalter, von dessen Verlust in einer gottlos
gewordenen Gegenwart und von der Zukunftshoffnung neuer Vermittlung und
neuer christlicher Durchdringung des Lebens bestimmte ihre Arbeitsvorstellung.
Mit dieser maßen sie, ausgerichtet an Idealen statisch-ständischer Ordnung, die
neue Zeit, in der das gleichmacherische Prinzip allgemeiner Arbeit die Vielfalt
gottgewollter Herrschaftsordnung in die Universalfabrik des stiidtischen Lebens,

1 82 Ders., Arbeiterkatechismus, 31; Freie Arbeit, 243.


183 JoH. GusTAV DROYSEN, Historik, hg. v. Rudolf Hübner, 4. Auß.. (Darmstadt 1960),
246 :ff., bes. 248; vgl. Hocx, Liberales Denken, 108 ff.
184 In einem wohleingerichteten Staate müßte man bloß durch Arbeit sich Eigentum ver-

schaffen können, und nur derjenige, der · den Stoff hervorbringt, der ihn weiter verarbeitet,
müßte das Recht haben zu handeln; F. SCHLEGEL,. Philosophische Vorlesungen, SW
Bd. 13 (1964), 156. Vgl. unten S. 197 (Babeuf). , '

13-90385/1 193
Arbeit II. 11. Romantiseh-konservati-ve Abwehr

d. h. in eine allgemeine Lohnarbeiterschaft eingehen lasse185• ADAM MÜLLER, der selbst


als Smithianer zu schreiben begonnen hatte; ·hat in den ;,Elementen der Staats-
kunst" (1808/09) den Arbeitsbegriff zuerst von koruiervativer Seite aus in einem
politisch-ökonomischen System entwickelt. Typisch romantisch war Müllers Vor-
stellung vom geschichtlichen Dreischritt, d. h. vom Gegensatz zwischen Mittelalter
und Gegenwart, der in einer gedachten und geforderten höheren Stufe zur Synthese
kommen sollte. In korrigierendem Anschluß an Smith wurden Land, Arbeit und
Kapital nicltt Quel'len des Reiclttwms an sich, sondern nur Elemente desselben genannt;
ihre regsame Wechselwirkung ist die einzige Quelle des Reiclttums188• Müller fand diese
drei Elemente geschichtlich den drei mittelalterlichen Ständen zugeordnet18':
das Land . . . führt auf den Adel, die Arbeit auf den Bürgerstand und das geistige
Kapital ... auf die Geistlichkeit. Dieser wies Müller im Mittelalter auch sein viertes
Element, die Bewirtschaftung des physischen Kapitals o<kr H andelschaft zu, das vom
geistigen Kapital noch ungeschieden gewesen sei, wobei er auf die räumliche Ver-
bindung von Kirche und Markt sowie auf den Doppelsinn des Wortes 'Messe'
hinwies. Die Trennung von Handelschaft und Wissenschaft sei durch die Refor-
mation: vollendet worden, und in neuester Zeit habe sich das physische · Ka-
pital eine Suprematie . . • über das gesamte bürgerliche Leben angemaßt. Der
Geldkapitalscharakter, kr ·al"le Arbeit zur mechanischen Funktion herabwürdigte, der
Dismemlwationsgeist, der das Landeigentum wie ein bloßes Kapital ansah, und der
Begri,Usgeist, der sich aller Wissenschaft bemäclttigte und das ganze große Welt-
reich der Ideen in kleine nützliche Wissenschaftchen und Kenntniskapitälchen zer-
setzte - das waren für Müller die Kennzeichen des modernen europäi!imhen Lebens,
das aus den Fugen der alten Notwendigkeit getreten sei und das schöne innere Eben-
maß verloren habe. Der einseitige Zustand der Dinge, wie ihn A. Smith beschrieben
habe, werde von den Modeökonomen ... für den ökonomischen Normalzustand
ausgegeben. Müller sah für die Zukunft die Überwindung dieser unwürdigen Ver-
hältnisse durch die Wiederherstellung der geistigen Macht voraus, wenn das geistige
und das ökonomische Leben der Menschen in eine neue, schönere Vereinigung treten
würden. In dieser neu geordneten, ausgewogenen Welt werde es, ökonomisch ge-
sehen, die Wechselwirkung von vier Ständen geben: der Geistlichkeit, des Adels,
der arbeitenden Bürgerschaft und der echten, noch nicltt emstierenden Kaufmannschaft
oder des Lehr-, Wehr-, Nähr- und Verkehrsstandes. Jetzt herrscltt der Verkehr allein;
ihn den andern drei Ständen gegenüber gehörigen Ortes einzufügen und zu balancieren,
ist die national-ökonomische.Aufgabe der Zukunft. Dieses heißt zwischen Mittelalter
und Gegenwart vermitteln. Damit war für Müller die Arbeit wieder an ihren ordnungs-
gemäßen Platz verwiesen. Sie war weder alleinige Quelle eines wachsenden Reich-
tums noch energetisches Prinzip einer emanzipierten, gottlosen Welt, sondern sie
sollte wieder christlich verstanden werden, und sie wurde im ökonomischen System
bezeichnenderweise besonders dem Nährstand zugeordnet, zu dem auch alle Kunst-
Arbeit, also das Handwerk gehörte. In diesem Stand der Bauern und Handwerker
stand die Arbeit als ökonomisches Element im Zentrum (Müller sprach von der

l86 ADAM MÜLLER, Agronomische Briefe (1812), I. Brief, Ausg. Abh., hg. v. Jakob Baxa
(Jena 1921), 74 f.
188 Ders., Die Elemente der Staatskunst, Bd. 3 (Berlin 1809), 10 f.

187 Zrim Folgenden ebd., 45. 48 ff. 50 ff. 55 ff.

194
D. 11. Romantisch-konservative Abwehr Arbeit

wahren, persönlichen, ungeteilten Arbeit), während im Verkehrsstand das phy-


sische Kapital diese Mitte einnahm, durch das merkantilistische Arbeit und Enter-
prise erst möglich wurden. Für den Lehr- und den Wehrstand fehlte dagegen das
Wort 'Arbeit' völlig. Müller sah den europäischen Kontinent nur dann noch als
zukunftsträchtig an, wenn die auf der Anhäufung physischen Kapitals beruhende
industrielle Entwicklung Englands nicht übernommen werde. Kapital und Arbeit,
die im Gleichgewicht stehen müßten, seien in England verhängnisvoll auseinander-
getreten. So nähere sich England dem politischen Tode. Für den Kontinent aber
hoffte Müller, daß beide Prinzipien: das auf dem Rechte beruhende der Arbeit
und das auf detn Nutzen beruhende des Kapitals, mit Gottes Hilfe verbunden bleiben
könnten. So wie ... keine Harmonie zwischen dem Rechte und dem Nutzen möglich
ist ohne Hilfe von oben, von Gott - so ist auch das Arbeitssystem einer Nation mit
dem Kapitalsystem in Übereinstimmung zu bringen nur durch die Religion188•
Enthielt Müllers Abwehr gegen das liberal-ökonomische System und dessen Arbeits-
begriff. noch eine Auseinandersetzung mit diesem System, so stand IIALLER in
seiner „Restauration der Staatswissenschaft" (1816/34) der modernen Wirtschafts-
gesellschaft bereits so fern, daß er die staatsökonomische Seite seines großen
Gegenstandes bezeichnenderweise so gut wie gar nicht in seine. Betrachtung ein-
bezog. Ein solches Absehen vom Problem der Arbeit galt jedoch nicht für die kon-
servativen Theoretiker schlechthin. Sie standen vielmehr alle in einer dem System
Müllers verwandten Richtung und verbanden mit ihrer Kritik am ökonomischen
Liberalismus oft einen wachen Sinn für die soziaien Implikationen der modernen
Arbeitswelt. So bemerkte FRANZ VON BAADER (1835 )189, daß die von den Smithianern
gepriesenen Vorteile der größeren Produktivitiit durch ihre fabrikmäßige Verteilung
usw. nur zur Anhäufung des Reichtums in wenigen Ständen und zum größeren Elend
der immer geringer entlohnten Arbeiter (Proletarier) geführt hätten. Baader sah
also unter dem Zeichen der modernen Arbeit die zunehmende Verelendung der Ar-
beiter und die Akkumulation des Kapitals schon ähnlich wie später Marx. Nur er-
blickte er die Lösung nicht in revolutionärer Emanzipation von den Fesseln der
liberalen Freiheit, sondern in konservativer Rückbindung der Menschen und ihrer
Arbeit. -Auf der gleichen Linie vertrat z. B. das „Berliner Politische Wochenblatt"
(1831-1841) den sozialkonservativen Begriff der Arbeit 190• Und von solcher
Position aus setzte sich VICTOR AIME HUBER mit dem sozialistischen Schlagwort
von der Organisation der Arbeit auseinander (1863) 191 , um dem die konservative
Sicht einer unter materiellen und sittlichen Erfordernissen organisierten Arbeit
in einer gegliederten, sozial sich neu assoziierenden Gesellschaft entgegenzusetzen.
In dieser Gesellschaft sollte, modern angepaßt und christlich-konservativ begrün-

188 .A. MÜLLER, Die innere Staatshaushaltung systematisch dargestellt auf theologischer

Grundlage (1820), Ges. Sehr. (München 1839), 275 ff.


189 F. v. BA.ADER, Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs

zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät (1835), Sehr. z. Gesellschaftsphilo-


sophie, hg. v. J. Sauter (Jena 1925), 319 ff., bes. 325; vgl. ebd., 844 über „Expropriation".
190 WOLFGANG SCHEEL, Das „Berliner Politische Wochenblatt" und die politische und

soziale Revolution in Frankreich und England (Göttingen 1964), 144 ff.


191 V . .A. HUBER, Die .Arbeiterfrage im Lichte volkswirtschaftlicher Thatsachen und Dog-

men, .Ausg. Sehr. über Sozialreform und Genossenschaftswesen, hg. v. K. Munding (Berlin
1894), 462 ff.

195
ArLeit D.12. Frühsoziidismus, Junghegelianer, Man:

det, die Arbeit, die ehrliche, nützliche, den Mann und die Seinen wenn auch not-
dürftig nährende Arbeit ( sc. und nicht der Besitz!) die Signatur der arbeitenden
Klassen sein, darin liege ihr konservativer Rechts- und Ehrenbrief (1857)1 9 2. Eine
Zusammenfassung der (betont sozial-)konservativen Auffassung in ihrer reifen
Stufe findet sich in HERMANN WAGENERS „Staats- und Gesellschafts-Lexikon"
1859. Er setzte noch einmal den liberalen Ökonomen, die die Menschen vergöttern,
den Menschen als Person im christlichen Sinne entgegen und stellte damit die Arbeit
in das rechte Maß: gegen künstliche Bedürfnisse ... Üppigkeit, Einbildung, Mode-
launen, . . . übertriebenes Verlangen nach Gewinn, . . . Gewinnsucht ohne Arbeit, für
Maßhalten in der Arbeit, Erholung, Sabbatruhe, deren Abschaffung der Industrialis-
mus der Neuzeit hie und da (selbst ... auf einem deutschen Universitätskatheder) zu
empfehlen sich nicht entblödet hat; für Ehrgefühl, PP,ichtgefühl und christliche Liebe
als Triebfeder rechter Arbeit, für sachangemessene, nicht sozialistisch"doktrinäre
Organisation der Arbeit (korporative Organisation), für Fürsorge und Wirksamkeit
des Staates, Schutz der Arbeit, ohne natur- und geschichtswidrige Reglementierun-
gen. Denn nur in den geschichtlichen Überlieferungen und volkstümlichen Institutionen
sind allerdings die rechten GTundlagen der Organisation sozialer Verhältnisse zu finden.
Die Regierungen können sie nicht neu erfinden, gerade wenn sie ihre soziale Verant-
wortlichkeit ernst nehmen. Die Arbeit wurde damit ausdrücklich ins historische
Recht gestellt. Wagener begründete seine Ablehnung des liberalen Arbeitsbegriffs
durch den Gedanken des „Dienstes", den er dem konservativen Arbeitsbegriff zu-
ordnete. Er zitierte die „Freimütige Sachsenzeitung" (1856), die in einem Artikel
„Dienen und Arbeiten" die Folgen der Arbeitsauffassung im Gefolge von Adam
Smith bezeichnet habe: als die Aufhebung alles Dienstes im Reiche Gottes auf Erden,
die allmähliche IIerauspraktiz.ierung aller Ehre aus den Arbeiten, das Brechen aller
Schranken im Leben, welche diesem Streben im Wege waren ... Man hebe . .. die Ab-
hängigkeit gegen Personen und Stände aller Art auf und stoße dafür 99/100 Teile der
Menschen in die schlimmste Arbeit-Sklaverei Sachen und Personen gegenüber193•
Mit einem solchen antimodernistischen und doch nicht unzeitgemäßen Begriff der
Arbeit hat Wagener auf Bismarck gewirkt.

12. 'Arbeit' als Grundlage einer Gesellschaft der Gleichheit:


Frühsozialismus, Junghegelianer, Marx

Sowohl die Liberalen wie die Konservativen hatten ihre Sicht des modernen Ar-
beitsproblems mit der „sozialen Frage" verbunden, mochte das auch jeweils ihrer
ideologischen Ausgangslage nicht entsprochen haben, da sie beide eine Gesellschaft
der Gleichheit mit ihren sozialen Folgerungen ablehnten. Eben dies war dagegen
die Konzeption der Vorläufer und frühen Vertreter des Sozialismus und des Kom-
munismus. Vom egalitären Gesellschaftsbegriff aus wurde das im Zentrum der
liberalen Grundrechte stehende Eigentum in Frage gestellt oder abgelehnt. Statt-
dessen sollten Arbeit und Bedürfnis allein der neuen Gesellschaft im Sinne sozialer
Gleichheit zu Grunde liegen. Die Idee der allgemeinen Arbeit als Pflichtdienst an

192 HuBER, zit. INGWER PA:ULSEN, Victor Aime Huber als Sozialpolitiker, 2. Aufl. (Berlin
1956), 179.
193 WAGENER Bd. 2 (1859), 478 ff., bes. 486, Anm. 1.

196
II. U. Frühsozialismus, Junghegelianer, Man Arbeit

der Gesellschaft und als einziger Rechtstitel auf Genuß bzw. (Anteil am) Eigentum
hatte bereits im Mittelpunkt der Utopien (besonders Morus und Campanella) ge-
standen, war im 18. Jahrhundert vor allem durch Mably, Morelly, Rousseau - an
die Wirklichkeit herangeführt worden194 und wurde zum ersten Mal durch BABEUF
Zu.m politischen Programm erhoben: nach Aufhebung jeglicher Ungleichheit des
Eigentums und der Machtchancen sollte die allgemeine Gleichheit als Gliick durch
das Recht auf gleichen und anständigen mittelmäßigen Wohlstand einerseits, die
Pflicht zu gemeinschaftlicher Arbeit andererseits, gesichert werden. Menschliche
Existenz durfte also nur auf Arbeit gegründet sein195• Über BuoNARROTI mündete
dieser Arbeitsbegriff in die früheste deutsche Arbeiterbewegung ein: In der deut-
schen Fassung der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" (1834:) wurde
Arbeit als Schu1.d definiert, welche jeder arbeitskräftige Bürger der Gesellschaft abtragen
muß; Müßiggang soll gebrandmarkt werden als ein Diebstahl1 96 • Dazu trat der
Einfluß SAINT-SIMONS und seiner Schule. War noch Saint-Simons Begriff der
'industriels' als der produktiv Arbeitenden (Bauern, Handwerker, Kaufleute ohne
Klassenspaltung) im Gegensatz zu den adligen Parasiten (oisifs) nicht neu gewesen,
so enthielt doch sein Zukunftsbild einer Gesellschaft des reinen, von der unproduk-
tiven Klasse des Feudalismus gesäuberten Industrialismus vieles, was auf die sozi-
alistische Fortführung seiner Lehren in der „Exposition de la doctrine des Saint-
a
Simon" (1829/30) vorauswies. Der berühmte Grundsatz chacun selon sa capacitl,
a chaque capacite selon ses oeuvres 197, der zum Gemeingut und Gemeinplatz des
kommenden Sozialismus wurde, sollte zum Prinzip der neuen Gesellschaft (associa-
tion universelle) ohne Ausbeutung und ohne Vererbung des Elends werden. L'homme
n'exploite plus l'homme; mais l'homme, associe a l'homme, exploite le monde livre
0

a sa puissance198•
Dieser Entgegensetzung - Ausbeutung der Natur durch den Menschen anstelle
der des Menschen durch den Menschen - lag die schon liberale oder allgemein
„aufgeklärte" Vorstellung vom epochalen Wandel der Arbeit zugrunde. War die
bisherige Geschichte charakterisiert durch arbeitsfeindliche Herrschafts- und
Kriegsverfassungen, so bedeutete deren Aufhebung das Freiwerden der mensch-
lichen Arbeit für den Fortschritt in einem Friedenszustand, der die Energien allein
zur Überwindung der Natur einzusetzen erlauben sollte: La force guerriere, d'abord
dei'{iee, est detranee par le travail pacifique1 99.

lH Anstelle von Einzelinterpretationen und -belegen sei auf den Überblick (mit weiterer
Literatur) bei Tmr.o RAMM, Die großen Sozialisten als Rechts- und Sozialphilosophen, Bd. 1
(Stuttgart 1955), 45 ff. verwiesen.
196 Bibliographie und Abdruck der Programmsätze bei RAMM, Sozialisten, 131 ff. 174 ff.
198 Text bei WOLFGANG ScmEDER, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Aus-

landsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830 (Stuttgart 1963), 316 f.
197 Das Motto der Zeitschrift „Le Globe"; vgl. RAMM, Sozialisten, 293.
198 Doctrine de Saint-Simon. Exposition (1829), ed. C. BouGLE et E. IIAL:EVY (Paris 1924)

94. Vgl. LORENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, hg. v. Gott-
fried Salomon, Bd. 2, 3. Aufl. (1850; Ndr. München 1921), 166: bei Saint-Simon (bes. im
„Catechisme des Industriels") sei die Arbeit zum Hauptelement aUes Bestehenden erhoben
(das Zitat findet sich in der 2. Aufl. 1848 noch nicht).
199 Doctrine, 164; weiter ausgeführt 235 ff. Vgl. dazu Friedrich List, oben S. 189 f.

197
.Arbeit Il. 12. Frühsozialismus, Junghegelianer, Marx

Extrem und konsequent erschien der sozialistische Begriff der Arbeit in der deut-
schen Sprache zuerst bei WILHELM WEITLING200 • Er ordnete seine zukünftige Gesell-
schaft als Gütergemeinschaft nach den Kriterien der Arbeit (Geschäftsordnung)
und des Genusses (Familienordnung). Diese bestimme die Bedürfnisse aller, jene
die Mittel zu deren Bestreitung. In einer zentralgelenkten Planwirtschaft sollte
allgemeine Arbeitspflicht herrschen. Ein bis ins einzelne ausgeführter Entwurf
dieser sozialistischen Zukunft, in der gesellschaftliche Gleichheit mit persönlicher
Freiheit vereinbar sein sollte, lief auf das Endziel hinaus, der Menschheit ein dauern-
des Glück zu gewähren.
Der allen sozialistischen oder kommunistischen Systemen innewohnende Zwang
zur planmäßigen Organisation der Arbeit ( organisation du travail) war schon
von den Saint-Simonisten zum Gegenbegriff des Laissez faire, laissez passer ge-
macht worden201 , wurde aber erst durch Louis BLANC popularisiert (1839/40) und
politisch aktualisiert (1848) 2 0 2 • Auch bei ihm war dieser Begriff gegen den öko-
nomischen Liberalismus (anarchische Konkurrenz) gerichtet, aber noch schärfer
als in der „Exposition" von 1829/30 sozialistisch-gemeinschaftlich begründet, wobei
das grundlegende Schlagwort der Saint-Simonisten ( capacite, wuvres) die von nun
an für den Sozialismus geläufige Wendung zum 'Bedürfnis' hin erhielt: de chacun
selon sa faculte, a chacun selon ses besoins 203 • Durch die Verwirklichung dieses
Grundsatzes in der Organisation der Arbeit sollte die Spaltung von Kapital und
Arbeit aufgehoben werden.
Der deutsche Beitrag z11 den frühsor.ialiRtiRch.en Systemen mit dem darin gnmd-
legenden Arbeitsbegriff war - von Weitling abgesehen - unerheblich gewesen.
Um so bedeutender wurde die Fortbildung des .Begriffs in der Nachfolge Hegels,
im revolutionären Sprung zur „Philosophie der Tat" bei den Linkshegelianern,
vor allem bei Marx. ,ARNOLD RuGE (1833/38) übernahm die Hcgelsche Ablehnung
der aristotelischen Polistradition mit ihrer Trennung von bürgerlicher Freiheit und
sklavischer Arbeit und sah mit Hegel die Vereinigung von Freiheit und Arbeit in
der Geschichte des Geistes. Er ging aber betont über Hegel hinaus, indem er die
menschlich-sozialen Folgerungen aus dem alle Menschen (Arbeiter) in gleicher Weise
wesensbestimmenden,. hohen, zivilisierenden ehrenden Begriff der nationüberwin-
denden Arbeit zu ziehen suchte. Der Notstaat der bürgerlichen Gesellschaft müsse
als Freiheitsstaat konstituiert werden. Es komme darauf an, den Unterbau selbst
zum Oberbau, d. h. zum einzigen Bau zu erheben 204• Weil der Arbeiter die höchste
Form des Menschen ist, so ist die bürgerliche Gesellschaft nicht eher zu ihrer vollkomm-
nen Idealität erhoben, als bis sie eine freie Arbeitergenossenschaft geworden ist, in der
alle Privilegien der Nichtarbeiter aufgehoben, aber alle Arten von Arbeiter, Hand-

100 W. WEITLING, Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte (Paris 1838/39); Inter-

pretation bei SCBIEDER, Arbeiterbewegung, 248 ff.


101 Doctrine, 139.
262 Loms BLA.NC, L'organisation du travail (1839; Artikelfolge in der „Revue du progres",

1840 als Buch in 1. Aufl., 1850 in 9. Aufl. erschienen).


2o 3 Hierzu HERMANN PECHAN, Louis Blanc als Wegbereiter des modernen Sozialismus
(Jena 1929), 76 f.
204 bNOLD RuGE, Aus früherer Zeit, Bd. 4 (Berlin 1867), 105 f.

198
II. 12. Frühsozialismus, Junghegelianer, Man: Arbeit

und Kopfarbeiter eingeordnet sind (Organisation du travail)2° 5• Diese Arbeits-


gemeinschaft oder Arbeitergenossenschaft sollte endlich zuni. großen Ziel der
menschlichen Gesellschaft führen. Sie sollte ermöglicht werden durch die Über-
windung des vom Menschen abstrahierenden ökonomischen Arbeitsbegriffs. Nicht
die Hervorbringung des Wertes allein, sondern eben dadurch die Hervorbringung des
Menschen ... , das ist die Aufgabe der Arbeit und muß ihr auch als ihr Ergebnis ge-
sichert werden 206• Arbeit wurde also von Ruge nicht nur als wesensspezifisch für
den Menschen angesehen, sondern sie sollte, indem der Mensch zum Arbeiter und
der Arbeiter zum Menschen wurde, die eigentliche Erfüllung des Menschlichen
erst herbeiführen. Wenn Ruge den Hegelschen Arbeitsbegriff von seiner trans-
zendentalen Beziehung löste, ihn sozialrevolutionär wendete und gleichwohl öko-
nomisch nicht konkretisierte, so stand er damit in einer breiteren Strömung
demokratisch denkender.Intelligenz. '
In diesem Zusammenhang ist FEUERBACBS Wirkung · hervorzuheben, dessen
Anthropologie zur Grundlage eines nunmehr explizit von der christlichen Tradition
gelösten Arbeitsbegriffs wurde; denn nur durch Befreiung von der ihn von sich
selbst entfremdenden Religion könne der Mensch als autonom tätiges Wesen zu
sich selbst kommen. - Die Auseinandersetzung von Friedrich Engels (1844) mit
Carlyles „Past and Present" (1843) 207 ist für die nachidealistische Entscheidung,
entweder einen noch religiös gestimmten Arbeitsbegriff beizubehalten oder einen
atheistisch-humanistischen Begriff der Arbeit zu gewinnen, aufschlußreich. CARLYLE
hatte, das schonungslose Laissez-faire der Liberalen, aber auch sozialdemokratische
Tendenzen scharf abwehrend, im Anschluß an Goethes innerweltliche Frömmigkeit
des Tätigseins das christliche laborare ex oratione umgedeutet zu labotare est orare,
Arbeit ist Gebet; er hatte hinzugefügt: älter als jedes gepredigte Evangelium war
jenes ungepredigte, nicht mit Worten gesprochene, aber unauslöschliche, immer bleibende
Evangelium: Arbeite, finde darin dein Glück 208• Damit hatte er eine Saite angeschla-
gen, die im bürgerlichen Lebensgefühl, zumal in Deutschland, im späteren 19. Jahr-
hundert, als sich ursprüngliche ideologische Grundpositionen der älteren Liberalen
und Konservativen verwischt hatten,· viel Resonanz fanden. Das „Evangelium der
Arbeit" war ebenso modern wie es andererseits die praktische Beziehung zum
„christlichen Idealismus" ermöglichte. FRIEDRICH ENGELS setzte dem mit Feuer-
bach entgegen: Gott ist der Mensch 209 und deutete damit die anthropologische Basis
für den atheistisch-humanistischen Arbeitsbegriff an.
Damit ist die allgemeine Ausgangslage für den jungen MARx 21 0 bezeichnet. Doch

205 Ebd., 377. Vgl. LöWI'l'B, Von Hegel zu Nietzsche, 292 ff. mit weiteren Belegen.
20 s RuGE, Aus früherer Zeit, Bd. 4, 360 f.
287 F. ENGELS, Die Lage Englands Rez. Thomas Carlyle, Past and Present, Dt.-Franz.,

Jbb. (1844), MEW Bd. 1 (1957), 525 ff.


208 Nach der erst Ende des Jahrhunderts erschienenen Übersetzung: THOMAS CARLYLE,

Einst und Jetzt, dt. v. P. Hensel (Göttingen 1899), 240 f.


2 0 9 ENGELS, Die Lage Englands, 546.
210 Aus der umfangreichen Literatur sind neben den genannten Werken von Löwith und

Marcuse (s. o. Anm. 155) für die. Interpretation des Begriffs wichtig: TmLo R.um, Die
künftige Gesellschaftsordnung nach der Theorie von Marx und Engels, in: Marxismus•
Studien, Bd. 2 (Tübingen 1957), 77 ff.; ERWIN METZKE, Mensch und Geschichte im ur-
sprünglichen Ansatz des Marxschen Denkens, ebd., 1 ff.; LEO KOFLER, Das Prinzip der Arbeit .

199
Arbeit U. 12. Frühsozialismus, Junghegelianer, Man:

war von Anfang an (1843/44) im Marxschen Arbeitsbegriff mehr enthalten als nur
politische Demokratie und Junghegelianismus. Abgesehen davon, daß der Rück-
griff auf und die Kritik an Hegel unmittelbar und durchaus ohne Vermittlung er-
folgten, nahm Marx auch die so widersprüchlichen Begriffskomplexe der Früh-
sozialisten (besonders Fourier) und der Ökonomisten (Smith, Say, Ricardo) in sein
System auf.
Bei ihm liefen also die Linien von Smith, Hegel und Saint-Simon zusammen und
blieben im neu gedachten Zusammenhang der ökonomischen und geschichtlichen
Theorie aufgehoben. So ist es verständlich, daß der schon für die drei genannten
Vorläufer zentrale Arbeitsbegriff bei Marx noch zwingender eine „Schlüsselposi-
tion" einnahm und geradezu eine „Entzifferungsfunktion" für den lnterpreten211
auszuüben vermag.
Seitdem die von Marx nicht veröffentlichten Manuskripte „Nationalökonomie und
Philosophie" (1844) und die „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie"
(1857/58) in den Jahren 1932 und 1953 ediert und damit der Forschung zugeführt
wurden, ist der Marxsche Arbeitsbegriff immer schärfer (bis zum Höhepunkt der
Interpretation bei Klages) im Zusammenhang des Systems im ganzen ins Ver-
ständnis gehoben worden. Wie bei Hegel ist der Begriff zunächst ontologisch und
historisch, sodann dessen Ansätze (freilich nur der Phänomenologie, der Rechts-
und Geschichtsphilosophie) fortführend und verkehrend, ökonomisch und sozio-
logisch zu fassen.
Marx knüpfte mehrfach explizit an Hegel an; so etwa 1844: Das Große an der
Hegelschen „Phänomenologie" sei es, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen
als eimen Pruzeß faßt, ... daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständ-
lichen Menschen, wahren weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit
begreift. Arbeit macht für Marx da.~ Wesen des Menschen aus, allerdings nicht mehr
nach Hegelscher (spiritualisierender), sondern nach Feuerbachseher Anthropologie:
des „gegenständlichen", d. h. allein „wirklichen" Menschen, der sich durch Arbeit
als Selbsttätigkeit „vergegenständlicht", selbst „verwirklicht", „entäußert" 212 •
Wie Hegel stellte er diese Wesensbestimmung des Menschen in die Geschichte
als eines (nun freilich entspiritualisierten, materialistischen) Prozesses: die ganze
sogenannte Weltgeschichte sei nichts anders als die Erzeugung des Menschen durch
die menschliche Arbeit213• Auch und gerade im zukünftigen Kommunismus sollte
der Mensch nach Aufhebung seiner „Entfremdung" in der kapitalistisch fremd-
bestimmten Arbeit sich als emanzipierter Arbeiter „verwirklichen".

in der Marxschen und in der Gehlenschen Anthropologie, Schmollers Jb. f. Gesetzgebung,


Verwaltungu. Volkswirtschaft78/1 (1958), 71 ff.; HELMUT KLAGES, Technischer Humanis·
mus. Philosophie und Soziologie der Arbeit bei Karl Marx (Stuttgart 1964): Klages bezieht
die wichtigen „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie" (Berlin 1953; Ndr. Frank-
furt 1967) voll in die Interpretation ein und sucht dadurch mit Erfolg die Kluft zwischen
dem ;,jungen" und dem „späten" Marx zu überbrücken.
211 KLAGES, Techn. Humanismus, 11.
212 K. MARX, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Erg. Bd. 1 (1968),

574.
218 Ebd., 546.

200
II. 12. Frühsozialismus, Junghegelianer, Man: Arbeit

Bis zu diesem Ende der Geschichte als Entfremdung oder der ,;Vorgeschichte"
des Zu-sich-selbst-Kommens des Menschen in der Zukunftsgesellschaft habe der
Mensch bestimmte Stufen seiner Entwicklung durchlaufen, die durch die Wand-
lungen der Arbeit bestimmt waren. Nach einem rohen Urzustand, in dem die Arbeit
noch nicht entfremdet, d. h. dem Menschen noch voll zugehörig oder unmittelbar
auf den Bedarf bezogen war, folgte der „ökonomische Sündenfall" der „ursprüng-
lichen Akkumulation", d. h. einseitiger Überfl.ußproduktion, die die spätere Tren-
nung von Kapital und Arbeit und damit die Klassenspaltung in Kapitalisten und
Proletarier, die durch das Geld eingeleitet wurde, ermöglichte. Damit wurde jenseits
der produktiven Tätigkeit eine neue „ 'Vergegenständlichungs' - und 'Gegenstands' -
Dimension" 214 aufgebaut, die als „Ware" und „Kapital" im Tauschumlauf das
wirtschaftliche Interesse beanspruchte, während die eigentliche Arbeit als primäre
Vergegenständlichung ökonomisch nur Produktionsfaktor, menschlich aber als das
Elend der Entfremdung anzusehen war. Indem der Arbeiter sich selbst als Ware
verkaufte, der Kapitalist aber seine Arbeitskraft einkaufte, um den Arbeiter zu
„exploitieren" (Mehrwertentzug), folgten aus der Entfremdung Feindseligkeit,
Klassenhaß und Revolutionsbereitschaft. Diese sich zunehmend verschärfende
Konfliktsituation ist unter den gegebenen Verhältnissen nicht auflösbar, weil der
Arbeiter eigentumslos ist: er besitzt keine Produktionsmittel und kein über das
Existenzminimum hinausgehendes Privateigentum. Dieses war für Marx das
Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit ... Das
Privateigentum ergibt sich also durch Analyse aus dem Begriff der entäußerten Arbeit,
d. i .... des entfremdeten Lebens, des entfremdeten Menschen 215 . Existenz und Wesen
des durch Arbeit definierten Menschen waren für Marx also weit auseinander-
getreten. Der universal gerichtete, seine Freiheit in Selbsttätigkeit suchende
Mensch ist seinem Wesen entzogen. Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhältnis
dahin um, daß der Mensch ... sein Wesen nur zu einem Mittel für seine Existenz
macht21e.
Die Arbeit ist aber nicht nur als fremdbestimmtes Mittel zur nackten Existenz
vom Menschen als Menschen (seinem Wesen nach) getrennt und lediglich dem
entmenschlichten Menschen als „Proletarier" und „Ware" zugehörig, sie ist unter
den Bedingungen der Maschinenindustrie auch in ihrem technischen Vollzug unter
das spezifisch Menschliche gesunken. Denn. die eigentliche Arbeit wurde vom auto-
matischen System der Maschinerie 21 7 übernommen, der Arbeiter zum Handlanger
degradiert; seine Arbeit wurde· zur Langeweile monotoner Arbeitsplackerei und der
Tendenz zur Gkichmachung oder Nivellierung der Arbeiten218 unterworfen. Die
Tätigkeit des Arbeiters, auf eine bloße Abstraktion der Täti,gkeit beschränkt, ist nach
alkn Seiten hin bestimmt und geregelt durch die Bewegung der Maschinerie, nicht
umgekehrt . . . Der Produktionsprozeß hat aufgehört, Arbeitsprozeß in dem Sinne zu

2u KLAGES, Techn. Humanismus, 56.


21 ~ MARx, Ökonom.-philos. Manuskripte, 520.
118 Ebd., 516.
217 MARx, Das Kapital, Bd. 1 (1867) Kap. 13, 1. MEW Bd. 23 (1962), 402.

21 9 Ebd., 502. 442; vgl. KLAGES, Techn. Humanismus, 73 f. ·

201
Arbeit ll. 12. Frühsozialismus, Junghegelianer, Marx

sein, daß die Arbeit ihn als die Um beltemchende Einheit übergriffe ... In der Ma-
schinerie tritt die vergegenständlichte Arbeit der leberuligen Arbeit im Arbeitsprozeß
selbst als die sie beherrschende Macht gegenüber, die das Kapital als Aneignung der
lebendigen Arbeit seiner Form nach ist. Die lebendige Arbeit sei verwandelt in bloßes
lebendigesZubehördieser Maschinerie 219 . Marxnahmalsoeinhalbes.Jahrhundertspäter
und daher auf einer breiter gewordenen Erfahrungsgrundlage Hegels frühe· Ein-
sichten aus der „Jenenser Realphilosophie" ohne Kenntnis derselben auf und stei-
gerte sie zur absoluten Hoffnungslosigkeit unter den gegebenen Bedingungen der
kapitalistischen Arbeitswelt. Die optimistische Antwort der Liberalen auf das Elend
der Arbeit und des arbeitenden Menschen im Sinne des Fortschritts von Freiheit
und Wohlstand durch die entlastende Maschine und das allgemein wohlstands-
steigflrnofl Wirt.<111h11.ft.Rw11.nhRt.11m lehnt.e er schroff ab. Marx .zitierte John Stuart
Mills skeptische Bemerkung: Es ist fraglich, ob alle bisher gemachten mechanischen
Erfindungen die 1'agesmühe irgendeines menschlwhen Wesens erleichtert haben,
um festzustellen, daß dies keineswegs der Zweck der kapitalistisch verwandten
Maschinerie sei. Sie sei vielmehr allein Mittel zur Produktion von Mehrwert22o, und
damit kamen weder der akkumulierende Kapitalist noch der des Gewinns erhöhter
Produktivität 1m·au1Le .A.rlieiLt:1· au~ iltJrn 7.irkel tle.r Selbstentfremdung durch eine
ihres Sinns entkleidete Arbeit heraus. Auch Hegels Zuversicht einer Überwindung
der Spannung von „En täußerung" und „ Verwirklichung" durch Arbeit teilte er nicht,
blieb aber doch Hegels „List der Vernunft" nahe, wenn er denEntfremdungsprozeß
sich zuspitzen und auf den revolutionären Umschlag zutreiben ließ, der das Ende
der Entfremdung und die Emanzipation des Menschen als Arbeiter bringen sollte.
Dies sah Marx sich nicht etwa nur dadurch vollziehen, daß die Produktionsmittel
sozialisiert, die ausgebeutete Klasse beseitigt und über die Herrschaft des Prole-
tariats der Weg zur klassenlosen Gesellschaft freigegeben werden sollte. Eine
Assoziation zu verwirklichen, worin die freie Entwicklung eine., jeden die Bedingung
für die freie Entwicklung aller ist221 , konnte vielmehr nur dadurch gelingen, daß das
automatische System der Maschinerie in sich die - im Kapitalismus verhinderte -
Möglichkeit besaß, den Menschen zu einem sein Wesen venivirklichenden, wiirdigen
Arbeitsleben freizusetzen. Der Entlastungs- und Vervielfältigungseffekt maschinel-
ler Produktion sollte also nicht mehr die Versklavung, sondern die Befreiung des
Menschen herbeiführen helfen. Gerechter Gewinn, geringere Arbeitszeit, menschen-
würdige Arbeitsbedingungen sollten das Reich der Notweruligkeit 222 zu einem freien,

119 MA.Rx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-1858
(Berlin 1953), 584 f.; vgl. KLAGES, Techn. Humanismus, 74.
280 MARX, Kapital, Bd. 1, Kap. 13, Anfang. MEW Bd. 23, 391.
221 Mßx/F. ENGELS, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), MEW Bd. 4 (1959), 482.
121 Vber das „Reich der Notwendigkeit" und das „Reich der Freiheit" s. vor allem die

vieldiskutierte Stelle bei MA.Rx, Kapital, Bd. 3 (1894); Kap. 48. MEW Bd. 25 (1964),
828. Klages' Deutung hebt die bisher vorherrschende „dualistische" Interpretation dieser
St{llle auf und fügt sie überzeugend in das Gesamtverständnis des Arbeitsbegriffs, ohne
prinzipielle Widersprüchlichkeit zwischen dem „jungen" und dem „alten" Marx. Vber die
hier angeführten Belege hinaus s. KLAGES, Techn. Humanismus, 78 :ff.

~02
II. 12. Friihsoziaijsmus, Jmaghegelianer, Marx Arbeit

d. h. freudig bejahten und bewältigten Bereiuh des Lebens machen, in dem die
Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis 223 sein
sollte. Bereits im Reich der Notwendigkeit, d. h. in der daseinsermöglichenden
materiellen Produktion, sah Marx, explizit im Gegensatz zur Fluch-Tradition von
der Bibel bis zu Smith, die Arbeit als Selbstvef"llJirklichwng, Vergegenswndlichung
des Subjekts, d. h. reale Freiheit, deren Aktion eben die Arbeit sei224 ; in ihr, nicht außer
und nach ihr, d. h. in der Ruhe, liege schon BeWtigung der Freiheit. Marx polemisierte
ausdrücklich gegen die Vorstellung, daß grundsätzlich die Nicht-Arbeit als „Freiheit
und Glück" im Gegensatz zur Arbeit als äußere Zwangsarbeit erscheine. Das gelte
zwar für die historischen Formen der Arbeit als Sklaven-, Fronde-, Lohnarbeit, aber
nicht für Arbeit schlechthin und gewiß nicht für die Arbeit in der kommunistischen
Gesellschaft, iri der es wirklich freies Arbeiten g1=m1m1ll da.durch gebe, daß 1) ihr
gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, 2) daß sie wissenschaftlichen Charakters, zu-
gleich aUgemeine Arbeit ist. Marx' Erkenntnis, daß die Arbeit im Industriesystem
auf wissenschaftlicher Grundlage beruhe und fortgesetzt neue wissenschaftliche
Forschung provoziere, wurde von ihm mit der Zukunftserwartung verbunden, daß
die Arbeitszeit verkürzt und dadurch zunehmend Freizeit gewonnen werde, d. h.
Zeit /iilt die volk Entwicklwru.1 11.e.~ lruU•1Jül•u1ums, J„w selbst ·wieder al& difl größ~ Pro-
duktionskraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit996• Das Reich der Freiheit
wird also nicht als Glück der Muße, sondern als schöpferische Energiequelle be-
griffen, vom Standpunkt des unmittelbaren Produktionsprozesses aus betrachtet ...
Produktion von ... capital fixe being man himself, Zeit für höhere Tätigkeit, für die
Entwicklung der geistigen Kapazif,äten 228, für die geistige Arbeit, die mit der körper-
lichen in Wechselwirkung steht, sie ergänzt und von ihr, da sie auf den Produktions-
prozeß oder die zunehmende Beherrschung der Natur h11zog1m blieb, nicht mehr
getrennt sein sollte. Arbeit des emanzipierten Menschen sollte sich in den einander
durchdringenden, das Dasein des Menschen also nicht trennenden, sondern ver-
bindenden Reichen der Notwendigkeit· und der Freiheit auf eine wissenschaftlich-
technologische Weise vollziehen, so daß in· der Notwendigkeit Freiheit und in der
Freiheit Notwendigkeit enthalten sein werde. Der Mensch sei durch seine Selbst-
verw.irklichung in solcher Arbeit in ein anderes Subjekt verwandelt 227 worden.
Seheii wir die Spannung zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Hand- und Geistes-
arbeit, zwischen Land und Stadt, zwischen Herrschaft und Knechtschaft für Marx
in dieser Weise aufgelöst, so kann zusammenfassend geurteilt werden, daß die
Wesensbestimmung des Menschen durch Arbeit, damit aber auch die Reduktion
auf Art, Inhalt und materielle Bedingungen seiner Produktion noch nie vorher so
umfassend und konsequent drirchgeführt worden ist. „'Arbeit' im Sinne der un-
mittelbaren und mittelbaren Produktionstätigkeit ist die Art und Weise, in der
der Mensch sich selbst aus seiner bloß substantiellen Möglichkeitsform 'heraus-
schafft' und - am Ende - der kontinuierliche Vollzug der Einheit zwischen
menschlicher 'Existenz' und menschlichem 'Wesen'. Marx' 'realer Humanismus'

123 K. M.utx, Kritik des Gothaer Programms, MEW Bd. 19 (1962), 21.
114 M.utx, Grundrisse, 504 ff.; auch zum Folgenden.
216 Ebd„ 599.
116 Ebd.
ss1 Ebd.; vgl. KLAGES, Techn. Humanismus, 98 ff.

203
Arbeit II. 12. Frühsozialismm., Junghegeliaaer, Man:

ist Ohiffro oinor toohnißoh-s}li1mLi.fu!chen Eseha.tologie, besti.mmL 1iich konkret a.ls


technischer Humanismus" 228 • Inwiefern diese Eschatologie zur Utopie wird, ist
hier nicht zu erörtern 229 • Daß aber seine Deutung am Beginn einer langen Reihe
von weiteren Bemühungen, die moderne Arbeitswelt zu begreifen, gestanden hat,
ist sicher - sei es in bejahender Fortsetzung, sei es in simplifizierender Rezeption,
sei es in ablehnenden Antworten und eigenständigen Versuchen.
Die Sozialdemokratische Partei stand zunächst nur insofern in der Nachfolge von
Marx, als dessen Lehre, soweit sie überhaupt bekannt war, und in ihr der Arbeits-
begriff in ungenauem Sinne sozialistischem Gemeingut entsprach. Schlagworte wie
„Mann der Arbeit", „ökonomische Emanzipation der Arbeit" wurden den „Statu-
ten der Internationalen Arbeiter-Assoziation" (1866) entnommen. Lasalle wirkte
durch sein „ehernes Lohngeimt:r." 1mci ciP.n Gedanken der „Produktiv-Assoziation".
Doch fügte sich das in verbreitete Vorstellungen von Arbeit ein, ohne daß Lassalle
einen neuen, begriffsgeschichtlich wesentlichen Beitrag geleistet hätte. War das
„Eisenacher Programm" (1869) noch zurückhaltend gewesen, so wurde im „Gotha.er
Programm" (1875) der Arbeitsbegriff an den Anfang gestellt und sollte damit dem
Ganzen zugrunde gelegt werden: Die Arbeit ist die Quel"le allen Reichtums und aller
KuUur, und, da allgem~in nutzbt··ingentk A.1·be·it nwr 1lwrt:l1. 1lie. Ge.sellschaft möglich ist,
so gehört der Gesellschaft, d. h. allen ihren Gliedern, das gesamte Arbeitsprodukt, OOi
allgemeiner Arbeitspff,icht, nach gleichem Recht, jedem nach seinen vernunftgemäßen
Bedürfnissen. Diese unbeholfenen Formulierungen wurden von Marx als hohle
Phrasen schonungslos verworfen 2a0 • Doch bewirkte das nichts. Der Arbeitsbegriff
wurde inmitten einer teils pragmatisch, teils „marxistisch" werdenden politischen
Theorie der SPD nicht weiter-, sondern angelehnt an Marx hinter diesen zurück-
entwickelt. So schrieb KARL KAUTSKY (1892) vereinfachend: Erst der Sieg dea
Sozialismus ermöglwltt es, die Zeit der Arbeit zur Gewinnung des Lebensunterhalts
so weit zu verkürzen, daß dem Arbeiter die nötige Muße gegeben wird. ·. . • N wht die
Freiheit der Arbeit, sondern die Befreiung von der Arbeit, wie sie das Ma.schinenwesen
in einer sozialistischen Gesellschaft in weitgehendem Maße ermöglwht, wird der Mensch-
heit die Freiheit des Lebens bringen, die Freiheit künstlerischer und wissenschaftlicher
Betätigung, die Freiheit des edelsten Genusses 2 31.
In der Agitationssprache spielte das Wort 'Arbeit' vom Beginn der Arbeiterbewegung
an eine seiner Bedeutung in der sozialistischen Lehre entsprechende Rolle. In der
ersten Nummer der la.ssa.llea.nischen Zeitung „Der Social-Demokrat" (15. 12. 1864)
hieß es z. B. im Programm: Wir verwerfen die bisherige Beherrschung der Gesell-
schaft durch das Kapital - wir hoffen zu erkämpfen, daß die Arbeit den Staat regiere.
In GEORG HERWEGHS „Bundeslied" für den „Allgemeinen Deutschen Arbeiter-

12s So KLAGES, Techn. Humanismus, 108.


189 Dazu KLAGES' „Kritischer Teil" zum Marxschen Arbeitsbegriff, Techn. H:umanismus,
129 ff.
m MAB.x, Kritik des Gotha.er Programms, RandgloBBe 1. MEW Bd. 19, 15 ff.
131 KARL KAUTSKY/BBUNO SCHöNLANK, Grundsätze und Forderungen der Sozialdemo-

kratie. Erläuterongen zum Erfurter Programm (1892; Berlin 1912), 175. Weitere Belege
ähnlicher Richtung bei SUSANNE Mn.LEB, Das Problem der Freiheit im Sozialismus.
Freiheit, Staat und Revolution in der Programmatik der Sozialdemokratie von La.ssalle
bis zum Revisionismus-Streit (Frankfurt 1963), 242 ff.

204
D. 13. Auseinandersetzung mit dem Sozialismus Arheit

verein" stand - nach Schilderung des Elends und der Ausbeutung der berühmt
gewordene VeTs:
Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne Deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn Dein starker Arm es will 2 3 2•
Wenn 'Arbeit' so, mit dem Gegenbegriff der Faulheit, zur Begründung des Klassen-
kampfes wurde und 'Arbeit' in der Schlagwortsprache gegen 'Kapital' stand, so
schwang im BegriffWidersprüchliches zusammen: 'Arbeit' als Plage der Unterschicht,
fortgeschleppte alte Tradition, und'Arbeit' als Ehrentitel für den „Arbeiterstand",
wie ihn Lassalle gepriesen, oder für das „Proletariat", wie Marx es geschichts-
philosophisch überhöht hatte, sicherlich aber auch der Stolz auf die gelernte Arbeit
in der Überlieferung des „ehrbaren Handwerks", wie die frühen Berufävereine
(Gewerkschaften) sie pflegten. Diese „Berufs"-Einstellung ist - je nach Umwelts-
bedingungen unterschiedlich - besonders in der frühen handwerklich geprägten
Arbeiterbewegung zweifellos noch stärker verbreitet gewesen als der Haß auf den
Dämon Arbeit und die Devise „Arbeit und Enthaltsamkeit", den PAm. J,AFARmrF.
(1883) don .Arbeitern Dto.tt ihrer Arbcits1moht und Liebe :mr Arbeit einimpfen wollte.
D1L11 v11r11tii.nilni11lo11 geforderte Re.cht att/ Arbeit war für Laforguo unter don gcgobo·
nen Bedingungen nur ein Recht auf Elend. Nur revolutionär werde ein Gesetz zu
erzwingen sein, das jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten.
Mit dem Lob auf die Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden schloß
Lafargue als hedonistischer Außenseiter seine Broschüre233 - weit entfernt von
Marx' Wesenbestimmung des Menschen durch Arbeit, auch im „Reich der Freiheit".

13. 'Arbeit' in der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus

Da nirgends die Gesellschaft in modernem Verständnis so ausschließlich auf Arbeit


gestellt worden war wie bei den Theoretikern des Sozialismus oder des Kommunis-
mus, konnte Arbeit von der Mitte des Jahrhunderts an nur noch in Bezug zu diesen
begriffen werden. Dabei verblaßte vielfach sogar der Gegensatz zwischen „kon-
servativ" und „liberal", und der christliche Arbeitsbegriff, der seine Sicherheit im
Kampf gegen den Wirtschaftsliberafü1mus aus alter, vorrevolutionärer Tradition
geschöpft hatte, sah sich gegenüber dem Sozialismus in den Zwiespalt von Feind-
schaft oder Nachbarschaft gestoßen.
Unter allen Kritikern des Sozialismus, die in diesem Zusammenhang hervorzuheben
sind, ragte LORENZ VON STEIN weit hervor, da er nicht neben, vor oder im Sozialis-
mus stehengeblieben war, sondern durch Kommunismus und Sozialismus hindurch
anlangen wollte 234 • In intensiver Auseinandersetzung mit den Sozialisten und der
„sozialen Bewegung", vornehmlich in Frankreich, suchte der Hegelianer die

232 G. HERWEGH, Bundeslied für den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein (1864), Neue

Gedichte (Zürich 1877), 131 ff., bes. 132.


233 PAUL LAFARGUE, Das Recht auf Faulheit (1883; dt. 1891), hg. v. Iring Fetscher

(Frankfurt, Wien 1966), 19. 28. 34. 47 f. und passim. ·


234 STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 1 (1921), 122. (s. Anm. 198).

205
Arbeit ll. 13. Auseinanileraeb1mg mit dem Sozialismus

Beweglmg11gflfmtu1 rler Ge~elfachaft, besonders in der gegenwärtigen, zur J,fümng


drängenden Spannung der „Erwerbsgesellschaft". Die unabhängig von Marx
philosophisch „deutsch" und in der Empirie „französisch" entdeckte Diaiektik des
Klassenkampfes (aus Naturnotwendigkeit) stand der Marx.sehen Konzeption in der
Analyse nahe und in der logischen Schärfe nicht nach. Doch da das transzendental-
philosophische Fun:dament Hegels nicht verworfen wurde, wurde der Sozialismus
von Stein nur durchschritten, aber nicht zum Ziel gesetzt.' Arbeit' wurde daher von
Stein, im vollen Bewußtsein ihres Stellenwerts in sozialistischen (kommunistischen)
Systemen, eher an Hegel als an Marx herangeführt. Sie war für Stein, ontologisch
und historisch verstanden, die Betätigung 0-er freien Selbstbestimmung dff Persim-
lichlceit in 0-er Natur und damit die lebendige Verwirklichung der persimlichen Frei,;.
heit ... Sie ist das wirkliche W erO-en 0-er Freiheit 0-er Menschen; sie ist darum absolut
notwendig, und in diesem Sinne ist die Menschheit zur Arbeit geschaffen. Die Arbeit
aci in ihrem Umfange wie it1t iMer Art der s·icherste Gradmesser des 'llWt/,/Jc/ilwlw1i
Fortschrittes 236• Die so verstandene Arbeit wurde von Stein sowohl in der Güter-
lehre wie in der Gesellschaftslehre, dort unter den G;esichtspunkten der wirklichen
Arbeitskraft, 0-er mechanischen und bildenO-en oO-er freien Arbeit, Ordnung = 1.'eilung
und Leitung der ArhAit, hi11r iihAr rlie nefinit.ion der (Je.isti.ge.n Arbeit hinauil ala
siUliche Arbeit, als geistiger Keim 0-er gesellschaftlichen Arbeit expliziert. Darauf
zielte Stein vor allem ab, daß die Arbeit die Grundlage auch der sittlichen Entwicklung
.ist und· ... zugleich die Erhebung 0-er niederen Klassen und den FortschriU der Mkeren
zu ihrem Zwecke nimmt 236• Hinter dieser Zielsetzung (ohne den Brucheiner sozialen
Revolution und ohne das Bild einer Zukunftsgesel~chaft) stand Steins Wille, den
Sozialismus zu überwinden. Er setzte ähnlich wie Marx die Arbeit als das Kriterium
der Zweiklassenspaltung: schon in der sWmdischen Gesellschaft sah er Besitz und
Arbeit, somit besitzenO-en und arbeitenO-en Stand getrenii.t 237, sodann in der „Er-
werbsgesellschaft" Kapital und Arbeit, somit „Kapitalisten" und „Arbeiter"
(„Proletarier") geschieden. An sich sei ein natürlicher und organischer Zusammen-
hang zwischen Kapital und Arbeit, 0-er zunä,chst auf 0-em gegenseitigen Bedürfnisse
beruht, der Ordnung der Erwerbsgesellschaft immanent. Doch wiederum gesetzlich
und unausweichlich treten Kapital und Arbeit aus ihrer Harmonie heraus ... Das
Interesse 0-es Kapitals ... tritt daher im Gegensatz zur Bestimmung 0-er Arbeit,· und
dies ist der WiO-erspruch, in 0-en sich jene ursprüngliche Harmonie auflöst 238 • Der
Zwang zum Klassenkampf, der sich daraus ergab, wurde von Stein als unabwendbar
erkannt und in seinen Konsequenzen analysiert; die vom Kommunismus und vom
Sozialismus angebotenen Lösungen wurden zum Verständnis gebracht und - weil
freiheitsgefährdend - verworfen. Ist es aber wahr, daß Arbeit und Freiheit iO-entisch
sind - dies ist die entscheidende, Hegel verpflichtete Prä.misse Steins - und daß
ihrem höheren Wesen nach die Arbeit das ihr entsprechenM Besitztum /ur 0-en Arbeiter
geben soll, so muß es eine Ordnung der Gesellschaft geben, in welcher diese Idee 0-er

m L. v. STEIN, Systein der Staatswissenschaft, Bd. 1 (Stuttgart, Tübingen 1852; Ndr.


Osnabrück 1964), 138 f.
2 31 Ebd., 141 f. 143; Bd. 2 (Stuttgart, Augsburg 1856; Ndr. 1964)~ 100 f.
28 7 STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. l; 91.

m Ebd., 105 f. 108. 110.

206
D. 13. Ameiuandenetzung mit dem Sozialismus Arbeit

.Arbeit und dieses ihr höheres Reckt verwirklicht wird 238 • Hierzu bedürfe es der Hilfe
des Staates, auf daß durch Verbindung von politischer und sozialer Demokratie
(später „soziales Königtum") die soziale Revolution vermieden und die soziale
Reform eingeleitet werden könne. Diese könne nicht in der .Aufhebung der Klassen
bestehen, da dies ein Verkennen der Natur i;iei, sondern müsse zur Harmonie in der
Vereinigung der Interessen führen. Die besitzende Klasse müsse zur Einsicht kom-
men und' der Staat dazu helfen, daß die letzte .Arbeitskraft die Fähigkeit habe, zum
Kapitalbesitze zu gelangen 240• Ähnlich wie Hegel und Marx ging es Stein also um
die Selbstverwirklichung des Menschen durch seine - nicht fremdbestimmte und
gewinnberaubte - Arbeit. Nur bezog sich Stein konkreter als jene beiden auf die
gegebenen Verhältnisse und erhoffte vom Gegebenen her die Lösung.
Waren die oben erwähnten, auf den Sozialismus reagierenden Lehren von Victor
Aime Huber einerseits, Schulze-Delitzsch andererseits noch betont konservativ
bzw. liberal gewesen, so wurde durch die Reichsgründung eine Lage geschaffen, in
der Liberale und Konservative, aber auch Konservative und „Staatssozialisten"
näher aneinanderrücken konnten und durch die „Kathedersozialisten" staatliche
Sozialpolitik propagiert wurde. Unausgesprochen 1ag z. B. GusTAv ScHMOLLERS
HAnr. „DiA ROr.info Fmgr. nnn ncr prcnßi11chc Staat." (1874) ein ArbcitoRhcgriff V.11-
grunde, der etwa Lorenz von Steins Auffassung entsprach, wenn Schmoller den
vim·tmb 8tamd w·icdm· ltamwnisvlt in t.kn 8taat1J- und (}csellsclu-"f tsurgtmismus einfügen
wollte 2' 1 • Wirkte solche bürgerliche Sozialverantwortung in das neue Reich weit
hinein, so stand dem nicht minder wirkungsvoll der betonte Antisozialismus liberal-
konservativer Prägung en:tgegen, den HEINRICH VON TREITSCHKE (1874) gegen
Schmollers demokratisch-monarchische Arbeitsvorstellung kehrte242• Nicht nur
gegen die Sozialisten, sondern im Grunde auch gegen den älteren Liberalismus und
Ökonomismus, nicht zuletzt (sicher unbewußt) gegen Hegel knüpfte Treitsch.ke
an die antike Wertung der Arbeit an, indem er die Einführung der Sklaverei eine
rettende Tat der Kultur nannte und daran die Begründung für die aristokratische
Verfassung der Gesellschaft knüpfte. Keine Kultur ohne Dienstboten! Unabänderlich
sei das Gesetz : nur einer Minderzahl ist beschieden, die idealen Güter der Kultur ganz
zu genießen; die große Mehrheit schafft im Schweiße ihres .Angesichts. Daran ändere
auch die Maschinenindustrie nichts. Dem Arbeiter sei ein hartes und beschränktes
Dasein beschieden, aber ein gesundes und ehrenwertes Leben, wenn er seinen Platz
in der Gesellschaft kräftig behauptet und die Ehre der .Arbeit lebhaft empfindet. „Ehre
der Arbeit" - damit nahm Treitsch.ke eine Wendung auf, die in seiner Zeit bereits
zum Schlagwort geworden war. WILHELM HEINRICH RIEHL hatte 1861 diesen Topos
aufgegriffen 243, ihn von seiner ständischen Tradition gelöst, aber hinzugefügt:
Die moderne .Arbeit hat jede .Arbeitfrei gemacht und ehrt jede .Arbeit. .Aber freilich
ist die Ehre der .Arbeit für uns keines'l.Öegs gleichheitlich . . . Wir unterscheiden mit
Recht zwischen höherer und niederer .Arbeit . . . und messen demgemäß auch de1 hö-

239 Ebd., 117.


24 0Ebd., 131 ff., bes. 136.
241 G. ScHMOLLER, Zur Sozial- und Gewerbepolitik der Gegenwart, Reden u. Aufs. (Leipzig
1890), 62.
242 H. v. TREITSCBKE, Der Socialismus und seine Gönner, Preuß. Jbb. 34 (1874), 67 ff.
843 W. H. RIEm., Die deutsche Arbeit (Stuttgart 1861), 30.

207
Arbeit Il. 14. 'Nationale Arbeit'

hercn Arbeit höhere Ehre zu als der ~iederen. Doch schränkLe Riehl in moderner
Weise wiederum ein: Dies ist aber eine aus dem Begriff der Arbeit selbst fließende
Unterscheidung, nicht von außen hereingetragen, wie man vordem nach dem äußeren
Maßstab der Standesehre die Arbeit wertete. Treitschke stand, indem er aus gelehrter
Kenntnis und aristokratischem Bildungsbewußtsein urteilte, dem sozialkonserva-
tiven Riehl durchaus nahe, indem er das ihm literarisch überlieferte Modell einer
aristotelisch konzipierten „bürgerlichen Gesellschaft" der verachteten modernen
Klassengesellschaft entgegensetzte und statt der Ausbeutung das wechselteilige
Geben und Empfangen, den wundervollen Zusammenhang zwischen den Höhen und
Tiefen des Volkslebens herausstellte. In dieser wunderbaren Gemeinschaft der Arbeit
finde jede redliche Kraft ihren Platz und ihre Ehre. In solchem Geiste sollte der
.Arbeiter Zufriedenheit statt RAgAhrlichkeit entwickeln.

14. 'Nationale Arbeit'

Es wurde gezeigt, daß bei den „Ökonomisten" (von den Physiokraten über Adam
Smith bis zu Friedrich List) '.Axbeit'stets, wenn auch keineswegs ausschließlich, auf
„Nation" bezogen, d. h. in der „National-Ökonomie" vue1· im „nat.ionalen Systelil
der politischen Ökonomie" begriffen worden war. In der Französischen Revolution
war .Arbeit. weit darüber hinaus der politisch-revolutionären :Nation zugeordnet
worden. Das hatte sich 1792/94 zur Idee und Wirklichkeit eines dem Wehrdienst
zur Seite stehenden .Arbeitsdienstes der Nation gesteigert. Babeuf hatte schließlich
die allgemeine .Arbeitspflicht in der „nationalen Gütergemeinschaft" gefordert und
LORENZ VON STEIN lmLLe in Babeufs System zum ersten Male die Vorstellung von
einer Organisation der nationalen Arbeit auftreten sehen 244• Damit verwendete er
den 1848 aus Frankreich nach Deutschland hinüberwirkenden Begriff „nationale
.Arbeit" in einem ausgeprägt staatssozialistischen Sinne. In Frankreich hatte die
provisorische Regierung ein von Louis BLANc verfaßtes Dekret erlassen, in dem
das „Recht auf .Arbeit" zugesagt und dem .Arbeiter sein Unterhalt durch .Arbeit
garantiert wurde, d. h. die revolutionäre Regierung verpflichtete sich, allen Bürgern
.Arbeit zu schaffen und ihnen den Ertrag ihrer .Arbeit zu sichern. Daraus folgte die
Errichtung der ateliers nationaux. So wurden das „Recht auf .Arbeit", die „Pflicht
zur .Arbeit" und das „Recht auf den vollen .Axbeitsertrag" zur Sache der Nation
gemacht. Das schon vor der Revolution gängige Schlagwort Louis Blancs („Organi-
sation der .Arbeit") wurde als Organisation der Nationalarbeit durch die Staatsgewalt
(Lorenz von Stein) politisch konkretisiert 2•5.
In der Debatte der Frankfurter Nationalversammlung vom 9. Februar 1849, in
der die Demokraten vergeblich den Schutz der Arbeit in die Grundrechte aufgenom-
men wissen wollten, wurde von ihnen der Staat der Arbeit246 gefordert, der die .Arbeit
(die .Arbeiter) nach innen (Staatshilfe gegen Invalidität und „.Arbeitslosigkeit")
und nach außen (Schutzzölle gegen ausländische Konkurrenz) schützen sollte.
Wurde dieser „Staat der .Arbeit" von den Liberalen als wirtschaftstörend ab-
gelehnt, so vereinigten sich doch Demokraten und Liberale im Begriff der „natio-

14 ' STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 1, 339 (s. Anm. 198. 234).
m Ebd., Bd. 3 (1921), 268;
m Abg. SCHÜTZ (Mainz), St. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 7 (1849), 5130.

208
II. 14. 'Nationale Arbeit' Arbeit

nalen" oder der „vaterländischen Arbeit", die lediglich die für beide Richtungen
verbindliche Hochschätzung der Nation sowie das nationale Bedürfnis ausdrückte,
inhaltlich aber jeweils scharf gegensätzlich entweder zum liberalen Laissez-passer
oder zur staatlichen Reformpolitik bzw. zu staatssozialistischen Tendenzen führte.
In der harten Debatte stand so das berüchtigte Recht auf Arbeit dem heiligen Recht
auf Arbeit entgegen; von demokratischer Seite wurde die Arbeit als das Höchste,
das Heiligste im Staate bezeichnet, so daß alle im Vaterlande sollten leben können als
in einer Gesellschaft von Arbeitein247 • Das Programm und das Scheitern staatlicher
Arbeitsorganisation in Frankreich waren der Debatte schon vorausgegangen.
Nicht allein deswegen blieb sie auch in ihren radikalen Spitzen hinter dem Sozialis-
mus zurück und wies in mancher Hinsicht auf den Komplex der kommenden
Sozialpolitik deutscher Staaten, vor allem des Reichs nach 1879, voraus. Der demo-
kratische Unternehmer EISENSTUCK (Chemnitz) betonte in der gleichen Debatte die
Eigentümlichkeit dieser sozialpolitischen Tendenz für den Arbeitsbegrifl'2' 8 • Wir
(müssen) zunächst wissen, was wir hier unter Arbeit verstehen. Es werde sich zeigen,
daß man keineswegs die Arbeit als den absoluten Begri'fl klar ins Auge faßt, sondern
daß man nur einen gewissen Teil der Arbeit meint. Dieser beziehe sich auf den Teil
des V olkfJs, dessen Arboit nur iJur Geltung lcommt, dMoon Arboitoloraft nur rlll.UGba.r
ist in seiner Assoziation mit dem Kapital, und während wir diesen Teil des Volkes
aus der Gesellschaft ausgeschlossen und das Kapital darin gelassen haben, haben wir
de11r sozialen Kampf zwischen beiden hervorgerufen, die bestimmt waren und natur-
gemäß bestimmt sind, sich gegenseitig zu tragen und zu halten. Damit war die Aus-
gangslage für die (hier noch klar demokratisch gemeinte) Sozialpolitik (gegen
Sozialrevolution) bezeichnet. In diesen Rahmen wurde praktisch, ohne besondere
theoretische Bemühung, der Arbeitsbegriff gestellt. Dabei tauchten vielfältige neue
Wortbildungen auf, aus denen alsbald das „Arbeitsrecht" herauswuchs. Eisenstuck
sagte dazu recht bezeichnend: man sehe eine Menge technische Ausdrücke auftauchen
in der Geschichte der neuesten sozialen Bewegung. Sie hören von dem Recht auf Arbeit,
von dem Schutze der Arbeit gegen das Kapital und einer Menge ähnlicher Sätze aus
der sozialen Politik der Neuzeit. Mehr oder weniger sind sie Begri'(fe, mehr oder weniger
sind sie es auch nicht. Es kam dem Redner nicht auf begriffliche Klärung, sondern
auf die gute Sache einer demokratischen Sozialreform an, in deren Mitte ein auf die
„soziale Frage" bezogener Arbeitsbegriff ohne theoretischen Anspruch stand. Das
blieb typisch für die kommenden Jahrzehnte, in denen die „soziale Frage" oder
die Sache der Arbeit im Gegensatz zum „Kapital" aus dem theoretisch-publizisti-
schen Stadium des Vorniärz in das der praktischen Politik - Aufstieg der Sozial-
demokratie einerseits, staatliche Sozialgesetzgebung andererseits - überging. Hö-
hepunkt dessen war die BrsMARCKsche Sozialpolitik nach 1879, als der Reichskanz-
ler aus grundsätzlichen und aus politisch-taktischen Motiven die Konsequenzen
aus dem gewandelten Arbeiterproblem zog, indem er seine patriarchalische Er-
fahrung und Denkweise mit der modernen Arbeiterfrage, dem Gedanken der Staats-
hilfe und der berufsgenossenschaftlichen Verantwortung verband. So erschienen
die Forderungen des „Rechts auf Arbeit", der „Ehre der Arbeit", des „Schutzes
der Arbeit" in einem für ihn spezifischen Bezugssystem des „sozialen Königtums"

247 Ebd., 5129 f.


248 .Abg. EISENSTÜCK, ebd., 5114 f.

14-90385/1 209
Arlteit ß. 14. 'Nationale Arlteit•

und des „Staatssoziali!mu11" mit der doppelten Frontstellung gegen Liberale und
S.ozialdemokraten. Der Staat sollte das Recht auf VersO'Tgung anerkennen. Wozu
soll nur iler, welcher im Kriege oder als Beamter erwerbsunfähi,g gewO'Tden ist, Pension
haben und nicht auch der Soldat iler Arbeit? (1881) 20 • Geben Sie ilem Arbeiter das
Recht auf Arbeit, solange er gesund ist, geben ·Sie ihm Arbeit, solange er gesund ist,
sichern Sie ihm P'flege, wenn er krank ist, sichern Sie ihm. VersO'Tgung, wenn er alt ist 260 •
Dazu wollte er sich bekennen, nicht· durch Übernahme der sozialrevolutionären
sozialistischen Tradition des Begriffs, sondern, sozialkonservativ-selbstbewu.ßt,
in einer erweiterten A'uslegung der Bestimmungen, unter denen wir Preußen seit länge-
rer Zeit gelebt haben. Dabei wies er mehrfach auf die alte Fürsorge unserer Köni,ge
fürdiearbeitendeKlassesowie auf das ALR hin 261 • Der staatlichen Verantwortung
für die Arbeit in der <ieRfllliu1haft fmt.Rprach die Verpflichtung, die Arbeit nach außen
zu schützen,.· iler einheimischen nationalen Arbeit und Produktion im Felde sowohl
wie in der Bta.J,t und in iler l ndustrie sowohl wie in der Landwirtschaft ilen Schutz zu ge-
währen, ilen wir leisten können, ohne unsere Gesamtheit in wichti,gen 1nteressen zu
sckädi,gen262 •
Der Begriff der 'nationalen Arbeit' war in der Epoche der Reichsgründung so ein-
prii.gMm und unentbehrlich; daß er keiuet1weg1:1 nur mit•den Gedanken des Zoll-
schutzes und des „Staatssozialismus" (Bismarck) verbunden wurde. Er lag vielmehr
auch den Weltausstellungen zugrunde, deren Reihe in London 1851 eröffnet wurde.
In diesen AuBBtellungen sollte es sich im liberal-freihändlerischen Geiste um natio-
nale Konkurrenz in national verstandener „Weltwirtschaft" handeln. Die Nationen
wol1ten und sollten ihre „Arbeit" im fortscJiritt.sfördernden Wettstreit auf diesen
AUBBtellungen zur Schau stellen 25 3. Der Prager Professor RICHTER stellte 1875 diesen
eigentümlichen Zusammenhang dar. Die Arbeit erschien bei ihm als das große
Subjekt der modernen, in Leistungsnationen gegliederten Menschheit. Die Arbeit
präge dem Menschen den Stempel seines Wesens auf; sie bildet die Nation. N ationali-
tät und nationale Arbeit sind gleiche Begrige. Die Steigerung dessen über die Nation
hinaus sei im Namen der dritten, der Internationalen Ausstellung des Jahres 1862
zum Ausdruck gekommen. Di,e Internationalität war bisher nur ein Rechtsbegrig.
Jetzt nahm er di,e Arbeit iler Welt in sich auf, und er konnte es, weil man in iler Arbeit
schon das große weltverbindende Gli,ed erkannte, das verband, indem es ausglich, das
ausglich, indem es di,e Gesamtheit iler Menschen empO'Thob zur Erkenntnis ihrer gleichen
Berechti,gung im Weltenleben durch ihre gleiche N otwendi,gkeit für dasselbe. Mit Stolz
führte Richter sodann die deutsche Arbeit in jene internationale „Olympiaden"2H;
sie trete jetzt in den V O'Tilergrund, und so könne nunmehr (Wien 1873) die Welt-
auBBtellung - ein Bi'ld iler gesamten matemllen und idealen Kultur iler Welt - zum

m BISllU.RCK, Gespräch mit dem Schriftsteller Moritz Busch (1881), FA Bd. 8 (1925), 419.
110 Ders., Rede v. 9. Mai 1884, FA Bd. 12 (1929), 450.
111 Ebd., 461; der Bezug auf das ALR ebd., bes. 454.
111 Ders., Rede v. 8. Mai 1879, FA Bd. 12 (1929), .79.
118 KARL THOMAS RIOHTEB, Die Fortschritte der Cultur. Einleitung in ·das Stadium der
Berichte über die Weltausstellung 1873, Bd. 2 (Prag 1875), 12 ff.
m Richter verglich die Weltausstellungen in ihrem agonalen Charakter mit den Olympi·
achen Spiel.Im du Altertuma, den Turnieren der krieg&gewappneten Völker, den Kirchen-
festen du Güiubigen; ebd., 7.

210
m. Ausblick Arbeit

ersten Mal auf tleutschef' Erde sein. Auf diese Weise war die alte weltbürgerliche Sicht
der nationalen Ökonomie zeitgemäß gesteigert und für die Zukunft der modernen
Welt verbindlich gemacht. Die Arbeit als Subjekt - anstelle des Weltgeistes -
produziert, so könnte der Text gedeutet werden, den Fortschritt internationaler
Kultur in einer Welt der vereinten Nationen.
Solche Arbeits- und Kulturgesinnung blieb sicherlich auch dem nationalwirtschaft-
lichen Geiste des nachbismarckschen Deutschland nicht fremd. Doch lag im Begriff
der 'nationalen Arbeit' auch und zunehmend eine Verengungstenilenz, bis sich mit
ihm der Begriff der -+Autarkie verbinden konnte. 'Nationale Arbeit' konnte aber
auch in einem nicht-ökonomischen, geistig-kulturellen Sinne verwendet werden
und dann die Farbe nationaler Spätromantik, den Stolz auf den „Volksgeist" und
die Sorge vor Geschmacksüberfremdung und Modernisierung annehmen. Ahnherr
dieser Ausprägung des Begriffs war WILHELM HEINRICH RIEHL (1861), für den es
tler niederste Gesichtspunkt und tler äußerlwhste Begriff tler nationalen .Arbeit war,
wenn man sie faßt als die Summe tler wirtschaftlichen Menschenkräfte, ·welche zu-
sammenwirken, um den materiellen Reichtum der Nationen herzustellen255• Vielmehr
wollte er in der nationalen .Arbeit den Geist der Nation ausgedrückt sehen; es sollte
beim wahren Fortschreiten der Kultur zuletzt jeden Arbeiter das Bewußtsein bcgoiswrn,
daß er ... f'Ür 1Ue N atiun arbeUet, daß er 'frt•itwirkt, d·ie Gr•w11,J,l,ayen ·u1i,seres kbenJ1i,ysle'I•
Lebens, unseref' Volkspersönlichkeit, eigenartig zu gestalten 256• In solchem Sinne allein
schien Riehl der Schutz tler nationalen .Arbeit sinnvoll zu sein.
So rückte der in der Zwangslage der jungen deutschen Industrie bei List und Bis-
marck noch pragmatisch im Sinne der Nationalwirtschaft verwendete Begriff
'nationale Arbeit' zweifach in die ideologisch-politische Verengung: wirtschafts-
politisch zur Autarkie, kulturpolitisch zur romantisch-bewahrenden Abkapselung.
In beiden Richtungen wurde der moderne Arbeitsbegriff zurückgenommen oder
gebrochen.

m. Ausblick
Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert sind die vielfältigen Möglichkeiten, Arbeit
je von den bis zur Reichsgründungszeit gewonnenen Positionen aus zu begreifen,
weiterhin in mancherlei Fortführung oder Variation wahrgenommen worden.
Wollte man die Zeugnisse dessen sammeln und sichten, so würde sich für die
Wilhelminische und Weimarer Zeit vermutlich eine Polarisation des Begreifens
- gemaß der vorherrschenden Dichotomie - in bürgerlich liberal-konservativer
und in proletarisch-sozialistischer Richtung nachweisen lassen. Doch konnten diese
beiden Tendenzen, die mittelbar auf die gemeinsame Wurzel des ökonomisch be-
gründeten Eudämonismus der Aufklärung zurückgingen und je auf ihre Weise fort-
schrittsoptimistisch eingestellt waren, nicht unbeschwert und ohne Widerspruch
fortlaufen. Sie wurden vielmehr teils durch überlieferte Vorbehalte gegenüber dem

96 5 RIEBL, Die deutsche Arbeit, 106.


266 Ebd„ 108.

211
Arbeit ID. Aa1hlick

dynamischen Industrialismus, teils durch neue Theorien oder Ausdrucksformen


der Kulturkritik bzw. des Kulturpessimismus in Frage gestellt.
So entsetzte sich NIETZSCHE über die Sinnentleerung des menschlichen Daseins
im Zeitalter der Arbeit21l1 durch die atemlose Hast de1- Arbeit2118, die das ganze Leben
durchdringe, jegliche Muße mit dem schlechten Gewissen belaste, die .Arbeit dage-
gen immer mehr all.es g'Uf,e Gewissen auf ihre Seiteziehenlasse 268 • Die bürgerlichen
Wertungen - Würde der Arbeit280 , Segen de1- Arbeit281 - entlarvte Nietzsche als
erbärmliche Verschleierungen und stellte ihnen die Kultur der Antike gegenüber,
die auf .Arbeit der Sklaven beruhte sowie dem Bürger die Vornehmheit und die
Ehre des otium und bellum?l.l.a verliehen hatte.
Systematischer als Nietzsche kritisierte MAX ScBELER die Hypertrophie des bür-
gerlich-liberalen wie auch des sozialistischen .Arbeitsbegriffs und wünschte eine dem
Wesen des Menschen angemessene Rangordnung gegen die moderne „Atomisie-
rung" und „Utilitarisierung" aufzurichten. Er bestand auf dem ursprünglichen
Verständnis von .Arbeit als „Last" und verwarf die Vorstellung der .Arbeit als „Lust"
ohne Bezug auf den Zweck als wirklichkeitsentstellend. Ein Tatigsein ist ..• fJP1na11.
in demselben Maße unZustvoll, aZs es „arbeiten" ist, so daß man sehr wohl „Unlust"
aZs ein notwendiges Merkmal des Arbelttna betrachten kann 2 H, Vor allem o.bor wandte
er sich gegen die vollständige Durchdringung des menschlir.lum Daseins durch die
Herrschaft der rastlosen .Arbeit, die die verschiedenen objektiven Zweckzusammen-
hänge, in denen der Mensch seine Befriedigung finde, entwerte und funktionalisiere.
AZZ diese Werte;Muße, Bildung, Freude, Beeinflussung der Staats- und Gemeinde-
pfiichten usw. können in letzterer (der sozialistischen) Theorie einen vom „arbeiten"
unabhängigen Wert nicht finden, müssen vielmehr von der Arbeit selbst, aZs der Schöp-
ferin aller Werte, abgeleitet werden, wenn siß Werte sein soZZen283.
Solche zeittypische Abwendung von der Absolutsetzung der modernen „.Arbeits-
welt", als deren philosophischer Sprecher vor allem Nietzsche und Seheier ange-
sehen werden können, wirkte nach der Jahrhundertwende in vielfältiger Richtung:
in Spätromantik und „Innerlichkeit" bürgerlicher Kreise und der Jugendbewegung,
in eine weit verbreitete Protesthaltung gegen die Konsequenzen der heraufkom-
menden industriellen Gesellschaft bis hin zum. ausgeprägten Kulturpessimismus.
Wie im Unterschied zu Nietzsche bei Max Scheler deutlich wird, berührte sich die
Kritik an der Totalitätstendenz des .Arbeitsbegriffs im Namen gefährdeter „Werte"

n 7 F. NIETZSCHE, Götzen-Dämmerung (1889), Streifzüge eines Unzeitgemäßen, Nr. 30:


Das Recht auf Dummheit. Mus. Bd. 17 (1926), 127.
aaa Ders., Die fröhliche Wissenschaft (1882), Nr. 329. Mus. Bd. 12 (1924), 238.
m Ebd., 240. Nr. 329.
HO Ders., Die Geburt der Tragödie (1873), Nr. 18. Mus. Bd. 3 (1920), 122 u. ö.
111 Ders.; Zur Genealogie der Moral (1887), 3. Abhandlung, Nr. 18. Mus. Bd. 15 (1925),
417; ders., Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke, Bd. 3 (1956), 419. Vgl. LöWITH, Von Hegel
zu Nietzsche, 308 :ff.
2 s1a NIETZSCHE, Die fröhliche WiBBenschaft, Nr. 329. Mus. Bd. 12, 240.

m MAx SCHELER, Christentum und Gesellschaft, Bd. 2 (Leipzig 1924), 48. Dil( Kritik am
modernen, auf den Ökonomisnius des 18. Jahrhunderts zurückgehenden Arbeitsbegriff
schon bei SOBELER, Ober Ressentiment und moralisches Werturteil (zuerst 1912).
16 3 SCHELER, Christentum und Gesellschaft, Bd. 2, 73.

212
m. Ausblick Arbeit

mit der Neubesinnung auf den christlichen Glauben. Die publizistischen und offi-
ziell-programmatischen Äußerungen der Kirchen, vor allem der katholischen
Kirche seit der Enzyklika „Rerum novarum" von 1891, blieben jedoch zunehmend
nicht bei der Ablehnung der Arbeit als „weltlicher Religion" stehen, sondern such-
ten zur modernen Arbeitswelt unter Voraussetzungen; die in ihren Soziallehren
begründet wurden, ein positives Verhältnis zu gewinnen. Diese Voraussetzungen
bestanden in nichts anderem, als den christlichen Arbeitsbegriff auf die moderne
Arbeitswelt zu beziehen, um ihn dort wirken zu lassen. „Kapitalismus" und
„Sozialismus"264 wurdeµ. abgelehnt, die modernen Produktionsweisen jedoch als
gegeben hingenommen; die Aufgabe wurde darin gesehen, praktische Nächstenliebe
und rechtlich garantierte Achtung vor dem Menschen gegen die Tendenz der
intr.rr.Rsr.n- odr.r zwr.ckorientierf.en 8chommgRlosigkeit mächtig werden zu laRsen.
Die Arbeit ist keine freie Ware. In ihr muß die Menschenwürde des Arbeiters berück-
sichtigt werden 265• Das Wirtschaftsleben sollte nicht ohne Rücksicht auf den soziakn
Charakter der Wirtschaft, ohne Rücksicht auf die sozia1,e Gerechtigkeit und das Ge-
meinwohl eine ungehemmte Eigenmacht ausüben2&&. Die auf die Zentralbegriffe
des Eigentums und der Arbeit begründete katholische Soziallehre hat sich seit dem
ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem auf Thomas von Aquin berufen und im
Thomismus der Arbeit ihre hohe und zugleich begre~ Stellung zugewiesen167 •
Dem standen auf evangelischer Seite ähnliche Bemühungen zur Seite, die teils zu
sozial radikaleren Ergebnissen führten (z. B. im religiösen Sozialismus), teils in
der jüngst stärker entwickelten evangelischen Soziallehre ihren Platz fanden.
Allgemein ist festzustellen, daß christlich begriffene Arbeit nicht mehr notwendig
in Widerspruch zur modernen Arbeitswelt stehen muß, da auf kirchlicher Seite der
Rr.alismns ihrr.r Umw11lt g11g11niih11r gewar.hsen ist und umgekehrt die ethischen
Forderungen, durch die die christlich-sozialen Bestrebungen vielfältig mit sozialisti-
schen Zielen und staatlicher Sozialpolitik verbunden gewesen sind, weitgehend
erfüllt werden, soweit das durch gesetzliche Maßnahmen möglich ist. So läßt sich
zusammenfassend sagen: der christliche Arbeitsbegriff wurde aus seiner „Rück-
ständigkeit" herausgebracht, modernisiert, angepaßt und durch theologische Rück-
besinnung erneuert. Er gewann dadurch an Wirksamkeit und schwächte seinen
„Antimodernismus"-Charakter erheblich ab. Auch für die ideologisch bestimmten
Begriffsrichtungen des 19. Jahrhunderts gilt, daß sie seit dem ersten Weltkrieg viel
von ihrer scharfen Antithetik eingebüßt haben. Das trifft heute vor allem für die
liberale und die sozialistische Grundrichtung in Westdeutschland zu, während im
östlichen Deutschland die begriffliche Fixierung von der ideologischen Entwicklurlg

264 Afs Marxismus und Materialismus ! Die mehrfach angestellten Versuche, einen „christ-

lichen Sozialismus" zu begriinden, bleiben hier unberücksichtigt (-+Christentum, Exkurs).


Sie weisen allerdings in die Richtung, den , ,Antimodernismus" zu überwinden und die tech-
nisch bedingte Arbeitswelt der Gegenwart mit dem Gebot der christlichen Brüderlich-
keit zu verbinden.
285 Enzyklika Quadragesimo anno (1931), 83 ff.
288 Ebd., 101.
187Afs Beispiel für diese nach 1945 erneut stark hervorgetretene Bemühung vgl. EBERHABD

WELTY 0. P., Von Sinn und Wert der menschlichen Arbeit (Heidelberg 1946).

213
m. Auablick
im BowjetkollllllWÜHwus abhängig war, z. T. aber auch selbständig weiterentwickelt
worden ist (Heise, Klaus) 1188• Der Begriff der 'nationalen Arbeit' scheint sich schon
in den zwanziger Jahren abgeschwächt zu haben und als Terminus wenig
gebräuchlich gewesen zu sein, so sehr auch der Gedanke, alle Arbeitskraft der Nation
zur Gesamtleistung anzuspannen, durch <,len Weltkrieg und danach durch den
Zwang des Friedensvertrags von Versailles nahegelegt wurde. Im Nationalsozialis-
mus wurde die „nationale Arbeit" noch einmal überhöht und für die Politik Hitlers
funktionalisiert. Bezeichnend waren militante Wortbildungen wie 'Arbeitsfront',
'Arbeits'- bzw. 'Erzeugungsschlacht' sowie die Umdeutung des 1. Mai zum „Tag
der (nationalen) Arbeit". 'Arbeitsdienst' wurde als Bezeichnung nationaler Arbeits-
pflicht dagegen schon seit dem Ersten Weltkrieg geprägt, die Sache gegen Ende der
WAimarer Republik .z. T. realisiert, war aber nioht o.uf Deutschland beschränkt
(vgl. z. B. den Zionismus und Bulgarien) 2611 • Dabei muß jedoch festgehalten werden,
daß der nationalsozialistische Arbeitsbegriff stets rassistisch verankert war, wie
die Rede des Reichsarbeitsführers HIERL deutlich macht (1937): Unsere Arbeits-
lager sind Bollwef-ke gegen jene jiidisch-rnateriaUstiscke Arbeit.,m1,fln.slt'ltm.g, d,',e. in du
Arbeit nur ein Ge'filgesckäft, in der Arbeitskraft eine Ware siekt 270• ADOLF HITLER
h11.LLtl ltttr~it.t-1 1920 seinen - Antlaemi.tismus - wie sohon o.ndore Antisemiten vor
ihm271 - aus dem Arbeitjlbegriff entwir.kAlt272 . ~ine altruistisch-ethillche Arbeits-
definition blieb zunächst noch scheinbar im traditionellen Rahmen: Arbeit ist eine
Tätigkeit, die ich nickt um meiner selbst willen ausübe, sondern auch zu Gunsten
meiner Mitmenscken 27 3. Diese „Mitmenschlichkeit" wurde aber allein auf die
„arische" Rasse bezogen, denn nur dieser, wird der ethische Arbeitsbegriff zuge-
ordnet; er wird zugleich abgehoben von einem anderen, „unechten", jüdischen
.Arbeitsbegriff, einer anderen Aroott2H, der die ethische Bindung fehle: der Juue
betreibe Arbeit nicht wie der nordische Mensch vor allem aus ideellen Gründen,

188 Vgl. WALTBB BDINEBT, LUDWIG Buss, CLAus D. KEBNIG, Art. Arbeit, SDG Bd. l
(1966), 246 ff. Ferner wichtige Hinweise bei PETBB CHR. LuDz, Parteielite im Wandel
(Köln, Opladen 1967), 259 ff.
m Vgl. zur Geschichte einschließlich der Begriffsgeschichte HENimTG KöHLEB, Arbeits-
dienst in Deutschland (Berlin 1967); außerdem WOLFGANG BENZ, Vom freiwilligen
Arbeitsdienst zur Arbeitsdienstpfilcht, Vjh. f. Zeitgesch. 16 (1968), 317 ff.; BEBNING ·
(1964), 17.
170 KONSTANTIN H:mm., Rede, in: Der Parteitag der Arbeit, 6. bis 13. September 1937
(München 1938), 90. ,
m So forderte z.. B. ÜTTO GLAGAU, Der Börsen· und Gründungs.Schwindel in Berlin
(Leipzig '1876), :XXVI die Juden auf, aufzugehen im Volksganzen und redlich die karte
Arbeit mit uns zu teilen, und E. Dümmm, Die Judenfrage als Racen„ Sitten- und Cultur-
frage (Karlsruhe, Leipzig 1881), 42 sprach von der jüdischen Scheu vor jeglicher Arbeit ... ,
die wirklich etwas schafft. Weitere Belege - Antisemitismus.
112 A. HITLER, Warum sind wir Antisemiten t, abgedr. REGINALD H. PHLEPB, Hitlers
„grundlegende" Rede über den Antisemitismus, Vjh. f. Zeitgesch. 16 (1968), 400 ff.; vgl.
dazu die Bemerkungen von Phleps ebd., 390 ff., sowie EBERHARD Jl.CKEL, Hitlers Welt-
anschauung (Tübingen 1969), 63 ff.; HITLEB, Mein Kampf, 636.--MO. Aufl. (München
1941), 325 ff. 482 ff.
178 HITLER, Rede, 400.
174 Ebd., 409.

214
DI. Ausblick Arbeit

d. h. wegen ihrer Notwendigkeit an sich 27 5, sondern aus purem Egoismus 278• Dies
aber nennen (wir) ... nicht Arbeit, sondern Raub 277 • Die Aufspaltung des Arbeits-
begriffs in einen „eigentlichen", positiven und einen „uneigentlichen", negativen
und die jeweilige rassische Zuordnung erlaubten es Hitler, alle Kulturschöpfung
dem nordischen Menschen zuzuschreiben, die Juden demgegenüber als bloße
Parasiten 278 abzutun, schließlich ihre Entfernung . . . aus unserem Lande 279 pro-
grammatisch zu fordern und, nach Erringung der politischen Macht, auch einzu-
leiten. An dieser schlichten Begriffspolarisierung ließen sich in propagandistisch
wirksamer Weise alle die Schlagwörter aufhängen, von denen Hitlers Rhetorik
·lebte: Ariertum bedeutet sittliche Auflassung rler Arbeit und doourch ... Sozialismus,
Gemeinsinn, Gemeinnutz vor Eigennutz - J urlentum bedeutet egoistische A ulfassung
rler Arbeit und doourch Mammonismus und Materialismus, das konträre Gegenteil
rles Bozialismu.~2so.
Die Gegenwartslage ist nur unzulänglich dadurch Lezeichnet,, daß die Arbeits-
begriffe der Positionen und Ideologien des 19. Jahrhunderts noch immer, wenn
auch gemindert oder gewandelt, fortleben. Vielmehr ist Arbeit im weitumfassenden
Sinne zweckgerichteter, dem arbeitsteiligen 8ystem eingefügter und ihr in mannig-
faltigster Weise nützlicher Tätigkeit allgemein als konstitutives Prinzip für die
moderne demokratisuhe Oesellsch11.ft, die bezciohncndcrwcißc ncucrdingß hiiufig
a.ls 'Leistungsgesellschaft' bezeichnet wird, anerkannt. Der Arbeitsbegriff ist heute
durch den allgemein gültigen oder als gültig geforderten. Grundsatz der sozialen
Gleichheit sowie der technisch-ökonomischen Effizienz bestimmt. Infolgedessen
sind - ungeachtet mannigfaltiger Bewußtseinsrelikte - alle oben dargestellten
sozialen Eingrenzungen und Unterscheidungen (Arbeit nur llandarbeit oder Arbeit
nur „produktive" Arbeit im Sinne von Smith usw.) gegenstandslos geworden.
Bei zunehmender Differenzierung und Spezialisierung der Tätigkeiten und Berufe
ist der Arbeitsbegriff immer mehr einer Vereinheitlichung, Erweiterung und Ver-
sachlichung unterworfen worden. Damit ist seine allgemein verbindliche Bedeutung
gewachsen. Ein Blick auf die zahlreichen Komposita von 'Arbeit', die teils schon
aus der Ökonomisierung des Begriffs im 18. Jahrhundert folgten (z~ B. 'Arbeits-
teilung', 'Arbeitsloser'), zum größten Teil aber erst im Zeitalter des entwickelten
Industriesystems geprägt worden sind (z. B. 'Arbeitsrecht', '-ordnung', '-vertrag',
'-amt', '-kammer', -'ministerium', aber auch Bildungen wie 'Jugendarbeit', 'Bil-
dungsarbeit' usw.) macht diese Allgegenwart von Arbeit im modernen Leben deut-
lich. Das uralte Problem vom „Segen" oder „Fluch" der Arbeit, von „Selbst-
verwirklichung" oder „Selbstentfremdung" des Menschen durch Arbeit ist in dieser
modernen Arbeitspräsenz - einschließlich der „Freizeit" und „Erholung" - stets
aufs neue enthalten und wird daher auch immer wieder neu formuliert ins Bewußt-
sein gehoben. WERNER CoNzE

2 75 Ders„Mein Kampf, 483; ähnlich Rede, 401. 406. 408. 416.


178 Ders„ Rede, 401.
177 Ebd„ 404.
27 .8 Ebd„ 406. - Die Anwendung des Parasitenbegtiffs auf die Juden ist bereits für
Herder (1784) belegt; vgl. ALEXANDER BEIN, „Der jüdische Parasit", Vjh. f. Zeitgesch. 13
(1965), 121 ff., bes. 127 f. .
278 HITLER, Rede, 417.
280 Ebd„ 406.

215
Arbeiter

I ..Einleitung. II. 1. 'Arbeitende Klasse(n)' als Neologismus um die Wende vom 18. zum
19. Jahrhundert. 2. Die differenzierenden Bezeichnungen der 'Klassen' innerhalb der
'arbeitenden Klasse(n)', speziell 'Fabrikarbeiter'. 3. Die Tendenz zur Erweiterung des
Begriffs: 'Kopf-' oder 'Geistesarbeiter'. 4. Die „Arbeiterfrage": die neuen Begriffe 'vierter
Stand' und 'Proletariat'. 5. Arbeitervereine. 6. 'Arbeiterbewegung'. 7. 'Arbeiterstand'.
8. Politische Aktualisierung 1863: Lassalle. 9. Sozialdemokratie. 10. Liberaldemokratie.
11. Liberalismus: Treitschke .. 12. Konservative: Huber, Riehl, Wagener, Bismarck.
13. Untemehmer-Patriarchalismua. 14.Kathedersozialisten: Schmoller. 15. Die christlichen
Kirchen. III. Ausblick.

1. Eiuleituug *

Das von 'Arbeit' abgeleitete, im späten Mittelalter so oder ähnlich ('Arbeitsmann',


'arbeitende Leute') gebräuchliche Wort entsprach in seinen Bedeutungen den be-
grifflichen Möglichkeitr.n von' Arhr.it.'. 7.nnii.nhAt h1w:P..ichnete es, der etymologischen
Grundbedeutung im Germanischen entsprechend, den mühsam „im Schweiße
seines Angesichts" körperlich Arbeitenden. Damit war also vor allem die große
Zahl der das Land bearbeitenden Menschen gemeint, so daß der Begriff nicht vom
Bauern abgegrenzt zu sein brauchte, die Bauern also einschließen konnte, sie aber
übergriff. In solcher weiten Umfassung konnte das Wort, dem lat. laborator oder
operator entsprechend1 , in dio traditionelle Drciständescheidung eingesetzt und
mit 'Bauer' ausgewechselt werden, so bei OswALD VON WOLKENSTEIN (Anfang des
15. Jahrhunderts): Got hat drei tail geordent schon,/ darumb er geben wilden lon /dort
ewikleichen sunder swär, / gaistlich, edel und arbaitär. Wenige Zeilen später wurde
arbaitär ohne Schwierigkeit durch pauer ersetzt 2•
Die weite Umgreifung auf alle Handarbeitenden des „gemeinen Volks" blieb bis
ins 18. Jahrhundert hinein möglich 3 • Da aber sowohl die (Hof-)Bauern wie die
Handwerker (Meister und Gesellen) ihre eigene Standesehre entwickelten und c:Iamit
auch ihre eigenen Berufsbezeichnungen oberhalb der lohnabhängig mit der Hand
Arbeitenden, hielt und verstärkte sich die Tendenz, daß 'Arbeiter' vorwiegend die
unterhalb der selbständigen Handwerker und Bauern Arbeitenden, besonders die
Tagelöhner in Stadt und Land bezeichnete. So schon im 16. Jahrhundert in Ge-

* Für die hilfreichen Hinweise zu diesem Artikel danke ich besondere Kurt Baldinger,
Ulrich Engelhard und Horst Stuke. Der Artikel bricht dort ab, wo begriffsgeschichtlich
die Problematik 'Proletariat', 'Proletarier' beginnt.
1 Vgl. zur älteren mittellateinischen Begriffsbildung KARL BosL, Potens und Pauper.

Begriffsgeschichtliche Studien zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter


und zum „Pauperismus" des Hochmittelalters, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft,
Fschr. ÜTTO BRUNNER (Göttingen 1963), 60 ff., bes. 83.
8 OswALD VON WOLKENSTEIN, Die Gedichte, hg. v. J. Schatz, 2. Aufl. (Göttingen 1904),

Nr. 118, v. 163 ff.


3 Vgl. die Wörterbücher: ADELUNG Bd. 1 (1774), 378; CAMPE Bd. 1 (1807), 201; Dt. Enc.,

Bd. 1 (1778), 710, dort unter „Arbeitsmann".

216
I. Einleitung Arbeiter

werbeordnungen, z. B. im „Taglohner-Mandat" in Halle 1576, wo geklagt wurde,


wekhergestalt die Handarbeiter ... ganz beschwerlichen sich erzeigen, und bestimmt
wurde, daß kein unbekannter und verdächtiger Arbeiter . . . in unser Stadt geduldet
werde 4 •
ZEDLER (1732) stand noch ganz auf der traditionellen Stufe des Verhältnisses von
'Hauswirt' und 'Arbeiter'f'Tagelöhner' und subsumierte außerdem lediglich die
Bauern unter den Begriff, insofern diese „Fröhner" seien 6 • Die Wörterbücher von
Adelung und Campe führen nicht weiter, sie betonen lediglich traditionell die
„Handarbeit". ·
Sowohl der weite als auch der engere Begriff des Arbeiters bestimmten Schicht und
Stand, sofern Hofbauern und Handwerksmeister ausgeschlossen waren, im Sinne
des „Niederen" und der Existenz unterhalb der ständischen Gesellschaft. Der Be-
griff 'Arbeiter' ließ sich also der aristotelischen Tradition zuordnen.
Auch die biblische Verwendung des Worts stützte diese Auffassung zum Teil
(->-Arbeit). Doch wirkte die biblisch-christliche Überlieferung auf der anderen
Seite im Anschluß an die Wertung von 'Arbeit' und später auch ..... 'Beruf' auf
'Arbeiter' ein, einerseits in dem Sinne, daß „niedere" körperliche Arbeit hoch oder
g11.1' T.111'öt1h~t. gMr.hli.t.r.t, Wf'l1'0f':n kHnnf'I ( d~t1"1lm;h, h.abtm. Utimt:yn1:y~:lfoh die pUiU/f'C1'~
und arbeytende leut meer e'irwn standt der 'volkorrwnlwyt warm dü~ ye·istlfrlu~n)6, au-
dererseits in dem Sinne, dajj 'Arbeit' auf alle menschliche Tätigkeit, also auch
geistliche und geistige angewandt wurde, daß also alle Menschen, die nicht der
„Müßigkeit" verfallen, 'Arbeiter' sein sollten. So deutlich solche theologisch be-
gründete Auffassung beim Arbeitsbegriff ist, so zögernd war offenbar der Sprach-
gebrauch bei der möglichen, aber kaum gebräuchlichen Verwendung von• Arbeiter'
in diesem Sinne. Im Bewußtsein waren wohl fast allein die Topoi Arbeiter im Wein-
berg des Herrn (Matth. 20, 1 ff.), oder Arbeiter am Wort (2. Tii:noth. 5, 17), die in
der theologischen Literatur sich immer wieder finden und auch von den Wörter-
büchern des 18./19. Jahrhunderts, von ZEDLER mit besonderer Betonung, erwähnt
wurden. Dieser begann seinen Artikel: Arbeiter ist der Name, welcher allen Christen
zukömmt, weil uns der himmlische Hausherr als Arbeiter in seinen Weinberg gedinget
hat. Indem Zedler weiter großen Wert darauf legte, daß die Lehrer der Kirchen
'Arbeiter' seien, sprach er auch schon von Kopf-Arbeit, ohne freilich das dann nahe
liegende Kopfarbeiter schon zu prägen. Diese Vorstellung war z. B. bei WICHERN
lebendig, wenn er von Arbeitern der Inrwren Mission sprach 7 • Er präzisierte damit
die auf Grund der genannten Bibelstellen mögliche Vorstellung, daß Diener der
Kirche als Arbeiter Christi gelten konnten, wie es im Namen der 1602 von Caraffa
in Neapel gegründeten Kongregation regulierter Geistlicher, der „Pii operarii",
der „Frommen Arbeiter", schon zum Ausdruck gebracht worden war.

'ERICH NEuss, Entstehung und Entwicklung der Klasse der besitzlosen Lohnarbeiter
in Halle (Berlin 1958), 231.
6 ZEDLER Bd. 2 (1732), 1151.
6 WENZEL LINK, Von Arbeit und Betteln (1523), Werke, hg. v. Wilhelm Reindell, Bd. 1
(Marburg 1894), 155.
7 JoH. Hl:NRicH WICHERN, Wie sind die nötigen Arbeiter für den Dienst der inneren
Mission zu gewinnen (1850), Werke, Bd. 2 (1965), 153 ff.

217
Arbeiter D. 1. 'Arbeitende Klasse(n)' als Neolo!Jismus

Beide Vorstellungen, dor Arboitor u.Ici der ohri.tiLlioh „B1:1rufäne" und der Aru1:1iL1:1r
als der tätige Mensch überhaupt, gingen zwar bis zum 19. Jahrhundert nicht ver-
loren, vermochten jedoch nicht, den in erster Linie sozialen Begriff des Arbeiters
als Mannes der Unterschicht zu verändern. Wohl aber lagen sie beide wirksam dem
Bewußtsein der Zeitgenossen zugrunde, als es um die „soziale", die „Arbeiterfrags"
oder die Emanzipation des „vierten Standes" im revolutionären Gesellschafts-
wandel ging und der Arbeiter nicht nur in seiner sozialen Geltung erhöht, sondern
zum Repräsentanten des ganzen Menschengeschlechts werden konnte (Lassalle,
s. u. s. 232).

n.
l. 'Arbeitende Klossc(n)' als NcologismW! um die Wende
vom 18. zum 19. Jahrhundert

Endo dco 18. Jahrhunderts - vielleicht entlehnt, sioh1:1r au1:1r im Zusammenhang


mit dem in Englands und Frankreich 9 entstehenden Sprachgebrauch - kam die
Verbindung des Wortes mit dem Begriff 'Klasse' auf. Von nun an bis über die
Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus flossen da.mit Rezeichnungen wie '(hand-)arbei-
tende', 'niedere' oder 'untere (Volks)klasse(n)' in Verwaltungs- und Rechtssprache,
in Statistik, Wissenschaft und Publizistik ein. Besonders präzise findet sich dies
bereits im Sinne einer Zweiklassentheorie bei J osEPH VON SoNNENFELS (1763/87):
Die ganze Summe der Bürger, betrach,tet r1111:h rlR.r ·1Nnanr.heziehung, sondern sich nur
in zwo Klassen ab: in die Klasse der Geldbesitzer und in die Kl,a,~se der Arbeiter. Die
Summe der öffentlichen Einkünfte wird von den ersteren allein abgefüht·et; d·i,e Summe,
wenn ich so sprechen darf, des öffentlichen Dienstes wird von den letzteren allein ge-
tragen. In diesem Zusammenhang sprach Sonnenfels mehrfach von der arbeitenden
Klasse 1 0. In ähnlicher, dem Ökonomismus der Zeit verpflichteter Wertung stellte
FRIEDRICH CARL VON MosER (1787) den Bezug solcher Zweiklassenscheidung zur
Konfessionsspaltung her: Die verzehrende Klasse der Menschen ist in katholischen,

8 MuRRA.Y vol. 10/2 (1928), 298 bringt einen ersten Beleg für die Verbindung von 'Arbeiter'

und 'Klasse' zwar erst für 1813; doch erschien schon 1797 FREDERIC MoRTON EDEN,
The State of the Poor, or an History of the Labouring Classes iii. England, 3 vol. (London
1797; repr. New York 1963), und für 1772 nennt MURRA.Y vol. 2 (1888), 466 einen Beleg für
lower daaaea of the pwple. Jedenfalls ist die Verbindung unseres Wortes mit dem Begriff
'Klasse' in England erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Aufkommen, von Beginn des
19. Jahrhunderts an weithin üblich. Vgl. auch AsA BRIGGS, The Language of Class in
Early Nineteenth Century England, in: A. BRIGGs/J. SA.VILLE, Essays in Labour History
(London 1960), 43 ff.
9 Im Französischen wurde es während der Revolution üblich, 'classe' häufiger auch auf

den sozialen Bereich anzuwenden. So dernierea claasea du peuple (1792); c"laase ouvriere
(1795); zit. FREY (1925), 92. Vermutlich geben diese Jahreszahlen nicht die wirklich.
frühesten Vorkommen an. Zu 'classe' s. FEW Bd. 2, (1940), 745 b.
10 JOSEPH v. SONNENFELS, Grundsätze der Polizey, Handlung, ~nd Finanz, Bd. 3 (Wien

1776), 266 f. 280.

218
II. 2. J)l«erenzierende Bezeichnungen Arbeiter

besonders geistlichen Staaten, im Verhältnis gegen die arbeitende zu groß 11 • Als Beispiel
für einen ungenaueren Sprachgebrauch vgl. GEORG FoRSTER (1790): In den meisten
Häusern ißt man nicht vor drei Uhr, in den vorne,hmeren erst um vier; die arbeitende
Klasse der Bürger macht indessen hier, wie überall, eine,A.usnahme12 • Wog, wie nach
diesen Belegen vermutet werden kann, zunächst der Singular 'Klasse' anstatt des
alsbald häufig werdenden Plurals 'Klassen' vor, so kann darin eine Vorstufe des
später (Sismondi, Marx) ökonomisch schärfer fixierten Begriffs der 'Arbeiter' oder
der 'arbeitenden Klasse' gesehen, werden. Dem alsbald nach 1800 beliebig aus-
wechselbaren Gebrauch der Numeri lag entweder die Vorstellung einer von allen
angeseheneren, berechtigteren und wohlhabenderen Klassen abgehobenen Unter-
schicht (traditionell nicht zur societas civilis gehörig) oder einer Vielfalt unter-
scheidbarer Klassen innerhalb der Unterschicht zugrunde. Dem singularen Sprach-
gebrauch war seit der Französischen Revolution die „soziale Frage" einer
Emanzipation dieser minderen, aber „Freiheit" und „Gleichheit" anstrebenden
'Klasse' impliziert, dem Plural 'Klassen' dagegen das Interesse, die soziale Vielfalt
der Unterschicht zu begreifen - sowohl traditionell, entsprechend der Zunft-
ordnung und der alten Agrarverfassung, als auch zeitgemäß im Bestreben, die
berufliche Differenzierung in der modernen Wandlung :r.u hA:r.AinhnAn,

2. Die dift'erenzlerenden Bezeichnungen der .'Klassen' innerhalb der


'arbeitenden Klasse(n)', speziell 'Fabrikarbeiter'

Differenzierende Definitionen innerhalb der durch die Klassenbezeichnung neu


hervorgehobenen arbeitenden Unterschicht wurden in eben dem Moment ein
Bedürfnis, als neben den überlieferten sozialen Einstufungen neue Berufsgruppen
auftraten, vor allem die in „Etablissements" (Manufakturen und Fabriken) arbei-
tenden Menschen, die weder Gesinde noch Tagelöhner n~ch Handwerksgesellen
im traditionellen Verstande waren. Schon im 18. Jahrhundert wurde versucht,
diese Manufaktur- oder Fabrikarbeiter durch charakteristische Benennungen ab-
zuheben, und zwar über ihre gewerbliche Spezialbezeichnung (Dreher, Spinner,
Eisengießer usw.) hinaus auf die ganze „Klasse" zielend, wobei auch die Grenze
zwischen zünftig und unziinftig Ausgehildeten nicht mehr begriffsbestimmend sein
mußte. .
Zunächst hat offenbar das Fremdwort 'Ouvrier' die Lücke ausgefüllt. Obgleich
das von operarius kommend.e Wort im Französischen ähnlich dem deutschen
'Arbeit01' eine breitere Wortgeschichte hat, wurde es doch im 17./18. Jahrhundert
offensichtlich allein oder in erster Linie auf Qualitätsarbeiter und un.Selbständige
Handwerker in Manufakturen und Fabriken eingeschränkt13• Die „Encyclopedie"
definierte allgemein: se dit en general de tout artisan qui travaille de quelque m8tier

11 FRlEDR. CARL FRH. v. MosER, Über die Regierung der geistlichen Staaten in Deutschland
(Frankfurt, Leipzig 1787), 172. Vgl. auch mit Bezug auf das antike Rom WILH. LUDWIG
WEKBRLIN,. Chronologen 4 (1779), 87: cUe arbeitende K'la8ae, •.• da8 geringe Volk und die
Sklaven, hier also die manuell Arbeitenden, die Wekhrlin dem Adel, den Reichen, den Bür-
gern entgegensetzt. Vgl. ferner A. L. SCHLÖZERS Stats-.Anzeigen 18 (1793), 21.
12 GEORG FoRSTER, Ansichten vom Niederrhein, Sämtl. Sehr., Bd, 3 (1843), 308.
11 FEW Bd. 7 (1955), 369 b; vgl. ebd., 366.

219
Arbeiter II. 2. Dillerenzierende Bezeiclµiungen

que ce soit. Im einzelnen wurden dazu vor allem die fabriquans et manufactwriers
der verschiedenen Textilindustrien sowie Bau, Münz- und Schmiedearbeiter ange-
führt14. In Preußen wurde das Fremdwort 'Ouvrier' in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts in der Verwaltungssprache häufig verwendet, um Facharbeiter
verschiedener Gewerbe, vor allem wohl der Textilindustrie, damit zu bezeichnen.
So fehlten 1777 in Rügenwalde für eine neue Leinenfabrik geschickte ouvriers,
während ein Kaufmann, der in Gollnow eine Bandfabrik angelegt hatte, 1779 von
Schwierigkeiten in dem Anzuge der Auslandisch Ouvriers berichtete15.
Eine andere Möglichkeit, Facharbeiter (auch ohne zünftige Ausbildung) in Manu-
fakturen oder Fabriken von dem zu unbestimmten 'Arbeiter' oder 'Arbeitsmann'
abzuheben, wurde in den Bezeichnungen 'Manufakturist' oder 'Fabrikant' gefun-
den16, so im ALR. Dooh wa.r da.fl vorwirrond, weil da.runter sowohl Unternehmer
wie Arbeiter verstanden werden konnten. Daher setzte sich auch dies Wort als
Bezeichnung für Arbeitnehmer nicht durch. JOHANN HEINRICH JuNG17 suchte
'Arbeiter' als Begriff schärfer zu fassen, indem er ihn der Fabrikation zuordnete
und dazusetzte (1792): Arbeiter könnten auch Professionisten genannt werrlen
und seien in zwei Klassen einzuteilen: a) Lohnarbeiter, b) Commerzierende oder
handelnde Arbeiter. Das kam einem Traditionsbruch gleich, da bislang 'Arbeit'
nicht auf 'Handlung' und 'Arbeiter' nicht auf 'Hii.nrller' auRgedehnt worden war.
Spätestens ·seit etwa 1800 kam 'Fabrikarbeiter' 18 auf, das erlaubte, den Fach-
arbeiter in Fabriken sowohl gegenüber dem im Handwerk arbeitenden Gesellen
wie gegenüber dem ungelernten 'Handarbeiter' abzugrenzen. Diesem gegenüber
bedeutete 'Fabrikarbeiter' eine Heraushebung des Qualifizierten und auch des
Gesicherten, worauf in der Zeit des Vormärz oft hinge-wiesen wurde19.
War die Unsicherheit über die Bezeichnung der 'Fa.brilmrbcitcr', wie es bis zur
Mitte des 19. Jahrhunderts vorwiegend statt 'Ouvriers' oder 'Fabrikanten' hieß,
überwunden, so ergab sich die Gliederung der 'handarbeitenden' oder 'unteren'
Volksklasse ganz von selbst. Den altgewohnten Gruppen des 'Gesindes', der
'Handwerksgesellen' und der vorwiegend, aber nicht allein auf dem Lande arbeiten-
den Tagelöhner wurden nun die 'Fabrikarbeiter' gegenübergestellt 2o. Dabei war
'

14 Encyclopedie, t. 11 (1765), 726.


15 Zit. KURT HmzE, Die Arbeiterfrage 7.11 Reginn dee modernen Kapitalismus in Branden·
burg-Preußen (Berlin 1927), 60. 94; vgl. ebd., 104. Vgl. auch für 1792/94 NEUSS, Lohnar-
beiter, 203 (1792/94). Für Da.den (Pforzheim) s. WOLFRAM FiscHER, Der Staat und die
Anfänge der Industrialisierung in Baden 1800-1850, Bd. 1(Berlin1962), 334.•
18 Dt. Enc., Bd. 3 (1780), 505.
17 J. H. JUNG-STILLING, Die Grundlehre der f:!taatswirthschaft (Marburg 1792), 485ff.,

§ 465 f.
18 Vgl. z. B. Preuß. Kabinettsordre, 2. 1. 1800, Acta BOrussica, (Seidenindustrie), Bd. 2

(1892), 539; Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern (München 1813), 160; Fl:sOHEB,
Ba.den, 334.
19 WERNER CoNZE, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: Staat

uml Ge1:1el.l.!!uhaft im deutschen Vorm.11.rz, hg. v. w. Cowz:m (Stuttgart 1962), 253.


20 Typisch z. B. folgende Unterteilung der aogenannten arbeitenden K"laaaen: die Hand-

werker, die Feldarbeiter, die Fabrikarbeiter, die Dienatboten und die Tagelöhner; W. A.
Scmm>T, Die Zukunft der arbeitenden Klassen und die Vereine für ihr Wohl (Berlin 1845),
18.

220
II. 2. Dift'erenzierende Bezeichnungen Arbeiter

weithin der (gelernte) 'Fabrikarbeiter' dem abhängig arbeitenden Handwerker


(Gesellen) näher als dem einfachen, großenteils ländlichen Tagelöhner, Hand- und
Heimarbeiter. Im Maße wie die Freiheit des 'Gewerbes' (sowohl Handwerks- wie
Fabrikbetrieb) in den staatlichen Gesetzgebungen durchgesetzt wurde und die
industriell-mechanisierte Arbeit (im flüssigen Übergang vom Handwerks- zum
Fabrikbetrieb) zunahm, rückten Fabrikarbeiter und Handwerksgesellen zusammen
und hoben sich ab von der größeren Masse der Arbeiter-Unterschicht, die vielfach
in den dreißiger und vierziger Jahren 'Proletariat' genannt wurde. Wie exakt es
freilich möglich war, diese Klasse durch zuverlässige Kriterien von allen übrigen
'Arbeitern' der 'handarbeitenden Klassen' zu unterscheiden und damit statistisch
zu bestimmen, das hing von der Definition von 'Fabrik' und 'Fabrikarbeit' ab 21 •
OhglAioh AR 11m11trittP.n nnil fragwiirilig war, 11ntAr 'Fabrikarbeit' wie noch im 18.
Jahrhundert „Fabrikation im 'großen" zu verstehen, also auch verlegerisch ab-
hängige Heimarbeiter ·bzw. „selbständige" Meister mit einzubeziehen, wurde eine
solche Begriffsbestimmung doch vielfach, so in Preußen und in Österreich, bis zur
Jahrhundertmitte der Statistik zugrunde gelegt. JOHANN GOTTFRIED HOFFMANN
sah sich deshalb gezwungen, 1845 die Fabrikarbeiter in zwei wesentlich verschiedene
Klassen zu teilen. Denn ·vieles, was alii Fu'&rikerw·ayn·i.~ •in tlen Großlu1111,1lel kom.rnl,
wird von .Arbeiterfamilien in eigenen oder gemieteten Wohnungen so weit verfertigt,
daß es nur noch der Vollendung ... bedarf, um ... versandt zu werden 22 •
Auch DIETERICI faßte 1848 'Fabrikarbeiter' noch im gleichen unscharfen Sinne, so
daß seine Ziffer von rd. 550 000 Fabrikarbeitern in Preußen, etwa ~ der zu den
.,ogenannten .Arbeiterklassen gerechneten Personen, weit überhöht ist, wenn wir das
Wort im heute üblichen Sinne begreifen wollen 23 • lm übrigen wurde es mehr und
mehr ii.blich, ilie 'Fa.hrika.rbeiter' im eigent,lichen Verstande von den 'Heim- und
Handarbeitern' zu unterscheiden 24• Gewann die Bezeichnung 'Fabrikarbeiter' also
an Klarheit, so enthielt der Terminus 'Arbeiter' nach wie vor alle Möglichkeiten
weiter Umfassung. Dem stand jedoch die Tendenz entgegen, mit 'Arbeiter' ~n erster
Linie die Fabrik-, Industrie- oder gewerblichen Arbeiter zu meinen - eine Ein-
engung, die W. H. RIEHL 1848 zur überspitzten, aber doch sinngemäßen Ver-
mutung führte: Wie mir deucht, ist der „.Arbeiter" im neuen, engeren Sinne ein
verdeutschter ouvrier 25• Entgegengesetzt hierzu wollte V. A. HUBER noch 1855 das
französische Wort ouvrier, das er dem englischen working man · Gehülfe, Gesell
gleichsetzte, 'nux zögernd mit „Arbeiter" übersetzen, offenbar weil er nach dem deut-

21 REINHART KosELLECK, Preußen zwischen Reform und Revolution (Stuttgart 1967),

697; - Fabrik.
22 J. G. HOFFMANN, Bemerkungen über die Ursachen der entsittlichenden Dürftigkeit

oder des sog. Pauperismus (1845), zit. Die Eigentumslosen, hg. v. CARL JANTKE u.
DIETRICH IIILGER (Freiburg 1965), 365.
18 KOSELLECK, Preußen, 698 ff.
24 Reichliches Material zum Sprachgebrauch für die einzelnen „Klassen" der Gesamtheit

der „arbeitenden Klassen" z.B. bei JANTKE/IIILGER, bei P. MOMllERT, Aus der Literatur
über die soziale Frage und über die Arbeiterbewegung in Deutschland in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts, Arch. f. d. Gesch. d. Sozialismus u. d. Arbeiterbewegung 9 (1920),
169 ff. sowie in der Zs. d. Vereins f. dt. Statistik, Jg. 1847 und 1848.
26 WILHELM HEINRICH RIEHL, Die Arbeiter. Eine Volksrede aus dem Jahre 1848, in: ders.,

Die deutsche Arbeit (Stuttgart 1861), 259.

221
Arheiter II. 2. Dlifereazierende Bezeichnungen

sehen Sprachgefühl der modernen Einengung, die Riehl als aus dem Französischen
entlehnt empfand, widerstrebte2&, Die junge „Arbeiterbewegung" leistete der Ein-
engung des Begriffs Vorschub, da sie in Handwerks- und Fabrikbetrieben, nicht
dagegen in der großen Masse der „handarbeitenden Klasse" entstand.
Bezeichnend ist die Selbstdefinition des· Arbeitervereins Gotha 1865: 'Arbeiter'
seien im allgemeinen genommen alle diejenigen, die im Dienste anderer von ihrer
Hände Arbeit leben ... eigentlich oder speziell genommen ... nur Gesellen, Gehilfen,
Fabrikarbeiter; dann aber auch noch sokhe kleine, arme Meister, die im Dienste eines
andern Meisters stehen27 • Über die mangelhafte Eindeutigkeit des Begriffs 'Arbeiter'
wurde vielfach geklagt, so z. B. in Sachsen 1863, verbunden mit einer Kritik der
Gewerbestatistik: Die Klasse der sog. Handarbeiter seien nicht zu exakter Ausfüllung
der Bo~n zu bringen. 1 n manohan Gawarban arbaitan salbst in den gcschlosscnon
Etablissements viele Arbeiter, die nach den älteren üblichen Einte·il'l111i,gen der Gewerbe
auch als Gesellen qualifiziert werden können und die sicli dann liäufig nicht als Fabrik-
arbeiter, sondern als Gesellen oder doch mit dem zünftigen Namen ihres speziellen
Gewerbes angeben. So z. B. viele Maschinenarbeiter als Schlosser, Schmiede usw.,
ohne daß immer ersichtlich ist, daß sie zur Zeit in einer Fabrik arbeiten 28 •
Im übrigen war der amtliche Sprachgebrauch in den jeweiligen deutschen Staaten
nicht einheitlich. Auf die Unterschiede der Rezeichmmgen hiflr im flinzP.lnen ein-
zugehen, entspricht nicht unserer Aufgabe. Es sei lediglich auf eine sehr auffällige
Verschiedenheit Österreichs (im Unterschied zu Preußen) hingewiesen. Allgemein
scheint das Wort 'Arbeiter' verhältnismäßig früh auf den qualüi.Zierten 'Fabrik-
gesellen' und 'Fabriksarbeiter' eingegrenzt worden zu sein. In der Behördensprache
setzte sich dafür die Bezeichnung 'Hilfsarbeiter' durch, die allerdings auch für
unselbständig Boaohii.ftigto o.ußor den Fo.brikon, z. B. im Ho.ndcl und in Behörden
verwandt wurde29 , so daß auch das Wort 'Fabrikhilfsarbeiter•so geprägt werden
konnte. Die österreichische Gewerbeordnung von 1859 unterschied ..zwischen den
selbständigen Gewerbetreibenden und ihrem Hilfspersonal (Gehilfen und Lehr-
lingen; § 72): Unter Gehilfen werden in diesem Gesetze Handlungsdiener, Gesellen
und Fabrikarbeiter, dann die in gleichen Dienstverliältnissen stehenden weiblichen
Hilfsarbeiter verstanden (§ 73). Vorher schon waren in der Preußischen Gewerbe-
ordnung von 1845 die Bestimmungen für Gesellen und Gehilfen ausdrücklich auch
auf die Fabrikarbeiter ausgedehnt worden. Es ist in dieser Ordnung immer wieder
von Gehilfen, Gesellen und {oder) J!'abrikarbeitern die .Rede . .Das war die Konsequenz
Claraus, daß Handwerk und Fabrikarbeit unter dem Begriff 'Gewerbe' zusammen-
gefaßt wurden. Andere Gruppen der 'handarbeitenden Klassen' aber, wie besonders

88 VICTOR Ami HUBER, Reisebriefe aus Belgien, Frankreich,und England, Bd. 2 (Ham-

burg 1855), 26. 63.


87 Nürnberger Anzeiger Nr. 89, 30. 3. 1865, zit. HuGo EmrEBT, Liberal- und Sozialdemo-

kratie. Frühgeschichte der Nürnberger Arbeiterbewegung (Stuttgart 1968), 112.


88 Zs. d. Statistischen Bureaus d. Kgl. Sächs. Ministeriums d. Innem 9 (1863), 62.
19 GusTA v KoPETZ, Allgemeine österreichische Gewerbs-Gesetzkunde oder systematische

Darstellung der gesetzlichen Verfassung .der Manufakturs- und Handelsgewerbe in den


deutschen, böhmischen, galizischen, italienischen und ungarischen Provinzen des öster-
reichischen Kaiserstaates, 2 Bde. (Wien 1829/30), passim, bes. Bd. 1, 387 f.
80 IGN.AZ WILDNER, Das österreichische Fabrikenrecht (Wien 1828), 174 f.

222
D. 2. Differenzierende Bezeichnungen Arbeiter

cläti GtisiIHle und ilie Tagelöhner, wurden ausdrücklich 11.ut1geschlosson. Die Berufs-
gruppenbestimmung der Verarbeitung oder Produktion war also begri:ffsbestimmend
und durchbrach die Trennung nach Schichten, wie sie in dem nun abkommenden
Begriff der '(hand-)arbeitenden Klasse(n)' ausgedrückt gewesen war 31 •
In der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (1871 als Reichsgewerbe-
ordnung übernommen) ist unter dem gleichen Oberbegriff des Gewerbes stets von
Gehilfen, Gesellen oder Arbeitern bzw. Fabrikarbeitern die Rede.'
Um den Arbeiter rechtlich genauer zu bestimmen, wurde im Deutschen Reich in
der Reichsgewerbeordnung der seit den vierziger Jahren aufgekommene Begriff
'Arbeitnehmer' verwandt, unter den alsbald auch die Angestellten fielen. 'Arbeiter'
wurde damit rechtlich eindeutiger als zuvor fixiert als ein gegen Lohn auf Grund
eines Arbeitsvertrages abhängig (meist körperlich) Arbeitender, dessen Recht,R-
stellung zunehmend durch Arbeiterschutz, Sozialversicherung,· Arbeitslosenhilfe
oder -versicherung, 'l'arifschutz u. a. m. ausgebaut wurde. Dem 'Arbeitnehmer'
stand der 'Arbeitgeber'3 2 gegenüber. Im Maße wie spätestens seit der Gewerbe-
ordnung von 1869 'Arbeiter' zu einem rechtlich und sozialstatistisch faßbaren Be-
griff wurde33, verschwand die Sammelbezeichnung '(hand-)arbeitende Klasse(n)' mit
ihren UnterklaHRen 34 • Die HanclwerkHgflHflllfln onflr -gehilfän wurden entweder,
sofern sie in die Fabrikindustrie übergingen, zu Arbeitern oder, sofern sie im
Handwerk blieben, zu Handwerkern mit „mittelständischem" Anspruch; Gesinde
und Dienstboten ließen sich kaum als' Arbeiter' bezeichnen35 und erschienen auch
als solche nicht in der Statistik; die c;lamaligen Tagelöhner gingen mehr und mehr
81 Vgl. auch noch die österreichischen Gewerbegesetznovellen von 1883 und 1885, wo unter

dem Oberbegriff 'Hilfsarbeiter'· subsumiert wurden: a) 'Gehilfen' (Handlungsgehilfen, Ge-


11ellen, Kellne1·, KuL11cher bei Fulli-gewe1·1.Jen u11w.), l.J) 'Fal.Jdluiarl.JeiLer', o) •Lehrlingti', u)
jene Arbeitspersonen, welche zu untergeordneten Hilfsdiensten beim Gewerbe verwendet
werden; Osterr. RGBI. (1885), 35 f.
BI Gleichfalls seit den vierzigerJahren. Vgl. W.H.RIEHL: ManstelleneuerdingsdenHen"en
Arbeitern die Hen"en „Arbeitgeber" zur Seite - ein Wort, das auch apraeklich aaftlo& sei;
Die Arbeiter, 275.
88 Im gewöhnlichen Leben ist die Aufrechterhaltung der herkömmlichen Unterscheidungen

zwiaehen Handwerka-Gehülfen, Fabrikarbeitern und sonstigen Arbeitnehmern immer achwieri-


ger geworden, und gesetzlich würde eine sokke Unterscheidung nach dem Erlaß der nord-
deutschen Gewerbeordnung kaum noch möglich sein; KARL BRÄMER, Gedanken über Rich-
tung und Inhalt eines zu erlassenden Bundesgesetzes für die Vereine zu gegenseitiger
Hülfsleistung, Der Arbeitorfreund 8 (1870), 115.
H 1868 stellte der Züricher „Unabhängige" fest, man höre jetzt zum Überdruß den Jammer,
der Begriff der 'arbeitenden Kl,aasen' sei ein so vager und unbestimmter, daß man gar nicht
wiaae, was darunter zu verstehen sei. Doch sei gerade der Begriff 'Arbeiter' im sozialpolitischen
Sinne und auf Grund'/o,ge der gegenwärtigen Produktionsweise einer der klarsten und sehärfaten,
die. es gibt. Man versteht darunter eine Person, welche ihren Arbeitsertrag gegen Lohn einem
anderen (dem Unternehmer oder Kapif,a'liaten) iiherl,ä,ßt. Infolgedessen sei es korrekter,
statt allgemein Arbeiter genauer Lohnarbeiter zu sagen; zit. Dt. Arbeiterhalle, Nr. 22 v.
4. 12. 1868.
81 Schon 1864 nannte Huber die Frage eine sehr komplizierte, wie weit oder eng der Begriff
der arbeitenden Kl,aasen, der Arbeiter, hier auagedehm werden soU, ob er nur die unaelb-
ständigen Lohn- und Fabrikarbeiter oder auch das Handwerk oder doch einen Teil desselben
und welchen um/aasen aoU. Huber beschränkte sich darauf, die Sache und Bezeichnung
gerade so [zu] nehmen, wie wir sie in der Wirklichkeit und im Sprachgebrauch finden. Danach

223
Arbeiter ·II. 3. Erweiterung des Begriffs: 'Kopf-' oder 'Geistesarbeiter'

in den Arbeiter der verschiedenen Berufsabteilungen auf. Ihnen entsprach großen-


teils die aufkommende Bezeichnung des 'ungelernten Arbeiters' im Gegensatz zum
'gelernten' (Unterscheidung der Reichsstatistik 1895-1907).

3. Die Tendenz zur Erweiterung des Begrift's: 'Kopf-' oder 'Geistesarbeiter'


Bei dieser Entwicklung des dem modernen Wirtschaftsrecht aufgeprägten Worts
ist es verständlich, daß Versuche, den Begriff 'Arbeiter' auf alle „Schaffenden",
d. h. alle Menschen außer den Müßiggängern und Privilegierten auszuweiten, im
Sprachgebrauch keine Durchschlagskraft besaßen, auch wenn oft betont worden
ist, daß vom Verständnis einer allgemein gültig gewordenen Arbeit her die traditio-
nelle Bedeutung von •Arbeiter' unbefriedigend oder falsch sei. Da es in der sich
modernisierenden Arbeitswelt Privilegierte und Bettler nur noch in schwächer wer-
denden Resten gab, hätte eine solche Begriffsausweitung zu nichts Praktischem
geführt, es sei denn zu einem neuen Prädikat für den Menschen der „industriellen
Gesellschaft" überhaupt. Diesen Schritt tat schon ARNOLD RuGE, für den die
bürgerliche Gesellschaft (Hegels) zur menschlichen wurde, in der die Bürger Arbeiter
sein mußten oder sollten. Dieser Arbeiter der Allgemeinheit bringt die bürgerliche
oder menschliche Gesellschaft erst hervor, alle Kultur der Natur und des Geistes ist
.~ein Werk, er ist der Vater des Menschen und macht sich selbst erst zum Menschen
durch seine Arbeit 36 • In populärer Weise wurde dieser Gedanke oft wiederholt 37 ,
und er konnte später, im gewandelten Bewußtsein einer als nachbürgerlich an-
gesehenen Epoche gesteigert werden bis zu einer Deutung des technisch diszipli-
nierten Menschen im neuen Typm1 dei Arbeiters, wie vor allem bei Ernst Jünger
(1932).

aber ist kein Zwei/ el, daß die Grenze zwischen Lohnarbeitern und selbständigen Handwerks-
meistern, zwischen kleinen Meistern und selbständigen ( d. h'. herdf eaten) Stückgesellen
sehr flüssig und sehr breit ist, und daß dio Arbeiterbewegung sieh über diCBC8. ganze Grenzgebiet
nach beiden Seiten, aber allerdings viel weiter über die niedrigere Stufe erstreckt, während
die Zun~bewegung begreiflich nur das Handwerk ergriffen hat; V. A. HUBER, Die Arbeiter-
frage in der Zunftreaction. Arbeiter-Bewegung und Genossenschaft, Jb. f. Gesellschafts-
u. Staatswiss., 1. Jg., Bd. 1 (1864), 54. 1857 hob Huber die dienende Klasse (Gesinde,
Dienstboten) ausdrücklich von der arbeitenden Klasse ab; Art. Arbeitende Klassen, BLUNT-
SOHLI/BRATER Bd. l (1857), 279 ff.
ae A. RuGE, Aus früherer Zeit, Bd. 4 (Berlin 1867), 360. Dazu ders., Unser System (1850;
Frankfurt 1903), 1 ff. Vgl. KARL LÖWITH, Von Hegel zu Nietzsche, 2. Aufl. (Stuttgart
1950), 335.
37 Vgl. als zeittypischen Ausdruck dessen z. B. einen Vortrag von J. L. TELLKAMPF,

Mitglied des preußischen Herrenhauses (1870): unter .Arbeiter seien eigentlich alle diejeni-
gen Menschen zu verstehen, welche nicht nur durch ihre körperliche, aondern auch durch ihre
geistige Tätigkeit Nutzen gewähren. Es seien daher die Gelehrten, die Unternehmer und die
Handarbeiter sämtlich Arbeiter; Der Arbeiterfreund 8 (1870), 145 f. Ähnlich im gleichen
Jahr das Vorstandsmitglied des Centralvereins in Preußen für das Wohl der Berliner
Volksküchen, LINA MORGENSTERN: Auf dem Felde der Arbeit, begegnen sieh die Hand-
werker, der Bürgerfleiß in lnd·ustrie ;und Handel, die Landwirte, die Studierenden und Ge-
lehrten, die Künstler, die Erzieher der Jugend; die Staatsmänner und die Kämpfer für die
Ideale der M enaehheit, welche Vernunft und schöne Sittlichkeit verbreiten; Der Arbeiterfreund
8 (1870), 191 ff. - ERNST JÜNGER, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (Hamburg
1932).

224
II. 4. Neue Begrlile 'vierter Stand' und 'Proletariat' Arbeiter

Das Unbehagen über das Mißverhältnis zwischen neuzeitlicher .Axbcitswertung


und dem teils neuen, teils doch immer noch traditionellen Begriff '.Arbeiter' (z. T.
verknüpft mit 'Proletarier') führte, vor der Jahrhundertmitte beginnend, zum An-
spruch, daß es neben den 'Handarbeitern' auch in gleicher Hochwertung 'Kopf-'
oder 'Geistesarbeiter' geben müsse. Damit wurde diese schon im christlichen, so-
dann im modernen philosophischen .Arbeitsbegriff liegende Unterscheidung sprach-
lich ins Bewußtsein erhoben. Vgl. dazu z.B. FICHTES Bemerkung (1796), es gebe
von Natur nur zwei verschiedene Stiinde: einen solchen, der nur seinen Körper für
mechanische Arbeit, und einen solchen, der seinen Geist vorzüglich ausbildet. Zwischen
diesen beiden Ständen gibt es eine wahre Mesalliance; und auße'I' diesen gibt es keine 38 •
Noch vor der revolutionär-phraseologischen Wendung dieses Begriffs schrieb
JOHANN GOTTFRIED HOFFMANN (184-2), <laß 11im1 Trennung der Menschen je nach
ihrer mehr geistigen oder mehr körperlichen Tätigkeit unvermeidlich werde. Die
Benennung „Handarbeiter" ist bereits vorstehend ... gebraucht worden, und obwohl
als Gegensatz die Benennung „K<Ypfarbeiter" weniger üblich ist, so mag sie dennoch
als eine kurze leichtverständliche Bezeichnung hier Anwendung finden39 •
Aus solcher Feststellung des „Gebildeten" wurde alsbald der besonders gern, aber
nicht allein von der Arbeiterbewegung gebrauchLe TupuM „Rand- und Kopfarbei-
ter" oder „.Arbeiter der Stirn und der Faust" 40, in dieser Form mit besonderer
Vorliebe später auch von den Nationalsozialisten verwandt. Das damit verbundene
Pathos entsprach schon dem Stilgefühl um 1848, wie etwa bei FREILIGRATH4lla:
Jedem Ehre, jedem Preis!
Ehre jeder Hanil nnll Bch.un:e"len!
Ehre jedem Tr<Ypfen Schweiß,
Der in Hütten fällt und Mühlen!
Ehre jeder nassen Stirn
Hinterm Pfluge! - Doch auch dessen,
Der mit Schädel und mit Hirn
Hungernd pflügt, sei nicht vergessen!

4. Die „Arbeiterfrage": die neuen Begriffe 'vierter Stand' und 'Proletariat'

In der Zeit der gesellschaftlich-politischen Reformgesetzgebung, des Übergangs zum


Industriesystem und der sozialen Bewegung, d. h. zwische:ii dem aufgeklärten
Absolutismus und der Reichsgründung, rückte der .Arbeiter aus dem Schatten, in

38 FICHTE, Grundlage des Naturrechts, SW Bd. 3 (1845), 334.


39 J. G. HOFFMANN, Das Verhältnis der Staatsgewalt zu den Vorstellungen ihrer Unter-
gebenen (Berlin 1842), 124.
40 Eine besonders einprägsame Variante findet sich beim Chef des preußischen statistischen

Büros, DR. ENGEL, der von den Proletariern vom Geiate und den Proletariern vom Hammer
und Ambos, von der Spindel und dem Webstuhl spraoh; Der Arbeitsvertrag und die Arbeits-
gesellschaft (lndustrial Partnership). Vortrag, gehalten am 16. 3. 1867 in der Juristischen
Gesellschaft zu Berlin, Der .Arbeiterfreund 5 (1867), 142.
4oa FERDINAND FREILIGBATH, Requiescat (1846), SW hg. v. Ludwig Schröder, Bd. 6
(Leipzig 1908), 9 ff., 2. Strophe.

15-90385/1 225
Arbeiter II. 4. Neue Begriffe 'vierter Stand' und 'Proletariat'

dem er bis dahin stand, ins grelle Licht großer politisch-sozialer Auseinandersetzun-
gen. In den vierziger Jahren wurde die, ,Arbeiterfrage" zur „sozialen Frage'' schlecht-
hin, und in Analogie zum Beispiel zum 'dritten Stand' als der französischen Nation
. von 1789 ·wurde der 'vierte Stand' ebenso wie die beiden vorgenannten Wort-
bildungen sprachlich neu geprägt oder wieder aufgenommen. Der Begriffwurde
unter dem Eindruck der französischen und deutschen Revolution von 1848 zwar
nicht erst gebildet 41 , aber doch jedenfalls besser verständlich und allgemein ver-
breitet. In Frankreich regiere nun der 1Jierre Stand, schrieb FRIEDRICH RoHMER
Ende März 1848; das sei der Inbegriff aller niedern Volksklassen - die Gesellen der
Handwerke, die Arbeiter der Fabriken und Druckereien, die kleinen Bauern, die
Taglöhner in Stadt und Land, die Dienstboten, was wir in Deutschland den „gemeinen
Mann" nennen. Der vierte Stand könne und dürfe nicht regieren. In Deutschland
sei die Monarchie dazu berufen, die endliche Sicherung des Loses der niederen Klas-
sen, die endliche Verwirklichung der Freiheit aller herbeizuführen 4-2 • Wie ungewohnt
freilich das Wort und wie flüssig die Begriffsbildung überhaupt war, zeigt die
Korrektur in einem BriefRohmers an den bayerischen Kronprinzen vom 18. März
1848, wo im Konzept statt vierter Stand noch Proktariat gestanden hatte4 3 •
War VUlll 'vierLeu SLaml' die R1;Jde, dauu wurde kum1eque11L auch 'ArueiLtm1La11d'
möglich - eigentümlich doppelsinnig: revolutionär, insofern dem Arbeiter im
Gegensatz zur Tradition eirie Standschaft zugebilligt wurde, konservativ, wenn
damit eine Einfügung des Arbeiters („Einbürgerung des Proletariats", F. VON BAA-
DER 1835) in eine ständisch gegliederte Gesellschaft gemeint war - oder besser: ge-
meint sein konnte, denn die sprachliche Unterscheidungsbereitschaft war vielfach
schwach, so daß 'Stand' und 'Klasse' fast synonym verwandt werden konnten.
Hielt sich die Betrachtung der „Arbeiterfrage" im Bereich des Sozialökonomischen,
so wnrdfm vor allem die Übervölkenmg der Unterschicht und das darauR folgende
Massenelend („Pauperismus") ins Auge gefaßt. Dann ging es - wie in vielen
Schriften der Zeit 44 - um ein Problem der „bürgerlichen Gesellschaft" im Sinne

41 Schon 1789 erschien der 'Vierte .Stand' in der Beschwerdeschrift: Cahiers du quatrieme

ordre, celui des pauvres journaliers, des infirmes, des indigens etc, !'ordre sac~e des in-
fortunes (Paris 1789; Ndr. 1967) mit der Frage, warum er noch aus der Nation ausge-
schlossen sei. Dazu .TAQUER GonEOHOT, La prise de la Bastille (Paris 1965), 174. Noch
zögernd und vage H. C. E. v. GA.GERN, Die Resultate der Sittengeschichte, Bd. 2: Die
Fürnehme:p. oder die Aristocratie (Wien 1812; 2. Aufl. Stuttgart 18315); dort S. 73: Wo noch
die Benennung eines 4. Standes oder einer 4. Kaste vorkO'mnu, da gehören die vorzüglich hi?i,
die ein abhängiges Gewerbe treiben und um Lohn für die drei vordern Stände arbeiten.
42 F;aIEDRICH RoHMER, Der vierte Stand und die Monarchie, in: Wissenschaft und Leben,

hg. v. H. Schulthess, Bd. 4 (Nördlingen 1885), 513. 516. 533. Zum Begriff 'vierter Stand'
-+ Stand und Klasse.
43 ALFRED ÜTTO STOLZE, Der vierte Stand und die Monarchie. Die Politik des Rohmer-

Bluntschlikreises während der Frühjahrsrevolution in Bayern 1848, Zs. f. l;>ayr. Landes-


gesch. 8 (1935), 51.
44 Analog z.B. zu EuGENE BURET, De la misere des classes laboutjeuses en Angleterre et

en France, 2 t. (Paris 1840) unter vielen anderen etwa JULros BEHRENDS, Wie ist der Not
der arbeitenden Klassen abzuhelfen?, 2. Aufl. (Leipzig 1847), oder schon, mit dem Blick
auf beginnende „Bewegung" in oder im Namen der Unterschicht: CARL RoDBERTUS-
J AGETZOW, Die Forderungen der arbeitenden Klassen (1837; von der „Augsburger Allge-

226
II. 4. Neue Begmre 'vierter Stanil' unil 'Proletariat' Arbeiter

HEGELS. Dieser hat die gefährliche Frage demgemäß auch im Kapitel über die
„Bürgerliche Gesellschaft"' behandelt. Dort sprach er von der übermäßigen 'Ver-
mehrung der Unterschicht, dem Herabsinken einer großen Masse unter das Maß
einer gewissen Subsistenzweise, der Erzeugung des Pöbels, der gegenüber die bürger-
liche Gesellschaft nicht vermögend genug sei, wirksam der Verelendung zu steuern.
Hegel sah die Anhäufung der Reichtümer auf der einen, die Vereinzelung und Be-
schränktheit der besonderen Arbeit und· damit· die Abhängigkeit und Not der an diese
Arbeit gebundenen Klasse auf der andern Seite45 •
Das, was Hegel hier beschreibt und was nach ihm mehrere Jahrzehnte lang immer
wieder beschrieben, ja beschworen worden ist,· führte zu einer Um- und Neu-
wertung des Begriffs 'Arbeiter', der in der geistig-politischen Auseinandersetzung
des 19. Jahrhunderts seit etwa 1830 weit mehr wurde als nur eine Kollektiv-
bezeichnung für die verschiedenen Berufe und Schichten der 'handarbeitenden
Klasse'. Mit dem Begriff 'Arbeiter' war vielmehr von nun an die 'soziale Frage'
"al"t;o:v}v bezeichnet. Wandlung, Vermehrung und Bewegung der handarbeitenden
Unterschic_b.ten warfen beunruhigende, scheinbar kaum lösbare Probleme auf. Der
Arbeiter war daher nicht mehr. mit lang überlieferten Vorstellungen zu begreifen;
er forderte neue Aufgaben und Forderungen heraus; er schien die Gesellschafts-
ordnung überhaupt in Frage zu stellen. In solcher Lage genügte offenbar das
alte Wort 'Arbeiter' nicht mehr, um alles Neuartige auszudrücken. Es wurde in
den dreißiger und vierziger Jahren immer häufiger durch das vom Gelehrten- zum
Modewort werdende 'Proletarier', 'Proletariat' ersetzt, das zunächst sich als Be-
griff für die Menschen der Massenarmut des im Übermaß reproduzierten „Pöbels"
anbot und von solcher Bedeutung aus zum' Arbeiter' als dem anständigen, :fleißigen,
ordnungsliebenden Typus in Gegensatz gebracht wurde 48• Dagegen löste sich der
Begriff des Proletariats bei Lorenz von Stein, Karl Marx und Friedrich Engels gänz-
lich von solcher pejorativen Sinngebung und damit auch von 'Proletarier' als
einem Gegenbegriff zu 'Arbeiter'. 'Proletariat' bot sich, frei von aller wortgeschicht-
lichen Belastung, für eine revolutionäre Deutung des gesellschaftlichen Prozesses
oder der Geschichte überhaupt in wirkungsvoll absurder Dialektik aufs beste an.
Damit war nicht mehr der Gegensatz zum Arbeiter, wohl aber eine Erhöhung des Ar-
beiters zu einem revolutionären Gestalttjpus ausgedrückt. Für STEIN war (1850)
in der sich formenden industriellen Gesellschaft endlich aus dem industriellen Arbei-
terstande das Proletariat der Gegenwart gewoiden41. FRIEDRICH ENGELS setzte die
Wörter 'Arheiter' und 'Proletarier' 1845 in seiner „Lage der handarbeitenden
KlaRse in England" gleich; damit ermöglichte er die Ersetzung von 'Arbeiter'

meinen Zeitung" als nicht aktuell abgelehnt), Aus dem literarischen Nachlaß, hg. v.
Adolph Wagner u. Theophil Kozak, Bd. 3 (Berlin 1885), 195 ff.
'6 HEGEL, Rechttjphilosophie, §§ 243-245.
"So besonders typisch in FRIEDRICH liARKORT, Brief an die Arbeiter (1849), abgedr. bei
WILHELM SOHULTE, Volk und Staat. Westfalen im Vormärz und in der Revolution 1848/49
(Münster 1954), 319 ff. Vgl. dazu WERNERCONZE, Vom „Pöbel" zum „Proletariat", Vjschr.
f, Sozial- u. Wirtschaftsgesch. 41 (1954), bes. 344 f., auch in: Modeme deutsche Sozial-
geschichte, hg. v. IIANs ULRICH WEHLER (Berlin 1966), 111 ff. ·
' 7 LoRENZ v. STEIN, Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf
unsere Tage, Bd. 2 (Leipzig 1850), 96.

227
Arbeiter D. 5. Arbeitervereine

durch 'Proletarier'H. Er leistete damit aber auch der Tendenz Vorschub, daß
'Arbeiter' in der Sprache der sozialistischen (später marxistischen) Theorie nicht
hinter 'Proletarier' zurücktrat, sondern in der Regel synonym mit ihm verwendet
wurde. Das gleiche galt auch für die Sprache der Agitation. Da aber der Begriff
des 'Proletariats' nicht zufällig von MARX als Zentralbegriff seiner revolutionären
Theorie eingeführt (1843) und bevorzugt worden ist, soll die begri:lisgeschichtliche
Linie von Marx zum Marxismus dem Artikel „Proletariat" vorbehalten bleiben.
In der frühen und auch späteren deutschen Arbeiterbewegung - diese Wort-
bildung allein weist schon darauf hin - blieb praktisch 'Arbeiter' stets der ge-
bräuchlichere Begriff, obwohl 'Proletarier' auch unabhängig von l\larx und meist
ohne betonte Gegensätzlichkeit zu Arbeiter in die Theorie und Alltagssli'rache der
Arbeiterbewegung seit den vierziger Jahren einfloß. 'Arbeiter' wurde damit zum
Kampfbegriff in und außerhalb der Arbeiterbewegung; daraus folgte der'Zwang
zur Ideologisierung.

5. Arheitene1·eine
Das war bedingt durch den Wirkungszusammenhang des sozialökonomischen
Wandels (beginnende industrielle Verkehrswirtschaft einerseits, Handwerker-,
Heimarbeiterkrise und Pauperismus andererseits) mit den Anzeichen eines neuen
Lagebewußtseins der Arbeiter durch „Aufklärung", d. h. das Bedürfnis, die Parolen
von Freiheit und Gleichheit auf die eigene Existenz zu beziehen. Genauer gesagt
trat dieser Wirkungszusammenhang zwischen 1830 und 1848 dort ein, wo auf-
geklärt revolutionäre Intelligenz mit Arbeitern zusammentraf, die auf Grund ihrer
besonderen Lage wach und empfangsbereit waren, d. h. in den deutschen Arbeiter-
und Handwerkervereinen der Schweiz, Frankreichs, Belgiens und Englands, wo
allein die Begegnung von politischen Flüchtlingen und wandernden Gesellen, die
sich 'Arbeiter' nannten, möglich war. In dieser Selbstbezeichnung von jungen
Männern, die fast alle noch dem Gesellenstande angehörten und ein dementsprechen-
des Selbstbewli.ßtsein besaßen, kam das Neue zum Ausdruck: ein „überkorporatives
Zusammengehörigkeitsgefühl", ein „Gruppen- und Solidaritätsbewußtsein" 49 •
'Arbeiter' wurde damit zum verbindenden Begriff, in dem sich überlieferte Hand-
werkerehre mit dem Ehrbewußtsein verband, in der Gemeinschaft der· Arbeiter
an der Spitze aller Armen und Entrechteten ein neues Zeitalter im Geiste der
Menschen- und Bürgerrechte herbeiführen zu wollcn°0. 'Arbeiter' wurde zum
Ehrennamen.

'8 F. ENGELS, Die Lage der handarbeitenden Klasse in England (1845), MEW Bd. 2

(1959), 234. Die Begriffsgeschichte von 'Proletariat', 'Proletarier' wird hier nur in ihrer
Verknüpfung mit 'Arbeiter' angedeutet.
"Vgl. WOLFGANG SCBIEDER, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslands-
vereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830 (Stuttgart 1963), bes. 82 ff.; vgl.
die Aufnahmeformel des „Bundes der Gerechten", zit. TmLo Rilllll, Die großen Sozialisten,
Bd. 1 (Stuttgart 1955), 482.
10 z.B. EMIL ADOLF Rossl\1ÄSSLER, Ein Wort an die deutschen Arbeiter, 2. Aufl. (Berlin
1863), 16; ebenso Rmm., Die Arbeiter, 275 (s. Anm. 25).

228
D. 6. 'Arbeiterbewegung' Arbeiter

Diese Verbindung von traditionellem Gesellenstolz und Arbeitersolidarität unter


dem mehr oder weniger deutlichen Leitbild einer neuen Gesellschaft blieb jahr-
zehntelang typisch für die Vereinsorganisationen solcher „Gesellen-Arbeiter"n.
1869 stellte VICTOR Am:E HUBER diese für die gewandelten modernen Verhältnisse
seiner Meinung nach bezeichnende Erscheinung ausdrücklich als vollzogen fest.
Der handwerksmäßig gelernte Arbeiter war keineswegs gewohnt und geneigt, sich kurz-
weg „Arbeiter" nennen zu lassen ... Auch das Publikum meinte mit dem Ausdruck
„Arbeiter" gewöhnlich den „Arbeitsmann" oder „Tagelöhner" in Stadt und Land.
Unter den sehr wesentlichen Veränderungen in den tatsächlichen Verhältnissen der
Gegenwart könne aber der Ausdruck, ,Arbeiter" mehr und mehr von jeder Art von
Lohnarbeitern gebraucht werden ... , ohne daß im allgemeinen die „fortgeschritteneren"
auch unter den ltandwerksmäßig gelernten Arbeitern Anstoß daran nehmen, ihn auch
für sich und ihresgleichen gelten zu lassen. Der GeRell habe nichts dagegen ... , Mit-
gl·ied e·ines Arbe·iter1:tiWw1tglf1Jere·ins zu Hein61a.

6. 'Arbeiterbewegung'

Was sich dergestalt im Bewußtsein der Arbeiter (Gesellen und qualifizierte Fabrik·
arbeiter) vollzog, das wurde in der 'Arbeiterbewegung' aktualisiert. Seit der
Französischen Revolution war in den europäischen Sprachen 'mouvement', 'Be-
wegung' auf das politisch-soziale Gebiet angewandt worden. Nach 1815 stand dem
'parti du mouvement', 'Bewegungspartei', die „Partei" der Beharrung oder der
Reaktion gegenüber. In den dreißiger Jahren war es üblich, von 'Bewegung' oder
'Bewegungen' zu sprechen, und zu Beginn der vierziger Jahre wurden die Begriffe.
'soziale Bewegung(en)' und 'Arbeiterbewegung(en)' vereinzelt, 1848/50 schon häu-
figer verwendet. KARL MARX brauchte das Wort bereits 1844 in seinen „Kritischen
Randglossen" gegen Arnold Ruge, der den Beginn der englischen und französischen
Arbeiterbewegung mit der eben beginnenden deutschen Bewegung hätte vergleichen sol-
len. Im gleichen Text ist noch einmal von der Eigentümlichkeit der deutschen Arbeiter-
bewegung die Rede 52. Im gleichen Jahr ist das Wort auch in der Presse belegt; so
sprach die „Mannheimer Abendzeitung" 1844 von 7,ängst erwarteten und befürchteten
Arbeiterbewegungen 5 3. Bei den sich 1848 in den Vereinen der „Arbeiterverbrüde-
rung"54 organisierenden Arbeitern war das Wort noch wenig im Gebrauch; STEFAN
BORN verwendete es 1848; sonst tauchte es gelegentlich im Plural in Artikeln der

61 WERNER CoNzE, Der Beginn der deutschen Arbeiterbewegung, in: Geschichte und Ge-

genwartsbewußtsein, Fschr. HANs RoTBFELS (Göttingen 1963), 323 :ff. Vgl. auch F. EN-
GELS' Benennung robuate, gutbezahlte Arbeiterklasse für Wuppertaler Fä.rbergesellen: Die
deutsche Reichsverfassungskampagne, MEW Bd. 7 (1960), 126, auf die WOLFGANG KöLL-
MANN, Wuppertaler Fä.rbergesellen-lnnung und Fä.rbergesellen-Streiks 1848-1857 (Wies-
baden 1962), 4 hinweist.
na V. A. HUBER, Zur Signatur der arbeitenden Klassen (1869), Ausg. Sehr., hg. v. K. Mun-
ding (Berlin 1894), 525 f.
52 K. MARx, Kritische Randglossen, MEW Bd. 1 (1957), 404.
53 Belege bei KURT KoszYK, Die Bedeutung des Jahres 1845 für den Sozialismus in Deutsch-

land, Anna.li dell'Istituto Giangiacomo Feltrinelli 6 (1963), 511, Anm. 1.


54 -+ Brüderlichkeit. Zur „Arbeiterverbrüderung" zuletzt FRoLINDE BALSER, Sozial·

Demokratie 1848/49 - 1863, 2. Aufl. (Stuttgart 1965).

229
Arheiter n. 6. 'Arbeiterbewegung'
Zeitschrift „Arbeiterverbrüderung" auf56• Ende 1849 hieß es dort im Jahresrück-
blick des Redakteurs GANGLOFF (28. 12. 1849), es sei zu beklagen, daß infolge der
Ereignisse mancher der aUgemeinen Arbeiterbewegung untreu geworden sei. Nach
der Revolution von 1848/49 setzte sich das Wort allmählich durch und war beim
Wiederbeginn, d. h. von 1863 an, in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen.
Daß dies in den fünfziger Jahren jedoch außerhalb der revolutionären oder sozial-
politisch versierten Kreise noch nicht geschehen war, zeigt die knappe Notiz im
ersten Band von GRIMMS Wörterbuch (1854): Arbeiterbewegung = Aufruhr der
Arbeiter, Arbeiterkrawall (543).
Seit den vierziger Jahren war somit der Arbeiter zum Phänomen eines sozialen
Gruppentypus von höchster politischer Bedeutung geworden 56, der in der begriffs-
geschichtlich entscheidenden. Zeit der vierziger bis siebziger Jahre sich als solcher
im allg1m1einen Bewußtsein festigte, wenn auch selb11tver11tändlich in vielfältig
verschiedenen und entgegengesetzten Wertungen, je nach dem Standort der
Urteilenden und je nach dem Vorwalten entweder der sozialen Konflikts- oder der
sozialen Integrationsvorstellung. ·
Die gesellschaftliche Konfliktstheoi:ie verband sich mit der Idee aktiver Revolution
oder mindestens mit der Vorstellung sozialer Spannung, die gefährlich für Eigentum
und gesetzte Ordnung war bzw. sein sollte. Bei solcher Sicht lastete auf den Arbei-
tern die alte Vorstellung der classes dangere·uses, der gefahrdroherulen Arbe-ilerrnusse 67 ,
des Gespenstes des Kommunismus, worauf Marx und Engels im „Kommunistischen
Manifest" sich bezogen. Das Gefährliche lag darin, daß es sich nicht mehr bloß
um „Krawalle" oder Aufstände von „Pöbel" handelte, sondern, daß Arbeiter im
modernen Sinne Mich organiMieren und selbst sogar führend Mein konnten. Für
Lorenz von Stein und Karl Marx führte die Vorstellung einer revolutionären
Arbeiterklasse zur politischen Theorie vom Proletariat. In der Praxis der Arbeiter-
bewegung von der „Arbeiterverbrüderung" 1848/50 über den „Vereinstag" und
den „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" (1863) bis zur „Sozialdemokratischen
Partei" (1869/75) stand aber die nie geleugnete Konfliktslage (in den sechziger
Jahren Übernahme des Marxschen Begriffs 'Klassenkampf') hinter der Integrations-
oder Emanzipationstheorie zurück, so besonders bei der „Arbeiterverbrüderung";
in den sechziger Jahren dagegen stand die Arbeiterbewegung unter dem Einfluß
von Marx und Engels (beginnender „Marxismus" ), allerdings nicht mehr eindeutig.

66 STEFAN BoRN, Die soziale Frage, in: Die Verbrüderung, 3. 10. 1848: Wir, die Leiter dP.r

Arbeiterbewegung. Ferner Leitartikel 31. 10. 1848 und Artikelreihe im Herbst 1848.
66 Vgl. die Feststellung von BRUNO HILDEBRAND: Während der Arbeiter der Vergangenheit

in einem halbtierischen Zustande träge und arbeit&&cheu hinvegetierte und niemals über den
nächsten Gesicht&kreis hinaUB &eine Gedanken erweiterte, fühlt der Arbeiter der Gegenwart,
der im Verkehr mit den Maschinen aufgewach&en ist, daß er mit den Fähigkeiten seine&
Kopfes und seines Arme.9 au,ch an dem. uroßen Bau.e der Geschichte mitarbeitet; Die National·
ökonomie der Gegenwart und Zukunft (1848), neu hg. v. Hans Gehrip; (Jena 1922),
zit. JAN'i'KE/IJILGER, Die Eigentumslösen, 455 (s. Anm. 22).
67 G. H. PERTHAT.ER, F.in RtA,nflpnnkt ti:nr VArmitt.hmg tJocfo.Ic.r lliliß11tändo im Fabrib·
betriebe, Zs. f. österr. Rechtsgelehrsamkeit 3 (1843), 121. Vgl. ROBERT Mom. schon 1835:
Es müsse versucht werden, die so höch&t bedenklich droltende Stellung, welche die Arbeiter
immer mehr und mehr in der bürgerlichen Gesell&chafi und gegen dieselbe einnehmen, in eine
ungefährlichere ••. zu verwandeln; Arch. d. polit. Ökonomik u. Polizeiwiss. 2 (1835), 184.

230
II. 8. Politische Aktualisierung 1863: Lassalle Arbeiter

Es ging der Arbeiterbewegung seit 1848 um die Verwirklichung der Menschen- und
Bfugerrechte: 1. auf die geistige und sittliche Ausbildung M8 Arbeiters al,s Mensch und
Bürger einzuwirken; 2. ihm Erkenntnis einzuflößen über seine Stellung in der Zeit und im
Staate, und ein Bewußtsein seiner Rechte als Mensch und als Staatsbürger, ihm, der
seither im Staate nur Pflichten kennen sollteö&.

7. 'Arbeiterstand'

Sprachlicher Ausdruck dessen war bezeichnenderweise der Anspruch, 'Stand' zu


sein oder werd~n zu wollen. Mochte auch 'Arbeiterstand' in der Alltagssprache von
'Arbeiterklasse' kaum scharf unterschieden werden, so war doch der Sinn des 'Stan-
des', nämlich eine ..ll:hre wie die andern Stände zu haben und hierin allen andern
„Menschen und Bürgern" gleichzustehen, deutlich im Bewußtsein. In einer Eingabe
der bayrischen Arbeitervereiue au ilie Regierung wurde 1850 der Gesellen- oder
Arbeiterstand als integrierender Teil und als die eigentliche Stütze de,'s Gewerbestandes
im ganzen bezeichnet69 • Und kurz darauf fragte die „Verbrüderung", ob der
Arbeiter als Stand anerkannt werde,n kann, ode,r ob er ewig als Sklave leben ... will6 0.
Diese Haltung AinP.R Relbstbewußt werdenden Arbeitersto.ndos führte sowohl .r.ur
Forderung der „Staatshilfe" (bis zu Lassalle) wie zum Ideal der 'Selbsthilfe'
(Schlagwort be11onder11boi8ohulze-Delitzsch) durch 'Assoziationen' derWirtschafts-
und Bildungshilfe („Arbeiterbildungsvereine"). Die Bildungsidee war dem „neuen"
Arbeiter der Arbeiterbewegung von vornherein und fortwährend impliziert. Hier
trafen sich in der Sache, wenn o.uoh nicht im Ziel, die sozialdemokratischen Arbeiter
mit liberalen und konocrvo.tivon Sozialreformern (z. Il. Sohulz1:1-Delitzsch, Victor
A. Huber).

8. Politische Aktualisierung 1863: Lassalle

Im Jahre 1863 wurde der Begriff des neuen Arbeiters politisch aktualisiert. In
diesem Jahr gipfelte gewissermaßen die ~schichte des Begriffs, der durch neu
entstehende Arbeitervereine und vor allem durch LASSALLES Formulierungen einer
pragmatisierten Theorie historisch-politisch stärker als vorher in zwingende Bah-
nen geleitet wurde. Etwa zur gleichen Zeit, in der sozialrechtlich und -statistisch
der Begriff 'Arbeiter' in Anpassung an den Gesellsoho.ftswandel einer g1:1wissen
Klärung entgegengeführt worden war, erhielt auch 'Arbeiterbewegung' endgültig
ihren festen geschichtlichen Platz, so daß Wort und Inhalt von nun an al& bekannt
und gegeben überall vorausgesetzt und nicht mehr übersehen oder bestritten wer-
den konnte~. Damit wurde 'Arboitor' o.lß sozialer Begriff im politisoLeu Kampf
klar· :fixiert. Lassalle gab ihm sprachlich und inhaltlich eine bestimmte weiter-
wirkende Richtung, die sich vom Arbeiterbegriff Bebels, Liebknechts und damit

68 Leipziger Arbeiter-Zeitung, Nr. 1 (1848), zit. JOHANNES HOJl'MANN, Das Herz der deut-

schen sozialen Bewegung im 19. Jahrhundert (Leipzig 1923), 30f.


69 Die Verbrüderung, 29. 1. 1850, Nr. 9.
80 Ebd., Nr. 12. Lorenz v. Stein verwendet gleichfalls 'Arbeiterstand', freilich in einem

der 'Klasse' nahen Verständnis und begrift'Jich bewußt innerhalb seines Systems präzisiert.

231
Arbeiter Il. 8. Politische Aktualisienmg 1863: Lassalle

der aufkommenden SPD nicht prinzipiell unterschied. Dem brauchte praktisch


nicht entgegenzustehen, daß Begriff und Lehre vom Proletariat im Sinne von Marx
und Engels vom Ende der sechziger Jahre bis zum Erfurter Programm immer
unbestrittener übernommen, gleichwohl aber die sich 1869/75 verbindenden „so-
zialdemokratischen" Linien des Lassalleschen „Allgemeinen Deutschen Arbeiter-
vereins" und des „Vereinstags Deutscher Arbeitervereine" für die Praxis maß-
gebend blieben. Die Zweiteilung des Erfurter Programms in den geschichtsdeutend-
marxistischen und den Teil der „Nahziele" legt davon Zeugnis ab. Lassalle paßte
1863 seine von Marx abhängige revolutionäre Theorie den Erfordernissen seines
politischen Kampfes an. Daß sich dabei Inkonsequenzen, .ja eine „Krise" seiner
Theorie ergeben haben, ist jüngst erneut bemerkt worden 61 , besagt aber hier wenig,
da nach der nach außen wirkenclen Regriffähestimmnng cles Politikers Lassalle
gefragt werden soll. Es ist auffällig, daß Lassalle im Gegensatz zu seiner früheren
Begriffssprache in seinen öffentlichen Kundgebungen um 1862/64 stets von 'Ar-
beiterstand', kaum dagegen vom 'Proletariat' sprach, ja sogar seinem Ziel, das
letztlich Klassenversöhnung, nicht aber Diktatur des Proletariats hieß, die uner-
wünschte, vermeidbare, aber mögliche Prognose einer wilden proktarischen Revo-
lution gegenüberstellte62 • Lassalle wäre allerdings mißverstanden, wenn 'Arbeiter-
stand' den Klassencharakter ausgeschlossen oder ein harmonisierendes· Hinein-
wachsen der Arbeiter durch Bildung und genossenschaftliche Selbsthilfe im Sinne
Schulze-Delitzschs gemeint hätte. Die Kampfsituation wurde nicht geleugnet, ja
durch die Gründung einer Arbeiterpartei im Gegensatz zur „bürgerlichen" Fort-
schrittspartei als bestehend anerkannt und ausdrücklich herausgefordert. Der Ar-
beiter wurde also- von Lassalle weder als unterbürgerliche „niedere Klasse" noch
als einzufügender potentiell mittelständischer Bürger unter Leugnung des Klassen-
kampfes gemäß dem demokratischen Liberalismus (Schulze-Delitzsch), noch als
revolutionärer „Proletarier" verstanden, der gewaltsam seine Diktatur aufrichten
muß, um Sozialismus und Kommunismus zu verwirklichen. Nach den Stadien der
adligen, auf Grundbesitz, und der bourgeoisen, auf Kapital begründeten Herrschaft
(dritter Stand) folgte für Lassalle geschichtlich notwendig die Herrschaft des vierten
Standes über den Staat - sittlich befreiend in einem doppelten Sinne: a) der Staat
sei (hegelianisch) die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur Frei-
heit, b) der Arbeiterstand könne kein anderes Prinzip der Herrschaft mehr auf-
Mtellen als Arbeit und Gerechtigkeit für alle ( A.rbe-iter S'ind w-ir alle} 63 , Indem Jurch
den Arbeiterstand die Herrschaft der Bourgeoisie beseitigt werde, würden damit
auch Ungerechtigkeit und Unterdrückung aufgehoben. Dieser vierte Stand, in
dessen Herz/alten daher kein Keim einer neuen Bevorrechtigung mehr enthalten ist.
i11t eben de11halb gkichbedeutend mit dem ganzen Menschengeschlecht 64 • Der Arbeiter
war also für Lassalle zwar praktisch zunächst der „Gesellen-Arbeiter" seiner an
Zahl kleinen Arbeitervereine, in der Zielsetzung aber der aus der Klassenherrschaft
der Bourgeoisie und ihres (unsittlichen) Staates befreite Mensch der Zukunft.

81 SHLOMO NA'AMAN, Lassalle - DemokraLitl uud Su:1.iu.lU:tl1110kr·aLitl, .A.t·ch. f. Su:t.ialgetillh. 8


(1963), 21 ff.
82 FERDINAND LASSALLE, .Arbeiterlesebuch (1863), Werke, Bd. 3 (1919), 169 f„ bes. 268.
ea LASSALLE, .Arbeiterprogramm, Werke, Bd. 2 (1919), 197 ff. 186.
u Ebd„ 186 f.

232
D. 9. Sozialdemokratie Arbeiter

I..a.ssalle suchte diese Vorstellung ihres utopischen Charakters zu entkleiden, indem


er ersten1:1 (auf G.runcl 1:1eine.r foLe.r_p.retation der preußischen Statistik) feststellte,
daß 96 % aller Einwohner des Staates mittellos seien, also nicht mit den Interessen
der Bourgeoisie übereinstimmen könnten; alle diese Menschen gehörten zu den
ganz unbemittelten Klassen6°. Zweitens stellte er auf seine Weise den Bezug zur
Wirklichkeit her, indem er das allgemeine und gleiche Wahlrecht forderte, bei dessen
Anwendung sich das Schwergewicht der Interessenlage dieser großen, arbeitenden
Mehrzahl würde auswirken müssen, so daß die Avantgarde66 der industriellen
Arbeiter mehr als eine bloße Klassenbewegung, vielmehr eine allgemeine demokra-
tische Volksbewegung herbeiführen werde67. Das aber sei Verschmelzung von Staat
und Gesellschaft, d. h. Versöhnung, bewirkt durch den Arbeiterstand. Wie schon
früher bei Marx wurde also 'Arbeiter' historischer Gegenbegriff zu 'Bourgeois' oder
'Bürger'. Der Marxsohen Antinomie „Proletariat - Bourgeoisie" entsprach 1863
die Lassallesche von „Arbeiterstand - Bürgertum". Schulze-Delitzsch, der per-
sönliche Gegner, erschien Lassalle als leider nicht eine Person, er ist ein Typus; er
ist der Ausdruck unseres Bürgertums68 • Und in einer Rezension des Lassallesohen
„Bastiat-Schulze" wurde beider Werk durch den Gegensatz von Bourgeois- und .••
Arbeiter-Okonomisten6 9 bezeichnet.

9. Sozialdemokratie
Dieser Arbeiterbegriff Lassalles unterschied sich von dem der Demokraten dadurch
daß durch ihn ein besonderer Arbeiterstand von der Bourgeoisie abgehoben und
zur Grundlago oinor „Arboitorpartei" gemacht wurde; doch blieb der gemeinaame
Untergrund allgemeiner Demokratie sehr viel unmittelbarer als bei der Marxsohen
Umdeutung des Arbeiter- zum Proletariatsbegriff erhalten. Und da diese in der
Wurzel ungeeohieden demokratische Einordnung des Arbeiters bei Bebel und
LIEBKNECHT - da die Arbeiter das Gros des Heeres der Demokratie bilden (1868) 70
- ursprünglich sogar noch stärker als bei Lassalle betont worden war, ist es ver-
ständlich, daß die Sozialdemokratische Partei seit 1869 trotz des allmählich auf-
genommenen Marxismus diesen demokratischen Arbeiterbegriff, wenn auch in Kon-
kurrenz oder Mischung mit dem dialektisch-revolutionären Proletariatsbegriff,
faktisch beibehielt. So kann zur Zeit der Vereinigung der beiden sozialistischen
Arbeiterpart.ei11n imr SA PD (Gotha l 87f>) eine Dreistufenunterscheidung des Arbei-
terbegriffs festgestellt werden: 1) der reale Kern der Arbeiter-Gesellen, aus dem
die Arbeiterbewegung faktisch noch vorwiegend bestand; 2) die Gesamtheit des
Arbeiterstandes oder, wie es nun meist hieß, der 'Arbeiterklasse' im Gegensatz zur
'Bourgeoisie' oder zum 'Bürgertum'; 3) die Erhöhung des Arbeiters zum Menschen
schlechthin (s. o. Ruge, S. 224; Lassalle, S. 232). Hierzu äußerte sich Lieb-
66 Ders., Werke, paBBim; s. vor allem Bd. 3, 217.
68 Ebd., 264.
n Ebd.; 287.
88 nArR., WArkA, Rcl. fi (1919), 341; ii.hnlich auch ebd., 340.
69 .ALBERT ScHÄFFLE, Bourgeois- und Arbeiter-Nationalökonomie, Dt. Vjschr. 27/2 (1864),
267.
70 LIEBKNEOHT, in: Bericht über den Fünften Vereinstag der Deutschen Arbeitervereine

[in Nürnberg 1868), 2. Aufl. (Leipzig o. J.), 35 f.

233
Arbeiter D. 10. Liheraldemokratie

knecht, indem er den (demokratischen) Vorwurf abwehrte, die SPD beschränke


sich auf eine bestimmte Bevölkerungsklasse. Das sei unzutreffend. Das Wort Arbeiter
hat ilurchaus keinen exklusiven Charakter. Denn Arbeit sei Betätigung des Menschen-
tums ... Durch Arbeit wiril iler Mensch erst zum Menschen. Arbeiter heißt also
Mensch-als Mensch sich betätigeniler Mensch •.• Arbeiterpartei heißt: ilie Partei iler
wahren Kulturkämpfer, die Partei der für Kultur uni! Menschentum ringenden
Menschen 71 • Dazu kam die an den Anfang des „Eisenacher Programms" (1986)
gestellte Forderung des freien Volksstaates, den zu erringen die Arbeiterbewegung
als Kern der demokratischen Nation in erster Linie berufen sein sollte. Das gleiche
Verständnis der Beziehung von Arbe'iter und Volksstaat lag der Politik der
Mehrheitssozialdemokratie 1917-1919 zugrunde. Dieser politisch-demokratische
Arbeiterbegriff der SPD ermöglichte sowohl eine Ausweitung von der begrenzten
Arbeiterpartei zur Volkspartei, wie auch die Bildung von Riindnissen oder Koali-
tionen mit andern Parteien für das Ziel oder später auf dem Boden des „Volks-
staates". ·

10. Liheraldemokratie

Damit erhielt sich - auch nach dei· Trennung der proletarischen von der bürgerlichen
Demokratie 72 in den sechziger Jahren - eine gewisse Nähe der sozialdemokratischen
Arbeiterbe;egung zu den Demokraten linksliberaler Richtung. Die „Trennung"
blieb allerdings eine Tatsache, und beide, die Sozial-Demokraten und die Liberal-
Demokraten, bildeten demgemäß ihren Arbeiterbegriff entweder mit der Tendenz
zum klassenkämpferisohen Proletariat oder zum harmonisierenden IlürgerLum aus.
Auf liberaldemokratischer Seite wurde also die Trennung verneint, bedauert oder für
überbrückbar erklärt. SCHULZE-DELITZSCH setzte auf der Grundlage des optimisti-
schen Glaubens der liberalen „Freihandelsschule" in den fünfziger und sechziger
Jahren seine Hoffnung auf die Hebung der hanilarbeitenilen Klassen, d. h. der
selbständigen Handwerker und der eigentlichen Arbeiter, durch die Einführung
des Genossenschaftswesens in das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte. So sollten
die Klassengegensätze sich abschwächen; die handarbeitenilen Klassen sich zum
Niveau eines allgemeinen Wohlstanils oder zum Mittelstanil hinbewegen 73 • Schulze
versuchte, vorübergehend erfolgreich, auf die Dauer vergeblich, eine liberale
.Axbeiterbewegung mit solcher Tendenz ins Leben zu rufen und sie dem „tren-
nenden" Arbeiterverein Lassalles entgegenzustellen. Eine ·Generation später sah
der Liberaldemokrat l!'RIEDRICH NAUMANN die Möglichkeit und Notwendigkeit,
die Trennung der Demokratie im Zug zum politisch-wirtschaftlichen Inilustrievolk
oder inilustriellen Arbeitsvolk zu überwinden, innerhalb dessen der Arbeiter als
der neue Massenstanil organisiert, qualifiziert und bildungsfähig, die entscheidende

71 Protokoll des Ve~einigungskongresses der Sozialdemokraten Deutschlands, Gotha, 22.

bis 27. Mai 1875 (Leipzig 1875), 35.


72 GusTAV MAYER, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in

Deutschland (1863-1870), Arch. f. d. Gesch. d. Sozialismus u. d. Arbeiterbewegung 2


(1912), 1 ff.
73 HERMANN SCHULZE-DELITZSCH, Sehr. u. Reden, bes. Bd. 1 (1909), passim. Dazu WER·

NER CoNZE, Möglichkeiten und Grenzen der liberalen Arbeiterbewegung in Deutschland.


Das Beispiel Schulze-Delitzschs (Heidelberg 1965), bes. 19 f.

234
D. 11. Lilteralismus: Treitscbkc Arbeiter

Rolle im Kampf der Demokratie gegen die rückständigen „.Aristokratien" zu


spielen habe7•.

n. Liberalismus: Treitscbke
Im Gegensatz zu den konsequenten Liberaldemokraten75 hat der deutsche Liberalis-
mus in seiner Mehrheit von 1848 bis zum Ersten Weltkrieg alle Forderungen, die
sich aus der Verbindung des .Arbeiterbegriffs mit der Demokratie ergaben, mit
Besorgnis und Ablehnung angesehen. Mochte die Möglichkeit des individuellen
Aufstiegs aus der .Arbeiterschicht durch Bildung und Fleiß begrüßt werden, so war
die Abneigung gegen die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der
.Arbeiter allgemein verbreitet. In der Revolution von 1848 trat diese Abwehr-
haltung gegenüber der Gefahr der .Arbeiteremanzipation dominierend zutage.
Das besitzende und gebildete Bürgertum war noch weit über die Mitte des 19. Jahr-
hunderts hinaus an die überlieferte Geringachtung der, handarbeitenden Unter-
schicht so gewöhnt, daß zwar eine Verantwortung zur Hilfe in Fortbildung der
christlichen ca.rita.l:! vielfältig anerkannt, jegliche EmanzipaLiun auer verneinL
wurde. Im Maße wie ein modern-demokratischer Gesellschaftsbegriff mit seinen
Konsequenzen für ein allgemeines und gleiches Wahlrecht, für einen allgemein
gleichen Zugang zur Bildung, für Mitgewinn oder Mitbestimmung, für Koalitions-
und Vereinsfreiheit der .Arbeiter abgelehnt wurde, wie es, von Ausnahmen ab-
gesehen, der Fall war, wurde auch ein demokratischer .Arbeiterbegriff verworfen
und dem .Arbeiter unterhalb der bürgerlichen Gesellschaft (im älteren oder neueren
Verständnis) sein Platz angewiesen.
Noch Anfang der siebziger Jahre (1874) schrieb HEINRICH VON TREITSCHKF. sein
für diese Haltung des liberalen Bürgertums klassisches Pamphlet gegen Schmollers
„Kathedersozialismus": gegen das Wahngebilde der natürlichen Gleichheit der
Menschen, gegen die Begehrlichkeit des Pöbels, für eine bürgerliche Gesellschaft
gegenseitiger Abhiingigkeit, die eine Aristokratie sei, während die große Mehrheit
im Schweiße ihres Angesichts schaffe. Die bürgerliche Gesellschaft eines gesitteten
Volkes ist eine natürliche Aristokratie, sie kann und darf die höchsten Arbeiten und
Genüsse der Kultur nur einer Minderheit gewähren, doch sie gestattet jedem ohne
Ausnahme emporzusteigen in die Reihen dieser Minderheit. Deutschlands gebildete
Stände haben in diesem Jahrhundert ihre Pftjchten ge.gen die niederen Klassen niemals
gänzlich vergessen . . . Sie weisen den Wahn zurück, als ob in der sittlichen Welt
irgend etwas sich schenken ließe, als ob irgendeine Sozialreform den Arbeitern geben
könne, was ihnen eine verlOgene W üklerei zu zerstören droht: das Ehrgefühl der
A.rbe.it76 •

7' FRIEDRICH NAUMANN, Demokratie und Kaisertum, Werke, Bd. 2 (1964), passim,
bes. 38 ff. 82. 121. 136.
76 Mit, diP.RP.m K ollP.kt.ivhP.eriff 11011 nioht diP. ViP.lfalt dP.r individ1111ll und :r.Aitlir.h vArar.hi11-

denen AuffaBBungen der deutschen Liberalen verwischt werden. Auch im „linken" Li-
beralismus wurden Arbeiter und soziale Frage nicht einheitlich begriffen.
78 H. v. TREITSCBXE, Der Sozialismus und seine Gönner, Preuß. Jbb. 34 (1874), 67 ff.

-+-Arbeit.

235
Arheiter 11.12. Konservative: Huber, Riebl, Wagener, Bismarck

Treitschkes Aufsatz ist ein besonderer Höhepunkt liberaler Abwehr gegen die
Gefahr der Nivellierung der Bildung durch eine gleichmacherische Zerstörung der
„bürgerlichen Gesellschaft", in der eine Kultur von hohem Rang allein wegen der
in ihr vorhandenen Ungleichheit möglich sein sollte. Ebenso wie z. B. bei Dahl-
mann und Droysen war dieser Liberalismus begründet durch die idealistische
Philosophie und die Vorbilder der Antike, in der die Arbeiter von Gesellschaft und
Bildung ausgeschlossen gewesen waren.
Solche Kontinuität des politisch-kulturellen Ausschlusses der Arbeiter (bei Aner-
kennung von individuellem Aufstieg und bürgerlicher Verantwortungspflicht ge-
genüber den Arbeitern je nach Erfordernis) war nicht nur spezifisch liberal, sondern
entsprach dem traditionellen Sein und Bewußtsein allgemein. Das konnte je liberal,
konservativ oder auch christlich begründet werden. Allerdings finden sich bei allen
diesen Richtungen bemerkenswerte Sonderausprägungen, Abweichungen oder zeit-
gemäße Anpassungen an .die sich wandelnden Verhältnisse der modernen Arbeits-
welt.

12. Konservative: Huber, Riehl, Wagener, Bismarck

Vorn konservativen Standpunkt aus lag der Gedanke der Fürsorgepflicht gegenüber
den Arbeitern bei gleichzeitigem Verwerfen eines Laissez faire-Liberalismus be-
sonders nah. Daraus konnte, überwiegend und typisch, ein patriarchalisch be-
stimmter Begriff vom Arbeiter entstehen, der allerdings schärfer sehenden und
denkenden Konservativen allein nicht mehr genügen konnte. So forderte VICTOR
Anm HUBER die Selbsthilfe von unten in angemessener Begrenzung. Die arbeitenden
Klassen müßten vor den beiden Extremen der ge/ährlichen und der hilflosen Klassen
durch ehrliche Arbeit, unterstützt durch den Staat, vor allem aber gestärkt durch
genossenschaftliche Selbsttätigkeit, bewahrt werden. Huber sah die Zweiklassen-
spaltung von arbeitenden und besitzenden Klassen, nahm den Klassenkampf als
unvermeidlich gegeben an, wollte aber nicht in diesem Kampf Stellung nehmen,
sondern sah mit der Hilfsbedürftigkeit die Möglichkeit und Verpflichtung zur
Staats-und Selbsthilfe 77 • WILHELM HEINRICH RIEHL stand dieser Auffassung nahe.
Er kam, ohne sich selbst „christlich-sozial" zu begründen, aus der christlichen
Tradition, wenn er zur Achtung jeder ehrlichen Arbeit aufforderte .. Er ging darüber
hinaus, wenn er sich zum neuen E~rennam,en der Arbeiter bekannte und diesen
als die Urkunde einer großen sozialen Revolution78 bejahte. Machte er sich so zum
Fürsprecher der Ehre und Lebenswürde der Arbeiter inmitten wirtschaftlicher
Skrupellosigkeit und sozialer Auflösung, so setzte er sich gleichwohl oder gerade
deswegen von demokratischen oder sozialisLümhen Tendenzen sozialkonservativ
ab, indem er den Arbeiter in seinem Stande bewahrt wissen und ihn die Erfüllung
seines Lebens in seinem Erbteil, neidlos, entsagungsvoll und um Gotteswillen zu
arbeiten79 , finden lassen wollte. Riehl wünschte nicht eine Emanzipation, sondern

77 HUBER, Art. Arbeitende Klasse, BLUNTSCHLI/BRATER Bd. l (1857), 279 ff.


78 RIEDL, Die Arbeiter, 264 f. (s. Anm. 25); vgl. JANTKE/(Hil.GFJR, Die Eigentumslosen,
397 f. (s. Anm. 22). Vgl. oben S. 228.
78 RmHL, Die Arbeiter, 398.

236
11.12. Konservative: Buher, Rieb], Wagener, Bismarek Arbeiter

eine sittliche Reorganisation der Arbeiter .•. , daß sie höher stei,gen in Reli,gion und
Sitte, in Bildung und genossenschaftlichem und häuslichem Gemeinleben 80 • Diese
Arbeiter waren für ihn vom Proletariat und von seinem Begriff des vierten Standes
unterschieden, den er ausdrücklich als Stand der Standlosen oder Negation der
Stiinde in die Nähe seiner Deutung des Proletariats rückte. Er verwahrte sich da-
gegtm, daß er diese höchst ehrenwerte Klasse der um ihr tiigliches Brot ringenden
Arbeiter als solche zu dem sozialen vierten Stande, dem Stande des Abfalles und der
Standeslosigkeit hätte zählen wollens1.
Riehl stemmte sich also wie alle Sozialkonservativen gegen die moderne Auflösung
alter Ordnung, die er gewiß nicht versteinern oder starr restaurieren, aber doch auch
um keinen .Preis liberal oder „sozial-demokratisch" verändert wissen wollte. Es
ging ihm um einen besser gesicherten, in seinem Fleiß und seiner Arbeit geachteten,
von begehrlicher Veränderungssucht geheilten, lebenserhaltender Sitte wieder-
gegebenen Arbeiter. Dieser bildete für Riehl, gemessen an seinem Begriff des
natürlichen, durch Sitte und Lebensart gefestigten Standes, noch keinen Stand.
Er sollte aber in einer regenerierten Gesellschaft eine Zukunft haben und in ilir
dereinst einen idealen vierten Stand bilden; der gegenwärti,ge vierte Stand dagegen
ltat neben ·ikm nur eiti Recht der EZ'istenz wie Mephisto neben FaustR 2•
Klarer als bei Huber und Riehl wurde bei den preußischen (Partei-)Konservativen,
soweit sie sich überhaupt sozialreformerisch bemühten, der Begriff des Arbeiters
an den Staat und damit an die „Sozialpolitik" gebunden. Das entsprach um die
Mitte des 19. Jahrhunderts noch keineswegs der allgemeinen Anschauung. Sowohl
einer überlieferten patriarchalischen wie einer wirtschaftsliberalen Vorstellung
widerstrebte eine staatsunmittelbare Position des unselbständigen Arbeiters, moch-
te die immediate Beziehung zwischen Staat (Monarchen) und dienenden bzw. hand-
arbeitenden Menschen auch seit der Französischen Revolution und den Staats-
reformen zu Beginn des Jahrhunderts im Kommen sein. J. G. HOFFMANN hatte die
preußische Klassensteuer von 1820 in solchem Sinne gedeutet: die Besteuerung
von Personen statt von Haushalten in der untersten Steuerklasse sollte den Wahn
beseitigen, als ob der Handarbeiterstand auch noch jetzt dem Staate nur mittelbar
angehöre 8 3.
Zwei Meinungen lagen den konservativen Gedanken einer staatlichen Sozialpolitik
zugrunde: 1) der Arbeiter bedürfe des Schutzes und der „Interessen"-Vertretung,
könne aber nicht vom Fabrikherrn oder Grundbesitzer vertreten werden, weil
die Interessen dieser verschiedenen Klassen, wie JARcKE 1854 schrieb, ... größtenteils
gerade entgegengesetzt sind. Jener vierte Stand (das moderne Proletariat), der seiner
Natur nach ohne Bevormundung nicht leben kann, darf nur von der Regierung ver-
treten werden, und diese allein ist im Stande, dessen 1nteressen den höheren Klassen
der Gesellschaft gegenüber wahrzunehmen und zu schützen. Nur auf diesem Wege wird
dem Kriege zwischen Armen und Reichen vorgebeugt84 • Diese aus der Bedürftigkeit

80 Ebd., 404.
81 Ders., Die bürgerliche Gesellschaft, 8. Aufl.. (Stuttgart 188f!), 281.
81 Ebd., 297.
83 Zit. KosELLECK, Preußen, 69 (s. Anm. 21).

"'CARL ERNST JARCKB, Hundert Schlagworte zur Verfassungspolitik der Zukunft, Ver-
miSchte Sohr., Bd. 4 (Paderborn 1854), 196 f.

237
Arbeiter II. 13. Unternehmer Patriarehalismus
0

des Arbeiters hergeleitete, den Gedanken selbsttätiger Harmonie ebenso wie den
autonomer Selbsthilfe ausschaltende Anrufung des Staates wurde 2) konkretisiert
durch die seit Lorenz von Stein (1850) häufig wiederholte und auf die Hohenzollern
angewandte Idee vom Königtum, da.s in der modernen Entwicklung der Klassen-
kämpfe ein kerer Schatten oder eine Despotie werden o~r untergehen in Rep'Ublik
müsse, wenn es nicht den hohen sittlichen Mut hat, ein Königtum der soziakn Re/Mm
zu werden 85 •
HERMANN WAGENER schloß sich 1859 mit der These vom Bedürfnis des vierten
Standes, vertreten und bevormundet zu werden 86 , an Jarcke an und begründete damit
sein Programm sozialer Politik in scharfer Ablehnung des Manchester-Liberalismus,
verbunden mit der Hoffnung, die Arbeiter durch Reformen eines soziakn Königtums
zufriedenzustellen und damit immun zu machen gegen die Agitation der Soziafü1ten.
Der Arbeiter sollte gesichert, gehoben, eingegrenzt und im wörtlichen Sinne ein-
gefügt werden: Sicherung eines angemessenen Arbeitslohnes durch korporative Ge-
staltung, ähnlich den zünftigen, zugleich als Grundlage für die politische Vertretung
jener Volksklasse, für das nach Ständen geordnete W ahl'fp,r,n!. 87 • niP. JJö1mng der
Arbeiterfrage durch staatliche Sozialpolitik (Versicherungsgesetze der achtziger
Jahre) urnl Bildung berufsständischer Korporationen, d. h. durch eine Verbindung
von staatlicher Vorsorge und berufsgeno.'!llenschaftlicher Selbstverwaltung als
möglicher Grundlage für eine berufsständische Volksvertretung schwebte auch
BISMARCK vor, der von den Ideen Wageners beeinflußt wurde. Er liebte es, an den
sozialen Beruf der preußischen Könige zu erinnern (Friedrich der Große: roi des
gueux) und die Analogie zur Stein-Hardenbcrgschen Bauernbefreiung herzustellen:
Auch das war Sozialismus, dem einen ilas Gut zu nehmen, dem andern zu geben; ...
1m:r h.abe.n dadtirch einen sehr wohlhabondon, freien Bauernstand erhalten, und icl&
hoffe, wir werden mit der Zeit Ähnliches für die Arbeiter erreiohen88• Suchte Bismarck
also durch seine Sozialversicherung den Arbeiter an den Staat zu binden, so begriff
er den Arbeiter andererseits noch immer als einer patriarchalischen Führung be-
dürftig und blieb mit dem staatlichen Eingriff da stehen, wo seiner Auffassung nach
allein der Unternehmer als Herr im Haus die Verantwortung zu tragen hatte. Der
Arbeiterschutz sollte daher im Gegensatz zur Sozialversicherung nicht reichs-
gesetzlich geregelt werdenB 9 •

13. Untemebmer-Patriarchalismos

Hier kam Bismarck also den Unternehmern entgegen, denen er seiner „staats-
sozialistischen" Neigungen wegen sonst vielfach suspekt war. Unter ihnen war
wil.h.rend des ·19. Jahrhunderts die Vorstellqng des „Hauses" in Fortbildung des alten
Handwerksbetriebs noch unmittelbar lebendig. In zahlreichen Zeugnissen ist be-
legt, daß der Arbeiter in der Fabrik in seinem ,Verhältnis zum „Brotherren" wie ein

85 L. v. STEIN, Geschichte, Bd. 3 (1850), 49 (s. Anm. 47).


88 W AGENER Bd. 2 (1859), 486.
87 Denkschrift WAGENEBS für Bismarck, 18. 4. 1863, in: WALTHER VOGEL, Bismarcks
Arbeiterversicherung (Bra.Ullli!)hweig 1951), 120.
88 BISllliRCK, Reichstagsrede v. 12. 6. 1882, FA Bd. 12 (1929), 360.
89 Vgl. z. B. die Reichstagsrede v. 9. 1. 1882, ebd., 313 :ff.

238
ll. 13. Untemehmer-Patrüu:ehalismus Arbeiter

Glied der familia gegenüber dem pater familias begriffen wurde. ALFRED KRUPPS
Feststellung in einem Aufruf gegen den Streik (187~). daß ich in meinem Hause
wie auf meinem Boden Herr aein und bkiben will, drückte diese allgemeine Auf-
fassung typisch aus 90• Bedeutete das in diesem Fall Strenge gegen Unbotmäßigkeit
und Abwehr gegen Einmischung in sein eigenes 'Haus' von außen, so hieß das auf
der anderen Seite Fürsorge und Wohltätigkeit in seinen sozialen Einrichtungen.
Nicht allein dies häusliche Bild, in dem der Fabrikherr als ein kluger Meister und
wie ein guter Familienvater91 erschien, sondern auch das Modell eines Fürstenstaates
diente dazu, die Stellung des Arbeiters metaphorisch zu begreifen. So 1840 bei
dem saarländischen Papierfabrikanten Louis PIETTE: Eine Fabrik gleicht einem
Staate, dessen Oberhaupt Mr Fabrikherr ist. Beamten und Volk sind die Werkmeister
und Arbeiter. Hat Mr erste die Fabrik, um Ruhm und Vermögen zu erlangen, und
benutzt er dazu Arbeiter, die gegen Lohn ihm Zeit, Kräfte, Geschicklichkeit und
Freiheit überlassen, so muß er dagegen für das moralische und materielk Wohl seines
Völkchens sorgen; seine Einsicht, seine Sittlichkeit und sein gutes Benehmen beförMrn;
über seine Bedürfnisse, seine Gesundheit, seinen Wohlstand wachen und durch weise
Verordnungen die gegenseitigen Pfiichten und Rechte MS Herrn und der Untertanen
zur A•usüb•uny briny1m 93 . Neben die Dilder „Ila.u!va.ter - Knecht" und „Fürst
Untertan" trat als drittes das militärische „Kommandeur - gemeiner Soldat".
STUMM-liALBERG betonte ausdrücklich die Analogie zwischen Mn Betrieben und der
Armee. Ein Unternehmen müsse militärisch organisiert sein. Dabei ging Stumm
sogar so weit, dies nicht nur um der selbstverständlich erforderlichen Arbeitsord-
nung willen zu erklären, sondern zu fordern, daß die Arbeiter MS Neunkirchener
Werks wie ein Mann hinter ihm stehen müßten, wenn es gelte, die Konkurrenz
sowohl wie die finsteren Mächte des Urn..~t11.rze.~ z11, bekämpfen, ebenso wie die Soldaten
gemein.~am gegen Mn Feind ziehen, wenn ihr König sie ruft 93 •
An solcher Überforderung des Arbeiters mitten in der Zeit hoch gestiegener Span-
nung zwischen persönlicher Herrschaft und Demokratisierung wird deutlich, daß
hier noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus der uralte Begriff
einer dienenden Schicht unterhalb der 'bürgerlichen Gesellschaft' in das moderne
Industriesystem übertragen wurde und dort, unbeschadet aller gebotenen Strenge
einer technisch bedingten Arbeitsdisziplin mit unvermeidlicher Über- und Unter-
ordnung, nicht haltbar war. Denn der demokratische Arbeiterbegriff stellte den
patriarchalischen in Frage, mochte dieser auch mehr oder weniger stark allen
„bürgerlichen", konservativen oder liberalen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts
zugrundeliegen.

90 Zit. FRIEDRICH ZuNKEL, Der rheinisch-westfälische Unternehmer 1834-1879 (Köln,

Opladen 1962), 241. Als Prototyp für den „Herr-im-Haus-Standpunkt" gilt Frh. v. Stumm-
Halberg; über ihn vgl. FRITZ HELLWIG, Carl Frh. v. Stumm-Halberg 1836-1901 (Heidel-
berg 1936).
91 So Lours l'IETTE, Bemerkungen über die gegenseitigen Pflichten der Fabrikherren und

Arbeiter. Aus der Vorrede zu: Die Nützlichkeit der Maschinen für die Arbeitnehmer und
Arbeiter (Köln 1840), abgedr. bei FRITZ HELLWIG, Louis Piettes Entwurf einer Fabrik-
ordnung, Tradition 7 (1962), 135.
92 Ebd., 134.
93 HELLWIG, Stumm-Halberg, 295.

239
Arheiter II. 15. Die christlichen Kirchen

14. Kathedersozialisten: Schmoller

Sowohl die „Kathedersozialisten", an ihrer Spitze GusTAV ScHMOLLER, als auch


einzelne weitsichtige Unternehmer sind in den Jahrzehnten nach 1871 allerdings
deutlich über diese Schranken hinweggegangen. Treitschkes bereits erwähnter
Kampfruf von 18749 4 hatte sich gegen Schmollers Vortrag „Die sociale Frage und
der preußische Staat" (1874) 95 gerichtet, in dem das kathedersozialistische Pro-
gramm in seinem Ursprung erschien. Es war gegen den Wirtschaftsliberalismus
gerichtet, appellierte an das „soziale Königtum" der Hohenzollern, beschwor die
Erinnerung an das große Beispiel der preußischen Bauernbefreiung, wies aber über
Wagener und Bismarck hinaus, indem es Monarchie und Demokratie einander
zuordnete und folgerichtig zu einem demokratischen Arbeiterbegriff vorstieß.
Der Arbeiter müsse unter andere Lebens- und Wirtscha/t8bedingungen gesetzt werden,
die naoh allen Seiten einen anderen Menschen aus ihm machen. Das Königtum solle
über die Mittel einer älteren preußischen Sozialpolitik hinausgehen und werde auf
dem Boilem eines freien, im besten Sinne demokratischen Staatswesens an die sozial-
puz.il'iJJclten Aufgaben herantreten müssen. Nur so werde es gelingen, die ganze Ar-
beiterbewegung wieder in die richtigen Bahnen zu, leit.en 11nd n1m 11üirtP.n 8tamd wieda
harmonisch in ilen Staats- und Gesellschaftsorganismus einfügen zu können 96 • Ein
solches Programm zielte auf Gleichberechtigung 97 als Voraussetzung für soziale
Gerechtigkeit und als Vorbeugung gegen die sozialistische Revolution im klaren
Bewußtsein der Spannung, in der der Arbeiterstand sich dadurch befand, daß er
in neue wirtschaftliche Verhältnisse eingetreten ist, für welche die sittlichen Vor-
stellungen und Bande, die Sitten iler alten Zeit nicht .mehr passen, für welche sich
ent.~prechenile neue noch nicht gebililet haben 98 •

·15. Die christlichen Kirchen

Die christlichen Kirchen hatten im 19. Jahrhundert in besonderer Weise unter


der bezeichneten Spannung zwischen den „Klassen" zu leiden. Bis gegen Ende des
Jahrhunderts verhielten sie sich dem demokratischen Begriff des Arbeiters gegen-
über ablehnend, besonders wenn er revolutionär aufgefaßt wurde. Soweit sie sich.
überhaupt ernsthaft der „sozialen Frage" zuwandten, wurden sie eher in eine
sozialkonservative als in eine sozialliberale Haltung gedrängt. Der Arbeiter als
Angehöriger der Unterschicht sollte vor Umsturz und Begehrlichkeit bewahrt,
zufrieden in seinem Stande gehalten, aber nicht ohne materielle und geistliche
Hilfe gelassen werden, deren er unter dem Druck der Massenarmut, Entwurzelung,
Entkirchlichung und Entsittlichung bedurfte. Es war theologisch folgerichtig, daß
die soziale Frage von den Kirchen nicht primär sozialplanerisch, sondern im Geiste

" s. o. s. 235.
95 G. SCHMOLLER, Die sociale Frage und der preußische Staat, Preuß. Jbb. 33 (1874),
323 ff., auch in: ders„ Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart (Leipzig 1890),
37 ff. (danach zit.).
ss Ebd., 55. 62 f. 54. 62.
87 Ders„ zit. HEINRICH HERKNER, Die .Arbeiterfrage, 8. Aufl„ Bd. 1 (Berlin, Leipzig 1922),

439, Anm. l.
•s Ders„ Soziale Frage, 56.

240
m. Ausbliek Arlteiter

der Nächstenliebe und Bruderhilfe unter den gegebenen Verhältnissen gesehen


wurde. Auch und gerade die um die Mitte des Jahrhunderts Hervorragenden,
WICHERN im evangelischen und KETTELER im katholischen Bereich, verstanden
den Arbeiter und die Arbeiterfrage in diesem Sinne; bei Wiehern in seinen zahlrei-
chen Aufsätzen und Vorträgen vor und nach 1848, bei Ketteler gipfelnd in seiner
Schrift „Die Arbeiterfrage und das Christentum" (1864)99.
In den siebziger bis neunziger Jahren gingen einzelne Vertreter in beiden Kirchen
bewußt über diese Grenze hinaus. So wenn STOECKER - bei aller Abwehr sozial-
revolutionärer Richtungen - das Recht des Arbeiters zur Organisations- und
Parteibildung100 betonte und ihn als Stand politisch heben wollte, wenn auf katho-
lischer Seite KARL FRH. VON VoGELBANG das Industriesystem auf einer berufs-
ständisch-genossenschaftlichen Grundlage neu geordnetwissen101 oder wenn FRANZ
IlITZE Produktivassoziationen mit Ordensregel und Klostergeist schaffen wollte102.
Aus christlichem Geist sollten neue, sozialgerechte Organisationsformen entstehen.
Die Arbeiter wurden als 'Brüder' begriffen. Das Kloster wurde zum Struktur-
vorbild der Fabrik.
Schließlich steigerte sich auf protestantischer Seite die Tendenz zur Demokrati-
sierung des Arbeiterbegriff1:1 bei Friedrich Naumann unc.l auf kaLholischer Seite
über die Enzyklika „Rerum novarum" von 1891 hinaus zur bedingten Anerkennung
von Kampforganisationen der Arbeiter, den „Christlichen Gewerkschaften" seit
1894. Das waren Anpassungsvorgänge, die in beiden Kirchen weithin mit Argwohn
beobachtet oder gar abgelehnt wurden. Der Weg zur Anerkennung eines demo-
kratischen Arbeiterbegriffs mit allen seinen politisch-sozialen Folgen war aller-
dings auch für die Kirchen unaufhaltsam. Er wurde seit dem ausgehenden 19. Jahr-
hundert zunehmend mit innerer Zustimmung und mit gewissen Erfolgen be-
gangen.

m. Ausblick
Durch den Weltkrieg und den Wandel der Staatsverfassung 1918/19 kam die
Demokratisierung, wenn auch noch vielfältig gehemmt, zum Durchbruch. Mit ihr
hob sich die Stellung des Arbeiters in der Staats- und Kommunalverfassung sowie
in den gcscllscho.ftliohen Organisationen. Die aus dem 19. Jahrhundert über-
kommene Spannung im Arbeiterbegriff - Avantgarde der sozialen bzw. 1:1oziallliti-
schen Revolution oder bürgerliche Integration - blieb bestehen, desgleichen der

99 WILH. EMMANUEL KETTELER, Die Arbeiterfrage und das Christentum (Mainz 1864).

Kritische Inhaltsangabe bei FRrrz VIGENER, Ketteler. Ein deutsches Bischofsleben des
19. Jahrhunderts (München, Berlin 1924), 444 ff.
100 ADOLF STOEOKER, Christlich.sozial, evangelisch-sozial, kirchlich-sozial (1904), Reden

u. Aufs., hg. v. Reinhold Seeberg (Leipzig 1913), 164 f. SIEGFRIED A. KAEHLER, Stoeckers
Versuch, eine christlich-soziale Arbeiterpartei in Berlin zu begründen (1878), in: Deutscher
Staat und deutsche Parteien, Fschr. FmEDRIOH MEINECKE (München, Berlin 1922),
227 ff.
101 WIARD v. KLoPP, Die sozialen Lehren des Freiherrn von Vogelsang, 2. Aufl. (Wien

1938), bes. 462 tf.


108 FRANZ HrrzE, Die soziale Frage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung (Paderborn
1877), 217.

16-90385/1 241
Arbeiter m. Ausblick
Gegensatz zwischen 'ArbeiterklaBBe' und 'Bürgertum', zwischen Arbeiterparteien
und „bürgerlichen" Parteien. Die Sozialdemokratie sprach ihre Arbeiter sowohl
als KlaBBenkämpfer gegen den „bürgerlichen Kapitalismus" für eine sozialistische
„Wirtschaftsdemokratie" wie als Hüter der Demokratie gegen den Umsturz von
links oder rechts. an. Beides mochte theoretisch in Einklang gebracht werden,
schloß sich aber in der Praxis weitgehend aus. In beiden Zielvorstellungen wurde
jedoch die politische Hochwertung des Arbeiternamens bewahrt.
Die politische Suggestivkraft des Arbeiters kam auch im Namen der NSDAP
zum Ausdruck. HITLER übernahm, wenn auch ideologisch umgedeutet, die Hoch-
schätzung des Arbeiters bei gleichzeitiger Mißachtung des „nationalen Bürger-
tums", obgleich er dieses größtenteils; die Arbeiter aber kaum gewann. Er begriff
den Arbeiter als den ehrlichen, fleißigen „VolksgenoBBen", der durch Juden und
Marxisten verhetzt und verbildet, von falscher Lehre befreit, seiner „Volksgemein-
schaft" wiedergegeben werden sollte. Die Spannungen innerhalb der Arbeiterschaft
sowie zwischen Arbeiter und Bürgertum sollten aufgehoben werden.
W1mn in fler T11.t flieRe ß,lt,en Rp11.nnnngen hiR :i:11r Gegenwart zwar nicht aufgehoben,
aber abgeschwächt und neuartig verwandelt worden sind, so ist das allerdings
weniger die Folge der .N 8-Volksgemeinschaft als des allgemeinen, nicht allein
Deutschland betreffenden Reifungsprozesses industrieller Wirtschaft und Gesell-
schaft, in der die Dichotomie zwischen Arbeiterklasse und Bürgertum in-
mitten einer sich zunehmend demokratisierenden· Gesellschaft immer mehr
an bestimmender Realität einbüßt. Die Einheit der Klasse verliert an Gewicht,
der Wohlstandsausgleich nimmt zu, Überhöhung und Pathos des Arbeiters, wie
es zu Beginn des Jahrhunderts noch in der Arbeiterdichtung hervorgetreten war,
finden keinen rechten Platz mehr im schnellen Wandel der lllouernen Arbeits-
gesellschaft, in der die Zahl der „Unselbständigen" oder der „Arbeitnehmer"
immer mehr zunimmt, der Anteil der Arbeiter im eigentlichen Sinne zurückgeht
und der Arbeitername gern hinter differenzierten Berufsbezeichnungen zurück-
gestellt wird. Die Arbeiterfrage besteht nicht mehr als „soziale Frage", sondern
löst sich auf in eine Vielzahl von sozialen Fragen, an denen nicht allein die Arbeiter
teilhaben. Diese Tendenz hat der westliche Teil Deutschlands gegenwärtig mit den
westlichen Industrienationen gemein. Im östlichen Teil Deutschlands ist dagegen
im Anschluß an die Sowjet-Union und in Anknüpfung an die KPD die leninistisch-
marxistische Begriffsregelung für 'Arbeiter' offiziell verbindlich gemacht und ist die
Entwicklung seit 1945/49 als „Sieg der Arbeiterklasse", als Aufstieg des „Arbeiter-
und Bauernstaats" und als Erfüllung des Kampfes der sozialistischen Arbeiter-
bewegung gedeutet .worden1 oa.
WERNER CONZE

.1 oa Vgl. HANs MoMlllSEN, Art. Arbeiterbewegung, SDG Bd. l (1966), 273 ff.; MARGARET
DEWAR, Art. Arbeiterklasse, ebd., 314 ff.

242
Aufklärung

I. Einleitung. II. Hinweise zur Sachbestimmung und Wortgeschichte. 1. 'Aufklärung' als


Epochenbegriff. 2. Zur Wortgeschichte von 'Aufklärung'. III. Typische Begriffsbildungen
im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. 1. 'Aufklärung' als Erleuchtung des Verstandes
und Erwärmung des Herzens: Westenrieder. 2. 'Aufklärung' als universaler Erkenntnis-
und Wissensbegriff: Wieland. 3. 'Aufklärung' als moralisch-pragmatischer Erziehungs- und
Volksbildungsbegriff: die Philanthropinisten. a) Christian Gotthilf Salzmann. b) Rudolf
Zacharias Becker. c) Friedrich Eberhard von Rochow. d) Pe~r Villaume. e) Joachim
Heinrich Campe. 4. Die Mehrdeutigkeit des Aufklärungsbegriffs bei Kant. 5. Aufklärung
als „theoretische Dildung": Mende!BSOhn. 6. 'Aufklärung' als diffuser Einheitsbegriff von
Philosophie, Wissenschaft und rationaler Lebensführung: Riem. 7. Grundlegung der
„absoluten Aufklärung": Bahrdt. TV. Schlagwortprägungen und Begriffsabgrenzungen
im publizistischen Meinungskampf während der Revolutionszeit. 1. Polarisierung und
Politisierung des Sprachgebrauchs. 2. Differenzierungen zwischen „wahrer" und „fal-
scher" Aufklärung. 3. Neutralisierung des Allgerneinhegriffä. V. Wort,e11hrn.nnh nnil Rf':-
griffsbestimmungen in der „Deutschen Bewegung". 1. Vorbemerkung. 2. Lessing. 3. Ha-
ma1111. 4. Ilerdei·. li. Schiller. 6. DILll AufkliLmngsverständnis von Romantik und Idealis-
mus um 1800. 7. Salats Gegenbegriff der „moralischen Aufklärung" und Niethammers
historisch-negativer Aufklärungsbegriff. 8. Friedrich Schlegels christliche Idee der Auf-
klärung. 9. Hegels historisch-systematischer Aufklärungsbegriff. VI. Grundzüge und
Aspekte des Aufklärungsverständnisses im 19. Jahrhundert. 1. Allgemeine Charakteristik.
2. Wandlungen des katholischen Begriffsverständnisses. 3. Positionen des protestanti-
schen Begriffsverständnisses. 4. Bildung und Anwendung eines allgemeinen weltan-
schaulichen Aufklärungsbegriffs. 5. Das Aufklärungsverständnis des Frühliberalismus im
Spiegel der Obskurantismuskritik. 6. Der pädagogische Aufklärungsbegriff und seine
Historisierung. 7. Das Aufklärungsverständnis der Linkshegelianer und Nietzsches „neue
Aufklärung". VII. Ausblick.

I. Einleitung*
Die im 18. Jahrhundert beginnende Geschichte des Begriffes 'Aufklärung' ist im
wesentlichen durch drei Momente bestimmt: 1. durch die Verdichtung und Ver-
engung der allgemeinen W ortbedeuiung sowohl zu einem historischen Epochen-
begriff als auch zum Begriff der diese Epoche tragenden geistigen Bewegung sowie
der aus ihr ableitbaren, sie prägenden und überdies selbständig weiterwirkenden
Ideen; 2. durch das ungeschmälerte Fortbestehen und Weitergelten der „ursprüng-
lichen", allgemeinen Wortbedeutung gegenüber dieser Spezialbedeutung, die im 19.
und 20. Jahrhundert sogar noch zu einer erheblichen Aqsdehnung des allgemeinen
Anwendungsbereiches, d. h. zu Bedeutungserweiterungen, und zu einer produktiven
Veränderung des Wortfeldes von 'Aufklärung' führt; 3. durch die Substitution, Er-
gänzung oder Verdrängung des Aufklärungsbegriffs durch andere, oftmals schon
vor dem Aufkommen dieses Begriffs gebräuchliche oder bekannte Begriffe (z. B.
'Kultur', 'Bildung', 'Zivilisation', 'Wissenschaft', 'Philosophie;, 'Erziehung'), die
entweder über eine stärkere Integrationskraft und einen höherei;i Generalisations-

* Dieser Artikel ist die gekürzte Fassung eines mehr als doppelt so umfangreichen
Manuskripts, deSBen vollständige Veröffentlichung vorgesehen ist.

243
Aufklärung II. 1. 'Aafklirung' als Epochenbegml

effekt verfügen oder aus sonstigen Gründen bei der Bezeichnung gleicher oder ähn-
licher Sachverhalte vorgezogen werden.

II. Hinweise zur Sachbestimmung und Wortgeschichte

1. 'Aufklärung' als Epochenhegrift'

Obgleich schon im 18. Jahrhundert Formulierungen wie die vom „Zeitalter der Auf-
klärung" oder von der „aufgeklärten Zeit" und den „aufgeklärten Zeiten" zusam-
men mit denen vom „philosophischen Jahrhundert (le siecle philosophique)", dem
„Zeitalter der Vernunft (the age ofreason)" oder „Je 11iP.cle des lumieres", dem „er-
leuchteten ZeiLalLer", dem „Zeitalter der Kritilc" und dem „Jahrhundert des
Zweifelns" verwendet wurden, ist die Herausbildung des Epochen- und Bewegungs-
begriffs 'Aufklärung' nicht so selbstverständlich, wie es heute erscheinen mag. Erst
relativ spät hat der Epochenbegriff Eingang in die Lexika, Hand- und Wörterbücher
ge.funde.n. Noch Mitte der 1860er Jahre hielt es D&OY8EN für nötig, boi dor Benut-
zung des Ausdrucks die englische Aufklärung in Parenthese hinzuzufügen: wenn es
erlaubt ist, die Zeit der sog. Deisten so zu bezeichnen1 • Ähnlinh vnr11i1.1htig spricht LRL
BIEDERMANN 1858 von den Anfängen der sogenannten Aufklärung in Deutschland
gegen das Ende des 17. Jahrhunderts. Seinen Christian Wolffbehandelnden Abschnitt
leitet er mit Bemerkungen über die weitere Ausbreitung und Entwicklung der „Auf-
klärung" ein 2 und deutet damit an, daß für ihn die Verwendung dieses Ausdrucks
alles andere als unstreitig ist.
Die Gründe für die langsame Herausbildung und Durchsetzung des Epochenbegriffs
sind vielfältig. Sicherlich hat der Umstand, daß Aufklärung weiterhin als erkenntnis-
theoretische oder als moralisch-pädagogische, d. h. als aktuelle Aufgabe verstanden
und nicht ausschließlich für das Objekt einer historischen Betrachtung oder das
Wesensmerkmal eines vergangenen Zeitalters gehalten wurde, dabei eine wichtige
Rolle gespielt. Ausschlaggebend dürfte gewesen sein, daß 1. der Aufklärungsbegriff
bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein auch von solchen geistigen
Richtungen in Anspruch genommen, d. h. positiv verwendet wurde, die jeden
„Rationalismus" entschieden bekämpften und die Identifikation von Aufklärung
und „Vernunftherrschaft" ablehnten; 2. die ursprünglich „neutrale" Wortbedeu-
tung sich erfolgreich gegenüber einer inhaltlichen Festlegung historischer oder dok-
trinärer Art behauptete; 3. der Aufklärungsbegriff schon im 18. Jahrhundert zu
uneinheitlich, gegensätzlich, ja widersprüchlich bestimmt und angewendet wurde,
um allgemeingültig festgelegt werden zu können. Was. unter 'Aufklärung' begriffen
werden sollte, darüber bestand sogar bei den Anhängern und Vertretern der Idee~,
die heute im Epochen- und Bewegungsbegriff 'Aufklärung' zusammengeschlossen
sind, keine Einigkeit. Das Ergebnis, zu dem nach ernstem Bedenken 1783 ZÖLLNER
gelangte, ist dafür nur ein Zeugnis von vielen: Was ist Aufklärung? Diese Frage, die
beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit?, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe

1 JoH. GusTAV DROYSEN, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie

der Geschichte, hg. v. Rudolf Hübner, 3. Aufl. (Darmstadt 1958), 417.


1 K. BIEDERMANN, Deutschland im 18. Jahrhundert, Bd. 2/1(Leipzig1858), 353. 392.

244
0. 1. 'Aufldäraag' als Epoehenhesriff Aufldäruag

man aufzuklären anfinge/ 3 • Auch die Antworten, die 1784 Mendelssohn und Kant
eigens auf Zöllners Frage gaben, schufen in dieser Beziehung keinen Wandel. Sechs
Jahre nach Zöllner kam BAHRDT zu dem gleichen Ergebnis: Das Wort Aufklärung
ist.jetzt in dem Munde so vie'ler Menschen, und wir haben g'leichwohl noch nirgends
einen BegriO gefunden, der ganz bestimmt und gehörig begrenzt gewesen wäre 4 •
Lange bevor Romantik, Idealismus und Erweckungsbewegung die mit dem Epochen-
begriff gemeinte Sache kritisierten und bekämpften, war das Wort 'Aufklärung'
zum Modewort geworden, das alles und nichts bedeuten konnte. So heißt es 1787
beispielhaft in SALZMANNS pädagogischem Roman „Carl von Carlsberg": Manche
setzen die Aufklärung in der ( !) Frisur und in französische Kleidertracht; andere glauben,
sie bestehe in Lästerung Gottes und J esu Christi ... Ja ich habe einen jungen LaQen
gekannt, der ltieU B'ich deswegen für aufgeklärt, weil er Französisch plaudern konnte 5•
Nach der heute vörherrschenden Definition bezeichnet 'Aufklärung' als Epochen-
begriff jene in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einsetzende und im 18. Jahr-
hundert kulminierende europäische Geistesbewegung, durch die in einem alle mensch-
lichen Lebensbereiche von Grund auf verändernden Säkularisationsprozeß die „mo-
derne Welt" heraufgeführt und eine umfassende „EutzauLeruug uer Welt" (Max
W e.hf'lr) f'lingr.leitet wird. Ziel dieser „Entzauberung" ist im Prinzip die Emanzipation
des Menschen aus der Welt des geschichtlichen Herkommens, d. h. seine Befreiung
von allen Autoritäten, Lehren, Ordnungen, Bindungen, Institutionen und Kon-
ventionen, die der kritischen Prüfung durch die autonome menschliche Vernunft
nicht standzuhalten vermögen, sich der Einordnung in ihr gesetzmäßiges System
entziehen und sich infolgedessen als Aberglaube, Vorurteil, Irrtum usw. erweisen.
Im Zuge dieser „Entzauberung" strebt die Aufklärung die Erziehung des Menschen
zu einem selbstbewußten Vernunftwesen und zu einer selbständigen sittlichen Le-
bensweise an, die nicht durch die Überlieferung und die Wahrheit einer positiven
Religion, sondern durch die Vernunft und die von ihr kraft ihres selbsteigenen Ver-
mögens klar, deutlich und nachprüfbar erkannte Wahrheit über Gott, Welt und
Mensch bestimmt ist. Als Basis der Aufklärung erscheint somit die absolut gesetzte,
für unwandelbar und allgemeingültig gehaltene Vernunft, die in den verselbständig-
ten Wissenschaften ebensosehr die Autonomie des Denkens realisiert wie sie in ihnen
ihr wichtigstes Organon besitzt, durch das sich der „moderne" Mensch auch prak-
tisch zum Zentrum seiner Welt macht und die Natur als Objekt seine~ rational ge-
leiteten Arbeit beherrscht.
In einer einflußreichen Wesensbestimmung der Aufklärung, die am Ende der sich
durch das ganze l~. Jahrhundert hinziehenden Bemühungen um die Deutung und
Einordnung dieses Phänomens steht, stellt 18~7 ERNST TROELTSCH zwar ihren un-
endlich mannigfaltigen Inhalt heraus, vertritt aber zugleich mit Nachdruck die An-
sicht, der durchgängige Kampf gegen den kirchlichen Supranaturalismus und dessen
praktische Folgen sowie eine gewisse Gemeinsamkeit der hierbei gebrauchten Methoden
verleihe der Aufklärung einen relativ einheitlichen Charakter. Deshalb ist für ihn ihr

8 JoiI. FR!EDBIOH ZÖLLNER, Ist es ratsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion
zu sanciren ?, Berlinische Monatsschr. 2 (1783), 516.
~ K. F. BAHRDT, Über Aufklärung und die Beförderungsmittel derselben (Leipzig 1789), 3.
6 CHR. GoTTBILF SALZMANN, Carl von Carlsberg, oder über das menschliche Elend, Bd. 3

(Karlsruhe 1787), 85 f.

245
Aufklärung 11.1. 'Aufklärung' als Epochenhegrift'

Wesen der Widerspruch gegen den bisherigen ZwiespaU von Vernunft und Offenbarung
und gegen die praktische Herrschaft der supranaturalen Offenbarung über das Leben ..
Eine immanente Erklärung der W eU . . . und eine rationale Ordnung des Lebens im
·Dienste allgemeingültiger praktischer Zwecke ist ihre Tendenz. Da sie beides ... auf
dem Wege rein verstandesmäßigen Raisonnements zu erreichen suchte, so ist ; . . ihr
Hauptcharakter eine nüchtern zergliedernde Verständigkeit und ein reformlustiger
Utilitarismus . ... Als der erste umfassende Kampf gegen die Überlieferung der Kirche
und der Antike ist sie schließlich erfüllt von einem einzigartigen Selbständigkeitsgefühl
und einem unbegrenzten Optimismus . . . Der endlich mündig gewordenen Vernunft
(traut sie) eine nie geahnte weltverbessernde Wirkung zu 6 •
Vergleicht man solche und ähnliche Definitionen mit dem, was im 18. Jahrhundert
unter 'Aufklärung' verstanden wurde, dann liegt die Differenz deutlich auf der Hand.
Unschwer läßt sich zeigen, daß das ganze 18. Jahrhundert hindurch kein derartiger
Aufklärungsbegriff entwickelt worden ist und es erst am Ende des Jahrhunderts
einige wenige Ansätze gegeben hat, das Ganze jener Geistesbewegung des 18. Jahr-
hunderts unter dem Wort 'Aufklärung' begrifflich zusammenzufassen. Das bedeu-
tet nicht, daß es der Zeit a.n Versuchen begrifflicher SelU1:1Lerfa1:11mug gefehlt hat.
Indes erwies sich dafür das vieldeutige Modewort 'Aufklärung' wenig geeignet.
Diese Feststellung gilt trotz Ko.ntfl borühmtor Aufkli:i.rung13dcfinition, die offenbar
erst im Zug~ der „Rückkehr zu Kant" und der Ausbildung des Neukantianismus die·
Konsolidierung des Epochenbegriffs begünstigt hat, während sie unter Kants Zeit-
genossen nur geringe Beachtung fand. So beruft sich HERMANN HETTNER 1855 aus-
drücklich auf Kant und spricht von jenen großen Bildungskämpfen, die man als das
Zeitalter d.er Aufklärwng z11. bezeich.nen pftegt 1 •
Unter wiederholten Hinweisen auf Kant hält 1873 der Rabbiner Tom As CoHN seinen
Vortrag über „Die Aufklärungs-Periode". Aber für ihn beginnt diese Periode mit
den Ausläufern der Reformation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, und buch-
stäblich alles, was seither in der Philosophie, Kunst, Literatur, Religion und Natur-
erkenntnis als etwas schöpferisch Neues, kraftvoll Originäres auftritt, wird von ihm
der 'Aufklärung' zugeordnet, gleichgültig, ob es sich dabei um Breughel und Murillo,
Shakespeare und Montaigne, Pascal oder Klopstock handelt. Möglich ist eine solche
Zuordnung deshalb, weil Cohn überall dort Aufklärung am Wcrkc sieht, wo er die.
Absicht spürt, die Unmündigkeit zu beseitigen, den Autoritätsglauben zu brechen und
dafür dem eigenen Geiste, dem Geist der Zeit die Zunge z11, lö.~en, und darüber hinaus
für ihn die Geschichte der Aufklärung überhaupt nie zuerst begonnen hat und nie
enden wird, sondern ewig bleiben und schaffen, immer weitere Kulturbahnen öffnen,
immer reinere Ziele zeigen wird 8, weshalb jeder Genius im Reiche der Kultur an
dieser Geschichte der Aufklärung teilhat.
Daß sogar am Anfang der 1880er Jahre der Aufklärungsbegriff noch nicht konsistent
verwendet wird, macht LORENZ VON STEIN deutlich, indem er 1884 den von Windel-
band eingenommenen Standpunkt, den Begriff der Aufklärung mit dem Vorhanden-
sein aufgeklärter Philosophen oder Männern der Wissenschaft zu identifizieren, ver-

e E. TRoELTSCH, Die Aufklärung (1897), Ges.Schr., Bd. 4, hg. v. Hans Baron (Tübingen
1925), 339.
7 H. HETTNER, Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Tl. 1 (Braunschweig 1856), 3.
8 TOBIAS CoHN, Die Aufklärungs-Periode (Potsdam ·1873), 4. 40.

246
U. 2. Zur WortgellCbiehte 'YOD 'Aufklärung' Aufklärung

wirft und glaubt, er werde wohl nur von den wenigsten geteilt werden. Dabei er-
innert Stein scharfsinnig an die ebenso end"losen als ergebnis"losen Streitigkeiten, welche
sich seit der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis fast mitten in das gegenwärtige
hinein an jenes Wort geknüpft haben, und fährt fort: Wenn man dabei fragt, was die
einzelnen eigentlich darunter verstanden, so wird man sehen, daß genau genommen
keiner sich davon klare Rechenschaft ablegte, und zwar darum nicht, weil jeder annahm,
jeder andere verstehe ganz gut, was er damit meine 9•

2. Zur Wortgeschichte von 'Aufklärung'


Obwohl die Wortgeschichte noch nicht eingehend untersucht-ist und vermutlich
einigA Zeit vor dem 18. Jahrhundert beginnt, kann das Wort in seiner hier interes-
sierenden Bedeutung wie ein Neologismus betrachtet werden. In KAsPAR STIELERS
„Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz"
(1691) erscheint es zusammen mit dem auch aus anderen zeitgenössischen Texten
bekannten und bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vereinzelt benutzten Wort
'Ausklärung' als deutsche Bezeichnung für lat. serenitas10. Die hierinit gegebene
vorwiegend meteorologische, d. h. auf einen naturhaften Vorgang bezogene Be-
deutung behält das Wort, vor allem in seiner verbalen Form, neben anderen bis
heute bei. ADELUNG vermerkt sie noch 1793 eb,enso wie 1774 als die eigentliche Be-
deutung11. Begri:ffsgeschichtlich relevant wird das Wort erst, als sich Init ihm, und
zwar Init dem Verbum früher (etwa seit spätestens 1720) als Init dem Substantiv
(Init diesem nicht vor der Mitte des 18. Jahrhunderts und vornehmlich seit den
1760er Jahren), die Vorstellung des Aufhellens, Aufdeckens und Klarmachens eines
Sachverhaltes verbindet, der bisher im Dunkeln lag, ganz oder teilweise unbekannt
und unerkannt war, und auf diese Weise das Bild vom heiteren Wett.er, vom Hell-
und Klarwerden oder Hell- und Kla.rsein, vomDeutlichwerden undDeutlichmachen,
kurzum vom 'Aufklären' anfänglich auf das menschliche Gemüt ganz allgemein
und dann speziell auf den menschlichen Verstand und seine Begriffe übertragen wird
und von nun an zur Charakterisierung einer bestimmten Gemütsbeschaffenheit oder
Erkenntnisweise dient.
Den Hauptanstoß zu dieser Bedeutungsveränderung, in deren Verlauf 'Aufklärung'
schließlich in der Regel sowohl den Vorgang d1is Aufklärens als auch dessen Re-
sultat, die Aufgeklärtheit, umfaßt12, dürfte wohl die Absicht gegeben haben, einer-

8 L. v. STEIN, Die Verwaltungslehre, Tl. 8 (Stuttgart 1884; Ndr. Aalen 1962), 509.
lO STIELER Bd. 1 (1691; Ndr. 1968), 969.
11 ADELUNG Bd. l (1774), 451; 2. Aufl., Bd. l (1793), 503.
12 JoH. CHR. GoTTLIEB SC1LA.UMA.NN sohreibt 1793: Man gebra'UCht im gemeinen Leben daa

Wort Aufkliirung sowohl zur Bezeichnung einer Begebenheit als zur Bezeichnung einer Be-
sckaffenheit • . . - als wörtliches Zeichen einer Begebenheit (von etwas, das geschieht) - soUte
dieses Wort ausschließlich gebra'UCkt werden; denn die deutsche Endsilbe ung vergegenwärtigt
bei aolchen Wörtern, als Aufk7iirung ist, dem Bewußtsein immer ein Geschehen, kein Sein. Für
die Beschaffenheit, die der Aufgekliirte, als solcher, hat, paßt sich das Wort Au/yeklürthe·it
bC8oor; Versuch über Aufklii.nme, Freiheit, Gleichheit (Halle 1793), 19 Anm. Tatsächlich
„vergegenwärtigt" das Suffix -ung keineswegs „immer ein Geschehen", sondern häufig
auch einen Zustand (z. B. 'VerfaBBung'), einen reinen Gegenstand (z. B. 'Festung') oder
einen Gegenstand, der auch als l\Iittel bei einer „Begebenheit" fungiert (z. B. 'Nahrung')
sowie schließlich das Ergebnis eines Vorgangs (z. B. 'Lichtung', 'Versammlung').

247
Aufklärung D. 2. Zar Wortgeschichte von 'AUfklärung'

seits die gerade von LEIBNIZ häufig verwendeten französischen Ausdrücke 'eclairer',
'eclaircir' und 'eclaircissement' und andererseits das in den einflußreichen eng-
lischen Moralischen Wochenschriften verbreitete Wort 'to enlighten' korrekt ins
Deutsche zu übersetzen13. Dafür standen an sich schon die auch von Leibniz gelegent-
lich so verwendeten deutschen Ausdrücke 'erleuchten' und 'Erleuchtung' zur Ver-
fügung14. Tatsächlich wurden diese auch bis ins 19. Jahrhundert synonym mit 'Auf-
klären' und 'Aufklärung' gebraucht, so daß es im Grunde keine zwingende Not-
wendigkeit gab, bei der Übersetzung der genannten französischen und englischen
Wörter auf 'aufklären' und 'Aufklärung' zurückzugreifen. Manches spricht dafür,
daß bei der Wortwahl der den französischen und deutschen Wörtern gemeinsame
Bestandteil lateinischer Herkunft (clarus) den Ausschlag gegeben haben könnte;
doch erklärt dies nicht die deutsche Wiedergabe von 'to enlighten' durch 'aufklären',
weil in diesem Fall das sprachlich völlig konforme deutsche Verbum 'erleuchten' ist.
Beim gegenwärtigen Stand der wortgeschichtlichen Forschung muß deshalb die
Frage nach den letztlich ausschlaggebenden Motiven urid Faktoren der Bedeutungs-
erweiterung offenbleiben.
Enucheidend beteiligL au ue1· BeueuLung1:1erweiterung des Verbums 'aufklaren' und
seiner Verbreitung waren in den 1720er Jahren die Schweizer J. J. BonMF.R 1md
J. J. BREITINOliln. mit ihrer Wochenschrift „Discourse der Mahlern" (1721/23), die
Hamburger Wochenschrift „Patriot" (1724/26) und JoH. CHRISTOPH GoTTSCHED;
letzterer besonders mit seiner in Leipzig erscheinenden Wochenschrift „Die ver-
nünftigen Tadlerinnen" (1725/26). Obwohl die beiden Schweizer und mehr noch
Gottsched deutlich unter dem Einfluß der rationalistischen Philosophie Christian
W olffs standen, ihre Wochenschriften vom Geist der englischen Moralphilosophie
erfüllt waren und sie wie Addison das Ziel verfolgten, die Philosophie aus den Aka-
demien und Schulen zu holen, damit sie überall unter den Leuten Platz nehme, wäre
es verfehlt, in der bei ihnen exemplarisch nachweisbaren Bedeutungserweiterung als
solcher bereits eine reine Erscheinungsform der Aufklärungsbewegung zu sehen.
Die in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts erstmals in größerem Maße greif-
bar werdende Erweiterung des Bedeutungsgehaltes verläuft in weithin „neutralen"
Bahnen, die zur Herausbildung eines neuen, figürlichen und in sich sehr vielschich-
tigen Bedeutungskomplexes führen.

18 F&rrz SOIIALK, Zur Semantik von „Aufklärung" in Frankreich, Fechr. Walther von

Wartburg, hg. v. KURT BALDINGER, Bd. 1, .(Tübingen 1968), 251 ff.; FEW Bd. 3 (1949),
247 ff.; Bd. 5 (1950), 445; Dict. de Trevoux, 2• ed., t. 2 (1721), 1335 f. 1591. 545 f.; OED
vol. 3 (1933), 191 f.; vol. 5 (1933), 46 f.
14 Die genannten französischen und deutschen Ausdrücke sind bei LEIBNIZ keine festen
philosophischen Termini, geschweige denn rationalistisch fixierte. Ihre Anwendungs-
möglichkeiten werden von ihm in keiner Weise auf die Bezeichnung „moderner" Sachver-
halte, Ideen, Systeme, Epochen u. ä. beschränkt. Als Lichtmetaphern bezieht er sie
sowohl auf das lumen divinum wie auf das lumen naturale. Vgl. Essais de Theodicee,
hg. v. Jacques Jalabert (Paris 1962), 25 f. 26. 29. 43; Von der GlückSeligkeit (ca. 1694/98),
KI. Sohr. zur Metaphysik. Leibniz-Studienausgabe, hg. v. Hans Heinz Holz, Bd. l (Darm-
stadt 1965), 399; Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache besser zu üben,
samt beigefügten Vorschlag einer teutschgesinnten Gesellschaft (1697), Politische Schriften,
hg. v. Hans Heinz Holz, Bd. 2 (Frankfurt, Wien 1967), 60 ff„ bes. 66 ff. 77 ff. 79 (er-
leuchteter Ver&tand).

248
n. 2; Zur Wortgeacbichte TOD 'Aufklärung' Aufldiimng

Diese Vielschichtigkeit läßt auch den Versuch problematisch erscheinen, rück-


blickend den Bedeutungsgehalt des Begriffes 'Aufklärung' ausschließlich aus zwei
geistesgeschichtlichen Wurzeln abzuleiten, nämlich 1) aus dem Ideenkreis der Carte•
sischen Erkenntnistheorie mit ihrer Begründung der Selbstgewißheit des Denkens
und der Methode der Wahrheitserkenntnis, für die nach Descartes das clare et
distincte das oberste Kriterium bildet, so daß hinfort gilt: r1e ne recevoir jamais
aucune chose pour vraie, que je ne la connusse evidemment b,re telle: O' est-a-dire, d' eviter
soigneusement la precipation et la prevention; et de ne comprendre rien r1e plus en mes
jugements, que ce qui se presenterait si clairement et si distinctement a mon esprit, que
je n'eusse aucune occasion de le mettre en doute15 ; und 2) aus dem uralten, traditions-
reichen und vielgestaltigen Ideenkreis der religiös-metaphysischen Lichtlehren, der
sich über die neuzeitlichen Abwandlungen der Lehre vom „natürlichen Licht"
(lumen naturale) mit dem erstgenannten Ideenkreis ebenso eng berührt wie er sich
mit der pietistischen Auffassung vom „inneren Licht" und dem pietistischen Ver-
ständnis der „Erleuchtung" als der dritten Stufe christlicher Bekehrung und Wie-
dergeburt (A. H. Francke) von ihm wieder entfernt, um sich ihm dann mit der Pro-
fanierung dieser pietistischen Grundvorstellungen vornehmlich in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts erneut zu nähern. Von diesen im einzelnen höchst verwickelten
Zusammenhängen ist die Geschichte des Aufklärungsbegriffes nicht abzutrennen,
alnlr llie geht in ihnen auch nicht auf.
Die gemessen an der eigentlichen Wortbedeutung nur übertragenen, im Blick auf
die Geschichte des Aufklärungs begriff es jedoch „ursprünglichen" Bedeutungen
reichen im Zuge der genannten Bedeutungserweiterung von Aufdeckung, Verdeut-
lichung, Erliiutcrung, Belehrung, Berichtigung, Gewinnung und Vermittlung von
Aufschlüssen und Erkenntnissen, Beseitigung von Unklarheiten und Unkenntnissen
bis lautere Sachkenntnis, reines Wissen und allgemeiner Wissensstand, genaue,
deutliche, gründliche und geprüfte Einsichten in Zusammenhänge, Gründe und Ur-
sachen eines bisher nicht durchschauten Sachverhaltes und „Zustand der Seele",
der durch klare, deutliche, vollständige und richtige Begriffe und Vorstellungen von
den Dingen bestimmt ist. Im Anschluß an die Bedeutungsvariante „Wissensstand"
wird seit ungefähr 1770 unter 'Aufklärung' auch der moralisch-kulturelle Zustand
z. B. eines Gemeinwesens oder eines Volkes verstanden, der sich in entsprechenden
klaren, einheitlichen Prinzipien ausdrückt. In der weiteren Ausgestaltung dieses
Verständnisses ka.nn ilann 'Aufklärung' die Gesamt,heit jener typischen geistigen
Fähigkeiten und Äußerungsformen sowie gleichermaßen jener materiell-technischen
Fertigkeiten und Kenntnisse eines Gemeinwesens, Volkes, Zeitalters oder geogra-
phischen Raumes bedeuten, dessen Lebensverhältnisse, „Religion", „bürgerliche
Verfassung", „Gesetze" und „Geschmack" geRittet, ilurch die Prinzipien der
„Menschlichkeit" und „Vernünftigkeit" bestimmt sowie auf Verfeinerung, Ver-
edlung, Versittlichung und Vervollkommnung gerichtet sind 16 • Wie nahezu allen
diesen Bedeutungen und Bedeutungsvarianten ein philosophisch-gnoseologisches

16 RENE DESCARTES, Discours de la methode, hg. v. Etienne Gilson (Paris 1925), 18. Vgl.

dazu die Definition von „klar" und „distinkt" in seinen „Principia Philosophiae" (pars
prima, Nr. 45).
11 Im Vorstehenden ist eine Fülle von Einzelbelegen aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts

zusammengefaßt worden, auf deren Nachweis hier verzichtet werden kann.

249
Aufklärung m. 1. 'Aufklärung' a1a Erleuchtung
und pädagogisches Moment eignet, so verbindet sich mit ihnen grundsätzlich der
Eindruck einer sich vollziehenden oder erreichten, bewußt angestrebten Prüfung,
Klärung, Erweiterung und Verbesserung vorgegebener Ansichten oder Veränderung
und Reform bisheriger Zustände. Damit muß jedoch kein geschlossener zeitlicher
und gesellschaftlicher Zusammenhang oder ein einmaliger historischer Bewegungs-
ablauf gemeint sein. Infolgedessen ist es ebensogut möglich, von der Aufklätrung
über griechisches und römisches Altertum17 wie von der Aufklärung ... bei den
Alten 18 oder von Aufklärung und Wissenschaften in den Zeiten der Barbarei, d. h. im
Mittelalter 19 , und von Lut~ers Reformation oder Aufklärung20 zu sprechen, kann
das Zeitalter der Aufklärung ... das Jahrhundert Friedericns genannt werden 21 und
gleichwohl alle Aufklärung von den Griechen im klassischen Zeitalter Athens aus-
gegangen sein 22 • Daraus erhellt weiter, warum 'Aufklärung' sowohl als potentiell
historische Kategorie, Programm- und Zielbegriff in der Fortschrittsideologie der
Aufklärer einen ?.entralen Platz einnimmt wie als gnoseologisch-psychologische,
wenn nicht theologische Kategorie und überzeitlich gültiges Denk- und Wissens-
prinzip von deren Gegnern beansprucht werden und ihnen bis weit ins 19. Jahr-
hundert hinein zur Verfügung !!!tehen konnte.
Die jeweilige Thematik, Spannweite, Einschätzung und Anwendungsweise des sich
an und aus jenen Wortbedeutungen entfaltenden Aufklärungsbegriffes hängt darum
von der jeweiligen konkreten Beantwortung der allgemeinen Frage ab, wer von wem
über was, aus welchem Grunde, mit welchen Mitteln und auf welches Ziel hin „auf-
geklärt" werden soll 2 3.

m. Typische Begrifl'shildungen im letzten Drittel des 18.. Jahrhunderts


1. ·'Aufklärung' a1s Edeuchtung des Verstandes und Erwärmung des Herzens:
Westenrieder

Wie wenig inhaltlich und methodisch die Anwendung des Aufklärungsbegriffes im


voraus festgelegt und wie weit ihr Spielraum gewesen ist, wie eng 'Aufklärung' und
'Erleuchtung' miteinander verknüpft waren und wie stark sie als „Herzenssache"
betrachtet werden konnten, das vermag als willkürlich hera.usgegriffenes Beispiel
die Begriffsbestimmung von 'aufklären' zu verdeutlichen, die 1780 LORENZ WESTEN-
RIEDER in einer Betrachtung über die „Aufkläl"lll!-g in Bayern" aufgestellt hat. Bei
ihm heißt das Wort Aufklären ... wegräumen die mancherlei Hüllen und Decken vor

17 GOETHE, Maximen und Reflexionen, HA Bd. 12 (1953), 373.


1' WILHELM v. HUMBOLDT, Ideen zu einem Versuch, die Gren~.en cfor Wirkan.mkeit des
Staates zu bestimmen (1792), AA Bd. 1 (1903), 147.
19 Ders„ Ideen über Staatsverfassung (1791), ebd., 84.

2o .ANDREAS RIEM, Über Aufklärung, ob sie dem Staate - der Religion - O<ler überhaupt
gefährlich sei und sein könne?, in: Bibliothek der deutschen Aufklärer des 18. Jahr-
hunderts, hg. v. MARTIN v. GEISMAR Ld. i • .IJ:DGAR BAUER], H. 5 (Leipzig 1847; Ndr. Bd. 2,
Darmstadt 1963), 354; Vifl. ebd., 330. 334.
21 KANT, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), AA Bd. 8 (1912), 40.
22 Wrnr.Awn, DasGeheimniß des Kosmopoliten-Ordens (1788), AA 1. Abt., Bd.15 (1930), 209.
23 Vgl. ELISABETH HEIMl'EL-MlcHEL, Die Aufklärung. Eine historischcsystematische

Untersuchung (Langensalza 1928), bes. 10 ff„ der ich wichtige Hinweise verdanke.

250
m. 2. 'Aufklärung' als universaler Erkenntnisbegriff Aufklärung

den Augen, Pl,atz '11!00hen dem Lfoht in Verstand und Herz, ooß es jenen er'leuchte,
dieses erwärrM, und eintreten in die Gebiete der W ahrkeit und der Ordnung, wo die
Bestimmung des Menschen, die wahre.Glückseligkeit thront. Mit solchen Augen werden
wir nach Maß des Verdienstes einst Gott schauen. Eingehender befaßt er sich mit dem
Verhältnis der Aufklärung zur Nation: Eine Noi,ion aufklären, Tag bei ihr werden
laasen, will ... weder mehr noch weniger sagen, als sie von denjenigen Grundwahrheiten
und Maßregeln, ohne deren Be/olgung ihr wahres Wohl nicht bestehen kann, überuugen
und ihr dieselben als liebenswürdig ans Herz legen. Worin die durch die Aufklärung
der Nation vermittelten „ Grundwahrheiten und Maßregeln" bestehen, sagt Westen~
rieder nicht. Er bemerkt lediglich, daß bei dem Geschäft der Aufklärung die Nation
einmal überzeugt werden soll durch allerdings wiederum unbestimmt bleibende
philosophische Gesetze, durch die Gescliiclüe, durch mündliche und schriftliche Lehren,
welche aus dem Mund denkender Männer ausgehen, und zum anderen gerührt wird
durch die Werke der Kunst und lA,teroJ,ur; weil durch diese die Gemüter erweicht, ge-
bildet, nach einem gewissen Ton gestimmt, von gewaltsarMn, aufbrausenden Bewegungen
... entfernet werden 24• Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen gewinnt Westen-
rieders Aufklärungsbegriff zunehmend an pädagogischer QualiLli.L. IJle wird offenbar,
daß für ihn 'Aufklänmg' 11inh allgemein als Erziehung und speziell als „National~
erziehung" voll.Zieht 2' und im letzteren Sinn einen die ganze Nation um- und er-
fassenden Gesittungs- und Bildungsprozeß einschließen soll, der den Bildungsstand
bei allen „Klassen der Nation" auf eine solche Höhe hebt, daß sie alle den Strahl
der Wahrheit erblicken, IAcht über das Volk kommt wid in jedem Menschen durch
„aufklärende Schriften" etwas Würdiges aufgeweckt wird, was ihn nachdenken
macht, ihn menschlicher denken lehrt und veredeU. Zu diesem Erziehungs- und Bil-
dungsprozeß gehört für W estenrieder als unumgängliche Voraussetzung die. Be-
seitigung des Analphabetismus. Obwohl er zu den Bildungszielen, an denen sich
sein Aufklärungsbegriff inhaltlich orientiert, gelegentlich auch die Gelehrsamkeit,
das ist die Wissenschaft nützlicher Kenntnisse, rechnet, läßt sich nicht übersehen, daß
bei ihm die mit 'Bildung' und 'Verfeinerung' praktisch identische 'Aufklärung' ent-
scheidend durch Bildungsgüter und Kenntnisse bestimmt wird, die ausschließlich
dem Bereich der Dichtung, Kunst und Philosophie entstammen 26 • Dadurch wird sie
von ihm zugleich in jene große und nicht nur in den 1780er Jahren verbreitetste
Gruppe von Definitionen eingereiht, die bei aller Unterschiedlichkeit das typische
Merkmal gemeinsam haben, unter 'Aufklärung' wesent.linh eine gewisse Art und
Menge von Kenntnissen zu verstehen.

2. 'Aufklärung' als universaler Erkenntnis· und WissensbegriJf: Wieland

Als der extremste Vertreter dieses Typs eines materialen Aufklärungsbegriffs ist
WIELAND anzusehen, der bereits seit den 1750er Jahren eine maßgebliche Rolle bei
der Verbreitung des Wortes gespielt hat. Bei Wieland muß sich nach einer Formu-
lierung im Jahre 1789 Aufklärung, das ist so viel Erkenntnis, als nötig ist, um das

24 L. v. WESTENB.IEDER, Aufklärung in Bayern (1780), SW hg. v. Ernst Grosse, Bd. 10

(Kempten 1832), 1 f.
26 ·Vgl. ders., Über Nationalerziehung (1781), ebd., 60 ff.
28 Ders., Aufklärung, 4. 12; Nationalerziehung, 82 f.

251
m. 2. 'Aufldirang' u univenaler ErkeautniaLegrilr

Wahre und Falsche immer und überall unterscheiden zu können, ... über alle Gegen-
stände ohne Ausnahme ausbreiten, worüber sie sich ausbreiten kann, das ist über alles
dem äußern und innern Auge Sichtbare 27 . Deshalb vertritt er konsequent die Mei-
nung, übel stände es uns an, ... der Aufklärung ... unnatürliche Grenzen setzen zu
wollen, da sie doch, vermöge der Natur des menschlichen Geistes ebenso grenzenlos ist
als die Vollkommenheit, wozu die Menschheit mit ihrer Hilfe gelangen kann und soll2s.
Wie Wieland die wichtigste Voraussetzung dieser von einem universalen Erkenntnis-
anspruch bestimmten Aufklärung in der „Freiheit des Denkens und der Presse" er-
blickt und sie konstitutiv an die Wissenschaften bindet, welche für den menschlichen
V erstand das sind, was das Licht für unsre Augen29, so sieht er in der freien Mitteilung
aller Gedanken, Meinungen, Tatsachen, Bemerkungen, Untersuchungen, Vorschläge
usw., wodurch der Zustand der menschlichen Gesellschaft gebessert werden könnte, das
sicherste Beförderungsmittel derselben 30• Als durch die „Rechte und die Sache der
Vernunft" postulierter und konstituierter universaler Erkenntniszusammenhang
und ebensolcher, durch die Ausbreitung der nützlichsten Kenntnisse sowie den freien,
unabhängigen Geist der Untersuchung und des Selbstdenkens31 bestimmter allgemeiner
Wissensstand erscheint ihm überdies 'Aufklärung' nirgendwo „heller" und „aus-
gebreiteter" als in Deutschland32 • Wähxend auf diese Weise für Wieland 'Auf-
klärung' jeweils abhängig ist vom Stand der Denk- und Pressefreiheit, der Wissen-
schaften sowie der wissenschaftlichen und pädagogischen Einrichtungen, hat um-
gekehrt die Aufklärung, falls sie wahre Erleuchtung über alles, was den Menschen
wesentlich angeht, bedeutet und diese unser wichtigstes und allgemeinstes Interesse ist,
·ihrerseits Verbesserungen als ihre natürlichen Folgen 33 • Das Verhältnis der Aufklärung
.zu ihren Bedingungen ist also kein einseitig-passives, sondern besteht in oinom
dialektischen Wirkungszusammenhang. Eine weitere ebenso natürliche Folge der
Aufklärung erblickt er in dem Umstand, daß, je weiter die Grenzen unserer Kennt-
nisse hinausgerückt werden ... , desto weiter ... auch der Kreis des Möglichen sich
ausdehnt 34 • 'Aufklärung' ist als zeitlich nicht festgelegte Erscheinungsform wissen-
schaftlicher Kenntnisse mithin in ihrer faktischen Modalität als Funktion des wissen-
schaftlichen Fortschritts ein von niederen zu höheren und höchsten Stufen auf-
steigender Prozeß der allgemeinen Ausbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse.
Dieser Prozeß ist zwar nicht unbedingt ein spezifisch historischer. Gleichwohl läßt
ihn Wieland im klassischen Athen beginnen und- nach der auf die „Jahrhunderte

27 WIELAND, Sechs Antworten auf sechs Fragen (1789), SW Bd. 30 (1857), 372.
28 Dere., Kosmopoliten-Orden (s. Anm. 22), 229.
119 DeTR., Üher rlie Rechte und Pflichten der Schriftsteller (1785), AA 1. Abt., Bd. 15, 66.
80 Dere., Worte zur rechten Zeit an die politischen und moralischen Gewalthaber (1793),

ebd., 605.
81 Dere., Freym.üthige Gespräche über einige neueste Weltbegebenheiten (1782), ebd.,

Bd. 14 (1928), 349.


81 Dere., Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes (1793), ebd., Bd. 15,

581.
88 Dere., Antworten und Gegenfragen auf die Zweifel und Anfragen eines vorgeblichen

Weltbürgers (1783), ebd., Bd. 14, 425.


a& Dere., Über den Hang der Menschen an die Magie und Geisthererecheinungen zu glauben
(i781), ebd., 326.

252
m. 2. 'Aufklärung' als universaler Erkenntnisbegrlil Aufklärung

der Barbarei und Verfinsterung" folgenden Dämmerung, wewhe im fünfzehnten und


sechzehnten Jahrhundert Europa die Wiederherstellung der Literatur und hökern Auf-
kliirung der Wissenschaften vorbereitete- spätestens am Anfang des 18. Jahrhunderts
in sein universales Stadium eintreten, in dem jedermann mit den Grundwahrheiten
bekannt gemacht wird35.
Im Gegensatz zu Westenrieder, bei dem es die Aufklärung gleichfalls mit „Grund-
wahrheiten" zu tun hat, geht es Wieland nicht darum, jemanden von solchen Grund-
wahrheiten mit Hilfe der gemütsbildenden Kräfte der Poesie und Kunst zu über-
zeugen; vielmehr will er sie ihm wissenschaftlich-öffentlich demonstrieren durch eine
Aufklärung, die ihr Licht von der Fackel der Vernunft empfängt, mit der die Philo-
sophie in die dunkelsten Gegenden der menschlichen ltieenwelt, und der Fackel der
Beobachtung, mit der sie ins Innere der Natur einzudringen versucht 36 • Unter den
durch Aufklärung zi:J. verbreitenden Erkenntnissen hebt Wieland ausdrücklich jeden
Beitrag hervor, der über die Bescha0enheit der Staatswirtschaft, Polizei, bürgerlichen
und militärischen Verfassung, Religion, Sitten, öOentlichen Erziehung, Wissenschaften
und Künste, Gewerbe, Landwirtschaft usw. in jedem Teile unseres gemeinsamen Vater-
landes . . . einiges Licht verbreitet und dies damit zugleich über die gegenwärtige
&u/e dtf Kult•ur, Aufklärung, Humanisierung, Freiheit; Tlttigke'it 'tt1ul Em.porstrf'.b11.11g
:um Bessern, die jeder dwsel.ben P.rrP.Ü:ht hat, tut 37 •
Die Universalität und Rationalität des Wissens ist also bei ihm in einem enzyklo-
pädisch umfassenden Sinne inhaltlich gemeint und zielt auf ein völlig neues, inte-
grales Kultur- und Sittensystem als Folge einer totalen Weltverbesserungss.
Bei aller Klarheit und Intensität, mit der Wieland die Sache Aufklärung zur Sprache
bringt, läßt sich nicht übersehen, daß er 1) diese Sache nicht unter dem Begriff
'Aufklärung' denkt 39 und 2) sein Olaubo an die .Perfektibilität des Memmh1m nnd die
Allmacht der Vernunft immer wieder durch eine tiefe Skepsis in Frage gestellt wird.
An jenem auf die „gewaltige Veränderung" des „gegenwärtigen Zustands der Welt"
gerichteten Prozeß der Rationalisierung ist zwar Aufklärung als mitbewirkendes
Moment maßgeblich beteiligt. Aber wie Wieland den Vorgang der realen Verände-
rung als solchen - einem allgemeinen Sprachgebrauch in den l 780er Jahren folgend
- unter dem Titel V erbesserung 40 erörtert, so bestimmt er deren Thema als Sache
der Vernunft. Und wo er diese expliziert, da gesnhieht das wiederum in der Regel
nicht unter Zuhilfenahme des Wortes 'Aufklärung', sondern entweder in und unter
dem Namen der 'Vernunft' selbst und ihrer „Hechte" oder in und unter dem der
'Philosophie'. Wohl breitet die.se Ph.i/,o.,nphie ihre Wirkungen, unter dem beliebten
Namen der Aufklärung; der Befreiung iiom Joch. n.ltr,r Vorurteile, usw. mit Hülfe un-
zähliger BüohP-Fabriken und Drucker-Pressen über alle Stände einer großen Nation

36 Ebd., 324.
RR Dom., Über den freyen Gebra\lch dor VAmnnft, in Glaubemsaohon (1788), ebd., Bd. 15,
115; Über den Hang der Menschen, 325. . '
37 Ders., Über die Hechten und Ptlichten (s. Anmerkung 29), 07 f.
3 8 Ders., Vernunft, 136.
39 Ebd., 135; Kosmopoliten-Orden (s. Anm. 22), 208.

' 0 Im gleichen Zusammenhang ist es in England zu dieser Zeit üblich, von 'improvement'
zu sprechen.

253
Aufklärung m. 2. 'AufkJänmg' als universaler ErkenntnislJegrUI
aus 41 • Damit verliert '.l:'hilosophie' jedoch nicht ihren Rang als Zentral- und
Oberbegriff.
Schließlich spricht Wieland in seinen Anfang der neunziger Jahre geschriebenen
Aufsätzen über die Französische Revolution meistens nur ganz allgemein von der
KuUur un,d Ausbildung .der Menschheit, die seit dreihundert Jahren in d,em größeren
Tei'le von Europa von einer Stufe zur andern emporgestiegen ist„ und charakterisiert
die dadurch hervorgebrachte beinahe gänzliche Umänderung der alten Vorstellungs-
arten, Meinungen und Gesinnungen deutlich und genau, indes ohne den leisesten An-
satz zur Formulierung eines entsprechenden Aufklärungsbegriffs, als eine Art von
allgemeiner intel'lektueller und moralischer Revolution ... Die Französische Revolu-
tion, an deren Notwendigkeit er trotz scharfer Kritik nicht zweiftllt, ist für ihn im
Prinzip ein Ausdruck der „Wahrheit", daß ilie Mem1chheiL ·in E•uropa die Jahre der
Mündigkeit erreicht hat und sich anzuschicken scheint, in das „Reich der Vernunft"
einzutreten. Da er diesen geschichtlichen Vorgang jedoch nicht als 'Aufklärung' be-
stimmt, besteht für Wieland auf eine in den neunziger Jahren schon nicht mehr ganz
verständliche Weise der Zusammenhang zwischen Aufklärung und Französischer
Revolution darin, daß durch die Französische Revolution die Aufklärung wesentlich
gefördert worden ist: Wirkliche und eingebilMte, echte· und falsche Aufkliiru.ng ltat in
dieser kurzen Zeit seit dem Ausbruch der Französischen Revolution sichtbarer zu-
genommen als in d,en fünfzig vorhergegangenen Jahren. 'Aufklärung' wird hier wieder-
um vornehmlich verstanden als Wissensverbreitung und bezogen auf jene Folgen der
Französischen Revolution, durch die eine Menge unwahrer, halbwahrer, übertriebener
und gefährlicher Sätze, die in vie'len Köpfen gar seUsam durcheinanderbrausen, aber
auch vie'le Wahrheiten von der höchsten Wichtigkeit, vie'le wohlgegründete Zweifel gegen
manches, das man sonst jü1· a·usye'lluwltt lt'ieU; ... in allgemeinen Um'lauf gekommen
und bis zu den untern Volksklassen durchgedrungen sind42 •
Wielands Deutung der Französischen Revolution als „notwendiges und heilsames
Werk" der „richLigt1ten" Vernunft, die allein imstande sei, die revolutionären Übel
zu heilen 43, beweist erneut seine tiefe Vernunftgläubigkeit. Sie hebt jedoch seine aus
geschichtlicher Erfahrung gewonnene und von einer starken Skepsis erfüllte Über-
zeugung nicht auf, daß die Menschen niemals nichts als vernünftige Wesen sein und
niemals alle Vorurteile aus der W eU verschwinden werden und die Vernunft immer nur
einen kleinen Teil des menschlichen Mikrokosmus mit vol'lem Lichte bestrah'len
wird 44 •
'Aufklärung' ist infolgedessen bei Wieland unaufhebbar eine ständige Aufgabe und
ihr Fortgang bei aller größtmöglichen Zunahme ein unendlicher Progreß. Allein
nicht nur das, Wielands geschichtlicher Sinn, sein „dialektischer Realismus"
(Friedrich Sengle) führen ihn schließlich zu der Gewißheit, daß nicht nur die uni-
versale und totale Aufklärung ein unerreichbares Ziel ist, sondern überhaupt mit
jeder Zunahme der Aufklärung dialektisch auch ihr Gegenteil wächst, der Zeitpunkt
d,er höchsten Verfeinerung immer zugleich derjenige der äußersten sittlichen Verd,erbnis

u WIELAND, Antworten und Gegenfragen (s. Anm. 33), 423.


42 Ders., Betrachtungen (s. Anm. 32), 558. 561.
' 8 Ebd„ 561 f.
" Ders., Zmällige Gedanken über die Absch!l-ffung des Erbadels in Frankreich (1790),
ebd., Bd. 15, 376 f.

254
m. S. 'Aufklänwg' als Erziehungshegritf
ist und die Epoke d,er köclisten Aufklärung immer diejenige war, worin aUe Arten von
Spe~ion, Wahnsinn und praktischer Schwärmerei am stärksten im Sehwange
gingen 46• ·
Als Wieland am Ende des Jahrhunderts erneut die Frage aufnimmt nach dem, was
man die Aufklärung unsrer Zeiten nennt, da versteht er unter Aufklärung 1) etwas
ironisch das Helldunkel, das durch die immer fortschreitende Kultur d,er Wissenschaften
in den Köpfen d,er Europäer nach und nach entstanden ist, und 2) pointiert diejenige
Art von Erleuchtung des V ers~ndes, die den Menschen wirklich vernunftmäßig und
konsequent denken und handeln macht. Gemessen an der ersten Sinndeutung des
Wortes erscheint ihm nun das gegenwärtige Europa wohl etwas weniger 'finster als ini.
16. Jahrhundert, aber deswegen nicht aufgeklärter. Das ist es vor allem dann nicht,
wenn man einem Vergleich des 18. mit dem 16. Jahrhundert die zweite, von ihm an
dieser Stelle für allein maßgAh1md gehaltene Sinndeutung des Wortes 'Aufklärung'
zugrunde legt. In diesem Fall, meint er, müßten wir unsrer Zeit schändlich schmei-
cheln, wenn wir ihr den geringsten wahren Vorzug vor allen vorhergehenden einräumen
wollten . . . Es WÜI"de sich näinlich finden, daß zwar einige Wissenschaften auf einen
ungleich hökern Grad gestiegen sind, daß wir eine zierlichere und schlauere Sprache
reden, m.e.h.r .Rii.r.h.P.r .~r.h.rP.ihen, mehr lesen und die Kunst, uns selbst zu belügen, ungleich
m~hr 1!F.rfP.1'.nert Jmbi:n: u.b1:r <laß wü·, ün. Grtitlil.P.'fl, (JP.nnm.rn.t1r1,, we'ii11:r, lmm:r ·und glück-
licher wären, dai•on illt mir nichts bekannt41 .
Am Ende des 18. Jahrhunderts fehlt somit beim alt.en WiAland nicht nur weiterhin
jeder Versuch, einen Epochenbegrifi' 'Aufklärung' zu entwickeln, vielmehr stellt er,
ohne 1fon von ihm in den achtziger und frühen neunziger Jahren benutzten Auf-
klärungsbegriff wesentlich zu verändern, überhaupt die Berechtigung in Zweifel,
dem 18. Jahrhundert ein besonderes Verhältnis zur Aufklärung beizumessen, wellll
zu deren Kriterium die Einheit von rationalem Denken und Handeln erhoben und
von ihr eine reale „ Weltverbesserung" erwartet wird.

3. 'Aufklärung' als moralisch-pragmatischer Erziehungs· und Volksbildungs·


begrift": die Philanthropinisten

Einen besonders wichtigen Beitrag zur Entwicklung und Begründung des materialen
Anfklii.rungsbegriffes haben in den achtziger Jahren die Philanthropinisten geleistet,
die heute als Hauptvertreter der deutschen Aufklärungspädagogik gelten. Ihre
Haltung unterscheidet sich trotz mannigfacher Berührungen gründlich von Wie-
lands weitgespanntem Aufklärungsverständnis. Schon der ErwarLwigshorizont, der
Rie hARtimmt, entspricht nicht dem von Wieland. Und anders als Wieland bemühen
sich die Philanthropinisten, den Aufklärungsbegriff exakt zu definieren, um ihn da-
durch vor jedem Mißverständnis zu bewahren und eine generelle Einigung herbei-
zuführen über das, was eigentlich Aufklärung sei, nachdem so vieles in der Welt Auf-
klärung genannt(wird), was doch nicht Aufklärung ist41 • Dabei ist ihnen bewußt, daß
das Wort Aufklärung ... jetzt allmählich an(fängt), so wie die Wörter Genie, Kraft,

415 Ders., Göttergespräche, Nr. 12 (1793), SW Bd. 31 (1857), 484 (Worte Jupiters).

" Ders., Gespräche unter vier Augen, Nr. 11-(1798), SW Bd. 32 (1857), 252 f. (Worte des
Gesprächspartners Geron, die mit Wielands Meinung nicht ganz identisch sind).
417 SALZMANN, Carlsberg, Bd. 3, 100 (s. Anm. 5).

255
m. 3. 'Aufklärung' als Erziehwigshegriff
gutes Herz, Empfindsamkeit und andere, in üblen Ruf zu kommen48 • Letzterem zu be-
gegnen, halten sie vor allem deshalb für dringend geboten, weil der Fortgang einer
Sache im großen Publikum gar sehr von dem Ansehen ihres Namens abhängig ist;
so wäre es in der Tat nicht gut für die deutsche Nation, wenn es dahin kommen sollte,
daß dieses Wort schon aus unsrer Sprache -weggespöttelt würde, da in der wichtigen
Sache, die es bezeichnet, noch so wenig geschehen ist 49 • Zu einer derartigen Begriffs-
klärung bestand für die Philanthropinisten in den 1770er Jahren um so weniger
ein Anlaß, als ihnen (und das heißt an erster Stelle Basedow) damals bei der Dar-
stellung ihrer neuen, zukunftweisenden Erziehungslehre die Verwendung des Wortes
'Aufklärung' noch ganz unnötig schien50•
a) Christian GotthiH Salzmann. SALZMANN wendet sich bei dem Versuch, den
„wahren" Aufklärungsbegriff aufzustellen, bezeichnenderweise allgemein gegen die-
jenigeu, ilie jede Veränderung der Einsicltten, die ein Mensch oder eine Nation be-
kommt, Aufklärung zu nennen pflegen. Was er dabei im Auge hat, wird deutlich,
wenn er fortfährt: Wenn z. E. eine Gesellschaft, die sonst meinte, ihrer Glückseligkeit
wäre es hinlänglich, wenn sie einen gesunden Leib, ein gutes Gewissen, ein hinlänglic'Ms
4.1iakommen wnd häusliche Freuden hätte, mm zu du Einsicht kommt, daß dasu Spiel,
Tanz, Komödien, ausländische Fabrikwaren u. dergl. noch_ erforderlich wäre, so sagt
man, sie sei aufgeklärt geworden. Falsch ist danach jede Auffassung, durch welche die
Veränderung der Einsichten auf solche Verbesserungen der gesellschaftlichen Ver-
hältnisse bezogen wird, die rein äußerlicher oder technisch-zivilisatorischer Art sind
und 'Aufklärung' mit 'Verfeinerung' gleichsetzen. Demgegenüber besteht die wahre
Aufklärung ... ·in Verbesserung unserer E·inS'icliten 'VU'rZ'üybicli in die Dinge, die mit
uns genau verbunden sind 51 • Sie ist Aufklärung des Menschen als Menschen, zu der
jedoch nur diejenigen Kenntnisse (gehören), die-zur Veredlung seiner Gesinnung, Be-
förderung seiner Wirksamkeit, Zufriedenheit, Erhaltung seiner Gesundheit, Stärkung
seiner körperlichen Kraft und zur Verbesserung seines Zustandes die notwendigsten
und nützlichsten sind 52 • Diese Aufklärung hat weder in einem philosophisch-meta-
physischen noch in, einem naturrechtlich-politischen Sinne einen fundamentalen
Charakter. Der Mensch als Mensch ist für Salzmann der Mensch in seiner physischen
Beschaffenheit und in seiner konkreten gesellschaftlichen Situation. Diesem Men-
schen soll durch Aufklärung zu Kenntnissen verholfen werden, die zwar generell zur
Veredelung seiner Gesinnung notwendig sind, sich daneben aber vornehmlich durch
ihre praktische Eignung für die Beförderung und Erhaltung seiner persönlichen
Leistungsfähigkeit im eigenen, alltäglichen Wirkungskreis auszeichnen. Der Er-
wartungshorizont, der sich mit Salzmanns Aufklärungsbegriff verbindet, ist infolge-
deBBen nicht, wie im Kontext des Wielandschen, der einer das Bestehende transzen-
dierenden „ Weltverbesserung", sondern der einer im Rahmen des Bestehenden sich
vollziehenden „ Verbesserung unserer Einsichten".

48 .RtTDOLI' Z..t.ClliRiil BECKER, Versuch über die Aufklärung des Landmannes, Der

Teutsche Merkur 13 (August 1785), 108 f. (zit.: Aufsatz).


" Ders., Versuch über die Aufklärung des Landmannes (Dessau, Leipzig 1785), 2 (zit.: Buch).
50 Vgl. J OH. BERNHARD BASEDOW, Das Elementarwerk (1774; 2. Aufl. 1785), hg. v. Theodor

Fritzsch, Bd. 1 (Leipzig 1909), XL f. LVIII.


n SALZHANN, Carlsberg, 100.
11 Ders., Vber die Erlösung des Menschen vom Elende durch Jesum (Leipzig 1789), 37.

2ö6
b) RwloJf Zacharias Becker Aufklänmg

b) RudoH Zaeharias Becker. Schärfer als Salzmann weist 1785 BECKER sowohl
die Identifikation der Aufklärung mit jeglicher „Verfeinerung" als auch die mit
einer umfassenden wissenschaftlichen Bildung und Gelehrsamkeit als folgenschweren
Irrtum zurück. Mit aller Entschiedenheit formuliert er das Verdikt: Gelehrsamkeit
ist nicht Aufklärung und Verfeinerung ist auch nicht Aufklärung. Verfeinerung ist es
vor allem deshalb nicht, weil diese Art von Entwicklung des menschliclien Geistes und
der menschlichen Fähigkeiten allein eine Verbesserung der Geschmackskultur und der
materiellen Lebensbedingungen bedeute und eine künstlich-äußerliche Lebensweise
herbeiführe, die auf Kosten von Verstand, Vernunft und Tugend einseitig Empfin-
dung, Einbildungskraft, Begierden und Wohlleben fördere. Das hat nach seinem
zivilisationskritischen Urteil am Ende eine Art von moralischer Vernichtung sowohl
des einzelnen Bürgers wie des Staates zur Folge, von welcher die politische nicht sehr
weit entfernt zu sein pflegt.
Nicht weniger klar distanziert sich Becker von jenen „vielen", die unter Aufklärung
eine unbestimmte Vermehrung der Kenntnisse aller Art verstehen, verbunden mit der-
jenigen Ausbildung der Seelenkräfte und der Freiheit von Vorurteilen, 'IJ}elche durch
gelehrte Untersuchungen und durch schulmäßige Erlernung der Wissenschaften und
J(·ünste erworben wird. Dieses .Aufklärungsverständnis hält er für fälsch, weil die
wahre Aufklärung nicht durch die Mitteilung wissenschaftlicher Kenntnisse bewirkt
werden könne; insbesondere dann nicht, wenn diese mit unsermdermaligen Wirkungs-
kreise in keiner Verbindung stehen und nicht die praktische Charakterbildung be-
fördern53.
Im Anschluß an diese Kritik und in Verbindung mit von W olfI beeinflußten Be-
trachtungen über „Menschen- und Staatenglück" entwickelt Becker seine eigene
The.orie der A1t/klär?tng. Ihr liegt, ausgehend vom gewöhnlichen Sprachyeljrauclte, für
den zur Aufklärung überhaupt Wahrheit und richtige Verbindung der Begriffe und
damit eine bestimmte Beschaffenheit der Denkkraft gehöre, folgende Definition zu-
grunde: Das Wesen der Aufklärung besteht bei dem einzelnen Menschen in der rich-
tigen Kenntnis seines persönlichen Wirkungskreises in seiner Verbindung mit dem
Ganzen, dessen Teil er ist54• Schon aus ihr geht deutlich hervor, daß Becker emanzi-
patorische Gesichtspunkte ebenso fernliegen wie der Gedanke einer Veränderung
der bestehenden Staats-und Sozialverfassung. Kriterium vermehrter Vervollkomm-
nung oder fortschreitender Veredelung des einzelnen Menschen ist µtm nicht· der
Grad seiner Annäherung an ein absolutes Huma.nitä.tsideal oder der ~ang seines
Beitrages zur allgemeinen Förderung der Kultur, sondern allein der Grad der Er-
füllung aller aus seinen wirklichen Verhältnissen entspringenden Pflichten, sie mögen
noch so gering und unbedeutend sein. Wo jemand oft zu sich sagt: Du sollst das
Gute und Schöne in der Welt Gottes ... vermehren; darum mußt Du ... das FeW wu/s
beste bauen, Deine Profession immer geschickter treiben, Deinem Hauswesen immer
sorgfältiger vorstehen; Deine Bürgerpflicht immer gewissenhafter erfüllen und gegen alle
Menschen stets redlich und wohltätig sein, und dann auch entsprechend handelt, da
gibt es nach Becker diese einzige wahre Aufklärungss.

u BECJPJR, Buch, 5 ff. 13 ff. 17; Aufsatz, 110. 115.


H Ders;, Aufsatz, 108. 116; Buch, 18 ff. 22 f, 48.
66Ders., Buch, 48 f.; ders., Vorlesungen über die Pflichten und Rechte des Menschen,
Bd. 2 (Gotha 1792), 108 f.

17-90385/1 257
Aufklärung

Im einzelnen um.faßt Beckers Aufklärungsbegriff zwei zentrale Aspekte. Einmal be-


zeichnet er den Zustand der Aufgeklärtheit, m. a. W. die Geistesverfassung und
Denkart des Menschen, der ein „Aufgeklärter" ist. Zu den hervorragenden Merk•
malen dieser Aufklärung rechnet Becker gelegentlich auch das „Selbstdenken",
ohne damit mehr ausdrücken zu wollen als die Notwendigkeit einer durch „eigenes
Nachdenken" beförderten sittlichen Selbstbesinnung und die Fähigkeit zu einem
durch eigene Einsicht bewirkten sittlichen Handeln. Das andere Mal bezeichnet er
den Vorgang und die Tätigkeit des Aufklärens, d. h. die „Arbeit an der Aufklärung"
anderer, die im Endergebnis zu deren Aufgeklärtheit führt. Durch diese Aufklärung
soll das sittliche Bewußtsein des einzelnen Menschen geweckt und sollen ihm auf der
Grundlage eines „ Gedankensystems", das der besonderen Lage des einzelnen Menschen
so genau als möglich angemessen ist, dle Kenntnisse vermittelt werden, die er benö-
tigt, wenn er, wie es Becker am Beispiel des Landmannes erläutert, ein glückseliger
Mensch, ein guter Hausvater, ein verständiger Landwirt, ein redlicher Nachbar, ein
treuer Staatsbürger und ein wahrer Christ Oder mit einem Worte, welches alles dieses
in sich fasset, wenn er aufgeklärt sein sollte 66 •
Indem Becker dieses Geschäft des Aufklärens vorab als die Aufgabe der Prediger,
Sckulmeister und anderen Volkskhrer bestimmt ·und ft1r seine Durchführung nach·
vorangegangener Verbesserung der Landschukn Predigten, Katechisationen, Kakn-
der, Wochenblätter, Volkslieder und Volksschauspiek für besonders geeignet hält,
wird sichtbar, worum es sich bei dieser Art „Aufklärung"eigentlich handelt: um
Volksbildung in moralpädagogischer Absicht. Das bestätigt im einzelnen Beckers
Skizze der zur Aufklärung des Landmannes erforderlichen Materialien.
Heckers 'l'heorie der Aufklärung richtet sich im .l'rinzip an alle Menschen. Daß sie
dennoch von ihm zuerst und exemplarisch in einem „Venuch über die .Aufklärung
des Landmannes" dargelegt wird, hat seinen Grund letztlich nicht in der Tatsache
der außergewöhnlichen Aufklärungsbedürftigkeit des Bauern, sondern darin, daß
Becker der Bauernstand von allen Ständen am besten geeignet ersohoint, der
„wahren Aufklärung" teilhaftig zu werden, weil er noch nicht von der „Verfeine-
rung" erfaßt worden ist. Becker ist deshalb der Ansicht, die wahre praktische Auf-
klärung könne und müsse bei dem Landmanne zuerst Wurzel fassen und sich von unten
hinauf in die verschiedenen Klassen des Volks verbreiten 67 •
Diese Ansicht begründet er in einer Argumentation, die ausgesprochen geschichts-
philosophisch-zeitkritische Züge trägt und den beherrschenden Einfluß der 1750
von Rousseali. in seinem ersten preisgekrönten Discours entfalteten Zivilisatjons-
kritik verrät.
r,) Friedrich Eberhard von Roohnw. 7.11 den erst.en Befürwortern des Beckerschen
Aufklärungsprogramms 68 gehörte neben Zedlitz, Dalberg und Fürstenberg RocHOW,
der seit langem einer der tatkräftigsten Initiatoren und Vertreter der Volks-

ae Ders., Aufsatz, 116; Buch, 38 f.


17 Ders., Buch, 37 f. 39.
18 Dieses Programm fand seinen wirkungsvollst.en praktischen Niederschlag in Beckers

berühmt.em „Not- und Hülfsbüchlein für Bauersleut.e", dessen erst.er Band 1788 herauskam
(der zweit.e erschien 1798) und von dem im Laufe eines Vierteljahrhunderts über eine halbe
Million Exemplare vertrieben wurde.

258
e) Friedrich Eberhard von Roehow Aufklärung

bildungsbewegung war. Abweichend von Becker geht es Rochow besonders darum,


den logisch-didaktischen Charakter der Aufklärung in seiner allgemeinen moralisch-
religiösen und vor allem moralpädagogischen Relevanz herauszustellen und die
pädagogisch-institutionelle Seite der Aufklärung als Angelegenheit des Staates sicht-
bar zu machen. Die Antwort auf die Frage: Was ist Aufklärung? lautet bei ihm
generell: Mitteilung oder Veranstaltung richtiger Begriffe von gemeinnützigen Dingen,
um verständig zu werden 59 • Dabei wird er durch die im rationalistischen Glauben an
die Einheit von Tugend und Wissen verwurzelte Auffassung bestimmt, daß aus un-
richtigen Begriffen unrichtige Grundsätze und aus diesen unrechtmäßige Handlungen
entstehen; ... dieses alles aber meistenteils Folgen fehlerhafter Leitung und mangel-
haften Unterrichts oder des Mangels an genügsamer Aufklärung bei Alten und Jungen
sind: so muß Veranstaltung eines entgegengesetzten Verfahrens notwendig mehr Glück-
seligkeit hervorbringen. Aufklärung im obigen Sinne ..,.--- eingebettet in eine bewußt
christliche Sittenlehre - allen Menschen und insbesondere der Jugend zu erteilen,
gilt Rochow deshalb als der Endzweck der Schullehrer. Zusammenfassend erläutert
Rochow seinen für alle Menschen unterschiedslos gültigen Aufklärungsbegriff mit
den Worten: ... wer es früh weiß, daß die Menschen durch ihre Verbindung zu wech-
selsc-it·igcr Liebe verpflichtet sind mid nur insofern Glückseligkeit genießen, als sio Gott
und sioh l.icbcn, de.r 1,iird k~n GntJ.P.R- 1m.d Mtm.Rr.htmfP.ind .~P.i.n wollen, und wer den
Schaden böser Gewohnheiten früh genug anschauend erkennen lernte, uiird geneigt sein
können, über sich zu wachen, und geschickt, sich davor zu hüten. Dies alles aber ver-
anstalten und beuiirken heißt aufklären und Aufklärung befördern60 • 'Aufklärung' ist
mithin sowohl die pädagogische Veranstaltung, durch die der Mensch verständig
wird und die geistige Fähigkeit erwirbt, ein gottgefälliges, tugendsames Leben zu
führen und der Glückseligkeit teilhaftig zu werden, alB nuoh dor mornliooh didnk
tische Ausdruck des Verständigseins.
Neben diesem allgemeinen Aspekt kennt Rochow noch den besonderen Aspekt der
„Aufklärung eines Volkes". Er wird von ihm ganz analog im Zusammenhang der
übergeordneten Frage zur Sprache gebracht, auf welchem Wege ein Volk verständig
und der Veredelung fähig werden kann 1 'Aufklärung' bedeutet für ihn in diesem
Rahmen zumeist „Belehrung" oder „zweckmäßige Unterrichtung" - einschließlich
der dazu erforderlichen pädagogischen Einrichtungen - und läßt sich näher um-
schreiben als das didaktische Instrument des „Verständigmachens" oder des „Zur-
gesunden-Vernunft-Bringens". Zu den Grundvoraussetzungen ~hrer vollen Wirk-
samkeit gehört, daß das verständig zu machende Volk bereits eine kultivierte Nation
ist und damit über die elementaren V eredlungsmittel verfügt, welche allein die M ög-
lichkeit einer stets zunehmenden Vervollkommnung verstatten 61 • Als kultivierte

59 F. E. v. RocHow, Handbuch in katechetischer Form für Lehrer, die aufklären wollen

und dürfen (1783; 2. verb. Aufl. Halle 1789), abgedr. in: Sämtl. päd. Sehr., hg. v. Fritz
Jonas u. Friedrich Wienecke, Bd. 2 (Berlin 1908), 13.
80 Ebd., 3 f. 14.

81 Ders., Beantwortung der Frage, welche die Akademie der Wissenschaften zu Berlin

fürs Jahr 1783 aufgegeben hat, Braunschweigisches Journal 1 (1788), 1. Stück, 48 ff.
(verfaßt Okt. 1784). - Die Frage der Akademie lautete: Welches ist die beste Art, B<nJJOhl
rohe al8 schon kultivierte Nationen, die sich in mancherlei Irrtümern und Aberglauben be-
finden, zur gesunden Vernunft zurückzuführen?

259
m. 3. 'Aafldänmg' als Eniehuilgihegrift'
Nation gilt dabei eine Nation, der diese vier Stücke als: BucMrucker-, Schreibe- und
Rechenkunst nebst einer richtigen Gotteserkenntnis nicht fehlen und deren weit über-
wiegende Mehrheit lesen, schreiben und rechnen kann. Alle Mitglieder des Staats zu
allem guten Werk geschickt zu machen, bezeichnet Rochow in diesem Zusammenhang
als den Endzweck des Staates, zu dessen Erfüllung in jeder Gesellschaft Regenten,
als Vormünder des Volks, nötig seien. Gleichzeitig macht er die Aufklärung seines
Volks zur unerläßlichen Pflicht des Regenten und weist nach, warum verständig-
machende Lehre in Schulen und Kirchen eines der wichtigsten Staatsgeschäfte bei der
Besorgung der ganzen Polizei des Volks sein muß 88• Seine Begründung der vom
Regenten im eigenen Interesse zu ergreifenden Maßnahmen gipfelt in der Forderung
und moralischen Rechtfertigung der uneingeschränkten Schulhoheit des Staates,
d. h. des staatlichen Monopols in allen Unterrichtsangelegenheiten einschließlich der
AU8bildung der „künftigen Volkslehrer". Mit aller Deutlichkeit gibt Rochow zu ver-
stehen, an welchen Maßstäben er seine Konzeption der Volksaufklärung gemessen
und in wessen Dienst er sie gestellt sehen will. Es ist der die umfassende Vormund-
schaft über seine Bürger ausübende, aber dabei an ,;Gesetze" gebundene absolu-
tistische Polizeistaat qua Wohlfahrts- und Ordnungsstaat. Aufklärung und Ver-
ständigwerden zielen wie bei Becker e.uoh bei Rochow nicht auf den „mündigen",
sittlich autonomen Menschen und Bürger, der sich seines Verstandes als Grund·
lagc freier sittlicher Selbstbestimmung, Kriterium der Wa.hrheitserkenuLIÜt! UllU
Organ einer freien Prüfung der Gesetzgebung bedient, sondern auf den seinem
Wesen nach „unmündigen" Untertan, der die heteronomen Gebot.ti l!eiuer Obrig-
keit aus moralischer Einsicht anerkennt und den eigenen Verstand als Instrument
solcher positiven Einsicht und bewußten Unterordnung unter den Staatszweck
benutzt.

d) Peter Villaume. Die für den .Philanthropinismus insgesamt charakteristische


Tendenz, die moralisch-pädagogisch begründete Aufklärung trotz einer betont
ethischen Argumentation dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Zweckmäßigkeit und
allgemeinen Nützlichkeit unterzuordnen, kommt bei Peter Villaume und Joachim
Heinrich Campe besonders markant zum Ausdruck.
VILLAUME vertritt im Ansatz die gleiche Auffassung vom pädagogischen Charakter
der Aufklärung wie Rochow. Entschiedener als dieser hebt er aber die ständischen
Bedingungen und Aufgaben der Aufklärung hervor und lehnt zusammen mit
Friedrich Gedike, dem Mitarbeiter des Ministers Zedlitz und Mitherausgeber der
„Berlinischen Monatsschrift", die Vorstellung einer einheitlichen oder gleichen Auf-
klärung für alle ab. Ganz im Sinne der Ansichten Zedlitz' über die Gliederung der
Erziehung nach Ständen und ihre Beschränkung auf deren Bedürfnisse erklärt
GEDIKE: Die Aufklärung muß ... ihre Grade haben. Gleichheit der Aufklärung würde
schädlich, ja unmöglich sein63• Weil der Mensch ein Rad in einer großen Maschine,
der Gesellschaft, sei, das genau in die andern Teile greifen müsse, darf nach Villaume

82 Ebd., 48. 56 f. 55.


88 PETER VILLA.mm, Ob und wiefern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen
Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sey ?, in: Allgemeine Revision des gesammt.en
Schul- und Erziehungswesens, hg. v. JOACHIM HEINRICH CAMPE, Bd. 3 (Hamburg 1785),
435 ff.; hier 526 Anm. das Zitat von Gedike.

260
d) Peter Villaume

der Erzieher seinen Zögling nicht vollkommener machen,. als es sein. Stand erlaubt64 •
Die Kritik derjenigen Widersacher der Aufklärung des Volkes, die diese als ein
schädliches Klugmachen, verstehen, weil man dadurch den gemeinen Mann nur zu
.seinem Geschäft untauglich und ihn selbst unglücklich mache, erscheint ihm unter der
Voraussetzung berechtigt, daß es in der Tat zum Ziel der Aufklärung erhoben wird,
den gemeinen .Mann dahin zu bringen, daß er alles vor den Richterstuhl seiner Ver-
nunft fordere; von Religion, Gesetzen und dergl. nichts annehme, als was er, nach seiner
Prüfung, für gut und wahr und billig erklärt hat. Dies wäre nun freilich mißlich. Dann
würde sein Gehorsam, sein Gtaube verkYrengehn und mit ihnen sein Glück und seine
Ruhe, sein Trost und seine Brauchbarkeit verschwinden ... Von Aufklärung und Ver-
edlung des Volks kann nach seiner Meinung füglich nur in dem Sinne gesprochen
werden, daß man dem Volk so viel Kenntnisse und .Menschengefühle beibringen soll,
als zu seinem Wohl in seinem Stande gehören. Diese „richtige" Bestimmung der Auf-
klärung; die sie zum gesellschaftlichen Stabilisationsfaktor qualifiziert, erläutert
Villaume mit den Worten: .Man will nicht, daß es alles wegräsonieren, sondern fester
glauben soll; und deswegen zeigt man ihm das Vernunftmäßige, das Nützliche in den
bestehenden Verhältnissenss.
Das gilt nicht nur für die Aufklärung des gemeinen Mannes. Da Villaume unter 'Auf
klärung' prinzipiell etwas Pädagogisches, Unterrichtsmäßiges und nichts Wissen-
schaftlich-Philosophisches versteht - ein aufgeklärtes Volk ist für ihn ein wohl-
unterrichtetes Volk - rechnet er weder kritische Untersuchungen der Bibel, der
kirchlichen Dogmatik oder der Einrichtungen des Staates noch die Verbreitung von
Zweifeln an gewissen Religionssätzen oder Aufschlüssen über Mängel der Staats-
verfassung zu den Aufgaben und Gegenständen der Aufklärung. Diese hat es auch
als AVtfklärung des Verstandes nicht mit der „geprüften Erkenntnis" der Wahrheit
zu tun.
Worum es Villaume, der persönlich den religiösen Aberglauben scharf kritisierte
und sich zu Rousseaus „Contrat social" bekannte, bei seiner Sinnbestimm.ung der
Aufklärung geht, das ist entscheidend ihre gesellschaftliche Effizienz. Alle seine
darauf gerichteten Überlegungen haben zwar zum Ausgangspunkt das „Menschheits-
recht auf Veredlung", das er zu den „Rechten des einzelnen" 66 zählt, die der Staat
zu achten hat, will er nicht als „Greuel der Menschheit" verabscheut werden. Mit
Friedrich Gabriel Resewitz steht er jedoch auf dem in der Wolffschen Schultradition
begründeten Standpunkt, daß der .Mensclt ... alle seine Vollkommenlicit und Ver-
edlung, ... , in der Gesellschaft und durch die Zusammenwirkung derselben (erhält).
Wo diese letztere fehlt, da wird er auch nie, ... , veredelt werden. Die Gesellschaft ist
aber nicht um seinetwillen allein da, sondern auch für andre; er muß also auch wieder
für die Gesellschaft ·und für andre dase·in. Urid lt·ierin iiegt ... der Grund de-r Ver-
bindlichkeit für jeden .Menschen, ... der Gesellschaft brauchbar zu werden 61 •

84 Ebd„ 525 f. Kleingedruckt fügt er allerdings einschränkend hinzu: außer, wenn er

8ieht, daß dessen Kräfte ihn offenbar zu einem andern Stande bestimmen (526).
85 Ebd:, 527. 529.

88 Ebd., 528. 578 f. 544. 538 ff.


87 F. G. RESEWITZ, Die Erziehung des Bürgers zum Gebrauch des gesunden Verstandes

und zur gemeinnützigen Geschäftigkeit (Kopenhagen 1773), zit. VJ.LLAUJllE, Erziehung


(s. Anm. 63), 543 Anm.

261
m. 3. 'Aufklänmg' a1s Eniehunphegml

Die Veredelung des einzelnen Menschen wirft in Villaumes Argumentation für die
Aufklärung so lange keine fundamentalen Probleme auf, als sie mit den Bedürfnissen
des jeweiligen Standes oder der Gesellschaft insgesamt übereinstimmt. In diesem
Fall kann der aufklärende Lehrer sich ohne Bedenken an die beiden Haupt-Gesetze
der Veredlung halten: 1. Veredelt alle Menschen, insofern es ihre Brauchbarkeit in
allen Verhältnissen, in welchen sie zu stehen pflegen, er/ordert; und 2. Veredelt die
Menschen so viel, als es ihre Verhältnisse erlauben. Zu einem Kardinalproblem wird
sie erst da, wo die individuellen Fähigkeiten eines Menschen über die Erfordernisse
seines Standes hinausgehen und seine Bedürfnisse als Mensch mit dem von Villaume
ebenfalls als „Recht" bezeichneten Anspruch der Gesellschaft auf seine Brauchbar-
keit in Widerspruch geraten, die „Rechte des einzelnen" und die „Rechte der Ge-
sellschaft" sich folglich unvermittelt gegenüberstehen. In dieser Situation gibt es
in seiner den bestimmenden Einfluß der klassischen deutschen Naturrechtsschule
von Pufendorf und Wolff verratenden Sicht nur eine Lösung: Die Unterordnung der
Rechte des Einzelnen unter die Rechte der Gesellschaft und die inhaltliche Fest-
legung der Aufklärung nach den Erfordernissen der Staatsutilität68 •
e) Joachim Heinrich Campe. CAMPES Aufklärungsbegriff scheint auf den ersten
Blick alles andere als pragmatisch-utilitär zu sein, wenn 'er 1789 in der Abwehr eines,
wiA Ar l'IFJ, ohne Nnmon a.nzu~cbcn, 1Lusdrückt, neuerlichen „Devalvatiom1ver11uohoa11
auf die unscltuld·igen, y·uten ·u·1ul ehrwürdigen Wörter Aufkliirung und Päilagogik die
Ansicht, Aufklärung bedeute nichts mehr und nichts weniger als Irreligion und gänz-
l·iclw S·ittenlus·iyke·it, energisch zurückweist und ihr entgegenhält: Wenn m.an bis
dahin von Aufklärern in Deutschland redete, so dachte doch jeder, so viel ich weiß,
nicht an diesen oder jenen leichtsinnigen Blattschreiber, sondern man dachte sich dabei
durchgäiigig die ehrwürdige1i Namum _e·ines Ernest·i, Jet"usulems, BpuW;inys, Sernkrs,
(d. jüngeren) Tellers, Dieterichs, Nicolais, Zolliko/ers usw. 69 • Von diesen „Auf-
klärern" sind weit über die Hälfte bedeutende Theologen der neologischen Richtung.
Es liegt daher die Vermutung nahe, Campe begreife unter 'Aufklärung' im wesent-
lichen die theologischen Erkenntnisse der Neologen, die übrigens den Ausdruck
selber nicht als System- oder Sammelbegriff ihrer theologischen Bestrebungen be-
nutzt haben. Offensichtlich gehen seine Intentionen jedoch nicht in diese Richtung.
Der Definition eines Anonymus im Septemberstück 1788 der „Schlesischen Pro-
vinzialblä.tter": Dasjenige, ... was eigentlich die Aufklärung macht, sind die religiösen
und moralischen Kenntnisse, will e~ nämlich allenfalls mit der einschränkenden Ein-
fügung sind vorzüglich zustimmen. Und seine anschließenden Bemerkungen zu die-
sem Thema beweisen, daß selbst' mit dieser Einsohrö.nkung schwerlich sein eigener,
bewußt weit gefaßter Begriff von der Aufklärung angemessen wiedergegeben wird.
Führt er doch über diesen seinen eigenen Begriff aus: Mir gehört jede wichtige, au/
Menschenwohl abzweckende Erkenntnis dazu, sie betreffe, welchen Gegenstand sie wolle.
Wenn der Landmann eine ihm nützliche ökonomische oder physikalische Kenntnis er-
langt, die er vorher noch nicht hatte, so nenne ich das Aufklärung. Wenn der Handwerks"
m.ann den Grund einsehen lernt, warum. das, was er bis dahin mechanisch verrichtete,
nur so und nicht anders geschehen oder v<Jrriohtot wcrilcn lcönnc, so nenne ich das Auf-

es Erziehung, 570. 577; vgl. 531 ff. 537.


VILLAUME,
89 JOACHIM HEnml:cH CAMPE, th>er die Hauptsünden der sogenannten neuem Pädagogik,
Braunschweigisches Journal 1 (1789), 2. Stück, 194 ff.

262
e) J-düm Heinrich Campe

kl,ärung. Wenn der Bierbrauer die der Gesundheit schädlichen Bestandteile gewisser
Pflanzen kennenlernt, wodurch er seinem Bier eine berauschende Kraft zu geben wußte,
so ist auch das mir Aufkl,ärung. Kurz: jeder Zuwachs an nützlicher Erkenntnis sowie
jede Anregung zum eignen Nachdenken über Gegenstände, welche Beziehung auf
menschliches Wohlsein haben, scheinen mid mit Fug und Recht unter diesem Worte
mitbegriffen zu werden70 •
Aus dieser Definition ergibt sich, daß der Aufklärungscharakter des von den Neo-
logen bewirkten „Erkenntniszuwachses" primär nicht in ihrer Bibelkritik oder in
ihren spezifisch theologischen Lehren besteht; vielmehr ist es der moralische Gehalt
ihrer Lehren, sind es ihre im gesellschaftlich-beruflichen Leben der Menschen prak-
tisch brauchbaren und für deren „Wohlsein" nützlichen Schriften und Gedanken,
die ihre Eigenschaft als „Aufklärer" bezeugen.
Daß die Aufklärung als sozialpädagogische Aufgabe grundsätzlich nicht allgemein,
einheitlich und gleich sein kann, weil in ihrem Zentrum nicht das Allgemein-Mensch-
liche als übergreifende Humanitätsidee steht; ist dabei für Campe nicht weniger gewiß
als für Villaume. Die Eigenart seines Beitrages zur Formulierung des Aufklärungs-
begriffes der Philanthropinisten besteht geradezu in dem Versuch, die Aufklärung
inhalt.lich AO sehr ?.11 nifferen?.ieren, naß flA möglich ist, jeder „Menschenklaaae" die
Aufklärung zuteil werden zu lassen, die für sie.unter genauer Berücksichtigung ihrer
jeweiligen Lebensweise und Berufsart, Fähigkeiten und Pflichten, Tugenden und
Laster, Glüqkseligkeitserwartungen usw. notwendig und im Interesse des „öffent-
lich~n und des individuellen Wohls" am zweckmäßigsten ist. Nach seinem BegriU
von Aufkl,ärung hat deshalb nicht bloß jede der drei Hauptmenschenklassen, sondern
auch jede darunter begriffene Unterabteilung ihre besondern und eigentümlichen Gegen-
stände ... , worüber sie vorzüglich und mehr als andere aufgekliirt zu werden nötig hat71.
Im Endergebnis laufen Campes Vorstellungen über die Aufklärung darauf hinaus,
für jeden besonderen. Stand und jede besondere Berufsart - im einzelnen unter-
scheidet er zehn große „Menschenklassen" 72 - eine nach Inhalt und Gegenstand
besondere Art der Aufklärung zu entwickeln und anzuwenden, die vom Unterricht
in Religion und Moral bis zur beruflichen Ausbildung, einschließlich der Vermitt-
lung berufsspezifischer Verhaltensweisen, Natur- und Warenkenntnisse sowie ent-
sprechender Belehrungen über Diätetik, Mechanik, Physik usw. reicht, in der Art
von Beckers „aufgeklärtem Gedankensystem" für den Bauernstand.
Auoh Campes Aufklärungskonzeption ist fest in der bestehenden Sozialverfassung
der absoluten Monarchie verankert und beabsichtigt noch am Vorabend der Re-
volution nicht, sie zu verändern'. Da sein Aufklärungsbegriff beliebig zur Bezeich-
nung eines jeden Zuwachses an nützlicher Erkenntnis verwendet werden kann und
die Nützlichkeit selbst sachlich ebensowenig eindeutig festgelegt erscheint wie das
menschliche „Wohlsein", auf das er mittelbar bezogen wird, behält der Begriff bei
Campe ungeachtet seiner pragmatisch-utilitären Zuspitzung und rein pädagogischen

70 Ders., Beantwortung einiger Einwürfe, welche in den Schlesischen Provinzialblättem

gegen eine von mir ausgestellt.e Preisfrage, über die einer jeden besonderen Menschenklasse
zu wünschende Art der Ailllbildung und der Aufklärung, gemacht worden sind, Braun-
schweigisches Journal 1 (1788), 3. Stück, 355 ff.
71 Ebd., 357;

11 Ebd., 338. 339 f. - Stand und Klasse.

268
Aufklirang m. 3. 'Aafldinmg' als Eniehangsliegrift'
Ausrichtung auf den Bereich einer ständisch begründeten Berufsbildung unvermin-
dert den neutralen Charakter. und die vielfältige Anwendbarkeit, die für das Wort
in seiner „ursprünglichen" Bedeutung typisch sind.
Daraus dürfte nicht zuletzt die Leichtigkeit zu•erklären sein, mit der Campe sich
kurz darauf des Ausdrucks 'Aufklärung' bedient, um aufgrund seiner Pariser Er~
fahrungen ganz andere Aspekte oder Gegenstände des geistig-kulturellen Lebens zu
benennen. In seinen 1789 geschriebenen „Briefen aus Paris zur Zeit der Revolution";
die keine Definition des Aufklärungsbegriffes enthalten, ist deutlich die Absicht
erkennbar, in der 'Aufklärung' so etwas zu sehen wie den Inbegriff jener Ideen,
Lehren und Erkenntnisse über die Rechte des Menschen und des Volkes, die zumal
von den Enzyklopädisten und Louis Sebastien Mercier 73 formuliert und verfochten
worden sind und sich sämtlich scharf gegen den „Despotismus" richten. Daneben
wird 'Aufklärung' im gleichen Zusammenhang als eine Art Korrelatbegriff zu 'Kul-
tur' und 'Veredelung' aufgefaßt und bezieht sich dann in erster Linie auf die in
Gesittung, Geschmack, Einsicht und Artigkeit, dem hohen Grad von „Menschlich-
keit" und „Milde" offenbar gewordene ungewöhnliche Kultur und Veredelung des
französischen Dritten Standes, besonders der untersten Klasse desselben. Unter beiden
Gesichtapunkten ist 'Aufklärung' eine allgemeirw AufldiiHWllt{J und als diese, wie
Campe schon im August 1789 erkennt, eine der Ursachen der Französischen Re-
volution~ Wie er im Vergleich mit den Verhältnissen in Deutschland erstaunt fest-
stellt, habe sich in Frankreich die TäJ,igkeit des Geistes entscheidend von der Poesie
zur politischen Beredsamkeit, von der Bearbeitung der schönen Wissenschaften über-
haupt zum Nachdenken über die Rechte der Könige und ihrer Untertanen, von den
thea/,raUschen Belustigungen zur Erlirterung wichtiger Fragen aus den Staatswissen-
schaften gewandt und dadurch Kultur und Aufklärung politisiert.
Die Stelle, an der er zum ersten Mal emphatisch den Kausalzusammenhang zwischen
Aufklärung und Revolution anspricht, lautet: Ganz obenan - nämlich auf der Liste
der Ursachen, denen Frankreich den Sieg der Menschenrechte über di.e 11.nnatürlichen
Anmaßungen des Despotismus verdanke - und mit Dank gegen die Hand der Vor-
sehung, die es aufsteckte, muß das wohltäJ,ige Licht der· Aufklärung gestellt werden,
welche Frankreich früher, und besonders allgemeiner, als irgendeinen andern despoti-
schen Staat in Europa erleuchtete 14• Die begriffsgeschichtliche Bedeutung dieser Stelle
ist eine doppelte. Erstens kehrt sie Wielands Deutung des Verhältnisses von Auf-
klärung und Revolution genau um und ordnet es im Sinne einer unverwechselbaren,
irreversiblen historischen Abfolge. Zweitens verleiht sie dem Aufklärungsbegriff das
Aussehen eines Eigennamens. Zumindest setzt Campe hier deutlich dazu an, einen
Systembegriff 'Aufklärung' zu bilden und darunter ausschließlich solche Kenntnisse
zu verstehen, die sich auf das philosophisch-politische Ideensystem der Menschen-
rechte beziehen und dieses selbst zum Moment des Begriffes erheben.
Campe. hat diesen Ansatz· jedoch nicht weiterverfolgt und den· Ausdruck in den
Revolutionsbriefen sogar meistens im neutralen Sinn benutzt, dessen Aktualität

1a M1mamna Schriften, vor allem sein „Ta.blea.u de l'a.ris 11 (10 Dde., Amsterdam 1788/90)
und „L'an 2440" (3 Bde., London 1772, dt. Leipzig 1775), fänden in Deutschland große
Beachtung.
7 ' CAMPE, Vierter Brief aus Paris, Braunschweigisches Journal 2 (1789), 12. Stück, 426

Anm. 433. 428. 425 f.; Dritter Brief, ebd., 395.

264
sich als die Aktualität der Zusammenhänge erweist, auf die er bezogen wird, ohne mit
ihnen im Regelfall eine begriffliche Einheit zu bilden und zum Individualbegriff zu
werden. Zeitspezifisch sind die Themen; über die aufgeklärt wird, und die Schnel-
ligkeit, mit der dies überall in Frankreich geschieht und ein bestimmtes philosophi"
sches und politisches Wissen in allen Ständen und Klassen des bisher „unwissenden
und dummen" Volkes verbreitet wird. In diesem eingeschränkten Sinn, dem sich die
Perspektive zugesellt, über Frankreich hinaus eine aUgemeine Aufklärung .zu ver•
breiten, den Despotismus zu stürzen und die Menschheit in die ihr geraubten Rechte
um so viel schneller und gewisser wieder einzusetzen 75 , ist für Campe noch Ende 1789
'Aufklärung' nicht der Begriff, wohl aber ein hervorstechendes Merkmal seines
Zeitalters.

4. Die Mehrdeutigkeit des AuCkJärungsbegri& bei Kant


Von den zahlreichen Antworten, die im 18. Jahrhundert auf die Frage „Was ist
Aufklärung 1" gegeben worden sind, wird heute gewöhnlich nur noch die Antwort
zitiert, die KANT in seinem Aufsatz über dieses Thema 1784 in der „Berlinischen
Monatsschrift" veröffentlicht hat. Sie gilt wegen nflr iihflrragenden Bedeutung ihres
Verfassers spätestens seit.dem ausgehenden 19. Jahrhundert als maßgebliches Zeug-
nis des Selbstverständnisses der Zeit. Dabei ist sie von Kants Zeitgenossen wenig
beachtet und von Kant selber, der sich nur an relativ wenigen Stellen direkt über
das Wesen der Aufklärung geäußert hat und den Ausdruck ·nicht unter die zentralen
Begriffe seiner kritischen Philosophie aufnahm, mehr beiläufig und populär, jeden-
falls nicht systematisch und definitiv entwickelt worden. Außerdem ist sein Sprach-
gebrauch nicht nur vor und nach 1784, sondern sogar in diesem Aufsatz uneinheit-
lich, und gerade jene Teile seiner Antwort, die in einem prinzipiellen Sinne für Kants
Aufklärungsbegriff charakteristisch sind, unterscheiden sich wesentlich von. dem
unter seinen Zeitgenossen gewissermaßen vorherrschenden Sprachgebrauch.
Diese Differenz tritt schon dort hervor, wo Kant das Wort 'Aufklärung' als reine
Vorgangsbez\lichnung (nomen actionis) auffaßt, so daß es dann nur den Vorgang
des Aufklärens und nicht auch zugleich dessen Resultat und den Zustand der Auf-
geklärtheit bedeutet. Sie zeigt sich weiter in seinem formalen Verständnis der Auf-
klärung, insofern für sie eine bestimmte Denkweise und die formalen Prinzipien
eines bestimmten Gebrauchs des Erkenntnisvermögens, aber keine objektiv-
materialen Kriterien konstitutiv sind.
Während Kant noch 1783 von dem eigenen Zeitalter sowohl als unserm denkenden
Zeitalter wie auch einem aufgeklärten Zeitalter spricht78 , unterscheidet er 1784 scharf
zwischen einem aufgeklärten Zeitalter und einem Zeitalter der Aufklärung. Auf die
Frage: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? antwortete er: Nein, aber wohl

7 6 Ders„ Viert.er Brief, 433. Diese Perspektive ist auf Deutschland nicht ohne weiteres
anwendbar. Seinen Zweiten Brief vom 9. 8. 1789 beschließt Campe nämlich mit den Wor-
ten: Ruhet unterdes aanft; ihr lieben Schl,afenden zu Braunschweig und zu Wolfenbüttel!
Und wenn ihr morgen erwacht, so vergeßt nicht, euch des Glücks zu freuen, in einem Lande
zu leben, wo ihr das, was man hier erst durch Menschenblut erkaufen mußte - Ruhe, Sicher-
heit und auf Vernunft gegründete Freiheit - unentgelaich habt (ebd„ 307).
78 KANT, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, Anh. AA Bd. 4 (1903), 380. 383.

265
m. 4.. Die Mehrdeutigkeit dee Bepiffs liei Kaut
in einem Zeitalter der Au/klärung77 • Trotz der knappen Begründung, die Kant für
seine Unterscheidung gibt, ist klar erkennbar, daß für sie formal-subjektive Gesichts-
punkte entscheidend sind. Im Gegensatz beispieJ.Sweise zu ScHILLER, der 1794 ganz
auf der Linie eines materialen Aufklärungsbegriffes der Ansicht ist: Das ZeitaUer
ist au/geklärt, das heißt, die Kenntnisse sind gefunden und öUentlick preisgegeben,
welche hinreichen würden, wenigstens unsere praktischen Grundsätze zu bericktigen7 &,
wird bei Kant in dem angeführten Zusammenhang die Aufgeklärtheit eines Zeit-
alters prinzipiell nicht bezeugt durch seinen Wissensstand oder das Vorhandensein
und die Verbreitung bestimmter Kenntnisse. Sie wird es vielmehr durch die allge-
meine Fähigkeit der Menschen, sich, im ganzen genommen, in bestimmter Hinsicht
ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen. Derlei
Aufgeklärtheit ist für Kant gleichermaßen Grundlage wie Ausdruck der Mündigkeit
und sittlichen Autonomie des Menschen überhaupt und erscheint ihm als der „Beruf
jedes Menschen". Dementsprechend definiert er am Anfang seines Auf11atzes von
1784 Aufklärung aJ.8 „Vorgang" mit den später vielzitierten Worten: Aufklärung ist
der Ausgang des Menschen aus seiner selbstversckul,det,en Unmündigkeit. Unmündigkeit
ist das Unverm(jgen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Belh11t1Jftf11r:k1JldpJ. illf. diR.11P. T!ri.mii.ndi'.tflr.P:it, 111mn diR. Ursa.c.he derselben nickt am Mangel
des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sieh seiner ohne
Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dick deines eigenen Ver-
standes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Au/klärung79 • Nach dieser Charakte-
ristik zu urteilen, ist 'Aufklärung' jene Handlung, in der sich der einzelne Mensch
aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herausarbeitet, ist sie der
Schritt aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit, aber noch nicht diese selbst, ist sie
deshalb als Reform der Denkungsart der Übergang zum Selbstdenken, jedoch Dicht
deSBen Vollzug und Bewährung.
Mit dieser Deutung der Aufklärung lassen sich drei Erläuterungen, die Kant hierzu
gibt, eigentlich kaum vereinbaren. Er sagt nämlicli:·: 1. zur Aufklärung werde nichts
erfordert als die Freiheit, von seiner V ernun/t in allen Stücken öUentlichen Gebrauch
zu machen; 2. allein der öUentliche Gebrauch seiner Vernunft könne Aufklärung unter
Menschen zustande bringen, und 3. der Privatgebrauch der Vernunft dürfe öfters sehr
enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortscltriu der Aufklärung sonderlich
zu hindern. Allem Anschein nach wird in diesen Sätzen von Kant unter 'Aufklärung'
sowohl der aktive Vollzug des Selbstdenkens im freien Gebrauch der Vernunft als
auch etwas verstanden, was gerade nicht mit dem „öffentlichen" Gebrauch der Ver-
nunft identisch ist, sondern durch diesen aUererst zustande kommt und aus ihm
resultiert. Hinzu kommt, daß er nicht explizite zwischen den einzelmenschlichen und
den gesellschaftlichen Voraussetzungen der Aufklärung unterscheidet. Auf diese
Weise verwischt Kant den von ihm angenommenen Unterschied zwischen Auf-
klärung und Aufgeklärtheit wieder und bringt Aspekte mit ins Spiel, die Bedingun-
gen und Konsequenzen, Ursache und Wirkung der Aufklärung gleichermaßen als
'Aufklärung' erscheinen lassen.

77 Dere.; Was ist Aufklärung? (s. Anm. 21), 40.


78 FRIEDRICH SCHILLER, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von
Briefen, 8. Brief. SA Bd. 12 (o. J.), 27.
1 • KANT, Was ist Aufklärung?, 40. 35.

266
m. '- Die Mehrdeutigkeit tlea Begrift'a hei Kant Aufldinmg

Daß Kants Sprachgebrauch uneinheitlich und 'Aufklärung' bei ihm kein fester
Terminus ist, geht auch aus anderen Äußerungen hervor. Wenn er z.B. davon
spricht, ein Zeitalter dürfe nicht d,as fo'f{/ende in einen Zustand versetzen, darin es ihm
unmöglich werden muß, seine ... Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reini-
gen, und überhaupt in der Aufklärung weit.erzuschreiten, oder wenn er bemerkt, ein
Mensch könne für seine Person nur auf einige Zeit, in dem, was ihm zu wissen obliegt,
die Aufklärung aufschieben, und er zu dieser Art Aufklärung Einsicht in die Beschaf-
fenheit der Religions-Sachen sowie sorgfältig geprüfte und wohlmeinende Gedanken
über d,as Fehlerha~ im Symbol der Kirche und Vorschläge wegen besserer Einrichtung
des Religions- und Kirchenwesens zählt, - dann umschreiben augenscheinlich
Wissensgehalte, Erkenntnisresultate, kurzum rationale Kenntnisse verschiedenster
Art den Begründungszusammenhang der Aufklli.rung.
Neben Mehrdeutigkeit und Dehnbarkeit sind es nicht zuletzt die Restriktion der
,,Mündigkeit" oder des Selbstdenkens auf den „öffentlichen" Gebrauch der Ver-
nunft und die Fixierung des Hauptpunkts der Aufklärung in „Religionssachen",
welche die Eigenart des Kantischen Aufklärungsbegriffs von 1784 ausmachen.
Zwar soll seine Charakteristik der Aufklärung im Prinzip uneingeschränkt gelten.
Praktisch und konkret schränkt er sie aber auf den „öffentlichen" Gebrauch der
eigenen Vernunft ein, worunter er paradoxerweise den Gebrauch versteht, den je-
mand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Als Privat-
gebrauch bezeichnet er dagegen denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten
bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf nach Maßgabe seiner
Pflichten, obrigkeitlicher Vorschriften u. ä. m. Exe~plarisch erläutert Kant diesen
Unterschied 11.11 c.ltir Tii.Ligkeit eines Geistlichen, der als Amtsperson vor seiner Ge-
meinde im Gebrauch seiner Vernunft nicht frei sein kann, hingegen als Gelehrter
das Recht einer uneingeschränkten Freiheit genießen soll, sich seiner eigenen V er-
nunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen. Diese Freiheit impliziert
für Kant grundsätzlich die Aufgabe der Kritik an den bestehenden Einrichtungen
des Religions- und Kirchenwesens. Wenngleich er auch die Möglichkeit berührt,
in der Kritik der Gesetzgebung öffentlich von der eigenen Vernunft Gebrauch zu
machen, so hat es für ihn die Aufklärung doch in erster Linie mit jenem geistigen
Bereich zu tun, der durch die Künste, Wissenschaften und Religionsdinge repräsen-
tiert wird; indessen nur in dem Maße, als sich in ihm das Interesse der Beherrscher
auswirkt, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen. Weil Kant Unmündigkeit in
Religionssachen für die schädlichste und entehrendste unter allen hält, außerdem nach
seiner Meinung jenes Interesse in Ansehung der Künste und Wissenschaften nicht be-
steht, erhebt er die „Religionssachen" zum Hauptpunkt der Aufklärung80•
Die Variabilität der Kantischen Ausdrucksweise spiegelt sich ebenfalls in seinem
ausgesprochen beiläufig formulierten Wort von dem eigenen Zeitalter als dem „Zeit-
alter der Aufklärung" wider, dessen prinzipielles Gewicht seit dem 19. Jahrhundert
so gründlich überschätzt worden ist. Kants Beschäftigung mit der Aufklärungs-
thematik ist im Ansatz zwcifollos nicht ohne starke zeitepezifische Bezüge. Daa be-
deutet aber nicht, daß für ihn 'Aufklärung' als Ausgang aus der Unmündigkeit ein
einmaliger historischer Vorgang und das ausschließliche Wesensmerkmal des gegen-

so Ebd., 36 f. 38 f. 37 f. 41.

267
Aufklärung, m. 4. Die Mehrdeutigkeit ilee Begrift's bei Kanl
wärtigen Zeitalters wäre. Was auch immer Kant sich jeweils unter 'Aufklärung'
vorstellt, ob er sie als Begriff einer allgemeinen Entwicklungsphase des Menschen,
als Grundbegriff einer Denkweise oder eines Erkenntnisinhaltes bestimmt,. oder
ob er ihren Bedeutungsumfang weitgehend offenläßt, der Begriff bleibt im hohen
Grade abstrakt und wird in seinen Anwendungsmöglichkeiten zeitlich nicht fest-
gelegt. Wie es für. ihn schon in früheren Zeiten, zumal in der Antike, aufgekliirte
Nationen gegeben hat, so gab es auch in früheren Zeitaltern bereits Aufklärung
und wird es sie desgleichen in künftigen Zeitaltern geben. Kants Frage nach der
Signatur des eigenen Zeitalters lautet nicht, ob es das Zeitalter der Aufklärung,
sondern ob es ein aufgeklärtes oder ein Zeitalter der AufklärÜng sei; und in seiner
Antwort heißt es ausdrücklich, man lebe jetzt in einem Zeitalter der Aufkliirung.
Wenn er dann einige Sätze weiter plötzlich bemerkt, es sei dieses Zeitalter das Zeit-
all.er der Aufkliirung oder das Jahrhundert Friedrichs, dann gilt diese einmalige
Verwendung des bestimmten Artikels nur in diesem Betracht, nämlich im Hinblick
darauf, daß den Menschen jetzt die Möglichkeit eröffnet wird, in Religionsdingen
sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, und, nach
deutlichen Anzeigen zu schließen, die Hindernisse der allgemeinen Aufkliirung ...
allmählich wenig& WfJ'l'dcn; und zwar deshalb, weil Friedrich es fü1r Pfl1ii-ht halte,
in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle
Freiheit zu lassen. Nach dieser Formulierung ist Kants·eigenes Zeitalter nicht dar-
um „das Zeitalter der Aufklärung", weil in ihm die allgemeine Aufklärung zu-
nimmt, sondern weil deren Hindernisse abnehmen 81 •
Nach Friedrichs Tod ist Kant auf diese Wendung nicht wieder zurückgekommen
und hat z.B. 1794 die Gegenwart die Zeit der größten Aufkliirung, die je unter
Menschen war, genannt. Dieser Superlativ macht deutlich, daß es nicht die 'Auf-
klärung' als solche, sondern deren bisher unerreichtes qualitatives und quantitatives
Ausmaß ist, das der „Gegenwart" epochale Einmaligkeit verleiht. Unabhängig
davon gewinnt Kants Aufklärungsbegriff oder genauer: einer seiner verschiedenen
Aufklärungsbegriffe gleichsam den Rang eines geschichtsphilosophis-Ohen Fort-
schritts- und Perspektivbegriffs, wenn er 1784 in seinem Aufsatz über die „Idee
zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" die in den einzelnen
Zeitaltern vorhandene oder gewonnene Aufklärung in Beziehung setzt zur „Ge-
schichte der Menschengattung" als Geschichte der vollen Entfaltung ihrer Natur-
anlagen und „Fortschritt zum Besseren" oder Fortschritt im Gebrauch der; Ver-
nunft. In diesem Zusammenhang scheint 'Aufklärung' jeweils die Summe des
Wissens zu bedeuten, das in einer Generation von der Bestimmung des Menschen
sowie dem Wesen und Zweck seiner Naturanlagen enyorben worden ist. In einer
viel"leicht unabseliUclum Reilte von Zeugungen arbeitet sich der Mensch mit der
allmählichen Verbesserung, Erweiterung und Vermehrung seiner Einsichten in die
Absichten der Natur und die Möglichkeiten der Vernunft aus der größten Rohigkeit
. . . zur größten Geschicklichkeit, innerer Vollkommenheit der Denkungsart und
(soviel es auf Erden möglich ist) dadurch zur Glückseligkeit empor. Dieser geschicht-
liche Fortschritt ist gleichbedeutend mit dem Aufstieg von niedrigsten und klein-
sten zu höchsten und größten Stufen und Ausmaßen der Aufklärung. Er geschieht

81 Ebd., 40; Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (l 784), AA

Bd. 8, 29.

268
m. 4. Die Mehnleatigkeit des Begri«s hei Kant Auf.ldänmg

auf die Weise, daß die eine Generation der andern ihre Aufklärung überliefert, bis
die Natur endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwickelung
getrieben hat, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist, und so durch fortge-
setzte Aufklärung der Anfang zur· Gründung einer Denkungsart gemcicht ist, welche
die grobe N aturanUi.ge zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte
praktische Prinzipien verwandeln kann. Selbst Rückschläge und politische Kata-
strophen können in Kants Augen den Fottschritt nicht aufhalten, weil bisher
immer ein Keim der Aufklärung übrig blieb, der, durch jede Revolution mehr ent-
wickelt, eine fo'fgende noch höhere Stufe· der Verbesserung vorbereitete 82 •
Markiert Kant hier mit 'Aufklärung' einerseits generell die verschiedenen „Stufen
der Einsicht" beim „Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur", so bezeichnet er
andereTRP.itR mit ihr gelegentlich auch speziell jene Einsicht, die auf die Aufhebung
der persönlichen Einschränkung des Bürgers in seinem Tun und Lassen und
die aUgemeine Freiheit der Religion zielen. In diesem.Sinne sieht er dem Fortschritt
der Freiheit allmählich Aufklärung, als ein großes Gut, entspringen. Eine solche
Aufklärung und mit ihr auch ein gewisser Herzensanteil; den der aufgeklärte Mensch
am Guten, das er vollkommen begreift, zu nehmen nicht vermeiden kann,· müsse nach
und rtacli ltis zu deti Tlironen hinaufgehen, und sel,bst auf ·ih1'e Reg·ierungsgrundsätze
Einßuß haben. Es ist diese 'Aufklärung', mit der Kant dann· hoffnungsvoll die
Perspektive verbindet, daß endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein
al'fgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schoß, worin alle ursprüngliche Anlagen
der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zustande kommen werde 83 •
Nach 1784 zeichnet sich in Kants Sprachgebrauch die Tendenz ab, seine durch
popularphilosopbische Gesichtspunkte geprägte Verwendung des Wortes 'Auf-
klärung' sowie das Schwan lrnn r.wii111hen fOTma,l-i;n hjektiven nnil mateTial-objektiven
Kritierien zugunsten .einer konsequenten Formalisierung des Aufklärungsbegriffs
einzuschränken oder zu präzisieren. Bereits 1786 hat er die Unterscheidung zwi-
schen· 'Aufklärung' und 'Aufgeklärtheit' aufgegeben und unmißverständlich das
Selbstdenken zur einzigen Maxime, d. h. zum subjektiven Grundsatz der Auf-
klärung erhoben: Selbstdenken heißt; den ober.sten Probierstein der Wahrheit in sich
selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu
denken, ist die Aufklärung. Was damit gemeint sein soll, erläutert Kant mit direkter
Spitze gegen die Ansichten derjenigen, welche die Aufklärung in Kenntnisse setzen,
mit den Worten: Sich seiner eigenen Vernunft bedienen will nichts we:iter sayen, als
bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde,
den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man
annimmt, fo'lgt, zum al'fgemeinen Grundsatze seines V ernunftgebrauchs zu machen?
AU:fklärung als zeitlos gültige Methode eines solchen Vernunftgebrauchs muß nach
Kant in ihren „Annahmen" von· einer Rechtfertigung durch objektive Gründe
und materiale Aspekte nicht nur frei sein, sie ist überdies vielmehr ein negativer
Grurulsatz im Gebrauch seines Erkenntnisvermögens, weshalb öfter der, so an Kennt-
nissen überaus reich ist, im Gebrauch derselben am wenigsten aufgeklärt ist. Da. nach
einer Formulierung von 1790 das bloß Negative ... die eigentliche Aufklärung aus-
macht, vollbringt diese, wenn sie genauer als Befreiung vom Aberglauben und Be-

82 Ebd., 19 f. 21. 3Q; Das Ende aller Dinge (1794), ebd„ 339..

aa Ders., Idee, 28.


m. 4,. Die Mehrdeutigkeit •• BegrUI& liei Kant
freiung. von Vorurteilen bestimmt wird, ihr negatives Geschäft allein durch den
reinen Vernunftgebrauch, ohne daß der betreffende „Selbstdenker" die Kenntnisse
haben muß, Aberglauben, Vorurteile, Schwärmerei oder dergl. aus objektiven
Gründen widerlegen zu können, aber auch ohne daß die 'Aufklärung' ihrerseits
positive Aussagen macht und die Vorurteile durch richtige Urteile, den Aberglauben
durch rationales Sachwissen usw. ersetzt. Während Kant solche Aufklärung in
einzelnen Subjekten durch Erziehung zu gründen 1786 für gar leicht hält, es jedoch
damals schon als sehr la°ngwierig bezeichnet, ein. Zeitalter . . . aufzuklären, weil
sich viele äußere Hindernisse (finden), welche jene Erziehungsart teils verbieten, teils
erschweren, erscheint ihm 1790 Aufklärung überhaupt nur noch in thesi leicht,
in hypothesi aber eine schwere und langsam auszuffihrerulR. Sach.e.
So weit entfernt er mit seinem formalen Aufklärungsbegriff von der Aufstellung
eines Epochen-, System- oder Richtungsbegriffä 'Aufklärung' ist, so entschieden
scheint Kant im Prinzip die Sache des Rationalismus zu verfechten, wenn er immer
wieder für das Vorrecht der Vernunft eintritt, der letzte Probierstein der Wahrheit
zu seinH. Dieses „Vorrecht" bildet bei Kant indessen nicht den A1111eang11p1mkt
eines uneingeschränkten Herrschaftsanspruches der Vernunft. Zwar bekennt er
sich nachdrücklich zu seinem Zeitalter als dem eigentlichen Zeitalter der Kritik, der
sich alles unterwerfen müsse. Auch kann nach seiner Oberzeugung die Vernunft
nur demjenigen . . . unverstellte Achtung bewilligen, was ihre freie und öffentliche
Prüfung hat aushalten können! Zum Gegenstand der Kritik wird aber von Kant -
und das kennzeichnet seine Sonderstellung unter den „Aufklärern" seiner Zeit -
auch die Vernunft selber gemacht. Und seine „Kritik der reinen Vernunft" hat
nicht zuletzt ·das Ziel, dem Absolutheitsanspruch reiner Vernunft und ihrer „An-
maßung überschwenglicher Einsichten" durch die „Grenzbestimmung des reinen
Vernunftvermögens" ein Ende zu machen. Indem er mit seiner Kritik dem Materia-
lismus und Atheismus, dem freigeisterischen Unglauben, dem Aberglauben und der
Schwärmerei „die Wurzel" abschneiden will und das Wissen aufhebt, um zum
Glauben Platz zu bekommen, leitet er das ein, was man später die „Überwindung
der Aufklärung" genannt hat. Zumal den Anhängern der Vernünftigen Orthodoxie
und der Neologie entzog er die philosophische Basis ihrer Bestimmung des Ver-
hältnisses von Vernunft unn Offenbarung, als er nachwies, daß kein Mensch durch
Vernunft etwas über die innere Möglichkeit oder Notwendigkeit der Offenbarung
ausmachen kanns6.
Der Präzisierung seines Aufklärungsverständnisses war Kants Kritizismus da be-
sonders dienlich, wo er sich mit rlen „oberen Erkenntnisvermögen" befaßt und
zwischen dem Verstand, der Urteilskraft und der Vernunft unterscheidet. Dabei
versteht er unter Verstand das Vermögen der Regeln, unter Urteilskraft das Ver-
mögen, das Besondere, sofern es ein Fall dieser Regel ist, aufzufinden, und unter
Vernunft das Vermögen, von dem Allgemeinen das Besondere abzuleiten und dieses
Letztere also nach Prinzipien und als notwendig vorzustellen. Dem so definierten

0 ~ Ders., Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), ebd., 146f., Anm .. ; Kritik der

Urteilskraft (1790), § 40, AA Bd. 5 (1908), 294 Anm.


86 Ders., Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 1. Aufl. (1781), AA Bd. 4 (1903), 9 Anm.;

Vorrede zur 2. Aufl. (1787), AA Bd. 3 (1904), 19. Vgl. ders., Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft (1793), AA Bd. 6 (1907), 155.

270
m. '- Die Mehrdeutigkeit des Begriff• bei Kant
Verstand weist Kant ausdrücklich die 'Aufklärung' zu, wobei er das SelhsfAlenken
näherhin als die Maxime der vorurteilfreien Denkungsart bezeichnet und diese
wiederum die Maxime des Verstandes nennt.
Aufklärung als Maxime des Verstandes und das bloß N e,gative ... in <ler Denkungsart
muß deshalb dort unvermeidlich zum Problem werden, wo der Mensch etwas zu
wissen verlangt, was über seinen V erstand ist, d. h. wenn er nicht nur durch den
V erstand vermöge der Be,griffe erkennen (intelligere), sondern durch die Vernunft
erkennen o<ler einsehen (perspicere) oder sogar be,greifen (comprehendere) will8 6 . ·
Diese, erkenntnistheoretische Abgrenzung der Aufklärung impliziert in dem Maße
ihre Kritik, als die „aufgeklärte Denkart" absolut gesetzt oder dort ausschließlich
angewendet wird, wo andere Denkarten und Maximen erforderlich sind. Kant selbst
hat eine solche Aufklärungskritik explizite nicht entwickelt, aber durch seine
Zuordnung der Aufklärung zum Verstand und nicht zur Vernunft i. e. S. die
Aufklärungskritik des Deutschen Idealismus indirekt vorbereitet.
Trotz der systematischen Festlegung eines streng formalen Aufklärungsbegriffes
im Rahmen seiner kritischen Philosophie hat Kant auch in den l 790er Jahren
nicht darauf verzichtet, verschiedentlich 'Aufklärung' in einem materialen Sinne zu
gebrauchen und sie dann abermals vornehmlich auf „Religionssachen" zu beziehen.
Während er 1797 von den seinen Glauben betreffenden Einsichten eines Volkes kurz
als der Aufklärung spricht, sieht er 1793 die wahre Aufklärung in der Unterscheidung
zwischen Religion als Fetischdienst, bei dem statutarische Gebote, Glaubensre,geln und
Observanzen die Grundlage und das Wesentliche desselben ausmachen, und der
wahren Religion, wo dies reine Gesinnung und Prinzipien der Siulichkeit sind. Erst
durch eine solche Unterscheidung werde <ler Dienst GoUes . . . ein freier,, mithin
moralischer Dienst 87 • 'Wahre Aufklärung' ist folglich ein Moment jener „Morali-
sierung", die nach Kants Auffassung die Überwindung bloßer „Zivilisierung" und
die Vollendung der Kultur bedeutet; eine Vollendung freilich, deren geschichtliche
Realität ihm allenfalls als das äußerste Ziel der Menschheitsgeschichte denkbar
erscheint.
1798 schließlich befaßt sich Kant in einigen Sätzen mit der Volksaufklärung. Im
Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen ist diese bei ihm nicht identisch mit der
Ausbreitung der Aufklärung genannten Sachkenntnisse, Bildungsgüter, Fertigkeiten
u. ä. m. im Volk. Volksaufklärung in Kants Definition ist die öffentliche Belehrung
des Volks von seinen Pflichten und Rechten in Ansehung des Staats, dem es angeltöret.
Weil es sich hierbei nur ~m natürliche und aus dem gemeinen Menschenverstand
hervorgehende Rechte handele, seien die natürlichen Verkündiger und Ausleger <ler-
selben im Volk nicht die vom Staat bestellete - amtsmäßige .:___, son<lern freie Rechts-
lehrer, d. i„ die Philos<Yphen. Kritisch stellt Kant weiter fest, daß diese Philosophen
um dieser Freiheit willen, die sie sich erlauben, dem Staate, der immer, nur herrschen
will, anstößig sind, und unter dem Namen Aufklärer, als für den Staat gefährliche
Leute verschrien werden, obwohl sie ihre Stimme nicht vertraulich ans Volk (als

88 Ders„ Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), AA Bd. 7 (1907), 199; Kritik

der Urteilskraft,§ 40, AA Bd. 5, 294 f.; Logik (1800), Einleitung, Abschn. VIII. AA Bd. 9
(1923), 65. '
87 Ders„ Metaphysik der Sitten (1797), AA Bd. 6, 327; Di~ Religion innerhalb der Grenzen

der bloßen Vernunft, ebd„ 179.

271
Aufklänmg m. 5. 'Aufklärung' als ,;theoretische Bildung"
welches davon und von ihren Schriften wenig oder gar keine Notiz nimmt), sondern
ehrerbietig an den Staat richten 88 • Eng bringt Kant hier die naturrechtlich ausge-
richtete „ Volksaufklärung" mit der „Publizität", als ihrer politischen Voraus-
setzung, und dem „Fortschritt eines Volks zum Besseren:', als ihrem moralischen
Ziel, .zusammen. Die geschichtliche Perspektivität des Aufklärungsbegriffes, die
auf diese Weise erneut ausgedrückt zu sein scheint, bleibt indessen weiterhin
äußerlich und zufällig und wird im wesentlichen allein durch die Sachverhalte
repräsentiert, auf die ihn Kant jeweils bezieht, d. h. sie ist nicht ein Moment des
Begriffes an sich.
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts behält Kants Aufklärungsbegriff einen varia-
blen, schwankenden Bedeutungsumfang. Er konkretisiert sich weder zum Epochen-
und Bewegungsbegriff noch zu einem zentralen geschichtsphilosophischen Per-
spektivbegriff, wiewohl es gewisse Ansätze in dieser Richtung gibt. Ausschlag-
gebend bleibt für ihn - auch im Blick auf seine unmittelbare geschichtliche
Wirkung - seine formale Bindung an den „Verstand" und seine materiale Fixie-
rung auf die „Religionssachen" und deren Moralisierung.

5. 'Auf'klirung' als „theoretisehe BildUDg": Mendel88ohn


Schon vor Kant hatte MOSES MENDELSSOHN 1784 in der „Berlinischen Monats-
schrift" die Frage „Was ist Aufklärung~" beantwortet. Als Kant das nachträglich
erfuhr, ließ· er seinen Beitrag zum V ersuche dastehen ... , wiefern der Zufall Ein-
.~timmigkeit der Gedanken zuwe,ge bringen könne 89 • Sie kam nicht zustande.
Mendelssohn teilt Kants Standpunkt weder in formaler noch in materialer Hin-
sicht und schlägt mit seiner Unterscheidung zwischen einem objektiven und einem
subjektiven Aspekt der Aufklärung eine ganz andere Richtung ein. Zwar versteht
er darunter l. vernünftige Erkenntnis ( object.) und 2. Fertigkeit ( subject.) zum ver-
nünftigen Nachdenken über Dinge des menschlichen Lebens, nach Maßgebung ihrer
Wichtigkeit und ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen 90 • Aber was er
„subjektiv" nennt, zielt nicht auf die Autonomie des denkenden Subjekts oder auf
die kritisch-emanzipatorische Funktion des Selbstdenkens zumindest in „Religions-
sachen". Am allerwenigsten ist mit ihm ein erkenntnistheoretisches Prinzip ge-
meint. 'Aufklärung' ist bei Mendelssohn überhaupt keine bestimmte Denkart,
sondern wie „Kultur" eine bet1Liuunte Erticheinungsform der „Bildung". Diese drei
Begriffe stehen für ihn in engster Korrelation. Seinen Definitionsversuch leitet
Mendelssohn mit der begriffsgeschichtlich aufschlußreichen Feststellung ein: Die
Worte Aufklärung, K uUur, Bililung sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge.
Sie gehlJren vorderhand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufen versteht sie kaum.
Obwohl die Sache bei uns keineswegs neu sei, habe der Sprachgebrauch, der zwischen
diesen gleichbedeutenden Wörtern einen Unterschied angeben zu wollen scheint, noch
nicht Zeit gehabt, die Grenzen derselben festzusetzen. Bililung, Kultur und Aufklärung
sind Mudifikutimu:n des gellt-lligt,n Lebt,1i&; Wfrkungtm dt!8 Ffoiß~s ·und der DemültwiUJen

88 Ders., Der Streit der Fakultäten (1798), 2. Abschn. 8. AA Bd. 7, 89.


89 Ders., Was ist Aufklärung ?, 42 Anm.
90 MosEs MENDELSSOHN, Über die Frage: Was heißt aufklären? Ges. Sehr., Bd. 3 (1843),
400.

272
m. 5. 'Aafldinmg' als "theoretische Bild11111J" Aufklänmg

der Menschen, ihren geselligen Zustand zu verbessern. In seinem Bemühen, den


„Sprachgebrauch" zu präzisieren, bestimmt er Bildung als den Oberbegriff, der
zerfällt in Kultur und Aufklärung; und zwar dergestalt, daß 'Aufklärung' unter den
schon zitierten Gesichtspunkten mehr die theoretische, 'Kultur' dagegen mehr die
praktische Seite der Bildung ausdrückt, weil sie auf Güte, Feinheit und Schönheit
in Handwerken, Künsten und Geselligkeitssitten (objective), auf Fertigkeit, Fleiß und
Geschicklichkeit in jenen, Neigungen, Triebe und Gewohnheit in diesen (subjective)
gerichtet ist. Erläuternd hebt Mendelssohn hervor: Eine Sprache erlanget Auf-
klärung durch die Wissenschaften und erlanget Kultur durch gesellschaftlichen Umgang,
Poesie und Beredsamkeit. Durch jene wird sie geschickter zu theoretischem, durch
diese zu praktischem Gebrauche. Beides zusammen gibt einer Sprache Bildung.
Von solcher 'Aufklärung' als Komponente der Bildung gilt, daß sie ein zeitlich und
räumlich beliebig verwendbarer Begriff ist, der keinen konstitutiven ßezug auf
spezifisch „moderne" 8achverhalte oder eine entsprechende Programmatik impli-
ziert. Wie Mendelssohn den Nürnbergern zusammen mit den Franzosen mehr
Kultur und den Berlinern zusammen mit den Engländern mehr Aufklärung zu-
schreibt, so bescheinigt er den Chinesen, viel Kultur und wenig Aufklärung zu haben.
Allein die Grievlu~n lw.tkn be·ides, TC11,lf:ltr und Aufklärung. Sie waren eine gebildete
Nation, so wie ihre Sprache eine gebildete Sprache ist.
Bei der inhaltlich offenbleibenden „Bestimmung des Menschen" unLerscheidet
Mendelssohn dann weiter zwischen Menschenaufklärung und Bürgeraufklärung.
Diese Unterscheidung könne bei der Kultur nicht getroffen werden, weil alle prak-
tischen V ollkommenheiten bloß in Beziehung auf das gesellschaftliche Leben einen
Wert hätten. Die „Kultur" habe es deshalb stets nur mit dem Menschen als Bürger,
d. h. mit seiner jeweils durch Stand und Beruf im bürye-rUclien Leben begründeten
Bestimmung als Glied der Gesellschaft zu tun: Der Mensch als Mensch bedarf
keiner Kultur: aber er bedarf Aufklärung. Von der gleichsam den Menschen in seiner
gomillsohaftlichen Unbedingtheit als reines Tndividnnm betreffenden Menschen-
aufklärung heißt es, sie sei allgemein und ohne Unterschied der Stände. Dagegen
modifiziert sich bei Mendelssohn die Aufklärung des Menschen als Bürger betrachtet
... nach Stand und Beruf.
Anschließend versucht Mendelssohn darzulegen, daß mit Aufklärung einer Nation
oder Volksaufklärung ein Verhältnisbegriff gemeint ist, der die Masse der Erkennt-
nisse eines Volkes über die Be1:1Lirnmung des Menschen uncl Bürgers im Verhältnis
zu ihrer Wichtigkeit und ihrer Verbreitung durch alle Stände bezeichnet. Unter
'Volksaufkläl'Uilg' wird so von ihm weder „moralische Volkserziehung" wie bei
den Philanthropinisten noch „öffentliche Belehrung des Volkes über seine Rechte
und Pflichten" wie später bei Kant, sondern vornehmlich cler Stand und Grad der
philosophisch-rationalen Bildung eines Volkes verstanden.
Ähnlich wie die Philanthropinisten und besonders Villaume sieht Mendelssohn die
Möglichkeit einer Kollision zwischen „Menschenaufklärung" und „Bürgerauf-
klaruug" priu~ipiell gegeben, wenn gewisse Wulirlwitm~, d.fo dam Jl1mschtm, aZM
Men.w:h, nützlich sind, . . . ihm als Bürger schaden können. Er hält dies für ausge-
sprochen beklagenswert und will Regeln festgesetzt wissen, nach denen derartige
Kollisionsfälle entschieden werden sollen. Dennoch steht es für ihn unumstößlich
fest, daß man gewisse nützliche und den Menschen zierende Wahrheiten nicht ver-
breiten darf, wenn dies nicht geschehen kann, ohne die dem Menschen nun einmal

18-90385/1 273
m. 6. 'Aufklänmg' als dift'user Einheitshegrift'
beiwohnenden Grundsätze der ReUgion und Siulichkeit niederzureißen. Der tugend-
liebende AufklJirer wird in seinen Augen deshalb lieber das Vorurteil dulden, als die
mit ihm so fest verschlungene Wahrheit zugkich mit vertreiben, mag diese Maxime
auch von jeher Schutzwehr der Heucheki gewesen sein und Jahrhunderte von Barbarei
und Aberglauben verschuldet haben.
In dieser Auffassung sieht sich Mendelssohn um so mehr bestärkt, als ihm sowohl
der Gedanke an den Mißbrauch der Kultur als auch an den Mißbrauch der .A.uf-
klJirung vertraut ist. Während jener Üppigkeit, Gleißnerei, Weichlichkeit und
Sklaverei erzeuge, schwäche dieser das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Ego-
iBmus, I"eligion und Anarchie. Eine solche Einsicht erscheint ihm gerade in den
aufgeklJirtesten Zeiten am Platze91 • Damit ist von Mendelssohn eine Ambivalenz 1for
Aufklärung angesprochen worden, die Kant immer unbeachtet gelassen hat und auf
die Wieland erst no.oh der Französischen Revolution ausführlich eingegangen i8t.

6. 'Auf1dilrong' als difl'user Einheitahegrift' von Philosophie, Wissenschaft und


rationaler Lehensf"ührung: Riem
ScHAUMANN hat 1793 Mendelssohns und Kants Antworten auf die Zöllnersche
Frage nicht als Definitionen, sondern lediglich als Explilcationen des Aufkliirungs-
be1JriQe.s gdwu la111l!e11 Wld 11.ußarilem a.ngenom.m.en, boidon von ihm hochverehrten
Selbstdenkern des ersten Ranges sei es bei ihren Antworten gar nicht darum gegangen,
das, was unter AufklJirung, als Genus betrachtet, zu verstehen sei, zu bestimmen92 •
Sicher ist, daß beide unter ihren Zeitgenossen keinerlei Einigkeit über eine Begriffs-
bestimmung der Aufklii.rnng herbeizuführen vermochten und Aufklärung ein Wort
blieb, das - nach dem Urteil eines Rezensenten in den „Göttinger Anzeigen" aus
dem Jahre 178!J - fast in jedem Kopf und Mund eine andere Bedeutung hat93 • Ein
gutes Beispiel dafür ist der Sprachgebrauch von Riem.
Der reformierte Prediger ANDREAS RIEM veröffentlichte Anfang 1788 in Berlin
eine anonyme Schrift „ Über Aufklärung", die großes Aufsehen erregte und innerhalb
weniger Wochen viermal aufgelegt wurde. Um die Idee, welche das bloße Wort ...
darbietet, zu erfassen und mit ihr ein Räsonnement über die BegriQe, welche es
enthält, einzuleiten, erkennt Riem in der Aufklärung ... nichts anderes als die
BemühttlflJ} des menschlichen Geistes, alle Gegenstände der Ideenwelt, alle mensch-
lichen Meinungen und ihre Resultat,e und alks, was auf Menschheit Rinff.11,ß h.at, nach
Prinzipien einer reinen Vernunftlehre, zu Beförderung des Nützlichen, ins Licht zu
setzen. Eine solche Betrachtung, Beurteilung und Beförderung alles Menschlichen
und Ideellen unter dem Gesichtspunkt der reinen Logik oder .Rationalität und
Utilität sei dem menschlichen V r.r.~ta.rul.P. g1m1.dAzu ~in Be.diirfm'.B. Denn: Jede Ent-
wicklung seiner Kräfte, jede Berichtigung seiner Ideen, jede Verfeinerung seiner Kennt-
nis und jede Vervollkommnung seiner Fähigkeiten, ist Aufklärung.
In einer wortreichen, panegyrischen Schilderung ihrer Wundertaten in dem Reiche
der Natur ... wie in der Weisheit 94 wird 'Aufklärung' schlechthin zum Inbegriff
der Entfaltung und Vervollkommnung des Verstandes und seiner souveränen Kraft.,

91 Ebd., 399 ff.


81 SOHA.UMANN, Versuch über Aufklärung (s. Anm. 12), 27. 38.
•a Göttingische Anzeigen von gelehrt.en Sachen 3 (1789), 2073.
" Rum, "Ober Aufklärung (s. Anm. 20), 315. 321 f.

274
m. 7. Grundlepng der ,,absoluten Aufldänmg"
die Zusammenhänge der Natur exakt zu berechrien und zu beherrschen, die Logik
des De_nkens zu begründen und die Kriterien für die Wahrheit der Erkenntnis,
wenn nicht diese selbst zu liefern; hier repräsentiert 'Aufklärung' die Totalität der
Wissenschaften und die Summe aller ihrer Erfahrungen, das Wesen freier, schöpfe-
rischer Gelehrsamkeit und die allgemeinen Interessen und Rechte der Menschheit,
die Weisheit der St~atsoberhäupter, das Glück der Staatsbürger, die Sicherheit der
Staaten und nicht zuletzt die Schutzmacht der Völke:rl16•
Riems Erhebung der 'Aufklärung' zum undifferenzierten, globalen Einheitsbegriff
von Philosophie, Naturwissenschaft, Geistesstärke und rationaler Lebensführung,
der ihre inhaltliche Konkretisierung zum Epochen- oder Systembegriff von vorn·
herein o.USBchließt, korrespondiert eine. entschiedene Verurteilung jeder „una.uf-
geklärten" Religion, des Priesterdespotismus und Pfaffengeistes. Davon nimmt er
bez.eichrienderweise die heiligste aller Religionen, das Christentum, insoweit aus, als
es bei jedem neuen !Achte der A. ufklärung mit seinem Stifter in höherem Glanze
leuchtet und „vernünftig" ist. Ein Theologe ohne Aufklärung, ohne das Bestreben,
jede Religion am Maßstab ihrer Rationalität, Moralität und Utilität zu messen,
ist ihm eine Pestiknz der Menschheit. Die Reformation des 16. Jahrhunderts und
besonders die reformierte Theulugie Zwinglis wird von Uicm allerdingl!I l!lelber als
4.ufkliilrung bezeichriet. Folgerichtig nennt er Christus den weisen A.ufkliire:r uni!
seine Botschaft Aufklärung, womit er wohl hauptsächlich die reine Tugendkhre
Christi meint'e.
Während er seine Religionskritik bis zum Verwerfen der Trinität treibt, verhält
sich Riem gegenüber dem Staat ausgesprochen zurückhaltend, wenn nicht respekt-
voll. Die Stimme der Aufklärung soll sich nach seiner Überzeugung nur in Ausnahme-
fällen a1i die Beulrteil·ung der Staatsfehler wagen. Wahre AufklärUtUJ ehre sogar im
schwachen Re,geitten ... die Wohltat der erblichen Thronfolge und achte die Majestät
eines Staatsoberhaupts selbst in Tyrannen ... , da die Gesetze und das öffentliche
Wohl ihrer Stimme bedürfeno1.

7. Grundlegung der „absoluten Aufklinmg": Bahrdt

Die Mannigfaltigkeit, Vieldeutigkeit und nicht selten Gegensätzlichkeit der Be-


stimmungen des Aufklärungsbegriffes ist so typisch für die achtziger Jahre, wie es
die Versuche sind, diesen Begriff allgemeingültig zu definieren. Der wichtigste und
am meisten systematische Versuch, der in dieser Richtung am Ende der achtziger
Jahre unternommen worden ißt, Bto.mmt von KARL FmEDRIOH BAHRDT. In seinem
1789 erschienenen Buch „Über Aufklärung und die Beförderungsmittel derselben"
will er nicht nur den Streit über Sinn und Zweck der Aufklärung durch eine präzise
Definition beenden, sondern zugleich die Bedingungen aufweisen, unter denen der
für die Ausbreitung und den Erfolg der Aufklärung entscheidende Schritt zur „Volks-
aufkläri:mg" vollzogen werden ka:rin.
Bahrdts Ausgangsposition ist durch einen radikalen theologischen Naturalismus

" Vgl. ebd., 324 ff. 330.


98 Ebd., 329. 335. 333. Vgl. GEORG ADAM HORRER, Über Aufklärung und neue Reforma-
tion (Erfurt 1785).
87 Ebd., 325 f.

275
Aufklärung m. 7. Grundlegung der ,,absoluten Aufklärung"
und die Erziehungsideen des Philanthropinismus bestimmt. Zusammen mit Freun-
den gründete er 1787 die freimaurerische „Deutsche Union", deren auf das Beste der
Menschheit gerichteter Zweck durch wahre Aufklärung und Entthronung des Fanatis-
mus und moralischen Despotismus befördert werden sollte. Am Anfang seiner Schrift
teilt er die bisherigen Begriffsbestimmungen sehr instruktiv nach ihren jeweils den
Ausschlag gebenden formalen oder materialen Kriterien in zwei Gruppen ein. Zur
ersten Gruppe rechnet er alle Definitionen, nach denen 'Aufklärung' viel Verstandes-
kraft oder Geisteskraft im hohen Grade bedeutet und man sich unter einem aufge-
klärten Mann eigentlich einen Denker, einen geübten Philosophen vorzustellen hat,
der gründlicher und vollständiger philosophischer Kenntnisse empfänglich ist. In die
.zweite Gruppe weist er alle Definitionen, die unter A 14klär111ny m:nr. ymm:.~.~r. M a.sse. iion
Kenntnissen verstehen, deren Besitz den aufgeklärten Mann auBmachen soll. Dazu
würden an erster Stelle gehören die Kenntwisse der Melaphys,ik, der Logik, des Natur-
rechts, der Moral und Physik, nebst jenen kritischen, exegetischen und historischen
Kenntnissen, die zur Beurteilung und Prüfung der verschiedenen Religionen sowohl als
Staatsverfassungen der Menschen erforderlich sind. Beide Definitionsgruppen schlie-
ßen für Bahrdt die Idee einer Volksaufklärung aus. Deshalb sei es nur konsequent,
wenn in ihrem. Rahmen die einen von der Unmöglichkeit sprächen, Aufklärung bis
in die HiiJJ,en des Volks zu verbreiten, und die anderen hehanptetim, daß ei:ne all.ge-
meine Aufklärung der Nation schädlich sein würde98.
Um Aufklärung zum Gemeingut der Menschheit machen zu können, ist es deshalb
notwendig, sie anders zu bestimmen. Bahrdt tut dies, indem er zunächst den Formal-
begriff der ersten mit dem Materialbegriff der zweiten Definitionsgruppe auf die
Weise verbindet, daß 'Aufklärung' bloß und allein eine gewisse Beschaffenheit der
Erkenntnisse eines Menschen bedeutet; und zwo,r 1. doutliohe Begriffe und 2. eige?~
grii,ndliche Überzeugung. Bahrdt nennt diesen „dritten" Aufklärungsbegriff, der
nicht von ungefähr an Wolffs „notio clara" und die von Kant kritisierte „Deutlich-
machung der Erkenntnisse" in der Logik der Wolffischen Schule erinnert, einen
bloßen Beziehungsbegiiff. Als dieser setze 'Aufklärung' weder eine große Erkenntnis-
kraft noch eine bedeutende Masse von Erkenntnissen voraus, sondern drücke sie
wesentlich d,as Verhältnis einzelner Sätze gegen die Art, wie sie erkannt und für wahr
f}ehalten werden, aus.
Mit diesem Aufklärungsbegriff gibt sich Bahrdt indes noch nicht zufrieden, weil
diese relative Aufklärung ... kein Mensch bei allen Sätzen kahen und man sie daher
am wenigsten vom Volke verlangen könne. Im Fortgang seiner Argumentation stellt
er als vierten Begriff den der ah1mlutr.n Aufklärung auf, die wirklich allen Menschen
·möglich und heilsam und ein Prädikat des ganzen Menschen ist, ohne mit einem uni-
versalen Erkenntnisanspruch verbunden zu sein und hohe Anforderungen an die
Denkkraft zu stellen. Gleichwohl soll sich dieser „absolute" Begriff aber nicht mit
formalen Kriterien (wie der „Beziehungsbegriff") begnügen, sondern darüber hinaus
das Kriterium eines materiellen Objekts enthalten; 'Aufklärung' könne nämlich nur
dann ein Gemeingut der Menschheit werden, wenn sie auf ein Objekt bezogen sei,
dessen Erkenntnis dem Menschen wegen seiner eigenen Glückseligkeit erstrebens-
wert erscheine.

98K. F. BA..HRDT, in: Bibliothek (s. Anm. 20), H. 1 (1846; Ndr. Bd. 1, 1963), 104; ders.,
Über Aufklärung (s. Anm. 4), 5 ff.

276
m. 7. Grundlegung der „absoluten Aufklärung" Aufklärung

In diesem Sinne sind nach Bahrdt für jeden Menschen ... nur zwei Klassen von Er-
kenntnissen wichtig ... : die moralischen und die ökonomischen. Unter den möralischen
verstehen wir diejenigen Erkenntnisse, welche teils als Anweisung und Antrieb zur
Vervollkommnung des Geistes und zur Führung eines tugendhaften Wandels, teils als
Grund des Trostes und der Beruhigung im Leiden und Tode - allen Menschen -
erkennbar und unentbehrlich sind. . . . Zu den ökonomischen Wahrheiten rechnen wir
alle die Erkenntnisse, die ein Mensch zur Erhaltung seiner Gesundheit, zur guten
Führung seines Hauswesens, zur Erziehung seiner Kinder und zur Betreibung seines
Gewerbes nötig hat,99 • Von politischen Erkenntnissen ist an dieser Stelle, die den Ein-
fluß der philanthropinistischen Aufklärungstheorie verrät, auch nicht andeut.tmgs-
weise die Rede -vermutlich wegen der Zensur10o.
Ein aufgekUMter Mensch ist sodann für Bahrdt jeder, der im Rahmen jener beid4:ln
„Erkenntnisklassen" nichts für ganz ausgemacht und sicher wahr hält, bevor er sich
nicht 1. deutliche und eigene Begriffe davon gebildet hat, 2. vernunftmäßige Beweise
davon entdeckt, selbst durchdacht und bei mehrmals wiederholter Prüfung bewährt und
3. - dieses Kriterium wird von ihm unvermittelt formuliert-durch eine zusammen-
stimmende Autorität bestätigt gefunden hat. An die Menge der Kenntnisse eines „auf-
geklärten Menschen" stellt er demgegenüber keine Ansprüche. Sie soll selbst in dem
Fall belanglos sein, wo sich die ganze Summe seiner moralischen und ökonomischen
Wahrheiten nur auf ein Oktavblatt schreiben ließe 101 •
.Als „absolute Aufklärung" erweist sich damit im Endergelmii; i;chlechLerilings jedes
methodisch verfahrende, logisch begründete und erprobte Erkennen oder Selln!L-
denken in moralibus et oeconomicis - unabhängig vom jeweiligen Erkenntnis-
umfäng wid Erkenntnisgehalt. Wie sich mit dem Selbstdenken die „Zustimmung
einer Autorität" als Wahrheitskriterium vereinbaren läßt, wird von Bahrdt nicht
erörtert. Er stellt lediglich fest: Wer alle Autorität verachtet und sich allein bei seinem
Nachdenken und Untersuchungen für untrüglich hält, ist ein ungebildeter V ernünftler
und ist in Gefahr - ein bedauernswürdigster Zweifler zu werden. Und als einziges
Beispiel für eine Autorität, die zur Bestätigung einer vorhergegangenen eigenen Über-
zeugung erforderlich ist, erwähnt er lakonisch die Autorität der „Heiligen Schrift"102 •
Ähnlich wie Riem nennt Bahrdt in diesem Zusammenhang Christus ein Licht der
Welt, das alle Menschen erleuchten und aufklären sollte. Der walire Freigeist - im
edelsten Sinne des Wortes-, der echte Protestant und der echte Christ und Schüler J esu
ist darum derjenige, der sich durch den Geist Jesu hat freimachen lassen vom Gesetz,
d. h. von allem, was dem menschlichen Geiste Fesseln anlegte.
Mit seiner Wesensbestimmung der „absoluten Aufklärung" ist für Bahrdt im Prin-
zip die Möglichkeit gegeben, Aufklärung zu einem Gemeingut der Menschheit zu
machen, nach dem alle Menschen streben und welches Fürsten und Schriftsteller ...
98 Ders., Über Aufklärung, 9 f. 192 f. 43. 47 f.
1oo 1790 - während seiner Festungshaft - nennt er nämlich Aufklärung den freien Ge-
brauch der gesunden Vernunft bei Betrachtung und Beurteilung des Sf.aats, der Religion und
der Menachheit; B.AHBDT, Bibliothek, 86.
1o1 Ders., Über Aufklärung, 193 f.
102 Ebd., 195; vgl. ders., System der moralischen Religion, zur endlichen Beruhigung

für Zweifler und Denker, 2 Bde. (Berlin 1787); ders., Sämtliche Reden Jesu, aus den vier
Evangelien gesammelt und so gestellt, daß man das echte Lehrgebäude über8ehen und mit
der eigentlichen Religion Jesu sich bekannt machen kann (Berlin 1787).

277
A~klärung IV. 1. Polarisierung und Politisierung des Sprachgebrauchs

über alle Menschen verbreiten können. 'Aufklärung' wird in diesem Bezug zu einem
Erwartungsbegriff, der in die Zukunft weist, die bei Bahrdt allerdings merkwürdig
vage bleibt. So sehr er von der Möglichkeit überzeugt ist, Aufklärung zwar nicht
jetzt, nicht in jedem Individuo des dümmsten Indianers und Europäers, nicht in jedem
Türken-, Heiden- und Christenkopfe, wie er gegenwärtig ist, wohl aber nach und nach
und dereinst ... allgemein zu machen 103 , so wird diese Möglichkeit von ihm doch
nicht zu einer geschichtsphilosophischen Gewißheit stilisiert.
Bahrdts Beitrag zur Geschichte des Aufklärungsbegriffes erschöpft sich nicht in der
sachlichen Formulierung des Begriffs 'absolute Aufklärung'. Bemerkenswert ist
außerdem, daß sich bei seinen Bemühungen, Mitglieder für die geheime „Deutsche
Union" zu gewinnen, die Tendenz abzeichnet, den Ausdruck 'Aufklärung' als
Losungswort zu benutzen und ihm den Charakter eines Parteibegriffs zu geben.
Ein Aufruf mit einem anonymen Rundschreiben richtet sich zwar 1787 an die
Freunde der Vernunft, W ahrhcit und Tugend und läßt diese Trias als den eigentlichen
Sammelpunkt seiner auf die Herrschaft der gesunden Vernunft zielenden Bestre-
bungen erkennen; gleichzeitig wendet er sich jedoch an alle, wekhe die Aufklärung
lieben, und erwartet von den Adres\jaten die Versicherung, daß auch sie die Auf-
lrJiirwng Zie.be.n wnd rin d.urchgrei/endea, den atrtmg.dm <i«RRtztm dRr Moral angcmcsscrws
Mittel zur Verbreitung derselben zu kennen wünschen. Um eine Gegenwirkung hervor-
zubringen gegen den großen Haufen unserer Antipoden, sollen alle Mitglieder über
den Plan verständigt werden, die Aufklärung und Bildung der Menschheit zu be-
fördern und alle bisherigO'lli Hindernisse derselben nach und nach zu zerstören. Fast
schon im Stil eines Parteiprogramms erklärt er Anfang 1789: Unser Zweck - ist
Aufklärimg und deren möglichste V erbroitungm.

IV. Schlagwortprägungen und Begml'sahgrenzungen im publizistische~


Meinungskampf wahrend der Revolutionszeit.

1. Polarisierung und Politisierung des Sprachgebrauchs


Die bei Bahrdt zu erkennende Verwendung des Wortes 'Aufklärung' als Signum
einer entschieden ~,progressiven" geistigen Grundhaltung und Gesinnungsgemein-
schaft war in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ebensowenig ein Einzelfall wie
die mit ihr verkriüpfte scharfe Unterscheidung zwischen Freunden und Gegnern
einer solchen Aufklärung. Wenn eine parteimäßige Einschätzung der Aufklärung
auch er11t nach dem Ausbruch der Französl.schen Revolution konsequent vertreten
wird, so kündigt sie sich doch schon vorher an. Der den bisher berücksichtigten
DefinitionAv11rsuchen im wesentlichen gemeinsame, sachliche Charakter der Aus-
einandersetzung, der in der Regel den Verzicht auf persönliche Verdächtigungen
und eine tendenziöse Polemik einschließt, kennzeichnet nicht die gesamte Auf-
klärungsdiskussion der achtziger Jahre. Stil und Gegenstand der Auseinander-
setzung ändern sich in dem Maße gründlich, wie sich die Publizistik des Wortes und
Themas 'Aufklärung' bemächtigt und 'Aufklärung' zum Schlagwort der „Parteien"
wird, von dem über mehr als ein Jahrzehnt eine starke Faszination ausgeht.

lOa Ders., Vber Aufklärung, 6. 194 f.


l04 Ders., Bibliothek, 98 ff. ; Vber Aufklärung, 296.

278
IV. 1. Polarisierung und Politisierung des Spracbgehrauclu Aufklänmg

Als Schlagwort oder, zeitgenössisch ausgedrückt, Modewort 10 5 findet 'Aufklärung'


in und wegen der Publizistik, die im Verlauf weniger Jahre zu einer unübersehbaren
Flut von Büchern, Broschüren, Zeitschriften, Aufsätzen und Artikeln anschwillt,
welche alle schon im Titel das Wort 'Aufklärung' führen ioa, die unterschiedlichste
Aufnahme und Bewertung. So gewinnt es für die einen den Rang und die Geltung
eines heiligen Namens, wird es zum IÄeblingswort erkoren, wie ein Zauberwort be-
handelt und als Losungswort r1er Nationen ausgegeben, wohingegen andere es· zum
Schimpfwort machen, ihm jeden Respekt verweigern und es rundheraus für ver-
diichtig und veriichtlich halten10 7• Völlig zutreffend charakterisiert in dieser Hinsicht
1793 SCHAUMANN Aufklärung als das Wort, nach wezChem sich die Handlungen eines
großen Teils r1er Menschen bestimmen; welches in den Gemütern von Tausenden eine
Revolution bewirkt luit, die sich durcli die ungemeinsten Erscheinungen ankündigt, und
die Losung zu einem Streite geworden ist, r1er nicht nur mit r1er größten Hitze geführt
wird, sondern von dessen Entscheidung auch, nach dem Anspruch der einen und der
anrlern Partei, das Heil des Menschengeschlechts abhängt 108.
Im Zuge seiner Polemisierung wird der Ausdruck zunehmend ideologisch signifikant.
Zwar werden bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts mit beachtlicher Prägnanz die
Versuche fortgesetzt, Wesen und Funktion der Aufklärung frei von Polemik zu er-
fassen. Auch beteiligen sich die „Klassiker" fast bis zum Ende der neunziger Jahre
kaum an der Polemisierung und Politisierung des Aufklärungsbegriffes. Innerhalb
der Publizistik wird jedoch immer mehr die polemische, zunehmend politisch-
gesellschaftlich verschärfte Frage nach den Vor - und N aohteilen, Grenzen und Ge-
fahren, Bedingungen und Resultaten, Fehlern und· Mängeln, dem Schaden und
Nutzen, der Notwendigkeit und Zeitgemäßheit, kurzum nach dem Für und Wider
einer jeden heutigen oder künftigen Aufklärung ausschlaggebend. Inhalt und Um-
fang des Aufklärungsbegriffes bleiben dabei meistens unbestimmt, d. h. sie werden
mehr oder weniger stillschweigend als bekannt und feststehend vorausgesetzt, ob-
gleich es dem Wort 'Aufklärung' in den neunziger Jahren nicht anders ergeht als in
den achtziger Jahren: Es ändert in seiner Bedeutung so oft und so verschiedentlich,
als es immer gebraucht wird. Es w11rde deshalb sogar verschiedentlich vorgeschlagen,
das Wort 'Aufklärung' gar nicht mehr zu benutzen1 09.
Ungeachtet der Inkonsistenz des Sprachgebrauchs greift seit der Mitte der achtziger
Jahre eine Stimmung um sich, die nur als Ausdruck einer sich überall ausbreitenden
PolitiRi1mmg und weltanschaulichen Polarisierung der Aufklii.rnngsdiskussion be-

10 6 Vgl. ADOLF FRH. v. KNIGGE, Über den Umgang mit Menschen, Bd. 2 (Hannover 1788;

Ndr. ebd. 1967), 80. 316. 124; Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der
Französischen Revolution 1780-1801, hg. v. JOSEPH HANSEN, Bd. 1 (Bonn 1931), 360 Anm.
(1789); LEOPOLD Arms HOFFMANN, Geschichte der Päpste (Wien 1791), II.
108 Vgl. ScHAUMANN, Versuch über Aufklärung _(s. Anm. 12), 24 f.

l07 HANSEN, Quellen, Bd. 1, 496 (1789). 701 (1790); Bd. 3 (1935), 52 (1794). 465 (1795);
Allg. dt. Bibi. 88 (1789), 223; Journal von und für Deutschland 7 (1790), 9. Stück, 201;
JoH. MICHAEL SAILER, SW 3. Aufi., Bd. 3 (Sulzbach 1830), 83 (1785 u. 1795).
1o8 SCHAUMANN, Versuch über Aufklärung, 13 f.
109 FRANZ WILHELM FRH. v. SPIEGEL ZUM DIESENllERG, Rede als Kurator bei der Ein-

führung des neuen Rektors der Universität Bonn am 20.11. 1788, in: HANSEN, Quellen,
Bd. 1, 330. Vgl. ScHAUMANN, Versuch über Aufklärung, 78; Braunschweigisches Journal 1
(1789), 5. Stück, 8.

279
Aufkllrang IV.1. Polarisierung und Politisierung des Sprachgehraaehs

zeichnet' werden kann110• Von nun an ist es nicht mehr ungewöhnlich, betont von
Freunden und Feinden der .Aufklärung zu sprechen, wird es sogar weithin üblich,
Anhänger oder Beförderer der Aufklärung und Verteidiger der N ich.taufklärung oder
Unaufklärung antagonistisch zu konfrontieren und diesen Antagonismus als Kul-
minationspunkt des alten Streites zwischen Licht und Finsternis zu deuten, der in der
Gegenwart zugleich ein Kampf zwischen Altem und Neuem, Herkommen und Zu-
kuni1l, Barbarei und Kultur u.ä. sei 111 •
Was auch immer im Streit der Meinungen jeweils unter 'Aufklärung' verstanden
wird, - ob sie beispielsweise als Erkenntnis-, Wissens- oder Verstandesbegriff,
Moralprinzip, Erziehungs-, Lehr- oder Unterrichtsmethode, Kultur-, Bildungs- oder
Zivilisationskorrelat, Systembezeichnung oder Gesinnungssymbol benutzt, material,
formal oder rein funktional begründet, theoretisch-universal, wissenschaftlich-
philosophisch oder praktisch-utilitär, moralisch-pädagogisch aufgefaßt, allgemein-
menschlich oder ständisch differenziert betrachtet wird, ob sie ganz abstrakte und
ubiquitäre Sachverhalte und Vorgänge bezeichnet oder mehr auf Ideen und In-
stitutionen bezogen wird, die der „Moderne" angehören, ob prinzipiell alles ihr
Gegenstand sein kann oder ausschließlich philosophisch-wissenschaftliche Kenntnisse
nnn Fähigkeiten oder allein die „gründliche und deutlioho Erkenntnis der Religion",
religiös-moralische Einsichten oder die möglichst „genaue Kenntnis der Kirche und
des Staates" oder ob berufskundliche, ökonomische und diätetische Sachkenntnisse
für sie konstitutiv sein sollen, ob es sich weiter bei ihr um solche Belehrungen über
staatsbürgerliche Pflichten und Rechte handelt, die der Freiheit des Menschen als
Menschen förderlich sind oder in erster Linie dem Staatszweck dienen, oder ob sie
generell die Verbreitung der für das merumhliche Wohl-sein schlechthin nützlichen
Kenntnisse bedeutet, -in allen diesen und ähnlichen Fällen, ja selbst in den vielen
anderen, wo auch aus dem Kontext nicht mit Sicherheit erschlossen werden kann,
was an der betreffenden Stelle der Autor mit 'Aufklärung' eigentlich gemeint hat,
und 'Aufklärung' häufig eine bloße Redensart ist, löst allein schon die Erwähnung
des Wortes 'Aufklärung' immer wieder bei Freunden und Gegnern emotional die
gleichen Assoziationen und Reaktionen aus. Sie lassen trotz seiner Vieldeutigkeit
'Aufklärung' als etwas erscheinen, das im Grunde „modern" und „progressiv" ist,
Kritik, Prüfung, Wandel und Neuerung impliziert, sich auf irgendeine Weise gegen
Bestehendes und Vorgegebenes richtet und die jetzige „Beschaffenheit der Dinge"

110 Unter den Hauptgründen dieser Politisierung und Polarisierung sind zu erwähnAn da.s

Verbot des Illuminatenordens (1785) in Verbindung mit dem z. T. schon früher einsetzenden
Kampf gegen die Geheimgesellschaften überhaupt und deren angebliche Umsturzpläne,
daa Wöllnersohe Religionsedikt (1788) und die in beiden sowie in den ve1'!1chärfüm Zensur-
maßnahmen nach 1789 (vor allem ab 1791/92) zum Ausdruck kommenden Re;Aktionen
der Regierungen auf die als bedrohlich empfundene Wirksamkeit des philosophisch-reli-
giösen und politisch-gesellschaftlichen „Rationalismus". In der von Ludwig v. Buri hg.
Zeitschrift „Drunter und Drüber" heißt es am 16. 2.1792: Unsere Füraten fangen an, die
Aufklärung wieder zu unterdrücken; aelbat diejenigen unter ihnen, welche aie sonst zu beför-
dern 8'UChten; zit. HANSEN, Quellen, Bd. 2 (1933), 77 Anm. 1.
11 1 ScHAUMANN, Versuch über Aufklärung, 9; SPIEGEL, Rede, HANSEN, Quellen, Bd. 1,

329; Allg. dt. Bibi. 97 (1790), 177; Neue allg. dt. Bibi. 26 (1796), 198; vgl. Journal von und
für Deutschland 9/1 (1792), 3. Stück, 247; FRANZ DAUTZEN11ERG, 'Ober den Geist unserer
Zeit (1792), HANSEN, Quellen, Bd. 2, 6 f.

280
IV. l. Polarisierung und Politisierung des Spraehgelirauchs Aufklärung

zu verändern trachtet. In Konsequenz und Verschärfung derartiger Vorstellungen


und der durch sie geweckten Erwartungen und Befürchtungen kann dann in der
Aufklärung überhaupt der geistige Ursprung und die Triebkraft der sich in der
Gegenwart anbahnenden, vollziehenden oder bewirkten Wandlungen, Umstürze
und Revolutionen in allen Bereichen des menschlichen Lebens, insbesondere aber
in der politischen sowie in der moralischen und gelehrten Welt gesehen werden. Das
wird 1793 eindrucksvoll von ScHAUMANN bezeugt, der seine anschauliche Schilde-
rung dieses Aspekts der Aufklärung mit den Worten schließt: Auch die französische
Revolution ist von ihren Freunden und Feinden als eine Folge der .Aufklärung dar-
gestellt worden. Die eine Partei fand in jener großen Begebenheit Materialien zu neuen
Lobpreisungen und evidenten Beweisen des vortrefflichen Einfiusses der .Aufklärung
auf die Menschheit; die andre Partei glaubte, durch diese Erscheinung die Gefährlich-
keit und Verderblich.keit dessen, was 1:h.re Gt'{J'Mr unter dem Namen .Aufklärung preisen,
handgreiflich erhärtet und ihren Tadel und ihre Warnungen gerechtfertigt zu sehen112 •
Zu den massivsten Vorwürfen und Anklagen, die gegen die Aufklärung erhoben
werden, gehören die, daß sie nicht nur eine Verschwörung gegen die bestehende
politische und religiöse Ordnung darstelle, sondern überhaupt die Grundlagen und
den Fortbestand des Staates bedrohe, die öffentliche Ruhe untergrabe, auf den Um-
sturz der Religion und der Throne hinarbeite und zu allgemeiner Freigeisterei,
Irreligion, Sittenlosigkeit und Anarchie führe. Jetzt heißen Ketzerei, Freidenken,
Jakobinismus, Verwerfung alles noch so ehrwürdigen .Ansehens .Aufklärung, stellt An-
fang 1794 mißbilligend der Kölner Publizist J. B. GEICH fest113.
Bürgern sich auf der einen Seite für die angeblichen oder tatsächlichen „Feinde der
Aufklärung" Namen ein wie Stupidiüüsbe/ürderer, lgrlhranten, Orthodoxe, Apostel der
Unwissenheit und Dummheit, Schwärmer, Finsterlinge, Freunde der Finsternis und
Obskurationsfreunde und wird ihre Position gern als die des Jesuitismus und Krypto-
katholizismus gebrandmarkt114 - die Bezeichnungen 'Obskurant' und 'Obskurantis-
mus' finden erst um die Jahrhundertwende größere Verbreitung-, so werden auf
der andern Seite die „Aufklärer", falls nicht dieses Wort schon allein im abschätzi-
gen Sinne gebraucht wird 115, als Freigeister, Unchristen, Gottesleugner, Freunde des
Unglaubens, des .Aufruhrs und des Lasters, Schwärmer ( !), Feinde der Religion und des
Menschenglücks, Feinde des Menschengeschlechts, Anarchen und dergleichen diffamiert
und denunziert116.

11 2SCHAUMANN, Versuch über Aufklärung, 7 f.


1 18JoH. BAl'TIST GEICH, Übe~ den Einfluß der Aufklärung auf Revolutionen (1794), in:
HA.NSEN, Quellen, Bd. 3, 20.
m IIANSEN, Quellen, Bd. 1, 329 (1788), 497 (1789); Bd. 2, 276 Anm. (1792); Der neue teut-
sche Merkur 1 (1798), 1. Stück, 42; Journal von und für Deutschland 2 (1791), 8. Stück, 655;
SALAT, Aufklärung, 2. Aufl. (s.Anm.174), XII. 370; ScHAUMANN, Versuch über Aufklärung
(s. Anm.12), 20; JoH. AUGUST ST.ABCK, Über Kryptokatholizismus, Proselytenmacherei,
Jesuitismus, geheime Gesellschaften und besonders die ihm selbst von den Verfassern der
Berliner Monatsschrift gemachten Beschuldigungen, 2 Bde. (Frankfurt, Leipzig 1787).
116 Vgl. oben S. 271; JoH. GEORG v. ZIMMERMANN, Fragmente über Friedrich den Großen,

Bd. 3 (Leipzig 1790), 174; MEINRAD WmMANN, Wer sind Aufklärer? beantwortet nach
dem ganzen Alphabet, 2 Bde. (Augsburg 1786); Allg. dt. Bibi. 88/1 (1789), 223.
118 Vgl.obenS.262;J.G. v.ZIMMERMANN,Fragmente, Bd. 3, 180.183.194;ders.,Denkschr.

an Kaiser Leopold II. über die Auswüchse des Zeitalters und die Möglichkeiten ihrer Be-

281
AufkJlrung IV. 1. Polarisienmg und Politisierung des Sprachgebrauchs

Als einer der Hauptwortführer des Kampfes gegen eine so eingeschätzte Aufklärung
hat sich JOHANN GEORG v. ZIMMERMANN exemplaris(lh hervorgetan. Seine a:ffekt-
geladene Polemik richtet sich speziell gegen die Berliner Aufklärer, vor allem gegen
den Kreis um Nicolais „Allgemeine Deutsche Bibliothek" und die von Gedike und
Biester herausgegebene „Berlinische Monatsschrift", danach gegen Bahrdt117 und
auch gegen die „Volksschulmeister" in Braunschweig, also den Kreis um das
„Braunschweigische Journal" von Campe, Heusinger, Stuve und Trapp. In einer
Denkschrift an Kaiser Leopold II. beschuldigt er 1791/92 die deutschen Aufklärer
oder Worthalter der Vernunft der politischen Mordbrennerei und behauptet, sie woll-
ten die Fürsten entbehrlich machen und reizten ihre Untertanen zum Aufruhr. Den
Wahnwitz unseres Zeitalters will er in der Begierde erkennen, heimlich oder öffentlich
alle Völker so aufzuklären, damit sie die Fesseln aller Religion abwerfen, ihre Könige,
ihre Fürsten und ihre Regierungen absetzen und keine andere Herrschaft anerkennen,
als die H crrsohaft der Volksschulmeister und der V olkskraft118 . Für Zimmermann sind
dergestalt die Ideen der „deutschen Aufklärer" der Ausdruck eines entschiedenen
antireligiös-politischen Radikalismus, der die Errichtung einer religionslosen De-
mokratie zum Ziel hat. Während es wenig später weithin üblich wird, in diesem
Sinne Aufklärung und Jakobinismus zu identifizieren, hat Zimmermann seinerseits
schon 1790 das, was er summarisch berl·irt'isclw Aufklärung zu nennen pflegte, wir-
kungsvoll unter den Begriff llluminatismern subsumiert und hierdurch· entlarven
wollen. In seinen „Fragmenten" tituliert er die berlüi-isclten A·u/klärer uuer Berliner-
philosophen in rabiatester Manier z.B. als Aufklärerbande, Aufklärungssynagoge,
schändliche Betrüger, Schwärmer, gelehrte Marktschreier und politische Quacksalber,
nennt er ihre Ideon, Lohron und Üborzougungcn Jcsuitcnricclwrci, Marktschrcierei,
Volksverführung, Windbeutelei, mondsüchtige Aufklärungsnarrheit (illuminatisme),
Abgang, Denkfrechheit, Sehnsucht für die Herüberkunft und Verdeutschung der fran-
zösischen Hundswue120.
Angesichts der heftigen Kritik, die das preußische Religionsedikt vom 9. 7.1788
gerade in Berlin hervorrief, und der fortgesetzten Versuche, seine Durchführung zu
vereiteln, erklärt Zimmermann: Dieses ganze Beginnen nennet man jetzt in Berlin
Aufklärung (llluminatisme); die Mitglieder der Synagoge heißen Aufklärer (lllumi-

kämpfung (1791/92); abgedr. FluTz VALJAVEO, Die Entstehung der politischen Strömungen
in Deutschland, 1770-1815 (München 1951), 519; HANSEN, Quellen, Bd. 2, 236 Anm.
(1792); Bd. 3, 52. 59 f. (1794); Wohin zielen die Absichten der heutigen Aufklärer?,
in: Neueste·Sammlung jener Schriften, die vor einigen Jahren hier über. verschiedene
wichtigsten Gegenstände zum Steuer der Wahrheit im Druck erschienen sind, Bd. 13
(1785), 59 ff. .
111 Vgl. dazu BAHRDTS Gegenschrift „Mit dem Herrn von Zimmermann •.• D1mtsch
gesprochen" (1790), in: Bibliothek (s. Anm. 20), Bd. 1, 83 ff. Ferner: Flm. v. KNIGGE Die
deutsche Union gegen Zimmermann. Ein Schauspiel in vier Aufzügen (Dorpat 1790).
11e ZIMMERMANN, Denkschr„ 516 ff.
11e Daß Zimmermann mit der Bezeichnung 'Illuminatisme' trotz ihrer französischen Fas·
sung auf den 1776 in Ingolstadt von Adam Weishaupt, der sich Spartacus nannte, ge-
gründeten und 1785 verbotenen Geheimorden der Illuminaten anspielt, dürfte unbestreitbar
sein.
120 ZIMMERMANN, Fragmente, Bd. 3, 190 f. 165. 173. 150. 149. 177. 181 u. passim. Ähnlich
BAHRDTS Pasquil „Das Religionsedikt", 2 Tle. (Wien 1789).

282
IV. 2. „Wahre" und ,,falsche" Aufklänmg AufkJänmg

nants); und Aufgeklärte (Illumines) heißen die blinden Sklaven dieser Sekte 121 • Im
weiteren Verlauf seiner Auseinandersetzung stellt er schließlich folgende Definition
auf: Berlinische Aufklärung in Absicht auf Sf,a,af,sverfassung und Regierungssachen
(llluminatisme politique) ist Glauben an Mirabeau, Berlinische Aufklärung in Ab-
sicht auf Religion (llluminatisme philosophique) ist Wegwerfung unserer ersten und
wichtigsten Religionsgrundsät,ze, Bestreitung einer hökern Offenbarung, willkürliche
Behandlung der Bibel und geheime Untergrabung ihres göttlichen Ansekens122 • Mit dem
Namen Mirabeau will er hierbei einen umstürzlerischen Antidespotismus und zügel-
losen Reformeifer bezeichnen.
Neben Zimmermann bekämpften auch andere die Aufklärung als Illuminatismus,
für dessen hervorstechendstes Merkmal man übereinstimmend planmäßige Ver-
schwörertätigkeit hielt,

2. Differenzierungen zwischen. „ wahrer" und „falscher" Aufklärung


Die Zuordnung der Aufklärung zum „Illuminatismus" oder „Jakobinismus" scheint
vollends die Auffassung zu bestätigen, daß der Gegensatz zwischen 'Aufklärung' und
„Nichtaufklärung" mit dem Gegensatz zwischen 'Fortschritt' und 'Reaktion'
identisch ist und 'Aufklärung' als System- oder Bewegungsbegriff inhaltlich mit der
aus der Ideen- und Parteiengeschichte bekannten Entstehung des frühen Liberalis-
mus und Demokratismus konvergiert. Aber dieser Schein trügt. Begriffsgeschicht-
lich läßt sich eine derartige Auffassung nicht begründen, weil es auch in den neun-
ziger Jahren noch keinen in diesem Sinne allgemein anerkannten Aufklärungsbegriff
gibt, auf den sie sich stützen könnte. Begriffsgeschichtlich geht ilie Gleichung Auf-
klärung = Freidenkerei (vom Deismus bis zum Atheismus} ebensowenig auf wie
dle Gleichung Aufklärung= politischer Freisinn·(vom Konstitutionalismus bis zum
demokratischen Radikalismus}. Selbst die \ .
publizistische Aufklärungsdiskussion
bleibt in dieser Beziehung offen ~d schränkt die allgemeine Verfügbarkeit des Auf-
klärungsbegriffs nicht ein. Das hat neben der vielbeklagten Mehrdeutigkeit und Un·
bestimmtheit des Begriffs und dem „Mißbrauch", der mit ihm nach einer weitver-
breiteten Ansicht getrieben wurde 123, hauptsächlich drei eng zusammenhängende
Gründe:
1. Die Stilisierung der Aufklärung zur Ideologie des religiösen und politischen Um-
sturzes findet nicht einmal bei den deutschen Jakobinern Zustimmung. Sie weisen
zusammen mit der Mehrheit der „deutschen Aufklärer" und besonders der Berliner
die Vermengung von Zügellosigkeit, Freigeisterei und Aufklärung energisch zurück124 •
In ihrem Sprachgebrauch hat 'Aufklärung' entweder ganz konventionell die Be-

121 ZIMMERMANN, Fragmente, 169. Vgl. FruTz VAL.JAVEC, Das Wöllnersche Religions-
edikt und seine geschichtliche Bedeutung, Hist. Jb. 72 (1953), 386 :ff.
122 ZIMMEBlllANN, Fragmente, 179. .
123 Vgl. dazu oben S. 255 das Zitat von SALZMANN sowie die Beispiele bei ScHA.UMANN,

Versuch über Aufklärung, 25 f.; ferner HANSEN, Quellen, Bd. 3, 57 Anm. (17Q4).
IH GEORG WEDEKIND, Über Aufklärung. Eine Anrede an seine lieben Mainzer, gehalten
in der Gesellschaft der Volksfreunde zu Mainz am 26. Oktober im ersten Jahre der Freiheit
und Gleichheit (1792), in: Mainz zwischen Rot und Schwarz. Die Mainzer Revolution
1792-1793 in Schriften, Reden und Briefen, hg. v. CLAUS TRÄGER (Berlin 1963), 154.

