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Historisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache
in Deutschland
Ehre, Reputation
Eigentum
Einheit
Emanzipation
Entfremdung
Entwicklung, Evolution
Fabrik, Fabrikant
Familie
Fanatismus
Faschismus
Feudalismus
Fortschritt, Progreß
Freiheit
Friede
Geschichte, Geschichtlichkeit,
Geschichtsphilosophie, Historie
Historismus
Gesellschaft, bürgerliche
Gesellschaft, Gemeinschaft
Gesetz
Gewaltenteilung
Gleichgewicht, Balance
Gleichheit
Grundrechte,_Menschen- und·
Bürgerrechte, Volksrechte
Geschichtliche Grundbegriffe
Historisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland
Band 1 A-D
GESCHICHTLICIIE
GRUNDBEGRIFFE
Historisches Lexikon
zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland
Heraui;gegeben von
Ouo Brunner Werner Conzc Rcinhort Koselleck
Band 1
A-D
Nach langen Jahren der Vorbereitung wird hiermit der erste Band des Lexikons
„Geschichtliche Grundbegriffe" vorgelegt. Die Herausgeber denken daran zurück,
daß ihr Plan stufenweise entwickelt, verändert und präzisiert wurde, bis er die end-
gültige Gestalt gewann, in der das Werk nunmehr zu erscheinen begonnen hat.
Auf dieser Wegstrecke haben wir vielfältig Rat und Hilfe erfahren. Unser größter
Dank gilt den Autoren, die sich oft vielen Mühen unterzogen und die sich an der Ge-
samtplanung beteiligt haben.
Wir danken dem aus Bundesmitteln geförderten Arbeitskreis für moderne Sozial-
geschichte. Er hat das Lexikon teilweise :finanziert und vor allem durch Beratungen
und Arbeitstagungen wichtige Hilfen geleistet. Ebenso gilt unser Dank der Deut-
schen Forschungsgemeinschaft. Durch ihre :finanzielle Unterstützung wurde die Re-
daktion in den letzten Jahren so ausgestattet, daß der große Arbeitsaufwand
einigermaßen bewältigt werden konnte und ein schnelles Erscheinen der folgenden
Bände erwartet werden darf.·
Wir danken den Teilnehmern der vorbereitenden Tagungen, unter ihnen besonders
den Professoren Kurt Baldinger und Werner Betz, die uns in der Anlaufphase be-
rieten und Abgrenzungshilfe leisteten. Ein besonderer Dank gebührt Herrn Dr. Horst
Stuke, dem unermüdlich hilfreichen Geschäftsführer des Arbeitskreises, den Mit-
arbeitern der Heidelberger Redaktion Herrn Dr. Karl Martin Graß, Frau Helga
Reinhart, Frau Christa Schönrich, Herrn Reinhard Stumpf und auch Frau
Dr. Dorothee Mußgnug, die lange in der Heidelberger Redaktion tätig war.
Ebenso danken wir allen Studenten, die in Seminaren und durch Belegsuche oder
mit Anregungen zum Gelingen beigetragen haben. Ferner sind alle Mitarbeiter am
Lexikon zahlreichen Instituten, besonders der philologischen und philosophischen
Nachbarbereiche und deren Mitgliedern für mannigfache Hilfe .dankbar, ganz be-
sonders der Heidelberger Universitätsbibliothek, ohne deren Entgegenkommen das
Lexikon, das auf Tausenden, oft schwer erreichbaren Quellen beruht, nicht hätte
zustande kommen können.
Schließlich, aber nicht zuletzt wissen wir uns dem Ernst Klett Verlag .dankbar ver-
pflichtet. Verleger und Mitarbeiter, Frau Kurtz, Herr Dr. Dieckmann und Herr
Jaehnke haben keine Mühe geschent, um den ersten Band, dem im Jahresabstand
vier weitere folgen, dem Publikum zuzuführen. So bleibt nur der Wunsch offen, daß
der Leser einigen Gewinn davontragen möge. Für jede Kritik und Anregung, vor
allem für die folgenden Bände, wissen sich die Herausgeber dem künftigen Leser
dankbar verbunden.
V
IIlnweise zur Benutzung
1. Zum Schriftbild
Nachgewiesene Quellenzitate stehen in K ursivdruck, Zitate aus der Sekundärliteratur
in NormaUruck mit Anführungszeichen. Begriffe sind durch 'Häkchen' gekenn-
zeichnet, ebenso Wörter, die als solche hervorgehoben werden sollen. Die Bedeutung
von Wörtern und Begriffen steht in Anführungszeichen.
2. Zur Zitierweiae
Um das Nachschlagen von Zitaten auch dann zu ermöglichen, wenn die kritische
Ausgabe nicht zur Hand ist, wird bei „Klassikern" (zum Begriffs. S. XXIV unter
3.1) und Lehrbuchverfassern von der inneren Zitierweise (nach Teil, Buch, Para-
graph bzw. Band, Kapitel, Abschnitt) reichlich Gebrauch gemacht. In vielen Fällen
tritt sie auch zu der äußeren Zitierweise (nach Band und Seite mit Erscheinungsort
und -jahr) hinzu.
Ist ein Werk streng systematisch gegliedert, kann die innere Zitierweise abyekürzt
werden, z. B.
F'BA:NOIS BA001'1, The Advancement of Learning l, 7, 3 = Buch 1, Kap. 7, § 3:
Entsprechend können abgekürzte (a) und altsführliche (b) innere Zitierweise in
einer einzigen Belegformel. miteinander gekoppelt werden, z. B.
(a) Huoo GROTIUs, De iure belli ac pacis .2, 4, 2, hg. v. B.J.A. de Kanter-van Hettinga
Tromp (Leiden 1939), 172.
SAMUEL Pul'ENDORF, De jure naturae et gentium 2, 5, 9 (1688; Ndr. Oxford, London
1934), 191.
(b) KANT, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre,§ 49, Allg. Anm. D [=innere Zitierweise].
AA Bd. 6 (1907), 329 [ = äußere Zitierweise].
Bei der äu{Jeren Zitierweise stehen Erscheinungsort und -jahr in Klammern; auf die
Klammer folgt, durch ein Komma abgetrennt, die Seitenzahl ohne nähere Kenn-
zeichnung. Mehrere Seitenzahlen werden durch Punkte voneinander getrennt.
Antike Autoren werden auf die in der Altphilologie übliche Weise zitiert, z.B.
PLATON, Pol. 445 d; 587 d.
Zeitschriftentitel werden lesbar abgekürzt. Die dabei verwendeten Abkürzungen
finden sich im allgemeinen Abkürzungsverzeichn~s (S. IX ff.).
Die im Verzeichnis t1er benutzten Quellenreihen, Sammelwerke und Werkausgaben
(S. 925 ff.) und in der Bib~iographie t1er Lexika, Wörterbücher und Nachschlagewerke
(S. 930 ff.) aufgeführten Titel werden unter den dort genannten Siglen abgekürzt
zitiert, d. h. ohne .Herausgeber und Erscheinungsort. Die Siglen der Lexikon-
bibliographie bestehen meist in den Zunamen der Verfasser bzw. Herausgeber.
Bei den Erscheinungsorten bedeutet „Frankfurt" ohne Zusatz immer Frankfurt/
Main, „Freiburg" ohne Zusatz immer Freiburg/Breisgau.
3. Sonstiges
Zur Motlernisierung deutscher Quellenzitate ab 1700 s. S. XXV unter 3. 4.
Die manchen Artikeln am Ende beigegebene Li,reraturangabe beschränkt sich auf
begriffsgeschichtliche Literatur im engeren Sinne. Der letzte Band wird einen
Namens- und einen Begri8Bindex enthalten, der alle behandelten Quellenautoren
und Begriffe nachweist.
VI
Inhalt
Mitarbeiterverzeichnis VIII
Abkürzungsverzeichnis IX
Einleitung XIII
Adel, Aristokratie 1
Anarchie, Anarchismus, Anarchist 49
Angestellter 110
Antisemitismus 129
Arbeit 154
Arbeiter 216
Aufklllruug 2~
VII
Verzeichnis der Mitarbeiter
IIANSBOLDT Ausnahmezustand
WERNER CONZE Adel 1. 11.2-111
Arbeit
Arbeit.er
Bauer
Beruf
Demokratie VI-VII
DIETERÜROH Cäsarismus
lI'M'A KrM-WAWRZINEK Bedürfnis 1-IV
.TüRG"EN Kociu Angestellter
BEINHART KosELLECK Einleitung
Bund
Demokratie IV.1
ANNETTE KuHN Exkurs: christlich-sozial
PETER CHRISTIAN LUDZ Anarchie 1. 11.2-VI
llANs MAIER Demokratie III. IV.2-4. V
CHRISTIAN MEIER Adel 11.1
Anarchie 11.1
Demokratie 1
JOHANN BAPTIST MÜLLER Bedürfnis V-VI
THOMAS NIPPERDEY Antisemitismus
ERNSTNOLTE Diktatur
HANNAHRABE Autarkie
HoRSTRABE Autorität .
HANS LEO REIMANN Demokratie II
TRUTZ RENDTORFF Ohristentum
MANFRED RIEDEL Bürger
REINHARD RüRUP Antisemitismus
WOLFGANG SCHIEDER Brüderlichkeit
HoRsTSTuKE Aufklärung
RUDOLF VIERHAUS Bildung
VIII
Abkürzungsverzeichnis
IX
AWdlnangnenelehab
H. Heft, -e
o. J. ohne Jahr
Habil.-Schr. Habilitationsschrift
o.O. ohne Ort
Hb. Handbuch
o. s. ohne Seite
hg. v. herausgegeben von
ökon. ökonomisch
hist. historisch, historique,
österr. österreichisch
historical
Hwb. Handwörterbuch
p. page, pagina
i.A. im Auftrag päd. pädagogisch
idg. indogermanisch philol. Philologie, Philology,
Inst. Institut philologisch, philo-
ital. italienisch logique, philologioal
philos„ phil. philosophisch, philoso-
Jb„ Jbb. Jahrbuch, Jahrbücher phicus, philosophique
Jber. Jahresbericht, -e Philos. Philosophie
Jg. Jahrgang polit. politisch, politique, poli-
jur. juristisch tical
poln. polnisch
Kap. Kapitel preuß. preußisch
kath. katholisch Progr. Programm
kgl. königlich prot. protestantisch
Kl. Klasse '[bei Akademie- ps. pseudo- [bei Namen]
abhandlungen]
Kl. Sehr. Kleine Schriften
qu. quaestio
Konv. Lex. Konversationslexikon
lat.
\
lateinisch R. Reihe
Lex. Lexikon Realenc„ RE Realencyclopädie
Lfg. Lieferung rev. revidiert
Lit. Literatur Rev. Revue, Review
luth. lutherisch Rez. Rezension
RGBl. (1.) Reichsgesetzblatt,
mhd. mittelhochdeutsch -blätter
Mitt. Mitteilungen rhein. rheinisch
Mschr. Maschinenschrift(lich) russ. russisch
X
Altkürzangnerzeicbnis
s., s.o., s. u., siehe, -oben, -unten, -dort Obers., übers. Obersetzung, übersetzt
s. d. u.d. T. unter dem Titel
s. Seite ung. ungarisch
sächs. sächsisch ·Unters. Untersuchungen
sämtl. sämtliche unv. unverändert
Sb. Sitzungsbericht, -e
SC. ergänze
Sehr. Schrift, -en
v., vv. Vers, -e
Sehr. u. Schriften und Fragmente Verh: Verhandlungen
Fragm. Veröff. Veröffentlichung, -en
schweiz. schweizerisch
Vers., -vers. · Versammlung
sect., Sekt. Section, Sektion
Vjbll. Vierteljahresblätter
Ser., ser. Serie, serie Vierteljahresheft, -e
Vjh.
SozÖk. Sozialökonomik Vierteljahr(es)schrift
Vjschr.
SozWiss. Sozialwissenschaften vol., vols. volume, volumes
Sp. Spalte
span. spanisch
Sten.Ber. Stenographische(r) WA Weimarer Ausgabe
Bericht(e) Wb. Wörterbuch
Suppl. (Bd.) Supplement, westf. westfälisch
Supplementband wiss., Wiss. wissenschaftlich, Wissen-
S. V. sub verbo schaft, -en
sw Sämtliche Werke wohlm. wohlmeinend
synon. synonymisch
t. tome, tomus
theol., theol. theologisch, theologique z. Zeile
Tit. Titel zit. zitiert (bei)
Tl. Teil Zs. Zeitschrift
XI
Ernst: Wovon ick einen BegriU
habe, das kann ich auch
mit Worten ausdrücken.
Falle Nicht immer; und oft
wenigstens nicht so, daß andre
durch die Worte vollkommen
eben denselben Begriff bekom-
men, den ick dabei habe.
LESSING
Einleitung
Die soziale und politische Sprache kennt eine Menge von Leitbegriffen, Schlüssel- oder
Schlagwörtern. Manche tauchen plötzlich auf und verblassen schnell, viele Grund-
begriffe haben sich dagegen seit ihrer Bildung in der Antike durchgehalten und
gliedern noch heute - wenn auch in veränderter Bedeutung - unser politisch-
soziales Vokabular. Neue Begriffe sind hinzugetreten, alte haben sich gewandelt
oder sind abgestorben. Immer hat sich die Mannigfaltigkeit geschichtlicher Er-
fahrung vergangener oder gegenwärtiger Zeiten in Begriffen der verschiedenen
Sprachen und in ihren Übersetzungen niedergeschlagen. In Anbetracht dieses all-
gemeinen Befundes hat das vorliegende Lexikon eine bewußte Auswahl getroffen.
XIII
Einleitung
1.2 Die leitende Fragestellung ist, die Auflösung der alten und die Entstehung der
modernen Welt in der Geschichte ihrer 'begrifflichen Erfassung zu untersuchen.
Dieses Gesamtthema hat ..ll:inschränkungen zur Folge, die, wie wir hoffen dürfen,
der methodischen Klarheit und der inhaltlichen Ergiebigkeit zugute kommen.
Das Lexikon behandelt vorzüglich und forschungsintensiv den Zeitraum von rund
1700 bis an die Schwelle unserer Gegenwart. Der Schwerpunkt der :Untersuchungen
liegt auf der „neuzeitlichen" Begrifflichkeit, die mehr umfaßt als nur „moderne"
Bedeutungen. Gerade die Überlappungen und Verschiebungen „moderner" und
„alter" Wortbedeutungen werden erfragt. Deshalb wird in die Antike, auf das
Mittelalter, auf Renaissance, Reformation und Humanismus zurückgegriffen, soweit
die Wortgeschichte der Begriffe aus diesen Zeitaltern herrührt. Ferner werden nur
Begriffe des deutschen Sprachraums, wenn auch im Anschluß an die europäische
Tradition, untersucht. Schließlich werden nur solche Begriffe analysiert, die den
sozialen Umwandlungsprozeß im Gefolge der politischen und der industriellen Re-
volution erfassen bzw., von diesem Vorgang betroffen, umgewandelt, ausgestoßen
oder provoziert werden.
Das Lexikon ist also insofern gegenwartsbezogen, als es die sprachliche Erfassung
der modernen Welt, ihre Bewußtwerdung und Bewußtmachung durch Begriffe, die
auch die unseren sind, zum Thema hat. Nicht aber war beabsichtigt, das gesamte
politische und soziale Vokabular unserer aktuellen Gegenwart in seiner Herkunft
aufzuzeigen. Ebensowenig war beabsichtigt, eine linguistisch abgestützte politische
Semantik zu liefern, wenn auch das Lexikon für diese - weithin noch brachliegende
- Fragestellung nützliche Vorarbeit liefert. Vielmehr werden Leitbegriffe aus der
vorrevolutionären Zeit über die revolutionären Ereignisse und Wandlungen hinweg
in unseren Sprachraum hinein verfolgt (etwa 'Bürgerliche Gesellschaft', 'Staat', die
aristotelischen Verfassungsbegriffe), werden Neologismen dargestellt, die diesem Ge-
schehen entsprechen (z. B. 'Cäsarismus', 'Kommunismus', 'Antisemitismus',
'Faschismus'), und es werden Bedeutungsgeschichten von solchen Wörtern unter-
sucht, die erst zu modernen Begriffen aufrücken (wie 'Klasse', 'Bedürfnis', 'Fort-
schritt' oder 'Geschichte').
XIV
1.3 Der heUristische Vorgrift' der Lexikonarbeit besteht in der Vermutung, daß
sich seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein tiefgreifender Bedeutungs-
wandel klassischer topoi vollzogen, daß 8.l.te Worte neue Sinngeha.lte gewonnen
haben, die mit Annäherung an unsere Gegenwart keiner Übersetzung mehr be-
dürftig sind. Der heuristische Vorgriff führt sozusagen eine „Sattelzeit" ein, in der
sich die Herkunft zu unserer Präsenz wandelt. Entsprechende Begriffe tragen ein
Janusgesicht: rückwärtsgewandt meinen sie soziale und politische Sachverhalte,
die uns ohne kritischen Kommentar nicht mehr verständlich sind, vorwärts und uns
zugewandt haben sie Bedeutungen gewonnen, die zwar erläutert werden können,
die aber auch unmittelbar verständlich zu sein scheinen. Begrifflichkeit und Begreif·
barkeit fallen seitdem für uns zusammen.
Dieser Vorgriff hat sich, von bezeichnenden Ausnahmen abgesehen, bewährt. Die
untersuchten politisch-sozialen Begriffe indizieren - auf ihre Geschichte hin be-
fragt - einen langfristigen und tiefgreifenden, manchmal plötzlich vorangetriebe-
nen Erfahrungswandel. ·Alte Begriffe haben siehiri ihrem Bedeutungsgehalt den sich
verändernden Bedingungen der modernen Welt angepaßt. Ohne daß sieh die Worte
geändert hätten, haben ?.. R. 'Demokratie', 'Revolution', 'Republik' oder 'Ge-
schichte' einen deutlich festzustellenden Übersetzungsvorgang vollzogen. Manchmal
entstanden fast völlige Neuprägungen, wie 'Klasse' oder 'Sozialismus'.,.-- alte Aus-
drücke, die erst unter ökonomischen Planungen und geänderten wirtschaftlichen
Bedingungen zu zentralen Begriffen aufrückten. Hier wird der Übergang zu Neo-
logismen fließend, so wie es umgekehrt tradierte Worte gibt, die einen schleichenden
politischen und gesellschaftlichen Bedeutungsschwund erleiden, wie 'Stand' oder
'Adel'.
Der heuristische Vorgriff führt also zu einer Schwerpunktbildung, die von der ge-
schichtlichen Fragestellung nach Dauer oder Überdauern der Herkunft und nach
Wandel oder Umbruch durch die revolutionäre Bewegung bestimmt ist. Alle Be-
griffsgeschichten zusammen bezeugen neue Sachverhalte, ein sich änderndes Ver-
hältnis zu Natur und Geschichte, zur Welt und zur Zeit, kurz: den Beginn der
„Neuzeit".
· Es ist eine vorerst noch nicht eindeutig beantwortbare Frage, ob der skizzierte Be-
deutungswandel im Bereich der politisch-sozialen Terminologie, der analog natür-
lich für alle Epochenschwellen registrierbar ist, seit rund 1750 beschleunigt statt-
gefunden hat. Dafür sprechen viele Indizien. Dann wäre die „Neuzeit" aufgrund ihres
beschleunigten Erfahrungswandels auch als eine „neue Zeit" erfahren worden.
Plötzlich aufbrechende, schließlich anhaltende Veränderungen machen den Er-
fahrungshorizont beweglich, auf den die ganze Terminologie, besonders ihre rele-
vanten Begriffe, reaktiv oder provokativ bezogen werden. Zunächst ist es auffallend
und ein vom Lexikon bestätigtes Ergebnis bisheriger Forschung (STAMMLER), daß
seit etwa 1770 eine Fülle neuer Worte und Wortbedeutungen auftauchen, Zeugnisse
neuer Welterfassung, die die gesamte Sprache induzieren. Alte Ausdrücke werden
mit Gehalten angereichert,. die nicht nur zum Vorfeld deutscher Klassik und des
Idealismus gehören, sondern die in gleicher Weise die Terminologie für Staat und
Gesellschaft - wie diese Bezeichnungen selber - neu profilieren.
Es seien deshalb einige Kriterien genannt, kraft derer sich qer langfristige Vorgang
seitdem gliedern läßt, ohne daß sie schon in alle einzelnen Artikel des Lexikons
hätten eingehen können, zumal sie auch deren Ergebnis sind.
XV
Einleitung
l.31 Im Zuge der sich auflösenden ständischen Welt dehnt sich der Anwendungs-
bereich vieler Begriffe aus, es· handelt sich im Sinne eines aktuellen Schlagwortes
um eine Art Demokratisierung. Zwar hatte schon, nachdem die Buchdruckerkunst
erfunden war; der religiöse, soziale und politische Flugschriftenstreit seit der Re-
formation alle Stände erfaßt. Aber erst in der „Aufklärung" beginnt sich - nach
ihrer vorübergehenden Einengung auf das Französische - die politische Sprache
auszudehnen. Ehedem standesspezifische Ausdrucksfelder werden ausgeweitet. Blieb
bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die politische Terminologie auf die
Spitzen der Aristokratie, auf Juristen und Gelehrte beschränkt, so erweitert sich der
Kreis der Beteiligten seitdem sprunghaft auf die· Gebildeten. Dem entiRprir.ht dil'I
emporschnellende Zahl der Zeitschriften und der Wandel von der intensiven Wieder•
holungslektüre der immer gleichen Bücher zur extensiven Lesegewohnheit, die das
stets neu Anfallende verzehrt (Engelsing). Schließlich, etwa seit dem Vormärz,
dehnt sich der Resonanzboden der Öffentlichkeit, wächst die Zahl der unteren
Schichten, die bewußt in den politischen Sprachraum eintreten. Empfängerkreise,
Schreiber~ und Rednerkreise werden größer, ohne freilich nach Umfang und Schich-
tung zur Deckung zu kommen. Zahlreiche Begriffe dringen, oft als Schlagworte,
durch die Risse der gesellschaftlichen Schichtung in andere· Kreise über. Dabei
mochten sie ihren Sinn ändern: '.l'reßfreiheit' war den Konservativen 'Preßf:rech-
heit', während sie 1848 bei illiteraten Bauern noch als Befreiung von Druck und
Lasten verstanden werden konnte. Aber weniger diese Umdeutungen sind wirksam
geworden; gerade mit identischen Gehalten verlagerte sich der soziale Stellenwert
eines Begriffs.
Andererseits fransen mit der Aushöhlung der ständischen Hierarchie auch· die
darauf zielenden Bedeutungen aus, sie sind nicht mehr griffig. 'Ehre' oder 'Würde'
können ständisch nicht mehr eindeutig zugeordnet werden, sie werden privatisiert
oder ausgedehnt auf die 'Nation', das 'Volk'. 'Stand' selber zerfällt in wirtschaft-
. liehe, gesellschaftliche oder berufliche Elemente, · die zuvor alle gemeinsam in
der entsprechenden politischen Standesbezeichnung auf einen Begriff gebracht
worden waren. Neue Allgemeinbegriffe, auch im Kleid alter Worte, drängen
hoch: wie der ehemals ständisch-ehrwürdige Bürgerbegriff zu einem potentiellen
Oberbegriff aufrückt, der alle anderen Standesbezeichnungen ausschließt oder
verschluckt.
l.32 Ein zweites Kriterium der auf ihren Begriff gebrachten neuen Erfahrungen ist
die Verzeitlichung der kategorialen Bedeutungsgehalte. "Oberkommene topoi werden
gefühlsmäßig aufgeladen, sie gewinnen Erwartungsmomente, die ihnen früher nicht
innewohnten. Die auf Wiederholbarkeit und endliche Vollzähligkeit hin angelegte
Triade der aristotelischen Herrschaftsformen wird unterlaufen und überholt. 'Re-
publik', ehemals ein Sammelbegriff für alle Verfassungen, wird zum Parteibegriff,
erhebt aber als solcher den Anspruch, die einzig legitime Verfassung zU sein. Aus
dem systematischen Oberbegriff wird ein geschichtlicher Zielbegriff, ein Erwartungs-
begriff, dem sich der 'Republikanismus' als Bewegungs- und Integrationsbegriff zu-
ordnet. 'Demokratie' rückt bald an die Stelle der Republik, wenn auch im deutschen
Sprachraum mit schwankender Durchschlagskraft, aber mit dem gleichen Anspruch,
einzig legitime Verfassung zu sein. Das hat wiederum ZUr Folge, daß nicht mehr
'Aristokratie' oder 'Monarchie' als Herrschaftsformen die theoretischen Gegen-
XVI
Eiuleituns
begriffe sind, sondern daß sich 'Demokratie' durch bewegliche Qualifikationen aus-
weisen muß, je nachdem wie sie mit.dem Liberalismus, dem Cäsarismus oder dem
Sozialismus usw. verbunden wird.
Zahlreiche -ismus-Bildungen tauchen auf, Promotoren und Indikatoren eines auf
verschiedenen Schichten verschieden schnell vorangetriebenen Prozesses, ohne daß
die -ismen diesen Prozeß je zur Gänze erfassen könnten. Geschichtsphilosophische
Fluchtlinien imprägnieren das ganze Vokabular. So löst sich z. B. 'Emanzipation'
von seinem natürlichen, generationsbedingten Rhythmus, dehnt seine zunächst
personenbezogene, juristische Bedeutung der Mündigwerdung auf die Ablösung
ständischer Vorrechte aus, um schließlich ein allgemeiner, verschieden besetzbarer
Zukunftsbegriff zu werden, der nicht nur ständische Herrschaft persönlicher Art,
sondern „Herrschaft überhaupt" zu beseitigen verspricht. 'Herrschaft' selber ge-
winnt, soweit ihr persönlicher Vollzug von Verwaltungsinstitutionen übernommen
wird, eine schillernde metaphorische Bedeutung, die sich weiterhin aus der alten
Antithese von „Herr und Knecht" speist.
Andererseits werden Worte definiert, wie zuerst 'constitution' von VATTEL, die den
Veränderungskoeffizienten kommenden Wandels in rlen Verfassungsbegriff selber
aufnehmen. 'Demokratie' ist für FRIEDRICH SCHLEGEL gerade wegen ihrer Unerfüll-
barkeit· Legitimationstitel aller künftigen Verfassung. Oder: 'Bedürfnissteigerung'
wird seit rund 1780 zum temporalen Bestandteil bisher statisch begriffener 'Be-
dürfnisse'.
Schließlich tauchen Ausdrücke auf, die die geschichtliche Zeit selber artikulieren.
Die reflexiv verstandene 'Entwicklung', der unendliche 'Fortschritt', die 'Geschichte
schlechthin',' die zugleich ihr eigenes Subjekt und Objekt sei, die 'Revolution', die
aus dem Kreislauf ihres vormaligen Sinnes ausschert und zum allgemeinen Be-
wegungsbegriff mit gleitender Zielskala aufrückt - all diese neuen Begriffe zeich-
nen sich durch Zeitbestimmungen aus, die prozessuale Sinngehalte und Erfahrungen
bündeln:
1.33 Ein weiteres Kriterium, das den Raum der beginnenden Neuzeit gliedert, ist
die auftauchende Ideologisierbarkeit vieler Ausdrücke. Der Verlust anschaulich hin-
genommener Zuordnungen von sozialen Gegebenheiten und deren Benennungen
charakterisiert eine neuzeitliche Erfahrung. Deshalb steigt der Abstraktionsgrad
vieler Begriffe, die keinen Wechsel der Ereignisse oder Wandel der Sozialstrukturen
mehr einzuholen vermögen - oder eben nur auf dem Wege zunehmender Ab~
straktion. Seitdem häufen ·sich die Kollektivsingulare: aus den konkreten 'Ge-
schichten' wird die 'Geschichte an sich', aus den sachbezogenen einzelnen Fort-
schritten wird der 'Fortschritt selber', aus den Freiheiten ständischer Vorrechte
wird die allen gemeinsame 'Freiheit', die seitdem durch immer neue Epitheta be-
stimmt werden muß ('sozial', 'ökonomisch', in einem alten und auch neuen Sinn
'christlich', 'politisch' usw.)., um konkreten Sinn zu gewinnen.
Solche Wortbildungen der Kollektivsingulare eignen sich in der ihnen eigentüm-
lichen Allgemeinheit und Mehrdeutigkeit zu Leer- urid Blindformeln, die nach
Klassen- und Interessenlage der Sprecher verschieden und gegenläufig verwendbar
sind. Seitdem lassen sich zahlreiche Begriffe, je nach der Hintergrundsperspektive
der Beteiligten, ökonomisch, theologisch, politisch, geschichtsphilosophisch oder
sonstwie ideologisieren. Diese begriffsgesohiohtlich erfaßbaren Vorgänge bezeugen
XVII
Einleitung
XVIII
Einleitung
gangenheit, die wieder ihre eigene Geschichte hat. Diese mag von Wort zu Wort
verschieden sein und wird deshalb in zeitlich unterschiedlicher Tiefe zurückverfolgt.
Die Entstehung der Neuzeit in ihrer begrifflichen Erfassung iRt nur nar.hzuvoll-
ziehen, wenn auch und gerade die früheren Sinngehalte der untersuchten Worte
oder wenn die Herausforderung zu Neubildungen mit in den Blick gerückt werden.
Diesen Gesamtvorgang zu erfassen, dient die historische Analyse geschichtlicher
Grundbegriffe, die das Lexikon vorlegt. Historisch-positivistische Bestandsauf-
nahme und gegenwärtige Aktualität sind nicht Selbstzweck des Lexikons, gleich-
wohl gehen beide in die Untersuchungen ein.
1.42 Zweitens wird über eine derartige Bestandsaufnahme hinaus der Um·wand-
lungsprozeß zur Moderne thematisiert - ent~prechend un11erem heuristischen Vor-
griff. Hierin ist der spezifisch geschichtswissenschaftliche Beitrag im Lexikon ent-
. halten: und hier unterscheidet sich das vorgelegte Lexikon von philosophischen oder
philologischen Unternehmen ähnlicher Art. Die Begriffsgeschichte führt über eine
Systematisierung oder Addition historischer Quellenbelege hinaus. Sie führt viel-
mehr interpretierend heran an die in den Begriffen sich niederschlagende Erfahrung,
und sie schlüsselt, soweit möglich, die in den Begriffen enthaltenen theoretischen
Ansprüche auf. Sie fragt ausdrücklich nach dem jeweils epochalen Evidenzwandel,
wie er sich sprachlich in den Begriffen artikuliert hat.
1.43 Damit wird drittens eine semantologische Kontrolle für unseren gegenwärtigen
Sprachgebrauch ermöglicht. Ungewollte oder eigenmächtige Übertragungen gegen-
wärtiger Sinngehalte in vergangene Wortbedeutungen lassen sich überprüfen.
Heute gängige Ausdrücke und Schlagworte werden in ihrer historischen Hinter-
grundsbedeutung erhellt. Definitionen müssen dort nicht mehr ungeschichtlich und
abstrakt bleiben, wo sie dies aus Unkenntnis der historischen Herkunft sind; sie
können die überkommene Bedeutungsfülle oder Bedeutungsarmut der Begriffe ein-
beziehen. Der Verfremdungseffekt durch vergangene Erfahrung mag dann der
gegenwärtigen Bewußtseinsschärfung dienen, die von historischer Klarstellung zu
politischer Klärung führt. ·
2 MethOde
Die begri:ffsgeschichtliche Forschung und die Semantologie haben in den letzten
Jahrzehnten im In- und Ausland eine Reihe neuer Fragen und Methoden erschlos-
sen. Das vorliegende Lexikon hat Anregungen der Sprachwissenschaft und der philo-
XIX
Einleitung
2.2 Nun liegt in diesem Verfahren immer eine Rückübersetzung vergangener Wort-
gehalte in unser heutiges Sprachverständnis beschlossen. Jede Wort- oder Begrüi's-
XX
Einleitung
XXI
Einleitung
2.4 Die Unterscheidung zwischen Wort und Begrift" ist im vorliegenden Lexikon
pragmatisch getroffen worden. Es wird also darauf verzichtet, das sprachwissen-
schaftliche Dreieck von Wortkörper (Bezeichnung) - Bedeutung (Begriff) - Sache
in seinen verschiedenen Varianten für unsere Untersuchung zu verwenden. Gleich-
wohl läßt sich von der historischen Empirie her sagen, daß sich die meisten Wiirfiflr
der gesellschaftlich-politischen Terminologie definitorisch von solchen Wörtern
unterscheiden lassen, die wir hier 'Begriffe', geschichtliche Grundbegriffe nennen.
Der Übergang mag gleitend sein, denn beide, Worte und Begriffe, sind immer mehr-
deutig, was ihre geschichtliche Qualität ausmacht, aber sie sind es auf verschiedene
Weise. Die Bedeutung eines Wortes verweist immer auf das Bedeutete, sei es ein
Gedanke, sei es eine Sache. Dabei haftet die Bedeutung zwar am Wort, aber sie
speist sich ebenso aus dem gedanklich intendierten Inhalt, aus dem gesprochenen
oder geschriebenen Kontext, aus der gesells'chaftlichen Situation. Ein Wort kann
eindeutig werden, weil es mehrdeutig ist. Ein Begriff dagegen muß vieldeutig blei-
ben, um Begriff sein zu können. Der Begriff haftet zwar am Wort, ist aber zugleich
mehr als das Wort. Ein Wort wird - in unserer Methode - zum Begriff, wenn die
Fülle eines politisch-sozialen Bedeutungszusammenhanges, in dem - und für den
- ein Wort gebraucht wird, insgesamt in das eine Wort eingeht.
Was alles geht z. B. in das Wort 'Staat' ein, daß er zu einem geschichtlichen Begriff
werden kann: Herrschaft, Gebiet, Bürgertum, Gesetzgebung, Rechtsprechung, Ver-
waltung, Steuer, Heer, um nur das Geläufigste zu nennen. Alle, in sich mannigfachen,
Sachverhalte mit ihrer eigenen Terminologie werden vom Wort 'Staat' aufgegriffen,
aufihren Begriff gebracht. Begriffe sind also Konzentrate vieler Bedeutungsgehalte.
Wortbedeutungen und das Bedeutete können getrennt gedacht werden. Im Begriff
fallen Bedeutung und Bedeutetes insofern zusammen, als die Mannigfaltigkeit ge-
schichtlicher Wirklichkeit in die Mehrdeutigkeit eines Wortes so eingeht, daß sie nur
in dem einen Wort ihren Sinn erhält, begriffen wird. Ein Wort enthält Bedeutungs-
XXII
möglichkeiten, der Begriff vereinigt in sich Bedeutungsfülle. Ein Begriff kann also
klar, muß aber vieldeutig sein. Er bündelt die.Vielfalt geschichtlicher Erfahrung
und eine Summe von theoretischen und praktischen Sachbezügen in einem Zusam-
menhang, der als solcher nur durch den Begriff gegeben ist und wirklich- erfahrbar
wird. Überspitzt formuliert: Wortbedeutungen können durch Definitionen exakt
bestimmt werden, Begriffe können nur interpretiert werden.
Am Beispiel des Begriffs 'Staat' läßt sich auch unsere Verwendung des
Ausdrucks 'Terminologie' erläutern. 'Recht' ist ein Begriff, 'Rechtsprechung' da-
gegen ein - sachbezogener ~ Terminus. Das Lexikon baut, genau gesprochen,
nicht auf beliebigen Wörtern auf, sondern auf der sozialen und politischen Termino-
logie. Ein Terminus versammelt in sich die Merkmale eines vorgegebenen Sach-
verhaltes, seine Bedeutung kann sach- oder fachspezifisch, wenn auch verschieden,
defl.iliert werden. Ein Begri:ffliegt erst dann vor, wenn diejenigen Becfoutungen ein-
zelner Termini, die einen gemeinsamen Sachverhalt bezeichnen, jenseits ihrer bloßen
Bezeichnungsfunktion in ihrem Zusammenhang gebündelt und reflektiert werden.
In der Geschichte eines Begriffs verschiebt sich nicht nur eine Bedeutung des Wor-
tes auf eine andere, sondern der ganze in da.'il Wort. eingegangene K omple.x ve.rii.nrle.rt
sich in seiner Zusammensetzung und Bezogenheit. Eine Begriffsgeschichte birgt in
sich immer den Prozeß vieler Komponenten. Alk Begriffe, in denen sich ein ganzer
Prouß semiotisch zmammenfaßt, entz~kn sich der Definition; definierbar i1Jt nur dail,
was keine Geschichte hat (NIETZSCHE).
2.5 Daß die Geschichte sich in bestimmten Begriffen niederschlägt lind überhaupt
zur Geschichte wird, wie sie jeweils begriffen wird, ist die theoretische Prämisse
der hier angewandten historischen Methode. Insofern liegt unser Vorhaben nicht
nur in der Mitte zwischen einer Wortgeschichte, an der sie nicht haften bliebe, und
einer Sachgeschichte, die sie nicht liefern wollte. Es interpretiert die Geschichte
durch ihre jeweiligen Begriffe so wie es die Begriffe geschichtlich versteht: die Be-
griffsgeschichte hat die Konvergenz von Begriff und Geschichte zum Thema ..
Diese Konvergenz wird freilich nicht als Identität von Begriff und Geschichte ver-.
standen oder dahingehend verflacht. Der naive Zirkelschluß vom Wort auf den
Sachverhalt und zurück wird durchbrochen. Zwischen beiden besteht eine Span-
nung, die bald aufgehoben wird, bald wieder aufbricht, bald unlösbar erscheint.
Wortbedeutungswandel und Sachwandel, Situationswechsel und Zwang zu Neu-
benennungen korrespondieren auf je verschiedene Weise miteinander. Im Schnitt-
punkt solcher insgesamt geschichtlicher Vorgänge liegt ein jeweiliger Begriff. Man
denke etwa an die Institutionsgeschichte der 'Säkularisation' und die ·dem ent-
sprechende und doch weit abführende Geschichte desselben Ausdrucks.
Unsere Methode pendelt deshalb zwischen semasiologischen, onomasiologischen
sowie sach- und geistesgeschichtlichen Fragestellungen hin und her: alle sind er-
forderlich, um den geschichtlichen Gehalt eines Begriffs zu erfassen. Ein treffender
Begriff mag sogar fehlen, er kann tastend gesucht werden, er kann von alters her
sich anbieten, aber nicht mehr stimmen, neue Worte treten hinzu, Bindestrich-
bildungen häufen sich, weil neue Erfahrungen oder Hoffnungen formuliert sein
wollen (vgl. etwa 'Social-Demokratie'). Gerade die Unzulänglichkeit bestimmter
Begriffe für bestimmte Ereignisse oder Zustände macht sich sprachlich bemerkbar,
wie etwa die schwerfällige Auseinandersetzung über die Verfassung des alten deut-
XXIII
sehen Reiches in der frühen Neu.zeit erweist. Mangelnde Treffsicherheit, das Ver-
blassen von Worten oder deren Aufladung erschließen einen Erwartungshorizont
filr sprachliche Prägungen, der endlich erfüllt wird: ein neuer Begriff ist da - wie
'BundeSBtaat' um 1800 für das sich auflösende Reich.
Unsere Methode erarbeitet also keine Sachverhalte aus den sprachlich vorgegebenen
Quellen. Ebensowenig beschränkt sie sich auf die geistigen Äußerungen vergangener
Zeitgenossen. Sie vermeidet die Geistesgeschichte als eine Geschichte der Ideen oder
als Reflexhistorie materieller Prozesse. Sie führt vielmehr heran an die in den je-
weiligen Begriffen enthaltene Erfahrung und an die in ihnen angelegte Theorie,
sie deckt also jene theoriefähigen Prämissen auf, deren Wandel sie thematisiert.
In der Praxis gibt es zahlreiche Vollzüge oder Verhaltensweisen, die vor ihrer
sprachlichen Benennung zutagetreten - wie solche, die erst durch ihre sprachliche
ErfaBBung zu geschichtlichen Phänomenen wurden. llie sprachliche Erfassung zielt
h11idesmal auf Vorgänge, die außerhalb der Sprachbewegung liegen, die aber nur
hinreichend nachvollzogen und begriffen werden können, wenn der Wandel der Be-
griffe selbst thematisiert wird. Das sucht diese Begriffsgeschichte zu leisten. Sie
verweist also auf den Strukturwandel der Geschichte - insofern bleibt sie Hilfe der
SozialwiBBenschaften; aber nur im Medium der Begriffe - insofern gründet sie auf
ihrer eigenen Theorie. Beide Aspekte werden in den verschiedenen Artikeln auf ver-
HChi1itl1i.ue ·Weitle heru.W:1geu.rbeitet oder bevorzugt.
3 Quellen
Sowenig wie alle genannten methodischen Ansätze für alle Stichworte verfolgt
werden, sowenig dienen alle Quellenbereiche jedem Artikel. Die verwendeten Quel-
len richten sich natürlich nach dem Stichwort selber. Sie können aus allen Lebens-
bereichen und WiBBenschaften stammen, wenn sie nur für die politische und soziale
Terminologie wichtig geworden sind. Besonders für geschichtliche Grundbegriffe
können theologische oder juristische, ökonomische oder naturwissenschaftliche
Texte bedeutsamer sein als etwa solche der Historiographie.
Formal lassen sich unsere Quellen in drei Gruppen teilen:
3.1 In alle Artikel ist die Lektüre repräsentativer Schriftsteller eingegangen. Es ist
die Ebene der ,,Klauiker'' - oft nach. Gesamtausgaben zitierbar -, der Philo-
sophen, der Ökonomen, der Staatsrechtler, insgesamt der Lehrbuchverfasser oder
der Dichter und der Theologen.
3.3 Drittens gehört zu jedem Artikel die Mindestlektüre der großen Wörterbücher.
In jedem Fall ist - auch auf Fehlanzeigen hin :-- die Ebene der historisch gewor-
denen Lexika und Enzyklopädien befragt worden. Auf dieser Ebene hat sich das
XXIV
Einleiauag
XXV
Eialeituag
krieg': gelegentlich austauschbar können sie ebenso Gegenbegriffe werden, was sie
gemeit1sam zu ueruck1:1ichtige11 fordert. Oder ein Wort kann sich ausfächern in ver-
schiedene Begriffe. Eine Eindeutschung des Wortes 'Staat' (statuR, M.11.t) leistete der
Ausgliederung rein ständischer Bedeutungen Vorschub. Erst danach, gegen Ende
des 18. Jahrhunderts, wurde 'Staat' zu einem Zentralbegriff, und seitdem können
'Staat' und 'Stand' - anfangs im Wort 'status' zusammengehörig - sogar zu
Kontrastbegriffen werden. 'Stand' taucht demnach sowohl im Artikel „Staat" auf
wie im Artikel „Stand und Klasse", die schon wegen unserer Hypothese einer Sattel-
zeit zusammengehören.
Wann ein Begriff als Grundbegriff definiert werden kann, hängt letztlich von der
Beachtung des ganzen Sprachhaushalts ab. Nun läßt sich freilich die Gesamtheit
auch nur der politisch-sozialen Terminologie so wenig umgreifen wie die Vergangen-
heit in toto wiederherstellbar iot. Um fc0tzustcllen, was ein Grundbegriff 1:1ei, muß
also - im Grunde das Problem jeder Interpretation - erfragt werden, was eigent-
lich vorausgesetzt sein sollte. Die wünschenswerte, aber uneinlösbare Kenntnis des
gesamten Sprachzusammenhanges wird jedenfalls heuristisch berücksichtigt, wenn
die Darstellung eines Begriffs nicht an einem Stichwort hängen bleibt. Sonst würde
nicht nur seine Qualität als Begriff, sondern auch seine Funktion als Grundbegriff
verfehlt. Deshalb enthält das Lexikon eine Reihe von 8ohwerpunktartikeln, in
denen geschichtlich sich beclingP.nrlr. Begriffe zusammengefaßt werden.
4.3 Die Länge der Artikel schwankt demgemäß. Je nach Ergiebigkeit reicht sie,
von Ausnahmen abgesehen, von 20 bis 60 Seiten. Damit wurden viele Autoren zu
einer Beschränkung genötigt, die in einem starken Mißverhältnis zur geleisteten
Vorarbeit und zur Menge der geRammelten Belege steht. Da Vollständigkeit auch
hier unmöglich bleibt, wurde der dargestellten methodischen Begrenzung der Vor-
rang eingeräumt, was immerhin den Vorteil hat, daß noch manche Monographien
zu erwarten sind, die über die Artikel hinausgreifen werden.
4.4 Grundsätzlich gliedern sich alle Artikel in drei Teile: in den Vorspann, der die
Wort- und Begriffsgeschichte an die frühe Neuzeit heranführt, in den Hauptteil,
der die Entfaltung der neuzeitlichen Begrifflichkeit thematisiert, und in den Aus-
blick, der auf den gegenwärtigen Sprachgebrauch hinweist. Je nach dem behandel-
ten Begriff fallen natürlich clie Gliederung und Gewichtung dieser drei Teile ver-
schieden aus.
Im Vorspann kommen Antike - etwa der aristotelische oder der klassisch-römische
Begriff ~· kirchliche Tradition, Humanismus, französische oder deutsche Wort-
geschichte zur Sprache. Sachgeschichtliche Einblendungen ergeben sich von selbst.
Dabei wird immer vermieden, durch Raffung der Vergangenheit eine vermeintliche
Gegenwelt hochzustilisieren. Oft zeigt sich, daß Begriffsgehalte dieser „ Vorgeschich-
ten" tiefin das 19. und 20. Jahrhundert hineinreichen. Sie bieten dann den Unter-
grund oder werfen strukturale Fragen auf, von denen die modernen Erfahrungs-
gehalte, die in den Hauptteil fallen, um so deutlicher erschlossen werden können.
Im Hauptteil ergänzen sich - gemäß unserer Methocle - synchronische Quer-
scb,n.ittsanalysen und diachronische Tiefenbestimmungen. Gerade der wechselnde
Zugriff erhellt die Geschichte eines Begriffs, die nie auf eine feste Ursprungsbedeu-
tung reduzierbar ist. Für die Darstellung bleibt die zeitliche Abfolge leitend: Dauer,
XXVI
Einleitung
Wandel und Neuheit lassen sich nur chronologisch erfassen und somit historisch
interpretieren. Die Begriffsgeschichte ist, streng genommen, „Zeitgeschichte" der
Begriffe.
Damit mag auch für unsere eigene Zeit, auf die der Au8blick verweist, der historisch-
kritische Anspruch unserer Begriffsgeschichte durchklingen. Es würde die Methode
ändern und den Umfang sprengen, wenn der gegenwärtige Sprachgebrauch in
seinem schnellen Wechsel und mit seinen universalen Neologismen eigens unter-
sucht werden sollte. Für eine politische Semantologie der Gegenwart leistet das
Lexikon allenthalben Vorarbeit.
4.5 Als Autoren konnten Gelehrte gewonnen werden, die den Begriff von ihrem
eigenen Fach her historisch am besten erfassen. Damit wurden notwendigerweise
fachliche Präferenzen gesetzt, die manchmal duruh besondere, eigens gezeichnete
Ahimhnitte anderer Verfasser ergänzt werden. Auch gemeinsame Ausarbeitung eines
Artikels erwies sich, wenn die Gelegenheit sich bot, als vorteilhaft. Schließlich war
es günstig, einige Artikel entlang der Chronologie auf mehrere Autoren zu verteilen.
Insgesamt arbeiten außer Hiiitorikern Vertret.P.r viP.lP.r Fakultäten am Lexikon mit:
Juristen, Ökonomen, Philologen, Philosophen, Theologen und Sozialwissenschaftler.
Wenn sich die vorgelegten Artikel über die methodisch durchgängigen Gesichts-
punkte und die daraus folgende Gliederung hinaus weiter unterscheiden, so ist das
natürlich auch und nicht zuletzt durch die individuelle Verantwortlichkeit der Ver-
fasser und ihre eigenen begriffsgeschichtlichen Fragen bedingt. Sowenig wie ein
geschichtlicher Begriff läßt sich seine Geschichte endgültig festlegen.
REINHART KosELLECK
XXVII
Adel, Aristokratie
I. Einleitung. II. 1. Adel und Aristokratie in der Antike. a) Die Verfassung. h) Der Stand.
2. Umwertung durch Stoa und Christentum. 3. Substantielle Konstanz des Adelsbegriffs
bis zum 18. Jahrhundert. 4. Aktualisierung (um 1600) und Zurücktreten (um 1700) des
Aristokratiebegriffs. 5. Adel als „intermediäre Gewalt". 6. Differenzierung des Adels im
Rechtssinn i:in 18. Jahrhundert. 7. Adelskrise vor der Revolution. 8. Die Wortbildung
'Aristokrat' vor und nach 1789. 9. Erschütterung und Behauptung des Adels 1789/
1815. 10. Adel im Wandel des Verfassungsrechts seit 1803/1815. 11. Kompromisse zwischen
Restauration und Revolution. 12. Die gescheiterte Entscheidung 1848/1849. 13. Fort-
setzung und Entschärfung der Adelsdiskussion nach 1848/1849. III. Ausblick.
I. Einleitung
'Adel', ahd. adal, edili „edles Geschlecht, die Edelsten", verwandt mit ahd. uodal,
odal, odil „Erbsitz, Heimat" bezeichnete im Deutschen - analog in allen anderen
8prachen und Kulturen - die durch Vorrang der Rechte und Pß.ichten vor uem
Volk, ?.1mii.t1hAt 1for Rauem, vom Hochmittelalter an auch der Stadtbürger, hervor-
gehobene Herrenschicht, deren Stand erblich und demgemäß stets darauf gerichtet
war, sich durch geschlossenes Konnubium vom Volk abzuschließen. Kennzeichen
des Adels waren: Landsässigkeit mit Herrschaft über landarbeitende Menschen
und, darauf beruhend, Freisein zum Waffen- und Kriegsdienst, alsdann zu den
Führungsstellen in der Kirche sowie später zum Hof- und Staatsdienst. Zur recht-
lichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Machtstellung des Adels gehörten
ein anspruchsvolles Selbstbewußtsein, Typusstilisierung und „Tugend"-Ethos so-
wie die Anerkennung des adligen Status und Prestiges dumh das Volk. All dies
verband sich zum Begriff des Adels, der demgemäß (prinzipiell unangefochtene)
Herrschaft von Menschen über Menschen1 in einer bei allem faktischen Wandel
statisch begriffenen Sozialordnung bedeutete und eben dieser Herrschaftsstellung
wegen den Prinzipien der modernen Revolution zum Opfer fiel.
'Aristokratie' gehört zu den auf Platon und Aristoteles zurückgehenden Begriffen
der Herrschafts- oder Regierungsform der Polis, in späterer Übertragung jedes
Staates. Er übte seit seiner Rezeption im 13. Jahrhundert - analog zu-+ Mon-
archie und -+ Demokratie - eine starke Wirkung auf die politische Theorie in
Europa aus und wurde darin so eng mit dem Problem des Adels verbunden, daß
beide Begriffe in einem Artikel zusammengefaßt werden müssen.
II.
1. Adel und .Aristokratie in der Antike
Vom Gesichtspunkt der Wirkung auf das Abendland, besonders Deutschland,
liegt unser Interesse in erster Linie beim griechischen Begriff der 'Aristokratie'
sowie bei der römischen 'Nobilität'. Steht diese als politischer Stand in unmittel-
1 So die den Adel als „Aristokratie" und „Feudalismus" treffende Formel SAINT-SIMONS
1-90385/1 1
Adel D. 1. Adel und Aristokratie in der Antike
2 Vgl. WERNER JABGER, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2 (Ndr.
Vgl. ABTHUB W. H. ADXINs, Merit and Responsibility (Oxford 1960), 178 f. Einen Teil
des Anspruchs bezeichnet PrNDAB um 470: Oligarchie als Herrschaft der aorpol: Pyth. 2,
88. Vgl. ders., 01. 9, 29; PLATON, Menex. 238 c. d.
• Terminus post wohl HERODOT 3, 81. Auffällig das Fehlen in Ps. X:e:NOPHON, Ath. polit.
Erster indirekter Beleg: ABlsTOPHANEB, Av. 125 (414 v. Chr.). PLUTARCH, Kimon 15,
3 bezeugt das Wort, kaum zuverlässig, für 460.
2
a) Verfuaung A•eJ
3
Adel Il. 1. Adel und Arl9ttokratie in der Antike
4
a) Verfassung Adel
Bei ARISTOTELES finden sich dann alle drei Bedeutungen des Wortes nebeneinander.
..l!ligenttiche Aristokratie ist ihm nur (wie in l'latons „Politeia 11 ) der beste Staat. ~r
allein beruht auf den an Tugend schlechthin besten und nicht nur den auf Grund irgend-
einer Voraussetzung guten Männern. In ihm nur fällt die Tugend des Bürgers mit
der des Mannes völlig zusammen, ist die deBT~ Richtschnur und Maß aller Politik,
wird deren Erzeugung im umfassendsten Sinne zum Gegenstand öffentlicher Für-
sorge gemacht18 • Weil die Verwaltung nach Maßgabe der Tugend hier wie dort das
Wesentliche ist, ist die Aristokratie mit dem (guten) Königtum verwandt, teilt sie
mit ihm die Rolle der besten Verfassung. Abstrakt genommen ist das Königtum
vorzuziehen; sobald aber mehrere an Tugend Gleiche vorhanden sind, gilt die
umgekehrte Reihenfolge19• Neben dieser idealen Form wurden aber auch andere
Verfassungen 'Aristokratie' genannt, und Aristoteles schließt sich-teilweise nolens
vola111:1a0 - uitll:lelll Sprachgebrauch 11.11. E1:1 haiufolL 1:1ich <labei Ulli Ve!'fa1:11:1uug1m,
die vom Zuschnitt der Oligarchie oder Politie sind, sich aber gleichwohl von beiden
unterscheiden, einerseits und vor allem um solche, in denen nicht nur Reichtum,
sondern auch Tugend bei der Bestellung der Beamten maßgebend ist, anderer-
seits um solche Mischungen von Oligarchie und Demokratie, die zur Oligarchie
neigen (im Gegensatz zur Politie, die zur Demokratie neigt) 21.
Prinzip der Aristokratie ist nach Aristoteles die den~ (samt ihrer Voraussetzung,
der nai8ela) 22 • Dieses Prinzip gilt aber eigentlich nur für den schlechthin besten
Staat. Die zweite Aristokratie hat es nur gemischt mit anderen, geht im übrigen
nur von einer relativen dt,>BT~ aus. Die Mischung von Oligarchie und Demokratie
aber beruht auf einer Kombination von Freiheit und Reichtum. Die Berücksichti-
gung des Reichtums mäßigt die demokratische Komponente und ermöglicht da-
mit - auf Grund besonderer soziologischer Voraussetzungen 23 - die einzige von
den drei guten Verfassungen, die das Prinzip der Tugend nicht kennt. Stellt man
nun gewisse Formen dieser Mischung zu den Aristokratien, so muß man voraus-
setzen, daß die Wohlhabenden infolge ihrer Wohlhabenheit auch Tugend besitzen.
In der Tat ging man damals vielfach davon aus, daß mit größerem &ichtum auch
Bildung zur Tugend [nai8ela] •.. eher verbunden zu sein pfie,gf, 24• Diese Voraus-
setzung aber trifft nach Aristoteles zwar oft, doch keineswegs immer zu25 • Er be-
tont deswegen, daß das Prinzip der Tugend zu Reichtum und Freiheit hinzutreten
18 .ARISTOTELES, Pol. 1293 b 3 ff.; 1293 b 12 f.; 1294 a 24; 1288 b 37; 1289 b 5.
19 Ebd. 1288 a 32 ff.; 1289 a 31; vgl. ebd. 1310 b 2; 1289 a 39; ders., Nik.om. Eth.
1160 a 36; Pol. 1286 b 5.
20 Vgl. ebd. 1293 b 10 ff. mit 1273 a 23 und 1273 a 31; 1307a12; 1307 a 16 u. ö.
21 Ebd. 1293 b 7 ff. (vgl. 1294 a 23: deicn:o"eaT:la µdMaT:a); 1293 b 20; 1293 b 36. Zur
5
Adel D. 1. Adel und Aristokratie in der Antike
müsse - um dann schließlich für die dritte Form der Aristokratie. doch darauf
zu verzichten26.
In allen drei Bedeutungen war Aristokratie - wenn auch auf durchaus verschiedene
W11ise - gutes Gegenbild der Oligarchie. In den beiden relativen Formen stellte sie
genaugenommen nur ein Prinzip dar, das modifizierend zu anderen hinzutrat. Wenn
Aristoteles. im Blick auf sie sagte, die wesentliche Bestimmung der Aristokratie
sei, daß die Ämter nach Maßgabe der Tugend besetzt und verwaltet würden2 7 , so
verstand er sie nicht anders als Isokrates. Ebenso, wenn er ein anderes Mal davon
spricht, daß Demokratie und Aristokratie zu vereinbaren seien 28• Nur brachte ihn
die Notwendigkeit, alle Verfassungen in seinem Sechserschema zu rubrizieren, zu-
sammen mit einem verbreiteten Sprachgebrauch dazu, unter dem Titel „Aristo-
kratie" ein Sammelbecken für einigermaßen wohlverwaltete, also von guten Män-
nern regierte Verfassungen einzurichten. An solchen wie an vielen anderen Stellen
wird deutlich, wie stark Aristoteles in der „Politik" Rflinfl P.igenen Bestimmungs-
merkmale für Verfassungen, wie Bürgerbegriff und Ämterordnung, überholte. Auch
seine Theorie kam immer wieder dazu, das Heil in so unpolitischen Kriterien wie
der Güte der Regierenden zu suchen.
Im Fall der deuno"lllJTia kam freilich difl VP.rftihnmg durch eine praktische Beob-
achtung hinzu: die relativen Aristokratien der zweiten Art waren für Aristoteles
wie für viele seiner Zeitgenossen offenbar noch wesentlich vom Adel beherrscht.
Und so wenig wir die Verhältnisse genauer überblicken können; so scheint doch
Anlaß bestanden zu haben, zwischen den selteneren mehr aristokratisch, durch
herkömmliche adlige Normen bestimmten Oligarchien und den üblichP.n, die sich
vor allem durch Reichtum und Streben danach auszeichneten, zu unterscheiden.
Sofern die Adelsstaaten nooh überdauert hatten, waren sie wohl zumeist noch tradi-
tionell gefestigt und lagen abseits der bewegteren Gebiete. Wenn nach Aristoteles
die Wohlhabenderen zugleich die Guten sein sollten, so, weil neben der Bildung zur
Tugend „Wohlgeborenheit" bei ihnen eher zu finden war 21i. Ferner heißt es, 'Adel',
wörtlich „Wohlgeborenheit" (6Vyhs1a), bedeute aUen ReWlaum und Tugend 30• Häu-
fig hätten gute Väter gute Kinder31 • Auch die Wahl nach Maßgabe der Tugend
( de1rnl"&J") konnte praktisch nur Regel sein, wo ein alter Adel noch seine führende
Stellung bewahrte, die tfe1rno1 also stillschweigend mit den Adligen, die Tugend
mit deren Normen gleichgesetzt wurden.
Angesichts dieser Identifizierung von „Aristokratie" und „Adelsstaat" könnte
de1rno"l!aTla damals zugleich die Bedeutung „Adel" im Sinne der diese Verfassung
tragenden Schicht angenommen haben. Wir besitzen keinen Beleg dafür, sehen
•• Ebd. 1307 a 9; vgl. 1294 a 9; 1294 a 15 ff.; zuletzt mit der Rückkehr zur gängigen
Auffassung 1294 a 24; dazu 1293 b 20; 1293 b 33 ff.; 1307 a 10. ·
17 Ebd. 1279a35; 1288all; 1294a9; 1299b26; 1309a.3; ders., Rhet. 1365b34
(zur na1&la .,, vno J10µ0J1 "81µh71 vgl. Also:enras 1, 8). Zur Verwaltung vgl. ABlsTOTELES,
Pol. 1308 a 3 ff.
18 Ebd. 1308 b 39; vgl. 1318 b 27 ff. An sioh handelt es eich in eolohen Fällen wohl doch
Oligarohie: ders., Nikom. Eth. 1131 a 28; ders., Pol. 1283 a 1; 1317 b 39.
6
lt) Stan•
aber, daß dAiyaexla damals auch die Gesamtheit der dJJyoi IJexovre,, der „Oligarchen"
bezeichnen konnte (wie umgekehrt &jµo, nach einer gegenläufigen Wortgeschichte
zugleich im Sinne von „Demokratie" gebraucht wurde: die Logik lag zuletzt darin,
daß das noMrevµa Tij' n&Aew, [die politische Vollbürgerschaft] die noJ.ii-ela [Verfas-
sung] darstellte) 82• ttblicherweise wurden die Oligarchen freilich dJJyoi, die
Adligen im allgemeinen 1'aÄol "dyaol, irrf>Aol, ano00aio1, XerJOTol, am genauesten:
etlye11ei,, ye11vaioi, !WiaTel&ti oder . ähnlich genannt88 • Nur insofern sie für die
aristokratische Verfassung waren, nannte Aristoteles sie einmal deiOTOHQaTiHOl8'.
b) Der Stand. Neben den allgemeinen Adelsbezeichnlingen, die alle von den
Merkmalen der „Güte", Edelkeit, Kenntlichkeit, Feinheit oder Wohlgeborenheit
ausgjngen, standen - von Polis zu Polis vers~hieden - die älteren sozial bestimm-
ten und je '3pezifi.schen wiA 'JIF.fll/ln(!fl1 (Guti11hP.sitier), lmroßdTa1 (Pferdezüchter),
lmisi, (Ritter), naxe~ (Dicke), die aber nach dem 5. Jahrhundert nur noch selten.-
es sei denn in Aussagen über die frühere Zeit ~ gebraucht wurden. ·
Ob der griechische Adel je ein genau abgegrenzter Stand gewesen ist, ist unbekannt.
Immerhin ist für die frühe (homerische) Zeit mit einer selbstverständlichen Einheit
von Wohlgeborenheit (samt göttlichem Segen), Tugend (zumal kriegerischer) und
Reichtum (zuw11.l 11.n L11.nd) zu rechnen. Noch in archaischer Zeit aber ist der alte
Tugendkanon ins Wanken geraten und der Vorranp; der Adlip;en vielfach bezweifelt
worden. Teilweise begann der Adel wohl auch damals schon, sich in eine breitere
Schicht von Wohlhabenden einzuschmelzen. Noch im 6. Jahrhundert wurde in
Athen der Anspruch auf Gleichheit aller Staatsbürger erhoben, der dann zur Demo-
kratie führte 35• Die Sophisten behaupteten teilweise die Gleichheit aller Menschen
(einschließlich Sklaven), begannen außerdem, auf Grund neuer Maßstäbe die Be-
griffe dyaDO, und sogar w,,m;, (ursprünglich „wohlgeboren") neu zu deuten: wer
tapfer und gerecht ist, hieß es z. B., ist, selbst wenn er von Sklaven stammt,
adliger (eeyB11dOT~) als die, die nur leeres Vorurteil als solche erscheinen läßt88•
Endlich war jetzt Tugend für jeden erlernbar. Diese radikalen Einsichten sind bei
Platon und Aristoteles wieder gemäßigt worden. Die Auslese der Besten in der
„Politeia" soll zwar allein nach Maßgabe der Vortreff'lichkeit erfolgen; doch glauben
Platon und Aristoteles an die Erblichkeit guter Anlagen. Und wenn diese auch
weder unbedingt noch ausschließlich war, so wurde da.mit doch eine ttberlegen-
heit des Adels wenigstens als Regel behauptet37• Kyniker, Epikureer und Stoiker
aber griffen insofern auf die Sophistik zurück, als sie die ständisc}ien Unterschiede für
"Ders., Pol. 1293b41; 1305a.40; 1305b28; LYSIAS 6, 30; 18, 4; 26, 21; eventuell
ebenso 18, 12. TlroxYDmES 6, 39, l; HERODOT 3, 81, l; 3, 82, l; vgl. ClmisTuN Mimm.
Drei Bemerkungen zur Vor- Ulld Frlihgesohiohte des Begriffs Demokratie, in: Disoordia.
concors, Fsohr. EDGAR BoNJOUB, Bd. 1 (Ba.sei 1968), 18 ff.; ders., Entstehung des
Begriffs 'Demokratie' (Frankfurt 1970), 1 ff. - Demokratie I.
11 Vgl. GEORG BusoLT, Griechische Staatskunde, Bd. 1 (München 1920), 210 f.
7
Adel Il. 1. Adel und Aristokratie in der Antike
8
b) Stand Äclel
H ERNST MEYER, Römischer Staat und Staatsgedanke, 3. Aufl. (Zürich, Stuttgart 1964),
30. 376. 413; CllmsTIAN MEIER, Res publica amissa (Wiesbaden 1966), 28, Anm. 22.
u Vgl. HERMANN STBABBUBGER, Art. Nobiles, RE Bd. 17/1 (1936), 785 ff'.; dazu aber
ADAM ÄFZELIUS, Zur Definition der römischen Nobilität vor der Zeit Ciceros, Classica et
Mediaevalia 7 (1945), 153 ff'.
"MATTHIAS GELZEB, Die Nobilität der Kaiserzeit, Kl. Sehr„ Bd. 1 (Wiesbaden 1962), 136 ff'.
u Vgl. MEIER, Res publica amissa, 64 ff'., bes. 85.
" Dazu THADD.lus Snra:o, De Romanorum viro bono, Rozprawy Akademii Umiejetno,ci,
Ser. 2, Bd. 21 (Krakau 1903), 251 ff'.; MEIER, Res publica amissa, 75. 92. 176.
' 7 Ältester Beleg: ENNIUs, Tragödienfragm. 294 V. Die übrigen :&lege bei HERM4NN
STRASBUBGEB, Art. Optimates, RE Bd. 18/1 (1939), 773 ff'.
9
Aclel ll. 1. Aclel uncl Aristokratie in cler Antike
0 Das Wort ist seit den Gracchen (vgl. MEIER, Res ·publica a.missa, 133. 428) ohne die
Nuance „konservativ" nicht mehr gebraucht worden.
" CICERO, Pro Sestio 96 ff.
60 SALLUST, Bist. 1, 12.
11 Auctor ad Herennium 1, 8.
II SALLUl'IT, ,Jug11rt.h11. Rä, 25; vgl. ebd. 37 f.
18 PLUTABCH, C. Marc. 7, 2 als einziger eindeutiger Beleg; ähnlich ist wohl ebd. 16, 4 zu
verstehen.
H CICERO, Rep. 1, 43; 1, 68; 3, 23.
11 KARL FBricDB.ICH STaoHEXER, GermanentUDl' und Spitantik.e (Zürich 1965), 192 ff.
68 WILHELlll ENSSLIN, Art. Nobilissimus, RE Bd. 17/1 (1936), 799.
10
II. 3. Konstanz dr.11 Adelshegriß'e bis zum 18. Jahrhundert Adel
universitas sprechen57 • Das Verschwinden der alten Grundlage dieses Adels provo-
zierte einen neuen Adelsbegriff, wenn etwa APOLLINARIS Smomus schreibt: remotis
gradibus dignif,aJ;um, per quos solebat ultimo a quoque summus quisque discerni,
solum erit posthac nobilitatis indicium litteras nosse 58• Auf die Dauer wuchs dann
aber der alte Adel mit dem neuen germanischen zusammen. CHRISTIAN MEIER
11
Adel Il. 3. Konstanz des Adelsbegmfs Lis zum 18. Jahrhundert
der ersten Rangklasse), optimas, procer ohne Unterbrechung und ohne Rücksicht
auf Sprache und nationale Zugehörigkeit fortgeerbt. Diese Bezeichnungen wurden
auf die Adeligen des romanisch-germanischen FrankAnreiohs sowie später auf den
ostfränkisch-deutschen Adel angewandt 59 • Dabei lassen sich zwei Hauptschichten
unterscheiden: Familien der nobilissimi, inlustri, aus denen die höchsten Amts-
träger (duces, marchiones, comites erster Klasse, d. h. Großgrafen) sowie der höchste
Klerus des Reichs hervorgingen. Daneben bzw. darunter standen diejenigen, die,
in den Urkunden von Angehörigen der ersten Gruppe als „Umstand" angeführt,
seit dem 8./9. Jahrhundert als deren Vasallen nachweisbar sind und seit dem
10./11. Jahrhundert, meist im Dienste dieser Herren oder der Kirche, ihre eigenen
Burgen erhielten. Beide Gruppen gemeinsam waren von allen übrigen; besonders
von den kleinen Waffenträgern und Dienern, sozial stark abgehoben. In diesen
Edelfreien ist der frühmittelalterliche Adel zu sehen, wenn sie auch noch nicht im
Gesamtbegriff zusammengefaßt wurden. Erst seit dem 10., in großem Ausmaß seit
dem 11. und 12. Jahrhundert ging aus der Schicht der kleinen Krieger und Reiter
der später sog. „niedere Adel" hervor. Sein Aufstieg war verquickt, aber nicht
durchweg identisch mit der Bildung des neuen Standes der MiniAt.Ari11.litä.t. Bilil .zum
13. Jahrhundert verschmolzen die heterogenen Elemente in Auf- und Abstieg (alte
Edelfreie, neue Ministerialen) zu einem einzigen „Adel", der von nun an - nach
unten abgosohlossen - in diesem Gesamtbegriff ('edel', 'Edelmann') zusammen-
gefaßt, gleichwohl aber zunehmend bis zum 18. Jahrhundert nach Titel- und Rang-
klassen unterteilt und seit dem ausgehenden Mittelalter in einen „höheren" und
„niederen" Adel geschieden wurde (s. u. S. 14) 60 • Sowohl die Adeligen der fränki-
schen und frühdeutschen Zeit wie auch die Angehörigen des GesamtadelR seit dem
13. Jahrhundert wurden bis zum modernen Umhruch stets gemäß der spätantiken
Dichotomie begriffen: entweder in der ursprünglichen Geschlossenheit oder in der
sLuiächen, dann christlichen Brechung. Prototypisch stehen hierfür zwei frühmittel~
alterliche Zeugnisse 61• Derligeda Chorbischof THEGAN, Verfasser der Vita Ludwigs
des Frommen, verurtßilte den Erzbischof Ebo von Reims als unerwünschten Rat-
geber des Kaisers, weil er ex originalium servorum stirpe war. Als Geblütsloser habe
Ebo zwar ein Freier (liber), aber nicht einAdliger (nobilis) werden können 62 • Zwar
sah Thegan, daß das hohe Kirchenamt und die Heiraten von Verwandten Ebos den
Weg zur Qualität des nobilis öffneten; aber für ihn gab es keinen nobilis ohne
12
II. 3. Konstanz des AdelsbegriJls his zum 18. Jahrhundert Adel
Geblüt. Adel sollte nicht erworben werden können 63. Dagegen steht, ebenfalls aus
dem 9. Jahrhundert, die Belehrung der DHUODA, der Gemahlin des adligen Käm-
merers Ludwigs des Frommen, für ihren Sohn, einen nobilis natus, über die fragi-
litas dignitatum auf Grund des christlichen Weltverständnisses: duo nativitates in
homine esse noscuntur; una carnalis, altera spiritualis, sed nobilior spiritualis quam
carnalis . . . 1n paupertate etenim mentis tuam nobilitatem supplici corde latitare
.~emper 6 4. Der Adel einer christlichen Glaubensbewährung wurde also ausdrücklich
für „adliger" gehalten als ein unchristlicher bloßer Geblütsadel. Aus dieser Kluft
zwischen geblütslosem Christenadel und achristlichem Erbadel mußte also, wenn
Vollkommenheit erreicht und Adel bestätigt werden sollte, gefolgert werden, beides
zu verbinden. Auf solcher Verbindung beruhte die „Adelskirche" des frühen und
hohen Mittelalters. Für Bischof IBrich von Augsburg wurde gegen Ende des 10. Jahr-
hunderts in Anspruch genollllllen, daß er als adliger Bischof ein „väterliches Erbe"
( paterna hereditas) im Doppelsinn von adligem Geschlecht und christlicher Gottes-
kindschaft besitze65. Es gehörte infolge dieser doppelten, widersprüchlichen und
doch vereinbaren Wertung weithin zur Topologie mittelalterlicher (Heiligen-) Bio-
graphien, daß 'nobiliR' im P.hfln hfl~michneten Sinne durch 'nobilior' gesteigert und
(]eblüt von edler Lebensbewährung, Geburtsadel von Seelenadel unterschieden
wurden 66 • In der alt- und mittelhochdeutschen Sprache hat dieWortfamilie 'adel'/
'edel', der im Lateinischen eine große Anzahl von Bezeichnungen wie nobilitas
(nobilis), generositas, prosapia u. a. entsprach, erst seit der Salier- und klarer noch
seit der Stauferzeit auch eine ethische, vom Geblütserbe absehende Bedeutung an-
genommen. Offenbar hat die Sprache nur zögernd die antik-christliche Tradition
in dieser Richtung übemommen67.
Die Selbstsicherheit, mit der sich der Adel begriff, und die Anerkennung, die er in
der sozialen Ordnung genoß, wurden bis zum 18. Jahrhundert immer von neuem
durch die Wirklichkeit der politisch-sozialen Ordnung bestätigt. Denn das adlig-
herrschaftliche Gefüge blieb durch alle Wandlungen und Krisen hindurch bestehen.
Wien 1964); ders., Die Gesellschaft in der Geschichte des Mittelalters (Göttingen 1966),
mit Angaben weiterer und älterer Literatur.
84 JoA.cm:na: WoLLA.SCH, Eine adlige Familie des frühen Mittelalters, Arch. f. Kulturgesch.
384:. - Vgl. auch KARL BosL, Der Adelsheilige. Idooltypus und Wirklichkeit, Gesellschaft
und Kultur im merovingischen Bayern des 7. und 8. Jahrhunderts, in: 8peculum historiale,
Fschr. JoHANNEs SPÖRL (München 1965), 167 ff.
88 SCHMID, Geblüt, 21 f. - Vgl. u. a. HANs SCHMlTz, Blutsadel und Geistesadel in der
hochhöfischen Dichtung (phil. Diss. Bonn 1940); KARL VossLER, Adel der Geburt und der
Gesinnung bei den Romanen, in: Aus der romanischen Welt, Bd. 1 (Leipzig 1940), 50 ff.;
ERNST RoBERT ClraTIUs, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 6. Aufl..
(Bern, München 1967), 188 f.; BRUNNER, Adeliges Landleben, 74 ff. mit Zitaten aus
Mittelalter und früher Neuzeit.
87 HERTA ZUTT, Adel und edel. Wort und Bedeutung bis ins 13. Jahrhundert (phil. Diss.
Freiburg 1956; Mschr.); FRIEDRICH MAURER, 'Ober Adel und edel in altdeutscher Dich-
tung, in: Adel und Kirche, Fschr. Gerd Tellenbach, hg. v. JOSEF FLECKENSTEIN u.
KARL SCHMID (Freiburg, Basel, Wien 1968), 1 ff.
13
Adel D. 3. Komtanz det Acloltbeiriffa bis zum 18. Jabrb-tlert
Stärker als die christliche Leugnung adliger magnanimitas als .eines weltlichen
Höchstwertes wirkte die christliche Anverwandlung an das weltlich Gegebene, das
christlich legitimiert oder christlich „ veredelt" wurde. In diesem Zusammenhang
steht vor allem die Sakralisierung des „Heils" großer Geschlechter, besonders der
Könige(-+ Monarchie). Vom 10./11. Jahrhundert an verstärkte sich die christliche
Bindung des Adels und damit die christliche Färbung des Adelsbegriffs durch die
cluniazensische Reform, die Gottesfriedensbewegung, in der die als Christen ange-
sprochenen Adeligen sich zur Begrenzung ihrer Fehden verstanden, ferner die An-
wendung des alten Begriffs der „militia Christi" (ursprünglich auf waffenlos kämp-
fende Kleriker bezogen) auf den Ritter des „heiligen Krieges" (Heidenkrieg, bewaff-
nete Wallfahrt, Kreuzzug), des „miles christianus" 68 • Der Anruf und der Zwang der
Kirche zur Verchristlichung des Adels wurden von da an immer aufs neue wieder-
holt. Die Parzivaldichtung und die Ritterorden waren der höchste Ausdruck dessen.
So wurden die adeligen Herren vom König bis zum Edelfreien zunehmend in die
Macht der Kirche eingefügt. Doch blieb diese Kirche trotz der Reformbewegung
und des Investiturstreits vorwiegend eine Adelskirche, wenn auch nicht mehr Eigen-
kirche adliger Herrschaft.
Auf diese Verchristlichungstendenz folgte· - tiicherlich nicht ohne Wirkungszu-
sammenhang mit ihr - die bereits hervorgehobene Verschmelzung zum Gesamt-
adel, der begrifflich differenziert und zusammengefaßt in die Verfassung des Reichs
und der neu entstehenden „Länder" einbezogen wurde.
Die „Heerschildordnung" begriff den Adel als geschlossene und gestufte Gesamtheit
vom König und seinen unmittelbaren „homines ligii", den geistlichen und welt-
lichen Reichsfürsten (domini terrae), über die Grafen und freien Herrn (bereits
UntervaRn.Uen) bis zu den Rittern, die, größtenteils ursprünglich unfreie Dienst-
mannen (ministeriales), im Dienste des Königs oder der Fürsten, in den Adel
aufstiegen und die untersten Stufen der Heerschildordnung besetzten. Damit war
der Adel (nobilitas) nicht mehr nur die Qualität des princeps, nobilis oder potens,
sondern bezeichnete einen geschlossenen Stand, der durch die Heerschildordnung
lehensrechtlich sowohl in seiner Einheit wie in seiner Vielfalt als „Wehrstand"
(defensores im Sinne der auf Platon zurückgehenden Dreiständelehre) definiert war.
Die Vielfalt wurde wiederum gebündelt durch die Zweiteilung in einen hohen (vom
König bis zu den freien Herren, die im späteren Mittelalter übereim1timmend
„Herren" genannt wurden) und einen niederen Adel (Ritter und, in gewisser Distanz,
das Patriziat bedeutenderer Städte) 69 • Diese gegliederte Rechtsstellung des Adels
innerhalb der Lehens- und Wehrverfassung des Reichs blieb, zuzüglich der reichs-
rechtlichen Hervorhebung der Kurfürsten (13./14. Jahrhundert), in der Grund-
struktur bis zum Ende des Reichs 1803/06 erhalten. Damit war der Adelsbegriff
reichs- und staatsrechtlich fixiert. Auf solche Weise war das Reich trotz und sogar
mit Hilfe der erst allmählich herrschaftsintensiv werdenden Landesherrschaften
88 Vgl; CA.RL ERDMANN, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens (Stuttgart 1935).
III Vgl. zum Patriziat: Deutsches Patriziat 1430-1740. Büdinger Vorträge 1965, hg. v.
HELLMUTH RösSLER (Limburg 1968), ferner zu Einzelbeispielen WALTER FÜRNROHR, Das
Patriziat der Freien Reichsstadt Regensburg zur Zeit des immerwährenden Reichstags,
in: Verb. d. Hiat. Vereins f. Oberpfalz u. Regensburg 93 (1952), 153 ff. - HANNs HUBERT
. HOFMANN, Nobiles Norimbergenses, Zs. f. bayr. Landesgesch. 28 (1965), 114 ff.; FRIEDRICH
v. KLoOKE, Das Patriziatsproblem und die Werler Erbsä.lzer (Münster 1965).
14
D. 3. :Komtanz des AdeJahegri«s bis mm 18. Jabrb-dert Adel
15
Adel II. 3. Konstanz des AdelshegriJfs bis zum 18. Jahrhundert
völlig aus der Tradition verschwunden gewesen. Gemäß GREGORS DES GROSSEN
Satz: Omnes namque.homines natura aequales sumus72 wurde die „aequalitas" der
Menschen (von Natur oder in der christlichen Gotteskindschaft) der „inaequalitas"
des Adels gegenübergestellt73. Die soziale Ungleichheit war stets - gemäß der Regel
des HL. BENEDIKT - in der gloriosa fraternitatis equalitas der Religiosen, darüber
hinaus prinzipiell in der allgemeinen Gotteskindschaft der Christen aufgehoben 74.