283
Aufkläruag IV. 2. „Wabre" uncl ,,falsche" Aufkläruag

deutung von, „Kenntnis", „Einsicht", „ Wissen", „ Verständigdeit", „Belehrung",


„Ausbildung", „Bildungsstand", „Wissensverbreitung", „Schulwesen" u.ä. m.,
wobei verschiedene Grade und entsprechende Fortschritte unterschieden werden;
oder aber sie wird als „Volksaufklärung" auf Rechtskenntnis und die Darstellung <ler
bestelienden Verfassung festgelegt 125 • Als GEORG CHR. WEDEKIND, einer der führen-
den Mainzer Jakobiner, im Oktober 1792 eine Rede „Über Aufklärung" hält, da
weicht er vom Aufklärungsbegriff der Philanthropinisten im Grunde nur wenig ab,
obwohl er berufliche Fachkenntnisse nicht als 'Aufklärung' gelten läßt: was man
immer in seinem Fache, in seiner Hantierung weiß, das macht <len r;iufgeklärten Mann
nicht aus. 'Aufklärung' sei vielmehr die vernünftige Erkenntnis aller derjenigen Dinge,
welclie ohne Rücksicht auf unsern besondern Beruf oder Metier zu unserer Glückselig-
keit unentbehrlich sind. Zu den Dingen, die in dieser Hinsicht je<ler Mensch wissen
muß, rechnet Wedekind an erster Stelle die Kunst, mit dem Gelde gehörig umzugehen,
dann die Kunst, seine Gesundheit in acht zu nehmen, an dritter Stelle die Kenntnis
<ler Rechte <les Menschen und <les Bürgers, danach die Kenntnis der Verfassung des
Landes und der Gesetze sowie der Landesreligion; weiter soll jeder Mensch etwas von
Naturwissenschaft verstehen und schließlich auch einige länder- und völkerkundliche
sowie historische Kenntnisse besitzen, damit wir uns nach dem Muster anderer bil<len
und verbessern können und die Fehler unserer Vorfahren vermeiden126 •
2. Nicht weniger .heiß umstritten als die Frage der radikalen Prinzipien und Kon-
sequenzen der Aufklärung war die nach ihrem Anteil an der Französischen Revo-
lution. Der in Lobpreis oder Anklage emphatisch formulierten These vom engen
ursächlichen Zusammenhang beider wird in zahlreichen Schriften und Artikeln
schroff und nachhaltig die These entgegengestellt, daß die Aufklärung strenggenom-
men nicht nur am Ausbruch der Franzfü1iRchen Revolution unschuldig sei, sondern
im Gegenteil diese geradezu im „Mangel an Aufklärung", d. h. in der fehlenden
oder unzulänglichen Aufklärung Frankreichs ihren Ursprung habe.
Nicht wahre Aufklärung, schreibt 1794 CHRISTOPH MEINERS, warf die französische
Nation in eine unheilbare Anarchie, son<lern die halbe o<ler falsche Aufklärung ihrer
Führer, die Unwissenheit und Armut des großen Haufens und die Ungebildetheit und
Verdorbenheit <ler höheren Stän<le. Wäre Aufklärung die Ursache von Empörungen,
dann hätte nach Meiners' von vielen geteiltem Urteil das, was in Frankreich ge-
.~chehen ist, viel eher in Teutschland und England geschehen müssen, weil in diesen
beiden Ländern die Nation aufgeklärter gewesen sei als in Frankreich 127 •
An dem Unternehmen, den Aufklärungsbegriff vom Makel des Revolutionären, Auf-
rührerischen, Gewalttätigen und Anarchischen freizuhalten, beteiligen sichAnhänger

125 Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, hg.
V. HEINBICH SCHEEL (Berlin 1965), 441. 452 (1800/01).
as WEDEXIND, Über Aufklärung, 151. 153. 152 f. Da gibt es auch wie.der amkre, die sagen,
die Art der Aufklärung taugt nichts, man hiilt filr A1ifk'lärung, was nicht .Aufklärung ist. -
Seht, so schwätzen die Leute immer viel über Aufk'lärung und werden nicht einig Z'U8am-
men (148).
1 2 7 CHll.ISTOPH MEINERS, Hist.orieche Vergleichung der Sitten und Verfassungen, der
Gesetze und Gewerbe, des Handels und der Religion, der Wissenschaften und Lehranstalten
des Mittelalters mit denen unsers Jahrhunderts in Rücbicht auf die Vorteile und Nach-
teile der Aufklärung, Bd. 3 (Hannover 1794), 526 f. 528.
1

284
IV. 2. "Wahre" und ,,falsche" Aufklärung Aufklärung

aller politischen Richtungen, auch Jakobiner. In einer jakobinischen Flugschrift aus


Bayern werden als Ursachen der Französischen Revolution genannt: Aberglaube,
Zerrüttung des Finanzwesens, Verschwendung der Staatsausgaben, mutwillige
Kriege, Sittenlosigkeit des Adels, Fronendruck, Zehentbarbarei und ähnliche Formen
einer allgemeinen Nationalsklaverei. Die Bemühungen, diese Tyranneien aufrecht-
zuerhalten, hätten den Staat untergraben und die Revolution Frankreichs herbei-
geführt, nicht die Aufklärung; diese kömmi unschuUl,igerweise erst dazu, wenn die Ver-
wesung schon überhandgenommen hat; und da erscheint sie auf die wohUiitigste Art, um
der Anarchie Einhalt zu tun und alles wieder, aber freilich besser als zuvor, zu ordnen12'.
Bewegt die „Progressiven" bei ihrem Rehabilitationsversuch die apologetische Ab-
sicht, die Verleumdungen der „Feinde der Aufklärung" zu entkräften und die Re-
genten oder das Publikum für die Fortsetzung, Förderung und Vollendung der Auf-
klärung zu gewinnen, so verfolgen die „Konservativen" das Ziel, ihren eigenen An-
spruch auf die Vertretung der „ wahren Aufklärung" durchzusetzen, indem sie nicht
selten so weit gehen, die „wahre Aufklärung" an die Erkenntnis der ewigen Wahr-
heiten der christlichen Religion zu binden und auf die Prinzipien der überlieferten
politischen Ordnung festzlilegen.
3. Der Ausdruck 1Aufklärung' besaß für sehr viele Gegner fundamentaler Verände-
rungen in der religiösen und politischen Welt weiterhin derart positive Qualitäten,-
daß sie sich energisch dagegen verwahrten, als „Feinde der Aufklärung" bezeichnet
zu werden. So lehnt es Zimmermann voller Entrlistung ab, als Aufklärungsverächter
und Aufklärungsscliänder klassifiziert zu werd.en. Er habe nur die falsche Aufklärung
bekämpft, versichert er, und diese nur ironisch 'Aufklärung' genannt. Nachdem er
schon 1788 erklärt hatte: bei dem lächerlichen Lärm, den man jetzt in Deutschland
mit dem Worte Aufklärung macht, vergeht mir oft der Re.spekt für das Wort bei der
größten Achtung für die Sache, beteuert er 1790, stets klar und deutlich vor den
Augen der Welt für wahre Aufklärung (les progres deS lumieres) die größte Achtung
bezeuget zu haben. Niemand habe das ehrwürdige Wort Aufklärung so sehr beschimpfet
und geschändet ... wie die berlinischen Aufklärer1 29• Ähnliche Unterscheidungen
zwischen wahrer und falscher Aufklärung treffen zumal die antirevolutionär-„kon-
servativen" Publizisten, die sich um die Zeitschrift „Eudämonia" gesammelt
hatten130•
Solange es zu den wesentlichen Merkmalen der Aufklärung gehört, generell „ Wahr-
heitserkenntnis", „Wahrheitskriterium" oder „Wahrheitsverbreitung" zu bedeuten
und jene Kenntnisse und Fertigkeiten zu umfassen, die zur Glückseligkeit des Men-
schen führen, kann es sich keine der streitenden Parteien gestatten, auf die Ver-
wendung dieses Wortes zu verzichten, weil sie dadurch auf ihren eigenen Wahrheits-
anspruch verzichten würde. Infolgedessen konzentrierte sich der Definitionsstreit

128 Flugschriften, 442 (1800).


SCHEEL,
129 ZIMMERMANN, Fragmente, 177. 179.
130 Vgl. z.B. KARL v. ECKARTSHAUSEN, Über die Gefahr, die den Thronen, den Staaten
und dem Christentume den gänzlichen Verfall drohet, durch das falsche System der heuti.
gen Aufklärung und die kecken Anmaßungen ~genannter Philosophen, geheimer Gesell-
schaften und Sekten. An die Großen der Welt von einem Freunde der Fürsten und der
wahren Aufklärung (München 1791), außerdem Starck (s. Anm. 114), Göchhausen u.
Grolmann.

285
IV. 3. Neotralisienmg dea Allgemeinbegriil1

immer wieder auf die Abgrenzung der falschen von der wahren Aufklärung, mochte
auch der Vorwurf der falschen Aufklärung vorzüglich den radikalen Vorkämpfern
des religiös-politischen Rationalismus gemacht werden.
Als Beispiel sei hier die Bestimmung erwähnt, die 1794 MEINERS gegeben hat: Unter
falscher Aufklärung verstehe ich eine jede Sammlung von Grundsätzen und Lehrsätzen,
wodurch vielleicht Aberglauben und Schwärmerei gehemmt, aber auch zugleich der
Glaube an das Dasein und die Vorsehung Gottes, an Unsterblichkeit der Seele und wahre
Tugend zerstört oder geschwächt ... und eben dadurch Unterdrückung, Zügellosigkeit
und Anarchie hervorgebracht oder vorbereitet werden. Derartige Grundsätze und
Lehrsätze seien auch deshalb falsche Aufklärung, weil sie nicht nur die Glück-
seligkeit und Tugend einzelner Menschen, sondern auch die Ruhe der Gesellschaft
untergraben 131 •
In diesen Zusammenhang gehören gleichfalls jene nach 1795 sich mehrenden und an
Westenrieder erinnernden Stimmen, die verlangen, daß die durch Aufklärung ver-
mittelten Kenntnisse nicht bloß theoretisch den Verstand aufhellen, sondern auch
prak1.1:.~nh mlf dfl.~ HP.rr. tt.nd a.u.s dem Herzen toirken müssen, wenn Bio don Namen
wahrer Aufklärung verdienen sollen 132 , oder für welche wahre Aufklärung allein die-
jenige Aufklärung ist, welch.e da.Y Herz veredelt und die Menschenliebe befördert133 •
Anstelle von „falscher Aufklärung" ist in den neunziger Jahren wiederholt von
Afteraufklärung und Afterphilosophie134 die Rede, bis sich die abschätzigen Be-
nennungen Aufklärerei und Aufklärling selbst in den Kreisen durchsetzen, die dem
„Rationalismus" nicht kritisch gegenüberstehen1 35.

3. Neutralisienmg cles Allgemeinhegrift's

Je mehr sich in den Auseinandersetzungen der neunziger Jahre die Gegensätze ver-
steiften und widersprüchliche Aufklärungsdefinitionen die allgemeine Begriffs-
verwirrung vergrößerten, desto stärker wurde die allgemeingültige, genaue Bestim-
mung des Aufklärungsbegriffs als eminent wichtiges Zeitbedürfnis empfunden 138•
Um dieses Bedürfnis zu befriedigen, schienen zwei Wege besonders erfolgverspre-
chend zu sein: 1. der Ausgang von einer Verbaldefinition und 2. eine streng logisch
verfahrende, auf die Bestimmung der „Aufklärung überhaupt" zielende Begriffs-
bildung, die als Gattungsbegriff an der Spitze eines ganzen Begriffssystems 'Auf-

101 MEINERS, Rist. Vergleichung, Bd. 3, 546 f.


m Neue allg. dt. Bibi. 17 (1795), 1. Stück, 174 f.
1 88 Journal von und für Deutschland 9/2 (1792), 12. Stück, 1017.
m HANSEN, Quellen, Bd. 2, 275 (1792); Bd. 3, 50 (1794); GEICH, Aufklärung (s. Anm. 113),
ebd., Bd. 3, 23; vgl. ebd., 57 Anm.
186 Noch ziemlich isoliert steht 1790 in ZIMMERMANNS „Fragmenten" berlinische Auf-
klärerei (192) - ein Ausdruck, der sich gut zehn Jahre später besonders bei Hegel größter
DelieLthtlit tlrfreuL (H. unten S. 307 f.). In Wielands „Neuem teutschen Merkur" sind um
1800 die Ausdrücke 'Aufklärling' und 'Aufklärerei' längst geläufig (vgl. z. B. Jg. 1803,
1. Stück (Januar), 56. 58). Aufkmrerei wird dort gelegentlich als einseitige, negative After-
Aufkmrung bestimmt; und es gilt als Bedürfnis für die Freunde der guten flache, der Auf-
kmrerei nicht minder als den Attentaten der Verfinsterer entgegenzuarbeiten (ebd. 58). Vgl.
auch Jg. 1803, 9. Stück (Sept.), 393; 1804, 8. Stück (Aug.), 250. 271.
iaa SCHAUMANN, Versuch über Aufklärung, 1.

286
IV. 3• Neutraliaierang des Allgemeinhegriila

klärung' stehen sollte. Schon 1790 glaubte A. RAABE, dann am wenigsten auf Wider-
spruch zu stoßen, wenn er das Wort Aufklärung, welches so viel gemißbraucht ist,
daß es verdächtig und verächtlich wurde, so verstehe, daß es grün<lliche Belehrung über
alle wissenswerte Kenntnisse bedeute. Diese Bedeutung stimme völlig mit der Sache
überein, die das Wort bezeichnen soll, nämlich das Verschaffen klarer Begriffe und
Vorstellungen von einem Gegenstand durch eine Erleuchtung in Gestalt gehöriger
H ül/smittel1 37 •
Am intensivsten hat sich 1793 ScHAUMANN darum bemüht, die Voraussetzungen zu
gewinnen für die Aufstellung jener Merkmale, die dem reinen Begriffe von Auf-
klärung - demjenigen Begriffe, durch welchen weder die wahre noch die /alsche, weder
die nützliche noch die schädliche, sondern nichts als Aufklärung überhaupt gedacht
wird - nichts weniger als eigentümlich sin<l. Beginnend mit dem Stammbegriff von
Aufklärung, dem Begriff klar, kommt er am Ende einer eingehenden Analyse der
reinen Wortbedeutung - zunächst in seiner sinnlichen Beziehung und dann in
seiner Beziehung auf geistige Erscheinungen - zum reinen un<l bestimmten Begriff
il.er At4k1iirwng iihP:rn.anpt, cfor cfü1 charakteristischen Merkmale der Gattung Auf-
klärung enthält. Durch Determination gelangt er dann zum Artbegriff 'Aufklärung'
und unterscheidet prinzipiell so viele Arten Aufklärung, wie es artbegründende
Merkmale gibt. Genauer unterscheidet er einmal religiöse, philosophische, politische,
juristische, ökonomische usw., mithin ihrem Gegenstandsbereich nach verschiedene
Aufklärung, und zum anderen formal, funktional und kategorial verschiedene Auf-
klärung, und zwar sinnliche, intellektuelle, rationelle Aufklärung, theoretische,
praktische, ästhetische Aufklärung, echte, unechte, einseitige, allseitige, falsche,
wahre Aufklärung138 • Alle diese Aufklärurigsarten sind für ihn als solche - mit Aus-
nahme der rationellen Aufklärung, die von ihm wieder _in theoretische oder prak-
tische Aufklärung unterteilt wird, - unabhängig voneinander; sie haben nur das
generische Merkmal miteinander gemeinsam und dürften daher eigentlich auch nur
mit dem sie spezifizierenden Beiwort verwendet werden.
Damit hat Schaumann - und das ist begriffsgeschichtlich gesehen vielleicht sein
wichtigster Beitrag zur Aufklärungsdiskussion der neunziger Jahre - zum ersten
Mal systematisch der Annahme den Boden entzogen, die Aufklärung sei in concreto
nur eine und es könne deshalb auch nur eine Begriffsbestimmung der Aufklärung
die allein richtige sein. Eine allein richtige, allgemeingültige Begriffsbestimmung ist
nach seiner Argumentation nur von der „Aufklärung überhaupt", also in abstracto,
möglich. Indes sei bisher gerade eine solche' Bestimmung nicht entwickelt worden,
wie er im Anschluß an eine instruktive historische Erörterung des Begriffes Auf-
klärung nachzuweisen suchte.
-In dieser historischen Erörterung, die als eine der ersten ihrer Art besondere Be-
achtung verdient, setzt Schaumann den Beginn der Periode der Aufklärung nach der
Periode des Genies und der Phanta.sie an, d. h. am Ausgang der siebziger Jahre. Aller-
dings räumt er ein, es habe schon lange vor der Entstehung des Namens Aufklärung
und au/geklärte Männer gegeben: Sokrates, Arißtoteles, Epikur, Lukrez, Cäsar, Horaz
und Luther. Auch sei das Wort Aufklärung kein Neuling in unserer Sprache. Aber auf

187 A. Ru.BE, Trägt das Studium der alten Sprachen zur Aufklärung bei?, Journal von

und für Deutschland 7/2 (1790), 9. Stück, 201.


188 SCHAUl\lANN, Versuch über Aufklärung, 57 ff.

287
Aufklärung IV. 3. Neotralisiemng des Allgemeiahegri6

geistige Tatsaclien sei es erst damals bezogen worden. Die „Allgemeine deutsche Biblio-
thek", Lessing, Mendelssohn, Semler, Wieland, Spalding u. a. hätten die Herrschaft
des Verstandes eröffnet, und die Periode der dunkeln Vorstellungen und Gefühle habe
der Periode der Begriffe Platz gemacht. Schließlich sei das Mittel, wodurch man den
V erstand ... in alle seine Rechte wieder einzusetzen suchte, ... Aufkliirung genannt
worden. Danach sei der Aufklärungsbegriff immer abstrakter und formaler geworden
und seine Anwendung über Theologie und Religion hinaus auf so viele verschiedene
Gegenstände ausgedehnt worden, daß er jede Eindeutigkeit verloren habe und man
direkt erschrecke, wenn man sehe, was man sich itzt alles unter Aufklärung denkt,
was nicht bloß unter den Ungebildeten, sondern auch unter den Gebildeten unter diesem
Namen verkauft wird.
Daraus zieht Schaumann den Schluß, daß die folgenschweren Streitigkeiten über
Aufklärung auf das bei den streitenden Parteien obwaltende Mißverständnis aber
den Begriff Aufklärung zurückzuführen sind. Dieses Mißverständnis hinwiederum
beruhe auf der Verwechslung von Art- und Gattungsbegriff,. durch die unterschied-
liche Urteile über die Aufklärung zwangsläufig zu. disjunktiven würden, weil 11ie
fälschlich auf ein und dieselbe Aufklärung bezogen würden, während sie in Wahrheit
jeweils eine objektiv andere Aufklärung meinten. Wo immer die jeweils intendierte
Aufklärungsart exakt bezeichnet werde, ließen sich dagegen alle logisch formulierten
Aussagen über die Aufklärung miteinander vereinbaren und als etwas Richtiges
erweisen: Das Recht ist also zwisclien den streitenden Parteien geteilt. Die Wahrheit
liegt auch hier in der Mitte. Die Gegner sowohl als die Freunde der Aufkliirung behaup-
ten etwas Richtiges, wenn sie nur ihre behaupteten Sätze genauer bestimmen.
Im Verlauf seines Versuches, den Antagonismus zwischen „Freunden und Feinden
der Aufklärung" theoretisch aufzuheben, kommt freilich auch Schaumann im Grunde
nicht umhin, unter anderem Namen wahre und falsche Aufklärung erneut mit-
einander zu konfrontieren. Er unterscheidet nämlich scharf zwischen der Aufkliirung
der Weisheit und der Aufkliirung der Klugheit und verbirgt nicht seine Sympathien
für die erstere. Während jene für den uneigennützigen, rein vernünftigen Trieb
arbeite und die Tätigkeit der Vernunft für die Vernunft selbst wecke, arbeite diese
für den eigennützigen, sinnlichen Trieb und betätige für dessen Interesse die (theo-
retische) Vernunft. Jene wirke nach den 'unveränderlichen Gesetzen der Moral,
diese nach den veränderlichen Regeln der Politik. Und wie er jene durch Sokrates,
Jesus, Luther, Zollikofer, Garve, Kant, Jacobi, Reinhold, Dalberg, Schiller und
8palding rAprä.sentiert sieht, so diese durch Mohammed, die Jesuiten, Mirabeau und
andere französische Revolutionäre 1 39„
Schaumanns Absicht, den „Streit über Aufklärung" durch :µistorische Erörterungen,
philologische und logische Deduktionen zu schlichten und als philosophisches Pro-.
blem durch die Neutralisierung des Gattungsbegriffs 'Aufklärung' endgültig zu
lösen, mißlang. Das gleiche gilt für MEINERS' ähnlich orientierte Bemühungen, den
Aufklärungsbegriff jenseits von „Reaktion" und „Fortschritt" im Prinzip auf einer
l'osition der Mitte und des Ausgleichs zu fixieren. Zu diesem Zweck unterschied er
zwischen dem allgemeinsten Sinn und der engeren Bedeutung von 'Aufklärung'.
Unter jenem versteht er eine jede Masse von schönen und nützliclien Kenntnissen,
wodurch der menschliche Geist gebildet oder das Herz des Mensclien veredelt wird. Nach

1ae Ebd., 15 ff. 9 f. 69 f. 73. 63.

288
V. Wortgebrauch in der ,,Deutschen Bewegung"

dieser besteht sie in einer solclten Kenntnis der Natur und ihres Urhebers, in einer
solclten Kenntnis des Mensclten und seiner Verhältnisse, wodurch diejenigen, welclte
sie besitzen, gegen Aberglauben und Schwärmerei ebensowohl als gegen Unglauben,
gegen Despotismiis wie gegen Anarchie und Zügellosigkeit bewahrt oder davon befreit
und über ihre wahre Bestimmung und Glückseligkeit, über ihre Pßichten und Rechte
unterrichtet werden140•
Obwohl es diesen Definitionsversuchen nicht gelang, eine allgemeine Übereinkunft
über die Verwendung des Wortes 'Aufklärung' zu erzielen, sind sie symptomatisch
für den damaligen Stand und den weiteren Verlauf der Geschichte des Au,fklärungs-
begriffes. Meiners und vor allem Schaumann haben nicht allein großen Einfluß auf
den in den Lexika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts festgehaltenen Sprach-
gebrauch gehabt, sondern darüber hinaus maßgeblich dazu beigetragen, daß die
Bedeutungsverengung des Aufklärungsbegriffs zum historischen System-, Richtungs-
oder Epochenbegriff nur sehr zögernd Anklang fand und seine allgemeine Verwen-
dung als neutralen „Gattungsbegriff" nicht in Frage zu stellen vermochte.

V. Wort1ebrauch und Begrift'sbestimmUDlen in der „Deutschen Bewegung''

1. Vorbemerkung

Es ist eine der nicht wenigen Paradoxien in der Geschichte des Aufklärungsbegriffes,
daß zu denen, die ihn am eindringlichsten und nachhaltigsten zum Inbegriff der die
„Moderne" geistig begründenden Prinzipion, Mothodon, .Anooho.uungon und Vor
gänge formten und als „rationalistischen" System- oder Richtungsbegriff festlegten,
an vorderster Stelle „Gegner der Aufklärung" gehören. Zwar wäre es unzulässig zu
behaupten, der historische Epochen- und Bewegungsbegriff 'Aufklärung' sei zuerst
von konservativen.und antirevolutionären Aufklärungskritikern konzipiert worden;
dennoch läßt sich nicht übersehen, daß er durch sie entscheidend vorbereitet worden
ist, weil sie stärker als andere daran interessiert waren, die zahlreichen Definitionen,
Deutungen und Verwendungen des Ausdrucks 'Aufklärung' ideologisch zu verein-
heitlichen, und sie aus polemisch-systematischen Gründen eher bereit waren, wegen
der vermeintlich gleichen oder gemeinsamen Voraussetzungen und Konsequenzen
ihres Ansatzes die „Freunde der Aufklii.nmg" für konformer und radikaler zu halten,
als diese es selbst taten. Nicht zufällig erwächst die erste voll und ganz geschichts-
philosophisch motivierte Anführung des Aufklärungsbegriffs aus einer wahrhaft·
religiös empfundenen, in irrationalen Gewißheiten verwurzelten und zu alledem von
eschatologischen Erwartungen erfüllten extremen Gegnerschaft. Sie findet sich 1799
in dem für die romantische Geschichtsauffassung programmatischen Aufsatz von
NovALIS über „Die Christenheit oder Europa", der sicherlich einen der wichtigsten
Einschnitte in der Geschichte des Aufklärungsbegriffes markiert und im bestimmten
Sinne die romantische Gegenbewegung gegen den rationalistischen Geist des 18.Jahr-
hunderts eröffnet. Die aus der Geistesgeschichte bekannte Kritik der Romantik am
Rationalismus wird hier von Novalis ausdrücklich Init dem Aufklärungsbegriff ver-
knüpft und in weltgeschichtliche Zusammenhänge gestellt.

uo l\'.IEINERS, Bist. Vergleichung, 466. 469 f.

19-90385/1 289
Aufklärung v. 2.1..eUing
Um den .Anteil der Romantik und überdies des Deutschen Idealismus an der Be-
deutungsverengung des Aufklärungsbegriffs zum inhaltlich rein rationalistischen,
neuzeitlichen System- und Epochenbegriff voll ermessen zu können, ist zu beachten,
daß die Romantik nicht den Anfang, sonderri das Ende mannigfaltiger Gegenströ-
mungen des 18. Jahrhunderts gegen den „Rationalismus" bildet und spätestens seit
der Mitte des Jahrhunderts der „Irrationalismus" sich in den kulturkritischen Aus-
einandersetzungen der Zeit mächtig ausbreitet. Die Geistesgeschichte verweist hier
auf die einflußreichen Gegenströmungen der sog. englischen Präromantik, die star-
ken Wirkungen Rousseaus, die Gefühlskultur des Pietismus und der sog. Empfind-
samkeit, die als sensualistische Unterströmungen den dominanten Rationalismus
zunächst mehr in Gestalt komplementärer Geisteshaltungen, Lebensweisen oder Stil-
richtungen begleiteten, bis sie ihn dann zurückdrängten, sowie vor allem auf die
Sturm-und-Drang-Bewegung, deren politisches Credo und Freiheitspathos freilich
den Ideen des politischen Rationalismus verpflichtet blieb. Es erhebt sich deshalb
die Frage, wie in diesen Gegen- und Unterströmungen 'Aufklärung' bestimmt oder
verwendet worden ist. Sie soll am Beh1piel von Lessing, Hamann, Herder und Schiller
beantwortet werden. Hamann und Herder verdienen um so größere Aufmerksam-
keit, als sie die geistigen Väter der Sturm-und-Drang-Bewegung waren und gemein-
hin zu den Hauptgegnern der Aufklärung oder den hervorragendsten Wortführern
des „Kampfes wider die Vernunft" (Carlo .Antoni) gerechnet werden. Für Lessing
gilt das gleiche, wenn man in ihm nicht nur einseitig den Wegbereiter oder gar
Vollender, sondern mehr noch den Kritiker und Überwinder der Aufklärung
sieht. Und Schiller gebührt eine solche Aufmerksamkeit nicht minder, weil er, der
in seiner Frühzeit leidenschaftlich für die Freiheitsforderungen des Rationalismus
eingetreten ist, sich in der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution
als einer der schärfsten Kritiker dieser Revolution und der „abstrakten Vernunft"
erwies.

2. Lessing
Trotz seiner hervorragenden Stellung im Geistesleben des 18. Jahrhunderts ist
LESSINGS Beitrag zum Thema Aufklärung in begriffsgeschichtlicher Hinsicht er-
staunlich schwach. Er kennt selbstverständlich das Wort 'Aufklärung', benutzt
es aber in seinen Schriften und Briefen relativ selten und meistens in seiner
neutralen Bedeutung. Irgendeinen epochalen Sinngehalt mißt er ihm nicht bei,
und direkte .Ansätze zu einem Bedeutungswandel sind in seinem Sprachgebrauch
nicht erkennbar. 1768 versichert erz. B. einem Kritiker seines „Laokoon", daß
es diesem bei seinen Erinnerungen und Widerlegungen lediglich nur um die Auf-
klärung der Sache, nur um die Wahrheit zu tun ist und nicht um die Eitelkeit,
alles besser zu wissen. 1773 spricht er im gleichen Sinne von der Aufklärung und
Berichtigung der Geschichte des sogenannten falschen Demetrius. 1776/77 versteht
er es als eine zeitlose Aufgabe und Eigenschaft des Philosophen, sich die dunkeln
lebhaften Empßndungen ... in deutliche Ideen aufzuklären und hinsichtlich eines
von der Schwärmerei beanspruchten spekukitiven Enthusiasmus die Begriffe, worauf
es dabei ankommt, aufzuklären und so deutlich als möglich zu machen. In einem
Brief an Fr. Nicolai ist 1779 davon die Rede, daß ein Buch, welches die kaiserliche
Bücherkommission verbiete, durchaus kein denkender Kopf so behandeln müsse; gerade

290
v. 2. Le,eeing Aufklärung

weil es in gewissen Ländern verboten wäre, sei es zuverlässig zur Aufklärung gewisser
Menschen zuträglich. Hier und auch anderwärts weist er den Vorwurf zurück, es der
Welt zu mißgönnen, daß man sie mehr aufzukären suche, und es nicht von Herzen zu
wünschen, daß ei.n jeder über die Religion vernünftig denken möge141 •. Dabei zeichnet
sich ein zeitspezi:fischer Sprachgebrauch ab, der jedoch ohne begrifflich-theoretische
Konsequenzen bleibt.
In seinem geschichtsphilosophischen Versuch von 1780, der. „Erziehung des Men-
schengeschlechts", zeigt sich dagegen bei Lessing nicht einmal andeutungsweise die
Absicht, 'Aufklärung' z.B. als Sammelnamen der „Vernunftswahrheiten" oder In-
begriff der „Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten" auf der
geschichtlichen Stufe des Übergangs zur „Zeit der Vollendung" zu bestimmen. Wohl
erscheint es ihm unumwunden o.ls ein ethisches Postulat, daß der V erstand in der
Übung an geistigen Gegenständen zu seiner völligen Aufklärung gelangen und die-
jenige Reinigkeit des Herzens hervorbringen soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst
willen zu lieben, fähig macht. Auch wirft edm gleichen Zusammenhang rhetorisch die
Frage anf, oh da.' menschliche GC$chlecht auf diese höchste Stufen der Aufklärung und
Reinigkeit nie kommen soll 1 und ordnet solchermaßen die höchste Stufe der. Auf-
klärung dem Ziel der Menschheitsgeschichte zu, insoweit diese mit der „Erziehung
des Menschengeschlechts" identisch ist. Aber wenn schon von dieser Menschheits-
geschichte generell gilt, daß ihr Ziel für Lessing nicht in einer zeitlich gemeinten Zu-
kunft liegt, so gilt das noch weit mehr für die Aufklärung, deren geschichtlicher und
geschichtsphilosophischer Charakter nicht zwingender ist als der von „Reinigkeit"
oder „Ausbildung" und allemal an Evidenz gänzlich hinter dem von „Erziehung"
zurücksteht. Auch und gerade in der „Erziehung des Menschengeschlechts" ist und
bleibt 'Aufklärung' gewissermaßen ein noetisoher Qualitätsbegriff und wird sie als
solcher zur (inho.ltlioh unbestimmten) Kategorie eines stufenweise sich voll-
ziehenden autonomen Erkenntnisprozesses des Verstandes. Durch ihn bewirkt nicht,
sondern erlangt der Verstand am Ende „völlige Aufklärung" über seine eigentüm-
lichen Kräfte aud Aufgaben, wodurch wiederum der Mensch in die Lage versetzt
wird, das Gute zu tun, weil es das Gute ist14 2 •
Während sich 'Aufklärung' somit wesentlich auf bestimmte Eigenschaften und
Kräfte des menschlichen Verstandes bezieht, verwendet Lessing mit Vorliebe den
Ausdruck 'Erleuchtung', wenn es ihm darum zu tun ist, nicht besondere Er-
kenntnisf ähig kei te n, sondern besondere, substantielle Erkenntnisinhalte her-
vorzuheben143. Mit dieser Bedeutung des Wortes 'F.rlimr.htnng' stimmt es übereill,
do.ß er vom 18. Jahrhundert als der weit erleuchteteren Zeit spricht und an einer
anderen Stelle die Völker Europas als die Völker dieses jetzt so erleuchteten

m LESSING, Briefan Christ.oph Gottlieb v. Murr v. 25. 11. 1768, Werke (Hempel)., Bd. 20/1,
hg. v. Karl Christian Redlich (Berlin o. J.; zit. „Briefe"), 299; Beantwortete Anfragen,
Werke (Petersen/Olshauaen; zit. „Werke"), Bd. 25 (o. J.), 55; "Ober eine zeitige Aufgabe
(1776/77), ebd., Bd. 24, 150 f.; Brief an Friedrich Nicolai v. 30. 3. 1779, Briefe, Bd. 20/1,
786; an Karl Lessing V• 2. 2. 1774, ebd., 571.
142 Ders., Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777), Werke, Bd. 6, 80f.
143 Ebd., 72; Ernst und Falk (1777), ebd., 39; Vierter Anti-Goetze (1778), Werke, Bd. 23,

212; Axiomata (1778), ebd., 174; ähnlich auch bei Hamann, Herder und Schiller (nach
1790).

291
Aafldänmg v. 2. Lessing
Weltteils bezeichnet. Daneben verwendet er Formulierungen wie phil<>so-phischere
Zeiten oder aufgeklärtere, tugendhaftere Zeiten. Auffällig ist die vorherrschende
Komparativform der von Lessing zur Charakterisierung der eigenen Zeit benutzten
Adjektive. Sie schließt zwar die alleinige Zuordnung dieser Adjektive zum 18. Jahr-
hundert aus, verleiht diesem aber gerade dadurch den Charakter des Progressiven.
Das darf freilich in seinem sachlichen Gewicht nicht überschätzt werden. Im Grunde
liegt Lessing die Absicht einer historisch-systematischen Analyse und Einordnung
seines Zeitalters fern. Die große Veränderung, welche zu unsern Zeiten mit der
christlichen Religion geschehen ist und geschieht, hat Lessing deutlich wahrgenommen,
ohne indes den Versuch zu unternehmen, sie in spezifischer Weise auf den Begriff
zu bringen. In den itzigen Religionsbewegungen sah er gelegentlich keine V erände-
rungen in der Ordnung der Dinge, sondern höchstens Fermentationen ... , welche die
Bewegung, •in welcher das fermentierende Ding mit andern Dingen außer ihm steht,
nicht ändern, sondern zur Aufklärung und zum Wachstum desselben beitragen. 'Auf-
klärung' wird an dieser Stelle ganz im ursprünglichen Wortsinn als der natürliche
Vorgang des Klarwerdens und Enttrübens verstanden und zielt metaphorisch auf
das Bestreben der evangelischen Kirche, noch weiter in sich selbst zu wirken und alle
heterogene Materie von sich zu stoßen1 44.
Als Beitrag zur „Fermentation" des „wahren Christentums" und nicht als „Ver-
änderung in der Ordnung der Dinge" hat Lessing auch seine eigene kritische Be-
schäftigung init der „christlichen Religion" aufgefaßt. Den Widerstreit der Zeit
zwischen Vernunft und Offenbarung suchte er weder alternativ noch dadurch zu
lösen, daß er ihr theologisches Mit-, Neben- oder Gegeneinander in ein geschichts-
philosophisches Nacheinander transformierte. Er verstand es vielmehr als den
Auftrag der autonomen Vernunft, sich in Freiheit der transzendenten Offenbarung
zu öffnen145• Seine Kritik richtet sich gegen Deisten und Neologen nicht weniger
scharf als gegen die Orthodoxen. Demgemäß haben die Begriffe Freidenkerei und
Freigeisterei für ihn überwiegend negative Bedeutung. Beide Begriffe bezeichnen
bei Lessing eine ubiquitäre Denkungsart, die darum kein Spezifikum unsrer Zeit ist,
und werden von ihm auch nicht ansatzweise als Epochenbegriffe verwendet. Um

144 LESSING, Werke, Bd. 7, 69 (1752); Bd. 8, 24 (1751); Über eine zeitige Aufgabe, 150;
Rrst.er Anti-Goetze (1778), ebd., Bd. 23, 193; Bd. 21, 254 (eo.. 1775); Über die itzigen Reli-
gionsbewegungen (1780), Bd. 23, 354 f.
146 Die Freiheit der Vernunft gegenüber der Offenbarung geht zunächst für Lessing so weit,

daß er allein der Vernunft die Möglichkeit zuerkennt zu entscheiden, ob eine Offenbarung
Bein kann und sein muß, und welche von so. vielen, die darauf Anspruch machen, es wahr-
scheinlich Bei; doch dann fährt er fort: Aber wenn eine sein kann und eine sein muß und die
rechte einmal ausfindig gemacht worden, so muß es der Vernunft eher noch ein Beweis mehr
für die Wahrheit derBelben ala ein Einwurf darwider Bein, '!Denn sie Dinge darin findet, die
ihren Begriff überateigen. Wer dergleichen aus seiner Religion auspolieret, hätte ebensogut gar
keine. Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret? ... Eine gewisse Gefangennehmung
unter den Gehorsam des Glaubens beruht alao gar nicht auf dieser oder jener Schriftstelle,
sondern auf dem wesentlichen Begriffe einer Offenbarung •.. Vder vielmehr - denn das Wort
Gefangennehmung scheinet Gewaltsamkeit auf. der einen und Widerstreben auf der .anderen
Seite anzuzeigen - die Vernunft gibt sich gefangen; ihre Ergebung ist nichts als das Bekenntnis
ihrer Grenzen, sobald sie von der Wirklichkeit der Offenbarung versichert iat; Werke, Bd. 22,
190 f. (1777).

292
V. 3.. Rpmapn

die Eigenart seiner Zeit zu erfassen, bedient er sich vorzüglich der Begriffe „gesunde
Vernunft", „gesunder Menschenverstand", „Philosophie", „ Tugend", „ Toleranz",
„Freiheit zu denken und zu schreiben"146 •

3. Hamann
Es kennzeichnet lIAMANNS Sprachgebrauch, daß er seine kritische Auseinander-
setzung mit dem Geist des 18. Jahrhunderts nicht am Ausdruck 'Aufklärung' fest-
macht. Er verwendet das Wort in seinen Briefen und Schriften häufiger als Lessing,
.ohne ihm dabei aber eiueu zeitapezifischen Sinn abzugewinnen öder zuzuschreiben.
Wenn er seine· eigene Zeit charakterisiert, dann geschieht dies eigentlich ohne
systematische Absicht. Neben „unserm Jahrhundert" finden sich Wendungen wie
erleuchtetes Jahrhundert (1761), moralisches Jahrhundert (1772), sokratisches Jahr-
hundert (1773), erkuchtetes und gesittetes Jahrhundert (1775), kutseliger: Aeon (1777),
dieses philosophische Jahrhundert (1779), kritisches Jahrhundert (1784), unsere er-
leuchteten Zeiten (1784) und auffallend spät aufgeklärtes Jahrhundert (1788). Die
Epitheta werden oft nur zitiert und nicht selten mit ironischem Unterton. In der
Regel bewegL sich sein Wortgebrauch eng im Rahmen der ursprünglichen Wort-
bedeutungen. So spricht er z.B. von Aufklärung der im Text sich gehäuften An-
spielungen und Aufklärungen der Orthographie (1776). Selbst Formulierungen wie
rlie von den bisherigen Aufklärungen und neuesten Offenbarungen gesunder Vernunft
(1776) oder von jenen Kritikern, welche die allgemeinen deutschen Schriftsteller und
Leser hinters Licht ihrer eigenen philosophischen Aufklärung führen (1786), stellen in
dieser Beziehung keinen Bedeutungswandel dar. Denn im Blick auf Gottes Religion,
die größte Beförderin der Freiheit, fordert er schon 1758 in einem positiven Sinn:
all,e freie christliche Staaten (sollten) auf die Ausbreitung und Aufklärung seiner
Lehre beda,cht sein141 • Von Bedeutungswandel kann im wesentlichen auch in den
Briefen nicht die Rede sein, in denen sich Hamann kritisch mit Kants Aufsatz
von 1784 über die Aufklärung auseinandersetzt. 'Aufklärung' ist hier für ihn weder
ein epochaler System- und Bewegungsbegriff noch ein spezifisch modernes Wissens-
und Erkenntnisprinzip; vielmehr bedeutet sie für ihn weiterhin im neutralen Ver-
stande Kenntnisse, Einsichten, Aufschlüsse, Belehrung, richtigstellende Aufdek-
kung, Wissen, Wissensstand, geistig-moralischer Zustand u. ä. m.
Der Ausdruck die Aufklärung unsres Jalirhunderts bezieht sich, sofern er kritisch
gemeint ist, nicht auf die Aufklärung als solche, sondern allein auf ihre in einem
bestimmten Sinne vorherrschende Erscheinungsform im 18. Jahrhundert. Dieser
ganz bestimmten Form von Aufklärung und nur dieser wirft er vor, ein bloßes
Nordlicht zu sein, ein kaltes unfruchtbares Mondlicht ohne A·u/kwrung (!) für den
faulen V erstand, indem er sie mit keinen Katzen" sondern reinen und gesunden
Menschenaugen ansieht..

m Ebd., Bd. 20, 173 (1760/64); Bd. 23, 231 (1778); Brief an Nicolai v. 25. 8. 1769, Briefe
(s. Änm.141), 330; Briefe an seinen Bruder Karl v. 8. 4.1778, v. 2. 2. 1774, ebd„ 552. 571 f.
„Gesunde Vernunft" ist bei Lessing auch die Übersetzung von 'reason', vgl. Bd. 21, 184
(1773).
147 JoH. GEORG IIAMANN, SW hg. v. JosefNadler, Bd. 4 (Wien.1952)> 265; Bd. 3 (1951), 51.
72. 146. 213. 227. 284. 303; Bd. 4, 460; Bd. 3, 181 Anm.13. 189. 186. 402; Bd. 1 (1949), 53.

298
V. 3. Ramann

Kants Wesensbestimmung der Aufklärung ruft seinen Widerspruch hervor, weil


sie in seinen Augen eine falsche Wesensbestimmung und nicht, weil ihr Gegenstand
im positiven Sinne die Aufklärung ist. Nachdem er festgestellt hat, daß zum
„Sapere aude!" auch das ,;Noli admirari!" gehöre und er sich Kants Vormund-
schaft zur Leitung seines eigenen Verstandes cum grano salis gefallen lassen wolle,
ohne eine SelbstverschuWung durch Mangel des Herzens zu besorgen, berührt er den
springenden Punkt seiner .Kritik oder, wie er es nennt, das proton pseudos der
Kantischen Bestimmung, die ihn eine blinde Illumination dünkt. Es besteht für ihn
in dem vermakdeiten adiecto oder Beiwort selbstverschuWet, und zwar sowohl im
Hinblick auf das Unvermögen, „sich seines Ver8tandes ohne Leitung eines anderen
zu bedienen" (Kant), denn Unvermögen ist eigentlich keine SchuW, als auch im
'Hinblick auf die Unmündigkeit RelhRt. Nicht bei dieser, sondern bei der Vormund-
schaft liegt für Hamann die Selbstverschuldung des Menschen, und das Unvermögen
oder die Schul,d des fälschlich angeklagten Unmündigen besteht in der Blindheit seines
Vormundes, der sich für seherul ausgibt, und eben deshalb alle Schul,d verantworten
muß. Allein insoweit oioh dio Unmündigkeit der Leitung einu blitukn odt:r unsicltt-
baren . . . Vormundes und Führers überläßt, ist sie auch selbstverschuldet. In einer
bemerkenswerten Umkehrung der Ka.ntischen Definition (bewerkem1wert auch
darum, weil sie an dem Wort 'Aufklärung' festhält) ist infolgedessen nach Hamann
die wahre Aufklärung nicht „der Ausgang des Menschen aus seiner ielbstverschul-
deten Unmündigkeit" (Kant); vielmehr besteht sie in eiMm Ausgange des un-
mündigen Menschen am einer allerMchst selbstverschuWeten Vormundschaft. Was
Hamann unter dieser Vormundscl!.aft versteht, von der es sich durch 'Aufklärung',
und das heißt hier unzweifelhaft: durch die alleingültige Erkenntnis der Wahrheit,
zu befreien gilt, isi nichts andereR 11.lR das Ge~~ckwillz und Raisonnement der ezimierten
Unmündigen, die sich zu Vormünder ... aufwerfen und als Licht der Erkenntnis
preisen, was für jeden Unmündigen, der im Mittag wandelt, also im vollen Licht der Er-
kenntnis, womit Hamann das Licht der Offenbarung Gottes (lumen divinum) meint,
nur eine blinde Illumination und ein kaltes unfruchtbares Mondlicht sein kannu 8 •
Zu den Vertretern solch einer illegitimen, usurpierten Vormundschaft, die sich
überdies hypokritisch verstelle und in ihrer extremen Form Freigeisterei sei,
rechnet er bedingt auch den von ihm ansonsten sehr geschätzten Kant, insonderheit
jedoch alle „Raisonneure" und „Spekulanten", eile er bezeichnenderweise nicht
als 'Aufklärer' apostrophiert. Das gilt auch für die Mitarbeiter der „Allgemeinen
deutschen Bibliothek", die er meistens einfach Nicolaiten nennt149•
Hamann nimmt also 'Aufklärung' in dem ihm geläufigen neutralen Wortsinn von
seinem Verdikt über das 18. Jahrhundert aus. Seine Kritik richtet sich der Sache

148 Ders., Brief an Christian Jacob Kraus v. 18. 12. 1784, Briefwechsel, hg. v. Arthur

Henkel, Bd. 5 (Frankfurt 1965), 289 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang SCHAUMANNS von
einer ganz anderen Position aus an Kant geübte Kritik: Iat Uberdie8 daa Merkmal „selhat-
verschuldet" wohl ein wuentliches Merkmal du Definitums? Läßt 8ich daaaelhe nicht auch auf
diejenigen beziehen, die - nicht aus Mangel ·an Entschließung und Mut, 801ldern - aus
Mangel an Gekgenheit und Belehrung und Uberhaupt durch die nicht von ihrer Willkür ab-
hängenden Umstiinde im Zustande der Unmündigkeit lebten und nach Wegräumung dieaer
Hindernisseerat aus demselhen hervorgingen; Versuch über Aufklärung, 39.
m Ders., SW Bd. 3, 193. 178 (1776). 319 (1786). .

294
V. 4. Herder

und dem Begriff nach auf die „Menschenvernunft", und zwar vorzüglich die sog.
gesunde oder natürliche Vernunft, als deren Wesensmerkmal er die ;;Selbstver-
klärung" und nicht die „wahre Aufklärung" erkennt. Das beweist in seinen Augen
1. der Versuch, die Vernunft von aller Überlieferung, Tradition und Glauben daran
unabhängig zu machen; 2. die wissenschaftliche Abstraktion von aller lebendigen
Wirklichkeit, die gewalttätige Entkleidung wirklicher Gegenstände zu nackten Be-
griffen und b"loß denkbaren Merkmalen, zu reinen Erscheinungen und Phänome,nen;
und 3. die hinter der angeblichen Allgemeinheit, Unfehlbarkeit und Evidenz ihrer
Wahrheitserkenntnis verborgene Anmaßung und Usurpation: Denn was ist die
hochge"lobte Vernunft ... ? Ein Ens rationis, ein Ölgötze, dem ein schreiender Aber-
glaube der Unvernunft göttliche Attribute andichtet. Hamann kommt darum zu dem
Schluß: Die Gesundheit der Vernunft ist der wohlfeilste, eigenmächtigste und unver-
schämteste Selhstruhm, dwrch den alles zum voraus gesetzt .wird, was eben zu beweisen
war, und wodurch alle freie Untersuchung der Wahrheit gewalttätiger als durch die
Unfehlharkeit der römisch-katholischen Kirche ausgesch"lossen wird.
Sowohl die Auflösung der Religion unter dem Deckmantel einer pharisäischen
Moralität wie die Zersetzung und Verleumdung der Regierungsart. der Fürsten be-
zeichmiL er als 'Freigeisterei'. Gleichwohl be11thnmt er weder diesen Begriff noch
den der 'Philosophie' oder der 'gesunden Vernunft' als einen geschichtlichen .Be-
wegungsbegriff. Er geht sogar so weit, diesen Begriffen eine geschichtliche Qualität
prinzipiell abzusprechen, weil für ihn Geschichte auf Offenbarung und Weissagung
beruht und die zeitlichen und ewigen Geschichtswahrheiten nur durch den biblisch-
christlichen Glauben erschlossen werden können150•
'Überall da, wo Hamanns Vernunftkritik erkenntnistheoretisch argumentiert, wird
deutlich, daß sie von der Kants gar nicht 11ehr weit entfernt ist. Indem er unter
immer neuen Gesichtspunkten die Grenzen der Vernunfterkenntnis aufzeigt, geht
es ihm zugleich um den Nachweis der wesensmäßigen Unfähigkeit gesunder, natür-
licher oder wissenschaftlicher Vernunft, das zu leisten, was sie im „aufgeklärten
Jahrhundert" als ihre zentrale Aufgabe versteht: wahre Aufklärung, Erkenntnis
oder Ermöglichung und Verbreitung der Erkenntnis der Wahrheit des Menschen
und seiner Welt im . Ganzen zu sein. Hamanns kritischer Aufweis der Grenzen
menschlicher Vernunft gipfelt nicht in der völligen Negation der Vernunft, sondern
in dem Versuch einer Bestimmung der wahren Vernunft, deren Wesen er aus der
Sprache erschließen und die er in einer wincidentia &ppositorum mit der Offenbarung
zusammenführen will. Dieser Versuch richtet sich gegen die Orthodoxie nicht weniger
eindeutig als gegen die gesunde Vernunft und soll als christliche Antwort ebenso
weltoffen wie zukunftsvoll sein in.

4. Herder
Ä.hnlich wie Hamann verwendet HERDER das Wort 'Aufklärung' anfänglich ganz
im neutralen Wortsinn und bedient sich seiner weder bei der Analyse der allge-
meinen Weltveränderung im „gegenwärtigen Zeitalter" noch um das 18.Jahrhundert

160 Ebd., 284 (1784, mit direktem Bezug auf Kant). 385 (1786). 225 (1779). 193 (1776).

304 (1784).
151 Ebd., 194. 107. 319. Orthodoxie und ge8'Unde Vernunft sü;td für Hamann gleich unfähig,

das Wesen der geoffenba,rten Religion des Ohriatentwms (ebd.,.305) zu erfassen.

295
V. 4. Herder

auf den Begriff· zu bringen. Sofern ihm überhaupt daran gelegen ist, seine Zeit
n~her zu charakterisieren, verwendet er hierzu beliebte zeitgenössische Selbst-
bezeichnungen wie unser erleucktet,es Jahrhundert, dieses lichteste Jahrhundert,
unsere gebildete Zeit; eine eigene Prägung ist der Titel Jahrhundert des Zwei-
fems152. Was für den jungen Herder 1774 die Eigenart des 18. Jahrhunderts
ausmacht und den Ansatzpunkt seiner Zeit- und Kulturkritik bildet, ist seine
Philosophie: Unser Jahrhundert hat sich den Namen Philosophie! mit Scheideioasser
vor die Stirn gezeichnet. Diese Philosophie sieht er repräsentiert durch den philo-
sophischen Geist, den die Voltaire, Hume, Helvetius, Bayle und Konsorten einge-
führt haben; er ist das Modegespenst des Jahrhunderts, das n·icltt bwß im Finstern
rlaher schleicht, sondern selbst wie eine Pest am Mittag verderbet. Die Hauptmerkmale
dieser Philosophie gruppieren sich für ihn um die Fixpunkte IAcht, Freidenken und
Selbstdenken, Gerlankenfreiheit, Freigeisterei, Zweifel, UngTAwbe, I"eligion, Raisonne-
ment11>s. Sie rufen seine Kritik hervor, weil sich auf sie- die Vorherrschaft bloßen
Denkens und unfruchtbarer Gelehrsamkeit stütze, die ihrerseits eine ·abstrakte,
mechanische, kalte Welt herbeigeführt habe, die voller Haß sei gegen alles Wunderbare
und Verborgene. In dieser unsrer philosophischen, kalten europäischen Welt, meint
Herder, gebe es. eigentlich nur eine Papierkultur, ende im folgeulot:1eu Spiel die
künstliche Denkart unsres Jahrhunderts, seien Kopf und Herz getrennt, zeigten sich
Philosophie und Gelehrsamkeit . . . unwissend und unkräftig in Sachen des Lebens
und müßten „unsere Zeiten" gewiß Zeiten der Klügelei eher als des gesunden V er-
standes; mehr des Vernünftelns als der Vernunft heißen. Doch diese Kritik hindert
ihn nicht, die Einzigartigkeit seines Jahrhunderts zu sehen und zu rühmen:
Wahrlich ein großes Jahrhundert als Mittel und Zweck: ohne Zweifel der höchste
Gipfel des Baums in Betracht aller vorigen, auf denen wir stehen/ 1 54.
Verglichen mit Hamann. ergeben sich in diesem Zusammenhang für Herders Ver-
wendung des Wortes 'Aufklärung' eine Reihe neuer Gesichtspunkte. Während
sich Hamanns positive Auffassnng der Aufklärung an ihrem Verhältnis zur ge-
offenbarten Wahrheit bemaß, steht bei Herder nicht dieser christlich-gnoseologische
Bezug im Vordergrund, sondern das wechselseitige Verhältnis von Wissen und
Leben, Denken und Praxis. Uneingeschränkte Anerkennung findet bei ihm 'Auf-
klärung' als dynamische Gestalt und Entfaltungsform des schöpferischen Geistes,
als lebendiges Wissen,. nicht jedoch als Form des „abgezogenen Geistes", als
abstrakte, unfruchtbare Gelehrsamkeit. So erklärL Herder 1769 zur Aufgabe eines
von ihm damals geplanten „Jahrbuches der Schriften für die Menschheit" das,
was für die Menschheit unmiUelbar ist, sie aufklären hilft, sie zu einer neuen Höhe
erhebt, sie zu einer gewissen neuen Seite verlenkt, sie in einem neuen Lichte zeigt. Der
au/geklärte, unter1"iclttete, feine, •vernünftige, gebildete, tugendhafte, genießende Mensch
erscheint ihm als der Mensch, den GoU auf der Stufe unsrer Kultur fordert. Im
gleichen Jahr spricht er wiederum positiv von dem Weisen, der auf seinem Wege

162 JoH. GOTTFRIED HERDER, Auch eine Philosophie der Geschicht.e zur Bildung der
Mollßohhcit (1773/74), SW Bd. 5 (1891), 544. 478. 481J. 512 Anm. Vgl. In diesem Zusammen-
hang WERNER KRAuss, Der Jahrhundertbegriff im 18. Jahrhundert, in: ders., Studien zur
deutschen und französischen Aufklärung (Berlin 1963), 9 ff.
15a Ebd„ 486. 524. 537. 543. 575. 577 ff. 583.
164 Ebd., 562. 535 f. 478. 484. 545. 540. 535. 457. 545.

296
V. 4. Beider

fortgeht, die. menschliche Vernunft aufzukliiren, und nur dann die Achseln zuckt,
wenn andere Narren von dieser Aufkliirung als einem ktzten Zweck, als einer Ewigkeit
reden. Kritisch beurteilt er primär nicht einen bestimmten Erkenntnisinhalt der
Aufklärung, sondern solche Auffassungen, die sie im Namen von Wissenschaft und
Gelehrsamkeit zum Selbstzweck erheben. Dem setzt Herder sein Prinzip entgegen:
Alle Aufkliirung ist nie Zweck, sondern immer MiUel. Wo Aufklärung aufhört,
Mittel im Dienste des Lebens zu sein, da beginnt nach Herders an Rousseau. ge-
schultem Urteil der Verfall, arbeiten wir uns mit unsrer zu feinen Kultivierung der
Vernunft selbst ins Verderben hinein.
Wenn in Herders Geschichtsphilosophie von 1774 ein kritischer Unterton bei der
Verwendung des Wortes 'Aufklärung' überwiegt und er gelegentlich sogar gegen-
über der Meinung, in Europa sei jetzt mehr Tugend ... als je in aller Welt gewesen ...
weil mehr Aufkliirung darin ist, den Standpunkt vertritt: ich glaube, daß eben deshalb
weniger sein müsse, dann setzt dies keine veränderte Einstellung zur Aufklärung
voraus. Seirie kritische Benutzung des Wortes 'Aufklärung' richtet sich weiterhin
nicht gegen die Aufklärung als solche: Eben an Baumes höchsten Zweigen blühen
und sprießen die Früchte - siehe da die schönste V oraussickt des größten Werkes
Gottes! Aufkliirung _wenn sio uns. gloich nicht immer zu statten kommt ... Aaaozi1:ert.e
BegriOe.aus aller Welt: eine Kenntnis der Natur, des Himmels, der Erde, des Men-
schengeschlechts, wie sie uns beinah unser Universum darreichen kann - ....
Ständiger Anlaß zur Kritik ist ihm immer wieder der Umstand, daß Aufkliirung für
Glückseligkeit, Winter für Werke genommen werden. „Aufkliirung!" wir wissen jetzt
so viel mehr, hören, lesen so viel, daß wir so ruhig, geduldig, sanftmütig, untätig sind1 5 5 •
Herders kritischer Vorbehalt beim Umgang mit der Aufklärung entspringt somit
offenkundig seiner aktivistischen, dynamischen Lebensauffassung und wird nicht
inhaltlich begründet.
In seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784-1791)
und den „Briefen zur Beförderung der Humanität" (1793-1797) fehlt sowohl
jener kritjsche Vorbehalt als auch die Ambivalenz seiner früheren Deutung des
eigenen Zeitalters. An die Stelle der Kritik am „Geist der neuern Philosophie" ist
ein beinahe vollständiges Einverständnis mit den „progressiven" Ideen der Zeit
getreten. So sehr auch die religiös-transzendenten und_ kulturkritischen Gesichts-
punkte des jungen Herder in den „Ideen" zurücktreten und so stark er selbst
nunmehr in Thema und Resultat, nicht in Methode und Theorie, zu naturalistisch-
rationalistischen Gedankengängen neigt, sein in einer organisch-praktischen Ge-
samtauffassung der „Seelenkräfte" begründetes negatives Verhältnis zur „neuern
Philosophie" bleibt davon im wesentlichen unberührt. Entscheidend verändert
haben· sich dagegen die Voraussetzungen, unter denen er die konstitutiven Merk-
male des Jahrhunderts zu bestimmen sucht. Im Gegensatz zu 177 4 legt er nun den
Hauptakzent auf die positiven Eigenschaften der Zeit, die für ihn im Zeichen seiner
neuen geschichtsphilosophischen Leit- und Zielidee der 'Humanität' stehen. Diese
Idee tritt in den achtziger Jahren derart beherrschend in sein Denken, daß dadurch
'Aufklärung' als potentieller Zentralbegriff völlig verdrängt wird. Ich wünschte,
erklärt er 1784, daß ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich bisher
über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und

m Ebd., Bd. 4 (1878), 367. 411 f.; Auch eine Philosophie, 554. 573; 511. 555.

297
V. 4. Herder

Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der
Erde gesagt habe: denn der Mensch hat, kein edleres Wort für seine Bestimmung als Er
selbst ist, in dem. das Bild des Schöpfers unsrer Erde; wie es hier sichtbar werden
konnte, abgedruckt lebet. Unter diesen Schlüsselbegriff subsumiert er gleichermaßen
„Vernunft", „Freiheit", „Billigkeit", „Tugend", „Toleranz" und „Glückseligkeit"
wie „Religion", „Bildung", „wahre Kultur", helle Wahrheit, reine Schönheit, freie
und wirksame Liebe, „Menschheit" und „Menschlichkeit" ebenso wie „Menschen-
rechte", „Menschenpflichten", „Menschenwürde" und „Menschenliebe" 156 •
'Humanität' ist bei Herder zwar ein eminent geschichtsbezogener Begriff, aber sie
ist zugleich auch der Inbegriff der „organischen" Naturanlagen des Menschen und
ein die Zeiten übergreifendes, absolutes Vernunft- und Tugendideal, das auf
ewigen Gesetzen ruhet. Das schließt nicht aus, daß von Herder in der fortsohroitonden
Beförderung und Vermehrung der Humanität die Signatur der die „neueren
Zeiten" und insbesondere den „Geist unsrer Zeit'' konstituierenden Kräfte erblickt
wird, durch die nach der langen Nacht der Barbarei, wie er in Übereinstimmung mit
dem rationalistischen Geschichtsbild feststellt, die dickste Finsternis weicht dem
Lichte, die Schauen des Aberglaubens verjagt werden und hinfort alles durch das
Med·i·um der nt•tum A•1tfkl.llmng ge.sehen wird. Diese Aufklärung, die er im Blick auf
die „alte" der Griechen „neu" nennt, ist für ihn das Ergebnis der Wiederauflebung
der Wissenschaften, der Reformation und der ihr folgenden Philosophie167 • Trotzdem
entwickelt Herder nicht einmal in der Mitte der neunziger Jahre den Aufklärungs-
begriff zum epochalen System- oder Richtungsbegriff.
'Aufklärung' bleibt für ihn, ohne daß er diesen Wortgebrauch in einer regel-
rechten Definition festlegt oder sehr weitreichende Variationen ausschaltet, eine
zeit.lieh beliebig verwendbare Bezeichnung für eine bestimmte Art von rationalem
Wissen. Damit meint er in erster Linie ein Wissen, das generell auf die Humanität
bezogen ist, das den Vorgang und das Resultat vernunftgeleiteter Erhellung und
Erweiterung des Bewußtseins der Menschen von sich selbst ebenso umfaßt wie den
Gewinn und die Zunahme von Kenntnissen über die ursächlichen Zusammenhänge
ihrer Welt, einschließlich der Natur, das weiter „die Gestalten der Dinge, wie sie
sind", zeigt; und das schließlich nicht zuletzt ein Wissen ist, das in einer entsprechen-
den freien Denkart und geistigen Lebensform Reinen Ausdmck findet. Mit dieser
Grundauffassung von 'Aufklärung' hat Herder an verschiedenen Stellen eine Fülle
unterschiedlicher Gesichtspunkte verknüpft, durch die ihr Sinngehalt mehrfach
in extremer Weise abgewandelt wird.
So kann Herder 1785 'Aufklärung' als eine GrunderRnheinung menschlicher Existenz
und Lebenstätigkeit überhaupt begreifen und die Erziehung unsres Geschlechts,

m Ders., Ideen zur Philosophie der Geschicht.e der Menschheit (1784), SW Bd. 13 (1887),
154. 201 Anm •. In der 3. Sammlung der „Humanitätsbriefe" (1794) weist Herder eine
Gleichsetzung der letzt.eren Begriffe mit dem der „Humanität" und erst recht seine Er-
setzung durch diese nachdrücklich zurück; SW Bd. 17 (1881), 138.
157 Ders., Ideen, SW Bd. 14 (1909), 219; ebd„ Bd. 17 (1881), 249; Bd. 18 (1883), 95. 307.

95 f. (1792 u. 1796); vgl. Ideen, Bd. 14; 243. 260 (1787 u. 1791). Zu beacht.en ist in diesem
Zusammenhang, daß Herders „Ideen" unvollständig geblieben sind. Sie brechen im 4. Teil
(1791) mit dem späten Mitt.elalt.er ab, enthalten also keine ausführliche Deutung des
18. Jahrhunderts.

298
V. 4. Berder

d. h. die zweite, geistige Genesis des Menschen, die sein ganzes Leben durchgeht,,
wechselweise als Aufklärung und Kuüur bezeichnen, deren gemeinsame Kette er
bis ans Ende der Erde, bis nach Feuerland reichen sieht. Beide Begriffe sind für ihn
synonym, weil weder die Kultur noch die Aufklärung, wenn sie recht,er Art ist, ohne
die andre sein kann. Schon wer Bogen und Pfeile zu machen verstehe, besitze
beide, weil er Sprache und Begriffe habe, Übungen und Künste, die er lernte, wie wir
sie lernen; in diesem Sinne ist nach Herder auch der Feuerländer wirklich kuüiviert
und aufgeklärt und kennt er keinen prinzipiellen, sondern nur einen graduellen
Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen kuüivierten und
unkultivierten VIJlkern.
1787 dagegen hat Herder nicht mehr die Synonymie von Kultur und Aufklärung
im Auge, wenn er die geschichtliche Bedeutung der Hebräer u. a. darin erkennt,
sowohl durch das Christentum als den MohamrMdanismus eine Unterlage des größesten
Teils der Weüaufklärung geworden zu sein. Hier werden mit 'Aufklärung' Wesens-
erkenntnisse der „Humanität" und jene geistigen Wirkungen angesprochen, durch
welche die Lehre vom Eini,gen Gott, dem Schöpfer der Welt zum Grunde aller Philo-
sophie und Religion wurde. An anderer Stelle unterscheidet Herder direkt Gattungen
menschlicher Aufklärung will rechnet zu ihnen alle Gattungen der griechischen Kunst
einschließlich der Rednerei und eigentlich auch jede Art der. menschlichen Kennt-
nisse.
Beim Vergleich Spartas mit Athen erblickt er jedoch in Patriotismus und Auf-
klärung die beiden Pole ... , um welche sich alle ßittenkuüur der Menschheit beweget,
und weist Sparta dem ersten und Athen dem zweiten Pol zu. In diesem Zusammen-
hang bezieht er 'Aufklärung' auf „Staatskunst" und meint mit ihr die Aufklärung
des Volkes in Sachen, die zunächst filr dasselbe. ge.hüre.n, und die als solche Gegenstand
einer politischen Einricht,ung sein darf. Wegen seiner Volksregierung und Volks-
rednerei · und zumal weil das Volk in jeder öffentlichen Sache, die vorgetragen ward,
Kenntnisse hatte oder wenigstens empfangen konnte, ist für ihn Athen ohnstreitig die
aufgeklärteste Stadt in unsrer bekannten Weü gewesen und zum Urbild politischer
Aufklärung geworden. Deshalb seien in Absicht, der bürgerlichen Aufklärung ... wir
dem einzigen Athen also das meiste und Schönste aller Zeiten schuldig.
Umgekehrt Rtellt er in seiner Kritik der Kreuzzüge fest, keiner der geistlichen Ritter-
orden habe Aufklärung nach Europa gebracht, oder dieselbe befördert, wobei er diesmal
den Ausdruck auf Künste und Wissenschaften bezieht w1u speziell an die Gnomonik
und eine bessere Baukunst denkt. Doch verwendet er in der gleichen Kritik aufgeklärt
im Sinnfl von „zivilisiert", d. h. als das Gegenteil von losgebunden, frech und üppig.
Weitere Varianten seines Wortgebrauches treten u. a da hervor, wo es Herder im
Hinblick auf die Aufklärung des menschlichen Verstandes fast eine Sünde dünkt,
die römische Hierarchie eine Mutter der Aufklärung nennen zu wollen. Dennoch ist
es ihm keine Frage, daß die römische Kirche nicht, hie und da Wissenschaften und
Aufklärung ... habe befördern helfen und der größte Teil von Europa ihr die Grund-
lagen der äüesten schriftlichen K uüur schuldig ist. Gleichzeitig sieht er iu uem VUll ihr
bewirkten St.nr:r. rlflr nordi.~chen G6tzen auf der Linie der Humanitäts-Erkenntnis
ebenfalls Aufklärung, die sich dann freilich im Laufe der Zeit zum Schlechten
gewenuet habe, was indes Ilerder trotz schärfster Kritik nicht veranlaßt, ihrer
so beurteilten religiösen Entfaltung den Titel „Aufklärung" völlig abzusprechen:
Es ist eine schlechte Aufklärung, wo der Aufklärer selbst so beschaffen ist, daß er

299
V. 5. Sehiller

den schrecklichsten Wahn der Menschen mit Frevd,en annimmt und iltn befestigt und
stärket168•
Obwohl im Rahmen seiner Kritik der „Päpstlichen Religion" Herders Wortgebrauch
unverkennbar zeitspezifische Züge annimmt, verliert 'Aufklärung' bei ihm nie die
Eigenschaft einer inhaltlich vagen und in ihrem Bedeutungsumfang ständig schwan-
kenden Kategorie des Wissens.

5. Schiller
Noch am Ende der achtziger Jahre nimmt das Wort 'Aufklärung' in ScmLLERB
Wortschatz einen unbedeutenden Platz ein:. Und selbst nach 1790 zeigt sich .sein
Sprachgebrauch von der zeitgenössischen Aufklärungsdiskussion unbeeinflußt. Im
Zentrum seiner rntionalistischen Geschichtsphilosophie und Gegenwartsdeutung
stehen die Begriffe 'Vernunft', 'Veredlung', 'Freiheit' und 'Kultur', und begeistert
preist er 1789 unser menscklickes Jahrhundert als das Zeiwlter der Vernunft. 'Auf-
klärung' und 'Erleuchtung' sind für ihn synonyme Wörter, und wenn eines von
ihnen zu dieser Zeit einen größeren und zugleich konkreteren· Anwendungsbereich
hat, dann ist es die 'ErleuchLung'; tiie wird von ihm auch und betont auf die Ver-
fassung der „Staaten" bezogen, während er 'Aufklärung'· fast nur auf die „Köpfe",
den Verstand, bezieht. Immerhin fällt auf, daß er im Unterschied zu Herder das
Wort 'Aufklärung' auf die Bezeichnung solcher Kenntnisse, Einsichten und Ent-
deckungen beschränkt, die im Zus~mmenhang mit der Wahrheit, Sittlichkeit und
Freiheit des „neuen Menschengeschlechts" stehen, d. h. der Neuzeit angehören.
Schiller begründet dies damit, daß Aufklärung wie die Weisheit eine langsame
Pflanze {ist), die zu ihrer Zeitigung einen glücklichen Himmel, viel Pßege und eine
Reihe von Frühlingen braucht, zumal der V erstand, dem sie anvertraut sei, nur durch
fremde Nachhülfe sich entwickeltl&e.
Nachdem er schon 1788 erste, tiefreichende Zweifel an der unaufhaltsamen Fort-
schrittlichkeit und einzigartigen Größe des 18. Jahrhunderts dichterisch formuliert
und dabei in die Kritik des monotheistischen Christentums auf eigenartige Weise
die des modernen Verstandestums eingeschlossen hatte, entfaltet er unter dem
negativen Eindruck, den der Verlauf der Französischen Revolution auf ihn macht,
1793/95 seine schonungslose Kritik des eigenen Zeitalters. Kennzeichnend für sie ist
im Ansatz Schillers ungebrochener Glaube an die mögliche geschichtliche Verwirk-
lichung der „Monarchie der Vernunft" und sein unbeirrbares Festhalten an der
Fortschrittsidee. Beides schließt für ihn den Gedanken an eine Rückkehr zu ver-
gangenen Epochen der Menschheitsgeschichte aus, bestärkt ihn aber zugleich auch
in der Überzeugung, daß die Französische Revolution die Menschheit nicht nur
nicht in das Reich der Vernunft geführt, sondern im Gegenteil einen betriichtlicken
Teil Europens, und ein ganzes Jahrhundert in Barbarei und Knechtschaft zurück-
geschleudert hat. Die Vernunft der Zeit gibt sich ihm jetzt als V ernünftelei oder Ab-
straktionsgeist zu erkennen, der dem alles trennenden V erstand eigen ist, den Schiller

m Ders., Ideen, SW Bd. 13, 348; Bd. 14, 58. 147 f. 121 ff. 474. 530.
iae Flmi:DBIOH ScmLLEB, Antrittsvorlesung (1789), SA Bd. 13, 12. 23; Universalhistorische
Übersicht der vomehmsten an den Kreuzzügen teilnehmenden Nationen (1789/90), ebd.,
117f.
V. S. Sehiller Aufklärung

als Prinzip des „abstrakten Denkens" und einer „kalten", zergliedernden und
„bornierten" Erkenntnis begreift. Unter den Bedingungen des abstrakten Verstan-
des und seiner Kultur hat für Schiller der Mensch die Totalität seines Lebens verloren,
sind seine geistigen und sinnlichen Kräfte entzweit, Kopf und Herz, Wille und Ge-
fühl auseinandergerissen. Der inneren Zerrüttung des modernen Menschen entspricht
die äußere in der politisch-gesellschaftlichen Welt. Wie die Revolution die los-
gebundene Gesellscliaft nur in das Elementarreich, das politische Chaos zu führen ver-
mocht habe, weil sie keine Schöpfung der Vernunft gewesen sei und die moralischen
Voraussetzungen ihres Gelingens in einer verderbten, unreifen Generation fehlten,
so bewege sich die neuzeitliche Gesellschaft überhaupt zwischen den Extremen der
Anarchie, des wilden Despotismus der Triebe oder des reiri. physischen Wohlseins und
der Herrschaft des materiellen Bedürfnisses, das die gesunkene Menschheit unter .sein
tyrannisches Joch beuge; Der Nutzen ·ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen
und alle Talente huldigen sollen. Im besonderen Maße erscheinen Schiller die beiden
Ext,reme, Verwilderung und Erschlaffung, als die herrschenden Gebrechen des gegen-
wärtigen Zeitalters, und zusammenfassend sieht er den Geist der Zeit zwischen Bar-
barei und Schlaffheit, Freigeisterei und Aberglauben, Roheit und Verzärtelung
sohwanken160•
Die vernichtende moralische Kritik, die Schiller an seiner Zeit übt, und seine wieder-
holten Hinweise auf die noch so aUgemeine Herrschaft der Vorurteile und die Ver-
finsterung der Köpfe, hindern ihn nicht; dieses Zeitalter dennoch- wahrschein lieh im
Anschluß an Kant - das Zeitalter der Aufklärung 161 zu nennen. Das erklärt sich
einfach daraus, daß Sohill!lr unter 'Aufklärung' prinzipiell Aufklärung des Ver-
standes oder A·ufkliirung der Begriffe versteht, sie für ihn etwas rein Intellektuelles,
Ge~ankliches, Lehr- und Wissonstnäßiges, Theoretisch-Philosophisches und nichts
Praktisches, Objektives und Institutionelles ist. „Zeitalter der Aufklärung" kann
das „gegenwärtige Zeitalter" deshalb mit Recht genannt werden. Es ist aufgeklärt,
weil es allgemein über die Kenntnisse verfügt, die als Kenntnis der Wahrheit und des
Rechts und Materialien zur Weisheit an. sich die theoretischen Grundlagen bilden,
die zur Verwirklichung der „Monarchie der Vernunft"· erforderlich sind, und deren
Verbreitung theoretisch auch die ehrwürdigsten Säulen des Aberglaubens zum Ein-
sturz bringen und den Thron tausendjähriger Vorurteil~ umwerfen mii ßte. Da der
Name „Zeitalter der Aufklärung" nichts über die politisch-gesellschaftlichen Ein-
richtungen und vor allem nichts über die sittliche Einstellung und das tatsächliche
Verhalten der Menschen aussagt, können :mmit diP. MAmmhP.n dieses Zeitalters prak-
tisch weiter Barbaren sein und bei allem Licht, das eine griiindM.che.re. Ke.nn.tni., der
Natur, ein tieferes Studium des Menschen und seiner Verhältnisse aufsteckte, ... noch
das Joch der Vorurteile tragen.
Während Kant es 1786 als eine schwer zu meisternde Aufgabe ansah, ein Zeitalter
aufzuklären, dagegen die Aufklärung des einzelnen Menschen damals für relativ

160 SCHILLER, Brief an den Herzog Friedrich Christian v. Augustenburg am 13. 7. 1793,

Briefe, hg. v. Fritz Jonas, Bd. 3 (Stuttgart, Leipzig 1893), 333; ders., Über die ästhetischo
Erziehung des Menschen, SA Bd. 12, 16. 18. 24. 15. 6; Brief v. 11. 11. 1793, Briefe, Bd. 3,
375; an den Herzog v. Augustenburg, ebd., 333 ff.
1 6 1 Ders., Briefe, Bd. 3, 370. Seit 1791 setzte sich Schiller intensiv mit Kants Kritiken

auseinander.

301
V. S. Schiller

leicht hielt, verhält es sich bei Schiller genau umgekehrt. Für ihn ist nicht die Auf-
klärung des gegenwärtigen Zeitalters ein· Problem, da dieses schon aufgeklärt ist.
Ihm geht es vielmehr entscheidend um die Beantwortung der Frage, was bei den
Zeitgenossen der Aufnahme der Wahrheit, auch wenn sie noch so hell leuchtete, und der
Annahme derselben, auch wenn sie noch so lebendig überzeugte, im Wege steht und wie
demgemäß das dringendere Bedürfnis der Zeit zu bestimmen ist. Indem Schiller
sich diesen Fragen zuwendet, erkennt er, daß der praktischen Wirksamkeit der Auf-
klärung wesentlich subjektive Hindet-nisse entgegenstehen, die er generell aUfMängel
der praktischen Kultur, der sittlichen Gesinnung und der Charakterbildung zurück-
führt. Daneben ist jedoch die Aufklärung für ihre praktische Unwirksamkeit selbst
verantwortlich, weil sie bloß theoretische Kultur ist, eine reine Sache des Kopfes,
ohne Beteiligung des Herzens .. Wenn für Schiller die Überwindung jener Hindernisse
der Ausdruck: Sapere aude enthält, dann knüpft er damit wohl an Kant an, distan-
ziert sich abe'r zugleich wieder von ihm, weil für ihn „sapere aude!" nicht „der
Wahlspruch der Aufklärung" ist, sondern der „praktischen Kultur" angehört. Anders
auch als die Philanthropinisten hält Schiller an dem ausschließlich philosophisch-
theoretischen Charakter der Aufklärung fest und sucht den Schlüssel zur Über-
windung der Kri11e der Zeit in 1'lAm 1WR.f! er unnbhltngig von ihr l'crcdlung dr.s Oharakter.s
nennt. Damm hr.7.r.ilihnr.t r.r alR d.(l.s drfr19enil.ere Bediirfnis wn.Yers ZRi.ta.ltMR , . , di(I
Veredlting der Gefühk und die sittlichR RRinigung d'38 Willens .. . , denn für die Auf·
klärung des Verstandes ist schon sehr viel getan worden. Es fehlt uns nicht sowohl ...
an Licht als an Wärme, nicht sowohl an philosophischer als an ästhetischer Kultur.
Diese hält Schiller für das wirksamste Instrument der Oharakterbildung 102.
In dem Maße, wie 8chiller seine zeitkritisch motivierte Theorie der „ästhetischen
Erziehung des Menschen" entwickelt, nach der die uschöne Kunst" gleichfalls die
Voraussetzungen für die geschichtliche Verwirklichung der „Monarchie der Ver-
nunft" schaffen muß, gelangt er .zu einem neuen Verständnis der Aufklärung. Mit
dem in ihrer Definition als „bloßer theoretischer Kultur" steckenden Vorwurf, der
sich noch im Rahmen der aktivistischen Kritik des jungen Herder von 177.4: hielt,
begnügt er sich nicht. Wegen des „dringenderen Bedürfnisses der Zeit" will er nun-
mehr die Aufklärung des .Verstandes nur noch achten, insoferne ... sie auf den Cha-
rakter zv-rückfiießt. Das führt ihn zu dem harten und abfälligen Urteil: die Auf-
klärung des Verstandes, deren sich, wie er einräumt, die verfeinerten Stände nicht ganz
mit Unrecht rühmen, zeige im ganzen so wenig einen veredelnden Einfl,uß auf die Ge-
sinnungen, daß sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt, ja, geradezu helfe,
sie in ein System zu bringen 1'nd 1tnheilbarer zu machen. Der Anspruch der Auf-
klärung, „Kenntnis der Wahrheit "zu sein, wird im Grunde auch jetzt noch nicht
von Schiller bestritten. Allein auf dem Standpunkt der „ästhetischen Erziehung"
erweist sich für ihn die rein theoretische Wahrheit als verhängnisvolle Halbheit wid
Einseitigkeit, die da, wo man sie als Denkungsart absolut setzt und ihre moralisch-
ästhetische Ergänzungsbedürftigkeit mißachtet, bezeugt, wie stark eine Verderbnis
in den Prinzipien herrscht; was Schiller zu der düsteren Prognose veranlaßt, es werde
zu einer Unterdrückung, welche sonst die Kirche autorisierte, künftig die Philosophie
ihren Namen leihen103 • Kraft ihrer puren Intellektualität und Abstraktheit ist die

182 Ders., Ästhet. Erziehung, 29; Briefe, Bd. 3, 336 f. 374. 333. 370 f. 373 f. 371. 339. 337.
iea Ders„ Ästhet. Erziehung, 29. 15; Briefe, Bd. 3, 334 ff.

302
V. 6, AufldinmgsvCll"Btilldnia von R•mantik und Idealismus Auf.klirung

Aufklärung in Schillers Augen ursächlich an der Zerrissenheit und Entfremdung


des modernen Menschen beteiligt.
Mit der Französischen Revolution endet so für Schiller die Möglichkeit, die Auf-
klärung uneingeschränkt als „Fortschritt der menschlichen Kultur" zu begrüßen
und weiterhin als eine notwendige Aufgabe zu betrachten. Letzteres kann sie seither
um so weniger sein, als er sich denjenigen seiner Zeitgenossen nicht anschließt, welche
die Veredelung des Menschen zum' integrierenden Bestandteil der Aufklärung er-
heben und die „wahre Aufklärung" nur da am Werke sehen, wo Verstand und Herz
zusammenwirken. An die Stelle der wahren Aufklärung tritt bei Schiller die ästhe-
tische „Veredlung des Charakters" oder die wahre Kunst 164• Der Titel „Zeitalter der
Aufklärung" gerät ins Zwielicht. Er spiegelt auf diese Weise jene am Ende des
18. Jahrhunderts im Umkreis der „Deut~chen Bewegung" vermehrt auftretenden
Zeit~ndenzen wider, die eine rasch wachsende geistige Distanzierung von der Sache
des Rationalismus anzeigen und beginnen, dem Thema 'Aufklärung' den Anschein
des überholten, irgendwie Historischen zu geben. Trotz des engen historischen An-
wendungsbereiches, den das Wort bei ihm hat, wird es auch von Schiller noch nicht
als geschichtlicher Individualbegriff benutzt und ist sein Epochencharakter prin-
zipiell nicht grl.lßllr ah1 1for ues Verstandesbegriffes, dem er subsumiert bleibt.
Dennoch hat Schiller sich vor 1800 fraglos von allen Großen der „Deutschen Be-
wegung" am stärksten einem festumrissenen Verständnis der 'Aufklärung' als
theoretisch-philosophischer Grundlage der „modernen Welt" genähert.

6. Das Aafklirungsverstindnis von Romantik und ldealismm um 1800


Für die Entwicklung dieses Aufklärungsverständnisses sind hauptsächlich zwei
Motive richtungweisend geworden: 1. Die Aufnahme und selbständige Weiterbildung
der von Kant vorgenommenen präzisen Unterscheidung zwischen 'Verstand' und
'Vernunft'; 2. der dem gewandelten, in Zeitkritik und Zeitklage ausgedrückten
epochalen Lebensgefühl einer neuen Generation u'nd ihrem „Bedürfnis nach Wieder-
herstellung der Totalität" (Hegel) entspringende „Sinn fürs Unendliche" (Fr. Schle-
gel), „ für die Religion oder die Religiosität" (Fichte), „für Poesie" (Novalis) und
ein „Leben in Ideen" (Niethammer). Während jene beiden Begriffe von den meisten
Zeitgenossen Kants undifferenziert verwendet worden sind, unterscheidet sie Kant
ungeachtet seiner speziellen transzendentalphilosophischen Absichten dergestalt,
daß er die 'V crnunft' als „oberste Erkenntniskraft", d. h. als Vermögen der Ideen
oder Prinzipien und als das die Erfahrung übersteigende, auf die intelligible Welt
gerichtete und letztlich die „absolute Totalität" thematisierende Denken dem 'Ver-
stand' überordnet, den er als Vermögen der Begriffe, Kategorien oder Regeln und
als diskursiv-analytisches Denken in endlichen Verhältnissen bestimmt, dessen Ge-
brauch auf die Erfahrung beschränkt ist. ·
Im Verlauf der Weiterbildung dieser Unterscheidung kommt es rasch zu einer un-
gemein kritischen Einschätzung des Verstandes, und zwar sowohl von seiten der die

184 Die wahre K UMt aber hat es nicht bloß auf ein wrübergehendes Spiel abgesehen; es ist ihr

er'TUJt damit, den MentJehen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu ver-
setzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen; ders., Vorrede zur „Braut von
Messina" (1803), SA Bd. 16, 120.

303
· V. 6. Aafklinmgffentindni8 von.Romantik und Iaealilmus

Vernunft als Organ, Prinzip und Erkenntnis des Absoluten er- und begreifenden
spekulativ-dialektischen Philosophie als auch insbesondere von seiten der roman-
tischen Gefühlstheologie, für die Religion wesentlich „Herzenssache" und im Gegen-
satz zu Handeln und Denken „Anschauung und Gefühl" ist (Schleiermacher), sowie·
darüber hinaus der idealistischen Theorien, nach denen das Absolute, die Wahrheit
und ungeschiedene Einheit der Welt nur intuitiv erfaßt bzw. allein in der Unmittel-
barkeit der „intellektuellen Anschauung" oder der durch die Kunst vermittelten
„ästhetischen Anschauung" erschlossen werden kan:D.. Die Verstandeskritik fällt
desto kritischer aus, je mehr sich die Auffassung festigt und ausbreitet, daß im
Zeichen der „Herrschaft des Verstandes" in der „modernen Welt" die Erkenntnis
überhaupt auf die Erkenntnis endlicher Dinge beschränkt wird und die Existenz
alles dessen, was sich mit Verstandesbegriffen nicht erfassen läßt, bestritten oder als
leere ldealitJ!.t und Unendlichkeit der endlichen Wirklichkeit beziehungslos gegen-
übergestellt wird. Übereinstimmend wird von den verschiedenen idealistischen Kri-
tikern der „Verstand" oder die „Verstandeskultm" für platt, seicht, dürftig, kalt,
leer, nüchtern, beschränkt, einseitig, abstrakt, formell, negativ, zergliflclf1rnil, t.rP.n-
nend, auflösend, veräußerlicht, mechanisch, berechnend, nützlich-pragmatisch,
uLifüaristisch-eudämonistisch, rein diesseitig-endlich, geist- und substanzlos, gott-
verlassen und dergleichen mehr gehalten.
lm Hinblick auf die Entschiedenheit, mit der das Verstandestum systematisch kri-
tisiert wird, muß die geringe Beachtung und unheitliche Verwendung, die der Auf-
klärungsbegriff dabei im allgemeinen findet, ziemlich überraschen. Es sieht sogar
längere Zeit so aus, als komme dem Aufklärungsbegriff bei der romantisch-idealisti-
schen Auseinandersetzung mit der Verstandeskultur des 18. Jahrhunderts über-
haupt keine fundamentale. Bedeutung zu, obwohl die seit Jahrzehnten geläufige
Formel „Aufklärung des Verstandes" - die sich spätestens seit Kant nicht mehr
nur auf den Verstand als Gegenstand der Aufklärung bezieht (Genitivus obiectivus),
sondern auch und verstärkt die vom Verstand bewirkte Aufklärung (Genitivus
subiectivus) meint - eigentlich eine unmittelbare Kritik der 'Aufklärung' z. B. als
Erkenntnisweise und Wissensprinzip des Verstandes oder als durch den Verstand
begründete Geisteshaltung und Lebensauffassung erwarten läßt. Das hat zweifellos.
mehrere GriinilP. und hängt auch damit zusammen, daß um 1800 der Di:fferenzic-
rungsprozeß der Begriffe 'Aufklärung', 'Bildung' und 'Kultur' bereits sehr weit ge-
diehen ist und zumal der Bildungsbegriff manche der Bedeutungen an sich gezogen
hat, die zwischen 1780 uni! 1795 noch der Aufklärungsbegriff umfaßte oder mit-
umfassen konnte. Aufschlußreich ist es jedenfalls, daß 1799 in SoHLEmRMAOHERB
Reden „Über die Religion" der Aufklärungsbegriff keine Rolle spielt und Schleier-
macher die ootürliche Religion gegenüber den verachteten positiven Religionen kritisch
als die erleuchtete und nicht als die aufgeklärte Religion bezeichnet. Und WILHELM
v. HUMBOLDT kommt in seiner unvollendeten Abhandlung von 1796 „Über das
18. Jahrhundert" gänzlich ohne den Aufklärungsbegriff aus, der ihm durch seinen
Lehrer Campe nur zu gut vertraut war und in seinen früheren Schriften wiederholt
begegnet165•

186 FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren
Verächtern (1799), hg. v. Hans-Joachim Rothert (Hamburg 1958), 154 f. Nur in verbaler
Form benutzt er den Ausdruck, z. B. ebd„ 86.

304
V. 6. Aufklärungsverständnis von Romantik und Idealismus AafkJärung

Allem Anschein nach hat NovALIS 1799 als erster in diesem Kreis den Begriff
kritisch aufgenommen und ihn - erfüllt von dem Glauben, am Wendepunkt der
Weltgeschichte zu stehen - ohne jeden Vorbehalt in den Zusammenhang der
Geschichte des modernen Unglaubens eingeordnet. Zu den unmittelbaren Voraus-
setzungen dieser Geschichte zählt er sowohl die Reformation als auch vorzüglich jene
Philosophie, die das Resultat der modernen Denkungsart ist, alles umfaßt, was dem
Alten entgegen war, die rein wissenschaftliche Ansicht der Dinge geltend macht und im
Zeitraum der triumphierenden Gelehrsamkeit zumal in Frankreich zum neuen Welt-
system geworden ist. Den eigentlichen Beginn dieser Geschichte setzt er in der
letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts an, und ihren Höhepunkt nennt er eine zweite
Reformation, die Frankreich zuerst habe treffen müssen, weil dieses Land am meisten
modernisiert war. Zu den Hauptmerkmalen des modernen Unglaubens gehören für
Novalis die Entgegensetzung von Wissen und Glauben und das zu Wüsten des Ver-
standes und der Vernichtung alles Positiven führende Geschäft, rastlos die Natur,
den Erdboden, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu
sa'Ubern, - jede Spur des Heiligen zu vertilgen.
Gerade dieses „Geschäft" sei, so meint Novalis, von den Verfechtern des „neuen
Weltsystems" selber Aufkl/J,rung genannt wurlleu, uull zwar nach dem - für No-
valis harten und kalten - Licht, das wegen seines mathematischen Gehorsams . . . ihr
Liebling geworden sei. Kennzeichnend für die in Deutschland besonders gründlich
betriebene Aufklärung erscheint ihm nach der Reform des Erziehungswesens der
Versuch, der alten Religion einen neuern vernünftigen, gemeinern Sinn zu geben, in-
dem man alles Wunderbare und Geheimnisvolle sorgfältig von ihr abwusch. Gott sei auf
diese Weise zum müßigen Zuschauer des großen rührenden Schauspiels, das die Ge-
lehrten aufführten, gemacht worden, und eine neue europäische Zunft sei entstanden:
die Philanthropen und Aufklärer, die mit Vorliebe das gemeine Volle aufgeklärt
hätten 166 • Novalis bezeichnet allerdings - und das charakterisiert seine Individuali-
sierung des Begriffs - weder die „Geschichte des modernen Unglaubens" noch
deren Kulminationsphase als 'Aufklärung'. Er bedient sich dieses Ausdrucks viel-
mehr als eines Sammelbegriffs zur Kennzeichnung der Gedanken, Methoden, Aktio-
nen und Institutionen, durch die das „Geschäft" der „Modernisierung" bewirkt
und gefestigt wird. DltR geRchieht zwar nicht mittels einer genauen Definition, aber
dennoch so unmißverständlich, daß der Anwendungsbereich des Wortes 'Aufklä-
rung' historisch und sachlich bestimmt festgelegt ist.
Die AuRschließlichkeit, mit der Novalis den Aufklärungsbegriff auf den „mo-
dernen Unglauben" und das religionsfeindliche Ideensystem der modernen Philo-
sophie bezog, blieb zunächst - sieht man von A. W. Schlegel ab - im Kreis der
Frühromantiker eine Ausnahme. Als FRIEDRICH SCHLEGEL 1805/06 seine „Vor-
lesungen über Universalgeschichte" hält, da ist in ihnen nirgendwo von 'Aufklärung'
die Rede, dafür aber um so mehr von Bil<lung (speziell dem Streben nach Bil<lung,
die allerdings in der Moder:ie eine bloß natürliche ohne jenen höheren göttlichen Geist
und Seele, der in der alten Bil<lung sichtbar, sei), von dem gesteigerten aUgemeinen
moralischen Verderben, von moralischer Charakterlosigkeit der modernen Zeit, Zer-
störungssucht alles Alten, allgemeiner Erschlaffung und Anarchie. Zwar kommt in
seinen früheren Schriften der Ausdruck 'Aufklärung' verschiedentlich vor: einmal

188 NovALIS, Die Christenheit oder Europa, GW Bd. 3 (1968), 515 f.

20-90385/1 305
V. 6. Aufkliruagsverstäod.m von Rolll!lJltik .und Idealismus

mehr in der überwiegend neutralen Bedeutung „Einsicht", ;,deutliche Erkenntnis",


„ Wissensverbreitung", „ Gelehrsamkeit" oder „auf Wissen und Verstandeskraft be-
ruhende Zivilisiertheit" - das andere Mal mehr im zeitbezogenen, kritischen Sinn
. von „oberflächliche, nützlich-praktische Kenntnisse und Belehrungen". Auch weist
er die Absicht zurück, Lessing zum Ideal der goklnen Mittelmäßigkeit, zum Helden
der seichten Aufklärung, die so wenig Li,cht als Kraft hat, zu erheben. Alle diese Stellen
besitzen indessen noch kein prinzipielles Gewicht und sind ohne systematischen
Zusammenhang167.
Ähnliches gilt für FICHTE, mit dem großen Unte:rschied freilich, daß von ihm der
Aufklärungsbegriff 1793, auf dem Höhepunkt seiner Begeisterung für die Franzö-
sische Revolution, in der Schrift „Zurückforderung der Denkfreiheit" ausgesprochen
positiv bewertet wird. Im Banne einer voluntaristisch radikalisierten no.turrecht-
lichen Denk- und Argumentationsweise hat in dieser Schrift 'Aufklärung' haupt-
sächlich folgende Bedeutung: auf ungehinderter und unbegrenzter Denkfreihei,t und
freier Untersuchung aller Art beruhende und nicht zuletzt durch ihr allmähliches
Fortschreiten zur Verbesserung der Staatsverfassung führende Erkenntnis und Ver-
breitung der anerkannten und nützlichen W ahrkeit. Als mit dem Fortgang des mensch-
1:ic1um Geisll'.s graduell sich vergrößerndes Wissen von Mtnschenwert und· Menschen-
rechten zielt sie für Fichte einerseits auf Verminderung unseres Elendes und Erhöhung
unserer Glückseligkeit und verweist sie andererseits auf jene plötzlich hereinbrechende
Erleuchtung, die entstehen würde, wenn jeder aufklären dürfte, soviel er könnte. Von
dieser „Erleuchtung", die neben der „Denkfreiheit" den absoluten Bezugspunkt
seines damaligen Aufklärungsverständnisses bildet, gilt, daß sie wesentlich eine
intelligible Erkenntnis ist, die den Zugang zu einer völlig neuen, anderen Welt, er-
schließt, weit über die starke Beleuchtung, die besonders-seit einem Jahrzehnt auf die
Wissenschaften fiel, hinausreicht und im Grunde gar nicht mit „irdischen" Maß~
stäben gemessen werden kann. Daraus erklärt sich vielleicht, warum Fichte einmal
ausdrücklich den überirdischen (Zweck) der Aufklärung herausstellt168•
Fichte hat diesen Gedanken als Gedanken einer letztlich spekulativen Zweck-
bestimmung der Aufklärung nicht weiterverfolgt und fortan auf einen ähnlich
prägnanten Wortgebrauch verzichtet. Weder in seiner Polemik gegen Nicolai (1801 ),
die jene von Schiller und Goethe in den „Xenien" um vieles an beißendem Spott
übertrifft, noch in seiner konzentriertesten und zugleich populärsten Auseinander-
setzung mit dem Verstandestum und dem Geist des 18. Jahrhunderts, in den
1804/05 gehaltenen Vorlesungen über „Die Grundzüge des gegenwärtigen ?'..eit-
alters", wird "9'on ihm auch nur andeutung11wei11e det Aufklärungsbegriff als epochale
Kategorie, Bewegungs- oder Systembegriff verwendet. Kritisch kommt auf signi-
fikante Weise im „Anti-Nicolai" allein der Ausdruck Aufklärerei vor 169• Das ist

187 FlwwmoH SCHLEGEL, Vorlesungen über Universalgescbicht.e (1805/06), SW Bd. 14,


hg. v. Jean-Jacques Anst.ett (1960), 252. 238. 235. 233. 232; ders„ 1794-1802. Prosaische
Jugendschriften, hg. v. Jacob Minor, Bd. 2 (Wien 1882), 149.
lH FICHTE, Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher
unt.erdrückt.en (1793),. SW Bd. 6 (1845), 4 ff. 25. 29. ·
1" Ders., Friedrich Nicolais Leben und sonderbare Meinungen (1801), SW Bd. 8 (1846),
74. Sein Proteatantiamua ... war die Protest.ati<Jn ge,gen alle Wahrheit, die da Wahrheit
bleiben wollte; ge,gen allea Überainnliche und alle Religi<Jn, die durch (Jf4'Uben, dem ~ ein

306
V. 6. Aufklärungsverständnis von Romantik und Idealismus Aufklärung

um so merkwürdiger, als Fichte sich in diesen Schriften an mehr als einem Punkte
aufs engste mit der von Hegel expressis verbis unter dem Titel „Aufklärung" ent-
wickelten kritischen Darstellung der Verstandesphilosophie und der geistigen Be-
wegung des 18. J11-hrhunderts berührt.
Schlüsselbegriff seiner geschichtsphilosophisch-zeitkritischen Analyse der dritten
Epoche der Menschheitsgeschichte, die vor dem 18. Jahrhundert beginnt und das
„gegenwärtige Zeitalter" einschließt, ist ohne jeden Zweifel der 'Verstand'. Er
soll es sein, der besonders als gesunder Menschenverstand diesem Zeitalter als Maß-
stab alles seines Denkens und Meinens dient, weshalb es sich als Zeitalter der absoluten
Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit erweist und verglichen mit den andern Zeitaltern
allein als das dem 1nhalte nach durchaus vernunftwidrige dasteht. Auch in den
„Reden an die deutsche Nation" (1807/08) führt Fichte weder im positiven noch
im negativen Sinne den Aufklärungsbegriff als historisch oder systematisch fest-
umrissenen Begriff ein, obgleich er hier wiederholt von klarer Einsicht, Klarheit,
Trieb nach Klarheit, dem Streben der Zeit ... , die dunklen Gefühle zu verbannen,
11,nd allein der Klarheit und der Erkenntnis die Herrschaft zu verscha0en, spricht.
Lediglich an einer Stelle gebraucht er das Wort 'Aufklärung' doch einmal in signi-
fikanter Weise. Sie lautet: Aufklärung des nur sinnlich berechnenden Verstandes
war die Kraft, welche die Verbindung eines künftigen Lebens mit dem gegenwärtigen
durch Religion aufhob, zugleich auch andere Ergänzungs- und stellvertretende Mittel
der sittlichen Denkart 170• Der unmittelbare Bezug dieses Satzes zur „dritten Haupt-
epoche" ist offenkundig; aber er meint im negativen Sinne nicht die Aufklärung
als solche, sondern die begriffliche Einheit „Aufklärung des nur sinnlich berechnen-
den Verstandes" (Genitivus subiectivus), die als Kompositum 'Verstandesaufklä-
rung' auch eine formale Einheit bilden kann. Neben ihr erscheint eine positiv
aufgefaßte begriffliche Einheit „Aufklärung der Vernunft" logisch durchaus denk-
bar und wird von Fichte auch nirgendwo definitiv ausgeschlossen.
Neben jenen Vertretern der Romantilf und des Idealismus, die bei ihren Aus-
einandersetzungen mit dem Verstandestum und dem „Geist der modernen Kultur"
von dem Aufklärungsbegriff keinen oder keinen symptomatischen Gebrauch
machen, gibt es andere, bei denen er schon relativ früh in das Zentrum ihres
philosophisch-zeitkritischen Interesses rückt oder in zunehmendem Maße an
prinzipieller Wichtigkeit gewinnt.
Noch unmittelbar am Anfang ihrer gemeinsamen Jenaer Jahre scheinen Hegel und
Schelling das Wort 'Aufklärung' mehr im Sinne seiner nentralfm Re<leutung ver-
wendet und zwischen 'Aufklärung' und 'Aufklärerei' genau unterschieden zu
haben. Wenri HEGEL jedoch 1802 polemisch von der berlinischen Aufklärerei spricht
und sie vom Standpunkt der spekulativen Philosophie als platteste Gestalt unphilo-
sophischen Räsonierens über Humanität und Moralität, als eitles und leeres Ge-
. schwätz u.ä. m. charakterisiert, dann ist mit dieser 'Aufklärerei' nicht nur in der

Ende machte •.• Seine Denkfreiheit war die Befreiung von allem Ge,dachten; die Ungezähmt-
heit des leeren DenkeM, ohne l nhalt und Ziel. Freiheit du Urteil8 war ihm die Berechti,gung für
jeden Stümper und Ignoranten, üher alle/J sein Urteil abzugeben, er mochte etwas davon ver-
stehen oder nicht; ebd„ 50.
1 7 o Ders„ Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, SW Bd. 7 (1846), 21. 78. 64. 10 f. 18.
66 f.; Reden an die deutsche Nation, ebd„ 264. 306. 268. 272 f.

307
V. 6. Aaßdärungsverständnis von Romantik und Idealismus

Hauptsache der gleiche Kreis Berliner Aufklärer gemeint, gegen den gut ein Jahr-
zehnt früher - allerdings aus anderen Gründen - Zimmermann polemisierte, viel.
mehr wird darüber hinaus das Verhältnis zwischen 'Aufklärerei' und 'Aufklärung'
grundsätzlich so bestimmt, daß erstere allenfalls die seichteste und platteste Form
der letzteren ist. Was Hegel zu diesem Zeitpunkt kritisch unter 'Aufklärung' ver-
steht, zeigt der Satz: die Aufklärung drückt schon in ihrem Ursprung und an und
für sich die Gemeinheit d,es Verstandes und seine eitle Erhebung über die Vernunft
aus. 'Aufklärung' ist an dieser Stelle für Hegel zunächst einmal identisch mit der
Manier, alle philosophischen Ideen populär oder eigentlich gemein zu machen und
das Plattmachen zum System zu erheben.
Ins Zentrum seines Aufklärungsverständnisses führen die kritischen philosophischen
Erörterungen, in denen er die 'Aufklärung' als die eigentümlich wissenschaftliche
Gestalt und Methode der Aktivität und Wirksamkeit des Verstandes begreift, den
er seinerseits als die Kraft des Beschränkens, Berechnens und Setzens alles Ideellen
unter die Endlichkeit bestimmt und dessen „Reich" nach seinem Urteil auf dem
Prinzip beruht, daß das Endliche an und für sich absolut und die einzige Realität 1:.~t.
Zum Grundcharakter ... der Aufklärung gehört deshalb nach Hegel das absolute
Entgegengesetztsein des Unendlichen und Endlichen, wodurch das Ewige, Göttliche,
Absolute, der Gegenstand der echten Religion und die absolute Wahrheit des Seins
zum Nichts erklärt, das Schöne zu Dingen überhaupt, der Hain zu Hölzern, die Bilder
zu Dingen, . . . und, . . . zu Erdichtungen werden, und jede Beziehung auf sie als
wesenloses Spiel oder . . . als Aberglaube erscheint171 •
ScHELLING stimmt 1802 in der negativen Einschätzung des Verstandes völlig mit
Hegel überein und begreift unter gemeinem V erstand besonders den durch falsche
und oberftächliche Kultur zum hohlen und leeren Räsonieren gebildeten V erstand,
der ... in der neueren Zeit sich durch Herabwürdigung alles dessen, was auf Ideen
beruht, vorzüglich geäußert hat. Anders als Hegel hält er es aber im Grunde für eine
Anmaßung, daß diese ldeenleerheit, der die Philosophie am meisten entgegengesetzt
sei, sich Aufklärung nennt. Deshalb vermeidet er es in der Regel, den Ausdruck
zur Bezeichnung jener Richtung in der Wissenschaft zu verwenden, die darauf zielt,
den gemeinen V erstand zum Schiedsrichter in Sachen der Vernunft zu erheben. Als
angemessenen Richtungsbegriff benutzt er statt dessen lieber den der Aufklärerei.
Sie gehört für ihn der neuesten Zeit an, obgleich die Formulierung Operationen der
neuen Aufklärerei den Schluß nahelegt, Schelling denke hierbei an die griechischen
Sophisten als Vertreter der „älteren Aufklärerei". D~ejenige ihrer Operationen, die,
mit Hülfe einer .~og. ge.sunden Exegese, einer. aufklärenden Psychologie und schlaffen
Moral, alles Spekulative und selber das Subjektiv-Symbolische aus dem Ohristentum
entfernt, möchte er sogar eher die Ausklärerei heißen. Dennoch fehlt es 1802/03 auch
bei Schelling nicht an ausdrücklichen Hinweisen darauf, daß er gewillt ist, unter

in HEGEL, Notizenblatt: 2. Bayern (1802), Werke (Suhrkamp), Bd. 2: Jenaer Sohrüten


1801-1807 (Frankfurt 1970), 276; ders., Vber das Wesen der philosophischen Kritik über-
haupt (1802), SW Bd. 1 (1927), 186. 184 f.; Glauben und Wissen (1802), ebd., 285 f. 282.
284 f. Vgl.: Der glorreiche Sie,g, welchen die aufklärende Vernunft über das, waa &ie nach dem
geringen Maße ihre& religiö&en Begreifens al& Glauben sich entgegenge&etzt betrachtete, davon-
getragen hat, i&t, beim Lichte be&ehen, kein anderer, al& daß weder das Po&itive, mit dem &ie
sich zu kämpfen machte, Religion, noch daß &ie, die ge&iegt hat, Vernunft blieb; ebd., 279 f.

308
V. 7. Moralisehe und bistorlsch-negative Aufklärung Aufklärung

'Aufklärung' iin geschichtlich-konkreten Sinne zumal die durch Voltaire repräsen-


tierte Erludmny des gemeinen Menschenverstands, des Werkzeugs bloß weltlicher An-
gelegenheiten, zum Urteil über geistliche Angelegenheiten und die mit dieser identische
Freidenkerei zu verstehen. Dementsprechend rechnet er die zeitgenössische deutsche
Theologie nicht direkt zur Aufklärung, sondern sieht sie ironisch durch die
Synthesis von bzw. das Wechselbündnis zwischen Christentum und Aufklärung
bestimmt, wo die Aufklärung versprach, die Religion zu erhalten, wenn sie sich auch
nützlich machen wollte 1 7 2 •

·7. Salats Gegenbegriff der ,,moralischen Aufklärung" und Niethammers historisch-


negativer Aufklärungsbegrift'
1802 konzentrierte sich Schellings und besonders Hegels „Aufklärerei"-Kritik
wiP.clP.rholt auf den katholischen Theologen und Pädagogen JAKOB SALAT. Für
Hegel war er der Prophet der Pl,at,theit und Seichtigkeit in Bayern, dem er die Ab-
sicht unterstellte, die berlinische Aufklärerei in Bayern einzuführen 173 • Salat war
1801 mit einem umfangreichen Beitrag zur Aufklärungsproblematik hervorge-
treten, durch den er auf der von Schaumann repräsentierten mittleren Linie der
Aufklärungsdiskussion der neunziger Jahre das Erfordernis der echten Aufkllirung
für diP. wr.it.t1TP. Am1hild11ng der Menschheit und die Vcrwirklichung der höhcrn Kultur
begründen und die Wesensmerkmale oder Voraussetzungen der echten Aufklärung
beschreiben wollte. Dabei leitete ihn die Absicht, die Aufklärung sowohl gegen die
Angriffe und Verdächtigungen der Finsterlinge und des Obskurantismus zu ver-
teidigen wie vor den Gefahren der Aufkllirerei zu bewahren und die Ansprüche der
Aufklärlinge auf sie zurückzuweisen. In der zweiten Auflage von 1804 setzte er sich
außerdem mit der romantisch-idealistischen Aufklärungskritik auseinander. Was
Salat beachtenswert macht, ist 1. der Versuch, auf dem Boden der „neueren
Philosophie" Kants, d. h. im Ausgang vom reinen Moralprinzip, die „echte Auf-
klärung" als moralische Aufklärung im Sinne einer sittlichen Zweckbestimmung
zu begründen, und 2. das Bestreben, den Aufklärungsbegriff als zeitlos gültige
anthropologische Kategorie und zukunftweisenden Moralbegriff aufzufassen, um
ihn dergestalt für die Perspektive eines in Europa nach Jahrhunderten und auf der
ganzen Erde nach Jahrtausenden zählenden Bildungsprozesses offenzuhalten.
In diesem Zusammenhang steht auch seine Kritik an Hegel und Schelling, denen
er vorwirft, zwischen Aufklärung und Aufklärerei nicht zu unterscheiden und alle
Aufklärung zu verurteilen. Gleichwohl teilt Salat inhaltlich in vielen Punkten die
idealistische Aufklärungskritik, nur ist in seinen Augen ihr Gegenstand nicht die
echte Aufklärung, sondern die Aufklärerei oder höchstens die halbe, einseitige und
negative Aufklärung. So spricht er z.B. von der antichristlichen Aufklärerei (a la
Voltaire .. .), nennt den Geist des Unglaubens ... ein Kind der halben, einseitigen
Aufklfirung und findet Schellings Wort von der „Ausklärung" treffend gegen die
negative Aufklärung . . . im Tone der Persiflage. Salat trifft sich sogar mit den
Idealisten in der Ansicht, das Produkt des bloßen ·Verstandes sei immer nur Auf-

172 SCHELLING, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802), SW
1. Abt., Bd. 5 (Stuttgart, Augsburg 1859), 258 f. 276. 300. 302; Philosophie der Kunst
(1802/03), ebd., 440.
173 HEGEL, Notizenblatt, 276 f.

309
V. 7. Morallache und hiatoriech-negative .Aufklärung

klärerei. Wenn er kategorisch erklärt, 'Aufklärung' als Aufklärung sei Sache, des
Verstandes, nicht des Herzens, weil der Verstand, nicht der Wille oder das Herz
aufgeklärt werde, dann ist dies für ihn allerdings keine Aussage über die ·„echte
Aufklärung", sondern über die „Aufklärung als solche" 17 '.
Unverkennbar unter dem Einfluß von Kants „negativer" Bestimmung der 'Auf-
klärung' bedeutet für Salat die „Aufklärung als solche" grundsätzlich ein Erkennen
der WahrMit, das Irrtum, Betrug oder Selbstüiuschung voraussetzt, also von dem,
was man Belehrung, Unterricht oder bloße Erkenntnis der WahrMit nennt, wesentlich
verschieden ist, indem eben diese notwendig nur Unwissenheit oder bloßen Mangel an
Wahrheit zur Voraussetzung haben. Diese Erkenntnisweise der Aufklärung als
Funktion des Verstandes ist ihrem Ansatz nach konstitutiv kritisch-negativer Art
und mehr geeignet, uns von Irrtümern zu befreien als mit neuen W ahrMiten zu be-
reichern. Damit ist sie zwangsläufig allen den Gefahren ausgesetzt, welche, mit der
Verstandeskultur als solcher verbunden sind. Um diesen Gefahren, die von der Zweifel-
sucht und Spottlust über den Unglauben. und den Indifferentismus bis zur völligen
Sittenlosigkeit, extremen Fanatismus und Zerstörungslust reichen, zu begegnen und
die Aufklärung als positive Kraft des Fortschritts der W eishe,it und HumanitöJ, zu
bowähron, bemüht Salat sich aufs angelegentlich!lte um den Nachweiil, uaß 1. Uie
„Aufklärung als solche" noch nicht die „echte Aufklärung" ist; 2. Aufklärung nicht
Selbstzweck ist und keinen absoluten Wert hat, ihr höchster Zweok vielmehr immer
die sittliche, Kultur, im weitern Sinne (ist), insofern sie nämlich al,les Wahre, Gute und
Schöne umfaßt; 3. es noch etwas Höheres gebe als Denken und Wissen und man das
Wahre mit dem Kopf allein nicht fassen könne; 4. die Ausbildung des Verstandes ...
nur Mittel (ist) zur (immer reinern und völligem) Ausführung des Sittengesetzes und
infolgeuessen 5. die eokte, bleibende und ... wahrhaft beglückende Aufklärung, in
reeller Hinsicht und folglich dem Stoffe nach moralisch bedingt ist. „Echte Auf-
klärung" ist mithin moraJische, Aufklärung,, und zwar vornehmlich deshalb, weil
sie auf dem Fundamente der Sittliehkeit basiert und für sie allein das MoraJische, -
nicht das Intellektuelle - absolut gut ist. Sie beginnt deshalb stets mit einer
moralisC?hen Reform des Menschen oder verlangt von dem echten Aufklärer einen
hohen Grad sittlicher Bildung. Als Erkenntnisoperation ordnet sie sich dem Sitten-
gesetz unter und folgt dem Primat der reinen praktischen Vernunft. Auf diese Weise
verfügt sie für Salat über alle die formalen Voraussetzungen und apriorischen Grund-
sätze, Uie notwendig sind, um sowohl den Verstand von Irrtümern zu reinigen,
als auch das Herz vor dem Einflusse dieser Irrtümer zu bewahren und eine positive
Aufklärung zu sein, welche WahrMit an die Stelle des Irrtums setzt175• ·
Salats Absicht, mit irilfe der Kantischen Moralphilosophie die „echte Aufklärung"
ebenso allgemeingültig wie normativ als „moralische Aufklärung" zu legitimieren,
fana in der zeitgenössischen Publizistik ein lebhaftes Echo und wird dadurch für

m JAKOB SALAT, Auch die Aufklärung hat ihre Gefahren! Ein Versuch zum Behufe der
höhern Kultur (München 1801; 2. Aufl. 1804), XII. XVIII. XX; ebd., 1. Aufl., 141f.185.
334; 2. Aufl.., 406. 457. 400. 454 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang seine Kritik an Novalis,
dem er u. a. wegen seiner „Hymnen an die Nacht" vorwirft, Okristua ..• zum Gegner der
Aufklärung und f<ilglich ••. zum VerP,mterer herabgewürdigt zu haben, obwohl ihm, wenn
einem, das Prädikat „Aufklärer" gebühre; 2. Aufl., 460.
175 Ebd., 1. Aufl., 338 f. 445. 339. 230. 333. 142. 376. 354. 74; 2. Aufl., 409. 444.

310
die Kontinuität der in den achtziger Jahren einsetzenden und in den neunziger
Jahren unter Kants Einfluß geratenden moralphilosophischen oder besser: moral-
pädagogischen Aufklärungsdiskussion besonders beweiskräftig. Er vermochte aber
nichts auszurichten gegen die im Umkreis des Deutschen Idealismus und. der
Romantik bestehende ode.r entstehende Neigung, unter 'Aufklärung' einerseits eine
kritische, negative oder indifferente Haltung gegenüber der Religion und anderer-
seits im historisch bestimmten Sinne die neuere und neueste Verstandesphilosophie
oder das moderne Verstandestum schlechthin zu begreifen.
Sieht man von Hegels „Phänomenologie des Geistes" (1806) einmal ab, so ist
dafür FR. 1. NIETHAMMER, der das Wort 'Aufklärung' 1808 direkt zum Begriff der
negativen Kultur und geistfeindlichen Bewegung des 18. Jahrhunderte zuspitzt, ein
relativ frühes und besonders prägnantes Beispiel. In der Schrüt „Der Streit des
Philanthropinismus und Humanismus", mit der er den Begriff 'Humanismus'
prägte, analysiert er einleitend die herrschende Denkart des Zi:italrers und die Grund-
züge der mit Friedrich II. beginnenden neuen BiUlungsepoche in Deutschland.
Hand in Hand mit der Förderung alles dessen, was für die Praxis nützlich zu
maciien gewe.11en sei, habe der große Rejormat,or seiner Zeit auch den Wissenschaften
zu neuem Leben und einer neuen Gestalt verholfen. Von ihm aei ebenfalls der
Impuls ausgegangen, der nach und nach eine Tot.alreform der teutschen Kultur be-
wirkte. Niethammer steht nicht an, wegen dieser von ihm hochgeachätzten Total-
reform die Zeit Friedrichs II. als Epoche einer höchstnötigen und höchstwohlfiitigen
Geistesrevolution zu rühmen, durch welche der Geist der Trägheit und der müßigen
Speku/,ation verbannt, das Reich des Aberglaubens erschüttert, die Fessel der swpra-
naturalistischen Buchst.a/Jp,natJduritäl, zerlnoolW?~, die schlummernde. Kraft gew«:kt,
das Denken freigemacht worden ist. Diese Charakteristik erinnert besonders im
Schlußteil an Kant und weist voraus auf den Aufklärungsbegriff von Troeltsch.
Symptomatisch für Niethammers.Aufklärungsverständnis ist jedoch die Tatsache,
daß er nicht auf diese gliinzenden Vorzüge der Epoche den Namen „Aufklärung"
bezieht, sondern auf solche Vorgänge, die ihn veranlassen, dieselbe Epoche ...
zugleich als den Zeitpunkt zu bezeichnen, mit welchem der Erdgeist seine verderbliche
Herrschaft unter uns begonnen. Dabei denkt er vor allem an die Auswirkungen des
„Erdgeistes" auf das rein geistige Gebiet des Wissens, durch welche die Religion zu
gemeinem. Moralismus, das Christentum zum. Eudämonismus, die Theologie. zum
Naturalismus, die Pliiloso-phie zum Synkn-etismMIJ und M atBrialismus, die Weltweisheit
zur Erdweisheit, die Wissenschaft zur .Pulsmacherei erniedrigt wird. Eben· dieses
Rücksehreiten der wahren Religion - neben den unverkennbaren Fortschritten viel-
fältiger BiUlung - und der mit ihm verknüpfte Haß alles rein Geistigen, Idealen,
in Kunst und Wissenschaft, durch welchen auch jedes Erheben über das Irdische aZs
mystische Gliiubelei in übeln Ru/, alles Leben in Ideen als Enthusiasterei verspottet
wurde, - dies alles, doch nur dieses geschieht für Niethammer unter dem Namen
Au/klär·ung. Sie ist der Titel der Schattenseite jener merkwürdigen Entwicklungs-
periode teutscher Kultur,' und wenn es bei Niethammer noch eine Steigerung seiner
negativen Einschätzung des geschichtlichen Kulturphänomens „Aufklärung" geben
kann, dann ist es die der A.u/kliirung als einer wahren Entgeistung der Nation17&.

i 7• F'RIEDB. hnlumrEL NIETHAMMER, Der Streit des.Philanthropinismus und Humanismus


in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit (Jena 1808), 15 ff.

311
Aufldänmg V. 8. Sehlegels ehriatliche Idee der Aafldärang

8. Friedrich Schlegels christliche Idee der Aufldärung


Spätestens seit 1812 konfrontiert SCHLEGEL die Bil,dung des Altertums und die
Aufklärung der neuern Zeiten und sieht er diese durch die all,gemeine Krankheit des
Jahrhunderts, die falsche Philosophie, ... das Abstraktionengewebe der Vernunft-
philosophie und den Despotismus der Vernunft sowie die sog. reine Sittenlehre, die
man für den Gipfel der Aufklärung gehalten habe, bestimmt. Trotz verschiedener
Ansätze in dieses Richtung verdichtet sich aber zwischen 1812und1822 bei Schlegel
der Aufklärungsbegriff weder zum historischen Epochen- oder Systembegriff, noch
wird er von ihm rein negativ aufgefaßt. Im Gegenteil! Nachdem er schon 1812 auf
den Mißbrauch hingewiesen hatte, der mit dem all,gemeinen Losungswort 'Auf-
klärung' getrieben worden sei, und er deutlich gemo.oht hatte, wolohcn ganz andern
Sinn Denkfreiheit und Aufklärung bei Lessing gehabt habe im Vergleich zu de:ri:J. bei
· Basedow, Nicolai und Weishaupt177, unternimmt er .es 1828, den Aufklärungs-
begriff vom christlichen Standpunkt aus zu rehabilitieren. Teilweise anknüpfend
an seinen neutralen Sprachgebrauch um 1800, unterscheidet er 1. zwischen einem
allgemeinen und einem historischen Aufklärungsbegriff und 2. hinsichtlich ihrer
historischen Erscheinung zwischen wahrer und falscher oder wirklicher und un-
echter Aufklärung. Grundlegend für sein Aufklärungsverständnis wi.J:J jeLzt end-
gültig die Gewißheit, do.ß in dem Begriff der A.uflclärung, wenn er rein aufgefaßt wird,
... nichts Tadelhaftes oder irgend mit dem Christentum Streitendes liegt, ja im Gegen-
teil: das Christentum selbst die wah'Fe Aufklärung (ist), nach dem Begriffe, welchen
uns die heil. Schrift von dieser aufstellt: nämlich jenes hicht vom ewigen hichte,
welches ... ursprünglich auch d,as Leben der Menschen war, ... und in welchem sie
. . . abermals und von neuem wieder ihr Leben finden sollen. Ebensowenig wie viele
der „kum1ervaL.iv"-auLirevuluLiunii.reu Gegner des religiös-politischen „Fort-
schritts" in den neunziger Jahren ist Schlegel 1828 bereit, den Begriff der Auf-
klärung nach dem Mißbrauch und nach der verkehrten Anwendung, die davon in dem
letzten Jahrhunderte gemacht worden, zu nehmen. Er sieht es als seine Pflicht an,
dafür zu sorgen, daß man neben der falschen Aufklärung und dem unrichtigen Begriff
derselben auch die wahre Idee nicht vergessen darf, die eine rein christliche sei.
Von dieser Idee der Aufklärung hebt Schlegel das historisch wirksame Prinzip der
Auflclärung o.b. Als Gegenstand der geschichtlichen Erfahrung und Zeiterscheinung
betrachtet, bedeutet 'Aufklärung' die in Europa vom Anfange des 18. Jahrhunderts
bis zur Revolution vorherrschende Geistesbewegung. Schlegels historischer Auf-
klärungsbegriff ist also ohne jeden Zweifel ein Bewegungsbegriff, der außerdem
o.llo Züge oinos Epochcnbcgri:ffs trägt, wenngleich er zur Bezeichnung der einmaligen
geschichtlichen Epoche der Aufklärung als Epoche ihres herrschenden Einff,usses das
Kompositum Aufklärungsepoche oder ähnliche Zusammensetzungen und syntak-
tische Fügungen benutzt.
Historisch abgeleitet wird von Schlegel das neue Prinzip der Aufklärung als der
alles beseelenden und alles bewegenden Kraft des 18. Jahrhunderts aus dem Protestantis-
mus des Wissens, dem er wegen seiner rationalistischen Negation der heiligen Über-

177 FRIEDRICH SCHLEGEL, Geschichte der alten und neuen Literatur. Vorlesungen gehalten

zu Wien im Jahre 1812 (1815; 2. Aufl. 1822), SW Bd. 6, hg. v. Hans Eichner (1961), 170.
353. 324. 390.

312
V. 8. Schlegels christliche Idee der AufkJänmg AufkJänmg .

lieferung und des Ausschlusses alles Höheren, Übernatürlichen und Übersinnlichen


auch im Menschen vorwirft, einen verneinenden Charakter zu haben. Dennoch be-
absichtigt er keineswegs, die historische Aufklärungsepoche insgesamt negativ zu
beurteilen. Wohl stellt er immer wieder das negative Verfahren der Aufklärung
heraus und beleuchtet voller Ablehnung die Wechselbeziehungen zwischen Ne-
gation, Neuerungssucht, übereilter Schnelligkeit, m. a. W. Rationalismus qua Geist
der allgemeinen Verneinung und Geist der umwälzenden Neuerung auf der einen Seite,
Revolution des Unglaubens, Atheismus, politischer Zerstörung, antichristlichem
Staatsgeist sowie der politischen AbgöUerei und der von Gott und jeder .göUlichen
Grundlage im Glauben und Leben völlig losgerissenen Freiheit auf der anderen Seite.
Derartige kritische Feststellungen und Urteile können aber schon deswegen nicht
das historische Gesamtphänomen 'Aufklärung' kennzeichnen, weil Schlegel 1. davon
überzeugt ist, daß es keine einheitliche und in sich völlig geschlossene, sondern nur
eine auf die mannigfaltigste Weise zusammengesetzte und die unterschiedlichsten
Einzelerscheinungen umfassende Geistesbewegung 'Aufklärung' gegeben hat, und
er 2. nicht schon die Negativität als solche, sondern allein die Verneinung ohne
jegliche feste, positive Grundlage verwirft. Uneingeschränkt verdammt wird von ihm
nur die Aufkliirung, die eine entschieden irreligiöse Richtung eingeschlagen hat und
eine endlich zerstörende gewesen ist. Von dieser Aufklärung und mehr noch von jeder
direkt leidenschaftlich vernichtenden Aufklärung heißt es jedoch zugleich, sie sei
nicht nur nicht die Aufklärung, sondern könne überhaupt nicht als echte, wahre
Aufklärung angesehen werden. In diesem Sinne ist für ihn z.B. der Neologismus
eine falsche theologische Aufklärung und erklärt er die vollendete Revolution des Un-
glaubens in dem franz/Jsischen Natursystem des. Atheismus, d. h. den Materialismus,
und gleichfalls Rousseau zu Repräsentanten des unechten Lichtes einer falschen Auf-
klärung. Die Entdeckungen der Naturwissenschaft, die Verbesserungen der prak-
tischen Kenntnisse und Künste, die Widerlegung und Wegräumung allgemein herr-
schender Vorurteile und die Fortschritte von Industrie und Geisteskultur werden
dagegen von ihm zu den notwendigen und heilsamen Erscheinungen und Folgen der
Aufklärung gerechnet. Wo immer im 18. Jahrhundert der Zivilisationsprozeß Fort-
schritte macht und zur Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse führt,
ohne gleichzeitig eine der christlichen Gesinnung und dem christlichen Staatsprinzip
feindliche oder gefährliche liberale und irreligiöse Richtung einzuschlagen, da zeigt
sich in Schlegels Sicht das Lticltt der „wirklichen Aufklärung" und glaubt er, das
göuliche und wahre Licht auch in der Wissenschaft und in ihrem Fortschriue auf dem
Gebiete der geistigen Bildung erkennen zu können. Das ist auch der Grund, warum
ihm als Musterbeispiel positiver Aufklärung die russische Aufklärung gilt, insbe-
sondere die mit Peter dem Großen beg·innende neue Kultur und solide Grundlage der
wahren V olksaufklärungl 78.
Auch für Schlegels historischen Aufklärungsbegriff bleibt somit letzten Endes die
christliche „Idee der Aufklärung" normativ. Im Rahmen der Zeiterscheinung
„Aufklärung" wird als wahre, 'echte und wirkliche Aufklärung nur das anerkannt,
was sich mit jener überzeitlichen Idee auf die eine oder andere Weise vereinbaren

17 1 Ders„ Philosophie der Geschichte. 18 Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre (1828),

Bd. 2 (Wien 1829), 274 f. 273 f. 269 f. 279 f. 282.

313
Aufklärung V. 9. Hegels historisch-systematischer Begcift'

läßt. Schlegels Historisierung des Aufklärungsbegriffs reduziert sich auf die genaue
zeitliche Begrenzung seines Anwendungsbereiches, dessen inhaltliche Kriterien al-
lenfalls partiell der historischen Realität entnommen werden.

9. Hegels· historisch-systematischer Aufklärungshegrilf

Innerhalb des Deutschen Idealismus ist die Möglichkeit einer systematischen Histo-
risierung des Aufklärungsbegriffes zuerst von HE!}EL im vollen Maße methodisch
erschlossen und eigentlich auch von ihm allein konsequent unter spezifisch geistes-
geschichtlichen Aspekten vollzogen worden. Zumindest übertrifft Hegels historische
Begriffsprägung Schlegels sonst unerreichte. Leistung auf diesem Gebiet an philo-
sophischer Intensität und geschichtsphilosophischer Universalität. Wenn für Hegel
1822 die Aufklärung etwas ... Antiquiertes ist179, dann kommt dadurch die Eigen-
art seines Aufklärwfgsverständnisses bereits sinnfällig zum Ausdruck. Dennoch geht
Hegel nicht so weit, 'Aufklärung' für etwas völlig Veraltetes und gänzlich Ver-
gangenes zu halten und sie vollständig mit den empirisch aufweisbaren Merkmalen
der im 18. Jahrhundert auftretenden Zeiterscheinung „Aufklärung" zu identifizieren.
Im einzelnen erweist sich sein Aufklärungsverständnis sogar als höchst vielschichtig,
kompliziert und von einer Fülle unterschiedlicher Gesichtspunkte geprägt. Das
spiegelt sich auch im wechselnden Ausmaß seiner Historisierung wider. Sie ist dort
am stärksten, wo Hegel unter phänomenologischen, geschichtsphilosophischen und
philosophiegeschichtlichen Gesichtspunkten die· 'Aufklärung' als „Bildungsstufe
des allgemeinen Geistes", „Gestalt des Bewußtseins und einer Welt" sowie „Gestalt
der Philosophie" im Zusammenhang sowohl der „Geschichte der Bildung des Be-
wußtseins zur Wissenschaft" wie der von Stufe zu Stufe durch eine Reihe von Ge-
stalten fortschreitenden weltgeschichtlichen „Entwicklung des Bewußtseins des
Geistes von seiner Freiheit und der von solchem Bewußtsein hervorgebrachten Ver-
wirklichung" darstellt und analysiert. Demgegenüber tritt der historische Charakter
der Aufklärung da am meisten zurück, wo Hegel unter systematisch-kritischen und
zeitkritischen Gesichtspunkten die 'Aufklärung' als geschichtlich vermittelte allge-
meine Denkweise, Erkenntnislehre und Weltanschauung des Verstandes bekämpft
und in der Kritik der Aufklärung oder genauer: in der doppelten Frontstellung gegen
Aufklärung und Pietismus, Reflexionsphilosophie und Gefühlstheologie, abstraktes
Denken und bloße Ilerzensfrön11nigkeit seine eigene Posit,ion einer „Philosophie uer
Versöhnung" begründet, für welehe die Aufklärung, diese Eitelkeit des Verstandes . ..
die lieftigste Gegnerin der Philosophie ist. In seiner Zeitkritik schließlich gilt Hegel
die gegen die Religion und die substantielle Erkenntnis Gottes negative Richtung der
Aufklärung außerdem als dasjenige der Zeitprinzipien, das am stärksten das Übel
der Zeit ausmacht, die Entzweiung und Zerrissenheit der „modernen Welt" bewirkt
und jenen Standpunkt verkörpert, den er für die letzte Stufe der Erniedrigung des

179 HEGEL, Vorrede zu Hinrichs' Religionsphilosophie (1822), Berliner Schriften 1818-1831,

hg. v. Joh1.uwe1:1 Hu.lfmei1:1w1· (Hawuu1·g 1950), 07. Der iw Rahweu Utll' „Juuiläuw1:1aU1:1-
gabe" nur in der Bearbeitung durch seine Freunde und Schüler vorliegende Text von
Hegels „Vorlesungen", der zuerst von 1832 bis 1844 veröffentlicht wurde, ist an sehr vielen
Stellen unzuverlässig. Das muß bei den angeführten Vorlesungszitaten immer mitbedacht
werden.

314
V. 9. Hegel& hMtoriaeh·•ysi-a.tiseher ~ Aufklärung

Mensclien achtet180• Ungeachtet der sich in den 1820er Jahren verstärkenden, aber
nie ganz durchsetzenden Neigung Hegels, die Verwendung des Aufklärungsbegriffs
als Individualbegriff auf das 18. Jahrhundert zu beschränken und Im allgemeinen
Sinne von Rationalismus zu sprechen, wenn er die formelle Denkweise und ab-
strakt-endliche Wahrheitslehre des Verstandes bezeichnen will181, wird in seiner
Sicht der geistesgeschichtlich erbrachte Nachweis ihrer Historizität nicht durch
das Faktum einer andauernden Aktualität der Aufklärung widerlegt. Als Bildungs-
stufe und Gestaltungsprinzip des Geistes gehört sie für Hegel unwiderruflich der
Vergangenheit an: der lebendige Geist hat sie verlassen, hat diese „Form seiner
Gestaltung" abgelegt, diese „Stufe" durchlaufen und sich zu „neuer Bildung" er-
hoben.
Die Frage, was bei Hegel den Aufklärungsbegriff über seine Identifizierung mit d_er
Verstandesaufklärung hinaus als historischen Individualbegriff konstituiert, ist
nicht leicht zu beantworten. Hegel verfährt bei der Verwendung des Aufklärungs-
begriffs nicht schematisch. Unterschiedliche Gesichtspunkte, die teilweise mit den
besonderen Erscheinungsformen des historischen Gesamtphänomens „Aufklärung"
korrespondieren, können zu jeweils unterschiedlichen Zusammenstellungen und
·Bewertungen der kon11titutiven Merkmale der Aufklärung führen. Daraus erklärt
sich auch, warum er in seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie"
mit einem engeren und einem weiteren Aufklärungsbegriff arbeitet und den weiteren
wiederum auf einen allgemeinen bezieht, der in gewisser Weise den geistesgeschicht-
lichen Fundamentalbegriff 'Aufklärung' darstellt, ohne daß dies im übrigen von
ihm selbst. explizite auseinandergesetzt wird. So bezeichnet Hegel die deutsche
Philosophie des 18. Jahrhunderts vor Kant, besonders insofern sie nicht wol/fische
Metaphysik ist, ... mit dem Ausdruck Aufklärung, spricht dann jedoch hinsichtlich
der französischen Philosophie dieser Zeit von einer anderen Form der Aufklärung,
wobei mit der letzteren selbstverständlich nicht die deutsche A u/klärung gemeint ist.
Diese wird vielmehr ihrerseits so erläutert, daß das, was man französische Philosophie
genannt hat, Voltaire, M ontesquieu, Rousseau, d' Alembert, Diderot, . . . alsdann als
Aufklärung in Deutschland au/getreten ist. Um die Komplikation seiner Begriffs-
bildung perfekt zu machen, entwickelt Hegel seinen philosophischen Fundamental-
begriff der 'Aufklärung' phänomenologisch am Beispiel eben dieser französischen
Philosophie und ihrer Radikalisierung zum Materialismus und Atheismus. In gleicher
Weise dient ihm fast ausschließlich die französische Philosophie des 18. Jahrhunderts
!lils Grundlage seiner dialektischen Rechtfertigung und geschichtsphilosophischen
Würdigung der Aufklärung. Im Gegensatz zur deutschen Aufklärung, über die Hegel

tso Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion, SW Bd. 16 (1928), 350 f. 353;
Vorlesungen über die Philosophie der Religion, ebd„ Bd. 15 (1928), 49. 51. 53; Vorrede zu
Hinriohs' Religionsphilosophie, 77.
1s 1 Ders„ Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hg. v. Johannes Ho:lfmeister
(Leipzig 1940), 191. 366; Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, SW Bd. 17,
112; Rez. der ;,Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen im Verhältnis zur
christlichen Glaubenserkenntnis" von C. Fr. Göschel (1829), Berliner Schriften, 329. 297.
298; Vorrede zu Hinrichs' Religionsphilosophie, 77. Vgl. Encyclopädie der philosophischen
Wissenschaften im Grundrisse, hg. v. Johannes Ho:lfmeister (Leipzig 1949), 7. 16. 25 (Vor-
rede v. 1827 u. Vorwort v. 1830). ·

315
Aufklärung V. 9. Hegels historiseh-systematiseher Begriff

in der Regel ganz abfällig urteilt, findet er jene wegen der Konsequenz, geistigen
Nnergie und Kraft des Begriffs, mit der sie den Standpunkt der· Negation verficht
und gegen die Existenz, gegen den Glauben, gegen alle Macht der Autorität angeht,
bewunderungswürdig 1 82.
Relativ einfach ist es, den zeitlichen Anwendungsbereich des geschichtsphilosophi-
schen Begriffs anzugeben. Als herrschende Geistesrichtung gehört die Aufklärung
für Hegel der mit Friedrich II. in die Wirklichkeit tretenden neuen Epoche an, die er
bis zur Französischen Revolution datiert und mitunter Zeit der Aufklärung, Periode
des aufgeklärten Verstandes, Zeitalter des Rationalismus, wiederholt aber auch einfach
Aufklärung nennt. Im letzteren Fall wird von ihm der Ausdruck zum ersten Mal
vollgültig als historischer Epochen-, Richtungs- und Systembegriff zugleich benutzt.
Die wichtigsten Merkmalsbestimmungen dieses Begriffs ergeben sich aus seinem Ver-
hältnis zum Prinzip des Protestantismus und zum Prinzip des Denlcens. Beide Prin-
zipien faßt Hegel auch zusammen im Prinzip der modernen Welt, die für ihn mit der
Reformation beginnt. Darunter versteht er vorzüglich den Eigensinn ... , nichts in
der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist,
und die Forderung des freien Geistes, daß der Mensch nur glaube, was er wisse, daß
sein Gewissen als ein lleiligtl., u1uintastbar sein solle. Die1:1e FurlllulitJrungen nnCI mehr
noch ihre weitere Ausführung erinnern unverkennbar an Definitionen und Explika-
tionen des Aufklärungsbegriffs, wie sie von Wieland, Kant, Bahrdt, Riem u. a. ge-
geben worden sind. Gleichwohl erkennt Hegel beide Prinzipien nicht als eigentüm-
liche Prinzipien der Aufklärung an, und er bestreitet ihr mit Nachdruck, das „Prin-
zip der modernen Welt" zu verkörpern, weil dieses von ihr nur höchst einseitig er-
faßt worden sei. Zwar habe sie das „Prinzip des Denkens" zum absoluten Kriterium
gegen alle Autorität des religiösen Glauben.~, der positiven Gesetze des Rechts, insbeson-
dere des Staatsrechts erhoben und sich dadurch sowie durch ihr Eintreten für die
Herrschaft der Vernunft große Verdienste um den weltgeschichtlichen Fortschritt
erworben, die Hegel ausführlich würdigt. Doch jenes Prinzip sei in ihr ganz abstrakt
aufgetreten und sein Inhalt als rein endlicher gesetzt worden: alles Spekulative aus
menschlichen und göUlichen Dingen hat die Aufklärung verbannt und vertilgt. Und von
dem, was sie als Vernunft ausgegeben habe, gelte, daß es nicht das ist, was unter
Vernunft verstanden, sondern was Verstand genannt werden muß. Obwohl es Hegel
nicht versäumt, die Errungenschaften der Aufklärung zu beleuchten und ihr tiefes
gei1chichtliches Recht zu beweisen, ihr Recht gerade auch als Denken gegenüber
gedankenloser Gefühlsreligiosität, wird seine systematische Begriffsbildung ent-
scheidend nicht durch die Errungenschaften, sondern durch die Nachteile und Un-
zulänglichkeiten der Aufklärung bestimmt. Für deren Aufweis ist im wesentlichen
immer ihr Verhältnis zum „Absoluten" ausschlaggebend nach Maßgabe des von
Hegel aus der dialektischen Bewegung des lebendigen, unendlich~endlichen Geistes
selbst gewonnenen Prinzips des absoluten Wissens. Infolgedessen gehört die Ver-
endlichung des Denkens nur insoweit zu ihren konstitutiven Merkmalen, als sie
o·in U~bi·voroum dvr Erlcv1mtni11 und t:iii Reich de1· Wi!h1·Ttt·it 1ichafl't, a-uße1· ·welclw:m Gutt

182 Ders., SW Bd. 19 (1928), 486 f. 508. 531. 514. 510 (vgl. dagegen ebd., 553 f. als Beleg für

die Flexibilität des Begriffs); Phänomenologie des Geistes, hg. v. Johannes Hoffmeister
(Hamburg 1952), 383 ff.

316
V. 9. Hegels bistorisch-1y1tematischer Begriff Aufldänmg

gesetzt ist, so daß der Standpunkt des Endlichen für ein Letztes, Goll als ein Jenseits
außer dem Denken genommen wird1sa.
In dem Maße, wie Hegel unter 'Aufklärung' ausschließlich die deutsche Aufklärung
versteht, konzentriert sich seine kritische Begriffsbildung auf die Plattheit und
Seichtigkeit des Wissens und die inhaltlose Kahlheit der Aufklärerei, ist ihm Auf-
klärung wesentlich ein Anhängsel, eine mattere Form der französischen Philosophie
des 18. Jahrhunderts, die ohne Geist mit verständiger Ernsthaftigkeit und dem Prin-
zipe der Nützlichkeit die Ideen bekämpfte. Den Vertretern dieser Aufklärung, bemerkt
er 1828, sei es bar jeder einheimischen Originalität darum gegangen, die Grundsätze
des Deismus, der religiösen Toleranz und der Moralität, welche Rousseau und Voltaire
zur allgemeinen Denkweise der höheren Klassen in Frankreich . . . erhoben hatten,
auch in Deutschland einzuführen. Im Unterschied zu Frankreich, wo sich das
Emporkommen oder Empören des Denkens vornehmlich gegen den geistlichen Stand
gerichtet und sich ihm alles angeschlossen habe, was Genie, Geist, Talent, Edelmut
besaß, habe in Deutschland die Aufklärung in diesem Stand ihre tätigsten und
wirksamsten Mitarbeiter gefunden, sei hier in der Sphäre der Mittelklassen das
Geschäft der Aufklärung betrieben und gegen alles, was sich von Genie, Talent, Ge-
diegenheit des Geistes und Gerrvüts auftat, in feindselige, trakassierende, verhöhnende
Opposition getreten. 1828 wie 1802 gilt Hegel die Berliner Aufklärung, zu der er
vor allem Nicolai, Mendelssohn, Teller, Spalding, Zöllner, die Gesamtperson „All-
gemeine deutsche Bibliothek" und als Nachbarn Eberhard, Steinbart, Jerusalem
u.a. rechnet, als Inbegriff solcher, d.h. der Aufklärung. Von ihr hebt er mit aller
Schärfe einen Kranz 0rigineller Individualitäten ab, die zwar mit den Berlinern im
1nteresse der Freiheit des Geistes ubereinkamen, den aus Frankreich kommenden
großem. Tm.p11.l11 11.h11r 1111lh11t.ä.nilie aufnahmen und von jenen aufs gehij,J;sigste ange-
griffen und herabgesetzt wurden. Bei diesen durch das Gefühl oder Bewußtsein des
Unendlichen ausgezeichneten Individualitäten denkt Hegel namentlich an Kant,
Hippel, Hamann, Herder, Wieland, Goethe, später Schiller, Fichte, Schelling u. a.,
weiter Jacobi und nicht zuletzt Lessing 184. _,,
Mit dieser Gegenüberstellung formuliert Hegel Gesichtspunkte, die für die roman-
tisch-idealistische Aufklärungskritik insgesamt kennzeichnend sind und später in
der geistesgeschichtlichen Entgegensetzung von „ westlicher Aufklärung" und
„Deutscher Bewegung" ebenso wirkungsvoll wie schematisch ausgeprägt wurden.
Hegels Aufklii.ruug1Jverständnis läßt sich jedoch auf ein derartigtis Schema nicht
festlegen. Es bleibt im höchsten Grade flexibel1 85 und wird immer wieder durch
historische und systematische, logische und zeitkritische, weltgeschichtliche und

1ea Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, SW Bd. 11 (1928), 551 f.; Vorlesungen
über die Geschichte der Philosophie, 366 f.; Ästhetik, hg. v. Friedrich Bassenge (Berlin
1955), 486 (Text der verbesserten Ausg. v. 1842); Grundlinien der Philosophie des Rechts
(1820), SW Bd. 7 (1928), 36. 439; Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 19,
331. 512. 533 f.; Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 15, 32. 262.
1" Ders., Rede zum Antritt doo philooophieohen Lehramte11 an der Univenität BerliD.
(1818), Berliner Schriften, 7; Enzyklopädie, 18; Religionsphilosophie, 487. 531; Rez. v.
Hamanns Schriften (1828), Berliner Schriften, 224 f.
1 86 In den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" heißt es z.B. hinsichtlich

Kants ähnlich wie 1802/03: Das letzte Ruultat der Kanti8chen PhiloBOphie i8t die Avfldä·

317
Aufklärung VI. Aufldärungsventänclnis im 19. Jahrhundert

philosophiegeschichtliche, allgemeine und individuelle, menschheitliche und natio~


nale, spekulative und empirische Elemente, Faktoren oder Perspektiven gründlich
variiert. Gemeinsam ist freilich allen diesen Begriffsvariationen, daß ihr Sinngehalt
geschichtlich vermittelt ist und sie Erscheinungsformen der modernen Verstandes-
aufklärung sind.

VI. Grundzüge und Aspekte des Aufkliruogsverstindnisses im


19. Jahrhundert
1. Allgemeine Charakteristik
Trotz nicht geringer Divergenzen im einzelnen ist der Beitrag, den Romantik und
Idealismus ~urch ihre historisch-systematische Begrenzung des Bedeutungsfeldes
von 'Aufklärung' zur Ausbildung des historischen Individualbegriffs 'Aufklärung'
geleistet haben, von ein.er bis dahin unerreichten Prägnanz und Zielstrebigkeit.
Die im Gesamtergebnis konsequent realisierte Absicht, die „Aufklärung" durch-
gängig al~ epoc.hale geistige Geiltalt und Bewegung der „Moderno" bzw. als ratio-
nalistisch-endliche, gegen alle geschichtliche Überlieferung und äußere Autorität
gerichtete, letztlich „irreligiöse" Weltanschauung, Denkweise und Geisteshaltung
des 18. Jahrhunderts zu umschreiben und ihren abstrakt-emanzipatorischen Cha-
rakter geschichtsphilosophisch evident zu machen, zeugt nicht allein innerhalb der
„Deutschen Bewegung" von der außerordentlichen begriffsbildenden Kraft des
romantisch-idealistischen Aufklärungsverständnisses in den ersten Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts. Nichtdestoweniger war dessen Einfluß auf den allgemeinen
Sprachgebrauch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und noch darüber hinaus sehr
begrenzt; denn dieser Sprachgebrauch ist weiterhin von Auseinandersetzungen
über den Bedeutungsgehalt und Anwendungsbereich von 'Aufklärung' geprägt,
die denen am Ausgang des 18. Jahrhunderts ähneln, wenn sie diese nicht direkt
fortsetzen. ·Das gilt besonders für die im Vordergrund stehende Frage der Abgren-
zung von wahrer und falscher Aufklärung. Wiewohl im Laufe der Zeit die Stimmen
sich mehren, die auf die wesenseigentümliche Vielschichtigkeit der 'Aufklärung'
hinweisen, zwischen Gattungs- und Artbegriffen, Haupt- und Nebenbedeutungen,
generellen und speziellen Verwendungsweisen unterscheiden und deuLlich machen,
daß die Entwicklung des Wortgebrauchs einerseits zur Herausbildung und Kon-
solidation eines sach- und wertneutralen allgemein-abstrakten Erkenntnis-, Unter-
richts- und Wissensbegriff 'Aufklärung' führt und andererseits davon im engeren
oder historisch-konkreten Sinn den Epochen-, System- und Richtungsbegriff 'Auf-
klärung' abhebt, so können sich diese Stimmen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
nicht durchsetzen und eine allgemein anerkannte Begriffsklärung bewirken, durch
die der historische Aufklärungsbegriff vollends freigesetzt würde. Für das Auf-
klärungsverständnis dieser Zeit insgesamt bleibt der Zusammenhang zwischen den
allgemein-abstrakten und den speziell-konkreten Aspekten der Aufklärung funda-
mental. Entweder wird - wie in den meisten Lexika des Vormärz - die historische
Bedeutung des Aufklärungsbegriffs gar nicht registriert und zwischen der allge-

rung ... , und: Die Kantische Philosophie iat thwretiach die metkodiach gemachte Aufklärong.
. . . Sie führt das W iasen in das Bewußtsein und Selbstbewußtsein hinein, aber hält es au/
diesem Standpunkte als subjektives und endliches Erkennen fest,· SW Bd. 19, 553 f. 554:.

318
VI. 1. Allgemeine Charakteristik Aufklärung

meinen und der besonderen Bedeutung der 'Aufklärung' unterschieden, indem


man eine allgemeine Aufklärung (unterscheidet), welche die für jeden Menschen absolut
Wichtigen Kenntnisse verbreiten und daher allen zugänglich sein soll; und eine beson-
dere, die darin besteht, daß jeder Stand. in dem, was zur Vervollkommnung seiner
Berufstätigkeit erfordert Wird, hinlänglich unterrichtet ist. Oder aber es wird· die
historische Bedeutung an der vorausgesetzten allgemeinen als dem Inbegriff der
wahren Aufklärung gemessen und dann die historische Erscheinung der Aufklärung
ihrerseits je nach dem Standort des Urteilenden als wahre oder falsche (mit Über-
gängen) Aufklärung gedeutet. Eine weitere Möglichkeit ist vor allem von den
Linkshegelianern entwickelt worden, indem sie die historische Bedeutung des Auf-
klärungsbegriffs zw Norm erhoben; und zwar nicht mit der (grundsätzlich in der
Historisierung der Aufklärungsthematik enthaltenden) Absicht, das, was 'Auf-
klärung' heißen soll, auf das historische Phänomen dieses N amcns zu beschränken,
sondern mit der ganz anders gerichteten, ·das Verhältnis des Besonderen zum
Allgemeinen umkehrenden Absicht, aus dem System- und Richtungsbegriff 'Auf-
klärung' programmatisch die Kriterien und Ideen abzuleiten, die für jede gegen-
wärtige und künftige Aufklärung generell konstitutiv sein müssen. Ursache und
Ausdruck der vorherrschenden Begriffsverwirrung ist außerdem ger häufige Ver-
zicht auf den Gebrauch eines spezifizierenden Beiwortes, wenn der Aufklärungs-
begriff offenbar als Artbegriff benutzt wird und mit ihm z. B. die moralische Auf-
kliirung im Unterschied zur pädagogischen, theologischen oder physikalischen Auf-
kliirung gemeint ist1 86 • Dadurch entsteht der Eindruck, als sei von der Aufklärung
schlechthin die Rede. Das ist freilich in den vielen Fällen nicht ungewollt, wo in
der Tat ein Aspekt oder Gegenstandsbereich der Aufklärung - z. B. der religiöse
oder pädagogische - zum am1achließlic.h wesensbestimmenden erklärt. wirn.
Was unter einer korrekt spezifizierten „religifüien Aufklärung" zu verstehen ist, steht
jedoch im voraus ebenfalls. nicht fest. Für Lunwm N OACK. z. B. sind 1853/55 die
Freidenker die Repräsentanten der religiösen Aufklärung und ist diese identisch mit
dem noch nicht beendeten Kampf gegen das hartnäckige Festhalten am religiösen
Glauben und Leben der Vergangenheit; gegen die Dunkelmächte des religiösen Wahnes
und für freies Denken in der Religion. Demgegenüber wird in einer 1843/44 er-
schienenen evangeliRchen „Predigtsammlung" die Menschwerdung Jesu als das
Wichtigste Fest religiöser Aufklärung betrachtet und verkündet, an der religiösen
Aufklärung erfreue man sich da, wo man, durch das Licht des Christentums geleiteL,
richtige Be,griffe von dem höchsten Wesen, von Vergeltung, von Menschenbestimmung
1ind Mensch.enp·ff.?:chüm hat..
Auch im katholischen „Kirchenlexikon" von 1847 wird der Begrif der religiösen
Aufklärung an der im Christentum begründeten einzig wahren Religion festgemacht
und versichert, nur eine gedi'.egene, allseitige, wahre und klare Erkenntnis desselben
führt zur wahren religiösen Aufkliirung. Ähnlich heißt es noch 1863 in der katholi-
schen „Realenzyklopädie des Erziehungs- und Unterrichtswesens", die wahre Auf-
klärung habe das wahre christliche Leben zum Grunde und zur V oraussetzung187 •

188 G. E. PETRI, Art. Aufklärung, ERSCH/GRUBER 1. Sect., Bd. 6 (1821), 306 f.


187 LUDWIG NoA.cx, Die Freidenker in der Religion oder die Repräsentanten der religiö&en
Aufklärung in England, Frankreich und Deutschland, Bd. 1 (Bern 1853), 2 f. 10; Bd. 3
(1855), 1. Vgl. WETZER/WELTE Bd. 1 (1847), 512.

319
Aufklärung VI. 1. Allgemeine Charakteristik

Daß die inhaltliche Indifferenz, weltanschauliche Neutralität und allgemeine Ver-


fügbarkeit des Erkenntnis-, Wissens- und Unterrichtsbegriffs 'Aufklärung' selbst für
seine quasi rationalistische Fassung zutrifft, beweist wiederum 1863 die katholische
„Realenzyklopädie". Nach ihrer Definition wird das W ortAufklärong meist nur in psy-
chischer Beziehung gebraucht, um damit die Verdeutlichung, Aufhellung und Berichtigung
unserer Vorstellungen und BegriUe aus~udrücken; und zwar könne man sie einmal
mehr als Kenntnis und Erkenntnis dessen, was vorher nicht gekannt und erkannt war,
betrachten, in welchem Falle sie der Unwissenheit und Unkenntnis entgegenstehe,
und das andere Mal mehr von Seite der Vollständigkeit, Wahrheit und Ordnung des
Gekannten ·und Erkannten auffassen, und insoferne steht sie der Lüge, dem Irrtume
und der verworrenen Erkenntnis entgegen. Als allgemm:ne A1J.jkläru.ng bedeute sie
dfr, miiglir.h.~t 1wllständige wnd richtige Erkenntnis alles dosson, was für jeden Menschen
als Menschen unbedingt und gleich wichtig ist, und als besondere ... die von allem
lrrtümlichen, Unwahren und Verworrenen freie Kenntnis dessen, was für den Men-
schen in seiner persönlichen Lebenslage notwendig sei. Deshalb müsse der Mensch
sowohl in jener als in dieser Beziehung A·ufklärung anstreben und durch die ih.m, z11.
Gebot stehenden Mittel (Selbstdenken, Unterricht, Belehrung etc.) Klarheit, Wahrheit
und V ollsüi11u1'iykeit in .~m:ne. Rrkenntnis zu bringen suchen.
Diese Aufklärungsbestimmung versteht sich allerdings selbst nir.ht 11.ls eine inhalt-
lich variable. Sie verfolgt vielmehr ausdrücklich den Zweck, jenes aus dem prote-
stantischen Subjektivitätsprinzip hervorgegangene und seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts besondere Geltung erlangende Erkenntnisverfahren, das den denken-
den Geist als das allein Giltige in der Erkenntnis hinstellte und sich daher für berechtigt
hielt, die Geschichte, zusammt dem historischen Recht und der Religion, mit der Lauge
de.~ SpnttP..~ mul. d.e:r Verachtung zu begießen, als eine voll und gnnz falsche-Aufklärung
zu erweisen, für das man die Benennung „Aufklärung" völlig unberechtigt usur-
pierte. Da die katholische Religion selbst ... die höchste Aufklärung (OUenbarung)
und das Richtmaß jeglicher Aufklärung sei, müsse korrekterweise das Treiben der
falschen Aufklärung ... Aufklärerei und der Inhalt der Aufklärerei Aufkläricht
genannt werden 188.
Das letztgenannte Wort Aufkläricht ist 1840 im gleichen Problemzusammenhang
von HEINRICH LEo geprägt worden, um da.~ prächtige Wort Aufklärung vor weiterem
„Mißbrauch" zu bewahren und dem Satanswesen der Aufklärlinge den ihm gebüh-
renden Namen nach Analogie des Wortes Kehricht zu geben. Leo benutzte das
Wort zuerst in der von E. W. Hengstenberg herausgegeh1m1m antirationalistischen
und politisch konservativen „Evangelischen Kirchenzeitung", die ihm zu rascher
und weiter Verbreitung verha1f18 9 ,
Während Leo sich damit begnügte, seine christlich fundierte Ansicht vom Wesen

188 Realenzyklopädie des Erziehungs- und Unterrichtswesens nach katholischen Prinzi-


pien, hg. v. HERMANN RoLFus u . .ADOLPH PFISTER, Bd. 1 (Mainz 1863), 118 ff.
189 HEINRICH LEO, Lana caprina, Ev. Kirchen-Zeitung, Jg. 1840, Nr. 84 v. 17. Oktober,

667. Vgl. FRIEDRICH ENGELS' Urteil über L. Büchner (ca. 1873): er kenne die Philosophie
nur als Dogmatiker, wie er selbst Dogmatiker des p"lattesten Abspülicht des deutschen Auf-
klärichts, dem der Geist und die Bewegung der großen französischen Materialisten ab-
handen gekommen (Hegel über diese) wie demNico"lai der des Voltaire; MEW Bd.20 (1962),
472 Anm.

320
VI. 2. Katholisehes Begriffaverständäi. Aufklärung

der Aufklärung vorzugsweise in bildlichen Wendungen zu verdeutlichen, unternahm


es 1847 das katholische „Kirchenlexikon", vornehmlich im Rahmen einer philoso-
phischen Analyse der falschen Aufklärung den Begriff der einzig wahren Auf-
klärung zu entwickeln. Er ist hier ebenfalls ohne jeden Vorbehalt identisch mit
dem Begriff der christlichen A:ufklärung, insofern er auf das religiöse Gebiet ange-
wendet wird und in bezug auf dieses Gebiet, wie es bezeichnenderweise heißt,
man heutzuta.ge vorherrschend von Aufklärung spricht. Auf der Grundlage eines
erkenntnistheoretischen Realismus und in der Kritik an der modernen Philosophie
und Wissenschaft mit ihrem einseitigen absoluten Subjektivismus und Rationalismus
versucht das „Kirchenlexikon" nachzuweisen, daß die in der wahren Erkenntnis
bestehende wahre Aufklärung das genaue Gegenteil der falschen Aufklärung ist.
Diese soll auf religiösem Gebiet in der Negation des objektiiien Ch.ristentt1ms, il.e.r
Kirche, der Schrift und des Goumenschen, politisch als Verkennung und Negation
der regierenden Autoritäten und Würden und generell durch die Verwerfung alles
Historischen und Gegebenen, zumal der auf objektivem und historischem Wege uns
zukommenden Erkenntnisse zum Ausdruck kommen. Die Gegenwartsaufgabe der
„wahren Aufklärung" wird dann aber nicht im einseitigen Festhalten am „objek-
tivon Christentum" gesehen, sondern in einer orgawiscl1e1& Verb·i1ul•tmg u1::i· t·ie/eren
Wissenschaft des subjektiven Geistes mit dem objektiven Christentum, durch die dem
subjektiven Geiste wie dem Christentum analog zum ausgewogenen Verhältnis der
geistigen Grundkräfte .Rezeptivität und Spontaneit,ät das gebührende Recht wider-
fahreteo.

2. W anclhmgen des katholischen Begrift"sverständnisses


t

Die Begründung, Erneuerung oder Fortsetzung eines rein christlichen und speziell
katholischen Begriffsverständnisses· ist für die Geschichte des Aufklärungsbegriffs
im 19. Jahrhundert nicht weniger typisch, als es das eindeutige Vorherrschen der
von Schaumann und Meiners aufgestellten Definitionen in den Konversationslexika
des Vormärz ist. Trotzdem ist das kirchlich-christliche Verhältnis und wiederum
speziell das des weltanschaulichen Katholizismus zur Aufklärung damit noch nicht
genügend charakterisiert. Neben den katholischen Kreisen, die den Ausdruck 'Auf-
klärung' als Begriff wahrer· Erkenntnis ernst nehmen und deshalb als einen christ-
lichen zurückfordern, gibt es nämlich andere, denen die Unterscheidung zwischen
wahrer und falscher Aufklärung unnötig erscheint, weil sie in der Nachfolge der ro-
mantisch-idealistischen Aufklärungskritik oder der Identifikation der „Aufklärung"
mit Illuminatismus und Jakobiniamus in den Jahren um 1790 unter 'Aufklärung'
prinzipiell etwas gänzlich Widerchristliches, Freigeisterisches, Destruktives und
Privatives begreifen. Als System- und Gesinnungsbegriff wird sie in diesen Kreisen
ausschließlich auf den „zersetzenden Geist" des Protestantismus und die „un-
gläubige" oder „falsche Philosophie" des 18, Jahrhunderts zurückgeführt und
insoweit mit dem gleichgesetzt, was das „Kirchenlexikon" „falsche Aufklärung"
nennt. Auf die Spitze getrieben hat dieses rein negative Verständnis der „Auf-
.klärung" 1862 der im politischen, nicht weltanr;ichaulichen Sinne katholisch-liberale
Politiker AUGUST REICHENSPERGER mit der Definition: Aufklärung, so viel wie Auf-

180 WETZEB{WELTE Bd. 1, 511 ff.

21-90385/1 321
Aufklärwlg VL 2. Katholisebee Begriffsventändais

lösung aller BegriOe über Pßicht, Recht und Religion - die Klarheit~ Nichts 191•
Maßgeblich vorbereitet und unterstützt wurde diese Auffassung seit den 1840er
Jahren durch den Görreskreis und die „Historisch-politischen Blätter für das ka-
tholische Deutschland", an deren Kampf gegen den Jakobinismus in jederlei Ge-
stalt, gegen die Aufklärung, gegen „eine gottentfremdete Wissenschaft, eine gottes-
schänderische Literatur, die Grundsätze der Auflehnung gegen jede gottgesetzte
Autorität, angemeine Rechtlosigkeit und Sittenlosigkeit" sich seit den 1860er
Jahren die „Stimmen aus Maria-Laach" intensiv beteiligten 192 . Zwar finden sich in
Beiträgen der 1850er Jahre zuweilen noch kritische Hinweise auf eine „falsche Auf-
klärung" und läßt der Gebrauch de11 Wortes 'Aufklärung' in Anführungtizeicheu
auf gewisse Vorbehalte schließen198. An dem völlig negativen Verhältnis dieser
durchweg romantisch-kon11ervativen und betont „ultramontamm" RtrömnngAn zur
Aufklärung änderte ·sich dadurch auf die Dauer nichts. Begriffsgesohiohtlich ge-
sehen, besteht ihre Bedeutung in erster Linie darin, der negativen Jfixierung d~s
Aufklärungsbegriffs innerhalb des Katholizismus endgültig zum Durchbruch ver-
holfen und hierdurch den Weg freigemacht zu haben, auf dem sich der dem Ratio-
nalismus zugeordnete historische Epochen- und Bewegungsbegriff 'Aufklärung'
durchsetzen konnte. Welche Rolle in diesem Zusammenhang die Enzyklika „QuanLa
cura" vom Dezember 1864 mit ihrer Ablehnung der „modernen Ideen" im allge-
meinen und des Rationalismus in seiner absoluten und seiner gemäßigten Form, des
Liberalismua und der modernen Wissenschaft im besonderen gespielt hat194, ist im
. einzelnen schwer abzuschätzen.
KETTELER schreibt noch Ende 1861: Die Worte FortschriU, Aufklärung, Freiheit,
Brüderlichkeit, Gleichheit haben einen erhabenen, himmlischen, göUlichen Sinn. Sie
enthalten eine große Wahrheit, eine von Gott den M en.~chen (JP{Jeherui lwh.e Aufun.he.
Er betont, wie sehr die mit diesen Worten bezeichneten Ideen den Wahrheiten des
Christentums entsprechen, das allein ihren vollen und wahren Sinn angebe, und häit
es für unbedingt erforderlich, den Mißbrauch dieser Worte durch ihren _rechten Ge-
brauch zu überwinden. Anfang 1867 dagegen ist der Ausdruck 'Aufklärung' für ihn
eigentlich schon nicht mehr im christlichen Sinne verfügbar196 •
Welchen Weg das katholische Aufklärungsverständnis von den 1850er Jahren bis
zum Begirin des 20. Jahrhunderts nimmt und welche Bedeutungsveränderung der
Aufklärungsbegriff dabei erfährt, veranschaulicht musterhaft ein Vergleich des Auf-

181 AUGUST RlClflITTlNSPWRGER, Phrasen 1md Schlagwörter lPaderbom 1862), 3; 3. Auß.


(1872), 9.
m Vgl. z. B. den Artikel „Aufklärung und Humanität" in: Hiat. polit. BH. f. d. kath.
Deutschland 26 (1850), 16 ff. Von dem Wort 'Humanität' heißt es übrigens dort, es sei nicht
mehr sehr gebräuchlich und fange schon an, nach „Zopf" zu schmecken. Wahre Humanität
.könne zudem keine andere als eine christliche sein; ebd., 29. Vgl. ferner: Stimmen aus
Maria-Laach 58 (1900), 1 ff., bes. 4.
198 Vgl. auch CARL ERNST JARCKE, Der Illuminatismus (1835), Vermischte Sehr„ Bd. 2

(München 1839), 219 f. 240.


1 14 CLEMENS ScHRADER, Der Papst und die modernen Ideen, 5 Hefte (Wien 1864/67),

bes. H. 2: Die Encyclica voi:n 8. 12. 1864, 3. Aufl. (1865).


l&& WILHELM EMMANUEL FRH. v. KETTELER, Freiheit, Autorität und Kirche. Erinnerun-
gen über die großen Probleme der Gegenwart (Mainz 1862), 4. 1. 5; ders., Deutschland nach
dem Kriege von 1866 (Mainz 1867), 117; vgl. ebd., 142 f.

322
klärungsartikels der 1. Auflage von Herders Konversationslexikon mit dem der
3. Auflage. 1854/56 wird Aufklärung im neutralen Sinne jener geistige Vorgang
genannt, in dem der Mensch durch eigenes N ackdenken oder durch Belehrung sich
eine richtige Einsicht in Verkältnisse efwirbt, die ihm früher dunkel waren, oder sich
Kenntnisse verschafft, die ikm früher fehlten. Als Faktoren der Aufklärung charakte-
risiert der Artikel die Kirche (arbeitet ge.gen den Aberglauben!), die Schule, die Ge-
meinde, den Staat und die freie Tätigkeit des Einzelnen und beschreibt danach die
falsche Aufklärung. 1902 stellt der Artikel nur noch am Anfang lakonisch fest, Auf-
klärung bedeute im weitern Sinn jede Be'lehrung, um dann den Ausdruck sofort ohne
Oberleitung als Bezeichnung einer rationalistisch•ungläubigen Richtung zu bestim-
men, die seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts den positiven christlichen Glauben als
Unwissenheit und Finsternis behandelt, die Vernunft „mündig" und von den Fesseln
der übernatürlichen Offenbarung freimachen wiUlH. ·
Als sich um 1910 der Reformkatholizismus erneut für eine differenzierte ßetrach-
tung der Aufklärungsthematik einsetzt, da orientiert er seine Fragestelltung nicht
mehr an der christlichen Idee der Aufklärung, sondern an dem historischen Faktum
der Epoche und Bewegung Aufklärung, um sie sachgemäß zu erfassen und dar-
zustellen107.

3. Positionen des protestantischen Begrlfl'llvel'llUlndniH!fell

Verglichen mit dem katholischen Aufklärungsverständnis kennzeichnet das pro-


testantische und speziell das protestantisch-theologische im 19. Jahrhundert ein
besonders hohes Maß an Divergenz und Inkonsistenz. Das erklärt sich aus der Viel-
zahl unterschiedlicher und gegen1ätzlicher Richtungen, Schulen und Standpunkte,
die unter den Namen Rationalismus und Erweckungsbewegung (Pietismus), Na-
turalismus und Supranaturalismus, Idealismus, Romantik und Positivismus,
Orthodoxie und Liberalismus, Repristinationstheologie und Vermittlungstheologie,
Konfessionalismus, Dogmatismus und Historismus etc. ausgebildet und yertreten
worden sind. Für den von „1790" bis über die Schwelle der 1840er Jahre als „Partei"
auftretenden (theologischen) Rationalismus 111s ist der Aufklärungsbegriff als
System- und Richtungsbegriff entbehi-lich. Was immer mit dem Wort 'Aufklärung'
in dieser Beziehung ausgedrückt werden könnte, enthält für ihn bereits treffender
der Begriff 'Rationalismus'. Er bezeichnet nach dem repräsentativen Urteil von.
J. F. RoEHR 1. eine allgemeine Denkart, Geisteshaltung und Ideenrichtung, deren
Prinzip es ist, in allen Bereichen des menschlichen Lebens, Denkens und Wissens
nur das für wahr und annehmbar zu halten, was die ,,sich selbst überlassene
menschliche Vernunft" erkennen und ·beweisen kann und den „Charakter der All-
gemeingültigkeit ~owie strenger Angemessenheit zu sittlichen Zwecken" an sich
trägt; - 2. im engeren Sinne eine auf diesem Prinzip basierende theologische Rich-
tung, die sich mit der Anwendung der rationalistischen Denkart in Glaubenssachen

19 8 HERDER 1. Aufl., 2. Ausg., Bd. 1 (1856), 326; 3. Aufl„ Bd. 1 (1902), Sll.
197 SEBASTIAN MERKLE, Die katholische Beurteilung des Aufklärungszeit.alters (Berlin
1909); ders., Die kirchliche Aufklärung im katholischen Deutschland (Berlin 1910);
198 Vgl. EMANUEL HmsOH, Geschichte der neuem evangelischen Theologie, Bd. 5 (Güters-

loh 1954), 3 ff.

323
VI. 3. Protestantisches Begrift'sverständnis

konstituiert und ein Glaubenssystem aufstellt, nach dem der Rationalismus die An-
nahme einer übernatürlichen Offenbarung gänzlich von sich weiset und die Vernunft
zur einzigen Erkenntnisquelle religiöser Wahrheiten sowie ihr siUliches Interesse zum
Prüfstein derselben macht; - 3. die rationalistische Denkart als eine solche, die mit
dem Gange der europäischen Kultur seit der Wiedergeburt der alten IÄteratur im 14.
und 15. Jahrhundert derart aufs genaueste zusammenhängt, daß von dieser Zeit an
sich gleichsam die Epoche des Rationalismus datiert199. Wenn im Rahmen des theo-
logischen Rationalismus der Ausdruck 'Aufklärung' verwendet wird, dann hat er
lediglich die allgemein-abstrakte Bedeutung „Belehrung", „Unterrichtung", manch-
mal auch „Einsicht" und „Wissen" oder „Gelehrsamkeit", sofern er nicht in der
Nachfolge des Philanthropinismus als einigermaßen festumrissener Erziehungs-
begriff benutzt und mit der pädagogischen Aufgabe der „Schärfung des Verstandes
überhaupt" verknüpft wird200.
Nachdem Hegel 'Rationalismus' und 'Aufklärung' unter systematischen Gesichts-
punkten im wesentlichen gleichgesetzt hatte, E. W. Hengstenberg und F. J. Stahl
hingegen bei der Bezeichnung des historischen (seit dem 17. Jahrhundert und im
Gegensatz zum Materialismus) urid des zeitgenössischen Abfalls vom Ohristentum
und christlicher Kirche allein den Ausdruck 'Rationalismus' verwendet hatten 201 ,
versuchte unter den Theologen zuerst F. A. THOLUCK 1864 im großen Stil das Ver-
hältnis zwischen Rationalismus und Aufklarung historisch-systematisch festzu-
legen. Er bezieht den Begriff 'Rationalismus' im eigentlichen Sinne auf die theo-
logische Richtung gl~ichen Namens und hebt von ihr die vorausgehenden Bewe-
gungen des Pietismus und der Aufklärung ab. Letztere sei kein Rationalismus i. e. S.
gewesen, weil sie nicht wie dieser den gesunden Menschenverstand als Autorität an d'ie
Stelle der Schrift gesetzt habe. Ale Aufklärung bezeichnet er im einzelnen eine in
Deutschland durch das ganze 18. Jahrhundert sich erstreckende historisch abge-
schlossene Richtung, welche - anstatt in das Geschichtlichgewordene sich liebevoll zu
vertiefen, ... mit oberflächlicher Verstandeskritik meist nach dem Kriterium der prak-
tischen Nützlichkeit das Geschichtlichgewordene verwarf, um aus abstrakten Prin-
zipien einen Neubau an die Stelle zu setzen. Abstraktes Räsonnement stau geschicht-
licher Vertiefung, Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit an sich und Interesse nur am
prakti.!chen Werte fii,r das Subjekt seien die Maßstäbe der Aufklärung, an denen nicht
bloß das Bestehende in der Kirche, sondern auch im Staate, in Kunst und Wissenschaft
gemessen wurde.
Weder Tholucks Abgrenzung der Aufklärung vom Rationalismus noch sein Verc
gleich der englischen und holländischen Aufklärung mit der deutschen Aufklärung,
die allein einen stufenmäßigen Ablauf gehabt und die Aufklärung im theologischen
Sinne bis zur letzten Konsequenz entwickelt habe, fänden im Sprachgebrauch der

m JoH. FRIEDRICH RoEHR, Briefe über den Rationalismus (Aachen 1813; der Verlagsc;>rt
ist fiktiv), 42 ff. 51 ff. Ausdrücklich spricht sich Roehr dagegen aus, völlige Religions-
8']JÖtter und Religionsleugner wie Voltaire und Diderot dem Systeme des Rationalisten zu-
zurechnen (14).
200 GusTAv FRIEDRICH DINTER, Die vorzüglichsten Regeln der Pädagogik, Methodik und
Schulmeisterklugheit, 4. Aufl. (Neustadt/Orla 1822).
20 1 FRIEDRICH JULIUs STAHL; Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche (Berlin
1863), 63.

324
AafkJiinmg

Zeit einen größeren Widerhall202 • In dem von BRUNO BAUER beeinflußten, wenn
nicht geschriebenen Aufklärungsartikel des Wagenerschen Lexikons wird die These
vertreten, 'Aufklärung' gehöre schon lautlich allein der deutschen Sprache an und
bezeichne als Zustand und Täti,gkei,t, als System und Propaganda vorzugsweise eine
NoJ,ionalnlrlAJekgenheit der Deutschen in der zweiten Hälfte des vori,gen Jahrhunderts.
Wie das französische lumieres nur einzelne Streiflichter, allenfalls auch eine ausge-
breitete Lchtmasse, ·aber nicht den dadurch bedingten Z,ustand der Gesellschaft oder
die Tätigkeit der .Aufklärer bezeichne und das englische enli,ghtening überhaupt nur
eine schwache NachJ:>i,ldung des Deutschen20 s sei, so müsse die Aufklärung wohl unter-
schieden werden von der Toleranzidee, dem Deismus, dessen Popularieierung durch
Voltaire und ähnlichen Eracheinungen2 °'.
Die Einzigartigkeit der Aufklärung wird zur Hauptsache aus den Geheimbund-
plänen und den entsprechenden Aktivitäten von K. Fr. Bahrdt und A. Weishaupt
abgeleitet und mit Argumenten begründet, die in der Behauptung gipfeln, sie sei
ein bewußt verschleiertes, absolut despotisches .Autoritätssystem gewesen, das nicht
der Erleuchtung und Befreiung der Welt, sond.em der Aufrichtung der unbestrittenen
Herrschaft der Aufklärer hätte dienen sollen. Der Versuch, die Welt dadurch dem
schrecklichsten Despotünnus zu •1.111Uerwe:r/en, daß man jm Geheimen eine moralische
Macht über die ganze N oJ,ion selbst bis in die Hütten des Volkes ~rrang und endlich eine
unbestreitbare Einheit des Denkens in der ganzen N oJ,ion herstellte, also eine Art Total-
ideologisierung vornahm, sei allerdings in der Praxis an der Armut und Schwäche der
ganzen .Aufklärungsarbeit gescheitert. Zeitgenössische Anklagen gegen den als aufge-
kfij,rten J esui.tismus interpretierten Illuminatiemus aufgreifend, geht es dem Artikel-

1108 FRml>RICH AUGUST TuoLuox, Geschichte des Rationalismus, Bd. 1 (Berlin 1865), 92 f.
ME .
101 Vgl. unten S. 336 die Auffassung L. v. St.eine zu diesem Punkt.
1 °' WAGENEB Bd. 3 (1860), 30, Art. Aufklärung. Die Argumente des Artikelautors haben
einiges für sich; Obwohl z. B. ZIMMEBMA.NN 1790 unter „les progres des lumieres" die
„ wahre Aufklärung" versteht (s. 0 S. 285) und der FRH. VOM STEIN um 1809 'les lumieres'
0

mit .Aufldäru1ng übersetzt (Br. u. Sohr., Bd. 3, 1932, 495), „verdeutscht" CAMPE noch
1808/09 'luinieres' mit die Einsichten (Fremdwb., 2. Aufl., 89). In der 2. Aufl. von Mozm
Bd. 1 (1823) heißen die entsprechenden französiSchen Ausdrücke zu „Aufklärung einer
Flüssigkeit": clarification; „eines Zweifels, einer Stelle": klairci&aement; „der Völker
etc.": la culture, Zes Zumih'ea; „die Aufklärung befördern" i favoriBer la culture de Veaprit;
a
„an der Aufklärung anderer arbeiten": travailler klairer lea kommes; „die Aufklärung
unserer Zeiten": leä lumih'es etc. (69). Im Allg. dt. Conv. Lex. (Bd. 1, 1839, 632) werden
als entsprechende französische Ausdrücke 'culture' und 'lumi~res' und als entsprechender
englischer Ausdruck 'enlight.ening' angegeben, und zwar für 'Aufklärung' im Sinne von
Erhi#AJ,ng du .Ansichten und Meinungen der Men8Cken über die Gegemtände dea Leben& und
ihre immer größere Steigerung 'IUICh den Gesetzen der Vernunft. Nach dem OED (vol. 3, 1933,
191) ist 'enlight.enment' amn.etimea 'U8e.d ( after German Aufklärung, Aufklärerei) to deaignate
tke apirit and aims o/ tke French philoaopkera o/ tke J8th c., or of otkera wkom it iB intended t.o
a880Ciate with tkem in tlie implied charge o/ shaUow and pretentiO'U8 intellectualiam, unrea-
aonable oontempt /or tradition and autlwrity, ef,c. - Zweifellos ist der französische Ausdruck
'les lumieres' nicht.ohne weiteres, d. h. ohne eine Verbindung z.B. mit. 'siecle', als Epochen·
begriff verwendbar. Der französische Historiker GEORGES LEFEBVRE spricht bezeichnender-
weise von l'Au/klärung, dont la Pf"U8ae devint la fortereaae; La Revolution fran9aise, 46 ed.
(Paris 1956), 71; vgl. ebd., 195. 202.

325
Aufldiinmg VI. 3. Protestantisches BegriflsverstäadnU

autor darum, unabhängig von der Frage der Irreligiosität und des rationalistischen
Autonomiedenkens die wesensmäßige ldeologiehaftigkeit der Aufklärung nachzu-
weisen und dem alten Vorwurf der Unwahrheit und Negativität den der Unwahr-
haftigkeit und Heuchelei hinzuzufügen 205 .
Eine ganz andere Deutung der Aufklärung findet sich im gleichen Le~on - und
auch das gehört zum vielfarbig schillernden Bild des Aufklärungsverständnisses im
19. Jahrhundert - unter dem Stichwort „Rationalismus". Hier wird 1864 unter
Einschluß der Klassik die gesamte zweite Hälfte des 18. Jahrhurulerts als das Zei-t-
alter der „Aufklärung" bestimmt und als dessen einheitliche Parole die Humanität
bezeichnet: Während der philanthropische Humanismus alle Lebensformen in Kirche
und Staat ihres höheren sittlichen Inhalts entleerte und den Nutzen als einzigen Maß-
st.crb se'l:nes Menschheitsba11es betrachtetll, slltztll d1J1 klassische HumaniBmtNJ mit dem
Motive des Schönen in den Gang der Aufklärung ein. Goethe, Schiller, F. A. Wolf,
Wieland, Lessing und Herder werden zu den auf der Höhe der Aufklärungsepoche
stehenden Zeitgrößen ernannt und die Gemeinsamkeit beider Arten des „Humanis-
mus" in der Zersetzung der Menschheit in ein Konglomerat von lri,d,ividuen gesehen,
deren jedes seine Meinung für die Vernunft und seine Grundsatze für religiös hieU.
Auf dtJn Triün·trUfl'n tler Atwtnrittlt.P.n in Kirch.e und Staat, auf der nivellierten
Ebene, die durch W egrasierung der Familien- und Volkstradition, der väterlichen SitJ.e,
der Standesunterschiede, alles positiv f3ittlicken und Religiösen - kurz aUes von oben
und außen her dem Menschen Gegebenen hergestelU war, hätten beide ihren Humani-
tätstempel erbaut206 •
Auf dem Hintergrund dieser aufschlußreichen, Verstandestum, Irreligiosität,
soziale :Bindungs- und 'l'raditionslosigkeit, Individualismus, Egoismus und Sub-
jektivismus zu den konstitutiven Merkmalen der Aufklärungsepoche erhebondon
Deutung wird dann uriter 'Rationalismus' ?.weierlei verstanden: 1. allgemein die
seit der Antike überall und in den verschiedensten Gestalten auftretende Geistes-
Richtung, welche in Sachen des Glaubens die Vernunft zum Maßstab der Wahrheit
macht, und 2. das ResuUat des Ganges der Theologie im ZeitaUer der sogenannten Auf-
klärung. Das entspricht im wesentlichen der Auffassung von Tholuck.
In Hinweisen auf die zeitgemäße Restauration des Rationalismus des gesunden
Menschenverstandes durch die Junghegelianer und seine Wirksamkeit 1:n den Volks-
massen, namentlich in den Schichten der halben BiUlung und in den „liberalen"
Beamtenkreisen wird dann jedoch die 48er Revolution zur Frucht des Rationalismus
als der lrreligion der Demokratie erklärt und da~t ein spezifisch politisch-sozialer
Rationalismusbegriff anvisiert. Gleichwohl soll nach Auffassung des Lexikons im
herrschenden Sprachgebrauch mit 'Rationalismus' der sdhulmäßige theologische
Rationalismus gemeint gewesen sein207.
Das trifft zweifellos, wie schon ein kurzer Blick auf den Wortgebrauch von C. Welcker,
H. Hettner und Heinrich Brück lehrt, nicht zu. Um so schwieriger ist die Frage
zu beantworten, warum die deutschen Übersetzer der einflußreichen „History of
the Rise and lnfl.uence of the Spirit of Rationalism lli Europe" (186u) von W. E. H.

20 6 w AGENER Bd. 3, 32. 30. 38. Vgl. dazu BRUNO BAUER, Freimaurer, Jesuiten und Illu-
minaten in ihrem geschichtlichen Zusammenhang (Berlin 1863).
208 WAGENER Bd. 16 (1864), 677 ff., Art. Rationalismus.
207 Ebd., 677. 684.

326
VI•. '- Allgemeiner welt.wn...laaulicher Aafldiraqlhepiß' Aafldiraq

LEOKY 'rationalism' regelmäßig mit 'Aufklärung' wiedergeben 29'. Möglicherweise


erschien ihnen 'Aufklärung' terminologisch weniger eng festgelegt als 'Rationalis-
mus' ; zumal Lecky die Geschichte der Entstehung und des Einflusses der „ratio-
nalistischen Denkart" upon the various forms of mmaZ and imeUectuaZ development
oder des Einflusses o/ the rationalistic spirit upon opinions im Zuge der Ausbildung
und Ausbreitung der europäischen Zivilisation darstellt. Unter 'rationalism' oder
'spirit of rationalism' versteht er ausdrücklich not any ckus of d,efinite doctrines or
criticisms, but rather a certain cast of thougkt, or bias of reasoning, which 1uu during
the last thre,e centuries gained a market, asCerukncy in Europe und Zeads men on aZZ
occasions to subordinate dogmnJ,ic theoZogy to the dictates of reason and of conscience,
and, as necessary consequence, greatZy to restrict its inP,uence upon Zi/e 209•

4. Bildung und Anwendung ein.es allgemeinen weltansehauliehen


Aufldärongehegri«a

Welche Motive die 'Obersetzer auch immer zu ihrer Wortwahl bewogen haben mö-
gen, begriffsgeschichtlich ist sie besonders bemerkenswert, weil sie auf einen Vor-
gang aufmerksam macht, durch den die Anwauuung1uuüglichkaiLeu des Aufklärungs-
begriffs einerseits sachlich eingeengt, andererseits jedoch in zeitlicher Hinsieht un-
begrenY.t ArwAit.ert worden 11ind. In dem Maße nämlich, wie sich in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts der historische Epochen- und Bewegungsbegriff 'Aufklärung'
bedeutungsmäßig festigt und von dem sach- und wertneutralen Allgemeinbegriff
'Aufklärung' abhebt, tritt die Tendenz zutage, einen allgemeinen Weltanschauungs~.
System- und Methodenbegriff 'Aufklö.rnng' auszubilden, der in der Sache generell
mit dem der historisch-konkreten Aufklärung übereinstimmt, dessen Anwendungs-
bereich aber nicht auf das „Zeitalter der Aufklärung" beschränkt ist, sondern im
Prinzip die gesamte Geschichte der Menschheit umfaßt.
Die Bedeutung, die dieser Begriff im Laufe der Jahre gewinnt, zielt darauf ab, unter
'Aufklärung' allgemein eine .Weltanschauung, Geisteshaltung, Denkweise u.ä. m.
zu verstehen, welche die bindende Autorität der Tradition verwirft und das Denken
von der Herrschaft überlieferter Glaubenslehren, dogmatischer Vorstellungsweisen
und Gebräuche befreien, seine Eigenständigkeit begründen sowie das von ihm als
vernünftig Erkannte zur Geltung bringen will. 'Ober die Anwendbarkeit eines solchen
Aufklärungsbegriffs auf das griechische Altertum (sei es positiv auf das gesamte
klassische Zeitalter Athen.S, sei es negativ nur auf die Sophistik) gab es kaum Mei-
nungsverschiedenheiten. Darüber hinaus werden nun Formulierungen gebraucht
wie die von einer Aufklärung nach A.rt Lukians, von der im Zeichen des Pharisäismus
und Sadduzäismus stehenden ersten jÜ<lischen A.ufklärungszeit, von d,en diese Auf-
klärung repräsentierenden Sadduzäern oder werden Kaiser Friedrich II., die

208 WILLiill EDWARD HARTPOLE LECKY, History of the Rise and Influence of the Spirit

ofRationalism in Europe (London 1865; 4th ed. 1870, rev. ed. New York 1872), dt. v. H.
Jolowicz u. d. T.: Geschichte des Ursprungs und Einfl.US8811 der Aufklärung in Europa
(Leipzig 1868; 2. Aufi. 1873); dt. v. Immanuel Heinrich Ritter u. d. T.: Geschichte des
Geistes der Aufklärung, seiner Entstehung und seines Einfl.usses (Berlin 1874; 2. Auß.
Heidelberg 1885).
•ot LECKY, History, vol. 1 (rev. ed. 1872), 16. 19. 16.

327
Aufklärung VI. 4• .ADgemeiner weltamehaalicher Aufklänmpbepift

italienischen Humanisten, Erasmus und Papst Leo II. A.ufgekliirte genannt. Fast
zur gleichen Zeit, als der evangelische Theologe und kirchlich-konfessionelle Päd-
agoge CHRISTIAN PALMER auf christlichem Boden bis zur Reformation, die er im Un-
terschied zur Zeit des Humanismus und der Renaissance nicht als A.ufkliirungs-
periode beurteilt wissen will, nur einzelne aufkliirerische Momente auftauchen sieht,
veröffentlicht der evangelische Theologe und Kirchenhistoriker Hl!lRMANN REUTER
1875/77 eine „Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter vom Ende des
achten Jahrhunderts bis zum Anfange des vierzehnten". Reuter interpretiert z.B.
Berengar von Tours als einen scharfsinnigen Theoretiker der A.ufkliirung, bezeichnet
1talien und Frankreich im 12.Jahrhundert als die Länder derA.ufkliirung, hält Abaelard
für einen aufgekliirten Christen, der aufkliirerische Ideen, ja das Evangelium der A.uf-
kliirung verkündet habe, dessen Gesinnungsgenossen die Propaganda der Aufkliirung
betrieben hätten und der den gleichmäßigen Eindruck des A.ufkliirers hinterlasse.
Diesem Wortgebrauch legt Reuter folgende typische Begriffsbestimmung zugrunde:
Unter „Aufklärung" verstehe ich die Opposition der als selbständiges Licht sich wis-
senden Vernunft gegen den als ·lichtscheu vorgestellten Dogmatismus, die Bewegung der
Emanzipation von den autoritativen Gewalten, weloli,e den Sturz oder doch eine wesent-
liche Schwächung dßracU)cn cr~iclt, in der Ll.b.~ioht an Rt.t:llf. df'.11 k.nth.nU.~r.h.M1. 011.rister~­
tums ... sei es ein von der Kritik gereinigtes, von der Vernunft als dem Mchsten
Kriteium der rez.igiüsl3n Wahrheit umgestaltetes (Christentum), sei t'n~ di.e natürliche
Religion zu setzen, sei es alle Religion aufzulösen 210•
Im Rahmen dieses allgemeinen Aufklärungsverständnisse11, das z. T. in abgewan-
delter Form weite Verbreitung fand und auch heute anzutreffen ist211 , stellt sich die
europäische Geschichte als eine Abfolge von Aufklärungsperioden dar und wird in
der „Aufklärung" schlechthin ein oder der Grundzug dieser Geschichte von ihren
allerersten Anfängen an erkannt. Das bedeutet für das Verhältnis von Aufklärung
und „moderner Welt", daß Aufklärung nicht als der eigentümliche Grundzug oder
das spezifische Denk- und Wissensprinzip dieser Welt anzusprechen ist und die mit
dem Individualbegriff gemeinte historische Epoche bestenfalls als ein Gipfelpunkt
der bisherigen Aufklärungen zu gelten hat. Reuter verteidigte Ende 1874 seinen
Wortgebrauch mit dem Argument, es gebe keine kanonische Definition der A.uf-
klärung212. Diese Ansicht hatte in den siebziger Jahren sicherlich nicht weniger
Anhänger als die andere, die den Aufklärungsbegriff i. e. S. mit dem historischen
Individualbegriff identifiziert und ihm zu quasi kanonischer Geltung verhelfen
wollte. Das gelang in den siebziger Jahren selbst bei denen nicht immer, die dafür
an sich offen und bereit waren. An Konfusion grenzende Bedeutungsschwan-
kungen und große Unsicherheit im Sprachgebrauch gehören auch in den siebziger
Jahren noch zum allgemeinen Bild des Aufklärungsverständnisses. So akzeptiert
beispielsweise PALMER als Idee der Aufkliirung zunächst die generalisierte Wesens-

uo CmusTIAN v. PALMER, Art. Aufklärung, ScHMID Bd. 1(1876),256; HERMANN REUTER,


Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter vom Ende des achten Jahrhundert.s
bis zum Anfang des vierzehnten, Bd. 1 (Berlin 1875), 126. 164. 213. 248. XX. 259. V.
211 Vgl. KARL VoRLÄNDER, Geschichte der Philosophie, 9. Aufl., Bd. 1, hg. v. Erwin Metzke

(Hamburg 1949), 77: Die sophi8ti8ckeAufklärung; Die Vorsokratiker, hg. v. WILHELM CAPEL-
LE, 4. Aufl.. (Stuttgart 1953), 317: Zeit,alterdergriechiackenAufklärungim 5.Jahrhundert.
212 REUTER, Geschichte, Bd. 1, VI.

328
VI. 5. Aufklärungsverständnis des Frühliberalismus Aufklärung

bestimmung des gleichnamigen historischen Zeitalters und definiert dieses um-


gekehrt als diejenige Zeit, welche von dieser Idee vorzugsweise bewegt war, und der
vom historischen Gesichtspunkte betrachtet, trotz allem Unheil, was sie angerichtet,
ihre notwendige Stelle im Gange der Geschichte zukommt. Dann wird er aber un-
sicher in seinem Urteil über die Allgemeingültigkeit jener Idee als Idee einer
schlechterdings negativen und destruktiven Erkenntnismethode, Weltanschauung
und Geisteshaltung. Tholucks Aufklärungsdefinition erscheint ihm nur zutreffend
für eine bestimmte geschichtliche Erscheinung, durch die nicht ausgeschlossen wird,
daß der Name auch einen andern, bessern Inhalt sich geben kann. In der Absicht,
diesen „bessern Inhalt" zu erschließen, stellt er die Formel auf: Jeder Mensch soll
au/geklärt werden, aber nicht alle Dinge sollen und können au/geklärt werden. Wer
das erste leugne, sei ein Obskurant; wer aber das zweite behaupte, sei ein Aufklärer
(im schlimmsten Sinne des Wortes). Mit gewissen Anklängen an die christliche Idee
der Aufklärung leitet er daraus die Konzeption einer mit christliclier W e-i/;lie-it und
Freiheit zu vereinbarenden, also wahren Aufklärung ab, die sich von allem fernhält,
was wir eben unter dem Namen Pietät zusammen/assen 213•

S. Das Auf'klärungnerständnis des }'riihliherolismus im Spiegel der Obskuran·


tismuskritik
Unter den vielerlei Bemühungen des 19. Jahrhunderts, -den Aufklärungsbegriff
allgemeinverbindlich zu definieren, verdienen auch diejenigen besondere Beach-
tung, welche die „Aufklärung" als das genaue Gegenteil des „Obskurantismus"
bezeichnen und dadurch ihre konstitutiven Merkmale präzisieren wollen. Sie finden
sich vornehmlich in den zeitgenössischen Lexika, deren Obskurantismus-Artikel in
der Regel erheblich länger sind als die entsprechenden Aufklärungs-Artikel. Das
über Süddeutschland hinaus vor allem im Bildungsbürgertum des Vormärz als
„Lehrbuch" des Liberalismus geschätzte „Staatslexikon" von Rotteck und Welcker
verzichtet sogar auf einen selbständigen Aufklärungs-Artikel und behandelt die
Aufklärungsthematik in dem umfangreichen, von WELCKER verfaßten Artikel über
den Obskurantismus. Für Welcker ist dieser vielfach als Schlagwort gebrauchte
Ausdruck in der Nachfolge der gleichgerichteten Polemik am Ausgang des 18. Jahr-
hunderts eine Art Sammelbegriff der absolut fortschrittsfeindlichen, jeder Verände-
rung und Neuerscheinung entschieden abgeneigten, an der Verdummung und Un-
wissenheit des Volkes interessierten und mit den verwerflichsten Mitteln die Verbrei-
tung wissenschaftlicher Einsichten, die Ausbildung klarer Begriffe über moralische,
religiöse und politische Gegenstände, die Belehrung über die Rechte des' Menschen
unterdrücken und den freien Aufschwung des Geistes verhindern wollenden Kräfte
und Tendenzen in allen Bereichen des geistigen und gesellschaftlichen Lebens.
Analog zum Obskurantismus als einem in der Geschichte aller Zeiten und Völker
begegnenden und in vielen Arten auftretenden Phänomen - Welcker unter-
scheidet 17 Arten, der ERscH/GRUBER nur vier 214 - wird von den liberalen Lexiko-

ua PALMER, Art. Aufklärung, 254. 261. 258 f.


2a CARL WELCKER, Art. ObsRurantismus, RoTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 10 (1864),
707. 709; MussMANN, Art. Obskurant u. Obskurantismus, ERSCH/GRUBER 3. Sect., Bd. 1
(1830), 213. 215.

329
AufkJinmg VI. 5. Aufklänmgsverstindnis des Frühlilteralismus

gro.phon sein Gcgcubeg1i[ 'Aufklii.ruug' fllr zeitlich beliebig verw!!ndba.r uml tltir
Sache nach ubiquitii.r gehalten und in mehrere Arten. gegliedert. In diesem Sinne
ist 'Aufklärung' ein Erkenntnis- und Wissensbegriff, der generell die MiUeilung und
harmonische Vereinigung der wahren Tatsachen und Erkenntnisse sowie die, Aus-
bildung r,ichtigen und klaren Denkens und Begreifens zum Zwecke der Darstellung
aller Dinge in der Natur und dem Menschenleben, in der Religion wie in der Politik
in ihrem wahren Lichte und Zusammenhange umfaßt.
So sehr Welcker es begrüßt, daß vorzüglich im 18. Jahrhundert in England, Frank-
reich und Deutschland die Aufklärung und der Rationalismus gegen den Obskuran-
tismus des weltlichen Despotismus und Stabilismus, wie gegen den religiösen in die
Schranken getreten sind, und so sehr sich in seinen Augen die Aufklärungen (!)des
Ra.tionaliRmnR, 11P.i111R. '7-P:r11tfir'11111gP.n 11nn Abe:rgla11be.n. und V orurtei'.len aller Art, seine
Reformen und seine Revolutionen um den Fortschritt der menschlichen Kultur ...
überall in Staat und Kirche, in Kunst und Wissenschaft, in Handel und Gewerbe
verdient gemacht haben, es liegt ihm gänzlich fern, diese Vorgänge gleichsam
pauschal unter einem Epochenbegriff ·'Aufklärung' zusammenzufassen. 'Aufklä-
rung' ist und bleibt für ihn als allgemeiner ein normativer Begriff und infolgedessen
unlöebar mit der Aufg11.l11i vtirkuüpfL, iliti b1i1:iumltmm Rri,iul1einu11gsformen der Auf-
klärung am Maßstab ihrer zeitlos gültigen Norm oder Idee zu messen und danach
zwischen wahrer und falscher Aufklärung zu unterscheiden.
Dieser normative Aufklärungsbegriff basiert bei W elcker auf der philosophischen
Theorie, daß ein allseitig gesundes vollkommenes geistiges Erkennen, Leben und Fort-
schreiten nur da möglich und gewährleistet ist, wo alle menschlichen Erkenntnis-
kräfte harmonisch zusammenwirken. Jede .Bevorzugung oder einseitige Anwendung
einer d11r dr11i Rrk11nntniskräfte („Sinneswahrnehmung", „ Ventändigkeit" und
„Vernunft") verhindere nicht nur die wahre Aufklärung, sondern erweise sich
gleichzeitig als ·die allgemeinste Quelle des Obskurantismus. Ausgehend von dieser
Theorie erkennt W elcker in den rationalistischen und aufklärenden Bestrebungen
des 18. Jahrhunderts großenteils keine wahre Aufklärung, sondern einseitige; ledig-
lich verneinende und zerstörende Aufklärerei, die, darin gipfelt seine Kritik, selbst
ein Obskurantismus und Despotismus gewesen sei, weil sie es bewirkte, da/J in Frank-
reich Atheismus und Philosophie ein und derselbe Begriff wurden, und weil sie alk
höheren religiösen, sittlichen, ästhetischen Erkenntnisse, Gefühle und Ideen und ihre
Quellen, alles geschichtlich Bestehende, Christentum, llönigtum und Volkstum, statt
sie von Irrigem zu befreien, vielmehr ... anfeindete und zerstörte. Ganz im Sinne
von Meiners sind für Welcker noch 1864 Materialismus, Atheismus, Unglaube,
reiner Empirismus und reines Verstandestum nichts anderes als falscher Rationalis-
mus oder aufklärende V erdunkeluniJ. Konsequent hält er es deshalb für Verblendung,
eine obskurantische Unterdrückung aller hökern Wahrheiten einschließlich der Wahr-
heiten von dem wahren persönlichen Gott, und die Verdunkelung des Lichts der christ-
lichen Religion für „Aufklärung" auszugeben und mit der Abschaffung der Hexen-
prozesse und der Inquis#ion auf eine Stufe zu stellen;
Zwischen dem „Rechtsobskurantismus" bloßer Gefühlsmenschen, blindgläubiger
Christen, abergläubiger Mystiker und politischer Reaktionäre und dem „Links-
obskurantismus" reiner Verstandesmenschen, ungläubiger Aufklärer, alles vernei-
nender Atheisten und alles zerstörender Reyolutionäre markiert für Welcker im
Endresultat die jeden Extremismus ablehnende und der Geistesfreiheit ebenso wie

330
einer religiös-idealistischen Lebensauffassung v:erpflichtete liberale Mitte den
Standpunkt der allein wahren Auf~lärung 216 •
Ähnlich wie Welcker identifiziert schon 1830 der Verfasser des Obskurantismus-
Artikels im ERscH/GRUBER die „Aufklärerei" mit dem philosophischen Obskurantis-
mus, indem er darunter allgemein jene Gelehrsamkeit oder Verstandesbildung
versteht, die sich nicht zur Stufe wahrer Wissenschaft und Wissenschafaichkeit,
d. h. bis zur rein vernünftigen oder philosophischen BeschaUung der Wissenschaften
erheben kann und sich vor allem negativ gegen jeden Versuch verhält, das Sinn-
liche aufs Übersinnliche, das Empirische aufs Spekulative oder Vernünftige, das
Re,al,e aufs lde,al.e etc. zurückzuführen 2 H.
Besonders dieses Beispiel zeigt, wie wenig die Obskurantismuskritik geeignet war,
die Divergenzen über die Bedeutung des Aufklärungsbegriffs zu verringern. An-
gesichts der widersprüchlichen Verwendung beider Begriffe machte 1842 das
„Rheinische Conversationslexikon" mit Recht geltend, es sei möglich, daß ein
Mensch gerade das für Aufklär~ng halt, was ein anderer Verfinsterung nennt. Und
in. der „Deutschen Vierteljahrs-Schrift" wurde ein Jahr früher die verworrene
Situation mit den Worten geschildert: ... wer riefe nicht mit seinen heißesten W ün-
schen die Zeit herbei, wo aUe Geister VIJ'li Irrtum ·u1ul Vol"Urteil befreit und zum Licht
der Erkenntnis durchgedrungen wären? Aber, was ist Irrtum und Vorurteil- was ist
Wahrheit? JedBT Denker und Raisonneur, der transuncl.ent.al.P. Td.n!li.~t 111n.rl der tief-
sinnige MyJJtiker, der Anhänger des gemeinen Menschenverstandes und der sensuali-
stische Materialist - jeder hält sein System für Wahrheit und erblickt in dessen Ver-
breitung den Sieg der wahren Aufklärung2l7.

6•. Der pidagogische Aufldinmgshegrift' und seine Bistorisienmg


Die Uneinheitlichkeit des Aufklärungsverständnisses im 19. Jahrhundert hat viele
Gründe. Meinungsverschiedenheiten über die inhaltlichen Kriterien der wahren
Aufklärung sowie über den Umfang und Charakter des historischen Phänomens
Attfklärung zählen zweifellos zu den wichtigsten und häufigsten. Weniger häufig,
deshalb aber nicht weniger wichtig sind andere, besonders in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts hervortretende Divergenzen über die Eignung des Wortes
'Aufklärung' zur Bezeichnung pädagogischer Sachverhalte, die eines der zentralen
Bedeutungsfelder des Aufklärungsbegriffs im 18. Jahrhundert betreffen. Die Be-
deutungsschwankungen, die in diesem Zusammenhang auftreten, werden noch
dadurch erheblich verstärkt, daß die Bedeutung der Begriffe, die wechselweise an
die Stelle des Aufklärungsbegriffes gesetzt werden, ihn als Unterbegriff einschließen
oder völlig als Fachterminus aus dem pädagogischen Bereich verdrängen, näm-
lich der Begriffe 'Bildung' und 'Erziehung', ihrerseits in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts nicht endgültig feststeht. Hinzukommt, daß die Begriffe 'Bil-

215 MussMANN, Art. Obskura.nt, 216; WELCKER, Art. Obskurantismus, RciTTECX./WELCpR

1. Aufl., Bd. 11 (1841), 735. 732. 727. 734. 729; 3. Aufl„ Bd. 10, 706; Rhein. Conv. Lex.,
4. Aufl„ Bd. 5 (1842), 306 f.; Allg. dt. Conv. Lex., 784.
211 MussMANN, Art. Obskura.nt, 216 f.
111 Rhein. Conv. Lex„ 306 f.; G. P„ Die nationale Bedeutung Friedrichs des Großen, Dt.

Vjsohr. 4 (1841), 192.

331
Aufklärung VI. 6. Der pädagogische Aufklänmgshegmf und seine llistorisiemng

dung' und 'Erziehung' schon vor der pädagogischen Profilierung des Aufklä-
rungsbegriffes durch die Philanthropinisten weitverbreitet waren und die mit dem
Siegeszug der neuhumanistischen Bildungsbewegung verbundene endgültige Durch-
setzung eines neuen, vergeistigten, universalen Bildungsbegriffs den pädagogischen
Geltungsbereich des Aufklärungsbegriffes bis zur Unkenntlichkeit verengte. Im
Bereich der „Bildung des Individuums" ist dieser Punkt im Grunde schon um 1800
unwiderruflich erreicht, wo eine Synonymie zwischen 'Bildung' und 'Aufklärung' nur
noch bezüglich der „intellektuellen Bildung" besteht. Im Bereich der Volks- oder
Nationalerziehung bzw. -bildung erstreckt sich der Prozeß der Substitution und
Entpädagogisierung des Aufklärungsbegriffs dagegen im wesentlichen bis zur Mitte
des 19. Jahrhunderts. Noch Ende 1849 bedeutet bei GoTTFRIEl> KELLER die soge-
nannte Aufklärung ... die Verbesserung und Ausbreitung der Volk.~schule21a.
Während HEINRICH STEPHAN! 1805 die formale und materiale Bildung des Ver-
standes unter dem Titel intellektuelle Erziehung und das Thema „Erwachsenen-
bildung" unter dem Titel Erziehungsanstalten für den volljährigen Teil der Nation
erörtert 219, unterscheidet 1806 A. J. HoLZWART ausdrücklich zwischen Erziehung
und Aufklärung. Gegenstand der Erziehung ist :für ihn der jugendliche Teil der
Nation, wohingegen es dic AufldiiA'wn,g mit der Fortbildung du tkr e·igentl·wlum Er~
ziehung entreiften Teils der Nation zu tun hat. Weil dem Staat die Erziehung und
Aufklärung der Nation obliege, spricht Holzwart auch von Staatserziehung und
Staatsaufklärung. Doch das ist nicht der einzige Grund. Nationalaufklärung oder
Volksaufkllilrung (genitivus obiectivus), beide Begriffe sind bei ihm identisch, ist
auch deswegen Staatsaufklärung (genitivus snbiectivus), weil sich ihre Notwendig-
keit aus dem Staatszweck ergibt:. Erreichung möglicher Stärke nach außen und
Erreichung möglicher Glückseligkeit nach innen. Um diesen Zweck erfüllen und seine
damit verbundene Höherbildung zu einer „tätigen Kultursanstalt" vollziehen zu
können, bedürfe der Staat ständiger Fortschritte in der Geisteskultur und besonders
der intellektuellen Ausbildung der gesamten Nation. Worin die „Staatsaufklärung",
die sich über alle Bürger verbreiten und diese zu einem lebendigen Ganzen organi-
sieren müsse, dann im einzelnen bestehen soll, geht beispielhaft aus der kurzen
Aufzählung ihrer wichtigsten Mittel hervor: 1. Volksunterricht; 2. Beseitigung der
Hintkrnisse wahrer Aufklärung (wie Müßiggang, Laster, Verbrechen) durch Polizei
und Rechtspßege; 3. Volksunterhaltungen und Bürgerfeste; 4. Beförderung und Leitung
der Volkslektüre; 5. Ausstellungen in- und ausländischer Muster der Fortschritte in
Wissenschaften, Künsten und Gewerben. Dabei steht es für Holzwart fest, daß eine
wahre Volksaufklärung ohne religiöse Ausbildung in den höchsten Ideen und die
Mitwirkung der Kirche nicht möglich ist2 20.
Zur gleichen Zeit als Holzwart ohne irgendwelche politischen Bedenken den Aus-
druck 'Aufklärung' verwendet, betrachtet PESTALOZZI zwar die Wörter 'Volks-
aufklärung', 'Volksbildung' und 'Volkserziehung' als vollaustauschbare Synony-

818 GoTTFRIED KELLER, Werke, Bd. 3 (Weimar 1963), 304 ( = erste Rezension von J eremias

Gotthelfs „Uli der Knecht" u. „Uli der Pächter").


219 HEINRICH STEPHAN!, System der öffentlichen Erziehung (Berlin 1805), 110 :ff. 196 :ff.;

vgl. ebd., 174 f. 41 f.


22o A. J. HOLZWABT, Erziehung und Aufklärung einer Nation durch den Staat (München,
Nürnberg 1806), 148. 32. 188. 152. 22 f. 150. 155.

332
VI.. 6. Der pädagogische Aufklänmgslaepiff und seine Biatorisienmg Aufklärung

ma, ist aber gesprächsweise dafür, das zum Giftwort der Zeit und ihrer Leiden-
schaften gewordene Wort Volksaufklärung „ wegzuwerfen", wenn es nicht gelingt,
gegenüber der in unglücklicher Ideenverbindung mit der Politik stehenden (falschen
oder) oberßächlichen Volksaufklärung die von einer solchen verderblichen Verbin-
dung gelöste (wahre oder) wirkliche Volksaufklärung zur Geltung zu bringen.
Jenseits der Frage einer politischen Umgestaltung der bestehenden Gesellschafts-
ordnung bestimmt Pestalozzi es als das Ziel dieser Volksaufklärung, die Menschen
aller Stände 1. so zu erziehen, daß sie in jedem Fall das sein werden, was sie sein
sollen und sein können und es sie nicht gelüstet, das zu werden ... ; was sie nie sein
können, nie werden können und nie sein und werden sollen, und sie 2. so zu bilden, daß
sie ihren Beruf mit Überlegung und mit Vorteil treiben können, das Beste aus ihrer
Lage zu machen vermögen und sich in ihren Umständen zu helfen wissen. Um dieses
Ziel zu erreichen, sei es notwendig, durch geeignete pädagogische Maßnahmen den
Geist der Menschen in allen Ständen zu wecken, ihre nötigen Einsichten zu erweitern,
ihre nötige Überlegungskraft zu stärken und auch dem Taglöhner zu Verstandes-
übungen, zu guten Einsichten und vielseitigen Fertigkeiten zu verhelfen.
Die eigentliche Bedeutung der Volksaufklärung bei Pestalozzi wird indes erst da sicht-
bar, wo er die VolkserZiehung als den Weg bezeiul11111t„ die Mensvltlu:it ·in ·iltre-t~ Ifrä/ten
und Anlagen in allen Ständen auf einen Grad auszubilden, den man bis dahin nicht
möglich glaubte, und er entscheidend das }'undament der· Volksbildung nicht so sehr
in der Ausbildung des einzelnen Menschen für seinen Stand als der Menschheit über-
haupt für ihre Natur erblickt. „ Wirkliche Volksaufklärung" beruht nach Pestalozzi
auf innerer Menschenbildung und bewirkt die allgemeine Entfaltung der allen
Menschen in allen Ständen gemeinsamen Geistes-, Herzens~ und Kunstkräfte, an
denen gemessen das Spezielle und Individuelle im Sein und Tun aller Menschen
allenthaUJen bloß äußere Modifikation in der Anwendung ihrer inneren Kraft ist121 •
Nach dem Zeugnis der zeitgenössischen Lexika ist es um 1820 nicht ungewöhn-
lich, unter 'Volksaufklärung' oder auch einfach 'Aufklärung' ohne irgendwelche
qualitativen Kriterien das „öffentliche Unterrichtswesen" eines Staates zu ver-
stehen. Entwickelt wurde diese Bedeutwig des Wortes zuvörderst in Verbindung
mit der deutschen Wiedergabe der russischen Bezeichnung für „Unterrichtsmini-
sterium", dessen von svet (= Licht) abgeleitetes Bestimmungswort prosveiiöenie
bedeutungsmäßig dem deutschen Wort 'Aufklärung' entspricht. So hieß das seit
1802 in Rußland als Zentralbehörde bestehende Unterrichtsministerium im Deut-
schen „Ministerium der Aufklärung" oder „Ministerium der bzw. für Volksauf-
klärung"; ein Name, der noch am Ende des _19. Jahrhunderts allgemein gebräuch-
lich war und in der Spezialliteratur auch heute verwendet wird 222 •
Für RoTTECK sind 1835 öffentlicher Unterricht und Volksaufklärung austauschbare
Begriffe und stellt Volksbildung einen Oberbegriff dar, insofern zur letzteren als
Staatstätigkeit in einem Ministerium der Volksbildung neben der Schule und den
andern Beförderungsmitteln der Volksaufklärung die Kirche, d. h. der Kultus oder

22 1 J OH. HmNmcH PESTALOZZI, Ein Gespräch über Volksaufklärung und Volksbildung,


SW Bd. 18, hg. v. Emanuel Dejung (Berlin 1943), 188 f. 184. 186. 193. 189. 185. 192 f.
222 BROCKHAUS 5. Aufl., Bd. 1 (1820), 414; MEYER 4. Aufl., Bd. 14 (Ndr. 1890), 67. Zur
heutigen Verwendung vgl. z. B. GÜNTHER STöKL, Russische Geschichte, 2. Aufl. (Stuttgart
1965), 400 f.; HANS v. RmsCHA, Geschichte Rußlands, 2. Aufl. (Darmstadt 1970), 432.

333'
Aafllinmg VL 6. Der pä~e Aufklinmpbegrli[ untl &eine lliatoriaierung

die kirohUcken A.ngtilt:yen!Ulik!n gehßren. Rotteck weiß, daß in Rußland ein Mini-
sterium der Volksaufklärung ... wirklich besteht. Er ist aber weder bereit anzu-
nehmen, Rußland sei <leshalb den übrigen Staaten vorangeschritten . . . in Volks-
aufklärung und Gesittung, noch findet er sich kritiklos mit der inhaltlichen Unbe-
stimmtheit dieses Begriffes ab. Da er seine kritischen Gesichtspunkte und Postulate
aber nicht zum integrierenden Bestandteil des Volksbildungs- und Volksaufklä-
rungsbegriffs erhebt, verlieren beide Begriffe auch bei ihm nichts von ihrer allge-
meinen Verfügbarkeit22a.
Wahrscheinlich wegen dieses Sprachgebrauchs vermeidet es DIESTERWEG, die Aus-
drücke 'Volksbildung' und 'Volksaufklärung' zu verwenden. Als er 1836 seine
Vorstellungen über die Lösung· der Aufgabe dieser Zeit entwickelt, da stehen im
Zentrum seiner Arenm1mt11.tion die Begriffe Erziehung oder öffentliche Er:siehung
und Bildung, insbesondere Lebens1Jildung. Wohl benutzt er einige Male die Wörter
'Aufklärung', 'wahre Aufklärung' und sogar 'Aufklärung des Volkes', jedoch
weder als Erziehungs- noch als kognitive Zielbegriffe. Das, was bei R. Z. Becker,
Wedekind und in abgeschwächter Form selbst 1822 noch bei G. Fr. Dinter zur
„Aufklärung" gehört: die Erkenntnis der Rechte oder Pflichten des Menschen und
Bürger.!!, die Kenntnil:I J.e.r v..,.1:faH11Wlg 11..,11 J,a111ltlM, cfor Gesetze, der Landesreligion
u. ä. m. sowie „die Vermittlung derjenigen Kenntnisse, die dem Menschen daR
Recht- und Guthandeln erleichtern" (Dinter), wird von ihm betont Lebens1Jildung
oder Bildung fürs Leben genannt. Sie umfaßt 1) Kenntnis der ewigen Geset,ze der
Religion, der Vernunft, wie Bibel und Ethik sie aufstellen; 2) Kenntnis der Reckte
<les Menschen und des Bürgers; 3) Kenntnis <les Organismus <les Staats ... und des
ganzen öffentlicken Wesens. Mit 'Aufklärung' wird in. diesem Zusammenhang
lediglich die didaktiimh-formale &ite der Kenntnisvermittlung angesprochen, so
daß die Ausdrücke Aufklärung, wahre oder reckte Aufklärung beliebig gegen die
Ausdrücke Belehrung oder reckte Belehrung ausgetauscht werden können und von
Diesterweg auch ausgetauscht werden. Auch die von ihm als notwendig darge-
stellte Aufklärung des Volkes über öffentliche Angelegenheiten ist ein didaktischer
Vorgang, der mit seinem Gegenstand keine begriffliche Einheit bildet224.
LORENZ VON STEIN hat 1884 gemeint, der Name ... „ Volksaufklärung" komme im
19. Jahrhundert nicht mehr vor und sei aus Literatur und Gesetzgebung verschwun-
den226. Das ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz offensichtlich nicht
der Fall. Auch in der zweiten Hälfte ist das Wort verbreitet. Und am Anfang des
20. Jahrhunderts steht es im Zentrum der Agitationstätigkeit der Freidenker-
bewegung, von der es inhaltlich auf die populäre, erzieherisch wirksame Behand-
lung religiöser und naturwissenschaftlicher Fragen im monistisch-freigeistigen
Sinne festgelegt wird. Das seit 1905 erscheinende, von Konrad Beißwanger heraus"
gegebene spätere Publikationsorgan des Zentralverbands deutscher Freidenker-
vereine „Der Atheist" trägt den Untertitel Illustrierte Wochenschrift für Volks-
aufklärung und verfolgt das Ziel, die heutige Pfaffenwirtschaft rücksichtslos zu

223 CARL v. RO'l.'TECK, Art. Bildrmg, ROTTECK/WELCKER, Bd. 2 (1835), 983 ff.
224 FRIEDR. ADOLF WILH. DIESTERWEG, Die Lebensfrage der Zivilisation oder: über die
Erziehrmg der unteren Klassen der Gesellschaft. Erster Beitrag zur Lösung der Aufgabe
dieser Zeit (Essen 1836), 1. 51 ff. 42. 49.
226 STEIN, Verwaltungslehre, Bd. 8, 516 (s. Anm. 9).

334
VI. 6, Der piUgogisebe Aufklinmgshegritf und seine Biatorißenmg

geißeln und selbst in die finstersten Winkel hineinzuleuchten, um auch den in tiefster
pfäffischer Finsterni11 Schmachtenden die Sonne der Aufklärung leuchten zu las-
sen22e.
Stein dachte an jener Stelle freilich nicht an das Verschwinden des Wortes über-
haupt, sondern lediglich an das eines inhaltlich eindeutig festgelegten Begriffs.
Mit dieser Einschränkung ist an seiner These vielleicht so viel richtig, daß es seit
der Mitte des 19. Jahrhunderts keinen inhaltlich festumrissenen Begriff 'Volks-
aufklärung' gegeben hat, der die allgemeine Verfügbarkeit des Wortes einzu-
schränken vermocht hätte. Auch der Sprachgebrauch der Freidenkerbewegung am
Anfang des 20. Jahrhunderts hat daran nichts geändert. Deshalb konnte der Aus-
druck 1933 von den Nationalsozialisten mühelos zur Bezeichnung des Goebbelsschen
„Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda" verwendet werden. In
dieser Verbindung umfaßt er inhaltlich die Aufgabe, dem Volk die Politik der
nationalsozialistischen Regierung „verständlich" zu machen, und zwar rein agita-
torisch, ohne Zuordnung zum Unterrichts- und, Volksbildungswesen, für welches
seit 1934 das „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung"
zuständig war. ·
W vg11.u 11ei11er inhltlir.lum TTnlie11timmthcit im a.llgomeinen Sprachgebrauch ~&t von
L. v. Stein 1884 der Standpunkt vertreten worden, daß die Aufklärung als solche
•. , nur einen historischen Sinn hat. Mit dieser hiHtorischen Aufklärung meint er
aber weder die Geistesbewegung noch die Ideenwelt oder die Epoche des 18. Jahr-
hunderts schlechthin. Seinen sehr konkreten Sinn empfängt der Aufklärungsbegriff
bei ihm allein im Rahmen der Geschichte des Volksbildungswesens des 18. Jahr-
hunderts. An diesem Platz erweise sich die Aufklärung am; mehreren Gründen als
ein rein historisches Phänomen: 1. bezeichne sie den Zeitpunkt in der Geschichte
der Bildung, an dem das alte konfessionelle Erziehungsprinzip aus der Bildungs-
gesetzgebung verschwinde und an seiner Stelle der auf die vorurteilsfreie Bildung des
Volkes gebaute Grundsatz der konfessionslosen, rein menschlichen Erziehung vom
Staat anerkannt werde; 2. verkörpere sie als historisch evidentes wissenschaftlich-
pädagogisches Prinzip im Bereich der Bildung an sich den Gedanken der Konfes-
sionslosigkeit der Erziehung, nach dem die wahre Volkserziehung nicht mehr durch
eine kirchlich-dogmatische Erziehung, sondern durch eine zu Selbstverantwortlich-
keit, Selbstbildung und Selbsterziehung erhebende, im reinen Gottesbewußtsein ver-
wurzelte freie Volksbildw1g erreicht werden solle; 3. und entscheidend stelle die
Aufklärung, indem sie aus der Bildung an sich in das Bildungswesen hineintritt und
von der Schulgesetzgebung anerkannt werde, als verwaltungsrechtliches Prinzip den
Gedanken dar, daß ein solches Volksschulwesen jetzt weder ein kirchliches noch e·in
der individuellen Willkür überlassenes, sondern nur eine Staatsanstalt sein könne.
Die kritische Konzeption, legislative Anerkennung und administrative Durch-
führung des Prinzips der Konfessionslosigkeit und Staatlichkeit des Volksbildungs-
wesens im 18. Jahrhundert umschreiben somit bei Stein in ihrer Einheit den histo-
rischen Sinn der Aufklärung. Aus ihnen leitet er als weiteres konstitutives Merkmal
der Aufklärung ihren spezifisch deutschen Charakter ab. Ähnlich wie über 20 Jahre
früher Wageners Lexikon steht Stein auf dem Standpunkt, daß die französische
wie die englische Sprache das Wort Aufklärung nicht kennen und es ebensowenig
. . .
296 Der Atheist. Illustrierte Wochenschrift für Volksaufklärung 1 (1905), 1; 3 (1907), 111.

335
Aufklärung VI. 7. Linbhegelianer und Nietzsches ,,neue AufklämDg"

zu übersetzen vermögen Wie die griechische oder die lateinische Sprache, weil es
„Aufklärung" weder in Frankreich noch in England gegeben habe: Nur das deutsche
Volk hat seine Aufklärung durchgemacht in Prinzip und Verwaltung.

7. Das AufklärungsverStindais der Linkshegelianer und Nietuches „neue Auf-


klärung"
Steins eigenwillige Historisierung der Aufklärung geht einher mit· der Zurück-
weisung jedes Versuches, den Aufklärungsbegriff rein philosophisch zu :fixieren und
philosophiegeschichtlich einzuordnen, da dies sachlich nicht zu rechtfertigen sei.
Deshalb wirft er 1884 Windelband vor, in seiner „Geschichte der neueren Philo"
sophie" die große geschichtliche Tatsache der Aufklärung in die Gestaltlosigkeit einer
all.gemeinen philosophischen Bewegung aufzulösen 227 • Diese Ansicht eines Hegelianers
ist um so erstaunlicher, als die von Hegel und seiner Schule betriebene Historisie-
rung des Aufklärungsbegriffs entscheidend durch philosophische und philosophie-
geschichtliche Gesichtspunkte bestimmt wurde. So heißt es im Dezember 1839 in
den „Hallischen Jahrbüchern" über die Aufklärung: Mit diesem Namen wird be-
ku11mtloiclt 1lü~ Pl'lrü11lH 1ll'lr •min /111'm.eUen Phiwsophie bezeichne.t, ~u we"lcher der Pro-
testantismus die Veranlassung gab 228• Für den Linkshegelianer KÖPPEN ist die Auf-
klärung . . . nichts anderes als die Philosophie selbst, aber als populäre, als volks-
tümliche, als Volksbewußtsein, ja als W eltbewußtsein. Als diese gehöre sie vorzüglich
dem 18. Jahrhundert an, insofern die Thronbesteigung Friedrichs d, Gr. ihre erste
positive Anerkennung und die Französische Revolution ihren ersten wirklichen und
entscheidenden Sieg darstelle.
Grundlegend für die Aufnahme und Weiterentwicklung von Hegels komplexem Auf-
klärungsbegriff durch die Linkshegelianer ist die Absicht, die Aufklärung als Epo-
che, Geistesrichtung, Bewußtseinsgestalt, Erkenntnisprinzip und Weltanschauung
von Grund auf zu rehabilitieren und Hegels negative Urteile zu revidieren. So
hält Köppen Hegel entgegen, die Aufklärung sei der wahre Protestantismus und mit
ihr, nicht mit der Reformation, hebt die neuere Geschichte an. Als wahrhaftes, ge-
schichtlich wirksames Prinzip der „modernen Welt", das in der das 19. Jahrhundert
eröffnenden Französischen Revolution bestimmt und positiv heraustrete, und als
die zur Macht der Wirklichkeit erhobene Philosophie liege in ihr die ganze Zukunft der
M enscltlte-it involviert229.
Im Rahmen der linkshegelianischen Auflösung des Regelsehen Systems, zu deren
bedeutsamsten Ergebnissen die (von Hegel aus· gesehen) neuerliche Reduktion
der Vernunft auf den endlichen Verstand zählt, gipfelt diese Revision in dem

227 STEIN, Verwaltungslehre, Tl. 8 (s. Anm. 9), 509. 514 ff.
zzs EMIL v. MEYSENBURG, Die Philosophie der Geschichte in ihrer gegenwärtigen Aus-
bildung, Hallische Jbb. 2 (1839), Nr. 312 v. 30. Dezember, 2496.
zzt KARL FRIEDRICH KÖPPEN, Rez. von Schlossers Geschichte des 18. Jahrhunderts und
des 19., Dt. Jbb. (1842), 18; ders„ Zur Feier der Thronbesteigung Friedrichs II., Hallische
Jbb. 3 (1840), 1181. 1180. 1185; ders., Schlosser-Rez., 18. Vgl. vor allem Köppens Buch:
Friedrich der Große und seine Widersacher. Eine Jubelschrift (Leipzig 1840), das als das
Hauptwerk der linkshegelianischen Rehabilitierung der Aufklärung angesehen werden
kann.

336
VI. 7. Linbbegelianer und Nietzsches ,,neue Aufklirung" Aufldirung

umfassenden Versuch, eine neue Periode der Aufklä'l'Ung herbeizuführen. Der pro-
grammatische Gehalt, das neue Weltprinzip, das die (historische) Aufklä'l'Ung
in sich hat, gibt den Anstoß zu einem neuen Begriffsverstän~nis, das den Auf-
klärungsbegriff als Ziel- und Kampfbegriff aktualisiert und zum philosophischen
Emanzipations- und Kritikbegriff der „modernen Welt" schlechthin transformiert.
RuGE hält es aus diesem Grunde für nötig, wie Voltaire und Rousseau zu schreiben
und verkündet 1841 im Hinblick auf die fortschreitende Radikalisierung der links-
hegelianischen Theologie- und Religionskritik sowie der politischen Auseinander-
setzung mit den konservativen Mächten und Ideen der Zeit: Die Zeit der Aufklärung
ist wieder da. Und noch im gleichen Jahr stellt er fest: Unsere Zeit ist die fundamen-
talste Aufklärungsperiode, die es je gegeben h,at2So.
Die Einmiitigkeit, mit der die Linkshegelianer die Wiederbelebung der Aufklärung
des vorigen Jahrhunderts betreiben und sich davon die Möglichkeit versprechen,
fortan deren Aufgabe vollständig durchzuführen2 81 , schließt freilich unterschiedliche
Auffassungen über den Sinngehalt und den Anwendungsbereich des Aufklärungs-
begriffs auch bei ihnen nicht aus. 1840 nennt Ruge Aufklä'l'Ung, Rationalismus und
Liberalismus die drei großen Kategorien der neuesten Geschichte und versteht dabei
unter 'Aufklärung' eine gnoscologisoho AUgcmßinheit des Wissens, die zusammen
mit dem Rationalismus als dem Inbegriff des rationalen Systems der Philosophie die
Kategorie der selbstgewissen und nur sich selbst anerkennenden Vernunft bildet; dem-
gegenüber bedeutet Liberalismus die Kategorie der sich selbst unerbiUlich verwirk-
lichenden Vernunft. „Aufklärung" und „Rationalismus" auf der einen und „Libe-
ralismus" auf der anderen Seite verhalten sich demgemäß zueinander wie Theorie
und Praxis, Philosophie und Politik. 1842 ist für Ruge im Anschluß an Köppen die
Aufklärung des 18. Jahrhunderts . . . als „ Vernunftreligion" ... Negation des
Ohristent·urns, als „Republik" des Absolutismus im Staat, die, indem sie nun Ernst
macht mit den „Rechten der Menschen und der Vernunft", die Revolution proklamiert,
welche nackt und deutlich den innersten Sinn der Aufklärung ausspreche. An dieser
Stelle impliziert 'Aufklärung' sowohl den theoretischen wie den praktischen Aspekt
der Autonomie des Geistes, umfaßt sie mithin auch den „Liberalismus" oder „De-
mokratismus". Aus dem Fortbestehen der alten Monarchie und der Kirche schließt
zur gleichen Zeit Köppen, daß die Aufklärung, die er nebenbei reine Einsicht nennt,
sich erst zu verwirklichen hat, also noch Theorie ist und den Bedingungen der von
den Linkshegelianern allgemein postulierten „Verwirklichung der Philosophie"
unterliegt 232 •

aao .ARNOLD RuGE, Briefwechsel und Tagebuchblätter aus den Jahren 1825-1880, hg. v.
Paul Nerrlich, Bd. 1 (Berlin 1886), 247 (am 7. 11. 1841 an Stahr). 220 (am 23. 2. 1841
an Moritz Fleischer). 246 (am 7. 11. 1841 an Stahr).
231 BRUNO BAUER, Das entdeckte Christentum (1843), in: ERNST BARNIKOL, Das ent-

deckte Christentum im Vormärz. Bruno Bauers Kampf gegen Religion und Christentum
und Erstausgabe seiner Kampfschrift (Jena 1927), 87.
232 ARNOLD RuoE, Köppen und Varnhagen, ein Gegensatz unserer Zeit, Hallische Jbb. 3

(1840), 1245; ders„ Briefwechsel und Tagebuchblätter, 259 (am 8. 1. 1842 an Prutz);
KÖPPEN, Schlosser-Rez„ 18. Vgl. RuoE, Neue Wendung der deutschen Philosophie, in:
Anekdote zur neuesten deutschen Philosophie und Publizistik, hg. v • .ARNOLD RuoE, Bd. 2
(Zürich, Winterthur 1843), 15 f. 17 f. 23. 42. 56. 58 f.

22-90l85/I 337
VI. 7. Linbhegelianer und Nietuehes ,,neue Auf.klärung"

Bei B11.uNo BAUER, der den Anwondungsuureich des Aufklärungtibegri.lfä uicht auf die
„moderne Welt" oder die neueste Geschichte beschränkt, bedeutet 'Aufklärung'
generell Destruktion der Religion und speziell die kritische Destruktion des Christen-
tums. Indem er die Weltgeschichte als den dialektischen Fortschritt der Menschheit
zur vollen Selbsterkenntnis und absoluten Freiheit begreift, der sich seit der Antike
in einer Reihe von Aufklärungen vollzieht, faßt er 'Aufklärung' im Prinzip als ge-
schichtlich bedingte emanzipative Wahrheitserkenntnis und Bewußtseinsbildung
auf, die vom natürlichen zum übernatürlichen religiösen Bewußtsein aufsteigt und
sich in der auton()men menschlichen Selbsterkenntnis vollendet. Weil alle mensch-
liche Wesenserkenntnis bis in die Neuzeit hinein durch religiöse Vorstellungen be-
stimmt ist, müssen dies notwendigerweise auch alle Erkenntnisfortschritte ein-
schließlich der sie bewirkenden Aufklärung RAin. Aufklärung kann infolgedessen
nach Bauer bis zum Atheismus des 18. Jahrhunderts nichts anderes als religiöse
Aufküirung sein, d. h. - und damit erhält der Ausdruck 'religiöse Aufklärung'
wieder eine andere Bedeutung - eine in religiöser Form ausgeführte Auflösung der
Religion. Die Aufküirung der Griechen und Römer konnte nur eine bestimmte, eine
noch unvollkommene Religion, d. h. eine Religion stürzen, die noch nicht durch und
d'!4rch Roligion war, un<I mußtil'I 11nvflrnu1idlic.h zur f.kffurt ei•mrr •1111wm. Religiott den
Anlaß geben. Allein das Christentum, das alle naturhaften Religionen zerstörte und
so die religiöse Vollendung der Aufklärung ist, welche das Judentum enthielt, weshalb
sie auch in diesem Zusammenhang christliche Aufküirung heißen kann, stellt nach
Bauer die vollendete, reine Religion dar. Deshalb muß die Aufküirung, die es erzeugt
und von der es gestürzt wird, . . . die Sache der Religion und der Menschheit überhaupt
eutscheiden933 •
Diese Aufklärung ist für Bauer die zentrale Anfgabe der „modernen Welt", bei
deren Lösung sie zum ersten Mal alle religiösen Formen zerbricht, um wirkliche,
vernünftige Aufküirung zu werden. Dieses Ziel habe im Gegensatz zur englischen
deistischen Aufküirung, die noch Religion habe sein wollen und deshalb nicht ratio-
nale Aufklärung sein konnte, im 18. Jahrhundert allein die französische atheistische
Aufküirung erreicht. Doch erst in der Gegenwart sieht er mit seiner eigenen Theo-
logie- und Religionskritik die Möglichkeit jener totalen und universalen Aufklärung
gegeben, welche die Religion schlechthin erküirt und auflöst, das Christentum zerRt.ört
und so die Geburt der Freiheit und selbst der erste Akt dieser höchsten Freiheit ist 234 •
Charakteristisch für Bauers Sprachgebrauch ist in dem zuletzt genannten Zusam-
menhang, daß er meistens die Kritik oder die Theorie, aber die wahre, die rücksichts-
lose Theorie, und nicht die 'Aufklärung' als die geistige Macht bezeichnet, welche
die Menschheit von aller Religion befreit. 'Kritik' und 'Theorie' übergreifen als
System- und Zentralbegriffe seines gegenwartsbezogenen Emanzipationsprogramms
den Aufklärungsbegriff. Er wird zum Instrumentalbegriff, der das Mittel nennt,
mit dessen Hilfe „Kritik" und „ Theorie" ihren Emanzipationskampf führen: näm-
lich durch rücksichtsloses, intensives und zielbewußtes „Belehren", „Entlarven",
„Enthüllen". In dieser, dem alltäglichen Wortgebrauch nahestehenden Bedeutung
verwendet Bauer den Ausdruck fast. immer verbal und nicht substantivisch: „Kri-

233 BAUER, Die Fähigkeit des heutigen Juden und Christen, frei zu sein (1843), in: ders.,

Feldzüge der reinen Kritik, hg. v. Hans-Martin Saß (Frankfurt 1968), 189. 183. 187. 183 f.
23 ' Ebd., 189. 184. 192; ders., Das entdeckte Christentum, 87. 157 ff. 164.

338
VI. 7. Linbhegelianer und Nietzsches „neue Aufklärung" Aufklärung.

tik" und „Theorie" haben ihr Befreiungswerk für ihn vollbracht, wenn sie die Men-
schen über unser Wesen aufgeklärt und über die Selbsttäuschungen des Bestehenden
aufgeklärt und dadurch die Vorurteile, die Fesseln, die Bande, das falsche Fleisch von
unserm Herzen abgerissen haben. 'Aufklären' meint somit als „Waffe der Kritik"
geradezu die agitatorische Seite des Einwirkens· der „Kritik" auf das Bewußtsein ·
der Menschen und der aus ihm resultierenden umstürzenden Bewußtseinsänderung
oder ariders ausgedrückt: Es bezeichnet die agitatorische Praxis der „ wahren
Theorie" 235 •
Unter dem Eindruck der allgemeinen Auflösung des philosophisch-politischen
Radikalismus der Linkshegelianer (1843/44) hat Bauer seine umfassende Auf-
klärungstheorie fallengelassen. 'Aufklärung' wird nun für ihn ein das 18. Jahrhun-
dert betreffender historischer Begriff, den er sehr abschätzig verwendet. Dieser
Bruch mit seinen früheren Überzeugungen durchzieht auch sein Werk über die
„Geschichte der Politik, Kultur und Aufklärung des 18. Jahrhunderts" (1843/45).
Im ersten Band ist mit 'Aufklärung' noch prinzipiell die Auflösung der bestehenden
Religionslehre und überlieferten Kirchenverfassung gemeint. Dazu rechnet er jede
kritische Äußerung gegen das „ßestehende", jede Form der Abkehr von der Ortho-
doxie, jeden Abbau dogmatischer Schranken, jedes Abwenden von alten und Zu-
wenden zu neuen Ideen, jede Regung freierer Bestrebungen auf dem Gebiete der
Religion. In diesem Sinne ist für ihn z.B. Dippel ein religiöser Aufldarer und der
Pietismus „religiöse Aufklärung". Im zweiten Band hingegen sieht er bereits in der
Halbheit, Schwäche und Inkonsequenz sowie in den „Illusionen" der „religiösen
Aufklärung" den entscheidenden Wesenszug der gesamten Aufklärung des 18. Jahr-
hunderts, worunter jetzt die philosophischen, religiösen und politischen Freiheits-
bestrebungen bis zum Staatsstreich Napoleons am 18. Brumaire verstanden werden.
Von dieser Aufklärung heißt es, sie sei ohne umfassende Grundsätze gewesen, habe
im Grunde mit der geistigen Welt, die sie bekämpft,e, übereingestimmt und nur die
Vollendung des alten Systems gebildet, dessen sie nicht Herr geworden sei. Eines der
Haupt,dogmen der Aufklärung soll die allgemeine und dauernde Unmündigkeit ge-
wesen sein 236 •
Im weiteren Umkreis der Nachwirkungen des Linkshegelianismus ist vielleicht auch

235 BRUNO BAUER, Die gute Sa.ehe der Freiheit und meine eigene Angelegenheit (Zürich,

Winterthur 1842), 206 f. 224 f. 209. 208. Marx und Engels haben zur Begriffsgeschichte
von 'Aufklärung' im Grunde nichts beigetragen. Bis 1846 hält sich ihr Sprachgebrauch
eng an die von Hegel und den Linkshegelianem (speziell Bruno Bauer) entwickelten Ge-
sichtspunkte, die sie allerdings seit 1844 in polemischer Absicht aufgreifen: vgl. MEW
Bd. 2 (1957), 114. 131. 132. 161 (1844/45); MEW Bd. 3 (1958), 394. 395 (1845/46). In
seinen Beiträgen für den „Vorwärts" (1844) über „Die Lage Englands", die als erstes „Das
18. Jahrhundert" behandeln, benutzt Engels den Begriff mehr beiläufig und nennt das Jahr-
hundert einleitend das Jahrhundert der Revolution (MEW Bd. 1, 550). Auch in seiner präg-
nanten Charakteristik des 18. Jahrhunderts am Anfang des „Anti-Dühring", in der er über
das Reich der Vernunft in diesem Jahrhundert sagt, es sei nicht weiter gewesen als das
ülealisierte Reich der Bourgeoisie, kommt 'Aufklärung' als Epochen- oder Richtungsbegriff
nicht vor. Herausgestellt werden lediglich die großen französischen Aufkliirerdes 18. Jahr-
hundert.s (MEW Bd. 20, 17. 16; 1876/77).
236 BAUER, Geschichte der Politik, Kultur und Aufklärung des 18. Jahrhunderts, Bd. 1

(Charlottenburg 1843), 179. 175. 182; Bd. 2/1 (1844), 6 f.

339
VII. Auahliek

NIETZSCHE zu sehen, der 1884/85 die neue Aufklärung ais Programm seiner Philo-
sophie der ewigen Wiederkunft formuliert. Sie hat mit der alten die Kritik und Ne-
gation des Christentums und des bestehenden Staates gemeinsam, wenn Nietzsche
fordert, die Aufklärung über die Lüge der Kirche so weit ins Volk zu treiben, daß die
Priester alle mit schlechtem Gewissen Priester werden, und er es ausdrücklich Aufgabe
der Aufklärung nennt, den Fürsten und Staatsmännern ihr ganzes Gebaren zur ab-
sichtlichen Lüge zu machen, sie um das gute Gewissen zu bringen und die unbewußte
Tartüfferie aus dem Leibe des europäischen Menschen wieder herauszubringen. Doch
diese Gemeinsamkeiten sind für Nietzsche äußerlicher Art. Seine „neue Aufklärung"
soll keine Erneuerung und Fortsetzung der alten sein, sondern deren Überwindung
zum Zwecke der Züchtung der künftigen „Herrenmenschen", die den „Herden-
menschen" der Demokratie befehlen und ihnen Gott ersetzen sollen. War die alte
Aufklärung im Sinne der demokratischen Herde: Gleichmachung aller, so will die neue
Aufklärung den herrschenden Naturen den Weg zeigen. Sie steht im Dienste des
„Willens zur Macht" und hat gewissermaßen die Aufgabe, eine Umkehrung der
Werte für eine bestimmte Art von M1mRr.h1m hör.hRt.fir f'.rp,i11tiglrnit nnd Willenskraft
vorzubereiten und als Beitrag zur Erziehung des höheren Menschen bei ihnen eine
Menge gebändigter und verleumdeter Instinkte zu entfesseln . .Nietzsches Begriff der
„neuen Aufklärung" ist auf dem Hintergrund seines Versuches einer Überwindung
des Nihilismus sowohl als kultur- und zeitkritischer Gegenbegriff der „ Tartüfferie" wie
als elitärer, den Vorrang des Willens vor dem Intellekt herausstellender Erziehungs-
begriff konzipiert. Er impliziert den Kampf gegen das Christentum nicht minder
als die Absage an die Leitideen der „alten Aufklärung": Moral, Vernunft, Huma-
nität, Kultur, Wahrheit, Philosophie. An ihre Stelle setzt er als richtunggebende
Prinzipien das „Leben" und den „Willen". Indem er den „Willen zur Wahrheit"
zur Funktion des „ Willens zur Macht" erklärt und seine Aufgabe darin sieht, einer
bestimmten Art von Unwahrheit zum Siege und zur Dauer zu verhelfen im Interesse der
Erhaltung einer bestimmten Art des Lebendigen 237 , sagt er sich bewußt von den Prin-
zipien der Aufklärung los, die sowohl ihrer rationalistischen wie ihrer christlichen
Interpretation zugrunde lagen. So beweist Nietzsche noch am Ausgang des 19. Jahr-
hunderts die vielfältige philosophische Verwendbarkeit des Wortes 'Aufklärung'.

Vll. Ausblick
Wenn sich trotz anhaltender Divergenzen im Laufe der achtziger Jahre ein kon-
sistenter Sprachgebrauch bei der Verwendung des historischen Begriffs 'Aufklärung'
abzeichnet und in den neunziger Jahren zur Regel wird, dann ist das zu keinem
geringen Teil ein Verdienst der Philosophiehistoriker von Schwegler über Erdmann
bis Windelband. Sie sind seit der Mitte des Jahrhunderts am nachdrücklichsten be-
müht, im Anschluß an Hegels „Geschichte der Philosophie" diesen Begriff zu prä-
zisieren und als wissenschaftlichen Terminus zu prägen, mögen auch die Angaben
über die zeitliche Begrenzung der Aufklärungsepoche im einzelnen erheblich von-
einander abweichen, was im übrigen auch noch heute der Fall ist. Ihrem Beispiel
folgen vor allem die Allgemeinhistoriker, anfänglich aber auch die Kultur- und

2a 7 NIETZSCHE, Die Unschuld des Werdens. Der Nachlaß, hg. v. Alfred Baeumler, Bd. 2
(Leipzig 1931), 282. 391 f. 282 ff.

340
VB. A1111hlick Aufldirung

Literarhistoriker sehr zögernd. SCHLOSSER bezeichnet 1837 mit 'Aufklärung', die


für ihn zusammen mit 'Bildung' auf einer Bedeutungsebene steht, fast ausschließ-
lich eine rationalistische oder freisinnige Denkweise und durch sie gewonnene, zur
Befreiung von Aberglauben und Fanatismus· beitragende Einsichten und Auffas-
sungen. Demgemäß kann er die Geschichte des Fort,gangs und der Entwicklung der
Bi1.dung und Aufklärung des 18. Jahrhunderts zusammen darstellen. In seiner „Ein-
leitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts" verwendet Gervinus 1853 'Auf-
klärung' ebensowenig als Epochen- oder Systembegriff wie 1854 Ranke in seinen
Vorträgen „ Über die Epochen der neueren Geschichte". Während 1848 bei Schwegler
wie bei Hegel noch jeder Hinweis auf eine „englische Aufklärung" fehlt, sieht
HETTNER 1854 England vorangehen in jenen großen Bi1.dungskämpfen, die man als
das Zeitalter der Aufklärung zu bezeichnen pP,egt. 1864 bringt er die Darstellung der
deutschen Aufklärung aber unter dem Titel Die Popularphilosophie und der theolo-
gische Rationalismus und beginnt sie mit Nicolai 238 • 1877 wendet sich ERDMANN
wie schon in den sechziger Jahren mit Nachdruck dagegen, unter Aufklärung nur
Popularphilosophie zu verstehen. Die Aufklärung sei vielmehr eine alle Lebensgebiete
du,rchdringende we'lt- und kulturgeschichtliche Krisis und Revolution, die im 18. Jahr-
hundert begann und insofern noch jetzt dauert, als heutzutage die Masse sich in einem
·zustande befindet, der damals der der Elite war. Trotz dieser weitgefaßten Begriffs-
bestimmung gehört für ihn die deutsche Aufklärung ganz dem 18. Jahrhundert an.
Nachdem BIEDERMANN schon 1858 die Anfänge der sogenannten Aufklärung in
Deutschland ans Ende des 17. Jahrhunderts verlegt hatte, ist es dann WINDELBAND,
der 1878 den Aufklärungsbegriff systematisch zum universalen Gliederungsprinzip
der neueren europäischen Philosophie entwickelt und von Pascal und Locke bis
Holbach, Herder und Ferguson datiert. 1897 sieht sich dann TROELTSCH in die Lage
versetzt, die Summe aus jahrzehntelangen Diskussionen zu ziehen. Er stellt den
histonschen Aufklärungsbegriff auf eine breite Argumentationsgrundlage und ent-
faltet ihn beispielhaft als Begriff einer Gesamtumwälzung der Kultur auf al"len Lebens-
gebieten 239. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts scheint es im allgemeinen, nicht-
alltäglichen Sprachgebrauch üblich zu sein, bei der Erwähnung des Wortes
'Aufklärung' zuerst an die historische Epoche dieses Namens und die sie prägenden
Ideen und geistigen Strömungen zu denken.
Damit ist die sachliche Konkretisierung des Aufklärungsbegriffs und seine Ab-
grenzung als historischer Individualbegriff 'V'om Allgemeinbegriff 'Aufklärung', der
seinerseits über den alltäglichen Sprachgebrauch hinaus zur Bildung von neuen
Sonderbegriffen wie dem der 'militärischen Aufklärung' oder der. 'sexuellen Auf-
klärung' verwendet wird, endgültig abgeschlossen. Die im ausgehenden 18. und im
größten Teil des 19. Jahrhunderts für die Aufklärungsdiskussion charakteristische

188 JoH. GEORG Scm.ossER, Geschicht.e des 18. Jahrhunderts und des 19. bis zum Sturz
des französischen Kaiserreichs, Bd. 2 (Heidelberg 1837), 436; vgl. Bd. 1 (1836), 382 ff.;
HET'niER, Literaturgeschichte (s. Anm. 7), Tl. 1, 3; Tl. 3 (1864), 180. 176.
zs9 JoH. EDUARD ERDMANN, Grundriß der Geschicht.e der Philosophie, Bd. 2, 3. Aufl.
(Berlin 1878), 236 f. III. 241; KARL BIEDERMANN, Deutschland im 18. Jahrhundert, Bd. 2
(Leipzig 1858), 353; WILHELM WINDELBAND, Die Geschichte der neueren Philosophie in
ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaft.an,
Bd. 1 (Leipzig 1878), 237. 350. 428; TROELTSCH, Aufklärung (s. Anm. 6), 339.

341
AufkJärung VD. Ausblick

Auseinandersetzung über die Abgrenzung der „wahren" von der „falschen" Auf-
klärung, die einen Angelpunkt des zeitgenössischen Selbstverständnisses und einen
Gradmesser für die Beurteilung des Verhältnisses von Tradition und Fortschritt
bi~det, geht über in die häufig nicht weniger leidenschaftliche Analyse der Voraus-
setzungen und Konsequenzen der mit dem Individualbegriff bezeichneten ge-
schichtlichen Zusammenhänge, Krisen und Umbrüche. Das bedeutet indessen nicht,
daß diesem Aufklärungsbegriff fortan jeder Aktualitätscharakter fehlt. Neben dem
allgemeinen Weltanschauungs-, System- und Methodenbegrjff 'Aufklärung' ist es
immer wieder der historische Individualbegriff selber, der als Inbegriff bestimmter,
für die Konstituierung der „modernen Welt" wesensnotwendig erscheinender Ideen
und Emanzipationsprozesse der Aktualisierung und normativen Anwendung offen-
steht. Wo immer mit 'Aufklärung' die Idee der Selbsterkenntnis und Selbst-
befreiung der Menschheit in geschichtsphilosophischen Dimensionen verbunden -g.nd
eine darauf gegründete „moderne Welt" als noch ungelöste Aufgabe diagnostiziert
wird, wird wie .bei den Linkshegelianern eine radikale „neue Aufklärung" gefordert
oder die Gegenwart in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Zweite Auf~lärung inter-
pretiert und an der Vision einer Dritten Aufklärung gemessen240 • Aus den Diskus-
11ionen der Neuen Linken iot dor abermals im höch11ten Grad"' puliLiKillrt.e und
ideologisierte Aufklärungsbegriff als Instrumentalbegriff (wie bei den Links-
hegelianern) heute nicht mehr wegzudenken. Im Sprachgebrauch des die Traditionen
des alten Freidenkertums bewußt aufgreifenden und erneuernden „Club Voltaire",
der sich vom Aufklärungsverständnis der radikalisierten Linken distanziert, macht
sich jedoch ein neuer Differenzierungsprozeß bemerkbar. Sein Begriff der 'kritischen
Aufklärung' impliziert, sofern er nicht eine reine Tautologie bedeutet, wiederum
die Vorstellung einer wirklichen, echten, kurzum wahren Aufklärung.
HORST STUKE

Literatur

ELISABETH HEIMPEL-MICHEL, Die Aufklärung. Eine historisch-systematische Untersu-


chung (Langensalza 1928); GERHARD FuNKE, Einleitung zu: Die Aufklärung. In ausge-
wählten Texten dargestellt, hg. v. G. Funke (Stuttgart 1963), 1 ff.; WERNER KRAUSS,
Studien zur deutschen und französischen Aufklärung (Berlin 1963); ders., Perspektiven
und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung und andere Aufsätze (Neu-
wied, Berlin 1965); FmTz SCHALK, Zur Semantik von „Aufklärung" in Frankreich, Fschr.
Walther v. Wartburg, hg. v. KURT BALDINGER, Bd. 1 (Tübingen 1968), 251 ff.; KLAUS
HEDWIG, German Idealism in the Context of Light Metaphysics, Idealistic Studies vol. 2,
no. 1 (1972), 16 ff.

240 LUDWIG MAROUSE, Im Blick auf die Dritte Aufklärung, Club Voltaire. Jb. f. kritische

Aufklärung, hg. v. Gerhard Szcz~sny {Reinbek 1970), 164 ff.

342
Ausnahmezustand
necessitas puhlica, Belagerungszustand, Kriegszustand,
Staatsnotstand, Staatsnotrecht

I. Einleitung. 1. 'Necessitas' im Mittelalter. 2. Die Übergänge zur Neuzeit. a) 'Plenitudo


potestatis' („Machtvollkommenheit"). b) 'lus divinum' und 'aequitas'. 'c) 'Ratio status'.
3. Der Staatsnotstand in der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. a) Bürgerkrieg
und ratio status. b) Necessitas ~d utilitas publica im 17./18. Jahrhundert. c) 'Dominium
eminens'. d) 'Kaiserlicher Notschluß'. e) Kriegsrecht. II. 1. Der Wandel zum 19. Jahr-
hundert.. 2. Der Staatsnotstand im Vormärz. a) 'Staatsnotrecht'. b) Ausnahmegesetze.
3. Die Revolution von 1848. a) 'Belagerungszustand'. b) 'Standrecht' /'Kriegsrecht'.
c) 'Kriegszustand'. d) 'Martialgesetz', Aufruhr-Akte, Tumultgesetze. e) Militäreinsatz und
Aufmhr. f) 'Suspension'. g) Kritik am Belagerungszustand. 4. Der Wandel des Staats-
notrechtsbegriffs seit 1848. a) 'Dominium eminens'. b) 'Notverordnung'. c) Verfassungs-
konflikt. d) Resümee. 5. Das „Ende" des Staatsnotrechts. a) Begriffsverfall im 19. Jahr-
hundert. b) 'Ausnahmezustand'. III. Ausblick. 1. Die „Wiederkehr" des Staatsnotrechts.
2. Ausweitung des Ausnahmezustandsbegriffs. 3. Die moderne Diktatur. 4. Gegenwärtiger
Stand.

1. Einleitung
'Ausnahmezustand' ist ein Neologismus des 19. Jahrhunderts, der am Anfang des
20. Jahrhunderts als Terminus technicus für rechtliche Bestimmungen, die den
Militäreinsatz im Innern und die Bekämpfung von Unruhen regelten, eingeführt
wurde. Der neue Begriff ersetzte die im 19. Jahrhundert gebräuchlichen Bezeich-
nungen 'Belagerungszustand' und 'Kriegszustand'. Der Ausdruck 'Kriegszustand'
weist auf das vorverfassungsstaatliche „Kriegsrecht" zurück. Statt 'Ausnahme-
zustand' wird heute häufiger 'Staatsnotstand' oder 'Staatsnotrecht' verwendet.
Es ist jedoch zu beachten, daß das „Staatsnotrecht" im 19. Jahrhundert noch
deutlich vom Institut des Ausnahmezustands geschieden wurde.
Auch die Bezeichnung 'Staatsnotrecht' taucht nicht vor Beginn des 19. Jahr-
hunderts auf; Sie diente als Übersetzung älterer Wendungen wie plenitudo pcite-
statis, ratio status und dominium eminens. Das Staatsnotrecht fungierte zunächst
als Rechtfertigung für den außerordentlichen Eingriff von hoher Hand, wenn eine
necessitas publica vorlag. Die bis in das 19. Jahrhundert hinein in verschiedenen
Formen und Verbindungen auftretende 'necessitas' hat also als Leitwort für eine
Untersuchung zu gelten, die sich bl.s zum Anfang des 18. Jahrhunderts vorwiegend
innerhalb der lateinischen Gelehrtensprache bewegt. Der gegenüber 'Ausnahme-
zustand' und 'Staatsnotrecht' farblose, gegenwärtig jedoch sehr beliebte Ausdruck
'Staatsnotstand' wird im Folgenden als Oberbegriff für die zu erörternden Phäno-
mene verwendet.

1. 'Necessitas' im Mittelalter
Der Begriff 'necessitas' ist dem philosophischen und juristischen Sprachgebrauch
der Antike entlehnt1. Zahlreiche Hinweise auf seinen Gebrauch in mittelalter-

1 So z. B. SENECA: Neceasüas magnum imbecillitati8 humanae patrocinium omnem 1,e,gem

343
AU8118hmemstand I. 2. 'Obergänge zur Neuzeit

liehen Quellen gibt Merk 2 • 'Necessitas' steht hier meist in formelhafter Verbindung
mit 'utilitas'. füe Bedeutung beider Wörter kann jedoch nicht einfach mit einem
Rekurs auf ihren römischen Sinngehalt erschlossen werden. Vielmehr dürfte es
sich um Übersetzungen germanisch-mittelalterlicher Wortbildungen wie des angel-
sächsischen 'pearf' „Notwendigkeit, Bedürfnis, Vorteil, Nutzen" handelna. Das
spätere Mittelalter kannte entsprechende deutschsprachige Formeln wie „Nutz
und Frommen", „Nutzen und Notdurft" oder „Nutz, Ehre und Notdurft"'· Die
Berufung des Fürsten darauf führte zu gesteigerten Dienst- und Hilfspflichten der
Untertanen. Insbesondere konnten Steuerleistungen quotiens inevitabilis necessitas
urget und dummodo non transcendant necessitatis metas gefordert werden 5 • Als
necessitas rebellionis konnte sich die necessitas aber auch gegen den Fürsten selbst
richten 6 • Sie war überhaupt Berufungsgrund für jedermann in Not (THOMAS:
Furari propter necessitatem)7. Ein gesondertes Rechtsinstitut des öffentlichen Not-
stands gab es noch nicht. 'Necessitas' bezeichnete vielmehr ganz allgemein den
Grund für besondere Pflichten und Rechte in der zwischen privaten und öffentlichen
Belangen nicht unterscheidenden Ordnung des „guten alten Rechts". In diesem
Rahmen oblag es dem Fürsten, „pax", „ordo" und „iustitia" zu wahren 8 und
deren Störungen notfalls mit Hilfe der Rechtsgenossen zu beseitigen. Bis ins
16. Jahrhundert empfingen 'necessitas' und 'utilitas communis' von diesem Aspekt
der Restitution her ihren Sinn 9 • Ob und in welchem Maße Hilfe erfordernde „echte
Not", necessitas legitima, vorlag, bestimmten dabei die Hilfepflichtigen (Stände,
Landtage) mitlo.

2. Die Vltergiinge zur Neuzeit

a) 'Plenitudo potestatis' (,,Machtvollkommenheit"). Das Prinzip der gemeinsamen


Bekämpfung öffentlicher Notstände bestand über die Blütezeit des sog. „Stände-
staats" hinaus11 • Doch ermöglichte seit dem 16. Jahrhundert ein neuer Begriffs-
apparat, öffentliche Notfälle als obrigkeitlichen Staatsnotstand zu interpretieren,
der zu Eingriffen in die Rechtspositionen nunmehr passiv verharrender Untertanen

frangit; zit. FRIEDRICH MEINECKE, Die Idee der Staatsra.ison in der neueren Geschichte,
3. Aufl. (München 1963); 160.
8 WALTHER MERK, Der Gedanke des Gemeinen Besten in der deutschen Staats· und Rechts·

entwicklung, in: Fschr. ALFRED ScHULTZE (Weimar 1934), 451 ff. (auch zum Folgenden).
3 Ebd., 459.

' Ebd., 476 ff.


5 Ebd., 487, Anm. 129. 130.
8 FRITz KERN, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht (1914; 3. Aufl. Köln 1962), 172,

Anm.372.
7 THOMAS VON AQUIN, Summa theologiae 2, 2, qu. 66, art. 7.
8 Grundlegend für diese Vorstellung ist AUGUSTIN, De civitate Dei 19, 13.
9 Vgl. MERK, Gemeines Bestes, 469 ff. 491 ff.

10 Vgl. Orro BRUNNER, Land und Herrschaft, 5. Aufl. (Wien 1965), 276. 291 ff.
11 Vgl. u. S. 351.

344
lt) 'lu diTinwn' und 'aequitas' AWIDRhmezustand

führte12 • Bahnbrechend war die Landfriedensgesetzgebung gewesen13• Der Fürsten-


staat, der die Ausübung der öffentlichen Gewalt monopolisierte, verfügte in der
Konsequenz auch allein über den Staatsnotstand. Ansätze zu dieser Entwicklung
sind schon im Mittelalter erkennbar am Auftauchen einer Reihe neuer Begriffe
bzw. neuer Begriffsinterpretationen wie 'Krieg', 'Aufruhr'14 oder 'plenitudo pote-
statis' und.~ später - 'ratio status' und 'dominium eminens'.
Der Begriff der plenitudo potestatis wurde zunächst von der Kirche, insbesondere
seit Innozenz III., zur Bezeichnung einer über die alten Rechtszuständigkeiten
hinausgehenden päpstlichen Reformkompetenz gebraucht15• Schon der „Dictatus
Papae" sprach dem Papst das Recht zu, pro temporis necessitate novas 'leges condere16•
Auf weltlicher Seite ist seit der Stauferzeit von einer plenitudo potestatis Caesarea
die Rede (unter Karl IV: Kaiserliche Machtvollkommenheit) 17• Die Legisten be-
anspruchten wenig später zur Regierungszeit Philipps des Schönen die plenitudo
potestatis für den König von Frankreich18• Aber sowohl .dem päpstlichen als auch
dem weltlichen Machtanspruch wurde immer wieder entgegengehalten, daß er
nur „licito", nicht „libito" gegen das Herkommen geltend gemacht werden dürfe.
So band GERSON19 die päpstliche plenitudo potestatis an das Vorliegen einer
necessitas bzw. evidens utilitas ooclesiae, und noch deutlicher PIERRE DUB01s20
den königlichen Eingriff an eine evidens necessitas defensionis . . . qui 'legem non
habet, sowie den Umstand, daß alle anderen Mittel zur Abhilfe versagten. Die Be-
rufung auf die necessitas gab hier also nicht einfach eine Befugnis, sich über das
alte Recht hinwegzusetzen, sondern diente gleichzeitig zur Einschränkung eines
Machtanspruchs, der vorhandene Grenzen überhaupt zu negieren trachtete.

b) 'Jus divinum' und 'aequitas'. Die rechtliche Begründung für den Eingriff in
herkömmliche Rechtspositionen unter außerordentlichen Umständen lieferte die
Scholastik mit der bis zum 19. Jahrhundert gültigen Unterscheidung von 'ius
divinum' ('ius naturale') und 'ius humanum' ('positivum'). Diese Unterscheidung
bot eine erste Möglichkeit, die überkommenen Verhältnisse im Sinne christlicher
Anschauungen unter Berufung auf ein höheres Recht zu reformieren (Kern) 21 •

12 Charakteristisch hierfür das von Otto Mayer auf die spätere Zeit gemünzte Wort:
„Dulde und liquidiere" (d. h. dulde den obrigkeitlichen Eingriff in das Eigentum und li-
quidiere die Entschädigung dafür).
13 Vgl. dazu außer Merk und Brunner JOACHIM GERNHUBER, Die Landfriedensbewegung in

Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235 (Bonn 1952); vgl. auch u. S. 352.
u Vgl. u. S. 353.
16 ÜTTO v. GIERKE, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3 (Berlin 1881), 566.
18 Vgl. PAUL Hnrscruus, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht

auf Deutschland, Bd. 3 (Berlin 1883), 726.


17 GIERKE, Genossenschaftsrecht, Bd. 3, 568 und - grundlegend - ÜllltISTIAN GOTTLOB
BIENER, Bestimmung der kaiserlichen Machtvollkommenheit in der deutschen Reichs-
regierung, Bd. 1 (Leipzig 1780), 69 ff.
18 Vgl. HELENE WIERuszowsKI, Vom Imperium zum nationalen Königtum, Rist. Zs.,

Beih. 30 (1933), 116.


19 JOHANN GERSON, zit. CARL ScHMITT, Die Diktatur, 3. Aufl. (1928; Berlin 1964), 44 ff.

zo PIERRE DUBOIS, De recuperatione terrae sanctae, zit. WIERuszowsKI, Imperium, 172 ff.
n KERN, Gottesgnadentum, 124 f.

345
Ausnahmezustand J.2. 'Vhergänge zur Neuzeit

Artikuliert wurde dieser Sachverhalt mit Hilfe der aristotelischen Theorie der
Epikie 22 • Es entsprach dem höheren Recht, um der aequitas willen von der Befol-
gung menschlicher Satzungen zu dispensieren. Insoweit war auch der Herrscher
des späteren Mittelalters schon kgibus solutus 23• In diesem Verständnishorizont
bewegte sich auch das später zum Sprichw:ort erstarrte, vor allem kirchenrechtlich
bezeugte necessitas non kabet kgem 2 4.
c) 'Ratio status'. Ein grundsätzlicher Wandel der Verhältnisse trat aber erst dann
deutlich hervor, als mit der Berufung auf die ragion di stato im 16. und 17. Jahr-
hundert eine neue Necessitasvorstellung Platz griff, die den bisher grundsätzlich
gewahrten rechtlichen Rahmen sprengte 25 • Schon in der Verbindung des aristoteli-
schen „ius naturale" mit dem christlichen „ius divinum" in der Hochscholas~ik
war ein Spannungsmoment angelegt, das die Möglichkeit bot, die natura rerum
und eine naturalis quaedam necessitas der theologischen Ordnungskonzeption ge-
genüberzusetzen 28. Rerum necessitas und divina provisio, wie sie miteinander ver-
bunden im Prooemium der sizilianischen Konstitutionen FRIEDRICHS II. erschienen,
konnten zwar als eine Einheit gedacht werden, doch waren sie aufgrund ihrer
prinzipiell verschiedenen Berufungsgrundlage (Natur/Wort Gottes), auch gegen-
einander ausspielbar 27 • Eine derartige Loslösung des natürlich Notwendigen
vom göttlich Gewollten und damit menschlich Gesollten gab es damals wohl
nur in Ansätzen; seit MACHIAVELLI ist die neue Betrachtungsweise jedoch, nicht
ohne den Einfluß stoischer Fatumvorstellungen, voll ausgebildet 28 • Bei seiner
'necessita' handelte es sich nicht mehr um- jenen konkreten Einzelfall evidenter
Not, der das (unvollkommene) Recht menschlicher Provenienz negierte, um es in
seiner Vollkommenheit auf einer höheren Stufe sichtbar zu machen. Sie hatte viel-
mehr den Charakter einer Naturnotwendigkeit, die jenseits aller Bezüge auf ein
Sollen, auf ein vorgegebenes TeÄo~, zwangsläufig waltete. Diese im Ansatz natur-
wissenschaftliche Konzeption der necessitas gab dem Denken Machiavellis und der
sich auf ihn berufenden Staatsräsonlehre die grundsätzliche Divergenz, die seitdem
die mit „praecepta" arbeitende politische Theorie von der sich auf „principia"
berufenden Jurisprudenz scheidet. Doch auch bei Machiavelli war die 'necessita'
menschlichen Wünschen, Vorstellungen und damit auch Regelungen nicht völlig
unzugänglich. Das von Natur aus Notwendige konnte dem, der seine Zwangsläu-
figkeit durchschaute und sich seiner zu bedienen wußte, wenigstens vorübergehend
dienstbar werden, von seinem Willen gemeistert, „ordinata dalle leggi". Und so
verstanden stellt die „necessitas" tatsächlich einen „Schlüssel" dar, der das
„Schloß" zu öffnen vermochte, „mit dem mittelalterlicher Rechtssinn die Herrscher
21 ARISTOTELES, Ni.k. Ethik 5, 14; THOMAS VON AQUIN, S. th. 2, 2, qu. 120, art. 1 f.
23 ULPIAN, Dig. 1, 3, 31; s. u. s. 349.
24 Vgl. JOHANN VON SALISBURY, Policratius 4, 2; KERN, Gottesgnadentum, 262. 337;

BRUNNER, Land und Herrschaft, 388 ff.


2ö Hierzu und zum Folgenden MEINECKE, Staatsra.ison, 43 f. 46 f. 49. 120. 122. 160. 168
(s. Anm. l; der Begriff stammt von GIOVANNI BoTERO, Della ragion di stato, Venedig
1589).
28 Vgl. - auch zum Folgenden - WIERUSZOWSKI, Imperium, 170.
2 7 Zum Auslegungsstreit um den genannten Passus s. WIERUSZOWSKI, Imperium, 40.
28 Dazu jetzt grundlegend KURT KLuxEN, Politik und menschliche Existenz bei Machia-

velli (Stuttgart, Berlin 1967).

346
a) Bürgerkrieg und ratio status Ausnahmezustand

festgelegt hatte"2 9 • Die als „ratio status" angerufene „necessitas" ermöglichte


den Durchbruch zu einer neuen Ordnung.

3. Der Staatsnotstand in der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

a) Bürgerkrieg und ratio status. Im durch religiöse Konflikte heillos zerstrittenen


16./17. Jahrhundert erwies sich der Standpunkt einer „naturalis ratio" als einzige
tragfähige Grundlage zur Beilegung eines Streites, der auf dem Boden der über-
kommenen Rechtsordnung - auch des sie überwölbenden höheren Rechts - nicht
mehr entschieden werden konnte. Aus der Not des Bürgerkriegii, theoretisch
begriffen als· „bellum omniu.rn contra omnes" eines Naturzustandes, wuchs die
Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neuordnung der öffentlichen Verhältnisse.
Es ging um mehr als nur einen punktuellen Noteingriff in das „gute alte Recht".
Der Staat selbst, die „societas civilis" als Ganzes, wurde zu einem Erzeugnis der
Not 30 • .
Daß die societas civilis eine „multitudo necessitate naturali congregata" (THOMAS) 31
zur Überwindung menschlicher Notdurft darstelle, war zwar der Theorie nicht neu.
Aber diooor Aopokt monaohliohor Gomoinsohaftsbildung war in du ari11totefü1ch-
scholastischen Tradition doch immer an den eigentlichen Zweck der „rcspublioa"
gebunden und von dalter bestimmt gewesen, nicht die Existenz der ßürger schlecht~
hin, sondern ihr tugendhaftes Leben, ihr w Cijv, zu ermöglichen. Diese Tradition
dauerte an und findet sich selbst im 19. Jahrhundert auf veränderter philosophischer
Basis in der Hegelschen Unterscheidung eines Not- und Verstandesstaates vom Staat
als sittliclter Idee wieder32. Doch gewann der Aspekt des „Notstaates" in der Zeit
des religiösen Bürgerkrieges vorübergehend eine besondere Bedeutung. Er wurde.
- wenigstens in der Theorie ....,.... zum einzigen Motiv gesellschaftlicher Organisation,
deren Zweck es nur noch war, to prever_it Discord and Oivill Warre (HoBBEs)33, den
Not-Naturzustand zu überwinden und seine Wiederkehr zu verhindern.
Zur Erfüllung dieser Aufgabe bedurfte es einmal einer Instanz, die über den
Parteien stand und von ihnen unabhängig den Streit entschied und Frieden stiftete
- des Fürsten. Es bedurfte zum andern aber auch eines Mittels, das die Reali-
sierung der souveränen Entscheidung ermöglichte - des „miles perpetuus". Die
mit der Installierung des stehenden Heeres im Zuge der Überwindung der Folgen
des religiösen Bürgerkriegs notwendig gewordene grundsätzliche Reform der
Gesellschaft wurde denn auch unter ständiger Berufung auf eine am „Staats-
interesse" orientierte „e~rema necessitas" durchgeführt, besonders in Branden-
burg-Preußen, wo der neue Staat sinnfällig schon in der Bezeichnung seiner Be-

29 So WIERUSZOWSKI schon für „necessitas", „ius naturale" und „ratio" bei Friedrich II.
von Hohenstaufen.
30 Zu Hobbes und der Frage der Souveränität JÜRGEN DENNERT, Ursprung und Begriff
uer SuuveräniLILL (SLuLLgarL 1904), 78 Jr. Zur hitir a:Ugeschnittenen Fi:ageetellung überhaupt
vgl. REINHART KOSELLECK, Kritik und Krise (Freiburg 1959).
81 ToMHAS VON AQUIN, De regimine principum 1, 14 f.
82 HEGEL, Rechtsphilosophie, §§ 183. 257.
83 THOMAS HoBBES, Leviathan 2, 18.

347
Aumahmezaatana I. 3. Bis llWD Emle aes 18. Jahrbuatlerts

hörden aus dem 'Krieg' erwuchs 84• Die zeitbedingte Verkoppelung der beiden
Aufgaben, den Frieden im Lande wiederherzustellen und gleichzeitig eine friedens-
wahrende Ordnung von Dauer aufzurichten, zeigt sich dabei am deutlichsten in
der Figur des „Kriegskommissars". Dem Heere beigegeben, hatte er nicht nur für
die Einkehr der Ruhe in den aufrührerischen Provinzen zu sorgen, sondern im
Anschluß daran auch die pazifisierten Landstriche zu reformieren; er trat schließlich
selbst als dauernder Gewährsmann der neuen Ordnung an die Stelle des alten
Magistrats 36•
Von traditionalistisch-juristischer Seite her erfuhr dieser aus einem rechtlichen
„Jenseits" kommende Einbruch in das Recht, der bis· zur völligen Aushöhlung
seiner mittelalterlich-ständischen. Ordnung führte, heftige Ablehnung. So stellte
REINKINGK 1656 fäst: Mit a,p,r liRhM!. J11~~til.ia c.ompe.tire.t. gar starck ihre una.rtige,
ungerathene Stiefschwester, genannt Status Ratio 38, und BYNKERSHOEK nannte diese
ratio status ein monstrum horrendum, in/Mme, ingens, cui lumen ailemptum 3'. Doch
gelang es der Jurisprudenz, mit dem Kunstgriff der Unterscheidung einer cattiva
ragion di stato von einer rechtlich zulässigen Staatsraison und durch deren Bin-
dung an die auf den Notfall bes~hränkten iura dominationis (CLAPMAR) 88 auch
diese rati-0 status schließlich so in die rechtliche Ordnung des SLaaLeti eiuzulnw1rn,
daß sie am Ende mit einigen anderen Bezeichnungen zusammen.zum Rechtsbegriff
einer der neuen staatlichen Ordnung immanenten NotstandAregelung wurde 39•

b) Necessitas und utilitas publica im 17./18. Jahrhundert. Die konsolidierten Ver-


hältnisse gegen Ende des 17. Jahrhunderts ließen das Bürgerkriegsproblem für ein
gutes Jahrhundert in den Hintergrund treten. Charakteristisch für die kommende
Zeit wurde dagegen eine Problemstellung, die schon im 16. Jahrhundert im Beginn
des Wandels der mittelalterlich-ständischen Ordnung zum fürstlichen Wohlfahrts-
und Polizeistaat angelegt war und von der konfessionellen Not nur überdeckt,
durch die katastrophalen Ergebnisse des religiösen Bürgerkriegs zugleich aber
auch vehement gefördert wurde. Die Not war durch die Wiederherstellung der
Ruhe in den Landen nicht behoben. Sie mußte durch ein umfassendes Wirtschafts-
und Bevölkerungsprogramm überwunden werden. So erschien nunmehr die Not-
standsfrage in einer für spätere Zeiten paradox anmutenden Weise als Wohl-
standsfrage: ·
Auch in der konsolidierten Ordnung entschiP.d der Fürst als Personifizierung der
„maiestas", die ihm „a Deo" zukam und die höchste Gewalt (summa potestas,

H Vgl. <>rro HnrrzE, Staatsverfassung und Heeresverfassung (1906), in: ders., Staat und

Verfa.esung, Ges. Abh., Bd. 1, hg. v. Gerhard Östreich, 2. Aufl. (Berlin 1962), 71. - Für
den Großen Kurfürsten s. FRITZ HARTUNG, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl.
(Stuttgart 1964), 107 ff.
3 s OTTO IIINTZE, Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verw'altungs-

geschichte (1910), Ges. Abh., Bd. 1, 242 ff.; SCHMITT, Diktatur, 76 ff. '
38 nnr.TRT(1Jf Hw.INKINGK, Biblische Policei (Frankfurt 1663), 232.
37 CoRNELIUS VAN BYNKERSHOEK, Quaestiones iuris publici ( 1737; 2. Aufl: Leiden

1751), 186.
38 ARNOLD ÜLAPMAR, De arcanis rerum publicarum (Bremen 1605).
39 S. Anm. 53.

348
b) Neeeasitas und utilitas publiea Ausnahmezustand

Souveränität) verlieh, allein 40 • Der Umfang dieser Gewalt wurde durch den Begriff
der 'plenitudo potestatis' ausgedrückt. Normalerweise war dieser Umfang be-
schränkt. Zwar galt der absolute Herrscher als von seiner eigenen Rechtssetzung
freigestellt, als legibus solutus, wie es für die Zeit vorbildlich BomN formulierte 41 •
Der Fürst blieb jedoch wie vordem an das „ius divinum", das „ius naturale" und
die daraus 'abgeleiteten Rechtspositionen des „ius gentium" gebunden - Zeichen
einer Zeit, die wieder Rechtsgrund unter ihren Füßen gefunden hatte. Wo es dem
Fürsten daher nicht gelang, die Rechte seiner Untertanen oder deren Korporationen
in von ihm gewährte und daher auch wieder frei entziehbare Privilegien umzu-
deuten, wie es vielfach bei den ständischen Mitbestimmungsbefugnissen geschah 42 ,
war ihm der Eingriffin die Rechtswelt seiner Untertanen verwehrt, wenigstens
aowoit diese sich auf naturrechtlich-wohlRrworhP.nP. Rfüihte, auf „iura quaesita"
berufen konnten. Die dadurch gegebenen rechtlichen Schranken überwand der
Fürst nur ex iusta causa, wenn necessitas vel utilitas publica ( communis) es erfor-
derten 43 • Li,cet autem iniquum est ius alteri aufferre, favore tamen publicae utilitatis
id de pknitudine potestatis fieri passet (MuLTz). Aus demselben Grunde: prout
aequitas et publica utilitas ... exposcunt44, war dem Fürsten auch der Eingriff in
MUSi$ singularibus, der ju8Lizuuruhlm:mhende „M&Chil!~pruoh" orlüubt. Noooseitas
et utilitas publica waren auch hier als „iusta causa" Eingriffsgrund und -beschrän-
kung .zugleich. Als Richtschnur des Eingriffs aber galt CICEROS immer und immer
wieder stereotyp zitiertes salus populi suprema lex est"'.
Unter 'salus publica' muß dabei jene Übernahme und Veräußerlichung der Staats-
zweck-Vorstellung der aristotelisch-scholastischen Tradition des „bene vivere"
verstanden werden, die ihren für den Wohlfahrtsstaat des 18. Jahrhunderts
charakteristischen Ausdruck seit Thomasius und Wolff in Formulierungen fand wie
Beförderung der Rtthe und äußerlichen Glückseligkeit (BIENER) 48 . Von da her gewann
der Begriff der necessitas seine für das 17. und 18. Jahrhundert charakteristische
Färbung. Bezogen auf den dynamischen Staatszweck der Wohlfahrtsförderung trat
die Bedeutung einer gesellschaftsbewahrenden „Notwendigkeit" zu Gunsten der
vielerlei „necessitates" eines Staates, der sich als eine Beglückungsanstalt für

'°Hierzu und zum Folgenden grundlegend JACOB BEBNlLUD MULTZ, Repraesentatio


majesta.tis imperatoriae (ötting 1690). Vgl. auch G1ERKE, Genossenschaftsrecht, Bd. 4
(Berlin 1913), 204 ff. (s. Anm. 15). ·
41 JEAN BODIN, Si:x livrcs de la republique (1583) 1, 8; vgl. 2, 3.

42 GIERKE, Genossenschaftsrecht, Bd. 3, 763 f.


48 Zur ges~mten Problematik s. insbesondere ÜTTO v. GIERKE, Johannes Althusius und
die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 3. Aufl. ( 1913; Ndr. Aalen 1968 ),
264 ff., bes. 264. 269. 294; GEORG MEYER, Das Recht der Expropriation (Leipzig 1868),
76 ff.; ders., Der Staat und die erworbenen Rechte, Staats- u. völkerrechtliche Abh., hg. v.
Georg Jellinek u. Georg Meyer, Bd. 1, H. 2 (Leipzig 1895); MAx. LAYER, Principien des
Enteignungsrechts (Leipzig 190~), 121 ff.; RoLF STÖDTER, Öffentlich-rechtliche Ent-
schädigung (jur. Dias. Heidelberg 1933), 52 ff.; MA.x lsAAc PRINB, Staatsnoodrecht (jur.
DÜ!I:;. AlliisLti1dam 1911); HANG EnNOT FoLz, Staatsnotstand und Not.i;bnnRrP.nht, (jur.
Diss. Saarbrücken 1962), 178 ff. [Mschr.].
u MuLTZ, Repraesentatio, 29.
•• CICERO, Leg. 3, 3, 8.
u BIENER, Kaiserliche Machtvollkommenheit, Bd. 2, 73 (s. Anm. 17).

349
Ausnahmezustand I. 3. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

Untertanen begriff, zurück' 7• Selbst dort, wo in Abweichung von der herrschenden


Lehre angenommen wurde, daß für einen außerordentlichen Eingriff locum non
esse, nisi rei publicae necessitatis requisiverit (PuFENDORF) 48, darf dies nicht einfach
als eine Reduzierung der außerordentlichen Befugnisse des Fürs}en auf ein „Staats-
notrecht" zur Erhaltung der Existenz des Staates in Fällen seiner extremen Ge-
fährdung interpretiert werden, wie es die spätere Theorie im Bestreben ihrer
historischen Rückdatierung meinte 49 • Für die necessitas in diesem System gilt
vielmehr das Wort BYNKERSHOEKS, daß utilitas in necessitatem incidit, ut non
facile hanc ab iUa distinxeris; quodque alius utilitatem, alius necessitatem a'P'f'ellabit00•
Weder necessitas noch utilitas publica gaben ein Eingriffsrecht für jedermann51 •
Dieses Recht blieb dem Souverän vorbehalten, war eines seiner „iura maiestatica".
Auch für den Fürsten stellten „necessitas et utilitas publica" dabei nur den faktischen
Rechtfertigungsgrund (causa ob quam) für seinen Eingriff dar, zu dem er aufgrund
seiner plenitudo potestatis berechtigt war. Da sich diese in ihrer ganzen Fülle
gerade erst im Notfall entfalten konnte, während sie im Normalfall durch die zahl-
reichen überkommenen ordentlichen iura maiestatis ·und Regalien vermittelt
wurde, entwickelte sie sich schließlich selbst zuni. lnbegriU außerordentlicher Mittel
zur ErhaltuWJ des Staates in Kollisionsfälkn, zum Notstandsrecht im eigentlichen
Sinne in späterer Zeit (BIENER) 62 • Als solches erscheint sie dann einer Reihe anderer
Begriffe gleichgesetzt, denen dieselbe spezielle Funktion zugeschrieben wurde, wie
'ius dominationis', 'ratio status', 'dominium (ius) eminens', zuweilen sogar auch
•ins maiestaticum' 0 3.

c) 'Dominium eminens'. Von den gono.mi.ton Begriffen besitJ1:t der jüngste, 'uu-
minium eminens', für die Zeit eine besondere Signifikanz°', handelte es sich bei
den Eingriffen von hoher Hand damals doch in erster Linie um Sacheingriffe, wie
Enteignungen zur Anlegung von Landstraßen und Befestigungen. Der Begriff
wurde in der Staatslehre nach seiner Formulierung durch GROTIUS 50 ganz all-
gemein gebräuchlich, jedoch nirgends endgültig präzisiert (->- Eigentum).

41 MERK, Gemeines Bestes, 503. 509 (s. Anm. 2).


0 SAMUEL PUFENDORF, De iure naturae et gentium (1672) 8, 5, 7.
o Typisch LAYER, Enteignungsrecht, 36.
60 BYNKERSHOEK, Quaestiones, 292 (s. Anm. 37).

51 So jedoch in der Literatur zuweilen für das „martial law" behauptet. IIi moderner Zeit

stellt sich diese Frage beim strafrechtlichen Staatsnotstand und der Staatsnotwehrhilfo
durch Privatleute.
62 BIENER, Kaiserliche Machtvollkommenheit, Bd. 1, 6.
63 Vgl. BIENER, Kaiserliche Machtvollkommenheit, Bd. 1, 7, Anm. 1. Vorher schon MULTZ,

Repraesentatio, 29; JoH. STEPHAN PüTTER, Elementa iuris publici Germanici, 4. Aufl.
(Göttingen 1766), 517 f.; später JoH. LUDWIG KLÜBER, Öffentliches Recht des Teutschen
Bundes und der Bundesstaaten (Frankfurt 1817; 2. Aufl. 1823), 884 ff. und zuletzt noch
HERMANN BISCHOF, Das Nothrecht der Staatsgewalt in Gesetzgebung und Regierung
(Gießen 1860), 47.
" Literatur s. Anm. 43.
65 GROTIUS, De iure belli 2, 14, 7f.; auch 1, 1, 6; 3, 19, 7 u. a.; HERMANN Bd.1 (1739), 331

unterscheidet sieben Aspekte des „dominiµm eminens".

350
d) 'Kaiserlicher Notschluß' Ausnahmezustand

Vom 'dominium' des Fürsten sprachen schon die italienischen Juristen im Mittel-
alter. Sie unterschieden ein „dominium secundum imperium" des Fürsten vom
„dominium secundum proprietatem" ·des Privaten. Man wird diese eigenartige
Verdoppelung des Begriffs als Versuch interpretieren dürfen, die Vieldeutigkeit
der mittelalterlichen „gewere" in Termini der römischen Rechtssprache auszu-
drücken5&. Dem 17. und 18. Jahrhundert ist dieser Bezug jedoch fremd geworden.
'Dominium' erschien nun vielfach der 'proprietas' gleichgesetzt und das Grotiani-
sche 'dominium eminens' wurde demzufolge als „Obereigentum" verstanden. Die
Behauptung, daß dem Fürsten ein Obereigentum an den „bona subditorum"
zukomme, fand jedoch sofort lebhaften Widerspruch. Hieran schloß sich ein er-
bitterter Streit darüber an, ob der Rechtsgrund für die Inanspruchnahme des Ver-
mögens der Untertanen in einem vorrangigen Eigentumsrecht des Herrschers
oder - wie andere unter Berufung auf Seneca wollten - in seinem gesellschafts-
vertraglich begründeten „imperium" zu finden sei, zumal ja nicht nur Eingriffe
„in bona", sondern auch „in personas" ihre Rechtfertigung durch das 'dominium
eminens' finden sollten57 • Die Vorstellung einer allgemeinen Befehls- und Ver-
fügungsmacht des Herrschers im Sinne der späteren Theorie der Staatsgewalt,
wie ihn der Begri:ff des imperium nahelegte, war jedoch im 17. Jahrhundert noch
so wenig geläufig, daß mit Erfolg an der Konzeption eines „dominium eminens"
als Gnmdlage für den außerordentlichen Eingriff von hoher Hand festgehalten
werden konnte. Erst das 18. Jahrhundert qualifizierte die Fragestellung als einen
bloßen Wortstreit ab 58 . Bei PüTTER schließlich findet sich der Versuch, die in der
Begriffsbildung liegenden Schwierigkeiten dadurch zu meistern, daß von einem
ius eminens ausgegangen wird, das als dominium eminens außerordentliche Rechte
in res, als potestas eminens außerordentliche Rechte in personas gewährt 59•
d) 'Kaiserlicher Notschluß'. Das lange Andauern althergebrachter Vorstellungen
zeigt sich trotz der grundlegenden Veränderungen, die das Problem des öffentlichen
Notstandes seit dem 16. Jahrhundert erfahren hat, auch noch im 17. und 18. Jahr-
hundert. Auch in dieser Zeit ist trotz aller Souveränitätsbehauptungen noch die
Frage virulent, wer den Ausschlag geben könne, was wirklich das gemeine Beste sage
und erfordere (MosER) 60 , und es wurde dafür mehrfach ein Mitwirkungsrecht der
Stände beansprucht, Auf Reichsebene, wo sich dieser Anspruch behaupten konnte,
erschien daher das „necessitas"-Problem in einer anderen, literarisch ebenfalls
stark diskutierten Gestalt. Da der Kaiser grundsätzlich an den Willen der Reichs-
stände gebunden war, erhob sich die Frage, wie in dringenden Fällen verfahren
werden sollte, wenn eine Entschließung der Stände nicht rechtzeitig erfolgte. Die
Antwort der Reichsjuristen darauf ist verschieden. Während Stamler die Ansicht
vertrat, daß der Kaiser bei Ausbleiben einer Entschließung der St.ände seinen Willen

öG BRUNNER, Land und Herrschaft, 245 (s. Anm. 10).


57 Zum Streit bes. zwischen Leyser und Horn vgl. Meyer, Prins und Folz (s. o. Anm. 43).
68 Vgl. bes. W. X. A. KREITTMAYR, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum

Bavaricum civilem, Bd. 2 (München 1761), 802 f.: Logomachie; aber &uch schon Pufendorf
(s. Anm. 48).
öe PüTTER, Elementa (s. Anm. 53).
60 JoH. JACOB MosER, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen (Frankfurt 1769),
1187 f. (vgl. MERK, Gemeines Bestes, 517).

351
Ausnahmezustand L 3. Dia zum Ende de1 18. Jahrhunderte

an deren Stelle setzen dürfe, wurde überwiegend - Paurmeister folgend - be-


hauptet, daß kaiserlicher und Reiches Wille zweierlei sei und daher der eine den
anderen nicht ersetzen könne. Der Kaiser sei jedoch befugt, bei pericula in mora,
ex plenitudine potestatis (MuLTz) 81, bzw. unter Zustimmung des Nationrilreichsrates
der Kurfürsten (BIENER) 611 , ein~ provisorische Entscheidung, einen Notschluß in
supplementum urgente necessitate zu fällen, damit interim ne respublica quid detri-
mentum . . . capiat, wie Multz unter Anspielung auf das römische Vorbild des
senatus consultum ultimum formulierte.
An dieser Stelle taucht, modern ausgedrückt, das Problem der Notkompetenz, des
Handelns für ein funktionsunfähiges oder-unwilliges Organ auf. Die necessitas wurde
hier unter dem zeitlichen Aspekt der Dringlichkeit begriffen, was gerade im spä-
teren Rechtsstaat bedeutsam werden sollte, der vielfach weniger wirkliche recht-
liche Schranken für eine im Grunde absolut gedachte Staatsgewalt aufrichtete als
diese in Kompetenzen zerlegte und durch Gewaltenteilung balancierteea.

e) Kriegsrecht. Es ist für das wohlfahrtsstaatliche System des 17./18. Jahrhunderts


äußerst charakteristisch, daß der Notfall der inneren Unmhen, der das 16./17. Jahr-
hlmnp,rt, Ro Rtark aufgirührt hatte, nunniohr nur nooh boilö.ufig, gelegentlich de1
Darlegungen über die „ncccssitas publica" und „plenitudo potestatis" erwähnt
wird84 • Für eine Zeit, die konstatieren konnte, daß die Sitte der Aufstände und
Revolutionen in unseren Tagen völlig abgekommen zu sein scheint (FRIEDRICH DER
GRossE)'6, spielte die Bürgerkriegsproblematik keine Rolle mehr. Dennoch war
auch der Literatur dieser Epoche der Einsatz des Militärs im Innern des Landes
geläufig. So stellte ZEDLER 1737 fest: Das Kriegsrecht hat zwar sein vornehmstes
Absehen auf die Kriegs-Zeiten, immittelst kann es aber aucli währenden Frieden,
sowohl in Absicht derer Soldaten und sonst statthaben. Die Armeen leisten nicht nur
Dienste, wenn der Feind einbrechen will, sondern dienen auch zum Schutz und Schirm
derer Untertanen. Die Soldaten müssen in Friedenszeiten oft zuwege bringen, daß denen
Bürgerlichen Gesetzen von jedermann gehorsam nachgelebt werde68 •
In diesen Fällen handelte es sich vornehmlich um den Einsatz von Soldaten gegen
Aufruhr und liederlich Gesind (MosER)67 zur Wahrung des Landfriedens. Derartige
Formulierungen machen den Bezug zur Landfriedensstiftung des 12. bis 16. Jahr-
hunderts deutlich, zu jener ersten großen Reformmaßnahme gegen öffentliche Not-
Rtiinde um des „gemeinen Nutzens" willen.
Schon dieser erste Ansatz zu einer allgemeinen Pazifizierung vor der erwähnten
Religionsfriedensstiftung führte zu einer beträchtlichen Stärkung der obrigkeit-
lichen Gewalt&s. Der Wandel der Verhältnisse wird auch auf diesem Gebiet durch

n Vgl. dazu MULTZ, Repraesentatio, 627 (s . .Anm. 40).


82 BIENER, Kaiserliche Machtvollkommenheit, Bd. 1, 165 u. Bd. 2, 73 ff.
1a S. u. S. 367 (Notverordnung).
H Vgl. MuLTZ, Repraesentatio, 67; BIENER, Kaiserliche Machtvollkommenheit, Bd. 2, 78.
86 Zit. mit weiteren Belegen bei KosELLECK, Kritik, 38. 171 f. (s . .Anm. 30).
88 ZEDLER Bd. HS (1737), 1934. Vgl. schon HANS FRmDRIOH v. FLEMING, Der vollkommene

Teutsche Soldat (Leipzig 1726), 485.


87 JoH. JAKOB MosER, Von der Landes-Hoheit in Militär-Sachen (Frankfurt 1773), 192 f.:

GelJrauck der Mannschaften gegen Untertanen.


88 Vgl. MERK, Gemeines Bestes, 498 f. (s . .Anm. 2).

352
e) KriegSl'eCht Ausnahmezustand

Begriffsumdeutungen und -neuschöpfungen gekennzeichnet. So gewann di.e für


diesen Aspekt der Notstandsfrage zentrale Kategorie des 'Aufruhrs' mit der
Monopolisierung der „rechten Gewalt" durch den Fürsten nunmehr .erst ihre
moderne Bedeutung von „gewaltsamer Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit" 89 •
In Verbindung damit traten im 16. Jahrhundert als Entlehnungen aus dem
Lateinischen 'Rebellion' und 'rebellieren' („wieder in den Kriegszustand zurück-
führen, sich empören, einen Aufruhr machen") au:f7°. Ebenso wurde seit dem späten
Mittelalter anstelle der alten Formen und Unterscheidungen 'vehd', 'urlog', 'guerra',
der „namhaftige Krieg" als Bezeichnung für die militärische Großaktion des
Fürsten gebräuchlich 71 • Noch bei GROTIUS und darüber hinaus bis ins 19. Jahr-
hundert klang zwar die Erinnerung an die ehemalige Vielfalt rechter Gewaltaus-
übung in der Einteilung äußorliohor Krieg, Bürgerkrieg, Prii1atkr1'.eg nac.h, dor.h
stand Privatkrieg nunmehr nur noch für den Fall staatlich erlaubter Selbsthilfe
und Notwehr 72 • 'Krieg' im engeren Sinne war dagegen ab jetzt die Bezeichnung
militärischer Gewaltanwendung bei Bedrohung der Obrigkeit, sei es durch Feinde,
Rfli eR durch die eigenen Untertanen. Freilich handelte es sich im zweiten Falle
nicht um einen förmlichen Krieg zwischen Kombattanten gleichen Rechts. Es
wo.rcn in der Nachbürgerkriegszeit Aufruhr und Widorsotzlichkeitlm dttr U11L1u·-
tanen, die mit einAm 'kriegeriRr.hfm' ~:insatz der Soldaten beantwortet wurden.
So sprach SECKENDORFF (1656) vom Kriegszwang (Heereszwang) als einem gegen-
über dem Gerichtszwang schärferen Grad des Vorgehens gegen Widerspenstige 73
und ZEDLER (s. Anm. 66) von einer Anwendung des „Kriegsrechts" in entsprechen-
der Situation.
Die genannte Stelle aus Zedlers Lexikon ist auch noch insofern von Interesse, als
sie eine für die kommende Zeit bedeutsame Verdoppelung des Kriegsrechtsbegriffs
anzeigt. Unter 'Kriegsrecht' verstand man einerseits nach dem Vorbild des GROTIUS
das dem älteren CICERonischen silent leges inf,er arrrw,74 entgegengesetzte ius belli
des förmlichen Krieges. In diesem Sinne konnte es auch im Innern des La.ndes,
nämlich im Falle des Bürgerkriegs, Anwendung finden 75 • Demgegenüber begann
sich aber ein anderer Begriff von 'Kriegsrecht' abzuzeichnen, der 'Kriegsrecht'
als Synonym für Kriegsartikel und Kriegsgesetze, die Bedeutung von Rechtsregeln
für die Aufrechterhaltung der Zucht unter den Solda.ten gab 76 • Dieses Zuchtmittel
konnte im weiteren zusammen mit einer Verhängung des Standrechts 77 , unter
89 BRUNNER, Land und Herrschaft, 38. Zeitgenössischer Beleg: B:EsoLD 2. Aufl. (1641),

72, Art. Aufruhr; vgl. auch ADELUNG 2. Aufl., Bd. 1 (1793), 521; KLuGE/MrrzKA
19. Aufl. (1963), 612, s. v. Ruhr.
7 0 KLUGE{MJ.TZKA (1963), 588.
71 ~RUNNER, Land und Herrschaft, 40; KLuGE/MrrzKA (1963), 405; JOHANNES HooPs,

Rlex. germ. Altertumskde., Bd. 3 (1915/16), 101; ADELUNG 2; Aufl., Bd. 2 (1796), 1784 ff.
72 GROTius, De iure belli 1, 1, 2; 1, 1, 4; RoTTECK/WELCKER Bd. 9 (1840), 491 ff.; MEYER,

große Ausg., Bd. 25 (1851), 170.


73 VF.T'I' J.Tmwm v. AECKENDORFF, Teutscher Fürsten-Staat (Frankfurt 1656), 117 ff.

74 CICERO, Pro Milone 4, 10; GROTius, De iure belli, Vorwort.


76 G.Ro1·ws, De iure belli 1, 4; EMERICH DE VATTEL, Le droit des gens ou principos do la.

loi naturelle 3, 18, § 204 (Leiden 1758), 84.


76 ZEDLER Bd. 15 (1737), 1934 ff.; ADELUNG 2. Aufl., Bd. 1 (1793), 521 und im 19. Jahr-

hundert: HÜBNER 31. Aufl., Bd. 2 (1825), 421; MEYER, großeAusg., Bd. 25 (1851), 212.
77 s. u. s. 359.

23-90385/! 353
Ausnahmezustand II. 1. Der Wandel zum 19~ Jahrhundert

Trommeln, Pauken und Trompeten verkündet, gegen widersetzlir.h11 Untertanen


angewandt werden. Wo Aufruhr erregt wurde, wo den Aufrührern die Qualität
einer Bürgerkrieg führenden Partei nicht zuerkannt wurde, dort herrschte nich,t
Kriegsrecht im Sinne einer rechtlichen Kriegsführung, sondern das „Kriegsrecht",
das normalerweise nur für das „besondere Gewaltverhältnis" des Soldatenstandes
galt 78 • Insoweit bewahrte auch das 18. Jahrhundert die Entgegensetzung von
Kriegs- oder Naturzustand (etat de nature) zum Friedens- und Zivilisations-
zustand (etat civil) 79 des Staates und unterschied diesen in Kriegsstaat und Civil-
staat80. Wie schon in der augustinischen „pax"-Vorstellung des Mittelalters, die
mehr als nur die Abwesenheit von Krieg, nämlich „gerechte Ordnung" beinhaltete,
lag auch hier im Begriff des Friedenszustandes mehr. Die 'societas civilis' war als
„zivile" eine anti-kriflgflriimhfl unn n11m mh11n N11.t1m:111'lt11.nn entgegengesetzte
Veranstaltung nicht nur der öffentlichen Ruhe, sondern auch der die Kreatürlich-
keit überwindenden Zivilisation. '.Bürgerlich', 'zivil' war als Gegensatz zu 'krie-
gerisch', wie heute noch zu 'militärisch' verstanden, nicht als Gegensatz zu 'staat-
lich', 'öffentlich', wie später nach der Erhebung der bürgerlichen Gesellschaft
gegen den fürstlichen Machtstaat. Im 18. Jahrhundert. war gerade er noch der
Garant und Förderer der Zivilisation und die Erhelmug geg1m i.1111 rel1ellierew.le
.Aktion, die eine „kriegerische" Entgegnung hervorrief, während der die „(bürger-
lichen) Gesetze schweigen", indes die Empörer gezwungen werden, ihnen wieder
gehorsam nachzuleben. Einer weiteren Rechtfertigung der militärischen Maß-
nahmen als durch die Berufung auf das Notwehr-Prinzip vis vim repellere licet 81
bedurfte es dabei nicht. Die Institutionalisierung und Regelung eines Ausnahme-
zustandes war keine Frage dieser Zeit.

n.
I. Der Wandel zum 19. Jahrhundert

Die Entstehung des neuzeitlichen Staates führte zur Fixierung eines von privaten
Notstandsproblemen deutlich abgehobenen öffentlichen Notstands der „necessitas
vel utilitas publica". Dieser Notstand provozierte in erster Linie nicht mehr be-
sondere Handlungs- und Hilfspflichten, sondern (Sach-)Eingriffe, wie es insbeson-
dere die Rechtsfigur des dominium eminens zeigt. Das Eingriffsrecht lag ausschließ-
lich in den Händen des Souveräns. Es handelte sich um einen Notstand der Obrig-
keit, die das salus publica bestimmte und die dadurch definierte Not mit den ihr
zur Verfügung stehenden Kräften beseitigte. Die hier obwaltende necessitas publica
erschien deutlich geschieden von der, die durch Mißbrauch des ihr anvertrauten

78 Die erst dem späteren Rechtsstaat zugehörige Kategorie des besonderen Gewaltver-

hältnisses wird in ihrer Beziehung zum Institut des Staatsnotstandes/Ausnahmezustandes


kaum berücksichtigt. Es gibt jedoch wesentliche Berührungspunkte. Ein Beispiel ist die
Einberufung streikender Arbeiter zum Militär und ihre Abkommandierung in die be-
streikten Betriebe wii.hrend des Ersten Weltkrieges.
n Encyclopedie, 38 ed., t. 13 (1778), 147 f., Art. Etat.
80 ZEDLER Bd. 39 (1744), 640.
·11 MuLTz, Repraeeentatio, 667 (s. Anm. 40).

354
ll. 1. Der Wandel zum 19. Jahrhundert Ausnahmezustand

Amtes die Obrigkeit selbst verursachte. Eine derartige neoe1111itas führte zum
Widerstandsrecht der Untertanen8 2. Staatsnotstand und ius resistendi standen
in einem komplementären Verhältnis zueinander, waren aber nicht etwa zwei
Aspekte eines einheitlich konzipierten „öffentlichen Notstandes". Seinen Charakter
eines Obrigkeits-Eingriffsnotstandes behielt der öffentliche Notstand auch in der
folgenden Zeit bei.
Er erlitt jedoch im Wandel der Verhältnisse seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert
einige erhebliche Veränderungen. Zunächst ließ sich schon im 18. Jahrhundert
mit der Beanspruchung eines allgemeinen „ius politiae", eines „ius reformandi"
auf weltlichem Gebiet83 durch den Fürsten und später vor allem im Zusammenhang
mit dem Aufkommen ,der Enteignungsgesetzgebung eine Tendenz zur Generali-
sierung und Normalisierung des Sacheingriffs avs Gemeinwohlgründen beobachten,
die die Funktion des außerordentlichen Eingriffs auf wirkliche Notstände ein-
schränkbar machte. Diese Tendenz wurde unterstützt durch einen allgemeinen
Wandel in der Zweckbestimmung des Staates, der sich schon in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts ankündigte. Repräsentativ dafür sind PüTTERS restriktive
Definition der Polizei als mJ,ra a?Jertendi mala futura84., die allmähliche Verdrängung
der Wohlfo.'lirtofunktion aufl dioEJom Begriff und die Betonung der Aufgabe, die
äußere Sicherheit zu wahren, und KANTS Identifizierung der salus publica mit einer
freiheitlichen Verfassung, die es jedem unbenollillien ließ, den Weg zu seiner
Glückseligkeit selbst zu suchen 8 ~. Mit der Durchsetzung der Idee des Rechtsstaats
entfiel insbesondere die Befugnis des Souveräns, mit einem Machtspruch in Justiz-
verfahren einzugreifen 86 • Dafür aber begann eine alte Problematik die Notstands-
diskussion erneut zu beherrschen: die des Bürgerkriegi,;, oder, wie man im 19. Jahr-
hundert sagte, der 'Revolution' 87 • Die Emanzipation des Bürgertums, aber auch des
nachdrängenden Proletariats, die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft als
staatsfreier Sphäre neben der alten „societas civilis", dem „Staat", die „industrielle
Revolution'' und die „soziale Frage" bestimmten die kommende Epoche. Die
Träger der neuen Macht, die unter dem Titel „Besitz und Bildung" auftrat, glichen
sich im Laufe der Entwicklung mit der alten herrschenden Schicht ab, trafen
Verfassungsvereinbarungen und nahmen den staatlichen Machtapparat zum
Schutze ihrer Interessen in Dienst. Sie übernahmen den alten „Staatsnotstand",
soweit er ihrem Schutze diente, und verwendeten ihn in der neuartigen Bürger-
'
88 .An ob summam et urgentissimam necessitatem Majestati resistere liceat?; MuLTZ, Re-

praesentatio, Prolegome.na,45. Kap. 4, § 8. Zum Ganzen KERN, Gottesgnadentum (s. Anm. 6).
83 Vgl. J. J. MOSER, Von der Landes-Hoheit in Polizey-Sachen (Frankfurt 1773), 6:

ius reformandi politicun~ unter Berufung auf J. H. v. CRAMER, Resolutio problematis iuris.
84 J. ST. PÜTTER, Institutiones iuris publici Germanici (Göttingen 1770), 330.
85 IMMANUEL KANT, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt

aber nicht für die Praxis (1793), AA Bd. 8 (1912), 298. (Verhältnis der Theorie zur Praxis
im Staatsrecht, Folgerung).
88 Vgl. aber noch BIENER, Kaiserliche Machtvollkommenheit, Bd. 1, 232 :ff.; KLÜBER,

Öffentliches Recht, 776 und ROMEO MAURENBRECHER, Grundsätze des heutigen deutschen
Staatsrechts, 3. Aufl. (Frankfurt 1847), 339, Anm. 1. - Stellungnahme dagegen bei
HEINRICH ZöP:FL, Grundsätze des allgemeinen und constitutionell-monarehisehen Staats-
rechts (Heidelberg 1841), 240.
87 Vgl. dazu KosELLECK, Kritik, 133, Anm. 97 u. passim.

355
.Ausnahmezustand II. 2. Der Staatsnotstand im Vormärz

kriegssituation des Klassenkampfes. Sie unterwarfen ihn aber zugleich einer recht-
lichen Regelung von Grund auf und versuchten auf diese Weise, einen Mißbrauch
dieses Instruments durch die traditionellen Träger der staatlichen Macht zu ver-
hindern. Ihr Weg führte zwischen der Scylla des Weitertreibens der Revolution
über die gesteckten Ziele hinaus und der Charybdis der Gegenrevolution hindurch.
Tradition und Neuerung im Bereich des Staatsnotstandes äußerten sich im be-
ginnenden 19. Jahrhundert in den Begriffen 'dominium eminens', 'Staatsnotrecht'
und 'Ausnahmegesetze', neben denen die auf die Bekämpfung ausgebrochener
Unruhen zielenden „Tumultgesetze" und „Aufruhr-Akte" zunächst eine unter-
geordnete Rolle spielten88• Um die Mitte des Jahrhunderts wurde jedoch der kriegs-
rechtliche Entwicklungsstrang von 'Belagerungszustand' und seinem Begriffsfeld
aufgenommen und erhielt eine zentrale Bedeutung. An seine Seite trat ein neuer
Begriff von 'Staatsnotrecht', dem die 'Notverordnung' funktionell zugeordnet war.
Erst die folgende Zeit, die die Notstandsgefahren für überwunden hielt, so daß die
'Theorie sich bereits anschickte, den Begriff des Notrechts aus ihrem System als
·obsolet auszuscheiden, bürgerte den Ausdruck 'Ausnahmezustand' ein. Er leitete
über in eine neue Epoche, in der die Staatsnotstands-Problematik in verwandelter
Form wieder aufbrach.

2. Der Staatsnotstand im Vormärz

a) 'Staatsnotrecht'. Der Begriff des 'dominium eminens' überdauerte zwar den


Wandel zum 19. Jahrhundert und wurde weiter häufig in Verbindung mit 'Macht-
vollkommenheit' und 'ratio status' zur Bezeichnung des außerordentlichen Ein-
;griffs von hoher Hand gebraucht89 • Es bereitete angesichts der sich vertiefenden
Scheidung des öffentlichen Rechts der Staatsgewalt vom Eigentum als privat-
rechtlichem Institut allerdings in zunehmendem Maße Schwierigkeiten, ein patri-
monialstaatlich anmutendes „Obereigentum" des Fürsten zu konstruieren. So
versuchte man, das dominium eminens jetzt etwa aus der Gebietshoheit des Staa-
tes90 oder aus seiner Finanzhoheit91 abzuleiten. Durch die zunehmende gesetzliche
Fixierung der Enteignung, die nunmehr zivilistisch als Zwangsverkauf zum öffent-
lichen Wohl konstruiert wurde, verlor das dominium eminens zudem sein eigent-
liches Anwendungsgebiet 92. Hinzu kam das Bestreben, den Wirtschafts- und Ver-
mögensbereich der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt vom polizeistaatlich regle-
mentierenden Eingriff zu befreien. Als signifikant erscheint daher seit Pütter der
Versuch, das Recht des Fürsten zum nichtgesetzlichen Eingriff in wohlerworbene
Rechte auf den Fall wirklicher (evidenter, dringender) Not, der mit einer „Collision"

88 s. u. s. 361.
89 S. Anm. 53 und z. B. auch :MAURENBREOHER, Staatsrecht, 85 oder ZöPFL, Staatsrecht,
240.
90 KARL HEINRICH LUDWIG PöLITz, Die Staatswissenschaften im Lichte unsrer Zeit, 2. Aull.,
Bd. 2 (Leipzig 1827), 140 ff.
11 ZÖPFL, Staatsrecht, 240.
911 Zum Zwangsverkaufs. z. B. ALR 11, 1, 4; zur Entwicklung der Enteignungsgesetzgebung

vgl. MEYER, Expropriation, 142 ff. (s. Anm. 43); HÜBNER 31. Aull., Bd. 1 (1824), 368
vermerkt zum dominium eminens, daß es selten benutzt werde.

356
h) Ausnahmegesetze Ausnahmezustand

von Staats- und Privatinteresse verbunden ist, zu beschränken (KLÜBER) 93 • Das


Recht zu diesem Eingriff wurde nunmehr aus der „Staatsgewalt", dem neuen In-
begriff obrigkeitlicher Befugnisse, abgeleitet als ein deren normalen Äußerungen
entgegengesetztes äußersres Recht oder ius extremae (supremae) necessitatis, das
seit Klüber auch in deutscher Übersetzung als „Staatsnotrecht" auftritt: Dieser
Notbehelf (favor necessitatis), dieser Kollisions-Fall, genannt das äußersre Recht,
Staatsnotrecht, Staatsraison, hat auch in Teutschland /reine positiven (lrenzen . . . Es
darf dieses traurige, so genannt,e Recht anders nicht als nach vorhergegangener strenger
Prüfung seiner Anwendbar/reit auf den vorliegenden Fall, und dann nur mit äußersrer
Schonung ausgeübt, auch muß der leidende Teil,. nach dem Grundsatz der rechtlichen
Gleichheit, so weit es möglich, entschädigt werden 94 •
In diesem Sinne hielt sich das Staatsnotrecht über ein halbes Jahrhundert lang:
Das Staatsnotrecht ist seinem formalen Begriffe nach das Recht des Staats, die Ent-
eignung im kurzen Wege da vorzunehmen, wo die Verfügung über ein bestimmres Gut
durch ein pwtzliches, unabweisbares, und durch nichts anderes zu befriedigendes
Bedürfnis des Staats gefordert wird, sagte noch LORENZ VON STEIN 96 •
Die frühliberal-kritische Einschätzung der zeitgenössischen Praxis, die den Eingriff
nicht streng auf den wirklichen Notfall beschränkte, fing das „Conversations-
Lexikon" von BROCKHAUS P-in: Den 'ii.belst.en Gebra111.ch uon der Berufung a,uf das
Notrecht macht gewöhnlich der Staat, sowohl in seinen völlrerrechtlichen als in seinen
inneren Verhältnissen. Anstatt es auf den Fall zu beschränlren, wo er selbst als inrel-
lektuelle Person zu existieren aufhören müßte, schiebt er dem Begriff der rechtlichen
Exisrenz den schrankenlosen des sogenannten Gemeinwohls unter und verletzt häufig
die Recht,e anderer Personen, vor allem seiner einzelnen Bürger, um angeblich das
Gemeinwohl zu fördern 96 •

b) Ausnahmegesetze. Mit 'Staatsnotrecht' gleichzeitig, aber von ihm unterschie-


den, tauchte unter dem Stichwort 'Ausnahmegesetze' 97 daa Problem des „Aus-
nahmerechts" im Rechtsstaat auf. Unter 'Ausnahme', einem Begriff des 17. Jahr-
hunderts, wurde zunächst die „Ausflucht, gerichtliche Einrede, exceptio" ver-
standen 98• Aber schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde 'Aus-
nahme' mit dem Gesetz als Abweichung von dessen Regel aus Billigkeitsgründen
in Verbindung gebracht und konnte hier neben diesem Billigkeitsrecht auch ein
Notrecht meinen, das im Kollisionsfall schwächere Normen verdrängte 99 •
Das seit 1820 auftretende Kompositum 'Ausnahmegesetze' war dem franz. 'lois
d'exception' nachgebildet und bezeichnete die in der Restaurationszeit häufigen

93 KLÜBER, Öffentliches Recht, 772.


94 Ebd., 773f.; vgl. aus der späteren Zeit HEINRICH ALBERT ZACHAP.IÄ, Deutsches Staats-
und Bundesrecht, 2. Aufl., Bd. 2(Göttingen1854), 120; vgl. noch HÜBNER 31. Aufl., Bd. 1
(1824), 368.
96 LORENZ v. STEIN, Verwaltungslehre, Bd. 7 (Stuttgart 1868), 342.
98 BROCKHAUS 5. Aufl., Bd. 6 (1820), 939 f., Art. Nothrecht.
97 Vgl. z. B. ERsCH/GRUBER 1. Sect., Bd. 6 (1821), 449; BROCKHAUS 5. Aufl., Bd. 11

(Suppl., 1822), 206; HÜBNER 31. Aufl., Bd. 1 (1824), 82.


88 KLUGE/M:rrZKA 19. Aufl. (1963), 41; ADELUNG 2. Aufl., Bd. 1 (1793), 619.
89 SCHEIDEMANTEL Bd. 1 (1782), 276; Dt. Enc., Bd. 2 (1779), 506, Art. Ausnahme von dem

Gesetz; Bd. 6 (1782), 64, Art. Collision von Gesetzen.

357
Ausnahm.ezwitand D. 3. Die Revolution von 1848
1

gesetzlichen Suspensionen verfassungsrechtlich verbürgter Freiheiten, wie sie in


jenen Jahren in Frankreich unter Ludwig XVIII. värerUcher Regierung und in
Deutschland durch Sandsfanatischen Wahnsinn üblich wurden10o. Hier ist der Ge-
danke des älteren Billigkeits- und Dispensationsrechts für den allgemeinen Staats-
eingriff nutzbar gemacht. Der BROCKHAUS bezeichnete deshalb in seiner 5. Auflage
das Ausnahmegesetz als einen neuen Namen für eine alte Sache und verwies auf
das „senatusconsultum ultimum", die Suspension der „Habeas Corpus Akte",
die „lettres de cachet" und die Suspension der französischen Verfassung von 1793.
RoTTECK schließlich nannte in seinem „Staatslexikon" 1835 die Karlsbader Be-
schlüsse und die darauf fußende Gesetzgebung der Einzelstaaten einen Belagerungs-
zustand für die ganze Nation und machte damit einen neuen Begriff in der Staats-
lehre thematisch101.

3. Die Revolution von 1848

a) 'Belagemngszostand'. 'Belagerungszustand' ist eine Übersetzung des franz.


'etat de siege'. Vorkehrungen für Fälle der Belagerung sind in Frankreich seit dem
späten Mittelalter nachweisbar1° 2 • Der Noteingriff in das Grundeigentum der Be-
wohner befestigter Städte ist darüber hinaus ganz allgemein ein beispielhafter Fall
für die Anwendung des dominium eminens gewesen103. Eine gesetzliche Fixierung
orhiolt dor Bolo.gorringszueto.nd erstmals durch ein Dekret von 17Ql, in dom dio
Eingriffsrechte militärischer Kommandanten von „places de guerre" und „postes
militaires" je nach „etat de paix", „etat de guerre" und „etat de siege" abgestuft
wurdenl0 4 • In den folgenden Jahren begann sich dieses militärtechnische Institut
zu politisieren. Zunächst wurden seine Bestimmungen auch auf den Fall des Bürger-
kriegs, den Angriff von Rebellen auf offene Städte, ausgedehnt. In der Restaurations-
zeit schließlich diente der Belagerungszustand als generelles Mittel zur Pazifizierung
unrrihiger Provinzen in Verbindung mit dem Ausnahmerecht der ,,lois d'exception ''.
Er gab dem Militär die Befugnis, nach eigenem Ermessen einzuschreiten (pouvoir
discretionnaire). In diesem „kriegsrechtlichen" Sinne wurde er in Deutschland seit
den dreißiger Jahren als Repressionsmittel, wenn die Bevölkerung ... unruhig und

1oo BROCKJi:AUS 5. Aufl.., Bd. 11(Suppl.,1822), 207. - Von der Ausnahmegesetzgebung zu


unterscheiden ist die zeitgenössische Tumultgesetzgebung; s. da.zu u. S. 361.
101 RoTTEcK/WELCKER Bd. 2 (1835), 346 f.
1oz DISLERE gibt in: LEoN B:i:QUET, Repertoire du droit a.dministratif, t. 16 (Paris 1899)
unter dem Stichwort tftat de gue"e - tftat de aidge das Jahr 1347 an.
163 Vgl. BYNKERSHOEK, Quaestiones, 293 f. (s. Anm. 34); Straßenbau und Befestigung

werden in der Literatur seit dem 18. J a.hrhundert als Hauptfälle der Enteignung angegeben.
1°' Hierzu und zum Folgenden SCHMITT, Diktatur, 180 ff. (s. Anm. 19); HANS BoLDT,
Rechtsstaat und Ausnahmezustand. Eine Studie über den Belagerungszustand als Aus-
nahmezustand des bürgerlichen Rechtsstaats im 19.. Jahrhundert (Berlin 1967). Zeit-
genössisch CARL JosEF ANTON MrrTER111AIER, Die Gesetzgebung über Belagerungszustand,
Kriegsrecht, Standrecht und Suspension der Gesetze über persönliche Freiheit, Arch.
d. Criminalrechts 23 (1849), 29 ff.

358
h) 'Standrecht'J'Kriegsrecht' Ausnahmezustand

schwierig ist, rezipiertto5. Aber erst die Revolution von 1848 ließ ihn zum Zentral-
begriff militärischer Unruhebekämpfung werden.
Die Ereignisse der Jahre 1848 und 1849 führten zu zahlreichen Belagerungs-
verhängungen über Städte wie Paris, Berlin, Prag, Wien und in Ländern wie Baden
und der Rheinpfalz106 • Diese Praxis fand ihren Niederschlag in einer Reihe von Ge-
setzen, unter denen das preußische vom 4. 6. 1851 eine besondere Bedeutung für
Deutschland gewann, da seine Bestimmungen später im Ersten Weltkrieg für das
Deutsche Reich galten. In besagten Gesetzen erhielt der Militäreinsatz im Innern
eine rechtliche Regelung1 0 7• Er wurde verbunden mit der Suspension bestimmter
Grundrechte der neuen Verfassungen sowie der Außerkraftsetzung des Ausnahme-
gerichtsverbots zur Installierung einer ebenfalls gesetzlich neu :fixierten Stand-
gerichtsbarkeit. Durch die damit zusammenhängenden Strafverschärfungen und
Ausnahmebestimmungen für das materielle und prozessuale Strafrecht erhielt der
Belagerungszustand einen starken strafrechtlichen Einschlag. 'Belagerungszustand',
'Standrecht', 'Kriegsrecht', 'Ausnahmegericht', 'Kriegszustand', 'Martialgesetz',
'Suspension' waren die zum Teil schon älteren Wortschöpfungen, die durch die
Revolutionsproblematik von 184'8 zu einem neuen Begriffsfeld zusammengezogen
wurden. Dazu im einzelnen (b-g):

b) 'Standrecht'f'Kriegsrecht'. Mit der Einrichtung eines standrechtlichen Verfah-


rens 'im Belagerungszustand wurde an eine alte militärische Tradition angeknüpft.
Das 'Standrecht' ist seit dem 16. Jahrhundert bezeugt108 • Es handelte sich zunächst
um ein aus einem wohl älteren '8pießrecht' hervorgegangenes suminarisches Ver-
fahren, da11 zur Aburteilung von Soldaten ... si qu.is forf.P. r:rml.m u1m1.m, 11P-l ol,t.e111.m
militarem articulum peccat ... (BESOLD)1 0 9 „stante pede" mit anschließender Be-
förderung zum Tode diente. Es war ein Kriegsgericht, das vor allem auf Märschen,
bei Belagerungen und bevorstehenden Aktionen, jedoch nicht in Form eines vollkom-
menen und zierlichen Kriegsrechts gehalten wurde (ZEDLER)110• Da 'Kriegsrecht'
und 'Kriegsgericht' vielfach synonym verwandt wurden, konnte sich die Formel
„Kriegs- oder Standrecht" durchsetzen und schließlich mit der Anwendung des
Kriegsrechts gegen Untertanen auch das Standrecht verhängt werden. Ende des
18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts fand es als Mittel gegen Unruhen und ge-
meine Verbrechen eine gesetzliche Regelung, zuerst in der Josephinischen „Pein-

106 MEYER, große Ausg., Bd. 7 (1845), 217; vgl. außerdem RoTrEcx./WELCKER Bd. 2
(1835), 346 f.; MAURENBRECHER, Staatsrecht, 333. Vgl. auch den Hinweis auf den Be-
lagerungszustand in den. Bekanntmachungen des Feldmarschalls FÜRST WREDE bei
Übernahme des Kommissariats zur Pazifizierung der Rheinpfälz am 28. 6. 1832, abgedr.
WILHELM HERZBERG, Das Hambacher Fest (Ludwigshafen 1908), 154 ff.
108 Einzelheiten bei VEIT VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution von 1848-1849,

2 Bde. (Berlin 1930/31).


1° 7 BoLDT, Rechtsstaat, 195 ff.
lOS Vgl. GRIMM Bd. 10/2, l (1905), 785; TRÜllNER Bd. 6 (1937), 526.
109 BESOLD 2. Aufl. (1641), 868, Art. Stand- und Spießrecht{Kriegsrecht; vgl. BROCKHAUS

5. Aufl., Bd. 9 (1820), 347. 459.


110 ZEDLER Bd. 39 (1744), 1134 ff., Art. Standrecht.

359
.Ausnalunezustand D. 3. Die Revolution von 1848

liehen Gerichtsordnung" von 1788 111• Doch wurde es in der Literatur auch jetzt
noch vorzugsweise als Zuchtmittel gegen Soldaten erwähnt112. Erst seine Regelung
um 1848 machte es zu einem „außerordentlichen Kriegsgericht" (Ausnahmege-
richt)113, das gerade gegen Zivilpersonen Anwendung fand, während der Soldaten-
stand in den Militärgesetzgebungen der kommenden Zeit eine an rechtsstaatlichen
Prinzipien orientierte ordentliche Militärgerichtsbarkeit erhielt.

c) 'Kriegszustand'. Mit dem Ausdruck 'Belagerungszustand' konkurrierte die Be-


zeichnung 'Kriegszustand'. Der Begriff war trotz franz. 'etat de guerre' vor dem
19. Jahrhundert unbekannt114• Noch KLÜBER sprach im Kapitel über das Wehr-
und Waffenrecht der deutschen Staaten wohl von ihrer Befugnis zur Kriegsgesetz-
gebung und Kriegspolizei zwecks Sicherung der öffentlichen Ordnung, nicht aber von
'Kriegszustand'll6 • ADELUNG vermerkte das Stichwort Kriegsstand als Stand der zur
Führung der Waffen verpff,ichteten Personen und setzte diesem Begriff andere wie
Hausstand, bürgerlicher Stand, geistlicher Stand gegenüber116. Auch bei CAMPE war
der Kriegsstand noch der Wehrstand, aber er kannte schon eine zweite Bedeutung
des Wortes: Der Zustand, der zur Führung eines Krieges sein muß11?. Als Terminus
technicus findet sich 'Kriegszustand' zum ersten Mal in deutlicher Anlehnung an
das Kriegsgerichtsrecht im 2. Absatz des § 114 der Kurhessischen Verfassung vom
5. 1. 1831, der das Recht auf den gesetzlichen Richter fixierte: Es dürfen demnach
außerordentliche Kommissionen oder Gerichtshöfe . . . nie eingeführt werden. Gegen
Zivil-Personen findet die Militär-Gerichts"barkeit nur in dem Falle, wenn der Kriegs-
z·U&tand e·rklürt -iist, ·utul ·11wur nwr ·innerltulb der yesetzUvlt best•irnmten Grenzen, statt110 •
Auf diesen 'Kriegszustand' gibt es in der Literatur der folgenden Jahre gelegentliche
Hinweise119• Aber auch dieser Begriff wurde nicht vor 1848 virulent. Erst die
Standrechtspraxis der Unruhejahre verlieh ihm einen festen Umriß. Wie schon die

l1l Peinliche Halsgerichtsordnung, Hauptstück, §§ 238-249. Zur Geschichte des Stand-


rechts auch GALLus ALoYs KLEINSCHROD, Über das Standrecht als criminalrechtliches
Verfahren, Neues Arch. d. Criminalrechts 9 (1827), 270 ff.
111 BROCKHAUS 5. Aufl., Bd. 9 (1820), 459, Art. Standrecht; HÜBNER 31. Aufl„ Bd. 4

(1828), 382; vgl. auch noch MEYER, große Ausg., Bd. 40 (1852), 66. Anders BucHNER, in:
RoTTEcK/WELCKER Bd. 15 (1843), 149 ff.
118 Im Zusammenhang mit Strafverschärfungen und Sonderdelikten findet sich eine

Standgerichtsbarkeit im badischen Gesetz über das Standrecht v. 29. 1. 1851 und im


bayerischen Gesetz über den Kriegszustand v. 5.11.1912, unter dem Namen Kriegsgericht
im preußischen Gesetz über den Belagerungszustand v. 4. 6. 1851. ·
114 Die Lexika vom Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhundert kennen Kriegsstaat
als kriegerischen oder kriegführenden Staat, der eine große Kriegsmacht unterhäU (CAMPE
Bd. 2, 1808, 1060), als Verfassung eines Staates in Absicht auf die besorglichen Kriegsläufte
oder während des Krieges selbst (ZEDLER Bd. 39, 1744, 640); so auch noch MEYER, große
Ausg„ Bd. 25 (1851), 214; Darstellung der Kriegsmacht eines Landes (Dt. Enc„ Bd. 23,
1804, 213 ff.).
115 Kr.ÜBER, Öffentliches Recht, 876 ff. (s. Anm. 53).

ll6 ADELUNG 2. Aufl„ Bd. 2 (1796), 1789.


m CAMPE 2. Aufl., Bd. 2 (1808), 1060.
118 MAURENBRECHER, Staatsrecht, 333.
110 ZÖPFL vermerkt in der 1. Aufl. seines Staatsrechts (1841) den Begriff noch nicht, wohl
aber nach 1848: vgl. die 4. Aufl. (1856), Bd. 2, 251. 554. 713 (s. Anm. 86).

360
d) 'Martialgesetz', Aufruhr-Akte Ausnahmezustand

Kurhessische Verfassung, so sprach nun auch der Reichsverfassungsentwurf von


1849 vom Kriegsstan<l in Verbindung mit der Militärgerichtsbarkeit (§ 176): Es soll
keinen privilegierten Gerichtsstan<l der Personen oder Güter geben. Die Militärgerichts-
barkeit ist auf die Aburleilung militärischer V erbrechen und Vergehen sowie der
Militär-Disziplinarvergehen beschränkt, vorbehaltlich der Bestimmungen für den
Kriegsstan<l.
Dagegen verwendete die für die Suspension von Grundrechten geltende Vorschrift
des § 197 charakteristischerweise nur den Ausdruck 'Belagerungszustand'. In der
Literatur der folgenden Jahre erscheint aber 'Kriegszustand' meist als Synonym
für 'Belagerungszustand'120. Die Terminologie der einzelstaatlichen Gesetzgebung ist
unterschiedlich121 . Artikel 68 der Verfassung von 1871 entschied sich schließlich
für Kriegszustan<l, für den aber das preußische Gesetz über den Belagerungszustan<l
gelten sollte. Immerhin war der Kriegszustand (Belagerungszustand) jetzt zu einem
fest umrissenen innerstaatlichen Rechtsinstitut geworden, nicht zu verwechseln
mit dem völkerrechtlichen Regeln gehorchenden förmlichen Krieg unter Staaten.
Doch hielt sich auch in den fünfziger und sechziger Jahren daneben die Vorstellung,
daß das „KriegsreCJht" von Haus aus den Normalzustand des Friedens und seiner
Gesetze grundsätzlich überstieg, unter dessen Regime die „Gesetze schweigen".
In diesem Sinne sprachen WELCKERund WAGENERvon Kriegsrecht als einem mili-
tärischen Notwehrrecht gegen Bürger. In entsprechender Weise verstand KLEIN-
SCHRODS Entwurf für ein bayerisches Gesetz über den Belagerungszustand aus dem
Jahre 1851 das Kriegsrecht als eine besondere Verschärfung der gesetzlich beschränk-
ten Belagerungszustands-Maßnahmen122.

d) 'Martialgesetz', Aufruhr-Akte, Tumultgesetze. f'nilegentlich kommt in dieser


Zeit für „Kriegsrecht" auch der Ausdruck 'Martialgesetz' vor 123. Er vermochte sich
gegenüber 'Belagerungszustand' und 'Kriegszustand' in Deutschland jedoch nicht
durchzusetzen. In England dagegen erscheint die kriegsrechtliche Lösung des
öffentlichen Notstands („invasion or rebellion") spätestens seit der Mitte des
16. Jahrhunderts unter dem Namen 'martial law'1 24 • Von dorther übernahmen die

120 Vgl. das Stichwort „Kriegsartikel" bei MEYER, große Ausg„ Bd. 25 (1851), 174 und

die Stichwörter „Krieg" und „Belagerungszustand" .bei HERDER Bd. 1 (1854), 465;
Bd. 5 (1855), 662.
121 Baden: Gesetz über d1m Kriegszustand v. 29. 1. 1851; Preußen: Gesetz über den Be-

lagerungszustand v. 4. 6. 1851; Bayern: Entwurf eines Gesetzes über den Belagerungs-


zustand 1851 und Gesetz über den Kriegszustand v. 5. 11. 1912.
1 22 ROTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 2 (1858), 448 ff„ Art. Belagerungsstand; WAGENER
Bd. 3 (1860), 510 ff„ Art. Belagerungszustand; BoLDT, E.echtsstaat, 265.
1 2 3 Art. 96 der Kriegsverfassung des Deutschen Bundes von 1822 (in Verbindung mit
Standrecht); RoTTEcK/WELCKER 3. Aufl„ Bd. 2 (1858), 448; u. a. (kein selbständiges
Stichwort in den Lexika).
124 So Königin Elisabeth in ihrer Anordnung geg(ln die spanische Invasion, ferner Peti~ion

und Bill of Rights; vgl. FREDERICK WILLIAM MilTLAND, The Constitutional History of
England (1908; Ndr. Cambridge 1961), 266 ff.; ALBERT V. DlcEY, Lectures Introductory
to the Study of The Law of Constitution, 2nd ed. (London 1886), 296 ff.; neuestens
ERNST FRAENKEL, Martial Law und Staatsnotstand in England und USA, in: Der Staats-
notstand, hg. v. ERNST FRAENKEL (Berlin 1965), 138 ff.

361
Ausnahmezustand Il. 3. Die Revolution von 1848

Franzosen 1789 'loi martiale' als Bezeichnung für eine Regelung anläßlich lokaler
Unruhen. Sachlich schloß sich diese Regelung aber nicht an die Martial-law-Praxis
an, sondern an die Restriktion, die der Militäreinsatz gegen Zivilpersonen in Eng-
land schon 1714 in der „Riot Act" gefunden hatte125. Die „Loi contre les attroupe-
ments ou Loi martiale" band wie die „Riot Act" den Einsatz von Soldaten bei
einem Auflauf oder bei Zusammenrottungen in einer Ortschaft an die vorangegan-
gene Requisition des Militärs durch die Gemeindebehörden und an eine genau
fixierte Prozedur gegenüber der versammelten Menge, bis schließlich bei deren
renitenter Unbotmäßigkeit der Befehl zum Einschreiten mit Waffengewalt gegeben
werden durfte. Diese sogenannte „Aufruhr-Akte" regelte also nur den Fall eines
polizeimäßigen, nicht aber eines kriegsmäßigen Einsatzes des Militärs. Die fran-
zösische Gesetzgebung hat zahlreiche in- und am.ländische Nachahmung(1n wie die
„Tumultgesetze" in Deutschland gefunden. Der Einsatz aufgrund ziviler Requisi-
tion zählte seitdem neben dem Notwehrrecht und dem Belagerungszustand zu
den klassischen Fällen des militärischen Waffengebrauchs gegen Zivilpersonen12s.
Als Notstandsregelung wurde die Requisition jedoch vom Belagerungszustand
verdrängt.

e) Militäreinsatz und Aufruhr. Die ältere Tumultgesetzgebung besaß nur eine


geringe Möglichkeit, die neu aufbrechenden Bürgerkriegssituationen zu meistern.
Noch 1789 rechnete man in Frankreich, wie die nicht-kriegsrechtliche Fixierung
der „Loi martiale" zeigt, nicht mit Bürgerkrieg, sondern mit einer unblutigen
RevvluLivll mwh englischem Vorbild. Von dieser Einstellung zeugt auch der Ver-
such des ABBE SIEYES, das Militär als pouvoir exterw?tr von P.ine.m Einsatz gegen
Bürger überhaupt fernzuhalten: . . . "le soldat 'M doit famais &re employe contre "le
citoyen (Art. 13 des Entwurfs zur „Declaration des droits de l'homme et du citoyen").
In der Frage des Militäreinsatzes und der Suspension von Grundrechten prallten.
verschiedene Ansichten aufeinander. Die Treue zu den Prinzipien des neuen Ver-
fassungsstaates stand gegen die Erfordernisse eines staatlichen Noteingriffs.
Auch in der 48er Zeit war der Einsatz von Soldaten umstritten127 . Aber der Miß-
erfolg des Versuches, mit Nationalga~den und Bürgerwehren die Ordnung aufrecht-
zuerhalten, sowie die Zuspitzung der revolutionären Situation führten sehr schnell
wieder zum Rückgriff auf das Militär. Das Gegen Demokraten helfen nur Soldaten
wurde zum geflügelten Wort128. Das liberal-konstitutionelle Denken des aufkom-
menden bürgerlichen Rechtsstaats forderte jedoch Legalisierung und Reglementie-
rung dieses Einsatzes. In den Verfassungen finden sich daher Bestimmungen über
die Requisition des Militärs durch die zivile Gewalt129. Die damit ausgesprochene
Unterstellung des Militärs unter zivile Instanzen war allerdings damals unüblich

125 Vgl. SCHMITT, Diktatur, 171 ff.; vgl. franz. cours martial für „Kriegsgericht".
128 Vgl. das preußische Tumultgesetz v. 30. 12. 1798; BoLDT, Rechtsstaat, 27. Die Einsatz-
modaJität1m 11inrl in rlP.n militii.rischen Wa1fengebrauchsvorsohrifton Iliodorgologt.
m BoLDT, Rechtsstaat, 70 u. passim (s. Anm. 104).
1 ~ 8 Aus V. MERCKELS Die fünfte Zunft .(Flugschr. 1848); bekannt durch die gleichnamige

Schrift des Obersten VON GRIESHEIM (Berlin 1848).


129 Vgl. Art. 36 der preuß. Verfassung von 1851.

362
f) 'Smpeaeion' Ausnahmezustand

und unerwünscht, so daß derlei Regelungsansätze Theorie blieben. Auch war die
„Aufruhr-Akte", an die sich die Vorstellung einer zivilen Requisition des Militärs
knüpfte, ja lediglich auf den polizeiwidrigen Auflauf, die einfache Zusammen-
rottung (attroupement, riot) berechnet, nicht jedoch als Mittel gegen revolutionäre
Erhebungen konzipiert.
Was den lokalen Tumult überstieg, wurde damals herkömm.licherweise als 'Auf-
ruhr' begriffen. Wie jedoch schon die Bezeichnung des Verfahrens gegen Aufläufe
als „Aufruhr-Akte" zeigt, war dieser Ausdruck recht unscharf. Er konnte alles
vom Auflauf, der in eine einfache Widersetzlichkeit gegen die Staatsgewalt aus-
artete, bis hin zur Rebellion, die' sich erklärtermaßen und mit Waffengewalt gegen
die Regierung richtete, umfassen - bis zu jenem Punkt, an dem der Erfolg der
Rebellen zu ihrer roohtliohen Anerkennung als BürgerkriegRp11.rtof\i fiihrtfl1 a0 • Für
eine Gesetzgebung, die angesichts der 1848/49 erfolgten „wilden" -Belagerungs-
zustands-Verhängungen auf eine Restriktion des von Zivilbehörden nicht mehr
kontrollierbaren Militäreinsatzes bedacht war, erhob sich damit die Frage, von
welchem Grad der Ausschreitung an sie die „Säbelherrschaft" gestatten wollte. Die
.Ansichten hierüber gingen stark auseinander. Während die einen die. Verhängung
des Helagerungszustands schon bei bloßen KrawaUen bef!lrwurLeLeu, wochten a.n·
dere sie auf den 'h.oo'h.- 1i,nd landesverräterischen Aufruhr beschränkt und keinesfalls
schon bei Aueschreitungen anläßlich einer Bierl.e11,er11,ng oder eines Streikes von
Arbeitern vorgenommen wissen131• In Frankreich führte diese Diskussion zur
restriktiven Formulierung einer revolte (insurrection) a main armee1 a2. In Deutsch-
land beließ man es dagegen schließlich, ohne eine Einigung zu erzielen, beim „Auf-
ruhr" ohne Zusatz.

f) 'Suspension'. Die Frage einer Eingrenzung des Belagerungszustandes tauchte


nicht nur bei einer Formulierung seiner Voraussetzungen, sondern auch bei der
Bestimmung seiner Wirkungen auf. Das neue rechtsstaatliche Verfassungsver-
ständnis bot für die Anwendung des Kriegsrechts außerhalb der positiven Rechts-
ordnung keinen Raum mehr. Um es im Rahmen der Verfassung zu gewähren:,
mußte der Militärherrschaft ein irgendwie bemessener Raum durch Suspension

130 Die traditionelle Unterscheidung von 'Aufruhr', 'Auflauf' und 'Aufstand' findet sich

in den Lexika. seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, jedoch in wechselnder Bedeutung der
einzelnen Begriffe. Vgl. die entsprechenden Stichworte bei SCHEIDEMA.NTEL, ADELUNG, in
der Dt. Enc., bei ERsCH/GRUBEB, im BROCKHAUS und HERD ER. Umschlag von ,'Rebellion'
in 'Bürgerkrieg': ROTTECJK/WEWKEB Bd. 9 (1840), 493. Dabei ist zu beachten, daß 'Auf-
stand' bis ins 18. Jahrhundert nur als Begriff aus dem Bergwerksweseri bekannt war; vgl.
das Stichwort bei HÜBNER Bd. 1 (1717).
131 Vgl. die Debatte um den Belagerungszustand in den Verhandlungen des Verfassungs·
ausschusses 1849, in: Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter
Nationalversammlung aus dem Nachlaß von J. G. Droyaen, hg. v. RunoLF HÜBNER
(Stuttgart, Berlin 1924), 405 ff., bes. 407. 415 ff. Dort 411: Krawall (v. Rotenho.m),
415 ff.: hoch- und 1,a11uksverräteri8Mer Aufruhr (Vorschlag Mittermaier); s. auch MITTER·
MAIER, Belagerungszustand, 58 (s. Anm· 104).
132 Vgl. den fra~ösischen Gesetzentwurf v. 1832 und die „Loisur l'etat de siege" v. 3. 4.

1878; BoLDT, Rechtsstaat, 253. 256.

363
Ausnahmezustand II. 3. Die Revolution von 1848

einzelner Verfassungsbestimmungen verncha:fft werden133. Damit erhielt die Rechts-


figur der „Suspension" eine allgemeine Bedeutung. Es tauchte hier ein für den
Verfassungsstaat kontinentalen Zuschnitts, den Gesetzgebungsstaat, besonders
kennzeichnendes Problem auf. Die ältere Zeit kannte als allgemein gebräuchliches
Rechtsinstitut nur die „dispensatio", die Aussetzung der Anwendung eines Ge-
setzes im Einzelfall zugunsten des Betroffenen. Ihr Gegenstück war das „legibus
solutus", das - ebenfalls im Einzelfall - dem höheren Recht der aequitas oder
einer „communis utilitas" gegen das positive Recht zum Durchbruch verhelfen
sollte134. Unter 'Suspension' verstand man dagegen zunächst lediglich die kirchen-
rechtliche Entbindung eines Klerikers von seinen Amtspflichten und Benefizien135.
Als Vorläufer der Suspension im Sinne einer zeitweiligen Außerkraftsetzung von
Gesetzen kann das „silent lflefls int.er arma" gelten. Erst dio prinzipielle Bindung
der Regierungsgewalt an Gesetz und 'Konstitution machte die Suspension im Ver-
fa.ssungsstaat zu einem bestimmten und um 1799 zentralen Rechtsbegriff wie die
suspension de l'empire de la Oonstitution des Art. 92 der franzfü1ischen Verfassung.
Bis in die 48er Zeit orientierte sich das Verständnis dabei am Vorbild der „Rns-
pension of Hahflas Corpus Act". In England hatte die „Bill of Rights" schon
1689 oin ~rundolit.lllioho11 Pi1111pt':n11i1:iu1>v1;:.l.'lJuL fllr 1h111 Mono.rohen und seine H.eg1orung
verfügt. Durch „Statutes of Parliament" konnte jedoch unter gewissfln Umständen,
insbesornlere bei Unruhen, das in der Habeas-Uorpus-Alrt.e gewährte Recht auf
Vorführung vor den Richter zeitweilig ausgesetzt werden, wenn der Betroffene
der „felony" oder des „treason" verdächtig war136. Das interpretierte man im ver-
fassungsstaatlichen System des Kontinents als Suspension der. verfassungsmäßig
verbürgten persönlichen Freiheit vor polizeilichem Zugriff1 37 .
Dem so verstandenen Vorbild folgend wurden nun Freiheit der Person und Schutz
vor Haussuchung im Belagerungszustand außer Kraft gesetzt. Heftig umstritten
war dagegen die Frage, ob sich der dem Militär zur Verfügung gestellte Grund-
rechtsraum darüber hinaus auch auf die Versammlungs-, Vereins- und Presse-
freiheit, sowie auf die Garantie des gesetzlichen Richters erstrecken sollte138.
In dieser Auseinandersetzung spielte die Funktion der Pressefreiheit, der bürger-
lichen Freiheit eine bedeutende Rolle. Trotz eindrucksvoller Plädoyers für dieses
Palladium der Freiheit und Warnungen, nicht dem Militär die Gerichtsbarkeit
im Belagerungszustand anzuvertrauen - denn es sei parteilicher RiclUer, zürnende
Richter aber können keine Richter sein, da werde eine ordentliche Untersuchung nur
geheuchelt und an der Heiligkeit der Justiz gerüttelt und das Te Deum laudamtts mit
dem vae victis nach Niederschlagung des Aufstandes vermischt -, zogen die
liberalen Wortführer, MITTERMAIER, RuDHART139 , Welcker, den kürzeren. Auch
ihr Hinweis auf den traditionellen Rechtssatz, daß nur der, der die Gesetze gebe,

133 Vgl. Art. 111 der preuß. Verfassung von 1851.


134 s. o. s. 345. 349.
135 HINscmus, Katholisches Kirchenrecht, Bd. 5 (1838), 66 f. (s . .Anm. 16).
136 DICEY, Law of the Constitution, 243 ff.
137 Vgl. insbesondere MrrTERMAIER, Belagerungszustand (s . .Anm. 104).
138 Vgl. .Anm. 131.
139 .Zit. MrrTERMAIER, Belagerungszustand und RuDHABT, Bericht über den Entwurf

eines Gesetzbuchs über das Verfahren in Strafsachen (o. 0. 1834), 217 ff. [handschriftl.].

364
g) ·Kritik am Belagenmgszastand Ausnahmezustand

sie auch selbst durchbrechen dürfe, fand in Deutschland kein Gehör. Im Gegensatz
zu Frankreich bl:eb hier die Erklärung des Belagerungszustandes mitsamt der
Suspension von Grundrechten der Regierung vorbehalteii.140• Die Vorkämpfer des
Rechtsstaates setzten zwar ihre Forderungen nach einer Reglementierung des
Kriegszustandes durch. Die gesetzliche Regelung selbst, die das Bürgertum, durch
die Zuspitzung der revolutionären Situation erschreckt, mit den konservativen
Trägern der Regierungsgewalt aushandelte, folgte ihren Vorstellungen jedoch nicht.
Die Angst vor den ZerstiYrungen des Oommunismus und der entfesselten Despotie
t-ierischer Leidenschaften, vor dem Aufruhr der Pöbelmassen, der Kirche und Staat
zu vernichten droht, indem er in entfesselter Leidenschaft vererbte Sitte und Unan-
tastbarkeit des Eigentums mißachtet (BiscuoF)141, vor dem demokratischen Dunkel-
m<mn und Ana.rch.isf.P.ri., lif~ß iliP. nach-revolutionären Parlamente den Regierungen
mehr Rechte einräumen, als es der radikal-liberalen Theorie billig erschien.

g) Kritik am Belagerungszustand. Mit Abschluß der Gesetzgebung über den


Belagerungszustand anfangs der fünfziger Jahre war nicht nur eine Regelung für
militärische Maßnahmen ·in Unruhefällen erreicht, sondern auch der Begriff des
'Belagerw:i.gsz\1stande.R' 1mil 'K riP.ßRr.IJRta.ndes' neu definiert. Als 'Belagerungs-
zustand' erschien der Literatur der späteren Zeit ganz selbstverständlich das, was
Resultat eine1:1 heißen Kampfes um die Konstitutionalisierung der „Säbelherrschaft"
gewesen war1' 2 • Die neue Begriffskonzeption wurde schließlich so selbstverständlich,
daß man auch die Suspension von Grundrechten ohne sie begleitenden Militär-
einsatz, wie sie das Sozialistengesetz der Bismarckzeit verfügte, zeitgenössisch
ala kleinen Bela.g11rnngR?.11Rtand verstand.
Nur ein Jahrzehnt wirkte die Erregung der Auseinandersetzung in skeptisch-
kritischen Betrachtungen nach. So erschien der Kunstfertigkeit des Staatsmannes
der Belagerungszustand als ein Instrument, mit dem jeder Esel regieren könne
(CAVOUR)14S. Der Revolutionär dagegen prophezeite eine Rücknahme der konsti-
tutionellen Zugeständnisse durch eine repressive Gesetzgebung, die das Prinzip
des Belagerungszustandes in die konstitutionellen Verhältnisse generell einführen
werde. Die „exzeptionellen" Belagerungszustände werden aufgehoben werden, sobaUl
der „aUgemeine" Belagerungszustand durch Gesetze dem ganzen Königtum oktroyiert
und in unsre konstitutionellen Sitten eingeführt ist. Der Reigen dieser „starken"
Gesetze wird eröffnet werden d1t.rch Be.pfR.mhergesetzgebung über die Assoziationen und
die Presse (MARx)lH. ·
Der radikale Liberalismus vermochte sich mit den Verletzungen seiner Heiligtümer
nicht abzufinden und konnte für einregistriert. in das konstitutionelle Staatsrecht
der europäischen oder deutschen Staaten diesen politischen Belagerungszustand keines-
wegs halten. Er sei vielmehr das Gegenteil eines verfassungsmäßigen Rechtszu-

140 Vgl. die französische Entwicklung: Art. 14 der Charte von 1814; Art. 13 der Charte

von 1830; Loi sur l'etat de siege v. 9. 8. 1849, Art. 2.


ui DiscHOF, Nothrecht, 7. 114 (s. Anm. 53).
142 Vgl. BLUNTScHLI/BRATER Bd. 1 (1857), 783 :ff.
143 Zit. BLOCK 28 6d., t. 1 (1867), 943.
144 KARL MARx/FmEDRICH ENGELS, Die Thronrede, „Neue Rheinische Zeitung", Nr. 234
v. 1. 3. 1849, MEW Bd. 6 (1959), 314.

365
Ausnahmezustand ll. 4. Der Wandel des Begriffs seit 1848

Rtlmrll:'IA, nnmliohdCtlflCII. Aufhebung, die den inneren Gegner 11ogo.r oohlcohicr u.fo
den völkcrrccihtlich geschützten äußeren Feind im Kriege stelle (WELCKER)l45.
Den Konservativen wiederum gingen die Befugnisse, die der Belagerungszustand
der Staatsgewalt einräumte, nicht weit genug. Sie plädierten für ein ungeregeltes
Kriegsgericht mit nachfolgender Rechenschaftsablegung der Regierung vor den
Ständen. Ihr Spott ergoß sich über den Belagerungszustand, der nichts anderes sei,
als Komplement und Konsequenz des in den modernen Verfassungen etablierten
Bürgerkriegs . . . in Schlafrock und Pantoffeln, in dem der Liberalismus die Werk-
stätten seiner eigenen Revolution, das Preß- und Vereinsrecht ungestört wissen wolle,
aber nichts dawider habe, wenn die mit ihren Forderungen über seine gemütliche
Anarchie und friedliche Revolution hinaus drängenden schlecht gekleideten Bürger
auf der Straße totgeschossen würden (WAGENER)146• Mit dem Stichwort „RiiTgp,r-
krieg" war denn auch das genannt, worum es damals wirklich ging. Verdeckt durch
die Idee der „unblutigen Revolution" konnte der Ausdruck für die Gesetzgebung des
Belagerungszustandes jedoch nicht thematisch werden. Der Belagerungszustand
blieb somit eine besonders in späterer Zeit in zunehmendem Maße verharmloste
„polizeimäßige" Maßnahme gp,gp,n dip, „Stömng" der gerade etablierten bürger-
liohon Ordnungl47, Er oroohoint dabei in die 8elb11tvf'lr11tii.ndlir.hkf'lit. gf'll1ii.1Jt,, da.IJ
es ja außerordentliche Mittel gegen außerordentliche Gefährdungen des Staates·
durch Aufruhr oder Krieg geben müsse, wie die den Sachverhalt vArdeckende
Formulierung seiner Voraussetzungen in den Gesetzen lautet. Hier schwang die
Reminiszenz an die militärtechnische Vergangenheit des· Belagerungszustands als
eines Mittels gegen den eindringenden äußeren Feind und die beide Erscheinungen
einer Staatsgefährdung umfäooondo uroprüngliohc Form des Kriegsrechts mit,
sowie die gelehrte Erinnerung an das „bellum et seditio" der rechtsstaatlichem
Denken verwandt empfundenen älteren römischen Diktatur. Allerdings wurde die
neue Diktatur auch im Falle des Krieges nicht gegen den äußeren Feind benutzt,
sondern gegen den inneren, und hier schon dann, bevor er überhaupt daran dachte,
zum Aufruhr zu rüsten, wie die Kriegszustands- und Schutzhaftpraxis des Ersten
Weltkriegs zeigt. Der in dieser Weise verdeckte und gezähmte Bürgerkrieg tauchte
freilich, kaum gemeistert, an anderer Stelle im neuen System des bürgerlichen
Rechtsstaats wieder auf, was der Wandel des Staatsnotrechtsbegri:ffs deutlich
macht.

4. Der Wandel des Staatsnotrechtsbegriffs seit 1848

a) 'Dominium eminens'. Auch nach 1848 ist die Lehre vom „dominium ius emi-
nens" noch anzutre:ffenl 48 • Allerdings hat sich durch den neuen Verfassungszustand
die Problemstellung insofern verschoben, als die neuen deutschen Verfassungen

m S. Anm. 122.
148 S. Anm.. 122; von Revolutionären in SclUafrock und Pantoffeln sprach (nach Böme)
schon FRH. ÜTTO v. MANTEUFFEL 1851 (eingegangen in den Büchmann).
147 S. u. S. 370.

us Vgl. ZACHARIÄ, Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. 2(1854),120 ff.; Zöl'FL, Staatsrecht, 4. Aufl.,
Bd. 2 (1856), 712 ff. (s. Anm. 86); vgl. auch den Art. eminens ius bei RoTTECK{WELOKEB
3. Aufl., Bd. 5 (1861), 85 ff.

366
b) 'Notverordnung' Ausnahmezustand

ganz generell nur noch eine Enteignung auf Grund eines Gesetzes vorsahen. Damit
war der Gemeinwohl-Eingriff seiner Außerordentlichkeit endgültig entkleidet und
normalisiert worden, was der zunehmenden Enteignungspraxis im Bereich des
Straßen- und Eisenbahnbaus entsprach. Daneben blieb jedoch das „dominium
eminens" zunächst bestehen als Rechtstitel für nunmehr wirkliche Noteingriffe
des Fürsten durch „Spezialverfügung", die über den beschränkten Umkreis der
gesetzlich legitimiertenExpropriationhinausgingen. Als Fall einer solchen wirklichen
Notbehebung erschien es in der Literatur denn auch gerade auf die Notlage des
Kriegszustandes bezogen, von dessen Fällen es bislang grundsätzlich geschieden
war. Charakteristischer aber als die sich hier abzeichnende Verbindung von „Staats-
notrecht/dominium eminens" und „Ausnahmerecht/Belagerungszustand" war, daß
das „Sta11.tsnotrecht", das durch die gesetzliche Regelung der Enteignung von seiner
bisherigen Funktion gleichsam freigesetzt wurde und das auch die Stelle einer
Rechtfertigungsgrundlage für staatliche Maßnahmen im Aufruhr durch die Ge-
setzgebung des Belagerungszustandes besetzt fand, sich nunmehr mit dem Not-
verordnungsrecht und dem neuartigen Fall des Verfassungskonfliktes verband.

b) 'Nntvr.rnrdnung'. Die älteren deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts


kannten eine eigenständige VerordmmgRgewalt des Monarchen ohne Mitwirkung
de1· 8Ländc im Vringlichkeitsfa.11149. In den VcrfBsaungen nach 1830 wurilll uiH11e11
Verordnungsrecht mit einem nachträglichen Genehmigungsvorbehalt der Stände
verbunden und dementsprechend in der Literatur unter dem Titel „provisorische
Gesetzgebung" behandelt. Die in dieser Zeit einsetzenden Tendenzen einer Ile-
strikt,ion iler monarchischen Gesetzgebungsgewalt fanden in den Verfassungen nach
1848 ihre volle Ausprägung. In vielen Konstitutionen wurde das monarchische
Gesetzgebungsrecht auf diejenigen Fälle beschränkt, deren Regelung drängte,
während das Parlament nicht versammelt war. Dabei waren Verfassungs- und
Wahlrechtsänderungen meist ausdrücklich ausgenommen. Die so verbleibende·
provisorische Gesetzgebungsgewalt wurde von der Literatur in Erinnerung an den
kaiserlichen Notschluß des alten Reichsrechts als Ausübung des „Staatsnotrechts"
interpretiert. Da sich gleichzeitig die Vorstellung durchsetzte, daß 'Gesetz' nur das
sei, was die Volksvertretung beschließe, der Monarch allein jedoch nur eine davon
unterschiedene Verordnungsgewalt besitze, bürgerte sich für seine provisorische
Gesetzgebung die Re7.eichnung 'Notverordnung', die mit Gesetzeskraft contra
legem wirke, ein (STEIN)150 • Praxis und Theorie gingen freilich zunächst über die
konstitutionellen Restriktionen hinaus und verwendeten die „Notverordnung"
nicht nur im Sinne einer Hilfsgesetzgebung für ein verhindertes Parlament, sondern
auch als Kampfmittel gegen diese Institution151 •

149 Zusammenstellung bei BISCHOF, Nothrecht, 74 ff.


160 ZACHARIÄ, Staatsrecht, 3. Aufl., Bd. 2 (1867), 271 ff. („ius eminens"); L. v. STEIN,
Verwaltungslehre, 2. Aufl., Bd. 1 (1869), 152 ff.; 1. Aufl., Bd. 7 (1868), 342 ff.
l61 Vgl. auch CARL v. KALTENBORN, Einleit~g in das constitutionelle Verfassungsrecht
(Leipzig 1863), 347 ff.; die Verbindung des „Nothfalls" mit dem Konflikt zwischen Re-
gierung und Ständen zuerst ausführlich behandelt bei RoBERT v. Mom., Die Verantwort-
lichkeit der Minister in Einherrschaften mit Volksvertretung (Tübingen 1837), 187 ff.
(unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsverletzung). ZöPFL, Staatsrecht, 1. Aufl. (1841),
173 sprach im Verhältnis von Monarch und Repräsentationsträger nach englischem

367
Ausnahmezustand II. 4. Der Wandel des Begriffs seit 1848

c) Verfassungskonßikt. Außerordentlich aufschlußreich für die Staatsnotrechts-


problematik der Zeit und ihre Behandlung in Praxis und Theorie ist die Mono-
graphie, die HERMANN BiscHOF dem „Nothrecht der Staatsgewalt in Gesetzgebung
und Regierung" gewidmet hat (Gießen 1860). Für ihn war - historisch erklärlich -
auch die Enteignung durch die Gesetzgebung aus Gemeinwohlgründen begrifflich
noch ein Notrechts-Eingriff. Ein solches Notrecht komme auch im Wege der
provisorischen Gesetzgebung der „Staatsgewalt als Organ der Regierung" zu. Für di.e
aber sei der außerordentliche Eingriff auf die Fälle wirklicher Not, wo die Existenz des
Staates oderdessen höchste Güter auf demSpiele stehen, beschränkt. Fälle einer solchen
Not waren für Bischof nun aber nicht wie für die ältere Theorie in erster Linie
Enteignungen zur Existenzerhaltung des Staates, sondern insbesondere Eingriffe
im Rahmen der A11frnhrbekämpfung. An dieser Stelle zeigt sich deutlich die zeit-
bedingte Perspektive, in der gerade der Aufruhr als Staatsnotstandsfall vor allen
anderen erschien.
Auch im Notfall vorgenommene gesetzliche Maßnahmen bedürften einer nach-
träglichen Genehmigung durch die Stände. Für sie seien aber nicht, so fährt Bischof
fort, Verfassung und Wahlgesetz, wie viele meinten, unantastbar. Denn insbeson-
dP.re flin nf\mokratil'lche~ Wahl.L't:chL kürnrn ja. :..:u Hirrnr Verweigenmg der Anerken-
nung der Notmaßnahmen durch ein auf diesem Wege gewähltes Parlament führen.
Ein damit auftauchender Konflikt zwischen Monarch und Ständen Rtelle aber im
konstitutionellen Staat gerade den eigentlichen Fall eines die positive Ordnung
überRteigenden Staatsnotrechts dar: Es kann jedoch schlechterdings nicht in Abrede
gezogen werden, daß ge'K.ade der Fall eines unlösbaren Konfliktes zwischen Regierung
und Ständen zur Handhabung des Btaatsnot•recltts d·urclt die Regierung eine genagende,
vielleicht die dringlichste, Veranlassung bildet151a.
Hier müsse dem Fürsten schließlich auch das Recht zur Verfassungsaufhebung
aufgrund des monarchischen Prinzips zugestanden werden. Das war die Auskunft
der Theorie für die Lösung des in der konstitutionellen Verfassung selbst organisier-
ten Bürgerkriegs (WAGENER)152 • Sie fand ihre praktische Entsprechung in Bis-
marcks Berufung auf das Notrecht der Regierung während des preußischen Ver-
fassungskonflikts.

d) Resümee. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich die Restriktion des
außerordentlichen Eingriffs auf „wirkliche" Notfälle durchgesetzt. Der Gemein-
wohl-Eingriff ist dagegen von der Gesetzgebung normalisiert worden. Aber der
Begriff des Gemeinwohls wurde nicht mehr von der salus publica-Vorstellung
des absolutistischen Staates bestimmt. Er erschien vielmehr von den Verkehrs-
bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft geformt, deren oberstes Prinzip die
Wahrung des Privateigentums war. Eine Durchbrechung dieses Prinzips ließ sich
daher nur noch in den Fällen rechtfertigen, in denen die Enteignung selbst als eine

Vorbild (Locke) von 'Prärogative' des Fürsten. Der Begriff kommt auch in der älteren
deutschen Staatsrechtsliteratur vor, vermochte aber keine eigenständige Bedeutung
zu gewinnen. Das 19. Jahrhundert setzte dafür, vor allem seit Stahl, das „monarchische
Prinzip".
Ula BISCHOF, Nothrecht, 67. 87.
152 WAGENER Bd. 3 (1860), 510 ff.

368
a) Begriffsverlall im 19. Jahrhundert Ausnahmezustand

Bedingung für das Prinzip der vollen Entwicklung der staatsbürgerlichen Gesellschaft,
dem freien Erwerb, erscheint (STEIN)15 3. Hier durfte dem Eigentümer freilich die
Grundlage seiner Existenz als freier Persönlichkeit, der Wert seines Besitzes, nicht
entzogen werden, sondern war volle Entschädigung zu leisten - das Prinzip einer
Eigentum erhaltenden und zugleich um seine Mehrung besorgten, Eisenbahnen
bauenden Gesellschaft. Die soziale Frage jener Zeit, das Problem des Pauperismus
war damit allerdings nicht zu lösen. Diese Frage tauchte. als juristisch relevantes
Notstandsproblem nicht auf. Es traten vielmehr ein bürgerlicher, „juristischer"
und ein sozialistischer, „philosophischer" Expropriationsbegriff („le prive, c'est le
vol"; Proudhon) auseinander. Sie wurden in der Literatur scharf gegenüber-
gestellt154. Trotz warnender Stimmen wie: Störungen der öffentlichen Ruhe wollen
nicht bloß mit Waffengewalt darnie,dergedrückt, sondern in ihren· Grundursachen er-
kannt und gehoben sein155, war der Stil jener Zeit nicht von dem die Gesellschaft
reformierenden Eingriff geprägt, sondern von einer traditionellen Angst vor
einem Abgleiten in das demokratisch-anarchistisch-kommunistische Chaos und in
eine neue Despotie, falls man sich über die Prinzipien des bürgerlichen Systems
hinwegsetzte und seinen Schutz vernachlässigte. Die necessitas-Regelung deR
Beht.g1mrngszusLandes diente als Riegel gegen einen schließlich in aufrührerischer
Betätigung explodierenden sozialenNotstand, nicht mehr als „Schlüssel" der Reform.
Soweit waren sich monarchische Regierungsgewalt und bürgerliche Majorität in
der Regel einig. Ihre verfassungsmäßig niedergelegte Vereinbarung fand aber da
ein Ende, wo der Konflikt zwischen den Vertragspartnern selbst aufbrach. Und in
dieser, iin neuen: System nicht mehr erfaßbaren und regelbaren Not siedelte sich
daher denn auch der neue Begriff des Staatsnotrechts an.

5. Das „Ende" des Staatsnotrechts

a) Begriß'sverfall im 19. Jahrhundert. Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
an wurde eine Reihe von Begriffen, die im Rahmen des Staatsnotrechts bislang
eine bedeutende Rolle spielten, obsolet. Der konsolidierte „bürgerliche Rechts-
staat", in dem ein spätliberales Bürgertum sich „gouvernemental" dem Staat zu-
wendete und der Staat sich mehr und mehr als Beschützer und Förderer der bürger-
lichen Interessen begriff, glaubte in positivistischer Manier, sich ganz auf das Er-
reichte als das positiv Gegebene konzentrieren und alle Störungen, sowie die
anormalen Befugnisse, mit denen man ihnen ehedem entgegentrat, ausscheiden zu
können. Der Machtspruch des Monarchen war schon in der ersten Hälfte des
Jahrhunderts als systemwidrig aus dem.Rechtsstaat ausgeschaltet worden. 'Macht-
vollkommenheit' ('plenitudo potestatis') und 'ratio status' verschwanden ebenfalls
aus der Terminologie des Verfassungsrechtsl 5&. 'Majestas', Inbegriff der gottgegebe-
nen Herrschaft, personifiziert im absoluten Fürsten, wurde in der konstitutionellen
Monarchie zum Prädikat ihres Prädikates, zur Bezeichnung der Unverletzlichkeit und
Unverantwortlichkeit des konstitutionellen Monarchen und schließlich zur reinen

163 STEIN, Verwaltungslehre, Bd. 7, 292 ff.


lH Vgl. BISCHOF, Nothrecht, 50.
166 Zit. Die Eigentumslosen, hg. v. CARL JANTKE u. DIETRICH liILGER (Freiburg 1965), 56.
lö& ZÖPFL, Staatsrecht, 4. Aufl., Bd.. 2 (1856), 189.

24-90385/1 369
Ausnahmezustand II. 5. Das „Ende" des Staatanotreehts

Titulatur.Auchdie'Souveränitä.t'wurdeimneuenbundesstaatlichenSystemzueinem
fragwürdigen Begriff. Das 'dominium eminens' endlich hatte seine Rolle angesichts
der verfassungsrechtlichen Bindung der Enteignung an das Gesetz ausgespieltlö 7 •
Anstelle der traditionellen Begrifflichkeit trat die abstrakt-allgemeine, ,Staatsgewalt''
als Inbegriff eines absoluten Staatswillens, der sich durch „Organe" mit verfassungs-
mäßiger Kompetenz äußerte. Auch das Staatsnotrecht wurde dieser Staatsgewalt zu-
gerechnet, deren Träger zunächst freilich Monarch blieb. Augenfällig erschien das
insbesondere dann, wenn er sich sogar über die Verfassung hinwegsetzte und sich
kraft des „monarchischen Prinzips" auf seine Staatsgewalt zurückzog.
Aber auch das Staatsnotrecht verfiel schließlich dem Verdikt. Da es seiner Natur
nach einen außerordentlichen, nicht vorher berechenbaren Eingriff in das positive
Recht auf überpositiver Rechtsgrundlage darstellte, wurde es von der seit den
achtziger Jahren zur Herrschaft gelangten Theorie des Rechtspositivismus, die
alle übergesetzlichen Bezüge des Willens der Staatsgewalt auf ein höheres Recht
oder auf sittliche Zwecke als Vorspiel im Himmel (GERBER) denunzierte und strich,
zum juristischen Unding erklärt158• Da es aus der positiven Rechtsordnung heraus-
fiel, konnte es nicht länger Recht sein. Auch der Verfassungskonflikt konnte damit
nicht gelöst werden. Für die neue Theorie galt vielmehr in diesem Fall das Diktum:
Das Staatsrecht hört hier auf (A.NscHÜTZ)159• Die Kategorie des Staatsnotrechts
war ihr lediglich ein anderer .Ausdruck für den Satz, daß Macht vor Recht geht
(JELLINEK)180• Dasselbe Schicksal der Verstoßung aus der Rechtswelt erlitt zur
gleichen Zeit auch der alte Gegenspieler des obrigkeitlichen Staatsnotstandes, das
Widerstandsrecht, bislang als Relikt vergangener Zeiten wenigstens in der·Theorie
noch bewahrL1 81 •
Die positiven Regelungen des Staatsnotstandes wurden im positivistischen Sinne sy-
stemadäquat umgedeutet: die Notverordnµng zum technischen Hilfsmittel für Fälle
der Verhinderung der Legislative („Gesetzgebungsnotstand") und der Belagerungs-
zustand zu einem polizeilichen Eingri::ft' gegen „Störer", womit Aufruhr und Re-
volution als Kategorien einer polizeiwidrigen Störung der öffentlichen Ruhe und
Ordnung erschienen182• Mit alldem war die Notrechtsproblematik teilweise eska-
motiert, teilweise entpolitisiert und in einem rein juristischen System heimisch
gemacht worden.
b) 'Ausnahmezustand'. Der Ausdruck tauchte, in einem untechnischen Sinne ge-
braucht, schon Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Noch WELCKER undMITTERMAIER183

117 Vgl. MEYER, Expropriation, 164 (s. Anm. 43).


118 v.GEBBD, zit. LAYER, Enteignungsrecht, 37 ff., bes. 44, Anm. 1, mit weiteren Belegen.
ue GEORG MEYER/GERHARD ANSOHÜTz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, ·7. Aud.
{München, Leipzig 1919), 906.
HO GEORG JELLINEK, Allgemeine Staatslehre {Berlin 1900), 359.
111 Vgl. CARL HEYLAND, Das Widerstandsrecht des Volkes gegen verfassungswidrige Aus-
übung der Staatsgewalt im neuen deutschen Verfassungsrecht {Tübingen 1950), 69 ff.
111 Vgl. die Kritik bei JOHANNES HEOKEL, Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnot-
stand mit besonderer Berücksichtigung auf das Budgetrecht, Arch. d. öffentlichen Rechts,
NF 22 (1932), 283 ff. Einzelheiten bei BoLDT, Rechtsstaat, 223 ff. (s. Anm. 104).
11a RorrEOK/WELOKER 3. Aud., Bd. 2 (1858), 448 ff., Art. Belagerungszustand; MrrrER-
lllilEB, Belagerungszustand, 29.

370
m. 1. Die „'\Viederktohr'" dN Staatllnotrecbts . A111D&bmezuatand

kannten im Zm1allllllenhang mit dem Belagerungszustand nur die Kompm1ita


Ausnahmemaßregel, Ausnahmegesetz, Ausnahmerecht und Ausnahmegericht . .WAGE-
NER1H dagegen verwendete Ausnahmezustand in Verbindung mit dem Standrecht,
das ein bei Ausnahmezuständen in Krieg und Frieden stattfindendes summarisches
oder abgekürztes Strafverfahren sei. In umgekehrter Weise sprach BLUNTSCHLI
von Ausnahmezuständen, die ein Notrecht des Volkes gegen eine ihre Gewalt miß-
bräuchlich ausübende Regierung rechtfertigen könnten186. In beiden Fällen war
also eine normalen Verhältnissen nicht entsprechende außerordentliche Situation
gemeint. Der Begriff erwuchs sichtlich aus der Gegenvorstellung zu einem dem
Gesetzessystem des Rechtsstaats korrespondierenden und als selbstverständlich
vorausgesetzten Normalzustand. Als terminus technicus im Sinne des Belagerungs-
zustandes oder· Kriegszustandes, als Inbegriff rechtlicher Regelungen, mit denen
eine außerordentliche Situation gemeistert werden sollte, erschien der Begriff da-
gegen erstmals in der „Verfassungs-Urkunde für die Fürstenthümer Waldeck und
Pyrmont" vom 17. 8. 1852: § 96: Nur im Falle eines Krieges oder Aufruhrs kann,
nach niiherer Bestimmung des Gesetzes, ein Ausnahmezustand eingeführt werden16 5a.
Er vermochte aber in dieser Zeit noch keine Bedeutung zu gewinnen. Erst als die
konkurrierenden Bezeichnungen' Belagerungszustand' und 'Kriegszustand' zu Beginn
des 20. Jahrhunderts für eine Aufruhrregelung, die als Polizeiwidrigkeit konstruiert
war, lmvim1tä.ndlich wurden und man Begriffsverwirrungen mit dem „eigentlichen",
nämlich dem äußeren Kriegszustand besorgte, begann 'Ausnahmezustand' die
älteren Ausdrücke zu ersetzen. Da die bis dato 'Belagerungszustand' genannte
Regelung für ein polizeirechtliches Verständnis der Sache außerordentliche, über
die normalen Befugnisse weit hinausgehende Maßnahmen vorsah, wurde vorge-
schlagen, für sie die Bezeichnung 'Ausnahmezustand' zu verwenden (ENDREs)l68 •

m. Ausblick
1. Die „Wiederkehr" des Staatsnotrechts

Die für den Positivismus denknotwendige Negierung des überpositiven Staatsnot-


rechts konnte sich vor den faktischen Notwendigkeiten des Ersten Weltkriegs uld
der Krisen der Zwischenkriegszeit nicht behaupten. Zwar versuchte man, die durch
Krieg, Wirtschafts- und Finanzkrisen hervorgerufenen Notlagen im Rahmen des
Legalsystems durch eine Ermächtigungsgesetzgebung zu überwinden, die den Weg

m R<YrrEOK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 2 (1858), 448 ff. .


185 Jon. KAsPAR BLUNTSCHLI, Allgemeines Staat!lrecht, 5. Aufl., Bd. 2 (1876), 237 ff.
185• Abgedr. in: Die deutschen Verf881!ungegesetze der Gegenwart, hg. v. HEINRICH
ALBERT ZACHARil (Göttingen 1855), 1106.
uie KARL ENDRES, Kriegszustand, Belagerungszustand, Standrecht, Arch. d. öffentlichen
Rechts 25 (1909), 548 ff.; vgl. 568: Bei der Wahl eines Titela des etwaigen neuen Reichage-
setus [über den Belagerungszustand nach Art. 68 der Reichsverfassung] würde sich vielieicht
die Bezeichnung „Auanahmezustand" empfehlen, da ein solches Geae.tz unzweifelhaft einen Aus-
nahmezustand auf materiellrechD,ichem und atraf:prozesll'Ualem Gebiete gegenüber dem normalen
Rechtszuatande, wie er im Strafgesetzbuch und der Strafprozeßordnung enthalten ist, darstellen
würde. Zum Gebrauch seit dieser Zeit vgl. KARL STRUPP, Deutsches Kriegszustands-
recht (Berlin 1916), 3.

371
Ausnahmezustand m. 2. Ausweitung des Ausnabmezustandshegriffs
.zu einer raschen und rücksichtslosen Notgesetzgebung durch die Regierung im
Stile der früheren Notverordnung öffnete. Doch sah man sich teilweise auch ge-
zwungen, den Regierungen darüber hinaus außerlegale Notkompetenzen zuzu-
sprechenl67. Das Problem wurde zunächst von JosEF KoHLER aufgegriffen, der un-
ter dem Titel „Not kennt kein Gebot" (Berlin, Leipzig 1915) ein neuhegelianisch
begründetes natürliches Notrecht des Staates im völkerrechtlichen Bereich be-
hauptete, um den deutschen Einfall in Belgien zu rechtfertigen. Für den inner-
staatlichen Bereich wurde es 1917 von HoERNI reklamiert als droit naturel ... que
Z'etat possMe deja par le single fait, qu'il eziste und justifie par les circonstances
memes, die den Staat zwangen, durch Rückgriff darauf, realiser les buts qui sont
Za raison a,'~tre de son existence168 • Auf die rechtliche Begründung dieses Naturrechts,
das bei Hoerni in einer für rechtsstaatliches Denken ungewöhnlichen Weise aus
der Existenz des Staates und soinor Rifoon ( !) dirokt ontopmng, wurde in der kom-
menden Zeit, besonders in der schweizerischen Literatur, viel Mühe verwendet160.
Ideologiekritisch verhielt sich KELSEN zu diesem Vorhaben, indem er feststellte:
Hinter der treuherzigen Versicherung, daß der Staat „leben" müsse, verbirgt sich meist
nur der rücksichtslose Wille, daß de,r Staat so leben müsse, wie es diejenigen für
richtig halten, die sich der Rechtfertigung eines „Staatsnotrechts" bedienen17o.
Da der moderne Staat eine umfangreiche Legalitßtsreserve für Notfälle in der
Ermächtigungsgesetzgebung und einer weitherzigen Tnteqm1tation vorhandener
Notstandsregelungen besaß, blieb in Deutschland das überpositive Staatsnotrecht
eine Angelegenheit der Theorie, trotz der Krisen der Weimarer Republik. Aber es
war bedeutsam für das aufkommende antipositivistische Denken, daß von der
Theorie nunmehr auch der Terminus 'Ausnahmezustand' in dieses Feld hinüber-
gezogen wurde.

2. Ausweitung des Awmahmezm1tandehegrift's


Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, lautete der bekannte
Anfang der 1922 erschienenen „Politischen Theologie" CARL ScHMITTS. Daß der
Souverän allein über den Ausnahmefall entscheidet, war an sich eine traditionelle
Faststellung der Staatslehre. Neu war an Schmitts These, wie im weiteren das von
ihm als 'Ausnahmezustand' deklarierte Staatsnotstandsproblem entfaltet wurde.
Es handelte sich für Schmitt ausdrücklich nicht um den staatsrechtlich geregelten
Ausnahmezustand, für den auch weiterhin dieser Begriff meist benutzt wmde171,

11 7 Vgl. BOLDT, Rechtsstaat, 195 ff. Zur französischen Entwicklung speziell s. CILBERT
ZIEBURA, Der Staatsnotstand in Frankreich, in: Staatsnotstand, hg. v. FRAENKEL, 174 ff.;
zur Ermächtigungsgesetzgebung HERBERT TmGSTEN, Les pleins pouvoirs (Paris, Stock-
holm 1934) und CLINTON RossITER, Constitutional Dictatorship (Princeton 1948), 288 ff.
188 ROBERT HoERNI, De l'etat de necessite en droit public föderal Suisse (Genf 1917),

18. 185.
m Überblick bei FoLZ, Staatsnotstand (s. Anm. 43); vgl. J. LAMARQUE, La theorie de la.
ileuti1111ite tit l'artiule 16 de la. Constitution de 191!8, Rev. de droit public (1961), 558 ff.
i 7 o HANs KELSEN, Allgemeine Staatslehre (Berlin, Heidelberg, New York 1925), 157.
171 Vgl. HANS GMELIN, Der Ausnahmezustand, Handbuch der Politik, Bd. 3 (Berlin, Leip-

zig 1921), 156 ff. FRITZ :MAN°DRY u. a., Das Recht des Ausnahmezustands im Ausland, Bei-
träge zum ausländischen öffentlichen und Völkerrecht, hg. v. Rudolf Smend, H. 9 (Berlin
1928).

372
m. 3. Die moderne Diktatur Ausnahmezustand

sondern um jene Ausnahme, für die die Verfassung keine Regelung mehr vorsieht.
Vor ihr dürfe sich geraße eine Philosophie des konkreten Lebens nicht zurückziehen
... Sie besUitigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Aus-
nahme ... In der Ausnahme durchhricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste
einer in Wiederholung erstarrten Mechanik1 72 ,
Diese und ähnliche existentialistisch getönten, zum Teil direkt auf Kierkegaard
Bezug nehmenden Wendungen radikalisierten ein Staatsnotstands-Verständnis,
dessen Ansätze bis in die Zeit des Nachmärz zurQ.ckverfolgt werden können. Die
Funktion eiries überpositiven „Notrechts" im Woh,lfahrts- und Polizeistaat des
18. Jahrhunderts war es, ein noch in der aristotelisch-scholastischen Glückselig-
keits-Tradition stehendes „salus publica" gegen widerstreitendes „ius positivum"
zur Förderung der Zivilisation durchimsetzen. Im bürgerlichen Rechtsstaat des
19. Jahrhunderts hatte das Notrecht die Aufgabe, ilie Beiliugungen der bürger-
lich1m Rxist.enz, den konstitutionellen status quo zu sichern. Demgegenüber begann
seit der Konfliktszeit der sechziger Jahre eine neue Vorstellung vom Staatszweck
an Boden zu gewinnen, die vom Einfluß eines die rechtsstaatlichen Ideale und
Prinzipien relativierenden Historismus zeugt. KALTENBORNna und GEORG MEYER17•
z. B. rechtfertigten die Aufhebung wohlerworbener Rechte nicht einfach mit einer
Notlage für die Existenz des Staates, sondern mit dem Umstande ihres Verfalls
im Laufe der historischen und kulturellen Entwicklung. Was diese Entwicklung
einstmals förderte, wurde mit der Zeit zu ihrem Hindernis und verlor da.mit· sein
Dasein8recht. Auch die VerfaBBung durfte nach Kaltenborn aufgehoben werden,
wenn ihr die sozialen und natürlichen Vorbedingungen und Unterlo,gen in dem Leben
und Geiste der Nation fehlen.
Dieser historisch-naturalistische Ansatz erschien bei Carl Schmitt nun lebens-
philosophisch zugespitzt: Es lag für ihn in der Natur einer Rechtsordnung, daß sie
vor der Entwicklung des Lebens hinfällig würde. Die Funktion der Ausnahme
konnte daher nicht mehr rechtsstaatlich als zeitweilige Unterbrechung des Regel-
zustandes um dessen Erhaltung willen verstanden werden, sondern wurde zum
Signum einer Rückkehr zum Leben, das umgekehrt der Regelzustand nur vorüber-
gehend für die Dauer des Erweises seiner Seinsmächtigkeit unterbrochen hatte.
Die Geltung der Verfassung war durch die Normalität der Verhältnisse - rebus
sie stantibus176 - bedingt; nur lag es in der Natur der Verhältnisse, daß sie nicht
lediglich zeitweilig, sondern schließlich einmal auch grundsätzlich anormal werden
konnten.

3. Die modeme Diktatur

Die Versuche eines über die alten Positionen hinausgreifenden Verständnisses der
Staatsnotstandsproblematik sind gezeichnet von der Erfahrung einer allgemeinen
Krise seit dem Ersten Weltkrieg. Sie begleiten das schon vorher einsetzende

179 CARL SCHMITT, Politische Theologie (Berlin 1922), 22.


178 s. Anm. 151.
17 'S. Anm. 43.
176Vgl. auch ERICH KAUFMANN, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sie
stantibus (Tübingen 1911).

373
Ausnahmezustand m. 3. Die modeme Diktatur
Machtstaatsdenken mit seiner eigenartigen, unter völligem Bruch mit der Tradition
erfolgenden Hcroisierung des Krieges, der nun nicht mehr als Rückfall in die
. Barbarei gewertet wurde, sondern als Höhepunkt des nationalen Daseins, in dem
die Nation ihre Lebensmöglichkeit erwies. Sie begleiteten ebenso die revolutionären
Umstürze der kommenden Jahre. Das ließ dem ältesten, aber über Jahrhunderte
vernachlässigten Begriff dieses Problembereichs, der->- Diktatur, wieder eine zen-
trale Bedeutung zukommen. Der dem römischen Staatsrecht entlehnte Begriff
spielte seit seiner Wiederaufnahme im Humanismus eine durchaus untergeordnete
Rolle in der gelehrten Reflektion, die sich am römischen Vorbild orienterite178•
Die Humanisten verstanden die Diktatur als eine '.Notstandsmaßnahme der Aristo-
kratie (Patriziat) gegen das Volk (Plebs). In bewegten Epochen, wie·der des reli-
giösen Bürgerkriegs, der Französischen Revolution und der 48er Zeit, erreichte der
Begriff zeitweilig eine erhöhte Bedeutung. Dazwischen fand er nur mehr beiläufig
als gelehrtA R.Aminiszenz Berück11ichtigung in der Literatur. So findet sich in uen
Lexika des 18. und 19. Jahrhunderts nur ein kurzer Hinweis auf das altertümliche
Institut des römischen Staatslebens neben einer ebenso wichtig genommenen· Er-
wähnung, daß ·man unter 'Diktatur' auch das Diktieren zu Protokoll durch den
Sekretär des Reichskanzlers auf dem Reichstag des alten KaisArrAi11hs verstehe177 •
In der 48er Zeit wurde der Begriff gelegentlich mit 'Belagerungszustand' synonym
gebraucht, besonders von cfon strikt rechtsstaatlich gesinnten Kritikern der neuen
Notstandsschöpfung. Noch FLEISCHMANN unterschied 1911 die bloße Grundrechts-
suspension nach § 16 des preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand als
Zivildiktatur von dem Militäreinsatz im Belagerungszustand als Milit,ärdiktatur1 78 •
Erst seine Aufnahme auf sozialistischer Seite verschaffte dem Begriff erneute Be-
deutung. Er erschien nun nicht mehr zur Bezeichnung gegenrevolutionärer Maß-
nahmen, deren Leitung in der Hand eines Mannes lag, sondern als Ausdruck der
von einer Klasse geschaffenen Ma.chtverhältnisse im Zuge einer nicht nur politi-
schen, sondern vor allem sozialen Revolution („Di.ktatur des Proletariats"). Aus
einer, nach klassischer Vorstellung zeitlich strikt begrenzten Notregierungsform
zur Wiederherstellung der Ordnung wurde so eine eigenständige Staatsform zur
Veränderung der Verhältnisse. Die sich darin zeigende Ambivalenz des Begriffes
deutete sich zwar schon in röinischer Zeit.im Wandel der älteren zur jüngeren Dik-
tatur rei gerun<lae causa an179, gewann aber erst im 20. Jahrhundert an Schärfe
und wurde jetzt von Carl Schmitt auf die begriffliche Unterscheidung von „kom-
missarischer" und „souveräner Diktatur" gebracht.
Der Begriff behielt daneben auch seine traditionelle rechtsstaatliche ]'unktion.
In diesem Sinne konnte unter Bezug auf den Artikel 48 der Weimarer Verfassung
von der „Diktaturgewalt des Reichspräsidenten" gesprochen werden (Grau). Und ge-
rade diesen Sinn versuchte HECKEL zu wahren, wenn er anfangs der dreißiger Jahre

178 Grund.legend zum Folgenden: SCHMITT, Diktatur (s. Anm. 19).


177 Vgl. die SLichworte in: Encyclopedie, Dt. Enc., .BROCKHAUS, MEYER; HÜBNER 31. Aufl.
(1824) verzeichnet das Stichwort nicht.
1 7 s Vgl. KARL STENGEL/MA:x FLEISCHMANN, Wörterbuch des deutschen Staats- und Ver-
waltungsrechts, 2. Aufi., Bd. 1 (Tübingen 1911), 397 ff.
1 79 Zur römischen Diktatur vgl. ULRICH v. LÜBTOW, in: FRAENKEL, Staatsnotstand,
91 ff.

374
m. 4. Gegenwärtiger Stand Ausnahmezustand

der Ausweitung der klassischen Ausnahmezustands-Funktion des Artikels 48 durch


seine Benutzung im Verfassungskonflikt zwischen Regierung und Reichstag mit
der Unterscheidung von Dikt,atur und Verfassungsstörung zu steuern suchte180•
Doch wurde gerade in dieser Zeit durch die Erscheinungen der faschistischen und
nationalsozialistischen Diktatur der Begriff zu einer Globalbezeichnung, die eine
neue Unterscheidung zwischen „totalitärer" und „konstitutioneller" Diktatur
hervorrief. Unter 'constitutional dictatorship' versteht dabei die Politische Wissen-
schaft das Ensemble der herkömmlichen Mittel zur Meisterung von Notlagen im
Rechtsstaat, seien sie legislativer (Ermächtigungsgesetzgebung, Notverordnung),
seien sie administrativer Art (martial law, Belagerungszustand)181 • Doch hat die
neuere anti-rechtsstaatliche Färbung des Begriffs bisher seine allgemein anerkannte
Verwendung zur Bezeichnung staatlicher Notmaßnahmen im rechtsstaatlichen
Sinne unterbunden.