Dabei konnte 'Adel' als wirklicher Adel bestätigt werden, wenn etwa „Adelsheilige"
dem weltlichen Treiben ihres Standes entsagten und die vita evangelica suchten75;
andererseits aber wurde (topologisch) christlicher Seelenadel bloßem adligen Geblüt
(ohne Tugendbestätigung) entgegengesetzt. Über die übliche, sozial ungefährliche
Spiritualisierung der christlichen Gleichheit hinaus konnte es im späten Mittelalter
zu harter Adelskritik oder - bei Schwärmern und Täufern - zur Verwerfung des
Adels überhaupt kommen. Inmitten solcher Unruhe über den Adel, zwischen An-
griff und Abwehr, entstanden gelehrte Distinktionen, durch die der Ad11h1h11griff
nach ethischen Kriterien aufgefächert wurde, so z.B. bei JOHANN NIDER (1380 bis
1438), der den Topos aufnimmt 76 : Nobilitas ... consistit in sola per virtutes anirM
perfectione und sodann unterscheidet: a) nnhilitn.~ .~11.pP.rn11t11orali1 et infusa (bei Ado.m
und Eva, König Saul u. a.), b) nobilitas natu,ralis et acquisita (der ägyptiRohe Josef,
König David u. a.), c) die eigentlichen Adeligen, bei denen vornehme Geburt und
Tugendbewährung zusallllllentreffen: nobilitas conata [cognata] et operosa, d) die
PerverRion des Adels (Strauchritter): nobilitas conata et umbrosa. Bei solcher Ein-
teilung war es möglich, den (über-)natürlichen Seelenadel auf die Kirchengeschichte
beschränkt sein zu lassen und den wahren Adel zu rechtfertigen: vera nobilitas sei
die Verbindung von dispositio ad virtutes notabiles und einer Abstammung ex genere
notabile. In ihm verhirnlfl Rich a.ntiqtta pa.rentela cum actualibus virtutibus. Nider
bringt zu diesem klassischen Zusammenhang viele Belege, beginnend mit Boäthius,
bei. Alle Adelsliteratur bis zum 18. Jahrhundert ist erfüllt vom Adel-Tugend-
Topos77, der ebenso anklagend wie verteidigend verwendet werden konnte und
72GREGOR DER GRossE, Moralia 21, 15, zit. BoSL, Frühformen (s. Anm. 63), 132.
73Als Beispiel aus dem 12. Jahrhundert (ca. 1184/86) vgl. ANDREAS CAPELLANUS, De
amore, hg. v. E. Trojel, 2. Aufl. (München 1964), 23 f. Dort der plebeius ad plebeiam: ...
hominu universos ab initio prodiit una natura, unaque omnu uaque ad hoc tempus tenuiaset
aequalitas; diese sei wichtiger als inaequalitas nobilitatia. Die plebeia bestreitet dies und stellt
dagegen: nobilitas eni1n et 'popularitas in diverais seribus „non bene conveniunt nec in una
aede morantur" (Bezug auf Ovm, Metam. 2, 846). Spätes Zeugnis dieses (vermutlichen)
Topos bei GERHARD llAGEMANN, De omnigena hominis nobilitate (Cölln 1696), Buch 3,
Tit. 1, 54 f., zit. FRIEDRICH GEORG AUGUST SCHMIDT, Fortgesetzte Beytrige zur Geschichte
des Adels (Leipzig 1795), 20 ff.
7' Zu S. BENEDICTI Regula 2, 18 (non convertenti ex servitio praeponatur i111Jenuua) s. den
Exkurs über die Auslegungsgeschichte (Regelkommentare bis zum 15. Jahrhundert) mit
vielen Belegen für einen christlichen bzw. „geistlichen" Adel im Gegensatz zum „:fleisch-
lichen" Adel bei KLA.us S1,,'HREINER, Sozial- und standesgeschichtliche Untersuchungen
zu den Benediktinerkonventen im östlichen Schwarzwald (Rt.nttga.rt 196'), 112 ff.
76 BosL, Der Adelsheilige, passim; HAGEN KELLER, „Adelsheiliger" und Pauper Christi
in Ekkcbcrto Vita sancti Ha.imerodi, in: Adt1l uud Kirche (s. Anm. 67), 307 ff.
78 Zit. SCHREINER, Benediktinerkonvente, 98 ff.
77 Vgl. CuRTIUs, Europäische Literatur, 186 f.; DOHNA, Reformatio Sigismundi, 150 f.,
mit Belegen.
16
II. 3. Konstanz des Adelshegmrs his zum 18. Jahrhundert Adel
daher oft einen gewissermaßen schwebenden Sinn ergibt, so etwa bei WOLF HELM-
HARD voN HoHBERG {1664):
Die begri:ft'liche Differenzierung konnte noch sehr viel weiLer getrieben werden als
bei Johann Nider. Dafür lag offenbar im adelskritischen Spätmittelalter ein
besonders starkes Bedürfnis vor. JOHANNES GERSON 80 z.B. stellte neben den Adel
im üblichen Sinn (nobilitas parentalis) den verliehenen Adel (nobilitas honestalis)
und (in stoisoh-philosophi&oher Tradition) den natürlic.hen Vernunft11.nP.l (ti.nhi.liln..~
na.turalis - j11ilü:io rat1:onis). Diesen drei Adelsarten, die nicht moraliter. . . laudabiles
seien, stellte er wiederum drei Arten adliger Lebensführung gegenüber, die allein
moralisch definiert waren: nobilitas virtualis (ex assuefactione vel habituatione vir-
tutum moralium), deren Überhöhung m1:r nobilitas heroi.calis, und die nobilitas super-
naturalis des gläubigen Christen. Dieser Christenadel sollte über allen andern-stehen
oder alle andern durchdringen: Nulla nobilitas eligibilior est, nulla dignior, quam esse
Ohristianum re et nomine. Bezeichnenderweise führte aber auch dies Übertrumpfen
des bloßen Geblüts durch naturgegebene Geistesveranlagung, durch moralische
Kraft, vor allem aber durch den christlichen Gnadenstand, nicht zu der sozial-
revolutionären Ablehnung des Abstammungsadels überhaupt. Die Antinomie
wurde hart ausgesprochen, aber im allgemeinen im Sinne einer dauernden ständi-
schen Ordnung aufgelöst; so z.B. in den Versen auf einem Holzschnitt mit dem
Titel „Der Adel" von LUKAS CRANACH D • .Ä., die an das bekannte „Sprichwort"
erinnerten:
Da Adam reut und Eva spann,
Wer war doch da ein Edelmann?,
und dagegen setzten:
Es ist wohl wahr, doch weil gewiß
Der Adel Gottes Ordnung ist,
Solln wir ihm sein ge'bührli.ch Ehr
Erzeigen nach St. Pauli Lehrei.
78 W. H. v. HoBBERG, Der Habspurgische Ottobert (Erfurt 1664), 18, 465, zit. BRUNNEB,
Adeliges Landleben, 75.
79 JOHANN LAssEN, Adellohe Tischreden (Nürnberg 1661), 38.
80 J. GERSON, De nobilitate, zit. ScmtEINEB, Benediktinerkonvente, 94 f.
81 Zit. EBERHARD Fror. SCHENK zu SCHWEINSBERG, Die Wandlung des Adelsbildes in der
Kunst, in: Deutscher Adel (e. Anm. 60), 1 f.
2-90385/1 17
Aael D. 4. AktaalDienmg aaa Zurücktreten des Bepiffs
Der Geblütsadel wurde auch durch die Behauptung bestätigt, daß gerade der
Christenadel am großartigsten von Menschen vornehmer Herkunft verwirklicht
werde. Der „Adelsheilige" des Früh~ und Hochmittelalters wirkte nach, wenn
Gerson davon sprach, daß humilitas purpurata wirksamer sei als vilitas. So brauch-
ten auch MEISTER EcKEHARTS Adel der Seile82 oder TAULERS hoher a.del ... ei'ltS
geistlichen lebe'1t888 nicht als Verwerfung des Adels aufgefaßt zu werden, wenn auch
- besonders in den Wirren des 15. Jahrhunderts und der Reformationszeit - üb-
liche Adelskritik zu Haß und Aufruhr gesteigert und damit das Edelsein einfacher
Menschen (z.B. ed'ler Bauer oder Ackermann) 84 scharf antithetisch gegen den Adel
von Geblüt gesetzt wurde.
Doch wurde solche Adelsverneinung wieder überdeckt und zurückgedrängt, als vom
16.-18. Jahrhundert die europäische Adelskultur in enger Verbindung mit den
Fürstenhöfen zu ihrer späten und höchsten Blüte gesteigert wurde. TYPisch für
diese Zeit wurde der.Hofadel, der sich-trotz Familien- und Landgutbeziehungen-
vom Landadel abhob, besonders wenn er im Übergang zum Beamtenadel durch
Nobilitierung sich genealogisch erweiterte und damit der Abschließungstendenz des
Ad~ls infnlgA ÜhATRpannung des Abstammungsprinzips (.Ahnenprobe, Adelsmatri-
keln) entgegenwirkte. Im Maße wie, besonders im 18. Jahrhundert, sowohl alter
Landadel wie neuer Hofadel in den (Militär- oder „Civil"-) Dienst der '.Fürsten-
staaten eintraten, wurde der Staat zu einer nicht mehr gegen den Adel, sondern
mit dem Adel verwirklichten Herrschaftsorganisation, so daß die überlieferte
Tugendverpflichtung des Adels als Dienst für den Staat und damit für das Gemein-
wohl neu konkrotisiort worden konnte. Je mcb,r „.Ämter" und „Stellen" von de11
Fürstenstaaten für notwendig erachtet und angeboten wlirden, desto mehr Alt-
oder Neuadelige strömten in diese ein, so daß die Staaten in der großen Breite ihrer
personellen Spitzen gegliederte Adelsgesellschaften waren und sich damit dem
adeligen Personalverband des Heiligen Römischen Reichs (deutscher Nation) sozial
anglichen, auch wenn diese Staaten - von den „Republiken" (-Republik) der
Reichsstädte abgesehen - gemäß der seit der Aristoteles-Rezeption des 13. Jahr-
hunderts tradierten Lehre der Regierungsformen „monarchisch", das Reich· aber
seit dem 16. Jahrhundert - mindestens von allen, die daran politisch interessiert
waren - als eine „Aristokratie" begriffen werden konnte.
81 MBlsTBB E<lKlmABT, in: Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hg. v. FRANZ
PJrBDl'J'EB, Bd.. 2/1 (Leipzig 1857), 416 ff.
88 Die Predigten Taulers, hg. v. FERDINAND VETTER (Berlin 1910), 285.
"FBnmmCH v. B:mzoLD, Aus Mittela.lter und Renaissa.Iice (München, Berlin 1918), 75 ff.;
vgl. GÜß'HEB FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg, 5. Aufl. (Darmstadt 1958).
18
B. 4 . .Aktualisierung und Zariicktreten des Begrijfs Adel
85 JEAN BODIN, Six livres de la republique 2, l; vgl .. auch 2, 6. Hierzu und zum Folgenden
ERIK WoLF, Idee und Wirklichkeit des Reiches im deutschen Rechtsdenken des 16. und
,17. Jahrhunderts, in: Reich und Recht in der deutschen Philosophie, hg. v. KABL LABENZ
·(Stuttgart, Berlin 1943), 70 ff.; FRIEDRICH HERMANN SOllUllERT, Die deutschen Reichs·
tage in der Staatslehre der frühen Neuzeit (Göttingen 1966), passim; ders., Französische
Sto.atstheorie und deut11che Reichsvorfüooung im 16. und 17. Jahrhundert, in: Frankreich
und das Reich im 16. und 17. Jahrhundert (Göttingen 1968), 20 ff., bes. 23 ff.
88 lln>PoLYTHUS A LAPIDE [d. i. BoGISLAv PmLIPP v. (,'HEMNrrzj, Diesertatio de ratione
19
Atlel ß. 5. Atlel als „intermetliäre Gewalt"
als diejenige Regierungsform definiert, in welcher eine gewisse Anzahl von Bürgern
die Mafestät hat, keine aktuellen Bezüge enthält. Es wird lediglich vermerkt, daß
VP.nP.dig h.ie.ruon noch heutiggs Tages ein morlr!WÜ'l'digcs E1DCmpcZ sei, und anschließeml
werden Vor- und mehr noch Nachteile der Aristocratie im Anschluß an die gelehrte
Politikwissenschaft der Zeit (Wolff, Müller) und gelegentlich auch antike Beispiele
knapp dargestellt. Ein Hinweis auf den hundert Jahre früher noch aktuellen Streit
um den aristokratischen Charakter des Reichs fehlt. Dies Bild des in der politischen
Theorie abstrakt abgehandelten, in der politischen Wirklichkeit aber nur als Rand-
erscheinung auftretenden aristokratischen Modells klassischer Regierungsform ist
auch in der „Deutschen Encyclopädie" 88 noch unverändert beibehalten worden.
Neben Venedig wurden immerhin Genua, Amsterdam, Zürich, Bern und Basel als
europäische Aristokratien (sie'; eingedeutschte Schreibweise!) bezeichnet; die Auf-
gliederung in verschiedene Arten. der Aristokratie wurde über Zedler hinaus ver-
feinert weitergetrieben. Eine politische ProhlP.ma.t.ik - außer einigen allgemeinen
Regeln - etwa daß Patriotismus, Staatswissensch<J,ft, Einigkeit und Gleichheit der
Senatoren Voraussetzung für das Bestehen einer Aristokratie seien - wurde aber
nicht entwickelt. Aristokratie war im Reich des 18. Jahrhunderts keine Alternative
zur Monarchie. Sie war ein Begriff traditioneller politischer Theorie ohne erregende
Problematik und konkret politischen Bezug88 • Es war immerhin lehrreich, daß es
auch in Europa des 18.. Jahrhunderts Aristokratien gab, die als Beispiele dieser
klassischen Regierungform beobachtet werden konnten, durchweg Stadtstaaten,
die „Republiken" (-+Republik) genannt wurden: Aristokratie wird zu den Frei-
staaten (Republiken) gezähltoo.
F'ür die Tatsache der adeligen Adaptation an die Monarchien wurde stattdessen in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im mittelbaren Bezug zum klassischen
Begriff der 'medii' (-+Mittelstand) und in unmittelbarer Anknüpfung an MoNTES-
QUIEu91 der Begriff der pouvoirs intermidiaires oder rangs intermediai'l'es eingeführt.
Dieser Begriff enthielt auf neue Weise die alte Verbindung von ständischer Ver-
fassung und politischer Freiheit in sich; Montesquieu wollte den pouvoirs inter-
midiatres die Aufgabe zuweisen, durch ihre Zwischengewalt der Zerreißung des
Staats in einen etat populai'l'e ou bien un etat despotique vorzubeugen. Der Begriff
mußte (und sollte bei Montesquieu) nicht streng auf den Adel allein angewandt
werden. Der Württemberger FRIEDRICH CARL VON MOSER z. B. verstand ihn im aus-
drücklichen Anschluß an Montesquieu auch nur allgemein ständisch, d. h. sowohl
20
D. 6. Diß'ereDZienuag im 18. Jahrhundert Adel
adelig wie bürgerlich. Es fehle den Deutschen diejenige Mittel- oder vermittelnde
Macht, welche Montesquieu sogar für die Stütu einer guten Monarchie und für das
Salz ansieht, daß solche nicht in die Verwesung oder zum Despotismus ühergehe: le tierb
Etat, wie er ... in Frankreich war, das Unter-Haus, das in Engelland so oft zwischen
demKönigeunddenendemHofeergebenenPairsdasGleichgewichthält,derStaaten-Rat,
so zwischen dem Erbstatthalter und den General-Staaten inne-stehet 92• Es war aber
bezeichnend für die deutschen Zustände, daß 'Mittelstand' als Verfassungsbegriff,
der „Zwischengewalt" Montesquieus entsprechend, meist auf den Adel als den
eigentlichen politischen Stand 'zwischen' Monarch und Volk allein bezogen wurde.
Besonders konsequent in dieser Richtung war JOHANN GEORG SCHLOSSER, der 1787
vom Mittelstand zwischen dem Regenten und dem Volk sprach, den er dem Adel
gleichsetzte; diesen begriff er politisch als Landstand, der ein Gegengewicht der Sou-
veränität sein könne. Auf diesem Mittelstand (= Adel) beruhe allein die Scheidewand
zwischen Monarchie und Despotie 9 3.
Auch KANT hat (1798) noch über den Adelstand als einen erblichen Mittelstand
zwischen ihm [dem Souverän] und den übrigen Staatsbürgern gehandelt, hat diesen
„Mittelstand" aber von Grund auf verworfen (s. u. S. 29 f.) 94• Aufgeklärter Despo-
tismus und Revolution ließen die Ideologie eines adeligen Mittelstandes in einer
durch ständische Freiheit eingeschränkten Monarchie nicht aufkommen. Adel (Ari-
stokratie) als politisch ausschlaggebende bzw. ve1fä1:111ungsstabilisierende inter-
mediäre Gewalt mochte (allein in England weitgehend konstitutionalisiert) in
Frankreich und Deutschland oppositionell oder irrealistisch optimistisch auf den
Begriff gebracht worden sein. Im Grunde war dies doch nur ein letzter erfolgloser
Versuch, altständische Libertät in den modernen Staat eingefügt zu erhalten -
entgegen den Prinzipien praktischer Aufklärung, denen gegenüber der alte Adels-
begriff mit l'leiner Kombination von Abstammung, Ehre und Tugend keinen Bestand
mehr haben sollte.
21
Adel II. 6. DUferenzieraq im 18. Jahrhundert
zoge, Fürst,en, Grafen. Zum niederen ReickmUersckaft und lanilsässiger Adel. Dem
entsprach im Reich, daß nur der höhere Adel Standschaft im Reichstag besaß,
während in viAlen J.andt.agen Herrenstand und Ritterstand voneino.ndor unter-
schieden waren. Der niedere Adel fühlte sich genötigt, auf seine geachtete Zugehörig-
keit zum Gesamtadel zu pochen; er strebte andererseits Aufstieg in den Herrenstand
an. Der Begriff des niederen Adels war vielfach prestigekränkend 98• 4) Entweder
geistUcher oder weltlicher. Jenen haben ErzbiscMfe, BiscMfe, Äbt,e. Diese Einbezie-
hung der Landesherrschaft ausübenden hohen Geistlichkeit in den Adelsbegriff war
eine der Eigentümlichkeiten des Reichsadels, die diesen von allen übrigen euro-
päischen Adelstypen abhob. 5) Entweder Land- oder Stadtadel. Hier war also das
in seiner Stellung stets und besonders gegen Ende des Reichs umstrittene Patriziat
mit einbezogen. Seine bürgerlich-adelige Zwischenstellung war ein politisch-gesell-
schaftliches und ein rechtliche.s Problem. 6) Entweder unmittelbar oder mittelbar
(landsässig). Aus dieser Unterscheidung ergab sich die schwierige Sonderstell11ng
der Reichsritterschaft, deren Streben, zum „höheren" Adel aufzusteigen, Kritik
herausforderte 97 •
Mochten die komplizierte Verfassung des Reichs und der zunehmende Personal-
bedarf der Staaten an Stellen, die Adelsrang erforderten, auch immer von neuem zu
Nobilitierungcn anreizen und damit eine Vermehrung des Adels insgesamt begün-
stigen, so machte sich doch gerade in der Spätzeit der Adelsherrschaft, d. h. vom
Ausgang des Dreißigjö.hrigcn Krieges bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, der Vor-
rang des alten Geschlechts gegenüber den neu Hinzutretenden verstärkt geltend.
In oder an den alten Adelsfamilien suchte man nicht nur alte Topoi zu bestätigen
(z. B.: Es ist gewiß in der Tugend der Elt,ern und V orelt,em eine recht wunderwürdige
und geheime Kraft, dieselbe auch auf die Kinder und Nachkommen zu bringen und
fortzupflanzen, daß also der kluge Heide Seneca nicht uneben beschrieben:: generosa in
ortm semina ezsurgunt suos) 98, sondern auch die Fähigkeit der Edelleute zu patrio-
tischer Bewährung vor allen Männern ohne Geschlechtstradition hervorzuheben:
Von den Vertretern alten Adels wurde erwartet, daß sie das Interesse des Landes-
fürst,en um das Wachstum des gesamt,en Landes nach dem allgemeinen Ausspruch
magni viri, mazimi duces, optima faciunt pro patria mit recht patriotischem Eifer
allezeit besorgen99• Doch war im Begriff des Geschlechtsadels neben der Adelspflicht
des patriotischen Dienstes für Fürst und Land auch das Selbstbewußtsein gegenüber
<lem Landesherrn enthalten. Typisch dazu etwo. eine Hausinschrift des ANDREAS
"Vgl. z.B. di~ Schrift für die Eigenständigkeit und Achtung des niederen Adels: Cmll-
STIAN LUDWIG SOHEIDT, Historische und Diplomatische Nachrichten von dem hohen und
niederen Adel in Teutschland (Hannover 1759). - Zum Aufstieg der Ritter in den Herren.-
stand am Beispiel Niederösterreichs vgl. ÜTTO BBmmEB, Zwei Studien zum VerhA.Jtnis
von Bürgertum und Adel, in: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl.
(Göttingen 1968), 276 :ff.
87 Als Beispiel der rechtshlstorischen Kontroversliteratur hierzu S..uroEL LUTZ [Luoros],
22
II. 7. Adelskrise vor der Revolution Adel
Hatten bis zum 18. Jahrhundert Bejahung deR adeligen Vorrangs auf Grund vor-
nehmer Abstammung und lnfragestellen dieses Vorrangs mit stoisch-philosophi-
scher oder christlicher Begründung stets nebeneinander bestehen, ja sogar sich in
gewisser Hinsicht gegenseitig bestätigen können, hatte also schärfste Adelskritik den
Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791bis1848 (Stuttgart 1967), 78 ff.
1 °' Die Dissertation von JOHANNA SCHULTZE, Die Auseinandersetzung zwischen Adel und
Bürgertum in den deutschen Zeitschriften der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts,
1773-1806 (Berlin 1925) ist begriffsgeschichtlich z. T. anregend, vor allem aber nützlich
wegen vieler Belegstellen. Diese betreffen vorwiegend freilich die Jahre nach Ausbruch
der Französischen Revolution.
23
Adel II. 7. Adelskrise vor der Revolution
Adel als Institution und allgemein anerkannten Begriff nicht zerstören können und
wollen, so kam diese Verbindung des prinzipiell Unvereinbaren durch die Auf-
klärung an ihr Ende. Sowohl vom Effizienzdenken der Ökonomisten wie voin
Gedanken der Menschenwürde und Menschengleicheit aus ergab sich die Folgerung,
daß der Adel dem Fortschritt entgegenstehe und nicht mehr als gott- und natur-
gegeben hingenommen werden könne. Im Maße wie neue Vorstellungen des Wirt-
schaftskreislaufs und der Menschenrechte in neuen Modellen der Gesellschaft und
des Staates sich mit Tendenzen zu Reformen oder „Revolutionen" (--+ Revolution)
verbanden, geriet der Adelsbegriff aus der überlieferten Sicherheit in die Krise.
Schon die Kameralisten, besonders Becher und Schröder, sahen ihre Grundsätze
einträglicher Staatswirtschaft im Widerspruch zur unrentablen Existenzweise der
Adeligenlos. JOHANN GEORGE LEIB (1708) legte das Kriterium der Nützlichkeit
oder Zuträglichkeit für das Land an die einzelnen Stände an und stellLe den Adel
als durchaus unnütz dar: Die vom Adel ... haben . . . zwar von ihren Lehn- und
RiUer-Gütern reichliche Nahrung, allein sie nähren sich erstlich mit den Bauern sauren
Schweiß und Blut, halten den edlen Segen Gottes zu Nachteil des Landes mehrenteils
auf Teurung, verhindern dadurch die Vermehrung derer Untertanen und schicken
ZU{J"leich vieles Geld vor Kleidung und andere zu ihrem Unterhalt benötigte Sac/i,en ·in
fremde Lander und bringen dagegen wenig oder nichts vom Gelde wieder ins Land.
Von solcher Wertung aus stellte Leib die ]!]delleute in die Reihe der Hof-Leute,
Richter, Advokaten, Soldaten, Müßiygänger und BeUler1° 6 • Ähnlich bezog J USTI (1755)
den Adel in sein Axiom ein, daß niemand ein unnützes Mitglied des gemeinen
Wesens sein dürfe und wandte sich gegen das Vorurteil des Adels, sein Stand werde
durch Oommercien, Manufakt,uren und andere dem Staat nützliche Unternehmungen
verunehret1° 7 • Der traditionell gegen die neuerkannten Gesetze des Wirtschaftskreis-
laufs verstoßende Adel wurde selbstverständlich auch durch die Physiokraten -
vgl. besonders das „Tableau economique" von Quesnay - abgelehnt, ohne daß
daraus (ebenso wenig wie bei Adam Smith) gefolgert worden wäre, den Adel als
politisch .bevorrechtigten Stand überhaupt abzuschaffen. Vielmehr hielt man es
für möglich, den Adel mit seinen Sonderrechten und -pflichten beizubehalten, ihn
aber in ökonomischer Hinsicht zri modernisieren, so daß er sich dadurch zeitgemäß
bewähren konnte. MösER suchte die Lösung darin, den Adelsbegriff nach englischem
Vorbild als Kronehre auf den Haupterben des Geschlechts zu beschränken und von
solchem Adel die Edelbürtigkeit (Fähigkeit zu Kroneh,rp,n) der Nachgeborenen be-
grifflich zu scheiden. Dadurch sei dem politischen Gemeinwesen ebenso wie den
wirtschaftlichen Ansprüchen gedient. Dann könne es dabei bleiben, daß zwar nicht
der Adel, wohl aber die Edel,gebornen ... Handlung oder Gewerbe treiben dürften108•
Für den Gutsherrn, auch wenn er nicht Handel und Gewerbe trieb, ergab· sich aus
der Anpassung an die moralische und ökonomische Aufklärung, daß er sich selbst
105 Vgl. den Überblick bei KURT ZIELENZIGER, Die alten deutschen Kameralisten (Jena
1914), 199 ff. 295 ff.
106 J. G. LEIB, Von Verbesserung Land und Leuten, Erste Rede (Leipzig, Frankfurt 1708),
7 f.
107 JoH. HEINR. GoTTLOB v. JusTI, Staatswirthschaft, Bd. 1 (Leipzig 1755), 403. 405.
§§ 384. 386.
108 JusTus MösER, Warum bildet sich der deutsche Adel nicht nach dem englischen?,
24
II. 7. Adelskrise vor der Revolution Adel
eines Teils adeliger Vorrechte, die aus Grund- und Leihherrschaft herrührten, frei-
willig begeben, also seinen Adel als Machtstellung reduzieren sollte, um sich als
Ökomom tüchtig und als Philanthrop wahrhaft „edel" (im moralisch-philosophi-
schen Sinne) zu erweisen (Bauernbefreiung!). Der zeitgemäß aus dem alten ',l'ugend-
oder Christenadel entwickelte Begriff des „philosophischen Adels", der etwa noch
bei CHRISTIAN GoTTLmB Rrncrns (1735) „ausgefallen" war, weil er, obwohl wün-
schenswert, sich nicht praktizieren lasse10 9 , wurde auf solche Weise praktisch mög-
lich, ja ·notwendig zur Modernisierung der Adelstradition, und zwar in einem
historischen Moment, in dem die alte Rede von der Zugehörigkeit des Geistes- oder
Tugendadels zum Geblütsadel zunehmend als fragwürdig erschien110. Als literari-
sches Vorbild für den Adeligen neuer Art, der durch zweckmäßige Reformen sein
Volk als Junker Vater, als ein Mann, der seines Gkichen nicht hat, beglücken sollte,
stellte PEl:l'l'ALOZZI seinen ZeiLgenossen den Junker Arner vor111 - einen „Herrn"
in zeitangemessener Form, der den für die Sozialordnung unentbehrlichen Adel auf
moderne Weise vorleben sollte. Ähnlich wollte J. G. SCHLOSSER Adel in seiner poli-
tisch-gesellschaftlichen Stellung, speziell im Umkreis der fürstlichen Höfe erhalten
sehen, obwohl ihm der Rollenverlust des ursprünglich adeligen (Krieger-)Standes
bewußt war und er dessen Ansprüchen ein starkes bürgerliches Selbstbewußtsein
entgegensetzte112 •
Doch nicht durchweg ließ der wachsende bürgerliche Stolz es zu, den Adelsvorrang,
und sei es in modern eingeengter Weise, noch anzuerkennen. Es wurde beobachtet,
daß auch unter Fürsten, die ohne Unterschied des Standes ihre Diener zu wähkn
anfingen, ein neuer Geist auflebte, den Schlosser 1787 eine Revoluzion nannte 113 •
W1LHEJ,M J,unwm WEKHRLIN wandte sich gegen die fiskalische Tiraney des Adels,
durch die er die Verschwendung der Höfe und die Ausschweifung ihrer Entwürfe
:finanziere114• Gegen die Begriffsverbindung 'Adel'/(ständische) 'Freiheit' wurde
'Adel' mit 'Anarchie' in Beziehung gesetzt und als unzeitgemäß einer aufgeklärten
Regierung und Verwaltung entgegengestellt. Für diese Vorstellung einer vergan-
genen oder untergangsreifen Adelsverfassung wurde aus der Rechtssprache das
Adjektiv 'feudal' mit scharf pejorativem Sinn übernommen (_.. Feudalismus). So
sprach der Halberstädter JOHANN AUGUST EBERHARD (1769) gegenüber Fr. C. v.
Moser von der Gefahr, daß die ganze Anarchie des Feudalgouvernements wieder-
hergestellt zu werden drohe11 6 •
109 Cnn. G. Rmoros, Zuverläßlicher Entwurf von dem landsässigen Adel in Deutschland
(Nürn,berg 1735), 5.
110 ADELUNG Bd. 1 (1774), 144 f. unterscheidet 'Adel' in eigentlicher vom 'Adel' in figür-
licher Bedeutung (= Erhabene Eigenschaften des Geiste&, Hoheit der Seele) und bemerkt
zum Adjektiv 'adelig', daß dessen figüi-liche Bedeutung veralte, vermutlich, weil die Sache
selbst bei unserm heutigen Adel aus der Gewohnheit gekommen ist.
m JoH. HEINRICH PESTALOZZI, Lienhard und Gertrud (1781-87), SW Bd. 3 (1928), 51. 139.
112 8cm.ossER, Von dem Adel (s. Anm. 93).
25
Adel II. 7. Adelskrise vor der Revolution
Über, alle Reduktion und Anpassung des Adels einerseits, Verwerfung von „Feuda-
lismus" andererseits führte JOHANN CHRISTIAN MAJER in. Wielands „Teutschem
Merkur" (1774) hinaus, indem er Leistung und Verdienst an die Stelle erblicher
Vorrechte zu setzen forderte. In einem aufgeklärten Zeitalter, bei einer verfeinerten
Nation sollte aller Rang und Stand der Bürger niclit erblich; sondern persönlich; niclit
zufällig, sondern verdienstlich ... eingerichtet ... sein ... Die ganze Stufen-Folge des
Rangs und der verschiedenen Stände sollte nach der Klassifikation der Verdienste
eingerichtet, danach allein sollte der Maßstab von aller bürgerlichen Ehre genommen
werden. Auf den höchsten Stufen des Verdienstes sollte dieser ehrwürdige Ausschuß
der Nation ... mitten inne zwischen dem Regenten und dem ganzen Volk stehenll&.
Majer übernahm also den Gedanken des Mittelstandes oder ~ er vermied bezeich-
nenderweise diesen Standesbegriff - besser der Vermittlung, legte ihm die Funktion
des Gleichgewiclit-Haltens zu, löste ihn vom Erbadel und setzte einen völlig neuen
Adelsbegriff: man kann diesen vorzüglichen Teil der Nation den Adel nennen; aber
dieser sei rein persönlich und beruhe auf der Auslese - Majer braucht dies Wort
noch ebensowenig wie 'Elite' - des verständigsten u'nfl edelgesinntesten Teils der
Nation, mit dr.RR!ln HilfP. der Fürst nicht na.ch dem alten Herkommen und owig nach
der Väter Weise, sondern nach dem jedesr1w,ligen Maß des Zeitalters ... die gemeine
Wohlfahrt seines gesamten Volks befördern könne. Der Sache, wenn auch nicht der
Bezeichnung nach bedeutete Majers Forderung den Sprung vom 'Adel' (nach der
Väter Weise) zur 'Elite' (in einem aufgeklärten Zeitalter und unter einer kultivierten
Nation), Leistungs- und Charakterauslese in einer Nation mit monarchischer Ver-
fasimng und einem notwendig neuen Verhältnis zwischen Fürst und Volk. Implizit
war damit ein demokratisches Gesellschaftsprinzip ausgesprochen, da das Substrat
des persönlichen Verdienstadels sozial unbegrenzt war. Majer ging sogar so weit zu
betonen, daß die vorzüglichen Eigenschaften und Er/ordernisse des Adels . . . ihre
Beziehung und Verhältnis zum jedesmaligen Systeme der ganzen Völkerschaft hätten;
so in der bisherigen Geschichte, so in der Gegenwart und Zukunft, freilich mit
Abbruch der ganzen erbadligen Tradition.
War auch dieser Sprung vom 'Adel' zur 'Elite' noch nicht allgemein typisch 117 für
das deutsche Bewußtsein um 1780, so war doch durch eine derartig auf die Spitze
getriebene politische Aufklärung das Ende des Adels bzw. seine Unvereinbarkeit
mit dem gegenwärtigen „Zeitalter" erklärt und das alte Wort zur Bezeichnung für
einen neuen Begriff gemacht worden.
Selbstverständlich hat zur Reflexion iiber die Adelskrise ._auch die Amerikanische
Revolution beigetragen. So erschien 1783 in der „Berlinischen Monats-Schrift"
eine Ode an die Freiheit Amerikas, in der die bessere 1;.fmisphäre gepriesen wurde,
wo süße Gleichmut wohnet, und Adelsbruf,
.
Europens Pest, die Sitte der Einfalt niclit
~
118J. C. MA.TER, Beyträge zur Geschichte der Menschheit, Teutscher Merkur 6 (1774), 244 ff.
11 7Zwar nicht typisch, aber doch auch nicht vereinzelt; vgl. z.
B. A. L. v. Scm.özER,
Neugierden eines Weltbürgers, Stats.Anzeigen 2 (1782), 316: Stehet für Europa, i'1!.8Vl'lder-
keit für Deutschland, GlückseUgkeit zu erwarten, aolange Gehurt und Salbung daB MO'll-Opol
der menachlicken Glückseligkeit haben? solang man glückselig sein kann, ohne niäzlich zu aein?
26
ll. 8. Die Wortbildung 'Aristokrat' vor und nach 1789 Adel
ScHLÖZER setzte diesen Versen die ernüchternde Bemerkung hinzu: Adel gibts
freilich in Amerika nicht, im europäischen Verstande, d. i. Geburtsadel; aber in
einem handelnden Lande entsteht . . . ein anderer Adel, genannt Geld-Adel, der weit
ärger wie der vorige kneift118 • Damit war die alte Einsicht, daß Adel des Reichtuma
bedürfe und Reichtum Adel schaffen könne, zu einem neuen Topos (Geldadel an-
stelle von Erbadel) gemacht und die Begriffsgeschichte von Aristokratie im „Kapi-
talismus" eröffnet worden.
Bezeichnend für die Adelskrise um 1780 war es, daß - als polemische Partei-
bezeichnung zu dem gleichzeitig entstehenden Wort 'Demokrat' (-+Demokratie) -
das Substantiv 'Aristokrat', nicht im gelehrten, sondern im öffentlich-politischen
Bereich, geprägt wurde. Schon in den achtziger Jahren ist es in Frankreich, den
Niederlanden119 und Deutschland gebraucht und alsbald nach dem Ausbruch der
Französischen Revolution viel verwendet worden. Schon 1774 steht in ScHUBARTS
„Deutscher Chronik"1 20: Wie mutlos sind nioht auf einmal diese stolGen Aristokraten
[die Venezianer] geworden. ScHLÖZER übernahm 1783 einen Artikel „Kakistokratie
in Holland" 121 , in dem die reine Aristokratie allgemein (und speziell in Holland) als
entweder dumm oder tyrannisch, manchmal beides zugleich, bezeichnet wurde. Zu
solcher Aristokratie = Kakistokratie gehörten für den Autor des Artikels unsere
hochmütigen Aristokraten oder die aristokratischen Auswürflinge; er braucht ferner
auch den bezeichnenden Begriff der aristokratischen Partei. War entsprechend einem
Sprachgefühl, das 'Aristokratie' als eingedeutscht empfand und demgemäß bei
weiteren Wortableitungen, so :vor allem 'Aristokratism(us)', nicht mehr bewußt an
das Griechische anzuknüpfen brauchte, das Wort 'Aristokrat' einmal eingeführt,
so war es, wie bereits die Belege vor 1789 zeigen, der politischen Wertung unter-
worfen. Das brauchte alsbald nicht nur abwertend zu geschehen. Vielmehr konnten
'Aristokratie', 'Aristokrat', 'Aristokratismus' nach 1789 auch achtbare (Eigen-)
Bezeichnungen werden. PESTALOZZI schrieb 1792 in einem Brief an Fellenberg über
„Lienhard und Gertrud", er habe durch diesen Roman den reinen Aristokratismus
retten wollen122 •
Von 1789/90 an wurden die Wörter 'Aristokrat', 'aristokratisch' sowie auch der
meist pejorativ gebrauchte Tendenzbegriff 'Aristokratismus' für einige Jahrzehnte,
d. h. über die Grenze von 1815 hinweg bis zur Revolution von 1848, viel verwendet
und zu schlagwortartigen „Partei"-Bezeichnungen (-+Partei) popularisiert123• Ein
Ariatokrati8mU8 fa8t gkichgeltend mit De8p0t und Dupoti8mU8 geworden. Die Verteufelungs-
wirkung des zum Schlagwort degradierten klassischen Begriffs beschreibt BARTHOLD
GEORG NIEBUHR, Geschichte des Zeitalters der Revolution, Vorlesungen an der Uni-
27
Adel ß. 8. Die Wortbildung 'Aristokrat' vor und nach 1789
versität Bonn im Sommer 1829, Bd. 1 (Hamburg 1845), 197: Begibt man sich aber unter
die Herrschaft dunkler Worte, deren Sinn man nicht versteht, so gibt man sich dem Teufel hin.
Der Name 'Aristokrat' machte, wie früher 'Ketzer', zum Gegenstande des Hasses und der
Verfol,gung, ohne daß man nach den peraönlichen Gesinnungen des einzelnen fragte.
Vgl. Loa.ENZ v. STEIN, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich,
2. Aufl. (Leipzig 1848), 499; CARL B. STÜVE, Über die gegenwärtige Lage des König-
reichs Hannover (Jena 1832), 17.
124 ANDREAS JOSEF HoFMANN, Der Aristokraten-Katechismus (Mainz 1792), 3. 11. Gl!lOIW
FoRSTER st.ellte 1797 den raschen Bedeutungswandel des bis vor kurzem nur gelehrten
Begriffs fest: Der Mißbrauch der SMhe hat oft den SpradllJWTILUCh ueii;nde.rt, 1(.nd ein. Wort,
das ursprünglich nur eine gute Bedeutung hatte, mit einer ausschließend schlimmen gestempelt.
Aristokratie, Herrschaft der Besten, wäre die wünschenswerteste Regierungaform, wenn sie
irgendwo existierte. Allein das verhaßt gewordene Wort bedeutet fetzt den stets betrogenen
Völkern gerade das Gegenteil: He"schaft der Ärgsten ( Kakiatokratie); Ober die Beziehung der
Staatskunst auf das Glück der Menschheit, Kl. Sehr., Bd. 6 (Berlin 1797), 310, Anm.
126 ANDREAS RIEDEL, Aufruf an alle Deutschen zu einem antiaristokratischen Gleichheits-
bund (1792), in: FRrrz VALJAVEC, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutsch-
Ja.nd 1770-1815 (München 1951), 505 ff., beR. 506.
128 Eudämonia oder deutsches Volksglück 1 (1795), 300.
UT Hierzu vgl. bes. HEINRICH SCHEEL, Süddeutsche Jakobiner. Klaesenkämpfe und re-
publikanische Bestrebungen im dP.utschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts (Berlin 1962)
sowie WALTER GRAB, Demokratische Strömungen in Hamburg und Schleswig-Holstein
zur Zeit der ersten Französischen Republik (Hamburg 1966).
28
II. 9. Erschütterung und Behauptung 1789/1815 Adel
Tradition brach um 1790 keineswegs ab, vielmehr mußte die Realität zwischen den
Extremen begriffen werden.
Als der Adel in Frankreich 1789/90 revolutionär beseitigt wurde, blieben die Deut-
schen noch in ihrer alten Ordnung des Reichs und der Fürstenstaaten. Als aber
das Reich zerbrach, fanden die weithin adelsfeindlichen Reformen der deutschen
Staaten in oder neben einem napoleonischen System statt, das den Adel nicht
beseitigen, sondern modernisieren wollte. So wurde die deutsche Adelswelt nach
1800 zwar schwer erschüttert und geachwächt, aber nicht aufgehoben. In jenen
Jahren lief begrift'sgeschichtlich die Tradition aus, und alte Topoi unterlagen dem
Zwang der Ideologisierung an oder zwischen den politischen Fronten der Revolu-
tion nnil GP.gP.mevolution. Die Krise des Adelsbegriffs wurde politisch akut. Die
Erfahrung, daß politische Ordnung ohne Adel möglich war. und diese Möglichkeit
bejaht oder verneint werden konnte, während der Adel im deutschen Bereich trotz
einschneidender Rechtseinbußen noch fortbestand, wurde maßgebend für die Be-
griffsbildung.
Mochten die radikalen Formulierungen deutscher „Jakobiner", in denen Adel nur
noch als Begriff eines rohen ~·eudalsystems erschien, auch mit dem Scheitern der
Jakobinerherrschaft in Frankreich zurückgegangen und unwirksam geworden sein,
so war das Modell einer adelsfreien Republik allgemeiner Gleichheit doch auch
für Deutschland aufgestellt worden, und es gab in den neunziger Jahren viele
Äußerungen, die mehr oder weniger darauf drängten, den Adel gänzlich abzu-
schaffen. Für KANT (1795) war Erbadel im Gegensatz zum Amtsa.del198 nur noch ein
geschichtlich fixierter Begriff, zugehörig einer Regierung von alten Zeiten (des Lehns-
wesens, das fast gänzlich auf den Krieg angelegt war), widersprüchlich zur republi-
kanischen Repräsentativverfassung der Zukunft. Nur für eine Übergangszeit, so
meinte Kant (1797), könnten die Stellen und Vorrechte des Erbadels noch bestehen-
bleiben, lJis selbst in der öffemlichen Meinung die Einteilung in Souverän, ·Adel und
Volk der einzigen natürlichen in Souverän und Volk Platz gemacht haben wird:129•
Kant sah im erblichen Adel lediglich eine temporäre, vom Staat autorisierte Zunft-
genossenschaft, die sich nach den Zeitumständen bequemen muß und dem allgemeinen
Menschenrechte, das so lange suspendiert war, nicht Abbruch tun darf. Er hob den
grundlegenden Satz der traditionellen Verfassungslehre auf, daß Adel konstitutiv
und damit unentbehrlich für jede gute Verfassung sei. Adel sei nur ein Akzidenz
der Konstitution und könne daher Recht (das kein ewiges Recht sei) und Stellung
durch Verfassungsänderung verlierentao.
Diese Feststellung Kants, daß Adel der politischen Verfassung nicht dauerhaft in-
härent, sondern nur ein Akzidenz sei, war grundlegend für die Begriffsbestimmung
des Adels im Zeitalter der Staatsreformen, sowohl Preußens wie der Rheinbund-
128 KANT, Zum ewigen Frieden, 2. Abschn„ 1. Definitivart. AA Bd. 8 (1912), 351, Anm.
119 Ders„ Metaphysik der 8itten, .ltechtslehre, § 49, Allg. Anm. D. AA Bd. 6 (1907), 329.
130 Ebd„ .Anhang 8 C. AA Bd. 6,.370. Vgl. auch ders., Über den Gemeinspruch: Das mag
in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), 2. Abh.: Vom
Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht (Gegen Hobbes). AA Bd. 8, 289 ff.
29
Ad"I D. 9. Ersehüttenmg und Behauptung 1789/1815
monarchien. Dazu trat Kants (zwar traditionelle, aber auf neue Weise idealistisch
wirksame) Unterscheidung zwischen Edelmann und edler Mannl 31, die zum zeit-
gemäßen Glauben an das Ziel einer „Veredlung" der Menschen, besonders bei den
preußischen Reformen paßte. Die alte Vorstellung der allein adelnden Tugend
innerhalb der gleichwohl ihrer selbst sicheren Adelswelt schlug um in die Zuversicht,
daß jedermann im Emporstreben zum Guten132 edel und daß damit Adel alter Art
ersetzt werden könne. Wenn HARDENBERG (1807) forderte: Jede Stelle im Staat,
ohne Ausnahme, sei nicht dieser oder jener Kaste133 - der erbliche Adel wird mit
131 Ders„ Zum ewigen Frieden, 2. Abschn„ 1. Definitiva.rt. AA Bd. 8, 351, Anm.
1 3 z KARL AuG. FRH. v. IIARDENBERG, Ober die Reorga.nisation des Preußischen Staats, ver-
faßt auf höchsten Befehl Sr. Majestät des Königs (Riga.er Denkschrift, 12. 9. 1807), in:
Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, Bd. 1/1, hg. v.
GEORG WINTER (Leipzig 1931), 314; hier auch das folgende Zitat.
1 33 Mit 'casta' (lat. castus „rein") bezeichneten die portugiesischen Indienfahrer des
16. Jahrhunderts die Btrong voneinander gesonderten Sozialgruppierungtiu iu Irulien. In
dieser Bedeutung gela.ngte das Wort im 17. Jahrhundert ins Französische ('caste' seit
1676 belegt: }'EW), fand jedoch erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Eingang in
die Wörterbücher, zuerst offenbar in die 3. Aufl. des Dict. Ac. fran9. von 1740 (s. Lrrl'lnl:).
Entsprechend definierte rlie 5. Aufl.. des Dict. de Trevoux kurz darauf (1743) 'co.stc' als
nqm que l'on donne aux Tribua, dana leaquellea aont divi8ea lea ldoldtrea dea Indea Orier,;tales
(t. l, 1784). Im Deutschen findet sich 'Casto' ··-dem Französischen entlehnt und zunächst
ebenfalls in der auf Indien begrenzten Bedeutung - seit dem beginnenden 18. Jahr-
hundert (1726 belegt: KLuGE/MrrZKA). JoH. GEORG PuRMANN begriff noch 1781 in der
Dt. Enc. als Oasten ausschließlich diejenigen Stämme oder Ordnungen ... , in welche die
Indoataner eingeteiU aind (Bd. 5, 277). In dieser engen "Redeutlmg registrierte der strenge
Purist CAMPE noch 1813 (Fremdwb„ 2. Aufl„ 176) das Wort 'Caste' als Stamm nach indiachem
Sprachgebrauche; im Gegensatz zu ADELUNG (Bd. 1, 1774, 2. Aufl. 1793) und zu seinem
eigenen Deutschen Wörterbuch (CAMPE Bd. 1, 1807) ließ er jetzt jedoch das Wort zum
deutschen Wortschatz zu und empfahl, .es folglich 'Kaste' zu schreiben. Wieweit sich der
Kastenbegriff im 18. Jahrhundert gleichzeitig von der Fixierung an die indischen Gesell-
schaftsformen lösen und damit verallgemeinern konnte, lassen die Lexika der. Zeit nicht
erkennen. Spätestens seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, besonders seit
der Französischen Revolution, wurde 'Kaste' in Deutschland zum „Schlagwort im Munde
der bürgerlichen Aufklärung" (GoMBERT), das polemisch auf Adel und Offizierstand
angewendet und in vielfachen Zusammensetzungen wie 'Kastengeist' (Ende des 18.
Jahrhunderts nach frz. 'esprit de caste'), 'Kastenehre', 'Kastenzunft', 'Kastensinn'
u.ä. Verbreitung fand. So setzte JoH. GoTTFRIED SEUME 1797 Adelainn und Kaatengeiat
gleich, der die mei8ten Staaten, ao viel ihrer die M enachengeachichte nennt, so lange
niederdrückte und zerrüttete; Zwei Briefe über die neuesten Veränderungen in Rußland
seit der Thronbesteigung Pauls des Ersten, SW 5. Aufl„ Bd. 5 (1853), 71. Zu Beginn des
19. Jahrhunderts scheint die polemische Verwendung längst geläufig gewesen zu sein;
sie steigerte sich besonders, als man nach 1806/07 dem Kastengeist des preußischen Adels
die Schuld am Zusammenbruch zuschrieb (Belege bei GoMBERT und LADENDORF). Daher
konnte der preußische General ÜTTO FRIEDRICH v. DIERICKE in seiner Verteidigungs-
schrift „Ein Wort an den Preußischen Adel" (Berlin 1817), 34 die Worte Caatenzunft,
Castenatolz, Gastendruck, Castengeiat und Castenainn Lieblingsau.adriicke einiger unaerer
gallaiichtigen Zeitachriftatelle,r nennen. - Vgl. KELLER, Ober den Kastengeist (Erlangen
1823); LrrrRi t. 1 (1863), 503; GRIMM Bd. 5 (1873), 262; ALBERT GOMBERT, Weitere
30
II. 9. Erschütterung und Behauptung 1789/1815 Adel
Hilfe des außereuropäischen Begriffs verbannt - , sondern dem Verdienst und der
Geschicklichkeit und Fähigkeit aus allen Ständen offen1H, so führte das für ihn zu dem
großen Zweck der Veredelung der Menschheit 130. Die Öffnung zur sozialen Freiheit
konnte - analog zum alten Topos des edlen Bauern-'---- sogar ausdrücklich als Weg
zur Veredelung der arbeitenden Klasse1 36 aufgefaßt werden.
Durch derartige Wendungen wurde die oben (S. 26) hervorgehobene Tendenz ver-
stärkt. 'Adel' durch 'Elite' im moralischen und im produktiven Sinne zu ersetzen
(keine Aristokratie als die der Talente und Tugenden) 137. Bezeichnenderweise
tauchte, wenn auch noch selten, auch das im Französischen seit dem 17. Jahrhundert
gebräuchliche Wort gelegentlich schon auf, so bei Hardenbergs Mitarbeiter ScHA,RN-
WEBER (die Elite des höheren Gewerbestandes, 1811)138. Blieb die Wortwendung auch
noch vereinzelt, so war der Gedanke der Auslese (Elite) nach Gesinnung, Charakter
und Leistung in betontem Gegensatz zum privilegierten, erblichen Adel konstitutiv
für alle Bereiche der Preußischen Reform.
Doch mündete die Auseinandersetzung um den Adelsbegriff in Deutschland keines-
wegs einseitig und überwiegend in die Richtung der Elite-Vorstellung. In der Publi-
zistik der Zeit um 1800 tauchten auch alle traditionellen Argumente adelskritischer
und -apologetischer Art noch auf.
Aber die gelehrte Überlieferung und Topologie, wie sie vor allem noch FRIEDRICH
G. A. SCHMIDT (1795) vertrat1 39, wenn er mit Hagemann (1696) daran erinnerte,
daß humana soc,ietas reg·itur inaequalitate, verblaßte allmählich und trat hinter
zeitgemäßer, populärer Polemik zurück, wenngleich auch Schmidt mit seiner
Gelehrsamkeit (explizit gegen die Jakobiner) aktuell zu sein versucht hatte. Ob
gelehrt oder populär, in jedem Fall galt die Feststellung CHRISTIAN GARVES
(1792), daß der Adel zur Partei140 im Staat geworden sei. Hinter jeder Meinung oder
Begriffsbestimmung stand das neue Faktum: „die Verwandlung des Adelsstandes
in eine Partei, die um ihre Vorrechte kämpft"141.
Daher gab es neben den zahlreichen Adelskritiken auch Apologien des Adels, so
z. B. bei AUGUST VON KoTZEBUE (1792), für den nicht nur Tüchtigkeit, sondern
auch Seelenadel erblich, ständische Ordnung ein Gebot der Natur und der Adel ein
Belege zu farbigen Worten, Zs. f. dt. Wortforsch. 7 (1905/06), 148 f.; LADENDORF (1906),
162; TB.ÜllNEB Bd. 5 (1939), 104; FEW Bd. 2 (1949), 479; KLuaEfMxrZKA 18. Aufl. (1960),
356; Dm>EN, Etymologie (1963), 315. - Stand und Klasse. R. STUMPF
18' liARDENllERG, zit. WINTER, Reorganisation, 314.
185 Ebd., 306.
ua Reskript vom 5. 3. 1809, in: Ergänzungen und Erläuterungen der Preußischen Rech~
bücher, hg. v. HEINRICH GRlF, LUDWIG v. RÖNNE, Aua. HEINRICH SmoN, Bd. 4 (Breslau
1843), 420.
187 Vgl. Braunschweigisches Journal 2 (1790), 270.
18 8CHRlsTIAN FRIEDRICH SCRARNWEBER, zit. KosELLECK, Preußen, 196.
1ae Smmn>T, Fortgesetzte Beyträge (s. Anm. 73), bes. 20 ff. Zur publizistischen Aus-
einandersetzung vgl. JOHANNA ScmutTZE, Adel und Bürgei:tum (s. Anm. 104).
110 Cim. GA.RVE, Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur
:n
Adel II. 9. Erschütterung und Behauptung 1789/1815
Band zwischen Fürst und Volk war, so daß der Volksstaat wie die Despotie (Türkei!)
verhindert werdeI42.
Aus den vielfältigen Versuchen, den Adelsbegriff dem Wandel der politischen Ver·
hältnisse anzupassen, ragt FRIEDRICH BUCHHOLZ (1805) hervor, weil er am extremsten
mit der Ablehnung des Geburtsadels den Gedanken verband, einen neu begriffenen
Adel nach napoleonischem Vorbild zu stiften. Für Buchholz blieb in Mm Begriffe
[des Adels] selbst noch immer eine Realität übrig; denn der Adel sei unzerstörbar, so
lange es große Gesellschaften gibt, welche durch die Macht zusammengehalten werMn
sollen. Es werde immer Personen geben müssen, die kraft ihrer Intelligenz und Nähe
zum impulsierenden Staatschef Mr ganzen Regierungsmaschine den Impuls geben;
die würden immer der AMl einer Nation sein. Solchen Naturad,el setzte Buchholz
scharf von der vergangenen Feudalaristokratie ab, die er als unnatürlich bezeichnete.
Den natürlichen Adel einer modernen Nation, wo die Gleichheit neben Mr Souveränität
stattfind,et und beide für und durcheinander 11orh.a111.dP.n .~ind, fänd Buchholz in der
französischen Ehrenlegion beispielhaft verwirklicht. Sie sei, ihrem Wesen nach, eine
moralische Institution zur Aufrechterhaltung der Gleichheit und 8ü:herung Mr Herr-
schaft d.er Tugend, eine neue Aristokratie naoh dom Grundaatz, daß sich die m·it ihr
'Verbundenen V ortm:lP. 'm:cht über d1'.e LebensdauC!T des in sie aufgenommenen I ndivi-
duums hinaus erstrecken sollten. Sie wirkte daher nicht als Körper, sondern nur als
Organ MS ganzen Staates. In bezug auf diesen sei sie eine Aristokratie, in sich selbst
aber eine Demokratie1'3.
Diese Neuadelskonzeption ging mit dem Modell des napoleonischen Herrschafts~
systems dahin und entsprach um so weniger den deutschen Bedingungen, als der
politische Kompromiß zwischen den fürstenstaatlichen Regierungen und dem Erb-
adel nicht aufgegeben, vielmehr von 1815 an neu geschlossen wurde.
Dazu hatten der Gegenschlag Edmund Burkes gegen die Französische Revolution
und das für die deutsche Selbstbehauptung gegenüber Frankreich für viele will-
kommene englische Vorbild beigetragen, wie es besonders durch Ernst Brandes,
August Wilhelm Rehberg und Friedrich Gentz hervorgehoben wurde. REHBERG
vor allem wendete für Deutschland (1803) wie Burke fü;r England die alte Lehre
von der „natürlichen" Ungleichheit (Aristoteles) an und vertrat die These, daß der
Adel, insofern er auf ererbten Landbesitz begründet sei, den Bürgerlichen zwar
freie Mitbewerbung um hohe Stellen zugestehen solle, trotzdem aber prädisponiert
sei zur Führung im Staats- und Militärdienst. Rehberg präludie1·te weit mehr als
Kant und Buchholz dem 19. Jahrhundert in Deutschland, wenn er einerseits die
Adelsvorrechte einschränken und so dem Bedürfnisse der Zeiten zuvorkommen wollte,
andererseits aber die überlieferte Grundüberzeugung gegenrevolutionär hervor-
kehrte, daß die Vorzüge Mr adligen Abkunft tief in der Natur MS Menschen und in
den ersten Grundzügen aller bürgerlichen Ordnung liegen, und es ein ebenso vergebliches
als frevelhaftes Unternehmen sein würde, sie zerstören zu wollen144 . In ähnlichem
1'2 A. v. KOTZEBUE, Vom Adel (Leipzig 1792), paBBim, bes. 130. 232. Adel als Mittelstand
zwischen Fürst und Volk findet sich auch sonst noch mehrfach, z.B. bei PmLIP:e v. ARNIM
(1793), zit. JOHANNA SCHULTZE, Adel und Bürgertum, 49 f.
143 FRIEDRICH BUCHHOLZ, Der neue Leviathan (Tübingen 1805), 72 f. 172 ff.
1 " AuG. WILH. REHBERG, Über den deutschen Adel (Göttingen 1803), bes. 261.
32
11. 9. Erschütterung und Behauptung 1789/1815 Adel
140 ERNST BRANDES, Über einige bisherige Folgen der französischen Revolution in Rück-
sicht auf Deutschland (Hannover 1792), 129.
148 STEIN, Denkschrift zum Finanzplan Hardenbergs v. 12./13. 9. 1810, Br. u~ Sehr.,
u. Sehr., Bd. 2/2 (1960), 853. Zum stark ausgeprägten Adelsbewußtsein Steins nach
1815 vgl. WERNER GEMBRUCH, Freiherr vom Stein im Zeitalter der Restauration (Wies-
baden 1960), 43 ff.
m F. SCHLEGEL, Philosophische Vorlesungen 1800-1807, SW Bd.13 (1964), 148.150 f.
3-90385/1 33
Adel ß. 10. Adel im 'Wandel dee Verfassungsrechts
m ADAM MÜLLER, Die Elemente der Staatskunst, Bd. 1 (Berlin 1809), 258 f. 264. 268.
9. Vorlesung.
160 Besonders typisch in JOSEPH FB.H. v. EICHENDOBJ!TS Dichtungen. Vgl. bes. seinen
E888y: Der Adel und die Revolution, Werke u. Sehr., Bd. 2 (1957), 1022 ff.
1u So K.uu. FRIEDRICH VoLLGRAFF, Gibt es noch einen hohen Teutschen Adel in dem Sinne
und Begriffe, den man damit doctrinell bis zur Auflösung des deutschen Reiches verband ?
(Darmstadt 1823). Auch K.uu. JOSEPH MrrrEBJU.IEB bestreitet, daß der Begriff 'hoher
Adel' noch brauchbar sei; Art. Adeln, ERsCH/GBUBER 1. Sect„ Bd. 1 (1818), 388 ff.
161 HEINZ GoLLWITZER, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung
der Mediatisierten 1815-1918 (Stuttgart 1957), 32 ff. 398.
34
ll. 11. Kumpruw.iue zwischen Restauration una Revolution A.ae1
Der niedere Adel war in den deutschen Staaten, teils schon seit den achtziger
Jahren, teils erst unter französischer Herrschaft, erheblich in seiner Rechtsstel-
lung gefährdet und gesetzlich eingeschränkt worden (Bauernbefreiung, Militär-,
Finanz-, Steuerreformen); doch waren viele Privilegien, so besonders die adlige
Grund- und Gerichtsherrschaft, das Patronatsrecht, Ebenbürtigkeitsschranken
und Vorrechte bei Ämterbesetzungen in erheblichem Ausmaß erhalten geblieben,
und an Stelle alter Landstandschaft wurde in den Konstitutionen nach 1815
(in Preußen seit 1823 in den Provinziallandtagen) aufs neue der Vorrang adliger
Repräsentation (erste Kammern) festgelegt.
Der Adel war also trotz aller Erschütterungen im Deutschen Bund der maßgebend
herrschende Stand („souveräne Fürsten") und in den deutschen Staaten der höchste
politische Stand mit rechtlichem und gesellschaftlichem Vorzug vor den öffentlich
tätigen Vertretern des Bürgerstandes geblieben. Die Anfechtung und Rechtsminde-
rung des Adola in der Zeit der Revolution und Napoleons ist all'lo durnh fliA NP.n:-
festigung des Adels nach 1815 wenn nicht aufgewogen, so doch aufgehalten worden.
Aber die Erschütterung war nicht vergessen, und den verfassungs- und privat-
rechLliche11 Sichem11g1m der Adelsstellung entsprach keineswcg0 eine nouo Siohor
heit im Begriff des Adels. Nicht nur hatten die Mediatisierten die Erfahrung
gemacht, daß ihre reichsrechtlich ererbte „Souveränität" „widerrechtlich" anulliert
worden war, sondern aunh dP.m niederen Adel drohte ständig die Gefahr, daß seine
Vorrangpositionen durch weitere Reformgesetzgebung in den einzelnen Staaten
vermindert oder schließlich gänzlich aufgehoben werden könnten. Dagegen gab es
keine anuere Sichenwg al1:1 die weidlich genutzte Möglichkeit adligen Einfl.USßCß o.uf
Grund verfassungsrechtlich garantierter Macht und persönlicher Einwirkung. Ten-
denziell war also trotz der Stabilisierung um 1815 die verfassungsrechtliche Basis
des Adelsbegriffs weiterhin im Gleiten. RoT'.l'ECK betonte im vielbenutzten ;,Staats-
recht der constitutionellen Monarchie", daß dem Adel zwar nicht abgesprochen
werden könne, was bloß von der Willkür des Regenten abhänge oder was privatrecht-
lich ererbt oder erworben werden kann ... , daß ihm aber niemals einiges positive Vor-
recht anders als durch fortwährend freie Gewährung der Gesamtheit, demnach jeden
Augenblick widerrufen durch. die gesetzgebende Macht; zugestanden werden könnel 53•
So war der durch den Fall des alten Reiches und die staatlichen Reformen arg
reduzierte und verstörte Adel im konstitutionellen Staatsrecht zwar rechtlich be-
stätigt, aber auf längere Sicht keineswegs gesichert worden. Der Adelsbegriff war
nicht mehr ein notwendiger und unabänderlicher, ·sondern nur noch ein möglicher
und umstrittener Bestandteil der politisch-sozialen Ordnungl 54 •
168 JoH. CmusTOPH FRH. v. ÄBETIN / ÜARL v. ROTTECK, Staatsrecht der constitutionellen
Monarchie, 2. Auß., Bd. 3 (Leipzig 1840), 18.
154 Zu Einzelheiten der Rechtsstellung und der unterteilenden Bezeichnungen des Adels·
begriffe nach 1815 s. MrrrERMAIEBS Art. Adel I, ERSCH/GRUJIER 1. Se.et., Bd. 1 (1818),
37911'.
35
Adel II. 11. K.uwpromisse zwischen Restauration und Revolution
lebendig, so schon unmittelbar nach der Neuordnung von 1815 in der Fehde zwi-
schen den verfeindeten Jugendfreunden (des Göttinger Hainbundes) GRAF FRIED-
RICH LEOPOLD zu STOLBERG und JOHANN HEINRICH Voss (1818/19) 1 5 5 • Allerdings
wurde hier kaum etwas Neues gesagt. Der persönlich :verletzende Streit sei hier nur
deswegen erwähnt, weil er das als existenzbedrohend empfundene Auseinander-
treten der Prinzipien und Lebensanschauungen. zwischen Adelsbehauptung und
fortschrittlich leistungsbewußtem Brügerstolz, zwischen Geboremn und Tüchtigen 156
auf die Spitze trieb. Stolberg drückte die Idee des Adels in zeittypischer Idealisierung
überkommener Vorstellungen so aus: Sie beruht, wie alks, was groß ist im Menschen,
auf Aufopferung des Geringeren, um das Höhere zu ergreifen. Der Adel muß ent-
sagen jedem kaufmännischen und nieiirigen Gewerbe. Drei Bestimmungen wurden ihm
gegeben: Veredelter Landl!au, dessen ehedem auch Könige sich nicht schämten; Staats-
verwaltung; Verteidigung des V ateilandes1 57 • Stolberg stand selbstverständlich in der
Tradition des Montesquieu'schen „Mittelstandes". Voss vemointo dies als ge-
schichtlich überholt und lehnte ab, daß eim mue Korporation geschaffen werden
könne, welche durch ihr Vermimn jedesmal die Vereinigung der Regierung und des
größten Teils der Regierten hemmen und zernichten kann158• Er verdammte das
Bündnis von Junkern und Päpst und klagte die Edelleute an: Sie wollen dumm
machen, damit sie fortgelten für erbklug zu den ersten Ämtern de,, Btaal.e.s, dessen
Bürger, dessen Gelehrte ihmn SpoUnamen sind, dessen Lasten ein wenig mitzutragen
sie filr großmütige Aufopferung erklären. Ihr Erbdrohmnrecht begeistert sie ... ; dies
fortzuerben auf ihre Dröhnlinge, sie reizen umeinander, datr Volk auf den Fürsten,
den Fürsten auf das Volk; dies zu verteidigen, ergeben sie sich dem dunkelnden Papst
und dem anarchischen SatanaslH.
So sehr in soluher Sicht - sowohl des Angreifers wie des Apologeten - Adel und
Aristokratie (gemeinsam mit der kirchlichen Hierarchie) in die Gegenaufklänmg
und Gegenrevolution verwiesen wurden, so wenig war doch die Position von Voß
radikal-republikanisch oder revolutionär. Daß diese Position in Deutschland nach
· 1815 zunächst fast gänzlich fehlte, war für die Adelskonzeption der politisch,· d. h.
vorwiegend liberal denkenden Bürger jener Zeit typisch. Die deutschen Liberalen
hielten sich im allgemeinen zwischen den Polen der Verteidigung oder der Verwer-
fung des Adels. Während auf konservativer Seite, z. B. bei ANCILLON und bei
STAHL, zunehmend eine Adelsideologie ausgebaut wurde, in der die alte Erblich-
keits- und Tugendlehre fortgesponnen und die Zusammengehörigkeit von Adel,
Monarchie und Kirche betont wurde180, standen die Liberalen von Anbeginn vor
IH F. L. GRAF STOLBERG, Über den Zeitgeist, in: Drey kleine Schriften (Münster 1818),
71 ff.; J. H. Voss, Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier?, Sophronizon 1 (1819), H. 3,
4 ff.; HEINlUCH EBERHARD GOTTLOB PAULUS, Voß und Stolberg oder der Kampf des
Zeitalters zwischen Licht und Verdunkelung (Stuttgart 1820).
168 Voss, Sophronizon 1 (1819), H. 3, 20.
167 STOLBERG, Brief an den Grafen Westphal v. 1. 2. 1816, zit. JOHANNES JA.NSSEN, Fried-
1 59 Ebd„ 111.
180 FRIEDRICH ÄNCILLON, Über den Geist der Staatsverfassungen (Berlin 1825), 86:
Ohne Adel gibt ea keine MO'flßrckie, acmdern morgenländiaiken, Deapotiamua oder eine kimig-
licke Derrwhratie. FmEDRICH J ULIUS STAHL, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche
36
D. 11. Kompromisse zwischen Restauration und Revolution Adel
der Schwierigkeit, die alte „J!'eudalaristokratie'.', die durch Gewalt, die Sfiirke, die
Tyrannei, ja die Straßenräuberei der Ritter des Mittelalters 161 zustande gekommene
Macht des Adels, zu verwerfen, ihn in seinen Rechten aber trotzdem zu achten
und sich mit einer begrenzten politischen Funktion des Adels in der Staatsverfas-
sung abzufinden.
Die Lexika der Zeit gaben dem aktuell bleibenden Adelsproblem weiten Raum.
M1TTERMAIER entwickelte 1818 die Frage rein historisch und lieferte damit der
vorsichtigen, etwa auf der Linie des ausdrücklich genannten Freiherrn vom Stein
liegenden politischen Beurteilung von RAu die Grundlage: der Erbadel sollte dem
Zeitgeiste angemessen werden; der britische Majoratsadel wurde als Vorbild hin-
gestellt162. KRUG lehnte in seinem Lexikon (1827) dagegen betont unhistorisch den
Realadel (im Gegensatz zum Nominal- oder Titularadel) vom Naturrecht her ab,
ließ aber trotzdem, ohne klare Konkretisierung, das ursprüngliche und natürliche,
nicht dagegen das spätere und erkünstelte Adelsinstitut gelten163. Die ausführlichste
und wohl als prototypisch zu bezeichnende Adelsin~erpretation des deutschen
Liberalismus gaben WELCKER und RoTTECK im „Staats-Lexikon" (1834), in dem
sie die zum Grunde liegenden vernunftrechtlichen Überzeugungen historisch ein-
kleideten und damit empirisch zu begründen versuchten164. Welcker verwarf alle
hyperaristokratischen und mystisch religiösen Adelstheorien (259), besonders christ-
lich-konservative Theorien (Fr. Schlegel, Adam Müller u. a.) ebenso wie verschwom-
mene Gesinnungsbegriffe wie natürlicher Adel, Ad.el d.es Herzen.~, Meimmgs-, Ver-
dienst-, Geld- oder Gelehrtenadel (265), um damit die Bahn für seine historische
Beweisführung freizumachen, mit der er Adel und Aristokratie zugleich ablehnte
und neu begründete, soweit mit dem Recht und dem Wohl der Staatsgesellschaft ver-
einbarlich (162). Welcker stellte den Adelsbegriff in das Geschichtsbild von der
ursprünglichen Gemeinfreiheit (der höchste allgemeine altdeutsche Stand war ... die
Vollfreiheit oder das Vollbürgertum. Freiheit war der Uradel, der einzige Adel unserer
deutschen Vorfahren;. 312) und der Verfallsgeschichte des Adels im -+Feudalismus
(Feudal-Despotie, Feudal-Anarchie; 313), um für seine Zeit den Fall aller unbegrün-
deten, auf Feudalismus beruhenden Vorzugsrechte festzustellen bzw. zu fordern,
sodann aber die friedliche Vereinigung zeitgemäß gerechtfertigter Vorrechte eines
extrem politischen Standes (Oberhaus, Pairieadel)1 65 mit dem konstitutionellen System
(Berlin 1863), 297 ff. bezeichnete den Adel als Triiger der Partei der Le,gitimität, die Stahl
weder einer absolutistischen noch einer altstltndischen, sondern der stltndisch konstitutionellen
Monarchie zuordnen will. - Als Beispiel für die „Mittelstands"-Tradition (Montesquieu):
FRIEDR. WILH. DIETRICH v. GEISLER, Über den Adel als einen zur Vermittlung zwischen
Monarchie und Demokratie nothwendigen Volksbestandtheil (Minden 1835).
1e1 So in HEINRICH LuDENS Nemesis 4 (1815), 475; ebd., 471 wird der Adel bezeichnet als
gefallen, entwürdigt und entehrt; mit ihm sei die große Idee, wekher er das Dasein dankt,
unterge,gangen.
162 ERScH/GRUBER 1. Sect., Bd. 1 (1818), 379 ff.
81 f., wo er im Sinne der Vermittlung ein drittes Organ, einen Senat, ein Oberha'U8 nach dem
Vorbild Englands eingeführt wissen wollte, in dem neben dem grundbesitzenden, erblichen
Adel auch Spitzen der Kirchen und der Wissenschaft sitzen sollten.
37
Aclel U. 11. Kompromi11e zwischen Restauration ana Revolution
(3.50) für notwendig zu halten. Adel und Aristokratie wurden also abgelegt, insofern
es sich um die Aktualität des seit der Französischen Revolution ausgebrochenen
Kampfes der Aristokraten gegen die Demokraten, d. h. gegen die Völker handelte; sie
sollten aber mit Hilfe des geschi~htlichen Rückgriffs auf die noch unverderbte Vor-
zeit historisch legitimiert (in jener alten, echt, deutschen al"lgemeinen Nobi,lifiit aller
freien Vollbürger; 353) und der liberalen Staatsverfassung als zur bürgerlichen Gesell·
schaft offen eingefügt werden; denn die konstitutionelle Monarchie sei für ein
mündiges Volk (689) nur möglich, wenn ihr ein demokratisches Element mit aristo-
kratischer Beimischung (692) eingefügt werde. Solcherart suchten die Liberalen den
Spalt zwischen 'Demokratismus' und 'Aristokratismus' zu überbrücken und im
vorgestellten geschichtlichen Dreischritt die alte Le~e von der gemischten Verfas-
sung auf liberale Weise neu zu fassen. So stellte auch das „Conversations-Lexikon
der Gegenwart"188 fest: der eckte Aristokratismus verträgt sich mit wahrem Liberalis-
mus und ist eins mit ihm und setzte diesen „echten Aristokratismus" ab gegen einen
falschen und unechten Aristokratismus im Sinne eines Liberalismus, ... der sich noch
mehr von den Schlacken demokratischer Tendenzen gereinigt haben wird. Und
FRIEDRICH ScHMITrHENNER bemerkte 1838: Der Liberalismus steht der Aristokratie
so wenig entgegen, da{J man dieses letztere System [das liberal-aristokratische] unbe-
denklich als dasjenige aller tieferen Staatsgelehrten bezeichnen kann167 • In ähnlichem
Sinne harmonisierend trat der Württemberger PAUL AORATIUS PFIZER 1842 für die
Mischung der drei klassischen Elemente ein. Alles spreche für einen verfassungs-
mäßigen und gesetzlichen Adel neben dem monarchischen Staatsoberhaupt, der aber
keineswegs ein blo{Jer Adel der Geburt ... , sondern auch· ein Adel des Verdienstes und
der Talente oder der persönlichen Würdigkeit, ein Adel des Geld- oder Grundbesitzes sein,
ja sogar in der Volksvertretung selbst enthalten sein kann, so daß das arist.okratische
Element in die Vertreter des dem Volke vorbehaltenen Teils der Staatsgewalt unmittelbar
gelegt wird168•
Diese Beispiele des zeittypischen Kompromisses der Liberalen mit einem „echten"
Aristokratismus, die leicht vermehrt werden könnten, zeigen, daß man auf liberaler
Seite nicht müde wurde, der Dichotomie „Aristokratie - Demokratie" auf dem
Boden der gegebenen und verbesserungfähigen konstitutionellen Monarchie zu
widerstehen, um den Adel aus einem zwecklosen, wenn nicht, gefährlichen Gliede der
Gesellschaft, was er gegenwärtig bei uns unleugbar ist, zu einem naturgemäßen, kräfti-
gen, für sich selbst und für die bürgerliche Gesellschaft nützlichen l nstitute zu er-
keben11J11. In solcher Naturlehre des Staats konnte, so war die Meinung, ein offener,
öffentlich rechtlich institutionalisierter, vermittelnder Adel als Träger des als un-
entbehrlich angesehenen „aristokratischen Prinzips" nicht fehlen.
Gegenüber diesem liberalen Kompromiß standen sowohl die restaurativen wie die
revolutionären Adelskonzeptionen in ihrer Wirkung zurück, verstärkten sich aber
38
ll. 11. Kompromiase zwischen Restauration und Revolution Adel
nach der Julirevolution 1830 und in der Zuspitzung der vierziger Jahre. Auf konser-
Yativer Seite, besonders ausgeprägt in „Berliner Politischen Wochenblatt" nnd itn
Kreis um Friedrich Wilhelm I:V., wurde Adel im politischen Zusammenhang einer
ständisch-konstitutionellen Monarchie sowie in scharfer Absetzung von der sozial
schonungslosen bürgerlichen „Aristokratie des Geldes" und dem ihr zugehörigen
französischen Modell eines „Bürgerkönigtums" gesehen170• Bei Demokraten und
Radikalen, Jungdeutschen, Junghegelianern und Sozialisten dagegen waren die
Brücken zur Aristokratie abgebrochen. Hier wurde jegliche Adelsanpassung oder
-erneuerung verworfen. Schon HEINRICH HEINE schrieb 1832: Alle Konstitutionen,
selbst die beste, können uns nichJ,s helfen, solange nicht das ganze Adeltum bis zur
letzten Wurzel zerstört ist 171• Bei allen radikalen Gruppen, besonders den Sozialisten,
setzte sich der Gedanke einer Zeitwende fest, durch die der Adel uneingeschränkt in
die verderbte Vergangenheit verwiesen wurde. Immer niih.er rückt dM große Zeitpunkt
heran, wo die beülen Prinzipien, . . . niimlich das aristokratische und demokratische,
gegeneinanderüber auf den Kampfplatz treten werden. Ein Kampf wird entstehen auf
Tod und Leben, und er wird sich nur endigen mit der gänzlichen Vemichtung dM einen
Partei (1838); dabei wurden bereits die gefährlichen Erben der feudalen Despoten, die
industriellen Geldaristokraten und die liberal-bürgerlichen Geistesaristokraten mit
einbezogen172 •
So wurde jede politische „Naturlehre" korumrvativcr oder liberaler Prägung, duroh
die ein institutionalisierter Adel oder ein der politischen Verfassung innewohnendes
aristokratisches Element begründet wurden, von den Radikalen verworfen. Adel
konnte für sie nur als historisch vergangen oder als gegenwärtig anachronistisch
bzw; überfällig begriffen werden. So definierte der junge MARX (1843) das konstitu-
Liunelle (lieuLsche uder englische) ZweikammerllilysLem als ein Nebeneinander von
Mittelalter und moderner Zeit: Adel in der Pairskammer als dem ständischen
Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft (der Stand schlechthin) neben der Abgeord-
netenkamm.er als der politischen Repräsentation dM bürgerlichen Gesellschaft. Die
lrürgerliche Gesellschaft hat dann in der ständischen Kammer den Repräsentant ihrer
mittelaltrigen, in der Abgeordnetenkammer ihres politischen (modernen) Daseins. Der
Fortschritt besteht hier gegen das Mittelalter nur darin, daß die stäriilische Politik zu
einer besonderen politischen Existenz neben der staatslrürgerlichen Politik herabgesetzt
ist173 •
170 Wm..FGANG SCHEEL, Das „Berliner Politische Wochenblatt" und die politische und so-
ziale Revolution in Frankreich und England. Ein Beitrag zur konservativen Zeitkritik
in Deutschland (Göttingen, Berlin, Frankfurt 1964).
171 HEINRICH HEINE, Französische ZUBtände (1832), Zwischennote zu Art. IX. SW Bd. 5
(1908), 149. Daß die Grenze zur „liberalen Partei" hin fließend war, sei angemerkt. Die
Ablehnung der „Feudalarietokratie" verband Gemäßigte und Radikale in liberaler
Grundüberzeugung. Vgl. dazu den sich zur „liberalen Partei" rechnenden, jeglichen Erb-
adel scharf ablehnenden JoH. CmuSTIAN FLEISOBlUUEB, Die deutsche privilegierte Lehn-
und Erbaristokratie, vernunftmäßig und geschichtlich gewürdigt für gebildete Deut.sehe
aller Claesen (Neustadt/Oder 1831) mit Anlehnung an Kant.
m KARL SOlliPPEB, Gütergemeinschaft (Paris 1838; ungedr. Ma.nuekript), zit. Wou-
GANG SCHIEDEB, Anf"ange der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahr-
zehnt nach der Julirevolution von 1830 (Stuttgart 1963), 319, Anhang m.
17 a KARL MARx, Kritik der Regelsehen Staat.ephilosophie, MEW Bd. 1 (1957), 318.
39
Adel ll. 12. Die gescheiterte Entsebeidung 1848/1849
Im Maße wie Marx und Engels sodann bis 1847/48 die Theorie der in „Klassen-
kämpfen" fortschreitenden Geschichte ökonomisch bedingter Herrachaftsstruk-
turen entwickelten, war der Adel mit dem in seinen Resten gegenwärtig unter-
gehenden -+ Feudalismus in eine durch die Bourgeoisie schon überwundene Phase
der Geschichte verwiesen. Füi: Preußen sah ENGELS 1847 den Beginn einer neuen
Epoche ... , den Sturz des Absolutismus und des Adels und den Aufstieg der Bour-
geosie174. Soweit der gutsbesitzende Adel mit Mitteln der rationellen Landwirtschaft
zum industriellen Grundeigentümer geworden war, wurde für Engels sein Sturz
dadurch überdeckt, daß er teilweise selbst sclwn zur Bourgeoisie übergegangen sei175,
Adel und Aristokratie waren solchergestalt historisiert, d. h. in der Geschichte auf-
gehoben: sie waren für die Begriffsbestimmung der zukünftigen Gesellschaft aus-
geschieden.
In der Reichsverfassung von 1849 ist der liberale Adelskompromiß, allerdings mit
erheblichen Zugeständnissen an die Linke, konstitutiv geworden. Es wurde ent-
schieden:
1) Der souveräne Hochadel, d. h. die Fürsten, blieben insofern unangetastet, als sie
regierende Häupter von konstitutionellen Monarchien blieben und ihre staatlichen
Hoheitsrechte dadurch behielten, daß diese nicht in die Kompetenz des Reiches
übergingen. Die Würde des Reiclisoberhauptes sollte einem der regierenden Fürsten
übertragen werden (§ 68). Damit war am Begriff des Reichs als einem Hochadels-
bund, wenn auch bundes- und nationalstaatlich modernisiert, gegen die demokra-
tisch-republikanische Minderheit festgehalten worden. Diese Entscheidung blieb
trotz Unterbrechung und .Änderungen nach dem Scheitern der Frankfurter Natio-
nalversammlung grundsätzlich bis 1918 gültig und bewußtseinsprägend.