4. Gegenwärtiger Stand

'Diktatur' und 'Ausnahmezustand' werden heute in Deutschland zur begrifflichen


Erfassung des besprochenen Problemgebiets selten gebraucht. 'Ausnahmezustand',
ein Modewort der zwanziger Jahre, i!it der teilwell;e a11sdrücklichen Bevorzugung
von '8taatsnotrecht' und 'Staatsnotstand' zum Opfer gefallen182. Dabei ist auffällig,
wenn auch für eine historische Betrachtung verständlich, daß die gewählten Be-
griffe keinerlei Prägnanz mehr besitzen. Das wird zum Teil gerade als ihr Vorzug
betrachtet, da so ihr Anwendungsgebiet neu bestimmt werden kann. Charak-
teristisch dafür ist die 1962 erschienene Arbeit von FoLz, die unter dieser Begriff-
lichkeit so ziemlich alles, was man sich unter staatlich relevanten Notfällen vor-
stellen kann, vom Beamtenstreik bis zu eingeschleppten Seuchen, untersucht18 3.
Gelegentlich erscheint 'Staatsnotrecht' auch heute noch als eine überpositive Be-
fugnis, wobei lediglich an der vorherigen gesetzlichen Bestimmung des Kompetenz-
trägers für sonst nicht näher qualifizierte Notstandsfälle festgehalten wird. Hierbei
handelt es sich offensichtlich um eine Reminiszenz an die frühere Rolle des fürst-
lichen Souveräns als nie versagender staatlicher Notbremse184• Die Frage, ob es
überhaupt möglich ist, ohne eine Vorstellung vom zu erwartenden Notfall einen
uo s.Anm. 162.
1 91 Außer RossITER, Constitutional Dictatorship (s. Anm. 167) vgl. F. M. W ATKINS, The
Problem of Constitutional Dictatorship, in: Public Policy, vol. l (Cambridge/Mass. 1940),
324 ff. und CARL J. FR1EDRICH, Der Verfassungsstaat der Neuzeit (Berlin, Göttingen, Hei-
delberg 1953), 668 ff.
1 88 HERMANN MosLER im Vorspruch zu: HA.Ns BALLREICH u. a., Das Staatsnotrecht in Bel-
gien, Frankreich, Großbritannien; Italien, den Niederlanden, der Schweiz und den Ver-
einigten Staaten von Amerika, in: Beiträge des Max-Planck-Instituts für ausländisches
öffentliches Recht und Völkerrecht, H. 31 (Tübingen 1955), das Gegenstück zu MANDRY
u. a., Ausnahmezustand (s. Anm. 171); dagegen z: B. „Ausnahmezustand" im Hwb. d.
SozWiss., Bd. l (1956), 455 von ERNST FoRSTHOFF in klassischer Weise als Existenzge-
fährdung des Staates begriffen, wobei die Existenz des Staates auf seine in der Bürokra-
tie ( !) sichtbare reale existierende Ordnungseinheit bezogen wird.
188 S. Anm. 43.

lH HERBERT KRÜGER, Allgemeine Staatslehre (Stuttgart 1964), 30 f.; vgl. auch THOMAS
SPEISER, Vom Notrecht in der Demokratie (Zürich 1958).

375
Ausnahmezustand m. 4. Gegenwärtiger Stand
zu seiner Beseitigung kompetenten Träger der Notstandsgewalt vorweg zu bestin1-
men, wird dabei nicht aufgeworfen. Grundsätzlich jedoch geht man heutzutage
noch immer davon aus, daß auch die Notstandsbefugnisse in der Rechtsordnung
selbst eine Regelung finden müssen. Insofern wird das rechtsstaatliche Erbe des
19. Jahrhunderts gewahrt. Allerdings finden sich zum Teil extrem weite Notstands-
bestimmungen, wie z. B. im .Artikel 16 der Verfassung der französischen Fünf-
ten Republik, die kaum mehr sind als ein konstitutionelles Feigenblatt für
eine tatsächlich nicht mehr geregelte Eingriffsbefugnis.
Auch alle gegenwärtigen Regelungsbestrebungen sind vom herkömmlichen Aus-
nahmezustandsverständnis gekennzeichnet. Sie zielen auf vorübergehende Unter-
brechungen der normalen Verhältnisse zur Stabilisierung der Lage, auf freiheits-
beschneidende Eingriffe von hoher Hand, vielfach durch das Militär, bei zwar in ihren
Dimensionen erweiterten, grundsätzlich aber nicht veränderten Notsituationen. Ob
diese aber nonh in Rolcher Weiile, idealiter, o.lao „ßpurcnlos", meisterbar sirnl, uarf
bezweifelt werden. Das verfeinerte Rechtsstaatsverständnis zeigt sich in diesem
Rahmen als Ruf nach einer effektiveren politischen und gerichtlichen Kontrolle
der wie vordem in Notzeiten freigesetzten Staatsgewalt. Die Sprache unserer Zeit
ist allerdings inzwischen über diesen Zustand hinausgelangt.. Sie orientiert sich
11icht mehr an den Begriffen, die den alten Regelungen zugrunde lagen, wie Krieg
und Aufruhr, sondern haL·seit den zwanziger Jahren für die Notzustände der moder-
nen Industriegesellschaft einen neuen Begriff eingeführt, die 'Krise', die den alten
Aufruhr bereits zu einer antiquierten Kategorie des Historie gewordenen Obrig-
keitsstaates hat werden lassen und die auch die init ihm verbundenen nationalen
Grenzen grundsätzlich nicht mehr kennt ('Weltwirtschaftskrise'). Neben der staatli-
che Notmaßnahmen hervorrufenden Wirtschaftskrise wird in neuester Zeit das Vcr-
ständnis öffentlicher Notstände durch Wortschöpfungen wie 'Bildungsnotstand'
artikuliert. Hier, im Bereich der Probleme einer sich notwendigerweise immer
weiter fortbildenden Leistungsgesellschaft, in den Bereichen von Bildung, Technik
und Wirtschaft, scheinen neue Notstandsprobleme zu liegen. Sie lassen sich da-
durch kennzeichnen, daß es sich bei ihnen nicht um zeitweilige Unterbrechungen
eines sich selbst überlassenen gesellschaftlichen Normalzustandes zur Wieder-
herstellung des status quo init Waffengewalt handelt, sondern um dauernde plan-
volle Förderungsmaßnahmen zur Überwindung des jeweiligen status quo, da ein
Beharren zur technischen Rückständigkeit und damit trotz des erreichten zivili-
satorischen Standes in absehbarer Zeit in bittere Not führen würde186 • Das bedeutet
freilich, daß auch das offizielle Staatsnotstandsverständnis über sein in der Mitte
des vorigen Jahrhunderts erreichtes begriffliches Niveau grundsätzlich wird hinaus-
kommen müssen.
HANS BoLDT

185 HANS BoLDT, Der Ausnahmezustand in historischer Perspektive, Der Staat 6 (1967),
409 :ff.

376
Autarkie

1. Die klassisch-griechische Bedeutung. 2. Der sufficientia-Begriff bis zum 19. Jahr-


hundert. 3. Moderne Begriffsbildung.

1. Die klassisch-griechische Bedeutung

ARISTOTELES nannte av-r:de"eia die Selbstgenügsamkeit der Polis, ihre Vollkom-


menheit und ihr Ziel, das sie erreichte, wenn sie sich im höchsten Grade selbst
verwirklicht hatte und keiner weiteren staatlichen oder sonstigen menschlichen
Gemeinschaft ergänzend bedurfte. Aus der wohlgeordneten, angemessenen Tätigkeit
jedes Bürgers wurde die Autarkie des Ganzen aufgebaut. Sie hatte so die gute,
gesetzliche Verfassung derer, die das Gemeinwesen bildeten, zum Inhalt. Die gute
Verfassuüg wurde aber üur gewäluleü1LeL U.aük uer avid(.!"eu1 der Pulis. Diese
blieb das Ganze, das Vollkommene und Ursprüngliche, doch war sie um der Unvoll-
kommenheit der Einzelmenschen willen da, die sich zu vervollkommnen strebtenl.
Nach der Lehre der Stoiker und Kyniker dagegen kam der avuie"eia keine poli-
tische Bedeutung zu. Allein das Individuum strebte durch Selbstgenügsamkeit
und Bedürfnislosigkeit (avid!]"eia) zur Vollkommenheit, so wie der Weise danach
trachtete, unabhängig zu sein. Eine das Individuum übersteigende avide"eia sah
die Stoa im Kosmos verwirklicht.

2. Der sufficientia-Begriff bis zum 19. Jahrhundert

Nur das stoische Verständnis der 'Autarkie' hat sich am Rande des römischen
Staatsdenkens, dann der christlichen Lehre gehalten und wurde in den neutralen
lateinischen Begriff der sufficientia verlegt. Die politische Autarkie verlor angesichts
der andersartigen politischen Struktur der römischen res publica ihre Bedeutung
und kam außer Sprachgebrauch. Auch mit dem Wiedergewinn der aristotelischen
„Politik" im Mittelalter2 wurde das griechische Wort nicht neu aufgegriffen, sondern
weiterhin mit „sufficientia" wiedergegeben. Was europäisches Staatsdenken im Rah-
men christlicher Polizeien, dann eingegrenzt auf politisch-ökonomische Frage-
stellungen für die gute Verfassung der Fürstentümer und Lande erstrebte, war
immerhin mit dem aristotelisch-politischen Entwurf der 'Autarkie' nahezu iden-
tisch3. Jedoch schon der christlichen Schöpfungslehre wegen konnte das Ideal des

1 ARlsTOTELES, Pol. 1252 b 29; 1253 a 28; 1280 b 34.


1 Lateinische Übersetzung um 1260 von WILHELM VON MoERBEKE.
8 Ä.NTOYNE DE MoNTCHBETIEN übernahm in seinem „Traicte de l'economie politique"

(1615) passagenweise wörtliche Übersetzungen der aristotelischen „Politik". Der veränderte


christlich-theologische und römisch-imperiale Ansatz ist dennoch klar erkennbar. So etwa,
wenn Montchretien die Sorgfalt betont, mit der das Wohl und der Nutzen aller sowohl
gegeneinander als gegenüber dem Ganzen aufeinander abgestimmt werden müsse, und dies
als das einzige Mittel bezeichnet puur faire accmder vostre guuvernement a l'karmonie uni-
verselle du monde. Hierin bestehe die Aufgabe des Königs d'e.xcercer en te"e des fanctions
de Dieu, lequd vous y a etahli avec puissance de rendre Za condition et Za /orce d'un ckacun ttlle
qu'il Za doit avoir; ed. Th. Funck-Brentano (Paris 1889), 238 f. 336.

377
Autarkie 2. Der suHicientia-Begriff

vollkommenen, aus sich selbst genügsam herrschenden Gemeinwesens nur theo-


retisch verfolgt werden. Indes verschaffte das christliche Imperium den Souveränen
in den Regalien die Herrschaft. Angestrebt wurden unter diesen Voraussetzungen
'Harmonie' und 'Glückseligkeit': im 17. Jahrhundert die des Gemeinwesens, im
18. Jahrhundert Harmonie der natürlichen Ordnung, Glückseligkeit des Fürsten
und jedes einzelnen im Staate, ein Zustand, dessen wahre Quellen ... die mit
Forscherblicken aufzusuchenden geheiligten Geheimnisse ... , der Natur, der Kunst
und der Wissenschaft werden können, sobald sie nur ihren rechten Standpunkt im
Staate erreichen 4 • Herrschaft der Vernunftgesetze einerseits, der Naturgesetze
andererseits, Staat des Herrschaftsvertrages und se1bstherrliches Individuum
wurden zu souveränen Größen, die im politischen Entwurf der Aufklärung neben~
einander standen. Der Begriff 'Autarkie' konnte demgegenüber keine Bedeutung
gewinnen und blieb außer Gebrauch. Hatte Z.1mLMR 1732 wenigstens noch die
stoische Bedeutung angemerkt 5 , so findet sich in den meisten anderen Lexika
überhaupt kein Stichwort „Autarkie" mehr. Zur Kennzeichnung der Vorstellungen
einer in sich genügsamen, der Vervollständigung nicht mehr bedürftigen Staats-
und Wirtschaftsverfassung genügte der überkommene Begriff 'Selbstgenügsam-
keit', der im Englischen als 'selfsufficiency' bis heute für Autarkievorstellungen
angewendet wird. Auch FICHTE machte im „Geschloßnen Handeli:!staat" keinen
Gebrauch von dem Wort 'Autarkie', obwohl er die produktive Selbständigkeit und
Selbstgenügsamkeit_ des Staates als erstrebenswertes Ziel formulierte. Autarkie als
vollständige Selbstherrschaft konnte es freilich in seinem zwangsanstaltlichen
Staate strenger Regelmäßigkeit und eines festgeordneten, durchaus gleichförmigen
Ganges der Dinge nicht geben 6 • Auch FRIEDRICH LISTS Versuch, Staat und Indi-
viduum in seinem System der politischen Ökonomie national zu ordnen, führte
nicht zur Ausbildung eines an das Wort gebundenen Autarkiebegriffs 7 • Allerdings
knüpfte tichon ScHLEIERMACHER an Fichte an und betrachtete von dem Standpunkt
der ursprünglichen Abgeschlossenheit die Freiheit des Handels sehr kritisch. Er
folgerte, daß sich der Staat immer in dem Zustand der Autarkie halten muß und
nahm damit immerhin den griechischen Begriff aUf. Ebenso war auch JOHANN
GusTAV DROYSEN das Werk des Aristoteles noch unmittelbar präsent. Als liberaler
Historiker erklärte er (1868) die Bindung der Wirtschaft an den Staat für bedenk-
lich: ein Volk würde um so ärmer sein, je mehr es zum Sich-genug-sein, zur av't'deKeia
käme. Die Güterbewegung . . . hat die unwiderstehliche Tendenz, kosmopolitisch zu
werden 8 •

'Jou. HEINRICH JUNG gen. STILLING, Antrittsvorlesung an der Kamera! Hohen Schule
zu Kaiserslautern (1778), zit. WILHELlll STIEDA, Die Nationalökonomie als Universitäts-
wissenschaft, Abh. d. sächs. Ges. d. Wiss., philol.-hist. Kl., Bd. 25/2 (Leipzig 1906), 113 f.
• ZEDLER Bd. 2 (1732), 2264: A utarcia, ist die Ruhe dea Gemüts, da man mit seinem Glücke
zufrieden ist.
1 J. G. FICHTE, Der geschloßne Handelsstaat (1800), SW Bd. 3 (1845), 389 ff., bes. 480. 511.

7 F. LisT, Das nationale System der politischen Ökonomie, Schriften, Bd. 6 (1930).
'D. F. ScHLEIERM,A.CHER, Die Lehre vom Staat, SW 3. Abt., Bd. 8 (1845), 73; GusTAV
DROYSEN, Historik, hg. v. Rudolf Hübner, 4. Aufl. (Darmstadt 1960), 252.

378
3. Modeme BegriJrsbildung Autarkie

3. Moderne Begriffsbildung

In den Lexika des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wurde 'Autarkie' -wenn
man es überhaupt erwähnte - nie als politisch-wirtschaftlicher Begriff verstanden.
PIERERS „Universal-Lexikon" (1857) führte für 'Autarkie' die stoische, eine theo-
logische ( 4.llgenugsamkeit, SuUicientia, Eigenschaft Gottes, On,ß er keines Dinges oder
. Wesens außer sich bedarf) und eine medizinische Definition (der Zustand, wo man sich
bezüglich seiner Gesundheit zufrieden fühlt) sowie die frei verfügbare .Allgemeinbedeu-
tung Selhstgenugsamkeit, Selbständigkeit, das Sichselbstgenugsein auf9. Nur verein-
zelt läßt sich im 19. Jahrhundert auch eine politische und ökonomische Bedeutung
des Begriffs nachweisen. So schrieb 1843 KARL HEINRICH RAU: Kleine Staaten, die
sich keinem größeren Ganun anschließen können, vermögen am wenigsten zu einer sol-
r,1um, 111i1rl.,r:haft,lir:hen Selh.,täruligkeit ( .Äutarkie im Sinne des A.riswtelc8) zu gelangen,
ALBERT ScHÄFFLE nannte das Volk eine autarke, d. h. sich selbst genügende mensch-
liche Lebensgemeinschaft äußerlich und innerlich zusammenhängender Menschen-
massen. 'Volk' war für ihn die Nation, nicht der Staat. Zum Volk gehöre das Land,
d. h. die vom Volkstum her bestimmten, dieses zugleich prägenden Ortschaften, M ar-
ken, Gaue, Landschaften ... und Reiche 1o. Der Beleg bleibt vereinzelt, obwohl die
ualüuLtir llLtihllilUl:l VuniLdluug VOil der Nation als nur aul! 11ich 11elbst genügsa.mer
Lebensgemeinschaft den modernen Inhalt von 'Autarkie' bereits repräsentierte.
Diese Vorstellungen fanden als Organsystem, als System nationaler Bedürfnisbefrie-
digung eines Staates 11 , als volle Selbstherrlichkeit 12 , als Eigenwirtschaft13 in der Volks-
wirtschaftslehre seit Rodbertus bei Knies, BücHER, ScHMOLLER u. a. steigende Be-
rücksichtigung. Sie gehörten zum Streben nach einer neuen Ganzheit und Gesamtheit,
zur enLschiedenen Abkehr vom anachronistischen Freihandel des Liberalismus, zum
Neomerkantilismus und zu der Forderung nach gemeinwirtschaftlicher Betiitigung
dtes Staates. Diese Anschauung sollte nach KARL ÜLDENBERG durch die Selbstge-
nügsamkeit der Nation die elementare Unselbstiindigkeit des Industriestaates besei-

• PIERER 4. Aufl., Bd. 1 (1857), 334, Art. Allgenugsamkeit; Bd. 2 (1857), 85, Art. Autarkie.
MEYER 6. Aufl., Bd. 2 (1903), 184 hat die stoische Bedeutung, BROCKHAUS 14. Aufl.,
3. Neuausg., Bd. 2 (1908) und Suppl. Bd. 17 (1910) besitzt keinen Autarkieartikel.
°
1 K. H. RAU, Rez. v. Lists „Nationalem System",Bd. l (s.Anm. 7),Arch. d. polit. Ökono-

mie u. Polizeiwiss. 5 (1843), 351; .ALBERT ScHÄFFLE, Bau und Leben des sooialen Körpers.
Encyklopidischer Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psychologie der mensch-
lichen Gesellschaft, 2. Aufl., Bd, 1(Tübingen1896), 175 ff.; Bd. 2 (1896), 154. 228. 594.
1~ KARL BÜCHER, Die Entstehung der Volkswirtschaft (1893; 6. Aufl. Tübingen 1908), 142;

ii.hnlich GusTAv SCHMOLLER, Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre (Leipzig


1900), 129.
11 MAX SERING, Die Handelspolitik der Großstaaten und die Kriegsflotte, in: Handels-
und Machtpolitik, Reden u. Aufs., i. A. der Freien Vereinigung für Flottenvorträge
hg. v. GusTAV SCHMoLLER, MA.x SERING, AnoLl'll WAGNER, Bd. 2 (Stuttgart 1900),
5. 15 ff. 19 ff. 33. 37. 38.
18 .KAm. ÜLDENBERG, Über Deutschland als Industriestaat, in: Verb. d. 8. Evangelisch-

Sozialen Kongresses (Leipzig, Göttingen 1897), 73; HEINRICH DIETZEL, Weltwirtschaft


und Volkswirtschaft (Dresden 1900), 4. 20. 23; Die Neugestaltung der deutschen Handels-
politik. Denkschr. der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin, in: Volkswirtschaftliche
Zeitfragen 179-181 (Berlin 1901).

379
Autarkie · 3. Modeme Begriffshild11111

tigen, seine zwingerule Abhängigkeit vom Auslarule lösenH. Im Kampf der Zeit um
Freihandel oder Schutzzoll, der mit diesen Vorstellungen ebenfalls verknüpft wur-
il11, war a.llerilings umstritten, wie die Selbstgenügsamkeit aussehen Hollte. Während
orthodoxe Freihändler von jeher die Konsequenz des Ausscheidens aus dem Welt-
markt als unnational verurteilt hatten, forderten agrarisch-konservative Kreise ein
Höchstmaß an Schutz für die einheimische Landwirtschaft; ihr Ziel war die korn-
wirtschaftliche Autarkie (HEINRICH DIETZEL)15• Zwischen beiden Extremen beweg-
ten sich die „Weltmachtpolitiker", denen es nicht mehr um die Beantwortung der
Frage nach „Agrar- oder Industriestaat" zu tun war, sondern um die wirksame Ko-
ordination von agrarischer und industrieller Kraft der Nation. Mit RUHLAND ver-
standen sie die Volkswirtschaft als einen zweigeschossigen Etagenbau, dessen oberes,
industrielles Stockwerk über den landwirtschaftlichen Unterbau nicht allzuweit
auslatlen tlül'fe 16• Diese Am1gewogenheit konnte zwar auch durch Autarkie, durch
echte Abkapselung oder auch Selbstbeschränkung innerhalb der bestehenden Staats-
grenzen erreicht werden, wie OLDENBURG undDIETZEL glaubten17 • Weiter verbrei-
tet war aber der Gedanke, durch Flottenbau und Koloniegründungen das Land
und damit die agrarische Basis expansiv so zu verbreitern, daß kein Schrumpfen
des industriellen Oberbaus nötig würde. Nur so glaubten ScHMOLLER u. a. Deutsch-
lands wachsende Bevölkerung ans dem Staate sefüst. versorgen zu können, um
dessen Una.bhii.ngigkcit zu gcwii.hrlciatcn18.
FRIEDRICH RATZEL und seine anthropogeographische Schule gestalteten diesen Ge-
danken aus zu dem der theoretisch begründeten Großraumwirtschaft. Indem sie die
Diskussion aus den tagespolitischen Gegensätzen heraushoben, erarbeiteten sie
ähnlich wie Schäffle das Modell eines einheitlichen Organismus, der.· Volk, Raum
und Staat umgreifen sollte. Der Begriff der Autarkie wurde allerdings erst später
auf diese Modelle angewandt19. Ratzels organisch gedachter Staat wurde zum Träger
des „Kampfes ums Dasein", der sich nun von der zwischenmenschlichen auf die
zwischenstaatliche Ebene verschob. Wirtschaftliche Unangreifbarkeit und Unab-
hängigkeit wurde damit eine der wesentlichen Voraussetzungen staatlichen Über-
lebens, geradezu das Kriterium der wirklich souveränen Großmacht 20 • Sah Ratzel
u KARL ÜLDENBERG, Industriestaat und Exportindustrie, Soziale Praxis 8 (1899),
Nr. 28, 746; ähnlich PAUL VOIGT, Deutschland und die Weltmacht,. in: Handels- und Macht-
politik, Bd. 1 (1900), 138 (s. Anm. 12).
16 HEINRIOH DIETZEL, Sozialpolitik und Handelspolitik (Berlin 1902), 93; ders., Kornzoll

und Sozialreform (Berlin 1901), 13.


11 GusTAv Rmi:r.AND, Zur Agrarfrage, CoNRADS Jb. f. Nationalökonomie u. Statistik,
3. Folge, Bd. 7 (1894), 884; ÜLDENBERG, Deutschland als Industriestaat, 68.
17 ÜLDENBERG, Deutschland als Industriestaat; 43; HEINRICH DIETZEL, Die Theorie von

den drei Weltreichen I, in: Die Nation, 28. 4. 1900, 414 f.


18 GusTAV SCHMOLLER, Die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands und die Flottenvorlage,

in: Handels- und Machtpolitik, Bd. 1, 33; VomT, ebd., 194; RICHARD EHRENBERG,
Die Seefahrt im Leben der Völker, ebd., 75 f.
19 F. RATZEL, Politische Geographie (München, Leipzig 1897), 149 ff. 194 ff. 412 ff. Den

Begriff' 'Autarkie' führte in Ratzels Werk erst der Herausgeber der 3. Aufl. (München, Ber-
lin 1923), EUGEN ÜBERHUMMER, ein; vgl. dort 132. 598, Anhang.
20 MAx SERING, Handelspolitik der Großstaaten, Bd. 2, 19 ff. 33 ff.; FRIEDRIOH v. BERN·

HARDI, Militärische und wirtschaftliche Zukunftssorgen, in: Der Tag, 17. 8. 1913; RuDOLl!'
KJELLEN, Die Großmächte der Gegenwart (1905; dt. Leipzig 1914).

380
3. Modeme Begriffsbildung Autarkie

als politischer Geograph im Raum als dem Schlüssel wirtschaftlicher Selbständigkeit


die Grundlage politischer Macht, so entschied nach RUDOLF KJELLEN die sittliche
Organisation, der National- oder Machtwill,e eines Volkes über Weltmacht oder
Nidergang 21 • Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges verschafften dem Kjellen-
schen Autarkiebegriff gerade in Deutschland günstige Aufnahme 22 • Deutschlands
ungünstige politische Lage förderte aber. auch eine Wiederbesinnung auf ein
weniger offensives Verständnis von Autarkie. An die Stelle von Weltmachtgedanken
trat schon während des Krieges bei SUPAN, RICHARD SCHMIDT u. a. das Streben Ms
Staates nach innerer Sättigung, nach einer geschlossenen, in sich selbst befriedigten
wirtschaftlichen Existenz23• Freilich haftete in einer Zeit wachsender wirtschaftlicher
Independenz auch dieser Definition stets einResthegemonialenDenkens an.Dieselbe
Doppelschichtigkeit des Begriffs spiegelte auch der Sprachgebrauch der Rechts-
parteien der Weimarer Republik bis hin zu den Schriften des Tatkreises, die Aut-
arkie als Ziel der wieMrgeborenen Nation proklamierten. Zwar sei die Nation nach
innen gekehrt, sich selbst genug, zugleich aber treibe sie Raumwirtschaft innerhalb
eines national gestalteten Wirtschaftsraumes, der als Hegemonialsphäre über die
eigentlichen Staatsgrenzen hinausreiche 24 • Der Nationalsozialismus kannte zwar
diesen traditionelleren Autarkiebegr1ff ebenfalls, jedoch kehrte HITLER praktisch
zu der Vorstellung zurück, das machtpolitische Gewicht der Nation durch Gewin-
nung von Lebensraum wiederherzustellen, wodurch die agrarische Basis erst das
Ausmaß autarker Unabhängigkeit erreichen konnte, das nach Hitlers Anschauung
über Rasse und Nation und ihre geschichtliche Sendung entschied 25• Im gegen-
wärtigen Sprachgebrauch ist der Begriff 'Autarkie' weitgehend seiner geopolitisch-
expansiven Züge entkleidet und bleibt der wissenschaftlichen Sprache zur Kenn-
zeichnung wirtschaftstheoretischer, gelegentlich auch militärtheoretischer Unab-
hängigkeitsvorstellungen ·der modernen Weltmächte vorbehalten 26 •
HANNAH RABE

11 K.JELLEN, Großmächte, 1. 43. 75. 82 ff. 88. 96. 200.


21 HERMANN ONCKEN, Kjellen-Sammelrez„ Zs. f. Politik 10 (1917), 156 ff.
18 .ALEXANDER SUPAN, Leitlinien der allgemeinen politischen Geographie (Leipzig 1918),

105; RICHARD Scmm>T, Aufgaben der politischen Wissenschaft im Zeichen des Krieges,
Zs. f. Politik 8 (1915), 6; ROBERT SIEGER, Der österreichische Staatsgedanke und das deut·
sehe Volk, ebd. 9 (1916), 13. 22 ff.
H Vgl. FERDINAND FRIED, Autarkie (Jena 1932), 23. 39 ff.; GISELHER WIRSING, Zwischen-
europa und die deutsche Zukunft (Jena 1932). Wirtschaftswissenschaft und Publizistik
übernahmen in den Jahren der Wirtschaftskrise den Begriff 'Autarkie', um, in vielfachen
Abstufungen, ein Rezept des Umschwunge zu finden. KAYSERS Bücherverzeichnis nennt
e. v. „Autarkie" bzw. „Nationale Wirtschaft" 1925-1930 ein Werk mit „Autarkie" im
Titel, für 1930-1935 sind es über 20 Veröffentlichungen, die den Begriff allein im Titel
führen. Darunter finden eich auch ablehnende und nationalsozialistische Stimmen, vor al-
lem von seiten Gregor Strassers, die jedoch von der Position Hitlers abweichen und kaum
repräsentativ sind. ·
u ADOLF HITLER, Mein Kampf, 26. Aufl. (München 1933), 164 ff. 727.ff.
18 Vgl. z. B. WOLFGANG SAUER, Art. Wehrverfassung, in: Fischer Lexikon, Bd. 2: Staat
und Politik, hg. v. ERNST FRAENKEL und KARL DIETRICH BRACHER (Neuausg. Frankfurt,
Hamburg 1964), 366; SVEN HELANDER, Das Autarkieproblem in der Weltwirtschaft (Berlin
1955).

381
Autorität
1. Einleitung. II. 1. Die römische 'auctoritas'. 2. 'Autorität' im .Mittelalter. III. 1. Landes-
fürstliche Autorität am Beginn der Neuzeit. 2. Eliminierung des Autoritätsbegriffs bei.
Luther. 3. Rezeption des Autoritätsgedankens bei den Staatslehren des späten 16. und 17.
Jahrhunderts. 4. Zurückdrängung des Autoritäts- durch den Souveränitätsbegriff. 5. 'Au-
torität' in der deutschen Aufklärung: Entpolitisierung, Entinstitutionalisierung, Morali-
sierung. 6. Die Französische Revolution als exauctoritatio weltgeschichtlichen Aus-
maßes. 7. 'Autorität' als konservativer Sonderbegriff im frühen 19. Jahrhundert. a) Er-
neute Politisierung. b) Religiöse Fundamentierung. 8. 'Autorität' bei den Liberalen bis
1848. a) Negierung des Autoritätsproblems bei den Frühliberalen. b) Annäherung an den
konservativen Autoritätsbegriff am Vorabend der RevolutiOn. 9. Autorität und Freiheit im
konAe.rvativen Verständnis um die Jahrhundertmitte. 10. Konserva.tive Antoritätaideolo-
gie im Dienste des gesellschaftlichen Status quo. 11. Liberale Kritik an der konserva-
tiven Autoritätsideologie. 12. Abflauender Streit im Bismarckreich. 13. Der Kultur-
kampf. 14. Die sozialistische Konzeption der Autorität: Friedrich Engels. IV. Schluß.

1. Einleitung
Das Wort 'Autorität' ist eine Eindeutschung des lat. auctoritas, die sich - zu-
niich11t in den Formen 'aur.toriteit', 'aur.toritet', 'autoritet' - 11eit dr.m lfi .•fah1·-
hundert beobachten läßt und vermutlich mit der sogenannten Rezeption des
römischen Rechts zusammenhängt1 •
Diesem Zusammenhang und der bis zu den Kodifikationen des 18./19. Jahrhunderts
zumindest subsidiären Gültigkeit des römischen bzw. gemeinen Rechts in Deutsch-
land entspricht es, daß gerade die präzis juristischen Bedeutungen des Wortes und
häufig auch seine lateinische Form nahezu unverändert bis ins 19. Jahrhundert
durchgehalten WQrden sind: noch ERscH/GRUBER und PIERER sprechen ausführlich
von der auctoritas als der Garantie des Verkäufers für den Fall, daß der verkaufte
Gegenstand von einem Dritten, etwa dem Eigentümer, herausverlangt wird; auch
die „auctoritas tutoris" als die genehmigende Gegenwart des Vormunds bei Rechts-
geschäften des Mündels gehört in diesen Umkreis der noch im 19. Jahrhundert
lebendigen Juristensprache des gemeinen Rechts 2 • Freilich: nur der Juristen-
sprache; im Denken und Reden der Nichtjuristen, und zwar auch der gebildeten,
spielten diese Begrifflichkeiten kaum eine Rolle mehr, wie denn ja überha,upt die
Rezeption des römischen Rechts sehr wesentlich zur Rechtsfremdheit des deutschen
Volkes in den neueren Jahrhunderten beigetragen hat.

II.

1. Die römische 'auctoritas'


Schon der römische Sprachgebrauch hatte indessen weitere und wichtigere Be-
deutungsinhalte von 'auctoritas' erschlossen und damit wesentliche Ansatzpunkte
für die mittelalterliche und neuzeitliche Entwicklung des Begriffs geschaffen:

1 KLUGE/MrrZKA 18. Aufl. (1960), 42.


2 ERScH/GRUBER 1. Sect., Bd. 6 (1821), 278; PIERER Bd. 2 (1824), 337.

382
II. 1. Die römische 'auctoritas' Autorität

'auctoritas' war im antiken Rom geradezu ein „politischer Zentralbegriff" (Eschen-


burg), und zwar vor allem in deutlicher und deutlich unterschiedener Korrelation
zu 'potestas' 3 •
Träger der 'potestas', d. h. rechtsverbindlicher Zwangsgewalt, waren in der rö-
mischen Republik die Magistrate, vor allem die Konsuln. Neben den Magistraten
aber standen als die beiden anderen Organe der res publica das Volk und der
Senat - das Volk mit dem Recht der Gesetzgebung und der Beamtenwahl, der
Senat mit dem Recht zur Beratung der Magistrate und ~ur Bestätigung der Volks-
beschlüsse. Genau dieses Beratungs- und Bestätigungsrecht des Senats gegenüber
Volk und Magistraten aber hieß 'auctoritas'. Gewiß war auch dann der Befehl der
Konsuln verbindlich, wenn der Rat des Senats nicht eingeholt worden war; gleich-
wohl mangelte es einem solchen Befehl an Gewicht des Ansehens und damit an
Sicherheit der Durchsetzung. Entsprechend war ein Beschluß des Volkes auch
ohne die Bestätigung durch den Senat formell gültig, und doch bedeutete die
bestätigende auctoritas des Senats auch hier eine unverzichtbare Stärkung des
Rechts: „In diesem Sinne ist auctoritas mehr als ein Ratschlag und weniger als
ein Befehl, ein Ratschlag, dessen Befolgung man sich füglich nicht entziehen kann,
wie ihn der Fachgelehrte dem Laien, der Führer im Parlament seinen Anhängern
erteilt" 4 •
Die Vorherrschaft des Senats im Verfassungssystem der römischen res publica be-
ruhte in solchem Maße auf Autorität, daß 'auctoritas' schließlich geradezu eine
Benennung für die Institution des Senats selbst war. Gemeint war dann der Senat
als wichtigster Träger von „Ansehensmacht" 6 , von indirekter - weil nicht un-
mittelbar bewirkender -, gerade deshalb aber ersparter und gehorteter sozialer
Macht 6 •
Solche Ansehensmacht kam nach römischer Vorstellung nun freilich nicht aus-
schließlich dem Senat zu. Wie nämlich die institutionelle Autorität des Senats sehr
wesentlich auf den durch Herkunft, Fähigkeiten und Charakter begründeten
Qualitäten seiner Mitglieder beruhte, so verliehen diese Qualitäten auch außerhalb
des Senats Autorität; wirksam wurden sie vor allem im Verhältnis des Patrons
zu seinen Klienten, als Ansehen des Juristen im Gerichtsverfahren (auctoritas
iurisconsulti), als Autorität des Rhetors, des Philosophen und überhaupt des Ge-
lehrten, der wissenschaftlichen „Autorität". Diese ietztere ausdrückliche Über-
tragung des Begriffs der auctoritas aus dem rechtlich-politischen Bereich in den
geistig-literarischen geht allerdings erst auf Cicero zurück, der damit ein· Stück
griechischer Denkungsart nach Rom übertrug 7 • Ganz und gar römisch war dagegen
8 Vgl. zum Folgenden vor allem RICHARD HEINZE, Auctoritas (1925), in: ders., Vom Geist

des Römertums, Ausg. Aufs„ hg. v. Erich Burck, 3. Aufl. (Stuttgart 1960), 43 ff.; THEODOR
MoMMSEN, Römisches Staatsrecht, 3. Aufl.„ Bd. 3/2 (Leipzig 1889), 1028 ff.; THEODOR
EscHENBURG, Über Autorität (Frankfurt 1965), 12 ff.
4 MoMMSEN, Staatsrecht, Bd. 3/2, 1028.
5 So THEODOR GEIGER, Art. Führung, Handwörterbuch der Soziologie, hg. v. ALFRED
VIERKANDT (Stuttgart 1931), 137.
8 FRANz WIEACKER, Vom römischen Recht, 2. Aufl. (Stuttgart 1961), 12.
7 ULRICH GMELIN, Auctoritas. Römischer Princeps und päpstlicher Primat, in: Geistige

Grundlagen römischer Kirchenpolitik, Gedächtnisschr. ERICH CASPAR, Forsch. z. Kir-


chen- u. Geistesgesch„ Bd. 11 (Stuttgart 1937), 45 ff.

383
Autorität II. 2. 'Autorität' im Mittelalter

wieder die Bedeutung der „auctoritas maiorum", des verp:ß.ichtenden Vorbilds der
Ahnen: „Der Staat des Römers war ein Bündnis mit den Vorfahren, und nicht ein
(wie die festlandseuropäische Demokratie) plebiscite de tous les jours der Leben-
den"8; die auctoritas maiorum galt als letztgültiger Maßstab des politischen Lebens.
Es leuchtet ein, daß die Fruchtbarkeit dieses Autoritätsprinzips, daß namentlich
die gegenseitige Zuordnung von potestas und auctoritas an sehr bestimmte poli-
tische und gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden war: Magistrat und Senat
mußten einander in ihren fachlichen Qualitäten gewachsen sein; vom Senat ins-
besondere war ein Höchstmaß moralischer und politischer Integrität gefordert,
die ihrerseits nur auf der Grundlage wirtschaftlicher Unabhängigkeit infolge Reich-
tums durchzuhalten war. Eben diese Voraussetzungen schwanden seit der Re-
volution der Gracchen deutlich dahin; damit begann auch die auctoritas der alten
römischen Republik zu verfallen9 •
Eine neue, im Kern jedoch den altrömischen Traditionen fruchtbar verp:ß.ichtete
Lösung des Autoritätsproblems brachte die Herrschaft des AUGUSTUS. Auctoritas
und potestas rückten nun im Principat sehr eng zueinander, aber keineswegs
- und gerade das war ein glänzender Beweis für die Staatsklugkeit des Augustus -
bis zur völligen Verschmelzung und Identifizierung. Gewiß: wenn Augustus den
Senat um dessen Rat fragte und damit die alte republikanische Form wahrte, so
riet er seinerseits doch zugleich dem Senat, wie dieser zu raten habe. Der Autorität
des Senats wurde damit die des Princeps übergeordnet - aber eben doch nur die
im strengen Sinn rechtlich unverbindliche Autorität des Princeps, nicht dessen
zwingende „potestas". Im Bericht des Augustus heißt es denn auch ausdrücklich:
Post id tempus auctoritat,e omnibus praestiti, potestatis autem nihi"lo amplius
habui quam ceteri, qui mihi quoque in magistratu conlegae fuerunt 10 • Gleichwohl
- oder viel mehr gerade deshalb - war die „auctoritas" des Kaisers die politische
Grundlage des Prinzipats.
Auf die Dauer war eine solche Höhe politischen Stils nicht durchzuhalten. Unter
den Nachfolgern des Augustus führte der Weg eindeutig zu einer Institutionali-
sierung der auctoritas, und zwar im Sinne einer rechtlich erzwingbaren, übrigens
auch religiös begründeten Herrschaftsgewalt. Der 'Princeps' wurde zum 'Dominus',
der 'divus' zum 'deus', die 'auctoritas suadendi' zur 'auctoritas imperandi' 11 • Mit
dieser Identifizierung von 'auctoritas' und 'potestas' hörte die Autorität auf, eine
eigene politische Relevanz zu haben.

2. 'Autorität' im Mittelalter

Schon in der römischen Republik hatten die Priesterkollegien mit dem Pontifex
l\faximus an der Spitze eine eigene Autorität gehabt, die in sakralen Voten ihren

8 WIEACKER, Vom römischen Recht, 32.


9 EscHENBURG, Über Autorität, 23 f.
10 Res gestae divi Augusti, c. 34, hg. v. HANs VoLKMANN (Berlin 1957), 58. 60. Zum Be-

griffswandel von 'auctoritas' im Prinzipat vgl. ERNST MEYER, Römischer Staat und Staats-
gedanke, 3. Aufl. (Zürich, Stuttgart 1964), 553 f., Anm. 40.
11 HEINZ LöwE, Kaisertum und Abendland in ottonischer und frühsalischer Zeit, Hist.

Zs. 196 (1964), 532.

384
II. 2. 'Autorität' im Mittelalter Autoritllt

Niederschlag gefunden hatte. Erst recht gewann die Autorität der christlichen
Kirche seit dem ausgehenden Altertum steigende Bedeutung. Die Frage, wie diese
Autorität beschaffen sei und wie weit sie reiche - namentlich als Autorität des
Papstes - wurde überhaupt zum Kernproblem der Autorität im Mittelalter.
Die Grundlagen für die Entwicklung des kirchlichen Autoritätsbegriffs legte
TERTULLIAN12, und zwar unter Aufnahme sowohl der privatrechtlichen als auch
der staatsrechtlich~politischen Begrifflichkeit der Autorität im alten Rom. Wie
nämlich nach römischem Privatrecht der Verkäufer dem Käufer als seinem Rechts-
nachfolger dafür haftete, daß die verkaufte Ware nicht etwa einem Dritten gehörte
(eben diese Gewährleistung hieß ja 'auctoritas'), so bürgten nach Tertullian die
Bischöfe als Rechtsnachfolger der Apostel für die Unversehrtheit des Glaubens-
guts, wie es in der „regula fidei" seinen Niederschlag gefund_en hatte. Mit dieser
privatrechtlichen Wendung band Tertullian die Autorität der Bischöfe an die
apostolische Sukzession, d. h. an die Tradition; zugleich aber verstand er. die
„principalis auctoritas regulae" als unbedingt verpflichtende Richtschnur nach
Analogie der kaiserlichen Gesetze.
In viel stärkerem Maße noch als Tertullian zog CYPRIAN 1 3 im 3. Jahrhundert die
staatsrechtliche Terminologie des römischen Kaiserstaats und seiner Ämter-
hierarchie zur Begründung der kaiserlichen Autorität heran. Potestas und auctoritas
der Bischöfe begannen ineinander überzugehen; überdies war die bischöfliche
Autorität - und über ihr erkannte Cyprian keine andere auctoritas oder potestas
in der Kirche an - als reine Amtsautorität gedacht: sie wurde durch die Weihe
erworben und war von der persönlichen Qualität ihres Trägers grundsätzlich
unabhängig.
Der Episkopalismus des Cyprian mit seinem völlig institutionalisierten und damit
erstarrten Autoritätsbegriff konnte sich indessen auf die Dauer nicht durchsetzen.
AUGUSTIN begründete den Gedanken der Autorität in der Kirche aufs neue: um-
fassender und differenzierter als je zuvor; die kirchenpolitische Entwicklung aber
führte zum päpstlichen Primat.
Mit den Kirchenvätern des 3. Jahrhunderts verstand AuGUSTINu Autorität zunächst
und in erster Linie als Autorität Gottes. Er konnte diese Autorität Gottes geradezu
mit potestas in eins setzen; daneben aber und sehr viel stärker griff er auf den alt-
römischen Gedanken des Ratsuchens und -erteilens zurück: der Mensch in seiner
Schwachheit und Sünde sei nicht imstande, aus der Kraft seiner eigenen Vernwift
zur Wahrheit und Seligkeit zu gelangen; er sei vielmehr auf Gottes Hilfe und Rat,
d. h. eben: auf die Autorität Gottes angewiesen. Diese Autorität Gottes aber müsse
geglaubt werden - und daß sie geglaubt werden könne, beruhe auf der überzeugen-
den Kraft der Person J esu Christi. Nicht einer Institution also, sondern einer
Person, nämlich der des menschgewordenen Gottes, kam nach Augustin die volle
und ursprüngliche Kraft der Autorität zu.

12 GMELIN, Auctoritas, 80 ff.; EscHENBURG, Über Autorität, 32 :II.


13GMELIN, Auctoritas, 91 :II.
14 FRIEDRICH LooFS, Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, 5. Aufl., hg. v. Kurt
Aland, Bd. 2 (Halle 1953), 265, bes. 294 ff.; KARL-HEINRICH LüTCKE, „Auctoritas" bei
Augustin (Stuttgart, Berlin 1968).

25~90385/1 385
Aulorilill II. 2. 'Auloritllt' im Mittelaller

Freilich übernahm Augustin nun auch den in der Kirche längst traditionell ge-
wordenen Gedanken, daß Jesus seine ursprüngliche Autorität auf die Apostel und
die Kirche übertragen habe. Auch diese Autorität der Kirche aber war bei Augustin
stärker als bei seinen Vorgängern auf das Evangelium bezogen und zugleich schwä-
cher institutionalisiert. Zum einen verstand Augustin die Autorität ja wesentlich
als eine zum Glauben treibende Kraft - evangelio non crederem nisi ·me catholicae
ecclesiae commoveret auctoritas 16 - ; zum anderen vermied Augustin es fast durch-
weg, ein bestimmtes Organ der sichtbaren, verfaßten Kirche zum letztlich maß-
gebenden, infalliblen Träger der „auctoritas ecclesiae" zu machen-was wiederum
mit Augustins Kirchenbegriff zusammenhing, in dem sich die Vorstellung einer
hierarchisch organisierten Heilsanstalt mit der anderen einer unsichtbaren, nicht
rechtlich fixierbaren „congregatio sanctorum" in spannungsvoller u.Ild oft genug
auch widersprüchlicher Weise verband.
Rr.hliAßlich fmtwickAlte Angmitin, n11.mflntlich in Rflinfln :>.wP.inndz~anzig Büchern
„De civitate Dei", für das Verhältnis der kirchlichen Autorität zum Staat neue und
überaus folgenreiche Ideen. Obgleich nämlich die civitas terrena als eine terrenae
utilitatis societas, ja societas impiorum, an sich in scharfem Gegensatz zur civitas Dei
als der wahren Kirche stehe, so komme doch auch dem Kaiser als derzeitigem
Haupt der civitas terrena um der Sicherung der pax terrena willen eine gewisse
AuLo.ritäL zu. Überilie1:1 küuuLeu auch ilie welLlicheu Herr1:1cher Bürger der civilas Dei
sein - wenn sie suam potestatem ad dei cultum ma:i;ime dilatandum majestati eius
famulam faciunt 16 • Daß sich in dieser Aussage die geschichtliche Erfahrung des Jah-
res 381 spiegelte, in dem das Christentum zur römischen Staatsreligion erklärt
worden war, ist klar. Zugleich aber suchte Augustin die weltliche potestas in den
Dienst der Kirche zu stellen und insofern der Autorität der Kirche unterzuordnen;
damit wies er der kirchlichen Hierarchie der folgenden Jahrhunderte die Wege.
Das mittelalterliche Problem des Verhältnisses von geistlicher und weltlicher
Autorität stellte sich prinzipiell auf allen Stufen der kirchlichen wie der weltlichen
Hierarchie17 • Zur eigentlich entscheidenden Frage aber wurde schon frühzeitig die
des Verhältnisses von Kaiser und Papst. Seit Papst Leo 1. (440-461) war di~
innerkirchliche Autorität des römischen Stuhles - allerdings nur für das Abend-
land - prinzipiell gesichert: Kaiser Valentinian III. erließ 445 ein Gesetz, durch
das die staatlichen Behörden verpflichtet wurden, alle Anordnungen der „apo-
stolicae sedis auctoritas" gegenüber etwa widerspenstigen Bischöfen notfalls mit
Gewalt durchzusetzen. Schon 451 allerdings, auf dem Konzil von Chalkedon, er-
kallllte Kaiser Marcian dem Patriarchen von Konstantinopel für die Ostkirche
eine gleichartige Suprematie zu; die Grenzen der päpstlichen Autorität gegenüber
der Ostkirche und zugleich die übergeordnete Autorität des Kaisers wurden durch
diesen Rechtsakt aufs deutlichste dokumentiert.
Für das Verhältnis zu den orientalischen Kirchen vermochte das Papsttum die

1 5 AUGUSTIN, Contra epistolam Manichaei quam vocant „fundamenti", in: Qu.ellen zur

Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, hg. v. CARL MrnnT, 6. Aufl.,
hg. v. KURT ALAND, Bd. 1 (Tübingen 1967), 170. Nr. 369.
18 AUGUSTIN, De civitate Dei 5, 24; vgl. dazu LooFs, Leitfäden, 333.
17 EscHENBURG, Über Autorität, 94 ff. Zum Folgenden auch GMELIN, Auctoritas, 100 ff.

386
II. 2. 'Autorität' im Mittelalter Autorität

Entscheidung von 451 trotz aller Anstrengungen nie mehr grundlegend zu revi-
dieren; wohl aber änderte sich das Verhältnis von kaiserlicher urid päpstlicher
Autorität. Bereits gegen Ende d~s 5. Jah;rhunderts bestritt GELASIUS 18 , daß
irgendeine irdische Autorität über der auctoritas sacrata pontificum stehen könne.
Während noch Leo I. von der augusta auctoritas des christlichen Kaisers gesprochen
hatte, reservierte Gelasius den Autoritätsbegriff überhaupt für die Kirche und
schrieb.dem Kaiser nur mehr 'potestas' zu: Zwei Dinge sind es, durch die vor allem
diese Welt regiert wird: die geheiligte Autorität der Bisckö/e ( auctoritas sacrata ponti-
ficum) und die königliche Gewalt (regalis potestas)1 9 • Das war eine klare Abwertung
der weltlichen Gewalt; denn wenn Gelasius auch zugab, daß der Kaiser in zeitlichen
Dingen (temporaliter) über der Kirche stehe, so hieß das doch in Wirklichkeit:
nur in zeitlichen Dingen, und es entsprach der erhabeneren Würde der auctoritas
gegenüber uer 11uLesLas, weun Gelai;iui; - freilich Uluß gelege11Llich uml rniL grußer
Vorsicht - die Kompetenz im Konfliktsfall der Kirche und namentlich der Kirche
des Heiligen Petrus zuschrieb 20 • Rosenstock-Huessy hat den Begriff der Autorität
als „Zauberwort der päpstlichen Gewalt" bezeichnet 21 • Und wirklich: durch ihte
inhaltliche Elastizität - 'auctoritas' konnte ja ebenso als bloß moralisches An-
sehen wie als rechtlich erzwingbare Vorherrschaft verstanden werden -, durch
ihre religiöse Fundierung und darniL UnangreifbarkeiL, schließlich uurch ilue
Institutionalisierung und damit Unabhängigkeit von der persönlichen Qualität
ihres jeweiligen Trägers entsprach die auctoritas apostolica in besonderer Weise
der ebenso zielstrebigen wie elastischen Politik der Päpste.
Die Möglichkeiten und Erfolge dieser Politik blieben freilich bis zur Jahrtausend-
wende noch relativ bescheiden. Unter Kaiser Justinian (527-565) triumphierte
der Cäsaropapismus auch gegenüber Rom. Nach dem endgültigen Zusammenbruch
der byzantinischen Herrschaft in Italien aber mußten sich die Päpste angesichts der
Bedrohung durch die Langobarden dem fränkischen Schutz anvertrauen. Auch das
blieb nicht ohne Rückwirkungen auf die päpstliche Autorität: Pippins berühmte
Anfrage über die Absetzung des letzten Merowingers setzte gewiß ein nicht uner-
hebliches Ansehen des Stuhles Petri bei den fränkischen Großen voraus - die
Anfrage wäre sonst politisch sinllios gewesen -, aber der Papst hätte praktisch
gar keirien negativen Bescheid wagen dürfen. Das altrqmische Verhältnis der Autori-
tät des Ratsuchenden zu der des Raterteilenden war hier in ähnlicher Weise um-
gekehrt wie schon einmal zur Zeit des Augustus.

18 Zu Gelasius ERICH CASPAR, Geschichte des Papsttums, Bd. 2 (Tübingen 1933), 63 ff.

Vgl. auch Anm. 20.


19 GELAsros, Ep. 12, 2-8 an Kaiser Anastasius (494), MmnT/ALAND, Quellen, Bd. 1,

222. Nr. 462.


20 Die Rezeption der Formel des Gelasius darf freilich nicht überschätzt werden. Vor allem

ist natürlich von kaiserlicher Seite auch nach Gelasius eine „auctoritas imperia.lis" bean-
sprucht worden, und diese Tradition hat sich im abendländischen Kaisertum fortgesetzt;
vgl. WILHELM ENSSLIN, Auctorita.s und Potesta.s. Zur Zweigewa.Itenlehre des Papstes Gela-
sius 1., Hiat. Jb. 74 (1955), 661 ff.; LoTTE KNABE, Die Gelasianische Zweigewaltenlehre bis
zum Investiturstreit (Berlin 1936).
21 EuGEN RosENSTOCK-HUESSY, Die europäischen Rev9lutionen und der Charakter der

Nationen (Stuttgart, Köln 1951), 143.

387
Auiorttllt II. 2. 'Autorität' im Mittelalter

Solche Präponderanz der königlichen Autorität vor der päpstlichen galt freilich
nur für den unmittelbaren fränkischen Herrschaftsbereich, und das änderte sich
auch durch die Annahme des Kaisertitels durch Karl den Großen nicht grundsätz-
lich22. Angesichts der Vielfalt von gentes und regna, in die das Abendland seit dem
endgültigen Scheitern der Weltherrschaftsansprüche des byzantinischen Kaiser-
tums zerfiel, war ein abendländisches Kaisertum ja überhaupt'nur in der Bindung
an ein bestimmtes Reichsvolk - zunächst eben die Franken, später die Deutschen-
möglich.
Gerade diese Bindung aber erschwerte die Begründung einer die anderen regna
übergreifenden und von ihnen a.nerkannten Autorität des Kaisertums ungemein;
bezeichnenderweise ist in karolingischer Zeit - z. B. in England und Asturien -
mit der Frankenherrschaft ausdrücklich auch die anctoritas rles Kaisers abgelehnt
wol'den. El'l:IL ahi 1:1i~h im 10./11. Jahrhundert die religiöse Wertung des abendlän-
dischen Kaisertums als einer Verkörperung des endzeitlichen Römischen Reichs
durchsetzte, konnte die imperiale auctoritas zu einer der entscheidenden Grundlagen
für den universalen Charakter von Reich und Kaisertum werden. Und auch dann
blieb die kaiserliche Autorität gegenüber den einzelnen Königreichen nicht un-
bestritten; sie verblaßte vollends, seitdem der Machtvorrang von Kaiser und Reichs-
vo~ mit dem Erstarken der westeuropäischen NationalsLaaLen im 1:1päteren Mittel-
alter sein Ende fand23. Gloiohzoitig o.bor gowo.nn do.a Papsttum, und zwar immer
wieder im Bündnis mit den regna, an universaler Autorität. Die Auseinander-
setzung zwischen Papsttum und Kaisertum um die höchste Autorität in der
abendländischen Christenheit stellte eich zunächst als · Kampf um rlic Eigen-
ständigkeit der Kirche gegenüber der weltlichen Gewalt dar, wandelte sich aber
schon bald in einen offenen und grundsätzlichen Streit um Vorrang und Vorherr-
schaft. Die unmittelbaren Voraussetzungen dieser Kämpfelagen in dem ottonischen
Reichskirchensystem; ihre erste und zugleich entscheidende Phase war der In-
vestiturstreit. Die maßgeblichen Formulierungen der päpstlichen Ansprüche stam-
men von Gregor VII., lnnocenz III. und schließlich Bonifaz VIII.
Hatte schon GREGOR VII. es als Nachfolger des Petrus und unter Berufung auf die
potestas und auctoritas Petri gewagt, die Absetzung des exkommunizierten
Heinrichs IV. auszusprechen 24, so hieß es 1198 bei INNOCENZ III. in bezeichnender
Fortbildung der Grundsätze des Gelasius: Gott habe zwei große Würden geschaffen,
eine größere, die die Seelen, gleichsam die Tage, leiten und eine kleinere, die die

22 HEINZ LÖWE, Von den Grenzen des Kaisergedankens in der Karolingerzeit, Dt. Arch.

14 (1958)' 345 ff.


23 Über die Bedeutung der auctoritas des Kaisertums, namentlich im Hochmittelalter, hat

im Anschluß an ROBERT BOLTZMANN, Der Weltherrschaftsgedanke des mittelalterlichen


Kaisertums und die Souveränität der europäischen Staaten, Bist. Zs. 159 (1939), 251 ff. eine
ausgiebige Diskussion stattgefunden. Vgl. vor allem GEOFFREY BARRACLOUGH, The Mediae-
val Empire. Idea and Reality (London 1950); WALTER BOLTZMANN, Das mittelalterliche
Imperium und die werdenden Nationen (Köln, Opladen 1953); FRIEDRICH KEMPF, Das
mittelalterliche Kaisertum. Ein Deutungsvenmch, in: Das Königt.um. Seine geistigen und
rechtlichen Grundlagen, Vorträge und Forschungen, hg. v. THEODOR MAYER, Bd. 3 (Lin-
dau, Konstanz 1965), 225 ff. sowi~ LÖWE, Kaisergedanke (s. Anm. 22).
24 MmBT/Ä.LA.ND, Quellen, Bd. 1, 283. Nr. 548.

388
m. 1. Landesfürstliche Autorität Autorität

Körper, gleichsam die Nächte, leiten solle: das seien die päpstliche Autorität und
die königliche Gewalt; wie aber der Mond sein Licht von der Sonne empfange, so
empfange die königliche Gewalt den Glanz ihrer Würde von der päpstlichen25•
Die politische Konsequenz dieser Auffassungen lag vor allem in dem Anspruch
des Papstes, die Eignung des Kaisers zu einem Amt zu prüfen bzw. die Kaiserwahl
zu bestätigen, und Innocenz III. selbst hat diese Ansprüche gegenüber Otto IV.
und Friedrich II. tatsächlich in weitem Umfang durchzusetzen vermocht. Daß
der Wettstreit zwischen Kaiser und Papst um die höchste Autorität in der Christen-
heit in diesen Auseinandersetzungen weithin zu einem rein politischen Machtkampf
wurde, ist sicher; auch begrifflich erscheinen die alten Unterschiede zwischen
'auctoritas' und 'potestas' bei Innocenz III. ja bereits verwischt. In noch höherem
Maße gilt das für den Streit Papst Bonifar.' VJTT. mit dem franr.ösischen Königtum.
In der Bulle „Unam sanctam" von 1302 verwendete Bonif'az die Begriffe 'auc-
toritas' und 'potestas' überhaupt als Synonyma, um die eindeutige Überordnung
von Kirche und Papst über jede weltliche Autorität und Gewalt darzutun: Oportet
autem gladium esse sub gladio, et temporalem auctoritatem spirituali subiici potestati ...
Spiritualem autem et dignitatß et nobilitate terrenam quamlibet praecellere potestatem,
oportet tanto clarius nos /ateri, quanto spiritualia temporalia antecellunt 26 • Diese
letzte Steigerung aber bedeutete zugleich Krise und Wendepunkt. Die Gefangen-
nahme des Donifaz, die Übersiedlung des Papsttums nach Avignon und schließlich
die Jahrzehnte des .Schismas dokumentierten das Absinken des Papsttums in
politische Abhängigkeit von Frankreich und zugleich den tiefen Verfall seiner
Autorität; an die Stelle der einen päpstlichen Autorität begannen schismatische
Obödienzien zu treten. Dazu kamen die schweren institutionellen und sittlichen
Schäden der Spätmittelalterlichen Kirche; die deprimierende Vergeblichkeit des
Rufs nach Reform der Kirche gerade an ihrem Haupte ließ die Autorität nicht
bloß einzelner Päpste, sondern des Papsttums als Institution fragwürdig werden.
Vollends die Reformation bereitete der päpstlichen Autorität für weite Gebiete
Europas überhaupt ein Ende.

m.
I. Landesfilrstliche Autorität am Beginn der Neuzeit
Das Papsttum des hohen und späten Mittelalters hatte es nicht verschmäht, sich
im Kampf um die höchste Autorität und Macht in der Christenheit mit den Herr-

l i Sicut univeraitatia C<JTUJ,itor De'UIJ duo mag7UJ luminaria in firmamento celi conatituit - lu-
minare mai'UIJ, 'Ut preesaet diei, et luminare min'UIJ, ut nocti preea8et -, sie ad firmamentum
univeraalia eccleBie, que celi nomine nuncupatur, duaa magnaa inatituit dignitate&: maiorem,
que quasi dielma animab'UIJ pree&aet, et minorem, que quaai noctilma preesset corporibus: que
sunt ponti'{kalia auctoritaB et regalis pote&taa: INNOZENZ III., Brief an den Prior des tus-
zischen Bundes Acerbo Falseronis u. a. vom 30. 10. 1198, in: Die Register Innozenz' III.
1. Pontifika.tsjahr, 1198/99. Texte, Bd. 1, hg. v. OTHMAR liA.GENEDER u. ,A},"ToN HAIDA-
cmm. (Gra.z, Köln 1964), 600. Nr. 401; vgl. FRIEDRICH KE111PF, Papst.turn und Kaisertum
bei Innocenz ill. Die geistigen und ·rechtlichen Grundlagen seiner Thronstreitpolitik
(Rom 1954), 284 ff.
H MmBT/ALilm, Quellen, Bd. 1, 459. Nr. 746.

389
Autorität m. 2. Eliminierung des Autorität1begriff1

schern der erstarkenden westeuropäischen Nationalstaaten und mit den auf-


kommenden landesherrlichen Gewalten in Deutschland zu verbünden und sie
gegen den Kaiser zu stärken. Eben diese Bündnispartner wurden in der Folge die
eigentlichen Erben der kaiserlichen, zum Teil auch der päpstlichen Autorität.
Zwar kam es im Zuge der katholischen Reform und Gegenreformation seit dem
späteren 16. Jahrhundert erneut zu einem gewissen Autoritätsgewinn der römischen
Kirche und des Papstes, und gerade die Tatsache, daß diese neu errungene Autori-
tät-abgesehen von der innerkirchlichen Rechtsordnung 27-wesentlich moralischer
Art war und auf weltliche Herrschaftsansprüche weitgehend verzichtete, sollte
dem Ansehen des Stuhles Petri auf lange Sicht durchaus zugute kommen. Trotzdem
vermochten Kirche und Papsttum den seit dem Aufkommen des Absolutismus
immer deutlicheren Autoritätsvorsprung der weltlichen Herrscher bis zum Ende
. des Absolutismus selbst nie mehr aufzuholen.
Entsprechendes gilt für das Kaisertum. Es hat zwar noch im 16. unfl 17 .•fahrhnn-
dert wenigstens zwei sehr bedeutende Ansätze zur Erneuerung einer den parti-
kularen Gewalten eindeutig übergeordneten kaiserlichen Autorität gegeben: ein-
mal durch Karl V. nach dem Schmalkaldischcn Krieg 1547/48, ein zweites Mal
nach den ersten großen Erfolgen der Habsburger im Dreißigjährigen Krieg. Beide
Ansätze sind jedoch steckengeblieben; die Zukunft gehörte in Deutschland den
Landesherren, dem Territorialstaat.

2. Eliminierung des Autoritätsbegrift's bei Luther

Daß die Reformation für den Aufstieg und für die innere Konsolidierung dieses
deutschen Territorialstaat!! einen wesentlichen Beitrag geleistet hat,· ist sicher.
Inde:in der christlichen Obrigkeit als Notbischof, als praecipuum membrum ec-
ciesiae oder gar schließlich als summus episcopus die Aufgabe und das Recht der
Fürsorge für die Verkündigung des reinen Wortes Gottes zufielen, gewann sie
selbst - bei fortdauernd altständisch-patriarchalischen Wesenszügen - eine Art
religiösen Ansehens. Dabei spielte indessen der Begriff der Autorität kaum eine
Rolle. LUTHER 28 sprach stattdessen von 'uberkeyt' - ein Begriff, der nicht nur
volkstümlicher und konkreter war als das fremde Zauberwort 'Autorität', sondern
der vor allem neben dem Bedeutungsgehalt von 'Autorität' auch den von 'potestas'
deckte. Ansehen und Macht aber der Obrigkeit - vom Familienvater bis zum
Landesfürsten oder Kaiser - hatten für Luther ihren Grund und ihre Einheit allein
in Gottes Willen und Befehl. Nicht um Antorität, um Rat und Anerkennung ging
es in Luthers Verständnis der Obrigkeit, sondern um Gottes Gebot und den Ge-
horsam des Menschen: Ein jeder sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn luzt 29 •
2 7 Zur Stärkung der innerkirchlichen Autorität des Papsttums vgl. HANs ERICH FEINE,

Kirchliche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 3. Auß. (Weiinar 1955), 454 f. 487 ff. über das Schei-
tern der Versuche des 16./17. Jahrhunderts, auch die päpstliche „potestas in temporalibus"
gegenüber den weltlichen Staaten zu erneuern.
28 GERTA SCHARFFENORTH, Römer 13 in der Geschichte des politischen Denkens. Ein Bei-

trag zur Klärung der politischen Traditionen in Deutschland seit dem 15. Jahrhundert
(phil. Dias. Heidelberg 1964); EsCHEN:BURG, Über Autorität, 103 ff.
90 Röm. 13, 1. Soweit Luther den Autoritätsbegriff überhaupt aufnahm - namentlich im

Rekurs auf wissenschaftliche Autoritäten - , hielt er ihn durchweg von jeglicher Institu-

390
III. 3. Rezeption im 16. und 17. Jahrhundert Antoritilt

3. Rezeption des Autoritätsgedankens bei den Staatslehrern


dei.1 !!piilen 16. und 17. Jalll'hunderts

Diese in Luthers Zwei-Reiche-Lehre begründete Eliminierung des Begriffs der


Autorität aus der Lehre von der weltlichen Gewalt vermochte sich indessen -
wie ja Luthers Zwei-Reiche-Lehre überhaupt-auf die Dauer nicht durchzusetzen.
Vielmehr griffen auch die protestantischen Staatsdenker spätestens seit dem aus-
gehenden 16. Jahrhundert erneut auf die antike Tradition zurück; 'Autorität'
wurde damit wiederum zu einem Kernbegriff der Staatslehre. Eine erhebliche
Bedeutung für diese Entwicklung scheint namentlich der Niederländer JusTus
LIPSIUS gehabt zu haben - ein Mann, in dessen Leben und Werk sich ja überhaupt
katholische und evangelische, vor allem aber antik-stoische Einflüsse auf sehr
mArkwiirflige und folgenreiche Weise kreuzten 30 • Die Linie der „l'oliticae seu
civilis doctrinae libri sex" des Lipsius (1589) wurde aufgenommen von JOHANNES
ALTHUSIUS, dessen „Politica methodice digesta" (1603) unter fortlaufender Be-
rufung auf Lipsius bereits ein sehr umfangreiches Kapitel „De auctoritate summi
magistratus" enthielt 31 ; in BARTHOLOMÄUS KECKERMANNS „Systema disciplinae
politicae" (1614) schließlich ist die Auffassung der Autorität als „fundamentum et
llllrvuu1 imperii" vollends zur communis opinio des zeitgenössischen Staatsdenkens
geworden, und zwar über alle konfessionellen Grenzen hinweg 32 . Eine breite Skala
empirischer Beobachtungen bestimmt hier, wiederum nach dem Vorbild des
Lipsius, den Autoritätsbegriff. So werden etwa neben den persönlichen Tugenden
des Herrschers auch sein Alter - quia nulla est auctoritas juvenum apud subditos 33- ,
das Vorhandensein tüchtiger Räte oder die Unwandelbarkeit seiner Gesetze als
nutoritätsbegründende Momente hernusgcnrbeitct34. Zugleich aber wird hier die
gewichtige Rolle des Autoritätsbegriffs in den Auseinandersetzungen um den auf-
kommenden Absolutismus und , dessen theoretische Begriindung sehr deutlich
erkennbar. Obgleich nämlich Keckermann die Autorität wegen ihrer gehorsams-
begründenden Wirkung der staatlichen Zwangsgewalt (potestas) durchaus gleich-
zuordnen vermag, so fäßt er die Autorität des Fürsten andererseits doch praecipue
... in praeclaro judicio subditorum de suo principe bestehen 35, und diesem Moment
der freiwilligen Anerkennung von seiten der Untertanen entspricht auf der Seite
dAs Herrschers diA Rindung an Recht und Gesetz. De auctoritate j1tris nostra dependet
auctoritas - das sei die Äußerung einer „digna vox" des Herrschers, auch wenn
andere im Anschluß an Ulpian die These aufgestellt hätten: „princeps legibus

tionalisienmg frei. Daß er auch in seinem Kampf um den Vorrang der Heiligen Schrift vor
der sonstigen kirchlichen Überlieferung nicht auf den Autoritätsbegriff zurückgriff, sei
am Rande vermerkt.
3o GERHARD ÜESTREICH, Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates,

Rist. Zs. 181 (1956), 31 :ff. sowie in: ders„ Geist und Gestalt des frühmodernen Staates,
Ausg. Aufs. (Berlin 1969), 35 :ff.
31 JOHANNES ALTHUsrci's, Politica (1603; 3. Aufl. 1614, Ndr. Aalen 1961), 505 :ff.

32 KECKERlllANN (1614), 148.


33 Ebd., 51.
34 Ebd., 142 f.
35 Ebd„ 222.

391
Autorität m. 4. 'Souveräuität' etatt 'Autorität'
solutus est" 36 • Ganz entsprechend erörtert Keckermann das Erfordernis von Rat
und Zustimmung der consiliarii, der SLäwle mler anderer intermediärer Gewalten
für den Herrscher: Gewiß fehle es dem Fürsten, der für seine Entscheidungen einer
solchen Approbation bedürfe, für sich allein - d. h. ohne jenen zustimmenden
Rat - an der vollen Autorität. Das bedeute umgekehrt aber keineswegs, daß die
Autorität des absolutistischen Herrschers in ihrer Freiheit vom Gesetz und von
Rat und Zustimmung irgendwelcher Stände und Räte die eigentlich wünschens-
werte Ausprägung staatlicher Autorität darstelle. Im Gegenteil: gerade jene Bin-
dungen seien ein wirksamer Schutz vor der Entartung der Herrschaft zur Tyrannis,
die allemal das Ende wahrer Autorität bedeute 37 •
Solche kritische Zurückhaltung gegenüber absolutistischem Staatsdenken war
freilich je länger desto weniger zeitgemäß. Zumindest in Westeuropa waren die
Theoretiker des Absolutismus schon zu ganz anderen Ergebnissen gelangt.

4. Zurückdrängung des Autoritäts· durch den Souveränitätsbegriff


Zu den extremsten Ausprägungen dieses westeuropäischen Staatsdenkern;; gehörte
die Lehre des THOMAS HoBBES (1588-1679). Sie gründete in einer völlig pessimisti-
schen Anthropologie: Die Natur des Menschen sei so unerfreulich, daß man sich
den - vorstaatlichen - Natnr:r.nstand nur ah:1 Kampf aller gegen alle vorstellen
könne. Um aus diesem unerträglichen Zustand des „homo homini lupus" heraus-
zukommen, habe jedermann sein Vermögen und besonders seine natürliche Fähig-
keit, rechtserhebliche Handlungen vorzunehmen, unwiderruflich und bedingungslos
auf einen einzigen übertragen müssen; durch diesen Gesellschaftsvertrag sei der
Staat entstanden, der alles verschlingende, große Leviathan. Nun faßte Hobbes
im engen Anschluß an die alte römisch-rechtliche Doktrin gerade jene Fähigkeit
zu rechtserheblichen Handlungen und folgerichtig - seiner Lehre vom Gesell-
schaftsvertrag entsprechend - auch die Handlungsfähigkeit der obersten Staats-
gewalt als auctoritas; damit aber wurde Autorität zur rein dezisionistischen
Befehlsgewalt unter bewußter Abstraktion von der materiellen Gerechtigkeit ihrer
Befehle. In diesem Sinne war es gemeint, wenn Hobbes in scharfer Antithese
formulierte: auctoritas, non veritas facit legem 38; 'Autorität' und 'Souveränität'
wurden Wechselbegri:ffe.
Als Ganzes hat sich die Lehre Hobbes - ungeachtet ihrer tiefgreifenden Fern~
wirkung - weder in England noch auf dem Kontinent durchsetzen können, und

36 Ebd., 82 f.
a7 Ebd., 248. 567 ff.
38 HOBBES, Leviathan 1, 26. Da.bei darf freilich nicht übersehen werden, daß diesem Au-

toritätsbegriff von Hobbes durch eine ältere Begriffstradition vorgearbeitet worden ist, in
der 'Autorität' einfach „Behörde" oder „behördliche Gewalt" bedeutete. In dieser Tradi-
tion, die in Westeuropa bis ins hohe Mittelalter zurückzureichen scheint, konnte folgerich-
tig auch von unrechter, illegitimer Autorität die Rede sein, namentlich von der „auctoritas
propria" des Tyrannen; vgl. z. B. CoLuccxo SALUT.A.TI, Tractatus de tyranno, hg. v. Fran-
cesco Ercole (Berlin, Leipzig 1914). In Deutschland hat diese Begriffstradition anscheinend
kaum Eingang gefunden; die Gründe für diese unterschiedliche Entwicklung bedürften
einer eigenen Untersuchung.

392
III. S. 'Autorität' in der deutschen Aufklärung Autorität

gerade in Deutschland hat Hobbes zunächst nur als .Ärgernis gewirkt: seine völlige
Säkularisierung der Staatslehre, dazu der „Naturalismus" und „Materialismus"
seines Denkens paßten allzu schlecht zur Theorie und Praxis des „Teutschen
Fürstenstaates", wie ihn Seckendorff noch gegen Ende des 17. Jahrhunderts
beschrieb, als daß sie ohne weiteres hätten rezipiert werden können. Selbst SAMUEL
VON PUFENDORF (1632-1694), der als t:influßreichster deutscher Staatsdenker der
frühen Neuzeit in vielem auf Hobbes zurückgriff, dachte im Grunde doch sehr viel
konservativer als der Engländer 39•
Umso wichtiger war nun freilich, daß die Identifizierung von Autorität und
Souveränität bei Hobbes offenbar einem weitverbreiteten Bedürfnis der Zeit
entsprach; sie findet sich, wenngleich gewöhnlich weniger scharf durchdacht als
bei ihm, seit der Mitte des 17. Jahrhunderts auch auf dem Kontinent in zahlreichen
Abwandlungen40 • Und die Entwicklung blieb selbst dabei nicht stehen: der Begriff
der Souveränität, im Grunde schon seit Bodin deutlich in seinem dezisionistischen
- d. h.: juristisch praktikablen - Charakter fixiert, gewann zusehends an Würde,
ja Pathos; in gleichem Maße aber wurde der Autoritätsbegriff entbehrlich. Im
Staatsdenken des 18. Jahrhunderts spielte er kaum mehr eine Rolle 41 • Dabei darf
allerdings nicht übersehen werden, daß die von der Doktrin postulierte Einheit der
souveränen 8taatsgewa.lt in der politischen Praxis doch rnunnigfä.ch durchl.Jruchtiu
war und blieb: der absolutistfache Sta.at vermochte ja oie öff'Fmtlichfl ftp,walt nifl
völlig zu monopolisieren. Das ha.t mich hAgrifl'Rgm'mhichtlich Rflinen Nieclerachlag
gefunden: Als 'souverän' galten im absolutistischen Staat zwar überall der Herr-
scher, nicht etwa auch die Stände, Parlamente oder sonstigen regional-eigenständi-
gen Institutionen; wohl aber kam auch diesen verfassungspolitisch retardierenden
Kräften nach Meinung der Zeit 'Autorität' zu. Die Grenzen solcher Autorität
waren freilich immer wieder umkämpft; ein sehr bezeichnendes Beispiel dafür ist
die Randbemerkung FRIEDRICH WILHELMS I. zu einer Eingabe seiner Stände
(1716): Ich komme zu meinen zweg und stabiliere die suverenitet und setze die krohne
/est wie ein Rocher von Bronse und laße die herren J uncker den windt von Landtdahgef.2.

5. 'Autorität' in der deutschen Aufklärung:


Entpolitisierung, Entinstitutionalisiemng, Moralisierung

Zur Entleerung des Autoritätsbegriffs im politischen Denken kam ergänzend und


verstärkend der Kampf der Aufklärung gegen eine Vielzahl herkömmlicher geistiger
und gesellschaftlicher Autoritäten, duroh die man jetzt das Lioht der Vernunft
verdunkelt und den Weg zu einer vernünftigen Ordnung der menschlichen Gesell-
schaft versperrt glaubte. Dieser Abbau des herkömmlichen Autoritätsbegriffs
knüpfte in Deutschland vor allem an den Kampf um das säkularisierte Vernunft-

39 Zu Pufendorf vgl. neuerdings LEONARD KRmGER, The Politics of Discretion. Pufendorf

and the Acceptance of Natural Law (Chicago, London 1965), 103 ff.
40 Anschauliche Belege dafür im Quellenanhang zu HERMANN KAUFMANN, Die Reunions-

kammer zu Metz, Jb. d. Ges. f. Lothringische Gesch. u. Altertumskunde 11 (1899), 1 ff.


41 Sehr bezeichnend dafür ist das Fehlen des Stichworts „Autorität" bei ZEDLER, NEBRING

(1710) und auch bei HERMANN (1729); vgl. jedoch Anm. 42.
42 Acta Borussica, Behördenorganisation, Bd. 2 (Berlin 1898), 352. Nr. 175.

393
A'!ltoritit W. 5. 'Autorit&t' in der deutaehen Aufklirung

naturrecht der Aufklärung an. Seitdem nämlich die protestantische Orthodoxie


mit ihrer religiös begründeten Sozialethik sich im Kampf mit Pufendorf ihre erste
große Niederlage geholt hatte, galt - zumindest für den weltlichen Bereich -
die Vernunft als letzte ·Instanz gegenüber allen herkömmlichen Autoritäten 43 •
Regierungsformen und Gesetze, überkommene Sitten und Gebräuche, die großen
Vorbilder der Historie, die Gesamtheit der überlieferten Autoritäten überhaupt
wurde vor das Forum einer Vernunft gezogen, die sich selbst in steigendem Maße
als mündig verstand und der die Kritik an den überlieferten Autoritäten nic,ht bloß
als Recht, sondern geradezu als Pflicht galt. Schon bei THOMASIUS war von einem
praejudicium auctoritatis die Rede - wenn jemanii, den man für klug hält, ohne
Prüfung glaubt (AnELUNG) 44 ; damit erhielt der Begriff der Autorität zum ersten
Mal in der deutschen Geistesgeschichte einen pejorativen Sinn. Selbst vor der
Heiligen Schrift machte dieser Abbau der Autorität nicht halt: Je deutlicher der
geschichtliche Charakter des Alten wie des Neuen Testaments ins Licht trat, desto
fragwürdiger erschien ihre Autorität; und dies nicht bloß wegen des kritischen
Zweifels an der Zuverlässigkeit der Textüberlieferung, sondern wegen der Unsicher-
heit des Historischen überhaupt. So schrieb etwa KANT in seinem berühmten Brief
an Lavater (28. 4. 1775): Nun gestehe ich frei, daß in Ansehung des Historischen
unsere neutestamentlichen Schriften niemals in das Ansehen können gebracht werden,
daß wir es wagen dürften, jeder Zeile derselben mit unangemessenem Zutrauen uns
zu iibergcbcn45,
Gleichwohl hat nun gerade die deutsche Aufklärung immer wieder die Unentbehr-
lichkeit der Autorität als einer Quelle des Gehorsams im staatlichen und gesell-
schaftlichen Leben anerkannt. Und zwar war dabei keineswegs bloß an die Autorität
des natürlichen Gesetzes oder des daraus abgeleiteten positiven Rechts gedacht:
Wenn Kant dafür hielt, daß allmählich das Volk des Einflusses der bloßen Idee der
Autorität des Gesetzes (gleich als ob es physische Gewaü besäße) fähig wird unii soriach
zur eigenen Gesetzgebung (welche ursprünglich auf Recht gegründet ist) tüchtig befuniien
wird46 , so sah er für seine eigene Gegenwart, jedenfalls in Deutschland, doch bloß
die ersten Anfänge einer solchen Entwicklung. Die Breite der deutschen Aufklärung
aber ging nicht einmal so weit: Immer sind Glaube unii Gehorsam die Wirkungen,
welche die Autorität, wenn sie bei aniieren lebeniiig ist, hervorbringt. Alle diejenigen,
welche dazu berufen oder bestimmt sinii, aniiere Menschen zu gewissen Absichten zu
lenken, müssen, wenn sie aniiers nützlich sein sollen unii wollen der Folgsamkeit
' '
derselbigen gewiß sein, unii also die größtmögliche Autorität bei ihnen haben unii
darinnen z1' erhalten suohen'7.
Damit ~ntstand nun freilich die· Frage, wie ein Widerspruch zwischen dieser
Autorität und der prinzipiell autonomen Vernunft der dieser Autorität Unter-
worfenen zu vermeiden sei. Kant hat das Problem für den Bereich der staatlichen
Autorität aufgenommen und so zu lösen versucht: Es scheint aber für die gesetz-
43 KRIEGER, Politics of Discretion, 202 ff.

"CHRISTIAN TH0111ASros, Einleitung zu der Vemunftlehre (Halle 1691; Ndr. Hildesheim


1968), 306. Auf der Höhe der Aufklärung dann ADELUNG Bd. l (1774), 330.
~&KANT, AA Bd. 10 (1900), 170.
46 KANT, Zum ewigen Frieden (1795), Anhang I. AA Bd. 8 (1912), 372.
47 Dt. Enc., Bd. 2 (1779), 608.

394
m. 5. 'Autorität' in der deutsehen Aufklärung Autorität

gebende Autorität eines Staats, dem man natürlicherweise die größte Weisheit beilegen
mufJ, verkleinerlich zu sein, iiher die Grundsätze seines Verhaltens gegen andere
Staaten bei Untertanen (den Philosophen) BelehrUng zu suchen; gleichwohl aber sehr
ratsam, es zu tun. Also wird der Staat die letzteren stillschweigend (also indem er ein
Geheimnis daraus macht) dazu auffordern, welches soviel heißt als: er wird sie frei und
öffentlich über die allgemeinen Maximen der Kriegsführung und Friedensstiftung
reden lassen 48 • Die„Deutsche Encyclopädie"aber meinte das Problem dadurch aus
der Welt zu schaffen, daß sie von der Autorität der Obrigkeit - auc.h ohne jenen
Rekurs auf die Philosophie - eine ostensible Vernünftigkeit in deren Ausübung
verlangte und erwartete49 • Zwar sei der Obrigkeit die Berechtigung auch zur
Anwendung der gesetzlichen Zwangsmittel nicht geradezu abzusprechen. Jedoch
bewirke solcher Zwang nur durch Furcht Gehorsam; was aber die Untertanen eines
Staats durch Zwang und Furoht tun, das wird entweder nur ha.lb oder doch .~chief
getan, und der Endzweck der Regierung - nämlich den Menschen den Weg zu zeigen,
wie sie in der Gesellschaft ihr größtes Glück finden und genießen könnten - kann
nicht in seiner Vollkommenheit erreicht werden. Die Einsicht in die Vernünftigkeit
der obrigkeitlichen Regierung dagegen erzeuge Liebe und Vertrauen: Es ist daher
die größte Weisheit der Obrigkeit diese, daß sie, um die wirksamste Autorität zu
erhalten, sich bei dem Volke immer mehr Liebe und Vertrauen erwerbe und alle ihre
Anordnungen und Einrichtungen zu wahren Wohltaten für die Untergebenen mache.
Entsprechendes sollte auch von der Autorität der Schullehrer wie der Prediger
gelten: Alle Zwangsautorität, d. h. bloße Amts- oder „bürgerliche" Autorität
erschien hier als de:fiziente Form der Autorität; die wahre Autorität dagegen wmde
als eine zugleich moralische und vernünftige, auf Vorbild, Liebe und uneigen-
nütziger Fürsorge einerseits, auf der einsehbaren Vernünftigkeit ih1·er Gebote
anderseits beruhende Macht verstanden.
Daß mit alledem die Autorität in ihrem Kern entinstitutionalisiert wurde, ist
deutlich. Die Kehrseite der Medaille aber war natürlich, da.ß die alten Autoritäten -
Obrigkeit, Kirche, Schule - als Institutionen „entautorisiert" wurden, und das
war um so erfolgreicher, als gerade jetzt die Vorstellungen darüber, worin eine
gute - und das hieß: autoritätsbegründende ! - Regierung bestehen müsse,
immer mehr auseinandergingen. So sah wiederum schon die „Deutsche Ency-
clopädie" von 1779 eine wirkliche Autorität nur durch die physiokratische
Regierungsverfassung gewährleistet, bei welcher allein das Volk sehe, daß die
Obrigkeit in allen ihren Anstalten nur sein bestes bewirket 60 • Aber diese Reduzierung
der Autorität auf einen physiokratischen Sonderbegriff war offenbar eine ziemlich
schwache Konstruktion; denn es war eben doch keineswegs ausgemacht, daß das
physiokratische Prinzip, den· einzelnen seine Fähigkeiten und sein Eigentum nach
seinem Wohlgefallen zu seinem größtmöglichen Vorteil anwenden zu lassen, wirklich
zum Glück des Volkes ausschlagen und unter freudiger Empfindung über dieses
Glück den pünktlichsten Gehorsam zur Folge haben werde. Und überdies: war das
Prinzip der Autorität gerade im Zusammenhang der aufklärerischen Konzeption
einer prinzipiell autonomen Vernunft nicht im Grunde überhaupt überflüssig, ein
nur mehr traditioneller Begriffsballast~

48 KANT, Zum ewigen Frieden, 2. Abschn., 2. Zusatz. AA Bd. 8, 368 f.


49 Dt. Enc., Bd. 2, 609. 50 Ebd.

395
Autorität m. 7. 'Autorität' ala koJUel'vativer Sonderhegriff

6. Die Französische Revo]ution aJs exauctoritatio weltgeschichtlichen Ausmaßes

Der theoretischen Aushöhlung der Autorität durch die Aufklärung folgte mit der
Französischen Revolution eine praktische exauctoritatio von weltgeschichtlichem
Ausmaß. Es hing mit der Gewalt dieser Ereignisse, aber doch wohl auch mit dem
wenig eindeutigen und schillernden Autoritätsbegriff der Aufklärung zusammen,
daß die Revolution nun als Angriff auf die Autorität schlechthin empfunden wurde.
Nicht mehr nur die Autorität des einen oder anderen Herrschers, der einen oder
anderen Herrschaftsform, sondern das Prinzip der Autorität selbst geriet seit der
Französischen Revolution in den Streit der Ideologien.

7. 'Autorität' a1s konservativer Sonderbegriff im frühen 19. Jahrhundert

a) Erneute Politisierung. In Deutschland waren es vornehmlich die konservativen


Denker, Staatsmänner und Publizisten, die diese Auseinandersetzung vorantrieben.
Neben 'Legitimität' wurde' Autorität' zum Kern- und Leitbegriff der Konservativen,
und schon diese Parallelisierung war sehr aufschlußreich: sie ließ nicht nur er-
kennen, wessen Autorität hier verfochten wurde _;nämlich die Autorität der alten,
durch die Stürme der Revolutionszeit hindurch geretteten oder doch wieder her-
gestellten politischen Gewalten, vor allem also der deutschen Fürsten-; sie ließ
vielmehr zugleich den für das konservative Autoritätsverständnis konstituierenden
Gegensatz zur Revolution scharf hervortreten. Das aber bedeutete u. a., daß der
Begriff der Autorität hier aufs neue und intensiv politisiert wurde: der publizistische
Sprachgebrauch schon des beginnenden 19, Jahrhunderts bezeichnete die Beamten
und Behörden des fürstlichen Staats gern als konstituierte Autoritäten51 ; umgekehrt
verneinten die restaurativen Gewalten nicht selten jede eigenständige Autorität
von Schriftstellern und Gelehrten in politicis - so etwa in der „Erklärung der
Bundesversammlung vom 11. Dezember 1823 wegen allgemeiner bundesgesetzlicher
Prinzipien und staatsrechtlichen Theorien in Bundessachen, die ihnen verschiedent-
lich verliehene Autorität betreffend", wo zwar die Beschäftigung von Gelehrten
mit dem Studium des Bundesrechts durchaus gelobt wird; weil aber die Anwendung
der bestehenden Gesetzgebung und die fernere Ausbildung des Deutschen Bundes nur
allein durch uns und durch die Instruktionen unserer hohen Oommitenten bewirkt
werden kann, wäre es bedenklich und unverantwortlich, solchen Lehren in unserer
Mitte irgendeine auf d-ie Bundesbeschlüsse einwirkende Autorität zuzugestehen. Im
übrigen erwarte man von den Bundesregierungen, daß sie dafür sorgten, daß jene
Lehren von ihren Universitäten ferngehalten würden52.

61 CAMPE, Fremdwb., Bd. 1 (1801), 179; übereinstimmend die 2. Aufl. (1813), 138 . .Ähnlich
PIERER Bd. 2 (1824), 337 und noch HEYSE 13. Aufl., Bd. l (1865), 85.
5 2 Staats-Acten für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes, hg. v. PHIL.
ANTON Gumo v. MEYER, 2. Aufl. (Frankfurt 1833), 235 f. Vgl. da.zu den Einspruch der
Prager Zensur gegen eine Berufung auf die literarische Autorität Goethes und Schillers -
diese seien A ufQren wohl, aber nicht auch A ufQrifäten - bei TIM KLEIN', 1858. Der Vorkampf
deutscher Einheit und Freiheit (Ebenhausen, München, Leipzig 1914), 87.

396
a) Negierung des A.utorität1problem• Autorität

. b) Religiöse Fundamentienmg. Die derart im Dienst der restaurierten Fürsten-


macht politisierte und monopolisierte Autorität wurde zugleich - unter deutlichem
Einfluß der Romantik - religiös fundamentiert. In vollem und bewußtem Gegen-
satz zu den säkularisierten Staatsauffassungen der Aufklärung griff man jetzt auf
scholastische und protestantisch-orthodoxe Lehrei). zurück und suchte Autorität
wie Legitimität des Herrschers als unverletzbares Stück göttlicher Ordnung dar-
zutun: der Fürst sei als 1nhaher der Stootsgewaü ohne menschliches Zutun in ihrem
Besitz ... durch göttliche Fügung, welcher sich die Menschen in Ehrfurcht unter-
werfen sollen . . . Das göttliche Recht (Vollmacht) und die Legitimität sind danach
iierschied-ene, aber zusammengehörige Begriffe; jenes bed-eutet, daß die Autorität, kraft
der der König herrscht, diese, daß seine Throngelangung von Gott ist53• Es gebe zwar
eine Bindung des Monarchen an die Gesetze, doch könne diese Bindung nicht
erzwungen werden, denn es muß eine Autorität geben, über die hinaus keine andere
ist 54 • Nur diese im Gottesgnadentum des Herrschers begründete Autorität war
nach konservativer Auffassung geeignet, die Einheit und Ordnung des Staats
gegenüber den einander widerstreitenden Partikularinteressen zu sichern. Umge-
kehrt erschien jede Form gewaltenteilender Verfassung, wie sie die Liberalen
forderten, als eine Auflösung des Staats; denn sie vertilgt dasjenige, was den Staat
zum Staate macht: die höhere Autorität über d-en einzelnen und der Masse 65 •

8. 'Autorität' bei den Liberalen bis 1848

a) Negiemng des Autoritätsproblems bei den Frühliberalen. Es ist auf den ersten
Blick sehr merkwürdig, daß die liberalen Staatsdenker und Publizisten des frühen
19. Jahrhunderts gegenüber dieser konservativen Auffassung der Autorität als
uneingeschränkter und gerade deshalb staatsbegründender Autorität des aus
Gottes Gnaden regierenden Herrschers keinen eigenen Autoritätsbegriff entwickelt
haben. An sich hätte wohl schon Immanuel Kants Idee der Autorität des Gesetzes 56
zum Kern- und Ausgangspunkt einer eigenen liberalen Konzeption der Autorität
werden können. Das ist indessen faktisch bis zur Jahrhundertmitte und darüber
hinaus nicht geschehen; vielmehr haben die Liberalen aller Schattierungen Jahr-
zehnte hindurch das Autoritätsproblem überhaupt totzuschweigen gesucht. Be-
zeichnenderweise enthalten die beiden ersten Auflagen des RoTTECK/WELCKERschen
„Staatslexikons" (1834 bzw. 1845) nicht einmal das Stichwort „Autorität", und
wenn einer der Liberalen überhaupt einmal von Autorität sprach, dann in aus-
schließlich pejorativen Wendungen, wie z.B. WELCKER in seiner Schrift über die
Pressefreiheit: Und gäbe es etwa heute keine großen, unheifr~llen Vorurteile und Miß-
bräuche und keine Verletzungen der heilsamen Angriffe gegen sie, keinen blinden
Autoritätskram mehr? 57 • Unter den Gründen für diese Abstinenz .des älteren

53 FRIEDR. JULIUS STAHL, Die Philosophie des Rechts, 2. Aufl., Bd. 2 (Heidelberg 1847),
219f.
64 Ebd., 224.
u Ebd., 273.
58 S. Anm. 46.

57 CARL WELCKER, Die vollkommene und ganze Pr~ßfreiheit (Freiburg 1830), 19.

397
Autorität III. 8. 'Autorität' bei den Liberalen bis 1843

Liberalismus gegenüber dem Autoritätsproblem scheint eine wesentliche Rolle·


gespielt zu haben, daß auch die Liberalen - nicht anders als die Konservativen -
Autorität nur als Autorität der herkömmlichen politischen Gewalten zu begreifen
vermochten, womit ihnen von ihren politischen Voraussetzungen her in der Tat
nur die Bestreitung oder Negierung der Autorität überhaupt übrig blieb. Das aber
war eine nicht nur theoretisch, sondern auch in der praktischen Politik schwache
Position; denn, wie HEINRICH HEINE 1832 über die Deutschen spottete: Der
Glaube an Autoritäten ist noch nicht bei ihnen erloschen ... ; sie sind dem Royalismus
nicht entwachsen, die Ehrfurcht vor den Fürsten ist bei ihnen nicht gewaltsam ge-
stört ... , sie glauben an Autoritäten, an eine hohe Obrigkeit, an die Polizei, an die
Heilige Dreifaltigkeit, an die Hallische Literaturzeitung, an Löschpap?,er und Pack-
papier, aber am meisten an Pergament 68 •

b) Annäherung an den konservativen Autoritätshegrift' am Vorabend der


Revolution. So war es denn kein Wunder, daß, sobald einmal der Konstitutiona-
lismus in Deutschland sich einzuspielen begonnen hatte, auch weite Kreise des
Liberalismus sich dem konservativen Autoritätsgedanken zu nähern begannen.
Bei den Vertretern des „Jungen Deutschland" wurde diese Wendung schon seit
den dreißiger Jahren vorbereitet; derselbe Heine, der noch 1832 über die Autoritäts-
gläubigkeit der Deutschen gespottet hatte, schrieb 1837 von der Revolution als der
großen Despotin, die in Frankreich seit fünfzig Jahren ihre Herrschaft ausübe -
hier niederreißend, dort schonend, aber überall rüttelnd an den Fundamenten des
gesellschaftlichen Lebens ... ; dieser Umsturz aller Autoritäten, der geistigen sowohl
als der materiellen; dieses Stolpern über die letzten Trümmer derselben; und dieser
Blödsinn in ungeheuren Schicksalsstunden, wo die Notwendigkeit einer Autorität
fühlbar wird und wo der Zerstörer vor seinem eigenen Werke erschrickt, aus Angst zu
singen beginnt und endlich "laut auflacht ... Sehen Sie, das ist schrecklich 69 • Zu breiter
Wirkung kam diese Wendung im deutschen Liberalismus am Vorabend der
Revolution von 1848, seitdem nämlich der radikale Flügel der politischen Oppo-
sition des Vormärz immer offener die völlige Beseitigung der Fürstenherrschaft und
eine durchgreifende Demokratisierung von Staat und Gesellschaft forderte: ange-
sichts der ersten politischen Regungen des vierten Standes begann das liberale
Bürgertum, sich Init den herrschenden sozialen und politischen Gewalten zu
arrangieren. Zwar verzichtete der Liberalismus natürlich auch jetzt nicht auf seine
Forderung nach Freiheit und Verfassung; aber Freiheit und Autorität - die
Autorität des monarchischen Herrschers! - wurden jetzt nicht mehr als unver-
embare Gegensätze verstanden, sondern als einander bedingende und ergänzende
Prinzipien. In der Vorrede zur zweiten Auflage des RoTTECK/WELCKERschen
„Staatsle~ons" (1845) hat dieses neue Autoritätsverständnis des Liberalismus
bereits deutlichen Ausdruck gefunden: Wir werden uns wohl nicht bloß praktischer,
sondern auch liberaler nennen dürfen, als manche neuere sich überstürzende ultra-
liberale und Revolutionstheorien, als solche Politiker, welche durch ihre subjektive
Willkür den freien Gesamtwillen der Bürger und deren wahre Freiheit verletzen oder

58 HEINRICH HEINE, Französische Zustände, SW Bd. 5 (o. J.), 142.


59 Ders., Über die französische Bühne (1837), SW Bd. 4 (o. J.), 501 f.

398
m. 9. Autorität und Freiheit bei den Konservativen Autorität

mit der Verneinung alles Posit·iven, aller Autoritäten und Schranken auch die Grund-
lagen wahrer Freiheit, ja bereits sich untereinander und zuletzt sich selbst verneinen ...
Wir Liberalen glauben und wollen ehrlich, daß die moralische Macht und Autorität
des Königtums, das also, was sein edelstes Wesen, sein heilsamstes Wirken und seine
wichtigste Stütze ist, nicht bloß erhalten, sondern gekräftigt und vermehrt werden müsse,
während die verhetzten konservativen Maßregeln und Ratscldäge sie schwächen und
mindern60 •

9. Autorität und Freiheit im konservativen Verständnis um die Jahrhundertmitte

Während sich so der Liberalismus dem konservativen Autoritätsgedanken näherte,


bemühten sich umgekehrt auch konservative Denker um eine positive Bestimmung
des Verhältnisses von Autorität und Freiheit. Unter dem Einfluß der Romantik,
aber auch der traditionellen katholischen Soziallehre suchte FRANZ VON BAADER
zu zeigen, daß Autorität - und nun allerdings nicht nur die Autorität des Monar-
chen, sondern Autorität auf allen Stufen des staatlichen, gesellschaftlichen und
religiösen Lebens - wahre Freiheit nicht nur nicht ausschließe, sondern umgekehrt
gerade erst ermögliche: Und können wir den liberalen Scharlatan, welcher den
Menschen ohne Autorität und ohne Dienst und Gehorsam frei zu machen verspricht,
für etwas Besseres halten als für einen Wahnsinnigen oder Bösewicht, welcher dem
Verwundeten die Wegreißung seines Verbandes anrät, um seinem Blute freien Lauf
zu lassen? . . . Jenen, welche sich als die Freien wähnen, weil sie sich autoritätslos
wähnen (obschon sie weder das eine noch das andere sind), muß man das Konzept
damit verrii,cken, daß man ihnen zeigt, wie jede wahrhafte Autorität in der Gesellschaft
eben keinen anderen Zweck hat, als jeden Menschen in ihr frei zu machen, erst von
sich selber und hiermit von allen anderen Menschen, und daß folglich nur die Autori-
tätslosen wie die einer falschen und usurpierten Autor,ität Folgenden die Unfreien sind.
Diejenige Autorität ist darum ohne Zweifel die wahre, welche diese doppelte Befreiung
bewirkt61 •
War Baaders Freiheitsbegriff mehr religiös als politisch bestimmt, so suchte
ERNST LunwIG VON GERLACH, das einflußreiche Haupt der preußischen Konser-
vativen um die Jahrhundertlnitte, auch der Idee der politischen Freiheit ernsthaft
Rechnung zu tragen. Gewiß: Gerlach wäre kein Konservativer gewesen, hätte er
nicht die monarchische Autorität für eine Grundbedingung staatlicher Existenz
gehalten; gleichwohl erkannte er ohne Umschweife an, daß Menschenrechte, Freiheit
und Fortschritt ... wirklich wahre und große Ideen seien62 • Und wenn ihm, dem
überzeugten protestantischen Christen, die Revolution als gottlos und eben deshalb
als unfähig erschien, wahre Autorität zu begründen, so erklärte er umgekehrt doch
auch den Absolutismus, und zwar den Absolutismus des 17./18. Jahrhunderts
nicht anders als die neoabsolutistischen Tendenzen seiner eigenen Zeit, schlicht
für Abgötterei und Götzendienst, die - ebenso wie die Revolution - zur Autoritäts-

80 RoTTECK/WELCKER 2. Aufi., Bd. 1 (1845), XXVII ff.


81 FRANZ v. BA.ADER, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, hg. v. Johann Sa.uter (Jena.
1925), 380.
62 Zit. HANS JOACHIM ScHOEPS, Das andere Preußen (Stuttgart 1952), 54 ff., bes. 62.

399
Autorität m. 10. Kouservafrve Autoritätsideologie
losigkeit führen müßten 63 • Ganz besonders übel aber sei der Versuch, die Rechts-
brüche einer maß- und schrankenlosen Königsgewalt durch die scheinchristliche
Lehre von der alleinigen Rechenschaft der Könige vor Gott rechtfertigen zu wollen:
das Gottesgnadentum des Herrschers als Amtstitel, der uns lehrt, daß der König
nur von Gottes Gnaden, nur als Gottesknecht König ist, schließe vielmehr die Aner-
kennung der Rechte der Untertanen ein, ja: es sei geradezu die Quelle der Freiheit:
Unser, der Untertanen Recht, ist heilig wie sein - des Königs - Recht, und sein
Recht ist durch das unserige beschränkt6'. Das alles hieß gewiß nicht, daß Gerlach
und die Konservativen um ihn ein schwaches Königtum gewünscht hätten: gerade
in der schweren Krise von 1848 hat Gerlach unmißverständlich erklärt, daß ein
König, der nicht wirklich regiere, das überflüssigste Ding von der Welt sei, und
bezeichnenderweise hat er auch stets daran festgehalten, daß die preußische
.Armee, um preußisch und um Armee zu bleiben, das Brot des Königs von Preußen
essen müsse und nicht das Brot der Zweiten Kammer 811 • Gleichwohl bedeutete
Gerlachs Verständnis der Autorität als Autorität eines durch Recht und Freiheit
seiner Untertanen beschränkten Königs einen sehr bedeutsamen Versuch, von durch-
aus konservativen Grundlagen her der politischen Wirklichkeit des Konstitutiona-
lismus gerecht zu werden.

10. Konservative Autoritätsideologie im Dienste des gesellschaftlichen Status quo

Stimmten also Konservative und Liberale seit etwa der Mitte des Jahrhunderts im
wesentlichen darin überein, daß politische Freiheit und Autorität einander be-
dingten, nicht ausschlössen, so blieb doch die Frage, wie das Verhältnis dieser
beiden Prinzipien in der praktischen Politik aussehen sollte, ziemlich kontrovers.
Es war namentlich die Forderung des allgemeinen Wahlrechts und der parlamenta-
rischen Mehrheitsentscheidungen, die als „revolutionäres Kopfzahlprinzip" und
als „demokratische Majoritätsdespotie" immer von neuem den leidenschaftlichen
Widerspruch der Konservativen erregte. Und wiederum suchte man die konservative
Position mit Hilfe des Autoritätsbegriffs zu behaupten: Autorität, nicht Majorität-
das wurde nun nach einer Formulierung FRIEDRICH JuLIUs STAHLS zum polemi-
schen Schlagwort der Konservativen 88 •
Indessen trat gerade jetzt doch immer deutlicher hervor, daß es den Konservativen
im Kampf gegen das Majoritätsprinzip nicht nur und wohl nicht einmal mehr in
erster Linie um die Autorität des Königtums ging, sondern um die Bewahrung der
bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Eine der berühmten Invektiven Stahls
gegen den Liberalismus - es handelt sich um eine Erfurter Rede vom 12. 4. 1849 -
läßt diese Verquickung der Interessen deutlich erkennen: Wer hat die Bürgerwehr
als Garantie der Freiheit gegen den König gefordert ... , wer die absolute Trennung
von Staat, Kirche und Schule? Wer hat alle natürlichen Gliederungen und ihre ge-
gebenen Autoritäten aufzulösen gesucht, um nur das System der Wahl und der Zahl,
das System der Mehrheiten an deren Stelle zu setzen? ... Die Revolution ist nicht der

88 Ebd., 53 f.
H Ebd„ 37.
85 Ebd., 38.
88 STAHL, Philosophie des Rechts, 3. Aufl„ Bd. 3 (1854), 176.

400
m. 11. Liberale Kritik Autorität

Akt der Empörung, sondern der Zustand der Umwälzung; sie ist der Zuatand, daß
dasjenige, was nach ewiger Ordnung zuunterst stehen müßte, zuoberst zu stehen
kommt und umgekehrt ... Das ist das System der Umwälzung, daß nicht die Gliederung
der Gesellschaft als Grundrecht der Nation gilt, sondern ihre Entgliederung
bis hin zum absurdesten und gemeinsten Systeme des Sozialismus 67 •

11. Liberale Kritik an der konservativen Autoritätsideologie

Die Stahlsehe Konzeption war zu einflußreich, als daß man es von liberaler Seite
hätte unterlassen dürfen, die Fragwürdigkeit dieser Autoritätsvorstellung klarzu-
legen. Eine der glänzendsten Analysen dieser Art lieferte AUGUST LUDWIG VON
RocHAu in der 3. Auflage des Rotteck/Welckerschen „Staatslexikons" (1858)68.
Rochaus Hinweis auf die gesellschaftliche Motivation der konservativen Polemik
gegen das Majoritätsprinzip - namentlich i~ Preußen, wo die Regierung, da.<1
Junkertum und die Orthodoxie darüber einig sind, daß die Autorität das ·Heilmittel
enthält, ohne welches die kranke Zeit nimmer genesen wird - ; die Kritik
am Widerspruch einer mit hohen moralischen und religiösen Ansprüchen
verbrämten Autoritätstheorie zur Praxis eines wenig bedenklichen Polizeizwangs
im Dienste handfester wirtschaftlicher und Machtinteressen der Konservativen;
die Sprengung der herkömmlichen Bindung der Autorität an Person und
Institution des Fürsten - kann nicht vielmehr die Majorität selbst zur
Autorität werden ... ? ; die kritische Frage schließlich nach dem von den Kon-
servativen kaum bedachten Verhältnis der staatlichen Autorität zur Autorität
der Kirche : alles dies waren Beobachtungen und Einsichten, die an sich wohl
geeignet sein mochten, die Stahlsehe Autoritätsideologie zu zersetzen. Daß Roohau
gleichwohl nur wenig Resonanz gefunden hat, dürfte vor allem darin begründet
liegen, daß auch er-nicht anders als die Liberalen des Vormärz-keinen eigenen,
positiven Autoritätsbegriff zu entwickeln vermochte. Allenfalls konnte ja seine
Idee einer Autorität der Majorität als Ansatz zu einer solchen neuen und eigenen
Konzeption verstanden werden; indessen schienen hier demokratische Tendenzen
unvermeidlich, die zu ziehen das liberale Bürgertum schon längst nicht mehr
bereit war. Für dieses Bürgertum in stärkerem Maße repräsentativ als Rochau
war vielmehr der von AUGUST WILHELM HEFFTER verfaßte Artikel 'Autorität' in
Bluntschlis „Deutschem Staatswörterbuch" (1857). Hier wurde zwar einerseits
betont, daß es auch in einer Republik eine höchste Autorität geben könne und
müsse, die eben in dem all,gemeinen Willen zu finden sei; praktisch aber werde diese
Autorität doch durch künstliche Majoritäten von willkürlichen oder zufälligen
Massen repräsentiert, so daß die Frage, ob Autorität oder Majorität letzten Endes
mit dem Streit zwischen Fürstentum und Republik doch identisch sei. Nach diesem
Zugeständnis an die Stahlsehe Autoritätsideologie unternahm es He:ffter jedoch -
übrigens mit ausdrücklicher Zustimmung Bluntschlis -, den prinzipiellen Gegen-
satz von Autorität und Majorität zu einem fruchtbaren und spannungsvollen
Miteinander im Sinne des Konstitutionalismus umzuformen. Es sei nämlich die
Frage, meinte He:ffter, ob nicht die fürstliche Gewalt und Autorität solche Einrich-
87 Ders., Siebzehn parlamentarische Reden und drei Vorträge (Berlin 1862), 161 f.
88 RocHAu, Art. Autorität, RoTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 2 (1858), 90 ff.

26-90385/1 401
Autorit.11.t m. 13, Der Kulturkampf
tungen zu treUen oder zuzulassen habe, welche, ihrer natürlichen und siUlichen Basis
entsprechend, ihren Anordnungen eine freie und willige Anerkennung verschaffen ...
Bei Einrichtungen der vorbemerkten Art wird dann von selbst dem natürlichen Gewicht
der Majoritäten, welche sich von ausgewählten Organen der Landesgemeinde gewinnen
lassen, als einer Autorität Rechnung zu tragen sein ... ; ihre Zustimmung wird die
Überzeugung der obrigkeitlichen Autorität befestigen und klären, ihr Widerspruch
mindestens Zweifel erzeugen an der Richtigkeit beabsichtigter Anordnungen und
fernere Beschlußnahmen motivieren, indem vorläufig dahingestellt bleibt, ob nicht die
Minorität mit der Obrigkeit die sanior pars sei. In dieser Weise ergibt sich ein natur-
gemäßes Verhältnis zwischen Autorität und Majorität 69 •

12. Abflauender Streit im Bismarckreich

Oberhaupt flachte die Auseinander!!etzung zwischen Konservativen und Liberalen


um den Autoritätsbegriff in den folgenden Jahrzehnten merklich ab: Die Gemein-
samkeit der nationalen Interessen, die fortschreitende Integrierung des liberalen
Bürgertums in die Gesellschaft des zweiten Reichs, dazu die von Konservativen
wie Liberalen im wesentlichen akzeptierte praktische Autorität der Bismarckschen
Staatsführung und schließlich der gemeinsame Gegensatz zu Sozialismus und
Demokratie wirkten zusammen, um die alten Frontstellungen aufzuweichen. Daß
Autorität nach wie vor ganz überwiegend als Autorität des Monarchen verstanden
wurde, macht zugleich sehr deutlich, daß es im Kern doch die konservative Auf-
fassung war, die sich auch im Bismarckreich durchgesetzt hatte 70• Immerhin hat
selbst der späte BISMARCK gelegentlich eine positive Bestimmung des Verhältnisses
von Autorität und Majorität gesucht, und zwar .im wti1:11mtlichen auf der Linie
Bluntschlis, so z. B. in einer Ansprache vom 30. 7. 1892 : Vielleicht habe ich selbst
unbewußt dazu beigetragen, den Einfluß des Parlament.! auf sein jetziges Niveau
herunterzudrücken, aber ich wünsche nicht, daß er auf die Dauer auf demselben
bleibt. Ich möchte dazu beitragen, daß das Parlament wieder zu einer konstanten
Majorität gelangt, ohne die es die Autorität nicht haben wird, die es braucht 71 •

13~ Der Kulturkampf

Die Gültigkeit jener konservativen Konzeption wurde freilich schon durch den
Kulturkampf in Frage gestellt: die von Rochau gerügte Unklarheit des Verhält-
nisses von staatlichel' und kirchlicher Autorität wurde hier zum scharfen Gegen-
satz. An sich stand das katholische Verständnis der Autorität, wie es etwa KETTELER
noch in den sechziger Jahren des Jahrhunderts formuliert hatte, dem preußisch-
konservativen Denken - namentlich dem Autoritätsbegriff Gerlachs - sehr nahe:
Autorität und Freiheit wurden hier als gesunde, einander bedingende und er-

19 HEFlrTER, Art. Autorität; BLUNTSCHLI/BRA.TER Bd. 1 (1857), 613 ff. Vgl. auch JoH.
CA.Sl'AB BLUNTSOHLI, Deutsche Staatslehre für Gebildete (Nördlingen 1874), 88. 153. 167 ff.
10 Daß sich im Deutschland des späteren 19. Jahrhunderts die Kantsche Idee der Autorität
des Gesetzes in größerem Umfange durchgesetzt ha.be, wie EscHENBURG, Über Autorität,
133 ff. annimmt, läßt sich dagegen aus den Quellen kau:m belegen.
11 BISMARCK, FA Bd. 13 (1930), 470.

402
III. 14. Die •ozia1Uti1ehe Konzeption: F.ngr.IA Autoritllt

gänzende Prinzipien aufgefaßt, Absolutismus und Revolution jedoch als deren


Mißbrauch und Entl).rtung; selbst die Lehrautorität der Kirche wurde von Ketteler
sehr zurückhaltend interpretiert 72 • Die Formulierung des Infallibilitätsdogmas
durch das erste Vaticanum und die Gründung des Zentrums, dazu anderseits
Bismarcks Mißtrauen gegenüber allen dem Staat nicht unterworfenen Autoritäten
ließen indessen den latenten Gegensatz immer deutlicher hervortreten. Gerade vom
Autoritätsproblem her wird verständlich, daß der Bismarck der siebziger Jahre
den Kampf gegen das Zentrum als Parallele des Kampfs gegen den Sozialismus
verstand: Das Zentrum steigert die vom Kommunismus der Gesellschaft drohenden
Gefahren. Es fördert die subversiven, aller Autorität feindlichen Tendenzen 73 • Aber
auch die Kirche berief sich, und gerade auf dem Höhepunkt des Streits, auf das
Prinzip der Autorität. In dem berühmten Rundschreiben an den preußischen
Episkopat vom 5. Februar 1875, durch das Pius IX. die preußische Kulturkampf-
gesetzgebung für ungültig erklärte, begründete der Papst diesen äußersten Schritt
ausdrücklich damit, daß Wir für die durch goUlose Gewalt niedergedrückte kirchliche
Freiheit mit aller Entschiedenheit und mit der Autorität des göUlichen Rechts auf-
treten74. Autorität stand hier gegen Autorität, und das Problem der Autorität
selbst war - vielleicht der tiefste - Gegenstand des Streits. Der Ausgang des
Kulturkampfs ist bekannt: ohne daß die grundsätzlichen ideologischen Fronten
sich wesentlich verschoben hätten, bedeutete die Niederlage Bismarcks eine kräftige
Neubelebung und Steigerung der kirchlichen Autorität auf Kosten der staatlich-
monarchischen; die konservative Konzeption, die den latenten Gegensatz beider
Autoritäten nicht hatte wahrhaben wollen, verlor erheblich an Glaubwürdigkeit
und Resonanz.

14. Die sozialistische Konzeption der Autorität: Friedrich Engels

Dazu kam, daß - gerade in den ersten Jahren des Bismarckreichs - von sozia-
listischer Seite ein neuer und ganz eigenständiger Autoritätsbegriff entwickelt
wurde. Die Interessensolidarität zwischen Adel und Besitzbürgertum, di.e zur all-
mählichen Angleichung ihrer Autoritätsvorstellungen geführt hatte, war ja von
Anfang an eine Solidarität auf Kosten des vierten Standes gewesen. Kein Wunder

72 WILH. EMMANUEL FRH. v. KETTELER, Freiheit, Autorität und Kirche. Erörterungen

über die großen Probleme der-Oegenwart, 2. Aufl. (Mainz 1862), 31 ff. über die zwei Grund-
richtungen im Staate,· so etwa 32 f. 251: Wir wollen deshalb nunmehr beüie Richtungen im
Staate '!WCh ihrem innern Rechte betrachten und zugleich ihre Ausartung ins Auge faMen,
wenn &ich ihrer der Egoiamus bemächtigt. Wir werden dadurch den wahren Sinn für die Worte:
Freiheit und Revolution auf der einen Seite, wahre Autorität und Absolutiamus auf der andern
Seite finden ..• Autorität ohne Freiheit zerstört dadurch die Menschenw-ürde, daß aie die Jn.
divi,dualität vernichtet; Freiheit ohne Autorität zeraüirt die Menschenwürde, indem- aie des
Menschen Zusammenhang mit GoU und den Mitmenschen zerreißt, woraus allein aie ihre
Nahrung und Bedeutung achöpft. Vgl. auch ebd., 172 ff.
73 So am 30.Juni 1871 an Gra.fTauffkircheninRom; BISJIURCK, FABd. 6c (1935), 9. Nr. 9.

71 Pros IX., Enzyklika. „Quod nunquam" (5. 2. 1875), zit. MmBT, Quellen (s. Anm. 15),
4. Aufl. (Tübingen 1924), 471 ff. Nr. 613,' deutscher Text bei KARL BAOHEM, Vorgeschichte,
Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, Bd. 3 (Köln 1927), 300.

403
Autorität m. 14. Die so:r.ialiatUche 1'oozeptiona Engr.li.
also, daß dieser vierte Stand die herrschenden Autoritätsvorstellungen - seien
sie nun mehr konservativ, liberal oder gar kirchlich gefärbt - nicht als die seinen
akzeptieren konnte.
Den unmittelbaren Anstoß zur Diskussion des Autoritätsproblems bei den Sozia-
listen gab BAKUNINS Polemik gegen den beherrschenden Einfluß von Marx und
Engels in der Ersten Internationale. Nach Bakunins Vorstellungen sollte es nach
der Abschaffung des Staats in der zukünftigen, d. h. kommunistischen Gesellschaft
gar keiner Autorität mehr bedürfen, und da weiter die Internationale selbst bei
der sozialen Liquidation unmittelbar an die Stelle der alten Staatsorganisation
treten sollte, mußte sie schon jetzt dem Ideal der zukünftigen Gesellschaft mög-
lichst nahe kommen, d. h.: auf den Einsatz von Autorität verzichten. Die politische
Organisation und Praxis der Internationale erschien Bakunin von diesen Voraus-
setzungen her als völlig verfehlt; er kritisierte sie als diktatorisch, als hierarchisch
und - unter Aufnahme einer im Frankreich Napoleons III. geprägten Nuance
des Autoritätsbegriffs - als 'autoritär'75 • ·
Gegen diese Auffassung nun nahm FRIEDRICH ENGELS seit Anfang 1872 mehrfach
in scharfer Form Stellung und bestimmte damit für Jahrzehnte das Autoritäts-
verständnis des deutschen Sozialismus 76. Die Grundlage der Argumentation
Engels' war die nüchterne Einsicht, daß Autorität, definiert als Überordnung eines
fremden Willens über den eigenen, unter den modernen Produktionsbedingungen
völlig unentbehrlich sei: Die Wirtschaft verlange - sogar in steigendem Maße -

1& LrrTR:E t. 1 (1956), 742 bezeichnet das Wort 'autoritaire' als Neologismus und nennt als
friihest.en Beleg dn.s „Journal de11 debata" vom 15. Oktobor 1865, wo do.a Wort übrigt:m!
ganz wertneutral gebraucht ist. Die Eindeutschung erfolgte dann anscheinend durch En-
gels; weder bei ihm rioch bei den anderen deutschen Autoren bis in die Zeit des Ersten
Weltkriegs hatte das neue Wort einen gegenüber den alten Begriffen 'Autorität', 'auto-
ritativ' usw. klar abgrenzbaren - und schon gar nicht abwertenden - Sinngehalt. MAT-
TBIAS ERZBERGER erwartete noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs, daß die künftige
Trennungslinie im politischen Leben zwischen den Anhängern liberaler und autoritärer
Prinzipien verlaufen werde, wobei die A:utmitätaparteien durch die Respektierung von
Naturrecht und göttlichem Recht gekennzeichnet sein würden; zit. Kr.Aus EPSTEIN, Mat-
thias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie (dt. Berlin, Frankfurt 1962),
111 ff. Weitere instruktive Beispiele bei KURT WoLZENDORFll', Der Polizeigedanke des
modernen Staats (Breslau Hll8}, 120 ff.
7 e Der autoritäre Zug in der Leitung der Arbeiterbewegung selbst vermochte sich dagegen

nicht durchweg zu behaupten, wie etwa der Vergleich zwischen der Ersten und der sog.
„Neuen" Internationalen zeigt; vgl. ROBERT M:rcHELS, Zur Soziologie des Parteiwesens in
der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Grup-
penlebens, 2.Ndr. d. 2. Aufl., hg. v. Werner Conze (1925; Stuttgart 1970), 170f.,anderer-
seits aber ebd., 2' 3. 215. - Daß in Lassalles „Allgemeinem Deutschen Arbeiterverein''
ganz ähnliche Probleme angelegt waren, zeigt Michels ebd., 167 f: Wenn Lassalle theore-
tisch in Anspruch nahm: Die •.• Gegensiitze, die unsere StfJatamänner bisher für unvereinbar
betrachteten, deren Vereinigung sie für den Stein der Weisen hielten, Freiheit und Autmität-,
die höchaten Gegensiitze, Bie aind auf d.aB innigBte vereinigt in unserem Vereine, welcher Bo nur
d.aB Vorbi"ld im kleinen unserer niichaten GeaeUachaftaform im großen darateUt/ (zit. ebd., 168),
so war die Praxis seiner Leitung des Arbeitervereins doch kaum weniger autoritär als die des
Generalrats der Ersten Internationalen durch :Marx.

404
IV. Schluß Auto~hit

die· kombinierte TatigkeiJ, von Individuen Wer aber kombinierte Tatigkeit sagt,
sagt Organisation; ist nun Organisation ohne Autorität möglich? 11 Das gelte auch
für die Internationale, die ohne Autorität, freilich als Autorität der Majorität über
die Minorität, gar nicht existieren könne. Es sei daher absurd, vom Prinzip der
Autorität als einem absolut schlechten und vom Prinzip der Autonomie als einem
absolut guten Prinzip zu reden; in Wahrheit seien Autorität und Autonomie
relative Dinge, deren Anwendungsbereiche in den verschiedenen Phasen der sozialen
Entwicklung variieren 18• Diese grundsätzlich positive Wertung der Autorität schloß
für Engels allerdings nicht etwa auch die Anerkennung des Staats, der politischen
Autorität ein; diese politische Autorität müsse und werde vielmehr im Gefolge
der nächsten sozialen Revolution verschwinden. Wiederum aber sei es eine Illusion
der Bakunisten, die soziale Revolution mit der Abschaffung der Autorität beginnen,
d. h. den autoritären politischen Staat abschaffen zu wollen, bevor noch die
sozialen Bedingungen seiner Existenz vernichtet seien. Hätte etwa, fragte Rngels
rhetorisch, die Pariser Kommune auch nur einen einzigen Tag Bestand gehabt,
wenn sie sich gegenüber den Bourgeois nicht der Autorität des bewaffneten Volkes
bedient hätte F 9 Ich kenne nichts Autoritäreres als eine Revolution, und wenn man
den andern seinen Willen mit. Bomben und Gewehrkugeln aufzwi,ngt wie in jeder
Revolution, so schei,nt mir, daß hier allerdings Autorität ist! Nach dem Siege mag man
mit der Autorität machen, wozu man Lust hat80• Wenn Engels derart in der Revolu-
tion die Inkarnation der Autorität sah und diese revolutionäre Autorität zugleich
mit Entschiedenheit auf pure Gewalt reduzierte, so entfernte er sich damit offenbar
weit. von der traditionellen Begrifflichkeit von 'Autorität'. Aber auch die kon-
servative Autoritätsideologie hatte doch schon längst den Mangel an freiwilliger
Anerkennung der Autorität durch Zwang und Gewalt ersetzen wollon. So bedeutet
Engels' Position nichts anderes als die Vollendung der Ideologisierung des Autori-
tätsbegriffs unter den Bedingungen der Theorie des Klassenkampfs.

IV. Schluß

Die Angleichung konservativer und liberaler Vorstellungen als Ausdruck zu-


nehmender Interessensolidarität zwischen Adel und Besitzbürgertum, dazu die
Eigenständigkeit einer kirchlichen, auch im politischen und sozialen Leben außer-
ordentlich wirksamen Autorität; schließlich eine für breite Schichten der Arbeiter-
schaft repräsentative sozialistische Konzeption, der die Revolution als Inkarnation
der Autorität erschien: das waren die wichtigsten Elemente in der Entwicklung
des Autoritätsbegriffs im späten 19. Jahrhundert - zusammengenommen gewiß
ein Zeichen tiefgehender Krisen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens.

7 7 ENGELS, Von der Autorität (1872/73), MEW Bd. 18 (1962), 305 f.


78 Ebd., 307.
79 Ebd., 308.
80 Ders., Brief an Terzaghi v. 14. 1. 1872, MEW Bd. 33 (1966), 371 ff., bes. 372. Vgl. auch
seinen aufschlußreichen Brief an Cuno vom 24. 1. 1872, ebd., 387 ff., bes. 389.

405
Autoritit IV. Schluß

Literatur

Ansätze zu einer umfassenden Begriffsgeschichte bei THEODOR EscHENBURG, 'Ober Autori-


tät (Frankfurt 1965); dadurch überholt FRA.Nz v. TESSEN·WESIERSKY, Der. Autoritäts-
begriff in den Hauptphasen seiner historischen Entwicklting (Paderborn 1907)• Zur älteren
Entwicklung bis zum Mittelalter JESUS FUEYO, Die Idee der „auctoritas": Genesis und
Entwicklung, in: Epirrhosis, Fschr. Carl Schmitt, hg. v. HANs BARION u. a„ Bd. 1 (Berlin
1968), 213 ff.; RICHARD HEINZE, Auctoritas (1925), in: ders., Vom Geist des Römertums,
Ausg. Aufs., hg. v. Erich Burck, 3. Aufl.. (Stuttgart 1960), 43 ff.; ULRICH GMELIN, Aucto-
ritas. Römischer Princeps und päpstlicher Primat, in : Geistige Grundlagen römischer
Kirchenpolitik, Gedächtnisschr. ERICH CASPAB, Forsch. z. Kirchen- u. Geistesgesch.,
Bd. 11 (Stuttgart 1937), 45 ff.; KARL-HEINRICH LÜTc:KE, „Auctoritas" bei Augustin. Mit
einer Einleitung zur römischen Vorgeschichte des Begriffs (Stuttgart, Berlin 1968); Wn.-
HELM ENSSLIN, Auctoritas und Potostos. Zur Zweigewaltenlehre des Papstes Gelasius 1.,
Hist. Jb. 74 (1955), 661 ff.; FRANZ FALLER, Die rechtsphilosophiscbe Begründung der ge-
sellschaftlichen und staatlichen Autorität bei Thomas von Aquin (Heidelberg 1954).
Zur neueren Begriffsentwicklung wichtige Beobachtungen bei MAX WEBER, Wirtschaft und
Gesellschaft, hg. v. Johannes Winckelmann (Tübingen 1956); Studien über Autorität und
Familie, hg. v. MAX HoRKHEIMER (Paris 1936); PETER HEINTz, Die AutoritätRpmhlAm11.-
tik bei Proudhon (Köln 1956); THEODOR AnoRNO u. a., The Authoritarian Personality.
Studiee in Projudioo (Now York 1050); THO:MA8 IilLLWEm, AuLol'iLäL WlU Freiheit, Inter-
nationales Jb. d. Politik 1 (1954), 2 ff.; HANNAH ARENDT, Was ist Autorität?, in: dies.,
.ll'ragwürdige Tatbestände im politischen Denken der Gegenwart (Frankfurt o. J.), 117 ff,;
CARL J. FRIEDRICH, Authority, Reason and Discretion, Nomos 1 (1958), 28 ff.; ders.,
Politische Autorität und Demokratie, Zs. f. Politik NF 7 (1960), 1 ff.; GERIIARD MöBus,
Autorität und Disziplin in der Demokratie (Köln, Opladen 1959); HERBERT MABcusE,
Studie über Autorität und Familie, in: ders„ Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesell-
schaft (Frankfurt 1969), 55 if.

HOBST RABE

406
Bauer
Bauernstand, Bauerntum

I. Einleitung. 11.1. Der Begriff bis zum Beginn der modernen Wandlung im 17./18. Jahr-
hundert: die Vorstellung vom adlig-bäuerlichen Land.leben. 2. Christliche Tradition.
3. „Göttliches Recht" und Bauernkrieg. 4. Untertänige Stellung des Bauern bis zum 18.
Jahrhundert. III. 1. Kameralismus und aufgeklärter Absolutismus. 2. Aufklärung und
Emanzipation. 3. Der Rückgriff in die Geschichte: Möser. 4. Der revolutionäre Bauern-
begriff. 5. Das Verhältnis des Bauern zu Staat und Nation bei Stein und Arndt. 6. Die
rationelle Landwirtschaft Thaers. 7. Die Restauration beiAdam Müller. 8. Der Begriff 'Bauer'
im Spannungsfeld von Progression und Beharrung: Hegel, List. 9. Liberaler Historismus:
Welcker. 10. Der Begriff im Sozialismus: Marx und Engels. 11. Neue Bestimmung des
Bcgriffo ('Stand' im lndwitriesystem): R.i11hl. 12. Der Bauer in Abwehr und Selbsthilfe:
Genossenscho.ften und Vereine. 13. Der Bauer alR „ßlutquell" der Nation. IV. Ausblick.

1.. Einleitung
Etymologisch mit vorgerm. *bhü-ro-, ahd. bür, „Haus, Behausung", zusammen-
hängend, ist 'Bauer', ahd. gibüro, mh<l. gP.hürc, ursprünglich der Miteinwohne.r des
bür, der Dorfgenosse, der im Hochmittelalter deutlich vom Adligen und.vom Stadt-
bürger unterschieden wird. 'Bauer' ist seitdem als derjenige zu verstehen, der auf
einem Gehöft seßhaft ist und das ihm verfügbare Land für Ackerbau und Viehzucht
selbst arbeitend zu seinem Lebensunterhalt nutzt. Historisch entspricht das der
Seins- und Wirtschaftsweise des Hof- oder Pfiugbauerntums (im Gegensatz zum
Pfianzertum)l ..
Als Bezeichnung ist 'Bauer' weit umfassend gewesen. Vor den Städtegründungen
im deut8ch1m T.ebensbereich (11.-13. Jahrhundert) waren im wesentlichen nur Adel
einerseits, dienendes, besitzloses Gesinde andererseits sozial und damit politisch
vom Bauer unterschieden. Nach dem Aufkommen der Staut traL clie Unterscheidung
zum Stadtbürger als „Landmann" (rusticus) hinzu. Doch blieb bis um 1800 die
große Mehrheit des Volks (je nach landschaftlicher Eigenart 7~90 %) bäuerlich.
'Bauer' wurde im Hochmittelalter zum Standesbegriff im Gegensatz zu 'Adel' und
'Bürger', aber auch zu einem Ober- und Allgemeinbegriff, der eine Fülle von wirt-
schaftlich und rechtlich bestimmten Einzelbezeichnungen zuließ und erforderte,
damit Freiheit oder Unfreiheit verschiedener Abstufung, Eigentums-, Besitz- und
Nutzungsrechte sowie Betriebsgrößen und Rechtsstellung im Dorf fixiert werden
konnten: z. B. Grundholde, Höriger, Leibeigener, Eigenbehöriger, Meier, Erb-
zinser, Huber, Hübner, Anspänner, Kolon, Kötter, Kossäte u. a.
Hier geht es allein um die Geschichte des Standes- und Gesellschaftsbegriffs 'Bauer',
um seinen Bezug zum sozialen Gefüge und zum sozialen Spannungsfeld im ge-

1 Anstelle aller weiteren, hier nicht angeführten Literatur zur Geschichte der deutschen

Agrarverfäl!llung uud de11 Dauernstandes sei lediglich verwiesen auf liiuEDlUCH J,fumr.,
Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert
(Stuttgart 1963). Das Buch von GÜNTHER FRANz, Geschichte des deutschen Bauernsta.ndes
vom frühen Mittelalter bis zum 19.Jahrhundert (Stuttgart 1970), konnte nicht mehr berück·
sichtigt werden.

407

Bauer D. 1. Adlig bäuerliches Landlehen
0

schichLliche11 Wandel. Dabei ist zu beachten, daß bis zum 18. Jahrhundert der
Begriff von den oberen Ständen oder von Literaten bestimmt wurde, denn die
Bauern blieben fast gänzlich illiterat. Das änderte sich erst im Laufe des 19. Jahr-
hunderts, als der Bauer „emanzipiert" worden war und unter gewandelten Leb,ens-
bedingungen betonter und bewußter, als es in Jahrhunderten vorher gelegentlich
schon hatte der Fall sein können, zur Selbstäußerung veranlaßt wurde.

II.

1. Der Begrift' bis zum Beginn der modemen Wandlung im 17./18. Jahrhundert:
die Vorstellung vom adlig-bäuerlichen Landleben
So verschieden die Rechtsstellung und der Wohlstand des Bauern in deil deutschen
Ländern, Herrschaften und Dörfern vom hohen Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert
war, so bleibt doch für diese Zeit grundlcgcnd, daß der Bauer fast überall ,.,U11Ler-
tan" der adeligen Leib-, Grund- und Gerichtsherrschaft gewesen ist 2 und sich dem
Bürger gegenüber in einer schlechteren Rechtsstellung sowie in geringerer Freiheit
und sozialer AchLU11g Lefawl. Doch ist das adlig-bli.uerliche Verhältnis im Mittelalter,
und abgeschwächt auch noch bis zum 18. Jahrhundert, nicht im Ainni'\ einseitip;er
oder gar rechtloser Abhängigkeit, sondern als Treue- und Gegenseitigkeitsbeziehung
VOD Schutz und Dienst („Schutz und Schirm" - „Rat und Ililfc") zu veniLehe11.
Die bäuerliche Ehre lag darin, solche Stellung unter Wahrung der überkommenen
Rechte gegen die Tendenzen wachsender Herrenwi~lkür zu halten. Wir sullen
den kerren darumbe dienen, daz sie uns beschirmen. Beschirmen si uns nit, so sind
wir in nit dienstes sckul<lig nach reckte (Schwabenspiegel, 1275, Kap. 308).
Die Lebensweise des Bauern blieb bis zum 18. Jahrhundert in ihren Grundlagen
und ihrer Verfassung gleichartig3, wenn auch nicht unverändert. Bei gleichbleiben-
den, dauerhaften Grundstrukturen war das Jahrtausend alteuropäischer Geschichte
von der fränkischen Großreichsgründung bis zum aufgeklärten Absolutismus schon
von starken Bewegungen erfüllt, die die scheinbar unwandelbare Seinsweise des
Bauern und die altüberlieferten Vorstellungen, ihn zu begreifen, modifizierten oder
zeitweise sogar in Frage stellen konnten.
Aus der antiken Philosophie und Dichtung einerseits, dem Alten und Neuen
Testament andererseits wurden die Bilder und Begriffe übernommen, die außer-
ordentlich langlebig immer aufs neue vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert
hinein tradiert wurden. Adliger Auffassung entsprach die antike, direkt oder in-
direkt von ARISTOTELES übernommene Scheidung in Herrschende und Dienende,
a Nur unter den besonderen Bedingungen der Landschaften an der Nordsee und den
Alpentalgemeinden Tirols und der Schweizer Eidgenossenachaa hat sich freies Bauerntum
behauptet und blieb der Adel schwach oder fehlte überhaupt. Dort waren die Bauern nicht
„Untertanen", sondern selbst „Herren". Einen materialreichen Überblick über die soziale
und rechtliche Vielfalt der deutschen Bauern gibt CABL JosEl'H MrrrERMAIER bei ERBCH/
ClR.TTRlll& 1. Sect.; Bd. 8 (1822), 159 :ff. 168 :ff. in den Arti. Bauer (historisch) w1d Daut:r
(rechtlich) vom Zeiterlebnis der zu Ende gehenden alten Zustände aus.
0 Vgl. OTTO BRUNNER, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk
Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688 (Salzburg 1949); ders., Europäisches Bauern-
tum, in: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. (Göttingen 1968), 199 :ff.

408

D. 2. Christliche Tradition Bauer

Vornehme und Handarbeitende. Bei Aristoteles hatten sich bürgerlicher Stand und
Handarbeit ausgeschlossen; die Bürger der Polis hatten Landbesitz; das Land zu
bearbeiten aber oblag Sklaven, Fremden oder freien Bauern ohne Bürgerrecht
(yeweyov~ !500.l.ov~ 17 ßaeßdeov~ [17] neeiol"ov~; Politeia 1329 a ).
Diese politische Aussperrung und soziale Mißachtung des Bauern wurde literarisch
bis ins 18. Jahrhundert tradiert, weil die herrschaftliche Ordnung weithin auf
Untertänigkeit und Dienst des Bauern beruhte. Dem stand aber die aus der Wertung
altrömischer Verfassung stammende, in der lateinischen Agrarliteratur und Dich-
tung, besonders durch Vergils „Georgica", festgehaltene Hochschätzung des Land-
baus und des Bauern entgegen, so daß durch das Mittelalter hindurch die literarische
Tradition einer den Bauern ehrenden Topologie (bis bin zur bukolischen Schwärme-
rei) erhalten blieb: der Bauer sei einfach, unschuldig, naturnah, gesund, nicht ver-
rlArht. Tn Rolr.hAm T,ohprAiR rlAR Ra.11Arn 111.g rlAr hAt.ont.P. GAgAnRatz :zur vorhArrRr.hAn-
den Sioht vom rohen, tölpelhaften, dummen, schmutzigen, schwitzigen „gemeinen"
oder „armen" Mann, wobei 'arm' (1at. pauper) nicht wirtschaftlich zu verstehen ist,
sondern die Rechtsstellung der Hörigkeit und damit eine ständische Geringschät-
zung wiedergibt 4 •

2. Christliche Tradition
Die christliche Tradition bekräftigte beides: sowohl die dienende Stellung des
Bauern in der sozialen Ordnung als auch die Hochachtung des Nährstandes. Be-
zeichnend für die Einstufung des Bauern war die besonders im frühen Mittelalter
allgemein übliche, später nicht mehr durchweg gebrauchte, aber nie ganz aufge-
gebene lateinische Bezeichnung 'servus'. Der Bauer tat das gering geschätzte opus
servile im Schutze und unterhalb der potentes 5 • Vom späteren Mittelalter an wurde
wohl zwischen „hörigen" Bauern und servi unterschieden, wenngleich ein unwissen-
schaftlich emotionaler Gebrauch von „Sklave" für den gedrückten Bauern stets
möglich blieb und im 18. Jahrhundert geradezu Mode wurde. Die ständische Ein-
stufung des Bauern erschien in der Scholastik fest und unwandelbar. Die aus der
Antike tradierte Dreiheit von Wehr-, Lehr- und Nährstand wurde volkstümlich,
fand sich demgemäß vielfach auch in der Dichtung, z. B.: Got hat driu leben ge-
schaffen, gebure, ritter und pfaffenoa.
Tragend und leidend zugleich wird der Bauernstand in Bildern begriffen: Fuß-
boden des Kirchengebäudes, Füße des natürlichen Körpers oder Wurzel des

4 Zu den Variationen und Stereotypen des Lobpreises und der Mißachtung des Bauern in

der Literatur finden sich zahlreiche Belege bei Rn.DE HüGLI, Der deutsche Bauer im
Mittelalter, dargestellt nach den deutschen literarischen Quellen vom 11.-15. Jahrhundert
(Bern 1929); F&rrz MARTINI, Das Bauerntum im deutschen Schrifttum von den Anfängen
bis zum 16. Jahrhundert (Halle 1944); KURT UHRIG, Der Bauer in der Publizistik der
Reformation bis zum Ausgang des Bauernkrieges, Arch. f. Reformationsgesch. 33 (1936),
70 ff. 165 ff. - Zu 'arm': RWB Bd. 1 (1914), 823. Zu 'pauper' als dem üblichen Ausdruck
für den bäuerlichen Grundholden vgl. . KARL BosL, Frühformen der Gesellschaft im
mittelalterlichen Europa (München, Wien 1964), bes. 43 ff. 106 ff.
6 Vgl. vor allem BosL, Frühformen; dazu auch JOSEF HöFFNER, Bauer und Kirche im

deutschen Mittelalter (theol. Dias. Paderborn 1938), 64 ff.


68 FREIDANK 27, 1 (1229), hg. v. Wilhelm Grimm (Göttingen 1860), 17.

409
Bauer Il. 2, Christliche Tradition

(Stände-)ßaums. Seine Arbeit im Sinne von Pein und Mühsal wird auf den
Sündenfall, seine Unfreiheit auf den Fluch Noahs über Ham zurückgeführt
(liberi de Sem, milites de Japhet, servi de Cham)6. ,
Doch stand dem die Wertung der bäuerlichen Arbeit gegenüber, wie sie der christ-
lichen Anerkennung der Handarbeit im Gegensatz zu ihrer Herabsetzung im
Altertum entsprach. Der Bauernstand wurde an die (zeitlich) erste Stelle gesetzt
und als Grund- oder Urstand, als der erste Stand bezeichnet: besonders betont
bei den Minoriten, aufgenommen von Luther und noch geläufig im 17./18.Jahr-
hundert, z.B. bei BECHER (1669): unsere erste Vocation, der Landbau7 • Das bedeutete
nicht nur Priorität und Primitivität, sondern auch fundamentale Wertschätzung.
Im späten Mittelalter war dies häufig mit dem Hinweis auf Adam, den Bauern vor
aller Ständespaltung, verbunden 8 • Schon im Paradies sei der Landbau von Gott
eingesetzt, sei also göttlicher Auftrag oder „Beruf" von Anfang an gewesen. Durch
'diesen unmittelbaren Bezug zur ursprünglichen Schöpfungsordnung erhielt der
Bauer seine Würde (dignitas rusticana, Ende des 15. Jahrhunderts) 9 • Von da war
es kein großer Schritt, wenn der Bauer im ausgehenden Mittelalter häufig als „edel"
oder als „Edelmann" im Sinne· einer vor aller ständischen Trennung liegenden
Würde des Arbeitsmenschen bezeichnet wurde 10• Die Bauern erschienen als be-
6 HoNORIUS AuouSTODUNENSIS, zit. M:rGNE, Patr. lat., t. 172 (1895), 166 - dann jahr-
hundertelang wiederholt. Vgl. die Wiedergabe des Bildes vom Ständebaum von Hans
Weiditz (1520) bei RENATE MARIA RADBRUCH/9-USTAV RADBRUCH, Der deutsche Bauern-
standzwischenMittelalterundNeuzeit, hg. v. Anneliese Stemper, 2. Aufl. (Göttingen 1961),
Tafel 7. Dort sind aber- gemäß der Sicht des Bauern als des letzten und des ersten Standes
- nicht nur die Wurzeln durch lasttragende, sondern auch der Gipfel des Baumes durch
heitere Bauern symbolisiert; zwischen ihnen die Vielfalt der durch die Höhe der Zweige
gegliederten Stände. Voller Zynismus dagegen das Bild vom Baum bei GRIM.Mi.;LSHAUSEN,
Der abenteuerliche Simplizissimus (1669), 1, 15; dort sind die Wurzeln von ungültigen
Leuten, als Handwerkern, Tagelöhnern, mehrenteila Bauern und dergleichen, die \lllter der
Last seufzen, besetzt; aber auf jedem Gipfel sitzt ein Kavalier. Das Bild ist bei Grimmels-
hausen nicht allein auf die ständische Ordnung, sondern besonders auf die Auspressung
der Bauern durch die Soldaten im Dreißigjährigen Krieg bezogen. - Die Fülle der vielen
Bilder der Ständeordnung mit den darin festgelegten Bauern sind hier nicht wiederzu-
geben. Vgl. dazu bes. HöFFNER1 Bauer und Kirche, 81 ff.
7 Zit. HERHF.RT HASSINGF.R, Johann Joachim Becher, 1635-1682. Ein Beitrag zur Ge-

schichte des Merkantilismus (Wien 1951), 130; vgl. KURT ZIELENZIGER, Die alten deutschen
Kameralisten (Jena 1914), 270.
8 Vgl. z.B. den rusticus bei FELIX HEMMERLIN [MALLEOLUS], De nobilitate (o. 0. 1497),

der sich darauf berief, daß schon Adam ein Bauer gewesen und daher der Bauernstand
der erste und edelste sei; zit. F. v. BEZOLD, Die „armen Leute" und die Literatur des späteren
Mittelalters, Rist. Zs. 41 (1879), 18. Der Adam-Topos wurde bis zum 18. Jahrhundert viel
verwendet, besonders in Predigten. Vgl. z.B. CHRISTOPH SELHAMER, Tuba rustica (Augs-
burg 1701): Der erste von Gott erschaffene und in die neue Welt versetzte Mensch war Adam,
und der war ein Bauer; zit. Das Bauernleben in den Werken bayerischer Barockprediger,
hg. v. KARL BöCK (München 1953), 49 f.
9 WERNER RoLEVINCK, De regimine rusticorum (1480), zit. HARRO BRACK, Werner

Rolevincks Bauernspiegel, Hist. Jb. 74 (1955), 146.


1o Belege bei MARTINI, Bauerntum, 226 ff.; UHRIG, Bauer, 93 f. Auch diese Vorstellung
geht über das Mittelalter hinaua: Die8en uralten Bauern-Stand kann man eben drum nennen
ein Adeliehen Stand; SELHAMER, Tuba rustica, zit. BöCK, Bauernleben, 50.

410
II. 3. „Göttliches Recht" und Bauernkrieg Bauer

sonders geliebte Söhne Gottes. In den Predigten der Minoriten wurden die Bauern
auf solche Weise angesprochen: Agrico"le, qui tam di"lecti filii dei sunt tum propter
laborem continuum, quideo placet, tumpropter oppressionem, qua a dominis opprimuntur
iniustell. Bei Luther wurde all das übernommen und mit seiner Lehre vom - Beruf
verbunden, die sich an die alte Lehre vom Amt anschloß .. wie sie schon in den
bauernfreundlichen, aber keineswegs aufrührerischen, vielmdflr auf die Bewährung
im gottgegebenen „Amt" gerichteten Predigten BERTHOLDS VON REGENSBURG
(um 1260) gelehrt12 und oft, z.B. bei Tauler, wiederholt wurde. Neu war bei LUTHER
die Erhöhung des „gemeinen Mannes" dadurch, daß er im „allgemeinen Priester-
stand" die Bibel verdeutscht lesen sollte; als arm pawr könne er baß Christum
vorstanden Bapst, Bischoff und doctores 13•

3. „Göttliches Recht" und Bauernkrieg

All das - selbst die letzte Steigerung durch Luther - sollte an der hörigen
Stellung des „armen Mannes" in der Ständeordnung nicht rütteln. Aber es konnten
doch daraus Folgerungen gründlicher Sozialreform oder gar der Umkehrung .des
bestehenden gesellschaftlich-politischen Gefüges gezogen werden. Die christliche
Gleichheit vor Gott und seinem Gericht hat stets das Mißverständnis der An-
wendung auf die Sozialverfassung in sich enthalten, und die Wiedergabe des tradi-
tionell theologischen „natura aequalis" mit „von nature" schon um 1300 (so bei
HuGo VOM TRIMBERG: Pfaffen, ritter und gebUre sint al"le gesippe von natare und
saln gar brüederlichen "leben) 14 zeigt an, daß von da aus die Forderung nach „gött-
lichem Recht" nahe lag und in den Bauernunruhen des 15./16. Jahrhunderts bis
hin zum großen Bauernkrieg von IU25 auch erhoben wurde. Entstand aus solchem
Gedanken die Tat, so war - verbunden mit sozialer Utopie - der modernen
Revolution in christlicher Begründung bereits deutlich präludiert. Soziale Unzu-
friedenheit und gekränkte Ehre verbanden sich mit christlichem Schwärmertum
und mit der solcherart begriffenen Reformation Luthers. Der Bauer war einer der
Hauptträger dieser allgemeinen Volksbewegungen. In weiten Teilen Süd- und
Mitteldeutschlands kam es zur Bauernrevolution, die sonst - von geringeren An-
sätzen dazu um 1790, 1830 und 1848/49 abgesehen - dem Standesbegriff vom
'Bauer' im deutschen Bereich meist fremd geblieben ist. Auch 1525 ist „göttliches
11 LUDOVIOUS (Schüler Bertholds von Regensburg, Ende des 13. Jahrhunderts), zit.
ADOLPH FRANz, Drei deutsche Minoritenprediger aus dem 13. und 14. Jahrhundert'
(Freiburg 1907), 88.
1B BERTHOLD VON REGENSBURG, Predigten, hg. v. Franz Pfeiffer, Bd. 1(Wien1862), passim,
bes. 11 ff. 140 ff. In seiner Ständelehre, die auf der Korrespondenz zwischen ei;iglischen und
irdischen „Chören" beruht, bilden alle die daz ertriche buwent .. . daz sint die gebure den
jüngsten Chor: die sullent getriuweliche leben gein ir herschaft unde gein ir genozen, freilich
in der Erwartung, daß die Herrn iliren armen liuten nicht übel tun (151). Zur Tradition
der himmlisch-irdischen Hierarchie s. BERTHOLD V ALLENTIN, Der Engelstaat, in: Grund-
risse und Bausteine zur Staats· und Gesellschaftsgeschichte (Berlin 1908); 41 ff.
13 MARTIN LUTHER, WA Bd. 7 (1897), 315. .
14 HUGO VON T:BnmERG, Der Renner, v. 505 f., hg. v. Georg Ehrismann, Bd. 1 (Tübingen
1908), 21. Später RoLEVINCK (1480): die bäuerliche Untertänigkeit sei injust.a, eo quod
natura omnes simus ingenui; zit. HöFFNER, Bauer und Kirche, 94.

411
Bauer II. 4. Stellung des Bauern bis zum 18. Jahrhundert

Recht" als prinzipielles, christlich-revolutionäres Naturrecht praktisch nicht vom


„alten Recht" als Grundforderung der Bauern abzuheben gewesen. In der biblischen
Begründung einer Reformation ungerechter Zustände war allerdings die Spannweite
von der Restitution alter, bewährter Ordnung bis zu um.kehrender Sozialutopie
enthalten. In solchem Sinne der Wiederherstellung von Recht durch Selbsthilfe
ist die Gewaltanwen<!ung im Bauernkrieg ursprünglich gemeint gewesenl5, Doch
das war „Aufruhr", der die Landesfürsten zur bewaffneten Parteinahme für die
adligen Herrschaften zwang.
Vor allem LUTHER wurde zur Verurteilung der 'l'äuberischen und mörderischen Rotten
der Bauern gedrängt, nachdem er vorher den „Herrn" ins Gewissen geredet hatte,
sie sollten das toben und stO'l'rige tyranney' lassen, und mit vernunfft an den baurn
handeln, alls an den trunckenen odder yrrigen. Die von den Eimern in eigener Aus-
legung ihres Rechts beanspruchte Gegenseitigkeit der Beziehung zum Adel wurde
also von Luther - ihm folgend - von den Fürsten nicht so weit anerkannt, daß
den Bauern Waffengebrauch und Widerstandsrecht zugestanden wurden. Vielmehr
hätten sie yhrer oberkeyt treu und dulde geschwO'l'en ... , unterthenig und gehorsam
z11. se.yn, wie solchs Gott gebeut 16 •

4. Untertänige Stellung des Bauern bis ~ 18. Jahrhundert


Mochte dies Votum Luthers auch weite Teile Deutschlands kaum betreffen, da die
Bauern sich dort ruhig verhalten hatten, so wurde es doch über die Bauernkriegs-
gebiete Süd- und Mitteldeutschlands hinaus von grundsätzlicher Bedeutung. Eine
Verbindung von christlicher und sozialaufrührerischer Bewegung hat es nach 1525
im großen und ganzen unter dem Landvolk in Deutschland nicht mehr gegeben.
Dem Begriff des 'Bauern' oder des 'Landmanns' war seitdem impliziert, daß er sich
untertänig in die gegebene Ordnung schickte und daher meist nicht mehr als sozial
gefährlich angesehen wurde. Der Bauer wurde friedlich in die Ständeordnung ein-
gefügt. An der Kontinuität der Topoi von der Geringschätzung und der Hoch-
achtung des Bauern in der Gesellschaftsordnung änderte sich damit nichts. Be-
zeichnend dafür ist das Lied des Simplicius (1669)16a:
Du sehr verachter Bauernstand,
Bist doch der beste in dem Land ...
Wie stünd es jetzt und um die Welt,
Hätt Adam nicht gebaut das Feld?
Mit Hacken nährt sich anfangs der,
Von dem die Fürsten kommen her
Drum bist du billig hoch zu eh'l'n,
Weil du uns alle tust ernährn ...
Trotz vielfältigen Mitgefühls mit dem Bauern und kritisch anklagenden Spotts
gegen seine Ausbeuter, adlige Herrn, Juristen, Ärzte, Quacksalber, Wucherjuden,
blieb doch bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die untertänige Stellung
15 Vgl. THOMAS NIPPERDEY, Art. Bauernkrieg, SDG Bd. 1 (1966), 611 ff.
16 LUTHER, Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben
(1525), WA Bd. 18 (1908), 279 ff„ bes. 297; ders„ Wider die räuberischen und mörderischen
Rotten der Bauern (1525), ebd„ 344 ff., bes. 357.
16a GRIMMELSHAUSEN,. Simplizissimus 1,3.

412
ID. 1. Kameralismos und aufgeklärter Absolutismus Bauer

des Bauern grundsätzlich unverändert und unbestritten. Das gehörte zum Begriff
des Bauern fast unlösbar dazu. Der Bauernstand, so wie er in unsern deutschen
Vaterlande eingeführet ist, lässet sich nicht Mnken, ohne zugkich Mn Begriff einer
ihnen vorgesetzten Herrschaft od,er fhundobrigkeit damit zu verbind-en17•

m.
1. Kameralismu8 und aufgeklärter Absolutismus
Die in aristotelischer Tradition als dauerhaft angesehene „politische Gesellschaft",
der der Bauer unwandelbar eingeordnet zu sein schien, wurde vom 16. bis zum
18. Jahrhundert - aufgehalten durch die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges
und nach diesem zunehmend beschleunigt - durch „Staat" und „Wirtschaft"
verändert. Die Ökonomie oder Hauswirtschaft des Fürsten wurde überhöht durch
die Staatswirtschaft. Der Fürstenstaat bediente sich der im Kameralismus modern
begriffenen Wirtschaft zur Steigerung seiner Macht und seiner Finanzkraft. Alle
„Untertanen" des Staates, und damit nicht zuletzt die Bauern, erhielten mehr und
mehr ihre Bewertung nach dem Nutzen, den sie für den Staat jeweils darstellten.
Der Bauer wurde in bisher unbekannter Weise utilitarisiert und funktionalisiert.
Schon bei den älteren Kameralisten ist diese Wendung deutlich begriffen. Es geht
ihnen um Verbesserung Land und Leut (GEORG ÜBRECHT 1606), um Auf- und
Abnehmen der StiiiJ,t, Liind-er und Republiquen, in specie, wie ein Land volkreich und
nahrhaft zu machen (JoH. JOACHIM BECHER 1668), von Verbesserung Land und
Leuten, und wie ein Regent seine Macht und Ansehen erheben könne (LEIB 1708),
oder in fürsorgend eudämonistischer Begründung, wie die Glückseligkeit eines Fürsten
mit Mr Glückseligkeit seiner Untertanen verknüpfet (WILH. v. SCHRÖDER 1686) 1 8
werden könnte.
Nach den Maßstäben der Macht- und Reichtumssteigerung sowie des gewollten
und reflektierten Wirtschaftswachstums erscheint der Bauer nicht allein bei
BECHER 111 in einem neuen Dreiständeschema der natürlich oder produktiv Arbei-
tenden: Bauer, Handwerker, Kaufleute. Die Zahl der Bauern sollte vermehrt
(„Peuplierung"), ihre Wirtschaft verbessert, und sie sollten statistisch erfaßt werden.
Eine nutz- und gewinnbringende Harmonie der drei schaffenden „Stände" wurde
erstrebt. Die Oonsumption erhiilt diese drei Ständ, die Oonsumption ist ihre Seel ...
ja der Oonsumption wegen ist d,er Kaufmann-Stand so nötig in Mr Gemeind, so groß
darinnen der Bauren-Stand, dann dieser vermehrt zwar die Populosität, jener aber
ernährt sie (Becher 1668) 20.
17 CARL FRIEDRICH v. BENECKENDORF, Oeconomia forensis, Bd. 5 (Berlin 1779), zit.

Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes in der Neuzeit, hg. v. GÜNTHER
FRA:Nz (München, Wien 1963), 274.
18 ZIELENZIGER, Kameralisten, 182. 208. 373. 299; ebenso ZEDLER Bd. 3 (1733), 717 ff.,

Art. Bauer.
19 JOHANN GEORG LEIB wendete sich 1708, die revolutionäre Wertung von 1789 zeitgemäß

vorwegnehmend, gegen die parasitären, z. T. vornehmen Müßiggänger: es- komme daher


die ganze Nahrung auf den Bauer, Handwerksmann und Kaufmann bloß und alleine an,; zit.
ZIELENZIGER, Kameralisten, 374 ff.
20 Ebd., 223.

413
Bauer m. 1. Kameralismus und aufgeklärter Absolutismus
Damit war die Leistung der „Stände" zum Maßstab der Wertung gemacht21;
Kaufmann und Bauer wurden gleichrangig ins Kalkül gesetzt. Der Funktionswert
des Bauern für den Staat wurde über das Wirtschaftliche hinaus noch erhöht, wenn
gelegentlich schon in Kenntnis alte;r Volkswehrverfassungen die Wehrpflicht des
Volkes, das hieß praktisch vorwiegend der Bauern, gefordert 22 und in Preußen durch
das Kantons-Reglement von 1722 auch bis zu einem gewissen Grade durchgeführt
wurde.
Eine dies mitumfassende Rollenbeschreibung des Bauernstandes in seiner Leistung
für den Staat gab FRIEDRICH DER GROSSE (1766): Die Bauern bildeten diejenige
Klasse ·von Leuten, wekhe die mehreste Achtung verdienen, zu denen Lasten des Staats
das mehreste beitragen, den ganzen Staat mit Lebensmitteln und Bedürfnissen ver-
sorgen, der Armee einen großen Teil der Rekruten und allen übrigen Klassen von
Untertanen einen Zuwachs von neuen Mitgliedern und Bürgern liefern, ohne von
letztem wieder einen reichlichen Zuwachs erwarten zu dürfen 29• In solchen wirklich-
keitsbezogenen Feststellungen ist die rationelle Nutzsteigerung der Bauern für den
Staat ebenso enthalten wie der Beginn einer unmittelbaren, im Ansatz schon
-gefühlsbetonten Beziehung der Bauern zum Landesfürsten, zum Staat, zum Vater-
land24.
All das trug, verstärkt seit der Mitte des aufgeklärten Jahrhunderts, den Keim zur
Emanzipation dcti Bauern aus seinem alten Abhängigkeitsverhältnis vom ndligcn
Herrn in sich. Doch wurde diese Entwicklung solange bewußt aufgehalten wie auch
der Adelsstand für den Staat funktionalisiert wurde ('Staatsdiener'), so daß an
dessen „Conservation" ebensoviel gelegen war wie an der des Bauern, den im alten
Untertänigkeitestand zu halten zweckmäßig zu sein schien. Im 11Allgemeinen Lanu-
Recht für die preußischen Staaten" (ALR, 1794) fand der Bauer innerhalb des
Systems der drei auf den Staat bezogenen und durch ihn gerechtfertigten großen
Stände des Adels, der Stadtbürger und der Bauern seinen Begriff und seine feste,
nach Wie vor kaum modifizierbare Stellung. Der Bauer blieb in seinem Stande ohne
Bewegungsfreiheit und belastet mit allen durch Recht und Herkommen ihm auf-
erlegten Pflichten sowohl gegenüber seinem Gutsherrn wie gegenüber dem Staat.
Gleichwohl stellte dasALR provokativ fest (§§ 147. 148 II 7): Untertanen werden,
außer der Beziehung auf das Gut, zu wekhem sie geschlagen sind, in ihren Geschäften
und Verhandlungen als freie Bürger des Staats angesehen. Die ehemalige Leibeigen-
schaft, als eine Art der persönlichen Sklaverei findet ... nicht statt. Indem der Bauer
schon als freier Bürger apostrophiert wurde, sollte über die Begriffsbestimmung

21 Feldbau als der erste berufj auch bei SCHRÖDER (1686), zit. ZIELENZIOER, Kameralisten,
314.
22 So VEIT LUDWIG v. SECKENDORFF, Christen-Staat (1685; Ausg. Leipzig 1716), 205 f.

Die ersten programmatischen Forderungen einer allgemeinen Wehrpflicht gehen jedoch


schon ins 16. Jahrhundert zurück; vgl. die kriegswissenschaftlichen Schriften LAZARUS v.
ScHWENDIS, hg. v. Eugen v. Frauenholz (Hamburg 1939).
23 FRIEDRICH II. VON l'REUSSEN, Instruktion für die Mindenschen, Ravensburgischen und

Tecklenburgischen Landräte (1766), Acta Borussica, Bd. 14 (Berlin 1934), 159.


24 Vgl. das Selbstbewußtsein in der Aussage eines verhörten Kantonisten: Wir haben einen,

der heißt Friderich! ... S. K. Majestät mit Leib und Blut gedienet; Acta Borussica, Bd. 8
(1906), 340.

414
m. 2. Aufklärung und Emanzipation Bauer

ein Rechtsweg in die Zukunft geöffnet werden25, Derselbe Grundzug wie in Preußen
läßt sich in den meisten deutschen Staaten bis zur Französischen Revolution beob-
achten: Interesse an der Hebung und Heranziehung des Bauernstandes an den
Staat, aber gleichwohl Belassen des bäuerlichen Staatsuntertanen in der adlig-
herrschaftlichen Untertänigkeit 28 .
SCHEIDEMANTEL begriff die Bauern 1782 dementsprechend zeitgemäß als Personen,
welche auf· dem Lande leben und sich von der Landwirtschaft ernähren. Sie gehören
zwar zum niedrigsten Stand, dennoch aber sind sie wirkliche Mitbürger in Ansehung
des Staats überhaupt genommen, und wegen des Gegenstandes ihrer Arbeit der nütz-
lichste, auch mehreste Teil der Einwohner. Sie sollten nicht in städtische Berufe
übergehen, aber in ihrem Landbau unterstützt und besser gebildet werden27 •

2. Aufklärung und Emanzipation

Die Spannung zwischen dem Festhalten an der Hörigkeit und den modernen
Anforderungen an eine vollkommenere Leistung des Bauern führte im Zusammen-
hang von Aufklärung und Revolution zur Verneinung der alten Ordnung (bürger-
liche--+ Gesellschaft), damit zum Gedanken der „Bauernbefreiung" und zu einem
grundlegend veränderten Begriff des Bauern. Zwar ist das Wort 'Bauernbefreiung'
erst eine spätere Bildung der Wissenschaft, speziell G. F. KNAPPS 28 und seiner
Schule seit den achtziger Jahren. Doch ist diese spätere Wortprägung der Sache
nicht unangemessen, um so mehr, als von den Zeitgenossen selbst neben den mehr
technischen Bezeichnungen für Teilbereiche der Bauern- und Bodenbefreiung wie
'Grundentlastung', 'Ablösung' usw. von 'Lösung' oder auch 'Freilassen' der Bauern
in umfassendem Sinne gesprochen worden ist. Für viele aufgeklärte Kritiker der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die traditionelle Gestalt des Bauern als
eines bloßen Untertanen mehr und mehr unerträglich. Das neue Menschenbild, die
Gedanken der Gleichheit, Freiheit und Würde, die Zuversicht, daß die Menschen
„veredelt" werden könnten, widersprachen der gedrückten Stellung des Bauern.
RoussEAU wirkte ein mit seinem Gedanken „natürlicher" Erziehung zu freien
Menschen. Er stellte die „Feinheit" des natürlichen Wilden der Grobheit der euro-
päischen Bauern gegenüber und begründete diese Depravation des Menschlichen
beim Bauern damit, daß dieser nur auf Befehl oder nach Gewohnheit arbeite, also
nur in routine, et, dans sa vie presque automate, occupe sans cesse des memes travaux,
Z'habitude et l'obeissance lui tiennent lieu de raison2 9 •
Diese Klage wurde wiederholt. Stumpfheit, Faulheit, Indolenz des Bauern wurden
2 5 Die Redaktoren hielten jede Bestimmling der Verhältnisse zwischen Herrschaften und
Untertanen für äußerst bedenklich, wollten aber aus Rechtsgründen nicht davon absehen
und glaubten es auch nicht. zu können, weil nicht überall die gleiche Stufe der Kultur herrsche,
die eine generelle Befreiung zulasse; Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuches für die preußi-
schen Staaten, Tl. 1, Bd. 2 (Berlin, Leipzig 1785), 30.
9& Um 1780 wurde freilich in Schleswig und Holstein, in Österreich und Baden bereits mit
der Bauernbefreiung begonnen.
27 SCHEIDEl\liNTEL Bd. 1 (1782), 332.
2s GEORG FRIEDRICH KNAPP, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter
in den älteren Teilen Preußens, 2 Bde. (Leipzig 1887; 2. Aufl. 1927).
28 RoussEAU, Emile, <Euvres compl., t. 3/1 (1823), 183.

415
Bauer IlI. 2. Aufklirung und Emanzipation

als übliche Begründung für die Notwendigkeit bäuerlicher Untertänigkeit zurück-


gewiesen, stattdessen mit der Feudalverfassung erklärt und, über Rousseau hinaus-
gehend, als schädlich für den Fortschritt der „Landwirtschaft" bezeichnet. So
wurde das Begriffsattribut der Indolenz den Befürwortern der alten Verfassung
entwendet und von ihren Gegnern gebraucht. Sie brachten die allgemeine Vor-
stellung vom rohen, ungebildeten, arbeitsscheuen Bauern gewissermaßen in eine
„verkehrte Front".
In Baden urteilte JOHANN GEORG SCHLOSSER (1786), daß unsere Bauern nichts
weniger als industriöse, fleißi,ge Ackerleute sind; teilweise herrsche unter ihnen eine
solche Indolenz, daß nichts sie erwecken kann 30. JusTI sah schon 1767 die Hemmun-
gen für die Wirtschaftstüchtigkeit des Bauern in der gebundenen Agrarverfassung,
sowohl bezüglich der Untertänigkeit wie auch der genossenschaftlich wirtschaf-
tenden Dorfgemeinde mit ihrer Zerstückelung des Grundbesitzes, und folgerte:
Ein jeder weiß, daß nur das eigene Interesse die Triebfeder rles Fleißes ist, und
wenn das fehlt, so kann man nur verdrossene und schlechte Arbeit erwarten 31 • KRUG
urteilte 1805 über die Bauern im Hinblick auf die Verbesserung ihrer ökonomischen
Lage: Man kann es nicht leugnen, daß diese Menschen hie und da auf einer sehr niedri-
gen Stufe der Kultur stehen, aber man sieht nun eben/alls häufig diesen Grund in rlen
Ml!-nsclien •und n·icltt •in den Verltaltrl!issen, in welchen sie leben° 9• Der Abscheu vor
dem niedrigen Dasein der Bauern steigerte sich nicht selten zur anklagenden Cha-
rakterisierung als „Sklaverei": heute zu Tage ist rler Landmann die armseligste unter
allen Kreaturen: die Bauern sind Sklaven33• CHRISTIAN GARVE nahm 1786 diesen
Vorwurf auf34, um ihn als eine mögliche, aber nicht die einzige Sicht der Dinge

30 J. G. SCHLOSSER, Journal von und für Deutschland 3 (1786), 115 f. Urteile ähnlicher

Art sind sehr häufig, vgl. z. B. : der Landmann kriecht noch immer in seiner ge.dankenlosen
Finsternis; er stecket noch immer in seinem alten, irrigen Wahn; obgleich der nachdenkende
Teil der Welt anfängt, das Geschäft und die wohlgeleitete .Arbeitsamkeit des Landmannes für
die Gr'lindsäule aller Wohlfahrt gesitteter Länder zu halten; FR. G. RESEWITZ, Die Erziehung
des Bürgers zum Gebrauch des gesunden Verstandes und zur gemeinnützigen Geschäftig-
keit (Kopenhagen 1773), 56 f. Dazu AR'HIUR EICHLER, Die Landbewegung des 18. Jahr-
hunderts und ihre Pädagogik (Berlin, Leipzig 1933), bes. 51 ff.
31 JoH. HEINR. GOTTLOB v. JusTI, Über die Haupthindernisse für den landwirtschaftlichen

Betrieb (1767), zit. Quellen zur Geschichte der deutschen Bauembefreiung, hg. v. WERNER
CoNzE (Göttingen 1957), 43 f.
32 LEOPOLD KRua, Betrachtungen über den National-Reichthum des preußischen Staats

und über den Wohlstand seiner Bewohner, Bd. 1 (Berlin 1805), 463.
33 JoH. MICHAEL v. LOEN, Von dem Bauernstande (1771), zit. FRANz, Quellen, 261. Das

Prädikat des Sklaven wurde auch von aufgeklärten, durch Kants Philosophie gebildeten
Beamten der preußischen Reformzeit noch verwendet. So der Oberfinanzrat v . .Ar.TENSTEIN
(1807): Diese persönliche Skl,averei, welche den Menschen zur Sache macht, der erschwerte
Besitz von Grundeigentum und die Hindernisse, in einen anderen Stand überzugehen, haben
dem Staate unendlichen Schaden zugefügt und die .Ausbildung der Nation verhindert; zit. Die
Reorganisation des Preussischen Staates unter Stein und Hardenberg, hg. v. GEORG
WINTER, Bd.. 1/1 (Leipzig 1931), 403.
34 CHRISTIAN GARVE, Über den Charakter der Bauern und ihr Verhältnis gegen die Guts-

herrn und gegen die Regierung (1786; 2. Aufl. Bresiau 1796), 134 f.

416
m. 2. Aufklärung und Emanzipation Bauer

gelten zu lassen 35 • Er war, indem er sich qabei auf MoNTESQUIEU berief, skeptisch
gegen umstürzende Neuerungen und vertraute auch ohne diese auf die Möglich-
keiten zur Hebung des Bauernstandes, unter dem er nicht nur sklavisch gedrückte
Untertanen, sondern auch wohlhabende, stolze Männer sah, die sich auf ihren Stand
als Bauern, auf ihre Tracht und auf alles, was den Stand anzeigt, etwas zugute tun.
Durch die Erleuchtung ttnserer Zeiten werde es möglich sein, daß der adlige Herr
seinen Bauern nicht nur als ein Werkzeug ansehe, sondern als einen Menschen.
Schon dadurch - ohne daß der Staat durch p'lötzliche Reformen, die das Eigentum
angreifen könnten, ins Mittel träte - könne die Lage der Bauern verbessert und ihr
Charakter veredelt werden 36 •
So blieb Garve in der alten Verfassung stehen, während KANT konsequenter die
glebae adscriptio (Erbuntertänigkeit) mit der Würde der Person für unvereinbar
hielt 36a und in einer Aufzeichnung (1793) sein Prinzip, daß der Mensch, weil er
frei sei, nicht der Willkür anderer bloß als Mittel unterworfen sein dürfe, als wider d'ie
Erbuntertänigkeit gerichtet sein lassen wollte 37 • Der Bauer war für Kant „Mensch"
in voller Freiheit und Würde, somit „Staatsbürger" - zwar nur „passiv", poten-
tiAll ahflr mrnh „aktiv" (Rr.cht11lr.hre § 46).
Die Aufhebung der Hörigkeit wurde zudem, in gradliniger Kontinuität vom älteren
zum jüngeren Kameralismus (Justi), zum Physiokratismus (MarkgrafCarl Friedrich
von Baden, Schlettwein, Iselin) bis zur Anwendung der Nationalökonomie von
Adam Smith (Christian Jacob Kraus) durch ökonomische Zweckmäßigkeit begrün-
det, so daß der in der alten Verfassung indolente Bauer industriös, aktiv, aufgeklärt,
ja philosophisch werden sollte. Die Industrie des Bauernstandes ist Hauptbedingunfl.
des Nationalreichtums 38• ökonomische Gesellschaften gebildeter Liebhaber und
Praktiker nahmen sich als ökonomische Patrioten des Fortschritts der Landwirtschaft
und damit eines neuen Typus des Landwirts 39 sowohl im (adligen oder bürgerlichen)
Großgrundbesitz wie in bäuerlichen Wirtschaften an. Fürsten gaben dieser agrari-

36 Weiter oben sprach GARVE von der erzwungenen Faulheit .... Sie ist nicht sowohl Ab-

neigung von aller Arbeit, als Abneigung der Arbeit, die man ihnen aufträgt, weil sie die
Bewegungsgründe dazu nicht einsehen, oder weil diese Bewegungsgründe nicht st!J-rk genug auf
sie wirken; ebd., 29. 27. ·
36 Ebd., 124 f.
36 a KANT, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Tl. 2, 1. Abschn., Allg. Anm. D. AA Bd. 6

(1907), 330.
37 Lose Blätter aus Kants Nachlaß, hg. v. RUDOLF REICKE, Bd. 2 (Königsberg 1895), 292.
38 ARNOLD WAGEMANN, Über die Bildung des Volkes zur Indu1:1trie (1791), zit. KURT lvEN,

Die Industrie-Pädagogik des 18. Jahrhunderts (Langensalza, Berlin, Leipzig 1929), 60.
39 Das Wort 'Landwirt(schaft)' steht im Zusammenhang mit der Ausweitung der alten

Ökonomie zu 'Staatswirtschaft', 'Stadt-' und 'Landwirtschaft' in der zweiten Hälfte des


18. Jahrhunderts. Alle diese Begriffe bei JusTI, Staatswirthschaft oder Systematische Ab-
handlung aller Oekonomischen und Cameral-Wissenschaften, die zur Regierung eines
Landes erfordert werden (Leipzig 1758), passim. Justi wandte dort 'Landwirt' aber noch
nicht auf Bauern, sondern auf Gutsherrn oder Ökonomen an (vernünftiger Landwirt; ebd.,
Bd. l, 544), wollte aber auch die Bauern in die Richtung des 'Landwirts' bringen: wenn die
Landwirtschaft in rechten Flor kommen soll, so müssen die Bauern vollkommene Eigentümer
ihrer Grundstücke sein, die sie bauen; weil sie alsdann natürlicherweise ungleich mehr Fleiß
anwenden werden; ebd., Bd. 1, 527. Vgl. GARVE, Charakter der Bauern, 6: Entweder ist der
Bauer selbst Landwirt oder er ist das lebendige Werkzeug der Landwirtschaft anderer.

27-90385/1 417
Bauer m. 2. Aufldänmg und Emanzipation

sehen Bewegung symbolischen Ausdruck, indem sie selbst den Pflug führten, so
Josef II. 1769 in Mähren. Gereizte Ehrbegierde zur Arbeit sollte sich unter den Bauern
ausbreiten 4 o. Musterbauern begannen sich hie und da hervorzutun, wie der bekannte
auch von Goethe aufgesuchte Züricher Bauer Kleinjögg, der philosophische Bauer
oder rustique Socrate 41 • Die bürgerliche Zuneigung zum Landleben und zum Land-
mann reichte von bukolisch-idyllischen Dichtungen wie GESSNERS Idyllen (1756) 42
über Landschwärmerei im Geiste Rousseaus und theoretische oder praktische An-
wendung der Aufklärungspädagogik auf das Dorf bis zur Tätigkeit der zahlreichen
ökonomischen Gesellschaften. Der Bauer sollte von nun an statt eines Sklaven ein
Mensch, statt eines bloßen Untertans ein Staatsbürger, statt eines stumpfen Bauern
ein vernünftiger Landwirt werden43• War damit der Bauer im Verhältnis zu Kirche,
Staat und gesellschaftlicher Umwelt von Grund auf neu, möglicherweise revolu-
tionär begriffen, so ist doch dabei nicht zu übersehen, daß bei solcher Neuerung
weitgehend sehr alte Vorstellungen vom Bauern verwendet und dem modernen
Geist anverwandelt wurden. Der verachtete „arme Mann" wurde allerdings von
den „Neuerern" nicht mehr als gegeben hingenommen, sondern seine Erscheinung
galt als verderbt durch die überkommene Herrschafts- und damit Wirtschafts-
verfassung, die entweder unzulänglich oder überhaupt von Grund auf verwerflich
zu sein schien. Die alte, christliche Hochschätzung des Bauern und seiner Arbeit
·sollte nun nicht mehr eine „ Umkehrung'' im Hinblick auf den Christenstand und das
Gericht Gottes oder ein Trost im Selbstbewußtsein des „ersten Berufs" sein,
sondern wurde umgedeutet als Ansporn zur Schaffung eines zur Freiheit und

'°HANS CASPAR HmzEL, Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers (Zürich 1761), 123.
41 Ders., Auserlesene Schriften zur Beförderung der Landwirthschaft, Bd. 1(Zürich1792),

195. Vgl. OLGA v. IlrPPEL, Die pädagogische Dorf-Utopie der Aufklärung (phil. Diss. Göt-
tingen 1939); GEORG C. L. SCHMIDT, Die Wandlung der Schweizer Bauernwirtschaft im
achtzehnten Jahrhundert und die Politik der ökonomischen Patrioten, Bd. 1 (Bern, Leipzig
1932), 91, bes. 142.
0 Hierzu und zum Problem der Bauerndichtung des 19./20. Jahrhunderts (mit weiteren

Literaturaufgaben) FRIEDRICH SENGLE, Wunschbild Land und Schreckbild Stadt. Zu einem


zentralen Thema der neueren deutschen Literatur, Studium Generale 16 (1963), 619 ff.
43 Alle diese zum Begriff eines Bauern neuer Art gehörigen Wertungen im Urteil J. G.

SCHLOSSERS über den Musterbauer Kleinjögg: Der Mann, der rastlos arbeitet, ... der Kopf es
genug hat, überall die Natur zu ergreifen, die ihm die Hand bietet, der auf nichts sinnt als auf
Verbesserung, auf Vermehrung des Ertrags, auf Erleichterung der Arbeit, attf Ersparung des
Aufwands, der so gerecht, so wahr, so äilel denkt, so gern hilft, so gern dem Staat sich unter-
wirft; Ober die Träume eines Menschenfreundes, Kl. Sehr„ Bd. 1, 2. Aufl. (Basel 1787), 173.
An anderer Stelle: Wer hat mehr .Recht an der Gesetzgebung und Anlegung der Imposten
teilzunehmen, als der Bauer? Er ist allein ans Land gefesselt, macht allein die Nation! Politi.-
sche Fragmente, ebd., Bd. 2, 1. Aufl. (1780), 239 . ....:... In ähnlichem Geist und aus der Praxis
eines die Bauern freilassenden Gutsherrn gesehen forderte GRAF CHRISTIAN RANTZAU
als PfUcht des Menschen und des Staatsbürgers, daß man den unterdrückten und ganz zum
Ackerwerkzeug herabgewürdigten Bauernstand wiederum hebe und beglücke; zit. Actenstücke
zur Geschichte der Anfhebung der Leibeigenschaft in Schleswig und Holstein (Kopenhagen
1848), 11. JoH. HEINRICH Voss schilderte die Erbitterung und Hoffnung von Leibeigenen
sowie den Edelmut eines die Leibeigenschaft anfhebenden Herrn in seinen Idyllen: Die
Leibeigenen (1774), Die Freigelassenen (1775), Die Erleichterten (1800); Sämtl. Gedichte,
Bd. 2 (Königsberg 1825), 3 ff. 16 ff. 33 ff.

418
m. 3. Rüekgriff in die Gesehiehte: Möser Bauer

Leistung bestimmten Bauern. Die Kontinuität von der christlichen Wertung zur
aufgeklärten Humanität ist bei den Wortführern der neuen Sicht deutlich erkenn-
bar. Sie hatten alle noch eine betont christliche Erziehung genossen; oft aber waren
sie selbst Pfarrer, die nun - sei es katholisch-jose:finistisch, sei es protestantisch -
selbst als Philanthropen und Ökonomen sich in den Dienst der großen Vered-
lungsaufgabe stellten oder von den Obrigkeiten dazu veranlaßt wurden. Im Bauer
wurde der Mensch überhaupt gesehen. Es ging darum, die Tugend und die Größe
der Seele in dem Bauern zu verehren". Die Kontinuität brauchte aber nicht christ-
lich zu sein. In der Literatur ist die Linie von der ä.lteren Bukolik zur Idylle, zur
idyllischen Epik und zum Bauernroman des 19. Jahrhunderts unverkennbar. Was
aber die neue „lndustriösität" des Bauern anbetrifft, so war auch sie nur eine
Steigerung der uralten und schon im Kameralismus modernisierten Vorstellung von
der Nützlichkeit des Nährstandes und der bäuerlichen Arbeit.

3. Der Rückgriff in die Geschichte: Möser

Die Idee der Menschenbilihmg im J,andvolk, wie sie in Pestalozzis Pädagogik


gipfelte, ließ sich mit der Obrigkeitsverfassung von Fürstenstaaten und oligar-
chisch regierten Stadtrepubliken (auch der Schweiz) noch durchaus verbinden -
desgleichen das Ziel des „vernünftigen Landwirts". Schwieriger war dagegen das
Problem des Bauern als „Staatsbürger", sowohl in der Theorie wie in der Verwirk-
lichung der Verfassungspraxis. In dieser Frage wurde Hilfe in der Geschichte
gesucht, sei es dadurch, daß in der gegebenen ständischen Ordnung an die nicht
überall verlorengegangene Gegenseitigkeit im Verhältnis von Adel und Bauer an-
geknüpft wurde, woraus sich ohne Bruch der Verfassung eine begrenzt „politische"
Stellung des Bauern ableiten ließ, sei es dadurch, daß, nicht ohne gelehrten Bezug
zum Humanismus, auf eine altgcrmanische Freiheit zurückgegriffen wurde, worin
die späteren politischen Freiheitsforderungen des Liberalismus virtuell bereits eine
historische Begründung erhielten. Beides erkennen wir klassisch bei JusTUS MösER,
besonders in seiner „Osnabrückischen Geschichte" 45. In der ersten und gol,dnen
Zeit sei jeder deutsche Ackerhof mit einem Eigentümer oder Wehren besetzt gewesen,
während kein Knecht oder Leut auf dem Heerbaumsgute gefestet war, also der gemein-
freie Landeigentümer die Wehr ausübte und die Ehre der politischen Verantwor-
tung in der adelsfreien bürgerlichen Gesellschaft besaß.
Möser ging dem geschichtlichen Wege nach, der zur Adelsherrschaft und zur
fürstlichen Landeshoheit geführt hatte. Er sah diesen Weg als geschichtlich ge-
geben an, verfocht demgemäß nicht „Bauernbefreiung" aus modischer Gleichheits-
moral einer politisch destruierenden Menschenliebe mit Hilfe der christlichen Reli-
gion, hoffte aber auf einen geschichtlichen Fortgang der Verfassung im Sinne ge-

"So HrnzEL (1761), zit. SCHMIDT, Schweizer Bauernwirtschaft, Bd. 1, 111. Als Beispiel
für die Menschenbildungsarbeit unter Bauern, die eine Tugendgesellschaft und besonders
die Veredelung der Bauern im Auge hatte, vgl. J. G. SCHLOSSER, Katechismus der Sitten-
lehre für das Landvolk (Leipzig, Dresden 1772).
0 Die beste Interpretation für unsere Fragestellung findet sich bei ERNST-WOLFGANG

BöCKENFÖRDE, Die deutsche verfasssungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert.


Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder (Berlin 1961), 23 ff.

419
Bauer 1D. 4. Der reTolutionäre Bauernbegriff

gliederter bürgerlicher Freiheit, im Gegensatz also auch zum Modell einer Gleich-
heit der Untertanenschaft im Despotismus ... Die Geschichte von Deutschland, habe
geradezu eine ganz neue Wendung zu hoffen, wenn wir die gemeinen Landeigen-
tümer, als die wahren Bestandteile der Nation, durch alle ihre Veränderungen ver-
/ olgen, aus ihnen den Körper bil,den und die großen und kleinen Bedienten dieser
Nation als böse oder gute Zufäll,e des Körpers betrachten46 • Solle es nicht zum po-
litischen Verfall der Staats- und Wirtschaftsverfassung kommen, in der kein
Landeigentümer mehr zu finden und die Landesherrn Löwen geworden seien, die
nichts weiter als Ameisen unter sich erkennen41 , so müsse das (bäuerliche) Land-
eigentum konstitutiv für die staatliche Ordnung werden; das Landeigentum sei
im Sinne einer Aktie, einer Staatspfründe oder Vikarei des Staates48 zu verstehen.
Schon der OTiginalkontrakt sei ebenso wie moderne Koloniegründungen in Amerika
nicht von Menschen, sondern von Landeigentümern geschlossen49, denn nur Land-
besitzende könnten oder sollten politische Verantwortung ausüben.
Bei Möser war konsequent durch eine mehr geschichtliche als naturrechtliche
Theorie5 0 die Beziehung von Bauer und Politik hergestellt worden. Von da aus
führte der Weg_:.._ teils gegensätzlich zum vernunftrechtlich begründeten Staats-
bürgerbegriff, teils sich mit ihm vermischend - über den Freiherrn vom Stein und
andere Reformer seiner Zeit bis· zur Verbindung von· organischem Staatsdenken
mit dem frühen Liberalismus oder - in Abwendung von ihm - mit der konser-
vativen Theorie. Während MösER aber noch unter den Bedingungen der ständischen
Ordnung des Reichs und seiner Fürstenstaaten schrieb, wurden diejenigen, die
ihm in einer historisch-politischen Neubegründung der Stellung des Bauern nach-
folgten, durch die Bauernbefreiung in den deutschen Ländern sowie durch die
Revolution von 1789 bestimmt.

4. Der revolutionäre Bauernbegriff


Die Ansätze zu einer revolutionären Färbung des Begriffs 'Bauer' blieben vereinzelt
und aufs ganze gesehen ohne Wirkung. Bauernemanzipation hieß vor 1848 kaum
„Revolution von unten". Begrenzt und vorübergehend kam es 1790 und danach
zu bäuerlichen Unruhen, besonders im deutschen Südwesten, in Sachsen und in
Schlesien51 , in denen das Beispiel Frankreichs einwirkte und bezeichnenderweise
Erinnerungen an den Bauernkrieg geweckt wurden.
In Kursachsen wurde 1790 von Bauern ein Lied gegen die Jagd und die Leistungs-
forderungen der adligen Herren gesungen, worin es hieß:

0 JusTus MöSER, Osnabrückische Geschichte (1768; 2. Aufl. 1780), SW Bd. 12/1 (1964), 34.
47 Ders„ Die Geschichte des künftigen Jahrhunderts, SW Bd. 9 (1958), 365.
48 Ebd.,298; ders„ Der Bauerhofals eine Aktie betrachtet, SWBd.6 (1954), 257 u. passim.

o Ebd„ Bd. 9, 366.


60 Daß beides bei Möser nicht absolut einander entgegengesetzt werden muß, zeigt BöcKEN-

FÖRDE im Gegensatz zu verbreiteten Meinungen, auch zu Meineckes Historlsmusbuch; Ver-


fassungsgeschichtliche Forschung, 30 ff.
61 Beispiele für revolutionär-volkstümliche Ausdrucksweise (Bauern und ländlich-städti-

sche Unterschicht) bei JOHANNES ZIEKURSCH, Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte


(Breslau 1915), 227 ff.

420
m. 4. Der revolutionäre Bauemhegriff Bauer

Hier liest man nicht von Sklaverei,


Gott schuf den Menschen völlig frei ...
Wir schreiben uns von Adam her,
Wer ist, der nicht von Adam wär?
Kommt her, ihr stolzen Edelleute!
Wir haben Gottes Wort zur Seite/ 62

Selbstverständlich wurde solcher Vorstellrmg vom Bauern als einem Kämpfer für
Freiheit und Volksrecht der Begriff vom Bauern in der gottgewollten Ordnung
entgegengestellt. Der Fürst kann Fürst, Schutzherr seiner Untertanen, Oberhaupt
seines Staats bleiben, ohne Despot oder Tyrann zu werden, und der Bauer kann, darf
und soll, mit allem Genuß einer vernünftigen Freiheit, Bauer sein und bleiben, ohne
von Gleichheit der Stände zu träumen oder sich den Kopf durch Fratzen von Volks-
Majestät verrücken zu lassen (Mos1m)5 3 •
Der revolutionäre Begriff des Bauern, in noch gesteigerLer Verbindung des franzö-
sischen Vorbilds mit biblischem Pathos, findet sich am extremsten bei GEORG
BÜCHNER und dem Theologen LUDWIG WEIDIG („Der Hessische Landbote", 1834)
Die Hütten der Bauern und Bürger stehen den Palästen der Fürsten und des Adels
gngoniihcr. Daß Vollo, im Sinne der franzö11ilich11n clalillileli populaires, liP.gt 11nr 1:hnPm.
wie Dünger auf dem Acker. Mit Hilfe Gottes soll es gewaltsam aus der Dienstbarkeit
zur J!'reiheit gelangen, aus den Dornäckern der Knechtschaft zum W einberye de·r
Freiheit und zum Freisein bis ins tausendste Glied 54• Bezeichnenderweise wurde
auch die Erinnerung an den Bauer.ukJ:ieg von 1525 in den dreißiger und vierziger
Jahren verstärkt wachgerufen, gipfelnd in ZIMMERMANNS großer Darstellung
(1841/43) und ENGEL!!\' hi1:1turisch-umw1·ialÜ:!Li!luher Deutung (Hl50) 55• Im Gefolge
der Julirevolution von 1830 und vor allem der Februarrevolution von 1848 hat es
Ansätze zum Einbeziehen der Bauern in „volks"-revolutionäre und demo:lrratische
Bewegungen gegeben. Doch ebbte diese Bewegung 1848 in den meisten Gegenden
Deutschlands schnell ab, nachdem die Forderungen zum Abschluß der Bauern-
befreiung erfüllt waren. Der badische und pfälzische Aufstand 1849 - in Gebieten
des Bauernkriegs von 1525, in denen Realteilung vorwog und die ländliche Über-
völkerung des Kleinbauerntums zu bitterer Not geführt hatte - waren ein letzter
Ausdruck dafür, daß der Bauer ,,volks"-demokratisch begriffen werden konnte und
die alte ständische· Sonderung gegenüber den (Klein-)Bürgern sich dabei ebenso
verwischte wie die zwilicheu „Vollbauern" und untcrbäuerlioher Sohioht. Statt-
dessen setzte sich in der Periode der Bauernbefreiung zwischen 1780 und 1850 im

62 Zit. PERCY STULZ, Die antifeudale BauernbewegUng, in: PERCY STULZ/ALFRED ÜPITZ,

Volksbewegungen in Kursachsen zur Zeit der Französischen Revolution (Berlin 1956), 52;
vgl. auch KYÖSTI JuLKu, Die revolutionäre BewegUUg im Rheinland am Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts, Bd. 1 (Helsinki 1965), 273 f.
63 FRIEDRICH KARL FRH. v. Mos1m, Probe eines deutschen politischen Volcks-Catechismus,

NAnAR P11.trinti1111hA11 Arr.h. 1 (1792), 398.


64 GEORG BÜCHNER/LUDWIG WEIDIG, Der Hessische Landbote, hg. v. Hans Magnus Enzens-

berger (.l!'rankfurt l!J63), 3. H!.


56 WILHELl\I ZIMMERMANN, Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges, 2 Bde.

(Stuttgart 1841/44); FRIEDRICH ENGELS, Der deutsche Bauernkrieg (1850). MEW Bd. 7
(1960), 327 ff.

421
Bauer DI. 5. Steüi wul Arndt

Spannungsfeld von Revolution und Restam-ation der Begriff eines Bauern, maß-
geblich auch für die folgende Zeit, durch, in dem die Forderungen der Reformer -
„Mensch", „Landwirt", „Staatsbürger" - zwar enthalten, aber durch die Betonung
des „Standes" ihrer revolutionären Konsequenz entkleidet wurden. Der Begriff des
Bauern wurde mehr und mehr in Anlehnung an eine idealisierte Vergangenheit, im
Gegensatz zu einer extremen Liberalisierung, Rationalisierung und allgemeinen
bürgerlichen Nivellierung gesehen. Damit verschwand zunehmend auch eine bis
dahin vielfach übliche begriffliche Unschärfe in der Abgrenzung der eigentlichen
Bauern mit voller Ackernahrung von den Kleinstellenbesitzern oder gar den land-
losen Leuten des Dorfes. Zwar waren diese Gruppen in der sozialen Rechtssprache
(z. B. in Westfalen: 'Vollerben', 'Halberben', 'Kötter', 'Heuerlinge') und in der
kommunalen Rechtsstellung scharf unterschieden worden, aber der Begriff 'Bauer'
hatte sie alle umfassen können.
Noch für CAMPE war 'Bauer' in der aZ'lgemeinen Bedeutung einer, der auf d,em Lande
lebt: dalier in Schwaben Edelleute, welclie auf dem Lande leben, sammtne Bauern
genannt werden . • . Dann solclie Bewohner des Landes, die keine BWrger sind und
auch keinen Ackerbau treiben, als Häusler, Tagelöhner etc. Freilich setzte Campe
hinzu: 1n engerer und gewöhnlicher Bedeutung diejenigen Landleute, welche eignen
AclreruU'u lretoon, dU'vun Uire N ah'f'lllYllJ ziehen und dem Gt'undherrn iinsen, Frohn-
dienste tun müssen etc.; in Gegensatz der Häusler, Brinksitzer etc. 56•
Setzte sich diese letzte Feststellung Campes durch - und das war überwiegend der
Fall -, dann war der Bauer inmitten der neuen sozialen Bewegung ständisch ab-
gegrenzt und virtuell von einem möglicherweise revolutionären „ Volk" getrennt.

5. Das Verhältnis des Bauem zu Staat und Nation bei Stein und Arndt

Entschiedener als bei dem aufgeklärten Hardenberg waren für .den FREIBERRN
VOM STEIN die. persönliche Befreiung und die Grundentlastung der Bauern vor allem
ein Teilstück seines Ziels, die „Nation", d. h. die selbständigen Grundeigentümer
des Landes sowie die hausbesitzenden, geschäftserfahrenen Stadtbürger Preußens;
durch aktive Verantwortung in Selbstverwaltung und Repräsentation dem Staate
zuzuführen, um diesen durch sie getragen und belebt sein zu lassen. Dabei wollte
er nicht nur die unterbäuerliche Schioht, sondern auch Kleinbauern ausschließen,
da er ähnlich wie Möser davon überzeugt war, daß nur ein Dasein in Selbständig-
keit und oberhalb täglicher Armutsplackerei Grundlage für eine öffentliche Ver-
antwortung sein konnte. Er wünschte daher, daß dfr, flfl,ndwfrt.~ch.aft von ver-
mögenden Besitzern betrieb,en werde 57 und daß es sich bei den zur Repräsentation
zugelassenen Rustikal-Besitzern oder den Bauren 58 nur um die mittlere Klasse der

H CAMPE Bd. 1 (1807), 389.


67 Frul. VOM STEIN, Denkschr. ,;Ober die Verleihung des Eigentums-Rechts an die Immediat-
bauern", Königsberg, 14. 6. 1808, Br. u. Sehr., Bd. 2/2 (1960), 758.
as KARL NICKLAS v. REHDIGER, Denkschr. „Über den Entwurf einer Repräsentation",
Königsberg, 7. 11. 1808, ebd., 922. Vgl. u. a. auch STEINS Bemerkungen zu den „Grund-
zügen einer Provinzio.l- und RoichGvo1fä133ung im Königreich Hannover", Frankfurt, Illnde
1818; dort kritisierte Stein die ungenügende Reprä~entation des pT,atten Landes und trat
für die Vertretung der bäuerlichen Besitzer ein, da sie fester und inniger mit dem Lande durch
Besitz verbunden sind, als der Kaufmann, der Rentenierer, usw.; ebd., Bd. 5 (1964), 834.

422
m. 5. Stein und Arndt Bauer

Grundeigentümer handeln sollte59 ; Mehrfach hat sich Stein gegen Zerstückelung


bäuerlichen Grundeigentums sowie gegen eine Expansion des Großgrundbesitzes
durch Aufkaufen oder „Legen" von Bauern gewandt, weil dadurch der dem Staate
so förderliche Stamm der „mittleren" Grundeigentümer gefährdet und uner-
wünschter Proletarisierung des Landes Vorschub geleistet würde. Damit war ein
Thema angeschlagen, das zunächst von der politisch-ökonomischen Intelligenz,
alsbald aber auch von bäuerlicher Seite selbst unaufhörlich aufgegriffen wurde:
Erhaltung des Besitzstandes gegen die Gefahr der Güterzerstückelung durch
Realteilung oder infolge von Verschuldung 60 , Dahinter stand die Sorge, den
Bauernstand innerhalb der sozialen Verschiebung auf dem Lande zu behaupten,
da die Unterschicht, das hergebrachte Maß sprengend, so stark wuchs, daß der
Bauer auf dem Dorfe in die Minderheit geriet. Nur durch Sicherung der voll „spann-
fähigen" Betriebsgrößen konnte der Bauer als Mensch, Landwirt und Staatsbürger
in seinem Stande gesichert bleiben. Die preußische Gesetzgebung zur Grundent-
lastung (1811, 1816) bekräftigte die Tendenz, daß ein Bauer im eigentlichen Sinn
eine volle, auskömmliche Ackernahrung haben mußte 61 • Der Bauer sollte nicht
mehr der „arme Mann" sein, und Büchners Zuordnung des Bauern zur „Hütte"
entsprach nur dann der Wirklichkeit, wenn das Landvolk aller Schichten einbezogen
wurde: Das war aber weit überwiegend nicht der Fall.
In ähnlichem Sinne wie Stein setzte später FRIEDRICH LIST 1842 eine ausreichende
Landausstattung der bäuerlichen Wirtschaften und die Abwehr gegen das Über-
handnehmen der „Zwergwirtschaft" 62 mit der politischen Rolle, die der Bauer als
Staatsbürger zu spielen hatte, in Beziehung, allerdings bereits in einem modernen
nationalökonomischen System und im Hinblick auf den eindeutigen Verfassungs-
typus der „konstitutionellen Monarchie": Wif glauben ... , die MehrzaJil der Grund-
besitzer könne ·und müsse . . . gehoben werden, wenn die neue Ordnung der Dinge
Bestand haben und die Zivilisation unserer Nation nicht rückwärtsgehen soll63 •

69 STEINS Beurteilung des Rehdigerschen Entwurfs über Reichsstände, 8. 9. 1808, ebd.,

Bd. 2/2 (1960), 854.


so Als Beispiel einer sehr entschiedenen bäuerlichen Stellungnahme vgl. die Petition von
Schwarzwälder Hofbaue-l"Il an die Frankfurter Nationalversammlung (20. 11. 1848) gegen
das Prinzip der Freiteilbarkeit. Werde dies freigegeben, dann werde sich die zahlreiche
Kkuse der selbständigen Hofbauern in Kleinbauern verwandeln, von da werde es fortgehen
in eine Kkuse, die von der Hand zum Mund lebt und in neuerer Zeit den Titel Proletariat
erhalten hat; zit. FRANZ, Quellen, 4'3 (s. Anm. 17).
61 Hatte das Edikt von 1811 von bäuerlichen Besitzungen oder BauerngiiJ.ern gesprochen,
so entschied die Deklaration des Edikts 1816, um das Schwankende du Begriff8 der bäuer-
lichen Stellen zu beseitigen, zwischen blJ,uerlicher Stelle, die ihren Inhaber al8 selbstl.tndigen
Ackerwirt ernährte, also spannfä.hig sei, und Dienstfamilien-Etablissements, d. h. Klein-
stellenbesitzer oder grundbesitzenden Landarbeitern ohne eigenes Zugvieh; zit. CoNZE,
Quellen, 119. 121. 127 f. (s. Anm. 31).
611 Von Fm:EnmcH LIST definiert als allgemeine Kartoffelwirtschaµ, bei der die Mehrzahl der
Landwirte ihr Leben damit zubringt, Kartoffeln ZU bauen und Kartoffeln zu essen und im
Schkndriti1i verkommt, weil jedermann rruihr Zeit auf Händen luU, als ~r zur B!llWryung
seiner kümmerlichen W irtschaµ zu verwenden braucht; Die Ackerverfassung, die Zwerg-
wirtschaft und die Auswanderung (1842), Schriften, Bd. 5 (1928), 443.
68 Ebd., 475.

423
Bauer m. s. Stein und Arndt
Der Bezug des aus dem „Feudalismus" freigelassenen Bauern zur „Nation" war
eine zentrale Frage für die neue Begriffsbestimmung des Bauern. War mit 'Na-
tion' im 18. Jahrhundert oft noch die Gemeinschaft der Stände, z. T. schon ein-
schließlich der Bauern, eines bestimmten Landes oder Staates gemeint, wie etwa
bei den „ökonomischen Patrioten" 64, so nahm seit Möser die Neigung zu, Äußerun-
gen über den Bauernstand ausdrücklich auf die deutsche Nation zu beziehen, oder
allgemeiner: die Freiheit .und Kraft eines Volkes in erster Linie in der bäuerlichen
Freiheit begründet zu sehe:p.. ERNST MoRITZ ARNDT tat das im leidenschaftlich
betonten Nationalgefühl, das allerdings die zeitgemäße Zusammengehörigkeit von
Patriotismus und Humanität noch nicht aufgegeben hatte.
Arndt verfocht in scharfer Abwehr gegen jede Adelsherrschaft die Freilassung und
die Erhaltung der Bauern in der Erinnerung an altgermanische Gemeinfreiheit
und in der Hoffnung auf die glückliche Zukunft der Nation Init dem „Mark"
eines kräftigen, freien Bauernstandes. Der Bauer ist des Vaterland68 erster Sohn;
wann er ein Knecht wird, ... dann ist es wahrhaftig untergegangen. Wer also ein
festes und glorreiches Vaterland will, der macht festen Besitz und feste Bauern6 ö.
Ein Land sei desto sicherer, stärker und wehrhafter, ... je mehr freie Bauern mit
kleinem oder mittelmäßigem Eigentum in Grundstücken es habe 66 • Diese Bauern aber
dürften nicht mehr länger als die Unmündigen ?J,nd Snhirm.ln.~P.n 11tl1'säumt und zuriick-
gesetzt, sondern müßten ail der Repräsentativverfassung gebührend beteiligt wer-
den07. In deutlicher Gefuhlssteigerung gegenüber Möser und 8tein wurde der Bauer
zum Träger der Volkskraft, zum Staatsbürger in politischer Verantwortung und im
WehrdiensL - im Einklang mit Scharnhorsts Militärreform. Alte Topoi vom „ersten
Beruf" und von der reinen Natürlichkeit des Bauern wurden dem imgnmde gelegt:
D·i131Jer Bwuernstand ist der Natur der menschlichen Dinge nach beides, die zahl-
reichste und ehrenwerteste Klasse des Volks. In ihr wohnt mehr als in andern Klassen
des Volks die ursprüngliche und gediegene Naturkraft, die Reinheit der Sitt.en, die
Treue und Redlichkeit der Gesinnung; in ihr wohnt der Mut und die Ausdauer, wel.che
die tapfersten und rüstigsten Verteidiger des Vaterlandes geben 68 •
Arndt war sich der Gefahr wirklichkeitsfremder Idealisierung seines kühnen
Bildes vom „freien", „edlen", aber nicht „vornehmen" Bauern, der seine „Men-
schenehre" im Gegensatz zur Adelsehre hochhielt, bewußt. Es ist bemerkenswert,
daß er dieses Bild auch nicht als allgemeingültig ansah. Es habe bisher nur dort
gelten können, wo der Bauer nicht „knechtisch", sondern überwiegend selbst Land-
besitzer gewesen sei. So stehen unter den Ländern Europas Schweden und Norwegen

8 ' Zweifellu1:1 auch etwa in den Sätzen Altensteins und SchloRRel'R (s. Anm. 33 u. 43). Auf

Preußen bezogen bei HEINRICH STEPHANI, Über die Elementarschulen auf dem Lande
(1800), zit. FRANZ, Quellen, 331: Da die Lawlbewohner den eigentlichen Kern jeder Nation
ausmachen und von der Natur berufen zu sein scheinen, denjenigen Stand zu bilden, wo
Unschuld des Herzens und wahre Glück8eligkeit am meisten zu Hause Bein kann ... Des freue
dich, BorusBia.
86 ERNST MoRITZ ARNDT, Über künftige ständische Verfassungen in Deutschland (1814),

Werke, Bd. 13 (1908), 232 f.


86 Ders., Über den Bauernstand und über seine Stellvertretung im Staate (1815), ebd.,

Bd. 14 (1908), 194. ·


87 Ebd„ 208.

68 Ders„ Ständische Verfassungen, ebd., Bd. 13, 229.

424
W. 6. Die rationelle Landwirtschaft 'l'haers Bauer

wegen dieser echt germanischen und natürlichen ßinteilung des Grundeigentums in


einer Herrlichkeit und Stärke da, welche für die Zukunft notwendig G<roßes gebären
muß. Dieses Ideal allgemein zu erreichen, das sei als Folge der Bauernbefreiung zu
hoffen69 •
Damit war in einer noch traditione1len Sprache und Begrifflichkeit der Ansatz zur
Einbeziehung des Bauern in eine nationalistische Ideologie erreicht. Der Bezug zu
Arndt wurde später wiederholt in diesem Sinne hergestellt, zuletzt mit starker
Betonung in der nationalsozialistischen Zeit. Das Wort 'Bauerntum' wurde jedoch
von Arndt noch nicht verwendet.

6. Die rationelle Landwirtschaft Thaers

Tm Gr.e1mRatr. ?.nr rom11.ntiRoh-n11.tion11.lr.n f!ioht flr.r 'ßanr.rnhr.frr.hme hr.i Arnflt


stand Ä.LBREOHT THAER ganz im.Banne der technisch-ökonomischen Fortschritts-
theorie nach dem Vorbild der „rationellen Landwirtschaft" Uro.lfüritanniens.
Für ihn war (1809) die Landwirtschaft ein Gewerbe, welches zum Zweck hat, durch
Produktion (zuweilen auch durch fernere Bearbeitung) vegetabilischer und tierischer
Substanzen Gewinn zu erzeugen oderGeld zu erwerben 70 • Vom 'Bauer' sprach Thaer
nur dann, wenn er von den grundherrlichen Lasten, vor allem uen Frohnden
handelte und die Erwartung hegte, daß wahrscheinlich alle Regierungen die Auf-
hebung der Frohnden gegen billigen Ersatz . . . auf alle Weise befördern werden, indem
man allgemein anerkennt, welch eine große Masse von arbeitenden Kräften, die fetzt
fast schlafen, dadurch erweckt und zum Vorteil des Staates in Tätigkeit gesetzt werden
würde/Oa.. Das Modell des Thaerschen Begriffs für die Zukunft war nicht mehr ein
irgendwie eigen gearteter .Hauer, sondern allem der somit zum Uegenbegr1ff des
'Bau~rn' werdende 'Landwirt', der sein Gewerbe je nach Können und Vorbildung
verschieden vollkommen ausübt. Das Gewerbe kann auf dreierlei Weise gelehrt und
erlernt werden: 1) handwerksmäßig, 2) kunstmäßig, 3) wissenschaftlich. Diesen Unter-
scheidungen war impiiziert, daß der bäuerliche Landwirt, der sein Gewerbe noch
in der hergebrachten Weise betrieb (kann bloß nachahmen, und bei seinen gewohnten,
nach Raum und Zeit mehr oder minder modifizierten Handgriffen bleiben, wovon er
keinen VerstandsbegriU hat oder zu haben braucht) 71 , durch Lehre allmählich zur
kimstmäßigen, d. h. gelernten, und zur wissenschaftlichen, d. h. selbst das Gesetz
gebenden Ausübung der Landwirtschaft kommen könne. Diese Richtung wurde in
der Tat eingeschlagen. Das landwirtschaftliche Hochschul-, Bildungs- und Vereins-
wesen förderte den Weg der Landwirtschaft zu einem Gewerbe oder einem Beruf
inmitten der allgemeinen Gewerbe- und Berufsentwicklung. Schon daß Landwirt-
schaft als Beruf „gewählt" werden konnte, bedeutete etw_as grundlegend Neues
für das allgemeine Bewußtsein. Waren die Mustergüter, die Schriften und Schulen
der „wissenschaftlichen" Landwirtschaft, die zur Ausbildung ihrer „Betriebslehre"

69 ARNDT, Bauernstand, ebd., Bd. 14, 201.


70 .ALBRECHT THAER, Grundsätze der rationellen Landwirtschaft, Bd. 1 (Berlin 1809), 3.
7_oa. Ebd., 66.
71 Ebd., 3 f. Belege zum begrifflichen Gegensatzpaar 'Landwirt' - 'Bauer' bei HEINRICH
MuTH, „Bauer" und „Bauernstand" im Lexikon des 19. und 20. Jahrhunderts, Zs. f.
Agrargesch. u. Agrarsoziologie 16 (1968), 80 :ff.

425
Bauer III. 7. Die Restauration bei Adam Müller

überging, praktisch zunächst auch vorwiegend auf „gebildete" Ökonomen einge-


stellt, so war doch von vornherein das im Laufe der Zeit z. T. erfolgreiche Bestreben
damit verbunden, „die Wirte bäuerlichen Standes" mit einzubeziehen.
Für ein solches Publikum gab JOHANN GoTTLIEB KOPPE 1812 seinen „Unterricht
im Ackerbau und in der Viehzucht" in erster, 1818 in zweiter Auflage heraus. Doch
in der Vorrede zur dritten Auflage 1829 bekannte er: die ungünstigen Bedingungen
des Kriegs und der Agrarkrise hätten den Bauernstand nicht so emporgeb'l'acht,
daß vielen Mitgliedern dieses Standes die Lust geblieben wäre, sich aus Schriften
über ihr Gewerbe zu belehren. So sei sein Buch vorwiegend in die Hände vieler Wirte
auf größeren Gütern gekomnwn72.
Damit war bereits zu Beginn erkannt, daß der Modellbegriff des „rationellen"
oder ,,wissenschaftlichen" Landwirts auf die Bauern in ihrer Allgemeinheit nicht
paßte. 80 v1mmhw11.nd der 'Bauer' ala Begriff nicht nur nicht, sondern mußte o.uoh
neu definiert werden.

7. Die Restauration he~ Adam Müller


Lag darin keine prinzipielle Ablehnung des Thaerschen 'Landwirts' als ausdrück-
-liehen Gegenbegriffs zum 'Bauern', sondern nur eine Angleichung an die „Rück-
ständigkeit" des wirklichen Lebens, so wurde die Bauern- und Bodenemo.nzipo.tion
allgemein und das Postulat des „Landwirts" als „Gewerbetreibenden" im beson-
. dern von gegenrevolutionär-konservativer Seite grundsätzlich abgelehnt, vor allem
von den Betroffenen, den adligen Herrn selbst - abgesehen von einer Minderheit
fortschrittlicher Gutswirte, besonders in Ostpreußen und Schleswig-Holstein, die
den Zusammenhang von Bauernbefreiung und rationeller Landwirtschaft bejahte
und da.raW1 praktisch Konsequenzen zog. Der ruärkii:mhe Gul..\lherr vu.N V.l!l& Mü-
WITz73 setzte sich entschieden für die alte Agrarverfassung in einer gegliederten
Gesellschaftsordnung ein, die für den Bauer und den Staat angemessener sei als
eine gegen gelte·iligte . . . Freiheiten gerichtete Gleichmachung aller Stände. ADAM
MÜLLER hob dies in seiner Auseinandersetzung mit Albrecht Thaer (1812)7 4 auf die
Höhe der Theorie, indem er die Einseitigkeit einer „rationellen Landwirtschaft"
0

anprangerte und ihre Übertragung aus den anders bedingten britischen Verhältnis-
sen auf Deutschland ablehnte: Die neue Theorie gehe darauf aus, alle nationak
Landwirtschaft in nwrkantilische zu verwandeln. Das Geschäft des Landbaus selbst,
seinem Ur8'P'f'unge nach Dienst des Staates und nichts Geringeres, soll durchaus zum
Gewerbe herabgewürdigt und dem großen Mechanismus der l ndustrie einverleibt werden.
Der Landwirt, d. h. sowohl o.ls Gutsherr wie als Bauer, müsse aber auch Staatswirt
sein, der erste Bürger und Diener des Staates. Die Wiederherstellung des nationalen
Ackerbaues sei der Natur und der bürgerlichen Gesellschaft (im personalen Sinne der
Lehensverfassung) angemessen. Die Lohnarbeit im Zivil- und Militärdienst, wie sie
von den Fürstenstaaten eingeführt worden sei, habe bereits das heilige Bündnis eines
71 ,J, G. KO'Pl'lll, TTnfa~rrinht, im Ankerbau und in der Viehzucht, 10• .A.Wl., hg. v, Emil v.
Wolff (Berlin 1873), XX ff.
7 3 Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der
Befreiungskriege, hg. v. F'mEDRICH MEusEL, Bd. 2/2 (Berlin 1913), 14. 19. 2L
74 ADAM MÜLLER, Agronomische Briefe (1812), Ausg. Abb., hg. v. Jakob Baxa (Jena 1921),

71 ff.

426
m. 8. Progression nncl Bebarrnngi Regel, List Bauer

Volkes mit seinem B00en geschwächt. Die neueste Richtung zur allgemeinen welt-
wirtschaftlichen Interdependenz aber verderbe die menschliche Ordnung von
Grund auf. Sie müsse, wenn ihren Konsequenzen nicht gewehrt werde, dazu führen,
daß der Landwirt als Lohnarbeiter in die Universalfabrik des stlidtischen Lebens
eingehe, die blind ihr Gesetz empfängt vom Markte und ihre endliche Vergeltung im
Krankenhaus.

8. Der BegriJJ 'Bauer' im Spannungsfeld von Progression und Beharrung:


Hegel, List
Innerhalb dieser durch die theoretischen Pu~iLiunen Thaers und Müllers aufge-
rissenen Spannung wies HEGEL (1820) auf die Wirklichkeit des Bauernstandes in
der politisch-ökonomischen Bewegung hin, indem er das ThA.ATRllhA Mo<lell nur 11.lR
denkbare Möglichkeit, nicht jedoch für die Wirklichkeit des Lebens gelten ließ,
.Im Zusammenhang. seines Systems der B~ürfnisse spricht er vom substantiellen
und ersten Stand und setzt ihn zum Stand des Gewerbs, dem zweiten Stand in Gegen-
satz: In unserer Zeit wird die Ökonomie [ = Landwirtschaft] auch auf reflektierende
Weise, wie eine Fabrik betrieben, und nimmt dann einen ihrer Natürlichkeit wider-
strebenden Charakter des zweiten Standes an. Indessen wird d·ieser erste Stand immer
mehr aie Weise des patriarchalischen Lebens und die substantielle Gesinnung desselben
behalten. Der Mensch nimmt hier mit unmittelbarer Empfindung das Gegebene und
Empfangene auf, ist Gott dafür dankbar und lebt im gläubigen Zutrauen, daß diese
Güte fortdauern werde . . . Dies ist die einfache, nicht auf Erwerbung des Reichtums
gerichtete Gesinnung: man kann sie auch die altadelige nennen . . . Bei diesem Stande
tut die Natur die Hauptsache, und der eigene J!'lei/J ist dagegen das Untergeordnete,
wäh!r1Jnd beim roweit1m Stande gerade der Versta.nd da.s WesentUche ist 11.nd drM Nal.11.r-
produkt nur als Material betrachtet werden kann 75 •
FRIEDRICH LIST dagegen wünschte (1842) um des· Fortschritts der Landwirt-
schaft innerhalb seines „Nationalen Systems" der politischen Ökonomie willen
das Wort Bauernstand ... wegen der Begriffe von Erniedrigung und Elend, die man
damit verbindet, überhaupt ausgerottet und durch den Begriff Stand der Landwirte
ersetzt zu sehen76 • Er bezeichnete dainit eine Tendenz, die sich tatsächlich in vielen
Gegenden DeutRchlands durchsetzte, indem als Berufs- und Selbstbezeichnung
'Landwirt' statt 'Bauer' gesetzt oder, wie in Ostpreußen, 'Besitzer' analog zu
'Rittergutsbesitzer' für Pferde haltende Bauern als standesgemäße Bezeichnung
bevorzugt verwendet wurde, weil man sich des vorbelasteten Bauernbegriffs ent-
ledigen wollte.' Damit wurden sowohl der Zug zur fortschrittlichen Landwirtschaft

7 6 HEGEL, Rechtsphilosophie,§§ 201. 203, Zusatz. 204.


76 LisT, Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschaft und die Auswanderung,
Schriften, Bd. 5,
478, Anm. 1. CAMPES Feststellung von 1807 wirkte weit ins 19. Jahrhundert hinein:
Uneigentlich versteht man unter Bauer einen groben, ungesitteten Menschen. Er ist ein grober,
ein rechter Bauer; Bd. 1, 390. Dieser Vorstellung entsprach die Scheu, sich 'Bauer' zu nen-
nen, sofern nicht aus Protest dagegen die „Ehre" des Bauern durch betonte Verwendung
des Wortes gerettet werden sollte. MlTTERMAIER, der selbst das Wort 'Bauer' nicht auf-·
geben, sondern zu neuer Ehre kommen lassen wollte, merkte gleichwohl an: In neuerer Zeit
hat man bei Volkareprä8entationen zweckmäßiger das Wort weggelassen und dafij,r von Land-
eigentümern gesprochen; Art. Bauer, 160 (s. Anm. 2).

427
Bauer IIl. 9. Liberaler Historismus: Welcker

wie der Trieb zum sozialen Prestige angedeutet. Doch klagte List zugleich: In
Deutschland ist zur Zeit einefreimütige Untersuohung über die Aolcerverfassung und
die darauf infiiereruien Institutionen kaum anzustellen, wenn man nicht Gefahr laufen
will, bei allen Parteien anzustoßen; denn der Adel sehe die Forderung auf alte
Vorrechte zugunsten einer aufgeklärten, freien und starlren Demokratie, in der ein
freier, wohlhabender und aufgeklärter Stand von Landwirten sich entfalten könne,
als Jakobinismus an. Erstrebe man aber eine zweckmäßige, den Großgrundbesitz
einschließende Betriebsgrößenverteilung - gegen eine Pulverisierung des Grund-
vermögens - , so werde man des Aristokratismus bezichtigt. Von der Beamten-
aristokratie aber werde man der Ideologie verdächtigt, wenn man von unzweck-
mäßiger Flurverfassung und der Gefahr der Güterzerstückelung spreche77 • Damit
war um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Begriff des Bauern in der Sozialverfas-
sung in den Streit der Interessen, der ,,l'arteien" und „Ideologien" geraten.

9. Liberaler Historismus: W elcker

Bemerkenswerterweise standen die politischen Liberalen des Vormärz weniger in


der Nähe der „rationellen Landwirtschaft" und ihrer möglichen politischen Impli-
kntioncn, sondern trotz ihrer konstiLutionellen Wertmaßstäbe in einer Linie, ili1:1
durch Möser und Arndt bezeichnet ist. Repräsentativ sind Carl Welcker im „Staats-
lexikon" (1835) und Karl Mittermaier in Ersch/Grubers Lexikon (1822) 78 •
Im Anschluß an Möser und Eichhorn vertrat WELCKER die geschichtliche Theorie
der germanischen Gemeinfreiheit und folgerte daraus, daß es falsch sei, wenn man
mit dem allgemeinen Begriff des deutschen Bauernstandes den Begriff von Unfreiheit
oder Hintersassigkeit ... verbinden - und daran die absurden und für die deutschen
Bauern so unheil•l)oll gewQ'fdenen juristischen Prä.~umtionen knü.pfP.n umllt.P., dn.ß bei
allen deutschen Bauern und ihren Gütern entweder Leibeigenschaft oder Gutsherrlich-
keit oder gar nur römisches Zeitpachtrecht und überall das wenigste von Freiheit und
Eigentumsrecht anzunehmen sei. Nach langen Jahrhunderten der Bedrückung im
Feudalismus und in der Zeit der souveränen, feudalen Landeshe"schaft bis zur Mitte
des 18. Jahrhunderts sei erst in der Zeit der Ausbildung unserer staatsbürgerlichen
Repräsentationsverfassungen .dieser Zustand erkannt und gemildert worden. Zwar
gehe der Kampf um die Erhaltung der feudalen Überreste noch fort. Aber der Aus-
gang des Kampfes sei sicher. Schon jetzt habe sich der Begriff des Bauernstandes
verändert. Die Bauern hätten oder erhielten alle den Bürgern gleiche Rechte (Recht
zu städtischen Gewerben, freier Bodenverkauf, Militärdienst, aktives und passives
Wahlrecht, Bildung), so daß kein einziges, allgemeines,· in ganz Deutschland beste-
hendes eigentümliches Rechtsverhältnis mehr für den Bauernstand bestehen könne.
Bei solcher Tendenz allgemeiner bürgerlicher Gleichheit gebe es heute !reinen andern
allgemeinen Begriff vom Bauern als den nach dem Wohnorte und der Lebensbeschäfti-

77LisT, Ackerverfassung, 429 ff., bes. 431 (s. Anm. 62).


78C. WELCKER, Art. Bauer, Bauerngut, RoTTECK/WELCKER Bd. 1 (1835), 245 ff. 257 ff.
Der Artikel blieb bemerkenswerterweise in der 3. Aufl. (Bd. 2, 1858, 371 ff.) in Tendenz
und Darstellung unverändert, lediglich die erfolgte Bauernbefreiung wurde berücksichtigt.
Die Definition des allgemeinen Begriff& vom Bauern fiel aber weg. - Vgl. MlTTERMAIER, Art.
Bauer, passim (s. Anm. 2).

428
m. 9. Liberaler Historismus: Weleker Bauer

gung gebil,deten, so daß man diejenigen darunter versteht, welche auf dem Lande
wohnen und den Landbau als ihr Lebensgeschäft selbst betreiben.
Die Konsequenz solcher im Prinzip nicht nur liberalen, sondern auch demo-
kratischen Begriffsbestimmung wäre das Aufgeben des „Bauernstandes" zu-
gunsten „landwirtschaftlich tätiger Berufspersonen" überhaupt gewesen. Doch
davor scheute Welcker zurück. Zu den Entscheidungsfragen der Agrargesetz-
gebung (Unteilbarkeit, Unveräußerlichkeit) äußerte er sich sehr vorsichtig unter
Hinweis auf die besonderen Zeit- und Landesverhältnisse sowie die Mannigfaltigkeit
der Rücksichten. Zwar solle es keine Restauration der feudalen, kastenmäßigen
Absonderungen der Stiinde geben, aber auch keinen gesetzlichen Vorschub zu
Gunsten einer allgemeinen Gleichmacherei und zur unbedingten Zerstörung aller
früheren Verhältnisse, Einrichtungen und selbst der naturgemäßen Scheidungen
und Unterschiede der Stände, ihrer besonderen Sitten und Lebensweisen. Es ging
Welcker also zwar um die Befreiung und Bildung der Bauern im allgemeinen bür-
gerlichen Sinne, zugleich aber um Bewahrung ihrer naturgemäßen Standesart.
Man bewundere solcher Landleute physische Gesundheit und Kraft wie ihre unver-
dorbene und kräftige Gesinnung und ihr gesundes treffendes Urteil, das männliche
Festhalten alter Treue und alter Grundsätze und Sitten, alter Freiheiten und Rechte.
Ähnlich verband MITTERMAIBR die historische Retrachtung mit der Bejahung der
liberalen Reformen und sah die Zeit nahe, wo der alte Begriß: Bauer seine verächt-
liche Nebenbedeutwng verUeß und von einem .Bauernstande in dem Sinne, wie man
noch vor mehreren Jahren davon sprechen konnte, nicht mehr gesprochen werden kann.
JOHANN CARL BERTRAM STÜVE, der Schöpfer der hannoverschen Gesetzgebung zur
Bauernbefreiung, spannte 1828, aus der Anschauung seiner Osnabrücker Heimat
urteilend, den Bogen von der modernen Emanzipation. zur uralten freien Art
„königlicher" Bauern: Es sei die Folge der Herstellung freien Eigentums, daß sich
eine Klasse von Landwirten bildet, die als Könige auf ihrem Hofe die Freiheit schüt-
zen ... Der Charakter des Landmanns ist durchaus aristokratisch; er glaube, daß,
um gut zu sein, die Demokratie aristokratisch sein müsse wie überall, wo das Grund-
eigentum regiert 79 • Hierzu paßt Immermanns „Oberhof" im „Münchhausen" (1838)
und Gotthelfs Bauer, der, wenn er „recht" ist, ein „Edelmann" ist, wie die Bäuerin
eine „kleine Königin". Mit dieser Harmonisierung - sowohl Emanzipation wie
Erhaltung guter, o,lter Art - ist nicht nur die breite mittlere Linie des „Vormärz",
sondern im Grunde auch der darauffolgenden Zeiten bis an die Gegenwart heran
bezeichnet, anfangs noch in betontem Gegens-atz zum „niedrigen", „untertänigen",
„armen" Bauern der überwundenen Sozialverfassung des „Feudalismus". Nur blieb
es in der Härte des wirklichen Lebens nicht aus, daß es vielfach an der Fähigkeit
und am Willen gebrach, diese Synthese von Moderne und Standesbewahrung sach-
lich und begrifflich durchzuhalten. So liefen im 19. Jahrhundert typisch nebenein-
ander her: auf der einen Seite die nationalökonomische Kennzeichnung des kleinen
Grundbesitzers 80 oder des „Landwirts", die sich mühelos in jede Moderniserung ein-
fügen ließ, auf der anderen Seite der ideologisch befrachtete Begriff des Bauern,
der zu dieser Entwicklung meist im Gegensatz gesehen wurde.

7e Briefe Johann Carl Bertram Stüves, hg. v. WALTER VOGEL, Bd. 1(Göttingen1959), 116.
ao WILH. HEINRICH RIEHL, Art. Bauernstand, BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 1 (1857), 680.

429
Bauer m. 10. Der Begriff im Sozialismus: Man: untl Engel&
10. Der Begrilf im Sozialismus: Man: und Engels

Um 1840 traten auch die von List noch rocht mitgemeinten Sozialisten in diesen
Kampf ein. In den Utopien der frühen Sozialisten ging es um die Gesellschaft der
Zukunft mit Gütergemeinschaft und Arbeitspflicht, mit gemindertem oder gerecht
neu geregeltem (Grund-)Eigentum. Mochten solche Vorstellungen auf einen vollen
(insbesondere agrarischen) Kommunismus oder auf kleinbäuerliche Existenz im
Anarchismus hinauslaufen, sie blieben ohne wesentliche Bedeutung für die deutsche
Begriffsgeschichte vom Bauern. Dagegen stellte sich das Problem bei MARx und
ENGELS sowie später in der den „Marxismus" allmählich annehmenden deutschen
Sozialdemokratie. Marx verband sozialistisch-kommunistische Zukunftserwartun-
gen mit nationalökonomischen Lehren und Erfahrungen aus England, wenn er im
„Kommunistischen Manifest" und, breiter begründet, im „Kapital" von der not-
wendigen „Expropriation" oder „Proletarisierung" der „kleinen Mittelstände",
d. h. auch der Bauern, im fortschreitenden Prozeß der „kapitalistischen" Entwick-
lung sprach.
Bereits vor der großen Revolution mußte es für ihn zu einer Schwächung und
Verminderung der Bauern kommen. Nach der Revolution aber würden die Groß-
grundbesitzer enteignet, ihr Land aufgeteilt und die Ranern - in ihrem eigenen
Tnt~rr.RAP. - in landwirt.~chaftliche C'remeinwirtimhaftim iihArföbrt worden. 1848
sagte Marx voraus: Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung indus~ller Armeen,
besorulers für den Ackerbau; Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und 1ndustrie,
Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land
in einer glücklichen Zukunftsentwicklung, in der der Idiotismus des Landlebens
der Vcrgangenheit angehören werde 81 •
:Marx und Engels hofft&n also darauf, daß dor Bo.uor, gleichgültig welchen Typs,
überhaupt verschwinden werde. Sprachen sie aber nicht von der Zukunftserwar-
tung, sondern vom Bauern, wie er sich ihnen hie et nunc darstellte, so schwankten
sie zwischen zwei entgegengesetzten Vorstellungen:
a) Sie sahen den Bauern im Zusammenhang ,der „Mittelstände" hinter der die Ent-
wicklung vorantreibenden Bourgeoisie zurückbleiben oder sich dieser Entwicklung.
erfolglos entgegenstellen - nicht revolutionär, sondern· konservativ 82 • Im Hinblick
auf die französischen Bauern („Parzellenbauern") sprach Marx von ihrer wirtschaft-
lichen Selbstgenügsamkeit und ihrer individuell isolierten Lebensweise. Sie seien
zwar eine „Klasse" infolge ihrer gemeinsamen Interessenlage neben oder im Gegen-
satz zu den anderen Klassen; aber insofern nur ein lokaler Zusammenhang unter
den Parzellenbauern besteht, die Die.selbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit,
keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt,
bilden sie keine Klasse . . . Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten
werden83•
81 MARx/ENGELS, Kommunistisches Manifest (1848), MEW Bd. 4 (1959), 481.
82 Ebd., 472.
83 KARL M.utx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW Bd. 8 (1960), 198. Vgl.

Rrnm., Die bürgerliche Gesellschaft, 6. Aufl. (Stuttgart 1861), 111 f.: Ein Netz der revolu-
tionären Propaganda iiber den deutschen Bauernetand zu wer/en, ist um deawillen unmöglich,
weil man vorher den Bauern a'U8 seinem örtlichen Sonderleben hera'U8reißen müßte, und das
wäre eine Aufgabe für Jahrhunderte.

430
m. 11. 'Stand' im Industriesystem: Riehl Bauer

Daß solche wirtschaftlich und politisch insuffizienten konservativ eingestellten


Parzelleneigentümer in der modernen kapitalistischen Bewegung, die der Revolu-
tion zutrieb, eine retardierende, paBSiv widerstehende apathische Masse darstellten,
das glaubten Marx und Engels deutlich zu sehen. Noch 1894 hat Engels das aus-
gesprochen und hat die Überführung der Bauern in Ackerbaugenossenschaften vor-
ausgesagte'. Denn es war ihm auch am Ende seines Lebens - wie schon im „Kom-
munistischen Manifest" - eine ausgemachte Sache, daß die ·ökonomisch zweck-
mäßige und dem Sozialismus angemessene landwirtschaftliche Betriebsform nur
der staatliche oder der genossenschafiliche <koßbetrieb sein konnte, wobei Genossen-
schaft und Privateigentum einander ausschlossen.
b) Im Gegensatz zu dieser bei ihnen überwiegenden Vorstellung haben Marx und
Engels die Bauern auch als potentiell revolutionäre Masse angesehen. Der Krakauer
Aufstand von 1846 hatte ihnen gezeigt, daß der Kampf für die Unabhängi,gk,eit
Polens zugleich der Kampf der agrar·ischen Demokratie sei85• Sollte es zur großen
Revolution in Europa kommen, so konnte sie in Polen und allgemein in Ost-
europa nur eine Bauernrevolution sein. Selbst für Deutschland hat Marx mit dem
Hedanken gespielt, to back the Proletarian revolution by some second edition of the
Peasant's waT (1856) 86• Wurde der Gedanke später auch für Deutschland aufge-
geben, so wurde er doch seit den siebziger Jahren erneuL auf Rußland angewendet.
Marx sah also den Bauer jeweils entweder revolutionär oder entwicklungshemmend
in bezug auf sein konstantes politisches Wunschbild, die Revolution in Europa,
und er war sich bis zu einem gewissen Grade dessen bewußt, daß die osteuropäische
Agrarverfassung (Realteilung nach der Bauernbefreiung, geringe Möglichkeiten
„kapitalistischer" Marktwirtschaft und „ Verelendung" in ländlicher Übervölke-
rung) anders als die deutsche einen revolutionären .Hegriff des .Hauern bis hin zur
grundlegenden Begriffsverbindung 'Bauer und Arbeiter' herausforderte.

ll. Neue Bestimmung des Begriffs ('Stand~ im Industriesystem): Riehl

Für den Begriff des Bauern im deutschen Bewußtsein blieb das alles von geringer
Bedeutung, um so mehr, als sich. die SPD selbst praktisch und theoretisch zuneh-
mend auf den Individualbauern einstellte87 • Wir sehen vielmehr, daß von der Mitte
des 19. Jahrhunderts an, als Bauernbefreiung, RAvolution und ländlicher Paupe-
rismus aufhörten, drängende Probleme zu sein, die Begriffe des Bauern und des
Bauernstandes, ungeachtet des unterschiedlichen Fortschreitens oder Zurückblei-
bens der bäuerlichen Betriebe in der landwirtschaftlichen Entwicklung, eher von

84 ENGELS forderte, es müsse den Bauern begreiflich gemacht werden, daß wir ihnen ihren

Haus- und Feldbesitz nur retten, nur erhalten können durch Verwandlung in genossensclwft-
liehen Besitz und Betrieb. Es ist ia gerade die durch den Einzelbesitz bedingte Einzelwirtschaft,
die die Bauern dem Untergang zutreibt; Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland,
MEW Bd. 22 (1963), 500.
86 MARx:; Neue Rheinische Zeitung, Nr. 81 (20. 8. 1848), zit. WERNER CoNZE, Einleitung zu:

KARL MARx, Manuskripte über die polnische Frage (1863-1864), hg. v. Werner Conze und
Dieter Hertz-Eichenrode (Den Haag 1961), 12.
8 8 MARx, Brief an Engels v. 16. 4. 1856, MEW Bd. 29 (1963), 47.
87 Grundiegend EDUARD DAVID, Sozialismus und Landwirtschaft (1903; 2. Aufl. Leipzig

1922).

431
Bauer m. 11. 'Stand' iw ludustrlesystem: Riehl
neuem abgesondert, als der Vorstellung einer allmählichen Angleichung von Stadt
und Land im Industriesystem aufgeopfert wurden.
Die Forschung jener Zeit, gipfelnd in. Hanssen und Meitzen, hat diese Tendenz
gestützt. Sie war vorwiegend historisch, z. T. speziell rechtsgeschichtlich oder auch
sozialgeschichtlich-soziologisch vergleichend gerichtet88• Ein national bestimm-
ter Historismus war ihre sich fast von selbst verstehende Grundlage. Das führte
zu wissenschaftlich begründeter Erkenntnis über die eigene, nationale Art im Ver-
gleich öder im Gegensatz zu anderen Nationen und Völkergruppen, somit zu ver-
tiefter Verbindung von Bauern- und Nationalgeschichte. HAXTHAUSEN, der die
russische Eigenart in der bäuerlichen Umteilungsgemeinde des Mir oder der Obllcina
entdeckt zu haben glaubte89, legte seinen Studien das Prinzip zugrunde, daß ins-
IJesondere die l,ändlichen Verhältnisse, sowohl die materiellen als die Rechtsverhältnisse
bei jedem Volke eine "besondere nationale Grundlage haben 90• Von solcher Voraus-
setzung aus wurden die verschiedenartigen „Agrarverfassungen" der europäischen
Völker, z. T. bezogen auf Germanen, Slawen und auch Romanen, herausgearbeitet:
englisch-westeuropäische Geldpacht, französische Freiteilbarkeit, mediterrane Teil-
pacht, deutscher Bauernstand, russischer „UrkommunismuR" llRW., hiR 7.lH' niffe-
renzierung von Agrarverfassungstypen im deutschen Bereich durch die Schule
G. F. Knapps g1ig1m Emfo des Jahrhunderts 91• Wie leicht solche wissenschaftlichen
Erkenntnisse oder auch Irrtümer, wie im Falle von Haxthausens Interpretation
der Mir-Verfassung, national-publizistisch übersetzt zu (keineswegs durchweg un-
berechtigtem) Stolz, aber auch zur Überschätzung eines spezifisch deutschen Bauern-
tums führen konnten, zeigen viele Äußerungen zur deutschen Bauerngeschichte bis
hin zum Nat.ionalsozialismus.
Eine national-konservative Wertung zu Beginn dieser Entwicklung zeigt HERMANN
WAGENERS Lexikon (1860), wo die Geldpacht Italiens, Frankreichs, Englands und
Schottlands sowie die italienische Halbpacht als verderblich, ja zerstörend für den
Bauernstand {das Wort 'Bauerntum' fehlt auch hier noch!) bezeichnet, für Deutsch-
land aber festgestellt und gefordert wurde: Nur solange der Bauer ein echter Natural-
wirt bleibt, bildet er die wahre Wurzel des Volks in ökonomischer Beziehung92 •
In diesem Zusammenhang ist WILHELM HEINRICH RIEHL zu sehen, wenngleich

88 Typisch für das fast allein vorwaltende historische und rechtsgeschichtliche Interesse

sind die beiden Artikel „Bauer" („historisch" und „rechtlich") von l\fiTTERMAIER bei
ERSCH/GRUllER (s. Anm. 2).
88 AUGUST F1m. v. IIA..xTHA.USEN, Studien über die inncrn Zustände, das Volksleben und

insbesondere die ländlichen Einricht1mgen Rußlands, Bd. 3 (Hannover 1852), 123: Um


die Natur des Mir oder der ru8aiachen Gemeinde zu erkennen, muß man den Grundcharakter
der ilawiachen Nationalität im allgemeinen und der nuaischen im bescmderen ac1wrf ins Auge
/aasen . . . Familieneinheit und Gütergemeinschaft war der ursprüngliche Charakter des
Slawentuma.
so Ebd., Bd. 1 (1847), V.
91 Vgl. hierzu MAx WEBER/HERMANN WoPFNER/KARL STEINBRÜCK, Art. Agrargeschichte,

Hwb. d. Staatswiss., 3. Auß., Bd. 1 (1909), 52 ff.; GEORG v. BELOW, Art. Agrargeschichte,
ebd., 4. Auß., Bd. 1(1923),48ff.; Fucns, Art. Agrargeschichte, Wb. d. Volkswirtschaft,
2. Auß., Bd. l (1906), 30 ff.; WERNER CoNzE, Art. Agrarverfassung, Hwb. d. SozWiss.,
Bd. 1 (1956), 105 ff.
9B W AGENER Bd. 3 (1860), 386 f.

432
m. 11. 'Stand' im Industriesystem: Riehl Bauer

er weniger historisch als empirisch-soziologisch, „volkskundlich" gearbeitet hat;


Seine Wirkung war in den fünfziger und sechziger Jahren außerordentlich stark,
verblaßte dann und lebte in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts noch einmal
auf. Er s~hrieb unter dem unmittelbaren Eindruck der Revolution von 1848 und
stellte nicht allein deren, sondern auch des Staates Gleichmacherei oder Ausebnung
den Bauer in seinem Wesen, im Geist des Standes als solchen entgegen. Er führte
dafür, wenn auch noch sparsam, das Wort Bauerntum 93 ein und verstärkte damit,
in die Breite wirkend, den Zug zu einer Bauerntums-Ideologie, die sich in den
folgenden Jahrzehnten freilich vom handfesten Wirklichkeitsgehalt der „sozialen
Volkskunde" Riehls weit entfernte.
Riehl war ungerecht und eigensinnig, wo er von der schädigenden städtischen
Zivilisation, von Aufklärung und Beamtenstaat sprach. Allerdings war er trotz
dieses verzerrt ausgemalten Gegenbildes kein Spätromantiker. Denn er hielt eine
Entwicklung zum gleichsam fabrikmäßigen, ins Große gearbeiteten Landbau, der
alsdann den kleinen Bauernstand in derselben Weise trocken legen würde, wie das
industrielle Fabrikwesen den kleinen Gewerbestand bereits großenteils trocken gelegt
hat, für möglich, und er verneinte keineswegs die Fortschritte der Agrikulturchemie,
des rationellen Landbaues und eine fortschreitend intensivere Ausnutzung des
Bouem1 bei wach11e11ue.r Devülkeruug. Duuh may d-ie Nattwwissenschaft noch so
gründlich - und sie hat ein Recht dazu - das alte Bauerntum unterwühlen, so taste
wenigstens der Staat die ureigene Sitte des Bauern vorerst nicht geff,issentlich an 94•
Mochte also die moderne Entwicklung später allmählich zu tiefgreifenden Struktur-
wandlungen führen, vorerst und sicherlich noch für lange Zeit sollte es darauf
ankommen, eine „soziale Politik" zu treiben, die nicht von einebnenden Prim;ipien,
sondern von behutsamem Einfühlen und Bewahrung von Sitte und Sittlichkeit
angesichts der Gefahren der Entsittlichung in der allzu schnellen, menschenschädi-
genden modernen Bewegung bestimmt sein sollte. Solcher Politik müsse es, so
forderte Riehl, darum gehen, den Bauern in seiner Arbeit und Sitte wirklich zu
verstehen und ihn nicht, wie beim Modeartikel in der schönen Literatur, in den
Dorfgeschickten durch den Operngucker zu betrachten95 oder durch Beamte, Lehrer
und Pfarrer, die nur noch Theologen seien, oder gar durch Literaten des intellek-
tuellen Proletariats zu nivellieren und damit entarten zu lassen.
Der Bauer von guter Art erschien Riehl noch in gar knorriger Eigenart als ein trutzig
selbständiges soziales. Gebilde. 1n dem Bauernstande allein noch ragt die Geschichte
alten deutschen Volkstums leibhaftig in die moderne Welt hinüber 96 • In solchem
Sinne war der beharrende, unverständlichen und riskanten Neuerungen abholde
Bauer „national", ohne daß diesem Wort schon der Klang modernen National-
bekenntnisses beigegeben wäre. Denn: Gar von der Idee der Gemeinde zur Staats-

93 RIEDL, Die bürgerliche Gesellschaft (Stuttgart 1851), 65. 75. 80. 107.147.
84 Ebd., 177.
96 Ebd., 73. 76. Allein Gotthelf, der gleich Riehl von „echten", gutgearteten Bauern sprach,

wird von dieser Ablehnung ausgenommen: er habe unter und mit ihnen gelebt·und gewirkt.
Die Spitze gegen die damals sehr erfolgreichen „Schwarzwälder Dorfgeschichten"
(Mannheim 1843, 4. Aufl. 1847, Fortsetzung in 3 Bänden 1848/53) von BERTHOLD AUER-
BACH ist nicht zu übersehen.
96 Ebd., 53.

28-90385/1 433
Bauer m. 11. •stand' im Industriesystem: Riebl
idee hat er sich bis zur Stunde noch nickt vol"lauf erheben können. So ist der deutsche
Bauersmann wohl national mit Leib und Leben, Geist und Herz und Sitte, aber die
bewußte Idee der Nationalität ist ihm so gewiß noch nickt aufgegangen, als er sie in
seiner Beschränkung in der Tat auch gar nickt nötig hat97•
Riehl hielt also die Wirklichkeit eines kräftigen, selbstbewußten, naturnahen
Bauerntums fest, wie es damals in Deutschland, ungeachtet aller von Riehl selbst
geschilderten landschaftlichen Mannigfaltigkeit bestand, nicht weil er davon über-
zeugt war, daß dieser Zustand für alle Zeit unverändert bleiben könne oder müsse,
wohl aber, weil er krampfhaft voreilige oder landfremd intellektuelle Angriffe
auf die gute alte Art des Bauern für verhängnisvoll hielt. Den Vollzug der Bauern-
befreiung in ihren verschiedenen Teilen nahm er bejahend als gegeben hin, warnte
aber vor den damit verbundenen Erfolg11il111RionAn. St.f'lllt.en wir oben die Bildung
desBauernzum„Mensohen",zum „rationollon Landwirt" und zum „Sta.a.tsbürger"
als den. Kern dessen hin, was die Reformer um 1800 als Begriff des neuen Bauern
im Sinne hatten, so erkennen wir, daß Riehls Begriff vom Bauern alle drei Prädi-
kate halb wieder aufgab: a) Der Bauer war für ihn gewiß ein Mensch, da er nicht
dem hörigen armen Mann oder den ausgemergelten deutschen Hungerbauern 98 , dem
BauernproZetariat 99 , gleichen sollte; er sollte aber, ähnlich wie bei Möser, keines-
wegs ein Mensch an sich, sondern der besondere Mensch von eigener bäuerlicher
Art sein~ In der sog. gebildeten Welt exi.<d.ierl, wi,rkt de.r Mensch vieZ mehr als ein-
zelner; der Bauer dagegen existiert und wirkt aZs Gruppe, als Gesamtheit des Standes 100.
b) Der Bauer sollte sich gewiß nicht prinzipiell der „rationellen Landwirtschaft"
verschließen. Aber nicht der Bauer sollte den Theorien der ökonomischen Ratio-
nalisten linterworfen werden, so11dern diese sollten ihre „ökonomische Politik"
bauernnahe der „sozialen Politik" einordnen. Dem Bauer obliege es nicht, theore-
ti~he V Br.mchB zu machen, sondern nur pMktt80lw, für die er mit .seinetn GeZdbe·utel
einstehen muß 101 • c) Schließlich sollte der Bauer durchaus Staatsbürger werden
können, aber auch hier nur allmählich; denn einstweilen habe er noch kein un-
mittelbares Verhältnis zur modernen Nation und zum modernen Staat, dem er
begreiflicherweise mit Mißtrauen begegne. Über die Gemeinde werde er zur poli-
tischen Verantwortlichkeit gelangen. Im zentralisierenden Polizeistaat sei der Bauer
nur durch seine Trägheit eine erkaltende Macht im Staate gewesen. Bei erhöhter Selb-
ständigkeit der Gemeinde wird er erst recht auch handelnd zur etrkaltenden Macht 102 •
Das könne eine festigende Wirkung für einen Staat der Zukunft ausüben, der
wahrhaft soziale Politik vernünftiger Bewahrung treibe. Der Bauer sei die konser-
vative Macht im Staate10 3 ; diese gelte es daher zu erhalten. „Konservativ" ist dabei
nicht ideologisch-pafteigerichtet, sondern allgemeiner im Sinne von „beharrend",
wenn auch in deutlicher Frontstellung gegen die liberal- und sozial-demokratischen

97 Ebd., 63:
98 Ebd., 138.
99 Ebd., 52. 90.
100 Ebd., 55.
101 Ebd., 68.
lOZ Ebd., 143.
103 Ebd., 136.

434
m. 12. Genouemebafteu muI Vereine Bauer

Strömungen der Zeit zu verstehen1 0'. Riehl hat mit diesen eozialkonservativen
Korrekturen die deutsche Bauernbefreiung und deren Begriff des Bauern zwar als
vollzogen angenommen, in ihren aufklärerischen Prinzipien jedoch verneint und
damit gewissermaßen in ihren Spitzen zurückgenommen. Das wirkte als Haupt-
strömung bis weit ins 20. J1J.hrhundert hinein, mochte diese Wirkung auch nur
teilweise auf Riehl selbst zurückgehen.

12. Der Bauer· in Abwehr und Selbsthilfe: Genossenschaften und Vereine

Dem entsprach es, daß alsbald nach der Mitte des Jahrhunderte eine neue Wert-
schätzung des Bauern aufkam, verbunden mit dem Bewußtsein, daß der Bauer
gegen die Gefahren geschützt werden müeee, die eich für ihn aus der zunehmenden
Abhängigkeit von der Geldwirtschaft ergaben. Zu diesem Zweck sollte der bäuer-
liche Selbstschutz in neuartigen Vereinen organisiert werden. Hierbei wurden, wie
noch nie zuvor, die Bauern selbst aktiv. Im landwirtschaftlich-ökonomischen Ver-
einswesen waren sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderte nur· beteiligt, aber kaum
führend gewesen. Nun entstanden bäuerliche Organisationen, die zwar nicht von
Bauern selbst ins Leben gerufen, aber von Bauern getragen wurden. So kam es
alsbald in. starkem Maße zu Selbstäußerungen der Bauern, die sich selbst „he-
griJ!o11" · freilich ganz in der eohon bereitliegenden, ideologi&ch p;olo.donen fü1griffs-
welt, die für wirtschaftliche Interel!Se11pulitik und berufsständische Behauptung
übernommen wurde.
RA.IFFEISENS Darlehenskassenvereine, für die Schulze-Delitzechs Neuprägung des
alten Wortes 'Genossenschaft' (statt 'Assoziation') übernommen wurde, entwickel-
ten eich in dieser Richtung. Raiffeisen hatte sie unter den Gedanken der Selbsthilfe
und der Solidarität llui Lehen gerufeu, g1uiz von der Pram herkommend, ohne
freilich einen vorgeprägten Begriff vom Bauern anzuwenden. Im Vorwort zu seinem.
Buch über die Darlehenskassenvereine (1866) gab er einen Bericht über die Ge-
schichte dieser Vereine, in der stete nur von länd,lieher oder l,and,wirtschaftlieher
Bevölkerung, vom wiehJ,igsten aller Gewerbe, der Land,wirtschaft oder von unbemit-
telten Land,wirten, nicht dagegen von 'Bauern' in Sonderbetonung die Rede iet106,.
Suchte Rai:ffeisen dem in der zunehmenden Vermarktung seiner Wirtschaft ge-
fährdeten Bauern praktisch und hilfsbereit durch die Organisierung eines genossen•
echaftlichen Kreditwesens die Anpaeeung an die eich wandelnden Wirtschafts-
bedingungen zu erleichtern, eo gingen die von den sechziger Jahren an eich bilden-
den Bauernvereine bewußt darüber hinaus, indem sie den Bauern nicht nur Wirt-
schaftshilfe, sondern vor allem christlich-stä.ndieohe Rückendeckung gegen die
„materielle Richtung" der Zeit geben sollten. FREIHERR BURGHARD VON SCHOR-

184 Vgl. de.zu HERDER Bd. 1 (1854), 430: Der eigentliche Bauer oder der Grund-

be8'tzer i8t durch &ein lntere8ae gezwungen, ein Konaervativer zu &ein, und der Bauernatanii
i8t ein eauptp/eüer de& monarchi&chen Staat&. Ähnlich RIEDL, Art.Bauernstand, BLUNTSCJilJ./
BRATER Bd. 1, 686: Er bildet keine konaervative Partei, aber er bil,det eine konaervative Macht.
Zur Wirkting Riehls. auf die Konversationslexika der zweiten Jahrhunderthälfte mit
Belegen zum „konservativen" Bauern vgl. MUTH, „Bauer", 89 ff. (s. Anm. 71).
105 FRIEDR. WILHELM RAilrFEIBEN, Die Darlehnskassen-Vereine ... als Mittel zur Abhilfe
der Noth der ländlichen Bevölkerung (1866; 3. Auß. Neuwied 1881), 2. 5.

435
W. 13, Del' Bauel' als „Blutquell" dl!I' Nation

LEMER-ALsT brachte die christlich-konservative Bauernbewegung von Westfalen


aus in Gang. Der Bauer sollte angesichts der geistigen Gefahr des „Materialismus"
und der Bedrohung des Grundbesitzstandes durch die Geldmacht aus seiner Wehr-
losigkeit und Vereinzelung herausgehoben und in ständischer Ehre wieder ohne
Herabsetzung als solcher bezeichnet werden: Die unter dem Namen: Bauernverein
sich bildende Korporation stellt es sich zur Aufgabe, den mittleren und kleineren,
kurzweg bäuerlichen Grundbesitz zu einer Genossenschaft zusammenzufassen und da-
durch sowohl die religiöse, intellektuelle und soziale Haltung und Hebung der Mit-
glieder zu fördern, als auch deren materielle Interessen, insbesondere durch Ausübung
ihrer staatsbürgerlichen Rechte und gemeinsame Hilfe, wahrzunehmen 1 0 6 •
Wenn also hier.der übliche Weg einer Berufsinteressenorganisation eingeschlagen
wurde, wie er dem gesellschaftlichen Bedürfnia im freien Spiel der Kräfte nach
der Dekorporierung der Gesellschaft entsprach, so war es doch typisch und rich-
tungweisend für den Begriff de1:1 Bauern 1:1eit den sechziger Jahren, daß es sich
nicht nur um Interessenvertretung des „landwirtschaftlichen Gewerbes''; sondern
um Bewahrung des Bauernstandes in einer als bauernfeindlich angesehenen indu-
striell-kapitalistischen Entwicklung handelte. Der Meinung vom Verschwinden der
„Mittelstände", besonders des Bauernstandes, sollte der Wille zu einem kräftigen,
freien und unabhängigen Bauernstamm entgegengesetzt werden, der auf politischem
Wege seinen hRrtu:htigt1m. Alfl.1q1lfür:hR!fl. GRlt1my ••• q1Rr11r:hn.ffR!fl. Rolltel07. Zwar bliobon
diese sich stark entwickelnden christlichen Bauernvereine nicht die einzigen Organi-
sationserscheinungen. Andere Vereine entstanden und lösten sich vom Konfessio-
nellen. Auch waren Bauernvereine zur Zeit des Kaiserreichs nicht „konservativ"
im Parteisinne, sondern vielfach - z. B. in Hannover - (national-)liberal, ganz
abgesehen von den Zentrumswählern der katholisch-christlichen Organisationen.
Sohlioßlioh wurdo im „Bund der Landwirte" (1803) eine Verbindung von Groß-
grundbesitz und Bauernwirtschaft propagiert, die die Absonderung des· Bauern-
standes in der Gemeinsamkeit der Interessen der Landwirtschaft allgemein aufhob,
mit großem, aber doch nur begrenztem Erfolg. Alle diese lebhaften und z. T. gegen-
sätzlichen Bestrebungen waren mehr oder weniger ausgeprägt darin verbunden,
daß es ihnen nicht allein um ökonomische Verteidigung und Verbesserung, sondern be-
sonders um berufsständische Erhaltung und Stärkung des bäuerlichen Selbstbewußt-
seins inmitten einer Welt ging, in der der Bauer nicht mehr die überwiegende
Masse der Bevölkerung darstellte, längst also nicht mehr der „gemeine Mann" war.

13. Der Bauer als ,,Blutquell" der Nation

Doch just in einer Zeit, in der (seit der Mitte des Jahrhunderts) der bäuerliche oder
der „landwirtschaftlich tätige" Anteil an der Gesamtbevölkerung im Sinken be-
griffen war, setzte sich in Wissenschaft und Publizistik die Vorstellung durch·, daß
die Regeneration des Volkes allein durch die überschüssige Lebenskraft des Bauern-
tums möglich sei, die nicht bodengebundenen Menschen und Berufe also stets der
nachwuchsspendenden Quelle des Landvolks bedürften.

106 Ders., Entwurf zu Statuten für einen zu bildenden Bauernverein (1862), § 1, zit. FRANZ,
Quellen, 457.
107 Statuten des westfälischen Bauernvereins (1871), § 2, zit. FRANZ, Quellen, 458 f.

436
IV. Aoehlir.k Bauet

GEORG .li.ANSSEN wandte sich 1889 gegen die Meinung, daß die tlrei Ilauptgruppen
der „Bevölkerung", Grundbesitzer, bürgerlicher Mittelstand und Proletarier, sich
jeweils aus eigener Kraft erhalten könnten. Die drei Klassen seien vielmehr die
verschiedenen Entwicklungsstufen derselben Bevölkernng. NU'f die erste Klasse, der
Stand der Grundbesitzer, ist dauernd; aus dem Überschuß an Kräften, wewhen er
erzeugt, bildet sich zuerst die städtische Bevölkernng, aus ihm wird sie fortwährend
erneuert und ersetzt1 08 • WILHELM RoscHER brauchte das Bild vom Bauernstand als
der Wurzel des Volksbaumes, an dem alles absterben könne, wenn nur die Wurzel,
aus der alles ersetzt werden könne, gesund sei10D.
Damit erhielt der Begriff des Bauern eine neue, auf die Macht des Nationalstaats
bezogene Wertung, die in Deutsch-Österreich110 deswegen besonders lebhaft ent-
wickelt wurde, weil sich das Deutschtum dort in die Defensive gedrängt sah. Mit
dieser Konzeption waren eng die Bestrebungen der Zeit verbunden, der „Land-
flucht"111 zu steuern, die „innere Kolonisation" zu beleben und deutsches „Volks-
tum" im Bodenkampf gegen das „Slaventum" zu behaupten. 'Bauerntum' wurde
nationalpolitisch und schließlich auch „rassisch" begriffen; es wurde ein wesent-
licher Bestandteil „völkischer" Ideologie.

IV. Ausblick
Der Begriff des Bauern ist im deutschen Sprachbereich seit der Mitte des 19. Jahr-
hunderts durch die Spannung zwischen „freiem Landwirt" und „bäuerlichem Stan-
desgenossen" beherrscht gewesen. Das deutsche Bauerntum im Zeitalter des Kapi-
talismus112 hatte sich zwar in ökonomischer Anpassung landwirtschaftlich ent-
wickelt; es war aber, wie ALBRECHT 1926 feststellte, bei den deutscheuBauem uiuht
zur Ausbildung eine.'3 „lrn.pitaliRtiimhen" Betriebes gekommen. Trotz allen Erwerbs-
strebens auch des Bauern sei bestehen geblieben: Der Klassencharakter des Bauern-
tums ... ist nicht das Entscheidende, das Bleibende und Endgültige in seiner geschicht-
lichen Entwicklung; dies ist vielmehr sein berufsständischer Charakter, wenn er auch
zu bestimmten Zeiten hinter anderen gesellschaftlichen Gliederungsformen zurück-

168 GEORG IlANSSEN, Die drei Bevölkerungsstufen. Ein Versuch, die Ursachen für das

.Blühen und Altern der Völker nachzuweisen (München 1889), 31.


169 Dieses Bild Roschers verbreitete sich. Es wurde viel zitiert, z. B. bei HEINRICH SOHNREY,

Der Zug vom Lande und die soziale Revolution (Leipzig 1894), IV. Als „Denkspruch"
wurde cs Sohönerers Bauernprogramm von 1886 vorangestellt; EDUARD PrcHL, Georg
Schönerer, Bd. 1 (Oldenburg, Berlin 1938), 218. Vgl. RIEHL, Art. Bauernstand, BLUNTSCHLI/
BRATER Bd. 1, 372: WurzeZ des VoZks, auch schon unter Hinweis auf Roscher. Die Vor-
stellung von der volkserhaltenden oder volksverjüngenden Bedeutung der Bauern ent-
sprach offenbar der Steigerung des Nationalismus um und nach 1848. Vgl. CARL FRAAs'
Polemik gegen die Pseudozivilisation und seinen Preis der bäuerlichen Arbeit, die ursprüng-
Ziche Kraft der Rasse am sichersten erkaUend . ... Wie man VöZker in Masse künstlich ent-
arten machen kann, so mag sich auch wieder die Rasse veredeln lassen; Geschichte der Land-
wirtschaft (Prag 1852), 11 f.
110 Gute Beispiele dafür bei FRANZ, Quellen, 484 ff.
111 Typisch und anstoßgebend SOHNREY (s. Anm. 109).
1 11 So der Titel des Beitrags von GERHARD ALBRECHT, Grundr. d. SozÖk„ Bd. 9/1 (1926),

35ff.

437
Bauer IV. Ausblick

getreten ist113• Es war bezeichnend, daß hinter den Urteilen und Wertungen des
Albrechtschen Beitrags sowohl die Wiederentdeckung von Riehl als auch die Auf-
fassung vom „unbewegten" Wesen des Bauerntums bei SPENGLERstand11 4 •
Im Nationalsozialismus wurde diese berufsständische Idee mit der gleichfalls schon
älteren Vorstellung vom Bauerntum als dem gesunden Urgrund von Volkstum und
Rasse verbunden („Blut und Boden"). R. WALTHER DARRE, der in den Jahren vor
dem Zweiten Weltkrieg die nationalsozialistische Agrarpolitik propagandistisch
weitgehend bestimmte, sah Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rassel15,
als Blutsquelle des Volkes: Aufgabe des Bauerntums sei nicht nur die Ernährung
(und Autarkisierung116), sondern auch die „Aufnordung" des Volkes; zu ihr sei es
besonders berufen, weil es sich, allen Nöten zum Trotz, durch das letzte Jahrtausend
hindurch „artrein" erhalten habe117. Durch die Annahme dieser „blutsmäßigen"
Vorzugsstellung der Bauern kam Darre, ähnlich wie Arndt ein Jahrhundert zuvor,
zu der Forderung, einen neuen - Adel aus dem Bauerntum zu entwickelnllR,
In Anknüpfung an den germanischen 'Odals'-Begrift', demzufolge nur die Inhaber
eines . . . Erbhofes zum Adel gerechnet wurden 119, wollte er den Begriff 'Bauer' auf
den Eigentümer eines durch das Reichserbhofgesetz vom 29. 9. 1933 vor Veräuße-
rung und Verschuldung geschützten „Erbhofs" beschränkt wissen. 'Bauer' sollte
zum Ehrennamen werden, dem allM Abschätzige genommen war. lu bt1wußL 11.uLi-
liberaler Wendung120 ordnete Darre den Begriff 'Landwirt', seit dem 18. Jahrhun-
dert zunehmend Bezeichnung für den im rationellen Wirtschaftungssystem „ge-
bildeten Bauern", dem Pro:fitstreben des Kapitalismus zu und wertete ihn dadurch
ab 121• Das Reichserbhofgesetz ist dieser krassen Pejorisierung allerdings nicht ganz
gefolgt; 'Landwirt' wurde die Bezeichnung fii-r diej1migen Landleute, deren Besitz
größer oder kleiner war als die allein dem 'Bauer' reservierte Erbhofgröße von
mindestens einer Ackernahrung (rund 7,5 ha) bis höchstens 125 ha122•
Damit war der Begriff 'Bauer' weitgehend - entgegen alter Sprachtradition -
vom Kleinbesitz gelöst und nur den „mittleren Grundeigentümern" im Sinne des

118 Ebd., 50.


1 1' Zur Wirkung von Oswald Spenglers Bauernbegriff, der hier nicht interpretiert werden
kann, in den zwanziger Jahren vgl. HEINRICH MUTH, Zum Sturz Brünings. Der agrar-
politische Hintergrund, Gesch. in Wiss. u. Unterricht 16 (1965). 739 ff.
116 So der Titel von DARB.Es 1929 in München erschienenem Buch.
11 9 Vgl. R. W. DARBE, Wir haben kein „positives" Wirtschaftsprogramm (1932), in: ders.,
Um Blut und Boden. Reden u. Aufs., hg. v. Ha.nns Deetjen u. Wolfgang Claus (München
1940), 344 ff., bes. 347 ff.
117 Ders., Blut und Boden, ein Grundgedanke des nationalsozialistischen Recht.s (1935),
ebd., 301; ders., Blut und Boden als Lebensgrundlagen der nordischen RaBBe (1930), ebd.,
27 ff.; del"I!., Nordisches Blutserbe im süddeuLMchen Bauerntum (1938), ebd., 167.
111 Ders., Neuadel aus Blut und Boden (München 1930).
119 Ders., Adelserneuerung oder Neuadel? (1931), in: Blut und Boden, 41 ff., bes. 46;
ders., Unser Weg (1934), ebd., 69 ff.
11o Liberaliamua und Bauerntum sind polare Ge,gensätze; ders., Aufsatz für die Presse anläß.
lieh der Verkündung des Reichserbhofgesetzes (1933), ebd., 289.
m Ders., Das Ziel (1932), ebd., 338 ff.; ders., Bauer und Landwirt (1932), ebd., 177 ff.
11 3 Ders., Unser Weg, ebd., 101 f.; ders., Aufsatz für die Presse, ebd., 187 ff. Zur Auswirkung
des Gesetzes vgl. l'rl.IBTIN BROSZAT, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner
inneren Verfassung (München 1969), 236 f.

438
IV. Ausblick Bauer

Freiherrn vom Stein vurLehalten. Indem nur 'Bauer' sein konnte, wer deutscher
Staatsbürger, deutscher oder stammesgleichen Blutes und ehrbar war12 3 , war die berufs-
ständische Bauernideologie mit der rassischen verschmolzen, damit zur letzten
Übersteigerung gebracht und durch Gesetz für das praktische Leben verbindlich
gemacht worden. Durch seine weltanschaulich begründete Überbetonung des
Bauerntums wollte der Nationalsozialismus den Bauern aus seiner Defensivstellung
im „Kapitalismus" herausholen und als „ersten Stand", als „Nährstand" in natio-
nalsozialistischer Neudeutung alter Begriffe, als Fundament der gesamten Nation 1 H
in eine „organische" Volksordnung hineinstellen, die der Modernisierung der Bauern
in der modernen Gesellschaft entgegenstand.
Nach dem Ende des Nationalsozialismus und damit auch der „Blut- und Roden"-
Ideologie ist in Westdeutschland die Tradition einer „mittelständischen" Inter-
essenpolitik für den Bauern bei zunehmender Entideologisierung unter dein Druck
schneller Strukturwandlung der Landwirtschaft und Anpassung an die rasche tech-
nische Umstellung fortgesetzt worden. Der Begriff eines 'Bauernstandes' eigener,
der Stadt entgegengesetzter Art, ist im Schwinden begriffen126 • Im östlichen Teil
Deutschlands dagegen ist der Begriff 'Bauer', soweit es sich um die offizielle Sprache
handelt, in die marxistisch-leninistische Tradition gestellt und klassenmäßig ver-
aukerL worden. Weil die werktätigen Bauorn wie die Arbeiter in gleicher We.il'IA vom
Kapital ausgebeutet würden, stimmten die (}rundinteressen der Bauern als Werk-
tätige ... mit denen der Arbeiterklasse überein; in gemeinsamem Kampf müßten sie
auf den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau des Sozialismus hinarbeiten.
Dieses Bündnis finde seinen Ausdruck in der leninisti1:ichen Begriffsverbindung
'Arbeiter- und Bauern-Macht'. Die Enteignung der 'Bauern' und ihre Verwandlung
in abhängige Arbeitskräfte nach dem Vorbild der russischen Kolchosniki in der
demokratischen Bodenreform habe zu einer grundlegenden Änderung der bäuer-
lichen Klassenstruktur geführt: Die werktätige· Bauernschaft wurde zu einer Grund-
klasse der antifaschistisch-demokratischen Ordnung, die - zusammen mit den ehe-
mals kapitalistischen Großbauern und den Landarbeitern - nach dem Eintritt in
landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften die neue Klasse der Genossenschafts-
bauern bilde 128•
WERNER CONZE

123 Einleitung zum Reichserbhofgesetz, zit. DARRE, Unser Weg, 101 (s. Anm. 122).
124 AnoLF llrrLER, Mein Kampf, 636.-640. Aufl. (München 1941), 151.
126 Einen wichtigen literarhistorischen Überblick auf die dem 19. Jalirhundert eigentümlich

gewesene Entgegensetzung gibt SENGLE, Wunschbild Land und Schreckbild Stadt (s.
Anm. 42). - Viele Hinweise zur Gesamtproblematik des Themas finden sich bei SIEGMUND
v. FRAUENDORFER, Ideengeschichte der Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im deutschen
Sprachgebiet, 2 Bde. (München, Bonn, Wien 1957/58).
126 Kleines politisches Wörterbuch, hg. v. K. ZEISLER (Berlin 1967), 49. 84 f. 332.

439
Bedürfnis

1. Ei;llleitung: Verwendungsbereiche und Sprachschicht. II. Entwicklungen bis zur Kon-


stitw'erung des modernen Begriffs im 18. Jahrhundert. 1. Etymologie und Bedeutungs-
komponenten. 2. Traditionelle Themenverflechtungen der Komponenten. ill. Begriffliche
und thematische Neuentwicklungen seit dem 18. Jahrhundert. 1. Definitionen und wissen-
schaftliche Verwendung. 2. Charakteristische Bedeutungsentfaltungen in einjgen Themen-
zusammenhängen. a) Bedürfnis, Bewegung und Geschichte. b) Umstände, Gewohnheiten
und Bedürfnisse. c) Bedürfnis, Tätigkeit und Gesellschaft. d) Bedürfnis und Herrschaft.
IV. Explikationen des „kritischen Bedürli;iisbew-iffs". V. 'Bedürfnis', 'Bedarf' und 'Be-
dürfnissteigerung' im ökonomischen Bereich. 1. Heutige Terminologie. 2. Bedürfnis•
befriedigung in dor vorindnRtriollon Ccsellschaft. 3. Kameralismus: Das Dedürfnis als
Objekt regentlicher Gewalt. 4. Aufklärung und Liberalismus: Entpolitisierte Bedürfnis-
.befriedigung als G~dlage des Fortschritts. 5. Hegels „System der Bedürfnisse". 6. Ro-
mantisch-konservative Kritik an der Bedürfnissteigerung. 7. Kapitalistische Bedürfnis-
befriedigung in sozialistischer Sicht. 8. Relativierung und Ethisierung des Bedürfnis-
begriffes in der Historischen Schule. 9. 'Bedürfnis' als Zentralbegriff in der Grenznutzen-
schule der Nationalökonomie. 10. Neokonservatismus. 11. Nationalsozialismus. 12. Neo-
lih1mtliRmnR. rn. DiA Neue Linke. VI. Attsblick.

I. Einleitung: Verivendungsbereiche und Sprachschicht


Die. Definitionen von 'Bedürfnis' verweisen das Wort in die Fachbereiche von
Psychologie und Ökonomie. Die psychologisoh!ln Definitionen, die auch in pädago-
gischen Werken anzutreffen sind, stellen 'Bedürfnis' in den Zusammenhang von
Motivation und Appetenzverhalten; es kann so in Beziehung zu Instinkt, Trieb,
Interesse, Willen, Vorstellungen usw. gesetzt werden. Verwendungsweisen und
Begriffsbestimmungen sind in den verschiedenen Richtungen unterschiedlich1 .
Ökonomische und staatswissenschaftliche Lexika bestimmen 'Bedürfnis' vor allem
durch eine Beziehung auf '13edarf' 2 als speziell die Motivationen für ökonomisches
Handeln bezeichnenden Begriff, mit dem vor allem Bestimmungen für Voraus-
planung und Nachfrage angegeben werden können,
Die umfassendsten Bestimmungen von 'Bedürfnis' bieten Lexika marxistischer
Observanz. Sie verstehen 'Bedürfnis' als die elementare Verknüpfung des Menschen
mit seiner Umwelt so, daß die Umwelt die Bedürfnisse der Menschen bedingt,
aber auch der Memmh die Umwelt nach seinen Bediirfnissen einrichtet3 .
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird 'Bedürfnis' kaum als definitionsbezogener
Terminus benutzt und unterliegt auch keinem Postulat korrekter Verwendung,
wie dies bei wissenschaftsentlehnten Ausdrücken üblich ist. Das Wort wird viel-

1 Eine Übersicht gibt der zweite Teil des Artikels „Bedürfnis" von U. ScuöNPFLUG,

Hist. Wb. d. Phllos„ Bd. l (1971), 765 ff.


2 s. u. s. 443f.
3 Z. B. MEYER, Neues Lex., Bd. 1 (Leipzig 1963), 683 f.; Philos. Wb., 6. Aufl„ Bd. l (1969),
177 f.; Kleines politisches Wörterbuch, hg. v. G. KÖNIG u. a. (Berlin 1967), 86 f.

440
II. 1. Etymologie und Bedeutungskomponenten Bedürfnis

mehr in der gehobenen Verkehrssprache unter der Vermutung genereller Verständ-


lichkeit gebraucht. Inhaltlich sind die Bedeutungen dabei primär kontextbezogen
und schwanken zwischen den Bereichen, die die Definitionen anzeigen. Das gilt
auch für den Fall, daß 'Bedürfnis' als Bestandteil anderer Definitionen erscheint 4 •
Sofern 'Bedürfnis', wie dies häufig der Fall ist, zur Erklärung sozialer, ökonomi-
scher, wissenschaftlicher oder künstlerischer, überhaupt allgemeiner politischer
oder kultureller Erscheinungen herangezogen wird, :\J.at es weniger eine inhaltliche
als eine funktionale Bedeutung: nämlich etwa Legitimationspostulat bestimmten
politischen Handelns zu sein. In dieser funktionalen Verwendung liegt eine politi-
sche Virulenz des Wortes, das man also nur in sehr weitem Sinn als Begriff be-
zeichnen kann.
Sprachsoziologisch sei noch angemerkt, daß nicht alle Gruppen, die an der als
gehobene Verkehrssprache bezeichneten Sprachschicht teilhaben, 'Bedürfnis' in
gleichem Ausmaß verwenden. In Kreisen, die ökonomischen und pRychologiRchen
Denkweisen eher fremd gegenüberstehen, greift man anstelle einer Verwendung
von 'Bedürfnis' gern auf andere Ausdrucksgeflechte zurück. Daß die beiden be-
kannten Wendungen bei Dankesbezeigung: dies sei tiefes Bedürfnis bzw. ange-
nehme Pflicht, gleichbedeutend sind, illustriert, daß hier Motivationsfragen in
Fragen Bozialcr Bowortungon und sittlicher Normen umschlagen.
Begriffsgeschichtlich gesehen hat die terminologische Ve~endung von 'Bedürfnis'
in ihren beiden Fachbereichen geschiedene Traditionsstränge; einen eindeutigen
lateinischen Vorläuferbegriff gibt es nicht. ·
Als Voraussetzung für die heutigen vielfältigen Verwendungsweisen ist die Ver-
klammerung unterschiedlicher Bedeutungskomponenten durch das eine Wort
'Bedürfnis' anzusehen. Sie fällt in das 18. Jahrhundert.

II. Entwicklungen bis zur Konstituierung des modernen Begrift's im


18. Jahrhundert

I. Etymologie und Bedeutungskomponenten

Mit seinem Ausgangsverb 'dürfen' gehört 'Bedürfnis' zusammen mit 'darben','ver-


derben' und deren Ableitungen zu einer germanischen Wurzel, der die Grund-
bedeutung „(einer Sache) bedürfen", „(etwas) entbehren" beigelegt werden kann.
Sie läßt sich zu einem indogermaniRchen Verbalstamm *terp- stellen, der in nicht-
germanischen Sprachen vor allem die Bedeutungen „genießen", „sich sättigen",
„nützen" entfaltet5 ; die Grundvorstellung des Nützens und des Förderlichen liegt
auch in der älteren Verwendung von 'bieder' vor.
Über die Frage, wann und wo das Wort 'Bedürfnis' aufgekommen sei, geben die

' So z.B. in der gängigen Definition von Arbeit als bewußte& Handel,n zur Befriedigung von
Bedürfnisaen; BR0CX11Aus, Enz., Bd. 1 (1966), 656; vgl. auch RGG 3. Aufl., Bd. l (1957),
534. 537.
s Vgl. KLuaE/MrrZKA 18. Aufl. (1960), 149, s. v. dürfen.

441
Würfnis II. 1. Etymologie und BelleutungU:omponenten

gäugigeu Lexika keiue Am1kunft. Es ist jedenfalls jünger als 'Durft', 'Notdurft' und
'Bedarf' aus der gleichen Wurzel. Der Nachweis eines Erstbelegs dürfte problema-
tisch sein, da das Wort bereits in seinen frühesten Belegen einer Sprachschicht zu-
gehört, die Neubildungen immer aufgeschlossen gegenübersteht; eine Bildung auf
-nis war aber grundsätzlich immer möglich 6 • Als wissenschaftlicher Terminus ist das
Wort jedenfalls nicht geprägt.
Bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts kommt 'Bedürfnis' selten vor,
von etwa 1740-1760 nimmt es an Häufigkeit zu, von etwa 1770 an kann man es
dem allgemeinen Sprachgebrauch zurechnen. Das Spektrum der Verwendungs-
möglichkeiten, das es seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zeigt, ist
vom heutigen nicht mehr wesentlich unterschieden.
'Bedürfnis' als Neutrum setzt sich erst nach 1800 durch. In den älteren Belegen wird
es häufig auch als Femininum gebraucht. In ihnen hat es im Plural die Bedeutung
„fehlende notwendige Dinge", im Singular bedeutet es „Mangel", „Notlage",
„Bedrängnis", auch „Armut" 7• Im Lateinischen wären als Entsprechungen vor
allem „indigentia" 8, „necessitas", für den Plural „necessaria"9 zu nennen. Ent-
sprechend unterscheidet ADELUNG in seiner Bedeutungsangabe zwischen dem Zu-
stand, worin man einer Sache bedarf, und der Sache sellJst, deren man berlar/10 •
In dieser älteren Iledeutung entspricht 'Ilodürfnis' also durohwug 'NuWurft;' und
utuu bereits veraltenden Ausdruck 'Durft' aus der gleichen Wurzel. 'Notdurft' ist
der herkömmliche deutsche Aequivalenzbegri:fffür „necessitas", soweit es sich nicht
um dessen Stringenzkomponente in der logischen Verwendung handelt, sondern um
seine sozial-ökonomische Dimension 11 • Traditionell sind 'necessitas' und 'Notdurft'

8 Nhd. Rildnng i11t, am:nnehm1m, da ilifl mhd. VerbalabBtra.kta. auf ·IÜll durchweg vom
Perfektstamm ausgehen.
7 Man könnte die feminine Form der Bedeutung „Armut", die neutrale der Bedeutung

„Fehlendes" zuordnen. Es ist aber nicht sicher, ob dies durch eine Verwendungsstatistik
eindeutig zu bestätigen ist.
8 'lndigentia' als lat. Entsprechung gibt GRIMM Bd. 1 (1854), 1240, s~ v. Bedürfnis an;

seine wenigen Belege folgen zumeist dem älteren Sprachgebrauch.


• Zur Illustration dieser Bedeutungen: 1746 ·schreibt FRIEDRICH VON HAGEDORN, bezogen
auf das Gedicht eines armen jungen Mannes, man möge die Stellen, wo er &eine Bedürf-
nisse 8Q edel und beweglich vorträgt, im Druck hervorheben. Im „Schreiben an einen Freund"
(1747) heißt es: Bedürfniß macht uns kühn: die No.t muß uns erlauben/ Dem Golde nachzu-
stehn, und Tempel zu berauben,· Poetische Werke, hg. v. Joh. Joachim Eschenburg, Bd. 5
(Hamburg 1820), 269; Bd. 1 (1800), 53. Vgl. dazu aus einem Bettelbrief des 11. Jahr-
hunderte: 1 nter innumera mei necessaria, ••• nullame plus urguet angustia, nulla me durius
macerat inedia, quam vutimentorum penuria ••• ; Ältere Wormser Briefsammlung, MG
Briefe d. dt. Kaiserzeit, hg. v. WALTER BULST, Bd. 3 (1949), 23. Nr. 6.
i.o ÄDELUNG Bd. 1 (1774), 698. Ebenso z. B. noch CmusTIAN WENIG, Handwörterbuch
der deutschen Sprache, 9. Aufl.., hg. v. Joseph Buschmann (Köln 1906), 103.
11 Die deutsche Entsprechung von neoessitas ist ahd. mhd. nöt. Sofern neoessitas logische
Stringenz oder juristische Unausweichlichkeit oder sonst Zwangs'!Jedeutung enthält -:-
also etwa auch in der Gegenüberstellung neoessitas/voluntas ..:...., tritt später 'Notwendig-
keit' ein. Für die Aufschlüsselung der Bedeutungen von neoessarium und neoessitas vgl.
vor allem ALBERT BLAlsE, Dictionnaire latin-fran93is des auteurs chretiens (Straßburg
1954), s.v. necessarius, neoessitas.

442
D. 1. Etymolope und Bed.eutonsakomponenten Be48rfnls

in Bibelübersetzungen und -auslegungen verknüpft12 • MösER, der gern einem her-


kömmlichen Sprachgebrauch folgte, spricht im Zusammenhang der Forderung nach
Autarkie ebenso von den alten Hauswirlen .. . , wewhe alles, was zur Leibesnot,durft
und -nahrung gehörte, auf ihren Höfen zogen, erklärt aber gleichzeitig: wehe rlem
Lande, J,as seine höchsten Bedürfnisse jetzt aus r1er Fremrle suchen muß 13•
Gegenüber 'Notdurft' nimmt sich 'Bedürfnis' als ein modernerer und beweglicherer
Ausdruck aus; 'Notdurft' wird, außer in formelhaften Wendungen, die kirchlich-
traditionellem Sprachgut zugehören, zunehmend von 'Bedürfnis' verdrängt. Die
inhaltliche Bedeutung des zur sustentatio vitae Unerläßlichen wird durch die nahe-
stehenden A~drücke 'bedürftig', 'Bedürftigkeit' usw. unterstrichen .. Die Kom-
ponente von „Notwendigkeit" (necessitas), die 'Bedürfnis' durch die Tradition über
'Notdurft' vermittelt wurde, unterscheidet das deutsche Wort bis heute von be-
deutungsverwandten Ausdrücken im Englischen und Französischen: das Englische
unterscheidet mit 'necessity' und 'need' einerReits und 'want', 'desire' andererseits
Bereiche des objektiv oder subjektiv Notwendigen und des Erwünschten oder Be-
liebigen14; das Französische spaltet von dem sonst mit 'Bedürfnis' in enger Be-
ziehung stehenden 'besoin' die '(premieres) necessites de la vie' ab 1 5.
Die Verbindung zu necessitas, indigentia und necessarium ist also als erste wesent-
liche Komponente von 'Bedürfnis' zu registrieren. Zu berücksichtigen ist sie nament-
lich im Hinblick auf mögliche Ablösung von der inhaltlichen Bestimmung der
sustentatio vitae, wobei sich 'Bedürfnis' und 'Bedürftigkeit' voneinander entfernen.
Ansätze dazu ergeben sich aus dem Verhältnis von 'Bedürfnis' und 'Bedarf'.
'Bedarf' gehört urspriinglioh einem räumlich beschränkten Sprachbereich an: es ist
eine mittelniederdeutsche Bildung.. Während das Wort im 17. Jahrhundert recht
verbreitet zu sein scheint, wird es im 18. JahrhunderL-sh! Ausdruck der Ila.ndels-
Rprache und der Kan.zleien angesehen und im übrigen als veraltet oder ungebräuch-
lich empfundenl•.
Die Bedeutung von 'Bedarf' gibt ADELUNG in gleicher Form wie die von 'Bedürfnis'

u Z. B. omne, quod ad tlitae nostrae neceaaitatem ac ll'U8tentationem pertinet .•• Alles, waa zur
Leibeanakrung und -nofdurft gekört; LUTHER, Kleiner Katechismus (1529), WA Bd. 30/1
(1910), 304 f.
18 JusTUs MösER, Advertissement wegen der osnabrückischen Intelligenz-Blätter; SW

Bd. 8 (1956), 128; vgl. auch Bd. 4 (1943), 304 mit Bd. 8, 336.
u Eine eindeutige und verläßliche Übersetzungsbeziehung zwischen 'Bedürfnis' und einem
englischen Wort scheint nicht zu bestehen. Das zeigt ein Blick in die Lexika. Im ökonomi-
schen Bereich werden 'want' und 'Bedürfnis' zusammengerückt; das „Wörterbuch zur
Psychologie", hg. v. JAMES DREVER. u. WERNER D. FnöIILimr, 3. Aufl. (München 1970),
60 gibt 'need' als Entsprechung an. Die üblichen Handlexika bieten weiterhin desire, neces-
sity, requirement usw. und leiten so zu einer Synonymik des Wortfelde über.
u Im Deutschen des 18. Jahrhunderts tritt neben der Wendung „höchste Bedürfniese"
gleichbedeutend „erste Lebensbedürfnisse" au'f, wohl frz. „(premieree) necessites de la vie"
nachgebildet.
18 Vgl. ADELUNG Bd. 1, 692; FlusOH, Dt.-lat. Wb., Bd. 1 (1741), 185 rechnet 'Bedarf' zu

den unechten und veralteten Wörtern; HEYNATZ, Antibarbarus, Bd. 1 (1796), 201 f.;
ERNST 8TEIN1ucH, Vollständiges deutsch-lateinisches Wörterbuch, Bd. 1 (Breslau 1734),
311 stellt dazu fest: vox non ubique usiwt,a.
II. 1. Etymologie unll Beaeutungskomponenten

an mit der Unterscheidung in Zustand und Sache17• CAMPE hat diese Bedeutungs-
angabe für sein Wörterbuch übernom.men 18• Wie ein Bedeutungsunterschied zwi-
schen 'Bedürfnis' und 'Bedarf' nicht feststellbar ist, so ist auch 'Bedarf' von 'Not-
durft' kaum zu unterscheiden.
Campe freilich nahm 1794 an dieser Gemengelage der Ausdrücke Anstoß und for-
derte, daß 'Bedarf' in den allgemeinen Sprachgebrauch einzuführen sei. Er postuliert,
'Notdurft' auf das, was wir, um nicht Not zu leiden, brauchen, zu beziehen, 'Bedürfnis'
auf den Zustand, da man etwas bedarf, und 'Bedarf' auf die Sache, die man bedarf.
Er verwirft ausdrücklich eine Verwendung von 'Bedürfnis' in diesem letzten
. 19
Smn.
Diese Bestimmung von 'Bedarf' als je fohlende oder geforderte Sache, ohne Be-
schränkung auf das zum bloßen Lebensunterhalt Notwendige, ist für die Begriffs-
geschichte von 'Bedarf' wahrscheinlich ausschlaggebend geworden. Denn dieser
Gesichtspunkt kam der Ausweitung von Produktion und Handel entgegen, für die
eine Orientierung jenseits der bloßen Notwendigkeit immer wichtiger wurde, und
ließ ihn so zu einem Grundbegl-iff der Volkswirtschaftslehre werden. Deren Korre-
lation von 'Bedarf' und 'Bedürfnis' ist hier dadurch vorbereitet, daß 'Notdurft' von
'Bedürfnis' abgesetzt wird.
Im Sprachgebrauch gestaltete sich das Verhältnis der Ausdrücke zueinander anders,
als Campe es angestrebt hatte. 'Notdurft' wurde in ein Reservat kirchlich-formel-
haften Gebrauchs zurückgedrängt, 'Bedarf' wurde, wesentlich durch Voß und
Goethe gefördert 20, tatsächlich wiederbelebt, aber eine Unterscheidung zwischen
'Bedürfnis' und 'Bedarf' wurde im iiblichen Sprachgebrauch - in einigen Zusam-
menhängen bis heute - nicht deutlich.
Auf ufo11en „ungenauen" Sprachgebrauch ist ausdrücklich hinzuweisen. In ihm wird
nämlich eine zweite Komponente deutlich, die für die Begriffsgeschichte von 'Be-
dürfnis' wichtig ist, die sich aber nicht in einen genauen Traditionszusammenhang
zu einem lateinischen Vorläufer stellen läßt: nämlich, daß durch beide Substantive
ein praktisches Problem oder das Auftreten einer Komplikation angezeigt werden
kann. Diese Komponente ist auch in 'bedürfen' deutlich, das eine Unterbrechung in
einem Verlauf anzeigt, sobald man einer Sache oder Hilfe 'bedarf'. Sie kann also auf
das Ausgangsverbum selbst zurückgeführt werden, das die inhaltliche Einengung,
die bei dem Adjektiv 'bedürftig' vorliegt, nicht mitvollzogen hat.
Dabei ist eine Angemessenheitsbeziehung impliziert und ein Hinweis auf Umstände
enthalten. Es sei dazu auf die Wendung „je nach Bedarf" verwiesen, in der die
Elemente von Komplikation und Angemessenheit deutlich auf Umstände bezogen
werden, deren Beobachtung erst zu entscheiden erlaubt, ob „Bedarf" besteht und
was zu tun ist. Ein Element von Beliebigkeit oder Ermessen schwingt mit, etwa in
den Komposita „Bedarfshaltestelle" und „Bedürfnisprüfung", vor allem aber ein

17 ADELUNG Bd. 1, 192.


18 CAMPE Bd. 1 (1807; Ndr. 1969), 408.
19 CAMPE, Versuche, 3. Aufl. (1794), 48. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich, mit

noch einigen anderen, J. B. Müller.


20 Vgl. WERNER KUHBERG, Verschollenes Sprachgut und seine Wiederbelebung in neu-

hochdeutscher Zeit (Frankfurt 1933), 38.

444
II. 1. Etymologie und Bedeutungskomponenten Bedürfnis

Moment des jeweils Aktuellen 21 • Hierzu gehört die in Buchvorreden beliebte Recht-
fertigung, das folgende Werk sei ein Bedürfnis der Zeit 22 •
Als zweite Komponente von 'Bedürfnis' sei also die des Praktischen, der Komplika-
tion, des Momentan-Aktuellen mit den immanenten Postulaten von Angemessen-
heit und Einsicht registriert. Es liegt auf der Hand, daß sie mit der Komponente des
Unerläßlich-Notwendigen nicht immer zu vereinbaren ist. Hier liegt die Wurzel
dafür, daß 'Bedürfnis' sowohl als Objekt und Grundlage des Planens erscheinen
kann als auch als grundsätzlich jedem Plan Widersprechendes 23•
Die dritte, nachhaltig wirksame Komponente von 'Bedürfnis' ergab sich dadurch,
daß das Wort im Verlauf des 18. Jahrhunderts in psychologische Zusammenhänge
gerückt wurde.
Das Aufkommen der Verwendung von 'Bedürfnis' im Sinn von „Streben", „Ver-
langen", „Trieb(kraft)" ist aus der anfänglichen Bedeutung und der seiner etymolo-
gischen Verwandten nicht zu begründen. Es steht fest, daß 'Bedürfnis' für 'Begierde'
eintritt, das seinerseits Übersetzungswort von 'appetitus' und in der Aufklärungs-
psychologie der Sammelbegriff für seelische Bewegungen und Strebungen ist 24 • Die
Ahlfümne von 'Begierde' durch 'Bedürfnis' zeigt sich daran, daß 'Bedürfnis' mit
Ausdrücken verbunden wird, die 'Begierde' resp. 'appetitus' zugehören und sie als
.Hewegungen charakterisieren, wie etwa 'erwecken' oder 'befriedigen'. Sie zeigt sich
auch in Umschreibungen der beliebten populär-stoischen Maxime von der „Be-
schränkung der Begierden". Daß hier 'Bedürfnis' eingesetzt wurde, hatte auf das
Wort eine wesentliche Rückwirkung: es wurde dadurch in Beziehung gesetzt zu
Glück und zu Freude und Schmerz. Gleichzeitig vermittelte 'Begierde' aber auch an
'Bedürfnis' ein Moment von irrationaler Unkontrollierbarkeit, die es als Nachfolge-
begriff von 'cupiditas' mitführte. ·
Eine Voraussetzung für das übergreifen von 'Bedürfnis' in den Bereich der seelischen
Bewegungen kann man darin sehen, daß zu Anfang des 18. Jahrhunderts ein Mangel
an Ausdrücken für Gemütsbewegungen allgemein registriert wird 25 • ZEDLER stellt

21 Um die gleichartige Verwendung von 'Bedarf' und 'Bedürfnis' in diesem Zusammen-

hang des Praktisch-Problematischen mit der Aufforderung zum Durchschauen zu belegen,


zwei Stellen aus GOETHES Geschichte seines botal$chen Studiums (1817/1831): er be-
schreibt dabei den Gang seiner botanischen Bildung so, daß er vom augenfälligen Allgemein-
Bten auf daa Nutzbare, vom Bedalrf zur Kenntnis gelangt sei, und bemerkt gleich darauf, daß
Chemie und Botanik . . . damala vereint aua den ärztlichen Bedürfnissen hervorgegangen
seien; HA Bd. 13 (1955), 151 f.
22 Z.B. PAUL Jon. ANsELlll FEUERBACH, Kritik des natürlichen Rechts (1796; Ndr. Darm-
stadt 1963), XX. In dieser Position vertritt 'Bedürfnis' vermutlich die utilitas in dem alten
Bucheinleitungskanon von materia, utilitas, intentio, modus agendi.
23 Völlig unsystematisches Vorgehen kann etwa mit: ohne allen Plan, bloß nach Maßgabe

des unmittelbaren Bedürfnisses charakterisiert werden; ADAM MÜLLER, Vorlesungen über


das Schöne II, Phöbus 1. Jg., 3. Stück (März 1808), 10.
24 Vgl. ZEDLER Bd. 3 (1733), 918 ff., s.v. Begierde. 'Bedürfnis' fehlt bei Zedler.
25 So klagt LEIBNIZ 1717 über einigen Abgang als bei .Auadrüclcung der Gemüts-Bewegungen,

auch der Tugenden und Laster und vieler Beschaffenheiten, so zur Sitten-Lehr und Regierunga-
K unst gehören,· Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung
der Teutschen Sprache,§ 10, abgdr. bei PAUL PlETSCH, Leibniz und die deutsche Sprache,
Wiss. Beih. z. Zs. d. Allg. Dt. Sprachvereins, 4. R„ H. 30 (1908), 330.

445
II. 1. Etymologie und Bedeutungskomponenten

im Anschluß an Ridiger den mangelhaften Ausdruck der Teutschen Sprache in Dingen,


welche das Gemüt angehen, fest und versucht sodann eine Ordnung der ihm zur Ver-
fügung stehenden Begriffe. Dabei bezeichnet er zunächst alles, was in dem Gemüte
vorgehet, oder eine Handlung desselben ist, als 'Gemüts-Bewegungen'. Woraus aber
die 'Gemüts-Bewegung' entstehe, das sei die erste Empfindung der Seelen, daß ihr
etwas mangele, und dieses wollen wir die Triebe nennen 26 •
Genau an dieser Stelle setzt später GRUBER 'Bedürfnis' ein: er unterscheidet bloßes
„Nötighaben" und 'Bedürfnis' als gefühlten oder gedachten Mangel, als Mangel im
anorganischen und organischen Bereich. Denn das Bedürfnis tritt hervor mit der
Empfindung und dem Gefühl 2 7.
Daß 'Bedürfnis' hier eintrat, könnte man mit einem sprachpsychologischen Me-
chanismus erklären, nämlich dem Umschlagen aus dem „objektiven" Sinn ('Be-
dürfnis' als Nahrung) in sein psychophysische11 Komplement ('Bedüxfnis' als H_unger).
Vor allem aber dürfte hier ein Einfluß des franz. besöin wirkSam sein. In 'besoin'
liegt die Komponente „seelischer Antrieb" bereits vor 28 • Als Übersetzungswort des
französischen 'besoin' ist 'Bedürfnis' seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts ver-
wendet worden, die Rinflnne an cfa.R Französische ist noch lange sehr eng. So geht
z.B. die Wendung „Bedürfnis des Staates "bzw. (finanzielles) „Bedürfnis der Obrig-
keit" bei CHRISTIAN WoLFF und in der Kameralistik auf das französische Vorbild
„besoin de l'etat" zurück 29 • Da auf den Universitäten über Politik und Kameral-
wissenschaften damals in französisch er Sprache gelesen wurde 30, ist ihr Einfluß auf den
Inhalt von 'Bedürfnis' im politisch-ökonoinisch-administrativen Kontext, nachdem
einmal die Übersetzungsrelation „ besoin/Bedürfnis" etabliert war, nicht verwunder-
lich. Im Rückblick darauf, daß Leibniz in analo~en Zusammenhängen das Wort
'Bedürfnis' nicht zu kennen scheint, mag es aufschlußreich sein, daß er diese Be-
reiche zusammen mit dem der Gemütsbewegung als die Gebiete angibt, in denen der
Mangel an deutschen Ausdrücken am schmerzlichsten sei, gerade bei Übersetzungs-
fragen 31.

28 ZEDLER Bd. 3, 918, s.v. Begierde.


27 Jou. GEORG GRUBER, Art. Bedürfniss, ERSCH/GRUBER 1. Sect., Bd. 8 (1822), 324.
28 Vgl. z. B. die Zusammenstellung „Bedürfnisse und Leidenschaften", die dem franzö-

sischen „besoins et passions" nachgebildet ist, s. u. S. 458. In diesem Zusammenhang haben


die vielgelesenen „Reflexion.~ critiques sur Ja poesie, Ja peinture et Ja musique" des ABBE
DuBOS (zuerst Paris 1719) wahrscheinlich eine wichtige Rolle gespielt; sie wurden 1760/61
ins Deutsche übersetzt.
28 Der lateinische Vorläufer wäre hier wohl 'neceBBitates publica', der vor allem im

Zusammenhang von Steuererhebung und öffentlichen Aufgaben wie Militär, Brücken- und
Festungsbau usw. erscheint; der Ausdruck schwankt inhaltlich zwischen Geldforderung
Aufgabe, er kann auch öffentliche Notlage (vgl. 'Notdurft') bedeuten.
30 Vgl. RICHARD HoDERMANN, Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache. Christian

Thomasius, seine Vorgänger und Nachfolger, Wiss. Beih. z. Zs. d. Allg. Dt. Sprachvereins,
2. R.., H. 8 (1895), 112.
31 .Am allermeisten aber ist unaer Mangel ... bei denen Worten zu spüren, die sich auf das·

Sitten-Wesen, Leidenachaften du (}emüts, gemeinlichen Wandel, Regierungs-Sachen, und aller-


hand bürgerliche Leben&- und Staats-Guchäfte ziehen: Wie man wohl befindet, wenn man etwas
a'U8 andern S'J>f'achen in die unsrige übersetzen will; LEIBNIZ, Unvorgreiffliche Gedancken,
§ 15, S. 331 f. (s. Anm. 25). ·

446
II. 2. Traditionelle Themenverßeehtungen Bedürfnis

Eben dies sind die thematischen Bereiche, in denen seit rund 1760 die Verwendung
von 'Bedürfnis' außerordentlich zunimmt. Sie geht also wahrscheinlich auch auf den
damaligen Einfluß des Französischen zurück. Die Stellung von 'Bedürfnis' als Aus-
druck der gehobenen Verkehrssprache könnte das bestätigen. Bei einer näheren
Untersuchung wäre hier vor allem die Wirkung der Schriften Rousseaus und der sich
anschließenden Diskussion zu beachten3 2 •
Die Verklammerung der dynamisch-psychischen Komponente mit den beiden Kom-
ponenten von Notwendigkeit und Umständen in komplikationsbezogener Orientie-
rung konstituiert den modernen Begriff von Bedürfnis, wie er von etwa 1760-1770
an vorliegt. Sie erlaubt sowohl seine Verwendung als ökonomischen und psycholo-
gischen Terminus als auch die funktionale in aktuell-politischen Zusammenhängen.
Damit sich die Neuentwicklungen seit der Konstituierung deutlicher abheben,
werden zunächst einige thematische Verflechtungen skizziert, die die Komponenten
aus ihrer eigenen Geschichte in die von 'Bedürfnis' einbringen.

2. Traditionelle Themenverflechtungen der Komponenten

Die Tradition des necessariunr führt vor allem die Unterscheidungen mit sich
zwischen dem, was notwendig ist, und dem, was darüber hinausreicht. Da 'Be-
dürfnis' inhaltlich über das nur Notwendige hinausgreift, kommt von hier aus eine
Spannung in den Ausdruck, die besonders in der politisch-sozialen Diskussion zu
Verständigungsschwierigkeiten und Konflikten führt.
Diese Unterscheidungen entstammen durchweg der antiken und biblischen Tradi-
tion, die hier nicht besprochen werden können. Über das Mittelalter bis in die Neu-
zeit hi~ein wurden sie populär vermittelt in den Auslegungen der vierten Bitte des
Vaterunser, in der „panis" für das Lebensnotwendige steht. Inhaltlich wird dies
formelhaft bestimmt als Nahrung und Kleidung 33, seltener wird auch Wohnung
genannt; hinzu tritt öfters der Friede bzw. eine intakte und gute Obrigkeit34, so daß
also die inhaltliche Bestimmung von 'Bedürfnis' unter dem Aspekt der sustentatio
vitae in die Aufgaben des Gemeinwesens übergeht 35 . In den herkömmlichen Unter-
scheidungen zwischen Notwendigem und Nicht-Notwendigein tritt dieser Aspekt
allerdings kaum auf, und eine genaue Bestimmung fehlt gewöhnlich: das Lebens-
notwendige wird als allgemein eindeutig vorausgesetzt, der Skopus der Unter-
scheidungen liegt durchweg auf dem, was nicht notwendig ist.

88 LESSING benutzt 1751 in der Anzeige von RoUS8Caue 1. Disoours 'Bedürfnis' nioht;
Werke, Bd. 8 (o. J.); 24 :ff.; Wieland verwendet es in seinen zahlreichen Auseinanderset,
zungen mit Rousseaus Thesen ausgiebig.
s3. Im Anschluß an 1. Tim. 6,8 und ähnliche Bibelstellen.
81 Vgl. unten Anm. 45, weiter etwa LUTHER, Großer Katechismus (1529), WA 30/1, 204:

Nu gehöret nicht allein zum leben, daa UMer leib sein fuUer und decke und andere notdurfft
haJJe • • • Summa alles was beide heuaslich und nachbarlich odder l>ürgerlich weaen und regi-
ment belanget. Denn wo diese zwey gehyndert werden, .. . . da ist auch des lebeM notdurfft
gehynderl. Vgl. HAGEDORN, Allgemeines Gebet nach Pope, Werke, Bd. 1, 7 (s. Anm. 9).
86 Vgl. dazu etwa auch LEIBNIZ, Ermahnung an die Toutsoho, ihren verstand und spraohe

beßer zu üben, abgedr. PIETSCH, WiBB. Beih. z. Zs. d. Allg. Dt. Sprachvereins, 4. R., H. 29
(1907), 292 (s. Anm. 25).

447
Bedürfnis D. 2. Traditionelle Tbemenverßeehtangcn

Die wichtigsten und häufigsten dieser Unterscheidungen sind:


a) die in Notwendiges und bloßen Luxus: dabei unterliegt der Luxus im allgemeinen
einem moralisch-ökonomischen Verdikt. Er zeigt zwei Aspekte: einmal den der
Pracht, des Augenluxus, zum andern den des Genusses. Während dem ersten Sinn-
losigkeit und Verschwendung angelastet werden, erscheint der zweite als besonders
gefährlich, da unersättlich und ansteckend. Paradigmatisch zeigt sich dies 3n der
Einstellung zu Reizmitteln und exotischen Gewürzen. Körperlicher und sozialer
Ruin werden als Folgen vorgestellt. Dieser Aspekt des Luxus weist eine deutliche
Parallele zur Bewertung der Neugier auf, die traditionell ebenfalls als gefährlich,
weil ausschweifend, angesehen wird35a. Das Notwendige erscheint, daran gemessen,
al1:1 uas, was klar in der Umwelt vor Augen liegt, für alle in irgendeiner Form gleich-
artig, dazu als nüchtern, gesund und ökonomisch rational. Das hängt damit zu-
sammen, daß in diesem Bereich die Explikation des Verhältnisses von „Bedürfnis"
und „Bedürfnisbefriedigung" auf eine Zweckbindung reduziert und der Genuß dem
Luxus zugeordnet wird; daraus ergibt sich eine mehr oder minder asketisch be-
stimmte Einstellung gegenüber dem, was zu Nahrung und Kleidung dienen sollte 3 B.
Seit der Antike führt diese Unterscheidung im politischen und historiographi!mh1m
Bereich die Auffassung mit sich, daß Genuß und· Zivilisation allgemein die Ver-
weiuhlichuug füruern und die kriegerischen Tugenden erlahmen lassen. Sie diente
dergestalt zur Interpretation von Vorgängen des KUltur- und Staatszerfalls und zur
Propagierung bestimmter Lebensweisen. Sie bringt schließlich eine durch allen
Wandel kriegerischer Techniken ungebrochene Vorstellung von Männlichkeit in
einen Gegensatz zur Humanität als Wesen der Kultur.
Es liegt auf der Hand, daß diese Unterscheidung infolge ihrer unterschwellig ökono-
misch-rationalen Orientierung umgewertet werden kann, sobald veränderte ökono-
mische Verhältnisse in einem gewissen Luxus und in einor gowim1on Voraohwcndung
wiederum einen ökonomischen Zweck finden lassen 37 • Tatsächlich wird, nachd~m
sich Produktion und Handel ausgeweitet haben, von ökonomischer Seite ein solcher
Zweck propagiert, so daß sich in der Folge Ökonomisten und Moralisten gegenüber-
stehen38. So thematisiert die „Deutsche Encyklopädie" 1780 in einem Artikel die

36• Vgl. dazu auch l!ANs BLUMENBERG, Die Legitimität der Neuzeit (Frankfurt 1966),

201 ff.
ae Z.B. AUGUSTIN, Confessiones 10, 31, 44, CSEL Bd. 33 (1896), 259: Nahrungsmittel wie
Medikamente zu verwenden ut quemadmodum medicamenta aie alimenfa aumpturua accedam,
der Genuß würde unmittelbar die Gefahr bringen, ihm zu verfallen.
37 DiAR hiingt. mit. der für die Geschichte des westlichen Denkens wichtigen Unterscheidung
von uti Und frui zusammen; vgl. AUGUSTIN, De divers~s quaestionibus octoginta tribus
liber unus quaestio 30: Utrum omnia in utilitatem hominis creata sint, .MlGNE, .l:'atr. Lat.,
Bd. 40 (1887), 19 f. 'Uti' erscheint als das der menschlichen Rationalität schlechthin ent-
sprechende Verhalten, das auf alles beziehbar ist: ..• utitur etiam iia a quibua ae abatinet,
ad temperantiam (ebd., 20). Da uti als spezifische Fähigkeit des „animal quod rationis est
particeps" erscheint, enthält es zugleich eine Legitimation zu solcher Universalität. Wie
sich dies einerseits im ökonomischen Bereich, andererseits in dem der Kultur des Indivi-
duums ausgewirkt hat, ist noch nicht untersucht.
as Vgl. CHART.l'lS FOURIER, Theorie des quatre mouvements et des deetineee generales,
2. Tl., Epilog. <Euvres compl., 3° ad., t. 1 (Paris 1846; 1906), 183 ff. Vgl. ERNST BLOCH,
Freiheit und Ordnung (Hamburg 1969), 226 ff.

448
II. 2. l'railitiooolle 1'hemeovedlech'11DgeD Bedürfnis

Bedürfnisse politisch: hier werden sie als die V eranl,assung zur bürgerlichen Gesellschaft
begriffen, ihre Vermehrung durch Geld, Industrie und Handel im Gegensatz zum
Ackerbau wird begrüßt. In einem folgenden Artikel über die Bedürfnisse nach den Ge-
setzen der Policey wird hingegen mehr der Mäßigung des Luxus das Wort geredet 39 •
b) Die Unterscheidung zwischen Lebensnotwendigem, Standesbedingtem und Über-
.flüssigem: hier wird zumeist die Frage gestellt, ob der standesbedingte Aufwand dem
Notwendigen oder dem Über.flüssigen zuzurechnen sei. Dabei ergibt sich unter der
Hand eine sozioökonomische Folgerung: daß nämlich die, die keinem Stand zuzu-
rechnen sind, mit einem absoluten ökonomischen Minimum ihr Leben zu fristen
haben. Da andererseits der standesbedingte Aufwand als notwendig, ja als Last
angesehen wird, liegt hier zugleich ein Ansatz für eine gewisse poetische Verklärung
der Armut; auch die staatsfremde Idylle bezieht hieraus Motive.
Thematisch wird bei dieser Unterscheidung die Frage von Standesunterschieden
und ihrer Kennzeichnung durch unterschiedliche Bedürfnisse; sie verquickt sich
mit der Frage nach unterschiedlichen Fähigkeiten. Sie kann im Hinblick auf eine
quasi-biologisch begründete Gleichheit oder Verschiedenheit der Menschen in bezug
auf ihre Bedürfnisse diskutiert werden und bezieht häufig die Eigentumsproblematik
ein. Angesichts der die Unterscheidung in Notwendiges und Über.flüssiges relativie-
renden ökonomischen Entwicklungen der Neuzeit zeigen sich dabei regelrechte
Argumentationaayndrome konservativer und sozialistischer Prägung.
c) Schließlich wäre die für die Geschichte von 'Bedürfnis' wichtige, fast formelhaft
tradierte Unterscheidung in „necessarium und commodum" zu nennen. Sie ist ins
Deutsche unter verschiedenen Formulierungen aufgenommen worden und erscheint
z.B. als erhaltung und vergnügung 40 , erste Bedürfnisse und Wolilgeschmack 41 und
findet sich bei ADELUNG als inhaltliche Angabe von 'Bedürfnis': das umfasse
Sachen, die zum Unterhalte und zur Bequemliohlceit gohöron42, Sie erinnert o.n do.s
aristotelische ~ijv- 8fJ ~);, 43 • Man kann ihr die dreigliedrige Gruppe necessarium -
commodlim - voluptas resp. nothdurft - bequemlichkeit - wohllust 44 zur Seite
stellen.
Wichtig ist besonders die zweigliedrige Gegenüberstellung, sie ist deutlich von der
Einteilung in Notwendiges und Luxus abzusetzen. Sie bewertet nicht, sondern um-
faßt die Erscheinungen menschlichen Zusammenlebens als Kultur und legitimiert
so gerade das, was über das bloß Notwendige - das als physisch Notwendiges er-
scheint - hinausgeht. Dabei zeigt die Seite des commodum häufig einen ästheti-
schen Einschlag; es läßt sich also eine Beziehung zwischen dieser Einteilung und
etwa dem Staat der Not und dem Staat der Freiheit bei Schiller herstellen.
Die Dreierskala erscheint häufig in konkreten Zusammenhängen in der Weise von
Abwägungstopoi, bei denen als Maß die Dringlichkeit gilt. In den Begriff 'Bedürfnis'
tragen sie so die Unterscheidung zwischen dringenden und disponiblen Bedürfnissen

39 Dt. Enc., Bd. 3 {1780), 157 ff. 161 (s. Anm. 116).
40 LEIBNIZ,Ermahnung, 292.
41 MösER, Monarchie und Republik, SW Bd. 9 (1958), 257.

n ADELUNG Bd. 1, 698.


43 ARISTOTELES, Pol. 1252b, 27-29; vgl. MABsILIUS VON PADUA., Defensor pacis 1, 4,
§ 2 f„ hg. v. Richard Scholz (Hannover 1932), 16 ff.
" LEIBNIZ, Ermahnung, 293.

29-90385/1 449
U. 2. Traditionelle Themenverflechtungen

hinein. Dabei führen sie die Beobachtung mit, daß die Notwendigkeit als Deck-
mantel für Habsucht oder Genußsucht dient, und zwar auch vor dem Hab- oder
Genußgierigen selbst46 • Dies ist eine Art Vorläufer von Werbemethoden, die etwas
als notwendig suggerieren, was disponibel ist.
Indem innerhalb von 'Bedürfnis' zwischen Notwendigem und Disponiblem unter-
schieden werden kann, wird deutlich, daß im Zusammenhang der Geschichte dieses
Begriffs die Frage nach Wahl- und Entscheidungsfähigkeit und -freiheit des Men-
schen thematisiert werden kann. Je nach Zusammenhang kann sich damit ein
sozialer oder ökonomischer Bezug verbinden. Einerseits werden die Unterscheidun-
gen, in moralisch oder eher akademisch gefärbten Texten, so thematisiert, daß, in
kynisch-stoischer und christlich-asketischer Tradition, die Entscheidung des ein-
zelnen aufgerufen wird. Andererseits gehen sie in das große ökonomische, soziale
und politische Thema der Verteilung ein.
Die Geschichte der Verteilung „nach Bedürfnissen" und der Rolle, die das Nicht-
Notwendige dabei spielt, würde eine eigene Darstellung erfordern. Sie umfaßt
mehrere Fragen: nach der Berechtigung von Eigentum und Besitz, soweit dies über
das Notwendige hinausgeht, nach der primären Verteilung und der Möglichkeit
einer Neuverteilung. Sie verknüpfen sich mit der Instanz, die als Verteiler gesehen
wird: Gott, der Natur, einem Mächtigen, dem einzelnen, sofern er reich ist oder nur
mehr besitzt als ein anderer, der Gerechtigkeit selbst, dem Staat und endlich der
Wirtschaft. Sie verknüpfen sich mit dem Maß, nach dem zugeteilt wird: der Gleich-
heit, der Gerechtigkeit wiederum - in unterschiedlichen Formulierungen-, den
Leistungen oder Dedürfnissen des Empfängers oder seiner Dedürftigkeit. Und sie
verknüpfen sich mit der Frage nach dem, was verteilt wird: dem Überfluß der im
Luxus Lebenden, dem über das Notwendige Hinausgehenden des einzelnen, dem,
was allgemein vorhanden ist, oder endlich dem, was durch Produktion hinzukommt.
Zwischen diesen beiden letzten Gesichtspunkten liegt eine zeitliche Wende: bis in
das 18. Jahrhundert hinein gehen die Verteilungsvorstellungen gewöhnlich von
einer letztlich konstanten Menge von Verfügbarem aus.
Neben diesen Unterscheidungen der ökonomisch realisierbaren Bedürfnisse führt die
Tradition der Auslegung der viertenBitte noch die Vorstellung „unum necessarium"
mit sich48 • Hier ,h~t das Notwendige keinen Beiklang von Legitimem, sondern be-
deutet tatsächlich sich selbst, der Gegensatz ist eine unübersichtliche Vielfalt von
Belanglosigkeiten. Damit bietet dieser Auslegilngskomplex eine Einbruchstelle für
populärstoische Traditionen mit ihrer Entgegensetzung von Unruhe durch das
viele Gegenständliche und Ruhe im Einen Wesentlichen. Im Hinblick auf spätere
Entfaltungen von 'Bedürfnis' ist wichtig, daß mit der Beziehung von panis als
panis vitae auf das unum necessarium eine Verbindung zum Begriff 'Leben' über-

45 Z.B. AUGUSTIN, Confessiones 10, 31, 44, CSEL Bd. 33, 259: nam quod aaluti aatis est,

delectationi -parum est. Et saepe incertum fit utrum adhuc necesaaria corporis cura subsidium
'J)etat an ooluptaria cupiditatis fallacia ministerium 8Up'J)etat; lsrnoR, Sent.entiarum libri
tres2, 42, 15; Ml:GNE, Patr. Lat„ Bd.83 (1862), 649; LUTHER, Vondengut.en Werken (1520),
WA Bd: 6 (1888), 271.
" Anst.elle eines Katalogs von Quellen vgl. zu diesem trberlieferungskomplex ME!sTER
ECKHART, Tractatus super oratione dominica, hg. v. Erich Seeberg, Die deutschen und
lat.einischen Werke, Lat. Werke (Stuttgart, Berlin 1938 ff.), Bd. 5, 118 ff.

450
D. 2. Traditionelle Themen'ferßeehtungen

liefert wird; 'Leben' hier nicht als sustentatio, sondern als Fülle und Intensität; die
Wahl betrifft dabei nicht etwas Vernünftiges, sondern das Wahre: so kommt hier
eine Verbindung zwischen Leben, Intensität, Wahrheit und Notwendigkeit zu-
stande,· deren Verwirklichung auf einem Akt der Wahl beruht,
Hier ist die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen anzusetzen.
Die wahren sind dabei von Lebensintensität, die falschen von sinnloser Zerstreuung
und Unterwerfung des Menschen unter sie gekennzeichnet. Diese Unterscheidung
verbindet und vermischt sich freilich mit der in wahre als natürliche und scheinbare
als eingebildete, künstliche Bedürfnisse und mit der in notwendige und bloße Luxus-
bedürfnisse gelegentlich bis zur Ununterscheidbarkeit. Ihr Kriterium diesen gegen-
über ist jedoch, daß die wahren Bedürfnisse als Bedürfnisse des Menschen nicht auf
der Hand liegen, sondern die Forderung des 'J"'CiJfhI aedvi'dv enthalten: Das Wesen des
Menschen wird thematisch als Frage nach Freiheit und Selbstbestimmung. Sie ist aus
dem theologisch-moralischen Zusammenhang herausgetreten und hat im politischen
Bereich die enge Verbindung zwischen Bedürfnis und Revolution vorbereitet.
Dazu trug von vornherein die Beziehung zwischen Bedürfnis und Mangel bei. Sie ist
ilnrf'.h iliA n.lAir.h hAilAutnng von 'RAiliiri'ni11' nnfl 'inflieAnti11.' vArmitt11lt unfl iib11r-
liefert einen Ansatz zu dem Problem, wieweit Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf
.Bedürfnisse offen seien und welche Mächte sie beeinträchtigen. Dabei verflechten
sich Psychologisches und Ökonomisches: quicumque appetitus rectus nullo indigens
wird jeweils das Edlere vorziehen, weil nämlich propter indigentiam minus bonum
praeponitur et praeeligitur maiori, ut indigenti praeeligibik est ditari ipsi pkiW-
sophari0. Die Verbindung dieses Satzes mit dem Entwurf, der Leben, Wahrheit,
Intensität und Wahl zusammensieht, läuft unmittelbar darauf hinaus, daß eine
sozialökonomische Beschränkung den Menschen an seinem wirklichen Leben hin-
dert, und bereitet auch die Auffassung vor, daß die Äußerung der Bedürfnisse,
sofern sie nicht durch Umstände sozusagen verbogen wird, den Bedürfnissen selbst
entspricht. Die Übernahme der appetitus-Thematik als dritter Komponente von
'Bedürfnis' hat zu einer kräftigen Entfaltung dieses Themas in psychologischer und
politischer Hinsicht geführt.
Als letzte der Themenverflechtungen, die mit der necessarium-Notdurft-Kompo-
nente von Bedürfnis verbunden sind, ist schließlich der Vergleich von Menschen
und Tieren zu· erwähnen, der mit einem anderen Aspekt von Mangel verbunden ist:
Mangel wird hier, als necessitas, zum Anlaß menschlicher erfinderischer Tätigkeit,
der Produktion. Sicut etiam videmus quod per aliquam industriam subvenitur lwmini
in suis necessitatibus, puta in cibo et vestitu, quorum initia quaedam kabet a ·natura,
scilicet rationem et manus, non autem ipsum compkmentum, sicut cetera animalia,
quibus natura dedit sufficienter tegumentum et cibum48 • Der Ansatz ist vor allem im
Hinblick auf das Verhältnis von natürlichen und künstlichen Bedürfnissen folgen-
reich: während eine zivilisationskritische Auffassung die natürlichen Bedürfnisse

41 MElsTEB EOKJIABT, Quae11tion1111 Pari11iense11, Quaelitio deli ComalVWI, hg. v. Bernhard


Geyer, Lat. Werke, Bd. 5, 56. Vgl. ARISTOTELES, Top. 118 a 5 ff. Das wahre Leben entfaltet
sich also unter dem unum-necessarium-Aspekt erst da, wo das necessarium als dvayHaiov
aufhört, im :rieeiovaiov, und wird so mit dem eiJ Eiiv zusammengeschlossen.
48 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica 1, 2, qu. 95, art. 1. Opera, t. 7 (1892), 174
(Zusammenhang: Notwendigkeit menschlicher Gesetze).

451
II.!, Traditionelle Tbenieuve.rßeoLLWl8eu

mit den wahren zu identifizieren geneigt ist, stellt sich hier die Natur als „Stief-
mutter" der Menschen dar, die zu ihrer hinreichenden Versorgung aktiv und er-
finderisch werden müssen. Mangel als Bedürfnis enthält also eine anthropologische
Aussage; Mangel ist so, als Bedürfnis, eine anthropologische Grundbefindlichkeit,
bei der das Bedürfnis nicht auf Vorfindliches zu seiner Befriedigung bezogen ist,
sondern das, worauf es gerichtet ist, schafft. Damit aber können Kultur und Zivilisa-
tion im weitesten Umfang !!-ls „menschliche Natur" legitimiert werden, und ,Bedürf-
nis' zeigt sich dabei als Stimulans für Aktivität und Zivilisation schlechthin.
Eine Darstellung der Momente, die die zweite Komponente von 'Bedürfnis' in die
Begriffsgeschichte des Wortes einbringt, kann sich nicht an einem lateinischen Vor-
läuferbegriff orientieren. Sie sieht sich direkt verwiesen auf die Thematik des je in
einer bestimmten Situation Erforderlichen, des gegenüber bestehenden Verhält-
nissen aus einer merklichen Komplikation heraus zu Verändernden und des in einem
gegebenen Bezugszusammenhang Angemessenen. Sie ist auch Im Lateinischen nicht
mit einer festen Begrifflichkeit verbunden, utilitas, exigentia, auch necessarium als
Kategorie der Dringlichkeit49 stehen neben z. T. formelhaften Ausdrücken wie
„pro lor.o At, tAmpom", iliA AneAmARRAnhr,it nnil Variahilitii.t vArhinilAn. Fiir die
Thematik aber gibt es ein herkömmliches Paradigma: das ist die Gesetzgebung
oder die Änderung von Uesetzen bzw. ihre Anpassung durch lnterpretation: so muß
die lex, unter anderem, loco temporibus conveniens sein und necessaria, d. h.
ut exigentibus necessitatibus hominum statuatur 50 ; ein Gesetz darf nicht leichtfertig
geändert werden, sondern nur nach gründlicher Prüfung, pro maxima utilitate vel
necessitate, die sich darin zeigen, quod lex consueta aut manifestam iniquitatem con-
tinet, aut eius obseivatio est plurimum nociva 51 • Die Gesetzgebung wird zum Para-
digma menschlicher Geschichte, soweit sie als Veränderung von Bestehendem in
regionaler und temporaler Variabilität erscheint, wobei doch eine Art von Ur-
motivation bestehenbleibt, die die Veränderungen als Anpassungen veranlaßt,
etwa wenn es heißt, quod ab eadem auctoritate debent kges et alia que per eleccionem
statuuntur, suscipere addicionem aut diminucionem vel totalem mutacionem, inter-
pretacionem et suspensionem, secundum exigencia temporum vel locorum et reliquarum
circumstanciarum 52 • Hieraus läßt sich folgern, daß man aus den jeweiligen Ergeb-
nissen auch wieder die Umstände und Bedingungen ablesen könnte. Den Übergang
zu solcher Sicht zeigt die Aufforderung, zum Verständnis historischer Vorgängc in
diese Uin,stände und Bedürfnisse einzudringen 53 • Dabei wird freilich als Promotor
der Veränderung nicht länger eine einzelne auctoritas vorgestellt, sondern eine kol-
lektive Instanz oder die Bedingungen und Verhältnisse selbst, die sich als Bedürf-
nisse bemerkbar machen: darüber wird die Anpassung zu einer - nicht notwendig
bewußten - Funktion des Lebendigen.
'Bedürfnis' wird so zu einer Kategorie, die das Lebendige mit seiner Umwelt in
einen Wirkungszusammenhang setzt, und wird so in die Thematik organischer und

49 Vgl. die Unterscheidung im Begriff des neoessarium bei THOMAS, ebd., art. 3 (S. 177).
&o Die Summa. des Pa.uca.pa.lea. zum Decretum Gra.tia.ni, hg. v. JoH. FRIEDRICH v. SCHULTE
(Gießen 1890), 10 zu distinctio IV, c. 2 (Isidor, Etym. 5, 21).
61 THOMAS VON AQUIN, S. th. 1, 2, qu. 97, a.rt. 2 (S. 190).
n M.u!.sILIUs VON PADUA, Defensor pacis 1, 12, § 3 (S. 64).
53 J. G. HERDER, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), SW Bd. 5 (1891), 73.

452
II. 2. Traditionelle Themenverß~htungen

historischer Vielfalt und Wandelbarkeit einbezogen. Darüber hinaus, .da hier die
Veränderung als Errungenschaft l}Ild Neues positiv erscheint, liegt hier eine Voraus-
setzung für die begriffliche Verbindung von 'Bedürfnis' und Spontaneität, die den
modernen Bedürfnisbegriff bestimmt.
Die Vorgeschichte der psychologischen Komponente von 'Bedürfnis' führt mit
appetitus und anderen Begriffen für die motus animae, wie cupiditas; libido, passio,
desiderium, imaginatio in die antike und mittelalterliche Affektenlehre zurück. Im
Deutschen würde sie das vielfältig sich verschiebende Gefüge von Willen, Vorstellung,
Gefühl, Empfindung, Streben, Einbildung, Leidenschaft, Trieb, Instinkt und Interesse
zu behandeln haben. Unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen und politischen Bedeu- ·
tung seien hier nur einige Aspekte dieser Vorgeschichte von 'Bedürfnis' skizziert.
Für den Begriff von Bedürfnis ist am folgenreichsten, daß mit der Übernahme dieser
Tradition 'Bedürfnis' mit 'Bewegung' verbunden worden ist.
Die Geschichte der Begriffe für seelische Bewegungen in ihrem Vcrhö.ltnis zueinan-
der kann als Entfaltung der Thematik gelesen werden, die vom Aufkommen solcher
Bewegungen handelt, von ihrer Gerichtetheit auf ein Ziel oder Erfüllung hin oder
von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer Steuerung und Kontrolle. 'Bedürfnis'
übernimmt dabei neben der appetitus-Überlieferung auch weitgehend die Proble~
matik der cupiditas. Während appetitus weitgehentl die BetleuLung eines Strebens
nach Befriedigung i~ sich birgt, fehlt dieser Endbezug bei cupiditas. Diese bringt
bereits aus der antiken hnf>vµla das Problem der Befriedung durch Herrschaft mit
ein. Das kann eine Herrschaft des Ich. durch ratio, intellectus oder temperantia
sein54 • Alternativ sieht sich der Mensch durch seine Begierden oder Affekte
versklavt 0 &. Oder die Bändigung der cupiditas wird als Aufgabe der Gesetze be-
trachtet; sie haben den Frieden der Gemeinschaft vor den Auswirkungen unkontrol-
lierter Begehrlichkeit, vor Streit, Unruhe und Chaos, zu schützen66 • Hie.r geht die
psychologische direkt in eine politische Thematik über. 'Bedürfnis' hat aus dieser
Tradition ein spannungsreiches Verhältnis zu Herrschaft und Frieden - als Be-
friedung und Befriedigung - übernommen.
Traditionell liegen dazu folgende Modelle vor: Zügelung durch Selbstkontrolle,
Normen oder Gesetze: dabei sind Herrschaft und Frieden ohne einander nicht denk-
bar. Oder die Begierden beherrschen die Menschen: diese Herrschaft bedeutet·Un-
freiheit, Versklavung und ist selbst ungreifbar und nicht verantwortlich. Oder end-
lich die Herrschaft über Menschen vermittelst subtiler Kenntnis ihrer Seelen-
regungen und Begierden: diese Herrschaft hat einen üblen Ruf, da sie unter dem

H Die gängige Metapher für diese Herrschaft über das aus sioh heraus Grenzenlose ist
'frenes', sie transportiert natürlich ein dualistisches Menschenbild.
66 Am Ende dieses Versklavungsvorganges kann in der psychologischen Tradition wiederum

Bedürfnis als subjektive Notwendigkeit (necessitas) aufgrund von Gewohnheit stehen, vgl.
etwa AUGUSTIN, Confessiones 8, 5, 10, CSEL Bd. 33, 178.
66 Cuius (sc. des Menschen) efjrenes motus et impetus nisi iustitie rigor opprimeret •.. suum

paci.R d?tlcrdo amitteret nomen et arbitrii communis abusio societatis humane fe.dera violaret;
Arenga einer Urkunde Konrads IV. (1254 ?}, MG Const., Bd. 2 (1896), 451, Nr. 344. Die
Verbindung von Begierde zu n10tu1:1 w1d impetus ist im Hinblick auf den politischen Be-
wegungsbegriff zu beachten.~ „Effrenata cupiditas", in verwandten Texten in gleicher
Stellung wie hier effrenes motus et impetus, ist die Übersetzung Ciceros von hnf>vµla;
PAUL WILPERT, Art. Begierde, Rlex. Ant. Chr., Bd. 2 (1951), 62 ff.

453
II. 2. Traditionelle ThemeaTedlechtangea

Deckmantel des Dienstes die Beherrschten für ihre eigenen Ziele benutzt07; dies ist ·
schließlich die Methode des Teufels. Daneben steht appetitus als zwar korrumpier-
bare Intentionalität grundsätzlich im Dienst des einzelnen Organismus und als
Beweggrund für Tätigkeiten, die für den einzelnen oder auch eine Gemeinschaft
notwendig oder angenehm sind.
Wenn nun die historisch recht beständigen Entwürfe der BeZiehungen zwischen
Herrschaft und Begierde im Zusammenfluß der Komponenten in 'Bedürfnis' auf
die vitale Intensität des unum necessarium oder auf die Dringlichkeit treffen, die
bei Gesetzesänderungen Bestehendes in Frage stellt, so kann sich innerhalb von
'Bedürfnis' ein Sprengsatz bilden, der die Vorstellungen einer Legitimität von
Herrschaft zumindest stark erschüttert. Verstärkt wird das noch dadurch, daß
'Bedürfnis' kraft der engen Beziehungen, die im psychologischen Wortfeld zwischen
'Empfindung' und 'Bedürfnis' bestehen, in die Lage gesetzt wird, die Tradition der
positiven Bewertung von Spontaneität aufzunehmen.
Dieser Schlüsselbegriff der Neuzeit selbst ist mit keiner der Komponenten von
'Bedürfnis' in der Tradition verbunden. Aspekte der positiven Bewertung von
Spontaneität sind in den Motiven enthalten, die das liberum arbitrium dem Han-
deln zugrunde legt: so wird etwa ein aus der Tugend der caritas hervorgehender Akt
eiTIP.m flr?.wnng1men Oilt':r aus Notlage hervorgehenden gegenüber höher geachtet.
Die moderne Spontaneitätsvorstellung rückte hier wohl über den Empfindungs-
begriff der Auflärung ein. 'Zwang' gewinnt dabei gegenüber 'Spontaneität' die
Färbung einer fast wertlosen und nur mechanisch geübten Gewohnheit 58• Dies
wirkt auf die Auffassung von Herrschaft zurück. Sie kann seitdem eo ipso als Her-
kömmliches und als Inbegriff alfos die Bediirfnisse und Spontaneität Unterdrücken-
des erscheinen: 'Bedürfnis' kann so in der Folgezeit zu einem Signal emanzipato-
rischer Bestrebungen werden.
Mit der Verklammerung der Komponenten durch den gleichen Wortkörper ist mit
'.Hedürfnis' seit etwa 1760/70 ein neuer Begriff entstanden. Er ist kräftig genug,
aiic.h seinen Komponenten fremde Traditionen an sioh zu ziehen. Gloiohzoitig ho.t
er aber aus seinen Komponenten Bedeutungselemente und Themenverflechtungen
übernommen, die ihn wie selbstverständlich in geradezu gegenläufigen Zusammen-
hängen, innerhalb kontroverser Modelle und Grundvorstellungen und zur Recht-
fertigung gegensätzlicher Ansichten und Maßnahmen auftauchen lassen. Inhaltlich
bestimmt ist er nicht; als 'Begriff' im engeren Sinn kann man ihn allenfalls dann
ansehen, wenn man ihn auf bestimmte Themen beschränkt, etwa auf die Wechsel-
wirkung zwischen Umwelt und Organismus, die Veranlassung menschlicher Pro-
duktion, die Verteilung der Güter.

67 Vgl. etwa GEORG FoRSTER, Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der
Menschheit (1794), Sämtl. Sehr., Bd. 6 (1843), 299.
68 • • • quia multum pl,acet <Yratio quam aarit,aa elicit, non nece88im; MEISTER EcKHART,

Tractatus super Or. Dom., Lat. Werke, hg. v. Ernst Benz, Bd. 4 (Stuttgart, Berlin 1956),
110; ..• folget man den Gebräuchen und nie den eigenen Empfindungen ... ; LESSING, Der
junge Gelehrte, Werke, Bd. 3 (o. J.), 55; nicht bloa aus Gewohnheit oder beruhnender Klug.
heit, sondern aus tiefatem Bedürfniß; HERMANN HlilTTNER, Literaturgeschichte des 18. Jahr-
hunderts, Bd. 3/1 (Braunschweig 1862), 221; • . . entsprang mehr der Notlage ala einem
ehrlichen Bedürfnis; Zeitungsbericht 1971.

454
m.1. Definitionen UDd wi-nschaftliehe Verwend11118

m. Begriftliche und thematische Neuentwickhmgen seit dem


18. Jahrhundert

1. Definitionen und wiasenschat'tliche Verwenduug

Es war vor allem ein psychologisches Interesse, das zu Definitionsversuchen von


'Bedürfnis' führte. Begriffsgeschichtlich setzen sich dabei Ansätze aus der Psycho~
logie der motus animae fort, einmal in der Abgrenzung gegenüber anderen ver-
wandten Begriffen ('Trieb', 'Instinkt' usf.), zum andern in der Untersuchung, wie
Bedürfnisse motiviert sind (Verhältnis zu imaginatio usf.). Eine Darstellung dieser
Definitionsbemühungen würde unmittelbar in eine der unterschiedlichen psycho-
logischen Richtungen übergehen; sie ist hier nicht zu leisten. Wissenschaftsgeschicht-
lich zeigt sich, daß 'Bedürfnis' weit.hin 11.lR Rignn.l Tiir ila.R Rindringen psychologi-
scher Betrachtungsweisen in andere Wissenschaften anzusehen ist;
Das gilt vor allem für die Volkswirtschaftslehre. ller Zustand, worin man einer Sache
bedarf68, wird aus einer ökonomischen in eine psychische Verfassung umgeprägt, als
deren materiales Komplement 'Bedarf' eintritt. Diese Relation wird von GRUBER
postuliert, der sich dagegen wendet, daß man den gefühlten M an{Jel und den Gegen-
stand, der ihm abhilft, mit demselben W Olfte bezeichnet (nämlich 'Bedürfnis'), da d.oclt
unserer Sprache für den Gegenstand des Beilürfnisses ein eigenes Wort nicht fehlt,
nämlich Bedarf60 •
Grubers wichtige Bestimmung setzte sich in der Definition HERMANNS fort: Be-
dürfnis sei das Gefühl eines Mangels, verbunden mit dem Streben, ihn zu beseitigen61 •
Dies ist die am häufigsten zitierte Definitions2.
Ihre .Brauchbarkeit besteht in ihrer Allgemeinheit. Diese veranlaßte aber auch zu
Präzisierungen unter Heranziehung von Vorarbeiten von psychologischer Seite.
Gegenstand von Präzisierungen war einmal 'Gefühl eines Mangels'. Da dies nicht
allein durch tatsächlichen, sondern auch durch eingebildeten, in Zukunft befürch-
teten oder durch Umwelt suggerierten Mangel hervorgerufen werden kann, konnten
hier Überlegungen über primäre und sekundäre Motivationen einsetzen. Damit
wurde es möglich, die Relation Bedürfnis - Bedarf beizubehalten auch unter Be-
dingungen~ in denen das Marketing schließlich gegenüber der Produktion die Füh-
rung übernimmt und die Wirtschaft damit auf die Produktion von Bedürfnissen
verWiesen ist. Der Bedürfnisbezug der Produktion bietet dabei eine Legitimation
für deren Ausweitung als Eigengesetzlichkeit.
Gegenstand einer kritischen Präzisierung wurde aber auch der Ausdruck 'Mangel' :
ÜPPENBEIMER erinnert daran, daß es Bedürfnisse gebe, die nicht aus Mangel, son-
dern aus Überfluß resultieren, und formuliert so: „Bedürfnis" sei das Gefühl einer

öt S. o. S. 442 (Adelung).
eo GRUBER, Art. Bedürfnis, 324 (s. o. S. 446).
81 FRIEDR. BENED. WILH. v. HERMANN, Sta.atswirthschaftliche Untersuchungen, 2. Aufl.
(München 1870), 5. In der 1. Aufl. (1832) ist die Definition nicht enthalten.
811 Vgl. z. B. FRANZ ÜPPENHEIMER, System der Soziologie, Bd. 3: Theorie der reinen und
politischen Ökonomie, 5. Aufl. (Jena 1923), 18 f.; Wörterbuch der philosophischen Begriffe,
hg. v. JOHANNES H0ll'FlllEI8TER, 2. Aufl. (Hamburg 1955), 105.

456
m. l. De6nttionen und wiuensehaftliche Verwendung
Störung im Gleiclujewicht der Substanz. oder Energie des Organismus und der damit
verbundene, auf Beseitigung der Störung gerichtete Trieb 63 • Dabei schließt. er sich aus-
drücklich der Auffassung McDougalls an, daß „Bedürfnis" ein umgeformter
Instinkt sei.
Das reflektiert Entwicklungen, die zum Thema der Interdependenz von Umwelt
und Organismus gehören und seit der Wende zum 19. Jahrhundert zunehmen.
Dabei erscheint 'Bedürfnis' grundsätzlich als etwas Gesundes, da der Homöostase
des Organismus Dienendes; die traditionellen Aspekte von Gefährdung treten zu-
rück. Noch bevor die Definitionsversuche einsetzen, spielt 'Bedürfnis' als Kategorie
des organischen Funktionszusammenhangs wissenschaftsgeschichtlich eine wichtige
Rolle bei der Ablösung der mechanischen Metaphorik im Zusammenhang der Deu-
tung biologischer Entwicklungsvorgänge und Gestaltbeschreibungen und historisch-
sozialer Erscheinungen 64• Da die Relation zwischen Organiflmm~ unrl Reirn~r UmwP.lt
wesentlich ökonomisch angelegt ist, konnte es weithin zu einem Leitwort materialisti-
scher Geschichtsauffassung werden: Bedürfnis: Streben oder V erl,angen des Menschen
nach Gleiclujewicht mit den ihm umgebenden objektiven Bedingungen ... Die Bedürf-
nisse drücken die praktische Verbindung des Menschen mit seiner Umwelt aus und sind
immer historisch-konkret. Sie sind die ursprünglichen Triebkräfte seiner Tätigkeit65.
Dies greift weit über we volkswirtechaftliche Korrela.tio11 ~wisr,heu Beuiilfüi1:1 UHU
Bedarf hinaus: sie ist auf die Verbindung zwischen Bedürfnis und Mang;el angewiesen.
Die Technik der Werbung demonstriert die Unvereinbarkeit der beiden Präzisie-
rungen zu der Definition Hermanns: wenn ·sie Schuldgefühle bei der Weckung
von Bedürfnissen mobilisiert, leugnet sie spontane Motivationen und setzt an die
Stelle eines auf Homöostase ausgerichteten, biologisch-organischen und als solchen
ökonomisch in sich ausgewogenen Systems eine utopisch-moralische Vollkommen-
heitsvorstellung, während die Störung deA Gleir.hgftwfoht<R rlumh einen Mangel 11.lR
Defekt abgelöst wird.
Die Präzisierungen führen also letztlich auf zwei „Begriffe" von Bedürfnis, die
miteinander nicht .r.11 vereinbaren sind.
Besonders in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist viel Mühe darauf ver-
wendet worden, 'Bedürfnis' zu einem wissenschaftlichen Begriff zu schleifen. Sie
sind großenteils merkwürdig folgenlos geblieben, vielleicht, weil das Wort in seiner
Vielfalt und Widersprüchlichkeit sich einer terminologischen Festlegung entzog.
Festzuhalten ist, daß ihnen die Entdeckung von 'Bedürfnis' als einer geradezu
universalen Kategorie der Erkenntnis historischer und politischer Zusammenhänge
unter psychologisch-ökonomischem Aspekt zugrunde lag. Denn: Das Reich der
Bedürfnisse ist das Leben in seinem Gesamtumfange; Leben heißt Bedürfnisse haben
und befriedigen . . . Die Geschichte und Theorie der menschlichen Bedürfnisse ist eine
Darstellung der menschlichen Wertvorstellungen und ihres Ausdrucks im Verhalten
ihrer Subjekte66.

ea OPPENBEIMER, System, 18 f.
" Vgl. unten S. 457 f.
u MEYER, Neues Lex., Bd. 1, 684.
68 JoAOBDI TmUBTIUS, Der Begriff des Bedürfnisses, Nationalökonomie u. Statistik 103
(1914), 789.

456
a) Bedürfnis, Bewegung und Geschichte Bedürfnis

2. Charakteristische Bedeutungsentfaltungen in einigen Themenzusammenhängen


Die wichtigsten Entwicklungen in der Geschichte von 'Bedürfnis' haben sich seit
dem ausgehenden 18. Jahrhundert im allgemeinen Schrifttum über historische, po-
litische, soziale und pädagogische Themen vollzogen. Einige Paradigmen sollen auf
wesentliche Ausprägungen, die Bedürfnis in ihrem Kontext zeigt, hinweisen.

a) Bedürfnis, Bewegung und Geschichte. Die psychologische Komponente stellte


eine Beziehung zwischen 'Bedürfnis' und 'Bewegung' her und ermöglichte die von
'Bedürfnis' und 'Spontaneität'. Das führte auf eine Möglichkeit der Unterscheidung
zwischen mechanischer und organischer Bewegung. Die mechanische Bewegung er-
scheint dann als eine dauernde Wiederholung und als zwangshaft und gelegentlich
sinnlos. 'Bedürfnis' bezeichnet demgegenüber geradezu eine Eigenschaft des Le-
bendigen und steht so im Zusammenhang der Versuche, Kategorien des Organismus-
flenkens aufzubauen.
Wesentlich ist nun, daß das Organismusmodell auf historische Zusammenhänge
übertragen wird. Dabei übernimmt das Übliche, Herkömmliche, Gewohnte, se-
kundär Motivierte und Nachgeahmte den Part des Mechanischen, während 'Be-
dürfnis' das Elementare, Ursprüngliche, Echte anzeigt: ... wenn spät nachlwr,
wenn schon alles Bedürfnis weggefallen ist, aus bloßer Nachahmung.~s1lcht oder Li,ebe
zmn. Altertum dergleiclwn Wort- und Bildergattungen bleiben . .. 67 •
Von hier 11.u1:1 kann 'Dedürfnis' zu ei11c1· hiatol'iochcn Kategorie werden, mit der dM
geschichtlich Ursprüngliche oder Neue begriffen wird als das Echte und Wahre und
von sich aus Gerechte, das sich als innere Notwendigkeit legitimiert: Alle Versuclw,
irgendeine ausländisclw Neuerung einzuführen, wozu das Bedürfnis nicht im tiefen
Kern der eigenen Nation wurzelt, sind daher töricht und alle beabsichtigten Revolutionen
solcher Art ohne Erfolg ... Ist uber wi1·kbiclies Bedürfnis zu einer großen Reform in
einem Volke vorlianden, so ist Gott mit ihm und sie gelingt. Dann enthüllt sich das
Hergebrachte dem Neuen gegenüber als das Unwahre, Ungerechte und Mangel-
hafte68. Diese Sicht des geschichtlich Neuen erinnert an die Komponente von 'Be-
dürfnis', die sich an der Gesetzgebung zeigen ließ. Ein Rückblick zeigt den Wandel
im Bedürfnisbegriff: während das Neue im traditionellen Kontext aus der Prüfung
von Notwendigkeit und Angemessenheit resultierte, während es das Überlieferte
dabei nur an strittigen Punkten, nicht aber generell in Frage stellte und seine Legi-
timität aus Ermessen und Entscheidung einer Autorität erhielt, resultiert nun die
Legitimität des Neuen daraus, daß sich das Bedürfnis als Notwendigkeit äußert und
aus dieser Notwendigkeit zur Verwirklichung führt. Dabei entfällt die Adäquatheits-
relation zusammen mit Ermessen und Entscheidung eines bestimmbaren Subjekts,
so daß.Bedürfnis als Dynamik kollektiven Geschehens erscheint und sich im Her-
vorbringen von Neuem selbst als wahres Bedürfnis legitimiert.

67 HERDER, Über den Ursprung der Sprache, SW Bd. 5 (1891), 73 f.; vgl. GEORG FoRBTER,

Über die Beziehung der Staatakunst auf das Glück der Menschheit (1794), Sämtl. Sohr.,
Bd. 6 (1843), 284 f,
es GoBTHE, Gespräch vom 4.1. 1824, in: JoH. PETER ECKER.MANN, Gespräche mit Goethe
in den letu;ten .Jahren seines Lebens (Berlin 1911), 375 f. - Die Geschichte dieses Themas,
etwa der Verbindung zum griechisch.neutestamentlichen ieaieoi;-Begriff, kann hier nicht
nachgezeichnet werden.

457
Würlnis m. 2. Charakteristisebe Bedeutungaentfalhmgen

Hier kann man die neuzeitliche funktionale Verwendung von 'Bedürfnis' ansetzen,
die ökonomische, soziale oder politische Vorgänge damit begründet, daß ein ent-
sprechendes Bedürfnis bestanden habe.
'Bedürfnis' als Kategorie der geschichtlichen Bewegung ist aber nicht allein aus der
psychologisch-dynamischen und organologischen Bedeutung herzuleiten. Mit der
Hervorbringung von Neuem verschränkt sich die Vorstellung von einer Bewegung
in der Geschichte überhaupt, die ebenfalls als 'Bedürfnis' bezeichnet werden kann.
Der Ansatz für diese Nuance ist wahrscheinlich im Zus.ammenhang der Übertragung
des universalen kosmischen Bewegungsmodells des Uhrwerks auf Kultur und Zivi-
lisation zu sehen und scheint mit 'besoin' aua dem Französischen vermittelt zu sein;
sie geht der organologischen Nuance zeitlich voraus. Dabei werden als „Triebräder"
oder „Triebfedern" 69 der Kulturerscheinungen die Leidenschaften und Bedürfnisse
angegeben 70 • Sie übernehmen im Deutschen bald einen direkten teleologischen Bezug
auf Zivilisation, Staat, Kultur und erscheinen nicht nur als treibende, sondern als
vorantreibende Kräfte. LESSING etwa schreibt im Zusammenhang von Staats-
verfassung und Glückseligkeit: daß die Natur alles so eingerichtet habe, daß der
Mensch auf die Erfindung von Staaten habe verfallen müssen. Daher komme es,
daß einige die bürgerliche Gesellschaft für Zweck der Natur gehalten. Weil alles, unsere
Leidenschaften und unsere Bedürfnisse, alles darauf führe ... 71 • Der Ansatz für eine
Veruiudung mit der organologischen und dynamischen .Hedeutung von 'Bedürfnis'
ist damit gRgRlum. ~l~ folgt, daß air.h di11 ct11Rnhiohte nlFJ oino Bewegung da.r&tellt,
die ständig Neues als Fortschritt hervorbringen kann; das Neue ist nicht mehr
allein das Ursprüngliche am Anfang der Geschichte.
Ständig Neues hervorzubringen, erscheint weiterhin als eine Möglichkeit des Men-
schen, die mit Bedürfnis als Tätigkeit verbunden wird. Den Ansatz dafür bot das
alte Konzept von einem konstitutionellen Mangel der Menschen gegenüber den
Tieren, der zunächst eher auf eine kompensatorische erfinderische Tätigkeit des
Menschen in einer Art von Ursituation hinwies. Er wird nun ebenfalls geschichtlich
dynamisiert: denn dem Mangel wird nicht dadurch abgeholfen, daß der Mensch
mit Nahrung und Kleidung ve:rsorgt wird, sondern er erscheint als ein immer blei-
bendes und so über die jeweiligen Gegebenheiten hinausführendes Merkmal des
Menschen. Dies führt unmittelbar auf den Zusammenhang von Bedürfnisvermeh-
rung und Kulturentwicklung.
Die Bewegung der Geschichte stellt sich dabei als ein Fortschreiten in Differenzierung
dar. Alle Mlingel und Bedürfnisse, als Tier, waren dringende Anlässe, sich mit allen
Kräften als Mensch zu zeigen: so wie diese Kräfte der Menschheit nicht etwa bloß
schwache Schadlosha"ltungen gegen die ihm ver.~agüm, größeren Tiervollkommenheiten

89 „Triebfeder", „Triebrad", „Triebkraft" sind mechanische Metaphern, sie zeigen auch

die Übertragung in klassischer Mikrokosmos-Makrokosmos-Relation auf den einzelnen


Menschen an.
70 ·Eine Stelle wie et il est tres vraiaemblable que Dieu 11.e 1WU8 a donni rA'.a he/l()ina, ces paa-

sions qu'afin que notre indUBtrie les tournat a notre avanf,a,ge, VOLTAIRE, Traite de metaphy-
sique, zit. HANS BLUMENBERG, Paradigmen einer Metaphorologie, Arch. f. Begrüfsgesch. 6
(1960), 79 wirkt wie eine Umprägung fler oben S. 451 zitierten Stelle; die ökonomische
necessitas ist zur Antriebskraft dynamisch uminterpretiert.
71 LESSING, Ernst und Falk, 2. Gespräch. Sämtl. Sohr., Bd. 13 (1897), 353.

458
b) Umatiade, Gewohnheiten un• Bediirfniue Bedürfnis

waren, .. . : sondern sie waren ... seine Art 72 • Die Natur, die weniger stiefmiitterlich
ist, als ihre Verleuinder sie schildern, legt oft in ihre Kargheit selbst den Sporn, der
neue Anstrengung hervorruft und die Geistesanlagen entwickelt73 • - ••• und gleichwie
Bedürfnis von der einfachsten Art der Stachel ist, der unwillkürlich unsere ersten Be-
wegungen erregt, so wird im Fortgange der Ausbildung, wenn mehrere Gegenstände die
Begierden reizen, ein vervielfältigtes Bedürfnis die Quelle neuer Tätigkeit 74 •
'Entwicklung' ist das Leitwort dieser Zeit für Differenzierung, neben ihm steht zu-
nehmend auch 'Entfaltung'. Hinzu tritt, namentlich wohl auf GOETHE zurück-
gehend, 'Steigerung'. Die Verbindung dieser Ausdrücke mit 'Bedürfnis' verknüpft
Spontaneität mit dem geschichtlichen Vorgang der Kulturentwicklung als Diffe-
renzierung unter dem Aspekt von Entelechie und impliziert so letztlich Fort-
schritt.
Ausdrücke wie 'Entwicklung' und 'Entfaltung' zeigen an, daß ein Aspekt von Natur
zur Interpretation des Vorgangs der Kulturdifferenzierung herangezogen wird:
nämlich das Modell der Pflanze„ In seinem Rahmen hat Bedürfnis einen Beiklang
von innerer Notwendigkeit und eigenständiger Legitimität, es erscheint als eine Art
von innen treibender Kraft.
Daneben hält sich freilich ein zweiter Blickwinkel, unter dem die Kulturdifferenzie-
rung betrachtet und beurteilt wird: die eher kritisch gestimmte, vor allem durch die
Rechtswissenschaft tradierte Vorstellung einer im Lauf der Zeit geradezu zwangs-
läufig zunehmenden Komplizierung und Unübersichtlichkeit der Verhältnisse, die
sich behindernd auf das Leben auswirkt. 'Bedürfnis' tritt auch in ihrem Zusammen-
hang auf, die Voraussetzungen da.für bringt die kynisch-stoische 'Oberlieferung
der Kritik am Unnötigen und Unübersichtlichen als Lebensbehinderndem. 'Be-
dürfnis' erscheint dabei weniger .als Motor als vielmehr als etwas in dieser geschaf-
fenen Umwelt mit Vorfindliches, das den Menschen erfaßt.
Für die Texte ist nun bemerkenswert, daß durchaus beide Modelle mit den ihnen
zugeordneten Bedeutungen und Implikationen von 'Bedürfnis' nebeneinander vor-
kommen. Sie verbinden sich schließlich in der Fjrkenntnis der Geschichtlichkeit der
Bedürfnisse, die sowohl vorfindlich a.ls auch die Geschichte vorantreibend sind:
Die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung der ersten Lebensbedürfnisse war die erste
geschichtliche Tat. Mit ihrer Befriedigung und folgender Erzeugung neuer Bedürfnisse
beginnt sich der geschichtliche Prozeß zu entfesseln76 • Kulturdifferenzierung und
Bedürfnissteigerung werden so identisch. Doch die Bewertung beider ist immer,
zumindest unterschwellig, ambivalent. ·

b) Umstände, Gewohnheiten und Bedürfniue. Mit der erwähnten zweiten Vor-


stellung zur Kulturdifferenzierung steht ein Sprachgebrauch in engem, wenn auch
zumeist unreflektiertem Zwianunenhang, der Bedürfnisse durch Gewohnheiten und
Umstände bedingt sieht. Während 'Bedürfnis' als Triebkraft der Geschichte sich
überhaupt einer näheren Bestimmung entzieht oder· einer energischen Reduktion

11 HERDER, Ursprung der Sprache, 94.


78 FoRBTER, Staatskunst, 288.
7' Ders., Über Leckereien (1788), Sämtl. Sehr., Bd. 5 (1843), 182.
75 KARL M.utx, .Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3 (1962), 28.

459
Bedürfnis m. 2. Charakteristische Bedeutungsentfaltungen
auf einige wenige Triebe unterliegt76 , sind diese bedingten Bedürfnisse in der Viel-
falt ihrer Erscheinungsformen prinzipiell unbegrenzt. Umstände und Gewohnheiten
können alles Erdenkliche zum Bedürfnis werden lassen. Dabei können diese schließ-
lich als Eigenschaften erscheinen, die sich etwa in wiederholten Handlungen äußern,
auch ohne daß sie auf Bedingungen zurückzuführen sind: Der ausschweifend,ste
Aberglaube scheint ein Bedürfniß der Aegypter zu sein 77 •
Das unterliegende Thema ist hier zumeist der Kulturvergleich. Dabei können ein-
mal einfach die unterschiedlichen Bedürfnisse als Erscheinungen solcher Verschie-
denheiten beschrieben werden, es kann aber auch die Frage nach Bedingungen der
Unterschiedlichkeit der Äußerungsform gleicher Grundbedürfnisse gestellt werden.
In diesem Fall wird herkömmlich vor allem das Klima herangezogen: Viele von
den kleinern Staaten würden ein ganz verschiedenes Klima, folglich ganz verschiedene
Bedürfnisse und Befriedigungen, folglich ganz verschiedene Gewohnheiten und Sitten ...
haben18 •
Die Unterschiedlichkeit menschlicher Bedürfnisse ist in diesem Zusammenhang
durchaus gerechtfertigt, die Verknüpfung mit den Naturgegebenheiten wirkt eo ipso
legitimierend, ohne daß sie die normative Allgemeinheit natürlicher Bedürfnisse
einführen müßte. Die Frage nach dem Luxus bleibt ausgeklammert, auch wenn die
Unterschiede, wie es häufig der Fall ist, bei den Ernährungsbedürfnissen und -ge-
wohnheiten angesetzt wer<len, die an sich traditionellerweise problematisch sind.
Man kann zwar konstatieren, daß das, was ein Volk als notwendig ansehe, für ein
anderes Luxus sei7 9 : Luxus besagt dann aber kaum mehr, als daß das als Luxus
Geltende dort nioht oder kaum bekannt sei. Die eindeutige UnL1micheidbarkeit von
Notwendigem und Luxus oder Überflüssigem wird also im kulturgeschichtlichen
Bereich fraglich, Luxus bezeichnet hier kein moralisches Problem. Hier liegt die
Voraussetzung für die Bewertung auch gesteigerter Bedürfnisse als kulturgeschicht-
licher Erscheinung eigenen Rechts.
Traditionsgemäß stellte sich die Veränderung ökonomischer Umstände als Ver-
änderung der Umstände einzelner dar, sie führte so unmittelbar in die moralische
Luxus-Problematik. Im 18./19. Jahrhundert konnte die Veränderling wirtschaft-
licher Umstände als Veränderung der Lebensumstände einer Großgruppe erfaßt
werden: so trat an die Stelle der klimatischen Unterschiede die Variabilität der
sozialökonomischen Bedingungen. Unsere Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus
der Gesellschaft; wir messen sie daher an der Gesellschaft; wir messen sie nicht an den
Gegenständen ihrer Befriedigung. Weil sie gesellschaftlicher Natur sind, sind sie
relativer N aturso.
Auch sonst hatte man die Kategorien 'relativ' und 'absolut' auf die Bedürfnisse so
angewandt, daß bei den relativen gesellschaftliche Momente eine Rolle spielen und

76 Z. B. HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschicht.e der Menschheit (1784/91), SW

Bd. 13 (1887), 108.


77 WIELAND, Bekenntnisse des Priest.ers Abulfäuarius, 2. Palmblatt, SW Bd. 29 (1857),

270. Vgl. etwa auch FRIEDRICH CARL v. SAVIGNY, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetz-
gebung und Rechtswissenschaft (Heidelberg 1814), 148.
7 s LESSING, Ernst und Falk, 2. Gespräch. Sämtl. Sehr., Bd. 13, 356.
79 s. u. s. 468 f.

so MA.Rx, Lohnarbeit und Kapital IV, MEW Bd. 6 (1959), 412.

460
e) Bedürfais, Tätigkeit und GeseJlaehaft Bedürfais

also das absolut Notwendige vom durch die Umgebung vermittelten vermeintlich
Notwendigen abgesetzt wird 81 . Hier hingegen besagt gerade die Relativität der
Bedürfnisse und Genüsse, daß sie gesellschaftsimmanent real, begründet und inso-
fern notwendig sind. Und damit wird nun der moralisch-individualistische Entwurf
einer Wahlmöglichkeit als Freiheit problematisch.
Dem korrespondiert eine Wandlung im Konzept von den Bedingungen der Bedürf-
nisse. Die gesellschaftlichen Bedingungen stellen ein Gefüge von Umwelt her, das
einer distanzierenden Objektivierung durch ein einzelnes Glied der Gesellschaft
kaum zugänglich ist. Die Umstände beeinflussen die Bedürfnisse so, daß der einzelne
infolge der gesellschaftlichen Bedingtheiten nicht mehr in der Lage ist, seine wahren
und falschen Bedürfnisse zu unterscheiden: die Vorstellung von geschichtlich zu-
nehmender Kompliziertheit und Undurchschaubarkeit drängt sich hoch. Eine
Versklavung unter fälsche Bedürfnisse ist demgemäß auch nicht mehr auf einP.
individuelle, moralisch zu beurteilende Fehlentscheidung der Steuerung seitens des
Individuums zurückzuführen, sondern sie reflektiert die gesamte Verfassung der
Gesellschaft als falsch.
80 weicht die Freiheit des liberum arbitrium einer Freiheit als gesellschaftlichem
Entwurf, die sich als Freiheit von falschen Bedürfnissen und als Möglichkeit zu
einer Tätigkeit begreift, in der sich die Intensität des Leueus Let1Lii.Ligt.
c) Bedürfnis, Tätigkeit und Gesell8chaft. Der Begriff der Tätigkeit leistet für die
Begriffsgeschichte von Bedürfnis, daß eine unmittelbare Beziehung zwischen Be-
dürfnis und Äußerung und zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung gesehen
wird. Diese Unmittelbarkeit wird, als natürlich oder spontan, positiv bewertet. Als
üblicher Ausdruck für Iledür.fnisbefriedigung tritt vor allem Genuß auf: N_ur daß
er gen·ie/Jen, und glücklich genießen möchte, setzte die Natur ihn durch die Reizbarkeit
seiner Sinne mit der objektiven Welt in Zusammenhang, und es ist der Zweck einer
vernünftigen Erziehung, dafür zu sorgen, daß keiner von diesen Sinnen einseitig und
zum Nachteil der übrigen Sinne überschii,rft werde 82 . Bedürfnisse, Tätigkeit und Ge-
nuß auf der Grundlage der naturgegebenen Sinne führen zur Selbstentfaltung des
Menschen. Der künstlich aufgestachelte oder affektierte Genuß wird scharf abge-
wertet83, entsprechend auch sekundäre Motivationen: nur eine Tätigkeit, die nicht
von Äußerlichem veranlaßt wird, führt zur Ruhe als Glück im Genuß. Etwa durch
Besitzgier motiviertes Tun ist demgegenüber ein unruhiges Treiben, das ihn (den
Menschen) weit von dem wahren Lebensgenu/J und seiner· bessern Bestimmung ent-
fernet84. Dabei bleibt die Tätigkeit individuell konzipiert.· Im Hinblick auf die Ge-
sellschaft setzt sie den Menschen als autonomes Einzelwesen voraus. Dem korrespon-
diert ein Gesellschaftsmodell, das, der Mechanik Newtons nachgebildet, dem Bedürf-
nis die Rolle der Kraft zuweist, die jedes einzelne Element eines in sich bewegten

81 s. u. s. 470 f.
82 CARL WILH. FRöLICH, Über den Menschen und seine VerhältniBSe, hg. v. Gerhard
Steiner (1792; Berlin 1960), 18.
ea Die traditionelle Bewertung von Genußluxus und standesbedingtem Luxus wird dabei
umgekehrt: nif;kt der Magen- oder Einsiedl-er-LUX'UB oder der genießende i8t der giftigere .•• ,
sondern der Augen- oder Gesellackaft&-Luwua, der scheinende ••. ; Jl'lAN PAUL, Friedenspre-
digt Nr. 7. AA 1. Abt., Bd. 14 (Weimar 1939), 20.
84 FRöLICH, Über den Menschen, 98 f.

461
Systems in seinen Koordinaten bestimmt und an seinem Ort hält. Es unterlegt eine
überindividuelle und naturgegebene Harmonie der Bedürfnisse, die die Bestim-
mung des einzelnen als Selbsttätigkeit und Selbstentfaltung mit der Bewegung des
Ganzen vereintBli.
Dabei nimmt 'Bedürfnis' eine neue Nuance auf, die möglicherweise aus dem Eng-
lischen herzuleiten ist und die es in die Begriffssphäre von 'Eigennutz' rückt. Tat-
sächlich löst 'Bedürfnis' erst verhältnismäßig spät 'Eigennutz' in Zusammen-
hängen ab, die mit Mandevilles „private vices, public virtues" angedeutet werden
können, also wenn etwa davon die Rede ist, daß das Gleichgewicht des Systems
nicht allein ohne das Wollen und Wissen, sondern sogar gegen die Tendenzen der
Individuen bewirkt werde 8 8.
Mit HEGELS „System der Bedürfnisse" wird dieser Gesellschaftszusammenhang
philosophisch dargestellt 87 • Seine Basis ereohoint oJa sozioökonomisches Geflecht,
in. ihm tritt an Stelle universaler Tätigkeit ökonomische Tätigkeit, Arbeit. Dabei
zeichnet sich ein neues Modell von Verteilung ab: sie ist jetzt nicht mehr dem Er-
messen, der Gnade oder der Gerechtigkeit einer Autorität zugewiesen, sondern re-
guliert sich durch die Tätigkeit. Das entspricht der Konzeption eines Modells, das
kein Zentrum als bestimmendes Gewicht vorsieht und das wesentliche Auswirkun-
gen auf die Begriffe von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft und deren Verhältnis
. zueinander hat.

d) Bedürfnis und Herrschaft. Innerhalb des skizzierten Gesellschaftssystems


postuliert der Zusammenschluß von Bedürfnis und Tätigkeit einen Freiheitsraum
für die Individuen, durch den Herrschaft als solche in Frage gestellt wird. Denn sie
ersch1iiut 1:1chl1ichLhiu als das, was die Entfaltung der Bedürfnisse als Selbst-
entfaltung der Menschen behindert: Bedürfnis in dieser teleologi1uih-opfonistisc.hen
Begriffsprägung wird so zu einem Leitbegriff der Herrschaftskritik. Dabei bedingen
sich die Vorstellungen von Bedürfnis und Herrschaft inhaltlich gegenseitig. Wird
Entfaltung von Bedürfnissen mit SelbRtentfältung gleichgesetzt, so stellt sich Herr-
schaft als Bevormundung dar: Jene eingebildete Kunst, uns zu beglücken, womit man
das H errscherrooht beschönigen wiU, war nie etwas anderes als Verstümmelung. Man
machte den Menschen ärmer, als ihn die Natur geschaffen hatte; man raubte ihm seine
Empfänglichkeit, man suchte ihn fühllos, unempfindlich, gkichgültig zu machen, die

85 Während der Begriff des Interesses, der 'Bedürfnis' inhaltlich sehr nahe kommen kann,
von vornherein mit der Vorstellung des Konflikts verbunden ist, stößt man immer wieder
auf eine Verbindung von Bedürfnis und Harmonie, die im Zusammenhang mit der von
Bedürfnis und Gleichgewicht und einer Vorstellung von Natur als wirkender Kraft zu
sehen ist. Ihre Herkunft wäre motivgeschichtlich zu klären; Verbindungen zur epiku-
räischen Naturphilosophie liegen vor. Da.zu sei auch an.die Beschäftigung mit Lukrez im
18./19. Jahrhundert erinnert.
81 Vgl. KANT, Zum Ewigen Frieden, 1. Zusatz, 3. AA Bd. 8 (1912), 368; HERDEB, Ideen,

SW Bd. 14 (1909), 217 ff.; FOBSTEB., StaatRk11m1t, 303 .. Gelegontlioh kann 'Bedürfnis'
als gesellschaftlich bindende Kraft auch in Nachfolge des a.ppetitus socia.lis stehen, so
tiLwa bei. GoJC"rm: 1n der ZWllWlIIlenstellung ltiebe ·und Zutrauen, Bedürfnis und Treue;·
Pa.ra.lipomena zu den Anna.Jen, WA 2. Abt„ Bd. 36 (1893), 253. Diese Verwendung von
'Bedürfnis' scheint jedoch bald abzukommen.
• 87 HEGEL, Rechtsphilosophie, § 188 ff. (vgl. u. S. 474 f.).

462
Summe seiner Bedürfnisse zu verkleinern und die H eftiglceit seiner Triebe abzustumpfen
. . . Wohlan, ihr Fürsten und Priester! ... Anstatt uns GWck zu verheißen, laßt.eure
alleinige Sorge sein, die Hindernisse wegzuräumen, die der freien Entwicklung unserer
Kräfte entgegenstehen; öUnet uns die Bahn, und wir wandeln sie, ohne Hülfe eures
Treibersteckens, an das Ziel der sittlichen Bildung: denn seht! Wir empfangen Freude
und Leid,, unsere wahren Erzieher, aus der Mutterhand der Natur / 88 • Die Universalität
der Bedürfnisse wird zu einem principium emancipationis, die Konsequenz wäre
hier eine Verfassung, die eine ungestörte Entfaltung der Bedürfnisse garantiert.
In der Korrelation von Bedürfnis und Herrschaft sind Freiheit und Revolution stets
impliziert. Diese Konstellation ist bis in die Gegenwart wirksam geblieben, und in
ihrem Rahmen spielen sich die Neuentwicklungen ab, die bis jetzt nicht abgeschlos-
sen sind. Deren Kennzeichen ist, daß die Korrelation zwischen Bedürfnis und Herr-
schaft zunehmend komplizierter gesehen resp. zunehmend- als komplexer erkannt
wird, als dies in dem einfachen Modell, das sich an dem eben zitierten Beispiel zeigt,
der Fall ist. Herrschaft als Behinderung der Bedürfnisentfaltung - also der Un-
mittelbarkeit von Bedürfnis und Äußerung oder Bedürfnis und Bedürfnisbefriedi-
gung - wirft nicht nur ein institutionelles Problem auf, sondern auch ein psycho-
logisches, das zunächst aufklärerisch formuliert wird: Allein die Ursachen, welche
don M ensohen vlfl'hir1dern, seir1er Natur gemäß zu empfinden und zu, h.nm.d.P.ln, .<tt.nd
nicht absolut, sondern eine Folge allgemein herrschender verkehrter BegriUe, und der
ilaraus entstandenen zweckwidrigen Einrichtungen 89 • So deckt die Herrschaftskritik
unter dem Leitbegriff von Bedürfnis die Problematik der Kultur auf. Diese wird
aber nun nicht mehr unter dem alten Aspekt der luxuriösen Verweichlichung ge-
sehen, sondern unter dem eines Freiheitsbegriffs, der in der Begriffsgeschichte von
Bedürfnis seinen Ansatzpunkt in der Mormulierung von Mangel als Lebensbehin-
dorndem hat90• Dieser Freiheitsbegrift' ist insofern individualiRtiRr.h P.nt.worfän, alR
er mit der Selbsterkenntnis verbunden ist; er erhält von daher ein Pathos der
Wahrheit und Wahrhaftigkeit, das in den herrschafts- und kulturkritischen Be-
dürfnisbegriff eingeht: so postuliert NIETZSCHE die Freiheit der Persönlichkeit als
Wahrhaftigkeit gegen sich selbst und andere, und zwar in Wort und Tat, und sieht
als Ziel, eine Kultur anzup-fl,anzen, die wahren Bedürfnissen entspricht und die nicht,
wie die jetzige allgemeine Bildung, nur lehrt, sich Uber diese Bedürfnisse zu belügen
und iladurch zur wandelnden Lüge zu werden91 ,

IV. Explikationen des ,,kritischen Bedürfnishegrift's"


Die Weiterentwicklungen des Ansatzes, der mit dem „kritischen Bedürfnisbegriff"
skizziert wurde, sind vor allem in zwei verschiedenen Entwürfen zu verfolgen, als
deren Exponenten man Marx und Freud ansehen kann.
MARX setzte den Ansatz der Herrschaftskritik aufgrund des Bedürfnisbegrift's fort,
vertiefte und radikalisierte diese Kritik aber dadurch, daß er sie aus dem institutio-

88 FoBSTEB, Staatskunst,· 304 f.


89 FRöLIOH, Vber den Menschen, 101 f.
PO 8. O. 8. 451.
91 NIETZSOHE, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Werke, Bd. 1 (1954),
239f.

468
Bedürfnis IV. Explikationen des ,,kritischen BedürfnisbegriJls"

nell-verfassungsrechtlichen in den ökonomisch-sozialen Bereich transponierte. Die


Grundlage dafür bot der Begriff der universalen Tätigkeit· aus Bedürfnis und als
Selbstverwirklichung, die er mit der Arbeit und deren tatsächlichen Bedingungen
konfrontierte. Das führte auf die Kategorie der Entfremdung: die Arbeit unter den
bestehenden Bedingungen ist entfremdet, weil sie den Bedürfnissen des Arbeitenden
weder im Arbeitsvorgang, noch im Produkt, noch in der Entlohnung entspricht:
Sie ist nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um
Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen92 • Bedürfnis wird so zum Träger einer ökono-
misch-sozialen und politischen Zielkonzeption: nachdem die Arbeit nicht nur Mittel
zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der all-
seitigen Etitwicklung <kr InJ;i;v·id·uen a·uch iltre Produktivkrllfte gewachsen sind und alle
Springquellen des genossenschaftlichen Reichtutns voller fließen - erst dann kann der
enge bürgerliche Rechtshorizont ganz übersohritton wordon und die Ccsellschaft auf ·ilite
Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen/93
Die kritische Anwendung des Bedürfnisbegriffs auf die bestehenden ökonomischen
Bedingungen führt über die Untersuchung der Entfremdung auf die Wirkungs-
weisen von Herrschaft. Eine Tätigkeit, die nicht seine Selbsttätigkeit ist, sondern der
Verlust seiner selbst94, wird von einem Menschen nur unter Zwang ausgeübt. Als
Zwang wirkt der ökonomische Mangel. Die Reduktion der Bedürfnisse der Arbeiter
auf die bloßen physischen Bedürfnisse der 8nbsistim:r. und Fortpflanzung macht ihn
selbst zur Ware: die Herrschaft enthüllt sich als ökonomische Unterdrückung, die
Enteignung ist. Ihre Grundlagen sind Privateigentum und Kapital: sie ist also nicht
persönlich, sondern besteht in einem System.
Diese Art von Herrschaft erscheint als ein Mechanismus der Perpetuierung. Er
wirkt sich auch auf die zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Denn im System
des Privateigentums ist jeder stets darauf aus, dem andern ein neues Bedürfnis zu
schaffen ... , um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen80• Der Mechanismus setzt
sich in wechselseitiger Versklavung fort. Ein Rückblick in die Begriffsgeschichte
zeigt, daß dies zugleich die Perversion der vornehmsten sozialen Tugenden bedeutet:
die Erzeugung neuer Bedürfnisse setzt in der alten necessarium-commodum-Unter-
teilung beim commodum an, das nicht, wie das Notwendige, sofort materiell be-
ziehbar ist, sondern dem Freundschaft und Zuneigung „zuvorkommen" 96. Die
zwischenmenschlichen Beziehungen selbst werden also durch die Herrschaft des
Kapitals zerstört.
Vom Vorgehen von Marx ist die Explikation des „kritischen Bedürfnisbegriffs",
die auf die Psychoanalyse führte, in Problemstellung und zugrundeliegendem Be-

82 M.mx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Erg.Bd. 1 (1968), 514.


93 Ders., Kritik des Gothaer Programms, MEW Bd. 19 (1962), 21.
94 Ders., Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 514.

96 Ebd., 546 f.
98 S.o. S. 449. - Vgl. WIELAND: T>ie. T,iehe ... macht uns auf die kleinsten Bedürfnisse
dieser geliebten Gegenstände aufmerksam und setzt alle unsere Fähigkeiten in Bewegung, ihnen
zwror z·u lwmmen. ·Nicht zufrieden, daß diese werten Geschöpfe nur leben sdllen, wollen wir,
daß sie angenehm leben. Wir arbeiten, wir erfinden; wir bessern unsre Erfindungen aus, und
gefallen una in einer Geschäftigkeit, welche diejenigen, die wir lieben, glücklicher macht;
Koxkox und Kikequetzel, Kap. 29. AA 1. Abt., Bd. 7 (1911), 366.

464
IV. Explikationen des ,,kritischen BedürfnisL4!gril's" Bedürfnis

dürfnisbegriff unterschieden. Ihr Problem ist das der Vereinbarung der Bedürfnisse
eines einzelnen Individuums mit den Anforderungen, die seine Umwelt in Kultur
und sozialen Verhaltensnormen stellt, und die Wirkungen, die sich daraus für das
Einzelwesen ergeben. 'Bedürfnis' ist dabei direkt auf Befriedigung angelegt und
steht begrifflich 'Trieb' nahe. Der kritische Aspekt liegt darin, daß 'Bedürfnis' in
dieser Gestalt sich kritisch zur Umgebung verhält, er zeigt sich in der Frage, wieweit
unter dem Druck der Umgebung die auf die Befriedigung gerichtete Dynamik um-
gelenkt werden kann, welche Folgen Unterdrückung oder Ablenkung haben, die
in die moralische Frage nach der Möglichkeit innerer Wahrhaftigkeit in einer kul-
turellen Umgebung umschlagen kann. Da die Umwelt dem Individuum gegenüber
mächtig überlegen ist, übernimmt sie die Rolle der Herrschaft: die Realität selbst er-
scheint als Behinderung der Bedürfnisse in ihren Äußerungen und Befriedigungen.
Die Untersuchung der Dynamik, die aus der Konfrontation zwischen „Lustprinzip"
und „Realitätsprinzip" (FREUD) resultiert, führte zur Entdeckung oder Konstruk-
tion psychologischer Mechanismen. Sie werden mit Begriffen beschrieben, von denen
im vorliegenden Zusammenhang vor allem die der Verdrangung, Sublimierung und
Verinnerlichung wichtig sind.
Mit 'Verdrängung' und 'Sublimierung' wird eine Theorie der Genese und Entwick-
lung der Kultur entworfen. Die Spannung, die zwischen ihr und den Bedürfnissen
des Individuums besteht, ist damit zugleich begründet, Kultw· ilirtm1eiLs stellt a.i1
<la11 Individuum die Fo:rderung nach VArdrängung 11ml Rnhlimierung. 'Verinner-
lichung' ist ein spezieller Mechanismus im Zusammenhang des Ausgleichs des Ich
mit der Umgebung, die ihm mit ihren Normen und Ansprüchen als Autorität, als
Über-Ich, entgegentritt. Das Einzelwesen übernimmt dabei die Normen so, daß es
sie als seine eigenen Bedürfnisse empfindet: es wird so also im Grunde die psycho-
logische Genese des Gewissens beschrieben97 • Auf diese Weise können auch solche
AnspTiiche der Umwelt übernommen werden, die gegen die Lebensinteressen des
Individuums gerichtet sind.
Auf die psychoanalytischen und therapeutischen Aspekte kann hier nicht einge-
gangen werden. Folgenreich für die politisch-soziale Diskussion von 'Bedürfnis'
wurde dieser Ansatz dadurch, daß er eine Antwort auf die Frage bot, wie überhaupt
falsche Bedürfnisse in den Menschen verankert werden. Der Ausdruck 'falsche
Bedürfnisse' wurde damit zugleich aus dem moralischen Bereich in den elementaren
des Lebens überhaupt zuriickgenommen, da man „falsch" als „gegen die Lebens-
interessen der Individuen gerichtet" präzisieren konnte.
Damit ist ein Thema skizziert, das in den Versuchen zur Verbindung marxistischer
und. psychoanalytischer Theorie, wie sie besonders seit etwa 1920 unternommen
wurden, eine große Rolle spielt. Marx hatte die Herrschaft des Kapitals als den
Lebensinteressen der ihr Unterworfenen feindlich angeprangert, er hatte ilie Ga-
rantie für ihren Fortbestand in der fortgesetzten Unterdrückung als Enteignung
gesehen, die den ökonomischen Mangel als Stachel für die entfremdete Arbeit per-
petuiert. Angesichts der veränderten ökonomischen Verhältnisse reichte dies zur
Erklärung für den Fortbestand des Kapitalismus in den wel!ltlichen Industrieländern

97Vgl. schon NIETZSCHE, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 199, Werke, hg. v. Alfred
Baeumler, Bd. 4 (Leipzig 1930), 108: BedürfniB (zu gehorchen) alB eine. Art formalen
GewiBBena.

30-90385/1 465
Wärfnia IV. Explikationen des ,.kritUehea Bedärfnishepiffa"

nicht mehr aus. Die Engführung von Marxismus und Psychoanalyse führte hier
also dazu, daß man als Bedingung dieser Herrschaft die Verinnerlichung falscher
Bedürfnisse sehen konnte als solcher, die das Leben in seiner Fülle und Intensität
behindern: Herrschaft und falsche Bedürfnisse werden also kurzgeschlossen und
treten gleichzeitig das Erbe des alten Begriffs vom Mangel an98 • 'Verinnerlichung'
stellt sich damit als die anthropologische Möglichkeit, eine lebensfeindliche Gesell-
schaft mit ihren Herrschaftsmechanismen zu institutionalisieren und aufrechtzu-
erhalten, ohne daß diese Herrschaft durch offe~e Unterdrückung zu erkennen ist.
Das führt dazu, daß die Anpassung an die bestehenden kulturellen Verhältnisse
grundsätzlich inFrage gestellt wird, sie wird als herrschaftsstabilisierend verdächtigt,
da alle Ile1·1·schaft, vtmliichLig gewurtlen ü1L: sie hat ilie Charakteristika. der eigen-
süchtigen Gängelung durch Manipulation der Bedürfnisse übernommen". Darauf!
ergibt sich in der Gegenwart eine besondere pädagogische Problematik.
Für 'Bedürfnis' zeichnet sich in der Gegenwart eine Entwicklung ab, ilie als die
falschen Bedürfnisse wieder die alten unnötigen und eingebildeten Bedürfnisse
sieht - aber nicht mehr unter dem Aspekt von Luxus und Verweichlichung, son-
dern, angesichts der Konsumgesellschaft in den westlichen Industrieländern, ein-
mal unter dem der Stabilisierung dieser Gesellschaft mit ihren wirtschaftlichen
Machtverhältnissen („Konsumterror"), andererseits unter dem Aspekt der bereits
eingetretenen Vermind1mmg der „Lebensqualität" als Beeinträchtigung AIAmen-
~a.rster Grundbedürfniooe und der o.bßchbo.rcn Bedrohung des LebeM selbst durch
den Müll der Überproduktion. ZU.gleich taucht die Kritik an der Betriebsamkeit,
die·die Selbstbesinnung behindert, wieder auf („Freizeitproblem"). Daneben ergab
sich, teilweise widersprüchlich zu den hier resultierenden Postulaten, innerhalb des
Begriffsgefüges von 'M.angel', 'Bedürfnisbefriedigung' und 'Tätigkeit' eine Verschie-
bung, nach der unter Bedingungen, die die Bedürfnisbefriedigung verhindern, die
Tätigkeit als Aggression hervorbricht. Begriffsgeschichtlich betrifft dies die Vor-
stellungen von Art und Motivation menschlicher Tätigkeit; unter dem Gesichts-
punkt von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung stellt sie ein dringliches soziales,
pädagogisches und politisches Problem dar.
Die Engführung von marxistischen und psychoanalytischen Ansätzen hat dazu
geführt, daß die Frage der Bedürfnisse ganz außerordentlich komplex und in sich
widersprüchlich geworden ist. Die Aufdeckung der Herrschaftsmechanismen impli-
ziert die Aufforderung zu ihrer Überwindung, sofern ihr Weiterwirken als gefährlich
erkannt wird. Aber ihre Beziehung zu den psychologischen Mechanismen scheint so
angelegt zu sein, daß die Überwindung von vornherein unmöglich ist: Revolution
und Aufkliinmg Rind in einem circ.ulus vitiosus von wahren und falschen Bedürf-
nissen und von Aggression gefangen, da die Verhältnisse insgesamt als lebensbehin-
dernd und beherrschend erscheinen. Die heutige politische, pädagogische, ökono-
mische, soziale, psychologische und biologische Diskussion von Bedürfnis und
Bedürfnisbefriedigung, Wirtschaftswachstum und Umweltschutz, Arbeit, Freizeit
und Konsum, Frustration und Aggression, Herrschaft, Repression ,Revolution und
Freiheit reflektiert in der Widersprüchlichkeit von 'Bedürfnis' die Verfassung einer
Gesellschaft, die ratlos ist.
UTTA KIM-WAWRZINEK
98 s. o. s. 451.
lt s. o. s. 453 f.
466
V. l. Heutige Terminologie Bedürfnis

V. 'Bedürfnis', 'Bedarf' und 'Bedürfnissteigerung' im ökonomischen Bereich

1. Heutige Terminologie
'Bedürfnis' und 'Bedarf' sind im heutigen Alltag durch eine wechselseitige Doppel-
bedeutung charakterisiert, die beide Ausdrücke eng miteinander verflicht. Persön-
liche und gesellschaftliche Komponenten werden dabei aufeinander bezogen.
'Bedürfnis' wird in einem subjektiven Sinne - als Gefühl eines Mangels, verbunden
mit dem Streben nach dessen l3eseitigung100 - und in einer objektiven Bedeutung_
- als Mittel zur Beseitigung des empfundenen Mangels1 0 1 - gebraucht. Schon in
ADELUNGS Wörterbuch wird 1774 in diesem Sinne zwischen dem Zustand, worin
man einer Sacke lJedar/ und der Sacke selbst, deren .man be,d,ar/, unterschieden1 02.
Dasselbe gilt für 'Bedarf'. Der heutige Sprachgebrauch unterscheidet zwischen deni
subjektiven - einer Situation, in der man etwas bedarf - und dem objektiven
Bedarf - dem Gegenstand, dessen man bedarf, bzw. der Quantität der zur Be-
dürfnisbefriedigung erforderlichen Mittel. Die~e Unterscheidung findet sich ebenfalls
schon bei Adelung (1774); er trennt zwischen dem Zustand, da man einer Sacke
lJedar/ und demjenigen, wessen man bedarpoa. Im Bereich der Volkswirtschaftslehre
hat sich aber der objekthre Bedarfsbegriff weitgeheml uurchgesetzt104 •
'Bedürfnissteigerung' ist entweder die Ausweitung des menschlichen Begehrkreises,
sei es, daß der Wunsch nach verbesserter Qualität der Güter wach wird, sei es, daß
mehr Güter begehrt werden, oder aber die Steigerung der Qualität bzw. Quantität
der Güter, die der Bedürfnisbefriedigung dienen. Die Bedürfnissteigerung kann sich
auf den cinzelllen, auf eine gesellschaftliche Teilgruppe und auf alle Angehörigen
eines Gemeinwesens beziehen. .