2) Der Adel als Stand, von den Fürsten abgesehen, wurde aufgehoben. Alle Standes-
vorrechte wurden abgeschafft, die Gleichheit vor dem Gesetz hergestellt. Es gab
prinzipiell keine Sonderstellungen des Adels mehr, so daß alle aus Grund- oder
Gutsherrschaft herrührenden Rechte und Einnahmen sowie die Patrimonial-
gerichtsbarkeit und grundherrliche Polizei, Zehnt- und Jagdberechtigungen, Steuer-
vergünstigungen, Familienfideikommisse, Lehensverbände, Ämter- und Militär-
dienstvorrechte fortfielen(§§ 137. 164-173).
Damit war der Adel als solcher gemäß dem Grundrecht der bürgerlichen Gleichheit
aus dem Recht ausgeschieden. Es sollte weder im Staatsrecht noch im bürgerlichen
Recht noch einen Adel geben, auch nicht in der Ersten Kammer des Reiches, dem
Staatenhaus. Die Vertreter der demokratischen Linken wollten daraus die Folge-
rung gezogen wissen, daß damit Adel überhaupt abgeschafft sei und nur noch der
Geschichte angehöre. Doch die liberale Mehrheit scheute diese Konsequenz. Auch
ERNST MoRITZ ARNDT, der sich in seiner Rede 1848 als Republikaner bezeichnete,
hatte schon 1814 den Adel nicht beseitigen, sondern ihm vielmehr auf einen auf
Grundbesitz ruhenden Majoratadel reduzieren wollen178 ; er beschwor nun die Ehre
174 FRIEDRICH ENGELS, Die preußische Verfaseung, MEW Bd. 4 (1959), 35.
175 Ebd„ 47.
178 E. M. ARNDT, Über künftige ständische Verfassungen in Deutschland (1814), Werke,
40
II. 12. Die gescheiterte Entscheidung 1848/1849 Adel
unserer Geschiclite, diese heiligen Gefühle, die jedes Ilaus, jeder Stand, jede Hütte
in sich hat, und mahnte, die Ehren der Namen, den Glanz der Geschichte gegen die
gleichmachende Unbarmherzigkeit und Uniformität zu bewahren. Adel war
für ihn Geschichte, Erinnerung, die jedoch nicht völlig vergangen sein, sondern
eine unendliche Gewalt des Fortwirkens behalten sollte, die nicht ehrfurchtslos ab-
gebrochen werden dürfe177 • BESELER bejahte solche Kontinuität, im Einklang mit
dem Grundsatz der Reform und im Gegensatz zur Re·volution. Die historisch-soziale
Bedeutung des Adels sei nicht erloschen, wenn seine Vorrechte beseitigt worden
seienl 78. Auch JAKOB GRIMM argumentierte historisch. und erkannte die glanzvolle
Adelsgeschichte des Mittelalters an; doch begriff er die Geschichte vom bürger-
lichen Selbstbewußtsein aus, sah den Adel seit langem absinken, die bürgerliche
Freiheit und Leistung aber steigen und folgerte - im Gegensatz sowohl zu liberal-
konservativen Bewahrern wie demokratischen Radikalen-: es scheine ihm, daß
der Adel aussterben müsse, aber er glaube nicht, daß er mit seinen Titeln und seinen
Erinnerungen getilgt werden darf. Grimm beantragte daher, daß keine Erhebung.
weder in den Adel noch aus einem niederen in den höheren Adel mehr stattfinden solle.
So werde der noch bestehende Adel geschont, aber nach und nach selbst erlüsclten179.
Ohne Gewaltsamkeit sollte der Adel in die bürgerliche Welt aufgehen. Für die
Demokraten konnte es auch solche Schonung nicht mehr geben. Der Adel war für
sie eine Kaste, eine Scheidewand, ein. 'Vernunft- und rechtswidriges Institut 1 so. So
gesehen schloß 'Adel' sowohl 'Menschheit' wie 'Volk' als C'TBgenbegriffe aus. MORITZ
MoHL bezeichnete den Adel als erbl-iclie Kaste; darin liege seine Wesenheit, darin das
verletzende Unrecht, daß er dem Anspruche der Menschlte-it: Jeder .~oll nur nach seinem
Verdien.~te Geltung haben, geradezu zuwiderläuft. Erst wenn der Adel aufgehoben sei,
erst dann, wenn es nur noch e·in Volk, keine zu1e1: 11er.~chiedenen Rat;en mehr gibt, erst
dann werde die Freiheit wahrhaft und fest gegründet sein. Mohl wies auf die Folgen
des Widerspruchs hin, die die Nationalversammlung zu verantworten habe, wenn
sie auf der einen Seite den Adel rechtlich abschaffe, ihm aber auf der anderen Seite
seine Familiengeltung durch Namen, Titel und Wappen weiterhin sichern wolle :
Wenn Sie heute die Standesprivilegien aufheben, den Adel aber fortbestehen lassen,
so bleibt er ... eine abgeschlossene Kaste; es bleibt seine Familienabsonderung; es bleibt
seine höhere gesellschaftliche Stellung; es bleibt sein Einfluß auf die Höfe; es bleibt sein
staatlicher Einfluß; ... es bleibt das Bestreben des Adels, durch Erwerbung von Grund
und Boden sich, wenn auch nicht eine rechtliche Territorial-Herrlichkeit, doch eine
dieser ähnliche Stellung zu gründen ... Dazu trltgt bei, daß durch den Vorzug seiner
gesellscha.ftUchen Stellung dem Adel reiche Hefraten erleichtert sind181•
Das war in der Tat die Realität eines Adelsbegriffs, der zugleich abgeschafft und
bewahrt worden war, bis 1918! Da die Reichsverfassung von 1849 nicht in Kraft
trat, blieb die Wirklichkeit der folgenden Jahrzehnte noch hinter der Rechts-
setzung der Paulskirche zurück. Während die Reichsverfassung von 1867/71 die
Linie von 1849 aufnahm, blieben in den einzelnen Staaten, vor allem in Preußen,
41
Aiel D. 13. Fortaetsang - • F.abchirfaag •er Aael&diakauion
Durch das Scheitern der Revolution, die vorläufige, mehr verfassungsrechtliche als
gesellschaftliche Wiederherstellung der „Ordnung" von 1815 und die Hinwendung
zu einem „realpolitischen" Bewußtsein auf der Grundlage des neuen industrie-
wirtschaftlichen Aufschwungs wurde die Tendenz verstärkt, Adel und Aristokratie
der Leidenschaft von Parteikämpfen mehr als vorher zu entziehen. In dieser Lage
ergaben sich neue Möglichkeiten geistiger Durchdringung des Problems, ehe es von
den sechziger und siebziger Jahren an verßachte und obsolet wurde. Höhepunkt der
Auseinandersetzung waren Lorenz von Steins Abhandlung·über ,,Demokratie und
Aristokratie" (1854:)181 und H„rr.twuw Wu.genere Artikel im „Staats- und Gesell-
s~baftslexikon" (1M9)188, ·
STEIN suchte die Konsequenzen aus den politisch-sozialen Begegnungen Englands,
Frankreichs und Deutschlands, besondere aus der Wirrnis 1848/49 in Deutschland
zu ziehen, indem er die vordergründigen Kämpfe dieses Jahres in seine geschicht-
liche Theorie einordnete; d. h. er stellte die gegenaä.tzlichen Prinzipien von Aristo-
kratie und Demokratie in das BezugBBystem von Staat und Gesellschaft sowie von
Verfassung und Verwaltung hinein. 'Aristokratie' wurde, indem er sie generell der
höheren Klasse und damit nicht notwendig für alle Zeiten dem grundbesitzenden
Adel zuordnete, als gesellschaftspolitischer Gegenbegriff zu 'Demokratie' und zu-
gleich als Prinzip des Unterscn:ieds als der Besonderheit (Gegensatz: Gleichheit) sowie
der Erlialt1u11UJ (Gegensatz: Bewegung) gefaßt (319). Stein war bestrebt, die beiden
von ihm als „feindlich" begriffenen Prinzipien aus wissenschaftlichem Bedürfnis
und entschiedenem politischen Willen zu entideologisieren. Er stellte dar, daß sie als
reine Prinzipien die Tendenz zur AuBBChließlichkeit und damit zur Zerstörung in
sich trügen, daß aber die Versöhnung beider angestrebt werden müsse. Erst die
Durchdringung beider ist das wahre Leben der GesellsChaft (319). Ermöglicht werde
dies dadurch, daß der Kampf beider Klassen und Prinzipien mit ihren Entartungen
(Demagogie, Reaktion) um die Bemä.chtigung des Staates dadurch entschieden wor-
den sei bzw. entschieden werde, daß der Staat die Vereinbarong ermöglicht und beide
Klassen bzw. Prinzipien in der Volksvertretung repräsentiert würden (334). Die
Teilung in drei Stände sei zugunsten der Einsetzung zweier Körper an deren Stelk
aufgehoben worden (335). Das Zweikammersystem (mit· einer aristokratischen
Pairskammer wie im britischen Oberhaus) sei geschichtlich die Lösung gewesen und
werde auch eine Lösung bleiben, öbgleich sich neuerdings eine neue EnLzweiung
ergeben habe, die zu neuer politischer Versöhnung zu führen sei: nämlich die
Spaltung von Kapital und Arbeit, die als moderne Verwandlung des Gegensatzes
von Aristokratie und Demokratie gedeutet wurde. Die alte grundbesitzende Aristo-
kratie sah Stein in die neue des gewerblichen Kapitals aufgegangen; d. h. die histo-
rische Erscheinung einer Erbadelsaristokratie war im Versinken; das alte und
immer neue Prinzip der Aristokratie aber war als Problem neu gestellt. Stein über-
führte damit die Diskussion um die Aristokratie in die Frage um die „herrschende
Klasse" als Gegenstand der politischen Soziologie. Er sah die Versöhnung beider
Prinzipien besonders für Deutschland als aussichts1eich an und verneinte damit
auch die sich aufdrängende These, daß die Aristokratie der modernen Nation
widerspreche, da in Deutschland das Ziel der Demokratie .... ein durchaus nationales
sei und daher angenommen werden könne, daß das aristokrati1mhe Prinzip ihr in
dieser Beziehung im Wege steht (329). .
Ging Lorenz von Stein mit dieser von der Entzweiung zur VP.rsöhnung führenden
Begriffsbestimmung von 'Aristokratie', bei der der Adel ohne aktuelles Interesse war,
politisch auf den modernen deutschen Nationalstaat zu, so lag die gleiche Absicht
auch der originell konservativen Konzeption HERRMANN WAGENERS zugrunde.
Er wollte allerdings nicht allein das aristokratische Prinzip, sondern auch den Adel
als traditionellen Träger der Aristokratie den modernen, d. h. nationalen und
sozialen Bedürfnissen anpassen. Die theologisch-naturrechtliche Begründung des
Adelsstandes und der Aristokratie, die Betonung des Grundbesitzes und die histo-
rische Kont:inuität des Standes (1, 383), die Erhaltung des traditionell erblichen
Adels, des „romantischen" Adels (Stahl) mit der echten Ritterlichkeit (Gegensatz:
da.~ .~chlechte Junkertum; 1, 385), schließlich die Ablehnung der liberalen
Verfallsvorstellung (ausdrücklich gegen Welckers Artikel im Staatslexikon
gerichtet; 1, 326 f.) - all das wies Wagener zunächst nur als einen entschiedenen
Vertreter der zeitüblichen konservativen Anschauungen aus. Doch ging er weit dar-
über hinaus. „Historische Kontinuität" verstand Wagener als Bewahrung und FO'f't-
bildung des Adels, den er geschichtlich in fortgesetztem Aufstieg und Verfall begriff:
er beschwor das warnende Beispiel des ursprünglichen Adels der V ollfreien, die dem
Lehns-Adel wichen, ferner die Erfahrungen des französischen Feudal-Adels, der zu
einer ebenso gehaßten als einflußlosen Kaste verknöcherte ... und über Nacht als
Sf,aatsdrohne ausgetrieben wurde (1, 380 f.). Im Gegensatz dazu stand für Wagener
der englische Adel, den er als geschichtliches Vorbild für seinen Adelsbegrifl' und
seine Adelsreform ansah. Dieser wollfl nichts anderes sein alsdasHaupteinesinallen
seinen Gliedern aristokratischen Volkes, dessen Freiheit er stets vertreten habe, bei
Bewahrung seiner Vollfreiheit und seines politischen Einflusses: dieser Adel habe
mit dem stärksten Standesgefühl die flüssigste fkenze verbunden und das Adelsrecht
stets als ein politisches Recht betrachtet (I, 381). Der englische Adel kam dem
Wagenerschen Postulat eines stets wandlungsfähigen Adels innerhalb der politi-
schen Verfassung sehr nahe. Kontinuierlicher Kern eines erblichen Grundadels,
Anschluß des neu entstehenden Geldadels an diese historische Aristokratie und schließ-
lich Hinzutreten eines Adels der Intelligenz (Besitzer des immateriellen Kapitals) -
das waren die Elemente, aµs denen ein moderner Adel sich zusammensetzen sollte
(1, 365). Dies Ergebnis, das übrigens keineswegs in ein parlamentarisches System
mit einer Adelskammer eingefügt werden sollte, wurde von Wagener sowohl histo-
43
Adel II. 13. Fortsetzung und Eotsehirfung der Adeliidi1kussion
ri.Hch-induktiv (englisches Beispiel, deutsche Ansatze) als auch deduktiv von einem
formal-historischen Adelsbegriff gewonnen. 'Adel' war für ihn ein höchst re"lativer
Begriff (1, 329), ein Relationsbegriff; 'Adel' sei nicht, wie meist gesagt werde -
Wagener nennt Haller, Welcker, Bluntschli184 - etwas der Person oder einer Familie,
einem Stande Inhärierendes (1, 330), sondern die Auszeichnung, welche die höchste
Zentralgewalt im Staate oder . • . die höchste moralische Gewalt, also Gott, mit der
Summe gewisser ausgezeichneter Eigenschaften oder mit moralischen und physischen
Gütern des einzelnen Menschen nach ihrer eigenen Natur verbindet, im politischen
Sinne also die Relation der eigentümlichen Interessen der Staatsgewalt . . . zu den
bleibenden moralischen oder physischen Gütern einzelner Menschen. Der Mensch könne
mit bestimmten Eigenschaften adelig sein, wenn die höchste Autorität diese Eigen-
schaften als für ihre eigenen 1nteressen förderlich auszeichnet. Es ist also das der Adel,
was adelig macht (1, 328). Von einem solchen Begriff aus konnte es auch und sollte
es möglichst weitgehend Erbadel geben, aber nur in der Beziehung der höchsten
Staatsgewalt zu die.~en Familien (ebd.), deren Geschlecht aus der niederen leiblichen
Sphäre von Fleisch und Blut auf das höhere politische Gebiet des Geistes erhoben werden
sollte (1, 378). Analog der Metamorphose des Staates (ebd.) sollte also Adel stets
staatsrechtlich neu begründet und nur politisch begriffen werden; er durfte nur ein
qualißzicrtcs Erbrecht besitzen (1, 379). Die TradiLiun ue1:1 Adels sollte also nur soweit
gelten, als sie Menschen bilden half, die dem Staat politisch etwas wert waren. Der
Schwerpunkt der Adelstheorie Wageners lag also ni.cht mR-hr im lndi'vidiium und 1:m
Vorrecht, das dieses erbt, sondern im Staatszustand und in demjenigen öffentlichen
Interesse, welches die Veretbung eines solchen immateriellen Kapitals für den Staat
wünschenswert macht (1, 329). Wagener sah das Wirkungsfeld solchen Adels der
Abstammung, des Besitzes und des Geistes vor allem in der kommunalen und
ständischen Selbstverwaltung185 sowie im Staats- und Hofdienst. Erhaltung des
Adels lehnte Wagener ab, wenn sie nicht durch Verjüngung gerechtfertigt würde
(1, 380). Das hieß zugleich, für einen Adel der Zukunft sorgen, in dem das Element
des Erbadels enthalten sein müsse, da der reine Personal-Adel überall ebenso das
Symptom wie die Quelle des Verfalls der Staaten gewesen ist (1, 325). In diesem Zu-
sammenhang nahm Wagener den schon im Vormärzl 8 6 geläufigen Gedanken auf,
daß auch Nordamerika kein adelloses Land, vielmehr der Weiße Adeliger und ...
der Farbige Hintersasse, Unfreier und Sklave sei, woraus sich die Begriffe des Natio-
nalitäts-Adels auf der Basis des Bluts (ebd.) und des Raceadel.~ (I, 329) ableiteten.·
Hatte Lorenz von Stein in seiner politischen Soziologie der sozialen Bewegung den
Adelsbegriff bereits hinter sich gelassen, sich aber noch des Begriffs der Aristokratie
lH BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 1 (1857), 29 ff., Art. Adel. Dort die der Wagenerschen
Kombinationskonzeption entgegenstehende liberale Trennung von Erbadel und Indivi-
dtuiladel.
185 Die Beziehung von Aristokratie und Selbstverwaltung findet sich auch bei konservativ
gerichteten Liberalen wie HEINRICH v. SYBEL: Das Wesen des selfgovernment sei ari8to-
krati&ch; zit. HELLMUT SEIER, Die Staatsidee Heinrich von Sybels in den Wandlungen der
Reichsgründungszeit 1862/71 (Lübeck, Hamburg 1961), 53 f. sowie bei RUDOLF GNEIST,
Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, 2 Bde. (Berlin 1857/60).
181 Vgl. RoTTEcx:/WELCKER Bd. 1 (1834), 688: Hautaristokratie, ..• auf die acharf hervor-
44
Il.13. Fortsetzung und Entschärfung der Adelsdiskussion Adel
45
Adel 11.13. Fortsetzang-d Enl8ehirfung der AdeWiskmeion
Die Riehlsche These, daß die mittelalterliche Aristokratie der Mikrokosmm der Ge-
sellschaft (170) gewesen sei, wurde 1856 von ScHÄFFLE zum Stichwort eines Adels-
reformprojekts gemacht, in dem er den Adel aufgrund seiner Herkunft, Erziehung
und umfassenden, über den Standesegoismus hinausgehenden Lebenspraxis nach
wiederum englischem Vorbild als Spitze, nicht als Regierung oder organisierte
Herrschaft, der verschiedenartigen nationalen und gesellschaftlichen Repräsenta-
tionen anerkannt wissen und in einer „Adelsassoziation" oder -„genossenschaft"
korporiert sehen wollte. Ähnlich wie Wagener wollte er nicht allein das Blutserbe
( Race), sondern den vielseitigen Geist zur Grundlage der Adelszugehörigkeit machen:
Nicht die Racebefähigung, sondern die auf der Kontinuität des adeligen Familien-
besitzes und auf der Vielseitigkeit der 'JYf'aktischen Lebensstellung 'beruhende Kontinuität
und Universalität der Standesl>ildung und der Erziehung verschafft dem Adelsstande
sein eigentümliches Primat im geistigen Gesamtleben1 90 •
Den bemerkenswerten konservativen Adelstheorien der fünfziger Jahre stand auf
liberaler Seite nichts gleicherweise Neuartiges gegenüber. WELCKER erweiterte
seinen Ad11l11a.rt.ikel in der 3. Auflage des „Staatslexikons" (1856) erheblich, änderte
ober nichts o.n seiner ursprünglichen Auffal!l!ung1 81. Wenngleich T1uaTSCHKE in der
„Gesellschaftswissenschaft" (1859) als Auffassung seiner Zeit feststellte, daß es ent-
weiJ,er einen politischen oder gar keinen Adel gibt und daß Teilnahme an Verfassung
und Verwaltung des Staates der einzige Weg ist, den Adel zu erhalten192, so wurden
die deutschen Liberalen in den folgenden Jahren entgegen ihrer Neigung zum Adels-
kompromi.ß noch einmal schwerer denn je vorher davor gewarnt, Adel als „politi-
schen Adel" zu bejahen, da durch Bismarck das Bündnis von Adel und Reaktion
von neuem hergestellt schien. Durch die Entscheid\ing von 1866 :fiel die Hemmung
für die große Mehrheit der Liberalen, die sich der Nationalliberalen Partei zuwandte,
fort, so daß die Reichsgründung im Zeichen einer n1111en adlig-bürgerlichen Har-
monie stand. HERMANN BAUMGARTEN forderte dazu auf, diese endgültige Zuwen-
dung geschichtlich zu begreifen. Ausgehend von dem allgemeinen Satz: In jedem
monarchischen Staate ist der Adel der eigentlich politische Stand sowie von seinem
Gegen-Satz: Der Bürger ist geschaffen zur Arbeit, aber nicht zur Herrschaft, stellte er
dar, wie der deutsche Adel sich dem Partikularismm und AbsolUtismm verbunden
und damit dem Bürgertum mit seinem national-liberalen Einheitsstreben im Wege
gestanden habe. Nach der furchtbaren Belastungsprobe des preußischen Verfas-
sungskonfilkts aber habe gerade daR adelig beherrschte Preußen die nationale Sache
zu seiner eigenen gemacht. Mit der Entscheidung von Königgrätz schien für Baum-
garten auch die Kluft zwischen einem (bürgerlichen) Liberalismus, der regierungs-
fähig werden müsse, und dem deutschen (Hoch-)Adel überbrückbar zu sein. Baum-
garten hoffte, daß unser hoher Adel am der falschen Stellung, in welche ihn der un-
glückliche Gang unserer Kaiserpolitik verlockt hat, zurückkehrte zu dem unendlich ehren-
1Jollen und segensreichen Berufe einer wahren Aristokratie198• Das Einmünden des
190 ALBnT EBl!lllJliRD FJWCV.H.IUH ScHil'l'LE, Der modeme Adelsbegriff (1856), Ges. Aufs.
46
m. Ausblick Allel
deutschen Adels in den Nationalstaat erschien den Liberalen als die Versöhnung.
nach vielfältiger Entzw~iung; das lag in der Kontinuität des aus dem Vormärz
stammenden liberalen Adelsbegriffs. Unter seinem Zeichen stand die Gründung des
Deutschen Reichs als eines „ewigen Bundes" der deutschen Fürsten, wie die Prä-
ambel der Reichsverfassung verkündete.
m. Ausblick
Seitdem unterlagen die Begriffe 'Adel' und 'Aristokratie' einem fortschreitenden
Bedeutungsschwund im Zusammenhang des modernen Gesellschaftswandels. Wohl
blieb der Adel als fürstlicher Hochadel mit seinen verfassungsrechtlich gesicherten
Vorrechten sowie als „niederer Adel" in gesellschaftlicher und de facto auch in
politischer Vorrangstellung be~tehenl 94 ; dem entsprach etwa seine Stellung in der
„Hofgesellschaft"l95 und eine gewisse Angleichung des Lebensstils von Adeligen
und der sogenannten „lJilrgerlichen gentry" 196 in Offizierkorps und studentischen
Korporationen. Aber er wurde sowohl auf bürgerlich-liberaler Seite wie vom prole-
to.rieohen Sozialismu11 zunehmend al11 ärgerlicher Anachroni11mus empfnnil1m.
In der Reichsverfassung von 1919 (Art. 109, Abs. 3) wurde der verbliebene Rest
adeliger Stellung beseitigt: Öffentlichrechtliche Vorrechte oder N a,chteik der Geburt
oder du Sta1uks sind auftuheben. Adelsbeuichnttingcn golton nur als Teil des Namens
und dürfen nicht mehr verliehen werden. In Deutsch-Österreich wurde im Gesetz vom
3. April 1919 (Staats-Gesetzblatt Nr. 211) darüber hinaus die radikale Folgerung
gezogen: Die Führung der aufgehobenen Adelsbezeichnungen, Titel und Würden ist
untersagt. Seitdem war in beiden Staaten 'Adel' kein Begriff des öffentlichen oder
privaten Rechts mehr - , mit Ausnahme des Namensschutzes im Deutschen Reich.
Das Traditionsbewußtsein im und um den Adel blieb jedoch stark, sowohl in der
Polemik wie in der Apologie, in der neukonservative Ideologien eine gewisse Rolle
spielten. Ein sittlich anspruchsvoller Adelsbegriff ('Adel' traditionell gegen 'Despo-
tismus') wirkte bei den zahlreichen (besonders preußischen) Adeligen im Wider-
stand gegen Hitler nach.
Der Begriff 'Aristokratie' blieb bis zu einem gewissen Grade anpassungsfähig. Die
seit dem ausgehenden 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert möglichen Wortverbindun-
gen wie vor allem 'Geldaristokratie' und 'Geistesaristokratie' wurden weiterhin
verwandt, und solche Ausweitung erlaubte wiederum; daß 'Aristokratie' katim
noch - es sei denn gelehrt-hi11toriRcli - alR Regierungsform, um so mehr aber als
„Prinzip", Element oder als Naturnotwendigkeitl 97 begriffen und verwendet wurde.
lH Der niedere Adel buteht in der Gegenwart weniger in Vorrechten ala in einer auf ehren-
vollen historischen Erinnerungen beruhenden erblicken Titulatura'U8zeichnung von guell-
achajtlicker Bedeutung, welche der Staat anerkennt, verleiht und gegen Mißbrauch schützt;
Staatslexikon, 4. Aufl.., Bd. 1 (1911), 81.
195 Vgl. RUDOLF VIERHAUS, Einleitung zu: Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg
(Oött.ingAn 1960), 14 ff.
1 91 Dieser gelegentlich verwandte Begriff wird hervorgehoben im Art. Adel, Konservatives
Handbuch, 3. Aufl.. (Berlin 1898), 9.
187 Auch der Ideenvertreter demokratischer Richtung hebe sich aus der Ma.sse heraus und
47
Adel m. Ausblick
48
Anarchie
Anarchismus, Anarchist
1. Einleitung. II. 1. 'Anarchie' in der Antike. 2. Mittelalter und Reformaticin. 3. Die Lexiko-
graphie des 17. Jahrhunderts. 4. Staatsformenlehre des 16. und 17. Jahrhunderts. 5. Ethik
des 17. Jahrhunderts. 6. Entfaltung im 18. Jahrhundert. 7. Zeitkritik der Aufklärung.
8. 'Feudalanarchie'. 9. Erste Anklänge eines positiven Bedeutungsgehalts. 10. Rotteck/
Welcker. III. 1. Historisierung, Ideologisierung und Politisierung 1789-1830. 2. Not-
wendiger Zwischenzustand und positives Endziel. 3. Auflösung des Anarchie-Despotie-
Modells. 4. 'Anarchiste' und 'Anarchist'. 5. Traditionelle Bedeutung und konservative
Reaktion 1790-1830. 6. Ideologisierung und Soziologisierung der Anarchie als „Zustand"
1790-1830. 7. Übertragung auf Philosophie, Ethik und Religion seit 1800: 'Anarchie'
und 'Anarchismus'. 8. Übertragung auf die Literatur 1794-1855. 9. Übertragung auf Wirt-
schaft und Gesellschaft. 10. Niederschlag der historischen Entwicklung in der lexiko-
graphischen Literatur 1790-1830. IV. 1. Begriffserweiterung und Begriffsaufweichung.
2. Zwischen Utopie und Organisation. a) Vorläufer: William Godwin. b) Pierre-Joseph
Proudhon. c) Moses Hess. 3. Konservative und liberale Reaktion besonders in der lexiko-
graphischen Literatur seit 1830. V. 1. Der Anarchismus. 2. Anarchistischer und eoztallstl-
scher Marxismus 1890-1910. 8. Literarischer Anarchismus. 4. Emma. Goldmann. VI. Aus-
blick.
I. Einleitung
'Anarchie' entstammt griech. dvaexla „Führer- oder Herrschaftslosigkeit". Der
Begriff wurde technisch gebraucht für den Zustand ohne Kommandeur oder ohne
Magistrate. In der Verfassungstheorie spielte er keine große Rolle, diente im ganzen
nur dazu, „Ungebundenheit" und „Zügellosigkeit" zu charakterisieren. Über die
erst im Mittelalter latinisierte Form'anarchia'gelangte der Begriff dann in den beiden
Bedeutungen „Herrschafts-" und „Gesetzlosigkeit" in fast alle Sprachen der Welt.
Besonders im 16. und 17. Jahrhundert erweiterte sich die Bedeutung von 'Anarchie',
vor allem im englischen und französischen Sprachraum1 , von „Autoritätslosigkeit"
bis zur „moralischen Anarchie", zu „Unordnung", „Chaos" und „Desaster". Im
deutschen Sprachraum tritt 'anarchia' erstmals 1684 in der Bedeutung „Herrscher-
losigkeit" bei NEHRING und 'Anarchie' in gleicher Bedeutung 1709 bei WÄCHTLER
auf 2 •
Seine eigentliche Entfaltung erfuhr der Begriff im 18. Jahrhundert, und im Verlauf
der Französischen Revolution wurde er in das politische Tagesgeschehen hinein-
gezogen. Seine komplexe Geschichte ist zu erhellen, indem die semantischen von
den pragmatischen Aspekten unterschieden werden. Semantisch hat der Anarchie-
begriff sich im Verlauf seiner Geschichte kaum gewandelt: dv-aexla, „ohne Herr-
scher"~nd im weiteren Sinne „ohne (staatliche) Autorität". Unter pragmatischem
Aspekt hat der Anarchiebegriff sowohl positive wie negative Bedeutungserweite-
rungen erfahren. Aufklärung, deutscher Idealismus, idealistisch-utopischer Sozia-
lismus haben dazu beigetragen, daß er sich von einem negativ zu einem positiv
1 Vgl. OED vol. 1 (1933), 307 f.; LrrrRll: t. 1 (Ausg. 19156), 408.
2 Nach SCHULZ/BASLER Bd. 1 (1913), 33.
4-90385/t 49
Anarehie D. 1. 'Anarchie' in der Antike
n.
1. 'Anarchie' in der Antike
Das Wort d11aexla ist seit der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts bezeugt, könnte
aber - wie etwa µ011aexla - durchaus älter sein. Ihm voraus geht das Adjektiv
d11aexoi;, das schon bei HoMER die Führerlosigkeit einer Mannschaft he;r,Ai~hnP.ta.
Vielleicht war auch das Substantiv zunächst nur militärisch gemeint. Die Auswei-
tung des Sinn11 a.ufjede Art der Ilemin- uder Führerlosigkeit einer Gruppe und dann
speziell auf das. Nichtvorhandensein von Magistraten (= dexonei;) in einer Polis
lag jedoch nur allzu nahe und müßte dann bald erfolgt sein.
Im strengen terminologischen Verstand blieb das Wort immer an die militärische
Führerlosigkeit4 sowie an den Zustand ohne Magistrate (etwa als Bezeichnung eines
Jahres, für das es keinen Archonten gab, später dann des Interregnum in Rom)
gebunden 6 • Darüber hinaus ist es in klassischer und unmittelbar nachklassischer
Zeit nur in vagem Sinn, und zwar zunächst für die Ungebundenheit und Zügellosig-
keit gebraucht worden, die aus Ungeführt- oder Unbeherrschtheit resultiert, zu-
weilen auch geradezu für Ungehorsam6 und endlich gelegentlich für den allgemeinen
Zustand einer Unordnung. Diese übertragenen Bedeutungen gingen vermutlich von
den Verhaltensweisen konkreter „an-archischer" Gruppen aus, auf welche etwa
Wendungen wie die von der &JµMieov<; d11aexta, der wild brüllenden Herrenlosigkeit
eines Volksauflaufs, oder die von der 11avn"1} d11aexla, der frechen Unbeherrscht-
heit eines Matrosenlagers, anspielen 7 • Eine gewisse Schärfe innerhalb der Verfas-
sungstheorie hat d11aexla erst im Hellenismus gewonnen, vielleicht überhaupt nur
a HoMBB, Il. B 703. 726.
'So z.B. HEBODOT 9, 23,2; XENOPHON, Ana.b. 3, 2, 19. Im Sinne von „Undiszipliniertheit ·
des Heeres" THu:KYDIDES 6, 72, 3 f. Im gleichen Sinn: d-ia;la. Gegenteil: e&ra;la und daß
alles "a-rd "6aµo11 abläuft.
6 Am8TOTELB8, Athen. Pol. 13,1; ders., Pol. 1272 b 12; XENOPHON, Hell. 2, 3, 1. Gena.u
entsprechend .AmsTOTELES, Pol. 1272 b 8: d"oaµla für den Zustand ohne Kosmoi (die
kretischen Oberbeamten). Rom: D10NYs VON HALIKABNASS, Antiqu. Rom. 9, 69, 1;
CA.SSIUS D10, Historie.rum Roma.norum quae supersunt, ed. Urs Philipp Boissevain, t. 1
(Berlin 1895), 11 aus Joannes Antiochenus.
•So in dem berühmten Ausspruch des Kreon in SOPHOKLES' „Antigone", v. 672: dvaexla<;
~e µe'i/;011 ~ l&i "~611. Gegensatz: neif>aexla; zit. ANTIPHON, in: Die Fragmente der
Vorsokratiker, hg. v. HERMANN DIELS u. WALTHER KRANZ, 12. Aufl., Bd. 2 (Berlin,
Zürich 1966), 365, 87 B 61. Ähnlich schon Alsc:HYLos, Septem 1030. ·
7 AlsOHYLOs, Agam. 883; EuBIPIDES, Hec. 607; Iph. Aul. 914.
50
n. 1. '.Anarchie' in der .Antike .Anarchie
im Umkreis des hellenisierten Juden Philon von Alexandria (ca. 25 v. Chr. bis
ca. 40 n. Chr.), unseres einzigen Zeugen dafür.
Auf Poleis angewandt findet sich das Wort sonst nur in eben dem vagen Sinn von „ Un-
gebundenheit", „Zügellosigkeit" und „ Unordnung", und zwar beiAischylos und Pla-
ton, einmal auch bei Aristoteles. Bald nach der Entmachtung des Areopags, nämlich
458, warnt AISCHYLOS sehr dringend, weder ein unbeherrscht-ungebundenes ( ll„aexo~
bzw. ä„ae~o.-) no.ch ein despotisch-beherrschtes (c5eamn:mlµwo.-) Leben gutzu-
heißen8. Damit klingt zum ersten Mal das Thema an, das dann für Platon so wichtig
wird: die Kritik an der für übermäßig erachteten Freiheit der Demokratie als Un-
gebundenheit, und dies im allgemeinen Sinne, nicht nur den Regierenden, sondern
den hergebrachten, für dauernd richtig erachteten „&µoi gegenüber, das heißt in
Hinsicht auf Recht, Sitte und Erziehung, letztlich auf die gesamte Lebensordnung.
Für Aischylos war zwar die maßgebende Rolle der Volksversammlung und vieles
andere, was die neuen „lsonomien" auszeichnete, gut und begrüßenswert, nicht
aber die Selbstherrlichkeit des Volkes in der Loslösung von uralten dauerhaften
Ordnungen. PLATON führte die Kritik näher aus, wenn er etwa die Demokr&tieieine
süße, unbeherrsclite und buntscheckige Verfassung nannte. Er meinte, sie ginge so
weit, daß auch dem Vieh Anarchie eingepflanzt werde. Der Lehrer zittere vor den
Schülern, die Alten ahmen die Jungen naeh, damit sie nicht. als mürrisch und despo-
tisch erscheinen, Esel bewegten sich frei und vornehm und wichen vor keinem aus.
Nur llegWende, die sich wie llegi6rte, und Regierte, die steh wie Regierende geben,
werden im privaten Kreis und öQentlich gelobt und geehrt. Man kümmere sich weder
um· die geschriebenen noch um die unge11chriebenen Gesetze. DiA füu1le der Bürger
werde zart, so daß sie, wenn ilinen einer auch noch so wenig Dienst auferlegen will,
sogleich unwillig werilen und es gar nickt ertragen. Weder Ordnung ('rdEi.-) noch
Notwendigkeit (d"d""71) bestimmt das Leben in dieser Verfassung!'.
Was Platon damit schildert, ist aber nicht als 'Anarchie' begrüren, sondern als
'Demokratie'. Es sind die Auswirkungen speziell der dieser eigenen „Unersättlich-
keit nach Freiheit" 16• Die Ungebundenheit, Unbeherrschtheit, der Unwille zu ge-
horchen ist nur ein Merkmal neben anderen, etwa der Hybris, der Schwelgerei
(da<»r:la) und dem Fehlen von Scheu und Ehrfurcht (d„alc5eia) 11 • Interessant
ist die Formel d„aexta "al dJloµta, die einmal für die Verfassung des demokrati-
schen Menschen gebraucht wird12 : Nichtachtung des Nomos verknüpft sich mit Un-
beherrschtheit und akzentuiert sie.
Etwas Ähnliches wie Platon meint ARISTOTELES mit der Formel des ·„Leben, wie
jeder will" (Cfjll cb.- {:Jmlkr:al r:,_.pa. Dieses ist ihm zufolge eines der Kennzeichen der
8 .AlsoHYLOs, Eum. 525. 696. Zu ·beachten ist, daß die Warnung einmal den „alten Mäch-
ten", den Erinyen, einmal den neuen, der Athene, in den Mund gelegt ist.
•PLATON, Pol. 558 c; 562 e; 563 o.. b. c; 562 d; 563 d; 561 d. Vgl. das Ideal, stets im Hin-
blick auf die Regierenden zu leben, von klein auf das Regieren und Sich-regieren-Lassen
zu üben. Die dJlae:;cta ist aus dem ganzen Leben aller Menschen und der unter den Menschen
llihAnrl11n Tiarfl :r.u Antfernfln; dara., Nom. 942 a. c.
10 Ders., Pol. 562 c.
11 Ebd: lJ60 e.
1ll Ebd. 575 a.
18 ARlsTOTELES, Pol. 1317 b 13; 1310 a 31; 1319 b 29. Vgl. PLATON, Pol. 560 e: sie nen-
51
Anarchie Il. I, 'Anarchie' io der Aulike
bezeichnet wird.
17 Ders., Pol. 1302 b 28. 31.
52
II. 1. 'Anarchie' in der Antike Anarchie
mokratie, in: Discordia concors, Fschr. EDGAR BoUJOUR, Bd. 1 (Basel 1968), 7; ders.,
Entstehung des Begriffs 'Demokratie' (lfrankfurt 1970), 15ff.
21 So bes . .ANO:NTI40S J .illBLICm 7, 12, Dnrm.s/K RA N:r., Fragmente, Bd. 2, 404, 16 (s. Anm. 6).
22 PLATON, Pol. 563 e; 564 a.
23 Die Belege können hier nicht im einzelnen aufgeführt werden; eillig~ btJl G11.ossMANN,
Schlagwörter (s. Anm. 14). Zur dµet~la ist ANONYMos JAMBLICm 7, 9 (s. Anm. 21) und
MrcHAEL RosTOVTZEFF, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt,
Bd. 3 (Darmstadt 1962). 1317. 1440 anzuführen.
53
Anuchic II. 1. 'Anarchie' in der Antike
Nur eine Ausnahme gibt es, die die Regel bestätigt: PHILON voN ALEXANDRIA, der
mit der Möglichkeit von Anarchie im Sinne eines herrschaftslosen Zustands von
Poleis (und ganzen Ländern) rechnet und mehrfach vom Gegensatz zwischen dex'1
und dvaexla ausgeht 24 • Anarchie erzeugt Ochlokratie, die Herrschaft des Pöbels2 5 •
Sie ist die Quelle alles Schlimmen. 'Al?x~ dagegen bedeutet Rettung, und zwar
zumal dort, wo Recht und Gerechtigkeit in Ehren gehalten werden2 6. Es ist nicht
ganz einfach zu erkennen, ob ein verfassungstheoretisches System hinter Philons
Aussagen steckt. Er ist nicht um jeden Preis für dgx?j. Tyrannis verurteilt er nicht
weniger scharf als Ochlokratie und Oligarchie 27 . 'Demokratie' scheint ihm die beste
Verfassung zu sein, andererseits spricht er von der Notwendigkeit eines hiio•a•11~ und
eines ~yeµ<hv und lobt das Königtum 28 • Vermutlich versteht er unter 'Demokratie' vor
allem eine Verfassung, in der es um das Recht jedes einzelnen und insofern um die
Gleichhei~ gut bestellt ist, wobei es nicht das schlechteste ist, wenn ein König regiert.
Vielleicht meint er hier sogar geradezu eine gemischte Verfassung. D!tnn gäbe es einen
guten Sinn, daß er von der dex'1 in Hinsicht auf das Gemeinwesen (wie von Gott in Hin-
sicht auf den Kosmos) alles Gute erwartet 29 • Andererseits sind' dval?xla und d•a~la
nicht Oberbegriffe für die schlechten Verfassungeu, t!omltirn uertiu Entstehungs-
grund. Immerhin ist festzuhalten, daß - - wie weit nun aus den Erfahrm13An i!P.r
hellenistischen Zeit, aus denen der Juden oder auf Grund theologisr.her Voraus-
setzungen - hier erstmals 'Anarchie' im Sinne von Herrschaftslosigkeit als ein
Zustand äußerster Unordnung begriffen worden ist.
Verschiedentlich ist auch behauptet worden, in hellenistischen Abhandlungen,
etwa bei Zenon oder Aristipp, sei ein herrschaftsfreies Gemeinwesen konzipiert und
empfohlen worden 8 0. Dafür besitzen wir keinerlei Auhaltspunkte. Zenon hätte
solche „Anarchie" bestenfalls für die Weisen befürwortet. Aristipp rechnet unver-
kennbar mit Herrschenden bzw. Regierenden. Im übrigen gab es :r.war utopische
Schilderungen von Inseln, auf denen es allen gut geht, auf denen vielleicht auch -
wie in Jamboulos' Sonnenstaat - alle Arbeiten von allen im Wechsel verrichtet
wurden. Aber zu deren Funktionieren gehörte auch und gerade Regierung. Hier
wurde also nur die Abwechslung in den Funktionen, die im Politischen Merkmal der
Demokratie ist, zum äußersten getrieben. Von Anarchie ist keine Rede. Es ging
auch hier nur um die Modalitäten von Herrschaft und Regierung. Anarchie als
positives Programm, das bestätigt sich hier, setzt mindestens Staat voraus.
2' PHILON VON ALllANDBIA, De somnüs 2, IM. 289. Vgl. ders., Quod det. potiori insid.
solea.t 141.
26 Ders., De agricultura. 45 f.; De somniis 2, 286 f.
zur Gegenwart (Leipzig 1899), 46 ff. Vgl. auch ders., Art. Anarchismus, Hwb. d. Sta.a.ts-
wiBB., 3. Aufl., Bd. l (1009), 444 ff. Im Anschluß da.ran MAx NETTLAU, Der Vor-
frühling der Anarchie (Berlin 1925), 12 ff. sowie OscAR J!sZI, Art. Ana.rchism, Encyclo·
paedia ofthe Social Sciences, vol. 2 (New York 1930), 47. Ferner Enc. Brita.nnica., llth
ed., vol. 1 (1910), 914 f.
54
D. 2. Mittelalter und Reformation Anarehie
Die Römer haben 'Anarchia' nicht gekannt. Sie sprechen von seditio, tumultus,
perturbatio u.ä. Die lateinische Form 'anarchia' ist erst im Mittelalter geprägt
worden 31 •
CHRISTIAN MEIER
Das Mittelalter - vom Gedanken der Weltmonarchie, der sich vom römischen
Weltreich her durchgehalten hatte, beherrscht - kannte keine eigenständigen
Staatslehren. In der Staatsauffassung des Mittelalters sind deshalb, wie Rudolf
Treumann hervorgehoben hat, die beiden großen Erscheinungen seines Lebens,
Kirche und Lehenswesen, gleichsam wie ein Reflex ausgeprägta 2 • Der Welt-
monarch- der Kaiser - und der Weltbischof - der Papst- besaßen direkt von
Gott stammende Macht. Entsprechend zielten die Staatslehren des Mittelalters
darauf ab, die Superiorität der einen über die andere Macht bzw. deren Gleich-
rangigkeit darzustellen. Die einflußreiche Lehre THOMAS VON AQUINS baute auf der
Staat.sform1mlAhrA ilP.'I Aristoteles auf und kannte unter den Entartungsformen wie
ilieser nicht die Anarchie. So ist in der „Summa Theologiae" der Begriff 'Anarchie'
nicht enthalten88• Ähnliches gilt für die Staatslehre d~s MilSILIUS VON PADUA, der
sich ebenfalls an die aristotelische Lehre der Herrschafts- und ihrer Entartungs-
formen hielt - obwohl er die Universalmonarchie bereits in Frage stellte. Auch hei
LUTHER ist kein Nachweis für den Terminus 'Anarchie' zu findenH. Dement-
sprechend sind auch die zahlreichen Sekten fies Mittelalters, wie die Waldenser in
Südfrankreich und Norditalien zu Beginn des 13. Jahrhunderts, die Bettelmönche,
die Katharer und Albingenser, die James Joll im Anschluß an Norm.an Cohn
„gnostische Häretiker" genannt hat, nur in der geistes- und sozialgeschichtlichen
Retrospektive als Früh- und Vorformen anarchistischer Bewegungen zu sehen11•
Die Geschichte der mittelalterlichen Häresien kennt die Begriffe der Anarchie und
des Anarchismus noch nicht. Ebensowenig ist von der früh ausgebildeten und im
81 Vgl. TLL t. 3 (1931). Das ,,Mittellateinische Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahr-
hundert", Bd. 1 (München 1959/67), 616 übersetzt 'anarchia' mit „im Turnus wech-
selnde Herrschaft" und zitiert (unter Bezug auf Aristoteles, Pol. 1319 b) ALBEBTUS
MAaNUs, Pol. 6, 4 e, p 587 b, 10: eat anarchia cirwlaria principat'IJA, dict.a ab <Ztlcx, quod, ut
circ?tm, d C%(!Xf1• quod, ut principatua. ·
82 Vgl. RUDOLB' TBEIDtlANN, Die Monarchomachen. Eine Darstellung der revolution.Aren
Staatslehren des 16. Jahrhunderts (phil. Dias. Heidelberg; Leipzig 1895), 18 ff.
83 Thomas benutzte nicht das griechische Original, sondem die lateinische Aristoteles-
übersetzung Wilhelm von Moerbekes. Die Aristotelesstelle Pol. 1302 b enthält in dieser
Übersetzung den Begriff 'a.narchia' nicht, die Stelle Pol. 1319 b wird lateinisch mit
anarchi,a servorum wiedergegeben. Diesen Ausdruck hat Thomas jedoch in seinen
Kommentar nicht aufgenommen.
M PIIILIIT DilllTz, Wörterbuch zu Dr. Ma.rt.in L11thAr11 Aohriften, Bd. 1 (Leipzig 1870).
86 Das gilt auch für Norman Cohns Beschreibungen des Anarcho-Kqmmunismus der
Taboriten in .Böhmen, die gegen Eigentum und Steuern uml für Zerstörung der Städte
waren und noch um 1420 den Plan einer weltweiten anarcho-kommunistischen Ordnung
aufgestellt haben; NoB.MAN CoHN, Das Ringen um das Tausendjährige Reich (Bern,
München 1961), 36; JAMES JoLL, Die Anarchisten (Berlin 1966), 13 ff.
65
Anarchie n. 3. Lemographie des 17. Jahrhunderts
Mittelalter wieder verlebendigten (Johannes von Salisbury, Thomas von Aquin
u. a.) Lehre vom Tyrannenmord eine begri:fis- und wortgeschichtliche Verbindung
zu 'Anarchie' und 'Anarchismus' gegeben 36 •
Für die Entfaltung des Begriffs 'Anarchie' im 18. Jahrhundert und seine spätere
Entwicklung sind der Rückbezug auf den griechischen Ursprung und die Ausein-
andersetzung vor allem mit Aristoteles, wie sie im 16., 17. und frühen 18. Jahr-
hundert geführt wurde, bedeutsam. Auf den griechischen Ursprung des Wortes
wurde in fast allen Lexika der Zeit (Ar.sTED, MICRAELIUS, FURETIERE, NEHRING)
verwiesen. Dauzat spricht von der Latinisierung des Ausdrucks in den Übersetzun-
gen des Aristoteles 37 • In Frankreich schrieb NIKOLAUS VON ÜRESME schon 1361
anarchie 38 , in England findet sich zunächst (1539) anarchie, dann bei BACON (lßO!'i)
anarchy 39 • In Deutschland dagegen hält sich bis ins 18. Jahrhundert hinein die
lateinische Form anarchia4°.
Alle Lexika der Zeit, in denen 'Anarchie' verzeichnet ist, beschränkten sich auf
kurze Hinweise, in denen 'Anarchie' als Herrscherlosigkeit oder Herrsohafts-
losigkeit definiert wurdc 41 : Anarchia est, q•uando in civitate nullus senat'Us, judicia,
'leges (MwRAELIUS 1661); Etat qui n'a point de Chef veritable (FuRETIERE 1690); ein
gemeines Wesen, so kein Ober-Haupt hat (NEHRING 1710).
98 Im Anschluß an RAOUL ALLIER, Les anarchistes du moyen l\ge, Rev. 'de Paris, 15. 8.
1894 hat TREUMANN, Mon.archomachen, 45 ff. die nicht verifizierbare ThARA aufgestellt.,
daß seit dem 13. Jahrhundert die „Brüder vom freien Geiste" die Lehre vom Tyrannen-
mord in den Rahmen einer anarchistischen Doktrin gestellt hätten. Ferner ist auch bei
Peter Cheltschizki in der Hus-Nachfolge der Begriff der Anarchie nicht belegbar; vgl.
CARL VoGL, Peter Cheltschizki. Ein Prophet an der Wende der Zeiten (Zürich, Leipzig
1926).
37 Nouveau dictionnaire etymologique et historique, ed. ALBERT DAUZAT, JEA.>; DUBOIS,
ÜRESME, zit. Dictionnaire general de la langue fran98-ise, ed. ADoLPHE HATZFELD, ARsENE
DARMESTETER, ANTOINE THOMAS, t. 1 (Paris 1904), 93. Nikolaus von Oresme hat auch die
lateinische Ausgabe dP.R AriRt.Ot.f'llAs ins Fra.nzösische übersetzt und die lateinischen Begriffo
ins Französische übertragen; vgl. RICHARD KoEBNER, Despot and DeapoLlsm: ViciRRi-
tudes of a. Pulitical Term, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 14 (1951),
275 ff„ bes. 284 f. Auch FURETIERE 3° M„ t. 1 (1708), o. S.; t. 1 (Ausg. 1721), 383 schreibt
anarchie und definiert: Etat qui n'a 'jJOint de Chef veritable; ou plutßt qui n'en a 'jJOint du tout,
a
et oll, chacun vit aa fantaisie, et sans aucun respect pour Zes loix.
39 FRANCIB BACON, The Advancement of Learning (1605; Ndr. London 1960), 229; vgl.
Buch (Leipzig l 70!l). NF.HTUNA (1710), 40 übernimmt den Ausdruck in Jatainiacher Spraoho,
fügt allerdings hinzu: Gall. anarchie.
n Eiue gewfa1:1e Ausnahme stellt Alsted dar, der Anarchie zwar im ltahmen des Abschnitts
„Politica" behandelt, jedoch lediglich definiert: anarchia est magnum malum; ALsTED
3. Aufl„ Bd. 3 (1649), 219. Vgl. auch MicRAELIUS 2. Aufl. (1662; Ndr. 1966), 113,
der seiner Definition hinzufügt: MajU8 est malum, quam tyrannis.
56
D. 4. Staatsformenlehre des 16./17. Jahrhunderts Anarchie
•2 NrccoLO MACHIA.vELLI, Vom Staate, Ges. Sehr., hg. v. Banns Floerke, Bd. 1 (München
1925), 12.
• 3 Ebd., 14f.
"JEAN BontN, Les six: livres de la. rtlipublique 6, IS (11S83; Nclr • .Aalen 1901), 975.
ü JEAN BoDIN, Methodus ad fa.cilem historiarum cognitionem (1650; Nd.r • .Aalen 1967), 283.
"Ebd., 157. 159. Die latinisierte Form 'ana.rchia' taucht erst im späteren Teil der Schrift
auf; ebd., 283.
57
Anarchie D. 4. Staateformenlelue dN 16./17. Jahrhunderts
nehmen von .Mord und Totschlag, dem Ausbruch der Gefangenen und vor allem
der fehlenden Rechtsprechung gipfelt'7. Auch dieser Aspekt deutet auf den
Neuansatz hin. Die bei RotteckfWelcker mitverarbeitete Fo.BBung der Anarchie als
„widerrechtlich" klang im Ausgang von Renaissance und Reformation erstmals an.
Bei ÄLTBUSIUS {„Politica", 1614) wurde in dem Abschnitt Änaf'chia p,/,gnat cum
natura (c. 18) die Anarchie als mit der rechten Vernunft und mit dem Natur-
recht kämpfend bezeichnet: Quae cum ita sunt, recte concludo, anarchiam pugnare
cum recta ratione et jure naturali, et ideo damnandam 0 .
Die Steigerung von Tyrannis zur Anarchie wurde, obwohl bei Aristoteles bereits
angelegt, erst von BARTHOLOMAEUS KECKERMANN herausgearbeitet: A.narchia est
deterior tyrannide, quia in tyrannide_ aliqua est imago vel vestigium reipublicae
vel leges ac statuta quibus reipub. forma comprehensa fuit, etiam si istae leges veZ
statuta a Tyranno vioZentur. Sed in A.narchia omnes dominantur, neque ull,ae sunt
leges vel constitutione8, quibus reipublicae r.orpUI! trilnm:rP. possi.t.49• Keckermann
wertete in Interpretation des Aristoteles (ohne allerdings einen Beleg anzuführen)
die Anarchie gegenüber der Tyrannis ab: Recte A.ristotele& monet in Politica A.n-
arckiam esse quavis tyrannide deteriorem; quia nempe A.narchia similis est Zatronum
coetui, ubi nec principes, nec subditi officium faciunt, cum tamen in tyrannide aubditi
possint secundum leges vivere60. Er definierte 'Anarchie' im Anschluß an Aristoteles
o.ls Herrscher- und als llerrschaftslosigbiL: A.•1wrclt'ia est, ubi p'latlt reapublica
destituitur principe, sive capite; atque adeo ubi nullum est regimen, sed quilibet vivit
pro suo arbitrio 51 • Er unterschied zwischen Anarchie von Seiten der Herrschenden
und von Seiten des Volkes bzw. der Untertanen. Die Figuren: anarchia -polyar-
chia - tyrannis (auf Seiten der Herrschenden) und democra'tia, dxJ.oieearla und
d"czexla (o.uf Seiten der Beherrschten) standen sich gegenüber. Im Anschluß an
Xenophon, Platon und Cicero führte er aus: Ochlocratia statim importat A.narchiam;
itaque non tam vitiosa est Respublica quam nulla52 • Wesentlich für Keckermanns
Interpretation des Anarchiebegriffs scheint der Hinweis zu sein, daß im Falle der
Anarchie jedes imago reipublicae fehle. 'Anarchie' nahm damit, ähnlich wie bei
Bodin, eine Sonderstellung im Rahmen des Systema disciplinae politicae ein 53•
Der von Machiavelli geprägte Topos: Demokratie produziere Anarchie trat bei HoB-
BES wieder hervor. Bei ihm kam jedoch gegenüber Machiavelli erstmals die sozial-
kritische Variante der später bei Helvetius und Holbach voll ausgeprägten ldeo-
(Frankfurt/Oder 1695) wird die Ana.rchie nicht beha.ndelt. Hinweise &uf Ana.rcbie aJs
Herrscha.fts. oder VerfaJlsform von Herrscho.ft fehlen &uch bei VEIT LUDWIG v. SEOKEN-
DORFF, Teutscher Fürstenstaat, 3. Auß.. (Frankfurt 1665) und SAMUEL v. PUFENDOBJI',
De statu imperii Germa.nici (Genf 1667). Vgl. femer Kll'BT ZIELENZIGER, Die alten
deutschen Ka.meralisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Na.tionaJökonomie und zum
Problem des Merkantilismus (Jena 1914). Bei den in dieser Arbeit beh&ndelten Autoren
steht Ana.rcbie ebenf&lls nicht im Vordergrund der Betrachtung.
58
ll. 5. Ethik des 17. Jahrhunderta Anarchie
logiekritik der Aufklärung hinzu: Tliet-e be otlwr names of government, in tlw histories,
and books of poZi,cy; as tyranny, and otigarchy: but tlwre are not tlw names of other
forms of governmenf., b1d of the same forms misZiked. For tlwy that are discontented
under monarchy, calZ it tyranny: and tlwy that are displ,eased with aristocracy, calZ it
oZigarchy: so aZso, tlwy which find tlwmselves grieved under a democracy, call it anarchy,
which signi'fia want of government; and yet I think no man believes, that want of
government, is any new kind of government54• 'Anarchie' als Verfallsform politischer
Herrschaft gewann dadurch - wie bei Bodin - ein Moment des Konkreten, das
den Begriff' aus der seit Jahrhunderten mitgeführten Form des bloßen terminus
technicus herauszulösen begann5s.
Von LEIBNIZ wurde Anarchie erstmals mit dem monstrum atlwismi in Verbindung
gebracht58. Das Bewußtsein einer nahenden europäischen Krise und die Instabilität
der überkommenen ethisch-religiösen Werte ließen ihn von 'Anarchie' wie von
'Revolution' sprechen67 • Damit wurde der Begriff' der Anarchie nicht nur auf den
ethisch-philosophischen Bereich übertragen; damit wurde er nicht nur immer
mehr zur allgemeinen Charakterisierung dessen, was - gegenüber einer etablierten
Zivilisation - „nicht sein darf"; mit 11iner imlr.hen 1lbertragung sind erste Ansätze
der Hera.uslösung von '.Anarchie' aus dem Kreislaufmodell der Verfassungslehre
erkennbar. 'Anarchie' wurde auf eine höhere AbstraktionBStufe gehoben, die einer
erneuten Konkretisierung unmittelbar vorausgeht.
Im englischen Sprachraum gebrauchte MILTON (1667) den Begriff der Anarchie
sowohl im ethisch-religiösen ( eternal anarchy) wie im literarischen Bereich. Auch er
suchte, wie später Bolingbroke und Godwin, die „Freiheit". Jedoch begann die
Freiheit für ihn mit Gott und nicht mit den Menschen. Milton kämpfte gegen die
Hierarchie der Kirche, die er als das Haupthindernis der Freiheit innerhalb des
Christentums ansah. Diese Haltung erklärt auch seinen Kampf gegen Tyrannei
"T:aollliS HOBBBS, Leviathan 2, 19. Works, vol. 3 (1839), 171; vgl. ders., Philosophical
Rudiments Concerning Government and Society, ebd., vol. 2 (1841), 93: Formen, by giving
namea, do 'U81/ßUy not orily aigni/y the thinga them-aelvea, b'Ut alao their own a/fe.cti<nu, aa lvve,
hatrwl, anger, afllt the li~. Whence it 1uvppe1l8 that what une 1/Wn calls a <kmocracy, another
caUa an anarchy.
66 Als terminus technicus ist der Begriff etwa auch bei SPINOZA (1670) nachzuweisen, der
von den anarchiae tempora spricht; Tractatus theologico-politicus, Opera, ed. Carl Hermann
Bruder, t. 3 (Leipzig 1846), 143.
18 LEIBNIZ an G. Spitel, 10./20. 2. 1670, .AAR. 1, Bd. 1 (1923), 85 f. über das Monstrum des
Atheismus, a qoo nihil praeter Anarchiam univeraalem atque everaionem Socief.atia humanae
exa']JUtari poteat.
17 WEBNEB CoNZE, Leibniz als Historiker (Berlin 1951), 48 f. bei der Interpretation des in
59
Anarchie Il. 6. Entfaltung im 18. Jahrhundert
und Monarchie. Für ihn war Revolution ein apokalyptischer Kampf zwischen
Freiheit und Tyrannei. In diesem religiösen Erwartungshorizont wird auch die
Anarchie angesiedelt, die eine Folge von Tod und Sünde sei:
Wortgeschichtlich ist die Verstärkung der Beschreibung des Zustandes der Anarchie
durch die ungebräuchliche (erst im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wieder
auftretende) Häufung anarchy of chaos aufschlußreich für die kosmisch-religiöse
Hintergrundsbedeutung.
68 JoBN Mn.TON, Paradise Lost, book 10, v. 282 ff„ ed. R.E.C. Houghton (Oxford 1969).
Der Beleg für eternal arwrchy bei JOHNSON (Ausg. 1854), 49.
69 Allerdings ist die Zahl der Nullbelege in der lexikographischen Literat.ur nicht Ullbedeu-
tend. In folgenden Lexika. ist 'Anarchie' nicht verzeichnet: JoH. FRIEDRICH GLEDITSCH
(Verleger), Allgemeines Oeconomisches Lexicon (Leipzig 1731); BAYLE 5° ed„ t. 1 (1740);
HERMANN Bd. 1 (1739); ZINCKE 2. Aufl. (1744); JABLONSKI 2. Aufl. (1748); Wohlm. Unter-
richt (1755); HALLE Bd. 2 (1780), 703 ff.
eo HÜBNER 8. Aufl. (1717), 90.
81 MORlllRI18° ed„ t. 1 (1750), 400. In die 1. Aufl. (1674) hatte Moreri 'anarchie' noch nicht
aufgenommen.
62 Encyclopedie, t. 1(1751),407. Ganz ähnlich auch bei CHAMBERS vol. 1 (Ausg. 1750), s. v:
Anarchy, the want of government in a naticm, where no supreme authority i8 Wdged, either in
the prince or other rulers; but the poople live at Zarge, and all things are in oonfusicm. Diese
frühe Definition ist in die Enc. ßrita.nnica., 3rd ed. (1797) u. 5th ed. (1810) übernommen
worden.
60
II. 6. Entfaltung im 18. Jahrhundert Anarchie
durch Hob bes in die politische Diskussion der Zeit eingeführt worden war 63 , .setzte
die Aufnahme des Anarchiebegri:ffs erst später ein. In diesem Zusammenhang ist
auf eine neue Variante des Kreislaufmodells hinzuweisen: Anarchie erzeugt
Despotie/Despotismus, Despotie/Despotismus erzeugt Anarchie. Damit einher-
gehend werden Anarchie und Despotie auch miteinander verglichen und aneinander
gemessen: Anarchie ist schlechter/besser als Despotie. Despotie ist besser/schlechter
als Anarchie, beide smd identisch - jedenfalls hinsichtlich ihrer pragmatischen
Funktion, insbesondere hinsichtlich der Stoßrichtung ihrer Polemik. Immer wieder
wurde 'Anarchie' in einen unmittelbaren Zusammenhang mit 'Despotie/Despotis-
mus' gebracht84 - im Unterschied zum 19. Jahrhundert, wo dieser Zusammenhang
verloren ging. Schon bei F:ENELON waren despotisme ( despotisme tyrannique) und
anarckie identisch. Sie zogen ihre Identität au.s ihrer negativen Absolutheit: beide
waren der „Freiheit" und der „Ordnung" entgegengesetzt. Weder Anarchie noch
Despotie anerkannten Gesetz und Ordnung: La liberte sans ordre est un libertinage
qui attire le despotisme; l'ordre sans la liberte est un esclavage qui se perd dans l'an-
archi'.e65. Für n'ALEMBERT und DIDEROT gilt ähnliches: On peut assurer que tout
gouvernement en general tend au despotisme ou a l' anarchie 66 • - Auch bei BENTHAM
wurden, freilich ins Ethische gewendet, anarchical und despotical miteinander in Ver-
bindung gebracht: In tke ßrst case, let him ask himself wkether his principle is not
despotical, and hostile to all the rest of human race? - 1n tke second case, .wketker
it is not anarchical, and wketker at tliis rate tkere are not as many different
standards of right and wrong as tkere are men? 61 Eine Korrespondenz von
Anarchie und Despotie nahm auch MoRELLY in seiner Kritik am Staat des
aufgeklärten Absolutismus an. Er sprach von der natürlichen Anarchie mit
einem despotischen Herrscher an der Spitze 68 • Ein solcher unmittelbar kritischer
Gebrauch des Wortes 'Anarchie' scheint allerdings nicht häufig gewesen zu
sein (vgl. unten). RAYNAL sah in der Gewaltenteilung zwar ein anarchisches
" Die Definition von 'despotique' ( ce mot signifie un pouvoir absolu, ou plutl>t arbitraire,
ne reconnoissant aucunes loix) bei VoLKNA (Ausg. 1762), 44 zeigt deutlich die Ver'Wa.ndtscha.ft
zur Bestimmung der Anarchie. Allerdings weist ALBERT LORTHOLARY, Le mira.ge russe en
Fra.nce au XVIIIe siecle (Paris 1951), 135 zu Recht da.rauf hin, daß kein „exakter" Sinn
n011 Wortes 'rlespotisme' im 18. Jahrhundert festzustellen sei. Zur Entwicklungsgeschichte
von 'Despot' und 'Despotismus' vgl. auch ROBERT DERATHE, Les philosophes et le des-
potisme, in: Utopie et institutions au XVIIIe siecle. Textes, thl. l'IEB.RE FRANCASTEL
(Paris, Den Haag 1963), 57 ff. Es verdient Beachtung, daß Koebner und Derathe keine
Verbindungslinie zum Ana.rchiebegriff ziehen. ·
85 FRAN901s DE FENELON, Examen de conscience sur les devoirs de la royaute (1734),
tische Philosophie für alle Stände, 2. Aufl., Bd. 2 (Dessau 1777), 200: • . • eine
Staatsveränderung, eine Anarchie, oder die Despoterey.
• 7 JEREMY BENTHAM, An Introduction to the Principles of Mora.ls a.nd Legislation, ed.
Wilfried Ha.rrison (1823; Ndr. Oxford 1948), 130.
88 MORELLY, Le na.ufra.ge des lles flotta.ntes ou la Basilie.de du celebre Pilpä (1753), zit.
RICHARD X. CoE, Morelly. Ein Rationalist auf dem Wege zum Sozialismus (Berlin 1961),
210.
61
Anarchie D. 6. Entfahung ÜD. 18. Jahrhundert
Prinzip, behauptete jedoch, daß dieses nulle fois plus funeste que le <1espotisme 69 sei.
Eine spätere Variante zugunsten der Anarchie zeigt sich bei »'ALEMBERT, der aus
der egaliti metaphysique die Anarchie entspringen ließ und O.UB der inigalitl nwrale
den Despotismus 70. Für VoLTAIRE hat sich, im historischen Rückblick, die Anarchie
in ganz Europa unter Karl dem Großen in den Despotismus verwandelt, der aus
!!ich selbst heraus wieder neue Anarchie erzeugte: V ous avez vu en ltalie, en France,
en Allemagne, l'anarchie se tourner en <lespotisme sous Oharlemagne, et le <lespotisme
det,ruit par l'anarchie sous ses <1escendants71 •
Hier ist ferner auf die Differenzierung der eigentlichen Verfassungslehre hinzu-
weisen, die zu einer Auffächerung des Bedeutungsgehalts von 'Anarchie', 'Despotie'
usw. führte. MoNTESQUIEU hatte in seiner politischen Theorie; abweichend von
Aristoteles, drei Archetypen der Herrschaft unterschieden: despotische Herrschaft,
Monarchie und Republik (konstitutionelle Herrschaft). „Den -despotischen Herr-
schaftsformen eignet Terror, Kom1ption und Anarchie"72. In der historischen
Betrachtung waren Tyrannis und Anarchie Entartungsformen der Republik:
ll est vrai que ceuz qui CON'ompirent les republiques grecques ne devinrent pas toujours
tyrans. O'est qu'ils s'etoient plus attacMs a l'eloquence qu'a l'art miZitaire; outre qu'il
y avoit dans le coewr <1e trnu les Grecs une haine impklcable oontrc oeuz qui renversoient
le gouvernefMnt republicain; ce qui fit que l' anarchie Mgenera en aneantissement, au
lieu <1e se changer en tyrannie 78 •
Bei JusTI, der an die Lehre der Herrschaftsformen von Mqntesquieu anknüpfte
und sich mit ihr kritisch auseinandersetzte, wurden die aristotelischen Herrschafts-
und ihre Entartungsformen neu kombiniert und mit dem Degriff des D011p0Lismus
in Verbindung gebracht. Er 1:111ra.ch eLwa. von aristokratischen Despoten". Tyrannis
und Despotismus waren für ihn Entartungsformen der Monarchie, die ihrerseits nur
88 G. TH. F. RAYNAL, Histoire du parlement d' Angleterre (1748), zit. LoRTHOLARY, Mirage,
339 (s. Anm. 64).
70 JEAN LE RoND »'ALEMBERT, Essai sur les lllements de philosophie (1805; Ndr. Hildes-
heim 1965), 203. Wie d'Alembert hat auch Diderot, entgegen anderen Auffassungen,
'Anarchie' nicht positiv gewertet, auch wenn er, wie im folgenden Zitat, die „Anarchie
der ~atur" höher einstuft als die staatlichen Gesetze; DENIS DmEROT, Supplement au
voyage de Bougainville (um 1775), Oeuvres oompl., M. J. Assllzat, t. 2(Paris1875), 247:
il a'en rompit (von den Federn der Gesellschaftsmaschine) plUB da11,11 un jour, 80'US l''tat
de ll.giBlation, qu'il ne a'en r<»npait sn un an BO'U8 l'anarchie de nature.
71 VOLTAIRE, E1!88.i sur les moeurs et l'eaprit des nations depuis Charlemagne jusqu'a noe
cal Spirit. Essays in HonorofHerbert Ma.rcuse, ed. KURT H. WoLFFu. a. (Boston 1967), 121 ff.
78 MoNTESQUIEU, De l'esprit des loie 8, 2. Oeuvres oompl., t. 2 (1951), 351. Vgl. auch seine
„Penslles": Dana de certaina tro'llhles et conf'UBiona oli chaque citoyen eat ehe/ de parti, comment
peut-cm aaaeoir un gouvernement, a moina que ce ne 8oit celui qui a'etablit pour ainsi dire,
de lui-mßme: qui eat le tyrannique; ou celui qui n'eat que la privation du gouvernement; qui
f'.Rf. l'anarchique?; Oeuvre11 compl., t. 1 (1949), 1430. Ferner ebd., 1467: l'anarchi~ eBt con-
traire au Droit naturel.
"JoH. HEINR. GoTTLIJ!lll v. JusTI, .Natur und Wesen der Staaten als die Quelle aller
Regierungswissenschaften und Gesetze (Mitau 1771), 143. Mischformen der Herrschaft
aus :Monarchie,' Aristokratie und Demokratie, bei Ablehn\ing der deapotiBchen Regierunga-
form, fordert auch KLüGEL Bd. 3 (1784), 34 ff.
62
II. 6. Entfaltung im 18. Jahrhundert · Anarchie
eine der Arten der Republik, also konstitutioneller Herrschaft, war 75 '. Despotie/
Despotismus wurde, sozusagen als „Unform", als „Vorform", jedenfalls als negative
Herrschaftsform, aus der eigentlichen Lehre der Verfassungsformen ausgeklam-
mert: Die despotische GewaU gehöret nicht unter die RegierungsfMmen, weil der
Endzweck der Republiken (= Regierungsformen) dabei nicht sf4ttfindet. Sie ist
vielmehr ein Ungeheuer unter den Beherrschungsarten, das den Abscheu des mensch-
lichen Geschlechts höchst verdienterweise auf sich ziehen muß. Allein auch hier kann
der Adel nicht die notwendige Stütze ausmachen78 • Klar kommt dies auch bei KRÜNITz
zum Ausdruck: Als eine besondere Regierungsform ist der Despotismus(= ,,Despo-
terey") nicht zu betrachten 77 • Bei BIELEFELD tritt die bezeichnete Tendenz für den
Begriff 'Anarchie' hervor: Er unterschied in seinen „Institutions politiques" (1760)
trois formes regulieres de Gouvernement und Gouvernements vicieux dans les trois
fiJrmes, behandelte dann die Gouvernements Oomposes ou Miztes und widmete erst
den folgenden Paragraphen der Anarchie, wo er definierte: On appelle Anarchie,
lMsque l' Etat n'a point de Chef, quand chacun yvit asa fantaisie, au mipris des Loix
quand le desMdre et la confusion y regnent. On sent bien que c'est za le plus grand vice
dont un Gouvernement soit susceptible, et qu'une pareille situation prece.de immediate-
ment la ruine de l'Etat7 8. Mit dieser Erweiterung des Bezugsfeldes von 'Anarchie'
durch die Verbindung mit und Absetzung von 'Despotie' bzw. 'Despotismus' und
ihre schließliche Heraw;löt1ung aus der eigentlichen Herrschaftsformenlehre rücken ·
beide Begriffe stärker in die historisch-soziale Dimension hinein. Allerdings sind
'Despotie', 'Despotismus' 79 sowie 'Tyrannis' 80 und nicht 'Anarchie' die zentralen
Begriffe, an denen sich die Zeitkritik des 18. Jahrhunderts immer wieder auflädt.
Trotz erster Ansätze einer historischen Konkretisierung ist der Bedeutungsgehalt
von 'Anarchie' (ähnlich wie bei 'De.spotie') noch relativ starr. 'Despotie' und
'Anarchie' charakterisieren Zustände, die im Gegensatz zu Freiheit, Ordnung und
Gesetz stehen. Auch wenn Differenzierungen im einzelnen vorgenommen werden,
sind doch beides Begriffe zur Bezeichnung dessen, was nicht sein darf. Diese Bin-
dung von 'Anarchie' an 'Despotie' wird später aufgelöst (s. u.).
76 JusTI, Sta.a.tewirthschaft oder Systematische ·Abhandlung aller ökonomischen und
Cameral-Wissenschaften, 2. Aufl., Bd. 1 (Leipzig 1758), 36:ff. Ähnlich wie bei Justi findet sich
Montesquieus Einfluß auch bei Roussea.u, für den Ochlokratie, Oligarchie und Tyrannis
Verfallsformen der Demokratie, Aristokratie und royaute sind. Im gleichen Zusammenhang
spricht Roussl!lAU von der Anarchie a.Is der Auflösungsform des Staates und des gouverne- .
ment; Contrat social 3, 10.
78 JusTI, Abhandlung vom Wesen des Adels, in: ders., Gesammelte Politische und Finanz-
schriften über wichtige Gegenstände der Sta.a.tekunst, der Kriegswissenschaften und des
Cameral- und Finanzwesens, Bd. 1 (Kopenhagen, Leipzig 1761), 159.
77 KRüNITZ Bd. 9 (1776), 123.
'roi' und 'tyran' hat JEAN MEBLIER den französischen absolutistischen Sta.a.t kritisiel't;
Le testament, ed. Rudolf Charles, t. 2 (Amsterdam 1864), 270 :ff. Obwohl er den Begriff'
'Anarchie' nicht verwendet, ist er von der Geschichtsschreibung des Anarchismus immer
wieder als einer der ersten Anarchisten bezeichnet worden. Gegen diese Interpretation
wendet sich MAURICE DoM:MANGET, Le eure Meslier. Ath6e, communiste et rivolutionnaire
sous Louis XIV (Paris 1965), bes. 331 :ff.
63
Anarchie II. 7. Zeitkritik der AufkJämng
81 SPERA.NDER (1728), 34. Damit stimmt wörtlich überein SCHWESER (AnRg. l 768), 22.
82 Z1mLER Bd. 2 (1732), 56. In der Enc. Britannioa, 3rd. ed., vol. 1 (1797), 654 werden
konkrete historische Beispiele angeführt: A narchy i8 BU'P'J108ed to have reigned after the
delitge, before the foundation of monarckiu. We Btill find it obtain in Beveral parta, particularly
of Afriro and America ... The Jewi&k kiatory pruent8 numerous inatances of anarckiea.
88 RAYNAL, Histoire philosophique et politique des etablissements et du commerce des
. Europeens dans les deux Indes, t. 10(Genf1781), 84. CLAUDE .ADRIEN HELvETIUS spricht
von der anarckie du inter8t8 nationaua:; De l'homme, de ses facultes intellectuelles et de
son education (1772), Oeuvres compl., t. 4 (London 1781), 95.
8' VOLTA.IRE, Questions sur l'encyclopedie pa.r des amateurs, Collection des oeuvres, t. 46
64
n. 8. •J<'eudalanarchie' Anarchie
8. 'Feudalanarchie'
Ein deutlicher Ausdruck des sich entfaltenden Begriffs der Anarchie und seiner
Herauslösung als negativer Bei- und Nebenbegriff aus der klassischen Verfassungs-
lehre ist mit dem Begriff 'Feudalanarchie' gegeben. Er ist wahrscheinlich von
VOLTAIRE geprägt worden, der vor allem in seinem ,,Essai sur les moeurs et l'esprit
des nations" die Institutionen und Bräuche des Mittelalters - und damit die
seiner Zeit - kritisierte. In diesem Zusammenhang handelt er nicht nur von der
anarchi,e genera"le de l' Europe, der seit dem Tode Friedrichs II. bestehenden inneren
Anarchie in Deutschland, sondern spricht auch von der anarchie feoda"le des Mittel-
alters: Vous avez deja observe que dans "les commencements de l'anarchi,e feodale
presque toute.~ les villes etai,ent peupUes plUt6t de serfs que de citoyens 81 • Auch MABLY
sprach von der monstrueuse anarchie du gouvernement feoda"le 88 • Freilich gilt für die
Schriftsteller der französischen Aufklärung, daß sie mit solchen Formulierungen
aus der historischen Perspektive kritisieren und verändern wollten 89•
Im deutschen Sprachraum ist der Begriff 'Feudalanarchie' in den Lexika des
17., 18. und 19. Jahrhunderts noch nicht verzeichnet90• Wenn auch JOHANN JACOB
und FRIEDRICH CARL MosER sowie lsAAK ISELIN das Feudalsystem ausführlich
kritisierten91, vermittelten sie diese Kritik doch nicht durch den Begriff 'Feudal-
anarchie'. C. D. Voss sprach zwar 1797 von der Anarchie des Faustrechts im Mittel-
alter92. Jedoch taucht der Begriff 'Feudalanarchie', soweit wir sehen, erstmals in'
GARVES Übersetzung und Erläuterung zum 3. Buch des Thukydides (1794) auf, wo
Garve bemerkt: Als in den mitt"lern Zeiten di,e Feudal-Anarchie di,e Staaten in eine
Menge kleiner Herrschaften zersplitterte, die ihre Streitigkeiten untereinander, ohne
di,e Hilfe des größern Staates, welchem sie angehörten, abzuwarten', durch Krieg und
Trakw,ten selbst ausmachen und sich ihre Sicherheit durch ihre eigene Macht und durch
ihre Bündnisse verschaUen mußten •.. 93•
.Besonders Voltaire, Iselin und Garve brachten zum Ausdruck, was JusTI 1758
\rorsichtig gefragt hatte: Ob denn die Lehensverfassung überhaupt eine solche Ein-
richtung sei, di,e mit unserem heutigen Zustande übereinstimmet und folglich femer
37 VOLTAIRE, Essai sur les moeurs et l'esprit des nations, 238 (s. Anm. 71); vgl. ders.,
o. J.), 322.
89 Dazu CARL L. BECKER, The Heavenly City of the Eighteenth-Century Philosophers
(New Haven, London 1932; Ndr. 1965), 71 ff.
90 Obwohl NEHRING (1710), s. v. ausführlich die verschiedenen Arten des Feudum be·
schreibt, taucht der Begriff 'Feuda.la.narchie' nicht auf. Auch LOEBEL Bd. 2 (1797), 22 f.
gebraucht den Begriff 'Feudalana.rchie' nicht, obwohl er sich kritisch zum Feudalsystem
äußert. ,
91 FmEDR. CARL FmI. v. MOSER, Politische Wahrheiten, 2 Bde. (Zürich 1796), passim;
vgl. JoH. JACOB/FmEDR. CARL FmI. v. MosER, Freie Worte aus der Zeit des Absolutismus
des 18. Jahrhunderts (München 1912), 66 f. Da.zu FRrrz V A.LJAVEO, Die Entstehung der
politischen Strömungen in Deutschland, 1770-1815 (München 1951), 45.