100 Nach F&cEDR. BENEDIKT WILII. v. HERMANN, Staatawirtschaftliche Untersuchun-

gen, 2. Aufl. (München 1870), 5 ist 'Bedürfnis' das Gefühl eines MangelB mit dem Streben,
ihn zu beseitigen; JOACHIM TmuRTIUS, Der Begriff des Bedürfnisses, Jbb. f. National-
ökonomie u. Statistik 103 (1914), 726 definiert 'Bedürfnis' als ein a'U8 dem Gefühle oder der
VorateUung einer Gleichgewichtsstörung erwachsenes, auf Bewahrung oder WiederhersteUung
zielendes Begehren. Für F'B.ANz ÜPPENHEIMER ist das Bedürfnis •.. das Gefühl einer Störung
im Gleichgewicht der liubst.anz oder Energie und der damit verbundene, auf Beseitigung der
Störung gerichtete Trieb; System der Soziologie, 5. Aufl., Bd. 3/1 (Jena 1923). 18f.
10 1 Die Unterscheidung in objektives und subjektives Bedürfnis wird von GRUBER als

Sprachmißbrauch abgelehnt; man solle den gefühlten Mangel und den Gegenstand, der ihm
abhilft, nicht mit demselben Wort bezeichnen, da doch unserer Sprache für den Gegenst.and
des Bedürfnisses ein eigenes Wort nicht fehlt, nämlich Bedarf; ERticH/GRUBER 1. Abt., Bd. 8
(1822), 324. Noch 1896 lehnt es LUDWIG HEINRICH SCHULZE, Erörterungen über Begriff und
Einteilung der Bedürfnisse des Menschen (Heidelberg 1896), 29 ab, das Begehrte und Ent-
behrte als 'Bedürfnis' zu bezeichnen.
102 ADELUNG Bd. l (1774), 698.
108 Ebd., 692.
1°' Dafür die folgenden Beispiele: Schon JoH. PAUL HARL, Vollständiges Handbuch der
Staatswirtschaft und Finanz (Erlangen 1811), 148 definiert 'Bedarf' als die Sache, welche
das menschliche Bedürfniß erfordert. Nach CARL MENGER, Grundsätze der Volkswirtschafts-
lehre, Bd. 1 (Wien 1871), 32 ist 'Bedarf' die Quantitiit von Gütern, welche ein Mensch zur

467
Bedürfnis V. 2. Vorindustrielle Gesellschaft

2. Bedürfnishefriediguug in der vorindustriellen Gesellschaft

Auf der hauswirtschaftlichen Entwicklungsstufe eignete der Bedürfnisbefriedigung


eine gewisse Einförmigkeit; die Bedürfnissteigerung beschränkte sich noch auf die
Erzeugnisse des häuslichen Selbstfleißes. In dem Maße, in dem der Gütererwerb
durch Tausch die Produktion für den eigenen Bedarf ablöste, in dem also der quasi
autarke Haushalt in den wirtschaftlichen Arbeitsteilungsprozeß eingegliedert
wurde, gerieten Güter in den Begehrkreis der Konsumenten, deren Produktion die
Möglichkeit des Oikos überstieg. Rege Handelstätigkeit wurde die Grundlage für
eine außergewöhnliche Bedürfnissteigerung in den aufblühenden mittelalterlichen
Städten; der Verbrauch von kostbaren ausländischen Stoffen und überseeischen
Gewürzen breitete sich aus. In die Häuser reicher Bürger zog fürstlicher Luxus
ein186• Mit der Mehrung des Wohlstandes in den sich entfaltenden städtischen Ge-
meinwesen büßte die Prägekraft der scholastischen Lehre, derzufolge sich der Auf-
wand nach der gesellschaftlichen Stellung bestimmen sollte - prout sunt neces-
sariae (seil. divitiae) ad vitam ejus secundum suam conditionem (THOMAS VON
AQUIN) 186 - , zunehmend an Wirksamkeit ein. Um dem Postulat des ständisch be-
grenzten Aufwandes gesellschaftliche Geltung zu erhalten, erließen sowohl die
Städte als auch der Reichstag gesetzliche Bestimmungen, die den Aufwand der
einzelnen Schichten umgrenzten, damit,· wie es in einer Reichspolizeiordnung aus
dem Jahre 1530 heißt, in jedem stand unterschiedlich erkantnus sein mög10 1• Inner-
halb der durch ständische Schranken genau bestimmten Verbrauchsgewohnheiten
konnte sich die Aufwand1111teigel'Wlg nur durch besondere Qualität der Konsum-
güter ausdrücken; Erlesenheit ist das Merkmal ständischen Aufwandcsios.
Der Reichtum der europäischen Handels- und Gewerbestädte und die. Verwelt-
lichung der Kirche fanden ihr Gegenbild in der Gründung asketischer Orden, die in
evangelischer Armut die Nachfolge Christi anstrebten. Die Reformatoren erblickten

BefrWligung seiner Bedürfniaae benötigt. OTTO v. ZWIEDINECK-SÜDENHORST, Allgemeine


Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl. (Berlin, Göttingen, Heidelberg 1948), 34 bestimmt: Bedarf
iat eine Menge von Mitteln, wie aie dem Bedürfniaatand einea W irtachafters entapricht. Und
EuGEN BöBLER, Nationalökonomie, 4. Aufl. (Zürich 1960), 16 faßt 'Bedarf' als die Summe
der begehrten GUter auf. Allerdings wird auch die Summe der Bedürfnisse ('Bedürfnis' im
subjektiven Sinne) als 'Bedarf' bezeichnet. WILHELM RoscHER, System der Volkswirt-
schaft, 10. Aufl., Bd. 1 (Stuttgart 1873), 1 zufolge hat jeder Mensch zahUoae Bedürfnisae,
kibliche und geistige, deren ,Gesamtheit aein Bedarf heißt. Für HANs v. MA.NGOLDT, Grundriß
der Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl. (Rerlin 1871), 2 ist. '.Redarf' ebenfalls die Gesamtheit der
Bedürfniaae.
106 Ä.LBRJ!JUHT RIEBER, Von der Burg zum Schloß, in: Deutscher Adel 1430----1555, hg. v.

HELLMUTH RössLER (Darmstadt 1965), 27 f. weist darauf hin, daß zu Ausgang des Mittel-
alters in Schwaben im Gegensatz zu den Bürgern der Städte kaum ein landsässiger Adeliger
reich gewesen sei. Die bedeutendsten Teilliaber der „Großen Ravensburger Handelsgesell-
schaft" hätten sich Adelsherrschaften erworben und Burgen und Schlösser gebaut.
108 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica 2, 2 quaest. 118, art. 1. Dt. Thomas-Ausg.,

:Bd. 20 (1943), 228.


107 Augsburger Reichstagsabschied, in: Reichsabschiede, hg. v. Jmr. JAKOB ScHMAUSS u.

CmusTIAN v. SENKENBERG, Bd. 2 (Frankfurt 1747), ·336. •


us ALBERT GöRLAND, Über den Begriff des Luxus, Kant-Studien 31, H. 1 (1926), 39.

468
V. 3. Kameralismus Bedürfnis

in der luxuriösen Lebenshaltung ihrer Zeitgenossen nicht nur ein Hindernis für die
Erlangung des ewigen Heils, sondern auch eine Gefährdung der sozialen Ordnung.
So beklagte LUTHER (1520) den ubirschwenglichen ubirflusz und kost der kleydung
Q,ailurch swviel Adel und reychs volcks vorarmet. Dabei hat uns Gott gnug geben,
wolle, har, flachsz, und allis, das zur zymlicher, erlicher kleydung einem yglichen stand,
redlich dienet, das wir nit bedurfjten, szo grewlichen grossen schatz /ur seyden, sammett
guldenstuck, und was der auszlendischen wahr ist, szo geudisch vorschutten109• Sorge
um die Bewahrung der überkommenen ständischen Ordnung nährte auch die Kritik
der Humanisten an der Bedürfnissteigerung. Darumh wer sich kleidt ander moß Von
/arb und gestalt/lang, kurtz/ und groß Dann fm von seinem stakt sich zim Oder der
gemein brauch zeyget fm/Derselb ist Gottes straO und zorn (S. BRANT 1494)110• Darüber
hinaus erblickten die Humanisten in der ständigen Steigerung des Aufwandes eine
Gefährdung der nationalen Unabhängigkeit und Größe. Nur ein armes, durch
Reichtum noch nicht verweichlichtes Deutschland könne sich auf die Dauer den
Anstürmen der Türken und Franzosen erwehren. HUTTENS patriotischer Sinn er-
blickte in der von Tacitus geschilderten Sitteneinfalt der Germanerl das Vorbild
für die Wiederherstellung von Deutschlands militärischer Kraft. Luxusgesetze zu
erlassen, sei deshalb eine der allerdringlichsten Aufgaben von Kaiser Karl V. 111•
Sebastian BranL verwies auf antike Vorbilder. Be?, allen völokcrn auO der erd/Ist
armut lang zeyt gwesen wert. V orauß die G'Tiechen dardurch hand Vil stett bezwungen/
leuth und land112. ·

3. Kameralismus: Das Bedürfnis als Objekt regentlicher Gewalt

Dank der kameralistischen Wirtschaftsförderung und dem vermehrten Angebot an


ausländischen Waren erfuhr die bereits in der vormerkanLilistischen Zeit einsetzende
Bedürfnissteigerung im 17. und 18. Jahrhundert eine beträchtliche Zunahme, die
sich auf dem Hintergrund der vom Dreißigjährigen Krieg bewirkten Armut der Be-
völkerung besonders deutlich abhebt. Dabei erwies sich der vom absolutistischen
Staat verursachte Abbau mittelalterlich-ständischer Gesellschaftsformen und die
dadurch in Gang gesetzte soziale Egalisierung als wesentliche Voraussetzung für die
Verbürgerlichung des höfischen Luxus. Die obrigkeitliche Gründung von Porzellan-
und Steingutmanufakturen zeitigte Verbilligung und Steigerung der Produktion;
in den bürgerlichen Haushalten wurden die einfacheren Holz- und Zinngeschirre
durch Porzellan- und Steingutwaren abgelöst. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts
bürgerte sich der Genuß von Kaffee, Tee, Kakao immer mehr ein; 1726 gab es in
Frankfurt am Main keinen Ilaushalt mehr, in dem nicht Kaffee- bzw. Teegeschirre
und Schokoladekannen in Gebrauch waren118• Obgleich insbesondere frühkamerali-

109 MARTIN LUTHER, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen

Standes Besserung, WA Bd. 6 (1888), 465.


110 SEBASTIAN BRANT, Das Gros Narrenschilf (Straßburg 1569), 12.

lll ULRICH v. HUTTEN, Monitor 2, Schriften, hg. v. E. Böcking, Bd. 4 (Leipzig 1860), 358.
112 ßRANT, Narrenschiff, 39.
lla GoTTLIEB SCHNAPPER-ARNDT, Studien zur Geschichte der Lebenshaltung in Frankfurt
a. M. während des 17. und 18. Jahrhnndert.s, hg. v. Karl Bräuer (Frankfurt 1915), 353.

469
Bedürfnis V, 3. K.ameralismus

stische Autoren die gesellschaftsnivellierenden Wirkungen der Bedürfnissteigerung


beklagten 114 - selbst J USTI fordert nooh 1755, wenigstens in der Kleidung dem allzu
großen Aufwande zu begegnen und eine gute Ordnung nach Maßgebung der Stände 115
einzuführen -, wird diese dennoch von der merkantilistischen Theorie nicht zuletzt
ihrer beschäftigungssteigernden Wirkungen wegen begrüßt. Die Landespolicey, so
allemal die Wohlfahrt des gemeinen~Wesens vor Augen haben muß, kann also den
l.tuxus überhaupt betrachtet, für kein Übel des Staats ansehen. Sie wird ihn vielmehr als
ein Mittel nutzen, ... auch dem arbeitenden, mithin betriichtlichsten Teil der Nation
Brot und Arbeit zu verschaffen (PFEIFFER 1781) 116 • Lediglich die, Nachfrage nach
Gütern ausländischer Herkunft wird gerügt. Die Vermehrung der Bedürfnisse aus-
liindi.~~hP.T Dinge (Pfei:ffer 1783)117 führo zu cinor Steigerung der Einfuhr von
Fertigwaren und gefährde so das Ziel kameralistischer Wirtschaftspolitik, nämlich
eine aktive Handelsbilanz durch die Drosselung der Einfuhr von Fertiggütern zu
erreichen. Soll die erwiirnmhte Ausfuhr florieren, dürfen vornehmlich nur Waren,
welche ilie Alllllii.nder zu ihren wirklichen Bedürfnissen . . . nicht entbehren können,
exportiert werden. In Ansehung solcher Waren aber, die nur eingebildete Bedürfnisse
sind (Justi 1756) 118 , hänge die Ausfuhr zu sehr von den ausländischen Wünschen
und Vorurteilen ab.
Neben der Zweiteilung der Bedürfnisse in wirloUohe und eingebildetem, wahre und
eingebildete120 findet sich in der deutschen kameralistischen Literatur auch die vom

114 So fordert E. W. FÖRSTER, Entwurff einer Wohl-eingerichteten Policey (Frankfurt


1717), 34 Kleiderordnungon gegen übermäßi,ge.Pracht und exzessive Depensen, denn mäßig
lebet '11UJn, wenn man seinem Stande gemäß sich aufführet. Bereits MELCHIOR v. OssE,
Testam1mt. g11g1m H11rtu.og A11gusto (Halle 1556), 514. f. beklagt den unmä/Jigon übarff,ü{Jigen
Pracht, in Klei.dunge, fast in allen Sf.änden, sonderlich aber bey der von AdeU, zum th<;il 1tnd in
etlichen Städten, auck bey Bürgers-Weibern und Töchtern, also daß sie zum tkeil nickt al8
Edelleut, oder BürgerB, sondern alB groBBer mächtiger H e"en Weiber und Fräulein hergehen.
In ähnli<iher Weise kritisiert GEORG ÜBRECHT, Von Verbesserung Land und Leut (Straß-
burg 1606), 130 f., daß an allen ortten ein Bokher überff,uß eingerissen, dardurch aller under-
.sckei.d der Personen, unnd alle Erbarkeit auffgehebt wird. Deshalb solle jeder Regent bey einer
namkafften Gelttpoen verordnen, da8 in seinem gepütt ein jede '/)Brson sick ihrem Stand gemäß,
erbarlick, und wie nook eines jeden Landsart von alterB liärkuwme,n und gebreuchlich, Bick
beklei.de, damit der Edel, vor dem Unedlen, der GeitJtlick vor dem Leyen, der Burger vor dem
Bauren, der He" vor dem Knecht: alBo auch Frawen und Jungfrawen vor den Mägden under-
schei.den und erlcant mügen werden.
iu Jon. HEnra. GoTTLOB v. JusTI, Staatewirthscha.ft oder Systematische Abhandlung
aller Oeconomischen und Cameral-Wissenscha.ften, Bd. 1 (Leipzig 1755), 285.
111 JoH. FRIEDRIOH PFEIFFER, Art. ßedürfniße, nach dtm Gesetzen der Poficey erwogen,

Dt. Enc., Bd. 3 (1780), 161. Na.eh JOSEPH v. SoNNENFELS, Grundsätze der Policey, Hand-
lung und Finanzwissenschaft, 2. Aufl., Bd. 2 (Wien 1771 ), 13 f. vermehrt der Prackt ... die
Beschiiftigunge.n, • • . erleichtert .•• und vervielfäUigt die N akrungswege.
117 J. F. PFEIFFER, Grundsätze der Universal-Cameral-Wissenscha.ft (Frankfurt 1783), 468.
118 J. H. G. v. JusTI, Grundsätze der Policey-Wissenscha.ft (Göttingen 1756), 139.
119 Ebd.; die Einteilung iri einen „besoin no.turol" und in „besoins chim6riques" findet

sich bereits in der Encyclopedie, t. 2 (1751), 213.


120 SONNENFELS, Grundsätze, Bd. 2, 5. Der Einteilung in physisch und gesellschaftlich

notwendige Bedürfnisse, die schon der englische Merkantilist JAMES STEWART, .All Inquiry

4:70
V. 3. Kameralismus

italienischen Merkantilisten GENOVESI121 herrührende und vor allem infolge der


stetig zunehmenden Bedürfnisausweitung notwendig gewordene Dreiteilung der
Bedürfnisse in solche der Notwendigkeit, der Bequemlichkeit und der Üppigkeit.
Zu den notwendigen Bedürfnissen rechnet er Getreide zum Umerhalt der Einwohner,
Güter und Waren, welche zu der Kleidung ... erforderlich sind, und alle Gerätschaften,
die sowohl zum Ackerbau und den Manufakturen, als zu den täglichen Geschäften und,
Gewerben der Menschen unentbehrlich sind. Alle anderen beweglichen Güter zählen
zu den Bedürfnissen der Bequemlichkeit, doch lassen sich die Grenzen der wahren
und eingebildeten Bequemlichkeit . . . nicht hinlänglich voneinander umerscheiden.
Ebenso ist das Bedürfnis der Üppigkeit oder des Luxus ein relativischer BegriU. Ein
armes Land kann etwas vor Üppigkeit ansehen, was in einer andern Gegend umer die
wirklichen Bedürfnisse des Lebens gerechnet wird 122 • Der von den Kameralisten ver-
wAnilAte Bedürfnisbegriff umschließt auch schon die Bedürfnisse, welche das Ge-
meinwesen als solches hat und die später als Kollektiv- bzw. Gemeiilbedürfnisse
bezeichnet werden. Dadurch nämlich, daß die Bedürfnisse nicht mehr wie in der
vormerkantilistischen Wirtschaft· Gegenstand hausherrlicher Disposition, sondern
nun Objekt regentlicher Gewalt sind - nach JuSTI (1756) obliegt es der „Polizei",
dafür zu sorgen, daß das Wasser zu der Bedürfniß der Einwohner genugsam verteilet
se1: 123 - , m11.r.hAn ilie im kameralistischen Wirtschaftssystem entstehenden polizei-
lichen Aufgaben den Staat selber zum Träger von Bedürfnissen. So kennt schon
CHRISTIAN WOLFF (17~1), der Begründer der Theorie des eudämonistischen „Polizei-
staates", ein finanzielles Bedürfnis der Obrigkeit1H; SoNNENFELS und andere Ka-
meralisten betonen das Bedürfniß des Staates (1767)1 26.

into the Principles of Political Eoonomy, vol. 2 (London 1796), 63 ff. kennt, wenn er
zwischen.„physical and political necessa.ries" unterscheidet, entspricht beim Spätkamera.-
listen JoH. GEORG BüscH die Unterscheidung in absolute und relative Armut. Im Falle der
absoluten Armut sei der Mensch nicht imstande, ad nur seine physiaeken notwendigen
Be.dürfni88e zu erwerben, bei der relativen Armut fehlten ihm die Mittel, das zu kaufen, was
er lediglich nadt, aeinen Umatänden tila Be.dürfnia anzusehen und zu aeinem A uakommen zu
rechnen gewohnt war; Abhandlung von dem Geldumlauf, 2. Auß., Bd. 2 (Hamburg, Kiel
1800), 735 f. Das Argument verlagert sich im Erfahrungsraum steigender Produktion bei
WILHELM SCHULZ, Die Bewegung der Production (Zürich, Winterthur 1843), 66: Denn
gerade weil die Geaamtproducti.on ateigt .•. , vermehren aich auch, die Be.dürfniue, Gelüate und
Anaprüche, und die relative Armut kann al.ao zunehmen, während die abaolute aich vermindert.
121 ANTONIO GENOVESI, Lezioni di oommercio osia d'eoonomia civile (1769), dt. v. August

Witzmann, 2 Bde. (Leipzig 1776).


122 PFEIFFER, Art. Bedürfniße, Dt. Enc., Bd. 3, 161.
i2a JusTI, Policey-Wissenschaft, 49.
i2• CHRISTIAN WoLl!'F, Vemünfftige Geda.ncken von dem gesellschaftlichen Leben der

Menschen (Halle 1721), 471.


125 SoNNENFELS, Grundsätze der Policey, 2. Auß., Bd. 3 (Wien 1776), 23. 213. 222; bereits
JOHANNES BURIDANUS unterscheidet zwischen der indigentia communia, dem Allgemein-
bedarf, und den indigentiae particu/,area, den Einzelbedürfnissen; Quaestiones super decem
libros Ethicorum Aristotelis 5, 10-23 (Paris 1489). Der Begriff beaoin de l'Etat findet sich
schon bei dem französischen Merkantilisten und Marschall S:EBASTIEN LE PBEsTBE DE
VAUBAN, Projet d'une dime royale (Paris 1707), 38. 125.

471
Bedürfnis V. 4.. Aufklärung und Liberalismus

Die Bedürfnissteigerung des Staates und des einzelnen wird bei aller Reserve gegen-
über den gesellschaftsverändernden Wirkungen der Bedürfnisentgrenzung und trotz
aller handelspolitischen Bedenken ihres beschäftigungssteigernden Effektes wegen
von der kameralistischen Theorie begrüßt. Darin bekundet sich der radikale Wandel
gegenüber der vorindustriellen Haus- und Stadtwirtschaft. Im Gegensatz zu dieser
konnte erst in der interdependenten Staatswirtschaft des Absolutismus das dialek-
tische Verhältnis von Bedürfnisentgrenzung und Beschäftigungssteigerung, unter-
stützt von einer zentralistischen Wirtschaftspolitik, seine volle Wirksamkeit ent-
falten. Nun entledigen sich die Kameralisten weitgehend des bedürfnisfeindlichen
Affektes, der die Schriften der vorindustriellen Sozialanalytiker auszeichnete. Dem
Bedürfnisbegriff der kameralistischen Theorie eignet auf diese Weise ein vorwiegend
affirmativer Charakter.

4.. Aufklärung und Liberalismus: Entpolitisierte Bedürfnisbefriedigung als Grund-


lage des Fortschritts

Begeisterte Zustimmung findet die Bedürfnissteigerung durch die Aufklärung und


den daraus resultierenden Liberalismus. Die Bedürfnisentgrenzung wird als das ent-
sohoidondo Agons für di11 Hera1111hilrl11ng dfl!' Mrgerlichen TaW1chge~ell11chaft be-
wertet. Natilrliche und erhöhte Bedürfnisse des Menschen also sind es, wekhe ... dif~
Sammlung der Kapitalien, den Tausch, die allgemeinen 1'muchmittel und die Teilung
der Arbeit veranlaßten (FULDA 1805) 126 • In erklärtem Gegensatz zu RoussEAUS be-
dttrfnisfeindlicher Einstellung127 begrüßen die beiden emanzipatorischen .Bewe-
gungen die Bedürfnisentgrenzung als Grundlage kulturellen Fortschritts. Für
FLii1m1. (17ß5) iRt da.s Bedttrfnis die große Triebfeder, die den Menschen vom &klafe
erweckt. Während der Mangel die mechanischen Kiitu1t.e p,rfm1il.en 'h.n.t, so ist der itber-
ftuß eine Mutter der schönen Künste. In dem Maße, in dem die Menschen ihre Be-
dürfnisse vermefuten, mußten sie vor ihr Vergnügen sorgen, und so entstanden die
schönen Künste 128• TETENS zufolge wirrl de.sto stärker und ausgebreiteter ... die
Menschheit sich entwickeln, je mehrere und fe mannigfaltiger die gefühlten Bedürfnisse
sind (1777) 129• Eine Nation ohne Moden, eine Nation, die eine einfache und stets
gleichförmige Lebensart, wenige Bedürfnisse und unveränderliche Mittel zu deren Be-
friedigung hat, wird nach GARVE auch nicht zu vielerlei Beschäftigungen des Geistes
(1792) veranlaßt werden130• Der liberale Nationalökonom LUEDER stellt fest: Mit
dem Wohlstande steigt das Bedürfniß, Kenntnisse zu erwerben, nimmt die Tätigkeit des
Geistes ... zu. (1808) 131• KANTS Auffassung, es sei ein nichtiger Wunsch, in die Zeit

126 FRIEDRIOH CARL FuLDA, Übor Nationaleinkommen (Stuttgart 1805), 11.


12 7 J. J. RoussEAU, Discours sur !es sciences et !es art.s (Paris 1750); Discours sur l'origine
et !es fondement.s de l'inegalite parmi !es hommes (Amsterdam 1755).
128 CARL FRIEDRICH FLÖGEL, Geschichte des menschlichen Verstandes (Breslau 1765), 174.
1 2'1 JoH. NIOOLAS TETENS, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre

Entwickelung, Bd. 2 (Leipzig 1777), 703 f.


13 ° C.li1U8'.l'IAN GARVE, Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litte-

ratur und dem gesellschaftlichen Leben, Bd. 1 (Breslau 1792), 224.


131 AuG. FERDINAND LUEDER, Die National-Industrie und ihre Wirkungen (Bramischweig

1808), 80 f. Schon ADAM SMITH, Lectures on J ustice, Police, Revenue and Arms (1763),

472
V. '- Aufklirang und Liberalismus Bedürfnis

der bedürfnisarmen Einfalt und Unschuld zurückkehren zu wollen, dem Schattenbild


des von den Dicliiern so gepriesenen goldenen Zeitalters: wo eine Entledigung von allem
eingebildeten Bedürfnisse, das uns die Üppigkeit aufladet, sein soll, eine Genügsamkeit
mit dem bloßen Bedarf der Natur (1786)1 32 anzuhängen, wird also von der Auf-
klärung und dem Liberalismus in gleicher Weise geteilt.
Daß der Wohlstand stieg, dafür sorgte die liberale Wirtschaftspolitik. Das liberale
Wirtschaftssystem gab den Produzenten die Möglichkeit, frei von regentlichen
Weisungen zu fabrizieren, und den Verbrauchern die Freiheit, ihre Bedürfnisse
unabhängig von polizeistaatlichem Zwang zu bestimmen und zu befriedigen.
Im Zuge der Verwirklichung der liberalen Forderung, der Staat habe es im all-
gemeinen . . . dem Bürger zu überlassen, . . . sich die nötigen Lebensbedürfnisse selbst
zu erwerben (~OHL 1832) 133, kam es im 19. Jahrhundert zu einer nochmaligen,
bisher unerhörten und vor allem die breiten Massen erfässenrlen Bedürfnissteige-
rung. Dank der entfesselten Produktivkräfte der Industriellen Revolution stieg
in Preußen im Zeitraum von 1806-1846 der Prokopfverbrauch an Baumwolle
von 0,75 Ellen auf 16 Ellen, der Prokopfverbrauch an Zucker von 1,5 Pfund auf
7 Pfundm.
Der Bedürfnisbegriff erfährt in der liberalen Nationalökonoinie, verglichen init
seiner Verwendung in der kameralistischen Wirtschaftslehre, eine weitere Diffe-
renzierung. Während sich HUFET,AND (1807) 135 und LUEDER (1808) 138 noch wie die
meisten Kameralisten init der Unterteilung in Grund- und Nebenbedürfnisse be-
gnügen, JAKOB (1805) in:i. Anschluß an Genovesi die Bedürfnisse nach dem Gesichts-
punkt der Notwendigkeit, der Bequcmliohkeit . . . und des W ohllebens137 einteilt,
kommt RAU (1826), indem er die soziale Verflechtung des Menschen berücksiohtigt,
zu einer vierfachen Unterscheidung. ~r teilt die .Hedürfnisse des einzelnen ein in
1) allgemein menschliche Bedürfnisse, 2) solche, die den Mitgliedern eines besonderen
Volkes gemeinschaftlich sind, 3) solche, die dem Stande entsprechen, den er in der Gesell-
schaft einnimmt, 4) individuelle, die aus seinen persönlichen Verhältnissen entspringen

ed. E. Ca.nnan (Oxford 1896), 196 schreibt: all tke Arts are aubservient f.o the Natural Wanta
o/ Mankind. Au oh der Schweizer Physiokrat Is.ux: lsELIN, Träume eines Menschenfreundes,
Bd. 2 (Karlsruhe 1784), 188 hat die Bedürfnissteigerung bejaht.
182 KAN:T, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), AA Bd. 8 (1912), 122;

HEB.DER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784), SW Bd. 13 (1887),
191 zufolge war dies bei allen Be.dürfniBsen der Erde die Absicht der Natur: jedes derselben
sollte eine Mutrerhülle sein, in der ein Keim der Humanität sproßte; FICHTE, Einige Vor·
lesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794), AA Bd. 1/3 (1966), 60 hat.die Bestim-
mung der Menschheit gesetzt in den bestJJndigen Fortgang der Kultur und die gleichförmig
fortgesetzte Entwicklung aller ihrer Anlagen und Be.dür/nisse.
1 8 3 ROBERT v. MoHL, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsii,tzen des Rechtsstaats,

Bd. 1 (Tübingen 1832), 235.


1 34 WILHELM RosCHER, Über den Luxus, in: Ansichten der Volkswirtschaft aus dem
geschichtlichen Standpunkte (Leipzig, Heidelberg 1861), 445 f.
13 5 GOTTLIEB HUll'ELAND, Neue Grundlegung der Staatswirtschaftskunst, Bd. 1 (Gießen,

Wetzlar 1807), 24 f.
138 LUEDER, National-Industrie, 4.
137 LUDWIG HEINIUCH v. JAKOB, Grundsätze der National-Ökonomie (Halle 1805), 15.

473
V. 5. Reple ,,Syetem der Bedürfni1111t1"

und in Ansehung deren keine Gleichförmigkeit unter den Menschen besteht 1 as. HER-
MANN (1832) differenziert nach Individual- und Kollektivbedürfnissen, wobei er
letztere definiert als Beilürfnisse einer Mehrheit von Menschen, als eines Ganzen,
deren Befrieiligung lediglichder Gesamtheit ohne Bezeichnung einzelner Mitglieiler der
Verbindung und ihres Anteils dargeboten wirdl39 •

5. Hegels „System der Bedürfnisse"

Die vom Liberalismus geschaffene entpolitisierte Sphäre der Bedürfnisbefriedigung,


dieses Beziehungsgeflecht egoistischer Bedürfnisträger, wird von HEGEL als das
„System der Bedürfnisse" (1821) 140 bezeichnet und seinem philosophischen System
als positives Moment einverleibt. Auch Hegel verwirft Rousseaus Ideal eines be-
dürfnisarmen goldenen Urzustandes der Menschheit; er hält dafür, daß der Mensch
im Zustand der Unfreiheit lebte, als er nur einfache Naturbedürfnisse verspürte und
diese unmittelbar durch die von der Natur bereitgestellten Mittel befriedigte. Aus
diesem Zustand der beschränkten Bedürfnisse, der recht eigentlich dem Tier eignet,
fa.uu u1:1r M1:1lliluh 1:1lli111al uuruh iliti Vtirvilllfältigwig dtir Btidürfnisse, zum a.nderen
durch die Unterscheidung des konkreten Beilürfnisses in partikularisierte, damit ab-
strak/,ere Beilürfnisse141 heraus. Die Unterscheidung der Bedürfnisse bewirkte die
Arbeitsteilung; neue Arbeitsfertigkeiten, neue Berufe waren vonnöten, um die Mittel
zur Befriedigung der neu entstandenen Bedürfnisse produzieren zu können142•
Dadurch, daß die abstrakten Bedürfnisse und die Mittel ihrer Befriedigung in der
arbeitsteiligen Gesellschaft allen gemein werden, wandeln sie sich zu gesellschaft-
lichen Bedürfnissen, Mitteln und Weisen der Befrieiligung143, in denen die strenge
Naturnotwendigkeit des Beilürfnisses versteckt wird144• Den gesellschaftlichen Ge-
pflogenheiten, der Art der Kleidung und der Zeit des Essens paßt man sich füglich
an. Doch weist Hegel im Gegensatz zu den liberalen Autoren auch auf die sozialen
Folgen hin, die dem Ganzen durch dieses entfesselte System der Bedürfnisse drohen.
Die Richtung des gesellschaftlichen Zustandes auf die unbestimmte V ervielfäüigung
und Spezifizierung der Bedürfnisse, Mittel und Genüsse ... ist eine ebenso unendliche

m KARL HEINBICH RAU, Die Volkswirt:scha.ftslehre, Lehrbuch der politischen Ökonomie,


Bd. 1 (Heidelberg 1826), 54.
111 HERllilANN, Untersuchungen, 94 (s. Anm. 100). Zum Begriff des Ko!lektivbedürfnisses:
W.ALTHEE LoTz, Kollektivbedarf und Individualbedarf, Sb. d. Bayr. Akademie d. Wiss.,
phil.-hist. Kl., H. 2 (München 1929); Tm:o SURANYI-UNGER, Wirtschaftspolitik im Ent-
stehen. Beiträge zur Lehre von den Gemeinbedürfnissen (Jena 1033); ders., Individual and
Collective Want.s, The Journal of Polit. Economy 56 (Chicago 1948), Uf.; WILHELM
WEBER, Kollektivbedürfnisse, Gemeinwillen und Gemeinhandeln, in: Wirtscha.ftliche Ent-
wicklung und soziale Ordnung, Fschr. FERDINAND DEGEN:FELD-SCHONBURG (Wien 1952),
353 ff.
140 HEGEL, Rechtsphil08ophie, §§ 189 ff.
141 Ebd., § 190.
142 Ebd., § 198.

m Ebd., § 192.
144 Ebd., § 194.

474
V. 6. Romantisch-konservative Kritik Bedüttniii

Vermehrung der Abhängigkeit und Not 146 ; der Anhäufung von Reichtümern auf der
Seite der Besitzenden steht das Elend der arbeitenden Klassen gegenüber146 •

6. Romantisch-konservative Kritik an der Bedürfnissteigerung

Wenn Hegel bei aller Bejahung der Bedürfnisausweitung des Industriezeitalters


auch auf ihre der bürgerlichen Tauschgesellschaft abträglichen Folgen hinwies,
so rücken die romantisch-konservativen Gesellschaftsanalytiker die negativen
Aspekte der Bedürfnissteigerung vollends in den Mittelpunkt ihrer sozialen Kritik.
Einerseits wird an den kulturgefährdenden Wirkungen der Bedürfnisentgrenzung
Anstoß genommen. NovALIS (1799) klagt, es bleibe keine Zeit zum stillen Sammeln
des Gemüts, zur aufmerksamen Betrachtung der inneren Welt mehr übrig, da die Be-
dürfnisse und die Künste ihre;r Befriedigung immer verwickelter würden und die hab-
süchtigen Menschen ihr ganzes lJi,chten und Trachten den Miueln des Wohlbefindens
allein zuwendetenH 7• Andererseits geben die von der Bedürfnissteigerung hervor-
gerufenen sozialen Veränderungen Anlaß zur Kritik. ADAM MÜLLER tadelt die mit
der Bedürfnisdi1ferenzierung einhergehemlll ArueiL~Ltlilung, welche die steigende
Interdependenz der Bedürfnisträger zur Folge hat. Je unbegrenzter der Mensch in
seinen Begierden wurde, um so mehr zog sich durch die ungeschickte Teilung seiner
Kräfte sein eigentlicher Wirkungskreis zusammen. lJi,e äußeren immer w-iederkehrenden
Bedürfnisse der körperlichen Natur ... wurden immer gebietender, immer ungestümer;
entfernte, dunkle, unerreichbare Güter wurden mit fieberhafter Hitze verfolgt und je ver-
ächtlicher man den unmittelbaren Nutzen behandelte, um so dienstbarer mußte man sich
seinem Jooho untorworfon (1804) 148• Vor allem aber rügen die rnmant.iRnh-lmnRP.rvati-
ven Autoren die Bedürfnisausdehnung wegen ihrer Gefährdung der überkommenen
ständischen Ordnung. Schon MöSER beanstandete, daß nun Kaffee, Zucker, Tee
und Weizen zu den Bedürfnissen eines Bettlers (1769) 149 gehören. HEINRICH LEo
klagt, man begnüge sich nicht mehr mit wirklichen Bedürfnissen, sondern strebe der
Vermehrung des Reichtums nach, um die eingebildeten Bedürfnisse (1854) befriedi-
gen zu können160• Die Sucht nach Reichtum beherrsche nun die sozialen Institutio-
nen; die Gewerbefreiheit bedrohe den Bürgerstand, die Bodenfreiheit verschlinge
den Ackerstand; Ackerbau und Handwerk gingen als Folge des Strebens nach
künstlich entfachtem Reichtum in die Hände der reichen Kapitalisten und Aktien-
gesellschaften über161 • Insbesondere der aufwendige I,ebensstil reich gewordener
Unternehmer, die ihren ganzen Ehrgeiz dareinsetzen, aristokratische Lebensformen

m Ebd„ § 1Y5.
m Ebd„ §§ 243 ff.
147 NovALIS, Die Christenheit oder Europa, GW Bd. 3 (1968), 509.
148 ADAM MÜLLER, Die Lehre vom Gegensatze, Ausg. Abh„ hg. v. Othmar Spann, 2. Aufl.
(Jena 1931)„ 220.
au JusTus MösER, Gedanken über den Verfall der Handlung in den Landstädten, in:
Patriotische Phantasien, SW Bd. 4 (1943), 23.
uo 0. KBA.us, Aus Heinrich Leos geschichtlichen Monatsberichten und Briefen, Allg.
Konservative Monatsschr. 51 (1894), 788.
1111 Ebd.

475
Bedürfnis V. 6. Romantisch-konservative Kritik

nachzuahmen, erntet das Mißfallen konservativer Gesellschaftskritiker. RIEHL wirft


den Unternehmern vor, die Schranken nach oben152 nicht mehr zu beachten, die alte
Bürgersitte nicht mehr zu ehren. Auch der Begriff des Proletariers erhält im Hori-
zonte dieses ständischen Denkens seine Bestimmung. Das soziale Elend, das prole.-
tarische Dasein sei nicht schon gegeben, wenn der Hunger in den Eingeweiden zu
brennen beginnt, sondern nehme erst dann seinen Anfang, wenn der Erwerb nicht
mehr ausreiche, die Güter zu erlangen, welche durch die gegebene soziale Stellung
als das geringste Maß des Bedürfnisses bezeichnet würden (1851). Aus der Relativität
der Bedürfnisse folge, daß der Bettler mit seiner Portion Kartoffeln ein Fürst sein
könne, während der Fürst aber, wenn er bloß eine sol,che Portion Kartoffeln hätte,
... weit ärmer als der ärmste Bettler wäre 153• überdies tadelt Riehl, daß sich in den
künstlichen Städten, die durch die Laune und Mode unseres bedürfnißreichen über-
feinerten Lebens (1854) 154 geschaffen würden, nicht die den unabweislichen Lebens-
bedürfnissen d'ienenden Gewerbe, sondern die kurzleb,iyen Luxusyewerbe äußerst rasch
vermehrten155 • Als unabwendbare Konsequenz dieser Entwicklung bilde sich ein
städtisches Proletariat.
Angesichts der sozialen Schäden, die im Zuge der Industrialisierung entstanden,
fordern die romantisch-konservativen Sozialtheoretiker die Repolitisierung der
Bedurfnissphäre: die Sklaverei des Privateigentums solle nicht zur einzigen Richt-
schnur alles menschlichen Bedürfnisses (ADAM MÜLLER 1816) gemacht werden1 56.
Wie alle romantisch-konservativen Autoren, so faßt auch Müller die Wirtschaft als
Gestaltungsaufgabe auf und fordert die staatliche Intervention zugunsten der sozial
schwachen Bevölkerungsteile. Vor allem solche Bedürfnisse, die von unmittelbarer
und unaufhörlicher Unentbehrlichkeit für den Menschen sind, sog. Urbedürfnisse,
wie etwa das Bedürfnis nach Nahrung (1809), verlangten staatliche Überwachung
und staatliche Lenkung. Das Getreide vor allem dürfe deshalb auf keinen Fall dem
freien Markte und seiner Willkür überlassen werden. Nur die staatliche Inter-
ventionspolitik gewährleiste, daß es den Produzenten nicht an Nach/rage oder an
Bedürfenden, den Bedürfenden hingegen nicht an Vorräten oder an Produzenten
fehle 157 • An die Selbstversorgungsidee der Merkantilisten anknüpfend, lehnt Müller
die Nachfrage nach ausländischen Gütern als ein unnationales ausländisches Be-
gehren ab und fordert die Regierungen auf, zur Förderung der nationalen Produktion
die nationale Gestalt des Bedürfnisses zu entwickeln 158 •
Wie die Interessenökonomie der klassischen Nationalökonomie, so verfällt auch
die liberale Staatslehre, derzufolge der Staat eine individualistischen Zwecken die-
nende Vertragskonstruktion ist, dem Verdikt der romantisch-konservativen
Theorie. Der Staat sei, so Adam Müller, keine Versicherungsanstalt, keine mer-
kantile Sozietät, sondern die innige Verbindung der gesamten physischen und geistigen
0

152 WILH. HEINRICH RIEHL, Die bürgerliche Gesellschaft (Stuttgart, Tübingen 1851), 268.
153 Ebd., 286 f.
164 Ders., Land und Leute, 8 Aufl. (Stuttgart 1883), 99.
156 Ebd., 103. .
166 ADAM MÜLLER, Versuche einer neuen Theorie des Geldes (Leipzig, Altenburg 1816), 116.
157 Ders., Die Elemente der Staatskunst, hg. v. Jakob Baxa, Bd. 2 (Jena 1922), 62.
15s Ebd., Bd. 1 (1922), 384.

476
V. 7. Sozialistische Sicht

Bedürfnisse, des gesamten physischen und geistigen Reichtums einer Nation 159•
Nach romantisch-konservativer Auffassung erheischt die menschliche Bedürfnis-
natur die Institution des politischen Gemeinwesens, eine Ansicht, die schon PLATON
vertrat 1 6o. Für NoVALIS ist das Bedürfnis eines Staates .... das dringendste Bedürfnis
eines Menschen 161 , und nach ADAM MÜLLER fühlt der Mensch das ewige Bedürfniß
des Staats (1816) 162 • Müller zufolge werden die fruchtbaren Gegensätze im staat-
lichen Organismus durch die Pole Jugend und Alter, Mann und Weib repräsentiert,
Gegensätze, die im Mikrokosmos Familie wurzeln und in den Makrokosmos Staat
emanieren. Sowohl den Geschlechts- als auch den Alterspaaren werden bestimmte
Bedürfnisse und soziale Positionen zugeordnet. Das Alter, der erste Stand, die
Geistlichkeit, repräsentiert das geistige Bedürfniß, die Jugend, welche sich in Weiblich-
keit und Männlichkeit bricht, steht für das physische Bedürfniß. Hierbei verkörpert
das Weib, der zweite Stand, das Bedürfniß zu erhalten, der Mann, der dritte Stand;
der tiers-etat dPJr Natur, das Bedürfniß zu produzieren (1809) 183• Die Verschiedenheit
der Menschen und ihrer Bedürfnisse bedingt eine hierarchische Sozialstruktur. Jedes
politische Gemeinwesen bestimmt sich nach FRANZ v. BAADER {1815) als ein Ver-
hältnis von Superiorität und Abhängigkeit, Überfluß und Bedürfnis 164• HALLER
zufolge (1816) konstituiert sich da, wo einerseits dem Bedürfniß an Nahrung und
Pflege, an Schutz, an Belehrung und Leitung höhere Macht, natürliche Überlegenheit
gegenübertritt, gesellschaftliche Über- und Unterordnung1 65.

7. Kapitalistische Bedürfnisbefriedigung in sozialistischer Sicht

In der auf dem Tawsehvl:im.ip gründenden, pro11perierenden liberalen Erwerbs-


gesellschaft gab es insbesondere in der Frühzeit der Industrialisierung Schichten,
denen die Teilnahme an der zeitgemäßen Bedürfnisbefriedigung versagt blieb. Viele
Arbeiter waren gezwungen, w1ter entwürdigenden Bedingungen zu leben und zu
arbeiten. Lange Arbeitszeiten, unhygienische Arbeitsplätze und bedrückende
Wohnverhältnisse machten ihr soziales Elend hauptsächlich aus. Insbesondere die
sozialistischen Autoren sind Anwälte der in miserablen Verhältnissen lebenden
Arbeiter. Sie beklagen, daß Tausende von arbeitsamen, aber arbeit- und erwerblosen
Familien ... miUen im Überfluß an allen Bedürfnissen des Lebens Mangel leiden
(LUDWIG GALL 1825) 166, daß nur den wenigsten ... die Mittel zur Befriedigung ihrer

loH Ebd., 37
160 PLATON, Pol. 369c;
161 NovALIS, }j'ragmente, UW .Hd. 3, 313.
162 MÜLLER, Theorie des Geldes, 150; 'Bedürfnis' wird von Müller definiert als Drang nach

Vereinigung, welcher in allen Individuen der bürgerlichen oder menschlichen GesellBchaft statt-
fi,ndet; Elemente der Staatskunst, Bd. 1, 366.
163 Ebd., 370.
184 FRANZ v. BAADER, Über das durch die französische Revolution herbeigeführte Bedürf-

niss einer neuen und innigeren Verbindung der Religion mit der Politik, SW Bd. 6 (1854), 16.
1s 5 CAitL LUDWIG v. HALLER, Restauration der Staat.swissenschaft, 2. Auß.., Bd. 1 (Winter-
thur 1820), 357.
1 88 LUDWIG GALL, Was könnte helfen? (Trier 1825), 3.

477
Bediirlois · V. 7. Sozialistische Sieht

Wünsche und Bedürfnisse (MosES HEss 1845) 167 gegeben werden. In der kapitalisti-
schen Klassengesellschaft entspreche der Raffinierung der Bedürfnisse und ihrer
Mittel auf der Seite der Besitzenden die viehische VerwiUerung, vollständige, rohe,
abstrakte Einfachheit des Bedürfnisses der Arbeiter (MARX 1844) 168. Was wunder,
wenn im Volke die Religion ein ebenso unerläßliches Bedürfniß, wie der Branntwein
seinem schmachtenden Magen sei (HEss 1845) 169. LASBALLE räumt 1863 wohl ein, daß
das Bedürfnisniveau der arbeitenden Klassen, sich im Laufe der Zeit erhöht habe,
behauptet jedoch, d!!-ß die Klassenlage des Proletariats dadurch keine Verbesserung
erfahren habe. Da sich die Lage der arbeitenden Klasse im Verhältnis zur sozialen
Situation der anderen Klassen bemaß und der Anstieg des Lebensstandards des
Proletariats Hand in Hand ging mit der Verbesserung der Lage anderer sozialer
8r.hir.ht.P.n,· blieb die gesellsc.haftliche Lage der Arbeiter8chaft letztlich unverii.n-
dert170. Es mangele dem deutschen Arbeiter vor allem an der Einsicht in die Miß-
lichkeit seiner gesellschaftlichen Situation. In seiner verdammten Bedürfnislosigkeit
gebe. er sich im Gegensatz zu seinen englischen und französischen Schicksals-
genossen mit einem Stück schlechter Wurst und einem Glas Bier zufrieden 171 .
Um den Aufwr.iR rlr.r F.ntfrAmilnng i!Ar MAnAchen in der kapitalilitisc.hen Kla1111en-
gesellschaft, um die Analyse des entfremdeten Bedürfnisses ist insbesondere
KARL MARX bemüht. Eigentlich sollte der andere Mensch als Mensch zum Bedürfnis
geworden sein (1844) 172 ; in der kapitalistischen Klassengesellschaft jedoch, in der
die Bedürfnisse des einzelnen dem Verwertungsprozeß des Kapitals überantwortet
seien, bestimme die Gewinnsucht das Verhältnis der Menschen untereinander. Nicht
der bedürftige Mensch, sondern das Streben nach möglichst hohem Gewinn sei das
Antriebsmoment der Produktion. Jedem gehe.es nur um.die Befriedigung seines ...
eigennützigen Bedürfnisses 1 7 3 • Gewinnstreben, das Bedürfnis nach einem stets aus-
gedehnteren Absatz für ·ili-re Prod·ukte jugt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel

187 MosEs HEss, Zwei Reden über Kommunismus, Philos. u. sozialistische Sehr. 1837-

1850, hg. v. Auguste Cornu u. Wolfgang Mönke (Berlin 1961), 357; FRIEDRICH LisT
schreibt in der „Allgemeinen Zeitung" über die Armut dieser Zeit: Unter den notwendigsten
Lebensbedürfnissen versteht man in vielen Gegenden Deutschlands ... KartoUeln ohne Salz,
eine Suwe mit Schwarzbrot zur höchsten Notdurft geschmälzt, Haferbrei, hie und da schwarze
Klöße. Die, welche sich schon besser stehen, sehen kaum in der Woche einmal ein bescheidenes
Stück frisches oder geräuchertes Fleisch auf ihrem Tisch, und Braten kennen die meisten nur
vom Hörensagen. Ich habe Reviere gesehen, wo ein Hering, an einem an der Zimmerdecke
befestigten Faden m·itten ·über de:ti Tisclt ltängend, unter den Kartoffele88ern von Hand zu Hand
herumging, um jeden zu befähigen, durch Reiben an dem gemeinschaftlichen Tafelgut seiner
KartoUel Würze und Geschmack zu verleihen; Allgemeine Zeitung, Nr. 308 (Augsburg 3. 11.
1844), 2458~
188 KARL M.utx, Ökonomisch-Phiiosophische Manuskripte (s. Anm. 92), 548.
189 MosEs HEss, Die eine und ganze Freiheit, Philos. u. sozialistische Sehr., 227.
17 ° FERDINAND LASSALLE, Offenes Antwortschreiben an das Zentral-Komitee zur Berufung

eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig (1863), Ges. Red. u. Sehr.,


Bd. 3 (1919), 63 ff.
171 LASSALLE, Arbeiterlesebuch (1863), ebd., 227 f.
172 M.utx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, 535.
173 Ebd., 547.

478
V. 7. Sozialistisehe Sieht Bedürfnis

(1848)17 4 • In der künftigen Gesellschaft werde, so hofft Marx, das Bedürfnis seinen
egoistischen Charakter verloren haben. Die Arbeit werde das erste Lebensbedürfnis
sein (1875) 1 7°.
Die Schärfe der sozialistischen Gesellschaftskritik ergibt sich nicht zuletzt aus der
Hoffnung, in der Zukunftsgesellschaft sei die volle Bedürfnisbefriedigung aller mög-
lich. Während in der bürgerlichen Gesellschaft die Güterproduktion noch nicht
ihren Höchststand erreichen könne, werde in der sozialistischen Gesellschaft nichts
leichter sein, als die Mittel zur Befriedi,gung der Bedürfnisse aller, .wekhe arbeiten
wollen, zu schaffen (MOSES HEss 1847) 176 • ENGELS glaubt, die industriellen Kräfte
wüchsen ungehemmt durch die Institution des Privateigentums, ins Riesenhafte
(1847); dadurch sei es möglich, der Gesellschaft eine hinreichende Masse von Pro-
du'/aen zur Verfitgung zu stellen, um damit die Bedürfnisse aller zu befriedigen177 •
Nach MARX werden in der sozialistischen Gesellschaft die Springquellen des genossen-
schaftlichen Reichtums ... -P,ießen und die Güter nach dem von ETIENNE ÜABET zum
ersten Mal 1839 178 formulierten Grundsatz: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem
nach seinen Bedürfnissen (1875) 179 verteilt werden. Die volle Bedürfnisbefriedigung
wird in der sozialistischen Gesellschaft nicht zuletzt durch die planmäßige Lenkung
der wirtschaftlichen Abläufe gewährleistet. Nun leiten nicht mehr einzelne, einander
Konku"'mz r1uiclwnde Faf.trikanten, sondern d·ie ganze Guellschaft nacli einem festen
Plan und nach den Bedürfnissen aller die industrielle Produktion (ENGELS 1847) 180•
Nach den Vorstellungen von RonBERTUS-JAGETZOW hat eine Zentralbehörde nach
den ermittelten Bedürfnissen die einzelnen Produktionen zu eröffnen und danach die
Arbeit und das Kapital ... einzuteilen und zu verteilen 181 • Zur Signatur der sozialisti-
schen Gesellschaft gehört auch, daß öffentliche Bediirfni.~.~e . . . alles individualisti-
schen Sträubens ungeachtet, einen ... zunehmend größeren Teil ausmachen 182 • Auch

m MARX/ENGELS, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Bd. 4 (1959), 465.


17 6MAB.x, Kritik des Gothaer Programms, MEW Bd. 19 (1962), 21.
176 MosEs HEss, Die ·Folgen einer Revolution des Proletariats, Philos. u. sozialistische

S*~~~ -
177 FRIEDRICH ENGELS, Gundsätze des Kommunismus, MEW Bd. 4 (1959), 375.
178 ETIENNE ÜABET, Voyage en Icarie (Paris 1839), Titelblatt: A chacun suivant ses besoins,

De chacun auivant ses forces. Die Verteilung nach dem Prinzip der Bedürfnisse fordern schon
Morelly und Mably; MORELLY, Code de la nature ou le veritable esprit de .ses lois (1755;
Ausg. Paris 1953), 127 f. stellt fest: Rien dans la sociite n'appartiendra singulierement ni en
'J'TO-prieU a personne que 1.e.s chose.s'dcmt. il fera 1m. 11.r;a{Je a,r,t11R.l, Rnit pm1.r RPJI be110ins, aea plaiaira,
ou aon travail jourrwJier; GABRIEL BoNNOT DE MABLY, Doutes proposes aux philosophes
economistes (1768), Oeuvres compl., t. 11(London1789), 8 fordert: L'~tat, 'P"'O'J'Tiitaire de
tout, dietribue atix particuliers les choaes dont ila ont beaoin.
i 79 MARx, Kritik des Gothaer Programms, 21 (vgl. Anm. 93).
l80 ENGELS, Grundsätze des Kommunismus, MEW Bd. 4, 370.
181 CARL RoDBERTUS-JAGETZOW, Das Kapital, Schriften, hg. v. Adolph Wagner u. Theo-

phil Kozak, 2. Aufl„ Bd: 1 (Berlin 1913), 95.


182 Ebd„ 113; an einer anderen Stelle heißt es: Die wirklich individuellen Bedürfnisse biJ.den

in dem Nationalbedürfnia einen weit kleineren, ja zunehmend kleineren Teil, die kommunieti-
achen oder die, welche die Gesellachaft ala solche hat, einen weit größeren, ja zunehmend größeren
Teil; ebd„ 65.

479
Bedürfnis V. 8. 'Bedürfnis' in der Historischen Schule

die Qualität der öffentlichen Bedürfnisse ändert sich. Erziehungs- und Unterrichts-
budgets werden an die Stelle der Militärbudgets treten183.
DIETZGENS 1870 erhobene Forderung nach einer vollen Bedürfnisbefriedigung aller
Bürger, der Verteilung nach sozialem Bedürfnis und nicht nach dem Grundsatz des
suum cuiquel84 wurzelt in der ~ahme der Gleichheit der Bedürfnisse. Seine An-
sicht, die Natur habe uns allen daß gleiche Bedürfnis gegeben185, findet sich schon bei
C. W. FRÖLICH, einem sozialistischen Utopisten des 18. Jahrhunderts. Ihm zufolge
gründet sich das gleiche Recht aller Menschen, die Güter der Erde zu gewinnen,
auf ihre Bedürfnisse, die bei jedem dieselben sind (1792)186.
Wie die Aufklärung und der Liberalismus, so bejaht auch der Sozialismus die Be-
dürfnissteigerung als Unterpfand der kulturellen Entwicklung. WEITLING stimmt
Init MoRELLY187, dem sozialistischen Philosophen der französischen Aufklärung,
überein, wenn er im Wechselspiel von Fähigkeiten und Bedürfnissen das konstitu-
tive Prinzip der gesellschaftlichen Entwicklung zum Fortschritt erblickt. Bedürf-
nisse erheischen neue Erfindungen, diese steigern die Fähigkeiten, die ihrerseits
wiederum zur Weckung neuer Bedürfnisse beitragen188. Die uneingeschränkte Be-
jahung des kulturell-geschichtlichen Fortschritts verbindet sich bei den sozialisti-
schen Autoren Init der Ansicht, die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse sei die
Voraussetzung der höheren (DIETZGEN 1870) 189.

8. Relativierung und Ethi&ierung des Bedürfnishegrift'es


in der Historischen Schule

Obgleich den Vertretern der Historischen Schule der Nationalökonoinie eine kon-
~ervative Gesellschaftsauffassung eigen ist, so teilen sie doch nicht Init den kon-
servativen Autoren die Ablehnung der Bedürfnissteigerung. Sowohl in der älteren
als auch in der jüngeren Historischen Schule wird der Bedürfnisentgrenzung

183 Ebd.,. 113.


184 JOSEPH DIETZGEN; Die Religion der Sozi.aldemokratie, Schrüten, hg. v. E. Dietzgen,
Bd. 1(Wiesbaden1911), 130.
m Ebd., 107. .
188 FRöLICH, Über den Menschen (s. Anm. 82), 96. Die sozialistische Aufklärungsphilo-

sophie Frankreichs nimmt schon vor Frölich die Gleichheit der Bedürfnisse an. Morelly
und Mably aktualisieren im Gegensatz zur bürgerlichen Aufklärungsphilosophie (Holbach,
Holv6tius), die ebenfalls die Gleichheit der Dedürfnisse untei'!ltellt, die in der Annahme
dieser Gleichheit schlummernden, radikal-egalitären Potenzen. MoRELLY, ÜQde de la
nature, 44, stellt fest: Elle (die Natur) fait sentir a~ hommes r>ar la r>arite de sentiments
et de besoins, leur egalite de conditions et de droits, et la necessite d'un travail commun,· und
MA.BLY, Entretiens de Phocion (Amsterdam 1767), 150 fragt: Pourquoi des riches, 'JXYUrguoi
des '[>aUvres? Ne naissons-nous '[>a8 tous avec les memes besoins?
18 7 MoRELLY, Code de la nature, 42 f.
188 WILHELM WEITLING, Garantien der Harmonie und Freiheit (1842), hg. v. B. Kaufhold

(Berlin 1955), 128 f.


189 DIETZGEN, Die bürgerliche Gesellschaft, Schrüten, Bd. 3 (1911), 122.

480
V. 8. 'Bedürfnis' in der Bistorisehen Sehule Bedürfnis

vielmehr besonderes Gewicht beigemessen. Die dauernde feste Anpassung unserer


Nerven an einen immer komplizierteren Apparat der Bedürfnisbefriedigung ist der
Sperrhaken, der uns vor dem Zurücksinken in die Barbarei bewahrt (ScHMOLLER
1900)190.
Zu stark ist auch das sozialpolitische Engagement, als daß die Vertreter der Histo-
rischen Schule in ähnlicher Weise wie ihre konservativen Vorläufer die Bedürfnis-
steigerung wegen ihrer Verwischung der gesellschaftlichen Unterschiede ablehnen
würden. Man solle sich darüber freuen, meint RoscHER, daß auch die ärmeren
Volksschichten an einem feineren Leben Geschmack finden und nicht den Luxus der
niederen Stände beklagen. Unnütz darüber zu lamentieren, daß man die Magd von
der Frau, den Schreiber von dem Beamten kaum unterscheiden könne (1843) 191.
BRENTANO bewert.et es als einen Widerspruch, einerseits das niedrige kulturelle
Niveau der unteren Klassen zu beklagen, andererseits aber die Zunahme der Be-
dürfnisse anzuprangern (1908)192.
Gleichwohl wird die Bedürfnisentgrenzung nicht vorbehaltlos bejaht; für die
Historische Schule ist das Bedürfnis ein ethischer Begriff. Gerade das Bedürf-
nis und seine Entwicklung sind ... Momente, welche immer auch dem Gebiete der
Ethik zu vindizieren sind, was in der Wissenschaft der Politischen oder Sozial-
ökonomie nicht scharf genug betont werden kann (WAGNER 1875) 19 8. Die gemeinen
sinnlichen Bedürfnisse sollen nicht auf Kosten der höheren (ScHMOLLER 1900) 194,
die Genüsse weniger nicht durch das Elend vieler (RosCHER 1843) 19 5 erkauft wer-
den.
Der methodische Charakter der Historischen Schule enthüllt sich besonders im
Aufweis der Relativität der Bedürfnisse, ihrer gesellschaftlichen Vermittlung.
Existenzbedarf, Kulturbedarf und Luxusbedarf sind für· BücHER relative Größen,
bedingt durch die jeweilige soziale Stellung196. Die Einsicht in die nationalen Eigen-
tümlichkeiten, in die Verschiedenheit der Bedürfnisse der einzelnen Völker führt
zur Ablehnung der liberalen Annahme einer von Zeit und Ort unabhängig gültigen
wirtschaftlich-sozialen Gesetzmäßigkeit. Die verschiedenen Volksstämme zeigen in
der Tat keineswegs iene Homogenität in dem Menschen und dessen Strebungen,
Leistungen, Bedürfnissen, wekhe die unerläßliche Voraussetzung mancher abstrakten
Fiktionen ist (KNIES 1853) 197. Um die Einteilung der Bedürfnisse haben sich

190 GusTAv SOIIMOLLEB, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. 1 (Leipzig

1910), 25.
191 RoSOHER, Über den Luxus (s. Anm. 134), 446.
192 LuJo ßRENTANO, Versuch einer Theorie der Bedürfnisse .(1908), in: ders., Konkrete
Grundbedingungen der Volkswirtschaft (Leipzig 1924), 175.
19 a ADOLPH WAGNER, Grundlagen der Volkswirtschaft, in: ders., Grundlegung der politi-
schen Ökonomie, 3. Aufl., Bd. 1 (Leipzig 1892), 75.
m SoHMOLLER, Volkswirtschaft.slehre, Bd. l, 26.
195 RosOHER, tiber den Luxus, 410.
19 8 KARL BüOHER, Die Entstehung der Volkswirtschaft, 8. Aufl., Bd. 2 (Tübingen 1926),

340.
197 KARL KNms, Die politische Ökonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode

(Braunschweig 1853), 63.

31-90385/1 481
Bedürfnü V. 9. Zentralhegriff in der Grenznotzemcbale der Nationalökonomie

WAGNER1es und BRENTAN0199 verdient gemacht. Wagner bemühte sich besonders


um die Systematisierung der Gemeinbedürfnisse, die seiner Auffassung nach aus der
Angehörigkeit des einzelnen ... zu menschlichen Gemeinschaften hervorgehen 2 00.

9. 'Bedürfnis' a1s ZentraJhegrift' in der Grenznutzenschule der Nationalökonomie

Dem auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruhenden kapitalistischen


Wirtschaftssystem erwuchs . in der sozialistischen Bewegung, die mit Hilfe der
Marxschen Wert- und Mehrwertlehre die liberale Ordnung gänzlich in Frage stellte,
ein gefährlicher Gegner. Als willkommener Rechtfertigungsgrund der im Privat-
eigentum gründenden Wirtschaftsverfassung erwies sich dabei die Annahme der
GTenznutzenschule, das private Eigentum bewirke die Lösung des Mißverhältnisses
zwischen Bed,arf und, verfügbarer Gütermenge (MENGER 1871) 261 . Aus der Tatsache,
daß die Menschen immer Bedürfnisse haben und die Mittel zu deren Befriedigung
immer knapp sein werden, schloß die Grenznutzenschule auf die Überzeitlichkeit
des Privateigentums.
In der Grenznutzenschule werden nicht wie in dor klamifoohon Nationalökonomie
die Produktionskosten, sondern die auf den Bedürfnissen der einzelnen Wirtschafts-
subjekte basierenden Nutzenschätzungen als alleinige wert- und preisbestimmende
Faktoren betrachtet. In allem Güterwert tritt uns ... lediglich die BedeUtung ent-
gegen, welche wir der Befriedigung unserer Bedürfnisse ... beimessen 202 • Auf diese
Weise wird der Bedürfnisbegriff zur zentralen ökonomischen Kategorie.

198 W A.GNER, Volkswirtschaft, 76 kennt a) Existenzbwürfnisse, deren Befriwigung zum

Butiht-ti du M e1U1chen selbst, abBOl·uL oder relat•iv, ·1wtwe7Ulig ist •.. ; anderseits K ulturbw1lrf-
nisse, deren Befriedigung einmal zur Erhöhung des feineren LebensgenUBses, materieller wie
'immaterieller Art, sodann zur weiteren Entwicklung des Menschen, insbesondere se.iner geisti-
gen Seite, dient. b) I ndivwualbedürfnisse, welche aus dem physisch-geistigen Wesen des
einzelnen ... hervorgehen, und Gemeinbwürfnisse, welche beim einzelnen aus dessen Ange-
hörigkeit zu menschlichen Gemeinschaften entspringen.
199 BRENTA.NO, Theorie der Bedürfnisse, 108 ff. unterscheidet zwischen körperlichen und

geistigen, absoluten und relativen, unmittelbaren und mittelbaren Bedürfnissen, ferner


zwischen solchen, bei denen der Mensch sich entweder aktiv oder passiv verhält.
200 WAGNER, Volkswirtschaft, 831 ff. teilt die Gemeinbedürfnisse ein in allgemeine

(Rechtsordnung) und in spezielle, welche in bestimmten Gesellschaftsverhältnissen wurzeln.


Die speziellen Gemeinbedürfnisse werden wieder unterschieden in 1) räumliche oder ört-
liche (z.B. Gemeinbedürfnieee der Gesundheit), 2) zeitliche (z.B. Bildungsbedürfnisse der
Kinder) und 3) Klassen-Gemeinbedürfnisse (z. B. Bedürfnisse der wirtschaftlichen Berufs-
gemeinschaften).
20 1 ÜA.RL MENGER, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre (Wien 1871), 56.
202 Ebd:, 87; das Grundgesetz der Grenznutzenschule, das sog. „Goesensche Gesetz der

Bedürfnissättigung", lautet in der Formulierung von FRIEDRICH WIESER: Bei jwem teil-
baren Bwürfnis wird innerhalb jwes Bwürfnisabschnittes der mit der ersten Verwendungs-
einheit vorzunehmende Befrwigungsakt mit der höchsten I nf.ensiflit begehrt, je,de Verwendung
weiterer Einheiten derselben Art wird mit abnehmender Intensiflit begehrt, bis der Sättigungs-
grad erreicht ist, darüber hinaus schUigt das Begehren in W werwillen um; Theorie der gesell-
schaftlichen Wirtschaft, Grundr. d. SozÖk., 2. Aufl„ 1. Abt., Bd. 2 (Tübingen 1924), 24.
Sowohl die ältere deutsche liberale Ökonomie (Jakob, v. Soden, LotZ, Rufeland, v. Her-

482
V. 10. Neokonservatismus Bedürfnis

Äquivalent dieses in der Nationalökonomie vertretenen Subjektivismus, der in der


Neuzeit sämtliche Wissenschaftsbereiche erfaßte, ist der in der Philosophie von
NIETZSCHE vertretene Standpunkt: un8ere Bedürfnisse sind es, die die Welt aus-
legen; unsere Triebe und deren Für und Wider 208•

10. Neokonservatismus
Dem Ganzheitsdenken der neokonservativen Nationalökonomie erscheint die von
der Grenznutzenschule vorgenommene Verankerung der Wirtschaftstheorie in den
Bedürfnissen der Individuen als Künstelei, die zur Zerfaserung des Wirtschaftslebens
führe. Wirtschaft ist nach GoTTL-ÜTTLILIENFELD (1928) nicht als Vorsorge des ein-
zelnen für die Befriedigung seiner Bedürfnisse aufzufassen, .sondern vielmehr als
Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens im Geiste dauernden Einklangs von
Bedarf und Deckung zu begreifen. Dabei wird '.Bedarf', dessen Träger im Gegensatz
zum 'Bedürfnis' nicht die einzelnen Wirtschaftssubjekte, sondern gesellschaftliche
Gebilde wie Haushaltungen und Unternehmungen sind, definiert als das Verlangen,
Verfügung über die Mittel der Bedürfnisbefriedigung zu erlangen 2 0 4 ,
Wie ihre konservativen Vorgänger, so rügen auch die neokonservativen Autoren
die Wirkungen der Wohlstandssteigerung auf Kultur und Gesellschaft. HANS
FREYER stellt fest, daß in der modernen Industriegesellschaft die Zuordnung be-
stimmter Konsumgewohnheiten zu bestimmten sozialen Rängen und Lebenskreisen weg-
gefallen ist. Der Verbraucher werde im sog. „sekundären System" auf diese Weise
genormt und proletarisiert. Der Gedanke eines gebührenden Bedürfnisses ist heute
ebenso reaktionlJ,r geworden wie der Gedanke einer mlJglichen Zufriedenheit mit dem
Seinen (1955) 206 • ARTUR MA.RAUN führt Klage über die gesellschaftlichen Folgen der
Bedürfnisentgrenzung, die im Deutschland der Gründerjahre um sich griffen. Die
bürgerliche Gesellschaft des Bismarckreiches sei zum Schauplatz öden und un-
geistigen Prunkes (1924) 206 geworden; da das Bürgertum ohnehin schon auf dem
Wege der Verfiachung und Willensentäußerung gewesen sei, hätten Luxus und
Wohlstand es um so verwundbarer treffen können 20 7• EDGAR JuNG wendet sich
gegen die Geschichtslüge ... , daß Bedürfniswsigkeit mit niederer Kulturstufe zu-
sammenfalle (1930) und verweist in diesem Zusammenhang auf die östlichen Kultur-
völker, die ihre Kultur mit der Erziehung des einzelnen zur Bedürfnisbeschränkung
(1930) 2 08 krönten. Die hochentwickelte moderne Reklametechnik, die den reibungs-
losen Verkauf der ständig wachsenden Güterfülle gewährleisten soll, gibt Jung
Veranlassung,. die kapitalistische Bedarfsreizungswirtschaft, die den Menschen in
einen entwürdigenden, sinnlosen Bedürfnistaumel stürze, am:uprangern 209 • Nlir 50

mann, v. Mangoldt, Storch, Rau) als auch die _romantisch-historische Schule {Müller,
Rascher, Knies, Hildebrand, Bernhardi) haben der Nutzwertlehre das Wort geredet.
.203 FRIEDRICH NIETZSCHE, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke, Bd. 3 (1960), 903.

204 FRIEDRICH v. GoTTL-ÜTTLILIENFELD, Bedarf und Deckung (Jena 1928), 1. 2.


20 5 HANs FREYER, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, 3. Aufl. (Stuttgart 1958), 91.

2o6 ARTUR MARAUN, Das Jungdeutsche Manifest, 2. Aufl. (Berlin 1927), 27.
207 Ebd., 26.
208 EDGAR JUNG, Die Herrschaft der Minderwertigen, 2. Aufl. (Berlin 1930), 487.

2o9 Ebd., 437.

483
Bedürfnis V. 12. Neoliberalismus

lange sei der Mensch Herr der Wirtschaft, solange er den Rahmen seiner Be-
dürfnisse, von der Natur und einer gesunden Kultur geleitet, selbst bestimmt 210•
LEOPOLD ZIEGLER befürchtet, die Überzüchtung des Bedarfs durch das ·neuzeitliche
Reklamewesen versetze die Konsumenten in einen Zustand der Überwachheit ... ,
der zuletzt ihre Vitalität, statt sie emotional zu entbinden, verzehren und erschöpfen muß
(1927) 211 •

11. Nationalsozialismus
Einziger Maßstab der nationalsozialistischen Wirtschaftslehre ist der völkische Ge-
danke. So sehr etwa VLEUGELS die von Gottl-Ottlilienfeld vertretene Auffassung
der Wirtschaft als Teilgestaltung menschlichen Zusammenlebens akzeptiert, RO
vermißt er doch in dieser neokonservativen Ansicht die völkische Akzentuierung 2 1 2 •
Der Sinn aller wirtschaftlichen Aktivität konstituiert sich für Vleugels erst im
Dienst an der völkischen Lebensordnung, an der bestmöglichen Bedarfsversorgung der
Volksgemeinschaft (1936) 213 • Dabei handelt es sich um planmäßige Bedarfsdeckung
Bnf priu„fknpitnl?:.~tischer fkwn.dl.a.ge (REl.TPKE 1931) 214 • Je.doc.h soll im Staate nicht
eine genußfreudige, sondern heroisch-asketische Lebenshaltung vorherrschen. Der
heroische Mensch ist materiell anspruchslos (BÄuMLER 1934)215 •
Es liegt im Wesen der nationalsozialistischen Wirtschaftslehre, daß sie den Be-
griffen 'Staatsbedarf' bzw. 'Staatsbedürfnis' eine dominierende Rolle zuweist.
JENS JESSEN (1935) zufolge dehnt sich in der nationalsozialistischen Wirtschaft der
Staatsbedarf, der in der Schaffung aller der Voraussetzungen besteht, die überhaupt
für die Existenz des Staates die Vorbedingung bilden, ständig aus 216 • Auffälligstes
Zeugnis dafür sei das Wachstum des Heeresbedarfs, bedingt durch die Fortschritte
in der Waffentechnik. Neben den Staatsbedarf tritt nach Jessen der Sammelbedarf
(Kollektivbedarf), der sich im eigentlichen Sinn aus dem Einzelbedarf (Individual-
bedarf), den Notwendigkeiien der Einzelwirtschaft zusammensetzt, dessen Deckung
d·urch den Staat aber . . . als zweckmäßig angesehen wird 217 •

12. Neoliberalismus
Als Reaktion auf die Planwirtschaftspolitik der antiliberalen Systeme des National-
sozialismus und des Bolschewismus fordert der Neoliberalismus die Entpolitisierung
der Bedürfnissphäre. Die Wirtschaftslenkung totalitärer Staaten besitze die Mög-

210 Ebd., 435.


211 LEOPOLD ZIEGLER, Zwischen Mensch und Wirtschaft (Darmstadt 1927), 325. 327.
212 WILHELM VLEUGELS, "Ober Gegenwartslage, Erbe und heutige Aufgaben der deutschen

volkswirtschaftlichen Theorie, in: ders., Zur Gegenwartslage der deutschen Volkswirt-


schaftslehre (Jena 1939), 134 f.
~ia Der11., Die Volkt!wirU!oho.fU!lehre o.111 politische Ökonomik uud di" funu~fo WfrL!iclrn.fLll·
theorie (Stuttgart 1936), 39.
214 HANS REUPKE, Der Nationalsozialismus und die Wirtschaft (Berlin 1931), 40.
215 ALFRED DÄUlllLER, Männerbund und Wissenschaft (Berlin 1934;), 9.
216 JENS JESSEN, Volk und Wirtschaft (Hamburg 1935), 174.
217 Ebd.

484
V. 13. Neue Liake Hr.dürfni11

lickkeit, sich in ihrem Wirtschaftsplan vom Konsumenten zu. emanzipieren und wirt-
schaftliche Bedürfnisse in· anderem Umfange und anderer Rangskala zu· befriedigen
(MÜLLER-ARMACK 1947). Der Wirtschaftsbürger sei in der Planwirtschaft ge-
nötigt, Güter zu kaufen, die seiner ursprünglichen Bedarfsricktung eventuell nickt
entsprechen. Wenn. auch die freie Marktwirtschaft durch Suggestionsreklame dem
Konsumenten künstliche Bedürfnisse aufrede, so sei es letzten Endes doch der Ver-
braucher und nicht die staatliche Planbehörde, der den Ablauf des wirtschaftlichen
Geschehens bestimme 218 • Aus diesem Grunde ist für WILHELM RöPKE die wahre
Bedarfsdeckungswirtschaft nicht die kommunistische, sondern die nach neolibe-
ralen Prinzipien ausgerichtete Ökonomie. Kann man ein Wirtschaftssystem, in dem
bei reiner Durchführung seiner Prinzipien die V erbrauckswünsche der Konsumenten
die Produzenten zur höchsten Leistung in der Befriedigung dieser Wünsche anspornen,
anders als eine Bedarfsdeckungswirtschaft nennen (1942) 1219 • Nur in der neoliberalen
Marktwirtschaft sei die Produktion an den Bedürfuissen der Menschen orientiert.
Wie die Paläoliberalen, so sind auch die Neoliberalen der Ansicht, daß kulturelles
Leben sich nur auf einer stabilen ökonomischen Grundlage entfalten könne. Das
Religiöse, das Ethische, das Ästhetische, kurz gesagt, das MensckUche; das Kulturelle
überhaupt können ALEXANDER RüsTow zufolge ohne die Wirtschaft nickt existieren
(1960). Eine prosperierende Wirtschaft ermöglicht die kulturelle Blüte eines politi-
schen Gemeinwesens. Primum vivere, dein.de pkilosophari220. Des weiteren erblickt
die neoliberale Schule in der stetigen Steigerung des Sozialproduktes die beste
Garantie für das Weiterbestehen der bürgerlich-liberalen Gesellschaftsordnung. Das
einzige, was die moderne Demokratie nickt überleben wird, ist die Notwendigkeit einer
wesentlichen Senkung des Lebensstandards im Frieden oder auch nur ein lang ·an-
haltender Stillstand des wirtschaftlichen Fortschritts (llAYEK 1945)221 •

13. Die Neue Linke

Wie Marx und die anderen Sozialisten des 19. Jahrhunderts, so sorgen sich auch
die Sozialisten des 20. Jahrhunderts um eine humane Form der Bedürfnisbefriedi-
gung. Allerdings formulieren die .Vertreter der sogenannten Neuen Linken ihren
Protest nicht mehr in einer Gesellschaft, die der Mehrheit ihrer Bürger die Befriedi-
gung primitivster Bedürfnisse vorenthält. Sie erheben ihre gesellschaftliche Anklage
in einer Überfl.ußgesellschaft. In ihr wird der Mensch Opfer seines Verbrauchs-
bedürfnisses. Angestachelt durch eine aufwendige Werbemaschine, ergreift es von
ihm Besitz, gewinnt ein von der menschlichen Ratio unabhängiges Eigenleben; Das
ursprüngliche Verhältnis von Bedürfnis und Befriedigung, von Drang und Sättigung
ist merkwürdig verkehrt:· der Bedarf wird um so bedürftiger, die latente Konsum-

218 ALFRED MÜLLER-AmliCK, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, 2. Aufl. (Ham-

burg 1948), 21.


210 WILHELM RöPKE, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, 5. Aufl. (Erlenbach, Zürich

1948), 233.
220 ALEXANDER RüsTow, Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit (1960), in: ders.,

Rede und Antwort (Ludwigsburg 1963), 77. ·


221 FRIEDRICH AUGUST v. HAYER:, Der Weg zur Knechtschaft, dt. hg. v. Wilhelm Röpke,

3. Aufl. (Erlenbach, Zürich 1952), 260.

485
Becliirfnis V. 13. Neue Linke

bereitschaft um so zehrender, je mehr das aktuelle Konsumhedürfnis durch Menge und


Qualität der erzeugten Güter überboten wird (JÜRGEN liABERMAS 1954). Diese Situa-
tion ist paradox: Gerade die Übersetzung eines Marktes durch übersteigertes Angebot
erzeugt eine in gleichem Maße übersteigerte Nachfrage 222 • Die Verbrauchsmoral der
entwickelten Industriegesellschaft des Westens nährt sich Habermas zufolge aus
einem Geiste, der einer von Armut und Mangel geprägten Wirtschaftsweise ent-
spricht. Stammt nicht das Bedürfnis, möglichst viele Sinnesorgane zu besetzen, die
Reizchancen auszuscMpfen, die Konsumkapazität auszulasten, . . . aus der . . . Öko-
nomie der Armut'? (1957) 223. In der gegenwärtigen Überfl.ußgeseHschaft gehorche
der Verbraucher einer leistungsbezogenen und damit antihedonistischen Konsum-
moral. Der Mensch und seine echten Bedürfnisse geraten in dieser pauperisierten
Verbrauchsatmosphäre ins Hintertreffen. Der Konsument wird trotz allen Über-
fluBSes im Stande der Bedürfti,gke:it gehalten 11on einer Prod11Jrtüm,, die seine aktuellen
Bedürfnisse nur um den Preis der Erweckung neuer Bedürfnisse bcfriedi,gt - neuer
Bedürfnisse, die. Bedürfnisse der Produktion und nicht mehr der Menschen selber
sind 224• '

Dem Menschen werden Bedürfnisse, die er ursprünglich nicht verspürte, von einer
riesigen Werbemaschine eingepflanzt. Die Auswirkung der Werbung auf die psy-
chische Verfassung des Menschen ist verheerend. Mit zunehmemlem Vtirbrauuhs-
tempo verwandelt der Verbraucher sich in einen gelangweilten Konsumautomaten.
Der Überhang unechter Bedürfnisse ließe sich nicht beliebig verdichten, wenn nicht
gleichzeiti,g mit der Stimulierung eines feden besonderen Bedürfnisses der unbestimmte
Bedarf, der allgemeine gesichtslose Bestand an Mangel, an Leere, an Üb.erdruß, an
Fremde potenziert würde 225• Seelische Verarmung ist also der Preis, der für die Über-
flußgesellschaft entrichtet werden muß. Zu den entscheidenden Merkmalen dieses
Pmq1P:ri.~m.11.~ dP.11 Tfon.'l'tt.m.~ gehört, daß die Gegenstände des Verbrauc.hs nicht mehr
wahrgenommen werden 228 • Im circulus vitiosus von Bedürfnisreizung und Bediirf-
nisbefriedigung wird der eigentliche Charakter der zum Konsum bestimmten Güter
immer weniger wichtig. Recht eigentlich ist es unangebracht, dem Ver\>raucher
Subjekt-Qualitäten zuzuschreiben. Denn der scheinsouveräne Alleskönner lebt nicht
mehr selbst, er wird vielmehr von den Dingen und Ereignissen, die er konsumiert, ver-
lebt und verkonsumiert (1956) 227 • Er wird in zunehmendem Maße Opfer der Erwar-
tungs- und Umgangsvorschriften des erwünschten und erworbenen Konsumgutes 228 •
Die Folgen dieser Außenlenkung sind abgerissene und wahllose Reaktionen, Verhal-
tenswillkür und Zufälli,gke:it der Oharakterbildung 229 • Die' kapitalistische Überfl.uß-
gesellschaft weist sich nach HERBERT MARCUSE vor allem durch den Gegensatz von

au JÜRGEN HABERMAS, Die Dialektik der Rationalisierung. Vom Pauperismus in Pro-


. duktion und Konsum, Merkur 8 (1954), 717.
ssa Ders„ Können Konsumenten spielen!• Frankfurter Ailgemeine Zeitung, Nr. 88, 13. 4.
1957.
22 ' Ebd.

11111 Ders„ Dialektik, 717.


228 Ebd„ 721.
227 Ders., Notizen zum Mißverhältnis von Kultur und Konsum, Merkur 10 (1956), 217.
22s Ebd.

219 Ebd.

486
V. 13. Neue Linke Bedürfnis

wahren und falschen Bedürfnissen aus. 'Falsch' sind diejenigen, die dem Individuum
durch partikuläre gesellschaftliche Mächte, die an .seiner Unterdrückung interessiert
sind, auferlegt werden: diejenigen Bedürfnisse, die harte Arbeit, Aggressivität, Elend
und Ungerechtigkeit verewigen2ao. Alle 'echten Bedürfnisse', d. h. alle diejenigen,
welche die Befreiung des Individuums fordern und fördern, werden in der fort-
geschrittenen Industriegesellschaft unterdrückt. Hingegen erzwingt die soziale Kon-
trolle das überwältigende Bedürfnis nach Produktion und Konsumtion von unnützen
Dingen; das Bedürfnis nach abstumpfender Arbeit, wo sie nicht mehr wirklich not-
wendig ist; das Bedürfnis nach Arten der Entspannung, die diese Abstumpfung mildern
und verl,ängern2 31 • Im Gegensatz zur frühindustriellen Gesellschaft partizipieren die
Beherrschten in der spätbürgerlichen Überfl.ußgesellschaft an der Güterfülle; die
unterworfene Bevölkerung hat teil an den Bedürfnissen und Befriedigungen ... , die
der Erhaltung des Bestehenden dienen 23 2. Von dieser Euphorie im Unglück 233, von
den repressiven Bedürfnissen, muß das Individuum befreit werden. Organisierte man
den Produktionsapparat im Hinblick auf die Befriedigung der notwendigen Bedürf-
nisse, würde das Individuum von den fremden Bedürfnissen und Möglichkeiten 2H
befreit. Diese Befreiung kann jedoch nur das Werk von Menschen sein, die bereits
selber neue Bedürfnisse haben 235 • Der Aufbau einer neuen Gesellschaft hängt in
erster Linie davon ab, inwieweit die vitalen Bcdürfnisso nach Abschaffung des eta-
blierten Systems der Knechtschaft sich durchsetzen 23 6 • Eine gesellschaftliche Umwäl-
zung ohne das Hervortreten solcher neuen Bedürfnisse und ihrer Befriedigung würde
zu einer abermaligen Verknechtung des Menschen führen. Der Sensitivität und Sen-
sibilität zu ihrem Recht zu ~erhellen, das ist für meine Begriffe ein Grundziel des
integren Sozialismus 23 7 • In Übereim1timmung mit den Sozialisten des 19. Jahrhun-
derts verwerfen Habermas und Marcuse eine bedürfnisfeindlich-asketilluhe LeLemi-
weise. Nach Ma.rcwie bed.eut.et dü'. RP.frP.i.mig 11on der Überftußgesellschaft keine Rück-
kehr zu gesunder und robuster Armut, moralischer Sauberkeit und Einfachheit. Im
Gegenteil, das Beseitigen profitabler Verschwendung würde den zur Verteilung verfüg-
baren gesell8chaftlichen Reichtum vermehren 23 8 • Jürgen Habermas plädiert für eine
Konsumaskese in hedonistischer Absicht. Askese bezieht sich ... auf den Pauperismus
im Überfluß, sie weist den Konsumzwang ab, der die Menschen anhält, sich im Dienste
einer verselbständigten Produktion einem Angebot zu fügen, für das sie sich die Bedürf-
nisse von e,ben demselben Angebot erst beibringen lassen 239.

188 HERBERT MABcusE, Der eindimensionale Mensch (Neuwied, Berlin 1967), 25.
181 Ebd., 27.
282 Ebd., 28.
283 Ebd., 25.

284 Ebd., 22.


186 Ders., Die Befreiung von der Überßußgesellschaft, Kursbuch 16 (1969), 188.
288 Ebd., 187.
287 Ebd., 193.

aas Ders., Der eindimensionale Mensch, 253.


188 HilERMAS, Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit iind Freizeit, in: Kon-
krete Vernunft, Fschr~ Erich Rothacker, hg. v. GERHARD FuNxE (Bonn 1958), 231.

4:87
Bedürfnis VI. Ausltlick

VI. Ausblick
Zu den Hauptproblemen sowohl der kapitalistischen als auch der sozialistischen
Wirtschaft gehört die Übereinstimmung von Produktion und Nachfrage. Den Plan-
experten der DDR zufolge soll die sozialistische Planung die optimale Befriedigung
der Bedürfnisse der Gesellschaft auf Grund des gegebenen Niveaus der gesellschaftlichen
Produktivkräfte gewährleisten (FRITZ BEHRENS 1961) 240• Dies geschehe durch eine
maximale Ausnützung der Produktivkräfte und die Ausrichtung der Produktion auf
die Bedürfnisse 241 • Ein besonderes Augenmerk richte die sozialistische Planung auf
die Befriedigung der Kollektivbedürfnisse, während in der kapitalistischen Markt-
wirtschaft der ganze Bereich der sozialen Bedürfnisse (PETER THAL 1966) 242 un-
berücksichtigt bleibe. Die kommunistische Produktionsplanung werde im Gegensatz
zur sozialistischen die V erte·il11,ng nach den Bedürfnissen und auf diese Weise die im
Sozialismus noch vorhandene konsumtive Ungleichheit beseitigen2 4a. Der Kapita-
lismus kennt keinen Zentralplan, der Produktion und Konsum zur Deckung zwingt.
Im kapitalistischen Wirtschaftssystem von heute ist es vornehmlich die Aufgabe
der Großbetriebe, die Kongruenz von Produktion und Konsum zu gewährleisten.
Ein Mittel dazu ist die geplante Obsule11:t.eil:t.; ui.e KummmgUter werden so konstru-
iert und produziert, daß sie vorzeitig verschlissen werden. Wichtiger als der geplante
Verschleiß ist jedoch die Werbung. Der Reklame kommt in der kapitalistischen
Wirtschaftsgesellschaft der Gegenwart vor allem die Aufgabe zu, neue Bedürfnisse
zu wecken, um so den Absatz der neuproduzierten Güter zu gewährleisten. Dabei
besteht dauernd die Gefahr, daß der Anstieg der Bedürfnisse Init dem Wachstum
der Produktion nicht Schritt halten kann. In dem Augenblick nämlich, in dem sich
die Konsumenten der Notwendigkeit enthoben fühlen, den Anpreisungen der Wer-
bung zu folgen, ist der ungestörte Ablauf des Wirtschaftsprozesses in Frage gestellt.
Nicht zuletzt dieser Gefahr wegen erhält die Konsumfreudigkeit einen bevorzugten
Platz im Tugendkatalog der Überßußgesellschaft. Derjenige, welcher dem stoisch-
zynischen Ideal der Bedürfnislosigkeit huldigt, sieht sich unter den obwaltenden
Umständen in die Rolle des Sozialschädlings versetzt. Solange sich die Konsum-
kapazität wegen der nur begrenzt verfügbaren Verbrauchszeit kaum entscheidend
steigern läßt, die Produktionskapazität auf Grund des technischen Fortschritts
jedoch laufend steigt, läßt sich ein Zeitpunkt errechnen, an dem es deshalb zur
Absatzstockung kommt. Spätestens dann kann man folgern, daß die Produktion
gedrosselt, der Leistungsdruck sowohl im Fabrikations- als auch im Konsumsektor
vermindert werden muß. Auch um einem kontinuierlich steigenden Raubbau an der
Natur Einhalt zu gebieten, kann eine Drosselung der Produktion geboten sein.
Sowohl im kapitalistischen als auch im sozialistischen Wirtschaftssystem verseuchen
die modernen Produktionsa.nlagen, Verkehrseinrichtungen und viele Konsumgüter

840 FRrrz BEHRENS, Ware, Wert und Wertgesetz (Berlin 1961), 124.
241 Ebd.
242 PETER THAL, ldeengeschichtliche und theoretische Aspekte des Gegensatzes zwischen

ökonomischem Liberalismus und sozialistischer Planwirtschaft, Wirtschaftswissenschaft 14


(1966), 1594.
2 4 a Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung
(Berlin 1969), 959.

488
Betlürfnis

mit ihren Abfallstoffen die Umwelt. Die dauernde Steigerung der Bedürfnisse
erzeugt damit ein neues Bedürfnis: nach einem effizienten Umweltschutz.
Am hohen Bedürfnisniveau der entwickelten Industriegesellschaft orientieren sich
auch die wachsenden Ansprüche der Menschen in den Entwicklungsländern. Wäh-
rend in der Dritten Welt die „Revolution der steigenden Erwartungen" sehr oft
sowohl Ausdruck als auch Ursache eines „antiimperialistischen" Bewußtseins ist,
scheint in den entwickelten Industriestaaten des Westens die Demokratisierung
der Konsumgewohnheiten die sozialen Spannungen zu dämpfen. Die Einebnung
der gesellschaftlichen Unterschiede in der Konsumsphäre relativiert die Klassen-
differenzen iin Produktionssektor. Revolutionäre Ideen büßen insofern ihre Sug-
gestivkraft bei der Arbeiterschaft ein. Wie Georg Büchner 1835 an seinen Freund
Gutzkow schrieb, als er das Verhältnis einer natürlichen Bedürfnisbefriedigung zur
'Revolution' apostrophierte: Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die
ApCYpkx·ie. E·in Iluhn im Topfe jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden.

Literatur

JOHANN BAPTIST MÜLLER, Bedürfnis und Gesellschaft. Bedürfnis als Grundkategorie im


Lil.Jtiralismus, Kon.serva.ti11mus und Sozio,liomue (Stuttgart 1971).

JOHANN BAPTIST MÜLLER

489
Beruf

I. Einleitung. II. 1. Christlich-vorreformatorische Grundlagen. 2. Die Reformation, be-


sonders Luther, als Wende? 3. 'Beruf' im christlichen Fürstenstaat (16.-18. Jahrhundert).
4. Ablösung von 'Beruf' durch 'Berufung'. 5. 'Berufsstand' in Staat und Gesellschaft des
Industriesystems. III. Ausblick.

1. Einleitung
'Beruf' wird heute definiert als der Kreis von Tätigkeiten mit zugehörigen Pflichten
und Rechten, den der Mensch im Rahmen der Sozialordnung als dauernde Aufgabe
ausfüllt und der ihm zumeist zum Erwerb des Lebensunterhaltes dient1 • Der Begriff
wird in diesem Sinne wertfrei, funktional verstanden. Doch wohnt ihm tatsächlich
eine Wertung meist schon deswegen inne, weil es sich um eine dauernde Aufgabe
handelt, die nach verschiedenen Kriterien (Grad der Erlernung und Berechtigung,
Höhe der Vergütung, üblicherweise zuerkanntes Ansehen) gemessen zu werden
pflegt. 'Br.r11f' nntR.rRr.h11irl11t. Rir.h von r.ufälliger, wech.~elnder Erwerb11arbeit1 vom
'Job' 2 , aber auch von Lieblingsbeschäftigungen, die in die meist von der Berufs-
oder Arbeitszeit unterschiedene „]j'reizeit" (ehemals 'Feierabend') fallen. Läßt sich
also aus dem Verhältnis des Menschen zur modernen Arbeitswelt die Wertbezogen-
heit des Begriffs 'Beruf' (weit hinaus über eine bloße Funktion im arbeitsteiligen
Produktionszusammenhang) ableite_n, so drängt sich das Bedürfnis einer historischen
Interpretation des Berufslebens auf. Das Wort 'Beruf' ist im Deutschen seit der
Reformationszeit (Luther 1522) allgemein in Gebrauch gekommen, wobei andere
Bildungen des Wortfeldes wie 'Ruf', 'Berufung', 'Rufung' in ihrer Bedeutung für
die Geschichte des modernen Berufäbegri:ffs zurücktraten. Wenn auch das Wort
'Beruf' bereits im Mittelhochdeutschen bekannt war, so doch anfänglich nur in der
Bedeutung von „Ruf", „Leumund". Die Beziehung zu 'vocatio', „innerer Ruf"
sowie zu 'Stand' und 'Arbeit' wurde schon im späten Mittelalter hergestellt und
durch Luther vollendet, so daß durch diesen und seine Zeit das Wort den spezi-
fischen Begriff zu bezeichnen begann bzw. dieser der zunehmenden Festlegung auf
das Wort bedurfte 3 •
Mit der im Wort deutlich gemachten christlichen Prägung jeglicher Tätigkeit in
der Gesellschaft war die begriffliche Richtung im sozialethischen Sinne gewiesen,
wi~ sie dem deutschen Wort 'Beruf' durch alle Wandlungen und Brechungen

1 BROCKHAUS, Enz., Bd. 2 (1967), 597.


2 Vgl. WALTER MlllURlllnB, Job, in: Schlüsselwörter, Bd. 2/1 (1964), 317 ff.
3 Die Wortgeschichte des Substantivs 'beruf' vor Luther ist noch nicht au8reichend belegt;

darüber haben die bisherigen Untersuchungen hinweggetäuscht, weil sie bei Texten aus
vorreformatorischer Zeit allein auf den Begriff sahen, seine Differenzierung in die Wörter
'rufung', 'ruf', 'berufung' und 'beruf' jedoch zu wenig beachteten. Die übliche deutsche
Bezeichnung für vocatio war vor Luther 'ruf', das zu Luthers Zeit schon allgemein den
Sinn von „Stand" besaß. - MAx WEBER, Die protestanti.Sche Ethik und der Geist des
Kapitalismus (1904/05), Ges. Aufs. z. Religionssoziologie, Bd. 1, 4. Aufl. (Tübingen 1947),
63 ff. ; KARL HoLL, Die Geschichte des Wortes Beruf, Ges. Aufs. z. Kirchengesch., Bd. 3
(Tübingen 1928), 203 ff.

490
II. 1. Chrütlich·vorreformatorische Grundlagen Bernf

hindurch z. T. noch bis zur Gegenwart eigentümlich geblieben ist. Max Weber hat
darauf hingewiesen, daß in den romanischen Sprachen (Katholizismus!) 'vocatio'
nicht zur Bezeichnung des weltlichen Berufs im deutschen Sinne geworden ist'.
Offenbar haben die Bibelüber11etzungen im protestantischen Bereich aus „dem Geist
der Übersetzer, nicht aus dem Geist des Originals 5" die Äquivokation in die zu-
gehörigen Sprachen eingeführt (so z. B. engl. calling, schwed. kallelse, niederlän-
disch beroep, tschech. povolani, poln. powol:anie, lett. piedäväjums, lit. paiaukimas,
estn. kutse, finn. kutsumus).

II.

1. Christlfoh-vorreformatorische Grundlagen

'Berufung' auf je individuell aufgegebene oder gewählte Lebensarbeit zu übertra-


gen, war im Neuen Testament noch nicht üblich, ist aber durch den im Neuen Testa-
ment angelegten christlichen Begriff -+ 'Arbeit' für eine spätere Zeit ermöglicht
worden.
Die 'Berufung' ('>'Äija~) betraf im Neuen Testament jeden Uhristen, insofern er
gläubiges Mitglied der Gemeinde war, uilabhö.ngig von seinem sozialen Rtand oder
Erwerb. Lediglich 1. Kor. 7, 20 ff. (Ein jeglicher bleibe in dem - der '>'Äijat~ - ,
darin er berufen ist. Bist du als Sklave berufen, sorge dich nicht; doch kannst du frei
werden, so ergreife es viel lieber. Denn wer als Sklave berufen ist in dem Herrn, der ist
ein Freigelassener des Herrn; desgleichen, wer als Freier berufen ist, der ist ein Knecht
Christi) scheint bereits auf '>'Äijat~ als Stand und Arbeitsgegebenheit hinzuweisen&.
Aber da dies Verständnis nicht zwingend ist und völlig vereinzelt sein würde, ändert
auch diese Stelle nichts an dem allgemeinen Befund der Grundlage unseres Pro-
blems im Neuen Testament: 1) Im Christenstand ist der Unterschied zwischen
Freiem und Sklaven aufgehoben; 2) jede Arbeit ist geachtet, ist ein Dienst am Näch-
sten und - verbunden mit Gebet - am Herrn; 3) gleichwohl ist Arbeit oder Tätig-
keit jeglicher Art als solche noch nicht 'Berufung'; 4) diese ist vielmehr ein Anruf
Gottes an Auserwählte (Propheten, Apostel, gläubige Glieder christlicher Gemein-

' WEBER, Protestantische Ethik, 63 ff. - Die wortgeschichtliche Scheidung der Bedeu-
tungen „Beruf" und „Berufung" findet sich z. B. auch im Englischen und Französischen
(profession/vocation), Russischen (professija/prizvanie ,= Lehnübersetzung von nhd.
Beruf), Lettischen (profesija, amats, specialitite/piedivijums), Litauischen (profesija,
uiieminas/paiauklmas, pavadlnimas). Dabei ist im Litauischen eine deutliche konfessionelle
Trennung festzustellen: Kalvinisten und Katholiken gebrauchen für vocatio im Sinne von
1. Kor. 7,20 paiauklmas, in dem die· Bedeutung des Auf- und Anrufens steckt, Lutheraner
pavadlnimas, das mit pavadlnti "(be)nennen, mit Namen nennen, bezeichnen" zusammen-
hingt: vgl. MAX NIEDERMANN /ALFRED SENN/ ANTON SAYLS, Wörterbuch der litauischen
Schriftsprache, Litauisch-Deutsch, Bd. 2 (Heidelberg 1933/1951), 623 f. 684; Litauisches
Etymologisches Wörterbuch, hg. v. ERNST FRA.ENKEL, Bd. 2 (Heidelberg, Göttingen 1965),
968.
5 WEBER, Protestantische Ethik, 65.
1 Holl neigt zu dieser Interpretation: er ist dabei offenbar einer naheliegenden Suggestion

verfallen, wie schon mittelalterliche Exegeten vor Luther; vgl. KrrrEL Bd. 3 (1938),
492 f., s. v. 'HÄijai~.

491
Beruf II. 1. Christlieh voneformatori1mhe Gnmdlageo
0

den) zu geistlichem Tun, das über das Arbeitsleben hinausweist. Dem entsprach es,
daß im Maße wie die Christianisierung fortschritt, und die Christen nicht mehr
(auserwählte) Minderheit in heidnischer Umgebung waren, die persönliche Berufung
oder Erwählung sich auf den innersten, gottnächsten Kern der Christenheit, auf die
Religiosen, konzentrierte. 'Vocatio' galt im Mittelalter primär für das Mönchtum,
das den Stand der Vollkommenheit durch die Erfüllung der evangelischen Räte
(consilia) des Gehorsams, der Keuschheit und der Armut besaß, während die
übrigen Christen nur die Gebote (praecepta) zu befolgen gehalten waren. Daß erst,
nachdem der Religiosenstand durch Luther ausgeschieden und der Priesterstand
im „allgemeinen Priestertum" aufgegangen war, vocatio und of.ficium zu 'Beruf'
verschmelzen konnten, ist von protestantischer Seite behauptet?, von katholischer
Seite dagegen bestritten worden 8 • Sicherlich ist es im Mittelalter nicht üblich
gewesen, den '.Beruf' im heutigen Sinne mit vocatio oder deren deutschen Ent-
sprechungen zu bezeichnen oder den theologisohen Begriff der vocatio explizit
mit den weltlichen Tätigkeiten zu verbinden. Allerdings ist offenbar 1. Kor. 7,
20 spätestens vom Hochmittelalter an schon in dieser Richtung gedeutet worden.
Dafür wurden Belege beigebracht, so im Kommentar des HL. BRUNO (t 1101) zum
1. Korintherbrief, wo status als vocatio begriffen wird, oder bei HERVAEUS VON
BoUBODIEN (t 1150), der von vocationu vitae im Anschluß au l. Kur. 7, 20 spricht0 •
Doch selbst diese bemerkenswerte pluralische Verwendung sollte nicht allzu modern
vernommen werden. Wohl war jeder in seinem Stande (Freiheit oder Knechtschaft,
Mann oder Frau, Ehebindung oder Ledigsein, beschnitten oder unbeschnitten)
zum Christen berufen. Aber die Vielfalt der Tätigkeiten in der arbeitsteiligen Ge-
sellschaft des Mittelalters wurde weder als 'Stand' bezeichnet, noch jeweils als
vocatio begriffen. Allerdings sind auch die dafür verwendeten Bezeichnungen
außer 'conditio' nicht wertneutral, sondern ethisch und angesichts der monastischen
Analogien auch religiös verstanden worden: so 'ordo', 'professio', 'ministerium' und
besonders 'offi.cium'. Die arbeitsteilige Gesellschaft wurde als gottgewollte und zu-
gleich naturgegebene distributio officiorum10 gesehen. Für diese galten die Grund-
sätze der christlich begriffenen Ehre der Arbeit ohne Ansehen des Standes und der
Person sowie der Ablehnung des Gewinnstrebens um seiner selbst willen. Damit
waren wesentliche Elemente des späteren (seit Max Webers „Protestantische
Ethik" zu einseitig als reformatorisch bezeichneten) Berufsbegriffs schon hoch-
mittelalterlich, d. h. seit der vollen Ausbildung der Stadt, beisammen. Die (refor-
matorisch-lutherische) Lehre vom Beruf steht also wesentlich in der christlich-
scholastischen Tradition. Wenn sie gleichwohl in der Radikalität der Auffassung

7 So Mo.x Weber und Karl Holl; außerdem KAm. EGER, Die Anschauungen Luthers vom

Beruf (Gießen 1900).


8 NIKOLA us PAULUS, Die Wertung der weltlichen Berufe im Mittelalter, Rist. Jb. 32 (1911 ),

725 ff.; ders., Zur Geschichte des Wortes Beruf, ebd. 45 (1925), 308 ff.; ders., Der Berufs-
gedanke bei Thomas von Aquino, Zs. f. k.a.th. Theol. 50 (1926), 445 ff.; ÜTTO SCHILLING,
Die Staats- und Soziallehre des Heiligen Thomas von Aquin, 2. Aufl.. (München 1930),
bes. 245 ff.; AUGUST ADAM, Arbeit und Besitz nach Ratherus von Verona (Freiburg 1927),
bes. 75 ff.
9 Zit. PAULUS, Geschichte, 309 f.
10 THOMAS VON AQUIN, Summa contra. gentiles 3, 134 (1259/64), Opera, t. 14 (1926), 405.

492
D. 2. Die Reformation, hesonders Luther, als Wende? Beruf

über diese hinausgeht, so hatte sich eine solche Tendenz bereits vor Luther ver-
breitet. Dieser ist also für die Begründung eines über die Scholastik hinausgehenden
Berufsbegriffs weniger der Initiator als der Vollender gewesen.

2. Die Reformation, besonders Luther, als Wende?

Im ausgehenden Mittelalter wirkte vieles darauf hin, daß der differenzierten,


qualifizierten Arbeit bej regional wachsender, z. T. „frühkapitalistischer" Wirt-
schaft und steigendem Sicherheitsbedürfnis (Durchsetzung des Fürstenstaates)
erhöhte Beachtung geschenkt wurde. Demgemäß nahm offenbar die kritische Ab-
wehr gegen die "Überzahl der Geistlichen, vor allem der Ordensangehörigen, zu.
7.nglr,ich zeigte die Vielfalt der sozialen, religiösen, schwärmerischen Bewegungen
eine Krisis des Verhältnisses von Kirche und Welt an, in der nicht nur extreme
Weisen der Weltabkehr, sondern auch der christlich begrünclflten Zuwendung zur
Welt möglich wurden. TAULER vor allem hat den „Ruf" für Amt und Arbeit her-
vorgehoben: Wir gemeinen cristene menschen wir suUen vil eben war nemen was
um„~l'.r amhacht 8ulk sin dar z~ uns der herre gerÜ;f/et und geladen hat ... 11 TAULER
hielt aber noch daran fest, daß der „Ruf" an die Religiosen über die consilia
evangelica vil hoher und anders sei als der Ruf über tlie GeLuLe (praecepta) an dio
Mehrzahl der Mensche.n in d1m weltlichen Ständen. Diese Höherwertung der
monastischen vocatio gegenüber dem „Ruf" des Menschen im weltlichen Amt wurde
erst durch Luther und die Reformatoren fallengelassen. Das war die entscheidende
Bedingung für die neue Wertung und vor allem die starke Betonung des im Kern
durchaus Lraditionellen Berufsbegriffs bei Luther.
LUTHER brachte seit 1522 in solchem Sinn zuerst das Wort 'Beruf' zur Geltung12 •
Besonders w.irksam wurden seine Übersetzungen von 1. Kor. 7, 20: Ein jeglicher
b'leibe in dem Beruf, darinnen er berufen ist, und Jesus S.irach 11, 21 f.: Bleibe
in Gottes Wort und übe dich drinnen, und beharre in deinem Beruf, . . . Vertraue du
Gott und bleibe in deinem Beruf. Diese Sirach-"Übersetzung (1534) ist besonders auf-
schlußreich, weil Luther aus dem ihm allein vorliegenden Text der LXX die
griechischen Wörter für „Arbeit" - einmal leyov, sodann mSvo~ - mit 'Beruf'
übersetzt. Anders als bei l. Kor. 7, 20 fehlt hier ieÄij<1t~ als Entsprechung. Gehen
w.ir vom Wort 'Beruf' (daneben von 'Ruf' und 'Berufung') und dem Verbum
'berufen' (dies schon 1519/21) aus, so ist festzustellen, daß Luther im Anschluß
an die scholastische Tradition vocatio spiritualis und vocatio externa unterschied.

11Die Predigten Taulcrs, hg. v. FERDINAND VETTEB. (Berlin 1910). 177.


12Zum Folgenden GusTAF WINGREN, Luthers lära om kallelsen (Lund 1942), dt. u. d. T.:
Luthers Lehre vom Beruf (München 1952), mit Bibliographie. Vgl. auch FRIEDRIOII
GoGAETEN, Die Verkündigung Jesu Christi (Heidelberg 1948), 386 ff. - Neuerdings führt
über Wingren hinaus: HELMUT GATZEN, Beruf bei Martin Luther und in der industriellen
Gesell8chaft (theol. Dias. Münster 1964). Dort kritisches Referat über die ältere Literatur
von Eger bis Wingren. - Das Wort 'benmf' hatte nach Auskunft der Lexika im Mhd.
nur die Bedeutung „Leumund", während für das Verbum 'beruofen', 'berüefen' ein sehr
viel breiteres Bedeutungsfeld belegt ist; BENEOK.l!l / MüLLEll. / ZARNCKE Bd. 2/1 (1863;
Ndr. 1963), 805; LEXER Bd. 3 (1878), 66, Nachtrag. - ieÄij<!t~ in 1. Kor. 7,20 übersetzt
Luther in der Septemberbibel (1522) noch mit „ruff", in der KirchenJ,>Ostille desselben
Jahres mit „beruff"; LUTH'.ER, WA Dt. Bibel, Bd. 7 (1931), 104; WA Bd. 10/l (1910), 310.

493
Beruf D. 2. Die Reformation, lle.ond.en Luther, als Wende?

Jene wurde aber nicht mehr auf den Religiosenstand, sondern auf das allgemeine
Priestertum der Christen im Rückgriff auf Paulus bezogen. Nos habemus duplicem
beruQ, spiritua"lem et externam. Spiritualis est, quod omnes sumus per Evangelium
vocati ad baptismum et Ohristianam fidem . . . Ea vocatio est communis et similis ...
Altera vocatio, e~rna scilicet, macht ein unterscheid, Est yrdisch, quamquam etiam
divina (1531)13• Beide, sowohl der geistliche (immediata vocatio) wie der weltliche
{mediata vocatio) Stand oder Beruf des Christenmellilchen, bezeichnen bei Luther
nicht eine Stellung oder Tätigkeit im modernen Sprachsinn, unabhängig von der
Person, sondern sie sind stets persongebunden14• Gott (be)ruft als causa efficiens
den Menschen zum Dienst ohne Werkgerechtigkeit auf das Ziel, die causa finalis,
der Rechtfertigung allein aus dem Glauben hin. Beide vocationes sind zwar unter-
scheidbar, aber im Leben nicht zu trennen. So spricht Luther, beide überwölbend,
von einer generalis vocatio, die darin bestehe, credere in Christum, et baptizari in
nomine eius. lloc qu·i facit, postea, si mater, si pater, si'princeps est, studiose faciat
partes suas, et sie salvabitur15• Die später auseinanderfallenden Bezeichnungen
'Beruf' und 'Berufung' sind also bei Luther noch ungeschieden begriffen. Das ist
imAup;e zu behalten, wenn im Folgenden 11m nAr Rpii.tAren Begriffiientwioklung willen
das Schwergewicht der Deutung auf die vocatio externa gelegt wird.
LuLher iibernahm die Lehre von der distributio officiorum und stellte Stand und
Beruf (vor allem ordo, dann auch status, officium, vocatio) traditionell in die
Gesellschaft, konkret aktualisiert in den Fürstenstaat und die Stadtgemeinden
seiner Zeit. Das irdische und damit das politische Dasein des Menschen stand für
Luther unter dem „Gesetz", in deri. „heiligen", weil von Gott „gestifteten Ord-
nungen". In die häuslichen (Oeconomie) und öffentlichen (Politie, Polizei) Stellen
dieses geordneten Gefüges werden die Menschen als „Larve Gottes"16 berufen.
Durch deren „cooperatio" wirkt Gott fortgesetzt an seiner Schöpfung. Die Menschen
sind in all ihrer Tätigkeit nie bewirkende Ursache, sondern nur Diener und Mit-
arbeiter Gottes oder das Instrument, mit dem Gott dies tut1 7. So fehlt dem Beruf des
Menschen jede Eigenmächtigkeit. Gelingen fließt für den Gläubigen nur aus Gnade,
und die Arbeit im Beruf geschieht auf Befehl Gottes. Berufsarbeit ist also. gehor-
same Ausführung des göttlichen Willens. Nicht Ansehen und (kwinn, sondern
Erfüllung des Befehls und Treue im Wirken sind daher die Maßstäbe, die allein
an den Beruf angelegt werden dürfen. Es ist Gott nit umb die Werk zu tun, sondern
umb den Gehorsam . . . Daher kommts, Dass ein /rum Magd, so sie in ihrem Befehl
hingeht und nach ihrem Amt den Hof kehret oder Mist austrägt, oder ein Knecht in
g"leicher Meinung pflügt und /ähret, stracks zu gen Himmel geht, auf der richtigen
Strass, diewe1:Z einander, der zu St. Jacob oder zur Kirchen geht" sein Amt ·und Werk
liegen läßt, stracks zu zur Hel"len geht.

13 LUTHER, WA Bd. 34/2 (1908), 300; ebd., 306.


14 Dazu paßt, daß Luther auffallend selten den (auch vor ihm schon möglichen) Plural
verwendet. GATZEN stellt fest, daß Luther in 225 untersuchten vooatio-Stollen den Singular
400 mal, den Plural nur 11 mal gebraucht; GATZEN, Beruf bei Luther, 42.
u LUTHER, WA Ild. 42 (1911), 641.
le Ebd., Bd. 31/l (1913), 436.
17 Ders., Vorlesung über die Stufenpsalmen, Psalm 127, WA Bd. 40/3 (1930), 202 ff.,

bes. 210 (Übersetzung).

494
D. 2. Die Reformation, besonders Luther, als Wende? Beruf

Daromb müssen wir die Augen zutun, nit die Werk ansehen, ob sie gross, klein,
ehrlich, verachtlich, geistlich, leiblich oder was sie auch für ein Ansehen und Namen
auf Erden haben mügen, sondern auf den Befehl und Gehorsam, der drinnen ist;
geht derselb, so ist das Werk auch recht und köstlich, ganz göttlich, obs so geringe wäre,
als ein Strohhalm aufheben. Geht aber der Gehorsam und Befehl nit, so ist das Werk
auch nit recht und verdammlich, gewisslich des Teufels eigen, obs gleich so gross wäre
als Toten aufwecken ... 1s.
'Beruf' ist bei Luther aber nicht nur Befehl, d. h. auferlegter Zwang, sondern frei
und freudig ergriffener Dienst am Nächsten. Der arbeitsteilige Zusammenha~ der
Gesellschaft erfordert, wie schon von der Scholastik gelehrt, das gegenseitige Geben
und Nehmen. Entscheidend aber ist, daß es aus Liebe geschieht. Si Ohristiani et
habetis varia dona, videte et agnoscite vobis ea data et servite invicem19 • So steht der
Beruf in der christlichen, hier spezifisch lutherischen, Dialektik der „Freiheit
eines Christenmenschen", der Knecht (Gottes) und Freier (gegenüber der Welt)
zugleich ist. Aus solcher lfreiheit folgen Jl'reude in der Berufsarbeit (ex anirtUJ et
cum gaudio in.vocatione sua)2° und Mißachtung der teuflischen Versuchung, den
Beruf eigensüchtig (ohne Dienst am Nächsten) und gottlos eigenwillig auszuüben -
so wie· Luther es z. B. in der Auslegung des 101. Psalms (1534/35) beschreibt:
Füniil:ln uml R11.Lsher1·.11 r11.Lschlage.11 und reKiere.11, uhne :.c.u ueLe.11 und gen Himmel
zu rufen, gerade als solte der gute man (der unser Herr Gott heisst) müssig sitzen und
nicht dabeysein 21 • .

Luthers Berufsbegriff stand ini Ze1chen einer umfassenden Aufwertung der vita
activa in der „Welt", allerdings unter der Bedingung, daß diese Welttätigkeit in
göttlicher Schöpfung11- nnrl F.rhaltung11ordmmg verchristlicht, rl. h. von gläubigen;
zur dienenden Liebe bereiten Christen getragen werden sollte. Wohl war dies eine
Forderung, die von den sündigen Menschen, die Gott „müßig sitzen" ließen, nicht er-
füllt wurde. Aber der Anruf Gottes sollte sie erreichen; und die staatlichen, städti-
schen und adligen Obrigkeiten samt ihren Untertanen sollten sich bei gegenseitiger
Durchdringung von Kirche und Staat den „Beruf" zum allgemeinverpfiichtenden,
ethischen Prinzip ihrer statisch verstandenen Ordnung machen. Fleiß war ein
Attribut von Luthers Berufsbegriff; aus Fleiß folgte Leistung. Doch war die Arbeit
ini Beruf nicht auf Leistungssteigerung oder gar auf Veränderung, sondern auf
dienende Pflichterfüllung im Gegebenen ausgerichtet. Soziale Mobilität („über-
steigen", „überpochen") war ausdrücklich nicht ein Ziel des Berufs: Bleib in deinem
Stande und sei Z'U/rieden, d•u sitzest oben oder ·unten an ·und hüte dich für dem Über-
steigen, daß du nicht denkest: Weil ich ein Fürst, Edel, Gelehrt, Gewaltig bin, so muß
man mich allein ansehen und hochheben, sondern also sagest: Behüte mich, himmlischer
Vater, für der HoUart. Denn ich weiß, daß der geringste Ackerknechl kann für dir
besser sein denn ich .etc. 22 • Max Weber bemerkte demgemäß, daß die lutherische
Berufszufriedenheit im Ergebnis durchaus der Tradition entsprochen habe und
daß Luthers Berufsbegriff nicht unmittelbar auf die gesuchte Beziehung von

18 Ders„ WA Bd. 10/1 (1910), 310. Zu „Gottes Befehl" s. WINGREN, Luthers Lehre, 128 ff.
19 LUTHER, WA Bd. 41 (1910), 400.
20 Ebd„ Bd. 40/1 (1911), 51.
21 Ders„ Auslegung des 101. Psalms (1534/35), W A Bd. 51 (1914), 202.
21 Ders., WA Bd. 49 (1913), 609.

495
Beruf II. 3. •Beruf' im ebriatlichen Fürstenstaat

„protestantischer Ethik" und „Geist des Kapitalismus" hinführte2s. Dies Urteil


kann durch den Hinweis verstärkt werden, daß ehr- oder gewinnsüchtig erstrebter
Berufswechsel dem Berufsbegriff Luthers widerspricht. Ein Übergang von einer
Dauertätigkeit oder ständischen Einstufung zu einer andern wurde von Luther
zwar als möglich, sogar als erwünscht im Sinne des Gemeinwohls angesehen, das
der Begabungen am rechten Ort und damit in begrenzter Weise auch des sozialen
Aufstiegs bedurfte; mit der Berufsforderung aber konnte das nur dann vereinbar
sein, werin „gerufen" und nicht egoistisch „überpocht" wurde 24.
CALVINS vocatio-Begriff unterschied sich als solcher nicht von dem Luthers24a. Nur
bot die französische Übersetzung vocation nicht die Möglichkeit der wort- und be-
griffsgeschichtlichen Scheidung wie 'Berufung'/'Beruf' im Deutschen. Vor allem
aber fügte Calvin die vocatio in strenger Konsequenz seiner Prädestinationslehre
(electio, vocatio) ein. Daraus konnten im späteren Kalvinismus Westeuropas und
Nordamerikas unter herausfordernden politisch-ökonomischen Bedingungen Fol-
gerungen praktischer Arbeitsiii.tensivierung gezogen werden. Aus dem Verlangen
nach Erwählungsgewißheit folgte der Blick auf Erwählungszeichen im Berufserfolg.
Von hier aus führte im Zuge der Säkularisierung der Weg zur „innerweltlichen
Askese" und damit zum „kapitalistischen Geist" im Sinne Max Webers. Dies aber
war für das deutsche Leben des 16.-18. Jahrhunderts noch atypisch.

3. 'Beruf' im christlichen Fürstenstaat (16.-18. Jahrhundert)


Hier hat vielmehr Luthers Berufslehre das Kernstück der politischen Ethik in
der patriarchalischen Welt der evangelischen Fürstenstaaten gebildet, und im
praktischen Leben waren aus der katholischen Moraltheologie, abgesehen von der
vocatio der Mönche und Nonnen, ähnliche Konsequenzen zu ziehen. MELANCHTHON
übernahm das Wort in die „Confessio Augustana", im Zusammenhang der „bür-
gerlichen Gesellschaft" (De rebus civilibus, im deutschen Text Von de'f Polizei und
weltlichem Regiment): Das Evangelium non dissipat politiam aut oeconomiam, sed
maxime postulat conservare tamquam ordinationes Dei et in talibus ordinationibus
exercere caritatem. Es lehrt nicht ein äußerlich, zeitlich, sondern innMlich, ewig Wesen
und Gerechtigkeit des Herzen und stoßet nicht um weltlich Regiment, Polizei und Ehe-
stand, sondern Will, daß man solchs alles halte als wahrhaftige Gottesordnung, und in
solchen Ständen christliche Liebe und rechte gute Werk, ein jeder nach seinem Beruf,
beweise 25• Melanchthon bevorzugte die Bezeichnung ortlinationu im Sinne der
politischen Ordnung, die er systematisch aristotelisch begriff 28• 'Beruf' wurde daher

23 WEBER, Protestantische Ethik, 77.


2' Luther dachte sozial gänzlich rücksichtslos. Vgl. seine Appelle zu „chri.l!tlichen Schulen"
mit Bildungsmöglichkeit für „gemeiner Leute Kinder". Hierzu zahlreiche Belege bei
WERNER ELERT, Morphologie des Luthertunis, Bd. 2 (1932; verb. Ndr. München 1958), 70 ff.
Ha Reichhaltige Belegsammlung bei Rol..I' Tlllli:ME, Die sprachliche Ausprägung der Ca.1-
vinischen Berufskonzeption. Eine linguistische Untersuchung zur ReligionBBOziologie
(phil. Diss. Marburg 1950), [Mschr.].
2 5 MELANOBTHON, Confessio August&n& (1530 ff.), Art. 16; vgl. a.uch Art. 27 über die
Klostergelübde.
2 s Im gleichen Sinne wie Art. 16 der Confessio Augustana. s. MELANOHTHON, Loci theologici

(1521), CR Bd. 21 (1854), 542 ff.: De magistratibus civilibus et d.ignitate rerum politicarum.

496
.U. 3. 'Beruf' Im ebrlstllehen FfirsleD11laal Beruf

bei ihm ohne Abweichen von der theologischen Grundlegung Luthers betont poli-
tisch gewertet. Er handelte darüber besonders in der Erklärung des 4. Gebots
(Dekalog) als des „Gebots des Gehorsams". Dort wurde das Dienen im Beruf ein-
bezogen in das durchgehende patriarchalische Herrschaftssystem des. Fürsten-
staates: Gott macht Ordnung zwischen regierenden Personen und Untertanen. In
dieser Ordnung solle gelten, daß ein jeder in seinem Beruf treulich diene, und greife
nicht in fremden Beruf, mache nicht den andern Verhinderung und Zerrüttung der
Ordnung. Dergleichen daß die Kinder, Schukr, Untertanen, hohe oder niedrige Per-
son, in rechter Gottes und des He'l"l'n Ohristi Erkenntnis, Gottes Forcht und Glauben,
ihre Vater und Mutter, Schulmeister, ehrliche Regiment, Gesetze und Gericht, und die
Personen, die ziemlich regieren, lieben, ehren, im Herzen gross achten, als durch
göttliche Weisheit also geO'l'dnet, ihnen auch in äusserlichen befohkn Werken gehorsam
sind, ein jeder in seiner Ordnung, nach seinem Beruf und Stande . ... ltem dass ein
jeder seinen Beruf und sein Amt verstehe und darinne treulich diene, und nicht in
fremde Beruf greife, damit Spaltungen, Ufruhr, Hass, Todschl<J,ge und ZerstlJ'l'ungen
angericht werden27.
Die hier verwendeten Verbindungen „Beruf und Stand" sowie „Beruf und Amt"
kehrten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert immer wieder. Mochten sie schließlich
. topologisch oder gar tautologisch 28 gebraucht worden sein, so lag doch in diesen
Wendungen anfangs ein voller Sinn. -'Stand' (ordo) und 'Amt' (officium) waren
klare Begriffe der Oeconomie und der Politie. 'Beruf' dagegen war ein primär
theologischer Begriff und bedeutete bis ins 18. Jahrhundert hinein die persönliche
Aufgabe der durch den göttlichen Rufer berufenen Christen in seinem Stand und
in seinem Amt, auch wenn Beruf in Bezug auf ein bestimmtes Amt oder eine
spezifisch definierte Arbeit 29 bereits in die Richtung der modernen Bedeutung de1:1
Wortes weisen lrnnnt.fl, wi11 Ri11 um 1700 durch die neue Wortverbindung 'Berufs-
arbeit' angedeutet wurde 30• Blieb 'Beruf' als Qualifikation des Christen und als
christlich begründetes moralisches ..Postulat eine den Untertanengehorsam be-
wirkende,, erzieherische Stütze der deutschen Staaten bis zum 18.•Tahrhundert,
so wanderte sich auch der Berufsbegriff bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts nicht
grundlegend in seiner Bedeutung31 • Daß der Stellenwert von 'Beruf' vor und nach
1700 bei Kameralisten einerseits, orthodoxen Theologen oder Pietisten andererseits
unterschiedlich war, ist einsichtig. Dabei ist die vitale Glaubensgewißheit Luthers,
besonders nach dem Dreißigjährigen Krieg, allmählich verblaßt und der Berufsbe-

17 Ebd„ 220 :ff. - Die lutherischen Dogmatiker behandelten seitdem die Berufslehre
11p11:r.i111l h11im 4. Gebot.
28 Im dt.-franz.-ital. Wb. von RÄDLEIN Bd. 1 (1711), 31 wird 'Beruf' - abgesehen von der

alten Bedeutung „Ltiuwuml" -11uwuhl alt! BeruU / 1n. be/ärdemng z·u tiatm Amt/ vocazione,
appellazicme; vocaticm, apel wie als beruff / Amt / ufficio, cdrica; office, charge begriffen.
29 Vgl. z. B.: Hanthierung und Gewerb ao ein je.der aeinem Beruff nach treibet; in: Das Beh-

mische Rechtt, wie dasselbe in des Königreichs Beheim Neüen Stadt Prag in üblichem
Brauch gehalten wirdt, ... verteutscht (Leipzig 1607), 2. Vorrede o. S.
30 PmL. JAKOB SPENER, Theologische Bedenken und andere briefliche Antworten auf
geistliche Materien, Bd. 2 (Halle 1713), Kap. 3, Art. 3, Sect. 1.
31 Hinweise zur Theologiegeschichte (J. Gerhard, Osiander, Hollaz) vermittelt GATZEN,
Beruf bei Luther, 99 :ff. - LANGEN (1954), 31 stellt zwar den Gebrauch, aber (wohl zu
oberflächlich) keine „neue Bedeutungsnuance" fest.

32-90385/t 497
Beruf TI. 3. 'Bemr im ehriatJichen Füretenstaat

griff zeitgemäß neuen Verhaltensweisen und Auffassungen angepaßt worden. ZED-


LERS Lexikon spiegelt diesen Einfügungsvorgang im Schnittpunkt zwischen rückläu-
figer Orthodoxie und vorsichtig ansteigendem, pietistisch überdecktem Utilitarismus
wider. Es .ist bezeichnend, daß sich bei ZEDLER drei Artikel - „Beruf" (1733),
„Vocation, Göttliche Vocation" (1746) finden, die an der theologischen Durch-
dringung des Begriffskreises nur noch mühsam und unzulänglich festhielten, dabei
aher die Verklammerung mit 'Profession' noch mieden 32 • Im Artikel von 1733 wurde
zunächst eine moralische Definition gegeben: Der Beruf ist ... ·eine Pfiicht, nach
der wir etwas besonders in der menschlichen Gesellschaft zu.verrichten schuUlig sind.
Erst da.nach wurde in die theologisch-lutherische Tradition eingelenkt und der Ruf
Gottes dahingehend· reduziert, daß alle Pflichten von Gott seien und daß es un-
rechtmäßige, d. h. widergöttliche Pflichten nicht geben dürfe. Das alte Schwer-
gewicht der göttlichen vocatio immediata wurde aufgegeben. Denn der unmittelbare
Beruf sei entweder äußerz.icli oder innerlich. Jener scheine kaum noch real zu sein.
Denn heute möchte sich bei dem Berufe die unmittelbare Hand Gottes so deutl·ich nicht
mehr äußern 33• Der innerliche Beruf aber sei nichts anderes als die jedem Mensche
eingeborene Naturanlage (diejenige Fähigkeit, welche von der Natu,r fr1, m1„~ f!P.lR{JP.t
worden). Zedler betont zwar, daß der innerliche Beruf nicht nur auf gewisse A.'mter,
sontkm überhaupt auf die Lebens-Art gehe (Gutes tun und beispielgebend wirken);
aber er richtet das Hauptaugenmerk nicht wie Luther auf das Berufensein zur
tätigen Nächstenliebe, sondern auf die individuelle Naturanlage, auf das Erkennen
dieser Anlage und die Wahl zur individuell ( &lbstliebe; jeder will sein Glück machen)
und öffentlich (Nutzen der Gesellschaft) angemessenen Tätigkeit: Nicht im vor-
gegebenen Berufensein (einschließlich der von Luther gesehenen Möglichkeit, einen
Wechsel des Standes „vermittelt" zu erhalten), sondern gemäß den wahren Fahig-
keiten das Nützlichste und Glücklichste suchen, also Berufswahl statt Berufs-
ergebung - darin lag Zedlers Tendenz, die freilich noch nicht völlig freigegeben
wurde, sondern traditionell eingebunden blieb. Das Wort 'Beruf' wechselte dabei in
die Richtung des von Eltern und Kindern vernünftig für diese angestrebten oder
von der Obrigkeit vermittelten Amtes bzw. einer erwählten Erwerbstätigkeit für
das Leben. Wer seinen Beruf erkennen will, muß sich auf das allergenaueste unter-
suchen und aUes mit einem reifen und nicht übereilten Urteile überlegen.
War der Begriff 'Beruf' derart ins Gleiten geraten, so lief das bereits darauf hinaus,
daß er sich mit 'Profession' berührte oder z. T. zu decken begann. 'Professio' hatte
schon im klassischen Latein neben seiner Hauptbedeutung „öffentliche Angabe des
Namens, Vermögens oder Gewerbes" den übertragenen Sinn „Gewerbe, Geschäft,
Kunst, Fach" angenommen. In der seit dem 3. Jahrhundert belegten christlichen
Bedeutung „Glaubensbekenntnis" wurde das Wort im 12. Jahrhundert ins Fran-

81 ZEDLBR, Art. Beruff, Bd. 3 (1733), 1449 ff.; Art. Vocation, Beruff, Vocatio, frantz.

tJocation, Bd. 50 (1746), 17 ff.; Art. Vocation (Göttliche), LU. tJocatio divina, ebd„ 32 ff. -
'Vooation' wurde als Fremdwort im 17. Jahrhundert entlflhnt; HRmrrRNllF.RG (1904), 107.
88 Im Art. Vooation (Göttliche) (1746), der vor allem theologisch bestimmt ist, wurde über

den mittelbaren göttlichen Beruf ausführlich gehandelt, vorzüglich im Hinblick auf die
Kriterien, nach denen auf göttliche Legitimierung bei Berufs- oder Stellungswechsel
(Station, POBten) geschlossen werden kann. Es handelt sich also um die traditionelle
lutherische Zurückhaltung gegenüber Amts- und Standesmobilität ohne vocatio.

498
D. 3. 'Beruf' im christlichen Fiintenstaat Beruf

zösische entlehnt. Die Bedeutung „etat, condition, metier" ist dort zuerst 1410
belegt34 • Im gleichen Sinn erscheint 'Profession' - seit dem 16. Jahrhundert schon
als Fremdwort mit der Bedeutung „Klostergelübde" bekannt - im Deutschen erst
im 17. Jahrhundert 35• Zedler nahm es neben dem lat. „professio" schon als deut-
sches (nicht mehr fremdes) Wort in sein Lexikon auf38 und definierte: im gemeinen
Leben das Gewerb, Tun, die Hantierung; ingleichen der Stand, die Lebensart und Nah-
rung37. Dieser weiten Umfassung entsprechend wandte Zedler 'Profession' auf die
Bereiche der Wissenschaft, des Handwerks und der Kunst an. Er näherte sich von
der 'Profession' her dem 'Beruf', indem er jene nicht nur unser natürliches Leben
und die äußerliche Wohlfahrt befördern ließ, sondern in der Profession ein Mittel
sah, die Seelen zu bessern, damit man Gottes Willen vollbringen, ihn ehren und sich
selbst glüeklich machen könne. Daran fügte er die Remerlrnng: Wa.~ 11or Regeln in
Erwählung einer Profeßion zu beobachten, findet man in dem Artikel: Beruf. Beide
Begriffe waren solcherart ineinander verschränkt. Da 'Profession' in eben tlerselben
Zeit sich in Deutschland einzubürgern begann, als 'Beruf' das weite säkulare Feld
einzunehmen anfing, das 'profession' im Französischen bereits besetzt hielt, trat
'Profession' allmählich hinter 'Beruf' zurück, bis es sich auf die Bedeutung „Hand-
werk" einengte (vgl. 'Professionist') und seit 'tlem Anfang des 20. Jahrhunderts
fast ganz auße1· Gebrauch kam 38 • Dezeichnenderweise hat z. B. noch ÜHRISTIAN
W OLFF sich offenbar gescheut, das theologisch befrachtete Wort 'Beruf' anstelle
von 'Profession', 'Hantierung' oder 'Lebens-Art' zu verwenden 39• Ein halbes
Jahrhundert danach war solche Scheu nicht mehr am Platze. So sprach etwa
PESTALOZZI (1779/80) von gemeinen Bürgerberufen und setzt diese in engen Bezug
sowohl zu liäuslicher Glückseligkeit wie zum Gelderwerb (Gelderwerbe und Berufe
der Gesellschaft; bürgerlicher Beruf synonym mit Erwerbungsstand)4°.

34 FORCELLINI t. 2 (1940), 891; H. MERGUET, Handlexikon zu Cicero (Leipzig 1905/06;

Ndr. Hildesheim 1964), 564; FEW Bd. 9 (1959), 429 f„ ad 1 b.


36 GRIMM Bd. 7 (1889), 2160; HECHTENBERG (1904), 107.

38 ZEDLER Bd. 29 (1741), 764ff.


37 Fast wörtlich ebenso bei SPERANDER (1728), 516.

38 Vgl. CAMPFl, Fremrlwh., 2. Ausg„ Bd. 2 (1808), 181; P:rKRFl'R 4. Aufl., Bd. 13 (1861),

616. - Neben 'Profession' ist 'Hantierung' als Vorbegriff des modernen Berufsbegriffs
zu erwähnen. Mhd. hantieren „Handel treiben" geht, auf franz. hanter zurück und wurde
an „Hand" angelehnt,. Vgl. K.LuGE/MrrZKA 19. Aufl. (1963), 288. 'Hantierung' bedeutete
demgemäß seit dem Spätmittelalter „Kaufhandel", „Gewerbe", auch „Handwerk",
„Rechtsgeschäft" und schließlich allgemein jllde beBcliäftigung, die um gewinneB oder
lebenaunterkaZte.s willen da1ternrl getrieben wird, wobei der engere be,griff deB kandwerks zurück-
tritt; GRIMM Bd. 4/2 (1877), 469 f. Vgl. RWB Bd.5 (1953/60), 207 f.; ADELUNG Bd.2 (1774),
967. Das Wort wurde ähnlich wie 'Profession' begrifflich eingeengt und trat im Laufe des 19.
Jahrhunderts allmählich ganz zurück. - 'Metier', im 18.Jahrhundert aus dem Franz. über-
nommen, kam im allgemeinen nicht über die Bedeutung „Gewerbe", „Handwerk" hinaus.
39 CHR. WoLFF, Vernünfftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen

und insondeiheit dem gemeinen Wesen zu Beförderung der Glückseligkeit des menschlichen
Geschlechtes, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (Frankfurt, Leipzig 1736), passim.
40 JoH. HEINRICH PESTALOZZI, SW Bd. 1 (1927), 214. 271. 201. 221.

499
Beruf ß, 4, Ab}Ösung VOD 'ßeruf' durch 'Berufung'

4. Ablösung von 'Beruf' durch 'Berufung'

Im Maße wie das Wort 'Beruf' in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, eudämo-
nistisch und ökonomisch gefärbt, sich begrifflich von der 'Vokation' zur 'Profession'
verlagerte, löste es sich zunehmend von der theologischen Bindung. In der „Deut-
schen Encyclopädie" (1780) 41 war die alte Einheit aufgegeben; 'Berufung' (Gnaden-
berufung) wurde demgemäß in einem selbständigen, rein theologischen Artikel
von 'Beruf' abgetrennt. Darin wurden theologische Richtungsdifferenzen wieder-
gegeben, vor allem aber das Problem der (fehlenden) Offenbarung und damit Be-
rufung der nichtchristlichen Völker (streng christliche Berufung oder allgemeine
Berufung zur natürlichen Religion) abgehandelt - alles ohne Bezug .r.ur Lebens-
praxis in Haus- und Staatsgesellschaft. Unter dem Stichwort „Beruf" wurde da-
gegen, gesondert von Berufung, zweierlei, - von nun an maJJgebend - ver-
standen:
1) Noigung, innorlioh<Jr Triob (zu ctwaß „Beruf fühlen") 4 ?.. Das kam einer Sen-
sualisierung der göttlichen vocatio gleich. 2) Alles das]enige, wozu jemand berufen
worden, in der weitesten Bedeutung dieses Zeitworts, als Amt, pftichtmiißige Lebensart,
Bestimmung usw., daher das oft gerechte Vorschützen seiner Berufsgeschäfte. Wie bei
Zedler wurde hierbei die Beziehung .r.u Gott h11rg11Rt111lt, iler Fäh.igkeiten, Ne1'.gung
und Lust zu diesem äußeren Beruf gegeben habe. Dieser Beruf wurde auch hier
noch abgeschwächt traditionell auf Dienst (nicht mehr am Nächsten, sondern an
der „Welt") sowie Geben und Nehmen in der Gesellschaft abgestellt. Stärker noch
als bei Zedler stand der Glaube an das Glück menschlicher Gesellschaften dahinter;
neu war die Zuversicht, daß alles zum Besten des Ganzen. tätig sei und daß die Men-
schen im Strobon naoh Vollkommenheit Gott nachahmen könnten. Der Beruf des
Menschen stand also im System allgemeiner Harmonie. War er auch noch nicht aus-
drücklich auf den neuen ökonomischen Arbeitsbegriff (Physiokraten, Adam Smith)
ausgerichtet, so wohnte ihm doch die Betonung eines bürgerlichen Leistungswillens
inne; daraus folgte für die Zukunft mehr und mehr, 'Beruf' als „Profession" von
Leistungsnachweisen abhängig und darauf aufbauend zur „Berechtigung" zu
machen. ScHLÖZER stellte in solchem Sinne (1782) Leistungsberuf gegen Geburts-
privileg: Examen aller Art ist gut, um einen Beruf anzugehen; Examen aller Art
beweiset Kenntnis und Fähigkeit: aber wozu Ahnenprobe?43 Wurde dergestalt 'Beruf'
auf Leistung abgestellt und gegen Erblichkeit und Privileg abgesetzt, so entsprach
dem die Forderung freier Wahl des Berufs. Darin kam deutljeh ein emanzipatori-
scher Wille zum Ausdruck. SALZMANN fragte (1780) ironisch, wie man Kinder für
die Welt unbrauchbar und ihr Leben freudlos machen könne; er antwortete: Zwinge
sie zu einem Berufe, zu dem sie weder Lust noch Geschicklichkeit haben 44 •
In wie starkem Maße diese Berufsvorstellung als Fortbildung der protestantischen

41 Dt. Enc., Bd. 3 (1780), 416 ff., Art. Beruf und Berufung. Etwa gleichzeitig und ähnlich

begriffen: Jon. HEINRICH SCHULZ, Versuch efuer Anleitung zur Sittenlehre für alle Men-
schen, ohne Unterschied der Religion, Bd. 1(Berlin1783), 229 ff.
42 Vgl. ADELUNG Bd. 1 (1774), 792 f.: Neigung, innerlicher Trieb, Beruf bei sich zu etwas emp-

finrlen. Ähnlich CAMPE Bd. 1 (1807), 474.


43 Aua. LUDWIG Scm.özER, Stats-Anzeigen 2 (1782), 316. •
"CHR. GoTTHILF SALZMANN, Krebsbüchlefu oder Anweisung zu efuer unvernünftigen
Erziehung der Kinder (1780), hg. v. W. Vorbrodt (Leipzig 1909), 101.

500
11. 4. Ablösung von •Beruf• doreh 'Berufung' Derut

Grundlagen angesehen wurde, zeigt die Tatsache, daß die „Deutsche Encyclopädie"
in einem zweiten Artikel „Beruf" das doppelte katholische Verständnis wiedergab.
In diesem handelte es sich 1) um den Gnadenruf Gottes, wobei der Endzweck dieses
Berufes die ewige Seligkeit sei; 2) um einen innerlichen Ruf, durch wekhen Gott den
Menschen zu einem gewissen Stande bestimmet und leitet. Als Beispiel wurden das
Berufen zum Soldatenstande, ... zum Kirchendienste, ja sogar zu einem gewissen
Ordensstande genannt. Hier war also die alte, vorreformatorische Begrifflichkeit,
wenn auch verkürzt und vereinfacht, festgehalten. Der Kontrast zu dem sich
säkularisierenden Wirkungsbereich des protestantischen Berufsbegriffs war scharf
betont.
So war um 1780 folgender Bewußtseinsstand erreicht: 1) Im politisch-wirtschaft-
lichen Leben hatte 'Beruf' das Subjekt gewechselt: „Gottes Beruf" oder „mein
Beruf" waren hinter das, wozu jemand berufen (Dt. Enc.), d. h. Amt oder dauerhafte
Erwerbstätigkeit zurückgetreten. 2) Die alte vocatio spiritualis war zur „inner-
lichen Neigung" oder Bestimmung geworden. 8) Berufung, vocatio (spiritualis)
war in der Theologie bewahrt und darin ungeachtet aller naheliegenden Be.ziehung
zur „innerlichen Neigung", gewissermaßen eingekapselt worden. 4) Im Katholizis-
mus wurde Abstand vor der unter 1)·und 2) genannten modernen Entwicklung des
füirufsbegriffs gewahrt. Dieser katholische Traditionalismus wurde freilich durch
die politisch-ökonomischen Lebensbedingungen und die konfessionell übergreifende
Aufklärung überholt. Die mit 'Profession' und 'Amt' verbundene Bedeutung von
'Beruf' wurde 1789 durch CARL FRIEDRICH BAHRDT iiber die „Deutsche Encyclo-
pädie" hinaus weitergeführt: Für den Bürger beruhe ein großer Teil seines Wohl-
standes und seiner Glückseligkeit auf seinem Metier oder Berufs/ach, wekkes er zum
Besten des SUUJ,ts abernomrnen hat 46 • CAM.l'E (1807) uud IlEINSIUS (1835) definieren
zunächst: Wozu jemand berufen ist: Amt, Pflicht, pflichtgemäße Lebensart 4 6. Bei
Campe erscheint darüber hinaus zum ersten Mal in den Lexika der Plural, und der
aller vocatio ledige, sozialökonomische Sinn tritt in der (schon nicht mehr neuen
- s. o. -, aber bis dahin wenig gebräuchlichen) Wortverbindung 'Berufsarbeit'
zutage. Sie sollte sein: Die Arbeit, wekhe der Beruf, das Amt, das man hat,
oder das Geschäft, Gewerbe, das man treibt, mit sich bringt; auch Berufsgeschäft.
Ferner werden angegeben: 'berufstätig', 'Berufspflicht', 'Berufstreue' und (folgen-
reich} 'Berufsstand' - Begriffe, in denen durch traditionsreiche Nomina auch der
moderne, sozialökonomisch bestimmte Beruf sozialethisch erfüllt bleiben sollte.
Selbst auf dieser begrifftigeschichtlichen Stufe war das Wort 'Beruf' noch immer so
stark von seiner verblaßten Herkunft bestimmt, daß Komposita wie 'Berufsarbeit',
'Berufsgeschäfte' und 'Berufsstand' zu Hilfe genommen werden mußten, um die
sprachliche Angemessenheit zu erreichen.
'Beruf' als „innerliche Neigung" war als säkularisiert-idealistisches Derivat der
vocatio spiritualis in der Spätaufklärung bis über die Jahrhundertmitte im Sprach-
gebrauch lebendig. So wollte sich z. B. J OH. AUGUST HERMES (1780) würdig des
Berufs erweisen, ein Mensch zu sein 47 , und FRIEDRICH LEOPOLD VON STOLBERG

46 CARL FmEDRIOH BAHRDT, Handbuch der Moral für den Bürgerstand (Halle 1789), 210.
46 CAMI'E Bd. 1 (1807), 474; HEINSIUS 5. Aufl. (1835), 472.
47 JoH. AUGUST HERMES, Handbuch der Religion (Berlin 1780), zit. Kr.ARA VoNTOBEL, Das
Arbeitsethos des deutschen Protestantismus (Bern 1946), 199.

501
Beruf ll. 4. Ablösung TOD 'Beruf' clureh 'Berufung'

dichtete: Ja, Herz Europens, sollt du, o Deutschland, sein! So dein Beruf/4 8 FRIED-
RICH GENTZ schrieb im Jahre 1800 :i:ur Idee des Friedens: Wenn auch rund um uns
her eine undurchdringliche Nacht die Erde umhiillt:-das ist unser klarer Beruf, und
das ·ist wni1!!'t' edelster Trost'°. Im gleichen Sprachsinn wurde im 19. Jahrhundert
oft von Preußens „deutschem Beruf" gesprochen, und LASSALLE sagte 1863:
Ich habe keine Lust und keinen Beruf, zu andern zu sprechen als zu Demokraten 50•
Am treffendsten wurde die Säkularisierung der lutherischen Duplizität des Berufs-
begriffs in der Dichotomie „innerer" und „äußerer" Beruf ausgedrückt. So bei
GOETHE, der es in „Wilhelm Meisters Lehrjahre" als unerträglich bezeichnete, ein
Handwerk, eine Kunst oder irgendeine Lebensart ... ohne inneren Beruf zu ergrei-
fen51. LAVATER gehörte für ihn zu den wenigen glücklichen Menschen, deren äußerer
Beruf mit dem innern vollkommen übereinstimmt62• WILHELM VON HUMBOLDT
unterschied für das Leben im Staat den allgemeinen Beruf als tätiges Mit,glied der
Staatsgemeinschaft, was das eigentliche Geschäft des StaatsbWrgers ist, von der Teil-
nahme am besonderen Beruf, als Staatsditner 63 • Das weisL in die Nähe der direkt und
indirekt für das Bürgertum im 19. Jahrhundert außerordentlich wirksamen Be-
rufslehre FICHTES, der Beruf und Stand einerseits, Beruf und Pflicht ('B~rufs­
pflicht', 1798) andererseits aufs engste verband, indem Beruf als Stand nicht nach
Neigung, sondern nanh PP,icht gewählt werden &ollte,. d. h. nach baaoor Übcruugung;
daß nach dem Maße seiner Kräfte, seiner Bildung, der äußeren Bedingungen, die in
unserer Gewalt stehen, man gerade /ür ilin [den gewählten Stand] am besten passe.
Die Berufswahl sei eine Pflicht, denn den Zweck der Vernunft zu befördern ist die
einzige PP,icht aller; und derjenige Teil dieses Zwecks, dessen Beförderung ein ein-
zelner ganz besonders über sieh nimmt, ist sein Beruf54• Von diesem Prinzip deduzierte
Fichte sodann die Einteilung des möglichen menschlichen Berufs (Singular!) und
handelte die einzelnen Stände oder Berufe unter dem Oberbegriff der PfticJuen des
Menschen ab 55 : im einzelnen die PfticlUen des Gelehrten, der moralischen Volks-
lehrer, des ästhetischen Künstlers, der Staatsbeamten, d. h. höherer Beruf, höhere
Klasse; ferner der niederen Volksklassen: der Beruf der Landbauern, der Beruf der
Handwerker, Künstler [im alten Sinne der nzvln'J,], Fabrikanten, der Beruf der Kauf-
leute, d. h. insgesamt niederer, auf die Materie bezogener Beruf, nicht minder als
der höhere auf Beförderung des Vernunftszwecks gerichtet und dadurch geheiligt,
gleich wit das höchste Geschäft.
Fichte hat also versucht, die Kluft zwischen „innerem" und „äußerem" Beruf im
Pflichtbegriff zu überbrücken. Der Mensch soll dem Sittengesetz gemäß und in Ver-

48 F. L. v. STOLBERG, GW Bd. 2 (Hamburg 1827), 322.


" FBlEDBIOH G:mNTZ, "Ober den ewigen Frieden (1800), in: KURT v. RAUllrlEB, Ewiger Friede.
Friedensrufe und Friedenspläne seit der Rena.issanoe (Freiburg, München 1953), 463.
60 FERDINAND LAssA.LLE, Arbeiterlesebuch (Rede 17./18. 5. 1863), Ges. Reden u. Sehr„
Bd. 3 (1919), 273.
&l GoETHE, HA Bd. 7, 5. Aufl. (1962), 54.

u Ebd., Bd. 10, 5. Aufl. (1963), 16.


68 W .v. HUMBOLDT, Denkschrift über Preußens ständische Verf&asung (1819), AA Bd.12/1

(1904), 231.
64 FICHTE, D&a System der Sittenlehre (1798), §§ 21, II. 26. 28.

H Ebd„ § 28 ff„ auch zum Folgenden.

502
II. 5. 'Derufaataaa' Im 1namtrieay1tcm Beruf

antwortung vor dem V ernunftzweck seinen Beruf wählen und sich sodann der Ge-
sellschaft, der GerMine vernünftiger Wesen, gegenüber vernünftig, nützlich, am
vorteilhaftesten68 betätigen. „Innen" und „außen" sollten, wie bei Luther, wenn
auch nicht mehr theologisch, sondern philosophisch-idealistisch begründet, zur
Lebenseinheit verbunden sein. Fichte war sich, wie Luther mit seiner aus der
„sola :6.de" kommenden Berufsforderung, dessen bewußt, daß die sittlich verant-
wortete und gesellschaftlich zweckmäßige Berufswahl von den wenigsten Menschen
geübt werde. Er antwortete auf diesen Einwand, daß dies so nicht sein sollte und daß
jeder, kr dies einsieht, dahin zu arbeiten hat, daß es womöglich anders werde 67 •
So war auf den Rigorismus des Glaubens und der Nächstenliebe der Rigorismus
der Pflicht und der ·Vernunftgesellschaft gefolgt. Dazu gehörte für 'Stand' und
'Beruf' in diesem neuen (oder alten, neu verwandelten) Sinne „höher" und „nied-
riger" anzuerkennen und doch alle diese Grade oder Stufen in der „Heiligung"
durch (nunmehr) die Pflicht in einer allgemeinen Gleichheit hinsichtlich des Ver-
nunftzwecks aufzuheben. Diese Berufstheorie des deutschen Idealismus, in erster
Linie (auf Kant zurückgehend) Fichtes, lag der entsprechenden „Gesinnung" des
deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert zugrunde und verband sich mit der
„Religion" der Arbeit..

5. 'Berufsstand' in Staat und Gesellschaft des Industriesystems


Die idealistische Auffassung des Berufs blieb vor allem in der Bildungsschicht und
im Beamtentum verbreitet. In w~iten Teilen des Volks kam ihr die überlieferungs-
starke Arbeitsamkeit und Treue im „Beruf" entgegen, wie sie von Kirche und Schule
gelehrL, UW"ch Zunft· od!'r Standestradition bcotii.tigt, durch 11trenge Arbeits-
ordnungen gefordert und durch die meist schmalen Subsistenzgnmdlagen er-
zwungen wurden. Die alte Beziehung von Beruf, Stand und Arbeitsehre blieb in
der sozialen und politischen Bewegung des 19. Jahrhunderts nicht nur auslaufend,
sondern vor allem durch neue Anstöße wirksam. Da zudem wort- und begri:ffs-
geschichtlich -+ 'Stand' und 'Klasse' im 19. Jahrhundert vielfältig, keineswegs
durchweg einander ausschließend, konkurrierten, wurden die Wortverbindungen
'Berufsklasse' und 'Berufsstand' möglich und bald nach der Mitte des Jahrhunderts
unentbehrlich. Privatrechtler der fünfziger Jahre bezeugen, daß zu dieser Zeit
~erufsstand' gleichbedeutend mit 'Berufsklasse' verwendet wurde. Diese Gleich-
setzung wurde entweder unbefangen in die ~issenschaftliche Sprache übernommen
oder kritisch aus ihr verwiesen, wie die Auseinandersetzung zwischen Unger und
Berger (1856) zeigt. UNGER geht davon aus, daß das Privatrecht ... heutzutage für
alle Staatsbürger ein gleiches geworden sei; der alte Ständerahmen lasse sich den
neuen Verhältnissen nicht mehr aufzwängen. Dagegen sind in der neueren Zeit die
nach der Verschiedenkeit der Beschäftigung charakterisierten Berufsstände zu großer
Bedeutung gel,angt und haben auf die Ausbildung des Privatrechts einen wesentlichen
Einfiuß genomrMn. In diese Berufsklassen hat sich insbesondere der Bürgerstand
aufgewst und auch der Bauernstand ist heutzutage als Berufsstand aufzufassen. Als

68 Ebd., § 21, II.


17 Ebd.

503
Benf ß, 5. 'BeralHtaad' im Industriesystem

Geburtsstand ist 'ledi,glich der Adel vorhanden 68 • Gegen diese Ausweitung des noch
juristisch klar definierten Standesbegriffs auf den freier verfügbaren Klassen-
begriff hin wendet sich BERGER mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit:
Unger rede plötzlich von dem Handels- und Militärstande, von Geistlichen und Be-
amten ... , als ob man es bei den Rechtsverhältnissen dieser gesellschaftlichen Klassen
mit ei,gentlichen Standesrechten zu tun hätte, die sich doch nur auf die sog. historischen
Stände: Adel, Bürger, Bauer, nicht aber auf die nur unei,gentlich als Stand bezeichneten
Berufsklassen beziehen, die doch lediglich besondere Gruppen der bürgerlichen Ge-
sellschaft seienH. BERGER beharrte historisierend auf dem alten Begriffsverständnis
und bemerkte daher nicht, in welchem Maße die Bildung des neuen Begriffs 'Be-
rufsstand' ein Indikator für den sich vollziehenden sozialen ~andel darstellte: die
Bindung der gesellschaftlichen Gliederung an den 'Beruf' statt an den alten 'Stand'
verlieh der neuen Gliederung die Würde der von ihr abgelösten alten Standes-
gliederung, wie sie zugleich dem Standesbegriff eine neue, im Sinne von 'Klasse'
freiere Schattierung gab, die ihm das Überleben in einem gewandelten sozialen
Kontext sicherte 80 • Die Kombination 'Berufsstand' erwies sich den neuen Gege-
benheiten als so adäquat, die von 'Stand' her bewahrte festere Bestimmtheit als
so lebenskräftig, daß 'Berufsklasse' als Gelegenheitsbezeichnung zurückblieb, wäh-
rend 'Beruf1111tand' sich bald zu einem relativ scharfen Begriff der Staatsver·
fassungs- und Sozialpolitik entwickelte, der als Gegenbegriff zu 'Partei' einerseits
und 'Klasse' andererseits politisches Gewicht gewann und im Kampf der Meinungen
ideologisiert wurde.
Er gewann zunächst in der Auseinandersetzung um das parlamentarische Re-
präsentativsystem in der konstitutionellen Monarchie Bedeutung. In Kontinuität
und MtiL1uuurphU1:m 11.lter politischer La.ndstände wurden während des ganzen HI.
Jahrhunderts zahlreiche Vorschläge für berufsständische Vertretungen in der
Staatsverfassung - anstelle von oder in Verbindung mit allgemeinen Abgeord-
netenparlamenten ..,.-veröffentlicht. Seit der Mitte des Jahrhunderts (Karl Levita,
185081, über Rotteoks und Dahlmanns Auffassungen hinausgehend, Sismondi auf-
nehmend) erhielt dabei der Gedanke, daß praktische „Interessen" der „Berufs-
klassen" besser als „Prinzipien" der Parteien konstitutiv für die parlamentarischen
Vertretungen sein sollten, die Oberhand. HERMANN WAGENER unterschied (1865)
materielle und geistige Berufsstände, entsprechend der natürlichen Teilung der Arbeit
in körperliche und geistige. Zu den materiellen Berufsständen gehörten Bauern-
stand, Gewerbestand und Handelsstand. Das Volk sei nur in solcher Gliederung, <l.ie

68 JOSEPH UNGER, System des österreichischen allgemeinen Privatrechtes, Bd. 1 (Leipzig


1856), 308.
69 JoH. NEPOMUK BEROER, Kritische Beiträge zur Theorie des österreichischen allgemeiueu

Privatrechtes (Wien 1856); 122.


80 Vgl.JOSEPH HELD, Staat und Gesellschaft, vom Standpunkte der Geschichte der Mensch-

heit und des Staates, Bd. 2. (Leipzig 1863), 430 f.: In den neuen Berufsständen aber begeg-
neten aich die Glieder aller mittel,alterlichen Stände, trotz der Fortdauer sozialer Verschieden-
heiten, als Stanilesgerwssen.
81 KARL LEVITA, Die Volksvertretung in ihrer org&nischen Zusammenintzung im repräsen-

tativen Staat der Gegenwart (Leipzig 1850). Vgl. allgemein HEINRICH HERRFAHRDT, Das
Problem der berufsständischen Vertretung von der Französischen Revolution bis zur
Gegenwart (Stuttgart, Berlin 1921).

504
ll. 5. •ßerufsstSnd' im Industriesystem Beruf

maßgebend für die politische Repräsentation sein sollte, wirklich existent. Wolle
man stattdessen eine g"leichartige Masse als Volk annehmen, so könne man darin
- im Anschluß an Dahlmann - nur einen berufslosen Pöbel sehen82• Von solcher
Auffassung aus ergaben sich einleuchtende Begründungen für Bismarcks spätere
berufsständische Verfassungspläne sowie für das sozialpolitische Programm der
„Berufsgenossenschaften" in Verbindung mit der Arbeiterversicherung.
So diente der Berufsbegriff seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einer Staatslehre
und Verfassungspolitik, in der die Monarchie mit dem Volk als einem gegliederten
Organismus verbunden und gegen die Gefahren sozialer Nivellierung und politi-
scher Parteibildung abgeschirmt werden sollte. Auch in den „mittelständischen"
Bewegungen und Organisationen, seit der Mitte des Jahrhunderts in den Genossen-
schaften Schulze-Delitzschs, nicht zuletzt aber auch in den frühen Gewerkschaften
der sechziger Jahre, die sich 'Berufsvereine' bzw. '.Berufsverbände' nannten und
damit das handwerkliche Berufs- und Standesbewußtsein der frühen „Arbeiter-
bewegung" ('Gewerke', 'Gewerbe', 'Berufe') zum Ausdruck brachten, kamen Wort
und Begriff 'Beruf' zu neuer Blüte.
Ideologisch konnten sich also die Assoziationen, die .sich des Wortes 'Beruf' zur
Kennzeichnung ihres Selbstbehauptungswillens bedienten, verschieden orientieren.
Bei der zunehmenden Tendenz zu sozialer Organisationsbildung und „lntcrcmicn"-
Vertretung bot sich der Berufsbegriff immer wieder an. Er diente schließlich- ledig
jeglicher christlich oder idealistisch bedingten Äquivokation - als Klassifikations-
begriff der differenzierten 'Beschäftigungen' (statt des längst unüblich gewordenen
Wortes 'Profession') in den „Berufszählungen" der Reichsstatistik bzw. der öster-
reichischen Statistik, wobei die zahlreichen Einzelberufe in „Berufsabteilungen"
(„Berufsklassen") und „Berufsgruppen" zusammengefaßt wurden. Die offizielle
österreichische Statistik gliederte bereits 1857 die Bevölkerung 'fVU;h dem Berufe,
Erwerbe oder der Unterhaltsquel"le 63 • Wurden aber 'Beruf' oder 'Berufsgruppe' bzw.
'Klasse' zu dem in der amtlichen Statistik nicht verwendeten Begriff 'Berufsstand'
gesteigert, so war darin stets eine politisch-ideologische Voreingenommenheit oder
Absicht im Sinne der Ordnungsbewahrung inmitten der modernen Bewegung des
„Kapitalismus" oder des revolutionären „Sozialismus" enthalten.
Seit den achtziger Jahren wurde dieser Begriff in besonderer Weise durch die sich
in der Auseinandersetzung mit dem Industriesystem erneuernde katholische Sozial-
lehre in Anspruch genommen und vornehmlich von Karl von Vogelsang und Franz
Hitze, sodann in neuer Intensität in den zwanziger Jahren, besonders von Theodor
Brauer systematisch entwickelt und schließlich in der Enzyklika „Quadragesimo
anno" (1931) maßgeblich zusammengefaßt, so daß in HERDERS „Staatslexikon"
(6. Aufl. 1957) ein ausführlicher Artikel „Berufsständische Ordnung" (Bd. 1,
1124 ff.) aufgenommen wurde. FRANZ HITZE leitete 1877 den Begriff aus der alten,
für seine Zeit aktuell formulierten christlichen Berufslehre her: Die Arbeit ist dem

62 WAGENER, Art. Stände, ständisches Repräsentativsystem, Bd. 19 (1865), 669 ff., bes.

671. 676.
63 Orientierung über die Berufsstatistik mit den Wandlungen ihrer Klassifikationsbezeich-

nungen bei FRIEDRICH ZAHN, Art. Beruf und Berufsstatistik, Hwb. d. Staatswiss., 3. Aufl.,
Bd. 2 (1909), 793 ff. und 4. Aufl., Bd. 2 (1924), 524 ff.; FRANz RICHARD ZoPFY, Art. Berufs-
statistik, Hwb. d. SozWiss., Bd. 2 (1959), 28 ff.

505
Beruf m. Ausblick

Ohristen „Berof"; er stellt sich in ihr in den Dienst der Gesamtheit. Die Stellung wählt
er, wohin ihn natürliche Befähigung und die Erwartung allgemein nutzbringender
Tätigkeit ruft. Es ist der Wille Gottes, der ihn „beruft", heilig sind die Pflichten, die
die Berufswahl auflegt. So involviert die Idee des „Berufes" ein Verhältnis der Ge-
genseitigkeit, gegenseitiger Rechte und Pflichten zwischen Gesellschaft und Individuum,
zwischen Staat und Berufsstand. Der Hilfe und dem Schutz des Staates (den ein-
zelnen wie den Stand auch in seinem Berufe zu schützen) sollte die Assoziation oder
Organisation eines in Berofsgenossenschaften gegliederten Volkes - im Gegensatz
zum sozialistischen Klassenkampf-aus christlichem Geiste entsprechen64• Wenige
Jahre später faßte Hitze seine Anwendung organisch-korporativer Staats- und
Gesellschaftslehre auf das moderne Problem „Kapital und Arbeit" in dem Kernsatz
zusammen: Die Lösung der sozialen Frage beruht wesentlich und allein . . . in der
Reorganisation der Berufs-Stände 6 '>. Das Mittelalter habe alle Arbeit der Idee des
Berufes unterstellt 66 • Dies müsse unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen
wieder möglich werden, auch wenn die Idee des Berufes, die Gegenseitigkeit, verloren
gegangen sei. Die Menschen aufs neue mit einem Berufsethos im christlichen Sinne
zu erfüllen, sah Hitze als Voraussetzung zur „Reorganisation" an, die nicht allein
sozia!ethisch, sondern auch ökonomisch motiviert wurde: nur eine in ihrem Ar-
beitsle"ben „ständisch", da'!lernd, gegliederte, arbeitsteilige Gesellschaft mit „berufs-
mäßiger" Durchbildung bringt es zu entwickelter Wirtschaft 67 • Ritzes „Berufs-
stand" war - im Einklang mit der katholischen Soziallehre allgemein - scharf
gegen Liberalismus und Sozialismus gerichtet. Er wurde als konstitutives Prinzip
der modernen Industriegesellschaft begriffen. Dem Berufsstand allgemein uncl clen
„Berufsgenossenschaften" als Innungen der (}roßindustrie 68 im besonderen lag- bei
bewußtem Rückgriff auf clas Mittelalter - ein statisches, der moderne~ Bewegung
abholdes, gleichwohl keineswegs wirklichkeitsfremdes Gesellschaftsverständnis zu-
grunde.
Der Begriff des antiliberalen und antimarxistischen. Berufsstandes wirkte in die mit
der Erneuerung der katholischen Soziallehre entstehende christliche Arbeiter-
bewegung (Arbeitervereine, Gewerkschaften oder Berufs- und Fachvereine), damit
in die „Christliche Demokratie", aber auch in die Ständestaataideologie zur Zeit
des Faschismus hinein.

m. Ausblick
Trotz allen Abbaus werthaltigen Verständnisses im Sinne der "Berufsstatistik",
durch die 'Beruf' endgültig zu professioneller Erwerbstätigkeit geworden ist, hat
der Berufsbegriff bis zur Gegenwart seine begri:ffsgeschichtlich gewandelte Tradition
nicht durchweg verloren. Auch außerhalb des katholischen Wirkungsbereichs ist

H FRANZ HITZE, Die soziale Frage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung (Paderborn
1877). 188 ff.
86 Ders., Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft (Paderborn 1880), IV.
88 Ebd., 393.
87 Ebd., 273.
88 FRANZ HITzE, Die Arbeiterfrage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung (Berlin 1901),
u~ .
506
lll, Ausblick Beruf

die Frage nach Sinn und Verantwortung im Beruf bzw. nach Möglichkeit oder Un-
möglichkeit einer ethisch oder religiös verstandenen Berufserfüllung unter den
technischen Bedingungen der industriellen Gesellschaft immer wieder wach gehalten
worden. Die Auseinandersetzung um Max Webers Deutung des „kapitalistischen
Geistes" aus protestantisch-calvinistischen Wurzeln ist bereits in diesem Zusam-
menhang zu sehen89• Seitdem ist sowohl von theologischer wie von soziologischer
und psychologischer Seite das im Berufsbegriff enthaltene Problem des Verhält-
nisses von Gesellschaft und Individuum in seiner Spannung zwischen bloßem
Funktionsvollzug und Lebensbefriedigung in der Berufsarbeit in großer Vielfalt
und zunehmender methodologischer Perfektion, aber auch breit popularisiert,
abgehandelt worden 70• Dabei kehrt bezeichnenderweise die traditionelle Dicho-
tomie von 'Amt' und 'Beruf(ung)' bzw. „innerer" und „äußerer" Beruf (Fichte,
Goethe), modern mehr oder weniger gut verwandelt, immer wieder auf. FRIEDRICH
ZAHN stellte 1924 fest: Der solidaristisch-ethische Berufsgedanke wird ... vom indi-
vidualistisch-syndikalistischen Betriebsgedanken verdrängt. Dem entsprach seine Un-
terscheidung zwischen dem subjektiven oder individuellen und dem objektiven, durch
die Betriebszugehörigkeit bestimmten Beruf71 • Diese Unterscheidung wird auch ge-
genwärtig noch zur Berufsdefinition in der modernen Arbeitsverfassung für not-
wendig gehalten, so von JöRa JoHANNEBSON (1957): Dis ns'U6'1'sn Auffassungen
unterscheiden den „subjektiven Beruf", den jemand aus innerer Berufung „hat",
vom ausgeübten „objektiven Beruf". Jener sei Gegenst,and der Psycho'log-ie (Eignung
und Wahl), dieser Gegenst,and der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen, die sich den
einzelnen Komponenten des Berufsphänomens zuwandten72 • Die mehrfach bereits in
den zwanziger Jahren getroffene Feststellung gilt auch gegenwärtig, daß eine
„subjektive" Berufsbestimmung im eben bezeichneten Sinne im allgemeinen nur
noch bei ständisch orientierten Berufen mit hochentwickeltem Berufsbewußtsein73
möglich, in der bürokratischen, hochspezialisierten, funktionalisierten Betriebs-
verfassung (keineswegs allein der Industrie) aber nicht mehr wirklich und auch
durch ideologische Bemühungen nicht herzustellen sei, um so mehr, als dies von
Anfang an dem Industriesystem nicht entsprochen habe.
WERNER CONZE

89 Neuerdings zusammengefaßt in: MAX WEBER, Die protestantische Elihik II, Kritiken

und Antikritiken, hg. v. Johannes Winckelmann (München, Hamburg 1968).


70 Einen zeittypischen Aspekt des Problembewußtseins um 1920 vermittelt KA.m.. DUNJt-

MANN, Die Lehre vom Beruf. Eine Einführung in die Gosehiohto und Soziologie des
Berufs (Berlin 1922). Dort Beruf als „Funktion der Gemeinschaft" im Sinne von Tönnies.
THEODOR SCHAB.MANN, Arbeit und Beruf. Eine soziologische und psychologische Unter-
suchung über die heutige Berufssit~ation (Tübingen 1956) nimmt die Auseinandersetzung
um das moderne Berufsproblem seit Dunkmanns Buch auf, besondere GEORGES FB.nro-
MAN, Der Mensch in der mechanisierten Produktion (Köln 1952) berücksichtigend. Im
übrigen vgl. die Artikel in den Handwörterbüchern seit Beginn unseres Jahrhunderts.
71 ZAHN, Art. Beruf und Berufsstatistik, 526 f. (s. Anm. 63).
72 J. JOHANNESSON, Art. Beruf, Hwb. d. SozWiss., Bd. 2 (1959), 8.
7a ZAHN, Art. Beruf und Berufsstatistik, 525. ·

507
Bildung

1. Einleitung. II. Die ältere Bedeutung bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. 1. Mystik und
Pietismus. 2. 'Bildung' und 'Erziehung'. III. 1. 'Erziehung'/ 'Bildung' (als pädagogischer
Begriff) in Aufklänmg und Klassik bis 1790. 2. Die öffentliche und politische Erziehung,
Bildung des Bürgers. 3. Die Verselbständigung des Bildungsbegriffs: Herder. 4. Goethe.
5. Die Bedeutung der Griechen. 6. Allgemeine Bildung: Humboldt. 7. Inhalt, politische
Relevanz und Gefahren der Bildung. IV. 1. Revolution, Reform und nationales Bewußt.
werden (1790--1820). a) Politische Bildung. b) 'Gebildete Stände'. 2. Die Nationalbildung
zwischen Revolution und Nationalbewußtsein: Fichte. 3. Varianten des Bildungsbegriffs
(1790--1820). a) Menschen- und Berufsbildung. b) Der neuhumanistische Bildungsbegriff.
4. Bildung und Staat in Preußen. 5. Die „Gebildeten" in Gesellschaft und Staat. V. 1. Um-
fassende Begriffsbildung in Liberalismus, Restauration und Revolution. a) Hegel. b) Hum-
boldt. 2. Regriffäbe.11timm11ngen in den Lexika des Vormärz. 3. Der Begriff im politischen
Meinungskampf. a) Rotteck/Welcker. b) Robert von Mohl. c) Lorenz von Stein. 4. Bil-
dungsbegriff und Politik im Vormärz. a) Politische Bildung. b) Die soziale Relevanz des
Bildungsbegriffs. c) Politische Kritik. d) Arbeiterbildung; sozialistische Kritik am bürger-
lichen Dildm1g11begriff: Marx. VI. 1. Dildung a,111 Desitz. 2. Konservative Kritik. 3. Marxi-
stische Kritik und sozialistischer Bildungsbegriff. 4. Kulturpessimismus: Nietzsche,
Lagarde. VII. Ausblick.

1. Einleitung
Die WorteAufkliirung, Kultur, Bildung sind in unsrer Sprache noch neue Ankömm-
linge, sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe versteht
sie kaum . . . Indessen hat der Sprachgebrauch, der zwischen diesen gleichbedeutenden
Wörtern einen Unterschied angeben zu wollen scheint, noch nickt Zeit gehabt, die
(henzen derselben festzusetzen. Bildung, Kultur und Aufkliirung sind Modifikationen
des geselligen Lebens, Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen,
ihren geselligen Zustand zu verbessern ... Bildung zerfällt in Kultur und Aufkliirung.
Jene scheint mehr auf das Praktische zu gehen ... Aufkliirung hingegen scheinet sich
mehr auf das Theoretische zu beziehen. 1 Dieses Wort MosEs MENDELSSOHNS von
1784 reflektiert aufschlußreich die geschichtliche Situation, in der der moderne
Bildungsbegriff - wie 'Aufklärung' und 'Kultur' ein sehr komplexer und hoch-
abstrakter Begriff - seinen Weg zu breitester Anwendung im Bereich der Päd-
agogik, des gesamten Erziehungs- und „Bildungswesens", aber auch des Nach-
denkens und der Diskussion über Mensch und Menschheit, Gesellschaft und Staat
antrat, auf dem er zu einem Lieblings- und Zentralbegriff im deutschen Sprach-
bereich wurde. Hier hat er um 1800 und mit ·weitreichenden Folgen bis in die
Gegenwart eine einzigartige philosophisch-ästhetische und pädagogische Über-
höhung und ideologische Aufladung erfahren, die nur im Zusammenhang der
staatlich-gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands zu verstehen ist. Äqui-
valente zum deutschen Bildungsbegriff in seinem vollen Bedeutungsgehalt lassen
sich in anderen Sprachen nicht auffinden, vor allem nicht seine Heraushebung über

1 MosEs MENDELSSOHN, Über die Frage: was heißt aufklären?, Berlinische Monatsschr.
4 (1784), 193 f. (Ges. Sehr., Bd. 3, 1844, 399).

508
U. 1. Mystik und Pietismus Bildung

andere Begriffe wie 'Erziehung' und 'Ausbildung' 2 • Eine Parallele dazu bietet die
qualitative Unterscheidung zwischen 'Kultur' und 'Zivilisation' im Deutschen 3 •
1784 war 'Bildung' an sich kein Neologismus; als neu empfunden wurden seine
Anwendung, sein Bedeutungsgehalt und sein Gewicht als ein Leit- und Zentral-
begriff der intellektuellen Diskussion, in der er lange fast ausschließlich von
Menschen gebraucht worden ist, die sich selber zu den „Gebildeten" rechneten, also
von den Schreibenden und Lesenden. In die Umgangssprache wurde er nur zögernd
aufgenommen, als Folge einerseits des Ausbaus des institutionalisierten Erziehungs-
und Bildungswesens, andererseits der Diskussion um Bildung als sozialen Status
verleihenden Besitz und als Berechtigung. Damit fand er Eingang in die Sprache
der Politik, in der er heute, da Bildung zur wichtigsten Sache im Prozeß der Her-
Rtelhmg cfor „P.galitft rles c:onditions" geworden ist, allerorten verwendet wird 4 •

II. Die ältere Bedeutung bis zur Mitte dei;i lR. JahrhundertH

1. Mystik und Pietismus

'Bildung' ist ein altes deutsches Wort, dessen Bedeutung im Laufe der Zeit nicht
so sehr abgewandelt als vielmehr durch Erweiterung seiner Anwendung, durch
bevorzugten Gebrauch in dem einen und Zurücktreten in dem anderen Bereich
vervielfältigt und unterschiedlich akzentuiert worden ist, ohne daß die eine oder
andere Bedeutung ganz verloren gegangen wäre. Seine früheste Bedeutung (spät-
ahd. bildunga, mhd. bildunge) ist sowohl „Bild", „Abbild", „Ebenbild" (imago), als
auch „Nachbildung", „Nachahmung" (imitatio). Wichtiger und von größter
Wirkung ist 'Bildung' in der Bedeutung von „Gestalt" (forma) und vor allem
„Goato.ltung" (formatio) gewesen, die letztere in der doppelten Richtung, die durch
die Verben 'bilden' und 'sich bilden' angezeigt ist: Hervorbringen oder Formgebung
durch äußere Einwirkung und Entstehung und Entwicldung in der Ausrichtung an
Beispielen. In diesem Sinne war um die Mitte des 18. Jahrhunderts der Bildungs-
begriff in sprachlich anspruchsvollen Schichten geläufig und fand Anwendung nicht
nur auf die äußere Gestalt - so noch in ADELUNGS Wörterbuch (Bd. 1, 1774,
912) in bezug auf das menschliche Antlitz: sie hat eine vortreOliche, eine ein-
nehmende Bildung-, sondern auch auf Intellekt, Sitte, Verhalten und selbst auf
Abstrakta, wofür die 1738 erschienene Übersetzung von SHAFTESBURYS „Soliloquy

B Vgl. franz. educatiqn in den Bedeutungen: en&emble des moyenB d Z'aide dC8quel8 on dirige
le developpement, Za formation d'un etre humain und connaisaance et pratique des U8age8 de
Za societe; ROBERT, nouvelle ed„ t. 2 (1966), 387. Vgl. auch franz. culture, civilisa.tion; ebd.,
t. l (1966), 786. 1068. Engl, education: tke pr0Ce88 of 'bringing up' ••. the systematic instruc-
tion, sehoolingor training ••• euUure or development ofpowers, formation of eharaeter, as con-
trasted with the imtJartiri,g of mere knowl,edge or skill; OED vol. 2 (1961), s. v.
3 Im Hinblick auf den Art. Kultur ist hier darauf verzichtet worden, der Bedeutungs-

geschichte dieses Begriffs nachzugehen, obgleich er sich in engster Verknüpfung mit dem
Bildungsbegriff entwickelt hat.
4 Zur Geschichte des deutschen Bildungsbegriffs sei allgemein verwiesen auf die Literatur

am Schluß des Artikels sowie auf HANS WEIL, Die Entstehung des deutschen Bildungs-
prinzips (Bonn 1930).

509
Bildung II. 1. Mya~ unil Pietismus

or Advice to an Author" aufschlußreich ist 6 • Während die Anwendung auf dei


äußere Gestalt im 19. Jahrhundert zurücktrat, wurde diejenige auf den geistig-
seelischen Bereich immer umfassender. Sie geht indes schon auf W!.s Mittelalter
zurück. NOTKER III. scheint zuerst die zweite der vier traditionellen Tugenden, die
imaginatio, 'Bildung' genannt und damit die Fähigkeit zur innerlichen Vorstellung
wie auch die Vorstellung selber bezeichnet zu haben 6 • Für die spätmittelalterlichen
Mystiker, die sich nicht nur um die Verdeutschung der Kirchenväter, sondern um
die Aussage mystisch-religiöser Erfahrungen bemühten und dabei den Wortschatz
des Abstrakten erheblich erweiterten, ·waren 'bilden' und 'Bildung' zentrale
Begriffe (TAULER: die neigunge der sinnelwhen krefte und i'f bildunge 7 ; SEusE: ein
gelassener Mensch muß von der Kreatur entbildet, mit Christo gebildet und in der
Gottheit überbildet werden 8). In der hier gewonnenen Bedeutung wurden 'Bildung'
und 'bilden' von GOTTFRIED ARNOLD verwendet („Wahre Abbildung des inwendigen
Christentums",3.Aufl„ Leipzig 1733): alsobildeterstlichdieGnadedenMenschen(245);
die Seele müsse 'WWkr umgebildet und neu geboren werden (250); wir müssen zerstöret
und entbildet werden, auf daß Christus in uns möge formieret, gebildet werden und allein
in unr rein (250), in .Anknüpfung an Luther). Daß Gott eich den MonGohcn „ein-
bildet", ist den pietistischen Schriftstellern noch ebenso selbstverständlich wie daß
er den Menschen nach seinem Bilde „bildet"; sie „vermenschlichen" aber auch
Bildung, wenn sie, wie schon ÜETINGER 9, von Gemütsbildung und Bildungen der
Vernunft (hier abwertend gemeint) sprachen. Wie überhaupt die Sprache der
Pietisten in den Bereich des Profanen, der „Welt" hineingetragen wurdeto, so
wurde nicht nur die Wirkweise Gottes im Menschen, sondern auch das Wirken der
Natur und des Menschen als eine „bildende" versta.nden. Eng verbunden mit dem
mystisch-pietistischen Entwicklungsstrang ist ein naturphilosophischer, organo-
logischer zu sehen (Paracelsus, J. Böhme, Leibniz), in dem mit 'Bildung' und
'bilden' die geistig-seelische, nicht zufällige, sondern im Ursprung angelegte
Formung und Entwicklung des Menschen angesprochen wurde. ALBRECHT VON

6 SHAFTESBURY, Unterredung mit sich selbst, oder Unterricht für Schriftsteller, dt. v.

Vensky (Magdeburg, Leipzig 1738). Hier wird 'to form' und 'formation' durchgehend mit
„bilden"und„Bildung"übersetzt: seine Sitten ••• bilden (168),Bildungender Begriffe (208),
sich selbst nach den besseren Mustern zu bilden und zu richten (52). ·
'EMMY CoNBTANTIN, Die Bcgiiffe „Bild" und „bilden" in der deutschen Philosophie von
Eckehart zu Herder, Blumenbach und Pestalozzi (phil. Diss. Heidelberg 1944), 8 ff.
7 Zit. ÜTTO ZIRKER, Die Bereicherung des deutschen Wortschatzes durch die spätmittel-

alterliche Mystik (Jena 1923), 29.


8 Zit. CoNSTANTIN, „Bild" und „bilden", 19.
9 FRlEDRICH Cm!.IsTOPH ÜETINGER, Abriß der Evangelischen Ordnung zur Wieder-

geburt, worinnen die Schrifftmäßige Einsicht und Ausübung der wahren Evangelischen
Mystic, oder des Geheimnisses der Evangelii, nach vier Stuffen der Wiedergeburt gezeiget
wird (Frankfurt, Leipzig 1735), 18. 312.
10 Vgl. HANs SPERBER, Der Einfluß des Pietismus auf die Sprache des 18. Jahrhunderts,

Dt. Vjschr. 8 (1930), 497 ff.; AUGUST LANGEN, Der Wortschatz des deutschen Pietismus
('l'iibingen 1954); vgl. ALBRECHT SCHÖNE, Säkularisation als sprachbildende Kraft.
Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne (Göttingen 1958); GERHARD KAlsER, Pietis-
mus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säku-
larisation (Wiesbaden 1961).

510
II. 2. 'Bildung' und 'Erziehung' Bildung.

HALLER war überzeugt (1752), daß wie bei der Bildung des Salzes auch ·bei der
Bildung eines Alexander Gesetze wirksam waren; LAVATER dagegen unterschied
im Sinne Bonnets 'Bildung' als organisches Werden von mechanischen Entstehungs-
prozessen (1770), und der Anthropologe und Anatom J. F.BLUMENBACH sprach nur
bei Organismen von 'Bildung'll.

2. 'Bildung' und 'Erziehung'

Ob der moderne Bildungsbegriff aus der Säkularisierung des pietistischen Verständ-


nisses von 'bilden' hervorgegangen ist oder aus einer Übertragung von 'Bildung'
als äußere Form und Formgebung auf den geistig-seelischen Bereich des Menschen,
läßt sich nicht eindeutig entscheiden, zumal diese Übertragung gerade solchen
Autoren möglich war, die vom pietistischen Denken mitgeprägt oder doch von ihm
erreicht wurden. Wenn seit der Mitte des 18. Jahrhunderts 'Bildung' immer mehr
ein pädagogischer Begriff wurde, so war gerade hier die Verbindungslinie zum
Pietismus offenkundig. Von 0ETINGER (1735 ), der die Wirkung des Heiligen Geistes
im Menschen afa Bildung de.r Vielheit zur Einheit verstand 12, und KLOl'STOCK, der
den Messias als Erzieher der Jünger darstellte (1748: wie er ... ihr empfindendes
Herz zu der Ewigkeit bildet) 13, führt der Weg der Bedeutungssäkularisierung einerseits
zur praktischen Tätigkeit der Erziehung und des menschlichen Erziehers in ihren
unterschiedlichen anthropologischen Ansätzen, Methoden und Zielsetzungen,
andererseits zur Aktivität der Selbstbildung, der Entwicklung des Individuums
von innen heraus. Von Anhängern der Aufklärung wie von ihren Gegnern ver-
wendet, konnte 'Bildung' synonym mit 'Erziehung' gebraucht (F. G: RESEWITZ
1773: die Aufmerksamkeit der Fürsten richte sich jetzt auf die Erziehung und
Bildung ihrer Untertanen)1 4 , aber auch, in der Abweisung mehr oder: weniger
aufgezwungener Ausbildung des Menschen zu bestimmten Zwecken, betont von
'Erziehung' abgehoben werden. Eine scharfe begriffliche Scheidung hat sich bis
heute nicht durchsetzen können; doch reflektiert die jeweilige Gewichtung der
Begriffe, die Rangfolge, die sie in der Sprache eines Autors einnehmen, dessen
philosophische und nicht selten auch politische Position. Generell dürfte sich sagen
lassen, daß 'Erziehung' stärker aktiven Akzent behält: sie ist ein zweckgerichtetes
Tun an anderen und für sie; 'Bildung' dagegen wird meist als Inhalt und Ergebnis
von Erziehung verstanden - Die Erziehung soll den Menschen zum Menschen auf eine
menschliche (d. h. seiner Natur angemessene) Weise bilden 16 - , als etwas, da,s nicht
allein durch Erziehung bewirkt werden kann, sondern Selbsttätigkeit verlangt und
als Sich-Entwickeln geschieht.

11 .Ar.BRECHT v.HALLER, Allgemeine Historie der Natur, Bd. 2 (1752); Herrn Carl Bonnets

philosophische Palingenesie, dt. v. JoH. CASPAR LAVA'.l'ER, Bd. 1 (1770); JoH. FRIEDRICH
BLUMENllACH, Handbuch der Naturgeschichte, 4. Aufl. (1791); alles zit. CoNSTANTIN,
„Bild" und „bilden", 68 ff.
n ÜETINGER, Evangelische Ordnung, 308.
13 KLol'STOCK, Messias, 3. Gesang, v. 19.
14 FRIEDRICH GABRIEL RESEWITZ, Die Erziehung des Bürgers zum Gebrauch des gesunden

Verstandes und zur gemeinnützigen Geschäfftigkeit (Kopenhagen 1773), Vorbericht.


15 KARL· SALOM6N ZAcli:ARIÄ, Über die Erziehung des Menschengeschlechts durch den

Staat (Leipzig 1802), 143.

511
Bildung m. 2. Öffentliche und politische Erziehung

III.
I. 'Erziehung'f'Bildung' (als pädagogischer Begriff')
in Aufklärung und Klassik bis 1790
Quantitativ herrschte bis in die beiden letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts
der Begriff 'Erziehung' vor, der so außerordentlich dem Bewußtsein der Aufklärer
und ihrer Neigung entsprach, ihr ganzes Wollen als Erziehung zu verstehen. In der
ersten Jahrhunderthälfte war auch der Erziehungsbegriff der christlichen Haus-
väterliteratur ('Kinderzucht', 'Auferziehung') noch im Gebrauch; dann traten
'Unterricht', 'Unterweisung', 'Lehre' in der Bedeutung „Aufklärung" stärker
hervor. Wenn in der zweiten Jahrhunderthälfte 'Bildung' zunehmend gebraucht
wurde, so war oft weithin dieselbe Sache gemeint, nii.mlir.h F.rr.iehung unn Am~­
bildung vor allem der Verstandeskräfte. J. G. SuLZER nannte 1745 die Bildung des
Verstandes und Urteils durch die Lehre das wichtigste Ziel der Erziehung;
hinzutreten müßten die Bildung des Gemütes und Geschmacks durch die Kunst; alle
gemeinsam machten den Menschen nach Maßgabe seiner vorgegebenen natürlichen
Bildung tugendhaft und vemünftig 16 • Auch F. E. VON Rocnow sah ganz im Sinne
der Aufklärungspädagogik den Zweck der Ausbildung darin, die vernünftig ange-
legten Seelen verständig zu machen; der Gebrauch der Vernunft schaUt Bildung
(Kultur)1 7 • Bildung erfolge durch Lehre, die Kenntnisse vermittelt und r.um
Denken bildet18 ; dies zu leisten sei Aufgabe der Schule, und der Bildung verstän-
diger Lehrer in Seminarien (Bildungsanstalten) müsse größte Aufmerksamkeit
gewidmet werden 1 9.

2. Die öffentliche und politische Erziehung, Bildung des Bürgers


Daß Erziehung (oder Bildung) den Menschen besser und glücklicher mache und daß
von der Zahl solcher Menschen der Grad der Glückseligkeit der Gesellschaft ab-
hänge, war ein Element des Optimismus der noch nicht selbstkritisch gewordenen
Aufklärung 20 • Deshalb war es ihr selbstverständlich, daß der Staat Interesse, Recht

18 Jon. GEORG SULZER, Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder, 2.Auß.
(Zürich 1748), 77. 105. 4.
17 FRnr.nR. F.BF.RH~Rn v. RonHow, Anfgahfl fiir mein eigenes Na.chdenken orler meine Art

zu studieren (1804), Sämtl. päd. Sehr„ hg. v. Fritz Jonas u. Friedrich Wienecke,
Bd. 3 (Berlin 1909), 197. Rochow ging davon aus, daß zwar die eiue verwün/t·ige Seele wiL
mehr, die andere mit minderen Gaben aui~geMLaLieL sei, aber ausbildbar, d. i. belehrungswürdig
und kulturfähig, sei eine jede; ders., Zusätze zu dem Summarium oder Menschen-Katechis-
mus (1796), ebd., 103.
18 Ders„ Summarium, 113. 72.
19 Ders„ Berichtigung, Erster Versuch (1792), Sämtl. päd. Sehr., Bd. 2 (Berlin 1908),

185; ders., Versuch eines allgemeinen Schulplans (1800), ebd., Bd. 3, 190.
20 Vgl. ERNST CHRISTIAN TRAPP, Versuch einer Pädagogik (1780), hg. v. Theodor Fritzsch

(Leipzig 1913). Vgl. auch JoH. BERNHARD BASEDOW, Vorstellung an Menschenfreunde


und vermögende Männer über Schulen, Studien und ihren Einfluß auf die öffentliche
Wohlfahrt (Hamburg 1768). Hier wird die allgemeine Wohlfahrt als abhängig von der
bürgerlichen Tugend, diese wiederum von Erziehung und Unterricht vornehmlich in
öffentlichen Schulen dargestellt.

512
m. 2. ö«entliche und politische Erziehung Bildung

und Pflicht habe, für die Erziehung - das ganze Leben des Menschen ist eine
Erziehung nach den Vorschriften der Theologie und Politik - zu sorgen; derjenige
Staat werde der vollkommenste sein, sagt DoHM, Zedlitz folgend 1777, in dem die
Menschen durch öffentliche Vorkehrungen am fähigsten würden, ihrer Bestimmung
nachzukommen, ihre Fähigkeiten und Kräfte auszubilden, sich zu vervollkommnen21 •
Zu diesen Vorkehrungen zählte Dohm auch einen Unterricht, der über die Pflichten
gegen die Gesellschaft, d. h. gegen Staat, Obrigkeit, Gesetze usw. belehrte, und zwar
verschieden nach den drei Klassen der Gesellschaft22• Dohm schloß sich Zedlitz'
Forderung nach solchem politischen Unterricht an, der eine immer mehr notwendige
Erweiterung des Schulunterrichts in den neuern monarchischen Staaten sei, und
auch er wollte ihn den drei Klassen: 1) der Produzierenden ... , 2) der Beso'ldeten
oder aller, welche die Nf!-tion bedienen, aufklären, bilden, 3) des Adels unterschiedlich
zukommen lassen, wollte aber als weitere Klasse die Krämer und Kaufleute hinzu-
fügen, die einer ganz verschiednen Bildung bedürften 23• Die Vorstellung einer
standesbezogenen .Bildung wurde vom friderizianischen aufgeklärten Spätabsolutis-
mus festgehalten, iiber staatspolitisch und pädagogisch uminterpretiert: jeder
St~tsbürger sollte die Bildung erhalten, die ihn in seinem Stande dazu befähigte,
optimale Leistungen für das Wirtschafts- und Wohlfahrtssystem des Staates zu
erbring1m.. In 1Ll.1Uere.u Fällll.11 äußt<de rifoh in rlf':T nf':t.nn11ng d~r Notwendigkeit von
spezieller, an der sozialen Funktion ·des einzelnen orientierten Erziehung und
Bildung schon die Kritik an Konzeptionen der „allgemeinen" Bildung, und zwar
von einer mehr pragmatischen als politisch konservativen Gesellschaftsauffassung
her. So notwendig die Verschiedenheit der Stände und Geschäfte, des Ansehens und
des Vermögens ist, so notwfmdi(J i.~t au.eh di,e Verschiedenheit der Ausbildung der
Körper- und Geisteskräfte. Der Landmann, der Handwerker, der Soldat, der Künst'let-,
der Gelehrte, der Regent, müssen jeder für ihre Verhältnisse und Geschäfte gebildet
werdenH. Dieser Gedanke durchzog das große, von Campe herausgegebene „Revi-
sionswerk", das als Kompendium der Aufklärungspädagogik verstanden werden kann.
In der Ablehnung Rousseaus wurde die Bildung des künftigen Bürgers (CAMPE) und
die Bildung des Menschen für die Gesellschaft (VILLAUME) als Aufgabe hervorgeho-
ben 25• In den Umkreis aufgeklärten pädagogischen und politischenDenkens gehörten
auch eine Reihe von Vorschlägen zur „Nationalerziehung", die seit 1780 vorlagen
und ebenso auf die durch Montesquieu angeregte Diskussion der sechziger Jahre um

21 CHRISTIAN Wn.H. DoHM, Über die F.inriohtung Ainer Volkslehre, in einem eigentlich mo-
narchi11chen Htaat, nach den Begriffen des Verfassers der Abhandlung: Über den Patriotis-
mus (s. Anm. 22), Dt. Museum 2 (1777), 98 f.
29 Ebd., 103 f.; vgl. KIBL ABRA.Hill Flm. v. ZEI>LITZ, Sur le patriotiame considere comme

objet d'education dans les etats monarchiques (Berlin 1776). .


23 DoHM, „Nacherinnerung" zu dem in Anm. 21 genannten Aufsatz, Dt. Museum 2 (1777),

104f.
24 JOHANN STUVE, Allgemeinste Grundsätze der Erziehung, hergeleitet aus einer richtigen
Kenntniß des Menschen, in: .Allgemeine Revision des gesa.mmten Schul- und Erziehungs-
wesens [zit. Revisionswerk], hg. v. JOACHIM HEINRICH CAMPE, Bd. 1 (Hamburg 1785), 261.
Vgl. auch KARL FRIEDRICH B.ilnmT, Über den Zweck der Erziehung, ebd., 62.
25 PETER VILLAUME, Revisionswerk, Bd. 8, (Wien, Wolfenbüttel 1787), 289 (Anm. CAMPEB);
ebd., Bd. 4 (Hamburg 1785), 464.

33-90385/1 513
Bildung m. 2. ö«entliehe -a politisehe Erziehung
den „deutschen Nationalgeist" zurückgingen wie durch das allgemeine wacher wer-
dende politische Bewußtsein der Deutschen des späteren 18. Jahrhunderts inspiriert
waren28. Rocuow ging es 1779 um staatliche Organisation eines guten Volksschul-
wesens zum Zwecke der Verbreitung guter Erziehung für alle Angehörigen eines
Staates 27 ; 1786 definierte RESEWITZ die Nationalerziehung als die öffentliche und
all,gemeine Veranstaltung eines Staates, seiner Jugend einerlei Grundsätze einzuflößen,
sie auf einen herrschenden Geist zu stimmen, ihre Le'bens- und Leilieskräfte nur auf
diejenige Tätigkeit zu richten, die den vMgesetzten Zweck der Staatsverfassung 'bewirken
kann, alle andere mögliche .Ausbildung dersel'ben a'ber darü'ber hintenanzusetzen oder
wenigstens nicht zum Augenmerk zu ha'ben. In Deutschland, das in viele unabhängige
Staaten geteilt sei, könne Nationalerziehung zunächst nur zweckmäßige Vermitt-
lung von vO'l'l,äufigen angemessenen Grundsätzen und Einsichten an jeden, für sein
bestimmtes Fach sein 28 • Schon 1773 aber hatte Resewitz eine soziale Gruppe als
besonders wichtig hervorgehoben: den gesitteten Mittelstand, in dem man den
Nationakharakter finde; von seiner Bildung hängt der Zustand des Ganzen ab, und
seine Sitten und Denkungsart haben wieder den nächsten und wirksamsten Einfluß auf
den großen Haufen 29• K. L. LACHMANN legte 1790 dann einen detaillierten Plan
für die Erziehung in Deutschland vor, der entsprechend der Vorstellung von der
Dreigliederung der staatsbürgerlichen GesellschafL Schulen für den Landmann und
für die untersten Stände der Städtebewohner, miUlere Bürgerschulen und unmittelbare
V O'l'übungsschulen für Gelehrte vorsah 30• Daß eine staatlich organisierte und gewähr-
leistete, öffentliche Erziehung auch Erziehung zum „Patriotismus" als aufgeklärte,
auf das Gemeinwesen bezogene Gesinnung und bewußtseinsmäßige „Teilnahme"
am Staat 11rnfa1111en müsse, dieser Vorstellung stand nichts im Wege, wenn man
Patriotismus für eine Tugend· und diese für !ehrbar ansah. Völlig zu Recht war man
überzeugt, daß Patriotismus, zumal wenn er sich auf große Staaten, auf das Reich,
auf die Menschheit bezog, ein Bildung11produkt sei 31 • Die Diskussion darüber wurde,
angefangen von Th. Abbts Schriften „Vom Tode für das Vaterland" (1761) und
„Vom Verdienste" (1765) in wachsender Breite geführt, wobei allerdings immer
auch betont wurde, daß nfoht nur die Erziehung, sondern noch mehr die Verhält-

28 Vgl. RUDOLF VIERHAUS, Montesquieu in Deutschland. Zur Geschichte seiner Wirkung

alt! politischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert, in: Collegium Philosophicum, Fschr.


JOACHIM Rrr.rER (Basel, Stuttgart 1965), 403 ff.; ders., Politisches Bewußtsein in Deutsch·
land vor 1789, Der Staat"6 (1967), 175 ff.; speziell: HANs SEEL, Beiträge zur Geschichte
des Begriffs einer deutschen Nationalerziehung am Ausgang des 18. Jahrhunderts (phil.
Diss. Münster 1925); HEJ,MUT KÖNIG, Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutsch-
land im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (Berlin 1960).
21 Rocuow, Vom Nationalcharakter durch Volksschulen (1779), Sämtl. päd. Sehr., Bd. 1
(1907), 313 ff. (s. Anm. 17).
28 REsEwrrz, Die Nationalerziehung und zweckmäßige Einrichtung des öffentlichen Erzie-
hungswesens (1773); ders., Gedanken, Vorschläge und Wünsche zur Verbesserung der öffent-
lichen Erziehung (1786); beides zit. KÖNIG, Geschichte der Nationalerzieh\llli, 196. 198.
29 RESEWITZ, Erziehung des Bürgers, 166 (s. Anm. 14).

ao KAnL LUDOLll' LACIIMANN, .Allgemeine Ideen über die einer jeden besonde1-en Menschtm-
klasse Deut.schlands zu wünschende Ausbildung und Aufklärung (1790), zit. KÖNIG,
Geschichte der Nationalerziehung, 213 f.
a1 Vgl. KÖNIG, ebd., 215 ff.

514
m. 3. Venelh1täaclifJua8 tle11 Bef!l'ill11: Bertler Bildung

nisse, also die Regierungsweise, die Gesetze, die Administration etc., Patriotismus
bewirkten. J. K. RmsBECK glaubte in Berlin den Beweis zu finden, daß nicht die
Verfassung der Regierung, sondern die Verwaltung den Geist eines Volkes bildet, und
daß das patriotische Gefühl kein ausschließliches V on"echt des Republikaners ist32 •
Diese Erziehung durch Lehre und Erfahrung zum Patriotismus, nämlich zu bürger-
licher Gesinnung, war „politische" Erziehung, „politische" Bildung in der Ver-
knüpfung von Moralismus und politischem Interesse und ·aUf der Grundlage der
Einheit von Moralistik und Politik in der praktischen Philosophi~. Der Terminus
'politische Bildung' selbst trat allerdings im späteren 18. Jahrhundert nur ver-
einzelt auf33•

3. Die Vcrsolbstiindigung des Bildwigshcgrift's: Herder

Noch im Kontext des Aufklärungsdenkens, für das Erziehung weithin identisch war
mit Aufklärung, Verbesserung, Reform, gewann der Bildungsbegriff stärkeres
Gewicht und Eigenleben gegenüber 'Erziehung'. Mit Vorzug scheint er gebraucht
worden zu sein, wenn Formung, Pflege, abe~ auch Entfaltung und -Selbstvervoll-
kommnung der menschlichen Seelenkräfte, des „Herzens", des „Geschmacks"
gemeint waren. Bei GELLERT war einerseits 'Bildung' nooh Tun doo Bildondcn
(so hatte er sich alle Mühe gegeben, sie zu bilden und ihre edeln Empfindungen von den
rauhen Eindrückungen ihrer Erziehung zu reinigen), anderseits Selbsttätigkeit (sich
durch das Lesen guter Bücher den Verstand aufheitern und das Herz edler bilden34),
allerdings noch nicht selbständige }j]ntwicklung von innen heraus. Wie für Gellert
war auch für HERDER 'Bildung' nicht Erziehung, Lehre, sondern „lebendiges"
Wirken des Lehrenden und Aktivität des Sich-Bildenden 35, und zwar nicht nur
einzelner Menschen, sondern ganzer Völker und der Menschheit. 1769 entwarf er,
bei der Lektüre Montesquieus, ein Buch zur Bildung der Völker und unterschied
die Bildung einer Nation durch sich selbst, durch Anstalten, die nicht Gesetze sein
sollten, und nach anderen Nationen 38 • 'Bildung' als zielbestimmter und teleolo-
gischer Prozeß des einzelnen Menschen ist eine Bedeutungprägung, die erst in
Verbindung mit dem Individualitäts- und dem Entwicklungsbegriff in vollem
Umfange eintrat. In dieser Begriffskonstellation, die bei·Herder erreicht und für
Klassik, Romantik, Idealismus und Neuhumanismm1 kennzeichnend ist, erfuhr der

n JoH. KAsPAR RIESBEOK, Briofo eines reisenden Franzosen über Deutschland, Bd. 1
(o. 0. 1784), 87.
33 Als Beispiel RIESBECK, Briefe, Bd. 1, 84: Wie ist ea möglich, da{J ein Hof die zum Gliick
dea Volks er/O'f'derliche politische Bildung und die Grundslitze haben kann, worauf der Wert
einer Regierung beruht •.. ?
34 CmusTIAN FÜltCHTEGO'l"r GELLERT, Leben der Schwedischen Gräfinn von G .• „ Bd. 2
(1748), Sämtl. Sohr., Bd. 4 (Ausg. Leipzig 1784), 375. - Vgl. auch Gellerts.Brief v. 4. 4. 1761,
ebd., Bd. 9 (l 784), 42.
36 JoH. GoTTFRIED HERDER, Über die neuere Deutsohe Litteratur, 2. Auß. (1768), SW
Dd. 2 (1877), ü7: büdl!:tt ·u1td nicltt unte"ichtili, Schrijt8ttller der Bildung, die nicht wie auf
Schulen und Akademien schreiben. Ders„ Journal meiner Reise im Jahr 1769, ebd.,
Bd. 4 (1878), 364: Verbesserung nickt &ehriftlich ... , aondern lebendig, durch Bildung.
38 Ders„ Einzelne Blätter zum „Journal der Reise", ebd., Bd. 4, 466. 477.

515
Bildung m. 3. Verselhständigung des Begriffs: Herder
Bildungsbegriff in Deutschland eine gewaltige Erweiterung, die ihn in die Nähe der
Begriffe 'Geist', 'Kultur', 'Humanität' rückte und damit die Bedeutungsebene von
'Aufklärung', 'Erziehung', 'Fortschritt' überholte. Bei Herder war 'Bildung' der
zentrale Begriff sowohl für Zweck und Intention derjenigen, die an der Verbesserung
der Menschen arbeiten, als auch für den Vorgang der körperlichen, seelischen und
geistigen Entwicklung. 'Bildung' wurde ihm zum selbständigen Begriff, weil das
Gemeinte selbstverständlich war: die wichtigste Sache der Menschen in Geschichte
und Gegenwart. So konnte er von Zeiten der BiUung, vom Geist der BiUung
sprechen'. Welche würdige Beschäftigung, dem Menschlichen G.eist, Geist 'der BiUung,
Geist der Völker, Geist der BiUung der Völker nachzuspüren/ 37 Das geistig-sittliche
Werden des einzelnen wie der geschichtliche Gang der Menschheit waren Bildung,
beide wurden in Analogie gesehen, 'Bildung' .war Wachstum, Fortschreiten,
geschichtlicher rrozeß, Entwicklung: das war die Grundidee des Duches von 1774;
„Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", deren Absicht
treffend als UniVM'sal,geschichl6 der BiUung der Welt bezeichnet .worden istss.
'Bildung' im umfassenden Sinne war nicht das Ergebnis bewußten, planmäßigen
Tumi, 1mndern daii Werk von Natur nnfl (l~Rr.hiclit.e. fäl.dwng 111n.d Forthildung einer
Nation ist nie anders ·als ein Werk des Schicksals: Resultat tausend mitwirkender
Ursacken, gleichsam des ganzen Elements, in dem sie leben 39• Der Mensch (wie die
menschliche Geschichte) war dadurch bedingt, daß er erst zu dem wurde, was er
sein konnte und sollte. Ist die Menschliche Natur keine im Guten selbständige Gottheit:
sie muß alles lernen, durch Fortgänge gebildet werden, im allmiihlichen Kampf immer
weiter schreiten; natürlich wird sie also von den Seiten am tneisten oder allein gebildet,
wo sie dergleichen Anwsse zur Tugend, zum Kampf, zum Fortgange hat - in gewissem
Betracht ist also jede Menschliche Vollkommenheit National, Säkular und am
gena·uesten betraclitet, lnd·i·V'iil·uell. Ma1i b{ldet 1i·icltts am, als woz·u Ze-it, Kz.ima,
Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlaß gibt' 0 • In: der Geschichte seien die jeweils vor-
handenen Institutionen und Herrschaftsformen den Entwicklungsphasen der
Menschheit angepaßte Mittel der Bildung gewesen. Die Entwicklung geschah aus
Orient und der Kindheit herüber- natürlich mußte also noch immer Religion, Furcht,
Autorität, Despotismus das Vehikulum der BiUung werden41 • Durch die verschiedenen
N ationalbiUungen seien die Seelenkräfte des Menschengeschlechte als durch Stufen
und Zugänge entwickelt .wordcn42.
N ocli umfassender war die An.wendung des Bildungsbegriffs in Herders „Ideen zur
Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784), wenngleich er hier quantitativ
zurücktrat. Einerseits hatte 'Bildung' hier die alte Bedeutung der äußeren Gestalt
(nördliche, östliche, asiatische, menschliche, vernunftähnliche Bildung etc.), an-
dererseits diejenige der Ausformung und zwar so.wohl der anorganischen und

37 Ebd., 478.
38 RUDOLF HAYM, Herder, Bd. 1 (1877; Berlin 1958), 573.
39 HERDER, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774),
SW Bd. 5 (1891), 539.
40 Ebd., 505.
41 Ebd.,490.
42 Ebd., 519.

516
III. 4. Goethe Bildung

organischen Natur, die der Mensch nicht verändern konnteu, als auch der seelischen
und geistigen Kräfte bis zur BiUlung der Humanitiit ... , der alk niedrigen Bedürf-
nisse der Erde nur dienen und selbst zu ihr führen solkn44• Das sonderbare Mittel zur
BiUlung der Menschen sei die Sprache, das, was ihn überhaupt zum Menschen
mache: außer der Genesis "lebendiger Wesen vielleicht das größeste (Wunder) der Erde-
schöpfung4&. -Durch dieses Verständnis der Geschichte als einheitlichen Bildungs-
prozeß, in dem Natur, Seele und Geist sich entwickeln, hat Herder nicht nur dem
Bildungsbegriff eine fast universale Bedeutung gegeben, sondern auch dem histori-
schen Verstehen eine neue Tiefendimension gewonnen. Dessen war er sich bewußt:
GoUlene Kette der BiUlung also, die die Erde umschlingt und durch alk 1ndividuen bis
zum Thron der Vorsehung rewhet, seitdem wh dwh ersah und in deinen schönsten
Gliedern . . . ver/07,gte, ist mir die Geschichte nicht mehr . . . ein Greuel der Verwüstung
m4 eirtR.r hR-iligen Erde ... Immer verjüngt in seinen Gestalten, blüht der Genius der
Humanitiit auf und ziehet palingenetisch in Völkern, Generationen und Geschlechtern
weiter46•

4. Goethe

Dir. AnRwAitnng und Bedeutungsaufladung des deutschen Bildungsbegriffs ist nicht


die Folge davon, daß Erziehung zunehmend wichtiger genollillien und die Frage
nach dem Ziel der Erziehung heftiger diskutiert wurde. Vielmehr war diese ,,päd-
agogische Bewegung" Ergebnis eines umfassenden Wandels desBildes vomMenschen,
aus dem eine neue Erziehungs- und Bildungskonzeption hervorging, die so stark
fortwirkte, daß wir, in dieser Hinsicht, „mitdemJahrhundert Goethes noch immer wie
gleichzeitig""' sind. Bei GOETHE selber stand der imliviumille Werdelll:I- uuu Aus-
bildungsprozeß des einzelnen im Mittelpunkt; die eigene Bildung wurde unendlich
wichtig genommen („Dichtung und Wahrheit"), und Bildung war der Inhalt des
bedeutendsten Entwicklungsromans der deutschen Literatur („ Wilhelm Meister").
Alles, was uns begegnet, üißt Spuren zurück, alks trägt unmerklwh zu unserer BiUlung
bei 48 • Wenn Goethe auf der einen Seite überzeugt war, daß eigener Bildungswille
wertvoll .und nützlich war (auf eigene moralische BiUlung los zu arbeiten, ist das
Einfachste und Tulwhste, was der Mensch vornehmen kann 49 ), wies er andererseits
auf die äußeren, vor allem die sozialen Bedingungen von Bildung hin. Wilhelm

' 3 So sehr uns in den Eingeweiden der Erde alles noch als Chaos, als Trümmer vorkommt, .••
so nehmen wir doch sdbst in dem, was unB das Kleinste und Roheste dünkt, ein sehr bestimmtes
Dasein, eine Gestaltung und Bildung nach ewigen Gesetzen wahr, die keine Willkür der
Menschen verändert. Auch: Bildung (genesis) ists, eine Wirkung innerer Kräfte; SW Bd. 13
(1887), 47. 173.
44 Ebd., 189; vgl. auch SW Bd. 14 (1909), 211.
45 Ders., SW Bd. 13. (1887), 354 f. - Sprache aber ist ihrerseits gebildet worden: Gesang,
Dichtkunst und ein früher Gebrauch des freien Lebens habe die griechische Sprache
zur Musensprache der Welt gebildet; SW Bd. 14 (1909), 99.
46 Ebd., Bd. 13 (1887), 353.
47 llANs-GEORG GA.DAMER, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen

Hermeneutik,.2. Aufl. (Tübingen 1965), 7.


48 GOETHE, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 7. Buch (1796), HA Bd. 7 (1950), 422.

' 9 Ders., Dichtung und Wahrheit, 16. Buch (1833), HA Bd. 10 (1959), 88.

517
Bildung Ill. 5. Die Bedeutung der Griechen

Meister, dessen Wunsch es von Jugend an war, mich selbst, ganz wie ich da bin,
auszubilden, fand dazu als „Bürger" keine Möglichkeit, denn in Deutsch'land ist nur
dem Edelmann eine gewisse allgemeine ... personelle Ausbi"ldung möglich. Ein Bwger
kann sich· Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine
Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen, wie er will. Wilhelm aber will
eine öffentliche Pers0n sein, gefallen, Geist und Geschmack ausbilden. Du siehst
wohl, daß das alles für mich nur auf dem Theater zu P,nden ist, und daß ich mich in
diesem einzigen Elemente nach Wunsch rühren und ausbilden kann. Auf den Brettern
erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern
Klassen 60 •
Eigenes Streben, Führung durch andere Menschen und Aufgabe, andere Menschen
zu bilden, lassen Wilhelm noch andere Stufen der Bildung durchschreiten. Bedeu-
tete schon beim klassischen Goethe Bildung zur Vollkommenheit in der Ausbildu11g
des Inneren und des Äußeren Einhalten des Maßes 61 , so verstärkte sich spät~r bei
ihm der Bezug auf praktische Bewährung: Eines recht wissen und ausüben gibt
höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen 52 • - Wenn Goethes Begriff der
Bildung und des gebildeten Menschen mehr als der Herdersche in das Bewußtsein
der deutschen Gebildeten aufgenommen worden ist, so wegen der implizierten
H11.rmonievorstellung - 'Bildung' bezog sich nicht nur auf Seele und Geist, sondern
auch auf äußere Gestalt, Auftreten, Rede - nnil wegen der aus oft simplifizierter
Identität von Person und Werk abgelesenen Vorbildhaftigkeit Goethes selber, dem
diese Gebildeten zwar die Außerordentlichkeit des Genies zubilligten, bei dem sie
aber doch auch unablässiges Bildungsstreben beobachteten, das ein Teil ihres
Selbstbewußtseins und, bis zur Trivialität, eine Maxime ihrer Pädagogik bildete.

5. Die :&deutung der Grlecllen

Paradigma aller Bildung waren für Goethe die Griechen. WINCKELMANN hatte
schon 1755 festgestellt: Der einzige Weg für uns, groß, ja wenn es möglich ist,
unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten6 3. 1758 fand auch WIELAND
das Vorbild für die Bi"ldung des Verstandes und des Herzens oder die Bildung der
Seele bei den Griechen, die glaubten, der Mensch komme gleichsam n'!tr als ein
Embryon auf die Welt, er müsse erst zum Menschen ausgebildet werden. Ihre Aus-
bildung habe edle Simplizität und ungezwungene Eleganz ... , Natur, Humanität und
Anstand ... , Genie, Geist und Stärke hervorgebracht; alle Vorzüge und Vollkommen-
heiten . .. , die einen freien und edlen Menschen von einem Sklaven und menschen-
ähnlichen Tier unterscheiden 54• Werden nicht Denker, Gelehrte und Künstler

&o Ders., Wilhelm Meisters Lehrjahre, 5. Buch (1795), HA Bd. 7 (1950), 290 ff.
61 So iat'a mit aller Bildung auch besckaUen: / Vergebens werden ungebundene Geister/ Nach
der Vollendung reiner Höke streben. - /Wer Großes will, muß aick zuaammenraUen; /In der
Beackränlcung zeigt BiM erst der Meister, / Und das Gesetz nur kann uns Fr~ikeit geben;
ders., Das Sonett (1800), HA Bd. 1 (1948), 245.
61 Ders., Wilhelm Meisters Wanderjahre, 1. Buch (1829), HA Bd. 8 (1950), 148.
68 JoH. JOACBIM WINCKELMANN, Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke

in der Ma.lerey und Bildhauerkunst, 2. Aufl. (Dresden 1756; N dr. Baden-Baden 1962), 330.
H WIELAND, Plan einer Academie zu Bildung des Verstani:les und des Herzens junger
Leute (1758), AA 1. Abt., Bd. 4 .(1916), 194. .184. 189. 185.

518
m. 6. ADgemeine Bildung: Humboldt Bildung

angelockt, fragte Goethe 1798, sich in Gedanken in ein Volle zu versetzen, dem seine
Vollkommenheit, die wir wünschen und nie e'f'feichen, natürlich war, bei dem in einer
Fol,ge von Zeit und Leben sich eine Bildung in schö'ner und steigender Reihe ent-
wickelt, die bei uns nur als Stückwerk vornhergehend erscheint? 55 Deshalb sei die
.Annäherung an Sokrates, Platon und Aristoteles ein Ereignis, das unsere Bildung
zu befördern sich jederzeit kräftig erweist. Sich ernstlich am Altertum bilden zu wollen,
gebe die Empfindung, erst eigentlich Mensch zu werden; darum wünschte Goethe,
daß das Studium der griechischen und römischen Literatur die Basis der höheren
Bildung bleibe58• Daß das Studium der alten Sprachen die Grundlage der gelehrten
Bildung sein müsse, rechtfertigte HEGEL 1809 damit, daß die Griechen und Römer
sei'.t einigen Jahrtausenden ·. . • der Boden seien,. auf dem .alle Kultur gestanden hat;
jeder neue Aufschwung der Wissenschaft und Bildung habe sich aus der Rückkehr
zum.Altertum ans Licht gehol>en 61 • Der Bildungswert der Welt und der Sprache der
„Alten" für die gegenwärtige Bildung bestand aber für Hegel nicht schon darin, daß
man sie sich als Vorbild aneignete; sie boten vielmehr einen frühem Stoff und
Gegenstand, über den sie arbeitet, den sie verändert und neu formiert ... Um aber zum
Gegenstande zu werden, muß die Substanz der Natur und des Gei6te8 uns gegenüber
getreten sein, sie muß die Gestalt von etwas Fremdartigem erhalten haben68 •
Die Vorstellung, daß im antiken Griechenland die bisher in der Geschichte höchste
Bildungsstufe erreicht worden sei, bezog sich ganz vornehmlich auf die drei Bereiche,
die dann auch im Zentrum der Bildungsidee des deutschen Neuhumanismus
gestanden haben: Sprache, Philosophie und Kunst. In ihnen meinte man bei den
Griechen Vorbildlichkeit für alle Zeit: klassische Vollendung zu erkennen, die
zugleich als Hilfe dienen sollte, von der Orientierung an französischer Bildung
freizukommen. Mit der Festlegung des Gymnasiahmterrichts auf beide alten
Sprachen und des Zugangs zum gelehrten Unterricht o.uf do.e Gymnasium sind das
Griechische und Lateinische zum Grundelement des höheren deutschen Bildungs-
wesens und ihre Kenntnis zum Ausweis der „Gebildeten" geworden. Andererseits
hat die Kritik an der Monopolstellung der alten Sprachen und an der Geltung der
klassischen Bildung schon früh eingesetzt - z. T. in Verbindung mit der Kritik an
der Vemachlässigung der , ,Realien" im Unterricht und der praktischen Bildung für
Beruf und wirtschaftliche Klassenfunktion (s. u.).

6. Allgemeine Bildung: Humboldt


Unvermeidlich mußte die Diskrepanz zwischen der klassisch-idealistisch-neu-
humanistischen Bildungskonzeption, die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderta
entwickelte, und der „bürgerlichen" Standes- und Berufsbildung, wie sie die
utilitaristische Staatspädagogik des aufgeklärten Absolutismus vorsah, zu Priori-
tätskonßiktenführen, hinter denen sich grundsätzliche philosophische und politische
Positionen verbargen. Die Frage wurde gestellt, ob und inwiefern bei der Erziehung
die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sei

65 GOETHE,Einleitung in die Propyläen, HA Bd. 12 (1953), 38~


68 Dere., Maximen und Reflexionen, Nr. 360. 359. 998. HA Bd. 12 (1953), 414. 413. 505.
&1 HEGEL, Gymnasialrede am 29. 9. 1809, SW Bd. 3 (1927), 233.
68 Ebd., 240.

519
Bildung m. 6. Allgemeine Bildung: Humboldt
(1785), und von P. V1LLAUME dahin beantwortet, daß die Gesellschaft berechtigt
sei, eine Begrenzung zu verlangen. Maßstab für die Grenze der Bildung, zu der jeder
Bauer über das hinaus, was ihm gut tue, fähig sei, sei das W okl des Staates5 9•
PEBTALOZZI dagegen ordnete die Berufs- und Standesbildung . . . dem allgemeinen
Zweek der .Menschenbildung unterao, und auch J. CH. VoLLBEDING meinte, erst soll
der Mensch gebildet werden, ehe man darauf denken darf, den Bürger oder Bauer
zu bilden81 • REHBERG setzte zwar unterschiedliche Bedürfnisse bei den ver-
schiedenen Ständen voraus, sah aber in dem Bestreben, auch dem. untersten
Stande die Bildung des Bürgers zu geben, einen der vorzügli<ihsten Gegenstände einer
edlern Staatskunst 62 • Der Staat benötige indes auch eine große Zahl fähiger Diener
von gebildetem Geiste und Kenntnissen 63 , die nur dann zur Verfügung stünden, wenn
viele sich entsprechend ausbilden könnten. Dem Zufall muß man also das freieste
Spiel lassen, die Gelegenheit zur vollkommensten Ausbildung so vielen als nur immer
möglich ist, verstatten, den allgemeinen Unterri<iht auf möglichste Vervollkommnung
gründli<iher Einsichten anlegen . . . Und alles dieses ni<iht sowohl, weil der Staat so
f!iele wissenschaftlich gebildete Menschen braucht, als vielmehr weil er schuldig ist, für
die mögli<ih größte und mannickfaltigste Ausbildung so vieler Köpfe zu sorgen, als
immer möglich64.
W1Ll:l.JllL.M. vo.N HuM.HOLll'l', für den Menschen bilden hieß, sie nickt zu äußeren
Zwecken zu erziehen, und der den Menschen nicht dem Bürger aufopfern wollte 65,
schrieb dann 1792 dem Staate nur eine ermöglichende Rolle zu und meinte, daß
die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete
Bildung des Menschen überall vorangehen müsse. Der so gebiUete Mensch müßte dann
in den Staat treten, und die Verfassung des Staates sieh gleichsam an ihm prüfen, nur
so sei wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation zu ho:lfen66• Noch
1810, als Humboldt dem Staate lö.ngst eine aktive Rolle in der Organisation des
Bildungswesens abverlangte, hielt er daran fest,. daß der Staat nur die in der
positiven Gesellschaft nötigen äußeren Formen und Mittel für die· Bearbeitung der
Wissenschaft (um sie als einen nicht absi<ihtlick, aber von selbst zweckmäßig vor-
bereiteten Stoff der geistigen und sittlichen Bildung zu seiner Benutzung hinzugeben) 67
bereitzustellen habe (und schon dabei schädlich sein könne).
Humboldt knüpfte die Bildung als vollkommene Entfaltung individueller Möglich-

69 VILLAUME, in: CAMPE, Revisionswerk (vgl. Anm. 24), Bd. 3 (1785), 535.
80 JoH. HEn.LUCH PESTALOZZI, Die Abendstunde eines Einsiedlers (1779/80), SW Bd. 1
(1927), 270.
81 JoH. ClllusTOPH VoLLBEDING, Über die Bildung des Bürgers, der Bildung des Menschen

untergeordnet (Leipzig 1789), 17.


u Aua. WILHELM REHBERG, Sollen die alten Sprachen dem allgemeinen Unterricht der
Jugend in den höhern Ständen zum Grunde gelegt oder den eigentlichen Gelehrten allein
überlassen werden?, Berlinische Monatsschr. 11(1788),107.
83 Ebd., 108.
H Ebd., 120.
85 W. v. HUMBOLDT, Ideen zu einem Versuch die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu

bestimmen (1792), AA Bd. 1(1903),175. 143.


88 Ebd., 144.
97 Ders., Über die innere und äußere Organisation der höheren Wissenschaftlichen Anstal-

ten in Berlin (1810), AA Bd. 10 (1903), 253. 251.

520
m. 7. Politisehe Relevanz und Gefahren der Bildung Bildung

keiten, die der Staat durch seine Institutionen nicht zu steuern berechtigt war, an
die Bedingung der - durchaus politisch verstandenen - Freiheit: Der wahre Zweck
des Menschen . .. ist die höchste und proportionierlichsteBildung seiner Kräfte zu einem
Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung. Um-
gekehrt aber erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen
gleich hohen Grad der Bildung . . . Besitzt daher ilas gegenwärtige Zeitalter· einen
Vorzug an dieser Bildung, so muß man ihm auch die Freiheit gewähren, auf welche
derselbe mit Recht Anspruch macht68 • Daher sah Humboldt das letzte, nur durch
Gewährung der höchsten Freiheit erreichbare Ziel darin, die Bildung der Bürger bis
dahin zu erhöhen, daß sie alle Triebfedern zur Be/örderung des Zwecks des Staats
allein in der Idee des Nutzens finden, welchen ihnen die Staatseinrichtung zwr Er-
'l'eichung ihrer individuellen Absichten gewährt 69 • Diese Vorstellungen des jungen
Humboldt über die Aufgaben und Grenzen der Staatsgewalt maßen den Staat
daran, wie weit er individuelle und humane Bildung gestattete und begünstigte.
Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter, von dem ganzen Menschenge-
schlecht, wenn man ihm seine Achtung und seine Bewunderung schenken soll? Man
verlangt, daß Bildung, Weisheit und Tugend so allgemein verbreitet, als möglich, unter
ihm herrschen, daß es seinen innern Wert so hoch steigern, daß der Begriff der
Menschheit, wenn man ·ilin von ilim, als dem einzigen Beispiel, abziehen müßte, einen
großen und würdigen Gehalt gewönne 70 • Höher konnte die allgemeine geschichtliche
Bedeutung von 'Bildung' nicht gesteigert werden; in dem so gefaßten Begriff lag
indes nicht nur Herausforderung an die staatlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, er
drückte auch ein sehr hohes Selbstverständnis der Gebildeten von ihrer sozialen
Funktion aus. Es überstieg noch das Ausmaß dei:isen, was der Begriff 'Aufklärung'
implizierte, der nun zunehmend auf die intellektuelle Bildung durch Information,
Belehrung, Aktivierung der Vernunft eingeengt wurde, nachdem er allerdings auch
durch den vulgärphilosophischen Troß der Aufklärung diskreditiert worden war.

7. Inhalt, politische Relevanz und Gefahren der Bildung

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre hatte sich der Bildungsbegriff im Bewußt-
sein der schreibenden und lesenden Deutschen weithin selbständig gemacht und
solche Dimensionen gewonnen, daß er 'Aufklärung' übergriff und der 'Erziehung'
die Rolle eines Mittels beilegte. 1785 definierte CHR. F. VON UNGERN-STERNBERG
den logischen Unterschied zwischen 'Bildung' und 'Aufklärung' derart, daß diese es
mit der erkennenden, jene es mit der ausübenden Vernunft zu tun habe. Die echte
Bildung ist nie ohne einen gewissen Grad von Aufklärung möglich, diese letztere
hingegen leider oft von aller Bildung getrennt 71 • Die schon in den siebziger Jahren
rege und breite Diskussion um pädagogische Fragen wurde durch den Begriff der
humanen Bildung, die sich der Planung weitgehend entzieht und durch Tradition,

88 Ders., Ideen, AA Bd. 1, 106. 101.


89 Ebd., 158.
70 Ders., Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück (1793), ebd., 284. Vgl. WALTER

H. BRUFORD, The Idea of 'Bildung' in W. v. HumboJdt's Letters, in: The Era of Goethe
(Oxford 1959), 17 ff.
71 CHR. FRIEDRICH FRH. v. UNGERN-STERNBERG, ~lick auf die moralische und politische

Welt. Was sie war, was sie ist, was sie seyn wird (Bremen 1785), 238, Anm. 2.

521
Bildung m. 7. Politische Relevanz und Gefahren der Bildung
Zeit, Nation, Menschheitsidee, Begegnung mit den „Alten" bestimmt ist, belebt
und durch zahlreiche Versuche vorangetrieben, Ziel und Aufgabe von Bildung, aber
auch ihre geschichtlichen Bedingungen zu bestimmen. Bildung des äußern Men-
schen ... ohne Bildung des innern Menschen gibt b"loß Politur; Bildung des Ge-
schmacks ohne Bildung des Herzens, gibt bloß Kultur; Bildung des Verstandes ohne
Bildung des Herzens und des Geschmacks gibt bloß Aufklärung72 • Daneben standen
Warnungen vor einseitiger ästhetischer Bildung, für die das Beispiel des von dieser
Seite so hochgebildeten Griechen'land ... , das an religiöser und sittlicher Aufklärong
so unverhältnismäßig zurückstand, genannt wurde 73 • Wichtiger sind Äußerungen,
die öffentlich - Humboldts Schrift von 1792 war zu ihrer Zeit vollständig nur im
kleinen Kreise bekannt! - den neuen Bildungsbegriff politisch-kritisch ver-
.wendeten. 1796 hieß es, das Naturgesetz gestatte keine andere Bildung als jene, die
in jedem einzelnen Menschen von innen heraus ... geschiehet. Allein der Despotismus
forderte Automaten; - und Priester und Leviten waren fühllos genug, sie ihm aus
Menschen zu schnitzen74..
Durch die Französische Revolution hat dann die schon vor ihrem Ausbruch
angeklungene negative Beurteilung der Aufklärung und der ihr zugehörigen Bildung
weiteren Auftrieb bekommen. Für FRIEDRICH GENTZ, der schon 1793 feststellte,
daß der ~i.»t dar Menschen in keinem Horoioh oo übcrgcbildct und verbiükt !!ei wie
in dem der Politik 75.• w11.r clie R.evoh1tion aua einer umglii.r.klir.htm. Misc.lmng tion
großer Bildung und Verfeinerung des Verstandes, und großer Verderbtheit des
Charakters 7 e hervorgegangen. In der „Eudämonia" 1797 wurde die gesamte Er-
ziehung der Jugend auf Schulen und Universitäten seit zwanzig Jahren als revo-
lutionär bezeichnet, auf sie die unselige Verbildung, die Vernachlässigung der reli-
giösen und sittlichen Bildung zurückgeführt und ihr die Intention der Religions-
11.nd Bt.aatsumwälzung zugeschrieben 77 • Die ohrietlioho Religion ho.bo viele 11.lillionen
einzelner Menschen in hohem Grad zu tugendhaften guten Bürgern gebildet, und zur
äußern politischen Kultur mehr beigetragen ... als alle phi"losophischen Anstrengungen
zusammengenommen7 8.
Die schon mit der Reaktion auf die Aufklärung einsetzende, im Illuminaten-Verbot
(1785) und im .Wöll~erschen Religionsedikt (1788) ausgedrückte Verdächtigung der

71 [FBANz PossELT], Apodemik, oder, die Kunst zu raisen. Ein systematischer Versuch zum

Gebra.uch junger Rfiisenden aus den gebildeten Ständen überhaupt und angehender Ge-
lehrten und Künstler insbesondere, Bd. l {Leipzig 1795), 269.
73 JoH. LUDWIG EwALD, Ist es jetzt rathsam, die niederen Volksklassen aufzuklären?·

{Leipzig 1800), 87.


n Annalen der 'leidenden Menschheit, hg. v. August Hennings, 2 (1796), 224.
75 FRIEDRICH GENTZ, Betrachtungen über die französische Revolution (1793), Ausg.
Sehr., hg. v. W. Weick, Bd. l {Stuttgart, Leipzig 1836), 3.
71 Ders„ Über den Ursprung und Charakter des Krieges gegen die französische Revolution
(1801), Ausg. Sehr„ Bd. 2 (1837), 335.
77 Über revolutionäre Erziehung, ein Wort zum Aufmerken auf die Zeichen unserer Zeit,
in der Zs. Eudämonie. oder deutsches Volksglück. Ein J ourna.l für Freunde von Wahrheit
und Recht 5 (1797), 190. 199. 203. - Vgl. auch: Revolutionsalmanach {Göttingen 1794),
216.
7 e Einige Bemerkungen über die Organisation des Reichs der Finsterniß, Eudämonia 5

(1797), 113.

522
a) Politi~he Bildun1 Bild uns

Bildung (als Aufklärung und Ermächtigung des mündigen, selbstdenkenden


Menschen zur Kritik) sah sich durch die Französische Revolution bestätigt; sie
blieb fortan eine Komponente im Kampf der politische:n Meinungen, aber auch in
der Auseinandersetzung über die Richtung staatlicher Bildungspolitik. Demgegen-
über sahen sich die „aufgeklärten" und „liberalen" Gebildeten genötigt, „wahre"
Aufklärung und Bildung mit dem, von der großen Mehrheit fest geglaubten,
Argument zu verteidigen, daß „wahre" Bildung (und auch „wahre" Aufklärung)
die Revolution gerade verhindere, indem sie Reformgesinnung auf seiten sowohl
der Regierenden als auch der Regierten wecke. Daß solche Gesinnung, daß Einsicht,
Vernunft, Menschenliebe einen maßvollen Fortschritt in Gesellschaft und Staat
bewirke, war der elementare (und vielfach die realen Gegebenheiten überspringende)
Glaube der de~tschen Gebildeten, der nicht nur aus einer hohen Einschätzung der
Macht von Bildung hervorging, sondern auch aus der Beobachtung von Reform-
praxis im aufgeklärten Absolutismus. Wenn diese auch als einseitig galt und als
Schranke für individuelle Entfaltung angesehen wurde, so war es doch nur eine
Minderheit der Gebildeten, die die politische Revolution als unumgänglich bejahten.
Beruhigend hieß es 1794, Aufklärung und Bildung würden die Menschen nicht
verstimmen; der gebildete Mensch sei weit tätiger für das allgemeine Beste als der
Ungebildete 79, und ein gebildeU:s Volk auch zu größten Aufopferungen fähig, wenn
es überzeugt sei, daß diejenigen, die Opfer fordern, dies zum Besten der Gesellschaft
tunso. lTnd beschwörend: 0 Freunde der Menschheit, was heißen einzelne Unord-
nungen, gegen den Gewinn, den uns eine Nationalgeistesbildung zusichert 81 • Während
auf der einen Seite (im Blick auf die ostelbische Agrarverfassung) festgestellt wurde,
daß ohne. Freiheit geistige, sittliche Bildung und Gemeingeist unmöglich seien 82,
wurde es andererseits für evident erklart, daß der Gebildete Freiheit nicht mit
Willkür verwechseln werde, ja nur er der Freiheit würdig sei und sie ertragen
könne 83 • Unüberhörbar klang in derartigen Äußerungen die Identifizierung von
Bildung und Ordnung an, für die das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts
gern den klassischen Goethe als Kronzeugen anrief.

IV.

1. Revolution, Reform und nationales Bewußtwerden (1790-1820)

a) Politische Bildung. In den Jahren nach der Französischen Revolution ist auch
der Begriff der 'politischen Bildung' in der Diskussion über ihre Notwendigkeit und
ihre Gefahren voller ausgeprägt worden. In Auseinandersetzung mit der Französi-
schen Revolution hat F. GENTZ 1793 eine National-Erziehung für Frankreich zwar
als Bedürfnis angesehen, sie aber - nämlich die Absicht, die französische Nation
erziehen, sie zu Bürgern ... bilden zu wollen - als eine Chimäre bezeichnet; allen-

79 Ob die Aufklänmg Revolution befördere?, Dt. Monatsschr. 5 (Berlin 1794), 19 f.


80 Der Genius der Zeit. Ein Journal, hg. v. August Hennings, 2 (1794), 383 f.
81 Ebd. 2 (1795), 166.
82 JoH.LUDWIG EWALD, Gemeingeist. Ideen zur Aufregung des Gemeingeistes (Berlin 1801),

119. 121 f.
83 Genius der Esthen und Letten, Genius der Zeit, hg. v. August Hennings, 3 (1798), 39.

523
Bildun~ IV, 1, Revolution und Reform 171tß-1820

falls sei ein National-Unt,erricht möglich 84• REHBERG kam im gleichen Jahre, nach
vorheriger heftiger Kritik an der Ausweitung von gelehrter Bildung auf alle Klas-
sensli und an der allgemeinen Verbreitung von Schriften über politische Gegenstände
zu folgender Charakterisierung einer wahren politischen Bildung: Sie erfordere
einen Zusammenfluß von günstigen Umständen, allmiihlich entstandene Einrichtungen
u'Ylil Gewohnheiten, wodurch einige Mitwirkung zu .Ange'legenheiten des gemeinen
Wesens, dem Mittelstande zuteil wird: denn eine dazu geschickte Bildung l,äßt sich
doch nur von diesem hoffen, uni/, die unf,ersten Klassen von Menschen werden durch die
· Natur der Dinge von demselben ewig ausgeschlossen bleiben. Das erste Erfordernis
dieser politischen Bildung einzelner Menschen sowohl als ganzen Nationen, ist Mäßi-
gung u'Ylil Selbstbeherrschung, nicht über die Grenze hinausgehen zu wollen, wekhe die
Verfassung des Staats u'Ylil persönliche Verhältnisse vorschreiben. Der Ungestüm, den
die popul,ären Schriftsteller zu erregen suchen, widerstreitet dieser wahren politischen
Bildung noch rMhr als die sohl,äfrigc Gleichgültigkeit, aus der man allzu leicht ·in jene
entgegengesetzten Fehler übergeht 86• Das hier formulierte antirevolutionäre Ver-
ständnis von politischer Bildung ist für große Teile der deutschen Gebildeten
charakteristisch geblieben. Wenn andere mehr als Rehberg die vorteilhaften Folgen
der Volksbildung81 und einer zweckmiißigen Erziehung für den Staat betonten, die
da.11 e·inz·ig Mnwnglicli wfrksa'llw S·iclwrw1UJsm'itwl gegen revolutiorilire Grundsätze und
Ruhe störende .Absichten gewähre88, dann gelangten sie .doch konkret nicht über
aufgeklärt-patriotische Volkserziehungspläne hinaus, deren Tendenz es war, nicht
nur die bestehenden sozialen und politischen Verhältnisse zu rechtfertigen, son-
dern die „Staatsbürger" zur Einsicht in sie zu befähigen und von ihrem
patriotischen Engagement einen Zuwachs an innerer politischer Lebendigkeit wie .
an äußerer Stabilität des Staates zu gewinnen. Im „Staatsbürgerunterricht" sollte
die Vernunft gelenkt, der Patriotismus geweckt und aus beiden ein Handeln
ermöglicht werden, das vorher nur aus Gehorsam erfolgte; davon wiederum würde,
so hoffte man, nicht nur der Staat profitieren, sondern auch der einzelne Bürger als
moralische Person an Selbstachtung gewinnen. - Solche und ähnliche Erwar-
tungen wurden an die „Nationalerziehung" geknüpft, die zwar von unterschied-
lichen politischen Positionen her und mit verschiedenem Akzent vorgetragen
wurden, dennoch aber in einzelnen Punkten konvergierten. Vier z. T. sich über-

u GENTZ, Über die National-Erziehung in Frankreich, 1793, Ausg. Sehr., Bd. 2 (1837), 181 f.
e& Die Bildung der größem V olkaklasaen durch wissenschaftliches Lernen und durch Lesen
ist iiberhaupt unnatürlich. Die Art von Bittlicher Bildung, wilche dOOurch hervorgflJracht
werden kann und ausdrücklich von den Freunden dieses Systems beabsichtigt wird, schickt
sich nicht für den, der die Bil,d,ung zu seinen Geschäften auf einem an.dem Wege erhalten hat;
AUGUST WILH. REHBERG, Untersuchungen über die französische Revolution nebst kriti-
schen Nachrichten von den merkwürdigsten Schriften, welche darüber in Frankrefoh er-
schienen sind, Bd. 1 (Hannover 1793), 211.
H Ebd., Bd. 2 (1793), 411.
87 FERDINAND AUGUST GRAF v. SPIEGEL an seinen Bruder Franz Wilhelm, 20. 3. 1792,

zit. WALTER LreGENS, Ferdinand August Graf Spiegel und das Verhältnis von Kirche und
Staat 1789-1835, Bd. 2 (Münster 1965), 559.
88 CHRISTIAN DANIEL Voss, Versuch über die Erziehung für den Staat als Bedürfniß

unsrer Zeit, zur Beförderung des Bürgerwohls und der Regenten-Sicherheit, Bd. l (Halle
1799), 90 f.

524
b) 'Gebildete Stände' Bildnng

kreuzende Tendenzen sind erkennbar: 1) das soziale Interesse der Gebildeten selber,
das sich in den Nationalerziehungsplänen dokumentiert; 2) die Neigung, umfassende
Erziehungspläne (denn die politische Bildung im engeren Sinne war stets nur ein
Teil von ihnen) staatlich zu institutionalisieren und ihnen damit die Gewähr der
Verwirklichung zu geben; 3) die Hoffnung, auf dem Wege der Erziehung ein poli-
tisches Ziel zu erreichen, für das seine Verfechter die Machtmittel nicht in der Hand
hatten, und 4) das Interesse der Regierungen an einer Erziehung, die zugleich
nützliche und verständige, patriotische und gehorsame Untertanen bildete89 •
Gemeinsam war ihnen, daß sie den „Gebildeten" eine wesentliche Rolle im Staate
zuschrieben -sei es als Vertretern des Fortschritts, sei es als Garanten der Ordnung.

b) 'Gebildete Stände'. In den neunziger Jahren wurde die Bezeichnung 'gebildete


Stände' oder 'Klassen' zunehmend gebraucht. Wenn vorher von den 'höheren Stän-
den' gesprochen wurde, so meinte man damit durchweg den Adel, mit dem die
'gelehrten Stände' im späteren 18. Jahrhundert in sich verdichtende berufliche und
intellektuelle Kontakte traten. 1789 sprach E. BRANDES von den höheren oder
gebildeten Ständen in den größeren Städten des Kurfürstentums Hannover und
meinte damit diejenigen Gruppen, aus denen vom ersten Adel an, sich meist alles
öffentlichen Bedienungen widmet; nur eine unbeträchtliche kleine Anzahl von eigenen
Mitteln leben kann oder will ... Ohne den Unterschied zwischen 'Adel' und 'Bürger-
stand' beiseitezuschieben, fand Brandes gebildetere Menschen, Menschen mit
gesellschaftlicher Bildung, hier wie dort, und meinte, wer di,e zu einer guten Gesellschaft
gehlJtrige Bildung erhalten ha,be, verdiene, der hohen Gesellschaft zugerechnet zu
werden 90• Im Sozialtypus des 'Gebildeten' zeigte sich die gesellschaftliche Konse-
quenz des neuen Bildungsbegriffs. Ähnlich wie vorher bei den französischen
'hommes de lettres' und 'gens de lettres' sprengte 'Bildung' die geburtsständischen
Schranken, verursachte aber gleichwohl eine neue Oberschicht der 'Gebildeten',
freilich in gesteigerter sozialer Offenheit gegenüber dem 'Volk' u.nd daher gegen-
sätzlich zum bisherigen 'Gelehrtenstand'. Die Möglichkeit, alle diejenigen unter
einem Begriff zu subsumieren, die über das „savoir faire et dire'' verfügen, das den
gesellschaftlichen Umgang möglich macht, geht bis heute als Bedeutung mit,
wenn von 'gebildeten' Leuten die Rede ist.
1795 wurden von einem Autor zu den 'gebildeten Ständen' gerechnet: Regenten,
Adelige, Gesandte, Offiziere, Gelehrte und Künstler91• Schon von Zeitgenossen
wurde die Bedeutung von Freimaurerlogen und Clubs für die Vermischung der
Menschen von den gebildeten Ständen 92 gesehen; dasselbe galt für die Lesegesell-

89 Als Beispiele seien genannt: HEINRICH STEPJIANI, Grundriß der Staatserziehungs-

wissenschaft (Weißenfels 1797); dere„ System der öffentlichen Erziehung (Berlin 1805);
KARL SALOMO ZACHARIÄ., Erziehung des Menschengeschlechts (s. Anm. 15); .ANDREAS
lLDEFONS HoLZWA.RTH, ErZiehung und Aufklärung einer Nation durch den Staat (Nürn-
berg 1806); KARL HEINRICH LUDWIG PöLITz, Die Erziehungswissenschaft aus dem Zwecke
der Menschheit und des Staates praktisch dargestellt (Leipzig 1806).
90 ERNST BRANDES, Über die gesellschaftlichen Vergnügungen in den vornehmsten Städten

des Churfüretenthums, Annalen der ~raunschweig-Lüneburgischen Churlande 3 (1789),


763. 766. 780. 787.
t1 PossELT, Apodemik, passim (s. Anm. 72).
98 BRANDES, Über die gesellschaftlichen Vergnügungen,Annalen4(1790), 60 (vgl.Anm.90).

525
Bildung IV. 2. Fichte

sc1111.ften, bei denen es sich, gleich, wes Standes und Ranges ... so viele würdige und
verdienstvolle große Männer und Kenner . .. zur Ehre schätzen, ein Mitglied zu sein Da.
Das schreibende und lesende Publikum war gemeint, wenn vom ausgehenden 18. Jahr-
hundert an für einige Jahrzehnte in Titeln und Untertiteln von Büchern, Zeitschrif-
ten, Lexika die 'gebildeten Stände' angesprochen wurden. 1799 veröffentlichte
ScHLEIERMAOHER seine berühmten Reden „Über die Religion" an die GelJildeten
unter ihren Verächtern, und 1808 richtete FICHTE seine „Reden an die deutsche
Nation" an deren gelJildet.en Teil, die gelJildet.en Stände Deutschlands. Hier, auch bei
Fichte„ ist der selbständige Begriff 'die Gebildeten' vorhanden, der dann im 19.
Jahrhundert zu imm.er häufigerer Anwendung kam, sich 'dabei allerdings unter
dem Einfluß des institutionalisierten Bildungswesens und staatlicher Laufbahn-
vorechriften erheblich und charakteristisch in seiner Bedeutung verengte: 'gebildet'
war, wer höhere, 'gelehrte' Bildung erfahren hatte. .

2. Die Nationalbildung zwischen Revolution und Nationalbewußtsein: Fichte

In den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahm das Reden und
Schreiben über ~rz1ehung und .Hildung noch zu. Die politische und geistige
Erregung der napoleonischen Zeit hatte für Reformen im Erziehungswesen oino
günstige Situation geschaffen, aber auch für die Auffassung, daß der Wieder-
aufstieg Deutschlands, die nationale Erneuerung und größere Einheit, die Über-
windung des Absolutismus und die „Teilnahme" des Volkes am Staate nicht allein
und nicht im Entscheidenden ein Werk der Politik sein könne, sondern ein Ergebnis
der Erziehung und Bildung aller sein müsse, weil der Niedergang mehr war als
militärische Niederlage, nämlich die Folge von Gleichgültigkeit, mangelhaftem
nationalem Bewußtsein, Partikularismus usw. Mit gewaltigem Optimismus befaßten
sich zahlreiche Philosophen, Pastoren, Verwaltungsbeamte, Lehrer, politische
Schriftsteller und Journalisten mit speziellen und allgemeinen Problemen der
Bildung, und zwar in dem der Stilisierung der Katastrophe als Menschheitsereignis
entsprechenden Bewußtsein, damit zur Lösung wichtigster nationaler (und Mensch-
heits-)Aufgaben beizutragen. ·
Niemand hat dem heftiger und anspruchsvoller Ausdruck gegeben als FICHTE. So
ergibt sich denn also, daß das Rettungsmittel, dessen Anzeige ich versprochen, bestehe
in der Bildung zu einem durchaus neuen und bisher vielleicht als Ausnahme bei
einzelnen, niemals aber als allgemeines und nationales Selbst dagewesenen Selbst, und
in der Erziehung der Nation, deren bisheriges Leben erloschen und Zugabe eines
fremden Lebens geworden, zu einem ganz neuen Leben, das entweder ihr ausschließen-
des Besitztum bleibt, oder, falls es auch von ihr aus an andere kommen sollte, ganz und
unverringert bleibt be·i unendlicher Teilung; mit Einem Worte, eine gänzliche Ver-
änderung des bisherigen Erziehungswesen ist es, was ich, als das einzige Mittel, die
deutsche Nation im Dasein zu erhalten, in Vorschlag bringe94. Während die bisherige

93 LUDWIG KösTER, Authentische Beschreibung der gelehrten Lesegesellschaft in Mainz,

Journal von und für Deutschland, Bd. 2, 11. Stück (1790), 465ff., bes. 466. 469.
" J. G. FICHTE, Reden an die deutsche Nation (1808), SW Bd. 7 (1846), 274.

526
lv. 2. Fichte Bildun1

Erziehung nur etwas am. Menschen gebildet habe, so habe die neue den Menschen
selbst zu bilden und die BiUlung keineswegs wie bisher zu einem Besitztume, sondern
vielmehr zu einem persönlichen Bestandteile des Zöglings zu machen, sie überdies allen
zu vermitteln. Wir wollen durch di,e neue Erz-iehung.di,e Deutschen zu einer Gesamt-
heit bilden; kein neuer gebildeter Stand solle entstehen; vielmehr solle die neue
BiUlung Bildung der Nation schlechthin als solcher, und ohne alle Ausnahme einzelner
Gli,eder derselben werden, in welcher, in der BiUJung zum innigen Wohlgefallen am
Rechten nämlich, aller Unterschied der Stände, der in andern Zweigen der Entwicke-
lung auch fernerhin stattfinden mag, völlig aufgehoben sei und verschwinde; und daß
auf di,ese Weise unter uns keineswegs Volkserziehung, sondern eigentümliche deutsche
Nationalerzi,ehung entstehe 96• Diese Erziehung, dieganz an Pestalozzi anknüpfen
müsse, sei die dermalen sich einzig au/dringende Angelegenheit der deutschen Vater-
landsli,ebe, an ihrem Bande solle jedoch auch di,e Verbesserung und Umsckaffung des
gesamnnten Menschengesckloohts zuerst in die Welt9 6 eingeführt werden.
Die Durchführung der „neuen Erziehung" trug Fichte dem Staate an, allerdings
unter der Bedingung, daß diese:i; von seinem bisherigen utilitaristischen Grund-
begriff vom Zweck der Erziehung abgehe und, einsehend, daß ihm (in der deutschen
Wirklichkeit von 1808!) kein anderer Wirkungskreis übriggelassen ist, in welchem
er . . . selbständig sich bewegen könne, außer diesem der Erzi,ehung der kommenden
Geschlechter97 , sie allgemein, d. h. zur Nationalerziehung für alle Bürger mache.
Di,ejenige BiUlung allein, di,e da strebt, und die es wagt, sich allgemein zu machen, und
alle Menschen ohne Unterschied zu erfassen, ist ein wirkliches Bestandteil des Lebens
und ist ihrer selbst sicher 98 • Fichtes 'Überzeugung schon in seinen Jenaer Jahren
(1794 ff.), daß Freiheit und Gleichheit in fortschreitender Annäherung an eine
Kultur- und Bildungsgesellschaft der Zukunft realisierbar seien, wurde hier auf die
Nation, wie er sie postulierte, bezogen. Zwar wendete sich Fichte an die „Gebil-'
deten", aber der Bildung der Nation wohnte deutlich eine auf Allgemeinheit zielende
demokratische Tendenz inne. Der 1812 erscheinende erste Jahrgang des „Archivs
Deutscher Nationalbildung", den der Herausgeber R. B. JACBMANN mit einem Auf-
satz „Ideen zur Nationalbildungslehre" eröffnete, trug Fichtes Porträt als Titelbild.
Nachdrücklich wurde hier das Ideal der harmonisch ausgebildeten und vollendeten
Menschheit als höchstes Ziel bezeichnet, dem di,e Menschennatur zugebildet werden
soll 99 • Allgemeine MenschenbiUlung, NationalbiUlung und Subfekts-BiUlung standen
in einem Überordnungsverhältnis: Di,e BiUJung des Individuum ist eine National-
biUlung mit besonderer Rücksicht auf die bedingende Eigentümlichkeit der sinnlichen
und geistigen Natur des individuellen Subjekts, und di,e N ationalbiUJung ist all.gemeine
Menschenbildung mit besonderer Rücksicht auf di,e bedingende Eigentümlichkeit der
Nation 100 • Die Ausbildung der Nationalität einer Nation nach dem Ideal voll-
kommener Nationalität widersprach also nicht nur nicht der allgemeinen Menschen-

96 Ebd., 276 f.
88 Ebd., 428.
87 Ebd., 432.
88 Ebd., 438.
89 Arch. Deutschei Nationalbildung, hg. v. Reinhold Bernhard Jachmann u. Franz Pas-

sow, H. 1 (1812, Ndr. 1969), 7.


100 Ebd., 11.

527
Bildung IV. 3. Varianten des BildungsLegriils 1790-1820

bildung, sondern war Bestandteil derselben 101. In Jachmanns Gedanken kommt


die Verbindung von älteren Vorstellungen über öffentliche Erziehung und neuer,
humanistischer Bildungskonzeption zum Ausdruck, wobei nun die Erziehung ganz
im Dienste der Bildung gesehen wurde1° 2•

3. Varianten des Bildungsbegrift"s (1790-1820)


a) Menschen- und Berufsbildung. Wie weit das umfassende Verständnis der Bildung
ins Bewußtsein der Gebildeten eingedrungen war, beweisen die Wörterbücher der
Zeit. 1815 wurde Menschenbildung als die höchste und allgemeinste' Aufgabe der
Erziehung bezeichnet und festgestellt, daß die Bildung zum Menschen ... , die zur
Reife und sittlichen Vollkommenheit im Denken und Handeln führt, . . . nie das
Werk einer absichtlichen Erziehung sein könne 103. In der 4. Auflage des „Brockhaus"
(1817) wurde ein Abriß der Geschichte der „Bildung" gegeben und bei Annahme,
daß auch die Form der modernen Bildung (die die Schönheit der griechischen Bildung
nicht werde zurückbringen können) das Fortschreiten der Menschheit dokumentiere,
doch daran gezweifelt, ob die sittliche und religiöse Bildung dabei' gewinne 104. Es
ist auch die breiter werdende Anwendung des Bildungsbegriffs vermerkt, der mit
vielfältigster besonderer Charakterii,!ierung geurauchL wurue (ästhetische, lUUl'lt-
lische, gelehrte, literarische, ökonomische, militärische, gesellige, moderne, wahre
Bildung) 106 : eine Tatsache, die - bis heute -.- nicht nur die Abstraktheit des
Bildungsbegriffs beleuchtet, sondern auch das hohe Ansehen der intendierten Sache,
an der teilzuhaben der Anspruch von vielen wurde. In der näheren Bestimmung
der gemeinten Bildung sprach sich schließlich auch die Ablehnung der Monopol-
stellung einer bestimmten Bildungskonzeption (also der philosophisch-ästhetisch-
Iiterarischen, genauer: der gelehrten Bildung) aus, die wie die ältere Warnung vor
einseitig intellektueller, unpraktischer Bildung von nun an immer wiederkehrte,
und zwar unter der Berufung auf das höchste Ziel der allgemeinen Menschenbildung,
über deren Inhalt und Zielsetzung eine Diskussion ohne Ende anhob. 1804 forderte
B. H. BLASCHE, Mitarbeiter an der Schnepfenthaler Erziehungsanstalt, die Auf-
nahme der Bildung zur Industrie in die allgemeine Bildung und in die Erziehungs-
kunst106. Ein Jahr später stellte J. P. HASE lapidar fest, daß - da die Industrie
die Quelle des Reichtums der Bürger und des Staates sei - Bildung zur Industrie ...
demnach die erste und wichtigste Angelegenheit der Staats-Wirtschaft sei107. PESTA-

101 Vgl. auch JACHMANN, Das Wesen der Nationalbildung, ebd., 405 ff.
102 So auch schon ZACHARIÄ, Erziehung des Menschengeschlechts, 67: Der Mensch soll
durch die Erziehung das werden, was er sein soll, inwiefern er durch äußere Ursachen dazu
gebildet werden kann.
108 BROCKHAUS 2. Aufl., Bd. 6 (1815), 268. 270, Art. Menschenbildung.

104 BnoCKIIAus 4. Aufl., Bd. 1 (1817), 713, Art. Bildung.


1 ~ 6 Ebd., 714 f.
108 BERNKARD HEINR. BLASCHE, Grundsätze der Jugendbildung zur Industrie, als Gegen-

1:1L1uul tltir 1:1.llgtimtiilltiu Mem1uheuuiluw1g utl!l.ditiiLtiL (SuhuepfünLhal 1804), 190 f. u. pa.seim.


107 J. P. HABE, Grundlinien einer Theorie des Staates (der Staats-Wissenschafts-Lehre),

des Geldes und der Staats-Wirtschaft, wie auch der Erziehung und des Unterrichts
(Erlangen 1805), 60.

528
L) Der neuhumanistische Blldungsbegrifl' Bildung

LOZZI entwarf (1806/07) im Gegensatz zur gewohnten Bildung zur Industrie, die die
Veredelung der menschlichen Natur vernachlässige, eine EkmentarlYildung zur
Industrie, die alle Anlagen der menschlichen Natur gemeinsam entfalten sollte und
das eigentliche Humanisierongsmittel 0-er Industrie sei1 0 8 •

b) Der neuhumanistische Bildungshegrift'. Gleichwohl war in den beiden ersten


Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der klassisch-humanistische Bildungsbegriff das
Neue, das den Ton und die Argumentation in der pädagogischen Diskussion
bestimmte. 1808 unterschied F. I. NIETHAMMER die Grundsätze des Humanismus
von denen des Philanthropinismus, indem er dem Erziehungsunterricht des letzteren
nur den relativen Zweck einer Bildung 0-es Menschen für seine künftige Bestimmung
in 0-er Welt zuschrieb, während er im Humanismus einen eigenen Zweck habe: die
al'lgemeine Bildung des Menschen 1 09• Dazu werde der Geist an und für sich gebildet,
nicht zu bestinimten Geschäften geschickt gemacht; es gehe doch nicht darum, 0-en
Lehrling für diese Welt zu biZden, wozu er in späteren J ahrcn seines Lebens nooh Zeit
und Gekgenheit genug 'fi,ndet; als vielmehr für die höhere Welt des Geistes ihn zu 1Yil-
D,en11o. Die Bildung war individuelle und selbsttätige Bildung, die sich in Freiheit
und Distanz zur praktischen Welt und in der freien Beschäftigung mit vielfältigen
Gegenständen vollzog. Dazu bedurfte es in der Phase der Unmündigkeit eines
Erziehers; dann aber war sie Werk aus eigener Kraft mit dem Ziel, das Individuum
fähig zu machen, nach seinen besondein Eigenschaften die Zwecke des ganzen gesell-
schaftlichen Vereins, so wie seine eigenen, zu beförO-ern od,er seinem Berufe im Staate
am gemäßesten zu 6$istieren. Störung der Entwicklung des individuellen Charakters
dagegen wäre eine Sünde wider die höhere IO-ee der göUlichen Weisheit in unserer
Natur 111. Damit war individuelle Bildung nicht in einen Gegensatz zu Gesellschaft
und Staat gebracht; galt doch den Bildungsreformern der Zeit als sicher, daß höchste
Entfaltung des Individuums eo ipso der Gesellschaft, dem Staate, der Menschheit
den höchsten Nutzen bringe.
Diese Überzeugung fand ihren deutlichsten Ausdruck in den Forderungen und
Plänen einer neuen Universität im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, in denen
die Ideen der „Selbstbildung", der Freiheit der Wissenschaft von staatlichem
Zwang, der zweckfreien wissenschaftlichen Bildung als Vollendung der Bildung sich
mit Erwartungen der Reform des Staates verbanden. Für H. STEFFENS war es
sicher, daß jeder gelYilMte Staat anerkennen müsse, daß die Grenze seiner Gewalt da
sei, wo das Ge1:stige angeht. Anders als sonstige Schulen iieien UniverRit,ätfm &hM1.en
0-er SelbstlYildung, die der Staat unterhalten müsse; denn sein höheres Dasein beruhe
darauf, daß hier der Geist des freien Forschens ungehindert walten könne 11 ~. Auch

101 PESTALOZZI, Über Volksbildung 11nd lnduetrie (1806/07), in: Grundlagen und Grund-
fragen der Erziehung, hg. v. THEODOR BALLAUFF, Bd. 1(Heidelberg1964), 13.
109 FRIEDRICH bmilroEL NIETHAMMER, Der Streit des Philanthropinismus und Humanis-
mus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit (Jena 1808), 76.
110 Ebd., 77.

111 JOSEPH HILLEBRAND, Versuch einer allgemeinen Bildungslehre, wissenschaftlich dar-


gestellt aus dem Principe der Weisheit für Gelehrte und Gebildete (Braunschweig 1816), 231.
112 HENRIK STEFFENS, Vorlesungen über die Idee der Universitäten (1808/9), in: Die Idee

der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung
durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus (Darmstadt 1956), 324. 352.

34-90385/1 529
Bildung IV. 4. Bilclung und Staat in Preußen

ScHLEIERMACHER betonte den Wert der höchsten Bildung113 für den S.taat, und
HUMBOLDT forderte vom Staat, dem er das Recht des Eingriffs in eigener Sache ab-
sprach, die Überzeugung, daß die Universitäten, wenn sie ihren Zweck erreichten,
auch die Zwecke des Staates, und zwar von einem viel höheren Gesichtspunkte ausl14,
erfüllten. Ihr Zweck bestehe darin, der Ort zu sein, wo der Mensch die Einsicht in
die reine Wissenschaft gewinne, 'die er allerdings nur durch sich und in sich selbst
finden kann. N otwendi,g dazu sei Freiheit und hülfereich Einsamkeit, und dement-
sprechend müßten die Universitäten organisiert sein. Der höchste Grundsatz der
Schulbehörde sei es, die tiefste und reinste Ansicht der Wissenschaft an sich hervor-
zubringen, indem man die ganze Nation möglichst, mit Beibehaltung aller individuellen
Verschiedenheiten, auf den Weg bringt, der, weiter verfol,gt, zu ihr führt, und zu dem
Punkte, wo sie und ihre Resultate nach Verschiedenheit der Talente und Lagen, ver-
schieden geahndet, begriffen, angeschaut, und geübt werden können, und also den
einzelnen durcli die Bege·isterung, die durch reine Gesamtstimmung geweckt wird, zu
Hilfe kommt116•

4. Bildung und Staat in Preußen

Als 1810 in Preußen (u. a.) alle Anstalten, welche Einfiuß auf die all,gerrieine Bildung
habenll&, der neu geschaffenen Abteilung für den Kultus und öffentlichen U nt11rricht
im Ministerium des Innern unterstellt wurden, war die staatspolitische Konsequenz
des neuen Bildungsbegriffs sichtbar gezogen worden. In den Statuten der neuen
Berliner Universität wurde als ihr Zweck angegeben, die all,gemeine und besondere
wissenschaftliche Bildung gehörig vorbereiteter Jünglinge . . . fortzusetzen und sie zum
Eintritt in die verschiedenen Zweige des höheren Staats- und Kirchendienstes tüchtig
zu machenll 7. Hinter dieser spröden Formulierung verbirgt sich die Sanktionierung
der Gymnasialausbildung 118 mit ihrem Ziel der „allgemeinen" Bildung als Be-
dingung für das Studium und das Eingehen des Staates auf die Idee der freien
wissenschaftlichen Bildung als Voraussetzung für den Eintritt in den höheren
Dienst. Im Hinblick auf diesen Vo;rgang hat HEGEL 1818 von Preußen sagen kön-
nen: Hier ist die Bildung und die Blüte der Wissenschaften eines der wesentlichen
Momente selbst im Staatsleben. Und er fügte dem idealistisch-humanistischen
Bildungsbegriff gemäß hinzu : Auf hiesi,ger Universität, der Universität des Mittel-

11a D. F. SCBLEIERMACHER, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem


Sinn, nebst einem Anhang über ei:D.c neu zu errichtende (1808), in: Idee der deutschen
Universität, 249 (s. Anm. 112).
114 W. v. HUMBOLDT, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaft-
lichen Anstalten in Berlin (1810), AA Bd. 10 (1903), 255.
m Ders., Unmaesgebliche Gedanken über den Plan zur Einrichtung des Litthauischen
Stadtschulwesens (1809), AA Bd. 13 (1920), 279 f.
118 Verordnung über die veränderte Verfassung aller obersten Staatsbehörden in der Preußi-
schen Monarchie, 27. 10. 1810, GSlg. fÜr die Preußischen Staa.ten (Berlin 1811), 14.
117 Entwurf der Kommittierten, abgedr. bei MA.x LENZ, Geschichte der königlichen

Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 4 (Halle 1910), 223 f.


118 Vgl. JoH. WILHELM SüvERN, Entwurf eines allgemeinen Gesetzes über die Verfassung

des Schulwesens im Preußischen Staate, abgedr. in: Quellen zur deutschen Schulgeschichte
seit 1800, hg. v. GERHARDT G1ESE (Göttingen 1961), 93. ·

530
IV. s: Die „Gebildeten" in Gesellschaft und Staat Bildung

punkts, muß auch der Mittelpunkt aller Geistesbildung und aller Wissenschaft und
Wahrheit, die Philosophie ihre Stelle und vorzügliche P'fkge finden 119• Daß Preußen,
ungeachtet aller Grenzen und Mißerfolge der Praxis, der Staat der Bildung sei, war
ein Bestandteil des politischen und sozialen Selbstbewußtseins der hohen Beamten
vor allem der ersten Jahrhunderthälfte, wie umgekehrt das .Ansehen der hohen
preußischen Bürokratie dieser Zeit nicht zuletzt auf ihrem hohen Bildungsniveau,
genauer ihrer wissenschaftlichen Ausbildung beruhte.
Im Zeichen der Restauration folgte der Gegenschlag. Daß der Staat ein aUge-
meines, in unserm dermaligen Zustande notwendiges Bildungsmittel der Menschheit
sei (J. HlLLEBRAND) 126, mochte grundsätzlich auch von konservativer Seite aner-
kannt werden; gegenüber den Plänen allgemeiner öffentlicher Erziehung, den Vor-·
stellungen von allgemeiner Menschenbildung und auch der Ausrichtung auf wissen-
schaftliche, „gelehrte" Bildung, der starken Betonung des Individualitätsprinzips
aber erhoben sich vielfältige Widerstände - nicht nur in Preußen und nicht nur
vonseiten der Regierung, sondern auch der Kirche, des Adels. Mit dem Umfang
der Diskussion über Bildung mehrten sich auch die kritischen Fragen, ob das, was
Bildung genannt wurde, wirklich darauf Anspruch erheben könne. E. BRANDES
sprach im Rückblick auf das späte 18. Jahrhundert von sogenannter Bildung in den
sogonannUJn gobildoUJn, oigontlich vorbildeten St4nden und meinte, daß nicht Bildung,
sondern Verbildung Fol,ge der Leserei 121 gewesen sei; er sah in rler wi1111em~nhaftlinhfm
Bildung der Offiziere einen Abweg, weil sie diesem Stande nicht angemessen sei 122 •
J. H. VON WESSENBERG verteidigte die Bildung der äußeren Klassen gegen das
Mißtrauen der höheren; oohte Bildung schärfe das Gefühl für Recht, Ordnung,
Schicklichkeit und könne auch in den reichern und angoschencrn KkuJson nur dann
herrschen, wenn das gemeine Volk daran teilhabe; lebe dieses in Ilarbarei, dann sei·
allerdings auch falsche Bildung und Afterbildung der vornehmern Stände möglich123•
1817 ist dann ein Autor des Begriffs ,Bildung' überhaupt überdrüssig geworden; er
sei so verschrol>en, daß man oft wünschen muß, keine Bildung zu haben ... Sehr nahe
liegen sich ... Bildung, Ton, - Mode!/ 12'

5. Die „Gebildeten" in Gesellschaft und Staat

Wenn die „Gebildeten" der Bildung nicht nur für den einzelnen, sondern auch für
Gesellschaft und Staat größte, ja entscheidende Bedeutung zumaßen, so wurden
sie da.zu ebenso durch ihre Überzeugung von dem, was in der politisch-sozialen

119 HEGEL, Anrede an seine Zuhörer bei Eröffnung seiner Vorlesungen in Berlin, 22. 10.1818,
sw Bd. 8 (1929), 32.
120 JOSEPH HILLEBRAND, Versuch einer allgemeinen Bildungslehre (Braunschweig 1816), 341.
1111ERNST BRANDES, Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten
Decennien des vorigen Jahrhunderts (Hannover 1808), 20. 181. 216.
122 Ders., Über den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes auf die höheren Stände

Deutschlands, al$ Fort&etzung der Bfltr11.r.ht.11ngAn iihAr rlAn ZAitgAi11t in DA11t11chla.nd,


Bd. 2 (Hannover 1810), 126 f.
in IGMATl'!l'S IIEmB.IC'H KARL v. WE1:1l:IJ!l.NJ1l!l1W, Die ~lementarbildung del! Volks im Acht-
zehnten Jahrhundert (Zürich 1814), 228 f.
124 C. L. PABST, Fragmente über Menschenerziehung mit besonderer Hinsicht auf die

Bildung des weiblichen Geschlechts in Töchterschulen (Elberfeld 1817), 71.

531
Bildung IV. 5. Die „Gebildeten" in Gesellschaft und Staat

Entwicklung notwendig sei, wie von ihrem spezifischen sozialen Interesse geleitet.
Was sie für die wichtigste Aufgabe der Zeit, für den Inhalt der Geschichte hielten,
war dasjenige, was ihnen auch privat als das Wichtigste, als das galt, wodurch sie
sich sozial definiert sahen. Je mehr die Diskussion über Bildung sich verbreitete,
desto allgemeiner wurde die soziale, statusgebende Relevanz von Bildung bewußt,
aber auch die soziale Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten. 1803 unter-
schied J. G. HoFFMA~ zwischen dem gebildeten und dem arbeitenden Bürgerstand 125 ;
1810 stellte W. T. KRUG zwar fest: Eigentlich gibt es nur zwei Stände der menschlichen
Gesellschaft überhaupt, den der Gebildeten und den der Ungebildeten; er meinte aller-
dings mit den letzteren ursprünglich alle Kinder und ging deshalb davon aus, daß
durch Erziehung jeder von einem in den anderen Stand übertreten könne. Darum
auch seien exklusive Erziehungsanstalten für bestimmte Stände ungereimt12s.
Doch auch in den Jahrzehnten der Nationalerziehungs- und -bildungsprojekte
wurde ilie imziale E.xklutiivität der Bildung, trotz erheblicher Auflockerungen, nicht
überwunden und auf längere SicJit in bestimmter Weise noch verstärkt. Wenn
wissenschaftliche Ausbildung, im weiteren Sinrie „höhere" Bildung, zur Voraus-
setzung für Berufe, Funktionen und bürgerliche Rechte gemacht wurde (für
staatliche und kirchliche Ämter, Offizierstellen, für Wahlrecht und Wählbarkeit,
auch z.B. fur die rechtliche Gleichstellung der Juden) 121 , so war dasein.b:manzi-
pationsvorgang im Blick auf die ältere Ständegesellschaft, andererseits ein Schritt
von sozial etablierender, statusbestimmender Wirkung im Blick auf die bürgerliche
Leistungsgesellschaft. Vor allem hat das Erfordernis der Gymnasial- und Universi-
tätsausbildung für den höheren Dienst dazu beigetragen, Bildung zum Statusele-
ment zu machen. Andere Berücksichtigungen der sozialen Interessen der Gebilde-
ten kamen hinzu, so in Preußen die Institution des einjährigen freiwilligen Dienstes
für junge Leute aus den gebildeten Ständen 128 , bei denen fi-eilich eine gewisse Wohl-
habenheit vorausgesetzt wurde.
Hier zeichnete sich eine Entwicklung ab, in deren Verlauf die Begriffe 'Bildung'
und 'Gebildete' mehr und mehr zu sozialen Statusbegriffen wurden. Für die Ge-

12 5 JoH. GOTTFRIED HOFFMANN, Das Interesse des Menschen und Bürgers bei den be-
stehenden ZunftverfaBBungen (Königsberg 1803), 61.
1 28 WILHELM TRAuGOTT KRuG, Der Staat und die Schule. Oder Politik und Pädagogik in

ihrem gegenseitigen Verhältnisse zur Begründung einer Staatspädagogik dargestellt


(Leipzig 1810), 77.
127 Vgl. z. D.: Großherzoglich Badische Verordnung über die künftigen Rechte und den
Zustand der Juden (1809), zit. PETER ADOLPH WINKOPP, Der Rheinische Bund, H. 38
(1809), 262: Wir Oarl Friedrich ..• haben •.. die Juden Unaeres Staates den Christen in
den Staat8bürgerlichen V erhältni&sen gleichgesetzt. Diese Recht8gleichheit kann jedoch nur
alsdann in ihre volle Wirkung treten, wenn sie, in politischer und sittlicher Bildung ihnen
gleichzulrommen allgemein bemüht sind.
128 Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienste, 3. 9. 1814, GSlg. für die Preußischen

Staaten 1814, 80 (Art. 7). - Der FRH. LUDWIG v. VINCKE äußerte sich 1808 ablehnend
zur allgemeinen Konskription und sprach dabei von dem bedeutenden Nachteil des Augen-
blicks, welchen die Verkündigung solchen Schrecknisses besonders unter den gebildetem
Ständen ( ••• ) anrichten muß; Brief an Stein, 30. 9. 1808, in: Die Reorganisation des
preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, hg. v. RUDOLF VAUPEL, Tl. 2, Bd. 1:
Das preußische Heer (Leipzig 1938), 598.

532
IV. 5. Die „Gebildeten" in Gesellschaft und Staat Bildung

schichte des Bildungsbegriffs in Deutschland ist es von kaum zu überschätzender


Buucutung gowmion, dn.ß ell zu Ende des 18. und vor Dllom zu Beginn i1A11 Hl. ,fahr-
hunderts eine Phase der Öffnung des Staates für den Einstrom und die Tätigkeit
reformgesinnter, aufgeklärter und liberaler Gebildeter gegeben hat, die ihrerseits
an die Versöhnung von Macht und Geist durch Bildung glaubten. Ehe die Reaktion
einsetzte, waren die Regierungen weithin bereit, den besitzenden und gebildeten
Bürgerlichen ein größeres Maß an Freiheit und politischem Einfluß zuzugestehen,
und zwar nicht deshalb, weil sie dem Druck der Besitz- und Bildungsschichten
nachzugeben gezwungen gewesen wären, sondern weil sie für das Werk der Reform
und des Staatsneubaus auf sie nicht verzichten konnten. In der Nassauer Denk-
schrift des FREIHERRN VOM STEIN (1807) hob dieser die Vortrefflichkeit zweckmäßig
gebiUleter Stände hervor, weil er in ihnen ein Mittel sah, die R,egierung durch die
Kenntnisse. 11md drM AnRPilum. allßr gebildeten Klassen zu verswrken, sie alle durch
Überzeugung, Teilnahme und Mitwirkung bei den National-Angelegenheit.en a.n den
Staat zu knüpfen ... ·1211 .Noch war Teilnahme und Mitwirkung hier nioht im Sinne
der modernen Volksrepräsentation verstanden, sondern als Mitwirkting der Eigen-
tümer aller Klassen (den eigentumslosen Gebildeten beachtete Stein nicht!) an der
Provinzial- und Munizipalverfassung.
In cler Dh!km111iun urn Ku111:1LiLuLion und Ileprä.11entation hat dann daa Argument der
Bildung eine erhebliche Rolle gespielt, sei es, daß von der Bildung auf der einen
Seite ein Anspruch auf gestaltende Mitwirkung der Gebildeten am Staate hergeleitet,
sei es, daß auf der anderen Seite einsichtige Zustimmung der Gebildeten zu den
vernünftigen Absichten der Regierungen erwartet wurde. Daß zur Teilnahme an
den öffentlichen Angelegenheiten Bildung Voraussetzung sei, war allgemein ak-
zeptiert, und alle .l:'läne einer .Nationalerziehung oder -bildung liefen dara.uf hinaus,
die Bürger dahin zu bringen 130 • Ebenso WlJrrlP.n VP.rfaAAllngaänderung und Ver-
fassungsgebung in den Zusammenhang des Prozesses der Bildung gestellt. Noch nie
seien mit derart vorbereit.et.er Geistesfreiheit und Geistesbildung Verfassungen gemacht
worden, hieß es 1815 in der „Allemannia"; die Herrscher und Völker bestimmten
jetzt das Schicksal der gebiUleten Welt 1s1 auf Jahrhunderte hinaus. Und im gleichen
Jahre wurde auf die Gelehrten die gewaltige Hoffnung gesetzt, sie könnten das Volk
auf eine Stufe der Bildung bringen, wodurch es zum Genuß seiner Rechte reif gemacht
wird. Si,e können es aus einem Stand der Unmündigkeit ziehen, in welchem es ohne
ihre Hilfe b'leiben muß. Sie endlich können die R,egierungen in den Stand setzen, die
Aufgabe der Natur zu lösen, dem Volke jenen Anteil an der Staatsverwaltung einzu-
räumen, welcher den Kräften desselben angemessen ist, und welcher in dem nämlichen
Maße die Last der Regierungssorgen erleichtert1s2.
Solche Überschätzung der Macht der Bildung im allgemeinen und der Rolle der
Gelehrten im besonderen war symptomatisch für die Schriftsteller, die, politikfern

129 Firn. VOM STEIN, Über die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-,
Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monar9hie, Juni 1807; Br. u. Sehr„
Bd. 2/1 (1959), 391.
130 Vgl. hierzu LUDWIG FRH. v. VmcKE, Darstellung der innem Verwaltung Großbritan~

niens (Berlin 1815), 154.


1 31 Stimmen der Völker, Allemannia, hg. v. J. Cmt. v. ARETIN, 1 (1815), H. 1, 17.
132 Über Einwirkung der Gelehrten auf die innere Ruhe des Staates, ebd.4(1815), H. l, 1 f.

533
Bildung V. 1. Liberalismus, Restauration, Revoliition

und die Funktion von politischen Institutionen geringer achtend als die Macht des
Wortes, der Belehrung und Aufklärung sowie der öffentlichen Meinung, noch hefti-
ger die Revolution ablehnten als den Despotismus und in der Bildung das Mittel
sahen, diesen zu überwinden und jene unnötig zu machen. Für viele von ihnen trat
auch die Schaffung einer Verfassung hinter der größeren Aufgabe der Volksbildung
zurück. Al'le Verfassungen . . . sind nicht,s als papierene Laternen ohne Licht, wenn
sie nicht in der zu ihnen passenden Volksbildung die. Gewähr ihrer Fortdauer tragen.
Die beste ist die schlechteste für ein schlechtes Volk, und aueh eine höchst unvoll-
kommene wird besser, wenn das Volk reifer ist133, hieß es 1816 bei J. CHR. VON
ARETIN; und WESSENBERG war überzeugt, daß die Gesetzgebung nirgendwo
einfacher, das Regieren leichter sei als bei einem Volk, das eine Bildung hätte, die
mit der Aufklärung des Verstandes die Einfalt der Sitten durch echte Religiosität
verbände 134•
Wenn KANT 1795 meinte, daß eine gute Staatsverfassung nicht vom Inneren der
Moralität, sondern umgekehrt die gute moralische Bildung eines Volkes 136 allererst
von einer guten Staatsverfassung zu erwarten sei, so nahmen die Männer der ideali-
stisch-neuhumanistischen Bildungsbewegung in der Mehrzahl an, daß politische Bil-
dung der Nation die Voraussetzung für Neugestaltung von Gesellschaft und Staat,
für die Verfassungsentwicklung sei ---- eine Bildung, deren Ermöglichiing oder
Durchführung allerdings auch sie dem Staate übertrugen, wenngleich sie die Vollen-
dung der individuellen Entwicklung in der gelehrten Bildung im wesentlichen als
ein Werk der Selbstbildung in der Begegnung mit Wissenschaft verstanden.

V.
1. Umfassende Bcgrift'sbildung in Liberalismus, Restauration und Revolution

a) Hegel. Die folgende Phase in der Geschichte des Bildungsbegriffs bis zur Mitte
des 19. Jahrhunderts ist bestimmt durch politischen Liberalismus, der in unter-
schiedlicher Akzentuierung die politische Normalhaltung großer Teile der Gebil-
deten bestimmte, durch staatliche Reaktion, aufgestaute Verfassungsbewegung,
weitere Institutionalisierung des Bildungs- und Berechtigungswesens, damit auch
des Besitzstanddenkens der Gebildeten, verstärkte Distanzierung der besitzenden
und gebildeten von den anderen bürgerlichen Schichten und das Sterilwerden der
idcalistisch-neuhumanistischen Bildungsidee. Gleichzeitig entfalteten sich jedoch
die sogenannten Geisteswissenschaften, die sich nicht nur im spezifischen Sinne als
Bildungswissenschaften verstanden, sondern auch Bildung als individuellen und
menschheitlichen geschichtlichen Prozeß zum Gegenstand hatten.
Umfassend hat HEGEL in seiner „Philosophischen Propädeutik" (1809/11) diese
Bildungsidee dargelegt. Als Geistes- und Vernunftwesen sei der Mensch nicht von
Natur, was er sein sollte; es bedürfe der Bildung, um ihn dazu zu machen. Seine
Pflicht gegen sich ist ... teils seine physische Erhaltung; teils sein Einzelwesen zu

133 Aussichten vuu dar Zeit in die Zukunft. In Briefen über einige allgemein wichtige Ge-
genstände, Allemannia 7 (1816), H. 2, 118.
la& WESSENBERG, Elementarbildung des Volks, 20 (s. Anm. 123).
185 KANT, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), AA Bd. 8 (1912), 366.

534
a) Hegel Bildung

seiner allgemeinen Natur zu erheben, sich zu biklen138. Er muß sich fähig machen,
von aich selber ab- und auf ein Allgemeines hinzusehen und sich von ihm her in
seiner Besonderheit zu begreifen. Das gilt· sowohl für die 'f>'aktische Biklung, zu
der es gehört, daß der Mensch bei der Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse und
Triebe ... Besonnenheit und Mäßigung beweise und fähig sei~ sie höheren Pflichten
aufzuopfern, als auch für die theoretische Biklung, die au{JM der Mannigfaltigkeit und
Bestimmtheit der Kenntnisse und der Allgemeinheit der Gesichtspunkte, aus denen die
Dinge zu beurteikn sind, den Sinn für die Objekte in ihrer freien Selbständigkeit, ohne
ein subjektives Interesse umschloß. Während der ungebildete Mensch in der unmittel-
baren .Anschauung, im subjektiven Sehen und .Auffassen stehenbleibe137, die Sache
selber nicht erkenne, gar nicht oder vorschnell, von einem einseitigen Gesichtspunkt
her urteile, kenne der gebildete Mensch ... die Grenze seiner Urteilsfähigkeit; er
suche in den Gegenständen, mit denen er sich beschäftige, nicht sein besonderes
Subjekt, sondern ohne eigenes Interesse die GegenRtände alR RiP. RP.lber in ihrer
freien Eigentümlichkeit. Ein derartiges, bildendes, uneigennütziges, nur auf die
Sache gerichtetes Interesse entfalte sich im Studium der Wissenschaften. Im
„Zweiten Entwurf" (1830) der „Vernunft in der Geschichte" hat Hegel diesen
Begriff der Bildung noch einmal erläutert und in seiner historischen Relevanz
gezeigt: Wo.o dor Monooh ooin ooll, könno or nur duroh Biklung, duroh Zuoht, duroh
sich selber werden; er muß sich alles erst selbst erwerben, eben weil er Geist ist; er
muß das Natürliche abschütteln. Der Geist ist also sein eigenes ResuZtat188. Von hier
ergibt sich auch die Bestimmung der Bildung im Hinblick auf den Staat; den Hegel
als die organische Gestalt des geistigen Individuums „ Volk" verstand. Das All-
gemeine, das im Staate sich hervortut und gewußt wird, die Form, unter die alles, was
ist, gebr(U)ht wird, ist dasjenige Oberhaupt, was die Biklung einer Nation ausmacht.
Der bestimmte 1nhalt aber, der die8e Form der Allgemeinheit erhält und in der konkreten
Wirklichkeit enthalten ist, die der Staat bildet, ist der Geist des Volkes selbst189• Von
niemandem anders ist die Zusammengehörigkeit von 'Bildung' und 'Geist' und ihre
inhaltliche geschichtliche Bedingtheit klarer definiert worden als von Hegel, der
auch überzeugt war, daß die Philosophie die Bedingung ihrer Existenz in der Bil-
dung140 habe. Für Hegel entfaltete sich Bildung im Prozeß des Von-sich-Absehens
und des Aneignens, das zugleich ein Zu-sich-selber-Kommen des Menschen ist. Das
traf vor allem dann zu, wenn der Gegenstand der Beschäftigung selber Bildung oder
Produkt der Bildung, Kultur war - wie im Bereich der „Geisteswissenschaften",
die es nach Thematik und Material mit Bildung zu tun hatten und naoh idealistisch-
humanistischer Tradition bis in die Gegenwart für ihre Weise des Erkennens
Bildung voraussetzen, nämlich das Vorhandensein eines nur aus Bildung hervor-
gehenden gebildeten Bewußtseins, eines a'USgebildeten „Verstehens" (Dilthey)
oder - wie H.-G. Gadamer es neuerdings formuliert hat: eines „allgemeinen und
gemeinschaftlichen Sinnes"141.
138 HEGEL, Philosophische Propädeutik, SW Bd. 3 (1927), 82.
137 Ebd., 83 f.
1 3 s Pers., Die Vernunft in der Geschichte (1830), hg. v. Johannes Hoffmeister, 5. Aufl..
(HambW"g 1955), 58.
1 3 e Ebd., 114 f'.
HO Ebd., 172.
U1 GADAMER, Wahrheit und Methode, 14. (s. Anm. 47).

535
Bildung V. 2. Lexika des Vormärz

Wie eng Bildung und Geisteswissenschaften miteinander zusammenhängen,


erweist sich in der Tatsache, daß die Ausformung des neuen, dynamischen, Natur
und Geschichte gleichermaßen umfassenden Bildungsbegriffs von Herder bis zu
Hegel und Humboldt eine wesentliche Voraussetzung für die Entfaltung der
historischen Geisteswissenschaften in Deutschland gewesen ist. Und es ist charak-
teristisch, daß im deutschen Sprach- und Kulturbereich, in dem der Bildungsbegriff
die umfassendste, rational nicht immer kontrollierbare Bedeutung erreicht hat,
auch die Geisteswissenschaften (und die mit ihnen verknüpfte Weise des Philo-
sophierens) zum weitesten methodischen Ausbau, zum höchsten wissenschaftlichen
Ansehen und zum stärksten Übergewicht im Bildungssystem selber gelangten.
Aufschlußreich war in diesem Zusammenhang die Rolle der Philologie: da sich in
der Sprache der „Geist" und die Bildung der Völker zu verschiedenen Zeiten und in
verschiedenen Räumen dokumentierten, so war die Beschäftigung mit der Sprache
in besonderem Maße „bildend" und die Philologie Bildungswissenschaft par
excellence.

b) Humboldt. In seiner Schrift „ Über die Verschiedenheiten des menschlichen


~prachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschen-
p;esc.hlechts" hat WILHELM VON HuMBOLD'l' dfotiom hohon .Änflpruch der Hpranh-
wissenschaft Ausdruck gegeben: das vergleichende Sprachstudium werde erst da
interessant, wo Sprache und Gestaltung der nationalen Geisteskraft zusammenhingen.
Die Einsicht in den inneren Zusammenhang einer Sprache hänge von der Betrach-
tung der gesamten Ge·istese·iyentürnlichkeit ab .. Andererseits sei die Sprache das
Organ des inneren Seins, dies Sein selbst, wie es nach und nach zur inneren Erkenntnis
und zur Ä·ußemny yelunyt. FUr Humboldt war es nicht statthaft, die Sprache von
Zivilisation und Kultur abhängig, durch sie entscheidend geprägt zu sehen und bloß
zwischen gebildeten und ungebildeten Sprachen zu unterscheiden. In jeder Sprache
liege eine dem Umfange der unbeschränkten menschlichen Bildungsfähigkeit ent-
sprechende Totalität, aus der sich alles einzelne schöpfen lasse, allerdings im Rahmen
der ursprünglichen Sprachanlage einer Nation. Diesem Prozeß gegenüber blieben
Zivilisation und Kultur äußerlich. Die Zivilisation ist die Vermenschlichung der
Völker in ihren äußern Einrichtungen und Gebräuchen und der darauf Bezug habenden
innren Gesinnung. Die Kultur fügt dieser Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes
Wissenschaft und Kunst hinzu. Wenn wir aber in unsrer Sprache Bildung sagen, so
meinen wir damit etwas zugleicli Hölieres und mehr Innerliches, nämlich die Sinnesart,
die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühle des gesamten geistigen und siUlichen
Strebens harmonisch auf die Empfindung und den Charakter ergießt142 •

2. Begrift'sbestimmungen in den Lexika des Vormärz

Als Humboldt hier noch einmal die Bildungsidee des Neuhumanismus, seinen
Bildungsglauben formulierte und fast gleichzeitig Hegel seinen strengeren, inten-
tionell aber ebenso umfassenden Bildungsbegriff darlegte, war das Gerede über
Bildung offenbar bereits so allgemein und diffus geworden, daß ein Lexikon 1825

142W. v. HUMBOLDT, Über die Verschiedenheiten des urnnschlichen Sprachbaus, AA Bd. 7/1
(1907), 14. 27 f. 30.

536
a) Rotteek / '\Veleker Bildung

feststellen konnte: obgleich von nichts häufiger als von Bildung die Rede sei, so
möchte dennoch vielleicht nichts schwerer zu bestimmen sein, als eben sie; denn jeder
bemesse sie nach seinem beschränkten Urteil und Interesse, jeder möchte sie für
sich beanspruchen. Worum es dem Verfasser des Artikels dann am meisten zu tun
war - und nicht nur ihm-, war die Definition dessen, was allgemeine menschliche
Bildung sei und sein könne, wie sie im Hinblick auf nationale und soziale Unter-
schiede zu verstehen sei und welchen Anteil das Christentum an der Schaffung der
Möglichkeit allgemeiner menschlicher Bildung habe. Er nannte dieses aber nicht
allein, sondern sprach auch vom Welthandel und seinen Folgen sowie vom Buch-
druck, durch die alle die Einzelbil<lung der Völker aufgehoben seiH 3 • Andere Lexika
beschränkten sich auf die Deskription des Sprachgebrauchs, versuchten ihn zu
systematisieren und - vielleicht - zu kritisieren. W. T. KRuG setzte (1827)
'Bildung' im engeren Sinne mit Ku,lt?tr gleich, sah sie individuell nur bei gleich-
mäßiger Bildung des Verstandes, des Herzens und des Geschmaoks gegeben, andern-
falls müsse man von Verbil<lung sprechen, wie sie sich bei fast allen Gebildeten finde;
Aufgabe der Bil<lungsanstalten wie des Menschen als sein eigner Bil<lner sei es,
ebenmäßi<;e Bil<lung anzustreben, die sich auf verschiedenen Bil<lungsstufen und in
verschiedenen Bil<lungskreisen vollziehe und erst im Jenseits vollende1" . HEINSIUS
(1828) legte dar, wie eich die re·in m,ensclil·iclw Bild·ung nach den Gegem1Lii111le11 uer
Erkeµntnis, den Ständen und Gewerben der bürgerlichen Gesellschaft in zahlreiche
Bil<lungszweige aufspalte1"5. MEYERS „Conversations-Lexikon" (1845) nannte
'Bildung' sowohl den Zustand des Herangebildetwerdens, als den des vollendeten
Herangebil<letseins und hob die sittliche Bildung als höchsten Grad der Bildung
über die intellektuale und ästhetische hinaus146• Die „Allgemeine Realencyclopädie
oder Conversationslexikon für das Katholische Deutschland" (1846) betonte die
grenzenlose Bildungsfähigkeit des menschlichen Geistes; sie kannte einen quanti-
tativen Bildungsbegriff ('Bildung' als Totalität des Wissens überhaupt, oder das
Wissen in einer einzelnen Disziplin) und bemerkte zeitkritisch: In unseren Tagen,
wo man sich mit einer gewissen Art von Bil<lung brüstet und sie so gerne zur Schau
trägt, ist diese oft nichts anderes, als unreife Aufklärerei, eine gewisse äußere Politur,
e·in fashionabler Geisteszuschnitt und eine oft unerträgliche, mit einigen Bil<lungs-
phrasen schlecht genug verdeckte Hohlheit 147.

3. Der Begriff im politischen: Meinungskampf

a) Rotteck/Welcker. Hinter solcher Kritik, die sich vordergründig gegen modisches


Bildungsgerede wendete, stand im Grunde Feindschaft gegen die Bildung der
Aufklärung und als Aufklärung. Dem entsprach die Überzeugung der Gegner
popularisierter Aufklärung: Der gesunde Blick der Unverbildeten sieht die Wahr-

ua Rhein. Conv. Lex., Bd. 2 (1825), 389 f. 392.


144 KRUG Bd. 1 (1827), 305f.

146 HEINSIUS (1828), 26.


148 MEYER, große Ausg., Bd. 4 (1845), 984. - Vgl. auch BRÜGGElllANN 3. Aufl., Bd. 5
(1836), 156 f.; WIGAND 2. Aufl., Bd. 2 (1846), 420.
147 MANZ Bd. 1 (1846), 282.

537
Bildung V. 3. Der Begriff' im polldscben Meinungskampf

heit besser148 • Hier tönte der alte Vorwurf der Aufklärungs- und Revolutions-
gefahr fort, daß „falsche" Bildung Unruhe schaffe. Etwas differenzierter, aber in
gleicher Richtung warnend, schrieb der liberale F. VON RAUMER 1836: Der ver-
dammungswürdige J akobinismus und Radikalismus erwächst aus Unwissenheit oder
falscher Überbildung,· echte Erziehung des Geistes und Herzens ist das beste, groß-
artigste, zuktzt alkin wirksame Mittel gegen diese zerstörenden Übel 149• Positiv muß
jedoch gesagt werden, daß sich für die Liberalen Bildung, Freiheit und Rechts-
staatlichkeit so vollkommen miteinander verbanden, daß ihnen 'Bildung' als
Grundlage des freiheitlichen Staates galt und Freiheit als Mutter und zugkich ...
Tochter menschlicher Bildung 150• Die Liberalen waren sich bewußt, daß die Ver-
wirklichung ihrer Forderungen nach Glaubens-, Rede- und Preßfreiheit, nach
Verfassung, Menschenrechten, Volksrepräsentation und Geschworenengericht ein
hohes Maß von Bildung, auch pnl?:#.~cher Rildwng151 , im Volke voraussetzten, vor
allem aber das Vorhandensein und die einflußreiche Position einer breiten Schicht
von Gebildeten, die einerseits in den Behörden saßen, andererseits den Ton in der
Gesellschaft angaben und das Verbindungsglied zwischen Regierung und Volk
darstellten.
Wie schon die Aufklärer dem Staat weiteste Befugnisse zugestanden, sofern er im
Sinne ihrer Vorstellungen reformerisch tätig war, so neigte auch ein Teil der
Liberalen dazu, die Kompetenzen des Staates im Bildungswesen weit auszulegen,
sofern sie in ihrem Sinne angewandt wurden. Denn allein vom Staate konnten sie
die Durchsetzung einer progressiven Volksbildung gegenüber Kirche, desinteres-
sierten Eltern und Interessenten an der Unmündigkeit des Volkes erhoffen. Im
einflußreichen „Staats-Lexikon", dem seine Herausgeber zur Aufgabe gesetzt
hatten, nicht nur den (}elehrten, sondern allen Gebildeten im Volk, alkn die poli-
tische Miindigkeit Erstrebenden in allen Bürgerklassen eine willkommene Gabe zu
büiten152 , nannte CARL VON RoTTECK es seine Hauptfrage, wieweit die Staatsgewalt
das Recht oder die Schuldigkeit habe, sich um die Bildung des Volkes . . . zu beküm-
mern, demnach befördernd oder bestimmend darauf einzuwirken. Er bejahte das
Recht, weil es im Staatszweck enthalten war und weil ohne die Sorge für die Volks-
bildung keine Gewährleistung des Rechts erreichbar wäre. Im eigentlichen Rechts-
staat komme das hohe Interesse der Bildung einer aufgeklärten öffentlichen Meinung,
d. h. der Erziehung der Bürger zur politischen Mündigkeit hinzu, ohne die eine
Beschränkung der Despotie nicht möglich sei; endlich bedarf der Staat ... für seinen
eigenen Dienst, sodann für die 1nteressen der Nationalökonomie . . . Kunst und
Wissenschaft einer entsprechenden Anzahl von höher Gebildeten. Dem stehe gegenüber,
daß wenigstens die höhere Bildung keineswegs durch Befehl oder Zwang hervorgebracht
werden, sondern nur die Frucht der selbsteigenen freien Entwicklung sein kann; und
dann, daß solche Freiheit der Selbstbildung, wie überhaupt die persönliche Freiheit,

ue Ansichten der ständischen VerfaBBung der Preußischen Monarchie von E. F. d. V. [d. i.


THEODOR ADAM HEINRICH SCHMALZ], 2. Aufl. (Berlin 1823), 33.
m FRIEDRICH v. RAUMER, England im Jahre 1835, Bd. 2 (Leipzig 1836), 443.
uo FRIEDRICH KAPP, Aufruf zur Umgestaltung der deutschen Nationalerziehung, 2. Aufl.
(Arnsberg 1848), § 1. ·
161 WIGAND 2. Aufl., Bd. 2, 420.
m RoTTEcR:/WELCKER Bd. 1 (1834), XXVII.

538
a) RotteekfWelcker Bildung

wovon sie einen hoch wichtigen Teil ausmacht, ganz eigens dem Schutz des Staates
anempfoh'len, d. h. für jeden einzelnen zum Hauptzweck des Eintritts in den bürger-
lichen Verein gehä'l'ig, mithin einem bloß sekundli,ren Zweck oder gar nur einem bloßen
Mittel niemals aufzuopfern ist153• Es sei, so folgerte Rotteck, Recht (und die Pff,icht)
des Staates, durch niedere Schulen für ... E'lementar-Unterricht, durch Einrichtung
oder Förderung einer Kirchenanstalt für religiöse Bildung ... als die für al'le Men-
schen wohltätigste und für weitaus die meisten ganz unentbehrliche G'!'undlage und
Gewährleistung der Sittlichkeit, durch ·bürgerliche oder technische . . . ge'lehrte Schu'len
für die höheren und besonderen Unterrichtszweige, durch andere, mit dem persön-
lichen Freiheitsrecht al'ler einzelnen und mit dem vernünftigen Gesamtwil'len verein-
barliche Maßnahmen für die Förderung intel'lektuel'ler, moralischer und technischer
Bildung zu sorgen154• Daß jede Regierung das mächtige Mittel der Volkserziehung
benutzen werde, ihren Bestand zu sichern, sei nur natürlich und auch nicht zu
lnißbilligen, wenn alles Bestehende der Erhaltung wert wäre. Man könne auch den
Regierungen das Werk der Erziehung getrost überlassen, wenn sie weise oder
irrtumsfrei und tugendhaft seien. Da dies jedoch nicht zutreffe, dürfe die Volks-
d. h. dem Prinzip nach die Menschheits-Erziehung .. . nicht einigen wenigen Gewaltigen
anvertraut werden. Wo immer Zwangs-Erziehung oder diktierte Bildungs-Richtung
vorkomme, da werde UnrtJCht ... int lnttJrtJ1Jse ... ei1wr Klas8fJ, Kaato oder Familio
verübt. Diese Gefahr - damit stellte Rotteck die Verbindung von Bildungswesen
und Verfassung her - sei am geringsten in der Republik, denn in ihr, also auch in
der konstitutionel'len Monarchie, wenn sie eine Wahrheit ist, liebe man die Befä'l'derung
freier Regsamkeit al'ler Kräfte und deshalb die vom Staat wohl begünstigte, ... nicht
mehr ak durchaus nötig kontrollierte, Selbstbildung al'ler Bürger166•
Im Blick auf Belgien hielt Rotteck eine Regierung, die gemäß einer rechtskräftig
hf.11t11henikn 111nil der zu.,timmung der intelligenten Mehrheit des Volkes sich erfreuenden
Konstitution walte, für· verpflichtet, im Interesse der Freiheit zu verhindern, daß
Parteien, die der Verfassung feindlich gegenüberstünden, die Jugenderziehung in
den Händen hielten. Darum müsse die öffentliche Schu'le . . . unter Leitung und
Aufsicht des Staates stehen und die private Schule vom Staate genehmigt werden;
frei dagegen von Staatseinwirkung müßten häusliche Erziehung, der Unterricht in
höheren Wissenschaften und, als Voraussetzung für alle den Regierungen (aber auch
den Volksrepräsentationen) eingeräumten Rechte,. jede Gedankenkommunikation
mittelst Rede, Schrift und Druck sein. Einer echt konstitutionel'len, überhaupt die
liberale Richtung verfo7,genden Staatsgewalt wollte Rotteck auch das Recht geben, die
öffentlichen Lehrer . . . zu· ernennen, . . . überhaupt das ganze Geschäft der Volks-
bildung zu leiten und zu regeln, ... denn ihr eigenes 1nteresse hält sie auf der gerechten
und guten Bahn fest 1611• Auch eine gewisse Überwachung der Privaterziehung
gestand er ihr zu, nämlich insoweit das wahre Staatsinteresse solches fordert und das
selbständige Recht des Bürgers es erlaubt. Wenn Rotteck auf der einen Seite einer
benevolenten und liberalen Regierung weitgehende Rechte der Initiative und der
Aufsicht zusprach, auf der anderen Seite denjenigen Bereich bestimmte, auf den

1'11 RoTTEOX, Art. Bildung, ebd., Bd. 2 (1837), 571 f.


lH Ebd., 573 f.
1111 Ebd., 576 ff.
lH Ebd., 580 ff.

539
Bildung V. 3. Der Begrift' im politischen Meinungskampf

sie sich nicht erstrecken sollte, so tat er das aufder Grundlage der Rechtsstaatsidee,
die der Staatsgewalt Rechts-Bewahrung und in zweiter Linie gewissermaßen ober-
vormundschaftliche Sorge zur Aufgabe macht, ihr jedoch klare Schranken setzt, die
etwa die Forderung nach einer bestimmten politischen Gesinnung der Lehrer oder
die Ausschließung ganzer Klassen oder Gruppen von den Lehrerstellen verbieten157 •

b) Robert von Mohl. Die Sorge des Staates für die geistige Persönlichkeit der Bür-
ger als ein Teil der „Polizei" war für R. VON MoHL (1832) noch selbstverständlicher
als für Rotteck. Auch er forderte möglichst ebenmäßig Bildung jedes einzelnen nach
'dem Maße seiner Anlagen; auch er war überzeugt, daß durch Zwang keine wahre
Bildung erzielt werden könne; wohl aber seien Anstalten nötig, welche zwar ohne
Zwang, allein durch Darbietung geordneter Hilfe die gewünschte Bildung methodisch
herbeiführen158• Ein Rechtsstaat, der die Aufgabe nicht erfülle, jede Art von Geistes-
bildung zu fördern, soweit seine Kräfte es irgend zulassen, bleibt hinter seiner PP,icht
in einem der wichtigsten und für ihn selbst nützlichsten Punkte zurück 1 5 9• Gleichwohl
lehnte Mohl alle Forderungen und Praktiken einer gleichförmigen Erziehung für
alle ab, weil der Mensch nicht ein Mittel für die Staatszwecke, sondern der l;'taat
em Mittel für die iwecke des Bürgers sei. Dieser habe das Recht, sich in jeder ihm
beliebigen Richtung auszubilden. Ein Volk, in dem dies möglich sei, werde sich auf
die Dauer einem anderen, in dem National-Einförmigkeit herrsche, als überlegen
erweisen1 &0 , Sowohl Rotteck als auch Mohl formulierten nicht bloß programmati-
sche Forderungen; sie verstanden Volksbildung konkret als Zuständigkeitsbereich
der sta!ttlichen Verwaltung und versuchten, ihn näher zu definieren, wobei sie sich
ebenso gegen den Nationalerziehungsplan Fichtes wandten wie gegen absolutistische
Regierungspraxis. So auch F. CH. DAHLMANN in seiner „Politik" (1835): mit viel
Reserve gegenüber dem Bildungsoptimismus vieler seiner Zeit- und Gesinnungs-
genossen und mit der Überzeugung, daß das Maß ,der Schulbildung der unteren
Klassen weniger von Anlage und Bildungsverlangen als vom Bildungsvermögen,
das will sagen, von den Auskommen der zu Bildenden abhänge. Für den erwachsenen
Staatsbürger gebe es keine Erziehung mehr; seine Zucht erfolge allein durch das
Staatsgesetz. Fortbildung könne ihm der Staat nicht durch Anstalten; sondern durch
die in seinem Innern he"schende Gerechtigkeit bereiten, die es nicht scheut, das
Staatsinnere vor dem Staatsbürger zur kh"eichsten Betrachtung aufzuschließen161 •

c) Lorenz von Stein. Ausführlich und systematisch handelte dann L. VON STEIN in
seiner „Verwaltungslehre" (1868) über die Verwaltung und das geistige Leben. Hier
definierte er den Begriff 'Bildungswesen', wie er bis heute administrativ gängig ist:
Die Gesamtheit der Grundsätze, Gesetze, Tätigkeiten und Anstalten, vermiige deren
die Innere Verwaltung die, dem einzelnen unerreichbaren Bedingungen seiner indi-
viduellen geistigen Entwicklung und damit des geistigen Lebens der Völker herstellt,

167 ROTTECK, Art. Erziehung, ebd., Bd. 5 (1837), 265 ff.


168 RoBEBT v. MoHL, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaats,
Bd. 1 (Tübingen 1832), 408 f.
169 Ebd., 414.
180 Ebd., 416 f.
181 FmEriR. CmtlsTOPH DAHLMANN, Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen

Zustände zurückgeführt (1835), hg. v. Otto Westphal (Berlin 1924), 241. 257.

540
c) Lorenz von Stein Bildung

nennen wir das Bildungswesen. Pädagogik und Methodologie lehrten, wie die Bildung
erworben werden soll, das Verwaltungsrecht des Bildungswesens dagegen, wie die
Bildung durch die organisierte Tätigkeit der Gemeinschaft erworben wird 162 • Die
Gemeinschaft, also der Staat, könne sich der Bildung gegenüber ebensowenig gleich-
gültig verhalten wie diese sich dem Staate entziehen werde; sei sie doch ein so
machtvoller Faktor des Lebens, daß man sagen könne, die Elemente der Geschichte
und Gesittung seien vor allem in dem Bildungswesen einer Zeit und eines Volkes
gegeben. Eine Bildung eines einzelnen gebe es eigentlich gar nicht, da jeder einzelne
im geistigen Leben zugleich Resultat und Faktor der gesamten Bildung sei. Aus
dieser Natur der Bildung resultiere, daß zu allen Zeiten ein Bildungswesen bestand,
das erst durch den Hinzutritt des Staates zu einem öffentlichen wurde. Dieses war
die in aller V.erwaltung tätige Staatsidee, insofern sie in das selbsttätige Bildungswesen
des Volkes eingreift1 &3 • Entsprechend der Einteilung der Bildung in Elementar-,
Berufä- und allgemeine Bildung ergaben sich für die Verwaltung des geistigen
Lebens unterschiedliche Aufgaben: Pflicht zur Herstellung der Volksbildung, Pflicht
und Recht zur Ordnung des Gebietes der Berufsbildung, Hebung und Erweiterung
der Bildung überhaupt, Errichtung spezieller Anstalten und Kulturpolizei im
Hinblick auf die allgemeine Bildung. Die letztere wurde von Stein definiert als
die Gesamtheit derjenigen geistigen Güter, welche nicht mehr für einen bestimmten
Erwerb und Beruf dienen sollen, also systematisch als Abschluß der Bildung gesehen,
nicht als ihre allgemeine Grundlage. Allgemeine Bildung sei die Anerkennung, ja die
Forderung der geistigen Freiheit und tatsächlich die Verwirklichung derselben; sie
sei das endgültige Kriterium der wahrhaft historischen, die Weltgeschichte bewegenden
Völker, denn sie greife in die öffentlichen Rechtszustände der Völker ein. Denn
während die Berufsbildung Unterschiede zwischen einzelnen und Klassen erzeuge,
hebe die allgemeine Bildung diese in der geistigen Welt wieder auf. Dadurch sei sie
die Trägerin der Gleichheit im geistigen und damit im gesellschaftlichen Leben und den
von ihm beherrschten Rechtszuständen der Menschheit ... Sie ist undenkbar ohne das
Prinzip der gleichen Bestimmung, sie erzeugt die gleiche Befähigung und fordert daher
ein gleiches Recht aller. Sie zu ermöglichen, also für die höchste Entwicklung aller
Staatsangehörigen äußerlich Raum zu schaffen und sie zu schützen, nicht aber sie
inhaltlich zu bestimmen, sei eine der wichtigsten Aufgaben der Verwaltung 164•
Hier war, und das macht Steins Darlegungen so bemerkenswert, der idealistisch-
neuhumanistische Bildungsbegriff verbunden mit der Idee des Staates der sozialen
Verwaltung, der die Grenzen durch das Wesen der Persönlichkeit gezogen waren.
Denn die Verwaltung sollte nichts anderes leisten, als die Bedingungen herzustellen,
die der einzelne sich für seine intellektuelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche
Entwicklung nicht selber zu schaffen vermochte; sie durfte auch nicht vorschreiben,
wie der einzelne sich der Bedingungen bedienen sollte. In der Phase des staats-
bürgerlichen Bildungswesens, diesseits von Kirchentum und Ständetum, aber auch
von humanistischer Vereinzelung, gebe es keine Bildung und kein Bildungswesen
mehr ohne den Staat, und keinen Staat ohne sein Bildungswesen und seine Bildung.
Die Bildung der einzelnen bedingte als die Bildung aller die geistige und politische

182 LORENZv. STEIN, Die Verwaltungslehre, Bd. 5 (Stuttgart 1868), XVIII f.


Ebd., 2f. 12 f.
l8a
m Ebd., Bd. 6 (1868), 1 ff.

541
Bildung V. 4. Bildungsbegriff und Politik im Vormärz

Macht des Staatswesens. Bildung aber war prinzipiell, seitdem die europäischen
Völker erkannt hatten, daß sie nicht bloß eine Macht, sondern auch die Freiheit sei,
und praktisch seitdem es den Buchdruck gab, freie Selbstbildung. Während in der
ständischen Welt die Bildung der Stände die bildende Arbeit innerhalb derselben
erzeugt und ordnet, wird in der staatsbürgerlichen Gesellschaft das Bildungs'l.1lesen von
der Entwicklung der Selbstbildung beherrscht. Das Bildungswesen tritt in den Dienst
der aUgemeinen menschlichen Bildung. Der Staat mußte der Selbstbildung ein System
von Bildungsanstalten anbieten; er mußte aber 11-uch in diesem die Einheit erhalten
durch Schulordnung und Lehrplan. Im. UnterrichtSwesen erkenne man das Ver-
hältnis eines Staates zum Prinzip der freien und zugl,eich einheitlichen Selbstbildung
des Volkes in einem Staat 165• Es liegt auf der Hand, daß Stein vom neuhumani-
stischen Bildungsbegriff abging und zwar in dem Maße, wie bei ihm unter dem
Eindruck der sozialen Problematik des 19. Jahrhunderts der Rechtsstaat zum
Sozial- und Verwaltungsstaat geworden war.

4. Bildungahegrift' und Politik im Vormirz


a) Politische Bildung. Die politische und soziale Relevanz von Bildung, aber auch
ihre Bedingtheit durch die staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse waren
grundsätzlich längst bewußt; im Vormärz aber wurde zunehmend darüber disku-
tiert, weil Diskrepanzen zwischen Idee und Wirklichkeit schärfer hervortraten. Daß
der konstitutionelle Staat gebildete Bürger voraussetze, daß in. einem solchen
politische Rechte nicht nur nach Maßgabe des Besitzes, sondern auch der Bildung
gewährleistet sein müßten, daß aber auch fortschrittliche Verwaltung, die von dem
Vorhandensein gebildeter Beamter abhänge und sich in der Pflege des Bildungs-
wesens beweise, progressive politische Entwicklung sichere, das waren verbreitete
Ansichten. HANsEMANN sah (1833) den französischen Mittelstand durch politische
Bildung, durch Eintreten für gesetzliche Freiheit und bürgerliche Gleichheit aus-
gezeichnet, glaubte aber auch, daß die preußische Beamtenschaft „demokratischen"
politischen Ansichten anhänge, insofern sie dafür eintrete, daß jedermann, der
Bildung habe, politische Rechte erhalte 166• Und G. MEv1ssEN, der die Geschichte
dahin streben sah, die Bildung in immer weitere Kreise zu verbreiten, hielt (1843) das
Preußen seiner Zeit dank dem Prinzip des Protestantismus für den Staat der Intelli-
genz und der Bildung167 • Bildung und politische Reife wurden in proportionaler
Relation gesehen; Mangel an Bildung führe zu Fanatismus und begünstige politische
Korruption und Despotismus; wo die Regierung die Erziehung und Bildung des
Volkes vernachlässigt habe, könne das Wahlrecht auch der unteren Klassen
gefährlich werden; Bildung aber führe zu Einsicht und Disziplin1 8 8 ,

m Ebd., Bd. 8 (1884), 5 ff.


1 68 DAvm liANSEMANN, Preußen und Frankreich. Staatswirthschaftlich und politisch, unter
vorzüglicher Berücksichtigung der Rheinprovinz (Leipzig 1833), 265. 302.
187 GusTAV MEVISSEN, Verhältnis des Staates zur fortschreitenden Geistesbildung (1843),

zit. JOSEPH HANSEN, Gustav von Mevissen. Ein rheinisches Lebensbild 1815---1899, Bd. 2
(Berlin 1906), 108. - Vgl. auch WILHELM LÜDEBS, Art. Preußen, ROTTECK/WELCKER
Bd. 13 (1842), 126 f.
18 8 Vgl. die einschlägigen Artikel bei RoTTECK/WELCKER.

542
Dilduug

In solcher Argumentation sprach sich nicht nur der Glaube der Gebildeten an die
zugleich progressive und ordnungserhaltende, freiheitliche und Freiheit sichernde
Macht der Bildung aus, sondern auch die kritische Forderung an die eigene Gegen-
wart, sei es, daß auf Grund des Bildungsstandes der besitzenden und gebildeten
Schichten der Fortgang der verfassungspolitischen Entwicklung als zwingend an-
gesehen, sei es, daß um dieser Entwicklung willen breitere Bildung und verstärkte
„politische" Bildung verlangt wurden. Der letztere Begriff wurde in den dreißiger
und vierziger Jahren zunehmend gebraucht und ersetzte nicht so sehr den der
„Bildung zum Bürger", als daß er ihn in sich aufnahm. F. BüLAu bezeugt (1832),
daß das Bedürfnis einer gdie,genen politischen Bildung immer fühlbarer werde 169•
1839 definierte dann das „Staats-Lexikon": der Begriff der politischen Bildung
fasse eine in tausend Farben erscheinende bunte Mannigfaltigkeit in eines zusammen
und sei gleichbedeutend mit den jeweiligen politischen Ideen eines Volkes. Demnach
entsprächen die politischen Zustände der jeweiligen politischen Bildung110. 1847
meinte dann BüLow-CuMMEROW, der rheinische Provinziallandtag habe den Be-
weis für die schnelle politische Bildungsfähigkeit der Deutschen geliefert171 - was
w1migP. .TahrP. Rpii.tP.r von viP.]P.n, die ähnlich gedacht hatten, bezweifelt wurde.
b) Die 1oziale Relevanz de1 Bildungshegrilfs. Die soziale Geltung des Bildungs-
begriffs trat in diesen Jahrzehnten besonders deutlich hervor in der engen Ver~
koppelung mit dem Besitzbegriff wie auch in der Diskussion um das Verhältnis von
Bildung, Freiheit und Gleichheit. Die erstere vollzog sich vor dem Hintergrund
einer bezeichnenden Vorstellungsverschiebung; Bildung wurde zum Besitz: man
erwarb und hatte Bildung und genoß deshalb Rechte und Prestige. Bildung war, so
gesehen, ein Besit111tand, den zu verteidigen das Interesse der Gebildeten wo.r, dio
ihrerseits· mehr und mehr, durch Tätigkeit, soziales Ansehen und materielle Sicher-
heit, zu den etablierten und herrschenden Schichten gezählt wurden und sich selber
dazu zählten. Es wurde (abgesehen von Randgruppen wie Hauslehrern, Schrift-
stellern etc.) fast selbstverständlich anzunehmen, daß ein Gebildeter nicht arm
sei, sondern aus mehr oder weniger gesicherten Verhältnissen komme, in ihnen lebe
oder sie erwarten dürfe. Das Zusammentreffen von Mittellosigkeit und Bildung (die
jetzt durchweg als akademische Bildung verstanden wurde) erschien vielen als
ungesund, den Konservativen als gefährlich. Die schon im späten 18. Jahrhundert
anzutreffende, staatswirtschaftlich begründete Sorge vor einer zu großen Zahl von
Studierten ohne produktive Verwendung erschien nun als Teil der allgemeinen
Sorge vor dem wachsenden Pauperismus, aber auch vor dem politischen Radikalis-
mus des gebildeten Proletariats 172 : ein Schlagwort, das (auch: 'akademisches
Proletariat') als Formel pessimistischer Gesellschaftsanalyse oder politisch-
sozialer Polemik bis in die Gegenwart in Gebrauch geblieben ist.
Zwei Auffassungen, die sich beide auf Erfahrungen berufen konnten, !!lind zu

m Büu.u (1832), V.
170 SCllULZ-BODMEB, Art. Politische Ideen und Ideologie, RoTTECK/WELCKER Bd. 8
(1839), 287.
1 11 ERNST GoTTFRIED GEORG v. BÜLow-CUMMEBOW, Preußen im Januar 1847 und das

Patent vom 3. ·Februar (Berlin 1847), 242.


172 METTERNICH 1850, zit. ÜTTOKAR LoRENZ, Staatsmänner und Geschichtsschreiber des
19. Jahrhunderts. Ausgewählte Bilder (Berlin 1896), 77.

543
Billlung V. 4. Billlungshegritl unll Politik im Vormärz

unterscheiden: die eine betonte vor allem die sozial ausgleichende, die andere die
sozial differenzierende Wirkung von Bildung. HEGEL wies auf die allgemeine
Beobachtung hin, daß der gebildete Mensch ganz andere Forderungen erhebe als der
ungebiUete Mensch desselben Volkes. Bildung scheine' zunächst rein formell, also
allgemein zu sein, lYringt aber auch eine inhaltliche Differenz hervor173 • Ausgehend
von den staatswirtscha/tlichen Verhältnissen, aus welchen er die Verschiedenheit der
BiUung und des Besitzstandes unter den Staatsangehörigen hervorgehen sieht,
erklärte J. G. HOFFMANN 1844 die gewöhnliche Unterscheidung zwischen GebiUeten
und Ungebildeten für unzulänglich und untergliederte sie jeweils nach dem Besitz-
kriterium in die ungebildeten Eigentumslosen (Proletarier) und die ungebildeten
Eigentümer (Bauern, Handwerker, Kleinhändler) einerseits, die nicht arbeitenden
Gebildeten (Rentner, Herren) und die arbeitenden Gebildeten (Gelehrte, Künstler,
größere Landwirte, größere Unternehmer und Händler, höhere Beamte, aber auch
große Teile des Adel!!) andererseits 174• Die letztgenannte Klasse, der gebildete
Mittelstand, fügte Hoffmann hinzu, gelte in der öffentlichen Meinung als der
eigentliche Träger des geistigen und sittlichen, das ist des kostbarsten Eigentums der
Nationen; doch warnte er vor der Abstraktheit der Arbeit <lit1RP.r Gruppe, vor
Schwärmerei, Empörung gegen Recht und Pflicht, Selbsttäuschung und Ver-
irrungen des Geistes, die epidemisch wirken könnten, wenn sie der Scharen sich
bemächtigen, welche verlockt durch Eitelkeit und Arbeitsscheu, gleich entb"lößt von
innmim Re.mf 1t.nd äußeren Mitteln sich der ... Klasse der Gebildetfm anschließen.
Auch diese Warnung vor Wirklichkeitsfremdheit, Anarchismus, Dünkel der
Intellektuellen und vor dem Troß der Unberufenen, die sich um des höheren
Ansehens der geistigen gegenüber der Handarbeit in den Kreis der Gebildeten
drängten175, blieb eine Argumentation, die einem sich abflachenden Bildungsbegriff
mit der Tendenz zu sozialer Exklusivität entsprach.
Eine andere, ebenfalls durch Bildung gegebene Gliederung der Staatsgesellschaft in-
nerhalb des freien, rechtlichen Staats, der ein freier Hilfsverein und organisches
Gemeinwesen ist, schlug C. WELCKER vor: in einen Stand der Studierten (Gelehrte
und Beamte) und einen Stand der Nichtstudierten (Bürger und Bauem) 176 • 1847
stellte G. VON STRUVE fest, nur der Reiche habe in der Regel Aussicht auf wissen-
schaftliche und künstlerische AusbiUung. Demgegenüber forderte er als Demokrat,
ausgehend von einem unveräußerlichen Recht des Menschen jeden Standes auf eine
seinen Anlagen entsprechende BiUung und Erziehung, unentgeltlichen Unterricht in
allen Schulen, und ausgehend vom Recht auf freie Entwicklung eine Fülle von
einzelnen politischen Freiheitsrechten einschließlich Preß-, Gewissens-, Assoziations-,
Lehr- und Lernfreiheit1 77,

11a HEGEL, Die Vernunft in der Geschichte (s. Anm. 138), 179.
174 JoH. GOTTFRIED HOFFMANN, "Übersicht der allgemeinsten staatswirthschaftlichen
Verhältnisse, welche die Verschiedenheit der Bildung und des Besitzstandes unter den
Staa.tsa.ngehörigen erzeugt (1844), in: N11.nhl11.ß klP.iTIP.r SohriftAn staat.swirthschaftlichen
Inhalts (Berlin 1847), 170 ff.
171 Elnl., 200 .lf.
176 CARL WELCKER, Art. Stand; Unterschied der Stände, RorrEcKjWELCKER Bd. 15

(1843), 128. 131 f.


177 GusTAV v. STRUVE, Art. Menschenrechte, ebd., Suppl. Bd. 3 (1847), 620 f.

544
e) Politilehe Kritik Bildun1

Solche und ähnliche Forderungen nach praktischer Verbreiterung der Bildung, nach
freier Entfaltungsmöglichkeit nicht nur weniger, sondern aller Staatsangehörigen,
waren nicht neu; sie hatten indes nun einen schärfer sozialpolitischen, oft einen
anklägerischen oder -warnenden Klang. Es fehlte auch die Prognose nicht: 1837
hieß es im „Staats-Lexikon" unter dem Stichwort „Demokratie", das Monopol des
Besitzes werde verschwinden wie das der Bildung. Mit der Zunahme der Bevölke-
rung, vor allem in den Städten, wachse das Bedürfnis einer allgemeinen Bildung;
neue Unterrichtsmethoden höben größere Volksklassen schneller bis auf einen
gewissen Grad von Bildung, und die gegenwärtige Literatur wirke auf den Zustand
einer gkichmiißigen Massenbildung hin. Sie sei die Hauptwirkung und das Ziel des
großen Bildungsprozesses unserer .Zeit1 7 8 • Und STRUVE meinte 1848, um die traurige
Lage des Proletariats zu ändern, komme es nur .darauf an, den übermiiß.igen Reich-
tümern und der Überbildung der bevorzugten Klassen einen Ab'fl,uß zu Gunsten der
Proletarier zu verschaffen, d. h. das gestörte Gleichmaß zwischen den Teilen des
Staatskörpers wiederherzustellen, konkret gesagt: dem Proletariat Wohlstand und
Bildung zu verschaffenl79.

c) Politische Kritik. Gegen solche Vorstellungen hat sich der Protest derjenigen,
vornehmlich konservativ-christlichen, aber auch gemäßigt und „organisch"
-Liberalen gewandt, die sie für abstrakt, unnatürlich, oberflächlich hielten. Kultur
und Bildung als Ersatzmittel der Natur, das sei, schrieb '.!!'. HoHMER 1844, die
beherrschende Idiosynkrasie der heutigen Radikalen. Der deutsche Radikalismus
fuße auf der unreifen Ansicht, daß durch g'lciche Bildungsmittel alle Stände auf Eine
Höhe gehoben und der Pöbel für immer vertilgt werden könne, weil die Deutschen am
meisten für unifassondo uiu/, wahrhafte Bildung begabt ocion und oic dcohalb leicht
überschätzten, aber auch, weil viele Schriftsteller, welche gebildet und dabei geistlos
sind, der Nation diese Theorie predigten, und schließlich, weil es in Deutschland zu
wenig politisches Leben gebe, als daß erfahren werden könnte, daß die Bildung,
womit ärmliche Geister übertüncht sind, wie Flitter in jeder Krisis hinwcgfällt, wo es
natürlichen Blick und V erstand gilt. Höher als die Idee der Bildung setzte Rohmer
die der Erziehung, die vor wenigen Jahren noch existiert habe, umfassender ge-
wesen sei und mehr von dem einzelnen verlangt habe; jetzt sei die alleinselig-
machende Kraft der „Kultur" an ihre Stelle gesetzt und Bildung bleibe Oberfläche,
auf der sich jedermann bewege. Das Ideal des Volksunterrichts bewirke nichts anderes,
als den Kern der Volkskraft in der Wurzel auszurotten. Es sei eine Folge dieses Wahns,
wenn Bildung und 11idividualität gleichgesetzt, die Menschen aus dem Beruf, den sie
nach dein Maße ihrer Natur hätten ausfüllen können, herausgerissen würden und
unter dem Ansturm der Masse der Bildung ihren gesunden Sinn verlören. Bildung
trage den jeweiligen Zeitgeist in sich, und so sei es gebildeter Ton, radikal oder liberal
zu sein. Nach Rohmers Ansicht war das seichter Liberalismus 180, dem die Radikalen
wie die Absolutisten anhingen. Echter Liberalismus hingegen wolle jeden Menschen
. zum Menschen erziehen, ohne jedoch die niedere Klasse selbst zu überbilden, denn
Ve.rhililnng iRt RnhlimmP.r 11.lR Nfr.ht.hili/,11m1Jl81.

178 Su.H.uu-BuvMJ!JH, At·L. Biluwig, RoTTEüK-WELCJKER Bu. 4 (1887), 200 ff.


179 STRUVE, Art. Proletariat, ebd., Suppl. Bd. 4 (1848), 280.
180 Fru:EDRICH ROHMER, Lehre von den Politischen Parteien, Bd. 1 (Zürich 1844), 67 ff.
181 Ebd., 113 f.

35-90385/1 545
Bililllll8 V. 4, Bildllll8sbegriff und Politik im Vormärz

Be~eichnend ist, wie hier in der Abwehr demokratischer Gedanken auch der
idealistisch-neuhwiia.nistische Bildungsbegriff selber mit in Frage gestellt wurde,
dessen demokratisches Grundelement nun politisiert und im Zuge der sozialen
Entwicklung des 19. Jahrhundert.a unvermeidbar virulent wurde . .Ältere Warnung
vor politischen Konsequenzen sah sich nun bestätigt. Kritik an allgemeinen Volks-
bildungsplänen und an einem abstrakt bleibenden Begriff der allgemeinen Bildung
zum Menschen sollte nun der These dienen, daß politische Bildung mit Erziehung
zur Bejahung der bestehenden Ordnung gleichgesetzt wurde. Dabei wurde in den
Hintergrund gedrängt, was im deutschen Bildungsbegriff seit Herder enthalten
war: das Element der Freiheit und das Element der Gleichheit. LORENZ VON STEIN
bezog 1850 diese moralisch-politische Implikation des deutschen Bildungsbegriffs
klar auf die gesellschaftlich-staatliche 8pannung Reiner revolutionären Gegenwart:
Wo in einem Volk die niedero Klasse überhaupt nach Bildtt11u; strebt, da ist das erste
EletMnt der Bewegung der Freilieit vorhanden; wo sich dieses Streben nach Bildung
kundtut, da beginnt auf ihrer ersten Stufe der Kampf der abhängigen gesellschaftlichen
Klasse mit der herrschenden ... ; und endlich; wo von seiten des Staates oder der
Gesellschaft selber etwM für die Bildung des Volks getan wird, da kann m.an rm:t ft'.~f.r.r
Zuversickt behaupten, daß Staat und Gesellschaft, mögen sie sonst frei sein oder nickt,
am Ende dennoch die Freiheit wollen. . .. Die gegebene Bildung nun, als .Kntwickelung
der Gleichheit gei.~tigM (h'lf.P.r, ffih:rt n.ott11e.ri.di.g Z1" einem ne1"en, re1:n geistigen Prinzip
der Gesellschaft. . . . Dieses Prinzip der gleichen Bildungs/äkigkeit ist das. der Gleich-
heit der Menschen. Jede Bildung des Volkes langt daher unabänderlich bei einem
Punkte an, wo sie, auf die Bildungsfähigkeit und mit ikr auf den Begriff der Persön-
lichkeit zurüoksckeinend, die begriffliche Gleichheit der Menschen als Prinzip der
Bewegung der anderen Klassen aussprickt182 •

d) Arheiterhildung; sozialistische Kritik am bürgerlichen Bildungshegrift': Marx.


Als Stein so schrieb, waren in verschiedenen deutschen Städten schon Arbeiter-
vereine, „Arbeiterbildungsvereine", entstanden - zunächst auf Initiative von
demokratisch gesinnten Bürgerlichen und mit dem Ziel (wie es in den „Statuten
der württembergischen Arbeiter-Vereine" von 1850 hieß), eine allgetMine und
mmalische Bildung des Arbeiters zu erstreben und den Arbeiter mit allen gesetzlichen
Mitteln in den Vollgenuß aller staatsbürgerlichen Reckte zu bringen und ikn in
gewerblicher und politischer Hinsicht zum eckten Staatsbürger heranzubilden188•
Wurde hier noch der gleichberechtigte Eintritt des Arbeiters in die Staatsbürger-
gesellschaft und als Voraussetzung. dazu seine Hineinnahme rn den dieser Gesell-
schaft entsprechenden Bildungshorizont angestrebt, so hatte K. MARX, der 1843
Geld und Bildung als die Hauptkriterien für die Unterschiede in der bürgerlichen
Gesellschaft bezeichnetelH, die bürgerliche Bildung im „Kommunistischen
Manifest" (1847) als Klassenbildung, d. h. als ein Erzeugnis der kapitalistischen
Produktions- und Eigentumsverhältnisse dargestellt. Diese Bildung, deren Auf-

181 LoRENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf
Ta.g1:1, B<l. 1: D1:1r Begriff der Gesellschaft und die soziale Geschichte der Französi-
Ull.8e1"e
schen Revolution bis zum Jahre 1830 (Leipzig 1850; Ndr. Darmstadt 1959), 86 f.
188 Zit.FaoLINDE BALBER, Sozial-Demokratie 1848/49-1863, Bd. 2 (Stuttgart 1962), 530.
184 MARx, Kritik der Hegelsohen Rechtsphilos0phie (1843), MEW Bd. 1(1961),284.

546
VL 1. llilduag als Beeibi Bildung

hören (mit der sozialen Revolution gegen die Bourgeoisie) mit dem Aufhören der
Bildung überhaupt identisch sei, bedeute für die e~ Mehrzahl die H erarlhildung
zur Maschine 186• Es gab also für Marx keinen gemeinsamen, klassenübergreifenden
Bildungsbegriff. Die im Unterrichts- und Bildungswesen der feudalen oder kapi-
talistischen Staaten institutionalisierte Bildung war nach Inhalt und Zielsetzung
Klassenbildung, in der eine spezifisch bourgeoise Bildungsidee zur allgemeinen und
Menschheitsbildung stilisiert war.

VI.

1. Bildung als Besitz

In Gn:oorn „Dout.oohom Wörtorbuoh" wurdo 1860 'Bildung' oin houto sohr gang-
barer ... und für unsere Mundart bezeichnender186 Ausdruck genannt. In der Tat gibt
es bis heute nur wenige Begriffe, die zugleich so häufig gebraucht, so unterschiedlich
gemeint und in ihrer Bedeutungssteigerung so spezifisch deutsch sind wie 'Bildung'.
In diesen Begriff ist im späten 18. und fl'iihen 19. Jahrhundert viel vom deutschen
Selbstverständnis, von dem sozialen und politischen Credo der deutschen Gebildeten
eingegangen und in ihm erha:lten geblieben. Es hat sich mit ihm aber auch, wie ge-
Y.f'ligt, dif'I VnrRb1l111ng von Rild11ng alR Rt>.~itz fJP.isti.gP.r rhilR.r (T•. v. 8TFJTN) 187 verbun-
den. Sie ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschend und läßt den Unter-
schied zwischen Gebildeten und Ungebildeten in Analogie zum Unterschied zwischen
Besitzenden und Nichtbesitzenden sehen. Für die gesellschaftliche Praxis sind nicht
so sehr die Inhalte und Ziele der Bildung wichtig, als vielmehr die Zugehörigkeit
oder Nichtzugehörigkeit zu den „Gebildeten": zu den Leuten, die „höhere"
Schul- und akademische Bildung erfahren haben. Gebildet im efll}crn Sinrw, so hieß
es 1864 in einem Buche über „Die Bildung und die Gebildeten", ist nur ein Mensch,
der die, allen Menschen verständliche Art und Weise zu der seinigen gemacht, der sich
in die Formen eingelebt hat, welche Träger und Typen des generellen Geistes der
Menschheit sind . . . Die menschliche Gesellschaft muß· auf eine Norm, auf einen
idealen Typus halten, und die Formen, welche au8 der Individualität hervorgehen, als
abnorm und geschmacklos, fa als unsittlich in dem Falle erachten, wo diese Eigenart
gesetzgebend und aktiv werden will. Sich bilden heißt: die rechte Mitte halten, zwischen
der sittlichen Schablone und seiner Persönlichkeit 1 ee, und die Grenzen der Bildungs-
prozedur seien dadurch gezogen, daß sie nicht nur in einer Mehrung, sondern auch
in einer Minderung der persönlichen Freiheit und Eigenart, der Charakterwürde, der
Willens-Energie, der natürlichen Kraft und Divination189 bestehe. Von solcher
Auffassung her kritisierte dann der Verfasser die sogenannte allgemeine Bildung der
Humanisten und Philanthropen 190 , die ästhetische und wissenschaftliche Bildung

185 MABx/ENGBLS, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Bd. 4 (1959), 477.
188 GRIMM Bd. 2 (1860), 22.
187 L. v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 1, 85 (s. Anm. 182).
1 88 BoGUMIL GoETZ, Die Bildung und die Gebildeten. Eine Beleuchtung der modernen
Zustände, Bd. 1 (Berlin 1864), 104. 106.
m Ebd., 113 f.
uo Ebd., Bd. 2, 253.

547
Bildung VI. 3. Marxistische Kn"tik

usw., und forderte, daß der gebildete Mensch nicht aus der Art schlagen, nicht aus
dem gegebenen Herkunfts- und Gesellschaftskreis heraustreten solle. In solche~,
aber aucih in anderen, mehr „humanistisch" orientierten Schriften läßt sich ein
manchmii.l verkrampftes Bemühen erkennen, am idealistischen Bildungsbegriff
festzuhalten, ihn aber sozial anzupassen, d. h. praktisch ihn zu nivellieren und die
ihm immanente· soziale und politische Dynamik zu entschärfen.

2. Konservative Kritik

Es war das eine Reaktion auf die Tatsache, daß der Bildungsbegriff seit der Mitte
des 19. Jahrhunderts mehr als vorher in seiner politischen· Relevanz umstritten
war. Unter dem Eindruck der Revolution von 1848, in der die Gebildeten eine so
dominierende Rolle gespielt hatten, wurde von konservativer Seite die „wahre",
„echte", „christliche" Bildung der bloßen Verstandes-, Schein- oder Verbildung
gegenübergestellt. In WAGENERS „Staatslexikon" (1860) war 'Bildung' ein von
Gott herrührendes, den Menschen mitgegebenes Gut, das im Laufe der Geschichte
verderbt worden war. Der Selbstze'Tsetzungsprozeß der Bildung unte'T i/,p,n ... K11.ltwr-
völkern, der Abstieg von der echten, grürullicken urul abge'Turuleten Bildung zur
ve'Tweltlichten und entsittlichten Bildung, könne nur aufgehalten werden durch
Religion. Zugleich wurde auf die Riuforig.~ari.TagP.n d.e.'T we.1'.ße.n Völker hingewiesen,
insbesondere auf das bildungsk'Tä/tige ge'Tmaniscke Element, das fähig sei, die
ze'Tsetzerulen f'TemdenKultu'Telemente 191 auszustoßen. Der hier anklingende national-
exklusive Bildungsbegriff ist ·dann nach 1870, allerdings noch mehr im national-
liberalen als im konservativen Lager, vielfältig und oft nationalistisch depraviert
anzutreffen. Stolz auf das deutsche Bildungswesen wurde zu nationalem Bildungs-
stoig gegenüber Fremdon und Element politischen Überlegenheitsbewußt.seim.

3. Marxiatiache Kritik und sozialistischer Bildungshegrift'


Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts verbreiterte sich das Spektrum der z. T.
scharf grundsätzlichen Kritik am· idealistisch-neuhumanistischen Bildungsbegriff.
Soweit sie von radikal-demokratischer und sozialistischer Seite kam, verband sich
mit der Ablehnung der bürgerlichen „Klassenbildung" ein aus der Überzeugung,
daß Bildung frei mache192 , hervorgehender Bildungsoptimismus. Er trug stark
aufklärerische Züge und war von dem Impetus einer Schicht getragen, deren
Selbstgefühl mit zunehmender - selbsterworbener, der Gesellschaft abgetrotzter,
sich· ihr gegenüber ideologiekritisch verhaltender - Bildung wuchs. Auch in der
politisierten Arbeiterbewegung blieb die „Arbeiterbildung" zugleich Zweck und
Mittel. Sie sollte, ihrer Intention nach auf politisch-soziale Aktion gerichtet., den
Arbeiter über die ökonomische Entwicklung informieren und ihm seine Stellung in
ihr bewußt machen, ihn zur Agitation und zum Verstehen der Agitation befähigen,
ihn in die Lage versetzen, die bürgerliche Bildung zu durchschauen und mit
bürgerlfoheu Gebildeten zu diskutieren.

181 WAGENER Bd. 4 (1860), 42. 37. 41, Art. Bildung (Culturt
1 91 BLUM Bd. 1 (1848), Vorwort.

548
VI. 4.. Kulturpeuimiamus: Nietuche, Lagarde Bildung

Im Erfurter Programm der SPD (1891) wurde die volle, von den Einkommens-
verhö.ltnisson dor ElLcrn unu.bhä.ngige Zugänglichkeit aller bestehenden Bildungs~
anstalten für alle geeigneten Schüler gefordert; in der Partei (wie später in den
Gewerkschaften) entfaltete sich ein eigenes, sehr wichtig genommenes Bildungs-
wesen (Parteipresse, -verlag, -schule, Kurse, Vortragszyklen). In den auf dem
Mannheimer Parteitag 1906 vorgelegten Leitsätzen zum Thema „Volkserziehung
und Sozialdemokratie" wurden zwar die alten Vorwürfe gegen die herrschenden
Klassen und ihre Tendenz, den unterdrückten Klassen nur das bescheidenste Maß
einer für die jeweilige Produktionsform unerläßlichen technischen Bildung einzu-
räumen, sowie gegen die Volksschule als Herrschaftsinstrument des Kapitals
wiederholt, aber auch ein positives Konzept der öffentlichen Erziehung, die eine der
wichtigsten sozialen Aufgaben sei, entworfen. Dabei wurde den Eltern, so lange der
Klassenstaat bestehe, die Aufgabe zugewiesen, planmäßig den Tendenzen des
Sohulunterriohts entgegenzuwirken und die Kinder im Geiste der sozialistischen
Weltanschauung zu erziehen, während die Eltern an ihrer theoretisch-sozialistischen
Weiterbildung wie an ihrer Charakterbildung arbeiten sollten. Zur Zusammenfassung
aller Bestrebungen wurde ein Bildungsausschuß der Partei vorgesehen und noch
1906 gegründet19 3. Auf dem Parteitag 1908 wurde nicht nur von dem Erfolg ge-
1:1pruuhen, mit dem die organisierten Arbeiter die Bildungsangelegenheiten in ihre Hand
genommen hätten, sondern auch vor zu großem BiUungseifer gewarnt. Die Bild?.1,ng11-
bewegung darf heute nicht als Selbstzweck betrachtet werden, der sie als gleichberechtigte
1nstitution neben Partei und Gewerkschaft stellt, sondern die Weiterbildung soll sich
dem großen Zweck der modernen Arbeiterbewegung unterordnen, sie soll ihr dienen 194 •
Wenn diese Warnung auch organisatorischen Kompetenzkonflikten entsprang, so
sprach sie doch eine grundsätzlich"ideologische Prioritätsvorstellung aus.

4. Kulturpessimismus: Nietzsche, Lagarde

Auf der anderen Seite stand die sich zu allgemeinem Kulturpessimismus aus-
weitende Kritik an der deutschen Bildung, wie sie exemplarisch von Nietzsche und
Lagarde vorgebracht wurde und, oft un- und mißverstanden, in den wachsenden
Antiliberalismus deutscher Gebildeter Eingang fand. NIETZSCHE perhorreszierte
den auf die deutsche Kultur, wie er sie begriff, so stolzen Bildungsphilister und seine
Gebildetheit, die er für wahre Bildung halte. Bei völligem Mangel an Selbsterkenntnis
sei der Philister überzeugt, daß seine „Bildung" gerade der satte Ausdruck der rechten
deutschen Kultur sei: und da er überall Gebildete seiner Art vorfindet und alle öffent-
lichen Institutionen, Schul-, Bildungs- und Kunstanstalten gemäß seiner Gebildetheit
und nach seinen Bedürfnissen eingerichtet findet, so trägt er auch überallhin das
Biegreiche Gefühl mit sich herum, der würdige Vertreter der jetzigen deutschen Kultur
zu sein. Gegen die gleichzeitige Tendenz der Erweiterung und der Verminderung
der Bildung in Deutschland empfahl Nietzsche Verengung und Konzentration,

198 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands, Mannheim 1906 (Berlin 1906), 134 ff.
1 " 2. Jahresbericht des Bildungsausschusses 1907/08, Protokoll des Parteitages Essen
1907 (Berlin 1907), 87 f.

549
Biliaag VI. '9 Kultmpeaimismm1 Nietzsehe, Lagarde

Stärkung und Selbstgenügsamkeit der Bildung196• - Auch die viel engere Kultur-
kritik: LA.GARDES konstatierte den Verfall des deutschen Bildungswesens und gab
als Gründe Glaubenslosigk:eit, Sittenverfall, Materialismus und geistigen Sansculot-
tismus an. Demokratie und Bildung schlossen sich für ihn ebenso aus wie Demo-
kratie und Freiheit196 ; deshalb forderte er, der das Ideal der allgemeinen Bildung
ablehnte und den Schulen vorwarf, daß sie die Nation mit dem zähen Schkime der
Bildungsbarbarei187 überzögen, ein nationalistisches und elitäres Erziehungskonzept:
wirkliche Bildung für wenige solle eine Klasse schaffen, die vom Volke beamtet sei,
für dieses arbeite und einst die Selbstverwaltung übernehmen sollelH; die große
Mehrheit könne sich mit elementarer Ausbildung begnügen.
Diese Kritik Lagardes brachte -;- das machte ihren Erfolg aus - ein verbreitetes
Unbehagen zur Sprache, in dem sich die Ablehnung liberaler, egalitär-demo-
kratischer und sozialistischer Zcittondcru:cn mit gcistcso.ristokro.tisohcn Wunsch-
vorstellungen, Eliteideen, Neoidealismus und Historismus mischten. Daneben stand
die z. T. durch Standesinteressen bedingte, z. T. aus der naturwissenschaftlich-
technischen Entwicklung resultierende und in manchen Fällen durch die monistische
Weltanschauung unterbaute Verurteilung der humanistischen Allgemeinbildung
als unnütz, anachronistisch, wirklichkeitsfern. Und schließlich gab es die immer
wiederkehrende .Klage über den bloß formalen Charakter der auf höheren Schulen
vermittelten Bildung, über die Äußerlichkeit de.s Rilfhmgl'lhAt.riAhR, die AutoritJi.t.s-
gläubigkeit der angeblich Gebildeten, den Hochmut der Lehrenden, die Wertlosig-
keit vieles Gelernten189 : alles keine neuen Vorwürfe, jedoch solche, deren partielle
Berechtigung in dem Maße zunahm, wie Bildung zum Besitz, zum Statusausweis,
zum Laufbahnanspruch, zu dem wurde, an dem man teilhaben mußte, ~ etwas
zu gelten.
Wichtiger ist es,. auf die Verbindungslinien hinzuweisen, die von der Kulturkritik
Lagardes, Langbehns u. a~, von dem Aufstand gegen toten Wissensballast im
Zeichen der Jugendbewegung, vom lebensphilosophischen Vitalismus und der
Charakterisierung des „Geistes als Widersacher der Seele" (L. Klages), von den
verschiedensten Formen der „Zerstörung der Vernunft" (G. Lukacs) zur Diffa-
mierung der intellektuellen Bildung zugunsten von Gesinnung und „körperlicher
Ertüchtigung" durch den Nationalsozialismus führen. Auf diesem Wege ist der
deutsche Bildungsbegriff eben deshalb so fragwürdig geworden, weil so oft und so
lange behauptet wurde, man befinde sich noch immer in Übereinstimmung mit der
idealistisch-neuhumanistischen Bildungsidee. In Frage gestellt worden ist diese Idee

1" FRIEDRICHNIET7.80HE, Unzeitgemäße Betrachtungen, !.Stück (1872). Mus., Bd. 6 (1922),


192 ff. 131. 133. 137; dem„ Über die Zukunft unserer Bildungs-.Ansta.lten, 1. Vortrag
(1872), ebd., Bd. 4 (1931), 9 ff.
111 PAUL DE LA.GARDE, Ausg. Sehr., hg. v. Paul Fischer, 2. Aufl. (München 1934), 181.
117 LA.GAB.DE, Diagnose, in: Deutsche Schriften, hg. v. Karl August Fischer, 3. Aufl. (Mün-
CJhen Hl37), 109.
198 Ders., Die Religion der Zukunft, Deutsche Schriften, 284. - Vgl. auch: FmTz STERN,
Kulturpesstmtsmus a.ls politische Gilfa.hr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deulilluhlaml
(Bern, Stuttgart 1963).
111 Vgl. dazu z. B. JENS LAUBIS CmusTENSBN, Der moderne Bildungsschwindel in Schule

und Familie, sowie im täglichen Verkehr (Leipzig 1884).

550
VD. Ausblick Bildung

freilich auch durch quantitative Veränderungen: wachsende Menschenzahl, ver-


breiterter Zugang zu Bildung, Arbeitsteilung, zunehmender Bedarf an Spezial-
ausbildung, wie auch schließlich durch neue Erkenntnisse der Anthropologie und
Psychologie, der Pädagogik und Soziologie.

VIl. Ausblick
Die zu ihrer Zeit progressive und bis heute nachwirkende Rezeption des neuhuma-
nistischen Bildungsbegriffs durch den Staat hat ihn auf lange Sicht i~ institutionali-
sierten System sozialer Geltung und politischer Macht steril werden lassen. Der
emanzipatorische Charakter von 'Bildung' verflüchtigte sich im Bewußtsein derer,
die sie „besaßen", während diejenigen, die sie als Element konkreter Freiheit
verstanden, zu Kritikern der bestehenden Verhältnisse wurden. Das hat die For-
derung nach Bildungsreform notwendig und permanent gemacht, die sich heute als
Forderung nach Anerkennung und Realisierung des „Bürgerrechts auf Bildung"
(Ralf Dahrendorf) ausdrückt. Damit ist der Bildungsbegriff, ungeachtet seiner
Versachlichung, Entleerung und Entidealisierung, neuerdings wieder stark politi-
siert worden, und zwar sowohl in der DDR, wo der alte Zusammenhang von Bil-
n11ng unn Arbeiterbewegung tro.dicrt wird, u.lo o.uch in dor BRD, wo die Forderung
einer Bildung für alle als die „soziale Frage des 20. Jahrhunderts" erkannt ist.
~war meint der Bildungsbegriff noch immer auch das individuell geprägte, in der
Beschäftigung mit Kulturgütern entwickelte Vermögen der wertenden Unterschei-
dung und der ordnenden Synthese, gleichwohl umfaßt er einen weiten Bereich
praktisch-zweckgebundenen Tuns und sozialer Wirklichkeit.

Literatur

FRANz RAUHUT/ILsE ScHAARSCHMIDT, Beiträge zur Geschichte des Bildungsbegriffe (Wein-


heim 1965); EJwy CciNsTANTIN, Die Begriffe „Bild" und „bilden': in der deutschen Philo-
sophie von Eckehart zu Herder, Blumenb.a.ch und Pesta.lozzi (phil. Dies. Heidelberg 1944);
GüNTER DoHMEN, Bildung und Schule. Die Entstehung des deutschen Bildungsbegriffs
und die Entwicklung seines Verhältnisses zur Schule, 2 Bde. (Weinheim 1964/65).

RUDOLF VmBBAUS

551
Brüderlichkeit
Bruderschaft, Brüderschaft, Verbrüderung, Bruderliebe

I. Einleitung. II. 1. Bruderbegriffe der .Antike. 2. Die urchristliche 'fraternitas'.


3. Geistliche Bruderschaften. 4. 'Fraternitae' im städtischen Bereich. 5. 'Fraternitas'
in der herrschaftlichen VertragRBprache. 6. Zusammenfassung. III. 1. Die Spiritualisierung
des christlichen BruderdenkeD.e bei Luther und im Pietismus. 2. Die innerweltliche .An-
wendung des christlichen Bruderdenkens im Bauernkrieg. 3. Der säkularisierte Bruder-
schaftsbegriff der Freimaurer. 4. Die Entstehung des modernen Gesinnungsbegriffs in der
Französischen Revolution. a) Die •fraternite' der Jakobiner. b) Die •fraternite' der Völker.
c) Die Aufnahme des Begriffe in Deutschland. d) Zusammenfassung. 5. 'Brüderlichkeit'
und 'Verbrüderung'. 6. Die monarchisch-christliche •fraternite' im System der Heiligen
Allianz. 7. Brüderlichkeit bürgerlicher Demokraten 1848. 8. Soziale Brüderlichkeit in der
Arbeiterbewegung. a) Arbeiterbewegung. bis 1848. b) Revolutionäre Intelligenz. c) 'Brü-
derlichkeit' und 'Solidarität'. 9, Bürgerliche Reaktionen. 10. Kirchliche Reaktionen.
IV. Ausblick.

1. Einleitung
Das Wort 'Brüderlichkeit' ist ebenso wie die älteren Wörter 'Bruderschaft',
'Brtiderschaft', 'Verbriidenmg' nncl 'Rrnrlerliehe', zu denen sich noch 'Rruder-
gesinnung' und 'Brudertum' hinzufügen lassen, etymologisch von dem alten deut-
schen Wort 'Bruder' - ahd./mhd. bruoder - herzuleiten. Es verweist damit in
das Wortfeld eines der idg. Schlüsselwörter; denn wie die meisten Verwandtschafts-
bezeichnungen findet sich das Wort Bruder in allen idg. Sprachen: von idg. ""bhrä-
tor- leitet die Sprachwissenschaft über germ. "'bröpar und got. bröpar neben ahd.
bruoder zum Beispiel auch engl. brother und schwed./dän. broder ab. Urverwandt
ist lat. frater, von dem sich wiederum ital. fratello und franz. fraire herleiten.
Das Wort 'Bruder' bezeichnete ursprünglich das enge Beziehungsverhältnis leib-
licher Geschwisterschaft, und etwas davon ist immer auch noch in den späteren,
von 'Bruder' abgeleiteten Begriffen lebendig. Die Begriffsgeschichte von 'Brüder-
lichkeit' beginnt mit der analogen Anwendung des Brtiderbegriffs auf Gemeinschaf-
ten außerhalb der familiären Bindung. Solche Übertragungen haben bis zum heu-
tigen Tage fortgesetzt in den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen
Bereichen stattgefunden bis hin zum rein Geselligen ('Duzbruder', 'Bundesbruder'),
das hier außer Betracht bleiben kann. Als 'brüderlich' wurden seit jeher Beziehun-
gen kollektiver Art empfunden, deren Grundlage eine gesteigerte Ideengemeinschaft
bildete, die als Gesinnungsgemeinschaft begriffen werden kann, wenn man „Ge-
sinnung" im ursprünglichen Sinne als Bezeichnung für einen wenigstens der In-
tention nach systematischen Ideenzusammenhang versteht.
Die ältere Begriffsgeschichte ist durch die institutionelle Einbindung jeglicher
brüderlicher Ideengemeinschaft gekennzeichnet. Der moderne Begriff der Brüder-
lichkeit ist dagegen im heutigen Sprachgebrauch und -bewußtsein ausschließlich
als politischer, sozialer oder religiöser Gesinnungsbegriff geläufig, der sich nicht
institutionell oder rechtlich fixieren läßt. Er enthält sogar eine ausgesprochene
Spitze gegen jede Art von Herrschaft oder Recht. Dieser Tatbestand ist das
Ergebnis einer modernen Entwicklung, durch ·die ältere Komplementärbegriffe

552
D. 1. Bruderbegrilfe der Antike Brüderlichkeit

von 'Brüderlichkeit' ('.Bruderschaft', 'Brüderschaft') außer Gebrauch kamen, nach-


dem sie ihre realen Bedeutungsinhalte verloren hatten. Der moderne Brüderlich-
keitsbegriff hat sich aus den älteren Begriffen entfaltet. Es kommt daher darauf an,
den aus jeder institutionellen Bindung losgelösten, rein ideologisch verstandenen
Begriff von seinen institutionellen Vorläuferbegriffen aus zu betrachten und her-
zuleiten. Bei dieser Zielsetzung kann darauf verzichtet werden, die brüderschaft-
lichen Sachbereiche selbst zu behandeln. Die sachlichen Zusammenhänge müssen
nur soweit berührt werden, wie es für das begri:ffsgeschichtliche Verständnis er-
forderlich ist.

II.

1. BruderbegriiJe der Antike

In der griechisch-römischen Welt spielten Bruderideen und Bruderschaftsbegriffe


vor dem Aufkommen des Christentums keine besondere Rolle. Gelegentlich wurden
Freunde1 oder Volksgenossen 2 als d<Jekpol bzw. fratres 3 ..bezeichnet. Die Stoa, vor
allem EPIKTET, der den Begriff des d<Jekp6i; auch auf die Sklaven ausdehnte 4 ,
verwendete die Bruderterminologie etwas häufiger. Sowohl_ in Griechenland wie
in Rom gab es ferner kultische Genossenschaften, die sich des Brudervokabulars
im übertragenen Sinne bedienten 6 • Aus der griechischen Geschichte ist die rpearela,
ein ursprfuiglich wohl religiöser Verband mehrerer Familien, bekannt, dessen Mit-
glieder rpearieei; oder rpearoeei; hießen 6 • Auf römischen Inschriften werden Berufs-
genossenschaften erwähnt, die sich durch fraternitas verbunden fühlten: societas
ius quodammodo fraternitatis in se habeJ,7. Von Augustus wurde die altitalische
Ackergenossenschaft der „fratres arvales" wiederbelebt, die einen Hermes gewid-
meten Fruchtbarkeitskult mit komplizierten Riten ausübte 8 • Auch wenn bei diesen
Vereinigungen der ursprüngliche Sinn im einzelnen nicht mehr zu greifen ist, darf
doch der gemeinschaftsstiftende Charakter des Bruderdenkens, das ihnen zugrunde
liegt, als gesichert gelten.
Die Wirkung solchen Bruderdenkens war freilich in der Antike begrenzt. Daß die
Häduer von CICERO als /ratres und von CAESAR als /ratres consanguineique 9 bezeich-
net wurden, war schon TACITUS nicht mehr verständlich. Nach seiner Ansicht
mußten die Häduer diesen Rechtstitel usurpiert haben: Hedui ... soli Gallorum
/raternitatis nomen cum populo Romano usurpant10 ~ Die Forschung hat erwiesen,
daß die Römer sich hier aus poli.tischen Gründen gallischem Denken angepaßt
haben, indem sie eine Art von blutsbrüderlicher Verbindung eingingen, wie sie

1 XENOPHON, Anab. 7, 2, 25. 38.


8 PLATON, Menex. 239 A.
a VERGIL, Georg. 2, 510.
4 EPIKTET, Dias. 1, 13, 3 f.

6 KARL HERMANN ScHELKLE, Art. Bruder, Rlex. Ant. Chr., Bd. 2 (1954), 631 ff.
8 KURT LATTE, Art. Phratrie, RE Bd. 20/1 (1941), 746 ff.

7 ULPIAN, Dig. 17, 2, 63 (und Anm. 3).


8 GEORG W1ssowA, Art. Arvales fratres, RE Bd. 2/2 (1896), 1463 ff.
9 CICERO, Ad fam. 7, 10, 4; CAESAR, Bell. Gall. 1, 33, 2.

10 TACITUS, Ann. 11, 25.

553
Brüderlichkeit II. 3. Geistliche Bruderschaften

auch von den Germanen überliefert ist11• Es überrascht daher nicht, da.ß aus der
griechisch-römischen Antike keinerlei nachweisbare Wirkungen auf das neuere
Bruderdenken ausgegangen sind. Für die Entfaltung des Begriffes war vielmehr
der frühchristliche Brudergedanke, wie er sich im Neuen Testament darstellt, von
grundlegender Bedeutung.

2. Die urchristliche •fraternitas'

Die ersten Christen haben von den Juden die Sitte übernommen, ihre religiösen
Glaubensgenossen als „Brüder" (d<5eÄpol) und die Gemeinsamkeit und Gemein-
schaft der Christen untereinander als piÄa<5eÄpla zu bezeichnen12• Der Bruderbegriff
wurde damit freigesetzt für eine rein ideologische Verwendung, und dieser Gebrauch
hat sich in der christlichen Tradition bis heute erhaiten. Für die frühe Begriffs-
geschichte ist jedoch beze.ichnend, daß der als Gesinnungsbegriff entstandene
Bruderbegriff sich zunächst nicht als solcher entfaltete, sondern daß er mit seiner
Entstehung gleichsam institutionell gerann. Die bloße Gesinnungsgemeinschaft
der Christusgläubigen ist schon im Neuen Testament als soziale Gemeinschaft der
christlichen Gemeinde dargestellt. Aus der christlichen Gesinnung der piÄa<5eÄpla
wurdo dio d<50.lpoTl'/~1a. In der Auffäßßung der Kirchenväter hat sich die11e TradiLiou
erhalten14• Bei CYPRIAN war die Kirche die fraternitas nostra. TERTULLIAN sprach
von den proximarum fraternitatum 15•

3. Geistliche Bruderschaften

In der um ein vielfaches vergrößerten christlichen Kirche dofl Mittelalters ist diese
Bedeutung von 'fraternitas' in den Hintergrund getreten. Dafür lassen sich nun
innerhalb der großen kirchlichen Gemeinschaft kleinere Gemeinschaften von ge-
steigerter Religiosität nachweisen, die für sich den Brudernamen in Anspruch
nehmen: die Bruderschaften geistlichen oder weltlichen Standes. Wie schon in der
frühchristlichen Gemeinde wiederholte sich hier die gesellschaftsbildende Wirkung
des Bruderbegriffes.
Dies galt zuniichst für den geistlichen Stand. Die christliche Bruderschaftsidee
war für das Mönchstum des Mittelalters geradezu konstitutiv. Als Beispiel sei hier
nur auf die Gemeinschaft der Minderbrüder des FRANZ VON Ass1s1 verwiesen;
dieser bezeichnete die Gemeinschaft, die Rich um ·seine Person bildete, vornehmlich
als fraternitas 16• Diese Gemeinschaft sollte sich nach der Brüderlichkeitsforderung
von Matth. 23, 8-11 richten, die Franz ausdrücklich in seine „Regula" aufnahm.
Sie durchbrach damit prinzipiell die sozialen Strukturen, die durch die mittel-

11 OTTO HmscHFELD, Die Haeduer und Avemer unter römischer Herrschaft, KI. Sohr.
(Berlin 1913), 193 ff.
11 KrrrEL Bd. 1 (1933), 144.
21 1. Petr. 2, 17; 5, 9.
u Vgl. Du CANGE, 9° ed„ t. 3 (1884), 598; weitere Belege bei JosEPH RATZINGEB, Die
christliche Brüderlichkeit (München 1960), 56 ff.
UI TLL t. 6 (1922/26), 1258 f.
11 Vgl. KAJETAN EssEB, Anfänge und ursprüngliche Zielsetzungen des Ordens der Minder-
brüder (Leiden 1966), 25.

554:
D. 3. Geistliche Bruderschaften Brüderlichkeit

alterliche Feudalwelt gesetzt waren. Es ist jedoch bezeichnend, daß diese brüder-
liche Grenzüberschreitung sofort zu neuerlicher ständischer Festlegung hin tendier-
te. Franz von Assisi benutzte den Begriff 'fraternitas' eindeutig synonym mit
'ordo': Volo, inquit, ut ordo fratrom minorum fraternitas 1urec vocetur (THOMAS VON
CELANO, 1228)17 • Die brüderliche Gemeinschaft der „minores" war als geistlicher
Orden konzipiert. Sie ordnete sich damit wieder in die ständischen Gegebenheiten
ein, die sie durchbrach. Ähnliches ließe sich auch für andere mittelalterliche
Mönchsorden zeigen, etwa für die aus der Benediktinervereinigung hervorgegan-
genen Zisterzienser18.
Begri:ffsgeschichtlich bedeutsamer aber war die Idee und die Ausbreitung der ei-
gentlichen Bruderschaften (fraternitates, confraternitates). Am Anfang standen
hier die sogenannten „Gebetsverbrüderungen". In der Ostkirche schon im 4. Jahr-
hundert. überliefert, stellten diese mönchischen Gemeinschaften im 8. und vor allem
im 9. Jahrhundert im Abendland geistliche Zusammenschlüsse ganzer Kloster-
gemeinschaften mit einzelnen auswärtigen Ordensbrüdern oder auch Mitgliedern
anderer Orden und mit Weltgeistlichen zu gemeinsamer intensiver Religionsaus-
übung dar1 9 • Sie erstreckten sich ursprünglich vor allem auf den christlichen
Gebets- und Totenkult (Totenmessen, Jahresgedächtnisse). BoNIFATIUS berichtete
im 8. Jahrhundert aus Euglaml vuu 1mluheu Verbindungen, die er comuniones
fraternae benennt. ALKUIN überliefert in seinen Briefen um 800 zum ersten Mal
den später kanonischen Namen „fraternita11". Allgemeine Verbreitung fand diese
Bezeichnung aber erst unter dem Einfluß der kluniazensischen Bewegung seit dem
Ende des 10. Jahrhunderts. Häufig waren auch Bezeichnungen wie societas fraterna
oder societa.~ et fraternitas 2 o. Aus den ursprünglich rein kontemplativen Verbindun-
gen entwickelten sich innerhalb des Mönchstums im Laufe der Zeit feste gesell-
schaftliche Beziehungim, deren sozialgeschichtliche Bedeutung beträchtlich war 21 •
Es kam zur Anlage von Verbrüderungsbüchern (libri vitae), in denen sich die
Institutionalisierung der ursprünglich rein ideellen Gemeinschaften dokumentier-.
te 22 • Im hohen Mittelalter entwickelten sich daraus regelrechte Benefiz-Fraterni-
täten, die Angehörige verschiedener Klöster vertraglich aneinander banden 23 •

17 Ebd.
18 Vgl. Statuta capitulorum generalium ordinis Cisterciensis ab anno 1116 ad annum
1786, ed. JOSEPH-MARIA CANIVEZ, t. 2 (Lüttich 1934), 474, wo für 1260 die /raternitas
bonorum operum per universum ordinem erwähnt wird.
19 Vgl. KLAUS WESSEL, Art. Bruderschaften (kirchengeschichtlich), RGG 3.Aufl., Bd. 1

(1957), 1428; HANs ERICH FEINE, Kirchliche Rechtsgeschichte, 4. Aufl. (Köln, Graz 1964),
357; WILLIBALD PLöCHL, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. 2 (Wien, München 1962), 23lf.;
MATTHAEUS RoTHENHÄ.USLER/KoNltAI> BEYERLE, Die Regel des m. Benedikt, das Gesetz
des Inselklosters und seine Verwirklichung, in: Die. Kultur der Abtei Reichenau, hg. v.
K. BEYERLE, Bd. 1 (München 1957), 291 f.
10 Belege hierzu bei ADALBERT EBNER, Die klösterlichen Gebets-Verbrüderungen bis zum

Ausgange des karolingischen Zeitalters (Regensburg, New York, Cincinnati 1890), 5 ff.
111 Vgl. dazu grundlegend GERD TEU.ENBAcil, Liturgische Gedenkbücher als historische

Quellen, in: Melanges EuGENE TxssERANT, t. 5/2 (Vatikanstadt 1964), 389 ff.
BI EBNER, Gebetsverbrüderungen, 114 ff.; RoTHENllÄUSLER/BEYERLE, Regel des m.
Benedikt, 293.
aa Belege bei Du CANGE t. 3, 598.

655
Brüderlichkeit ll. 4. 'Fraternitas' im städtischen Bereich

In den Jahrhunderten der Kreuzzüge entstanden die geistlichen Ritterorden,


für die ebenfalls die Idee der fraternitas grundlegend war. So wurde der Deutsche
Ritterorden als religiosa fratemitas hospitalis sanctae Marie Theotonicorum Jero-
solimitani gegründet. In den Regeln wurden die brudere ermahnt, damit die milde
eintrehtekeit braderliches namen in unmiltekeit sich iht verMre, in braderlicher minne
einmuteclwhe unde gatlwhe in dem geiste der senftecheit zu leben (lat.: sed sie in fra-
. ternitatis caritate concorditer et benigne in spiritu lenitatis insimul conversentur) 24.
Und als aller swtrste schult galt es nach den Gesetzen der Brüder, bei der Aufnahme
in die Gemeinschaft Dinge zu verschweigen, die dd hinderent an der br11derschaft 26•
„Bruderschaft" war hier zugleich der Name der religiösen Institutionen und die
Bezeichnung für den diese bewirkenden Geist.

4. 'Fraternitas' im städtischen Bereich

Die Wirkung der christlichen Bruderidee blieb im Mittelalter nicht auf den geist-
lichen Stand .beschränkt.. Das Vorbild der geistlichen Bruderschaften rief im
Bereich der mittelalterlichen Stadt iihnliche Formen hervor. Die religiösen
Bedeutungsinhalte des Fraternitasbegri:ffs vermischten sich hier mit solchen
profaner Herkunft. Seit dem fruhen Mittelalter schlossen sich die Kaufleute ein-
zelner oder mehrerer Städte zu Oem11in11r.ha.ft.1m r.111111.mm~n. Schau HINKMA.~ vu.N
REIMS benannte diese Gemeinschaften in karolingischer Zeit (852) mit geldonias
vel confratrias 26 • Seit dem 12. Jahrhundert hießen sie allgemein „fraternitates"
oder „confraternitates" bzw. „gilden" 27 oder „bruderschaften" 28 • Bei diesen Zu-
sammen.schlüssen handelte es sich um genossenschaftliche Einungen, die wahr-
scheinlich aus dem germanischen Institut der Tisch- und Hausgemeinschaft her-
vorgegangen waren 29 • Die ursprünglich auf den leiblichen Bruder bezogene Treue-.
verpflichtung wurde auf den Gildebruder übertragen, die brüderliche Gesinnung auf
die neue Standesbindung bezogen.
Die meisten dieser Kaufmannsgilden waren bezeichnenderweise einem Heiligen
geweiht, so zum Beispiel die „fraternitas mercatorum" von Stettin dem HI. Nikolaus.
In Dortmund gab es eine Reinoldsgilde, in Fritzlar eine Michaelsbruderschaft30.
Regelmäßig hatten diese Bruderschaften auch religiöse und karitative Zielsetzun-
gen31. Sie wurden deswegen von der Kirche im allgemeinen gefördert. Die Grenzen

14 Die Statuten des Deutschen Ordens nach den ältesten Handschriften, hg. v. MAX

PERLBACH (Halle 1890), 48.


26 Ebd., 86.
28 KARL v. HEGEL, Städte und Gilden der germanischen Völker im Mittelalter, Bd. 1

(Leipzig 1891, Ndr. Aalen 1962), 2, Anm. 4.


27 So die fratemitas mercatorum güde in Köln zwischen 1130 und 1140; vgl. HEINRICH

v. LOESCH, Die Kölner Kaufmannsgilde im zwölften Jahrhundert (Trier 1904), 12.


28 So de broderschoppe de geUlen ghehe.ten sint, 1219- in Goslar; vgl. FRmDRICH KEUTGEN,.

Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Berlin 1901, Ndr. Aalen 1965), 183.
29 HANS PLANITZ, Die deutsche Stadt im Mittelalter (Graz, Köln 1954), 77 f.

so Ebd., 459.
31 HEGEL, Städte, Bd. 2, 147 ff.

556
ß. 5. 'Fratemitas' in der bel'l'lw.haftlfohen VertragR11prache Brüderlichkeit

zu den geistlichen Bruderschaften waren oft fließend. Der christliche· Sinn ging in
die weltlichen (con)fraternitates über.
Das gilt auch für die Handwerksgilden. Die städtischen Handwerker haben sich
zur gleichen Zeit wie das städtische Patriziat der Kaufleute - und vielleicht nach
deren Vorbild - zu besonderen Gemeinschaften zusammengeschlossen. Sie be-
mühten dafür die gleiche Terminologie wie die Kaufleute: 'fraternitas'/'con-
fraternitas' bzw. 'gilde'/'bruderschaft'. Berühmt ist die Satzung der fraternitas
der Bettzeugweber zu Köln aus dem Jahre 1149 32 • In einer Urkunde des Rates der
Stadt Höxter aus dem Jahre 1276 hieß es: Sartoribus nostrae civitatis dedimus
1.inam fraternitatem quae vuT,gari nomine gilde nuncupatur 33 • Auch bei den Hand-
werkern kam die ursprüngliche Verknüpfung weltlicher Solidaritätszwecke mit
religiösen Zielsetzungen schon in der Namenswahl zum Ausdruck, so zum Beispiel
bei den Riga.er brodera unda sustera der broderscop unde gilde des. hilligen cruces
(1252)34 oder bei der confraternia, quae vulgar·iter dicitur zunft der Ilasler Schlachter-
meister des 13. Jahrhunderts, die ausdrücklich in honore b. Mariae virginis ge-
gründet wurde35 •
Der Begriff der Bruderschaft erweist sich damit im Bereich der mittelalterlichen
Stadt als ständischer Kohäsionsbegriff. Die ständischen Vereinigungen der Kauf-
leute und Handwerker leiteten sich zum guten Teil aus einem Gesinnungsdenken
her, da11 ehen110 wie die daraus abgeleiteten Tn11titutionen in starkem Maße religiös-
christlich geprägt war. Die städtischen Bruderschaften haben sich im Laufe der
Zeit dann von ihrem geistlichen Ursprung entfernt. Die vorbildhafte Bedeutung
der geistlichen Bruderschaften ist aber unbestritten. .

5. 'Fraternitas' in der herrschaftlichen Vertragssprache

Ein weiterer Entwicklungsstrang des vielschichtigen mittelalterlichen fraternitas-··


Begriffes läßt sich schließlich innerhalb der herrschaftlichen Vertragssprache nach-
weisen. 'Fraternitas' gehörte neben 'amicitia' und 'caritas' zu den Zentralbegriffen
des diplomatischen Verkehrs der karolingischen Könige in der Zeit der Reichs-
teilungen; vgl. z. B. die „Annales Bertiniani": ad pacis fraternitatisque concordiam
. minime revocari posset ... ; sese ad servatorem fraternitatis amicitiaeque conver-
terent ... ; inter se fraternitatis et caritatis iura in posterum non violanda confirmant 36•
Verein banmg von Meersen (851) : Sicut meus frater vobis dicit, magna necessitas
est nobis et isti populo christiano, qui nobis est a Deo commissus, ut nos ad invicem
sie concordes et uniti simus, quomodo Dei voluntas est et verae fra ernitati convenit 31 •
Wie neuere Forschungen gezeigt haben, verweist der Begriff in diesem Zusammen-
hang auf die germanische Rechtstradition der brüderlichen Haus- und Erben-

88 KEUTGEN, Urkunden, 352; weitere Belege ebd., 357 ff.

aa EDUARD Wn.DA, Das Gildenwesen im Mittelalter (Berlin 1832), 309.


H RWB Bd. 2 (1932/35), 537.
a1 Wn.nA, Gildewesen, 310.
88 Annales Bertiniani, MG SS rer. Germ. i. u. sch. (1883), 25. 27. 31 (vgl. auch 28) für die

Jahre 841, 842 und 844.


a1 MG Capit., Bd; 2 (1~97), 74. Nr. 205.

557
Brüderlichkeit D. 5. 'Fratemitas' ia der hernohaftliohen Vertngeapraehe

gemeinschaft 38• Aber die königlichen Brüder behandelten das gemeinsame Reichs-
erbe doch offenbar nur in Analogie zu der brüderlichen Hausgemeinschaft. Die
„fraternitas" war für sie auf politischem Gebiet nicht naturgegebene Realität, sonst
hätte sie nicht immer wieder erneut bekräftigt und beschworen zu werden brauchen.
Sie war ideale Norm, Ausdruck einer politischen Gesinnungsgemeinschaft, die
zudem auch hier wieder christlich überhöht wurde. Im Oktober 844 richtete die in
Yütz tagende fränkische Bischofssynode ein Schreiben an die zu gleicher Zeit in
Diedenhofen beratenden Brüder. Darin forderten die Bischöfe von den drei Königen
caritatem illam, quam apostolus docuit, de cO'f'de puro et conscientia bona et 'fide
non ficta inter vos studete habere39 • Der Chronist PRUDENTIUS bemerkte dazu,
die Brüder hätten sich zum Abschluß der Diedenhofener Besprechungen einander
be]µ-äftigt, inter se fraternitatis et caritatis iure in posterum non violanda40 • Das kann
nur heißen, daß die königlichen Brüder die christliche Liebesgesinnung, die Inhalt
der caritas ist, als Norm zu der politischen Brude.rgesinnung hinzugenommen haben,
ohne daß sich beides aber begrifflica gedeckt hätte. Diese begriffliche Deckung ist
auch später nicht nachzuweisen. Es dürfte aber kein Zweifel daran bestehen, daß
die Ausweitung ihrer blutsmäßigen Beziehungen auf ihre Hemmh11.ftRhP:r.iP:h11ng1m
für die königlichen Brüder auch im Zeichen der christlichen Brudergesinnung
ge8tanden ho.t.
Im übrigen war bei den jüngimm KarolingP:rn Richer die sehr alte, vor allem in
Byzanz entwickelte Vorstellung von der sakralen Herrscherwürde lebendig,_ die
Fürsten zu einer brüderlichen Familie verband. Karl der Große hat erst 812 in
Byzanz mit seiner politischen Gleichberechtigung auch die Anerkennung als „fra~
ter" durchgesetztü. Es wurde dadurch eine eigenartige Form brüderlichen Gleich-
heitsbewußtseins ins Abendland verpflanzt, die abgewandelt bis in die Neuzeit
reicht 42 •
Seit dem späten Mittelalter schlossen hochadelige Familien in Deutschland mit-
einander Erbverträge auf Gegenseitigkeit ab. Auch diese knüpften sachlich an die
überlieferte brüderliche Erbengemeinschaft an, dehnten die Erbberechtigung aber
über die Familienangehörigen aus. Als pactum successionis ist ein Zusammenschluß
dieser Art erstmals 1268 zwischen den Herzögen von Sachsen und den Landgrafen
von Hessen abgeschlossen worden 43 • 1459 wurde dieser Zusammenschluß als bruder-
schaft und aynung, 1485 als bruderschaft und erbeynung bezeichnet". Daraus geht
hervor, daß das bruderschaftliche Bündnis der beiden Familien auf der genossen-
schaftlichen Basis der „Einung" als Zusammenschluß von gleichberechtigten
und gleichverpflichteten Standesgenossen abgeschlossen worden ist. Die Bedeu-

88 MiltGRET W1ELERS, Zwischenstaatliche Beziehungsformen im frühen Mittelalter (phil.


Dias. Münster 1959); REINHARD SCHNEIDER, Brüdergemeinde und Schwurfreundschaft
(Lübeck, Hamburg 1964).
89 MG Capit., Bd. 2 (1897), 113. Nr. 227.

' 0 MG SS rer. Germ. i. u. sch., Bd. 5 (1883), 31.


u FRA.Nz DöLGER, Art. Brüderlichkeit der Fürsten, Rlex. Ant. Chr., Bd. 2 (1954), 643.
n Vgl. z.B. JoHANN JicoB MosER, Vom Bruder-Titul unter großen Herren (Frankfurt
1737).
'3 BESOLD (1740), 265.

" RWB Bd. 3 (1935/38), 541.

558
m. 1. Luther, Pietismus Brüderliebkeit

tungsausweitung des leiblichen Bruderbegriffs wurde durch den Einungsbegriff'


institutionell eingefangen. 'Bruderschaft' bezeichnete gewissermaßen den geistigen
Gehalt des Erbvertrages, 'Einung' dessen rechtliche Form.
Spätestens im 17. Jahrhundert ist dann der Bruderschaftsbegriff der 'confrater-
nitas' oder 'Erbverbrüderung' selbst zum Rechtsbegriff geworden, der die Rechts-
inhalte der Einung mit umgriff. Er blieb in institutioneller Erstarrung bis ins
18. Jahrhundert in dieser Form erhalten. ALTHUSIUS sprach 1614 von einer con-
/ederatio, quam confraternitatem vocant, Erbverbri.iderung 45 • Nach der Definition von
ScHEIDEMANTEL, die etwa den Endpunkt der Entwicklung fixierte, war die Erb-
verbri.iderung ein Vertrag, da zwei oder mehrere Häuser, gleicher oder ungleicher
Würde, sich vereinigen, einander im Fall der Not wider ihre Feinde beizustehen, und
nach Abgang des einen männlicher· oder auch weiblicher Nachkommen in den dazu
ausgesetzten Landen ttnd Gütern zu sit.kze.dieren'e.

6. Zusammenfassung

Für die mittelalterliche Verbrüderungsidee ergeben sich damit in begri:ffsgeschicht-


licher Hinsicht zwei charakteristische Merkmale: 1) ist festzustellen, daß sowohl
die geistlichen wie die weltlichen bruderschaftlichen Verbindungen aller Art dahin
tendiert.en, inRt.it.ut.ionell fixiert'. zu sein. Das brünerli11he f'TP.RinmmgRhewnßt.<iein
war ständisch gegliedert und fand in ständischen Format~onen vielfältig aufge-
fächert seinen Ausdruck. Brüderliche Vereinigung, sofern sie über die Verbindung
von leihlir.hen Brüdern hinam1ging, involvierte in der mittelalterlichen Welt immer
organisierte Vereinigung zur Aus.übung brüderlicher Gesinnung, sei es zu religiösen
oder sei es zu weltlichen Zwecken; 2) sind die ständisch gegliederten Bruderschaften
zwar zum Teil aus germanisch-vorchristlicher Wurzel entstanden, doch dürfte
deutlich sein, daß die christliche Komponente dominant gewesen ist.
Die institutionelle Fixierung und die christliche Bindung waren die Schranken,
die das mittelalterliche Solidaritätsdenken zusammen nicht durchbrochen hat. Der
Weg zum modernen Brüderlichkeitsbegriff führte über die Verselbständigung des
Brüderlichkeitsdenkens einerseits und die Entleerung des christlichen Sinnes von
'Brüderlichkeit' und 'Bruderschaft' andererseits, wobei ersteres die Vorstufe zu
letzterem gewesen ist. .

m.
1. Die Spiritualisierung des christlichen Bruderdenkens bei Luther und im Pietismus

Die Ablösung des christlichen Bruderdenkens von institutionell-ständischen Bin-


dungen erfolgte· in einem langwierigen Prozeß, der sich im einzelnen begriffs-
geschichtlich nur schwer verfolgen läßt. Es ist aber deutlich, daß dieser Vorgang

u JOHANNES ALTIIUsros, Politica methodice digesta 17, 44.


"'ScHEIDEMANTELBd. 1 (1782), 823; vgl .. auchBESOLD (1740), 265; ZEDLERBd. 6 (1733),
964, .Art. Confraternitas; Cllm:STIAN ULRICH GRUPEN, Disceptationes forenses cum obser-
vationibus (Leipzig 1737), 446.

559
Brüderlichkeit m. 1. Luther, Pietismus

im späten Mittelalter seinen Anfang nahm, in der Reformationszeit seinen ersten


Höhepunkt erreichte, um sich dann im Pietismus zu vollenden. Ein erster Schritt
auf diesem Wege dürfte zweifellos die Lehre der christlichen Mystik von der „Ab'-
geschiedenheit" der Seele und ihrer unmittelbaren Nähe zu Gott, aus der die „in-
nechait" und die „eynicheit" der Gottverbundenen hervorgehen sollte, gewesen sein.
Bei keinem der Mystiker ist zwar die spezifische Brüderlichkeitsterminologie
nachweisbar. Aber wenn zum Beispiel JoHA.NNES TAULER fragte: Iniz dit niet eyn
wunneklich dink und eyn hogezitlich, vrolich, selich leben, wir in gode und got in uns,
hie in der zit und da in der ewicheit und unsprechlicher selicheit? 47 , dann wurde damit
ein spiritualisiertes christliches Brudertum angesprochen, das institutionelle
Schranken wenigstens tendenziell übersprang.
LUTHER machte dann einen rechten unterscheyd der bruderschaffeen. Die erste ist die
gotliche, die hymlische, die aller edliste, die aller ander ubir tritt ... , die gemeynschafft
aller heyligen ... J(eyn ander bruderscltafft ·ist ßo t·ieU und nah. Dan naturlich bruder-
schaft ist woll eyn fteysch und blut ... , aber muß sich doch teylen und mengen yn ander
geblud und erbe. Die parteysche bruderschafften, die haben eyn register, eyn meß,
eynerley gutwerck, eyn zeyt, eyn gelt, und als nu geht, eyn bie.r, eyn fres.~en 11,nil eyn
sauffen 48 •
Er hob also die geistige „bruderscha:fft" der Gläubigen von den bestehenden ir-
dischen Bruderschaften ab; diese wurden von ihm wegen ihres partikularen
( parteyschen) Charakters verworfen, der sich für ihn vor allem aus ihrer institutio-
nellen Festlegung (eyn register usw.) ergab. An die Stelle der partikularen bruder-
schaftlichen Institutionen sollte die geistige (hymlische) Gemeinsr.haft 1for (füi.nhi-
gen treten, die gemeynschafft aller heyligen. Der Bruderschaftsbegri:ff wurde damit
zum allgemeinen christlichen Solidaritätsbegriff erhoben. Nach Luthers Kirchen-
verständnis sollten dadurch freilich nicht alle institutionellen Schranken beseitigt
werden. Luther hielt daran fest, daß es außerhalb der Kirche kein Heil geben könne.
Die Kritik an den partikularen Bruderschaften des Mittelalters sollte den Bruder-
schaftsbegri:ff auf seine allgemeine Bedeutung als Gemeinde Gottes zurückverweisen.
Luthers Bruderschaftsbegriff hat in den Reformationskirchen bis ins 18. Jahr-
hundert hinein Geltung behalten49 • ·
Erst der Pietismus, vor allem ZINZENDORF mit seiner Herrnhuter „Brüderunität",
der, ,Brüdergemeine'', hat den Bruderschaftsbegriff nochmals wirkungsvollverändert.
Diese Veränderung bestand in einer Ausweitung des Bruderbegriffs. Sie ergab sich
aus der radikalen Subjektivierung des Kirchenbegriffs durch Zinzendorf. Für ihn
war die „zärtliche, vertrauliche, übereheliche Liebe aller Kinder Gottes ohne Unter-

'7 Sermons de J. Tauler, et autres ecrits mystiques, ed. A. L. CORIN, t. 2 (Paris, Lüttich

1929), 84.
•e MARTIN LUTHER, Eyn Sermon von dem Hochwirdigen Sacrament . . . Und von den
Bruderschafften (1519), WA Bd. 2 (1884), 756.,
0 Vgl. schon zwei zeitgenössische Belege: U. RHEGIUS, Ain scöne underweysung, wie wir

in Christo alle gebrüder und schwester seyen (1524); HANS STAYGMAYER, Ain kurtze under-
richtung von der waren Christlichen brüderschaft (1524), zit. STAMMLER (1954), 97,
Anm. 310.

560
m. 1. Luther, Pietismus BrüderUehkelt

schied der Religionen ... , der Gaben, des Verstandes, des Nutzens" 50 die Grundlage
der Gemeindebildung, und das Essentiale einer Gemeine, daß sie sich vom ersten bis zum
letzten Bruder, wenn man anders eine solche Distinktion machen kann, ... einander recht
zärtlich liebt 51 . Ähnlich sprach TERSTEEGEN um 1750 von der lauteren Bruderliebe,
die aus der Liebe Gottes komme. Aus ihm schöpfte er die wahre Liebe gegen die
Brüder, ja auch die Liebe zu allen Menschen 52 • GELLERT bekannte 1757 in einem
seiner Kirchenlieder:
Wir haben einen Gott und Herrn,
Sind eines Leibes Glieder;
Drum diene deinem Nächsten gern,
Denn wir sind alle Brüder 53 .
In demselben Sinne verwendete schließlich LAVATER 1776 erstmals das Wort
'Brüderlichkeit', wenn er sich gegen den Geist der Unbilligkeit und Unbrüderlichkeit
wehrte, mit dem das anonyme Sendschreiben eines Zürcher Geistlichen gegen ihn
polemisiert hatte 5'.
Die Gemeinschaft der in brüderlicher Liebe einander verbundenen Christen war
nach pietistischem Verständnis nicht mehr an konfessionelle oder kirchlich-organi-
satorische Schranken gebunden. ZINZENDORF sagte ausdrücklich: Je weniger die
Leute selbst wissen, daß sie eine Sozietät sind, desto besser ist' s, denn sobald Brüdern und
Schwestern Regeln gegeben werden, so wird dem Heiligen Geist seine Arbeit ge-
hindert55.
Der Brüderlichkeitsbegriff war damit für das pietistische Verständnis als rein
geistiger Gesinnungsbegriff freigesetzt. Die christliche Bruderschaft/Bruderliebe
mußLe uach uer luLherischeu Zweireichelehre allerdings unbedingt auf den gei11tigen
Bereich des Reiches Gottes beschränkt bleiben. Eine Anwendung auf die irdischen
Sozialverhältnisse war für die orthodoxe lutherische Tradition ausgeschlossen.
Der Pietismus ist hier nicht über Luther hinausgegangen, sondern hat dessen Lehre
vom weltlichen Amt - in Auseinandersetzung mit dem Rationalismus - insofern
eher noch verschärft, als et die Ungleichheit der weltlichen Existenz der Menschen
als gottgewollt bejahte. Dies war auch für den Brüderlichkeitsbegriff des Pietismus
bedeutsam. In seiner exegetischen Lehrschrift für die Brüdergemeinde nahm
AUGUST GoTTLIEB SPANGENBERG 1782 den Bruderbegriff ausdrücklich nur für das
Gottesverhältnis der Menschen in Anspruch:
Indes ist allen denen, die an Jesum Christum glauben, die Liebe untereinander ganz
besonders anbefohlen, µnd diese wird in den Schriften des neuen Testaments die brü-
derliche Liebe genennet. Der Grund davon liegt in den Werken unsers Herrn: Einer ist
euer Meister - Christus - ihr aber seid alle Brüder, Math. 23, 8, wonach sich auch
die Jünger Jesu gerichtet haben ... Denn obgleich der Heiland den Unterschied
60 ÜTTO UTTENDÖRFER, Zinzendorfs religiöse Grundgedanken (Herrnhut 1935), 151. Vgl.