92 CHBJsTIAN DANIEL Voss, Handbuch der allgemeinen Sta.a.tswissenscha.ft nach Schlözers
5-90385/1 65
II. 8. 'Feudalaaarchie'
beizubehalten sei?94. Nicht nur das sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts schnell
ausdehnende Bewußtsein zweier Klassen: der Lehenslierren und der Bürger,
sondern auch die damit eng verbundene Kritik der Loiboigonsohaft (Moser, Schlözer,
Wekhrlin) 95 und die Kritik an der mittelalterlichen Lehnsverfassung und überhaupt
am sklavischen Territoriel- Staatsrecht des :Mittelalters98 sind im Zusammenhang mit
dem Begriff 'Feudalanarchie' zu sehen. IsELIN verband bereits 1770 'Anarchie' mit
Sklaverei, in die jeder Staat verfallen mußte, in dem - wie im Mittelalter -
Legislative, Exekutive und Jurisdiktion nicht genügend voneinander getrennt
würden97• In Frankreich wird, wie Otto Brunner in der Interpretation St. Simons
und Thierrys schreibt, dann der Adel für „alles Unrecht" in der Umstrukturierung
des Bürgertums verantwortlich gemacht98• Die Verbindung zwischen Königtum
und Bürgertum vom 12. bis 18. Jahrhundert sei nur durch den Konflikt des Adels
im Ancien regime mit dem Bürgertum zerstört worden. Zweifellos kommt darin -
mit dem Erkennen der „Wir.ht.igkeit. flp,r Ge8Chic.ht.e" (Rufeland 1788) - das
gesellschaftskritische Element in der Geschichtsschreibung der Enzyklopädisten
und Aufklärungsphilosophen zum Ausdruck. Andererseits - und deshalb ist
Voltaire nicht allein typisch - bemühte man sich, im Anschluß an die von Montes·
quieu aufgestellten Grundsätze, les sources des lois feodales 99 zu erforschen und die
historische Vergangenheit nicht nur an den allgemeinen Ideen des eigenen Zeitalters
zu messen100• In Deutschland forderte HUFELAND, die Geschichte des Mittelalters
durch Sammlung von Tatsachen aus dem Mittelalter aufzulösen, die uns bis jetzt fast
noch gänzlich fehlen101. Rufeland bezweifelte bereits, wenn auch noch vorsichtig,
die von der Aufklärung (in diesem Falle von Kant) vorgetragene Abwertung des
Mittelalters gegenüber der „Republik": Aber nun jene Anarchie des Mittelalters? -
(Frankfurt, Leipzig 1774); ANsELMUS RABiosus [d. i. WEKBRLIN], Reise durch Ober-
Deutschland (Salzburg, Leipzig 1778).
"Vgl. Anmerkungen über Schlossers B:cief politischen Inhalts [in dieser Zs. 1785], Journal
von u. für Deutschland 3/1 (1786), 300 ff., bes. 305. Ferner: [ERNST FERDINAND KLEIN?],
Rez. v. Nachricht von den Schlossersehen Briefen über die Gesetzgebung überhaupt und
den Entwurf des Preußischen Gesetzbuchs insbesondere [Frankfurt 1789], Annalend. Ge-
setzgebung u. Rechtsgelehrsamkeit in den Preuß. Staaten 4 (1789), 326 ff., bes. 327.
H 18.UX IsELIN, Schinzna.ch oder über die .Anfil.nge der bürgerlichen Weisheit, Vermischte
Sehr„ Bd. 1(Zürioh1770), 267.
88 OTTO BRUNNEB, „Feudalismus". Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, in: ders., Neue
Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. (Göttingen 1968), 128 ff., bes. 140 ff.;
vgl. EBEBBARD WBIB, Geschichtsschreibung und Staa.tsauffa.ssung in der französischen
Enzyklopädie (Wiesbaden 1956), 38 ff. Vgl. auch ERNST-WOLFGANG BöCKENFÖRDE, Die
deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert (Berlin 1961), 90, der
im Anschluß an Weis die Begriffe 'Feudaldespotie' und 'Feudalanarchie' in den gleichen
Zusammenhang stellt.
ee MoNTBSQUIJllU, De l'esprit des lois 30, 2. In diesem Sinne spricht er von den lois feodale8
•.• , qui cmt produit la r~"le avee une inclination a l'anarchie, et i'anarchie avee une tendence
aZ'ordre et aZ'harmonie; ebd. 30, 1. Oeuvres compl., t. 2, 883.
100 Vgl. WEIS, Enzyklopii.die, 33 ff.
101 GoT'l'LmB HUJl'ELAND, Ueber den Warth und Nutzen der Geschichte des Mittelalters.
66
n. '· Erste Anklänge eines positinn Bedeutungsgehalts Anarchie
wie ist diese mit jenem Prinzip zu vereinigen? Was ist nun also dieser Lehre wegen
wichtiger als die Untersuchung, ob entweder diese Hypothese gewiß und ungezweifelt
an dieser Klippe scheitern, oder ob vielleicht jene Anarchie der größern Teile der
Menschengattung nicht so gefährlich gewesen als die geschraubte Ordnung im Römischen
Staat, dessen Bürger vielleicht Ruhe, aber nicht Glück genossen, und ob nicht vielleicht
jene scheinbare oder wahre Anarchie der einzige Weg war, durch den beßre Regierungs-
formen möglich wurden ?102 . Hier klingt jenes historische Verständnis der - jetzt auf
das Mittelalter zurückbezogenen-Anarchiean, das besonders bei Adelung und Schei-
demantel zu einer positiven Wertung vergangener Formen der Anarchie geführt hat.
In der Konkretisierung des Begriffs 'Anarchie' als 'anarchie fäodale' in Frankreich
und als 'Feudalanarchie' bzw. 'Anarchie des Mittelalters' in Deutschland sind zwei
Bedeutungsfelder angelegt: Einmal wird 'Anarchie' zum geschichtsphilosophischen
Perspektivbegriff, mit dessen Hilfe im Medium der Vergangenheit Gegenwartskritik
geiibt wird. Zum anderen sind erste Ansätze zu einem historischen Verstehens-
begri:ff erkennbar. Damit ist der Anarchiebegriff in seiner Streuweite beweglicher,
fungibler geworden.
Schließlich wurde 'Anarchie' in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, vor allem von
den Aufklärungsphilosophen und -schriftstellern, auch in positiver Bedeutung
gebraucht. Während BossUET die Anarchie noch allgemein als diese furcht.bare
Quelle unzähliger Zerrüttungen 108 bezeichnete, hat MosEs MENDELSSOHN befürchtet,
daß die Anarchie nur 'durch den Despotismus gesteuert werden kann. Dennoch hob
er in positiver Bewertung der Anarchie hervor: l n jeder Republik ist der Geist des
Widerspruchs nicht nur eine notwendige Folge, sondern öfters auch eine heilsame
Stütze der Freiheit und des allgemeinen Wohlstandes 10'. Scheidemantel, die „Deutsche
Enzyklopädie" von 1778 und Adelung stellten die Anarchie erstmals als Gesell-
schaftsformation in den Vordergrund. Zwar erstrebten sie, ähnlich wie die englischen
Utilitaristen sowie Klügel und Justi, immer noch das Ideal der gemeinschaftlichen
Glückseligkeit106. 'Anarchie' war jetzt jedoch - ähnlich wie bei B0Drn1os - eine
dem Staat entgegengesetzte Sache, so wie sich die gleiche und ungleiche Gesellschaft
voneinander unterscheiden1 07. Vorstaatliche und staatliche Gesellschaft standen
los Ebd.
108 JACOB BENIGNUS ßossuET, Einleitung in die Geschichte der Welt und der Religion,
fortgesetzt v. Joa. ANDREAS CRAMER„2. Aufl., Bd. 3 (Leipzig 1761), 211.
1 °' MosEs MENDELSSOHN, Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften,
Ges. Sehr., Bd. 2 (1843), 31. Vgl. auch den Zusatz WIELANDS zu: Die Regierungs-
kunst oder Unterricht eines alten Persischen Monarchen an seinen Sohn. Ne.eh dem
Englischen, Der Teutsche Merkur 2 (1773), 167 ff., bes. 177: Ea i8t wohl wahr, d,aß ohne
Freiheit phi"°8ophieren noch ein wenig achlimmer iat ala gar nicht phi"°8ophieren.
1o5 SCHEIDEMA.NTEL Bd. 1 (1782), 138.
1 oe BonIN, Methodus, 158 (s. Anm. 45).
107 ScHEIDEMA.NTEL Bd.1,138 Diese Unterscheidung geht offenbar aufDARIES zurück, der die
societa.s aequa.lis als anarchia definierte, die erst durch Einführung des imperium, ähnlich
wie bei Bodin, zur societe.s ine.equalis wird; zit. ÜTTO v. GIERKE, Johannes Althusius und
die Entwicklungdernaturrechtlichen Staatstheorien (1880; Ndr. Aalen 1968), 104, Anm. 76.
67
Anarehie D. 9. Erste Anklänge eines positiven Bedeutongsgehalts
sich wie Anarchie und Staat gegenüber. Mehrere Familien bildeten - wie bei
Bodin - zunächst eine 'Anarchie' genannte Gesellschaft: Anarchie ist der Name
einer sokhen Gesellschaft, die mehrere Familien errichten, sich einander gegenseitig zu
verteidigen, ohne einen gemeinschaftlichen Oberherrn anzunehmen108. ADELUNG
artikulierte den Gegensatz von Staat und Gesellschaft noch stärker, als er definierte,
Anarchie sei derjenige Zustand einer bürgerlichen Gesellschaft, nach wekhem sie kein
gemeinschaftUches Oberhaupt hat, und eine sokhe bürgerliche Gesellschaft selbst, im
Gegensatze des Staates im engeren Verstande 109• Obwohl Adelung Anarchie noch als
Zustand bezeichnet, kann der Bewegungscharakter, das allmähliche Eintauchen des
Begriffs in die historische Zeit, nicht übersehen werden. Sozialgeschichtlich ist dies
als Verweltlichung des christlichen Bruderschaftsdenkens, und dessen Übertragung
auf Bünde, Sekten und genossenschaftliche Vereinsformen zu interpretieren.
Entsprechend wurde 'Anarchie' als positive Urform von Gemeinschaft und
Gesellschaft gesehen: Dergleichen Anarchien gab es häufig in den ersten Zeiten nach
der Sündflut, und hieraus sind nach und nach Republiken und Staaten erwachsen110•
JusTI hob den positiven Zustand der Anarchie hervor unter Berufung u. a.
auf die Bibel: Als man nach der Zeit schon ein Eige11,tum ei11,gefüliret wnd Gesell-
schaften gemacht hatte, so ist in vielen Ländern diese eigene Herrschaft über sich selbst
geblieben, und niemand ist im Stande gewesen, dem andern Befekle zu geben, a'llßer
was sich der Hausvater vor Recht und Befehle über seine Kinder und Familie ange-
maßet hat. Man hat Zeugnisse der alten Schriftsteller, daß dergleichen Anarchien lange
Zeit in der Welt gedauert haben, und selbst die Bibel gibt uns Zeugnis, daß die Israeliten
verschiedene Mal in einer sokhen Anarchie gelebet haben111• SCHEIDEMANTEL· sah
ebenfalls die historische Dimension. Die Geschichte gebe den niichsten Grad zur
Staatsverfassung, weil die Oberhäupter der Familien die Notwendigkeit eines gemein-
schaftlichen Zwangsregiments einsehen und mit Willen OOet- aus Zwang die Anarchie
nach und nach in Republik OOet- wohl gar Monarchie verwandeln. Jedoch nicht nur in
der prähistorischen Urzeit war Anarchie die erste Form, in der sich Menschen
zusammenfanden, sondern auch die alten Deutschen hatten in Friedenszei-
ten ein anarchisches Bündnis unter sich112• Eine Verbindung zwischen 'Anarchie'
als Verfassungsbegrifi und 'Anarchie' als soziologischer, auf Fainilie, Gemeinschaft
und Gesellschaft bezogener Kategorie nahm BROCKHAUS' „Conversations-Lexikon"
von 1814 vor. 'Anarchie' wurde definiert als ein Volksverein ohne gemeinschaftliche
Regierungs/orm113 - und dainit ohne Autorität, Hierarchie und Gewalt. Erst in
der Erläuterung zu dieser Definition wurde 'Anarchie' dann als Zustand der Unord-
nung und Auflösung charakterisiert.
68
II. 10. RotteckJWeleker Anarchie
10. RotteckfWelcker
m Der Artikel „Anarchie" wurde unverändert in die 2. und 3. Auflage (Bd. 1, 1845 u.
1856) des „Staats-Lexikons" von RoTTECK/WELCKER übernommen.
110 RoTTECK, Art. Anarchie, RoTTECK/WELCKER Bd. 1 (1834), 548.
116 Ebd.
m WELCKER, Art; Alodium und Feudum, RoTTECKjWELCKER 3. Aufl., Bd. 1 (1856), 446.
Im ebenfalls von Welcker verfaßten Art. „Mittelalter" wird 'Anarchie' nicht verwandt.
llB WELCKER, Art. Alodium und Feudum, 447.
69
Anarehle II. 10. Rotteek/Weleker
kratischen Schutz- und Treuverbindungen des Feudalsystems und des mit i.hm ver-
bundenen Rittertums entwickelten vorzugsweise die höchste persönliche Treue, Ehre
und feine Sitte118• Die im 18. Jahrhundert in Deut.achland eher verstreuten Tenden-
zen, die in der Anwendung des Begriffs 'Anarchie' auf das Mittelalter gelegen haben,
wurden damit bei Rotteck/Welcker zusammengefaßt120• Wesentlich ist, daß diese
'Anarchie' aus. ihrer generellen Definition herausgenommen wurde. Dies deutet
darauf hin, daß die im Begriff 'Feudalanarchie' bzw. 'Anarchie' des Mittelalters
enthaltenen Inhalte so speziell waren, daß sie in der historisch späteren Ausprägung
des Begriffs 'Anarchie' nicht weitergegeben wurden.
In seiner expliziten Auseinandersetzung mit Anarchieauffassungen des 18. Jahr-
hundert.a konzentrierte sich Rotteck auf die Frage, wie Anarchie in ihrem Verhältnis
zur Gesellschaft, und damit zum Staat, zu bestimmen sei. Er lehnte ausdrücklich
Anarchie als außer- und als zwischenstaatlichen Zustand ab und ließ ferner auch die
Diskussion iiher die Abfolge und da1;1 Verhältnis der Herrschaft.aformen zueinander,
die im 17. und 18. Jahrhundert von großer Bedeutung war, hinter sich. Anarchiß,-
wenn man ihre Bedeutung nicht allzuweit ausdehnen und dadurch eine Begriff.~
verwirrung herv<>'f'bringen will, ist bloß ein Gebrechen oder eine Krankheit eines dem
Recht oder der Natur nach als gesellschaftlich gedachten Zustandes121 • Gleichermaßen
wendete er sich sowohl gegen die positive Anwendung des Anarchiebegriffs aUf die
Gesellschaft oder die kleinen G:emeinschaften (Bund, Sekte, Bürgergesellschaft,
Verein) als auch gegen die negative Ausklammerung und Verteufelung der Anarchie
vom Standpunkt der „Ordnung" aus, wie sie sich bei einigen Autoren des 18. Jahr-
hunderts herauszubilden begannen und im Zusammenhang mit der Französischen
Revolution dann ihren Höhepunkt gefunden haben. Die Ablehnung der Anarchie
als außergesellschaftlichem bzw. -staatlichem Zustand ist nicht nur in Rottecks
politischer Theorie begründet, sondern auch in dem Bemühen um eine Ent.achärfung
des gegnerischen politischen Vokabulars. Denn mit der Festlegung des Bedeutungs-
gehalt.a der Anarchie auf nicht.staatliche Zustände wurde ein großer Schritt vor-
wärts in die Richtung der Ideologisierung und einer mit ihr einhergehenden
Polarisierung des Begriffs'Anarchie' zur bestehenden Ordnung von 1815 getan.Wenn
Anarchie als „Krankheit" (die wichtigste Definition Rottecks) bestimmt wird, ist
die Möglichkeit des Heilens, des Aufhebens von Anarchie mitgedacht, während die
Definition der Anarchie als außergesellschaftlichem (= nicht.staatlichem) Zustand
die Kluft zwischen bestehender „Ordnung" und revolutionärer „Unordnung"
aufreißt. Für Rotteck ist 'Anarchie' stillschweigend nioht ein Gegenbegriff zu jeder
beliebigen, etwa der damaligen staatlichen, Ordnung, sondern zum Reoht.a-
staat. Wer diesen verhindert, fördert letztlich Parteikämpfe um Herrschaft und
damit Anarchie. Die Auffaesung Rottecks eröffnete weitere Perspektiven. Der
klaesische Topos der Herrenlosigkeit bzw. des Fehlens eines Herrschers (Herr-
schaft.alosigkeit) wurde differenziert: Anarchie ist der Zustand der bürgerlichen
uo Noch 1852 bei GusTAv DIBzEL, Deutschland und die abendländische Civilisation
(Stuttgart 1852), 184 sind .Anklänge an den Begriff 'Feudalanarchie' zu finden, wenn er
davon spricht, daß die deutschen Fürsten ihre Freiheit in 1ehr ungeordneter, anarchilcker
Weile auffaßten.
111 ROTTECK, Art . .Anarchie, RoTTECK/WELCKD Bd. 1 (1834), 546.
70
ll. 10. Rotteek/Welcker Anarehie
Gesellschaft, worin keine geregelte, als rechtmäßig erscheinende oder wenigstens einige
Bürgschaft der Dauer gebende Gewalt besteht oder wirksam ist122 • Rotteck unterschied
mehrere Möglichkeiten der Anarchie: Gesellschaften, in denen keine positive, jedoch
natürliche Gewalt besteht, und solche, in denen 4ie natürliche Gewalt zwar noch
nicht hervorgetreten, jedoch angelegt ist: Es ist hiernach auch unnötig, den BegriO
der Anarchie zu beschränken auf das Ermangeln oder auf di,e Unwirksamkeit einer
positiv eingesetzten Gewalt: wiewohl freilwh historisch die rein natürlwhe Gesellschafts-
gewalt sehr wenig vorkommt, sondern fast überall da, wo ein wirklWher Staatsverband
oder bürgerlicher Verein in die Erscheinung triU, auch schon eine positiv - sei es durch
förmliches Gesetz, sei es durch b'loße SiUe oder Gewohnheit - angeordnete Gewalt
vorkommt. Übrigens mögen wir in unsern Begriff der Anarchie wohl auch den Zustand
aufnehmen, wo unter einem durch die Natur (namentlich durch Verwandtschafts- oder
naohbarliclte usw. Verhältnisse) verbundenen oder zur Verbindung angetriebenen
Volke noch keine gemeinsame, also weder natürlwhe noch positive Autorität anerkannt
wird123 • Diese Form der Anarchie wurde als der guten Ordnung des Gemeinwesens
vorangehendl24. bestimmt, und in dem Artikel von 1819 fügte Rotteck ausdrücklich
hinzu: . . . sie ist kein widerrechtlwher Zustand 126• Dem stehe gegenüber 'Anarchie'
als später eingetretene Verderbnis oder Krankheit, als nachfolgender Zustand128 , Auf
sie, die in der überwiegenden Zahl der Fälle widerrechtliche Anarchie sei (jedoch
nicht zu sein brauche) 197, richtete Rotteck sein Hauptaugenmerk: Von praktischem
Interesse sind uns ... die Fragen: welches sind in der Regel die Ursaohen der Anarchie,
und welches sind die den meisten Er/olg verheißenden MiUel zu ihrer Aufhebung ?128 •
Von Rottecke Bestimmung der vorangehenden und der nachfolgenden Anarchie
aus ist also ebenfalls eine Verbindungslinie zum geschichtephilosophiechen und
historischen Verständnis des 18. JahrbunderlA zu ziehen. Situationsgebunden sind
dagegen die Merkmale seiner Anarchiedefinition, die auf' Anarchie' als gegnerischen
Parteibegriff verweisen. Rotteck warnte eindringlich vor der manipulativen
Benutzung des Anarchiebegriffs im politischen Tageskampf: In der neuesten Zeit iat
nwhl selten eine ganz maß'loae Furcht vor dem, mit Anarchie verwechselten, Wehen
des nach· Staatsverbesserung strebenden Zeitgeistes das Motiv oder auch die angeblicke
Gefahr des Einbrechens solcher Anarchie der Beschönigungsgrund von Maßregeln
gewesen, welche gerade, wenn nwht eine unverwüatlwhe Liebe zur Gesetzlichkeit und
Ordnung die edleren Völker erfüllte, jenes Unkeil, welchem die steuern sollten, käuen
l&er1J<wrofen können 1111• Was waren nun die einzelnen Bedeutungsverschiebungen, die
die Umbruchszeit von 1800 hervorgerufen hat und auf die Rotteck und Welcker
bereite reagiert hatten 1
111 Ebd.
118 Ebd., 547.
tKEbd.
125 RoTTECK, Art. Anarchie, EBSCH/GBUBER I. Sect., Bd. 3 (1819), 468.
71
Anarchie m.1. Historisieruag, ldeologisienmg, Politisierung l.789-1830
m.
1. Historisierung, Ideologisierung und Politisierung 1789-1830
Der bereits vor der Französischen Revolution in Gang gesetzte Prozeß der Histori-
sierung d~ Anarchiebegriffs strebte in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts
einem Höhepunkt entgegen,· freilich von verschiedenen Ausgangspunkten aus. Die
Historisierung ~de jetzt zur politisch-ideologischen Dynamisierung. In diesem
Zusammenhang muß die Französische Revolution und die Reaktion auf sie in
Frankreich und Deutschland an erster Stelle genannt werden. Wichtig ist jedoch
auch die englische Tradition von Milton über. Locke, Bolingbroke, Biirke, Paine
bis hin zu Godwin. Beide Traditionsströme, der französische und der englische,
haben auf das Anarchieverständnis in Deutschland um die Jahrhundertwende und
weiter, besonders im frühen 19. Jahrhundert, eingewirkt. Anarchie war immer
weniger „Zwischenzeit", „Zustand" - obwohl der Begriff diese Bedeutung weiter
mitträgt. Der aus Aristoteles abgeleitete und der Montesquieusche Verfassungs-
begriff zerfielen. 'Anarchie' wurde jetzt auch zum glücklichen Ort der Freiheit in
der „natural society" und damit zum Parteibegriff, zur ideologisch-politischen
Waffe, zum Kampfbegriff. So ist 'Anarchie' bei Friedrich Schlegel, Wieland, Görres
und Arndt bis hin zu Proudhon, dem jungen Bakunin und Moses Hess Normal-
zustand, Endziel oder glückliche Frühzeit einer geschichtlichen Bewegung.
Mit der unmittelbaren Politisierung der Anarchie in geschichtsphilosophischer
Perspektive trat auch die Neuprägung 'Anarchist' zunächst in Frankreich, dann in
Deutschland hervor. Im politischen Tageskampf bezeichneten sich die verschiede-
nen politischen und sozialen Gruppen gegenseitig als „Anarchisten". So wurden
nach 1800, nach dem Verblassen der Tageskämpfe der neunziger Jahre, von Konser-
vativen und Liberalkonservativen, jedoch auch von den späteren Kommunisten
mehr und mehr jene Outsider, jene sozial-marginalen Gruppen genannt, die nicht
durch Status und ·Prestige im Boden der bürgerlichen Gesellschaft verwachsen
waren. Gleichermaßen beginnt der Begriff 'Anarchist' die Funktion der Selbst-
verständigung für diese sozialen Outsidergruppen zu übernehmen.
Ebenfalls neu und in den Kämpfen der Französischen Revolution ausgebildet ist
der Ausdruck 'anarchiser'. MIBABEAU gebrauchte dieses Wort erstmals 1790 und
zwar warnend, als er vor der Nationalversammlung begründete, daß ein Gesetz,
welches die Emigranten aufforderte, Frankreich im Falle der Gefahr zu unter-
stützen, verfassungswidrig sei: La loi S'IJ.r 'les emigrations est, je vous k repeu, une
chose hors de votre puissance, parce qu'elk est impraticable; et qu'il est hors de votre
SO{Jesse de faire une loi qu'il est impossible de faire eUcuter, mime en anarchisant
toutes 'les parties de l'empire. n est prouve par l'experience de tous 'les temps, qu'avec
l'execution la plus despotique, la plus concentree dans 'les mains des Busiris, une
. pareille loi n'a jamais eu executee, parce qu'elle est inezicutable130.
Im Zuge der sozialen Differenzierung im frühen 19. Jahrhundert und der Dynami-
sierung des Anarchiebegriffs sind sowohl eine Bedeutungserweiterung wie .eine
Bedeutungspolarisierung und eine Bedeutungsverschiebung zu verzeichnen. Die
iao H. G. DE Miiu.BEAU, Collection complette 4es travaux, ed. Etienne Mejan, t. 5 (Paris
1792), 402 f. Weitere Belege bei BRUNOT t. 9 (1937), 828, Anm. 2; vgl. FREY (1925), 153.
72
m. 2. Notwendiger Zwischenzustand und positives Endziel Anarchie
tradierten Denkfiguren und Topoi werden verändert. Die Relationen von Anarchie
und Despotie/Despotismus und Anarchie und Tyrannis erhalten sich zwar einerseits,
weisen jedoch andererseits, durch die Erfahrungen der Revolution bedingt, eine
Reihe neuer Momente auf. Auch der Topos: Demokratie. erzeugt Anarchie erhält
neue Nuancen. Anarchie steht nun vor allem im Kontext mit 'desordre', 'revo-.
lution', 'insurrection' 1a1.
Neue Kombinationen und plastische Verbindungen treten im unmittelbaren
Zusammenhang mit der Revolution und in den auf sie folgenden Jahrzehnten in
Fülle hervor1a 2 • Im konservativen Lager wurde 'Anarchie' schnell, schon anfangs
der neunziger Jahre, zum Abwehrbegriff, jedoch in verschieden starker Konkretion
und Stoßrichtung. Der konservative Gegenbegriff zu 'Anarchie' war 'Ordnung'
('ordre'), bisweilen auch 'Gesetz und Ordnung'. Trotz ihres vagen Inhalts besaßen
jedoch 'ordre' wie 'desordre' eine außerordentliche Expressivität, da das ethische
mit dem politischen Moment verbunden wurde.
Schließlich wurde 'Anarchie' auf zahlreiche Begriffsfelder übertragen, die jenseits
von Verfassung, Staat und Herrschaft liegen: Philosophie, Wissenschaft, Religion,
Kunst und Literatur, Ökonomie.
Schon früh waren in Frankreich nach Reginn der Revolution Stimmen laut gewor-
den, die den späteren Verlauf der Revolution verhindern wollten. Als einer der
ersten warnte VAUBLAN0 133 im Frühjahr 1792 vor Anarchie: Ich fürchte nichts als
die Anarchie ... Ich fürchte weder die Gegenrevolution noch den Krieg. Die Frank-
reiche.r müßten da.~ tierächtlichste Volk auf dem Erdboden sein, wenn sie nicht
181 Dies gilt nicht erst für die Zeit ab 1869, für die es JEAN DuBOIS, Levocabulairepolitique
et social en Fra.nce de 1869 a 1872 (Paris 1962), 66 ff. belegt.
182 Neben allgemein gebräuchlichen Zusammensetzungen wie „.Anarchie und Unordnung",
„Anarchie und Zerrüttung" stehen etwa: „.Anarchie und Brotmangel" (CAMPE 1789);
„temps de trouble et d'anarchie", „ecole d'a.narchie", „a.narchie des pouvoirs" (Pamphlet
1791); „Freiheit durch .Anarchie zernichten" („Minerva" 1791); „anarchisches Rauben
und Morden" (KERSAINT 1792); „I'hydre de I'a.narchie" (VAUBLANC 1792); „a.narchie et
la terreur" („Courrier Republicain" 1795); „Greuel der Anarchie" (WIELAND 1795, ebenso
Schiller); „wahrhafte .Anarchie", „Zm1La.nd religiöser .Anarchie" (NovALIS 1799); „völlige
Anarchie", „politische .Aha.rchie", „verderbliche .Anarchie" (KRuG 1800 bzw. 1802);
„Anarchie und Bürgerkrieg" (Sem.EGEL 1805-1806); ,,.Anu.rohie der Grundherren"
(C. J. KB.Aus 1808); „Parteisucht und Anarchie" (GoETHE 1810 im Zusammenhang mit
„Selbstsucht und Tyrannei"); „große deutsche Anarchie" {ARNDT 1815); „gründliche
.Anarchie" (SCHLEGEL 1820-1823); „anarchie turbulente" (DE TRACY 1823); „.Anarchie
des Pöbels" (RixNER 1823); „.Anarchie des Begriffs", „Sinn und Geist der Anarchie",
„Hang zu einer unruhigen Freiheit und .Anarchie" (bei den Griechen), „wilde Volks-
.Anarchie", „unruhige Freiheit und Anarchie", „Anarchie von w1ten, .Anarchie von oben"
(Scm.EGEr, 1827); „gesetzlose .Anarchie" (GUTZKOW 1839); „anarchie industrielle'' (PRouD-
XON 1840); „Produktionsanarchie" (SCHULZ 1843); „.Anarchie des Liberalismus", „Anarchie
des Terrorismus", „.Anarchie der materiellen Interessen" (HESS 1843); „geordnete
.Anarchie" (RUGE 1849).
188 Vincent-Ma.rie Comte de Vaublanc-Viennot (1756---1845), 1791 in den Reihen der
73
Anarchie m. 2. Notwendiger Zwischenzmtand - · poeitives Endziel
triumphierten. Was ich fürchte, ist die Auflösung des Staats, die Anarchie, die bereits
ihr schreckliches Haupt emporhebt. Das Heil van Frankreich ist in euren Händen.
Erklärt euch, daß ihr die konstituierten Mächte respektiert wissen wollt, daß ihr jede
Verletzung der Konstitution mit der äußersten Schärfe rügen werdet und daß ihr, um
sie zur Vollziehung zu· bringen, die Minister eben so gewiß schützen als si,e bestt afen
werdet, wenn si,e sich von ihr entfernen134• Solchen Äußerungen gegenüber ist bereits·
im Jahre 1792 die Anarchie verteidigt worden. So behauptete J. DELAUNAY am
2. Oktober 1792 im Nationalkonvent: Ohne Zweifel war ein Augenblick von Anarchie
nötig, um den Untergang unserer Feinde zu vollenden 136• Im Zuge der Verzeitlichung
und Ideologisierung der Anarchie tritt dann eine Häufung der positiven Bedeutun-
gen von 'Anarchie' auf. So wies etwa der Arzt RENE LEVASSEUR, Mitglied des
Konvents, der zur Montagne hielt1 38, in seinen Erinnerungen ·darauf bin, daß das
letzte Mittel der Rettung nach dem Tuileriensturm (10. 8. 1792) darin bestanden
habe, sich jener Hilfsquellen zu bedienen, welche die AnarohiA hot. Die Anarchie
sei zur ,,bewegenden Kraft" geworden, zur anarchie nicessaire, zur „Waffe": Die
Anarchie allein gewann die Schlachten, verjagte den Feind von unsuem Bod.en, ebnete
ikr RP.p?1.hlt:lr. d.P.n W eg1 31 .
'Anarchie' und 'Anarchist' wurden jetzt (1795) auch von jenen Revolutionären, die
von ihren Gegnern zur gleichen Zeit als „Anarchisten" angeprangert wurden, auf
den revolutionierten Staat angewandt: Den Volkstribunen Gracchus (Babeuf) ver-
setae der Anblick dieser anarchischen Zustände in zornige Empörung 188• Die Anwen-
dung des Begriffs 'Anarchie' auf die politischen Gegner ist also nicht nur auf Seiten
der Konservativen zu finden. Allerdings geht mit der Handhabung des Begriffs auf
der „Linken" die Reflexion seiner Verwendung im pohtischen Raum unmittelbar
einher.Ich weiß, schreibt BuoNARROTI später, daß schon der Wunsch, ohne Parteilich-
keit das zu prüfen, wo4! zu kennen in unserem Interesse liegt, Anarchie, Rebellion
genannt werden wird, die Lieblingsausdrücke des Hofes vor und nach 1789, von
Lafayette, von Dumouriez, des Senates von Venedig, des Papstes und des Gt-oßtürken,
welche allein bedeuten, daß die Besitzer der Macht sich in dieser um. jeden Preis
"'VAUBLANC, zit. WIELAND, Das Versprechen der Sicherheit, Freiheit und Gleichheit
(2. 4. 1792), SW Bd. 31 (1857), 179. Vgl. auch den Redeauszug, den JoH. WILHELM v .
.ARollENHOLZ, Historische Nachrichten vom neuem Frankreich, Minerva 2 (1792), 376 ff.
mitteilt. Ähnlich KERBAINT, der ebenfalls schon 1792 vor dem Konvent verlangte, dem
anarchischen .Rauben und M<mlen ein Ende zu machen; zit. WIELAND, Die französische
Republik (1792), AA 1. Abt., Bd.. 15 (1930), 122 A.
186 DELAUNAY, Rede v. 2. 10. 1792, zit. WIELAND, Franz. Republik, 556.
131 Levasaeur war zweimal vom Comite de Salut Public zum Kommissar gewählt und mit
umfassenden Vollmachten ausgestattet worden; vgl. PAUL K.i.GI, Genesis des historischen
Materialismus (Wien, Frankfurt, Zürich 1965), 186 ff,
187 LEVASSEUR, Memoires (1829/31), zit. K.i.G1, Genesis, 188.
131 FBAN90m..NoiiL BABEUF, Brief an Germain vom 10. Thermidor des Jahres 3 (28. Juli
1795), Auag. Sehr., hg. v. G. u. C. Wn.LARn (&rlin 1956), 111. Gemeint i1t die duroh die
Revolution bedingte Notlage der Arbeiter, der „wahren Produzenten". In seiner histori-
schen Detrachtung dtll" Haltung Babeufa spricht .ALFB:mn EsPINAS, La pbiloaophie aociaie
du XVIIIe sioole et la ;Revolution (Paris 1898), 210 von Babeuf als einem „type particulier
du revolutionaire professionel", der 1789 „de plus en plus .•• a l'anarchie et a la dic-
tature" gelangt sei.
74:
ill. 2. Notwendiger ZwiseheDZDStand und positives Endziel Anarchie
behaupten woUen139 • Die positive Bewertung der Anarchie und die Verwendung des
Begriffs im politischen Tageskampf hängen eng miteinander zusammen. 'Anarchie'
war auf Seiten der „Linken" Rnwohl :Rewegungsbegri:li, die Geschichte vorwärts-
treibend, Verfestigungen zerstörend, gleichermaßen aber auch Kampfbegriff. Indem
man die Waffen des Gegners übernahm, hoffte man, ihn um so wirkungsvoller zu
treffen.
Diese Denkfigur hält sich in sich ständig wiederholender Form bis 1830 und 184:8,
ja sie ist lebendig bis in die unmittelbare Gegenwart des 20. Jahrhunderts hinein.
In Deutschland hatte zuerst WmLAND den „Zwischenzustand", den Levasseur und
Delaunay meinten, interpretiert: So ist nur zu sehr zu besorgen, daß die Anarchie
(deren 'Namen die Feinde der neuen Konstitution, mit handgreiflichem Mißbrauch
desselben, dem momentanen Zustande des Übergangs aus dem politischen Todeskampf
in ein neues Leben beil,egen), daß, sage ich, die Anarchie, mit allen ihren Abscheulich-
laliten wirklich eintreten ... würdeu0 • Wieland konnte, als vorsichtiger Beobachter,
der er im Unterschied etwa zu Forster und Görres geblieben war, seine Zwiespältig-
keit der Anarchie gegenüber nicht verbergen141• Unter dem Eindruck der Fran-
zösischen Revolution hat in Deutschland vor allem der junge FICHTE das Bild der
Freiheit eines „staatslosen" Zustandes immer wieder beschworen - ohne allerdings
den Begriff 'Anarchie' zu verwenden: Bloß dadurch also, daß wir selbst es uns auf-
legen, wird ein positives Gosctz verbindlich für uns . ... Aber, iior all.en D1:ng1m., un:e
komm• denn der Staat zu einem Rechte. das keiner von den einzelnen Mitgliedern h.at,
aus denen· er besteht?IH.
Die wichtigste Rolle in der Rezeption der positiven Bedeutung von 'Anarchie' in
Deutschland spielten Johann Georg Forster und der junge Görres. FoRS~R hatte
schon 1790 die Anarchie positiv vom Despotismus abgehoben: Es liR,gt ,,chon in der
Natur der Sache, daß die Folgen der Anarchie, wie schwarz dieMialingedesDespotis-
mus sie auch schildern mögen, nur Kinderspiele sind gegen die Schandtaten beleidigter
Sklaventreibef' 143• GöRRES hatte sich 1797 mit den Mitgliedern des Klubs der
139 Fn.IPPO MIOHELE BuoNABROTI, Babeufund die Verschwörung für die Gleichheit (1828),
dt. v. Anna u. Wilhelm Blos (Stuttgart 1908), 315. Ähnlich Edinburgh Rev. 17 (1819),
427: Anarchy ia one of the moat vague and ambiguoua worda in language. lt meana, in the
way in which it ia U8ed by the friends of dupotiam, the utter diaaoluti.<m of all govemment,
and also every intermediate at.age o/ government between that and absolute power. They paint
as strongly aa possihle, and it ia impossibk they can paint too strongly, the evilB to which the
diasolution of government givu birtk. Thia they caU anarchy.
uo WIELAND, Unparteyische Betrachtungen über die dermalige Staats.Revolution in
Frankreich (1790), AA 1. Abt., Bd. 15 (1930), 346.
m ln einer Anmerkung zu dem mitgeteilten Auszug aus der Rede Delaunays (s. Anm. 135)
fügt er etwa. hfuzu: Gutehen wir ehrlich, daß ein Augenblick von vier Jahren ein langer
Augenblick ist/ Koskull datiert die Wendung in Wielands Stellung zur Französischen
1 Revolution auf Anfang 1791 mit dem im Januar erschienenen Aufsatz „Ausführliche Dar-
stellung der in der fro.nzösisohen Na.tionalveraammfong am 26. und 27. November 1790
vorgefallenen Debatten" (AA 1. Abt., Bd. 15, 655 ff.); HARALD v. KosKULL, Wielands
Aufsätze über die französische Revolution (phil. Diss. München; Riga. 1901), 39 ff.
1'll FICHTE, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische
Revolution (1793), AA 1. Abt., Bd. 1 (1964), 237. 268.
u 3 GEORG FORSTER, Ansichten vom Niederrhein (1790), Sä.mtl. Sehr., Bd. 3 (1843), 267.
75
Anarchie m. 2. Notwendiger Zwisehenzustand und positives Endziel
„Freunde der Freiheit" und den Mainzer Klubisten um Forster für eine eigene
cm.rhenanische Republik eingesetzt und seinen publizistischen Kampf gegen
„Despotismus" und „Aristokratismus" vor allem in der Zeitschrift „Das Rothe
Blatt" geführt. Besonders eine Reise nach Paris enttäuschte ihn dann tief und
führte zur Abkehr von den frühen Gedanken. In den Jahren 1796 bis 1799 war er
jedoch stark von der zunächst (1784---1787) von LudwigWekhrlin und später von
Georg Friedrich Rebmann herausgegebenen Zeitschrift „Das graue Ungeheuer"
beeinfiußt1" . In seiner für das Anarchieproblem wichtigsten Schrift aus dem Jahre
1797 „Der allgemeine Frieden, ein Ideal" finden sich neben den Einflüssen Kants
und Fichtes auch Gedanken von Herder und Condorcet. Gegen Kant gerichtet
behauptete Görres, daß Demokratie ihrem Wesen nach nicht Despotismus sein
müsse: Demokratie verhiilt sich vielmehr zur Despotie wie jede menschliche Autokratie
:zur hyporphyaiaohtm Theokratie. Es mag sein, daß die&e Verfassung um le-ü:htesten in
Anarchie sioh auflöst, den meisten inneren Stürmen ausgesetzt ist, dem Parteigeist den
freiesten Spielraum verschafft, für das gegenwärtige, alle vorhergegangene und noch
manche kommende Menschenges~hlechter schlechterdings gar nicht paßt, so sind das
alles doch nur lnkonvenienzen, die nicht der Form, sondern nur der Materie, der
dieselbe angepaßt werden soll, aufgebürdet werden müssen145• Die Demokratie ist die
Gesellschaftsform für voll ausgebil.dete Menschen; deren Steigerungsform, die
Anarchie, !ltellt GörrP.11 als Ge.se.llschafts- und Lebenaform für Gottheiten do,rlH, und
im „Rothen Blatt" hat er ein Jahr später die Anarchie als die vollendete Regie-
rungsform definiert: Wenn der Übergang aus dem Stande der Barbarei in den der
Gesellschaft der erste Schrill zu dieser Kultur ist: so ist der Übergang aus der des-.
potischen Regierungsform in die f'epräsentative der zweite; der Übergang von dieser in
die rein demokratische der driUe, t1ind i/.e.r mts dieser in die Anarchie endlich d.er
letzte 147• Resignierend fügte er allerdings hinzu: Ich glaube, daß die Periode der
Anarchie in ihrem ganzen Umfange, d. h. die Zeit, wo die Menschen keine Regierungs-
form haben, weil sie keine bedürfen, in der endlichen Zeit nicht eintreten wird 148• Eine
Vorwegnahme des Denkens von Comte ist in Görres' historischer Stufenlehre der
Herrschaftsformen nicht zu übersehen. 'Anarchie' wird hier im wörtlichen Sinne als
Herrschaftslosigkeit, die die Menschen gleichsam in asymptotischer Kurve zu
erreichen verpflichtet seien, verstanden. Die Aufhebung der Herrschaft von Men-
schen über Menschen wird - erstmals unter Verwendung des Ausdrucks 'An
archie' - programmatisch als geschichtsphilosophisches Ziel festgestellt.