GERHARD KAISER, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland (Wiesbaden


1961 }, 70 ff.
61 NIKOLAUS Lunw. GRAF v. ZINZENDORF, zit. UTTENDÖRFER, Zinzendorf, 151.
62 Auswahl aus Gerhard Tersteegens Schriften,hg. v. GEORG RA.PP (Essen 1841), 467. 469

63 CHR. FüRCHTEGOTT GELLERT, Die Liebe des Nächsten, zit. STAMlllLER (1954), 97.
64 JoH. KAsPAR LAVATER, Schreiben an seine Freunde (Winterthur 1776), 4.

66 ZINZENDORF, Über Glauben und Leben,hg. v. ÜTTO HERPEL (Berlin, Leipzig 1925), 99.

36-90385/1 561
Brüdedichkeit m. 2. Bauernkrieg
unter den Ständen nicht aufgehoben hat, ... so bleibt es doch fest dabei, daß in Absicht
auf die Dinge, die zu seinem Reich gehÖ'ren - sein Reich ist aber nicht von dieser
Welt - kein Unterschied stattfindet 56 •
Damit war klar ge,sagt, daß die Ablösung des christlichen Brüderlichkeitsbegriffes
von seinen partikularen ständisch-institutionellen Bindungen und dessen Über-·
tragung auf die Gläubigen des Reiches Gottes insgesamt nicht die Auflösung der
Ständeordnung herbeiführen sollte. Um den ehemaligen Standesbegriff als stände-
bedrohenden und -zerstörenden Revolutionsbegriff anzuwenden, bedurfte es eines
weiteren Schrittes: es mußte die innerweltliche Anwendung der christlichen
Bruderlehre akzeptiert sein. Auch dieser Schritt ist jahrhundertelang vorbereitet
worden. Es sei hier nur die Bewegung der Fraticellen im Italien des 14. und 15. Jahr-
hunderts erwähnt, die als fratticelli di paupere vita das franziskanische Armutsgebot
verabsolutierten und für völligen Verzicht.auf persönliches und gemeinschaftliches
Eigentum eintraten 57 • Die römische Kirche hat diese und ähnliche religiöse Be-
wegungen stets als häretisch indiziert und unterdrückt 58 • Dennoch ist bis in die
Reformationszeit hinein immer wieder versucht worden, die transzendente christ-
liche Bruderlehre innerweltlich zu interpretieren, ohne daß das hier im einzelnen
verfolgt werden kann. Begriffsgeschichtlich erheblich ist aber erst die Brüderlich-
keitsterminologie der aufständischen deutschen Bauern im 16. Jahrhundert.

2. Die innerweltliche Anwendung des christlichen Bruderdenkens im Bauernkrieg

Die fast synonym gebrauchten Begriffe 'Vereinigung' und 'Bruderschaft' gehörten


zu den zentralen Kommunikationsbegriffen der Bauernerhebungen von 1524/25.
Die Bauern benutzten diese DegriJTe scheinbar ganz im Sinne uer mittelalterlichen
Tradition: sie begaben sich in eine Bruderschaft und Voreinigung wie in einen ge-
nossenschaftlichen Verband ständischer Tradition 69 • Sie verstanden diese Bruder-
schaft auch als christliche Bruderschaft, aber im Unterschied zu den mittelalter-
lichen Bruderschaften nicht mehr in unmittelbar institutionellem Sinn zu bestimm-
ten Zwecken (zum Beispiel Kirchenbau und ähnlichem), sondern im allgemeinen
„evangelischen" Sinn. Sich in die von den Bauern begründete Bruderschaft be-
geben, hieß das Evangelium helfen aufric1Uen 60 • Die Bauern nannten einander
christliche Bruder,; sie stellten für alle, die sich in ihre lobliche christliche Bruderschaft

61 A. G. SPANGENBERG, Idea fidei fratrum oder kurzer Begrif der Christlichen Lehre in den
evan~lischen Brüdergemeinen (1779; Ausg. :Jlv,rby 1782), 442.
1 7 FRANZ EHBLE, Die Spiritualen und ihr Verhältniss zum Franziskanerorden und zu den
Fraticellen, Arch. f. Lit.- u. Kirchengesch. d. Mittelalters 4 (1888), 1 ff.
18 Vgl. dazu HERBERT GRUNDMANN, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, 3. Aufl. (Darm-

stadt 1970). ·
19 BALTlliSAR HUBMAYERS Artikel, in: Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, hg. v.

GÜNTHER FRANZ (München 1963), 232; vgl. auch die Erklärung der Kemptener Gottes-
hausleute vom September 1525: Das aber auf gemeUen Tag etlich der Naclvpauren auch er-
achinen, alao zugehört, mag war sein. Das aber wir mit denselben ainich Verpuntnus, V er-
bruderachaft oder Ainung gemacht, wirt sich mit ainichem Gru1Ul, der Warhait nit finden;
FRANZ, Quellen, 131.
eo MARTIN ÜRONTHAL, Der Anschluß der Stadt Würzburg an die Bauernschaft, FR.rnz;
Quellen, 354.

562
ms.Freimaurer Hriiderliebkeit

begaben, bestimmte Verhaltensregeln auf81• Hierin ist zweifellos lutherischer Ein-


fluß gegeben, obwohl die Bauern an das von Luther kritisierte .institutionelle
Bruderschaftsdenken des Mittelalters anknüpften. Während aber Luther den
Bruderschaftsbegriff ausschließlich nur auf das Verhältnis zu Gott bezog, wandten
die Bauern ihn unbefangen auch auf ihre diesseitigen Sozialverhältnisse an. Die
Schwarzwälder Bauern stellten z. B. im Mai 1525 an die Stadt Villingen ihre
früntlich Pitt, Ansinnen und brüderliche Ersiwhung, Ir wöllen Eiwh mit uns in dise
christenliche Verainig'!lng und Bruderschaft gutwilliglich einlausen und früntlichs
Willens begeben, damit gemainer christenlicher Nutz und brüderliche Lieb widerumb
ufgericht, erpuwen und gemert werde 62 • Die Württemberger Bauern forderten Rat
und Gemeinde der Stadt Balingen drohend auf, in ihre Bruderschaft zu treten:
W a ir aber ir nit wellten in disse Bruderschaft, der ist wider uns und unser Fund
(=Feind) und den wellen wir siwhen wie unsern Fundes.
Indem sie Bürger und Ritter dazu zwangen, in ihre durchaus irdische Bruderschaft
einzutreten, durchbrachen die Bauern die ständische Begrenzung des Bruderschafts-
begri:ffs. Sie haben daraus noch nicht die Konsequenz gezogen, daß auch auf Erden
gleich sein müsse, wer es vor Gott sei. Aber die Idee einer irdischen Bruderschaft,
in der es nicht mehr ständische Ungleichheiten geben sollte, wurde von ihnen dem
Begriff nach anvisiert.
Die Bewegung der Bauern ist bekanntlich gescheitert, und es führt kein Weg von
ihren Bemühungen zu dem Brüderlichkeitskult des 18. Jahrhunderts. Aber ihr
Bruderschaftsbegri:ff markiert doch einen bestimmten Schritt, der getan werden
mußte, ehe der Begriff 'Brüderlichkeit' zu einem egalitären Integrationsbegriff
werden konnte.

3. Der sikularisierte Bruderschaftshegrift' der Freimaurer

Wichtiger als der Bauernkrieg war für die Genesis des modernen Brüderlichkeits-
begri:ffs freilich die Wirkung der europäischen Aufklärung. Sie hat auch das tra-
, ditionelle Bruderdenken einem folgenreichen Säkularisierungsprozeß Un.terworfen .
.Äußere Erscheinungsform dieses· säkularisierten Bruderbewußtseins war die Frei-
maurerei. Der Bmderkult der Freimaurer verwies durchaus auf den Kern des frei-
maurerischen Zeremoniells und der freimaurerischen Ideologie. Der Titel 'Bruder'
stand allen Mitgliedern der geheimen Logen zu. Nach dem „Dictionnaire ma9on-
nique" war frtre der nom quese donnent entre eux les masions de tous les grades. Le
douz nom de frtre esprime assez les devoirs du mas:on envers le mas:on 6'. Die Maurer
waren nach den „Alten Pflichten" der Konstitution von 1722 gegenseitig zu brü-

91 Belege für die Selbstbezeichnungen der bäuerlichen Vereinigungen bei FRANz, Quellen,

353. 469. ( ehriBtlieke BMJ.der). 235 ( cnatenlicke Verainigung und Bruderachaft; eriatenUche
Verainigung). 348 (loblicke ehri8tlicke Bruderachaft; bruderliehe, chriatliehe Ainigung).
351 ( elwi8Uicke V eraamlung und BMJ.derachaft;. Briukraehaft). 352 ( Bnul,eraehaft und
Ainigung; ehriBtlicke Bruderschaft). 354 (Bruderschaft). 504 (Bruder [Plural] der Gerechtig-
keit). 579 (BMJ.deraehaft oder GeaeUaehaft [ = negativ: Strafartikel des Schwäbischen
Bundes]); u. ö.
11 Ebd„235.
18 Ebd„ 422; vgl. auch 504.

u Dict. ma90nnique (1828), 58.

563
Brüderlichkeit ID. 3. Freimaurer

derlicher Liebe (brotkerhood} verpflichtet65, und von dieser „Bruderliebe" ist


auch in den meisten freimaurerischen Texten die Rede. Sie fand im weiteren Bann-
kreis der Aufklärung ihre wohl wirkungsvollste Verklärung in SCHILLERS ·„Lied
an die Freude'' (1786), die später durch Beethovens musikalische Betonung des
„Alle Menschen werden Brüder" nochmals gesteigert wurde:
Seid umschlungen Millionen
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder - überm Sternenzelt
Muß ein lieber Vater wohnen!
Dieser aufgeklärte Bruderkult entsprach durchaus der gleichzeitigen Bruder-
phraseologie der Pietisten. Pietisten und Freimaurer stimmten auch darin überein,
daß sie ihre Bruderverpflichtungen von institutionellen Bindungen vor allem kon-
fessioneller oder kirchlicher Art freimachten. Der Begriff der Bruderliebe erschien
bei den Freimaurern ebenso wie bei den Pietisten als reiner Gesinnungsbegriff.
Wie die Pietisten fühlten sich auch die Freimaurer nicht nur ihren engeren Ge-
sinnungsgenossen, sondern prinzipiell allen Menschen zu brüderlicher Liebe ver-
pflichtet:
Die Freimaurerei machet ihre echten Schüler auch äußerlich glückselig. Tausend, ja
hunderttausend wahre Brüder sind ein Herz und eine Seele. So viele, so wahre, so edele,
so erhabene Brüder machen uns den Umgang allzeit süß und angenehm ... Ja, was
noch mehr! Ein Freimaurer liebet nicht nur seine Brüder, nein, er versaget niemand
den Grad der Freundschaft und Liebe, dessen er fähig ist66 ,
Nur wenn sie von ihrer speziellen freimaurerischen Verbindung selbst sprachen,
verwendeten die Freimaurer die Begriffe 'Brüderschaft' oder auch 'Verbrüderung'
('brotherhood', 'fraternity') 87 • Der Begriff der Bruderschaft, der bis dahin Gesin-
nungsbegriffnur als Institutionsbegriff gewesen war, wurde dadurch auf seinen insti-
tutionellen Gehalt reduziert. Allgemeine brüderliche Gesinnung und spezielle
brüderliche Institution traten auseinander.
Während aber die Pietisten die rein spirituell verstandene christliche Bruderidee
wieder intensivieren wollten, leitete sich die Bruderverpflichtung bei den Frei-
maurern allein aus dem moral law ab 68 • Das allgemeine moralische Gesetz ver-
pflichtete alle Maurer gleichermaßen. Die Freimaurerei leitete daraus die Forderung

H JAMES .ANDERSON, The Constitutions of the Free-Masons (London 1723), zit. nach dein
Auszug bei BERN.ARD FAY, La Franc-Ma9onnerie et la revolution intellectuelle du XVTH6
siecle (Paris 1935; 136 ed. o. J.), 273 f., appendice; vgl. die deutsche Übersetzung der
Neubearbeitung von 1758: JAKOB ANDERSON, Verbessertes Konstitutionenbuch der alten
ehrwürdigen Brüderschaft der Freimaurer, 4. Aufl., Bd. 1(Frankfurt1783), 421 f.
68 Rede des Hallenser Philosophieprofessors ANDREAS WEBER (1744), zit. FERDINAND

RUNKEL, Geschichte der Freimaurerei in Deutschland, Bd. 1 (Berlin 1931), 164.


67 FAY, Franc-Ma9onnerie, 274; ANDERSON, Konstitutionenbuch (1783), 434 f.: So sollet

ihr euch bei Führung des Prozesses alles Zornes, aller Bosheit und Bitterkeit enthalten, auch
nickt das geringste sagen oder tun, was die Fortsetzung oder Erneuerung brüderlicher Liebe
und Freundschaft, so die Ehre und der Kitt dieser alten Bruderschaft zu nennen ist, verhindern
könnte.
68 Art. 1 der Freimaurerkonstitution beginnt mit dem Satz: A Mason is oblig'd by kis

Tenure, to obey tke Moral Law; FAY, Franc-Ma9onnerie, 273.

564
a) Die '&ateroite' der Jakohioer Brüderlieh.keit

nach persönlicher Gleichheit aller Brüder her. In den Freimaurerlogen sollte kein
sozialer Rangunterschied bestehen. N ob"lemen, gent"lemen and workingmen - so die
Formel der Konstitution von 1723 - hatten grundsätzlich zu den Logen gleichen
Zutritt, auch wenn in der Praxis das bürgerliche Element eindeutig überwogen
hat 89• Wie groß auch unsere Rücksicht gegen Personen ist 1 die durch ihre Geburt und
durch den hohen Rang, in dem sie in der Welt stehen, Auszeichnung vor der Welt
verdienen, sagte der Frankfurter Logenmeister in einer oft zitierten Rede, so be-
achten wir eigentlich unter uns den Menschen nur, insoweit er gut ist von Natur, und
indem wir in dieser Beziehung nur.die Wasse'l"Waage der Natur anlegen, schätzen wir
uns al"le als BrüiJer7o.
Die Betonung lag hier freilich auf dem „unter uns". Die egalisierende Kraft der
Brüderlichkeit wirkte bei den Freimaurern nur unter dem Geheimnis der Loge.
Die Verpflicht11ng, alfon MenRr.h1m hriiderlir.he Sympathie entgegenzubringen,
schloß noch nicht die Forderung an alle Menschen nach sozialer Verbrüderung mit
ein. Gleichwohl darf dieses .Postulat nach einer überchristlichen, aus der Humani-
tät ableitbaren und auf ihr gründenden allgemeinen Vereinigung aller Menschen
als Zielpunkt der aufgeklärten Geschichtsphilosophie verstanden werden. So
schrieb etwa WIELAND (1770) lange bevor er Maurer wurde, daß Religion, Wissen-'
schaften und Künste das große Werk zur Vol"lendung zu bringen hätten, nämlich
aus al"len Völkern des Erdbodens ... ein Brudergesch"lecht von Menschen zu machen71 •

4. Die Entstehung des modernen Gesinnungsbegriffs in der Französischen Revolution

a) Die 'fraternite' der Jakobiner. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der
Begriff der Brüderlichkeit, vom Schutzmantel des Geheimnisses befreit, seine ver-
bindende Kraft des Zerstörens erweisen sollte. Mit qer Revolution von 1789 wurde
'fraternite' in Frankreich zum verbalen Symbol revolutionärer Grenzüberschrei-
tung. Die Jakobiner machten 'fraternite' zum Ausführungsbegriff der politisch
verstandenen 'egalite'. In der triadischen Verbindung mit 'liberLe' und 'egalite'
fiel der 'fraternite' gleichsam die Rolle des Schrittmachers zu: mittels ihrer ver-
einigenden Kraft sollte die politische Freiheit und Gleichheit der „citoyens" ver-
wirklicht werden.
Auf der Jahresfeier des Bastillesturms am 14. 7. 1790 schworen sich die Versammel-
ten auf dem Marsfeld: De demeurer unis a tous "les Fran9ais par les liens indis-
solubles de la f'raler·mile 72 • DESMOULINS berichtet, daß bei dieser Gelegenheit tous
"les soldats-citoyens zu sehen gewesen seien se precipiter dans les bras l'un de l'autre,

89 Dazu REINHART KosELLECK, Kritik und Krise (Freiburg, München 1959}, 55 ff.
70 FRiEDRICH WILHELM STEINHEIL, Rede in der Frankfurter Loge „L'Union" (gedr. 1746),
zit. RuNKEL, Freimaurerei, Bd. 1, 156.
71 C. M. WIELAND, Über die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen

Gattung nachtheilig sey, AA 1. Abt., Bd. 7 (1901), 437. JoH. GOTTFRIED HERDER, Auch
eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), SW Bd. 5 (Berlin
1891), 576 warnte dagegen: Freiheit, Geselligkeit und Gleichheit,. wie aie jetzt überall auf-
keimen - aie hciben in ta'U8end Mißbräuchen Übela gestiftet und werdena atiften.
79 Collection complete des Jois, decrets, ordonnances reglemens, avis du Conseil d'Etat,

ed. JEAN-BAPTISTE DuvERGIER, t. 1, 26 ed. (Paris 1834), 250.

565
Brüilerliebkeit DI. 4. Französisehe Revolution

en se promettant liberte, egalite, fraternitl1 3 • Im selben Jahre entstanden in Paris


auf Betreiben der Jakobiner sogenannte socie'tes fraternelles, durch die auch die
Frauen in die neue Gemeinschaft der revolutionären einen Nation einbezogen wer-
den sollten. Eine im Oktober 1790 begründete Gesellschaft dieser Art gab am 19. 7.
1791 die Parole aus: Vivre libre ou mourir. Societe fraternelle des patriotes de la
Oonstitution, seante a la bibliotheque d,es Jacobins Saint-Honore'74 • In diesen und an-
deren Fällen bezeichnete der Begriff 'fraternite' das politische Programm der Ab-
schaffung bisher bestehender politischer Rangunterschiede. Nach der Einführung
der Republik wurde der Begriff folgerichtig mit dem neuen Staatszweck identi-
fiziert. Der Innenminister ROLAND erließ am Tage der Abschaffung des Königtums
(21. 9. 1792) einen Erlaß an die Behörden, in dem er emphatisch erklärte: Veuillez,
Messieurs, proclamer la Re'publique, proclamez donc la fraternite, ce n'est qu'une mime
r.li.<111ß75. TTnn iihnlinh spra·ch noch bei der Beratung der Verfassung von 1705
Bo1ssY-n'ANGLAS davon, daß die neue Konstitution auf der Grundlage der Ge-
rechtigkeit und der Bruderliebe („fraternite") errichtet werde7e.
In dieser Auseinandersetzung mit dem Begriff der fraternite spiegelte sich schon
das ganze Schicksal des modernen Brüderlichkeitsbegriffes wider. Der Begriff
wurde als politischer Gesinnungsbegriff der Demokraten mit dem traditionellen
Anspruch formulforL, mme Illl:ILitutionen stiften zu wollen. Die allgemeine Brüder-
lichkeit der citoyens sollte institutionell durch die Begriffe 'Freiheit' und 'Gleich hP.it'
charakterisiert sein, wie die Identifizierung von 'fraternite' und 'republique' am
deutlichsten zeigt. Aber diesem brüderlichen Revolutionsoptimismus blieb die
unmittelbare Erfüllung versagt. Das praktische Ausbleiben der revolutionären
Verbrüderung reduzierte die fraternite auf ihren ideologischen (Jehalt. Der moderne
Begriff der Brüderlichkeit, obwohl seiner Intention nach durchaus auch auf in-
stitutionelle Verankerung ausgerichtet, trat damit als reiner Gesinnungsbegriff
- im modernen Sipne des Wortes ~ ins J,eben.

b) Die 'fraternite' der Völker. Mit dem Vordringen der Revolution in Europa wurde
der Begriff über die Grenzen Frankreichs getragen. Nach der Besetzung Savoyens,
Belgiens und der Rheinlande di.trch die Revolutionsheere erklärte RüBL am 19. 11.
1792 im Konvent: Je demande que vous declariez que les peuples qui voudront fra-
terniser avec nous seront prote'ges par la nation franr;aise. Der Konvent erließ darauf-
hin am selben Tage ein Dekret, in dem allen Völkern, die es wünschten, fraternite
et secours versprochen wurde 77 • Die revolutionäre Gesinnung sollte also im Ge-
wande der „fraternite" die historischen Grenzen überspringen. Dahinter stand an-
fangs der Gla.ube an eine Art von Automatismus revolutionärer Solidaritäts-
erklärungen. Als die erwarteten Fraternitätsbekundungen jedoch ausblieben, ent-
sagten die Regierer in Frankreich dem System d,es Fraternisierens 78 • Durch das Dekret

78 BENOIT CAMILLE DESMOULINS, in: Revolutions de France et de Brabant, Nr. 35, 14. 7.

1790; wohl die erste Erwähnung der triadischen Formel „liberte, egalite, fraternite".
7 ' ALPHONSE AULARD, Histoire politique de la Revolution fran91lise (Paris 1901), 95.
7 & ALBERT MATHIEZ, La. Revolution fran91lise, t. 2, 7° ed. (Paris 1940), 90.
7 6 Übersetzung in: Europ. Annalen 4 (1795), 14.

77 MATHIEZ, Revolutiön, 164.


76 Europ. Annalen 3 (1796), 127.

566
c) Dte Aufnahme des BegrUrsin Deutschland Brttderllehkelt

vom 15. 12. 1792 schon wurde die „fraternite" in den von den Franzosen besetzten
Gebieten zwangsweise verordnet. Die Bedeutung von 'fraterniser' verkehrte sich
im Mun~ der Gegner seihlem in ihr Gegenteil. Der anonyme Verfasser des
„Wörterbuchs der französischen Revolutions-Sprache" von 1799 verglich z. B.
fraterniser mit der brüderlichen Liebe ..• der Affen, die ihre Jungen aus lauter
~ärtlichkeit totdrücken 7D.

o) Die Aufnahme des Begrift's in Deutschland. In Deutschland stellte sich die Ge-
sinnungsentscheidung, zu der die revolutionäre fraternite herausforderte, als
Übersetzungsproblem dar. Wir sehen die deutschen Zeitgenossen bis ins erste
Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hinein auf der Suche nach einem adäquaten deut-
schen Wort. Zwar hatte JOACHIM HEINRICH CAMPE schon 1790 mit sicherem In-
stinkt nach einem ganz neuen Wort für ein so neues Scliauspiel gesucht und dies
mit Brüderlichkeit gefunden80• Aber diese Neuschöpfung setzte sich keineswegs
sofort durch. GEORG FoRSTER sprach 1792 in bezug auf die Franzosen von Brüder-
treue und Bruderbund 81 • GöRREs übersetzte 1798 Freiheit, Gleichheit, Brüderschaft82 ,
während FRIEDRICH SCHLEGEL 1796, auf eine Übertragung überhaupt verzich-
tend, von einer l!'raternität aller Republikaner sprach 89• Also eine bunte Palette
von deut11chen Interpretame.nt.P.n fiir 'fr11.trt1rniM', die sich noch bereichert, wenn
man deutsche Gegner der Revolution mit einbezieht. Diese griffen anfangs vor-
wiegend auf die traditionellen .Begriffe '.Hruderschaft' und 'Bruderliebe' zurück.
Sie sprachen von den verführerischen Worten Freiheit, Gleichheit, Bruderliebe oder
von Bruderschaft und politischer Gleichheit, welche man nach der Weise der Malwmet
und Gengis errichten wollte 84• Auch das erwähnte „Wörterbuch der Französischen
Revolutions-Sprache" übersetzte fraterniti mit Brüderschaft, allerdings offensicht-
lich nur noch, um damit satirisch polemisieren zu können. Ein Mainzer Jude,
bemerkte das Wörterbuch ironisch, las die gewöhnlichen Zauberworte: Brüderschaft,
Gleichheit, folgendermaßen: Brüder-schaft - gleich-heut85•
Ein konservativer Kritiker Campes wollte dessen Wiedergabe von 'fraternite' Init
'Brüderlichkeit' nicht zustimmen:, weil er meinte, in vielen Fällen wäre wohl
Brudersinn erträglicher; aber damit begab er sich auch schon auf die Suche nach
einem adäquaten Wort für den neuen Revolutionsbegriff, zumal er das alte 'Bruder-
schaft' ausdrücklich den altständischen Gemeinschaften vorbehielt 88• CAMPE ver-
79 Wb. franz. Rev.Spr. (1799), 13 f.
80 J. H. CAMPE, Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben (Braunschweig
1790), 86, zit. STAMMLER (1954), 98, Anm. 315. Vgl. ADELUNG 2. Aufl., Bd. 1 (1793),
1217; s. auch Anm. 54.
81 G. FoRSTER, Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken, Säm.tl. Sehr., Bd. 6

(1843), 415. 417.


82 JosEPH GöRRES, Derallgemeine Frieden, ein Ideal, Gee. Sehr., Bd.1(1928),53. Vgl. das

Flugblatt mit dem Titel:Freiheit, Gleichheit, Bruderliebe, in: Jakobinische Flugschriften


ausdem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderte, hg. v. HEINRICH SCHEEL (Berlin
1965), 127.
83 F. SCHLEGEL, Sehr. il. Fragm. (1956), 298.
84 Beyträge z.Gesch. d. franz. Revolution 1(1795),256;2 (1795), l; vgl. auch Polit. Journal
1 (1797), 628: Gleichheit, Freiheit und Brüderschaft (Übersetzungen).
85 Wb. franz. Rev.Spr. (1799), 14.
88 KINDERLING (1795), 131. 270.

567
Brüderlichkeit llI. 4.. Französische Re-volution

teidigte 1801 seine Neuschöpfung 'Brüderlichkeit' gegenüber diesem Kritiker, weil


Brudersinn seiner Ansicht nach nicht nur die Gesinnung eines Bruders, sondern
auch die Äußerung desselben bezeichnete. Im übrigen hob er 'Brüderlichkeit' aus-
drücklich von 'Bruderschaft' ab : Allein dieses Deutsche Wort paßt nur für diejenigen
Fälle,· wo unter dem Französischen Ausdrucke Freundschaßs-, Amts- und Zunft-
verbindungen oder auch die zu einer solchen Verbindung gehörigen Personen, nicht
aber die brüderlichen Gesinnungen und das brüderliche Benehmen derer, welche auf
solche Weise verbunden sind, verstanden werden; und für diese Bedeutung scheint
Brüderlichkeit besser zu passen e7 •
Campes begriffliche Klärung markiert genau den Punkt, von dem aus sich der .
Begriff der Brüderlichkeit im deutschen Sprachgebrauch als allgemeiner, nicht auf
seillen jakobinischen Ursprung fixierter Gesinnungsbegriff entfalten konnte. Der
Begriff wurde von Campe ausdi:ücklich von 1iflm ii.lb~ren 'Bruderschaft' abgeho
ben88• Und wenn Campe den Begriff ursprünglich gewählt hatte, um die demo-
kraLit:1clrn „fraterni'M" im Deutschen adäquat zu benennen, galt ihm der Begriff
nunmehr als Bezeichnung für brüderliche Gesinnungen überhaupt. Die älteren
Begriffe sind deswegen nicht ausgestorben. Schon der Befund der Wörterbücher
aus der napoleonischen Zeit zeigt aber, daß sie merklich zurückgedrängt wurden:
Die ÜA.Tli:Lsche Ausgo.bo doß „Dictionnaire de l'Acadewie frani;aise" buchte 1801
für 'fraterniw' Brüderlichkeit als union fraternelle, amitie fraternelle 89 , Das „Nou-
veau dictionnairc complet" schied bei der Überaetzung ausdrücklich Brüderlichkeit
als Begriff für brüderliche Gesinnungen von Bruderschaft für die Verbindung zwischen
Brüdern90 •
Eine gewisse Sonderstellung nahm bei der Rezeption der fraternite von 1789 in
Deutschland IMMANUEL KANT ein. Seiner grundsätzlichen Zustimmung zur Fran-
zösischen Revolution entsprach es, daß er die triadische Formel ~,liberte, egalite,
fraternite" positiv aufnahm. Er interpretierte aber gerade die fraternite so eigen-
willig, daß sie ihren ursprünglichen revolutionären Sinn verlor. In den Vorarbeiten
zu dem Aufsatz „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein,
taugt aber nicht für die Praxis" notierte er 1793: Freiheit, Gleichheit und welt-
bürgerliche Einheit (Verbrüderung), wo die Selbständigkeit innerlich vorausgesetzt
wird ohne contract. Indem er ihr die Selbständigkeit unterlegte, schränkte er
damit den prinzipiell unbegrenzten Geltungsbereich der fraternite im Sinn seiner
Staatslehre auf die rechtsfähigen Bürger ein. In dem unumschränkten Programm
der Brüderlichkeit konnte er nur demokratische Despotie wittern, die in seinen
Augen nicht weniger gefährlich war als monarchischer Absolutismus. Es war deshalb
nur konsequent, wenn er in der Endfassung des genannten Aufsatzes, die im Sep-
tember 1793 in der „Berlinischen Monatsschrift" erschien, 'fraternite' überhaupt
durch 'Selbständigkeit' ersetzte:
87 CAMPE, Fremdwb. (1801), 375, s. v. fraternite.
88 Vgl. auch das Stichwort „Brüderschaft" bei CAMPE Bd. 1 (1807), 630: 1) Die Verbin-
dung zwisclien Brüdern, vertrauten Freunden; ... 2) die in einer soklien Verbindung stehenden
Personen selbst, als ein Ganzes betrachtet. Geistliclie Brüderschaften• .•. So nennen auch die
Handwerker ihre Zünfte Brüderschaften und die Glieder derselben sich untereinander selbst
Brüder.
89 CATEL Bd. 2 (1801), 287.
oo Mo7..i:N, dt. Tl., Bd. 1 (1811), 228.

568
W. 5. 'Brüderliebkeitt und 'Verbrüderung' Brüderlichkeit

Der bürgerliche Zustand also, bloß als rechtlicher Zustand betrachtet, ist auf folgende
Prinzipien a priori gegründet: 1) Die Freiheit jedes Gliedes der Societät, als Menschen.
2) Die Gleichheit desselben mit jedem anderen, als Untertan. 3) Die Selbständigkeit
je,des Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürgers90 a.
Kant zog damit einen begrifflichen Trennungsstrich, der deutlicher seine Einstel-
lung gegenüber einer demokratischen Gesinnungsexpansion mittels „fraternite"
markierte als es eine einfache Ablehnung oder interpretierende Übersetzung des
Begriffs getan hätte.

d) Zusammenfassung. Der moderne Gesinnungsbegriff 'Brüderlichkeit' ('frater-


nite') wurde in der Französischen Revolution geboren, nachdem er im 18. Jahr-
hundert vorbereitet worden war. Er verdankte seine Entstehung dem ideologischen
Iledürfnis der Revoluiiouäre, die Ausbreitung der revolutionären Ideen und
die Vereinigung von Revolutionären mit Nichtrevolutionären zu bezeichnen.
Seiner Tendenz nach egalitär, intendierte er im revolutionären Frankreich die
politische Gleichheit der Staatsbürger. Die anfängliche Bedeutung eines demo-
kratischen Expansionsbegriffes wurde im Laufe der Zeit verallgemeinert, was
besonders an der deutschen Auseinandersetzung mit dem Begriff deutlich wird.
Der zunächst demokratiimhe Ge11inmmgsbegriff wurde .in Deutschland um 1800
schon als allgemeiner Gesinnungsbegriff schle~hthin verzeichnet. Es ist das Schick-
sal dieses Begriffes im rn. Jahrhundert, gewel:!eu, uaß er filr iueulugische Expansio-
nen mannigfacher Art in Anspruch genommen werden konnte. Die Begriffsge-
schichte von 'Brüderlichkeit' ist daher zugleich die Geschichte der Verfügungen
über diesen Begriff.

5. 'Brüderlichkeit' und 'Verbrüderung'


Das neuere spezifisch gesinnungsmäßige Bruderdenken. blieb den älteren Vor-
stellungen insofern verpflichtet, als es doch weiterhin nach institutionellen Kon-
kretisierungen· suchte, nachdem diese schon nicht mehr selbstverständlich waren.
Wie vorher im exklusiven Rahmen der Freimaurerei deckten sich seit der Revolu-
tion gesinnungsmäßiges und institutionelles Brudersentiment nicht mehr begriff-
lich. Es bürgerte sich ein, die gesinnungsmäßige 'Brüderlichkeit' (oder auch 'Bruder-
liebe') von 'Verbrüderung' als Institution begrifflich und sachlich zu trennen. Der
Begriffsgeschichte von 'Brüderlichkeit' geht seitdem die von 'Verbrüderung' neben-
her, so wie im 18. Jahrhundert schon 'Bruderliebe' und 'Bruderschaft' neben-
einanderliefen.
Im Unterschied zu dem für eine neue Sache neu geprägten Wort 'Brüderlichkeit'
war .'Verbrüderung' um 1800 im Deutschen durchaus geläufig. Das Wort bezeichnete
ursprünglich den Vorgang des Sich-Verbrüderns; von dieser Bedeutung hat sich
auch immer etwas erhalten 91 • Im 18. Jahrhundert wurde das Wort dann vorwiegend

90 • KANT, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber

nicht für die Praxis (1793), 2. Abhandlung (gegen Hobbes), AA Bd. 8 (1912), 290; das obige
Zitat aus den Vorarbeiten zum Gemeinspruch steht AA Bd. 23 [Nachlaß-Bd. 10] (1955),
139. Vgl. auch ebd., 141: Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit sind die Erfordernisse
aingidorum um Bürger zu sein.
91 Mozm, dt. TI., Bd. 2 (1813), 658: Verbrüderung als die Handlung, da man sich verbrüdert.

569
Brüderlichkeit m. 5. 'Brüderlichkeit' und 'Verbrüderung'
zur Bezeichnung von brüderlichen lntensivgemeinschaften verwendet. Es war je-
doch, wenn man von dem schon ins Mittelalter zurückreichenden Institut der
Erbverbrüderung absieht (s. o.), in geringerem Maße institutionell fixiert als die
Parallelbegriffe 'Bruderschaft' oder 'Brüderschaft'. Wie es scheint, wurde von
'Verbrüderung' nur immer dann gesprochen, wenn: der mehr ideelle Charakter
solcher Vereinigungen oder deren gesinnungsmäßiger Ursprung hervorgehoben
werden sollte.
Während zum Beispiel die Freimaurer ihi:e Verbindung meist als 'Bruderschaft'
oder 'Brüderschaft' bezeichneten (s. o.), sprach LESSING 1778 von der geheimen
Verlwüderung der Freimaurer, um damit zu betonen, daß diese im Grunde nicht auf
äußerlichen Verbindungen, die so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten, sondern
auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister beruhe 92 • H1PPEL be-
zeichnete die Maurerei in iihnliohem Sinne als eine Wortverbrüderung 93 , und auch
der alte WIELAND sprach 1809 bei seiner Aufnahme in die Weimarer Loge von einer
Freimaurer-Verbrüderung. Diese Verbrüderung bezeichnete er wenig später als eine
besondere Gesellschaft von Menschen, die in einem Bruderbund zusammentreten, weil
sii3 sich von einem wahrhaft brüderlichen Gefühl und Wohlwollen gegeneinander und
gegen die ganze Menschheit belebt fühlen 94 ~
Auch im 19. Jahrhundert wurden mit 'Verbrüderung' OcsinnungtJgcmcincmhaftcn
bezeichnet, die institutionell nur wenig verfestigt waren. Rein wortgeschichtlich
ge11ehen besteht hier eine viel unmittelbarere Kontinuität u.111 bei dem Neologi11mu11
'Brüderlichkeit'. So wurde etwa der Deutsche Bund gelegentlich als schöne,
einträchtige Verlwüderung (DAHLMANN 1815) 95 oder als Verbrüderung souveräner
Staaten (METTERNIOH) bezeichnet. Der Begriff wurde hier verwendet, um eine
ideologische Bindung der deutschen Bundesstaaten aneinander zu bezeichnen, die
über die staats- und völkerrechtlichen Gegebenheiten hinausging, ohne doch diese
in Frage zu stellen. Es war kein Widerspruch, wenn Metternich gleichzeitig von
der Existenz mehrerer geheimer Verlwüderungen in Italien oder der Verlwüderung der
deutschen praktischen Revolutionärs sprach 96 • Diese Geheimbünde lagen unterhalb
der Schwelle rechtlicher Anerkennung. Ihr Zusammenhalt war aber durchaus
ähnlich intensiv wie es der der deutschen Bundesstaaten nach der Vorstellung
Metternichs sein sollte. 'Verbrüderung' bezeichnet in beiden Fällen die spezifische
88 LESSING, Gespräche für Freymäurer (1778/80), Sämtl. Sehr., Bd. 13 (1897), 402.
93 THEODOR GoTTLIEB v. IIIPPEL, Kreuz- und Querzüge des Ritters Abis Z, Bd. 2 (Berlin
1794), 80. § 98.
H WrnLAND, Betrachtungen über den Zweck und Geist der Freimaurerei, AA 1. Abt.,
Bd. 20 (1939), 370 sowie zit. FRIEDRICH BEISSNER, Bericht des Herausgebers (1940), ebd.,
86A.
H FR. Cmu:sTOPH DA.HLMANN, Ein Wort über Verfe.ssung, hg. v. Rudolf Oeschey (Leipzig
1919), 37.
98 METTERNICH e.uf dem Karlsbader Kongreß 1819, zit. Wichtige Urkunden für den

Rechtszuste.nd der deutschen Nation, hg. v. JoH. LUDWIG KLÜBER u. CARL WELCKER
(Mannheim 1844), 173; ders., Denkschrift e.n den Kaiser Franz vom 3. 11. 1817, in: Nach-
gel. Papiere, Bd. 3/2 (1881), 85; ders., e.n Gentz, 17. 6. 1819, ebd.,254. Vgl. &uchders.,&n
Gentz, 9. 4. 1819, ebd., 227, wo Metternich im Zuse.mmenhe.ng mit der Ermordung Kotze-
bues de.von spricht, welcher Verbündete die Tat . . . a11ufükren solUe, und ferner den Brief
VARNHAGENB e.n Tettenbom vom 24. 3. 1819 zum gleichen Thema., in dem dieser e.uf eine
Gemei'll8Cha~ und Verbriiderung schließt; ebd., 226.

570
m. 6. Heilige Allianz Brüderlichkeit

Verbindungsstruktur von Gemeinschaften, deren ideologische Solidarität insti-


tutionell höchstens partielle Anerkennung gefunden hatte.
Das Brüderlichkeitsdenken des 19. und 20. Jahrhunderts ist über solche partiellen
oder temporären Institutionalisierungen nicht hinausgegangen. Dadurch entwickel-
te sich der Begriff 'Verbrüderung' im 19. Jahrhundert zum brüderlichen Gemein-
schaftsbegriff schlechthin, demgegenüber die traditionellen Begriffe 'Bruderschaft'
und 'Brüderschaft' ganz in den Hintergrund traten. Auch dieser dem Zustand des
18. Jahrhunderts durchaus entgegengesetzte Befund bestätigt damit die insti-
tutionelle Lockerung des modernen Bruderdenkens.

6. Die monarchisch-christliche 'fraternite' im System der Heiligen Allianz

Mit der endgültigen Niederlage Napoleons und dem Zusammenbruch seines Sy-
stems in Europa wurde die Eindämmung des revolutionären Frankreich durch die
europäischen Mächte abgeschlossen. Dieser große weltgeschichtliche Zusammenhang
fand auch in der Begriffsgeschichte von 'Brüderlichkeit' seinen Niederschlag. Der
demokratische Expansionsbegriff der bürgerlichen Revolution wurde zu einem
monarchisch-konservativen Solidaritätsbegriff umgeformt und zur Bekämpfung
eben dieser Revolution verwendet.-
Diese antirevolutionäre Brüderlichkeit wurde mit der Heiligen Allianz von 1814
geboren. Nach dem ursprünglichen Entwurf des russischen Zaren ALEXANDER 1.
sollte der Vertrag zwischen den drei Monarchen Rußlands, Preußens und Österreichs
dazu führen, daß sich die Untertanen (sujets) der drei vertragschließenden Par-
teien vereinigen par "les liens d' une fra.ternite veritable 91. Diese , ,wahre Brüderlichkeit''
sollte die der christlichen Lehre sein. Sie war nach Alexanders romantischer Vor-
stellung aber zugleich auch die vraie source de toute liberte civi"le 98 • Dem lag die An-
schauung eines christlichen Reiches der Völker zugrunde, dessen Inkarnation
paradoxerweise die Monarchie sein sollte. Es ist offensichtlich, daß der Zar damit
ohne es zu bemerken der egalitären, Kraft der revolutionären „fraternite" erlegen
ist. So stark war die expansive Kraft dieses Begriffes! 99 Es bedurfte der aufklären-
den Kühle eines Metternich, um das mißverständliche Programm des Zaren zu
entschärfen. METTERNICH strich aus dem Entwurf Alexanders genau den Abschnitt,
der sich auf die brüderliche Solidarität der Völker bezog100• Statt der Untertanen
als Subjekten der fraternite wurden von ihm die Monarchen selbst genannt: Con-
a
formement aux paroles des saintes Ecritures qui ordonnent tous les hommes de se
regarder comme freres, les trois Monarqtres contractants demeureront unis par le.~ liens
d'une fraternite veritable et indissoluble.

97 WERNER NÄ.1!', Zur Geschichte der Heiligen Allianz (Bern 1928), 32.
98 ALEXANDER 1. VON RussLAND, Brief an Lieven vom März 1816, zit. Hn.DEGARD
Sc.HA.EDER, Die dritte Koalition und die Heilige Allianz (Königsberg, Berlin 1934), 81.
89 Vgl. auch den Brief des FREmERRN VOM STEIN an den älteren Gagem vom 19. 4. 1822,
in dem er rückblickend davon spricht, daß. die Heilige Allianz .•• zuerat wieder nach J ahrhun-
derten die chriatliche Bruderliebe ala das Band, so die Nationen umschließt, ala den Leitstern
bei ihren wechselaeitigen Berührungen und Verhandlungen bezeichne: und diese chriBtliche
Idee iat milder, allgemeiner eingreifend ala es die Lehren der Grotiuse und der übrigen Kory-
phäen des Natur- und Völkerrechts sind; Br. u. Sehr., Bd. 6 (1965), 509.
ioo Vgl. SCHAEDER, Koalition, 83.

571
Brüderlichkeit m. 7. Bürgerliebe Demokraten 1848
An die Stelle des christlich-demokratischen Bundes der Völker trat damit die
Gemeinschaft der Monarchen. Den Untertanen sollte der mOme esprit de fraternite
nur noch durch die Monarchen comme peres de famille patriarchalisch vermittelt
werden101 • Auf dem Kongreß von Aachen wurde die monarchisch-christliche
fraternite bei der Aufnahme Frankreichs in die relations mutuelles der Monarchen
erneut bekräftigt. Die Signatarmächte bestätigten sich im Schlußprotokoll vom
15.11.1818 die union devenue plus forte etindissoluble par les liens de fraternite chretienne
que les souverains ont formes entre euz102 • Der Begriff der 'fraternite' ('Brüderlich-
keit') wurde damit vollends von seinem jakobinischen Ursprung gelöst. Fraternite
trat gegen fraternite, ein für die Geschichte des Begriffs entscheidender Augenblick.
Der Begriff war nunmehr frei konvertibel in jede Art von politischer, sozialer oder
religiöser Gesinnung.

7. Brüderlichkeit bürgerlicher Demokraten 1848


Die Usurpierung der demokratischen fraternite und ihre monarchische Umdeutung
im System der Heiligen Allianz konnte die Ausbreitung des Revolutionsbegriffs
für eine Weile behindern. Mit dem Ausbruch der französischen Julirevolution von
1830 geriet aber auch das revolutionäre Brüderlichkeitsdenken wieder in Bewegung.
In seiner Einladung zum Hambacher Fest forderte SIEBENPFEIFFER zu friedlicher
Besprechung, inniger Erkennung, entschlossener Verbrüderung auf, und WIRTH er-
innerte im Mai 1832 hoffnungsfroh daran, daß die Deutschen in Hambach zum ersten
Mal wieder brüderlich vereinigt seien103• Aus Frankreich kam von der Straßburger
Sektion der „Sooiete des Amis du Peuple" eine Grußbotschaft herüber, in der den
Patriotes Allemands eine genereuse et sainte fraternite angeboten wurde104. Das war
die gleiche Phraseologie wie zur Zeit der Großen Revolution in Frankreich, Rückkehr
des deutschen Bewußtseins zu dem Grundgedanken der französischen Revolution, wie
ARNOLD RuGE 1844 in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" schrieb105 • Die
'fraternite' avancierte erneut zum nationalrevolutionären Expansionsbegriff. Sie
gehörte in Frankreich zu den zentralen Schlagwörtern der Revolution von 1848,
gipfelnd in der Verfa.ssung der Republik vom 4. 11. 1848, in deren Präambel die
fraternite zum ersten Mal neben der liberte und der egalite in einem Verfassungstext
erscheint: Elle (die Republik) a pour principe la liberte, l'egalite et la fraternite 106•
In Deutschland gehörte 'Brüderlichkeit' zum Vokabular der badischen Demokra-
ten. GusTAV VON STRUVE begründete im Januar 1847 seine Zeitung „Der Deutsche
Zuschauer", um deutsche Brüderlichkeit und Herzlichkeit zu fördern, das National-
band, welches alle Stämme deutscher Zunge umschlingt, zu befestigen und zu stärlwn.
101 NXF, Heilige Allianz, 32. Vgl. auch den Brief METTERNICHS an Nesselrode vom 20. 8.1817,

in dem er von der noble et grande fraternite spricht, die mehr wiege que tous leB traites;
Nachgel. Papiere, Bd. 3/2, 70.
102 FRIEDR. WILHELM GHILLANY, Diplomatisches Handbuch, Bd. 1 (Nördlingen 1855), 413.
103 PmLn>P JAKOB SIEBENPFEIFFER, Aufruf zum Hambacher Fest, 20. 4. 1832, zit. WILHELM

HERZBERG, Das Hambacher Fest (Ludwigshafen 1908), 91; JoH. GEORG AUGUST WmTH,
Das Nationalfest der Deutschen.zu Hambach, H. 1 (Neustadt 1832), 6.
104 Flugblatt, am 28. 2. 1832 in Hambach verteilt.
1 0 5 A. RuGE, Programm, Dt.-Franz. Jbb. 1 (1844), 12.
106 Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, hg. v.

WILHELM ALTMANN, 2. Aufl. (Berlin 1913), 248.

572
a) Arbeiterbewegung bia 1848 Brüderlichkeit

Rückblickend bestätigte er 1849 die Wiederanknüpfung an die Französische Re-


volution: Allein das Wort Republik, die wiedererweckten Erinnerungen an die fran-
zösische Revolution des vorigen Jahrhunderts, die Formel „Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit" wirkten elektrisch auf alle Völker Europas 10 7 •
Daneben entwickelte sich in der Zeit des Vormärz in Westeuropa ein internationaler
Brüderlichkeitskult, der umso stärker hervortrat, je geringer die Chance für seine
praktische Realisierung war. Das beherrschende Schlagwort für diese internationa-
len Gesinnungsgenossenschaften bürgerlicher Demokraten war das der 'Verbrü-
derung'. Im Hinblick auf das künftige demokratische Europa sollte die Vetbrü-
derung Mittel und Zweck zugleich sein.
Am 15. April 1834 unterzeichneten in Bern auf Betreiben Mazzinis italienische,
deutsche und polnische Radikale die Verbrüderungsakte des Jungen Europas und
erklärten: Wir unterzeichneten Männer des Fortschritts und der Freiheit, wir glauben:
an die Gleichheit und Verbrüderung der Menschheit, an die Gleichheit und Verbrü-
derung der Völker108 • ARNOLD RuGE verfolgte 1834/44 den Plan einer intellektuellen
Allianz zwischen Deutschen und Franzosen, die zu einer Fraternisierung der Prinzi-
pien führen sollte109• Das traf sich mit ähnlichen Bemühungen der französischen
Linksdemokraten, die im September 1843 allen demokratischen Gesinnungsgenossen
in Europa den Vorschlag zur Zusammenarbeit unterbreiteten. Wie sehr es freilich
diesen Versuchen einer demokratischen Internationale an Konkretheit mangelte,
zeigt die naive Meinung der Franzosen, daß schon die naissance des institutions
liberales d'outre Rhin zwischen den beiden Nationen une fraternite que rien ne peut
detruire geschaffen habe11°.
In der Revolution von 1848 erfuhr diese internationale Gesinnungssolidarität der
bürgerlichen Demokraten nochmals einigen Auftrieb, um dann mit dem Scheitern
der Revolution allmählich zu verschwindenlll. Mit dem Niedergang der Verbrü-
derungspolitik bürgerlicher Demokraten begann jedoch der Aufstieg des proletari-
schen Brüderlichkeitsdenkens in der aufkommenden Arbeiterbewegung.
8. Soziale Brüderlichkeit in der Arbeiterbewegung
a) Arheiterhewegu~g bis 1848. Der schon so vielfältig schillernde Begriff der Brü-
derlichkeit erhielt im Bewußtsein der Arbeiter nochmals eine neue Färbung. Aus
dem politischen Egalitätsbegriff der bürgerlichen Demokratie wurde ein Leitbegriff
der sozialen Emanzipation des Proletariats.
107 G. v. STRUVE, in: Der deutsche Zuschauer, Nr. 1, 1. 1. 1847; ders., Geschichte der drei

Volkserhebungen in Baden (Bern 1849), 3.


108 JAKOB EMANUEL Roscm, Bericht an den Regierungsrat der Republik Bern (Bern

1836), 51.
1os RuoE, Dt.-Franz. Jbb. 1 (1844), 16.
110 La Reforme, 21. 9. 1843.
111 Vgl. für 1848 z. B. die .Adresse von Herweghs „Societe democratique allemande" in

Paris vom März 1848: Les democrates allemaruls de Paris se sont formes en legion, appelt!s par
leurs freres paur aJ,ler proclamer ensemble la Republique .Allemande,. f ondee sur la fraternite
des deux Nationalitt!s Fraw;aise et Germanique; zit. PIERRE QuENTIN-BAUCHART, Lamartine
et la politique etrangere de la revolution de fevrier (Paris 1913), 170. - Für die spätere
Zeit vgl. etwa die Resolution einer Londoner Demokratenversammlung vom 27. 2. 1855:
That this meeting, in which are the representatives of the Democracy of France, Germany,
ltaly, Poland, Hungary, Spain, Great Britain and other countries, repudiates the alliances

573
Brüderlichkeit m. 8. Arbeiterbewegung
Die Wurzeln dieses sozialen Brüderlichkeitsbegriffs reichen in die Frühzeit der
europäischen Arbeiterbewegung zurück. In Paris begründete der Kommunist
LAHAUTIERE 1841 eine Zeitschrift mit dem Titel La Fraternite, die 1845 den be-
zeichnenden Untertitel Organe des inte_rb,s du peuple, journal de reorganisation
sociale et de politique generale erhielt. Die chartistische „ Working Men's Association"
sprach 1837 in London von dem spirit of fraternity which becomes working men in
all the countries of the world. 1838 erklärte dieselbe Arbeiterorganisation in einer
„Adress of the Working Classes of Europe": Fellow producers of wealth! seeing that
our oppressors are thus united, why should not we, too, have our bond of brotherhood
and holy alliance?112 • WILHELM WEITLING schließlich entwarf 1842/43für die deut-
schen Arbeiter in der Schweiz ein Programm eines kommunistischen Bildungs-
vereins, für den er Brüderlichkeit durch Wiedereinführung des Du-Wortes, durch
Übung im Verzeihen jedweder Beleidigung, durch die Gewohnheit, jedes Vergehen als
eine Krankheit zu betrachten, durch Zusammenwirken für einen gemeinsamen Zweck
verlangte113 • In allen diesen Fällen erscheint der Begriff der Brüderlichkeit als
proletarischer Gesinnungsbegriff. An ihm entzündete sich erstmals das gemeinsame
Lage- oder Klasse~bewußtsein der Arbeiter. ·
Anfangs war das bruderschaftliche Vokabular bei den Arbeitern stark religiös-
christlich geprägt. Der Anspruch und die Hoffnung auf soziale Gleichheit, der mit
der Forderung nach allgemeiner Brüderlichkeit erhoben wurde, wurde mit dem
Inhalt der christlichen Botschaft identifiziert. LAHAUTIERE leitete beispielsweise
in seiner Schrift „De la loi sociale", die 1841 in der Schweiz auch ins Deutsche
üborootzt wurde, dio Brüdorliohkoit aWJ dom Munda Josu her. Von LAMENNAIB
lernten deutsche und französische Arbeiter, daß das Christentum eine religion de
l'amour, de la fraternite, de l'egalite sei114• Die fraternite war für Lamennais Aus-
druck der radikal innerweltlich verstandenen neutestamentlichen Brudergesinnung.
In seinen „Paroles d'un croyant" schrieb er 1834:Il est ecrit du fils de Marie comme
il ai•oit aime les siens, qui etoient frbes qui sont dans le monde, et aimez-les fusqu'a
la fin ... Je vous le dis en verite, celui qui aime, son coeur est un paradis sur la terre115•
Die gleiche Gesinnung findet sich auch in den Arbeitervereinen der dreißiger und
vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts wieder. KARL ScHAPPER erzählte 1838/39 den
deutschen Arbeitern in Paris, man finde bei der Lektüre der Bibel, daß Christus
nicltts anderes wollte als e·in großes Bruderreich gründen und deswegen in dem Volke
seine Anhänger suchte. Er forderte dazu auf, dieses Bruderreich, das er mit dem
System der Gütergemeinschaft identifizierte, errichten zu helfen118 • Es dürfte auch

between croumed deapots and U8'Urpers ..• , and de8ires to subatitute /or the same the alliance
of the peoples, based on mutual interesta and tending on universal brotherhood; in: The Peo-
ple's Paper, 10. 2. 1855.
112 The Life and the Struggles of w:a:.U.ui: LoVETT (London 1876), 129. 156.
113 JoH. K.AsPAR BLUNTSCHLI, Die Kommunisten in der Schweiz nach den bei Weitling

vorgefundenen Papieren (Zürich 1843), 35.


m FELICITE ROBERT DE LAMENNAIS, Le livre du peuple (BrüBBel 1838), 124; vgl. RICHARD
LAHAUTii:RE, Über das gesellschaftliche Gesetz (Biel 1841).
iu LAMENNAIS, Paroles d'un croyant (Paris 1834), 80 f.
116 K. ScHAPPER, Gütergemeinschaft (1838/39), zit. WOLFGANG ScmEDER, Anfänge der

deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution


von 1830 (Stuttgart 1963), 325.

574
a) Arbeiterbewegung hia 1848 Brüderlichkeit

kein Zufall sein, daß die deutschen Arbeiter so häufig von 'Bruderliebe' sprachen,
wenn sie die verbindende soziale Gesinnung meinten, die sie mit der christlichen Leh-
re identifizierten117 • Dieser Begriff war im 19. Jahrhundert sonst fast nur noch als
Bezeichnung der christlichen caritas geläufig.
Die christliche Neubedeutung von 'Brüderlichkeit' hat sich in der Arbeiterbewegung
nur sehr allmählich abgeschwächt. Noch im Mai 1848 schrieb HERMANN GOTT-
SCHALK in der „Zeitung des Arbeitervereins zu Köln", daß die Lehre Jesu Christi
die erhabenste, heiligste Lehre sei, weil sie die Brüderlichkeit aller Menschen ver-
kündet habe118• Und „Die Verbrüderung", das Organ der „Deutschen Arbeiter-
Verbrüderung", veröffentlichte im März 1849 ,;Zehn Gebote der Arbeiter", von
denen das zehnte lautete: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Nur so
gelingt es dir, der Knechtschaft dich zu entziehen. Nur so kannst du wahrhaft frei sein,
denn Freiheit und Gleichheit gehen nur von einem Dritten: der Brüderlichkeit aus119•
Es besteht kein Zweifel, daß der Begriff der Brüderlichkeit in der Revolution von
1848 zu den zentralen politischen Begriffen der deutschen Arbeiterbewegung ge-
hörte. In ihm kam das endlich freigelassene Vereinigungsstreben der Arbeiter-
Handwerker zum Ausdruck, die zur Durchsetzung ihrer politischen und sozialen
Emanzipation auf Zusammenschlüsse der einzelnen in größeren Gruppen ange-
wiesen waren. Der Gesinnung gegenseitiger Brüderlichkeit entsprach der Hang
zu gemeinsamer Verbrüderllilg. Wo sich deutsche Arbeiter in der Revolution
zusammenschlossen, war von 'Brüderlichkeit' die.Rede und stellte sich der Begriff
der Verbrüderung ein zur Bezeichnung der in die Realität umgesetzten oder auf
politische Anerkennung drängenden „Brüderlichkeit".
Am stärksten wirkte die Ideologie der Brüderlichkeit in der großen „Allgemeinen ·
Deutschen Arbeiter-Verbrüderung", zu der sich im Herbst 1848 verschiedenartige
Arbeitervereine aus ganz Deutschland zusammenschlossen. Schon der Name
„Arbeiter-Verbrüderung" war bezeichnend. In den Grundstatuten vom Februar
1850 wurde die Brüderlichkeit zum alleinigen Vereinsprinzip erhoben: Die Arbeiter-
Verbrüderung hat den Zweck, unter den Arbeitern aller Berufsarten eine starke Ver-
einigung zu begründen, welche, auf Gegenseitigkeit und Brüderlichkeit gestützt, die
Rechte und den Willen der einzelnen zu einer Gesamtheit, die Arbeit mit dem Genuß
vermitteln soll120•
'Brüderlichkeit' erschien hier wieder als sozialer Gesinnungsbegriff mit ausschließ-
lichem Bezug auf die Arbeiter. Die Mitglieder der ,,Arbeiter-Verbrüderung'' legten
den Begriff sehr konkret aus. Die Grundsätze verpflichteten sie zur Verwirklichung
des Zwecks der Verbrüderung, sich zu be~~onderen Ge.~ellschaften ( Associationen)
zusammenzuschließen. Solche speziellen Verbrüderungen sind auch in reicher Zahl

117 K. SCHil'PER: Treue, Re.dliekkeit und Bruderliebe; zit. SCHIED ER, Arbeiterbewegung, 326.
Vgl. ANDREAS SCHERZER: Geaelladtaft der Bruderliebe; Ermahnung zur Nächstenliebe an die ·
deutsche Jugend (Flugsohr., Paris 1842),zit. ScmEDER, Arbeiterbewegung,284. W. WEIT-
LING: Banner der Bruderliebe; Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte (Paris 1838/
39). Betrachtungen eines deutschen Arbeiters über die neuesten Maßregeln der deutschen
Bundesregierungen: Gefühle der Bruderliebe (Flugblatt 1835).
118 H. GOTTSCHALK, Kommunistisches Glaubensbekenntnis, in: Zeitung des Arbeitervereins

zu Köln, 7. 5. 1848.
119 Die Verbrüderung, 9. 3. 1849.
120 Zit. FRoLINDE B.ALSER, Sozial-Demokratie 1848/49-1863, Bd. 2 (Stuttgart 1962), 508.

575
Brüderlichkeit m. 8. Arbeiterbewegung

entstanden, so z. B. die Associationskassen von FRANZ ScHWENNINGER1 21 oder die


Sociale Verbrüderung zur Beförderung der Selbstfabrikation in Elberfeld122 •
Das gleiche Konzept sozialer Verbrüderung der Arbeiter findet sich auch innerhalb
der Frankfurter Gesellenbewegung. KARL MARLO erklärte in seinem Aufruf für den
Frankfurter Gesellenkongreß von 1848: Wir müssen zur großen Verbrüderung
der arbeitenden Stände des ganzen Vaterlandes schreiten, alle Arbeiter in Vereinen
sammeln und diese wieder zu einem großen allgemeinen Vereine verbinden. Ist dies
geschehen, ist der große Bruderbund geschlossen123•
Der durch den „Bund der Kommunisten" kontrollierte „Kölner Arbeiterverein"
schließlich benannte seine Vereinszeitung 1848/49 zeitweise mit Freiheit, Brüder-
lichkeit, Arbeit. Am 12. 4. 1849 trat das Komitee des Vereins, durchdrungen von der
Notwendigkeit, eine enge Verbrüderung der ganzen arbeitenden Klasse, die nur ein
und dasselbe Interesse hat, mit einer Einladung an die Öffentlichkeit, eine solche Ver-
brüderung einzuleiten124• Damit bekannten sich auch die Kölner Arbeiter aus-
drücklich zu dem sozialen Verbrüderungsbegriff als den Ausdruck der proletarischen
Brudergesinnung.

b) Revolutionäre Intelligenz. Schon am Anfang der vierziger Jahre wurde der


neue soziale Brüderlichkeitsbegriff der Arbeiter erstmals auch außerhalb der
Arbeiterschaft registriert. HEINRICH HEINE schrieb 1840 nach der Lektüre von
Louis Blancs „Organisation du travail": Nein, dafür dank' ich, neuer Lykurg. Es
ist wahr, wir sind alle Brüder, aber ich bin der große Bruder und ihr seid die kleinen
Brüder, und mir gebührt eine bedeutemkre Position125 • Einige Jahre später war die
elitäre Skepsis, mit der Heine hier einem kommunistischen, egalitären Verbrü-
derungsprogramm gegenüberstand, einer freilich immer noch ängstlichen Bewun-
derung gewichen. Heine sprach nun von jener Verbrüderung der Arbeiter in allen
Ländern, von dem wilden Heer des Proletariats, das alles Nationalitätenwesen vertilgen
will, um einen gemeinschaftlichen Zweck in ganz Europa zu verfolgen126 •
Er stimmte darin mit dem jungen MARX überein, der ebenfalls 1844 in Paris be-
wundernde Worte für die Brüderlichkeit der französischen Arbeiter fand: Die Ge-
sellschaft, der Verein, die Unterhaltung, die wieder die Gesellschaft zum Zweck hat,
reicht ihnen hin, die Brüderlichkeit der Menschen ist keine Phrase, sondern Wahrheit
bei ihnen, und der Adel der Menschheit leuchtet uns ... entgegen127 •
Am entschiedensten hat in dieser Zeit FRIEDRICH ENGELS den besonderen Charak-
ter der Brudergesinnung der Arbeiter betont. Ende 1845 schrieb er in einem Bericht
über ein gemeinsames Fest von Arbeitern verschiedener Nationen, das im Septem-
ber 1845 in London stattgefunden hatte:

m Ebd., 513. 136.


122 Wuppertaler Färbergesellen-lnnung und Färbergesellen-Streiks 1848-1857, hg. v.
WOLFGANG KöLLMANN {Wiesbaden 1962), 50. .
123 K. MARLo, zit. EDUARD BIEIUU.NN, Karl Georg Wfukelblech {Marlo), Bd. 2 (Leipzig

1909), 445.
124 Neue Kölnische Zeitung, 12. 4. 1849.
126 H. HEINE, Lutezia 1, 15. SW Bd. 6 (1887 ff.), 230.
126 Ders., Denkworte für Ludwig Markus vom 22. 4. 1844, zit. WALTER WADEPUHL, Heine-

Studien {Weimar 1956), 149.


m KARLMARx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte {1844),MEWErg.Bd. l (1968), 554.

576
b) Revolutionäre Intelligenz Brüderlichkeit

Endlich hat die. Fraternih-ierung der Nationen heutzut<zge ebenfalls mehr als je eine
rein soziale Bedeutung. Die Hirngespinste von eur<Ypäischer RepUblik, eWigem Frieden
unter der politischen Orrganisation sind ebenso l,ä,cherlich geworden Wie die Phrasen
von der Vereinigung der Völker unter der lfgide allgemeiner Handelsfreiheit; und wäh-
rend so alle chimärischen Sentimentalitäten dieser Art ganz außer Kurs kommen, fangen
die Proletarier aller Nationen, ohne viel Wesens davon zu machen, schon an, unter
dem Banner der kommunistischen Demokratie Wirklich zu fraternisieren. Die Prole-
tarier sind auch die einzigen, die dies Wirklich können; denn die Bourgeoisie hat in
jedem Lande ihre Spezialinteressen und kann, da ihr das Interesse das Höchste ist,
nie über die Nationalität hinauskommen; und die paar Theoretiker bringen mit all
ihren schönen „Prinzipien" nichts fertig, weil sie diese Widersprechenden Interessen,
Wie überhaupt alles Bestehende, ruhig fortbestehen lassen . . . Die Proletarier allein
können die Nationalität vcrniohtcn, das crwaohcndo Prolotariat alloin kann dio vor
schiedenen Nationen /rat,ernisieren lassen128• Der Brüderlichk:eitsbegriffwurde damit
von Engels von seinem bürgerlichen Ursprung gelöst und zum Solidaritätsbegriff
für die beginnende Arbeiterbewegung erhoben. Ähnlich wie Marx war Engels der
Überzeugung, daß das Gefühl der allgemeinen Brüderlichkeit, von dem Weitling
auf dem von Engels beschriebenen Fest sprach, seine völkerverbindende Kraft er-
weisen könnte, wenn ca im Sinne eines Klo.aaonbogriffs vo:ratandon würdoln, Mit der
fortschre.it.i~nil1m Formn lifmmg ihrer polithmhen Theorie de11 Kla1111enkampfe11 iRt der
Begriff der Brüderlichkeit für Marx und Engels jedoch in zunehmendem Maße
unbequem geworden. Schon im Herbst 1846 mokierte sich Engels über das Gestöhn
von Brüderlichkeit130 , Nach ihrem Eintritt in den „Bund der Gerechten" und dessen
Umformung in den „Bund der Kommunisten" ersetzten sie 1847 dessen alte Parole
Alle Menschen sind Brüder durch das klassenkämpferische Proletarier aller Liinder
vereinigt euch! Diese Änderung entsprang zweifellos der Befürchtung, daß das Ziel
allgemeiner Menschenverbrüderung von dem Programm proletarischer Klassen-
solidarität ablenken könnte. Durch den Verlauf der Revolution von 1848 in Frank-
reich sah Marx sich in seinen Befürchtungen bestätigt: Die Fraterniti, die Brüder-
lichkeit der entgegengesetzten Klassen, von denen die eiri,e die andere exploitiert, diese
Fraternite, im Februar proklamiert, mit großen Buchstaben auf die Stirne von Paris
geschrieben ... - ihr wahrer ... Ausdruck, das ist der - Bürgerkrieg. . . Die Brüder-
lichkeit währte grade so lang, als das Interesse der Bourgeoisie mit dem Interesse des
Proletariats verbrüdert war131 • Und zwei Jahre später schrieb er im Rückblick
auf die „Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850": Alle Royalisten ver-
wandelt.en s1:cn. damals 1:n Rep1tblikaner 1tnd alle Mülümäre 11nn Pari.~ in Arbeiter.
Die Phrase, wekhe dieser eingebildeten Aufhebung der Klassenverhältnisse entsprach,
war die fraterniti, die allgemeine Verbrüderung und Brüderschaft. Diese gemütliche
Abstraktion von den Klassengegensätzen, diese sentimentale Ausgleichung der sich
widersprechenden Klasseninteressen, diese schwärmerische Erhebung über den Klassen-
kampf, die fratemiti, sie war das eigentliche Stichwort der Februarrevolution132•
'Brüderlichkeit' erschien hier geradezu als der Gegenbegriff zu Marx' geschichts-
128 F. ENGELS, Das Fest der Nationen in London, MEW Bd. 2 (1959), 614.
119 Ebd., 021.
130 Ders., Briefv. 23. 10. 1846, MEW Bd. 27 (1963), 63.
131 MARX, Die Junirevolution, Neue Rheinische Zeitung, 29. 6.1848, MEW Bd. 5 (1959), 134.
132 Ders., Die Klassenkämpfe iri Frankreich 1848 bis 1850, MEW Bd. 7 (1960), 21.

37-9038511 577
Brüderliebkeit m. 8. Arbeiterbewegung
philosophischem Zentralbegriff 'Klassenkampf'. Beide schlossen einander nach
seiner Theorie aus, wenn 'Brüderlichkeit' nicht nur als klassengebundener, sondern
auch als klassenüberwindender Integrationsbegriff verstanden wurde.
c) 'Brüderlichkeit' und 'Solidarität'. Marx' Kritik an der bürgerlich-proletarischen
Zusammenarbeit in der Februarrevolution zielte darauf ab, die Begriffe 'Brüderlich-
keit' und 'Verbrüderung' aus dem Vokabular der Arbeiterbewegung zu verbannen,
zu dem sie 1848 vorrangig gehört hatten. Dieser ganz und gar theoretische Versuch
einer ideologischen Begriffsmanipulierung mußte scheitern, weil er dem Bedürfnis
der Arbeiter zuwiderlief, ihrer spezifischen Form der Gesinnungsgemeinschaft be-
grifflich Ausdruck zu geben. Im übrigen entsprach das pointiert antinationale
Klassenkampfdenken bis in die siebziger Jahre hinein keineswegs dem politischen
Bewußtsein wenigstens der deutschen Arbeiterbewegung. Der aufklärerische Op-
timismus, auf friedlichem Wege zu Verbrüderung der Nationen zu kommen, den
die Arbeiterbewegung von der bürgerliehen Bewegung geerbt ho.ttc, lebte im Brü-
derlichkeitsdenken der Arbeiterbewegung weiter.
Wohl am reinsten ist dies in der Arbeiterbewegung der Österreichisch-Ungarischen
Monarchie zu erkennen, in der der Wortscha.tz der Brüderlichkeit bis tief in die
achtziger Jahre hinein - den täglichen Erfordernissen des Vielvölkerstaates ent-
sprechend - geläufig blieb. Der humaniwre <hundsatz der sozialenVerbrüderung133
erschien hier als ideologische Basis der proletarischen Zusammenarbeit, sollte aber
nicht nur die Arbeiter einigen, sondern auch die Voraussetzung für die imernationale
Verbrüderung der Völker sein1 34, und zwar für eine Verbrüderung aller Menschen
ohne Unte't'schied de'I' Nationalitat, Konfession oder RMse11l6. Es ist jedoch zu be-
merken, daß in der Sprache der von Marx unmittelbar beeinßußten Propagandisten
der „Internationalen Arbeiter-Assoziation" (lAA) der Begriff der Brüderlichkeit
in gewissem Umfang verdrängt worden ist. Er wurde durch den bis dahin wenig
gebräuchlichen, erst durch die Sozialtheorie von FoURmR wohl allgemeiner in
Umlauf gebrachten Begriff der 'Solidarität' ersetzt138• Beide Begriffe wurden, mit
deutlicher Begrenzung auf die gegenseitigen Beziehungen der Arbeiter untereinan-
der, synonym gebraucht, mit gelegentlichen tautologischen Überspitzungen. Das
Eindringen des neuen Begriffs für eine gleiche Sache zeigte jedoch deutlich das Be-
mühen an, die spezifische Gesinnungsgemeinschaft der Arbeiter begrifflich heraus-
zuheben. .
Das provisorische Reglement der IAA von 1864 sprach von der ,,olidariti entre le.~
ouvriers des diverses professions dans chaque pays, et d'une union fraternelle entre
les travailleurs des diverses contrees137 • J. PH. BECKER schrieb dazu erklärend in
seinem „Vorboten": Die IAA will aller ... VO'I' allem die l>estehenden Arl>eiter-
188 Der Arbeiter (Prag 1871), Nr. 1, 10. 1. 1871.
184 Der Arbeiterfreund, Reichenberg, 10. 2. 187'Z.
la& Volksfreund, Brünn, 12. 8. 1886.
136 Vgl. HIPPOLYTE RENAUD, Solidarite. Vue synthetique de la doctrine de Charles Fourier

(Paris 1842 und weitere sieben Auflagen bis zum Ende des Jahrhunderts, dt. Zürich
1855); dazu ABTHUR E. BESTOR, The Evolution of the Socialist Voca.bulary, Journal of
the History of Ideas 9 (1948), 273.
187 La Premiere Internationale, receuil de documenta, M. JACQUES FREYMOND et HENRI

BURGELIN, t. 1(Genf1962), 10; vgl. ähnlich die Statuts generaux der IAA von 1871, ebd.,
t. 2 (1962), 245. "

578
m. 9. Bürgerliehe Reaktionen Brüclerliehkeit

gesellschaften . . . zu gegenseitiger Nutzleistung vereinigen, ihre Existenz und


Entfaltung durch Ausübung systematischer Gesamtverbindlichke,it (Solidarität) ge-
währ/reisten. Er nannte diese Solidarität der Arbeiter Brüderlichke,it der Tat, die
an die Stelle der bourgeoisen Brüderlichke,it der Phrase getreten sei. Nach Beckers
Vorstellung ließen sich Solidarität, Brüderlichkeit und Friede unter den Menschen
nicht durch Moralpredigten ins Leben rufen, sondern nur durch Gemeinbesitz, gemein-
schaftliche Produktion, Bewirtschaftung und Nutznießung lebendig machen138•
Das soziale Solidaritätsbewußtsein der Arbeiter zeigt sich hier in voller Entfaltung.
Es trat zunächst auf der Ebene reiner Gesinnungen in Erscheinung. Die nachhaltige
Wirksamkeit dieses Gesinnungsdenkens leitete sich aber zweifellos aus dem Glauben
der Arbeiter an praktische Konkretisierungen dieses Denkens her. Damit hatte das
Solidaritätsdenken der Arbeiter die Grenzen des reinen Gesinnungsdenkens schein-
bar überwunden. Sicher war der Realitätsgrad der Brüderlichkeit in der Arbeiter·
bewegung auch relativ am höchsten. Aber ideelle Brüderlichkeit und reale Ver-
brüderung sind auch in der Arbeiterbewegung nicht mehr zur Deckung gekommen.
Die Brüderlichkeit der Tat blieb bloße Ideologie.
9. Bürgerliche Reaktionen
Der Aufstieg der Brüderlichkeit ·zum demokratischen Verfassungsprinzip in der
Verfassung der französischen Republik vom 4. November 1848 und die Umformung
des Begriffs zum sozialrevolutionären Kampfbegriff durch die Arbeiterbewegung
konnten in Deutschland nicht ohne Wirkung auf das liberale und konservative
Bürgertum bleiben. Diese Reaktion ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil
sie zu einer durchaus historisierenden Wiederbelebung christlich-ständischen
Bruderdenkens beitrug. Begriffsgeschichtlich war damit eine letzte mögliche Stufe
der Entwieklung erreicht.
Als repräsentative Gewährsleute seien dazu die Lexikographen HEINRICH AHRENs138
und CARL WELCKER140 genannt. Beide waren bemüht, den Begriff der Brüderlich-
keit als bloßen Gesinnungsbegriff zu fixieren. Die Versuche zu einer rechtlichen
Kodifizierung des Begriffs, die in der französischen Verfassung von 1848 gipfelten,
lehnten sie übereinstimmend ab.
Welcker: Brilderlichkeit, oder die Anerke,nnung eines brüderlichen Verhältnisses und
die dadurch begründete Pflicht und Gesinnung für ein gegenseitiges brüderliches Ver-
halten gehört an sich nur der Moral an.
Ahrens: Dieser Begriff, der in seiner Verbindung mit den politischen Begriffen der
F'feiheit und Gleichheit auf den Fahnen der französischen Republik zur blutigen Ironie
wurde und durch die Verfassung vom 4. November 1848 eine staatsrechtliche Bedeutung
erhalten sollte, kann auf dem Gebiete des Staates und der Gesellschaft nur als die ver-
suchte Formulierung eines für den innigeren Lebensverband der Menschen und die
daraus abzuleitenden Verhältnisse notwendigen sittlichen Prinzips angesehen werden.
Davon ausgehend versuchten beide Verfasser, den Begriff in die christliche Moral-
lehre zurückzuprojizieren, um ihn sich damit für eine erneute Verwendung nutzbar
zu machen. Für Welcker hing die ganze Aufnahme des Prinzips ... mit den einseitigen
socialistischen und zum Teil communistischen Ideen, welche die Revolution von 1848
138Vorbote, 1866, Nr. 8; 1867, Nr. 3; 1871, Nr. 9.
131H. AllRENS, Art. Brüderlichkeit, BLUNTSCHLI/BBATER Bd. 2 (1857), 276 f.
uo C. WELCKER, Art. Brüderlichkeit, RoTTECK/WELCKER 3. Aud., Bd. 3 (1859), 99 f.

579
Briiderlichkeit m. 10. Kirebliche Reaktionen
so unglücklich beherrschten, zusammen. Er plädierte stattdessen für eine Brüderlich-
keit, die in der Anwendung christlicher Grundsätze bestehen sollte. Ahrens beurteilte
die sozialistischen Einflüsse mit einem Seitenhieb auf den zur Zeit der Restauration
herrschend gewordenen oberflächlichen, sei es religiös indifferenten oder irreligiösen
Liberalismus nicht so eindeutig negativ wie Welcker. Die Saint-Simonisten hätten
bis zum Überdrusse die unbestreitbare Tatsache dargelegt, daß . . . die höhere, in Gou
als gemeinsamem Vater gegründete Bruderschaft aller Menschen in eine der höheren
Beziehung entbehrende Brüderlichkeit umgewandelt sei. Ahrens setzte damit die
moderne 'Brüderlichkeit' der traditionellen 'Bruderschaft' entgegen'. Er plädierte
im Anschluß daran für die Wiedereinrichtung von Genossenschaften des deutschen
Lebens und Rechtes, in denen der Geist der christlichen Brudergesinnung. ver-
wirklicht werden sollte.

10„ Kirchliche Reaktionen


Der bürgerlichen Auseinandersetzung mit der demokratischen und sozialistischen
Brüderlichkeitsbewegung entsprach eine kirchliche Reaktion. Auf protestantischer
Seite meinte J. H. WICHERN 1849, daß die Assoziation der Arbeiter in christlicher
Weise fruchtbar gemacht werden müsse, da die Idee der Verbrüderung der Arbeiter
bisher christlichen Geistes bar gewesen sei141. Auoh er wollte dem modernen Begriff
der Brüderlichkeit im Rückgriff auf ältere christliche Tnhalt.e einen nP.11P.n Sinn
geben. Im Grunde hat sich innerhalb des Prostetantismus christliches Bruder-
denken in diesem Sinne bis heute erhalten, wobei eine gewisse Bevorzugung des
älteren Begriffes 'Bruderschaft' vor dem modernen 'Brüderlichkeit' (etwa noch
bei den aus der „Bekennenden Kirche" hervorgegangenen „Bruderschaften")
· chu.ru.kteristisch ist. Auf katholischer Seite erstand das vorrevolutionäre Bruder-
denken in den zahlreichen Orden und Kongregationen des 19. Jahrhunderts in
gewissem Umfang neu. Mit der Reformation hatte ein großer Teil der geistlichen
Bruderschaften des Mittelalters ein Ende gefunden1 42. Bei den Männerorden, die
im Laufe des 16. Jahrhunderts aus der katholischen Erneuerungsbewegung her-
vorgingen, spielte die Idee der Bruderschaft keine Rolle. Der Begriff 'fraternitas'
fehlte im Vokabular des lgnatius von Loyola, wenn auch einer seiner Anhänger
die „Societas Jesu" gelegentlich als gottselige Bruderschaft bezeichnete143• Nur in
halb weltlichen mildtätigen Bruderschaften lebte im 16. Jahrhundert die mittel-
alterliche christliche Bruderschaftsidee im engeren Sinne teilweise weiter144• Im
19. Jahrhundert dagegen tauchte die Bruderidee in Verbindung mit dem christ-
lichen Liebesgebot in den neuen Männer- und vor 11.llf1m Frauenorden allenthalben
auf. Am reinsten findet sich dieser Geist bei den „Brüdern der christlichen Schulen"
(Freres des Ecoles Ohretiennes) und zahlreichen anderen Bruderkongregationen145 •
Für die neuen Frauenorden war christliche Brudergesinnung ebenfalls selbstver-
ständliches Allgemeingut; zum Beispiel wurden den „Grauen Schwestern von der

141 JoH. HINRICH WICHERN, Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche (1849),
SW Bd. 1 (1962), 274 f.
uz WESSEL, RGG 3. Aufl., Bd. 1 (1957), 1428.
143 JUAN EUSEBIO NIERENBERG, Geistliche und gottselige Bruderschaft (Nürnberg 1670).

m Vgl. Dt. Enci., Bd. 4 (1780), 473.


146 Vgl. MAx HEIMBUCHER, Die Orden und Kongregationen der katholischen Kirche,

3. Aufl., Bd. 2 (Paderborn 1934), 433 ff.

580
IV. Ausblick Brüclerlichkeit

heiligen Elisabeth" 1844 in den Statuten gesagt, daß das Auge GoUes um so mehr
auf ihrem Walten ruhe, je inniger die drei evangelischen Räte Armut, Keuschheit
und Gehorsam vom Band schwesterlicher Liebe und Achtung umschlungen würden146•
Die Betonung der brüderlichen oder schwesterlichen religiösen Gemeinsamkeit
schloß hier wie auch sonst innerhalb der katholischen Orden eine Abwendung
von der revolutionären Brüderlichkeitsidee mit ein.

IV. Ausblick
Der moderne Begriff der Brüderlichkeit wurde geboren in einem umfassenden
Ablösungsprozeß, durch den sich das bis dahin ständisch gebundene Bruderdenken
verselbständigte. Als politischer und sozialer Expansionsbegriff wirkte er zugleich
zerstörend und konstruktiv; zerstörend, indem er traditionelle politische und soziale
Ordnungen gedanklich überwinden half, konstruktiv, weil sich in ihm Hoffnungen
auf neue Ordnungen manifestierten. Diese institutionellen Erwartungen ergaben
sich vor allem aus der Aufnahme des Begriffes in die triadische Formel „Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit". Das von seinen Protagonisten erhoffte Zeitalter der
Brüderlichkeit blieb jedoch unvollendet. Der Begriff der Brüderlichkeit hat keine
dauerhaften politischen und gesellschaftlichen Formen geschaffen, etwa von der Art
der mittelalterlichen Bruderschaften. Er blieb ein reiner Gesinnungsbegriff, für
Demokraten und Sozialisten, Konservative und Liberale gleichermaßen verfügbar,
obwohl er seiner ursprünglichen Intention nach auf institutionelle Verankerung
angelegt war. Ungeachtet gewisser Abnutzungserscheinungen hat der Begriff das
19. Jahrhundert überlebt. Er ist auch im 20. Jahrhundert noch unter wechselnden
Vorzeichen verwendet worden, zum Beispiel in den europäischen Einigungsbewe-
gungen seit den zwanziger Jahren, in der kommunistischen Internationale oder in
der Ökumenischen Weltkirchenbewegung. Auch gelegentliche faschistische Kampf-
ansagen haben den Begriff nicht aus dem politischen Vokabular verdrängen können.
Auf eine eingehende Darstellung dieser letzten Phase der Begriffsgeschichte von
'Brüderlichkeit' kann indessen hier verzichtet werden, da sich der Begriff seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts strukturell nicht mehr verändert hat. Eine Aufzählung
aller Bedeutungsschwankungen hätte rein statistischen Wert, ohne doch zur
Klärung des Begriffes weiter beiZutragen.

Literatur
ADALBERT EBNER, Die klösterlichen Gebets-Verbrüderungen bis zum Ausgang des karo-
lingischen Zeitalters. Eine kirchengeschichtliche Studie (theol. Dies. München; Regens-
burg, New York, Cincinnati 1890); FELDMANN (1911 ), 242 ff.; GERHARD KilsER, Pietismus
und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisa-
tion (Wiesbaden 1961); REINHART KosELLECK, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Patho-
genese der bürgerlichen Welt (Freiburg, München 1959; 2. unv. Aufl. 1969); JosEl'H
RATZINGER, Die christliche Brüderlichkeit (München 1960); KARL HERMANN SCHELKLE,
Art. Bruder, Rlex. Ant. Chr., Bd. 2 (1954), 631 ff.; STAMMLER (1954), 97 ff.

WoLFGANG ScHmDER
1" J. JUNGNITZ, Die Kongregation der grauen Schwestern von der heiligen Elisabeth
(Breslau 1892), 15.

581
Bund
Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat

1. Einleitung. II. 'Bund' im Zeitalter. der Einungen. 1. Wort- und terminologiegeschicht-


liche Vorbemerkung. 2. Die historische Ausgangslage für den Sprachgebrauch von 'Bund'.·
3. Die ständisch abgeschichtete Bündnisfreiheit unter dem Vorbehaltsrecht des Kaisers.
4. Zur politischen Semantik von 'Einung', 'Bündnis' und 'Bund'. a) Das diachronische
Schema. b) Ständische Schwerpunktbildungen. 5. Institutionelle Merkmale. ID. 'Bund' und
'Bündnis' zwischen Reformation und Revolution. 1. Die theologische Ausweitung uil.ddie
sozialrevolutionäre Aufladung des Bundesbegriffs. a) Luthers Bibelübersetzung. b) Die
theologische Ausprägung zu einem sozialreyolutionären Bun,desbegriff. c) Luther und der
Schmalkaldener Vorstand.2. Vom 'Bund' zum 'Bündnis'.a.)Die Reichsbundpläne Karls V.
b) Von den konfessionellen Kampfbünden zum Bündnisrecht der Territorialstaaten.
c) DM Zeitalter der Sonderbündn.iise zwischen Reichsrecht und Völkerrecht. Kreia-
aasoziationen. d) Semantologischer Rückblick und die Wörterbuchebenc im 18. Jahr-
hundert. 3~ Theoretische Ansätze zur Bundesstaatslehre in der frühen Neuzeit. IV. 'Bund'
als Leitbegriff gesellschaftlicher und politischer Orgli.nisation in geschichtsphilosophischer
Perspektive. 1. Der überstaatliche Bundesbegriff. Kants Plan eines Völkerbundes. 2. Vom
religiösen Erwa.rtungsbegriff zum gesellschaftlichen Organisat1onsbegnft. a. Vom 'l::!taaten-
bund' zum 'Bundesstaat' (1806-1871). a) Der Rheinbund. b) Der deutsche Bund 1815.
c) Der Zollverein. d) Bund und Reich (1848-1871). V. Ausblick.

I. Einleitung•
Das Bedeutungsfeld von 'Bund' reicht potentiell so weit wie das von Gesellschaft.
Freilich setzt ein Bund engere Beziehungen im religiösen, sittlichen, rechtlichen
oder politischen Bereich voraus, als sie ·.mit dem Ausdru,ck 'Gesellschaft' assoziiert
werden. Anthropologisch genommen ist jedenfalls das bündische Element für histo-
rische oder strukturale Fragen so unentrinnbar, wie die Gesohleohtsbestimmungcn
des Menschen es sind; Bundesformationen gehören zum menschlichen Dasein
schlechthin, 'Bund' indiziert ein Vorgebot zwischenmenschlicher Zusammenschlüs-
se, so wie heute. die Alltagssprache Varianten kennt, die vom Ehebund über den
Freundschafts- oder Männerbund bis zum Bundesstaat oder Völkerbund reichen.
Die Dehnungsfähigkeit unseres Wortsinnes deckt den engsten wie den weitesten
Verband ein, bis hin zum jüdisch-christlichen Bund mit Gott1 •
Die in unserer Gegenwartssprache enthaltene Betonung von Gefühlsmomenten
grenzt 'Bund' deutlich von Nachbarwörtern wie 'Verein', 'Verband', 'Gemeinschaft',
'Genossenschaft' oder 'Gesellschaft', 'Bündnis' oder 'Vertrag' ab. Eine Begriffsge-
schichte des Bundes muß um so mehr auf eine exakte Eingrenzung achten,· als es
sich um einen Grundbegriff der menschlichen Verfassungsgeschichte handelt, der
sich in leere Allgemeinheiten verflüchtigt, wenn er nicht durch jeweilige Definitionen
präzisiert wird. Im folgenden geht es daher nicht darum, alle gemeinten Sachver-

• Für zahlreiche Hilfen danke ich den Herren Jörg Fisch und Horst Günther sowie den
Studenten eines gemeinsamen Seminars.
1 THOMAS VON AQUJN:. fool'U8 amicitiae hominis ad Deum,- fool'U8 societ.ati& kumanae,·
Summa theologiae, Suppl. zu Tl. 8, qu. 6ö, a.rt. 4. Opera, t. 12 (1906), Suppl. p. 133.

682
D. 1. Wort• und terminologiegeschichtliche Vorbemerkung Bund

halte unter ihrer jeweiligen Bundesbezeichnung in den Blick zu rücken. Vielmehr sind
soziale und politische Erscheinungen auszulesen, die im deutschen Sprachbereich
. nur vom Wort 'Bund' her auf ihren geschichtlichen Begriff erhoben worden sind. ·
Historisch gesehen, kann der Bund seit rund 1800 als vorstaatlich, außerstaatlich,
innerstaatlich, zwischenstaatlich und überstaatlich, schließlich im wichtigen Spe-
zialfall als bundesstl).atlich interpretiert werden. Für die Hypothese einer „Sattel-
zeit", daß sich im Zeitraum vor und nach der Französischen Revolution ein ent-
scheidender Begriffswandel vollzogen habe, ist dieser Negativkatalog wegweisend.
Das Verständnis vom „Bund" wurde zunehmend aus seiner Beziehung zum „Staat"
gewonnen.
Die geschichtlichen Etappen, die das Heilige Römische Reich in seiner Relation
imm „Staat" als einer entstehenden modernen Verfassungsbauform durchlaufen hat,
können nur verstanden werden, wenn die Bundes- und Einungsformen der Stände
mit einbezogen werden. In gewisser Hinsicht läßt sich die Geschichte des Reiches
nur erklären, wenn beriickRichtigt wird, wie sehr Einungen, Föderationen und
Allianzen das Reich zugleich ausgezehrt und erhalten haben, - bis das Reich voll-
ends in der Nachfolgeformation eines Deutschen Bul}des 1815 aufging, der seiner-
seits durch den Bundesschluß von 1871 abgelöst wurde. Wie die Präambel der
Bii,imarckschen Verfa§lsung stilisiert wurde: Seine Majestät der König von Preußen
im Namen des Norddeutschen Bundes (und die anderen Herrscher) schließen einen
ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes . . . Dieser Bund wird den Namen
Deutsches Reich führen 2 • Seit dem Zerfall des Deutschen Reiches als Staat hat die
Herausforderung zu bündischen Organisationsformen im W ei,iten und im Osten,
wie auch zwischen West- und Ostdeutschland, eine neue Aktualität gewonnen. Die
politische Testfrage an bündische Formen jedweder Art scheint immer noch auf die
staatliche Souveränität und deren Anerkennung zu zielen.

D. 'Bund' im Zeitalter der Einungen

I. Wort· und terminologiegescbichtliche Vorbemerkung

'Bund' und seine Nebenformen, aus der idg. Wurzel *-bhend (binden; wie lat.
fascis, fides, foedus aus *-fad, *-fid, *-fod), sind erst spät in der mittelhochdeutschen
Rechtssprache aufgetaucht. Die ersten Belege .stammen aus der zweiten Hälfte
des 13. Jahrhunderts 3 • Älter und wesentlich häufiger gebräuchlich war das Wort
'Einung'' (ahd. einunga), neben dem der speziellere Ausdruck 'Bund' seltener ver-

2 Verfassung des Deutschen Reiches v. 16. April 1871, Dokumente zur deutschen Ver-
fassungsgeschichte, hg. v. ERNST RUDOLF HUBER, Bd. 2 (Stuttgart 1964), 290.
8 Di aaetzz und die bunde alle Bf.aete kalten (Oberösterreich 1281); umb alle artikel, gesetz

und pünde ..• getrewlich pfenden (Nürnberg 13. Jahrhundert); RWB Bd. 2 (1932/35), 567.
Beide Belege lassen auf einen älteren Gebrauch schließen. Ferner GRIMM Bd. 2 (1860),516ff.
"NOTKER 1, 31: tiu einunga hiez aenatuscon.mltum (11. Jahrhundert), zit. RWB Bd. 2, 1477;
weitere Belege ebd., 1477ff.; GRIMlll Bd. 3 (1862), 333f.; JACOB GRIMM, Deutsche Rechts-
alterthümer, 4. Aufl., Bd. 2 (Leipzig 1899), 141. Vgl. auch den Beleg von 1203: unitas
mdgarirer Mninge dicitur, zit. B. H. SLICHER VAN BATH, Nederlandsche woorden in La.-
tijnsohe oorkonden en registers tot 1250, Tijdschrift voor Nederlandse Ta.al- en Letter-
kunde 65 (1948), 49.

583
Bund II. 1. Wort• und termino)o~egeschichtliche Vorbemerkung

wendet wurde. 'Bund' gehört in das stark besetzte Wortfeld, in dem sich Einung,
Einigung, Gelübde, Verständnis, Frieden, Freundschaft, Bruderschaft, Gesellschaft,
Genossenschaft, speziell Eidgenossenschaft und ähnliche Ausdrücke der spätmit-
telalterlichen Rechtssprache überlappen. Terminologisch lassen sich diese Ausdrücke
so wenig bestimmten rechtlichen Sachverhalten eindeutig zuordnen wie die lange
Reihe der lateinischen Äquivalente: foedus, foederatio, confoederatio; unio, liga,
amicitia, fraternitas, conjuratio, conspiratio; communitas, societas, concordia,
harmonia, universitas und entsprechende termini. So sicher ein bestimmter Aus-
druck eine konkrete Rechtslage umschreiben mag, so wenig lassen sich aus dem
Sprachgebrauch klare Verallgemeinerungen ableiten.
Für die Herausbildung „internationaler" Verträge boten sich lange Zeit lehens-
rechtliche Formen an 5 • Auch für Bündnisverträge deutscher Herrscher mit Reichs-
angehörigen im 12. und 13. Jahrhundert ist gezeigt worden, daß sie oft in die Form
einer Privilegienverleihung, Lehensverpfilchtung oder einer Verpfändung stili-
siert wurden 6 • Hinter ihnen haben sich de facto Herrschaftsverträge, Kriegsbünd-
nisse, Rückversicherungs-, Anerkennungs- oder Soldbündnissc versteckt. Gleich-
zeitig erscheinen für zweiseitige Abmachungen politisch gleichberechtigter Partner
Ausdrücke wie oompositio, conventio, pactum et concordia. Aber der Sprachgebrauch
auch solcher Jj'ormeln ist nicht eindeutig, wie etwa die Unterwerfung (deditio) Mai-
lands 1158 als fedus oder pactum umschrieben werden konnte. Trotz der Juristifi-
zierung der mittellateinischen Rechtssprache gab es anscheinend keine formalen
Kriterien, die die Wortbedeutungen bestimmten Sachverhalten zweifelsfrei zuord-
nen konnten. So sehr etwa im frühen Mittelalter die fraternitas eine Steigerung der
amicitia anzeigte und so sehr beide Ausdrücke eine engere Bindung meinten als
eine confoederatio 1 , bleibt es doch unwahrscheinlich, daß später aus solchen Aus-
drücken verschiedene Rechtsfolgen ableitbar waren, - wenn etwa Karl IV. und
seine Verbündeten mit Verona 1354 einen Vertrag schlossen, der zugleich liga,
unio, fraternitas et con/oederatio genannt wurde8. Grundsätzlich ist davon auszu-
gehen, daß bei der Würdigung einer spätmittelalterlichen Rechtsfigur „zwischen
deren äußerer Gestalt und dem sachlichen Gehalt streng unterschieden werden"
muß 9 • Die häufige Verwendung von Tarnformen10 zwingt dazu, die Rechtsausdrücke
durch konkrete Kontextanalysen in ihre eige:r;itliche Begrifflichkeit zu übersetzen.

1 HEINRICH MrrTEIS, Politische Verträge im Mittelalter, Zs. f. Rechtsgesch., germanist.

Abt. 67 (1950), 76ff.


• GÜNTER RAUCH, Die Bündnisse deutscher Herrscher mit Reichsangehörigen vom Re-
gierungsantritt Friedrich Barbarossas bis zum Tod Rudolfs von Habsburg (Aalen 1966),
9. 185. 192. 203. 207 u. passim.
7 lliRGRET WIELERS, Zwischenstaatliche Beziehungsformen im frühen Mittelalter [Pax,

Foedus, Amicitia, Fraternitas] (phil. Dias. Münster 1959); WILHELM JANSSEN, Die Anfänge
des modernen Völkerrechts und der neuzeitlichen Diplomatie. ·Ein Forschungsbericht
(Stuttgart 1965), 37ff.
8 Acta imperii inedita, hg. v. EDUARD WINXELMANN, Bd. 2: Urkunden und Briefe zur

Geschichte des Kaiserreichs und des Königreichs Sicilien in den Jahren 1200-1400
(Innsbruck 1885), 853.
8 GÖTZ LANDWEHR, Königtum und Landfrieden. Gedanken imm Problem der Rechts-

bildung im Mittelalter, Der Staat 7 (1968), 94.


10 WILHELM EBEL, Gesohid1te ller Ge.setzgebung in Deutschland (Göttingen 1958), 29.

584
II. 2. Die historische Ausgangslage für den Sprachgebrauch von 'Bund' Bund

2. Die historische Ausgangslage für den Sprachgebrauch von 'Bund'

Rechtsgeschichtlich charakterisieren nach Ebel11 die spätmittclalterlichen Einun-


gen das Zeitalter der Rechtsstütung aufgrund von Vereinbarung, des verwillkürten
Rechts. G_ewohnheitsrecht und einseitiges Gebotsrecht können freilich in den jewei-
ligen Vollzug einer willkürlichen Rechtsetzung einfließen. Sozialgeschichtlich ist der
Anteil der Städte, gerade wenn sie sich als Schwurgenossenschaft (conjuratio)
gleichberechtigter Bürger verstanden, an solcher willkürlichen Rechtssatzung der
Einungen im Gegensatz zum Lehensrecht und zum Landrecht besonders hoch zu
veranschlagen. Verfassungsgeschichtlich liegt der Höhepunkt der politischen Bun-
desorganisationen, wie Gierke gezeigt hat12 , im Zeitraum vom 13. bis zum 15. Jahr-
hundert.
Einungen entstanden zunächst innerständisch, dann auch zwischenständisch. Dabei
lagen solche Verbindungen im Spannungsfeld zwischen der königlich-kaiserlichen
Reichsgewalt auf der einen und den Herrschaften, die sich abgeschlossene Territo-
. rien zu schaffen suchten, auf der anderen Seite13• Einungen konnten sich im Namen
höherer Gesamtheit sowohl gegen den Kaiser wie auch gegen Territorialherren
richten, aber ebenso bedienten sich Kaiser und Fürsten der Einungen inner- und
zwischenständischer Art, um ihrerseits politische Ziele zu erreichen. Dabei standen
alle Einungen und Bünde, gleich welche politischen oder wirtschaftlichen Absichten
sie verfolgten, immer unter dem Vorgebot, Frieden und Recht - meist räumlich
begrenzt und zeitlich befrü1tet- zu wahren14 • Auf diese Weise blieben die meisten
Bünde und Gesellschaften eingespannt in die Herausforderung zur Stiftung eines
allgemeinen Landfriedens und später in die Bewegungen zur Reichsreform mit ihrer
Kreiseinteilung15 • Einungen konnten zum kaiserlichen Landfrieden sowohl in Kon-
kurrenz wie in Widerspruch treten, aber ebenso in den Dienst desselben gestellt
werden. Jedenfalls vollzog sich die spätmittelalterliche Reichspolitik in Aktions-
einheiten, die sich nur im jeweiligen Wechsel verschiedener bündischer Zuordnungen
als handlungsfähig erwiesen.
Je mehr sich freilich Bundesorganisationen ausdehnten oder zusätzlich zwischen-
bündische ·Einungen geschlossen wurden, desto größer wurde deren Konfliktan-
fälligkeit, desto gebrechlicher ihre organisatorische Ordnung. Nur in der „Eidgenos-
senschaft" der Schweizer Kantone und später in der „Union" der niederländischen
Stände gelang es, die bündische Organisation in eine relative Staatlichkeit zu über-
führen. Im übrigen Reichsgebiet gelang es keiner Einung, sich zu einer territorial
geschlossenen Körperschaft zusammenzufügen. Je mehr Mitglieder einer Einung

11 Ebd., 2lf.; vgl. ders., Die Willkür. Eine Studie zu deren Denkformen des älteren
deutschen Rechts (Göttingen 1953).
12 OTTO GIERXE, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1 (Berlin 1868), 269f.
18 ERNST Bocx, Monarchie, Einung und Territorium im späteren Mittelalter, Hist. Vjschr.

24 (1929), 557ff.
14 Vgl. HEINZ ANGERMEIER, Königtum und Landfriede im deutschen Spii.tmittelalter
(München 1966). Zu unbefristetem Landfrieden vgl. JoACBIM GERNHUBER, Die Land-
friedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235 (Bonn
1952), 40, Anm. l.
16 FRITZ HARTUNG, Geschichte des fränkischen Kreises, Darstellung und Akten, Bd. 1

(Leipzig 1910), 3ff.

585
Bund II. 3. Die 111.iiaducb ahgeKbicbtete Bündoia&eibeit

beitraten, desto stärker wurden die -zentrifugalen Kräfte, die schließlich dahin führ-
ten, das Reich in einen neuen Aggregatzustand zu versetzen. Aus der Bundesfähig-
keit mehrerer Stände wurde das Bündnisrecht der Territorialherrschaften. Aus dem
Schachtelsystem sich überlappender Einungen mit verschiedenen Intensitätsgraden
ihrer Organisation entfalteten sich mit der Tendenz zur Flächenherrschaft die Für-
stenstaaten.

3. Die ständisch abgeschichtete Bündnisfreiheit


unter dem Vorbehaltsrecht des Kaisers

Die zunehmende Kraft innerständischer und zwischenständischer Einungen läßt


sich an der Liste der kaiserlichen Verbote ablesen. Ihre Häufung verweist auf das
Durchsetzungsvermögen der Einungsbestrebungen, die sich rechtlich freilich nur
ausweisen konnten, wenn sie Kaiser und Reich ausnahmen16 • Infolgedessen schwankte
die kaiserliche Position oft zwischen tatsächlicher Duldung und rechtlicher wie
politischer Anerkennung, bis hin zur Teilnahme des Kaisers an zwischenständischen
Verbindungen, sei es in seiner Eigenschaft als Reichsoberha_upt, sei es in seiner
Eigenschaft als Landesherr. Freilich erhielten die foedera ihre Genehmigung nur
abgeschichtet nach Ständen: vom reichsrechtlich akzeptierten Kurverein abgese-
hen, gewannen fürstliche Einungen, ritterschaftliche Gesellschaften und städtische
Bünde immer nur vorübergehend ihre Anerkennung, die sich allerdings auch zum
Gebot solcher Formationen steigei;n konnte. Bäuerliche Einungen, sieht man von
Friesland oder Dithmarschen ab 17, wurden dagegen grundsätzlich verboten und
auch verhindert.
Immer wieder wurden ständische Einungen in die Landfriedensgebote einbezogen,
auch wenn sich dahinter de facto ausgehandelte politische Bündnisse zwischen Kai-
ser und Ständen verborgen haben. Wie sehr der Landfriede auf zwischenständischer
Einung gründete, iormuliert schon das Gebot Friedrichs I. auf dem Ronkalischen
Reichstag 1158 zum Ewigen Frieden 18• Der Kaiser befahl, ut omnes nostro subiecti
imperio veram et perpetuam pacem inter se observent, et ut inviolatum inter omnes fedus
perpetuo servetur. Zugleich wurde im Artikel 6, dessen Anwendung sich auch gegen
die bald entstehende liga bzw. societas der lombardischen Stä<lte .richtete, das all-
gemeine Friedensgebot mit dem besonderen Verbot innerstädtischer und zwischen-
städtischer Einungen gekoppelt: conventicula und coniurationes innerhalb und

18 Sachsenspiegel, Landrecht 2, 1. MG Nova series, Bd. l (1933), 60: .war he"en


mit eiden Bik to &amene &ekeret, Be ne beaceiden dat rike dar buten, BO 'hebbet ae weder deme
rike gedan (Lehngesetz Friedrichs 1.). Zur „Bündnisfreiheit" vgl. ERNST-WOLFGANG
BöcKENFÖRDE, Der Westfälische Frieden und das Bündnisrecht der Reichsstände, Der
Staat 8 (1969), 458:ff.
17 Vgl. GIERKE, .Genossenschaftsrecht, Bd. 1, 530; zu den „Kluften" oder „Broder-

temeden" in Dithmarschen vgl. WERNER CARSTENS, Bündnispolitik und Verfassungs-


entwicklung in Dithmarschen bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, Zs. d. Ges. f. Schleswig-
Holsteiniscbe Gesch. 66 (1938), l:ff.
1s Friedrichs 1. Gesetze vom Ronk.alischen Reichstage, November 1158, Quellensammlung
zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, hg. v. KARL
ZEUMER, 2. Aufl. (Tübingen 1913), 15f.

586
II. 3. Die ständisch ahgeschicbtete Bündnisfreiheit Bund

außerhalb der Städte, zwischen Städten untereinander, unter einzelnen Personen


und zwischen Städten und Personen wurden untersagt.
Speziell zugunsten der oberen Stände wurden 1226 den rheinischen Städten con-
federationes et iuramenta verboten19, ein Verbot, das 1231 - verschiedene Benen-
nungen aufnehmend - ausgeweitet wurde auf communiones, constitutiones, colli-
gationes seu coniurationes aliquas [auch confederationes], quibuscumque nominibus
appellentur 20 • Im bekannten Artikel 15 d,e conspiratoribus der „Goldenen Bulle"
(1356) wurde die Verbotsliste erneuert, mit ausdrücklichem Hinweis darauf, daß die
conspirationes conventicula seu colligationes zu einer mißbräuchlichen Gewohnheit·
geworden seien. Allerdings wurden von dem Verbot solche confederationes et ligae
ausgenommen, die zwischen Fürsten, Städten und anderen zum Schutz des allge-
meinen Landfriedem1 geschlossen worden seien 21 • In diesem Sinne suchte Wenzel
1383 mit möglichst vielen Reichsständen eine eynunge, um einen allgemeinen Land-
frieden im Reich zu stiften (wie 1389 in Eger mit mehr Erfolg), einen Landfrieden,
der alle anderen Einungen ausschließen sollte (Art. 19): Wir wollen auch, daz kein
/urst graf herre ritter kneht oder stet, dy in diser ·eynung sein oder in künftigen zeiten
darein kumen werden, keyn andR.r gemeine eynünge od,er pünd,e machen in zeit diser
eynünge on unser. wizzen willen und wort 22 • In Kenntnis der lateinischen Urkunden
von 1281 uncl 1356 und mit Detonung seines Vorbehaltsrechts erneuerte Sigismund
1431 das Verbot in deutscher Sprache: daz hinfuer nymand, teer der se.y, P:inir.h.
buentnueß oder eynung machen oder angeen soll on des richs wissen gunst ur.laub und
willen, worauf die alten Strafandrohungen folgten 2 3.
Den verfassungsgeschiehtlichen Höhepunkt einer zwischenständischen Einung,
nämlich ihre unbefristete Ausweitung auf das ganze Reich, bildete 1495 die „Hand-
habung Friedens und Rechts", auf die sich Maximilian und die Reichs.stände gegen-
seitig verwilligt, verainet und verpfticht haben. Im§ 7 haben König und Erzherzog,
Kurfürsten, Fürsten und Stände einander versprochen, ohne Zustimmung des jähr-
lich zu berufenden Reichstages keinen Krieg zu beginnen und kein Bundtnus oder
.Ainigung mit frembder Nacion oder Gewelten (zu) machen, die d,em Reich zu Schaden,
Nachtail oder wider seyn möchten 24• Das übliche Einungsrecht im Innern bleibt
unausgesprochen, nur das für Vertragsschlüsse mit auswärtigen Gewalten wird
unter Vorbehaltsrecht gestellt. Aber das Vorbehaltsrecht ging - rein legal - vom
Kaiser auf den Reichstag über.
In der Wahlkapitulation Karls V. von 1519 wird das Bündnisrecht des römischen
Königs eingeengt und speziell dem Beschluß der Kurfürsten unterworfen: Der
König verspricht ohne deren Zustimmung kain Pundnuß oder Einung mit frömbden
Nationen noch sonst im Reiche zu machen. Wie sehr die Verbindungsfreiheit auf

1t MG LL Bd. 2 (1887), 258.


20 Reichsspruch gegen die Genossenschaften der Städte (23. 1. 1231), ZEUMER, Quellen-·
sammlung, 50.
21 Goldene Bulle (1356), Art. 15, ebd., 205.
12 Nürnberger Reichslandfriede (11. 3. 1383), ebd., 216. 219.
2a. RTA Bd. 9 (Ndr. 1956), 569. .
24 Handhabung Friedens und Rechts (7. 8. 1495), ZEUMER, Quellensammlung, 291f. Dazu
FruTz HARTUNG, Die Reiohereform von 1485 bis 1495. Ihr Verlauf und ihr Wesen, Hiat.
Vjschr. 16 (1913), 196. 202fl'.

587
Bund II. 3. Die ständisch abgeschichtete Büncbüsfreiheit

Kosten der städtischen und ritterlichen Freiheit auf die Kurfürsten und Fürsten
zugmmhnit,t.im worrlen war, zeigt per negationem der § 6: wir sollen und wellen auch
alle unzimblicke, kessige Pundnuß, Verstrickung und Zusammenthun der Undertha-
nen, des Adels und gemeinen Volgs, auch die Emporung, Aufruhr und ungeburlich
Gewelt gegen den Ohurfursten, Fursten und andern f orgenomen und die hinfuro ge-
scheen möchten, aufheben, abschaUen und für die Zukunft verbieten 2 5.
Die Bündnisfreiheit hatte sich also, rein legal gesehen, auf die oberen Stände einge-
pendelt, und zwar auf Kosten des Kaisers (nicht in seiner Eigenschaft als Landes-
herr) und der unteren Stände.
Die tatsächlichen bündischen Machtverhältnisse kamen hinter solchen Verboten
und Vorbehalten freilich nur undeutlich zum Ausdruck. Die kaiserlichen Erklärun-
gen wurden immer wieder durchbrochen, sei es durch eine erzwungene Duldung der
Bw.ule, Mei e8 durch deren Legalisierung in Form von Landfriedenseinungen. So ist
schon Wilhelm von Holland dem Rheinischen Stii.cltt~hnnrl, rl1m c.1'.uitates sancte pacis
federe coniurate 26 beigetreten, um dem Bündnis seine politische Spitze zu nehmen
und es als königlichen Landfrieden auf eine reichsrechtliche Ebene zu heben 27 •
Diese Tendenz fand auch ihren sprachlichen Ausdruck. 'Einung' und 'Bündnis' der
Stände gehören zur realen Voraussetzung der Landfrieden, aber es war die Regel,
seitens der Könige diese Au8drücke zu vermeiden - vor allem die Benennung
'Bund' -··, aob11ild aic eine eigenständige OrganisaLiou ui;:r SLii.udt1 an?.eigten. In
königlich-ständischen Vereinbarungen werden fast immer Fürsten, Herren und
Städte einzeln aufgezählt, selbst wenn diese unter sich eine eigene Verbindung ein-
gegangen waren. Freilich drückten Notlagen die kaiserliche Anerkennung von
Bündnissen durch. Als Ludwig der Bayer im Streit mit Johannes XXII. lag, schloß
er selber - in Form eines Gebotes - einen Bund mit 22 schwäbischen Reichs-
städten und dem Bischof von Augsburg, um in Süddeutschland den Landfrieden
zu sichern, und zwar mit einer Geltungsdauer von zwei Jahren über den Tod des
Kaisers hinaus, um die Nachwahl sicherzustellen. Der terminut1 technicus dieses
kaiserlich-zwischenständischen Vertrages war buntnust bzw. bungnust (1331) 28• Im
ganzen herrschte die Tendenz, Bündnisse „aufzulösen", um sie durch regionale oder
Reichsfriedensverträge in „Landfrieden" zu überführen. So wurde etwa 1350 von
Karl IV. die coniuratio cimtatum suetlicae aufgelöst, um als Landfriede doch geduldet
zu werden 29 • So mußte Karl IV. zu Ende seiner Regierung 1378 den Landfrieden in
Franken und Bayern in der üblichen Doppelform von lantfrid und puentnuezz ver-
künden30. So delegierte Sigismund einzelnen Kurfürsten das Recht, in seinem Na-

16 Wahlka.pitula.tion Karls V. (3. 7. 1519), ebd., 310.


H MG Const., Bd. 2 (1896), 580.
27 Ebd., 581. Vgl. ebd., 277 f. soWie: Königliche Bestätigung des Landfriedens des Rhei-

nischen Bundes (10. 11. 1255), ZEUMER, Quellensammlung, 95 f.


2s WINKELMANN, Acta imperii, Bd, 2, 335 ff. (s. Anm. 8).
29 Zit. WILHELM V1sCHER, Geschichte des schwäbischen Städtebundes der Jahre 1376 bis

1::189, Forsch. z. dt. Gesch. 2 (1862), 17, Anm. 2.


30 Siehe a.uch dirre lantfrid 1tnd bm1.tnuzz, den Kaiser Ludwig in Schwaben 1340 errichtet

ha.t; zit. VISCHER, Geschichte, 187. Eine nicht vollzogene kaiserliche Bestätigung des
schwäbischen Bundes unter dem Na.men·bunt aus dem Jahre 1387 referiert JosEF VocHE·
ZER, Zur Geschichte des schwäbischen Städtebundes der Jahre 1376--1389, Forsch.
z. dt. Gesch. 15 (1875), 4 ff.

588
II. 3. Die ständisch abgeschichtete Bündnisfreiheit Bund

men friede, lantfriede, eynunge und verbuntnisse mit fursten . . . steten und gemeinden
zu unsern und des rychs eren und nucz zu machen, die gemachten abzunehmen und zu
widerrulfen (1418 und 1422) 31 • Im gleichen Jahr verfolgte er auch zum ersten Mal
die Politik- entgegen der Goldenen Bulle-, ausdrücklich die Stiftung von Bünden
niederer Stände, und zwar speziell der Reichsritterschaft, zu legalisieren: Daß des
Reiches Ritterschaft sych miteinander verbinden und vereynen sollen und moegen wie
sy das am besten zu seyn bedunken wirt das sy bey gleich und recht bleiben, und das sy
auch unsere und des richs stete in denselben bunt wol nemen moegen die sich zu in wolten
verbinden, doch uns und unsere nachkommen an dem heiligen römischen riche ausge-
nommen, das uns und denselben unseren nachkommen am reiche derselb bunt unsched-
lich sein sol 32 • Schließlich wird unter dem Druck der Hussitenkriege im Heeresan-
schlag (auf dem Nürnberger Reichstag 1431) der Terminus 'Bund' verwendet. Der
Bodenseebund = ein pund, die Schweizer eitgenossen und der Schwäbische Stll.dte-
hun<l unter Ulm = ein bund tauchen unter diesen Kollektivnamen auf33,
Friedrich III. veranlaßt auf dem Verordnungswege zum Schutz des gemeinen Land-
friedens ein zwischenständisches Bündnis der Ritter und Städte zu Schwaben, dem
auch verschieden Fürsten beitraten, - politisch eine Koalition gegen Wittelsbach
und die Schweiz 34 • Das kaiserliche Mandat von 1488 richtet sich an die gesellschafft
und verainigung Sanct J/Jrgen schilts in Schwaben und an die schwii.bfachen SLii.uLe -
einzeln aufgeführt-, die zusammen eine verainung und ein verpuntniß cingingen 36 •
Dieser letzte t!Chwäbische Bund wurde ein Instrument habsburgischer Politik, so
daß Maximilian, der selber beigetreten war, bei der Erneuerung der Verfassung
1500 sogar den Namen eines küniglichen Bundtes verwenden konntc38. 'Bund'
bezeichnet .hier jene größtmögliche Organisationsform, innerhalb deren ein zwi-
schenständischer Interessenausgleich, eine relative Friedenswahrung und ein kaiser-
licher Machtbereich mit wechselnder Intensität gerade noch zur Deckung kamen,
während all dies im Gesamtverband ues Reiches einheiLlich nicht zu regeln war.
Der Schwäbische Bund zerfiel, als zu den inneren Konflikten, die in der Front gegen
die Bauern vorübergehend zurücktraten, die konfessionellen Streitigkeiten hinzu-
kamen.

81 Ernennung des Erzbischofs Konrad III. von Mainz zum Statthalter in Deutschland

durch König Sigmund (25. 8. 1422), RTA Bd. 8(Ndr.1956),190; zit. ANGERMEIER, König·
turn, 352. Vgl. die entsprechende Ernennungsurkunde für Kurfürst Friedrich 1. von
Brandenburg (2. 10. 1418), RTA Bd. 7 (Ndr. 1956), 372 f.
32 RTA Bd. 8, 219 f.
33 Heeresanschlag gegen die Hussiten vom Nürnberger Reichstag (1. 3. 1431), ZEUMER,

Quellensammlung, 246.
H ERNST BocK, Der Schwäbische Bund und seine Verfassungen 1488-1534 (Breslau
1927), 17 f.
85 Jou. PmLIPP DATT, Volumen rerum Germanica.rum novum, sive de pace imperii
publica (Ulm 1698), 281 ff.
88 Ebd., 350. Dor Ausdruck ReichsBund für den Sohwäbisohen Bund taucht in der Ver·

nehmung Balthasar Hubma.iers 1528 auf; Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, hg.
v. GÜNTHER FRANZ (München 1963), 234.

589
Bund II. 4. Zur politischen Semantik von 'Einung', 'Bündnis' und 'Bund'

4. Zur politischen Semantik von 'Einung', 'Bündnis' und 'Bund'


Der Sprachgebrauch der kaiserlichen Verbote und Geheiße zeigt bereits eine lange
Liste von Ausdrücken, die von reinen Vertragsabschlüssen bis zu festen Organisa-
tionsformen reichen. Kriegsbündnisse, überständische Landfriedenseinungen oder
zwischenstädtische Bünde konnten in den gleichen Termini stilisiert werden. Es gab
dementsprechend bis 1495 auch keinen rechtlich definierbaren Gegensatz zwischen
innen- und außenpolitischen Verbindungen. Vielmehr blieben alle bündischen Ab-
machungen verflochten in lehensrechtliche Abhängigkeiten, auch wenn manche
Bündner die Tendenz hatten, sich diesen kraft der einem Bunde innewohnenden
Parität zu entziehen.
Wie sehr die Ausdrücke 'Bündnis', 'Vereinung' oder 'Einung' im Reichsrecht aufge-
hoh1m war1m, r.P.igen die negativen Epitheta, mit denen sie in einem Verbotskatalog
verbunden werden mußten. Die Ausdrücke selber waren gleichsam ambivalent, je
nach der Macht-, Interessen- oder Rechtslage, in der sie verwendet wurden.
Innerhalb der spätmittelalterlichen Rechtssprache gibt es nun semantische Schwer-
punkte, die zeitlich und ständisch aufzuschlüsseln sind.
a) Das diachronische Schema. 'Bund' ist zunächst kein Gegenbegriff zum ''Bünd-
nis', sondern ein Kontraktionsbegriff von 'ßündniAAen': 'Bund' bijdet sich erst
AP.kttndär heraus als ein Wort, das aus dem verbalen Vollzug bündnerischer Rechts-
akte zum Institutionsbegriff gerinnt. Dabei wird ein Vorgang nachgeholt, der sich
bereits im lateinischen Sprachgebrauch abgezeichnet hat. Die Übersetzungsvor~
gänge bzw. die deutschen Rückübersetzungen aus dem Lateinischen, die dann
eine Weiterentwicklung des deutschen Sprachgebrauches freigeben, bedürften frei-
lich noch exakter Untersuchung.
So schlossen Münster, Osnabrück und umliegende Städte 1246 einen gegenseitigen
Schutzvertrag. Die Abmachungen konnten omnes confoederati von vornherein unter
eiller /O'l'ma confederationis ac unionis beschwören87 • Ebenso stand zu Beginn des
Rheinischen Städtebundes 1254 in der Abmachung zwischen Mainz und Worm11
der Ausdruck fedus concO'f'diae et unitatis zur Verfügung 38 • Der auch wirtschafts-
politische Interessenschutz wurde eingebettet in die Eidleistung, einen sancte pacis
fedus 39 zu wahren. Damit entstand ein Friedensbund, der durch den Hinzutritt von
Fürsten und Herren und durch seinen institutionellen Gehalt mehr beabsichtigte
als nur die geregelte Abwehr von Krieg und Fehde. Für diese :Einung wird gelegent-
lich der terminus 'confoederatio' verwendet. Es ist nun bezeichnend, daß in einer der
frühesten deutschen Urkunden - im W ormser Eid der bürgerlichen Eytgenossen
auf Kömg Wilhelm 1255 - für fedus oder confoederatio sinngleich nur der Plural-
ausdruck unsere ewige Verbüntnisse auftaucht4 o, der die Summe der einzeinen be-
eideten Artikel indiziert. Es fehlt offenbar noch ein Kollektivausdruck.

37 Hansisches Urkundenbuch, hg. v. KONSTANTIN HÖHLBAUM, Bd. 1 (Halle 1876), 114.


38 Zit. K. A. ScHAAB, Geschichte des großen rheinischen Städtebundes, Bd. 2 (Mainz
1845), 7.
39 Vgl. Anm. 26. Über die Frage nach dem Zusammenhang von Gottesfriede und Land-

friede s. AuousT KLumrnoHN, Geschichte des Gottesfriedona (Leipzig 1857), 85 f. u.


passim; JOACBDI GERNHUBER, Landfriedensbewegung, 41 ff. (s. Anm. 14).
'u Zit. ScHAAB, Städtebund, Bd. 1 (1843), 133.
590
a) Das diachronische Schema Bund

Es ist ein generelles Merkmal für die Ausdrücke, die den Obergang von Vereinba-
rungen zu Einungen bezeugen, daß sie noch nicht so abstraktionsfähig sind, um als
Modellformel für mögliche Institutionen zu dienen. Selbst die substantivischen All-
gemeinformeln leben aus ihrem jeweils situationsgebundenen Vollzug; sie sind
nicht an sich schon Begriffe, die appliziert würden: der Rechtsakt vollzog sich un-
mittelbar, indem er in jenen Formeln, die beschworen wurden, aufging. Entspre-
chende Obergangsformeln finden sich auch im Lateinischen, wie etwa 1255, als
Hamburg sein mit Lübeck geschlossenes Schutzbündnis auf drei Jahre verlängerte.
Zunächst werden die Bestimmungen verbal umschrieben: concotdavimus et vinculo
indissolubili sie con/ederati sumus, um erst zum Schluß als predicta concordia et.
con/ederacio zusammengefaßt zu werden41 • Ganz analog beginnt der deutsche
SprachgP-hrauch zunächst mit verbalen Wendungen, die den Eidvorgang, die
Rechtshandlung, umreißen: „Wir verbinden, verbüwfon, v1m1Lricken, vereinen,
verpflichten, verschreiben, verlragen uns"; Wendungen, die meist in Zweier-, ge-
legentli~h in Dreierformeln auftauchen und oft in der Vergangenheits- und Geg~n­
wartsform zugleich. Erst das Resümee der vollzogenen und beeideten einzelnen
Punkte wird als 'Verbündnis' bzw. als 'Verbündnisse' im Plural zusammengefaßt.
Noch im 14. Jahrhundert wird gern jede Einzelbestimmung als 'Verbündnis' be-
zeichnet, oder 'punkt' wird mit 'punt' kontaminiert.
Im ganzen tritt der Terminus 'Bund' - wenn überhaupt ---' erst rückwirkend und
sekundär für ein bereits vollzogenes Verbündnis auf. So wird etwa der erste ewige
Bund der drei Waldstätte 1291 (pactum quietis et pacis) noch nach der lateinischen
antiqita forma con/ederationis von den conspirati, coniura# bzw. conprovinciali
beeidet. Die Erneuerung 1315 in deutscher Sprache wird dagegen noch rein verbal
beschlossen: Man versichert und bindet sich zusammen ze /ride und ze gemache und
ze nutze und ze eren, und zwar personal als eitgenozen, ohne einen deutschen Allge-
meinbegriff für den Pakt zu benutzen. 1351, als sich Zürich auf ewig den Vierwald-
stätten anschloß, tritt der termiTIUfl technicm1 eineR eungen huntnUSS und fruntschaft
auf, der personal beeidete Zusammenschluß wird auch als gesellschaft bezeichnet.
Dieses aktuelle, gerade vollzogene buntnuss erhält nii.n Rechtskraft vor allen bunden,
die später noch geschlossen werden mögen, ebenso wie die f>unt und gelupt, die.vor-
ausgegangen waren, aus dem Vertragsschluß ausgenommen werden. 'Bündnis' hat
noch die primäre Bedeutung eines präsenten Vollzugsbegriffs, während 'Bund' sich
eher einem Zustandsbegriff nähert. Das wird noch deutlicher in dem ewigen Bünd-
nis vom 4. Juni 1352, wo es heißt, daß unsern alten bunden dise buntnuss unsckedlich
sin soll, an all geverd 42 • Ganz analog haben sich die Kurfürsten zu Rhense 1338 zu-
nächst durch ihren verbalen Schwur vereint, um die Summe ihrer Abmachungen als
verbuntnusse bzw. buntnusse im Plural zu bezeichnen. Kurz darauf, in der Kurfürst-
lichen Erklärung zugunsten Kaiser Ludwigs, wird rückblickend bereits von dem
buntnüss und der verainung im Singular gesprochen4 3. ·
Ohne daß es auf alle sprachlichen Befunde zuträfe, kann man von einem wortge-

41 Hansisches Urkundenbuch, Bd. l, 172.


42 Quellenbuch zur Verfassungsgeschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Kantone von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. HANS NABHoLZ u. PAUL KLÄUI
(Aarau 1940), lf. 5f. 14f. 23.
18 ZEUMER, Quellensammlung, 181 IT.

591
Bund II. 4. Zm politischen Semantik von 'Einung', 'Bündnis' nnd 'Bond'

schichtlichen Trend sprechen, der von 'Verbündnissen' über 'Bündnis' zu 'Bund'


führt. 'Bund' wird zu einem Kollektivsingular der 'Verbündnisse', im Maße als er
eine zunehmende Institutionalisierung der einzelnen Absprachen indiziert.
So schließen die in bündischer Tätigkeit bereits· erfahrenen schwäbischen Städte
1376 eine Verbindung, die zunächst als friuntscliafft und gelubde bezeichnet wird.
Die einzelnen Bestimmungen werden vorzüglich buntnuzze genannt. Bei der Aus-
weitung der Vereinigung 1377 hat sich der Terminus 'Bund' für die Gesamtorgani-
sation bereits weitgehend durchgesetzt 44 • Die personalen Eid- und Rechtsbezeich-
nungen sind von dem Institutionsausdruck überholt worden. So kann in der Ur-
kunde nicht nur von „unserem Bunde" im Sinne eines Bundes der Städte gesprochen
werden, sondern ebenso von den steten . .. unsers bundes. 'Bund' gewinnt einen über-
persönlichen und übcrstädtischen Charakter - weshalb der Kaiser damals den
Ausdruck vermieden hatte.
Mit der Zunahme des institutionellen Sinngehaltes geht auch eine gewisse Territo-
rialisierung der Bedeutung einher. Das zeigt die sprachliche Präzision, die etwa der
Appenzeller bunt ob dem See durchgemacht hat; der buntbriev der Landgemeinden
mit den St. Gallener Bürgern von 1401 bezieht sich nur auf buntnust und verainung
der aidgenossen, die dann iminer häufiger als Bund auftreten, so daß 1407 ein Schieds-
vertrag von stet, lender und dem bund in einer Parallelformel sprechen konnte 45 •
Ein ähnlicher Vorgang zeigt sich im Nordosten. Der Preußische Bund, der unter
diesem Namen in die Historie eingegangen ist, bezeugt denselben Wandel auf der
Benennungsebene von der 'Einung' zum 'Bund'. Der terminus technicus des Bun-
desvertrages 1440 zwischen Städten und Rittern war zunächst eyne /rundliche stete
feste vereynunge und czusamtneblibunge, während der Feind - der Deutsche Orden
- sofort pejorativ von einem Bund sprach. In diesem Sinne mahnt auch der Kölner
Erzbischof, dy verbunde und dy parteylikeiten abzustellen. Drei Jahre später über-
nimmt die Einung der preußischen Städte und Ritter den Ausdruck 'Bund' positiv
zur Selbstbenennung, um dann sehr bald an diesem Terminus festzuhalten. Wie
sehr die vollzogene Institutionalisierung damit gemeint ist, erhellt aus der Wendung,
die 1446 an einige abgefallene Städte gebraucht wurde: Man hoffe nicht; das ir von
dem bunde und von der eynunge des bundes von den landen und steten46 ausgetreten
seid. Bannstrahl und Ächtung 1454 richteten sich gegen den bundt, dessen latei-
nischen Äquivalente colligatio, conspiratio und rebellio waren, während die entspre-
chenden positiven Ausdrücke aufseiten der Bündner fedus, unio und liga lauteten47 •
'Bund' wurde hier zu einem Ehrennamen gerade im Maße, als er von den Gegnern
abschätzig verwendet wurde. Selbstverständlich hing die Wertigkeit der 'fermino-
logie immer von der politischen Perspektive ab, aus der die damit bezeichneten

44 Vgl. die Bündnisurkunde von 1376 mit den Zusätzen von 1377 bei VISCHER, Geschichte,
188 ff. (s. Anm. 29); dazu auch ebd„ 67 f. 192.
4& Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen, Bd. 4, hg. v. HERMANN WARTMANN (St. Gallen

1892), 612. 769 ff. 830.


48 Acten der Ständetage Preussens unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, hg. v.

M. ToEPPEN, Bd. 2 (Leipzig 1880), 172. 248. 568. 752.


u Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 1li. JH.hrhundert, hg. v. EBICH
WEISE, Bd. 2 (Marburg 1955), 123. 141. 164. 179. Dazu ERICH MA.scHKE, Domus hospi-
to.Iis Thcutonicorum (Bonn 1970), 128. 205 f.

592
lt) Ständische Sehwcrpunktbildungcn Bund

Verbindungen betrachtet wurden. Aber 'Bund' unterlag gerade aufgrund seines


stärkeren institutionellen Gehaltes mehr dem Urteil der Parteien als der elastische
Allgemeinbegriff einer 'Einung'.
Wie sehr dem Ausdruck 'Bund' ein institutioneller Gehalt zugewachsen war, der
sich von den konkreten Vollzugsausdrücken für einzelne Bündnisakte unterschied,
zeigt die Terminologie des letzten Schwäbischen Bundes von 1489. Als die Fürsten
einzeln beitraten, ohne auf diese Weise unter sich Bündnispartner zu werden, war
davon die Rede, daß ein Herr nit im bundt, sondern ... jeder für sich selbst bei dem
bundt in eynung sey 48 • Der zwischenständische Oberbegriff war 'Einung' oder
'Bündnis', während der 'Bund' selber sich mehr auf die zwischenstädtische Organi-
sation bezog. Je mehr andere Stände hinzutraten, desto mehr blieb es bei einer
'Vereinigung' oder 'Einung'. Während 'Bund' dahin tendierte, ein speziell zwischen-
städtischer Institutionsbegriff zu werden, verbleiben 'Einung', 'Vereinigung',
'Bündnis' und 'Verbündnis' mehr im Bereich personengebundener, zwischen- und
innerständischer Handlungsbegriffe mit rechtlichem bzw. politischem Gehalt. Im
Maß freilich, als der Begriff 'Bund' eine Institution indizierte, gerann er gleichzeitig
zu einem konkreten historischen Begriff und meinte speziell den Pundt im Land
zu Schwaben 49 , so wie sich die Schweizer Eidgenossen 1370 auch als Ei<lgnosschaft
schlechthin verstehen konnten 60 • Immer blieben es Sprachformen, die noch nicht
so weit von der Gegenwart abstrahierten, daß sie dauerhafte Institutionen von den
konkreten Vollzügen und Handlungen getrennt gedacht hätten. Auch die territo-
riale Radizierung bezeugt, daß der institutionelle Gehalt terminologisch noch nicht
theoriefähig war, sondern in die politische Praxis zurückgebunden blieb.

h} Ständische Schwerpunktbildungen. Neben dem diachronischen Bedeutungszu-


wachs, der über den Kollektivsingular 'ßund' eine Institutionalisierung und eine
gewisse Territorialisierung anzeigte, zeichnen sich auch ständische Schwerpunkte
im Sprachgebrauch ab.
Der Ausdruck 'Einung' blieb dehnungsfähig genug, um die Fülle zwischenständi-
scher Vertragsformen allgemein abzudecken. 'Einung' konnte zwar jede Selbstbe-
zeichnung innerständischer Verbindungen meinen, zugleich aber war sie weniger
spezifisch als 'Bund', als 'Gesellschaft' oder als 'Verbündnis'. Jeder Bund war eine
Einung, aber nicht jede Einung ein Bund. Insofern läßt sich 'Einung' als ein Ober-
begriff bezeichnen, der weiter als 'Bund' reicht, obwohl o.uch 'Bund' mit 'Einung'
identisch sein konnte. Im rechtlichen Sinne konnte 'Einung' auf pax bezogen sein,
auf den Landfrieden, der, auch wenn er vom Kaiser verordnet wurde, meist in Form
einer geschworenen Einung zustande kam. Politisch konnte der Ausdruck jede Ver-
tragsart militärischer oder diplomatischer Aft meinen. Desgleichen: konnte gemein-
samer Schutz von Wirtschaftsinteressen unter 'Einung' begriffen werden. So war
'Einung' ein aus dem praktischen Vollzug entsprungener Verfassungsbegriff, der
ela1:1Li.l:lch g~tiug war, eine Fülle ver!!chiedener Rechtsakte zu indizieren, die auf

' 8 Zit. BocK, Schwäbischer Bund, 47, Anm. 5; vgl. DATT, Volumen, 311, wo punt die
Organisation, .Ainung den Vertrag mit der GeseUachaft deß Löwen meint (1490). Vgl. auch
ebd., 292 ff.
111 DATT, Volumen, 292.
60 Pfaffenbrief (7. 10. 1370), NABHOLZfKLÄUI, Quellenbuch, 33.

38-90385/1 593
Bund II. 4. Zur politischen Semantik von 'Einung', 'Bündnis' und 'Bund'

Dauer oder befristet irgendwelche Zusammenschlüsse der Friedenswahrung, der


„Außenpolitik" oder der „Innenpolitik" regelten, ohne derartige Unterschiede zu
artikulieren. Die Terminologie dieser Rechtslagen war eben im späten Mittelalter
keineswegs auf bestimmte Sachverhalte eindeutig beziehbar. Ein Unterschied zwi-
schen Landfrieden, Kriegs- oder Interessenverbindung war aus der Benennung
allein nicht ableitbar.
Es lag nun in der Natur der Sache, daß die „Landfrieden" immer zwischenständisch
sein mußten, weil _sie geschlossene Gebiete erfassen sollten. Insofern ist 'Landfriede'
ein überständischer Begriff geblieben, auch wenn sich innerständische Verbindun-
gen als 'Landfrieden' bezeichneten. Die zur Friedenswahrung gestifteten Einungen
oder Verbündnisse blieben durchsetzt von politischen Absichten und geprägt von
politischen Frontstellungen. Aber.Recht und Politik traten noch nicht auseinander,
um sich in verschiedenen Begriffen niederzuschlagen51 .-·So diente die Eidgenossen-
schaft, die gegen Habsburg gerichtet war, zugleich der Friedensordnung, wie etwa
auch die Rheinischen oder die Schwäbischen Städtebünde gleichzeitig handelspoli-
tische Interessen verfolgten oder kriegerische Aktionen planten, die sich ebenfalls
in die Landfriedensbewegung einbeziehen li.eßen. So konnte sowohl die Viererfor-
mel frierle, l,antfriede, eynung, verbuntniss auftauchen (1422), wie umgekehrt fest-
ge1:1LtlllL w1:mhi11 ku1111re - etwa seitens der Städte 1414-, daß lant/rid und ainunge
(der Fürsten) bi ainander nit bestan möchten 5 2.
Es gehört nu.Il zum Sprachgebrauch der Kurfürsten und Fürsten, daß sie untereinan-
der Einungen und Bündnisse schlossen, sich aber nicht des Ausdrucks 'Bund' be-
dienten, der im ganzen den städtischen Vereinungen vorbehalten blieb. So wurde
etwa die Heidelberger Stallung 1384 geschlossen zwischen den StädLen, die den
Bund haltent of dem Rine, und den Städten, die den Bund haltent miteinander in
Schwaben, auf der einen Seite und der eynunge der Fürsten, Herren, Ritter und
Knechte auf der anderen Seite 53 . Eine Chronik berichtet im Jahre 1387 von dem
erneuten Vertrag der stet punt und der herren ai'.nung 54 •
Wie wenig spezifische Rechtsformen an einen Ausdruck verhaftet blieben, zeigt die
Sonderentwicklung des Terminus 'Einung' im innerstädtischen Bereich: hier ge-
rinnt die Einung zur Innung im Sinne von Zunft und Gilde. Der erste Nachweis
stammt von 1219: societas que ... dicitur eninge vel gelde 55 •

61 Vgl. dazu HERBERT ÜBENAUS, Recht und Verfassung der Gesellschaften mit St. Jörgen.

schild in Schwaben. Untersuchungen über Adel, Einung, Schiedsgericht und Fehde im


fünfzehnten Jahrhundert (Göttiugeu 1901), 90 rr.
n Zit • .ANGERMEIER, Königtum, 352 (s . .Anm. 14); RTA Bd. 7 (Ndr. 1956), 214 f., zit.
HERMA.NN MA.u, Die Ritt~rgesellschaften mit St. Jörgenschild in Schwaben. Ein Beitrag
zur Geschichte der deutschen Einungsbewegung im 15. Jahrhundert (Stuttgart 1941), 53.
n Zit. SoH.U.B, Städtebund, Bd. 2, 300 f.
H Zit. THEODOR LINDNER, Zur Geschichte des schwäbischen Städtebundes, Forsch.
z. dt. Gesch. (1879), 47. .
66 Urkundenbuch der Stadt Goslar, hg. v. GEORG BODE, Bd.1 (Halle 1893), 411; vgl.

RWB Bd. 2 (1932/35), 1478. Die folgenden Belege zeigen die Konvergenz mit der Be-
deutung von 'Bruderschaft'. - Die maskuline Form 'der Einung' taucht in der Bedeutung
von „Zwing" und „Bann" einer Landgemeinde auf, wio OsoA.R VOGEL, Der ländliche
Einung nach den zürcherischen Rechtsquellen (phil. Diss. Zürich 1952; Aargau 1953)
nachgewiesen hat. ·

594
b) Ständische Schwerpunktbildungen Buna

Eine der wichtigsten bürgerlichen Vereinigungen, die schließlich zu einer europä-


i1mhen ÜToßma.cht hera.nwuchs, wa.r die Hanse. Seit dem 14. Jahrhundert ho.t oioh
der Name allgemein für diese eigentümliche Verbindung durchgesetzt56• Das alt-
hochdeutsche, schon im Gotischen auftauchende und über fast ganz Europa hin
verbreitete Wort 'Hanse' kennt wie 'Einung' eine Fülle von Bedeutungen57 • So
meint 'Hanse' jedenfalls die Schar, eine Genossenschaft (im 14. Jahrhundert auch
Gilde und Zunft) - mit dem anderen Bedeutungspol einer „Abgabe" und von
„Handelsrechten", so daß, wie häufig im Mittelalter, personale, rechtliche und Tä-
tigkeitsmerkmale von ein- und demselben Wort abgedeckt wurden.
Als Institution begann die später 'Hanse' genannte Genossenschaft auf Gotland,
wo sich die universi mercatores 1mperii Romani Gotlandiam frequentantes in der
zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zusammengeschlossen hatten. Der Terminus
'Hansa' wurde 1266 vom englischen König Heinrich III. erstmals auf eine solche
Genossenschaft deutscher Kaufleute in London angewendet58• Während sich die
Kaufherren im Ausland vereinigt hatten, schlossen ihre Herkunftstädte im Reich
zunächst noch keine Verbindung, sondern hatten allenthalben, wie auch in Süd-
deutschland, nur regionale confederationes geschlossen. Erst in der Mitte des 14.
Jahrhunderts zogen die Hansestädte die Oberaufsicht über die ausländischen Kon-
tore an sich, .so daß seit dem Ilansetag zu Lübeck 1356 die Hanse auch als eine
städtische Vereinigung angesprochen werden kann.
Der Doppelcharakter der kaufmännisch-genossenschaftlichen und zwischenstädti-
schen Verbindung erhellt aus der Wiederaufnahmeurkunde der Stadt Bremen im
Jahre 135859 • Sie richtet sich an die ehrbaren Herren und Konsuln civitatum
maritimarum et eciam aliarum civitatum, necnon comunibus mercatoribus de hansa
Th.e1aonicorum ,,acri Romani imperii pro eo, quod nos ad graciam receperunt . . . Die
von den ausländischen Kaufmannsgenossenschaften her sich auf die Heimatstädte
verlagernde Organisation blieb sehr locker, schützte in erster Linie wirtschaftliche
Interessen und versuchte, mit einem Minimum an Institutionalisierung auszukom-
men. Es gab weder eine Gründungsurkunde, noch gemeinsame Finanzen, noch eine
hansische Flotte. In diesem Sinne hat sich die Hansa 1469 selbst als confederacio80,
nicht als 'Bund' im engen Sinne definiert, um eine kollektive Verantwortung im
Ausland abzulehnen. Ansa Theutonica non est societas, da sie keine Gütergemein-
schaft kenne, vielmehr jeder Kaufmann seine eigenen Geschäfte treibe. Non est
eciam collegium, quia collegium in jure dicitur eo, quod plures simul colligantur sed
Ansa Theutonica ex civitatibus multum distantibus aggregata est . . . Non est eciam
universitas, da nach beiderlei Recht zu einer universitas gemeini;amer Besitz, ge-
meinsamer Schatz, gemeinsames Siegel und ein gemeinsamer Syndikus gehörten.
Nichts dergleichen kenne die Hansa. Vielmehr sei die Hanse zusammengesetzt und
konstituiiirt per mutuum consensum mutuamque confederacionen diversarum civita-
68 Siehe dazu PBn.IPPE DOLLINGER, Die Hanse (Stuttgart 1966), 12 f.
67 Zur Etymologie s. ERIK RooTH, Das Wort kansa verglichen mit giüle und skara, Alt-
germanische Wortstudien (Halle 1926), 67 ff.; dazu AGATHE LA.Sen, Hansa, Zs. d. Vereins
f. Lübeckische Gesch. 25 (1929), 501 ff. Vgl. RWB Bd. 5 (1953/60). 188 f.
68 Hansisches Urkundenbuch, Bd. 1, 219.

68 Hanserecesse, 1. Abt., Bd. 1, hg, v. K. KoPPllliNN (Leipzig 1870), 143.


eo Hansisches Urkundenbuch; Bd. 9, hg. v. WALTHER STEIN (Leipzig 1903), 462 f. (vgl.
auch Anm •. 176).

595
tum. Zweck des Bündnisses sei der Schutz der Kaufleute zu Lande und zu Wasser.
Die Hanse werde auch nicht von Kaufherren regiert, vielmehr habe jede Stadt
ihren eigenen Herrn. Selbst der Hansetag sei kein consiZium, da er nur von instru-
ierten Gesandten ( oraüwea) beschickt werde. Es gebe auch keine Instanz, Zusam-
menkünfte zu berufen.
Wenn diese Selbstinterpretation au.eh eine diplomatische Untertreibung impli-
ziert, so schilderte sie doch die lockere Institution, die die. VoraUBBetzung einer
elastischen Handhabung der Macht darstellte. Soweit die Hanse wirklich zum
Kriege schritt, mußte sie spezielle Kriegsbündnisse schließen, die nicht ableitbar
waren aus der losen Summe der :Mitgliedstädte ihrer Vereinigung. Das berühm-
teste Bündnis ist die Kölner confoederatio, auch Ziga und verbund genannt, von
136781, in der der Krieg gegen Dänema.rk vorbereitet und beschlossen wurde. Ver-
suche, im 15. ,Jahrhundert die wirtAchaftliche Interessengemeinschaft der Städte
durch militä~ch-politische Zusammenschliisse wie in Süddeutschland mit binden-
den Abmachungen fester zu institutionalisieren - in den sog. 1.'okopesaten -, sind
nicht mehr gelungen82 • Die sprachliche Schwerpunktbildung, die dahin führte, in
der Hanse unter Zurückdrängung aller anderen Bedeutungen vorzüglich die Ver-
bindung von den steten van der duileschen hense zu meinen, entspricht also einem
einzigartigen politisch-sozialen Sachverhalt. Die Hanse war weder ein fester Bund
Wie die Rheinischen oder die Schwäbischen Städtebünde, noch war ihre Vereinigung
abzudecken durch den elastischen Ausdruck eines 'Bündnisses' mit seinen mannig-
faltigen Bedeutungen. Die geschichtlich einmalige Erscheinung hatte ihren einmali-
gen Namen gewonnen.
Eine weitere ständische Schwerpunktbildung läßt sich in der Verwe:µdung des Aus-
druckes 'Gesellschaft' aufzeigen. Obwohl der Terminus gelegentlich auch für die
Städtebünde verwendet wurde, bezieht sich sein häufigster Gebrauch auf die befri-
steten SchwurgenoBSenschaften der nicht fürstlichen Adligen, auf die Einungen des
vorzüglich ritterschaftlichen Adels83 • Zunehmend gegen Ende des 14. Jahrhunderts
bilden sich eine Fülle von Gesellschaften mit speziellen Namen und Wappenzeichen,
besonders im Rheinischen, Fränkischen und Schwäbischen84• Ihr Ziel war, zwischen

ei Ha.nserecesse, 1. Abt., Bd. 1, 373 ff., auch bei DOLLINGER, Hanse, 495.
11 Vgl. den Entwurf eines zwölfjährigen Schutzbündnisses der Hansestädte von 1418,
tozate unde varbund genannt, oder die Bezeichnung der Einigung sächsischer Hansestädte
von 1429, eyningke unde vordracht; Hansisches Urkundenbuch, Bd. 6, hg. v. :KARL KUNZE
(1905), 87 f. 476. Weitere regionale Verträge wurden 1443 unter dem Namen vorBtrickinge
wtuk v1Yrbu1ul, bzw. tulwpe8ate unde vorbuntntsae geschlossen; Hanserecesse, 1. Abt., Bd. 3,
hg. v. GosWIN v. D. RoPP (1881), 32 f. Siehe auch unten S. 618.
ea Zur Terminologie vgl. ÜBEN.Aus, St. Jörgenschild, 9 Anm. 1, 13 f.
" OTTO EBERBAOH, Die deutsche Reichsritterschaft in ihrer staatsrechtlich-politischen
Entwicklung von den Aniangen bis zum Jahr 1495 (Berlin 1913). Als der Kaiser 1495
bei einer Umlage auf die Stände auch von den geaelachaften je 1000 Gulden forderte, ent-
stand über den Ausdruck Streit. Die einen meinten, das die geaelschafften der Ritterschaft /
als sankt Jörigen schiU /der W oZO /Esel/ viach / valcken /und dergleichen Tornerß geaelachaften
/ dalJey verstanden: Die andern mainten /das die kaufleut geaelachaften damit gt1-nent wären.
Letzteres traf zu, worauf sich die Städte gegen Doppelbesteuerung beschwerten, zumal
violo Sfüdto gar koino Handclsgoeellschaften kennten und Handel nur familienweiee be-
trieben würde; DATT, Volumen, 843 f. (s. Anm. 35; dank frdl. Hinweis von Herrn Jochen
Goetze).

596
h) Ständische Schwerpwddhiltlungen

Städten und Fürsten die rechtliche und politische Eigenständigkeit zu wahren,


unter Ausschluß der Fehde innere Konflikte zu verhindern bzw. rechtmäßige Fehde
gemeinsam zu handhaben. Wie die städtischen Bünde entwickelten sie eine Schieds-
gerichtsbarkeit, der sich die Genossen kraft ihrer Einung im voraus unterwarfen,
und demgemäß zeigten die Gesellschaften eine Reihe von Institutionen, wie den
Hauptmann und die Räte, Ausschüsse und Vollversammlungen.
Die beschworenen Briefe heißen nun zunächst wie üblich 'Bündnis', 'Einung' oder
'Vereinung', auch 'Freundschaft' und 'Gelübde': aber der Zustandsbegriff für eine
Einung im Vollzug ihrer genossenschaftlichen Tätigkeit war Geselkscha/t oder Gesell-
schaft66. Zunächst duplikativ für 'Einung' verwendet, gewinnt der Ausdruck 'Ge-'
sellschaft' offenbar deshalb seine Häufigkeit, weil er die personale Eidesbindung
der 'Gesellen' - im Gegensatz zu den Verpflichtungen der Städte als Korporationen
- am deutlichsten ausdrückt. 'Gesellschaft' war schwerpunktmäßig die bündische
Organisation auf Zeit von gleichberechtigten adligen Individuen, 'Bund' schwer-
punktmäßig die bündische Organisation korporativer Teilnehmer von Städten und
gelegentlich auch von Landgemeinden (wie im Appenzeller Bund ob dem See).
Für überlandschaftliche Dachverbindungen mehrerer Gesellschaften, die sich öfters
zusammenschlossen, wurde der Ausdruck gemeine Gesellschaft verwendet88• Während
die Ritterschaft über ihre Gesellschaften und deren anerkannte Riindnisfähigkeit
zum reichsunmittelbaren Stand aufrückte, gewann sie später im 16. Jahrhundert
niemals die Reichstagsfähigkeit. Seitdem wandert der Ausdruck der 'Ritter-Gesell-
schaft', speziell für die geselligen Turniergesellschaften, in einen entpolitisierten
sozialen Bereich ab 67.
Sohließlioh reiht sioh in die sprachlichen Schwerpunkte standesspezifischer Bundes-
ausdrücke noch der 'Bundschuh' ein. Vom gebundenen Bauernschuh herrührend,
ist der Ausdruck erst seit der Mitte des 13. Jahrhunderts nachgewiesen, war aber
seit dem i4. Jahrhundert ein weit verbreitetes Schlagwort, das auch in Sprichwörter
einging. Der erste Nachweis für seinen Gebrauch als Bundesbegriff stammt aus einer
Kolmarer Chronik 1403, worin der Rheinische Städtebund als der große buntschuoch
bezeichnet worden ist68 • Es muß also im Südwesten Deutschlands schon vorher
bäuerliche Bünde unter diesem Namen gegeben haben. Ohne hinreichenden herr-
schaftlichen Schutz vereinten sich südwestdeutsche Bauern 1439 ff. gegen den Arma-
gnaken-Einfall, indem sie sich unter dem Symbol eines Bundschuhs sammelten.
Diese Zusammenschlüsse richteten sich bald auch gegen die Herrschaft selber und
gewannen damit sozialrevolutionären Charakter, der seitdem an dem Symbol des
Bundschuhs haften blieb. So berichtet etwa die Konstanzer Chronik, daß Bauern
rnachtent sich zesamen in ainen bund on aller ir herren wissen, das ir warent wol 4000
und namptent sich der Bundscliuch und zugent bis gen Rinfelden haimlich69 . Der Aus-

85 Belege hierzu außer in den Büchern von ÜBENAUS und MAu über den St. Jörgenschild
(s. Anm. 51. 52) auch bei GEORG LANDAU, RittergesellschafteninHessen(Kassel1840), 97f.
8 & ÜBENAUS, St. Jörgenschild, 195. ·
17 Unzulänglich darüber BERNHARD HEYDENREICH, Ritterorden und Rittergesellschaften.
Ihre Entwicklung vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit (phil. Diss. Würzburg 1961).
88 GÜNTHER FRANZ, Zur Geschichte des Bundschuhs, Zs. f. d. Gesch. d. Oberrheins

NF 47 (1934), 5.
eo Zit. ebd., 7.

597
D. 5, lnatitutioneile Merkmale

druck mochte auch Geheimverbindungen von Räubern, Rittern oder knabenschaft-


liche Gruppen indizieren70, aber einen 'Bundschuh aufrichten' war das Symbol
bäuerlicher Verschwörungen, die sich dann um ~e Jahrhundertwende im Süd-
westen Deutschlands häuften.
Da die Bauern, der Reichsunmittelbarkeit entbehrend, grundsätzlich keine Bünd-
nisfreiheit besaßen, mußten sie ihre Schwurvereinigungen geheim abschließen.
Und wen sie in d&S buntnus lJracllten, der muste zuvor schweren, was ime geöffnet
wurde, nicht weiter zu sagen, auch immer mehr zu beicllten in keinen weg, der nehme
joch den bunt ahn oder nicht71 • Die allgemeinen Bundesausdrücke wie Buntnis oder
Versamblung, Gesellschaft oder Pund oder Gemeinverenigong und wie sie in den
erzählenden Quellen oder Berichten der betroffenen herrschenden Stände genannt
werden, erhalten selbstverständlich negative Umschreibungen. So ist von der uner-
baren, von der bösen Gesellschaft die Rede; im Lateinischen von der liga rusticana,
der conspiratio, colligatio und coniuratio: alles Ausdrücke, die bereits pejorativ
durchsetzt sind72 . Im Heidelberger Reichstagsabschied von Maximilian (1502) wird
die Verschwörung des Bundschuhs zu Untergrombach samlung, conspiracion und
'IJerstentnis eins zusamenthuns genannt, aber die einzelnen Strafbestimmungen rich-
ten sich alle gegen den punt- Kollektivname für die Verschwörung73.
Der Ausdruck 'Bund' rückt damit in die Nähe des eingedeutschten Wortes oonspi-
ratzM, der Bundschuh hat mit seinem revolutionären Gehalt einen ständisch be-
stimmten Bedeutungsstreifen von Bund um 1500 in den Bereich des Unrechtmäßi-
gen hinüberg~schoben7&.

5. Institutionelle Merkmale

Im Wortfeld der 'Einung' siedeln sich nun einzelne institutionelle Merkmale an,
ohne daß sie streng dem einen oder anderen Ausdruck zuzuordnen wären. Gleich-
wohl darf gtlsagt werden, daß die strengste Institutionalisierung im Umkreis der
städtischen 'Bünde' und der ritterschaftlichen 'Gesellschaften' zu fuiden ist, obwohl
viele Merkmale, die aufgezählt seien, auch die Landfriedenseinungen und später die
Kreisorqnuiigen kennzeichnen76 • So wurden zur Rechts- und Friedenswahrung

10 HA.Ns GEORG WAOXERNAGEL, Einige Hinweise auf die ursprüngliche Bedeutung des

„Bundachuh11", Rr.hwAiv.. Ar1Jh. f. Volkskunde 54; (1958), 150 ff.


71 Aus einer Straßburger Chronik, zit. ALBERT RosENKRANZ, Der Bundschuh. Die Er-
hebungen des südwestdeutschen Bauernstandes in den Jahren 14113-1517, ßd.. 2: Quellen
(Heidelberg 1927), 1.
71 Die zahlreichen Belege ebd., 17. 19. 36. 89. 100. 143. 178 u. passim.

n Ebd.,UOf.
'" Ebd., 27. .
11 In dieser Bedeutung von „Verschwörung" ging der Ausdruck 'Bund' ins Slawische über,
vielleicht auch durch die Wirksamkeit des preußischen Städtebundes T Vgl. RWB Bd. 2,
.'.>67: oonfoederationea alias bunty, 1509; ERIOH BERNEKER, Slawisches Etymologisches
Wörterbuch,,Bd.1 (Heidelberg 1908/13), 101.
71 Dazu GIERXE, Genossenschaftsrecht, Bd. 1, 460 f. (s. Anm. 12) sowie die oben aufge-
führte Literatur, besonders ÜBENAUS, St. Jörgenschild (s. Anm. 51).

598
D. 5. Institutionelle Merkmale Bund

obligatorische Schiedsgerichte eingesetzt, deren Verfahren sich die Partner zu unter-


werfen im voraus verpflichteten 77 • Dabei wurden meist unter Absehung des Erb-
und Lehensrechts möglichst viele Rechtskomplexe den bündischen Gerichten zu-
gewiesen. Zweitens hatten die Bünde einen gemeirn1amen Rat, der fast immer mit
Mehrheitsbeschluß entscheiden mußte, eine Verfahrensform, die besonders auf
transpersonale Einheiten drängte. Der Rat wurde, vor allem bei zwischenständi-
schen Einungen, paritätisch beschickt. Die tatsächlich hegemonialen Stellungen
führender Städte oder einzelner Fürsten fanden gelegentlich in der Stimmverteilung
ihren Niederschlag. Drittens wurden exekutive Verfahrensformen entwickelt. Öfters
wurden auch gegenseitige Absprachen getroffen, um sich bei inneren Unruhen
Schutz und Hilfe zuleisten 78 • Die Wahl von Hauptleuten, bei zwischenständischen
Einungen ebenfalls paritätisch bestellt, wurde geregelt. Die Fälle der Nacheile oder
gegenseitiger Hilfe für Krieg oder Fehde wurden entweder generell im voraus oder
im Falle eines zweckgebundenen Bündnisses ad hoc ausgemacht. Viertens gehörte
zu den Bünden und Gesellschaften ein gewisses System der Steuereinziehung, so
wenig es auch entwickelt war. Ferner wurden diese Bünde und Gesellschaften fast
immer nur befristet beschlossen, mit einer Laufdauer von etwa einem, zwei, drei
sieben, zehn oder mehr Jahren, meist mit der Klausel, daß noch nicht ausgetragene
Rechtsfälle oder Kriege zu Ende gebracht werden sollten. Es gehörte zum gesetzten
Recht dieser Vereinigungen, daß sie mit wenigen Ausnahmen nicht auf „ewig" ge-
dacht, sondern den Vorgegebenheiten eingepaßt blieben, ein Moment politischer
Vorsicht, das einer dauerhaften Institutionalisierung entgegenwirkte. Auch die
nachzuholende Schwurleistung der jeweils heranwachsenden Generationen, also ein
naturaler Gesichtspunkt, spielte dabei eine Rolle. Schließlich kannten die meisten
Bünde Ausnahmebestimmungen, die die vorausliegenden Rechtspflichten, beson-
ders innerhalb des Lehensgefälles, wahren sollten. So wurde Kaiser und Reich fast
immer formelhaft ausgenommen, so sehr sich einzelne Bünde politisch gegen den
herrschenden Kaiser richten mochten. .
Eine weitere Voraussetzung für das Funktionieren der Einrichtungen war die Un-
tergliederung der Bundesgenossen in einzelne Gesellschaften bzw. Reviere, Viertel,
Drittel, Parteien, Rotten, Orte, ·Contracte, Zirkel, Kreise und wie die landschaft-
lichen Grenzbezeichnungen auch lauten mochten 79 - Ausdrücke, die von einer
Grenz- zur Inhaltsbestimmung im Sinn von 'Bund' ausgeweitet werden konnten.
Vor allem der „Crayss" wurde zum Verfassungsinstitut, das bündische Elemente
auf die reichsrechtlich legitimierte Ebene transponierte. Trotz der genannten insti-
tutionalisierten Momente haben allerdings die Ausdrücke 'Bund' oder 'Gesellschaft'
nie eine streng korporative Bedeutung im Sinne einer 1:1ucieLa1:1 uJtll· universitas
gewonnen 80• Zwai: regelten Bund und Gesellschaft weite Rechtsbereiche, besonders

77 Vgl. EMIL UsTERI, Das öffentlich-rechtliche Schiedsgericht in der Schweizerischen Eid-

genossenschaft des 13.-15. Jahrhunderts (Zürich 1925).


78 Dazu generell K.IBL CzoK, Städtebünde und Zunftkämpfe in ihren Beziehungen während

des 14. und 15. Jahrhunderts, Wies. Zs. d. Karl-Marx-Universität Leipzig, Ges.- u. sprach-
wiss. R.. 6 (1956/57), 517 ff.
79 Dazu FRITZ HARTUNG, Fränkischer Kreis, 57. 103 f. (s. Anm.15); J OH. An.ur KOPP, Gründ-
liche Abhandlung von der Associa.tion derer vorderen Reich11~Ct·aysse (Frankfurt 1739), 27.
so Vgl. ÜBEN.ms, St. Jörgenschild, 142; VOGEL, Der Einung, 116 (s. Anm. 55).

599
Bund m. 'Bund' und 'Bündnia' zwüehen Reformation und Re"l'olution

um durch die Kriminalisierung der Fehde Frieden zu stiften, aber im Maße, als
sich diese Politik von den Reichsgerichten unabhängig hielt, waren die Bünde und
Gesellschaften selber auch nicht rechtsfähig vor den Reichs- und Hofgerichten.
Alle Bundesausdrücke indizierten gemeinsam geregelte Formen des öffentlichen
Lebens, ohne jemals eine geschlossene Ordnung restlos zu umschreiben. Nur ein-
zelne Standesinteressen und rechtliche Bereiche und politische Absichten wurden
aufeinander zugeordnet, Bereiche, auf die sich die Bündner einigten, um sie insti-
tutionell, aber nur auf Zeit zu sichern.
Die Legitimitätstitel aller Einungen blieben Schutz und Schirm, Rat und Hilfe, vor
allem Recht und Frieden. Im folgenden Zeitabschnitt wird der Schutz des Glaubens
hinzutreten, wodurch in Anbetracht der konfessionellen Wirren den bündischen
Organisationen und damit auch den entsprechenden Terminologien eine zusätzliche
Sprengkraft verliehen wurde.

m. 'Bund' und 'Bündnis' zwischen Reformation und Revolution


Infolge der Reformation und der ihr innewohnenden bzw. ihr entspringenden sozia-
len und politischen Bewegungen im Deutschen Reich wird die Begriffsgeschichte
von 'Bund' mehrfach gebrochen und verändert:
1) gewinnt 'Bund' im deutschen Sprachgebrauch einen starken theologischen Be-
deutungszuwachs. Dabei werden die Bundschlüsse Gottes :r:Ilit seinem Volk unter
dem Einfluß Luthers bewußt aus dem weltlichen Reich ausgespart. Zudem wird der
politische und sozialrevolutionäre Gehalt eines theologisch begriffenen Bundes-
schlusses mit der Niederwerfung der radikalen Aufstandsbewegungen diskrimi-
niert. Auf diese Weise verlor der deutsche Bundesbegriff weitgehend jene politisch-
theologische Doppelbedeutung, die im England des 17. Jahrhunderts zur Lehre des
'Covenant' und von dort weiter zur amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und
zur Ligue of Nations führte. Nur im calvinistischen Raum entfaltete sich die Föde-
raltheorie, die erst nach einer sozialpolitischen Transformation im 18. Jahrhundert
das gesellschaftliche Bewußtsein der Deutschen beeinflußte;
2) wurde das weitergeltende Bundesrecht der Reichsstände durch die neue Legiti-
mation des Glaubensschutzes aufgeladen und führte zum religiösen Bürgerkrieg, in
dessen Folgewirkung der theologische Gehalt der Bundesschlüsse ebenfalls verzehrt
wurde. An die Stelle der Bünde trat das Bündnis, die Allianz. Im Ergebnis des
Dreißigjährigen Krieges wird die staatliche Bündnisfähigkeit der Territorialherr-
schafien legitimiert, ohne daß ihre Rückbindung in die Reichsverfassung eindeutig
gelungen wäre.
3) Daher wird der Zustand des Reiches im Hinblick auf die Bündnisfähigkeit seiner
Mitglieder zunehmend theoretisch reflektiert. Die Reichsstaatslehre fragt nach dem
„systema foederatarum civitatum";
4) läuft diesen Bewegungen eine Ausfällung institutioneller Merkmale parallel.
Erst geg1m Ende des 18. Jahrhunderts gewinnt der Bundesbegriff auf der staats" und
völkerrechtlichen sowie auf der gesellschaftlichen Ebene wieder neue Valenzen.

600
a) J,uthers Bibelübersetzung Rund

I. Die theologische Ausweitung und die sozialrevolutiouäi·e Aufladung des


Bundesbegriffs
a) Luthers Bibelübersetzung. Die Übersetzung der Heiligen Schrift in die Volks-
sprache brachte dem Bundesbegriff einen Bedeutungszuwachs, der seine politisch-
soziale Wirkung zugleich stimulierte und hemmte. Zahlreiche Stellen der Bibel ver-
weisen sowohl auf zwischenmenschliche Bundesschlüsse der Juden wie - theolo-
gisch - auf die Bundesschlüsse Gottes mit seinem Volk IsraeL Das dafür gebräuch-
liche Wort 'berit' ist plurivalent. Anfangs auf Herrscherverträge bezogen, bezeich-
nete es in jedem Fall einen sakralen und juristischen Vertrag; im theologischen Sinn
wird 'berit' einseitig von Gott gestiftet und eingehalten, auch wenn der Bund von
seinem Volk gebrochen wurde (Deuteronomion 7, !); Nehemia !), 32)R 1 • Die Septua-
ginta übersetzte nun 'berit' nicht mit „Syntheke" - Vertrag - , sondern mit
„Dia.th11k11", <l11RRen priva.trechtlich11r Sinn als letzwillige Verfügung theologisch um-
gedeutet wurde, und zwar analog zu 'nomos' im Sinne einer einseitigen Anordnung,
als Stiftung Gottes. Die Vulgata schließlich verwendete je nach Bedeutungsschwer-
punkt für 'berit' bzw, 'Diatheke' vorzüglich die Worte 'foedus' oder 'pactum', wo-
durch später römisch-rechtlichen Assoziationen stattgegeben werden mochte.
Für den deutschen Sprachgebrauch wurde es nun entscheidend, daß LUTHER alle
genannten Ausdrücke im Alten Testament, fasL uurchweg rniL „Buml" übersetzte,
dagegen 'Diatheke' im Neuen Testament wörtlich mit „Testament", so daß speziell
der einseitig gestiftete Gnadenbund unter diesem Ausdruck und nicht im Sinne
eines zweiseitigen pactum oder foedus begriffen wurde. Freilich wirkte die theolo-
gische Interpretation von 'Testament' zurück auf die alttestamentliche Bedeutung
von 'Bund'. Denn es war eine Grundfrage für die Begriffsgeschichte von 'Bund',
inwi11w11it d11r Alt11 anf den Neuen Bund verweist - oder gar letztlich identisch mit
ihm ist, oder inwieweit der Gnadenbund den Gesetzesbund überholt habe. Luther
hat im Gefolge von Paulus durch die unterschiedliche Übersetzung von 'berit' bzw.
'Diatheke' durch „Bund" oder „Testament" das Wortfeld deutlich differenziert.
Selbst dort, wo Zitate aus der alten in der neuen Schrift auftauchen, hielt Luther
am Wortgebrauch von 'Bund' (Jeremias 31, 31) bzw. von 'Testament' (Hebräer 8,
8-12) fest 82 • Der Übergang vom Bund, der zur Gesetzestreue verpflichtet, zum
Gnadenbund -'- dem Testament - Gottes wurde also durch zwei Ausdrücke mar-
kiert, ohne daß Luther sie als absolute Gegensätze gedeutet hätte. Sowohl das Gna-
denelement der alten Bundschlüsse konnte Luther betonen, wie auch den Gegensatz
zwischen beiden 'Testamenten'. Dementsprechend interpretierte Luther den Gala-
terbrief im Hinblick auf die Kontinuität zum Alten Testament: Deus est testatar:
ipse enim promittit et legat. Abraham et semen eius sunt, quibus fit testq,tio ut haeredibus
dei testataris. Testamentum est ipsa promissio, Gen. XXI etXVIJ. Res testata est ipsa
haereditas, id est gratia et iusticia fidei,scilicet benedictio gentium in semine Abrahae83 •

81 WILHELM GESENIUS, He.bräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte


Testament, 17.Aufl„ hg. v. Frants Buhl (Leipzig 1921), 116f.; KITTEL Bd.2 (1935;
Ndr. 1967), 106 ff.; LThK 2. Aufl„ Bd. 2 (1958), 770 ff.; RGG 3. Aufl., Bd. 1 (1956),
1512 ff.; Evangelisches Kirchenlexikon, hg. v. HEINZ Bn.UNOTTE u. ÜTTO WEBER, Bd. l
(Göttingen 1956), 618 ff.; KLAUS BALTZER, Das Bundesformular (Neunkirchen 1964).
82 LUTHER, WA Dt • .Bibel, ßd. 11/l (1960), 294; Bd. 7 (1931), 362 ff.

sa Ders., WA Bd. 2 (1884), 519.

601
m. 1. Theulushic:he Au11weilllll8 und 11uzhalrevuluUonlre Aufladung
Zugleich aber konnte er auch das Gesetz Mose das alte Testament nennen, das nicht
auU Gottes gnaden, sondern auU Menschen wercken stund, es mußte veralten und es
must ein ander Testament komen, das nicht alt würde, auch nicht auU unserm thun,
sondern auU GoUes wort und wercke stünde, auU das es ewiglich wehret 8 •. Theologisch
wegweisend war nun, daß die einseitige Willensverfügung Gottes über sein „ Testa-
ment" auch den Bundesbegriff determinierte, und zwar in einer Weise, die über
pactum oder foedus hinausging. Eine menschliche Beteiligung am Vertrag mit Gott,
die dann über die römisch-rechtliche Vertragslehre und das Naturrecht und im
Rückgriff auf das Alte Testament im calvinistischen Bereich eine theologisch be-
gründete Gemeinschaftslehre abstützte 85, - gerade diese menschliche Beteiligung
wurde im Gefolge Luthers abgekappt. Gott allein schickt den Bund. Der Mensch
kann keinen· schließen se.
Zudem verhinderte die lutherische Unterscheidung zwischen 'Bund• und 'Testa-
ment', aus den sukzessiven Bundschlüssen im Alten Testament über das Neue
Testament hinweg eine Erziehungsveranstaltung Gottes auf dieser Erde abzultii-
ten: wie es etwa von lrenäus vorgedacht 87 und dann von der Föderaltheologie aus-
gebaut wurde 88• Der Ausdruck 'Bund' war von Luther sozusagen theologisch seiner
zukünftigen Entfaltungsfähigkeit beraubt worden, weil das Testament bis zum
letzt.en T&gfl gilt. naR TARtament ließ sich durch keinen neuen Bundschluß über-
holen oder gar kraft solcher in dieser Welt verwirklichen, wie es sich die Wieder-
täufer oder die brüderschaftlichen .Bauern erhofften. Besonders bruderschafjten
zählte Luther zu Rotten, Sekten und Häresien, da. sie das ·Evangelium nicht allen
zukommen ließen, sondern sich ettwas bessers duncken 89 • Demgemäß konnte bei
einem Verhör Müntzers diesem vorgeworfen werden, daß er seinen Dund nicht aus
der Heiligen Schrift ableiten könne, während doch die Verkündigung des Gottes-
wortes in sächsischen Landen überall geduldet werde90.
Es waren sicher nicht zuletzt die Erfahrungen, die Luther mit den christlichen

a& Ders„ WA Dt. Bibel, Bd. 8 (1954), 29.


86 Vgl. GERHARD ÜESTREICH, Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staats-
vertrag (1958), in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates, hg. v. HANNs
HUBERT Honu.NN (Köln, Berlin 1967), 137 ff.
88 Das wird besondere deutlich dort, wo LUTHER die Ausdrücke pactum und testamentum

auf die göttliche bzw. die menschliche Natur Christi bezieht: Er beruft sich auf Hieronymus:
qooil d. HieronymUB in heb. pactum potiUB quam te8tamentum haberi dicit, und fährt fort:
Ja paciacitur qui vivu~ manet, teatatur moriturua. lta JeBUB ChriatUB, deUB immortalia, fe,cit
pactum, idem aimul teatamentum, quia futurUB mortalia: sicut idem deUB et h<Ymo, ita idem
pactum et teatamentum; WA Bd. 2 (1884), 521.
87 Vgl. HANs v. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der Heilsgeschichte. Der Aufbau des
christlichen Geschichtsbildes l.n der Theologie des ersten und zweiten Jahrhunderte,
Sa.eculum 21 (1970), 206 f.
88 GoTTLOB ScHRENK, Gottes Reich und Bund im älteren Protestantismus vornehmlich
bei Johannes Coccejus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus und derheils-
geschichtlichen Theologie (Gütersloh 1923).
19 LUTHER, WA B<l. 2, 755; Btl. 50 (1914), 272; B<l. 4-0/2 (1914),114. Dazu K.utl. HoLL,

Ges. Aufs. z. Kirchengesch„ Bd. 1, 2. u. 3. Aufl.. (Tübingen 1923), 53. 321.


eo Protokoll des Verhörs in Weiniar am 1. August 1524, abgedr. Neue Mittheilungen aus
dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen, hg. v. J. O. Opel, 12 (1869), 182 ff.

602
b) Die theologische Ausprägung zum sozialrevolutionären BundesbegriJf Bund

Vcrcinigungcn vom Bundschuh bis zu den Wiedertäufern gemacht hat und die' er
allesamt als Schwärmer klassifizierte, die ihn in seinem theologischen Vorbehalt
bestärkt haben, allen Bundschlüssen weltlicher Art harten Widerstand entgegenzu-
setzen, soweit sie sich auf geistliche Motive beriefen.

h) Die theologische Ausprägung zu einem sozialrevolutionärenBundeshegriff. Durch


die zweite Weile der Reformation wurde der ständische Rechtsbegriff der Einung
und des Bundes nach zwei Seiten hin ausgeweitet: Einmal indizierte er eine Art
christlichen Gesellschaftsvertrages mit einem Anspruch auf Allgemeinverbind-
lichkeit, von dem her eine neue Verfassung zu gründen sei; zum andern überholte
er die Bundschlüsse des Alten und des Neuen Testaments- auch in der Gegenwart
konnten Bünde mit Gott geschlossen werden, wodurch dem Begriff ein apokalyp-
tischer Erwartungsgehalt zuwuchs. Räumlich und zeitlich erhielt also der Bundes-
begriff eine gesteigerte Aktualität.
Wie sozialkritisch er wirken kolinte, zeigen die fünfzehn Bundtsgenossen, die EBER-
LIN VON GÜNZBURG als eine Schwurgenossenschaft in seinen Flugschriften 1521 auf-
treten ließ: Alle haben sich gegenseitig geschworen, die Mißstände der Reichs- und
Kirchenverfassung aufzudecken. Ihr Verbündtnüsz war zugleich weltlich und geist-
lich gemeint - wie eine Schweizer Eidgenossenschaft, die sich durch einen Schwur
beim Empfang der Sakramente zusätzlich binden sollte. Der revolutionäre Inhalt
kam trot.ll der apiitor boaehwiehtigondon Haltung Eborlioo den Forderungen
mancher Bauernführer sehr nahe: Zerstörung der kirchlichen Hierarchie, Schaffung
einer Volkskirche, militante Züge in der allgemeinen Friedensforderung, Verant-
wortlichkeit aller Oberen vor dem Volk, paritätische Besetzung aller Räte durch
Adel, Bürger und Bauern, einheitliche Münze; Arbeit, auch für den Adel, als
Pflicht; Reduktion aller Lasten, Aufhebung der Fuckerei, - diese Utopie der
W olfaria enthielt alle Elemente, um aus dem Bundesbegriff - mit Berufung auf
Luther und Hutten - eine neue Reichsverfassung abzuleiten91•
Auch die Bünde des Bauernkrieges zeichneten sich fast ausnahmslos durch ihre
Berufung auf die christliche Brüderlichkeit aus. Damit wurden überkommene Ter-
mini als Legitimationstitel neu artikuliert, wodurch die Bauernb.ünde tendenziell
über die Erhaltung des alten Rechtes und eine standesimmanente Reform hinaus-
wiesen. Wie immer früher die Bundschlüsse durch christliche Riten oder Zeremo-
nien sakral begründet worden waren, daß ein Bund als solcher christlich genannt
wurde, war erst möglich, seitdem der Begriff seiner Christlichkeit umstritten wurde.
So tauchte diese Bezeichnung erstmals auf, als sich der Bingener Kurverein 1442
gegen Ketzerei und Up.glaube der Hussiten in fruntlicher und christelicher einunge
verbunden hatte92 • Jetzt griffen die lutherischen Bauern die christliche Benennung

Dl JoH. EBERLIN v. GÜNZBURG, XV Bundtsgenossen (1521), Ausg. Sehr., hg. v. Ludwig


Enders, Bd. l (Halle 1896). Als Vorbild mag die humanistische „sodalita.s" des Konrad
Celtis gewirkt haben, deren Bezeichnung auf die sakralen und später politischen Bruder-
schaften der römischen Geschichte zurückgeht; vgl. MICHAEL SEIDLMAYER, Wege und
Wandlungen des Humanismus (Göttingen Hl65), 177 f.; PAUL JoA.OHIMSlllN, Der Humanis-
mus und die Entwicklung des deutschen Geistes, Dt. Vjschr. f. Litera.turwiss. u. Geistes-
gesch. 8 (1930), 419 ff.
u ZEUMER, Quellensammlung, 235 (s. Anm. 18).

603
Bund W. }, Thoologiseho Ausweitung Wld solJiaJreTOlutiouhe AWhuluug

auf, um sich gegen die alte Kirchenordnung zu wehren. Die lautere Verkündigung
des Evangeliillns und die Pfarrerwahl forderten sie fast allerorten. In diesem Sinne
wurde eine christliche bruderliche Ainigwng oder eine okristenliche Vereinigung und
Püntnüs oder auch nur eine Brudersclwft geschlossen. Besonders Verbrudersclwft
tauchte gern als Zusatzbestimmung der bäuerlichen Verbündnisse auf93. Im Maß
als die religiös gemeinte Brüderlichkeit den „weltlichen" Bundesbegriffimprägnierte,
konnte er auch die ständische Verfassung erschüttern. Die Bünde erheischten
Zwangsbeitritt, der, unter Berufung auf den Landfrieden°', oft schon eine wähl-
und absetzbare Obrigkeit herbeiführe:Q. sollte. So wuchs vielerorten die demokrati-
sche Tendenz bis hin zur Lehre HuBJllAYERS, wie das Volk einer jeden Landsclwft
zusamenkomen und einen Bund machen sollen96• ·Die Rntderschaft solcher Zwanga-
bünde von unten enthielt einen Gleichheitsanspruch, der sich gegen ständische
und lehensrechtliche Abschichtungen richtete.
Die Zwiachenlage der bäuerlichen Einungen zwiachen theologiacher Motivation und
sozialpolitischer Intention wird auch durch uau Mangel im~titutioneller Merkmale
gekennzeichnet. Die Verbrüderungen wurden durchweg geschlossen, um beim Evan-
gelium zu stehen, und dementsprechend kannten die Bünde keine Zeitfristen oder
wurden auf ewig eingegangen9 6. Die institutionelle Ordnung war geringfügig; zwar
wnrilfm RundP:Rmeister, Obristen, Hauptleute und Räte gewählt, aber mehr nioht:
teils weil die Bauern die Obrigkeit nicht grundsätzlich in Frage stellen wollten9 7,
teils weil ihnen dauernder Erfolg versagt blieb. Dementsprechend inspirierte die
religiös verstandene Brüderlichkeit zwar die Aufstände, trug aber auch zu deren
Mißlingen bei.
Eine Steigerung der innerweltlichen Wirksamkeit kennzeichnet nun die religiösen
Bundschlüsse der Täufer und von Thomas Müntzer. Die Gegner der Kindertaufe
schlossen als Erwachsene kraft der Taufe ein Pundtnus mit Gott, das sie von dieser
Welt trennte; so seint wir vereynigt worden von der absündrung ... alles was nit
vnserm Got und Ohristo vereynigt ist, nichts anders sei dann dy grewel, welche wir
meiden sollen und P,iehen98• Aus der gläubig-passiven Märtyrerhaltung vollzog sich
bei den Münsteraner Wiedertäufern der Umschlag zur aktiven Herbeiführung des
letzten Zeitalters. Aus dem Bund der Taufe wurde die Endgemeinde, die sich in
praxi die Welt anzuverwandeln suchte.·
Auch THOMAS MüNTZER glaubte, die zeit der vorenderung sey lwrt vor der thure"9.
Deshalb müßten sich die wahren Christen vorwandelen in eynen getreulichen Bund

98 FRANZ, Quellen, 365. 196. 131. 235. 438 ff. (s. Anm. 36). Auf S. 449 der seltene Fall, wo

'Altes Testament' im Sinne eines weltlichen Bundes- und pejorativen Bruderscha.ftebegriffee


verwendet wird.
94 FRANz, Quellen, 236.
86 Ebd., 231 ff.
88 Ebd., 196. Die Meraner Artikel forderten eine neue Landeordnung, da die bestehenden

Mißbräuche daa Rewh Gottes verhindert hätten (ebd., 272).


97 Ebd., 198. 352. 362 ff.
98 MICHAEL SATTLER, Brüderliche vereynigung etzlicher kinder Gottes siben Artickel be-

L1·efl'tmd (1527), in: Urkunden zur Geschlchte des Ba.uernkrieges und der Wiedertäufer,.
hg. v. HE!Nm:CH BöHMER (Berlin 1933), 30.
89 Bericht des Schossere zu Allstedt v. 28. Juli 1524 a.n Herzog Johann, Neue Mittheilungen

182 (s. Anm. 90).

604
c) Luther und der Schmalkaldener Vorstand Bund

gotliches wille8 100• .M.üntzer suchte den .Hund Gottes, den nur die /orchtsamen das
alte •u1nd neue Testament heyßen 101 , zu aktualisieren. Auch wenn er anfangs da.rin
einen Akt der Notwehr erblickte1 0 2, so veränderte sich kraft seiner außerschrift-
lichen Offenbarungsgewißheit die Gemeinde von Allstedt in einen Bund von Aus-
erwählten, dem in Kürze Hunderte beitraten103• Die Bundsgenossen entwickelten
eine eigene Organisation. mit Bundmeistern bzw. Prinzipalen, was schließlich die
bestehende Herrschaft in Frage stellte: Das Bündnis wider die gotlosen104 erheischte
den Beitritt der Fürsten, wenn sie sich nicht selbst als gottlose Tyrannen entlarven
wollten. Die Gemeinde sollte den Heiligen Bund mit Gott auf dieser Erde verwirk-
lichen in Form einer Gütergemeinschaft, in der jedem nach seyner Notdorft ausge-
t.eylt UJer<kn (.~ollteJ narli GelP,genheit 105• Der Regenbogen, als Symbol für Noahs
Bund mit Gott wieder aufgenommen, war auf der weißen Fahne eingezeichnet,
unter der die Bauern niedergemetzelt wurden.
Die meisten bäuerlichen Einungen wurden unerachtet ihrer ökonomischen Ursachen
religiös motiviert, die politischen Ziele dagegen verschieden gefächert. Der religiöse
Bund Thomas Müntzers war dagegen - ähnlich den Wiedertäufern - unmittelbar
politisch und sozial, sofern Müntzer im Gegenzug zur Zweireichelehr~ Luthers aus
der inneren Offenbarungsgewißheit seiner Visionen alle Ereignisse ün Horizont
der Heilserwartung apokalyptiBch identifi.zierte 10&. Der -Obenichritt von religiölil
motivierter Politik zur theologischen Politik war gleitend und der Bundesbegriff
das Vehikel der Radikalisierung.
Müntzcrs Bundesbegriff gewann eine eschatologisch legitimierte sozialrevolutionäre
Bedeutung, er war nicht nur antiständisch, sondern zuletzt gegen Herrschaft über-
haupt gerichtet. Dementsprechend wurden pundnus und au/rur zu Synonyma für
die lutherische Obrigkeit107 - womit ein Vorwurf formuliert wurde, den die Katho-
liken gegen Luther selbst erhoben hatten 108 • Um so verständlicher ist es, daß der
Bundesbegriff im Raum der Lutheraner nach der Niederwerfung der Bauern im
Sprachgebrauch stark reduziert wurde. Andere Ausdrücke drängten sich für die
protestantischen Schutzbünde vor.

c) Luther und der Schmalkaldener Vorstand. LUTHER hegte anfänglich schwere


Bedenken gegen die Bündnisversuche, die zur Schmalkaldener Einung führten,
welche sich denn auch niemals als 'Bund' bezeichnet hat. Luther mahnte 1529
seinen Kurfürsten, vom Landgrafen und seinem Bundmachen abzulassen, denn

100 TnolllAS MüNTZER, Briefwechsel, hg. v, H. Böhmer u, T. Kirn (Leipzig, Berlin 1931), 75.
101 Ebd., 88.
101 Ebd., 76.
103 CARL Hmrucas, Luther und Müntzer. Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit und

Widerstandsrecht (Berlin 1952).


104 Neue Mittheilungen, 184 (s. Anm. 90).
105 MüNTZER, Briefwechsel, 165.
1 oa Vgl. THOlllAS NIPPERDEY, Theologie und Revolution bei Thomas Müntzer, Arch. f.

Reformationsgesch. 54 (1963), 145 ff.


107 Neue Mittheilungen, 183.
108 Vgl. THOMAS MURNER, Von dem großen Lutherischen Narren (1522), hg. v. Paul

Merker (Straßburg 1918), v. 328: Daa niemans merck den argen List / Daa Luther8 Zer ein
buntsch'llh ist. Vgl. ferner die Verse 2599 ff. u. Anm. 328, S. 308 f.

605
Bund m. 1. Theologische Ausweitung und sozialrevolutionäre Aufladung
was Unrats draus folgen will, können wir nicht alles denken. Jedenfalls sei klar,
daß solch Bündnis nicht aus Gott, noch am Traimi iu Gott geaoltiolu, sundt:rn
aus menschlicher Witze. So ·wollte sich der junge Landgraf nicht allein schützen,
sondern auch angreifen. - Schwerer wog das Bedenken Luthers, auch die Refor-
mierten in das Bündnis aufzunehmen. Es gebti fürwahr kein fährlicher Bund, der
das Evangelium schände, dahinter stünde der Teufel. Schon im Alten Testament
habe Gott immer solche Bündnisse der Menschen verdammt. Sollen wir aber Bünd-
nis ha_ben, die wird er uns ohn unser Suchen und Sorgen zuschicken, wie er verheißt
Matth. 6109•
Luthers theologische Bedenken führten denn auch dahin, daß wenigstens eine ge-
meinsame Bekenntnisformel erarbeitet wurde 11 o, auf die sich alle Bündner zu ver-
pflichten hatten. ·
Zudem wurde die Schmalkaldische Einung auf flie reimi VertR.irlignng hin stili-
siert. Aber Luther war sich völlig darüber im klaren, daß sich Bündnisse zum
Glaubensschutz in der PraXis nicht von ihren weltlichen Verstrickungen trennen
ließen111• Gleichwohl gab er reichsrechtlich seine Bedenken 1530 auf, er ließ sich
sogar vom Recht zum Widerstand überzeugen, indem er zwischen der Person des
Kaisers und dem Tyrannen zu trennen suchte, der init dem Kaiser nicht identisch
8ei 112 • Zugleich zog Luther eine reichsrechtlich scharfe TrenuUllg1:1linie theologisch
aus: Da alles Regiment von Gott eingesetzt sei, dürften inittelbare Städte nicht
in den Schmalkaldischen Bund aufgenommen werden, nur Reichsstädte seien
potestates wie Fürsten und insofern bündnisfähig. Luther leitete daraus ein Nicht-
interventionsrecht ab, denn wenn jeder Untertan Schutz zu suchen berechtigt sei,
wo er wolle, dann würde alle Ordnung zerstört, und wenn jede Obrigkeit im Namen
des Glaubensschutzes auf benachbarte Untertanen ausgreifen dürfe, so werden alle
Herrschaften eine Herrschafft und ist eitel confusio 113 •
Schließlich hat sich Luther, nachdem sich die Schmalkaldische Einung als Schutz-
macht bewährte; darein gefügt, auch irdische Bündnisse zum Schutz der.Kirche
gutzuheißen. Verständnuß und Einigkeit seien gut, wie es 154:5 in einem von Luther
unterzeichneten Rechtsgutachten heißt114, denn der Krieg sei so vereitelt, Sekten,
opiniones und Aufruhr seien unterdrückt w.erden, Gott habe den Oontrabund zer-
fallen lassen, während die eigene Autorität nicht gefallen sondern erhöhet wurde. Für
lOB LUTHER, WA Br., Bd. 5 (1934), 76 f. Vgl. ferner ebd., 209 f. 259 f.
110 Dazu HANS v. SCHUBERT, Bündnis und Bekenntnis 1529/30 (Leipzig 1908).
111 Bedenken LUTHERS an Kurfürst Johann, Ende Juli/Anfang August 1529: Spricht man

aber mal: Dysser bund betreffe nicht die lere, sondern sol widder eusserlich gewallt, die man
wi,d,der recht /ur nympt, die weil ihene sich auU erkentniB erbieten, - Antwort: Das hellt nicht,
Denn man weis, das uns der wi,d,derteil umb keiner wrsachen willen angreiffen wil, denn umb
der lere willen. Drümb least siehe nicht gleuben, das wir widder unrecht gewalt sol,chen bünd
rrw,chen; W A Br., Bd. 5, 80.
112 EKKEHART FABIAN, Die Entstehung des Schmal.kaldischen Bundes und seiner Ver-

fassung 1524/29 -1531/35, 2. Aufl. (Tübingen 1962), 92 ff., bes. 122, Anm. 620.
113 Bedenken LUTHERS an Kurfürst Johann Friedrich aus dem Jahre 1532, zit. FRIEDRICH

HoRTLEDER, .Der Römische Keyser- und Königlichen Maiestäten Handlungen und Aus-
schreiben, [Bd. 1 :] Von den Ursachen des Teutschen Kriegs (Frankfurt 1617), 1223.
114 Gut,ar.htAn vermutlich verfaßt von BuGENlliGEN oder CREUTZIGER, a.bgedr. HoRT-

LEDER, Handlungen, Bd. 2 (1645), 1358 und in: Pmr.rPl' MELANCHTHON, Opera, ed. Karl
Gottlieb Bretschneider, Bd. 5 (Halle 1838), 719 ff. ·

606
c) Luther und der Schmalkaldeuer Vorstand Bund

Kirche und Herrschaften trage man miteinander Kosten und Arbeit, ... und wo
Bündniß zu solchem christlichen Schutz gemacht werden, damit die Hülf eine Ordnung
habe, sind solche Bündniß christlich und Gott gefällig. Freilich dürfte man· die Schwei-
zer nicht zulassen, da sie, wie alle Völker in ungleichen Bündnissen getan haben, ihre
·hegemoniale Stärke ausnutzten; zudem wachse die Konfliktanfälligkeit des Bundes,
da Dänemark und die norddeutschen Städte einen Schutz der Schweiz verweigern
würden. Kurz darauf wurde der Schmalkaldische Bund besiegt. . .
Luthers spirituelle Bundesauffassung, die jeglichen Bund im Rahmen seiner Zwei-
reichelehre dem geistlichen Bereich vorbehielt, wurde also im Laufe seines Lebens
in eine weltliche und damit auch politische Sphäre hineingezogen. Zugleich aber
gewann 'Runo' iiher oie Rinoung an oie KonfesRion eine Beoeutung, die iiher das
Reichsrecht hinauswuchs, ohne freilich die ständische Herrschaftsordnung zu tan-
gieren.
Durch die Aufspaltung der Kirche in verschiedene Bekenntnisgruppen erhielt das
ständische Bündniswesen neue Legitimationstitel, die auch eine Verschiebung auf
der Benennungsebene herbeiführten. Während die qhristliche Bruderschaft der
Bauern in der Konsequenz auf einen antiständischen Bundesbegriff hinauslief,
zielte die christliche Rechtfertigung der oberen Standeseinungen darauf, die Lehre
des Gotteswortes freizugeben und zu sichern: Dies sei das ambt der oeberkeit 115 •
Um deren göttlichen Auftrag zu begründen, betonten etwa Herzog Johann von
Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen bei ihrer ersten E·in·igung und Verständt-
nuß (1526), daß sie ihr Vertrauen nicht auf sich selber oder ihr Land und ihre Leute
setzten, sondern auf Gott, dessen Wille sich durch uns als seine werckzeug und In-
strument offenbahret116 • Später trat auch die Berufung auf natur und recht hinzu117 ,
um die gegenwehre gegen die Reichsexekution zu legitimieren. Die protestantische
Einung wurde also als Ausfluß eines Herrschaftsrechtes verstanden, das über das
·Reichsrecht hinaus theologisch und natürlich begründet wurde.
Bei der Selbstbenennung verzichteten die Schmalkaldener aus den genannten theo-
logischen Bedenken - im Unterschied zur katholischen Seite und zum historischen
Sprachgebrauch11 8 - auf die Ausdrücke 'Bund' oder 'Bündnis': Die Herren und
11 6 Präambel der Schmalkaldischen Eiriungsurkunde vom 27. Februar 1531, in: .Ur-

kunden und Akten der Stadt Straßburg, hg. v. ÜTTO WINCKELMANN, 2. Abt., Bd. 2 (Straß-
burg 1887), 18.
118 HoRTLEDER, Handlungen, Bd. 1, 1491.
117 Abschied Nürnberg, 26. 5. 1534, abgedr. Die Schmalkaldischen Bundesabschiede

1533-1536, hg. v. EKKEHART FABIAN (Tübingen 1958), 43.


118 Bereits JOHANNES SLEIDAN hält sich nicht mehr an die Selbstbenennung der Schmal-

kaldener. In seiner lateinischen Ausgabe („De statu religionis et Reipublicae",Straßburg


1558) verwendet er den Ausdruck 'foedus' sowohl für reichsständische .Einungen wie für
Bündnisse mit und zwischen auswärtigen Mächten. In der deutschen Ausgabe („Chronica:
das ist Wahrhafftige und gewiBBe Beschreybung ... , darinn angezeigt, was sich in Geist-
lichen und Weltlichen sachen under dem Großmechtigsten Keiser Carolo dem fünfften,
verloffen hab", Pforzheim 1557) wird 'Bundt' und 'Bündtnuß' alternativ verwendet, die
protestantische Einung heißt durchweg Schmalkaldischer 'Bundt'. In der Ausgabe von
1593 (JOHANN SLEIDANjMICHAEL BENTHER, Ordentliche Beschreibung und Verzeychniß
allerley fürnemer Händel, Straßburg 1593) wird offenbar schon stärker differenziert: vor
allem ·die Abmachungen und Verträge zwischen und mit auswärtigen Mächten werden
durchgehend, besonders in den Marginaltiteln, als 'BündniBBe' bezeichnet.

607
Bund W. 1. Theolopcbe Auaweitung -d 1ozialrevolutionäre Aufladung

Städte 11chlo1isen einen 1,10rstand (1531); im Vorvertrag 1529 11prach man von der
christlichen vertreulichen einigung bzw. von einung oder Verstendnus 119 , Ausdrücke,
die auch bei den Verhandlungen überwogen; emphatisch war die Einigung christ-
licher und /reuntliclter Vorstand 12 0 genannt worden, die sich schließlich eine ver/as-
sung, eine ainigungsverschreibung (1535) gab, wie die Bundesverfassung stilisiert
wurde12 1, während sich der kaiserliche Gegenbund 1538 als christliches Bündnu{J
Verstand und Einigung bezeichnete122. Der Glaubensschutz implizierte nun keines-
wegs, daß sich die Schmalkaldische Einung selber als religiöser Bund begriffen hätte:
Sie war zunächst auf 6 Jahre befristet und als striktes Defensivbündnis verstanden
worden, zur eilenden rettung und gegenwehr 123• Nur die Verkündung des Gottes-
wortes und der erkannten Wahrheit gegen Verderbnis von Leib und Seele sollten
gesichert werden. Damit aber war der Überschritt in die Temporialia unausweich-
lich: Die Schmalkaldener schlossen sich nicht nur zum Schutz ihres Bekenntnisses
zusammen, sondern auch umb sachen willen, die aus dem Wort Gots, evangelischer
lere und dem hailigen glauben volgen 1 H.
Der Schmalkaldener Bund war insofern gegen die Rechtsordnung des heiligen
Reiches gerichtet, gegen Kammergericht und Reichstag, als geistliche Sachen und
daraus folgende strittige Besitzrechte betroffen waren125 . Über die gesprengte
Glaubenseinheit kamen Friede und Recht nicht mehr zur Deckung126. Damit ent-
fielen diese Legitimationstitel der alten Bundschlüsse - sie wurden freilich bei den
kaiserlichen Bundschlüssen weitergeführt. Da auch Landfriede und Glaubensschutz
einander widersprachen, suchten z. B. die Schmalkaldischen Städte im Schwäbi-
schen Bund, alle Religionssachen aus diesem herauszunehmen __:.. oder aber umge-
kehrt dem Schmalkaldischen Bund politische Ziele zu imputieren127 : woran zu-
nächst der Schwäbische Bund zerbrach (1534). Im Effekt richtete sich die Con/öde-
ration gegen die herkömmliche Rechtsstellung von Kaiser und Reich: Nur in euserli-
chen Sachen waren sie ausgenommen, in bezug auf religion und gewissen nicht128•
Mit dem Wechsel von der reichsrechtlichen zur religiösen Legitimation wandelte
sich auch die bündische Machtkonstellation. In der Schmalkaldener Verfassung von

110 RTA, jüngere Reihe, Bd. 7/2, hg. v. JOHANNES KüHN (193.5), 13. 21 ff. Im Briefwechsel
mit dem Kaiser übersetzten die Schmalkaldener das christliche Verständnis mit intelligence
ckristienne (1537); Staatspapiere zur Geschichte des Kaisers Karl V., hg. v. KARL LANz
(Stuttgart 1845), 239.
120 WINCKELMANN, Urkunden, 19.
121 FABIAN, Entstehung, 357 ff., bes. 358 f. (s. Anm. 112).
1 u HoRTLEDER, Handlungen, 1344•.

12a FABIAN, Entstehung, 358 u. ö.


124 Vertrag vom 27. Februar 1531, WINCKELMANN, Urkunden, 19 und FABIAN, Ent-
stehung, 351.
125 GERD DoMMAScH, Die Religionsprozesse der rekusierenden Fürsten und Städte und die

Erneuerung des Schmalkaldischen Bundes 1534-1536 (Tübingen 1961).


128 ÜTTö WlNCKELMANN, Der Schmalkaldische Bund 1530-1532 und der Nürnberger
ReligiOnsfriede (Straßburg 1892), 263. 291 ff.
117 EKKERART FABIAN, Die Beschlüsse der Oberdeutschen Scbmalkaldischen Städtetage,
Tl. 2 (Tübingen 1959), 144. 152 f.
12s lnstruktionsentwurf für eine Gesandtschaft an Heinrich VIII. von England vom
11. Ma.i 1536, abgedr. FABIAN, Bundesabschiede 1533-1536, 108 f. (s. Anm. 117).

608
a) Die Reichllbwadplii11e KIU'hl V. Bund

1535 entsprechen sich eine Zunahme der territorialen Macht und eine Abnahme
der institutionellen Sicherungen der Einung. Zwar nutzte die Verfassung Regeln
des Schwäbischen Bundes, gegen den sie auch gerichtet war, aber die Fürsten bauten
eine generelle Unabhängigkeitsklausel ein129 ; die Gerichtsbarkeit wurde gar nicht
mehr entwickelt, und die Finanzen dienten fast nur dem Kriegsfall. Weder Kanzlei
noch ein Vorort waren vorgesehen. Die Abmachungen zielten vorzüglich auf poli-
tische Information und Zusammenarbeit in den Reichsorganen, während die Orga-
nisation auf den Kriegsfall hin gedacht war: mit zwei wechselnden Hauptleuten der
Hegemonialmächte Sachsen und Hessen· und einem Kriegsrat. Gerade hinter der
Bestimmung, die jeden Präventivkrieg verbot, entwickelte sich die Einung zu einer
europäischen Macht. In deren Schutz steigerte sich die Staatlichkeit, da mit dem
Abkappen des rechtlichen Instanzenzuges zugleich die territoriale Hoheit auf die
Landeskirchen ausgedehnt wurde. So führte die religiöse Schutztätigkeit der Oon-
föderaten zu einer verstärkten Bündniskraft der oberen Reichsstände, die sich
schnell auf die europäischen Staaten erstreckte.

2. Vom 'Bund' zum 'Bündnis'

DiA 'fAnnAnv. - morlP.rn form11liArt. - vom Rtii.nrli1mhAn Runrl v.11 tR.rrit.orialRtaatli-


chen Bündnissen, die sich kraft der religiösen Legitimation der Einungen verstärkte,
setzte sich im Verlauf des 16. und 17. Jahrunderts vollends durch. Der Begriff des
Bundes wurde zu einem historischen Ausdruck und sukzessive vom 'Bündnis',
von der 'Allianz' überholt: Indikator der wachsenden Hoheitsrechte der Landes-
herrschaften, die das alte Reich verzehrten.

a) Die Reichsbundpline Karls V. KARL V. griff immer wieder auf das exemple
~er lighe de Suave zurück, um mit einer bündischen Organisation zu erreichen,
was weder Kreise noch Reichsregiment, noch Reichstag gewährleisten konnten:
den Reichsfrieden. Schon der 72. Artikel der Schwäbischen Bundesverfassung
von 1500 sah die Möglichkeit vor, alle Stände des Reiches auf ihren Antrag hin auf-
zunehmen. In diesem Sinne projektierte GILLIS 1523: de pratiquer une lighe univer-
selle en tout l' empire, ad fin d' estre toutes factions, car autrement l.' empire sera en danger
d'cstre divise en trois 1 iio.
Noch im folgenden Jahr hoffte sich Karl V. als chief, souverain, aucteur et protecteur
des Schwäbischen Bundes zu sehen, um Geld gegen Türken und Franzosen zu er-
halten1 3 1 • Aber der Schwäbische Bund löste sich auf, sobald die Schutzbündnisse der
Evangelischen entstanden. In mehreren Anläufen versuchte der Kaiser, katholische
Gegenbünde zu initiieren, so 1535 oder 1538, als er eine Ohristliche Bündnuß/Ver-

128 Entstehung, 300. 375 (Art. 15).


FABIAN,
l30 Zit. OSWALD ARTUR HECJQ!lR, Karls V. Plan zur Gründung eines Reichsbundes. Ur-
sprung und erste Versuche bis zum Ausgange des Ulmer Tages 1547 (phil. Dies. Leipzig
1906), 42; HORST RABE: Reichsbund und Interim. Die Verfassungs- und Religionspolitik
Karls V. und der Reichstag von Augsburg 1547/48 (Köln, Wien 1971), 80. 126. 137 ff.
131 Correspondenz des Kaisers Karl V., hg. v. KARL LANZ, Bd. 1 (Leipzig 1844), 82.

39-90385/1 609
Bund m. 2. Vom 'B-d' mm 'Bündnis'
stand und Einigung defensive, und allein zur Ge,genwehr aufrichtete 132. Indem die
Terminologie der Sohmalkaldener übernommen wurde, trat das reaktive Moment
in der Legitimation besonders deutlich zutage. Das Bündnis richtete sich ausdrück-
lich gegen die Protestierenden defJ Schmalkal.dtschen Bunds verwandte Stände. Freilich
brauchte der Kaiser niemanden auszunehmen, da die Christlichen gebreuche und
Oeremonien, die überkommenen Satzungen, der Landfriede und die ordentlichen
Rechte gewahrt werden sollten. Es war ein Bündnis gegen lrrongen und Zweytracht,
aber politisch erfolglos, da sich die ~urfürsten enthielten. Auch auf dem Höhe-
punkt seiner Macht (1547) mißlang der Versuch des Kaisers, von einem Reichsbund
her mit einer Dreikurienverfassung im Sinne des letzten Schwäbischen Bundes das
ganze Reich zu erfalll:len, alle stend in die neue pundtnus zu zieken188. Gerade die
·religiöse Einheit, die der Kaiser mit unio, paz und concordia aller status Ugae an-
strebte134, erwies sich als unerreichbar. Die geplante lighe, bonne union oder oonfcdc-
ration186, zu deutsch Kaiserliche vereinigung und bundnus 188, war zugleich da.rauf
gerichtet, die kaiserliche Auctorite137 wiederherzustellen, wogegen sich die Fürsten
entschieden zur Wehr setzten; sie bevorzugten mit der Doppelformel einen kaiser-
lichen und des heiligen Reichs Bund138, der die Reichsreform in ihrem Sinne lösen
sollte. Auch Karl V. erhoffte sich, wie er seinem Bruder schrieb, daß die Liga. nicht
a
nur für die Gegenwartmais encore l'advenir 139 Deutschland ordne. Aber dagegen
einigten sich die Fürsten immer wieder unter sich, und ?.War quer zu den konfes-
sionellen Fronten140• So zeichnete sich durch Moritz' von Sachsen Initiative zu
Ende der Regierungszeit Karls bereits eine Zweiteilung Deutschlands ab, die Ferdi-
nand taktisch auszunutzen suchte: er zielte auf eine lighe de Saun und eine lighe

111 Der Nürnbergi&cM catlwl,i&cke·Gegenbundt, abgedr. HoRTLEDEB., Handlungen, 1343 fl'.;

dessen Ordnung oder Verfaaaung ebd., 1347 ff.


188 Zit. MABTTI SALOMmS, Die Pläne Kaiser Karls V. für eine Reichsreform mit Hilfe

eines allgemeinen Bundes, Annales aca.demiae scientiarum Fennicae, Ser. B, Bd. 83


(Helsinki 1953), 111, Anm. 4. Die Verhandlungen zum Generalbund 1547 bei Pan.. ERNST
SPIESS, Geschichte des kaiserlichen neunjährigen Bundes vom Jahre 1535---44 (Erlangen
1788), 218 ff. Es blieb, wie Spiess S. 40 feststellte, bei der Verbe88erung du LandfriedenB
der im Grund noch Mutzutage· die Stelle einu allgemeinen Reickabunds vertritt.
m LA.Nz, Correepondenz, Bd. 2 (1845). 81 ff.
in Ebd., 524 ff.
lH Zit. HECKER, Plan, 86.
187 LANZ, Correepondenz, Bd. 2, 528. 531.
188 Zit. FBITz llABTUNG, Karl V. und die deutschen Reichutände von 1546-1555 (Habil.-

Schrift Halle 1910), 38; RABE, Reichsbund, 285.


ue Zit. HECKER, Plan, 35.
140 Es sei erinnert a.n den Saalfelder Bund, den Bayern mit protestantischen Ständen gegen

die Wahl FerdiJia.nds schloß: zunächst 1531 Vereinigung und Einigung im Rahmen der
Goldenen Bulle genannt, bei der Stiftung einer vorfaaaung 1533 sprach man von eyn,ung,
voratentnus oder einvoratentnus, lateinisch von /oedus ac pactionea der wnfederati, ohne daß
Frankreich bei seinem Sukkurs unter diesen Begriffen einbezogen worden wäre; Am>BEAS
SEBASTIAN STUMPF, Baierns politische Geschichte, Bd. 1 (München 1816), Anh. S. 18 f.
40 ff. 45.f. Vgl. ferner den Rheinischen Bund zwischen Mainz, Heeeen, Pfalz und Frank-
reich 1532 oder die Verträge zwischen Karl V. mit Landgraf Philipp (1541) oder mit
Moritz von Sachsen (1546) oder den Heidelberger Bund 1553 zwischen Bayern, Pfalz,
Württemberg und anderen.

610
b) Konfessionelle Kampfbände Bund

de Suavem und hoffte, jedes partWul,ar punt.ltnus142 könne einzeln für sich Karl als
Ohtief gewinnen. Aber die konfessionell und politisch quer zueinander laufenden
Fronten ließen sich noch nicht territorial festlegen. Schließlich resignierte Karl und
sah in den tatsächlichen Bünden die Schwundstufe minimaler Friedensordnung auf
dem Reichsboden', wie es sein Vi.iekanzler Seld in einer Art politischen Testamentes
umschri~b143. 'Bund' war also im kaiserlichen Lager von einem zwischenständischen
Begriff mit ambivalenter reichsrechtlicher Legitimität aufgerückt zu einem Ersatz-
begriff für das Reich, dessen Verfassung über den Bund neu zu ordnen sei. 'Bund'
wurde potentiell zu einem Reichsverfassungsbegriff, ohne freilich die tatsächliche
Verfassung des Reiches abdecken zu können. Der geschichtliche Weg verlief anders
- bis 1815 das Reich in einem Bund aufging.
b) Von den konfessionellen Kampfbünden zum Bündnisrecht der Territorialstaaten.
Bevor sich das konfessionell aufgeladene Einungsrecht zum freien Bündnisrecht
der oberen Stände entkonfessionalisierte, vollzog sich zunächst eine Polarisierung
der religiösen Lager. Im Streit wn die Besitzanteile der jeweiligen Konfessionen
bildeten sich, um die Kurpfalz und Bayern gi-uppiert, zwei Parteien, während Sach-
sen mit lutherischem Anhang eine zunächst neutrale Haltung einnahm. Aus der
Landsberger Landfriedenseinung (1556) 144 erwuchs die 'Liga' (1609), die korrespon-
dierenden Stände des Torgauer Bundes (1591) schlossen sich .1608 zur 'Union' zu-
sammen. Die als protestantische Union und als katholische Liga in die Geschichte
eingegangenen Verbindungen waren aber ursprünglich nicht unter diesen Bezeich-
nungen geschlossen worden. Beide Vereinigungen waren zwischenständische, d. h.
zwischen Fürsten (und protestantischen Städten) ausgehandelte Kampfbünde, die
sich als Defensivvereine stilisierten. Dabei war die protestantische Union erstmals
zwischenkonfessionell abgesprochen worden, als ein in etlichen Religionspuncten
ungleicher V erstandt 146• Entgegen der Schmalkaldischen Regel sollten religiö~e Fra-
gen nur den Theologen überlassen bleiben. Beide Vereine, Union und Liga, präten-
dierten die Verteidigung und Erhaltung ihres Glaubens, aber nur die Ligisten defi-
nierten offen als ersten Bundeszweck die defension und erkaltung der wahren catho-
lischen religion 148, während die Unierten ihre notwendige und erlaubte Defension

m LANZ, Correspondenz, Bd. 3 (1846), 539. 562 ff.


1u Zit. HECKER, Plan, 31 f.
148 AUGUST v. DRUFFEL, Briefe und Akten zur Geschichte des 16. Jahrhunderts, Bd. 4

(München 1896), 147. 419 ff.; SALOllt:IBS, Pläne, 220 (s. Anm. 133); KARL BRANDI, Kaiser
Karl V. Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und eines Weltreiches, 5. Aufl. (Mün-
chen 1959), 518 f.
1 44 Auch Pünndtnuß oder Pundt genannt; vgl. die Urkunde bei FRANZ DoMINicus ffiBER-
LIN, Neueste Teutscbe Reichs-Geschichte, Bd. 17 (Ha.De 1785), X ff.
1'1 Art. 5 des Aha.usischen Unionsrezesses vom 4. Mai 1608, abgedr. CHR. FRIEDRICH
SATTLER, Geschichte des He:i:'zogthums Württenberg unter der Regierung der Herzogen,
Bd. 6 (Tübingen 1773), Beilagen S. 12. Zur Verallgemeinerung des ligistischen Bundes-
zweckes auf den Landfriedensschutz s. FRANZISKA NEUER-LANDFRIED, Die Katholische
Liga.. Gründung, Neugründung und Organisation eines Sonderbundes 1608--1620 (Ka.11-
münz 1968), 123 f. Über die reichl!lrechtliche Anfechtbarkeit konfelll!lioneller Sonderbünde
ebd., 8 ff.
1u Zit. ANDREAS SEBASTIAN STUMPF, Diplomatische Geschichte der teutschen Liga. im
siebenzehnten Jahrhunderte (Erfurt 1800), 5, Beilage 1.

611
Bund m. !. Vom 'Duud' zum 'Bündnis'
weniger ausdrücklich auf die Evangelischen Stendt 147 bezogen. Aber auch hinter
deren Verteidigungsformel der fridliebenden Stendt lauerte der Ausschließlichkcits-
anspruch auf die Interpretation des Religionsfriedens: Sei es, daß er nicht wörtlich
genannt wurde wie bei den Protestanten, oder sei es, daß die katholische Religion
als das Substrat der Reichsverfassung verstanden wurde wie bei den Ligisten, die
nur sich selber als ftidliebend bezeichneten. Jedenfalls beschworen beide Parteien
die erhaltung Fridens und Einigkeit im Reich148 bzw. den Landfrieden und den
Schutz der Reichsverfassung. So interpretierten die Unierten ihre '!rdnung subsi-
diär zur Kreisexekution, so gliederten die Ligisten den Rechtsinstanzenzug bis zum
Reichshofrat in ihre Verfassung ein. Indem beide Vereinigungen sich als Verteidi-
gungsbünde stilisiert hatten, war ihre Kriegsverfassung auf Angriff hin angelegt,
bei den Ligisten durch die ausdrückliche Bestimmung, vor der Zeit. die gegenwöhr
vornemmen 149 zu dürfen. Insofern beanspruchten beide Vereinigungen, potentiell
die authentische Interpretation der Reichsverfassung in ihrem Sinne durchsetzen
zu können, - nicht ohne Emphase beriefen sich die Unierten auf das geliebte
Vatterlandt, - ein reichsrechtlich neutraler Begriff - als Bezugsrahmen ihrer
Vereinigung160•
Im Ablauf der Zeit verhinderten politische Interessenkonflikte die erfolgreiche
Kooperation innerhalb der Einungen: Die oberen und niederen Stände der Union
tagten in Partikularkonventen, da sich die Städte nicht an der expansiven Fürsten-
politik beteiligen wollten; die Liga wurde mehreren Reformen unterzogen, je
nachdem ob Bayern oder Österreich eine hegemoniale Rolle durchsetzte. ·
Dem entspricht auf der Benennungs- und Selbstbenennungsebene eine auffallende
Unsicherheit, die schließlich zu Sprachregelungen führte, um die Diskrepanz zwi-
schen den Ansprüchen der Vereinungen und der Reichsverfassung nicht allzu deut-
lich werden zu lassen. 'Liga' und 'Union' waren zunächst auf beiden Seiten ver-
wendete, austauschbare Bezeichnungen ohne Unterscheidungskriterien. Während
der Vorverhandlungen sprachen die Evangelischen von bestendiger vereinigung,
union, confunction, vertrawliche verain und zusammensetzung, confoederation oder
liga -.so wie auch die Katholiken von den „protestierenden Ligisten" sprechen
konnten151 • In der Verfassungsurkunde hieß die Union nur viermal so, während

147 SATTLER, Geschichte, Beilagen S. 11. Die evangelischen Stände tauchen nur einmal,

an_ untergeordneter.Stelle, im 4. Artikel auf.


148 Formel der Unierten, ebd.; S.11; die Gründungsurkunde der Liga jetzt bei NEUER-
LANDFRIED, Katholische Liga, 222 ff.
149 STUMPF, Liga, 11, Beilage 1; vgl. 109, Beilage 6.
160 SATTLER, Geschichte, Beilagen S. 10. Es gab bereits Bauernbünde, die sich auf das

Vatterland beriefen - Handwerksleute sollten ihm Nachricht zukommen lassen und im


Notfall helfen; FRANZ, Quellen, 195 (s. Anm. 36) - auch das Antikaiserbündnis von
Chambord 1552 berief sich auf das lwchgelibte Vatterland - abgedr. in: Geschichte in
Quellen, Bd. 3, hg. v. FRrrz D!OKMANN (Müllehen 1966), 198 - , während später, etwa im
Rheinbund oder in der Kreisassoziation von 1697, diese ßerufüng häufiger wird.
151 Briefe und Acten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges in den Zeiten des vor-

waltenden Einflusses der Wittelsbacher, Bd. l, hg. v. MoRiz RrrrER (München 1870),
Nr. 9. 62. 66. 84. 362. 411. 462. 528 u. ö.

612
h) Konfessionelle Kampfh(inde

Verein aohtmal auftaucht und


eine Fülle ähnlicher Bezeichnungen ebenfälls162 •
Das Ganze hieß einmal gemeines Wesen dieser Union, so wie die Ligisten ihre gant~
Union ein gesambt corpus nannten168• Von Bündtnuß wird in der Unionsakte nur
einmal, und zwar negativ gesprochen, daß es mit auswärtigen Mächten nicht ge-
schlossen werden dürfe, - Indiz der wachsel!-deJ! Bedeutung von 'Bündnis' für die
Außenbeziehung einer Abmachung.
Generell hat bei den Protestanten der Ausdruck 'Union' den des 'Bundes' ver-
drängt. Umgekehrt wehrten sich die Katholiken zunehmend gegen die Selbst-
bezeichnung 'Union', das Wortunion sei sehr verdehtich und misfellich154, was man
an der Calvinistischen Union sehe. Auch der Name eines katholischen Stände-
bundes wurde verworfen166 ; Erzherzog Leopold drängte darauf, lioc invidiosum
nomen unionis sive ligae zu beseitigen und nur von ~in.er defensio des Kaisers und
der wahren Religion gegen die Aufrührer zu sprechen166 • Der Schirmverein setzte
sich in vielen Zusammensetzungen als Selbstbenennung für die Liga durch 167 • Die
Schuld an allen kriegerischen Folgen dem Gegner zuzuscheiben, war die Implika-
tion solcher Bezeichnung.
Während die reichsrechtlichen Ansprüche beider Parteien dafür sorgten, emphati-
sche Sonderbezeichnungen zu meiden, führte die gegenseitige Diskriminierung
dazu, daß 'Liga' und 'Union' zum Kampfbegriffen gerannen. Durch den Ablauf
des Dreißigjährigen Krieges wurden schließlich aus den politischen Zuordnungen
historische Bezeichnungen der beiden Lager. Dabei wird der romanische Sprach-
gebrauch von ligue168, besonders während des französischen Bürgerkrieges, dazu
beigetragen haben, das katholische „Defensionswesen" unter dem Namen 'Liga'
zusammenzufassen. Wie 'Bund' wurden schließlich auch 'Liga' und 'Union' im
Verlauf des Krieges als politische Begriffe verzehrt und fielen nach 1648 dem Ver-
dikt anheim.

162 SATTLER, Geschichte, Beilagen S. 9 ff. Die weiteren Ausdrücke lauten in der Ver-

fassungsurkunde: Vertrag, Vergleichung, Verstendtnuß, Ainigung, Verainigung und Zu-


sammensetzung.
1 6 3 SATTLER, Geschichte, Beilagen S. 16; STUMPF, Liga, 111 (1619 bei Errichtung zweier

Directorien).
164 Briefe und Acten, Bd. 8, hg. v. KARL MAYR (1908), 197.
166 Ebd., 664. Ebenso wurde 1610 der Name münchnerisch bund nicht akzeptiert; ebd., Bd. 7,

hg. v. KARL MAYR (1905), 258. Ferner zur Sprachregelung NEUER-LANDFRIED, Katho-
lische Liga, 87. 91. 120 ff. Gegen Defensivrettungsbund und Katholischer Bund einigte man
sich 1610 auf in genere one merern zusaz simpliciter ein Defensiv- oder Schirmbsverainigung.
1 66 Briefe und Acten, Bd. 8, 757. Der Kaiser drängte da.rauf, den Sonderbund doch nit als

ein religionswesen oder union sonder als ein politisch wesen zu verfassen. Wie KHLESL sagte,
der namen der catholischen union, bund oder heiligen liga sei odios (NEUER-LANDFRIED,
Katholische Liga, 120) Die Bondtgenoten der Niederlande hatten sich am 23. 1. 1579
gegen die spanischen Habsburger in Utrecht zusammengeschlossen in einer Unie, Eeuwigh
Verbondt ende Eendracht; JEAN Du MONT, Corps universel diploma.tique du droit des
gens, t. 5/1 (Amsterdam, Den Haag 1728), 322. 324.
1 6 7 Zur Sprachregelung auf dem Regensburger Tag 1613: Briefe und Acten, Bd. 9, hg. v.
ANTON CHROUST (1903), 589. Weitere Ausdrücke in den folgenden Jahren: christlich
reehtsmeßige Defension, Defent1ÜJnlr/11P.11en-11erP.i11,i{J?tn{J, ·?J/f',rr.k, -uerei11., -t1erfassm1.g und
ähnlich. Vgl. ferner Briefe und Acten, Bd. 6, hg. v. FELIX STIEVE~(1895), 738.
168 Vgl. den spanischen Sprachgebrauch von liga bei den Vorverhandlungen 1608 und 1609:

613
Duel m. 2. Vom 'Buncl' zum 'Bünclnis'
Bisher war immer vermieden worden, ausländische Mächte diTekt in einer ständi-
schen Einung aufzunehmen, - es wurden, wenn überhaupt, höchstens zweiseitige
Abmachungen zwischen Einungen insgesamt und fremden Fürsten geschlossen.
So etwa in Chambord 1552, wo sich deutsche Fürsten expressis verbis gegen den
Kaiser verbündeten, um sich danach erst mit Heinrich II. von Frankreich vertreu-
lich in einen f e'l"stand und Einung einzulassen. Der ausländische Herrscher war
nicht Bundesmitglied109• Im ganzen lehnten auch Union und Liga ab, sich mit dem
Ausland zu „verbünden": das wurde im Dreißigjährigen Krieg unter dem Druck
der fremden Interventionen anders.
Gustav Adolf begann seinen Krieg damit, in Gegenverfassung zu schreiten1 60 , er
drängte auf eine Universalkonjunktion 161 , daß die Stände deß Röm. Reiclis durch
all,gemeine Haupt-Verfassung ... unter ein corpus zu bringen162 seien, dessen
Directorium er innehaben sollte. Damit wurde ein Bund angestrebt, der vermutlich
nicht mehr das Reich absorbieren, sondern vollends auf- bzw. ablösen sollte. Nach
seinem Tode kam es aber nur zur Oonfoederation von Heilbronn, innerhalb derer
dem schwedischen Kanzler die hegemoniale Rolle institutionell eingeräumt wurde.
Das war zwar eine Schwundstufe gegenüber den schwedischen Plänen, führte aber
erstmals zu einem Bund deutscher Stände, in den eine ausländische ~acht als
Bündner unmittelbar einbezogen wurde.
Die evangelischen Stände der vier oberdeutschen Kreise hatten sich 1633 unter-
einander noch enger und näher verbunden, ... neben dem sie als Glieder deß Reichs
kiafjt dessen Oonstitutionen ohne das verbunden waren. Auch die Verfassungsgrund-
lage der Reichskreise blieb aufrechterhalten, obwohl Schweden die Teilnahme der
Reichsritter durchsetzte. Auch eine offene Kriegserklärung an Kaiser oder Liga
unterblieb. Die Konföderation wurde auf Defension und Oonservation auch der

Briefe und Acten, Bd. 6, 487. 523. 526. 550, aber auch von Unicm: ebd„ 687 (Zuiiigas
Instruktionen und Schriftwechsel mit Philipp m.). FELIX STIEVE, Der Ursprung des
dreißigjährigen Krieges, Bd. l (München 1875), 88 vermutet in 'Liga' einen Schimpf-
namen aufgrund der französisch-spanischen „Ligue". Der berühmte Vertrag zwischen
Pius V„ Philipp Il. und Venedig gegen die Türken 1570 wurde la Lega bezeichnet, em-
phatisch una Lega & Uni<me; Du MoNT, Corps univereel, t. 5/1, 184 ff. Über den zeit-
genössischen Gebrauch des Zußl!otztitele „heilig" siehe UBERTO FoGLIETTA, De eacro foedere
in Selimum libri IV (Genua 1587). Der „heilige" Kampf richtete eich gegen Heiden und
Ketzer. Der Fridenaaccord zwischen den katholischen und den evangelischen Ständen zu
Ulm 1620 wurde von beyden Uni<men geschloBBen; Der Römischen Kayserlichen Majestät
und deß Heiligen Römischen Reichs •.• Acta Publica, hg. v. (MICHAEL) CASPARLONDORP,
Bd. 2 (Frankfurt 1629), 794 f. NICOLA.US HIER. GUNDLING glaubte dagegen 1737 ganz naiv,
daß die katholischen Stände ihren Bund .•• die Heilige Ligue nannten; Vollst. Discol's
über den Westphä.lischen Frieden (Frankfurt 1737), 30. Freilich bedauerte RENATUS KARL
Ftm:. v. SENXENBERG noch 1791, daß die Katholiken Ort, Jahr, Inhalt und die Teilhaber
die8e8 Bündni88e8 immer noch geheim hielten; HlBERLIN, Reichs-Geschichte, fortgesetzt v.
SENKENBERG, Bd. 22 (1791), 304.
159 DICKMANN, Geschichte in Quellen, Bd. 3, 198 (e. Anm. 150).

1so LONDORP, Acta, Bd. 4 (Frankfurt 1668), 315.


111 JOHANNES KRETZBCRMAR, Der Heilbronner Bund 1632-1635, Bd. 2 (Lübeck 1922),

421. 426; FRrrz DICXMANN, Der Westfälische Frieden (Münster 1959), 151.
182 LoNDORP, Acta, Bd. 4, 302 (Rückblick aus dem Jahre 1633 bei den Bundesverhandlun-

gen).

614:
h) Konfe11&ionelle Kampfbünde Bund

Reichsverfa.s1mng hin stilisiert, jede OUensfon geleugnet. Die Front blieb freilich
noch konfessionell bestimmt: Wer von den Evangelischen austrete, wird für Feind
erkliirt; . . . Neutralität solle hiemit unter den Evangelischen gäntzlich auffgehoben
seyn (Art. 5) 163• Das mißlang bekanntlich infolge der Konkurrenz zwischen Sachsen
und Schweden. Jedenfalls blieb das Ziel reichsrechtlich eingebunden: Wahrung der
ständischen Libertät, Wiederherstellung der evangelischen Stände, Wiedererrichtung
des Religionsfriedens und eine Entschädigung für·Schweden.
Hinter dieser Kompromißerklärung stand gleichwohl der schwedische Versuch,
die Reichsverfassung kraft eines Bundes umzuwandeln. Schweden führte legal das
Directorium, faktisch auch im Consilium der Konföderation. Ohne eigene Gerichts-
barkeit näherte sich deren Verfassung praktisch den Bestimmungen eines Kriegs-
bündnisses, das einer Macht die Hegemonie einräumte, die reichsrechtlich nicht
ableitbar war. Ja, obendrein wurden auch andere außliindische Potentaten aufge-
fordert, in solchen Christlichen, Goll wolgefälligen, billichen und rechtmäßigen Bund
zu- und einzutrellen1 H. Damit wuchs dem üblichen Ausdruck für diesen „Bund"
der 'Confoederation' eine zugleich innen- und außenpolitische Bedeutung zu 16ö,
die um 1630 Maximilian 1. von Bayern bei seinen Verhandlungen mit Frankreich
noch vermieden hatte 1 66.
Einen letzten Versuch, das Bundes- bzw. Bündnisrecht ganz an sich zu ziehen,
machte Ferdinand II. 1635 im Prager Frieden: Es sollen alle und jede Uniones,
Ligae, Foedera und dergleichen Schlüs.~e / auch darauf gerichtete Eid mul Pff1ivltte /
gäntzlich aufgehoben .~eyn / und sich einig und allein an die Reichs- und Craiß- Ver-
fassunge / und an diese gegenwärtige Pacification gehalten werden. Nur der Chur-
Fürstliohc V oroin und die Erbeinigungen bzw. Erbverbrüderungen blieben von rlem
Verbot ausgenommen (Art. 27) 1 6 7• Die Ausbild_~ einer einzigen auswärtigen Ge-
walt schien damit dem Kaiser gelungen. Abetder Friede war weder allgemein,
noch durchsetzbar. Schon zu den Verhandlunge~i:'in Münster und Osnabrück zwi-
schen Kaiser, Frankreich und Schweden traten die deutschen Stände als Verhand-
lungspartner hinzu, wodurch sie als völkerrechtliche Subjekte eingeführt wurden.
In dem berühmten Artikel VIII,§ 2 des Westfälischen Friedens (IPO) erhielten die
Reichsstände über ihre gemeinsam.zu wahrenden Verfassungsrechte hinaus jeder
einzeln das Bündnisrecht eingeräumt: Cum primis vero ius faciendi inter se et cum
exteris /oedera pro sua ouiusque conservatione ac securitate singulis Statibus perpetuo
liberum esto; ita tamen, ne eiusmodi foedera sint contra Imperatorem et Imperium
pacemque eius publicam vel hanc imprimis Transactionem fiantque salvo per omnia
iuramento, quo quisque I mperatori et I mperio obstrictus estH&.
Damit war politisch und rechtsgeschichtlich ein Endpunkt erreicht. Das Reich

1ea Ebd., 314 ff., bes. 317.


184 Ebd., 317.
186 Vgl. die zweiseitigen Verträge zwischen den norddeutschen Fürsten und Gustav Adolf
nach dessen Landung: Allianz und Ccmfoederation, Verwandtnia und Verbündnia bzw.
foedus genannt, teils mit, teils ohne Treuevorbehalt für den Kaiser; DICKMANN, Geschichte
in QutJllen, Bd. 3, 310 ff. ·
1ee DxcKMANN, Frieden, 1'5: 11tatt einer confoederati.n erstrebte er höchstens eine defensio
et obligatio reciproca.
m Du MONT, Corps universel, t. 6/1 (1728), 97 (s. Anm. 136).
1es ZEUMER, Quellensammlung, 416 (s. Anm. 18).

615
Buna m. 2. Vom 'Bund' zum 'Düud.u.üi•
wurde zwischenstaatlich in eine eigentümliche Schwebelage versetzt. Das über-
kommene Reichs- und Lehensrecht geriet kraft des ius foederis in die Zwickmühle
des sich neu artikulierenden Staats- und Völkerrechts. Vergeblich hatten die
kaiserlichen Gesandten darauf bestanden, daß die früheren Bündnisse nur aus
Fehden und Rebellionen entsprungen seien 169. Andererseits gaben selbst die Kur-
fürsten in den Verhandlungen zu, daß de Jure Foederum cum Exteris in Reichs-
Oonstitutionen keine sonderbahre Verordnung existiere, obwohl schon Foedera de
facto ... zwischen Exteris i.nd den Ständen geschlossen worden seien17o.
Aus einem bestenfalls innerreichischen, zwischenständischen Einungsrecht - erst
zum Schutz des Landfriedens, dann zur Rettung des Glaubens und zur Gegenwehr
- wurde jetzt das ius foederis, das den Territorialherrschaften offen und positiv
formuliert eingeräumt wurde und damit in der Konsequenz ein ius belli ac pacis.
Es 'l"ar dem ius territoriale zugeordnet, intentional der Souveränität, wie sie die
Franzosen in den Verhandlungen eingebracht hatten171. Während die früheren
regionalen Einungen ihre Legitimität aus einem üherterritorialen Rechtstitel ab-
leiten mußten, d. h. reichsrechtlich eingebunden blieben, war das neue ius foederis
nurmehr auf die Territorien als solche bezogen. Deren conservatio und securitas
dienten zur Zweckbestimmung möglicher Bündnisse - als von Natur erlaubtl 71•.
In dieser Formel ist zwar die herkömmliche Schutz- und Rr.hirmhe.stimmung auf-
gegangen, aber die Wahrung des Landfriedens war nicht mehr der vorgeg~bene
RlluhLt1LiLtil für foedera. Vielmehr durften die Bündnisse nur nicht gegen ueu öffent-
lichen Frieden gerichtet sein. Aus dem vergangenen Legitimitätstitel des Land-
friedensschutzes war eine bloße Vorbehaltsklausel, die Erhaltung ihrer selbst, zum
e.rst.en Rechtstitel der Fürstenstaaten geworden.
Immerhin hatten fast alle deutschen Stände gegen die Schweden und Franzosen
geschlossen die alte Vorbehaltsklausel durchgesetzt, nämlich Kaiser und Reich aus
allen Bündnissen ausnehmen zu müssen. Vergeblich suchte Schweden im Namen
des Aequilibriums foedera gegen den Kaiser zuzulassen, wann der Kayser etwas
contra lmperii Jura thun wollte 172 • Diese Unterordnung des Kaisers unter das Reich
wurde nicht durchgesetzt. Somit folgte aus dem ius foederis nach innen und nach
außen keine völlig gleiche Bewegungsfreiheit für die Fürsten.
Andererseits wurde auch das kaiserliche Bündnisrecht dem Herkommen entspre-
chend beschnitten. Vergeblich hatte der Kaiser Gegenseitigkeit der Genehmigung

118 JoH. Go'l"l'FRIED v. MEIERN, Acta pacis Westphalicae Publica oder: Westphälische

Friedenshandlungen und Geschichte, Bd. 1 (Hannover 1734), 326. Dazu DICKMANN,


Frieden, 142 f. Zehn Jahre lang war der Erzbischof von Trier in kaiserlich-kirchlicher Haft,
weil er mit den Franzosen ein Bündnis eingegangen war. Seine Freilassung 1645 war eine
der Voraussetzungen, den Frieden in die Wege zu leiten (vgl. MEIERN, Acta, Bd. 3, 1734, 10).
170 MEIERN, Acta, Bd. 2 (1734), 920.
171 Zum Ganzen grundlegend ERNST WOLFGANG BöeKENFÖRDE, Der Westfälische Frieden

und das Bündnisrecht der Reichsstände, Der Staat 8 (1969), bes. 267 ff. 1662 vereinigten
sich evangelische Fürsten, um gegen die BChmälerung ihrer Gerecktigkeiten durch Kaiser und
Kurfürsten in der Wahlkapitulation vun 16158 zu protestieren. Zu diesen Gerechtigkeiten
1.ä.h lt.fln snhon - über 16'8 hinaus - die jura bcUi ao pooia, foederum, ferendarum legum,
proscripticmis statuum und dergleichen; SATTLER, Geschichte, 19, Beilage 6 (s. Anm. 145).
171& MEIERN, Acta, Bd. 2, 956; Bd. a, 68.
172 Ebd., Bd. 2, 186. Vgl. DICKMANN, Frieden, 328.

616
b) Konfe88ionelle Kampfbünde Bund

gefordert, daß den Btänden melllrer.~ als dem Oberhaupt nicht zugegeben werde173• Die
Stände mußten zwar Kaiser und Reich ausnehmen, waren aber ansonsten frei,
Bündnisse zu schließen, mit wem sie wollten. Der Kaiser bedurfte dagegen für seine
Bündnisse weiterhin der Zustimmung der Stände, eine Bedingung, die auf 14!)5
zurückgriff und die 1711 endgültig legalisiert, aber selten eingehalten wurde 17 '.
„Die Reichsstände sind in ihrem Bündnisrecht selbständiger und unangefochtener
als der an die ständische bzw. reichstägliche Zustimmung gebundene Kaiser" 176 •
Der Kaiser wurde positiv gebunden, die Fürsten blieben als Souveräne dem Reich
gegenüber nur negativ verpflichtet. Damit war die monarchische Chance des
kaiserlichen Hauses endgültig verspielt: Was die Staaten völkerrechtlich an An-
erkennung gewannen, verlor der Kaiser an Reichsstaatlichkeit. Der Trend führte
zur Verstaatlichung und Anerkennung der Territorialherrschaften als völkerrecht-
liche Subjekte.
Dem entsprach, daß „bündische" Formationen vorstaatlicher Art nicht mehr in
das ius foederis einnickten: Die Anerkennung des Han.Ye-Städtischen Bundes bzw.
des Foedus Hanseaticum konnte von norddeutschen Ständen nicht durchgesetzt
werden 176 ; es handelte sich um keine reichsunmittelbare Organisation, die zum
Völkerrechtssubjekt aufrücken konnte. Ebensowenig wurden die Erbverbrüderun-
er.n r.wiRr.h1m einigen fürstlichen Häusern (Pacta gentilicia 177 , confraternitates, unio-
nis pacta) in das ius foederis eingestuft17 8.
Der Sprachgebrauch spiegelt diese Reduktion der rechtlichen Zuordnung auf die
territorialstaatlichen Einheiten wider. In den Verhandlungen ha.t,t,en die Franr.mien
versucht, das Droit ... des Alliances et Confedbations durchzusetzen179, was zwi-
schen Bündnis und Bund eine denkbare Unterscheidung voraussetzte. Auoh bei
ihren politischen Plänen, 1643 eine I.tighe auf dem Reichsboden zu stiften, sahen sie
das allgemeine Recht vor, Allianzen, Assoziationen und Confoederationen zu

113 MEIERN, Acta, Bd. 2, 920; Bd. 3 (1734), 59. 68; Bd. 4, 495. Freilich ist, wie ScHEIDE-

MAN'i'EL Bd. 1 (1782), 434 feststellte, die Ausnahme zur Regel geworden; es ließen eich
wenig Bei8piele fi,nden, daß ein Bündni8s auf dem Reichstag sollte zur Wirklichkeit
gekommen sein.
174 Vgl. oben S. 588 f. u. Art. 6 des Entwurfs einer beständigen Wahllmpitulation von 1711

bei ZEUMER, Quellensammlung, 478.


176 BÖCKENFÖRDE, Frieden, 473.
178 MEIERN, Acta, Bd. 2, 321. 323. 955. Schon 1609 hatte eich die Hanse dagegen gewandt,

dass unsere Verständnis auf die Oommercia allein, und nicht zugleich mit auf die necessitatem
tuitionis vel commerciorum, vel ipsarum imprimi8 urbium, sich erstrecken solle. Die Historie
sei voll von foederihus et belli8, die die Hanse mit Königen, Potentaten, Fürsten und Herren
geführt habe; Aaaertio libertatis reip. Bremeneie (Bremen 1646). Die Staatsrechtler
drängten den Haneea.tiechen Bund zunehmend in die Bestimmung einer gesellschafaichen-
Verbindung ohne Hoheitsrechte, so ScHEIDEMA.NTEL Bd. 2 (1782), 415, der sich auf
ÜBRECHT, Dies. de imperii Germe.nici eiueque etatuum foederibue, §XV beruft: die Hanse
sei non tam foederi8 publici, quam privatae societatia iure censendam.
177 MEIERN, Acta., Bd. 2, 321. 956.
1 7 1 Ebd., Bd. 4 (1734), 492; Bd. 5 (1734), 762.
179 Die Kaiserlichen muthmasaeten freilich zu Recht, daß die Frantzosen, auf diese Arl alle

Deutsche Reichs-Stände, zu ihre Bundes-Genossen und Oünfoederirten, zu machen, die Ab-


sicht hegten, sie e.le Confoederati Galliae im Krieg gegen den Kaiser einzusetzen; MEIERN,
Acta., Bd. 1, 275 f. Vgl. ebd., Bd. 1, 444.

617
Bund m .. 2. V~m 'Bund' zum 'Bündnis'

schlicßcn1so. Gerade diese Differenzierung verschwand 1648 zugunsten des gene-


rellen ius foederis, wobei foedus von MEIERN durchweg mit Bündnip, gelegentlich
mit Verbündniß wiedergegeben wird181. Was seit langem eingerissen war, daß
innerdeutsche Bünde auch Bündnisse mit auswärtigen Mächten schließen konnten,
das wurde in der Rechtssprache jetzt auf einen Nenner gebracht. Seit 1648 ist der
Begriff 'foedus' bar jeden institutionellen Gehaltes, er deckt den alten Ausdruck
des 'Bundes' nicht mehr ab, der 'langsam aus der deutschen Rechtssprache ver-
drängt worden war.

c) Das Zeitalter der Sonderbündnisse zwischen Reichsrecht und Völkerrecht. Kreis·


assoziationen. Nach dem Westfälischen Frieden beginnt die Zeit der zunehmend
so genannten Sonderbündnisse, der 'Particularallianzen'. In. diesem Doppelaus-
druck ist die reichs- und völkerrechtliche Zwischenlage auf ihren Begriff gebracht
worden: die Bündnisse waren particular, sofern sie auf die Reichsverfassung be-
zogen blieben 182. Zugleich aber warell' es Bündnisse, an denen auch auswärtige
Mächte teilhaben konnten bzw. beteiligt waren. Ihre Partikularität konnte über
das Reich hinausgreifen. Insofern h11ttcn sie intcrn11tion11lcn Charakter. In dieser
Ambivalenz war nun der Differenzierungsvorgang angelegt, der die alten reichs-
ständischen B_undeselemente vollends ausschied zugunsten reiner 'Bündnisse' im
Si~e außenpolitischer Übereinkünfte.
Nachdem 1648 alle Versuche, das Reich monarchisch zu verfassen - so sehr sie
noch befürchtet wurden-, unmöglich gemacht worden waren, ergaben sich von
der damaligen Organisation des Reiches her drei Ebenen, auf denen der Zwang,
sich überterritorial zusammenzuschließen, wirksam werden konnte. Dafür seien
drei politische Gutachter exemplarisch genannt.
LEIBNIZ schlug 1670 dem Mainzer Erzkanzler vor, das Reich von einer Reichsallianz
her neu zu strukturieren1sa: Die geplante beständige ...4.llianz184 sollte allen Ständen
zugänglich sein, aber zunächst nur von denen getragen werden, die bei gleicher Bei-
tragsleistung unter gleichen Bedingungen gewillt seien, ein starkes Direktorium zu

uo BöcKENFÖRDE, Frieden, 468.


181 MEIER.N, Acta., Bd. 2, 919 f. u. passim. Zu Meierns Anspruch, deren (der Gesandten)
eigene Worte und Redenaarten ..• aUentlw;fhen aufs genaueste beibehalten zu haben, s. seine
Vorrede, Bd. l, 24.
11~ Wie ZEDLER Bd. 9 (1735), 1407 definiert: foed'U8 particulare ist ein Bü,,;_a,nis, welches nur
einigen Stand und deren Landschaften anbetrifft. FoedU8 universale, das mit Kayserl. Majeat.
und aller SfJinde und Conaena und .Approbation N amena des gesamten Reich8 geachloaaen wird.
SCHEIDEMANTEL Bd. 2 (1782), 146 stellte fest, daß Fürstenvereine nach Gesetz und
Herkommen und bei gerechtem Endzweck erlaubt seien. Ein anderes aber ist, wenn
ein geheimer Conaeill diesen Punkt nach den Regelnder Staatsklugheit und Statistik beurteilt . ••
Der allgemeine Reichafüraten- Verein 1iißt sich nur in den Ideen auihen, aber in der Tat müaaen
sehr viele Hinderniaae überwunden werden, wenn er Z'U8tande kommen soll,. Dagegen sind die
beaoodern und particulair Vereine unter den Reichafü!Bten o# vorgekommen, je nachdem die
Absichten wechselten.
1ea LEIBNIZ, Bedenken welcher Gestalt Securits.s publica. interne. et externe. im Reich auf
festen Fuß zu stellen, AA 4. R., Bd. 1 (1931), 133 ff.
1H Ebd., 138.

618
c) Das Zeitalter der Sonderltüadnisse Bund

stellen und sich den gemeinsamen Beschlüssen zu unterwerfen. Damit sollte ein
Kern der künftig allgemeinen Verfassung gebildet werden, der stark genug sei, jede
Gegenallianz in Nord- oder Süddeutschland niederzuhalten bzw. alle Gegner zur
Nw,tralität zu zwingen186• Der Kaiser sollte als Kaiser aus der Allianzverfassung
herausgehalten werden, womit die Reichsbundpläne Karls V. jetzt erstmals auf
eine föderale Fürstenallianz angelegt wurden, die mehr sein sollte als nur ein impe-
rium in imperio 188 • Der Ausdruck 'Einung' war entschwunden, das Ziel war Einig-
keit durch Allianz187, anders gewendet: der Weg führte vom Bündnis zurück oder
voraus zum Bund188, wofür auch die niederländische Union Modell stand. Dieser
Plan, der vorzüglich auf das Altreich hin konzipiert war, scheiterte so sehr wie der
Versuch des Kaisers, ihm seinerseits durch eine 'Gesamtallianz' zu begegnen189 •
Die zweite, mittlere Ebene wird von WALDECK .1653 in seinem Gutachten für den
Großen Kurfürsten umrissen. Waldeck ging davon aus, daß weder Kreisverfassun-
gen, noch Vereine, noch Erbverbrüderungen als zwischenständische Organisations-
formen politisch den Schutz bieten könnten, den allein Bündnisae böten100. W aldtmk
schlug ein Bündnis vor, das herkömmlich als Gegenwehr gegen die monarchischen
Ambitionen des Hauses Habsburg und zur Trennung der Katholischen 191 gedacht
war. Brandenburg solle sich mit den evangelischen Fürsten und Städten zusammen-
schließen unc.1 zum Haupt der anderen Bundesgenosscn1112 mo.ohen. Das Bündnis
sollte den Friedensvertrag wahren und aufgrund dessen die Macht Brandenburgs
steigern. Von einer Unionsverfassung ist aber keine Rede mehr, auch wenn noch
schmalkaldische Motive anklingen. Vielmehr sieht der Plan von allen gemeinsamen
Institutionen ab, um durch Verfahrensabsprachen die Reichsverfassung gegen
österreichische Einflüsse abzusichern. Damit ist jener Typ des Sonderbündnisses
umrissen wordtm, uer 11ich als ..4.Uicmt. 193 11.nr.h 11.nf das Aufllo.nd ausdehnen könnte
und dem die Zukunft gehörte. Wie LunoLPH Huao in „De statu regionum Germa-
niae" 1661 schrieb: Si respublica bene constituta est, foederibus non opus est. Ubi
autem respublica . . . laborat, utique foedera necessaria sunt, ut pactis privatis securi-
tatem nobis conciliemus, quam iure publico non habemus. Nostra autem respublica tam
turbulenta, tam imbecillis fuit, ut solo hoc subsidio hactenus stetisse videatur. Oder, wie
KoPP 1739 bestätigte: Die allgemeine Ruhe und Sicherheit des Reichs ist nie so sehr

185 Ebd., 145 ff.


186 Ebd., 139 f. 155. 159. 163.
187 Ebd„ 169.
188 Ebd., 165: von BoINEBlIBG eingesetzter Ausdruck.
189 Dazu ROMAN SCHNUR, Der Rheinbund vonl658 in der deutschen Verfassungsgeschichte,

Rhein. Arch. 47 (1955), 61 ff.


190 Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von

Brandenburg, Bd. 6: Politische Verhandlungen, Bd. 3, hg. v. BERNHARD ERDMANNS·


DÖRFFER (Berlin 1872), 492 f.
191 Ebd., 497 f.
192 Ebd„ 498.

m Ebd., 500: Waldeck spricht im UnteIBchied zu Bündnissen auf Reichsboden von


Alliancen außer dem Reich, ein Gegensatz, der freilich damals selten in striktem· Sinne
verwandt wurde.

619
Bund m. 2. Vom •Bund' zum •Bündnis'
durch allgemeine Reichs-Verordnungen, als durch besondere Bündnisse aufrecht erhal-
ten worden 194•
Die dritte, untere, Ebene schließlich wird von dem württembergischen Rat KuLPIS
1669 zu betreten gefordert195 • Eine militärisch und politisch wirksame Reichsver-
fassung sah Kulpis weder über den Reichstag entstehen noch per pacta specialia
zwischen den Ständen. Deshalb wollte K;ulpis eine neue Reichsverfassung von der
Kreisebene aufbauen, a posteriori, da sich ein Aufbau a priori, von den oberen
Reichsorganen her, nicht mehr erwarten ließe. Auch dieser Weg scheiterte nach
einigen Anläufen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das ius foederis, das
JOHANN JACOB MOSER noch 1773 für die Kreise registrierte 196, engte sich in der
Praxis auf die Territorialherrschaften ein mit ihrem Recht zu Sonderbündnissen.
In der Verfassung von Reichskreisen, wie sie in den Jahren 1500, 1512, 1521 und
1555 festgelegt wurde 197 , hatte, organisationstechnisch gesehen, die Chance gelegen,
das Reich von oben her föderal aufzubauen. Die Kreise bedienten sich der bündischen
Verfa88Ullg8elemente, wie sie im späten Mittelalter entwickelt worden waren. Ihre
Aufgabe bestand darin, den Landfrieden zu wahren, im Kriegsfall das Reichsheer
zu stellen. Die Verfassungen kannten ein - interkonfessionell oft doppelt besetztes
- lJirektorium, einen Kreishauptmann bzw. -oberst, Kreisrat und Kreisversamm-
lung. Aus dem Reichsrecht abgeleitet, war ihre Organisation nicht befristet, kann-
ten sie keine eigene Gerichtsbarkeit, zumal sie selbst das Kammergericht zu be-
schicken, dessen Beschlüsse zu exekutieren hatten.
Ferner kannten die Kreise eine Art eigener Gesetzgebung in Form von Rezessen,
auf die sich die Teilnehmer verpflichteten. So entwickelten sie im Münz-, Polizei-
um.i Wirt8chuftswesen eine überterritoriale Aktivität, die bis in das 18. Jahrhundert
hineinreichte und die vor allem im Südwesten dco RcichcR <laR :politi11ch~ TJeben l\\U•
rechterhielt198 •
Nun lag in den Kreisen, als Reichsinstituten, ursprünglich der Verzicht auf eigene
Außenpolitik enthalten. So hatte 1563 die Verfassung des schwäbischen Kreises

lH Zit. BERNH.A..RD ERDMANNSDÖRFFER, Deutsche Geschichte vom W cstfälischen Frieden


bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1648-1740, Bd. 1 (Berlin 1892), 136,
Anm. 1. KOPP, Gründliche Abhandlung (s. Anm. 79), Vorrede, zustimmend zit. Joa.
JACOB MOSER, Neues teufamhes Staatsrecht, Bd. 10 (Frankfurt, Leipzig 1773; Ndr.
Osnabrück 1967), 276.
185 Unvorgreiflicher Vorschlag wegen Armir- und Associirung der sechs nechst am Rhein

gelegenen Creysen, abgedr. KoPP, Gründliche Abhandlung, Beilage XV, S. 61 ff. Dazu
.ALoYs SCHULTE, Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden und der Reichskrieg gegen Frank-
reich 1693-1697, Bd. 1 (Karlsruhe 1892), 336 f.; RICH.A..RD FESTER, Die Armirten Stände
und die Reichskriegsverfassung 1681-1697 (Frankfurt 1886), 135 ff.; GusTAv ADOLF
Süss, Geschichte des Oberrheinischen Kreises und der Kreisassoziationen in der Zeit des
spanischen Erbfolgekrieges (1697-1714) II, Zs. f. d. Gesch. d. Oberrheins 104 (1956), 204 ff.
198 MOSER, Staatsrecht, Bd. 10, 765. 772.
187 Vgl. u. a. HARTUNG, Fränkischer Kreis (s. Anm. 15); TRAUGOTT MALzAN, Ge-

schichte und Verfassung des Oberrheinischen Kreises von den .Anlangen bis zum Be-
ginn des Dreißigjährigen Krieges (phil. Diss. Mainz 1952); CARL ERDMANN, Ferdinand I.
und die Kreisverfassung, Hiat. Vjschr. 24 (1929), 18 ff.
18 8 GERH.A..RD ÜESTREICH, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mit.t.elalters bis zum Ende
des alten Reiches, in: BRUNO GEBH.A..RDT, Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl.,
Bd. 2 (Stuttgart 1970), 366 ff. 381 ff. mit Lit.

620
e) Das Zeitalter der SoaderLündnisse Buna

festgesetzt, daß sie gar nicht für eine sU'ntkre Pündtnus z·u achten oder anzuaehen sei,
sonder allein eine auffrechte y1Jtlu>trtzi,ge vertrewliohe Oorrespondentz, Exekution und
H andthabung des Religion- und Land/riiJens sichern sollte; die Kreisexekutionsord-
nung sei, wie erneut betont wurde, keine abgesönderte Oon/oederation oder Bündtnuss.
Dementsprechend durfte auch das Ampt des Kreishauptmanns keine superioritet
über die stende beanspruchenlDD.
In den Nachkriegswirren und um ihnen zu wehren, haben sich nun deutsche Fürsten
1650 bis 1652 erstmals wieder auf der Kreisebene zusammengefunden und sich im
Südwesten sowie im Norden kraft eines gemeinsamen Rezesses verbündlioh con-
cludiret200. Aber die Bündnisgewalt ließ sich nicht an der Kreisverfassung festma-
chen. Je mehr Territorien kleiner als ein Kreis waren, desto besser arbeitete dessen
Verfassung- aber je mehr Territorien die Kreisgrenzen überlappten, desto schlech-
tflr. "ßp,reita auf dem Westfälischen Frieden waren es die Stände, nicht die Kreise,
die vertreten waren. So ist auch die damals entscheidende Voraussetzung für eine
politische Handlungseinheit, die Aufstellung des miles perpetuus, eines stehenden
Heeres, in der Verfügung der Kreisobersten nicht gelungen. Die armierten Stände,
meist über die Kreisgrenzen hinausgreifend, unterstellten ihr Heer nicht den Krei-
sen, von denen sie gleichwohl die Truppenfinanzierung beanspruchten.
Erst unter der Aggression Ludwig XIV. kam die Frankfurter Allianz und Asso-
ciation von 1697 zwischen den Kreisen Kurrhein, Oberrhein, Schwaben, Bayern-
Franken und Westfalen zustande. Sie war vorzüglich zur mutuellen De/ension und
Assistence geplant, sie sollte, unter dem Antrieb Schönborns, ein eigenes Heer ala
gemeinsames Corpus zum Einsatz bringen 20 1 • Hinter dem Doppelausdruck 'Allianz'
und 'Association' verbarg sich ebenfalls die völker- und reichsrechtliche Zwischen-
lage, auc.h wenn der Ha.11pt11.k7.P.nt 11.nf !linem Militärbündnis lag; die Association
wurde zum Kriegsbündnis, zuin Special Foedus, um so mehr, als Österreich 1702
beitrat202 • Aber einmal in die außenpolitische Konstellation eingebunden, zerfiel
die „Association" schnell als eigenständige dritte Kraft zwischen Bourbon und
Habsburg. Die gesamteuropäische Allianz gegen Frankreich verzehrte die assozia-
tiven Verfassungselemente des Bündnisses zwischen den Kreisen. Auch spätere
Erneuerungsversuche scheiterten an den territorialstaatlichen Gegensätzen, die
stärker waren als die zentripetalen Kräfte der Reichskreise 203 •

198 ERNST LA.NGWERTH v. SIMMERN, Die Kreisverfassung Maximilians I. und der Schwä-

bische Reichskreis in ihrer rechtsgeschichtlichen Entwicklung bis 1648 (Heidelberg 1896),


397. 400.
2 0° KOPP, Gründliche Abhandlung, Beilage II, S. 4ff., bes. 6: Allianz-Recess zwischen dem

Chur- und Ober-Rhein v. 12. April 1651, da.zu ERDlllANNSDÖRFFER, Dt. Geschichte,
Bd. 1, 136; ADOLF KÖCHER, Geschichte von Hannover und Braunschweig 1648-1714,
Bd. 1 (Leipzig 1884), 609 f.: Urkunde des .(erst historiographisch so genannten) Hildes-
heimer Bundes vom 14. 2. 1652.
2o1 KOPP, Gründliche Abhandlung, Beilage XVII, S. 74 ff.
202 Nördlinger Tractat oder Assoziations-Recess vom 20. März 1702; ebd., 88 f.
2 03 Süss, Oberrheinischer Kreis (s. Anm. 195). JOHANN JACOB MoSER schildert im „Neuen
teutschen Staatsrecht", Bd. 10, Kap. 8 den Niedergang der Kreisassoziationen und wie
sie 1748 an ihr Ende g11langt seien. Die Gründe sieht er darin, daß 11ie als Syatema foedera-
tarum Civitatum •.• kein gemeinaamea Oberhaupt hätten, auch kein richtiges Direktorium,
keine Kasse und keine regelmäßigen Konvente, ferner daß sie am konfessionellen Gegen-

621
Bund m. !. Vom 'Bund' zum 'Btinclnls'
Die territorialstaatlichen Sonderbündnisse seit Ende des Dreißigjährigen :Krieges,
deren bekanntestes das Foedus Rhenanum wurde, zeigen nun zahlreiche Gemein-
samkeiten, die auf ihre erste Formulierung in der Hildesheimer Particular-V ereinig-
und Verwandtnüs von 1652 zurückzuführen sind 204• In den folgenden Allianzen
tauchen dieselben Bestimmungen auf, die den neuen Bündnistyp kennzeichnen.
Die Legitimation der Bündnisse beruhte - und zwar in dieser Reihenfolge .:__ im
hohen Landesfürstlichen Ambt, in der Anweisung d,es allerheiligsten, seligmachenden
Worts Gottes (nur bei Protestanten), in der natürlichen Vernunft, aller Völker Rechl,e
und schließlich der darauf basierenden Reichsverfassung 205• Schon die Abfolge der
Rechtstitel kennzeichnet die Abwendung von alten Einungstiteln zu Gunsten der
beanspruchten Hoheit der jeweilig Alliierten. Die Vertragschließenden pflegten
sich auf militärpolitische Minimalbedingungen zu einigen, um ohne Aufgabe der
eigenen Unabhängigkeit den Frieden erhalten zu können. Ro tauc:ht j11il1111mal die
Versicherung gegen Praeeminentz, mehrer Macht und Gerechtigkeit auf, unter was
Praetext auch immer sich jemand die Hegemonie anmassen wolle 206 - auch wenn
Frankreich durch seinen Beitritt zur Frankfurter Allianz im Foedus Rhenanum
eine hegemoniale Rolle anstrebte und zeitweise durchsetzen konntea07 •
Innerhalb des Reiches zielten die Bündnisse auf die Wahrung des Friedens von 1648,
vorzüglich aber auf die Beseitigung der furchtbaren Not und waren deshalb meist
nur auf zwei oder drei Jahre abgeschlossen worden, auch wenn etwa der später
sogenannte Rheinbund_ dreimal verlängert wurde. Als Selbstbestimmung setzte
sich die Hildesheimer Definition einer Particular-Defenai-Ons-Verfassung. durch.
Aber alles war darauf angelegt, Verfassungselemente im modernen Sinne oder im
Sinne alter Einungen auszufällen: gemeinsame Justiz entfiel bis auf das Militär-
recht; jeder Fürst blieb Oberbefehlshaber im eigP.lJP.n T.ani111, nur für Kriegszüge in
loco tertio war gemeinsamer Oberbefehl vorgesehen; alle Trupp~n wurden von den

sa.tz sowie an der mangelnden Zukunftsplanung leiden. Und anatatt daß, wann die Not
an den Mann ginge, die&e die Crayse hiitte zuaammentreiben sollen, so Mtte der eine große Hof
cUese, der andere jene Privat-Absicht, der eine ließe sich schrecken, der andere gewinnen, der
dritte wollte neutral bleiben, der vierte wollte warten, bia die Köpfe wieder unter Einen Hut
"kämen, der fünfte wußte nicht, was er tun sollte, und dabei bliebe es (277).
204 KÖCHER, Hannover, 609 :ff.
2 06 Ebd., 609. Für die Rheinische Allianz vom 15. 12. 1654: Du MONT, Corps universel,

t. 6/2 (1728), 98; für die „Frankfurter Allianz" (den „Rheinbund" vom 14. August 1658)
ebd., 235.
20 • KöoHER, Hannover, 612; Du MONT, Corps universel, t. 6/2, 99. 237 f.
207 Der Beitritt Ludwigs XIV. zur „Frankfurtischen .Alliantz" erfolgte herkömmlich durch

einen gesonderten Vertrag am 15. August 1658, und zwar in französischer Sprache (Du
MONT, Corps uniVersel, t. 6/2, 239 f.), wobei die Gegenseitigkeit und Gleichheit der Vertrag-
schließenden betont wurde. Die Bezeichnung lautet einmal union, sonst alliance defensive
oder convention particuliere. In der lateinischen Fassung (LoNDORP, Acta, Bd. 8, 422 f.,
s. Anm. 158) heißt der Vertrag durchweg foedua. Von foedua Rhenanwm wurde bald ge-
sprochen; vgl. LEIBNIZ, De foedere Rhenano (1670 T), AA R. 4, Bd. 1 (1931), 499. Der
Ausdruck 'Rheinbund' hat sich erst später eingebürgert. So spricht KoPP, Gründliche
Abhandlung, 72 von der Rheynischen AZliantz oder vom Großen Rlie.yniachen Bund: be-
zeichnenderweise ein VerfaSBer, der den Rheinbund in die Tradition der spätmittel-
alterlichen Bünde und Gesellschaften einordnet. .

622
e) Das Zeilalter der Sonderbündnisse Bund

entsendenden Territorien bezahlt; nur die Artillerie sollte gemeinsam gestellt wer-
den208, - womit jene kritische Schwelle bezeichnet wurde, hinter der erst eine
politische Handlungseinheit ihren Anspruch auf Unabhängigkeit anmelden konnte.
Die Tendenz war, möglichst neutral und passiv bleiben zu können; Dem entsprach
das weitere Merkmal der Entkonfessionalisierung 209. So versicherten etwa die
Rheinbundfürsten, daß obangeregte V erständnüs und Zusammensetzung . . . uO
keine neue ligam oder Union aus seien2 1 0. ·
Dieser Minimalisierung gemeinsamer Institutionen, dieser Reduktion des Bündnis-
inhaltes auf militärpolitische Schutzmaßnahmen und der Entkonfessionalisierung
entsprach semantologisch eine Verschiebung der Wortfelder: 'Alliance' oder einge-
deutscht 'Alliantz', 'foedus' in lateinischen und deutschen Texten drii.ngten sich vor
und waren sinngleich mit 'Bündnis'; 'Einung' wurde nicht mehr verwendet und
'Bund' trat nur noch beiläufig auf. Die neue Terminologie indizierte den gewandel-
ten Sachverhalt. Im Maß, als das Reich seit 1648 unter ausländische Garantie ge-
stellt wurde, wirkten die internationalen Mächtekonstellationen in das Reich hinein
und verwandelten die überkommenen Bundeskonstellationen in zwischenstaatliche
Bündnisse. Damit traten auch Reich und Kaiser immer weiter auseinander, denn
die Bündnisse konnten, indem sie sich auf das Reich beriefen, ebensogut gegen den
Kaiser gerichtet sein. ·
Das führt zum sogenannten Fürstenbund von 1785. Im Durchgang dnrch die euro-
päischen Allianzen und Koalitionen des 18. Jahrhunderts war Preußen so weit auf-
gerückt, daß die Reichsreformpläne deutscher Fürsten in den Sog des Dualismus
Österreich- Preußen gerieten. Die Folge war ein Fürstenbündnis unter preußischer
Hegemonie, das den Gegensatz von Kaiser und Reich maximierLe.
Der Vertrag stilisierte sich gemäß den Bestimmungen der Goldenen Bulle, des West-
fälischen Friedens und der jüngsten Wahlkapitulation von 1711 als ein vertrauliches
Bündnisz, zunächst dreier Chur/ürsten, ohne den Ausdruck 'Bund' zu verwenden 211 .
Trotz des historischen Rekurses in deutscher Sprache war der Interessenpakt kein
Bund mehr im alten Sinne. Er kannte weder einen gemeinsamen Rat noch gemein-
same Gerichtsbarkeit, noch gemeinsame Steuern; nur geheim und nur für den
Kriegsfall wurde ein gemeinsames Heer abgesprochen. Es handelte sich in der Tat
um ein Bündnis im Sinne der klassischen Diplomatie, das sich freilich der Elemente
der Reichsverfassung zu bedienen suchte. Nach seiner Präambel zielte der Fürsten-
bund darauf, die Crisis des Reichssystems abzuwenden, Reichsverfassung, Unpar-
teilichkeit der Rechtspflege, Herkommen und ständische Rechte zu wahren. Die
vereinigten Fürsten setzten sich als Hüter des Reiches ein, so daß es schließlich

208 Siehe die genannten Verträge; ebenso die „Defensiv-Alliance" zwischen '.Brandenburg

und Braunschweig-Lüneburg vom 19. Juli 1655; in: THEODOR v. MOERNER, Kurbranden-
burgs Staatsverträge von 1601--,1700 (Berlin 1867), 184 ff.
209 Vgl. Du MoNT, Corps universel, t. 6/2, 163. 236. 240; KÖCHER, Hannover, 636; ERD-

MANNSDÖRFFER, Dt. Geschichte, Bd. 1, 138 ff.


210 Einladungsschreiben der Rheinbund.fürsten an Braunschweig-Lüneburg und Hessen-

Kassel vom 29. 4. 1656, KÖCHER, Hannover, 703; vgl. 637 u. ö.


211 GEORG FRIEDRICH v. MARTENS, Recueil de traites, 2. Aufl., Bd. 4 (Göttingen 1818),

18 ff. Auszug bei ELLINOR v. PUTTKAMER, Föderative Elemente im deutschen Staatsrecht


seit 1648 (Berlin, Göttingen, Frankfurt 1955), 53 ff.

623
Bund m. 2. Vom 'Bund' lllDD 'Bündni•'

darauf ankam, wie ein Würzburger Gutachter scharfsinnig fragte: Wer wird die
Reichsverfassung interpretieren - der Kaiser oder die vereinigten Fürsten 212 ~
Damit war die Reichsverfassung potentiell durch ein Interessenbündnis gegen den
Kaiser absorbiert worden.
Die politischen Bestimmungen richteten sich darauf, in allen Reichsorganen enge
Zusammenarbeit zu wahren, Säkularisationen durch Joseph II. zu verhüten -was
dem Bündnis seinen interkonfessionellen Charakter verlieh -, und schließlich dar-
auf; Ländertausch zu verhindern, worin die „Paciscenten" den Kriegsfall gegen den
Kaiser erblickten. Damit entstand die Gefahr, daß selbst eine Kriegserklärung zum
Schutz der Verfassung als verfassungskonform interpretiert werden konnte. Ohne
bündische Institutionen war der sogenannte Fürstenbund ein hegemoniales In-
teressenbündnis, das die Reichsverfassung als Vehikel diplomatischer Aktion zu
nutzen wußte.
Im Gegensatz zu 'Verbindung', 'Union', 'Vereinigung', 'Association' und ähnlichen
Ausdrücken tauchte im diplomatischen Verkehr der Terminus 'Fürstenbund' nur
zitatweise auf 213 - dies aber war der Ausdruck, der in der Öffentlichkeit am mei-
sten Anklang fand: er rief vaterländische und patriotische Gefühle hervor, die sich
nunmehr von seiten der bürgerlichen Öffentlichkeit zunehmend am Bundesbegriff
ankristallisieren sollten. Wie CHRISTIAN ScHUBART ausrief: „Sei unser Führer,
Friedrich Hermann!" Er wollt's. Da ward der deutsche Bund214• So traf der 'Fürsten-
bund' auf eine Empfangsbereitschaft der sich herausbildenden bürgerlichen Gesell-
schaft in Deutschland, von der sich seitdem ein neuer Strang unserer Begriffsge-
schichte ableiten läßt (vgl. unter IV. 2).

d) Semantologi~cher Rückblick und die Wörterbuchebene im 18. Jahrhundert. Auf


dem Wege vom Spätmittelalter in das 18. Jahrhundert hat sich im Sprachgebrauch
von 'Bund' und 'Bündnis' eine Bedeutungsverschiebung zeigen lassen, die einen
schleichenden, aber auf die Dauer tiefgreifenden Verfassungswandel indiziert. Der
standesrechtliche und zwischenständische Bundesbegriff wurde in der Reforma-
tionszeit einerseits sozialrevolutionär aufgeladen, andererseits von der lutherischen
Theologie antipolitisch ausgelegt. Seitdem trat er zugunsten anderer Ausdrücke
zurück, und wo er als gesamtreichsrechtlicher Verfassungsbegriff verwendet wurde,
fand er keine empirische Erhärtung. Statt dessen drängte sich der ursprünglich fast
sinngleiche Ausdruck 'Bündnis' vor und setzte sich nach 1648 als ein zugleich reichs-
und völkerrechtlicher Begriff durch.
Diesem Vorgang entsprach eine Verschiebung der Legitimation: 'Bünde' (und
sinngleich: 'Bündnisse'), ursprünglich auf den Landfrieden und die Reichsverfassung
bezogen, erhielten eine zusätzliche religiöse Motivation - den Glaubensschutz-,
die sich verzehrte, womit auch die beiden Termini 'Liga' und 'Union', die ihrerseits
den Bundesausdruck zurückgedrängt hatten, zu historischen Kategorien gerannen.

212 KARL OTMAR FRHR. v . .ARETIN, Heiliges Römisches Reich 1776-1806. Reichsverfas-

sung und Staatssouveränität, Bd. 2 (Wiesbaden 1967), 134, Nr. 23.


~ 18 .l!:bd., 143, wo Trauttmansdorffs Erwähnung von DoHMS Schrift „Über den deutschen
Fürstenbund" aus dem Jahre 1781) genannt wirrl; ferner Metternichs Bericht an Kaunitz
aus dem Rheinland 1788 : ebd„ 179 ff.
214 CHR. FRIEDR. DANIEL SCHUBART, Sämmtliche Gedichte, Bd. 2 (Stuttgart 1839), 328.

624
d) Semantologischer Rückblick B0nd

Seit 1648 schob sich die bloße Sicherheit und Selbsterhaltung als Legitimation für
Bündnisschlüsse vor: die territoriale Hoheit hatte als völkerrechtlicher-und reichs-
rechtlicher Zuordnungspunkt die Bündnisfähigkeit zur Folge. 'Bündnis' wurde zu-
nehmend zum rein außenpolitischen Begriff, unter Absehung religiöser und verfas-
sungsgebundener Sinngehalte. Diesem Vorgang schließlich entsprach eine Ausfül-
lung aller institutioneller Bestimmungen, die den Bundesbegriff ausgezeichnet ha-
ben, die aber für ein Bündnis nicht mehr erforderlich waren.
Gleichwohl hat sich der zum historischen Ausdruck reduzierte 'Bund' auch in der
Rechtssprache lange gehalten, und zwar in Form zahlreicher Zusammensetzungen.
Auch wo der Ausdruck 'Bund' im 16. und 17. Jahrhundert verdrängt wurde, haben
sich die alten Verbindungen: Bundesrat, Bundeshauptmann, Bundesoberst, Bun·
deskasse, Bundeshilfe, Bundesgericht, Bundesgenossen usw. gehalten, solange es
die entsprechenden Sachverhalte gab. Man hat also auf den 'Bund' als einen tech-
nischen Ausdruck, der sich vorzüglich für Wortverbindungen eignete, in der Rechts-
sprache nicht verzichtet 21 s.
Die Wörterbuchebene des 18. Jahrhunderts bestätigt das Ergebnis für den Sprach-
gebrauch der gelehrten und zum Teil schon gebildeten Welt. BESOLD hat 1649 auf-
fallenderweise keinen Artikel „Bund" mehr, sondern nur Bündtnuss registriert 216 •
ZEDLER verzeichnet 1732 Alliance, Allianz oder Bündniß als politisch. sinngleiche
Terinini, während Bund erst im Supplementband 1754 nachgeholt wird 217 : unpoli-
tisch und föderaltheologisch, was den aufsteigenden Bedeutungsstrang aus diesem
Lager indiziert. 1780 in uer „Deutschen Enzyklopädie" 218 wird 'Bund' in seiner
gewöhnlichen Bedeutung als biblischer, vorzüglich aber als föderaltheologischer Be-
griff registriert, der die Stufen der Offenbarung in Gottes Haushaltung aufschlüsselt,
womit, Rinh rler lmmmenrle e;eRchicht.'lphilosophische Aspekt abzeichnet.
Ansonsten wird 'Bund' nur gelegentlich als sinngleich Init 'Bündnis' erwähnt, aber
selten. PoMAI 219 übersetzt Bund/Bündnis Init foedus, aber foedus nicht mehr Init
„Bund", sondern: alliance, appointement, traite de paix, pacte, accord und Bündnis,
Vereinigung. ADELUNG schließlich stellt 1774 und noch 1793 fest, daß 'Bund' fast
nur noch in dichterischer Schreibart gebräuchlich sei, sonst komme der Ausdruck
immer seltener vor, indem das W o-rt Bündniß üblicher geworden ist 220•

216 Vgl. STUMPF, Ba.iems Geschichte, Bd. 2 (1817), 41 f. für den Saa.lfelder Bund 1533

(s. Anm.140); SPIESS, Geschichte, 67. 79. 97. 110 ff. (s. Anm.133) für den kaiserlichen
Bund 1535; ferner HoRTLEDER, Handlungen, Bd. 1, 1344 (s. Anm. 113) für den
Nürnbergiachen OatholiBchen. Ge.genlYu.ndt von 1538; STUMPF, Liga (s. Anm.146) für die
Liga 1609; Du MONT, Corps universal, Bd. 6/2, 236, wo für die „Frankfurtische Alliantz"
von 1658 die Oonfoederirten, AUiirten und Bundsgen.oaaen zugleich auftauchen; ebenso noch
die Bundahülffe; KOPP schließlich verwendet die entsprechenden Ausdrücke in seiner
historischen Darstellung, auch wenn sie bei der Kreisassoziation von 1697 ff. nicht mehr
auftauchen; gründliche Abhandlung, passim (s. Anm. 79).
218 BESOLD (i649), 133.
217 ZEDLER Bd. 4 (1732), 1255 ff. u. Suppl. Bd. 4 (1754), 994 ff:

21s Dt. Enc., Bd. 4 (1780), 613 ff., bes. 615.


210 PoMEY, Grand dict. Royal, t. 2 (1715), 129; t. 3, 70. NATHANAEL DuEz, Dictionnaire

fran90is-allemand-latin {Leiden 1642) hat dagegen Alliance, f. noch mit Verbündniß/Bund/


FoeÄua wiedergegeben.
220 ADELUNG 2. Aufl., Bd. 1 (1793), 1254.

40-90385/1 625
Bund m. 2. Vom 'Bund' zum 'Bündnis'
Wenn 'Bund' auftaucht, dann fast nur noch biblisch und in den zahlreichen histo-
rischen Artikeln über Bünde der deutschen Vergangenheit, allenthalben über Grau-
bünden-oder andere Schweizer Bundschlüsse, die in die Gegenwart hineinreichen 221 .
'Bund' ist also, vom theologischen Bereich abgesehen, zu einem historischen und
auf die Vergangenheit bezogenen Begriff geworden, ohne jeden theoretischen An-
spruch. Diesem Reduktionsvorgang war auch 'Liga' und teilweise 'Union' unter-
legen222. Auch die alten zentralen ständischen Rechtsausdrücke 'Einung' und
'Verein' sind bis auf seltene historische Beispiele verschwunden 223. 'Einung' lebt
sporadiseh weiter, während der neue zukunftweisende Ausdruck 'Einheit' noch nicht
geprägt ist.
Diesem Negativbefund entsprechen die fast überall sinngleichen Definitionen von
'Bündnis' und 'Allianz'. Das Recht, Bündnisse zu schließen, hat sich auf Poten-
taten224, Puissanzen 225 eingeschränkt (einmal auch schon auf Völker 226 ausgedehnt).
ZEDLER spricht es nur den Mächten zu, die Krieg zu führen befugt sind, außer dem ist
niemand mit einer anderen Puissance ein Bündnis und Alliance zu schließen fähig.
Obwohl die reichsrechtlichen Vorbehalte weiterhin registriert werden, ist die Bünd-
nisfähigkeit zu einem völkerrechtlichen Attribut geworden. Dementsprechend ist
das Hauptgliederungsprinzip die Einteilung in Offensiv- und Defensivalliancen, in
Trutz- und Schutzbündnisse. Und für die Zeitfristen stellt Zedler lakonisch fest:
Es dauern die Allianzen so lange, als es großen Herrn gefällig, oder die Rai.~nn
d'l,tat erfordert 227. Folgerichtig zur Verstaatlichung. der Bündnisfähigkeit wird
jenes Bündnisrecht, das in mittleren Zeiten ... auch mittelbare Glieder des Reichs
behauptet hatten, als verderbliches Faustrecht deklassiert 228 ; bei Privatpersonen

121 ZEDLEIL Dd. 11 (17SG), OSS Jr.; Btl. 39 (1744), 838 f. 792; Bd. 33 (1742), 1431. Ferner

HÜBNER 8. Aufl. (1717), 1627 und LEU Bd. 6 (1799), 468. Die Schweiz bzw. die Eidgenos-
senschaft wird a.ls RepUblik definiert, die a.uf den Bund von 1315 zurückgeht.
181 Soweit nicht historische Erläuterungen, etwa. zur heiligen Liga. von 1576, geboten
werden, fällt auf, da.ß 'Liga.' oder 'Ligue' im 17. und 18. Jahrhundert eine pejorative Be-
deutung erhalten ha.t. Etwa. bei DuEz, Dict: (1642): Eine Verbundene Rotte/Factio oder im
Dict. fra.nc;.-a.ll.-la.t. (1675) = Bund oder bande faction, ein Verbündnuß/ZWJammenge-
achworner Hauff/Factio oder bei STIELER, Zeitungs Lust (1695), 208, ebenfalls ein Ver-
bündniß/ZWJammenschwerung und Rottirung. 'Union' hält sich neutral a.ls Vereinigung,
Vergleichung (Wohlm. Unterricht, 1755, Anh. 75), Vereinigung, Verein (CAMPE, Fremdwb.,
1813, 598), Vereinigung, Einigkeit, Eintracht; der Vergleich, das BündniB (RoTH Bd. 2
(1788), 554) oder nur ein Bündnia (HÜBNER 8. Aufl., 1904).
12 3 'Einung' taucht zuletzt bei ScHOTTEL, Sprachkunst, 2. Aufl. (1651), 340 a.uf,da.nnerst
wieder in der Dt. Enc„ Bd. 8 (1783), 131, wo es mit Einigung erläutert wird; vgl. ebd., 82.
211 HüBNERS. Aufl. (1717), 64; JABLoNsKI2. Aufl., Bd.1(1748),36; RoTHBd. 1(1788),10.
BH ZEDLER Bd. 1 (1732), 1255.
12s HALLE Bd. 2 (1780), 431, a.us dem Französischen.
227 ZEDLER Bd. 1, 1255 ff., bes. 1257.
HB So in der „Deutschen Enzyklopädie", die im übrigen Allianz a.ls Allgemeinbegriff ver-
wendet, der sich a.us den natürlichen BedürfniBsen der Staaten ableiten läßt; in einem
Kapitel mit politisch-geographischen Argumenten wird das Systepi der europäischen
Allianzen geschildert; der Ausdruck BündniBse wird dagegen historisch für die Griechen
und Römer, besonders a.ber für das d1mtsche St.a.at.arecht verwendet; der einschlägige
Artikel fäßt die Bestimmungen seit dem Westfälischen Frieden sehr präzise zusammen.
Er ist gegliedert in Bündnisse, die sich a.uf da.s gesamte Reich beziehen, die der Kaiser

626
m. 3. Theoretische Ansätze zur Duntleestaatslehre Bund

ist das Wort Bündniss ungebräuchlich229 ; die alte conjuratio heißt nur noch
V ersch11iiirung oder Zusammenschwörung230.
Eine theoretisch klare Trennung und Gegenüberstellung entlang den Ausdrücken
'Hund' und 'Bündnis' erfolgt erst nach der Französischen Revolution, die Erfah-
rungen der neuen bundesstaatlichen Organisation aufnehmend. Freilich hat die
Theorie des alten deutschen Reichsstaatsrechts der Bundesstaatslehre entschieden
vorgearbeitet.

3. Theoretische Ansätze zur Bundesstaatslehre in der frühen Neuzeit

Das Reich, das in seinen mehrfach abgeschichteten Zuordnungen von Herrschaft


und Ständen nie die organisatorischen Vorzüge der Einungen und Bünde zu inte-
grieren vermochte, bot wenig Anlaß zu theoretischen Entwürfen, die Reichsverfas-
sung „föderal" zu interpretieren. Aber die Verfassung des Deutschen Reiches sperrte
sich ebenso gegen die Anwendung der Souveränitätsfrage, wie es sich für die aus
Aristoteles abgeleiteten Herrschaftsformen ungefügig zeigte. Nur auf dem Umweg
über das Naturrecht, über die Lehre von der gemischten Verfassung und der Gewal-
tenteilung sowie im Rekurs auf die empirischen Gegebenheiten kamen Elemente in
der Reichsverfassungstheorie zutage, die dann im 19. Jahrhundert als Vorläufer
einer Bundesstaatsverfassung historisch gedeutet werden konnten231 •
Wie tief das Bundes- und Bündniswesen noch in die Lehensverfassung eingelassen
war, bezeugt BoDIN, der in einem Kapitel zugleich von denen handelt, so under
ei11U'd~ andern schutz und schirm sein und was unterscheids zwischen den Bundsgenossen/
Frembden / Burgern /und Underthanen sey 232 • Bodin untersucht anhand antiker und
zeitgeni;issischer Beispiele die Fälle möglicher Verbindungen - zwischen Lehens-

entgegen den Bestimmungen zumeist ohne Reichstagszustimmung abschließt; ferner in


die besonderen Bündnisse, die die Stände und der Kaiser in seiner Eigenschaft als Herr
seiner Erblande schließt; schließlich in die vergangenen Bündnisse der mittleren Zeiten;
Dt. Enc., Bd. l (1778), 364 ff.; Bd. 4, 579 ff., bes. 580.
22e ADELUNG 2. Aufl., Bd. l (1793), 1257.
230 ROTH Bd. 1, 93; CAMPE, Fremdwb., 216. 219; ZEDLER Bd. 6 (1733), 980. ADELUNG

2. Aufl., Bd. l (1793), 217 registriert die Allianz als ein ohne Not aus dem franz . .Alliance
entlehntes Wort - während CAMPE, Fremdwb., 99 bereits darauf verzichtet und darüber
hinaus für Tripel- und Quadrupel-Allianz Dreibündnia und Vierbündnis bzw. Dreibund
und Vierbund vorschlägt.
2a 1 SIEGFRIED BRIE, Der Bundesstaat. Eine historisch-dogmatische Untersuchung (Leipzig
1874); ÜTTO v. GIERKE, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen
Staatstheorien (1880; 5. Aufl. Aalen 1958), .Kap. 5; LoUIS LE FuR{PAUL PoSENER.,
Bundesstaat und Staatenbund in geschichtlicher Entwickelung (Breslau 1902); ÜTTO v.
GIERKE, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 4: Die Staats- und Korporationslehre
der Neuzeit (Berlin 1913); GoDEHARD Josu EBEBB, Die Lehre vom Staatenbunde
(Breslau 1910); ALBRECHT RANDELZHOFER, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Rö-
mischen Reiches nach 1648 (Berlin 1967).
232 JEAN BODIN, Respublica., das ist: Gründtltche und rechte Underweysung •.• 1, 2, dt.

von Johann Oswaldt (Mömpelgard 1592), 71 ff. In der lateinischen Fassung (De Republica,
4. Aufl. 1601): = De patrocini.o et clientela; q'll4nt'Ufm}m socius a peregrino, cif!is a soci.o,
cliens ab utroque distet.

627
Bund m. a. Theoretiaehe Ansitze ZW' Bundesstaatslehre
herr und Lehensmann, zwischen Patron und Klientel, zwischen Protektor und
Schiitzling sowie zwischen überindividuellen politischen Einheiten. Dabei drängt
Bodin durch den gleitenden Wortgebrauch von foedus, societas, consociatio, ami-
citia, sponsio, protectio, pactio hindurch auf eine klare Unterscheidung. Bodin
fragt danach, wie sich die verschiedenen Verbindungen zur natura und zur Kraft
( vis) einer respublica verhalten. Entweder sichern die foedera - seien sie gleich oder
ungleich - die Unabhängigkeit der Partner, oder sie erzeugen eine gemeinsame
Obrigkeit. Es werden aber Bündnussen gemacht / wie man gleich wölle / so behelt ent-
weder ein jeder sein gewalt / und hohe Obrigkeit / oder er gibt sich in deß andern ge-
walt / nimbt von im Gesetz und Rechten/ und wird also sein Underthan 233• Damit
werden o.uoh o.llo oonsooiti.tiones und societates entweder innerstaatlich oder zwi-
schenstaatlich eingeordnet. Innerstaatlich treten sie zugunsten der Grundfigur
Herr - Untertan zurück, und au ßp,npolitiAl'.lh zielt Bodin - trotz der von ihm regi-
strierten geschichtlichen Obergangsformen - auf die Alternative: entweder bleibt
eine societas zwischenstaatlich, oder sie wächst zu einer neuen respublica zusammen.
Dann ist al"lgemach auß vilen gemeinen Nutzen unnd H errschafjten nur einer erwach-
sen234. Quod si foederatae ciuitates in unius principis avt plurium optimatum fidem
veniant, una et eadem respublica censetur; quod non facile iudicari potest - wie Bodin
hinzufügt, um die Wichtigkeit der von ihm aufge!!LellLen AlLernative herauszu-
streichen236•
Als zeitgenössisches Beispiel dieser Antithese dient ihm die Eidgenossenschaft und
das Deutsche Reich. Die Schweiz gebe nur ihren Namen her für zwanzig gemeine
Nutzen, die voneinander unterscheiden/ einen Bund und freundtschaftt miteinander
gemacht haben [ = aequo foedere in societatem et amicitiam convenisseJ / wiewol sie an
bedingen 91;nil rlf'n•"t'tl.11. ~t11.gl.e.fr.]1. &~in . . . Da.ra.ms in·scl1ei•11,et / dwt su V'il gemsiner
Nutzen under den Schweitzern sind/ so vil sie ort haben. Ihre societas und amicitia
erzeugen kein gemeinsames Bürgerrecht. Denn weder Mehrheits- noch einstimmige
Beschlüsse auf ihren gemeinsamen Versam.riilungen, noch gemein Land/ oder gemeine
Feind und Freund / oder auch der gemeine Seckel / sonder die hohe Oberkeit unnd
gwalt uber die underthanen ein gemein Nutzen machen2 3 6.
Anders das deutsche Reich, das sich aus einer Monarchie in eine Aristocratia ver-
wandelt habe 237 und insofern - wie der Achaiische Bund - als eine einzige respu-
blica bestimmt werden könne. Die Stände wählten den Kaiser, der ihren Gesetzen
unterworfen bleibe. Unter der Zwangsalternative vieler, wenn auch verbündeter
Staaten oder einem Staat bleibt kein Raum für das theoretische Modell eines „Bun-
desstaats" - und damit hat Bodin der ge,nzen folgenden Diskussion die Wege ge-
wiesen. Ein Bund als solcher hat keinen staatlichen Charakter, Bündnisse werden
zwischen Freunden oder Feinden oder auch mit Neutralen geschlossen, aber nur,
sofern die Bündnisschließenden souveräner Gewalt mächtig sind 238 •
2 33 Ebd„ dt. Ausg., 76; la.t. Ausg., 109 f.: In omni foe.dere, aeu pactione, aeu aponaione,

iura maieat.atia cuique principi p<YJ>U"love aalva 11int opportet: aut alterum in alteriua po-
testatem ac fidem venire.
234 Ebd., dt. Ausg., 81.
2ao Ebd., la.t. Ausg., ll6.
23a Ebd., dt. Ausg„ 78 f.

2u Ebd., dt. Ausg., 82 ff.


238 Ebd. 5, 6.

628
III. 3. Theoretieehe Ansätze zor·Bundesataatalehre Bund

Semantologisch aufschlußreich ist nun die laxe Übersetzung von foedus und societas
bzw. von alliance, pacte oder Jigue: diese Ausdrücke, die eine definitorische Schwer-
punktbildung anooten, wurden noch mehr eingeebnet durch die ausschließliche
Eindeutschung in 'Bund' oder 'Bündnis', die obendrein völlig austauschbar ver-
wendet wurden. Lehensrechtliche, innen- oder außenpolitische Beziehungen, deren
Unterscheidung Bodin herausforderte___.;. so wie er alle ligue11 particulieres, foedera
cum exteris als staatsschädlich charakterisierte - blieben begrifflich undifferenziert.
Staats- und völkerrechtliche Unterschiede oder wie sich das Reich als politische
Einheit zur Bündnisfreiheit seiner Glieder verhalte, das war im Deutschen schwer
auf eindeutige Begriffe zu bringen. Aber von der Sachfrage her hat Bodin alle fol-
genden Reichsrechtler in Zugzwang versetzt.
Die frühneuzeitlichen Untersuchungen über das jus foederis brachten eine Fülle
systematischer und kasuistischer Unterscheidungen 239 • Man fragte nach Grund und
Ziel der foedera, teilte sie in Kriegs-, Schutz-, Handelsbündnisse usw; ein; fragte,
wer überhaupt bündnisfähig sei; ob Bündnisse mit dem Papst, Ketzern oder den
Heiden erlaubt seien (was zunehmend bejaht wurde); was gleiche, was ungleiche
Bündnisse, was starke, was schwache foedera seien; wie lange sie dauern, wann sie
gebrochen werden oder verfallen. Dabei wurden die foedera verschieden legiti-
miert. Sio wurden etwa. o.un Gottoo Willon abgoleitet, der jedem Volk 1111in11n Feind
sende - nur in Utopia gebe es keine Bündnisse; oder die foedera entspringen dem
Mangel menschlicher Natur - non ita /orte est vinculum Foederis Naturalis, quo
homo homini tenetur24°; sie gründen im Naturrecht oder in der daraus abgclcitcton
socialitas 241 ; schließlich werden sie durch die Staats~äson gefordert. Im Zuge solcher
Erörterungen wurde das jus foederis zunehmend eingeengt auf zwischeu:,;t,aatlidw

239 Außer den zahlreichen Quellen, die in der unter Anm. 231 genannten Literatur auf.

tauchen: MARTINUB LANDENBIB, Tractatus de confederatione, pace et conventionibus


principum, in: Volumen XIII tractatum ex variis juris interpretibus collectorum (Leiden
1549), wo 'confederatio' vorzüglich auf den 'Frieden' bezogen wird; JOANNES LUPUS
[LOPEZ], Tractatus dialogicus de confederatione principum, ebd„ der Begründung und
Berechtigung der federe. biblisch ableitet, Bündnisse mit Heiden ablehnt und letztlich
auf den Papst zuordnet: Et sie aumm'U8 pontifex Christi vicari'U8 , .. debet omnes ovea
tenere in federe et oonfederatione ac unione universali et noxia et scandala submovere, um die
Seelen in das ewige Vaterland zu leiten; PlJILil'P ADOLPH v. MüNCHHAUSSEN, De foederum
jure [Disputation bei BESOLD] (Tübingen 1615) mit zahlreicher Lit.; HUGO GROTIUS, De
jure belli 1w pitr.iR (Jß2fi) 1, 3; 2, lfi; AT.R'l'li:D 3. Aufl. (1649), Buch 23, Kap. 9; SrrnozA,
Tractatus theologico-politicus, Kap. 16 (Hamburg [d. i. Amsterdam] 1670); für das 18.Jahr-
hundert abschließend ScHEIDEJllA.:N'l'EL Bd. 1 {l 782), 431 ff.; dera„ Da1:1 StaaU!1-echL nach
der Vernunft und Sitte der vornehmsten Völker, Bd. 3 (Jena 1773), 300 ff.
240 MüNCHHAUSSEN, De foederum jure, §§ 1-5.
241 Vgl. J. N. HERTIUS, Commentationum atque opusculorum de selectis et varioribus ex

jurisprudentia universali .•. argumentis volumen primum (Frankfurt 1716), 99, der im
Gefolge Pufendorfs die socialitas gegen Hobbes ausspielt, aber gegen Pufendorf Zwi-
schenbildungen von Bund und Staat zu retten sucht (s. GIERKE, Althusius, 248). Vgl. in-
des seine Zuordmmg von foe<l.1111 zur Souveränität, in Rllimm „Elementa prudentiae civilis"
{Frankfurt 1712), 172: Foed'U8 in 'Pf'opria signiftcatione definiri potest, atat'U8 duarum vel
plurium civitatum, aub pacte de amicitia colenda, vel auxiliiB praestandis, vel comnierciis
ea:ercendis sociatarum, sine imminutione imperii.

629
Bund m. 3. Theoretisehe Ansätze zur Bundesstaatslehre
Beziehungen, so daß LOCKE 16\JO den Namen der J'ederative Power für die auswär-
tige Gewalt vorschlagen konnte24 2.
Für das deutsche Reich gelang diese Eingrenzung nicht eindeutig. BESOLD suchte
etwa 1614 foedus zu unterscheiden von amicitia- ein foedus amicitiae zwischen Pri-
vaten sei Namensmißbrauch-, von pacificatio und deditio, von der societas; aber er
konzedierte weiterhin den subditi ein Bündnisrecht im Falle der defensio, des Wider-
stands; er handelte weiterhin von Erbverbrüderungen oder vom Olientelare foedus2 43,
das - wie die anderen Gesichtspunkte - als Schutz- und Schirmgerechtigkeit noch
im 18. Jahrhundert seinen festen Ort im allgemeinen Bündnisrecht finden konnte 244.
Noch schwieriger war es, die Reichsverfassung zu begreifen, je mehr die Territorial-
herrschaften das jus focdcris an sich zogen. Die Definitionen einer Monarchie (Rein-
king, Arumäus) oder Aristokratie (Bodin, Bogislaw von Chemnitz) führten zu
keiner communis opinio. F.hP.r hotm1 sich in AnhP.tracht 1for st.R.ndillche.D Vielfalt die
Lehren von den Mischformen an: de statu reipublicae mixto 245 oder de re publica
compos·ita 246 • Dabei tauchten nun Klassifikationen auf, die der späteren Bundes-
begrifflichkeit vorarbeiteten. So hat W OLFF in seiner Disputation De statu reipublicae
subalterno 1614 das jus territoriale analog zur imperialen Gewalt stilisiert247 . Et kinc
recte dicitur, Territorii, sive Superioritatis Jus, illud Imperium esse; quod Status in
territorii& su·is pllrt·fo.ular·ilJ'lu e;i;m·cent: U!!IJ'ual·is ·ill·i Jwrisd·ivt·imvi, quam 1mperator
kabet universim. HuGo hat 1661 diese Lehre einer Superior respublica, der die infe-
riores reipublicae subjectae sunt, ausgebaut, indem er die Majestätsrechte, je nach-
dem, ·ob sie auf die allgemeine oder die spezielle Wohlfahrt bezogen seien, für teil-
bar erklärte 248. Aber aus der Beschreibung folgte kein Oberbegriff.
LEIBNIZ ging weiter, indem er ungeachtet der territorialen Hoheit ( superiaritas
f,p,mtrm:a.T.e) der deutschen Fürsten den Weg vom nudum foedus zur unio für möglich
erklärte, wobei eine Union - entgegen Hobbes - gleichwohl eine einzige Republik
sein könne. Ansonsten müsse Deutschland unter dem logischen Zwang einer unteil-
baren Souveränität als Anarchie definiert werden 249. Damit war jene Alternative

au LoCKE, On Civil Govemment 2, 12.


2 0 MüNCHHAUSSEN, De foederum jure, §§ 12. 3 :ff„ 19. 25.
2 " ScHWESER Bd. 2 (1755), Kap. 37; J. J. MOSER, Teutsches Nachbarliches Staatsrecht

(Frankfurt, Leipzig 1773 [ = Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 19 im Gegensatz zum Bd. 20:
Teutsches Auswärtiges Staatsrecht (Frankfurt, Leipzig 1772)]; Ndr. Osnabrück 1967).
246 Titel einer Disputation bei Besold von JoH. MICHAEL BENDER (Tübingen 1614). Zur

Geschichte dieser Lehre in der frühen Neuzeit jetzt HORST DREITZEL, Protestantischer
Aristotclismus und absoluter Staat. Die „Pol~tica" des Henning A.J:nisaeus (Wiesbade11
1970), 285 :ff.
248 Dazu grundsätzlich GIERKE, Althusius; für den Terminus sein Verweis auf HoENONIUS,

ebd. 245.
247 JoH. ULRICH WoLFF, De statu reipublicae subaltemo (Tübingen 1614), § 6 [Disputation

bei Christoph Besold].


248 LuDOLPH Huoo, Dissertatio de statu regionum Germaniae et regimine principum

summae imperii rei publicae aemulo ... (Helmstedt 1661). Dazu BRIE, Bundesstaat, 17 :ff.
(s. Anm. 231); GIERKE, Althusius, 246 und pointiert Huoo PREuss, Gemeinde, Staat
und Reich als Gebietskörperschaften (Berlin 1889), 12 :ff.
249 [TiF.TRNIZ,] Caesarini Fürstenerii De jure suprematus ac legationis principum Germaniae
(Amsterdam 1677), c. 11, wo er auch die Steigerung von der ronfoederatio zur unio mit
dem Unterschied von societas und collegium erläutert.

630
m. s. Theureliilche .Ansätze ZW' Dundeutaatalehre Bund

wieder angesprochen worden, die zu umgehen immer neue BetiLimmungen getroffen


wnrnen.
Leibniz war mit seinen Bemerkungen gar nicht so weit entfernt von PuFENDORFS
Unterscheidung zwischen zweckgebumlemm liefrit:iLuLen foedera und jenem foedm1,
kraft dessen sich mehrere Staaten auf dauernd zusammenbinden: foedus systema
producens 250 • In seinem Natur- und Völkerrecht entwarf Pufendorf eine Verfassung,
deren gemeinsamer Rat über Krieg, Frieden, Schiedsfälle und Bündnisse befindet,
während die einzelnen civitates ihre Hoheit über Handel, Zölle, Straf- und Kirchen-
recht behielten. Mit der Einführung des Begriffs eines •Systems', denPufendorfüber
Grotius 251 aus Strabo entnommen hatte, ging er auf die Herausforderung Bodins
ein. Das 'System' meinte - modern gesprochen - einen Staatenbund, dessen Teil-
haber ihre Souveränität nicht vollends aufgeben, während einem einzigen Souverän
nur ein Staat zugeordnet sein könne. Pufendorf argumentierte aber mehr als ßodin
historisch gesättigt; er hinterfragte bewußt den jeweils überkommenen Wortsinn,
indem er auf J{rajt und Effclct2°2 11ohtoto, die über den üblichen Sprachgebrauch
hinaus einen schleichenden Verfassungswandel indizieren (mutatio, degeneratio) 263•
So kam er in seiner berühmten Verfassungsschrift 1667 zu dem Schluß, daß das
Reich nicht mehr mit den aristotelischen Begriffen faßbar sei. Es sei weder eine
Momi.rc1hie nor,h eine Aristokratie, noch eine der Verfallsformen (die auf das gleiche
hinausliefen), noch eine gemischte Republik, die die Souveränitätsfrage ausklam-
mere: noch aber sei es---' modern gesprochen - ein Staatenbund: neque exacte corpus
aliquod aut systema plurium civitatum foeilere ne.xa1"'/.tm 254• Viehnehr liege es als mon-
ströser und irregulärer corpus zwitichen regnum und systema. .
In seinen beiden Verteidigungcmohriftcn 255 differenzierte Pufendorf seine Lehre von
den systemata, denen die Reichsverfassung kontrastiert wurde, auch wenn ihre
Entwicklung zum System dränge. Das Reich beruhe weder auf einem pactum noch
auf einem foedus, noch sei es ein foedus perpetuu,,;,, 256 • Bei der Übersetzung kam dabei
erstmals eine klare Gegenüberstellung von 'Bund' und 'Bündnis' zustande, so wie
im lateinischen Wortgebrauch die Pluralform 'foedera' oft auf 'Bündnisse', der

25 0 PUFENDORF, De jure na.turae et gentium (1672) 7, 5, § 18.


261 GnoTIUs, De jure belli 1, 3, § 7, 2. Vgl. auch PoLYBIOS, Hi~t. 2, 37; 4, 26.
262 PUFENDORF, De republica irregulari, in: Dissertation.es aca.demicae selectiores (Lund

1675), 435: Bi non tam formuUl& oocabulorum, quam vim et effectum respicimJ; dt. u. d. T.:
Gründliche Untersuchung von der Art und Eigenschafft eines irregulairen Staate (Leipzig
1715) [anschließend an: Gründlicher Bericht von dem Zustande des H. R. Reiche Teutecher
Nation, 2. Aufl. (Leipzig 1715)], 1187. 1189. Vgl. auch ebd„ 1151.
263 Für eine ähnlich genetische Betrachtungsweise bei .Arnisa.eue s. DREITZEL, Arnisa.eue,

294. 302.
2 5' SEVERINUS DE MozAMBANO [d. i. PUFENDORF], De statu Imperii Germanici 6, 9, hg. v.

F. Salomon (Weimar 1910), 127. · ·


25 6 Vgl. Anm. 252 und: De systematibus civitatum, ebd., 264 ff„ bes. 266: Systemata

civitatum nobiB appellantur plures una civitates, vinculo aliquo ita inter Be connexae, et
unum corpus videantur constituere; quarum BingulaB tamen summum in seBe imperium
retineant. Der Übergang zur unio, von da zur einen civitas wird im einzelnen mit ve:r:fas-
sungerechtlichen Kriterien beschrieben.
268 Ders„ De rep. irregulari, §§ 22. 25 (S. 436 f. 444 ff.).

631
Bund m. 3. Theoretische Ansätze zur Bundesstaatslehre

Singula.r focdmi gern auf 'Hund' zielte. Die Teutsclie Rep·ubl·ik sei k!!!in ausdrücklicher
Bund, gerade weil die Fürsten Bündnisse schließen könnten. Höchstens käme das
Reich einem Systemati sociorum inaequaliter foederatorum nahe, zu deutsch nur
einem Systematischen Bund ungleicher socii257 • Der semantische Vorteil, das immer
doppeldeutige 'foedus' durch 'Bund' und 'Bündnis' zu differenzieren, wurde aber
nicht genutzt, weil sich vorerst der Pufendorfsche Terminus 'System' für (Staaten-)
Bund durchsetzte 25 8.
Pufendorf definierte auch die Minimalbedingungen - etwa die Homogenität der
Verfassungsformen aller Mitgliedstaaten oder die Verwandlung des Kaisers in einen
Princeps -, unter denen das deutsche Reich zu einem System souveräner civitates
werden könne. Damit zog Pufendorf seine historisch-genetischen Überlegungen in
die Zukunft aus, die eine juristische Begrifflichkeit überschritten, um Tatsächlich-
keit und Wünschbarkeit aneinander zu messen. Das führte schließlich zu dem resi-
gnierten Diktum MOSERS, daß Deutschland auf gut teutsch regiert werde, es sei ein
systema anonymon2f>9,
Im Lager der Naturrechtler vollzog indes N ETTELBLADT einen entscheidenden Schritt,
indem er eine allgemeine Gesellschaftslehre entwarf, die auf Althusius' Lehre der
aufgestuften consociationes aufbaute und in der alle Kombinationen berücksichtigt
wurden, die die-später so genanntfln Rt11.11.tenbiindc und Bundesstaaten abdeckten.
Nettelbladt beschreibt die respublica composita, die sich aus mehreren Republiken
konstituiert und in der eine duplex potestas civilis herrsche mit ausschließlicher oder
konkurrierender Zuständigkeit und dementsprechender doppelter Untertänigkeit.

267 Ebd. §§ 13 f. (S. 409 ff.}; dt. AuRg., 1lli3-1158. 1164.


268 Im Zuge der Übersetzungen von „De statu Imperii Germanici" hielten sich die Ein-
deutschungen der lateinischen Ausdrücke - in Anlehnung an den alten „bündischen"
Sprachgebrauch- nicht durch. So wurden in der -relativ guten - Übersetzung von 1669
(„Diseurs oder gründlicher Bericht ... ", Nr. 21 der Ausg. v. SALOMON, 15; vgl. Anm. 254}
Unio mit Vereinigung, aocietaa mit Geaellachajt, foedus mit Bund oder Bündnüaa, ayatema
schließlich völlig verschieden übersetzt: mit Bündnüas (271}, Zusammenfügung (273},
Zusammenfas1JUng (241}, sinngleich mit Bundsgeaellachaft (273), oder es wurde umschrieben:
Verfassung, so viele zusammen verbundene Republiquen unter aich gemacht haben (294; =
systema aliquod plurium rerumpublicarum foederatarum; Ausg. SALOMON, 150} oder:
Zu einem Begriff aber und in aich haltung vieler Bundeaverwanthen ist ea (das Reich) vor sich
geneigt (242; = ad, foederatorum aliquod aystema ultro vergit) - was vermutlich nur wenig
Leser verstanden hatten. Die weit besseren Übersetzungen von 1710 (= Ausg. SALOMON,
Nr. 22) oder 1715 ( = Ausg. SALOMON, Nr. 23) haben die lateinischen Fachausdrücke dann
durchweg in den deutschen Text übernommen und durch la.teinisuhe Lettern heraus-
gehoben.
HARRY BRESBLAU spricht in seiner Übersetzung (Berlin 1870) von Föderativstaat, um die
Alternative Staatenbund - Bundesstaat zu vermeiden, auf die HEINRICH DovE in seiner
Übersetzung (Leipzig 1877) ex post eingeht. (Vgl. auch die Ausweitung des Systembegriffs
im 18. Jahrhundert auf das politische Staatensystem unter völkerrechtlichen Regulativen.)
269 J. J. MosER, Von Teutschla.nd und dessen Staatsverfassung überhaupt (Stuttgart 1766),

550 zustimmend nach Kanzler Hert. Die Zustimmung bezieht sich auf die Negation; den
Ausdruck von bloß verbundenen Staaten ... , die zusammen einen größeren gemeinschaftlichen
Staat ausmachen, hält Moser für die deutsche Staatsverfassung - als Vertreter des Altreichs
- ebenfalls für unangebracht.

632
W. 3. Theoretische Ansätze zur Bundesstaatslehre Hund

Davon unterschieden werden foederatae respublicae SeU systema rerum publicarum,


die zunächst nur una societas ausmachen. Aber in einem System können die Einzel-
republiken wiederum coordinatae oder confunctae bzw .. unitae sein. Im Falle der
Union handele es sich entweder um das ungleiche Verhältnis von Haupt- und Ne-
benstaaten oder aber um eine unio aequalis, die mit gemeinsamer Oberhoheit
„ewig" sein könne 280 .
PüTTER baute diese Position reichsrechtlich aus, als er - mit Pufendorf - den
aristotelischen Begriffen die Frage vorordnete, ob es sich um einfache oder um zu-
sammengesetzte Staaten handele 261 . In diesem Sinne definierte er das Reich als
„foedus perpetuum non temporale", eingedeutscht kein zeitiges Bündnis, sondern eine
immer währende Vereinigung 26 2. Durch Rekurs auf Geschichte und Erfahrung283
suchte er das .Reich in seiner Einzigartigkeit zu erfassen, aber die Testfrage nach
dem Träger der Souveränität trieb bei ihm und seinen Zeitgenossen immer neue
Unklarheiten hervor. So Wurden die Eidgenossenschaft, die Niederlande und später
die amerikanischen Freistaaten weiterhin als Summe souveräner Staaten defi-
niert264, obwohl deren politische Handlungsfähigkeit zugegebenermaßen weit größer

280 DANIEL NETTELBLADT, Systema elementare tiniversae iurisprudentiae naturalis (Halle,

Magdebw·g 1785), 483 f„ §§ 1172 Jf. (uach GIERKE, AlLhU11iu11, 24911i.J.wgltiich .wiL tlti.r 1. Au11.
1762 und der 3. Aufl. 1765). Eine Rückübersetzung des 'Systems' in 'Bund' findet sich bei
JusTr, Die Natur und das Wesen der Staaten (1759) als die Quelle aller Regierungswissen-
schaften und Gesetze mit Anmerkungen, hg. v. H. G. Scheidemantel (Mitau 1771), 221 ff.
(dank f.rdl. Hinweis von H. DrtiiLztil). E11 11pricht vun vielen freien Staaten, die in einer
gem.e.i11.8c.h.aftlich.e.n Ve.rbi11d11.11g, oder be.ttä.ndigen Bii.ndniß miteinander atehen. Sie seien am
besten kleine Republiken oder kleine Monarchien. Der Endzweck einer solchen Verbindung
ist die gemeinschaftliche Verteidigung. Alle Gesetze des Bundes können also nur diesen Punkt
betreffen; und es ist der Natur des Bundes und der Freiheit eines jeden Staats insbesondere
zuwider, daß der Bund Gesetze gibt, welche die innern Angelegenheiten eines jeden Staats be-
treffen. Der Bund werde durch Abgeordnete regiert und ein solcher Bund kann ein Oberhaupt
haben, wie Teutschland hat und wie die Griechen unter den makedonischen Königen. Diese
beiläufige Definition des Reiches als eines Bundes freier Staaten mit gemeinsamem Ober-
haupt, die in der Argumentationsrichtung Pufendorfs lag, wurde vom Herausgeber moniert:
Hr. von Justi mag dieses am Kaiserlichen Hof verantworten; überdies werden ihm auch viele
deutsche Staatslehrer nicht beipff,ichten, wie- HEINR. CHRISTIAN SENKENBERG, De forma
systematis Germa.niae (Gießen 1724), Kap. 6 zeige. Justi kritisiert das Reich, weil es die
Stimmen der Fürsten trotz ungleicher Macht gleichberechtigt zähle, paßt sich aber der
Verfassungswirklichkeit durch die Behauptung an: Daß aber einer den andern mit Krieg
angreift, ist nicht ganz wider die Natur des Bundes, weil ke-itie vollkommene oberste Gewalt
vorhanden ist, -'womit der Begriff wieder zugunsten der Empirie aufgeweicht worden war.
261 JoH. STEPHAN PüTTER, Beyträge zum teutschen Staats- und Fürstenrechte (Göttingen

1777), 19 ff.
282 Ders., Institutiones iuris publici Germanici, 4. Aufl. (Göttingen 1787), 36; dt. v. Carl

Anton Friedr. Graf von Hohenthal u. d. T.: Anweisungen zum deutschen Staatsrecht
(Bayreuth 1791), 32.
21 a PüTTER, Beyträge, 21.
284 Eine Auffassung, die in der Schweiz selber nicht geteilt wurde: sie sei ein durch Eide

und Bündnussen zu gemeinen Sicherheit und Erhaltung zusammengesetztes Wesen und Staat;
LEU Bd. 6 (1799), 476.
Bund m. S. Theorelisehe Ansätze zur Bundesstaatslehre
war als die des Reiches, das als ein, wenn auch zusammengesetzter, Staat begriffen
wurde. ·
Auf der einen Seite werden - im Gefolge Bodins oder Pufendorfs - die Schweiz und
die Niederlande als systemata foederatarum civitatum definiert, eingedeutscht als
verbundene 265 oder als zusammengesetzte Staatskörper 266 , die nur gleichsam ein Staat
seien 267 , als gleiche Gesellschaft ohne gemeinsame Zwangsgewalt 268 : ein Wortfeld, das
endlich von GÖNNER 1805 mit Staatsbund 269 abgedeckt wurde.
Die Reichsverfassung paßte andererseits nicht unter diesen Begriff, da Kaiser und
Reichsinstitutionen auf eine eigenständige Obergewalt verwiesen. So kam Pütter
zur Definition: Deutschland ist ein Reich, das in lauter besondere Staaten eingeteilt
ist, die jedoch alle nooh unter einer gemeinsamen höchsten Gewalt in Gestalt eines zu-
sammengesetzten Staates vereinigt sind 270• HÄBERLIN sprach von einer Realvereini-
gung unabhängiger Staaten 271, ScHEIDEMANTEL von der ungleichen Gesellschaft mit
Zwangsgewalt (selbst der ganze teutsche. Staat ist eine Gesellschaft 272 ), von einer Staa-
tenvereinigung, einer unio non incorporativa 273 • Schließlich bestimmte GöNNER
dieses Gebilde im Gegensatz zum.Staatenbund als Verein von Staaten, wobei er sich
zugegebenerweise vom Ideal des al"lgemeinen Staatsrechtes in hohem Maße entfernt21 4 ,
da der Ausdruck einer subordinierten Staatsgewalt in sich widersprüchlich sei. Die
Partikularstaaten, in welche Deutschland verteilt ist . . . hängen nicht durch einen
Staatenbund, sondern einen wahren Staatsverein zusammen 27 5.
'Verbindung', 'Vereinigung', 'Union', 'Verein' - selten 'Bund' - sind die Ausdrük-
ke, die über eine Beschreibung des Reiches hinausdrängten zu theoretischen Aus-
sagen über Staatenformationen, die sich auf dauernde und übergreifende Ziele hin
zusammenfügen ..
Dif'I R.f'ia.l- und Per11omilunion 11owie die kleinen Na.chba.rrepubliken standen dabei
Pate, und der alte reichsrechtliche Ausdruck 'Verein' wahrte eine gewisse Nachfolge
zu den 'Einungen' gleichberechtigter Partner auf dem Boden gemeinsamen

2111PüTTER, Beyträge, 25 f.
288 KARL FRIEDRICH Hi.BERLIN, Handbuch des Teutschen Staatsrechts, 2. Aufl.„ Bd. 1
(Frankfurt, Leipzig 1794), 122.
287 Ebd. Trotz Generalst.aaten in den Niederlanden und Kcmgreß im A?nerikanischen Frei-

st.aat fehle dort die eigentliche Oberherrschaft.


288 H. G. ScHEIDEMANTEL, Das allgemeine Staatsrecht überhaupt und nach derRegierungs-

form (Jena 1775), 398 ff. Da Scheidemantel den Ausdruck 'Bund' nur als historischen
Terminus kennt, muß er in der Reihe der außenpolitischen Bündnisse den Ausdruck
Vereinigungsbündnis einbringen, der diesen Typ meint; Staatsrecht, Bd. 3, 300 f. (s.
Anm. 239).
289 NIKOLAUS THADD.Aus GÖNNER, Deutsches Staatsrecht, Bd. 2 (Augsburg 1805), 64.
270 PüTTER, Beyträge, 38.
271 Gleichwohl mit gemeinsamem Oberhaupt; Hi.BERLIN, Handbuch, Bd.1,146.

272 SCHEIDEJllANTEL Bd. 2 (1782), 274.


278 Ders„ Staatsrecht, 404.
m GÖNNER, Staatsrecht, Bd. 1 (1805), 2; Deutschland liefert daa einzige Beispiel in seiner
Art dadurch, daß es als ein St.aatskörper aus mehreren St.aaten besteht, welche nicht durch
einen St.aatenbund, sondern durch einen Verein unter einer ge?neinsamen obersten St.aats-
gewalt, folglich als ein St.aat zusammenhängen.
275 Ebd„ 64 f.

634:
IV. 'Bund' als LeithegriJI Bund

Rechts274. Aber all diesen Definitionen war gemeinsam, daß sie keine Bundesstaats-
dogmatik freisetzen konnten, da das Verhältnis der Glieder zum Ganzen ungreifbar
wurde, so daß HEGEL 1801 ·sagen konnte: Es ist kein Streit mehr darüber, unter
welchen Begriff die deutsche V er/assung falle. Was nicht mehr begriffen werden kann,
ist nicht mehr 277 •
Wenn Deutschland unter der Alternative Staat oder Anarchie als nicht mehr exi-
stent betrachtet werden konnte, so ist doch festzuhalten, daß sich die Reichsstaats-
lehre Init dem Zerfall des Reiches langsam, aber sicher an eine Bundesstaatstheorie
herangetastet hatte, die Init dem Rheinbund ihr erstes politisches Experimentier-
feld fand. Ein sich steigerndes historisches Bewußtsein hatte zu juristisch mehr-
deutigen Begriffen geführt, die aber empirisch einlösbar blieben. Freilich wurde
erst im Durchgang durch die einmal errungene Staatlichkeit der ehedem im Lehens-
gefälle subordinierten Territorialherrschaften jene Plattform formaler Gleichberech-
tigung erreicht, auf der dann ein Bundesstaat vertraglich zustande kam.

IV. 'Bund' als Leitbegriff gesellschaftlicher und politischer Organisation


in gcschichtsphilosophischcr Perspektive·
Die semantologfMh regfstrierba.re Schwelle, die die deutl:!che 8p1·ache iu uer puliLi-
schen und sozialen Welt um 1770 herum überschritten hatte, zeigt sich auch in der
Geschichte des Bundesbegriffs. Im Maße, als sich das alte Reich dem Ende zuneigte,
tauchte der Bundesbegriff auf, und zwar Init zunehmender Emphase auf drei Ebe-
nen:
1) auf der gesellschaftlichen Ebene: Der Dund wird zum Symbol und Einungsbegriff
neuer gesellschaftlicher und geselliger Betätigung, und das proportional zur Auf-
lösung der ständischen Ordnung. Von der bürgerlich-gesellschaftlichen Ebene
wirkte er fordernd auf das politische Leben ein;
2) auf der staatlichen Ebene wird der Streit um die Neuordnung des Reiches in den
Kategorien möglicher Bundesorganisation ausgetragen - bis hin zur Gründung
des kleindeutschen Reiches;
3) gewinnt der Bundesbegriff einen neuen Bedeutungsraum auf der völkerrecht-
lichen und geschichtsphilosophischen Ebene, die freigegeben wurde seit dem Zerfall
der alten Reichsordnung, d. h. Init der Französischen Revolution. Die von Kant
gestiftete Einheit geschichtsphilosophischer und überstaatlicher-globaler Perspek-
tiven imprägnierte rückwirkend die staatliche und gesellschaftliche Begrifflichkeit
und wirkte fort bis in die Ära des Völkerbundes und d11r UNO.
In Etappen gesprochen wuchs die bündische Herausforderung von innerreichlichen
zu solchen an das Reich selbst und dann hinaus in den zwischenstaatlichen .Kaum -
nicht, ohne daß bestimmte verfassungsmäßige Grundmuster seit dem Spätmittel-
178 GÖNNER nutzte 'Verein' als Oberbegriff für alle reichsständischen Verbindungen. Dabei

unterschied er 1) notwendige, die Teil der Staatskonstitution sind (Reichstag, Reichs-


kreise), 2) solche, die, ursprünglich Privatvereine, inzwischen die Anerkennung der Reichs-
grundgesetze gefunden haben (Kurverein, Kreisassoziationen), und 3) Vereine, die erlaubt,
aber nicht zur Staatsverfäe1mng und damit nicht ins Sta&tlll'echt gohöron (De\1tscher
Fürstenbund, also die Bündnisse); Staatsrecht, Bd. 1, 124 ff. (dank frdl. Hinweis von
Herrn Markert).
277 HEGEL, Die Verfassung des Deutschen Reichs, hg. v. Georg Mollat (Stuttgart 1935), 1.

635
Bund IV. 1. Der ühentaatliche Bundesbegrift'

alter weiterlebten und transponiert wurden. Insofern handelt es sich um ein struk-
turelles Grundproblem in zeitlich und räumlich verschiedener Ausfaltung, das sich
in der Begriffsgeschichte des Bundes artikuliert.

1. Der überstaatliche Bundesbegrüf. Kants Plan eines Völkerbundes


Es war eine immer wieder aufgeworfene Frage, wie der Friede in der Christenheit,
in der Republique Chretienne, in der Union Europeenne, in der Staatenwelt - erst
überterritorial, dann überstaatlich-, schließlich wie er global gesichert werden
könne. Die darauf bezogenen Projekte haben ihre eigene Geschichte, die von Dubois
über Podiebrad, Bully und St. Pierre, Penn und Bentham bis zu Rousseau und Kant
und zunehmend darüber hinam1fiihrt278 • Die Organisation dieser vorgeschlagenen
Bünde, uniones, confederationes usw. ist gekennzeichnet einmal durr.h. t1int1 Anlt1h-
nung an jeweils zeitgenössische Einungen, Bündnisse oder Verfassungsbeispiele wie
der Konzilien oder des englischen Parlaments. Zugleich aber zeigen s.ie - unerachtel;
der jeweiligen machtpolitischen Hinter- oder Nebengedanken - strukturelle Ge-
meinsamkeiten. Sie richten sich immer gegen eine Universalmonarchie. Sie belassen
den Teilnehmern - Fürsten oder Staaten - nach innen ihre Freiheit oder Souve-
Tii.nitittr, n1tr.h IU1ßl'lß d1tgl'\gl'\n 80Jlflen 8ifl 8toh gemeiTI81\men COTICiJi,•1,'nll, rarlamenten,
Bundesräten und deren Schieds- oder Urteilssprüchen unterwerfen '-- womit ihre
Hoheit wieder relativiert wurde. lJie damit verbundene Zwangsexekutive (mehr
oder minderer Stärke) verwandelte alle kriegerischen Aktionen in Strafvollzüge -
gegen die Mitglieder, aber zunehmend auch gegen die Nichtmitglieder wie Türken,
l!eiden, Wilde und schließlich gegen die Nichtbeitretenden, gegen die Vcrächter
jener Rechte, auf die sich die 8t.aafamaRRrnr.iation t1inigt1n wiirdfl. Sollt.P. der Friede
zwischen den Mitgliedern zunächst durch gemeinsamen Kampf nach außen gesi·
chert, so sollte er. endlich global verwirklicht werden, ohne Ausschluß und Grenze.
KANT verfaßte nun 1795 seinen ernst-ironischen Vertragsentwurf, um das Postulat
des ewigen Friedens als realisierbar darzutun. Für die Begriffsgeschichte des Bundes
war es wegweisend, daß Kant den Ausdruck Völkerbund prägte 280, von dem allein
ein dauerha:(ter Friede zu erwarten sei. Es müsse einen Bund, 1Jon be.~onderer Art
geben, den man den Friedensbund ( foedus pacifiC'IJ,m) nennen kann, der vom Friedens•
vertrag (pactum pacis) darin unterschieden sein würde, daß dieser bloß einen Krieg, je-

278 Dazu JACOB TER MEULEN, Der Gedanke der internationalen Organisation, 2 Bde. in

3 'T'eil1m (Tien H11.11.g 1917/1940); KURT v. R.AmR, F.wiger F.riene. Frif.lilen1m1fe und
Friedenspläne seit der Renaissance (Freiburg, München 1953); RoLF HELLMUT FoERSTER,
Europa.. Geschichte einer politischen Idee, mit einer Bibliographie von 182 Einigungs.
plä.nen aus den Jahren 1306 bis 1945 (München 1967); ders., Die Idee Europa 1300-1946.
Quellen zur Geschichte der politischen Einigung, dtv-Dokumente (München 1963).
279 Die Bundesversammlung bei Podiebrad-Marini heißt: corpus, universitas oder ooUegium:

die Vertragsformel bezieht sich auf connexio, -pax, fratemitas, conc.ordia, unio - für alle
Zeiten; Zielsetzung: vera, tpUra et firma -pax, unio et ckaritaa inter Ohriatianoa; zit. Memoires
de M. Ph. de Comines, nouvelle ed. par GoDEFROY et l'abbe LENGLET nu FRESNOY, t. 2
(London, Paris 1767), 424ft'. Die V8111"andlung dieser Formeln im Zuge der Friedensutopien
kann hier nicht verfolgt werden.
2 so RAUMER, Ewiger Friede, 153. Formulierung der mittsiebziger Jahre: Die letzte Voll,.

kommenkeit: Völkerbund; Kurr, Handschriftlicher.Nachlaß, AA Bd.15/2 (1913), 783.

636
IV. 1. Der überstaatliche BundesliegriJI Bund

ner aber alle Kriege auf immer zu endigen suchte 281 • Kant enthielt sich aller organi-
satorischer Anregungen, suchte vielmehr den Ileweis zu erbringen, daß nur die
kollektive Einheit des vereinigten Willens aller den Frieden sichere. Nach dem Gebot
der Vernunft müßten sich die Völker eigentlich in einen Völkerstaat ( civitas gentium)
zusammenschließen, der Gesetzlichkeit und Freiheit aller sichere. Aber das Opti-
mum, das Kant in Anbetracht der historischen Erfahrung für erreichbar hielt, so-
weit sie sich in eine vernunftgemäße Praxis einholen ließe, war ein Völkerbund.
Eine einzige Weltrepublik drohe in Despotie und Anarchie umzuschlagen, während
die Vielfalt der Sprachen und Religionen eine fortwährend freie Association, eben den
Völkerbund erheische, der nur das negative Surrogat einer globalen bürgerlichen
Vereinigung darstelle. Es käme vorerst darauf an, Kriege zu verhindern, und zwar
in einem gesetzlichen Verfahren, das dem eines allgemeinen Staates nur analogisch
sei 282 • Damit blieb auch für Kant der einzelne Staat - als moralische Person - das
Bauelement des Völkerbundes.
Kants Plan stieß in eine Situation, in der durch die Revolution und die Auflösung
des Reichs ein Freiraum entstand, der eine neue völkerrechtliche Organisation
herausforderte 283 • Zeitgebunden zielte der Plan darauf, zwischen Frankreich und
Preußen (nach dem Baseler Frieden) auf dem Boden einer gemeinsamen republika-
uiHclum Regieru11gsweise (nicht Staatsform) jene Verbindung zu sichern, die ßioh
als nucleus der kommenden Völkerverbindung erweisen möge.
Der Bundesbegriff erhielt dabei eine Reihe von Merkmalen, in denen sich histori-
sche Erfahrung und eine aus Vernunft und Moral deduzierte Zukunftssicht zu-
sammenfanden. Waren Bünde bisher immer weniger als das Reich, auch wenn sie
dieses absorbieren sollten, so wird mit dem Zerfall des Reiches der politische Bun-
desbegriff eindeutig zum überstaatlichen Org11.niRR.tionRhAgriff (in Anlehnung an die
systemata foederatarum civitatum der Schweiz, Niederlande und der USA). Der
vorstaatliche „Bund", der zunächst an der Souveränität scheiterte, gewinnt seit-
dem an überstaatlicher Bedeutung. Die vernunftgemäße Idee der Föderalität 284 ,
die sich allmählich über alle Staaten erstrecken soll, fand nach Kant ihre Verwirk-
lichung im Völkerrecht, das - nach französischem Sprachvorbild285 - auf einen

281 KANT, Zum ewigen Frieden (1795), 2. Definitivart. AA Bd. 8 (1912), 356.
989 Ebd., .A.nh. 1. AA Bd. 8, 371. 379. In seiner „Metaphysik der Sitten",§ 61 verwendet
Kant. rlen .Am11lr1mk l~tn.atrm.11P.rP.in (analogi11r,h mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) im
Sinne des (unmöglich zu erreichenden) Völkerstaats. Der Völkerbund als Genossenschaft
( Föderalität) ohne souveräne Gewalt tritt dagegen als denkbarer permanenter Smtenkcmgreß
oder - noch reduzierter - als zu aller Zeit au/lösliche Zusammentretung verschiedener
Staaten in Erscheinung - Indiz für den damals gleitenden Sprachgebrauch, den Kant je
nach .Adressat sorgsam zu dosieren wußte.
2 8 3 RUDOLF VIERHAUS, Überstaat und Staatenbund. Wirklichkeit und Ideen internationa-
ler Ordnung im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons, .Arch. f. Kultur-
gesch. 43 (1961), 329 ff.
284 KANT, Zum ewigen Frieden, 2. Definitivart. AA Bd. 8, 356.

2 85 Die Kenntnis der MoNTESQUIEUschen Passagen über die republique federative (Esprit
des lois 9, 1 ff.) darf in Deutschland vorausgesetzt werden, zumal DE JAUCOURT sie unter
dem gleichnamigen .Artikel in der „Encyclopedie" fast wörtlich wiedergegeben hatte.

637
Bund IV. l. Der ühentaatlicbe Bwadeshegrilr

Föderalism't!-S freier Staaten gegrünMt sein solle286• Mit dem neuen Begriff des
'Föderalismus' wurde zugleich die republikanische Homogenität aller Mitglied-
staaten als conditio sine qua- non des Völkerbundes postuliert.
Da dieser Bund nicht unmittelbar auf dem ganzen Erdkreis verwirklicht werden
kann, gewinnt er darüber hinaus den Sinn eines Zielbegriffs; der als moralisches
Regulativ alle Politik in vernünftige Bahnen lenken solle, abgeleitet aus dem
kategorischen Imperativ in seiner rechtlichen Umsetzung. Er wird zum globalen
Zukunftsbegriff, der sich in zunehmender Zeitverkürzung 287 und räumlich in größt-
möglichem Umfang 28 8 erfüllen solle. Damit kam jene geschichtsphilosophische289
Komponente in den Bundesbegriff, der seitdem den Erwartungshorizont auszog.
Historisch gesprochen wurde das alte, im 18. Jahrhundert immer wieder gerühmte
Modell des Reiches als einer überstaatlichen Organisation in eine Allgemeingültig-
kP.it. beanspruchende Theorie de.s internationalen Rechts transponiert. Der Friede;
und zwar, was neu ist, im Namen eines universalen Rechts, wurde zum Legiti-
mationstitel des „Bundes". So wurde eine Perspektive gesetzt, die __:._ dank vieler

Eine rip11bliqu11 f4r18nJtii•a vereine im Innern dio Vol'l!iügo oinor ropublilmnioohon Regierung
mit der monarchischen Macht nach außen. Cette forme de gouvernement est une convention
par laquelle plusieura corpa politiquea conaentent a devenir citoyena d'un Ewt plus grand
qu'ila veulent /armer. C'eat une aociete de aocietea qui en f<mt une nouvelle qui peut a'agrandir
par de nouveauz aaaociea,juaqu'a ce que aa puiaaance auffiBe a la 8Urete de ceuz qui ae aont unia.
Außer den antiken aaaociati<ma und den Städtebünden sind für die Gegenwart Holland,
Deutschland und lea liguea auiBaea Beispiele solcher Republiken, die im Innern möglichst
eine, und zwar die republikanische Regierungsform haben müßwn. La re'P'uhlique fiderative
d'Allemagne, wmposee de princea et de villea librea, aubsiate, parce qu'elle a un ehe/ qui eat
en quelque fayon le magiatrat de l'uni<m, et en quelque fayon le monarque, - womit auch Mon-
tesquieu an einer eindeutigen Bestimmung scheiterte. Über die föderalen Ideale Montes-
quieus und Rouseea.us sowie über die föderalistische Bewegung zu Beginn der Französi-
schen Revolution sowie deren Einfluß auf Kant e. HEDWIG H:rNTZE, Staatseinheit und
Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution (Stuttgart, Berlin, Leipzig 1928),
Kap. 3 u. S. 235 f. - Die Termini federatif (zuerst seit MONTESQUIEU 1748), federal (zuerst
BRISSOT 1789), fe&ree (1790 erstmals seit dem 16. Jahrhundert - .wie fiderati<m) und
f ederalisme (1772 von ROBESPIERRE zuerst verwendet) sind schließlich 1798 in das Aca-
demie-Wörterbuch aufgenommen worden; BRUNOT t. 7/2 (1967), 1324 und ROBERT t. 2
(1951), 860 f. Diesem lexikalischen Befund geht in Deutschland das Aufleben der Bundes-
begrifflichkeit voraus, während die französischen Ausdrücke erst in der Revolution über-
nommen wurden. In England ist Federaliam nach MURRAY vol. 3 (1895), 126 f. 1793
von BUltKE eingebracht worden, während federal und foederal seit dem 17. Jahrhundert.
gebräuchlich waren. „The Federalist" von Alexander Hamilton, James Madison und John
Jay (New York 1788) wirkte in Deutschland erst im 19. Jahrhundert (dt. v. Felix Erma.-
cora, Wien 1958).
288 KANT, Zum ewigen Frieden, 2. Definitivart. AA Bd. 8, 354.
28 7 Ebd., 386 am Ende der Flugschrift.
288 Ebd., 385'.
280 ~'ür die geschichtsphilosophische Ableitung des Völkerbundes bzw. der Staatenverbin-

dung siehe den Satz 7 der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbiirgerlicber Ab-
sicht" (1784)und „ÜberdenGemeinspruch ••• ",Teil 3 (1793), wo der Ausdruck Föderation
- gerade aktuell - übernommen wurde; AA Bd. 8, 24 ff. 307 ff.

638
VI. l. Der überstaatliche Bundesbegriff Bund

Neuauflagen, Übersetzungen und Variationen 290 der Kantischen Schrift - seitdem


die europäische Staatenpolitik kritisch begleitete, utopisch überhöhte und gelegent-
lich vorangetrieben hat.
Es gibt danach wohl kaum einen Friedensentwurf im Namen der Föderalität, der
sich nicht auf Kant berufen hätte: sei es FICHTE 291 , der in rigoroser Konsequenz
des Rechtsgedankens den Vernichtungskrieg gegen Bundbrecher, aber auch die
Staaten auszutil,gen forderte, die sich gegen den Völkerbund vergingen; sei es ADAM
MÜLLER 292 , der Kants Geschichtsphilosophie in eine Geschichtstheologie umsetzte,
deren drittes und letztes Zeitalter das Zeitalter eines großen Bundes unter den
Staaten der Erde sei. Dieser Bund sei Christi Hinterlassenschaft, die Offenbarung
gipfle im wultren, fre·ien und ewigen Bund, in der Eidgenossenschaft unter den
Staaten. Dabei hat Müller - in Abwandlung der kantischen List der Natur - die
Kriege als Reinigung.~anstalten auf dem Wege der Erfüllung einbezogen. Damit
näherte er sich GENTz 293 , der. die Prämissen der kantischen Vernunft teilte, aber
als erster die Erfahrung wieder gegen ihn ausspielte: die Revolutionäre wähnten,
alle Völker der Erde in einem großen kosmopolitischen Bunde zu vereinigen, und sie
schufen den grausamsten Weltkrieg, der je die Gesellschaft erschütterte und auseinan-
derriß. Gentz folgerte, daß sich jeder Bund seine Feinde schüfe und daß im (schi-
märlS<lhen) Weltstaat des Friedens die (uotwemlige) E.x.ekuLive 11ur eiue neue Form
des Krieges freisetze. So reduzierte Gentz das Recht auf seine jeweiligen Grenzen
und zog im Rückgriff auf die Separatbündnisse des 18. Jahrhunderts die natürliche
Föderativverfassung· von Europa in Form des Gleichgewichts als politisches Opti-
mum für die Friedenssicherung vor.
Die ersten „Verwirklichungen" der vielen Bundesentwürfe waren - nach dem
Scheitern des preußisch-nordischen Reichsbundes 294 und des napoleonischen Rhein-
bundes - der Deutsche Bund von 1815 und die Heilige Allianz, in der die Haupt-
miichte, wie Gentz im Hinblick auf die erforderliche Exekutive jeder Friedens-
sicherung feststellte, eine Art von föderativer Diktatur ausübten 295•
Es kennzeichnet den Bundesbegriff seitdem, daß er entweder - auf der politischen
Ebene - juristische Abgrenzungen eines Staatenbundes oder Bundesstaates her-
ausforderte, oder daß er auf der gesellschaftlichen Ebene (inner- und überstaatlich)
zum Organisationstitel wurde, der mehr oder minder in die Politik der Staaten ein-
wirkte. Als überstaatlicher Organisationsbegriff trat er in Deutschland seit 1848
zurück, im Maß, als sich.die bürgerlichen Nationalstaaten selbständig einrichteten.

290 Dazu.die Darstellung und Quellensammlung von FoERSTER (s. Anm. 278), auf die hier

zw· Entlastung weiterer Delege verwiesen sei.


29 1 FICHTE, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der WiBBenschaftslehre, 2. Tl.

(1797), 2. Anhang: Ober d8.s Völkerrecht,§§ 15---20. AA Bd. 1/4 (1970), 159 ff.
2 n ADAM MÜLLER, Die Elemente der Staatskunst (1809), hg. v. Jakob Baxa, Bd. 2 (Jena

1922), 184. 209. 189.


ua FRIEDRICH GEN'l'Z, Ober den ewigen Frieden (1800), abgedr. RAUMER, Ewiger Friede,
461 ff. 494. 479 f.
BH Dazu Hl!lRMANN CoNR.AD, Rheinbund und Norddeutscher Reichsbund. Eine Episode
der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, in: Gedächtnisschrift HANS
PETERS (Berlin 1967), 50 ff.
2 96 GENTZ, Ober die Heilige Allianz (1819), zit. FOERSTER, Europa, 262.

639
Bund IV. 2. Vom Erwartungshegrlif zum Organüationshegrilf

2. Vom religiösen Erwartungsbegriff zum gesellschaftlichen Organisationsbegriff

Auf dem Weg vom religiösen Innenraum pietistischer Brudergemeinden zur „patrio-
tischen Erweclrung" 296 der folgenden Generation gewann der Bundesbegriff neue
Valenzen. Der nüchterne, schon stark historisch verblaßte Rechtsbegriff wurde aus
dem pietistischen Erfahrungsraum gefühlsmäßig aufgeladen, wobei die föderal-
theologische Komponente 297 den Erwartungshorizont eschatologisch, ja apokalyp-
tisch anreicherte. Im 'Bund' konnte seitdem eine Heilserwartung vom engsten
Konventikel bis zur Menschheit und ihrem weltgeschichtlichen Ziel aufgehoben
sein. Die Metamorphose religiöser Hingabe in humanitäre und patriotische Gefühle
verwandelte dabei langsam den semantisohon Stellenwert des Bundes, kraft dessen
sich die „Gemeinde", dann die „Gemeinschaft" zusammenfand. In diesem Sinne
konnte ERscH/GRUBER 1825 - wirlrungsgeschichtlich nicht ganz korrekt, aber für
die Zeit seit dem Pietismus richtig - feststellen 298 : Das Wort Bund ist unserer
Sprache eigentümlich und hat, in andern kein Synonym, am wenigsten im Lateinischen
des Mittelalters die conjuratio, oder in dem Französischen fedbation, aber bei uns eine
Art Heiligung, wahrscheinlich weil es durch Luthers Bibelübersetzung in der Bedeu-
tung eines Vertrages mit Gott unter das Volk kam.
So riof KLOl'flTOOK 1767 den edelsten Königessokn an, das christliche Volkslieer zu
versammeln. Schon erzittert das Volk . ... Länger nun nickt mehr! Die Gemeine/
Sinket daliin, auf ilir Antlitz zum Altare, Hell vom Kelche des Bundes! eilt, eilt!
Strömt ·in der Chöre Triumph/ 299 Das religiöse Einungserlebnis wird zunehmend
angefüllt mit politischen Stimrnungsgehalten, ohne daß auf den religiösen Bundes-
begriff verzichtet worden wäre. So wenn etwa im gleichen J o.hr LAVATER die kelve-

291 Dazu GERHARD KA:rsER, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland.


Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation (W~esbaden 1961), 58 ff. 170 ff. 212 ff. u.
passim;-+ Brüderlichkeit.
287 BENGEL vel"Wendete 'Bund' und 'Testament' im lutherischen Sinne getrennt, wenn

auch aufeinander bezogen, ß:AMANN da.gegen den Bundesbegriff für die gesamte Geschichte
der göttlichen Verheißung. Für potentielle Anfälligkeit des föd6ra.ltheologischen Sprach-
gebrauchs zugunsten politischer Auslegungs. FRIEDB. CmusTOPH ÖTINGER, Biblisches und
emblematisches Wörterbuch (Frankfurt 1778), 86 ff., ,Art. Bund: 'Bund' heiße eigentlich
Verfaaaung, Einrichtung, Ordnung. Da.her Ordnung des Hei'la; im.engeren Sinne Vergleich,
theologisch der Werkbund. Der dem entgegongcsetzte Bund der Gnade sei aber zusammen
mit dem Werkbund eigentlich nur ein einziger ewiger Bund. Der Gnadenbund erfasse von
Adam an die Auserwählten. Diesen Bund der Gnaden mii88en wir betrachten in 8einer zer-
8chiedenen Offenbarung, bi8 da8 höchste Manifest, die heilige Offenbarung, de1~ Bund i1t ei1ui
völlige Reicksverfaaaung verwandelt, Für die Politisierung dieses Ansatzes, die tief in das
19. Jahrhundert und weiter reicht, s. KA:rsER, Pietismus. Ötinger verwahrtesichschon
gegen eine Vereinfachung: Wann man nun aus fedem Gedanken ·will ein Sy8tem machen,
80 irrt man weit, noch mehr, wenn man die ganze Theologie metkodo foederali voratellt. Man
will es allzu deuaieh machen, aber 80 macht man es gezwungen. Die heilige Schrift hat die Art,
der Schwachheit des Begriff8 mit vielerlei zwtammengesetzten Sinnbildern aufzuhelfen (89).
281 v. DA.BSE, Art. Bund, ERBCH/G:e.uBER 1. Sect., Bd. 14 (1826), 21.

HD. KLOPSTOCX, Oden, hg. v. Franz Muncker u. Ja.ro Pa.wel, Bd. 1 (Stuttgart 1889), rni ff.
Dazu und über Zinzendorfs Einfluß - auch im Bundessprachgebrauch -, KA:rsER, Pietis-
mus, 63.

640
IV. 2. Vom Erwartungshepift ßlD Organi1atioa1bepijf Buncl

. tische Eintracht besingt300 : •.• Brüder! Brüder! schöner Namen!/ Unser Bund soll
ewig stehn! Schlaget Hand und Hand zusammen! / Eintracht! wie bist du so schön!
Aus diesem pietistisch getönten UntergrMd lebte auch der Vers SCHILLERS im
„Wilhelm Tell", der zu einem unendlich oft wiederholten Ruf des deutschen National-
gefühls werden sollte: Laßt uns den Eid des neuen Bundes schwören. Wir wollen sein
ein einzig Volk von Brüdern ... 301 . Der neue Bund sollte sich_ am alten stärken.
Nun wurde das Bundeserlebnis keineswegs nur auf das Vaterland bezogen, es blieb
vielmehr im Zeitalter der Aufklärung und Revolution zugleich an die private
Sphäre gebunden, aus der es sich speiste, wie es sich auch universal ausstrecken
konnte. Seit dem sogenannten „Hainbund" (1772) mehren sich die Freundschafts-
bünde302, in denen nicht zuletzt jene Sprache gefunden wurde, die dann das geistige
Klima der sich herausbildenden bürgerlichen Nation geschaffen hat, die sich vor-
erst weltbürgerlich eingebunden wußte. So konnte HERDER anfangs der neunziger
Jahre den Bastillesturm besingen: Vierzehnter Julius du / Bist der Menschheit
Taufe zugleich mü dem Feste des Bundes, / W e-iliest ein neues Geschleclit, we·ihst es von
jeglichem Fehl 303 • Eine irdisch-religiöse Verheißung schien sich zu erfüllen, jener
Bund der Humanität 304, der - ebenfalls nach Herder - zur Allianz aller gebildeten
Nationen führe, auf deren stillen Bund gewiß früher zu rechnen sei, als nach St. Pierre
a.itf ein förmlich.es Eirwerständni11 der Kabinette tind Höfe305 . 'Bund' wurde zu einem
dehnbaren, unterschiedlich besetzbaren Vollzugsbegriff weltlich-religiöser Erfül-
lung oder einer immanenten Heilserwartung. So führt aus dem schwäbisch-pietisti-
schen Lager von Bengel und Ötinger ein direkter Wirkungsstrang über Jung-

aoo Zit. KAISER, Pietismus, 76.


3o1 SCHILLER, Wilhelm Tell, 2. Aufzug, 2. Szene (1804).
302 KLoPSTOCK beschwor in seiner Ode „Der Hügel und der Hain" {1767) einen teutonischen
Barden, der das Vaterland besingt. Die Zwillingsbrüder Alzes graben/ In Felsen euch das
Gesetz der heiligen Freundschaft: / Erst des hingehefteten Blickes lange Wahl, / Dann Bund
auf ewig. In Verehrung Klopstocks schlossen die jungen Göttinger Dichter ihren
Hainbund und sammelten die gebilligten Werke im Bundesbuch; HELMUT DE BooR /
RICHARD NEWALD, Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 6/1, 4. Aufl.. (München 1964),
206. Der artikellose Bund taucht wieder auf bei J. H. Voss, „Die Bundeseiche": und von
geeichelten Laubkränzen all umhiillt die Scheitel,/ Fügten wir BundmitgetreuemHandachlag;
Sämtl. Gedichte, Bd. 3 (Königsberg 1825), 5. Bei HÖLTY, SW, hg. v. Wilhelm Michael,
Bd.1(Weimar1914), 84f. heißt es 1772 in „Der Bund": Noch ein Rundkuß, Freunde,
bevor mein Schwur / Den Bund versiegelt, welchen die Tugend knüpft. Schließlich folgt eine
Poenformel, um den vor Gott geschlossenen Bund zu wahren. Für die Wirkung dieser
religiös-säkularen Bundschlüsse s. ferner HEGEL, Eleusis. An Hölderlin (1796), zit. Doku-
mente zu Hegels Entwicklung, hg. v. JOHANNES HOFFMEISTER (Stuttgart 1936), 380 ff. oder
„Bundesblüthen" von GEORG VON BLANKENSEE, WILHELM HENSEL u. a. (Berlin 1816),
die Liebes-, Kriegs- und Freundschaftslieder zusammenfassen. Darin enthalten Bundes-
nächte, Weihestunden, säkulare Abendmähler, Freimaurersymbole und Blitze, die Gottes
Annahme eines Bundesschlusses bei Nacht bezeugen. Hai Ein Zeichen.kommt von oben!/
Gnadenvoll nahm Gott ihn auf:/ Leuchtend flammt der Bund nun droben/ Und beginnt den
Sternenlauf; FRIEDRICH GRAF v. KALcKREUTH, ebd., 137.
303 HERDER, sw Bd. 29 (1889), ß59 f. ß60, Anm. 1. 7.ur na.tierung vgl. ebrl., Tirl. 18 (1883),

527, Anm. 2.
m Ebd., Bd. 17 (1881), 5 ff.
301 Ebd., Bd. 18, 271.

41-90385/1 641
Bund IV. 2. Vom Erwartangabegrfff znm OrganiaationsbegriJI

Stilling (der einen ewigen Bund3 0 8 mit Mme. St~rdza schloß), Frau von Krüdener
und Adam Müller zu jener sich selbst „p.eilig" nennenden „Allianz" der drei Monar-
chen. Unter Berufung auf die alten Titel justitia, C!Lritas und pax sollten sich die
Völker der drei christlichen Religionen zur mystischen Einheit einer einzigen christ-
lichen Nation zusammenschließen, um - nach der Version Alexanders - ein neues
(das dritte) Zeitalter {l.nbrechen zu lassen. Die Metternichsche Umschrift der Erst-
fassung und seine Politik hat diesen Bund schnell in eine Handhabe ideologischer
Steuerung verwandelt. Daher gibt es in der folgenden Generation kaum einen Be-
griff, der mehr einer Ideologiekritik unterzogen worden wäre wie der der 'Heiligen
Allianz', - auch von seiten derer, die ebenfalls eine Heilige A.ll·ianz, aber der
VölkerB07, anstrebten.
Aber auch der Bundesbegriff selber geriet mit seiner sozialen Ausfächerung und
politischen Frontbildung zunehmend in das Kreuzfeuer der Kritik aus den jeweils
anderen Lagern. Gerade seine religiöse Hintergrundbedeutung provozierte eine zu-
nehmende Spannung zur politischen Verwendung, so daß die Kritik gegenläufig
sein konnte: religiös an einer politischen Verwendung, politisch an einer religiösen
Verwendung des Begriffs -wobei freilich je nach der subjektiven Glaubenshaltung
der Kritiker das Religiöse und das Politische austauschbar sein konnten. Der aus
dem Religiösen o.bgoloitoto Bundosbogri:ffblicb insoweit ambivalent; seitdem haftet
dem Bundesbegriff eine ideologische, zumindest ideologisierbare Komponente an.
Sein schnelles Wiederaufleben bleib~ in jedem Fall ein Indikator der sich heraus-
bildenden bürgerlich-nationalen Gesellschaft. ..
Nachdem ADELUNG 1774 und noch 1793 außer in der dichterischen Schreibart den
Rückgang des Wortes registriert hatte 808, kann CAMPE 1807 auf elf (z. T. vermeint-
liche) Neubildungen verweisen wie Bundesfest, -freund, -mahl oder bündisch, das

• 08 Die Belege beiHlLDEGABD SORAEDER, Autokratie und Heilige Allianz, 2. Auß. (Darm"
stadt 1963) und MAX GEIGER, Aufklärung und Erweckung (Zürich 1963).
• 07 So JAKOB VENEDEY, La. France, l'Allemagne et les Provinces rhenanes (Paris 1840).
Vgl. THEODOR VON ScHÖNS Kritik am Heiligen Bund, da sich Fürsten nicht ohne oder
gegen ihre Völker verbünden dürften (1817); Aus den Papieren des Ministers und Burg-
gmfon von Mo.rienburg, Bd. 4 (Berlin 1876), (()9. v. BossE, Art. Bund, EMcH/GRUllER,
wo 1825 vorsichtig davor gewarnt wird, waa zu Schioärmerei und Aberglauben sich miß-
bra'UChen lasse (23). PAULUS hat im Art. Bund Gottes, ROTTECK/WELCKER Bd. 3 (1836),
122 das Testament k.antianisch interpretiert und kam zu folgendem Schluß: Die Entstehung
einer gottuwürdigen StaatatJerfasB'Ung durch einen freiwillig eingegangenen Bund, durch einen
pacte social, ist sogar nicht venoerflich, undenkbar oder U111JKS88end, daß aie vielmehr wohl als
ein biblisch-religiösea Vorbild aller nach M ose und J eB'U8 Ohrist'UB gottgläubiger Staatsvereine,
beacmders als Vorbild für jt,de heilige Allianzbetrachtetwerdendarf. - RoTTECKselberstellte
1834 fest, daß das Christentum nimmer aufgekommen wäre, wenn im römischen Reich die
hohe Polizei so allmächtig und allwiBBend gewesen wäre, wie es die Häupter dea heiligen
Bundes - selbst beste Absicht unterstellt - zu sein beanspruchen; Lehrbuch des Ver-
nunftrechts, Bd. 3 (Stuttgart 1834), 307. 1844 ironisierte WELCKER manche Re.actions-
männer und Freunde stiw.rtischer Staatatheorie, weil sie dieae heilige Alliance, die sich doch
auf die Grundsitze der heiligen christlichen Religion beriefe, als ihre StiUze, als einen
Fürstenbund gegen die Volksfreiheit darzustellen suchten·; Wichtige Urkunden für den
Rechtszustand der deutschen Nation (Mannheim 1844), 75.
aoe ADELUNG Bd. l (1774), 1130; 2. Aufl., Bd. 1(1793),1253 ff.,

642
IV. 2. Vom Erwartungshegrift zum Organisationshegrift Bund

von ihm selbst stammt808 • Die Idee des Buiides (lie,gt), wenn auch dunkel, dennoch
heutzutage schon in jedem Gemüte, wie MÜLLER im folgenden Jahr versicherte 310.
Oder wie ERNST MoRITZ ARNDT 1814 in völkischer Einengung gegen die Frei-
11w,ourer, Illwm·inaten, Rosenkr4nzler, Klubbisten, Assembleisten, Ressurcisten, Muse-
isten, Oasinisten eine teutsche Gesellschaft zu stiften forderte, ohne Weihen, Gelübde
und Geheimnisse. Unseres Volkes fröhlicher Mut und sein Trieb zu solchen Gesel-
lungen und Einigungen oder Innungen ist uralt; der Teutsche will sich in allem
innen, er will sein Wesen in alles hineinlegen, er ist ein inniger und innungslustiger
Mensch 811 •
Der Übergang des religiösen Erwartungsbegriffs zu einem gesellschaftlichen Organi-
sationsbegriff - ohne je den „religiösen" Erlösungs- und Offenbarungsgehalt ganz
abzustreifen - läßt sich in drei Etappen schildern. Die literarischen und zwischen-
ständischen Bruderschaften, Gesellschaften und Orden der beiden vorangegangenen
Jahrhunderte haben sich des Bundesbegriffs nicht bedient. Noch die deutsche Union
CAnL FmEDRIOII BA.IrnDTB aus dem Jahre 1784, als philanthropischer „Inter-
eSE>enverband" aufklärerischer Schriftsteller gedacht, um das Reich Gottes zu ver-
wirklichen, benutzte den Ausdruck nicht 312 • Der Zusammenschluß (quasi-)religiöser
Erwartung und weltlicher Orgarusation im neu entdeckten Bundesbegriff vollzog
11ich offenhar erRt nnt.P.r nAr HArll.llRfor<lArnng nP.R Fiir11t.P.nb11ndei;1, dem Y,, B. C.A.RL
FRIEDRICH VON BADEN - als gesellschaftliches Pendant - einen deutschen Ge-
lehrtenbund zur Seite stellen wollte 313• .Uer Übergang läßt sich an Möser und
Johannes von Müller zeigen. MösER erfaßte 1780 unter dem ästhetischen Vorgebot
ihrer Einheit das Grundproblem der neueren deutschen Reichsgeschichte. Er läßt
sie mit der glücklichen Konföderation des Landfriedens 1495 beginnen, hier liege der

aoe CAMPE Bd. 1 (1807), 648 f.; weitere Neuerungen: Bundubekörde, -hülfe, -kreis, -mässig,
-stadt, -verein, -vereinigung, z. T. in Unkenntnis der epätmittelalterlichen Rechtssprache.
a10 ADAM MÜLLER, Elemente, Bd. 2, 197 (e. Anm. 292).
an .ARNDT, Entwurf einer teutechen Gesellschaft (Frankfurt 1814), 27 f.
au MARTIN v. GEISMAR [d. i. EDGAR BAUER], Bibliothek der Deutschen Aufklärer, Bd. 1:
Carl Friedrich Bahrdt (Leipzig 1846; Ndr. Darmstadt 1963), 96 :ff.; GusTAv FRANK,
Dr. Karl Friedrich Rahmt, HiRt. 'fMchenbuch, hg. v. Friedrich v. Raumer, 7 (1866), 310.
Eine Auszählung der ,,Bibliographie der freimaurerischen Literatur", hg. v. AUGUST
WoLJ!'l!'.ru:u, 2 Bde. (Burg 1911/12) bezeugt, da.B seit rund 1830 in den Buchtiteln der mau-
rerischen Literatur der Ausdruck 'Bund' die bis dahin vorherrschenden Titel 'Gesellschaft'
und 'Orden' als Organisationsbezeichnung schnell und entschieden zurückdrängt - ver-
, mutlich ein Indikator für .die Wendung in das liberal-konservative Lager. Vgl. BRUNO
BAUER, Freimaurer, Jesuiten und lliuminaten in ihrem geschichtlichen Zusammenhange
(Berlin 1863). Ferner die Polemik gegen den Großlogenbund, den deutschen Dachverband,
der sich von 1871bis1909 standhaft gegen die Anerkennung des Grand Orient de France
gewehrt hat, in: Die B8.uhütte. Organ für die Gesamt-Interessen der Freimaurerei 52
(1909), 169 ff. EUGEN LENNHOFF / OSKAR PosNER, Internationales Freimaurerlexikon
(Wien 1932) definieren die Freimaurerei im Gegensatz zu den Gebetsbünden als ethischen
.Arbeitsbund. In werktätiger PP,ickterfüllung solle die Welt überwunden und eo gewonnen
werden. Der Freimaurerbund sei die große Synthese vergangener Bünde. Er ist eine religiöse,
die soziale und kulturelle .Arbeit pff,egende, der Wissenschaft und dem Menschentum dienende
kultische Brüdergemeinde, d. k. ein universeller Engbund (als Männerbund).
a1a WOLDEMAR WENCK, Deutschland vor hundert Jahren (Leipzig 1887), 175 :ff., bes. 263.

643
Bund IV. 2. Vom Erwartungshegrlil zUm OrganisationsLegri«

Anfang des neuen Systems, das man seitdem nur habe verbessern oder verschlim-
mern können. Die Konföderationsformel, wurde zur neuen Rei,chsformel, darin er-
blickte er den einheitstiftenden Leitfaden für die vollständige. Reichshistorie, die
einzig und allein in der Naturgeschichte seiner Vereinigung bestehen kann314. Gegen
Ende des Reiches tritt im historischen Rückblick jener Gesichtspunkt in den
Vordergrund, dem die Zukunft gehören sollte. Mit dem Fürstenbund wird der
Bundesbegriff vom ständisch-territorialen zum nationalen Einungsbegriff. Wie
DALBERG seine Hoffnungen darauf setzte, daß der deutsche Bund [seil. der Fürsten-
bund] ein Bund d,es Kaisers und der ganzen Nation wird316 • JOHANNES VON MüLLER
hat 1787 durchzuführen versucht, was Möser gefordert hatte 316 : die Geschichte des
Reiches nicht juristisch, sondern moralisch und politisch als eine Geschichte der
Assoziationen zu schreiben, kraft derer bisher alle Krisen des Reiches - und
Europas - überwunden worden sfilen. Das System der Reichsverfassung und das
europäische Gleichgewicht sah er so ineinander verflochten, daß das Reich als
defensiver Hort der Freiheit das SysLelll 1:1iuhere. Hierin liege auch die Mission des
Fürstenbundes. Der Fürstenbund sei eine ReichspP,icht. Dabei ·wandte sich Müller
nicht an die Höfe, sondern an das Volk und die Publicität, um zugleich in deren
Namen vom Fürstenbund eine gründliche Reichsreform zu fordern, damit auch wir
end.Zieh sagen dürfen: wir sind eine Nation! Da die Deutschen weder von einem
Herrn regiert noch demokratisch leben wollten, sollten sie dem Ideal einer wohlge-
ordneten, in genugsamer Freiheit vorwärts strebenden Bundesrepublik nachkommen.
Aber schnell sah sich der gottgefällige Patriotismus Müllers enttäuscht. Der Bund,
geschlossen im hellsten, verbesserungsfähigsten Jahrhundert, erfüllte nicht die Erwar-
tungen, die an ihn geknüpft wurdensn. ·
War bei Müller der Bundesbegriff noch reichsständisch konzipiert, nur daß sich
sein erhoffter Inhalt unter dem Schutz der Fürsten im Sinne der gelehrten Bürger
wandele - Fürstenmacht und Nationalfreiheit sollten zusammenbestehen318 - ,
so wurde er in der folgenden Etappe, unter der napoleonischen Fremdherrschaft,
zum Begriff gesellschaftlicher Selbstorganisation mit nationaler Zielsetzung -

814 JusTus MösER, Patriotische Phantasien, SW Bd. 7 (1954), 130 ff.


816 Zit. KARL OTMAR FBB:. v. ARETIN, Höhepunkt und Krise des deutschen Für11tenbundes,
Rist. Zs. 196 (1963), 65.
816 JOHANNES v. MÜLLER, l::lW Bd. 24 (Stuttgart, Tübingen 1833): hier S. 8 ff. Darstellung

dea Füratenbundea (1787; 2. Auß. 1788) und S. 259 ff.Teut&chlandaErwartungen vomFüraten-


bunde (1788). Die Zitate: ebd., 88, Anm. 215. 227. 12 (in der ersten Schrift hieß es noch:
der Füratenbund ist ganz natianal, ebd., 234). 266. 273 f. 279. Der hier wohl erstmals auf
Deutschland angewendete Ausdruck einer Bundesrepublik ist den System.a-Lehren ent-
wachsen, wenn er nicht eine direkte Übersetzung der republique f Mirative von Montesquieu
ist (vgl. Anm. 285). Johannes von Müller benutzte ihn auch zur Charakterisierung des die
päpstliche Vormundschaft hinter sich lassenden Staatensystems: die Verbindung einer
eur01Jiiiachen Bundesrepublik; ebd., 16. 266. 279.
817 Vgl. auch ENGELS' Rede in der preußischen Akademie 1787: Der Bund habe dieBritder,

durch gleiches Blut, gleichen Geist, gleiche S'P'fache uns teuer, zusammengeschlossen; zit.
WENcK, Deutschland, 182. Ferner HEGEL, der in seiner Verfassungsschrift (s. Anm. 277)
auf die Bedeutung der Schrift&teller und der öOentlichen Stimme zum Fürstenbund hinweist
(85).
818 MÜLLER, sw Bd. 24, 274.

644
IV. 2. Vom Erwartungsbegrlir zum OrganisatiOD&begrill' Buna

unter dem Vorbehalt staatlicher Duldung. Insofern wurde er zum Gegenbegriff der
revolutionären Clubs, deren Emphase in sich aufnehmend319.
Als Hardenberg 1807 sein Programm demokroiischer Grundsätze in einer monarchi-
schen Regierung formulierte, dachte er an einen Bund, ähnlich dem der Jacobiner,
der ohne ver'brecherische Mittel die größte Wirkung hervorbringen könne, vor allem,
wenn man das Interesse der Bundesglieder auf mehrfache Art dabei ins Spiel zijge320•
Auf diese Herausforderung reagierten 1808 preußische Patrioten, als sie sich -
mit staatlicher Genehmigung - die Verfassung der Gesellschaft zur Übung öffent-
liclter Tugenden, oder des sittlich-wissenschaftlichen Vereins gaben321. Der schnell so
genannte Tugendbund - eine Gesellschaft deutscher Biedermänner, wie er sich auch
stilisierte - war ein Verein der gebildeten Welt mit überständischer Erziehungs-
absicht, begriff sich als voierländisch und weltbürgerlich zugleich, und befleißigte
sich eines gesinnungstüchtigen, sittenpolizeilichen, letztlich unpolitischen Patriotis-
mus und scheiterte sowohl daran - er wurde 1809 verboten - wie an seiner über-
zogenen Organisation. Seine wirksamere, aber weniger Mitglieder zählende lockere
Folgeorganisation war der Deutsche Bund322 (1810), aus dem die Burschenschaften
- von FRIES Jugend-Bundesstaat genannt 323 - und die Freischaren hervorgingen,
weshalb ersieh 1813auflöste. Der „Deutsche Bund" richtete sich schon bewußt gegen
den Rheinbund und trug preußisch-republikanische Züge, die sich noch mehr ab-
zeichneten in den Deutschen Gesellschaften 324, die - auf Anregung Arndts - im
rheinhessischen Raum 1814 entstanden. Der Hoffmannsche Bund gehörte dazu, der
im bewußten Gegenzug gegen den damals entstehenden deutschen Bund (und im
Hinblick auf das preußische Verfassungsversprechen vom 22. Mai 1815) ebenfalls
Teutscher Bund genannt wurde 326. Im Kampf gegen Napoleon 1815 von Preußen
noch mit Sympathie gesehen, wurden diese Gesellschaften bald in den Untergrund
gedrängt.
Der „ Verein der Unbedingten" oder - zunächst in Fremdbenennung- „der Schwar-
zen" bildete sich in diesem Untergrund als lockere Geheimorganisation. Damit ist die
dritte Etappe erreicht. Dieser Verein, aus studentischen Kreisen hervorgegangen
und in die studentischen Verbindungen hineinreichend, sah sich als Kern einer zu
schaffenden liberal-republikanischen Reichsverfassung. Seitdem verläuft die Be-

811 Ein früher Fall des revolutionären Sprachgebrauchs der Aufruf ANDREAS RIED ELS 1792

an alle Deutsche zu einem antiaristokratischen Gleichheitsbund, der eine nationale Netz-


organisation aller BrWZer Bündner zur Vorbereitung einer plötzlichen Verfassungsstiftung
vorsah; abgedr. FRITZ VALJAVEC, Die Entstehung der politischen Sgömungen in Deutsch-
land 1770-1815 (München 1951), 505 :ff. 199.
820 Rigaer Denkschrüt, abgedr. Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein

und Hardenberg, hg. v. GEORG WINTER, Bd. 1/1 (Leipzig 1931), 306.
321 JOHANNES VoIGT, Geschichte des sogenannten Tugendbundes oder des sittlich-wissen-

schaftlichen Vereins (Berlin 1850), 5 und zuletzt RUDOLF IBBEKEN, Preußen 1807-1813
(Köln, Berlin 1970), 108 :ff.
3 22 IBBEKEN, Preußen, 328 ff.

aaa Zit. ERNST RUDOLF HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1 (Stutt-
gart 1957), 722; zum Ganzen 696 ff.
3 H FRIEDRICH :MEINECKE, Die deutscher Gesellschaften und der Ho:lfmannsche Bund
(Stuttgart 1891).
8 26 Bericht DoRows an Hardenberg, ebd., 75 ff.

645
griffsgeschichte des Bundes dichotom.isch: auf der staatsrechtlichen und auf der
- geheimen - gesellschaftlichen Ebene, deren Trennung von der politischen Poli-
zei überwacht wurde.
Der Bundesbegriff der Geheimgesellschaften ist durch drei Kriterien gekennzeich-
net. Erstens ist er - in Umwandlung der religiösen Gewißheit - ein "Oberzeugungs-
begriff. Auf dem Wege freier Ül>eruugung wurde die N O'l'm d,es H anilelns gefunden828•
Es ist der große toMsmutige Bund der echt christlichen Ül>eruugung, daß fetzt nur
durch liebende .Aufopferung für die Brüder, nur durch Tat nach Ohriati VO'Tbild, die
blöde, starre Welt kann.au/geschüttert und vor gllnzlickem VerBUmpfen und Verfatilen
gerettet werden,&27. Die freie Republik und die Vereinigung der Kirchen - mit schon
vorweggenommenem Abendmahl ohne Priester - fielen für die Gie.Bener Schwarzen
zusammen.
Sicher wegen seiner religiösen Emphase setzte sich der Bundesbegriff auch in solchen
ZusammenscblÜBBen durch, die sich selbst 'Vereinigung', 'Verein', 'Gesellschaft'
oder 'Verbindung' nannten. Wenn etwa ALi!' FoLLEN vom Dom des großen Bund-es
deutscher Jugend sprach828, so bediente er sich einer Metapher, die, dem 'Verein'
oder der 'Gesellschaft' zugeordnet, banal geklungen hätte. Diese Termini waren
zudem polizeirechtlich fixiert829 und bedurften immer einer Erläuterung, während
'Bund' -- aufgrund seines religiö~en Hintersinns - ein sich selbst tragender Be-
griff zu sein schien330 • Auch wegen seiner sprachlichen Bündigkeit ging der Bundes-
begriff besonders leicht in die politische Alltagssprache ein.
Zweitens wird der 'Bund' - die Tradition der Freimaurer aufnehmend - zum Mit-
tel, ein geschichtsphilosophiach geplantes Ziel zu erreichen. Wie WILHELM 8Nl:LL
1814 an K. Th. Welcker schrieb: Ein Bund ist nur das Mittel, um dem Volke mehr
Festigkeit und Einheit zu geben, WO'l'an es ihm hauptsächlich fehlt 881• Oder wie es in

12• J. D. F. M.umsnoRI' [d. i. JoH. DANIEL FBRD. NEIGEBA.UB], Aktenmäßiger Bericht


über den geheimen deutschen Bund und das Turnwesen. Geschichte der geheimen Verbin-
dungen der neuesten Zeit, H. 2 (Leipzig 1831), 60. 75: Ohne Ä'U811ahme war wn,.allen der
Grurukatz a'Ullf/U'JW'ocketn, und festgestelU als Norm des Handelns: religiöse und politische
W akrkeiten können nie anders als auf dem Wege freier Überzeugung ins Leben eingeführt
werden (Aussage .ALF FoLLENS, des Bruders von Carl). Dazu HUBERS Begriffsanalyse,
Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 711 ff.
827 Bund der Oberzeugung mit mehrfacher Erläuterung vonFoLLENineinemAufsatz IIH9,

zit. MANNSDORI', Bericht, Bd. 2, 71 f. u. passim. '


328 Zit. ebd., 72.

12 9 Vgl. ALR II, 6: Von Gesellschaften überhaupt und die ergänzenden Kabinettsordres wie
vom 20. 10. 1798 wegen Verkiltung und Bestrafung geheimer Verbindungen u. ff. in: Er-
gänzungen und Erläuterungen des allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten,
hg. v. HEINBicm·GRÄFB', LUDWIG v. RÖNNE, HEINBICH SmoN, 2. Aufl., Bd. 3/3 (Breslau
1843), 511 ff.
3 3 o Der Aussagegehalt von 'Bund' lag zwischen „ Verein", „Gesellschaft" u. ii.. auf der einen
Seite, die immer einer zweckbestimmenden Ergänzung bedurften, und „Harmonie",
„Concordia", „Union", „Eintracht" u.ä. auf der anderen Seite. Diese mittelalterlichen
Einungsbegriffe wurden von den bürgerlichen Ressourcen gerne zur Vereinsbezeichnung
gewählt, weil ihr Sinn aus dem Wort ableitbar schien. Infolge ihrer Bestimmtheit gerannen
diese Ausdrücke - im Gegensatz zum elastischen ~Bund' - zu bloßen Vereinsnamen.
331 Zit. ME!NECKE, Gesellschaften, 72.

646
IV. 2. Vom Erwar111111sbegl'Uf zum Organlsadombegrlff Bund

einem Bundeslied von CARL FOLLEN heißt: Freiheitsbund, t1orf.r<i(JP. dR.i;nem Volke,
d,ei,ner Zeit das Freiheitsbanner kükn/3 32 Der Bund wurde zum Mittel, dem Reich
eine republikanische Verfassung zu schaffen, nach deren Einführung der Bund selber
überflüssig werde. Der Bund diente als politisches Instrument, eine nicht föderative
Verfassung zu stiften.
·Darin enthalten ist das dritte Kriterium. Der Bund wurde zu einer Organisation, die
- nach einem Entwurf WILHELM SNELLS - notwendig drei Klassen kenne; den
geheimen inneren Zirkel, für den allein der .Mittelstand . . . reif sei; die offenen
Vereine, zugänglich für alle Stände, als Plattform der Außenwirkwig; und schließ-
lich das ganze Volk, das erfaßt werden sollte333.
Damit war das strukturelle Modell formuliert, das - nach der Unterdrückung der
bürgerlichen Geheimorganisationen33" - auch die Geheimbünde der emigrierten
Intelligenz und der Arbeitergesellen prägte, die sich seit den dreißiger Jahren im
Ausland bildeten3s&. '
Als 1834 der deutsche Volksverein in den Pariser Untergrund ausweichen mußte,
beschlossen alle Mitglieder: Wir bleiben unter je.der Bedingung Angehörige des Bun-
des336. So entstand der Bund der Geächteten, von dem sich der Bund der Gereckten
(genau: der Gerecktif]keit) 1838 abzweigte. Beides waren Selbstbezeichnungen für die
OrganiRation der unterständischen Handwerker und Arbeiter, zunächst ebenfalls
auf eine deutsche Republik bezogen, aber unter dem Gebot sozialer Gleichheit und
mit dem Endziel des großen Familienbundes der Mensckheit 337 (WEITLING). Infolge
des Beitritts von MARX und ENGELS in den „Bund der Gerechten" 1847 benannte
er sich um in den Bund der Kommunisten, nunmehr von vornherein mit dem An-

au Zit. MANNSDORF, Bericht, H. 2, 70.


333 S. Anm. 331.
3" Zum Bund der Jungen (bzw. Jünglinge) siehe MANNSDORF, Bericht, H. 4. Ferner:
Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheits-
bewegung, hg. v. HERMAN HAUPT, Bd. 1 (Heidelberg 1910), 19; Bd. 3 (1912), 241 ff.
257 u. ö.; Bd. 4 (1913), 66. 96. 239. 248. 287; Bd. 5 (1920), 95. 151; Bd. 8 ll925), 7. 19.
233 ff. 271; Bd. 10 (1927), 44. 110 f.; Bd. 11 (1929), 8 u. ö. für weitere Bünde und Wort-
belege.
836 WOLFGANG ScmEDER, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine

im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830 (Stuttgart 1963).


aae WERNER KowALSKI, Vorgeschichte und Entstehung des B~ndes der Gerechten
(Berlin 1962), 59.
aa 7 Statuten des Bundes der Geächteten (etwa. 1834/5): 1. Der deutsche Bund der Geächteten
iat ein aua deutschen Männern beatehender Bund; ..• 2. Der deutsche Bund der Geächteten
ist eine weaentlich geheime Verbindung. 3. Zweck de& Bunde& ist Befreiung und Wiedergeburt
Deutschlands. - Statuten des deutschen Bundes der Gerechtigkeit 1838 (Art. 1 und 2
sinngleich). 4. Der Zweck de& Bundes ist die Befreiung Deutschlands von dem Joche schimpf-
licher Unterdrückung, Mitwirkung zur Entsklavung der MenschheU und Verwirklichung der
in den Menschen- und Bürgerrechten enthaltenen Grundsätze. Belege in: Der Bund der
Kommunisten. Dokumente und Materialien, hg. von den Instituten für Marxismus und
Leninismus beim ZK der SED und beim ZK der KPdSU (Berlin 1970), 975 ff. 92 ff.
WILHELM WEITLINGS Programm in: ders„ Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein
sollte (1838), hg. v. Wolf Schäfer (Reinbek 1971), 157. Das Glaubensbekenntnis eines
Bündlers (Geächteten) gegen einen Bwndesataat(Foederativataat), aber für den Bruderbund
der Völker, zit. Kow.A.LSKI, Vorgeschichte, 189 f.

647
Buna IV. 2. Vom Erwartuug11Lejrifr zum Organlsatlonsbegrlll

spruch, eine internaLionale Verbindung zu sein. Die Fassungen, die vom Entwurf
zum Statut führen, indizieren die politische Konzentration. Sie verschränkte voll-
ends die geschichtsphilosophische und die organisatorisch-planerische Komponente
des Bundesbegriffs338• Anfangs auf die Emanzipation schlechthin bezogen, sollte der
Bund jetzt zum Instrument der politischen Machtergreifung werden. 'Bund' wurde
damit zum Inbegriff einer straffen und zentral zu steuernden Organisation, die nach
außen die Arbeitervereine zu durchdringen hatte, im Namen einer Partei - die
Kommunisten bilden leider noch immer keine feste Partei 339 - , die erst zu schaffen sei.
Dementsprechend wurde aus dem kommunistischen Glaubensbekenntnis des Bundes
das Manifest der kommunistischen Partei (1848) 340•
Wie die Zentralbehörde an den Bund 1850 verlautbarte, als er von der als Sonder-
bund verfemten Arbeiterverbrüderung überholt worden war 341 : der Bund müsse dahin
wirken, neben den oUiziellen Demokraten eine selbständige geheime und öffentliche Or-
ganisation der Arbeiterpartei herzustellen und jede Gemeinde zum Mittelpunkt und
Kern von Arbeitervereinen zu machen342 ; so wurde 'Bund' - bis zum endgültigen
Zerfall des „Bundes der Kommunisten" in der Emigration 1852 - schließlich zum
Grenzbegriff, der den Übergang aus der illegalen Untergrundtätigkeit in die später
dem Staat abgerungene Öffentlichkeit einer politischen Partei indiziert.
Im Maße, als der Ausdruck 'Partei' den des 'Bundes' zurückdrängt, und das gilt
allgemein für die fünfziger und sechziger Jahre, wird 'Bund' frei für die Selbstbe-
zeichnung von Interessengruppen und 'Verbänden', die sich überparteilich organi-
sieren.

888 Statutenentwurf des Bundes der Kommunisten (9. Juni 1847), Art. 1. Der Bund be-

zwe,ckt die Entsklavung der M eMchen durch die Verbreitung der Theorie der GütergemeiruJchaft
und die baUlmöglich8te praktiache Einführung derselben. - Endfassung vom. 8. Dez. 1847:
Der Zweck des Bundes ist der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Auf-
hebung der alten, auf KlassengegeruJätzen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Grün-
dung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum; Der Bund der Kom-
munisten, 466. 626.
889 Aus der Ansprache der Volkshalle des Bundes der Gerecht.an an den Bund, unmittelbar

nach den Verhandlungen MOLLS mit Marx und Engels im Februar 1847: ebd., 454.
HO Ebd., 470. 589. 674.
841 FROLINDE BALsElt, Sozial-Demokratie 1848/49-1863. Die erste deutsche Arbeiter·

organisa.tion „Allgemeine Arbeiterverbrüderung" nach der Revolution, Bd. 1 (Stuttgart


1962), 201 f. Siehe ENGELS' Urteil über die 1848/49 weit überlegene Konkurrenzorganisation
als reiner Sonderbund, in: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten (1885), MEW
Bd. 21 (1962), 219. Ferner Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom Juni 1850,
MEW Bd. 7 (1964), 306 ff. Schon die dritten Statuten des Kommunistenbundes nach
seinem Zerfall in der Revolution, Ende 1848 ohne Marx' Mitwirkung in London verfaßt,
zeigen die Anpassung an die deutsche Situation: Art. 1 Der Zweck des Bundes ist die Ein-
f'Uhrung einer einigen, unteilbaren, sozial-dem<>kratischen Re'jYUhlik; Der Bund der Kommu-
nisten, 876. Die vierten Statuten vom Dezember 1850 bei WILHELM WERMUTH /WILHELM
STIEBER, Die Com.munisten-Verschwörungen, Bd. 1(Berlin1853), 248 ff.
au Ansprache der Zentralbehörde an den Bund, März 1850, MEW Bd. 7 (1964), 248 f.;
Enthüllungen, 130. Vgl. auch MA:Rx' rückwirkendes Wunschurteil 1852: Der 'Bund der
Kommunisten' war d,aher keine konspiratorische Gesel"!Bchaft, sondern eine Gesellschaft, die
die Organisation der proletarischen Partei im geheimen bewerkstelligte. Ziel war die Biklung
••• der 0'P'JJ08itWn,spartei der Zukunft; MEW Bd. 8 (1960), 461.

648
IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bundesstaat' (1806-1871) Bund

Die Lassalleaner und die Marxisten schlossen sich 1863 als „Verein" bzw. 1869 als
„Partei" zusammen, und die erste Internationale bediente sich 1864 der allgemein
verständlichen, eine Übersetzung erübrigenden Benennung einer „Internationalen
Arbeiter-Association". 'Bund' rückte seitdem mehr in das konservative Lager, um
dort berufsständische Organisationen zu bezeichnen, wie den Bund deutscher Land-
wirte343, während er im marxistischen Lager - 1897 - nur noch im Allgemeinen
Ji1<Zisc1ten Arbeiter-Bund in Rußland und Polen auftauchte, kurz Bund genannt und
so von rechts und links bekämpft344.

3. Vom 'Staatenbund' zum 'B.indesstaat' (1806-1871)


Die Geschichte des Begriffes 'Bund' als eines staats~ und völkerrechtlichen Aus-
drucks ist auch eine Abfolge juristischer Definitionen. Die vorhandenen Darstellun-
gen geben über die Distinktionen gute Auskunft 345 • Selbst die Zusammensetzungen
'Bundesstaat' und 'Staatenbund' blieben dauernd definitionsbedürftig, ohne daß es
jemals zu einer einhelligen Meinung gekommen wäre. Hinter den juristischen Po-
sitionen zeichnen sich nämlich politische Kräfte und Konstellationen ab, die die
Verfassungstermini - ähnlich 'Demokratie' oder 'Monarchie'~ politischen Kampf-
begriffen angenähert haben.
Der politische Stellenwert der Bundesbegriffsbildungen ist seitdem ablesbar an
ihren Einordnungen in historisch~genetische und geschichtsphilosophische Flucht-
linien. Der Kampf um eine optimale Verfassung ließ sich im Erfahrungsraum der
Industrialisierung nicht mehr mittels der aristotelischen Verfassungstypologie hin-
reichend begreifen. Es kamen allseits Bewegungskoeffizienten in die Verfassungs-
begriffe, die eine Einpassung der sich verschiebenden sozialen Kräfte forderten und
die die Suche nach der optimalen politischen Handlungseinheit - im 19. Jahrhun-
dert der Staatsnation - leiteten. Im deutschen Sprachraum ist dafür kennzeich-
nend die Wortbildung von 'Staatenbund' und 'Bundesstaat', deren gleitende Zu-
ordnung oder deren antithetischer Gebrauch einen tiefgreifenden Verfassungswan-
del indizieren.
SCHLEIERMACHER setzte einen Wandel bereits voraus, als er im März 1814 über die
Begrifje der verschiedenen Verfassungsformen seinen Akademievortrag hielt 348 • Er
historisierte die aristotelischen Verfassungstypen als Entwicklungsstufen, die welt-

848 HANS-JÜRGEN PulILE, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservativismus


im wilhelminischen Reich 1893-1914 (Hannover 1966) und grundsätzlicher Überblick
bei ERNST RunoLF HUBER, Das Verbandswesen des 19. Jahrhunderts und der Verfassungs-
staat, in: Festgabe für Theodor Maunz, hg. v. IIANs SPANNER, PETER LERCHE u. a. (Mün-
chen 1971), 173 ff.
814 Juuus BRAUNTHAL, Geschichte der Internationale, Bd. 1 (Hannover 1961), 239;
DmTRIOH GEYER, Lenin in der russischen Sozialdemokratie. Die Arbeiterbewegung im
Zarenreich als Organisationsproblem der revolutionären Intelligenz 1890-1903 (Köln,
Graz 1962), 104. 108. 333. 349. 355. 380 ff. Der Austritt des 'Bundes' aus der Sozialdemo-
kratischen Arbeiterpartei Rußlands erfolgte 1903, weil sich seine föderalen Minimalfor-
derungen nicht mit der Zentralisierungstendenz vertrugen.
345 S. Anm. 23i, bes. BRIE und EBERS. Für die Bundesverfassungsgeschichte und für die

systematische Aufarbeitung der Bundesstaatslehren des 19. Jahrhunderts HUBER, Ver-


fassungsgeschichte, 4 Bde. (Stuttgart 1957-1969; s. Anm. 323).
au ScULEIERMACBER, SW 3. Abt., Bd. 2 (Berlin 1838), 259. 276 f.

649
Bund IV. S. Vom 'Staatenbund' zum 'Bandeutut' (1806-1871)

geschichtlich von der Demokratie über die Aristokratie zur Monarchie hinführten.
Zugleich differenzierte er die herkömmlichen drei Formen durch die neuzeitliche
Lehre von der Gewaltenteilung, die er historisch unterschiedlich den Herrschafts-
weisen einfügte. Dabei war seine methodische Prämisse, den Inhalt dieser Begriffe
nicht als gegeben zu behandeln, sondern vielmehr genetisch aufzufassen. Der historische
Zugriff war zugleich ein geschichtsphilosophischer Entwurf, nach dem die eigene
Situation die Bildung einer Republik der-höheren Ordnung, nämlich den föderativen
Staat, fordere. Darin werde die Einheit des Volkes durch eine repräsentative Versamm-
lung von Abgeordneten der einzelnen Staaten dargestellt. Aber das Ganze schwankt,
solange das höhere Prinzip nirgends ein reines Organ habe. Denn es sei offen, ob das
Ganze ein Staat sein soll aus ungleich gebildeten und in gewissen Grenzen noch selb-
ständigen Teilen, oder statt des Bundesstaates nur ein Staatenbund, nur eine unbe-
.~timmte Vereinigung mehrerer Staaten auf so lange, als ihre Ansichten nicht zu weit aus-
einandergehen. Die Lösung dieser Antithese erwartete er vom zukünftigen Staat der
höchsten Ordnung, in dem die monarchische Form mit der konstitutionellen Organi-
sation des Volkes zusammenstimme. Schleiermacher kennzeichnet die Konvergenz
der historischen Fragestellung mit der geschichtsphilosophischen Perspektive, die
auch die Begriffsgeschichte der Föderativverfassungen in die politische Reflexion
einholte.
Ausdrücke, die in ihrer juristischen Fassung Zustände definieren sollten, werden
durch ihre geschichtliche Einordnung zu Bewegungsbegriffen. Dabei kann man drei
geschichtsphilosophische Positionen herausschälen, die nicht durchweg identisch
sind mit politischen Parteigruppierungen, was den Sprachgebrauch besonders viel-
deutig machte. ·
Erstens bezeichnet die Option für den Staatenbund (oder -verein) gegen den Bun-
desstaat eine Kampfstellung' gegen Zentralisation und Nationalisierung der
Bundesverfassung. Sie wurde vollzogen von Konservativen und föderalen Demo-
kraten. Beide wollten eine Bewegung verhindern, die - von einer zweiten Position
her vorangetrieben - den Bundesstaat als optimale Verfassung definierte, die den
Staatenbund zu überwinden habe. Diese Position wurde vorzüglich vom liberalen
Bürgertum, aber auch von Vertretern einer preußischen Hegemonie eingenommen.
Die dritte Position schließlic,h wurde bezogen von jenen, die - wie Schleiermacher
- die geschichtliche Entwicklung vom Staatenbund über den Bundesstaat hinaus
zu einem einheitlichen Nationalstaat hinführen sahen und die - Etatisten, Repu-
blikaner oder Sozialisten - diese Entwicklung voranzutreiben als ihre Mission be-
trachteten. Anders gesagt: entweder war der Staatenbund die bestmögliche Ein-
heit, oder der Bundesstaat oder beide waren nur Übergangsphasen zu einer Einheit,
die den Bund aufheben sollte. Universale, überstaatliche Föderationspläne waren
aus allen drei Positionen ableitbar, wenn auch der Kampf um einen Nationalstaat
auf Kosten der deutschen Bundesverfassung von 1815 geführt werden mußte.
Je nach der geschichtsphilosophischen Perspektive, in der die Bundesbegriffe ver-
wendet wurden, hatten sie einen anderen Stellenwert. Sie wurden zu Kampfbe-
griffen, die politische Fronten klären, die Entwicklungen vorantreiben oder ver-
hindern sollten. Obwohl alle drei Positionen im ganzen 19. Jahrhundert vertreten
waren, zeichnet sich institutionsgeschichtlich - und zwar quer durch die Parteiun-
gen - ein Trend ab, der terminologisch einwandfrei· als Weg vom Staatenbund zum
Bundesstaat beschrieben werden kann. Insofern indiziert die Begriffsgeschichte der

650
IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bundesstaat' (11116-1871) Bun4

Bundesausdrücke einen strukturellen Wandel. Dafür sind drei Tendenzen kenn-


zeichnend 341 • Einmal handelt es sich um die Stärkung der Bundesgewalt auf Kosten
der Mitglieder, eine Stärkung, die den Staatenbund von 1815 bis zu seiner Krise in
den sechziger Jahren - schon rein definitorisch - auf einen Bundesstaat hindräng-
te. Damit verbunden ist - zweitens - eine Zunahme gemeinsamer Gesetze und
Institutionen, etwa polizeilicher oder handelsrechtlicher .Art. Schließlich schiebt
sich - drittens - als neue Legitimation eine nationale und demokratische Basis
unter den deutschen Bund von 1815, die den Staatenbund 1848 vorläufig sprengte
und 1867/71 endgültig in einen - engeren - Bundesstaat verwandelte. Allen Kri-
terien gemeinsam ist die zunehmende Verstaatlichung des Bundes, die im Bundes-
Sta a tauf ihren Begriff gebracht worden war. Daß dieser Weg nur durch Auflösung
des preußisch-österreichischen Dualismus zugunsten des „monarchischen Bundes-
staates" unter preußischer Hegemonie beschritten wurde, zeigt das strukturelle Pro-
blem der Nationalisierung und Industrialisierung in seiner historischen Einmalig-
keit, dem ein spezifuich deutscher Sprachgebrauch korrespondierte.
Die Ausdrücke 'Staatenbund' und 'Bundesstaat' haben sich - wie die Wörterbuch-
ebene bezeugt- in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nur langsam
durchgesetzt und in groben Umrissen geklärt. Weder ADELUNG 1793/1801 noch der
BROCKHAUS 1817 verzeichnen die Stichworte. CAMPE definiert 1807 als neues Wort
den Bundesverein oder die Bundesvereinigung farblos als Verein, die Vereinigung
mehrerer Personen oder Staaten in einem Bund, zu einem Ganzen 348• 1810 taucht bei
ihm der Staatenbund auf, ähnlich unpräzise als ein Bund, eine Verbindung mehrerer
Staaten zu einem Zwecke beschrieben und sinngleich mit Staatenverein, wofür tradi-
tionell der Achäische Bund angeführt wird 349 • Erst der BROCKHAUS 1827 bringt bei-
de Ausdrücke mit einem oft wiederholten Unterscheidungsmerkmal: Bundesstaat
(Union), eine Verbindung mehrer Staaten zu einem Ganzen. Der gemeinschaftlichen
Staatsgewalt müßten sich alle Teile unterwerfen. Er wird dem Staatenbunde, der
Föderation, entgegengestellt, welcher attch durch eine Verbindung mehrer Staaten ent-
steht, die aber sich nur zu gewissen Zwecken, z: B. Verteidigung nach außen, vereinigen.
Die Unterwerfung unter gemeinschaftliche Anordnungen· beziehe sich nur auf den
besonderen Zweck, während die Staaten in der Regel ihre Unabhängigkeit und Selb-
ständigkeit beibehalten. Der deutsche Bund sei ein Staatenbund, die Vereinigten
Niederlande seien ein Bundesstaat und die Vereinigten Staaten von Nordamerika
näherten sich mehr der Union als der Föderation, wie es überhaupt vielfache Ab-
stufungen gebe 360• In diesem Sinne hatte schon ERscH/GRUBER 1825 den Staaten-
bund in der Mitte zwischen dem einfachen Bundeswesen (der befristeten Bündnisse)
und dem Bundesstaat angesiedelt. Über die juristischen Definitionen hinaus neu
war bei Ersch/Gruber eine .Art Geschichtsontologie des Bundeswesens. Er schildert
die Triebfedern für einen Volksbund, der am Anfang aller Staatsbildung stehe. Das
Familienband führte zum Bunde ... , die Begriffe Mahlzeit und Gemeinschaft flossen

a& 7 Hu.BER, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 602 :ff.


m CAMPE Bd. l (1807), 649.
m Ebd., Bd. 4 (1810), 565.
m BROCiXHA.us 7. Aufl., Bd. 2 (1827), 299; im Bd.10 (1827) fehlt das Stichwort 'Staaten-
bund'.

651
Bund IV. 3. Vom 'Staatenhund' zum 'Bundes&taat' (1~1871)

ineinander, wie in km deutschen Wort Genossenschaft(koine, coena). Darauf habe sich


das Staatsleben aufgebaut, und der geschichtsphilosophische Aspekt rückte Ür-
sprung und Ziel zusammen: Wenn das Bundeswesen nur der Keim des Stats ist, so ist
es doch wieder als Bundesstat seine höchste Blüte - woraus eine verschlüsselte Kritik
am deutschen Bund von 1815, der nur ein Statenbund sei, abgeleitet wirdau.
Dieser sich einbürgernde Sprachgebrauch hat den Ausdruck 'Föderalismus' im
Deutschen stark zurückgehalten352• Während in l\fozINS „Nouveau Dictionnaire"S&a
1811 noch das Bewegungsmoment durchklingt - FliUralisme ( systeme du gouverne-
ment fedbatil) das System, Bundesstaaten-verfassungen zu bi"lden -, historisiert
CAMPE das Fremdwort 1813 bewußt in einem abschätzigen Sinne: Föderalisme, auch
Föderalismus sei die in der Französischen Revolution verketzerte Ansicht, Verbin-
dung sei besser als Einheit und sei am besten durch Verbündungssucht zu übersetzen.
Allgemein könne man Verbündungslehre oder Verbündungsliebe dafür sagen3H.

a) Der Rheinbund. Der geschichtliche Anstoß zum Definitionsstreit über die Staa-
tenverbindungen ging 1806 von der Gründung des Rheinbundes aus. Die Rhein-

861 ERSCH/GRUBER, 1. Sect„ Bd. 14/15 (1825), 22.


Häufige, keineswegs zusammen auftretende Unterscheidungsmerkmale sind im La.ufe des
19. Jahrhunderts:
Staatenbund Bundesstaat
völkerrechtlicher Vertrag staatsrechtliches Grundgesetz
Zweck: Schutz nach außen auch Wohlfahrt im Innern
Souveränität bei den Einzelstaaten geht - teilweise - auf den Bundesstaat
über
kollegiale, sociale Gewalt politische, StaatsgeWa.lt
auswärtige Gewalt bei den Staaten geht auf den Bund über
Einzelheere Bundesarmee
· gemeinsame Organe verlangen Einstimmigkeit gestatten Mehrheitsbeechlüese
Bund ohne Legislative mit Legislative
ßund ohne Finanz- und Steuerhoheit mit konkurrierender Finanz- und Steuer-
. hoheit
Schiedsgericht ohne Zwangsgewalt Obergericht mit Bundeeexekutive
keine repräsentative Vertretung Nationalrepräsentation
nur Staaten-Bürgerrechte daneben gemeinsames Bundesbürgerrecht
Staatenbund auflösbar Bundesstaat ewig
Rechtsverhältnis (La.band) Rechtssubjekt (La.band)
ungleichartiger Vertrag zwischen Parteien Gesamtakt zwischen , ,Parteigenossen"
(Kuntze 1892)
Vereinbarung

862 Da.zu ERNST DEuERLEIN, Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grund-

lagen des föderativen Prinzips, Beilage 1 und 5 zu: Das Parlament (1968), Beilage 1, 5 f.
an MoZIN, franz. Tl., t. 1 (1811), 648; 'federation' wird nur mit Bund und Verb1indung
übersetzt, 'confed6ration' nur mit Bund, Bündniaa; ebd., 273. 648;
au CAMPE, Fremdwb., 2: Auß. (1813), 324.

652
a) Der Rheinbund Bund

bundfürsten einigten sich par une oon/eilbation particuliere sous le nom d' Etats oon-
/edbes du Rhin (Art. 1) 355• Zugleich schloß die Konföderation kollektiv und jeder
Staat einzeln mit Frankreich eine alliatiu (Art. 35). Bei ihrer deutschsprachigen
Austrittserklärung3 56 aus dem Reich stilisierten sich die Staaten als Bund, der den
neuen Zeitumständen angemessen sei, während das Band, welches bisher die verschie-
denen Glieder des deutschen Staatskörpers mit einander vereinigen sollte ... schon au/-
ge'löst sei. In einer Vorstufe dieser Deutung war das Reich auf dem Preßburger
Frieden 1805 (Art. 7) bereits provokativ als Oonfederation germanique stilisiert
worden 357• Während FRANZ II. bei der Niederlegung seiner Kaiserkrone noch am
Ausdruck Staatskörper des deutschen Reiches358 festhielt, sprachen die Rheinbund-
fürsten nur mehr vom Verband, aus dem sie austräten, und interpretierten ihre con-
fäderation particuliere als Konsequenz aus dem bisherigen System, das die mächti-
geren Reichsstände - durch ihre Trennungspolitik - längst verfolgt hätten. Die
Verantwortung am neuen Bund wurde der alten Reichsverfassung zugesprochen,
auch wenn das „System" dureh einen partikularen Bund fortgesetzt wurde. Die
Kontinuität wurde aber nicht reichsrechtlich, sondern aus ~em Bündnissystem ab-
geleitet und nunmehr rein völkerrechtlich verstanden: Endpunkt der Geschichte
seit 1648. An die Stelle des Kaisers trat der Protecteur (Art. 12), der nach seiner
fligfm1m Rrklii.nmg nicht mehr iiie Rolle eineR S11,rerains spielen wolle, sondern der
vielmehr dank seiner überlegenen Macht ( superiorite de notre puissance) die Unab-
hängigkeit und 8ouveränität der einzelnen ]fürsten des Rheinbundes sicherstelle 3119•
Da die geplanten Bundesinstitutionen nicht zustande kamen und insofern die Sou-
veränität der Rheinbundstaaten weit stärker gewahrt schien, als der Vertrag es
vorsah, da aber zugleich Napoleon mit dem Rheinbund verfassungswidrig um-
sprang - es kam ihm nur auf Geld und Leute an, die er brauchte360 - , so entstand
ein Widerspruch zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, wie er
im alten Reich mit seinem Gewohnheitsrecht nicht greifbar war. Das hatte eine
doppelte Folge: die Bundes-Staatslehren des Rheinbundes blieben infolge der Tren-
nung von Recht und Macht politisch farblos, der hegemoniale Charakter wurde zu-
gunsten Napoleons des Großen 361 ausgeklammert, so daß - zweitens - der kon-
krete Rheinbund in seiner Weise ebenso anfällig wurde für eine Ideologiekritik wie
der religiös durchtränkte Bundesbegriff. Der Rheinbund konnte leicht von seinen

356 Rheinbunds-Akte, abgedr. HUBER, Dokumente, Bd. 1 (1961), 26 ff. (s. Anm. 2).
368 Ebd., 32 f.
367 ZEUMER, Quellensammlung, 531. Mit der Übernahme des Ausdrucks einer 'confedera-

tion' aus der französischen Reichsstaatslehre ist ein Wissenschaftsausdruck völkerrechtlich


relevant geworden: das Reich existierte 'terminologisch' nicht mehr. Vgl. dazu Anm. 285.
8118 HUBER, Dokumente, Bd. 1, 36.
368 Brief Napoleons an Dalberg, ebd., 36 f.
880 Napoleon zu Metternich im Winter 1807/08: je ne vew: de la fhleratimi, que du hommea et

de l'argent; zit. MICHAEL DoEBERL, Rheinbundverfässung und bayrische Konstitution,


Abh. d. Bayr. .Aka.d. d. Wiss., philos.-hist. Kl., 5 (München 1924), 39 f. .
3 11 Vgl. Betrachtungen über die Souveränität der Rheinischen Bundesfürsten, in: Der

Rheinische Bund, hg. v. PETER ADOLPH WINKOl'l', Bd. 2 (Frankfurt 1807), 416.

653
Band IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bandesstaat' (1806-lBn)

Gegnern als Schimpf- und Spottoonstitution 882 entlarvt werden, und im Laufe der
deutschen Einigungspolitik boten sich schnell Schlagworte an wie Rheinbündelei
oder Rheinbundgelilste863, um die Politik Frankreichs zu umschreiben oder die der
deutschen Mittelstaaten----' je nach Gelegenheit- des Partikularismus zu zeihen, .....,...
eine Deutung, die dann historisch auf den sogenannten ersten Rheinbund zurück-
wirkte.
Nach seiner Stiftung wurde der Rheinbund zunächst Staatenbund, aber auch Bun-
desstaat benannt - z. B. in WINKOPPS Z6itschrift „Der Rheinische Bund"-,
wobei das Modell und die Selbstbezeichnung der Schweizer Mediationsverfassung
von 1803 - die Schweiz sei von der N at,ur selbst zu einem Bundesstaate bestimmt _a84
leitend gewesen sein mögen. Indes hat die Staatsrechtslehre schnell - in Anlehnung
an Pütter und Kant - den Gegensatz von Völkerbund bzw. Staatenbund auf der
einen Seite und von Staatenstaat, Völkerstaat oder Bundesstaat auf der anderen Seite
artikuliert, um den Unterschied zur alten Reichsverfassung herauszuarbeiten 385 •
Als entscheidend galt, daß UWllllt1hr iliti gtiurninsame Obergewalt entfallen sei (vom
foedus clientelare wurde nicht gesprochen), Deutschland also kein Staatenstaat
mehr sei - was K. S. ZACHARIAE schon 1804 für das sogenannte <leutsche Reich fest-
gestellt hatte-, sondern ein Staatenbund388 • Oder wie KLÜBER 387 sagte: ein Staa-
tensystem ( Syrt1ma civitatum fosderatarum s. arohaioorum) , ... ei1i Verein te·ut.~dw:1·
Souverainstaat,en. Beide Autoren waren sich mit BERG un<J BEHR888, anderen Rhein-
bundinterpreten, darin· einig, daß der Verband nur durch einen völkerrechtlichen
Gesellschaftsvertrag zustande gekommen sei, der keine politische Oberhoheit er-
zeuge, sondern höchstens eine politische Social- oder Oollegia"l-Gewalt, die der Souve-
ränität entbehre. Der Rheinbund hat,, als solcher, kein Gebiet,· nur die Bundesfürsten
sind mit souveränem Staatsgebiete versehen 389 • Damit wurde eine Antithese zwischen
dem völkerrechtlichen Charakter eines Staatenbundes und dem staatsrechtlichen
Charakter eines Bundesstaates artikuliert, der - trotz seiner eip.pirischen Unhalt-

362 Vgl. FRIEDRICH GENTZ, Gedanken über die Frage: Was würde das Haus Österreich

unter den jetzigen Umständen zu beschließen haben, um Deutschland auf eine dauerhafte
Weise von fremder Gewalt zu befreien (1808): die rheinische Konföderation weder rf.r.hair.h
noch faktisch je zur Wirklichkeit gediehen ist; Staatsschriften und Briefe, hg. v. HANS v.
EoKABDT, Bd. l (München 1921), 184.
aea BISMA.RCK, Gedanken und Erinnerungen, Bd. l (Stuttgart 1898), 342; Bd. 2, 72. Ferner
Friedrich Wilhelm IV. an Franz Joseph 1852: rheinbundschwangere Mittelstaaten; ebd.,
Bd. 1, 84, ferner 183. 333. 342; Bd. 2, 40. 49. 52. 83. 89. 90.
m NABHOLZjKLlm, Quellenbuch, 185 (s. Anm. 42). Vgl. Actensammlung aus der Zeit
der Helvetischen Republik (1798-1803), hg. v. JOHANNES STRICKLER, Bd. 9 (Bern 1803),
1225.-1231 f.
au Dazu BRIE, Bundesstaat, 32 ff. ls. Anm. 231).'
318 Geist der neuesten Deutschen Reichsverfassung, Zs. f. Gesch. u. Politik 1 (1804), 34 ff.

317 JoH. LUDWIG KLüBER, Staatsrecht des Rheinbundes (Tübingen 1808), 4.

m GÜNTHER HEINRIOH v. BERG, Abhandlungen zur Erläuterung der Rheinischen Bundes-


acte (Hannover 1808); WILH. JosEF BEHR, Systematische Darstellung des Rheinischen
Bundes aus dem Standpunkte des Öffentlichen Rechts (Frankfurt 1808). Die weitere Lit.
bei KLÜBER, Staatsrecht.
m KLÜBEB, Staatsrecht, 120. 123, §§ 93. 97.

654
b) Der deutsche Bund 1815 Bund

barkeit, wie RoTTECK 310 zu Recht feststellte - immer wieder in die Definitionen
einging 371 • ZACHARIAE hatte als erster den Gegensatz im deutschen Sprachgebrauch
formUliert, indem er die Auflösbarkeit durch Dissens für die societas eines Staaten-
bundes beanspruchte: I nterest ... , s·i jus spectes, inter civitatem, qua plures oivitates
continentur, et inter societatem civitatum foeileratarum hoc (Bundes-Staat - Staaten-
bund), quodsocietas dissensu singulorum sociorum dissolvitur, litesque inter socios ortae
non nisi transactione componi possunt; quae in civitate secus se habent312 .
Die Versuche, den Rheinbund durch seine Ausweitung und napoleonische Führung
als universitas (Zachariae 1810)3 7 3 oder als germanischen oder deutschen Bund 37 ' zu
begreifen, wurden von den Ereignissen überholt. Eingewirkt haben freilich die
Definitionen auf das juristische Selbstverständnis des Deutschen Bundes von 1815,
der sich wie der Rheinbund als Verein souveräner Fürsten zusammenschloß.
h) Der deutsche Bund 1815. Die Struktur der deutschen Bundesverfassung von
1815 war durch das Kräfteparallelogramm der europäischen Großmächte in ihren
Grundrissen vorgegeben. Daß DeuL~chlanu nicht wieder als Reich, sondern als
föderales Gebilde wieder errichtet würde, zeichnet sich in allen Phasen des Kampfes
gegen Napoleon ab: So schon in Bartenstein 376, wo sich 1807 Rußland und Preu-
ßen auf eine künftige feMration constitutionelle Deutschlands festlegten, die durch
eine besondere union intime et permanente der beiden Hegemonialmächte PTen ß1m
und Österreich ( ces deux puissances prepondbantes) geleitet werden solle; -:-- so bei
GENTZ, der 1808 GTundlinien einer deutschen Föderativ-Verfassung skizzierte,
in der der österreichische Kaiser als erbliches Oberhaupt und vorsitzender Bundes-
genosse des freien F lJderativ-Staate.s die exekutive Macht in sich vereinigen sollte378 ; -
so für den FREIHERRN VOM STEIN, der 1812/13 die Einheit seines Vaterlandes an-
strebte, sich aber in Anbetracht der Machtkonstellation zu einem Auskunftsmittel,
zu einem Übergang bekannte. Deutschland solle in zwei größere Bundesstaaten auf-
gelöst311 werden, die sich an die beiden östlichen Vormächte anschließen, wobei der

370 RoTTECK, Lehrbuch des Vernunftrechts, Bd. 3 (1834), 146 ff.: „Von den gesellschaft-

lichen Verbindungen unter den Völkern, oder von Staatensystemen", wo Rotteck gegen
Klüber feststellt, daß die Unterscheidung zwischen Gesellschafts- und Staatsgewalt un-
zulänglich sei, denn die Souveränität der Glie,der erfahre in jedem Fall so viele Verminderung,
als der Bundesgewalt an Rechten übertragen worden (152; s. Anm. :107).
871 Dazu CARL ScHMI1T, Verfassungslehre, 2. Aufl. (Berlin 1954), 366.

372 K. S. ZACHARIAE, Jus publicum civitatum quae Foederi Rhenano ascriptae sunt.

(Heidelberg 1807), 71, § 60•.


878 Vgl. EBERS, Staatenbund, 49.
874 Siehe EDUARD ZIEHEN, Winkopps „Rheinischer Bund" (1806---1813) und der Reichs-

gedanke. Ein Beitrag zur Überwindung der Mainlinie, Arch. f. hessische Gesch. u. Alter-
tumskunde NF 18 (1933), 300.
376 Art. 5, zit. PUTTKAMER, Föderative Elemente, 67 (s. Anm. 211); Vgl. dagegen die Be-

zeichnung in der Schweizer Mediationsakte von 1803: C0118titution federale, die auf eine engere
Verbindung hinweist; LE FUR/PosENER, Bundesstaat und Staatenbund, 160 (s. Anm. 231).
8 7 8 GENTZ, Staatsschriften und Briefe, Bd. 1, 200 f. (s. Anm. 362).
377 F1m. VOM STEIN, Denkschr. für Hardenberg (Ende August 1813), Br. u. Sehr., Bd. 4

(1963), .245; vgl. Denkschr. für Alexander 1. (6./18. 9. 1812), ebd., Bd. 3 (1961), 751:
Si le retablis&ement de l'ancienne monarchie est im'[XJssible, alors encore le -partage de l'.Alle-
magne entre l' A utriche et la Pru&se serait preferable. Die verschiedenen Bundespläne Steins
zusammengefaßt von HUBER, Verfasslingsgeschichte, Bd. 1, 510 ff.

655
Hund IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bundesstaat' (1806-18ß)

Besitzstimd von 1803 wieclerhergestellt werden 11ofüA, nm durch Verkleinerung der


Glieder den Trieb nach partikularer Unabhängigkeit abznkapRAln. Ähnlich argu-
mentierte HUMBOLDT im Dezember 1813378 • Deutschland bleibe zwar im Gefühle
seiner Bewohner, und vor den Augen der Fremden, Eine Nation, Ein Volk, Ein Staat.
Aber da man für diesen Staat keine wirkliche Verfassung erfinden könne, bleibe man
bescheiden beim Geringeren stehen, und bilde bloß einen Staatenverein, einen Bund.
Es komme darauf an, die gesamte Bildungsnation mit den beiden Hegemonial-
mächten so zu verbinden, daß die politische Übereinstimmung zwischen Preußen
und Österreich der feste Punkt außerhalb des Bundes bleibe: man könne beiden
Mächten in Dingen, von deren Entscheidung ihre eigene und ganze, nicht bloß deutsche
Existenz abhängt, nie durch Verfassungen und Formen die Hände binden. Kraft
dieser politischen Diagnose sah Humboldt keinen anderen Weg: Die Richtung
Deutschlands ist, ein Staatenverein zu sein, - der freilich auf ewige Zeiten zu schlie-
ßen sei. Hierdurch würde sich dies Bündnis von gewöhnlichen Bündnissen unter-
sch.eid.en. Da11 Kriterium der Do.uor gohört seitdem zur Bestimmung eine11 BUllcle11,
meist auch des Staatenbundes, im Gegensatz zum Bündnis. Die Bürgschaft der
Dauer erblickte Humboldt darin, daß Österreich und Preußen gemeinsam die aus-
wärtige Gewalt des Bundes innehaben sollten.
Es kennzeichnet diese Pläne, daß alle ProhlAmP. angerissen wurden, an denen die
patriotischen Wünsche nach einer deutschen Einheit, wie sie etwa Arndt und
seinesgleichen hegten, scheitern sollten: eine .14'öderation mit habsburgisch-hege-
monialer Spitze wurde angeboten; dualistische Lösungen mit einer Nord-Süd-
Trennung oder mit einer Ost-West-Teilung wurden vorgeschlagen, so wie trialist.i-
sche Konzeptionen auftauchten 379 • Allen gemeinsam war, daß es sich mehr um
politisch-pragmatische als um völkerrechtliche Entwürfe handelte, die längst in
den diplomatischen Umlauf gekommen waren, bevor in Chaumont (1. 3. 1814) von
den Alliierten jene Abrede getroffen wurde, die dann im ersten Pariser. Frieden am
30. 5. 1814 völkerrechtlich legalisiert wurde: Les Etats de l'Allemagne seront
iniUpendants et unis par un lien federatif (Art. VI, 2) 380• Es war eine lapidare Mini-.
malformel, aus der zweierlei folgte: daß die bestehenden Staaten, also vorzüglich
die des Rheinbundes, im kommenden Verband unabhängig bleiben sollten und daß
die Bundesverfassung nur im Rahmen des europäischen Mächtekonzerts ausge-
handelt werden w ürcle. Beides wurde auf dem Wiener Kongreß vollzogen. Dessen
politische Konstellation erzwang einen Kompromiß, denn es war in den Worten
HUMBOLDTS (1816) unmöglich, nichts, und unmöglich, rl,as Rechte zu tun. Was nun
zwischen diesen beiden Extremen zustandekommen konnte, das ist die wahre Definition
des Deutschen Bundesas1.
IIARDENBERGS Entwurf382 eines politischen föderativen Körpers, der den Namen
teutscher Bund führt, wurde im Verlauf des Kongresses stark reduziert. Es entfiel

378 WILHELM v. HUMBOLDT, Denkschr. über die deutsche Verfassung an den Freiherrn
vom Stein, AA Bd. 11/2 (1903), 95 ff.
379 Zum Ganzen HUBER, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 475 ff.
3 80 Zit. PuTTKAMER, föderative Elemente, 75.
381 HUMBOLDT an Hardenberg, Über die Behandlung der .Angelegenheiten des deutschen
Bundes durch Preußen (30. 9. 1816), AA Bd. 12/1, 2 (1904), 53 f„ bes. 80.
3 82 Acten des Wiener Congresses, hg. v. J. L. Kr.ÜBER, Bd. 1, H. 1 (Erlangen 1815), 45 ff.

656
b) Der deutsche Bund 1815 Bund

die offene Doppelhegemonie Preußen!!, das ostelbisch außerhalb des Bundes blei-
ben, und Österreichs, das nur mit den an Oberbayern angrenzenden Staaten Bun-
desglied sein sollte; es entfiel die starke Direktorialverfassung, die auf einer über-
staatlichen Kreiseinteilung aufbauen sollte; es entfielen die handelspolitische Ver-
einheitlichung sowie die teutschen Bürgerrechte. Statt dessen haben sich die sauve-
ränen Fürsten und freien Städte Deutschlands 383 vereinigt zu einem beständigen
Bunde, welcher der deutsche Bund heißen soll. Der Zweck desselben ist Erhaltung.der
äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und der Un-
verletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten, die als Bundesglieder allesamt gleiche
Rechte erhielten (Art. 1-3). Das gemeinsame, leitende Organ war der permanente
Gesandtenkongreß der Bundesversammlung, populär „Bundestag" genannt, in dem
ein siebzehnköpfiges Gremium die laufenden Geschäfte versah, während in Fragen
der Grundgesetze, der organischen Bundes-Einric4tungen und gemeinnütziger Anord-
nungen das Plenum zuständig war (mit 69 leicht unterschiedlich gewichtigen Stim-
men). Eine Abschichtung der Stimmenzählung von der reinen über Zweidrittel-
mehrheit bis zur Einstimmigkeit für Grundgesetzänderungen, organische Einrich-
tungen und Religionssachen führte zu einem potentiellen Vetorecht der schwäch-
sten Glieder. Wie im alten Reich war die auswärtige Gewalt auf Bund und Glieder
gedoppelt, nur daß - herkömmlich - die Gliedstaaten keine Bündnisse gegen den
Bund schließen durften. Alle unterwarfen sich einer gegenseitigen Garantie
(Art. 11).
All das veranlaßte KLÜBER 384, l!leine alte Definition del!I Ilheinbundel!I zu überneh-
men: auch der deutsche Bund sei eine völkerrechtlich gleiche Gesellschaft, ihre Spitze
eine politische Social- oder Collegial,gewalt, keine Staatsgewalt.
Ebenso neigte TITTMANN 1818 dazu, den deutschen Bund als völkerrechtliches
Verhältnis - zum gemeinsamen Schutz nach außen - zu definieren, als Staaten-
verein, nicht als Staatsverein, da die Bundesversammlung keine Zwangsgewalt aus-
übe: sowie sie diese entwickele, werde es ein Bundesstaat386. Insgesamt schwankten
die Benennungen sehr, weil man mit den Worten verschiedene Begriffe verband 38 &.
In der Tat war die Richtung offen, solange die organischen Gesetze, gemeinnützige
Anordnungen und handelspolitische Bestimmungen (Art. 19) noch nicht beschlossen
worden waren. Wie der österreichische Gesandte GRAF BuoL v. SCHAUENSTEIN 1816
proklamierte: D·ie Ze-it, die Cultur der Mensclthe-it, kennt keinen absoluten Grenz-
punkt; so wollen auch Wir das Gebäude unseres teutschen Bundes für heilig, aber nie
für geschlossen und ganz vollendet halten, - was Klüber mit dem Hinweis auf die
britische Verfassung und ihre perpetual innovation kommentierte. Aber Graf Buol
ließ keinen Zweifel an der Bestimmung: Der deutsche Bund ist weder ein Bundes-
staat, noch ein bloßes Schutz- und Trutzbündnis freier Staaten; er ist ein Staaten-
Bund. Buol leitete dieee Verfassung aus der deutschen Geschichte und ihrer
Mannigfaltigkeit ab, er berief sich auf den Heldenmut von 1813, der ganz Deutsch-

383 Deutsche Bundesacte vom 8. Juni 1815, HU11ER, Dokumente, Bd. 1, 75 ff.
384 J. L. KLüBER, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten,
2. Aufl. (Frankfurt 1822), 133.
38 6 FRIEDR. WILHELM TITTMANN, Darstellung der Verfassung des deutschen Bundes
(Leipzig 1818), 23 ff. 4 f.
386 Ebd., 31.

42-90385/1 657
Band
/,and zum treuen Bunde vereinte, und sah jetzt Deutschland in der Zeitgeschichte ...
dazu berufen, einen zugleich die Nationalität sichernden Staatenbund zu bilden.
'Staatenbund' war 1815 für die österreichische Sprachregelung der maximale Ein-
heitsbegriff für die deutsche Nation. So also erscheint Deutsch/,and wieder als Ganzes,
als eine politische Einheit; wieder als Macht in der Reihe der Völker 387 •
Die scharfsinnigste- und auch treffendste - Charakteristik gab HuMBOLDT 388, als
er ohne ängstliche Wortbestimmung eine Theorie des deutschen Bundes entwarf,
in der 'Staatenbund' und 'Bundesstaat' nicht auf die Souveränität der Glieder und
auf einen wirklichen Staatskörper hin festgelegt, sondern beide als Beziehungs-
begriffe verstanden wurden. Ruhe, Sicherheit und Gleichgewicht sei der - auch
europäische - Bundeszweck sowie die Unabhängigkeit der Glieder. Um diese
Zwecke zu erreichen, trage der deutsche Bund insofern die Natur eines Bundes-
staates, als alle Deutschen zu einer Einheit verbunden würden, als die Glieder Teile
ihrer Unabhängigkeit aufgeben und sich allgemeinen Bestimmungen unterwürfen.
Sowie aber äußere nnd innere Sicherheit nicht mehr Dundeszweck sei, t1u11ueru
Deutschland als Staatskörper eigene Politik verfolge, könnte niemand hindern,
daß nickt Deutsch/,and als Deutsch/,and auch ein erobernder Staat würde, was kein
echter Deutsch.er wollen kann. Der deutsche Bund habe vielmehr eine abwehrende,
'111'{/nJ.fo e:imcirk.emde., llnre.chJ, tierhindernde Aufgabe, um der zu genügen, er ein
Staatenbund sei: Der deutsche Bund ist· seiner ursprünglichen Bestimmung und
seinem politischen Dasein nach ein wirklicher Staatenbund ... , der sich aber zur
Erreichung seines innern und äußern Zwecks in gewissen ... Beziehungen eine Ein-
heit und einen Zusammenhang gegeben hat, welche ihn in die&en Beziehungen zu
einem Bundesstaate machen. Bundesstaat und Staatenbund verhalten sich also wie
Mittel und Zweck zueinander. Für die zukünftige Politik müsse also der BegriO
einer Verbindung selbständiger Staaten als die Grtmd,idee und der Zweck angesehen
werden, die den Bund zu einem collektiven Staat machende Einheit als Mittel zu diesem
Zweck. Unbeschadet juristischer Antithesen fand Humboldt 1816 eine politische,
speziell außenpolitische Definition, die ihm seinen Handlungsspielraum als Frank-
furter Bundesgesandter ausmessen sollte. Überspitzt formuliert, war ihm Deutsch-·
land ein nationaler Bundess.taat gerade so weit, wie es nötig schien, um seiner
europäischen Funktion als Staatenbund gerecht werden zu können. In diesem
Spannungsfeld solle Preußen seine Bundespolitik treiben.
Der juristische Definitionsstreit wur<le 1820 durch die Wiener Schlußakte 389
authentisch entschieden, indem nunmehr der deutsche Bund als völkerrechtlicher
Verein definiert wurde (Art. 1). Dieser Verein besteht in seinem Innern als eine
Gemeinschaft selbständiger, unter sich unabhängiger Staaten mit gle~chen Vertrags-
rechten, in seinen äußem Verhältnissen aber als eine in politischer Einheit verbun-
dene Gesamt-Macht (Art. 2). Die Bundesakte von 1815 wurde zugleich als der
Grundvertrag und das erste Grundgesetz dieses Vereins definiert. Die poli~che Pointe
dieser Definitionen richtete sich gegen die damals emporschießende nationale Ein-
heitsbewegung und ihre bündischen Organisationen. Alle Forderungen nach Be-

8 8 7 KLüBER, Öffentliches Recht, 135. 91 ·und Protokolle der deutschen Bundes-Versamm-

lung, Bd. 1, H. 1 (Frankfurt 1816), 16f. 49.


88 8 HUMBOLDT an Ha.rdenberg (s. Anm. 381), AA Bd. 12/1, 2 (1904), 74 ff.
889 HUBER, Dokumente, Bd. 1, 81 ff. (15. 5. 1820).

658
e) Der Zollverein Bund

stimmungen des Gemeinwohls, nach deutschen Bürgerrechten, landständischer


oder gar nn,tion11.lflr Hflpräsentation wurden abgekappt. Vielmehr hat die Bundes-
Supplementar-Acte 1820 endgültig das Homogenitätskriterium des Vereins in das
monarchische .l:'rinzip .verlegt. Aus dem Grundbegriffe des deutschen Bundes folge
für die vertragschließenden Fürsten, da{J die gesamte Staats-Gewalt in dem Ober-
haupte des Staats vereinigt bleibt (Art. 57).
Gemäß der Humboldtschen Diagnose - wenn auch nicht in seinem Sinne - wurde
nunmehr die Bundesmacht entschieden gestärkt, um den staatenbündischen Grund-
zug, die Souveränität der Fürsten, sicherzustellen. Das aber geschah, indem die
Instrumente der Bundesexekution und Bundesintervention ausgebaut wurden, die
eben die zu garantierende Unabhängigkeit der Gliedstaaten einschränkten. Nach
den Regeln einer politischen Inversionslogik trieb seitdem der deutsche Staaten-
bund bundesstaatliche Elemente hervor 390, die er aber auf der Ebene der sozialen
Entwicklung nicht einlöste.
An zwei säkularen Herausfurcforuugen imheiterte der deutsche Bund als Staatenver-
ein. Er reagierte auf das anwachsende Bedürfnis nach einer handelspolitischen Ein-
heit abweisend. So entstand - in den Worten METTERNICHS - ein kleinerer Neben-
bund, in dem vollsten Sinne des Wortes ein status in statu391 : der Zollverein, der auf
Botroibon Preußens 1833 gestiftet wurde. Zweitewi verhielt sich der Bund gegen nie
anschwellenden Forderungen nach einer gemeinsamen Nationalrepräsentation re-
pressiv: 'Bundesstaat' wurde seitdem zu einem Integrationsbegriff', der die bürger-
liche Zukunft vorwegnahm, während 'Staatenbund' in wachsender Spannung dazu
den status quo indizierte. - An der Kombination beider Probleme, des engeren im
weiteren Bunde und der nationalen Repräsentation der bürgerlichen Gesellschaft,
scheiterte die Revolution von 1848, sie auf kleindeutsche Weise gelöst zu haben, war
das Werk Bismarcks 1867/71.
c} Der Zollverein. Seit den Befreiungskriegen gab es den Topos, daß Preußen nach
Deutschland hineinwachsen müsse, Österreich sich daraus entferne. Daran knüpften
sich Hoffnungen an eine deutsche Konstitution unter Ausschluß Habsburgs. So
schrieb 1814 General VON STEINMETZ an Gneisenau 392 : Ernstlich möchte ich jetzt
einen Bund entstehen sehen, der der preußisch-deutsche hie/Je; denn ohne dem war alles

39 0 ROTTECK wies 1834 da.rauf hin, daß die Bundesversammlung auch in solche Maieden
eingreife, über die konstitutionell beschränkte Regierungen nur mit Zustimmung der Land-
stände verfügen dürften. Von die8em Standpunkt aua • . • erscheint die Peraonifikation der
Bunde8gewalt a"la eine von jener der Staat.sgewalten der Bunde8'länder verschiedene und wahr-
haft he"iache Gewalt. In dieser Hinsicht sei atatt de8 N amen.s Staatenbund nicht nur der Name
Bunde8-Staat, .aondern aelbat der Name Bunde8-Reich oder Bunde8-Herrschaft ... am an-
geme.saenaten; Lehrbuch des Vemunftrechts, Bd. 3, 155 (s. Anm. 307).
3111 METTERNICH, Denkschr. vom 24. 6. 1833, zit. HEINRICH v. TREITSCHKE, Deutsche Ge-
schichte im 19. Jahrhundert, .Bd. 4 (Ausg. Leipzig 1927), 384 f. Der Zollverein hebe die
Gleichheit der Rechte und Pflichten des deutschen Bundes auf, er sei ein Werk der preu-
ßischen Bewegungapartei • • . Die Partei hatte, im Fal/,e der Verwirklichung ihrer P'läne,
ihr wahre8 Ziel e"eicht: Preußen mit einer neu repräaentativen Verfas&ung an der Spitze des
1ihrigen k<niatitutionellen Deutschlanda; - eine eingetroffene Prognose, die langfristige Ver-
fassungskräfte richtig - auch wenn sie nicht zwingend waren - kombiniert hatte.
aea Zit• .ADOLF Ril'P, Großdeutsch-Kleindeutsch (München 1922), 6 f.

659
Bund IV. 3. Vom 'Staatenbund' zwn 'Bundesstaat' (1806--1871)

Streben und Treiben nicht des Mühens wert; wie sollen wir zur Ruhe kommen und Frei-
heit behalten zu denken und zu tun, wenn in Deutschland nicht Einheit und eine kräftige
Einheit durch Preußen ist. Österreich - schon kein deutsches Haus mehr - könne
allein in dem europäischen Bunde stehen, Preußen müsse nach mehr streben. Ähnlich
schrieb CHRISTIAN DANIEL Voss 1816 ,;Ober die Täuschungen und über das W esent-
liche bei dem Deutschen Bunde": das Notwendigste sei eigentlich, daß Preußen
und Österreich sich . . . im Guten auseinandersetzten, daß sie sich teilten und trennten.
Diese Teilung und Trennung wäre für Deutschland ein viel größeres Heil gewesen als
der nichtige Bund und die chimärische Einheit. Österreich solle sich nach Italien wen-
den, Preußen die Schutzmacht des ehemaligen Rheinbundes werden und eine deut-
sche Verfassung stiften mit einem Schutz- und Bundeskönig an der Spitze 398. Un-
mittelbar an den König gewandt, schriebD.AVIDHANSEMANN1830, er solle Deutsch"
lands Führer . . . sein und dasselbe in einem gemeinsamen durch wahre 1nteressen fest
geknüpften Bund ... vereinigen, dessen Haupt Preußen ist 394• Der Wechsel in der
Stilisierung läßt den Wirtschaftsbürger erkennen, der sich schon auf die Zollpolitik
berief, die Motz initiiert hatte.
Die Hoffnungen - und Befürchtungen - , die sich an Preußens Führung anschlos-
sen, gewannen erst durch die Schaffung einer größeren Wirtschaftseinheit ihren
pragmatischen Boden. Dem nüchternen Zuschnitt der 1833 vereinigten nord- und
süddeutschen Zollvereine entsprach die Selbstbenennung Gesamtverein. Mit der Aus-
/ültrung des gegenwli,rtigen Vertrages tritt zwischen den contrahierenden Staaten Frei-
heit des Handels und Verkehrs und zugleich Gemeinschaft der Einnahmen an Zöllen
ein895. Der neue Zollverein wahrte strikt die föderale Gleichberechtigung der Mit-
glieder - Beschlüsse konnten nur einstimmig gefaßt werden, und die Dauer war auf
acht Jahre mit zwölfjährigen Verlängerungsfristen begrenzt - wohinter sich die
De-facto-Hegemonie Preußens wirksamer verbarg als die Metternichs im deutschen
Bunde. So streng Wirtschaft Un.d Politik getrennt schienen - RoTTECK/WEL-
CKER398 vermuteten im Zollverein ein Ablenkungsmanöver von politischen Konflik-
ten - , die neue Wirtschaftseinheit unter Ausschluß Österreichs galt als Kristalli-
sationspunkt einer nationalen Verfassung, wie sie MoTz 397 sich erhoffte und MET-
TERNICH898 als Revolution befürchtete. So schrieb der Verleger PERTHES zum Ver-
tragsschluß899: Nun sind wir wirklich hinein in den großen Zolltopf, ich freue mich

393 Ebd., 8 ff.


394 Ebd., lOf. Denkschr. vom 31.12.1830, a.bgedr. in: Rheinische Briefe und Akten zur
Geschichte der politischen Bewegung 1830-:---1850, hg. v. JOSEPH HANSEN, Bd. 1 (Essen
1919), 71.
39 5 GSlg. f. d. kgl. Preuß. Staaten (1833), 145 ff., .Art. 1 u. 6.
a9 s RoTTECKjWELCKER Bd. 15 (1843), 845, in einem von KARL MATHY verfaßten auffallend
kurzen .Artikel „Zollverein".
8 97 Denkschr. aus dem Jahre 1829, zit. TREITSCHKE, Dt. Geschichte, Bd. 3 (1927), 669 f.

In dieser, auf gleichem Interesae und natürlicher Grundlage ruhenden und aich notwendig in
der Mitte von Deutschland erweiternden Verbindung wird erat wieder ein in Wahrheit ver-
bündete&, von innen und von außen feste& und freies Deutschland unter dem Schutz und
Schirm von Preußen bestehen; ebd., 370.
3 98 S. Anm. 389. Zum Ganzen HUllER, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 787 ff.; Bd. 2 (1960),

282 ff.; Bd. 3 (1963), 615.ff.


899 ÜLEMENS THEODOR PERTHES, Friedrich Perthea' Leben, Bd. 3 (Gotha 1872), 372.

660
c) Der Zollverein Bund

darüber vor allem der politischen Folgen wegen, die nicht ausbleiben können; ein großer
Schritt zur Einheit des Vaterlandes ist getan. Elf Jahre später meinte KARL STEIN-
ACKER: Der Zollverein ist nun einmal vorzugsweise und tatsti,chlich die Heimat der 1 dee
der Einheit geworden, und in seiner Mitte wird sie sich mit immer größerer Kraft ent-
wickeln. Man wird sich immer mehr daran gewöhnen, namentlich im Auslande, unter
Deutschland hauptsächlich das zollverbündete zu verstehen 400• Es war eine wegweisende
Weichenstellung, daß die wirtschaftliche Forderung nach der optimalen Einheit der
politischen Industrienation - in LISTS Worten401 die notwendige Durchgangsphase
für eine Universalunion oder eine Konföderation aller Nationen - unter preußischer
Führung erfüllt wurde. Auf diesem Hintergrund konnte HEINRICH VON GAGERN in
der Paulskirche seinen - erfolglosen - Kompromißvorschlag eines engen Bundes
Deutschlands und eines weiteren Bundes mit Österreich vorbringen. Seit wann be-
gann. in Deutschland das Bedürfnis und das Bewußtsein der Einheit in erhöhetem
Maße sich zu entwickeln? Von dem Augenblick an, wo gemeinschaftliche nationale In-
teressen einen großen Teil Deutschlands vereinigten, die Möglichkeit einer separaten
Politik unter diesen näher verbundenen Staaten ausschlossen, von dem Beginn und der
Entwicklung des Zollvereins an. Unter dem Gesichtspunkt der materiellen Interessen
könne sich der engste Bund auch mit Österreich verbinden, ohne es zu einer Tei-
lung seiner deutschen und nichtdeutschen Provinzen zu nötigen. Auf diesem We.ge
sind Verbindungen möglich, wie Gagern taktisch formulierte, die zwischen dem Staa-
tenbund und den Bundesstaaten in der Mitte liegen 4 0 2•
Nachdem die Stiftung eines Doppelbundes gescheitert war, präjudizierte der Zoll-
verein weiterhin kraft seiner Existenz jene Lösung, die - wenn auch auf politisch

~ 0 ° K. STEINACKER, Die politische und staatsrechtliche Entwickelung Deutschlands durch


den Einfluß des deutschen Zollvereins (1844), 36, zit. RAPP, Großdeutsch-Kleindeutsch, 27.
401 FRIEDRICH LIST, Das nationale System der Politischen Oekonomie, Ges.Schr., Bd. 6

(1930), 164.
402 GAGERN; Sten. Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 4 (1848), 2898 f. Bundesstaaten verwendet

Gagem im Sinne der Gliedstaaten des engeren Bundes - wie es im Plural öfters, auch in
der Wiener Schlußakte, Art. 36 und 42 verwendet wurde. Ga.gern hielt zudem die Be-
griffe BundetJstaat für den engen, Staatenbund für den weiteren Bund für zu unbestimmt:
um die nationale Ilindung an Öste1Teich in der Debatte nicht herunterzuspielen. Gerade
die imperiale und ökonomische Expansion in den Balkan hinein sah er als gesamtdeutsche
Aufgabe an. In der Sache unterstützte er den Antrag des Wiener Abgeordneten v. Müm.-
FELD·: Wenn etJ aber nicht m-Oglich ist, daß Öste"ei.ch als Bundesstaat zu Deutschland halte,
dann m-Oge die FO'l'm des Staatenbundes gewährt werden, der den deutschen Bundesstaat uri.d
neben ihm den öste"ei.chischen Föderativstaat durch das deutsche Element verbinde;
Sten. Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 4, 2857. Zum Ganzen HUBER, Verfassungsgeschichte,
Bd. 2, 797. 816~ Die „Kleindeutsche" Beweisführung im Parlament beruhte sicher auf
der Kenntnis der Schrift PAUL PFlzERS „Das Vaterland" (1845), in der er forderte, daß
Preußen auf dem Wege über eine gemeinsame Verfassung in Deutschland aufgehe. Durch
den Zollverein allein entstehe kein volkstümlicher Bund auf Leben und Tod. Die ganze
heutige Gestaltung der deutschen Verhältni&se scheint daher auf eine staatsrechtli.ch-natioruile
·Verbindung mit Preußen und eine föderalistisch-völkerrechaiche mit den germanischen
Nachbarstaaten und mit Öste"eieh hinzuweisen, das eine Macht ersten Ranges auch ohne
Deutschland ist; zit. RAPP, Großdeutsch-Kleindeutsch, 31.

661
Bund IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bundesstaat' (1806--1871)

anderem Wege -186'1 zum Zollparlament führte, der ersten Nationalrepräsentation


in kleind1mt1mht1m lfahmen4oa.
Neben den wirtschaftspolitischen Interessen der Bürger waren es nun ihre konsti-
tutionellen Forderungen, die vehement auf eine Umwandlung des Staatenbundes
von 1815 in einen Bundesstaat drängten.
d) Bund und Reich (1848-1871). Der Ausdruck 'Bundesstaat' war über seine
Doppeldeutigkeit, sowohl einzelne Gliedstaaten wie den ganzen Verband meinen zu
können, noch zusätzlich unbestimmt: er ließ offen, wer den Bund schloß - im Ge-
gensatz etwa zu den Ausdrücken 'Staatenbund', 'Staatenverein' u.ä. Die Vertrags-
partner blieben ungenannt. So zeichnete sich bald nach 1820 eine Bedeutungsver-
engung ab, die den Ausdruck 'Bundesstaat' im deutschen Sprachgebrauch politisch
spezifizierte. Durch viele Definitionen hindurch entstand im Vormärz eine polemi-
sehe Frontlinie, die 'Bundesstaat' und 'Staatenbund' a.ls GegenbegriJ!e 11Lifüüerte.
Der deutsche Bund sollte durch die Einführung einer Nationalrepräsentation - sei
es in direkter, sei es in indirekter, durch die Landtage vermittelter Wahl - eine
unitarische Körperschaft erhalten, der gegenüber eine den Bundesgliedern über-
geordp.ete Regierung verantwortlich sein müsse. Der Bund des Volkes sollte also
den Bund der Fürsten ergänzen - die liberal-konstitutionelle Lösung; oder er sollte
ihn ersetzen - die republikanisch-demokratische Lösung. In jedem Falle sollte der
:Rund 11.Js Staat für ein gemeinsames Heer, ein oberstes Gericht, gemeinsame Außen-,
Innen- und gemeinsame Handelspolitik zuständig werden, - wie es die Verfassung
von 1849 dann vorsah.
Die Bundesausdrücke wurden Parteibegriffe, für die FRIEDRICH VON GAGERN 1825
die entsprechenden Parteinamen prägte. Gagern unterschied die Servilen, die für den
bestehenden Staatenbund eintreten, von den Unitariern, die einen Einheitsstaat,
und den Föderalisten, die einen Bundesstaat anstrebten. Die letzteren hätten eigent-
lich das gleiche Ziel, nur daß die Föderalisten eine Verfassung vorzögen, die unter
den gegebenen Umständen ohne Bürgerkrieg und ungeheures Blutbad zu er"langen wäre:
das sei der Bundesstaat404. Gagern ging davon aus, daß Bundesstaaten mit repräsen-
tativer Verfassung immer häufiger in der Geschichte erscheinen werden, wobei er pro-
gnostisch hinzufügte, daß monarchisch regierte Staaten . . . nur unter einem M onar-
chen zum Bu~desstaat vereinigt werden könnten. Die Rnndt1skrone solle erblich, aber
ohne eigenes Territorium sein; die Staaten sollten die Funktion von Provinzen er-
halten, ohne deren Nachteile zu kennen.
403 Siehe HUBER, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 635, wo der 'Oberschritt vom 'Zoll- ·

Staatenbund' zum 'Zoll-Bundesstaat' definiert wird.


404 FRIEDRICH v. GA.GERN, Aufsatz 1825/26 über die Parteien der Servikn, Unitarier und

Föderalisten und ein Dialog zwischen den letzteren. Es gebe diese drei Parteien - wenn
nämlich übereinstimmende ']JOlitiache Anaickten ohne Verabredung und ohne Führer eine Partei
bilden können. Wir haben nickt einmal eigene Parteinamen erfunden, sondern behelfen uns
mit fremden. Die parteibildende Funktion der Verfassungsschlagworte im Vormärz wird hier
deutlich. Zu den Unitariern, die die unbedingte ']JOl,itische Einheit Deutschlands wollen, rech-
net Gagem die Gekhrten, den Handelsstand, die Heere und die ganze Jugend. Die Föderalisten
seien als die gemäßigte Partei wie überall die schwächste, - womit, wie 1848 zeigt, Gagem
zugleich recht und unrecht behielt; HEINRICH v. GA.GERN, Das Leben des Generals Fried-
rich von Gagem, Bd. 1 (Leipzig, Heidelberg 1856), 355 ff. 371. 386.· 379; vgl. ferner
DEUERLEIN, Föderalismus (s. Anm. 352), Beilage 5, 10.

662
d) Bund und Reich (1848-18Il) Bund

WELCKER hat nun die .Antithese Staatenbund/Bundesstaat begrifflich am weitesten


vorangetrieben405 • Sie wurden Begriffe, die mit den Bezeichnungen despotisch oder
freiheitlich verschlüsselt, zur Parteinahme zwingen sollten, zumal ein Artikel
„Deutscher Bund" aus Gründen, die von dem Willen der Redaktion unabhängig sind,
1837 im Staatslexikon nicht erscheinen durfte 406 • Welcker entwarf statt dessen einen
rechts- und universalhistorischen Überblick, nach dem der Bundesstaat zwar die
schwierigste aller Verfassungen sei, aber gerade die höcl,,ste und reichste politische
Organisation, die höchste Idee der politischen ·Verbindung großer Nationen. Die USA
waren ihm das Leitbild einer solchen Verfassung, wo - im Gegensatz zum Staaten
bund - die Sachen, nicht die Worte gelten407 • Ein Bundesstaat böte die größte
Rechtlichkeit, da er gewaltenteilig angelegt sei. Es gebe ein Oberhaupt (Stratege,
Kaiser oder Präsident}, in dem sich die Einheit repräsentiere; das nationale Lebens-
element des "Volks habe die alte demokratische Behörde zur Repräsentantenversamm-
lung ausgebaut; und schließlich sei das Interesse der :Besonderheit im aristokrati-
schen Senat vertreten. Würden diese drei Einrichtungen nicht gewahrt, so entarte
der Bundesstaat in einen Staatenbund (ohne Obergewalt) oder in einen einfachen
Staat (nur des Volkes) oder in die Anarchie (der Fürstenherrschaft). Die Geschichte
zeige, daß die Bundesstaatsverfassung in der Natur derSache und der Vernunft be-
gründet sei. Die Bundesstaaten sind ihrer Natur nach Nationalvereine und begründen
Ein gemeinschaftliches Vaterland, demgemäß müsse es ein wahres nationales oder
Bundesbürgerrecht neben dem Landesbürgerrecht geben. Jede Vermischung mit dem
Staatenbund sei Unnatur4os.
Noch schärfer formulierte Welcker seine Antithe11e, alR er 1844 mit Klüber „Wich-
tige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation" herausgab und glos-
siert.e. Dabei kam es ihm darauf an, dem deutschen Bund nachzuweisen, daß er als
Staatenbund mit instruktionsgebundenem Gesandtenkongreß gar nicht legitimiert
sei, in die Einzelstaaten (d. h. vor allem des konstitutionellen Süddeutschland) ein-
zugreifen. In einem Bundesstaat erübrigen sich solche Eingriffe, da dann das Volk
selber repräsentiert werde. Deshalb ist eins aUgemein und absolut gewiß, daß man

40 6 Über Bundesverfassung und Bundesreform, über Bildung und Grenzen der Bundes-

gewalt, zunächst in Beziehung auf den Schweizerbund und die Schriften von Troxler und
Zachariä über denselben (Leipzig, Stuttgart 1834). De.rauf aufbauend der Artikel: Bund,
Bundesverfassung, Staaten- oder Völke.rvereine, oder Föderativsystem.e, inabesO'lldere: ,f;Jtaaf.en.-
bündniß, Staatenbund, Bundes- (oder Staaten-) Staat. Grenzen der GewaU, Politik und Ver-
fassung der Bundesvereine im. .Allgemeinen; RoTTEOK/WELCKER Bd. 3 (1836), 76 ff.
408 W ELCKER konnte den enteprechendenArtikelim 2. Suppl. Bd. (1846), 184 ff. nachholen.
407 RoTTECK/WELCKER Bd. 3, 113. 108. 107. Eine wichtige Informationsquelle über die

USA bot RcmERT Mom., Das Bundes-Staatsre.cht der Vereinigten Staaten von Nord-
Amerika (Stuttgart, Tübingen 1824); wo der bundesstaatliche Charakter der USA a.m
Präsidenten, am Bundesbürgerrecht, am Senat und an der fehlenden Souverii.nität der
Staaten (als Prooinzen; 121) aufgewiesen wurde, ein Wunder unaerer Zeit, wie M:rrrER-
MAIER 1848 iD. der Nationalversammlung wiederholt; Sten. Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 4
(1848), 2724. - über die Schweizer Verfaeeungebewegung seit 1830 unterrichtete KARL
SALOMO ZACHARIÄ, der drei Parteien unterschied, die dem Völkerbund, dem Völkerataat
und dem einfachen Staat als jeweiligem Ideal nachstrebten; Über den gegenwärtigen
politischen Zustand der Schweiz (Heidelberg 1833).
4 os ROTTECK/WELCKER Bd. 3, 91 f. 88 f. 114.

663
Bund IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bundesstaat' (1806-ISn)

nämlich mit Entschied,enheit entweder einen wahren Bundesstaat oder einen wahren
Staatenbund erwählen, und jeden ganz und rein und konsequent durchführen muß409.
Man dürfe sich nicht mit Mischungen von Staats- und Völkerrecht trösten. Durch
W elcker sind die beiden Ausdrücke in den vierziger Jahren zu dem geworden, als
was sie auch weithin verstanden wurden: zu revolutionären Verfassungsparolen,
die von niedern Stufen ... zu den höheren fortzuschreiten aufriefen41o.
Der Leitbegriff für die revolutionäre Bewegung 1848 war aber nicht der Bund, auf
den die Massen mit Verachtung blickten411 , sondern das Reich. Wir wollen schaffen
eine Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich . . . Der Beruf und die V oll-
macht zu dieser Schaffung liegen in der Souveränität der Nation (HEINRICH VON
GAGERN) 412 • Die Einheit inFreiheit zielte auf eine konstitutionelle Reichsverfassung,
wenn auch die überkommene Vielfalt bundesstaatliche Verfassungsformen erheisch-
te. In diesem Sinn hat der Siebzehner-Ausschuß den Entwurf des deutschen Reichs-
grundgesetzes vorgelegt, dessen erster Artikel feststellte: Die zum bi,sherigen Deut-
schen Bund gehörigen Lande (einschließlich der preußischen Ostprovinzen und
Schleswigs) bilden fortan ein Reich (Bundesstaat). Die Selbständigkeit der einzelnen
Deutschen Staaten wird nicht aufgehoben, aber soweit es die Einheit De·utschlands for-
dert, beschränkt413 •
Sicher nicht ohne geschichtstheologische Anklänge, die den Übergang vom Bund
zum Reich verkündeten 414 , sollte das Reich die unerfüllten Versprechungen des
Bundes von 1815 einlösen, sich als eigene Einheit über den Gliedstaaten erheben,
die zu berücksichtigen als Verfassungsform - wie die Zusatzdefinition zeigt -
einen Bundesstaat forderte. Man fühlte, wie die „Deutsche Zeitung" diese Bestim-
mung glossierte 415 , daß das Wort Reich die Einheit zu ausschließlich ausspreche,· die
Umwandlung des Staatenbundes in einen Bundesstaat ist allgemein angenommener
. Weise die Aufgabe; man fügte also diese Bezeichnung zur Verdeutlichung bei. Das, was
man sagen wollte, drückte aber das Eine Wort Bundesreich in vollständiger Weise
aus. Damit werde der allgemeine Verfassungsbegriff konkret, klinge feierlich und
bezeichne etwas so praktisch, daß man unsere Sprache darum beneiden dürfte. Das
Wort entspricM der Sache darum so vortrefflich, weil es die geteilte und geeinte Natur
dieses förderativen Staates zugleich ausspricht. Im Folgenden wird die ganze Ver-
fassungsterminologie aus dem vorgeschlagenen Oberbegriff abgeleitet, man solle
statt eines am1pruuh1:1vollen Kaisers, der an Cäsaren und Napoleon erinnere, be-

409 WELCKER, Einleitung zu: Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen

Nation, hg. v. JoH. LUDWIG KLüBER (Mannheim 1844), 43.


uo RoTTECKjWELCKER Bd. 3, 79. Im 2. Suppl. Bd. wurde 1846 ein langer Artikel „Con-
föderation" als Generalkarte der verschlungenen Kämpfe um Recht und Freiheit, diesmal
historisch sehr gesättigt, von FRIEDRICH KoRTÜ.l'rl nachgeliefert - Indiz für die aktuelle
Kreuzung historischer Forschung und politischer Zielsetzung unter dem Oberbegriff
Oonföderation. Die USA bildeten einen weltbürgerlich nationalen Bwndesaf.aat als Reyublik,
was dem alten Kontinent in seinen geschichtlichen Gegensätzen verwehrt sei (134).
4 11 RADOWITZ, Ausg. Sehr., hg. v. M. Corvinus, Bd. 2 (Regensburg o. J.), 55, aus der Denk-

schrift über die vom deutschen Bund zu ergreifenden Maßregeln (20. 11. 1847), ebd., 46ff.
412 HUBER, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 621.

413 HUBER, Dokumente, Bd. 1, 286.


414 Vgl. oben Anm. 293 f.
m Dt. Zeitung, hg. v. Georg Gottfried Gervinus (5. Mai 1848), 994.

664
d) B11nd llDd Reich 1848-lSn

scheiden den Reichsfürsten des deutschen Bundes einsetzen, die beiden Kammern
sollten Bundes- und Reichshaus. heißen usf. So trete man in Sache, in Begriff und
Benennung gleichmäßig in die neue Staatsordnung ein.
Die politisch-semantologische Intervention blieb folgenlos, nur die provisorische
Zentralgewalt des Reichsverwesers wurde für den 'Bundesstaat' eingesetzt418 , aber
die neue Verfassung wurde dem Deutschen Reich gegeben 417 , der Reichstag bestand
aus einem Staaten- und einem Volkshaus; der Bundesbegriff blieb von der Selbst-
benennung ausgeschlossen. Sogar bei der Festlegung des Gebietes auf das Gebiet
des bisherigen deutschen Bundes (Art. 1, § 1) schwebte keine Absicht vor, durch unsere
Bezeichnung das deutsche Reich nur als Fortsetzung des deutschen Bundes erklären zu
wollen 418• War der 'Bund' als politischer Leitbegriff verbraucht, so leistete 'Bundes-
staat' als verfa.ssungstechnischer Ausdruck gute Definitionshilfe. Wie MITTER-
MAIER die Verfassung motivierte 419 : Eine neue Bundesform, die zwischen der Ein-
heitsregierung und der bisherigen Form des Staatenbundes in der Mitte steht ... Die
Form des Bundesstaates entspreche derzeit allein den Verhältnissen und Interessen
Deutschlands. Dieser Bundesstaat beruht auf einer }IR!Trliclten Vereinigung von zwei
Elementen, dem nationalen Elemente der Gemeinsamkeit, und dem Elemente partiku-
larer Eigentümlichkeit . . . Die Bundesgewalt verwirklicht den Nationalwillen, aber sie
i-st beschränkt durch organische Gesetze, welche nach d~m Zwecke der Bundesverfassung
die GTenzen der Macht bestimmen: sie fordert Gehorsam von jedem Einzelstaate, soweit
dies notwendig zur Erreichung des Bundeszwecks ist. Damit war die Frage nach der
Beteiligung der herrschenden Fürsten an der gestifteten Verfassung umgangen.
Reichsgewalt, Reichsgericht und Reichsbürgerrechte zielten auf ein Gesamtinteresse,
dem sich die Einzelstaaten soweit unterzuordnen hatten, als die Einheit forderte.
Die Verfassungsstifter beriefen sich dabei auf eine Fülle von Erfahrungen, die sie aus
Amerika und aus der Schweiz nach dem Sonderbundskrieg verwendet hätten, um
den Bundesstaat zu organisieren420 • Nur jene Form löst die große Aufgabe, die Ein-
heit mit der Vielseitigkeit und der Gliederung ohne Nachteil für die erste zu verbinden.

41 828. Juni 1848, HUBER, Dokumente, Bd. 1, 276.


417 Ebd., 304 ff.
ua Motivation zum Art. 1 im Sten. Ber. Dt. Nationalvers. Bd. 4, 2725 (19. 10. 1848).
ue Ebd., 2722 ff.
uo Für die konstitutionellen Elemente war die Belgische Verfassung Vorbild. Zum Ganzen
BRIE, Bundesstaat, 81 ff. Nicht ohne Einfluß auf die Verhandlungen das „Sendschreiben
an die zum deutschen Parlamente berufene Versammlung" vom Preußischen Botschafter
in London CHR. C.rn.L Josus BUNSEN, Die Deutsche Bundesverfassung und ihr eigen-
thüinliches Verhältniss zu den Verfassungen Englands und der Vereinigten Staaten. Zur
Prüfung des Entwurfs der Siebzehn, vgl. DEUERLEIN, Föderalismus, Beilage 5, 19. Dort auch
Referat von Jon. KA.sP.AR BLUNTSCHLI, Bemerkungen über die neuesten Vorschläge zur
deutschen Verfassung. Eine Stimme aus Bayern (München 1848). Bluntschli unterscheidet
Staatenbund, Bundesstaat, in dem es nicht b"loß organisierte Einzelstaaten, sandern auch einen
selbsfiindig organisierten Geaamt(Zentral)staat gibt, und das Staatenreich. Dieses setzt die
Einheit des Ganzen voraus und erzeugt entweder oder erkennt die Einzelstaaten an. Der
Bundesstaat setzt das N ebeneinanderstehen der Einzelstaaten voraus und verbindet sie zum
Ganzen. Die gerade in Frankfurt ausgehandelte Mischung von „Partikularität", „Föderalis-
mus" und „Nationalität" müsse als Zwischenstation betrachtet werden ••• auf dem Wege
vom Staatenbund zum Staatenreich.

665
Band IV. 3, Vom 'Staatenb-d' zum '8-deastaat' (1806-1871)

So war das durchgängige Ziel, das System bloßer Negation421, das seit 1815 verfolgt
worden sei, durch ein aktives national-deutsches Reich zu ersetzen, das sich zur
Pflege der allgemeinen Wohlfahrt als Bundesstaat organisiert. Die unüberschreit-
bare Bürde lag in der Einbeziehung Österreichs. Die großdeutschen Kompromiß-
paragraphen422 forderten de facto eine Teilung Österreichs, das mit seiner deutschen
Bevölkerung zum Reich zählen, für die übrigen Landesteile eine eigene Verfassung
und Verwaltung einrichten sollte. Da das Homogenitätskriterium des neuen Bun-
desstaates in der deutschen Nation lag, wurde eine Einheit gestiftet, die durch kei-
nerlei Organisation ganz Österreich erfassen konnte. Das hat die österreichische
Regierung sofort erkannt. Man wende dagegen nicht ein, daß ein solcher.einheitlicher
Staat nicht beabsichtigt werde, daß es sich ja um einen Bundesstaat handele. Wir kön-
.nen jene Behauptung und diese Benennung hierfür gleich wenig gelten lassen . . . Der
sogenannte Bundesstaat, der eben alles andere eher als ein Bundesstaat ist, polemisierte
SCHWARZENBERG weiter, ziele auf einen einheitlichen Zentralstaat und trage infolge-
dessen den Kmm unheilvoller Spaltungen in sich423 . Während der SLaatenbund eine
Doppelhegemonie vertragen und auch übernational sein konnte, schloß der natio-
nale Bundesstaat für Österreich jede Zwischenlösung aus.
Eine solche erstrebte Preußen sehr bald. Schon am 18. März hatte die Berliner Re-
gierung die politische Leitformel geprägt, daß Deutschland aus einem Staatenbunde
in einen Bundesstaat verwandelt werde' 24• Und während der ganzen Revolution hielt
es - im Gegensatz zu Frankfurt und Wien - am Bundesstaatsbegriff fest 425. Aber
im Maß, als Österreich nicht gewillt war, einem nationalen Bundesstaat beizutreten,
suchte Preußen die Lösung eines engeren ·und weiteren Ilundes voranzutreiben. So
wie innerhalb des Bundes der Zollverband nicht gestört habe, heißt es in einer Zirku-
lardepesche (Januar 1849)' 28, so müsse man jetzt zu einem engeren Vereine, zu einem
Bundesstaate innerhalb des Bundes kommen. Vor allem um die Verbindung der uni-
tarischen mit der demokratischen Partei zu bekämpfen, heißt es im Mai 1849, müsse
man die Doppelheit in den deutschen Verhältnissen - auf welcher der Reichtum der
inneren Entwicklungsfähigkeit Deutschlands beruht - durch eine Doppelheit auch in
der Organisation absichern. Die zwei Institutionen, die wir für nötig halten, und zwar,
wie wir bemerken dürfen, nicht nur vom deutschen, sondern vom europäischen Gesichts-
punkte aus - sind der deutsche Bundesstaat und die deutsche Union mit Österreich 421•
In diesem Sinne suchte Preußen nunmehr von oben zusammen mit .27 weiteren
deutschen Ländern die Reichsverfassung- in Anlehnung an das Frankfurter Vor-

u1 Von der Opposition übernommene Formulierung RADOWITZ', Ausg. Sehr., Bd. 2, 49,
wo er die Sehnsucht nach einem, a.n innerer Gemeinschaft wachsenden Deutschland zu
erfüllen als Preußens Mission entwickelt hat (51 f.).
ua Art. 1 der Reichsverfassung vom 28. 3. 1849. Da.zu die zweite Lesung a.m 17. 3. 49;
Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 8 (1849), 5741 ff.
ua SCHWARZENBERG a.n Schmerling, 4. 2. 1849, a.bgedr. HUBER, Dokumente, Bd. 1, 298ff.
u& Patent des Königs wegen beschleunigter Einberufung des Vereinigten Landtags,
a.bgedr. HUBER, Dokumente, Bd.1, 363.
&aa BRIE, Bundessta.8.t, 80 (s. Anm. 231).
ue HUBER, Dokumente, Bd.1, 295.
m Ebd., 422 ff.

666
d) Bund und Reich (1848-lBn) Bund

bild und mit Sukkurs der Liberalen - neu zu stiften (Erfurt, 28. Mai 1849). Aber
der Widerstand Österreichs und der deutschen Mittelstaaten blockierte die Ver-
wirklichung. So entstand erneut ein Spezialverein42 8 - Preußens und vieler Klein-
staaten - von dem aus RADOWITZ langsam einen neuen Bundesstaat zu erbauen
hoffte: Die Gesamtheit derjenigen Staaten, wekhe die Reichsverfassung anerkennen,
bildet den deutschen Bundesstaat unter dem Namen „Deutsche Union"' 29 • Es war der
alte Ausdruck, der nunmehr die Schwundstufe deutscher Einheit bezeichnete, die
aber nach Olmütz der alten staatenbündischen Verfassung von 1815/20 ebenfalls
weichen mußte.
Seit den Debatten über den engeren und weiteren Bund kamen 1848 die anschauli-
chenBezeichnungen 'kleindeutsch' und 'großdeutsch' dafür auf: Sie wurden nach den
Abstimmungsgruppen der Paulskirche schnell zu Parteinamen, die freilich nicht auf
gegenseitigem Gebrauch beruhten, da die „Kleindeutschen" vor dieser pejorativen
Selbstbenennung zurückschreckten4 30.
Aber schlagwortartig waren damit jene Positionen umschrieben, an deren Wider-
spruch der Bund 1866 zerbrach. 1859 entstand der „Nationalverein", 1862 der „Re-
formverein": Seitdem war -wie es die österreichische Regierung 1863 formulierte-
das Bedürfnis einer gründlichenNeugestaltung der Bundesverfassung anerkannt. Unauf-
haltsam habe sich ein fortschreitender Proieß der Abwendung von dem bestehenden
Bunde vollzogen, der Status quo sei schlechthin chaotisch' 31 • Im Kampf um die Bun-
desreform hielt nun Österreich strikt am Föderativprinzip fest, und das hieß: an
einer kollegialen Bundesleitung und indirekt zu wählender Repräsentation. Ein-
richtungen, wie eine einheitliche Spitze oder ein aus direkten Volkswahlen hervorgehen-
des Parlament, passen nicht für diesen Verein, sie widerstreben seiner Natur, und wer
sie verlangt, will nur dem Namen nach den Bund, oder das, was man den Bundesstaat
genannt hat, in Wahrheit will er das allmähliche Erlöschen der Lebenskraft der Einzel-
staaten, er Will einen Zustand des Übergangs zu ef,ner künftigen Unification, er will die
Spaltung Deutschlands, ohne wekhe dieser Übergang sich nicht vollziehen kann432 •
Damit war das Programm des Nationalvereins umschrieben, auf das nun die preu-
ßische Regierung setzte; ihr erschien die Bildung eines Bundesstaats im Staatenbund
mit dem Fortbestehen des letzteren sehr wohl vereinbar' 33 , - aber als dieser Weg diplo-
matisch nicht mehr begehbar war, kam es zum Konflikt, der die kleindeutsche Lö-
sung 1866-1871 herbeiführte.

428 Wenn der Geiat der Nation ala Bundeagenoaae dea Königa aich: erhebt, dann iat der Moment

gekommen, um durch Spezwlvereine zu erreichen, was auf dem Bundeswege unmöglich war.
Dieser Gedanke von RADOWITZ (Ausg. Sehr., Bd. 2, 66) am Vorabend der Revolution
wurde 1849 zum letzten Hilfsmittel, die Einheit unter Preußens Führung zu retten.
429 Additionalakte zur Erfurter Verfassung, nachdem sich die Mittelstaaten entzogen

hatten, vom 26. 2. 1850; abgedr. HUBER, Dokumente, Bd. 1, 443.


430 HEIDRUN v. MÖLLER, Großdeutsch und Kleindeutsch. Die Entstehung der Worte in

den Jahren 1848-1849 (Berlin 1937). Wortkritik bei HEINmcH v. TREITSCHKE, Bundes-
staat und Einheitsstaat (1864), Hi8t. u. polit~ Aufs.,. 8. Aufl., Bd. 2 (Leipzig 1921), 95.
431 Denkschr. v. 31. 7. 1863, HUBER, Dokumente, Bd. 2,.117. Dazu TREITSCHKE, Bundes-

staat, 93.
432 HUBER, Dokumente, Bd. 2, 119.
433 BERNSTORFF am 20. 12. 1861, HUBER, Dokumente, Bd. 2, 107.

667
Bund IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bundesstaat' (1806-1871)

Schwerpunktweise setzte sich für die österreichischen Pläne die Bezeichnung Föde-
ralismus oder Föderation durch, pejorativ Particularismus, der von „souveränen
Häuptlingen", Ländern, Stämmen oder von Parteien und ;f>arlamenten v-ertreten
werden konnte. Preußische und nationalliberale Konzepte galten als unionistisch,
zentralistisch u.ä., Anhänger eines preußischen Kaisertums als Oäsarianer, und der
Unionismus (gegen den Dualismus) gewann als Vollzugsbegriff den Sinn der Eini-
gungsbestrebung, die den Ansatz des Partikularbundes überschreitet434 •
Das ganze Sprachfeld war in den sechziger Jahren polemisch durchzogen, und ge-
messen an der Willensbildung politischer Parteien traten verfassungstheoretische
Analysen zurück. Gleichwohl gewann eine Schrift über „Das Wesen des Bundes-
staates" 1853 große Breitenwirkung. Sie stammte von GEORG WAITZ, der sie 1862
in seine „Grundzüge der Politik" aufnahm. Die Erfahrung von 1848 hatte die offene
Frage zurückgelassen, wie monarchische Gliedstaaten in einem nationalen Bundes-
staat zu vereinen seien. Waitz berief sich auf das Vorbild Tocquevilles und dessen
Diagnose der USA, in der die Union als volksunmittelbare Einheit und die konföde-
rierten Staaten gleichwohl als selbständig definiert wurden. So fand Waitz die zug-
kräftige Kompromißformel der doppelten Souveränität. Der Bundesstaat sei, wie
sein Name es sagt, ein Staat. Aber es finde eine zwiefache Organisation des Volkes zum
Staate · statt, teils in Gesamtheit, teils nach selbständigen Teilen . . . Beide, die
Bundesgewalt und die Gewalt der Einzelstaaten, müssen in ihrer Sphäre selbständig
(souverän) sein: diese darf ihre Gewalt nicht von jener empfangen, jene nicht auf Über-
tragung dieser beruhen. Wie auch immer die Kompetenzen abgegrenzt werden soll-
ten, der Gesamtstaat wurde als eine genuine Grqße eingeführt: Die Geschichle kann
immer noch neue Formen erzeugen 435 . Damit führte Waitz' Staatstheorie zurück in
die politische Debatte der sechziger Jahre.
BISMARCK ging in deren Kenntnis besonders behutsam vor. Beim Entwurf der nord-
deutschen Bundesverfassung achtete er darauf, daß sie - im Hinblick auf die süd-
deutschen Staaten - nicht zu zentralistisch bundesstaatlich werde. Man wird sich in
der Form mehr an den Staatenbund halten müssen, diesem aber praktisch die Natur des
Bundesstaates geben mit elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden Ausdrücken.
Als Zentralbehörde wird daher nicht ein Ministerium, sondern ein Bundestag fungieren,
bei dem wir, wie ich glaube, gute Geschäfte machen, wenn wir uns zunächst an das
Kuriensystem des alten Bundes anlehnen43&.
So schien der nationale Staatenbund unter prp,ußischer He1Jemonie nach Ansicht

434 Zahlreiche Belege in: Großdeutsch-Kleindeutsch. Stimmen aus der Zeit von 1815-1914,

hg. v. ADOLF RAPP (München 1922), bes. 191. 260 und bei ERNST DEuERLEIN, Föderalis-
mus, Beilage 5, 13 ff. (s. Anm. 352).
435 GEORG WAITz, Grundzüge der Politik (Kiel 1862), 162. 43 ff. und ders., Das Wesen des

Bundesstaats, Allg. Monatsschr. f. Wiss. u. Lit. (1853), 494 ff. Zum Vorbild der USA
zeitgenössisch EDUARD REDllANN, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika im Über-
gange vom Staatenbund zum Bundesstaat (Weimar 1855; Ndr. Stuttgart 1955); BRIE,
Bundesstaat, 95 ff. (s. Anm. 231); Rm>oLF ULLNER, Die Idee des Föderalismus im Jahr-
zehnt der deutschen Einigungskriege, dargestellt unter besonderer Berücksichtigung des
Modells der amerikanischen Verfassung für das deutsche politische Denken (Lübeck,
Hamburg 1965).
438 ÜTTO v. BISMARCK, Diktat v. 30. 10. 1866, FA Bd. 6 (1929), 167. Vgl. Reichstagsdebatte
v. 11. 3. 1867, ebd., Bd. 10 (1928), 320 ff.

668
d) Bund und Reich (lß4.8-1871) Bund

TREITSCHKES in den Kategorien des Staatsrechts kaum faßbar 437 • Der Norddeutsche
Bund wie das Reich von 1871 waren getragen von der doppelten Legitimation, so-
wohl ein Bund souveräner Fürsten wie auch national-demokratisch begründet zu
sein. Die preußische Hegemonie, nicht zuletzt in der Position des Kanzlers, war die
Klammer dieser Kräfte. Gerade im Bundesrat, als dem föderalen Träger der Souve-
ränität, war die preußische Führung so unaufdringlich wie effektiv. Deshalb ver-
wahrte sich Bismarck ganz entschieden dagegen, dieses Organ, auch nicht nach
1871, in 'Reichsrat' umzubenennen43 B. Es war kein Oberhaus, das eine unitarische
oder parlamentarische Rolle hätte spielen können, sondern das föderale Traditions-
organ, das auf den deutschen Bund zurückverwies, und noch weiter: es vereinte in
ständischer Tradition legislative, exekutive und jurisdiktionelle Aufgaben, die von
den deutschen Regierungen gemeinsam zu leisten waren. Freilich trat der Bundes-
rat in den kommenden Jahrzehnten hinter Kaiser, Reichstag und Reichsgericht zu-
rück - Indiz für die zunehmende Verstaatlichung des Reichs, innerhalb dessen sich
die föderalen Verfassungselemente zu Formen staatlicher Organisation wandelten.
Wie TREITSCHKE in seinem Aufsatz „Bund und Reich" 1874 provokativ formulierte:
die Idee der Föderation sei ein republikanischer Gedanke . . . Unser Reich ist in Wahr-
keit: der die Mehrheit der Nation unmittelbar beherrschende preußisch-deutsche Ein-
heitsstaat mit den Nebenlanden, welche seiner Krone in föderativen Formen unterge-
ordnet sind, oder kurz: die nationale Monarchie mit bündischen lnstitutionen439 . Oder
wie ÜONSTANTIN FRANTZ, der unermüdlich an den föderativen Beruf Deutschlands
appellierte, weil er den Föderalismus als das politische Entwicklungsprinzip der Zu-
kunft ansah, resigniert feststellte: das Reich sei nur :i;10ch ein leerer Name, in Wirk-
lichkeit ziele alles auf einen Staat440 •
Im Bereich der Staatslehre blieb dagegen 'Bundesstaat' - umstrittener - Zen-
tralbegriff der Theorie. Strikte Gegner des Bundesstaates, weil er der Souveränität
widerspreche, waren nur SEYDEL als Vorkämpfer bayrischer Eigenstaatlichkeit und
sein Antipode HELD. Dieser sah in Begriffen wie Fö,deralismus, Föderative, nationale
Staatenverbindungen, zusammengesetzter Staat, Bundesstaat, Staatenbund, Hegemonie
usw. nur Täuschungsmanöver, um die Wirklichkeit zu verhüllen. Held ideologisiert
die Ausdrücke im Horizont einer Geschichtsphilosophie, die den souveränen
Einheitsstaat als Zielpunkt setzt. Es komme darauf an, den großen Gang der Ge-
schichte zu erkennen, die entsprecliende Zukunft zu wollen - eben den Staat - und
bewußt daran zu arbeiten441.

437 TREITSCHKE, Die Verfassung des norddeutschen Bundes (1867), in: ders., Zehn Jahre
deutscher Kämpfe 1865--1874 (Berlin 1874), 194.
438 BISMARCK, Immediatbericht v. 29. 3. 1871, FA Bd. 6c (1935), 1 f.

439 TREITSCHKE, Bund und Reich (1874), in: Zehn Jahre, 581. 579.
44 ° CoNSTANTIN FRANTZ, Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staat-
liche und internationale Organisation, unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland
kritisch nachgewiesen und konstruktiv dargestellt (Mainz 1879), Ndr. u. d. T.: Deutsch-
land und der Föderalismus, hg. v. Eugen Stamm (Stuttgart, Berlin 1921), 215 f.; ders.,
Aufruf zur Begründung einer föderativen Partei, Bll. f. dt. Politik u. dt. Recht NF 1 (1875),
40f.
441 MAx SEYDEL, Commentar zw: Verfassungs-Urkunde für das deutsche Reich (Würzburg

1873), XIV; J osEPll v. HELD, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom staatsrechtlichen
Standpunkt aus betrachtet. Ein Beitrag zu deren Kritik (Leipzig 1872), 187 ff.

669
Bund V. Ausblick

Andererseits führte die historisch untermauerte Genossenschaftstheorie von GIERKE


zu einer Relativierung der Souveränität, etwa bei PREuss, dessen Verbandslehre die
Korporationen von der Gemeinde bis zur Völkerrechtsgemeinschaft einstufte"-2•
J ELLINEK, am Souveränitätskriterium („Kompetenz-Kompetenz") festhaltend, stell-
te.zwar noch den Satz auf, daß erst die Totalität von Bundes- und Gliedstaat den Staat
in der geschichtsphilosophischen Bedeutung repräsentiert, aber die juristische Betrach-
tung der Staatenverbindungen habe nur die Organisationsformen zu untersu-
chen443. Diese dogmatische Reduktion führte schließlich zu der stolzen Feststellung
von EBERS, daß die Staatslehre endlich von ihrer bisherigen Vermischung mit dem
Politischen befreit worden sei444.

V. Ausblick
Seit der Gründung des deutschen Reiches wurde der Ausdruck 'Bund' - wie ebenso
durch das Aufkommen der Parteien - politisch entschärft und für neue Bedeutungs-
felder freigesetzt. Einige Sektoren der Ausfächerung seien genanil.t:
1. Staatsrechtlich gesehen wurde der Bundescharakter durch die Weimarer Verfas-
sung reduziert. Wie sehr, bezeugt ANSCHÜTZ, der 1924 unter Zustimmung der mei-
sten Staatsrechtslehrer feststellte: Das Reich ist kein Bund der Länder, sorulem,
wenn man an der Denkform 'Bund' noch festhaUen will, der Bund des gesamten deut-
schen Volkes 445• Das gilt potentiell auch für das Bonner Grundgesetz. 'Bund' wurde
zu einem verfassungsrechtlichen Organisationsprinzip. Nach Art. 29 sollen Länder
geschaffen werden, die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Au/-
gaben wirksam erfüllen können.
2. Im historischen Bereich wurde der Bundesausdruck stark gedehnt. Die seit Bodin
üblichen Vergleiche zeitgenössischer Unionen usw. mit den Einungen der Antike
werden seit dem 19. Jahrhundert durch historisch-methodische Untersuchungen
überholt, auch wenn deren Ergebnisse wieder in dogmenhistorische oder weltge-
schichtliche Entwicklungslinien einbezogen werden448. Damit wachsen dem Aus-
druck neue systematische Valenzen zu, die
3. für die Soziologie ScHMALENBACH447 u. a. fruchtbar machen wollten. Schmalen-
bach suchte 'Bund' als früh- und spätzeitliche Kategorie der 'Gemeinschaft' und
der 'Gesellschaft' vor- und nachzuordnen. Er hatte auch den Kreis um Stefan George
im Blick und die bündische Jugend, innerhalb derer
4. 'Bund' zu einem voluntaristischen Aktionsbegriff wurde. Es ist nicht kicht, daB
Wesen des Bundes zu ergründen und scharf zu formulieren, wie ein „Jugendbewegter"
schrieb, der sich auf der Suche „vom Ich zum Wir" befand. Eine quasireligiöse Er-
wartung strömte erneut in den Organisationsbegriff ein. Der Bündische und Das

442 PREuss, Gebietskörperschaften (s. Anm. 248).


443 GEORG JELLINEK, Die Lehre von den Staatenverbindungen (Wien 1882), 313.
444 EBERS, Staatenbund (s. Anm. 231), 181.
445 GERHARD ANSCHÜTZ, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und

Zukunft, Veröff. d. Vereinigung d. Dt. Staatsrechtslehrer 1(1924),17. ·


448 LE FuR/PosENER, Bundesstaat (s. Anm. 231) mit Hinweisen auf die historische Literatur;

HEINRICH TRIEPEL, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten (Stuttgart 1938).
447 HERMAN ScHMALENBACH, Die soziologische Kategorie des Bundes, Die Dioskuren 1

(1922), 35 ff.

670
V. Ausblick Bund

Bündische wurden substantiviert. Das bürulische Lebensgefühl, anfangs gegen den


Wilhelminismus gerichtet, ging in die „konservative Revolution" ein. Erst durch
seine Bilndigung werde das Reich 11eine Weltaufgabe erfüllen können, wie es 1933
hieß 448 • Aber mit der Auflösung der bündischen Jugend wurde auch der Bundes-
begriff aus dem nationalsozialistischen Vokabular verdrängt449 - so wie der Ein-
parteienstaat, gegen den „Parteienbundesstaat" gerichtet, 1934 auch die Länder-
hoheit beseitigt hatte.
5. Unvermindert durchgehalten hat sich dagegen 'Bund' als parteipölitisch indif-
ferente Organisationsbezeichnung. Sie lebt in zahlreichen Verbänden mit dem An-
spruch, mehr zu sein als nur ein Verein: vom „Allgemeinen deutschen Gewerk-
schaftsbund" (1919, seit 1949 DGB) bis zum „Bund der Vertriebenen" (1959), um
nur zwei der Massenorganisationen zu nennen.
6. Zurückgetreten ist der Ausdruck des 'Völkerbundes', nachdem die darauf zielen-
den Entwürfe seit Kant weiterentwickelt wurden und im Ersten Weltkrieg in das
Stadium unmittelbarer Aktualität getreten waren. BmtNflTI!lIN wios HH9 darauf hin,
daß 'league ofnations' eigentlich nur „Staatenbund" bedeute, während der deutsche
Ausdruck viel BestimmJ,eres und mehr sagt: hier handele es sich um einen Bund
der Völker selber, der - mit gegenseitigem Interventionsrecht - nur zwischen
sozia.listl'.sch-dem(lkratisch.P.n RP.puhlikP.n gP.Rr.hlo11i;eu werden könne. CARL SCHMIT'l'
verschärfte die semantologische Kritik, als er die „Kernfrage" des Völkerbundes
stellte: der Völkerbund sei we,der Völker-Bund noch Völker-Bund, vielmehr sei er
ein Instrument der Mächtigen, um - ohne Garantie und Homogenität der Mitglie-
der - die Politik zu juridifizieren45o. ·
Unter dem Vorgebot überstaatlicher Verbindungen451 tauchen seit 1945 die struk-
turellen Probleme der Einungen, der Staatenbünde und Bundesstaaten unter neuen
Bezeichnungen wieder auf. Sie konvergieren mit Verfassungsproblemen solcher
Verbindungen, die die Staatsgrenzen unterlaufen und die staatlich nicht mehr zu-
zuordnen sind. So entstehen Formationen, die im Deutschen nicht mehr als 'Bund'
- wohl auch infolge seiner Bedeutungsüberhänge - auf ihren Begriff gebracht
werden. Die Charter of the United Nations (1945) hat auf einen institutionellen
Oberbegriff verzichtet.

Literatur
SIEGFRIED BRIE, Der Bundesstaat. Eine historisch-dogmati1111h11 TTnt1m=nrnhung (Leipzig
1874); ERNST DEUERLEIN, Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grund-
lagen des föderativen Prinzips, Beilagen 1 u. 5 zu: Das Parlament 5 (1968); ÜTTO v.
GIERKE, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde. (Berlin 1868/1913).
REIN.HART KosELLECK

448 WALTHER KosT, Die bündischen Elemente in der deutschen Gegenwartsideologie

(rechts- u. staatswiBB. DiBB. Greifswald 1934), 25. 114. 82 und zahlreiche weitere Belege._
Der Verfasser sympathisierte mit dem Strasser-Flügel und hoffte auf die zweite Revolution.
" 8 KosT, Bündische Elemente, 107. Auch bei HrrLER offenbar wenig Belege; vgl. Reden und
Proklamationen 1932-1945, hg. v. Max Domarus, 2. Aufi., Bd.1/2 (München 1965), 541.
00 EDUARD BERNSTEIN, Völkerbund oder Staatenbund, 2. Aufi. (Berlin 1919) 15 ff., bes.

15. 17. Vgl. CARL SCHMITT, Die Kernfrage des Völkerbundes (Berlin 1926), 16.
451 CARL J. FRIEDRICH, Trends of Federalism in Theory and Practice (New York, W ashing-

ton, London 1968), 82 ff.

671
Bürger, Staatsbürger, Bürgertum
1. Einleitung. II. 1. Klassisch-griechische Philosophie. 2. Römisches Recht. 3. Einfluß des
Christentums. III. 1. Stadtbürger und Bürgerstand im Mittelalter. 2. Bürger und Unter-
tan in der neuzeitlichen Souveränitätslehre: Bodin. 3. Der tradltionell-aristotelische
Bürgerbegriff im deutschen Reichsrecht des 17. Jahrhunderts. 4. Strukturformen des
Begriffs 1680-1750: Besold, Zedler. IV. 1. Die deutsche Aufklärung: Scheidemantel,
Wolff, Abbt, Lessing, Wieland. 2. Rekonstruktion des traditionellen Bürgerbegriffs:
Justus Möser. 3. Die Genealogie von 'Staatsbürger': Eberhard, Wiela,nd, Klopstock.
4. Kritik und Bewahrung der TI:adition: 'Staatsbürger' und 'Schutz-' bzw. 'Staatsge-
nosse' bei Kant. 5. Der Einfluß der Französischen Revolution. 6. Adel und Bürger-
stand im Ursprung der neuhumanistischen Bildungsidee: Goethe und Schiller. 7. Aporien
des Bürgerbegriffs: Hufeland, Krug, Garve, Feuerbach, Campe, Vollgra:II. 8. 'Bürger',
'Staatsbürger' und 'Untertan' 1790-1830. 9. Das V1irhältniR r.wi1mhf'ln „ Bürger", „Mensch"
und „Privatperson": Hegel. 10. 'Staatsbürge1." und 'Bürger' im Spannungsfeld revolu-
tionö.r-domokra.tischer und konservaLiv-ruillanLhwher Theorie: Buchholz, Muller. 11. Ge-
schichtliche Legitimierung und „soziale" Gegensätze im konstitutionell-liberalen Bür-
gerbegriff: RotteckfWelcker. 12. 'Bürgertum' - 'Staatsbürgertum' - 'Bourgeoisie':
zur Genesis der „bürgerlichen" Klassenterminologie. 13. 'Bourgeoisie' - 'Proletariat':
Marx, Engels. 14. Der Begriff nach 1850: 'Bourgeoisie' - 'Bürgertum' - 'Bür~er'.
V. Ausblick.

I. Einleitung
Das Wort 'Bürger' gehört etymologisch zu 'Burg', das früh auch „Stadt" bedeuten
kann (got. batirgs, altengl. burg, ahd. bur[u]g, mhd. hure). Daher stehen schon ahd.
burga.ri, altengl. burgware, mhd. burgrere, burger .für den „Bewohner einer Stadt".
Ihnen entsprechen germ.-spätlat. burgarius, mlat. burgensis. Diese Ableitung bleibt
für die deutsche Wortgeschichte bestimmend. In den romanischen Ländern, aber
auch in England ('citizen'f'burgess') bilden sich unter dem Einfluß der lateini-
schen Kultur und Sprache bereits im hohen Mittelalter zwei oder mehrere Bezeich-
nungen für 'Bürger' heraus, so im Französischen 'bourgeois' (11. Jahrhundert),
'citoyen' (12. Jahrhundert), 'citadin' (15. Jahrhundert), während der deutsche
Sprachbereich immer nur über ein Wort verfügt1 •

n.
1. Klassisch-griechische Philosophie

Der gemeineuropäische Bürgerbegriff ist vom antiken Stadtstaat aus gebildet wor-
den. Griech. n0Äln1~ und lat. civis standen unmittelbar mit der „Stadt" (n6Ä1~,
civitas) als spezifischer Organisationsform der antiken Welt im Zusammenhang.
Ihr Verbandscharakter, der sie von außereuropäischen (orientalisch-asiatischen)
Gemeinschaftsformen unterschied, wurde von der klassisch-griechischen Philosophie
auf den Begriff gebracht. Nach .ARISTOTELES war die Polis eine Vereinigung von

1 GRIMM Bd.2 (1860), 534:1I.; KLuGEjMrrZKA 20. Aufl. (1967), 111 f.; DUDEN, Etymologie
(1963), 90; GAMILLSCHEG 2. Aufl. (1969), 138. 232.

672
D. 1. .Klassisch-griechische Philosophie Bürger

Bürgern (xowwvla noJ.irwv) oder die bürgerliche Gesellschaft (xowwvla noA.m"1])


1mhl1111hthin2. ni11 föndnment.ufo Stellung des Bürgcril drückte sich auch in den Kate-
gorien aus, welche das innere Gefüge der Polis umschrieben. IloJ.m:la, das Wort
für „Bürgerrecht", bezeichnete zugleich die Bürgerschaft und die Verfassung, unter
der sie stand. Der Bürgertitel war abhängig von der Teilnahme am Regieren und
Regiertwerden; daher bedeutete noJ.mxov litxaiov das Polisrecht und nicht die
mit dem Bürgerrecht einer Stadt verbundenen „privaten" Rechte des einzelnen;
das bürgerliche Leben (ßlo, noJ.mx&,J war die Lebensweise des Bürgers, in der
seine Freiheit {lJ.ev{}eela) Dasein hatte; der Staatsmann (noJ.mx&,) derjenige,
welcher die bürgerlichen Angelegenheiten besorgte; Regierung ( noJ.lrevµa) die
Herrschaft von Bürgern über Bürger usw.
Der antike „Bürger" war Landbesitzer und Krieger, seine Lebensweise blieb lange
an den Normen der altgriechischen Adelsgesellschaft ausgerichtet. Handel und
Gewerbe wurden vorwiegend von Nichtbürgern (Sklaven, Beisassen und Fremden)
betrieben. Die Entlastung von wirtschaftlicher Arbeit war Voraussetzung des
Bürgerseins, als dessen eigentlicher Zweck die Teilnahme am pto, noJ.mxo' galt.
Die Bürgergemeinschaft stand der Sphäre der -+- Arbeit fremd, ja feindlich gegen-
über; das Handwerk wurde verachtet, seine Ausübung dem Bürger verboten3 • In
allen griechischen Städten stellten dio Bürgor do.hor nur oincn Bruohtcil der Bevöl-
kerung; das starke Anwachsen der Bürgerschaft (5./4. Jahrhundert), gegen das
sich die politischen Theoretiker vergeblich wandten', war bereits ein Zeichen des
Niedergangs der Polis.
Die literarisch bedeutsamste Theorie des noJ.lnJ' findet sich im 3. Buch von
Aristoteles' „Politik". Sie hielt zu einer Zeit, da sich das Dasein der Polis aufzu-
lösen begann, deren geschichtlichen Begriff fest: nicht die Gemeinschaft des Ortes,
sondern die Teilnahme an der „Herrschaft", das xowwveiv dexii,, machte den
Stadtbewohner zum Bürger. Denn Knechte {liovJ.oi) und Beisassen (µero1xo1)
hatten mit den Bürgern den Wohnort gemeinsam 5, waren aber so wenig Bürger wie
Bauern und Händler oder Tagelöhner und Handwerker. Bei den letzteren ergab
sich für Aristoteles insofern eine Begriffsaporie, als sie, im Unterschied zu den an
das Haus gebundenen Knechten, Verrichtungen für das Gemeinwesen (ro ;eowov)
übernahmen 6 • Hier wird der geschichtlich nach rückwärts gewandte Sinn der
aristotelischen Definition besonders augenfällig. Unter Berufung auf die alten Zei-
ten, wo nur Knechte und Fremde Handwerker waren, entschied sich Aristoteles
dafür, daß nur der Freie {lk&Oeeo,), und das heißt für griechisches Denken: der

2 .ArusTOTELEs, Pol. 1274 b 41; 1252 a 6 f. .


a XENOPHON, Oikon. 4, 3; PLATON, Nomoi 846 d.
4 PLATON, Nomoi 737 d - 738 e; .ArusTOTELEs, Pol. 1326 b 5; ders., Nik. Eth. 1170 b 31;
XENOPHON, Hell. 2, 4, 20. Vgl. die Bevölkerungszahlen bei VICTOR EHRENBERG, Der Staat
der Griechen, 2 . .Aufl.., Bd. 1(Leipzig1957), 24. Nach FRrrz M. HEICHELHEIM, .An .Ancient
Economic History, 2nd ed., vol. 2 (Leiden 1964), 127 lag im .Athen des 5. Jahrhun-
derts der .Anteil der Nichtbürger an Handel und Gewerbe zwischen 70 und 80 %·
6 .ARISTOTELES, Pol. 1275 a 7 f.

s Ebd. 1277 b 33 - 1278 a 36. Selbstverständlich wußte .Aristoteles, daß sie in demokra-
tischen oder oligarchischen Verfassungen das Bürgerrecht besaßen; ebd. 1278 a 15 - 21.

43-90385/1 673
Bürger D. 2. Römisches Recht

vom Erwerb des Lebensnotwendigen freie, über ein Haus ( o~o~) gebietende Mann,
„Bürger" genannt werden könne 7 • ·

2. Römisches Recht

Auch der civis Romanus war Bürger des Stadt und Land umfassenden Stadtstaates
(civitas). Römisches Recht und Stadtbürgerrecht waren ursprünglich identisch,
das ius civile war das unter Bürgern geltende Recht 8 • Das römische Recht unter-
scheidet zwischen „status libertatis" (die Menschen sind Freie oder Sklaven),
„status civitatis" (die Freien sind Bürger von Rom oder Nichtbürger) und „status
familias" (~er römische Bürger ist entweder „pater familias" oder „filius familias") 9•
Obwohl der Titel eines „civis '.Romanus" dem Hausherrn und Haussohn gleich-
mäßig zukam, genoß nur der „pater fämilias" die volle (öffentliche und private)
Rechtsfähigkeit; er allein war „homo sui iuris". Der Haussohn, der als Bürge~ an
der Ausübung der öffentlichen Rechte teilhatte, blieb der väterlichen Gewalt unter-
worfen („homo alieni iuris"); das Eigentum, das er erwarb (auch an Frau und
Kindern), gehörte nicht ihm, sondern dem Haus des pater familias. Im Hintergrund
steht das Modell der alten Bürgergemeinde. Seine Fundamente waren die Geschlech-
ter (gcntcs), die aus Freien (patrcs, patricii) und Hörigen (clientcs, plebeii) bestan-
den10. Der Kern der Bürgerschaft (populus, civitas) setzte sich auch in späterer
Zeit aus den freien, über ein Haus gebietenden Geschlechtsgenossen (quirites, später
cives) zusammen. Ihrer Abschließung nach innen, gegen die Auflösung der Haus-
verbände und gegen die Rechtsansprüche neuer gesellschaftlicher Gruppen und
Klassen, entsprach die nach außen. Die unterworfenen Völker und Länder traten
zunächst nicht in den römischen „Staat" (in civitate) ein, sondern nur unter die
römische Herrschaft (in imperio) 11 • Und ferner war, trotz wachsenden Handelsver-
kehrs, die Masse der Fremden (peregrini) vom „ius commercium" des römischen
Bürgers ausgeschlossen. Deshalb trat während des 3. Jahrhunderts v. Chr. neben
das ius civile ( = ius proprium civium Romanorum) das Fremdenrecht des ius gen-
.tium. Von .Anfang an galt es im ganzen Imperium. Erst in spätantiker Zeit wurde
das Stadtbürgerrecht der res publica zum Reichsbürgerrecht des Imperium Ro-
manum erweitert. Seit Caracalla (Constitutio Antoniniana 212 n. Chr.) kamen Titel
und Rechte des civis Romanus, mit Ausnahme einer Klasse der Bevölkerung (der
dediticii), allen „Untertanen" des Reiches zu. Der Begriff des Untertanen (sub-
ditus, subiectus) wurde jetzt, da der Unterschied zwischen Bürger und Nicht-
bürger an Bedeutung verlor, geprägt, besonders im oströmischen Reich (Byzanz) 12•
Reste der alten Ausschließungen (gegenüber Sklaven, Beisassen, Hörigen) bestanden
freilich weiterhin fort.

7 Ebd. 1277 a 21 ff.


8 RUDOLF Sou, Institutionen des Römischen Rechts, 4. Aufl. (Leipzig 1891), 44 .
• Dig. 11, 4, 5.
io THEODOR MollrD48EN, Römisches Staatsrecht, Bd. 3 (Leipzig 1888), 3 ff.
11 NUMA DENIS FusTEL DE COULANGES, Der antike Staat (1864; dt. Berlin, Leipzig 1907),
452.
11 Dazu FRANz WIEACKER, Recht und Gesellschaft in der Spätantike (Stuttgart 1964), lOff.

674
D. 3. Einflall des Chriatmtmm Bürpr

3. Einfluß des Christentums

Nach biblisch-christlichem Verständnis war das Bürgerrecht (no.Utevµa) des :Men-


schen in den Himmel entrückt13• Der Bürgerbegriff und seine Gegensätze wurden
im Neuen Testament vorzugsweise figürlich gebraucht; die Christen sind Fremd-
linge und Beisassen auf Erden16, sie haben keine bleibende Statt, sondern suchen
die zukünftige16, deren Bewohner als :Mitbürger ( uvµno.U-rru) der Heiligen und
Hausgenossen (olHl:Toi) Gottes geltenH. Die Idee des Neuen Testaments von der
Gottesbürgerschaft aller :Menschen, die bei AUGUSTIN ihre zusammenfassende Dar-
stellung fand17 , überstieg die Schranken des griechisch-römischen Denkens. Obwohl
das im römischen Reich sich ausbreitende Christentum die bestehende Sozialord-
nung anerkannte, veränderte dieidee eines Bürgerrechts der Christen das heidnische
Bürgerrecht. Nun standen sich nicht mehr nur „Bü.rger" und „Nichtbürger" oder
„Bürger" und „Untertan", sondern „Bürger" und „Christ" gegenüber. Das zeigt
sich an den einander ergänzenden Rezeptionsvorgä.ngen des hohen :Mittelalters, des
Aristotelismus auf der einen (13. Jahrhundert), des Römischen Rechts auf der
anderen Seite (12. Jahrhundert). Sie·führten den klassischen Bürgerbegriff in das
neuere europäische Denken ein: der 'Bürger' (civis) war hier Teil der bürgerlichen
Gesellsohaft (sooietas oivilis), wobei es relativ gleichgültig war, ob es sich da.bei um
einen kleineren politischen Herrschaftsverband (Stadt, Provinz, Fürstentum usf.)
oder um das als fortbestehend gedachte römische Imperium handelte. Nach An-
sicht der Juristen waren z.B. auch die Könige von England und Frankreich cives
Romani18• Aber das Imperium Romanum stellte nur die weltliche Seite der Christen-
heit dar; Bürgerrecht und Bürgerbegriff mußten sich einem bereits voll ausgebil-
deten Kirchenrecht anpassen. Der dortigen Scheidung von potestas spiritualis und
potestas secularis 19 entsprach innerhalb der aristotelisch-scholastiächen Philosophie
die von societas civilis und societ.as ecclesiastica, von „Bürger" und „Christ" 26•
Dazu kommt, daß das ius civile, ursprünglich das Recht des civis Romanus, jetzt
das „weltliche" Recht der Christenheit, vornehmlich als Privatrecht auftrat. In der
Welt des Reichsbürgers und Christen wurde durch den „usus modernus pandec-
tarum" das bürgerliche zum „privatbürgerlichen" Recht weiterentwickelt.

ls Vgl. dazu Phil. 3, 20; Gai. 4, 26.


u 1. Petr. 2, 11; Eph. 2, 19.
16 Hebr. 13, 14.
18 Hebr. 12, 22; Apg. 21, 2. Vgl. KlTTEL Bd. 6 (1954), 528 ff.
17 AUGUSTIN, De civ. Dei 10, 7, 1; 12, 9, 1; 15, 2, 2; 19, 11 ff. 24 ff. u. ö.
18 BARTOLUS, Ad L. 24 D. de capt. et postlim. 49, 15, Nr. 6: Re:eFranciae etAngliae licet
negent se subditos Regi Romarwrum, non tamen desinunt esse eives Ruma:noa.
19 CIC, Decret. Grat. 1, Dist. 96, Kap. 1-16.
20 THOMAS VON AQUIN, Super librum sententiarum 3,24, 6, 75; dere., Summa theologica,
1, 2, qu. 100, art. 2 c; qu. 102, art. 6; 2, 2, qu. 10, art. 9; qu. 11, art. 2; qu. 95, art. 8;
qu. 96, art. 1.

675
m.
1. Stadtbürger und Bürgerstand im Mittelalter

Entscheidend für die Umgestaltung des Begriffs war die Entstehung eines neuen
Typs der Bürgergemeinde im mittelalterlichen Europa. Seit dem 11. Jahrhundert
bildeten sich inmitten der ländlich-herrschaftlichen Gesellschaft die Städte als
genossenschaftliche Verbände freier Männer (= 'Bürger') heraus, die kraft eigenen
Rechts (Privileg) der Welt der Grundherrschaft gegenübertraten. Der griechische
noÄlTT}t; und der civis Romanus waren in der Regel Grundherren, die von der Arbeit
der Nichtbürger (Sklaven, Metöken) lebten. Die Bürger der mittelalterlichen Städte
hingegen waren vorwiegend Kaufleute und Handwerker. Gewerbe und Handel,
die das antike Bürgertum von sich ausschloß, wurden hier in den RiiTger-
begri:ff aufgenommen. Die Arbeit war nicht nur (unter dem Einfluß des Christen-
tums) als berechtigt anerkannt, sondern konnte sich unter dem Schutz eines
herrschaftlich gesicherten Friedensbezirks in einem vorher nicht gekannten Aus-
maß entfalten.
Freilich hat sich der Gewerbebürger (Handwerker) das Bürgerrecht oft erst erkämp-
fen müBBen. Die Rechtsverhältnisse der mittelalterlichen Städte ähnelten nicht
selten denen der antiken Stadtgemeinde. Am Anfang überwog der Rechts- und
nicht der Standesbegriff des Bürgers. Nur das vollberechtigte Glied der Bürgerschaft
konnte diesen Titel beanspruchen. In einigen Städten (auch Nordew:opas) bestanden
die Gemeinden, z. T. bis zum Ausgang des Mittelalters, aus „Rittern und Bürgern";
auch galten die Bürger vielfach als rittermäßig und lehensfähig und erwarben
a4elige Güter 21 • Der Rechtsbegriff des Bürgers erwies sich als sehr vielschichtig und
von Stadt zu Stadt verschieden. Voraussetzung für das Bürgerrecht bildete der
Besitz von Grund und Haus in der Stadt, eines „Erbes". In seinem Haus war der
Bürger „ Wirt"; Familie und Gesinde standen unter seiner Herrschaft und seinem
Schutz. Der vollberechtigte 'Bürger' unterschied sich vom „Inwohner" (= Bei-
sassen), der dauernd in der Stadt ansässig und tätig war, und von den nur vorüber-
gehend ansässigen „Gästen" (=Fremden). Doch konnten die Gäste auch zu „Mit-
bürgern" und damit denen gleich werden, so in der statt erboren sind 22 • Dazu kam,
daß sich auch innerhalb der vollberechtigten Bürgerschaft die rechtsfähigen Ge-
schlechter als 'Bürger' im engeren Sinne von der „Gemeinde" abheben konnten2 8 •

21 Hierzu und zum Folgenden ÜTTO BRUNNE&, Land und Herrschaft, 5. Aufl. (Wien 1965),

349 ff.; ders., Stadt und Bürgertum in der europäischen Geschichte, in: ders., Neue Wege
der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. (Göttingen 1968), 213 ff.; FRANZ STEINBACH,
Studien zur Geschichte des Bürgertums, Rhein. Vjbll. 13 (1948), 11 ff.; 14 (1949), 35 ff.;
28 (1963), 1 ff.; vgl. auch WILHELM ARNOLD, Verfassungsgeschichte der deutschen
Freistädte, Bd. 1 (Hamburg, Gotha 1854), 240 ff.
22 M.ul.ER (1561), 291 b: Mitburger /Ein frömbder der statt freyheit genoß unnd zu einem

burger angenommen / der statt und deß landa raeckt und beschwaerden teilhafftig / gleych wie
die so in der statt erboren sind.
23 Vgl. den Gegensatz zwischen Ober- und Unterschicht ('popolo gra.sso/minuto') in den
italienischen Städten. Bei THOMAS VON AQUIN werden optimates, populus honorabilia und.

676
m. 1. S1adlLürger uud Bürgent.aod im Mittelalter Bürger

In diesem Bürgerbegriff, der sich durchaus antiken Vorstellungen anglich und in


die Herrschaftsstrukturen der agrarischen Gesellschaft einfügte, waren also Stadt-
1:1ii1:11:1igkt1iL, wirLl:lch1tfLlicht1 uml ht1.r.r1:1ch!iftliuh-puliLllicht1 8Lt1lluug uuLl't!llllUlir vti.r-
bunden.
Erst am Ausgang des Mittelalters ist den Bürgern ein eigener „status" und die
politische Standschaft zuerkannt worden. Wenn man von den Rechtsverhältnissen
der einzelnen Städte absah, mußten die überwiegend in Handel und Gewerbe tätigen
Stadtbewohner, einschließlich der „Inwohner", als relativ homogener Bürgerstand
erscheinen. Für die auf dem Lande ansässigen Grundherren und Bauern hoben sie
sich durch ihre Tätigkeiten und Gewohnheiten von den anderen „Ständen" der
Christenheit ab. Die mittelalterliche Dreiständelehre kannte freilich den „Bürger-
stand" nicht, sie unterschied nur zwischen Bauern, Rittern und Klerikern 24 • Die
„burgaere" waren Teil einer ständischen Vielfalt: „Herzog Ernst", um 1180:
man lwert in w?,te klagen/ beide ritter unde knecht / landliute und burgaere. Erst während
defl Spätmittelalters traten die Bürger zwiflehcnRittern undBauerninErBoheinung,
wobei nun auch ständische Gegensätze und Rivalitäten dargestellt wurden (OSWALD
VON WOLKENSTEIN, geb. um 1377: ain purger und ein lwfmann; JANSEN ENIKEL,
um 1280, „Weltchronik"). Die „Welt" umspannte nach spätmittelalterlicher Sicht
bawr, burger, adel, wobei nach rler allgemein üblichen Rangordnung rlie f'...eistlich-
keit (pfaffen) an deren Spitze stand 25 • Unabhängig von dieser ständischen Ein-
hegung des Bürgers behauptete das Adjektiv 'bürgerlich' lange Zeit seinen älteren,
politisch-rechtlichen Sinn; es bezeichnete dasjenige, was zum 'Bürger' und der von
ihm getragenen Stadtgemeinde gehörte, was ihm in gemeinen burgerlichen Wesen 28
als Recht zustand: aUe burgerliche recht haben 27 • Daneben war es gleichbedeutend
mit „gesittet, leutselig, freundlich": Sich Burgerlich und freundtlich erzeigen. Agere
se civilem28, Die Abgrenzung zu Adel und Geistlichkeit erfolgte über die Gliederung
der Reichs- und Landtage in Stände; neben Herrenstand und Geistlichkeit waren
seit dem 13. Jahrhundert die Städte vertreten - allerdings nur insoweit, als sie
dem Herrscher und nicht Prälaten und Baronen unterworfen waren 29 • Der „bürger-

miia populus (S. th. 2, qu. 108, art. 2 c), bei MA.RsILius VON PADUA (Defensor pacis 1, 5, 1)
honorabiZif.a& (Priesterstand, Adel, Juristen) und multitudo vulgaria (Dauern, Handwerker,
Händler) einander gegenübergestellt. Vgl. WILHELM SCHWER, Stand und Ständeordnung
im Weltbild des Mittelalters; 2. Aufi., hg. v. Nikolaus Monzel (Paderborn 1952). Vgl. auch
JEAN CHARLES Ll!:ONARD SIMONDE DE SISMONDI, Histoire des republiques italiennes du
moyen age, t. 5 (Paris 1809), 377. Ferner FRIEDRICH KARL v. SAVIGNY, Geschichte des
römischen Rechts im Mittelalter, 2; Aufi., Bd. 3 (Heidelberg 1834), 105 ff.
H FREIDANK, Bescheidenheit 27, 1: gebUre, ritter und pfaffen.
25 Vgl. MARTIN LUTHER, Der Heubt Artikel des Glaubens (1533), WA Bd. 37 (1910), 37.
28 Oberpfälzische Landesordnung (1599), zit. RWB Bd. 2 (1932), 599 f.
27 Monument& historiae Warmiensis (1349), zit. RWB Bd. 2, 600. Vgl. den „Schwaben-

spiegel" (um 1276): daz htizzet bur(/e"eht, awaz ein i,glick Bf,a,t ir selber ze rekte aezzet mit ir
kunges .•. willen, zit. RWB Bd. 2, 608.
28 MA.A.LER (1561), 83 a.
2 9 Zum Herrenstand ( = Adel) gehörten am Anfang auch die Stadtbürger, soweit sie ritter-

mäßig waren und adlige Güter auf dem Lande erwarben; vgl. BRUNNER, La.nd und Herr-

677
Bürger llL 2. Neuzeitliche Souverlaitätalehre

liehe" Stand ging hier noch ganz in der politischen Standschaft auf. Dabei spielte es
zunächst keine wesentliche Rolle, daß er zu dieser Zeit auch unter der Bezeichnung
'Volk' auftreten konnte. Das recht undifferenziert gebrauchte Wort umfaßte in der
Regel alle nicht zu Adel und Geistlichkeit gehörigen Stände (tiers etat), mußte also
nicht mit dem städtischen „Bürgerstand" identisch sein80•

2. Bürger und Untertan in der neuzeitlichen Souveränitätslehre: Bodin

Die Ansätze eines spezifisch neuzeitlichen Bürgerbegriffs haben sich während des
17. Jahrhunderts im Umkreis der Staatslehre ausgebildet. Die Theorie der Herrscher-
souveränität (Bodin) suchte die ältere „Obrigkeit" zur „Staatsgewalt" zu steigern,
die als alleinige Quelle des Rechts gelten sollte. Sie. drängte damit die Idee einer
über Herrscher und Volk stehenden natürlichen Rechtsordnung (le:x: naturalis)
zurück, die noch dem scholastisch-aristotelischen Begriffsverhältnis von civis und
sooiotas civilis zugrunde gelegen hatte. Danach war die bürgerliche Gesellschaft als
Ganzes früher als ihre Teile, die Bürger, gewesen, die ihrerseits als selbständige
Glieder des politischen Ganzen betrachtet wurden. In mannigfachen Brechungen
lebte diese Lehre auch im 17. Jahrhundert weiter, wurde aber nun bestritten, ja
heftig hekii.mpft.. Ar.hon hei RomN richt.f'lt.P. sich der Souve.ränitätsbeg.riff gegen die
traditionellen Societas- und Civis-Vorstellungen31• Die Auszeichnung der „Respu-
blica" vor allen anderen Gesellschaftsformen, das Merkmal der „summa potestas",
hatte zur Folge, daß die Bürgergemeinde (civitas) aus dem Zentrum der politischen
Theorie rückte. Durch die Unterordnung unter die absolute Herrschersouveränität
(summa potestas imperii) verwandelte sich ihr einstiger Träger, der 'Bürger' (civis),
nicht nur in den 'Untertan' (subditus), sondern wurde gleichzeitig zum 'Stadt-
bürger' (civis urbanus, bourgeois) herabgesetzt32 • Das war das eigentlich Neue an
der Bodinschen Theorie; der Bürger als Mitglied der Stadtgemeinde trug im Unter-
schied zum Bürger als Mitglied des „Staats" den Namen des 'bourgeois'. Auch
hiex, wie überhaupt im 16./17. Jahrhundert hatte dieser Name einen zunächst
politisch-rechtlichen Gehalt; es war der für den freien Stadtbürger gebräuchlich
gewordene Rechtstitel33• Soweit er aber mit der Scheidung von souveränem „Staat"
und Bürgergeineinde zusammenhing, artikulierten sich darin diejenigen Momente,
auf deren Wechselwirkung fortan die Geschichte des neuzeitlichen Bürgerbegriffs
beruhte. Denn dem 'civis urbanus' oder 'hourgAOis' Ata.nd bereits der 'civis' oder

echaft, 407 :ff. Die von Adel und Geistlichkeit beherrschten Städte wurden von diesen
schon mit „repräsentiert" (in Deutschland die Land· und BietUDlBBtädte, im Unterschied.
zu den freien Reichsstädten, civitatee imperiales liberae).
ao Vgl. Relations des a.mbaeeadeure Vemtiene, M. N1000LO TOMMASEO, t. 2 (Paris 1838);
496. '
81 Vgl. die Aristoteles.Polemik bei Bonnr, De republica. I, 6, 3. Aufl. (Frankfurt 1594), 76f.
81 Ebd., 76: civi& urban'U8 i8 eat, qui urbia, moenib'UB ac aedificii& e<mtinetur. Vgl. hier auch
den Hinweis, daß es eich bei der Unterscheidung von 'respuhlfoa' und 'civitae' um neu
eingeführte Begriffe handle: aed quia nenw liacten'U8 .•• ki& defi,nitionib'U8 'U8'U8 eat.
88 Vgl. M. C.urABD, Essai de eemantique. Le mot 'bourgeoiB', Rev. de philol. fran93ise 27

(1913), 33.

678
m. 3. Reichsrecht des 17. Jahrhunderts Bürger

'oitoyen' gegenüber 34• Beide Begriffe fielen bei Bodin al110 noch auseinander. Die
Idee einer notwendigen Verknüpfung durch ein und dasselbe Subjekt (den „Men-
schen"), wie sie uns am Ausgang des 18. Jahrhunderts begegnet, war Bodin fremd.
Ursache dafür dürfte der Traditionalismus gewesen sein, dem sein Bürgerbegriff
letztlich verhaftet blieb. Denn der 'citoyen', der auf der einen Seite den späteren
'Staatsbürger' (im· Unterschied zuni 'Stadtbürger') schon in sich enthielt, setzte
auf der anderen noch immer die klassisch-griechische wie römisch-rechtliche Vor-
stellung des selbständigen Hausherrn voraus, der als freier Mann und Herrschafts-
träger in die Gemeinschaft der Freien eintrat35•

3. Der traditionell-aristotelische Bürgerbegriff im deutschen Reichsrecht des


17.Jahrhunderts

Bei Bodin zeichnete sich die Tendenz des modernen Staates ab, den für die alte
bürgerliche (in moderner Begriffssprache: feudale) Gesellschaft charakteristischen
Unterschied zwischen unmittelbaren ( = Bürger) und mittelbaren „Untertanen"
(= Inwohner, Beisassen, Hörige, Knechte, Lohnarbeiter usf.) aufzuheben. Indem
der Begriff des Bürgers durch den des „Untertanen" definiert bzw. die Unterwer-
fung unter die höch11te Gewalt zu seinem Merkmal wurde, setzte die ncWJcitlicho
Souveränitätstheorie die bürgerlich-herrschaftlich durchformte „Gesellschaft" .zU
einem einheitlichen Untertanenverband herab. Das entsprach im allgemeinen der
politischen Praxis des 17. Jahrhunderts - auch in Deu~chland, wo die Zuordnung
von Untertan und Herrscher auf dem Wege über die landesfttrstlichen Territorien
erfolgte. Doch verhindert hier die Zugehörigkeit des Landesfürsten zum politi-
schen Verband des Reiches, daß sich die absolutistischen Tendenzen voll entfalten.
Auf dem Boden des „Heiligen Römischen Reiches" war zu dieser Zeit die „altstän-
dische Gesellschaft" noch einigermaßen intakt, und so kam es hier zu Versuchen,
den traditionellen Bürgerbegriff gegen seine Neubestimmungen auszuspielen.
In der Mitte des 17. Jahrhunderts definierte CELLARIUS im Anschluß an ARNISAEUS
den 'civis' als socius civitatis, qui jurium illius et immunitatum particeps est 88 • Man
sieht leicht, daß es sich hier nicht um die Zuordnung des Bürgers ( = Untertanen)
ZUIQ Souverän, sondern um seine Teilhabe an Rechten (Privilegien) und Frei-
heiten (lminunitäten) handelte. Der so verstandene, im Prinzip traditionell-aristote-
lische Bürgerbegriff wo.r duroho.us geeignet, die "Vielfalt der ständisch-herrschaft-
lichen Rechts- und Gesellschaftsverhältnisse zu bezeichnen. Prout ootem, sagte
Cellarius, immunitates ratione diversarum Rerumpublicarum postea variant: ita et
cives variare solent37 • Deshalb ließ er sich prinzipiell auf alle gesellschaftlichen

3' BODIN, Rep. 1, 6 (S. 71 f.)


35 Ebd., 71.
88 BALTHASAR CELLARIUS, Politicae succintae, ex Aristotele potissimum erutae ac ad
praesentem Imperii Romani statum multis in locis a.ccomodatae libri II (Jena 1663), 77.
Vgl. HENNING ARNISAEUS, Rel. pol. l, 5: Oivia eat aoci'UB multitudinia, qui -particepa eat
auffragiori:um et iuria de repuhlica Bf.atuendi.
37 CELLARIUS, Politica, 77.

679
Bürger m. 3. Reichsrecht des 17. Jahrhunderts

Gebilde übertragen, gleichgültig, ob es sich dabei um Städte, Gemeinden, kleinere


oder größere Territorien handelte. Die Ausschließung gesellschaftlicher Gruppen
und Klassen setzte der Begriff immer schon voraus; 'Bürger' sein bedeutete nach
den Prämissen der klassischen Theorie, die denen der damaligen Gesellschaft noch
entsprachen, kein Recht, sondern ein Vorrecht. Deshalb wendete Cellarius. gegen
Bodins Bürgerdefinition ein, daß danach auch „lnwohner" oder „Beisassen" (in-
quilini) und Fremde (hospites, peregrini) Ansprüche auf diesen Titel hätten 3 8.
Derselbe Einwand war den deutschen Kommentatoren zu Aristoteles' „Politik"
geläufig. MICHAEL PmoARD hob in seiner Auseinandersetzung mit Bodin hervor,
daß Aristoteles den Begriff weder durch etwas bestimmte, was, wie die summa
potestas, über dem Bürger wäre (quod supra civem esset), noch ihn durch bloße
Gehorsamspflicht herabdrücke: sociat enim ista paritio civem cum servis, cum inqui-
linis, cum peregrinis in urbem receptis 39 • Im Unterschied zu den Vertretern der
Souveränitätsdoktrin hielten also die deutschen Anhänger des Aristoteles an der
„politischen" Bedeutung des Bürgerbegriffs fest, die sie folgerichtig auf die Ver-
fassung des Reiches übertrugen. Nach dem Modell der alten bürgerlichen ( =politi-
schen) Gesellschaft, das dieser Übertragung zugrundelag, wuide das Reich, wie
jeder andere politische Verband, durch die an der Ausübung der Herrschaft betei-
ligten ;,Personen" repräsentiert. 'Bürger' des Reichs waren die auf den ReichRtagAn
versal!lmelten Repräsentanten der Stände, Kurfürsten (electores), Fürsten (prin-
cipes, geistliche und weltliche) und freie Städte (civitates imperiales liberae), die
Status et Ordines imperii40 • Das Merkmal der Unterwerfung wurde zwar als zum
„vulgären" Bürgerbegriff g~hörig anerkannt, aber ebenso energisch zurückgewiesen
wie bei Cellarius oder Piccard 41 • 'Bürger' in diesem Sinne seien in Wahrheit 'Unter-
tanen' zu nennen, da sie nicht das Recht besäßen, mit dem Herrscher über ihre
Angelegenheiten zu beratschlagen: Neque vero mirum sit hoc solos veros cives
(= Status et Ordines imperii) reliquos autem incolas potius esse vel subditos. Omnis
enim civis utique socius est civilis societatis: est autem veri socii suffragium ferre et
sententiam de rebus ad societatem pertinentibus 42 •
Freilich hat dieser Bürgerbegriff, der vor allem von HERMANN CoNRING 43 und seiner
Schule, aber auch von anderen Lehrern des deutschen Reichsrechts 44 vertreten

38 Ebd., 77.
89 M:rcHA.EL PiccARD, Commentarium in libros politioos Aristotelis, 2. Aufl. (Jena 1659),
34lff.
&o CRISTOPH Wi:LHELM BLUME, Exercitatio de Germanici imperii civibus (Helmstedt 1641),
3. Vgl. auch GEBHARD THEODOR MEIER, In Aristotelis Politica ana.lysis (Helmstedt 1668),
194.
41 AUGUST MlLAGIUS, De cive et civitate in genere (Helmstedt 1653), 1: Pri~ autem civia

nomine vulgo venit omnia 8UbditU8: Quo spectant ii, qui civem per subjectionem definiunt, et
Bod. I de Republ. 6 et alii.
42 BLUME, Exercitatio, 3. Vgl. M:lLAGros, De cive, XXXV; MEIER, Analysis, 192.

' 3 HERMANN CoNRING, De Germanici imperii civibus (Helmstedt 1641).


" So auch bei PHILIPP REINHARD VITRIARIUS, Corpus juris publici ad ductum institutionum
iuris publici, ed. Joh. Fridrich Pfeffinger (Gotha. 1739), 998: Nos statum Romano-Germa-
nici definimus, quod sit civia imperii Romano-Germanici, qui ius voti et sessionia in comitiia
habet.

680
m. 4. Strukturformen des Begriffs 1680-1750 Bürger

wurde, schon im 17. J a.hrhundert Widerspruch gefunden.· Bezeiohnondorwoise ko.m


er von der Souveränitätsdoktrin, die in Deutschland durch SAMUEL PUFENDORF
aufgenommen wurde. Nach Pufendorf ist es nichts anderes als eine Torheit, die
aristotelischen Bestimmungen weiter auszudehnen als auf die Bürger der attischen
Polis. Man könne freien Männern und Familienvätern, die in einer Monarchie oder
Aristokratie leben, den Namen eines 'Bürgers' nicht deshalb bestreiten wollen, weil
sie an der Regierung keinen Anteil haben 46 • Das Argument, das den klassischen
Bürgerbegriff historisch relativierte, d. h. in seiner Geltung auf die Polis beschränkte,
war schlagend.
Damit wµrde aller Unsicherheit in der Bildung und Auflösung der Begriffe, wie sie
mit ihrer bis dahin üblichen unreflektierten Übertragung auf verschiedene Zeit- und
Gesellschaftsstufen verbunden war, ein Ende gesetzt. Wenn uns bei Pufendorf das
Wort 'civis' begegnet 46 , können wir mit einiger Sicherheit sagen, daß.es sich dabei
um den „Untertanen" des Landesfürsten handelte, der auf dem Wege zum „Staats-
bürger" des 18. JahrhnnrlP.rt.R war.

4. Strukturformen des Begrift's 1680-1750: Besold, Zedler

Übcrbliokt mnn dio vornohiedenen Bedeutungen, die dem Wort 'Bürger' zukommen
konnten, so heben sich aus der Vielzahl der möglichen Bedeutungswerte die folgen-
den heraus. Es bezeichnet 1) den Stadtbewohner, 2) das Mitglied des bürgerlichen
Standes im Unterschied zum Geistlichen- und Adelsstand (oder auch zum Bauern-
stand), 3) den Staatsuntertanen uml 4) Jen Menschen in seiner spezifischen Qualität
als 'Bürger'. Diese vier Momente, die zusammengefaßt den Sinn von 'Bürger' im

u SEVERINUS DE MoNZAMBANO [d.i. SAMUEL PUFENDORF], De statu imperii Germanici


(1667), 6, 3. Vgl. auch CHRISTIAN THO!llASIUS, Freymüthige, lustige und gesetzmäßige
Geda.ncken und Monathsgesprä.che im Jahre 1688, 89, 90 (Leipzig 1688 ff.), 308 ff., der von
der Kontroverse zwischen Pufendorf und den Aristotelikern berichtet, welche diejenigen
nur fiir Biirger des Teutschen Reiches kielten / die bei denen Reicka-Tagen SesBion und Stim-
men hätten, welche Meinung okn&treitig von Aristoteles herriikrte, der einen Biirger so be-
schriebe, welcher Fug und Macht habe des gemeinen. We.">.n.~ Noufo.rjt zu iiberleyen und sein
Votum dazuzugeben. Denn wenn man diese Meinung annehme, so wUrde das Teutsche Reich
allerdings fiir eine Demokratie passieren können, als dessen Biirger sodann alleine die Reicka-
St.ände wären, welche samt und sonders auf denen Reickatagen zu denen deliberationen und
Stimmen zugelassen wUrden (310). Die Gegenthese: Denn es wäre keine Demokratie, obgleich
alle Biirger des Reiches dazu gezogen WÜrden, auch daselbst ihren Sitz und Stimme hätten,
weil nämlich die vornehmsten von diesen Biirgern souveräne Potentatu wären (308).
18 PuFENDORF, De jure na.turae et gentium 7, 1, 20; ders., De officiis hominis et civis 3, 6,

13. Obwohl Pufendorf in der Regel von „cives aut subditi" spricht, kannte er noch kein
allgemeines Sta.a.tsbürger- oder Untertanenverhältnis, wie er deutlich in De jure nat. 1, 1,
12 zeigt: alius est civis, pleno aut minus pleno iure,· alius inqui"linus, alius pereyrinus. Femer
unterschied Pufendorf noch immer zwischen Bürger im engeren (= patresfämilias) und
weiteren (= subditi) Sinne. Vgl. ders., De off. hom. 2, 6, 13: Etsi pressius illi quibusdam
dum taxat cives soleant dici, quorum coitione et eon&enau primo civitaa coaluit, aut qui in
korum locum successerunt, nempe patresfamilias.

681
Biirger lll. '- Strukt.iormea dea Bepiffa 1680-1750

18. Jahrhundert konstituierten, lassen sich nun ihrerseits in ver~chiedene, oft ältere
Bedeutungskomponenten zerlegen. Was den 'Stadtbürger' anbelangt, so haben wir
e13 noch am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert in der Regel mit mittelalter-
lichen Redeweisen zu tun. Man vergleiche etwa BESOLDS „Thesaurus Practicus"
(1679), Art. Burger / Burgerrecht /zum Burger aufnehmen: Oives alii kereAlifAlri·i,
Erbgesessene Burger / alii novitii, Einkömmlinge / quidam, PaJ,ricii, ex· praecipuis
familiis, caeteri plebei. Ferner wurde der Begriff nach Stand (status) und Beschaffen-
heit (conditio) untergliedert: hinc certi sunt ordines, gewisse Stände in OivitaJ,ibus.
Ihren Namen erläuterte Besold am Beispiel der Hansestädte (Lübeck): der obriste
oder erster/ der mittelste oder andere/ der dritte oder unterste Stand 41• Die Stadtbürger
waren entweder gemeine Burger und Handwerker oder Kauf- und Gewerbsleute oder
andere, so in Rai, von Geschlechtern oder Stand sein' 8 • Obwohl einerseits darauf ver-
wiesen wurde, daß auch „Einwohner" im Bürgernamen inbegriffen waren, machte
man andererseits doch einen genauen Unterschied. Die „incolae" gehörten noch
immer zur Klasse der 'Pfalburger', die hier unter dor Bezeichnung 'Pactburger'
auftreten - qui sub certa et denominata pensione annua, vel censu, vel ad certum
tempus recepti, et nihil aliud sunt, quam incolae . . . Et dicuntur Schutz- und Schirms-
verwandte&11. Ausdrücklich wurde hervorgehoben, daß der Name eines 'Bürgers'
nicht nur den Stadtbewohnern, sondern auch denjenigen zukommen könne, die
11nt11r einer geistlichen Herrschaft oder Grafschaft leben60,
In ZEDLERS „Universal-Lexikon" (1733) bezog sich der 'Stadtbürger' auf den
Untertan ( = '.Bürger') einer 'Republik' (= Staat); ilie Stadt ( = bürgerliche Gesell-
schaft) trat, unabhängig davon, welche „Immunitäten" sie besaß, unter die Ober-
hoheit des Landesherrn: Kann also diverso respectu einer ein Bürger und Untertan
sein, ei_n Bürger nach der biirgerUchen Societät, ein Untertan aber raJ,ione Rcipu-
blicae51.
Aus dem Zusammenhang geht nicht klar hervor, ob Zedler tatsächlich, wie es den
Anschein hat, den Begriff der 'bürgerlichen Societät' auf die Stadt einschränkte.
Denn gleichzeitig unterschied er auch innerhalb der 'Republic' 'Bürger' und 'Unter-
tanen' : Und differieret proprie loquendo von einem Untertanen. Denn dieses Wort ist
etwas weitläufiger als ein Bürger, und übertrifft ein Bürger einen Untertanen an der
Würde und Freiheiten. Es gibt viel Untertanen in einer Republic, die Güter darinnen
besitzen und doch keine Bürger sind. Docli ka·Mb c·i1w Pi"fson ein Bürger und zugleich
Untertan sein62 •

47 BESOLDt. 2 (Ausg. 1740), 129.


' 8 Ebd., 117. - Interessant der Hinweis: Appellati<me civium incolae continentur (118). In
welchem Maße das mittelalterliche Stadtrecht im 18. Jahrhundert geschichtlich gegen~
wii.rtig war, zeigt JOACHIM LucA.S STEIN, Gründliche Abhandlung des Lübschen Rechts,
Bd. 1 (Leipzig 1738), 17 ff., bes. Tit. 2: Von Bürgern und Einwohnern, 58 ff.
u BESOLD t. 2, 472.
60 BESOLD 2. Aufl. (1641), 136: Oivium n,omine non t.antum veniunt ii, qui aunt in civitate,
se,d etiam qui aunt de di.oece8o et comitatu alicuius.
11 ZEDLER Bd. 4 (1733), 1875 ff., Art. Bürger.

62 Ebd., Bd. 49 (1746), 2253, Art. Unterthan: Untertanen, lat. subditi, heißen alle diejenigen,
wekhe einer Obrigkeit unterworfen und deren Gesetzen und Be/elilen zu gehorchen verbunden

682
IV. 1. Die deutscht'I Aufkllmng Bürger

Die Zedlersche Unterscheidung von 'Untertanen' und 'Bürger' innerhalb einer


„Republik" setzte die Existenz von unmittelbaren und mittelbaren Bürgerrechten
voraus, wobei diese kraft eigenen Rechts, jene durch bloße Unterwerfung Bestand
hatten. Dieser für die ständisch-feudale Gesellschaft eigentümliche Gegensatz blieb
also bestehen. Auf Seiten des Stadtbürgers entsprach dem der Gegensatz zwischen
'Einwohner' und 'Bürger', an dem auch Zedler festhielt, obwohl er erwähnte, daß
er nicht durchgängig anerkannt werde53 • Dagegen spielte 'Bürger' als Standes-
begriff bei Zedler keine so große Rolle; nur anläßlich der Aufzählung der verschie-
denen status hominum wurde u. a. erwähnt, daß man alle Menschen in Edelleute,
Bürger und Bauern einteile, wobei die beiden letzteren Stände, nach dem über-
lieferten Schema der Dreiständelehre, auch miteinander einen Stand (den „Nehr-
Stand") ausmachen konnten°'.

IV.

1. Die deutsche Aufklärung: Scheidemantel, Wolft', Abbt, Lessing, Wieland

Die Entstehung des modernen „Bürgertums" ist geschichtlich mit der Ausbildung
eines einheitlichen Untertanenverbandes in der Epoche des Fürsten- und Staats-
absolutismus verbunden. Während des Mittelalters konnte weder der Begriff des
Bürgers noch der des 'Untertanen' allgemein zur Geltung gelangen. Die Städte
hatten 'Einwohner', die keine 'Bürger', die Territorien 'Bürger' ( = Stände des
Reichs), die keine 'Untertanen' waren. Diese Verhältnisse, ilie in DeuLllchland noch
lange vorherrschten, wurden durch die Regierungspraxis und -theorie des aufge-
klärten Absolutismus vereinfacht, wenn auch noch nicht gänzlich aufgehoben. So
standen nach der Mitte des 18. Jahrhunderts in den größeren Staaten des Reiches
(Preußen und Österreich) Souverän und Untertanen einander gegenüber; die staat-
liche Relativierung hatte eine Tendenz zur Gleichheit im Verhältnis der Untertanen
untereinander und zum Herrscher zur Folge. Sie bildete die äußere Voraussetzung
dafür, daß der Begriff des 'Bürgers' erweitert und potentiell auf alle 'Untertanen'
eines 'Staates' ausgedehnt werden konnte.
Der damit einsetzende Strukturwandel ging von der Bildung neuer Gegensatzpaare
aus, deren bekanntestes das franz. 'bouigeois'/'citoyen' war. An ihm wird deutlich,
daß der Begriff nach 1750 eine andere Basis erhielt. Es gehört zu den Kennzeichen
des ausgehenden 18. Jahrhunderts, daß es, nachdem der klassische Bürgerbegriff

Bind. Das Wort Bürger ist bisweilen eben das: es M.t aber 'IWCh andere Bedeutungen. Wichtig
ist hier die Unterscheidung der Untertanen in .Ansehung ihrer „Untertänigkeit" - da man
sie eingeteilt in unmittelbare Untertanen, welche unter niemand anders als unter dem Regenten
stehen; und mittelbare, die andern Untertanen unterworfen sind (ebd.). Vgl. HERMANN Bd. 1
(1739), 196 f.: Bürger: übertrifft Untertan an der Würde und Freiheiten. Es gibt viele Unter-
tanen in einer Republik, die Güter darinnen besitzen und doch keine Bürger sind; wörtlich
auch bei ZEDLER Bd. 4, 1876.
68 ZEDLER Bd. 4, 1875 ff. Vgl. HEBJIUNN Bd. 1, 196 f.

H ZEDLER Bd. 39 (1744), 1097, Art. Stand. Vgl. auch ebd„ Bd. 49, 2254, Art. Untertan.

683
Bürger IV. I. Die deubche Außdirung

nun in breitem Umfang rezipiert war, sich seines Abstands zur antiken politischen
Terminologie bewußt wurde. Das war eine gemeineuropäische, nicht nur auf Frank-
reich beschränkte Erscheinung. Der. Rezeption mißlang allerdings die Applikation
auf die neuen historisch-politischen Realitäten der Epoche: den Territorialstaat,
den Untertanen, den Stadtbewohner, die Staats-Wirtschaft. Das läßt sich an der
zeitgenössischen Reflexion über die Problematik des Bürgerbegriffs im einzelnen
nachweisen. Am weitesten ging RoussEAU mit seinem Vorschlag, Wörter wie
'Bürger' (citoyen) oder 'Vaterland' (patrie) ganz aus dem modernen Sprachgebrauch
zu streichen. Im „Emile" (1762) erschien unter dem Begriff 'bourgeois' der Mensch
unserer Tage, der weder ganz 'homme' noch ganz 'citoyen' war 66. Die Städte des
gegenwärtigen Frankreich, sagte DrnEROT zum gleichen Thema, seien voll von
'Bürgern' (bourgeois), doch gäbe es unter diesen nur wenige, die man 'citoyen'
nennen könne6&.
Im weniger radikalen Denken der deutschen Aufklärung, wo man die sprachlich
leichtere Differenzierungsmöglichkeit zwischen 'bourgeois' und 'citoyen' nicht
kannte, mußte man sich mit Hilfsdefinitionen begnügen. Man stand der begrifflich
schwierigen Aufgabe gegenüber, den faktisch apolitisch gewordenen Stadtbürger
und den Bürger(= Untertan) des Fürstenstaates mit dem einen, allein zur Verfü-
gung stehenden Wort wiederzugeben. So hob der sprachpolitisch einflußreiche
ScHEIDEMANTEL (1782) den Bürger nach besonderer Bedeutung von dem Bürger in
allgemeiner Bedeutung ab. Zu dieser gehörte ihm der 'Bürger' als Mitgz.ied des Staats
(civis), wobei der älteren Überlieferung zufolge selbst der Monarch als erster Bürger
seiner Nation erschien67 . Unter der besonderen Bedeutung verstand Scheidema.ntel
das Mitglied der Stadtgemeinde, den Ortsbürger und damit den Bürgerstand im
Unterschied zum Adels- und Bauernstand68.
Das eigentliche Problem.aber lag im Verhältnis von Bürger und Untertan, das
weder in der „allgemeinen" noch in der „besonderen" Bedeutung voll enthalten
war: Es ist auch ein wichtiger Unterschied zwischen Bürger und Untertan. Man findet
Untertanen, die keine Bürger sind, z. B. Fremde oder Knechte; andere sind zugleich
Bürger. Hingegen gibt es Bürger, die nicht Untertanen sind, z.B. der Monarch 59 • Das

55 RoussEAu, Emile, 1.. Buch (1762), 01111vres compl., t. 3 (1823), 15.


68 DENIS DIDEROT, .Art. Bourgeois, citoyen, habitant, Encyclopedie, t. 5 (Ausg. Genf

1773), 339.
67 ScHEIDEMA.NTEL Bd. 1 (1782), 439. Vgl. HEINR. GOTTFRIED SCHEIDEMA.NTEL, Das all-

gemeine Staatsrecht überhaupt (Jena 1775), 208; ähnlich bei GOTTFRIED ACHENWALL, Die
Staatsverfassung der heutigen vornehmsten europäischen Reiche und Völker im Grund-
risse (Göttingen 1752), 5, der daralif hinwies, daß der Landesherr nicht außerhalb der Bür-
gerschaft stehe, sondern selbst als der vornehmste Bürger der Republik (civis eminens) mit
darunter begriffen werde.
68 SCHEIDEMA.NTEL Bd. 1, 439.
69 Ebd., 439. Die Würde und Größe des Namens 'Bürger' liegt in der historischen Erinne-

rung beschlossen: Wir wollen 'TWCh die Anmerkung beifügen, daß ehedem mächtige Fürsten
und Herren das Bürgerrecht angenmnmen haben. Wie groß war nicht die Ehre, ein Römischer
Bürger zu sein? Viele Könige waren stolz auf diesen Titel. Noch jetzt ist der König von Frank-
reich Bürger in der Schweiz (ebd.; 441).

684
IV. 1. Die deutsche Aufklärung Bürger

Verhältnis von Bürger und Untertan komplizierte sich dadurch, daß im deutschen
Territorialstaatsrecht die Stellung des Menschen sowohl nach den Grundsätzen der
absolutistischen Doktrin als ~ach denen der älteren Lehre vom 'Gemeinwesen' (res
publica) bestimmt wurde. Die Konsequenz der neuen Doktrin: daß nur der Herr-
scher ein (rechtsfähiger, weil -gebender) 'Bürger' im engeren Sinn zu nennen wäre,
während die ihm Unterworfenen 'Untertanen', aber keine 'Bürger' sein könnten,
lag bei Scheidemantels Konstruktionsprinzip nahe; aber faktisch bildete die Bürger-
vorstellung der alten bürgerlichen Gesellschaft (die 'Hausherrschaft') das geschicht-
liche Gegengewicht; die absolutistische Tendenz ging nur so weit, daß alle im „Staat"
befindlichen Personen dem Titel nach 'Untertanen' waren, ohne schon damit des
Prinzips der bürgerlichen Rechtsgleichheit teilhaftig zu sein: Alle wirklichen Mit-
glieder des Staats werden Bürger im allgemeinen Verstande genennet, und wiil das
Subjekt, welches die Majestät hat, das vornehmste Glied der Gesellschaft ist, so kann es
sich auch zugleich den Namen des Bürgers beilegen; Untertan aber ist ein jeder, welcher
den höchsten Befehlen des Regenten gehorchen muß 60.
Damit war der Bürgerbegriff auf dem Weg, sich in den „Staatsbürger" einerseits,
den „Privatbürger" (= Untertanen) andererseits aufzulösen. Man sieht jedoch
leicht, daß hier die Aufeinanderbezogenheit und Entgegenstellung der Begriffe aus
älteren geschichtlichen Grundlagen herauswuchs. Diese den deutschen Verhältnissen
eigentümliche Problematik ist bei CHRISTIAN WoLFF gut erkennbar. In den „Ver-
nünfftigen Gedanken vom gesellschaftlichen Leben der Menschen" (1721) definierte
Wolff auf der einen Seite das 'gemeine Wesen' als Zusammenschluß vieler 'Häuser':
die Kontraktfähigkeit innerha.lb rle::1 geselhmhaftlichen Grundvereins war abhängig
von der Herrschaft über ein Haus. 'Knechte', 'Hausgesinde' und 'Lohnarbeiter'
waren Bestandteile dieser Herrschaftssphäre, d. h. sie gehörten nicht - als 'Bürger'
- zum 'gemeinen Wesen' 61 • Auf der anderen Seite waren auch die Bürger der
Macht und Gewalt der hohen Landesobrigkeit unterworfen, die auf den Landtagen
versammelten 'Stände' mehr oder weniger Befehlsträger des Herrschers, 'Obrig-
keiten' und 'Untertanen' die beiden Pole das 'gemeinen Wesens'6 2 • Gleichwohl blieb
'Bürger' bei Wolff ein Traditionsbegriff, an dem z. B. auch das wesentlich später
(1740 ff.) verfaßte „Naturrecht" festhielt: Membra civitatis, seu singuli, qui socie-
tatem civilem ineunt, dicuntur cives 63 . Die „einzelnen" waren nicht die Individuen
der modernen „bürgerlichen Gesellschaft", auch nicht die dem „Staate" untertanen
Personen, sondern diejenigen, welche - als 'Bürger' - die einzelnen „Häuser"
repräsentierten. Dabei scheint Wolff durchaus zu wissen, daß man den Begriff auch
in anderem Sinne gebrauchen konnte. Er hielt ihn für einen Kunstausdruck (termi-
nus technicus), den er nicht habe restringieren wollen, weil er in dieser Bedeutung
schon lange angenommen sei. Seine Gegenbegriffe waren 'Fremder' (peregrinus)

60 H. G. ScHEIDEMANTEL, Das Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten der vornehm-

sten Völker betrachtet (Jena 1770), 41; vgl. ders., Allgemeines Staatsrecht, 207.
61 CHRISTIAN W OLFF, Vernünfftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Men-
schen (Frankfurt, Leipzig 1736), Bd. 1, 116; Bd. 2, 162 f.
82 Ebd., Bd. 2, 173. 470 f. 507 ff.
83 Ders., Jus naturae methodo scientifica pertractatum, t. 8 (Halle, Magdeburg 1748), 6.

685
Bürger IV. 1. Die deutsche Auftliirung

und 'Einwohner' (incola), nicht 'Untertan' ( !) und nicht 'Stadt-' oder 'Standes-
bürger'H.
Die eigentümliche Problematik, die den deutschen Bürgerbegriff nach der Mitte des
18. Jahrhunderts erfaßte, hatte ihre Ursache auch darin, daß sich auf dem zerklüf-
teten Boden des alten Reiches ein eigenständiges Bürgerbewußtsein kaum ausbilden
konnte. Statt dessen wurde der spätantike Begriff des 'Weltbürgers' zum Mode- und
Schlagwort der Aufklärung 86 • Er wurde teils dem Himmelsbürger 66 , teils dem 'Patri-
oten' und 'Stadtbürger' entgegengesetzt. In gewöhnlicher Bedeutung bezeichnete
'Weltbürger' oder 'Kosmopolit' einen Menschen, der nicht seßhaft war, so bei
WIELAND (1756): er ist aber auch kein bloßer Kosm<Ypolite wie ich, sondern ~n einer
Reichsst<dt in Schwaben seßhaft67 • Daneben hatte das Wort im 18. Jahrhundert auch
einen ausgesprochen polemischen Sinn, der gegen die „Fürstendiener" und „Unter-
tanen" der Zeit gerichtet war: Ich schreibe als Weltbürger, der keinem Fürsten dient,
erklärte SCHILLER in der Ankündigung der „Rheinischen Thalia" (1784). Frühe
verlor ich mein Vaterland, um es gegen die große Welt auszutauschen68 •
Daß es in Deutschland kein Reichsbürgerbewußtsein gab, beklagte TH. ABBT (1761):
Was für einen Mann will denn der Herr von M. (Moser) haben? Den Weltbürger?
Dieser wird unstreitig allen Menschen Guts wünschen und so viel an ihm liegt, ihr Wohl
befördern. Den deutschen Bürger? Er muß erst ein deutsches Interesse feststellen, an
dem alle Untertanen der verschiedenen Prinzen in Deutschland nach gemeinschaft-
lichen Gesetzen und Verbindlichkeiten Anteil nehmen können 69 • Der „Weltbürger"
stand über dem „Patrioten", der sich mit der Enge einer Stadt, seines „Vater-
landes" begnügte. Vielleicht zwar, schrieb LESSING 1758 an Gleim, ist auch der Pa-
triot in mir nicht ganz erstickt, obgleich das Lob eines eifrigen Patrioten, nach meiner
Denlcungsart, das allerletzte ist, wonach ich geizen würde; des Patrioten nämlich, der
mich vergessen lehrte, daß ich ein Weltbürger sein sollte 70 • Doch wurde die Vorlie-
be der Zeit für den „Weltbürger" auch negativ bewertet; J. G. SCHLOSSER sprach
von dem J edermannsbürger, der wie ein J edermannsfreund sei7 1, und WIELAND von
Weltbürgerei. Nach Wieland war sie nicht nur eine Flucht vor der Wirklichkeit des
deutschen Staatslebens, sondern das Produkt des absolutistischen Regierungssy-
stems, das Bürgertugenden überflüssig machte: Weil wir ohne Nerven sind, und in
dem Staate, worin wir zu leben die Ehre haben, auch keine nötig haben, sondern
Drahtpuppen, nervis alienis moltilia z.iyna sind, schwingen wir uns aber die ...
Bürgertugenden hinweg und schwatzen von allgemeiner Weltbürgerschaft 72 •

H Ebd. 1, 6-8.
86 Vgl. WILHELM FELDMANN, Modewörter des 18. Jahrhunderts, Zs. f. dt. Wortforschung
6 (1904/05), 345 ff.
88 CHRIBTHOLD, Geistliche Andachten (Leipzig 1729), 670.
8 7 C. M. WIELAND, Ausgewählte Briefe, Bd. 1 (Zürich 1815), 235.
88 Vgl. SCHILLER, Rheinische Thalia, .Ankündigung (1784), SA Bd. 16, 136.
89 THOMAS ABBT, Briefe, die neueste Literatur betreffend 11 (1761), 27.
70 LESSING, Sii.mtl. Sohr., Bd. 17 (1904), 156. Vgl. auch WmLAND, Das Geheimnis des

Kosmopoliten.Ordens (1788),AA 1. Abt., Bd.15/1(1855),207 ff.; JoH. GEoRGZTMMJ!B.11qNN,


Vom Nationalstolze, 4. Aufl. (Zürich 1768), 388.
71 JoH. GEORG SCHLOSSER, Politische Fragmente, Dt. Museum 1(1777),106.
7 11 WIELAND, AA 1. Abt., Bd. 7 (1911), 455. 445.

686
IV. 2. Rekonstruktion aes traclitionellen Bepiffa Bürger

Dagegen meinte 'Bürger' während des 18. Jahrhunderts noch überwiegend den
„berechtigten" Einwohner der Stadt, der von den übrigen Bewohnern unterschieden
wurde 73 • Als besonders traditionsgebunden erwiesen sich verständlicherweise die
freien Reichsstädte. Über die im einzelnen oft sehr unterschiedlichen Verhältnisse
unterrichtet recht gut F. N1cOLAIS „Beschreibung einer Reise durch Deutschland
und die Schweiz" (1783 ff.). Bemerkenswert sind seine Notizen über das Bürgerrecht
Nürnbergs, das die älteren Verhältnisse bis ins kleinste konservierte. Danach wur-
den die Einwohner der Stadt in 'Bürger' und 'Schutzverwandte', die 'Bürger' in
„eingeborene" und „angenommene" eingeteilt. Wenn ein Fremder das Bürgerrecht
erlangen wollte, durfte er an keinem anderen Ort Bürger sein; er mußte beweisen
können, daß er ein Vermögen besaß oder sonst ein Gewerbe hatte. Ferner setzte der
Erwerb des Bürgerrechts Zugehörigkeit zur protestantischen Konfession voraus;
Katholiken konnten nur 'Schutzverwandte' sein. Der Besitz von unbeweglichen
Gütern in und vor der Stadt war ein Privileg der Bürger 74 •
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit einer aus ganz ande-
ren Grundlagen erwachsenen Residenzstadt wie Berlin~ Nicolais „Beschreibung der
königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam" (1786) untergliederte die Ein-
wohner Berlins in sechs Klassen - den Militärstand, die Eximierten, die franzö-
sische Kolonie, die böhmische Kolonie, die Judenschaft und schließlich die Bürger-
schaft deutscher Nation. Nur die zur letzteren Klasse gehörigen Einwohner waren als
Bürger anzusprechen, worunter nach Nicolai diejenigen verstanden wurden, die
bürgerliche Nahrung treiben und ihrem Charakter oder Stand nach nicht von der Ge-
richtsbarkeit d,e.~ Magi.~trats und der Stadtgerichte eximiert sind76• Die „Bürgerschaft"
bildete, wie eigentlich in allen Städten des Reiches, nur den Kern der Einwohner-
schaft; 'bürgerliche Nahrung' als ihr wichtigstes Merkmal hieß: Teilhabe am „Com-
mercium "76, d. i. Erwerbsrecht durch Handwerk, Handel, Kauf- und Marktrecht,
wovon die Angehörigen der Judenschaft und der „Kolonien", trotz ihrer rechtlichen
Sonderstellung, nicht ausgenommen waren.

2. Rekonstruktion des traditionellen Bürgerbegrift's: Justus Möser

Die Aufeinanderbezogenheit und Entgegenstellung von 'Untertan' und 'Bürger',


Stadt- und Standesbürger erwuchsen, wie gezeigt, aus älteren geschichtlichen
Grundlagen. Während sie im Staats- und Naturrecht der Zeit zumeist noch unre-

73 Hierzu geben die Bürgerbücher der Städte gute Aufschlüsse. Vgl.WALTRAUD MESCHXE•

Das Wort Bürger. Geschichte seiner Wandlungen in Bedeutungs- und Wortgehalt (phil·
Dies. Greifswald 1952), 57 ff., die aus dem Bergener Bürgerbuch zitiert: Vater Clas Rinck
ihn hier in Bergen, doch ohne Bürger zu sein, ge,zeugt hat (1725); Stadtdieners Michel Kniepeken
- welcher aber nicht Bürger gewesen (1739); in Greifawal,d Bürger und Müller gewesen
(1772).
74 CHRISTOPH FRIEDRICH NxcoLAI, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die
Schweitz im Jahre 1781 nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und
Sitten, Bd. 1 (Berlin, Stettin 1783), 224.
76 Ders., Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, und aller

da.selbst befindlicher Merkwürdigkeiten, Bd. 1 (Berlin 1769), 253.


7 s So die Erklärung bei FRisCH, Dt.-la.t. Wb., Bd. 1(1741),156.

687
Bürger IV. 2. Rekonstraktioa des traditionellen Begriffs

flektiert Verwendung fanden, wurden sie bei J USTUS MösER im Rahmen einer Ge-
schichtstheorie auf Begriffe gebracht, in der sich altständische und modern-staat-
liche, utilitaristisch-aufgeklärte und traditionell-politische Elemente überlagerten.
Durch seine Quellenstudien zur Geschichte des Hochstifts Osnabrück war Möser
schon früh das eigentümliche „Kostüm" aller alten Gesetze aufgefallen, die von dem
ke:utigen Untertan, eine Benennung, wodurch alles, was zur Menschheit gekört, in eine
Klasse geworfen wird, nichts wissen77 • Nach Möser arbeitete das philosophische
„Recht der Menschheit", welches die „Neueren" zur Grundlage der Staatsverfas-
sung erheben wollten, dem Absolutismus, der sich in Deutschland der „Territorien"
bemächtigt hatte, in die Hände. Die altgermanische Verfassung, deren. Grundzüge
in kühnen Strichen als Gegenbild des modernen Staatsabsolutismus entworfen
wurde, ruhte ursprünglich auf dem Land-, später (mit der Entwicklung der Städte)
auf dem Geldeigentum. Nicht 'Bürger' und 'Untertan\ auch nicht 'Bürger' und
'Mensch', sondern 'Bürger' und 'Knecht' waren hier Gegensatzpaare. Der Bürger
hatte als „Eigentümer" Anteil'an der gesetzgebenden Macht und Steuerbewilligung
und war der Ehre fähig, während dem eigentumslosen Knecht, der im Dienst seines
Herrn (= Bürger) stand, weder die Vorteile noch die Lasten des Bürgers zuteil wur-
den. Freilich erkannte Möser, daß die vom Geldreichtum und der Verwandlung des
Militärwesens bestimmte Entwicklung des modernen Staates die Stellung des be-
sitzlosen Knechts und der „Nebenwohner" (= Beisassen, Schutzgenossen) von
Grund auf verwandelte; beide wurden, mit den Bürgern, zu „Untertanen" des Ter-
ritorialstaates. Das geschah im wesentlichen aus ökonomischen Gründen. Zu dem
Zeitpunkt, da die Verdiem1t- und Vermögenssteuer zum Unterhalt der stehenden
Heere nicht mehr ausgereicht hätten, seien Personensteuern aufgekommen und da-
durch zuletzt jeder Mensch ein Mitglied der großen Staatskompagnie, oder, wie wir
jetzt sprechen, ein Territorialuntertan geworden, mithin diejenige allgemeine V er-
mischung von bürgerlichen und menschlichen Rechten entstanden, worin wir mit
unsrer philosophischen Gesetu;ebung dermalen ohne Steuer und Ruder herumgeführt
werden78 •
Brüchig wurde Mösers Theorie erst dadurch, daß sie die Dimension des Geschicht-
lichen, die sie gewann, zugleich wieder übersprang. Seine wertvollen Einsichten, vor
allem in die sozialgeschichtliche Gebundenheit der Begriffe, wurden zumindest teil-
weise verdeckt durch die offenkundig der eigenen Zeit entnonunemm Vorstellungen
des Bürgers als „Aktionärs", des Knechtes als „Mensch ohne Aktie im Staat" und
der bürgerlichen Gesellschaft als einer „Aktiengesellschaft". Mit ihrer Hilfe versuchte
Möser, die große Linie zu bestimmen, die nach seiner Auffassung den Bürger von dem
Menschen oder den Aktionisten von demjenigen, der. keine Aktie im Staate besitzt,
trennt 79 • Indem sie sich von der Geschichte ab- und der eigenen Zeit; mit den Denk•
mitteln beider, zukehrte, wurde Mösers Theorie des altgermanischen Landeigen-
tümerstaates und der altständiSchen Verfassung zur Ideologie. Sie wandte sich, im
Namen des „Aktionärs", der ihr als Bürger galt, gegen die Umwandlung der „Staats-

77 JusTus MösER, Patriotische Phantasien 1 (1768), SW :Bd. 4 (1943), 125.


78 MösER, Der Ba.uerhof als eine Aktie betrachtet, SW.Bd. 6 (1954), 258.
79 Sie sollen lehren, daß wir in die offenbarsten Feh'l8ch1,ü,sse verfallen~ sob<ild wir den AlctWni-

sten oder Bürger mit dem Menschen oder Christen verwechseln; ebd., 256f.

688
IV. 3. Die Genealogie von 'Staatsbtlrger' ·

kompagnie", welche die französische Nationalversammlung von 1789 im Namen des


„Rechts der Menschheit" vollzog. In der „Berlinischen Monatsschrift" (1790) faßte
Möser seine Ideen kurz zusammen. Die Grundthese lautete: überall und in jeder
gesellschaftlichen Verbindung, es sei zum Handel oder zur gemeinschaftlichen Ver-
teidigung, liege, außer der Menschheit, eine dem Zwecke angemessene Aktie oder
Ware zugrunde, die einer besitzen müsse, um 'Genosse' zu sein. Das kleinste Dorf
habe seine ganzen, halben und Viertelwaren, nach wekhen jeder d,er gemeinen Weide und
WaUlung genießt. Ebenso die Stadt: Nur d,er Bürger und Eigentümer einer gewissen
Wahre(= Ware) ist daselbst ehrenfähig. Ursprünglich.bestanden die europäischen
Nationen nur aus „gewahrten" Landeigentümern, alle übrigen „Menschen" (die
„Ungewahrten") waren entweder Knechte oder Leute, die auf Kontrakte wohnten
( = Beisassen) und keine Stimme in der Gesetzgebung besaßen. Erst allmählich,
nachdem sich die „Gewahrten" durch ihre vielen Kriege erschöpft hatten und auf
die Hilfe der - ökonomisch mächtig gewordenen - „Ungewahrten" angewiesen
waren, erlangte neben der Land dio Goldo.ktio politischen Einfluß: Di68es ist überall
der Ursprung des tiers etat 80• Ohne die traditionellen Bauelemente preiszugeben,
gliederte Möser den Bürgerstand dem Verfassungsideal des altgermanischen Land-
eigentümerstaates ein. Zwar sei die Geldaktie nicht so bestimmt wie die alte Land-
akt·ie, aber es wird docli ein jeder leicht füklen, daß d,er Eigentümer eines Hundertteils
nicht die Rechte eines vollen Aktionärs ford-ern könne; und daß d,er Besitzer von zehn
solcher Aktien vor jenem ein natürliches Näherrecht der Kompanie habe 81 •

3. Die Genealogie von 'Staatsbürger': Eberhard, Wieland, Klopstock

Mösers Theorie vom Bürger als „Aktionär", die zwischen 1790-1795 lebhaft dis-
kutiert wurde, fand neben Zm1timmung auch Widerspruch. Aber die Einwände
berührten nicht die Theorie als solche; sie schlugen nur einige Modifikationen vor,
um sie auf die gegenwärtigen Verhältnisse besser anwenden zu können. In der Spra-
che der Zeit ging es dabei immer um die Bestimmung des Unterschieds zwischen den
Rechten des Menschen und Bürgers. Diese Frage war durch die „Declaration" der
französischen Nationalversammlung von 1789 aktuell geworden, die, zum ersten
Mal in der Geschichte, einer „bürgerlichen Gesellschaft" die Rechte der Menschheit
zugrundelegte. Im Namen dieses Rechts verzichteten die oberen Stände (Adel und
Geistlichkeit) auf ihre Vorrechte und vereinigten sich mit dem tiers etat zur 'Nation'
der Freien und Gleichen, die das passive Prinzip des absolutistischen Staates, die
Rechtsgleichheit aller Untertanen, durch das aktive der Mitwirkung an der poli-
tischen Gesetzgebung ergänzte. Mit dieser Forderung mußte der Begriff notwendig
einen neuen Sinn erhalten. Zu den teilweise schon anerkannten Rechten des „Unter-
tanen" als Menschen, den „bürgerlichen Rechten" in der Sphäre des Privat- und
Strafrechts, trat der Anspruch auf „politische Rechte" im Verfassungsleben, den
der Bürger unter Berufung a.uf das Recht des Menschen erhob. Im Sprachge-
brauch der Französischen Revolution war der Bürger, der sich mit dem Menschen

so Berlinische Monatsschr. 15/1 (1790), 499 ff., bes. 500 f. 502, .Anm.
n Ebd., 502 f.

44-90385/1 689
Bürger IV. 3. Die Genealogie von 'Staatsbürger'

identifizierte, 'citoyen' - ein Wort, das den deutschen Bürgerbegriff in Zukunft


entscheidend bestimmen sollte. Jedoch beweist die in der Konstitution von 1791
eingeführte Trennung von citoyen actif und citoyen passif, daß der zur Macht ge-
langte dritte Stand keineswegs das Recht der Menschheit als solches, sondern seine
eigenen Rechtsinteressen vertrat 82 • Immerhin war der 'Mensch' auch dann als
'Bürger' des Staates anerkannt, wenn er nicht die Qualifikation zum Aktivbürger
besaß, und die Konstitution des Jahres 1793 beseitigte die Inkonsequenzen der
ersten Konstitution, indem sie den Titel 'citoyen' unterschiedslos jedem „Menschen"
zugestand. Die letzten Trennungen zwischen 'Memich' und 'Bürger' schwanden
damit; die souveräne Nation umfaßte die Gesamtheit de;r französischen Bürger:
Le peuple souverain est l'universalite des cit<Y!Jens fraru;ais 83•
Gegen diesen Bürgerbegriff wandte sich Möser, obwohl er die Konsequenzen der
jakobinischen Spätphase der Revolution noch gar nicht vor Augen hatte. Völlig
richtig wies man in der Diskussion seiner Thesen darauf hin, daß die Nationalver-
sammlung die „Ungleichheit" ja gar nicht verworfen, sondern, wie J. A. EBERHARD
schrieb, der RechJ,e der Menschheit unbeschadet eine obrigkeitliche und pplitische Un-
gleichheit festgesetzt habe 84• Eberhard war mit Möser darin einig, daß diese Ungleich-
heit ihren Grund immer in der Größe der Staatsaktie des Bürgers habe; sie müsse je-
doch weder in Land- noch in Geldeigentum bestehen; hier genüge vielmehr die per-
sönliche Aktie (Talent, Erfahrung, Verdienst), um den politischen Wert des Staats-
bürgers zu bestimmen86• Dieses Wort 'Staatsbürger' hatte Möser peinlich vermie-
den; nun fand es, im Zusammenhang der Abwehr der droits de l'homme et du cit<Y!Jen,
Eingang im deutschen Sprachgebrauch.
Seine Gegenstellung zur altständischen Gesellschaft bem1lrkte zuerst A. W. REH-
BERG: Um das neue System einzuführen, wekhes auf die allgemeine Gleichheit aller
Staatsbürger gebaut sein sollte, mußten die Vorrechte einzelner Stände vernichJ,et und

81 JusTUs MösER, Über das Recht der Menschheit, als den Grund der neuen Französischen

Konstitution: 'Citoyen actif' war jeder, der volljährig, ansässig und beeidigt war sowie eine
direkte Kontribution zahlte, die dem Wert von drei Arbeitstagen gleichkam. Vgl. tit. 3,
c. 1, sect. 2, art. 2 der Konstitution von 1791. Die „Declaration des droits de l'homme et du
citoyen" von 1789, die ihr voransteht, hatte beide Rechtssphären bereits weitgehend zur
Deckung gebracht: Toua les citoyena • • • sont egalement admiaaibles a Wute8 digniMs, places
et emploi8 publics. seZon leur capacit,8 et sana autre diatinction que ceZZe de Zeurs vertus et de
kurs flJlena (art. 6). Der Satz ist z. T. wörtlich übernommen aus der kurz vor der Erklärung
der Nationalversammlung veröffentlichten Schrift des ÄBBE SIEYES, Preliminaire de la
constitution. Reconnaissa.nce et exposition des droits de l'homme et du citoyen (Versailles
1789).
88 Vgl. „Constitution de la Republique fran98ise" (1793), art. 1, 7; die Beseitigung der Diffe-

renz von Aktiv- und Passivbürger art. 1, 4: De Z'etat des citoyena.


" JoH. AUGUST EBERHARD, Über die Rechte der Menschheit in der bürgerlichen Gesell-
schaft. In Beziehung auf das bekannte Decret der französischen Nationalversammlung,
Philos. Magazin 3 (1791), 386.
86 Ebd., 389. Vgl. KARL v. KNoBLAUOH, Gibt es wirklich Rechte der Menschheit? und sind
die Menschen in Ansehung derselben völlig gleich?, Philos. Magazin 4 (1792), 445 f. Ähn-
lich äußerte sich auch AUG. LUDWIG SCHLÖzER, Allgemeines Stats-Recht und Stats-Ver-
fässungslehre (Göttingen 1793), 158.

690
IV. 3. Die Genealogie 'Von 'Staatsbürger' Bürger

diese Stände selbst zerstört werden 88 • Daß wir es hier tatsächlich mit einer Neubildung
zu tun haben, läßt sich an Hand der Wörterbücher nachweisen: ADELUNG kannte es
noch nicht, erst CAMPE verzeichnete es 181087 • Die frühesten Belege lassen den Ein-
fluß er)rennen, den die Aufwertung von 'citoyen' durch die Französische Revolution
ausübte. WIELAND zitierte in Bezug auf die Pariser Ereignisse vom Juli 1789 eine
französische Zeitschrift: Die frechste Ungebundenheit (la licence) kann im ersten
sowie im letzten Rang der Staats-Bürger (citoyens) beinahe keinen Schritt mehr weiter
gehen. Und 1791 schrieb er: Nach der neuen Konstitution gilt kein Unterschied der
Stände mehr; alle Franzosen sind nun weder mehr noch weniger als citoyens (Staats-
bürger) und, als solche, alle von einerlei St,ande88. Es ist bemerkenswert, daß das Wort
auch in der Möser-Diskussion auftauchte, die seit 1790 in der „Berlinischen Monats-
schrift" geführt wurde89 ; hier war es vor allem KANT, der zur Verbreitung maß-
geblich beitrug (1793). Kant hatte sich, ohne Möser namentlich zu nennen, gegen
die Vorstellung gewandt, der Umfang der Land- oder Geldaktie sei das Kriterium
der Teilhabe an den politischen Rechten, Als Verteidiger des Rechts der Menschheit
vertrat Kant die These, daß die Zahl der zur Gesetzgebung berechtigten Bürger,
die er unter Hinweis auf franz. citoyen 'Staatsbürger' nannte, nach den Köpfen
derer, die im Besitzst,ande sind, nicht nach der Größe der Besitzungen beurteilt werden
müsse90• KLOPSTOCK lehnte dagegen das Wort als einen „unreinen" Neologismus
ab, der den alten Bürgerbegriff unnötigerweise verdoppele: Kant schreibt nicht

88 AUG. WILHELM REHBERG, Untersuchungen über die Französische Revolution, Bd. 1


(Hannover 1793), 177. ·
87 CAMPE Bd. 4 (1810), 567: Staat&bürger, Bürger einea Staat&, Mitglied der Gesellschaft,

wekhe man Staat nennt: besonders ein sokhes, wekhes d,as Stimmrecht in der Ge11etzgebung für
den Staat hat. Daß bei ADELUNG 2. Aufl„ Bd. 1 (1793) der Begriff fehlte, obwohl die Sache
geschichtlich ausgebildet vorlag, lehrt der Punkt 6 des Art. Bürger: Figürlich: Einjedu
Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, d. i. einer Gesellschaft, wekhe sich dem Willen einea
einzigen unterworfen hat. 1n die!Jem Verstande werden die Einwohner einea jeden Staate11 und
Landes nach dem MU8ter delJ lat. OiviB, be11onders in der höheren Schreibart, Bürger genannt
(1263). Dieser „Schreibart", d. i. der politisch-na.turrechtlichen Terminologie, fehlte der
aktuelle Anlaß, um zur Bildung von 'Sto.o.tsbürgor' golangen zu können.
88 Cahiers de Lecture 6 (1789), 98, zit. WIELAND, Über die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs,

welchen die Französische Nation dermalen von ihrer Aufklärung und Stärke macht, Teut-
scher Merkur 3 (1789), 226; ders., ausführliche Darstellung der in derFranzösischenNa-
tionalversammlung am 26. u. 27. Novbr. 1790 vorgefallenen Debatten, Neuer Teutscher
Merkur 1/1 (1791), 42, Anm. Das Wort als solches läßt sich vereinzelt schon früher nach-
weisen, so bei WIELAND 1772 in dem Roman „Der goldene Spiegel", AA 1. Abt., Bd. 9
(1931), 313 und bei LUDWIG WEKHERLIN, Das graue Ungeheuer, Bd. 5 (Nürnberg 1785),
12. 246, bleibt aber in der Regel färb- und konturlos, so daß die These vom „Einfluß der
Französischen Revolution" (W. Feldma.rin, W. Meschke) nicht grundsätzlich bestritten
werden kann.
89 BRANDES, Über den verminderten Sinn des Vergnügens, BerlinischeMona.tsschr.15 (1790),

439; ders., Aus einem Schreiben des M'arkis von St. H. zu Paris an den Grafen S. zu H.
über die Abschaffung des Adels. Mit Anmerkungen von einem Deutschen, ebd. 16 (1790),
511, Anm.
90 KANT, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht

für die Praxis (1793), AA Bd. 8 (1912), 296..

691
Bürger IV. 3. Die Genealogie von "Staatsbürger'

rein und ist oft unglücklich in seinen neuge-prägten Wörtern, berichtet FRIEDRICH
VON MATTHISON aus einem 1794 geführten Gespräch: Wir sagen Staatsbürger, äußerte
Klopstock bei dieser Gelegenheit, warum denn nicht Wasserfisch ?91 •
Die Bildung des von Klopstock verworfenen Wortes, das sich jedoch rasch durch-
setzte, ist durch den im 17./18. Jahrhundert entstandenen Gegensatz zwischen
,citoyen' und 'bourgeois' gefördert worden. Die beiden Begriffe wurden ursprünglich
synonym verwendet und bezeichneten den Bürger der Stadt (cite, civitas/bourg,
burgus). 'Bourgeois' findet sich bis zum.17. Jahrhundert weit häufiger als 'citoyen'.
In den Wörterbüchern von FuRETIERE (1734), im „Dictionnaire de Trevoux"
(1743) bis hin zum „Dictionnaire de l'academie fran9aise" von 1762 wurde 'citoyen'
als 'Stadtbewohner' definiert, mit lat. civis gleichgesetzt und; ohne Berücksichtigung
französischer Verhältnisse, am Beispiel der antiken Republiken erläutert. Die Wort-
bedeutung konnte noch zu dieser Zeit in die von 'bourgeois' übergehen: gelegentlich
stellte man fest, in Frankreich sei ein Aufenthalt von zehn Jahren notwendig, um
als 'bourgeois' anerkannt zu werden92 • Daneben trat der Unterschied zum Adels-,
später auch zum Militärstand in den Vordergrund. Wie Molieres „Le bourgeois
gentil-homme" (1670) zeigt, zog das 17. Jahrhundert eine genaue Grenzlinie zwi-
schen Adel und Stadtbürgertum.. Mit dem Verlust der.politischen und rechtlichen
Funktion des ticrs etii.t im Absolutismus nahm das Wort o.llmii.hlich dio Bedeutung
des vermögenden Stadtbewohners an, der eine fremde Arbeitskraft beschäftigte,
des Handwerksmeisters, Verlegers, Unternehmers. Während so 'bourgeois' bereits
im 18. Jahrhundert zur Bezeichnung eines von überwiegend wirtschaftlichen Inter-
essen bestimmten, privaten Bürgerbegriffs diente98, gewann das von alters her
gleichbedeutende, aber weniger verbreitete 'citoyen' durch RoussEAU und die

91 MA.TTHISON, SW Bd. 3 (Wien 1815), 198. Wie rasch sich das Wort durchsetzte, wird da.

durch bestätigt, daß es bereits in der ersten deutschen Übersetzung der aristotelischen
„Politik" von JoH. GEORG SCHLOSSER (1798) zur Wiedergabe von griech. noir.ln1; ver-
wendet wurde. Von da aus erklärt sich auch der von Schlosser erhobene Einwand gegen
Aristoteles, daß der Begriff des Staates nicht aus dem des Staatsbürgers, sondern umge-
kehrt der Begriff de8 Staatsbürgers, als ein Beziehungsbegriff, aus dem Begriff des Staat,,
erklärt werden müsse; ARISTOTELES, Politik, dt. v. J. G. Schlosser, Bd. 1 (Lübeck, Leipzig
1798), 218, Anm.
82 Vgl. BRUNOT t. 6 (1930), 120 f. Diese Begriffsgleichheit stimmt im allgemeinen mit den

deutsch-französischen Wörterbüchern des 17./18. Jahrhunderts überein. Vgl. dazu das -


bis zum frühen 18. Jahrhundert mehrfach gedruckte - Dict. fran9.-all.-lat. (1660), s. v.:
Bürger, Einwohner einer Stadt/ bourgeois, citnyen / Oivis - Burgerrecht / bourgeoisie / iUB
civitatis. .Ähnlich heißt es in der Ausgabe von 1675, s. v.: Oitnyen, Bourgeois, ein Bürger/
civis - Bourgeois, ein Burger / civis - Bourgeoisie, Droit de bourgeois, das Burgerrecht / Oi-
vitatis jUB. In der 1703 erschienenen Auflage findet sich neben der Gleichsetzung von
'bourgeoisie' mit „Bürgerrecht" der Zusatz: La bourgeoisie (c'est a dire}les bourgeois, Die
Burgerschafft / die Bürger / cives (115).
83 Vgl. RoussEAU, Emile, 1. Buch (vgl. Anm. 55); DmEROT, Art. Bourgeois, 389 f. (s; Anm.

56), sowie VOLTAIRE, Le siecle de Louis XIV, Oeuvres compl., t. 14 (1878), 500, der über
den Undank berichtet, den Colbert durch eine finanzpolitische Maßnahme trotz seiner
Verdienste für das Gemeinwohl bei den Parisern erntete: n y avait plUB de bourgeois que de
citnyen.

692
IV. 3. Die Genealogie von 'Staatshiirger' Bürger

Enzyklopädisten in Anlehnung o.n lat. oivis jene neue Bedeutung114, die man im
Deutschen mit 'Staatsbürger' wiedergeben mußte. Nach CAMPE hat der erste, der
zu Beginn der Französischen Revolution die Benennung 'citoyen' aufbrachte, das
Wort falsch gebraucht; er nannte sich auf dem Titel einer Flugschrift Oitoyen de
Paris, vermutlich in Erinnerung an das Pathos Rousseaus, ein „citoyen de Geneve"
zu sein. Dem Verfasser der Schrift wlirde hierauf im „Journal de Paris" erwidert,
daß man wohl bourgeois -de Paris sein könne; denn Paris sei nicht, wie Genf, ein
„Staat", sondern eine Stadt im Staat95• Die Bedeutung beider Begriffe lag also in
Frankreich zu diesem Zeitpunkt bereits fest; durch die Revolution wurden sie
lediglich offiziell zur Geltung und gegenüber Residuen älteren Sprachgebrauchs
zu allgemeiner Anerkennung gebracht. Auch in Deutschland bedeutete 'Bürger'
seit dem 17. Jahrhundert sowohl den Stadtbewohner wie den Territorial- oder besser
Staatsuntertanen; eine Neubildung wurde hier jedoch zunächst nicht als-notwendig
angesehen. Die Ursache dürfte, neben der noch mangelhaften Fixierung des Staats-

H Sie zeichnete sich seit etwa. der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich ab, eo bei MoBBLLY,

Uode de la .Nature (1755; Ausg. :Berlin 1964), 184f.: L'utilitl, des service8 de cluJque clt,oyen,
ähnlich bei n'.AnoENBON (1751) und ÄNNE RoDEDll' JAOQUEB TUBOOT1 Plan de l'in11truotion.
publique, Oeuvres, t. 4 (1931), 579 f. Weitere Belege bei BRUNOT t. 6, 140 f. Roussuu
definierte die cit,oyens als meml>res du rmp11 politique. A l'egard des associes, ils prennent
collectivement le nom de peuple, et s'appellent en parti.culier cit,oyens, comme participant a
l'autcritl, BOUveraine, et BUjets, comme soumis aux lois de l'Etat; Contrat eocia.l (1761), 1, 6.
Mit dieser Auffassung verband Roussea.u eine Kritik a.n dem zeitgenössischen Verständnis,
die die Wandlung des Verhältnisses zwischen 'bourgeois' und 'citoyen' widerspiegelte.
Nach Rouesea.u war der ältere Sinn in der Neuzeit fast ganz verlorengegangen, man hielt
eine 'ville' für eine 'cit6', einen 'bourgeois' für einen 'citoyen', weil man keine Vorstellung
mehr hatte, da.ß der Name 'citoyen' eine rechtliche und nicht bloß eine moralische.
Bedeutung in sich einschloß (1, 6, Anm.). Es war da.her folgerichtig, wenn 1771 der „Dict~
de Trevoux", 7° ed„ t. 2, 613 cit,oyen a.ls neuen ( !) Begriff a.u~ und definierte: Ce mot
a un rapport particulier a la socütl, politique; il deaigne un membre de l'Etat, dont la eo.
dition n'a rien qui doive l'exclure des charges et des emplois qui peuvent lui convenir, selon.
le rang qu'il occupe dans la Republique. - Zu Rousseaus Einfluß a.uf die politische Ter-
minologie des 18. Jahrhunderts vgl. FERDINAND GoBIN, Lee tra.nsformations de la languo
fran9aise penda.nt la deuxieme moitie du 186 siecle (Paris 1903), 124 f.
86 CAllll'E, Fremdwb„ 2. Aufl. (1813), 192, Art. citoyen. Da.s Stichwort fehlte übrigens noch

in der 1. Aufl. von 1801. Im Jahre 1791 wurde „citoyen" zum Titel der Revolution und
ersetzte „monsieur" und „mada.me"; BRUNOT t. 9/2 (1937), 682 ff. Obwohl nach der Thermi-
dor-Reaktion vorübergehend a.us der Mode gekommen und nur noch a.ls Bezeichnung für
die Dienstboten verwendet, wurde „citoyen" seit 1797 auf Anweisung des Direktoriums in
der Verwaltung allgemein eingeführt. „Citoyen" überlebte die Revolution, blieb unter dem
Konsulat erhalten, und erst seit 1804 tauchte „monsieur" in den Protokollen der Acad6Jnie
des Sciences wieder neben „citoyen" auf. Über die von der Französischen Revolution her-
vorgebrachten citoyen-Formen wie „citoyen actif" bzw. „pa.ssif" oder „inactif" (seit 1789),
„citoyen proletaire" (1789), „soldat citoyen" - „citoyen solda.t" (1790), „eitoyen a mar-
cher" (1793) vgl. BRUNOT t. 9, 709 f. 928 f. 933 f. Übrigens ging auch die Bildung roi-eit,oyen,
die nach 1830 a.ls Redewendung für Louis Philippe geläufig wird, auf die Revolution von
1789 zurück: der „Moniteur" von 20. Juli 1789 bezieht es auf Ludwig XVI.

693
Biirgef IV. 3. Die Gene.Iogie Ton. 'Staatahiirger'

begriffe, darin zu suchen sein, daß das Wort durch den Gegensatz Stadtbürger -
Adel nur wenig belastet war. Dieser gewann aber auch im deutschen Sprachbereich
durch die höfische und moralisch-rechtliche Abschließung des Adels, die mit dem
Verlust seiner politischen Funktion einherging, eine größere Bedeutung. 1777 wies
J. G. SCHLOSSER auf die „bürgerliche" Okkupation des Staates durch die Bürokratie
hin: Die Politik des Bürgers war, die Geschä,fte zu verwickeln, um den Adel von ihnen
auszuschließen oder abhä,ngig vom Bürger zu machen; die Politik des Adels wäre,
sie wieder einfach zu machen, um der Bürger embehren zu kiinnen98• Die ständischen
Grenzen zwischen Adel und Bürger wurden - vor dem Ausbruch der Französischen
Revolution - nicht in Frage gestellt, auch wenn das gesellschaftliche Spannungs-
verhältnis nicht mehr zu übersehen war. Laßt also dem Adel seine Vorrechte, schrieb
BRANDES 1787 in der „Berlinischen Monatsschrift", aber kontrolliert ihn, daß er
nicht weiter greife, nicht in Rücksicht seiner Geburt sich alles erlaubt halte - und, ihr
Bürgerlichen, vergeßt nicht, daß, wenn sie Edle sind, ihr Freie seid97• Der Gegensatz
wurde verstärkt durch die gleichzeitige wirtschaftliche und kulturelle Emanzipation
des Bürgertums im 18. Jahrhundert. Wohlstand ist das Wort für Städte, zitierte
HERDER aus einer der vielen damals (meist anonym) erscheinenden Schriften mit
dem Titel: „Bonhommien eines Bürgers". Aber Wohlstand sei mehr als Mittel und
Genuß hä,uslicher Glückseligkeit, was man sich allgemein dabei denke. Denn: Wohl
erworben zu haben, ist hier das gute Äquivalent von dem Wohl,geborensein des ersten
Standes ... IJi,e Anmutungen an den Stadtbürger sind jetzt: er soll erwerben, soll das
Erworbene genießen98• Von Seiten des Adels wurde der Gegensatz zum Bürger um
so stärker hervorgehoben, je mehr sich mit den sozialen und wirtschaftlichen
Veränderungen im 18. Jahrhundert die Stände einander anzugleichen und zu
vermischen begannen99• Hier mußte das Wort den Charakter eines „negativen
Wertbegriffs" (W. Meschke) annehmen, so daß man zur Bezeichnung des „Staats-
untertanen" nicht mehr ohne weiteres darauf zurückgreifen konnte. Da gleichzeitig
der politische und der Rechtscharakter des „Staatsbürgers" verblaßte, bedurfte
das Wort 'Bürger' einer Rehabilitierung, um wertneutral auf den „Staat" bezogen
werden zu können. Die revolutionäre Aufwertung von 'citoyen' war eigentlich nur
der Katalysator in jenem weitaus früher einsetzenden wortgeschichtlichen Um-
bildungsprozeß, der aus dem 'Bürger' im Sinn des über ein (adliges oder „bürger-
liche1:1") Haus gebietenden, politisch selbständigen „Herrn" den 'Bürger des Staates'
und schließlich den 'Staatsbürger' werden ließ 10o.

ee SCHLOSSER, Fragmente, 103 (s. Anm. 71).


11 Berlinische Monatsschrift ·(1787), zit. KURT GEBAUBB, Geistige Strömungen und Sitt-
lichkeit im 18. Jahrhundert (Berlin 1931), 239 f.
"HlmDEB, Briefe zu Beförderung der Humanität (1792), Brief77. SW Bd.17 (1881), 391.
Wie Herder a.m Schluß des 50. Briefes mitteilte, war der Verfa.sser J. Cim. BEBENS, Senat.or
zu Riga..
11 Vgl. die bei MEsCHKE, Bürger, 75 f. (vgl. Anm. 73) zitierten Beispiele.

ioo Fl:OHTE, Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische
Revolution (1793), AA Bd. 1/1 (1964), 364 f.

694
IV. 4.. Kritik und BewabnmJ 4ler 'l'n4litioa; Kant Büqer

.f.. Kritik und Bewahrung der Tradition:


'Staatsbürger' und 'Schutz·' bzw. 'Staatsgenosse' bei Kant

Die damit verbundene Differenzierung des traditionellen Bürgerbegriffs läßt sich


im einzelnen an KANTS Rechts- und Staatsphilosophie nachweisen. Seine Reflexio-
nen zu diesem Thema zeigen, wi~ allmählich die Ablösung von der Tradition vor
sich gegangen ist. Die ältere Begriffswelt wird ständig vorausgesetzt und in die
Kritik so einbezogen, daß sie nie ganz verschwindet.
Voraussetzung der Kantischen Kritik war die Gleichheit des Untertanenverhält-
nisses im absolutistischenStaat: Injeam;,,gemeinen Wesen ist ein summum imperium,
fol,glich auch subditi. Vor aller wirklichen Herrschaft aber und Unterwerfung muß
ein Reckt der Menschen vorhergehen, nach welchem sie ursprünglich möglich ist. Dieses
kann kein anderes sein, q,ls daß alle unterworfen sind allen zusammengenommen:
weil nur so eines jeden Freiheit mit seiner Subjektion durchgängig zusammenstimmen
kann (um 1785/88 oder 1788/89) 1 01.
Das allgemeine und gleiche Untertanenverhältnis war nicht bloß ein Faktum;
es kehrte als Prinzip in Kants Idee des ursprünglichen Vertrags wieder, aus der
- nach Rousseaus Vorbild - die Möglichkeit der Unterwerfung aller abgeleitet
wurde. Der Untertan blieb „Mensch", dessen „Recht" die Subjektion nicht nur
unangetastet ließ, sondern - infolge der angenommenen Wechselseitigkeit -
garantierte. Der „Mensch" aber konnte auch 'Bürger' sein, sofern er als Untertan
an der „Oberherrschaft" teilhatte.
Hatte er nicht an ihr teil und war er zugleich keinem besonderen Teile des gemeinen
Wesens (d. h. keinem Stand, keiner Herrschaft), sondern nur deroberkerrlichen Gewalt
unterworfen, so ist er Zunftbürger (civicus); wenn er an der Bildung der obersten
Gewalt teilnahm, galt er als civis, d. i. Staatsbürger 1 02. Beide unterschieden sich vom
Untertan unter einer Gesetzgebung, welche nickt für alle gleich ist, - dem Erbunter-
tanen (Leibeigenschaft, Hörigkeit). Wie der Erbuntertan vom erblicken Zunftbürger,
d. h. dem Staatsbürger, abgehoben wurde, so dieser von denjenigen, welche als
erblich zum Befehlen in der Staatsadministration die H abilität ha_ben. Jener gehört
zum gemeinen Volk (plebs), dieser zum Adel (status equestris). Die letzteren gehören
entweder zum summo imperio und sind erblicke Senatoren ( patricii, Lords) oder sind
nur die Vomehmen ( optimates), welche Exekutoren der 000r11fAm Gewalt als Unterbefehls-
haber ein Erbrecht haben (titulierter Adel)loa.
Man bemerkt mit einigem Erstaunen, daß Kant den Titel eines 'Staatsbürgers'
zunächst nur den Mitgliedern des Adelsstandes vorbehielt. Insofern spiegelte die
Reflexion, die vor den Ereignissen des Jahres 1789 niedergeschrieben sein muß,
die Rechtsverhältnisse des Ancien Regime noch annähernd wider. Aber das
zentrale Problem der Französischen Revolution klang schon an: Es ist die Frage,

101 KANT, Reftexionen zur Rechtsphilosophie, Nr. 7974, AA Bd. 19 (1934), 568. Die von
ERIOH .ADICKES vorgeschlagene zweite Datierung (1790/91) darf als äußerst unwahrschein-
lich betrachtet werden.
1o1 Ebd., 568: Der Untertan, der zug1.eich g1,eicher Teilnehmer an der Oberherrschaft ist, hei{Jt
Bürger.
1oa Ebd., vgl. auch Reftexion Nr. 7853.

695
IV. 4. Kritik nnd Bew8Janms der Tradition1 Kant

ob es recht sei, daß das summum imperium sowke erblicken Herren setze als Marquis,
Graf etc. Sie wären alsdenn nicht bloß Staatsbürger, sondern würden eine erbliche
Dignität haben104.
Diese dem Staatsbürgerbegriff anhaftende Doppeldeutigkeit, die daraus folgte,
daß er hier noch ganz im römisch-rechtlichen Begriff des civis aufging, wurde von
Kant jedoch bald üoerwunden. Das geschah unter dem Eindruck der Erklärung der
Menschen- und Bürgerrechte von 1789; sie ermöglichte es, den 'Staatsbürger'
mit franz. citoyen zu erläutern und auf die „staatsbürgerliche" Emanzipation des
dritten Standes zu beziehen. So hieß es 1792/94: Jeder wird als möglicher Staatsbürger
geboren; nur0 damit er es werde, muß er ein Vermögen haben, es sei in Verdiensten oder
in Sacken ... Staatsuntertan ist jedermann und zwar erblicn (?)1° 5 •
In diese Zeit fiel Kants erste öffentliche Äußerung zur Rechts- und Staatsphilo-
sophie, der Aufsatz: „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein,
taugt aber nicht für die Praxis" (1793). In ihm erschienen die durch die Französische
Revolution zu neuer Bedeutung gelangten Bürgerbegriffe 'citoyen' und 'bourgeois',
aber so, daß die in der geschichtlichen Wirklichkeit sich vollziehende Trennung
beider unreflektiert blieb. Der Sache nach stand Kants Bürgerbegriff, obwohl er
in Staats- und Stadtbürger auseinandergelegt wurde, noch ganz auf dem Boden der
alten bürgerlichen Gesellschaft (societas civilis); 'Bürger' war, wer sich zu ihr in
einem unmittelbar politischen Verhältnis (der „Stimmgebung") befand: Derjenige,
wekher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger ( citoyen, d. i.
Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois). Die dazu erforderliche Qualität ist, außer
der natürlichen (daß er kein Kind, kein Weib sei), die einzige: daß er sein eigener
Herr (sui juris) sei, mithin irgend ein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Hand-
werk oder scMne Kunst oder Wissenschaft gezählt werden kann), wewhes ihn ernährt 106 •
Neben die Erweiterung des 'Bürgers' zum 'Staatsbürger' trat hier seine Aus-
dehnung auf den 'Stadtbürger' (den Bürgerstand); das „Eigentum" wurde, ganz
im Sinne der Emanzipation des dritten Standes, das wichtigste Kriterium im Begriff
des 'Staatsbürgers'. Aber damit war vorerst nur eine Tendenz bezeichnet, deren
Richtung Kant verborgen blieb. Die eigentlich zentrale Differenz des Bürger-
begriffs war fw ihn nicht die von Staats- und Stadtbürger, sondern die traditionell-
politische zwischen 'Bürgern' und 'Schutzgenossen'; diejenigen, welche nicht an
der politischen Gesetzgebung teilhatten, waren gkichwohl als GUeder des gemeinen
Wesens der Befol,gung dieser Gesetze unterworfen und dadurch des Schutzes nach
denselben teilhaftig; nur nicht als Bilrger, sondern als Schutzgenossen 1 0 7•

104 Ebd., 568 f.


101 KANT, Reflexionen zur Anthropologie (1792/94), AA Bd. 15/2 (1913), 544. Als zu einer
Repräsentativverfassung gehörige „Stände" erschienen hier, außer dem Adel, Bürger,
Bauern und Literaten, worunter die Geiatlicken.
1°' KANT, Gemeinspruch, AA Bd. 8, 295f. Kant berührte sich hier mit DmEROT, der die
politische Rechtsfähigkeit des Menschen gleichfalls an freie Verfügung über ein Eigentum
band: Ces aaaemblees, pour etre uti'les et just.es, detJraient ßtre compoaees de cew: que Zeura
poaae88iona rendent citoyena .•. en mot, c'est Za 'fW'opribi qui fait le citoyen,· Art. Repr0sen-
tante, EncyclopMie, t. 28/2 (Ausg. Genf 1778), 362f.
107 KANT, Gemeinspruch, AA Bd. 8, 294.

696
IV. 5. Der Einßuß der Französischen Revolution Bürger

5. Der Einfluß der Französischen Revolution

Der neue Bedeutungsgehalt, der sich seit der Revolution mit dem Wort 'Bürger'
verband, erwuchs aus einer bis dahin unbekannten .Tendenz zur .Aktualisierung.
Charakteristisch dafür ist der Zusammenhang, in dem bei FRIEDRICH SCHILLER die
Neubildung 'Zeitbürger' auftritt: Ich möchte nicht gern in einem anderen Jahrhundert
leben und für ein anderes gearbeitet haben. Man ist ebensogut Zeitbürger als man
Staatsbürger ist 108 . Bei CHRISTIAN GARVE findet sich folgende Betrachtung: Wie
geht es in aller Welt zu, dachte ich zuerst, daß, da das Wort Bürger nichts anders als
den Mann aus dem Mittelstand bezeichnet, - aus dem Stande, der, nach aller, selbst
der Großen Geständnisse, das Achtungswürdigste in sich enthält, was eine Nation an
talentvollen und tugendhaften Leuten besitzt, das Beiwort bürgerlich demohnerachtet
eine verächtliche Nebenidee erwecktl09.
Garve fragte sich, ob die Ursache darin zu suchen sei, dail 'bürgerlich' so viel wie
'r.ivil', iL h. ili11 ii.11ß11r11n Rit.t11n 11in11R M11nRr.h11n oder einer Gesellsc.haft betreffend,
bedeute, worin allerdings der 'Mittelstand' hinter dem 'Adel' zurückbleibe, kam
aber dann bald auf den Gegensatz zwischen 'citoyen' und 'bourgeois' zu sprechen.
Interessant ist dabei vor allem die Klassifizierung der verschiedenen gesellschaft-
lichen. Gruppen nach den Gesichtspunkten, die der Gegensatz an die Hand gab.
In Ansehung des Bürgers als 'bourgeois' hieß es dazu: Unter Bürgern, im letztern
Verstande des Wortes, sind Handwerker, Krämer und kleine Kaufleute mit be-
griffen ... Zu dem Bürgerstande aber gehören, nach der gesetzlichen Rangordnung,
auch noch die Gelehrten und die Großhändler, zwei Klassen, bei welchen, wie immer
bei den Grenzen, Streit darüber ist, wohin sie und ihre Kinder gehören 110.
Während hier der einheitliche Bürgerbegriff unter dem Einfluß der Differenzierun-
gen zwischen 'citoyen' und 'bourgeois' problematisch geworden war, versuchten
umgekehrt die der Revolution nahestehenden Schriftsteller, diesen Begriff als
eine Einheit zu fassen. Bürgerlich, schrieb J. G. SEUME, war in der griechischen
Natur etwas Göttliches; auch die Römer hatten viel davon, und hier und da noch eine
Nation. Bei uns ist es fast ganz ausgerottet, und man fürchtet sich schon vor dem
Worte 111 . Seume schloß sich bewußt an die Aufwertung des Bürgerbegriffs in
Frankreich an, so mit dem Satz, daß intermediäre Lasten nicht blieben, weil Bürger
nur gegenüber dem „Staat" Pflichten haben könnten - und Bürger ist jeder,
der nur einen Fuß Landes besitzt112 (d. h. im Lande wohnhaft ist). Ähnlich GEORG
FoRSTER, für den die Franzosen - mit der Besetzung von Mainz - das Moment

108 SCHILLER, Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1794), 2. Brief, SA Bd.12, 5.

'Welt'- und 'Staatsbürger' traten bei Schubart nebeneinander auf: Nur der wahre Welt-
bürger kann ein guter Staatsbürger sein, gleich viel unter welcher Form ·u:nd Verfassung;
CHR. FRIEDR. DANIEL SCHUBART, Vaterlandschronik (Stuttgart 1789), 899.
109 CHRISTIAN GARVE, Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litera-

tur und dem gesellschaftlichen Leben, Bd. 1 (Breslau 1792), 302.


110 Ebd., 304. Vgl. ALR § 31, 1, 1.
m JoH. GOTTFRIED SEUME, Apokryphen (1806/07), SW Bd. 4 (1839), 208. Vgl. ebd., 138
die Anspielung auf die Beendigung der Revolution durch Napoleon: Oitoyenl on diaoit
autrefoia; bourgeois/ on dit a present.
112 SEUME, Spaziergang nach Syrakus (1802), SW Bd. 2 (1853), 178.

697
IV. 5. Der Eiafhdl der Fnmzö11iM-hen Revolution

der Untertänigkeit aus dem Bürgerbegriff be11eitigt hatten: lck bin jetzt Unter-
tan, - nein, das Wort ist hier verbannt, - Bürger der französischen Republik113.
KLOPSTOCK, dem der Titel des 'citoyen' von der französischen Nationalversammlung
verliehen worden war (1792), gebrauchte dafür das Wort 'Civismus', das der Unter-
tanengesinnung des Absolutismus entgegengesetzt wurde: Ich fing an gegen Ende
d,es Jahres 1788 meinen Oivismus in einer Ode zu zeigen, die ich Les Etats generauz
betiteltelH.
Diesen Begriff des Bürgers meinte auch SoNNENFELS (1798), der die Hoffnung aus-
sprach, daß sich an dem Werk weder Empörer noch Sklaven, sondern Bürger bilden
mögen und dazu anmerkte: Bürger, ja, Bürger. Denn warum soll in dem Miß-
brauche eingeräumt sein, den Sinn eines Wortes verdächtig zu machen oder zu ent-
stellen, das bis jetzt immer einen Menschen bezeichnet hat, der unter dem unmittelbaren
Schutze der öffentlichen Verwaltung die Rechte der gesellschaftlichen Vereinigung ge-
nießt und nur Gesetzen und dem Organe der Gesetze, dem Oberhaupt des Staates, unter-
tam. ~:st 116 • '
In diesem Sinne gebrauchte auch FICHTE das Wort. Für ihn bestand der charak-
teristische Grundzug des Zeitalters in bürgerlicher Rücksicht gerade darin, daß mit
der Revolution der Gegensatz von Freien und Knechten, Herrschern und Unter-
tanen durch den „Staat" überwunden worden war, der sich ihm als geschlossene
Summe seiner Bürger darstellte. So sind, um auch an einem Beispiele meinen Ge-
duitiken klar zu machen, keineswegs die Regie-renden der Staat, sondern sie sind Mit-
b-ürger daselben, so wie alle übrigen; es gibt im Staate überhaupt keine 1ndividuen
außer Bürgern116 • Fichte wandte sich gegen die Auffassung, daß der Klasse der
„Begünstigten" im Staat der Titel eines 'Bürgers' zukomme: Der Begünstigte,
insofern er das ist, ist sicher nicht Bürger. Erst wenn e~ seine Privilegien aufgegeben
und sich der „staatsbürgerlichen" Gesellschaft verbunden hat, wird er sein Stimm-
recht als Bürger wieder erhalten117 • Man bemerkt freilich auch, daß das so ver-
standene Wort im deutschen Sprachraum keineswegs jenen „staatsbürgerlichen"
Bedeutungsgehalt erreichte, der es mit franz. 'citoyen' vergleichbar erscheinen
ließe. Gesellschaftliche Gründe - die relative Stabilität der altständischen und
monarchischen Verfassung - standen allen Umwertungsversuchen entgegen. Nicht
von ungefähr konstatierte JEAN PAUL nach Ablauf der „revolutionären" Periode
die Vergeblichkeit solcher Bemühungen: Das Adel-Wort Bürger in Rom und unter
der Französischen Revolution ist bei uns unter die Bürgerlichen verstoßen 118•

118 GEORG FoBSTER, Brief an seinen Vater, 26. 11. 1792, Sämtl. Sehr., Bd. 8 (1843), 276;

vgl. den Brief an Buchhändler Vo.B, 10. 11. 1792, ebd., 245. J. G. FICHTE, Brief an seine
Frau, 26. 5.1794, Briefwechsel, hg. v. Hans Schulz, Bd. 1/2 (Leipzig 1925), 215.
m KLoPSTOCK (1793), SW Bd. 10 (Leipzig 1855), 336 f.
115 JOSEPH v. SoNNENFELS, Handbuch der innern Staatsverwaltung, mit Rücksicht auf die

Umstände und Begriffe der Zeit, Bd. 1 (Wien 1798), XXX.


118 FICHTE, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806), SW Bd. 8 (1846), 143 ff.
117 Vgl. FioHTE, Beiträge zur Berichtigung der Urteile über die Französische Revolution

(1793), AA Bd. 1/1 (1964), 302.


118 JEAN PAUL, Bürgerliche Ehrenlegionen oder Volksadel, Nachdämmerungen für Deutsch-

land, SW Bd. 34 (Berlin 1827), 82.

698
IV, 6, GoMh" und ~hiß"r Bürgr.r

6. Adel und Bürgerstand im Ursprung der neuhumanistischen Bildungsidee:


Goethe und Schiller

Tatsä.chlioh war der Begriff dos 'Bürgorliohon' in Dcumohland oinooitig durch don
Gegensatz zum 'Adligen' bestimmt. Die Emanzipation des Bürgerstandes schlug
sich in Begriffsformen nieder, die die Lebensweise des Adels, von der sie sich ab-
hoben, nicht nur als intakt bestehen, sondern als vorbildlich gelten ließen. Aller-
dings hatte diese Vorbildlichkeit im Kern selbst etwas „Bürgerliches" an sich.
Noch während der Französischen Revolution gab SCHILLER in einet Anmerkung
zu der einsichtsvollen V ergleich'}tng bürgerlicher und adeliger Sillen bei Christian
Garve 119 der These seine Zustimmung, daß zu den Prärogativen des adligen Jüng-
lings auch die frühzeitige Kompetenz desselben zu dem Umgange mit der großen Welt
gehöre, von welchen der bürg~liche schon durch seine Geburt ausgeschlossen sei.
Zugleich meldete Schiller aber Zweifel an; er fragte, ob dieses Prärogativ, das in
Ansehung der äußeren und ä11thetischen, auf R.Aprii.111mt.at.ion 11.ngAlAgtAn Rilihmg
unstreitig ein Vorteil sei, in Ansehung der inneren Bildung und des Ganzen der
Erziehung noch ein Gewinn heißen könne. Die neuhumanistische Bildungsidee
der sich „innerlich" entfaltenden Persönlichkeit entwertete die adlige Lebensweise,
ihr Angelegt.sein auf Repräsentation. Der Umgang mit der „großen", d. h. höfisch-
ständischen Welt, führte nur zur „Form", nicht zur „Materie" der Bildung, deren
Beherrschuug Arbeit vur11.us11eLzLe. Ullll wellll lllll.ll, 1:111.gLe Schiller, üLerlegL, wieviel
leichter sich Form zu einem Inhalt, als Inhalt zu einer Form findet, so dürfte der
Bürger den Edelmann um dieses Prärogativ nicht sehr beneiden 120 • Die „innere
Bildung" des Bürgers erwies sich der äußeren des Adligen gesellschaftlich überlegen;
als Bildung des Menschen war sie Bildung zur Gesellschaft und dieser zumal.
Gleichwohl ließ Schiller beide Sphären - Arbeit und Repräsentation - neben-
einander bestehen, mit einem Vorbehalt, den seiner Auffassung nach der Adelsstand
selber machen dürfte: Wenn es freilich auch fernerhin bei der Einrichtung bleiben
soll, daß der Bürgerliche arbeitet und der Adelige repräsentiert, so kann man kein
passenderes MiUel dazu wählen alsgerade diesen Unterschied in der Erziehung;
aber ich zweifle, ob der Adelige sich eine solche Teilung immer gefallen lassen wird121 •
Die Frage nach einer Überwindung des Gegensatzes zwischen adliger Repräsentation
und bürgerlicher Arbeit durch die der Sache nach „bürgerliche" Idee der--> Bildung
wurde etwa zur gleichen Zeit, in GOETHES „ Wilhelm Meister" (2. Fassung 1794-96)
gestellt. Nach Goethe handelte es sich hierbei um ein in der gesellschaftlichen Ver-
fasswig der deutschen Staatenwelt begründetes Problem: Ich weiß nicht, wie es in
fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse all-
gemeine, wenn ich sagen darf, personelle Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich
Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit

11e SOHILLER, Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen (1793/95),
SA Bd. 12, 139, Anm.
iao Ebd.
1 1 1 Ebd. Hierher gehört auch SCHILLERS populärer Vers: Arbeit iat du Bürgera Zierde , , ,

(„Lied von der Glocke") und GoETHES: Wo kam die ackiinate BWJ;u,ng her/ Wenn aie nicht
oom Bürger wär („Zahme Xenien").

699
Bürger IV. 7. A,Urlen des Bflrgerbegrilfa

yeltt uber 'Verlll'ren, er mag sich stellen, wie er will122 ; Der Gegensatz wurde von Goethe
als gesellschaftlich unwandelbar stilisiert; die Vorbildlichkeit der 11.dJigen Lebe.i:w-
form trat dabei deutlich in Erscheinung. Der Adlige war „öffentliche Person",
seine Lebensweise bei Hofe und in der Armee repräsentierte ihn selbst. Die Lebens-
weise des Bürgers hingegen war die Produktion, - Arbeit, in der sie sich im buch-
stäblichen Sinne erschöpfte. Im Unterschied zu Schiller legte Goethe Wert auf die
Bestimmung der „Grenzlinie", die dem Bürger gezogen war: Er darf nicht fragen:
„Was bist du?", sondern nur: „Was hast du? welche Einsicht, welche Kenntnis,
welche Fähigkeit, wieviel Vermögen?" Wenn der. Edelmann durch die Darstellung
seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts, und soll
nichts geben 1 Z3• Aber die auf Repräsentation angelegte Adelswelt hatte auch für
Goethe den Charakter gesellschaftlichen Scheins. Von Hof und Armee abhängig,
repräsentierte der Adlige nicht die traditionell-politische Sphäre der bürgerlichen
Öffentlichkeit, sondern sich selbst, seine „Person". Die „Grenzlinie" konnte daher
auch bei Goethe vom Bürger, sofern er sich ganss . . . awn:ubikkn bestrebt war,
überschritten werden; in der Sphäre des ästhetischen Scheins durch das Theater1 2',
in der des gesellschaftlichen. Seins durch die Verbindung mit einem Kreis adliger
Menschen, der sich der „bürgerlichen" Idee des Zusammenhangs von Arbeit und
Bildung bereits verpflichtet weißl25.

7. Aporien des Bürgerbegriffil: Hufeland, Krug, Garve, Feuerbach, Campe, Vollgraft'

Mit der Ablösung der alten „bürgerlichen" durch die moderne, staatsbürgerlich
verfaßte Gesellschaft wurde der Bürgerbegriff im wesentlichen auf zwei Bedeutun-
gen reduziert, die seine weitere Entwicklung bestimmten: den 'Bürger' als privates
Individuum einerseits, als öffentlich-politischen 'Staatsbiirger' andererseits. In der
Mitte zwischen beiden stand die Formel 'Bürger des Staats', der die Funktion der
Privatisierung zufiel; an die Stelle von lat. civis trat jetzt privatus als Erklärung
des Bürgerbegriffs: Bürger des Staats ( privati) heißen alle im Staat, insofern sie nicht
die höchste Gewalt in derMelben haben12 6. Der Privatmensch war aber nicht mehr
„Stadtbürger", sondern verflochten in einen gesellschaftlichen Bewegungszusam-
menhang, der Stadt und Staat gleichermaßen umgriff. Der Staatsbürger konnte
daher per definitionem nicht Bürger in dem Sinne sein, daß er die Lebenselemente
der Gesellschaft (Stände, Kommunen, Korporationen usf.) politisch repräsentierte;
denn diese Elemente hatte der Staat in die einzelnen Individuen als ihre Bestandteile
aufgelöst. Er bedurfte keiner Repräsentation durch bürgerliche Lokalgewalten, weil
er selbst die staatsbürgerliche Gesellschaft repräsentierte. 'Bürger' sein bedeutete

1 22 GoETHE, Wilhelm Meisters Lehrjahre 5, 3. HA Bd. 7 (1950), 290.


123 Ebd., 281.
124 Ebd., 292: Auf den Brettern er&cheint der gebüdete Men&eh 80 gut 'J'ß'f8Ö1/},ich in &einem

Glanz alB in den obern Kla&aen.


12 5 Vgl. ebd., 7. u. 8. Buch. Es sind die „bürgerlichen" Intentionen in Wilhelm Meister, die

ihn die Adelswelt zum bloßen Schein herab- und das Theater mit den Formen der höfischen
Repräsentation gleich6etzen lassen.
128 GoTTLIEB HUFELAND, Lehrsätze des Naturrechts (Jena 1790), 10.

700
IV. 7. Aporien des Biirgerhegriffa Bürger

hier ein Glied der großen bürgerlichen Gesellschaft, die man auch Staat nennt, sein, -
ein 'Staats-Bürger' nach der Regel jener Neubildung, die sich nun allgemein durch-
setzte. Nicht zufällig wies man nach 1800 darauf hin, daß dieses Wort kein Pleonas-
mus ist, wie Klopstock meinte, weil dadurch der Unterschied vom bloßen Stadtbürger
bezeichnet wird127• Auf der anderen Seite blieb doch eine Schwierigkeit zurück, die
damit zusammenhing, daß die deutsche Begriffsentwicklung nur auf das eine Wort
'Bürger' angewiesen blieb.
Wie kompliziert daher eine angemessene Bezeichnung der Begriffe war, wurde bereits
in den neunziger Jahren deutlich angesprochen, so von CHRISTIAN GARVE: Das
Wort Bürger hat im Deutschen mehr Würde als das französische bourgeois . . . Und
zwar deswegen hat es mehr, weil es bei uns zwei Sachen zugleich bezeichnet, die im
Französischen zwei verschiedene Benennungen haben. Es heißt einmal ein jedes
Mitglied einer bürgerlichen Gesellschaft, - das ist das französische citoyen; -.es be-
deutet zum andern den unadligen Stadteinwohner, der von einem gewissen Gewerbe
lebt, - und das ist bourgeois12.ll. Auf diese BemerkU]lgen von Garve nahm FEUER-
BACH in seinem „Anti-Hobbes" (1798) Bezug. Es sei zwar, so argumentierte
Feuerbach, aufgrund des üblichen Sprachgebrauchs nicht zu bestreiten, daß das
deutsche Wort 'Bürger' den Privat- und Staatsbürger in sich fäl!l!e, aber mau köm1e
11.ngp,sfoht.'I der ebenso unstreitigen Degri:ffädifferenzierungen nicht umhin, sprachlich
eine Unterscheidung zu treffen; d!lzu schlug Feuerbach die Schreibung 'Burger'/
'.Hürger' vor: Wenn dies auch wirklich nach dem gewöhnlichen Redegebrauch 110 'ist,
s~ glaube ich doch, daß wir in den Worten: Bürger und Burger zwei Worte von sehr
einander verschiedenen Begriffen haben12e.
Es braucht nicht erst hervorgehoben zu werden, daß der V ur1:1Uhlag, der an die
8ohreihweise mittelalterlicher Stadtbücher anzuschließen schien, praktisch wir-
kungslos blieb. Daß die Eigentümlichkeit des deutschen Bürgerbegriffs besonders
den Franzosen auffallen mußte, bezeugt eine interessante Notiz von J. H. CAMPE.
Als Sieyes Gesandter am preußischen Hof war, hatte ihn Campe in einem Brief, dem
französischen Revolutionsstil folgend, mit „Bürger" angeredet, worauf Srnrls
in seiner Antwort die Bemerkung machte: Ihre Landsleute würden wohl tun, wenn
sie Oitoyen wie Don und Lord ganz unübersetzt ließen, weil man sich unter dem
deutschen Worte Bürger etwas ganz anderes denkt als bei citoyen180. Campe stellte
ebenfalls fest, daß man im Deutschen 'bourgeois' und 'citoyen' unter dem einen

127 KRuG Bd. 1 (1827), 345 f. WILH. Tru.uGoTT KRUG, System der praktischen Philoso-

phie, Bd. 1 (Wien 1818), 244. Vgl. DANIEL JENISCH, Universalhistorischer 'Überblick der
Entwicklung des Menschengeschlechts, als eines sich fortbildenden Ganzen. Eine Philoso-
phie der Culturgeschichte, Bd. 1 (Berlin 1801), 55 f.
128 GARVE, Versuche, Bd. 1, 302 f. (s. Anm. 109). Vgl. auch: Annalen der leidenden

Menschheit 1 (1795), 314f.


129 PAUL JoH. ÄNsELM FEUERBACH, .Anti-Hobbes, oder über die Grenzen bürgerlicher Ge-
walt und das Zwangsrecht der Unterthanen gegen ihre Oberherren, Bd. 1 (Gießen 1798),
21 f., Anm.: Bürger (citoyen) darf nicht mit Burger (bourgeois, burge118iB, burgarius) ver-
wechselt werden. Vgl. JoH. HEINRICH TIE1!TRUNK, Philosophische Untersuchuiigen über
das Privat~ und öffentliche Recht, zur Erläuterung und Beurteilung der metaphysischen
Anfangsgründe der Rechtslehre von Im. Kant, Bd. 2 (Halle 1798), 242.
18 ° CAMPE, Fremdwb., 2. Aufl.., Bd. 1 (1813), 192, Art. Citoyen.

701
Bürger IV. 8. 'Bürger', 'Staatsbürger' und 'Untertan' 1790-1830

Worte Bürget begreife, so da.13 Siey~ mit seiner Bemerkung durchaus im Recht sei;
aber da, wo es auf eine begriffliche Unterscheidung ankomme, könne man eben
auch hier auf zwei verschiedene Bezeichnungen zurückgreifen und jenen St,aata-
bürger, diesen Sta&bürger nennen181 • Jedoch wurde sowohl die nach französischem
Muster eingeführte Abgrenzung von Staats- und Stadtbürger wie die von FICHTE
gelegentlich betonte Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen 'Staatsbürger'
und 'Bürger' 132 bestritten. Am weitesten ging der Rechtsphilosoph K. VoLLGRAFF
(1827/29): Das Wort Bürger bezeichnet weiter nichü als einen BurglJewohner, burgensis,
bourgeois, indem Burg jeden Bergeort oder mit einer Mauer umgebenen Platz bezeichnet.
Bürger ist daher durckaw nickt die deutsche Übersetzung von polites oder civis, indem
wir hierfür wie für civitas gar kein Wort haben, denn auch das Wort St,aata-Bürger,
das man neuerdings dafür au/gebrackt hat, drückt dies durchaus nickt aus133• Das
„neue" Wort hielt Vollgraff überhaupt für sinn- und bedeutungsleer, vor allem in
der Anwendung auf griechisch-römische oder mittelalterliche Verhältnisse. Aller-
ding!! ließ Vollgraff sich bei diesen Vergfoiohen allzu sehr von zeitgebundenen Vor-
stellungen der Restaurationsepoche leiten, was den begriffsgeschichtlichen Wert
seiner oft zutreffenden Beobachtungen wieder vermindert134•

8. 'Bllrger', 'Staatsbürger' und 'Untertan' 1790--1830


Sachlich unbestritten blieb aber Vollgraffs Feststellung, das Wort und die Idee der
St,aatabürgersckajt sei lediglich ein Produkt der neuen St,aata-Tkeorien, die z. B. die
Schweizer und die freien Reichsstädte nicht kennen, wo man seit alters nur von
'Bürger' rede 136 • Die Idee eines allgemeinen und gleichen Staatsbürgerrechte ist
dagegen vom „Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten" (1794) in-
tendiert worden, das sich an die Mitglieder, Einwohner und auch „Bürger des
Staats" wandte 1 as. Ihm folgte das „Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die
österreichischen Staaten" (1811), wo es im§ 28 hieß: Den vollen Genuß der bürger-
lichen Reckte erreicht man durch die St,aata1Jilrgersckajt. Die St,aatabürgersckajt ist

181 Ebd. - Vgl. auch ABRA.HA.M GoTTHELF JasTNER, Über ein paar Wörter in der jetzigen
deutschen statistischen Sprache (1798), zit. WILHELM DoROw, Denkschrifton und Briefe
zur Charakteristik. der Welt und Literatur, Bd. 2 (Berlin 1838), 86.
182 Vgl. FICHTE, Grundlagen des Naturrechts (1796), AA Bd. 1/4 (1970), 23. Fichte forderte,
daß jeder Bürger dem Staat seine Erwerbstätigkeit angeben müsse - und keiner wird
80'TUICh Sf.aattJbürger überhaupt, 80ndem tritt zugleich in eint gewisse K"la88e der Bürger, &Owie
er in den Bf.aat tritt.
138 KARL VoLLGRAFF, Die Systeme der praktischen Politik., Bd. 3 (Gießen 1828), 178.
134 So wenn Vom.GRAFF, um den prinzipiellen Unterschied des heutigen städtischen Bürger-

rechttJ vom antiken hervorzuheben, da.rauf hinwies, daß gerade die ersten Stände, Adel,
Geistliche, Gelehrte und freie Künstler, es verschmähen, städtische Bürger zu sein und genannt
zu werden, während man sich im Altertum für unfrei hieU, wenn man nicht civis war; ebd., 73.
Das traf nur für die Spätphase der alten „bürgerlichen" Gesellschaft zu, in der sie sich zur
Ständegesellschaft umbildete.
m Ebd„ Bd. 4 (1829), 517 f.
186 Intere8sa.nt beeonders durch die Entgegengestellung zum „Untertanen" im älteren

Sinn, den Gutsuntertanen. Vgl. ALR § 147, II, 2; Codex Theresia.nus (1766), 2, 3, 17, wo
ebenfalls ein allgemeines Staatsbürgerrecht int.endiert ist.

702
IV. 8. 'Bürger', 'Staatsbürger' uncl 'Untertan' 1790-1830 Bürger.

Kindern eines öste"eickische.n St.aal.sbil.1(/e.rs dmr.h. difl Gtilr111rt ei,gen. Nach dem
preußischen Landrech~ ergab sich der Unterschied der drei großen Stände des Staats
- Adel, Stadtbürger, Bauern - fo<liglich aus der Art ihrer Ileschäftigurig und
Bestimmung; zum Bürgerstand, der alle diejenigen umfaßte, die nach ihrer Geburt
weder zum Adel noch zum Bauernstand gezählt werden konnten 137, gehörten so
verschiedene Gruppen von Staatsbewohnern, daß von einer festen Standschaft oder
„Genossenschaft" im politischen oder „sozialen" Sinne (der Ständelehre des frühen
19. Jahrhunderts) nicht die Rede sein konnte. Einziges Standesmerkmal war
eigentlich nur die Gleichheit des Untertanenverhältnisses138, was jedoch auf die
übrigen Stände genauso zutraf. Das setzte sich in den Edikten der preußischen
Reformzeit fort, wo der Begriff des Staatsbürgers ausdrücklich Verwendung fand.
So erklärte das Edikt über die Emanzipation der Juden (1812) diese für Einländer
und Preußische Staatsbil.rger (§ 1)139 • Vom Staat und seinem Herrscher her gesehen
erschienen die Staatsbürger freilich als Untertanen; die Emanzipation war nicht
ihr eigenes Werk, sondern das des Staates. Daher waren die preußischen Edikte all-
gemein an die „getreuen Untertanen" gerichtet. Der Souveränitätsanspruch des
Herrschers erschien nach 1815 als „monarchisches Prinzip", das nach § 57 der
Wiener Schlußakte (1820) für alle Staaten des Deutschen Bundes verbindlich war.
Dementsprechend Wurden schon die Verfassungen Bayerns und Badens von 1818
für un.sere Untertanen erlassen, ebenso die Verfassungen von Kurhessen und
Sachsen (1831 ). 1n Deutschland, merkte. EDUARD GANS 1832 in seinen „Vorlesungen
über Europäisches und ins Besondere Deutsches Staatsrecht" an, sind die Staats-
lYürger :noch Untertanen, bloß ein Fürst, der Großherzog von Baden, hat sie Staats-
angehörige genannt 140• Die Feststellung entsprach den Empfindungen des liberalen
Bürgertums, das von der fürstlichen Bürokratie bedrückt wurde. Doch waren in
den Verfassungen neben dem allgemeinen Untertanenrecht (Indigenat) staats-
lYürgerliche Rechte überall anerkannt, so daß gelegentlich auch von 'Staatsbürgern'
die Rede warm. Die bayerische Verfassung unterschied das lndigenat (Staats-
angehörigkeit), das den vollen Genuß aller lYürgerlichen, öffentlichen und Privatrechte

187 ALR § 1, II, 8. Vgl. da.zu REINHABT KoSELLECK, Preußen zwischen Reform und Revo-

lution (Stuttgart 1967), 52ff. 78ff. 89 u. Exkurs II über die Mehrschichtigkeit des recht-
lichen Sprachgebrauchs und dtll!lltln Wandel, 660 ff.
188 Vgl. MrrrEBMAIEB, .Art;. Bürgerstand, RO'l.'TECK/WELCKEB Bd. 3 (1836), 153.
188 Zit. ERNST RUDOLF HUBER, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1

(Stuttgart 1961), 45. Vgl. auch die Verordnung über den Landsturm (1813), §§ 1. 5, zit.
ebd., 51; Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volks (1815), § 4, zit. ebd.,
56. - Die zeitgenössischen Interpreten machten wie selbstverständlich vom Staatsbürger-
begriff Gebrauch, so HEINRICH v. KLEIST, Berliner Abendblätter 1 (1810), 200.
l&e EDUARD GANS, Vorlesungen über Europäisches und ins Besondere Deutsches Staats-
recht (Berlin, Sommer 1832), nachgeschrieben und durchgesehen von Immanuel Hegel,
Bestand des Juristischen Seminars der Universität Heidelberg, S. 134. GANS bezieht sich
offenbar auf die Badische Verf88Bung (1818), Art. 1, § 2, zit. HUBER, Dokumente, Bd. 1,
157.
m Bayrische Verf88Bung, Präambel 4, §§ 2. 9; 10, § 3; Badische Verfassung 1, § 2; 2, §§ 7.
9; 3, § 36; Kurhessische Verfassung 3, § 22; Sächsische Verfassung 3, §§ 25. 33; 7, § 78. Zit.
HUBER, Dokumente, Bd. 1, 141 f. 147. 155. 157 f. 161. 203 f. 228. 236.

703
Bürger IV. 8. 'Bürger', 'Staatshürger' und 'Untertan' 1790-1830

mit sich brachte, vom engeren Staatsbürgerrecht, das den· volljährigen und in
Bayern ansässigen Indigenen zukam. Ebenso trennten die badische und die sächsi-
sche Verfassung Staatsbürger von 'Landesangehörigen' (Baden) bzw. 'Landes-
einwohnem' (Untertanen). Die kur~essische Verfassung von 1831 kannte die
Unterscheidung von Staatsangehörigkeit, Ortsbürgerrecht in Stadt- und Land-
gemeinden und Staatsbürgerrecht, das zu ößentlichen Ämtern und zur Tei,lnakme
an der Volksvertretung berechtigte142. Bemerkenswert ist, daß der 'Staatsbürger'
in den Verfassungen von Württemberg (1819) und Sachsen-Coburg, in Ländern
also, wo es bisher noch keine „staatsbürgerlichen" Rechte gab, stärker hervor-
trat143.
Die 'Untertanen' oJer 'Staatsbürger' besaßen alle bürgerlichen Rechte, d. h. für
sie galten gleichmäßig das Privat- und Strafrecht und die verfassungsmäßig fest-
gelegten Grundrechte. Die ständischen Sonderrechte der alten bürgerlichen Gesell-
schaft wurden langsam außer Kraft gesetzt. So waren durch die preußischen
Reformedikte die Schranken des Grundbesitzerwerbs beseitigt worden; die recht-
liche Scheidung von adligen, bürgerlichen und bäuerlichen Gütern wurde aufge-
hoben, ebenso das Verbot für den Adel, einen bürgerlichen Beruf auszuüben. Ähn-
lich gestaltete sich in den anderen Staaten des Deutschen Bundes die Vereinheit-
lichung der bürgerlichen zur „staatsbürgerlichen" Gesellschaft144• In einigen süd-
deutschen Ländern wurden zu dieser Zeit durch neue Gemeindeordnungen auch
die bisherigen Unterschiede zwischen Vollbürgern und Beisassen oder Schutz-
verwandten aufgehoben145• Allmählich verschwand die ältere Bedeutung von
'füirger' (= privilegierter Stadtbewohner, dessen private und öffentliche Rechts-
stellung sich aus seinem Verhältnis zur städtischen Korporation ergab); wenn jeder-
mann überall im „Staat" Gewerbe treiben durfte, wenn die Stadt vor den Land-
gemeinden keine Vorrechte besaß, entfielen die traditionellen Gegensätze148, die
den Begriff bisher bestimmten.

u2 Zit. HUBER, Dokumente, Bd. 1, 203 f.


143 Württembergische Verfässwig (1819), 3, §§ 19, 21-22. 32. 34---35. 62-63. 132, zit.
HUBER, Dokumente, Bd. 1, 173 f.
1 " Klassisches Beispiel ist hier die landständische Verfassung des Großherzogtums Sach-

sen-Weimar von 1816, wonach zur Repräsentation der „Staatsbürger" neben dem Stand
der Rittergutsbesitzer (11, davon 1 die Universität Jena) und Bürger (10) auch dor Bo.uorn-
stand (10) zugelassen war. Die Rittergutsbesitzer konnten auch bürgerlicher oder bäuerli-
cher Herkunft sein; der Landmarschall durfte allerdings nur aus ihrer Mitte gewählt wer-
den.
m Vgl. Badische Gemeindeordnwig v. 31. 12. 1831, § 2; Württembergische Gemeindeedikt
(1822), § 6; Kurhessische Gemeindeordnwig (1834), § 54.
148 Vgl.MrrTERMAIER,Art.Bürger,ERSCH/GRUBERl.Sect„Bd.12(1824),364f.mitdemHin-

weis auf den Einfluß, den die französische Gesetzgebwig nach 1800 in den rheinischen Pro-
vinzen ausgeübt habe, wo der Bauer ebenaowohl. sich Bürger nennt. Inwieweit auch die lokale
Amtssprache der preußischen Monarchie nach 1807 die neuen Begriffe aufnahm,.zeigt eine
Meldung bei HEINRICH v. KLEIST, Berliner Abendblätter 2 (1811), 203 über die allgemeine
Militär-, Konskriptions- und Dispensations-Verordnung für das Großherzogtum Fr11:nk-
furt: Dem. Grundgesetze gemäß ist jeder Staatsbürgers- und U ntertanasohn, ohne Unterschied
des Standes und der Religion, zur Leistung der Kriegsdienate verpflichtet ... Die Konskrip-
tion umfaßt alle Staatsbürgers- und Untertanssöhne vom 19. bis zum 25. Jahre.

704
IV. 8. 'Bürger', 'Staatshürgv' -·'Untertan' 1790-1830 Bürger

Unser jetziger Sprachgebrauch, sagte K. F. EICHHORN in seiner „Einleitung in das


deutsche Privatrecht" (1829), bezeichnet mit dem Ausdruck Bürgerstand zunächst
nicht dieses bestimmte Verhältnis, sondern gewöhnlich nur deri Gegensmz des Adel-
und Bauernstandes. Weder das Wort dritter Starµ],, das aus Frankreich zu uns herüber-
gekommen ist, noch das Wort StaoJ,sbürger, mit welchem in einigen der neuesten Ge·
setzgebungen der Zustand der erlangten allgemeinen Rechtsfähigkeit eines Einheimischen
ohne Rücksicht auf dessen Modifikation durch besondere Standesverhältnisse bezeichnet
wird, drückt daher ganz den Begriff des Bürgerstandes in jenem Sinne aus147•
Erst mit der Aufhebung des „bestimmten Verhältnisses", d. h. dem Schwinden der
privilegierten Rechtsstellung des Bürgers, ist die moderne, einheitliche, „staats-
bürgerliche" Bedeutung des Begriffs erreicht, die Eichhorn richtig den „neuesten
Gesetzgebungen" vorbehielt. Wesentlich verwickelter lagen die Verhältnisse in
Preußen. Hier war das Staatsbürgerrecht vom ALR intendiert; aber die positive
Bestimmung fehlte, so daß eigentlich, wie die Anhänger einer Revision der preußi-
schen Gesetzgebung anmerkten, jeder ein Preuße ist, den die Lust anwandelt, es zu
sein148• Dazu kam, daß die Städteordnung von 1808 den Gegensatz des Stadtbürger-
tums zur „Schutzverwandtschaft" nicht aufgehoben, sondern nur der Bürgerschaft
weitgehende Selbstverwaltungsrechte eingeräumt hatte. Durch die Steinsehe Re-
form war, nach dem Wort von EDUARD GANS; in Preußen das Stadtbürgerrecht zu
einem Surrogm des bis jetzt noch fehlenden Staatsbürgerrechts gemacht worden 149 •
Man kann sagen, daß vor 1840 nur sehr wenige deutsche Staaten den Weg zur
„staatsbürgerlichen Gesellschaft" wirklich beschritten haben. Nicht nur, daß
Länder wie Preußen, Sachsen, Hannover die alte Gemeindeverfassung mit der
Trennung von den Landgemeinden einerseits, der 'Schutzgenossen' von den
'Bürgern' andererseits, noch lange beibehielten - man griff auch, um die „staats-
bürgerliche" Emanzipation der Gesellschaft einzudämmen, ganz bewußt auf die
ältere Terminologie zurück, so im Patent zum Regierungsantritt König Ernst
Augusts von Hannover (1837), das den Protest der „Göttinger Sieben" auslöste.
Es wandte sich an alle Unsere Königlichen, geistlichen und weltlichen Diener, Va-
sallen, Landsassen und Untertanen, forderte von ihnen schuldige Dienstpfiicht,
Treue und Gehorsam und versicherte sie der Königlichen Huld und Gnade und
Unseres Landesherrlichen Schutzes 160. Diese archaisierende Redeweise, die von der
bürgerlichen Öffentlichkeit als „reaktionär" empfunden werden mußte, kehrte in
weniger massiver Form während der vierziger Jahre bei Friedrich Wilhelm IV.
von Preußen wieder161 • Beide Monarchen erwiesen sich als gelehrige Schüler des
Verfassers der „Restauration der Staatswissenschaft" (1816/20); denn CARL LuD-

147 Vgl. KARL FRIEDR. EICHHORN, Einleitung in das deutsche Privatrecht (Göttingen 1829),

196f.
148 Vgl. EDUARD GANS, Beiträge zur Revision der Preußischen Gesetzgebung (Berlin

1830/32), 287 f.
u 9 Ebd., 288. Dazu KosELLECK, Preußen, 560 ff.
uo Vgl. HUBER, Dokumente, Bd. 1, 248 f.
m Vgl. M.aterialien zur Regierungsgeschichte Friedrich Wilhelms IV. (Königsberg 1842),
76; Thronrede zur Eröffnung des ersten Vereinigten Landtags, zit. KARL BIEDERMANN,
Geschichte des ersten preußischen Reichstages (Leipzig 1847), 17 ff.

45-90385/1 705
Bürger IV. 9. ,,Bürger", ,,Memeh", ,,Privatperson": Hegel

WIG VON HALLER vertrat schon zu einer Zeit, als die Verfassungen von Baden,
Württemberg und Bayern eben erlassen worden waren, die Auffassung, man solle
überhaupt nicht von Bürgern odCr Staatsbürgern reden, sondern, wie, es ehemals
geschah, im Eingang ie.<lßr landesherrlichen Verordnung die verschiedenen Klassen
von Untertanen aufzählen, damit ein jeder erkenne, in welchem Verhältnis er gegen
den Fürsten stehe152 •

9. Das Verhiltnis zwischen „Bürger", „Mensch" nnd ,,Privatperson": Hegel


Gegen diese „personale" und patrimonial-ständische Konzeption der Restaura-
tionszeit hat HEGEL in seinen „Grilndlinien der Philosophie des Rechts" (1821)
ebenso Stellung bezogen wie gegen die Theorie des „Staatsbürgerrechts", womit der
zeitgenössische Liberalismus seine Forderungen nach einer erst noch zu schaffenden
„K-onstitution" begründete. Beide Richtungen wurden von einem Bürgerbegriff
unterlaufen, der, wie Hegel zuerst erkannt hat, geschichtlich mit der Gestalt der
heraufkommenden „bürgerlichen" Gesellschaft verbunden war. Seine Rechts-
philosophie ließ den 'Bürger' weder hinter der patrimonialen Terminologie ver-
schwinden noch einseitig in der Abstraktion des Staatsbürgers aufgehen, sondern
entwickelte seinen spezifisch modernen Begriff, den des 'Bürgers' als „Privat-
person". Sie brachte die der liberalen Theorie hinter dem Interesse an der „staats-
bürgerlichen" Emanzipation noch verborgene, sie in Wahrheit aber erst begrün-
dende epochale Umwälzung aller gesellschaftlichen Institutionen und Vorstellungen
voll zu Bewußtsein, die mit der Erklärung der Menschenrechte von 1789 und der
gleichzeitigen Konstituierung des modernen „Industriesystems", (Adam Smith)
anhob. Der Abstand der Regelsehen Begriffsbildung zu jener der konstitutionellen
Theorie, deren Ursprünge noch im Naturrecht des lß. Jahrhunderts lagen, wurde
an der unterschiedlichen Fassung des Verhältnisses von 'Mensch' und 'Bürger'
sichtbar. Nach der Theorie des neuzeitlichen Naturrechts, die in den Menschen-
und Bürgerrechten der nordamerikanischen und Französischen Revolution kodi-
fiziert wurde, war der Mensch als Mensch Mitglied der großen Gesellschaft des
Menschengeschlechts (societas generis humani), eine Stellung, die ihm die Vernunft
selber zuwies; als 'Bürger' gehörte er zur bürgerlichen Gesellschaft im Sinne
des Staates (civiLas sive 1:1ucieta1:1 civilis), dessen positiv geltenden Gesetzen er unter-
stellt war. Hegel erkannte, daß die Trennung zwischen 'Mensch' und 'Bürger', an
der die Rechtskodifikationen der Revolution und das ihnen folgende Selbstver-
ständnis der liberal~konstitutionellen Verfassungstheorie festhielten, in der ge-

lH CARL LUDWIG v. HALLER, Restauration der Staatswissenschaft, 2. Aufl., Bd. 3 (Win-


terthur 1821), 97 f. Hallers Verachtung galt der Terminologie des ALR, insbesondere den
'Bürgern' und 'Schutzverwandten'; vgl. ebd., Bd. 1(1820),198, Anm. 171: Was das für
Ausdrücke aindl Die Preußiache Republik hatte alao auch achon, wie die Römiache, ihre Bürger
und Schutzverwandten. Wer aind die Civea, wer aind die Socii? Auf diese Seite des Ha.ller-
schen Werkes wies HEGEL nachdrücklich hin. Das ALR, argumentierte er, wurde von
Haller vornehmlich deswegen so heftig bekämpft, weil darin vom Staate, Staatavermögen,
dem Zwecke dea Staata, vom Oberhaupt dea Staata •.• , Staatadienern ua/. die Rede war;
Rechtsphilosophie, § 258, Anm.

706
IV. 9. ,,Bürger", „Mensch", ,,Prtvatpenon"a Hegel Bürger

schichtlichen Wirklichkeit einer VereinigWlg Platz gemacht hatte. Die Rechte des
Menschen erwiesen sich als Rechte des Bürgers, sofern er Mitglied der vom Staat
getrennten (modernen) „bürgerlichen Gesellschaft" war. Nach Hegels Darstellung
war der Mensch des Naturrechts, der Repräsentant der menschlichen Gattung,
eingeschmolzen in ihre natürliche Bedürftigkeit, in das Konkret,um der Vorstellung,
das man Mensch nennt. Dieses Konkretum. des Menschen, weit davon entfernt,
die menschliche Gattungsvernunft zu repräsentieren, unterlag ·dem Mitglied der
bürgerlichen Gesellschaft, dem Bürger als 'bourgeois', wie Hegel erläuterte153• Als
bloßer, d. h. natürlicher Mensch, :war der Mensch Bedürfniswesen, und als Bedürf-
niswesen war er Privatmensch. 'Mensch' und 'Bürger' standen sich nicht mehr,
wie im 18. Jahrhundert, gegenüber, sondern der 'bourgeois' enthielt den Menschen
in sich.
Das ist der eigentliche Kern jener Umwälzung, an deren Beginn, mit der Erklärung
der Menschenrechte der Französischen Revolution, die Freiheit des Menschen als
Monsohen zum Grund der Verfassung von Staat und GeeelIBchaft gesetzt wurde.
Damit erlangte ein Rechtszustand Wirklichkeit, in dem der Mensch galt, weil er
Mensch, und nicht, weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener, usf.
ist154• Der Mensch ...,..- das war, wie Hegel sagte, keine ßacke, abstrakte Q·ualilät,
sondern beinhaltete, als rechtliche Person in der bürgerlichen Gesellschaft zu gelten 155,
Subjekt des Privatrechts, des „bürgerlichen" Rechts zu sein.
Soweit man den Nachschriften folgen darf, leitete Hegel in seinen Vorlesungen
diesen Abschnitt der Rechtsphilosophie mit dem Hinweis auf den französischen
Begriffsgegensatz 'citoyen'/'bourgeois' ein: Die bürgerliche Gesellschaft hat zu ihrer
Grundl,age, ihrem .Ausgangspunkt das besondere Interesse ileJr bu1'ivid•uen. Die Fran-
zosen machen einen Unterschied zwischen bourgeois und. citoyen; das erste ist das
Verhältnis des Individuums in einer Gemeinde, in Rücksicht der Befriedigung seiner
Bedürfnisse, hat so keine politische Beziehung, diese hat erst der citoyen. Hier bet,rach-
ten wir nur die Individuen als bourgeois 156 • Der Gegensatz spielte bereits im po-
litischen Denken des jungen Hegel eine große Rolle; hier wurde der 'citoyen' ge-
schichtlich mit der attischen Polis, das Aufkommen des 'bourgeois' mit dem Unter-
gang des republikanischen Rom in Parallele gesetzt157 • Gelegentlich bezog Hegel
das Verhältnis auch auf das alte Reich, auf das Begriffspaar 'Spieß- und Reichs-
bürger', was aber sicherlich eine wehr ironisch gemeinte Erläuterung war - Aus-
druck der von ihm gleichfalls konstatierten Schwierigkeit158, den französischen
Gegensatz im Deutschen angemessen wiederzugeben: Beide Individualitäten (sind)

168 HEGEL, Rechtsphilosophie, § 190, Anm.


lH Ebd„ § 209, Anm.
165 Ebd„ § 270, Anm.
1 68 Philosophie des Rechts, vorgetragen von Professor Hegel (Winter 1824--25), Nachschr.

v. Griesheim, im Besitz der Preuß. Staatsbibliothek Berlin, Tl. 2, 81.


117 Vgl. HEGEL, Wissenschaftliche Beha.ndlungsa.rten des Na.turrechts (1802/03), SW Bd. 1

(1927), 499.
168 Vgl. ders„ Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Tl. 2, SW Bd. 18 (1928),

400: bürgerliche Freiheit (für bourgeoia und citoyen haben wir nicht zwei Worte) iBt ein not-
wendigea Moment, das die alten Staaten nicht kannten. '

707
B~er IV. 9• ..Biiqer", ,.,Mensch„, ~Tatperson": Hegel

... dieselben. Derselbe sorgt far sich und seine Familie, arbeitet, schließt Verträge
usf. und ebenso arbeitet er auch für das Al"lgemeine, hat dieses zum Zwecke. Nach fener
Seite heißt er bourgeO'is, nach dieser vituyen. Am R11.mle lllerkte Hegel dazu an:
Spieß- und Reichsbürger, einer so sehr formaler Spießbürger als der andere159•
Es gehört zu den bleibenden Einsichten Hegels, daß der Bürgerbegriff nicht
losgelöst werden kann von der geschichtlichen Bewegung, in die er jeweils ver-
schränkt ist. Der 'Bürger' galt ihm nicht abstrakt als 'Staatsbürger', sondern er
konnte, sofern er Bürger dieses Staats war, zunächst nur 'Privatperson' sein:
Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche· ihr eigenes
Interesse zu ihrem Zwecke haben 166• Die Vermittlung mit dem Staat, die eines der
zentralen Probleme der Regelsehen Staatslehre bildete (§§ 288 ff.), war nicht eine
„Begriffsbestimmung" dieser Personen, sondern der „Stände", Landstand (Adel,
Bauern) - Gewerbestand (Handwerker-, Fabrikanten-, Handelsstand) - Be-
amtenstand, die ihre „gesellschaftliche" Wirklichkeit waren. Wie Hegel es einer-
seits peinlich vormiod, dio Personen als 'Staatsbürger' zu bezeichnen, so vermied
er andererseits, den „Stand des Gewerbes" 'Bürgerstand' zu nennen161 ; denn als
die ihre eigenen Interessen verfolgenden 'Privatpersonen' waren die Mitglieder der
einzelnen Stände insgesamt 'Bürger'. Dieser Begriff war ebenso universell wie der
des 'Menschen', in dem er seine Baais l1attP.. AhP.r 1'1P.r l\fonAr.h w1i.r Privatmensch,
Subjekt des Rechts der bürgerlichen Gesellschaft und nicht des Staates. Politische
Bedeutung konnte der bürgerliche „Privatstand" erst durch die Vermittlung des
ständischen Elements erlangen. Nach Hegel war es die eigentümliche Begriffsbestim-
mung der Stände, daß in ihnen das subfektive Moment der allgemeinen Freiheit, die
eigene Einsicht und der eigene Wille in der Sphäre, die in dieser Darstellung bürger-
liche Gesel"lschaft genannt worden ist, in Beziehung auf den Staat vwr Ewistenz lcommt162•
Die Bestimmung, Mitglied des Staats zu sein, blieb abstrakt, wenn die Privatperson
nicht Mitglied eines solchen Standes, einer Genossenschaft, Gemeinde, Korporation,
war163• In deren „politischer" Gliederung sollte sich die Differenz von 'bürgerlicher

in Ders., Jenenser Realphilosophie II. Die Vorlesungen von 1805/06, hg. v. Johannes Hoff-
meister (Leipzig 1931), 249. - Der Begriff 'Spießbürger', möglicherweise eine mittelalter-
liche Bezeichnung des wehrhaften Stadtbürgers, ist mit Sicherheit erst seit de:oi. 17. Jahr-
hundert belegt; KLuGEjMrrZKA. 19. Aufl.. (1963), 727. Der ursprünglich studentische Spott-
name wurde im 18. Jahrhundert verallgemeinert: Jetzt braucht man ea nur in veriichtlickem
Ver8tand von einem jeden geringen Bürger; .ADELUNG Bd. 4 (1780), 582.
Ho HEGEL, Rechtsphilosophie,§ 187.
181 Vgl. dagegen noch Jenenser Realphilosophie II, 255 f. In der Rechtsphilosophie erachien

der Gewerbestand als die bewegliche Seite der bürgerlichen Geaelhchaft (§ 308), ~ eine Kenn-
zeichnung, die auch sonst zu dieser Zeit bei der Gegenüberstellung von Adel (Grundbesitz)
und Bürgerstand (Gewerbe) begegnet. Vgl. auch FRIEDRICH ScBLEIERllliCHER, Die Lehre
vom Staat (1829), SW 3. Abt., Bd. 8 (1845), 55; KABr. Vo:r,LGRAFF, Die Täuschungen des
Repräsentativ-Systems (Marburg 1832), 68 f.
m HEGEL, Rechtsphilosophie,§ 301. Vgl. auch§ 300.
168 Ebd., § 308. Die „Abgeordneten" der bürgerlichen Gesellschaft sollen. nicht, wie die

konstitutionell-liberale Theorie wollte, Repräsentanten einer „Menge" (des „staatsbürger-


lichen" Wahlvolks), sondern einer der weaentlichen Sphiiren der GeaeU,.,ehaft, Reprä8entanten
ihrer großen Intereasen sein(§ 311). Vgl. schon: Ober die Verhandlungen der württember-

708
IV. 10, Domo.kmtischo und koll801'Votivo Theorie Bürger

Oesell8chaft' und 'Staa.t', 'bourgeois' und 'citoyen' so „aufheben", daß die von der
konstitutionell-liberalen Theorie geforderte, unter den Bedingungen des modernen
Staatslebens aber nicht realisierbare Erweiterung der 'Privatperson' zum 'Staats-
bürger' hinfällig wurde164.

10. 'Staatsbürger' und 'Bürger' im Spannungsfeld revolutionär-demokratischer und


konservativ-romantischer Theorie: Buchholz, Müller

Im Unterschied dazu bildete für die bürgerlich-liberale Bewegung jene in Hegels


Vermittlungstheorie gleichsam umgangene Erweiterung gerade das Kernproblem
in der Bestimmung des Begriffs. Ansatzpunkt aller Erwägungen über „Staats-
konstitutionen" war die Ausschaltung des „ständischen Elements", womit die
Hegelache Rechtsphilosophie an den vonevolutionä:ren Ve:rfässungszl.lStand a.nzu-
knüpfen vermochte. Voran ging hier die radikale Richtung des Liberalismus, die
sich in den Jahren nach 1814/15 zu Wort meldete. Sie stellte dem älteren Begriff
der Landstandschaft die neue Idee der Repräsentativverfassung, dem aus einem
Aggregat von Korporationen gebildeten Gemeinwesen die Mitgliedschaft in einer
allgemeinen Gesellschaft, Staat genannt, gegenüber: Edelmann, Bürger, Bauer, hieß
es bei Fnmnmon Buonnou1, sind in. Ber-iehun.g auf sie antiquierte Benennungen.,
welche gar nichts sagen, da alle diese Mitglieder der National-Repräsentation nicht
mehr in ikter Eigenschaft als Teilnehmer an einer Korporation, sondern als Staats-
bürger auftreten165 • Diese Benennungen mögen sich nach Buchholz in anderer Hin-
sicht behaupten, so lange sie können; in Ansehung der Repräsentativverfassung,
der Teilnahme an der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung, gelte vom Mit-
glied eines Standes nichts außer seiner FIJhigkeit, dazu mitzuwirken, oder, mit an-
deren Worten, der höhere fkad seines Bewußtseins als Staatsbürger 186 • Die Idee

gischen Landstände (1816), SW Bd. 6 (1927), 369 ff., vor allem a.ber die Auseinandersetzung
mit der liberalen Theorie in der 2. Ausg. der „Enzyklopädie der Philosophischen Wissen-
schaften" (1827), § 544, SW Bd. 10 (1929), 420 ff., bei der ebenfalls betont von Bürgern im
St,a,a,t (und nicht „Sta.a.tsbürgern") die Rede ist.
184 An iliesem Punkt. setr.t.e sowohl die Kritik der liberalen Bewegung ein - RoTTECK/
WELCKER Bd. 15 (1843), 59 - , wie auch derjenigen unter Hegels Schülern, die dem Vor-
märzliberalismus am nächsten standen. Typisch die Feststellung von .ARNOLD RuGE, Aus
früherer Zeit, Bd. 4 (Berlin 1867), 381: Hegel fehlt der Begriff des Swtabürgers, zu dem sich
je,der selbst bestimmt, indem er denkend und handelnd in die allgemeine Entwicklung mit ein-
tritt. Die Beobachtung ist sachlich richtig. Selbst wenn HEGEL das Wort 'Sta.a.tsbürger'
verwendet, hat es in der Regel keine bestimmte Prägung; vgl. schon: Theologische Jugend-
schriften 1795---1800 (Tübingen 1907), 174. 197, ferner: Die Verfassung Deutschlands
(1802), in: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, hg. v. Georg Lasson, 2. Aufl.
(Leipzig 1923), 10. 12. 22. 26. 28; Über die Verhandlungen der württembergischen Land-
stände (1816), SW Bd. 6 (1927), 372; Bericht a.n das Königl. Preußische Ministerium des
Unterrichts v. 7. 2. 1823, SW Bd. 3 (1927), 334.
16b .lfRIEDRICH .BUCHHOLZ, Journal f. l>eutschla.nd 2 (1815), 314 ff. 320 ff.
188 Ebd., 324. Vgl. schon JAKOB FRIEDRICH FRms, Philosophische Rechtslehre (Jena. 1803),
132, für den je.der Eingeborene im Volke Swtabürger ist. Da.ß mit der Aufhebung der Leib-
eigenschaft die Grenze zwischen Bauer und Bürger, Stadt und La.nd entfalle, vermerkt
LORENZ ÜKEN, Isis 10 (1817).

709
Bürger IV. 10. Demokratische und konservative Theorie

einer allgemeinen und gleichen, alle Stände umfassenden Staatsbürgerschaft war


in Deutschland vor allem mit den Befreiungskriegen zum Bewußtsein gelangt;
die Wandlung der Militärmacht durch „Volksheere" und Volksbewaffnung schloß
die Anerkennung „staatsbürgerlicher" Rechte von Seiten der Fürsten in sich.
Auch hier sah man die preußische Heeresreformen als Muster und Vorgriff in die
Zukunft an, etwa wenn in der von HEINRICH LUDEN herausgegebenen Zeitschrift
„Nemesis" (1814) die These vertreten wurde, jeder Staats"bürger müsse Soldat, das
ganze Volk stehendes Heer sein und jeder Zivilbediente, unabhängig von seinem
Stand, einen Grad und Rang als Offizier haben167• '
Gegen diese Verneinung aller ständischen Unterschiede, die nicht zuletzt im
Militärwesen jener Zeit eine erhebliche Rolle spielten, wandten sich, z. T. schon
vor 1815, die Anhänger der romantisch-konservativen Theorie. Hier gewann das
bei Hegel nur mittelbar in Erscheinung getretene „ständische Element'' für die
Bestinimung des Bürgerbegriffs eine unmittelbare Bedeutung. Obwohl zum großen
Teil selbst „Bürgerliche", verteidigten die Romantiker die Rechts- und Standes-
privilegien des Adels. Sie lehnten das Wort 'Bürger' als Bezeichnung der vor dem
„Staat" gleichberechtigten „Staatsbürger" ab und versuchten statt dessen, seinem
„ständischen" Sinn zu neuem Ansehen zu verhelfen. So wollte ADAM MÜLLER
in seiner Auseinandersetzung mit dem tiers etat der Französischen Revolution
„ beweisen", daß der Bürger ein unentbehrliches Etwas im Staate ist, was die Schmeich-
ler dieses Standes nicht vermochten; ich will beweisen, daß er ein Stand ist, und so
brauche ich den Adel, um meinen .Stand zu erkennen und zu vergleichen: ich will und
kann kein Bürger sein, wenn alles Bürger sein soll1 68 • Zu diesem Zwecke griff Müller,
wie alle Romantiker vor und nach ihm, auf das Mittelalter, den altdeutschen Bürger- ·
ue.i.st v.uriick, dem er die „Allerweltsbürgerlichkeit" der Neuzeit, den Gottesdienst
der Industrie und des reinen Einkommens gegenüberstellte169 • Die Folge war auch
hier, daß der so verstandene Bürgerbegriff historisch aufgeladen wurde. Dem
„sozialen" Spannungsverhältnis zum Adel entsprach das zeitliche von Gegenwart
und Vergangenheit; der romantische Versuch, den Adel im Bürgerleben zu restau-
rieren, führte bei den Romantikern entweder zur Dichtung oder zum Historismus,
weil diese „Gestalt" des Bürgers unwiederbringlich entschwunden und daher nur
geschichtlich zu „finden" war, - in dem Miuelalter, in den Reichsstädten meines
Vaterlandes 170•

117 Preußen als militärischer Musterstaat, Nemesis 3 (1814), 100 f.


118 AnAlll MÜLLER, Die Elemente der Staatskunst (1809), hg. v. Jakob Baxa, Bd. 1 (Jena.
1922), 305. Über seine Auseinandersetzung mit Buchholz vgl. ebd., 15. 186. 309; Bd. 2
(1922), 285 :ff. Anders bestimmt ÜKEN, der dem Kreis um Luden nahestand, das Verhältnis
von 'Ader .und 'Bürger': Ei,gentlich nur der Bürgerswmd ist der wahre Volksstand, .Adel
et"hebt aich über da& Volk und der Gelehrte steht als Mittler dazwischen; Isis 10 (1817).
189 MÜLLER, Staatskunst, Bd. 1, 302. 306. Die Romantisierung des mittelalterlichen Bür-

gertums geht auf Ludwig Tieck und W. H. Wackenroder zurück. Auch bei TIECK begegnet
die Frage, ob es denn nicht mögUch aei, eine .Art von Bürgeradel oder eine begründete Bürger-
lichkeit zu atiften,· Ges. Novellen, Bd. 3 (Berlin 1853), 253. Vgl. JosEPH FRH. v. EicHEN-
DORFF, Werke u. Sehr., Bd. 2 (1958/59), 1041 f.
110 MüLLER, Staatskunst, Bd. 1, 305, vgl. vor allem 311 :ff.

710
IV. 11. Konstitutionell-liberaler Bürgerbegriff Bürger

11. Geschichtliche Legitimierung und „sozia1r." Gr.gr.m1iitzll im konstitutionell·


liberalen Bürgerhegrift': RotteckfWelcker

Der Einbruch des geschichtlichen Bewußtseins war für die Struktur des Bürger-
begriffs in der Zeit nach 1815 charakteristisch. Das galt besonders für die liberale
Theorie, die nun umgekehrt den Begriff des Staatsbürgers historisch zu bestimmen
suchte. Während der Historismus der Romantiker nur negativ, die Entdeckung
der Vergangenheit Mittel zur Distanzierung von Gegenwart und Zukunft war,
übernahm diese bei den Liberalen die Aufgabe einer positiven Begründung der
gegenwärtigen Zustände und ihrer „organischen" Fortentwicklung in die Zukunft.
Im Vordergrund stand der Nachweis 171, daß 'Bürger' schon im 16. Jahrhundert
die neue Bedeutung von „Staatsbürger" zu erhalten begann, die mit der Aus-
bildung der Landeshoheit verknüpft sei. Der geschichtliche Weg des Bürgers be-
schloß sich nicht, wie für die Anhängex der Romantik, in der mittelalterlichen
Stadt, sondern führte über sie hinaus auf den neu.zeitlichen „Staat", dessen „Kon-
stitution" den eigentlichen Mittelpunkt des liberalen Interesses bildete. Als konsti-
tutionelle Staaten wurden diejenigen angesehen, in denen die Bürger als freie
Genossen und Glieiler des regierten Volkskörpers (der sogenannten bürgerlic"hen Ge-
sellschaft) in Erscheinung tratenl 7 2.
Im Unterschied zur Regelsehen Vermittlungstheorie repräsentierten die Bürger
nicht das „ständische Element", sondern, zugleich mit der „poliLi1mh" v„rfu.ßLen
bürgerlichen Gesellschaft, sich selbst als autonome Rechtspersönlichkeiten, d. h.
als „Staatsbürger", die ihre re.chlliche und angeme.ssene Bt.ell1J.'fl{J und GlieÄerung in
Gemeinden, Provinzen, in Volks- und V ertreterversamm.lungen und die hierhin ge-
hörigen sta.a.f.sbii.r(Jerlir.h.en "fi'rt'!l:hR.i.t.~rej.,hJ.e z1J.r Verwirklichung und Vertretung ihrer
Privat- und ihrer Verfassungs- und Konstitutionsrechte gegenüber der Regierung
erhielten. Die mit dem regierten Volkskörper identische bürgerliche Gesellschaft
der Liberalen war selbst politisch „organisi~rt"; ihre Organe waren, neben Gerichten
und öffentlichen Kammern, alle Staatsbürger mit ihren konstitutionellen Rechten
der Petition, der Vereine, der Presse, der Wahlen 1 7 3 • Wie der Begriff des 'Staats-
bürgers' dem des 'Untertanen', so wurde die Lehre von der 'staatsbürgerlichen'

171 MrrTERlllAIER, Art. Bürger, RoTTECK/WELCKER Bd. 3, 149. Dazu auch BLUNTSCHLI,
Art. Bürgerstand, BLUNTSCHLI/BRA.TER Bd. 2 (1857), 302; KARL WELCKER, Art. Stand,
Unterschied der Stände, RoTTECK/WELCKER Bd. 15 (1843), 105 ff.; ders., Das innere und
äußere System der praktischen natürlichen und römisch.christlich-germanischen Rechts-,
Staats- und Gesetzgebungslehre, Bd. 1 (Stuttgart 1829), 327 ff.; ders., Art. Staatsverfas-
sung, RoTTEbK/WELCKER Bd. 15, 24 ff. In der 3. Aufl., Bd. 13 (1865), 568 schreibt J. HELD
am Beginn des Art. Staatsbürger: Der Be,griff von Staatsbürger gehört, wenigBtena in Beinem
8pezifiscken gegenwärtigen Sinne, erBt dem neuem Staatsrecht an, ob er Bich gleich an ältere
Muster anachließt.
172 Vgl. WELCKER, Art. Staatsverfassung, RoTTECK/WELCKER Bd. 15, 59. Vgl. KA:a.t.
STBINACKER, Art. Verfassungsprinzip, ebd., 697; FRIEDR, WILH. AUGUST MUR11ARD, Art.
Staatsverwaltung, ebd., 89; WELCKER, Art. Stand, Unterschied der Stände, ebd~, J32.
1 78 WELCKER, Art, Staat, RoTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 13 (1865), 512; ders., ffllstem,
Bd. 1, 202 ff: (s. Anm. 171). .

711
Bürger IV.11. Konstitutioneß·liheraler Bürgerhegriff

Repräsentation der 'feudalständischen' entgegengesetzt174• Diese galt als eine


Repräsentation von Kasten und KMporationen, wobei der Bürgerstand nur unzu-
länglich vertreten sein. konnte, jene der aUgemeinen StaatslJürgerschaft ohne Ab-
sonderung nach besonderen Ständen. Würde die ständische Verfassung, wie es die
Anhänger der romantisch-restaurativen Theorie forderten, realisiert, so wäre nach
liberaler Auffassung der Krie,g gegen die Privilegierten unvermeidlich. Für den
Staatsbürgerbegriff des deutschen Liberalismus hatte der Gegensatz des Bürgers
zum Adel nichts von seiner Schärfe verloren: die genannte Wendung richtete sich
gegen den Adel, der heutzutage nicht im feindlichen Gegensatz gegen eine freie und
gkiche StaatslJürgerschaft bestehen kann 175 • Zu den wichtigsten Kriterien des liberalen
„Staatsbürgers" gehörte die ökonomische „Selbständigkeit", Verfügungsgewalt
über Ort, Stoff und Werkzeug der Produktion. Mit der daraus abgeleiteten Unter-
scheidung von „aktivem" oder vollem, und „passivem" oder gemindertem Bürger-
recht wurde aber der Staatsbürgerbegriff mit einem Gegensatz behaftet, der die in
ihm entho.ltono rechtliche Universalität einengte. Für die Altliberalen LetiLamleu
hier keine Probleme; sie nahmen als selbstverständlich hin, daß, wie sehr man den
Kreis des aktiven Bürgerrechts ausdehne, immer noch gar viele im. Volk (wegen
natürlicher Unwürdigkeit oder Unfähigkeit) ausgeschlossen bkiben von der zählenden
Stimmgebung 176 • Infolge ilirer ahhii.ngigen Stellung von den Besitzern der Pro-
duktionsmittel waren die Dienstboten, Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter und
Tagelöhner zur Aqsübung des Wahlrechts wüii.hig; uauh liLeraler, bis über die
fünfziger Jahre hinaus verbreiteter Ansicht garantierte nur die Selbständigkeit,
daß sich der Sto.o.tsbürger von der Rücksicht auf das Wohl des Ganzen (nicht von
selbstsllohtigen Motiven) und nur von seiner eigenen inneren Oberzeugung (nicht
von den Einwirkungen and1mw) loit.<m 111.m~r. 177 . nimm Gegenüberstellung mußte der
vom „Bürgertum" ausgeschlossene vierte Stand als ebenso demütigend empfinden,
wie der Bürgerstand die Vorrechte des Adels als Demütigung empfand. Unter diesen

1 7' Vgl. RoTTECK, Art. Konstitution, RoTTECK/WELCKER Bd. 3, 172f.; WELCKElt, Art.

Staatsverfassung, Bd. 15, 75; CARL v. RoTTECK, Lehrbuch des Vemunftrechts und der
Staatswissenimha.ft.en, Rrl. 2 (Stuttgart 1830), 224 ff. Charakteristisch ist, daß es bei ROT·
TECK/WELCKER keinen Art. Untertan gibt. Vgl. auch WAGENER Bd. 19 (1865), 610, Art.
Staatsbürger.
176 WELCKEB, Art. Staatsverfassung, RoTTECK/WELCKER Bd. 15, 78. Zu den typisch
„liberalen" Begriffsbildungen zählten neben 'Staatsbürgerschaft' und 'Staatsbürgerrecht'
auch 'Staatsbürgerstand' (ebd., Bd. 15, Art. Stand) und 'Staatsbürgertum' (ebd., Bd. 15,
690, Art. Verfassungsprinzip).
178 So RoTTECK, Art. Constitution, RoTTECK/WELCKER Bd~ 3, 774; vgl. ders., Lehrbuch,
Bd. 2, 128f.
177 Vgl •. BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 9 (1865), 663, Art. Staatsangehörige, Staatsbürger;
KRuG Bd. 1, 345 f. Doch ~hte das „Staatswörterbuch" von Bluntschli/Brater nach den
Erfahrungen der Jahre 1848/49 Bedenken geltend; wenn man glaube, die letztere Klasse
könne ihr Staatibürge"echt in unruhigen, kritischen Zeiten mi/Jbrauchen, so ist darauf hin-
zuweisen, daß die Gefahr fürs Gemeinwe8en dad,urch nicht verringert wird, daß man diese
Klassen als 1>0litisch mundtot oder handlungB'Unfähig erklärt. Man verweist sie dann von An-
fang an auf den Gebrauch der phyBischen Gewalt (664). Hinweise dieser Art fehlten bei
HELD, Art. Staatsbürger, RoTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 13, 568 ff.

712
IV. 12. Genesis der ,,bürgerlichen" Klas11enterminologie Bürger

Umständen konnte sich ein wertneutraler Staatsbürgerbegriff in der ersten Hälfte


des 19. Jahrhunderts nicht herausbilden. Es war von schwerwiegender Bedeutung,
daß sich der konstitutionelle Liberalismus in Deutschland während der Parlaments-
diskussion von 1848 um die Grundrechte des Menschen und Bürgers nicht mehr
nur mit dem Gegensatz zum Adels-, sondern auch mit dem zum Arbeiterst~nd
konfrontiert sah17B.

12. 'Bürgertum' - 'Staatsbürgertum' - 'Bourgeoisie': zur Genesis der


„bürgerlichen" Klassenterminologie

Die Verbreitung des Wortes 'Bürgertum' geht auf die gleiche Epoche zurück,
welcher der Staatsbürgerbegriff seine Ausbildung verdankt. Obwohl schon während
de1:1 10. uud 17. JahrhuuderLtlm.whwei1:1u1u.1711 , empfuig e1:1 relaLiv 1:1päL, uuLer de111
Einfluß der Ideen über Menschen- und Bürgerrechte, eine feste begriffliche Form,
zuerst wohl bei FICHTE. 'Staat' und 'Bürgertum' waren bei ihm, nach dem klas-
sischen Muster der Identität des „bürgerlichen" mit dem „politischen" Leben (vita
civilis sive politica.), Korrelationsbegriffe: Die Menschheit sondert aich ab i•om Biirger-
tum, um mit absoluter Freilteit swh zur Moralität zu erheben; dies aber nur, inwiefern
tler Mensch durch den Staat hindurchgeht180. Die Gleichsetzung von 'Staat' und
'Bürgertum' blieb auch für die Zeit nach 1800 in Geltung; 'Bürgertum' war hier
zunächst nur ein neues Wort für die alte Bezeichnung 'bürgerliche Gesellschaft'.
Das geht aus einer Stelle von W. T. KRUGS „System der praktischen Philosophie"
(1818) _klar hervor. Eine gegebene Menschenmenge, die man wegen ihrer natürlichen
V erwandt,sckaft ein Volk nennt, konstituiert swh erst dadurch zu einem rechtlichen
Gemeinwesen, . . . daß es diejenige Daseinsform annimmt, welche Bürgertum heißt,
1nitkin sicli zu eitier Bürgergesellsclia/t oder e·inem Staat gestaüetUI. Wie der 'Bürger'
Zum 'Staatsbürger', so konnte sich das 'Bürgertum' zum 'Staatsbürgertum' er-
weitern - auch dies ein Wort, das vorzugsweise vom konstitutionellen Liberalismus

178 Die Gegensätze prallten vor allem in der Diskussion des Abschn. 6, Art. 1, § 132 (Jeder

Deutsche hat das deutache ßf,ao,tsbürge"echt) und Art. 2, § 137 (Vor dem Gesetz gilt kein Unter-
schied der Stände. Der Adel als Stand ist aufgelwben. Alle Standesvorrechte sind abgeschafft.
Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich) aufeinander. Vber die Bedeutung von§ 132 vgl.
Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 2 (1848), 957. Die altliberale Gegenposition formulierte
ROBERT MoHL, ebd., 876: Wir wünschen, daß die Aufnahme in das Sf,ao,tsbürge"echt eines
andern deutschen Sf,ao,tes geknüpft werde an die Unbescholtenheit und den genügenden Unter-
halt dessen, der für sich und seine Familie aufgenommen sein will. Der Gegensatz Adel -
Bürgertum kam bei der Debatte um§ 137 zum Ausdruck; vgl. auch HERBERT ARTHUR
STRAUSS„ Staat, Bürger, Mensch. Die Debatten der deutschen Nationalversammlung
1848/1849 über die Grundrechte (Aarau 1947), 97 ff.
178 RWB Bd. 2 (1932), 615.
18 0 FICHTE, Grundlage des Naturrechts (1796), SW Bd. 3, 206. Bei Fichte waren die Be-

griffe 'Staatsbürgerrecht' und 'Staatsbürgervertrag' die Grundlage seiner. „Staatsrechts-


lehre"; Naturrecht, Tl. 2, §§ 17 ff. SW Bd. 3, 191-209.
1 8 1 KRuG, System, 2. Aufl., Bd. 1 (Königsberg 1830), 324 (s. Anm. 127).

713
Bürger IV.12. Genest. der nhOrgerUchen" Klassenterminologie

aufgenommen und verbreitet wurde181 • Zur gleichen Zeit traten jedoch die .Hegriffe
'bürgerlich', 'zivil' (im Sinne von „privat") unil 'polit.ii:mh', 'Rtaat.abürgerlich' aus·
einander183, und zwar gerade hinsichtlich der GrUn.dworte der „staatsbürgerlichen"
Emanzipation. Die Notwendigkeit einer Unterscheidiµig betonte schon Krug:
Bürgerlich heißt alles, was den Bürger oder das Bürgertum betrifft. Daher nennt man
auch den Staat selbst ein bürgerliches Gemeinwesen oder eine bürgerliche Gesellschaft.
Doch enthält das Wort oft noch eine nähere Bestimmung durch gewisse Beisätze und
Gegensätze. „Beisätze" dieser Art, die seine Bedeutung einschränkten, waren Frei-
heit und Gleichheit; so verstand man unter 'bürgerlicher Freiheit' die Unabhängig-
keit von der Staatsgewalt, die rechtliche Sicherung des Privatlebens durch Gleich-
heit aller vor dem Gesetz, unter 'politischer' oder 'staatsbürgerlicher Freiheit' das
Recht, an ihr teilzuhaben18'. Dem entsprach eine „engere" und „weitere" Bedeu-
tung im Bürgerbegriff, der Unterschied zwischen aktivem und passivem Staats-
bürger, der jetzt einen „sozialen" Charakter anzunehmen begann: Dieser Passiv-
bürger genießt nämlich bloß den Schutz des Staats ·in .Anselvuny seiner Pers()'fl, und
.seines Eigentums. Jener aber nimmt an dem Staatsleben einen tätigen .Anteil, der nach
den Umständen größer oder geringer sein kann186• Überträgt man diese Unterschei-
dung auf das 'Bürgertum' bzw. 'Staatsbürgertum', so ergibt sich .von selbst eine
„1m?.i11.lf~" niff1mm:r.i1mmg in diesem Begriff. Die bereit11 während d&S 18. Jahrhun-
derts getroffene Unterteilung des ständischen Bürgerstandes in 'Groß-' und 'Klein-
bürger'lllU setzte sich fort in der des 'Staatsbürgertums', das in diese beiden „Klas-
sen" auseinanderfiel, wobei zur letzteren nun die preite Masse der „Unselbstän-
digen" ,hinzukam. Der „bürgerliche" Konstitutionalismus, der nach 1815 das
revolutionäre Prinzip des allgemeinen Staatsbürgertums (souffrage universel) nicht
aufnahm, schloß in Deutschland an· die hi11toruch hergebrachten Zustände an.
Der Anteil an den Staatsbürgerrechten (politische Wahlfähigkeit) war durch die
Zugehörigkeit zu bestimmten Ständen, durch die Höhe des Vermögens (Zensus-

182 Teile in Abhebung von dem durch den absolutistischen Staat geschaffenen „Untertanen-

verband" (HELD, Art. Staatsbürger, RoTTECKfWELOKER, 3. Aufl., Bd. 13, 569 f.), teile in
Entgegengesetzimg zum „dynamischen" Prinzip des europii.iechen Stootcnsystcme. Vgl.
JoH. GuST.A.V DBOYBEN, Die politische.Stellung Preußens (1845), Polit. Sehr., hg. v. Felix
Gilbert (München, Berlin 1933), 59
1aa -+ Gesellschaft, bürgerliche.
lH KRuG Bd. 1, 347. Vgl. K.uu. SA.LOMO Z.A.OHARI!, Vierzig Bücher vom Staate, Bd. 1
(Stuttgart 1820), 38; K. H. L. PöLITz, Die Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit,
Bd. 1 (Leipzig 1823), 175 f.
186 KRUG Bd. 1, 345 f.
188 Vgl. JoH. FRIEDRICH GoLDBEOK, Volls~ndige Topographie des Königreichs Preußen,
Bd. 1 (Ma.rienwerder 1785), 7. Das „Preußische Landrecht" unterschied 1794 den „höheren"
vom „niederen" Bürgerstand: zum höheren Bürgeratand wurden hier gerechnet alle öffent-
lichen Beamte, ... Gelehrte, Künatler, Kaufleute, Unternehmer erheblicher Fabriken und die-
jenigen, welche gleiche Achtung mit diesen in der .-bürgerlichen Geaellsckaft genießen (ALR
§ 31, II, 1). Vgl. auch C',00.ex Bava.ricue civilis (1756; Ausg. München 1821), 4, 10, § 4~ Der
Begriff'Kleinbürger' ist übrigens weder bei Adelung (1775) noch bei Campe (1808) notiert;
er erscheint relativ spät bei HOFFMANN Bd. 3 (1861), 431: Kleinbürger: der kleine Bürger in
einer Stadt, der nicht viel Verm.-Ogen hat.

714
IV. 12. Geaesi& der "bürgerlichen" Klassenterminolosie Biirger

wahlrecht) und die Zugehörigkeit zu einer der drei christlichen Konfessionen be-
dingt. Das deutsche Staatsbürgertum war, wie man nicht zu Unrecht gesagt hat,
meist eine Mischung von ständischen, wirtschaftlichen und konfessionellen Elemen-
ten und somit auf eine unverhältnismäßig geringe Zahl von Staatsangehörigen
beschränkt, ohne daß dieselben zusammen eine sell>stbewußte Standesaristokratie,
wie dies in England der Fall, gebi,ldit und als sokhe eine politische Macht gehabt
kiiJten18 7• Dem stand der schon erwähnte schroffe Gegensatz zwischen Adel und
Bürgertum entgegen. Es ist bezeichnend, daß die frühesten Versuche, den Begriff
der bürgerlichen „Klasse" mit Hilfe von franz. 'bourgeoisie' zu bestimmen, nicht,
wie in Frankreich188, von der Entgegensetzung 'bourgeoisie'/'peuple' (L. Blanc) bzw.
'bourgeois'/'proleta.ire' (Sismondi, Saint-Simon), sondern von den alten ständischen
Gegensätzen ausgingen: Bürgerstand, Bourgeoisie, eine zahlreiche Klasse, welche alle
Freie unter sich begreift, die weder zu dem Adel noch zu dem Bauernstande gerechnet
werden können. Man unterscheidet daher den Staatsbürger, Citoyen, und den eigentlich
sogenannten Bürger einer Stadt, von den Bürgerlichen überhaupt, Bourgeois189 • Doch
drang der französische Einfluß vor 1840 nicht durch; das Wort wurde von den
Liberalen allgemein vermieden, obwohl gerade sie es waren, die anstelle der poli-
tischen Kriterien der altständischen Gesellschaft die „sozialen" der sich auch in
Deutschland entfaltenden Erw,:irbs- und Wirtschaftsgesellschaft setzten. Sie nah-
men an, daß für „konstitutionelle" Regierungssysteme nicht mehr die bisherigen
Ständeabteilungen, sondern die Unterschiede in vermögliche und unvermögliche Bürger
und vollends die in sell>ständige Familienväter und in persönlich abhängige Leute
von Bedeutung waren190• Der Besitz eines Vermögen.S verlieh das Recht dt1r Tt1il-
nahme an der Staatsgewalt, womit der „Staatsbürger" sich von der übrigen Masse
der Staatsangehörigen, den Besitzlosen, scharf abhob. Dit1 politiimht1 Funktion, die
der Besitz erhielt, schloß eine „soziale" in sich ein, deren Folge die Polarisierung
des Staatsbürgertums in „Klassen" war. Ihr entsprach das .Bestreben des Bürger-
tums, sich durch den Erwerb von Besitz und Bildung des Staates zu bemächtigen.
Während die „bürgerliche" Lebensweise im 18. Jahrhundert stets als einfach und
bescheiden geschildert wurde 191, verkündeten die „Bürger" in HEINRICH LAUBES

Art. Staa.t11bürge1·, ROTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 13, 574f.


187 H.l!lLll,
l88 Vgl. da.zu MAXIME LEROY, Histoire des idees soCiales en France, t. 1 (Paris 1946), 10
Anm. 1. 115. 293 ff. Vgl. Loms BLANO, Dix ans de l'histoire d'Angleterrre, t. 1 (Paris 1879),
4, der unter 'bourgeoisie' die Besitzer von Arbeitswerkzeugen oder Kapital versteht, die
sie von anderen relativ unabhängig macht, im Unterschied zum besitzlosen 'peuple', der
vollständig von anderen abhängt, und zwar in demjenigen, was die elementarsten Lebens-
bedürfnisse angeht. In Deutschland kannte man zu dieser Zeit lediglich die Unterscheidung
zwischen 'Bürger' und 'Pöbel', die auf den alten Gegensatz 'populus-vulgus"bzw. 'plebs'
zurückging. Vgl. HEGEL, Beurtheilung der im Druck erschienenen Verhandlungen in der
Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre 1815 und 1816, SW
Bd. 6 (1927), 349 ff.
189 BROCKHAUS 7. Aufl., Bd. 2 (1827), 310.
190 WELCKER, Art. Stand, 133 (s. Anm. 171). Eine schätzenswert offene Sprache führte

PoLITz, Staatswissenschaften, Bd. 1, 176.


1 91 Dazu di~ Belege bei MEscHKE, Bürger, 95 ff. (vgl. Anm. 73).

715
Bilrger IV.13. Man: und Engels

gleiohnamiger Novelle (1837): Besitz ist die Losung unserer Tage1 92. Die Gleich-
.setzung von 'Bürgertum' und 'Bourgeoisie', mit der laut TREITSCHKE die Schrift-
steller des Jungen Deutschland den Anfang machten193, erfolgte in den vierziger
Jahren.
Ein wichtiger Vermittler französischen Ideengutes war LORENZ VON STEIN. Er be-
griff das „Staatsbürgertum" als spezifische Gestalt. der modernen Erwerbsgesell-
schaft und deckte die „soziale" Kausalität auf, die der scheinbar universell-recht-
liche Begriff in sich enthielt194. Für ihn repräsentierten „Bürgertum" und „Bour-
geoisie", ähnlich wie in Frankreich, die „Mittelklasse" der Gesellschaft. Nach Stein
haben wir es in Deutschland allerdings erst mit den Anfängen der Bildung einer
Mittelklasse zu tun, die in dem Begriff und Wesen des sogenannten Bürgertums, der
Bourgeoisie, die wirtschaftlich in dem V ersuch der Kapitalassoziationen, gesellschaftlich
in dem der Bildungsvereine aller Art ihren ersten Ausdruck findet 195 •

13. 'Bourgeoisie' - 'Proletariat': Marx, Engels

Während Hegel den liberalen Begriff des Staatsbürgers nur negierte, ohne sich mit
ihm näher auseinanclerzlll!eLzeu, wurde er bei MAßx zum Gegenstand einer hi-
storisch-kritischen Analyse, in deren Verlauf 'Bürger' wie 'Staatsbürger' P.intm
neuen Gegenbegriff erhielten. Ausgangspunkt war die Kritik an Hegels Rechts-
philosophie, der Marx zu Recht zum Vorwurf machte, die von ihr kritisierte Sache,
das staatsbürgerliche H.epräsentativsystem des Liberalismus, nicht beim Namen
gP.na.nnt r.u haben196. Die Vermittlung zwischen "bürgerlicher Gesellschaft" und
Staat brach auseinander, indem Marx Rousseaus Unterscheidung zwischen 'homme'
und 'citoyen' uni! r.ugleich Hegels Identifizierung des 'bourgeois' mit dem 'Mon„
sehen' heranzog. Auf der Basis dieses doppelten Maßstabes und in genauerer
Kenntnis der Folgen der „staatsbürgerlichen" Emanzipation seit 1789 exponierte
Marx die Differenz von 'bourgeois' und 'citoyen' als die des 'homme' mit sich
selbst, der nicht nur „Bürger dieses Staate" (Hegel), sondern dieser Mensch (in
einer je bestimmten „gesellschaftlichen" Lebenssituation befindliches Individuum)

182 HEINRIOH LAUBE, Das Junge Europa. Die Bürger, Ges. Sohr., Bd. 7 (Wien 1876), 163.

Vgl. o.uoh die Schilderung des Gegensa.tzes Adel - Bürger, in: D11.11 Jwige Europa. Die
Poeten, Ges. Sohr., Bd. 6 (1876), 107 f.: Der Vorzug dea größeren Besitzea machte es ihm
(dem Adel) rwchlange Zeit möglich, eine höhere Kla8se zu reprä8entieren. Der spekulative
Geist des Bürgers riß nach und nach einen großen Teil dieses Besitzes an sich.
1 9 8 HEINRICH v. TREITSCHKE, Historische und politische Aufsätze, 3. Aufl. (Leipzig 1867),
356.
lH Vgl. LoRENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1794 bis
auf unsere Tage, hg. v. Gottfried Salomon, Bd. l (Ndr. d. 3. Aufl. 1850; München 1921),
476. Vgl. auch die 2. Aufl. u. d. T.: Der Socialismus und Communismus des heutigen Frank-
reich, Bd. 1 (Leipzig 1848), 34.
190 Ders.,·System der Staatswissenschaft, Bd. 2 (Stuttgart, Tübingen 1856)', 334. - Die
Anwendung des Klassenbegriffs war in Deutschland relativ selten, im allgemeinen domi-
nierten die Verbindungen mit 'Stand' ('Mittelstand/Bürgerstand'). 'Bürgerklasse' wurde in
den Wörterbüchern erst bei HOFFMANN Bd. 1 (1861), 592 verzeichnet.
198 K..uu. :MA&x, Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843), MEW Bd. 1 (1957), 279.

716
IV. 13. Man uncl EageJa Bürger

sei. Was Hegel am Beispiel des Wechselverhältnisses von 'bourgeois' und 'Mensch'
andeutete, brachte Marx in seiner Auseinandersetzung mit der konstitutionell-
liberalen Theorie energisch zur Geltung: die Korrelation von 'Mensch', 'Bürger'
und 'Staatsbürger': Bürgerliche Gesellschaft und Staat sind getrennt. Also ist auch
der Staatsbürger und der Bürger, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, getrennt.
Er muß eine wesentliche Diremption mit sich selbst vornehmen . . . Um also als wirk-
licher Staatsbürger sich zu verhalten, politische Bedeutsamkeit und Wirksamkeit Z'/.'
erhalten, muß er aus seiner bürgerlichen Wirklichkeit heraustreten, von ihr abstrahieren,
von dieser ganzen Organisation in seine Individualität sich zurückziehen; denn die
einzige Existenz, die er für sein Staatsbürgertum findet, ist seine pure blanke Indi-
vidualität197.
Aber die Individualität, der „Mensch", war nichts ohne diesen Menschen, das
Individuum oder den Bürger als Privatperson. Er stand dem „Staatsbürger" nur
deshalb gegenüber, weil er ständig aus ihm entlassen wurde. Die Emanzipation des
Staatsbürgers war keine Emanzipation des Menschen (im Sinne des „homme" von
Rousseau), sondern des Individuums und seiner partikularen („privaten") Lebens-
situationen. Der Differenz zwischen dem „religiösen" Menschen u.nd dem „Staats-
bürger", die nach Marx z. B. die staatsbürgerliche Emanzipation des JudentWllil
zur Folge haben würde; entsprach in anderen Sphären der Gesellschaft die Differenz
zwischen dem Kaufmann und dem Staatsbürger, zwischen dem Tagelöhner und dem
Staatsbürger, zwischen dem lebendigen Irulii1vidwurri und dem Staatsbürger. Der Wider-
spruch, in dem sich der religiöse Mensch mit dem politischen Menschen befindet, ist
derselbe Widerspruch, in welchem sich der bourgeois mit dem citoyen, in welchem sich
das JJ!Jit,glied der Mlrgerlichen Gesellschaft mit seiner politisvlwn LOwenlw1ut befiruktm.
Die „staatsbürgerliche" oder politische Emanzipation war daher nach Marx durch
eine menschliche zu ergänzen, deren Aufgabe es sei, das Individuiim von allen „so-
zialen" Partikularitäten zu befreien, um den „Menschen" als gesellschaftliches
Gattungswesen wiederherzustellen lDD. ·
Als Träger dieser Emanzipation erschien in der auf die „Judenfrage" folgenden
„Einleitung" zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" (1844) das Proleta-
riat. Der Proletarier „ist" zwar nicht der „Mensch", aber er repräsentiert ihn200, so
wie bei Rousseau der „roturier", der mittlere Stand der kleinen Handwerker und
Bauern, das Ideal des „homme" vertrat1101. Der Gegenbegri[ zum 'Proletariat' war
weder nur der 'Staatsbürger' noch der 'Bürger' als Privatperson, sondern die
'besitzende Klasse' oder die 'Bourgeoisie' 202 - eine Bezeichnung, die sich unter dem

197 Ebd„ 281.


198 MARx, Zur Judenfrage (1844), MEW Bd. 1, 355. Vgl. MARx/ENGELS, Die heilige Fa-
milie (1845), MEW Bd. 2 (1959), 118 ff.
199 MARx, Zur Judenfrage, 361 ff., vor allem die bekannten Schlußsätze des 1. Teils, welche

die Bedingung der menschlichen Emanzipation angeben: Zurücknahme des abstrakten


Staatsbürgers durch den wirklichen individuellen Menschen; ebd„ 370.
200 Ebd., 388.
201 Vgl. KARL LöWITH, Von Hegel zu Nietzsche, 3. Aufl. (Zürich, Stuttgart 1953), 266,

Anm. 727.
20 2 Zuerst in MARx/ENGELS, Heilige Familie, Kap. 4, MEW Bd. 2, 37 f. Vgl. MARx, Deut-

sche Ideologie 1 (1845), MEW Bd. 3 (1958), 60 f. 76 und vor allem MARx/ENGELS, Manifest

717
Bürger IV. 13. Mars aad Engeb

Einfluß des frühsozialistischen Schrifttums nach 1840 allgemein durchsetzte. Der


Gegensatz 'Bourgeoisie'/'Proletariat' löste den Gegensatz 'Bürger'/'Mensch' ab, den
der junge Marx auf der Basis seines republikanischen Demokratismus noch einmal
wiederholte20 3 • Mit der Übertragung des französischen Begriffs und seiner „klassen-
mäßigen" Fixierung vermied man die dem deutschen Wort 'Bürger' nach wie vor
anhaftende Unbestimmtheit, auf deren Problematik auch Marx und Engels hin-
wiesen204. Daß die Übertragung dieser Begriffe auf die „zurückgebliebenen" deut-
schen Verhältnisse nun ihrerseits nicht unproblematisch war und - wenigstens an-
fänglich - einer Erklärung 'l?edurfte, zeigte ENGELS' Bemerkung im Vorwort zur
„Lage der arbeitenden Klasse in England" (1845), daß er daa Wort Mittelklasse fort-
während im Sinne des englischen middle-class ... gebraucht habe, wo es gkich dem fran-
zösischen bourgeoisie die besitzende Klasse bedeutet- die Klasse, welche in Frankrei,ch
und England direkt und in Deutschland als „öUentliche Meinung" indirekt im Besitze der
Staatsmacht ist20&. Entscheidend war, daß Marx und Engels, energischer noch als
die Wortführer des Liberalismus, den geschichtlichen Charakter dieser Begriffsbil-
dungen in den Vordergrund rückten. Sie wandten sich gegen die bei den Jung-
hegelianern (Stirner) beliebten Scheinkonstruktionen, die über das Begriffspaar
'bourgeoisie'f'citoyen' nichL hi.u.11.wigelangten808, und forderten stattdessen dazu
auf, die gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren zu analysieren, die Begriffs-
veränderungen in einer jeweiligen Epoche bewirken konnten. Wichtig war die -
den damals weit verbreiteten sozial-konservativen Theorien (W. H. Riehl) zwei-
fellos überlegene - These, daß das Bürgertum nicht mehr ein 'Stand', sondern
eine 'Klasse' sei: der mittelalterliche Stand der städtischen Bürger wurde unterschie-
den von der modernen „Bürgerklasse", der 'Bourgeoisie' 2 07. ·
Das hing unmitt.P.lbar mit der Auffassung von der epochalen Rolle zusammen, die
nach Marx' das Bürgertum in den letzten zwei Jahrhunderten der europäischen Ge-
schichte gespielt hatte; denn ihm wurde die Umwälzung der Gesellschaft, der Pro-
duktions- und Vorstellungsweisen der Menschen verdankt: Die Bourgeoisie hat in
der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt208• Sie hatte die bisherige feudale

der Kommunistischen Partei 1 (1848): Bourgeois und Pro~rier, MF.W Rd. 4 (1959),
462 ff.; Das Elend der Philosophie (1846), ebd., 181 f.; Lohnarbeit und Kapital (1849),
MEW Bd. 6 (1959), 399 ff. .
2oa. Und gelßgentlich mit dem vom 'freien Mann' und 'Philister' parallelisierte; vgl. MARX
an Ruge, 9. 5. 1843, MEW Bd. 1, 338: Menschen, das wären geistige Wesen; freie Männer
Reyuhlikaner. Beidu wollen die Spießbürger nicht sein, und ebd., 339: Die voll!C<Ymmenate
Philisterwelt, uMer De'l.d8chland, mußte alao natürlich weit hinter der franzöaischen Reoo-
lution, die den M enachen wiederheraieute, zurückbleiben.
20& Vgl. MABx, Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, 184 anlä.Blich Stirners widersprüchlichem
Spiel mit den Worten 'Bourgeosie' und 'Bürgertum', das er nie zu promulgieren gewagt,
wenn ihm nickt das deutache Wort „Bürger", das er nach Belieben ala „cif,oyen" oder „bour-
gwi.8" oder als deutscher „guter Bürger" auslegen kann, zu Hilfe gekommen wäre.
2o6 FRIEDRICH ENGELS, Lage der arbeitenden Klasse in England, Vorwort, MEW 'Bd. 2,
234.
2011 MARX, Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, 127.
201 Ebd., 53. 62. 71. 76. Vgl. ferner MEW Bd. 6, 253.
101 MARX/ENGELS, Manifest, MEW Bd. 4, 464 ff.

718
IV, 14. Der Begriff nach 1850 Bürger
\ .
oder zünftige Betriebsweise der Industrie aU:fgelöst, alle patriarchalischen, lokalen,
„naturwüchsigen" Verhältnisse. zerstört, die Individuen aus Stammes-, Standes-
und korporativen Bindungen herausgelöst, die industrielle Produktion revolutio-
niert, den Weltmark und den modernen Repräsentativstaat geschaffen, das Land
der Stadt unterworfen, die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zen-
tralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Kurz: die moderne
Epoche (17 ./18. Jahrhundert) war nach Marx und Engels die Epoche t1er Bourgeoisie,
der „bürgerlichen" Daseinsformen der Gesellschaft, die sie einerseits den „feudalen"
der mittelalterlichen Vergangenheit, andererseits den sozialistischen bzw. kommu-
nistischen der Zukunft entgegensetzten209. Daneben stand der Bourgeoisie noch
eine „Klasse" gegenüber, in der die alten ständischen Beschränkungen und lokalen
Gebundenheiten vorherrschten, die der „Kleinbürger". Sie wurde von Marx und
Engels als retardierender Faktor der modernen gesellschaftlichen Bewegung ange-
sehen und im Verhältnis zur. Bourgeoisie mit lediglich negativen Wertmaßstäben
gemessen: Der Kleinbürger repräsentiert lolcale, der Bourgeois universelk 1nteressen.
Der Kleinbürger findet seine Stellung hinreichend gesichert, wenn er bei indirektem Ein-
fiuß auf die Staatsgesetzgebung direkt an der Provinzialverwaltung beteiligt und Herr
se-iner lokalenMunizipalVerwaltung ist ... Die klassische Schöpfung des Kleinbürgers
waren die deutschen Reichsstiidte, die klassische Schöpfung des Bourgeois ist t1er fran-
zösische Repräsentativstaat210. Wie der Proletarier, so bekämpfte auch der Klein-
bürger die Bo:urgeoisie; aber er war nicht revolutionär, sondern konservativ, aU:f die
bloße Sicherung seiner partikularen Existenz bedacht, Insofern trug er auch den
Namen des 'SpießbiirgerR' oder 'Philisters', dem, vor allem unter dem Eindruck der
Schwäche des deutschen Bürgertums während der Jahre 1848/49, Marx' und En-
gr.lR' 11ngeteilte Verachtung galt211 •

14. Der Begriff nach 1850: 'Bourgeoisie' - 'Bürgertum' - 'Bürger'

Seit 1848/49 bezieht sich der Bürgerbegriff einerseits aU:f eine oder mehrere Klassen
bzw. Stände, andererseits auf den Staat bzw. die Gesellschaft. Trotz der Niederlage
der ;,bürgerlichen" Revolution wurde daran festgehalten, daß das Bürgertum den
Universalismus. des modernen gesell.schajtlichen Lebens am entschiedensten vertrat.

209 MARx, Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, 63. 76 f.; ·MARx/ENGELS, Manifest, MEW

Bd. 4, 463 f. 476 ff.


21o ENGELS, Der Status quo in Deutschland (1847), MEW Bd. 4, 45. Vgl. Mil.xjENGELS,
Manifest, MEW Bd. 4, 472, hier auf den für die deutschen Verhältnisse in der Tat typisQhen
Ausdruck 'Mittelstand' bezogen.
211 Vgl. schon MARx/ENGELS, Manifest, MEW Bd. 4, 487 f. Neben 'Spießbürger' wurde
auch der Begriff 'Pfahlbürger' aufgewertet und in ähnlich negativem Sinne gebraucht.
Die negative Einschätzung des Bürgertums fand ihren schärfsten Ausdruck in den Artikeln
der „Neuen Rheinischen Zeitung" (1848/49), MEW Bd. 5 (1959), 242. 245. 363. 456; Bd.6,
47. 107. 109. 167. 191. 196. Vgl. ENGELS, Die deutsche Reichsverfassungskampagne
(1849/50), MEW Bd. 7 (1960), 111. Engels nannte den Bürgerstand allgemein die „Klein-
bürgerschaft"; ebd., 111 f. 118.126. 137. 139 u. ö.; ders., Revolution und Konterrevolution
in Deutschland (1851/53), MEW Bd. 8 (1960), 9 if, 14 ff.

719
Bürger . IV. 14. Der Begriff nach 1850

So schrieb RrnHL im Jahre 1851: Viele nehmen Bürgertum und moderne Gesellschaft
für gleichbedeutend. Sie betrachten den Bürgerstand als die Regel, die anderen Stände
nur noch als Ausnahmen, als Trümmer der alten Gesellschaft, die noch so beiläufig an
der modernen hängen geblieben sind212 • Nach Riehl ließ sich die universelle Stellung
des neuzeitlichen Bürgertums durch den Sprachgebrauch vielfach bestätigen. Der
oberste Gemeindebeamte des Dorfes heiße z. B. 'Bürgermeister', obwohl er ledig-
lich über Bauern gebiete; man spreche von 'bürgerlicher Ehre', 'bürgerlichem
Tod', wo man weit allgemeiner von 'gesellschaftlicher Ehre', 'gesellschaftlichem'
und 'politischem Tod' sprechen sollte, und schließlich nehme man .den „bedeut-
samsten Teil" für das Ganze und rede von 'Staatsbürgern' statt von 'Staatsgenos-
sen'. Dabei wußte auch Riehl, daß der Begriff inzwischen von den sozial-politischen
Parteien ideologisch zerrieben worden war: den Revolutionären sei das Bürgertum
die Wurzel allen Stillstandes und Rückschrittes, den Anhängern des bundesstaat-
lichen Absolutismus der Urquell aller Empörung und Überstürzung. Gleichwohl hät-
ten beide Parteien vermieden, das Bürgertum direkt beim Namen zu nennen21a. Die
Demokratie habe sich das Wort als „Bourgeoisie" erst ins Französische übersetzt, um
tlann, ohne zu erröten, den Kampf gegen dasselbe beginnen zu können, und die abso-
lutistischen Regierungen erilichteten sich das Phantom eines „echten" Bürgertums,
das ständische Ruhe und Beharrung im Gegensatz zur politischen Unruhe des
„Staatsbürgertums" darstellen solle. Aber für Riehl, der beide Parteien bekämpfte,
war der Bürgerbegriff ebensowenig eine Einheit wie die ihm korrespondierenden
Begriffe des Standes und der Klasse; ähnlich wie Marx und Engels, nur mit umge-
kehrtem Vorzeichen, hob er den 'Bürger' vom 'Philister', seiner modernen „Ent-
artung" ab; der Philister ziehe sich in die Gleichgültigkeit seines Privatlebens zu-
rück und iiherlasse Gesellschaft und Staat ihrem Schicksal; er war nach Riehl
weder Gesellschafts- noch Staatsbürger 214 • Dem Staatsbürgertum begegnete Riehl
mit dem Mißtrauen der konservativen Partei, deren gemäßigter Anhänger er war.
Er hielt ei;i, wie der Verfasser des Artikels „Bürger, Bürgerstand, Bürgertum" in
WAGENERS „Staats- und Gesellschafts-Lexikon" (1860), für eine der bedenklichsten
Erscheinungen der neueren Zeit215 • In seiner geschichtlichen Beurteilung stimmte
die Gruppe der Konservativen um W agener mit den Revolutionären annähernd
überein: in der jetzigen Auffassung und Behandlung sei das sogenannte Staatsbürger-
tum nichts als ein Zurücksinken ·in den anl:iken Beg·riff des Bürgert·ums, in den ur-
sprünglichen Gegensatz des Patriziers und Plebejers, des Bürgers und des Sklaven,

212 Vgl. WILH. HEINRICH Rrnm., Die bürgerliche Gesellschaft (1851; 8. Aufi. Stuttgart

1885), 200 f.
213 Ebd., 211.
214 Vgl. ebd., 223 f. Nach Riehl war das Gegenstück zum bürgerlichen Philister,

der den mittelalterlichen Spießbürger verdrängt habe, der sozialistische Proletarier;


beide arbeiteten gleicherwei&e an der Auflö&ung der gegliederten GeaellBcMft; der eine,
indem er angreifend verfährt, der andere, indem er &tumpf und tei"lnahmalo& die&e An-
griffe geachehen läßt. Zur Unterscheidung 'Staats' -/'Gesellschaftsbürger' ( = Bürgerstand)
vgl. Riehls Akademierede: Über den Begrllf der bürgerlichen Gesellschaft (München
1864), 4.
215 WAGENER Bd. 4 (1860), 675. Vgl. R1EHL, Bürgerliche Gesellschaft, 251 ff.

720
IV. 14. Der Begriff nach 1850 Bürger

Gegensätze, die sich bald zu dem des reichen und des armen Sklaven vereinfachen
dürften 216 •
Es' war daher kein Zufall, daß die konservative Partei nach 1850 das Kampfwort
'Bourgeoisie' von den Revolutionären übernahm 217 , während es die bürgerlichen
Liberalen allgemein ablehnten. ROBERT MoHL sprach von dem angeblich tiefen Un-
terschied, der zwischen Arbeitern und Kapitalbesitzern bestehen solle, wobei man
die letzteren gegen alle Geschichte und Statistik als den dritten Stand der Bourgeois
darstellt 21 B. Die Wortführer des liberalen Bürgertums bekämpften den Klassen-
begriff der 'Bourgeoisie', mit dem die sozialistischen Theoretiker die sozialen Gegen-
sätze der Zeit auf eine einfache Formel ('Bourgeoisie'j'Proletariat') zu bringen ver-
suchten. Zum Begriff der Bourgeoisie, hieß es im „ Wochenblatt des Nationalvereins"
(1867), gehört ein politisches Vorzugsrecht, wie es in Frankreich durch hohen Wahl-
und Wählbarkeitszensus begründet war, in Deutschland aber nirgends existiert noch
jemals existiert hat 219 • Das letztere war historisch falsch; der vormärzliche Konsti-
tutionalismus beruhte z. T. durchaus auf dem Wahl- und Wählbarkeitszensus, er
war, wie wiederum Riehl zustimmend notierte, Bourgeois-Liberalismus 220 • Gerade
das Zensuswahlrecht machte während des 19. Jahrhunderts die Ausbildung eines
einheitlichen, auf den Staat bezogenen Burgerbegriffs unmoglich. LORENZ VON
R'l'F.TN hat flimmn Umstand klar ausgesprochen: die Bestimmung des Bürgerbegriffs
sei nicht unserer Zeit gelungen, weil sie in demselben Grade schwieriger werden muß,
in welchem das .Bürgertum mit der Souveränitlit identisch wird, oder wie wir sagen
würden, in welchem die Gesellschaft die Staatsgewalt in ihre Hände bekommt 221 • Diese
,;Gesellschaft" war die im engeren Sinne „bürgerliche" des 19. Jahrhunderts, deren
Merkmale Besitz und Bildung waren. Sie wurde einerseits als eine „Gesellschaft von
Ständen" (Riehl), andererseits als eine der „Klassen" begriffen, wobei keineswegs
nur die Sozialisten, sondern auch die Theoretiker des liberalen Repräsentativstaats
diesen Ausdruck verwandten. So war für BLUNTSCHLI der Bürgerstand die Klasse
des gebildeten und freien Staatsbürgertums, die 'Mittelklasse' oder das 'höhere Riir-
gertum'. Obwohl nicht unmittelbar im Besitz der Staatsgewalt, war sie meistens die
einflußreichste und in dem gewöhnlichen Gang des öffentlichen Lebens geht sie voran.
Die öffentliche Meinung ist regelmäßig die Meinung dieser Klasse 222 • Ihr stand auf der

210 WA(HJNElt Bd. 4, 675


2 11 Vgl. Art. Bourgeoisie, ebd., 358 ff. - Vgl. VICTOR .AmE HUBER, Liberalismus und
Revolution (1848/50), Ausgew. Sehr. (Berlin 1894), 247; ferner JOSEPH EDMOND JÖRG,
Geschichte der sozialistischen Parteien in Deutschland (Freiburg 1867), 4. 13. 28; CARL
GusTAV ADOLF KNIES, Die Politische Ökonomie (1853; -2. Aufl. Braunschweig 1883), 291:
es hat sich kaum irgendein Gegensatz innerhalb derselben bürgerlichen Gesellschaften so schroO
herausgebildet, wie der zwischen den Kapitalbesitzern und den Handarbeitern ... , nach dem
heutigen Sprachgebrauch: zwischen der höheren Bourgeoisie („Plutok:ratie") und dem „vier-
ten Stande".
21 s ROBERT MoHL, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 3 (Tübingen 1869), 511.

~ 19 Wochenblatt des .Nationalvereins, .Nr. 113 v. 18. 7. 1867, 883.


220 RrnHL, Bürgerliche Gesellschaft, 254.
221 L. v. STEIN, Die staatswissenschaftliche Theorie der Griechen vor Aristoteles und Plato

und ihr Verhältnis zu dem Leben der Gesellschaft, Zs. f. d.gesamte Staatswiss. 9 (1853), 137 ff.
222 JoH. CASPAR BLUNTSCHLI, Allgemeine Staatslehre, 5. Aufl. (Stuttgart 1875), 209.

46-9038511 721
Bürger V. Ausblick

einen Seite die Aristokratie, auf der anderen „das Volk" gegenüber, wozu neben
dem „Proletariat'' auch der niedere Bürgerstand (die „Kleinbürger") und die Bauern
rechneten. Obwohl die verschiedenen Klassen bei Bluntschli ineinander übergehen
konnten, waren sie durch das gemeinsame „Staatsbürgerrecht" nur unzulänglich
miteinander verklammert. Der Widerspruch zwischen 'Bürger' als partikularem
Klassen- und allgemeinem Staatsbürgerbegriff wurde nicht nur nicht behoben; er
bildete die Basis von Bluntschlis staatsrechtlicher Darstellung. Das trat vor allem
dadurch in Erscheinung, daß sie nach konstitutionellem Muster den „Staatsbürger
im engeren Sinne" aus der Masse der Volks- und Landesangehörigen heraushob 223.
Gerade dagegen, gegen die Besitzenden als bereits verschiedentlich organisierte und
leiblich vorhandene Staatsbürger-Kasten 224, wandte sich die frühe deutsche Arbeiter-
bewegung. Während ihre führenden Theoretiker BÜrger und Arbeiterklassen als
'Bourgeoisie' und 'Proletariat' gegenüberstellten, versuchten die praktischen Or-
ganisatoren, an den allgemeinen Staatsbürgerbegriff anzuschließen. So fanden sich
in FERDINAND LASSALLES „Arbeiterprogramm" (1862) die charakteristischen
Sätze: In die deutsche Sprache würde das Wort „Bourgeoisie" mit Bürgertum zu über-
setzen sein. Diese Bedeutung hat es bei mir aber nicht; Bürger sind wir alle, der Arbeiter,
der Kleinbürger, der Großbürger usw. 226. Zweifellos wirkte hier ~as Citoyen-Pathos
der Französischen Revolution, aber auch Lassalles Einschätzung des Staates als
potentiellen Garanten der Arbeiterrechte nach, die ihil von Marx und Engels trenn-
te. In diesem Punkte begegnete sich Lassalle mit einigen anderen, liberal-demokra-
tischen Wortführern der frühen Arbeiterbewegung. Ihr Bestreben war es, die von
der konstitutionell-liberalen Theorie aufgerissene Kluft zum „Staatsbürgertum" zu
überwinden. So wurde in den Reden des 1. Vereinstages der deutschen Arbeiter-
vereine zu Frankfurt· a. l\'l. (1863) die „Arbeiterbevölkerung" betont als Glied dß8
Bürgertums bezeichnet und als Ziel der Vereine ein sittlich achtbares, wirtschaftlich
selbständiges und politisch freies Bürgertum angegeben2 2e.

V. Ausblick
Die begriffsgeschichtliche Entwicklung tendierte auf eine Gleichsetzung zwischen
Staatsangehörigkeit und Staatsbürgertum, nachdem 'Bürger' als Standesbegriff
seinen politi11chen Charakter im 19. Jahrhundert endgültig eingebüßt hatte; es gibt,
heißt es bei BLUNTSCHLI, keine Gesamtorganisation mehr des Bürgerstandes durch das
ganze Reich, und es wäre ein Fehler, woUte man sie restaurieren2 21.
Auf dem Boden der modernen Gesellschaft sind die Stände zu Berufs- und Gesell-

123 Ebd., Ka.p. 22: Die Staatsbürger im engeren Sinne, 246 ff.
aa& Manifest des Berliner Arbeiterkongresses an die Deutsche Nationalversammlung,
2. 9. 1848,,HUBER, Dokumente, Bd. 1, 370 (vgl. Anm. 139).
m FERDINAND LAssALLE, Das Arbeiterprogramm, Ges. Red. u. Sehr., Bd. 2 (1~19), 172.
128 Bericht des 1. Vereinstages der deutschen Arbeitervereine, Frankfurt 7./8. 6. 1863. Die

erste Wendung von A. REuss (Nürnberger Arbeiterverein), die zweite aus der Begrüßungs-
rede des Vorsitzenden der Deutschen Arbeitervereine RöHRICH (Handelsschuldirektor,
Frankfurt).
121 BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 2 (1857), 305, Art. Bürgerstand.

722
v. .Awliek Bürger

schaftsklassen geworden, die Stadt ~d Land gleichmäßig durchschneiden. Der


Standesbegriff des Bürgers, an dem die konservativen Parteien festzuhalten ver-
suchten, wäre nur um den Preis zu behaupten gewesen, daß nach 1848 die Begren-
zung der politischen Rechte durch einen Wahlzensus und die Ausschaltung der
„Unselbständigen" (der Masse des „Volkes") hätte aufrecht erhalten werden kön-
nen. Das Spannungsverhältnis zwischen Büigertum und „Volk", im wesentlichen
der Arbeiterschaft, mußte zunächst auf dem Wege der Staatsbürgergesetzgebung
ausgeglichen werden. In solchem Sinne rief BERTHOLD AUERBACH im Frankfurter
Vorparlament von 1848 aus: Es darf jener Zwiespalt nicht aufkommen, welchen Ver-
b"lendete oder Böswillige offen lassen, indem sie von einem Bürgertum gegenüber dem
Volk sproohen. Wie Deutschland Eins wird, so soll auch das deutsche Volk Eins werden,
und es kann keinen Unterschied geben zwischen der sog. Bourgeoisie und dem Volk228 •
Diesen Weg haben die Verlassungsgesetze nach 1848, trotz vielfachen Widerstands
der „Vetblendeten", beschritten. Jeder Deutsclie, stellte bereits Art. 1, § 132 der
„Frankfurter Reischverfassung" fest, hat das deutsclie Reichsb1.lrgerrecht000 • Aus dem
Kreis der „Unselbständigen" schloß das Reichswahlgesetz von 1849 noch jene Per-
sonen vom aktiven Staatsbürgerrecht aus, die eine Armenunterstützung aus öffent-
lichen oder Gemeindemitteln· bezogen oder im letzten der Wahl vorangegangenen
Jahre ber.ngen h11.tilfln?.so. Einen Schritt woitor gingon dio Vorfatitiungen des Nord-
deutschen Bundes von 1867 und des Deutschen Reiches von 1871, die allen Deut-
schen, unabhängig von Religionsbekenntnis und Klassenzugehörigkeit, das Wahl-
recht zugestandcn2s1. Der zeitgenössische Liberalismus begegnete dem Zugeständ-
nis des allgemeinen µnd gleichen Wahlrechts meist mit Mißtrauen und Ablehnung.
Die Bosheit, hieß es (sicherlich unter Anspielung auf Lassalles Wahlrechtsagitationen
zu Anfang der sechziger Jahre) bei G: G. G.l!:itVlNUl:I, 1wJ, den ErltulturUJs111iinrwm den
Rat eingeblasen, dem Prol.etariat gegen das Bürgertum die Hand zu reichen 232 • Hier,
im selbstbewußten, liberalen Bürgertum, lebte der Gegensatz 'Bourgeois'J'Prole-
tarier' ebenso fort wie in der organisierten Arbeiterbewegung, die nach der Grün-
dung des Reiches von diesem ausgeschlossen und in die Reichsfeindschaft gedrängt
wurde.
Der Klassenbegriff des Bürgers wurde aber auch noch durch den Standesbegriff
überlage~. Obwohl durch die Verwirklichung des Nationalstaates das politische
Spannungsverhältnis von Bürgertum und Adel entschärft wurde, blieben die Stan-
desunterschiede nach der Bismaroksehen Reichsgründung weitgehend bestehen,
besonders in Preußen, dessen bis 1918 geltendes Dreiklassenwahlrecht als insti-
tutionelle Legitimierung der halb „feudalen", ständisch modifizierten „bürgerlichen

228 Vgl. MAx QuA.BOK, Die erste deutsche Arbeiterbewegung (Leipzig 1924), 71.
129 Verfassung des Deutschen Reiches v. 28. 3. 1849, HUBER, Dokumente, Bd. 1, 318.
180 Reichsgesetz über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause v. 10. 4. 1849, Art. 1,

§ 3, HUBER, Dolr:nmAnt.A, lkl. 1, ::124.


281 Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes v. 31. 5. 1869, § 1: Wähler .•.

iat jekr Norddtutacltt, weklttr das 25. LeheMjahr zurllckyeleyt lw,t. Vgl. .Archiv des Nord-
deutschen Bundes 3 (Berlin 1871), 856 ff.
181 GEORG GoTTFRIED GERVINUS, Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts

(Leipzig 1864), 174.

723
Bürger V. Ausblick

Klassengesellschaft" kritisiert wurde. Dazu kam, daß sich die Gegensätze zwischen
Dorf- und Stadtgemeinde und in den Stadtgemeinden die Unterscheidungen zwi-
schen 'Bürgern' und 'Einwohnern' nicht aufhoben. Hier behielt das Bürgertum
seinen beherrschenden Einfluß auf die städtische Selbstverwaltung und die Ver-
gabe des Bürgerrechts („Honoratiorenbürgertum"). Dadurch ist in Deutschland
trotz des für alle gleichen Staatsbürgerrechts die Ausbildung eines einheitlichen
Bürgerbegriffs gehemmt bzw. verhindert worden. Je mehr sich das Bürgertum von
der sozialistischen Arbeiterschaft in seiner sozialen Stellung bedroht wußte, um so
bereitwilliger fügte es sich dem monarchisch-bürokratischen Staat ein und verzich-
tete weithin darauf, selbst Träger des Staates zu sein. Der Bürger wurde zu Beginn
des 20. Jahrhunderts von seinen Kritikern im Sinne von Heinrich Manns „Unter-
tan" verstanden, bei dem die ökonomische Macht zur geringen Ausnutzung seines
politischen Gewichts in einem offenkundigen Mißverhältnis stand, das sich auch
durch übersteigerten Nationalismus nicht verdecken ließ.
Diese Welt des wilhelminischen „Untertanen", utJ1:1 üku11umi1:mh teils dynamischen,
teils saturierten Bürgers und des kommunalpolitisch aktiven Honoratiorenbürger-
tums ging mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende. Die Gesetzgebung der Weimarer
Republik befreite den Bürgerbegriff von den rechtlichen Schranken, die seiner
Geltung hiR ila.hin g1w:og1m w::m~n. Nach den in die11er Zeit erlassenon Gomoindc
ordnungen waren alle über 20 Jahre alten Einwohner der Gemeinden zugleich 'Bür-
ger' und wahlberechtigt, wie nun auch die Einwohner der Landgemeinden 'Bürger'
und ihre Vorsteher 'Bürgermeister' hießen. Gleichwohl kam es nicht zu einer Dek-
kung von Staatsbürger- und Bürgerbegriff; der Begriff 'Bürger' wurde zwischen
den ideologischen Fronten der bürgerkriegsähnlichen Situation zerrieben. Die
sozialistisch-kommuniatischc und die nationalsozialistische Bewegung erMeLzte11
ihn durch den Begriff 'Genosse'. Ihre wortpolitischen Intentionen waren aller-
dings einander genau entgegengesetzt. Während der Nationalsozialismus durch
seine Rassengesetzgebung das Staatsbürgerrecht einschränkte und den Begriff des
Bürgers mindestens juristisch ganz in dem rassisch verstandenen des 'Volksgenos-
sen' aufgehen ließ, blieb 'Genosse' in der sozialistischen bzw. kommunistischen
Terminologie eine Parteibezeichnung. In den westlichen Demokratien wie in der
Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern hat sich gegenwärtig die Bedeutung
von 'Bürger' als „Staatsbürger" allgemein durchgesetzt. lnsofern entspricht die
damit erreichte Universalität fies Regriffs der Emanzipation des einzelnen von den
ständischen Ausschließungen der alten bürgerlichen Gesellschaft und der zuneh-
menden Einebnung der Klassenunterschiede in der modernen Industriegesellschaft.
Anders verhält es sich mit dem Adjektiv 'bürgerlich'; da zu den Klassenbegriffen
'bourgeois' und 'Bourgeoisie' ein Adjektiv fehlte, konnte dieses Wort stärker abge-
wertet werden, so daß es bis heute der sprachlichen Ideologisierung verfallen ge-
blieben ist. An seinem Gebrauch ('bürgerliche Parteien', 'bürgerliche Wähler' usw.)
spiegelt sich wider, daß die politische Emanzipation des Bürgers selbst von parti-
kulär-gesellschaftlichen Momenten abhängt, die der intendierten Universalität des
Begriffs widerstreiten müssen, wenn sie die fortschreitende Bildung der Gesellschaft
und ihres Bewußtseins nicht in sich zurücknimmt. ·

724
V. Ausblick Bürger

Literatur

CARL BRINoXMANN, Art. Bourgeoisie, Encyclopaedia of the Socia.l Sciences, vol. 2 (New
York 1950), 654 ff.; OTTO BRUNNER, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte,
2. Aufl.. (Göttingen 1968); ders., Land und Herrschaft, 5. Aufl.. (Wien 1965), 349 ff.; Bltu-
NOT t. 6 (1930); M. CANARD, Essai de semantique. Le mot „bourgeois", Rev. de philol.
fra.n9ßoise 27 (1913), 32 ff.; FELDMANN (1911/12); ders., Modewörter des 18. Jahrhunderts,
Zs. f. dt. Wortforschung 6 (1904/05), 101 ff. 299 ff.; HANs FREYER, Art. Bürgertum, Hwb.
d. SozWiss., Bd. 2 (1959), 452 ff.; WALTRA.UD MEsOHKE, Das Wort Bürger. Geschichte
seiner Wandlungen in Bedeutungs- und Wortgehalt {phil. DiBB. Greifswald 1952); MAN-
FRED RIEDEL, Der Begriff der „Bürgerlichen Gesellschaft" und das Problem seines ge-
schichtlichen Ursprungs (1962), in: ders., Stndien zu Hegels Rechtsphilosophie (Frank-
furt 1969), 135 ff.; ders., Art. Bürger, Rist. Wb. d. Philos., Bd. 1 (1970), 962 ff.: FRANz
STEINBACH, Stndien zur Geschichte des Bürgertums, Rhein. Vjbll. 13 (1948), 11ff.;14:
(1949), 35 ff.; 28 (1963), 1 ff., jetzt in: Collectanea Franz Steinbach, hg. v. FRANz PETRI
u. GEona DnoEaE (Bonn 1967), 776 ff. 811ff.866ff.; DoLll' STEBNBERGlllR, loh wiimmht.e,
ein Bürger zu sein (Frankfurt 1969); PAUL-LUDWIG WEINAOHT, „Staatsbürger". Zur
Geschichte und Kritik eines politischen Begriffs, Der Staat 8 (1969), 41 ff.

MANFRED RIEDEL

725
Cäsarismus
Napoleonismus, Bonapartismus~
Führer, Chef, Imperialismus
1. Einleitung. II. 'Chef' und 'Führer'. 1. Vom Monarchen zum 'Chef d'Etat' oder 'Staats-
oberhaupt'. 2. Vom 'Chef' zum 'Führer'. 3. 'Imperialismus' vor dem modernen Begriffs-
wandel. III. Das Auftreten des ersten Napoleon, gesehen von Anhängern und Gegnern.
1. Die ersten Ansätze zu einer Theoriebildung. 2. Die Bonapartisten in Deutschland. Das
Beispiel Heines. 3. Vorbereitung neuer Frontbildungen. 4. Ale:xis de Tocqueville und Lorenz
von Stein. IV. Die Revolution von 1848 und der Staatsstreich Louis Napoleons. 1. Pie
verschiedenen Gesichter des Napoleonismus. 2.Die deutschen Reaktionen. 3.Marx, Engels,
Lassalle und die wiederbeginnende deutsche Arbeiterbewegung. V. Die weitere Entwick-
lung der Begriffe vor und nach dem Sturz Napoleon11. 1. Die Zeit der Reichsgründung. 2. Der
Imperialismusbegriff kurz vor seiner Umfunktionierung. VI. Der „Cäsarismus" in den
Sozialwissenschaften. 1. Roscher und Schäffle: Der Cäsarismus als Teil einer „Naturlehre"
vom Staat. 2. Oswald Spengler. 3. Von der cäsaristischen Führerauslese zur souveränen
Diktatur: Max Weber, Robert Michels und Carl Schmitt. VII. Ausblick.

I. Einleitung
Im Gegensatz zu vielen im 19. Jahrhundert entstandenen oder weit verbreiteten
Begriffen war 'Cäsarismus' oder 'Bonapartismus' kein sozialer Verfassungs- oder
Richtungsbegriff, wie es 'Liberalismus', 'Demokratie' oder 'Sozialismus' in steigen-
dem Maße wurden, sondern ein Herrschaftsbegriff vor allem politischer Natur.
Inmitten der Ideologisierung entwickelte dieser Begriff und die mit ihm gemeinte
Wirklichkeit eine eigentümliche· Dialektik. Einerseits wurde mit ihm die Fr11igo
nach der politischen Herrschaft in einem für das 19. Jahrhundert neuen Sinn
gestellt, wie etwa in der Abstimmung, die den Staatsstreich Louis Napoleons vom
2. Dezember 1851 legalisieren sollte: „Heißen Sie den Staatsstreich. gut ... 1"
Doch dieser plebiszitäre, unverhüllt das Herrschaftsmoment aussprechende Appell
war nur die eine Seite des Cäsarismus, die andere war die Propaganda, die vom
Vorhandensein eines „Gespensts" oder Sündenbocks lebte -vom „roten Gespenst"
bis zum „ Weltjudentum" - und einen oft messianische Züge annehmenden Führer-
kultus nährte. Diese Ideologisierung zeigt, daß auch die Macht cäsaristischer Pro-
venienz sich nicht von selbst verstand und einer wie auch immer gearteten g~­
schichtsphilosophischen Rechtfertigung bedurfte. Der Rechtfertigung durch die
Anhänger standen die Angriffe der Gegner gegenüber, und es wird zu unterscheiden
sein, welche politischen Richtungen den Cäsarismus als Aufhalter von Anarchie oder
Revolution und welche ihn als Verhinderer einer herbeigewünschten Revolution.
oder politischen Entwicklung sahen.
Die Entstehung und Wandlung des Cäsarismusbegriffs begleitet gleichsam den
letzten Akt eines großen Themas der europäischen Geschichte der Neuzeit, nämlich
die Ablösung der Erbmonarchie und damit jeglicher Form von politischer Herr-
schaft, die durch Religion (von Gottesgnaden) und Tradition (durch Abstammung),
durch Formen der Herrschaft, die geschichtsphilosophisch oder sozialeudämo-
nistisch, oft auch durch beides, legitimiert wurden. Dieser Prozeß war wiederum
ein Teil des alle Gebiete umfassenden Rationalisierungsprozesses, dem nicht nur die
Ausübung der Herrschaft, sondern auch ihre Legitimierung unterlag.

726
I. Einleitung

Um die Ablösung der Vorstellung, daß politische Herrschaft schlechthin mit mon-
archischen Institutionen, letzthin jedoch mit der Person eines Monarchen ver-
bunden sei, zu untersuchen, ist es notwendig, die Wandlungen zu verfolgen, denen
die Begriffe 'Chef' und 'Führer' unterlagen. 'Chef d'Etat' und 'Staatsoberhaupt'
waren nämlich als staatsrechtliche Begriffe Indizes für den Rationalisierungsprozeß
politischer Herrschaft. Hierzu gehörte auch die durch die Aufklärung geleistete
Entmythologisierung der Persönlichkeit des Monarchen, die wohl ihren sinnfällig-
sten Ausdruck in der Hinrichtung Ludwigs XVI. fand.
Freilich gab es auch einen dieser Entwicklung zugeordneten rückläufigen Prozeß,
der sich nicht nur in der Rückbindung der neuen Begriffe und Formeln an die
Topoi der „Politik" erschöpfte. Die Verwandlung Napoleons 1. in einen „Empereur"
hatte zur Folge, daß seine Anhänger nicht mehr nur 'Bonapartisten', sondern auch
'Imperialisten' genannt wurden, wobei dann auch die "ismus-Bildung nicht mehr
lange auf sich warten ließ. Daß sie aber an Napoleon und seinen imperialen Glanz
geburnleu war, zeigL die spätere ßegri:ffäveränderung von 'lmporio.liemus' in den
modernen lmperialismusbegriff, die um 1880 erfolgte, wobei allerdings zu bemerken
ist, daß einige mit ihm gemeinte Tendenzen schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts
·beschrieben wurden. Das Selbstverständnis beider Imperialisrnen, des sozusagen
innenpoliti11che11. der Napoleon11 1mil il11R 11.11ßfmpolitiRnhen zux Zeit des letzten
Höhepunkts der europäischen globalen Expansion, weist auf das Imperium Roma-
num zurück. Diese Analogie wurde durch die große geschichtsphilosophisuhe
Parallele mit dem Untergang Roms, der Entstehung des Christentums und der
Heraufkunft neuer Völker, deren Invasion von außen oder Aufstieg im Innern der
·neue Cäsar wehren sollte, vermittelt. Es nimmt nicht wunder; daß in diesem
Zusammenhang von Anhängern und Ideologen des Cäsarismus eifrig auf die ange-
sichts der <hohenden Gefahren notwendige Einheit und Einigkeit hingewiesen
wurde.
Neben der bereits erwähuten Möglichkeit, ein Kriterium daraus zu gewinnen, ob
man den Cäsarismus positiv als Aufhalter oder negativ als Verhinderer politischer
Entwicklungen wertete, ist noch auf zwei andere Gliederungsgesichtspunkte hinzu-
weisen. Der eine ist die Charakterisierung des Cäsarismus als nationales Phänomen
oder als sozusagen globales. Analog der von Tocqueville in seinem Amerikabuch
angewandten und klassisch zu nennenden Methode wurde die Beschreibung fran-
zösischer Zustände gewählt, um den. eigenen Landsleuten oder den anderen- euro-
päischen Nationen die „Signatur des Zeitalters" zu verdeutlichen. Im e;rsten Fall
wurde meist auf den französischen Nationalcharakter und ähnliche Invarianten
rekurriert, um die Definition des Cäsarismus als typisch nationales, sprich französi-
sches, Phänomen zu begründen.· Ein weiterer Gliederungsgesichtspunkt, der sich
mit dem oben entwickelten nicht immer zur Deckung bringen läßt, ist der, ob es
sich bei der Beschreibung des Cäsarismus um eine Adaption alter Begriffe an ein
neues Phänomen - wobei durchaus die hier untersuchten Begriffe im Sinne der
klassischen aristotelischen „Politik" Verwendung :finden können, durch die oft eine
Analyse vorgetäuscht wurde - pder aber um die An11.lyRP. AinP.s neuen Phänomens
handelt, dessen Neuheit auch reflektiert wurde. Meist deckte sich die Definition
des Cäsarismus als globaler Erscheinung mit dem .Hegreifen, daß es sich hier um
etwas Neuartiges handelt. In .diesem Sinne könnte man etwa von einer Soziologie
des Cäsarismus sprechen, die _von Tocqueville bis Max Weber entwickelt wurde.

727
Ciisorismus II. 1. Vom Monarchen zum 'Chef d'Etot'

II. 'Chef' und 'Führer'

1. Vom Monarchen zum 'Chef d'Etat' oder 'Staatsoberhaupt'

Der politische 'Führer'-Begri:ff gehört zu den zahlreichen Produkten des Säkulari-


sationsprozesses ursprünglich christlicher oder geschichtstheologischer Gehalte,
JOACHIM DI FIORE nannte denjenigen, der das Reich des Heiligen Geistes, das Zeit-
alter der Vollendung heraufführen werde, mit einem aus Matthäus 2,6 entlehnten
messianischen Hoheitsnamen „novus dux". Die Franziskanerspiritualen identifi-
zierten dann diesen messianischen Führer mit dem heiligen Franziskus, während
sich Cola di Rienzo im 14. Jahrhundert als „novus dux" im Sinne Joachims auf-
führte. Auch Dantes Dichtung zeigt Spuren dieser novus-dux-Auffassung1 • Diese
Hoffnung auf ein „Drittes Reich" tauchte dann nach vielen Zwischenstationen in
säkularisierter l!'orm im Italien des 19. Jahrhunderts („La Terzia Italia") und in
d1m ?.Wanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland (Moeller van den
Bruck) wieder auf. Auch die damit verbundene Vorstellung von dem das Dritte
Reich herbeiführenden „Duce" oder „Führer" stellte sich ein.
Wenn JEANNE n'ARc während des Prozesses von Rouen (1430) den König von
England in einem Brief als chief <k gucrre anredete 2, RO hi11lt RiP. 11ich. an den rund
hundert Jahre später in ROBERT EsTIENNES „Dictionnaire fran9ois-latin" wieder-
gug1il11:meu Sprachgebrs.uoh, wo vom ehe/ de guerre gleich imperatm uml vom ehe/
et capitaine d'une armee gleich dux eurcitus die Rede war 3 • Im selben Artikel wurde
übrig11ns imperatores erklärt mit: Toos ohefs d'arm.es, qui auoyent eu ce tiltre ou par
ordonnance du peup'le, ou par l' authorite du senat, ou par une ioyeuse acclamation de
leur armee, apres avoir /aict quelque beau /aict de guerre sur les ennemis 4 • Die fran-
zösischen Wörterbücher bringen bis zur Revolution nichts Neues 5 • 1660 wurde
Führer als capitaine, ehe/, conducteur - dux wiedergegeben8 , während PoMEY 1715
, Chef d'une armee mit dux, ... imperator ... Haupt einer Armee, ein Feldlterr über-
setzte7. SCHWAN verzeichnete 1787 eine interessante Parallele zu dem sich gleich-
zeitig durchsetzenden 'Staatsoberhaupt': Figürlich heißt Chef das Haupt, das Ober-
haupt eines VolkesB.
Der Begriff 'Chef d' etat' wurde im Ancien Regime mit einer bewußten Spitze gegen
das Gottesgnadentum entwickelt. So charakterisierte Boulainvilliers in seiner
„Histoire de l'ancien gouvernement de la France" die Epoche KarlR des Großen

1 Vgl. GÜNTHER BoRNKAMM, Die Zeit des Geistes, Heidelberger Jbb. 10 (1966), 3; ferner

KARL LöWITH, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 2. Aufl. (Stuttga.rt 1952), 136 ff.
2 Procea de Condamnation de Jeanne d'Arc, ed. RADIOND OURSEL (Paris 1953), 221.

3 ESTIENNE 2 8 ed. (1549), 103 f.


' Diese Erklärung erinnert von fern an den Satz des HIERONYMUS: EurcitUB facit impera-
t<J'rem; zit. EDMUND E. STENGEL, Den Kaiser macht das Heer, Studien zur Geschichte
eines politischen Gedankens (Weimar 1910), 40.
6 Vgl. PoMEY, Dict. royal (Ausg. 1680), 166; FURETIERE 38 ed., t. 1 (1708), s. v. chef; Dict.

de Trevoux, 28 ed., t. 1 (1721), 1711 f. u. folgende Auflagen; Dict. Ac. Fran9„ 48 ed., t. 1
(1762), 204 f. u. a.
8 Dict. fran9.-all.-lat„ dt. Tl. (1660), 161.
7 POMEY, Grand dict. royal, 5 8 ed„ franz. Tl. (1715), 161.

8 SCHWAN 28 ed., franz. Tl„ t. 1 (1787), 441.

728
n.· 1. Vom Monarchen zum 'Chef d'Etat'

als eine Zeit, wo une intime union de tous les MemlJ'l'es avec leur Chef, womit Karl
der Große gemeint war, bestanden habe9 • Sprach MoNTESQUIEU in den „Considera-
tions" noch von den ehefs des republiques qui font l'institution, als er die Gründe
der Größe Roms behandelte1o, so bezeichnete n'ARGENSON in seinem „Journal"
den roi als ehe/ du gouvernement11 • TURGOT gebrauchte 1751 den Begriff 'chef' mit
der typischen, gegen das absolute Königtum gerichteten Spitze, daß der König nicht
mehr maUre, sondern als ehe/ nur noch komme sei12 • Damit war angedeutet, was in
dem Wort Friedrichs II. vom König als dem ersten Diener seines Staates ausge-
sprochen wurde: daß nicht mehr der König das vornehmste Bezugsmoment der
politischen Ordnung war, sondern der Staat. Das implizierte in gewisser Weise eine
Desinstitutionalisierung des Königtums, das fürderhin mehr auf der Person des
„chef d'etat" oder Staatsoberhauptes beruhte als auf der Institution der Monarchie
als solcher. Damit wurde freilich der Monarch von den politischen Ereignissen, von
seiner „Fortune" mehr als zuvor abhängig. Dieser Prozeß ging parallel mit dem
Schwinden des alten Königtums von Gottes Gnaden, an dessen Stelle das „monar-
chische Prinzip" trat, welches zur legitimierenden Formel des vorkonstitutionellen
Staatsrechts wurde. Der Herrscher wurde Organ eines Staats, der als Anstalt,
Realperson oder juristische Person gedacht wurden.
Erscheint in dieser Abteilung der „Staatimhef" alR eine Art i1P.priw1.tiver Modus des
Monarchen, so wurden von Seiten RoussEAUS Momente beigetragen, die auf die
LuLalitären Demokratien vorausdeuteten. Das Volk in seiner Unfähigkeit, seinen
wahren Willen zu erkennen, bedurf~ nach Rousseau der guidesu, der chefs16, wie es
in ausdrücklicher Aufnahme des Montcsquieuschen Wortgebrauchs hieß. Macht und
Autorität konnten nicht mehr durch sich selbst, sie mußten durch Ideologie gerecht-
fertigt werden: Le plus grand talent dC8 ohefs cst de deguiser leur pouvoir pdur le
rendre moins odieux16• Im Kapitel des „Contrat social" über die Diktatur erschien
der Diktator als ehe/ supr~me17 , der allerdings noch traditionell bestimmt wurde:
Il peut taut faire, exceptt! de,, kiis.
'Chef d'etat' und 'Staatsoberhaupt' finden sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts
noch nicht in den Wörterbüchern. So erläuterte die 5. Aufl. des „Dictionnaire de
l'Academie Fran9aise" von 1800 das Wort ehe/ für den politischen Bereich mit

' HENRI DE BoULAINVILLIERS, Histoire de l'ancien gouvernement de la France, t. 1


(Den Haag, Amswr"llaw 1'727), 211.
10 MoNTESQUIEU, Considerations, Oeuvres compl., t. 2 (Paris 1951), 70.
11 RENE D'ARGENSON, Journal, t. 1 (Paris 1739), 283.

12 TURGOT, Oeuvres, t. 1 (Paris 1913), 283. Zur Interpretation vgl. REINHART KosELLECK,
Kritik und Krise (Freib\Jrg 1959), 119 ff.
18 Zur Frage des Gottesgnadentums vgl. OTTO BRUNNEB, Vom Gottesgnadentum zum

monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter,
in: Das Königtum, hg. v. THEODOR MAYER, Mainauvorträge 1954 (Lindau, Konstanz 1956),
279 ff., bes. 302 f.
H RoussEAU, Contrat social 2, 6. Oeuvres compl., t. 3 (1964), 332 ff. Der guide ist ~i Rous-
seau identisch mit dem UgiBl,ateur.
15 Ebd.

1 8 Ders., Art. Economie, Encyclopedie, t. 5 (1755), 340. Zu dem ganzen Zusammenhang


vgl. KOSELLECK, Kritik und Krise, 137 ff.
17 RoussEAU, Contrat social 4, 6.

729
Cäsarismus II. 2. Vom 'Chef' zum 'Führer'

folgendem. Satz: ll se dit figur6ment de celui qui est ala t6t8 d'un Oorps, d'une Assem-
blee, qui y a l,e premier rang et la principal,e autorite1 8 • CAMPES Verdeut.schungs-
wörterbuch (1808) erklärte acht Jahre später Okef mit Oberhaupt, Anführer, Haupt-
anführer19, was auf einen Wortgebrauch hinweist, der mehr mit dem militärischen
Bereich und weniger mit den politisch höchsten Rängen verbunden war.
Die Verfassungen und Kodifikationen der damaligen Zeit reflektierten die Tatsache,
daß der Monarch Organ des Staates geworden war. So wurde im „Allgemeinen Land-
recht für die Preußischen Staaten" von 1794 der König Oberhaupt des Staates ge-
nannt20, während, wenn von dem Leiter des Ressorts die Rede war, das Wort 'Chef'
benutzt wurde, z.B. Okef der J ustiz 21 . Die „ Charte constitutionellefran9aise" von 1814
bezeichnete den König staatsrechtlich als ckef supreme de l' etat 22 ; in der Bayerischen
Verfassung von 1818 findet sich der Satz: Der König ist das Oberhaupt des Staates 23.

2. Vom 'Chef' zum 'Führer'

Nun gab es aber noch eine andere Möglichkeit, das französische 'chef' im Deut.sehen
auszudrücken, und zwar eine, die sich mehr an den Sachgehalt von 'guide' und
'conducteur' anlehnte. Erschwert wurde dies durch eine Bedeutungsverengung des
Begriffs 'Führer' und seiner französischen Entsprechungen, die im Gegensatz zu
dem des 'chef' konkreter blieben. Findet man 1660 im „Dictionnaire Fran9ois-
Allemand-Latin" Führer mit capitaine, ckef, conducteur - dux übersetzt24, so gibt
SCHWAN 1782 für FiihrP-r nur noch menmtr, conducteur, directeur, inspecteur, guide 25.
Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeigen sich Ansätze, den Führer-Begri.IF aua
seinen engeren Bezügen zu lösen, um ihn zu politisieren. So etwa, wenn GEORG
FoRSTER vom Nordamerikaner sagte, daß er keines Herrn und ke·ines Pr·iesters
bedürfe; wenn er in den Krieg zieht, wählt er den Tapfersten seines Heeres z1im Führer 26 .
Die demokratisch-plebiszitäre· Komponente war hier genausowenig zu übersehen
wie bei WEITLING, der in den „Garantien der Harmonie und Freiheit" für das Über-
gangsstadium aus der jetzigen in die zukünftige Gesellschaft eine Diktatur forderte.
Auf die sich selbst gestellte Frage, wie man denn den Diktator finden könne, ant-
wortete er mit frappierender Naivität: Wer der erste aufsteht, wer der erste vorangeht,
wer am tapfersten aushält und dabei seine Lebenslage gleichstellt mit der aller übrigen,
ist Führer 27 • Hier erscheint wohl zum ersten Mal der 'Jführer', bei dem Weitling
an Rich selber gedacht hat, als Diktator demokratischer ProveD.ienz. Auch die

is Dict. Ac. Fran9., 5e M„ t. 1 (Ndr. 1800), Art. chef.


u CAMPE, Fremdwb. (Ausg. 1808), 179.
20 ALR, Einleitung,§ 80; § 2, II, 10; bzw. Oberhaupt im Staat:§ 2, II, 13.

11 ALR, Einleitung, § 50.


12 Charte Constitutionelle fran9aise (1814), Art. 14, zit. WILHELlll .ALTMANN, Ausgewählte
Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776 (Berlin 1897), 206.
18 ERNST RUDOLF HUBER, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1 (Stutt-

gart 1961), 142.


u Vgl. Anm. 6.
16 SCHWAN, dt. Tl., t. 1 (1782), 631.
18 GEORG FoRSTER, Schilderung des Nordens von Amerika, Sämtl. Sohr., Bd. 4 (1843), 178.
17 W1µ1EL111 WEITLING, Garantien der H11.rmonieundFreiheit (Vevey 1842), 262. 281 f.; Junge

Generation 1 (1842), 85 ff. Dieser Führer wird an mehreren Stellen der zweiteMe11aiaa genannt.

730
n. 3. 'Imperialismus' vor dem Begriffswandel Cäsarismus

messianische Komponente fehlte hier nicht, denn der Diktator sollte ein Führer in
das Zeitalter der Harmonie und Freiheit sein.
Zur selben Zeit taucht in einem deutsch-französischen Wörterbuch die Wendung
auf: Moses war der Führer des Volkes, was mit fut le conducteur du peuple de ...
übersetzt wurde 28• Die oberflächliche Bedeutung ist hier wohl die, daß Moses sein
Volk auf Gottes Geheiß ins gelobte Land führte, indem er·den Weg wies. Nimmt
man aber die Widerstände hinzu, die er überwinden mußte, um sein Volk von der
Notwendigkeit der Wanderung zu überzeugen, so erscheinen die Führereigenschaf-
ten in einem wesentlich anderen, wenn man will, politischeren Licht. Dazu kommt,
daß Moses das Werkzeug Gottes war im Rahmen des Heilsplans: der Führer des
auserwählten Volkes.
Diesem Auserwä.hltheitsbewußtsein begegnet man in säkularisierter Form mehr
oder weniger stark bei allen Völkern, die von cäsaristischen Herrschern beherrscht
werden. Meist fällt es mit dem Glauben ~n die Auserwä.hltheit des „Führers" zu-
sammen, der weniger als „großer Mann" im Sinne der Aufklärung oder des deut-
schen Idealismus 29 denn als „starker Mann" galt und in Krisenzeiten herbei-
gewünscht wurde. Ein bezeichnender Ausdruck dieser Hoffnung, die seit der Revolu-
tion vorhanden war, mit fortschreitender Verbesserung der Propagandatechniken
aber immer mehr manipuliert wurde, sind einige Verse EJUNVEL GEIBl!lLS aus
„Deutsche Klagen vom Jahr 1844", die in der Zeile gipfelten: 0 Schicksal, gib uns
einen, einen Mann! Die folgenden Zeilen sind für die sozialpsychische Disposition,
der cäsaristische Diktaturen ihre Entstehung mit verdanken, typisch geworden:
Was frommt uns aller Witz der Zeitungskenner,
Was aller Dichter ungereimt Gepwnkel
Vom Sand der Nordsee bis zum wald'gen Brenner/
Ein Mann ist Not, ein Nibelungenenkel,
Daß er die Zeit, den toll gewordnen Renner,
Mit ehrner Faust beherrsch' und ehrnem Schenkezao.
Zwei Seiten weiter findet m~n dann die in völkischen und faschistischen Ideologien
so geläufige Verbindung vom Wunsch nach dem starken Mann und dem Wunsch
nach einem Krieg als Einiger und Stahlbad der Nation:
Krieg! Krieg! Gebt einen Krieg uns für den Hader,
Der uns das Mark versenget im Gebein! -
Deutschland ist totkrank - schlagt ihm eine Ader/81

3. 'Imperialismus' vor dem modemen Be~wandel

Als weitere Komponente der hier untersuchten Begriffe ist das ältere Verständnis
von 'Imperialismus' zu behandeln, das erst in den achtziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts vom modernen Wortsinn abgelöst wurde. 'Imperialist' (engl.) und

11 MoZIN 38 M., dt. Tl., t. 3 (1844), 651.


18 Vgl. WILHELM DIETLEB, Bemerkungen über die Gröse des Menschen (Mainz 1786);
ebenso FluEnm<Jll SoHLEIEBMA<JllEB, 'Über den Begriff des großen Mannes (1826), SW
3. Abt., Bd. 3 (1835), 73 ff.
ao EmiANuEL GEIBEL, Juniuslieder, 18. Auß. (Stuttgart 1870), 181.
11 Ebd., 183.

731
Cäsarismus m. 1. Erste Ansätze zur Theoriebilduag
'imp6rialiste' (franz.), die im 16. Jahrhundert entstanden, wurden bis etwa 1800
hauptsächlich dazu benutzt, einen Anhänger des deutschen Kaisers zu bezeichnen.
Seit 1800 setzten sich die Wörter in beiden Sprachen allmählich zur Bezeichnung
eines Parteigängers Napoleons durch 32 ; impmaliste in diesem Sinne taucht zum
ersten Mal 1802 in einem Dictionnaire auf3 3 und ist 1826 im Deutschen als 'Imperia-
list' belegt34 • Imperialisrne begegnet zum ersten Mal 1791 im Sinne der alten
Bedeutung, nämlich zur Bezeichnung der Geisteshaltung der Anhänger des habs-
burgischen Kaiserhauses, was auch mit Uopolilisme wiedergegeben wurde3°. Dann
läßt sich das Wort in Frankreich seit 1836 als Bezeichnung für die politischen
Anschauungen der Anhänger Napoleons und seiner Verwandten nachweisens•,
wurde aber noch 1851 als Neologismus betrachtet37 - ein Zeichen dafür, daß das
Wort noch keine weite Verbreitung gefunden hatte. Die 3. Aufl. des Mozm gab
1843 für Imperialisme die Bedeutung Imperialismus, ... Lehre ... der Imperia-
listen, wobei letztere als Anhänger des Kaisers Napoleon oder eines Prinzen seiner
Familie definiert wurden88• Einen Hinweis verdient in diesem ZW!ll.mmenhang, daß
der neue Imperialismus-Begriff offenbar nicht gebraucht wurde, bevor die politi-
schen Bestrebungen Louis Napoleons mit dem Straßburger Putschversuch von 1836
offenkundig geworden waren. Weitere Verbreitung sollte der .Begriff erst finden,
a.la er nach 1851 .zwiammen mit 'Cä11arismwi', 'Napoleonismwi' und 'Bonapartismus'
allgemein und in allen politischen Lagern benutzt wurde.

m. Das Auftreten des ersten Napoleon, gesehen von Anl1ü11gern und Gegnern
l. Die ersten Ansätze zu einer Theoriebildnng
Das Aufkommen nachköniglicher Einherrschaftsformen, wie sie bald mit dem
Namen Napoleons verbunden wurden, war schon von einigen Aufklärern voraus-
gesehen worden (z.B. Diderot, Friedrich II. von Preußen). Die Prognosen stützten
sich dabei vorzüglich auf die historische Erfahrung bekannter Bürgerkriege, so des
Untergangs der römischen Republik oder auf die Herrschaft Cromwells als des
ersten modernen Usurpators einer Erbmonarchie. Theoretisch war damit verbunden
eine stillschweigende oder offene Umdeutung der überkommenen Tyrannis- und
Despotielehre als einer der Monarchie zugeordneten Weise der Kritik, sowie -
während der Französischen Revolution - eine Umdeutung der Diktaturlehre, die
bis dahin noch von der befristeten Dauer des altrömischen Verfassungsinstituts
ausging 39• Die Symptome kommender cäsarischer Herrschaftsformen wurden zu-
nächst aus dem langsamen Wandel der absolutistischen Monarchien abgeleitet. So
verwies F. K. VON MOSER auf das verfassungspolitische Pendant der Verstaatlichung

32 OED vol. 5 (1933), 86; ROBERT t. 3 (1955), 645.


33 Bo1sTE (1801), 232, e. v. imperial u. imperialiete.
34 Mozm 28 ed., franz. Tl., t. 2 (1828), 49.

3 5 Moniteur, Nr. 89, 30. 3. 1791, 361.


36 ROBERT t. 3 (1955), 645.
37 VICTOR Huao verwandte es z.B. in einer Kammerrede v. 17. 7. 1851; Actee et Parolee,

t. 1 (Paris 1882), 472.


aa Mozm 38 ed., t. 2 (1842), 67; ebd., t. 3 (1844), 991.
39 --+ Diktatur.

732
m. 1. Erste Ansätze zur Theoriebildung Cäs':ll'ismus

der Erbmonarchien, als er den allgemeinen Verfall der Landstände schilderte, die -
wenn überhaupt noch- nurmehr zur Geldbewilligung einberufen würden. Er stellte
bereits 1787 eine Prognose auf, die er mit Hilfe der großen Parallele aufschlüsselte:
Es geht auf eine Römisch-militärische Verfassung los, wie unter den Oäsaren, und
ihre Legionen und Lictoren, sie vertreten nun die Stelle der Landstände, die nach ver-
lorenen Volksrechten freilich nur noch der Schatten eines Leichnams waren40 •
WIELAND kam 1777 zu einem ähnlichen Ergebnis, als er umgekehrt das göttliche
Recht der Obrigkeit gegen das von Dohm vertretene absolute Widerstandsrecht
ständischer Repräsentanten verteidigte. Er argumentierte gegen die ständische
Volkssouveränität zwar empirisch zugunsten der Erbmonarchie; verlängert man
sein Argument aber in die Theorie hinein, so vindizierte er dem jeweils Stärksten ein
naturgesetzliches Herrschaftsrecht 41 • Wieland ging nämlich von dem Grundsatz aus,
daß in der menschlichen Natur ein angeborener Instinkt liege, denjenigen für unseren
natürlichen Obern, Führer und Regenten zu erkennen und· uns willig von ihm leiten
und meistern zu lassen, dessen Oberniacht wir fühle1i. Die Erbmonarchie bilde die
sanfteste Form derartiger Obrigkeiten, aber alle Bürgerkriege zeigten, daß das Volk
auch im Namen der Volksrechte seine Anführer find_e, daß sich immer der Stärkste
zum Oberhaupt der übrigen emporschwinge. Als Exempel dienten ihm Casar sowie
Oromwell, der von den europii.i1111hen Königen alR rMhtmii.ßieflr H!lrrRr.hm· anf\rkannt
worden sei. Wieland nahm eine naturrechtliche Reduktion der Verfassungsformen
vor, der zufolge die „.ffiinherrscho.ft" unter vci:schicdcnen Masken als Dauertypus
emporsteigt. Seitdem rückten die Könige funktional in den gleichen Rang ein wie
andere Obere, Führer oder Regcnten42 • Ohne daß sich Wieland mit dieser Theorie
identifiziert hätte, befähigte sie ihn zwanzig Jahre später, das Ende der ersten
französischen Republik vorauszusehen. Wiederum überschritt er die überkommene
Verfassungstypologie, als er im März 1798 seine bekannte Forderung und Prognose
eines Dictators, Protectors, Protarchonten formulierte. Und unbeschadet seiner eigenen
Rinst.ellung benannt.e Wieland bereits anderthalb Jahre vor dem Staatsstreich den
Mann, der berufen sei, euer und der ganzen Welt Retter zu werden: Bonaparte. Er
allein sei ein Mann, wie es in jedem Jahrhundert kaum einen gibt und dessen Genius
alle andern in Respekt zu halten und zu überwältigen wüßte, und er allein könne die
zwischen so vielen Parteien und Faktionen hin und her schwankende Demokratie in
ein geordnetes Staatswesen überführen49 • Wieland wurde nach dem Staatsstreich
Bonapartes wegen seiner Prognose von der „Times" fälschlich als dessen Propa-
gandist angegriffen. So rückte bereits die erste Analyse in das kommende Zwielicht
zwischen Für und Wider. Noch 1813 bestätigte GoETHE dem Verstorbenen: Da aber

40 FmEDR. KARL v. MOSER, Über die Regierung der geistlichen Staaten in Deutschland

(Frankfurt 1787), 166.


41 C. M. WIELAND, Über das göttliche Recht der Obrigkeit, oder über den Lehrsatz: „Daß

die höchste Gewalt in einem Staate durch das VoTh: geschaffen sei", AA 1. Abt., Bd. 21
(1939), 357 ff.
42 Die (geheimen) 'Oberen' und 'Regenten' gehörten damals auch zu den Rangbezeichnun-

gen der Freimaurer, besonders der Illuminaten; vgl. KosELLECK, Kritik und Krise, 63 ff.
43 WIELAND, Gespräche unter vier Augen, Gespräch 2: Über den Neufränkischen Staatseid:

„Haß dem Königtum!", SW Bd. 32 (1856), 33 ff. 53. Dazu die Analysen von FRITZ
MARTINI, Wieland, Napoleon und die Illuminaten, in: Un Dialogue des Nations, Melanges
Fucns (München, Paris 1967), 65 ff.

733
Cäsarismus m. 1. Erm Ansitze mur Theoriebildung
der 1.'umult der Anarchie immer heftiger ~ird und eine freiwillige Vereinigung der.
Masse undenkbar erscheint, so ist er der erste, der die Einherrschaft wie.der anrät und
den Mann beuichnet, der das Wunder der Wiederherstellung vollbringen werde".
Im gleichen Jahr, in dem Wieland seine Prognose auf Grund der Durchbrechung
der überlieferten Verfassungstypologie formulierte, entfaltete J. G. SCHLOSSER noch
einmal die prognostische Relevanz der Regeln der klassischen Politik, die durch
das Ereignis der Revolution freilich bereits ihren Inhalt verändert hatten. Im Kom-
mentar zu seiner Übersetzung von Aristoteles' „Politik" wies er für die Zeitgenossen
deutlich genug auf Bonaparte hin: Falls das gewaltsame Regiment in Frankreich durch
Beendigung der Revolutionskriege nicht ein bürgerliches werde, sei der Militär-Staat
unvermeidlich. Dann werde nämlich ein Tyrann ähnlich wie Cromwell, der die eng-
lische Revolution abschloß, die Franzosen in ein noch härteres Joch spannen 46 •
Wenn Wieland die pro~ostische Konsequenz einer naturrechtlichen Theorie zog
oder Schlosser versuchte, die Französische Revolution in eine politische Kontinui-
tü.t, nii.wlich Ge1mhichteal1:1 TrailiLiun 48 , einzuholen, 1:10 enLhielLeu iliel:!e Pul:!iLiunen
in nuce bereits die oben skizzierten zwei möglichen Formen der Adaption, die das
ganze 19. Jahrhundert durchzogen, nämlich die traditionelle, an den Begriffen der
klassischen „Politik" orientierte Analyse des 'ßonapartismus' oder 'Cäsarismus'
einerseits und die in ihnen eine Signatur der revolutionären Epoche erkennende,
später meist soziologisch fundierte Analyse andererseits.
Mit dem Aufstieg Napoleons I. geriet jede Diagnose und Prognose sofort in den
Streit zwischen Anhängern und Gegnern. Über die bisherigen, in Ansätzen vorhan-
denen geschichtsphilosophischen Verortwigen und verfassungst)'Jlologischen Ein-
ordnungen hinaus wurde mit der Expansion des napoleonischen Frankreich auch
eine nationalpolitische Stellungnahme unumgänglich. Aber der Zentralpunkt aller
Deutungen war und blieb auch für die Theorie des Bonapartismus oder Cäsarismus
das Verhältnis der Napoleone oder des Cäsars zur Revolution. Von der Revolution
her empfingen alle verfaseungepolitischen und geschichtsphilosophischen Parallelen
ihre Relevanz, und sie verlieh auch noch manchen nationalen Positionen, beson-
ders nach dem Sturz Napoleons I„ eine eigentümliche Ambivalenz. Parallelen von
Napoleon zu Karl dem Großen etwa 4 7 oder zu Friedrich II. von Preußen 48 erreich-
ten nicht im entferntesten dieselbe Bedeutung in unserem Zusammenhang wie die
zu Cäsar und Alexander411 oder gar die schon von Moser, Wieland und Schlosser

" GOETHE, Zu brüderlichem Andenken Wielands (vorgetragen in der Logenfeier am 18. 2.


1813), WA Bd. 36 (1893), 332. Dazu MARTINI, Wieland, 75.
46 ÄRISTOTELES, Politik und Fragment der Oeconomik, dt. v. JoH. GEORG SCHLOSSER

(Lübeck, Leipzig 1798), 331, Anm.115; 353, Anm. 138 zum 3. Buch; vgl. dazu MANlraED
RIEDEL, Aristoteles-Tradition am Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Alteuropa und die
moderne Gesellschaft. Fschr. ÜTTO BRUNNER (Göttingen 1963), 278 ff., bes. 314.
' 8 Zu Schlossers Gegensatz zu den „Traditionalisten" in diesem Zusammenhang vgl.
RIEDEL, Aristoteles-Tradition, 283.
' 7 CARL Lunwm v. WoLTMA.NN, Carl der Große und Buonaparte (1804).
' 8 Wie siez. B. von JoH. GOTTFRIED SEUME (1806/7), wenn .auch im antinapoleonischen

Sinn, verwendet wurde und später im Sinne des Heldenkults das ganze Werk Carlyles
durchzogen; Prosaschriften, hg. v. Werner Kraft (Darmstadt 1962), 1378.
49 JoH. lsAA.K FRH. v. GERNING, Bonaparte 1800, in: Fremdherrschaft und Befreiung

(1795-1815), hg. v. ROBERT F. ARNOLD (Leipzig 1932), 14 f.

734
W. 1. Erste Ansätze zur Theoriebildung Cäsarismus

evozierten zu Cäsar und Cromwell, die mit gutem Gespür für politische Wirkung
von der bonapartistischen Propaganda sofort aufgenommen wurden. So veröffent-
lichte LucIEN BONAPARTE, ein Bruder Napoleons, 1800 eine Broschüre mit dem
Titel: „Parallele entre Cesar, Cromwell et Bonaparte".
Diese Parallelisierungen entfalteten eine Dialektik, die durch ihre rasche Abnut-
zung, d. h. Multiplizierung und Biologisierung signalisiert wird. Sobald sich die
Emanzipation der Geschichte als eigenständige Realität von der „Politik". voll-
zogöo - „Politik" als Kunst, welche auf der Natur des Menschen beruhte, die nur
insoweit geschichtlich war, wie er sich ethisch und politisch verhielt - wurde der
exemplarische Charakter der historischen Ereignisse und damit auch jede histori-
sche Parallele eigentlich hinfallig. Andererseits wurde aber mit der Verselbständi-
gung der Geschichte als Prozeß eine Bestimmung des eigenen Standorts in diesem
Prozeß doppelt notwendig, woraus die Relevanz der geschichtsphilosophischen
Parallele mit dem Untergang Roms und dem Aufstieg des Christentums und der
Germanen und der verfässungstypologisohen, die Napoleon mit Ciisar und Cromwcll
verglich, resultierte. Der strukturadäquate Versuch, nämlich die Standortbestim-
mung mittels eines Ablaufmodells von Revolutionen, etwa Reformation, Französi-
sche Revolution, zuküiiftige soziale Revolution, war damals noch nicht unter-
nommen worden. Deshalb war auch die mit verschiedener Wertung vorgebrachte
Boho.uptung, Napoloon habo dio Revolution vollcndot, bocndot oder überwunden,
umso einleuchtender. Dabei stand das Verhältnis Napoleons zu dem einen inhalt-
lichen Moment der Revolution, der Gleichheit, und damit das Problem der Einheit
von Demokratie und Diktatur, Revolution und Napoleon im Vordergrund des
Interesses. Als sich dann in späteren Jahrzehnten die soziale Revolution des Prole-
tariats anzukündigen schien, verlängerte sich dieses Problem zu dem von cäsaristi-
schem Herrscher und Arbeiterbewegung.
Die geschichtsphilosophischen Einordnungen Napoleons und des Cäsarismus als
Beschleuniger oder Aufhalter der Revolution, die ebenfalls das ganze 19.•Jahrhun-
dert durchziehen sollten, wurden bereits zu dessen Beginn deutlich markiert. Die
Radikalen begrüßten ·den Napokonismus als Inbegriff der Herausschleuilerung der
Französischen Revolution auf ganz Europa, als Beschleuniger der Europäischen Revo-
lution61. Für Woltmann war 1804 Napoleon der einzige, welcher die Revolution in
ihrem Wesen begriff und deshalb nie SchwlJ,rmer far sie werden konnte; daher sei es
ihm auch gelungen, die Revolution in dem Moment festzuhaUen, da .AJles zu erlöschen
schien, was sie verheißen hatte62 • Indem Napoleon die Intelligenz der Welt um sich
versammele, erweise er sich als der wahre Universal-Monarch 63 • Neben den ge-

GO Vgl. RIEDEL, Aristoteles-Tradition, 315. In Deutschland wurde diese Entzweiung zuerst


koJ111tatiert von dem Jenenser Historiker WoLTMANN (s. Anm. 47): die Kantische Philo-
sophie und die Französische Revolution hätten das aUe Band zwischen Politik und Ge-
schichte fast zerrissen; vgl. Woltmanns Vorrede zu seiner Zeitschrift „Geschichte und
Politik" (1800), 6 f.
u Zit. JOHANNES ROGALLA v, BIEJIERSTEIN, Die These von der Verschwö~ der Philo-
sophen, Freimaurer, Illuminaten und „geheimen Gesellschaften" 1789-1825 (Magister-
arbeit Bochum 1968; Mschr.), 65.
62 WoLTMANN, Die Feldherrn der Französischen Republik (1804), zit. Nemesis 3 (1814),
314.
53 WoLTMA.NN, Carl der Große und Buonaparte, zit. Nemesis 3 (1814), 318.

735
Cäsarismus m. 1. Erste Ansätze zur Theoriebildung
schichtsphilosophischen Einordnungen liefen die Versuche einher, Napoleon ver-
fassungspolitisch zu deuten. Die in Napoleon realisierte Einheit von Demokratie
und Diktatur wurde z. B. 1805 von FRIEDRICH BUCHHOLZ apostrophiert. Er sah im
18. Brumaire die Ankündigung eines neuen Leviathan, dessen Voraussetzung die
Lösung des Problems, die Einheit der Gewalten (Monarchie) mit dem Fundamental-
gesetz der Gleichheit ... zu vereinbaren, durch Napoleon sei. Damit sei jeglicher
Dualismus überwunden: Auf diese Weise bildet die Re.gierung ein Ganzes°'.
Im Gegensatz zu den eben Genannten erkannte JOHANN GOTTFRIED SEum: (1806/07)
gerade einen Zwiespalt zwischen der Revolution, der in der Weltgeschichte das Ver-
dienst gebühre, zuerst Grundsätze der Vernunft in das öffentliche Staatsrecht getragen
zu haben, und Napoleon, der nach Willkür handle und deshalb seinen Beruf ver-
sä~t habe, der Fixstern der politischen Vernunft zu werden. So begnügte er sich
damit, ein Komet zu sein, der Zerstörung droht. Seine Macht komme nicht von
ungefähr, denn wären die Fürsten nicht bloß Geißel der Länder und Freiheit und
Gerechtigkeit verwirklicht, dann würde er eben nicht herrschen können. Der Kern
der Argumentation Seumes ist wohl in jenem Satz zu erblicken, daß, ließe man die
Grundsätze der Vernunft wieder sterben, ... jeder Weltteil seinen sublimierten Bona-
pwrte verdiente 66 • Da.mit war zum ersten Mal Bonaparte als 'l'ypus des nachrevolu-
tionären Zeitalters bezeichnet, eineR 7.eit.J1,lt-ArR, welc.hes nach Seum.e eben die rovo
lutionären „Grundsätze der Vernunft" nicht realisiert hatte und deshalb die Herr-
schaft der Willkür und Zerstörung erdulden mußte.
Die Deutungen der Philosophie HEGEJ:.S als Philosophie der 'Französischen Revolu-
tion66, die zutreffend seine „Rcchtsphilo1mphie" von 1820 in den Mittelpunkt
stellen, da· Hegel den Sinn der Revolution in der Verwirklichung der Freiheit und
Rechtsfähigkeit aller Menschen begriff, legen es nahe, kurz auf Ilegels Verhältnis
zu Napoleon einzugehen. Hegels Versuch, „die Revolutionierung der Wirklichkeit
unter Abzug der Revolution selbst vor dem Begriff zu legitimieren" 67 , ließ ihn in
Napoleon den Überwinder der Revolutionäre und den Hüter einer revolutionierten
Ordnung begrüßen. Aber im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen sah
Hegel, für den die Emanzipation mit der Monarchie eng verbunden war, in Napoleon
einen Monarchen, der mit seinen Kodifikationen die Emanzipation garantierte,
und keinen Despoten. In seiner zwischen 1799 und 1802 ausgearbeiteten Kritik an
der Verfal!1:mng des Deutschen Reiches hoffte Hegel wie Machiavelli auf einen
Theseus, der den gemeinen Haufen des deutschen V olkR.s nebst ihren La.ndständen ...
durch die Gewalt eines Eroberers in eine Masse versammelt. Die deutschen Völker-

64 FRIEDRICH BUCHHOLZ, Det neue Leviathan (Tübingen 1805), 152 f. Vgl. auch von der
anderen Seite die Bemerkung des damaligen russischen Gesandten in Berlin, MiltKov:
e'e8t taut le jaeobinisme renferme dans un seul homme et arme de tous les instrument8 revolu-
tiimnaire8; zit. F. CH. SCHLOSSER, Geschichte des 18. Jahrhunderts und des 19. bis zum
Sturz des französischen Kaiserreichs, 3. Aufl., Bd. 3 (Heidelberg 1844).
65 SEUME, Prosaschriften, 1287. 1309. 1387.

5& Vgl. JOACHIM RITTER, Hegel und die Französische Revolution (Köln, Opladen 1957);
MANFRED RIEDEL, Tradition und Revolution in Hegels „Philosophie des Rechts", Zs. f.
Philos. Forsch. 16 (1962), 203 ff.; JÜRGEN HABERMAS, Hegels Kritik der Französischen
Revolution, in: Theorie und Praxis (Neuwied 1963), 89 ff.
57 HABERMAS·, Hegels Kritik, 91.

736
m. 1. Erate .An.ätze zur l'heoriebildung Cäsarismus

schaften ... müßten gezwungen werden, sich zu Deutschland gehörig zu betrachten 58•
Diese Hoffnung kann nur verstanden werden auf dem Boden einer Theorie, die durch
die Reflexion des Widerspruchs des Existierenden - hier die tatsächliche Lage des
Deutschen Reiches - mit seinem eigenen Begriff - hier die Reichseinheit - dieses
zur Selbstaufgabe zwingen wollte. Diese praktische Aufgabe hatte Hegel 1798 in
seiner Kritik der WürttembergischenMagistratsverfassung der Theorie zugewiesen 69 •
Hegel hat aber den cäsaristischen Herrscher - Max Weber und Friedrich Naumann
forderten 100 Jahre später ein „soziales Kaisertum", das die innenpolitische Struk-
tur Deutschlands den außenpolitischen Erfordernissen eines Nationalstaates im
Zeitalter der Industrialisierung und Weltpolitik anpassen sollte - nicht mit
Napoleon identifiziert, ja ganz im Gegenteil das monarchische Staatsprinzip selber
in Napoleon verkörpert gesehen. Die Akklamation Napoleons als des berittenen
W eltgfliRtR.R hfl<lm1tfltR. nicht, daß Hegels Rede in der „Phänomenologie des Geistes"
vom erscheinenden Gott, den der Philosoph erscheinen läßt, Napoleon meinte 6 0; sie
meinte die Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit in dem die Freiheit garan-
tierenden Sittengesetz, das in der Sphäre des Rechts verwirklicht wurde. Die
staatsrechtliche Form dieser Verwirklichung war, wie die „Rechtsphilosophie"
ausweist, die konstitutionelle Monarchie. In diesem Sinn hat Hegel dann Napoleon
als den großen Staatsreclitsleltret' ·in Pur·is 61 aput1Lruphiert. Abgel:!ehen von der um
1800 ausgesprochenen nationalpolitischen Hoffnung auf einen cäsaristischen Herr-
scher, der die Reichseinheit herstellen sollte, eine Hoffnung, die auf Grund der
Zertrümmerung des Reiches durch Napoleon gegenstandslos geworden war, finden
sich bei Hegel keinerlei Neigungen dieser Art. Sein Verhältnis zu Bonaparte war
sozusagen von allen bonapartistischen Beimengungen frei. .
Nach der Niederlage Napoleons suchte das nationale Lager den Sieg zur Ächtung
aller Bonapart.istfln 11.m1:r.11nutzen. Unter diese fielen alle Lobredner des Kaisers in
der Zeit des vaterländischen Unglücks. Es gelte jetzt, sie einzeln namhaft zu
machen, damit sie fort und fort gehlYtig ausgeschieden blieben aus dem Volke 02 •
Dem gleichen Zweck diente ein Aufsatz von HEINRICH LuDEN 63 • Er ordnete die
besiegten Mitläufer, die sich aus den sogenannt Gebildeten und ehemaligen Republi-
kanern rekrutierten, sich Demokraten und Freiheitsfreunde nannten, Leute in mitt-
leren Jahren waren und der Philoso-phie und der Geschichte, ... die Mathematik und
die Statistik vorzuziehen pflegten, semantologisch ein: Man erkenne sie an ihrer
eigentümlichen Sprache, woraus man s·icli besonders folgende Liebz.ingswU'rle merke:
Geist der Zeit, Fortschreiten mit dem Zeitgeiste, Kultur, liberale Ideen, Zivilisation,
Organisation, Toleranz, Humanitiit; veraltet, Altfränkisch, Feudalitiit, Bigottismus,
Anarchie, Finsternis des Mittelalters. Im Zuge seiner politischen Sprachrevision
versuchte Luden auch, den revolutionären Verfassungstyp neuen Stils zu definieren.
Für ihn war Napoleon der Testamentsvollstrecker Rousseaus: Einheit, Unteilbar-

68 HEGEL, Die Verfassung des Deutschen Reichs, hg. v. G. Mollat (Stuttgart 1935), 120.
69 l!ABERMAB, Hegels Kritik, 97.
60 So ALEXANDRE KOJEVE, Introduction a la lecture de Hegel (Paris 1947), 153, bezogen

auf HEGEL, Phänomenologie des Geistes, SW Bd. 2 (1927), 516.


61 Briefe von und an Hegel, hg. v. JOHANNES HoFFMEISTER, Bd. 1 (Hamburg 1952), 185.
82 Buonaparte und Woltmami., Nemesis 3 (1814), 309.
63 HEINRICH LUDEN, Die Buonapartisten in Deutschland, Nemesis 3 (1814), 72 ff.

47-90385/1 737
Cäsarismm DI. 1. Ente Amätze zur Theoriebildung

keit, Unveräußerlichkeit d,er Souveränität hat Rousseau geford-ert, Buonaparte geschaf-


fen. Den „Contrat social" legten die Bonapartisten nach Luden so aus: Alles muß
für das Volk, gar nichts von d,em Volke selbst geschehen; d,e, Regent regiert ja nicht mit
seinem Willen, sond-ern mit Mm Gesamtwillen; er repräsentiert sein Volk; wie ist d,enn
neben ihm noch ein Repräsentant d,enkbar? ... J ed,e Selbständigkeit irgend-eines Glied-es
in d,er Staatseinrichtung ist wid,ersinnig; sie wiMrstrebt d,er Einheit und Unteilbarkeit.
Die naheliegende Verwechslung eines ponapartistischen Regimes mit dem Absolu-
tismus wurde abgelehnt, weil dieser Vergleich noch zu günstig sei. Die Bonapar-
tisten gingen nämlich nur scheinbar auf die unbeschränkte Monarchie aus, in Wirk-
lichkeit strebten sie aber einen oligarchischen Despotismus wie in Ohina an, womit
unter Verwendung eines altbekannten Topos das Urteil über die Bestrebungen
dieser Richtung gesprochen war.
Daß das Selbstverständnis Napoleons und die Einschätzung selbst durch ihm
feindlich gesinnte Zeitgenossen sich deckten - wenn auch jeweils mit anderem
Vorzeichen - geht aus der Behauptung KOPPES hervor, daß Bonaparte nie etwas
and-eres gewesen sei als die personifizierte Revolution in einem ihrer Stadien und daß
mit seinem Verschwinden nur ein Stadium d,er Revolution beendigt sei, aber keines-
wegs die RevolutionH, - was an Napoleons Wort erinnert, daß die Revolution
nach ihm so weitergehen werde, als wenn man ein Buch an derselben Stelle wieder
aufschlage.
NAPOLEON selbst betonte des öfteren, so z. B. in einer Rede im Corps legislatif im
Januar 1814, die demokratische Komponente seiner Herrschaft im Sinne RoW:1seli.W:1
gegenüber den Repräsentanten der Nation: Ich allein bin d,e, wahre Stellvertreter
des Volks ... Der Thron ist nur ein Ding von Holz mit Sammet überzogen 66 • Der
Ablehnung einer überweltlichen Legitimation entsprach die demokratische, für den
Cäsarismus typische Legitimation.
Die Legitimation überhaupt wurde aber Napoleon von vielen seiner Gegner be-
stritten und seine Herrschaft herkömmlich als 'Usurpation' qualifiziert. Diesen
Begriff benutzte BENJAMIN CoNBTANT im Frühjahr 1814 synonym mit dem später
entstandenen 'Cäsarismus' 66 • Constants Schrift enthielt wohl die erste ausgearbeitete
Theorie des Cäsarismus. Sie hielt sich in der Schwebe zwischen einem auf traditio-
nelle Begriffe rekurrierenden und einem die Neuartigkeit des Phänomens und damit
atich seine Gefährlichkeit reflektierenden Ansatz. Constant demonstrierte die Merk-
male dieser usurpatiun durch einen Vergleich mit der Monarchie, welche durch
intermediäre Gewalten, durch Tradition und dadurch, daß man im Monarchen
weniger ein Individuum mais une race entiere d,e rois, u~ tradition de plusieurs
siecle., sehe, charakterisiert wurde. Ganz anders die usurpation, deren Merkmale
seien: die individualite d,e l'usurpateur, des ehe/ unique, die sich par l'opposition qui
existe entre elle et tous ~s interets anterieurs in einem etat perpetuel d,e defiance et
d'hostilite befä.nde67 • Constant entwickelte dann die differentia specifica des regime

84 K. W. KOPPE, Die Stimme eines preußischen Staatsbürgers in den wichtigsten Angelegen-

heiten dieser Zeit (Köln 1815), 45.


86 Zit. ARNDT, Erinnerungen aus dem äußeren Leben, Werke, Bd. 7 (1908), 191.
88 BENJAMIN CoNSTANT, De l'eeprit de conqullte et de l'usurpation dans !eure rapporte

avec la civilieation europeenne, Oeuvres, Cd. AHred Roulin (Paris 1957), 983 ff.
87 Ebd., 1027. 1029.

738
m. 2. Die Bonapartisten in Deubeh1aad Cäsarismus

d,e l'usurpation zur Monarchie: es verdanke seine Entstehung der Armee und könne
sich nur gestützt auf diese erhalten68 ; andererseits genüge eine einzige Niederlage,
um es zu beseitigen69• Es bediente sich im Gegensatz zum Despotismus aller Formen
freiheitlicher Meinungsäußerung, besonders auch der öffentlichen Meinung, korrum-
piere aber dadurch die Freiheit selbst 70 • Trotz des Hinweises auf die weltgeschicht-
liche Parallele mit dem Verfall Griechenlands und dem Untergang Roms, an deren
Beginn jeweils Usurpatoren wie Philipp und Cäsar gestanden hätten 71, umging er
die daraus ableitbare Untergangsprognose. Die Herrschaft eines Usurpators werde
nur ermöglicht durch die Invasion von Barbaren oder das Hochkommen ungebil-
deter Massen, die stark vom herrschenden Standard abwichen. fo Frankreich sei
dieser Einbruch durch die Revolution erfolgt, aber deshalb weniger gefährlich und
weniger von Dauer gewesen, da die Differenz der verschiedenen Klassen geringer
gewesen sei als in Griechenland und Rom72 •
Diese optimistische Wendung der großen Parallele ging auf Constants optimistische
Geschichtsauffassung zurück, die von der Aufklärung und der Rationalisierung
politischer Entscheidungen den Fortschritt erwartete. Für sie war im Frühjahr 1814
Napoleon nur eine, wenn auch unliebsame Episode gewesen, deren Charakteristika.
zwar scharf erkannt, deren Bedeutung als eine Signatur des Zeitalters von Uonstant
aber nicht gesehen werden. konnte.
Weniger täuschte sich KARL VOLLGRAFF über die Dauer der beobachteten Erschei-
nungen (1828/29). Bei ihm wurde zum ersten Mal die große Parallele explizit als
geschichtsphilosophisohos Gesetz gefaßt, indem er auf die seit JahrhundP.rten ge-
läufige Analogie zwischen biologischen Lebens-, vor allem aber Altersprozeß und
der Geschichte zurückgriff und sie systematisierte. Vollgraff behauptete, daß die
germanisch-slavischen Völker schon llingst d,en Zertitlt . . . ilirer charakUristi&chen
Lebensent111ir:klung überschritten und sonach "längst sich gerad,eso auf dem Rückwege
befänMn, wie einst die (}riechen nach Alezand,er und die Römer nach Oäsar73 • Ähnliche
geschichtsphilusophische Konzeptionen begleiteten auch später die Ausarbeitung
des Bonapartismus- oder Cäsarismus-Regriffs und verliehen ihnen eine spezifische
historische Tiefendimension.

2. Die Bonapartisten in Deutschland. Das Beispiel Heines

Die Entstehung der Napoleonlegende in Deutschland war an zwei Bedingungen


gebunden: an die Niederlage Napoleons und an die nach 1815 einsetzende Reaktion.
An das Unglaubliche grenzt die Umwandlung d,er Stimmung gegen Napo"leon, hieß es
schon in den frühen zwanziger Jahren in einem Brief an FRIEDRICH PERTHES, der
in Anbetracht der um sich greifenden Heldenverehrung replizierte: Napoleon wird
noch Mr Götze der Zeit werden. Schon jetzt sehnen sich vie"le, daß auf das neue ein

88 Ebd„ 1032.
88 Ebd„ 1043.
70 Ebd„ 1037 f.
n Ebd„ 1039 ff.
a Ebd„ 104i f.
73 KARL VoLLGRAFF, Die Systeme der praktischen Politik im Abendland, Bd. 1 (Gießen

1828), Einleitung; Bd. 3 (1829), 393 f.

739
Cäsarismus m. 2. Die Bonapartisten in Deutschland
solcher Despot erscheine ... .Aus Stimmungen, wie sie jetzt herrschen, gäkren Drachen
au/ 74• 1830, anläßlich der Julirevolution, war dann selbst der gemäßigte Perthes
der Ansicht, daß Frankreich eines großen Despoten und Europa eines großen Mannes
bedürfe. Eine Vorstellung, die sich dann später im Zeichen der achtundvierziger
Forderungen nach Nationaleinheit zum Wunsch nach einer „letzten Diktatur"
durch den „letzten aller Diktatoren" verdichtete 75• Perthes fügte einige Jahre später
hinzu, weder rechts nock Zinks, weder Hock und Niedrig noch Jung und Alt ließen
sich durch kümmerliche Polizeiverbote zur Ruhe bringen. Wie sehr die Sehnsucht
nack gewalti,gen Individualitäten die verschiedenen Verfassungspositionen durch-
kreuzte, zeigten seine weiteren Feststellungen: .Alle Welt sehnt sick trotz ihres
Liberalismus, beherrscht zu werden, und deshalb habe man gegenwärtig (1834) Gott
zu danken, daß die Geschickte, um den Menschen die Freiheit zu bewahren, Monar-
chen, d. k. Fiktionen gewaltiger Individuen geschaffen und ihnen die Macht gegeben
kat, die wirklich gewaltigen Individuen unsckädlick zu machen 76 • Hier wurde wohl
zum ersten Mal die Monarchie als Aufhalter des Bonapartismus oder Cäsarismus
im vollen Bewußtsein der Tatsache begriffen, daß sie selbst cäsaristisch zu werden
begann 77 •
So färbte der napoleonische Schatten selbst das monarchische Prinzip ein, wie um-
gekehrL ELIAS REGNAUL'l' (1842)7 8 frohlocken konnte: Le8 revolutions d'autrefois
n'etaient que des ckangements de dynastie; grdce au sabre de N apoUon, ks ckangements
de dynasties ne seront que des essais malheureux et des modifications sans duree. Es
gelte die Revolution von 1789 in diesem Si.im zu vollenden ( compUt,er). So verstan-
den kam auch in den liberal-demokratischen Gruppen des „Jungen Deutschland"
eine Art bewußter Bonapartismus auf, der sich als antifeudalistisch, antiaristo-
kratisch und antikirchlich, mit einem Wort als antilegitimistisch verstand. Die
Napoleonlegende diente im vormärzlichen Deutschland sowohl der Heldenver·
ehrung in fast allen Schichten der Bevölkerung79 als auch dem Wachhalten liberaler

1<1Friedrich Perthes' Leben, bg. v. CLEMENS THEODOR PEBTHES, 6. Aufl., Bd. 3 (Gotha
1872), 281.
71 JoH. GEORG FISCHER in einem Gedicht vom Februar 1849, in: ARTHUR MENNEtL/

BRUNO GABLEPP, Bismarck-Denkmal für das Deutsche Vollt (Chicago, Berlin 1895), 148.
n Ebd., 314. 369. 406.
77 Eine Erkenntnis, die hundert Jahre später durchaus noch aktuell und alles andere als

weit verbreitet war. CA.BL SCHMITTs Hüter der Verfassung (Tübingen 1931) hätte im
Idealfall eine Art republikanischer Monarch im Sinne von Perthes sein sollen (s. Anm. 189).
78 ELIAS REGNAULT, Art. Empire, DuCLERC (Ndr. 1868), 363.

„ In diesem Zusammenhang muß auch THOMAS CABLYLE und sein Einfluß in Deutschland,
der freilich der einer bereits durch den deutschen Idealismus vermittelten Tat- und Heroen-
ethik war, erwähnt werden. „On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History" er-
schien 1841, vier Jahre nach Carlyles „History of the French Revolution". Bezeichnender-
weise waren seine anderen historischen Arbeiten Cromwell („Cromwell's Letters and
Speeches", 1845) und Friedrich II. („Frederick the Great", 1858-1865) gewidmet. Sein
Buch über die Heldenverehrung erlebte in Deutschland zwischen 1846 und 1898 immerhin
drei Auflagen. Carlyles Affinität zum Cäsarismus wurde bei WAGENER Bd. 5 (1861), 95,
Art. Carlyle zutreffend erkannt: Carlyle treffe mit jener Grurulrichtung unserer Zeit zu-
&ammen, welche kräftigen GeiBtern nur zu leicht den G~uben an eine eigene me&&ianiBche

740
m. 2. Die Bonapartiaten in Deutschland Cä1arümua

Ideen bei den Radikalen. Bei letzteren kam noch die Hoffnung hinzu, mittels einer
Diktatur national-demokratischer Provenienz in das System der Metternichzeit
eine Bresche zu schlagen80• Der Haß, mit dem die radikalen republikanischen Publi-
zisten, wie z. B. der junge Görres, nach dem 18. Brumaire Napoleon als Verräter
der Freiheit verfolgten81, war schon lange vergessen.
HEINRICH HEINE war Zeit seines Lebens einer der eifrigsten Anhänger eines ideali-
sierten Napoleon, eines Bildes von Napoleon, das er 1828 so beschrieb: ieder Zoll
ein Gott! ... Sein Name schon klingt uns wie eine Kunde der Vorwelt und ebenso amik
und heroisch wie die Namen .Alexander und Oäsa,,&. Die Parallelisierung von Napo-
leon mit .Alexander und Cäsar war zu dieser Zeit schon ein Topos geworden, der
gleichzeitig die Gelegenheit bot, die große Parallele zu evozieren. Das von Heine
entworfene Bild Napoleons eignete sich vorzüglich als Losungswort einer ästhetisch-
individualistisch ausgerichteten, politisch gesehen liberal-demokratischen Oppo-
sition _gegen die damaligen deutschen Zustände.
Im März 1832 hatte Heine über die bonapartistische Poesie und deren Gefahren
für die Regierung Louis-Philipps berichtet und von Volksdichtern gesprochen, die
als Tyrüien des Bonapartismus bekanm sind83• Anläßlich des Todes des Herzogs von
Ileichstadt gab Heilnl elliige Mu11aw 1:1päwr ei11e Beschreibung dieses Bonapartis-
mus. Er unterschied Bonapartisten, die an die Auferstehung des Fleisches glaubten
und für die jetzt alles zu Ende sei, von denen, die an die Auferstehung des Geistes
glaubten, wozu er sich offenbar auch selber rechnete. Der Bunapartismus ist fw
diese nicht eine Überlieferung der Macht durch Zeugung und Erstgeburt; nein, ihr
Bonapartismus ist fetzt gleichsam von aller tierischen Beimischung gereinigt, er ist ihnen
die Idee einer .Alleinherrschaft der höchsten Kraft, angewendet zum Besten des Volks,
tm.d wer die.se Kraft hat und sie so anwendet, den nennen sie Napoleon II. Wie Oäsar
der bloßen Herrschergewalt seinen Namen gab, so gibt Napoleon seinen Namen einem
neuen Oäsaremume, wozu nur derjenige berechtigt ist, der die höchste Fähigkeit und
den besten Willen besitzt8'.
Könnte man Heines Begriffsbildung vom Frühjahr 1832 noch als Zufallsprodukt
abtun, so zeigt doch gerade seine Beschreibung des Bonapartismus vom August
1832, die_ wohl die kürzeste und prägnanteste gerade auch in ihrer Verbindung von
Bonapartismus und Cäsarismus war, in beinahe klassischer Weise, wie sich eine
-ismus-Bildung vollzieht, nachdem die Bezugsperson gestorben ist. Der private
Name des nächsten Napoleon tutjetzt nichts mehr zur Sache! Einen besonderen
Hinweis verdient Heines Bemerkung über den 'Cäsarismus' als bloße Herrscherge-

Bestimmung einflößt und mit der Überzeugung schmeicheU,. daß sie als Cäsaren für den
Thron bestimmt seien. A ua dem Gefühl die.ser nahen Berührung mit dem Cäsarismussind die
beiden bedeutendsten Geschichtsarbeiten Carlyles hervorge,gangen, sein Cromwell und sein
Friedrich der Große.
80 Vgl. GusTAv ADOLF REIN, Bonapartismus und Faschismus in der deutschen Ges~hlchte

(Göttingen 1960), 14 ff. ,


81 Vgl. ÜTTO TscHIRCH, Geschichte der öffentlichen Meinung, Bd. 2 (Weimar 1934), 3.
82 HEINRICH HEINE, Englische Fragmente 10: Wellington, SW Bd. 3 (o. J.), 492. 493.
Vgl. dort auch das Buch „Le Grand".
ea Ebd., Bd. 5, 86: Französische Zustände, Paris 25. 3. 1832.
84. Ebd., 194: Französische Zustände, Aus der Normandie 20. 8. 1832.

741
Cäsarismus DI. 2. Die Bonapartisten in Deutschland

walt, was ja nichts anderes bedeutet, als daß es sich hierbei um einen politischen und
keinen sozialen Verfassungsbegriff handelt. Nicht nur bei der Beschreibung des
Cäsarismus, sondern auch bei der des Napoleonkultus in Frankreich betonte Heine
die demokratische Struktur von Napoleons Kaisertum, in der er auch einen der
Hauptgründe für diesen Kultus sah, wie man den „Französischen Zuständen" ent-
nehmen kann 80 •
Die mit dem Begriff 'Cäsarismus', wie Heine ihn beschrieb, implizierte reine Herr-
schaft bejahte Heine noch mehr zehn Jahre später angesichts des Oommunismus
und der Gefahr einer Prolet,arierherrschaft 86 • Er sah eine Weltrevolution herauf-
ziehen, einen großen Zweikampf der Besitzlosen mit der Aristokratie des Besitw;,
Wird nun die alte absolute Tradition nochmals auf die Bühne treten, wenn auch in
einem neuen Kostüm und mit neuen Stich- und Sc/Uagwörtem? . .. Es wird vielleicht
alsdann nur einen Hirten und eine Herde geben, ein freier Hirt mit einem eisernen
Hirtenstab und eine gleichgeschorene, gleichblökende Menschenherde! Wilde, düstere
Zeiten drOhmn lteran, und der Prophet, der eine neue Apokalypse schreiben wollte,
müßte ganz neiie Bestien erfinden, und zwar so schreckliche, daß die älteren J ohan-
neischen Tiersymbole dagegen nur sanfte Täubchen und Amoretten wären81•
Der Bonapartismus oder Cäsarismus erschien hier als Beendiger oder Verhinderer,
als Aufhalter des Bürgerkrieges und als Bekii.mpfer der OommuniBkn, iri denen
Heine die neueri Galliläer sehen wollte88• Die Interpretation als Aufhalter legt ein
.Brief Heines aus .Paris von 1851 nahe: Für den Präsidenten bin ich mit Leib und
Seele, aber nicht bloß, weil er der Neffe des Kaisers, sondern weil er auch ein wackerer
Mensch ist und durch die Autorität seines Namens größerem Unheil entgegenwirkt. Er
sei ein Mirakel zugunsten der Franzosen und seine Präsidentschaft das Wiederau/-
strahlen des lwpe,rial,i..Ym·us, al110 d~111m, w11.11 H11in11 gut ?.Wll.rt?.ig ,fahre frtther als
'Bonapartismus' bezeichnet hatte89• Das letzte Zitat belegt, daß Heine rund ein
Vierteljahrhundert hindurch seine Einstellung gegenüber dem von ihm beschriebe-
nen Phänomen des 'Bonapartismus' oder 'Cäsarismus' als Aufhalter der von ihm
als einem der ersten und mit großer Klarheit prognostizierten, aber auch gefürchte-
ten sozialen Revolution durchgehalten hat. Ähnlich wie gegenüber anderen Phäno-
menen, etwa dem von ihm als unaufhaltsam angesehenen Aufstieg Rußlands, war
seine Haltung gegenüber der sozialen, auf eine gewaltsame Umwälzung von Staat
und Gesellschaft gerichteten Bewegung ambivalent. Einerseits wünschte er die Ver-
nichtung der bestehenden Ordnung durch die „neuen Barbaren" - die große
„Parallele" war ihm wie allen Linkshegelianern stets gegenwärtig-, seien es nun
die Russen oder die Proletarier; andererseits fürchtete er aber die egalisierenden,
also die demokratischen Tendenzen im gesellschaftlichen Sinn, eines neuen Zeitalters.

85 DuCLERC stellte fest: La nature de ce pouvoir et.ait easentiellement de:rrwcratique comme la

miB&ion de celui qui l'e:cercait; on peut affi,rmer, fügte er allerdings hinzu, que Bonaparte ne
comprit paa un moment ce.tte Bituation, - was er dann an innen- wie außenpolitischen Bei-
spielen belegte, die alle auf die contre-revolution verwiesen hätten; DuCLERO (Ndr. 1868),
160, Art. Bonapartisme.
86 HEINE, Lutezia, Tl. 2, 20. 6. 1842, SW Bd. 6, 315.

87 Ebd., 12. 7. 1842, SW Bd. 6, 316.

88 Ebd., Bd. 6, 315 f. 408 f.


89 Ders., Brief an Gustav Kolb, 21. 4. 1851, SW Bd. 9, 380.

742
m. 3. Vorhereitwig neuer Frontbildungen Cäsarismus

Zu einer Bejahung der als unausweichlich erkannten Bewegung, wie etwa bei
Tocqueville, konnte sich Heine nie durchringen. Ohne das Ethos des Politikers
gegen die Ästhetik des Schriftstellers zu sehr auszuspielen, kann man sagen, daß sie
diese Difrerenz am besten markieren.

3. Vorbereitung neuer Frontbildungen

Die dreißiger Jahre waren für Begriffsbildung und Ansätze zu einer Theorie sehr
günstig, weil durch die Julirevolution in Frankreich die Tatsache, daß die Franzö-
sische Revolution alles andere als beendet war, offenkundig wurde. 1833 schrieb
VICTOR AiME HUBER in einer ~chrift über die romantische Poesie in Frankreich,
daß für einen großen Teil des französischen Volkes der Napoleonismus eine Religion
ist, daß ihre höhere Erkenntnis, alles, was sie über die gemeinsten Interessen des täg-
lichen Lebens erhebt, in dem Gedanken an Napoleon konzentriert ist90• Offenbar meinte
Huber mit 'Napoleonismus' das, was im 19. Jahrhundert als 'Weltanschauung'
und im 20. als 'Ideologie' bezeichnet wurde. Eine strikt christliche Position war am
ehesten geeignet, den 'Napoleonismus' als Ersatzreligion zu kennzeichnen. Ähn-
lich konnte ein anonymer Aufsatz in der „Deutschen Vierteljahrsschrift" 1847 das
fra.nzösisohe Erziehungswesen als N apoleoniBieruing der Nation aohildern, woil es
aus dem Menschen einen Gott machen wolle, ihn de facto aber fa1tonniere, den Gott
in ihm töte und das 'fier in ihn hineinfüttere91 •
Im Februar 1833 hatte CARL ERNST JARCKE in einem „Revolution und Absolutis-
mus" überschriebenen Artikel diese beiden Begriffe aus einem höheren ·Standpunkte
betrachtet und für identisch erklärt92 • Dieser „höhere Standpunkt" erWies sich der
Position Franz von Baaders nahe verwandt. Absolutismus und Revolution seien
beide eine Negation wirklicher und bestehender Rechte, um einen anderen durch die
Theorie gefundenen Zustand in deren Stelle zu setzen, ja, ihre Identität enthülle sich
a.uoh darin, daß die Revolution nur vollende, was der Absolutismus begonnen; sie
wolle nämlich die absolute Staa.tsgewalt in andere Hände bringen, damit der wahre
Volkswille desto richtiger erkannt werde und seine Vollstreckung desto gewisser sei. Aus-
drücklich verwies Jarcke auf das Beispiel Napoleons, der den absoluten Staat inso-
fern vollendet habe, als er einen Mechanismus erfand, kraft dessen die Staatsgewalt
in jedem Augenblick über den vollen Umfang aller Kräfte jedes einzelnen im ganzen
Lande verfügen könne. Die totalitären Regimen eigentümliche Mobilisierung des
Volkes wurde hier vorausschauend beschrieben. Das katholisch-konservative
Räsonnement Jarckes · versuchte mittels der Ineinssetzung von Absolutismus
und Revolution, als deren Inkarnation die Person Napoleons bezeichnet wurde,
die zunehmende Machtfülle des modernen Staates, die in cäsaristischen Regimen

• 0 VICTOR AmE HUBER, Die neuromantische Poesie in Frankreich und ihr Verhiltnis zu

der geistigen Entwicklung des französischen Volkes, Aueg. Sehr. über Socialreformen und
Genof1Sen11ohaftswe~en, hg. v. K. :MundiDg (Berlin 1894.), 34..
9 1' Das Volk und seine Freunde in Frankreich, Deutschland und England, Dt. Vjschr. 2

(1847), 131.
81 C. E. JABCKE, Revolution und Absolutismus, Berliner Polit. Wochenbl., 16. 2. 1833,
H. 7, 38 ff.

743
Cäsarismus m 3. Vorhereitunl{ neuer Frontbildungen

den Zeitgenossen zuerst und am sichtbarsten entgegentrat, begrifflich zu bewäl-


tigen93.
Noch stärker trat dieser katholisch-konservative Standpunkt 1847 bei JOHANN
FRIEDRICH BöHMER hervor. Der Adressat der Angriffe wurde deutlich benannt: der
moderne Militär- und Beamtenstaat, der Militärherrschaft und Despotie ausübe. Die
letzte Bastion dagegen sah er in der Kirche, deren Hilfe der Staat auf die Dauer
nicht entbehren können werde, wogegen die Kirche keiner Hilfe durch den. Staat
bedürfe, wie er dermalen ist und in seinem Absolutismus, der auch die letzten der
Kirche noch übriggebliebenen Rechte absorbieren muß, notwendig sich entwickeln wird.
Wir gehen den Tagen eines neuen Oäsarismus entgegen. Gottlob, daß wenigstens die
alte Kirche noch niemals sich vor dem Oäsarismus gebeugt und in ihrem Widerstand
gegen ihn immer gesiegt hat94 • Dem katholisch-konservativen Standpunkt eines
Jarcke, Baader und Böhmer diente Napoleon und der Cäsarismus dazu, die Kritik
am modernen Staat, die sich natürlich in erster Linie gegen den eigeneu richLeLe, zu
verhüllen oder zumindest darauf hinzuweisen, wohin die moderne Entwicklung
führe. Die Behauptung der Identität von Revolution und Absolutismus gleich
Cäsarismus oder Napoleonismus, die von diesem Standpunkt aus vor dem Staats-
RtTP.ir.h T.ouis Napoleons in erst.er Linie innenpolitisch gemeint oder gegen den
modernen Staat schlechthin gerichtet war, sollte nach 1851 ihre Funktion ver-
ändern.
Im Gegensatz zum konservativen blieb dem liberalen Denken in clies11r Zeit. der
Zusammenhang von Demokratisierung und Diktatur weitgehend verborgen:
Dies kann man z. B. einem Artikel ScHULZE-BODMERS von 1837 entnehmen96 •
Nachdem er sich mehrere Spalten lang über den Begriff der Diktatur im alten
Rom verbreitet hatte, ging Schulze-Bodmer ziemlich unvermittelt zur neueren
französischen Geschichte über: Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich die Ver-
fassung des römischen Reiches von einer Art Königtum in einen Freistaat und endlich
in eine I mperatorenherrschaft verwandelt. Wesentlich denselben Zyklus der Ereignisse
sahen wir neuerdings in Frankreich in wenige Jahrzehnte sich zusammendrängen und
endlich Napoleon zugleich die diktatorische Rolle eines Oasars und Augustus spielen.
Ähnlich wie Benjamin Constant entließ der Verfasser seine Leser mit dem Trost,
daß die Tendenzen der neueren Geschichte einer solchen übersteigerten Macht
eines eimrnlnen entgegenwirken, besonders da die Völk~r selbst die Schöpfer des
Völkerschicksals werden. Die Erkenntnis der Dialektik von reiner Demokratie und
Diktatur und der zunehinenden Neigung zu cäsaristischen Regimen als einer neuen
Form politischer Herrschaft lag jenseits der optimistischen und das politische
Moment vernachlässigenden Weltanschauung des damaligen Liberalismus.

98 Der Staatsstreich Napoleons III. sollte für die christlich-konservativen Argumente eine

erneute Bestätigung bringen, etwa für LEOPOLD v. GERLACH, der 1857 - ganz im Sinne
Jarckes -schrieb, daß Bonaparte ein Prinzip und zwar daa der autokratischen oder viel,mehr
der abaolmistischen Revolution repräsentiert, waa sich selbst gegen aeinen Willen geltend
machen muß; Denkwürdigkeiten, Bd. 2 (Berlin 1892), 521.
H JoH. FRIEDRICH BöHMER, Leben, Briefe und kleinere Schriften, hg. v. Johann Janssen,
Bd. 1 (Freiburg 1868), 279.
95 WILHELM SCHULZE-BODMER, Art. Diktator, Diktatur, RoTTECK/WELCKER Bd. 4 (1837),

395 f.

744
W. 4. ..Uc~11 de Tlkqucville und Lorenz von Stein t:ä11ari11mm;

4. Alexis de Tocqueville und Lorenz von Stein

Als „die" geschichtliche Tendenz des neuen Zeitalters, auf dessen Schwelle er sich
glaubte, hatte TocQUEVILLE in seiner „Democratie en Amerique" (1835 u.1840) die
Demokratisierung als ein alle Lebensgebiete umfassendes Phänomen und die ihr,
besonders im politischen Bereich korrespondierende Zentralisierung, die „concen-
tration du pouvoir", beschrieben. Er sagte von ihr, daß sie in den kommenden
siecles demO<YTatiques ... le gouvernement naturel sei, da die Gleichheit dem Men-
schen "la pensee d'un gouvernement unique, unif<Yrme et fort suggeriere. Freiheiten und
Unabhängigkeiten müßten als produit de l'art, d. h. mit bewußter Anstrengung ihr
gegenüber aufrechterhalten werden98• Dem Problem, mit welchen Institutionen
man diese Freiheiten in einer egalitären Gesellschaft erhalten kann, widmete er das
letzte Kapitel seines Werkes 97 • Diese Aufgabe mußte ihm um so dringender erschei-
nen, als er im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen nicht die aus Revolutionen
hervorgehende Anarchie98, sondern den Despotismus fürchtete. Denn, so lautete
sein Argument, Revolutionen, die Monarchien stürzten und des hommes nouveaux
an die Spitze eines peuple demO<YTatique brächten, würden den Prozeß der Macht-
konzentration noch beschleunigen. Dazu komme eine weitere Tendenz: wenn aimer
l'egaliU ou de le faire croire im Zeitalter der Demokratie zur einzigen Bedingung
werde, um die Macht in einer Hand konzentrieren zu können, dann werde die bisher
komplizierte &cümce du de&poti&me vereinfacht, l!lie reduziere !!lieh auf ein einziges
Prinzip, das stets zu beachten sei, die Gleichheit00 • Der Schluß lautete: Le despo-
ti.~me me para?,t donc particulierement aredouter dans les ages democratiques 100• Aber
es handle sich um eine völlig neue Art des Despotismus, les anciens mots de despotis-
me et de tyrannie ne conviennent point. La chose est nouvelle, il faut donc tächer de la
definir, puisque jene peux "la nommer1 0 1 • Tocqueville war der erste, der bewußt ein
neues Phänomen analysierte und die Unangemessenheit der klassischen Begriffe
kritisch reflektierte. Er entwarf auf den folgen<len Stiiten das. Rilfl fliner Gesflllschaft
und eines Staates, in welchem der einzelne Bürger auf seine Privatsphäre und die
gesellschaftliche Reproduktion reduziert war; über diesen erhob sich ein sozialeudä-
monistischer Staat, der absolu, detailU, regulier, prevoyant et doux war, aber nicht
etwa zum Ziel hatte, die Menschen auf Selbständigkeit vorzubereiten, sondern sie
im Gegenteil im Zustand der Unmündigkeit festhalte: Il reduit enfin chaque nation
an'&re plus qu'un troupeau d'animaux timides et industrieux, dont le gouvernement est
le berger. Besonders verhängnisvoll würden diese Tendenzen aber, wenn die moderne
Konzentration politischer Macht in die Hände d'un homme ou d'un c<Yrps irre-
sponsable gerate 102 • Auch die Möglichkeit einer Militärdiktatur war Tocqueville

96 .ALEXIs DE TocQUEVILLE, De la democratie en Amerique, Oeuvres compl„ t. 1/2 (1951),


302 f.
97 Ebd„ 328 ff. Das allerletzte Kapitel (336 ff.) enthält keine neuen Gesichtspunkte mehr,

sondern einen „vue genera.le du sujet".


98 Ebd., 321.
99 Ebd„ 309.
100 Ebd„ 328.
101 Ebd„ 324.
lOB Ebd„ 324 f.

745
m. 4., Altmi.e de To01f11mile und Lorenz Ton Stein
nicht fremd. Im modernen, d. h. im Zeitalter der Gleichheit, sehe ihr Resultat so aus:
'le peup'le devenu une image de l'armee, et la societe tenue comme une caserne1 oa.
Tocquevilles Leistung bestand darin, daß er als erster eine Soziologie des Cäsaris-
mus entwickelte und gleichzeitig durch seine Weigerung, den Begriff 'Cäsarismus'
oder 'Bonapartismus' zu verwenden, andeutete, daß der alte Begriff der neuen
Sache, nämlich der spezifischen totalitären Demokratie mit einem souveränen Dik-
tator an der Spitze, nicht mehr angemessen war. Dieser neue Despotismus war für
ihn kein Ergebnis einer Pervertierung einer im Grunde zu bejahenden Entwicklung
zum Fortschritt, wie für Liberale und Demokraten, noch das Ergebnis eines Ver-
falls oder einer Verschwörung, wie für die Konservativen, sondern eine latent über-
all vorhandene Möglichkeit der Demokratie. Der Bewußtheit, mit der er neue Phä-
nomene analysierte, entsprach sein Verzicht auf jegliche Parallelisierung und vor-
schnelle begriffliche Klassifizierung: . . . deja les termes de comparaisons nous man-
quent . . . je n'aper9Qis rien qui ressemble a ce qui est saus mes yeux104 • Begriffe wie
'Bonapo.rtismus' oder 'Napolooniamus' hätten gerade die .Allgemeingültigkeit der
analysierten Tendenzen eingeschränkt. Deshalb vermied er auch die dann sehr
geläufigen Begriffe nach dem Staatsstreich, den er für sehr gefährlich hielt, da Na-
poleon III. zugleich konservativ und revolutionär war und die politische Freiheit
nun weder bei den vorwärts- noch bei den rückwärts weiRenden T1mdenzen Zu-
flucht finden konnte 105 • Erleichtert wurde ihm dies dadurch, daß sein in Nord-
amerika gewonnenes Material die Allgemeingültigkeit zumindest für europäische
Leser, die in Amerika ihr künftiges Geschick erkennen sollten, gleichsam von selbst
mitlieferte. Die Erkenntnis der Neuartigkeit der globalen und unausweichlichen
Entwicklung zur egalitären Demokratie war konstitutiv für Tocquevilles politische
Philosophie: Il faut une science politique nouvelle a un m.onde taut nouvaautoo.
Standen für Tocqueville' die Demokratisierung und ihre Folgen im Mittelpunkt seiner
Theorie, so war sie für LoRENZ VON STEIN ebenfalls eine gesellschaftliche Erschei-
nung., dio soziale Bewegung. In der LöR1mg der 110?.ia.l11n Frage, d. h. die arbeitende
Klasse zu einer unabhängigen, materiell freien zu machen, sah er die größte Aufgabe
der Geschichte 107 • Deshalb ging er auch einen entscheidenden Schritt über Hegel, als
dessen Schüler Stein sich verstand, hinaus. Diesel'. hatte die soziale Frage in seiner
„Rechtsphilosophie" zwar als Problem erkannt, aber ihre Lösung bis ans Ende
seines Lebens gleichsam vor sich hergeschoben und seinen Schülern überlassen.
Wie bei Hegel stand die Verwirklichung des Rechts im Zentrum der politischen
Philosophie Steins, diese war aber Sozialphilosophie, d. h., die a,nalog zu Hegel auf
dem Boden des Rechts vom Staat zu verwirklichende Freiheit war nicht mehr nur
die sittliche, sondern auch die materielle Freiheit, besonders des vierten Standes.

103 Ebd., 347.


m Ebd., 336 u. t. 1/1 (1951), 4.
105 Stellungnahmen TocQUEVILLES zum Staatsstreich: Brief an Mrs. Grote, 8. 12. 1851, ·

ebd., t. 6/1 (1954), 119 ff.; Denkschr. für den Grafen Chambord, 14. 1. 1852, zit. ANTOINE
REDIER, Comme disait M. de Tocqueville (Paris 1925), 245 f.; an seinen Bruder, 14. 2. 1852,
ebd., 227 ff.
10 9 TocQUEVILLE, ebd., t. 1/1, 5.
107 LoRENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich bis auf unsere Tage,

Bd. 1(Leipzig1850; Ndr. Darinstadt 1959), 4 ff.

746
ID. 4. Ales..i!I de Tucque\lille uud Lureu:a vou Stein Cäsarismus

Das konstitutionelle Königtum und seine Exekutive, das als „pouvoir neutre" kon-
zipiert war, wurde damit notwendig zum „sozialen Königtum", das die soziale Re-
form durchführen und so die soziale Revolution verhindern sollte. Der Staat wurde
dann zum Sozialstaat, die „Verfassungsfrage" zur „Verwaltungsfrage" und die von
Stein begründete Verwaltungslehre zur Grundlage der Sozialpolitik. Die so verstan-
dene Monarchie wurde für Stein nicht nur zum Aufhalter und Verhinderer der
sozialen Revolution, in der sich die Gesellschaft und ihre nicht befriedigten Be-
dürfnisse selbständig machten, sondern auch der sozialen Dilctatur, die durch aus-
schließliche Herrschaft der Staatsgewalt gekennzeichnet war 108 • Beide Möglichkeiten
entsprachen dem unabweisbaren Beilürfnis der Gesellschaft, die ihre richtige - für
Lorenz von Stein ihre dem Gesetz der gesellschaftlichen Bewe,gitng _.:... entsprechende
Verfassung noch nicht gefunden hatte. Dieses Bedürfnis und nicht sein Charakter
habe auch Napoleon ... zum Despoten gemacht. Konsequenterweise waren deshalb
für Stein Diktatoren wie Cromwell und Napoleon nicht wie für viele seiner Zeitgenos-
sen Beender der Revolution, sondern sie standen am Anfang einer fliCtwn gesell-
schaftlichen Ordnung, weshalb sie soziale. Dilctatur genannt werde. Dies unterschied
sie grundlegend von einer Diktatur, die einem administrativen oder militärischen
Beilürfnis ihr Dasein verdankte, also von der kommissarischen Diktatur.
niP. rlP.m „<1P.RP.t?. cfor gP.RP.llRr.haftlir.hP.n ßP.wP.gnng" um diP. Mitte des 19. Jahrhw1-
derts entsprechende Verfassung war für Stein die konstitutionelle Monarchie, die
die Lösung der sozialen füage in ihre Verfaesung aufnahm und damit zum „sozialen
Königtum" wurde. Hatte Tocqueville seinen Landsleuten Nordamerika, so Lorenz
von Stein Fra:nkreich als Spiegel vorgehalten, in dem künftig mögliche Entwick-
lungen zu erkennen waren. Die Präsidentschaft Louis Napoleons fiel noch in die
Zeit der Abfassung seines Werkes und harrte der Analyse109 • Die Wahl des Präsi-
denten war für ihn die Wiederherstellung einer selbständigen, über den Parteien stehen-
den Staatsgewalt, die Frankreich abhanden gekommen war. Diese auch im Smne
·seiner Theorie liegende Lösung sah er aber durch das allgemm:ne Stimmruht gefähr-
det, da dies nur bei sozialer Gleichheit, die in Frankreich nicht gegeben sei, stabili-
sierend wirken könne, so wie die Dinge einmal lagen aber die industrielle Reaktion
in ihrer Angst vor der sozialen Demokratie dazu treibe, sich der Staatsgewalt zu be-
mächtigen, um ihre Eroberung mittels des Stimmzettels durch die kapitallose ...
nicht besitzende Klasse zu verhindern. Dies geschah durch die Person Louis Napo-
loons. Eine Prognose des Kommenden verbot sich Lorenz von Stein.
Ähnlich wie für Hegel, dessen Staatsrecht in der konstitutionellen Monarchie gipfel-
te, wurde für Stein, für den mutatis mutandis dasselbe galt, der Cäsarismus oder die
Diktatur nie zu einem zentralen Problem wie etwa für Tocqueville. Sein „soziales
Königtum" trug keinerlei cäsaristische Züge, es sollte durch seine Unabhängigkeit
und seine Stellung über den Parteien Diktatur und Despotie durch allmählichen
Ausgleich sozialer Gegensätze verhindern. Gerade weil sie die Staatsgewalt absolut
verselbständigten und auf die Person stellten, was freilich für ihn stets Ausdruck
eines „gesellschaftlichen Bedürfnisses" war, konnten sie von einer Klasse usurpiert
werclfm. DiP.RP. DP.RpotiP. konnt.P. 11.lRo flnt,wP.dP.r am Anfang P.inflr ne1.ren ge.,ell.,chaft-
lichen Ordnung stehen, wie bei Napoleon I., oder den Bürgerkrieg einleiten, wie die

108 Diese Boziale Diktatur wurde am Beispiel Napoleons abgehandelt; ebd„ 396 ff.
109 Diese gab LORENZ v. STEIN im Sohlußkapitel, ebd„ Bd. 3 (1959), 393 ff.

747
Cäsarismus IV. 1. Die Gesichter des Napulieouismus

letzten Sätze seines Werkes es für Louis Napoleon nahelegen, weil sie es ermöglichte,
daß sich „eine" Klasse in den Besitz der Staatsgewalt brächte. Gerade dies sollte
die konstitutionelle Monarchie in ihrer Qualität als pouvoir neutre verhindern, sie
sollte in ihrer Qualität als soziales Königtum die Gesellschaft soweit reformieren,
daß die soziale Gleichberechtigung ihrer Mitglieder (die Lösung der sozialen Frage)
zur politischen (allgemeines Wahlrecht) hinzutrat und die cäsaristischen Konse-
quenzen der letzteren aufhob.

IV. Die Revolution von 1848 und der Staatsstreich Louis Napoleons

1. Die verschiedenen· Gesichter des Napoleonismus

Vive Napoleon, vive la republique und Vive Napoleon, abas la republique, so lauteten
die Rufe, die in Frankreich nach der Februarrevolution nebeneinander ertöntenno.
Das bedeutete, daß Napoleon in den Augen der einen die Revolution pcrsonifi-
zierte111, in den Augen der anderen dagegen die Hoffnung auf Beendigung eben-
derselben Revolution, die offenbar bei jedem Ausbruch an Intensität und Ausbrei-
tung zunahm. Für Frankreich bedeutete die Revolution das Ende der Napoleon-
legende und den Beginn des „Bonapartismus" als Ideologie der Gegenravolllt.ion 112 .
Doch läßt sich weder die Frontstellung vor noch nach dem Staatsstreich auf die
einfache l~ormel RevoluLio11 - Gegenrevolution bringen. Es gab Konservative,
die vor dem Staatsstreich Louis Napoleon als Retter vor der Anarchie apostrophier-
ten und ihn naeh dem 2. Dezember bekämpften, wie etwa Donoso Cortes113• Es gab
Sozialisten wie Proudhon 114, die die soziale Revolution als einzig mögliches Programm
Louis Napoleons nach dem Staatsstreich bezeichneten, nachdem sie ihn vorher be
kämpft hatten, und versuchten, ihn auf dem Weg der Revolution weiterzustoßen,
nachdem sie erkannt hatten, daß er zugleich konservativ und revolutionär war.

uo Vgl. ANDRE-JEAN TuDJoJSQ, La legende napoleonienne en France en 1848, Rev. Hist. 218
(1957), 64 ff., bes. 71.
1 11 Vgl. ebd., 66 f.
112 Vgl. ebd., 85.
113 Donoso Cortes hat aus dem Erlebnis der Revolution von 1848 seine Geschichtsphilo-

sophie und Staatstheorie entwickelt, die auf eine Befürwortung der Militärdiktatur, der
„Diktatur des Säbels" hinauslief, da die Armee inmitten der Anarchie der letzte Fixpunkt
wäre; vgl. dazu DIETER GROH, Rußland und das Selbstverständnis Europas (Neuwied
1961), 279 ff. Die Beziehungen Donosos und Napoleons III. und den Wandel in der Ein-
schätzung untersucht sehr detailliert WOLFGANG EBERT, Die Haltung zeitgenössischer
französischer Polit.iker '1\Um Cäsarismus Napoleons III. (phil. Diss. Heidelberg 1957;
Mschr.), 99. 179 f.
114 Zur Ablehnung vgl. Proudhons Tagebucheinträge vom 6. 12. 1851 und 11. 3; 1852, zit.
EnouARD DoLLEANS, GEORGES DUVEAN, Introduction zu: PIERRE JOSEPH PROUDHON,
La revolution sociale demontree par le Coup d'Etat du Deux Decembre, Oeuvres compl.,
ed. C. Bougle, H. Moysset, t.10 (Paris 1936), 57. 69. Konservativ und revolutionär: an Ch.
Edmond 6. 3. 1852, Correspondance de P.-J. Proudhon, ed.•T. A. Langlois, t. 4 (Paris 1875),
232. In seiner 1852 verfaßten Schrift „La revolution sociale" versuchte Proudhon den
Staatsstreich für seine Variante des Sozialismus zu usurpieren und aus Napoleon einen
Agenten der Revolution zu machen.

748
IV. l. Die Gesichter des Napoleonismus Cäsarism118

Dann wären die Anhänger Louis Napoleons zu nennen, die in ihren Propaganda-
schriften die Angst vor dem „roten Gespenst" zu seinen Gunsten ausnutzten, nicht
ohne zum Teil durch die Wahlergebnisse vom 20. Dezember 1851 ironischerweise
ins Unrecht gesetzt zu werden, die klar zeigten, daß die Mehrheit der Axbeiterschaft
für den neuen Napoleon stimmtelu.
Nach dem Staatsstreich Napoleons erlebte der Begriff 'Cäsarismus', bis jetzt nur
vereinzelt registrierbar, eine weitere Verbreitung. 'Napoleonismus' und 'Bonapar-
tismus' erhielten durch Staatsstreich und Präsidentschaft Napoleons III. eine un-
mittelbare Evidenz. Die Rückwirkungen auf den Gebrauch blieben nicht aus. Waren
es bisher nur wenige politische Denker und Publizisten, die sich mit dem Problem
des 'Cäsarismus' oder 'Napoleonismus' auseinandersetzten, so gehörte von nun an
diese Auseinandersetzung zu den Topoi politischen Räsonnements. Das hatte zur
Folge, daß neben die unreflektierte Verwendung besonders des Begriffes 'Bona-
partismus' zunehmend der Zwang trat, sich intensiver mit dem 'Bonapartismus' oder
'Cäsarismus' zu beschäftigen. Der weiten Verbreitung auf der einen stand die zu-
nehmende Differenzierung auf der and&en Seite gegenüber.
Wie früh man die Austauschbarkeit der politischen Gruppen und der ihnen zuge-
ordneten sozialen Verfassungsvorstellungen angesichts der Frage nach politischer
Herrschaft schlechthin im Gefolge der revolutionären Umwälzungen erkennen und
die teilweise Identität von 'Cäsarismus' und 'Kommunismus', die dann später
ein Topos der antinapoleonischen Publizistik werden sollte, diagnostizieren konnte,
dafür gab der von Tocqueville beeinflußte Joi~.l!ll'H VON EöTVÖS ein gutet1 Btiispiel:
Der Kommunismus, indem er eine Ordnung der Gesellschaft zu begründen sucht, deren
Aufrechterhaltung nur durch die despotische Gewalt eines einzelnen möglich ist, und die
Verteidiger des Bestehenden, die, um diese Gefahr abzuwenden, die Macht der Staats-
gewalt zur unbegrenzten zu machen suchen, arbeiten auf verschiedenen Wegen nur dem-
selben Ziel entgegen. Sie kämpfen doch nur darüber, wer von beiden Oäsar die Krone
überreichen sollell 6 •
Gegen die Ablehnung Bonapartes, wie sie etwa in M:EYER's „Universum" 1850 zum
Ausdruck kam117, wo als sein einziges Verdienst seine Unfähigkeit bezeichnet und
der Tag seines Staatsstreiches als Sterbestunde der alten Gesellschaft vorausgesagt
wurde, trat nun die bonapartistische Propaganda in die Schranken. Nicht nur am
weitesten verbreitet, sondern auch am weitesten - wenn auch aus propagandisti-
schen Gründen - zur Theoriebildung vorgedrungen ist von den Anhängern Bona-
partes AUGUSTE RoMIEU. Sein „L'ere des Cesars", im Sommer 1850 verfaßt und
noch im gleichen Jahr erschien!ln, wurde unter dem Titel „Der Cäsarismus oder die
Notwendigkeit der Säbelherrschaft, dargetan durch geschichtliche Beispiele von den
Zeiten der Cäsaren bis auf die Gegenwart" 1851 ins Deutsche übersetzt. Seine
nächste, ein halbes Jahr später verfaßte Schrift: „Le spectre rouge de 1852",

115 Vgl. EBERT, Haltung französischer Politiker, 351 ff.


116 J. v. EöTVös, Der F.influß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhtmderts auf den Staat,
Bd. 1(Wien1851), 295. Eötvös zitiert ebd., Bd. 2 (Leipzig 1854), 332 ff. eine lange Passage
aus Tocquevilles Amerikabuch, Oeuvres compl., t. 1/2, 324 f., die Kernstelle seiner Be·
schreibung des „neuen Despotismus". Den Anfang davon bildete das Motto zu JACOB L.
TALMONS Werk über „The Origins ofTotalitarian Democracy" (London 1952).
117 MEYER's Universum, Bd. 14 (Leipzig 1850), 10. 34.

749
Cäsarismus IV.·2, Die deutschen Reaktionen

war mehr auf französische Verhältnisse zugeschnitten. Hier zeigte er sich als Haupt-
vertreter der These, daß die Gesellschaft der Besitzenden nur durch den 'Cäsaris-
mus' vor der roten Gefahr gerettet werden könne1lB.
Die Geschichte, als Kreislauf begriffen, gab die geschichtsphilosophische Unterlage
für die Behauptung Romieus, daß es bei den Völkern einen Augenblick höchster Zivili-
sation gibt, dessen Ausgang der Cäsarismus ist ... Aus dem, was bei dem Verfall,e des
Heldentums vorging, glaubte ich auf das schließen zu können, was bei dem Verfall,e des
Christentums vorgehen wird 119• Wie wenig geläufig das Wort 'Cäsarismus' den Zeit-
genossen war, erhellt aus dem folgenden Satz: Ich muß dies Wort, welches weder
Königtum noch Kaiserreich noch Despotismus noch Tyrannei ist,Jeutlicher erklären,"
es hat seinen ganz eigentümlichen und wenig gekannten Sinn (14). Dieser wurde vor
allem bestimmt durch qas Schlüsselwort Einheit, exemplifiziert am römischen Bei-
spiel der Zusammenfassung von Oberkommando und Tribunat: di,es war das zum
Manne gemachte römische Volk ... ,- dann durch den Gegensatz von Macht und Dis-
kussion, die nur das Chaos und den Bürgerkrieg gebäre (15). Andere Bindemittel
für Staaten und Völker gebe es nicht mehr, da Religion und Legitimität den Glau-
ben voraussetzen, aber dieser nicht mehr bestünde (47), womit sich Romieu als
Schüler de Maistres und Donoso Cortes' ausweist. Deshalb begründeten auch die
modernen Cii.saren in der Nachfolge Napoleons keine Dynastie mehr (53), der Cäsa-
rismus kbt durch sich selbst und allein (78). Er sei das letzte Zufluchtsmittel der Ge-
sellschaft angesichts der verhängnisvolkn Notwendigkeit des Bürgerkrieges (83), in
welchem der neue Cäsar die Kultur vor den neuen Barbaren, den sozialistisch ver-
hetzten Arbeitern (32), die aber keine neuen Christen sein würden (51), retten
werde (63 f.) - ein Gedanke, der dann im „Spectre rouge" in extenso ausgeführt
·wurden°.

2. Die deutschen Reaktionen

Die Tagebücher VARNHAGEN VON ENSFJS kommentierten seit dem 3. Dezember 1851
täglich bis Mitte des Monats und dann in größeren Abständen die aus Frankreich
eintreffenden Nachrichten und die Reaktionen darauf in Berlin. Er selber sah in
Bonaparte eine Bloßstellung der deutschen Staatsrettung: ... Dieselben Vorwände,

118 War auch die Furcht vor dem „roten Gespenst" oder dem „Gespenst des Kommunis-

mus" in vielen europäischen Ländern verbreitet, so ergab sich doch für Frankreich eine
besondere Situation, da sowohl die Amtszeit des Präsidenten als auch die Legislaturperiode
des Parlaments im Frühjahr 1852 o.bliof. Für diese Zeit des Machtvakuums wurden von
vielen Seiten sozialistische oder anarchistische Aufstandsversuche erwartet. Diese Befürch-
tungen machte sich die bonapartistische Propaganda mittels der Schrift Romieus und
anderer geschickt zunutze.
119 AUGUSTE RomEu, Der Cäsarismus oder die Notwendigkeit der Sii.belhelTSchaft, dargetan

durch geschichtliche Beispiele von den Zeiten der Cii.saren bis auf die Gegenwart (Weimar
1851), 4. 14. 81 f.
120 Gewalt und Einheit statt anarchischer Freiheit, das waren auch die Losungsworte der

anderen bonapartistischen Propagandisten sowohl vor als auch nach dem Staatsstreich
vom 2. Dezember 1851. Vgl. zu den verschiedenen Theorien der Bonapartisten, bei denen
der Begriff des „faisceau" meist im Mittelpunkt stand: EBERT, Haltung französischer
Polit~er, 28 ff.

750
IV. 2. Die deutsehen Reaktionen Cäsarismus

Ruhe und Ordnung, Autorität, Wohlfahrt des Volks, haben auch sie gebraucht und von
ihren Zusagen keine erfüllt, im Gegenteil erst re,cht Gesetzlosigkeit, Not und Schmn,ch
hervorgebracht. Der Schuft bringt nur alles in größerem Maß und mn,cht die Sachen
re,cht auffallend121• Im Bonapartismus und seinen Äußerungen sah Varnhagen all das
potenziert, was er an den damaligen deutschen Verhältnissen ablehnte und kriti-
sierte, nämlich Gewaltanmaßung, Oktroyierung~ Polizeiwillkür, Fre,chheit. Anderer-
seits war für ihn die Tatsache, daß sich Bonapartismw ... in Neapel, in Sachsen, in
Kurhessen rühre, ein Grund dafür auszurufen: Schmach und Sckand,e für die Regie-
rungen, daß dergleichen möglich ist1 22.
Zum ersten Mal wurden hier ausdrücklich die deutschen Regierungen offen als
bonapartistisch qualifiziert, und das unterschied Varnhagen, ganz abgesehen von
seinem liberaldemokratische~ Standpunkt, von den katholisch-konservativen Kri-
tikern des Bonapartismus und Cäsarismus im Vormärz.
Den ersten Versuch von deutscher Seite, die Bedeutung des 'Napoleonismus' zu
klären, unternahm CoNSTANTIN FRANTZ in seiner unmittelbar nach dem Staats-
streich verfaßten Schrift „Louis Napoleon". Der Napoleonismus habe schon einmal·
unter dem ersten Napoleon den Krater der Revolution mit dem Thron der Cäsaren
geschlossen und erhebe sich heute wieder auf den Trümmern der Faktionen. Die
charakteristischen Merkmale dieses neuen Staatswesens seien die Diktatur, und
zwar die souveräne, die Frantz als die prinzipielle im Gegensatz zur exzeptionellen
bezeichnete, die man heute kommissarische nennen würdel2 8, dann die demokra-
tische Grundlage, die nicht durch die Majorität eines Parlaments, sondern nur durch
die Majorität eines Volkes vermittelt werden könne, weil nur dadurch der Kollektiv-
wille, der sich in dem Chef vereinigt, die Macht einer physischen Notwendigkeit ge-
winnt (58 f.). Frantz nannte dieses System die Umkehrung des parlalllt1nLarischen,
denn nach dem pa.rlamentari.~chen System wählt das Volk, um sich repräsentieren zu
lassen, hier aber wählt es, um sich regieren zu lassen, wobei die Staatsgewalt ... in
dem Chef ruht (59 f.). Der Napoleonismus war für ihn die Bestätigung seiner sich
von Schelling herleitenden politischen Anthropologie, da durch ihn das Prinzip der
Diskussion darniedergeworfen ist und es deutlich werde, daß die Persönlichkeit sich
zuerst im Willen manifestiert, indessen das Denken nur eine abgeleitete und sekundäre
Tätigkeit ist. Von hier war es zu einer Verherrlichung Napoleons nicht mehr weit
(60 f.). Die Brechung des Eigenwillens nach zwei Seiten war die gestellte Aufgabe:
Wählt das Volk sich einen Chef, an den es seinen Eigenwilkn aufgibt, um diesem Chef
zu gehorchen, und gibt dieser Chef seinen Eigenwillen auf, um dem Volke zu dienen,
dann knüpft sich zwischen beiden Teilen ein moralisches Band (75). An dem Gebrauch
des Wortes 'Chef' durch Frantz ist abzulesen, daß das Wort 'Führer' noch nicht
genügend verbreitet war. Aber Antiparlamentarismus, Willensphilosophie als Vor-
form der Lebensphilosophie, die einen gewissen Antirationalismus implizierte, bil-
121 KARL AUGUST VARNHAGEN VON ENSE, 11. 12. 1851, Tagebücher, hg. v. Ludmilla. Assing,

Bd. 8 (Zürich 1865), 467; s. auch ebd., Register, Bd. 15 (Leipzig, Zürich, Hamburg 1905),
233 f.
112 Ebd., 29. 8. 1852, Bd. 9 (1868), 351.
123 CoNSTANTIN FRANTz, Masse oder Volk. Louis Napoleon, hg. v. Franz Kemper (Potsdam

1933), 18. 68. 69. Vgl. die grundlegende Unterscheidung von CARL SCHMITT, Die Diktatur.
Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassen·
kampf (1920; 3. Auft. Berlin 1964).

751
"
Cäsarismus IV. 2. Die deutschen Reaktionen

deten schon bei Frantz die Grundlage für eine Bejahung des "Überganges der Demo-
kratie in die Diktatur. Links, so stellte er abschließend fest, führte die Straße über
den Parlamentarismus zum Kommunismus, rechts über die Restauration in die
Revolution, nur der Weg geradeaus verheiße für Frankreich noch Rettung, denn
das napokonische System sei für das heutige Frankreich das alkin angemessene, nur
Napoleon habe den Appel au peupl,e gewagt und bestanden (76 ff.). Der Zusammen-
hang von volonte generale und Diktatur, das Hauptmerkmal des Bonapartismus,
ist wohl von keinem Zeitgenossen so scharf erkannt worden wie von Constantin
Frantz. Seine Option für den Cäsarismus Napoleons III. ist für eine Position gerade-
zu paradigmatisch, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vereinzelt, um
die Wende des Jahrhunderts aber gehäuft auftrat. Es handelte sich dabei um eine
lebensphilosophisch fundierte Ablehnung des Parlamentarismus und eine willens-
philosophisch interpretierte volonte generale - um einen politischen Irrationalis-
mus, der seit 1848 sich langsam ausbreitend auch Gruppen der ehemals linken In-
telligenz erfaßte und sich schließlich in politischen Mythen, wie dem des General-
streiks, der Revolution oder des Krieges, artikulierte. Diese Elemente und auch der
mehr oder weniger explizite Führerkult bildeten e:ine der geistesgeimhir.htlir.hfln
Wurzeln faschistischer Ideologien und selbst Lenins Revolutionstheorie. Wenn
auch FranL.:.: ein seiner Auft'assung nach typisch französisches Phänomen beschrieb,
tendierte seine Konzeption grundsätzlich dahin, den Bonapartismus oder Cäsaris-
mus als internationale Erscheinung und als Signatur des Zeitalters zu werten.
Unter den preußischen Konservativen schwankte die Bewertung des Staatsstreichs
vom Dank, daß er der revolutionären Wirtschaft ein Ende gesetzt habe124, bis zur
strikten Ablehnung alles dessen, was man unter 'Bonapartismus' oder 'Cäsarismus'
subsumieren konnte, wovon die französischen Verhältnisse nur eine extreme Aus-
formung waren. So bedeutete 1851 für RADOWITZ der moderne Cäsarismus eine
bloße Herrschaft der Gewalt125, eine der drei Reaktionsformen auf die revolutionären
Ereignisse von 1848, die ganz Europa ergriffen hätten und die hier in die altständi-
sche Richtung, dort in den Patrimonialstaat, anderswo in den nackten Cäsarismus
hineindrängt. Die Angst vor einer sozialen Revolution und der daraus resultierende
Wunsch nach einer starken Regierung seien die Hauptmotive für die Wahl Napo-
leons gewesen (1852)12&.
In der Diskussion zwischen BISMABCK und LEOPOLD VON GERLACH über das Pro-
blem des Bonapartismus, den Gerlach für den ärgsten Feind der Christenheit hielt127,
und in der Bismarck dieses Konzept elastischer benutzte, um nach Bedarf die je-
weiligen politischen Gegner damit zu treffen128, ohne jedoch den Bonapartismus

124 JoH. FRIEDRICH BöHMER, Brief an General v. Hoffmann, 31. 12. 1851; Leben, Briefe,

Bd. 3 (1868), 55 (a. Anm. 94).


126 JOSEPH MAIUA v. RADOWITZ, Gea. Sehr., Bd. 4 (Berlin 1853), 259.
m Ebd., 312. 304.
127 Briefe des Generals Leopold von Gerlach an Otto von Bismarck, hg. v. HORST KoHL

(Stuttgart, Berlin 1912); z. B. 28. 1. u. 15. 3. 1853, ebd„ 33. 44 f.; 2. 9. 1856, ebd., 199
(Zitat); 6. u. 21. 5. 1857, ebd., 208 ff.
i2s Vgl. z.B. BISMARCK, Briefe v. 12. 7. 1851, 6. 11. 1852, 6.1.1853, in: Werke, Bd. l (1962),
426.498.503;Briefev.9.u.28.4. 1854,6. l.u.15.9. 1855,11.5. 1857,4.5.u.3.7. 1860,
in: ebd„ Bd. 2 (1963), 13. 16. 52. 75 f. 151. 322 f. 334.

752 •
IV. 2. Die deutschen Reaktionen Cäsarismus

irgendwie zu verteufeln, bildete Bismarcks Brief von 30. Mai 1857 129 und Gerlachs
Antwort darauf vom 5. Juni180 den Höhepunkt. Die politische Kernfrage lautete,
ob Preußen die damals günstige Disposition Frankreichs ausnutzen sollte, um seinen
'Einfluß innerhalb des Deutschen Bundes zu stärken, oder ob es sich auf jeden Fall
auf der Seite Österreichs halten sollte. Bismarck lehnte es entschieden ab, seine
Politik dem Prinzip des Kampfes gegen die Revolution unterzuordnen. Wo sollte
man beginnen und wo aufhören, wenn man den Grundsatz quod ab initio vitiosum,
lapsu temporis corivalescere nequit auf die praktische Politik anwenden wolle 1 Der
Bonapartismus ist nicht der Vater der Revolution, er ist nur, wie jeder Absolutismus,
ein fruchtbares Feld für die Saat derselben, außerdem die einzige Methode, nach der
Frankreich auf lange Zeit hin regiert werden kann. Napoleon III. habe· die Herr-
schaft als herrenloses Gut aus dem Strudel der Anarchie herausgefischt. Zwar liege der
Ursprung seiner Herrschaft in der Volkssouveränität, aber er empfange keine Ge-
setze mehr von dem Willen der Massen. Gerlach war grundsätzlich Bismarcks Mei-
nung, warf ihm aber vor, das Wesen des Bonapartismus zu verkennen, wenn er auch
diesem die Legitimierung durch die Zeit zugestehen wollte. Die beiden Bonapartes
hätten nicht bloß einen revolutionären unrechtmäßigen Ursprung, sondern sie sind
selbst die inkarnierte Revolution . .Napoleon Hl. könne sich von der Volkssouverä.nität
nie lossagen. Bismarcb Gleichsetzung von 'Absolutismus' und 'Bonapartismus'
lehnte er ab, denn ersterer könne sich auf ein jus divinum gründen, während der
Bonapartismus noch nicht einmal Cäsarismus sei, d. h. Anmaßung eines Imperiums
in einer rechtmäßigen Republik, die sich durch den N otsta.nd rechtfertige. Der „Bo-
napartismus" war für Gerlach dagegen souveräne Diktatur, denn die Revolution,
d. h. die Volkssouveränität sei für Bonaparte der Rechtstitel schlechthin.
Auffällig ist die erstaunliche Kontinuität der konservativen Stellilngnahmen seit
Beginn des Jahrhunderts. Meist galt hier der Bonapartismus als typisch französi-
sches Phänomen - Versuche von altkonservativer oder katholisch-konservativer
Seite, mit der bei seiner Beschreibung entwickelten Typologie auch deutsche Ver-
hältnisse zu kritisieren, bildeten eine Ausnahme - und als vorübergehende Er-
scheinung, als Folge der Revolution, Volkssouveränität etc. Zu einer Soziologie des
Cäsarismus drang man hier nicht vor.
Die ganze Skala der Deutungsmöglichkeiten wurde in den fünfziger Jahren offen-
bar, als die Deutungen Napoleons III. zwischen „Beender der sozialen Revolu-
tion" und „Wegbereiter des Kommunismus" schwankten. Zum ersten Mal traten
sämtliche Begriffe nebeneinander auf und es machten sich bei aller Konfusion auch
leichte Bedeutungsunterschiede bemerkbar. Es finden sich auch Ansätze verschie-
denster Art zur Ausbildung einer Soziologie des Cäsarismus, sie blieben aber, im
Gegensatz zu Tocqueville oder Frantz, in guten Beobachtungen stecken, die nicht
systematisiert wurden.
WILHELM HEINRICH RIEHL sah im Staatsstreich vom 2. Dezember die Bestätigung
seiner Theorie, daß die soziale Bewegung, die soziale Politik die eigentlich entschei-
dende Politik der Gegenwart sei, denn Napoleon habe seinen Kaiserthron auf die
Furcht vor der sozialen Revolution gegründet, indem er geschickt das allgemeine
Stimmrecht, das wirksamste unter allen Reagentien des sozialen Gärungsprozesses ...

120 Ebd., Bd. 2, 161 ff.


130 Briefe des Generals Leopold von Gerlach, 216 ff. (Brief v. 5. Juni 1857).

48-90385/1 753
Cäsarismus IV. 2. Die deutschen Reaktionen

hinwarf, um diesen Gärungsprozeß selber - vorerst - niederzuschlagen. Sich im


Soldatentum eine neue gesellschaftliche Macht zu schaffen, dieser Versuch Napo-
leons möge für den Moment Erfolg verheißen, auf die Dauer werde er aber den
Keim des ... Sturzes der napoleonischen Herrschaft bilden181 • Einerseits sah Riehl
die modernen Züge des Cäsarismus, die mit der von ihm beschriebenen Umwälzung
zusammenhingen, andererseits legte er, wohl auf Grund der .Analogie mit der rö-
mischen Geschichte, zu großes Gewicht auf das militärische Moment von Napoieons
Herrschaft. Seine Prognose lautete: Cäsarismus ist zeitgemäß, aber nur ein ephe-
meres Phänomen.
Mit am weitesten in der Denunzierung der Identität von 'Cäsarismus' und 'Kom-
munismus' ging GusTAV DIEZEL132 • Niemand habe in Frankreich weniger Ursache,
mit Napoleon unzufrieden zu sein, als die Sozialisten und Kommunisten. Bonaparte
ist ihr Mann. Den Kommunismus vollende er deshalb, weil er die Staatsgewalt noch
absoluter gemacht, noch sinnreicher und um/assender zentralisiert hat. Der Cäsarismus
war für Diezel das Übergangsstadium zum Kommunismus, der von ihm in erster
Linie in seiner politischen und nicht in seiner sozialen Relevanz gesehen wurde:· er
wird letzten Endes die Staatsgewalt stärken! Für BRUNO BAUER hat die Phase des
Imperialismus mit dem ersten '.Napoleon begonnen und hat im zweiten seine Fort-
setzung gefunden. Dieser Imperialismus habe die curopiiisehen Regierungen vom
Schrecken der sozialen Revolution befreit, sie andererseits auch wieder mit dem
übertriebenen Typus ihrer eigenen Autorität konfrontiert. Der reinste Ausdruck dieses
Imperialismus sei die russische Regierung, sein Kennzeichen die allgemeine Nivel-
lierung und die Diktatur, die durch die beiden Bonaparte sowohl die Revolution
von 1789 als auch die von 1848 abgeschlossen habe. Die extreme Demokratie, her-
vorgegangen aus der Abschaffung der Aristokratie durch. die Französische Revolu-
tion, sei die Vorbedingung der Herrschaft des nackten Schwertes.
Das moderne Kaisertum der Napoleone wiederhole das römische, und- ganz im
Sinne der großen Parallele - eine kleine Gruppe, zu der er sich selber rechnete,
werde inmitten des Verfalls untAr rlAm modemAn Imperialismus an der Herausar-
beitung der Zukunft arbeiten und endlich wie auch die niedrigen, isolierten Ohristen
der römischen und barbarischen Welt ihr Gesetz auferlegen138• Trotz aller Einsicht in
die seit 1789 vollzogenen und sich noch vollziehenden Umwälzungen bleiben Bauers
Diagnosen und Prognosen durch den Rückzug in eine letzthin unverbindliche Ge-
schichtsphilosophie hegelianisoher Provenienz eigentümlich abstrakt.
Ganz anders bei DROYSEN. Er bestimmte den Cäsarismus als zu einem Übergangs-
stadium gehörig, das er als europäische Krise bezeiohnete1H. Die alten Formen des

131 Geschrieben 1851-53; W. H. RIEHL, Die bürgerliche Gesellschaft, 3. Aufl. (Stuttgart


1855), 11 ff.
189 GusTAv DIEZEL, Deutschland und die abendländische Civilisation (Stuttgart 1852),
110 f.
188 BRUNO BAUER, Rußland und das Germanenthum (Charlottenburg 1853), 30 ff. 56. 69.
76 ff.; vgl. ders., De la dictature occidentale (Charlottenburg 1854). Ähnlich auch HEBM.
HEINRICH BECKER in einem Briefv. 23. 8. 1854, in: KARL lliCKENBEBG, Der rote Becker
(Leipzig 1899), 145.
134 JoH. GusTAv DROYSEN, Zur Charakteristik der europäischen Krise (1854), Polit.
Sohr., hg. v. F. Gilbert (München, Berlin 1933), 323.

754
IV. 2. Die deutschen Reaktionen Cäsarismus

Staates und der Gesellschaft seien zerstört, neue noch nicht gefunden, was bedeute,
daß noch kein neues Gleichgewicht, daß noch nickt wieder Zustände möglich gewor<len
seien. Dieser Übergangszustand werde gekennzeichnet dwch eine Verwandlung des
Wesens der Freiheit durch den Begriff der Gleichheit, dann: durch die Verwandlung
des Staates aus einem Inbegriff von gegebenen und in sich ruhenden socialen und
Rechtszuständen in eine Institution, die Macht erzeuge und iibe, alle Formen von
Autonomie zerstöre, omnipotent sei und jeden und jedes in jedem Augenblick mobi-
lisiere. Aber auch Droysen wurde nicht gewahr, daß die von ihm diagnostizierte
Krise eben permanent geworden war und keinen Übergang zu einer neuen Stabili-
sierung, zu neuen „Zuständen" bildete. War die Krise aber permanent, so war auch
der Cäsarismus eine permanente Möglichkeit der europäischen Entwicklung.
Wurde bei den meisten Schriftstellern, die den Begriff 'Cäsarismus' verwandten,
Cäsars Herrschaft unbedenklich diesem zugerechnet, so unterstrich THEODOR
MoMMSEN gerade die Differenz zwischen Cäsar und dem 'Cäsarismus'. Er wandte
sich expressis verbis gegen die Unsitte, sein Urteil über Cäsar in ein Urteil über <len
sogenannten Cäsarismus umzudeuten185 • Mommsen hatte nämlich 1856 in der
1. Aufl. seiner „Römischen Geschichte" Cäsar außerordentlich positiv gezeichnet
und war deswegen als Verteidiger des modernen 'Cäsarismus' mißverstanden wor-
dcnlao. Er fügto deshalb seit der 2. Aufl. (1857) einen größeren Abschnitt über Cä-
sarismus ein, den er zuerst Oaesarianismus nannte, ein Wort, das, von 'caesarianus'
abgeleitet, Nachfolger und Anhänger Cäsars meinte 137, wogegen 'Cäsarismus' sich
von Cäsar direkt ableitete. In den späteren Auflagen seines Werkes hat Mommsen
diese Nuance jedoch aufgegeben. Trotz des genialen Impulses seines Schöpfers
Cäsar, so betonte Mommsen, erstarb von Cäsar an das römische Wesen gemäß dem
Naturgesetz, daß aWJk jede noch so mangelhafte Vet'/assuruJ, die der freien Selb.~tbe­
stimmung einer Mehrzahl von Bürgern Spielraum läßt, unendlich mehr sei als <ler
genialste und humanste Absolutismus! Eine absolute Militärmonarchie, wie sie der
Cäsarismus darstellte, sei nur legitimiert als Schlußstein eines oligarchischen Abso-
lutismus, unter anderen Entwicklungsverhiiltnissen sei sie zugleich eine Fratze und
eine Usurpation.
THEODOR MUNDT sah in seinen „Pariser Kaiser-Skizzen" 188 im Imperialismus den
roten Fa<len, der geeignet sei, alle Ereignisse jenseits des Rheins zu erklären. Er gab
jedoch der konstitutionellen Monarchie viel größere Chancen bei dem Experiment,
Wie l<leen der Revolution in legitime Tatsachen zu verwandeln. Die reine Isolierung auf

185 THEODOR MoMMSEN, Römische Geschichte, Bd. 3, 7. Aufi. (Berlin 1882), 477.
186 Vgl. LUDo MomTz HARTMANN, Theodor Mommsen (Gotha 1908), 65 ff.
137 Den Ausdruck 'Cäearia.ner' benutzte MollDISEN öfter zur Bezeichnung der .Anhänger

Cäsars. - Der Textvergleich zwischen der 1. und 2. Aufi. ergibt: Der Abschnitt V era-ucken
wir im einulnen Reeke:nackaft zu geben ••• , der ab 2. Aufi. 1857 mit der Randübersohrift
CaelJfJrB Werk versehen wurde, endete in der 1. Aufi. mit iiberraac1" haben möchte (443).
Darauf folgte unmittelbar der Abschnitt Die Stellung des neuen Bt<zataoberkaupta .•• (ab
2. Aufi. mit Randüberschrift Formulierung der neuen Mcmarckie, später abgeändert in
Diclatur/). Die 2. Aufi. sohloß den Einschub mitten im Satz an möchte mit und die ieden,
dem sie in kbendiger Wirklichkeit-::. an. Er umfaßte fast zwei Druckseiten (S. 457--459,
in den späteren Auflagen S. 476--478).
188 THEODOR MUNDT, Pariser Kaiser-Skizzen, Bd. 1(Berlin1857), Vorwort u. S. 34.

755
Cäsarismus IV. 2. Die deutschen Reaktionen

die GewaU mache den Imperialismus unfähig zu dieser Aufgabe. In seinem 1858 er-
schienenen Buch „Paris und Louis Napoleon" definierte Mundt 'Imperialismus' als
napo"le-Onische Idee, die schon durch Napoleon verwirklicht worden sei und sich auf
die Begriffe Führung und Armee grü'Ylile (71 f.). Was er nun unter 'Napoleonismus'
verstand, ist weit entfernt von dem, was er ein Jahr zuvor seinen Lesern als 'Im-
perialismus' beschrieb. Es war eine Synthese von Demokratie (1789) und .Absolutis-
mus (Ludwig XIV., 164 ff.), die ihre historische Berechtigung und Kraft schon seit
den Tagen Napoleons I. wesentlich aus zwei Dingen ziehe: negativ aus der Vernich-
tung der Feudalwelt und positiv, indem sie die Industrie als die eigentlich schöpfe-
rische Grundlage des modernen St,aates hinstellte und entwickelt. Ja, er ging so weit,
den Industrialismus als eigentlichen Geist des napoleonischen Systems zu bezeichnen.
Der Napoleonismus, der durch Überwindung der alten aristokratischen und feudalen
Gewalten zur Herrschaft gelangte und darin allerdings seine demokratische und revolu-
tionäre Grundnatur behauptete, kann darum auch nur eine Gesellschaft brauchen, die
Industrie geworden ist, wie er eine Armee hat, welche der Staat selbst geworden ist
(175 f.) 139•
Die Reduzierung der Gesellschaft auf die Industrie und des Staates auf die Armee
als Definition des 'Napoleonismus' oder 'Imperialismus' blieb in ihrer Einfachheit
und Schärfe im 19. Jahrhundert ve.re.Uu.elL Wlll ve.rdfo.uL a.uge1:1iuhL1:1 uer geraue erYt
richtig einsetzenden Industrialisierung besonders hervorgehoben zu werden. Sie ist
einerseits der Gegenpol zu Marx' Definition des Bonapartismus als Exponent der
Kleinbauern, andererseits aber bereits die Vorwegnahme eines Moments der mar-
xistisch-leninistischen Imperialismustheorie, die ja gerade diese Reduktion als spezi-
fische Erscheinung des letzten Stadiums des Kapitalismus wertete. Nur habe~ wir
es hier mit der innenpolitischen Seite des Imperialismus im Sinne des jüngeren
Imperialismus-Begriffs zu tun. Wichtig ist, daß hier wie<:ter im Zusammenhang mit
dem Napoleonismus der Begriff der Führung besonders betont wurde.
RocRAus .Buch über die „Grundsätze der Realpolitik" (1859) erschien zwar schon
kurz vor Ausbruch des österreichisch-französischen Krieg,es, war aber bereits durch
die außenpolitische Krise beeinflußt1 40. Wie die meisten seiner Zeitgenossen wertete
auch er den Bonapartismus als Bestätigung seiner These. Für ihn war eben die
Machtergreifung Napoleons ein Beleg dafür, daß nur die Politik der Tatsachen Ge-
walten schaffe und Gewalten stürze, die Verfassungen dagegen zu unheilbarer
Nichtigkeit verdammt seien (208). Für ihn bedeutete der 2. Dezember 1851 eine
große Epoche in der politischen Geschichte der Neuzeit, einen Tag, an dem Frankreich
von einem neuen Absolutismus heimgesucht wurde, wie er jenseits der russischen
Grenzen schon lange nicht mehr existiert habe (207 f.). Doch mehr als solche
Reduzierung einer neuen Erscheinung auf gängige Topoi findet man bei Rochau
nicht.
Kaum anders war es bei den aus Anlaß der außenpolitischen Krise des Jahres 1859
veröffentlichten Pamphleten und Schriften, die fast alle für Österreich Partei

139 Ders., Paris und Louis Napoleon. Neue Skizzen aus dem französischen Kaiserreich,

Bd. 1 (Berlin 1858).


uo AuG. LUDWIG RocHAu, Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen
Zustände Deutschlands (Stuttgart 1859).

756
IV. 2. Die tleut11cben Reaktionen Cäsarismus

nahmen141. In diesen Publikationen erschien fler RonaparliRmus oder Napoleonis-


mus als außenpolitisches Schreckgespenst; übrigens auch bei LASSALLE, der zu den
wenigen gehörte, die gegen Österreich auftraten142. Für unser Thema belegen diese
Schriften nur den schon weit verbreiteten Gebrauch der hier untersuchten Be-
griffe.
An die christlich-konservativen Kritiker des Napoleonismus im Vormärz schlossen
die Artikel in HERMANN WAGENERS „Staats- und Gesellschaftslexikon" aus den
Jahren 1860 und 1861 an, in dem die alten konservativen Thesen auf den neuesten
Stand gebracht wurden. In einem beinahe 20 Seiten langen Artikel „Bonapartis-
mus"143 wurde dieser alS der m.oderne Cäsarismus, als Fortsetzung untl relative Voll-
entlung des Absolutismus, der durch die blutige Logik der Revolution von allen Rück-
sichten untl TTaditionen der Vergangenheit befreil,e Despotismus definiert. Er sei aber
nicht nur eine besondere Phase in der historischen Entwicklung in Frankreich,
sondern auch die 'JTeTkörperung eines bestimmten politischen Prinzips und gleich-
zeitig dP.r RewP.is flafiir, flaß flie konsequente Durohfühmng der Prinzipien der
Französischen Revolution mit unabweisbaf'er N otwentligkeit die höchste SteigeTung
des Despotismus in sich schließt. Letztlich solle der Mensch an die Stelle Gottes
gesetzt werden, womit sowohl Absolutismus als auch Volkssouveränität vollendet
wären. Mit den eigenen Mitteln ließe sich der Bonapartismus nicht bekämpfen, des-
halb sei eine Neugestaltung Europas durch die Wiedereinsetzung der christlichen
Gerecltliy'/cf)it im SLuataleben unabweislich; sie müsse dem Entscheidungskampf des
GeTmanismus gegen Romanismus vorausgehen! 'Cäsarismus' wurde verschieden de-
finiert. Im Artikel „Cäsarismus" erschien er als die J1'1Jenduit dP.s Imperiali.~mu.~iu,
womit nur die Herrschaft der Napoleone vor ihrer Kaiserkrönung gemeint sein
kann. Im Artikel „Imperium.", der ein Jahr später erschien, wurde der Cäsarismus
als Säbelregiment beschrieben, das dazu diene, das souveräne Volk, die einzige Teelle
Schranke des Imperialismus, niederzuhalten, welcher durch das absolute Überge-
wicht der Exekutive gegenüber der Legislative charakterisiert sei146 • Tm Artikel
„Kaisertum." wurde auch zur Frage des Kaisertitels und zu den Bestrebungen der
48er Revolution und des Nationalvereins ein deutsches Kaisertum aufzurichten,
Stellung genommen. Dies wäre ein ..4.kt absolutester Willkür ... Er kann daher nur
mit Hilfe der Revolution ausgeführt werden, welche diejenigen, welche sie benützen, ...
stets zu ihren Dienstleuten untl demnächst zu ihren Opfern macht1'°.
Konservativem Staatsdenken war letztlich der Zugang zu einer adäquaten Erfas-
sung des Cäsarismus versperrt. Bei allem aufgewandten Scharfsinn kam man nie
über eine Adaption alter Begriffe an ein neues Phänomen hinaus. Man starrte wie

141 z.B. EDUABD FBH. v. CALLOT, Die neue Karte von Frankreich und Oberita.lien im Jahre

1860 (Leipzig 1859). Andere Schriften verzeichnet HANs RosENBERG, Die nationalpolitische
Publizistik Deutschlands vom Eintritt der neuen Ära in Preußen bis zum Ausbruch des
deutschen Krieges, Bd. 1 (München, Berlin 1935), 47. 50. 52. 266. 400. 411 f.
1u FERDINAND LAssALLE, Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens (1859), Ges.
Red. u. Sclu·„ Dcl. 1 (1919), 24.
1'8 W AGENER Bd. 4 (1860), 259 ff.
1u Ebd„ Bd. 5 (1861), 122, Art. Cäsarismus.
145 Ebd., Bd. 10 (1862), 9, Art. Imperium.
ua Ebd„ 805. 806, Art. Kaisertum.

757
Cäsarismus IV. 3. Marx, Engels, Lassalle

gebannt auf den Zusammenhang von Revolution und Cäsarismus und wurde durch
das Auftreten N!!>poleons III. in der Auffassung bestärkt, daß es sich um ein typisch
französisches Phänomen handelte, das ebenso wie Revolution und Absolutismus
dem deutschen Volkscharakter, der aber noch nicht biologisch bestimmt wurde,
fremd sei. Damit war jeder Erkenntnis des Cäsarismus als einer Signatur des Zeit-
alters und eines neuen Phänomens ein Riegel vorgeschoben.
Im preußischen Verfassungskonfilkt, der den Begriffen 'Cäsarismus' und 'Bona-
partismus' zur Kennzeichnung der Haltung der Regierung Bismarck von Seiten
ihrer liberalen Gegner weite Verbreitung brachte, zeigte sich, daß die Hochkonser-
vativen, was die technische Seite des Bonapartismus anging, diesem gar nicht so
fern standen. Die Staatsstreichpläne, für die der militärische Operationsplan vom
König schon unterschrieben war, sahen an Stelle der Verfassung von 1850 ein
kryptoabsolutistisches System vor. Auch RooN befürwortete damals den Staats-.
streich, wie aus einem Brief an Manteuffel hervorgeht: der König will nicht Trumpf
spiekn; es könme ein' Brumaire nötig werden, und der einzig Bereehtigte perlwrres-
zierte die Rolk des Bonapartem.

3. Marx, Engels, Lassalle und die Wiederbeginn.ende deutsche Arbeiterbewegung

Marx und Lassalle stellten sich mit dem Phänomen Napoleon zugleich die Frage,
weshalb die Revolution von 1848 scheiterte bzw. warum die Revolution sich nicht
zu einer proletarischen oder sozialen weiterentwickelt hatte. Sie mußten a1Ro, ähn-
lich wie die napoleonische Propaganda oder etwa Constantin Frantz in Napoleon
und dem Bonapartismus den Aufhalter der Revolution sehen, freilich mit entgegen-
geRetztem Vorzeichen. War Napoleon aber der Verhindcrcr der Revolution, dann
war er gleichzeitig auch die letzte und extremste Ausformung der Klassenherrschaft
der .Bourgeoisie.
Diese Position, die die Begründer des Marxismus - und auch Lassalle - Napoleon
zudiktierten, trug wesentlich dazu bei, daß die dem Marxschen Denken inhärente
Reduktion politischer auf soziale Phänomene innerhalb des Marxismus selber nicht
mehr kritisch aufgelöst werden konnte. Die damalige Konstellation hatte zwei
wichtige Folgen: einmal wurde die für die kommunistischen Regime typische Po-
tenzierung politischer Herrschaft bis weit in die fünfzigar Jahre des zwanzigsten
Jahrhunderts hinein von marxistischer Seite aus nicht gesehen; zweitens wurden in
den zwanziger ttnd dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts faschistische Regime
von Seiten der kommunistischen Parteien stets unterbewertet, weil sie als Epiphä-
nomene der Spätphase des Kapitalismus analysiert wurden. Im Gegensatz zu vielen
politischen Publizisten der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurde die für den
modernen Staat. typische Machtkonzentration, auf die sohon die katholisch-kon-
servativen Kritiker des Napoleonismus in den dreißiger Jahren des vorigen Jahr-
hunderts hingewiesen hatten und die nicht zuletzt durch die gegenseitige Durch-
dringung von Staat und Gesellschaft herbeigeführt wurde, in ihren Ursachen ver-
kannt.' Ein weit besseres Sensorium für politische Entwicklungen bewiesen die-
jenigen, die die Identität von Cäsarismus und Kommunismus, ihre gegenseitige

1 ' 7 ALBRECHT GBA11' v. RooN am 7. 12. 1862, zit. ERNST RUDOLll' HUBER, Deutsche Ver-
faBBungsgeschichte seit 1789, Bd. 3 (Stuttgart 1963), 349.

758
1V. 3. Man:, Engels, Lassalle Cäsarismm

Abhängigkeit oder den Cäsarismus als Übergangsstadium zum Kommunismus be-


schrieben.
FERDINAND LASSALLE gab Louis Napoleon, den er als pers0nifizierte Leerheit cha-
rakterisierte, nur' für wenige Monate eine Chance. In einem Brief an Marx vom
12. Dezember 1852148 versuchte er das beide bewegende Problem zu lösen, warum
die französischen Arbeiter sich während und nach dem Staatsstreich still verhalten
hatten. Eininal war das Parlament, der Gegenstand ihres Hasses, gesprengt, meinte
Lassalle, und dann war ihnen das allgemeine Stimmrecht gewährt worden. Doch
das Stillhalten des Proktariats war für ihn, der die Gesellschaft haarscharf vor dem
Abgrund der neuen proktarischen Revolution angelangt sah, keine verlorene Gelegen-
heit. Indem nämlich aus Furcht vor dem Sozialismus die Bourgeoisie für de~ Mili-
tärdespotismus und die Gewaltherrschaft votierte, bestätigte sie damit, daß der So-
zialismus schon heute, wenn auch nur negativ, das bestimrnende Wesen der Gesell-
schaft sei. Im Gegensatz zu seinem Onkel, der eine eminente revolutionäre Sendung
hatte, die feudale Gesellschaft zerschlug und die bürgel'liche an ihre Stelle setzte,
ist dieser Tölpel (d. i. Louis Napoleon) nichts als das "leer-allgemeine Wesen der ster-
benden Reaktion. Man gewinnt den Eindruck, daß dieses „leer-allgemeine Wesen"
die sich hegelianiseh drapierende Ratlosigkeit Lassalles angesichts des Phänomens
des Bonapartismus sehr gut ausdrückt.
MARx' Analyse dagegen sollte es gelingen, dieses mit konkretem Inhalt zu füllen.
Er nahm nur auf den ersten Blick den Bonapartismus nicht ernst, l!O wenn er in der
Einleitung zum „Achtzehnten Brumaire" von den Franzosen sagte, sie hätten den
alten Napokon selbst karikiert, wie er sich ausnehmen muß in der Mitte des 19. Jahr-
huriderts141l. In Louis Napoleon sah er den Vertreter de!il Lumpenproletariats, welcher
der vor der Herrschaft des arbeiteriden Proletariats und den zukünftigen Schrecken
der roten Anarchie zurückbebenden Bourgeoisie seinen Willen aufzwang (194).
Objektiv gesehen sei es die Aufgabe Napoleons, dessen Staatsstreich der Sieg der
Exekutivgewalt über die Legislative gewesen sei, erstere auf ihren reinsten Aus-
druck zu reduzieren (196). Erst unter dem zweiten Bonaparte scheint sich der Staat
völlig verselbstlindigt zu haben (197). Fragte man nach dem Klassenfundament seiner
Herrschaft, so vertrat er die zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft, die
Parzelknbauern (198). Andererseits habe aber gerade die Bourgeoisie den Imperia-
lismus der Bauernklasse gewaltsam befestigt, indem sie die alten Zustände festhielt„
die die Bauern konservativ machten (200). Starke und unumschränkte Regierung
und das Übergewicht der Armee seien die äußeren Kennzeichen des Bonapartismus
oder der idies napoUoniennes, die man mit den Ideen der unentwickelten, fugend-
frischen Parzelle gleichsetzen könne. Andererseits war diese Parodie des.Imperialis-
mus ... notwendig, um die Masse der französischen Nation von der Wucht der Tra-
dition Z?J. befreien und den Gegensatz der Staatsgewalt zur Gesellschaft rein herauszu-
arbeiten (203). Die staatliche Zentralisation, deren die moderne Gesellschaft bedarf,
erhebt sich nur auf den Trümmern der militärisch-bürokratischen Regierungsmaschine,
die im Gegensatz zum Fewl.alismus geschmiedet ward, wobei dann Bonaparte die ver-
selbständigte Macht der Ezekuti'Vgewa'lt darstellte (204), der die Anarchie selbst im
Namen der Ordnung erzeugte (207).

148 FERDINAND LAssALLE, Nachgel. Br. u. Sehr., Bd. 3 (1922), 42.


ue KARL MAB:x, per achtzehnte BrUm.aire des Louis Bonaparte, MEW Bd. 8 (1960), 117.

759
Cä1ariamu11 IV, 3, Mun:, Engels, Lussulle

In seiner ständigen Auseinandersetzung mit dem Bonapartismusuo ist Marx in


dieser Schrift wohl am weitesten zu einer Theoriebildung vorgedrungen; allerdings
findet man in Briefen ENGELS' aus späteren Jahrzehnten eine explizite Verallgemei-
nerung der von Marx entwickelten Theorie des Bonapartismus, die nicht mehr nur
für Frankreich, sondern für alle Länder gültig sei. So kommentierte Engels 1866
Bismarcks Ausspielen des allgemeinen Wahlrechts mit den Worten, daß der deut-
sche Bürger doch letztlich darauf eingehen werde, denn der Bonapartismus ist doch
die wahre Religion det- modet"nen Bourgeoisie. Letztere habe nicht das Zeug, selbst
direkt zu herrschen und überlasse dieses Geschäft einer bonapartistischen Halbdik-
tatur, die die großen materiellen Interessen der Bourgeoisie selbst gegen deren Willen
durchführe. Andet-erseits ist diese Diktatur selbst wieder gezwungen, diese materiellen
Interessen det- Bourgeoisie widerwillig zu adoptieren. So haben wir jetzt den Monsieur
B-is71UJ/rck, ·wie er das Programm des Nationalvereins adoptiert 1n.
1883 schrieb er an Bernstein, daß die Franzosen auf dem Weg zur sozialen Re-
vnlnt.inn schon ein gutes Stück Wegli weiter &eien als die Deut&chen, Sio hätten
die bürgerliche Republik, während letztere noch in einem Mischmasch von Halb-
feudalismus und Bonapartismus stecken152•
Eine spezifische Ausprägung und Stoßrichtung nahm der Begriff 'Cäsarismus' bei
der deutschen Sozialdemokratie beider Richtungen an. Er wurde fast immer zur
Benennung eines Systems. benutzt, das man auch „bismarckisch" nennen könnte.
Deshu.IU LraLun auch die Begriffe 'Napoleonismus' oder 'Bonapartismus' in den
Hintergrund, man sprach meist vom 'Cäsarismus'. Als Lassalle sein Arbeiterpro-
gramm ausarbeitete, hatte Rodbertus starke Bedenken gegen die von ihm vorge-
sehene enge Verbindung von allgemeinem Wahlrecht und Sozialismus. Diese Ver-
bindung würde nur dem Cäsarismus förderlich sein, der zur Signatur der Zeit gehöre
und bei der Paralysierung der revolutionären Kräfte Europas leichtes Spiel habe. Es
gelte, ermahnte er Lassalle, die Reinheit der sozialen Seite der Frage zu bewahren,
um nicht dem CäsarismUil entgegenzukommen163• Auch die „Allgemcinc Dcutachc
Arbeiterzeitung", die dem „Verband der Deutschen Arbeitervereine" nahestand,
sah in den politischen Forderungen des ADAV, vor allem aber in der nach allgemei-
nem Wahlrecht, eine Chance für den Cäsarismus: Auch wir kämpfen, so schrieb die
Zeitung anläßlich der Gründung des „Social-Demokrat" im Dezember 1864, für die
politische und bürgerliche Vollberechtigung der Arbeiter und für das allgemeine Stimm-
recht. Aber wir wollen dieses kostbare Recht, eingedenk, daß nur die Bildung wirklich
frei macht, nicht in den Händen bildungsloser Massen als Hebel zur Aufrichtung eines
freiheitsf eindlichen Oäsarentums 164•
In der Fro~tstellung des Verfassungskonflikts, der seitens der Liberalen durch die
Parole „Parlamentarismus oder Cäsarismus" markiert wurde, entschied sich der
Führer des ADAV, SCHWEITZER, eindeutig für fot.r.teren mit der Begründung: Par-

15o Vgl. MAXIMILIAN RUBEL, Karl Marx devant le Bonapartisme (Paris, Den Haag 1960).
1s1 ENGELS an Marx, 13. 4. 1866, MEW Bd. 31 (1965), 208.
m ENGELS an Eduard Dernstein, 27. 8. 1883, MEW Bd. 36 (1967), 54.
ua. Briefe von RoDBERTUS an Lassalle vom 9. 5. 1863, zit. LASSALLE, Nachgel. Br. u. Sehr.,
Bd. 6 (1925), 342 :ff. und 13. 5. 1863, ebd., 350 f.
lH Zit. GuSTAV MAYER, Johann Baptist von Schweitzer und die Sozialdemokratie (Jena.
1909), 109.

760
V. l, Die Zei& der Reiohsgründung Cäsarismus

lamentar·ism·us lie·ißt Regim.ent ikr Mittelmiiß'iyke-it, lte'ißt 'f1uwluloses Gerede, wtJ,ltrend


Oäsarismus doch wenigstens kühne Initiative, doch wenigstens bewältigende Tat heißt166•
Auch in den Richtungskämpfen zwischen ADAV und VDAV wurde der Begriff
polemisch gegen den ADAV benutzt. LIEBKNECHT hfolL ilie Bt:11:1tliLigW1g UtJI:! Cäsa-
rismus für die Vorbedingung eines freien und einigen Deutschland156 und jeden
Sozialdemokraten, der um die Gunst des Cäsarismus buhle, für einen Verräter an
der Sache des Sozialismus wie der Demokratie167, was sich dann leicht zu dem Vor-
wurf verdichten ließ, daß Schweitzer das Spiel des Bismarckschen Cäsarismus
spiele168. Der Oäsarismus beiderseits des Rheins war in den letzten Jahren vor dem
deutsch-französischen Krieg zu einem Topos in den Reden und Artikeln des von
Bebel und Liebknecht geführten Flügels der deutschen Arbeiterbewegung gewor-
den169. Auch vor und während der Reichsgründung waren 'Cäsarismus' oder 'Im-
perialismus' die Schlagwörter, mit denen die Sozialdemokratie beider Richtungen
das herrschende politische System bekämpfte - eine Charakteristik, die zu Be-
ginn des deutsch-französischen Krieges auch von Marx übernommen wurdc16D.

V. Die weitere Entwicklung der Begriffe vor und nach dem Sturz Napoleons

1. Die Zeit der Reichsgründung


Der Abscheu der Kom1ervat.iV11n vor dem Imperialismus NujJolcom1 III., cltiu sie
schließlich, wie wir oben sahen, mit Kaisertum schlechthin identifizierten, blieb
nicht ohne Einfluß auf die Haltung W1i,HF.T.'MS 1. vor der Kaiserkrönung. Er sagte
noch im Herbst 1870 zu Kronprinz Friedrich Wilhelm, der Imperialismus liege zu
Boden, so daß es in Deutschland künftig nur einen König von Preußen, . . . geben
könnte. l!'RIEDRICH WILHELM meinte dagegen, daß die bereits in Deutschland vor-
handenen drei '.Könige Preußen nötigen würden, den Supremat durch den Kaiser zu
ergreifen, und daß die f,au.~endjäh.riye Kaiser- oder Königskrone nichts mit dem moder-
nen Imperialism4s zu tun habe. Wilhelm gab schließlich nach 161. Hier ist die Be-
nutzung des Begriffs eindeutig auf das Regime Napoleons III. bezogen und durch
ihn diskreditiert worden. TREITSCHKE hatte bereits in den sechziger Jahren die
Grundzüge seines Begriffs der populären ( popularen) Tyrannis entwickelt1&2, die er
später im 2. Band seiner „Politik" ausbaute. Er gab zu, daß das römische
Oäsarentum in der ne~esten Geschichte ein Gegenstück gefunden hat an deIJ;l Bona-
partismus Frankreichs, lehnte aber eine geschichtsphilosophische Parallele und die

166 JoH. BAl'TIST v. SCHWEITZER, Socialdemocrat, Nr. 14, 27. 1. 1865.


166 KARL LIEBKNECHT, Demokratisches Wochenblatt, Nr. 21, 23. 5. 1868.
16 7 Ebd., Nr. 39, 26. 9. 1868.
168 Ebd., Nr. 8, 20. 2. 1869.
169 Vgl. etwa Bericht über den 5. Vereinstag der deutschen Arbeitervereine 1868 zu Nürn-

berg (2. Aufl. 1868; Ndr. Leipzig 1928), 27; Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 1(1869),569.
160 l\IARx, Erste Adresse über den Deutsch-Französischen Krieg, MEW Bd. 17 (1962),

/S; vgl. auch M.IBx an Kugelmann, 13. 12. 1870, MEW Bd. 33 (1966), 162 ff.
16 1 Aus Kaiser Friedrichs Tagebuch 1870-1871, hg. v. E. ENGEL, Dt. Rundschau 15

(1888), 14.
162 Vgl. HEINRICH v. TREITSCHKE, Frankreichs Staatsleben und der Bonapartismus,

Hist. u. Polit. Aufs., 4. Aufl., Bd. 3 (Leipzig 1871), 255. 267.

761
Cllsulsmus V. 1. Die Zeil de1· Reiclulgrüuduus

daraus zu folgernden geschichtsphilosophischen Konsequenzen ab, da ein solches


Absterben ... dem Wesen der christlichen Kultur widersprechen würde. Der Bona-
partismus vollende und vernichte gleichzeitig den Geilanken der Volkssouveränität:
Die gesamte Staatsgewalt wird einem einzigen übertragen, den man dann als das 'fl,eisch-
gewordene Volk betrachtet Hier ist die monarchische Gewalt dem Umfange nach sehr
groß, oft schranken/,os; sie ruht aber nicht auf gesickertem lloohtsboiJen, so daß der
Kampf um die Selbstbehauptung einen großen Teil der politischen Kräfte in Anspruch
nimmt und damit das Beste und Schönste des monarchischen Staats'lebens, die ruhige
Sicherheit und St.etigkeit, oollig verschwindet. Vom Herrscher aus gesehen sei die
demokratische Tyrannis die Herrschaftsform, bei der die Macht der Persönlichkeit
am deutlichsten hervortrete. Der Herrscher steht ganz auf sich selbst al'lein, weshalb
auch pathologische Züge wie Cäsarenwahnsinn183 hier am ehesten zu begreifen
seien. Auf der anderen Seite könne sich der Bonapartismus nur dann halten, wenn
das Volk in ihm g'leichsam sein innerstes Wesen widergespiegelt sehe, womit die an-
dere Seite der dialektäschen Aufhebung der Volkssouveränität im Donapartismus
her'!ortrete. Dieser demokratische Despotismus gründe seine Macht auf einen Mili-
tär- und Polizeistaat, d. h. auf das Heer und eine straff zentralisierte Verwaltung.
Welche Mechanismen sind aber am Werk, um einen solchen Staat, der auf die sitt-
lichen Mächt6 der Treue und des Rechts verzichten kömle, entatehen zu lassen184 ~
Die Furcht war es nach Treitschke, die die Napoleone auf den Thron hob: die Angst
der Bourgeoisie vor den Nivelleurs. Was sie oben hielt, war dl!t1 Gluck uml die
Disposition des französischen Volkes, denn der BonapartiRmUR ent.~pricht un'leugbar
in Frankreich den Gesetzen politischer Logik 181 •
Der Gebrauch der verschiedenen Begriffe in Treitschkes „Politik" verdient einen
näheren Hinweis. 'Cäsarismus' und 'Cäsarentum' wurden zur Kennzeichnung der
römischen Zustände verwandt; ihnen entsprach in der Neuzeit der Bonapartismus,
der aber nur auf Frankreich beschränkt bleibe, ja sogar der dortigen Disposition
entspreche. Mit der auch die historisehe Einfühlung zur Legitimierung heru1ziehen-
den Methode wurde jeglicher Ansatz, im BonapartiSmus ein allgemeingültiges poli-
tisches Phänomen zu sehen, erfolgreich abgewehrt. Verteidigern der herrschenden
deutschen Zustände wie Treitschke war jede Möglichkeit genommen zu untersu-
chen, daß auch im Deutschen Reich Strukturen cäsaristischer Herrschaft zu finden
waren. Vergleicht inan ihn mit den Sozialdemokraten, so hielt Treitschke die Gegen-
position. Er vermied es, den 'Cäsarismus'-Begriff auf die Neuzeit anzuwenden, da-
mit auf dem Wege über diese Neutralisierung ja nicht der Verdacht entstehen könnte,
er beschreibe politische Zustände, die teilweise auch auf Deutschland zuträfen.
Demokratische Monarchie, die dadurch charakterisiert Wm-de, daß dem Chef eines
solchen Staates durch die allgemeine Abstimmung königliche Gewalt und könig-
liche Prärogative übertragen werdenus, demokratisch-imperialistisches 8ystem 187

188 Ders., Politik, hg. v. Max Cornicelius, Bd. 2 (Leipzig 1898), 189 f.
m Ebd., 203 f.
166 Ebd., 205.
168 .ANToN PmLIPP SEGESSER, Die Monarchie und die Republik in Europa und Amerika

(1866), in: Sammlung kleiner Schriften, Bd. 1 (Bern 1877), 338 ff.; ders., Das Ende des
Kaiserreiches (1870) und: Studien und Glossen (1877), ebd., 460. 548 ff.
167 HEINRICH BLANKENBURG, Verfassung und innere Politik des 2. Kaiserreiches, Unsere

Zeit NF 6 (1870), 722 ff..

762
V. 2. 'lwperalismus' vor der Umfwaktionierung Cäsarismus

und clisarische Demokratie, die sich von legitimistischen Staatsformen im wesentlichen


dadurch unterscheide, daß die herrschenden Persönlichkeiten keiner Kontrolle
unterworfen seien168, und die man in die Nähe der Tyrannis oder der Despotie'
rückte, waren einige Schlagworte, mit denen die deutschen Zeitgenossen zwischen
1866 und dem Ende des zweiten Kaiserreiches versuchten, das Phänomen Napo-
leons III. und seiner spezifischen Herrschaftsform in den Griff zu bekommen. Man
kann sich des Eindrucks nicht erwehren; daß von all diesen Schriftstellern bewußt
vermieden wurde, den Begriff 'Cäsarismus' zu benutzen, da dieser in der damaligen
innenpolitischen Konstellation von den Gegnern Bismarcks zur Kennzeichnung der
deutschen Zustände verwandt wurde. Hermann Wagener war offenbar einer der
wenigen, der es sich, ohne in einen falschen Verdacht zu geraten, leisten konnte, von
'Cäsarismus' zu sprechen; andererseits könnte man auch sagen, wer hätte schon an
deutsche Zustände gedacht, wenn er den Cäsarismus als Verbindung von Demok'Ta-
tie und Militarismus definiert gefunden hätte, wie es WAGENER 1878 tat189 1
Gegenläufig zu diesem Zurücktreten des 'Cäsarismus'-Begriffs war eine andere Ent-
wicklung. Mit dem Ende Nap1>leons III. trat auch die Behandlung französischer
Zustände und Probleme in der Tagespublizistik etwas zurück, gleichzeitig verloren
natürlich Begriffe wie 'Napoleoni11mu11' und 1Do1111.1'11.rLÜ!lllW1' 11.n unmittelbarer
Evidenz und historischer Präsenz. Dadurch erhielt der 'Cäsarismus'-Begriff wieder
eine Chance, stärkere Verbreitung zu finden, wogegen 'Bonapartismus' und 'Na-
poleonismus' in den Hintergrund traten. Außerdem wurde die Behandlung des
Cäsarismus immer mehr eine Sache der sich rasch entwickelnden Sozialwissen-
schaften, wodurch er deT unmittelbaren Politisierung für den Tagesgebrauch ent-
rückt wurde.

2. Der lmperialismusbegrift' kurz vor seiner Umfunktionierung

Als der Imperia.lismusbegriff in England bereits im Sinne des modernen Verständ-


nisses verwandt wurde, erschien er zum ersten Mal in einem deutschen Lexikon
unter einem eigenen Stichwort. MEYERS „Conversations-Lexikon" von 1888 defi-
nierte 'Imperialismus' als Beuichnung fü'T den politischen Zustand der Staaten, in
welchen, wie unter den römischen Kaisern, nicht das Gesetz, sondern die auf die Mili-
tiirmacht sich stützende Willkür des Regenten hemc1a110.
BRUNO BAUER benutzte in den sechziger und achtziger Jahren nach wie vor aus-
schließlich den Begriff 'Imperialismus', womit er unter,seinen Zeitgenossen allein
stand. Nun paßte dieser Begriff sehr gut in seine Geschichtsphilosophie, die mit Hilfe
der großen Parallele beweisen wollte, daß der Imperialismus das Signum des Zeit-
alters sei. Die geschichtsphilosophisch!l Parallele wurde jetzt noch weiter ausge-
dehnt, so wenn er von drei imperialistischen Perioden unsere'T Geschichte sprach und
damit die Zeit Alexanders, die der röntlschen Cäsaren und seine eigene meinte 171 •

ua KARL lhLLEJ!RAND, Frankreich und die Franzosen in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hundert!!, in: Zeiten, Völket", Mem1chen, Bd. 1 (Berlin 1873), 195.
1s 9 HERMANN WAGENER, Die Lösung der sozialen Frage, vom Standpunkt der Wirklichkeit
und Praxis (Bielefeld, Leipzig 1878), 8.
1 7 o MEYER 4. Aufl., Bd. 8 (1888), 904.
171 BRUNO BAUER, Zur Orientierung über die Bismarck'sche Ära (Chemnitz 1880), 4 f.

763
Cäsarismus VI. 1. Cäsarismus als Teil einer ,,Naturlehre" "Vom Staat

Der mit dPm amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und der Französischen Revo-


lution in die Welt getretene innere Krie.gszustand der europäischen Gesellschaft, den
er als Bürgerkrieg bezeichnete, sei die historische Analogie zu den römischen Bür-
gerkriegen; Napoleon 1. und sein Neffe seien die Ebenbilder der ersten römischen
Kaiser. Dieser Bürgerkrieg und die mit ihm parallel laufende Nivellierung und De-
mokratisierung sind also die Vorbedingungen des Imperialismus, dessen Hauptmerk-
mal Nivellierung oder Zentralisation seien, nach Bauer ein Zeichen für das Versiegen
der Lebenskräfte der Korporation auf sämtlichen Gebieten. In der äußeren Politik
werde es darum gehen, wer schließlich diese nivellierten und an gemeinsame impe-
rialistische Erfahrungen gewöhnten europäischen Völker in einer Hand, in einem
Europa zusammenfas~en werde 172. Diese Nivellierung mache auch noch die ihr
widerstrebenden politischen Akteure zu ihren Agenten, was Bauer daran zeigte, daß
auch Bismarck ein Vertreter dieses Imperialismus sei11a.

VI. Der „Cäsarismus" in den Sozialwissenschaften

1. Koscher und Schäft'le: Der Cäsarismus als Teil einer „Naturlehre" vom Staat

Es wäre falsch anzunehmen, daß es bei den zu behandelnden Versuchen, dem Cä-
sarismus einen bestimmten Ort im Gesamtsystem einer politischen Soziologie anzu-
weisen, an ideologischen Implikaten oder Reflexen der historischen Situaiiou man-
geln würde. Nur treten diese hier gefilterter auf.
Auf einem vierzig Jahre vorher unternommenen Versuch, bei dem jeder Bezug auf
Napoleon fehlte, aufbauendl74, veröffentlichte WILHELM RoscHER 1888 seine „Um-
risse zur Naturlehre des Cäsarismus" 176, in der das klassische aristotelische Schema
für die Kulturvölke·r des Abendlandes abgewandelt und als Regel folgendes Schema
aufgestellt wurde: Geschlechterstaat, patriarchalisch-volksfreies Königtum, ritterlich-
priesterliche Aristokratie, absolute Monarchie. Letztere pflegt sich ... , wenn der
Mittelstand zu wachsen fortfährt, mehr und mehr mit demokratischen Elementen zu
versetzen, wohl gar einer völligen Demokratie Platz zu machen. Die Demokratie artet
zuletzt aus: der Mittelstand, auf dem sie beruht, schmilzt von oben und unten her immer
enger zusammen; das Volk spaltet sich in einen Gegensatz überreicher Kapitalisten und
gänzlich vermögensloser Arbfiiter. Den a·uf solclte Art gebildeten Zustand nenne ich
Plutokratie mit der Kehrseite des Proletariats (642). Die Analogie mit der marxisti-
schen Konzentrations- und Verelendungstheorie liegt auf der Hand. Nur ließ Ro-
scher dort, wo die soziale Revolution anzusetzen wäre, den Cäsarismus auftreten:
Endlich beschließt den ganzen Kreislauf eine neue Monarchie, die Militärtyrannis, die

1 72 Ders., Disraelis romantischer und Bismarcks socialistischer Imperialismus (Chemnitz


1882), 18 f. Die Differenz beider bestehe im wesentlichen darin, daß der romantische
Imperialismus an der Vergangenheit, der sozialistische dagegen mehr an der Zukunft
orientiert sei.
173 BAUER, Orientierung, 131 f. 310 ff.
1 7' WILHELM RosCHER, Umrisse zur Naturlehre der drei Staatsformen, Allg. Zs. f. Gesch. 9

(1848), 285 ff. 381 ff.


176 WILHELM RoscHER, Umrisse zur Naturlehre des Cäsarismus, Abh. d. Sächs. Akad. d.
Wiss., Philos.-hist. Kl., Bd. 10 (Leipzig 1888), 639 ff.

764
VI. 1. Cäsarismus als Teil einer ,,Naturlehre" vom Staat Cäsarismus

wir ... Cäsarismus nennen (642). Polemisch gegen die Gegner Bismarcks hieß es
dazu in einer Anmerkung, daß dieses Wort heutzutage sehr willkürlich, also unwissen-
schaftlwh gelwaucht werde. Viele bezei,chnen jeile kräftige Monarchie, die ihnen zu
kräftig ist, mag es wirklwh eine absolut-monarchische oder selbst eine konstitutionelle
sein, mit dem von ihnen als Scheltwort gemeinten Namen Oäsarismus. Als eine der
wichtigsten Eigentümlichkeiten, aber auch Stärken des Cäsarismus nannte Roscher
das J anushaU!pt . . . mit einem extrem monarchischen, einem extrem demokratischen
Angeswht (646). Mit letzterem hinge es zusammen, daß der Cäsar immer streben
muß, vor allen anderen hervorzuglänzen (647), was dann dazu führe, daß Sieg oder
Niederlage im Feld über das Schicksal seiner Herrschaft entscheiden (658 f.). Die
Tatsache, daß nur Frankreich als Experimentierfeld des modernen Cäsarismus bis-
her in Erscheinung getreten sei, erklärte Roscher nicht wie viele seiner deutschen
Zeitgenossen damit, daß der Cäsarismus eine nur auf Frankreich beschränkte Er-
scheinung sei, sondern daraus, daß bei den Franzosen die meisten Entwicklungen,
die von allen europäischen Völkern durchzumachen sind, besonders früh auftreten und
besonders rasch, leider auch besonders gewaltsam und blutig durchgesetzt werden (737),
eine Wendung, die an Lorenz von Stein erinnert. Letztlich sei der Sturz Napo-
leons 1. vornehmlwh seinem Streben nach Weltherrschaft zuzuschreiben (747).
Ä.LBEBT SoHÄFFJ.E zitierte in aoinom „Bau und Lobon doo oozio.lon Körporo" 176 zu-
stimmend Karl Vollgraff: Tyrannis ist das konservierende Salz, Sublimat oder der
ätzende Weingeist, worin der tote Körper noch lange Zeit Gestalt und Form behalten
mag, ohne jedoch dessen geschichtspessimistischen Konsequenzen zu übernehmen.
Die Parallelisierung benutzte er wie Bruno Bauer, wenn er schrieb: Der Oäsarismus
ist das Produkt eines längeren ermüdenden Kampfes zwischen Ari.~tokraten und Demo-
kraten, Rewhen und Armen; aus der Anarchie des Bürgerkrieges erhob sich, 'gesell-
schaftsrettend' und demokratisch zuglewh, die altgriechische Tyrannis, das römische
I mpe·ratorentum; die moderne Oäsarie. Sie ist der eiserne Notreifen einer innerlich
zersetzten Gesellschaft'. Er nahm direkt Bezug auf Aristoteles177 und bezeichnete
dessen Charakteristik der Tyrannis als Portrait rlflR m.nde.rn„~f,e;n Napol,e;nnism.1J.S.
Gesperrt gedruckt wurde der Satz von Aristoteles zitiert: In unseren Tagen bilden
sich keine Königtümer mehr, sondern Tyrannien. Den Ausgangspunkt für die Ablei-
tung des Cäsarismus bildete bei Schäffle die Monarchie (479 f.), in der von ihm als
ideal betrachteten Form der konstitutionellen Monarchie, die durch einen formellen
Dualismus beider Gewalten, nämlich der Krone einerseits und der Volksvertretung
und staatsbürgerlichen Rechte andererseits gebildet wurde. Dieser Dualismus, eine,
wie Schä:ffle sagte, wohltätige Schranke, war aber auch der mögliche Ausgangspunkt
für die Zersetzung der konstitutionellen Monarchie, denn wenn in diesem Dualismus
wirkliche Gegensätze machtvoll sich festsetzen, so verliert der konstitutionelle Staat seine
Einheit . . . Eine Rettung des Staates aus dem Schwanken des Machtschwerpunktes
endet dann regelmäßig ... entweder mit der Absolutie, sogar in Form einer neuen Oä-
sarendynastie, oder mit dem förmlichen Sturz der Mona'fchie, sei ~s durch die aristo-
kratische, sei es durch die demokratische Republik (484). Die Zukunft der europäischen
konstitutionellen Monarchien machte Schäffle allerdings von zwei Bedingungen

176 ALBERT ScHÄFFLE, Bau und Wesen des sozialen Körpers, 2. Aufl., Bd. 2 (Tübingen
1896), 486.
1 77 ARISTOTELES, Politik, Buch 5, Kap. 10 u. 11.

765
Cäsarismus VI. 1. Cäsarismus als Teil einer „Naturlehre" vom Staat

abhängig, von denen wir heute wissen, daß sie nur z. T. erfüllt WUrden und diese
Nichterfüllung dann auch die prognostizierten Folgen hatte: Meine Ü"berzeugung
ist es, daß die konstitutionelle Erbmonarchie durch Schutz des vierten Standes, in Völ-
kerstaaten durch Schutz der Gleichberechtigung der Nationalitäten, an Lebensdauer ge-
winnen kann . . . Versäumt sie diese Aufgabe, so droht ihr ... das Schicksal der Bour-
bonen, die Herabsetzung zur Restaurations-, Gekl~ und Proletariats-Despotie (Oäsa-
rie), der Untergang in Volksherrschaft oder der Untergang in der soziakn Republik.
Durch Einräumung des allgemeinen Stimmrechts ist die Weiterentwicklung schon in
diese Alternative hineingedrängt, (485).
Sowohl Roscher als auch Schä:ffle traten für den innenpolitischen status quo ein und
rechtfertigten ihn theoretisch, ohne aber die Gefahren zu übersehen, die der kon-
stitutionellen Monarchie drohten. Wurde schon das allgemeine Stimmrecht einge-
räumt, so könnte man Schäffle interpretieren, dann war der Weg zum Cäsarismus
bereits beschritten und nur noch dadurch aufzuhalten, daß die Monarchie die
soziale Frage durch die Gleichberechtigung des vierten Standes löste. Die Ent-
wicklung von Schäffles Theorie verfolgte auch den Zweck, die konstitutionelle
Monarchie seiner Zeit auf diese ihre Aufgabe hinzuweisen. Die Gefahren, die er beim
Versagen vor dieser Aufgabe heraufziehen sah, wurden, wenn auch theoretisch ein-
gekleidet, deutlich aufgewie1.um. Aber auch Schi.i.ffie umgwg geschickL ille ilirekte
Anwendung des Cäsarismusbegri:ffs auf moderne Zustände. 'Cäsarismus' war für
ihn zwar der übergreifende Begriff, aber seine moderne Ausprägung wurde als 'Cä-
sarie', 'Tyrannis' oder 'Napoleonismus' bezeichnet. Rm1cher dagegen verwandte
don Begriff unoingoaohränkt, a11h moh 11ber gezwungen, in einer Anmerkung den
Verdacht von sich zu weisen, ihn als „Scheltwort" zu benutzen.
Dio Analogien, besonders von Schä:fflc, zu Lorenz von Steins theoretischen Ablei-
tungen und praktischen Intentionen sind verblüffend, so daß man geradezu von
einer Wiederhol~g Steins in neuem Gewande sprechen könnte. Doch bei näherem
Zusehen erweist sich das neue Gewand als ziemlich alt und signalisiert einen Rück-
fall im Vergleich mit dem von Stein und auch Tocqueville erreichten Niveau der
Analyse. Der Grund dafür liegt darin, daß die modernen, Sozialwissenschaften bis
zu Pareto Gesetze der sozialen Welt nach dem Modell eines kreisförmigen Ablaufs
konstruierten, in dem Verfassungs- und Gesellschaftsformen nach .bestimmten
Regeln aufeinanderfolgten. Dabei konnten sie an die Aristoteles-Tradition der klas-
sischen „Politik", die fast ungebrochen bis zur Französischen Revolution reichte,
anknüpfen. Der Cäsarismus blieb so in die „Naturlehre" - in die Lehre von der
gesellschaftlichen und politischen Natur des Menschen - der Politik eingebettet.
Wie die Beispiele zeigen, wurden dabei.die klassischen Begriffe an ein neues Phäno-
men angepaßt und nicht bewußt ein neues Phänomen analysiert. Der Einholung
des Cäsarismus in die Tradition entspricht die Einholung der sich seit der Französi-
schen Revolution !lmanzipierenden Geschichte in die klassische „Politik". Das Ver-
ständnis für die Neuartigkeit der analysierten Phänomene, das einem neuen ge-
schichtlichen Sinn entsprach, wie ihn Tocqueville und Lorenz von Stein auf je
eigene Art besaßen und der bei ihnen durch das Bewußtsein von der Unangemessen-
heit der alten Begriffe und den Versuch, neue zu schaffen, belegt wurde, findet sich
nicht. Roscher und Schä:ffle mochten wohl beide die Bedeutung der sozialen Frage
und die Wichtigkeit ihrer Lösung für die Erhaltung der konstitutionellen Monarchie
erkennen, der Sinn für neue Herrschaftsbegriffe fehlte ihnen.

766
VI. 2. Oswald Spengler Cäsarismus

2. Oswald Spengler

SPENGLER konnte bei seiner geschichtsphilosophischen Verwendung der Begriffe


'Napoleonismus' und 'Cäsarismus' an Karl Vollgraff einerseits und an Bruno Bauer,
dessen Einfluß über Nietzsche lief, andererseits anknüpfen. Er betrachtete den Na-
poleonismus und den Cäsarismus als globale Phänomene im Sinne seiner auf Kultur-
einheiten mit immer gleichen Abläufen reduzierten Geschichtsphilosophie, die die
große weltgeschichtliche Parallele in eine Vielzahl von Parallelen aufgelöst hatte,
um der Stimmung seiner Zeit nicht nur prägnant, sondern auch den herrschenden
Denkströmungen adäquat Ausdruck zu verleihen. Bis zu Spenglers „Untergang des
Abendlandes" waren es immer Unzeitgemäße, die die geschichtsphilosophischen
Parallelen aufgriffen und 'Cäsarismus' in diesem Sinn verwandten. Durch ihn wurde
der Begriff, was seine geschichtsphilosophische Bedeutung angeht, in weiten Kreisen
verbreitet. Die Phänomene der Zeit ließen sich um so leichter mit seinen Katego-
rien in Einklang bringen, als die herrschenden irrationalistischen Ideologien deren
Wahrnehmung schon entsprechend präformiert hatten. 'Napoleonismus' war für
SPENGLER die Heraufkunft formloser Gewalten 178 , die die Epoche der Zivilisation
einleitete, für das Abendland bezeichnet durch die Namen Robespierre und Napo-
leon. Der Eintritt in das Zeitalter der Riesenkämpfe, den SpP.nglP.r dnmh den ersten
Weltkrieg angebrochen glaubte, war für ihn der Übergang vom Napoleonismus zum
Cäsarismus. Letzterer wurde charakterisiert durch große Einzelgewalten, d. h. durch
große Tatsachenmenschen, die zum Schicksal gan:r.er Völker und Kultur~n würden179•
Ct.tsarismus nenne ich die Regierungsart, welclte trotz aller staatsrechtlichen Formu-
lierung in ihrem inneren Wesen wieder gt.tnzlich formlos ist . . . Biologisclte Zeiträume
neltmen wieder den I'latz ·historisclter Epochen ein. Die Zeiten der Cäsarcn bedeute
das Ende der Politik von Geist und Geld, die für Spengler durch die Weltstadt verkör-
pert werden. Der Mensch wird wieder Pßanze ... Das zeitlose Dorf,, der „ewige"
Bauer treten hervor . . . ein einziges, ·genügsames Gewimmel, über das der Sturm der
Soldatenkaiser hiribraust180• 'Cäsarismus' als eine, wenn nicht gar die Signatur des
Zeitalters, 'Cäsarismus' als eine globale Erscheinung, jedenfalls soweit siCh europäi-
scher Geist, „faustisches Denken" ausgebreitet hatten, 'Cäsarismus' als Schicksal
kommender Generationen mit allen weltanschaulichen Implikat~n der Spengler-
schen Geschichtsphilosophie, so lautete das Fazit aus dem wohl beeindruckendsten
Versuch, 'Cäsarismus' als geschichtsphilosophischen Begriff zu verwenden. Aber
diese weltanschauliche Aufladung hat sicher mit dazu beigetragen, 'Cäsarismus'
als Begriff zu diskriminieren. Relevanz zur Erkenntnis geschichtlicher Abläufe und
politischer Strukturen kam ihm hier nicht mehr zu.

178 OSWALD SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 2 (München 1923), 502.
179 Ebd., 518 ff.
180 Ebd., 537 ff.

767
f.ä1111rismu11 VI. 3. Vom Cäsarism1111 zur llOU'Veränen Diktatur

3. Von der cli$aristischen Führerauslese zur souveränen Diktatur:


Max Weher, Robert Michels und Carl Schmitt

Bei MAx WEBER erschien das cäsaristische Prinzip als Endpunkt der Rationalisie-
rung von Herrschaft, als Herrschaftsprinzip, das jede traditionelle, sprich irrationale
Beimischung von sich abgestoßen hatte. Es stand aber nicht nur mit dem erbmonar-
chischen Legitimismus, sondern auch mit dem parlamentarischen Prinzip in Span-
nung durch die cäsaristische Wendung der Führerauslese, zu der jede Demokratie
neige. Der politische Führer gewinne in diesem Fall seine Macht mit massendem-
agogischen Mitteln, die dann durch direkte Volkswahl, durch die „reinen" Formen
cäsaristischer Akklamation, die nichts anderes als die Bekennung eines „Glaubens"
an den Führerberuf des zu Wählenden seien181• Im Rahmen der Weberschen Herr-
schaftssoziologie haben wir es hier mit einer Art der charismatischen Herrschaft,
nämlich mit der plebiszitären Demokratie als wichtigstem Typus der Führer-Demo-
kratie zu tun, die an Cromwell, Robespierre, Napoleon 1. und Napoleon III. exempli-
fiziert werden (156 ff.). Der durch Affekte und Emotionen legitimierten Herrschaft
an der Spitze konnte, dies arbeitete Weber bei der Behandlung der Bürokratie
heram1, uurchaw1 eine h0chl:1t ratiunafo Herrschaftsorganisation entsprechen, da die
Stellung des Führers oder Cäsars ihm erlaube, sein Augenmerk bei der Auswahl der
Beamten und Offiziere allein auf höchste Qualifikation zu richten und sich von Tra-
dition und anderen Rücksicliten bei diesem Ausleseprozeß frei zu machen. Auch inner-
halb der Bürokratie erblickte Weber im reinen Typus des bürokratischen Beamten,
welcher vom gewählten Chef ernannt wurde, ein oäsaristisohos Merkmal (562).
Mit den bei der Beschreibung der charismatisch bestimmten „Führer-Demokratie"
entwickelten Kategorien Webers läßt sich ohne weiteres der Weg zur Macht be-
schreiben, den Hindenburg und Ludendor:ff im Ersten Weltkrieg (dies wäre nach
Weber der „militaristische Weg") und später Mussolini und Hitler (der „bürger-
liche Weg") beschritten. Es bedurfte immerhin mehr als ein halbes Jahrhundert,
um den Begriff 'Cäsarismus' aus den Implikationen seiner Entstehungszeit zu lösen
und für eine Funktionsanalyse moderner Herrschaft benutzbar zu machen. Die seit
einem Jahrhundert beschriebenen Elemente des 'Napoleonismus', 'Bonapartismus',
'Imperialismus' oder 'Cäsarismus' wurden von Weber gleichsam auf einen Nenner
gebracht und auf ihre Tauglichkeit im Rahmen der modernen Bürokratie und des
modernen Staates hin untersucht. Die Diagnose fiel bei aller Zurückhaltung in der
Wertung eindeutig positiv aus. 'Chef' wurde bei der Untersuchung der Bürokratie
benützt, im rein politischen Bereich dagegen 'Führer'. Seit Constantin Frantz 1852
'Chef' auf Louis Napoleon angewandt hat, ist das Wort offenbar entpolitisiert wor-
den, wogegen ']l'ührer' die .Bedeutung annahm, die in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts dem Oberhaupt zugemessen wurde.
Bei allen historischen Beispielen und Parallelen, die er im Rahmen seiner Herr-
schaftssoziologie entfaltete, darf nicht übersehen werden, daß Weber sich bewußt
war, mit dem, was er Führer-Demokratie 182 nannte, auch ein spezifisch modernes
Phänomen, eine Erscheinung des Zeitalters aktiver Massendemokratisierung zu be-

181 MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl., 2. Halbbd. (Tübingen 1956), 869 f.
182 Ebd., 858.

768
VI. 3. Vom Cäsarismus zur souveränen Diktatur Cäsarismus

schreiben1S 3 • Wie diese, so war auch das Äuftreten des modernen cäsaristischen
Prinzips ein globales Phänomen, das er in allen seinen verschiedenen Erscheinungs-
formen aufspürte. Zur Charakterisierung seiner Legitimation übernahm er den
Begriff 'Charisma' aus der Kirchengeschichte (Rudolf Sohm) in seine Soziologie. Der·
Kern der charismatischen Legitimation war aber in der von den Beobachtern des
Bonapartismus oder Cäsarismus seit Beginn des 19. Jahrhunderts als charakte-
ristischer Zug festgehaltenen ständigen Bewährung, d. h. im Erfolg des charismati-
schen Herrschers zu sehen. Weher, der seine Theorie im engen Zusammenhang mit
seinen politischen Anschauungen, mit seiner Kritik am Wilhelminischen Reich ent-
wickelte184, hat etwa im Unterschied zu FRIEJ;>RICHNAUMANN185 nicht erkannt, wie
weit auch schon die deutsche Monarchie, das Kaisertum seit der Reichsgründung,
cäsaristische Momente in sich aufgenommen hatte. Man könnte dies sogar von allen
Monarchien behaupten, hinter deren Fassade die Macht noch nicht an das Parla-
ment und die von diesem de facto abhängigen Minister übergegangen war. Die Probe
aufs Exempel wurde während und am Ende des Ersten Weltkrieges gemacht, als
sich mit der militärischen Niederlage schlagartig zeigte, wie sehr die meisten Monar-
chien bereits den Erfolg in ihre Legitimationsgrundlagen aufgenommen hatten. Mit
der .Niederlage Deutschlands und dem Sturz der deutschen Monarchie wurde an-
dererseits auch offenbar, daß die preußiilch-deutsche Monarchie versäumt hatte,
was Weber und Naumann seit den neunziger Jahren unablässig gefordert hatten:
die innenpolitische Basis des Nationalstaats der von ihnen begrüßten weltpolitisch
orientierten Machtpolitik herzustellen durch Demokratisierung und Parlamentari-
sierung (Weber) oder durch die auf der Demokratie aufi:uhenden Führerstellung des
Kaisers als Diktator der neuen industriellen Aristolcratie (Naumann) 186.
Nach den Ansätzen Tocquevilles und Lorenz von Steins war Webers Herrschafts-
soziologie nach über einem halben Jahrhundert der erste Versuch, eine Soziologie
des 'Cäsarismus' zu schaffen, die notwendig zur Herrschaftssoziologie gehörte, da
der 'Cäsarismus' ein Herrschaftsbegriff und kein Richtungsbegriff ist. Gleichzeitig
wurden die traditionellen Begriffe zwar aufgenommen, aber nur historisch-deskrip-
tiv; sie erhielten- analog zu den eben genannten -keine systematische Funktion
mehr, womit sich die endgültige Ablösung der hier untersuchten Begriffe durch sol-
che wie 'Führer', 'Führerdemokratie', 'plebiszitäre' oder 'totalitäre Demokratie'
und 'Diktatur' abzeichnete, wie sie dann seit den zwanziger Jahren dieses Jahr-
hunderts ausschließlich gebraucht werden.
183 Ebd„ 869.
18 'Vgl. dazu WOLFGANG J. MoMMSEN, Max Weber und die deutsche Politik (Tübingen
1959), 387 ff.
185 Vgl. FRIEDRICH NAUMANN, Demokratie und Kaisertum, Werke, Bd. 2 (1964), 255 ff.

bos. 265 f.
186 Ebd., 174. Statt der innenpolitischen Konsolidierung fand eine zunehmende Aushöh-

lung der monarchischen Legitimation, der eine Stärkung der cäsaristischen Komponente
entsprach, statt: durch neue konservativ-völkische Bewegungen, wie etwa den Bund der
Landwirte, durch die zunehmende Bedeutung der öffentlichen Meinung für die außen-
politischen Entscheidungen seit der Jahrhundertwende, durch die besonders während der
neunziger Jahre auftretenden Staatsstreichpläne, in deren Zentrum die Aufhebung des
allgemeinen und gleichen Wahlrechts standen, durch das Auftreten Willielms II. in der
Öffentlichkeit, dessen hochtönende Reden in keinem Verhältnis zu dem von ihm ausgeübten
„persönlichen Regiment" standen, und durch die Diktatur der OHL im Krieg.

49-90385/i. 769
Cäsariamus VI. 3. Vom Cäeari.smas zur souveränen Diktatur

Einen - von der Soziologie Max Webers her gesehen - Teilaspekt cäsaristischer
Tendenzen untersuchte ROBERT MICHELS 187 •
Weit weniger nüchtern als Weber hegte er die für seine gesamte Kritik des modernen
Parteiwesens grundlegende Illusion, daß die demokratische Genese des als 'Bona-
partismus' von ihm beschriebenen Phänomens die undemokratische Weiterent-
wicklung, wenn nicht ganz verhindern, so doch zumindest heilen werde. Er unter-
suchte den Bonapartismus, weil er Züge enthalte, die für die Geschichte der moder-
nen demokratischen und revolutionären Parteien wesentlich seien. Er hielt sich
dabei, trotz seiner breiten Anwendung des Begriffs, mehr an den „Bonapartismus".
Er definierte ihn als Synthese de;r Demokratie mit der &lbstherrscliaft, wobei die De-
mokratie hier als Volkssouveränität bestinimt wurde. Letztere gipfelt in dem Recht,
sich selbst abzuscliaffen. Der „Bonapartismus" war fernerhin die Theorie der Herr-
scliaft des 'llH'sprünglich aus dem Gesamtwillen hervorgegangenen, aber von ihm eman-
zipierten, selbst Herr gewordenen Einzelwillens, den seine demokratische Entstehung
vor den Ge/ahren seiner undemokratischen Gegenwart schützt. Dieser letzte, ganz im
Sinne der Michels'schen Konzeption liegende und letzten Endes auf Rousseau zu-
rück:führbare Satz konnte ohne weiteres v_on cäsaristischen Regimen sowohl fa-
schistischer als auch kommunistischer Observanz benützt werden, um jede auf illre
tataächliche Pram zielende Oppo11ition zum Schweigen zu bringen.
CARL SCHMITT kam bei seiner Untersuchung des Diktaturbegriffs zu dem Schluß,
daß der politische Sinn des Wortes 'Diktatur' in der bürgerlichen politischen Litera-
tur am besten dadurch gekennzeichnet werde, daß es die persönliche Herrscliaft
eines einzelnen bedeute, aber mit zwei anderen Vorstellungen notwendig verbunden
sei: einmal, daß diese Herrscliaft auf einer, gkichgültig wie, herbeigeführten oder unter-
stellten Zustimmung des Volkes, also auf demokratischer <kundlage beruht, und zwei-
tens der Diktator sich eines stark zentralisierten Regierungsapparates bedient, der zur
Beherrschung und Verwaltung eines modernen Staates gehört. Napoleon I. ist für diese
Auffassung der Prototyp des modernen Diktators. Nachdem er viele Beispiele für das
Auswuchem des Begriffs der Diktatur angeführt hatte, schloß Schmitt diesen Ab-
satz mit folgender Bemerkung: Stets aber ist nach dem neueren Sprachgebrauch eine
Aufhebung der Demokratie auf demokratischer <kundl,age für die Diktatu~ cliarakte-
ristisch, so daß zwischen Diktatur und Cäsarismus meistens kein Unterschied mehr
besteht und eine wesentliche Bestimmung, nämlich das, was im folge1ulen als der kom-
missarische Oliarakter der Diktatur entwickelt ist, entfällt188• Im Rahmen von Schmitts
Unterscheidung zwischen souveräner und kommissarischer Diktatur fiel der Cäsa-
rismus mit der souveränen Diktatur zusammen, wobei seine staatsrechtliche Grund-
lage durch eine absolute Delegation gebildet wurde: der Souveränität durch das
souveräne Volk!
Schmitt verschleierte seine Rolle, wenn er davon sprach, daß die bürgerliche politi-
sche Literatur 'Diktatur' und 'Cäsarismus', um die von ihm herausgearbeitete Un-
terscheidung aufzunehmen, 'souveräne Diktatur' und 'Cäsarismus' gleichsetze. Er
si1lber hatte mit seinen grundlegenden Ausführungen mit daran Teil, daß diese

187 RoBERT MICHELS, Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie (1911),
2. Ndr. d. 2. Aufl. 1925, hg. v. Werner Conze (Stuttgart 1970), 208 ff. ,
188 SCHMITT, Diktatur. XII. xm. (s. Anm. 123).

770
VII. Ausblick Cäsarismus

Identifizierung des staatsrechtlichen Herrschaftsbegriffs 'Diktatur' mit dem ge-


schichtsphilosophisch fundierten Herrschaftsbegriff 'Cäsarismus' zustande kam,
denn sie stellte sich in ihrer Bewußtmachung erst voll dar. Wie richtig seine Diagnose
war, bewies unter anderem die Vergeblichkeit seines Bemühens, die „kommissa-
rische Diktatur" -etwa des Reichspräsidenten nach Art. 48 Weimarer Verfassung
- gegen die Heraufkunft der „souveränen Diktatur" cäsaristischer, d. h. plebiszi-
tärer Führer und ihrer Gefolgschaften zu beschwörenls9.
Es war wohl mehr als historische Kontingenz, daß im Augenblick des Zusammen-
falls von 'Diktatur' und 'Cäsarismus', der seit hundert Jahren als „starker ;Mann"
herbeigewünschte „Führer" das „Dritte Reich" heraufführte. Die nationalsoziali-
stische Puhfü:il'lt.ik und Gfl11ohicht.11Rohr11ib1mg VATRnoht>fl rlann anoh, Napoleon T. alR
Vorbild für die aben<lliirulische Aufgabe einer dauerhaften NeUO'fdnung Europas190
und Napoleon Ill. als sozialistischen Kaiser, als Vorläufer des nationalsozialistischen
Führerprinzips für sich zu reklamieren191. Freilich wurde betont, daß er daran ge-
scheitert wäre, daß er die einheitliche Zusammenfassung des nationalen Willens un<l
die innerliche Verbundenheit mit seinem Volke nur in Ansätzen verwirklicht habe192.

vn. Ausblick
1
Von den hier untersuchten Begriffen war in der nationalsozialistischen Publizistik
nicht mehr die Rede. Und auch die Diskussion nach dem Zweiten Weltkrieg über
Erscheinungsformen und Geschichte totalitärer Systeme, Herrschaften und Ideolo-
gien, ob sie sich nun wie bei Hannah Arendt mit der politisch-soziologischen Seite
oder wie bei J. L. Talmon mit der geistesgeschichtlichen Herkunft aus der totali-
tären Demokra.tie, d. h. von Roussea.u und Ma.bly, besohäftigen, benutzen die tradi-
tionellen Begriffe wie schon im 19. Jahrhundert Tocqueville und Lorenz von Stein
nicht mehr. Es ist dies Ausdruck einer im Vergleich zum 19. Jahrhundert gegen-
läufigen Entwicklung. Versuchte man damals, die neuen Phänomene mit tr11.ditio-
nellen Begriffen zu bewältigen, so scheidet man heute die traditionellen Begriffe aus,
um das Neue besser sichtbar zu machen.
DIETER GROH

~ 89 Vgl. den Anhang zur 2. Aufi. von „Die Diktatur" (München 1928), Ober die Diktatur
des Reichspräsidenten nach Art. 48 WV i CA.RL Scmi:rrr, Der Hüter der VerfaBBung, Arch.
d. Öffentlichen Rechts NF 16 (1929), 161 ff., erweiterte Fassung (Tübingen 1931); ders.,
Legalität und Legitimität (München, LeipZig 1932), Ndr. in: Verfassungsrechtliche Auf-
sätze aus den Jahren 1924-1954 (Berlin 1958), 263 ff.
ltO PHILIPP Boum..ER, Napoleon (München 1941), 9.
191 HmNz BBBMEB, Der sozialistische K\Liser, Die Tat 30 (1938), 160 ff.
1n WOLFGANG WINDELB.ilID, Die historische Figur Napoleons III., Dt. Rundschau 248
(1936), 103.

771
Christentum

1. Einleitung. 1. .Allgemeine Charakteristik des neuzeitlichen Begriffs 'Christentum'.


2. Voraussetzungen im Mittelalter. 3. Der Vorbegriff bis 1750. II. 1. Die Struktur des Be-
griffs in der Zeit der Aufklärungstheologie bis 1800: die Emanzipation von Kirche und
Dogmatik. 2. Christentum im Spannungsfeld der kirchlichen und politischen Institution.
3. Das Problem der freigesetzten Folgen. III. 1. Der Begriff in der allgemeinen Zeit- und
Gesellschaftsdeutung bis 1835: Freiheit und Gleichheit des Christentums. 2. Christentum
und Gesellschaftskritik. 3. Die Allgemeinheit des Christentums und die Konfessionen.
4. Der Streit um die Ursachen der Revolution. 5. Christentum und nationale Bewegung.
IV. 1. Christentum im Kampf von Fortschritt und Restauration nach 1835: das freie
Christentum als Partei. 2. Christentum und Glaubensfreiheit. 3. Der Begriff des christ-
lichen Staates - fortschrittlich. 4. Der Begriff des christlichen Staates - konservativ.
-V. 1. Die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus: das Ende des Begriffs im Sozialismus.
2. Die konservative Fassung in der christlich-sozialen Bewegung. 3. Von 'christlich-sozial'
zu 'national-sozial'. VI. Ausblick.

I. Einleitung

1. Aßgemeine Charakteristik des neuzeitlichen BegriJfs 'Christentum'


Der Begriff 'Christentum' gehört nicht der theologisch-dogmatischen Fachsprache
an, sondern verdankt seine allgemeine Bedeutung jener religiösen Emanzipation,
-die das, was Thema der Theologie und der Praxis der Kirche ist, in einer Allge-
meinheit und Beziehungsvielfalt wahrzunehmen sucht, die die Grenzen der theo-
logisch-kirchlichen Sprachwelt sprengt. So ist der Begriff aufs engste mit dem
Prozeß der neuzeitlichen Emanzipation verbunden1, und dieser Korrespondenz
muß die begriffsgeschichtliche Darstellung folgen. Mit dem Begriff 'Christentum'
vollzog sich eine Auseinandersetzung um das Recht, zu bestimmen, was das We-
sentliche und aktuell Wirkliche der christlichen Religion sei. Dieses Recht wurde
.der alleinigen Zuständigkeit der Kirche und ihrer Theologie streitig gemacht.
Der Begriff 'Christentum' kennzeichnet eine Position, die sich dieser Zuständigkeit
-entzog. Auch wo der Begriff in der Literatur als Titel für zusammenfassende Dar-
.stellungen des Inhalts der christlichen Religion Verwendung fand, war die Absicht
im Spiel, eine die Parteien und dogmatischen Setzungen übergreifende EinsicM
.zu formulieren, die vor allem das Leben dessen, für den die Lehren stehen, selb-
ständig zu entwickeln suchte. Eine auf das Wesen des Christentums zielende
Verwendung des Begriffs ging deshalb regelmäßig mit einer Erzählung seiner Ge-
.schichte Hand in Hand, weil die Geschichtserzählung das Mittel war, Gründe für
die Differenz zur offiziellen Lehre zu erheben und andere Gesichtspunkte für ihre
Wahrnehmung sichtbar zu machen. In diesem Sinn der Emanzipation ist der Begriff
-erst in der deutschen Aufklärung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgemein
geworden. Hier trate:i;i die Bedingungen hervor, die die begriffsgeschichtliche
Analyse leiten müssen. Es ergibt sich eine ;Konstellation, die dann eine Verbindung

1 Die umfassendste Darstellung gibt EMANUEL HmsCH, Geschichte der neuem evangeli-
schen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen
Denkens, 5 Bde. (Gütersloh 1949 ff.), auf die hier generell verwiesen wird.

772
I. 2. V~ im MiUelaher

des Begriffs mit kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Sachverhalten nahe-


legt, ja erzwingt2.
Für die generelle Verwendung des Begriffs seit ca. 1800 sind im wissenschaftlichen
Sprachgebrauch nur die religionsgeschichtliche und die religionsphilosophische
Fassung maßgeblich geworden3 , während die aktuelle religionspolitische Verwen-
dung zu widerspruchsvollen Verbindungen tendierte, weil sie mit der Selbstdeutung
der Zeit.innig verbunden war. Die systematische Verwendung in Theologie' und
Philosophie war bereits die Durchführung eines Streites um den Begriff 'Christen-
tum', der auf tiefgreifende religionspolitische Auseinandersetzungen hindeutet, die
im dazugehörigen Begriffsfeld ihren semantischen Niederschlag fanden. Es domi-
nierte die Tendenz, das, was Christentum sei, im dezidierten Unterschied zur kirch-
lichen Dogmatik zu bestimmen. Während das System der doctrina christiana dem
corpus ecclesiae entsprach, die als Kirche geltende Lehre zum Inhalt hatte6, berief
sich der Begriff 'Christentum' auf die geschichtliche Welt bzw. die freie menschliche
Vernunft. Wir folgen hier nicht den theologischen und philosophischen Systemen,
sondern der Geschichte des Begriffs in den aktuellen Auseinandersetzungen der
Zeit. Ferner ist der Begriff von dem der Religion zu unterscheiden, weil nur die
konkrete geschichtliche bzw. subjektive Fassung der Religion als Christentum
Grund jener Dift'erenzierungcn innerhalb der geschichtlichen Welt wurde, auf die
es hier ankommt. Es wird dann möglich, den Begriff für unterschiedliche aktuelle
Deutungen von Zeit und Geschichte zu reklamieren, wobei die allgemeine Tendenz
durch die emanzipative Fassung des Begriffs bestimmt ist, die er in der Aufklärung
erhalten hat. Schon die Vorgeschichte des Begriffs weist in diese Richtung.

2. Voraussetzungen im Mittelalter
Das allmähliche Aufkommen einer eigenen Terminologie für 'Christentum' im Mittel-
alter folgt.e der Notwendigkeit, ilie territoriale, soziale und politische Einheit der
christlichen Welt semantisch zum Ausdruck zu bringen, nachdem sich für die
tendentiell universale und ökumenische Mission der christlichen Kirche deutliche
Grenzen herausgebildet hatten8 • Als eigener Terminus unterschied er sich von
den engeren Begriffen der christlichen Kirche und ihrer theologischen wie insti-

2 HEINRICH HEB.lllELINK betitelte deshalb seine Kirchengeschichte der Neuzeit: Das


Christentum in der Menschheitsgeschichte, 3 Bde. (Stuttgart 1951).
3 Seit SCHLEIERMACHERS 5. Rede aus: Über die Religion (1799) datierte der religions-

geschichtliche Begriff, der den Ausgleich zwischen Allgemeinheit und positiver Geschicht-
lichkeit der christlichen Religion anstrebte. In FrnHTES „Anweisung zum seligen Leben"
(1806) fand sich mit dem Satz: Nur das Metaphysische, keineswegs aber das Historische,
macht selig die für den religionsphilosophischen Begriff seit der Aufklärung charakteristische
Struktur; SW Bd. 5 (1845), 485.
' In der Theologie ist der Begriff nur teilweise rezipiert, auf konservativer Seite aber ge-
legentlich als Fremdbezeichnung empfunden worden. So begann AUGUST FRIEDRICH
CHRISTIAN VILMAR, Dogmatik (Gütersloh 1874), § 5: Wesen des Christentums, mit der
Erklärung, es handle sich um eine Rubrik, die nur dem Gegner gegenüber Bedeutung hat,
und nur ihm gegenüber möglich iBt (42).
6 Darüber orientiert ÜTTO RITSCHL, System und systematische Methode (Bonn 1906).
8 Vgl. zum Folgenden vor allem DENYS HAY, Europe. The Emergence of an Idea (Edin-

burgh 1957), bes. 16 ff.

773
1. 2. Vorauuetzungen im Mittelalter

tutionellen Definition und umfaßte alle Christen mitallen Lebensbezügen ihrer Welt.
Die Tendenz auf den allgemeinen Begriff profilierte sich nach außen gegenüber dem
Rest der Welt und brachte jene Zusammengehörigkeit zum Ausdruck, die über alle
Differenzen der christlichen Kirchen und Länder, ihrer rassischen und nationalen
Eigentümlichkeiten hinweg angesichts der nicht-christlichen Welt bewußt wurde.
Diese geistlich wie politisch qualifizierte Einheit des Christentums konnte auch,
als römisches Erbe, den Unterschied der Zivilisation zur Barbarei artikulieren.
Befördert wurde dieses Verständnis nach außen im Zeitalter der Kreuzzüge und·
der islamischen Angriffe auf schon christlichen Territorien, wo die durch die
christliche Mission geprägte Welt auf die Begriffsbildung einwirkte. Nach innen
war der Begriff sehr viel weniger scharf umrissen. Die beiden lateinischen Worte
christianismus7 und christianitas standen für den christlichen Glauben und die
Christen. Sie hatten Äquivalente in den Landessprachen der westlichen Welt. Den
Begriffen Christentum und Christenheit8 im Deutschen entspricht christendom und
christianity im Englischen, während sich cristianite im Italienischen, chretiente
im Französischen und cristianidad im Spanischen allein von christianitas her-
leiteten. Im Vordergrund stand zuerst die geistliche Bedeutung, doch in Wendun-
gen wie populus christianus, christianorum genus, christiana res publica, christianus
orbis9 zeigte sich jene Tendenz, die Einheit der christlichen Welt umfassender .zu
definieren. Anders als beim Begriff der Kirche und seinen institutionsbezogenen
Derivaten war die Kompetenz zur Verwendung hier nicht eindeutig fixiert. Dieser
Sachverhalt prägte auch die weitere Begriffsgeschichte, die Zuständigkeit für die
Wahrnehmung des Begriffs nach innen konnte von verschiedenen Positionen aus
reklamiert werden. Die Verpflichtung gegeniiber dem Christentum als stiftender
Einheit der westlichen Welt war vor allem für die mittelalterlichen Führungs-
schichten von Bedeutung und mit deren Geschichte verbunden. Die Selbständigkeit
im Verhältnis zu kirchlich-dogmatischen Begriffen gab die Möglichkeit zu neuen
Verbindungen, von denen die mit dem Begriff Europas die politisch weittragendste
war10 • Im Spätmittelalter verlor die offizielle Kirche ihre praktische Identität mit
dem Christentum. Konziliare und mönchisch-spirituale Bewegungen einerseits, die
politische Verselbständigung Europas andererseits trugen dazu bei, die Überein-
stimmung der territorialen bzw. lebenspraktischen mit der kirchlichen Abgrenzung
des Christentums aufzulockern. In diesem Prozeß lag die Chance der Reformbewe-
gungen, so auch der Reformation und Luthers kritischer Verwendung von 'Christen-
tum' und 'Christenheit'11 • Schließlich zog die neuzeitliche Verwendung des Begriffs

7 Ein Graecismus, der auf xe1una'll111µoc; zurückverweist; vgl. dazu den einschlägigen

Beleg bei IGNATIUS VON ANTroo.eIEN, Magn. 10, 1-3, wo Glaubensinhalt, christliche Hal-
tung wie Abgrenzung nach außen (Judentum) schon darin enthalten sind.
8 So bei W ALTHEE VON DER VOGELWEIDE: UnkriatenlfAiker dinge ißt al diu kristenheit aß vol;

Leich 6, 30. Die Gedichte Walthers von der Vogelweide, 10. Aufl„ nach Lachmann hg.
v. CARL v. Kru.us (Berlin, Leipzig 1936), 7.
8 Verwiesen sei dazu auf JEAN RUl'P, L'idee de Chretiente da.DB la pensee pontificale des

origines 8. Innocent III (Paris 1939).


1o HAY, Europe, bes. 56 ff. 73 ff.
11 Beleges. Luthers sämtliche Schriften, hg. v. JoH. GEORG WALCH, Bd. 23 (Halle 1753),

139: Hauptregister; PmLil'P D!ETz, Wörterbuch zu Luthers deutschen Schriften, Tl. 1,


Bd. 2/1 (Leipzig 1872; Ndr. Hildesheim 1961).

774
I. 3. Der Vorhepiff lös 11$0 Cbrietentum

hieraus ihre Kraft, da sie ihrer Tendenz nach jene Einheit zum Ausdruck zu bringen
suchte, die durch die Kirche nach deren Spaltung nicht inehr gegeben war. An die
Stelle der Grenzziehung nach außen trat die Überwindung der Grenzen kirehlich-
dogmatischer Traditionen.

3. Der Vorhegri« his 1750


Von 'Christentum' wurde im Protestantismus dort zuerst gesprochen, wo das Leben
der Frömmigkeit im Unterschied zur Schultheologie praktiziert werden sollte. Dies
war der Fall in JOHANN ARNns „Vier Büchern vom wahren Christentum" (1606),
die als das erste lutherische Erbauungsbuch für das Volk gelten können und eine
Reformgesinnung artikulieren, die durch die orthodoxe Theologie nicht befriedigt
wurde. Bille demno.ch männiglich um Christi willen, sonderlich die studierende Jugend,
mit welcher Kirchen, ßchulen und Rathäuser bestellt werden müssen, sie wollen doch
ihr Christentum besser studieren, und es nicht allein bei der Wissenschaft der heiligen
Schrift bleiben lassen, sondern auch die Praktikam und lebendige Übung des heiligen
göUlichen Wortes studieren und lernen, und es dafür halten: die Theologie sei mehr eine
Erfahrung und Experienz, denn eine Kunst12• Esbereitete sich hier der Sprach-
gebrauch „praktisches" Christ.entnm vor, wohP.i cliP.RP. Ar.hrift, cliP. in ihrP.r Z11it
größte Aufmerksamkeit erregte, primär auf die innere, individuelle Gestaltung des
christlichen Lebens einwirkte und diese als selbständiges Thema neben der ge-
lehrten Theologie spruchreif machte. Der Streit, der sich alsbald um Arnds Recht-
gläubigkeit erhob, zeigt an, daß diese selbständige Thematisierung der Frömmigkeit
Anlaß zu religionspoqtischer: Frontenbildung gab, die später stärker hervortrat.
Arnd selbst berief sich o.uf Traditionen spätmittolalterlicher Frömmigkeit. Daß nicht
die Lehre, sondern das Leben der Ursprungsort des Begriffs 'Christentum' war,
zeigt auch die - spärliche - Verwendung des lateinischen Vorbegriffs 'Christianis-
mus' bei Luther. So wurde z. B. die Haltung des Christen zusammenfassend als
sein „Christianismus" charakterisiert: Neque est Christianismus aliud quam per-
petuum huius loci exercitium13• Wo die Wahrnehmung der Frömmigkeit selbstän-
digere Züge annahm und sich auch in formeller Gestaltung des christlichen Lebens
niederzuschlagen begann, traten die Strukturen des Begriffs klarer hervor, Im
Wirkungsbereich PH. J. SPENERS14 formierte sich die Kirchen- und Theologiekritik
bereits zu einem selbständigen Handeln der Frömmigkeit in den „collegia pietatis".
Wenn Spener in religiöser Hinsicht die Selbständigkeit des Hausstandes forderte,
so lag darin zwar schon ein Vorklang der Emanzipation des Dritten Standes, vor
allem aber anerkannte er damit die alte bürgerliche Gesellschaft in einer weltlichen
Unabhängigkeit, auf die weniger die Gleichheitsforderung des Dritten Standes,
sondern die daraus abgeleitete Forderung nach Fortsetzung der Reformation

12JOHANN .ARND [ARNDT], Vier Bücher vom wahren Christentum (1606/10), Vorrede, vgl.
WILHELM KoEPP, Johann Arndt (Berlin 1912), 40. Zum Zusammenhang vgl. liANs STEUBE,
Die Reformideen in der deu~schen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie (Leipzig
1924).
1a LUTHER, WA Bd. 25 (1902), 331. Vgl. ebd., 99. 33. 24. Es handelt sich bei diesen Scholien
zu Jesaja um praktisch-theologische Schriftauslegung.
u Zu Spener s. PAUL GRÜNBERG, Philipp Jakob Spener, 3 Bde. (Göttingen 1893/1906).

775
Christentum I. 3. Der Vorhegriff bis 1750

revolutionär wirken mußte. Wo die Ohristliche Kirche recht in ihre Ordnung gesetzt
werden solle, so muß die Verfassung also sein, daß in allen Stücken, welche zu dem
Kirchen-Wesen gehören, alle drei Stände selbst ihr Werk liaben, und miteinander kon-
kurrieren. Spener beklagte, daß die beiden oberen Stände dem dritten Stand die Übung
seiner jurium an meisten Orten entzogen haben, und sah darin die Notwendigkeit einer
fortgehenden Reformation, die zwar dem weltlichen überstand seine Rechte wieder-
gegeben habe, nicht aber auch dem dritten Stande. Die rechte Ordnung, die dem
Christentum entsprach, war damit noch nicht hergestellt, und es erschien als ein
Rückfall, wo ein Stand allein, sonderlich der Prediger sich der Gewalt in der Kirchen
anmaßet, - ein unrechtmäßiger Zustand, das recht PapsUurn und Anti-Ohristen-
tum15. Diese Forderungen wurden durchaus als revolutionär empfunden. Schon Arnd
gegenüber hatte die Antikritik die Nähe zu den Täufern und Spiritualisten hervor-
gehoben. Seit Spener mußte sich jede selbständige Wahrnehmung der Frömmigkeit
gegen den Vorwurf des Separatismus verteidigen. Die Sprengkraft solcher Be-
freiung von der kirchlichen Theologie und ihrem Lebell88ystem zeigte sich während
Speners Frankfurter Wirksamkeit, wo seine Anhänger tatsächlich eine Abspaltung
von der verfaßten Kirche unternahmen. Spener suchte aber mäßigend einzuwirken
mit „Der Kla.gen über das verdorbene Christentum Mißbrauch und rechter Ge-
brauch" (1685). Hier zeitigte der Kampf nm daR rir.htigA Oh.rist.fmtum unmittelbar
religionspolitische Konsequenzen, weil es ein Kampf nicht mehr um die Lehre, son-
Jern um das Leben und seine Gestaltung war. Und es trat auch bereits die Unsicher-
heit hinsichtlich dieser Konsequenzen auf, die dem kritischen Gebrauch des ßAgriffs
'Christentum' eigen ist; denn der Impuls der Kritik richtete sich doch zuerst auf Jas
innere Leben, die individuelle Gestalt der Frömmigkeit, während Kriterien seiner so-
zialen Praxis fehlten. Die Aufklärung wurde hier von innen her vorbereitet, wie es für
Deutschland charakteristisch war. Die selbständige Wahrnehmung des Christentums
artikulierte sich aber auch in einer Deutung der Geschichte des Christentums, die sol-
che Emanzipation legitimierte. So gab die „ Wahre AbbilJung Jes inwendigen Chri-
stenthums" von GOTTFRIED ARNOLD (1709) eine Darstellung der Geschichte des Chri-
stentums, in der die offiziellen Kriterien ihrer Beurteilung schlicht umgekehrt wur-
den, wie das in seiner „Kirchen- und Ketzerhistorie" (1699/1700) der Fall war16 • Die
Maßstäbe, nach denen die geschichtliche Welt des Christentums beurteilt werden
sollten, wurden damit grundsätzlich zur Diskussion gestellt in seiner ausdrücklich
über- und unkonfessionellen Weise, die von den Normen der Kirchentheologie nicht
mehr gedeckt war.
Die Position, die sich hier abzeichnete, konnte zunächst aus inneren, sodann in
zunehmendem Maße aus soziologischen Gründen nicht mehr mit den Begriffen der
Kirche und der dogmatischen Theologie formuliert werden. Hier trat der Begriff
'Christentum' in seine für die Folgezeit bestimmende Funktion ein. Der Begriff

1 SPENER, Von der verfaesung unserer Kirchen, betreffend die gewalt des kirchen-standes
(1691), zit. WALTHER BIENERT, Evangelische Kirchengestaltung (Halle 1940), 81.
ie G.ÄRNOLD, WahreAbbildungdesinwendigenChristenthume (Frankfurt 1709), Vorrede:
Die Lehrart des innerlichen Chriatentums ist nur polemisch auf die äußerlichen Handleitungen
bezogen und formuliert keine selbständige Gestalt. Ders., Unparteyische Kirchen- und
Ketzer-Historie von Anfang des Neuen Testaments bis auff das Jahr Christi 1688, 2 Bde.
(Frankfurt 1699/1700; Ndr. Hildesheim 1967).

776
D. 1, Emonadp•tioa TOD Kirohe - • Dopaatik Christentum

der allgemeinen oder natürlichen Religion, der gleichzeitig vom englischen Deismus
herkommend in diese Auseinandersetzung hineinwirkte, vermochte das nicht zu
leisten, weil er nicht auch die geschichtliche Welt artikulierte, in der sich diese
Emanzipation des Lebens gestalten wollte.

D.
1. Die Struktur des Begrift's in der Zeit der Aufklärungstheologie bis I • :
die Emanzipation von Kirche und Dogmatik

Der Schritt zur modernen Allgemeinheit des Begriffs vollzog sich in der deutschen
Aufklärungstheologie nach 1750. Neben das Recht der inneren, individuellen Frei-
heit der Frömmigkeit trat jetzt der Anspruch, das Christentum in den Dimensionen
des wissenschaftlichen, moralischen, dann auch politischen und gesellschaftlichen
Lebens allgemein zu bestimmen. Jetzt wurde das „Wesen de~ Chri8tentl1llIB"
thematisch17, wobei die kritische Reduktion auf das Wesentliche zugleich die
Freiheit ermöglichen sollte, die Entfaltung des Wesentlichen den Kriterien der
alten Theologie zu entziehen, um sie dem Leben der christlichen Individuen, der
denkerulen Ohriaten18 zwiuwcieon. Für dio hior zu verfolgende Begriffsgeschichte sind
weniger die inhaltlichen Darlegungen der nun bald entstehenden Wesensliteratur
von Interesse, als die Kriterien, unter denen die Frage zugelassen oder begrenzt
wurde. Neben dem „Wesen" des Christentums findet sich das „Charakteristische",
der „Geist" und der „Kern", das „vernunftgemäße" wie das „reine, allgemeine"
und das „echte". Solche und ähnliche Formeln drückten gemeinsam aus, wovon
sie dieses Christentum. zu unterscheiden suchten. Es bildete sich eine Theorie der
Unterscheidung des Christentums von seinen Manifestationen in der Tradition,
von seinem Dasein als Kirche wie in den biblischen Schriften. Das methodische
Mittel dieser Theorie und zugleich das Instrument der Loslösung war die kritische
HiRt.oriRifmmg rlAr Kirohflngfl11ohichte und der Exegese. Deren Subjekt war nun
nicht mehr der unmittelbare fromme Christ, sondern der Christ als Zeitgenosse
einer sich vernünftig begreifenden Welt. Darin sprach sich das Bewußtsein eines
Fortschritts gegenüber der Tradition aus, weil das Ohristentum in verschiedenen
Zeiten und zufol,ge der Fassungskraft der verschiedenen Klassen der Menschen, denen
es bekannt gemacht worden, eines Wachstums seiner Vollkommenheit fähig ist19•
Wer dagegen die Geschichte der Bekanntmachung des Ohristentums ... für ebenso

17 Vgl. zur Begrifflichkeit HEINRICH HOFFMANN, Die Frage nach dem Wesen des Christen-
tums in der Aufklärungstheologie, in: Harnack-Ehrung, Fschr. ADOLll' v. HARNAOK
(Leipzig 1921), 353 ff. und das reiche Quellenmaterial bei KARL ANER, Theologie der
J;.essingzeit (Halle 1929; Ndr. Hildesheim 1964) sowie RoLF SCHÄFER, in: Zs. f. Theologie
u. Kirche 65 (1968), 368 f.
18 So JoH. SA.LOMON SEMLER, Versuch einer freiem Lehrart (Halle 1777), 181. Im Titel

der lateinischen Fassung der Schrift tauchte wohl zuerst der Ausdruck „liberal" für
die Theologie auf: Institutio ad doctrinam Christiana.m libera.liter discendam (Halle
1774).
19 Ders., Hrn. Caspar Lavaters und eines Ungenannten Urtheile über Hrn. C. F. Steinbarts

System des reinen Christentums (Halle 1780), 52.

777
Chrlttentuw II. 1. .l!:blllöZipatioa voa Kirche und Dosmatik

wesentliclt zum Ohristentum ge}t/J'tig ansah wie tlessen allgemeines Wesen selbstao,
verfehlte die Aufgabe des gegenwärtigen Zeitalters und fixierte das Christentum
auf seinem anfänglichen, kindlichen S~nde. Die Analogie des christlichen Fort-
schritts mit dem Wachstum vom Kindes- und Mannesalter wurde gern bemüht,
um die Freiheit, die in Anspruch genommen wurde, vom Ruch des Revolutionären
zu reinigen. SEMLER21 rechtfertigte seinen „Versuch einer freiern theologischen
Lehrart" (1777) aus den gleichen Gründen, aus denen er die historisch-kritische
Bibelforschung .entwickelt hatte: So wie die Bibel für das Verständnis und die
Umstände ihrer damaligen Adressaten verfaßt wurde, muß ihr Inhalt, das .
Christentum, für die eigene Zeit und Welt dargestellt werden. Im Unterschied liegt
zugleich die Kontinuität. Das war das Ziel einer menschenfreundlichen Theorie
des Christentums22 • Diese Theorie zielte auf einen solchen Begriff des Christentums,
mit dem die entschieden ergriffenen Unterschiede zur Tradition als Momente inner-
halb seiner Geschichte verstanden werden konnten. Es war die Theorie einer
relativen, nicht prinzipiellen Emanzipation von der Tradition. Die Freiheit zur
Gegenwart hing daran, daß sie konkret, für die jeweils gegenwärtigen Bedürfnisse
wahrgenommen wurde und also kein abgeschlossenes System erstrebte, wie es
gerade der kirchlichen Dogmatik vorgeworfen wurde. So entzündete sich denn
auch der Streit im Lager der aufgoklö.rtcn Theologie an der Fra.ge, miL welcher
Konsequenz diese Freiheit durchgebildet werden sollte. Semler rügte an STEINBARTS
„Philosophie des Christentums" (1778) 23, daß er anstelle der alten eine neue
Lehrart verbindlich setzen wolle. Wurde die Freiheit zu sagen, was 'Christentum'
sei, tler Tradition abgerungen, so wurde sie sofort wieder verspielt, wo sie in die
Gestalt eines neuen Lehrsystems überführt wurde. Die Theorie des Christentums
sollte vielmehr die Mögliohkeit schaffen, sich im schon vorhandenen Christentum
frei und selbständig zu bewegen. Gibt es ein Christentum ohne Men.~ch.e.n, die. es zttf
eigenen Fertigkeit haben? Da die eigene gewissenhafte Annahme des Christentums
unaufhJJr.zich subjelaivische Ungleichheit und Verschiedenheit beliält: so kann niemand
sich anbieten, er wolle. das lautere Christentum wieder herstellen; es ist niemalen ver-
loren w<>f'den; es steckt, aber nicht in Formeln und Systemen; es gehört zu seinem Dasein
eine subjelaivische Gemütsverfassung; diese ist und bleibt frei, ungestimmt nach einem
einzigen Ton23 • Gerade in der Unbestimmtheit des Begriffs lag seine Liberalität
und es war die Aufgabe der Kritik, für diese Freiheit Platz zu lassen. Es wurde die
volle Übereinstimmung von historisch-kritischer Forschung und gegenwärtigem
Leben intendiert, die mit dem Unterschied auch di~ Kontinuität aussagte. Diese

1 0 Ebd.; vgl. auch de~ .• Über historische, gesellschaftliche und moralische Religion

(Leipzig 1786). '


11 Zur Struktur der histcirisch-theologischen Begrifflichkeit Semlers, die zugleich eine
implizit soziologische und politische war, vgl. TRUTZ RENDTORFF, Kirche und Theologie.
Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie (Gütersloh 1966),
27 ff. Im übrigen FRIEDRIOH WILHELM KANTZENBAOH, Protestantisches Christentum im
Zeitalter der Aufklärung (Gütersloh 1965).
11 SEMLER, Lavater, 112.
13 GOTTHILJ!' SillUJ!lL STl!lINDAnT, System der reinen rhllo&:1phle uller Glüclu!eligkeiLs-
lehre des Christentums, für die Bedürfnisse seiner aufgeklärten Landleute und anderer, die
nach der Weisheit fragen, eingerichtet (1778; 4. Aufl. Berlin 1794).
H SEMLER, Lavater, 157 f.

778
U. 2. Spannungsfeld Kirehe und Politik Christentum

Freiheit machte dann aber eine christliche Zeitdeutung notwendig, die für die fol·
genden Zeiten das Bild der Begriffsgeschichte bestimmt. Wurde die Freiheit darin
konkret, wie sie der Gegenwart genügte, dann rückte die Zeitdeutung an die Stelle
des kirchlichen Lehrsystems. So sprach TELLER (1772)26 über das nationell gewordene
Ohrisientum, oder über das männliche Alter clesselben als einem reiferen Zeitalter,
für das darum andere Kriterien gelten als für die Anfangszeit. In einer schon christ-
lichen Nation solle man in theologischer Hinsicht nicht so tun, als ob die Ohristen
im'lMf' von vorne anfangen. Zur Zeit Jesu herrschten andere Volksideen, die Begriffe
entsprachen denen eines zu mehr geistiger Denkart noch nicht erhobenen Volkes.
Wo aber das -Christentum eine Nationalsache geworden ist, müßten auch andere
Ideen und Begriffe gebildet werden. Hier wurde die Kritik nach positiven Grund-
sätzen betrieben und war darum in eine Richtung disponiert, die das Wesen des
Christentums mit einer Verständigung über die eigene Zeit und Welt zu verbinden
suchte. Während die historische Kritik die formalen, wissenBBoziologischen Kate-
gorien bereitstellte, war der Begriff selbst offen für die unterschiedlichsten inhalt-
lichen Verbindu.ri.gen. Unter der Voraussetzung der allgemeinen Vernunftnatiir des
Menschen schien das Feld der christlichen Wirklichkeit dieser allgemeinen Formel
auch zu entsprechen. In unserem Zeitalter muß alles das zum Ohristentum gehören,
was Jesus und die Apostel, wenn sie gegenwärtig lebten und lehrten, als Ohristentum
nach den Bedürfnissen unseres Zeitalters aufstellen würden26• Der einheitliche Sinn
dieser Bedürfnisse erschien uallll ln Begriffen der Moralität und des ethi11chen
Rewußtseins. Sie lieferten die allgemeine Verständigungsbasis für die gegenwärtig
aktuelle Be!:!Limmung des Begriffs 'Christentum'. Mit der Denkensfreiheit und dem
Fanatismus der Philosophie, dem schönen Kennzug des Jahrhunde!ts wurden etwa
die Beispiek eines 'P"aktischen Ohristentums, eine tätigere Sittenlehre, tugendhaftere
Monarchen und bessere Bürger in selbstverständlichen positiven und kausalen Zu-
sammenhang gesetzt27 •
Doch ilie religiom1_voliLischen Konsequenzen traten zuer11t all!! ein instit11tioneller
Konflikt hervor. Dieses politische Element hat wiederum am nachhaltigsten
Semler erkannt und den Konflikt durch die Unterscheidung der „öffentlichen"
und „privaten" Religion zu schlichten versucht.

2. Christentum im Spannungsfeld der kirchlichen und politischen Institution

Das Subjekt jener religiösen Emanzipation, deren Ausweis der Begriff 'Christentum'
bildete, war der private Christ. Hatte schon SPENER sein Reformprogramm als eine
Privat-( an )gelegenheit28 des Christen formuliert, so wurde dieses Privatrecht zur Basis

211 WILIIELM AllRAilAM TELLER, Wörterbuch des Neuen Testaments zur Erklärung der
christlichen Lehre (Berlin 1772), 43. 56. 61 f.
18 So C.ABL HEINRICH LUDWIG PöLITZ, Beitrag zur Kritik der Religionsphilosophie und

Exegese unseres Zeitalters (Leipzig 1795), 351.


17 WEKBRLIN, Salmasius vindicatus, Chronologen 3 (1779), 86. Das weite Feld der Sozial-

ethik dieser Zeit hat materialreich dargestellt und der Vergessenheit entrissen .ALEXANDRA
SCHI.INGENSIBPEN-POGGE, Das Sozialethos der lutherischen Aufklärungstheologie am Vor-
abend der Industriellen Revolution (Göttingen, Berlin, Frankfurt 1967).
28 In einem Zusammenhang, in dem die effektive Ausübung des allgemeinen Priestertums

gefordert wird; PmL. JAKOB SPENER, Theologische Bedencken, Bd. 2 (Halle 1700), 596.

779
Christentum D. 2. Spa111111113sfeld Kirche und Politik

für die Verständigung über den Konflikt mit der kirchlichen und politischen
Institution, die der Freiheit enge Grenzen zog. So legte JoH. BERNHARD BASEDOW
seinen „Versuch einer freimütigen Dogmatik nach Privateinsicht" (1766) vor und
lieferte dazu auch gleich ein „Privatgesangbuch" 29 • Und die von ihm angeredeten
„Selbstdenker" waren es nun auch, für die Semler die Freiheit vorbehalten. wissen
wollte. Die Unterscheidung einer öffentlichen und _privaten Religion oder Theologie
diente dem doppelten Zweck, sowohl das Recht der Emanzipation wie das der
bestehenden kirchlichen Institution zu rechtfertigen. Der erste Erfolg der Kritik
war die Reduktion des Alleinvertretungsanspruchs der kirchlichen Theologie für
das Christentum auf die Funktion, die sie für das institutionelle System Kirche
ausübte. An die Stelle des eigentlichen, moralisch-religiösen Zwecks in der Kirche
trat die Theologie als Mittel zur Beförderung der äußerlichen Einigkeit der kirch-
lidhen Gesellschaften30• Die Theologiekritik wurde damit über die Institutionenkritik
auch zur politischen Kritik. Wo die unveränderte Geltung der historischen Lehr-
formel behauptet wurde, handelte es sich wn ein poliLi1:mhe1:1 Problem, nämlich die
Aufrechterhaltung des kirchlichen Herrschaftssystems31 • Angesichts der geistlichen
Fürstentümer und des landesherrlichen Kirchenregiments verbreitete sich folge-
richtig in der Aufklärung der Gedanke, die Kirche diene zugleich dem bestehenden
politischen System.
In diesem Sinne rief MosER32 die Erinnerung an die einfältige Lehre des Christen-
tums wach, die mit der 1'rennung des Menschengeschlechts in Klerisei und Volk
verlorengegangen sei. Die Opposition gegen da11 du.rch Menschen-Satzung mißstellte
Christentum berief sich auf die Reformation, die die Freiheit fürs Volk herauf-
ge1ührt habe, die nun gegen die Mängel de'I geistlichen Regierungen politisch durch-
gesetzt werden müsse. Im Namen einer Aufklärung, die wahre Philo8oph1:e mi:t
wahrem Christentum verband, appellierte Moser an jene Allgemeinheit des Christen-
tums, die von der Lebenswirklichkeit des Volkes getragen wurde und über alle
kirchliche rartikulariLii.L reichte, wt·il wfr ·uns allerseits zum Christentum belcennen,
wahre, erleuchtete, verständige und mit Leben und Wandel unsere heilige Religion
zierende und bekennende Oh'listen.
Die Dogmatik hat jetzt nicht mehr das Leben zum Zweck, sondern den großen Vorzug
der Kirche, ohne welche der Staat sich daneben nicht erhalten kann und die Parallele
lief darauf hinaus, daß die Unterwerfung aller anderen Christen an .die Kirche so
geschieht wie sie dem Staate al.~ Bürger ?Lnterworfen sind33 • Die Möglichkeit einer
politischen Funktion der Kirche wurde zu einem selbständigen Aspekt, wo die
freie Auffassung des Christentums und des christlichen Lebens nicht mehr bedin-
gungslos an deren Verfassung gebunden erschien. Tatsächlich bildete sich dann aber

29 Jon. BERNRABD BASEDOW, Ein Privatgesangbuch zur gesellschaftlich unanstößigen


Erbauung (Berlin, Altona 1767).
30 SEMLER, Freie Lehrart, 6 f.
31 Es gehe dann nieht um Moralität ... , aondern um die GeUung hierarchischer Observanzen,

bemerkt kritisch AuG. HERMANN NIEMEYER, Briefe a.n christliche Religionslehrer (Halle
17116; 2. AuH. 1803), XVIII.
32 FRIEDRIOB: CARL FRH. VON MosER, Über die Regierung der geistlichen Staa.ton (Fro,nk-

furt, Leipzig 1787), 13 f. 164. 212.


33 SEMLER, Über historische Religion, 62. Entsprechend werde der kirchliche Bürger oder

kirchliche Unterlan dem moraliachen Ohriaten vorgezogen.

780
II. 2. Spannungsfeld Kirche und Politik Christentum

neben der institutionellen eine neue, andere Öfi'enLlichkeiL, die sich al1:1 ilie ue1:1
Privaten vorstellte. Die Argumente für die Institution wurden damit zwangsläufig
politisiert, weil sie mit dem religiösen Selbstverständnis nicht mehr notwendig
verbunden war. Die politischen und pädagogischen Gesichtspunkte entsprachen
in der aktuellen Auseinandersetzung den historisch definierten, geographischen und
gesellschaftlichen Bedingungen der Kirchen- und Dogmengeschichte. So rücken
die öffentlichen Religionsübungen bei CARL FRIEDRICH BAHRDT unter den Aspekt
des bürgerlichen Verhaltens, wenn er forderte, daß der Bürgerstand auch darum
sich v<Yrzüglich für öffentliche Religionsübungen interessieren sollte, weil er die
Nation ausmacht und weil nach ihm der Nationalcharakter beurteilt werde34 • In
diesem Zusammenhang ergab sich dann eine Auseinandersetzung um die Kon-
sequenzen, die aus dem selbständig wahrgenommenen Christentum gezogen werden
konnten. Das Wöllnersche Religionsedikt bildete den Anlaß zu einer Fronten-
bildung, weil dieses im Ganzen durchaus vom Geist der Aufklärung geprägte
EilikL35 uer Freiheit eine Grenze zog, WO sie die bestehende Rechtsordnung an-
tasten konnte. Die Gründe, die Semler veranlaßten, dieses Edikt gegen eine kon-
sequente Selbständigkeit eines (privaten) Christentums zu unterstützen, sind auf-
schlußreich für die widersprüchlichen Motive, die sich im religionspolitischen Feld
auswirken können. Semler wollte die ohriatliohe Froihoit no.oh don Fähigkoiton
der Christen begrenr.t wissen, damit aus dem vernünftigen Christentum kein neues
Gesetz für alle entsteht. Er verband die Unterscheidung der öffentlichen und
privaten Religion mit einer Theorie der zwei Klassen von Christen, die durch die
Fähigkeit oder Unfähigkeit zu selbständiger Wahrnehmung des Christentums
unterschieden wurden.86• Hier wurde um der Freiheit willen ein Interesse an der
Institution formuliert. Der freie Begriff des ChristentumR fand Reine Grenr.e an den
religiösen Bedürfnissen derer, die notwendig auf die Hilfe der Institutionen an-
gewiesen waren, das Volk. Der Sache nach kann man hier auch schon die Be-
gründung finden, die später die Zurückdrängung der Aufklärung um des Volkes
willen legitimierte, wenn, wie infolge der Befreiungskriege, die Volksverbundenheit
der Religion zu einem Politikum wurde. Dann konnte sich dieses Argument auch
gegen das emanzipative Verständnis des Christentums richten, aber aus anderen
Motiven als sie Semler bewegten. Aufs Ganze gesehen führte der aufgeklärte Begriff
des Christentums nicht zu eigener Konfessions- oder Gruppenbildung, weil er sich
als Ausdruck dessen verstand, was in der Zeit schon allgemein war. Die Gründung
einer Christentumsgesellschaft37 war denn auch Zeichen einer missionarischen
Gegenbewegung gegen die Aufklärung38 • Die Unterscheidung von öffentlich und
privat wie die Zweiklassentheorie Semlers waren Friedensvorschläge, die von dem

u C.ARL FRIJ!lL>ll.ICH BAHRDT, Handbuch der Moral für den Bürgerstand (Tübingen 1789), 165.
36 Vgl. dazu auch FRITZ VALJAVEC, Das Woellnersche Religionsedikt und seine geschicht-
liche Bedeutung, Hist. Jb. 72 (1953), 386 ff. ·
36 Vgl. dazu RENDTORFF, Kirche, 53 ff.
37 Dazu und zu Urlsperger s. HERZOG 3. Aufl., Bd. 3 (1897), 820 f.

38 Selbstverständlich blieb auch sonst der neue Christentumsbegriff nicht unwidersprochen.

Storr w1d Lava.tcr otwu. otollton gogon 0cinc cmanzipa.tive Fa11sung einen 11okhen „GehiL"
des Christentums, der auf die historische Bindung des Begriffs abhob, und artikulierten
damit schon jenes Moment des Historischen, um das sich später die Reaktion scharte. Dazu
GOTTLOB CHRISTIAN STORR, Über den Geist des Christentums. Eine historische Unter-

781
Christentum D. S. Das Problem der &eigesetzten Folgen

begrenzten Ziel und gemäßigten Willen zeugen, der dieser Emanzipation eigen war.
Weil dieser Begriff des Christentums seine Freiheit gegenüber der Tradition auf
das schon Erreichte stützte, war er selbst nicht revolutionär gemeint, sondern
suchte sich im Bestehenden zu entfalten.

3. Das Problem der &eigesetzten Folgen


Die Folgen des allgemeinen und emanzipativen Begriffs des Christentums bestimm-
ten seine weitere Geschichte. Die Hermeneutik der Gegenwart wurde zum Felde
der religionspolitischen Auseinandersetzungen. Die Topoi der Klage über den
Religionsverfall erhielten neue aktuelle Bedeutung. Religionsfeindliche wie kon-
servativ-christliche Stimmen konnten sich beide dieser Klage bemächtigen, für
deren Anläi;se Erklii.rnngen eefnnilen werden mnßt.en, ilie ilie R.11.ilikalismen ver-
mieden. Unter veränderten Bedingungen wurde dabei der Zusammenhang von
Christentum und äußerer, ö:lfäntlicher .lteligionsübung interessant, sobald letztere
als Indikator für den Stand des Christentums in Anspruch genOIJ?lllen wurde. In
einem „Hofreskript über den Verfall der Religiosität" ergriff FRIEDRICH WILHELM III.
1802 das Wort 39, um denen entgegenzutreten, die ihre liberale Gesinnung durch
VP.TWP.igemng der Taufe dolmmentiert.en; zugleich wollte er abex auch seinti Haltung
gegenüber dem praktisch schon aufgehobenen Wöllncrschcn Edikt vor Mißver-
ständnissen bewahren. In diesem Zusammenhang hieß es, bei einem großen Teil
des Publikums sei die irrige Meinung erzeugt worden, als ob die Regierung nicht nur
in Ansehung des dem Gewissen eines jeden überlassenen Glaubens und der innem
Religionsmeinung der Staatsbürger, sondern auch in Ansehiing aller äußern ehr-
würdigen und 'nützlichen Rituum bloß leidend verhalte, auch über den Punkt ikr
Moralität und iks praktischen Christentums gleichgültig bleibe. Die Frage differen-
ziere· sich dadurch, daß die äußere Religionsübung Eigenschaften enthalte, von
denen so manche andre bürgerliclie und moralisclie Verliältnisse abliiingig seien.
Deshalb lag dem Monarchen daran, zu sagen, daß es widersinnig, ja selbst für die
Religion entehrend sei, wenn nur aus Veranlassung bürgerlicher Verhältnisse die
formelle Kirchenzugehörigkeit wahrgenommen werde. Worin denn das praktische
Christentum konkret sichtbar wurde, diese Frage blieb kontrovers. Der freie Be-
griff des .Christentums trat in Spannung zu dem sich jetzt bildenden Begriff der
'Kirohliohkeit'40.·ln sich selbst schien die liberale Position schlüssig: Das Christen-
tum so unabhängig von jeikr schon angenommenen Denk- und Empfindungsart au/-
zu/assen wie möglich, und d. h. vor allem, frei von den formellen Setzungen der
Kirche41 • Aber die Wirkungen solcher Position ent.zogen sich der Kontrolle. Die
Verbesserung der theologischen Lehrart hat zufällig dazu mitgewirkt, das Interesse

suchung, in: Magazin f. christl. Dogmatik u. Moral, hg. v. Joh. Friedrich Flatt (Tübin-
gen 1796), H. 1, 103 ff.
39 Vgl. ERICH FÖRSTER, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung

König Friedrich Wilhelm III., Bd, 1 (Tübingen 1905), 287 f. 298. 291. Femer WALTER
-WENDLAND, Die Religiosität und die kirchenpolitischen Grundsä.tze Friedrich Wilhelm m.
in ihrer Bedeutung für die kirchliche Restauration (Gießen 1909).
• 0 Bei NIEMEYER, Briefe, 235 zur Charakterisierung des lntereuu an der Religion und ihren
Formen.
u N1EMEYER, Briefe, 32 f. 246. 247.

782
m. 1. Freiheit und Gleichheit des Christentums Christentum

wenigstens an der äußeren Religion zu schwächen. Und diese Wirkung mußte uner-
wünscht sein, weil die Abwendung von der äußeren Religion zur Vergessenheit aller
Religion führen konnte. Eine solche Tendenz wurde vom Begriff nicht mehr ge-
deckt. Denn er hatte keine institutionsspezifischen Züge und war doch der Kon-
kretisierung bedürftig. Aus diesem Konflikt empfing die christliche Deutung der
Zeit ihre Impulse, die sich in dem Streit um den religiösen Charakter der Zeit vollzog.
Dieser Streit konnte ein Politikum werden, weil die hier gewonnenen Urteile auch
die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse mitbetrafen. Ausführlich hat
TITTMANN (1805) diese Frage behandelt in einem ersten Rückblick auf die Wir-
kungsgeschichte der kritischen Theologie. Er unterschied in der Religion als Lehre
von dem religiösen Geist des Zeitalters ilR.R OhriRt.fmtnm als Wissenschaft (Angelegen-
heit der Berufstheologen), als allgemeines (Angelegenheit des Menschen) und als
gemeinsames Band der Gesellschaft (Angelegenheit des Staates und der bürger-
lichen Gesellschaft), weil der .Ausdruck: Christentum so zweideutig ist, daß die wenig-
11ll:!n 'Vun denen, d·ie über den Verfall desselben klagen, wohl nimmer rooht oigantlich
wissen mögen, worüber sie am meisten zu klagen Ursa,che hätten. Sie verwechseln
Religion und Theologie, den Glauben und das System42 • Durch die erhöhte wissen-
schaftliche Kultur hätten die Zeitgenossen einen mittelbaren Anteil auch an den
theologischen Auseinanderset:mngP.n nnd würden dadurch unsicher. Wenn diese
Verunsicherung aber Anlaß zu einer theologischen Reaktion sei, an den alten For-
meln festzuhalten, dann sei die ]folge, daß die Gleichgültigkeit gegen die Formeln
der Dogmatik notwendig zur Gleichgültigkeit gegen das Christentum selbst führe.
Wegen dieser inneren Dialektik forderte der Begriff jetzt zur Stellungnahme gegen-
über Theologie und Kirche heraus, die zugleich eine Stellungnahme zu den Ten-
denzen der Zeit wurde. Von seinen Wirkungen her sprengte der Begriff 'Christentum'
die Unterscheidung der öffentlichen und privaten Sphä:re und wurde selbst Maßstab
für ein neues Öffentlichkeitsbewußtsein. Kirchlichkeit und Unkirchlichkeit wurden
damit zu Ausdrücken, mit denen im Bereich der Folgen die Verantwortung für
bestimmte Tendenzen der Zeit diskutiert und diese selbst beurteilt wurden. Der
Blick weitete sich dann aber über das Verhalten der einzelnen Christen auf die
weltgeschichtlichen Bewegungen. Der Begriff 'Christentum' bezeichnete also in den
drei erörterten Hinsichten eine Position, die der allgemeinen Bewegung der Eman-
zipation korrespondierte und die das Leben gegenüber dem System einnahm. Die
mit ihr hervortretenden religionspolitischen Konsequenzen wurden im 19. Jahr-
hundert in weltgeschichtlichem Maßstab diskutiert.

m.
1. Der Begrift' in der allgemeinen Zeit· und Gesellschaftsdeutung bis 1835: Frei·
heit und Gleichheit des Christentunis
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verband sich der Begriff 'Christen-
tum' mit einem solchen epochalen Geschichtsbewußtsein; in ihm wurde die Stärke
und Überlegenheit de!' Gegenwart wie auch ihre Legitimation gegenüber der bis-

42 JoH. AuG. HEINRICH Trl"rMANN, Pragmatische Geschichte der Theologie und Religion
in der protestantischen Kirche während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Breslau
1805), 329. 318. 15. 335.

783
Christentum ID. l. Freiheit und Gleichheit clee Chriatentama

herigen Geschichte ausgesprocheu. Sofern uabei im deutschen I.dealismus das Be-


wußtsein einer Überwindung der Aufklärung mit zur Sprache kam, wurden doch
nicht deren Prinzipien geleugnet. Allerdings wandte sich das Interesse der Malurig-
faltigkeit der geschichtlichen Welt zu, in deren Prozeß die Prinzipien ihre Wirk-
lichkeit haben. Die gesamtgesellschaftliche wie kulturelle Entwicklung war das
allgemeine Feld auch christlicher Wirklichkeitsdeutung. Im Verhältnis der Kon-
fessionen zueinander bahnte der allgemeine Begriff des Christentums neuen Zu-
ordnungskriterien den Weg. Das Unterscheidungsbedürfnis gegenüber der Fran-
zösischen Revolution konnte die Legitimität des fortschrittlichen Christentum-
begriffs auch in Frage stellen und eine eigentümliche deutsche Fassung des Begriffs
unterstützen. Unter den Bedingungen, unter denen der Begriff 'Christentum' von
der Aufklärung her allgemein geworden war, konnte die Deutung der Zeit, in
die er hineingezogen war, nur als Hermeneutik der Gesamtwirklichkeit formuliert
werden. Die Auseinandersetzung um den Begriff war offen, weil es jenseits seiner
kirchlichen Fassung keiu einueutiges Subjekt seiner Wahrnehmung gab.
Die allgemeine Tendenz des liberalen Begriffs 'Christentum' wird von KRua43
dahin formuliert, daß das Christentum im höchsten Sinne des Worts liberal genannt
werden muß, denn in ihm treten die Ideen der Freiheit und der Gleichheit mit einer
Kl.a1The1:t und Bestimmtheit hervor, die darauf drii.ngto, daß auch düi m.t'.'»M:•h.UrJ1.t'.n.
Reiche oder Staaten alle iltre Bürger als freie und gleiche Wesen zu beachten und zu
uelunuleln ltaben. H.1!lGBL, dessen frühe Christentumkritik eher Züge der radikalen
Aufklärung erkennen lä.ßt44, hat das christliche Prinzip der Subjektivität 11ls das
der Freiheit in seiueu Begriff der Zeit aufgenommen, weil das Recht der Freiheit
im Christentum ausgesprochen und zum allgemeinen wirklichen Prinzip einer ne.u.en
Form der Welt gemacht worden sei45 • Solche allgemiiinen "Riistimmungen des Begriffs
im weltgeschichtlichen Horizont bleiben noch frei von den konkreten Auseinander-
setzungen der Zeit und waren allein dort möglich, wo der Gang der Geschichte
überhaupL ausgesprochen und für die Gegenwart die Konsequenz einer Erfüllung
reklamiert wurde, der die übrige Geschichte dienstbar gemacht wercfon konnt.fl.
Sofern dabei zugleich die Kontinuität der inneren Geschichte des Christentums
eingebracht wurde, konnte diese Position auch von konservativer Seite gutgeheißen
werdenu. Der Begriff 'Christentum' war dann das verbindende Moment des Fort-
schrittsbewußtseins überhaupt. Als Prinzip eines beständigen und notwendigen Fort-
schritt.~, als Wurzel und Prinzip der reichsten Mannigfaltigkeit, als Religion der Frei-
heit, der Gleichheit und der Einheit konnte es zur Grundlegung einer neuen Wissen-

4 3 WILIIELM TB.AUGOTT KBuG, Geschichtliche Darstellung des Liberalismus alter und neuer
Zeit (Leipzig 1823), 47.
44 Vgl. dazu WoLF-DIETER MARsOH, Die Gegenwart Christi in der Gesellschaft. Eine

Studie zu Hegels Dialektik (München 1965).


4 5 HEGEL; Rechtsphilosophie,§ 124. Zu Hegels Theorie des Christentums vgl. RENDTORFF,

Kirche, 75 ff.
48 Die Evangelische Kirchenzeitung 30 (1842), 629 ff. hob in einer Rezension über L. Stein,

Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich, hervor, daß das Christentum
eine Tendenz auf politische Gleichheit habe, wie ja alle neueren geistigen Richtungen immer
noch vom Christentum geborgt haben.

784
lll. 1. Freiheit und Gleichheit des Christentums Christentum

schaft des Staats und der Gesellschaft in Anspruch genommen werden 47 • Besonders
pointiert wurde diese allgemeinste gesamtgeschichtliche Bedeutung des Christen-
tums für die gegenwärtigen Verhältnisse dann von RoTHE. ausgesprochen. Die Ge-
schichte der christlichen Kirche löst sich je länger desto m.ehr in die Kulturgeschichte der
christlichen Menschheit, der Christenheit auf4 8 • Konkretisiert wurde diese These von
Rothe dahin, daß dem Reiche Christi die Erfindung der Dampfwagen und der Schie-
nenbahnen eine weit bedeutendere positive Förderung geleistet hat als die A usklügelung
der Dogm.en vonNicäa und Chalcedon49 . Hier wurde !tUCh erneut sichtbar jener eman-
zipative Klang, der dem allgemeinen Begriff 'Christ~ntum' eigen war und von dem
aus GOETHE verlangte, von einem Christentum des Worts und Glaubens immer mehr
zu einem •.• Christentum der Gesinnung und Tat zu komm.en. Von der konkreten und
zugleich umfassenden Ausfüllung dieser Forderung gab RANKE eine Vorstellung, als
er das osmanische Reich vom christlichen Wesen übermannt sah und erläuterte:
so verstehen wir darunter freilich nicht ausschließend die Religion; auch mit den W or-
ten: Kultur, Zivilisation würde man es nur unvollkomm.en bezeichnen. Es ist der Genius
des Okzidents. Es ist der Geist, der die Völker zu geordneten Armeen umschafft, der die
Straßen zieht, die Kanäle gräbt, alle Meere mit Flotten bedeckt und in sein Eigentum
verwandelt, die entfernten Kontinente mit Kolonien erfüllt, der die Tiefen der Natur
mit exakter Forschung ergründet und alle Gebiete das Wissens oingonommcn und sio
mit imm.er frischer Arbeit erneuert, ohne darum die ewige Wahrheit aus den Augen
zu verlieren, der unter den Menschen trotz der Mannigfaltigkeit ihrer Leidenschaften
Ordnting und Gesetz handhabt. 1n ungeheurem Fortschritt sehen wir diesen Geist be-
griffen. Diese Emanzipationstendenz verwickelte freilich zugleich den Begriff des
Christentums in Auseinandersetzungen um das Recht solchen Fortschritts, bei
denen die politische Funktion solcher Geschichtsdeutung hervortrat.
Diese allgemeinste Fassung des Begriffs konnte sich in der Zeit nach 1800 auf eine
weitreichende Übereinstimmung berufen, die hier nur andeutungsweise belegt wer-
den kann. Sie zeigt sich auch im lexikographischen Reflex. So hieß es 182760 vom
christlichen Europa, es trage in seinem sittlichen und politischen Leben das Gepräge
der Erziehung, die es dem Christentum verdankt. Oder das Selbstbewußtsein dieser
Position drückte sich in der Feststellung aus: Sämtliche Kulturvölker der Erde, in
deren Hand die gesamte sittliche, intellektuelle, politische und industrielle Gegenwart
und Zukunft ruht, gehören dem Christentum an 51 • Und im Geist der christlichen
Fortschrittsidee hieß es noch 1883, daß der Geist des Christentums sich heute in
der ganzen Breite des sittlichen Menschen- und Völkerlebens eine neue Stätte seiner
welterneuernden und weltversöhnenden Wirksamkeit suche52 • Diesen Globaldeutungen

47 WILHELM SCHULZ, Die Bewegung der Produktion. Eine geschichtlich-statistische Ab-


h~ndlung zur Grundlegung einer neuen Wissenschaft des Staates und der Gesellschaft
(Zürich 1843), 168.
&a Ders„ Vorlesungen über Kirchengeschichte, Bd. 1(Heidelberg1875), 4.
49 RICHARD RoTHE, Stille Stunden (Bremen 1888), 340. Die folgenden Zitate: GOETHE zu

Eckermann, 11. 3. 1832, in: Goethes Gespräche, 2. Aufl., hg. v. FLODOARD FRll. v. BmDER-
MANN, Bd. 4 (Leipzig 1910), 443; LEOPOLD v. RANKE, Serbien und die Türkei im 19. Jahr·
hundert, SW Bd. 43/44 (1879), 518 f.
50 BROCKHAUS 7. Aufl., Bd. 2 (1827), 646.
51 BROCKHAUS 10. Aufl„ Bd. 4 (1852), 156.

52 BROCKHAUS 13. Aufl., Bd. 4 (1883), 354.

50-90385/1 785
Christentum m. 2. Christentum una Gesellsehaftskritik
war durchgehend ein geschichtliches Bewußtsein eigen, das mit der Frage nach
seinen konkreten Bedingungen und den Verhältnissen, für die es gemeint war,
dann in den Streit eintrat, der um Recht oder Unrecht solcher Gegenwart
geführt wurde. Hier bildeten sich die Fronten, die dann zur Mitte des Jahrhun-
derts hin die allgemeine Geltung dieses Begriffs des Christentums auflösten.

2. Christentiml und Gesellschaftskritik


Die Emanzipation des Begriffs 'Christentum' von der Kirche und den von ihr ge-
setzten Bedingungen implizierte die Gleichheit aller im Zugang zur Religion und
rief die Frage wach, welche anderen als die kirchlichen Verhältnisse die freie und
gleiche Entfaltung solchen Christentums zu hindern vermochten. In diesem Sinne
mündete ScHLEIERMACHERS Theorie der Religion in eine Gesellschaftskritik ein,
die in den Verhältnissen der Arbeitsgesellschaft - neben der Fremdbestimmung der
Religion durch den Staat - die gegenwärtig aktuellen Ursachen sah, die die Realisie-
rung der freien Religiosität hemmten.Wo Millionen von Menschen beider Gescklechter
und alkr Swnde unter dem Druck mechanischer und unwürdiger Arbeiten ... seufzen,
ruÜ81:11:1 ·vun der V ullendung der Wissenschaften und K 'llnste _eine solche Befreiung erwar-
tet werden, die jedem die Möglichkeit gebe, selbständig am Leben, und d. h. auch an
der Religion, teilzuhaben. Wo der Gott der Erde nur ein Zauberwort auszusprechen, nur
eine Feder zu drücken braucht, wenn gescltelum soll, was er geb1ml, ... wfrd jeder Mensch
ein Freigeborner sein. Er erwartete eine fröhlichere Welt und ... ein leichteres Leben von
einer automatisierten Arbeitswelt, die der religiösen Freiheit korrespondicrtc 03 •
Konkrete Versuche einer positiven Einbeziehung der modernen Industrie in den
Begriff des Christentums finden sich bei REINHARD, der Industrie und Christentum
im Sinne der gegenseitigen Förderung verband. Es ging um eine christliche Ver-
bindlichkeit zur Industrie. Daß das Ohristentum die 1ndustrie begünstige, sieht man
daraus, weil es das Vorurteil, als ob irgend ctwM auf Erden unrein oder unheilig wäre,
wegräumt und dem Kunstßeiße dadurch den freiesten Zugang zu allen Schätzen der
Natur öffnet 54• Es bildeten eich also generelle Gesichtspunkte, aus denen eine Ent-
wicklung begrüßt wurde, die in eine Welt jenseits der Kirche und ihrer Tradition
führte. Doch kritische Erwägungen stellten sich dort ein, wo schon näher die Ver-
hältnisse durchdrungen wurden, in denen sich solcher Fortschritt vollzog~ Aus dem
Satz, das Christentum fordert und befördert die Gleichheit aller, folgerte Schleier-
macher66, daß auch die Unterwerfung der Natur ein Prozeß war, der nur als
Diener des ganzen Menschengeschlechts darf aufgefaßt werden. Das ergab kritische
Maßstäbe gegenüber der mechanischen Tätigkeit, die die Freiheit des Menschen
völlig auf Null brachte, so daß seine 'l'ätigkeit keine sittliche mehr war. So ist der
einzelne Mensch ganz nur ein Stellvertreter der Maschine, und das ist etwas schlechthin
Unfreies. Das Verhältnis von mechanischer zu freier sittlich relevanter Tätigkeit

68 F. D. Som.EIERMA.OHEB, Über die Religion (Berlin 1799), 230 ff.


H FBANz VoLKMA.B REINHABD, System der Christlichen Moral, 3. Aufl.., Bd. 3 (Wittenberg
1804), 575.
H SOIILl!IDlllWAOIIJDR, Die chriBtliche Sitte na.ch den Grundsätzen der evangelischen Kirche,
2. Aufl.. (Berlin 1884), 481. 465. 466. 489. Vgl. zu Schleierma.cher llANs JOACHIM BIRK}jER,
Schleiermachers christliche Sittenlehre (Berlin 1964), 132 ff.; YoRICK SPIEGEL, Theologie
der bürgerlichen Gesellschaft (München 1968).

786
m. 3. Die Allgemeinheit des Christentums Christentum

galt ihm als der Unterschied von Freien und Sklaven, wobei der Sklave rein die
Stelle einer Maschine vertritt. Vom christlichen Standpunkt aus habe man diese
Unterscheidung nieinals legitimieren können. Denn wer der Gemeinschaft mit Christo
fähig ist, und das sind nach christlicher Anschauung alle, muß ein freies Wesen sein,
keine lebendige Maschine. Schleiermacher wollte keine revolutionären Anschauun-
gen vortragen, sondern vom Allgemeinen des Christentums her in einen möglichen
Streit eingreifen: Wenn jemals eine Gesamtheit irgend e.ine Klasse von einzelnen so
ganz aus ihrer Obhut herausläßt, daß sie der Willkür anderer preisgegeben wird, so ist
das ein absoluter Widerspruch gegen die christlwhe Gesinnung, die unter keinen
Umständen einen Zustand der Sklaverei begründen kann. Die. Kritik führte also an
die Schwelle einer Einsicht, die erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts allgemein
geworden ist.
Ungefähr gleichzeitig mit Schleiermacher hat BAADER 6 8 erste Schritte zu einer
christlichen Gesellschaftskritik unternommen, die sich ausdrücklich auf das Prole-
tariat bezog. Es war die gleiche Gesinnung, die vom Proletarier sprach als dem
Bürger, der Bürger sein mußte, ohne sich geborgen zu finden, weil die Proletarier
zum nicht mehr gehört werdenden Teil des Volkes herunrergekommen waren. Ihre ge-
steigerte Vogelfreiheit, Schutz- und Hilflosigkeit sei unchristlich nach dem Grundsatz,
Christentum ist Menschentum. Baader verband seine Kritik auch schon mit dem
politischen Rechtsproblem und erkannte, daß hier Verhältnisse entstanden, die
zu einer Revolutionierung des positiven Rechtsbeistandes führen konnten, wenn die
nötigen Reformen nicht auf evolutionärem Wege geleistet wurden. Diese Einsicht
ist deswegen bemerkenswert, weil hier erkannt wurde, daß dem Christentum eine
wirkliche Bedrohung erst aus den Folgen der Emanzipation erwachsen konnte,
während die allgemeine liberale Position ihre Freiheit vorwiegend noch gegenüber
der Tradition behauptete, von der sie ihren Ausgangspunkt genommen, hatte.
Der Gegensatz von Evolution und Revolution vermochte allerdings dann die Front-
linie zwischen christlich und unchristlich zu markieren.
F.ig1mtiimlich war diesen Bezugnahmen auf das Christentum, daß ihnen ein ein-
deutiges Handlungssubjekt fehlte. Sie vertrauten auf die Kraft der Gesichtspunkte
und Ideen, die als christliche den Prozeß der politisch-sozialen Welt bestimrilen
sollten. Das war anders, wo nach dem Verhältnis der Konfessionen unter den
Bedingungen des allgemeinen Begriffs 'Christentum' gefragt wurde.

3. Die Allgemeinheit des Christentums und die Konfessionen

Die Anfänge des 19. Jahrhunderts waren bestimmt dUl'ch ein starkes Bewußtsein
der Relativität der Konfessionen. Das allgemeine Verständnis des Christentums

68 FRANZ v. BAADER, Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs

zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in Betreff ihres Auskommens sowohl in
materieller als inte~ektueller Hinsicht aus dem Standpunkte des Rechts betrachtet (1835),
in: Sehr. z. Gesellschaftsphilos„ hg. v. Johannes Sauter (Jena 1925), 319 :ff. Mit konservativen
.Argumenten hat ÄDAM MÜLLER, Die innere Staatshaushaltung systematisch dargestellt
auf theologischer Grundlage (1820) dieZerspaltung der Nation in zwei feindliche ökonomische
Völker als Folge der V eräußerlichkeit aller Dinge kritisiert und dagegen den christlichen
Gehorsam als Tür zur wahren Freiheit gegen die sichtbare geistliche und weltliche .Autorität
gestellt; zit. Der konservative Gedanke, hg. v. HANS BARTH (Stuttgart 1958), 141.

787
Christentum m. 3. Die Allgemeinheit des Christentums
nahm konkrete Züge an in der Tendenz, die Gegensätze 'der Konfessionen zu über-
winden und in einer höheren Einheit aufzuheben. So konnte NIPPOLD für die Zeit
von einer Union vor <Zer Union sprechen57 • Die mögliche Vereinigung der Kon-
fessionen war zunächst ganz unpolitisch gedacht. Die tatsächliche Verständigung
über ihre Grenzen hinweg war eine rein religiöse 58, die sich nicht schon mit den
allgemeinen Theorien deckte, die dafür entworfen wurden und meist ein Gefälle
zugunsten einer Seite hatten. So wurde STARCKS Vorschlag zur Vereinigung der
verschiedenen Religionssozietäten69 seine kryptokatholische Tendenz vorgeworfen,
während die zahlreichen von protestantischer Seite vorgetragenen Theorien alle
ein weltgeschichtliches Gefälle haben, bei dem der Protestantismus als entwick-
lungsleitend galt. Eine Reihe dieser Argumente sind versammelt bei MARHEINEKE6o,
der die Einheit des Christentums mittels der Unterschiede der Konfessionen be-
stimmte. Der Protestantismus galt als Reich des Verstandes, der Erkenntnis und
des Denkens, der Katholizismus wurde charakterisiert durch Phantasie, Empfind-
samkeit und Kunstverständnis. Das verschiedene Klima und die Unterschiede der
Geschlechter wurden bemüht in einer Phänomenologie, die im Grunde den Unter-
schied von Romanismus und Germanismus ethnographisch ausmalte. Jedoch die
Kraft der Einheit lag dann auf der protestantischen Linie. Marheineke definierte
die Wissenschaft als die Einheit in der Trennung, wonn nur boido Parteien wohl
bedenken, daß das wahre Wissen nie ein von Gott verlassenes, sondern schlechthin ein
in Gott seliges, und d. h. ein echt theologisches und damit christliches ist. Und er sah
im Geiste Katholiken imd Protestanten ein Simultaneum errichten, in das sie ein-
zogen, um einen Frieden zu halten, <Zer höher ist als der W estphälische und keine
bloße Wirkung von diesem 61 • Daß die Einheit des Christentums auch als die der
Kirchen ein großer Gedanke der Zeit war, ist noch durch den Streit hindurch er-
kennbar, der um die Bedingungen geführt wurde, unter denen diese Einheit
definiert werden sollte. In solchem Geiste sprach TzscHIRNER 62 über Das Dritte
Zeitalter <Zer Europäischen Menschheit, das nach Christianisierung und Reformation
dort anfange, wo der Gegensatz <les Katholizismus und des Protestantismus aufhörete,
<Zer Mittelpunkt der Weltgeschichte zu sein. Und er setzte seine Hoffnung darauf,
daß die Zahl derer wachse, die nur die allen Kirchen gemeinsamen Lehren als das
Wesentliche d,es Christentums und als die notwendigen Stützpunkte der frommen und
sittlichen Gesinnung betrachteten. Politische Züge hatte diese Hoffnung, weil sie

&7 FRIEDRICH NIPPOLD, Geschichte der Kirche im deutschen Protestantismus (Leipzig

1906), 65.
68 Vgl. dazu FRANZ SmrNARF.r,, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 3. Aufl., Bd. 4

(Freiburg 1955), 365 :ff.


H Jou. AUGUST FRH. v. STARCK, Theoduls Gastmahl oder über die Vereinigung uet• ver-
schiedenen Religions-Societäten, 2. Aufl. (Frankfurt 1810). Als evangelischer Oberhof-
prediger stand er in dem Verdacht, heimlich zum Katholizismus übergetreten zu sein.
• 0 Pmr.IPP KONRAD MARHEINEKE, Über das wahre Verhältnis des Katholizismus und

Protestantismus und die projektierte Kirchenvereinigung (Heidelberg 1810), 17. 19. 20;
ders., Aphorismen zur Erneuerung des kirchlichen Lebens im protestantischen Deutsch-
land (Berlin 1814), bes. 36 ff.
11 MARHEINEKE, Über das wahre Verhältnis, 75 f.
12 HEINRICH GoTTLIEB TzsCHIRNER, Das Reactionasystem, dargestellt, geprüft (Leipzig

1824), 53. 58.

788
m. 3. Die Allgemeblheit des Christentums Christentum

der bürgerlichen Freiheit korrespondierte, die nicht mehr durch die Bekenntnis-
bildung begrenzt war 0 a. Aber auch hier war die Tendenz deutlich. Was gegenwärtig
der Katholizismus den Staaten leisten kann, das leistet er ihnen als Ohristentum, aber
nicht mehr als Katholizismus. Hier wurde das Verhältnis der Konfessionen aus dem
Standpunkte der Politik betrachtet. Denn dafür war der allgemeine Begriff des Chri-
stentums maßgeblich. Näherhin aber stand das Verhältnis doch in dem der Ab-
lösung. Der Katholizismus ist das notwendige Erziehungsmittel der Europäischen
Welt in ihrem Knabenalter. Jetzt aber drängt sich die Welt allerorten den Grundsätzen
des Protestantismus entgegen, dessen Sache die der Freiheit und des Lichts ist.
Dieselben volksmäßigen, klimatischen und anderen Unterschiede, die Marheineke
aus höherer Einheit rechtfertigte, wurden hier kritisch abgewandelt. Der Katholi-
zismus wolle in einem Lande gerade das sein, was er in dem andern ist und könne
darum niemals so national werden wie es der Protestantismus geworden ist. Die Über-
windung der konfessionellen Parteilichkeit führte doch zu neuen, nicht mehr
theologisch motivierten Konfessionsideen, die sich mit den alten Grenzen auch
wieder assoziieren konnten.
Aus anderen Gründen untersagte FRIEDRICH WILHELM III. die Bezeichnung
'Protestanten' 84• In einem Zirkularschreiben zur Vorbereitung der Säkularfeier der
Reformation eollte die Darotollung doo wahron Goiotco dor Rcforrnat1:rm 11. 11.. d11.rin
zum Ausdruck kommen, daß das Unpassende der Benennung Protestanten erkannt
und durch evangelisch ersetzt werde. Hier, wo es um die innere Einigung des Pro-
·testantismus ging, hatte der Begriff keine Funktion, aber hier waren nuoh die über
das Kirchliche hinausdrängenden Tendenzen des Begriffs 'Protestantismus' uner-
wünscht65.
Doch bestimmte es die Begriffsgeschichte, daß der Gedanke der Einheit der Christen
eine Deutung der Weltgeschichte verlangte, die solche Einheit ermöglichte. Diese
Deutung konnte den Fortschritt auch der schönen Vergangenheit des Christentums
unterordnen. Es waren scliöne glänzende Ze·iten, wo Europa ein cltr·istliches Land war,
wo Eine Ohristenhei'.t diesen menschlich gesta.lteten WeltfR.il bewohnte, begann NovALIS
1799 sein Fragment „Die Christenheit oder Europa" 66 • Der Frieden dieses Zeitalters
sei durch den Protestantismus frevelnd zerrissen worden, weil er seine Bedingung,
die christliche Einheit zerstörte. Mit der Reformation wars um die Christenheit
getan; die Aufklärung war ihre notwendige Folge und das Ende des lebendigen
Gemeingeistes. Aber jetzt sei die Zeit der Auferstehung gekommen, es zeigten sich die
Spuren einer neuen Welt, denen Hardenberg zu folgen aufrief. Er aktualisierte den
mittelalterlichen Begriff des Christentums, seine geistliche und territoriale Einheit,
in der Hoffnung auf eine christliche Regeneration ·Europas, die aus dem alles-
umarmenden Geist der Christenheit erwachsen sollte. Nur die Religion kann Europa
wieder aufwecken und die .Völker sickern, und die Christenheit mit neiter Herrlich-

es Ders., Protestantismus und Katholizismus aus dem Standpunkt der Politik {l·eipzig
1823), 30. 105. 101. 80.
84 Zit. FÖRSTER, Landeskirche, Bd. 1, 270.

es Zur Geschichte des Begriffs 'Protestantismus' s. WILHELM MAURER, Art~ Protestantis-


mus, in: Handbuch theologischer Grundbegriffe, hg. v. HEINRICH FRIES, Bd. 2 (München
1963), 372 f.
66 NovALIS, GW 2. Aufl., Bd. 3 (1968), 507. 513. 517. 519. 523. ?22.

789
m. 4. Der Streit am ate Ursachen der Re't'oludon
keit ... in ihr altes frie<lenstiftendes Amt installieren. Das aber müsse geschehen
unt,e.r de.r Le.i.t,lmg dP.r eine.n sichtbare.n KimhP., rliP. iihAr A,llA T,A,nrlAl':lgrenzen hinweg
alle Reformen überwache. Deren Hierarchie gab die symmetrische Grundfigur der
Staaten ab, das Vorbild einer neuen politischen Wissenschaftslehre. Diese politische
Vision des Christentums ging darauf aus, die stürmischen Veränderungen der
Neuzeit in das Bild des mittelalterlichen Christentums zu integrieren.
In der Staatslehre An.AM MÜLLERS war diese politische Theologie zum system-
leitenden Grundgedanken ausgebildet 67 • Der politische Charakter Christi wird über
den nur Privat-Charakter Christi gestellt, wie er der protestantischen Frömmigkeit
allein eigen war, um die Idee des Staates aus der einen christlichen Religion zu
entwickeln. Diese Einheit aber schloß sich bei Müller an das politische Zeitalter
des Christentums, das Mittelalter, an und zog daraus die Kraft, gegenwärtig all
das in sich aufzunehmen, was die neue Zeit, Reformation und Aufklärung hervor-
gebracht hatten und was alleine keinen Bestand haben konnte. So kam Müller zu
eiuer puliLii;clieu Theurie, iu· U.er ilie kuufei;i;iuuelle DesLinunLheiL de1:1 Chrii;LeuLu111t1
in der Idee des politischen Christus aufgehoben wurde. Der Katholizismus bleibt
das heilige Archiv unseres Glaubens und bewahrt das Gesetz und damit die politische
Kontinuität. Der Protestantismus bewahre das Prinzip der Freiheit und demnach
der Allgegenwärtigkeit der Religion. Der Weg zur Einheit aber war ein Wegwelt-
geschichtlicher Erinn'erung: an der Hand der Geschichte durch die Jahrhunderte
der Spaltung zu dem Jahrtausend der Vereinigung zurückzusteigen, zu dem reinen
Qullll aller Freiheit und a.ll.es Gesetz.es. An solcher Deutung der Weltgeschichte aber
i;chieden sich die Geister. Der Geist der Zeit bewirkte eine Auseinandersetzung,
in deren Verlauf auch die Unterschiede wieder schärfer artikuliert werden konnten.
Solche Rekonfessionalisierung war dann aber nicht theologischer, sondern politi-
scher Natur.

4. Der Streit um die Ursachen der Revolution


Die kirchlich abträglichen Folgen der Emanzipation gaben Anlaß zum Streit um
ihre Ursachen. Mit seinem Versuch über die Gleichgültigkeit in Religionssachen
führte LAMENNAIS 68 einen politisch-theologischen Kampf gegen die Aufklärung.
Er sah, daß das Christentum und die mO'l'az.isclte Welt in ihren Grundlagen angegriffen
werden, ein Angriff gegen alle Autorität, denn man hatte erkannt, daß die Kirche
und alle ihre Lehrsätze auf der Aut<Yl'ität' wie auf einem unerschütterlichen Felsen
beruhen und verfolgte die Konsequenzen eines auf allen Gebieten geführten Kampfes
gegen die Grundlage der Autorität. Unter den verschiedenen Namen der Lutheraner,
Deisten, Atheisten, welche stufenweise Entfaltung einer und derselben Lehre bezeichnen,
setzen .~ie ihre A ngriOe gegen die Autorität mit unermüdlichem Ei/er fort. Hier wurde
also eine negative Genealogie der modernen Welt vorgetragen, die den Frieden des

87 ADAM MÜLLER, Die Elemente der Staatskunst (1809), hg. v. Jakob Ba:xa, Bd. 2 (Jena
1922), 186. 232 f. Vgl. auch ders., Traum von möglichen Vorbereitungen zur Wieder-
vereinigung des protestantischen Deutschlands mit der heiligen Kirche, ebd., 550. 552: dort
setzte Müller auf eine Wissenschaft, deren F:insicht sie notwendig zur katholischen Kirche
.führt.
es LilmNNAIS, Versuch über die Gleichgültigkeit in Religionssachen, dt. v. M&:x v. Kaiser-
feld (Wien 1820), 22 f. 30.

790
m. 4. Der Streit um die Ursachen der Re"t'oluti- Chriatentum

o.ufgoklö.rten Christentums herausforderte und die weltgesohiohtliohe Verabflohio


dung der katholischen Kirche solcher Geschichte anlastete. Er nannte denn auch die
Toleranz eine unselige Stimmung, eine neue Art der Verfol,gung und Anfechtung,
die zugleich .die letzte sei, die das Christentum zu bestehen habe. Denn ihr folge die
totale religiöse Gleichgültigkeit. Eine ähnliche Stimme meldete sich mit HALLER
zu Worte, der der Restauration den Namen gab 69 und die Reformation in die Ge~
nealogie der irrigen Ideen eines bürgerlichen Kontraktes einordnete, sofern viele
· Theologen das Prinzip der Assoziation aus der ersten Gemeinde auf das Gebiet des
Politischen übertragen hätten, ein Irrtum, dem katholische Theologen weniger
verfallen seien. Haller legte damit eine Trennung wenigstens des protestantischen
Begriffs des Christentums von der politisch-sozialen Welt nahe, die erst später von
der konservativen lutherischen Theologie im Schema der Zweireichelehre aus-
geführt worden ist. Dieser Herausforderung trat vor allem BRE'.rscHNEWER in
verschiedenen Schriften entgegen7o, in denen der Gedanke ausgearbeitet wurde,
der französische Katholizismus habe dem AtheisIIl;UB und der Revolution vorgear·
beitet, weil er durch starres Festhalten an der alten Dogmatik jede freie Entwick-
lung der Religion verhindert habe. So sei Frankreich das Ursprungsland der Un-
kirchlichkeit geworden. Auch das neue Christentum des St. Simon sei nur von daher
zu erklären, weil die Simonisten sich in dem Wahn befänden, es sei überall nicht
anders als in J:>aris . .Nur aus J!'rankreich stamme die These, die europäischen Ge-
sellschaft,e.n seien irreligiös geworden. So galten dann Frankreich und der Katholi-
zismus als die Ursache einer Entwicklung, die Deutschland zu vermeiden gewußt
hatte, weil sie überhaupt vom Christentum nichts lcenncn als die lcatholischcn Dog-
men. Das politisoh·rcligiösc System der Simonisten erschien Bretschneider als eine
Frucht des aufklärungsfeindlichen Katholizismus und darum indiskutabeFl. Die
theologische Überlegenheit der Protestanten war zugleich die der Deutschen.
Was Frankreich fehlt, sind aufgekiiirte Theologen. Diejenigen, die aus der Revolution
eine Wendung gegen den modernen Begriff des ChrifltcntuIDfl ableiten, vcrkonnon
dagegen das Bedürfnis der Zeit und leisten so ungewollt der Revolution Vorschub.
Der Satz: Man muß vernünftig reformieren, damit nichtgewaltsamrevoltiertwerde72 ,
umfaßte das Erbe der Reformation wie es in ihrem Ursprungsland hervorgetreten
war und wie es eine christliche Aufklärung ruhig entfalten konnte. Im Streit um
die Revolution gab es neue Fronten zwischen Katholizismus und Protestantü1mus,
weil von der katholischen Position her ein solches Verständnis des Christentums
nahegelegt wurde, das mit der Revolution auch den christlichen Fortschritt preis-

89 CARL LUDWIG v. HALLER, Restauration der. Staats-Wissenschaften oder Thecirie des

natürlich-geselligen Zustandes. der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt,


2. Aufl., Bd. 1 (Winterthur 1820), 95 f.
70 KARL GEORG BRETSOHNEIDER, Über die Unkirchlichkeit dieser Zeit im protestantischen

Deutschland (Gotha 1820); ders., Die Theologie und die Revolution, oder: die theologi-
schen Richtungen unserer Zeit in ihrem Einflusse auf den politischen und sittlichen Zu-
stand der Völker (Leipzig 1835); ders., Der Simonismus und das Christentum, oder:
beurtheilende Darstellung der Simonistisch1m R111igion, ihmR V11rhii.lt.niRRAR 7.Ur chriRtlir.hen
Kirche und die Lage des Christentums in unserer Zeit (Leipzig 1832).
71 Ders., Simonismus, 128 f.
72 Ders., Theologie und Revolution, 165.

791
Christentum ID. 4. Der Streit um die Unachen der Revolution

gab, während Bretschneider aus protestantischen Gründen den Fortschritt ohne


Revolution als Gabe der Deutschen pries.
Doch das politische Problem der Revolution enthielt auch andere Möglichkeiten
der Frontbildung, die den von den aufgeklärten Theologen vertretenen Liberalismus
auch im protestantischen Lager ins Gedränge bringen konnten. So vermutete
Bretschneider, daß aus der national-religiösen Bewegung der Befreiungskriege in
Deutschland selbst schon antiliberale Kräfte hervorgingen. Im Tugendbund 73 sah
er Tendenzen, daß auch duTch Teligiöse Motive auf das Volk gewirkt werden müsse
bis zu der falschen Konsequenz des Zurückgehens auf ein bestimmtes Kirchensystem,
wie überhaupt die.Altki'l'chgl,äubigkeit der alleinige Heiland des Zeitalters sein soll7 4 •
Eine deutsche Version des Verhältnisses von Protestantismus und Katholizismus
entwickelte auf katholischer Seite GöRRES 75, mit dem sich eine katholische Stimme
gegen den ÜbeTmut wehrte16, der sich im protestantischen Teutschland zu einem
beinahe unerlräglichen (},,ad gesteigert habe. Er polemisierte gegen jene vortreffliche
LibeTalität der protestantischen Zeloten, die sich über alle RechLe der Kirche hin-
wegsetzten und entwickelte eine Phänomenologie von Katholizismus und Prote-
stantismus, die eine neue Parteibildung formulierte. Görres machte dem Protestan-
tismus die Alleinzuständigkeit für den Liberalismus streitig und suchte einen
liheralfln Kn.tholiziRmnR n.lR 11igene PoRition inl'I Spiel zu bringen. Die Liberalen
haben sich danach geteilt in zwei Hauptparteien 77 , die eine, die Historische, die auf
einen früheren besseren Zustand Deutschlands zurückblicke und ihn wiederher-
zustellen suche, die andere, die sich auf eine neue Welt berufe, die hervorgetreten sei
und die Revolution zur Lehrmeisterin nehme. Dieser Gegensatz 1:1ei, nur in anderem
Gebiete, •.. der zw·isclten Katholizismus und Protestantismus. Doch es gebe eine Ein-
heit dieser Parteien. Wie also in Gott alle Konfessionen eins sind, so beide Parf.eien
in der Idee des Vaterlandes. Doch sei diese Einheit gefährdet durch das Nachlassen
der vaterländischen Begeisterung. Görres nahm später Thesen von Stahl vorweg,
wenn er den Unterschied auch 110 einklelueLe: das 11wnarchische Prinzip gehöre mit
der katholischen, das demokratische mit der protestantischen Richtung zusammen,
nur daß Stahl als Protestant später eine kompliziertere Lösung formulieren mußte
(s. u. S. 806f. ). Wo von allen Parteien aus das Allgemeine des Christentums reklamiert
wurde, war die politisch-gesellschaftliche Artikulation des Christentums dann eine

78 Zum Tugendbund vgl. FRIEDRICH MEINECKE, Das Zeitalter der deutschen Erhebung,
7. AuH. (Göttfugen 1963), vor allem aber ERNST RUDOLF HUBER, Deutsche Verfassungs-
geschichte seit 1789, Bd. 1 (Stuttgart 1957), 702 f. ARNDT rechtfertigte seine Zugehörig-
keit zu einem formlosen Männerbund 1840 in den „Erinnerungen aus dem äußeren
Leben" damit, dieses Bündniswesen sei getragen von der allgemeinen Bewegung der
. Deutschen, es handle sich also um offene Verschwörung; und er bekannte, daß Geheim-
bünde der Idee des Staates und volknds der Idee des protestantisch christlichen Staates wider-
sprechen, welche auch im Christentum alle geheimen Gesellschaften •.• verabscheuen muß;
Werke, Bd. 7 (1908), 288. 290.
7 ' BRETSCHNEIDER, Theologie und Revolution, 3. 6.
75 JOSEPH GöRREs, Teutscbland und die Revolution (1819), Ges. Sehr., Bd. 13 (1929), 73 f.
76 Vgl. dazu KARL BUCHHEIM, Ultramontanismus und Demokratie. Der Weg der deutschen

Katholiken im 19. Jahrhundert (München 1963), 37 ff. 53 ff., der das einseitig protestan-
tische Klima des fortschrittlichen Deutschlands der Zeit beschreibt.
7 7 GöRRES, Teutschland, 79. 81. 110 ff.

792
m. 4. Der Streit um die Ursachen der Revolution Christentum

Sache solcher Parteibildung. Auch Görres galt Deutschland als das Haupt der Chr1:-
.~tP.nhp,it78,
nur daß er dafür ein vorrP.fnrmat.oriRr.l1es Dat.um wählte. Aber die Ideen
der Gleichheit und SklavenuefreiUllg, ilie Neigung zur Wissenschaft, die als dem
ChriRt.entum eigentümlich galt.en, wurdfln von ihm genauso in Anspruch genommen
wi1i im PruLst1LanLit1mut170 • D::i.rin zeigte aiuh t.lOwohl dio .Kraft des allgemeinen Be-
griifä 'Christentum', d.er nicht mP.hr kirchlich definiert war, wie auch seine Sohwiioho
im Feld der direkten Inanspruchnahme, weil ihm ein eigenes historisch-soziolo-
gisches S:ubjekt fehlte.
Gleichzeitig mit Görres hat auch DE WETTE 80 das Verhältnis von Protestantismus
und Katholizismus in der politischen Dimension zu klären versucht in der Hoffnung,
die Katholiken könnten sich zur Idee der freien Menschenbildung erheben. Es wurde
mit der ganzen Kirchengeschichte und mit der Weltgeschichte der Protestantismus in
seinem iva.hren Lichte gezeigt. Es sei der Ge·isl der Frei,/113-it, der l:liuh ull:l dor oinoa Zeit-
alters nur zeigen könne, wenn er zuniiohst Sohoidung bewirke. 80 vm·tcidigtA <lfl W11tt11
die Reformation gegen den Vorwurf, die Einheit Deutschlands zerstört zu haben, und
gab dieser Scheidung einen weltgeschichtlichen Sinn. Der Zwiespalt, den die Re/or-
m.ation ·in Europa angerichtet hat, miißte endlich auch darum im deutschen Vollce selb11t
bestehen, weil dieses Volk von Gott dazu ausersehen scheint, der Führer und Vorkämpfer
Europas auf der Bahn echt christlicher Bildung zu werden und die GP..~chich.t.e des
ya.nvm Erdteils 1'.n s1:ch selbst iiorztt.bilden. Deshalb feiert de Wette die Reformation als
Wendepu.nkt der ganzen europäischen Geschichte 81 , jene Wendung zur Freiheit, an
der die Katholiken nur als Nutznießer Anteil hätten. Und es war die Gestaltung
der Freiheit, in der ilie Deutschen nun auch politisches Vorbild geben könnten.
Zunächst in Kunst und Wissenschaft galt: Wir Protestanten, und zumal wir Deut-
schen, bei denen der Protestantismus doch allein sein volles Leben entfaltet, übertreffen
alle 82 • Während in Sitte und Bildllllg alle anderen Völker irgendwo einseitig seien,
seien die Deutschen in der Verbesserung unseres bürgerlichen Zustandes zurück-
geblieben. Die kirchliche hat die politische Trennung bewirkt. Aber daraus folgte
für de Wette die Möglichkeit einer schöneren Einheit, die in freier· Übereinstimmung
bei äußerer Trennung besteht. Deutschland wird auch darin Europa Vorbild werden,
daß es ein völkerschaftliches Gemeinwesen in sich darstellt, wie es in Europa im Großen
bestehen soll. Dieser Vorschlag, der aus der Not der religiös-politischen Trennung die
Tugend einer übernationalen Einheit machte, zog seine Kraft aus einem Bewußtsein
der Sendung der Deutschen, die sich nicht als nationalistisch darstellte. Das gleiche

78 El:id., 112.
79 Einen großangelegten Versuch, dem Protestantismus die Urheberschaft an den fort-
schrittlichen Elementen der modernen Aufklärung streitig zu machen, findet sich bei dem
französischen Katholiken RoBELOT, Über den Einfl.uß der Reformation Luthers auf die
Religion, die Politik und die Fortschritte der Aufklärung (1822; dt. Mainz 1824), Hier wird
durchgehend die Gegenrechnung aufgemacht und der Katholizismus als „Prinzip des Fort-
schritts" dargestellt. Vgl. dazu später HlilRMANN SCHELL, Der Katholizismus als Prinzip
des Fortschritts (Würzburg 1897), allerdingR ohne Bezugnahme auf Robelot.
80 WILH. Mü·1·U1 Llil.UJU~Jill.J.li'.C .Ll.lll WETTE, Katholi:r.i11m1111 uni!. Prot.estant.ismus im Ver-

hii.IL!l..ii! zur chril:ltlichen Offenbarung. Eine polemische Abhandlung, in: Theol. Aufs., Bd. 1
(ßerlin 181!!), 1 ff., beJ!. 5. 21.
81 Ebd., 46. 75 f.

8 2 Ebd., 85. 87 f. 89.

793
Cbriateatum llL S. Cbristeatum uaa nationale Bewegung

galt dann auch für den Gedanken der Einheit der Konfessionen. De Wette sagte,
er verlange von den Katholiken nicht, zum Protestantismus überzutreten, aber
nicht viel amures verlange ich, nämlich daß sie bessere Deutsche und Ohri~ten werden.
Aus der gleichen g~istigen Heimat wie Görres stammend, geistesgeschichtlich in
Romantik und Idealismus, politisch in der Bewegung der Befreiungskriege wur-
zelnd, wurde von de Wette das Erbe der christlichen Aufklärung weitergeführt.
Er war dabei ihren Motiven vielleicht stärker verbunden als die gleichzeitigen
Rationalisten83. Die Scheidungen aber, die hier im Begriff des Christentums vor-
genommen wurden, nahmen solange keine alternative Form an, als es sich um solche
innerhalb des Christentums und seiner geschichtlichen Welt handelte. Erst wo dem
Christentum seine gegenwärtige Bedeutung überhaupt bestritten wurde, verlor
die liberale Christentumsauffassung in ihren zahlreichen Schattienmgen die Mög-
lichkeit, sich auf solche Allgemeinheit über dem Streit zu berufen u.nd wurde selbst
Partei.

5. Christentum und nationale Bewegung


Die religiös-nationale Bewegung aus der Zeit seit 1806 mit ihrem Höhepunkt in
den Befreiungskriegen deckte ein großes Reservoir emotionaler .Bereitschaft auf,
das sich in der Verbindung christlichen und deutschen Wesens aktuell verdichtete,
was vom Begriff her strukturell möglich war. Davon legten besonders die politische
Dichtung und Schriftstellerei Arndts, Jahns, Kleists und vieler anderer Zeugnis
abs4. In der Neuverbindung des Begriffs 'Christentum' mit der emphatisch er-
griffenen politischen Situation der eigenen Zeit vollzog sich diese nationalreligiöse
Erweckung8° mit der nachhaltigen Betonung der Deutschheit etwa bei E. M. ARNDT88
als das in allen Deutschen Lebende und alles Deutsche von' innen her Beseelende und
Verbindende. Dies galt als der Geist einer neuen Zeit, der nicht durch Verfassungen
und Gesetze, sondern durch .die ungeschriebenen und unschreiblichen Gesetze im

88 So fügte DE WETTE dem Begriff 'Christentum' eine neiie Formel hinzu, es sei der lWchste,

reinste Gemeingeist die Seele des Christentums (ebd., 77), und die Aufgabe der Zeit die
Wiedereinführung eines echt christlichen Gemeingeistes (ebd., 80). In die Genealogie der
Zeichen der Zeit, die solches heraufführte, bezog de Wette auch die Französische
Revolution, die deutschen Befreiungskriege, Schillers und Goethes Dichtung, Jacobis und
Schellings Philosophie, die neuere deutsche 'l'heologie, den sich verbreitenden Mystizismus
(o.bor o.uch die neuen Unternehmen und Fabriken!) ein; ebd., 249 ff. Zita.te a.us: ders.,
Heinrich Melchthal oder Bildung und Gemeingeist, Bd. 2 (Berlin 1829).
84 Dafür sei auf die ausführliche und materialreiche Begriffsanalyse von GERHARD KAlsER,

Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland (Wiesbaden 1961) verwiesen.


86 REINHARD WI'I'TRAM, Kir.ehe. ·Und Nationalismus. in der Geschichte des deutschen

Protestantismus im 19. Jahrhundert, in: ders., Das' Nationale als europäisches Problem
(Göttingen 1954), 109 ff.
88 ARNDT, Phantasien zur Berichtigung der Urteile über künftige deutsche Verfassungen

(1815), Werke, Bd. 14 (1908), 181. 183. 185. Die bestimmteste politische Erwartung gepaart
mit allgemeinster Bewegungsideologie war kennzeichnend für die Verbindung von Chri-
stentum und Deutschtum. Deutschland gehöre nicht eher zu den vollkommenen chriBtlichen
Staaten ... , ala daa ChriBtentum auch wieder äußerlich in einem frewU.gen und be,geiBterten
Leben aufblühen wird, hieß es in denselben „Phantasien", ebd., 163. Dort auch die Vor-
stellung vom Christentum als einer Art himmliBcher Demokratie auf Erden,· ebd., 145.

794
m. 5. Christentum nnd nationale Bewegung Christentum

1nnersten der Herzen wirkte. Dieser Geist kann nichts anderes sein als ein christlicher
Geist, als ein kühner und begeisterter Flug, den das Christentum nimmt, und auf
dem es das ermattete und vergeistigte Menschengeschlecht mit den Flammen eines neuen
und kräfti'.gen Daseins füllt. Der Kosmopolitismus der Aufklärung wurde in diesem
Geist der Zeit zum Nationalismus verdichtet, und dieser nahm dann jene extremen
Züge an, die in der Haßpredigt gegen Frankreich gipfelten. Einmütigkeit der Herzen
sei eure Kirche, Haß gegen die Franzosen eure Religion, Freiheit und Vaterland
seien die Heiligen, bei welchen ihr anbetet! Mit einem neuen und lebendigeren Geist,
mit einem höheren Atem des Lebens muß die Welt und das Christentum wandeln;
einer neuen lfirche und eines neuen Heils warten wir 87 • Dieser Nationalismus war
von dem konservativer und katholischer Prägung völlig verschieden. Er war eine
späte Abart des einst aufgeklärten Begriffs 'Christentum' und hat doch im Ganzen
einen gegenaufklärerischen Geist angenommen. In seinen Wirkungen hat er solche
Tendenzen begünstigt, die sich theologisch in der Rückwendung zum alten Glauben
auswirkten, wobei das alte deutsche Erbe den Vorrang einnahm. Dieser Begriff
hat damit auch in der politisch-gesellschaftlichen Sphäre durchweg eine Stärkung der
konservativen Kräfte hervorgerufen 88 • Wo das Interesse sich vorwiegend der inner-
deutschen Stabilisierung zuwandte, wirkte sich deren religiöse, christliche Arti-
kulation in einer Weise aus, die den allgemeinen Begriff des Christentums ein-
schränkte. Das Deutschtum wurde zur Formel für die Einheit des Christentums
im religiös-politischen Programm der Burschenschaften und schlug sich in ihren
Grundsätzen von 1817 nieder 89 • Die Lehre von der Spaltung Deutschlands in das
katlioz.isclie und in das protestantische Deutschland ist irrig, falsch, unglückselig.
Es ist eine Lehre, von einem bö.,en Feind au.,gegangen. Wenn viele Deutsche sich zur
katholisclten Kirche bekennen. und viele Deutsche den protestantischen Grundsätzen
anhängen, so sind sie darum nicht minder sämtliche Deutsche und eins durch das eine
Vaterland. Wir Deutsche haben alle einen Gott. Aber während 1818 der Verfassung
der Burschenschaften90 noch die christlich deutsche Ausbildung als allgemeiner
Grundsatz genügte, wurde das ÜbergeWicht der nationalen Bestimmung des Chri-
stentums schon 1822 deutlich 91 • Der Grundsatz der christlich deutschen Ausbildung
erhielt den Zusatz: Es sollen daher keine Juden und Ausländer als solche aufgenommen
werden, weil jene kein Vaterland haben und durch diese die ·deutsche Ausbildung
gestört wird.
Der Tendenz zur Einschränkung des allgemeinen Begriffs 'Christentum' konnte
THEODOR SCHWARZ 1816 Ausdruck geben, wenn er das Fazit der religiösen Bewe-
gung der Befreiungskriege so sah, daß damit im positiven Glauben dem eitlen an-

87 ARNDT, zit. KilsER, Pietismus und Patriotismus, 223.


88 So das Urteil von FRITZ JiISCHER, Der deutsche Protestantismus und die Politik im
19. Jahrhundert, Bist. Zs. 171 (1951), 481.
89 Die Grundsätze und Beschlüsse des 18. Oktobers 1817, gemeinsam beraten, reiflich er-
wogen, einmütig anerkannt etc., in: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Bur-
schenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, hg. v. HEB1'4AN HAUl'T u. P A.UL WENTZ·
XE, Bd. 4 (Heidelberg 1913), 118, Grundsatz 6.
90 Die Verfassung der allgemeinen deutschen Burschenschaft vom 18. des Siegesmonds
im Jahre des Herrn 1818, ebd., Bd. 13 (1932), 68. Allgemeine Grundsätze, § 2 b.
et Verfassung der allgemeinen deutschen Burschenschaft. (1822), ebd., 68.

795
Christentum IV. 1. Das &eie Christentum 8ls Partei

maßenden Vernünfteln, was ebenso unbürgerlich wie unchristlich ist, Damm und
Grenun gezogen seien92 • Und HuNDESHAGEN konnte rückblickend sagen, daß der
deutsch-protestantische Geist seine ursprüngliche Synthese mi.t der protestantischen
Frömmigkeit wiederherstellte und sich damit wieder die Fähigkeit eines lebendigen
Verständnisses seiner einstigen dogmatischen Bildungen erobert hatte 9 3. Diese Er-
neuerung der Liebe zum Positiven des Christentums war aber eine Rückwirkung
der deutschen Erneuerung gegenüber dem fremden Eroberer und hatte den sekmi-
dären Effekt, der vorkritischen Theologie und Kirchlichkeit Unterstützung zu
geben. Hier zeigten sich die ersten Umrisse eines Prozesses, in dem jede Erneuerung
des „Kirchenglaubens" (Kant) tatsächlich als Reaktion auf die mit dem allgemeinen
Begriff des Christentums eröffneten Folgen zustande kommt; und der sich Bewegun-
gen verdankt, die diese Folgen als Krise begreifen. Zunächst allerdings hatte die
Verbindung deutsch-christlich einen politischen Sinn, der liberal war, und wurde
erst durch die Nichteinlösung· der politischen Hoffnungen der Befreiungskriege
funktionslos und willkürlicher Aneiguung ausgesetzt. Dann traten konservative
und radikale Positionen seine Erbschaft an.

IV.
1. Chr.istenlwu iw Kawpf von Fortschritt und Restauradon nach 1835:
das freie Christentum als Partei

Unter den Bedingungen der poli.Li.1:1chen und kirchlichen Restauration verlor der
· emanzipative Begriff seine Funktion als allgemeine Verständigungsbasis der Zeit.
Jetzt faßte auch in Deutschland zum ersten Male die radikale Aufklärung Fuß und
bemächtigte sich polemisch des Begriffs 'Christentum'. Dabei vollzog sich eine
Radikalisierung, in der der undogmatische Begriff 'Christentum' zum Ausweis
parteiähnlicher Minoritäten wurde, die zwischen die Extreme von rechts und links
gerieten. Die gemäßigte Fassung des Begriffs dagegen wurde nunmehr vorwiegend
auf den Staat bezogen als diejenige Institution, die die im Begriff gemeinte All-
gemeinheit zur repräsentieren vermochte und auch die Erfahrungen der Befreiungs-
kriege zu bewahren schien. Wo auch die konservativen Kräfte sich einem insti-
tutionellen Begriff des Christentums, der Kirche und dem Staat zuwandten, ver-
lagerte sich die Auseinandersetzung auf die Bestimmung des christlichen Staates.
Mit Strauss' „Leben Jesu" (1835) und Feuerbachs „Wesen des Christentums"
(1840) kündigte sich auf literarischem Gebiet eine Radikalisierung im Begriff
'Christentum' an, die alsbald isolierend wirkte auf die Position derer, die sich der
radikalen Kritik anschlossen. Die sich gegenseitig eskalierenden Extreme von rechts
und links reduzierten die Möglichkeiten einer unbefangenen Inanspruchnahme des

92 THEODOR SCHWARZ, Verschiedene Ansichten des Christentums (Berlin 1819), IV. Auf-

schlußreich für den geschichtlichen Zusammenhang ist der Hinweis auf ein Gedicht von
LA.VATER mit dem Titel: Die Christus-Religion, oder Der beßte Christ, der beste Bürger;
zit. KAt1:11C&, Pietismus, 92.
93 KARL BERNHARD HUNDESHAGEN, Der deutsche Protestantismus, seine Vergangenheit

und seine heutigen Lebensfragen im Zusammenhang der gesamten Nationalentwicklung


beleuchtet (Frankfurt 1847), 121.

796
IV. I. Das freie Christentum als Partei Chriltentum

liberalen Begriffs 'Christentum'. Die Verschärfung des regionalpolitischen Streites


zeigte sich in der Trennung des institutionell gebundenen Christentums von dem
:i.llgP.mP.in1m "HP.griff dP.s ChristP.nt.ums, der der freien Vereinigung zuneigte. Er
führte zu parteiähnlichen Positionen, wie sie mit den beiden Bewegungen der „Pro-
testantischen Freunde" (Lichtfreunde) und der „Deutschkatholiken" hervortra-
ten 94 • Es waren Konflikte mit der Institution Kirche, die diese Gruppen in die Rolle
einer oppositionellen Minorität drängten, deren Pathos davon lebte, im Widerstand
gegen die Reaktion die Allgemeinheit des Christentums zu wahren. Der Schritt in
solche Praxis markierte deshalb nicht einen neuen Anfang, sondern das Ende des
liberalen Christenturnbegriffs. Er bedurfte bisher keiner Organisation, weil er in
Übereinstimmung mit dem allgemeinen Bewußtsein der Zeit sich gebildet hatte. Wo
er jetzt parteiliche Züge annahm, tat er das unter äußerem Druck. Als Protest-
lrnweguug, ilie 1:1iuh zeitweise zur Massenbewegung ausbildete, beriefen sich die
Lichtfreunde auf die Freiheit zur christlichen Gegenwart, darauf, daß sie „mitten
im Christentum" leben gegen historische und dogmatische Repristination. Im
Bewußtsein, Hüter der Freiheit zu sein 96 , vertraten sie das Erbe jenes Protestantis-
mus, der von der Entdeckung lebte, daß das Christentum etwas anderes sei als die
Kirche, ein Christentum, das neben dem polizeilich anerkannten und privilegierten
Christentum eben allgemein war 96 • In solchem Geiste verbrüderten sie sich zeitweise
mit den Deutschkatholiken, so eine Vereinigung jenseits der Institutionen demon-
strierend, zu der diese nicht fähig waren.
Die Kölner Wirren 1838 hatten schon eine Scheidung von kirchentreuen und deut-
schen Katholiken angebahnt, so daß auch die Deutschkatholiken Erben eines un-
gP.lösten Konflikts waren, in dem Fortschritt und Autorität für Katholiken jetzt
die Alternative von „deutsch" oder „römisch" bedeuten konnte 97 •
Die „Evangelische Kirchenzeitung" nahm diesen Streit zum Anlaß, um eine Front-
bildung vorausschauend zu formulieren 98 , die sich bisins 20. Jahrhundert immer
wieder erneuerte. Sie fragte, ob nicht das antichristliche Interesse vielfach nur die
Hülle des antikatholischen umgeworfen nabe, und neben dem innerlichen Kampf
~ dem Streit der Konfessionen untereinander - rief sie einen gemeinschaftlichen

94 Zum Historischen und den kirchenpolitischen Anlässen beider Gruppenbildungen vgl.

F.RIEDRICB Nll'l'OLD, Handbuch der neuesten Kirchengeschichte Reit der Re11taura.tion von
1814, 2. Aufl. (Elberfeld 1868), 171 ff. 337 ff.; HuNDESHAGEN, Protestantismus, 341 ff.
421 IT.
96 Vom Geist freier Entwicklung des Christentums sprach KÖNIG, einer der Führer der

Lichtfreunde; zit. Ev. Kirchenzeitung (1844), 419 f.


98 So der Kommentar von THEODOR ALTHAUS, Die Zukunft des Christentums. Seine Wahr-

heit, seine Verkehrung und seine Wiedergeburt durch Freiheit und Liebe. Dem deutschen
Volke gewidmet (Darmstadt 1847), 3. 6. ·
97 Zur Terminologie vgl. FRIEDRICH CARov:E, Der sogenannte liberale Katholizismus und

der römisch-katholische Hierarchismus, Hallische Jbb. 1 (1838), 1132 ff. In diesem Zusam-
mcnhnng ßprach KARL THEODOit IlAYEitHOFFEit auch 8ohon von den „anti.!looialen Ilioh•
t\mgen der Gegenwart", womit die erstarkende Restauration gemeint war; Das wahre
VerhäJtniß des freien Christlichen Staates zu Christlicher Religion und Kirche und deren
Gegensätzen. Zur wissenschaftlichen Niederschlagung der antisocialen Richtungen und
UmLriebe der Gegenwart (Leipzig 1838).
es Ev. Kirchenzeitung (1839), Nr. 2, 10.

797
Christentum 'IV. 1. Das freie Christentum als Partei

nach Außen, der mit vereint.en Kräften geführt werden muß, aus. Diesem Gedanken
des gemeinsamen kirchlichen Kampfes nach außen entsprach die gemeinsame Front
der religiös-liberalen Parteibildung bei Protestanten und Katholiken. In diesem
Sinne begrüßte auch GERVINUS die Mission der Deutschkatholiken 99 und formulierte
sie weit über deren tatsächliche Bedeutung hinaus. Die Formel für die Einheit der
Bewegung wurde in eindeutig politischen Kategorien ausgesprochen, das Losungs-
wort war eine große national,e Reformation, in der sich Politik und Religion die Hand
reichen zu einem vaterländischen Werk. Die Sendung bestand darin, die Kluft,
die Deutsche von Deutschen trennte, aufzufüÜen durch eine Annäherung an den
Prot.estantismus, letztlich aber zum Ziele der politischen Umwälzung. Den politi-
schen Zulauf und die theoretische Unterstützung, die die Bewegung von den Jung-
hegelianern erhielt, verdankte sie der Chance, die für alle in dem popularen Charakter
der Bewegung lag. Wo Junghegelianer1° 0 und überhaupt Kräfte des politischen
Liberalismus101 die Lichtfreunde und Deutschkatholiken und deren Versammlungen
als Forum ansahen, um der liberalen Opposition eine eigene Öffentlichkeit zu ver-
schaffen, wurden die Bewegungen über die nur religionspolitische Wirkung hinaus-
gedrängt zu politischen Zielen, die ihre selbst formulierten Ziele zurückdrängten.
Die Bewegungen verliefen sich dann in der Gründung von Vcrcinen und freien
Gemeinden, die freie Wahrnehmung des Christentums nahm sektenhafte Züge an.
Der Streit drängte damit auf eine Alternative zu, die der alten Liberalität keine
wirksame Position mehr ließ. So verhallte hier der Einspruch von dieser Seite 102, der
die Kirche davor warnte, als Partei zu handeln, die alle anderen für ungläubig und
politisch verdächtig erklärte. Den Verfassern, die die Gefahr des Extremismus von
rechts und links formulierten, trug das nur den Spottnamen der „Dämmerungs-
freunde" ein. Angesichts dieser Bewegungen hat STRAUSS den Zusammenhang von
religiöser und politischer Parteibildung formuliert103 • Er postulierte eine solche
Vereinigung von Protestanten und Katholiken, die überhaupt über das bisherige
Christentum hinausführe. Dem katholischen Ultramontanismus entspreche ein
protestantischer Ultramarinismus, nämlich das Festhalten an seinem asiatischen
Prinzip, dem urchristlichen Herkommen. Um diese letzte Bindung zu sprengen,
forderte er die Fortbildung des Christentums zum reinen Humanismus oder vielmehr
die Herausbildung des letzteren aus dem gesamt.en Boden der modern-europäischen
Kultur, in welchem das Christentum nur einen Bestandteil ausmacht. Das sei der
Weg, wie der theologische Liberalismus dem politischen in die Hände arbeite.

99 GEORG GOTTFRIED GERVINUS, Die Mission der Deutschkatholiken (Heidelberg 1845),

50. 57. 62. 64.


100 Zu Rudolf Hayms Anteil an der Bewegung der Protestantischen Freunde vgl. HANS

RosENl!ERG, Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Li~eralismus, Rist. Zs.,
Beih. 31 (1933), bes. Kap. 3: Vom religiösen zum politischen Liberalismus, 84 ff.
101 Ausführlich bei HANS ROSENBERG, Theologischer Rationalismus und vormärzlicher

Vulgärliberalismus, Hist. Zs. 141 (1930), 497 ff., bes. 529 ff.
102 Diesen Einspruch der 88 Freunde Schleiermachers, unter denen eich Bischöfe befanden,

schildert NIPPOLD, Hai;i.dbuch, 346 f.


103 DAVID FRIEDRICH STRA.uss, Der politische und der theologische Liberalismus (Halle

1848); der Aufsatz erschien zuerst in dem von Wislecenus herausgegebenen Blatt der
Lichtfreunde „Reform" (1843), H. 3 v. 9. U. 15.

798
IV. 2. Christentum and Glaubensfreiheit Christentum

Eine religiös-politische Gruppenbildung bei den Junghegelianern stellteMICHELET-1114


dar als eine Auseinandersetzung um die Erbfolge HegelR. F.r wollte ?.wischen rechts
und links vermitteln durch die Proklamation eines neuen Christentums am Übergang
der Geschichte in die nachgeschichtliche Zeit. Die Gegensätze von rechts und links
wurden vermittelt im Gedanken einer neuen christlichen Praxis, die mit dem
Prinzip der Assoziation die religiöse Zukunft einleitete. In dem neuen Christentum,
welches weltlich gewO'fden, zwar nicht aufhört, Religion zu sein, werde ein neues soziales
Leben entstehen. Der Begriff 'Christentum' verband sich hier mit dem Bewußtsein
einer neuen Gesellschaft, die erst jenseits der bestehenden aufgebaut werden sollte.
Deren gegenwärtiger Sinn erschien, wenn Michelet die Vereine für das Wohl der
arbeitenden Klassen für eine Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geiste.~ erklärte.
Der Assoziationstrieb zu Gunsten der niederen Klassen der Gesellschaft, vorab der
Proleta1ier, wurue ue1· Eim1iuht ilienstbar gemacht, daß de't :Mensch als solcher im
Christentum Zweck Gottes sei. Diese Erkenntnis höre jetzt auf, eine bloße Redensart
zu sein, ilie Verhältnisse kehrten sich dahin um, daß die Theorie der Praxis folge,
das Christentum als Religion der Humanität sei jetzt Sache einer Tathandlung, die
Zeit verlange die Ausführung der Prinzipien des Christentums. Michelet gab damit
einen Hinweis auf die Tendenz der Geschichte des Begriffs 'Christentum', Aofern
dieser seinQ allgemeine Bedeutung nur wahren konnte, wo er :Zur Praxis, sei es der
Institution, sei es geaellaoho.ftliohor Kriiftc wurde, und im übrigen zur hü1torisch-
wissenschaftlichen Kategorie wurde. Michelet selbst wies als Rechtshegelianer in
die Richtung einer christlichen Theorie des Staates, wo das Individuum in seiner
persönlichen Freiheit zugleich mit der Substanz des Staates harmoniere105 • Für den
Linkshegelianiiimm1 öffnete si.ch ein Weg, auf dem das Christentum nur noch als
Gegenposition zur neuen Gesellschaft formuliert werden konnte.

2. Christentum und Glaubensfreiheit

Die Grundrechtsdebatte der Frankfurter Nationalversammlung zu Art. 5 spiegelte


die gegensätzlichen Meinungen, mit denen die Verbindung von Christentum und all-
gemeiner Glaubens- und Gewissensfreiheit beurteilt werden kann106. Diese Debatte
gibt Aufschluß über die religionspolitischen Implikationen eines allgemeinen Be-
griffs. So gehörte die Forderung der Glaubens- und Gewissensfreiheit zwar ein-
deutig mit dem emanzipativen Begriff des Christentums zusammen. In ihren
institutionspolitischen Konsequenzen aber, und d. h. vor allem in der Trennung
von Kirche und Staat, wurde diese Forderung besonders leidenschaftlich von Geg-
nern des Christentums und von der kirchlichen Hierarchie unterstützt,.von letzterer
im Interesse der Selbständigkeit der Institution Kirche. Gerade diese letzteren
institutionellen Freiheitsfolgen wurden von denen bekämpft, die der Unterschei-
dung von Christentum und Kirche nicht nur prinzipiellen Ausdruck geben wollten,

1o' CARL LunwIG Ml:OHELET, Der historische Christus und das neue Christentum. Die
Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes. Eine philosophische Trilogie. Zweites
Gespräch (Darmstadt 1847), 27. 30. 43. 53. 56. Wir stellen diese bloß literarische Gruppen-
bildung den Lichtfreunden an die Seite wegen der strukturellen Paralltlle.
lOi Ebd., 57. 175.
101 Sten. Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 3 (1848).

799
Christentum IV. 2. Christentum und Glaubensfreiheit

sondern sie in der politischen Praxis bewahrt sehen wollten. Sie erblickten in der
Trennung der Kirche vom Staat eine Bedrohung der Freiheit, weil das Christentum
dann allein in der unkontrollierten Zuständigkeit der Kirche aufzugehen drohte.
Pauschal konnten die Freiheitsrechte und die Trennung von Staat und Kirche auf
die eine Idee der Freiheit der Person gegründet werden. Die Idee der freien Persön-
lichkeit ist eine der Grundideen des Ohristentums. Machte der Staat diese Idee zu
seiner eigenen, so ist er gewiß nicht ein unchristlicher zu nennen, auch wenn er der
Kirche, die er nur mit Gewalt sich angetragen hat, den Scheidebrief gibt. Der Staat
ist christlich, wenn er keine Gesetze hat, welche dem Evangelium widersprechen und
es den Christen unmöglich machen, als Christen zu leben107 • Die nur indirekte, nicht
institutionsspezifische Beanspruchung des Christentums zusammen mit der For-
derung einer klaren Trennung von der Kirche stand auf dem Hintergrund der Er-
fahrung des Religionmachens108 , der Religionsfabrikation109 , wo eine bestimmte
Artikulation des Christentums sich staatlicher Förderung erfreute, sei es im Wechsel
der unterstützten Frömmigkeitstypen, sei es mit dem Begriff des christlichen oder
christlich-germanischen Staates110 • So galt es als Fortschritt des Christentums, daß
die Idee der allgemeinen religiösen Freiheit sich gegen das Amalgamieren der Kirche
mit dem Staat durchsetzte. Denn deren Verbindung erschien als die doppelte
Unterdrückung der Freiheit: religiös uml poliLisch. Diese FreiheiL mußLe nicht
abstrakt-prinzipiell gemeint sein, sondern in dem pragmati15chen Sinne, der in der
Klage zum Ausdruck kam, solche Religionsmacherei habe die Folge, daß gegenwärtig
kein rechtlicher Mann sich zum Christentum bekennen darf, ohne Gefali'f' zu laufen,
daß er entweder für einen Heuchler oder für einen Dummkopf verschrieen wird111 •
Im Interesse solcher Männer, die sich als Freie imm Christentum bekannten, sprach
die Opposition gegen die Trennung von Kirche und Staat. Sie fürchtete den in-
stitutionellen Mißbrauch solcher Freiheit durch die Kirche und wollte die Freiheit
durch einen besseren Staat gewahrt sehen. Die allgemeine Glaubens- und Gewissens-
freiheit wurde hier unterschieden von der Regelung des Verhältnisses Staat -
Kirche112 • Statt der Trennung als Folge der Freiheitsrechte wurde hier die Eintracht
von Kirche und Staat als Ziel gefordert. Sie liege im Interesse der Christen, die zu-
gleich Staatsbürger seien; die Trennung von Kirche und Staat aber komme nicht
der Kirchengesellschaft, sondern allein der Hierarchie zugute. In dem kirchlichen
Ruf nach Trennung der Kirche vom Staat sah man lediglich die Abwehr der
demokratischen Einrichtungcnm. Frei werden dürfe die Kirche nur, wenn und wo
sie diese Freiheit an ihre Genossen weitergebe. Wo ?.wischen Christentum und Kirche
nicht unterschieden wurde, führte das Freiheitspathos dann aber zur extremen
Forderung, die Trennung des Staates von der Kirche an die Bedingung zu knüpfen,
daß überhaupt das, was Kirche genannt wird, vernichtet werde, weil jede Kirche
immer ein Hemmschuh der Zivilisation sei. Sollte die Kirche ihren Ort im Himmel

101 Abg. KNoonT, ebd., 1730.


1oa Abg. BEISLER, ebd., 1663.
109 Abg. GFRÖRER, ebd., 1786.
110 Abg. BIEDEBMANN, ebd., 1643.
111 Abg. GFRÖRER, ebd., 1786.
112 Abg. TAFEL, ebd., 1654.
11a Abg. BEISLER, ebd., 1664.

800
IV. 3. Der Begriff de9 christlichen Staates - fortschrittlich Cbriatentum

haben, dann verschwänden auch die institutionspolitischen Probleme114• Deren


Komplexität aber trat hervor, wo die dritte Kraft zwischen Staat und Kirche, die
Christen ihre Freiheit in dem geschichtlich gewordenen Zusammenhang des poli-
tischen und sozialen Lebens mit der Überlieferung des Christentums auszusprechen
suchten, in dem auch die praktischen Lebensverhältnisse der Individuen ihre kon-
krete Gestalt haben115• Die Bindung der Kirche an den Staat sollte jener Freiheit
dienen, die des Schutzes bedurfte, die Bindung des Staates an das Christentum
aber sollte ausgesprochen werden um der geschichtlichen Wirklichkeit willen, in
deren Gefolge diese Freiheit gegenwärtig sich verwirklichte. Die Idee eines christ-
lichen Staates wurde damit nahegelegt, die dem allgemeinen Begriff des Christen-
tums jenseits seiner kirchlichen Fixierung verpflichtet war.

3. Der Begrift' des christlichen Staates - fortschrittlich


Der Begriff des „christlichen Staates" trat in einer progressiven Fassung. auf,
weil nur so die freigesetzte Christlichkeit über den religionspolitischen Kämpfen
noch allgemein realisierbar erschien. MARHEINEKE116 vertrat eine Reform der Kirche
durch den Staat, die progressiv gemeint war, weil erst die Gegenwart jenem Fort-
schritt realen Ausdruck geben sollte, der in der Kirche der Reformation aus dem
bkibenden Gegensatz des Papismiis und Protestantismus bisher verhindert war und
dazu führte, die Kirche auf den engsten Kreis ihrer isolierten rein geistigen Wirksam-
keit zu beschränken. Damit blieb auch das Verhältnis von Kirche und Staat ein
rein äußerliches. Fortschrittlich dagegen war jene Entwicklung, die das Ohrisrentum
in wahres Leben, in die häusliche und öffentliche Sitte, in die Gesetzgebung der Völker,
in die politische und moralische Welt einzuführen und umzusetzen unternahm. Dies
mit Bewußtsein zu tun, galt als Aufgabe einer Zeit, in der der emanzipative Begriff
des Christentums eine institutionelle Fassung erfuhr. Der Geist der Hegelschen
Rechten sprach aus der These, das Christentum sei Staatsreligion im höchst,en Sinn
und ohne diesen Charakter könne weder der Staat noch die Kirche in ihm zu
sich selbst zur Wahrheit der Exisrenz gelangen. Marheineke, dem hier
Äußerungen von Chr. W. Weisse an die Seite gestellt werden könnten117, berief sich
in dem schon eingespielten christentumsgeschichtlichen Epochenschema auf die
besondere Bedeutung des Protestantismus, durch den das Christentµm als Staats-
rel,iyion imd der Staat als ein solcher anerkannt (ist), dessen Weisheit und Macht
in den Prinzipien des christlichen Glaubens ruht118 • Das Verhältnis solcher clujst-
lichen Gegenwart z11 den Anfängen des Christentums löste Marheineke durch eine
Geschichtstheorie, in der der Anfang die Geschichte nicht antizipieren, sondern sich

114 Abg. VOGT, zit. W. WICHMANN, Denkwürdigkeiten aus der Paulskirche (Hannover
1888), 181. Im gleichen Sinne der Abg. JORDAN: die Kirche als Kirche muß fallen etc.;
ebd., 182.
116 80 et.wa der Abg. SlllPP, St.en. Ber. Dt. Na.t.ionalvers., Rd. 3, 1689.
116 PHILIPP KONRAD MARHEINEKE, Die Reform der Kirche durch den Staat (Leipzig 1844),

7.10. 4.
117 CHRISTIAN HERMANN WEISSE, Über die Zukunft der evangelischen Kirche. Reden an

die Gebildeten der deutschen Nation (Leipzig 1849).


us MARHEINEKE, Reform, 5. 13 ff. 15.

51-90385/1 801
Christentum IV. 3. Der Begriff des cluiBtlichea Staates - fortschrittlich

eben nur erst in dieser explizieren kann. Der Epoche des in sich geschlossenen An-
fangs folge das Stadium der bloß kirchlichen Existenz des Christentums und dieser
die Entwicklung des inneren und wesentlichen Verhältnisses zum Staate. Der Am1bn1ch
aus den Grenzen der Kirche hatte hier jeden kämpferischen Klang verloren und
suchte sich vielmehr in einer politischen Entwicklung zu beruhigen, die durch den
modernen Staat bereits erreicht war. Darum war für Marheineke nun umgekehrt die
Aufgabe, das politische Element der christlichen Kirche analog dem Staat zu ent-
wickeln, d. h. die Praxis des neuen Begriffs des Christentums den inner-theologi-
schen. und weltanschaulichen Kämpfen zu entziehen und an einem solchen Muster
zu orientieren, das den religionspolitischen Auseinandersetzungen durch schon voll-
brachte Praxis überlegen war. Diese Wendung im Begriff 'Christentum' ist charak•
teristisch. Bei vielen Vertretern des Kulturprotestantismus zeigte sich diese Wand-
lung, bei der der Degriff des 'Christentums' seine KrafL nicht mehr au1:1 der theolo-
gischen Emanzipation zog, sondern sich an die schon 'geschehene politische, kul-
turelle oder gesellschaftliche Emanzipation anschloß, um jene Allgemeinheit zu
bewahren, die sich in den internen theologischen und kirchenpolitischen Kämpfen
nicht einstellen wollte.
Aus der Unterscheidung von Christentum und Kirche bezog H. VON SYBEL seine
Argumente gegen die christlich-germanische Staatslehrell 9 und für den Rechtsstaat,
der der irdische Abglanz des christlichen Willens und zugleich das uranfänglioho ZioZ
des germanischen Gemeinwesens sei120• Es war dies die Konsequenz einer Theorie
der Zeit, für die die sit~liche Bildung ••• noch andere Organe hat als die kirchliche und
einen geistigen Inhalt von außerkirchlichem Wesen. Deshalb konnte das Recht nicht
an kirchliche Orthodoxie gebunden werden, wie in der christlich-germaniRchen
Schule. Der Fortschritt an Humanität und Sitte, den der Rechtsstaat politisch ein-
holte, wäre undenkbar, wenn das Verschwinden des konfessionellen Geistes und der
Sturz der Kirchenherrschaft über Staat und ·Gesellschaft zugleich auch ein Absterben
religiöser Gesinnung bedeutet hätte. Daß die neuen Bestrebungen des Menschengeistes
die geschichtliche Fortentwicklung des Christentums sind, nicht aber der revolutionäre
Sturz desselben, mußte gegenüber der kirchlichen Gesinnung genauso verteidigt
werden wie gegenüber der radikalen Religionskritik. Das war jetzt der Kern des
Kampfes um den Begriff 'Christentum'. Sybel suchte dessen Gehalt so für den Staat
zu reklamieren, daß der Staat nicht zum Missionär gewisser theologischer Dogmen
und zum Handlanger geschlossener kirchlicher Gesellschaften werde, sondern die sitt-
liche Grundaufgabe des Ohristentums121 in seiner Verfassung nach den Bedürfnissen
jeder Kulturstufe und Nationalität auf selbständige Weise ergreife. Diese Sprache war
dem allgemeinen und emanzipativen Begriff des Christentums verpflichtet und
suchte seine Weite vor jenen Tendenzen der politischen und religiösen Orthodoxie
zu schützen, die das Christentum allein für sich beanspruchte.
Mit der Wendung zum Nationalen, das als Drittes gegen Kosmopol~tismus und

UD HEINRICH v. SYBEL, Die christlich-germanische Staatslehre (1851), KI. hist. Sehr.,


Bd. 1, 3. Aufi. (Stuttgart 1880).
120 Ebd., 414. 409 f.
121 ~bd., 412 f. Sybel nannte als die beiden gropen Forderungen, welche die christliche Sitte
wesentlich charakterisieren, Achtung vor der Menschenwürde auch im Geringsten u~ Demut
der menschlichen Schwiiche auch im Stärk8ten.

802
Christentum

Individualismus gestellt wurde, wies der Begriff des christlichen Staates bei
HUNDESHAGEN122 in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Sittlichkeit
bildete das entscheidende Kriterium für die Christlichkeit des Staates. Der christliche
St,aa,t ist nicht der streng und ausschließlich konfessionelle ..• sondern der sittliche
St,aa,t im Gegensatz zum bloßen Rechts- oder Polizeist,aa,t. Damit war einmal eine·
Stellung bezeichnet, die sich gegen Mechanismus und äußere Legalität stellte und
für den lebendigen Gemeinsinn plädierte. Die Ohristlichkeit des Staates beruht
wesentlich auf seinem Okarak/,er als sittliche Lebensgemeinschaft. Sodann wies der
Begriff darauf zurück, daß der Staat auf das Christentum angewiesen war. Damit
wurde die allgemeine Bedeutung des Christentums in die Gegenwart eingeholt,
indem der Staat auf die fortdauernde Einwurzelwng in den Elementen der christlichen
Religion hingewiesen wurde um seiner eigenen Existenz willen. Denn der ganze
Umst,and sittlicher Begrifje, auf dem die heutigen zivilisierten St,aaten ruhen, sei ein
Eru'Ul]nis des OkristenturM. Was für den Staat das Christentum empfehlenswert
machte, war zugleich die aktuelle Bedeutung seiner protestantischen Fassung,
'Sittlj.chkeit' und 'Kirchlichkeit' waren Begriffe, die sich ablösten und das Epochen-
schema ausdrückten, das nun nicht mehr unmittelbar im Verhältnis der Konfessio-
nen nacheinander in .Anspruch genommen wurde, sondern neutralisierl durch die
sittliche Bestimmung des Staates. Auch Hundeshagen diente der Begriff des christ-
liohon Stao.tcs B1l1' Beruhigung der politisch-theologischen Kämpfe. Hintergrund
war eine Geschichte des Antichristianismus, den er bis hin zu den Linkshegelianern
betrachtete in seiner Bedingtheit durch die Piida,gogik des Polizeistaates12 3. Dieser
nämlich hatte die deutsche Entwicklung zu Extremen getrieben, die neben der
kirchlichen Reaktion einen eigenen endemischen Antichristianismus hervorbrach-
ten124. So wurde der Staat nicht einfach gegen den Antichristianismus zu Hilfe
gerufen, sondern der bessere, nämlich der christliche und sittliche Staat wurde
angerufen gegen den schlechten, den Polizeistaat, der die Schuld an den anti-
christlichen Bewegungen der Zeit hatte. Der christliche Staat nahm jene überpartei-
liche Allgemeinheit in der Praxis wahr, die den sittlichen Ideen des Christentums
selbst innewohnte. Zugleich befreite er den Bürger aus der Privatheit einer aus-
sckUeßlick literarischen Existenz, die symptomatisch war für jenen auch von RoTHE
beklagten Rückzug in die Privatheit, wo der Staat keinen Reiz zum lebendigen
Ergreifen des Nationalen bot126• Eben dies Nationale aber war der Begriff, in
dem die Bestimmung des Staates und die des einzelnen Subjekts in ihrem Lebens-
zusammenhang ausgedrückt werden sollte und, als Reflex der Befreiungskriege,
die Kontinuität· auch der religiösen Bewegung im Einklang mit der politischen

111 HUNDESlliGEN, Der deutsche Protestantismus (s. Anm. 93), 321. 326 f. 328. 329.
111 Ebd., 171 ff.
lH Ebd„ 131 ff.
116 Ebd„ 148. 141, vgl. 137; RICHARD ROTHE, Zur Orientierung über die gegenwärtige
Aufgabe der deutschen evo.ngelisohon Kircho (1861), in: Ges. Vorträge u. Abh. (Elberfeld
1886), 3 f., wo es heißt: Statt eines christlich-nationalen Lebens sei die religiöse Kraft
wieder in die Enge der rein privatUchen Lebenskreüe konfiniert. Das Christentum konnte
nicht am ataatlichen Gemeinwuen Anhalt finden, und Rothe folgerte daraus die Ab-
wanderung der Frömmigkeit in das private Christentum des Pietismus, in das sich die
nationale Bewegung geflüchtet ha.be. Aber der Pietismus kann kein Volkschristentum Bein.

803
Christentum IV. 3. Der Begriff des christlichen Staates - fortschrittlich

festgehalten wurde. Nationalität des Staates bedeutete dann aber, daß das Subjekt
in ihm einen festen, seine Bedürfnisse als sittliches Individuum bindenden Ort
hatte. Damit wurden die weitergehenden Kräfte der Kritik positiv begrenzt. Diese
antikritische Funktion des Nationalen verband sich bei Hundeshagen mit der
christlichen Legitimation des Staates, die zugleich die Bedeutung war, die der
Protestantismus als politisches Prinzip hatte12 s. ·
Den Konflikt zwischen dem allgemein menschheitlichen Begriff des Christentums
und seiner widersprüchlichen individuellen Rezeption und institutionellen Reali-
sierung hob RICHARD RoTHE127 auf in die Idee einer weltgeschichtlichen Entwick-
lung des Christentums, deren Ziel der christliche Staat war als die allgemeine mensch-
liche, d. h. religiös-sittliche Gemeinschaft, damit zugleich Vollendung des Begriffs
des Staates überhaupt. In seiner den Geist des spekulativen Idealismus atmenden
Theorie der Christentumsgeschichte wurde die von den Linkshegelianern pro-
klamierte Ablösung des Christentums überboten. Rothe verwendete den Begriff
'Christentum' konsequent unterschieden von dem der 'Kirche' als rein religiöser
Gemeinschaft. Diesen Unterschied aber hatte erst die Reformation realisiert, sie
war der Wendepunkt, mit welchem das Christentum seine kirchengeschichtliche
Period,e durchbricht und in 8eine poiiti8ch-gC8chichtUche hinüber8chreitet. Die Wirkung
der Reformation auf die kirchlich-einheitliche Faeeung des Christentums, sonst
Grund zur Klage für katholische oder lutherisch-orthodoxe Stimmen, trat jetzt
erst hervor. In der Reformation selbst war nur im Prinzip erkannt worden, daß die
Kirche als Notbehelf zu gelten habe. Für die Gegenwart aber gelte das Hinau.~­
brechen des Christentums aus der Kirche auf das Gebiet des an sich Sittlichen, um auf
ihm die Fahne des Oliristentums aufzupfianzen für alle Zukunft128• Diese Geschichts-
theorie gab so einen Aspekt auf die Zukunft frei, der von dem Anspruch befreite,
jenes allgemeine Christentum gegenwärtig vollends wahrnehmen zu können. Rothe
gab nicht das Prinzip der Aufklärungstheologie preis, aber er befreite es aus. der
Enge der individuellen Fähigkeiten, indem er es mit dem Staat verband. Im Prozeß
der Verwirklichung des christlichen· Prinzips wurde der Staat „christianisiert"
und „entsäkularisiert". Auch wenn ein Nebeneinander von Staat und Kirche ge-
dacht werden mußte, so war die entwicklungsleitende Tendenz doch diese Ent-
säkularisierung des Staates und das Zurücktreten der Kirche, mit der Rothe
bereits 1838 Aufsehen erregte129• In demselben Verhältnis, in welchem sich der

ue IIUNDESHAGEN, Der deutsche Protestantismus, 470. Im ileutachen Reich hat MICHAEL


BAUMGARTEN dies Prinzip liberal erneuert, indem er an die politischen Ideen des Protestan-
tismus vor allem außerhalb Deutschlands, in den demokratischen angelsächsischen Län-
dern erinnert; Der Protestantismus als politisches Prinzip im deutschen Reich (Berlin
1872).
117 RICHARD RoTHE, Theologische Ethik, 2. Aufl., Bd. 3 (Wittenberg 1870), 183; vgl.

HA.Ns-JoACBllll BIRKNEB, Spekulation und Heilsgeschichte. Die Geschichtsauffassung


Richard Rothes (München 1959).
118 RoTHE, Ethik, 2. Aufl., Bd. 5 (1871), 398. Vgl. dazu RoTHEs Nachgelassene Predigten,

b,g. v. Daniel Schenkel u. Johannes Bleek, Bd. 2 (Elberfeld 1869), 71 f.: Die Kirche sei ein
vorübergehender Notbehelf, die Welt selbst, das gesamte menschliche Leben soll das Ge-
biet der christlichen Gemeinschaft bilden.
ue RoTHE, Die Anfänge der christlichen Kirche und ihrer Verfassung, Bd. 1 (Wittenberg
1837), 85.

804
IV. 3. Der Begriff des christlichen Staates - fortschrittlich Christentum

Staat· e'lllsäkularisierl, säktilarisiert 8Wk die Kirche, d. k. sie triU als pt"ovi,sorischer,
imrMr ungenügender we;rdender Notbau /Ü'I' den ckristlwhen Geist zurück. Dieses
Gefälle qualifizierte die Christentumsgesehichte. Im christlichen Staat normali-
sierte sieh das christliche Leben, weil das Nebeneinanderbestehen des religiös-
kirehliehen und des weltlichen Prinzips des Christentums aufgehoben wurden.
Der Staat, dem solches Prädikat „christlich" zukam, war der Kulturstaat, das Ziel
der KuUurgesckiclde der Menschheit, dem die Geschichte über die Epochen der
katholischen oder kirchlichen Zeit und die prot.estantische oder staatlwhe, weUlwke,
siulwhe politische Zeit entgegenging130• Der Protestantismus konnte so voll und
ganz für jene Emanzipation in Anspruch genommen werden, die doch zugleich seine
kirchliche Zuständigkeit überschritt. Diese Emanzipation als Bewußtsein der Mün-
digkeit war der Gegenwart aufgegangen und als eigentlich rMnsckliche Aufgabe
"bewußt geworden, wenn auch mehr erst der Tendenz nach als schon tatsäcklick1B1.
Das gab Rothe Anlaß, alle konkreten Bestimmungen der Sittlichkeit des politi-
schen, gesellschaftlichen, industriellen Lebens in seine Gesamtperspektive auffo-
nehmen. Aber die Tendenz bedurfte der gegenwärtigen Subjekte, in denen siebe-
wußt wurde und die die Träger solchen Geschichtsverlaufs sein konnten. Hier trat
für Rothe das Problem auf, wie sich die Theorie des christlichen Staates mit der
Christlichkeit seiner Bürger vereinigen ließ, wenn dlese nicht allgemein war oder
doch nicht allgemein bewußt. So wurde Rothe zu Erklärungen über das Christentum
außerhalb 1for Kirr.he gefiihrt., nie nie Tra.gweit.e des Ilegriffs beleuchten können.
Das Christliche steckt demjenigen Teil der Menschheit, den wir die Ch'l"istenheit nemwn,
schon im Blut, nämlich als die konkret geschichtlich gewordene und so nur durch das
Christentum gewordene Welt132 • Doch die Frage blieb, ob Rich die weltgeschicht-
liche Tendenz zum christlichen Staat auch im künftigen Bewußtsein realisieren
würde. Darum gehe der gegenwärtige Kampf, in dem diese Theorie ihre Stimme er-
hebe und ~en sie zu bestimmen suche. Rothe formulierte den Gedanken eines
„unbewußten" Christentums, das der Aufklärung darüber harrte, was es schon war,
und stellte es in polemische Beziehung zum kirchlichen: Die Kirche kielt diese
moderne Bildung für eine unchristliche, weil das Christliche in ihr nickt das bisher
altherkömmliche Gewand des Christlichen trug, sondern im Hausrock des einfach
Menschlwhen einherging, und das katt,e dann freilich für die junge, über sich noch
höchst unklare Kultur die sehr üble Folge, daß.sie sich selbst ihrer wesentlichen Christ-
lichkeit gar nicht eigentlich bewußt wurde1 33• Die Dialektik, die darin ausgesprochen
wurde, markierte das Dilemma, in dem sich solche Theorie hinsichtlich der Praxis
befand. Rothe mußte fordern, daß die Menschen gleichsam geschichtsbewußt ge-
macht würden, aber das nächstliegende Instrument solcher Bewußtseinsbildung,
die Kirche, kam gerade nicht in Frage. Vergleicht man die Situation mit der bei
Marx gegebenen, der das Proletariat klassenbewußt zu machen suchte, um dem
Subjekt der geschichtlichen Entwicklung der Zukunft zu sich selbst zu verhelfen,
so lagen die Dinge bei Rothe gänzlich anders: Zwar bedurfte die Differenz von
Tendenz der Geschichte und Bewußtsein von ihr der Klärung, aber weil der Abb8'.u

180 Zit. BIRXNER, Spekulation, 74.


181 ROTBE, Ethik, Bd. 4 (1870), 239. 241.
m Ebd., Bd. 1 (1867), 60.
188 Zit. BIRKNER, Spekulation, 82 f.

805
Christentum IV. 4. Der Begriff des christlichen Staates - konservativ

parteilicher Wahni.ehmung der Weltgeschichte im Prinzip lag und dieses als gegen-
wärtig schon wirksames im christlichen Staat gesehen wurde, konnte es keine
kämpferische Bewußtseinsbildung geben. Die einzige Position, die Rothes Theorie
in der Praxis fand, war die des Vereinslebens im „Protestantenverein", dessen
Gründung er 1863 seinen Segen gab134• Während Rothe aber auf den Gang der
Gesohiohte vertraute, bewegte eioh der Verein vorwiegend in kireheninternen Aus-
einandersetzungen, auch weJin er von ihm das Thema übernahm, das Christentum
im Zusammenhang der Kulturentwicklung zu begreifen1 3 5 •
Rothes Theorie vom christlichen Staat faßte noch einmal alle Motive des allgemei-
nen und emanzipativen Begriffs des Christentums zusammen. Ihre ausdrückliche
Gefolgschaft war klein. Auf sie, d. h. auf Überzeugungsträger aber stützte sich die
gegenläufige Theorie des christlichen Staates, die Stahl im Streit der Parteien und
bewußt parteilich vortrug.

4.. Der Begrift' des christlichen Staates - konservativ


Für den christlichen Konservativismus verkörperte der Staat jenen Damm, der die
revolutionären Kräfte aufhalten und die Auflösung des Christentums im Gefolge
der Aufklärung verhindern sollte. STAHL136 sah gerade im Gegeneinander der kirch-
lichen und politischen Parteien die Signatur des Zeitalters und zeichnete seinen Be-
griff des christlichen Staates in die Parteikämpfe so ein, daß das Christliche als ein-
deutige Partei formulierbar wurde. Entscheidung als Sch,e,idung sah er gefordert, die
von der Emanzipation trennte, deren Ziel die Entchristlichung des Staates war. Das
Gefälle der Gesohiohte hatte darum Züge des Abfalls, nicht die Zukunft, sondern
die historisch,e,n IleclUe wurden durch den christlichen Staat sanktioniert. Die weiter-
gehende Bewegung der Zeit war nicht nur in diesem oder jenem Zug, sondern
gänzlich, in ihrem Ziele unchristlich. Glaube und Unglaube, christlich und unchrist-
lich, diese Gegensätze standen in einer Reihe mit Autorität, Legitimität, geschicht-
lichem Recht, natürlicher Gliederung einerseits, liberal, demokratisch, sozialistisch,
revolutionär, Freiheit und Fortschritt ~dererseits. Der christliche Staat oder das
Christentum als Staatsreligion war eine Qualifikation, die dem Staat galt, der seine
Einrichtungen und sein öffentlich,e,s Leben vom christlich,e,n Glauben und christlich,e,r
Sitte bestimmen und durchdringen liißt, der das Christentum zum obersten Maß und
Zweck seiner Wirksamkeit hat. Seine christliche Aufgabe war im Schutz und der
Aufrechterhaltung der Kirche 1Uld ihrer Wirkungen zu sehen, sein Wert in dem
christlich,e,n Verhalten der Nation als Einh,e,it. Diese Merkmale nun nicht schon des
Staates, sondern einer Partei der Legitimität137 , waren auch die Merkmale der
kirchlich,e,n Partei: Offenbarungsglaube und Offenbarungsleugnung bildeten hier die

ia 4Vgl. RoTHES Rede auf dem ersten Protestantentag, in: Ges. Vorträge (s. .Anm. 125),
129 ff.
185 Vgl. dazu die Schrift DANIEL SCHENKELS, des Gründers des Protestantenvereina:

Christentum und Kirche im Einklang mit der Kulturentwicklung (Wiesbaden 1867).


lH FRIEDRICH JULIUs STAHL, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche (Berlin
1863), 1. 4. (Die Vorlesungen wurden zuerst 1850 gehalten); vgl. ders., Der christliche Staat
und sein Verhältnis zu Deismus und Judentum (Berlin 1847); ders., Der Protestantismus
als politisches Prinzip (Berlin 1853).
137 STAHL, Parteien, 312 f. 338 f. 342.

806
IV. 4. Der Begriff des cluistlicheu Staates - komervati't' Christentum

Gegensätze. Wo das liberale Denken zu vermitteln suchte, forderte Stahl den Kampf,
um diejenigen, die unter dem Schein des Ohristentums einhergingen, indem sie dem
.Ohristentum einen anderen Sinn und I nhaJJ, go.bon, zu ontlo.rvon. Christon waren
eindeutig nur die Anhänger der kirchlichen Partei, alle anderen waren Rationa'listen,
Deisten, Pantheisten, Atheisten138• Und so bekam auch die aktuelle Bewegung der
Emanzipation, die des Sozialismus, einen theologischen Namen, die Emanzipation
des Fkisches und der Kampf gegen sie enthielt Züge des Weltgerichts. Der Kampf
mit der Revolution war nicht ein Kampf bloß weltgeschichtlicher Faktoren, sie war
ein Kampf der ewigen Mächte, sein Ausgang ein Gericht nicht bloß für die Zeit,
sondern für die Ewigkeit. Stahl sah im Sozialismus die grauenhafteste Verirrung der
Emanzipation und sprach damit aus, was in der Folgezeit bestimmend wurde für
die Auseinandersetzung der Kirche mit der neuen sozialen Bewegung. Wo nicht
mehr der allgemeine Begrüf des Christentums leitend war, sondern allein die Kirche,
wurde der religionspolitische Str.eit in jene absoluten Gegeni1ii.tze gezogen, cfü1 nir.ht
überwunden werden konnten, sondern bei denen es nur· noch darum gehen konnte,
Menschen zum Übertr.itt von der einen Partei zur andern zu bewegen. Die Änderung
der sozialen Verhältnisse war dann eine Funktion in diesem weltgeschichtlichen
Parteikampf. Das besondere Problem dieser Position des christlichen Konservatis-
mus lag darin, sich als protestantisch zu rechtfertigen. Hatten die bisherigen
Proteota.ntiamuadoutungcn ihn vor allem mit den progressiven Kräften zusammen-
gebracht, so mußte dietie dezidiert antifortschrittliche Haltung eine Unterscheidung
vornehmen, die das Modell für die neulutherische Zweireichelehre wurde. Stahl
wehrte sich dagegen, den Protestantismus genealogisch mit der Aufklärung zu
verbinden139• Er unterschied zwischen der echten Freiheit deti Glaubens und der
falschen Freiheit. Die protestantische Emanzipation bewirke keine äußerliche sicht-
bare Autorität, habe keine im öffentlichen Leben aufgerichtete Objektivität. Eine neue
Epoche sei der Protestantismus gerade als das Hinausführen über die menschliche
Autorität zu göttlicher Autorität und von Gott gesetzter Ordnung. Deshalb durfte der
Protestantismus nicht politisch reklamiert werden; die Pointe bestand darin, daß
damit die Überhöhung einer den Menschen nicht nur aktuell, sondern prinzipiell
nicht verfügbaren Autorität GotteS ausgesagt wurde, die der Staat wahrzunehmen
hatte. Mit Stahl hatte der Begriff des christlichen Staates jene Konturen des zeit-
genössischen Parteikampfes angenommen, die einer Gegenposition entsprachen, die
im Christentum die Macht der vergehenden Welt sah. Von der anderen Seiteaus
mußte darum jeder Fortschritt zu Lasten des Christentums gehen.

1 88 Und zugleich Deut&chkatholiken, Lichtfreunde, Reformjuden, St. Birrumiaten; die theo-


logischen Namen waren zugleich solche der religionspolitischen Praxis. Zum Folgenden:
STAHL, Parteien, 270 f.
1 89 Ebd., 386 f. Man zeiht mich des Widerspruchs, da/J ich auf dem 'p<JUti,achen Gehiet die Revo-
lution bekämpfe und auf dem religiösen Gehiet, alB Protest.am, sie bekenne; dere., Protestantis-
mus, 2; vgl. daru ERWIN FABLBusCH, Die Lehre von der Revolution bei Friedrich Julius
Stahl (theol. Dies. Göttingen 1954). FBmDRICH N.A.'UMANN hat Stahls Position treffend
dahin charakterisiert, daß in ihr der konservative Patriotismus eine Übersetzung der katho-
lischen Nationalitä.teidee ins lutherische Kirchentum darstelle; Deutscher Nationalsinn
(1914:), Werke, Bd. 5 (1964:), 518 f. Vgl. dazu aber auch HA.Ns-Jo.A.CBDI SCHOEPS, Die
lutherische Hochorthodoxie Preußens und der Katholizismus~ Zs. f. Religions- u. Geietes-
gesch. 4: (1952), 311 ff.

807
Christentum V. 1. Das Ende des Begriffs im Sozialismus

V.
1. Die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus:
das Ende des Begrift's im Sozialismus

Bestätigt wurde die antifortschrittliche Christentumsauffassung durch die radikale


Religionskritik von Marx und Engels und des ihnen folgenden Sozialismus. Diese
Kritik verwendete einen pauschalen Religionsbegriff, mit dem alle Differenzierun-
gen im Begriffsfeld 'Christentum' abgetan wurden. Wo eine neue Zeit ausgerufen
wurde, verlor die geschichtliche Welt des Christentums jedes positive Interesse
und nur ihre geschichtsdialektische Funktion verlieh ihr noch einen Stellenwert.
Der Satz von KARL MARX: Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesent-
lichen beendigt und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritikl4o berief
sich auf die Ergebnisse von Feuerbachs Wesen des Christentums, dem Bruno Bauers
entdecktes Christentum141 an die· Seite gestellt werden kann. In der Scheidung der
Zeiten trat ein neues Geschichtssubjekt hervor, der Proletarier, zu dessen Definition
es gehörte, mit der Welt des Christentums als der alten nichts mehr gemein zu haben.
Begrifflich zeigte sich dieser Bruch daran, daß diese Kritik nur von „Religion"
ULcrhu.u!JL spro.oh und deren gesellscha.ftliohe Funktion der Analyse unterzog,
dagegen kaum noch den Begriff 'Christentum' verwendete. Konsequent trennte sich
die Kritik denn auch von Weitling, Hess und anderen, die entweder einem neuen
Christentum oder einer neuen Religion positive Bedeutung für die neue Gesellschaft
abzugewinnen suchten142 • Die soziale Frage wurde somit in Deutschland allgemein
bewußt als ein Problem der geschichtlichen Kontinuität überhaupt. Wo sie mit
dem Christentum und christlichen Motiven verbunden wurde, mußte darum dem
marxistischen Sozialismus das Alleinvertretungsrecht für das Proletariat streitig
gemacht werden, um es für die schon entfaltete Welt des Christentums zu gewinnen.
Die Alternative, ein solches neues Christentum zu proklamieren, das den Bruch der
Geschichte mitvollzog und die Kontinuität mit der Christentumsgeschichte preisgab,
hatte schon deswegen keine Chance, weil diese Position durch die sozialistische
Revolution okkupiert war. Die Verbindung des Begriffs 'Christentum' mit dem des
Sozialismus und des Sozialen war so durchgehend von der Absicht bestimmt, eine
geschichtliche Kontinuität geltend zu machen, die ein theti~ches Verständnis des
Christlichen auch als des Sozialen erlaubte gegen die rein antithetische Fassung in
der proletarischen Revolution. Das Subjekt solcher Bemühung konnte dann aber
nicht das Proletariat sein, in der vom Marxismus behaupteten Entzweiung der
Geschichte auch nicht die Christenheit überhaupt, sondern zuerst nur die Kirche.

ao KA.m. Milu:, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung (1844), MEW
Bd. 1 (1957), 378.
1 41 BRUNO BAUER, Das entdeckte Christentum, eine Erinnerung an das achtzehnte Jahr-
hundert und sein Beitrag zur Krise des neunzehnten (Zürich 1843), Ndr. hg. v. Ernst Bar-
nikol (Jena 1927). Der Titel verweist zurück auf HoLBACHS Le ohristi&nisme devoile (Lon-
don 1756), dieses wiederum auf JoH. ANDREAS EISENJ\IENGER, Entdecktes Judentum
(Frankfurt 1700). Vgl. MARTIN ScillDDT, Art. Deismus, RGG 3. Aufi., Bd. 2 (1958), 67.
l&B Zu Engels' Entwicklung vgl. KARL KUPISCH, Vom Pietismus zum Kommunismus
(Berlin 1953).

808
V. 2. Die ehrisdich~aoziale Bewegailg Chriateatum

Hier wurde der Begriff des 'Christentums' wieder auf seine primär kirchliche
Fassung zurückgedrängt.

2. Die konservative FassODg in der christlich-sozialen Bewegung

JOHANN HINRICH WICHERN suchte für die Innere Mission die große nationale Basis
als innere Vollendung der Nationalität, die sich im christlichen Sozialismus als eine
höhere Einheit vollenden sollte. Dieser Sozialismus wurde formuliert für die tragen-
den Kräfte in Kirche und Staat. Nichts ist patriotischer als das Ohristentum143•
Im selben Jahre 1847 hatte MARx dem Christentum schon den Abschied er-
teilt, wenn er. dagegen erklärte: Die sozialen Prinzipien des Christentums sind
duckmiiuserisch und das Proletariat ist revolutionär1 44 • Dieser Gegensatz be-
stimmte Wicherns Lebenswerk, die bloß kirchliche Armenpflege zu einer Bewegung
zusammenzufassen, die als Ganze die Rettung der unchristlich gebliebenen und wieder
antichristlich gewordenen Massen zum Ziele hatte. Der revolutionären Bewegung
der Arbeiterschaft trat also eine defensive Bewegung zu ihrer Wiedergewinnung
entgegen, in der die OhristZichkeit des Staates und die OhristZichkeit der Kirche
in der Einheit der christlich-sozialen Idee zusammengefaßt waren145• Sie traten in
offenen Kampf gegen Sozialismus und Kommunismus, die als Bewegungen des
Separatismus den faZsohen Sozialismus vertraten, Die Begri.II1ichkeit Wir.herns
entsprach der von Stahl, jedoch wurde die politische Aufgabe der Kirche jetzt als
die christlich-soziale Aufgabe definiert und galt auch einer anderen Praxis. Gegenüber
der frühreifen, monströsen Karrikatur des Sozialismus entwarf Wiehern in seiner
Denkschrift146 das Bild eines interkonfessionellen und internationalen christlichen
Sozialismus, der sich in der neuen gesellschaftlichen Form der Assoziation kon-
kretisierte, in den Vereinen der Inneren Mission. Kirche und Staat waren vereint
in der Aufgabe, dem materiellen und inneren Pauperismus als der Gestalt einer
massenkaftenSünde entgegenzutreten. Die Denkschrift hatte den doppelten Zweck,
einerseits der Inneren Mission zu ihrem allgemeinen Bewußtsein zu verhelfen,
andererseits ihre Gestaltung in dem sich überschneidenden institutionellen Zu-
ständigkeitsgeflecht von Staat und Kirche zu rechtfertigen. Beide Absichten waren
charakteristisch für die Konfliktlage, der sich die christlich-soziale Begriffsbildung
ausgesetzt sah. Im Stile der Programmschrift suchte Wiehern die verstreuten
Unternehmungen der christlichen Liebeswerke in eine weltgeschichtliche Sendung
zu überführen, um so ihr gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Das war die Frucht
der Einsicht, daß auch der Kommunismus zur Idee der Arbeiter nur geworden war
durch systematische Lenkung und Taktik. Die christlich-soziale Bewegung mußte
aus dem unbewußten ins bewußte Stadium überführt werden147 • In der Gestaltung
aber war sich Wiehern des möglichen Konflikts mit den legitimen Institutionen des

iu J. H. WICHERN, Der Patriotismus, SW Bd. 1 (1962), 91.


1 " KAm. MABx, Der „Kommunismus" des „Rheinischen Beobachters" (1847), MEW

Bd. 4 (1964), 200~


145 WICHERN, Der Standpunkt der innern Mission (1848), SW Bd. 1, 114. 115.

ue Ders., Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die
deutsche Nation (1849), SW Bd. 1, 271.
u 7 Ders., Der Kommunismus und die Hilfe gegen ihn (1848), ebd., 135 f.

809
Christentum V. 2. Die christlieh soziale Bewegung
0

Staates und der Kirche bewußt, deren Sorge gegenüber dem neuen Prinzip der
Assoziation er durchgehend zu beschwichtigen suchte. Er tat das, indem er das
Ziel der Wiederherstellung angab, als eine Zukunft der Normalität, die die Selbst-
aufwsung der Inneren Mission zugunsten der Ordnung der Kirche in ihrem Ver-
hältnis zum Staat bringen sollte148 • Erst auf diesem Hintergrund wird verständlich,
warum die christlich-soziale Idee jene Allgemeinheit nicht erlangen konnte, diei
Wiehern vor Augen stand. Sie war der Begriff eines kirchlichen Ausnahmezustandes
geworden, 'der außerordentliche Aktion verlangte und damit auf seine eigene Über-
windung und Aufhebung drängte. Je mehr dieser Ausnahmezustand durch den
drastisch erkannten Gegner bedingt erschien, um so weniger konnte er für die Kräfte
der Normalität attraktiv sein. Der konservative Lutheraner VILMAR sah denn auch
die socialen Neuerungen der Gegenwa'f't ... teils als Prüfungen, teils als Versuchungen
für die .Kirche an1411• Zwar dürfe es nicht für unmöglich erklii'f't werden, auch die neuen
gesellschaftlichen Verhältnisse wie die „Assoziation" mit einem chrisaichen Geist
zu erfüllen, was aber bei weitem schwieriger sei als alle sonstigen Aufgaben der Kir-
che, die deswegen nicht vernachläeeigt werden dürften. Die veränderte und ver-
ändernde christlich-soziale Praxis zielte letztlich auf die Wiederherstellung eines
Zustandes, dessen Zerstörung eine solche Aktion erst nötig machte: sie war darum
efu.e Aktion der Bewahrung. Diese Zielsetzung aber trat der geforderten Praxis in
den Weg, weil diese nur vorübergehend war und sich das theoretische Fundament
versagen mußte, deeeen sie bedurfte. Die Widersprüchlichkeit wurde deutlich, als
Wiehern, der selbst die Assoziation als die gesellschaftliche Form der christlich-
eozialen Idee formuliert hatte, doch den Gegensatz von Gesellschaft und Gemeinschaft
feststellte, wobei die Ge~ellschaft diejenige war, die aus lauter solchen einzelnen besteht,
die sich nur zufällig und vorübergehend zusammenfinden, die Gemeinschaft aber
substantiell gedacht war, wo einer Glied am Ganzen sei und die allein im christlichen
Sinn liege160• Das Verständnis des Gesellschaftlichen als vorübergehendes Moment
hat der christlich-sozialen Praxis einen Makel im kirchlichen Bewußtsein vermacht,
der eich mit dem Gefühl verband, es hier mit einer Praxis zu tun zu haben, die von
einer unchristlich gewordenen Zeit der Kirche aufgedrängt wurde und ihrem Selbst-
verständnis widersprach. Die negative Genealogie der eozialenFrage, in die auch die
Aufklärung und ihre theologischen Folgen einbezogen waren, mußte eo den christ-
lichen Appell mindern und ließ als Subjekt dieses christlichen Sozialismus nur die
Kirche übrig. Als kirchliches Werk hat denn auch die von Wiehern machtvoll ge-
schürte Bewegung ihren geschichtlichen Weg genomin.en.

ua Ders., Denkschrift, SW Bd. 1, 189.


u 9 A. F. C. VILMAR, Das geistliche Amt und die socialen Neuerungen der Gegenwart
(1864), in: ders., Kirche und Welt oder die Aufgabe des geistlichen Amtes in unserer Zeit,
Ges. past-0ral-theol. Aufs., Bd. 1 (Gütersloh 1872), 88 ff. 92. Vilmar sagt denn auch: Das
Zeitalter der Demokratie wird ll8 nicht dahin bringen, Demokratie und rechtgläubigll8 Chr'8ten-
tum in eina zu schieben; Die christliche Kirche in ihrem Verhältnis zu Demokratie und
Monarchie (1859), Kirche und Welt, Bd. 1, 56.
uo WIOHERN, Die Mitarbeit der Kirche an den sozialen Aufgaben der Gegenwart (1871),
SW Bd. 3/2 (1969). 200 f.

810
V. 3. Von 'ebrisdicb sozial' zu 'national 11ozial'
0 0 Cbri11lllntum

3. Von 'christlich·sozial' zu 'national-sozial'


Unmittelbar parteipolitische Konsequenzen zog AnoLF STÖCKER161 unter dem
Eindruck des sich verschärfenden religionspolitischen Kampfes ·mit der Sozial-
demokratie. Die Formel christlich-sozial wurde zum Parteinamen für die 1878 ge-
gründete „christlich-soziale Arbeiterpartei". In deren Grundsätzen wurde die
Sozialdemokratie als unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch verworfen162 • Das
Motiv der Wiedergewinnung sprach sich aus in dem Willen, der Partei der V M-
führung eine Parrei der Rettung entgegenzust,ellen163• Als Partei verließ die Bewegung
den institutionellen Rahmen der Kirche, um ihre Funktion für die kirchliche Auf-
gabe besser wahrnehmen zu können. Sie wollte aber letztlich den Geistlichen dazu
bringen, eine popul,äre Exist.enz zu erringen .zur Wiede~gewinnung der Arbeiter.
Christlich-sozial war bei Stöcker mit einem gesunden Sozialismus und der Gelrend-
machung der christlichen Weltanschauung im öffemlichen Leben verbunden. So
konnte sich der Kampf auch einem anderen Gegner zuwenden, dem Judentum, das
jenen ökonomischen Liberalismus repräsentierte, der außerhalb der nationalen und
konservativen Verbindlichkeit des Christentums stand und die evolutionäre Ver-
besserung der Verhältnisse hemme. Von den institutionellen Repräsentanten der
eigenen weltanschaulichen Position erst zögernd unterstützt, dann verleugnet, hat
Stöcker sich auch nicht mit dem von ihm selbst mit gegründeten „Evangelisch-
Sozialen Kongreß" verständigen können, sobald dieser eine die Gegensätze über-
brückende liberale Tendenz verfolgte, und schließlich mit dem „Kirchlich-Sozialen
Kongreß" (1896) eine begriffliche Variante beigesteuert, die das Ende seiner all-
gemeinen Wirksamkeit definierte. Der „Evangelisch-Soziale Kongreß" entwickelte
sich, vor allem nach Ausscheiden der konservativen Fraktion, zu einem Forum,
auf dem unter dem Leitgedanken der sozialen Frage sich jener allgemeine Begriff
des Christentums wieder Geltung verschaffte, der in den religiös-politischen Aus-
einandersetzungen auf seine kirchlich-konservative Fassung reduziert gewesen
war1 54. So war dieser Kongreß .auch nicht mehr Bewegung, sondern Institution
liberal-akademischen Zuschnitts, die statt weltgeschichtlich-weltanschaulicher
Gegensätze nüchterne Fragen der gesellschaftlichen Praxis zum Thema erhob.
Charakteristisch war dabei u. a., daß im Verhältnis zum Sozialismus hier zum ersten
Mal das Mittel einer Arbeiterbefragung eingesetzt wurde. Diese Enquete166 diente
als Instrument einer religionspolitischen Verständigung, um jenseits der getrennten
Ideologien eine Gemeinsamkeit des Lebens formulierbar zu machen, die auch
dort noch Christentum zu entdecken ermöglichte, wo die zu Parteien geronnenen
Standpunkte das nicht mehr zuzulassen schienen. Wo der Begriff 'Christentum'
als Idee seine Allgemeinverbindlichkeit nicht mehr behaupten konnte, entstand das
Interesse an seiner tatsächlichen Repräsentanz.

151A. STÖCKER, Christlich-Sozial, Reden u. Aufs., 2. Aufl. (Berlin 1890).


lU Ebd., 20.
ua Ebd., XXXVII f., LII.
1H Besonders instruktiv JOHANNES RATH.TE, Die Welt des freien Protestantismus (Stutt-
gart 1952).
UG MARTIN RADE, Die sittlich-religiöse Gedankenwelt unserer Industriearbeiter, in: Verh.
d. 9. Ev.-sozialen Kongresses 1898 (Göttingen 1898), 66 ff.

811
Christentum VI. Ausblick

Die begriffliche Unsicherheit hinsichtlich der christlichen Praxis, die die zweite
Hälfte des 19. Jahrhunderts gebracht hat, spiegelte sich in dem Übergang FRmn-
RICH NAUMANNS von der Formel „christlich-sozial" zu einer De:finition156, die sich an
die Spitze der Entwicklung zu setzen suchte und dem Christlichen nicht die Funktion
des erhaltenden Dammes, sondern der kommenden Gestaltung zuwies. Die Christ-
lich-Sozialen sollten nicht die Zweige am konservativen Baum sein, sondern ständen
für ein neues Bewußtsein. Die christlich-soziale Zeit kommt erst nach der sozial-
demokratischen Zeit und die christlich-soziale Satzbil.dung habe erst begonnen. Doch
die von der konservativen Fassung übernommene normative Wesensbestimmung,
die einen einseitig überlegenen Gehalt formulierte, bewirkte bei dem, der sich von
der alten Ordnung zu emanzipieren suchte, daß er die Normativität des Christen-
tums allein in seiner Anfangsgestalt, dem Jesus der Zeit Palästinas sehen konnte.
Stand die Gegenwart aber unter den Forderungen einer Gesamtpolitik (Weber),
in die auch das Soziale eingeordnet werden mußte, dann wurde diese Gesamtheit
von Christentum nicht mehr erreicht. Die neue Formel wurde darum manifest
in der Gründung des „National-Sozialen Vereins" (1897).

VI. Ausblick
Das dem allgemeinen Begriff des 'Christentums' zugehörige Begriffsfeld wurde
unter den Wirkungen der radikalen religionsfeindlichen wie der auf sie reagierenden
konservativen· Bewegung in seiner aktuellen Bedeutung zersplittert in parteiähn-
liche Standpunkte. In der bürgerlichen Bildungswelt wurde die Distanz zum ge-
schichtlich gewordenen Christentum durch die Kritik NIETZSCHES beeinflußt, die
ihre Emanzipation als eine vom Christentum überhaupt aussprach. Hier stellte
die Freiheit ihre Stärke gegen die Geburt des Christentums aus dem Geiste des Ressenti-
ment167 gegen ein Christentum, in dem die Instinkte U nterworfner und Unterdrückter
in den Vordergrund treten. Nietzsche sah in der Empfind,ung für das Christentum
das Kriterium dafür, ob jemand, zu uns gehiYrt oder nicht ... : Steht er irgend,wie
and,ers zu ihm als kritisch, so gehörte er nicht auf die Seite der Emanzipation168•
Wo das Christentum für die gegenwärtigen Verhältnisse in Anspruch genommen
wurde, war die Aufklärung verschleiert und regierte die Heuchelei: Man fordert
ein Deutschtum aus reichspolitischer Besorgnis und ein Christentum a'lls sozialer
Angst, in der die Nation ihr Gesicht in deutsch- und christentümelnd,e Falten Zegt169•
Die Kritik richtete sich gegen jede öffentliche Geltung des Christentums. Das
Christentum ist möglich als privateste Daseinsform; es setzte eine unpolitische Gesell-
schaft voraus. Ein „christlicher" Staat, eine „christliche Politik", dagegen ist eine

1 66 NAUMANN, Christlich-Sozial (1894), Werke, Bd. 1 (1964), 343.


157 FRIEDRICH NmTZSCHE, Einleitung zur Genealogie der Moral, Werke, Bd. 2(1955),1143.
1180: das Christentum ist die anUarische ReUgion par excellence, weil es gegen jede Moral
der Züchtmtg, der Ra.ase, des Privilegiums steht; Götzen-Dämmerung, ebd„ 982.
168 Ders.,Menschliches, Allzumenschliches, Werke,Bd. l (1954),947. ImmernochistesdieZeit

der einzelnen, es bedarf erst der tTberwindung der Ketten-Krankheit. Das .Christentum ist
daran zugrunde gegangen, daß es zu zeitig die Befreiung von den Ketten auf sein Banner
schrieb; ebd„ 1006.
ue Ebd„ Bd. 1, 843.

812
VI. Ausblick Christentum

Schamlosigkeit, eine Lüge160. Bei Nietzsche wurde die Unterscheidung von Christen-
tum und Kirche überboten durch eine neue, radikalere, indem das wahre Christen-
tum. des Ursprungs und die Wclt des Christentums prinzipiell getrennt wurden.
Das Wort 'Christentum' schon sei ein Mißverständnis -, im Grunde gah es nur einen
Christen, und der starb am Kreuz ... Das Christentum ist etwas Grondverschiedenes von
dem gewQ'fden, was sein Stifter tat und wollte1 61 • Die historische Differenz zum .Anfang
des Christentums sollte als radikale und unüberbrückbare namhaft gemacht wer-
den. Damit wurde der Prozeß der Aufklärung, wie er sich in der Begriffsgeschichte
spiegelt, noch einmal eröffnet. Das war schon die Tendenz der Christentumskritik
KIERKEGAARDs162• In der „Christenheit" sind alle Christen; wenn alle Christen sind,
dann ist eben damit das Christentum des Neuen Testaments nicht mehr da, ia es ist
unm/Jglick. Die Versuche, auf dem Boden der neuzeitlichen Welt jene Differenzie-
rung der christlichen Überlieferung zu formulieren, die das Christentum als gegen-
wärtige Welt begreifen läßt, kamen zu einem Ende, an ifom - die Orthodoxie
noch überbietend - der Gegensatz des wahren Christentums zu seiner Gegenwart
radikal behauptet wurde. Noch in der Kritik aber sprach sich die Einsicht aus, daß
der Begriff des 'Christentums' nicht eine einzelne, bestimmte gegenwärtige Position
zu bezeichnen geeignet war.
Die allgemeine Struktur des Begriffs wird nur dort formulierbar, wo er von un-
mittelbaren politischen, sozialen oder religionspolitischen Absichten freigesetzt
wird. Nur als literarisches Ereignis konnte HARNACKS Wesen des Ckristentums1 88
der christlichen Bildungswelt noch einmal das Bewußtsein jener Allgemeinheit des
Begriffs vermitteln, mit dem die deutsche Aufklärung angetreten war. In der die
gesamte Christentumsgeschichte erfassenden historischen Dimension des Werkes
von ERNST TROELTSCH trat die Weite des Begriffs erneut hervor, jetzt aber nicht
thetisch als Position, wie in den klassischen Zeiten des liberalen Begriffs 'Christen-
tum', sondern in jener kritischen Analyse16', die die Einsicht in die wechselnden
Gehalte verband mit der Kraft einer solchen Vergegenwärtigung, die dem Recht der
Gegenwart den Vortritt ließ vor allen normativen Festlegungen der Tradition.
Ernst Troeltsch relativierte die Selbstverständlichkeit, mit der ein überlegenes
soziales Prinzip des Christentums allen anderen Gestalten der modernen Gesell-
schaft übergeordnet wurde durch die Definition seiner verschiedenen Typen, aber
auch durch das Aussprechen ihrer Gegenwartsschwäche165• Das Fazit der Sozial-
lehren· war die Einsicht in die problematische Lage aUer christlich-sozialen Arbeit,

260 Ebd., Bd. 3 (1956), 588 (Nachlaß).


161 Ders., Der Antichrist (1888), ebd., Bd. 2, 1200; Bd. 3, 652. Vgl. dazu auch Nietzsches
Beziehungen zu FRANZ ÜVERBECK und dessen: Über die Christlichkeit unserer heutigen
Theologie, 2. Aufl. (Leipzig 1903; Ndr. Darmstadt 1963).
ie11 SöREN KlERKEGAARD, Der Augenblick, GW Bd. 34 (Düsseldorf, Köln 1959), 167 u.
passim.
168 Anor.F HARNAOK, Das Wesen des Christentums (Leipzig 1900 u. ö.).
164 'l'RoELTSCHS Antwort auf Harnacks Vorlesungen war denn auch eine kritiHche .Anu.ly1:1e

des Themas: Was heißt Wesen cle11 Chr.istentwns ?, Ges. Sehr., Dd. 2 (Tübingen 1913), 186ff.
16 5 Ders., Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Ges. Sehr., Bd. l (Tü-
bingen 1912), 985. Das umfangreiche Werk war entstanden als Kritik an dem naiven nor-
mativen Bewußtsein der evangelisch-sozialen Bewegung, wie es vertreten wurde von MARTIN
v. NATHUSIUS, Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der soZia.Ien Frage (Leipzig 1895).

813
Christentum

wo sie noch nicht das Niveau der Gegenwart erreichte. Soll es eine christlich-soziale
Bemeisterung der Lage geben, so werden hier neue Ge,danken nötig, eine lebendig-
gegenwärtige Neugestaltung. Unter veränderten und sicher erschwerten Bedingun-
gen versuchte Troeltsch eine solche Verständigung über den Begriff 'Christentum',
die zugleich eine über die Gegenwart überhaupt ist. Dabei traten die :für den nur
kirchlichen Begriff des Christentums kennzeichnenden scharfen Konturen zurück.
Der Begriff wurde vielmehr nur indirekt für die soziale und politische Sphäre ins
Spiel gebracht. So sah Troeltsch das Verhältnis von politischer Ethik unil Ohristen-
tum166 durch zwei Tendenzen des Christentums bestimmt, das Christentum als
die Religjon des Personalismus und als Gedanke der Autorifiit; der ethisch begründeten
ÜberO'fdnungs- unil UnterO'fdnungsverhältnisse. Doch waren dies die beiden Begleit-
ge,danken der.zentralen christlichen Idee, darum nur von mittelbarer Verbindlich-
keit. In pol·it·isclum Fwmeln übersetzt heißt das: Das Ohristentum ist demokratisch
unil konservativ zugleich. Gegenwärtige Gültigkeit hatten diese Ideen nur, weil das
politisch-ethische Ideal selbst die Vereinigung des liberal-demokratischen unil des
konservativen Gedankens fwde'ft. In so bescheidenem Anspruch knüpfte Troeltsch
doch an die große Tradition des modernen Christentumsbegri:ffs an und suchte ihn
gleichsam von unten her, aus der Geschichte, neu zu konkretisieren. Die da.raus
folgende Begriffsbildung verließ das Gebiet der dogmatisch-theologischen _wie
kirchlichen Eindeutigkeit und markierte den vorläufigen Schluß der Geschichte
des Begriffs in seiner spezifisch neuzeitlichen Fassung. Die veränderte Situation des
theologischen und kirchlichen Bewußtseins nach dem ersten Weltkrieg negierte
die liberalen Grundlagen des Begriffs, verdrängte ihn weitgehend aus dem Sprach-
gebrauch und überließ ihn damit anderen Einflüssen.
(Abgeschlossen 30. 4. 68.) TRUTZ RENDTORFF

186 TROELTSCH, Politische Ethik und Christentum (Göttingen 1904), 24. 26. 29. 35. 43;
vgl. auch ders., Die Sozialphilosophie des Christentums (Zürich 1922).

814
Exkurs: christlich-sozial

Das langsame Zusammenwachsen beide~ Adjektive zu einem Kopulativkom-


positum spiegelt das spannungsreiche Verhältnis zwischen der alten, vom Christen-
tum noch stark bestimm1;en Gesellschaftsstruktur und der neuen, sich emanzi-
pierenden Welt des Sozialen. In der Französischen Revolution standen sich beide
Begriffe erstmalig gegenüber, während der restaurative Versuch, sie zu verbinden,
ihren Inhaltsunterschied hervortreten ließ. Zwischen Revolution und Restauration
ist der geschichtliche Ort, die neue Wortverbindung zu suchen.
Die nach-revolutionäre Diskussion knüpfte an ältere Traditionen 8.n. Vor allem hat
das naturrechtliche Denken der Scholastik, nach dem die soziale Gerechtigkeit
von der sozialen Liebe (caritas socialis) zwar geschieden, niemals aber getrennt
werden durfte, die Frage nach der christlichen und sozialen Ordnung bis ins
18. Jal!rhundert beeinflußt. Auch im protestantischen Raum war die christliche
Botschaft weithin als soziale Pflichtenlehre verstanden worden. Das 16. und
17. Jahrhundert kannte zahlreiche katholische, lutherische und reformierte Stände-
spiegel und Sozialtheorien (Oldendo~, Alberti, Reinking, Grotius, Althusius), deren
soziale Forderungen im profanen Naturrecht, das .sich zur „sozialen Anthropologie"
(Erik Wolf) eriveiterte, weiterlebten. Bei Pufendorff gingen aus der menschlichen
„socialitas" und „imbecillitas" die sozialen Pflichten hervor. Schließlich wurden
bei Thomasius und Chr. Wolff diese sozialen Pflichten vollkommen in den Dienst
des individuellen Glücksstrebens gestellt. Erst in den revolutionären Bewegungen
der Folgezeit ist die Unzulänglichkeit dieser individualistisch begründeten sozialen
Rechtssphäre erkannt worden. Damit wird die Sprengkraft des Wortes sozial
sichtbar.
In Frankreich deutete sich die politische und die die Gesellschaft umgestaltende
l\iöglichkeit des Begriffs 'sozial' zuerst an. Bei der Zurückdrängung des Wortes
christlich hatten die französischen Moralisten die ethischen Eigenschaften von
„sozial", die den Menschen zum nützlichen Glied der Gesellschaft macht, hervor-
gehoben. Während die Enzyklopädisten „sozial" als etwas, was einer Gesellschaft
zugehört oder in ihrem Namen gemacht ist, definierten, gewann dieser Begriff mit
Rousseaus „Contrat social" von 1762 die politische Bedeutung, die 1789 zum
Durchbruch kam. Obgleich im ersten Stadium der Revolution v1m~chiedene Kreise
- vor allem der „cercle social" - eine Verschmelzung von Christentum und
Gesellschaft propagierten 1, wurde seit 1791 das Wort „christlich" aus dem Wort-
schatz ausgemerzt2 • Im Wörterbuch der Französischen Revolution wurde es
gestrichen; unter dem Stichwort „societe" stand nur vermerkt, daß die alten, d. h.
christlichen Institutionen zur Verbesserung des menschlichen Loses gescheitert

1 HANS MAIER, Revolution und Kirche. Studien zur Frühgeschichte der christlichen Demo·
kratie 1789-1901(Freiburg1965), 103 f. 115; ANNETTE KUHN, Die Kirche im Ringen mit
dem Sozialismus 1803-1848 (München 1965).
2 JEAN FRAN90IS DE LAHARPE, Du Fanatisme dans la langue revolutionaire, ou de la

persecution sucitee par les barbares du dix-huitieme siecle contre la religion chrCtionne et
ses ministres (Paris 1797).

815
Exk11rs: christlich-sozial

seien3 • Diese radikale a-christliche Spracherneuerung wurde bald durch zahlreiche


philosophische, soziale und religiöse Systeme abgelöst, die christliche mit allgemein-
menschheitlichen Begriffen zu identifizieren suchten. Erst der unter saint-simonisti-
schem Einfluß stehende Tourneil hat unter dem Namen „fussionisme" c'est a dire
la religion de la fusion universelle die Verschmelzung christlicher und sozialer
Termini zum Programm erhoben4 •
In England trat 1848 das Wort „Christian Socialism" auf, das vor allem durch die
aufgeklärte Staatslehre, insbesondere durch die „social philosophy" von Hobbes,
durch die Praxis der „friendly societies" und die französischen Einflüsse vorbereitet
gewesen ist. F. D. MAURICE, der geistige Führer der „Christian Socialists", die
unter diesem Namen von 1848-1854 wirksam gewesen sind, nahm diese Wort-
prägung für sich in Anspruch, die entstanden sei aus Protest gegen unsociaZ
Christians und unchristian Socials 5• Allerdings blieb sowohl wegen der theologischen
Implikationen - Maurice stand im Gegensatz zur englischen Hochkirche - wie
auch aus praktischen Gründen - die Mehrzahl der Arbeiter bekannte sich nicht
zum Christentum - diese Bezeichnung, die von LUDLOW als Ausdruck des Zieles
der Bewegung begrüßt wurde, umstritten. Das von Ludlow redigierte Blatt The
christian Socialist mußte 1852 in a „.Tournai of Association" umbenannt werden.
Der von Maurice abgelehnte bekenntnishafte Klang führte zur Entfremdung der
beiden Freunde und zum Verfall der Bewegung6 • Die englischen Christian Socialists,
getragen vornehmlich von der „Evangelical Movement", und die französischen
christlichen Sozialisten (Lerciux, Lacordaire) und Sozialisten (Fourier, Lechevalier),
haben in der 2. Hälfte des.Jahrhunderts auf Deutschland eingewirkt. Zur gegen-
seitigen Befruchtung hat insbesondere die Freundschaft von John Ludlow mit
V. A. Huber und Lujo Brentano beigetragen. Brentano bezeichnete den „christ-
lichen Sozialismus" bei Ludlow als entscheidend für seine eigene Entwicklung?.
In Deutschland wurde erst seit 1830 in Gelehrten- und Theologiekreisen (Bret-
schneider, Hahn, Hengstenberg, Ullmann u. a.) von christlich und sozial im Sinne
einer neuen Organisation der Gesellschaft oder eines neuen Christentums gespro-
chen. Den theoretischen Vergleich zwischen dem alten Religionssystem und der neuen
Lehre der Vergesellschaftung zog als erster der Generalsuperintendent von Gotha,
Mitglied der Freimaurerloge, KARL GEORG BRETSCHNEIDER in seinem von Lessing
inspirierten Kapitel „Daseyn und Wichtigkeit der Unkirchlichkeit" 8 • Die alte
Religion trug bei ihm noch den Sieg über das neue Christentum davon. Alles aber,
urul 1la.~_ ist wohl das Wichtigste, was die Simonisten durch ih'Te Ein'fi!Jhtungen hervor-

3 Nouveau dictionnaire historique des deputes A l'assemble nationale (Paris 1791).

'GEORGES MA.TORE, Le vocabulaire et la societe sous Louis-Philippe (Genf 1951), 39.


6 Encyclopaedia of Religion and Ethics, ed. JAMES liAsTINGS, vol. 8 (Edinburgh 1915;

Ndr. 1930), 499; ToRBEN ÜHRISTENSEN, Origin and Hist-Ory of Christian Socialism 1848-
1854, Acta. Theologica Danica, Bd. 3 (Aarhus 1962).
8 NEVILLE CHARLES MAsTERMANN, John Malcolm Ludlow. The Builder of Christian So-

cialism (Cambridge 1963).


7 LuJO BRENTANO, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands

(Jena 1931), 47; ders., Die christlich-soziale Bewegung in England (Leipzig 1883).
8 KARL GoTTLIEB BRK'rSCHNEIDER, Über die Unkirchlichkeit dieser Zeit im protestanti-

schen Deutschland (Gotha 1820), 15.

816
E~s: ebristlieh-sozial

bringen wollen, leistet auch das reine Christentum, wenn man es von der vergänglichen
Form, in welcher es die eine oder andere Kirche verfaßt hat, unterscheidet 9 • Bret-
schneider übernahm Saint-Simons Begriff des sozialen Priesters,. der die Verbindung
zwischen Gelehrten und Industriellen herzustellen habe. Mit seiner letztlichen
Ablehnung des Saint-Simonismus als „Jesuitismus" oder als „Mittel zur Beherr-
schung der Gesellschaft" schwand bei ihm die Vokabel „sozial". Obgleich sich
zwischen den Orthodoxen, Pietisten und Rationalisten eine heftige Diskussion zum
Thema „Christentum und Vergesellschaftung" entfachte, entbehrten bei ihnen
beide Begriffe den zu ihrem Zusammenwachsen erforderlichen Bedeutungsgehalt.
Als einer der ersten hat HEINRICH HEINE die Ohren der deutschen Öffentlichkeit
für das Wort „sozial" geöffnet. In seiner „Geschichte der Religion und der Philo-
sophie in Deutschland" (1834) versprach er, die großen Ereignisse allein von ihrer
sozialen Wichtigkeit her zu beleuchten10. 1845 berichtete K. MARX, daß das Publi-
kum mit Heißhunger nach allem greift, was nur das Wort 'sozial' an der Stirne trägt,
weil ein richtiger Takt ihm sagt, welche Geheimnisse der Zukunft in diesem Wörtchen
verborgen liegen 11 • Die Religionskritik des Sozialismus hatte die Reduktion des
Christlichen auf das Jenseits, auf das egoistische, individuelle, die Gesellschaft
atomisierende Heilziel zum Inhalt, wie auch die Gleichsetzung des Christentums mit
der alten ständischen Ordnung und ließ neue Synonyma für „christlich" entstehen;
einerseits individualistisch oder spiritualistisch, andererseits hierarchi.iich, pfäffisch,
knechtisch (Marx, Engels). „Christlich" wurde dabei einseitig vergeistigt oder mit
der bestehenden Gesellschaftsgliederung, d. h. mit der Reaktion identifiziert,
während „sozial" zur Beschreibung eines besseren, humaneren, freieren Zustandes
diente. Dabei blieb die Dialektik zwischen dem „wahren Christentum" und dem
herrschenden Christentum lebendig. ROBERT BLUM sprach von der „christlichen
Partei", welche das Volk als bloße Untertanen betrachtet und den Herrscher zum Volks·
vertreter Gottes auf Erden macht, im Gegensatz zu den „Männern des Evangeliums",
d. h. den Deutschkatholiken, nach denen vernünftige soziale Einrichtungen, öffent-
liches Leben und politische Freiheit des Volkes gerade mit dem Geiste Christi überein-
stimmen und die Verweigerung dieser Güter unchristlich sei1 2 • Erst durch Marx'
geschichtsphilosophische Absage an die frühsozialistisch-utopische Denkweise
reduzierte sich christlich zur historisch-deskriptiven Vokabel und schwand immer
mehr aus dem Mittelpunkt der sozialistischen Diskussion.
Im utopischen Sozialismus wurde der Versuch der Verschmelzung beider Begriffe
unternommen. MOSES HESS bezeichnete die wahrhaft menschliche Gesellschaft als die
Erfüllung all dessen, was uns im Christentum prophetisch und phantastisch in
Aussicht gestellt worden ist13• WEITLING behauptete, er wolle dem Christentum wieder
auf die Beine helfen. Damit will ich einer christlichen kommunistischen Religion auf
die Beine helfen, wenn dem Kommunismus eine solche nötig ist. Dabei diente ihm die

9 Ders., Der Simonismus und das Christentum (Leipzig 1832), 151.


lo HEINE, SW Bd. 4 (o. J.), 163.
11 MARx/ENGELS, Die Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3 (1958).

12 BLUM Bd. 1 (1852), 224.


13 MosEs HEss, Kommunistische Bekenntnisse in Fragen und Antworten, Philos. u. so-
zialistische Schriften 1837-1850, hg. v. Auguste Cornu u. Wolfgang Mönke (Berlin 1961),
368.

52-90385/1 817
Exkurs: ebrietllch.sozial

christliche Urgemeinde als utopischer Vorentwurf11• Hinzu trat das Verlangen nach
einer wissenschaftlichen Begründung des 'Überga:v.gs von einer theologischen zu
einer sozialen Gesellschaftsvorstellung. Nach GRÜN erschien die Theologie in
Deutschland auf dem Maskenball des Lebens, und wenn man ihr am anderen Morgen
die Larve herunterzieht, so steht die soziak Weltanschauung vor uns16 • In diesem z. T.
auch politisch bedingten Versuch der Trennung der Bereiche lebte geistesgeschicht-
lich die idealistische Scheidung von Religion und Sittlichkeit weiter18• Während
Grün der Tarnbezeichnung „christlich" ein baldiges Ableben prophezeite, befürch-
tete BIEDERMANN eine mögliche Usurpierung des soziakn Gedankens durch das
Ohristentum17. Die Deutschkatholiken und protestantischen Lichtfreunde haben
die praktische Nützlichkeit der Wortverbindung erwogen. Aus Furcht vor Zensur
und Polizei schreckten sie vor dem programmatischen Gebrauch von „sozial"
zurück, während sie „christlich" vor allem „der Praxis halber", d. h. der Masse
zuliebe, beibehielten. Die Prägung „christlich-sozialistisch" findet sich bei Kampe,
dem Historiographen der Deutschkatholiken, allerdings nur zur Beschreibung
älterer, religiöser Gemeinschaftsformen18• Für die Begriffsbildung ist bedeutungs-
voll, daß die „freien" Gemeinden ähnlich wie die Junghegelianer zwischen dem
jetzigen Christentum und dem christlichen Geist einer humanen Religion oder einer
sozialistischen Theokratie unterschieden.
Die Drücke zu Baaders Begriffsprägung hat die Romantik geschlagen. Die Frage
nach der Begegnung zwischen Christentum und Gesellschaft19 stand bei Ritter
VON Buss im Vordergrund, als er die Trennung von „sozialen Dogmen" und christ-
licher Lehre durch einen „Gesellschaftsglauben" zu überwinden suchte. Die
romantischen Gesellschaftslehren von Adam Müller, Friedrich Schlegel und Joseph
Görres haben die geistige Atmosphäre mitgeschaffen, die die Wortprägung Baaders
ermöglichte.
In seinem Aufsatz von 1834 „'Über den Evolutionismus und Revolutionismus oder
über die positive und negative Evolution des Lebens überhaupt und des sozialen
Lebens insbesondere", prägte BAADER den Begriff 'christlich-sozial'. Das Ohristlich-
Soziak ist ein geistiges Prinzip, dessen Unterdrückung den revolutionären Zustand
der Gesellschaft notwendigerweise zur Folge hat. Weder politische noch soziale
Maßnahmen im materiellen Sinne, sondern allein die Freisetzung des christlich-
soziakn Prinzips in Gesinnung und. Erkenntnis könnte die Revolution in evo-
lutionäre Bahnen lenken und damit eine gründliche Restauration der Sozietät
herbeiführen 20• Eine Rückkehr zur Gütergemeinschaft der ersten Christen, wie sie

H ERNST BARNIKoL, Weitling der Gefangene und seine „Gerechtigkeit" (Kiel 1929), 121.
15 KARL GRÜN, Theologie und 'Sozialismus, in: Rhein. Jbb. z. gesellschaftlichen Reform
2 (1846), 22.
18 H.uo HOLBORN, Der deutsche Idealismus in sozialgeschichtlicher Beleuchtung, Hist.
Zs. 174 (1952), 359 f.
17 KARL BIEDERMANN, Der praktische Sozialismus, in: ders., Unsere Gegenwart und Zu-
kunft, Bd. 2 (Leipzig 1846), 239. .
18 FERDINAND KAMPE, Das Wesen des Deutschkatholizismus mit besonderer Rücksicht
auf sein Verhältnis zur Politik (Tübingen 1850), 103.
1e Som.E!XR.MACHER, Über die Religion (Berlin 1799).
• 0 FRANZ v. BA.ADER, Gesellschaftslehre, hg. v. Hans Graßl (München 1957), 209.

818
E:dmn1 cbri.tlfoh.eoziaJ

Tappehom in seinem Buche „Die vollkommene Association" (1834) propagierte,


lehnte Baader für die bürgerlichen Verhältnisse ab, obgleich er das industrielle
.Associationsprinzip zur Verbesserung des Zustandes der Proletarier guthieß. Die
Wirkung der schwerfällig formulierten Gedanken Baaders blieb gering.
In seine11 l84:8 im Mainzer Dom gehaltenen .Adventspredigten gebrauchte KETTELER
diesen Begriff nicht, obgleich er die soziale.Not, die Spaltung zwischen Besitund,en
undNichtbesitunden ebenfalls nur dlirch den christlichen Gesinnungswandel für über-
windbar hielt21 • Seine Bejahung der „Christlich-sozialen .Arbeitervereine" und der
„Christlich-sozialen Blätter" zeigt, daß er in den 60er Jahren keine Bedenken gegen
diese inzwischen gängige Begriffsbildung trug._ .Als erster verlangte J. H. WICHERN
auf dem Wittenberger Kirchentag 1848 die „Förderung christlich-sozialer Zwecke".
Wiehern gebrauchte die Worte „christlich-sozial" wie auch „christlicher Sozialis-
mus" im Sinne einer positiven .Antwort auf den Kommunismus, den er als dia-
bolische Nachä~g des Christentums verstand. Es gibt einen christlichen Sozialis-
mus, von dem der französische nur eine Karikatur ist. Dabei war Sozialif!mus positiv
zu verstehen, im Gegensatz zlim Kommunismus, den Wiehern vom Sozialismus
unterschied wie das Zerstören von dem Au/bauen. 'Christlich-sozial' soll mehr aus-
drücken als christlich oder kirchlich. Die innere Mission in ihrem rechten Verstand
ist nicht eine einfache christliche oder kirchliche, sorlÄern eine christlich-soziale A.uf-
gabe22.
Grundsätzliche Bed~nken geg~n die Begriffsbildung finden sich nicht im Katho-
lizismus. FRANZ BRANDT und FRANZ HrrzE unterstützten das Verlangen der
~tglieder der christlich-sozialen Vereine nach einem christlichen Sozialismus, da
das Ohristentum nach seinem ganzen WßSen sozialer Natur sei. Mit der Hinwendung
zur aktiven Sozialpolitik 1890 trat der Begriff aus taktischen Überlegungen zurück,
wenn er auch in diesem Jahr durch die Sozialenzyklika „Rerum novarum" eine
vertiefte naturrechtliche Begründung erfuhr. Die heutige katholische Soziallehre
setzt im wesentlichen diese Tradition fort. Nach NELL-BREUNING geht es bei dem
christlich-sozialen Prinzip nicht entscheidend oder gar allein um die Bestgestaltung
iJe'I' Wirtschaft im Sinne der 'absoluten rationalsten Gütererzeugung', sondern um
menschliche Würde, ... um die Würde des Menschen als Ebenbild Ohristi 23•
In der evangelisch-sozialen Bewegung war das Bindestrichwort immer wieder
umstritten. .Am schärfsten trat die antithetische Betrachtungsweise bei Rudolf
Todt (Dtir railikalti dtiutl!che Sozialismus und die christliche Gesellschaft 1877)
hervor. .Als ÄDOLF STÖCKER 1878 die christlich-soziale .Arbeiterpartei im Sinne Todts
gründete, erklärte er, daß ihm kein Wort bekannt sei, das so geeignet wäre, alle

21 WILH. EMANUEL Flra. v. KETTELER, Die großen sozialen Fragen der Gegenwart (Mainz

1849), 16.
22 WICHERN, sw Bd. 1 (1962), 85.
23 OSWALD v. NELL-BREUNING, Mitbestimmung (Landshut 1950), 67 f.

24 A. STÖCKER, Sozialdemokratisch, Sozialistisch und Christlich-Sozial (1880), in: ders„

Christlich-Sozial, Reden u. Aufs„ 2. Aufl. (Berlin 1890), 227. - Auf einem Wahlplakat
der christlich-sozialen Partei zur Reichstagswahl 1903 hieß es: Katholiken und Proteatan-
ten/ Vereinigt euch in brüderlicher Liehe gegen den Todfeind des Deutschtum11, dsn Juden-
kapitalismus und die aaiatiacke Geldmaral •• „ indem Ihr alle .. . für diejenige Partei eintretet,
'IJcm wcloher daa fremde Pamaitenvolk mit EntschJ,osaenheit und naek Gebühr bekämpft wird;
zit. PETER v. PoLENZ, Geschichte der deutschen Sprache (Berlin 1970), 165 f.

819
Euurs 1 christlioh-sozial

Riitsel der sozialen Fra,ge zu bezeichnen und zu lösen, wie dieses 24• In Stöckers rein
politischem Verständnis des Christlich-Sozialen sah WAGENER eine Verengung
der christlich-sozialen Fra,ge. Nach Wagener soll die christlich-soziale Bewegung,
einschließlich der katholischen und jüdischen Richtungen, nicht als Mittel zum
Zweck der Staatserhaltung, sondern ausschließlich als Selbstzweck verstanden wer-
den. Nicht der falsche Begriff des christlichen Staates, sondern die Kirche soll dem-
nach die Grundlage der christlichen Aktion sein 25• FRmDRICH NAUMANN gab
zunächst auf die von ihm selbst gestellte Frage Was heißt christlich-sozial? die
Antwort: Eine Seelenbewegung, die unmittelbar an das Tun undLebenJesu anknüpfe.
Nicht in christlich-sozialen Programmen, sondern im christlich-sozialen Geist, in
christlicher Bruderliebe, verwirkliche sich das Christlich-soziale. 1892 meint er
noch, die christliclt-soziale Zeit kommt erst nach der sozialderrwkratischen Zeit 26• An
die Stelle des 'Christlich-sozialen' trat für ihn seit 1895 das 'National-soziale'.
KAISER WILHELMS II. Telegramm christlich-sozial ist Unsinn, Stöckers Austritt
aus dem Evangelisch-sozialen.Kongreß zugunsten eines neu gegründeten kirchlich-
sozialen Kongresses und Naumanns Gründung des national-sozialen Kreises - alle
drei Ereignisse im Jahre 1896 - bezeichnen das Ende der alten evangelisch-sozialen
Bewegung, die sich zum Begriff christlich-sozial bekannte.
Die Abwendung Naumanns vom christlich~sozialen Gedanken war charakteristisch
für ilie zwiespältige Haltung zum Christlich-sozialen im evangelischen Christentum.
Naumann sprach damit nicht nur sein Bekenntnis zur nationalen Machtpolitik
aus. Er machte ernst mit der besonders von R. Sohms vertretenen Theologie, die
eine strikte Trennung von Geist und Recht forderte. Als Reaktion auf diese radikale
Trennung von christlicher Botschaft und Weltgestaltung fanden sich seit der
Neuorientierung der Kirche nach 1919 Vertreter einer Synthese. In den 20er Jahren
waren vor allem die Gedanken P. T1LLICHS wirksam, der Christentum und Sozialis-
mus als gegenwartslebendige Geistesströmungen verstand, die sich fO'ftentwickeln und
eins werden in einer neuen Welt- und GesellschaftsO'fdnung 27 • Allerdings hat die
dialektische Theologie von Karl Barth, die alle „synthetischen Lösungen" von
Christentum und Welt verwarf, zu einem weitgehenden Verdikt über'das Binde-
strichwort geführt. Die von den Schweizern Ragaz und Kutter gewählte Bezeich-
nung 'religiös-sozial' erwies sich als kurzlebige Lösung. Die eigentümliche vielfache
Wiederkehr des christlich-sozialen Grundmotivs seit dem Aufkommen des Sozialis-
mus und des säkularisierten Staates sucht WENDLAND 28 mit dem Wesen der
christlichen Liebe zu erhellen, die in Christus selber Person, auch in der Gestalt
christlicher Bruder- und Nächstenliebe eine ewige Dynamis ist, die die Grenzen der
Epochen zu durchschla,gen verma,g und zu immer neuer, geschichtlicher Realisierung
führt.
ANNETTE KunN

16 HERRMANN WAGENER, Die Mängel der christlich-sozialen Bewegung, in: Soziale Zeit-

fragen, Bd. 1 (Minden 1885), 39.


2e NAUMANN, Das Christlich-Sozia.le ist uns Glaubenssache, Werke, Bd. 1 (1964), 309. 343.
27 PAUL Tn.LICH, Christentum und soziale Gestaltung, GW Bd. 2(Stuttgart1962), 21.28.

H HEINZ-DIETRICH WENDLAND, Der Begriff Christlich-sozial. Seine geschichtliche und


theologische Problematik (Köln/Opladen 1962), 35.

820
Demokratie
I. Einleitung: .Antike Grundlagen. II. Überlieferung und Rezeption im Mittelalter. ill.
Auflösung der Tradition in der frühen Neuzeit. 1. Politische Theorie. a) 'Demokratie' als
politeia. b) 'Demokratie' als Entartungsform der politeia. c) Weiterbildung der Theorie.
d) Die Eindeutschung des Wortes 'Demokratie'. 2. Verfassungspraxis. IV. Das Zeitalter
der Französischen Revolution. 1. Öffnung des geschichtspbilosophischen Horizonts:
Wieland, Kant. 2. 'Demokrat'. 3. 'Demokratie' als politisch-sozialer Gruppenbegriff.
4. Die Französische Revolution. V. Die Demokratie als Indikator geschichtlicher Bewegung
(19. Jahrhundert). 1. Verfassungspolitisches Verständnis-. a) Repräsentative Demokratie.
b) Demokratie im Großstaat. c) Demokratie, Aristokratie und Monarchie. 2. Das „demo-
kratische Prinzip". 3. Die Historisierung des Begriffs. a) Rückgriff auf die Polis. b) Rück-
griff auf die „alte deutsche Freiheit". c) Rückgriff auf die protestantische Tradition. 4. Der
Abschied von der .Antike. VI. 'Demokratie' in der modernen Bewegung. 1. „Demokratisches
Prinzip" 11nrl knmrt;it.ntinnr,lJp, Monarchie. a) VerknüpfUDg der Prinzipien: Görres, Rotteck.
b) Scheidung der Prinzipien: Gentz, Schleiermacher, Hegel. 2. Die Situation um 1848.
3. „Soziale Demokratie". 4. Marx und Engels. 5. Zurückdrängung des Demokratiebegriffs.
6. Christliche Demokratie. VII. Ausblick.

I. Einleitung: Antike Gmndlagen


Das Wort ßriµoxecrcla ist seit der späten Mitte des 5. Jahrhunderts bezeugt und
wohl kurz vorher aufgekommen1• Aijµoi;; bedeutet sowohl „alle" (das ganze Volk,
besonders die Volksversammlung) wie „die vielen" (die breite Menge, die regel-
mäßige Mehrheit der Volksversammlung). Es konnte je nach Standpunkt positiv
oder negativ verstanden werden 2 • Daß man abweichend von den älteren Begriffen
µov-aexta und öJ..iy-aexta die Herrschaft des Volkes mit -xeaTia bezeichnete,
hat vielleicht äußerliche Gründe 3 • In Athen und gewiß auch anderswo hat man die
Volksherrschaft vor der Prägung von ßriµoxeaTla (und oft auch nachher, so bei
Aristoteles) ~ijµoi;; genannt4.
Die Unterscheidung von Verfassungen nach dem Kriterium des Herrschafts(lub-
j ekts - und dann gleich von drei Verfassungen - findet sich erstmals in einer um 470
gedichteten Ode P1NDARS: ... in jeder Ordnung (i•oµoi;;), in der: Tyranni'.s, und wenn
das ungestüme Heer [ = (Hopliten-)Bürgerschaft], und wenn die Verständigen der
Stadt 'W<ilum 6• Daß die IIerrschaft in der Polie verschieden verteilt sein konnte,

1 CHRISTIAN MEIER, Drei Bemerkungen zur Vor'. und Frühgeschichte des Begriffs Demo-

kratie, in: Discordia concors, Fschr. EDGAR BoNJOUR, Bd. l (Basel 1968), 5, .Anm. 3. 24.
Zum Gesamtkomplex vgl. ders., Entstehung des Begriffs „Demokratie". Vier Prolegomena
zu einer historischen Theorie (Frankfurtl970}, 7 ff.
2 Vgl. el;>d., 26 f.
3 Ebd., 24. Dazu: daß X(!aTelv einen· anderen Wertakzent gehabt habe als liexew, ist ganz

unwahrscheinlich. In der terminologisch sehr fein nuancierten Ve1-fa1:11:1ungsdebatte bei


Herodot gebrauchen Anhänger wie Gegner liexew für das Volk. .Andererseits verwendet
AISCHYLOS (Hiket. 604. 699) xeaTeiv in diesem Sinne gewiß positiv. Vgl. EURIPIDES,
Kykl. 119. Im übrigen s. MEIER, Entstehung, 45 ff.
"MEIER, Bemerkungen, 18 ff.; derii., Rnt.stehnng, 40.
g Pl:NDAR, Pyth. 2, 86 ff.

821
Demokratie 1. Antike Grundlagen

war natürlich schon lange vorher bekannt. Es ergab sich einfach aus dem Vorhan-
densein der Tyrannis im Unterschied zu der normalen Form des aristokratisch
regierten Gemeinwesens. Im 6. Jahrhundert sind die quantitativ bestimmten
Begriffe µ6vaQxor; und µovaQxla bezeugt; schon bei HoMER begegnet als schlechtes
Gegenbild des „Einen Herrn" die „Vielenherrschaft" (mehrerer Adliger) 6 • Wenn
aber µovaQxla (und TV(!avvlr;) eine besondere Form von Herrschaft (genauer: von
Herrschaftsposition 7 ) bezeichneten und wenn diese den gesamten Zustand einer
Polis bestimmte, so spricht doch Ilichts dafür, daß auch dieser Zustand damals
schon als „Tyrannis" aufgefaßt und benannt worden wäre, oder daß man schon
zwei verschiedene Arten staatlicher Ordnung nach dem Kriterium der Herrschaft
unterschieden hätte. Die Entdeckung, daß Verfass1mgen wesentlich als Herr-
schaft (eines einzelnen, weniger, vieler, aller etc.) zu begreifen seien, wurde
vielmehr erst im 5. Jahrhundert gemacht. Da sie für .die Entstehung des
Begriffs 'Demokratie' wie für die gesamte Verfassungsklassifikation ausschlag-
gebend war, müssen ihre Vorgeschichte und Voraussetzungen hier zunächst dar-
gestellt werden.
Als entscheidendes Kriterium für die Kennzeichnung der Ordnung eines Gemein-
wesens galt in archaischer Zeit daR Recht (vtS1mr;). Die einzige positive Bezeichnung
einer solchen Ordnung, die im 6. Jahrhundert begegnet, ist elwoµla (ganz allgemein
etwa „Wohlordnung") 8 • Das Wort stand damals für das in ganz Griechenland als
verpflichtend angesehene Ideal der alten, auf religiös begründetem v6µor; („Sitte,
Recht, Herkommen") beruhenden „Verfassung". Dabei ging es (entsprechend der
Problematik der Zeit) nicht so sehr darum, daß der v6µor; gut war, wie darum, daß
er wirklich galt. Das Grundmuster eines in bestimmter Weise patriarchalisch ge-
prägten Gemeinwesens war mehr oder weniger vorgegeben. Die Regierung lag -
wie auch immer - fast überall beim Adel. Institutionelle und soziale Unterschiede
waren vorhanden, aber offenbar nicht so stark, daß man von daher verschiedene
Arten staatlicher Ordnung unterscheiden konnte. So kannte eßvoµla als Gegensatz
lange nur ihre Negation: dvavoµla oder dvoµla („widerrechtlicher, ungeordneter
Zustand"). Die zentrale Frage für die Beurteilung und Charakterisierung des Zu-
stands und insofern der Verfassung eines Gemeinwesens war also, wie es um die
Geltung des Rechts bestellt war; und da als Recht überall mehr oder weniger das
gleiche angesehen wurde, gab es nur zwei mögliche Antworten.
Die Frage nach der .Verteilung der Herrschaft war weitgehend darin impliziert,
im übrigen sekundär. Die Tyrannis wird der maßgebenden Adelsschicht zumeist als
Herr- (und Knecht-)schaft und damit als Abweichung von der normalen rechtlichen
Ordnung (die sie nicht als besondere Form von Herrschaft verstehen konnte) er-
schienen sein. Sie rangierte für sie - vermutlich mitsamt schlecht funktionierenden
aristokratisch bestimmten Ordnungen - unter den Dysnomien. Andere mögen sie
als Eunomie aufgefaßt haben, aber es fragt sich, ob diese Auffassung, wenn es sie
denn gegeben hat, je über den Kreis der Anhänger von Tyrannen herausgekommen
ist.
Sofern aber elwoµla als Maß und Ideal das gute alte Recht voraussetzte, hing seine

6 MEIER, Bemerkungen, 9. noJ.v~oi(!aVl1J, HOMER, Ilias 2, 204; ARISTOTELES, Pol. 1292 a 13.
7 Vgl. MEIER, Bemerkungen, 9.
•Zum Folgenden ebd., 5 ff.; Entstehung, 15 ff.

822
1. Antike Grundlagen Demokratie

Verbindlichkeit daran, daß das Verständnis von v6µo, einigermaßen allgemein und
damit objektiv war. Nachdem es jedoph im einzelnen gewiß schon immer ver-
schiedene Auffassungen darüber gegeben hatte, löste sich dieser Maßstab mit zu-
nehmender Differenzierung zwischen Ständen und Gemeinwesen auf. Ein nennens-
werter Wandel scheint allerdings erst um 500 ehigetreten zu sein. Damals wurde
das alte Ideal weithin durch ein neues abgelöst: luovoµla (etwa „Ordnung staats-
bürgerlicher Gleichberechtigung"). Teile des nichtadligen Volkes, zunächst vor-
nehmlich die Bauern, dann häufig auch die untersten Schichten, forderten Gleich-
heit der politischen Rechte ~ nicht unbedingt Zugang zu den Ämtern, aber zu der
mit. wichtigen Funktionen ausgestatteten oder auszustattenden Volksversamm-
lung, dem häufig erst zu konstituierenden Volksgericht und meist wohl auch zum
Rat. '/uovoµla nahm unverkennbar auf si'Jvoµla Bezug, stand aber nicht unbedingt
im Gegensatz dazu, sollte vermutlich das alte Ideal nur modifizieren: breitere Teile
der Bürgerschaft verselbständigten sich politisch und übernahmen um des guten
alten Rechts willen9 Kontrolle über das Gemeinwesen; das Recht sollte gleich sein
nicht nur um der Gleichheit,. sondern auch um des Rechtes willen, das eben durch
die Mehrheit der Bürger (samt vielen Adligen) am besten gewahrt wurde. Immer-
hin antwortete luovoµla auf die Frage, wie die politischen Rechte verteilt seien
oder sein sollten und wurde dann nahezu auswechselbar mit &r]µo"(!aTla 10.
Wie man dann zu der Einsicht kam, daß die neue Ordnung eine „ Volks-Herrschaft",
und dann vor allem: daß sie in erster Linie als Volksherrschaft zu bestimmen sei,
ist nur in Umrissen auszumachen. Ihre Verfechter mögen noch eine Weile geglaubt
haben, sie sei wesentlich dadurch charakterisiert, daß sie das Recht besser sichere.
Ihre institutionelle Garantie sahen sie in der Stellung der Volksversammlung (t5ijµo, ).
Diese wurde in Athen unter den Schutz besonderer Bestimmungen gestellt (so daß
sich, je umfassender die Bedingungen der neuen Ordnung verstanden wurden, dieses
Verständnis mit der Zeit auf das Wort '5ijµo, übertragen konnte, bis dieses endlich
die Bedeutung „Volksherrschaft" annahm) 11 • Früh wurde aber auch bewußt und
stolz herausgestellt, daß hier der '5ijµo, herrschte 12 , mit EuRIPIDEs' Worten: Die
Stadt ist frei, das Volk regiert 13 • Dabei wurde zumeist - auch in der Geschichts-
schreibU.ng - der Gegensatz zur Tyrannis in einer Weise betont, daß es scheint,
als· hätte es außer luovoµla bzw. &r]µo"(!aTla und Tyrannis nichts Drittes gegeben.
Das kann nicht heißen, daß alle nicht tyrannischen Ordnungen für „isonom" oder
„demokratisch" gehalten wurden, sondern nur, daß man in Athen und anderswo
zumal die Tyrannis als Gegenbild 11.rnui.11 (und enge Adelsherrschaften dagegen ver-
nachlässigte). Von der Volksherrschaft aus gesehen war der wesentliche Gegensatz
jedenfalls: „isonom" oder „nicht-isonom" 14• In den Isonomien bildete die Bürger-
schaft im ganzen oder in einem irgend beträchtlichen Teil die oberste politische

9 Vgl. dazu bes. HERODOT 3, 80, 5--6.


10 GREGORY V~ros,. 'Juovoµla :noÄtn"~' in: Isonomia. Studien zur Gleichheitsvor-
stellung im griechischen Denken, hg. v. JÜltGEN MAu u. ERNST GÜNTHER ScmDDT (Berlin
1964), 1 ff.
11 MEIER, Bemerkungen, 20 ff.; Entstehung, 40.
18 Erstmals bei AlsCHYLos, Hiket. 604. 699 (vermutlich 464) bezeugt.
1a EURIPIDES, Hiket. 405 f.
u MEIER, Entstehung, 40 ff.

823
Demokratie I. Antike Grundlagen

Instanz. Dort war die Stadt also amo"ediwe lav-rijr; (Herr ihrer selbst)l6. Dabei
spielte es eine besondere Rolle, daß man - erstmals in der Weltgeschichte - über-
zeugt war, in dieser Ordnung institutionelle Garantien für das Recht zu besitzen,
während vorher und anderswo fast alles auf den Charakter der Regierenden an-
kam18. Ein Gegensatz zu den Adligen und deren Anschauungen scheint nicht
bestanden zu haben (abgesehen von der Ablehnung besonders selbstherrlicher
Kreise und ihrer Regierung).
Im allgemeinen Bewußtsein der sich als einzige rechtliche Möglichkeit·setzenden
laovoµla = &jµo"ea-rla unterschied man mithin - wie zur Zeit des eiwoµta-
ldeals - wesentlich nur zwei Arten staatlicher Ordnung. Das Herrschen des ßijµor;
erschien als einzig legitime Form der Herrschaft: diese Ordnung bringe alle Ent-
.~cheidwngen vor die Allgemeinheit ... Denn in der Gesamtheit ist alles drinl7. Wie
staatsbürgerliche Gleichheit als Recht gegen Willkür stand, stand die Herrschaft
des ßijµor; als Freiheit gegen die Gewaltherrschaft von Tyrannen und engen Oli-
garchien. Insofern waren laovoµla und &jµo"ea-rla ungefähr deckungsgleich, wenn
auch laovoµla wesentlich nicht eine spezifische Verfassung bezeichnete, sondern
primär ein Maß, an dem Verfassungen gemessen werden konnten18. Aber die
Demokratie erfüllte eben dieses Maß.
Anders stellten sich die Dinge den Anhängern der alten aristokratischen Formen
dar: dort fand man sich in der Mitte zwischen Demokratie und Monarchie. Die
Einteilung in drei Verfassungen drängte sich geradezu aufl9 • So ist es vielleicht kein
Zufall, daß sie zuerst bei Pindar begegnet. Ebenso mußte die Verfassungstheorie,
die um die Mitte des 5. Jahrhunderts aufkam, sich dieser Dreiheit bewußt werden20 •
Der Adel verstand seine eigene Herrschaft als legitim, die des Volkes (seiner Auf-
fassung von ßijµor; entsprechend) im Sinne von „Pöbelregime". Mit dem Ausdruck
ßnµouea-rla konnte er sich also identifizieren, der konnte ihm als Entlarvung
von laovoµla dienen (wie um.gekehrt seine Gegner eövoµla als oJ.iyaexta ent-
larvten). Wo jedoch der Begriff ßnµo"ea-rla gebildet worden ist, ist nicht auszu-
machen.
Zuspitzung und wesentlich neues, tieferes Verständnis erfuhr der Begriff ß11µo"ea,-rla
dann um die Mitte des 5. Jahrhunderts. Damals hatte sich in Athen eine neue Form
spe.zifisch demokratischer Politik herausgebildet, die teilweise durch den Gegensatz

16 TnuxYDIDES 3, 62, 4.
16 HERODOT 3, 80, 6 mit GREGORY VLAsTos, Isonomia, American Journal of Philol. 74
(1953), 358. Besonders ist die Rechenschaftspfl.icht der Beamten zu erwähnen; vgl. JAKOB
A. 0. LARBEN, Kleisthenes and the Development of the Theory of Democracy at Athens,
in: Essays in Political Theory, Presented to G. H. Sabine, ed. M. R. KoNVITz, A. E.
MURPHY (Ithaka 1948), 7. 9. ff.
1 7 HERODOT 3, 80, 6. Einmal spricht er auch von lao"ea-rla, etwa: „Gleichverteiltheit der
Herrschaft" (5, 92, 1). Für noJ.J.6v = „Gesamtheit" vgl. MEIER, Bemerkungen, 25 ff. zu
dem entsprechenden nJ.ijbo,.
1s VLASTOS, 'laovoµla noJ.in"?], 9.
19 Wenngleich ·natürlich nach wie vor die Möglichkeit bestand, nach eiwoµla und dvoµla
bzw. jetzt: "a"ovoµla zu unterscheiden; MEIER, Bemerkungen, 12, Anm. 37. So noch
Ps.XENOPHON, Ath. Pol. 1, 8.
20 Erstmals in der Verfassungsdebatte HERODOTS (3, 80 ff.) bezeugt.

824
1. Antike Grundlagen Demokratie

zum oligarchischen Sparta, insgesamt durch eine Durchbrechung alter. gemein-


griechischer Normen bestimmt war. Diese Politik wurde ermöglicht durch die
konsequente Beteiligung der untersten Schichten am Gemeinwesen und seinen
Geschäften. In ihrer Folge begannen sich in Athen und zahlreichen von dort be-
einflußten nokii; zwei Lager relativ ausgeprägt gegeneinander abzusetzen 21 • Mitt-
lere Schichten (zumal vom Lande) brachten sich kaum zur Geltung. Im Innern der
breiten Mehrheit des Volkes konnten sich aus Gründen der intellektuellen Beschaf-
fenheit des einfachen Bürgers, der staatlichen Organisation und des, Fehlens ent-
sprechender Kristallisationspunkte innerhalb der politischen Thematik praktisch
keine Unterschiede der Meinung und Einstellung ergeben. „Das Volk" pflegte aufs
Ganze gesehen wie ein Block zu reagieren 22 , und es hatte sich ·eben mit einer
bestimmten Politik identifiziert. Das bedeutete aber, daß die Adligen, sofern sie
eine ihren Normen, Auffassungen und Verbindungen entsprechende Politik durch-
setzen wollten, in den meisten Demokratien regelmäßig und notwendig unterlagen.
Demokratische Verfassungsform und die Verfolgung einer bestimmten Politik fielen
zumeist zusammen. Eine Änderung der politischen Richtung setzte - bei der engen
Verquickung von Innen- und Außenpolitik - vielfach eine Verfassungsänderung
voraus (oder bestand in ihr) 23 • Die Feindschaft zwischen den Ständen war bezeich-
nenderweise oft so stark (oder der staatliche Zusammenhang so schwach), daß man
sich selbst im Kriege den Gleichgesinnten in anderen Städten enger verbunden
fühlte als den Gegnern in der eigenen.
Die Konsequenzen aus diesen Veränderungen finden sich für uns erstmals in dem
um 430 geschriebenen Pamphlet eines attischen Adligen (PsEUDO-X:ENOPHON).
Danach war die attische Demokratie die Herrschaft des niederen Volkes. Dieses
galt als arm, unwissend und ungezügelt, seine Politik war schlecht, aber sie ent-
sprach seinen Interessen H. Lieber war es ihm, den „ Volksmännern" ( b7]µonxol 26)
zu folgen, deren Ratschläge aus Unwissenheit, Schlechtigkeit und Wohlgesinntheit
resultierten, als den durch Tugend, Verstand und ihm feindliche Gesinnung be-
stimmten „Guten und Nützlichen" 26 •
Ps. Xenophon sah also eine grundsätzliche, tiefe Spaltung zwischen Adel und Volk.
Die Interessen, die Meinungen, die gesamte Politik der beiden Gruppen waren
gegensätzlich, unvereinbar. Entsprechend konnte die Demokratie nicht irgend
wesentlich verbessert werden, sondern nur bestehen bleiben oder fallen 27 • Aus
relativ weitem Abstand begriff das Pamphlet damit den politischen Gehalt als
hmmnc1ere11 MP.rkmal dP.r att.iimhP.n DP.mokratiP.. WaR damit polP.miRr.h fiir Atlien
festgestellt wurde, fand seinen allgemeinen Ausdruck dann in der Staatstheorie des
ARISTOTELES. Dieser schrieb nämlich, die Tatsache, daß in der Demokratie die

21 Vgl. Ps.XENOPHON 1, 5 f .. 8 f.; 3, 10; THUKYDIDES 3, 82.


22 So schon HERODOT 3, 82, 4; ARlsTOTELES, Pol. 1302 a 8 u. ö.
13 Dem entsprach eine geradezu unwahrscheinlich anmutende Fülle von Verfassungs-
um11tlürzen.
u Ps.XENOPHON 1, 1 ff.
26 Der Ausdruck &Jµoxeanxoi; begegnet erst bei LYSIAB 25, 8: keiner ist es von Natur,
sondern so, wie es jedem frommt, strebt er eine Verfassung an.
ss Ps.XKNOPHON 1, 7.
27 Ebd. 3, 9.

825
Demokratie L Antike Grundlagen

vielen (und in der Oligarchie die wenigen) die oberste Gewalt in Händen hätten,
sei akzidentiell. Der eigentliche Unterschied zwischen den Herrschaftsinhabern
·bestehe zwischen Arm und Reich 28 . An· anderer Stelle führten ihn differenziertere
Erwägungen zu dem Schluß, Demokratie sei gegeben, wenn die Freien und Armen,
in der Mehrzahl befindlich, die oberste Staatsgewalt besitzen 29• Damals war die
politische Problematik freilich schon mehr ins Wirtschaftliche transponiert, wo-
durch der partielle Ausfall übergreifender außenpolitischer Gegensätze im Sinne
einer Erhaltung der Stände- bzw. jetzt mehr Klassengegensätze kompensiert
wurde.
Indem man aber den grundsätzlichen und wohlbegründeten Interessenunterschied
zwischen Adel und breiter Menge erkannte, entstand ein umfassenderer, politisch
bestimmter Verfassungsbegriff. Solange das Volk nur als unwissend und ungezügelt
galt 30, blieb im ganzen die Möglichkeit, es zu lenken. Nun fand man (bzw. kam zu
OP.T ATIRir.ht), rlaß nir.ht nnr rliP. TnRtitntionP.n, nie Voraussetzungen de!I Bürgene.chts
und auch nicht nur die Politik, sondern die Art des Denkens, des Lebens, der
Bürgertugend und der Gesetze in den verschiedenen Ordnungen verschieden seien81 •
So durchdringend schien die Verteilung der Herrschaft das ganze Gemeinwesen zu
bestimmen. Seitdem erhielt die Frage, wer Aktivbürger war, eine neue Bedeutung:
sie entschied vielfach, in welchem Sinne regiert und gelebt wurde. Die Abstufung
und Auadehullllg Je1:1 BürgerreuhL1:1 (:iwÄmla) er1:1uhien al1:1 die entl:lcbeidende Be-
stimmung der politischen Ordnungen.
So kam es, daß man die Verfassungen nicht mehr so sehr nach den Institutionen
bzw. der Herrschaft eines Einzelnen, Weniger oder des Mjµor;, sondern nach dem
Gesichtspunkt der Identifikation verstand. Demokratie erschien als „Bürgerschaft"
(:rioÄ1Tela) und „Politenstaat" (im Gegensatz etwa zur „Machthaberschaft", &va-
cnela). Der Begriff :rioÄmla hatte - und behielt - einen normativen Gehalt,
wurde aber bald darauf zur Bezeichnung politischer Ordnung überhaupt formali-
siert32. Es ist nicht nur eine Ironie, daß er aufkam, als man stärker zwischen dem
Wohl der Stadt (= „Bürgerschaft", :rioÄiula) und dem der herrschenden Schicht
( = „Aktivbürgerschaft", :rioÄ1Tela) unterscheiden lernteaa.
Mit der wesentlich politischen Bestimmung der „Bürgerschaften" (=Verfassungen),
d. h. der neuen Art politischer Gegensätze, entstand ungefähr gleichzeitig eine neue
Aufteilung politischer Ordnungen: verschiedene, die bis dahin als Demokratien

2~ ARISTOTELES, !'o!. 1279 b 11 ff.


2e Ebd. 1290 b 17.
30 GusTAV GROSSMANN, Politische Schlagwörter aus der Zeit des PeloponnesischenKrieges

(phil. Dies. Basel 1945; Zürich 1950), 79 f.; ANTON MEDER, Der athenische Demos zur Zeit
des Peloponnesischen Krieges im Lichte der zeitgenössischen Quellen (phil. Diss. München
1938), 102 ff„ bes. 106. f.
31 Vgl. außer Ps.Xenophon bes. TmrxYDIDES 2, 36. ff. und zu den Gesetzen: Thrasymachos

bei PLATON, Pol. 338 d ff.; vgl. ders„ Nom. 714 b. Die Entdeckung der Verschiedenheit der
jeweiligen 710µ01 ist alt; HERODOT 3, 38. Jetzt wurde sie erstmals auf den Vorteil der
Herrschenden bezogen.
39 Zur Eigenart dieses vom :ri0Mn1r; ausgehenden und an die Stelle anderer Begriffe (im

Sinne von „Einrichtung", „Ordnung" sich setzenden) Verfassungsbegriffs vgl. MEIER, Ent-
stehung, 57 ff.
33 Ebd„ 56. f.

826
L Antike Grunc11agen Demokratie

gegolten hatten, galten künftig eher als oligarchisch oder gemischt, so etwa viele
Hoplitendemokratien, die dem Gehalt nach konservativ waren3 3&, Auch die Pro-
blema.tik der Gleichheit !tellte !ich neu: erst hatte der Arme dem Hochstehenden
gleich sein wollen, jetzt wurden die Hochstehenden oft als Minderheit praktisch zu
. Benachteiligten34• Und indem nun breiteren Kreisen klar wurde, daß in den Demo-
kratien nicht die Allgemeinheit gegen einen oder wenige, sondern eine Gruppe der
Bürgerschaft gegen die andere stand, gewann die Dreiteilung der Verfassungen ihr
volles Gewicht. Je mehr die Herrschaft des Volkes als interessenbedingt verstanden
wlirde, um so weniger konnte eine rechtliche Alternative dazu geleugnet werden.
Mehr oder weniger gleichzeitig aber wurde deutlich, daß die Dreiteilung der Ver-
fassungen nicht ausreichte. Man versuchte, anknüpfend vermutlich .an das alte
luovoµla-ldeal, ein neues Konzept einer wirklich gleichen und gemeinsamen86
Verfassung zu entwerfen, einer Art Mischverfassung, die man als Wiederherstellung
der väterlichen (ndr.ew~ ~.oAir.ela) 88 verstand. Andererseits fand man, daß der
gleiche Verfassungstyp recht verschieden ausfallen konnte, je nach politischen,
sozialen und moralischen Besonderheiten37 • THUKYDIDES entdeckte gar Abweichun-
gen im Sinne des modernen Begriffs der Verfassungswirklichkeit 38 • So ergaben sich
Differenzierungen, die endlich von PLATON und ARISTOTELES in der Unterscheidung
von guten und schlechten Formen der drei Grundverfassurigen systematisiert wur·
den 30• Die Geschichte der Verfassungstheorie bestand seit 400 nicht zuletzt in dem
Versuch, neue Kriterien zur Bestimmung der Verfassti.ngen zu schaffen, nachdem
man von neuem gefunden hatte, wie viel auf die Art der Vollberechtigten, d. h. der
Herrschenden und besonders auch auf die Gesetzmäßigkeit der Regierung ankam.
Als erster scheint SOKRATES diese Gesichtspunkte zur Geltung gebracht zu habcn' 0 •
Über die allgemeinen Merkmale der Demokratie herrschte bei Anhängern und
Gegnern im 5. Jahrhundert weithin Übereinstimmung. Es besteht Gleichheit zwi-
schen Arm und Reich, d. h. alle (oder doch sehr viele) Männer bürgerlicher Ab-
stammung sind politisch vollberechtigt, Staatsbürger41 • Das ist die ursprüng-
liche und wichtigste Hestimmung. Es besteht Freiheit von der Herrschaft eines
einzelnen oder weniger. Diese Freiheit verwirklicht sich in der Herrschaft des

33•Vgl. Ps.XENOPRON, p&llllim, bes. 1, 7; TRUKYDIDES 3, 82, 8 u. ö.


Vgl. (in der Übersteigerung der Komödie) die Belege bei MEDER, Athenischer Demos,
-- 3 ,

38 f. Sehr viele spätere AUSBagcn boi Platon und Aristoteles.


9& Vgl. AR!sTOTELES, Pol.· 1296 a 22 ff.

38 Vgl. ALEXANDER FUKS, The Ancestral Constitution (London 1953), 33 ff. 52 ff. TmlisY·

MACHOS bezeichnete sie als uowor.dT1J -roi~ noAlTai~ oJua niiut; Die Fragmente der Vor-
sokratiker, 12. Au1l.., hg. v. HERMANN DIELS u. WALTHER KRA.Nz, Bd. 2 (Dublin, Zürich
1966), 324. Vgl. TRUKYDIDES 6, 18, 6; 8, 97, 2; XENOPHON, Hell. 2, 3, 48; GROSSMANN,
Schlagwörter, 24 f.
97 Vgl. z.B. THUKYDIDES 3, 62, 3; 4, 74, 3; 5, 81, 2; 8, 53, 3; 8, 89, 2.

88 THUKYDIDES 2, 65, 9.
39 Vgl. JAQUELINE DE RolllILLY, Le classement des constitutions d'Herodote 8. Aristote,

Rev. des Etudes Grecques 72 (1959), 81 ff.


'o XENOPHON, Mem. 4, 6, 12. Vgl. HERMANN HENKEL, Studien zur Geschichte der grie·
chischen Lehre vom Staat (Leipzig 1872), 44 f. Bes. auch lsoKBATES, Paneg. 132 ff.
61 Vgl. die luovoµla: HERODOT 3, 80, 6; EuBJPIDES, Hik. 407 f.; TRUKYDIDEB 2, 37.

827
Demokratie 1. Antike Grundlagen

Volkes 42 , die einerseits durch das Los, andererseits durch den jährlichen Wechsel
der Regierenden bestimmt ist43 • Zumindest alle wichtigen Entscheidungen kommen
vor die Volksversammlung"'. Dort entscheidet die Mehrheit. Dort gilt vor allem
„Isegorie" 45 (Rede- und Antragsrecht jedes Bürgers, eine besonders bedeutsame
Manifestation seiner Gleichheit und Freiheit, wichtig auch, damit alles frei vor dem
Volle ausgetragen werden konnte). Die Beamten sind rechenschaftspfl.ichtig46 •
Man hat geschriebenes Recht. Dies letztere wurde von den Anhängern besonders
stark hervorgehoben; es rechtfertigte den Anspruch, daß die Demokratie der eigent-
liche Staat der Gesetze und die Verfassung schlechthin sei47 • Endlich wurde in der
Leichenrede des Perikles bei THUKYDIDES besonderes Gewicht darauf gelegt, daß
die Bürger leben könnten, wie sie wollten, d. h. nicht nach festliegender Norm
und von Staatswegen erzogen und in ihrem Lebenswandel überwacht würden wie
in Sparta und anderen Oligarchien48 ,
Verschieden bei Freund und Feind war die Auffassung von Mjµor; in ~riµo,,;eaTla,
genauer: von der Geltung des einzelnen und der Stände in dieser Verfassung. Die
einen sahen im Mjµo~ nur das niedere Volle, fanden es ungebildet und zügellos und
meinten oft, es werde von verantwortungslosen Demagogen beherrscht 49 • Daneben
standen am Ende des 5. Jahrhunderts andere Auffassungen, nach denen in der
Demokratie das ganze Volk angemessen zur Geltung kam. Eine Variante vertrat
der Syrakusaner Athenagoras bei THUKYDIDES: Das Ganze der Bürgerschaft heißt
Volk, Oligarchie a.be.r ist bloß ein Te·il; dann mügm die Reichen die besten Wächter der
materiellen Güter sein, zu raten aber am besten sind die Verständigsten und zu ent-
scheiden am besten die Menge, wenn sie gehört hat. Und das befindet sich, wie in den
.Teil.en ,,o mwh im ga.nun, in der Demokratie im Gkichgewich.t 50 • Eine andere Variante
ging mehr vom einzelnen Bürger aus und betonte die Gleichheit des Rechts und
der Chancen so sehr wie etwa, daß der Würdigste den größten Einfluß hätte:
dort erschienen die Stände wie aufgehoben im politischen Bereich51 • Mehrfach

42 EURIPIDES, Hik. 405 f.; Ps.XENOPHON 1, 8: Der Demos wolle nicht geknechtet sein,

sondern -frei sein und herrschen. Beide verstanden unter Volk freilich Verschiedenes.
43 HERODOT 3, 80, 6; EURIPIDES, Hik:. 406 f.

44 HERODOT 3, 80, 6.
45 HERODOT 5, 78; EURIPIDES, Hik. 438 ff.; Ps.XENOPHON 1, 2. 6, vgl. 12. GEORG Busor.T,

Griechische Staatskunde, 3. Aufl., Bd. 2 (München 1920), 418 f.


46 Vgl. Anm. 16.

'7 EURIPIDES, Hik. 430 ff., .A:rsCHINES 1, 4 f.; DEMOSTHENES 6, 25; 24, 75 f.; HYPEREIDES,
Eux:. 5; vgl. Tlfux.YDIDES 3, 62, 3. Ferner die yearpr, :riaeavoµwv sowie die Scheidung
zwischen voµot und tp'T}<pluµar:a in Athen: dazu ARNOLD H. M. JONES, Athenian Demo-.
cracy (Oxford 1957), 53. Vgl. Anm. 69.
48 THUKYDIDES 2, 37. Vgl. GROSSMANN, Schlagwörter, 83; MEDER, Athenischer Demos, 44.
49 HERODOT 3, 81 f.; EURIPIDES, Hik. 416 ff. Vgl. Ps.XENOPHON 1, 7; MEDER, Athenischer

Demos, 130 ff. Bezeichnend für die Gegner: die praktischen Einwände. Für die Antworten:
das demokratische Ethos (Euripides).
50 THUKYDIDES 6, 39, 1, übers. in Anlehnung an Regenbogen. „Herrschaft des ganzen

Volkes" meinte auch HERODOT 3, 80; vgl. MEIER, Bemerkungen, 25 ff.


61 THUKYDIDES 2, 40, 2; 6, 39, 1; PLATON, Protag. 323 a. Später: ARISTOTELES, Pol.1281 a.

40 ff.; b 34; 1282 a 16 u. ö. JAKOB A. 0. LAltsEN, The Judgement of Antiquity on Demo-


cracy, Classica.l Philol. 49 (1954), 3 f.; MEDER, Athenischer Demos, 123 f.

828
1. Antike Grundlagen Demokratie

wurde betont, daß das Urteil der breiten Menge (im Unterschied zu dem ihrer einzel-
nen Mitglieder} gut sei. Diese Vorstellungen, die außer in Ideal und Propaganda im
tatsächlichen Erscheinungsbild mancher Demokratien gewurzelt haben mögen,
wirkten in der alltäglichen Auffassung der Demokraten von ihrer Verfassung, wie
wir sie bei den attischen Rednern fassen, nach. Besonders zu erwähnen ist die ver-
breitete Meinung, die Demokratie mache die Polis nach außen stark62 •
Die Theorie bewegte sich, so weit wir sie kennen, vornehmlich in den Bahnen der
Gegner. Sobald man wieder primär nach der Art der Regierenden fragte, konnte
die Demokratie auch kaum zu den guten Verfassungen zählen. Das änderte sich
allerdings spätestens mit Aristoteles; aber selbst bei ihm, der eine Fülle verschie-
denster Ausprägungen der Demokratie kannte und mit ihnen arbeitete, erschien als
Muster für die allgemeine Bestimmung dieser Verfassung die letzte, die radikale
Demokratie Athens, deren Bild er überdies noch tendenziös verzeichnete 63 •
Für PLATON war die Demokratie vornehmlich durch Freiheit bestimmt: Nicht wahr,
an erster Stel"le steht doch dies, daß sie freie Menschen sind und daß der Staat förmlich
überqu,illt von Freiheit und Schrankenlosigkeit im Reden und daß jeder in ihm die
volle Möglichkeit hat zu tun, was er will64 • Nichts ist in dieser Verfassung einheitlich
geformt, alle Sitten, alle Verfassungen sind in ihr vertreten, sie ist eine Trödel-
bude der Staatsverfassungen66• Die Menschen sind „verschiedener Art". Im ganzen
also eine reizende Verfassung, herrschaftslos, • • • so etwas wie Gleichheit gleichmtißig
an Gleiche und Ungleiche verteilend66 • Die Gleichheit ist aber nicht nur Ausdruck der
Nachsicht gegen alles und jedes, sondern resultiert zugleich aus dem heftigen Frei-
heitsverlangen. Die Regierenden, die sich wie Regierte, und die Regierten, die sich
wie Regierende benehmen, werden gepriesen und geehrt 57 • Platon konstatierte also
dort, wo Aristoteles den Wechsel von Regierenden und Regierten feststellen wird,
deren Angleichung auch in ihren Rollen. Er sprach weiter von der Gleichsetzung
von Sohn und Vater, Frau und Mann, Bürger und Metöke, Herr und Skla~e, ja
Tier und Mensch68 • Sein eigentliches Interesse galt dem demokratischen Menschen.
Denn er behauptete, zu jeder Verfassung gehöre ein bestimmter Menschentyp.
Oder meinst Du, die Verfassungen leiteten ihren Ursprung wer weiß woher, von Eiche
oder Fels und nicht von den im Staate herrschenden sittlichen Anschauungen, die nach
der einen oder anderen Seite ausschlaggebend wirken, indem sie alles übrige mit sich
ziehen? 69 • Der demokratische Menschentyp ist bei Platon nicht ständisch und nicht
durch Überzeugung, Gesinnung oder Interesse bestimmt, sondern durch seine Art;
und diese ist nicht einfach eine Funktion der Verfassung, sondern bildet sich
irgendwie gleichzeitig mit ihr und nach einer historischen Gesetzmäßigkeit im Rah-

6B HERODOT 5, 78. 91; Tmra:.YDIDES 2, 36, 3 f. Vgl. EURIPIDES, Hik. 442 ff.
53 Indem etwa. Aristoteles übersieht, da.ß in seinem Muster Athen durchaus die Gesetze
herrschen.
u Platon, Pol. 557 b.
155 Ebd. 557 d.

" Ebd. 558 c.


17 Ebd. 562 d.

68 Ebd. 563.
19 Ebd. 544 d. e.
Demokratie 1. Autike Grundlagen

men der Abfolge der Verfassungen 60, welche einer jeden Verfassung baldigen unauf-
haltsamen Verfall bringt, solange man nicht durch Schaffung einer idealen Ver-
fassung ans ihr heraustritt. Der demokratische Mensch tut stets, was ihm gerade
paßt, schätzt gute und schlechte Begierden gleich und in der gleichen Beliebig-
keit, mit der die Stadt durch das Los ihre Ämter verteilt, läßt er sich von ihnen
beherrschen61.
Im „Politikos" traf. Platon - offenbar als erster - die Scheidung zwischen einer
guten und einer schlechten Demokratie (Königtum und Tyrannis sowie Aristokratie
und Oligarchie waren schon vorher unterschieden worden 62 • Freilich mag man die
„väterliche" (Misch-)Verfassung auch als gute Demokratie angesehen haben 63).
Er meinte allerdings,· der Unterschied sei nicht sehr groß. Denn die Herrschaft der
Menge ist ganz schwach und vermag weder·im Guten noch im Bösen viel im Vergleich
zu den anderen, weil nämlich die Ämter in ihr unter viele ins Kleine verteilt sind64 •
Dies ist wohi auch der Grund, weshalb er die beiden .Arten nicht mit besonderen
Namen belegte. Maßgebend für die Scheidung ist, ob die Herrschaft gemäß den
Gesetzen ausgeübt wird 66 • Da aber in der Demokratie -wie in Monarchie, Timo-
kratie, Oligarchie etc. - Herrscher und Beherrschte sich wie Herr und Sklave ver-
halten, ve:rdient sie ebenso wenig wie jene den Namen „Verfassung" (noli-rela),
sie ist nur eine „Staatsverwaltungsart" (nol.ew, oix1]a,,), wenn nicht eine „Partei-
herrschaft" (a-raaiw-rela)H. Sie entsteht aus der Oligarchie und gebiert aus sich die
Tyrannis 67 •
Um die Mitte des 4. Jahrhunderts wurde dann für die gute Form der Demokratie
der Name noli-rela - verstanden als Verfassung im eigentlichen Sinn oder als
,,Verfassungsstaat'' - in Anspruch genommen. Auch ARISTOTELES verwendete ihn
durchweg, wenngleich er einmal erklärte 68 , T'JIO"ea-rla (= Herrscha~t eines -
relativ weiten - Kreises Vermögender) sei passender. Man erkannte also den An-
spruch der Demokratie, die noli-rela zu sein69 , in einer Situation theoretisch an,
in der dies nicht mehr nur hieß: die „Bürgerschaft" (oder der „Politenstaat"),
sondern die „Verfassung" im Sinne rechtlicher Ordnung, der Verfassungsstaat.
Gleichzeitig beschränkte man diesen Anspruch aber auf die gute Variante der
Demokratie, die in Wirklichkeit eine Art von gemischter Verfassung war. Iloli-rela
trat damit in gewissem Sinne an die Stelle von la011oµla. In ihr, wie in den (oft
na-reioi noli-relai genannten) Mischverfassungen, lebte das nach der Zuspitzung der
Auffassung von Herrschaft heimatlos gewordene Konzept der wirklich Gleichheit
und Recht garantierenden Ordnung wieder auf.

60 Ebd. 555 b :ff.; 559 d :ff.


n Ebd. 561.
62 Sokrates bei XENOPHON, Mem. 4, 6, 12 (statt 'Oligarchie': 'Plutokratie').
63 Deren Stellung gegenüber den anderen wird nicht ganz deutlich. Man mag sie als be-

sondere Art der Demokratie, häufig aber auch als vierte Verfassung (vgl. etwa IsoKRATES,
Panath. 131 f.) angesehen haben, sofern mari sich überhaupt darüber Rechenschaft gab.
64 PLATON, Polit. 302 d; 303 a.
65 Ebd. 302 e. Anders: ders., Nom. 832 c: Herrschaft über Freiwillige.
66 Ders., Nom. 712 e; 715 b; 832 c. Vgl. ders., Polit. 303 c.
67 Ders., Pol. 555 b :ff.; 562 a ff.; 565 d; 566 c :ff.; 569 c.
68 .ARISTOTELES, Nikom. Ethik 1160 a 34.
69 DEMOSTHENES, 1, 5; 6, 21; 6, 25; 15, 20; !SOKRATES 4, 125; ep. 6, 11. Vgl. Anm. 47.

830
L Antike Grundhagen Demokratie

Aristoteles hat die noÄn:ela als die beste unter normalen Umständen mögliche Ver-
fassung angesehen 70 • Er definiert sie als Mischung von Oligarchie und Demokratie,
genauer: als die zur Demokratie hinnP-igimde "Form dieser Mischung (die andere
wäre die Aristokratie). Die Mischung muß so gut sein, daß man sie sowohl für eine
Demokratie wie für eine Oligarchie wie für keines von beiden halten kann 71 •
Sie besteht vor allem darin, daß die Zugehörigkeit zur VollbÜrgetschaft einerseits
einen Zensus voraussetzt, dieser aber nicht - wie in den Oligarchien - so hoch
ist, daß nicht ein relativ großer Teil, möglichst die Mehrheit der Freien bürgerlicher
Abstammung ihn erreichte 72 • Hinzu kommt, daß bestimmte, in Oligarchien bzw.
in Demokratien verbreitete Vorschriften, die die Teilnahme armer bzw. wohlhaben-
der Bürger sichern bzw. ihr entgegenwirken sollten, kombiniert werden könD.eE,,73.
Gemischt werden also insbesondere die Prinzipien der Zusammensetzung der Bür-
gerschaft samt der darauf bezogenen lm1LiLuLiumm; ilie gegenseitige Überwachung
oder das Zusammenspiel von Organen, die auf verschiedenen Ständen aufbauen,
spielen demgegenüber kaum eine Rolle. Aristoteles kannte entsprechend der da-
maligen Wirklichkeit fast nur die Herrschaft der Gesamtbürgerschaft direkt, durch
Ausschüsse oder durch Beamte. Entscheidend war also nur die Frage, wer die
Bürgerschaft ausmachte.
Das .Prinzip der noÄn:ela ist Freiheit und Reichtum '4. Vorherrschend in ihr sind
die Mittleren (etwa - Hopliten) 711 • Diese sind_ die besten Bürger. Sio vormögcn
am ehesten der Vernunft zu gehorchen, können Reich und Arm ausgleichen und -
während die anderen nur herrschen oder (zum Teil) dienen wollen - für das Ganze
des Gemeinwesens sorgen76 • Die Polis will aus möglichst Gleichen und Ähnlichen
bestehen, und dies ist am meisten bei den Miuleren der Fall. Daher wird notwendig die
Polis am besten regiert; die aus solchen besteht, aus denen sich, wie gesagt, von Natur
eine jede Polis zusammensetzt77 • Ihr Staat istgemeinschaftlwh und wahrhaft gleiclJ, 78,
d. h. Gleichheit nach Würdigkeit zuteilend; und da das Gemeinschaftliche zugleich
das Polisartige, das ;,Politische" ist, verdient er es - so wären Aristoteles
Gedanken wohl zu ergänzen --, noÄn:ela genannt zu werden. Im überlieferten Text
heißt es nur: Wenn die Mehrheit des Volkes den Staat mit Rücksicht auf-das Gemein-
wohl verwaltet, so wif'd dies mit dem gemeinsamen Namen all,e,,. Verfassungen, nämlich
noÄn:ela genannt79 •
Während das ideale Königtum und die Aristokratie wesentlich auf der durch Er-
ziehung bewirkten Güte eines einzelnen oder weniger beruhten, konnte eine ideale
Form der Demokratie nur auf der (seit dem Ende des 5. Jahrhunderts begegnenden)
Hochschätzung der Mittleren begründet werden, d. h. auf der These, daß die Güte

70 AfilsTOTELES, Pol. 1295 b 34. Vgl. 1295 a. 25 ff.


71 Ebd. 1265 b 26; 1293 b 33; 1294 b 13; 1294 b 34; 1307 a. 15.
72 Ebd. 1297 b 1. Vgl. Nikom. Eth. 1160 b 18.
73 Ders., Pol. 1294 a. 35 ff.
74 Ehd. 1294 a 20.
76 Ebd. 1297 h 1. Vgl. 1306 b II; 1321 a. 12; 1302 a. 13.
76 Ebd. l!:!IJ5 a. 37 ff. Vgl. auch 1292 b 25; 1293 a. 12.
17 Ebd. 1295 b 25.
1s Ebd. 1296 a 29; vgl. 1286 b 13; 1297 a 2.
79 Ebd. 1279 a. 37. Vgl. MEIER, Entstehung, 63. 78.

831
Demokratie I. Antike Grundlagen

der µeatfrf}r; sich gerade auch darin manifestierte, daß ein ganzer Stand auf Grund
seiner wirtschaftlichen Stellung ein besonderes Ethos hervorbrachte. Da freilich die
Mittleren selten zahlrei.ch waren, kam die ~oJ.iTela fast nie vorSO, wurde sie auch
im System der aristotelischen Verfassungslehre nur ungenügend berücksichtigt -
abgesehen davon, daß sie fast unmerklich in die angrenzenden Formen überging.
Die andere, von der Norm abweichende Form der Demokratie wurde von Aristoteles
- wie erwähnt - als Verfassung definiert, in der die Freien und Armen, in der
Mehrzahl befindlich, die oberste Gewalt besitzen. Damit war impliziert, daß diese die
Herrschaft zu ihrem Vorteil, nicht zu dem des Gemeinwesens ausüben81 • Das Prin-
zip der Demokratie sah auch Aristoteles in der Freiheit: sofern die Demokratie
durch die Gleichheit bestimmt ist, bezieht diese ihren Inhalt von der Freiheit82 •
Die demokratische Gleichheit ist nämlich Gleichheit nach Maßgabe der Zahl (nicht
des Wertes). Denn die Demokratie entstaniJ, dadurch, daß man meinte, Leute, die in
P.inP.r hP..~t1:m.mtwn. Hin.~ir:ht (JlP.ir:h.-t1inil, .~P.if'.n f'..~ dam.it au.r.h .~r.hrm. t1r.h.1.P.r.h.th.in - snfP.rn
nämlich alle, die gleichermaßen von freier Geburt sind, sich damit schon für schlechthin
gleich ansehen83 • 'Freiheit' meinte hier also primär den Personenstand als geringst-
mögliche Qualifikation für das Vollbürgerrecht. Darüber hinaus besteht sie vor
allem in zweierlei: daß die Bürger abwechselnd herrschen und beherrscht werden
und daß man lebt, wie man will84 • Jenes ergibt sich zugleich aus der Gleichheit
uach Maßgabe der Zahl, denn wenn diese Gleichheit die demokratische GerechLig-
keit ist, müssen die Freien (und besonders auch die Armen) an den Ämtern teil-
haben, und zwar möglichst gleichm.äßig85• Ebenso besteht die Freiheit als Freiheit
von Herrschaft, indem sie die einzige Qualifikation des Vollbürgers ist, in dieser
Abwechslung. Sie wurde also als Recht nicht so sehr gegen wie auf die Regierung
verstanden. An anderer Stelle charakterisierte Aristoteles die Demokratie dadurch,
daß alle über alles Gewalt hätten und daß die Mehrheit (der Freien) entscheide 86 •
Daß die Macht der Volksversammlung durch den ständigen Wechsel in den Ämtern
und die häufige Bestellung der Beamten und Ratsherren durch das Los institutio-
nell ermöglicht wurde, spielte bei Aristoteles keine Rolle, so sehr er die beiden Fak-
toren als demokratische Einrichtungen hervorhob. Die Freiheit der Lebensführung
bedeutet vor allem Freiheit von Bevormundung durch staatliche Erziehungs- und
Sittenaufsichtsorgane, eine Einschränkung also der staatlichen Kompetenz. A1ts
dieser Bestimmung der Freiheit folgt aber, daß man sich nicht regieren läßt, und zwar
am liebsten von niemandem; soweit aber dies unmöglich ist, nur abwechslungsweise,
und so trifft denn hierin dieses zweite Merkmal der Freiheit wieder mit dem ersten,
nämlich der Gleichheit zusammen 87 •
Innerhalb der Demokratie unterschied Aristoteles eine Reihe verschiedener Aus-
prägungen, wobei ihm als Kriterien einerseits die Zusammensetzung der Bürger-

80 Ebd. 1293 a. 40; 1296 a 23; 1296 a 36.


51 Ebd. 1279 b 8; 1284 b 5 ff.
sz Ebd. 1291 b 34 u. ö.
83 Ebd. 1301a28;1301 b 29 ff. Vgl. 1280 a 7; 1280 a 24.
84 Ebd. 1317 b 2.
86 Ebd. 1299 b 26; 1309 a 2.
8 & Ebd. 1310 a. 28. Vgl. 1291 b 37; 1298 a 9.
87 Ebd. 1317 b 13.

832
L Antike Gnm.U.,en Demokratie

schaft, andererseits die Frage des "6eioii, der obersten Gewalt diente, genauer: ob
die Gesetze oder die (dann an Gesetze sich nicht haltende) Volksversammlung herr-
schen (dabei sind die Gesetze natürlich demokratisch). Die beiden Kriterien hängen
für Aristoteles aufs engste zusammen, das rechtliche ist kaum mehr als eine
Funktion des gesellschaftlichen88• Entscheidend für die Art einer Demokratie ist
also, welche Bevölkerungsschicht vorherrscht und wie - bei grundsätzlich besten-
falls niedrigem Zensus - die Zulassung zum Vollbürgerrecht geregelt ist; wo etwa
die Bauern und andere Schichten mit mäßigem Zensus vorherrschen, in der besten
Demokratie, hat man kaum die Zeit, mehr als die notwendigsten Volksversamm-
lungen zu veranstalten - um so mehr läßt man die Gesetze gelten. Dort regieren
denn auch die besten Bürger, denn nur wer Geld und Zeit genug hat, kann
Ämter bekleiden. In der extremen Demokratie der Handwerker und Lohnarbeiter
dagegen werden Diäten gezahlt, die .Armen können a.n den da.nn hll.u.fl.g tägenden
Volksversammlungen und den Ämtern teilnehmen, es herrschen Volksbeschlüsse,
und Demagogen. üben den maßgeblichen Einfluß aus. Institutionelle Unterschiede
spielen höchstens als Funktion der gesellschaftlichen bzw. bürgerrechtlichen eine
Rolle - wie etwa. in einer Demokratie, in der man nur wenige Volksversammlungen
abhalten kann, der Rat das wichtigste demokratische Organ darstellt, während er,
sobald Diäten gezahlt werden, weitgehend entmachtet wird89• lu der letzten, extre-
men Demokratie uQt das Volk praktisch eine Willkürherrschaft aus. Mo.n ko.nn
sagen, daß sie keine Verfassung sei - denn dort herrschen Gesetze - und damit
auch keine Demokratie90• Gleichwohl entnahm .Aristoteles das eine der beiden
Merkmale der demokratischen Freiheit .:..- zu leben, wie man will - der extremen
Demokratie91• Das abwechselnde Regieren und Regiertwerden kommt auch nicht
überall, aber fast immer vor. Fehlt es, so spricht die Ausübung von Wahl und
Abnahme von Rechenschaft durch die Volksversammlung für den demokratischen
Charakter der Verfassung. Immer ist die Teilhabe aller oder fast aller Freien Kenn-
zeichen der Demokratie.
Wenn .Aristoteles frühe von späten Formen der Verfassung und insbesondere der
Demokratie unterschied, so war ihm klar, daß ohne die geschichtlichen Verände-
rungen zumal der Gesellschaft und der Heeresverfassung verschiedene Verfassungs-
formen nicht möglich wären. Er rechnete aber nicht damit, daß die Verfassungs-
geschichte in einer bestimmten Richtung weitergehe, meinte vielmehr, daß auf
Grund der erreichten Größe der Städte die demokratische Verfassung besonders
dauerhaft sei. Einen Kreislauf der Verfassungen kannte, soziale Veränderungen
erwartete er nicht. In der Rangfolge der Verfassungen folgte für ihn auf die Politie
die Demokratie, dann Oligarchie und Tyrannis92 • Monarchie und Aristokratie waren
zwar besser, aber nur unter besonderen Umstjinden möglich.
Nach .Aristoteles hat die Politie als gute Form der Demokratie, so weit wir sehen

s 9 Ebd. 1292 b 22 ff.; 1318 b 6 ff.


89 Ebd. 1317 b 30; 1323 a 4; 1299 b 38.
90 Ebd. 1292 a 34. Vgl. 1312 b 5; 1312 b 35.
91 Ebd. 1310 a 25.
92 Ebd. 1289 b 4; 1296 b 3 ff.; Nikom. Eth. 1160 b 20.

53-90385/1 833
Demokratie I. Antike Grundlagen

können, keine Rolle mehr gespielt. PoLYBIOB nennt die gute Form 'Demokratie' und
hat für die schlechte neue Namen: öxlo"eaTla („Pöbelherrschaft") und xeieo"f!aTla
(„Herrschaft der Faust") 83• Demokratie finde statt, wenn in einem Gemeinwesen,
in dem es Herkommen und Sitte ist, den Göttern zu dienen, die Eltern zu ehren, den
Alten Respekt zu erweisen und den Ges~tzen zu gehorchen, der Wille der Mehrheit
maßgebend ist94 • Die Demokratie entsteht aus der Oligarchie und lebt so lange, wie
Gleichheit und Freiheit sich noch nicht von selbst verstehen, d. h. zwei Generationen;
dann geht sie in die Ochlokratie über, da die dritte Generation maßlos in ihrem
Streben nach Macht. ist und das Volk an Geschenke gewöhnt, so· daß dieses in
Abhängigkeit von einem Führer gerät, der es zu gewalttätiger Herrschaft bringt95 •
Wie für Platon waren für Polybios also moralische Kriterien und eine von dort-
her bestimmte, fast gesetzmäßige Abfolge von Verfassungen maßgeblich. Die gesell-
schaftliche Struktlir beachtete er weiter nicht; die großen Vorzüge der aristoteli-
schen Betrachtungsweise waren inzwischen wieder verlorengegangen. Dauerhaft
war für Polybios nur die Mischverfassung, die er - oder einer seiner Vorgänger -
neu konzipierte als System des Ausgleichs zwischen verschiedenen relativ eigen-
ständigen Faktoren.
Außerhalb der Theorie gewann &Jµo"eaTla spätestens im 2. Jahrhundert v. Chr.
wieder den allgemeinen Sinn der „freien Verfassung" im Unterschied zur Monar-
chie, bezeichnete also Demokratien wie (jedenfalls viele) Oligarchien und wurde
teilweise synonym mit 'Freiheit', auch außenpolitisch88 • Wie es dazu kam, ist nicht
deutlich. Vermutlich war der Unterschied zu den mächtigen Monarchien dieser
Zeit so prävalent, daß alle anderen Unterschiede demgegenüber gleichgültig wurden.
Auch hatte das politische Interesse der untersten Schichten so weit nachgelassen,
daß man in demokratischen Formen oligarchisch regieren konnte. .Man gab sich
denn also weitgehend als Demokratie aus. In den nachchristlichen Jahrhunderten
trat eine weitere interessante Verschiebung des Begriffs auf: .AR1sTJ.DES nannte das
römische Weltreich eine Demokratie unter dem Kaiser. CAssms Dm meinte, die
wahre Demokratie bestehe unter der Monarchie. In ihrer herkömmlichen Form sei
sie Freiheit des Pöbels und Knechtschaft der Besten und damit gemeinsames Ver-
derben. Hier dagegen werde die Besonnenheit geehrt und allen das gleiche nach
Würdigkeit verschafft. Dabei wurde dann das ideale Ziel dieser Verfassung an die
Stelle der Institutionen, die dieses Ziel erst sichern sollten, gesetzt. Nicht mehr um
die Organe der Verfassung ging es, sondern 1im den (behaupteten) Erfolg der Ver-

93 PoLYBIOS 6, 4, 6; 6, 4, 10; 6, 57, 9. 9, 7. Vorläufer ist PLATONS i>eaTf!O"f!aTla; Nom. 701a..

Polybios und PHILO JuDAEUS (vgl. De virtute 180) sind die einzigen bekannten Autoren,
die gute und schlechte Demokratien unterscheiden und den Namen für die gute reservieren.
Dieser hat offenbar in Hellenismus und Kaiserzeit einen sehr guten Klang gehabt. Für
Philo vgl. noch: Quod deus sit immuta.bilis 176; De Abraha 242; De confusione linguarum
108.
91 POLYBIOS 6, 4, 5.
96 Ebd. 6, 8, 4 ff.

99 LAR8EN, Judgement (s. Anm. 51), 9 f.; ders., Representa.tion a.nd Democracy in Hel-

lenistic Federalism, Classica.l Philol. 40 (1945), 88 f.; HELMUT BERVE, Die Herrschaft des
Agathokles (München 1953), 76, Anm. 72.

834
II. 'Oherllefenmg und Rezeption Im Mittelalter Demokratie

waltungspra:xis, und wenn dieser Erfolg in Freiheit (verstanden als soziale und
rechtliche Sicherheit) bestand, dann hatte man es eben mit Demokratie zu tun87•
Im Lateinischen kommt das Wort..:.. abgesehen von drei entlegenen Stellen -
nicht vor. CICERO sprach in ~,De re publica" von cimtas popularia (in quo in populo
sunt omnia). Er unterschied einen guten Volksstaat (populus iustus et moderatus)
von ei}(em schlechten {furO'f' multitudinis licentiaque) 98 • Seine Ansichten darüber
waren der griechischen Theorie entnommen~ (Für Rom- Republik.)
CmusTIAN MEIER

II. tTherliefenmg und Rezeption im Mittelalter


Im Mittelalter gehörte 'Demokratie' nicht zu den Begriffen, mit denen die politi-
schen und sozialen Verhältnisse beschrieben wurden88 • In Urkunden, Akten, Weis-
tümern und Rechtsaufzeichnungen des Mittelalters begegnet man. diesem Begriff
nicht1 00. Erst im Zuge der Aristotelesrezeption findet er als rechtsphilosophisch-
literarischer Topos Eingang in den Wortschatz der mittelalterlichen Gelehrten. Die
von Aristoteles in seiner ,.,Politik" gegebene Darstellung der Verfassungsformen
und ihrer verderblichen Abarten hat die Wortbedeutung von 'Demokratie' im
Mittelalter überwiegend geprägt.
In enger Anlehnung an Aristoteles schrieb THOMAS VON AQUIN: Si "6t'O iniq'IMllm
regimen ezet"ceatur per multos, democratia nuncupatur, id est potentatus populi, quando
scilicet populus ple'bejorum per potentiam multitudinis opprimit divites. Sie enim et
populus totus erit quasi unus tyrannus 10 1• In anderem Zusammenhang wurde 'Demo-
kratie', wie auch bei Aristoteles, als Gattungsbezeichnung einer bestimmten Ver-
fassungsform tradiert, ohne daß damit die verderbliche Herrschaft des· Pöbels in
der Wortbedeutung anklang: N am. in politia democratia, in qua populus totus vult
dominari, attenditwr justum secundum quid, sed non simpliciter: ut scilicet quia omnes
cives sunt aequales secundum quid, scilicet secundum libertatem, ideo ha'beantur aequales
simpliciter, unde ea quae secundum legem democraticam statuuntur non sunt simpli-
citer, justa, sed aliqualiter102 .Thomas anerkannte auch demokratische Verfassungs-

97 Vgl. JOCHEN BLEIOKEN, Der Preis des Aelius Aristides auf das römische Weltreich
(.Akad.-Abh. Göttingen 1966), 239. 250, Anm. 54. 252 f. 269. Besonders interessant für die
Auffassung der Kaiserzeit ist HIPl'OLYTS Interpretation des Traumes Nebukadnezars; vgl.
SANTO MuzAR"mo, Das Ende der antiken Welt (München 1961), 38. 172 f.
98 C!oEBo, De rep. 1, 42; 1, 43; 1, 44; 1,69.
99 Bezeichnenderweise wurde der Begriff 'Demokratie' in den Etymologien des Isidor von

Sevilla. nicht behandelt. Cim. GOTTLOB !Lu.TAUS, Glossarium germanicum medii aevi
(Leipzig 1758) verzeichnet den Begriff 'Demokratie' nicht. Auch das „Mediae latinitatis
lexicon minus", ed. JAN FREDERIK NIERMEYER (Leiden 1954 ff.) hat 'democratia' nicht
aufgenommen.
100 Mit letzter Sicherheit läßt sich nicht ausschließen, daß das Wort 'Demokratie' nicht

doch an entlegener Stelle innerhalb der genannten Quellengruppen auftritt. Anläßlich


dieser Arbeit sind noch einmal ungezählte Quelleneditionen überprüft worden, wobei jene
besonders beachtet wurden, in denen Vorgänge zu greifen sind, die im 19. Jahrhundert
vielfach als „Demokratisierung" beschrieben worden sind.
101 THOMAS VON AQUIN, De regimine principum, 16. Opera omnia, t. 16 (Parma 1865), 226.

102 Ders., In X libros ethioorum ad Nicomachum, ebd., t. 5, 2.

835
Demokratie D. 'Oberlieferung und RezeptioQ. im Mittelalter

elemente als der göttlichen Ordnung in der „politia commixta" ebenso entsprechend
wie Elemente anderer Verfassungsformen: Talis enim est optima politia, bene com-
mixta ex regno, in quantum unus prae6st; et aristooratia, in quantum multi 1'rincipantur
secundum virtutem; et ex democratia, id est potestate populi, in quantum ex popularibus
posaunt eligi princip~s, et ad populum pertinet electio principum. Et hoc fuit institutum
secundum lf!gem divinamioa.
Bei WILHELM VON MoERBEKE, einem der bekannten Aristotelesübe:rsetzer, der in
der Zusammenarbeit mit Thomas von Aquin Aristoteles kennenlernte, findet sich
zuerst der von Aristoteles übernommene Demokratiebegriff 104•
Im französischen Sprachraum trifft man bei NIKOLAUS VON ÜRESME, ebenfalls einem
Aristotelesübersetzer, in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf den von
Aristoteles übernommenen Demokratiebegriff. Democratie est une espece de policie,
en laquelle J,a multituäe de populaire tient le princey10 b • .Hei ihm findet sich auch das
Verb democrati.~P.r, OP.RRP.n RP.nAntung wie folgt angegeben wird: Les demagoges qui.
sont maintenant et qui veullent estre gracieulx au peuple democratizent moult de choses
par les pretoires ou par les cours, c'est a dire que ilz font et ordonnent trop de choses au
plaisir du menu communet par ftaterie1 06.
Die abwertende Bedeutung des Wortes 'Demokratie' kommt zum Ausdruck in dem
auf die Mitte iles 14. Jahrhunderts datierten „Vocabularius optimus". In dem
Absatz „lle dignitatibus secularibus" wurden einander gegenübergeRtellt d.emo-
gracia als gebulfels fraventlicher gewalt und tymogracia als gebufels tugendlicher
gewalt 107• .
Als weitere Autoren, die bei der Darstellung und Erörterung von Verfassungsformen
den Begriff 'Demokratie' verwendeten, saien Marsilius von Padua und Engelbert
von Admont genannt. MARSILIUS VON PADUA berief sich ausdrücklich auf Aristo-
teles, wenn er schrieb: Bunt autem principative partis seu principatuum genera duo,
unum quidem bene temperatum, reliquum vero viciatum. Voco a·ulern bene temperatum
... , in quo dominans principatur ad commune conferens secundum voluntatem sub-
ditorum; viciatum vero, quod ab hoc deficit. Horum rursum generum utrumque divi-
ditur in tres species: primum quidem, temperatum scilicet; in regalem monarchiam,
aristocraciam et policiam; reliquum vero, viciatum scilicet, in tres oppositas species
dividitur, tyrampnicam monarchiam, oligarchiam et democraciam 108• Zur Charakteri-
sierung der Demokratie schrieb er: Policia vero, licet in una significacione sit com-
mune quiddam ad omne genus vel spe<Yi,em regiminis seu principatus, in una tamen
ipsius sigriificacione importat speciem quandam principatus temperati, in quo civis
quilibet participat aliqualiter principatu vel consiliativo vicissim iuxta gradum et facul-.
tatem seu condicionem ipsius, ad commune eciam conferens et civium voluntatem sive
con.~ensum. Democracia vero illi opposita est principatus, in quo vulgus seu egenorum

1 03Ders„ Summa theologiae 2, 1, qu. 105, art. 1, 5.


1114Vgl. FRiEDRICH UEBERWEG, Grundriß der Geschichte der Philosophie, 11. Aufl., Bd. 2
(Berlin 1928), 347 ff.
101 NmoLAU0 VON ÜRESME, Motz e11tra.nge8, :l.it. GoDEFROY t. 9 (1898), 800.
106 Ders„ Politique, zit. ebd„ 300.
16' Vocabularius optimue, hg. v. WILHELM WACKERNAGEL (Ba.sei 1847), 38. Gebufel,s ist
im Zusammenhang mit „p6fel", „populus" etwa in der Bedeutung von „Volksmenge"
zu verstehen; vgl. GRIMM Bd. 2 (1860), 492 s. v. Büffelvolk.
1D8 MARSILIUS VON PADUA, Defensor pacis 1, 8, 2.

836
II. 'Oberlieferung und Rezeption im Mittelalter Demokratie

·multitudo statuit principatum et regit sola, preter reliquorum civium voluntatem sive
consensum, nec simpliciter ail commune conferens secundum proporcionem convenien-
tum100.
Auch Marsilius sah also in der Demokratie die verderbliche Abart der Politie ~
engeren Sinne110•
Als Beispiel für die besondere Schwierigkeit, „die mittelalterliche Lehre" einer der
Verfassungsformen darzustellen, sei noch auf ENGELBERT VON ADMONT, auch Engel-
bert von Volkersdorf genannt, kurz eingegangen. Er schrieb Aristoteles eine Dreier-
gruppierung der Verfassungsformen in „Regnum", „Demokratie" und „Olikratie"
.zu. Davon ausgehend und sioh dagegen absetzend, kam er zu einer Vierergruppie-
rung in „Regnum" bzw. „Tyrannis", „Aristokratie" bzw. „Olikratie", „Olikratie"
bzw. „Clerotis" und „Demokratie" bzw. „Babaries", wobei jeweils die an zweiter
Stelle genannte Form die Entartung der zuerst genannten darstellte. („Olikratie"
trat sowohl als gute wie als verderbte Verfo.ooung auf.) Mit 'Demokratie' bezciehneto
Engelbert die Herrschaftsform, die Aristoteles im engeren Sinn des Wortes 'Politeia'
nannte 111 : populus autem secundum Zegem et electionem seu oonsensum maioris partis
dinffiiunt, ... quorum est democratia. Ein zuverlässiges Erfassen der Bedeutung von
'democratia.' bei Engelbert setzt zumindest voraus, daß eindeutig geklärt würde,
was er sich unter 'populus', 'lex', 'electio' und 'consensus maioris partis' in diesem
Zusammenhang vorstellte. Wie problematisch eine 'Übersetzung ins Hochdeutsche
ist, erhellt etwa daraus, daß z.B. das Verfahren der Kooptation bei der „Ratswahl"
in den Städten oder der gesamte Vorgang der „Königserhebung" einschließlich aller
Vorverhandlungen 'electio' genannt werden konnte.
Bedeutsam für die Beurteilung eines auf das Gemeinwesen bezogenen Begriffes wie
etwa 'Demokratie' ist die von Engelbert vorgenommene Verdeutlichung dieser
Begriffe am Bild der Familie und des Hauses. Der Hausvater beherrschte das Weib
aristokratisch, die Kinder monarchisch, die jüngeren Brüder olikratisch und die
nachbarlich nebeneinander bestehenden Hausstände seien in demokratischer Form
verbunden112 • Es ist leicht ein~usehen, daß ein präzises Verständnis von 'demo-

109 Ebd. 1, 8, 3.
110 Wie leicht gerade Marsilius mißverstanden werden kann, zeigt der lange Streit um die
Behauptung, Marsilius habe bereits die modernen Begriffe von Volkssouveränität und
Demokratie vorgeprägt. Vgl. RICHARD SCHOLZ, Marsilius von Padua und die Idee der
Demokratie, Zs. f. Politik 1 (1908), 61 ff. Eine kritische Würdigung der bisherigen For-
schungsergebnisse gibt HER.MANN SEGALL, Der „Defensor Pacis" des Marsilius von Padua..
Grundfragen der Interpretation (Wiesbaden 1959),.bes. 8 ff. 52 f., .Anm. 72. 63 ff.
111 ENGELBERT VON ADMONT, De regimine principum 1, 10; zit • .ANDREAS PosCH, Die
sta.a.ts- und kirchenpolitische Stellung Engelberts von Admont (Paderborn 1920), 65,
.Anm. 3. Vgl. auch F. FÖRSTER, Die Staatslehre des Mittelalters, Allg. Monatsschr. f. Wiss.
u. Lit. (1853), 832 ff. 922 ff.
111 Zur Literatur sowie zur Verbreitung .der Schriften Engelberts s. ÜTTOKAR MENZEL,
Bemerkungen zur Staatslehre Engelberts von Admont und ihrer Wirkung, in: Corona.
querenea., Fschr. KARL STRECKER (Leipzig 1941), 390 ff.; GEORGE BrNGHAM FOWLER,
Intellectual Interests of Engelbert of Admont (New York 1947); ders„ Engelbert of Ad-
mont's Tractatus de officiis et abusionibus eorum, in: Essays in Medieve.I Life und Thought,
Fschr. A. P. EVANS (New York 1955), 109 ff.; ders„ Engelbert of Admont a.nd the Univer-
sal Idee., Fundamente 3 (i958). .

837
Demokratie lL tlherlieferung - • Rw.eption im Mittelalter

kratisch' in diesem Zusammenhang nur durch eine Einordnung in die Gesamtvor-


stellung Engelberts zu gewinnen ist und diese hier greifbare Vorstellung von Demo-
kra tie sicher von der anderer, zu gleicher Zeit schreibender Autoren, unterschieden
werden muß. Bei einem Begriff wie diesem läßt eich für das Mittelalter keine ein-
heitlich typische, normalisierte Bedeutung aufzeigen. Jeder Versuch, es zu tun,
verdeckt die gerade entscheidenden Nuancen. Da kaum Spezialuntersuchqngen
vorliegen, auf die .man zurückgreifen könnte, würde eine klare Definition ·von
'Demokratie' für das Mittelalter nur einen falschen Eindruck erwecken.
Nicht dem Wort, aber der Sache nach wird man das, was in der Antike 'Demo-
kratie' bzw. 'Politie' meinte, im Mittelalter auch in der Übernahme und Weiter-
entwicklung oder Umformung der Begriffe 'res publica', 'res publica libera', 'status
popularis' und 'civitas popularis' suchen müssen113• Man kommt dabei aber nicht
zu einer Klärung des Begriffes 'Demokratie', sondern lediglich zu einer Entfaltung
der Begriffe 'respublica', 'libertas', 'status', 'populus' und 'civitas'.
Festzuhalten bleibt, daß der Begriff 'Demokratie' im Mittelalter offenbar nur im
Zusammenhang mit der philosophisch-literarischen Erörterung der bekannten, anti-
ken Verfassungsformen gebraucht wurde. Der Versuch, den Begriff auf die kon-
kreten politischen Verhältnisse anzuwenden, ist erst sehr viel später unternommen
worden.
Den Gleichheits- und Mitbestimmungsgedanken, der in den Quellen zur mittelalter-
lichen Verfassung entdeckt und leicht mit dem Demokratiebegriff in Zusammen-
hang gebracht werden könnte, haben zeitgenössische Autoren nicht mit dem Begriff
'Demokratie' in Verbindung gebracht. Versuche, etwa die Gildenkämpfe in den
Städten oder die Bauernkriege als Demokratisierungserscheinungen zu beschreiben,
setzten erst im 19. Jahrhundert ein. Dem mittelalterlichen Verständnis des Wortes
'Demokratie' entsprechend kann ohnehin nicht erwartet werden, daß es zur Selbst-
darstellung verwendet wurde. Aber auch von Gegnern wurde etwa eine Gruppe von
Gilden im Kampf gegen den Rat oder von Bauern im Kampf gegen ihre Grund-
herren im Mittelalter nicht als 'Demokraten' bezeichnet. Die in den Landständen,
in Korporationen, Gilden oder bäuerlichen Gemeinden zum Vorschein kommende
Vorstellung von der Gleichheit unter Standesgleichen und der im Treueverhältnis
gründende, in Rat und Hilfe sich äußernde Gedanke der Mitbestimmung hatten
ihren Platz in dem für alle verbindlichen und auch von allen als verbindlich akzep-
tierten Recht, in der „guten alten Ordnung". Wo man um Herrschaftsrechte
kii.rnpfte, kii.rnpfw rnan innerhalb der V1:1rfassung, d1:1r g1:1lwnd1:1n Ordnung für 111:1in
Recht, nicht für die Einführung einer anderen „Regierungs- oder Verfassungs-
form". Man bedurfte daher nicht der tradierten oder rezipierten Gelehrtenbegriffe.
Der Begriff 'Demokratie' war im Bewußtsein des mittelalterlichen Menschen -

118 Vgl. z.B. CICERO, De rep. 1, 41 f.: regnum - civiwa optimatium arbitrio regi dicitur -
civit,aa popul,ariB, oder 3, 48: popularia rea 'jJ'Ublica. Obwohl die Schrift dem mittelalterlichen
Leser nicht vorlag, kann vorausgesetzt werden, daß der Inhalt insbesondere durch Augustin
bekannt war •. Vgl. auch WERNER SUEBBAUM, Vom ant.iken zum frühmittelalterlichen
Staatsbegriff, Über Verwendung und Bedeutung von Res Publica, Regnum, Imperium
und Status von Cicero bis Jordanis (Münster 1961) und die sehr aufschlußreiche Rezension
von ALVABO n'ORS, Der Staat 4 (1965), 360; ·

838
m. Auflösung der Tradition in der frühen Neuzeit Demokratie

sofern er ihn überhaupt kannte - festgelegt als Bezeichnung einer bestimmten


antiken Verfassungsform. In den Auseinandersetzungen um die Rechte und Pfilch-
ten der Herren ging es aber eben nicht um Verfassungsformen, sondern um die
Einhaltung der für Recht gehaltenen, für alle verbindlichen, freilich oft genug
verschieden ausgelegten Verfassung. So kann es nicht verwundern, daß sich der
Begriff 'Demokratie' in den Quellen zu den Verfassungsordnungen Europas im
Mittelalter nicht findet. ·
HANS LEO REIMANN

m. Auflö~ung der Tradition in der frühen Neuzeit


Auch in den neuzeitlichen Jahrhunderten bis zur Französischen Revolution blieb
'Demokratie' ähnlich wie 'Aristokratie' im wesentlichen ein Wort der Gelehrten-
sprache114. Nach wie vor war der locus classicus für 'Demokratie' der aristotelische
Traktat über die Staatsformen115, der in der politischen Wissenschaft behandelt
wurde; daneben trat seit CoNRING116 und PuFENDORF117 die „natürliche Rechts-
gelehrsamkeit", das philosophische Staatsrecht als Ort von Untersuchungen über
Art und Recht.<mharakter demokratischer Regieningsformen. Die Diskussion über
Demokratie bis zum 18. Jahrhundert blieb gelehrte Erörterung; in der Sprache der
Urkunden und offiiiellen polifuchen Dokumente trat 'Demokratie' in dieser Zeit
nicht aufl 18, und zur Bezeichnung faktisch vorhandener Verfassungs- und Regie-
rungsformen wurde sie nur vereiiizelt verwendet. Erst in der Aufklärung rückte
der Begriff aus der gelehrten politischen Theorie heraus und wurde häufiger sowohl
in historischer Betrachtung auf die Vergangenheit wie in aktuell-politischer auf die
Gegenwart des europäischen Staatslebens bezogen, teilweise in Rivalität zu dem
altüberlieferten Begriff 'Republik'. Doch blieb auch diese Erweiterung des Sprach-
gebrauchs noch überwiegend auf die politische Literatur der Gelehrten beschränkt.
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts überwog im Anschluß an Aristoteles die Skepsis
gegenüber der Realisierbarkeit zumindest der „reinen", „absoluten" Demokratie;
dem demokratischen Element wurde allenfalls im Rahmen der gemischten Verfas-
sung eine Stelle eingeräumt, und die Anwendung des Begriffs auf das europäische
Verfassungsleben beschränkte sich im wesentlichen auf die Republiken der Ver-
einigten Niederlande und der Schweizer Eidgenossenschaft und ihrer Kantone, sowie
auf einzelne deutsche Stadtrepubliken und Landschaften (wie etwa Dithmarschen),
die im überwiegend monarchischen Europa des 18. Jahrhunderts Ausnahmen
waren.

114 R. R. PALMER, Notes on the Use ofthe Word „Democracy" 1789-1799, Polit. Science
Quarterly 68 (1953), 204. Auch die Amerikaner kannten zu Beginn ihrer Geschichte
'democracy' nur als gelehrtes Wort: GusTA.V H. BLANKE, Der amerikanische Demokratie-
begriff in wortgeschichtlicher Beleuchtung, Jb. f. Amerikastudien 1 (1956), 41.
m Vgl. Anm. 70 ff.
118 HERMANN CoNRING, De politia (Helmstedt 1680); ders„ De democratia (ebd. 1681).

117 SAMUEL PUFENDORF, De jure na.tura.e ·et gentium 7, 5, 4 (1672).


118 Hier ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß nachträglich doch die eine oder an-

dere Stelle gefunden werden könnte; doch dürfte die oben gemachte Feststellung hierdurch
nicht wesentlich verändert werden.

839
Demokratie m. 1. Politische Theorie

1. Politische Theorie
Die Umschreibung des Begriffs in den Wörterbüchern und der politis~h-wissen­
schaftlichen Literatur läßt erkennen, daß der Schwerpunkt der Bedeutung im
17. und beginnenden 18. Jahrhundert noch ganz im aristotelischen Sinne in der Be-
zeichnung der Staats- und Herrschaftsform lag118 • Dabei wurde sowohl die positive
Bedeutung tradiert (Demokratie als gute Staatsform, mit 'politeia' gleichgesetzt-
a), als auch die negative Bedeutung (Demokratie als Entartungsform -b); daneben
sind theoretische Weiterbildungen und Differenzierungen des Begriffs zu verzeich-
nen (c).
a) 'Demokratie' als politeia. Nach PUFENDORF gehörte die Demokratie zu den oivi-
tatilJ regu'laris tres formae; in ihr ist summum imperium . . . penesconcilium ex uni-
versis Patribus familiae constans 120• Ähnlich definierte Ä.LsTED in der Linie der
Ilerborner aristotelischen 8chulphilosophie121 Demokratie als polywrcli·ia, ·in q·aa
summa potestas est penes populum. Unde status popularis dioitur122 • Die Möglichkeit
einer tatsächlichen Wahrnehmung der Regierungsgeschäfte durch die Mehrheit der
Bürger räumte BESOLD ein: Democratia summum Reipublicae ius penes populum
constitttlum 1u1.be.t: ita tl.t ci11.1ilm11 ·1m·i·1ier11i11 aut e.urum ma:r.um<1e 'P<irti, iu• Bit imperan-
di123. Jedenfalls war die Ermächtigung durch die Gesamtheit der Bürger (Haus-

118Außer den weiter unten angeführten Autoren haben folgende Gelehrte in den Bahnen
der Aristoteleetradition die Demokratie als eine der drei bekannten Regierungsformen
dargestellt: JoHA.NNES ÄLTHUBIUS, Politioa 39, 21. 60 (3. Aufi. Herborn 1614); PHILIPP
CLÜVER, Germania antiqua. 38 f. 41 (Leiden 1631); MATTHIAS ßERNEGGER, Ex C. Cornelü
Taciti Germania et Agricola questiones, qu. 55 (Straßburg 1640); Jou. FRIEDRICH HORN,
Politicorum pars architectonica de civitate (Frankfurt 1672), 17; Jou. HEINRICH BoEOLER,
Institutiones politicae 6 (Straßburg 1674); ULRICH HUllER, De jure civita.tis 1, 8, 4 (Leiden
1669; 4. Auß.. Frankfurt, Leipzig 1708), 301 ff.; Juuus BERNJURD v. RoHR, Einleitung
zur Staatsklugheit (Leipzig 1718), 250; N1coLAUS HIERONYMUS GUNDLING, Politica 5, 7
(Frankfurt, Leipzig 1733); CHRISTIAN WoLFll', Philosophia practica universalis 9, 2073 ff.
(Halle 1738).
uo PuFENDORF, De officio hominis et civis juxt& legem naturalem 8, 3 (Frankfurt 1709).
Pufendorf, der sich bekanntlich bei der Beschreibung des Deutschen Reiches der aristo-
telischen Kategorien entimhlagen hatt.e, d11flnilll't.fl nie Oemolmi.tle in l'll'linl'lr "niARl'lrtA.t.io
de republica irregulari" (Lund 1668) entlang der aristotelischen Dreiteilung; in deutscher
th11:1rset:.-.ung (Leipzig 17UI) tauchte sie in fol~ender Definition auf: Eine Dem-0eratie ist
alsdann lobenswert, wann in einer gleichen Freiheit die Gemüter einerlei gesinnet sein und sich
die allgemeine Wohlfahrt der Republic nach Vermögen zu Herzen gehen lassen und wann bei
ihnen guter Rat leichtlich PT,a,tz findet und angenommen wird, und allezeit der Geschickte&te
zu den vornehmaten Ämtern gezogen wird; hingegen die andern, wie sich& gebühret, Gehorsam
leisten (1115). Im Anschluß stellte Pufendorf die Demokratie als Verfallsform der ordent-
lichen democratiacken oder 'JX>'Plll,ariachen Regiments-Art gegenüber, ohne freilich, mit
Hobbes, derartigen Benennungen spezifizierende Bedeutungen zukommen zu lassen (1124).
181Vgl. PlllTJllR PlllTlllRSER, Geschichte der .Ari11totelischen I'hilot1ophie im protesta.ntischeu
Deutschland (Leipzig 1921), 166 ff. 184 ff.; HA.NS MAIER, Ältere deutsche Staatslehre und
westliche Tradition (Tübingen 1966), 12.
1u ALsTED, Compendium (1626), 1303.
US CHRISTOPH BESOLD, Discursus politici 3: De democratia, in: Opera politica, t. 3 (Ausg.
Straßburg 1641), 38.

840
a) 'Demokratie' als pnliteia Demokratie

väter) für das demokratische Regiment unentbehrlich, wie sowoh~ Besold als auch
MYLER AB EHRENBACH darlegten: ... ut Magistratus ab ipso popuk> constituatur,
atque ab eoclem auctoritatem sumat124• - Nam olim Romae, durante atf,huc Demo-
oratico lmperio, Magistratum constitutio, ad purum Populi favorem pertinebat, adeo
ut lez Valeria ... Oaput ejus jusserit, qui Imperium nisi a Populo haberet126•
Ein ähnliches Bild ergeben die zahlreichen deutschen Belege vom 16. bis 18. Jahr-
hundert. Hier wird 'Demokratie' beschrieben als herrschung und regierung des
gemeinen volcks (1561) 12 6, al-herschender stand (1645) 1 2 7, eine ordentliche Form
der Republic, da die höchste Gewalt dem ganzen Volke zukommt (1726) 128, eine Regi-
ments-Form, worinnen das höchste Regiment von dem ganzen Volke geführet wird (1727,
noch 1766) 129, Regiment des ganzen Volkes (1755)1 30, eine Regierungsform, da das
unabhängige Volk zu befehlen hat (1780)1 31 , diejenige Art von Regierungsformen, in
welcher das ganze Volk an der Regierung des Staats Anteil hat (1791) 182 , kurz Volks-
regierung, V olksherrschung (1792) 183 oder, wie ScHLÖZER 1793 die aristotelische
Tradition des Ausgangs von der Zahl der Herrschenden noch einmal prägnant
zusammenfaßt: Nur einer hat die Herrschaft, - Monarchie. Oder ein Ausschuß, -
Aristokratie. Oder die bei jeder Herrscher-Handlung besonders erforschte Mehrheit, -
Demokratie 1 S 4•
Auch in der übrigen europäischen Literatur ist der Reflex der aristotelischen Staats-
formenlehre zu erkennen: so bei TEMPLE 13\ LocKE 136, MoNTESQUIEUu 7 und im
Anschh1ß an diese in der „Encyclopädie" (DE JAUCOURT) 138 • Im angelsächsischen

:WEbd.
126 MYLER All EHRENBACH, Hyparchologia (Stuttgart 1678), 27 ff.
128 MA.AI.ER (1561), 219.
127 PHILIPP v. ZESEN, Adriatische Rosemund (Amsterdam 1645; Ndr. Halle 1899), 177.

Im Dict. fra.ny.-allemand (1675) ist unter democratie angegeben: Gouvernement populaire,


Regierung des gemeinen Volk8, Democratie, democratique, etat democratique, ein Stand der
von dem gemeinen Volk regieret wird. Status democratieus.
128 W ALCH (1726), 483; die gleiche Definition bei HüBNER/ZINCKE, Handlungslex. {Ausg.

Leipzig 1755), 603, ebenso in den weiteren Auflagen (1776), 639 und (1792), 635.
1211 SPERANDER (1728), 186. Noch bei KRACKHERR (1766), 116.
130 Wohlm. Unterricht (1755), Anhang, 19.
131 H AT.T.F, "Rrl. 2 (1779), 430 {7.usa.t7. des Übersetzers).

132 ROTH Bd. l (1791), 190.


lUIJ KUPPERMANN (1792), 150.
184 AuG. LUDWIG v. ScHLÖZER, Stats-Gelartheit, Bd. 1 {Göttingen 1793), 112.
135 WILLIAM TEMPLE definiert 'Demokratie' als one of the three forma of government; tha.t in

which the 8overeign power iB neither lodged in one man, nor in the nobleB, but in the collective
body of the people. While many of the Bervant8, by industry and virtue, arrive at richea and
esteem, then the nature of the government inclines f,o a democracy; zit. JOHNSON vol. 1 (1755),
s. v. democracy.
138 JOHN LocKE: The majority having the whole power of the community, may employ all that

power in making lawB, and executing thoas laws; and there the form of tho government i8 a
perfect democracy; zit. JOHNSON, ebd.
137 MONTESQUIEU, De l'esprit des lois 2, 2: Lor8que, danB la republique, le peuple en corps

a la Bouveraine puiBsance, c'eat une Democratie.


iss DE JAUCOlIBT, Art. Democratie, Encyclopedie, t. 10/2 (Ausg. Genf 1779), 647: Toute
republique oU la 80UVerainete reside entre les mainB du peuple est Une dimocratie.

841
Demokratie W. 1. Politische Theorie

Bereich wurde oft im .Anschluß an die antike Tradition 'Demokratie' weniger als
selbständige Staatsform. denn als Element einer gemischten Staatsform. betrachtet,
so in den Vßrfassungsschriften von Blackstone und De Lolme und bei J OBN ADAMS,
der 1775 die Frage stellt: I s not the democracy ·as essential to the English Oonstitution
as the monarchy or aristocracy? 139 - eine Frage, die auch in Deutschland diskutiert
wurde.

b) 'Demokratie' als Entartungsform der politeia im Wortsinne des Aristoteles ist


belegt bei MICRAELIUS (1653): Democratia est forma reipublicae a pura polit~ aber-
rans in qua sumuntur, qui praesint, non ex una virtute, sed ex habita potissimum
ratione libertatis140• Die positive und negative Bedeutung vereint ein Wörterbuch
von 1660: Democratie, f. ein Herrscha.fft so bey dem gemeinen Mann stehet /Da der
pöbeZ die höchste gewalt hat/ ein .Regierung deß Vo/,cks / DemocratialU. Bei BAUMEISTER
(1758) heißt e.s: Democratia est statiis, qiio p'lebs, utilitati suae tantum intenta, ncgligit
salutem et tranquillitatem reipublicaem. Negative .Akzentuierung des Begriffs und
Zweifel an der Realisierbarkeit der Demokratie außerhalb kleinster politischer
Ordnungen überwogen noch bei Montesquieu, Rousseau, Wieland und Kant. La
democratie et l'aristocratie ne sont point des ßtats libres par leur nature. La, liberU
politique ne se trouve que dans les gouvernements modires; elle n'y est que lorsqu'on
1i'abuse pas 1z.a pu·avuir heißt es bei MoNTESQUIEU148• RoussEAUS „Contrat social"
verneinte die Möglichkeit einer Demokratie im strengen Sinn des Wortes: A prendre
le terme dans la rigueur de l'acception, il n'a jamais eziste de veritabk democratie, et il
n'en existera jamais. Il est contre l'ordre naturel que k grand nombre gouverne et que
le petit soit gouverne. On ne peut imaginer que 'le peup'le reste incessament assemb'le
pour vaquer auz affaires publiques, et l'on voit aisement qu'il ne sauroit etablir pour
cela des commissions, sans que la forme de l'administration change. Nach Rousseaus
berühmten Wort war die Demokratie eine Staatsform für Götter: S'il y avoit un
peup'le de dieuz, il se gouverneroit democratiquement. Un gouvernement si parfait ne
convient pas ades hommes144• Auch WIELAND bezweifelte, ob eine vollendete Demo-
kratie zu verwirklichen sei. Nicht einmal unter einem kleinen Volke könne sie sich
erhalten1411•
Für KANT dagegen war 1795, bereits unter dem Eindruck der Jakobinerherrschaft,
die reine Demokratie, bei der alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft die
Herrschergewalt besitzen, ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet,
da alle über und aUenfalls auoh wider einen (der also nicht miteinstimmt), mithin aZ'le,
die doch nwht al'le sind, beschließen; welches ein Widerspruch des all,gemeinen Willens

189 JOHN ADAMS, zit. Sources and Documenta Illustrating the American Revolution,
1764-1788, ed. Samuel E. Morison, 2nd. ed. (Oxford 1953), 127.
1'0 MJCBAELIUS (1653), 306 ff.
m Dict. fran9.-all.-lat. (1660), 230.
ua FRIEDR. CmusTUN BA'UMEISTER, Philoeophia definitiv&, 9. AuH. (Wittenberg 1758),
197 f., Nr. 1202.
ua MoNTESQUIEU, Esprit des lois 11, 4.
iu J. J. RoussEAU, Du contrat social 3, 4.
16 C. M. WIELAND, Sendschreiben an Herrn Professor Ehlers in Kiel (1792), AA 1. Abt.,

Bd. 15 (1930), 423 (s. Anm. 179. 185).

842
e) Weill'lrltildung der Theorie Demobatie

mit swh s-elbst und mit der Freiheit ist. Die traditionell - als forma imperii - ver-
atandene Demokratie habe dem Individuum nicht den rechtsstaatlichen Schutz ge-
währen können, den der von Kant erstrebte R.ep'llhlilranism - als forma regiminis -
biete. Anders als in der Monarchie und in der Aristokratie sei in der Demokratie
eine gewaltenteilende repräsentative Regierungsart, die Absonderung <Zer ausfüh-
renden GewaU ... von der gesetzgebenden, unmöglich, weil alles da Herr sein will148•

c) Weiterbildung der Theorie. Die zwischen beiden Überlieferungsreihen liegenden


Versuche einer Fortbildung der Theorie knüpften an die Gleichung 'Demokratie'=
'Politie' und die von hierher nahegelegte Gleichsetzung des Demokratischen mit
dem Republikanischen an. So rückte schon BESOLD 'Demokratie' in die Nähe der
RP.spublica: .AcdWitur alias Democratia, speciatim et absolute Respubli,ca: •.• eo quod
inibi omnia mazume pubZi,ca, hoc est, populWa seu communia existant; universique
r.i11r.s, aR.qtm ,;'fll,p,r s11 ration11, .fo.~ pithlim.1,m sint partiti147• Für WEHNEB (1665) war
Democratia die Staatsform, so das Regiment bey allen Stiinden und dessen Gliedern
zugleWh stehet / die gantz Gemein und der Pöfel mit zu gebieten hat / doch zu gemeiner
Wolfahrt gemhtet 148 • Innerhalb dieses weiteren Demokratiebegriffs wurden vom
18. Jahrhundert an spezifische Sonderformen unterschieden, so bei WALCR (1726)
1) die democratia pura, wo das Volk unter einander die Maclt.t hai; 2) die democratia
temperafa 1·eg·ie, wo e·iner utiter det)l Volk ein sonderliche& .Ätisehen und Vorzug hat,
seine Macht aber mehr auf Raten als Befehlen gehet, derglewhen Democratien ehemahls
bei den altßn Deutschen, ingleWhen in vielen griechischen Sfiidten waren; 3) die demo-
cratia temperata aristocratÜJe, welches wie<ler auf unterschiedene Art geschieht, da näm-
lich gewisse Collegia und Zusammenkünfte die Sache im Namen des Volkes verwalten,
indem in einigen Democratien gewisse Zünfte und Gesellschaften sind; in andern hin-
gegen nicht, wie die Schweiz von beiden ein Exempel sein kann; 4) die democratia urbica
und 5) die democratia per vicos sparsa149• Die gleichen Unterscheidungen sind auch
in den gründlichen Artikel bei ZEDLER (1734) eingegangen. Dabei wurde betont, daß
nicht eher eine Demokratie vorhanden sei, als bis das Grund-Gesetz einer Democratie
existiere, welches verlange, daß der Wille des einig gewordenen gesatnten Volkes eine
Rwhtschnur aller und jeder insbeson<lere sein soll. Erst dadurch werde eine Menge
zum 6ijµor; oder durch die Majesfiit vereinigten Volk 160. D'ARGENSON unterschied in
seinen 1764 erschienenen, aber bereits in den dreißiger Jahren unter der Hand ver-
breiteten161 „Gonsiderations" eine fausse et legitime Democratie: La fausse Demo-
cratie tombe bientOt dans l'Anarchie, c'est le gouvernement; tel de 7,a multitude; tel ei."t
un peuple revolte; alors le peuple insolent meprise les lois et 7,a raison; son despotisme

ua KANT, Zum ewigen Frieden (1795), 1. Definitiva.rt. AA Bd. 8 (1912), 352 f. (e. Anm.
177. 191).
m BESOLD, Discursue politici (e. Anm. 123) 3, 39.
m PAUL MATTHIAS WEHNER, M.etamorphosie rerUm.publicanun, Das ist/von Mutation/
VerenderungfUntergang/AuffnelunungfVerwalidelung unnd Perioden der Regimenten
unnd Gemeinden/in Politischem Zustand (Frankfurt 1626), 3.
u• Jene ist, da die höchate Gewalt diejenigen haben, so in der Stadt wohnen; diese aber ist bei
den Dörfern, da keine Süül,te Bind; W ALCH (1726), 484.
l&O ZEDLER Bd. 7 (1734), 524.
m PALMER, Notes (vgl. Anm. 114), 205.
Demokratie DI. 1. Politische Theorie

tyrannique se remarque par 1.a violence de ses mouvements et par l'incertitud,e de ses
Mliberations. Dans la veritable Democratie on agit par deputes, et ses deputes sont
autoris6s par l' 6lection, la mit1Rion cWB &tUJ du poupk; et Z' autoriti qui ks appuye,
constitue 1.a puissance pubZique: leur devoir est de stipuler pour l'inter& du plus grand
nombre des citoyens, pour leur eviter les plus grands maux et leur procurer les plus
grands biens162 • In der seit 1778 erscheinenden „Deutschen Encyklopädie" unter-
schied KösTER die „unvermischte" oder „wahre" Demokratie von der mit dem
Repräsentativsystem verbunden~n: Zu einer wahren Democratie wird erfordert, daß
das ganze Volk an der gesetzgebenden Gewalt Anteil nehme. ... Ein jeder Hausvater
wenigstens muß hierbei das Recht haben, mitzusprechen. Wenn aber wegen der allzu-
großen. Volksmenge und den dttrch die Abstimmung einer jeden einzelnen Person ent-
stehende1i Weitliiu'figkeiten oder allenfalls aus andern Ursachen nur gewisse Personen
sind, die die ilb'ligen vertreten oder reprasentieren, so ist e.~ Ir.eine ganz reine JJemocratie
mehr; jedoch kommt sie derselben ziemli.f:h. tuih.P., wt:nm. da.s Volk t1orher cliese seine
Repräsentanten jedesma.l selbst erwählt. Wofern diese Repräsentanten nicht anders
stimmen dürfen, als das und wie es ihnen aufgetragen worden, so ist es eine völlige
Democratie, indem es einerlei ist, ob jemand seine Stimme selbst oder durch einen
a.ndern gibt. H ahtm abP.r gewisse Personen das Recht, Repräsentanten vorzustellen, ohne
dazu erwählt zu werden, so ist es insofern keine Democratie mehr, sondern eine Aristo-
cratie163. Köster vermochte al!o die politische Reprii.11e11taLiu11 (nichtimperatives
Mandat) noch nicht völlig mit dem Demokratiebegriff zu verbinden. Während
d'Argenson darin bereits die „legitime" oder „wahre" Demokratie sah, verwendete
er für solche Übersetzung unmittelbarer Hausväterdemokratie in eine Ausschuß-
herrschaft noch traditionell den Aristokratiebegri:ff.
Köster kam zu dem Ergebnis, daß die - theoretisch gesehen - „ursprüngliche"
Regierungsform der Demokratie zwar die beste sei, aber in der Praxis sich nicht
bewähre. Da.gegen stellte er die suggestive Frage, ob nicht eine gemischte Democratie
der unvermischten Aristocratie oder uneingeschränkten Monarchie vorzuziehen sei.

d) Die Eindeutschung des Wortes 'Demokratie'. Bereits im Laufe des 17. J ahrhun-
derts wurde im Deutschen gelegentlich versucht, das lateinische Wort zu entlehnen.
So tauchen deutsche Wendungen wie Democratey bei MICRAELIUS (1639), Demo-
cratie bei GROTTNITZ (1647) und Democraty bei HIRSCH (1662) auf164• Aber solche
Versuche blieben auf der gelehrten Ebene und drangen nicht in die Volkssprache
ein.
Ansonsten umschrieben die Wörterbücher das Wort weiterhin; so etwa PoMEY
(1715) das lat. democratia und das franz. democratie mit Herrschung (bzw. Herr-
schaft) und Regierung des gemeinen Volks 156• Ein deutsches Wort 'Demokratie' wird
hier ebensowenig verzeichnet wie etwa bei CASTELLI in seinem italienisch-deutschen
„Sprach- und Wörterbuch" 168, Dagegen wurde hier democratico stato bereits mit

ua R:mm!i LOUIS D'ARGENBON, Coll8iderationa sur. le gouvernement ancien et present


de la France (Yverdon 1764), 6 f.
168 Dt. Enc., Bd. 7 (1783), 73.
lH Belege bei SoHULZ/BASLER Bd. 1 (1913), 133.
1611 PoMEY, Grand dict. royal (1715), 88. 270.

168 ÜASTELLI (1700), 206.

844
m. 2. Verfasmagspruis Demokratie

demokratischer Staat übersetzt, democratiggiare mit dernocratisches Regiment einfüh-


ren oder führen, democrazia mit Regierung oder Staat, da gemeine Leute herrschen.
Wie das Adjektiv muß das Substantiv als Fremdwort sich damals eingebürgert
haben. ZEDLER 157 schrieb es zwar noch mit lateinischen Lettern, widmete ihm aber
schon einen langen Artikel (1734), während er Republick bereits als deutsches Wort
registrierte (1742). ADELUNG hielt 'Democratie' aus seiner ersten Auflage (1774)
noch fern, nahm es dann aber in die zweite (1793) auf158• SCHWAN verwendete
bereits 1789 in seinem Wörterbuch die moderne Schreibweise: Democratie, s. f. Die
Demokratie, eine Regierungsform, wo.die höchste Gewalt in den Händen des Volkes
.istise.

2. Verfassungspraxis

Die Möglichkeit der Eindeutschung des Fremdwortes hing jedoch nicht nur von
den theoretischen Weiterbildungen ab, die bisher genannt wurden, sondern ebenso
von der Chance, den Begriff auch in der unmittelbaren Erfahrung anzuwenden.
Wann erstmalig der Begriff 'Demokratie' - über den geschilderten politisch-theo-
retischen Sprachgebrauch hinaus - auf konkrete Verfassungen der Zeit angewendet
wurde, bedürfte einer näheren Untersuchung. Einer der in der frühen Neuzeit
seltenen Belege für die Verwendung dcß .Bcgriffü zur .Bozoiohmmg lronkrntm~ Hen-
schaftsverhältnisse findet sich in LUTHERS Tischreden, wo die Herrschaft in der
Schweiz und in Dithmarschen als Beispiel für 'Demokratie' genannt werden 160.
Schon 1647 wurde eine der Keimzellen der amerikanischen Demokratie, das von
Roger Williams gegründete Gemeinwesen, in den „Colonial Records of Rhode
Island" als „demokratisch" charakterisiert: lt is agreed ... that the forme of Govern-
ment established in Providence Plantations is Democraticall; that is to say, a
Government held by ye free and voluntarie consent of all, or the greater parte of the free
inhabitants 161 •
Etwa von den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts an wurde es gebräuchlich, von
Staaten wie Holland und der Schweiz als 'Demokratien' zu sprechen162 , wobei
freilich die Bezeichnung 'Republik' noch sehr viel häufiger verwendet wurde und
bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschend blieb. D'ARGENSON bezeichnete
in seinen „Oonsiderations" die Schweiz als eine pure democratie, ebenso gehöre
Holland zu den demokratisch regierten Staaten, und in den Fürstenstaaten des

167 ZEDLER Bd. 7 (1734), 524.


lll& ADELUNG 1. Aufl. (1774); 2. Aufl., Bd. 1 (1793), 1444.
169 SCHWAN Bd. 2 (1789), 84.
19 0 MARTIN LUTHER, WA Tischreden, Bd. 4 (1916), 4342 (7. Februar 1539): Politicus

magiBtratus habet multw apecies: Monarchiae, alada iat regnum Galliae, Angliae, Porttugaliae,
Bohemiae, Ungariae, Pol.oniae, AriBtocratia est magiBtratus civiliB, ut Germaniae, democratia,
ubi plurea regunt, al8 in Schweitzen und Dytmara, Oligarchia ala in Erfurdt. In der deut·
schen Nachschrift lautete der Zusatz zu 'Demokratie': wo der gemeine Mann regiert. Vgl.
dazu WERNER ELERT, Morphologie des Luthertums, Bd. 2 (1932; Ndr. München 1958),
326.
m BLANKE, Demokratiebegriff (s. Anm. 114), 41 f.
112 Auch der Plural trat erst um diese Zeit auf.

845
Demokratie JD. 2. Verlaasangspruü

Deutschen Reiches fand er different& M<Jres de, Dbnocratie183. Auch in den deutschen
Lexika und der gelehrten Literatur der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam
diese Anwendung des Demokratiebegriffs auf die Gegenwart gelegentlich vorl&&;
SCHEIDEMANTEL führte Sparla, Athen, die mehresten Städ,t,e in d.en vereinigten Nieikr-
lanikn, Genf und vie"le Bchweizerkantons als Beispiele an185• Als Muster für ein
demokratisches Stimmrecht, wo eine feik Mannsperson oon 16 Jahren ihre Stimme
hat, nannte KösTER in der „Deutschen Encyclopädie" (1783) die Schweizer Kantone
Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Glarus, Appenzell, das Bündner- und Walliser-
land188. PÜTTER sprach in seiner „Staatsverfassung" (1787) von der mehr oikr minikr
eingeschränkren oikr unbeschränkt enaristOC'l'atischen oder ikmocratischen Verfassung
der deutschen Reichsstädt187. Athen und Sparta sowie das republikanische Rom
wurden gleichfalls als historische Beispiele einer demokratischen Regierungsform
angefll.hrt100, jedoch im allgemeinen noch nicht die altgermanischen und altdeut-
schen Verfassungszustände, die erst im 19. Jahrhundert - im Zuge der doppelt.en
Erweiterung der Begriffe der'alten deutschen Freiheit' und der'Demokratie' -in die
historische Geneologie der demokratischen Verfassungen einbezogen wurden1•.
Immerhin war es symptomatisch für die Vorbereitung des bürgerlichen Geschichts-
bildes im 18. Jahrhundert, wenn die Einwohne1'8Cha.ft von Köln 1788 gegen die
Toleranzgesetzgebung Josephs II. unter Berufung auf die demokratische Verfassung
der Stadt protestierte 170 und wenn die Aachener :Bürger in den ltevolutionskriegen
gegenüber den französischen Neuerungen darauf beharrten, stets eine demokrati-
sche Verfassung besessen zu habenl71.
Die auffälligste Erweiterung des Demokratiebegriffs vor 1789 findet sich - in der
Literatur des 18. Jahrhunderts völlig vereinzelt dastehend- in den schon erwähn-
ten „Considerations" des Marquis n'ARGENSON. Hier stoßen wir auf ein neues Ver-
ständnis von 'Demokratie', das nicht mehr von der Herrschafts- und Verfassungs-
ordnung ausgeht, sondern vom gesellschaftlich-so.hlalen Bereich. Tocquevilles Be-
trachtungsweise vorwegnehmend sah d'Argenson die französische Geschichte unter
dem Gesichtspunkt des progr~ de, la Democratie, wobei das Königtum als Schritt-
macher der Entwicklung gewürdigt wurde: seine Autorität habe die Feudalgewalten
zurückgedrängt und das Vorrecht des Adels zerbrochen, ce qui nous prouve, q'IU>i-
qu'on en dise, que la Dbnocratie est autant' amie de, la Monarchie qire l'AristOC'l'atie en

103 D'ÄRGENSON, Considerations, 7. 10. 47 ff. 79.


1" Vgl. WALCB: (s. Anm. 149) über die Demokratien ••• bei den allen Te'UUJohen und ZED·
LEB Bd. 7 (1734), 527 mit eigenem Artikel: Demoorati8ohe Oantone Bind diejenigen Orter
in der Sohweiz, wekhe nur aus eßiohen Fluken bestehen, darinnen ein Derrworatiaohea
Regiment geführet wird.
m SCHEIDEMANTEL ßd. 1 (1782), 662.
lN Dt. Enc., ßd. 7 (1783), 73.
m JoH. STEPHAN PüTTn, Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des
Teutschen Reichs, Bd. 3 (Göttin.gen 1787), 262. ·
m Bu iu dtll" EuuyulupUd.ill, Ulli Sufil!lW.lll.M.A..N'l".l!lL und in der Dt. Enc.
119 Auch hier wiodor a.ls AuB11&hm.e W .ALCH (1726), 484.
l7o Vorstellung der bürgerlichen Deputatsch&ft der Stadt Köln an Kaiser Joseph II.,
15. 2. 1788, zit. Quellen. zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen
Revolution 1780-1801, hg. v. JOSEPH HANsEN, Bd. 1 (Bonn 1931), 260.
171 Zit. ebd., Bd. 2 (1933), 68. 676; vgl. für Köln ebd., Bd. 3 (1935), 313.

846
IV. Das Zeitalter der Französischen Revolution Demokratie

est ennemie 172 • Mit zunehmender Pazifizierung Europas werde der Adel auch seine
militärische Führerrolle einbüßen, wie er bereits das Verwaltungprlvileg an die
hiirgerlich1m Schir.ht1m verlor1m habe; Demokratie und Königtum würden gemein-
sam zur Herrschaft aufsteigen. Die Dispositioris aetendre la Democratie en France 173
sahen eine Reihe liberaler Reformen -ungefähr in der Linie der Politik der Reform-
minister--,. vor, die auf die destruction de la N ob"lesse, die Befestigung der materiellen
Prosperität des Landes und die Sicherung der Monarchie gerichtet waren. Der
Begriff der 'Demokratie' wurde bei d'Argenson über das. rein verfassungspolitische
Verständnis hinaus zur geschichtsphilosophischen Chiffre für bürgerlichen Aufstiegs-
willen und Verlangen nach sozialer Gleichstellung17'. Seine royalistische Tönung 176
wirkte noch in der späteren; aus den Anfängen der Revolution stammenden Formel
der „Democratie royale"l 78 nach.
Die Eulwickluugt>li.llie eiuer iu waucher Ilins.icht verwandten Awiweitung de!
Demokratiebegriffs nimmt von KANTS Unterscheidung von 'Demokratie' (als forma
imperii) und 'Republikanism' (als forma regiminis) ihren Ausgang1 ?7. Seit Kant
kann eine Monarchie „republikanisch" sein.

IV. Das Zeitalter der Französischen Revolution


Die Jahre 1780--1800 sind für das moderne Verständnis von Demokratie von ent-
scheidender Bedeutung. Die heutigen Wortbedeutungen wurden im wesentlichen
in dieser Zeit entwickelt und verbreitet.
Vor allem in zwei Richtungen veränderte sich der Sprachgebrauch. 1) Einmal wurde
'Demokratie' jetzt aus einem Wort der Gelehrtensprache endgültig zu einem allge-

112 n'.AltGENSON, Considerations, 110 f.


178 Ebd., 138 ff.
m Vgl. die treffende Kennzeichnung bei PALMER, Notes (s. Anm. 114), 205: „We may
note, too, in d'Argenson, the tendency to think of democracy as equality rather than 8.s
self-government (opposing it to 'aristocracy', rather than to 'monarchy'), and the emanci-
pation from the. traditional idea that democracy could be realized only in tiny and virtuos
societice".
176 Vg1. n'.ARGENSONS Plan du Gouvernement propose pour la France, in: Considerations,

159 ff., art. 6: Cette Democratie nullement dangereWJe a la Monarchie.


171 Der BARON VON WIMPFEN plädierte am 28. Juli 1789 für einen Verfassungsartikel

folgenden Inhalts: Le Gouvernement fra'Tlrl(ais est une Democratie royale. Mnul!EAU be-
merkte zu dieser Wortprägung im „Courier de Provence" (no. 34, 7) folgendes: Le Baron
de Wimpfen, en reunissant deux nwts Bi eloignh juaqu'a present l'un de l'autre, exprimoit
une grande verite; c'est que la Democratie s'allie naturallement avec la Monarchie; c'est qu'il
n'existe auoune opposition entre leurs interets, puis-que le voeu du Roi soit a88ez fort 'JKYU1'
s'op]X>Ber a l'introduotion d'une aristocratie, qui tend toujours a l'independanoe et dont la
puisaanoe ne a'exerge jamais <[lt'aux depens du PrinrR. et du Pl'.upll'.. Im Gegensatz hierzu
charakterisierte JOHANN VON TÜRXHEIM, Bericht an die Gemeinde von Straßburg, Franz.
Staatsanzeigen (1789), H. 2, 125•. 131 die Democratie royale als Versuch, den König völlig
zu entmachten, ihn zu einem rEin dekorativen Verfassungselement zu degradieren und
Nationalversammlung und Straße zu autorisierten Machtträgern zu erheben.
177 KANT, Zum ewigen Frieden (1795), 1. Definitivart. AA Bd. 8 (1912), 349 ff.

847
Demokratie IV. 1. Öftinm• des gesehiehtsphilosophischen Borizonta

mein verwendeten (obgleich weiterhin heftig umkämpften) politischen Be~:ff, der


ebenso der Selbstdarstellung bestimmter Parteirichtungen wie der Kennzeichnung
von Verfassungsinstitutionen diente und vereinzelt auch schon in Staatsurkunden
auftauchte. 2) Mit dieser Verbreiterung des Sprachgebrauchs ging Hand in Hand eine
Erweiterung des Inhalts derart, daß 'Demokratie' jetzt immer mehr über seinen
ursprünglichen verfassungspolitischen Sinn, die Kennzeichnung der Staatsform,
hinauswuchs und allgemeinere soziale und geschichtsphilosophische Gehalte in sich
aufnahm- ein Vorgang, der auch im Entstehen neuer Wortverbindungen ('christ-
liche Demokratie', 'Sozial-Demokratie') deutlich wird.
HANS MAIER

1. Öffnung des geschichtsphilosophischen Horizonts: Wieland, Kant

Die Französische Revolution provozierte im Zuge ihres Ablaufs ein neues Demo-
kratieverständnis im deutschen Sprachbereich, und zwar auf allen Jföenen: der
gelehrten Theorie, die sich zunehmend der politischen Aktualität stellte, der Pam-
phletistik und schließlich auf der Ebene der Wörterbücher für den bürgerlichen
Leser.
WIELANDS laufondo Kommontilro im „Toutschen Merkur" zeugen i;lliläohsL vuu
dem aristotelisch bedingten Vorverstä.nilnis, mit dem die Probleme der auftauchen-
den Demokratie angegangen wurden. Aus ihm gewann Wieland die Maßstäbe seiner
Kritik, die sich außerdem vergangener Beispiele aus der Revolutionsgeschichte in
England, Deutschland und Amerika bediente. Im Laufe eines Jahrzehnts gelangte
Wieland freilich zu Formulierungen, die dem modernen Phänomen sprachlich
gerechter werden sollten.
WIELAND präzisierte seine Kritik in vier untersoheidbaron Hinsichten:
a) Gemäß der Herkunft leugnete er zunächst schlechterdings die Möglichkeit einer
reinen Demokratie, wenn sie sich über eine Bewohnerschaft von drei bis vier Mil-
lionen hinaus ausdehnt; nur für einen Stadtstaat sei sie realisierbar. Es sei ein
leichtes und luftiges Ding, ... eine Derrwkratie .von fünfundzwanzig Millionen Men-
schen . . . aufzuführen. Da Frankreich· zu groß sei für eine d,emokratische Repuhlik,
möge es sich durch die Rückgabe von Elsaß, Lothringen und der drei Bistümer ver-
kleinern, um seinem Verfassungsideal näher zu kommen i 7e,
b) Eine Demokratie - im Sinne von Plato, Rousseau und de Jaucourt in der
Encyklopädie - setze den tugendhaften Menschen voraus, könne ihn aber nicht
erziehen. Im Gegensatz zu den amerikanischen Staaten sei es daher ein unnatürlicher
Zustand, in Frankreich, wo die Einfalt und Reinheit der Sitten fehlten, eine Demo-
kratie einzuführenl79,
c) Auch wenn Wieland dazu neigte, die Möglichkeit einer reinen Derrwkratie zu
bejahen, solange man innerhalb der Theorie stehenbleibt180, so hegte er doch theo-
retische Bedenken gege:h diese Verfassungsform überhaupt. Mit Rousseau hielt er
sie für unerfüllbar, für eine politische Schimiire 181 , weil sie institutionell zu ihrer

178 WIELAND, 'Ober Krieg und Frieden (1794), AA 1. Abt., Bd. 15 (1930), 643 ff., bes. 648. 653.
ue Ders., Sendschreiben an Ehlers (1792), ebd., 423.
180 Ders., Über Krieg und Frieden, ebd., 652.
181 Ebd., 647.

848
IV. 1. Öffnung des gesebiehtsphilosopbisehen Horizonts Demokratie

Selbstaufhebung treibe. Diesen Gedanken belegte er aus seinen griechischen Stu-


dien, wie sie sich im „Agathon" niedergeschlagen hatten18 2, aus den Parallelen zu
den Millenariern und Levellern der englischen Revolution und aus dem Schauspiel
der Französischen Revolution selbst. Sie treibe demokratischen Wahnsinn hervor,
verf~chte ein politisches Evangelium der Demokratie, führe aber de facto zu einer
Kakistokratie des „Plebejeradels"lss.
Den institutionellen Mangel der Demokratie entwickelte Wieland verschiedentlich,
immer die empirisch-personalen Gegebenheiten betonend: Die Demokratie, wie jeder
andere Staat, besteht aus Menschen, welche regieren und welche regiert werden sollen;
aber das Eigene in ihr ist, daß die Regierenden zugleich die Regierten, .die Regierten
hingegen iler Souverän selbst sind. Darin liege und daraus folge ein wechselseitiger
Betrug, so daß eben darum (die Demokrati.e) die .~chlechteste aller Regierungsarten ist184.
Auch diese Kritik gewann ihre Evidenz aus der vorgängigen Subsumtion des
Demokratiebegriffs unter die möglichen Herrschaftsformen. Deshalb leugnete Wie-
land
d) auch die Möglichkeit einer monarchischen Demokratie oder demokratischen
Monarchie, wo der Monarch nur der erste Beamte sei, ein Maire de France: eine der-
artig übel organisierte Demokratie könne nicht bleiben wie sie sei; sie treibe über
ihre Zwischenlage hinaus185.
Boi aller ompirlnohon Sll.ttigung vm·lili1ili ul!!o die Kritik Wielands, als er diu Br.iufa
über die Revolution bis zur Jakobincrhcrmchaft verfaßte, im ka.tcgofia.len Bereioh
der aristotelischen Herrschaftsformen. In den „Gesprächen unter vier Augen"
(1798) verließ er ebensowenig seinen auch empirisch erläuterLen poliLischen Stand-
punkt gegen die Demokratie, aber er zeigte schon eine Reihe von Phänomenen,
die er in Anlehnung an die französische Revolutionssprache - trotz aller semanto-
logischen Kritik - darstellte. Obwohl er die Republikaner - als Vertreter der
demokrati.~chen Partei - in der Minorität glaubte, übernahm Wieland die Möglich-
keit einer repräsentativen Demokratie, die die herkömmliche räumliche Begrenzung
überspielte. Auch wenn er die Demokratie nur in Utopien suchen mochte, sprach
er ihr nicht eine postulatorische Berechtigung ab. Auch wenn er für Ordnung und
Sicherheit innerhalb der herkömmlichen Monarchien optierte, registrierte er das
Programm der Universal-Demokratie, die zwar den letzten Schritt zu einer allgemeinen
Barbarei und Verwilderung darstelle, gleichwohl aber von den Franzosen voran-
getrieben werde186 : sie versuchten in rnöglic}1,St kürzester Zeit den ganzen Erdboden
zu demokratisieren187.Wieland versuchte zwar der Demokratisierung das Ideal einer
gemischten Verfassung entgegenzusetzenl 88 - immer aber war er gezwungen, die
Ausweitung des Demokratiebegriffs zu einem ideologischen Bewegungsfanal hinzu-
nehmen. Er sparte nicht mit seiner scharfen Kritik an der allgemeinen demokrati-

182 Ders., Geschichte des Agathon 8, 1-3 (1766 ff.). AA 1. Abt., Bd. 6 (1937), 202 ff.
183 Ders., Über Constitutionen (1792), Werke, Bd. 31(1857),161. 167. 264. 269. 287 ff.
184 Ders., Athen, Werke, Bd. 34 (1857), 377 f.
1116 Ders., Sendschreiben (vgl. Anm. 179), 426. 429.
l86 Ders., Gespräche unter vier Augen (1798), Werke, Bd. 32 (1857), 56 ff. 69. 113.
187 Ebd., 100.
188 Ebd., 88.

54-90385/1 849
Demokratitt IV. 1. Öffnung des geschiehtsphi1oeophileben Horizont•

sehen Mutterkirche18 9 , aber eben deshalb blieb er Realist genug, den Demokratie-
begriff als einen universellen Erwartungsbegriff mt analysieren: Die republikanische
Verfassung ist in einer Art von 'JYf'ophetischem Geiste, für ein anderes JahrhttlniltJrt,
für ein Volk, M,s erst noch dazugebildet werden solZ, gemachtl90.
Diese Wende des Demokratiebegriffs wurde nun von KANT theoretisch erfaßt,
wenn auch unter dem Terminus Republikanismus. Görres, Schlegel und Arndt
seien dafür genannt, wie der moderne Demokratiebegriff als ein geschichtsphiloso-
phischer Erwartungsbegriff in den deutschen Sprachraum allgemein eingeführt
wurde.
Kant hinterfragte 1795 die herkömmlichen, statisch gedachten drei Herrschafts-
formen der Autokratie, Aristokrat-ie und Demokrat-ie (als formae imperii), indem er
ihnen die Frage nach der Form der Regierung überordnete. D-ie Form der Regierung
(fotma regiminis) ... betrifjt di,e auf die Konstitution (den Akt des allgemeinen
Willens, wodurch die Menge ein Volk wiril) ge,gründete Art, Wie tkr St.an.t "'m .~P.i11e
Machtvollkommenheit Gebrauch macht: und ist in dieser Bez-iehung entweder republi-
kanisch oder despotisch. Der überkommenen Triade von Herrschaftsformen stel!te
Kant eine Zwangsalternative gegenüber, die eine Wende zur besseren Zukunft her-
beifiihr1m sollte. Der bisher übliche Wechsel von einer Herrschaftsform zur anderen
gehöre zum Maschinenwesen de„ St11,at.~verfassuiu.J und führe nicht weiter; in Wirk-
lichkeit komme es auf den Geist an, auf die Art und Weise, wie in Zukunft regiert
werde: das allein führe zur einzig rechtmäßigen Verfassung. Dort, wo die Gewalten-
teilung eingerichtet, wo die Gesetzgebung durch ein repräsentatives System ge-
sichert, wo M,s Gesetz selbstherrschend sei, überall dort herrsche die reine Republik,
die einzige bkibende Staatsverfassung 191 • Diejenige Herrschaftsform, die weder Ge-
waltenteilung noch Repräsentation dulde, sei per definitionem eine Despotie: d. h.
also in erster Linie die Demokratie. Damit verschärfte Kant das alte Diktum, daß
die Demokratie immer Gefahr laufe, in die Tyrannis umzuschlagen: sie sei despo-
tisch schlechthin.· Anders die restlichen Herrschaftsformen der Monarchie und der
Aristokratie: sie hätten die Chance, sieh sowohl republikanisch, d. h. in Richtung
auf eine repräsentative Republik wie etwa unter Friedrich II. von Preußen, oder
despotisch zu verhalten. Die Prinzipien dieser geschichtsphilosophisch vorweg-
genommenen Bewegung hießen nun bei Kant Despotism, der zum Absterben ver-
urteilt sei, und Republikanism. Wer diesem folge, habe die Aufgabe, die überkom-
menen Herrschaftsformen dahin zu nutzen, daß durch allmähliche Re/O'Tmen19l.a im
Effekt die Prinzipien einer reinen Republik zur Geltung kamen. Die Republik war
das Tslo'" der Republikanismus das Prinzip der Bewegung. 'Republikanismus'
wurde als Indikator g~chichtlicher Bewegung zugleich ein Handlungsbegriff. Er
enthielt die moralische Aufforderung, auf das theoretisch zwingend ableitbare Ziel
einer Republik als der einzig wahren Verfassung hinzuarbeiten.
Mit dieser geschichtsphilosophischen Verwandlung der aristotelischen Politeia-

189 Ebd., 183.


190 Ebd., 66.
191 Kurr, Zum ewigen Frieden (1795), 1. Definitivart. AA Bd. 8, 352; ders., Metaphysik

der Sitten, Rechtslehre (1797), § 52. AA Bd. 6 (1907), 340 f.


111• Ders., Zum ewigen Frieden, 1. Definitivart. AA Bd. 8; 352 f.

850
IV.1. Öffnang des gesehicbtsphilosopbisehen Borizonta Demokratie

Konzeption, die sich in der -ismus~Bildung zu 'Republik' niederschlug, hat Kant


eine nicht zu unterschätzende Wirkung ausgeübt, weil seine Schrift über den
. „Ewigen Frieden", weithin diskutiert, zu weiteren Begriffsentfaltungen den Anstoß
gegeben hat.
a) Kant hat es ermöglicht, den Baseler Frieden zwischen der preußischen Monarchie
und der französischen Republik nicht nur als ephemer zu verstehen, sondern als
gemeinsames Programm zu deuten, das die fortschreitenden Kräfte, unbesehen der
bestehenden Herrschaftsformen in den verschiedenen Ländern, zusammenführen
könne (-Bund).
b) Kant hat, um diese Praxis zu ermöglichen, eine Theorie geliefert: er hat nicht
nur die aristotelische Triade unterlaufen, sondern ebenso die deskriptive Montes-
quieusche Verfassungstypologie der Monarchie, der Republik und der Despotie.
Der polemische Ansatz von Montesquieu, der sich gegen die bestehenden Despotien
rir.ht.et.e, wurde dualistisch verschärft, ohne daß Kant auf die politischen Vorge-
gebenheiten verschiedener Verfassungstypen verzichtet hätte. Auch eine Monarchie
konnte - auf dem Wege der Reform - das revolutionäre Ziel einer reinen Republik
erreichen.
c) Damit wurde der traditionelle Oberbegriff der res publica latius dicta, als Begriff
eines gemeinen Wesens überhaupt192 aus seiner verfassungstypologischen Gegen-
stellung zur Monarchie, wie sie Machia.velli und Montesquicu vollzogen hatten,
wieder herausgeholt. Aber nunmehr wurde die Republik nicht etwa zu einem for-
malen Oberbegriff, der alle Herrschaftsformen überdachte, sondern zu einem ge-
schichtsphilosophisch qualifizierten Richtungsbegriff, den zu erfüllen sittlich-poli-
tische Pflicht war. Kant wehrte sich scharf .dagegen, daß mit seiner Unterscheidung
zwischen Herrschaftsform und Regierungsweise etwa der Gegensatz von Verfassung
und Verwaltung gemeint sei: Die Distinction inter formam Reipublicae, ejusque
modum ailministrandi, die Reinking und Wizendorff eingeführt hatten, die auch
PuFENDORF guthieß 193 und die in PoPES Vers: laß über die beste Regierung Narren
streiten; die best,geführte ist die beste194 ihren vieldiskutierten Niederschlag gefunden
hatte - diese Antithese wurde von Kant ausdrücklich verworfen, weil es ihm auf
die institutionellen Sicherungen der reinen Republik ankam, die durch keine erfolg-
reiche Verwaltung ersetzt werdai könnten.
Letztlich gab es nur eine mögliche StaatsverfaBBung, auch wenn sie sich erst in d~r
Zukunft realisierte: die Republik mit Repräsentativsystem. Alle andere Regierungs-
form nämlich, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform 195 • Auch die
Regierungsart, der modus der Verwaltung, wurde institutionellen Bedingungen
unterworfen, die es praktisch einzuhalten galt, wenn das tra:pszendentale Gebot der
Republik erfüllt werden soll.
Während also Wieland die aristotelische Triade beibehielt, in seiner publizistischen
Polemik aber die Ausweitung des Demokratiebegriffs zu einem geschichtsphilo-

1ez Ders., Rechtslehre, § 51. AA Bd. 6, 338.


193 Vgl. PUFENDORJ', Kurzer dooh Gründ.lieber Bericht von dem Zustande des H. R. Reichs
Teutscher Nation 6, 2 (Leipzig 1715), 674.
1" Zit. KANT, Zum ewigen Frieden, 1. Definitiva.rt., Anm. AA Bd. 8, 353, Anm.

111 Ebd., 352.

851
Demokratie IV. L Öffnwig des geschichtaphilosoplüschen Horizonts

sophisch legitimierten Erwartungs- und Handlungsbegriff analysierte, hat Kant die


aristotelische 'l'riade selber geschichtsphilosophisch unterwandert. Er liefert~ -
in polemischer Stellung gegen das Wort 'Demokratie' und die damit indizierte Herr-
schaftsform aller über alle, die doch nicht alle seien - die Begründung des Bewe-
gungsbegriffs: unter dem Namen des Republikanismus. Hier nun setzte die Um-
deutung durch die junge Generation ein. FICHTE hat in seiner Kantrezeption 1796
dessen Deutung noch übernommen, wonach die Demokratie in d,em oben erkl.ärten
Sinne des Worts nicht etwa nur eine unpolitische, sondern eine sch"lechthin rechtswidrige
Verfassung sei198, weil hier die Gemeine zugleich Richter und Partei sein könne.
Indes könne bei Demokratie im engem Sinne des Worts, d. h. in der, die eine Reprä-
sentation hat, von einer rechtmäßigen Verfassung gesprochen werden197 • Damit über-
holte er die Position von Köster; wortgeschichtlich wurde die scharfe Grenze
zw.i.i:iuhen 'DeruukraLie' WlU 'Republik' bereit!! aufgeweicht, ein Vorgang, den nun
F. Schlegel und Görres bewußt vorangetrieben haben.
FRIEDRICH SCHLEGEL ging 1796 in seinem „Versuch über den Begriff des Republi-
kanismus, veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden" den Schritt
über Kant hinaus, der zur bewußt gewollten Utopie führte. Er schloß aus dem
Postulat der bürgerlichen Freiheit auf einen Zi~lpunkt, der nur durch eine in.~
Unen<lliche fortschreitende Annäherung wirklich gemacht werden kann: auf den un-
erreichbaren Konvergenzpunkt von Moral und Politik, dio aller Herrschaft und
Abhängigkeit ein Ende maclien198 • Mit diesem Eingestäntlnia erkaufte sich Schlegel
den Begriffswandel von der Republik zur Demokratie, ohne den geschichtlichen
Fortschritt zur Idealverfassung deshalb aufgeben zu müssen. Auf dem Wege dahin
sei sowohl die transitorische Diktatur als republikanische Einrichtung denkbar, vor
allem aber müsse man die Fiktion legalisieren, mit deren Hilfe der empirische
Mehrheitswille als Surrogat des a priori gedachten absolut allgemeinen Willens gelten
solle. Der Republikanismus ist also notwendig demokratisch, und das unerwiesene
Paradoxon, daß der Demokratismus notwendig despotisch sei, kann nicht richtig sein.
Schlegel übernahm also zwar die alte These, daß die reine Demokratie unerfüllbar
sei, aber er folgerte anders als Kant, der darin den Grund des Terrors erblickte, daß
in der empirischen Unerreichbarkeit das geschichtliche Postulat enthalten sei, die
Demokratie im unendlichen Annäherungsprozeß zu erringen. Mit Kant wurde für
Schlegel aus dem Kreislauf der Herrschaftsformen eine geschichtlich einrichtige
Bewegung: aber nunmehr in die Richtung auf eine Demokratie hin. Während
bei den Alten die Ochlokratie immer in Tyrannei überging, stehe fest„ daß s·ie
bei den Modernen in Demokratismus übergehen muß, der Menschheit also weniger
gefährlich ist als die Oligarchie. An die Stelle des Republikanismus trat der
Demokratismus.
In diesem Sinne übernahm 1798 der junge GöRRES die Begriffe und bediente sich
ihrer als politischer Schlagwörter. In seinem „Glaubensbekenntnis" versicherte er
zwar, daß das J ahrhunclert für die Einführung der demokratischen Form noch nicht

196 J. G. FICHTE, Grundlage des Naturrechts (1796), AA Bd. 1/3 (1966), 440.
Ebd., 441 f.; vgl. FlcBTES Rez. der Kantschen Friedensschrift, ebd„ 217 ff.
1e 7
198F. SCHLEGEL, Versuch über den Begriff des Republikanismus (1796), SW Bd. 7 (1966),
12 ff., bes. 17. ·

852
IV. 1. Öffnung des geschichtsphilosopbischen Horizonts Demokratie

erschienen ist, und daß die reine Herrschaftslosigkeit in der endlichen Zeit nicht ein-
treten wird199. Aber den Weg dahin müsse man einschlagen. Das konkrete Programm
entwickelte er in seiner Nachfolgeschrift „Der allgemeine Frieden, ein Ideal", das
zum Ende des ersten Koalitionskrieges (1798) erschien. Die ideale Staatsform sei
die holarchisch demokratische, die selbst die Gewaltenteilung kenne, indem bei der
vollkommenen Holarchie alle einen Teil der legislativen und eukutiven Macht zugleich
bekommen. Konkret gesprochen bildete Frankreich die Form des Normalstaats, die
die demokratische sei. Gegenüber allen Regulativstaaten (der Koalition), mit denen
der Friede zu schließen sei, stünde dem Normalstaat eine lange Reihe von Erzie-
hungs- und Interventionsrechten zu, die dafür sorgten, daß sich die geschichtliche
Bewegung nicht umkehre, sondern zur allgemeinen Erfüllung des idealen demo-
kratischen Zieles hinführe200.
Indem Görres Kants Unterscheidung zwischen Herrschaftsform und Regierungs-
weise wieder zur Deckung brachte, verwandelte sich Cler geimhichtsphilosophische
Zielbegriff in einen Erziehungsbegriff, den zu erzwingen der empirisch aufweisbare
Normalstaat eine rechtliche, nicht nur politische Pflicht habe. In diesem Sinne
konnte der Demokratiebegriff auf alle Staaten übertragen werden, selbst dorthin,
wo er später mit einer antinapoleonischen Wendung verknüpft wurde wie bei
ERNST MoRITZ ARNDT, der die geschichtliche Regel formulierte: Alle Sta,af,en, auch,
die noch keine Demokratie sind, werden von J alvrliundert z·u J alirliundert mehr demo-
kratisch werden. Um diesem Gesetz Folge zu leisten, gelte das jus revolutionis, das
die Zeichen der dritten Epoche des Ohristenf;urns trage 201 •
Andererseits konnte in diesem Horizont der geschichtsphilosophischen Demokratie-
erwartung auch Kants Entgcgcnsctzung von Herrschaftsform und Regierungsart
wieder aufgegriffen werden, um die Reformen zu legitimieren, die den Rechtsstaat
einleiten sollten. So schrieb HARDENBERG in seiner Rigaer Denkschrift vom 12. 9.
1807: Demokratische Grundsätze einer monarchischen Regierung: dieses scheint mir
die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist 202 , wobei Hardenberg wieder
den alten Topos aufgriff, daß eine reine Demokratie sich nie verwirklichen lasse:
diese Hoffnung dürfe man getrost auf das Jahr 2440 (der Utopie von Mercier) ver-
schieben. Das von d'Argenson vorbereitete und von Kant theoretisch erhärtete
Zusammenspiel von - aristotelisch gesprochen - Demokratie und Monarchie
konnte seitdem in.das 19. Jahrhundert hineinwirken.
So vollzog sich im Rahmen einer allgemeinen ausgreifenden geschichtsphilosophi-
schcn Demokratiedeutung eine Reihe von Neubildungen und Verschiebungen des
gesamten Wortfeldes. Die moderne Politisierung, die „Sozialisierung" und die par-
teiliche Streuung sollen nun im einzelnen geschildert werden. Wie sehr 'Demokratie'
zu einem Handlungs- und Erfüllungsbegriff geworden war, zeigt sich bereits an dem
Neologismus 'Demokrat', der zum Träger der Aktion wurde.
REINHART KosELLECK

199 J. GöRRES, Das rothe Blatt, Ges. Sehr., Bd. 1 (1928), 196.
2° 0Ders., Der allgemeine Frieden, ein Ideal (1798), ebd., 29 ff.
2o1 E. M. ARNDT, Über künftige ständische Verfassungen in DeutF.chland (1814), Werke,
Bd. 1 (1908), 222; ders., Staat und Vaterland, hg. v. Ernst Müsebeck (München 1921), XI.
202 HARDENBERG, Rigaer Denkschrift (1807), in: Die Reorganisation des Preußischen

Staates unter Stein und Hardenberg, hg. v. GEORG WINTER, Bd. 1/1 (Leipzig 1931), 306.

853
Demokratie IV, 2. 'Demokrat'

2, 'Demokrat'
Ein Vor0picl zu der mit der Revolution einsetzenden .l:'arLeilicheu Politisierung des
Begriffs bildete.das Auftauchen des Wortes 'Demokrat' („Anhänger der demokrati-
schen Regierungsform") und seines Gegenbegriffs 'Aristokrat'. Der erste Beleg für
'Demokrat' stammt von KLOPSTOCK aus Dänemark, der 1760 zur Hundertjahrfeier
der dänischen Erb-Souveränitätsverschreibung in einer Ode feststellte, daß nicht
nur, wo das Gesetz und Hunderte ·herrschen, sondern auch, wo das Gesetz und einer
herrscht, Opferbereitschaft bestehe, daß hier aber auch größere Friedenschancen
bestünden. 0 Freiheit, Freiheit! nicht der Demokrat allein / Weiß, wer Du bist!/ Der
gut~n Könige glückliche Sohn/ Der weiß es auch/ 203 Weitere Belege für 'Demokrat',
'Demokraten' stammen aus den Niederlanden 204• So bezeichnete der Rotterdamer
Patrizier VAN HoGENDORP dle gegnerischen Parteien der Revolutionsbewegung von
1784/87 11.li; Aristokrat.en und Dem-0kraten 206 , Im belgischen Aufäto.nd von 178!)
nannten sich die Führer der revolutionären Partei braves Democrates und bons
Democrates 20 6 • Als Selbstbezeichnung radikaler revolutionärer Gruppen tritt das
Wort dann in Frankreich während der Revolution auf, wobei seine Verbreitung
freilich gegenüber anderen stärker bevorzugten Wörtern - 'Patriot', 'Jakobiner',
'Sansculotte' - deutlich zurückbleibt 2 0 7 • Breitere Ausstrahlung und europäisches
Echo fauJ Jer Begriff t:miL all:! Schelt- und Schimpfwort, das die Revolutionsgegner-
ihrerseits von den Revolutionären als 'Aristokraten' gebrandmarkt - gegen die
prorevolutionären Kräfte ins Feld führten. Vor allem in Deutsch land wurde das
Drama der Französischen Revolution als Kampf zwischen „Aristokraten" und
„Demokra ten" empfunden2oa.
Nach den vorliegenden Zeugnissen ist es unwahrscheinlich, daß - wie man im
19. Jahrhundert gelegentlich vermutet hat 209 - dieser Sprachgebrauch aus den
angelsächsischen Ländern übernommen wurde. Weder der Ausdruck 'Aristokratie'
noch der Ausdruck 'Demokrat' ist im englischen Sprachbereich vor 1789 bezeugt.
„No 'democrats' fought in the American Revolution; and the Age of Aristocracy,

203 FRIEDR. GoTTLIEB KLoPSTOCK, Auf das Jubelfest der Souveränität in Dännemark,
v. 13 ff. (Titel letzter Hand: Das neue Jahrhundert]. Oden und Elegien (Darmstadt 1771;
Ndr. Heidelberg 1948), 43.
2NPALMER, Notes (s. Anm. 114), 205 f.
206 Zit. ebd. ,..
206 Zit. SuzANNE TASSIER, Les democrates belges de 1789. Etude sur le Vonckisme et la re-
volution brabam;onne, Memoires de l'Academie royale de Belgique, Classe des Lettres,
2• ser., t. 28/2 (Brüssel 1930), 424 f.
207 BRUNOT t. 9/2 (1937), 652.
2os Vgl. GEORGE P. GoocH, Germany and the French Revolution (London 1920); ALFRED
STERN, Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben (Stuttgart.,
Berlin 1928).
2oe So etwa LOTHAR BucHER, Ober politische Kunstausdrücke, Dt. Rev. 12/2 (1888), 71:
.A."linliche Notizen macht der Royalist Präsident HenauU in aeiner Geschichte Frankreich&. Er
erwähnt z. B. zu Anfang dea Jahrea 1789, d,aß d,amala der Klub, da8 Wort und die Sache,
aua England eingeführt worden aei und d,aß man in den Kluba zum eraten Male die Bezeich-
nung Demokraten und AriatOkraten angewandt habe, beziehungaweiae auf den dritten Stand
und die beiden anderen Stände.

854
IV. 2. 'Demokrat' Demokratie

as long as it was unchallenged,heardnothingof'aristocrats'." 210 Vielmehr behielten


'Demokratie' und 'demokratisch' gerade im englischen Sprachraum noch lange ihre
deutlich pejorative Note; sie wurden nur widerwillig aus Franlrrflich iihflmomm.en.
Aufschlußreich ist eine Bemerkung im englischen „Annual Register" von 1790:
The de'llUJcrates [French spelling] have already stripped the nobility of all power 211 •
W ORDSWORTH bemerkte in einem Brief von 1794: I am that odious class of men called
democrats 212 • In den Vereinigten Staaten wurden De'llUJkraten noch 1796 von WIL-
LIAM CoBETT in deutlich abwehrender, denunziatorischer Absicht mit Jakobinern
gleichgesetzt 213. Die ablehnende Haltung gegenüber 'Demokratie' und 'Demokra-
ten' dauerte noch bis ins 19. Jahrhundert hinein 214 ; eine partiell positive Auf-
fassung setzte sich - trotz vereinzelter sympathisierender Äußerungen JEFFER-
soNs210 - erst mit der „Jacksonian Democracy" nach 1828 und mit der späteren
Entstehung einer Partei cler „DewukraLeu" uurch 218 • 1845 berichtet FRIEDRICH
VON RAVMER aus Amerika: Beide Parteien nennen sich jetzt De'111.-0kraten 217 •
Dagegen schwankte in den von den Revolutionskriegen erfaßten europäischen
Ländern der Sprachgebrauch zwischen Zustimmung und. leidenschaftlicher Ab-
lehnung, je nach der politischen Haltung derer, die ihn verwendeten. Einen posi-
tiven Klang hatte das Wort nach wie vor in Holland 218 , während der Ausdruck
'Demokrat' in Deutschland, wo er seit 1750 gelegentlich auftauohte 21u, zunächst

210 PALMER, Notes, 205.


an Zit. P ALMER, Notes, 210.
212 WILLIAM WoRDSWORTH, in: Letters ofthe Wordsworth Family from 1787 to 1855, ed.
WILLIAM KmaHT, vol. 1 (London 1907), 66.
1 13 In einem Pamphlet mit dem Titel „History of the America.n Jacobins Commonly
Denominated Demoorats", das er unter dem Pseudonym PETER PoRCUPINE 1796 in
Philadelphia veröffentlichte; vgl. PALMER, Notes, 208 f. u. Anm. 9.
2 u BLANKE, Der amerikanische Demokratiebegriff (s. Anm. 114), 43 ff.

216 Hierzu EuGENE P. LINK, Democratic-Republican Societies, 1790--1800 (New York


1942), zit. PALMER, Notes, 224 f.
2 18 PALMER, Notes, 225: „The term went out of America.n popular usa.ge after 1800 ( •.. ),

not to be revived until the founding of the Democratie pa.rty a generation later." Daß sich
der Ausdruck unter den linken Gruppen der USA erst gegen 1900 allgemein verbreitet habe,
und zwar bei gleichzeitiger Differenzierung zwischen sozialer und politischer Demokratie,
zeigt MURRAY S. STEDMAN JR., „Democracy" in American Communal and Socialist
Literature, Journal of the Hiat. of Ideas 12 (1951), 151 ff.
217 F. v. RAUMER, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Bd. 2 (Leipzig 1845), 27.
218 Einzelheiten bei P ALMER, Notes, 217. In Holland gingen 'Demokraten' und 'demo·

kratisch' auch frühzeitig in die offiziöse politische Sprache ein, weit stärker als in Frank·
reich; so nannte sich eine wichtige Amsterdamer Zeitung der Revolutionszeit De Demo-
craten. Im Januar 1798 wurde im holländischen Parlament eine Petition für ein,e demo-
kratische Repräsentativverfassung eingebracht; ein Verfassungsausschuß erklärte dem
französischen Gesandten, daß die Niederländer ein größerea Maß an Demokratie vertrügen
ala die Franzosen.
219 Zuerst belegt bei dem Genfer F. BomvARD 1550 als Rückbildung aus dem Französischen,

zit. KLuaE/.MrrZKA 18. Aufi. (1960), 126; vgl. FRANZ SEBASTIAN M:EmmGER, Gedanken
über die gewöhnlichsten Regierungsformen Demokratie, Aristokratie und Monarchie
(1777), 28: keine Epoche, die die Triebfedern aller Handlungen der Demokraten unteraucht;
vgl. o . .Anm. 203.

855
Demokratie IV, 2. 'Demokrat'

als Schelte der Republikaner begegnet: die Demokraten, die derma"len in Frankrewh
den Meister spielen 220• Aber bald geriet der Ausdruck in den Sog der revolutionären
Verschärfung. So schrieb GENTZ 1794: im Vorwort zu seiner Mallet d~ Pan-Überset-
zung: Die U nhekanntschaft mit dem wahren Gange der Revolution und die I nkonse-
quenz bei der Beurteilung ihrer verschiedenen Metamorphosen hat in Deutschland, wie
allenthalben, jede demokratische und antidemokratische Partei in eine große Anzahl
von Unterparteien zerspalten, deren ganze Differenz auf Irrtümern gebaut, an und für
sich aber ganz nichtig ist. So gibt es noch auf den heutigen Tag Demokraten bis zum
5ten Oktober 1789, Demokraten bis zur Entstehung der zweiten Legislatur, Demokraten
bis zum Jüten August 1792, Demokraten bis zur Ermordung Ludwig des XVI„ Demo-
kraten bis au/die Vertreibung der Brissotschen Faktion im Monat Juni dieses Jahres
(Robespierre war noch nicht gestürzt) 221 • Der geschichtsphilosophische Bewegungs-
begriff des 'Demokratismus' entließ entlang dem Ablauf der Revolution perspek-
tivische Parteibegriffe aus sir,h h1m1.11R, niA Rich in der Abschattierung der 'Demo-
kraten' äußerten.
Bereits 1792 setzten die ersten Verdeutschungsversuche ein, die noch von philo-
logisch scheinbar neutraler, in Wirklichkeit revolutionsfreundlicher Haltung zeugen:
CAMPE übersetzte 'Demokrat' mit Volksfreund oder Freund der Volksregierung und
fügte erlii.uternd hinzu: Dewtb rle•r De11w"7rat will nwlit gerade selbst hwrrschen, er will
nur, daß das Volk durclt seine 8telluertret,er nR.rrsche. Jenes will der Demagog 222 • Für
ADELUNG ist der 'Demokrat' einer, dor dio demokratische Verfassung begünst·igt,
derselben ergeben ist 223 • Ausführlich äußerte sich CAMPE in seinem „Verdeutschungs-
buch" (1813) über den Begriff: D1:es Wort bedeutet 1) den Bürger eines Staates, worin
das Volk durch seine Stellvertreter sich selbst regiert; und insofern kann man es durch
Freibürger verdeutschen, wofür andere, aber ohne Glück, auch Freiliinder (wie Nieder-
länder) versucht haben. 2) Einer, der freibürgerliche Gesinnung hegt; und da ist es ein
freibürgerlich Gesinnter, ein Volksfreund, Volksgesinnter, ein Freiheitsfre·und. In den
letztverftossenen Jahren haben die Freunde der Alleinherrschaft und des Adels das
Wort Democrat zu einem Schimpfwort gemacht, womit man, wie Voß (im M usenalma-
nache 1794) sagt, jeden belegt, 'der nicht alles Hergebrachte für unverbesserlich hielt'.
Allein dieser unnatürliche Sprachgebrauch wird mit den Umständen, die ihn veranlaßt
haben, vorübergehen 224• SCHELLING mußte sich (1796) den Verdacht, ob wh Demo-

22°Kosmu1mlitische Adresse an die französische Nationalversanunlung, Tcutscher Merkur 4


(1789}, 56.
221 FRIEDRICH v. GENTZ, Übers. v. JACQUES MALLET DU PAN, Über die Französische Re-

volution und die Ursachen ihrer Dauer (Berlin 1794), XX f.


222 JOACHIM HEINRICH CAMPE, Zweiter Versuch deutscher Sprachbereicherung (Braun-

schweig 1792), 56 f.
228 ADELUNG 2. Aufl., Bd. 1 (1793), 1444.
224 CAMPE, Fremdwb. (1813), 253. Vgl. JoH. HEINRICH Voss' Ekloge (nach John Gay)

„.Junker Kordt", Musen-Almanach (1794), 203: Der Baur und Bürger wird Kanalj' und Pack
betiteU, / Und 8einem .Anwach8 früh die Men11chheit ausgeknittelt: JSchulmei8ter, 8priclit er,
macht die Buben nicht zu klug!/ Ein wenig Chri8tentum und Leaen iBt genug// Beim Pfeifchen
Bchwatzt mit ihm von Korn- und Pferdeachacher / Sein Pfäfflein, und beaeufzt der neuen
Büchermacher J Gottlo8igkeit. Verdammt zum Galgen und zy,m Rad / wird dann durch beider
Spruch FreigeiBt und Demokrat/ Dazu Anm. 27: Freigeist, ein alte8 Schimpfwort für den,

85.6
IV. 2. 'Demokrat' Demokratie

· krat, Aufklärer, Illuminat u.s.w. seie, gefallen lassen 226 • Und so schrieb FICHTE
(1799) an Reinhold: Ich habe nie geglaubt, daß sie meinen vorgeblichen Atheismus
verfolgen, sie verfolgen in mir einen Freidenker, der anfängt, sich verständlich zu
machen (Kants Glück war seine Obscurität), und einen verschrieenen Demokraten; es
erschreckt sie wie ein Gespenst die Selbständigkeit, die, wie sie dunkel ahnen, meine
Philosophie· weckt 226.
Von Ultra-Demokraten und Ultra-Aristokraten sprach VON ARETIN (1809) 227 • Wäh-
rend hinter der Vorsilbe ultra- damals oft noch der Versuch stand, die ursprüng-
lichen Bedeutungen gegen die revolutionäre Verschärfung zu retten, mußten über-
zeugte Volksmänner wie ARNDT den Verfall ihres gemeinten „eigentlichen" Begriffs
registrieren : Demokrat, demokratisch, Demokratie sind durch die Klänge der letzten
zwanzig Jahre und durch den Mißbrauch, den man mit diesen Klängen getrieben hat,
für die Herzen und Ohren aller Guten eine Art Rattenpulver geworden; in ihnen selbst
lie{Jt nichts Absch.e.ulich.e.s, sie beziehen sich allein au,/ das Große m1d Allqemeine, was
man Volk nennt, und die besten Kaiser und Könige und alle edle Menschen haben ja
auch immer nur bekannt, daß sie für das Volk da sind und für das Volk und mit dem
Volke regieren. Das Volk ist ebenso heilig, als der Pöbel unheilig ist. Jemand, der
wünscht, daß für das Volk und durch das Volk geherrschet werde, heißt Demokra.t,
wer es mit dem Pöbel halte, Ochlokrat 228 • Das aristotelische Schema scheint hinter
aller ge1:1chichL8philo1:1ophllichen Erwa1·Lung, die sich zunehmend zermürbt hatte,
bei Arndt wieder durch. Und in diesem traditionalistischen Sinn ist es bezeichnend,
daß in Deutschland anders als in Frankreich - neben der vorherrschenden Bedeu-
tung des „freiheitlich Gesinnten" - auch noch der objektive Sinn des „in einer
Demokratie lebenden", des „Freibürgers" oder „Freiländers" fortexistierte; in
diesem Sinne gibt noch ÜERTEL in seinem „Fremdwörterbuch" (1830) die Erläute-
rung: 1) eig. Volksherrscher, 2) Freibürger, Bürger eines Staates, in welchem das Volk
durch seine Stellvertreter sich selbst regiert und seine Stimme durch ganze Gemeinheiten
gibt, 3) Freibürgerlichgesinnter, Freiheitsfreund, Volksfreund 229 •

der nicht je,d,em angemuteten Glauben seine Vernunft unterwirft. Demokrat, ein neues Sehimpf-
wart für den, der nicht alles Hergebrachte fiir unverbesserlich hiilt.
225 ScHELLING schreibt in einem Brief an Hegel von einer Hofmeisterstelle, die man ihm

nicht ohne weiteres geben will; Briefe von und an Hegel, hg. v. JOHANNES HoFFMEISTER,
Bd. l (Hamburg 1952), 35.
226 FICHTE, Brief an Reinhold v. 22. 5. 1799, in: Johann Gottlieb Fichte's Leben und
literarischer Briefwechsel, hg. v. IMMANUEL HERMANN FICHTE, 2. Aufl., Bd. 2 (Leipzig
1862), 258.
227 CHRISTOPH FRH. v. ARETIN, Die Pläne Napoleons und seiner Gegner (München 1809), 3.
228 ARNDT, Über künftige ständische Verfassungen in Deutschland (1814), Werke, Bd. 13

(1908), 222.
229 ÜERTEL (1830), 228; ähnlich schon HEINSIUS Bd. l (1818), 742: Demokrat, ein Volka-

freund, Freibürger; Demokratie, Volksherrschaft; Demokratisch, volksherrisch, freibürgerlich;


Demokratisieren, zum Freibürger machen.

857
Demokratie IV. 4. Die Frauzöai&che Revolution

S. 'Demokrntiei' nllil p0Jiti11eh.,Hmnlf'lr Gn1ppt'lnht:grift'


Ebenso neu ist, daß 'Demokratie' und 'demokratisch'_ jet11t nicht mcbr nur auf die
Staatsform bezogen werden, sondern als Ausdruck sozialer Schichten und politischer
Kräfte erscheinen. Dieser Sprachgebrauch war bereits vorbereitet bei D'ARGEN-
soN230; er breitete sich während der Französischen Revolution aus und wurde im
18. Jahrhundert allgemein. So sprach man in Deutschland in der Revolutionszeit
von aristokratischen und demokratischen Ständen231 ; der. Ausdruck demokratische
Partei tauchte 1790 in den Niederlanden auf2 32 und wurde von Wieland oft ver-
wandt; CASTLEREAGH bemerkte 1798/1800 als Sekretär des Lord Lieutenant of
Ireland: the general democratic power of the State is increasing daily by the general
wealth and prosperity; .•. tlte Oatlwlics form the greater part of the democracy 238. Der
Presbyterianer WOLFE 'l'oNE bemerkte eine democrrrey of new men in IrlandZ 34•
Baron ECKSTEIN, einer der Vorkämpfe.r der Restauration in Fra.nkrP.inh, Rpr1wh in
seiner Schrift über den inneren Zustand Frankreichs seit der Restauration von
einer demokratischen Fraktion im Volk, welche das Königtum abschaffen will 2 35. In
der französischen Revolutionshistorie wurde es seit Mignet, Lamartine und Michelet
üblich, „la democratie personnelle" als Bezeichnung der unteren Volksschichten und
der Demokratieanhänger zu verstehen, ein Sprachgebrauch, der höchstwahrschein-
lich bis in die Revolutionszeit zurückgeht. Im migaLiven Sinne hatten dieser Dedeu-
tung BURKE und sein einflußreicher 'Übersetzer GENTZ Vorschub geleistet. Das Volk
als sein eigener Souverän gönne sich die Sorglosigkeit im Maße wie die Zahl derer
zunehme, die einen Machtmißbrauch guthießen: Darum ist eine vollkommene Demo-
kratie das schamloseste aller politischen Ungeheuer. So wie es aber das schamloseste ist,
so ist es zug'leich das sorgloseste236 • Diese Wendung, die den Gegner ganz konkret in
seiner Aktion und Haltung treffen sollte, hat seitdem den deutschen Sprachschatz
nicht mehr verlassen.

4. Die Französische Revolution


Die in den Neubildungen und Bedeutungserweiterungen sichtbar werdende Ver-
änderung des Begriffs der Demokratie zeigte sich natürlich auch im Sprachgebrauch
der Französischen Revolution selber. Hier trat bei einzelnen Schriftstellern ein
emphatischer Demokratiebegriff auf, der eines festeren verfassungspolitischen Um-
risses entbehrte. Nach FAUCHET, der die alte Wiclifäche Definition der Demokratie

230 Vgl. Anm. 152.


231 Bericht des Drosten RosE aus Lippstadt nach Berlin, 19. 11. 1792, zit. lliNSEN,
Quellen (s. Anm. 170), Bd. 2, 579.
1132 PALMER, Notes, 210.
283 Memoirs and Correspondence of Viscount Castlereagh, ed. by his brother CHARLES

VANJ!l, vol. 2 (London 1848), 140.


234 Zit. PALMER, Notes, 211. ,
236 FERDINAND BARON v. ECKSTEIN, Über den inneren Zustand Frankreichs seit der

Restauration, Allg. Polit. Annalen 7 (1822), 110 f.


llH EDMUND BURKE, Betrachtungen über die französische Revolution, dt; v. Friedrich
Gentz, hg. v. Dieter Henrich (Frankfurt 1967), 156; vgl. ebd., 198. 342.

858
IV. 4. Die Französische Revolution Demokratie

wiederaufnahm - tout poude peuple, tout par le peuple, tout au peuple 237 - waren
die Gesetze der Demokratie von Gott selbst den Menschen gegeben worden; die
Demokratie war delllllach die von Gott sanktionierte Regierungsform. OhristWJ
starb pour la Mmooratie de l'univers 238 • Der konstitutionelle Bischof GREGOIRE
sprach von der alliance si naturelle du christianisme et de la democratie 239 • 'Demo-
cratie fraternelle', 'democratie chretienne' waren Begriffe dieser Zeit 240 • Freilich
hatte dieser emphatische Demokratiebegriff in den ersten Jahren der Revolution
keine unmittelbare politische Bedeutung; er spielte z. B. in den Debatten um das
allgemeine Wahlrecht 1790 noch keine Rolle241 • Erst mit der Jakobinerherrschaft
und dem Konventsregime drang er in die politische Öffentlichkeit vor. So rühmte
lIERAULT-SECHELLES den Verfassungsentwurf des Konvents als repräsentativ und
demokratischm (während der Entwurf selbst das Wort 'Demokratie' nicht enthielt);
RoBESPIERRE entwickelte in seiner Rede vom 5. Februar 1794 einen .Hegrifi' der
Demokratie, der praktisch synonym war mit 'Republik'; 'Demokratie' konnte nach
ihm sowohl direkt-demokratische wie repräsentative Elemente umfassen; entschei-
dend war nicht die verfassungsmäßige Ausgestaltung, sondern der Geist, die „Seele"
der Demokr.atie, die gleichbedeutend war mit vertu publique und amour d' egalite,
wobei er die Definition aus der „Encyclopcdie" aktualisierte 243 • Obwohl das Wort
auch unter dem Konvent keine Alleinherrschaft errang, wurde es für den Geist der
Zeit symptomatisch; CoNSTANTIN STAMA'l'l datiert.e z. B. einige seiner Briefe aus
dem Jahre 1793 im zweiten Jahr nach der Demokratie 244•
Der Nachhall dieses neuen Demokratiebegriffs war am stärksten im revolutionären
Italien zwischen 1796 und 1800. Man sprach von governo democratico, educazione
demooratica, Risorgimento della democrazia oppressa, democratizzare il Popolo, ja ein
Theaterstück proklamierte die Demokratisierung des Himmels 245 • Der Bischof von

187 CLEMENS FAUCHET, Sermon sur l'accord de la religion et de la liberte prononce le


4 fevrier 1791, p. 6. Der Zusa.mmenha.ng der religiösen Schwärmergruppen der Revolution
mit dem englischen Spiritualismus bedürfte einer genaueren Untersuchung; einige Hin-
weise bei HANs MAIER, Revolution und Kirche. Studien zur Frühgeschichte der christ-
lichen Demokratie 1798-1901, 2. Aufl. (Freiburg 1965), 113 ff. 137.
aas FAUCHET, Sermon, 6 ff.
181 BischofGREGOIRE, Lettre pastorale vom 12. März 1795, in: AUGUSTIN GA.ZIER, Etudes
sur l'histoire religieuse de la. Revolution fran9ßoise (Paris 1887), 370 ff.
Ho MAIER, Revolution und Kirche, 119. 303 ff. Der Begriff 'democra.tie chretienne' war
erstmals von dem konstitutionellen Bischof von Lyon, LA.lllOURETTE, am 21. November
1791 in der Legisla.tivversammlung gebraucht worden. FAUCHET sprach an anderer Stelle
(im Hinblick auf Roussea.u) von la plus compUte cUmocratie de l'amour et de la vertu (in der
Zs. „La. Bouche de Fer" v. 17. Jan. 1791).
Ml PALMER, Notes, 214.
242 Diese Gleichsetzung wurde auch in Holla.nd und Deutschland rezipiert; vgl. etwa

CA.MPK, Fremdwb. (1813), 2153: Demokratie können wir bald durch Vulksherrscliaft, bald durch
Bürgerreich, bald durch Freistaat verdeutsclt,en. Die Begriffe Demokratie und Republik P,ießen
ineinander.
M3 Discours et rapports de Robespierre, 6d. C. VELLAY (Paris 1908), 324 ff.
'"C. STAMATI, zit. PALMER, Notes, 213, Anm. 23.
HI P ALMEB, Notes, 220 ff.

859
Demokratie IV. '· Die Französische Revolution

Imola - später Papst Prns VII. - ermahnte Weihnachten 1797 seine Gläubigen,
gute Christen zu sein und sich brüderlich zu zeigen: dann werdet Ihr auch die be-
sten Demokraten sein240.
Trotz aller revolutionären und geschichtsphilosophischen Ausweitungen und Um-
formungen scheint in der deutschen Literatur häufig eine traditionelle Bestimmung
durch, wenn auch die Erweiterung zur repräsentativen Demokratie, wie schon bei
Köster 1783, und die Verschmelzung mit dem Begriff der Republik bei einigen
Schriftstellern anklang. Vorerst hielten die Theoretiker oft daran fest, daß zur
Demokratie dip Ausübung der Souveränität durch das Gesamtvolk gehöre. So
schrieb EBERHARD (1793): Wenn die Vereinigung der bürgerlichen Gesellschaft zu-
stande gekommen ist: so muß sie sich nun entschließen, ob sie die oberste Herrschaft,
selbst ausüben oder ob sie ihre Ausübung andern übertragen will . • • Wenn sie beschließt,
daß der ganze politische Körper die Ausübung der Souveränität beibehalten soll: so ist
ihre Regierungsform oder ihre Staatsverfassung eine Demokratie~ 47 • PossE (1794):
Nehmen nicht alle einzelnen Mitglieder eines Staats an der Verwaltung desselben un-
mittelbar Anteil, so fällt das Charakteristische der Democratie weg, und es entsteht
entweder Aristocratie oder Monarchie 248 . .
.A UI) den Vo1·gii.ngen in Fra.nkrl;-\id1 zog das „Cmiveroiat,inns-Lexikou" Vl.IU 1796 a~.11
alten Schluß, daß eine ganz reine Demokratie eigentlich gar nicht stattfinden kann, weil
es nie an verschlagenen Köpfen fehlen wird, welche das Volk nach ihrem Willen lenken
und oft gar tyrannisieren. Die Konstitution von 1793, welche in Frankreich eine reine
Demokratie einführen sollte, war doch so beschaUen, daß sie unmöglich lange bestehen
konnte, ob sie gleich von den Grundsätzen einer eigentlichen Demokratie noch sehr weit
entfernt war 249 . Ähnlich hieß es in Anlehnung an rousseausche Gedanken bei
WAGNER (1804): ... wenn die Idee der Democratie, .~ich unmütelbar selb.~t zu, regieren,
herrlich scheint, so muß sie doch notwendig durch jede Darstellung zu Grund gehen;
denn ein Volk, das sich selbst zu regieren vermöchte, bedarf kein Forum und keine
Oomitien; sein Privatleben wird selbst ein öUentliches sein . . . Die Democratie aber,
indem sie selbst ihr gemeines Wesen jedem bloßgibt, der etwas Kraft haben möchte, es
zu gouvernieren ... , die Democratie muß betrogen werden, um eine Regierung zu
haben, denn der Demagog darf nie als Herrscher erscheinen; dagegen aber erregt die
Democratie durch die HoUnung zu herrschen jedes Talent einzelner und vergönnt jedem
das freieste Leben2°0.
Als Fazit kann festgehalten werden, daß es der Revolution nicht wirklich gelang,
die traditionelle Reserve gegenüber der reinen oder absoluten Demokratie wegzu-

246 Zit. ALBERT DUFOURCQ, Le regime jacobin en Italie. Etude sur la republique romain
1798-99 (Paris 1900), 30; vgl. dazu KARL BucHHEIM, Über christliche Demokratie,
Hochland 53 (1960/61), 407 ff.
247 JoH. AUGUST EBERHARD, Ueber Staatsverfassungen und deren Verbesserung, [Bd. l]

(Berlin 1793), 46 f.
248 A. F. H. PossE, Über das Staatseigentum an den deutschen Reichslanden und das

Staatsrepräsentationsrecht der deutschen Landstände (Rostock, Leipzig 1794), 159.


2t9 LOEBEL Bd. 1 (1796), 331.
260 JöH. JAKOB WAGNER, Über die Trennung der legislativen und executiven Staatsgewalt
(München 1804), 23 f.

860
V. Demokratie als Indikator gesebiehtlieher Bewegung Demokratie

räumen; sie hat sie im Gegenteil durch das Scheitern ihrer als radikaldemokratisch
aufgefaßten Verfassungsexperimente erheblich nrstärkt. So blieb nach der napoleo-
nischen Zeit der Begriff der Demokratie im eigentlich verfassungspolitischen Kern-
bereich nach wie vor umstritten. Am stärksten war die Ablehnung im englischen
Sprachraum, wo das Wort zunächst nur bei P AINE und Fox, in geringem Umfang
bei JEFFERSON und später bei JACKSON in einer positiven Bedeutung auftrat2 6 1;
aber auch im kontinentaleuropäischen Sprachgebrauch der Restaurationszeit blieb
'Demokratie', 'Demokratismus' 252 ein meist ~bwehrend gebrauchtes Schimpf- und
Scheltwort. Erst 1848/49 erhielt das Wort dann breitere und z. T. auch positivere
Bedeutung253 . Bleibendes Ergebnis der mit der Revolution beginnenden Periode
war aber, daß der Begriff 'Demokratie' seine Fixierung auf den verfassungspoliti-
schen Bereich und die Ebene der Staatsform verlor und eine historische und ideo-
logische Ausweitung erfuhr. Mit dieser Bedeutungsausweitung hängt auch die Ent-
stelnmg fies Ausilr1rnkR 'ilemolrrati11ieren' zusammen, der, bereits 1798 von WIELAND
verwendet (s. o. S. 849), in ÜAMPES „Verdeutschungsbuch" 1813 folgendermaßen
umschrieben wurde: 1) Freibürgerliche Gesinnungen äußern, an den Tag legen, zu
erkennen geben, auskramen, freibürgern, 2) freibürgerliche Gesinnungen einfi-Oßen 264•
'Demokratie' war zum Tendenz- und Bewegungsbegriff geworilen, ein verändertes
Verständnis brach sich zunächRt im Vormärz langsam Bahn.

V. Die Demokratie als Indikator geschichtlicher Bewegung (19. Jahrhundert)

Die theoretische Diskussion ist im 19. Jahrhundert dadurch gekennzeichnet, daß


die Demokratie seit der Französischen Revolution auch in Europa als mögliche
Gestaltungsform großer Staaten, mithin als eine die Gegenwart unmittelbar be-
stimmende politische Macht empfunden wurde. Sie war nicht mehr nur ein literari-
scher Schulbegriff, nicht- nur eine Staatsform, die höchstens in unbedeutenden
Randzonen abseits der „großen Mächte" realisiert war (USA, Schweiz, Niederlande),
sondern sie erscheint als eine zentrale geschichtliche Bewegung, die das Leben der
Völker immer stärker in ihren Bann zog. Was die von STEGER herausgegebenen
„Ergänzungsblätter" 1849 für Deutschland formulierten, traf daher im Kern die

251 PALMER, Notes, 208 f. 223 :ff.; ßLANKE, Der amerikanische Demokratiebegriff, 43 ff.
(s. Anm. 114).
262 Die Warnung vor einem debordement du democratisme franJiais findet sich bereits in

einer Proklamation FRIEDRICH WILHELMS III. von 1794; vgl. ZAJAZEK, Histoire de la
revolution de Pologne en 1794 par un temoin oculaire (Paris 1797), 248; vgl. PALMER,
Notes, 211. In Deutschland wurde 'Demokratismus' 1796 von FRIEDRICH SCHLEGEL,
Begriff des Republikanismus (s. Anm. 198), 19 verwendet: Wenn es hier der Ort wäre,
so würde e.s nicht schwer sein, zu erklären, warum bei den Alten die Ochwkratie immer in
Tyrannei überging, und bis zur höchsten Evidenz zu beweisen, daß sie bei den Modernen in
Demokratismus übergehen muß.
263 Hierzu allgemein FRIEDRICH EDDING, Vom Ursprung des Demokratismus in Deutsch-

land. Die Verfassungsideen der demokratischen Parteien in der Paulskirche (Diisseldorf


1936).
254 CAMPE, Fremdwb. (1813), 253.

861
Demokratie V. 1. Verfassungspolitisehes Verstäntlnü

gesamten literarischen und politischen Erörterungen des Jahrhunderts über Demo-


kratie: Eine Gesellschaftsform, häufig als Muster angepriesen, ist plötzlich unter uns
zur Wahrheit geworden. Die theoretische Erörterung sieht sich jetzt einem Wesen von
Fleisch und Bein gegenüber, die' Demokratie hat den Schritt aus dem Buch in das
Leben hinein getan. Wir müßten- nicht Menschen sei.n, wenn nicht das plötzliche
Erscheinen eines so unvermuteten Gastes uns einigermaßen verwirren sollte266.

1. Verfassungspolitisches Verständnis
Die zunehmende Orientierung der Demokratietheorie aq der demokratischen
Praxis, wie sie sich in den europäischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts und in
dem jetzt in den Vordergrund tretenden Verfassungsmodell der Vereinigten Staa-
ten266 entfaltete, bewirkte zunächst eine Verschiebung innerhalb des engeren
verfassungspolitischen Verständnisses der Demokratie: ·diese wurde jetzt immer
weniger als eine von andern klar abgegrenzte Staatsform verstanden, der als Alter-
native Monarchie oder Aristokratie gegenüberstanden, sie galt vielmehr als ein
den modernen Verfassungen im ganzen inhärierendes politisches Element, das sich
je nach sozialer Verfassung und historischer Situation mit aristokratischen und
monarchischen Elementen verbinden konnte. Dementsprechend flossen aus dem
Demokratiebegriff zunächst alte Bedeutungen aus: 1) die Fixierung auf „reine"
oder „direkte" Demokratie, 2) die Bindung an kleine Staaten und einfache Gesell-
schaftsformen, 3) schließlich sogar der Gegensatz zu aristokratischen und monarchi-
schen Ordnungen. Wir gehen dieser Entwicklung - die sich ebenso im angel-
sächsischen und romanischen Sprachraum bemerkbar machte - im folgenden
hauptsächlich an Hand deutscher Quellen nach.

a) Repräsentative Demokratie. Während noch in der Revolutionszeit die Theorie in


Deutschland überwiegend dazu neigte, 'Demokratie' mit 'direkter Demokratie'
gleichzusetzen und alle Beschränkung lmmittelbarer Volksherrschaft als Übergang
zu Aristokratie oder Monarchie zu verstehen, begann man im Vormärz unter dem
Einfluß französischer Theoretiker von dieser Haltung abzuweichen. Es entwickelte
sich der Gedanke einer beschränkten (oder repräsentativen) DemokratW21>1• Nach
PöLITZ unterscheidet sich diese von der Aristokratie dadurch, daß die Volksvertreter
kein besonderes Standesinteresse geltend machen können, sondern nur das allgemeine
Interesse des Volkes selbst; daß also die Repräsentanten nicht im Charakter von Be-
vollmächtigten, sondern im Charakter von Stellvertretern handeln; daß sie durch Wahl
ernannt werden, und daß die Zahl der Volksvertreter nicht nach Ständen, sondern

1166Ergänzungsblätter zu allen Conversa.tions-Lexiken, hg. v. Friedrich Steger, Nr. 207,


Bd. 4, H. 4 (Leipzig 1849), 801.
268 Vgl. KRuG Bd. 1 (1827), 486; MANz Dd. 3 (1850), 326 f.; vgl. PnmER 2. Aufl., Bd. 7

(1841), 189: Die Demokratie kann in ihrer Reinheit nur unter einem Volke bestehen, woEinfaU
der Sitten und Achtung für Tugend herrscht. Jetzt sind die nordamerikanillchen Freistaaten
die einzige wirklich bestehende Demokratie.
267 KARL HEINRICH LUDWIG PöLITZ, Die Staatswissenschaft im Lichte unserer Zeit, Bd. 1
(Leipzig 1823), 441. Begriff und Gedanke sind jedoch älter (s. o. S. 846).

862
•) Demokratie Im Großstaat Demokratie

nach der Gesamtzahl des Volkes statistisch festgesetzt wird 268 • Obwohl dieser Gedanke
nicht unangefochten blieb269, war doch die Unterscheidung von reiner (direkter)
und · repräsentativer (gemäßigter) Demokratie ein bleibendes Ergebnis der im
Vormärz geführten Diskussion; sie begegnete bei BLuM 2eo, MEYER 20 1, BROCKHAus2s2
und BLUNTSCHLI/BRATER, wo die Repräsentativdemokratie eine aristokratisch-
ermäßigte, d. h. veredelte Demokratie2 8 3 genannt wurde. Es ist bezeichnend, daß die
Theorie jetzt nicht mehr - wie noch im 18. Jahrhundert - Repräsentativdemo-
kratien als echte oder verschleierte Aristokratien kennzeichnete, sondern bemüht
war, ein breites Feld demokratischer Ordnung in repräsentativen Formen einerseits
von der absoluten Demokratie 264, andererseits von der Aristokratie im eigentlichen
Sinne abzugrenzen - ein deutliches Zeichen der veränderten historischen Situation,
in der Demokratie nicht mehr nur in den Formen des angelsächsischen town-
government oder der Schweizer Landsgemeinde auftrat, sondern auch die Ver-
fassungsformen großer Staaten beeinflußte und umbildete.

b) Demokratie im Großstaat. Dem entspricht es, daß in der Theorie die demokrati-
sche Regierungsform jetzt nicht mehr auf kleine, einfache und gesellschaftlich homo-
gene Staatsgebilde beschränkt wurde. Hatte noch ScHLÖZER von der Demokratie ge-
meint, sie könne bestehen bei einem kleinen unverdorbenen unkultivierten Volke,
das keine andere Gemeindegeschäfte betreibt, als zu denen bloß schlichter Menschen-
verstand gehört, während bei einem großen verfeinerten, d. i. verdorbenen Volke die
Demokratie die despotischste aller Regierungsformen sei 286, so begannen sich auch
in diesem Punkt die Anschauungen im Vormärz allmählich zu wandeln. Entschei-
dend war vor allem das amerikanische Beispiel, das jetzt - nach der Tocqueville-
Übersetzung F. A. Rüders (1836) - immer stärker zum Mittelpunkt theoretischer
Reflexion über demokratische Regierungsformen wurde 288. So bemerkte der
BROCKHAUS von 1838: Die Demokratie als eigentliche Volksherrschaft hat ihr Feld
in .Amerika; sie wird es dort gewiß noch lange behaupten und sich in den verschiedenen
Gestaltungen, deren sie fähig ist, nicht allein weiter auslaufen, sondern auch sehr
bedeutend, und je mehr die europäischen Sprachen . . . dort Boden und Wurzel ge-
winnen, desto bedeutender auf das alte Europa zurückwirken267 • Die Vereinigten

258 Ebd., 441 f.


258 So stellt z. B. MEYER, große Ausg„ Bd. 7/4 (1846), 135 fest, die repräsentative Demo-
kratie sei in Gefahr, entweder die Aristokratie aua aich aelbat heraua zu gebären oder in
Anarchie unterzugehen.
• 0 BLUM Bd. 2 (1852), 392 ff., Art. Volksherrschaft.

981 MEYER, große Ausg., Bd. 7/4, 135:.


au BROCKHAUS 10. Aufl., Bd. 4 (1852), Art. Demokratie.
988 BLUNTSOBLI/BRATER Bd. 2 (1857), 699. 704, Art. Demokratie.

2" Der Ausdruck bei BLUNTSCBLI/BRATER Bd. 2, 699 und bei BROCKHAUS 10. Auß., Bd. 4,
689.
115 Scm.özER, Stats-Gelartheit (s. Anm. 134), Bd. 1, 128 f.
281 Vgl. ERNST FRAENXEL, Amerika. im Spiegel des deutschen politischen Denkens (Köln
1959).
117 BROCKHAUS, CL Gegenwart, Bd. 1 (1838), 914.

868
Demokratie V. 1. Verfassungspolitisches Verständnis

Staaten - in geringerem Maße auch England - wurden in der Theorie zum Muster-
fall der ermäßigten oder repräsentativen Demokratie, auf die sich nach dem
Scheitern der Französischen Revolution vielfach die Hoffnungen der liberalen
Kräfte richteten: es ist gerade ein Vorzug dieser Regierungsform, daß vermöge ihrer
der Volkswille nicht in seinem ersten und unmittelbarsten, oftmals leidenschaftlichen
und unklaren Erguß, sondern erst geliiutert, gemäßigt und abgekliirt durch eine Reihe
von M Ütelstufen und Organen zur Verwirklichung gelangt . . . Die absolute Demokratie
äußert sich namentlich dann in ihren Wirkungen höchst gefährlich, wenn, was nur
zu leicht geschieht, die Macht, die unbeschränkt und ohne Gegengewicht in der Hand
einer Volksversammlung liegt, von dieser oder deren Führern gemißbraucht wird, um
rückhaltlos in alle Verhältnisse einzugreifen und eine Allmacht des Staats zu begründen,
welche mit der persönlichen Freiheit der einzelnen im schneidendsten Widerspruche
steht. Gerade dadurch zeichnet sich die repräsentative Demokratie, wie sie namentlich
in den Vereinigten Staaten organisiert ist, aufs vorteilhafteste aus, daß dort der Grund-
satz möglichster Selbstregierung des Volkes in allen seinen Verhältnissen, also mög-
lichster Beschränkung der Staatsgewalt auf das Notwendigste, mit äuß_erster Strenge
und Sorgfalt überall festgehalten wird 288.

c) Demokratie, Aristokratie und Monarchie. Die Verlagerung der theoretischen Dis-


kussion von der absoluten auf die repräsentative, der kleinräumig-primitiven auf
die großflächige, kulturell entwickelte Demokratie flachte schließlich auch den
verfassungspolitischen Gegensatz zur Aristokratie, vor allem aber zur Monarchie
ab: je mehr Demokratie als Element und Ingrediens verfassungsstaatlicher Ord-
nung schlechthin (und nicht so sehr als eine spezifische, von anderen unterschiedene
Staatsform) begriffen wurde, desto weniger wurde sie in einem absoluten Gegensatz
zu jenen Regierungsformen gesehen. Zwar wirkte die revolutionäre Entgegen-
setzung von Aristokratie und Demokratie auch im 19. Jahrhundert noch fort;
so faßte z.B. Büuu die Demokratie als Gegensatz des aristokratischen Prinzips 269 ;
auch MEYER sah einen Gegensatz zwischen beiden Regierungsformen: hier Gleich-
heit der Rechte und Pflichten, dort Privilegien und Vorrechte; zwischen beiden allein
kann nur Kampf bestehen und zwar Kampf bis zur Vernichtung des Gegners 270•
Aber schon das „Conversationslexikon der Gegenwart" (1838) relativierte den
Gegensatz durch den Hinweis, daß sich in ganz Europa mit Ausnahme Englands
die Aristokratie als Stand im Niedergang befinde, die Demokratie also nur noch
die Monarchie als wirksamen Gegenspieler habe 271 • Auch STEGER stellte 1849 das

288 BROCKHAUS 10. Aufl., Bd. 4 (1852), 689 f.


28B BüLAU .(1832), 288.
27 0MEYER, große Ausg., Bd. 7/4, 136.
271 BROCKHAUS, CL Gegenwart, Bd. i, 221, Art. Arist,okratismus und seine Gegensätze.

Bemerkenswert ist einer der :frühesten Belege für die Gegenüberstellung von Liberalismus
und Demokratie, die in Deutschland erst sehr viel später üblich wurde: Wenn der Liberali.!-
mus aich noch mehr von den Schl,acken demokratiacher Tendenzen gereinigt haben wird, welche
ihn in den letzten Jahrzehnten verunataltet haben, ao wird man immer allgemeiner einsehen,
daß die Mcmarchie in der falachen Aristokratie auch nur falache Freunde und heimliche
Gegner besaß, hingegen ihre mutvollaten und treuesten Verteidiger, wenn es deren bedarf, in
dem Vereine der echten Aristokratie und des wahren Liberalismus zu suchen hat: ebd., 222.

864
e) Demokratie, Aristokratie und Monarchie Demokratie

Ende der alten Aristokratie fest, wollte aber eine modernisierte Aristokratie mit
einer durch solche Kombination entschärften Demokratie verbinden. Auf dem Weg
des Zweikammersystems läßt sich die Aristokratie und die Demokratie nebeneinander
konstituieren, beide gleichberechtigt, die eine Kontrol"le für die andere. Man nehme
aber auch die richtige Aristokratie und die wahre Demokratie. Die Aristokratie der
früheren Zeit war der Adel, die Demokratie der Mittelstand. Dieser Zustand ist ein
überwunderµJr. Der Adel als Stand hat seine Rechte verloren, der Mittelstand ist nicht
mehr Demokratie. Erkennen die Regierungen diese Wahrheit, so lassen sie den Adel
fallen, ·machen aus der früheren Demokratie die jetzige Aristokratie und räumen der
neuern Demokratie den ihr gebührenden Platz ein. Was gibt in dieser Zeit Anspruch
auf eine aristokratische Stellung? Intelligenz und Geld. Diese beiden Kräfte konsti-
tuiere man zusammen, aber nur nicht die letzte ohne die erste, denn das hieße in den
Fehler der ersten Konstitutionen zurückfallen. In der ersten Kammer würden mithin
Repräsentanten Platz nehmen des großen Besitzes, der Kaufleute, Fabrikanten und
reichen Gewerbetreibenden, der Gelehrten, Ärzte, Advokaten, Geistlichen, Schullehrer
und Beamten. Die zweite Kammer müßte durch allgemeines Wahlrecht gebildet werden.
Eine solche Verteilung würde sich segensreich auswirken212.
Auch der Möglichkeit eines Bundes zwischen den demokratischen Kräften und
einer aufgeklärten Monarchie blieb man sich bewußt. So bemerkte lIARTLEBEN
(1824): Noch streitet aber zum Glück in diesem politischen Kriege die Demokratie
nicht gegen die Monarchie, sondern nur gegen die Anmaßungen der Aristokratie. Wir
dürfen daher hoffen, daß Billigkeit von beiden Seiten eintreten werde, und was das
konstitutionelle Deutschland insbesondere betrifft, so haben sich fast in allen dessen
Teilen die Regenten überzeugt, daß die Stände voll Liebe, Treue und Anhänglichkeit
nicht das monarchische Prinzip zu untergraben suchen, sondern vielmehr nur der
ministeriellen Willkür oder Mißgriffen entgegentreten273• Der Demokratieartikel des
HüBNERschen „Zeitungs- und Conversationslexikons" versuchte sogar eine Brücke
zwischen den· Staatsgrundsätzen der Heiligen Allianz und der 'Demokratie' zu
schlagen .derart, daß 'Demokratie' ganz unbestimmt als Herrschaft allgemeiner
Interessen der Staatsfamilie oder ihrer Mehrheit, selbst wenn diese sich ohne
politische Rechte befinden sollte, bestimmt wurde. Natürlich scheint ohne Gefahr
auch in der Monarchie dieses Interesse vorherrschen zu können, und dieses Kön-
nen, wenn die Monarchie sich nicht dabm: gefährdet glaubt, haben die Gesetze der
·weisesten Allianz nicht abgeändert, denn man huldigt dem Grundsatz des National-
interesses, welches zwischen dem Erbmonarchen und seinem Volke stets gemein-
schaftlich ist274 •
HEGEL dagegen wehrte sich gegen die Amalgamierung der Begriffe 'Monarchie'
und 'Demokratie'. Anfang der zwanziger Jahre schrieb er in der „Rechtsphilo-
sophie", es sei nicht passend, wenn. in neuerer Zeit soviel vom demokratischen, aristo-
kratischen Elemente in der Monarchie gesprochen worden ist; denn diese dabei ge-
meinten Bestimmungen, eben insofern sie in der Monarchie stattfinden, sind nicht

272 STEGER,Ergänzungsblätter (s. Anm. 255), 803.


273 HARTLEBEN Bd. 1 (1824), 237 f.
214 HÜBNER 31. Aufl., Bd. 1 (1824), 346.

55-90385/1 86ö
Demokratie V. 1. Verfas1•11mg11politiachea Verständnia

mehr Demokratisches und Aristokratisches276 • Unbeschwert von solchen begriff-


lichen Bedenken faßte der Artikel von STEGER (1849) für die Zukunft als erstrebens-
wertestes Ziel eine demokratische Monarchie ills Auge; gelinge es nicht, die Monarchie
zu demokratisieren, so werde die Demokratie . . . dem Sozialismus in die Arme ge-
trieben278. Hier wie auch bei ROBERT BLUM277 wurde Friedrich Wilhelms IV. Wort
von der Monarchie auf der breitesten demokratischen Grundl,age als Losung der Zeit
zitiert; und noch der BROCKHAUS von 1852 konnte feststellen, daß die Demokratie
ihre .Angriffe zunächst mehr gegen das aristokratische als gegen das monarchische
Prinzip richtete und daß früher die Monarchie in der Demokratie ihre natürlichen
V erlründeten gegen die .Aristokratie suchte und fand 278 • Zu Ende der fünfziger Jahre
faßte BLUNTSCHLI die Debatte über das Verhältnis der Monarchie zu den demo-
kratischen Strömungen in der Maxime zusammen, nicht die Unterdrückung, sondern
die richtige Organisierung und Beachtung der demokratischen Elemente sei die
politische Aufgabe im monarchischen Europa. Indem die Monarchie das demo-
kratische Element in seiner natürlichen Berechtigung ruhig anerkennt, findet sie sel.bst
in ihm die sicherste Stütze und hat zugleich die Macht, der Überspannung und Aus-
schreitung dieses Elements durch die organischen Ordnungen zu wehren279 • Hier er-
scheint die repräsentative, mit dem Königtum eng verbundene Demokratie als
Schlußpunkt einer theoretischen Auseinandersetzung, die von der absoluten Demo-
kratie und ihrem unüberwindlichen Gegensatz zu Aristokratie und Monarchie aus-
ging. Die Veränderung der klassischen Theorie ist evident: was dort als Signum
aristokratischer Ordnungen galt, wird jetzt als „repräsentative Demokratie" einem.
erweiterten Demokratiebegriff eingeordnet; ja es wird schließlich zum vorherrschen-
den Grundtypus überhaupt.
Maßgebend für die Erweichung des älteren Begriffs ist ohne Zweifel die Kon-
frontation mit der modernen, auf große Staaten ausgedehnten und zugleich vom
alten Stigma politischer Instabilität befreiten Demokratie. Die Demokratie kann
mit Ordnung und Kraft im Staate bestehen, wie die Geschichte Griechenlands und Roms
berichtet und die nordamerikanischen Staaten es in einem neueren Beispiel nachweisen.
Sie darf somit nicht mit der .Anarchie verwechselt werden2BIJ. Demgemäß ist neben
dem Konzept der repräsentativen Demokratie als theoretisches Hauptergebnis
eine durchgängig höhere Bewertung der Demokratie überhaupt zu verzeichnen -
Vorspiel und Vorbereitung der positiven Bedeutung, die das Wort im 20. Jahrhun-
dert in scharfem Gegensatz zur älteren Lehre gewann. Nur außerhalb des liberalen
Bürgertums, bei den konservativen Zeitgegnern und den sozialistischen Utopi11ten,
blieb 'Demokratie' weiterhin - bald mit negativem, bald mit positivem Akzent -
von der Radikalität und Schärfe der klassischen Theorie geprägt.

176 HEGEL, Rechtsphilosophie, § 273.


211 STEGER,Ergänzungsblätter, 808.
277 Bd. l (1852), 688.
BLUM
878 BROCKHAUS 10. Aufl., Bd. 4 (1852), 688.

278 BLUNTSCHLI/BRA.TER Bd. 2 (1857), 712.


280 HARTLEBEN ßd. l (1824), 236 ff.

866
V. 2. Das "tlemokratisehe Prinzip" Demokratie

2. Das „deoiokratische Prinzip"


Eine zweite Entwicklungslinie führt-außerhalb des engeren verfassungspolitischen
Bereichs - zu einem sozialen und geistigen Demokratiebegriff und zur Lehre vom
demokratischen Prinzip281 • Hierunter wurde, in loser Anknüpfung ari die aristo-
telische Politeialehre, die ohne weitere positive Einsetzung schon unmittelbar aus dem
Vereinigungsakt hervorgehende Verfassung verstanden (RoTrEOK) 282• Der Grund-
gedanke war bereits bei HARTLEBEN ausgedrückt, wo ein engerer politischer und
ein weiterer Demokratiebegriff unterschieden werden: Die Demokratie ist nur in
einer Republik und in solchen Staaten möglich, wo es keine erblichen Würden gibt.
1ndessen enthäU jeder wohlgeordnete Staat, dessen Bürger politische Freiheit, d. i. einen
gesetzmäßig anerkannten Anteil an Entscheidung über die öffentlichen Angelegenheiten
genießen, ein demokratisches Prinzip in sich, welches einzig in der unumschränkten
Willkürherrschaft fehlet 283• Das liberale Verständnis dieses demokratischen Prinzips
hat RoTrEOK im „Staats-Lexikon" näher entfaltet. Danach lag die Demokratie
als Prlnzip, nicht als Herrschaftsform, jeglicher (monarchischen oder aristokrati-
schen) Staatsverfassung gemäß der Vorstellung eines ursprünglichen Gesellschafts-
vertrags zugrunde. Stets bleibe es daher notwendig, das ursprüngliche demo-
kratische Prinzip im Rechtsstaat, d. h. die Idee der rechtlichen Herrschaft des Gesamt-
willens, zu sichern. Daher forderte Rotteck die verfassungsrechtlich gesetzte
Repräsentation des „Gesamtwillens" in einem Volksausschuß auf Grund einer
weise geregeUen freien Wahl ..nicht durch allgemeines und gleiches Stimmrecht.
Damit verband Rotteck die strikte Ablehnung absolut gewordener aristokratischer
Vorrechte einerseits, die Anlehnung an die Monarchie andererseits. Das Problem
der modernen Demokratie suchte er demgemäß zu lösen, indem er das monarchisch-
demokratische Prinzip einem nur durch Umsturz zu verwirklichenden, also ge-
fährlichen republikanisch-demokratischen entgegensetzte: Robespierres Schreckens-
herrschaft war nickt im Sinn des demokratischen, d. h. des der Rechtsgewährung für
alle zugewandten Prinzips, das mit dem Jakobinismus ebensowenig gemein hat als
mit dem chinesischen Absolutismus284• Bezeichnend an diesem Text, der die Er-

281 Das Wort wohl er11tmals bei GöRRES 1814 (no.oh KLuoE/MxTZKA 18. Aufl., 1960, 126);
ähnliche Bildungen aus der gleichen Zeit sind demokratische Gesinnung (J. v. HENDRICH,
Einige entferntere Gründe für Sti.ndische Verfassung, Leipzig 1816) und demokratischer
Geist, das schon bei J. WEITZEL, Hat Deutschland eine Revolution zu fürchten T (Wies-
baden 1819), 102 f. auftritt, wo es heißt: Ich aagte oben, die Stimmung der Zeit aei wesentlich
demokratisch; in den aufgeküi,rten Ländern aber ist aie es besonders. Daa Wort wird den nicht
ach.recken, der die Sache kennt. Freiheit und Gleichheit, d~aer ao verachriem Ruf • • • ist daa
Loaungawort der Ge.genwart, daa, wo auch nicht allenthalben, la.ut und öffentlich auag~,
doch in den Herzen der Völker widerhallt; Freiheit, die Be/ugn,ia, nur dem GeMtz zu ge-
horchen, Gleichheit, die allgemeine Verpflichtung, einem und demselben Gesetze untertan
zu sein • • • Daß dieser demokratische Geist wuentlich monarchisch ist, bt.darf kaum einer
Erwähnung.
182 RoTTECK/WELCKER 2. Aufl., Bd. 3 (1846), 712 ff. Vgl. BROOKlUUS 7. Aufl., Bd. 3 (Ndr.

1830), 103.
288 HARTLEBEN ßd. 1 (1824), 236.
28' ROTTECK/WELCKER Bd. 4 (1837), 261.

867
Demokratie V. 2. Das "demokratische Prinzip"

wartungen und Ansprüche des liberalen Bürgertums an die künftige demokratische


Entwicklung umschreibt, ist nicht nur die betont freundliche Haltung gegenüber
der Monarchie, die Hand in Hand geht mit der Abwehr der jakobinischen Radikal-
demokratie; aufschlußreich ist auch die vorsichtige Zurückhaltung in der Prä-
zisierung der verfassungspolitischen Ziele der demokratischen Bewegung. Das
dP-mokratische Prinzip verlangte keineswegs die volle Realisierung der politischen
Demokratie als Staatsform; es konnte sich ebenso in einer konstitutionellen Mon-
archie erfüllen, ja es war letztlich unabhängig von jeweiligen verfassungspolitischen
Regelungen überhaupt. Wie das aristokratische und monarchische Prinzip, deren
propagandistische Gegenformel es war, blieb das demokratische Prinzip in einer
Schwebelage zwischen der politischen Realität der Zeit und der Idealität reiner
vernunftbestimmter Forderung; und ebenso wie jene half es mit, die alten aristo-
telischen Staatsformen ihrer politischen Konkretheit zu entkleiden, sie umzuwan-
deln in Tendenzen, Prinzipien und Bewegungen, die mannigfache geschichtliche
Mischungen miteinander einzugehen in der Lage waren.
Es entspricht dieser Situation, wenn schließlich der politische Begriff der Demo-
kratie vor dem sozialen oder ideellen ganz zurücktrat. In Deutschland war dieser
Zustand bereits Ende der rlreißigAr .fahre erreicht. So .zeichnete der BROCKHAUS
von 1840 in seiner Begriffsbestimmung zwar noch den traditionellen politischen
Begriff. Aber daneben standen - zunehmend wichtiger werdend - schon zwei
andere Begriffsbestimmungen, die den Schwerpunkt des Artikels bildeten: Demo-
kratie als Mac'IU der materiellen Interessen und Bedürfnisse der Volksmasse oder des
größeren Teiles des Volkes, wewhe sich überall, unter jeder Verfassung geltend mac'IU,
weil das Volk überall Nahrung und . . . einen angemessenen und vollen Lohn verlangt,
womit Gewerbefreiheit, Möglichkeit des Erwerbens und Rechtssicherheit, wewhe ohne
Rec'/usgleichheit gar nic'IU gedac'IU werden kann, zusammenhängen: und 'Demokratie'
als Mac'IU der hökern· geistigen oder moralischen Interessen, wewhe in sittlicher
Erhebung der Völker, Gerec'/uigkeit, Wahrheit und uneigennützigem Wirken zum
Wohl des Ganzen bestehen und sie als höchste Aufgabe des Staatslebens betrac'/uen
lassen285•
Die Macht der materialen Interessen, die soziale Frage mit ihrer ungeahnten
Sprengkraft, verhinderte, daß die Entwicklungsgeschichte des Demokratiebegriffs
in der problemlosen Verzahnung demokratischer Hoffnungen und bürgerlich-
liberaler Interessen - wie bei Rotteck - zu ihrem Ende kam. Der BROCKHAUS
von 1840 wies auf die Scheiuelinie hiu, ilie im demokratischen Lager im Vormärz
erkennbar wurde: man treffe auf den Gedanken, daß nic'IU bloß die politische, sondern
auch die sociale Grundlage des bisherigen Gesellschaftszustandes eine Umwandelung
erfahren, daß die besitzende Olasse (die Bourgeoisie) nic'IU bloß der politischen Vor-
rechte, die sie bisher genossen, sondern auch der materiellen Basis dieses Vorrechts,
ihres Besitzes, zu Gunsten der besitzlosen Olasse (des eigentlichen Volkes) ganz oder
zum Teil entkleidet, daß also nic'IU nur eine vollständ·ige poz.itische, sondern auch eine
materielle und sociale Gleichheit aller Olassen der Gesellschaft hergestellt werden müs.~e.
In diesem Sinne hat man von einer social-demokratischen Staatsordnung, einer demo-
kratischen und socialen Republik, als dem notwendigen Zielpunkte der Entwicklung

286 BROCKHAUS 8. Auß., Bd. 3 (1840), 372.

868
V. 3. Die Bistori&ienmg des Begriffs Demokratie

des demokratischen Prinzips, gesprochen. In diesem Punkte also scheidet sich die
demokratische Partei (oder, wie man hemzutage alkrdings sprach1ich nicht richtig
häufig sagen hört, die Demokratie) in eine rein demokratische, welche tiur die politischen
Konsequenzen des demokratischen Prinzips: das allgemeine Stimmrecht und die
absolute Gleichheit aller staatsbürgerlichen Rechte anerkennt und geltend macht, und
eine social-demokratische, welche diese politischen Errungenschaften nur als Miuel
zur Erringung allgemeiner socialer Gleichheit unter den Menschen ansieht 286 • Die
historische Tatsache der socialen Demokratie in der zweiten Republik in Frankreich
brachte LORENZ VON STEIN mit der Frage nach Verfassung und Verwaltung in
Zusammenhang; es schien ihm gewiß, daß es von jetzt an weder eine reine Demo-
kratie, noch einen reinen Sozialismus mehr geben wird; und damit ist denn endlich
der Schwerpunkt des Staatenlebens und der Staatstätigkeit ve"ückt und aus der V er-
fassungsfrage in die Verwaltungsfrage hinübergetragen287 • Für die Entwicklung der
deutschen Sozialdemokratie blieb der Kern der Steinsehen Prophezeiung in etwa
gültig; anders der revolutionäre Marxismus, der in der „reinen" Demokratie nur
eine Vorstufe sah, die bekämpft und überwunden werden mußte, sobald sie erreicht
war288 •

3. Die Historisiemng de11 Begriffs

Es war unabweisliches Bedürfnis des 19. Jahrhunderts, die so - nämlich als Ten-
denz, Prinzip, geschichtliche Bewegung - verstandene Demokratie in den Gang
der europäischen Geschichte einzuordnen, den modernen demokratischen Ideen
gewissermaßen „die Nativität zu stellen". Dies geschah aber jetzt in grundsätzlich
neuer und anderer Weise als in der Zeit vor der Revolution. Wenn damals über
Elemente und Ursprung demokratischer Regierungsformen reflektiert wurde, so
im wesentlichen in der Gefolgschaft traditioneller Kreislauflehren - nämlich in der
Weise, daß man die sozialen und geistigen Entwicklungstendenzen zu beschreiben
versuchte, die zu einem „Umschlag" (aus der Aristokratie oder Monarchie bzw.
deren Entartungsformen) in die Demokratie führen konnten, und demnach Ver-
haltungsmaßregeln für die Regierenden entwarf. Das 19. Jahrhundert löste sich
sowohl von der pragmatischen Absicht wie von der zyklischen Orientierung solcher
Untersuchungen - die Demokratie war für die meisten Theoretiker nicht mehr
ein Verfassungszustand, der andere Formen zur Voraussetzung hatte und eines
Tages von anderen abgelöst wurde, sondern ein Endpunkt der Geschichte, auf den
die „historische Tendenz" seit Jahrhunderten alle Bewegungskräfte hingespannt
hatte. Dementsprechend suchte man jetzt nach einer generellen, alle Umstände
berücksichtigenden Erklärung des Phänomens. Sie bot sich historisch in drei-
facher Richtung an (um nur die wichtigsten Erklärungsversuche zu nennen):
a) von der antiken Vorgeschichte der Demokratie her, b) aus der Idee der „alt-
germanischen Freiheit", c) aus dem (angelsächsischen) Protestantismus.

2se Ehd.
287 LORENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, 3.Aufl., Bd.3 (1850;
Ndr. München 1921), 406.
28 8 s. u. s. 889 ff.
869
Demokratie · V. 3. Die Historiaierung des Begriffs

a) Rückgrift' auf die Polis. Nur gering war in Deutschland die Zahl derer, die das
historische Vorbild der modernen Demokratie in den antiken demokratischen
Gemeinwesen sahen. Das revolutionäre „Ainsi faisaient les Romains" als politischer
Antrieb und historisches Vergleichsmaß wurde nach dem zeitgeschichtlichen Ein-
schnitt der Französischen Revolution weder in Frankreich noch in Deutschland
wirkungefähig fortgesetzt. Die humanistische Komponente der modernen demo-
kratisch-republikanischen Gestaltungsversuche war zwar gegenwärtig; aber aus der
seit Niebuhr auf streng quellenkritiecher Grundlage arbeitenden .Althistorie ergab
sich ein wesentlich skeptischerer, von allzugroßen Idealisierungen freierer Blick auf
die Wirklichkeit der antiken Demokratie als im Frankreich und Deutschland der
Revolutionszeit. So wurde fast allgemein darauf hingewiesen, daß die antike
Demokratie keine absolute Gleichberechtigung aller Staatsbürger oder gar aller
Menschen hinsichtlich ihrer politischen Rechte gekannt habe: Weder die gänzliche
Rechtlosigkeit des größern Teils der Bevölkerung, der Sklaven, noch die Unterschiede,
welche die Gesetzgebung auch unter den eigentlichen Staatsbürgern in Bezug auf ihre
Teilnahme an der Herrschaft aufstellte (z. B. die Ausschließung der untersten Olasse
von den Staatsämtern nach der Solonischen Verfassung), wurden als unverträglich
mit dem Wesen der Demokratie betrachtet, wenn schon in letzterer Hinsicht allerdings
die wachsende Macht des demokratischen Prinzips in der allmählichen A.ustilgung
dieser Ungleichheiten, der Übertragung der öffentlichen Gewalt auf die ganze Masse
des Volks ohne Unterschied, und somit also in der Erhebung der an Zahl stärksten
untersten Olasse über die andern sich geltend rnacJite289.

b) Rückgrift' auf die „alte deutsche Freiheit". Stärker ist das Motiv der „alten
deutschen Freiheit", in der man besondere im Kreis der verfassungsgeschichtlich
interessierten deutschen Liberalen eine Art von Urbild der modernen Demokratie
zu sehen meinte. Elemente dieses Geschichtsbildes waren: die fast völlige Gleichheit
aller freien Männer bei den germanischen Völkerschaften und eine wahrhafte Selbst-
regierung dieser Freien - ein Zustand, der modern-liberal als Abwesenheit herr-
schaftlichen Zwanges und als Bindung der Handlungen der Regierenden an die
Zustimmung der Volksversammlung gedeutet wurde. Dieser Zustand allgemeiner
Freiheit und Gleichheit wurde aber nach dieser Anschauung bereits im frühen und
hohen Mittelalter durch die Ausbildung des Lehnsrechtes verlassen, der größere
Teil der anfänglich Gleichberechtigten geriet damals in Abhängigkeit von einer
Minderheit,' an deren Spitze der Monarch als oberster Lehnsherr stand. Die demo-
kratische Gleichheit verwandelt sich also in eine monarchisch-aristokratische Gliederung.
Nur in einzelnen Gebieten Europas, so in den Schweizer Urkantonen, erhielt sich
die alte demokratische Verfassung, und diese kleinen Demokratien traten dann auch
bald gänzlich aus dem Verband des großen,Feudalreichs heraus und wurden unab-
hängige Republiken. In den großen Feudalstaaten entwickelte sich dagegen all-
mählich eine demokratische Bewegung von unten, hervortretend in den Städten,
dem Handelsverkehr, der Industrie; sie habe allmählich auch die in feudaler
Abhängigkeit befindlichen niederen Stände, zuletzt das Bauerntum, ergriffen.
So war denn allmählich ein Teil nach dem andern jene.~ im Mittelalter von dem herr-
schenden· Stande so verachtungsvoll zurückgestoßenen und unterdrückten Volkes aus

289 BROCKHAUS 10. Aufl., Bd. 4 (1852), 685.

870
c) Rückgriff auf die protestantisehe Tradition Demokratie

diesem Zustande der Unfreiheit und Zurücksetzung herausgetreten und zu einer mehr
oder weniger vollständigen GT,eichheit mit dem früher all,ein berechtigten Stande gel,angt.
Damit sei aber die Entwicklung n<lch nicht abgeschlossen gewesen; denn da sich
innerhalb der von der Französischen Revolution geschaffenen „Gesellschaft der
Gleichen" wiederum eine neue Aristokratie des Geldes und Besitzes bildete, wirkte
das demokratische Prinzip weiter: Von diesem Gesichtspunkt aus ist es, daß man das
allgemeine Stimmrecht und die Herrschaft der K<Ypfzahl mit Beseitigung jeder aus-
schließenden Bedingung wie Vermögen, Grundbesitz, Zensus usw. als ein notwendiges
Postulat und eine .~elbstverständliche Konsequenz des demokratischen Prinzips prokl,a-
miert hat 290 •

c) Rückgrift' auf die protestantische Tradition. Endlich ist des wirksamsten Topos'
unter den histo:riSchen Ableitungen der Demokratie im 19. Jahrhundert zu ge-
denken: der Verbindung der demokratischen Regierungsform mit dem Geist und
der Geschichte der protestantischen Konfession. Schon im Vormärz da und dort
geäußert (vor allem polemisch bei den katholischen Traditionalisten in Frankreich),
ist der Gedanke durch Tocquevilles Amerikabuch (1835/40) populär geworden,
in dem freilich neben dem spezifisch protestantischen Erbt.eil anr.h die Bede11t1'lng
der allgemein christlichen Tradition betont wurde (unendlicher Wert der Einzelseele
und damit der Individualität; Gleichheit aller Menschen vor Gott etc.). In Deutsch-
land verband sich diese Lehre meist mit der Betonung germanischer Traditions-
einflüsse. Als Kronzeuge sei GERVINUS zitiert, der diese Lehre in seiner „Einleitung
in die Geschichte des 19. Jahrhunderts" (1853) breit ausgeführt hat; hiernach
war den germanischen Völkern der große Beruf zugefallen, nachdem sie auf dem
religiösen Boden Geist und Gesinnung erregt hatten, auch die ersten freiheitlichen
Ordnungen in Kirche und Staat zu begründen ... Der Geist der Genossenschaft
des Mittelalters habe sich in der Neuzeit in den Geist des Individualismus umgebildet,
der die Saat demokratischer Freiheit gestreut hat. Auf allen Lebensgebieten zeige die

290 Ebd.; bemerkenswert ist die Fortsetzung: Damit verbindet sich dann häufig noch der

weitere Gedanke, daß auf diesem Wege nicht b'loß die politische, sondern auch die soziale
Grundlage des bisherigen Gesellschaftszustandes e.ine Umwandelu11.f1 erfahren, daß die be-
sitzende Kla8se (die BO'Urgooisie) niclu b'loß der politischen Vorrechte, die. &ie bisher genos&en,
sondern auch der materiellen Basis dieses Vorrechts, ihres Besitzes, zu Gunsten der besitdosen
Kla8se (des eigentlichen Volkes) ganz oder zum Teil entkleidet, daß also nicht nur eint voll-
ständige poUtischt, sondern auch eine materielle und soziale Gleichheit aller Klassen der·
Gesellschaft hergestellt werden müsse. In diesem Sinne hat man von einer sozial-demokratischen
Staatsordnu11.f1, einer demokratischen und sozialen Republik, als dem notwendigen Zielyunkte
der Entwickelu11.f1 des demokratischen Prinzips, gesprochen. In diesem Punkte also scheü/,et
sich die demokratische Partei (oder, wie man heutzutage allerdings sprachlich nicht richtig
hä11.fi{/ 80{/en hört, die Demokratie) in eine rein demokratische, welche nur die politischen
Kon&equenzen des demokratischen Prinzips: das allgemeine Stimmrecht und die absolute
G"leichheit aller. 81,aatsMJ,rgerlichen Rechte anerkennt und geltend 'fllf1d/,/,, und eine sozial-
demokratische, welche diese pol,itischen E"ungenachaften nur als Mittel zur E"ingu11.fl all-
gemeiner sozialer Gleichheit unter den Menschen ansieht (687). Zur Rückprojektion zeit-
genössischer Verfassungsforderungen in die deutsche VerfasBUilgsgescbichte vgl. ERNST-
W OLFGANG BöOKENFÖRDE, Die deutsche 'verfäBBungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahr-
hundert (Berlin 1961), bes. 74 ff. 99 ff. 134 ff.

871
Demokratie V.'- Der .AIJeehiec1 TOD der Antike

deutsche Volksnatur das Verlangen nach Bildung und freier Regung der Kräfte;
darauf aber beruht alle derrwkratische OrdnWIVJ und alle Möglichkeit ihres Bestandes;
diese große Lehre haben die germanischen Stämme der damaligen romanischen wie der
heutigen slavischen Welt gegenüber den neueren Zeiten gegeben291 • Die germanisch-
protestantischen Staats- und Kirchenbildungen antizipierten also die derrwkratischen
Konsequenzen (ebd., 45) der Neuzeit; im Calvinismus traten zunächst aristokrati-
sche Elemente hervor: sie hatten dann im Westen Europas eine aristokratische Phase
im Calvinismus und fanden in dessen puritanischen Fortbildungen ihre derrwkratische
Entfaltung, vorübergehend in England und auf die Dauer in [Nord-]Amerika (49),
das in dieser Hinsicht drastisch von Lateinamerika mit all seiner ursprünglichen
Barbarei und Herabwürdigung des Menschen (89) abgesetzt wurde. Seit 1789 sah
Gervinius auch für das alte Europa wiederum den Siegeszug freiheitlicher Demo-
kratie im Gange und prognostizierte seine Vollendung auch nach Rußland hin-
ein292.
Gervinus' parteiisches Gemälde des neueren Laufs der Demokratie ist nicht ohne
Anfechtung und Widerspruch geblieben. U. a. hat der katholische Staatsrechtler
HEINRICH ZoEPFL in seiner Schrift „Die Demokratie in Deutschland" (1853) die
Aufstellungen des berühmten Literaturhistorikers im einzelnen zu widerlegen ver-
sucht888. Gleichwohl blieb die Schrift bedeutsam, weil sie ein Vor-Urteil des liberalen
Deutschland mit aller 01Tenlniif, 1m1l.ol.yl'iM1~h anH J,id1f, l111h: 11iti tnmr1r.tiugu11g
nämlich, daß sich in den modernen demokratischen Bewegungen letzte Kon-
sequenzen der Reformation (die ihrerseits als germanische Geistestat aufgefaßt
wurde) zu Wort meldeten und daß daher Entfaltung und künftiges Schicksal der
Demokratie wesentlich von der Leistung und Zügelung durch die protestantischen
Kräfte abhänge.

4. Der Ahlebied TOD der Antike


Am Ende der das ganze 19. Jahrhundert erfüllenden Reflexion über Demokratie
wuchs die Erkenntnis, daß antike und moderne Demokratie, überlieferter Begriff
und gegenwärtige Wirklichkeit der demokratischen Regierungsform, voneinander
durch eine tiefe Kluft getrennt waren. Die rrwderne Derrwkratie, bemerkte BLUNT-
BCHLI 1857, ist . . . eine wesentlich andere als die althellenische . . . Gerade die spe-
zifischen Merkmale der alten Derrwkratie, die Losämter und die Vollcsversammlungen,
Bind von dm neuen DfJ'fMkratio verworfen, wolohe die Ämter duroh Wahl besetzt und
Blatt der rohen Volksversammlung· durch Wahl erlesene .Repräsentativkörper will.
In diesen beiden wichtigsten Beziehungen ist das derrwkratische Prinzip durch den
aristokratischen Vorzug je der einsichtigeren und tauglicheren Männer modifiziert
worden. Die alte Derrwkratie war eine unmittelbare, die moderne ist ·eine repräsen-
tative . . . Wir reichen daher mit den Vorstellungen und Überlieferungen der Alten

191 GEORG GOTTFRIED GERVINUS, Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhun-
derts (Leipzig 1853), 41 f.
292 Ebd.

298 H. ZoEPFL, Die Demokratie in Deutschland. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Würdi-

gung von: G. G. Gervinus, Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts


(Stuttgart 1853).

872
VI. 1. „Demokratisches Prinzip" uncl konstitutionelle Monarchie Demokratie

nicht aus, wenn wir die moderne Repräsentativdemokratie erkennen und von andern
Staatsformen untersclieiden wollen294• W AGENER betonte zwar, daß alte und moderne
Demokratie dasselbe Ziel erreichen wollten, nämlich Freiheit, verbunden mit Gleich-
heit, jedoch sei die moderne Demokratie eine der Theorie entsprungene Forderung
der Vernunft, während der antike Demokratiebegriff, zumindest der des Aristoteles,
der Praxis der Politeia und der ihr stets drohenden Pöbelherrschaft nachgebildet
worden sei296 •
Es zeigt sich freilich an der Entwicklung der Theorie im 19.Jahrhundert, daß auch
hier begriffliche Abstraktion und bloße tradierende Übernahme vor der Neuheit
und Eigenart der geschichtlichen Realität sich rasch auflösten; und schon von der
Jahrhundertmitte an schritt die Entwicklung des Demokratiebegriffs, gelöst vom
antiken Konzept, ja schließlich von der verfassungspolitischen Konkretisierung
des Wortes überhaupt, in neue Richtungen vorwärts.
HANS MAIER

VI. 'Demokratie' in der modernen Bewegung

1. „Demokratisches Prinzip" und komtitutionelle Monarchie

In den vor11tehenden Abschnitten wurde gezeigt, wie der nie ganz eindeutige, aber
gleichwohl stets relativ klar definierbare Traditions- und Rezeptionsbegri:ff 'Demo-
kratie' aus seiner gelehrten Abschirmung heraus mitten in das revolutionär-poli-
tische Kampffeld hineingestellt wurde. 'Demokratie' war damit zu einer Partei-
bezeichnung geworden, sei es in selbstbestätigender, sei es in herabsetzender Absicht.
'Demokratie' sollte darüber hinaus auf neue Weise allgemein, d. h. nicht nur in den
Ausnahmen kleinräumiger Sonderformen verwirklicht oder umgekehrt im Rea-
lisierungsanspruch aufs neue widerlegt werden. Zu solcher Widerlegung reichte
die alte Rede, Demokratie (im klassischen Sinne direkter Demokratie) sei in groß-
räumigen und stark bevölkerten Staaten unerfüllbar, nicht mehr aus, da mit der
Prägung des Terminus 'repräsentative Demokratie' der entscheidende Schritt dazu
getan worden war, den Demokratiebegriff für moderne Verfassungen verwendbar
zu machen. Mit Hilfe verfassungsrechtlich institutionalisierter Repräsentation des
„Volkes" sollte grundsätzlich für alle Staaten die Identität von Regierenden und
Regierten ermöglicht werden. Im Maße wie (seit Fichte und Schlegel) eine solche
Verfassung 'Demokratie', eine solche politische Überzeugung 'Demokratismus' und
die bewußt betriebene Bewegung dahin 'Demokratisierung' genannt wurde, war
der Ausweitung und vielseitig widersprüchlichen Verwendung des Begriffs der Weg
geebnet. Wohl mochte jedem Demokratieverständnis der Gedanke einer geschichts-
philosophischen Einrichtigkeit, wie zuerst im „Republikanismus" Kants, zugrunde
liegen. Doch wurden das Ziel und der Weg jeweils schon in den ersten Jahrzehnten
des 19. Jahrhunderts so verschieden verstanden, und die Suggestivkraft des Worts
steigerte sich so außerordentlich, daß GuizoT es unter dem Eindruck der Revolution
von 1848 als le mot souverain, universel bezeichnen konnte, das von allen Parteien

28' BLUNTSCHLI/ßRATER Bd. 2 (1857), 698 f.


296 WAGENER Bd. 6 (1861), 107 f., Art. Demokratie.

873
Demokratie VI. 1• .;De~ Prinzip" - • ko...tttutioaelle Monarchie

wie ein TaliRman vflrwflnclflt wti.rde. Te~ e.ft l'emyire clv mot tUmnnrn.t.itl qtlJ.l n~d
gouvernement, nul parti n'ose vivre, et ne croit le pouvoir, sans inscrire ce mot sur son
drapeau 296•
Tatsächlich wurde 'Demokratie' zwischen l 789 und 1848 nach und nach allen
modernen bzw. sich als modern anpassenden Bewegungen oder ldeolo~n zu-
geordnet oder konnte sich mit ihnen verbinden: der (koDBtitutionellen und indi-
viduellen) Freiheit (Liberalismus), der politisch und meDBchlich verstandenen
Gleichheit (bis zum Sozialismuß und Kommunismus), der Nation und National-
bewegung, dem (wie auch immer begriffenen) Christentum, ja selbst der Monarchie
und dem Monarchismus. Für alle diese wertgeladenen, großen Tendenzen der west-
und mitteleuropäischen RevolutioDBepochen lassen sich jedoch auch jeweils typische
Abwehrreaktionen gegenüber 'Demokratie' feststellen. Der Anziehungskraft des
Begriffs stand eine stets stark bleibende, in Deutschland nach 1848 und besonders
seit 1871 sich wieder 11teigernde Zurückhaltung, ja F1iiud1:1chaft gegenüber. Die
Bewahrung, z. T. sogar die erneute Befestigung überkommener monarchischer und
aristokratischer Institutionen bzw. Wertungen bewirkte, daß der Demokratie-
begriff bis 1918 nie zur Bezeichnung deutscher Verfassungen - es sei denn im
hiRt.oriRnhr.n Hiinkhlink ode.r in Zuku.uf'tlierwartung - hat dienen können. So konnto
es im Deutschland des 19. Jahrhunderts endgültig nicht zum „empire du mot
democratie" kommen, das Guizot 1849 für Frankreich festgestellt hatte, mochte
auch in den vierziger Jahren und in der Revolution 1848/49 der deutsche Anteil
an der ExpaDBion des Begriffs beträchtlich gewesen sein.
In den Jahren unmittelbar nach 1815, als es um die Durchsetzung des „Ver~
fassungsstaats" mit Repräsentation ging, drängte sich der Begriff der 'Demokratie' .
oder besser: des 'demokratischen Elements' bzw. 'Prinzips' auf, wenn die Tendenz
stärkerer Mitbestimmung größerer Teile des Volks in der Staatsverfassung bezeich-
net werden sollte. Damit verband sich die liberal-romantische Vorstellung einer
altgermanischen, durch den „Feudalismus" verderbten Freiheit, für die sich nun-
mehr das Wort 'Demokratie' erklärend anbot.

a) VerknüpfDDg der Prinzipien: Görres, Rotteck. GöRRES steht prototypisch für


eine vorübergehend starke, endgültig aber abg~brochene Möglichkeit, .den neuen
Verfassungstypus der konstitutionellen Monarchie mit Hilfe des „demokratischen
Prinzips" zu bestimmen. Es ging Görres darum, das drohende Auseinandertreten
de1:1 monarchischen und des demokratischen Prinzips als feindlicher Kräfte zu ver-
hindern, sie aus der Entzweiung herauszuführen und organisch zu verbinden, so wie
zwischen der historischen und der rational fortschrittlichen Tendenz der Zeit ver-
mittelt werden müsse297 • Dem von oben nach unten im Sinne eines einheitlichen
politischen Ganzen wirkenden monarchischen Prinzips sollte von unten nach oben
das aus der Vereinzelung und Vielheit kommende demokratische Prinzip entgegen-
kommen. Die mittelalterliche Verfassung, in der sich das Lehnsystem gebildet habe,
indem die kaiserlichen Beamten sich mit der Demokratie der BesitZl'!f' in eine bewaffnete

FRAN901s GmzoT, De la demooratie en Franoe (Paris 1849), 9 f.


288

287 Deutschland und die Revolution (1819), Ges. Sohr., Bd. 13 (1929),
JOSEPH GöRRES,
111 ff.

874
a) Verknüpfung aer Prinzipien Demokratie

Ari.llf.nlrtmJ,ir. 1Hl1'einigten298 , sollte zum Vorbild dienen. Görres wollte also eine Ideal-
verfassung der Zukunft jenseits der „tiberwucht" eines zentralistischen Absolutis-
mus einerseits, eines jakobinischen DesputIBmW! u.mlere.rseits, auf einer Demokratie
vor allem der Grundeigentümer aufgebaut wissen, die ihre ton der Gemeinde an
aufsteigende Eigenverantwortung mit dem Gehorsam an die Monarchie verbinden
sollten. Hat die Democratie sich erst tlOn jenem fO'f'malen Despotism losgerungen und
wieder W urzeZ im alten Boden sCJilage:M, zuerst sich uncl dann auch die ohnmäcktige
Monarchie gekräftigt und belebt; ... dann wird ... die Bewegung , .. in der Ver-
fassung . . . wieder eine steigende werden299. .
In der Nä.he von Görres' „historischer" Demokratie stand ERNST MoRITZ ARNDT,
der 'Demokratie' nach dem jakobinischen Mißbrauch, durch den das Wort für die
HtJl'Ze'fl, uncl Ohren aller Guten eine Art Rattenpulver gewO'f'den sei, in geschichtlicher
Rückbesinnung für die Gegenwart wiederzugewinnen suchte. ·J e,des Volk, das dar-
steUcn,do und atändiaohe V erfasrungen hat, di6 aus allm Klassen der Eimtiohner m-
sammengesetzt sind, hat, dadurch schon demokratische Verfassungen; denn wo der
Bauer und Bürger, dieser größte und ehrwürdigste Teil jedes Volkes, öffentlich ver-
treten wird, da kann man die Verfassung schon demokratisch nennen300 •
Hatte sioh trotz aller Betonung des Ausgleichs bei Görres die Waage auf die
„historische" zu Ungunsten der vernunftrechtlichen Seite des „demokratischen
Prinzips„ geneigt, so kehrte sich diese Gewicht,averteilung im konstitutionellen
Staatsrecht von ARETIN (1824) und in dessen Fortsetzung durch RoTTECK (1839)
um301 • Hier wurden im Volk als der Gesamtheit der Staatseinwohner ... drei Haupt-
interessen gesehen, die man in der Schulsprache auch Prinzipien oder Elemente
nennt: das monarchische, das aristokratische und das demokratische. Dieses werde
nickt bloß von den untern Volksklassen repräsentiert, sondern auch von allen nickt an
Güterbesitz, an Zunftgeist und am Herkommen gebundenen Beschäftigungen, vom
Handelsstand, von den Besitzern des beweglichen Vermögens, von den Gelehrten und
Künstlern, von den Industriellen, überhaupt von allem, in welchem Regsamkeit,
Bildungs- und Entwicklungslust vO'f'kerrsckte. Das demokratische 1nteresse forderte
im Sinne dieses Staatsrechts und gemäß dem Optimal-Soll der damals neuen Ver-
fassungen die üblichen „politischen" und „bürgerlichen" Freiheiten der liberalen
Staatslehre. Das demokratische Prinzip wurde also im wesentlichen vom (hier nicht
so bezeichneten) „Mittelstand" der Bildung und des Besitzes getragen und sollte
den Forderungen des Liberalismus in der Wesenheit der konstitutionellen Monarchie
mit ihrer weisen Vereinigung und gegenseitigen Beschränkung der drei Haupt-
interessen das erforderliche Gewicht verleihen302 • Die Harmonisierung der Prin-
zipien wurde also so weit getrieben, daß nicht nur Monarchie und Demokratie

1118 Ebd., 112.


1111 Ebd., 135.
100 E.M. Ä.BNDT, Über künftige ständische Verfassungen in Deutschland (1814), Werke,
Bd. 13 (1908), 222. ,
ao1 JoH. CmusTol'H FBH. v. ÄJJ.FJITJ!(/CJJJ.L v. RoTTEOK, Staatsrecht der constitutionellen
Monarchie, 3 Bde. (Altenburg 1824 ff.; 2. Aufl. Leipzig 1838 ff.). Ein Vergleich beider
Auflagen und ihrer Vorworte zeigt von Aretin zu Rotteck die Gewichtsverlagerung von der
Aristokratie zur Demokratie.
aoa Ebd.., 2. Aufl., Bd, 1 (1838), 151 ff., ähnlich auch 89.

875
Demokratie VI. 1. „Demokratuchea Prinzip" uad kon1titutionelle Monarchie

miteinander vereinbar waren303, sondern sogar - den ersten Kammern entspre-


chend - die Aristokratie; daß die Demokratie, in moderner Verwandlung der alten
Lehre von der gemischten Verfassung, als Prinzip hineingenommen wurde, stand
durchaus im Gegensatz zum konsequenteren Verständnis des Konstitutionalismus,
wie ihn Rotteck (183~) dann auch selbst formulierte: Das aristokratische Prinzip
aber ist die bare Verneinung des demokratischen, so wie dieses der Todfeind von
jenem804. Wie aber auch immer das demokratische vom aristokratischen Prinzip
abgegrenzt werden mochte, so viel war in dieser Sicht der konstitutionellen Mon-
archie unbestritten: die monarclrischen und demokratischen Tendenzen der Zeit
sollten im liberalen Sinne - historisch (und) oder vernunftrechtlich begründet -
versöhnt sein; liberal verstandene Demokratie wies als Bewegungsbegriff auf ein
progressives, aber durch Kompromisse mit traditionellen „Elementen" begrenztes
Ziel.
Darauf konnte sieh ein auf den Konstitutionen der Jahre nach 1815 beruhendes
süddeutsches Überlegenheitsbewußtsein gründen. So hob z.B. HEINRICH v. GAGERN
1838 die demokratischen Tendenzen des südlichen Deutschlands im Gegensatz zu
Preußen hervor305• Doch konnte umgekehrt das „demokratische Element" auch
vom Konstitutionalismus gelöst und mit Bezug auf die Reformen von 1807/23
auf Preußen bezogen werden. Schwächung der aristokratischen Kraft, ..• A.usbildung
der Kraft der untern Volksklassen, niedriger Zensus bei Kommunalwahlen, Volks-
bewaffnung u. a. wurden 1834 von DAVID HANSEMANN als „demokratisch" hervor-
gehoben - im Gegensatz zu Frankreich und zu konstitutionellen deutschen
Staaten.·Im Vergleich zu diesen schienen ihm die demokratische Tendenz der Staats-
regierung sowie die demokratischen Elemente und Ansicht der meisten preußischen
Beamten unzweifelhaft zu sein30s. Hier wurde HARDENBERGS Verbindung: demo-
kratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung307 im modernen sozialen
Bewußtsein eines von der „Mittelklasse" aus politisch denkenden „Rheinpreußen"
unter dem Eindruck der Julirevolution neu aufgenommen. Hansemanns „demo-
kratische Tendenz" gewinnt ihre Schärfe nicht nur dadurch, daß sie von der ab-
sterbenden „Aristokratie", sondern auch von einem formal-politischen Begriff
repräsentativ-konstitutioneller Demokratie abgehoben wurde. 'Demokratie' als
„Element" oder „Tendenz", keinesfalls absolut oder total vertreten, erhielt hier
also, Tocqueville vergleichbar, einen substantiell gesellschaftlichen Charakter.
Das wies voraus auf die wenig später entwickelte Unterscheidung von bloß poli-
tischer und vollgültig sozialer Demokratie bzw. Revolution.

803 RoTTECK, Art. Demokratisches Prinzip, RoTTECKjWELCKER Bd. 4 (1837), 256: Daa
monarchi8che und das demokratische Prinzip können gar wohl nebeneinander bestehen, ja sie
mögen sich wechselseitig unterstützen.
8111 Ebd.

SOii H. v. GAGERN, Brief an Max v. Ga.gern, 15. 3. 1838, in: Deutscher Liberalismus im

Vormärz. Heinrich v. Ga.gern, Briefe und Reden 1815-1848, hg. v. PAUL WENTZKE
u. WoLFOANG KLöTZER (Göttingen 1959), 196.
806 DAVID HANsElllA.NN, Preußen und Frankreich, 2. Aufl. (Leipzig 1834), 226 f. 228 f. Vgl.

die Charakterisierung Preußens als demokratische Autokratie (bmANUEL ÜGIENSKI), zit.


Hallische Jbb. 4 (1841), 281.
807 HARDENBERG, Riga.er Denkschrift (1807), in: Die Reorganisation des Preußischen

Staates unter Stein und Hardenberg, hg. v. GEORG WINTER, Bd. 1/1 (Leipzig 1931), 306.

876
lt) Scheidung der Prinzipien Demokratie

b) Scheidung der Prinzipien: Gentz, Schleiermacher, HegeL Die Einpassung des


Demokratiebegriffs in die deutsche Verfassungswirklichkeit setzte sich endgültig
nicht durch, da die trennende Macht der „Prinzipien" in den Vordergrund gestellt
wurde. Nicht Vermittler wie Aretin und Rotteck, sondern Staatsmänner und
Ideologen der „Gegenrevolution" wie Metternich und Gentz verhinderten die Ver-
bindung der „Prinzipien" im Sinne des Art. 57 der Wiener Schlußakte, demzufolge
die gesamte Staat.,gewalt in dem Oberhaupte des Staats vereinigt bleiben mußte.
GENTZ schloß demgemäß durch seine Unterscheidung von landständischen und
Repräsentativ-Verfassungen (1819) das demokratische Element grundsätzlich aus
jeglicher einzelstaatlichen Verfassung, die mit den Verfassungsformen des Deutschen
Bundes übereinstimmen mußte, aus. Während l,andständische Verfassungen dadurch
bestimmt seien, daß Mitglieder oder Abgeordnete durch sich selbst bestehender Körper-
schaften ein Recht der Teilnahme an der Staatsgesetzgebung • . • ausüben, seien
Repräsentativ-V crfassungen . . . auf dem verkehrten Begriff von einer obersten Sou-
veränität des Volkes gegründet. Diese setzten also das Phantom der sog. Volksfreiheit
(d. h. der allgemeinen Willkür) ... und den Wahn allgemeiner Gleichheit der Rechte,
oder was um nichts besser ist, allgemeine Gleichheit vor dem Rechte, an die Stelle der
unverti'lgbaren, von Gott selbst gestifteten Standes- und Rechtsunterschiede, die bei
'landständischen Verfassungen noch gewährleüitet seien308• Gentz nannte zwar nicht,
aber meinte die Demokratie, die aus dem deutschen Staatsrecht auszuscheiden
METTERNICHS Bestreben war309. Auch für Preußen blieb in dieser Lage 'Demo-
kratie' ein extrakonstitutioneller Begriff: die demokratisch-repräsentativen Ideen,
. . . das demokratisch-revolutionäre Treiben und die süddeutsche Konstitutionalität
sollten depopul,arisiert und ausgeschlossen bleiben310• WILHELM VON HUMBOLDT
nannte in einem Brief an Niebuhr vom 22. April 1819 Grundeigentum und Kor-
poration die Basis der Verfassung u:nd die sicherste Stütze gegen Demokra-
tismus311. Einige Jahre vorher hatte ScHLEIERMACHER diese Tendenz, 'Demo-
kratie' als unvereinbar mit moderner Verfassungswirklichkeit anzusehen, ge-
schichtstheoretisch untermauert. Die alte Lehre, daß Demokratie nur in klein-
räumigen politischen Gebilden möglich sei, überführte Schleiermacher in die
Konstruktion eines allgemein gültigen Verlaufs der Verfassungsgeschichte. Die
Demokratie - wenn auch nicht ausschließlich, sondern möglicherweise aristo-
kratisch oder monarchisch verwandelt - wurde von ihm der politischen Primi-
tivität der Stammesverfassung zugeordnet, während die modernen Staaten höherer
Ordnung nur monarchisch verfaßt sein könnten, nachdem die aristokratische
Zwischenform des Mittelstaates geschichtlich überwunden worden sei312 • Schleier-

308 FmEDRIOH GENTZ, Über den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsen-
tativ-Verfassungen. Beilage zu den Ca.rlsba.der Protokollen (1819), in: Wichtige Urkunden
für den Rechtszustand der deutschen Nation, mit eigenhändigen Anm. v. Joa. LUDWIG
Kr.ÜBER, hg. v. CA.B.L WELOKER (Mannheim 1844), 221 f.
809 Belege hierzu bei HEmruoH v. SBB11t, Metternich, Bd. 1(München1925), 366 f.
310 Denkschr. eines preußischen Staatsmanns aus dem Jahre 1822, KLüBEB/WELOKEB,

Urkunden, 365 f.
an W. v. HmmoLDT, AA Bd. 17 (1936), 293.
311 FRIEDRICH SOHLEIEBMAOHE&, Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen (1818),

SW 3. Abt., Bd. 2 (1838), 246 ff., bes. 268. 271.

877
Demokratie VI. L ,,J1emobatisehea Prinzip" und konatitationelle Monarchie

macher kehrte also die revolutionäre, seit F. SCHLEGELS „ Versuch" von 1796813
in Deutschland mehrlach wiederholte oder weiterentwickelte Vorstellung ge-
schichtlich notwendiger Bewegung zur Demokratie um, indem er der utopischen
Zukunftserwartung die geschichtliche Erfahrung (einschließlich der Französischen
Revolution) entgegensetzte. Der großräumige moderne Staat, der die Einheit eines
ganun Volkes als eine wahre und notwendige Natureinheit im Bewußtsein auffaßt
und in den Formen des Lebens ausspricht, war durch Schleiermachers historisch-
empirische Ableitung für die Gegenwart und Zukunft als monarchisch bestätigt,
die 'Demokratie' ad absurdum geführt.
Daß die Abwehrhaltung gegen die Verwendung des Demokratiebegriffs in der
Verfassungslehre - auch wenn es sich schon um „repräsentative" Demokratie
handelte - um 1820 weit verbreitet war, zeigt das Urteil des BROCK.HAUS (1818):
die Demokratie gehe unaufhaltsam in .Aristokratie oder Despotie unter . • . In der
neruirm Zmt (Jl'iliR.lum die Demokratien nicht314 • Diese Tendenz, der Demokratie den
Einlaß zu versperren und ihre neuerliche Ausbreitung lediglich auf „Fehler" der
Verantwortlichen zurückzuführen, hielt sich - trotz Rottecks Einfluß - auf der
·mittleren Ebene der Konversationslexika. So räumte BROCKHAUS' „Conversations-
Lexikon der Gegenwart" (1838) zwar ein, Demokratie als eigentlwhe Volksherrschaft
habe ikr Feld in .Amerika gefllllden; aber selbst dort hielt deT Veri°RAAP.T, im Gegen-
satz zu Tocqueville, die Demokratie nicht für unbedingt endgültig; in Europa
werde sie niemals aufkommen oder W urz:el fassen, es sei denn alB ]'olge von politischem
Versagen. Demokratie sei nur in gedachten Extremverhältnissen (allgemeine Ver-
breitung hoher Bildung oder Primitivzustände) effektiv möglich. Die moderne
demokratische Tendenz, daß die materialen Interessen mehr als billig hervorträten,
wurde als unheilvoll angesehen; sie einzudämmen befürwortet. Demokratie wurde
damit also nicht nur mit traditionellen Argumenten als Herrschafts- oder Regie-
rungsform verworfen, sondern auch um der hökern geistigen oder moralischen
Interessen willen als erniedrigend abgelehnt316• Vermutlich ist diese Auffassung des
Brockhaus als repräsentativ für die Mehrheit des gebildeten Publikums im Vormärz
anzusehen. Zu solcher verbreiteten Neigung, 'Demokratie' in den Hintergrund zu
schieben und mit ihrem Begriff nichts zu treffen, was ernsthaft die Verfassungs-
wirklichkeit, der Gegenwart oder auch der Zukunft bezeichnete, paßt auch GOETHES
Bemerkung: in der Jugend, wo wir nichts besitun oder doch den ruhigen Besitz nicht
zu schätzen wissen, sind wir Demokraten, im vorgerückten Alter dagegen des Eigen-
tums und seiner Vererbung wegen .Aristokraten318 •
Auch in HEGELS Staatslehre der Jahre um 1820 wurde das demokratische Prinzip
nicht als konstitutives Element eingelassen, da Hegel dieses nicht wie Görres
historisch-ständisch, ·sondern von der Französischen Revolution her egalitär-
individualistisch verstand. In seinem konkreten Staat, der das in seine besonderen
Kreise gegliederte Ganu war und dessen Mitglied seine wirklwhe und lebendige
Bestimmung für das .Allgemeine . . . zunächst in seiner Sphäre der Korporation,

818 s. o. s. 852.
au BROCKHAUS 4. Auß„ Bd. 2 (1818), 305.
• 16 BROCKHAUS, CL Gegenwart, Bd. 1 (1838), 914 f.
81• JoH. PETER EOKERMANN, Gespräche mit Goethe, 15. 7. 1827.

878
b) Scheidung der Prinzipien Demokratie

.Gemeine u.s.f. erreichte, fand eine repräsentative Demokratie keinen Platz. Die
Vorstellung, daß alle an den St,aatsgeschäft,en teillwhen sollen, war für ihn abge-
schmackt. Nur einem oberp,äc,hlichen Denken entspreche diese Vorstellung, welche
das demokrat,ische Elernent ohne alle vernünftige Form in den St,aats-Organismus, der
nur durch solche ·Form es ist, setzen wollte. Der abstrakten Bestimmung, Jfitglied des
Staat,es zu sein, setzte Hegel die Zugehörigkeit zum Stand oder zur Korporation
entgegen, von der aus.eine Repräsentation allein sinnvoll sein könne, im Gegensatz
zur Repräsentation von einzelnen, von einer Menge. Gegen eine solche atomistische,
abstrakte Ansicht stellte Hegel die (ausdrücklich nicht demokratische) Auffassung
vom Staat als einer Organisat,ion von solchen Gliedern, die für sich Kreise sind, und
in ihm soll sich kein Moment als eine unorganische Menge zeigen. Man dürfe nicht
die in jenen Kreisen schon oorhandenen Gemeinwesen, wo sie ins Politische, d. i. in
den Standpunkt der höchsten All,gemeinheit eintreten, wieder in eine Menge von 1ndi-
vidtten auflösen317 • H p,gel hflgrifl' dflnkend difl Verfas1mng seines „konkreten Staates"
als einen korporativ geordneten, von vernünftigen, gebildeten Staatsbeamten re-
gierten Organismus, ohne dabei die Traditionsbegrifi'e der 'Aristokratie' und
'Demokratie' noch zu verwenden. Er lehnte sie auch in ihrer Herabsetzung zu Mo-
menten in der konstitutionellen Monarchie ab. Mit solehen quantitativen Unter-
scheidungen werde nichts zum BegriO der Sache beitragen. Es sei auch unpassend,
wertrt ·irt 1wuerer Zeit so ·viel vom demokrat,ischen, aristokrat,ischen Elemente in der
Monarchie gesyrochen worden ist; denn diese dabei gemeinten Bestimmungen, eben
insofern sie in der Monarchie staU'fi,nden, sind nicht mehr Demokrat,isches und Aristo~
krat,isches318• Die Anpassung der alten Lehre von der gemischten Verfassung an
moderne Verfassung war für Hegel also nicht.asagend. Aristokratie und Demokratie
hatten weder als alte Herrschaftsformen noch als Elemente oder Prinzipien einen
Ausgangswert für den monarchisch-korporativen Beamtenstaat als eines Ausdrucks
höchstmöglicher politischer Vernunft. 'Demokratie' blieb begrifflich außerhalb
eines s_olchen deutschen Staatsrechts. Aber· außerhalb Deutschlands· spielte sie für
Hegel eine erhebliche Rolle. Die Konstitution Frankreichs vom Jahre 111 unter
Robespierre wurde.' von ihm als demokrat,isch bezeichnet; denn sie war weitgehend
unmittelbare Demokratie gewesen. Hegel vermerkte, daß sie vom ganzen Volk an-
genommen wurde, aber freilich um so weniger zu irgendeiner Ausführung kam319 •
Für sie galt, daß sie ein Gemachtes war und daß ihr eiri bloßer at,omistischer Haufen
von Individuen zugrunde lag320• Daß ein solches Extrem nicht dauerhaft realisierbar
sein konnte, war für Hegel ebenso ausgemacht wie die Erkenntnis fortgesetzter
jakobinisch-demokratischer Bedrohung der vernünftigen Ordnung. Hegel hatte die
Demokratie also bei der Revolution verortet. Damit hatte sie zwar im Fortschritt
der Selbstverwirklichung des Geistes der Freiheit ihren notwendigen Platz erhalten,
hatte aber dort nicht die Versöhnung, sondern neue Entzweiung gebracht und war
geschichtlich hinter der höchsten erreichten Stufe des Vernunftstaats im Sinne der
Rechtsphilosophie Hegels zurückgeblieben. Demokratie als Volkssouveränität gemäß

Bl7 HEGEL, Rechtephilosophie,§§ 308. 311. 303..


318 Ebd., § 273.
819 HEGEL, Über die englische Reformbill (1831), SW Bd. 20 (1930), 503.
8110 HEGEL, Rechtephilosophie, § 273.

879
Demokratie VI. 2. Die Situation um 1848

den verworrenen Gedanken, denen die wüste Vorstellung des Volkes zugrundeliegt, ...
die formlose Masse, die kein Sf,aaf, mehr ist321, war für Hegel trotz ihrer aktuellen
Gefährlichkeit schon etwas Überholtes, eine überwundene Phase des geschichtlichen
Prozesses, der bei den germanischen Völkern vornehmlich über die jakobinische
Demokratie hinaus zu neuer Versöhnung und Freiheit fortgeschritten war. Darin
lag das politisch Wirksame dieser Auffassung Hegels: der Demokratie wurde die
Suggestivkraft der Progressivität und der Unumgänglichkeit genommen; sie lag
schon „hinten" und war durch eine höhere Staatsidee überwunden, die der
Demokratie gegenüber nicht reaktionär oder defensiv restaurativ sein mußte.
Direkt oder indirekt wirkte diese geschichtsphilosophische Abwertung der Demo-
kratie in Deutschland fort bis zur Vorstellung einer eigenen deutschen „Staats-
idee", die im Ersten Weltkrieg als Kontrastbegriff zu Westeuropa einen Höhepunkt
erreichte. ·

2. Die Situation um 1848

All dem stand freilich, zumal in Süddeutschland, bis 1848 die Wirkung der RoT-
'l'F.CKSchen Einbeziehung de1:1 Demokratiebegriffs in das konstitutionelle Staatsrecht
entgegen322. Auch ist an den Heidelberger Staatsrechtler ZAOHARIÄ zu erinnern,
der in der konstitutionellen Monarchie zwei Parteien, eine royalistische und eine
demokratische wirken lassen und die Regierungsbildung parlamentarisch von der
jeweils stärkeren der beiden Parteien abhängig wissen wollte32 3 • Eine solche
parlamentarisch-demokratische Tendenz entsprach dem Begriff der demokratischen
Monarr.hie, der in Deutschland wohl bekannt war, aber wenig verwendet wurde und
auch nach seiner Propagierung im Jahre 1848 endgültig keine größere Bedeutung
erlangt hat, weil die durch Rotteck und Zachariä bezeichnete Linie in der Wirklich-
keit nicht genügend bestätigt wurde32". Immerhin hielt sich noch lange die These,
daß auch in dem monarchischen Europa ... nicht die Unterdrückung, sondern die
richtige Organisierung und Beachtung der demokratischen Elemente anzustreben sei
(BLUNTSCHLI 1857)326• BIEDERMANN ging 1860 noch um eine Nuance weiter, wenn
er seine Hoffnung auf den besseren Teil <ler Demokratie in Deutschland setzte, der
die Überzeugung gewonnen habe, daß auch unter monarchischer Verfassungsform
eine Befriedigung der vernünftigen <lemokratischen Wünsche nach politischer Freiheit
recht wohl möglich sei, wie das Beispiel der sogenannten demokratischen Monarchie
in Belgien beweist326• Biedermann sprach vom „besseren Teil der Demokratie";
dem lag die Erfahrung zugrunde, daß die Demokratie oder die Demokraten im
bloßen Anteil („demokratisches Element") an Staat und Gesellachaft monarchisch-

321 Ebd., § 279.


328 ROTTECK/WELCKER Bd. 4 (1837), 241 :ff. 252 ff.
823 KARL SALOMO ZACHARIÄ, Vierzig Bücher vom Staate, 2. Aufl., Bd. 3 (Heidelberg 1839),

230 ff., bes. 231.


a24 FRiEDRICH JULIUs STAHL, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kh-che (Berlin

1863), 122 sprach von der merkwürdigen Bezeichnung der demokratischen Monarchie.
326 BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 2 (1857), 689.
329 ROTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 4 (1859), 357, Art. Demokratie.

880
VI. 2. Die Situation um 1848 Demokratie

großen und ganzen eben nicht den Weg der Vermittlung im Kompromiß der
kon~titutionollon Monarchie gesucht hatten. Entgegen der dargestellten T1mcl1mir.
eines quid pro quo waren Liberalismus und Demokratie, wie die Revolution von
1848 gezeigt hatte, in Deutschland auseinandergetreten. In der Lehre des liberalen
Konstitutionalismus, wie sie DAHLMANN in seiner „Politik" entwickelte, wurde
das Wort 'Demokratie' zurückgedrängt. Dahlmann vermied den Begriff, obwohl er
sich ausdrücklich für das Repräsentativ- und gegen das landständische Prinzip
aussprach327 • Dahlmanns Zurückhaltung gegenüber Wort und Inhalt der Demo-
kratie stellte allerdings das „rechte" Extrem des Liberalismus um die Jahrhundert-
mitte dar. Auf der anderen Seite stand GERVINUS, für den die Geschichte seit dem
Ausgang des Mittelalters ein einziger Kampf der demokratischen Ideen, die durch
die Reformation in die Gescltlecluer geworfen wurden, mit den aristokratischen Ein-
richtungen des Mitte'lalters war. Das Demokratische wurde von ihm durch typisch
liberale Werte wie Geist des 1 ndividualismus ... , Freiheit ... , Bildung ... , freiere
Bewegung im Glauben und im Wissen, in politischen Rechten, im Besitz und geschäft-
lichen Betriebe gekennzeichnet328 • Gervinus sah die demokratische Bewegung
unaufhaltsam fortschreiten. Verbindet ihn schon dies mit Tocqueville, so stand
er dessen Demokratiebegriff auch insofern nahe, als er die kommende Demokratie
im Zusammenhang mit der Gleichmachung der Gesellschaft, mit dem Streben nach
der Gleichheit aller Verhältnisse, mit dem Emanzipationswillen der Massen, mit den
Wirkungen der Literatur .... die in allen Teilen Europas gleichmäßig demokratisiert
ist, begriffen hat329 • Wie Tocqueville sah Gervinus die Spitze der sich verwirk-
lichenden Demokratie in Nordamerika erreicht. Ohne selbst radikaler Demokrat
zu sein, war er sich des notwendigen Fortschritts zur egalitären Demokratie be-
wußt, versuchte diesen Trend liberal zu begründen und auch für die Zukunft von
liberalen Idealen erfüllt zu sehen. Gervinus stand mit einer solchen Auffassung im
Blick auf die Vereinigten Staaten nicht allein. Robert von Mohl, Karl Salomo
Zachariä und Friedrich Murhard hatten vorher schon ihren Demokratiebegriff
am amerikanischen Modell überprüft und dort die Bestätigung dafür gefunden,
daß stellvertretende Volksherrschaft (MoHL 1835) möglich sei330.
Alle diese deutschen Gelehrten kannten Tocquevilles „De la democratie en Ame-
rique" (1835/40). Doch keiner von ihnen hat seine Voraussetzungen und Kon-
sequenzen voll übernommen. Mohl vor allem hat ihn wohl bewundert, sich mit
ihm (auch später) intensiv auseinandergesetzt, hat sich ihm aber im Kernpunkt
(der Gleichheit) doch widersetzt und die egalitäre Demokratie, die über einen
bloßen Anteil („demokratisches Element") an Staat und Gesellschaft monarchisch-

827 FRrnnR. CHRISTOPH DAHLMANN, Die Politik auf den Grund und das Maa.ß der gegebenen

Zustände zurückgeführt, Bd. 1 (Göttingen 1835), 109 ff.


328 GERVINUS, Einleitung (s. Anm. 291), 19. 42. - Zur Beziehung von Demokratie und
Protestantismus bei Gervinus s. o. S. 871 f.
890 Ebd., 174 :ff.
380 R. v. Mom., in: Kritische Zs. f. Rechtswiss. u. Gesetzgebung d. Auslandes 7 (1835), zit.

EOKHART G. FRANZ, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/49 (Heidelberg
1958), 87 mit weiteren Belegen. Zur modernen Anwendung des Gedankens der Repräaen-
tation auf Volksherrschaft vgl. auch Mom., Die Geschichte und Literatur der Staatswissen-
schaften, Bd. 1 (Erlangen 1855), 514.

56-90385/t 881
VI. 2. Die Sitaalion ·um 1848

parlamentarischer Staaten hinausging, abgelehnt831• Denn •Demokratie' trieb nach


Mohls Ansicht in politisch-personeller, politisch-institutioneller und geistiger Hin-
sicht notwendig zur „Mittelmäßigkeit". Weder Nordamerika noch die Schweiz
waren für ihn erstrebenswerte oder auch nur mögliche Vorbilder für die europäischen
Monarchien. Mohl, der hier prototypisch für die vorherrschende Auffassung im
deutschen Liberalismus steht, erfreute sich wohl an Tocquevilles scharfsinnigen
Analysen und Urteilen, besonders dort, wo die Gefahren der Gleichheitsdemokratie
aufgewiesen wurden, war aber nicht fähig, Tocqueville im Eigentlichen, d. h. in der
Prognose zu folgen. ToCQUEVILLE begriff 1835 'Demokratie' am nordamerikanischen
Modell als universalhistorisches Prinzip der modernen Welt, die sich - zuerst in
Amerika, aber auch in Europa deutlich beginnend - von der aristokratischen
Lebensform abgewandt habe und durch den Zug zur egalite M8 conditions bestimmt
sei; Von diesem Grundsatz sah 'l'ocqueville in der amerikanischen Demokratie
alles abgeleitet. Europa schien ihm in die gleiche Richtung zu laufen. Une grande
ri1/olution dem.Ocratique s'opere parmi nous. Diese Revolution sei nicht zufä.llig
oder revidierbar. Sie sei vielmehr un fait providentiel ... : il est universel, il est
durable, il echappe chaq_ue jour a l,a pu"8sance humaine; tous les evenements, comme
ious les hommes, servent a son de.veloppement332. Tooquovilles Demokratiebegriff
wurde also vom Grundsatz der gleichen Chance in der Gesellschaft; her konzipiert.
Die Phänomene. ein.es t/,at social . . . iminemment demooratique und des principe de
l,a souverainete du peuple gehörten (ohne Trennung von Staat und Gesellschaft)
zusammenaaa. Die Freiheit der Bürger wohne dem Begriff der 'Demokratie' inne,
obgleich das Mehrheitsprinzip jene Freiheit bedrohe (1, 2, 7) und die moderne
Demokratie sowohl zum Despotismus wie zur Freiheit sich neigen könne334• Die
Gefahr des demokratischen Despotismus durfte für Tocqueville, so sehr er selbst
sie fürchtete, jedoch nie mehr zur Rekonstruktion einer aristokratischen Gesell-
~chaft führen, vielmehr allein zur fortgesetzten Bemühung de faire sortir 1.a liberte
du sein de 1.a socilte democratique oo Dieu nous fait vivre836. Das hieß: Demokratie
sei seit der Revolution zum unausweichlichen, göttlich vorherbestimmten Schicksal
der europäischen Nationen geworden. Es gebe keine Flucht vor ihr, keine Abwehr
gegen sie, nur Versagen vor ihr oder Verwirklichung dessen, was sie zur Aufgabe
stellte. Hatte Hegels Weltgeist die Demokratie schon hinter sich gelassen, so führte
Tocquevilles Providenz geradewegs auf sie zu und in sie hinein. Dies universal-
geschichtlich-prognostische Verständnis des allumfassenden Sogs zur Demokratie
stand ausdrücklich im Erbe der Aufklärung und der Revolution, ohne diesen beiden

881 Vgl. Mom.s ~. v. Tooquevilles „Dela demooratie en Amenque", in: Kritische Zs. f.
Reohtswiss. u. Gesetzgebung d. Auslandes 8 (1836), 359 ff. u. bes. 16 (1844), 275 ff.;
s. 1!-Uoh TmaoDOB Esom:NJIUBG, Tooquevilles Wirkung in Deutschland, in: ALEXIS DE
TocQUEVILLE, Werke und Briefe, hg. v. J. P. Mayer, Bd. 1 (Stuttgart 1959), XIX ff.
881 A. Dl!I TooQUEVILLE, De la dllmooratie en Amenque, Introduotion, Oeuvres compl.,

t. 1/1 (1951), 1 f. 4.
888 Ebd.' 45 ff.
886 Dies immer wiederholte Grundthemas. bes. ebd., 2, 4, 6. Oeuvres compl. t. 1/2 (1951),
322 ft'.
881Ebd.,1, 4, 7. Oeuvres compl., t. 1/2 (1951), 328.

882
VI. 2. Die Situation um 1848 Demokratie

jedoch ausgeliefert zu sein: die Bewegung zur Demokratie war zwingend und daher
zu bejahen; sie wurde jedoch nicht mehr als Fortschritt, sondern eher als Verhängnis
gewertet.
Tocquevilles Demokratiebegriff hat in Deutschland nicht in die Breite gewirkt und
blieb politisch im 19. Jahrhundert im allgemeinen ohne Folgen. Die Verbindung
von wertfreier Deutung und politischer Bejahung der modtlrnen Demokratisierung
setzte sich zwischen den ideologisch befrachteten Positionen des Fortschritts zur
Demokratie einerseits, der Perhorreszierung der Demokratie andererseits nicht
durch. Gleichzeitig mit dem Bekanntwerden Tocquevilles in Deutschland meldeten
sich Männer zum Wort, die im Unterschied zu Tocqueville selbst Demokraten
waren und demgemäß Demokratie zur Sache ihres Bekenntnisses machten. Im
Kampf gegen die „.Aristokratie" oder gegen die „reaktionäre Partei" - und darum
ging es um 1840 unausweichlich - wurde Demokratie notwendig zur Glaubensüber-
zeugung und wurden die Demokraten zur „Partei". Tocquevilles Deutung wurde
pathetisch übertroffen, wenn es etwa hieß, daß 'Demokratie' nicht nur Opposition
gegen die Regierenden oder eine besondere konstitutionelle oder politisch-ökonomische
Veränderung sei, sondern eine totale Umwandlung desjenigen Weltzustandes und ein
in der Geschichte noch nie gewesenes, ursprünglich neues Leben verkündigt; es müsse
begriffen werden, daß die Demokratie eine Religion sei. Die demokratische Partei
sei vorläufig noch schwach und negativ; aber das sei der Beginn eines Weges zum
Ziel: eine jugendliche und herrliche Welt, in de:r alle gegenwärtigen Dissonanzen zur
harmonischen Einheit sich auflösen werden; denn ihrem Prinzirie nach sei die demo-
kratische PaTtei da.'f Allgemeine, das Allumfassende336• Dies Pathos und dieser
Absolutheitsanspruch wiesen über die liberale Tendenz hinaus, die „Prinzipien"
oder „Elemente" - unter ihnen das 'demokratische' - zu harmonisieren. Ein
solches Selbstverständnis von 'Demokraten' führte zur Abwendung von der ver-
mittelnden liberalen Staatslehre, damit aber auch fort von der Möglichkeit, Demo-
kratie pragmatisch und kompromißwillig zu denken und anzustreben. So wurden
zwar wiederum die kontradiktorische Qualität der aristokratischen und demo-
kratischen Partei aus der Zeit der Französischen Revolution, daneben aber nun
auch der darin nicht aufgehende Bourgeois-Liberalismus hervorgehoben. Dieser
spiele, wie beWußte Demokraten - hier WILHELM MA.BR (1844) - betonten, wohl
in dieser faulen Zeit die Hauptrolle, jedoch ohne Aussicht auf endgültigen Erfolg.
Unumschränkteste Demokratie hieß, im Fall einer Revolution den Liberalen gegenüber
die Rolle de:r Montagnards gegen die Gironde zu spielen837• Der stärker theoretisch
bemühte FRÖBEL fügte die demokratische Siegeszuversicht in eine Kulturstufen-
Lehre ein: der sich schwer von religiöser Einbindung lösende Staat durchlaufe die
Stufen der monarchischen, aristokratischen und demokratischen Republik. Dies seien
die großen Schritte auf dem Kulturwege de:r konstituierten Gesellschaft. Erst in der
Demokratie habe sich das Reich der Sittlichkeit wirklich konstituiert. Dabei stellt
Fröbel - typisch für die „Demokraten" der vierziger Jahre - die nationalstaatliche
Verwirklichung der Demokratie (für die Gegenwart oder nahe Zukunft), das
universal-transnationale Ziel (für die fernere Zukunft) fest. Am Ende sollte stehen:

ase JULES ELYSARD, Die Rea.ction in Deutschland, Hallische Jbb; 5 (1842), 986.
a37 WILHELM 1\1.um, Das junge Deutschland in der Schweiz (Leipzig 1846), 115. 172.

883
Demokratie VI. 2. Die Situation um 1848

die demokratisch gegliederte Bund,esgenossenschaft aller Menschen, die aUgemeine


Selbstregierung des Menschengeschlechts auf dem Wege über die Stufe einer all-
gemeinen Föderation aller Staaten~.
Offensichtlich verstärkte sich um 1840 die Neigung, 'Demokratie' nicht nur den
bestehenden deutschen Verfassungen, sondern auch ihrer parlamentarisch-liberalen
Fortentwicklung im Sinne Rottecks entgegen - und mit 'Republik' gleichzusetzen.
Der BROCKHAUS (1840) bezeichnete 'Demokratie' als dasselbe, was man in neueren
Zeiten unter dem Namen Republik versteht200 und fügte im Artikel „Republik"
hinzu, daß es unmöglich sei, Demokratie oder Republik dauerhaft zu verwirklichen.
Nur „Demokraten" oder „Republikaner" wollten dies Unmögliche möglich machen.
Sie wurden zu Beginn der vierziger Jahre meist - durch sich selbst und von
außen - als 'Radikale' bezeichnet. Dies in England schon länger gebräuchliche
Wort hatte sich in der politischen Sprache Frankreichs nach dem Pressegesetz von
1835, das die Bezeichnung 'republicain' untersagte, schnell verbreitet. Die fran-
zösischen Demokraten schieden sich iin Zusammenhang der Ereignisse von 1839
in 'radicaux' und 'moderes'340, In Deutschland fand das - schon im 18. Jahr-
hundert gebildete341 - Wort 'radikal' gleichzeitig unter französischem Ein.fluß
rasch Verbreitung, wenn auch nicht in so eindeutigem Bezug zu einer „Partei"
der Demokraten. So wie in Frankreich mit 'Radikalismus' der Gegensatz zu den
'Gemäßigten' (Demokraten) ausgedrückt war, so alsbald (seit 1842) in Deutschland
die Abgrenzung gegenüber dem Liberalismus. ARNOLD RuGE forderte 1843 die
Auflö.mng des Liberalismus in Demolcratismus; das hieß für ihn die Wiederauf-
nahme der durch den Deutschen Bund abgebrochenen Bewegung der Freiheits-
kriege und der damaligen radikalen Demokraten, deren großartige Wirksamkeit
in der Regeneration Preußens und der ganzen Volkserhebung gegen Napoleon vor-
liegt342.
'Radikalismus' enthielt in sich den Demokratiebegriff, der selbst in-der politischen
Publizistik zu Beginn der vierziger Jahre vorübergehend zurückgetreten zu sein
scheint. Im Laufe der vierziger Jahre wurde 'Demokratie' jedoch zunehmend in-
haltlich konkretisiert. Zu ihr gehörten: Volkssouveränität, Nationaleinheit und
Völkerverbindung, politische (und zunehmend auch soziale) Gleichheit mit Kon-
sequenzen für die Wahlrechtsforderungen und weitere „Volksrechte". Im Begriff
'radikal' waren alle diese Prädikatoren von Demokratie auch enthalten343 • Nur
meinte 'radikal' darüber hinaus eine Geisteshaltung, die in Deutschland um 1840
philosophisch, besonders (links-)hegelianisch bestimmt war und in ihrer Lust an
extremer Theorie im modern-voluntaristischen Sinne nicht nur zur Demokratie

338 JuLIUs FRÖBEL, System der socialen Politik, Bd. 2 (Mannheim 1847), 66 ff. 468 f.
339 BROOXHA.US 8. Aufl„ Bd. 3 (1840), 372; ebd., Bd. 8, 833.
a&o Hierzu Näheres in der vor dem Abschluß stehenden Heidelberger Dissertation von
llANs DREHER, Radikale und soziale Demokratie am Ausgang der Juli-Monarchie.
HI DUDEN, Etymologie (1963), 547.
841 A. RUGE, Dt. Jbb. (1843), 12, 2.

al3 Vgl. z. B. den Sprachgebrauch (meist 'radikal', daneben auch 'Bewegungspartei' und
'demokratisch') bei BRUNO BAUER, Vollständige Geschichte der Parteikämpfe in Deutsch-
land während der Jahre 1842-1846, 3 Bde. (Charlottenburg 1847).

884
VI. 2. Die Situation um 1848 Demokratie

( = Republik), sondem zu deren Steigerung im Sozialismus oder Kommunismus


neigte. So konnte sich 'radikal' zwar mit 'demokratisch' verbinden - bis zur
Wortverbindung 'radikal-demokratisch'* -, konnte sich davon aber auch wieder
lösen, wenn 'radikal' so extrem verstanden wurde, daß · die staatsbürgerliche
Demokratie, selbst wenn sie egalitär und republikanisch war, hinter extremeren
Zukunftsentwürfen zurückblieb. In kJo Tkwrie sind wir die freiesten Menschen,
die reinsten Demokraten, die radikalsten Oommunisten - aber kider auch nur in der
Theorie, so zitierte BRUNO BAUER (1847) MOSES HESS (1843) 346•
Im Jahre 1848 trat die vorparlamentarisch als Gesinnungsgemeinschaft bereits
existente Partei der Demokraten in Volksvereinen und in den Parlamenten des
Reichs und der Einzelstaaten deutlich in Erscheinung - abgehoben und gleichwohl
nicht scharf geschieden. von den Radikalen (Kommunisten)846 einerseits, den
Liberalen (konstitutionell-monarchisch) andererseits. So stark auch die Demokraten
in ihren Vereinen und auf ihren beiden deutschen Kongressen sich links vom Li-
beralismus unter der Parole der „demokratischen Republik" zu sammeln und
(vergeblich) einheitlich zu organisieren versuchten, so gelang es ihnen doch nicht,
ihre Demokratie eindeutig zu definieren. Neben dem Bekenntnis zur Republik,
abschätzigen Bemerkungen über den schwiiclilichen Liberalismus und dem Aufweis
einer Spaltung des Volks in die demokratische Partei einerseits, die konservative oder
konstitutionelle andererseits347, standen vermittelnde Sätze wie im Programm des
Vaterländischen(= demokratischen) Hauptvereins in Stuttgart (Juli 1848): Unser
Programm veru-irklicht sich nur in der Demokratie, in kJo Form kJo konstitutionellen
Monarchie auf demokratischer Gruntll,age wie in der Form kJo Rep'llhUlrJMB.
Blieb auch die Grenze zum Liberalismus fließend, so hatte die Revolution doch die
Scheidung zwischen Liberalismus und Demokratie beschleunigt und verschärft.
Die Demokraten galten daher in und nach der Revolution als „Feinde der Ord-
nung". Die Ächtung der Demokratie blieb seit 1848/49 für die politische Mentalität
in Deutschland typisch. Das Schlagwort von 1848/49 gegen Demokraten helfen nur
Soldaten349 entsprach der Erfahrung dieses Jahres und wurde in der Erinnerung
wachgehalten. Mit den „Soldaten" war der Erfolg, mit der „Demokratie" das
ordnungswidrige Aufbegehren und der Mißerfolg verbunden gewesen. Das be-
stätigte sich für die Deutschen noch einmal, als 1866 mit Österreich und den Mittel-
staaten auch die großdeutsch gesinnten Demokraten besiegt wurden. Die daraus

344 Vgl. die Anfrage des Abgeordneten JAHN an die Frankfurter Nationalversammlung vom
26. 8. 1848, ob die Reichsgewalt keine ent&chei,denden Schritte gegen da8 wühlerische Treiben
der communistischen Vereine der sogenannten Radical·Demokraten tun will, ( • •. ) d·ie eine
Verschwörung gegen Ordnung, Recht und Freiheit bil.den und es auf einen blutigen Bürgerkrieg
anlegen; Sten.Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 3 (1848), 1719.
w BRUNO BAUER, Vollständige Geschichte, Bd. 3, 27; vgl. MosES HEss, Philosophische
und sozialistische Schriften 1837-1850, hg. v. A. Comu u. W. Mönke (Berlin 1961), 197.
ue S. u. S. 886 ff. 889 ff.
847 Abg. SIMON, Sten.Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 9 (1849), 6419. 6424.
848 Schwäbische Kronik, 7. 7. 1848. Ähnlich in den Statuten des Landesausschusses der

Vaterländischen Vereine Württembergs: Der Beobachter, 3. 8. 1848, zit. WERNER BoLDT,


Die württembergischen Volksvereine von 1848 bis 1852 (Stuttgart 1970), 258.
849 Flugschr. „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten" (Berlin, Ende November 1848).

885
Demebade VI. 3, ,,8omiale Demokratie"

folgende Gründung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reichs besiegelte
die von SmoN schon 1848 festgestellte Spaltung in die (endgültig siegreichen)
Komervativen und Konstitutionellen einerseits, die Demokraten andererseits.
Ihre Trennung vom Liberalismus, insofern darunter (seit 1867) die N ationa.lliberalen
zu verstehen waren, war von da an endgültig. Dazu war innerhalb der Demokratie
selbst noch eine andere Trennung getreten, die sich gleichfalls schon seit den vier-
ziger Jahren angekündigt hatte: die Scheidung in eine (Arbeiter-)Sozial- und eine
(bürgerliche) Demokratie, die sich (links-)liberal oder republikanisch verstehen
konnte.

3. „Soziale Demokratie"

Die „soziale Demokratie" ist im deutschen Sprachbereich zuerst in den Arbeiter-


Gesellen-Vereinen in Frankreich und der Schweiz von 1834 an theoretisch ent-
wickelt word1m, insofern die sich als Demokraten :fühlenden Intellektuellen und
Gesellen-Arbeiter (vor allen anderen Weitling) sich nicht nur zur Republik be-
kannten, sondern weitgehende soziale Folgerungen aus dem Gleichheitsprinzip
zogen, bis zum Extrem de11 „Sozialismus" bzw. „Kommunismus" bei Weitling.
Die Menschenrechte von 1793, die Lehren Babeufs und Buonarottis · wurden
rezipiert und verarbeitet. Die Republik als 'Volksherrschaft' und als Ergebnis
'sozialer Revolution' 360 wurde national-unitarisch und international-föderativ, vor
allem aber als Verfassungsform für die Verwirklichung· einer neuen Gesellschaft
begriffen. Inhaltlich war dies also „soziale Demokratie" im Unterschied zu einer
bloß „politischen", wenn auch der Terminus noch wenig verwendet wurde oder
mindestens noch nicht weit verbreitet war361 • Die deutschen Arbeitervereine
nahmen damit an einer Bewegung teil, die nach der Mitte der dreißiger Jahre in
Belgien und Frankreich begann. In Brüssel wurde bereits 1836/37 eine Zeitschrift
„Le debat social. Journal democrate socialiste"852 herausgegeben. In Frankreich
wandten sich um 1840 die „Radikalen"363 (Ledru-Rollin) unter Einfluß von Louis
Blanc, Leroux u. a. einer betont „sozialen" Programmatik zu, so daß bei den
„radikalen Demokraten" nunmehr auch die Wortverbindung 'soziale' oder 'so-
zialistische Demokraten' möglich, wenn auch offenbar erst nach Mitte der vierziger
Jahre üblicher wurdellM.
LORENZ VON STEIN verwendete 'soziale Demokratie' in seinem Erstlingswerk
(1842) noch nicht, obgleich er bereits die 'soziale' der 'politischen Revolution'
entgegenstellte und damit der soziologischen Interpretation der Staatsverfassungs-
frl!oge den Weg ebnete. E'BmDBIOR ENGELS sagte im Sinne dieser Unterscheidung
1844 für England einen- Kampf der Armen gegen die Reichen (Mittelklasse), der

350 Beide Begriffe seit 1834/35 wiederholt in den deutschen .Arbeitervereinen verwandt;
dazu WOLFGANG SOHIEDER, Anfinge der deutschen Arbeiterbewegung (Stuttgart 1963),
174 ff.
au Doch schon 1838 im BROCKHAUS, CL Gegenwart; s. Anm. 315.
361 JosEI' STA'MMHAMMER, Bibliographie der Sooia.1-Politik, Bd. 2 (Jena 1912), 82.
868 s. o. s. 884.

SM Hierzu DREHER (s. Anm. 340).

886
VI. 3. ,,8oziale Demokratie" Demokratie

Demokratie ge,gen die Aristokratie· voraus. Die Demokratie, der England entgegen-
gehe, werde eine sozüde Demokratie sein865 • Mit Akzentverschiebung auf sozial-
revolutionäre Bewegung konnte auch vom demokratischen Sozialismus gesprochen
werden, so von KARL GRÜN 1845368 • In der Revolution von 1848 wurde die Be-
zeichnung 'soziale Demokraten' oder 'Sozial-Demokraten' vor allem in den Vereinen
der „Arbeiter-Verbrüderung" als Unterscheidung zu den (nur politischen) Demo-
kraten in den demokratischen Vereinen und den Parlamenten allgemein üblich,
so schon ·in der Rede FRIEDRICH HEoKERS am 5. März 1848 im Heidelberger
Schloßhof. STEFAN BORN schrieb 1849, in der „Verbrüderung" haben wir uns ..•
offen als Sozial-Demokraten bekanm357 • Mehrfach wurde in der Revolution auch von
der 'demokratisch-sozialen' oder der 'sozial-demokratischen Republik' gespro-
chen358.
Nach der Revolution wurde der Terminus der 'sozialen Demokratie' 'oder der
'Sozial-Demokratie' von LORENZ VON STEIN begrifflich präzisiert. In seiner ain
französischen Beispiel entwickelten Theorie stand die. „soziale" Demokratie am
Schnittpunkt der sozialen Init der rein politischen Bewegung. Jene zielt auf die
Herrschaft der bisher beherrschten nichtbesitzenden K'lasse; diese, die republikanische
oder demokratische Bewe,gung, auf eine freie Staatsverfassung Init dem Grundsatz
staatsbürgerlicher Gleichheit369 • Verbanden sich die sozia;le und die konstitutionelle
Tendenz, so verwirklichte sich jene in der Verwaltung, diese in der Verfassung des
Staates. Diese Verbindung beider Bewegungen wurde· als „soziale Demokratie"
begriffen. Das Prinzip der sozialen Demokratie ist demnach das allgemeine Stimmrecht
für die Verfassung, die Aufhebung der gesellschaftlichen Abhängigkeit in der arbeiten-
den Klasse für die Verwaltung. In der sozialen Demokratie .ist die Konstitution daher
das demokratische, die Administration das soziale Element. Nicht nur im Aufweis
der Notwendigkeit dieser Entwicklung, sondem auch durch die in ihr enthaltene
Altemativprognose - soziale Reform oder soziale Revolution - erinnerte Stein,
ungeachtet der Andersartigkeit seines von Hegel kommenden, dialektischen Den-
kens, an Tocqueville880• Er wies dainit, indem er die Revolution durch die Reform
abzuwehren hoffte, auf den kommenden Sozialstaat voraus381 • Die bisherige Demo-

866 F. ENGELS, Die 'Lage Englands II. Die englische Konstitution (1844), MEW Bd. 1
(1957), 592; vgl. auch ders., Das Fest der Nationen in London (1845/46), MEW Bd. 2
(1959), 612.
351 KARL GRÜN, Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien (Darmstadt 1845), 82.
367 STEPHAN BORN, Verbrüderung, 23. 1. 1849, zit. FRoLINDB BALSBR, Sozial-Demokratie

1848/49-1863, 2. Aufl., Bd. 1(Stuttgart1965), 144, Anm. 362. Ebd., Anm. 361 der Beleg
für Hecker.
368 Mehrere Belege bei HANS MÜLLBB, Ursprung und Geschichte des Wortes 'Sozialismus'

und seiner Verwandten (Hannover 1967), 157 f.


368 L. v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, Bd. 1 (Ndr. München

1921), 122 f., auch zum Folgenden.


860 TocQUEVILLE sprach schon in „De la. democratie en Amenque" von einem b.at aociaZ

climoeratique in den Vereinigten Staaten, vgl. z. B. 2, 4, 6. Oeuvres compl., t .. 1/2, 322.


381 Vgl. die Interpretation von ERNST-WOLl!'GANG Böo.KBNFÖBDJll, Lorenz von Stein als

Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in: Alteuropa und
die moderne Gesellschaft, Fschr. ÜTTo BBUNNBB (Göttingen 1963), 248 ff.

887
Demokratie VI. 3. ,,Boziale Demokratie"

kratie sei, insofern sie die Verfassung zur Hauptsache macht, ... unmächtig. Wenn
sie die Verwaltung zum Gegenstande macht, so ist sie keine Demokratie mehr. Das Ende
der bisherigen Demokratie ist da, sowie die beiden Klassen sich über ihr wahres gegen-
seitiges Interesse verständigen . . . Der Übergang der Demokratie zu jener neuen
Gestalt ist bereits angedeutet in dem Losungswort der sozialen Demokratie362 •
In den sechziger Jahren wurde 'soziale Demokratie' als Selbstbezeichnung end-
gültig zum gängigen Begriff im Sinne einer Verbindung von Arbeiterbewegung und
Demokratie in Abhebung von einer bloß 'politischen' oder 'bürgerlichen' Demo-
kratie. Deutlicher als 1848/50 wurde er damit zur Parteibezeichnung. So sprach,
während Lassalle selbst noch zurückhaltend war, JEAN BAPTIST VON SCHWEITZER
schon am 13. Oktober 1863 von der soziaUemokratischen Partei Kampf gegen die
liberale Bourgeois-Partei, und am 15. Dezember 1864 erschien die erste Nummer
der Zeitung des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereine" mit dem Titel Der
Social-Demokrat363 • 1867 hieß es in J. PH. BECKERS „Vorbote": Während die ein-
seitige politische Demokrat,ie die ins Stocken geratene Revolution zu vollem Durchbruch
und in der Bourgeoisierepublik zum Abschluß bringen will, will die Sozialdemokratie
diesen Abschluß beschleunigen helfen, um sofort darüber hinaus zu gehen und die
Gründung eines neuen Volksstaates - eine neue Kulturepoche ,;...._ die soziale - ein-
zuweiken384. Damit war das Bewußtsein verbunden, daß sich die politische Demo-
krat,ie . . . zu dem konsequenteren, fortgeschritteneren und höheren Begriff der Sozial-
demokratie erhoben habe365• Als die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei" sich
1869 in Eisenach ihr Programm gegeben hatte, war 'Sozialdemokratie' von da an
zur dauerhaft festgelegten Bezeichnung für die kommende SPD geworden.
War in der Begriffsgeschichte von 'Sozialdemokratie' zwischen 1840 und 1870
noch die gesellschaftliche Zielsetzung mit dem (für 'Demokratie' traditionellen)
verfassungspolitischen Leitbild verbunden gewesen, so wurde in der politischen
Sprache um die Jahrhundertmitte noch ein Schritt darüber hinaus getan, indem
'Demokratie' auch allein auf die Gesellschaft bezogen wurde. Eine von der „Aristo-
kratie" befreite Gesellschaft der Gleichheit konnte seit etwa 1840 als 'demokratisch'
oder - gesteigert - als 'sozialistisch' bezeichnet und die Gesellschaft demgemäß
als in einem Demokratisierungsprozeß befindlich begriffen werden. Die Gesellschaft
gleicht sich mehr und mehr aus, demokratisiert sich; die Ansprüche der hökern Stände
auf das Privilegium der BiUung, des Genusses, der politischen Herrschaft, des Ton-
angebens in der äußern Sitte werden immer mehr herabgestimmt, die Ansprüche der
niedern Stände stimmen sich hinauf366. In ähnlichem Sinne konnte LUDWIG HÄUSSER
sagen: die badische Gemeindeordnung von 1831 demokratisierte die Fundamente

881 STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 3 (1921), 207. Er führt seinen Gedanken-

gang fort im Art. Demokratie und Aristokratie, in: BROCKHAUS, Gegenwart, Bd. 9 (1845),
306 :ff. Dort Absetzung der sozialen Demagogie von der sozialen Demokratie, die in Verbindung
mit der „Constitutionellen Partei" wünschbar ist - gemäß der Zusammengehörigkeit des
Prinzips der Bewegung (Demokratie) mit dem dor Erhaltung (Aristokratie); -Adel.
888 Zit. MÜLLER, 'Sozialiamus' (s. Anm. 358), 162.
aH Vorbote 9 (1867).
886 Nürnberger Anzeiger (1869), zit. Huao EOKEBT, Liberal- oder Sozialdemokratie. Früh-
geschichte der Nürnberger Arbeiterbewegung (Stuttgart 1968), 122 f.
888 Gedanken über die moderne schöne Literatur, Dt. Vjschr. 3 (1840), 269.

888
VI. 4. Man: und Engels Demokratie

der politischen Gesellschaft 361• Zur Zeit der Revolution von 1848/49 war 'Demo-
kratisierung der Gesellschaft' im politischen Sprachgebrauch weithin üblich und
mit der Vorstellung verbunden, daß sie gar nicht einmal an eine staatliche Form
gebunden sein müsse und sich in Homogenität der Lebensweise, Kleidung und Gesell-
schaft zeige368 • Ein solcher, bis heute üblicher Sprachgebrauch von 'Demokratie'
und 'Demokratisierung' war uferlos in allen gesellschaftlichen Bereichen anwend-
bar. Er soll hier nur von seiner Wurzel her, d. h. von der Absonderung des Gesell-
schaftlichen vom Staatspolitischen, erwähnt werden.

4. Marx und Engels


Marx und Engels nahmen eine Stellung zum Demokratiebegriff ein, die unter die
bisher entwickelten Positionen liberaler, radikaler und sozialer Demokratie nicht
subsumiert werd.cn kann; sie hatten anfangs zu all diesen Richtungen, besonders
zu den Radikal- und Sozjal-Demokraten, enge Verbindung, gingen aber seit 1844,
indem sie sich als 'Kommunisten' bezeichneten, deutlich durch die genannten
Stufen der Demokratie hindurch und über sie hinaus, ohne aber aufzuhören, sich
cfor (gemäß· ihrer Theorie interpretierten) Demokratie verpflichtet oder im weiteren
Sinne zugehörig zu fühlen. In der „Kritik des Hegelschen Staatsrechts" identi-
fizierte sich KARL MARX ausdrücklich mit der von Hegel abgelehnten Demokratie
im Sinne der republikanischen Phase der Französischen Revolution. Gegen die im
Monarchen verkörperte Staatssouveränität setzte Marx die Volkssouveränität, die
allein es ermöglir,he, nicht nur eine Form, die politische Verfassung, über das Volk
zu setzen, sondern InhalJ, und Form zu vereinigen. In der Monarchie ist das Ganze,
das Volk, unter eine seiner Daseinsweisen, die politische Verfassung, suhsumiert;
in der Demokratie erscheint die Verfassung selbst nur als eine Bestimmung, und zwar
Sel,bstbestimmung des Volks. So sei die Demokratie das Wesen aller Staatsverfassung,
der sozialisierte Mensch, als eine besondere Staatsverfassung, die sich von allen andern
Staatsformen dadurch von Grund auf unterscheide, daß in ihr menschliches Dasein
ermöglicht wurde, während in den andern der Mensch das gesetzliche Dasein und
daher der politische Mensch vom unpolitischen, dem Privatmenschen getrennt sei.
'Demokratie' konnte, so gesehen, nur Republik sein; diese aber war dann mehr
als nur politische Verfassung. In dieser Republik der Zukunft werde die Demokratie
der Freiheit des (ungespaltenen) Menschen verwirklicht. Vorhergegangen waren
für Marx die Stufen 1) der Demokratie der Unfreiheit im Mittelalter, als Vollcsleben
und Staatsleben identisch waren, und 2) der Trennung von Staat und Gesellschaft
(Abstraktion des Staates, Abstraktion des Privatlebens) in der modernen Zeit. 'Demo-
kratie' wurde also von MARx als politische Selbstverwirklichung des Menschen
gedacht: im Dreischritt von der Entfremdung im „wirklichen Dualismus" (Mittel-
alter) über die Entzweiung im „abstrakten Dualismus" (moderne Zeit) zur Ver-
söhnung in der Zukunft des „sozialisierten Menschen" 369.

867 L. lliussER, Denkwürdigkeiten zur Geschichte der Badischen Revolution (Heidelberg


1851), 17.
36 8 F. W. ZIEGLER, Wie ist dem Handwerkerstande zu helfen? (Berlin 1850), zit. BAT.SER,
Sozialdemokratie, Bd. 2, 569.
869 MABx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843), MEW Bd. 1 (1964), 229 ff.

889
Demokratie VI. 4. Maß untl EageJa

.An die Stelle des Hegelschen Staat.eR trat alAo dia Dlimokratia. Sie war von der
Vorstufe (Hegel) in die Endstufe eines von göttlicher Führung befreiten Prozesses .
·der Geschichte gerückt. In diesen Denkansatz wurden kurz darauf die Revolution
durch das Proletariat. sowie der Kommunismus als Bezeichnung für das Ziel der
Geschichte hineingestellt und dienten zu seiner Konkretion.
Darin verband sich mit FRIEDRICH ENGELS, der schon 1843 die Französische Re-
volution als Ursprung der Demokratie in Europa bezeichnet und hinzugesetzt hatte,
daß aus unwahrer und geheuchelter Demokratie eckte Freiheit und eckte Gleichheit,
das heißt Kommunismus, entstehen müsse370. Zwei Jahre später definierte er: Die
Demokratie, das ist heutzutage der Kommunismus ... Die Demokratie ist proletarisches
Prinzip, Prinzip der Massen geworden871 • Diese Gleichsetzung von 'Kommunismus'
und 'Demokratie' galt im Sinne des ursprünglichen, explizit vorkommunistischen
.Ansatzes von Marx, nur für die zukünftige Endphase und das Bekenntnis zu diesem
Glauben boi der „Partei" der Kommunisten. Für die Gegenwart wurde zwa.r solche
Gleichsetzung programmatisch gefordert, aber nicht für diejenige' Demokratie
vollzogen, die vor und in der Revolution von der „Partei der Demokraten" in
Anspruch genommen wurde. Mit dieser konnte es lediglich ein politisches Bündnis
auf Zeit und zur rechten Zait-Ao 1848 - g11hFm 372 . AiA w11.r11n di11 kl.e.inbii.rgerliche.n
Demokraten, . . • die Partei der KleinlJ'ii;rgerschaft, die von den liberal,en Bourgeois
einerseits, der revolutionären Arbeiterpartei andererseits abgehoben wurden373• In
der Phase der liberal-demokratischen Revolution und ihres Scheiterns (1848/50)
wurden von Marx und Engels die politischen Termini 'Liberalismus', 'Demokratie'
und 'Kommunismus' durch die sozialen Attribute 'Bourgeois', 'Kleinbürger' und
'Arbeiter' ('Proletarier') sowie in der Steigerung vom föderativ-monarchistischen
über einen stärker zentralisiert föderativen zum einheitlich zentralistischen, re-
publikanisch-demokrl!-tischen (kommunistischen) Nationalstaat37' begriffen. Im
Programm jedoch verband sich 'Demokratie' schon jetzt mit 'Proletariat' unter
der Voraussetzung, daß die Revolution nicht kleinbürgerlich mit begrenztem Ziel
geführt und abgebrochen werden dürfe, sondern Revolution in Permanenz sein
müsse375 • In dieser Programmatik war die „Sozial-Demokratie" selbstverständlich
enthalten, aber nicht als Endziel begriffen, da die allgemein sozial-demokratischen
Phrasen zu unrevolutionär mit der kleinbürgerlichen Demokratie im Kompromiß
zusammenliefen378 • Die sogenannte sozial-demokratische Partei, wie sie Marx im

870 ENGELS, Fortschritte der SoziaJreform auf dem Kontinent (1843), ebd., 481.
371 Ders„ Fest der Nationen (s. Anm. 355), 613.
871 Vgl. hierzu z. B. ENGELS, Die Kommunisten und Karl Heinzen (1847), MEW Bd. 4

(1959), 316 f.; ders., Grundsätze des Kommunismus (1847), ebd., 372 f.; MA.Bx/ENGELS,
Manifest der Kommu'listischen Partei (1848), ebd., 481 f. 492 f.
878 MABxjENGELS, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, MEW
Bd. 7 (1960), 244 :lf., bes. 244. 246.
874 Wenngleich schon deutsche „Jakobiner" vor 1800, „Demokraten" um 1848 und am

radikalsten MABx und ENGELS die „eine und unteilbare Republik" anstrebten, gehörte
selbst für diese der unitarische Zentralismus nicht notwendig zum Begriff der Demokratie;
diese wurde im Gegensatz zu dieser Tendenz häufig auch ausdrücklich mit dem Föderalis-
mus verbunden, wofür die Vereinigten Staaten UJJ,d die Schweiz die Modelle abgaben.
875 MABx/ENGELS, MEW Bd. 7, 254 (vgl. Anm. 373).

a11 Ebd., 248.

890
VI. 5. Zurüekdräogung des Demokratie~ Demokratie

R,iir.khlir.k (1Rfi2) für Fmnlm~inh 18~8/~9 bcfloh:ricb, cmohicn ihm allil eine n1ue
Montagne mit sozialem Akzent. Der eigentümliche Charakter <1er Sozial-Demokratie
fasse sich dahin zusammen, da/J demokratisch-republikanische Institutionen als M iUel
verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, be1:de a?J,/znh.eben,
son<lern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln377.
Der Prozeß von „purer Demokratie"378 über „Sozial-Demokratie" zum revolu-
tionären Sprung („Diktatur des Proletariats"), der den Weg zur eigentlichen
Demokratie des Kommunismus eröffnen sollte, wurde von Marx und Engels von
1843-1852 theoretisch voll entwickelt. Alles Spätere erscheint nur als je neue
Anwendung und Anpassung379.
LASSALLE blieb hinter der theoretischen Präzision von Marx und Engels zurück.
Er stand inmitten des allgemeinen Demokratieverständnisses zwischen 1848 und
1863. Seine Bedeutung liegi. nicht in begriffsgeschichtlicher Originalität, sondern
in der puliLi11eheu Kuukretion des allgemein Demokratischen auf die Situation von
1858 bis 1864. Das heißt: er registrierte und vollzog seinerseits die Trennung vom
Liberalismus (Fortschrittspartei), und er erklärte den „Arbeiterstand" zum Träger
der Demokratie. Die Demokratie war das einende Band zwischen der Bourgeoisie
und dem Arbeiterstand. Indem man diesen Namen abschüttelte und verleugnete, zer-
schnill man von jener Seite her dieses einende Band, pfianzte man da.~ Banner ni.cht
11wlir e·i.,,,er derrwkratischen, son<lern einer liberalen Bourgeoisbewegung aur80 • Lassalle
stand insofern Marx nahe, als auch er - freilich noch verschwommener - 'Demo-
kratie' in der Bewegung des geschichtlichen Prozesses sah, wobei er jedoch - von
Marx her gesehen - auf der Stufe der „Sozial-Demokratie" stehenblieb und die
allgemein vertretene Beziehung von Demokratie und „Nationalität" („Selbst-
. bestimmung") besop.ders stark hervorhob381 •

5. Zurückdränguog des Demokratiehegrift's


In den sechziger und siebziger Jahren, als die Reichsgründung vorbereitet, er-
kämpft und vollendet wurde, unterlag die „Partei" der Demokraten (in ihren ver-
schiedenen Spielarten und Organisationen), und der Sieg fiel denjenigen zu, die
'Demokratie' aus der Tradition der „Partei der Aristokraten" oder des „Bour-
geois-Liberalismus" begriffen. Das wurde maßgebend für das vorherrschende
deutsche Verständnis von 'Demokratie' - sowohl im Deutschen Reich wie in den

377 M.utx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW Bd. 8 (1960), 141.
. 3 78ENGELS schreibt von den puren Demokraten im Brief an Joseph Weydemeyer v. 12. 4.
1853, MEW Bd. 28 (1963), 579.
879 Vgl. z. B. M.utx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (1875),
MEW Bd. 19 (1962), 15 ff.
°
38 FERDINAND LAssALLE, Rede v. 19. 5. 1863, Ges. Red. u. Sehr., Bd. 3 (1919), 273.
Eine neue Interpretation des politischen Denkens Lassalles in der noch ungedruckten
Heidelberger Dissertation von GÜNTER TRAUTlllANN, Wahlorganisation und parlamentari-
sche Tätigkeit des Allgemeinen Arbeitervereins von 1867 bis 1871/74 (1968).
8 81 Das Prinzip der freien, unabhä,ngigen Nationalitäten ist also die Baaia und Quelle, die
Mutter und Wurzel dea Begriffs der Demokratie überhaupt; LASSALLE, Ges. Red. u. Sehr.,
Bd. 1 (1919), 31 f.

891
Demokratie VL S. Zuräckdrängang des Demokratiebegriffs

deutschen Gebieten der habsburgischen Mono.rohio. Stellt mo.n da.zu in Rechnung,


daß der Demokratiebegriff seit 1871 vorwiegend in der SPD lebendig war und
„sozial-demokratisch" („Volksstaat") bzw. „marxistisch" entwickelt wurde, so
wird verständlich, daß die Strömung der nur „bürgerlichen" Demokraten eingeengt
und schwach wurde, so daß das Wort 'Demokratie' in den Parteiprogrammen
„freisinniger" oder „fortschrittlicher" Parteien von 1878-1910 nicht verwendet
wurde. Lediglich die auf Süddeutschland beschränkte „Deutsche Volkspartei"
hielt daran fest. So schrieb bezeichnenderweise FRIEDRICH NAUMANN 1910 von der
Zusammenfassung zur neuen „Fortschrittlichen Volkspartei", in der die Demo-
kraten des Südens sich mit den übrigen liberalen Gruppierungen verbunden hät-
ten382. Für die konservative Anschauung blieb die Feststellung des „Staats-
Lexikons" von HERMANN WAGENER (1861) bestehen, daß sowohl bei der „reinen"
wie bei der „repräsentativen" Demokratie die Fiktion ... in der Verheißung der
Freiheit und G'leichheit . . . die Hauptrolle spiele, daß also Demokratie dauerhaft
und gut zu verwirklichen nicht möglich sei383• Von einer solchen Sicht unterschieden
sich die auf das neue Reich gerichteten Liberalen praktisch kaum. HEINRICH VON
SYBEL hat es zwar nicht ausgeschlossen, daß die allgemeine Verfassungsentwicklung
in fernliegender Zukunft zur Demokratie führen könneBM, ließ aber demokratische
Lösungen für seine Zeit nicht zu und betonte - wie auch Treitschke -, daß die
(preußische) Selbstverwaltung wie das (englische) Selfgovernment wesentlich nicht
demokratisch, sondem aristokratisch seien385•
TREITSCHKES Demokratiebegriff ist prototypisch für die liberal-konservative Ver-
schmelzung in der Reichsgründungszeit und darüber hinaus richtungweisend für
die Gebildeten reichsnationaler Gesinnung bis über den Ersten Weltkrieg hinaus.
Teils unmittelbar auf Aristoteles zurückgehend, teils Schleiermacher (s.o. S. 877 f.)
und RoscHER386 übemehmend, kehrte Treitschke die Vorstellung eines geschicht-
lichen Fortschritts zur Demokratie, wie sie z. B. von Gervinus und Fröbel ent-
wickelt worden war, radikal um, indem er der Demokratie nicht den Ehrenplatz
einer entwickelten Endstufe, sondem nur den Rang einer primitiven Vorstufe zu
höherer politischer „Vollendung"387 einräumte. Treitschke setzte seine Maßstäbe
vom erstrebten bzw. erreichten Ziel der preußisch-deutschen konstitutionellen
Monarchie mit möglichst starker staatlicher Einheit und dazugehöriger Honoratio-
ren-Selbstverwaltung der (aristotelisch) „von Natur" auf Ungleichheit berohenden
„bürgerlichen Gesellschaft". Das Prinzip der Demokratie sei „Gleiqhheit", die der
von der Natur der Dinge selbst gegebenen aristokratischen Gliederung der Gesellschaft

882 F. NAUMA.NN, Fortschrittliche Volkspa.rteil (1910), Werke, Bd. 5 (1964), 448. Vgl. das

Programm der DV 1895 bei WILHELM Mo.MMsEN, Deutsche Pa.rteiprogra.mme (München


1960), 160 ff.
8 88 WAGENER Bd. 6 (1861), 112.
384 llELLMUT SEI.ER, Die Sta.a.tsidee Heinrich von Sybels in den Wa.ndlungen der Reichs-
gründungszeit 1862/71 (Lübeck, Hamburg 1961), 22 f.
385 Ebd„ 53; H. v. TuEITSoHKE, Politik, hg. v. Max Cornicelius, 2. Aufl„ Bd. 1 (Leipzig
1899), 161.
886 WILHELM Rosom:B, Umrisse zur Naturlehre der drei Sta.a.tsformen (1847/1849); vgl.
da.zu WALTER Buss?4ANN, Treitschke (Göttingen 1952), 181 ff.
887 Ebd„ 195.

892
VI. 5. Zurll~kdrlngung des Demokradehegrlffs Demokratie

widerspreche, so daß Demokratie nur möglich sei, wenn sie von ihrem eigenen
Prinzip abweiche und damit nicht mehr konsequent sei. Dies zeigte Treitschke
nicht nur für die Schweiz und die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch
für das klassische Vorbild, die athenische Demokratie, die auf der Sklavenbasis
beruht und in Wirklichkeit als Massenaristokratie der Vollbürger888 über Sklaven
geherrscht habe. Die Demokratie der allgemeinen Gleichheit enthalte eine contra-
dictio in adfecto; sie erstrebe ein Ziel, das ... undenkbar ist; sie habe demgemäß
den krampfhaften Zug, ein an sich unerreichbares Ideal erzwingen zu wollen389 • Auch
das der Demokrati4i1 meist beigegebene Attribut der Freiheit läßt Treitschke nicht
gelten, indem er auf die lndividualitätsvemeinung der antiken Demokratie und
auf die Freiheitsverwirklichung in der modernen Monarchie hinweist, wenngleich
er es ablehnt, die politische und die persönliche Freiheit bestimmten Staatsformen
zuzuweisen, wie es einer verbreiteten Modet,orheit entspreche390 • Erweist sich für
Treitschke sowohl aufgrund einer politischen „Naturlehre" (Aristoteles, Roscher)
wie aufgrund historischer Erfahrung und politischer Zielsetzung Demokratie
prinzipiell als unwirklich und in pragmatischer Realitätsanpassung als geringwertig,
so beobachtet er doch ein historisches Geset,z der Demokratisierung der Staatsformen
innerhalb der moder.a.en Monarchien, die dadurch allerdings nur gewandelt, keines-
wegs aber eines Tages von der Demokratie als Staatswesen abgelöst werden könn-
ten. Dies Gesetz beruhe darauf, daß Wohlstand und Bildung sich immer weiter
verbreiteten und damit die Berechtigung zur aktiven Teilnahme auf immer größere
Kreise übergehe. Das sei in vernünftigen Schranken berechtigt. In Deutschland sei
man hierbei leider an der äußersten Grenze angelangt, über deren Unvernünftigkeit
nichts mehr hinausgeht, beim allgemeinen gleichen Stimmrecht391 • Eine solche Grenz-
überschreitnng widersprach der „Natur" der „bürgerlichen Gesellschaft" und wies
auf die von Treitschke wiederholt beschworene soziale und geistige Einebnungs-
tendenz hin, die aller Demokratie innewohne. Von „aristokratisch"-„bürgerlichen"
Wertungen aus erschien ihm die Natur der Demokratie als „mittelmäßig". Ein Be-
such der Schweiz (1864) bestätigte ihm den vorhergewußten Eindruck einer
allgemeinen ehrenwerten Mittelmäßigkeit 392 • Dies brachte er mit der Kleinräumigkeit
in Beziehung und wendete damit die traditionelle Vorstellung, daß Demokratie
nur in kleinen Staaten möglich sei und diese allein auf die Dauer demokratisch
sein könnten, auf seine Gegenwart, d. h. implizit auf die deutsche Frage an. Eine
große, welthistorische Nation (Hegel) konnte und sollte nicht demokratisch verfaßt
sein.
Der Hinausweisnng der Demokratie aus dem politischen Horizont des offiziellen
deutschen Reichs- und Nationalbewußtseins entsprach es, daß 'Demokratie' für
das Staatsrecht des Deutschen Reichs außerhalb lag. Für J ellinek war - unter
Berufung auf die Tradition seit Aristoteles bzw. Machiavelli - „Demokratie"
mit „Monarchie" unvereinbar. Sie konnte demgemäß nur als „demokratische

388 TREITSCHKE, Politik, Bd. 2 (1898), 257.


889 Ebd„ 9.
3 9o Ebd.,passim, bes. 158 f.
391 Ebd„ 160 f.
392 Zit. BussMANN, Treitschke, 231 f.

893
Demokratie VI. 6. Christliche Demokratie

R.opnhlik" (fä1pnhlik = „Ninht-Mnnn.Tnhin")-typnlngiRnh diffATATI:i:iflrl,-in il.nT


Wirklichkeit auftreten und theoretisch begriffen werden393 •

6. Christliche Demokratie

Als bisheriges Ergebnis sei festgehalten, daß nach 1848 in Deutschland kein nach-
haltiges Bedürfnis mehr bestand, den Begriff der Demokratie in das verfassungs-
politische Denken konkret einzufügen - es sei denn in der Negation des Be-
stehenden, d. h. in Beziehung zur Revolution, deren neue Extreme des Sozialismus
und Kommunismus freilich ihrerseits den Begriff der Demokratie okkupierten, ihn
überholten und entbehrlich machten oder ihn als 'Sozial-Demokratie' sich an-
verwandelten.
War 'Demokratie' dem deutschen Staatstypus der konstitutionellen Monarchie
fremd geblieben, so hatte sich der Begri:H' auch kaum mit Kirche und Christentum
verbunden. Es war typisch für den Lebenszusammenhang von Staat und Kirche
in Deutschland, daß es wohl eine .christlich-soziale, aber keine christlich-demo-
kratische Bewegung gegeben und die Wortverbindung 'christliche Demokratie'
nur in don Jahron um 1818 oino auoh damalo nur poriphoro Rollo goDpiolt hat.
'Christlich-sozial' war intrakonstitutionell vertretbar, 'christlich-demokratisch' wies
dagegen in eine revolutionäre Richtung, die beiden Kirchen, ungeachtet ihres
unterschiedlichen Verhältnisses zum Staat, weit fern lag und auch von christlich-
sozialen Protagonisten beider Konfessionen wie WICHERN und KETTELE& be-
kämpft wurdesN.
So fällt der Begriff 'christliche Demokratie' für die deutschen Staaten des 19. Jahr-
hunderts kaum ins Gewicht, w13nngleich er nicht unbekannt gewesen ist. Denn er
war in Frankreich schon 1791 in Beziehung zuin. Kirchenkampf geprägt und in den
dreißiger und vierziger Jahren (Lammenais, Buchez) stark verbreitet worden, da das
Bedürfnis dafür angesichts des Zwiespalts zwischen fortwirkender Revolution und
sich erneuerndem Katholizism1,lll lebendig war395• Dies Bedürfnis setzte sich unter
den Bedingungen der Dritten Republik auf neue Weise fort, besonders nachdem
Leo XIII. seit 1885 die Indi~erenz gegenüber der Staatsform propagierte und somit
das „ralliement" der Katholiken mit der Französischen Republik ermöglichte. In
der E:µzyklika „Graves de communi" (1901) wurde allerdings den Katholiken auf-

888 GEORG JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. (1900; 7. Ndr. Bad Homburg 1960),
666. 710 :ff.
89' Bei W1ommN wird allein schon das Wort 'Demokratie' selbst kaum verwendet. Vgl. eine

der seltenen, scharf aburteilenden Aussagen Wicherns bei MARTIN GEBHARDT, Johann
Hinrieb Wiehern. Ein Lebensbild, Bd. 3 (Hamburg 1931), 246. - KETTELER betonte
immer wieder, daß, der Geist eines säkularisierten oder antichristliohen Staates und des
Christentums unvereinbar seien. Der Begriff 'christliche Demokratie' lag ihm ganz fern;
vgl. WILHELM EMANUEL v. KETTELER, Schriften, hg. v. Johannes Mumbauer, 2. Aud.
(München 1924), passim, bes. Bd. 1, 247 :ff.; Bd. 2, 5 if.
886 Vgl. MAIER, Revolution und Kirche (s. Anm. 237); ders., Herkunft und Grundlagen

der christlichen Demokratie, in: Christliche Parteien in Europa (Osnabrück 1964), 11 :ff.
Das Buch von MICHAEL FOGA.RTY, Christliche Demokratie in Westeuropa 1820-1953
(Basel, Freiburg, Wien 1959) ist begritrsgeschichtlich unergiebig.

894
VD. Ausblick Demokratie

getragen, ihre „christliche Demokratie" gegenüber politischen Weiterungen ab-


zugrenzen und - neutral gegenüber verschiedenartigen Staatsverfassungen -
sozial und karitativ zu begren.Zen.
Als die Enzyklika erschien, war die Wortverbindung 'christliche Demokratie' über
Frankreich hinaus auch in anderen Ländern, besonders in Belgien und Italien,
schon üblich geworden898• Der französische Einfluß, die Enzykliken von 1891
und 1901 und die beginnende christliche Arbeiterbewegung wirkten in Deutschland
darauf hin, daß der Begriff 'christliche Demokratie' aufkam und (mit Vorsicht
gegenüber seinen politischen Implikationen) von „linken" Richtungen des politi-
schen Katholizismus verwendet werden konnte, in der Regel aber vor 1918 noch
im Sinne der Enzyklika von 1901 als gefährliche Richtung (Demookristianismus
in Italien) bezeichnet wurde397• Dem Protestantismus blieb der Begriff dagegen
bis 1918 so gut wie gänzlich fremd. Und auch über diesen Einschnitt hinaus blieb
bestehen, daß 'christliche Demokratie' vor allem auf den katholischen Bereich be ·
zogen wurde. Denn ihrem Begriff wohnte primär die Voraussetzung inne, daß in
ihren Hauptursprungsländern Frankreich'.' und Italien ein säkularisierter National-
staat in oder über einem fast ausschließlich katholischen Volk errichtet worden
war und daß dies Volk, soweit es nicht kirehcnfremd geworden war, den Zugang
1

zum modernen demokratischen Staat finden mußte, ohne seine christlich-katholische


Gebundenheit aufzugeben.

VD. Ausblick
Im Kaiserreich war 'Demokratie' als Inhalt und Begriff entweder wie in der
„Politik" Treitschkes verdrängt oder bei linken Liberalen, vor allem der „Deut-
schen Volkspartei", als verpflichtende Erinnerung wenig Wirksam festgehalten oder
aber in der Sozialdemokratie in den „Nahzielen" des Erfurter Programms kon-
kretisiert und dem Sozialismus eingeordnet worden. Erst im Zusammenhang der
geistigen Bewegung um die Jahrhundertwende, als auch die gesellschaftlich-ver-
fassmigspolitische Ordnung der wachsenden Industrienation neuartig irr Frage ge-
stellt wurde, stellte sich das Bedürfnis ein, den Begriff 'Demokratie' zur Struktur-
und Bewegungsanalyse der Gegenwart wieder zu Hilfe zu nehmen. FRIEDRICH
NAUMANN übte in dieser Hinsicht die größte Wirkung aus. Hatte er noch 1895
das „Christlich-soziale Programm" politisch im zeitüblichen Sinne verfaßt, indem
er das konstitutionelle System gegenüber den abgelehnten Extremen des monarchi-
schen Absolutismus und der republikanischen Demokratie hervorhob398, bediente
er sich von 1900 ab des Begriffs 'Demokratie', um an ihm Staat und Gesellschaft
des Kaiserreichs zu messen und sich zu ihm als Inbegriff rettender Zukunfts-
erwartung zu bekennen. Treitschkes Vorstellung, daß die Primitivität kleinräumiger

396 KARL BACHEM, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Zentrumspartei, Bd. 8
(Köln 1931) und 9 (1932), passim. - Ein halbes Jahr nach der El\zyklika. „Gra.ves de
communi" sprach LIEBER auf dem Dt. Katholikentag (August 1901) in Osnabrück über
„Christliche Demokratie"; E. Fn.THA.UT, Deutsche Katholikentage 1848--1958 und soziale
Frage (Essen 1960), 164.
ae 7 BACHEM, Zentrumspartei, Bd. 7 (1930), 300. 316.
398 NAUMANN, Gedanken zum christlich-sozialen Programm (1895), Werke, Bd. 5 (1964), 72.

895
Demokrade VB. Ausbllck

Demokratie von der Wirkmächtigkeit monarchischer Großstaaten geschichtlich


abgelöst worden sei, wurde von Naumann revidiert, indem er klarzustellen ver-
suchte, daß die Groß-Monarchie des deutschen Kaiserreichs als solche nur haltbar
sei, wenn sie das Bündnis mit den rückständigen „Aristokratien" (agrarisch,
industriell, klerikal) aufgebe und stattdessen die Verbindung mit der neude'l.dschen
Demokratie suche399 • Diese sei von der älteren Demokratie dadurch unterschieden,
daß sie dem wachsenden Industrievolk entspreche, welches seinen angemessenen,
aktiven Anteil am modernen G7oßbetrieb de:r Wirtschaft und des Staates fordere.
Demokratie ist der politische Ausdruck für die Bestrebungen der neudeutschen in-
dustriellen Masse. Mit dem Wachstum dieser Masse steigt die Demokratie-'00. Indem
Naumann erkannte, daß die Industrialisierung ... einen neuen Aufschwung des
demokratischen Denkens mit sich bringt, prägte er den Begriff der demokratischen
Industriepolitik (Parole: Maschine und Persönlichkeit), d. h. die Verbindung von
Leistungssteigerung und menschenwürdiger Mitbestimmung4°1• Naumann löste
damit die „ bürgerliche" Demokratie aus ihrer Verkapselung und die „proletarische"
Demokratie aus ihrer Abseitsstellung. Er suchte von seiner Vorstellung des „In-
dustrievolks" aus die Entzweiung dieser beiden klassenbedingten Demokratien
zu überbrücken und so eine Front der Fortschrittlichkeit (Demokratismus als
Prtnzip402} den gefährlich hemmenden, rückwll.rtsgewandten „Aristokratien" ent-
gegenzustellen. Dem entsprach es, daß Naumann Liberalismus und Sozialismus
im Zeichen der Demokratie und des Demokratismus politisch verbunden sah,
d. h. die Trennung von 'Liberalismus' und 'Demokratie' aufzuheben suchte.
Naumanns Demokratie-Renaissance war wirksam. Das Wort 'Demokratie' war
alsbald - höchst aktuell - wieder in aller Munde. Daher war es 1919 ml:lglich,
daß WALTHER RATHENAU und ERNST TROELTSCH Mitte November 1918 die Be-
zeichnung „Demokratischer Volksbund" wählten, um den politischen Neubeginn
im Sinne der „Sammlung" im Gegensatz zur Vergewaltigung durch 'Diktatur'
(welcher Art und Richtung auch immer) deutlich zu machen403 • Die Sammlungs-
partei des Liberalismus wurde 1918 als „Deutsch"Demokratische Partei" gegründet.
Nicht nur Liberale und Sozialisten (im Sinne Naumanns), sondern auch die Katho-
liken: des Zentrums (wenn dort auch keineswegs einheitlich) fanden sich 1917/19
im Zeichen der Demokratie, jeweils liberal-, sozial- und christlich-demokratisch
zusammen. Das gleiche geschah in der „Demokratischen Republik" Deutsch-
österreich. In den Debatten der Weimarer Nationalversammlung zeigte es sich,
daß die Rezeption des Demokratiebegriffs 1919 über die Sozialisten und Deutsch-
Demokraten hinaus große Fortschritte gemacht hatte, wenn damit auch auf der
Rechten keine Zustimmung zum neu verbreiteten Wort verbunden war. Das
Zentrum befand sich im Zwiespalt, da spätestens vom November 1918 an die

8 89 NAUMANN, Demokratie und Kaisertum (1900), Werke, Bd. 2 (1964), 38.


' 00 Ebd., 39.
' 01 Ebd., 55 ff.
' 02 Ebd., 78.
' 08 l!ANs MARTIN BARTH, Der demokratische Volksbund, Jb. f. d. Gesch. Mittel· u. Ost-
deutschlands 15 (1966), 31 ff. - WALTHER RATHENAU, Rede in der Versammlung zur
Schaffung eines demokratischen Volksbundes, 16. Nov. 1918, in: Sehr. u. Reden, hg. v.
Hans Werner Richter (Frankfurt 1964), 385 ff.

896
VII. Ausblick Demokratie

Begriffsbegrenzung einer christlich annehmbaren Demokratie im Sinne der En-


zyklika „Graves de communi" von 1901 gesprengt und 'christliche Demokratie'
verfassungspolitisch verstanden werden mußte. Wohl war sich die Partei dessen
bewußt; sie brachte es aber nicht fertig, der Forderung, sich zusätzlich „Christlich-
demokratische Volkspartei" zu nennen, nachzugeben. Das Zentrum war nur un-
zulänglich darauf vorbereitet und dazu in der Lage, die von ihni praktisch geübte
„christliche Demokratie" einheitlich und überzeugend zum Begriff zu erheben.
Selbst die politische Rechte (DNVP) richtete ihre Polemik in der Nationalver-
sammlung404 nur gelegentlich gegen das Wort 'Demokratie'. Die 1919 vorherrschen-
de Tendenz, 'Demokratie' zum allumfassenden, allgemein gebilligten Verfassungs-
und Gesinnungsbegriff werden zu lassen, ist im Deutschen Reich und in Österreich
alsbald wieder rückläufig geworden. Die alten Vorbehalte gegenüber der Demokratie
aus der Zeit vor dem Weltkrieg waren wirksam geblieben und wurden durch die
politischen Entwicklungen nach 1919 aufs neue an die Oberfläche de1:1 politii:icheu
Kampfes gebracht 405. Zwischen 'deutsch' ('-national') und 'demokratisch' wurde
entgegen dem auf 1848 zurückgehenden Selbstverständnis der Demokraten der
zwanziger Jahre noch einmal die alte und alsbald durch den Nationalsozialismus
neu behauptete Kluft aufgerissen. 'Demokratie' wurde stärker noch als im Ersten
Weltkrieg agitatorisch und abwertend als „westliche Demokratie" bezeichnet.
HITLERS gelegentlich (1925/28) ausgesprochene Beziehung des Nationalsozialismus
zur Wurzel einer germanischen Demokratie 4 06 blieb bei ihm vereinzelt, wurde von
ihm am~dl'iicklich wieder aufgegeben und hatte daher keine Wirkung im deutschen
Bewußtsein der dreißiger Jahre, das, soweit es „gleiohgesohaltet" war, extrem
demokratiefeindlieh war.
Es war verständlich, daß nach 1945 der Demokratiebegriff im deutschen Bereich
nicht nur wieder aufgenommen, sondern erfüllt Init den Werten der Freiheit
(freiheitliche Ordnung) und des Rechts (Rechtsstaat) zum Gegenbegriff gegen
Faschismus bzw. totalitäre Diktatur wurde. Dementsprechend wurde Demokratie
zum alltäglichen Schlagwort und fand - anders als in der Reichsverfassung von
1919 - Eingang in das Grundgesetz der BRD (Art. 24, Abs. 1): Die BRD ist ein
demokratischer und sozialer Bundesstaat. Eine Definition des Begriffs „demokratisch"
wurde weder gegeben noch wurde darüber im Parlamentarischen Rat eine Aus-
sprache geführt 407 . Man war sich mehr oder weniger bewußt darüber einig, daß
unter Demokratie der in den westlichen Nationen entwickelte, in der eigenen

404 So stellte Pfarrer GOTTFRIED TRAUB (NDVP) den Geist der Stein.sehen Verfassung und das
Erbe des Liberalismu.a dem Geist des Materialiamu.a und des Mammonismu.a auf dem Grunde
gleichmachender Demokratie gegenüber; Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre
1919, hg. v. EDUARD HEILFRON, Bd. 1 (Berlin 1919), 498 f.
406 Vgl. außer zahlreichen Darstellungen zur Geschichte der Weimarer Republik und

Österreichs nach 1919 bes. KURT SoNTHEIMER, Antidemokratisches Denken in der Wei-
marer Republik, 3. Aufl.. (München 1966).
406 ADOLF HITLER, Mein Kampf (München 1925), 364; vgl. die Ausg. 1930, 378. Dazu:

HERMANN HAMMER, Die deutschen Ausgaben von Hitlers „Mein Kampf", Vjh. f. Zeit-
gesch. 4 (1956), 171.
407 Vgl. FRIEDRICH KARL FROMME, Der Demokratiebegriff des Grundgesetzes, Die öffent-

liche Verwaltung 23 (1970), 518 ff.

57-90385(1 897
Demokratie VD.Amhliek

Traditioll VOil 1848 und 1919 11t.t1h1mrl11 p11.'rl11.m11ntarisoh-reprö.scntu.tive Volk1111taat,


die „Nicht-Diktatur" zu verstehen sei. CARLO ScHMID bezeichnete sie als die klas-
sische Demokratie (Grundsatzreferat am 8. 9.1948) mit den Merkmalen einer
Gleichheit und Freiheit der Bürger, Trennung der Gewalten und Garantie der
Grundrechte. Diese unscharfe Fixierung des Demokratie-Begriffs auf „westliche"
Staats- und Gesellschaftsverfassungen~ erleichtert durch die Gegenbegriffsbildung
„Volksdemokratie" (1945) in den von der Sowjet-Union beherrschten Gebieten
Europas - verschwand nach der Gleichschaltung der CDUD und LDPD (1948)
in der Sowjetzone. Diese wurde zur „DeutSchen Demokratischen Republik", wobei
„Demokratie"als „sozialistische" im Gegensatz zur „bürgerlichen" begriffen wurde.
Wenn also beide deutschen Staaten sich als „demokratisch" bezeichneten, der
westliche „pluralistisch", „freiheitlich", der östliche „volksdemokratisch", „zen-
tralistisch", so entsprach dem die Tatsache~ daß keine politische Partei auf ihre
Legitimation durch den BegrilT cfor Demokratie mehr verzichten zu können glaubte.
Durch die Gründung der „Christlich-Demokratischen Union" (1945) wurde der alte
Bann gegen eine Verbindung von Christentum und moderner, aus revolutionärer
Wurzel stammenden Demokratie gebrochen, wobei es an vielfältigen Deutungen
und Begriffsbestimmungen nicht gefehlt hat. Selbst die auf dio antidemokratischen
Rechtsparteien der zwanmger Jahre zurückgehende Bammlungspartei kleiner radi~
ka.ler Gruppen bezeichnet sich in Westdeutschland als 'nationaldemokratisch',
nachdem im östlichen Teil Deutschlands schon 1948 eine „Nationa.ldemokratische
Partei Deutschlands" gebildet worden war. Schließlich sprechen im Westen auch
radikale Gruppen der außerparlamentarischen Opposition im Namen der Demo-
kratie, im betonten Gegensatz Zur Demokratie der Bundesrepublik, zum großen
Teil aber auch unter Ablehnung der Demokratie der DDR bzw. der SU. So ist
'Demokratie' zu einem All-Begriff und damit potentiell zu einer „Leerformel"
(Topitsch) geworden, die jeweils verschieden und gegensätzlich gefüllt werden
kann, so daß da.raus abgeleitet werden kann, entweder den Pluralismus verschieden-
artiger Verwirklichungen von Demokratie anzuerkennen oder aber zu bean-
spruchen, Demokratie als „wahre" Demokratie oder im sowjetischen Sinne als
„Demokratie des höheren Typus" absolut zu setzen und ausschließlich zu ver-
treten. Die gegnerische Demokratie pflegt in diesem Falle durch Anwendung von
Gegenbegriffen perhorresziert und als 'undemokratisch' entlarvt zu werden. (Vgl.
hierzu besonders die Verwendung von 'Faschismus' und 'Totalitarismus'.) Diese
deutsche Entwicklung ist nicht allein aus der deutschen Geschichte zu erklären,
sondern steht im weltweiten Zusammenhang der Ausweitung von 'Demokratie'
zu einem „allumfassenden ldolbegriff". Dies festgestellt zu haben, war das Ergebnis
eines von mehreren hundert Wissenschaftlern besuchten Unesco-Symposions 1951,
das zum Ergebnis kam, daß ~ht erstmals in der Gesckiclüe „Demokratie" von
einP,u{Jreicken Vertretern der 'l)eTsckiedensten Richtu1UJen als die eigentliche 1deal-
umsckrei1'u1UJ aller Syst,eme politischer und sozialer Organisation in Anspruch ge-
nommen wurde'08•
WERNER CoNZE
• 08 Democracy in a World ofTensions. A Symposium prepared by Unesco, ed. R. Mo K.BoN,
ST. RoKXAN (Paris 1951), zit. ERICH KüClDCNHOl'I', Möglichkeiten und Grenzen begriff·
Jicher Klarheit in der Staatsformenlehre (Berlin 1967), ~. Dort ausführliches Referat
über das Symposion.

898
VB. Auahlick Demokratie

Literahir
GusTAv H. BLANKE, Der amerikanische Demokratiebegriff in wortgeschichtlicher Beleuch-
tung, Jb. f. Amerikastudien 1 (1956), 41 ff.; JENS A. Cmm!TOPHEBSEN, The Meaning of
„Democracy" as Used in European ldeologies from the French to the Russian Revolution.
A Historical Study in Political Language (Oslo 1966); WILHELM HENNIS, Demokrati-
sierung. Zur Problematik eines Begriffs (Köln, Opladen 1970); CmusTIAN MEIEB, Drei
Bemerkungen zur Vor- und Frühgeschichte des Begriffs Demokratie, in: Discordia concors,
Fschr. EDGAR BoNJOUB, Bd. 1 (Basel 1968), 3.ff.; ders., Die Entstehung des Begriffs
Demokratie, Polit. Vjschr. 10 (1969), 535 ff., jetzt in: ders., Entstehung des Begriffs.
„Demokratie". Vier Prolegomena zu einer historischen Theorie (Frankfurt 1970), 7 ff.;
R. R. PALMER, Notes on the Use of the Word „Democracy" 1789-1799, Polit. Science
.Quarterly 68 (1953), 203 ff.

899
Diktatur

I. 1. Einleitung. 2. Die klassisch-antiquarische Bedeutung und die innere Potenz des


Begriffs. II. 1. Anf"ange der Verwendung von 'Diktatur' als aktuellem politischen Begriff
im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons. 2. Zurücktreten des Begriffs
im Vormärz. 3. Zweite temporäre Ausweitung des Begriffsgebrauchs nach der Revolution
von 1848. 4. Vorherrschaft des Diktaturb!lgriffs seit 1919. III. Ausblick.

I.
I. Einleitung

Das Wort 'Diktatur' gehört ebenso wie der Terminus 'Tyrannis' zu jenen aus der
.Antike überlieferten staatsrechtlichen Begrllfen, denen in der monarchisch-
feudalen Welt des Mittelalters und der frühen Neuzeit keine Wirklichkeit präzis
entsprach. Aber da die Tyrannis von Platon und Aristoteles mit scharfer Betonung
und entschiedener Wertung als naebeßaoi~ der Monarchie behandelt worden war
und da eine Bezeichnung für einen schlechten Monarchen vom Leben selbst ge-
fordert wurde, erfreute sich das Wort 'Tyrann' schon im Ausgang deR Mittelalters
und fast ohne Unterbrechung bis ins 19. Jahrhundert hinein einer außerordentlichen
Verbreitung und Beliebtheit. Der ständische Widerstand gegen den aufkommenden
Absolutismus und der aufklärerische Angriff gegen den „Aberglauben" verwendeten
ebensogem den Terminus 'Despot' bzw. 'Despotismus', und es wäre in der Tat nicht
schwierig, den Kem der Staatsphilosophie von Spinoza, Montesquieu, Helvetius
oder Condorcet in einen Satz zu fassen, in dem 'Tyrannei' oder 'Despotismus' das
logische Subjekt wären. Nichts ähnliches gilt für das Wort 'Diktatur'. Es taucht
stets nur am Rande und - von wenigen Ausnahmen abgesehen - als Bezeichnung
für die römische Institution auf. Aber in der Epoche der Französischen Revolution
gewinnt es den übermächtigen Konkurrenten gegenüber zeitweilig eine Art von
Gleichberechtigung, und nach einem erneuten, wenngleich abermals nur temporären
Raumgewinn um die Mitte des 19. Jahrhunderts verdrängt es sie nach dem Ersten
Weltkrieg fast vollständig, so daß heute 'Tyrannei' eine in der Hauptsache anti-
quarische Bezeichnung darstellt, während 'Diktatur' mit aktueller Bedeutung ge-
füllt ist. Diesen Prozeß der Gewichtsvertauschung, der aber keineswegs ein bloßes
Auswechseln der Bedeutungen zum Inhalt hat, gilt es zu verfolgen1 •

2. Die kl888i.seh-antiqwuische Bedeutung und die innere Potenz des Begrift's


Als charakteristische Darstellung der klassisch-antiquarischen Bedeutung kann
der Artikel „Dictature" des Chevalier DE JAUCOURT in Diderots und d'Alemberts

1 Da der Verfasser keine Umarbeitung des 1966 geschriebenen Artikels mehr vornehmen

konnte, wurden mit seinem Einverständnis einige Anmerkungen zum Zwecke zusätzlicher
Information vom Redaktor hinzugefügt (2a. 4. 5tw. 9. 10. lltw. 15. 18. 19. 26. 32. 36.
39. 44 tw. 46.). - Als einführende Literatur vgl. CARL SCllMl'rr, Art. Diktatur, Staats-
lexikon, 5. Aufl.., Bd. l (1926), 1448 ff.; GusTAv E. KAFKA, Art. Diktatur, ebd., 6. Aufl..,
Bd. 2 (1958), 907 ff. Weitere Literatur s. Anm. 45.

900
L 2. Die klauisch·aatitpmrische Bedeutuag Diktatur

„Encyclopedie" (Ausg. Lausanne, Bern, t. 10/2, 1779, 924ff.) betrachtet werden.


Der Diktator wird beschrieben als magistrat romain cree tant8t par un des consuls
ou par k general d' armee, suivant Plutarque; tant8t par k senat ou par k peupk,
dans des tems difficiles, pour commander souverainement, et pour pourvoir a ce que
la repuhlique ne souffrit aucun dommage (924). Als mögliche äußerste Gefahren
werden Aufstände und Kriege genannt. Um ihnen zu begegnen, wird der Diktator
rev&u de la supr~me puissance (924), di~ ihm das Recht gibt, die Tätigkeit der
anderen Beamten mit Ausnahme der Volkstribunen zu suspendieren, über Leben
und Tod aller Bürger zu entscheiden, nach seinem Ermessen Krieg zu führen usw.
Um so notwendiger aber waren die Einschränkungen einer Gewalt, welche diejenige
der alten Könige weit übertraf, vor allem die Festlegung der Amtsdauer auf sechs
Monate und auch das Verbot, ein Pferd zu besteigen, damit eine Einrichtung
wohltätig blieb, die souveraine et fort voisine de la tyrannie (925) war. Den Übertritt
zur Tyrannei tat Sulla, indem er sich zum dictator perpetuus machen ließ, als
souverain absolu Gesetze gab und despotiquement über die Güter seiner Mitbürger
verfügte (ebd.). Ebenso negativ ist das Urteil über Cäsar, der sich mit Pompeius
um die funeste gloire d'asservir kur patrie (926) stritt. Wenn Augustus auf den
Titel des Diktators verzichtete, so wurde er gleichwohl zum Begründer einer
dauernden Tyrannis, unter der die letzten republikanischen Tugenden dahin-
t1ch wamltm. Da1:1 Gtisamturteil über die ältere Diktatur ist dennoch l!lehr positiv:
durch sie wurden die vom Volk gegebenen Gesetze nicht abgeschafft, sondern nur
zum Schweigen gebracht, und das Ausmaß ihrer Gewalt wurde durch die Kürze
ihrer Dauer kompensiert: Telle etoit l'institution de la dictature: rien de mieux et
de plus sagement etabli, la repuhlique en eprouva long-tems les avantages (926).
Es werden mithin zwei Arten von Diktatur in der römischen Geschichte unter-
schieden: die der Freiheit dienende der jungen Republik und die tyrannische der
Spätzeit; als Kriterium erscheint die zeitliche Begrenzung oder Nichtbegrenzung
der diktatorischen Souveränität, und die Unterscheidung geht Hand in Hand mit
einer sehr prononcierten Bejahung oder Verneinung. Jede Beziehung auf zeitgenössi-
sche Vorgänge, etwa auf die Herrschaft Cromwells, fehlt; unter dem Stichwort
„Dictature" wird eine Eigentümlichkeit des deutschen Staatsrechts angeführt,
nämlich die Versammlung der Gesandtschaftssekretäre am Regensburger Reichs-
tag, welcher vom Sekretär des Kurfürsten von Mainz diejenigen Aktenstücke
diktiert wurden, die offiziell dem Reich zur Kenntnis gebracht werden sollten (vgl.
ScHEIDEMANTEL Bd. 1, 1782, 682). Entsprechend nannte man später zur Zeit des
Deutschen Bundes die amtliche MiUeilttng der Eingaben und Verhandlungen beim
Bundestage an sämtliche Bundestagsgesandtschaften 'Diktatur' (PIERER 4. Aufl.,
Bd. 5, 1858, 122).
Ganz ähnlich wie in der „Encyclopedie" ist der in ZEDLERS „Universallexikon"
erschienene Artikel „Dictator" (Bd. 7, 1734, 796ff.) strukturiert. Auch hier gilt
der Diktator der älteren Zeit als temporärer Souverän, die Diktaturen Sullas und
Cäsars werden wegen ihrer unbegrenzten Dauer Tyrannenherrschaften genannt,
kein Ereignis der jüngeren Geschichte wird als Parallele angeführt, und unter dem
Stichwort ;,Dictatura publica" sind die Regensburger Gewohnheiten beschrieben2•

a Die Macht de& Dictafmia war ganz könj,gZich. Er herrachte a'la ein 1101.weräner Herr. Vorher:
Sylla hat am er11ten 11eine Gewalt gemißbraucliet und Bi,ch eine be&fiindj,ge Dictamr ••• ange-

901
Diktatur I. 2. Die ldassisch·antiqwuüehe Bedeutung

Dieser klassisch-antiquarische Begriff, der vor allem in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts die Fachgelehrten beschäftigte2•, ist ein Gewächs des Kultur-
kreises im ganzen. Für die große Mehrzahl der Konversationslexika bleibt er bis
ins 20. Jahrhundert bestimmend. :Pie alte Genauigkeit im einzelnen geht jedoch
durchweg verloren, der Unterschied der beiden Arten der Diktatur wird oft mehr
konstatiert als bewertet; aber :noch in der 3. Auflage des MEYER.Sehen Lexikons
von 1875 wird das Stichwort „Diktator" ohne jede aktuelle Bezugnahme behandelt,
und unter „Dictatura publica" (Bd. 7, 799) erscheint nach wie vor das Verfahren
des ehemaligen Reichs- bzw. Bundestages3 •
So beweist schon ein flüchtiger Blick auf die Enzyklopädien, daß das Wort 'Dikta-
tur' bis zur Jahrhundertwende im wissenschaftlichen Sprachgebrauch über die
antiquarische Bedeutung nicht hinausgekommen ist4• Umso dringlicher wird die

ma88et ••• 8yllae Exempel folgte Juli'U8 Gaeaar, der es aber noch achlimmer '171(/,Chf,e ala Sylla,
denn er machte aich nicht aUein zum -perpetuo dictatore, aundern auch zum Bürgermeiater und
Praefecto morum zugleich; ZEDLER Bd. 7 (1734), 798. Die „Deutsche Encyclopädie", Art.
Dicta.tur (Bd. 7, 1783, 255 ff., verfaßt von dem Regensburger Gymnasialrektor Professor
Jon. PmLIPP ÜSTERTAO) hat nicht nur die dauernde, sondern a.uoh die befristete Di\to.tur
bereits sehr viei kritischer beurteilt: Die.11e Wilrde der Didat1'r war dem Volke allzeit verhaßt,
daa aie ala eine Erfi,ndung der Sf.aatakunat anaah, die ihm Schrecken einjagen und es zur
Knechtachaft gewöhnen aollte (258). Die Einführung der Diktatur, um eine militärische Krise
zu Wf'.nden, sei vom Senat nur z1~ Vorwand gebraucht worden, aein u'"'hrer Beweggrund
habe darin gelegen, das Volk der Adelsherrschaft zu unterwerfen. Die antithetische Inter-
pretation der befristeten und der dauernden Diktatur wird da.mit bereits unterlaufen.
2a Nach Lipentills sind zwischen 1648 und 1697 nicht weniger als sechs Hochschularbeiten

über die römische Diktatur erschienen, fast alle im Reichsgebiet. Dagegen wird für das
18. Jahrhundert nur eine einzige Arbeit von 1783 nachgewiesen; MARTIN LIPENTIUS,
Bibliotheca realis iuridica, Bd. 1 (Leipzig 1757), 395; Suppl •• Bd. 3, hg. v. L. G. Madihn
(Preßburg 1816), 480. Wie wenig dagegen die moderne Staatsrechtslehre an dem Begriff
'Diktatur' interessiert war, läßt sich da.ran ablesen, daß die Staatslexika bis in die jüngste
Zeit hinein in der Regel einen entsprechenden Artikel nicht aufführen, wenn man von
RoTTEOK/WELCKER (s. s. 910f.), WAGENER (Bd. 6, 1861, 377 f.), der sich auf den römisch-
rechtlichen Begriff beschränkt, und dem Herderschen „Staatslexikon" (s. Anm. 1) einmal
absieht. BLUNTSCHLIS Artikel „Absolute Gewalt" und „Nothrecht" im BLUNTSCHLI/BRATER
enthalten einige konstitutionelle Bemerkungen zum staatsrechtlichen Begriff (Bd. 1, 1857,
11; Bd. 7, 1862, 337 f.).
1 Es ist kennzeichnend, daß noch in der Auflage der „Encyclopaedia Britannica" von 1902

das Stichwort „Dictatorship" überhaupt fehlt, während sich unter „Diaz" eine recht wohl-
wollende Darstellung des mex:ilmnischen Alleinherrschers findet. Dagegen bringt BROCK-
HAUS 14. Aufl., 3. Neuausg., Bd. 5 (1908), 226 nach dem Referat der genannten historischen
Bedeutungen bereits das moderne Verständnis: Gegenwärlig verateht man unter Diktatur und
diktatoriacher Gewalt überhaupt eine in ihren Befugniaaen ganz oder doch größtenteils wnbe-
achränkte, nicht auf dem geltenden 8taatarechte beruhende Macht, welche aich über die verfaa-
BUngamäßigen Autoritäten atellt.
' Über die Wortgeschichte von 'Diktatur' und seinen Vcrwandtcn im -Deutschen ist wenig
bekannt. Bis in die jüngste Zeit hinein blie:ben die Worter 'Diktatur', 'Diktator' und 'dik- ·
tatarisch' - ·der Lehrtradition der deutschen Philologie entsprechend, die den Wörter-
büchern der deutschen Sprache nur Wörter aus germanischer Wurzel vorbehielt - in die
Fremdwörterbücher verbannt. Als Erstbelege sind mit aller in der Wortforschung ange-
brachten Vorsicht folgende Stellen anzusehen: Der älteste bekannte Beleg für 'dictator' in

902
1. 2. Die ldassisch antiquari8ehe Bedeutung
0 Diktatur

deutschem Kontext stammt aus der Vergilius-Polydor-Übersetzung des .ALPmus (1537):


dicmtor, das i8t, obrigoster gwaUhaber. Da.mit wurde 'dictator' mit einem deutschen Wort
gekoppelt, das, entsprechend der jeweiligen Bedeutung von 'gewalt', viellaltig schillerte
und staatsrechtlich-institutionalisiert, privatrechtlich (auch im Sinne von „Stellvertreter,
Beauftragter") oder---,. jünger - ganz allgemein im Sinne von „Träger von potestas" ge-
braucht werden konnte (WUNDERLICH 1898). 'Diktator' konnte offenbar in mehreren dieser
drei Bedeutungen von 'Gewalthaber', die überhaupt vielfach ineinander übergehen, ein-
treten: während der zitierte Alpinus-Beleg die jüngere Allgemeinbedeutung bringt, findet
sich ein Beleg aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, der die erste, institutionalisierte Bedeu-
tung hat: ZESEN übersetzte 'Diktator' mit Oberrichter (1648), so wie schon 1534 u. ö. DASY-
PODIUS [d. i. PETER RAUHFUSS] 'Gewalthaber' als öffentlichen Amtsträger bestimmte:
gewalthaber recht ze sprechen, praetor. 'Dictatur' steht in deutschem Text in der Sa.llust-
Übersetzung des DIETRICH VON PLENINGEN (1515), und SEBASTIAN FRANCK definierte
1534 T>i,rJ,atur als die körluit gewalt •.• / tHm dP.rn nit z1i awlli.e.ren was, uncl Di.ctator a)R der
öberst rrw,gi8trat /an den aU sach langet und sich endet. Zwei Jahre später flektierte PoLYCHO-
RIUS [d. i. JAKOB VIBLFKLÜ] 'D,iktator' deutsch, das sicherste Zeichen der beginnenden
Eindeutschung: CamiUi des Dict,ators. Für 'diktatorisch' fehlen frühe Belege (gegen DUDEN
1963); erst für 1735 bringt GoMBERT einen Nachweis aus der Wochenschrift „Schw~er"
(diktatori8ches Ansehen). CHRISTIAN WEISsES dictatoria voce (1673) innerhalb des deutschen
Textes gehört in den Rahmen der zeitüblichen Fremdwortprunkerei, und die übertragene
Verwendung des Wortes (hier im Sinne von „gebieterisch") wird damals wie später neben
der engeren fachlichen hergelaufen sein.
CAMPE, in dem die Sprachreinigung zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch ei.iunal. einen
Höhepunkt erreichte, nahm für sich in Anspruch, für 'Diktator' die Verdeutschung Macht-
sprecher, von Machtspruch gebilde,t, ••. vorgeschlagen zu haben (1801); jedoch hatte bereits
1735 Pm.LlPPI - auf Sulla. bezogen - 'dictator' mit Machtsprecher übersetzt. Campe bil-
dete dazu die Ableitungen Machtsprecherwürde für 'Diktatur' und machtsprecheri8ch für
'diktatorisch'. Der 'Machtspruch' (dictum regentis) war im Verständnis des 18. Jahrhun-
derts die außerordentliche Entscheidungsgewalt des absoluten Fürsten, ein Ausspruch in
. einer streitigen Sache, ohne andere Bewegungsgründe als die Macht, wekhe man besitzet oder zu
besitzen glaubt, uns seine Urteile als Wahrheiten aufzudringen (ADELuNG 1798). Der 'Macht-
spruc}i' setzte also einen Oberherrn voraus, der unge?neBsene Gewalt hat, eine Sache nach Be-
lieben zu entscheiden, mit.andern Worten, einen Des]XJten (SCHEIDEMA.NTEL 1793). Es wird
da.raus deutlich, daß sich für den überzeugten Republikaner Campe in der Verwendung des
Wortes 'Machtsprecher' seine kritische Haltung gegenüber dem Absolutismus nieder-
schlug. Das Wort selbst hat sich jedoch, entgegen Ca.mpes Beteuerung, es sei hiiufi,g ge-
braucht~ nicht eingeführt, wenn es auch in einigen Wörterbüchern als Übersetzung für
'Diktatur' weiterhin erschien, so bei CA.TEL (1801), Mozm (1811) SCHWEIZER (1835, s. Anm.
11) und noch KALTSCHMIDT (1869). Der Bedeutungsgehalt von 'Machtspruch' jedoch er-
hielt sich im Begriff 'Diktatur'. wie SclrwEIZER (1835, s. Anm. 11) und BROCKHAUS (1908,
s. Anm. 3) beweisen, und bereitete so die Aktualisierung dieses Begriffs vor. - HERMANN
WUNDERLICH, Art. Gewalthaber, GRIMM Bd. 4/1, 3 (1898), 510 ff.; MABcus TATIUS .ALP1-
NUS, Von den Erfindern der ding (1537), 33b [ = VERGILIUS Poi.YDORUS, De inventoribus
rerum (1499), dt.], zit. ebd., 5107; PmLIPP v. ZESEN, zit. HuGo HARBBECHT, Verzeichnis
der von Zesen verdeutschten Lehn- oder Fremdwörter, Zs. f. dt. Wortforsch. 14 (1912/13),
73; DASYPODIUS, zit. WUNDERLICH, Gewalthaber, 5107; D:q:TRICH VON PLENINGEN, Des
hochberompten ... Salustij zwo schon historien: Nemlichen von des Catilinen und auch des
Jugurten Kriegen (Landshut 1515), M 2", zit. FR!EDRICHWEIGA.ND, Deutsches Wörterbuch,
5. Aufl. (Gießen 1909), 357; SEBASTIAN FRANCK, Weltbuch: spiegel und bildtniß des ga.ntzen
erdbodens (Tübingen 1534), 75•; PoLYCHORIUS, zit. ALBERT GoMBERT, Bemerkungen und
Ergänzungen zu Weiga.nds Deutschem Wörterbuch, in: 8. Schulprogramm (Groß-Streh-
litz 1896/97), 5; DUDEN, Etymologie (1963), 110 behauptet die Eindeutschung ohne Beleg

903
Diktatur L 2. Die kJassiaeh-antiqwuisehe Bedeutung

Frage, welches die inneren Qualitäten des Begriffes waren6 , die ihm das Schicksal
von Wörtern wie 'Tribun' oder 'Triumvir' ersparten, so daß er seit der Französischen
Revolution an den Knotenpunkten der politischen Geschichte Verwendung fand
und nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Art von Alleinherrschaft gelangte. Es

für das 16. Jahrhundert; „Schwärmer", zit. GoMBERT, Bemerkungen, 5; CHR. WEISSE,
Die drey ärgsten Ertz-Narren in der gantzen Welt (1673; Ndr. Halle 1878), 85, vgl. HECH-
TENBERG (1904), 47; CAMPE, Fremdwb., Bd. l (1801; Ndr. 1808), 254; Bd. 3 (1809), 68;
JoH. ERNST l'mLlPPI, Cicero ein großer Windbeutel, Rabulist und Charletan (Halle 1735)
[= CICERO, Orationes, dt.], zit. GoMBERT, Bemerkungen, 5; ADELUNG 2. Aufl., Bd. 3
(1798), 10; SCHEIDEMANTEL Bd. 3 (1793), 340, vgl. ZEDLER Bd. 19 (1739), 1384 und für das
Weiterleben als juristischem Fachterminus im 19. Jahrhundert PIERER 4. Aufl., Bd. 10
(1860), 668; CATEL Bd. 2 (1811), 68; Mozrn, dt. TI., Bd. 1 (1811), 262; JAKOB HEINRICH
K.ALTSCHMIDT, Geeammt-Wörterbuch der deutschen Sprache, 5. Aufl. (Nördlingen 1869),
571. Zur Eindeutschung vgl. auch CARL SCHMITT, Die Diktatur. Von den Anfangen des
modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf (1920; 3. Aufl.
Berlin 1964), 4 ff. R. STUMPF
6 Vielleicht darf der Terminus 'dictamen rationis', der in der ganzen rationalistischen Phi-

losophie verbreitet ist - vgl. SCHMITT, Diktatur, 10 f. - in diesem Zusammenhang Er-


wähnung finden. Vgl. z.B. CHAUVIN, Lex. philos. (1713), 183: Diclamen rectae rationis, Beu
dictamen practicum, e.a eJit propo.~il'in, q11M 11.d acJ.u,a d.eliberatos praerequiritur, et aliquo modo
viam munit ac '11UJ'Tl,8trat ad actuum futurorum determinationem. Das praktische Diktat zielt
sowohl auf die private wie auf die allgemeine Glückseligkeit, aber ebenso dient es der Herr-
schaft. Quandoque. autem in forma imperii: acl'U.a, qui intra tuam eat poteatatem, ad commune
bonum in datis circumatantiis, omnium quoB posBis elicere, maxime deaerviena, eliciatur. Daß
die Vernunft auch im politischen Bereich eine diktierende Macht ist, wird 1796 auch von
FRIEDRICH SCHLEGEL im „Versuch über den Begriff des Republikanismus" ausgesprochen:
Die lconatitutive Macht ist notwendi,g diktatarisch, d. h. der „Vernunft" entsprechend; SW
1. Abt., Bd. 7 (1966), 18. Wie der Zusammenhang mit der Parallelisierung der politischen
Machtbereiche und der Erkenntnisvermögen zeigt, ist die Äußerung jedoch spekulativ und
nicht im engeren Sinne politisch zu verstehen. In der Philosophie des deutschen Idealismus
spielt der Begriff der Diktatur keine Rolle. Weder in RUDOLF EISLERS „Kant-Lexikon"
(1930; Ndr. Hildesheim 1969) noch in HERMANN GLOCKNERS „Hegel-Lexikon" (HEGEL,
SW Bd. 23-26, 1935/39) wird, trotz gelegentlicher Verwendung, eine Stelle nachgewiesen.
Fichtes Begriff des „Zwingherrn" gehört nur der Sache nach, aber nicht sprachlich in den
Zusammenhang. Typischen Charakter hat die Wendung bei KRuG Bd. 1 (1829), 516, die
Philosophie erkenne keinen legitimen Dictator, sondern nur die dictamina rationis an. Im-
merhin mag die Frage erlaubt sein, ob nicht diese sprachlich und politisch schwer greifbare
philosophische Tradition dazu beigetragen hat, dem Marxschen Begriff der Diktatur des
Proletariats die eigentümliche Färbung zu verleihen (s. u.S.916ff.). LASSALLES Ronsdorfer
Rede (1864) bezeugt jene Diktatur, die als geschichtsphilosophische Kategorie aus dem
deutschen Idealismus ableitbar ist. Die Bildung des Volkes, seine Einheit und Disziplin im
Arbeiterverein böten die Garantie dafür, daß sich Freiheit und Autorität nicht mehr aus-
schlössen. Deshalb müsse der Wille aller in einen einzigen Hammer zusammengeschmiedet
werden; dieser Hammer müsse in die Hände eines Mannes gelegt werden, zu dessen Intelli-
genz, Charakter und gutem Willen die Arbeiter das nötige Zutrauen hätten. Lassalle ver-
steckt dabei seinen persönlichen Anspruch auf die Diktatur hinter dem Geist BtrengBter Ein-
heit und Disziplin im Verein, der die helle Erkenntnis enthalte, daß nur durch die Diktatur
der Einaicht, nicht durch die Krankheit dea individuellen Meinena und Nörgelna, die großen,
gewaltigen Übergangaarbeiten der Geaellachaft zu bewerkstelli,gen Bind/; Ges. Reden u. Sohr.,
Bd. 4 (1919), 224 ff., bes. 225. 227.

904
L 2. Die ~-autitfuarische Bedeutung Diktatur

scheint, daß in ihm zwei Probleme von allgemeinster Bedeutung zum Vorschein
kamen und daß er von einer Tatsache profitierte, die bis zum Beginn des 19. Jahr-
hunderts unübersehbar war. Es handelt sich um die Probleme des Verhältnisses
von Souveränität und Begrenzung bzw.· von Freiheit und Zwang und um die
Tatsache der Vorbildlichkeit des Römischen. Die Wichtigkeit dieser drei Momente
läßt sich am Werk von drei politischen Denkern aufweisen, in deren Werken der
Begriff der Diktatur eine mehr als nur beiläufige Rolle spielt.
NwcoLo MACHIAVELLI hat im 34. Kapitel des ersten Buches der „Discorsi sulla
prima deca di Tito Livio" (1531) ausdrücklich von der Diktatur gehandelt und ihr
Wesen schon in der 'Oberschrift in eine enge Beziehung zur Freiheit gesetzt:
L' autorita dittatoria fece bene e non danno alla Repubblica rom.ana; e come le aut01·ita
ehe i cittadini si tolgono, non quelli ehe sono loro dai suffragi liberi date, sono alla vita
civile perniziose6 • Als Paradigma der usurpierten Autorität erscheinen gerade die
Diktaturen Sullas und Cäsars, die aber nach Machiavellis 'Oberzeugung nur den
Namen mit der eigentlichen Diktatur gemein haben und in Wahrheit Tyrannen-
herrschaften waren 7• Wo dagegen die Diktatur zum Schutz der Freiheit übertragen
und angenommen wurde, war sie immer wohltuend für die Stadt. Diktatur und
Republik sind voneinander schlechterdings unabtrennbar, die Diktatur ist nichts
anderes als ein Panzer qer Freiheit in gefährlichen Situationen: E pero concliiudendo
dico ehe quelle repubbliche le quali negli urgenti pericoli non hanno rifugio o al
Dittatore o a simili autoridadi, sempre ne' gravi accidenti rovineranno 8 • Wenn
Machiavellis Hauptwerk gleichwohl den „Principe" zum Gegenstand hat, also
den Tyrannen, so kommt in diesein Gegensatz Machiavellis abgründiger Pessimis-
mus zum Vorschein, der es ihm unmöglich macht, dem verderbten Geschlecht der
Gegenwart die römischen Institutionen auch unter praktischen Gesichtspunkten
als Vorbilder zu empfehlen.
Für JEAN BomN ist im achten Kapitel des ersten Buches der „Six livres de la
republique" (1577) die Diktatur der Punkt des Anstoßes, von dem aus er seinen
Begriff der Souveränität gewinnt. Denn die zeitliche Begrenzung der Diktatur
bedeutet, daß sie einem Auftraggeber untersteht, mithin kommissarisch ist. Da
Bodin aber ein unableitbares Prinzip staatlicher Befehlsgebung sucht, müssen
Souveränität und Begrenzung einander ausschließen: En quoy il appert que le
Dictateur n'estoit ny Prince, ny Magistrat souverain, comme plusiers ont escrit, et
n'avoit rien qu'une simple commission pour faire la guerre,oureprimer la sedition, ou
reformer l'estat, ou instituer nouveaux offiCiers. Or souverainete n'est limitee, ny en

• Die dikf.atoriache Gewalt brachte der römiachen Reyuhlik Vorteil, nicht Schaden. Gefährlich
für ifus Sta.at8leben ist die Gewalt, die ein Bürger an sieh reißt, nicht die, welche ihm durch
freie Wahl erteilt wird; MA.OHIAVELLI, Disoorsi 1, 34, dt. v. Friedrich v. Oppeln-Bronikowski,
2. Aufl., hg. v. Erwin Faul (Köln, Opladen 1965), 79.
7 Zugleich erhebt sich Machiavelli über eine naive Gleichsetzung von semantischen Be-
zeichnungen und Sachlagen: Hätte in Rom der Diktatortitel gefehlt, so bßtte man einen andern
gefunden, denn die Macht schafft sieh leicht ihren Namen und nicht der Name die Macht;
ebd., 80.
8 Ich ziehe daher den Schluß: Die Reyuhliken, die in dringender Gefahr nicht zur Diktatur

oder zu einer ähnlichen Gewalt ihre Zuflucht nehmen, werden bei schweren Ereigniasen stets
zugrunde gehen; ebd., 81.

905
Diktatur

puissance, ny en charge, ny a certain temps 9 • Vom Diktator ausgehend, eliminiert


Bodin alle anderen Ämter bis hin zum Regenten, so daß schließlich nur der o.booluto
Monarch als Inhaber der Souveränität übrig bleibt. Freilich ist es nicht Bodins
Absicht, jede Art von Begrenzung aus dem Begriff der Souveränität zu entfernen:
der Gehorsam gegenüber den „Gesetzen Gottes und der Natur" unterscheidet den
gerechten König vom grausamen fyannen, als dessen Prototyp auch hier Sulla
genannt wird. Man könnte also sagen, daß für Bodin der absolute Monarch der
von Gott beauftragte Diktator ist.
RoussEAU widmet der Diktatur im „Contrat social" das sechste Kapitel des
vierten Buches (1762). Es steht nur scheinbar in einem antiquarischen, den römi-
schen Institutionen gewidmeten Zusammenhang. Schon die Tatsache, daß fast
unmittelbar das berühmte Schlußkapitel „De la religion civile" folgt, gibt zu
erkennen, daß die römischen l!Jmnchtungen für den l:!ohn der .H.epublik Uenf auch
hiP.r P.inP.n flnrchaus aktuellen Vorbildcharakter haben. Die , generalisierende
Ausdrucksweise des Kapitels wirkt in die gleiche Richtung: Que si 'le peril est tel
que l'appareil des lois soit un obstac'le as'en garantir, alors on nomme un ehe,/ suprhne
qui jasse taire toutes les lois et suspende un moment l' autorite souveraine. En pareil
oos, la volonte genera'le n'est pas douteuse, et it est evident que la premiere intention
du peup'le est que l'Etat ne perisse pas. lJe cette maniere, La suspension de l'autorite
T.l.g·1:sfoJ1i·11e. ne. l' 1ilwl·1'.t pvint: k 11iag-il1trat qui la fait taire ne peut la faire parler,· il la
domine sans pouvoir la representer; il pe'Ut to'Ut faire, excepte des lois. Voraussetzung
der echten Diktatur ist mithin das zweifelsfreie Vorliegen eines Ausnahmezu-
standes. Ihr Wesen ist die Selbstbeschränkung auf die Abwehr eines konkreten
Notstandes, ihr Kennzeichen ist die restaurierende Suspendierung der legislativen
Gewalt. Wo die Diktatur über das zeitliche Minimum ausgedehnt wird, wo sie
einem dauernden Notstand begegnen zu ,müssen vorgibt, wo sie gesetzgebend auf-
tritt, wird sie tyrannique ou vaine. Diktatur und Tyrannis sind also für Rousseau
dem Erscheinungsbild nach einander benachbart, ihrer Natur nach aber schroff
entgegengesetzt, da die eine die Dienerin, die andere die Zerstörerin der öffentlichen
Freiheit ist1 o.

• JEAN BODIN, Les six livres de la republique (Ausg. Paris 1583; Ndr. Aaleri 1961), 123 f.
In lateinischer Fassung: Quibua verbis planum fit dicf,afm'em, neque principem, neque aum-
mum fuiase magiatratum,. ut plerique putarunt; sed oorafm'em, quem nostri commissarium
vocant: nec aliud i1li tributum juisse, praeter curationem beUi gerendi, aut sediti,onis sedandae,
aut Reipub. constituendae, aut magistratuum creandorum, aut claui figendi. Maiestas vero nec
maiore potestate, nec legibua uUiB, nec tempore definitur (Ausg. Ursellis 1601, S. 125); und in
der deutschen Übertragung der „Respublica" von Johann Oswaldt (Mömpelgard 1592),
86 („Von der hohen Oberkeit" = „De iure maiestatis"): Darauß dann leichtlich zu verste-
hen / daß der Dictafm' zu Rom weder Herr noch hohe Oberkeit / wie der mehrer theil wöhnen
wiU / sondern allein derselben oorstaender / oder wie wirs jetzt nennen/ Oommüsariua gewesen
sey /dann sie zu anderm nicht/ als Krieg zu führen/ die Auffnihrn zu stillen/ das Regiment
zu bestellen / und neue Amptleut zu machen/ erwehlet 'IDUrden: Da sonsten.der hohen Oberkeit
wl!lkr Gesatz 1WCh utt f1lrgeschrßen /noch eltt Heft' ubt1' den Halß gesetzt werden katt / 8&11.-
dern sie ist uber alle. Vgl. ferner Buch 3, Kap. 3, wo Bodin auch philologische Ableitungen
des Diktatorbegrüfs anbietet.
10 Eine vergleichbare unmittelbare Beziehung auf eine gegenwärtige Einrichtung liegt bei

MoNTESQUIEU im dritten Kapitel des zweiten Buches des „Esprit des Lois" vor, wo in
einem Atemzug von den Diktatoren Roms und den inquisiteurs d' Etat Venedigs gesprochen

906
D. 1. 'Diktatur' als aktueller politischer Begriff Diktatur

n.
1. Anlange der Verwendung von •Diktatur' als aktuellem politisthen Begrlft' Im
Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons

Die Voraussetzung für das Eindringen des römischen Paradigmas in die politische
Praxis war der Sturz der traditionellen Monarchie, aber dieser Sturz war umgekehrt
wiederum das Werk von Männern, die sich von den Werken der römischen Historie
und Rhetorik genährt hatten. Die Französische Revolution bedeutet auch für das
Wort 'Diktatur' den Übergang aus der Sphäre der Literatur in die Sphäre des
Lebens 11• Einen Monarchen von Gottes Gnaden hatte man 'Tyrannen' oder

wird. Im „Dia.logue de Sylla et d'Eucra.te" und in den „Considera.tions sur les ca.uses de la.
. grandeur dAS H.omains et leur decadence" Wl.l'd der Begriff ganz im antiquarisch-kla.sslschen
Sinne gebraucht. Für weitere Hinweise auf einen zeitgenössischen Gebrauch des Diktatur-
begriffs im 16. und 17. Jahrhunderts. SCHMITT, Diktatur, 28. 33. Bei Leibniz und Herder
.findet sich ein Sprachgebrauch der Diktatur, der per negationem zeitgenössisch aktuell
war: LEIBNIZ schildert in seinem „Bedenken, welcher Gestalt Securitas publica interna im
Reich auf festen Fuß zu stellen", was aus dem st.ändischen Reich würde, wenn ein Regi-
mentsrat bestellt würde: bald würde sich eine Oligarchie bilden, aus der sich ein Meister
emporschwänge. Denn zugkich 008 aerarium und milea demae1ben anhängig wäre, und er da-
durch perpetuus dictat<>r oder ein absoluter Monarch werden würdf,; AAR. 4, Bd. 1 (1931),
136. liERDER stellt fest, daß eine deutsche Geschichte nicht im Sinne der antiken Historie
verfaßt werden könnte. Eine Kaiserhistorie zum Beispiel gebe nichts her, da Deutschland
kein Schauplatz des Despotimnus oder der Diktatur gewesen sei; Ueber die Reichsgeschichte:
ein historischer Spatziergang,. Kritische Wälder, 3. Wäldchen (1769), SW Bd. 3 (18.78), 467.
Schließlich findet sich 1779 bei W. L. WEKHRLIN, Febronius, eine politische Kontroverse,
Chronologen 3 (1779); 35 ff. der seltene Fall einer Übertragung des Kanzleisprachgebrauchs
von 'Diktatur' (speziell von Gregor VII.) auf die politische Herrschaftsfunktion: Wekhrlin
unterstellt in einem fiktiven Gespräch zwischen Gregor VII. und Clemens XIV. dem ersteren
die Forderung, daß der Papst immer das Schwert entblößt vor sich hertragen solle, da er
zugleich als Konsul und als Dictator der Christenheit zu handeln habe (ebd., 39). Eine be-
kannte Übertragung des klassischen Gebrauchs auf die Gegenwart ist die vorübergehende
Ernennung des rangjungen Generals von Wedell zum „Diktator" durch FRIEDRICH DEN
GROSSEN im Siebenjährigen Krieg: Der Generalkutnant von W edell stellet bei der d<>rtigen
.Armee v<>r, was ein Dictat<>r bei der Römer Zeiten v<>r&telkte . .Also müssen alk und jede Offi-
ciers, sie mögen Namen haben, wie sie wollen, ihm den schuldigen Geh<>rsam geben, welcher
mirzukammet; Handschreibendes Königs an Wedell v. 20. 7. 1759, zit. Die Werke Fried-
richs des Großen, hg. v. GusTA.V BERTHOLD VoLZ, Bd. 4 (Berlin 1913), 187, Anm. 1.
11 Innerhalb des deutschen Bereichs mag als Beispiel für die Verschärfung der politischen

Auseinandersetzungen, in deren Rahmen auch das Wort 'Diktator' eine aktuellere und
polemischere Verwendung findet, eine 1790 erschienene anonyme Schrift „Wiederhall aus
der deutschen Lese-Welt auf des Herrn Hofrath Schlözers Ausruf von Büchern na.ch einem
Höllen-Plan" dienen. Darin heißt es: Besinne sich der Herr H. R. Schlözer, daß er in der
deutschen Leiiewelt bei weitern keine entscheidende Stimme, noch weniger zu einem Dictator-
Ton die geringste .Anlage ••• habe. Bereits fünf Jahre früher ist in der „Deutschen Encyclo-
pädie" mit deutlicher Beziehung auf die Fanatiker bestimmter Schulen der Aufklärung
von Dictatorsprüchen sowie Universalarzneien die Rede, denen. der weise Gesetzgeber. sich
widersetzen müsse; Art. Freiheit, Bd. 10 (1785), 509 f. Im Artikel „Dictator(' registriert
die „Deutsche Encyclopädi~" bereits die Ausweitung des Bedeutungsfeldes über das Staats-

907
Diktatur ll. 1. 'Diktatur' als aktueller politischer Begriff

'Despoten' nennen können; aber es wäre in Anbetracht der zeitlichen Befristung


einer Diktatur absurd gewesen; ihn als 'Diktator' zu bezeichnen12 • RonEsrmn.n.E
dagegen begegnete schon sehr bald der Vorwurf, ein Diktator zu sein oder minde-
stens nach der Diktatur zu streben13, und dieser Vorwurf hatte eine beträchtliche
politische Tragweite, wie die Heftigkeit beweist, mit der er seine Feinde anklagte,
die ihn in London der französischen Armee als Diktator denunzierten und in Paris
die gleichen Verleumdungen gegen ihn verbreiteten14• Es ist nicht ohne weiteres
einzusehen, weshalb Robespierre die Bezeichnung als Verleumdung empfand, hatte
doch MARAT ganz offen eine plebiszitäre Diktatur gefordert15, und lag doch die

rechtliche hinaus, indem dictatorisch jeder Satz oder Ausspruch genannt wird, bei welchem
kein11 Griind11 ang11g11b11n w11rd1m, iiiarum man ihn für u:ahr odar 'llarbindliok halton mü{Jto:
Bd. 7 (1783), 259 (vgl. Anm. 2). CAMPE (1801; Ndr. 1808) hat das Adjektiv mit macht-
tJpr'echerisch, aber auch mit herritJch und gebieteritJch eingedeutscht (vgl. Anm. 4). Tn die.~em
Sinne dringt die Bedeutung in die politische und soziale Alltagssprache, so daß etwa J. C.
SCHWEIZERS „Fremdwörterbuch", 4. Aufl. (Zürich 1835), 133 feststellen kann: Jetzt bedeu-
tet es (das Wort 'Diktator') bisweilen auch einen Mann, der verlangt, daß man seinen M einun-
gen sogleich beistimme, Beinen ÄUBBpriichen in allem gemäß handle und seine Behauptungen
ohne weiteren Beweis für wahr und richtig erkenne. Es ist jener Sprachgebrauch, gegen den
aioh im Borcich der Philosophie Kant und in seinem Gefolge auch Krug gewehrt haben, der
sich aber im Kampf der politischen Ideologien seit der Französischen Revolution offenbar
?.. T. durchgesetzt hat.
12 Vgl. aber Anm. 10, wo Leibniz einen absoluten Monarchen mit dem Dictator perpetuus

im römischen Sinne gleichsetzt.


13 BRUNOT t. 9/2 (1937), 738.
14 ROBESPIERRE, Rede vom 13. Messidor, zit. PHILIPPE-JosEPH BucHEz/P.-C. Roux,

Histoire parlementaire de la Rev-olution fran9aise, t. 33 (Paris 1837), 320 ff., bes. 323.
16 FRAN901s .ALPHONSE AuLARD, Histoire politique de la Revolution fran~ise (Paris 1909),

418; vgl. BRUNOT t. 9/2, 738. In Deutschland erregte WIELAND größtes Aufsehen, als er
1798, anderthalb Jahre vor dem 18. Brumaire, im zweiten seiner „Gespräche unter vier
Augen" (Der Neue Teutsche Merkus 1, 1798, 259 ff.) die Forderung nach einem Diktator •••
oder Lord-Protekror oder Protarchon, oder wie ihr ihn sonst nennen wollt, für die durch Par-
theyen und Fakzionen zerrissene Demokratie erhob und dabei unzweideutig Napoleon Bona-
parte im Auge ha.tte. Das Vorbild der Diktatur suchte Wieland in Rom, in einem ad hunc
actum ernannten Diktator; aber die Befristung definierte er offen: solange als er es aUBdauert,
womit der Überga.ng vom kommissarischen zum souveränen Diktator definiert war. Er
solle in Wielands Worten zugleich offen und verschlossen, sanft und heftig, geschmeidig und
hart, mild und unerbittlich, jedes zu seiner Zeit, kurz ein Mann Bein, wie es in jedem J ahrhun-
dert kaum einen gibt und dessen GeniUB alle andre in Respekt zu halten und zu überwältigen
wüßte. Ein anderer als ein Bokher könnte euch, in der außerordentlichen Lage, in welche die
Revoluzion euch geworfen hat, nichts helfen; ebd., 285. 287 f. 286. Später fügte Wieland in der
öffentlichen Auseinandersetzung noch hinzu: Er könnte sogar, in streng moralischem Sinn,
ein sehr böser Mensch sein, ohne daß ich ihn darum für weniger tauglich hielte, als Dictator
oder Erster Konsul Frankreich zu retten; Meine Erklärung über einen im St. James Chro-
nicle, Janua.ry 26, 1800 abgedruckten Artikel, ebd. 1 (1800), 243 ff., bes. 271. Vgl. hier,1;u
im einzelnenFRrr7.MARTINI, Wieland, Napoleon und die Illuminaten. Zu einem bisher un-
bekannten Briefe, in: Un dialogue des na.tions, Melanges ALBERT FucHS (München, Pa.ris
1967), 65 ff.
Schon 1796 ·hat FRIEDRICH SCHLEGEL in seinem , ,Versuch über den Begriff des Republika-
nismus" (SW 1. Abt., Bd. 7, 1966) auf die Möglichkeit einer republikanischen Diktatur

908
11.1. 'Diktatur' als aktueller politischer Begriff Diktatur

Gefahr, in welcher die Republik schwebte, offen vor aller Augen. Aber ganz unver-
kennbar empfand die große Mehrzahl der Abgeordneten selbst des Konvents sehr
viel stärker die Nähe des Begriffs zu dem 'Tyrannen' als seine Herkunft von der
altrömischen Institution, die Machiavelli und Rousseau so sehr gelobt hatten. Es
war daher nur konsequent, daß Robespierre immer wieder mit Catilina, mit Bulla
oder mit Cromwell verglichen wurde. Das Wort 'Diktatur' wurde zu einer all-
mächtigen Waffe in der Hand seiner Gegner und nicht zuletzt einiger Dezemvirn,
denen er ja juristisch nicht übergeordnet war. So war seine letzte Rede im Konvent
am 8. Thermidor 1794 zu einem guten Teil der Apologie gegen den Vorwurf ge-
widmet, er erstrebe die Diktatur. Sie verhinderte es jedoch nicht, daß er am folgen-
den Tage unter den Rufen „A bas le tyran", „Mort au tyran" verhaftet und wenig
später unter den gleichen Rufen zur Guillotine geführt wurde. Dem gleichen Ruf
der Volksvertreter sah sich vier Jahre später am 18. Brumaire NAPOLEON BONAPARTE
konfrontiert, und es fehlte nicht viel, daß auch ihm das Schicksal seines Vurgäilgers
bereitet wurde. Aber Napoleon befand sich im Angriff, wo Robespierre sich nur
noch verteidigte, und in der Tat ging es beim Staatsstreich des 18. Brumaire um
die Frage, ob dem jungen General die Diktatur übertragen werden sollte. Freilich
vermied auch er den Terminus, und im vorbereitenden Stadium. wurde er nicht
miiile zu wiederholen, daß er weder Cäsar noch Ci.'omwell sein wolle. Dennoch
schleuderte ihm die Majorität der „Fünfhundert" mit ebensoviel Pathos das
„A bas le dictateur" wie das „A bas le tyran" entgegen 16 • Als die Rufe zum
Schweigen gebracht waren, hatte Napoleon eine ganz eigenartige staatsrechtliche
Position gewonnen. Er war Diktator, insofern ihm nach allgemeiner Ansicht ein
zeitlich begrenzter Auftrag zur Erreichung eines ganz bestimmten Zieles, nämlich
der Wiederherstellung des Friedens, erteilt worden war; er war nach den über-

hingewiesen, die sich einerseits an das römische Vorbild anlehnt, sofern die Diktatur be-
fristet sein muß, da das Volli: nie die Souveränität zedieren könne. Aber die Diktatur ist
nach Schlegel notwendig ein transitorischer Zustand, womit der Wechsel, der Übergang in
eine neue Verfassungsform, mit anderen Worten die geschichtsphilosophische Perspektive,
umrissen wird, im Gegensatz zur zeitlichen Befristung. Die traMiU>rische Diktatur aber ist
eine politisch mögliche Repräsentation - also eine republikanische, vom Despotismus wesent-
lich verschieane Form (14). Hier gewann der Begriff der Diktatur bereits jenen geschichts-
philosophisch legitimierten positiven Sinn, der ihn vom negativen Despotismus absetzte.
Für die Forderungen nach einem starken Mann, der an dem Vorbild Napoleons sich zu
orientieren habe,-Cäsarismus. Gerade Gegner Napoleons, die sich als Demokraten ver-
standen, waren seit 1815 auf der Suche nach einem solchen Mann, der freilich nicht mehr
oder nur selten a.1s 'Diktator' bezeichnet wurde. So hat JAHN die Diktatur als Überwindung
der Waltlosigkeit (Anarchie) Ruhwartschaft genannt, während er auf der Suche nach der
deutschen Einheit und Einigkeit eine neue Walte (Staatsgewalt, Regierung, Souveränität)
sich erhoffte: Jeaea gereini:gte und geeinigte Volk verehrt den Walteschöpfer und Einheits-
achaffer als Heiland und hat Vergebung für alle seine Sünden - womit das bonapa.rtistische
Modell a.uf Deutschland übertragen wurde; F. L. JAHN, Werke, hg. v. Carl Euler, Bd. 1
(Hof 1884), 408. 418; vgl. K. H. SCHEIDLEB, Art. Gewalt (sprachlich), ERSCH/GBUBEB
1. Sect., Bd. 65 (1857), 308. Mit dieser Eindeutschung zeichnet sich die Bedeutung von
'Diktatur' als eines Erlösungsbegriffes deutlich ab.
16 AULARD, Histoire, 699; ALBERT SoBEL, L'Europe et la Revolution fra.n9aise, t. 5 (Paris

1903), 479 f.

909
Diktatur II. 2. Zurücktreten tlee Begriffa im Vormärz

lieferten Begriffen Tyrann, weil er den leitenden Gremien im Zusammenspiel mit


der Armee und dem Volk die Zustimmung aufgezwungen hatte. Für diese Position
gab es keine Namen; der Titel „Konsul" war offenbar eine Verlegenheitslösung,
aber er sicherte Napoleon fiix mehrere Jahre die nahezu ungeteilten Sympathien
aller liberalen Kräfte in Europa. Doch als er das Dilemma nach der konservativen
Seite hin aufzulösen schien und 1804 den Kaisertitel annahm (der in Frankreich
freilich keinerlei Tradition aufwies und einen sehr viel militärischeren Klang hatte
als in Deutschland), da verkehrten sich diese Sympathien sehr rasch in Haß, zumal
in Deutschland, und die alte Abneigung der Konservativen wurde nicht über-
wunden, fiix die der korsische Emporkömmling der Sproß und Testamentsvoll-
strecker der Revolution blieb. So wurde die Periode von Napoleons Kaisertum
zur letzten Blütezeit der Begriffe 'Tyrann' und 'Despot': bei Arndt und Kleist,
bei Görres und Körner findet man sie in den mannigfaltigsten Zusammensetzungen
und Abwandlungen, jedesmal randvoll mit zornigem Pathos gefüllt und in einer
neuartigen Stoßrichtung nicht mehr gegen den innenpolitischen „Usurpator",
sondern gegen den außenpolitischen „Unterdrücker" gerichtet. Im Glanz der
kaiserlichen Siege und unter der Katastrophe der endgültigen Niederlage ging der
eben erst o.ufgeto.uohto, obon orot hiotoriooh möglich gewordene Begriff der Diktatur
so gut wie volletändig unter17, und es ist ja gezeigt worden, daß die Erfahrungen
der napoleonischen Ära auf der Ebene der Wörterbücher jedenfalls nicht unter
dem Stichwort „Diktatur" verarbeitet wurden. ·

2. Zurücktreten des Begriffs im VormärzlB

Eine bemerkenswerte Ausnahme macht das RoTTEOK/WELOKERBche „Staats-


lexikon", das 1834 an Hand des napoleonischen Beispiels den Zusammenhang von
Diktatur und demokratischer Revolution klar herausstellt und zugleich im Geiste
eines ungebrochenen liberalen Optimismus beurteilt. So heißt es im Artikel
„Dictator, Dictatur": Im Laufe der Jahrhunderle hatt,e sich die Verfassuru; des
Römischen Reichs von einer Art Königtum in einen Freistaat und endlich in eine

17 NAFOLEON selbst hat sich im Rückblick nicht selten als 'Diktator' einer Republik be-

zeichnet; vgl. z.B. Gespräche Napoleons 1., hg. v. FmEDBICR Kmcm:lsEN, Bd. 3 (Stutt-
gart 1913), 186.
18 Der gelegentliche Sprachgebrauch während des Vormärz verweist entweder auf eine Be-

deutung zur Zeit der Französischen Revolution, etwa in Büchners „Dantons Tod" (1835)
oder in dem Roman von ELsNEB, der über „Robespierre, Dictator von Frankreich" handelt
(Stuttgart 1838), oder die Wortbedeutung steht in der neu gestifteten Tradition einer euro-
päischen Vormacht, wie sie Napoleon ausgeübt hatte. So wurde etwa in einer Hambacher
Rede 1832 festgestellt, daß aus der Tagesgeschichte unwiderredlich hervorgehe, daß Ruß-
land.! Autokrat a.ich aelbat unberufen zum eurO']JiiiachenDiklator aufgeWdrfen hat, ••• und daß
die übrigen eurO']Jiiiachen Regierungen atillachweigend dieae UBUrpierte Dikt,atur anerkennen;
JoH. GEORG AuG. WmTH, Das Nationalfest der Deutschen in Hambach (NeustadtfHardt
1832; Ndr.1957), 23. EBBCH/GBUBEB stellte schon 1825 im Artikel „Bund" (1. Seot., Bd. 14,
23) fest, daß die Heilige Allianz das Mittel des russischen Zaren sei, wod1urch Rußland zur
D-ü;t,atur zu gelangen B'Uchte. Es handelt sich also um eine Historisierung des neuen Begriffe,
wie er sich aus der Französischen Revolution her verstehen ließ, sowie um eine Aktuali-
sierung des Ausdrucks, soweit er sich gegen europäische Hegemonialmächte richtete.

910 '
0. 2. ZurO.ektreten de11 BegriJI8 im Vormärz

l mperatorenherr1ch{l.jt i1erwa.nd.eJ.t. We.se.ntlich d.P.r1.~P.lhP.n Zykfo.~ dP.r ErP.iunisse sahen


wir neuerdings in Frankreich in wenige Jahrzehnte sich zusammendrängen und
endl·icli Napoleon zugleich die dictatorischt Rolle eint$ O&ar und Augustus spielen.
Und wie überall ähnliche Ursachen ähnliche Wirkungen erzeugen, wie die Not drängen-
der Verhältnisse das unbedingte ·Vertrauen und die ri/,ckmhtslose Hingebung in den
Willen und die Führung eines einzelnen einem ganzen Volke zum wohlerkannten
Bedürfnisse und zur Pfiicht der Se'lbsterhaltung machen können, so hat sich auch im
neuesten, amerikanischen Unabhängigkeitskriege die Erscheinung wiederholt, daß
einzelne Feldherren - darunter namentlich Bolivar - im Kampfe für die Freiheit
und selbst im I nter6$se derselben für eine Zeit 'lang eine unbeschränkte und unbestrittene
Macht in ihrer Person zu vereinigen wußten. Selbst im Unabhängigkeitskampfe der
nordamerikanischen Freistaaten stand die keimende Freiheit auf dem Punkte, sich
in der Di,ctatur eine Stütze zu suchen. Unter schwierigen Umständen war zwei Mal
in der volk&vertrdenden Versammlung Virginiens - im Dcicmbcr 1776 und im
Juni 1781 - der Vorschlag gemacht worden, einen lJi,ctator zu ernennen und ihn mit
der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen, mit aller bürgerlichen und mili-
tärischen Gewalt zu bekleiden sowie das unumschränkte Recht über Vermögen, Leben
11.nd Tod der RiiJrfJP.r im, .~m,,,,„ Här1il.P. z11. 1R{JP.'fl„ Nur mit menigen Stimmen war dieser
Vorschlag durchgefallen. Ungeachtet dieser jüngsten Erfahrungen läßt sich behaupten,
daß in der neueren Kulturgeschichl,e der zivilisierten Völker alle Triebfedern dahin
wirken, das Selbstgefühl der einzelnen zu steigern und durch Verbreitung der äußeren.
Bedingungen einer allgemeineren Bildung einer größeren Anzahl wachsender Talente
Raum zu verschaUen. Jenes Selbstgefühl mag sich aber dem unbeschränkten Willen
eines einzelnen nicht blind unterwerfen, und jedes wachsende Talent wird sich,
beschränkend und bedingend, dem in anerkannter Wirksamkeit waltenden zur Seite
stellen. Das eine und andere dieser Momente ist aber der Entstehung und Erhaltung
dictatorischer Herrschaft keineswegs günstig. Es ist vielmehr der wesentliche Charakter
unserer Zeit, daß die Bedeutung des einzelnen neben derjenigen der Massen immer
mehr verschwindet; daß nicht mehr einzelne, sondern die Völker selbst die Schöpfer
des Völkerschicksals werden. Wenn also immer in einem künftigen Kampfe für Be-
gründung oder Erhaltung der Freiheit die Umstände also sich schürzen, daß sie einen
einzelnen zu vorzüglicher Macht und Gewalt erheben, so läßt sich doch nach der ganzen
Bedeutung unserer Zeit voraussehen, daß sol,che Dictaturen weder dauernd noch von
dauerndem Einfiusse sein werden19.

18 ROTTECK/WELOKER Bd. 4 (1834), 395 f.; der Artikel, der von WILHELM ScHULZ-.ßODNER

stammt, taucht fast unverändert in der dritten Auflage (Bd. 4, 1860, 539 ff.) wieder auf.
Ferner JoH. GEORG Lunw. HESEKIEL, Von Turgot bis Babeuf. Ein sozialer Roman, Bd. 3
(Berlin 1856), 21: Robupierre ala Dictator. Sehr viel knapper als bei RoTTECK/WELOKEB
heißt ee bei BLUM (1848) unter dem Stichwort „Dictator": Auch die neuere Zeit hat Bei-
apie'le, wo Völker aich in kritiachen Zeitläufen mit unbedingtem Vertrauen 1tnil rii.cJcaichta'loaer
Hingebung der Führung einea einzelnen überließen. Der Tat nach war Washingt.on Dicfß,tor
von Nordamerika, Robeapierre Dicfß,tor von Frankreich, mehr noch·apiUer Bcmaparte, we'lch
letzteren Bolivar in Südamerika nachahmte ••. Und Zange wilrde eine aokhe Herrachaft auch
bei einem künftigen Dicfß,tor - wenn die Ereigniaae wieder aokhe aUmächtige M enachen
hervorbringen aollten - nicht dauem, weil awh die Guamtheit ihre Freiheit nicht länger al8
durcha'U8 nötig wäre auf dieae W eiae beeinträ.chtigen laaaen wilrde. Die Dictatur iat eine A 'U8-
nahmeatelltung in einem A'UBnahmez'Ulltanile. Dauert dieae Gewalt länger al8 die Sf.aatakriaia,

911
Diktatur D. 3. Zweite Amweltung tles Begrift'sgehrauchs

3. Zmlte tewpol'iire Ausweiluug da Begriffilgebr11ucm


nach der Revolution von 1848
Für diese Selbstgewißheit des liberalen Denkens bedeutete der Staatsstreich Louis
Napoleons und die Begründung des Zweiten Kaisertums eine schwere Erschütte-
rung, und ohne Zweifel hat der Neffe in der Begriffsgeschichte der Diktatur weitaus
stärkere Spuren hinterlassen als der Onkel. Aber auch die Konservativen und die
Sozialisten waren gezwungen, ihre Positionen im Hinblick auf das neue Phänomen
erneut zu durchdenken, und so wurden die beiden Jahrzehnte von l850 bis 1870
zur Periode des zweiten Vorstoßes des Begriffs der Diktatur, der freilich unter der
Vorherrschaft der analogen Termini 'Bonapartismus', 'Cäsarismus' und 'Napoleo-
nismus' gleichsam verhüllt bleibt.
Ffu: LORENZ VON STEIN, dessen „Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich"
zuerst 1850 erschien, genügte die Aruleha.uung. der Revolution vou 1848 urnl der
Bewegungen, durch welche sie vorbereitet wurde, um in der Diktatur ein Resultat
der modernen Gesellschaftskrise zu erkennen, die sich im Ringen der besitzenden
und der nichtbesitzenden Schicht um die Staatsmacht vollzieht. Die Gewalt des
Proletariats gegenüber dem Bürgertum, auf dem Höhepunkt der Französischen
Revolution zur Anwendung gelangt, ruft mit Notwendigkeit die stärkere Gewalt
der Angegriffenen hervor, und diese Gewalt verselbständigt sich in der Diktatur
und als Diktatur: Diese selbständige Stellung, in welcher die Gewalt als Gewalt,
nicht mehr im Namen einer sozialen Idee herrscht, ist die Diktatur. Die wirkUoh
gelungene soziale Revolution führt daher stets zur Diktatur 20• 'Diktatur' und 'soziale
Revolution' sind komplementäre Begriffe, und deshalb ist Napoleon 1. der wahre
Eckstein der neuen Gesellschaft, bei ihm handelt es sich um eine soziale Diktatur 21,
gerade weil sich in ihm eine ganz überindividuelle und übernationale Notwendig-
keit verkörpert, denn das größte ähnliche Beispiel einer solchen Diktatur ist Oromwell;
und es ist kein Zweifel, daß jedes Land, wenn es.bei jenem Zustand anlangt, eine ganz
gleichartige Erscheinung mit derselben Notwendigkeit erzeugen wird, mit der es alle
anderen Funktionen seines Lebens vollzieht 22 • Daher ist eine Diktatur kein Institut,

welche sie hervorgerufen, so ist nicht mehr von Dictatur, 801ldern von Usurpation und Tyrannis
die Rede. Zur gleichen Zeit freilich schießen bereits wieder die Forderungen nach dem.
starken Mann empor, der die deutsche Einheit stiften solle, und zwar aus allen politischen
Lagem, wie ERICH BRANDENBURG, Die Reichsgründung, 2. Aufl., Bd. 1 (Leipzig 1922),
342 ff. zeigt. So steht JoH. GEORG FISCHER am meisten in der Tradition von Jahn, wenn er
ausruft: Komm Einz'ger, wenn du schon geboren,/ Tritt auf, wir folgen deiner Spur, /Du
letzter aller Diktatmen, /Komm mit der letzten Diktatur/, womit der quasi religiös-apokalyp-
tische Erwartungshorizont in das politische Geschehen eingezogen wurde; Neue Ge-
dichte (Stuttgart 1865), 133. In seiner „Bismarck"-Ballade berichtet Fischer, nach den
Wirren des Frankfurter Parlaments sei die deutsche Uneinigkeit so groß gewesen, Daß alle
germanische Welt wie nie / Nach einem deutschen Diktatm schrie: dann sei Bismarck ge-
kommen, amlers als wir gedacht, und habe Deutschland eins gemacht; Auf dem Heimweg.
Neue Gedichte (Stuttgart 1891), 77. 79.
2o LORENZ v. STEIN, Geschichte der socialen Bewegung .in Frankreich von 1789 bis auf
'unsere Tage, Ndr. d. 3. Aufl. (1850), hg. v •. Gottfried Salomon, Bd. 1(.München1921), 131.
21 Ebd., 402. 452.
22 Ebd., 402.

912
II. 3. Zweite Ausweitung des Begriffsgebrauchs Diktatur

sondern eine historische Konsequenz. Sie ist keine Diktatur, wenn sie eingesetzt wird,·
sie muß sich selber erzeugen 23• Und deshalb bot sich nicht für das orleanistische
Königtum, wohl aber für die Republik von 1848 erneut die Möglichkeit der Diktatur.
·Louis Blanc habe durch sein Zögern am 28. Februar die Möglichkeit aus der Hand
gegeben, die soziale Diktatur der Arbeiterschaft zu errichten 24, die Herrschaft
Cavaignacs nach den Junitagen sei die Diktatur der reinen Demokratie25 gewesen,
und in den abschließenden Betrachtungen läßt Stein die Möglichkeit einer Diktatur
der industriellen Reaktion unter Louis Napoleon immerhin offen. So darf sein
Werk als das erste gelten, das den spezifischen Charakter der modernen Diktatur
als einer Entwicklungsphase der industriellen Gesellschaft mit großer begrifflicher
Schärfe ans Licht gehoben hat.
Dieser allgemeine Zusammenhang war aber für die deutschen Liberalen so wenig
selbstverständlich, daß z. B. GERVINUS 1853 die französischen Vorgänge durch
den Nationalcharakter und die lateinische Kulturtradition zu erklären versucht:
Die Bewegungsmänner Frankreichs suchten ein übergroßes Maß der Freiheit und
unterwürfen zuletzt alles einer neuen römischen Diktatur oder Papate 26• Auch für
TREITSCHKE 27 ist das System der Diktatur und des Cäsarismus wesentlich
„ welscher" Art: gezwungen, auf die Überzeugung Verzicht zu tun, daß diktatorische
Systeme mit dem Charakter der modernen Zivilisation unvereinbar seien, flüchtet
die Freiheit unter das schützende Dach der germanischen Völker und überläßt
das· Romanentum seiner offenbar unheilbaren Neigung zur Zwangsherrschaft.
Aber auch die Konservativen sehen sicl1 vor der Erscheinung des dritten Napoleon
gespalten. Für das legitimistische Denken war der Bonapartismus nur die jüngste
Erscheinungsform des alten Feindes, nämlich der Revolution, die schon mit dem
Absolutismus und seinen zentralistisch-nivellierenden Tendenzen begonnen hatte
und vom älteren Napoleon auf ihren ersten, alle „christlich-germanischen" Über-
lieferungen bedrohenden Höhepunkt geführt worden war. Daß Demokratie und
„Bonapartismus" nicht Gegensätze, sondern einander bedingende und fordernde
Komplemente seien, war für dieses Denken ganz selbstverständlich. In den Briefen
Leopold von Gerlachs an Bismarck hat es einen klassischen Ausdruck gefunden.
Aber es gab andere Konservative, die in Napoleon III. den „Retter der Gesellschaft"
vor den Gefahren des roten Umsturzes zu schätzen wußten, und die mithin die
Gegnerschaft zwischen dem Prinz-Präsidenten bzw. dem Kaiser und der Linken

2a Ebd., Bd. 3 (1921), 213.


24 Ebd., 274.
2° Ebd., 332.
2 6 GEORG GoTTFR. GERVINUS, Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts

(Leipzig 1853), 177. Vgl. auch GusTAV DIEZEL, Deutschland und die abendländische
Civilisa.tion. Zur Läuterung unserer politischen und socialen Begriffe (Stuttgart 1852),
109 ff., wo der Weg von sozialistischen Fraktionsprogrammen, die eine Dict,atur aus der
Partei (109) fordern, zum „Communismus" beschrieben wird. Napoleon III. und seine
l>ik:tatur vollende den „Communismus", weil er die Staatsgewalt ncch absoluter gemacht,
ncch sinnreicher 1ind umfassender zentralisiert hat (111), was in germanischen Verfassungen
nicht denkbar sei. 'Diktatur' wird zunehmend zu einem beweglichen Partei- und Perspek-
tivbegriff, der je nach den politischen Positionen verschieden definiert wird.
27 HEINRIOH v. TREITSCHKE, Der Bonapartismus (1865/69), Rist. u. Polit. Aufs., 7. Aufi.,
Bd. 3 (Leipzig 1915), 45 ff.

58-90385/1 913
Diktatur U. S. Zweite Ausweitung clea Begrif&gehraueha

fllr keinen ulußeu Fur111UllLe1"11uhiecl hlelLeu. Wuhl .iaL cler Liefe Pe1:1simismus nicht
zu verkennen, der sich in den Worten DoNoso CoRTts' ausspricht, er wolle lieber
unter der Diktatur des SiiJJels als unter der Diktatur des Dolches leben 28 ; aber die
Äußerungen eines Mannes wie CoNSTANTIN FRANTz lassen es begreiflich erscheinen,
daß er dem General von Gerlach als Bonapartist verdächtig war. Der Haß gegen
den Parlamentarismus treibt bei Frantz das Lob des Mannes hervor, iier als ein
neuer Herkules die lemäische Schlange der Demagogie getötet und sich bei der
diskutierenden Bourgeoisie verhaßt gemacht hat, ·während er beim Volke stets
populär war. Allerdings liegt es Frantz fern, die napoleonische Lösung für allgemein-
gültig zu erklären. Ihre Voraussetzung ist auch für ihn eine spezifisch französische:
nämlich die Zerstörung der ganzen Substanz des alten Staatslebens, so daß eine
hloß fäkti11r1hA, ninhtlAgitimA Hel'l'Rcha.ft einAR M11.nn1111 iihAr die ungegliederte
Masse möglich wird. Dieses System nennt Frantz an einer hervorgehobenen Stelle
seines Werkes über Louis .Napoleon das 8ystem der Diktatur, aber seine Aus-
drucksweise macht ganz deutlich, wie wenig geläufig der Terminus noch sechzig
Jahre nach Robespierres Tode war: Man sieht zunächst, dafJ die wesentliche Form
eines solchen Staatswesens die Diktatur ist. Man erschrecke nickt vor dem Worte, es
w
·ist wirkUicli su . . • ültr~1ul d·i~ DtklafJU7' uwr ·i,n U1~flm &p·uli/;iken exupt·i,mwU
auftrat, wird sie hier prinzipiell, eben desha'lb, weil die französische Republik ein
ganz exzeptionelles Staatswesen biklet, wie noch nie dagewesen 29•
Tatsächlich läßt sich ganz generell sagen, daß die Neuartigkeit des Herrschafts-
systems Napoleons III. von den Liberalen und Konservativen klar erkannt, aber
nur relativ selten und meist nur beiläufig mit dem ebenfalls neuartigen Begriff
der Diktatur bezeichnet wurde. Vorwiegend wurden die Begriffe 'Cäsarismus',
'Bonapartismus' und 'Imperialismus' verwendet; daneben war auch recht häufig
von 'Despotismus' die Rede, obwohl es auf der Hand lag, daß Napoleon III. als
der „elu des sept millions" kein Despot im überlieferten Sinne sein konnte. Der
umfangreiche Artikel „Bonapartismus" in HERMANN WAGENERS „Staats- und
Gesellschafts-Lexikon" ver~endet den Terminus 'Diktatur' nur in einer An-
merkung, um so häufiger aber den Begriff 'Despotismus', dem durch die Zusammen-
stellung mit den revolutionären Begriffen der Volkssouveränität und des N ationali-
tätenprinzips eine verwandelte Bedeutung verliehen wird.
Daß Bismarck eine „bonapartistische Persönlichkeit" sei, ist von den Altkonserva-
tiven früh behauptet worden. Sein Bündnis mit der deutschen Nationalbewegung,
dessen kennzeichnendster Ausdruck die Einführung des allgemeinen Wahlrechts
für den Reichstag des Norddeutschen Bundes war, erschien ihnen schlechthin als
ein Paktieren mit der Revolution und als Verrat an den Prinzipien des europäischen
und speziell des deutschen Legitimismus. Aber der Umstand, daß die Reichs-
gründung sich schon in den vorbereitenden Stadien gegen Napoleon vollzog und
daß Bismarck mindestens äußerlich im Rahmen des monarchistischen Systems

18 DoNoso CoRTES, Rede über die Diktatur, gehalten in den spanischen Cortes am 4. 1.
1849, in: ders., Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte aus den letzten
Jahren seines Lebens 1849-53, hg. v. Albert Maier (Köln 1950), 209. Vgl. ebd., 181:
Diktatur . • . ist ein furchtbares Wort, d,och niemala so furchtbar wie da8 Wort „Revolution"
da& da8 furchtbarate von allen ist.
19 CoNSTANTIN FRANTz, Louis Napoleon (1852; Ndr. Darmstadt 1960), 58 f.

914
II. 3. Zweite Ausweitung du Begriffsgebrauchs

verharrte, ließ im Volksbewußtsein den Gegensatz viel substantieller erscheinen


als die Ähnlichkeit. Ebenso wie nach dem Ende des ersten Napoleon trat nach der
Katastrophe des Neffen in Deutschland der Begriff der Diktatur wieder in den
Schatten zurück, aus dem er um die Mitte des Jahrhunderts nur für kurze Zeit
hervorgetreten war. BisMARCK verwendet ihn als Bundes~ und Reichskanzler bloß
bei seltenen Gelegenheiten, so am 16. April 1869 in einer ironischen Polemik gegen
den Abgeordneten Twesten oder am 24. Februar 1881 mit der Wendung: Es gibt
Zeiten, wo man liberal regieren muß und Zeiten, wo man diktatorisch regieren muß,
es wechselt alles, kier gibt es keine Ewigkeit 80• Geläufiger als der staatsrechtliche

ao BISllrlABOK, FA Bd. 12 (1929), 195. Bei der Erörterung des Sozialistengesetzes verlangt
Bismarck, ihm das Maß von, nennen wir es Diktatur zu gehen, das wir zur erfol,greichen
Bekiimpfung du Übel,a brauchen,· Rede v. 9. 10. 1878, zit. Die politischen Reden des Fürs1"/6n
Bismarck, hg. v. HORST Kom., Bd. 7 (Stuttgart 1893), 294. Ein Jahr später identifiziert er
Diktatur und Absolutismus: Ich bin kein Gegner des kcmatitutionellen System8, im Gegenteil,
ich halte es für die einzige mögliche Regiernngs,farm, - aber wenn k-h geglaubt hätte, daß eine
Diktatur in Preußen, daß der Absolutiamua in Preußen der Förderung des deutschen Eini-
gungawerkes nützlicher gewesen wä.re, so würde ich ganz unbedingt und gewiaaenloa zum
Absolutiamua geraten haben; Rede v. 9. 7. 1879, zit. Kom., Reden, Hd. 8 (1893), 146.
Ganz in diesem Sinne hatte ein Teil der Konservativen während des Verfassungskonflikts,
allerdings vorwiegend aus innenpolitischen Gründen; die königliche Dictatur gefordert,
z. B. HERMANN WAGEN'ER in einer ROO.e vor dem „Preußischen Volksverein" im
September 1863; Berliner Rev. 35/4 (1863), 8. Diese innenpolitische Begründung erscheint
im Rückblick auch bei Bismarck selbst als entscheidend: Es gelang mir, ihn (Wilhelm 1.)
zu überzeugen, daß es sich für ihn nicht um Ccmaervativ oder Liberal in dieser oder jener
Schattierung, sondern um Königliches Regiment oder Parlamentaherrachaft handle und daß
die letztere notwendig und auch durch eine Periode der Dictatur abzuwenden sei; Erinnerung
und Gedanke 1, 11. FA Bd. 15 (1932), 179. Umgekehrt konnte Bismarck am 24. 1. 1882 den
Vorwurf des ,,ministeriellen Absolutismus", den Mommsen erhoben hatte, umkehren:
Also dieses Ministerregiment, diese Kanzlerdikwtur iat etwa&, waa gerade dann m-Oglich wird,
wenn Sie überhaupt das M iniBte"egiment an die Stelle du lcöniglichen Regiment& setzen, das
in Preußen tatsächlich herrsche; zit. Kom., Reden, Bd. 9 (1894), 227. Alle Wendungen
zeigen, wie fungibel der Ausdruck in der zweiten Jahrhunderthälfte geworden war. Die
grundsätzlichste Äußerung Bismarcks über die Diktatur ist eine keineswegs originelle
Wiederaufnahme der antiken Theorie vom Kreislauf der Verfassungen: Das begehrliche
Element hat daa auf die Dauer durchachlagende Übergewicht der größeren M aase. Es iat im
Interesse dieser Masse selbst zu wünachen, daß dieser Durchachlag ohne gefährliche Beschleu-
nigung und ohne Zertrümmerung des Staatawagena erfolge. Geschieht die letztere dennoch, 80
wird der geschichtliche Kreislauf immer in verhältnismäßig kurzer Zeit zur Diktatur, zur
Gewaltherrschaft, zum Ab80Zutiam'lia zurückführen, weil auch die Massen schließlich dem
Ordnungsbedürfnis unterliegen. Und wenn sie es a priori nicht erkennen, 80 sehen sie ea
infolge mannigfaltiger Argumente ad hominem schließlich immer wieder ein und erkaufen
die Ordnung von Dictatur und Oaesariamua durch bereitwiUigea Aufopfern auch du berech-
tigten und festzuhaltenden M aßea von Freiheit, welches europäische staatliche GeaeUachaften
vertragen, ohne zu erkranken,· Erinnerung und Gedanke 2, 10. FA Bd. 15, 288. Von Gegnern
und kritischen Anhängern ist Bismarcks Regime gelegentlich immer wieder als 'Diktatur'
bezeichnet worden, so von PAUL DE LAGABDE, Über die gegenwärtige Lage des deutschen
Reichs (1875), Dt. Sehr. (Göttingen 1886), 155, LUDWIG B..umEBGER, in: Bismarcks großes
Spiel. Die geheimen Tagebücher Ludwig Bambergers, hg. v. EBN'sT FEDER (Frankfurt
1932), 339 oder von Josu GABRIEL FINDEL, Des Reichskanzlers Wohlfahrts-Politik und

915
Diktatur D. 8. Zweite Ausweitung aes Begriffsgebrauchs

Begriff der Diktatur war im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts der
Terminus 'Diktaturparagraph', der gewisse Sondervollmachten des Statthalters
von Elsaß-Lothringen umschrieb: die wiedergewonnene liberale Zuversicht und
der Wille, in Bismarcks Werk etwas eigentümlich Deutsches zu sehen, wirkten
zusammen, um die mit dem Bonapartismus aufgetauchte Frage nach der „Dik-
tatur" als einer auch und gerade in der Moderne möglichen weder despotischen
noch liberalen noch legitimistischen Verfassungsform zu unterdrücken31 • Es war
symptomatisch, daß der wichtigste Beitrag zur Fortentwicklung des Diktatur-
begriffs von einem sozialistischen Emigranten gegeben und vom offiziellen Deutsch-
land bis zum Jahre 1918 kaum zur Kenntnis genommen wurde. Im Frühling 1852
veröffentlichte KARL MARX in der von Joseph Weydemeyer herausgegebenen New
Yorker Monatsschrift „Die Revolution" seine Streitschrift „Der 18. Brumaire des
Louis Bonaparte", in welcher er eine exakte Definition der „Diktatur Bonapartes"
zu geben beabsichtigte. Für ihn ist diese Diktatur wie für Stein die temporäre
Verselbständigung der Exekutivgewalt infolge der Wechsellähmung der großen
gesellschaftlichen Klassen, der Bourgeoisie und des Proletariats. Es steht offenbar
in unmittelbarem Zusammenhang mit der Arbeit an dieser Schrift, wenn Marx
in einem Brief an Weydemeyer vom 5. März 1852 zum ersten Mal wörtlich von dor
DiktaJ,ur des Pro1,et,a,ria,ts spricht, zu welcher der Klassenkampf notwendig führen
müsse und die selbst nichts weiter sei als der Übergang zur Aufhebung aller
Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft38• Dieser Begriff unterscheidet sich

die Demokratie (Leipzig 1881), 24 f., der die Minüterdilct,atur beklagte, aber vom real.
politischen Standpunkt aM ••• als eine Notwendigkeit hinnahm. Der deutsche Botschafter
in St. Petersburg LOTHAR VON SCHWEINITz beklagte 1886 in einem Brief an seine Frau,
daß die Dilct,atur Biamarcks ••• die höheren Schichten der amtlichen Welt erniedrigt, während
sie auf die Masse des deutachen Volkes eine erziehende und im ganzen wohltätige Wirkung
ausübe; BriefWechsel des Botschafters General v. Schweinitz, hg. v. WILHELM v. SoHWEI-
NITZ (Berlin 1928), 214. Für ausländische Urteile vgl. HA.Ns-ULRIOH WEHLE&, Bismarck
und der deutsche Imperialismus (Köln, Berlin 1969), 182.
81 Der schlagendste Beweis für die Bedeutungslosigkeit des Begriffs 'Diktatur' von 1870

bis 1914 ist die Tatsache, daß er bei Nietzsche gar nicht, bei Max Weber nur in seltenen
Fällen vorkommt („Diktator des Wahlschlachtfeldes" u. ä.). Das heißt natürlich nicht,
daß er aus der politischen Sprache verschwunden gewesen sei. So nennt z. B. WILHELM
MABR das Judentum den socwlpolitiBchen Dilcf,afm Deutschlands; Der Sieg des Judenthums
über das Germanenthum, 4. Aufl. (Bem 1879), 23. Bei FmEDR.IOH NAUMA.NN findet sich
der Satz: Der Kaiser führt die Nati<m als Diktaf.Qr der neuen Industrie. Indem er aber dieses
tut, braucht er die Masse, die Demokratie (Demokratie und Ka.isertum,4.Aufl.,1905, Werke,
Bd. 2, 1964, 273), womit er den Begriff im bona.partistischen Sinne positiv verwandte~
82 MEW Bd. 28 (1963), 508. Es ist nach MAURICE DoMJ.11ANGET, Les idees politiques et

sociales d'Auguste Bla.nqui (Paris 1957), 170 ff. und nach .Al.LAN W. SPITZER, The Revolu-
tionary Theories of Louis Auguste Bla.nqui (New York 1957), 176 offenbar eine Legende,
daß der Ausdruck 'Diktatur des Proletariats' von Blanqui aus dem Jahre 1837 stamme.
Jedenfalls hat Blanqui die erste Wendung von Marx aus dem Jahre 1850 beeinflußt, als er
in den „Klassenkämpfen in Frankreich" (MEW Bd. 7, 1960, 89) den revolutionären Sozia-
lismus beschrieb, für den ... die Bourgeoisie selbst den Namen Blanqui erfunden hat.
Dieser Sozwlismus ist die Permanenterkllirung der Revolution, die Klassendiktatur des
ProletarwtB als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede über-
haupt, zur Abschaffung sämaicher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abscha/-

916
II. 3. Zweite Auaweihmg des Begriffsgehrauehs Diktatur

von dem traditionellen Verständnis der Diktatur dadurch, daß er statt eines
einzelnen ein Kollektiv zum Subjekt macht 33 ; er stimmt mit ihm jedoch insofern
überein, als er den Übergangscharakter betont. Weit wichtiger aber ist, daß der
Gegenbegriff nicht etwa 'Monarchie' oder 'Demokratie', sondern ebenfalls 'Diktatur'
heißt 34 ; denn die sogenannte bürgerliche Demokratie ist für Marx nichts anderes
als die l)iktatur des Bürgertums, und die proletarische Diktatur ist nicht etwa
erst nach ihrem Ende, sondern schon während ihres Verlaufs auf viel genuinere
Weise eine Demokratie, als es die bürgerliche Demokratie je gewesen war. Marx
erläutert diese Konzeption 1871 am Beispiel der Pariser Komune, die das allge-
meine Stimmrecht erstmals zu einer Wahrheit und zum Diener des Volkes gemacht

f'ung sä·mtlicher guellschaftUcker Beziehungen, die dieaen Produkti<mtJVcrkältniaaen ent8pre-


chen; zur Umwälzung aämtlicker Ideen, die aua diesen gesellachaftlichen Beziehungen hervor-
gehen. Der Raum seiner Da.rstellungen erlaube nicht, diesen Gegenstand weiter auszu-
führen, fährt Marx fort. Spätere Definitionen verbleiben im Umkreis dieser ersten Defini-
tion.Vgl. auch WILHELM MAUTNER, Zur Geschichte des Begriffes „Dikt!Ltur des Proletariats",
Arch. f. d. Gesch. d. Sozialismus u. d. Arbeiterbewegung 12 (1926), 280 ff„ wo alle ein-
schlägigen St11llen zusammengestellt sind. Zwischen 1850 und 1852, den ersten beiden
Formulierungen von Marx, liegt eine interessante Bemerkung von LoTHAR BUCHER, der
gegen Louis Blanc in der „Nationalzeitung" forderte, daß die demokratische Partei ent-
schieden mit den Kommunisten brechen solle, einer Partei, die auf Arbeiterdiktatur auageht,
womit zum ersten Mal der Begriff der Diktatur Unterscheidungskriterium. innerhalb der
linken Lager wurde; zit. Ü.ARL ZADDACH, Lothar Bucher und die Verhältnisse in Hinter-
pommern 1843-1848 (phil. Diss. Heidelberg 1913), 8. Später häufen sich die gegenseitigen
Vorwürfe der Diktatur, sei es von Marx gegen La.sa.lle oder gegen Ba.kunin oder umgekehrt
innerhalb der Internationale und der Arbeiterbewegung. So schreibt etwa FRIEDRICH VON
BEUST an Johann Philipp Becker am 25./26. 1. 1870 über den Ba.seler Kongreß der Ersten
Internationale von 1869: Das sei der eigentliche Sündenfall der Internationale, aua wel-
chem Ei die Diktatur auagebrütet werden kann; anstatt die rechtsrepublika.uische Gleichheit
a.nzuerkeruien, erhebt eine Minorität ihre Meinung zum Dogma und verwandle da.mit die
Internationale in ein PapaUum; Nachlaß des „roten Becker" im Institut für Sozialgeschichte
Amsterdam (dank freundlicher Mitteilung von Prof. Dr. Erich Gruner, Bern). Am 27. 7.
1869 schreibt Marx an Engels über Ba.kunin: Dieaer Ruaae will offenbar Dikt.ator der euro-·
'/)äillcken Arbeiterbewegung werden. Er aoll sich in acht nehmen. Sonst wird er offi,zielZ ex-
kommuniziert; MEW Bd. 32 (1965), 351, und BAKUNIN warnt im Frühjahr 1872 in einem
Brief an die spanischen Brüder der Allianz vor der natürlich maskierten Diktatur von Marx
in der Internationalen; GW Bd. 3 (Berlin 1924), 111. Es kennzeichnet die weitere Begriffs-
geschichte, daß der Kollektivname der Diktatur immer wieder auf einzelne Persönlich-
keiten reduziert wird, so daß gleichsam das Raster der ursprünglichen Bedeutung durch-
schlägt.
83 Dafür hatte es jedoch in der Französischen Revolution Präzedentien gegeben: „dicta.-

ture des clubs", „dictature fina.nciere" usw. (BRUNOT t. 9/2, 738), Kollektiva., die sich um
1870 stark häuften; vgl. JEAN DuBOIS, Le vocabulaire politique et social en Fra.nce de
1869 a 1872 (Paris 1962), 288 f.
84 Vgl. das Ablaufschema. der achtundvierziger Revolution, das Marx im „18. Bruma.ire"

(1852; MEW Bd. 8, 1960) gegen Ende liefert, wo er von der Diktatur der reinen BourgeoiB-
RepubZikaner (192), der parlamentarischen Diktatur der Ordnungapartei (193) spricht, um
dann den Sieg Bonapartea als imperialistische Rest.aurationsparodie (ebd.) zu glossieren.
Auf S. 130 wird der Belagerungszustand traditionell als Diktatur Cavaignacs und der Kon-
stituante beschrieben.

917
Diktatur n. 3. Zweite Ausweihmg des Begriffsgebrauchs
habe. Vier Jahre später komint er in der „Kritik des Gothaer Programms" noch
einmal mit sehr knappen Worten auf diesen Begrlff zurück36, und ENGELS faßt
1891 die konkrete Bedeutung, aber auch den Widerstand, dem der Terminus sogar
innerhalb der sozialdemokratischen Partei begegnete, in den. Worten zusammen:
Der sozial-demokraJ,ische Philister ist neuerdings wieder in heilsarrum Schrecken
geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr
wissen, wie diese DiktaJ,ur aussieht? Sekt euch die Pariser Kommune an. Das war die
Diktatur des ProletariaJ,s 38• Im ganzen schließt diese Auslegung eine bis dahin
Un.erhörte Ausweitung und Verwischung des Begriffe in sich. Wenn alles Diktatur
ist, dann ist gar nichts auf spezifische Weise Diktatur: die Vorstellung wird nur
im Horizont des Begriffes der klassenlosen Gesellschaft begreiflich und identifiziert
Diktatur mit Staatsgewalt überhaupt. In ihrer praktischen Auswirkung läuft sie
aber darauf hinaus, die Linke von ihrer traditionellen Feindschaft gegen die
Diktatur zu befreien, ohne daß sie sich geistig dem Bonapartismus- zu nii.l\ern
brauchte. So wurde sie trotz oder vielleicht gerade wegen ihres fragmentartigen
Charaktere zur wichtigsten Voraussetzung für eine politische Revolution aus dem

11 Zwiachen der ka-pi,taliBtiaeken. und der kommuniBtiachen Gese"ll8chaft liegt die Periode der
revolutionären Umwandlung der einen in die a1ukre. Der entspricht auch. eine tp0Zitiathe
ÜbergangsperWde, deren Staat niikta anderes aein kann aZa die reoolutiuniire Diktatur des
Proletariata; MEW Bd. 19 (1962), 28.
39 ENGELS, Einleitung zu: Der Bttrgerkrieg in Frank.reich, MEW Bd. 22 (1963), 199.

Einen Monat vor dieser Feststellung von Engels hatte der SPD-Abgeordnete GRILLEN-
BERGER im Reichstag ausdrücklich erklärt, daß es der SPD fernliege, gewaltaame Revolu-
tionen provozieren zu wollen. Auf eine Rückfrage von Benningsen hin unterschied er scharf
zwischen dem Postulat nach einer Diktatur des revolutionären Proletariats und der SPD,
die aich dieaem Programmvoraehlag von Marz nicht gefügt hat. Er versicherte, daß inf<ilge-
desBBn von einer revolutionären Diktatur des Proletariata bei una niemala die Rede gewesen ist.
Gegen eine derartige Aufweichung der M.a.rxschen Position wandte sich auch KAUTSKY im
Schreiben an Engels vom 9. März 1891. Vgl. HANs-JosEF STEINBERG, Sozialismus und
deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem I. Weltkrieg (Hannover 1967),
71, Anm. 177, dort auch das Grillenbergar-Zitat. In der Tradition von Lorenz von Stein
stehend und als Antithese zum M.a.rxschen Diktaturbegriff benutzte SCHMOLLER den
Terminus, teils um in seinem evolutionistischen Klassenkampfmodell den eigenen Standort
zu definieren, teils um ihn provokativ seinen Zeitgenossen vorzuhalten. In sozialen Kämp-
fen würden in der Regel die unteren Klassen zunächst unterliegen, aber nicht zum Begen
der Besitzenden und nicht zum Vorteil einer ruhigen normalen Entwicklung. Lange Zerrüttung
f<ilgt; die poZitiache Freiheit wird begraben; die Diktatur wird notwendig und aie nimmt naCh
Jahrzehnten, oft erat nach Jahrhunderten, die Forderungen der leidenden Volkaklaaaen wieder
auf, die man aeinerzeit denEm'[JÖrUn, aluieaiemit den Waffen in der Hand gef<Yrdert, abge-
achlagen. Erst dann erblühe ein neues Wir"8ehaftareckt, ein neues Arbeitarecht und eine
neue Eigentuma- und geUiuterte Bocialordnung . • • a'U8 den Ruinen; Die sociale Frage und
der preußische Staat (1870), in: Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart, Reden u.
Aufs. (Leipzig 1990), 43. Auch hier wird die zeitliche Befristung umgeWa.ndelt in eine
langfristige Zukunftsprognose, die das politische Verhalten beeinflussen soll. Vgl. auch die
Wendung von DAvni FRIEDRICH STBA.uss, Preußen und Schwaben, Preuß. Jbb. 19 (1867),
199: überhaupt, ein wenig Dictatur iat in aolchen Übergangazeiten unerUißlich; und glücklich,
daß diese Dictatur in einer 80 kräftigen und geschickten Hand wie die des Grafen Bismarck
liegt.

918
ß, 4. Vorhernehaft des DiktatarheRrifl's seit 1919 Diktatur

Geiste des Marxismus und im Gegenzug die eigentliche Ursache dafür, daß auch
die Rechte ihr eingewurzeltes l\fißtrauen gegen den Begriff der Diktatur bis zu
einem gewissen Grad überwand, der nach der Russischen Revolution wie mit
einem Schlage zum Mittelpunkt der politischen Diskussion wird und sich erst
damit endgültig aus einem antiquarischen und staatsrechtlichen in einen aktuellen
Begriff verwandelt.

4. Vorherrschaft des Diktaturhegrilfs seit 1919

Es dürfte in der Tat nicht unzulässig sein, in der Auseinandersetzung um den


Begriff der Diktatur den Kern des Ringens um den Sinn oder Widersinn der
Russischen Revolution zu erkennen. Innerhalb der sozialistischen Bewegung
konnte LENIN zwar kaum widersprochen werden, wenn er in „Staat und Revo-
lution" die These aufstellt, nur derjenige sei ein Marxist, der die Anerkennung
des Klassenk.ampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstrecke37 •
Aber schon die ersten Monate der bolschewistischen Herrschaft machten die
Aporien des Begriffes aller Welt anschaulich. Handelte es sich nicht statt der
Diktatur der „ungeheuren Mehrzahl", die in Wahrheit eine höhere Form der
Demokratie war,· gerade um die Diktatur einer verschwindenden Minderheit, der
kommunistischen Partei, ja eines einzelnen Mannes, eben Lenins 1
KARL KAUTSKY hat sich bereits 1919 in seiner Schrift „Terrorismus und Kommu-
nismus" zum Sprecher der sozialistischen Gegner des Bolschewismus gemacht,
und er formulierte seine Bedenken noch schärfer in der Broschüre „Die proletarische
Revolution und ihr Programm". Hier erklärte er den Leninschen Begriff der
Diktatur ausdrücklich für eine Degeneration der Konzeption von Marx und
Engels: Worin besteht das Wesen einer Diktatur,. nicht in dem übertragenen Sinn, in
dem Marz und Engels <las Wort gebrauchten, die in der Demokratie der Pariser
Kommune die Diktatur des Prolet,ariats fanden, sondern in dem engeren Sinne des
Bolschewismus? Die Diktatur ist eine Staatseinrichtung, die verfassungsmäßig jede
Opposition gegen die Staatsgewalt ausschließt und die den Besitzer der Staatsgewalt,
sei es eine Person, eine Korporation oder .eine Klasse, über die Gesetze des Staates
erhebt, die wohl für die übrige Bevölkerung gelten, den Diktator aber in keiner Weise
in seinen Bewegungen hindern. Er <larf mit der Bevölkerung umspringen, wie es ihm
gutdünkt ... Das Prolet,ariat hat die Diktatur. Was heißt das? ... Eine unorgani8ierte
Klasse kann el:Jen keine Diktatur üben . . . Aber die Anarchie dieser Art Diktatur
bildet den Boden, aus dem eine Diktatur anderer Art erwuchs, die der Kommunistischen

37 LENIN, Staat und Revolution (1917), Werke, Bd. 25 (1960), 424. Lenin gibt in den

Jahren 1918-1920 mehrere Definitionen der „Diktatur des Proletariats", z.B. : Die revolu-
tionäre Diktatur des Proletariat8 ist eine Macht, die erobert W'Urde und aufrechterhalten wird
durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoiaie, eine Macht, die an keine Gesetze
gebunden ist; Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky (19l8), Werke, Bd. 28
(1959), 234. Der wissen.schaftliche Begriff der Diktatur bedeutet nichts anderes al8 die durch
nichts bp,achränkte, durch keine Gesetze, absolut durch keine Regeln eingeengte, sich unmittelbar
auf Gewalt stützende Macht; Geschichtliches zur Frage der Diktatur (1920), Werke, Bd. 31
(1959), 345.

919
Diktatur II. 4. Vorhei'rschaft des Diktaturbegriffs seit 1919

Partei, di,e in Wirlclichkeit nichts anderes ist als die Diktatur ihrer Führer 38 • Kautsky
hat also einen ganz liberalen Begriff der Diktatur als eines unkonstitutionellen
Regimes, und er charakterisiert sie primär durch jene Willkürlichkeit (das
„arbitraire"), die im 18. Jahrhundert. als Kennzeichen der Tyrannis gegolten
hatte. Es ist sehr die Frage, ob er damit die spezifische Natur einer Herrschaft
erfaßte, die zum ersten Mal in der Geschichte nicht auf der Macht der Armee
be:ruhte wie diejenige Napoleons I., nicht auf dem Spiel eingewurzelter Massen-
vorurteile wie die Präsidentschaft und das Kaisertum Napoleons III., sondern auf
den Überzeugungen einer straff organisierten Partei89• Die ideologische Diktatur,
welche die im weitesten Sinne gefaßte Diktatur, d. h. die Staatsgewalt überhaupt,
beseitigen wollte, wa~ eine ganz neuartige Erscheinung. Aber es ist ebenso gewiß,
daß das maschinenmäßige Hersagen Marxscher Formeln auf der Seite ihrer Ver-
teidiger eine noch größere Distanz zwischen Realität und Interpretation in sich
schloß.
In unmittelbarem Zusammenhang mit der von Lenin, Kautsky und Trotzki ge-
führten Auseinandersetzung steht die bedeutendste und gründlichste Behandlung,
die der Begriff der Diktatur von seiten eines rechtsgerichteten Schriftstellers
erfahren hat. Wenn CARL SCHMITT in seinem erstmals 1920 erschienenen Buch
„Die Diktatur" eine Unterscheidung von „kommissarischer" und „souveräner"
Diktatur macht, so formuliert er nur mit juristischer Strenge die älteste Differenz,
die in dem Begriff enthalten ist: die Differenz der altrömischen und der sullanischen
Diktatur, von denen die eine die bestehende Verfassung gegen eine konkrete
Bedrohung durch temporäre Aufhebung der Verfassung zu schützen bestimmt ist,
während die anderen gerade den bestehenden gesellschaftlichen Zustand be-
seitigen und einen neuen an seine Stelle setzen will (dictatura rei publicae con-
stituendae causa): Der kommissarische Dilaator ist der unbedingte Aktionskommissar

98 KARL KAUTSKY, Die proletarische Revolution und ihr Programm (Stuttgart, Berlin

1922), 136 f. Kautskys negatives Verständnis der Diktatur wurde von der Führung der
Mehrh~tssozialdemokratie geteilt. Es gibt schwerlich ein Dokument, das für die Zukunft
Deutschlands im Jahre 1918 folgenreicher war als das Antwortschreiben des Vorstandes
der SPD an den Vorstand der USPD vom 9. November. Darin heißt es zur Forderung der
Unabhängigen, daß die Gesamtmacht bei den Arbeiter- und Soldatenräten liegen solle:
Ist mit diesem Verlangen die Diktatur eines Tei"ls einer Klasse gemeint, hinter dem nicht die
Volksmehrheit steht, &o müs&en wir diese Forderung ablehnen, weil sie unaeren derrwkratÜJchen
Grundsätzen widerspricht; zit. Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918
und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, hg. v. HERBERT
MICHAELIS, ERNST ScHRAEPLER, GÜNTHER SCHEEL, Bd. 3 (Berlin o. J.), 6.
89 Vgl. die erste der 21 Bedingungen, die auf dem zweiten Kongreß der Dritten Internatio-

nale 1920 aufgestellt wurden und denen sich jede Partei unterwerfen mußte, die um Auf-
nahme in die Komintern nachsuchte: Die gesamte Propaganda und Agitation muß einen
wirklich kommunÜJtÜJchen Charakter tragen . • • Von der Diktatur des Proletariats darf nicht
einfach wie von einer kindUiufigen eingepaukten Formel gesprochen werden, &ondern sie muß
so propagiert werden, daß ihre Notwendigkeit jedem einfachen Arbeiter, Arbeiterin, Soldaten
und Bauern versfJindlich wird a'U8 den Tatsachen des täglichen Lebens, die '1Jon unaerer Presse
sy&temati,sch beobachtet und Tag für Tag a'U8genutzt werden müssen; zit. Utopie und Mythos
der Revolution. Zur Geschichte der Komintern 1920-1940, hg. v. THEO PmKER (München
1964), 24 f.

920
D. 4. Vorherrschaft des Diktatarbegriffs seit 1919 Diktatur

eines pouvoir constitue, die souveräne Diktatur die unbedingte Aktionskommission


eines pouvoir constituant40 • Man wird aber kaum fehlgehen, wenn man den politi-
schen Kern des Buches in der Beziehung auf die an hervorgehobener Stelle mehr
angerührte als interpretierte „Diktatur des Proletariats" erblickt und sein un-
ausgesprochenes Resultat folgendermaßen formuliert: Der durch das Aufkommen
einer grundsätzlich staatsfeindlichen, die Diktatur des Proletariats fordernden
Partei aufs äußerste gefährdete liberale Staat kann sich nicht mehr mit der im
Artikel 48 der Reichsverfassung vorgesehenen kommissarischen Diktatur be-
gnügen, sondern muß zur souveränen Diktatur übergehen, die imstande ist, die
Herausforderung von der Wurzel her zu beseitigen.
Die Schwäche von Schmitts Position besteht darin, daß er als Musterbeispiele
souveräner Diktaturen konstituierende Nationalversammlungen wie den Konvent
von 1793 oder die Weimarer verfassungsgebende Versammlung von 1919 anführt.
Damit bewahrt er zwar das für den Begriff der Diktatur anscheinend unentbehrliche
transitorische Moment, aber er gelangt nicht zu einem Zustand, der für die Dauer
andersartig als der alte und insofern eine verläßliche Garantie gegen die Wieder-
kehr der Bedrohung ist. Bedürfte es nicht statt einer Versammlung der cäsarischen
Persönlichkeit 1
Eben das ist die Auffassung SPENGLERS, der ganz wie Marx dasjenige, was er für
geboten hält, als unvermeidliches Gesetz der Geschichte ausgibt, es aber im Gegen-
satz zu Marx nicht liebt. Für ihn ist der Cäsarismus, der die plutokratische Diktatur
des Geldes und die demokratische Herrschaft der Zahl überwindet, nicht mehr,
wie für Constantin Frantz, eine französische Eigentümlichkeit, wohl aber, wie für
seinen Vorgänger, ein Resultat der Nivellierung und des Kulturzerfalls 41 • Es war
nicht zu erwarten, daß eine so diffizile und pessimistische Auffassung zu politischer
Relevanz gelangte. Wohl ist in der rechtsgerichteten Literatur der Weimarer Zeit

40 SCHMITT, Diktatur, 146. Wie rasch der Begriff der Diktatur im Bereich der wissenschaft-
lichen Erörterung in den Vordergrund trat, zeigen etwa die Verhandlungen der Tagung der
deutschen Staatsrechtslehrer zu Jena am 14./15. 4. 1924, die unter dem Titel „Der deutsche
Föderalismus. Die Diktatur des Reichspräsidenten" veröffentlicht wurden (Berlin 1924).
Der überlieferte liberale Begriff der Diktatur kommt in der neuen polemischen Zuordnung
sehr schön im Programm der „Deutschen Demokratischen Partei" vom Dezember 1919
zum Vorschein, wo es heißt: Unbeirrt durch den Streit des Tagu und durch eigensüchtige
Versuche, das Unglück du Vaterlandu auszumünzen für die Wiedererrichtung der alten
Gewaltherrschaft oder für neue Diktaturen geht unsere Partei der Aufgabe nach, die deutsche
Repvhlik mit wahrhaftigem, staatsbürgerlichem und sozialem Geist zu erfüllen; zit. Deutsche
Parteiprogramme, hg. v. WILHELM MoMMSEN (München 1960), 509.
'1 Der Cäsarismus wächst ay,f dem Boden der Demokratie, aber seine Wurzeln reichen tief in
die Untergründe des Blutu und der Tradition hinab .•• Mögen die Machthaber der Zukunft,
da die große politische Form der Kultur unwükrruflich zerfallen ist, die Welt als Privatbuitz
beherrschen, so enthä,lt diue formlose und grenzenlose Macht doch eine Aufgabe, die der un-
ermüdlichen Sorge um diese Welt, die das Gegenteil aller Interessen im Zeitalter der Geldherr-
schaft ist und die ein hohe8 Ehrgefühl und Pftichtbewußtaein fordert. Aber eben duhalb erhebt
sich nun der Endkampf zwischen Demokratie und Cäsarismus, zwischen den führenden
Mächten. einer diktat,orischen Geldwirtschaft und dem rein politischen Ordnungswillen der
Cäaaren; OSWALD SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes (1918/22; Ndr. München
1963), 1143 f.

921
Diktatur D. 4. Vorherrschaft des Diktatarhegrif& seit 1919

hin und wieder von der „nationalen Diktatur" die Rede, aber im großen und ganzen
wird doch (in Anknüpfung an die nationalliberalen Tendenzen bei der B<>napar-
tismusdiskussion des 19. Jahrhunderts) dem „Führer" und dem „Führertum" bei
weitem der Vorzug gegeben. Der germanische 'Führer' wird dem romanischen
'Diktator' ebenso schroff entgegengesetzt wie der „organische deutsche Staats-
gedanke" dem „mechanischen westlichen Denken". Durch den Blick auf Musso-
lini, den man im allgemeinen verehrte, kam man freilich in Schwierigkeiten: es
mangelte dem nationalen „Führertum" so wenig an Dunkelheit wie der sowjeti-
schen Diktatur des Proletariats. Wie wichtig aber der Marxsche Begriff als Gegen-
bild für die Entwicklung des nationalsozialistischen Führerprinzips gewesen ist,
läßt sich sehr gut bei HITLER verfolgen, der in „Mein Kampf" einen notwendigen
Zusammenhang von Demokratie, Diktatur und Judentum aufzuzeigen bedacht ist:
So versucht er (der Jude) p'lanmäßig, rlas Rassenniveau durch eine rlauernde Ver-
giftung der einzelnen zu senken. Politisch aber beginnt er, den Gedanken der Demo-
kratie abzulösen durch den der Diktatur des Proletariats. In der organisieJl'ten Masse
des Marxismus hat er die Waffe gefunden, die ihn die Demokratie entbehren läßt und
ihm an Stelle dessen gestattet, die Völker diktatorisch mit brutaler Faust zu unter-
iochen und zu rP{/ieren42 • 'Diktatur' he<leutet hier also nicht so sehr Willkiir wie
von außen kommende Brutalität. Ganz in diesem Sinne sagt Hitler als Reichs-
kanzler in der Rede vom 7. März 1936, er habe sich nie als 'Diktator', sondern
immer nur als 'Führer' und Mandatar des Volkes gefühlt43• Eben dieser Mandat-
charakter war hundert Jahre zuvor der Inhalt des konservativen Verständnisses
der Diktatur gewesenH.
So stehen sich in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts drei ganz verschieden-
artige Diktaturbegriffe gegenüber, und ihre endgültige Auseinandersetzung voll-
zieht sich schließlich nicht in Büchern45 , sondern auf dem Schlachtfeld.
Der liberale Begriff hatte die älteste Tradition und faßte 'Diktatur' ganz negativ

41 .ADOLF HrrLEB, Mein Kampf, 73. Aufl.. (München 1933), 357.


n HITLER, Reden und Proklamationen 1932-1945, hg. v. Max Doma.rus, 2. Aufl.., Bd.1/2
(Müiichen 1965), 596.
"Vgl. dazu etwa das „Berliner politische Wochenblatt" (1831 ff.) und 11eine Entgegen-
aetzung von „Recht" und (angeblicher) „salus publica", passim. Das eigenart;ige ist hier
wie an so vielen einschlägigen Stellen im 19. Jahrhundert, daß der Begriff der Diktatur
gemeint ist, aber der Terminus keine Verwendung findet. Völlig in der römischen Tradition
steht die Bemerkung FRIEDRICH Wn:.HELMS IV., der bei der Redaktion der Gesetze zum
Belagerungszustand während der achtundvierziger Revolution notierte: In Zeiten hoher
Gefahr übernimmt der König die Diktatur, wodurch der König sonst an die Verfassung
zurückgebunden wurde; zit. FRIEDRICH FRAHM:, Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte
der preußischen Verfassung, Forsch. z. Brandenburgischen u. Preuß. Gesch. 41 (1928), 282.
66 Aus der Fülle der seit 1918 erschienenen Literatur, die den Terminus 'Diktatur' schon
im Titel führt, mögen in willkürlicher Auswahl folgende Broschüren und Bücher angeführt
werden: K.uu. K.A.UTSKY, Die Diktatur des Proletariats (Wien 1918); WALTER LAMBACH,
Diktator Rathenau (Heidelberg 1918); CHARLES NAINE, Diktatur des Proletariats
<>der Demokratie? (dt. Zürich 1919); EDUARD STADTLER, Diktatur der sozialen
Revolution (Leipzig 1920); GAETANO SALVEMINI, The Fascist Dictatorship in Italy
(New York 192_7); OTTO FORST DE BATTAGLIA, Prozeß der Diktatur (Zürich, Leipzig,
Wien 1930); CARLO SFoBZA, Dictateurs et dictatures de l'Apres-guerre (Paris 1931),

922
D. 4. Vorherrschaft d.es Diktatmbegriffs seit 1919 Diktatur

als nichtkonatitutionelle, d. h. antiparlamentarische und unbeschränkte Macht


eines einzelnen oder einer Gruppe von einzelnen'6 • In der öffentlichen Ausein-
andersetzung zunächst hauptsächlich von italienischen Emigranten gegen das
System Mussolinis angewandt, wird er seit 1933 in Frankreich, England und
Amerika zu einem zentralen politischen Terminus, der schon in den Titeln zahl-
refoher Bücher auftaucht und vorwiegend auf Hitler und Mussolini bezogen
wird47 •
Die Kommunistische Internationale hielt bis 1935 daran fest, daß die Alternative
„Bürgerliche Demokratie oder proletarische Diktatur", wie sie Lenin 1919 aufge-
stellt hatte, die entscheidende Alternative der Epoche sei'8 • Dieser positive Begriff
der Diktatur stach aber immer stärker von der Realität der Herrschaftsausübung
ab und wurde gerade deshalb zu einer Belastung, zumal seit der Sieg des National-
sozialismus den Abschluß eines Bündnisses mit den bürgerlichen ·Demokratien
zum zwingenden Gebot machte. So betonte man in offiziellen und nichtoffiziellen
lußerungen die demokratische Komponente des Marxschen Diktaturbegriffs um so
stärker, je unverkennbarer an der Stalinschen Alleinherrschaft „asiatische" Züge
hervortraten.
Die faschistisch-nationalsozialistische Auslegung suchte das Spezifische des eigenen
Systems in einer besonderen Art der Demokratie· (autoritäre bzw. germanische
Führerdemokratie), die der pluralistischen Parteiendemokratie und deren temporärer

dt. u. d. T.: Europäische Diktaturen (Berlin 1932); HERMANN KANTonowicz, Dic-


ta.t.orship (Cambridge 1935); FREDERICK L. SCHUMANN, The Na.zi Dicta.t.orship, 2nd ed.
(New York 1936); CALVIN B. HoovER, Dicta.t.ors &nd Democracies (New York 1937);
E. E. KELLETT, The Story of Diota.torship from the Ea.rliest Times till Today (London
1937); laNAZIO SILONE, Die Schule der Diktatoren (dt. Zürich 1938); HuGH SETON-
WATSON, Brite.in a.nd the Dictators (Cambridge 1938); ALFRED CoBBAN, Dictatorship.
Its History and Theory (London 1939); GEORGEP.Goocn,Dictatorship in Theory and
Practice (London 1939); JACQUES BAINVILLE, Les dictateurs (London 1940); E.K.BRAM-
STEDT, Dictatorship and Politioa.lPolice (New York 1945); CARL JOACHIM FRIEDRICH/
ZBIGNTEW K. BRZEZINSKI, Totalitaria.n Dictat.orship and Autocracy (Cambridge 1956),
dt. u. d. T.: Tota.litäre Diktatur (Stuttgart 1957); GEORGE W. F. HALLGARTEN, Why
Dictators (Washington 1957), dt. u. d. T.: Dämonen oder Retter? Eine kurze Geschichte
der Diktatur seit 600 vor Christus (Frankfurt 1957); JULIUs DEUTSCH, Wesen und Wand-
lungen der Diktaturen (München 1963); MAURICE DUVERGER, De la. dictature (Paris 1961).
' 1 Gleichzeitig entwarfen freilich die Konstitutiona.listen im 19. Jahrhundert die Verfas-
sungsfigur des reglementierten - Ausnahmezustandes, der aus dem alten Belagerungs-
zustand heraus entwickelt wi;irde. Über die Versuche in Frankreich und Preußen, eine
notwendig werdende Diktatur rechtsstaatlich einzukreisen, berichtet HANS BoLDT, Rechts-
staat und Ausnahmezustand (Berlin 1967). Er weist darauf hin, daß nur die loi 1878 in
Frankreich eine definitive Frista.ngabe bei der Erklärung des Belagerungszustandes ge-
kannt hat. Ansonsten liegen die Begrenzungen in Verfahrensformen, nicht in den alt-
römisch überkommenen Zeitfristen.
'7 Vgl. die überwiegende Anzahl der in Anm. 45 genannten Titel.
0 In der Praxis wurde auch der kommunistische Gebrauch des Begriffs der Diktatur schon

in den frühen zwanziger Jahren ganz vorwiegend negativ und polemisch, in erster Linie
wegen des Aufkommens des Faschismus. Vgl. die offizielle Definition des XIII. Plenums des
EKKI vom Dezember 1933: Der Faackismua i8t die offene te"oriBtiacke Diktatur der am
meiBten re.aktihnären, chawvini&tiacken und imperiaZiBtiBchen ET,eme:n,te des Finanzka'J"i,taU.

923
Diktatur m. Ausblick
Abwandlung, der Diktatur, radikal entgegengesetzt sei49• So sah man sich auf die Vor-
stellung der Artgleichheit als des eigentlichen Legitimationsgrundes zurückgeführt,
ohne sich allerdings die .ll'rage vorzulegen, ob d.ieseriaturhaft verstandeneHomogenitä t
mit der tatsächlichen Vielfalt der geschichtlichen Nation in Einklang stehen konnte.

m. Ausblick
Das Kriegsergebnis bedeutete den Untergang dieser Interpretation, die zweifels-
ohne etwas Künstliches an sich hatte und von dem genuinen Utopismus der
Marxschen Auffassung ebensoweit entfernt war wie von der altüberlieferten Klar-
heit der liberalen Konzeption. Aber auch der Begriff der Diktatur des Proietariats
überstand das Kriegsende nicht ohne Schaden. Neue Begriffe wie 'Volksdemokratie'
oder 'antifaschistische Einheitsfront' traten an seine Stelle, und in der kommu-
nistischen Polemik verdrängte der alte Terminus 'Imperialismus' weitgehend den
der 'faschistischen Diktatur'. Eine um so stärkere Expansion vollzog der liberale
Begriff der Diktatur. Im Zuge des Zweifrontenkampfes der westlichen Welt gegen
den besiegten Faschismus und gegen den konkurrierenden Kommunismus mußte
er beide Gegner unter sich vereinigen und wurde zum Begriff des Totalitarismus
fortgebildet 50• Aber wenn er an Genauigkeit zu wünschen übrig ließ, weil er nur das
Gemeinsame zweier Erscheinungen fassen konnte, deren jahrzehntelange ideologi-
sche und kriegerische Auseinandersetzung kein bloßer Zufall gewesen sein konnte,
so blieb selbst sein substantivischer Charakter zweifelhaft - anders als beim
Bonapartismus, der -dem Wort 'Diktatur' nur eine beiläufige Existenz übrig-
gelassen hatte. Da es absolutistische Erbmonarchien so gut wie nicht mehr gab,
mußte der Begriff 'Diktatur' alles bezeichnen, was nicht eine funktionierende
parlamentarische Demokratie war, und damit wurde es unumgänglich, eine Fülle
von Unterscheidungen zu treffen: 'progressive' und 'reaktionäre', 'kollektive' und
'individuelle', 'totalitäre' und 'autoritäre', 'revolutionäre' und 'legale' Diktaturen.
Was im 18. Jahrhundert 'Despotismus' und 'Tyrannis' hieß, die unbeschränkte
bzw. willkürliche Machtausübung, wird heute in der Regel ebenso als 'Diktatur'
bezeichnet wie die Herrschaft einer Partei, die ihren Repräsentanten weder
Schrankenlosigkeit noch Willkür gestattet. Das Mißliche dieser Situation liegt vor
allem darin, daß dasjenige, was weltgeschichtlich anscheinend weit eher die Regel
als die Ausnahme ist, mit einem Terminus bezeichnet wird, der seit seinen römischen
Anfängen die Bedeutung des Ausnahmezustandes trotz aller Wandlungen nie
völlig hat ablegen können. Damit bringt der Begriff der Diktatur heute jene In-
kongruenz von Bezeichnung und Realität wohl zum schärfsten Ausdruck, welcher
freilich keiner der aus der Antike überlieferten politischen Termini :völlig zu ent-
gehen vermag.
ERNSTNOLTE

19 Vgl. PAUL RrrrERBuscH, Demokratie und Diktatur (Wien, Berlin 1939), 67: Führung

ist eben weder Kompromiß ge,gensätzlicker Elemente noch Diktatur eines über die anderen.
Füh""ng ist al8 politische Verfa11aung überhaupt nickt a'U8 einem pT!uraUstiBcken BegriOe des
sozialen Seins gedanklich zu entwickeln. -
60 Die wichtigsten Etappen dieses Weges werden durch die Bücher von SIGMUND NEUMA.NN,

Permanent Revolution (New York, London 1942), liA.NNA.H .A:&ENDT, The Origins of
Tota.lita.ri.a.n:ism (New York 1951), dt. u. d. T.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
(Frankfurt 1955) und Fm:anBIOH/BBZEZINSKI (s. Anm. 45) markiert.

924
Verzeichnis der benutzten Quellenreihen, Sammelwerke
und \Verkausgahen

a) Quellenreihen und Sammelwerke

CSEL Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum, ed. consilio


Academiae litteraram Caesareae Vindobonensis (Leipzig
1866 ff.)

CR Corpus reformatorum, ed. Karl Gottlieb Bretschneider u. a.


(Bediu 1884 ff.)

DNL Deutsche National.Litteratur. Historisch.kritische Ausgabe,


hg. v. Joseph Kürschner, 163 Bde. (Stuttgart, Berlin, Leipzig
1882 ff.)

Gnmdr. d. SozÖk. Grundriß der Sozialökonomik, hAarhAitflt, v. Ralnmnn Pani


Altmann u. a., 9 Abt. (Tübingen 1914-1929), Neuaufl. einzel.
nerTle.

MG Monumenta Germaniae historica (Hannover, Leipzig u. a.


1826 ff.):
MG SS Scriptores (1826 ff.)
MG SS rer. Germ. i. u. sch. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum (1840 ff.)
MG LL Leges (1835 ff.)
MG Const. Leges sect. IV: Constitutiones et acta publica (1893 ff.)
MG DD Diplomata (1872 ff.)
MG Epp. Epistolae (1883 ff.)
MG Antiqu. Antiquitates (1880 ff.)

M!GNE, Patr. Iat. Patrologia, Cursus completus, ed. PAUL M!GNE, ser. Latina,
221 t. (Paris 1844-1864), Suppl., ed. Adalbert Hamman
(Paris 1958 ff.)

M!GNE, Patr. gr. Ders., Patrologia, Cursus completus, ser. Graeca, 162 t.
(Paris 1857-1912)

RTA Deutsche Reichstagsakten, hg. durch die Historische Commis-


sion bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften (Mün-
chen, [Stuttgart,] Gotha 1867 ff.)

925
Quellen, Sammelwerke, W erkausgahen

b) Werkausgaben
ARNDT, ERNST MoRITZ, Ausgewählte Werke, hg. v. Heinrich Meiner u. Rudolf Geerds,
16 Bde, [in 4; Bd. 1: Arndts Leben] (Leipzig o. J. [1908]) Werke
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59-90385/1 .929
Bibliographie der Lexika, Wörterbücher und
Nachschlagewerke

Die Bibliogra.phie ba.siert a.uf Vorarbeit.an, die in die Anfangszeit des vorliegenden
Werkes zurückgehen •. Für den Druck wurde sie vollständig übera.rbeit.et und um einige
Tit.el ergänzt. Da.bei wurde versucht, die Quellen möglichst einzusehen. Wo dies nicht zu
erreichen wa.r, wurden die Anga.ben den beka.nnt.en bibliogra.phischen Hilfämitt.eln ent-
nommen. Besonders hervorzuheben für unseren Bereich sind in diesem Zusammenha.ng:
ERNST OSCAR Pn.Tz, Zur Geschicht.e und Bibliographie der encyklopä.dischen Lit.era.tur
insbesondere des Conversations-Lexikons, in: F. A. Brockhaus in Leipzig. Vollständiges
Verzeichnis der von der Firma. F. A. Brockha.us in Leipzig seit ihrer Gründung durch
Friedrich .Arnold Brookha.us im Jahre 1805 bin zu d0980n hundertjährigem Geburt!itage
im Jahre 1872 verlegt.an Werke, hg. v. HEINRICH BROCKHA.US (Leipzig 1872-1875),
1-LXXU u. ROBERT UoLLISON, Encyclopa«lia.s: The History throughout the Ages
(New York 1964). Die Bibliogra.phie enthält sowohl die bibliogra.phischen Angaben
wie a.uch die Siglen in a.lpha.betischer · Ordnung. Soweit Anga.be und Sigle in ihrem
a.lpha.betischen Pla.tz nicht korrespondieren, erleicht.ert ein Verweis die Suche.

HELGA REINIIART

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(Rotterdam 1715); b) 38 ed., revue, corrigee et augmentee par l'auteur, 6d. Prosper
Marchand, 4 vol. (Rotterdam 1720); 4e ed., revue, corrigee et augmentee (Prosper
Marchand). Avec la vie de l'auteur par Des Maiseaux, 4 vol. ·(Amsterdam 1730); von der
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critiques, 5 vol. (Amsterdam-Trevoux-1734); b) 58 ed., 4 vol. (Basel 1738); c) 58 6d.,
4 vol: (Amsterruim 1740); Nouveau Dictionnaire historique et critique, pour servir de
suppl8ment ou de continuation au Dictionnaire historique et critique de M. Pierre Bayle
par Jacques-George de Chaufepie, 4 vol. (Amsterdam 1750-1756); nouvelle 6d.,
augmentee de notes extraites de Chaufepie, Joly, La Monnaoie, Leduchat, L.-J. Leclerc,
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BAYLE, PIEBRE, Herrn.Peter Baylens ••• historisches und critisches Wörterbuch :qach
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primis juris consultorum detectus sive continuatio Thesauri'practici, hg. v. Christoph
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zur Ausg. 1697: Orbis novus .•. sive continuatio Thesauri practioi (Nürnberg 1699) =
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59*-90385/1 931
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SooiAtA cle genR cle l11ttmR. Mis en orclm et puhlie par M. Diderot, et, quant A la part,i11
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auf die Bde. 4 und 33 der vorgenannten Ausg.]; c) 36 v~I. {Lausanne, Bern 1781/82)
Encyclopedie

Encyclop6die catholique. Repertoire universel et raisonne des sciences, des lettres, des arts
et des metiers. Publie ... SOUS Ia direction de M. I'abbß Jean Baptiste Glaire et Je
vicomte M. Joseph Alexis Walsh et d'un Comitee d'orthodoxie, 18 vol. {Paris 1838--49)
· Enc. catholique

Encyclopädie, Deutsche, oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissen-


schaften. Von einer Gesellschaft Gelehrten, hg. v. Heinrich Martin Gottfried Köster u.
ab Bd. 18 v. J. E. Roos, 23 Bde. (Frankfurt 1778-1804)
[unvollendet, reicht nur bis Buchstabe K] Dt. Enc.

Encyclop6die des gens du monde. Repertoire universal des sciences, des Iettres et des arts,
22 vol. (Paris 1833-1844) Enc. des gens du monde

Encyclopßdie methodique, par ordre des matieres, begonnen v. L. J. Panckoucke, später


Agasse, 133 vol.: A-Z, 51 vol.: Planches (Paris 1782-1832) Enc. meth.

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HEINSE
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