NovALIS verklärte die Anarchie in einer Symbiose von Natur und Freiheit: Die
ganze, Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt tJCrmischt sein.
Die Zeit der allgemeinen Anarchie - Gesetzlosigkeit - Freiheit - der Naturstand
der Natur - die Zeit vor der Welt (Staat). Diese Zeit vor der Welt liefert gleichsam
die zerstreuten Züge der Zeit nach der Welt - wie der Naturstand ein sonderbares Bild
des ewigen Reichs ist. Die Welt des Märchens ist die durchaus entgegengesetzte~ Welt
1" Vgl. MAX BRAUBAOH, Vorwort zu: JOSEPH GöBRES, Ges. Sehr., Bd. 1 (1928), XXI ff.
1'5 GöRRES,Der allgemeine Frieden, ein Ideal (1797), ebd., 29.
m Ebd., 29 f.
H7 GöRRES, Mein Gla.ubensbekenntnis (1798), ebd., 1915. Zum Wort 'Anarchie' macht
Görres - da.rauf hinweisend, daß diese positive Bedeutung der Anarchie noch nicht ein-
gebürgert war - die Anmerkung: Man mi/Jverateke mich nicht/
HB Ebd., 196.
76
m. 3. Auflöaung det Aaarebie-Despc;tie-Modells Anarchie
der Welt der Wahrheit (GeschwhJ,e) - und eben darum ihr so durchaus ähnlwh, wie
das Ohaos der vollendeten Schöpfung 149 • Aber erst FRIEDRICH SCHLEGEL erhöhte in
seinen Jenenser Vorlesungen zur Transzendentalphilosopbie (1800-1801) den
Begrift' der Anarchie dann zur absoluten Freiheit. 'Anarchie' war mit 'Freiheit'
identisch: . . . es ist Freiheit die erste Bedingung der Phantasie und der letzte Zweck
des reinen Verstandes, Verstand ist die Einwirkung aus dem Höhern ins EndlWhe, der
Zweck ist, den Schein zu vernwhJ,en oder das Endlwhe. Wie dieser Zweck errewht wird,
dies führt uns ·auf die Freiheit. Eine Gesellschaft nach diesem BegriU der Freiheit
wird Anarchie sein - man mag sie nun nennen das Rewh Gottes oder das goldene
Zeitalter. Das Wesentlwhe wird allemal Anarchie sein150• Die Rückblende ins Poli-
tisch-Historische vollzog ERNST MoRITZ ARNDT, gleichermaßen progressiver wie
christlich-nationaler, neukonservativer Ideologe. Diese geistige Haltung kommt in
seiner Beurteilung der Studentenunruhen nach den Freiheitskriegen zum Ausdruck.
D11.R ffärfln unter den deutschen Studenten begreift er durchaus doppelsinnig: Der
deutsche Studentenstaat steht als etwas, das seinesglewhen nwht hat, als etwas Einziges
und durchaus Eigentümliches da und ist in seiner kleinen Anarchie mit allen seinen
V or.eügen und Gobroohen ein echtes Bild afN großin de.iit1che.n Ana.rch.ie, diR. SP.# ifR.m
Ausgang~ der Hohenstaufen nttn in ,l,i,e 560 Jahre bestanden hatm.
10 NovALIS, Das allgemeine Brouillon (1798-1799), Schriften, 2. Aufl., Bd. 3 (1968), 280 f.
110 Flmmmou SOBJ.EGEL, Philosophische Vorlesungen 1800-1~, SW Bd. 12 (1964), 84.
111 EmisT MoRITz AmmT, "Ober den deutschen Studentenstaat (1815), Werke, Bd. 13
(1908), 275 ff.
1611 KANT, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede (1781), AA Bd. 4 (1903), 8. Vgl. auch
ders., Zum ewigen Frieden (1795), ebd., Bd. 8 (1912), 341 ff., wo Kant da.s Anarchie-
Despotie-Modell hinsichtlich der äußeren Staatsverfassung verwendet.
118 KANT, Anthropologie in.pragmatischer Hinsicht (1798), AA Bd. 7 (1907), 330 f. Vgl.
dazu KANTs handschriftlichen Nachlaß, AA Bd. 15 (1913), 647 f. sowie: Die philoso-
phischen Hauptvorlesungen Immanuel Kante, hg. v. ARNOLD KowALBWSXI (München,
Leipzig 1924), 372.
77
.Anarchie m. 3. Aaflöeung des Anarehie-Despotie-ModeDs
erqalten. - F. So]JLEGEL (1796) nahm zwar wechselseitige Entstehungsbedingungen
von Anarchie und Despotismus an: Despotismus und Anarchie sind innigst ver-
bunden, führen sich gegenseitig her'bei und verstärken sich gegenseitig. Daher kann der
anarchische Geist der neuesten Periode von 1760 an eben gar nickt befremdend sein:
es ist nicJus weiter als das Phiinomen und die Fru,cJu des auf den höchsten Grad gestiege-
nen Despotismus; g'leiche Ursachen haben überall g'leiche Wirkungen, Despotismus
führt überall zur Anarchie, Anarchie zum Despotismus, bis beide oder eines von beiden
so hoch steigt, daß sie sich beide vernic7uen164 • Andererseits bestimmte Schlegel den
absoluten Despotismus als ein ung'leich größeres politisches Übel als selbsi Anarchie156•
In der zeitgenössischen Literatur sind weitere Ausprägungen dieser Verbindung
von Anarchie und Despotie zu finden. So wurden von JOHANN ERIOH VON BERGER,
einem Mitglied des zu dieser Zeit von Fichte geleiteten Freundschafts- und li-
terarisch~politischen Freundschaftsbundes der „Freien Männer" in Jena (1795), von
GEORG FRIEDRICH RlirRMANN (1796) Despotie und .Anarchie gleichgesetzt1H. Nach
dem „Neuen Teutschen Merkur" von 1793 erzeugte Anarchie Alleinhe"schaft oder
die Obergewalt eines andern Volkes167 • In einer späteren Schrift hat Berger (1816) der
anarchischen Schreckenszeit der Revolution die dumpfe Stil'le der Bonapartischen
Tyrannei folgen laBBen168• KBuG hat in einer seiner letzten staatspolitischen Arbeiten
(1816) die unmittelbare Demokratie zunächst in Pöbelhemchaft (Ochlokratie) und
dann wieder in Anarchi~ oder Despotie ausmünden sehen159• FRIEDRICH PERTHES
schrieb noch 1880, die neue Revolution mit der von 1789 vergleichend: Noch ein-
mal wird Europa den bluligen Lauf durch die Anarchie zur Despotie beginnen160• .
Die nationalistisch-ideologische Verdeutschung des Kreislaufmodells Anarchie-
Despotie findet eich bei FRIEDRICH LUDWIG JAHN: Anarchie (= Waltlosigkeit)
erzeuge Revolution (Umwälzung), diese Diktatur und wiederum Anarchie: Walt-
losigkeit stürzt in den Kreislauf der Umwälzung. Sind deren erste Schauer vorüber,
so liegt das Volk in einer Abspannung, wo ihm Ruhe das erste Bedürfnis scheint.
Jede Umwälzung bringt ihren eigenen Ruhwart hervor. Ist er dann nur selbstbestallt,
selbstwaltig und selbstsiicJuig, so hört die Ruhwartschaft (Diktatur) durch seinen
eigenen Walteraub (Usurpation) auf, den er sich durch Zwingherrenkünste zu sichern
78
m. '· 'Anarelüate' und •Anarebist' Anarchie
sucht, bis auch die Zwinghemcliaft in W altl.osigkeit u1ntergeht. Das ist die Sündenbahn
eines waltescheuen Volks161 • Die identifizierende Verbindung beider Begriffe beginnt
sich hier durch die Einfügung neuer Zwischenglieder aufzulösen.
Die radikale Trennung von Anarchie und Despotie schließlich wurde interessanter-
weise von der Staatswissenschaft eingeleitet. In besonders eindringlicher Weise
und im Zuge der allgemeinen Soziologisierung und Historisierung stehend hat
CHRISTIAN DANIEL Voss 1797 in seiner Bearbeitung von Schlözers „Grundriß der
Staatswissenschaft" 'Anarchie' präzisiert. Er wies darauf hin, daß - nach ei'Tlil'I"
richtigen Bestimmung der Begriffe - in Frankreich während der ganzen Zeit der
Revolution nie eine Anarchie stattgefunden habe; denn stets ist eine von der Gemeinde
anerkannte höchste Gewalt in derselben dagewesen und ausgeübt worden . . . Wo von
bösartigen Machthabern im Namen und durch die von der Gemeinde anerkannte
Gtwalt gtraubt und ge'MQf'det wird, alsu '"ir,111,um.d geget~ die Regenten·Per&on oder den
Awüber der gemißbrauclllln· höchsten Gewalt seines Lebens sicher ist, da ist wohl
Tyrannei, aber keine Anarchie. Mit einer solchen Tyrannei läßt sich aber nicht nur
die strengste Handliabung der Gerechtigkeit in jedem anderen gesellschaftlichen Ver-
hältnisse . . . ge"nken, 1cmdern auch. dure.h se.hr 1n".e.1.P. n.1~~f.nriJ1r.hP. BPlR,ge az., fakti.!ch
dartun; auch findet dann immer eine be8timmte und von der Nation als rechtmäßig
und güUig anerkannte höchste Autorität (König, 8ultan, National- Versamm'lwng,
Wohlfahrtsausschuß) statt, kraft deren die Tyrannei ausgeübet wird. In dem Zustande
der Anarchie aber ist nichts dergleichen wahrzunehmen. Daher a) entweder jeder ein-
zelne seine und seiner Familie persönliche und Sacheigentums-Sicherheit durchaus in
allen V erhältnisstm selbst be8orgen muß, oder b) ·sich auch wohl einzelne Personen oder
Korporationen allein durch List O<kr Macht zur Ausübung einer momentellen höchsten
Gewalt aufwerf6n, aber auch stets immer einer den and6m verdrängen182• Eine solche
radikale Trennung von Anarchie und Despotie/Tyrannis war sicherlich auch eine
der Vorstufen zur Bestimmung der Anarchie als positiver Verfassungsform, wie sie
schließlich bei Proudhon und Moses Hess zu finden ist. Wieweit sie auf das all-
gemeine gesellschaftliche Bewußtsein der Zeit - im Vergleich etwa mit den Auf-
fassungen Wielands und anderer - gewirkt hat, muß jedoch dahingestellt bleiben.
181 FmEDR. LUDWIG JAHN, Runenblätter (1814), Werke, hg. v. Carl Euler, Bd. 1(Hof1884),
408.Vgl.K.H.SCHEIDLER, Art. Gewalt, sprachlich, EBSOH/GRUBER 1. Sect., Bd.65 (1857), 308.
112 Voss, Handbuch, Bd. 2/1, 51 f. (s . .Anm. 92).
188 Lea monarchiatea B<mt bien dans le CIJ8 de diaputer d' amour pour Louis X VI avec des
traitres, de VÜ8 anarckiates; Grands Remerciements aux Jacobins, 28. 2. 1791, zit. Tm!:ODOR
RAmrr, Der Einfluß der französischen Revolution auf den Wortschatz der französischen
Sprache (phil. Dies. Gießen; Darmstadt 1908), 137; daran anschließend FREY (19~),
152. Vgl. FRIEDRICH SE!LEK, Die Entwicklung der dtiut1mheu Kultur im Spiegel des
deutschen Lehnworts, 2. Aufl., Bd. 4 (Halle 1925), 116: „Recht in Umlauf kamen diese
Worte ['Anarchie' und •Anarchist'] bei uns erst seit dem ersten anarchistischen Kongreß
in London 1881".
79
Anarchie m. 4. .Anarcbiste'
1 un• 'Anarehlat'
französischen Sprachraum eine Fülle von Hinweisen. Fast stets wird die Bezeich-
nung nach dem Sturz des KönigstUIDB im Herbst 1792 „als gehässige Bezeichnung
für die Jakobiner gebrauoht"1" . 'Überwiegend ist das Wort in den Jahren nach
1792 mit einem negativen, abwertenden Akzent versehen worden165• Als CHA.RLOTTE
CORDAY im Juli 1793 beim Verhör das Messer, mit dem sie Marat erstochen hatte,
vorgelegt bekam und gefragt wurde, ob sie es kenne, erwiderte sie: Ja, das ist das
Messer, mit dem ich den Anarchisten getötet habe166• Seit 1793 wurden Anarchisten
mit agitateurs gleichgesetzt, qui veUlent parvenir au tr8ne a travers les cadolvres167 •
Bald häufen sich die Kontextbegriffe wie anarchistes et tyrans168 • BRISSOT führte in
seinem „Manifeste" schon 1792 in Verbindung mit Anarchist auf: sclUrats, ...
desorganisateurs, ... traUres, ... ap8tres de l'assassinat, ... barbares, ... brigands,
•.. cann~bales, ... terroristes; etwas später: anarchistes et patriotes169• Ausführlichere
Definitionen aus der Zeit finden sich in Frankreich jedoch erst in den Jahren 1797
und 1798, zunii.ohRt hAi JEAN FRAN901s L.A. !LuPE, in dessen Definition die negativ
bewerteten Anarchisten gegenüber einem möglicherweise positiv (zumindest neu-
traler) gesehenen Anarchiebegri:ff abgegrenzt wurden: Remarquez cependant qu'il y
a encore une figure de style revolutionnaire dans ce nom d' anarchiste, que depuis deuz
ans on affe.de de donner aw: brigands, au:z; assassins, qui, dans ce moment mime, font
couler le sang agrands '{f,ots dans vingt cantons cle la France, avec l'impunite et~
avec/,a protection la dki,dee, AM l'on ne nous fera pas prendre le ohange: vos anarchistes
ne veulent po·int l'anarchie; ils savent tres-bien ce qu'ils veUlent; ils veUlent le pouvoir,
tel qu'ils l'ont partage avec Robespierre. Je ne crois pas qu'ils l'aient jamais; mais,
en attendant qu'ils rt,gnent, ils assassinent quand ils le peuvent, et c'est toujours quelque
chose170• Weiterhin ist 'anarchist' in einer Botschaft des Direktoriums aus dem
Jahre VI (1798) ebenfalls abwertend definiert worden: Par „anarchistes", le
DireCtoire e:Ucutif entend ces hommes couverts de crimes, entacMs de sang et engraisse.Jr
de rapines, ennemis des lois qu'ils n'ont pas faites et de tout gouvernement ou ils ne
gouvernent pas, prechent la liberte et pratiquent le despotisme, parlent de fraternite
en egorgeant leurs freres et se traguent de desinteressement en partageant leurs clepouilles;
11t JA.OQUJDS PIERRE BlWlsOTs ManifooL „A tous les republlcains de Fra.nce, sur la. societe
des Jacobins" vom 24. 10. 1792 ist von BRUNOT t. 10/1 (1939), 51 ausgewertet worden. Die
Zusammenfügung anarckiatea et 'JKUriotea bucht BRUNOT t. 9/2 (1937), 912 für das Jahr
1804.
l70 JEAN FBAN90IS LA HARPE, Du fänatisme d&ns la langue revolutionnaire (Paris 1797),
106.
80
m. 4. 'Anarehiate' und 'Anarohiat Anarchie
tyrans, esclaves, adukiteurs serviles du dominateur adroit qui les subjugue, capables
en un mot de tous les ezds, de toutes les bassesses et de tous les crimes171• .Heide De-
finitionen enthalten eindeutig die verschiedenen Merkmale konservativ-reaktio.
närer Abwehr, die sich ebenso in bezug auf den Begriff 'jacobin' feststellen lassen.
In Deutschland findet sich der früheste Nachweis in WIELANDS „Göttergesprächen"
(1793): Die Maximen der französischen Freihe.itsschwärmer und Anarchisten wurden
angeprangert, weil sie geraden Weges in den primitiven Zustand zurückführen172 •
Der Hamburger FERDINAND BENEKE sprach 1794 von Bluthunden und Anarchisten
und meinte damit die Jakobiner173•
Görres und Wieland haben das Wort 'Anarchist' aus dem Französischen über-
nommen und im deutschen Sprachraum wirklich eingeführt17'. GöRRES beklagte
sich 1798: Aus meinem Namen und meinen Haaren beweisen sie in einem Akrostichon,
daß ich ein Blutmensch, ein Anarchist sei176• Als er ein Jahr später enttäuscht der
Revolution den Rücken gekehrt hatte, sprach er von Moderantisten und Anar-
chisten, von Girondisten und Jakobinern11e.
F. SCHLEGEL hat 1805 den Begriff zur Charakterisierung einer Gruppe innerhalb des
Protestantismus verwandt: Die Protestaritm zerfallen ... in politircher Hin1icht in
drei Hauptkl,o,.y,,en: wütende Anarchisten, solche., die der alten ständische.n und mo-
narchische,n Verfassung getreu bleiben oder dahin zurückkehren wollen, die Lutheraner
nämliclt, dann drittens die Reformierten, die, wiewohl keine offenbaren Anarchisten,
aber immer heimliche, Republikaner zu sein pfie,tjen177.
Der Begriff ist also von Anfang an wenig präzise und deshalb früh fungibel ge-
wesen. Hier zeigt sich noch deutlicher als beim Anarchiebegriff, daß sich die prag-
matischen und semantischen Aspekte des Begriffs immer weniger decken. Der
Begriff 'Anarchist' weist auf eine Ausdehnung der ganzen Denkfigur hin. Er ist
zwar bald nach seinem Aufkommen in das Vokabular der Parteienbezeichnungen
aufgenommen worden178, hat sich aber nicht durchgesetzt. Anfang des 19. Jahr-
171 Journal de deba.ts, 13. floreal an VI, zit. BRUNOT t. 9/2 (1937), 847. Mit Recht fügt
ßrunot hinzu: „Rien n'est plus loin d'une definition que cette dia.tribe contre les ter-
roristes".
172 WIELAND, Göttergespräch 12, SW Bd. 31 (1857), 477. Der für dieses Gespräch ange-
nommene Tag ist der 21. Januar 1793, der Tag der Hinrichtung Ludwigs XVI. Hinweis
bei LADENDORF (1906), 5 f„ auf den sich auch Kr.uGEjMrrziu.18. Aufl. (1960), 21 bezieht.
173 FERDINAND BENEKE in seinem Tagebuch am 31. Oktober 1794, zit. VALJAVEO, Poli·
gleichen Stelle spricht er von den Wiedertäufern als den wütenden Anarchisten.
17s Für Frankreich: faction du anarchiatea (1795), zit. FBEY (1925), 152; Zu aMrchiatu
(1797), zit. BRUNOT t. 9/2, 835. - Für Deutschland: LEOPOLD v. GERLAOH unterschied
(um 1813) drei Parteien, die der Aristokraten, der Demokraten und die Partei der Anar-
chisten, deren Anhänger Studenten, DokWren, Buihhiindl,er seien, die nicht wissen, wie ea
in der Welt aussieht, und sich über alles wegsetzen; Denkwürdigkeiten aus dem Leben
Leopold von Gerla.chs, hg. v. seiner Tochter, Bd. 1/2 (Berlin 1891/92), 9.
6-90385/1 81
Anarchie m. 5. Komervative Reakti- 1790-1830
hunderts war '.Anarchist' weniger gebräuchlich, der konkrete Zusammenhang
'.Jakobiner' = '.Anarchist' löste sich auf179• Der konservative Bedeutungsgehalt
bleibt überwiegend: Kontextbegriffe sind vor allem 'Atheist', 'Demagoge' u. a.1so.
Wenn man das politische Vokabular zu Anfang des 19. Jahrhunderts aufgliederte
nach seinem Gebrauch bei „rechten" und bei „linken" Gruppierungen,. wäre
'.Anarchist' viel stärker als 'Anarchie' den „rechten" Gruppierungen zuzuschlagen.
Ähnliches trifft für einen Kontextbegriff von 'Anarchist' zu, den fast gleichzeitig
ent.standenen Begriff 'ideologiste'181; während 'ideologie' eher (wie zu dieser Zeit
noch .'Anarchie') zwischen den Lagern steht.
179 Hinzuweisen ist allerdings noch auf die Wortbildung 'jacobin-all&l'chiste' im napoleoni-
schen Frankreich. Wie CABL EULER, Friedrich Ludwig Jahn (Stuttgart 1881), 230 mitteilt,
Bind sowohl Jahn wie auch Sch&rnhorat &le „jacobin-&Il&l'ohiste" bezeichnet worden. In
keinem Lmikon des frühen 19. Jahrhunderte, d&B '&Il&l'ohiste' bzw. 'Anarchist' verzeichnet,
findet eich ein Hinweis, daß diese Bezeichnung für die Jacobiner gebriuchlich gewesen sei.
Die Erliuterungen lauten partiaan. de Z'anarchie - Dict. Ac. fr&n9., t. 1 (1811), 59 - oder,
wie bei Campe, der d&B Wort erstm&le 1813 aufnimmt: Guetzloaer, Zügelloaer; C.ülPE,
Fremdwb„ 2. Auß. (1813), 109.
180 Vgl. AUGUST BECXBBS Geheimbericht &n Metternich (1847): Geschichte des religiösen
und atheistischen FrühsoziaJismue, hg. v. Ernst Barnikol (Kiel 1932), 28.
181 J!UologiBle zuerst bei BBBNARDIN DE SAINT-PIEBBE, Harmonie de la nature; 1796 hat
DBSTtJTT DB Tiu.OY idiologie erstma.le verwandt, zit. BBUNOT t. 9/2 (1937), 847.
181 So etwa KABL SALOHO Z.6.0IIABIÄ, Über die wllkomwtW11te Sta.&te-Verf&seung (Leipzig
1800), 14: ft'. Z&ch&riA spricht statt von 'Herrscha.ftaformen' von 'Beherrechungsformen'.
111 Mual1BB1Tlll .l!..'LIB GuADET, Rede v. 20. 2. 1792, zit. ABomcNHoLZ, Hiat. Nachrichten,
Minerva 2 (1792), 3 (s. Anm. 134:).
w Vgl. Anm. 14:1.
111 WIBLAND, SW Bd. 31(1857),177. 179 (11. Anm. 184:).
82
m. 5. Konservative Reaktion 1790-1830 Anarehie
vellis Geschichte von Florenz, schon 1798 die Vorzüge jeglicher Reformen, da, vor
allem wenn der Unterlanden Regenten zu reformieren anfängt, meist, statt einer Ver-
besserung des Regiments, eine Anarchie zu erfol,gen pfkgt1M. Auch der Topos: De-
mokratie erzeuge Anarchie im Sinne des Verfalls, bleibt bestehen. So wurde im
„Neuen Tentschen Merkur" 1794 die demokratische Verfassung als die loseste Art
von Oligarchie bezeichnet, deren Freiheit . . . den Staat oft in den höchst traurigen
Zustand der Anarchie setze1B7•
Eine besondere Variante des Topos: Anarchie als Verfallsform von Herrschaft,
hat dann HEGEL ausgeprägt. In seiner frühen Arbeit Über ,,Die VerfaBBung Deutsch-
lands" (1801/02) setzte er sich intensiv mit der Frage auseinander, ob das damalige
Deutschland ein 'Staat' sei. Gegenbegriff zu 'Staat' war ihm dabei 'Anarchie', in
verstärkter Form: offene Anarchie. Eindeutig er~lärte er: Deutschland ist kein Staat
mekrJ.l!tl. Jedoch Deutschland sei auch nicht offene Anarchie189, sondern, wie er später
in den „Vorlesungen iiher Clie Philrnmphie der aeschichte" formulierte: konstituierte
Anarchie, wie sie noch nie in der Welt gesehen worden ist190. Hier sind also bei einer
generell negativen Bewertung der Anarchie einmal die }!öglichkeit ihrer Auf-
hebung und zum anderen Abstufungen o.no.robisohor ZustQn.de mitgesehen. Ferner
ist Hegels Anarchiebegriff im Zusammenhang mit der Föderalism11s-Z1mtralismus-
Diskussion zu interpretieren. In der Schrift von 1801 setzte er sich mit der Ma-
schinentheorie des (zenti.ralistischen) preußischen Staates auseinander und kämpfte
gegen. die maschinistische Hierarchie des Staates. Sein Gegenbild war anfangs die
französische Republik181. Allerdings ist Hegels Verhältnis zu Staat und Politik
komplex. Schon für den jungen Hegel lag die· eigentliche Wahrheit in der Macht
des Staates: Die Interessen des Staates sind die Kraft, die bestimmt, was
recht und unreclu ~et. Sicherlich war Ilegel nicht antiliberal. Er wollte den konsti-
tutionellen, wenn auch nicht den parlamentarischen RechtBStaat. Deshalb sollte
der Bürger als Mitglied einer Gemeinschaft durchaus nicht vom Staat verdrängt
werden. In seiner Auseinandersetzung mit NapoleoJ]. wird dies deutlich. Die Gewalt
des Erobuers wollte er so beschaffen wissen, daß dem Volke, das er aus zerstreuten
Völkchen geschaffen hatte, ein Anteil an dem, was alle betrifft, eingeräumt wird192.
Mit dem herkömmlichen Sinn von 'Anarchie' als Zustand geht die konservative
Reaktion einher. Der große Altkonservative VON DER MARWITz sah, im Zuge der
Auseinandersetzung mit Hardenberg (1812), die Anarchie einmal als vollstiindige
181 JoH. G:soBG SomossBR, Von den Staats.Reformen. "Ober eine Stelle des Ariswteles,
Kl. Sehr., 2. Aufl., Bd. 4 (Basel, Frankfurt 1794), 268.
1 87 Betrachtungen über Aufruhr und bürgerliche Unruhen, Der Neue Teutsche Merkur 3
(1794), 293.
188 HEGEL, Die Verfassung des Deutschen Reichs, hg. v. Georg Mollat (Stuttgart 1935), 1.
181Ebd„ 66. .
190HDGJDL, Vorlosungon übor dfo Philosophie der Gesohiohte, SW Bd. 11 (1928), 546. Vgl.
ders„ Beurteilung der im Druck erschienenen Verhandlungen in der Versammlung der
Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre .1815 und 1816 (1817), SW Bd. 6
(1927), 349 ff.
111HEGEL, Verfassung, 25 f.
181 Ebd„ 120 f.
83
Anarchie m. 6. Ideologisierung und Soziologisierung 1790-1830
.Anarchie, die nach der Vernichtung der Stände und des Adels auch die Macht des
Regenten zerbricht, sowie, ähnlich wie die Despotie, als Nichtstaat,193 ,
GENTZ in seiner Polemik gegen Görres konfrontierte 'Anarchie' mit 'Verfassung'
und sprach vom Zustande der Zerrüttung und Anarchie, aus we'lcher die verbündeten
Mächte Frankreich rissen194• Die Stimme Metternichs, des noch einmal zusammen-
gehaltenen Europa nach dem Wiener Kongreß, klingt durch seine Worte, wenn er
den unpräzisen, emotional aufgeladenen und leer werdenden Inhalt des Begriffs
der Anarchie mit politischer Frontstellung gegen Görres angreift: Oder ist es etwaJ
anderes als gewaltsame S]Wach- und I<kenvermischung, wenn man Worte wie Zer-
rüttung, Anarchie, Wiedergeburt, nachdem man sie von einem Staate, der sich soeben
in einer wahren politischen Auflösung befand, gebraucht hat, in demselben Redesatze
auf Deutschland anwendet, bl,oß weil es diesem an einem FöderativS'gsteme mangelt,
das alle deutschen 8taatskünstler befriedigte?1116 • Huropa und vor allem Deutschland
sollten Ruhe haben: 'Fortschritt', 'der Geist der Unruhe', „Nationalstaat"
waren METTERNICH und seinen Ideologen verhaßt: Unser Feind ist die Anarchie,
unsere Freunde sind d~, we'lche sie bekämpfen196• Die bewegungsfeindlichen Akzente
in die&er politi.!chen Theorie vertrugen !ich jedoch gut mit der ldtiulogitiitirWlg 1for
Herrschaftstheorie. So sprach Metternich in bezug auf die liberalen und revolutio-
nären Kräfte in Belgien, Polen und Italien nach dem Ausbruch der Julirevolution
von der anarchistischen Faktion, die JungdeutAchen in der Schweiz waren für ihn
die Ekmente der Anarchie197 • Die Konservativen haben damit im Gegenzug den
Begriff der Anarchie vollends politisch und geschichtsphilosophisch fungibel ge-
macht.
198 FRIEDRICH AUGUST v. D. MiltWITz, Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Be-
freiungskriege, hg. v. Friedrich Meusel, Bd. 2/2 (Berlin 1913), 88.
19' FRIEDRICH v. GENTZ, Staatsschriften und füiefe, hg. v. Hans v. Eckardt, Bd. 2 (München
1921), 26 ft'. .
185 Ebd., 27 f.
181 METTERNICH, zit. ALFBED STERN, Geschichte Europas seit den Verträgen von 1815 bis
zum Frankfurter Frieden von 1871, Bd. 4 (Stuttgart, Berlin 1905), 208.
1 97 METTERNICH, zit. ebd., 386. 407.
198 Politisch-philosophische Gespräche, Der neue Teutsche Merkur 3 (1790), 205.
84
W. 6. Ideologisierung und Soziologisienmg 1790-1830 Anarchie
188 EDMUND BURKE, Das Recht der Völker, ihre Staatsverfassungen willkürlich abzuändern,
ebd. 3 (1791), 258. Es handelt sich um Auszüge aus Burkes: An Appeal from the New to
the Old wp.igs, in Consequence of Some La.te Discussions in Parliament, Relative to the
Reflections on the French Revolution (London 1791).
200 Rede LA FAYETTES v. 30. 4. 1792 in Rancennes, zit. ABcHENHOLZ, Rist. Nachrichten,
Angriff gegen Fichte unter dem Titel „Verunglückter Versuch, im christlichen Deutschland
eine Art von öffentlicher Vernunft-Religionsübung anzustellen"; zit. MAx BRAUBACH,
Die „Eudämonia" (1795--1798). Ein Beitrag zur deutschen Publizistik im Zeitalter der
Aufklärung und der Revolution, Rist. Jb, 47 (1927), 321 f.
2 °' WIELAND, Gespräche unter vier Augen (1798), SW Bd. 32 (1857), 166. 137. 163.
ao& GöRRES, Der allgemeine Frieden, 21 (s. Anm. 145). Vgl. ders., Anzeiger zum rothen Blatt,
77 (s. Anm. 175): Mit dem einen Arme werden wir den Ari8tok'l'ati8m bekämpfen, mit dem
andern dem U'Tl{Jekeuer der Oliacky ina Geaiiht greifen •u:nÄ noch Sfiirke genug übrig beluilten,
auch der Anarchie, wenn sie bei una Ankä'Tl{Jer finden aoUte, Trotz zu bieten.
85
Anarchie m. 7. Philosophie, Ethik und Religion seit 1800
Der Pariser Jakobinergegner und führende Mitarbeiter des „Ami des loix:", PouL-
TIER, stellte 1799 'Anarchie' in eine Reihe mit Rache, Denunziation, MO'fd, ... und
Plünderung und schrieb alle diese Wotj;e den Jakobinern zu208• Schließlich hat vor
allem GENTZ schon seit 1806 die politisch-soziologische Zurechnung der Anarchie
vorangetrieben. Die Funktionen des Staates verkümmerten bei Einbruch gewalt-
tiitU;er Total-Revolutionen und der damit verknüpften absoluten Anarchi,e21Y1. 1817
sprach er in seiner Analyse des Wartburgfestes von der Anarchie der Ansichten und
Meinungen 208 , und schon 1815 hatte er an Metternich über den König Maxim.jlian I.
von Bayern geschrieben, daß dieser der aufrichtU;ste Bewunderer und zärtlichste
Liebhaber der' greulichen Anarchie sei, die er unter dem Namen einer Verfassung über
sein Land verhängte20ll. Im Jahre 1831, in seinen „Betrachtungen über die politische
Lage Eilropas", hob er die Anmaßungen der Parteien, die zur Anarchie führen,
hervor210• Gentz hat besonders in der Zeit der Demagogenverfolgungen nach den
Karlsbader Beschlüssen entscheidend mit dazu beigetragen, den Begriff der .An·
archie fungibel zu machen. Er rechnete den Begriff nicht nur bestimmten politi-
schen Ideen, bestimmten sozialen Gruppen zu, sondern verwendete 'Anarchie'
auch bewußt als Kampfbegriff; FRANZ VON BAADER ist ihm darin, auf Seiten der
katholisch-konservativen Reaktion, gefolgt: Wenn ich übrigens bisher der ver-
nünftU;en ·Freiheit der Bewegung der' 1ntelligenz in der' Soziefii,t das W orl S]Wach urid
nachwies, wie sich dieselbe mit der freien Entwicklung der Religiositiit allerdings ver-
trägt, so bin ich doch weit entfernt, den Zustand der' Anarchie und Losgebundenheit
aller Meinungen und Doktrinen (denn auch das V erbrechen hat nun seine öffentliche
Doktrin und sein ged,rucktes System), in welchen die Soziefii,t det'malen hineingeraten
ist, nicht für ein schreiendes Übel derselben und für das Skandal unserer Zeit anzuer-
kennen,211. Damit bildete sich auch in Deutschland mehr und mehr eine Terminologie
des „Klassenkampfes" heraus. Kontextbegriffe zu 'Anarchie' wie 'Mord', 'Plün-
derung' schufen eine Atmosphäre der Angst und Abwehrhaltung im deutschen
Bürgertum, die auch die folgende Periode nach 1830 ideologisch bedingten.
Mit der konkreten Anreicherung und ·Politisierung von 'Anarchie' nach dflr Fran-
zöi1ischen Revolution geht die Übertragung auf neue Bezugsfelder, Philosophie und
·Literatur vor allem, einher. Mit dieser "Übertragung war sowohl eine Bedeutungs-
erweiterung wie eine Bedeutungsverwischung des Anarchiebegriffes verbunden.
KANT führte in der Vorrede zur 1. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" schon
1781 gegen die Herrschaft der „Metaphysik" aus: Anfänglich war ihre Herrschaft,
108 PoULTIEB, zit. ABclraNHoLZ, Beiträge zur Geschichte der wieder aufgestandenen
Jacobiner, Minerva. 3 (1799), 552.
• 07FRIEDRICH v. GENTZ, Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen Gleich-
gewichts in Europa. (1806), At.aa.tMohr. u. Briefe, Bd. l (1921), 154 (s. Anm. UM.).
BOB Ders., 'Ober das Wa.rtburgfest (1817/18), ebd., Bd. 2, 35.
909 GJCNTZ a.n Metternich, Wien, 3. 6. 1819, ebd., Bd. 2, 157.
111 FRANZ v. BAADEB, 'Ober die Freih~it der Intelligenz. Antrittsrede bei Eröffnung der
86
m, 7, Philosophie, Ethik - · R~lipon 11e.it 1800
unter der Verwaltung der Dogmatiker, despotisch. Allein, weil die Gesetzgebung noch
die Spur der alten Barbarei an sich katte, so artete sie durch innere Kriege nach und
nach in völlige Anarchie aus212. GEORG IMMANUEL WENZEL hat in seinem philo-
sophisch-staatsbürgerlichen Lehrbuch (1804) Anarchie ganz traditionell als Verfalls-
form ·(Mangel aller Re,gif!/fung) des Zwischenreiches ( inte'fregnum) zwischen zwei
Monarchien gedeutet21a. Kants Schüler und Nachfolger in. Königsberg, WILHELM
TRAUGOTT KRUG, beklagte schon 1801, daß auf dem Gebiete der Philosophie noch
bis auf den heutigen Tag die vollkommenste Anarchie bestünde und daß viele' •.• sogar
in dieser Anarchie aas Heil der Wissenschaft suchten214• Er hob 1819 in einer Para-
phrase zur Vorrede der 1. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" hervor: Sowie
nun der Dogmatismus ein philosophischer Despotismus ist, so kann man den Skepti-
zismus einen philosophischen Anarchismus nennen. Denn da er in der Philosophie
gar keine sicheren Erkenntnisprinzipien zuläßt, so müßte auf dem Gebiete dieser
Wissenschaft eine gänzliche Anarchie stattfonden216 . In die Geschichte der Philosophie
hat Krug als erster den Begriff philosophischer Anarchismus aufgenommen. 1802 un-
terschied er drei Methoden des Philosophierens, die thetische, antithetische und
synthetische. Der thetischen Methode ordnete er die Begriffe Dogmatizism, philo-
sophischer Despotism zu; der antithetischen Methode: Skeptizism, philosophischer
Anarchism und der synthetischen Methode: Kritizism, philosophischer Repu-
blikanism216. Krug ist für die Vbertragung von 'Anarchismus' und 'Anarchie'
auf die Philosophiegeschichte auch deshalb von Bedeutung, weil er diese Vber-
tragung bewußt reflektierte: Neuerlich hat man den BegriU der Anarchie auch auf
die Wissenschaften, namentlich auf die Philosophie, übertragen und daher von einem
philosophi.~chen Anarchismus geredet. Da es aber auf dem Gebiete der Wissenschaften
und namentlich auf dem der Philosophie eine herrsolumile Autorität oder ein obrigkeit-
liches Ansehn nicht geben soll: so ist jener Ausdruck nur uneigentlich zu verstehn.
Er soll nämlich bedeuten, daß es einer Wissenschaft noch an gewissen, von allen als
wahr anerkannten Prinzipien fe1Ue217 • Neben Krug haben auch andere Schüler Kants
den Begriff der Anarchie aus der Herrschaftsformenlehre übernommen; So spricht
CARL CHRISTIAN ERHARD SCHMID, einer der wenigen unbedingten Anhänger Kants,
von der sittlichen Anarchie21&.
Novil.1s hat den Begriff 'Anarchie' ebenfalls verwandt. Er setzte einerseits
Freiheit, Unendlichkeit des Denkens im Rahmen eines philosophischen. Systems
911 KANT, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede (1781), AA Bd. 4 (1903), 8. Vgl. auch
WILHELM l>ILTBEY, der von der Anarchie der Me.taphysilc spricht; Weltanschauungslehre,
Ges. Sehr., hg. v. Bernhard Groethuyeen, Bd. 8 (LeipZig, Berlin 1931), 254.
118 GoT'l'PR. iMMANuEL WENZEL, Vollstii.ndiger Lehrbegriff der gesamten Philosophie, dem
Bedürfnisse der Zeit gemäß eingerichtet, Bd. 3 (Linz, LeipZig 1804), 534.
9u W. T. KRua, Entwurf eines Neuen Orga.noil's der Philosophie oder Versuch über die
Systeme der Philosophie in Rücksicht ihrer allgemeinen Gfiltigkeit (Meißen 1802), 16 ff'.
Weitere Belegstellen: ders., System der praktischen Philosophie, Bd. 3 {Wien 1819), 303.
117 K1ma 2. Aufl., Bd. 1 (1832), 134.
m C. cB:a. E. Somm>, Versuch einer Moralphilosophie, 4. Aufl., Bd. 1(Jena1802), 253.
87
Anarchie m, ß, tlhertragnng Allf die Literatur 179'-llöß
von der Anarchie ab: Das eigentliche Philosophische System muß Freiheit und
Unendlichkeit, oder, um es auffallend auszudriicken, Systemlosigkeit, in ein System
gelwacht, sein. Nur ein solches System kann die Fehler des Systems vermeiden und
weder der Ungerechti.gkeit noch der Anarchie bezogen (= bezichtigt) werden219 • Häu-
figer bei Novalis ist jedoch die positive Sicht der Anarchie, wie sie auch bei Schlegel
als Ausdruck idealistisch-romantischen Denkens zu finden ist: Wahrhafte Anarchie
ist das Zeugungselement der Reli.gion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr
glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor22°. Und SCHLEGEL formulierte
(1805/06): Indessen hat die Reformation doch insofern Anteil . ; ., als sie indirekt
durch die Anarchie das Gute hervorbrachte221. Dieses Verständnis von Anarchie hat
noch Proudhon und auch Moses Hess'beeinßußt. Auch die Jungdeutschen Laube
und Gutzkow haben Novalis' und Schlegels Anarchiebegriff übernommen.
HEGEL hat in der „Phänomenologie des Geiste11" (1807) im Autichnitt „Der sich
entfremdete Geist --.,. Die Bildung" das Selbstbewußtsein in der Situation des
8chreckens, des Terrors beschrieben. Das Bewußtsein wisse sich dabei eins mit dem
·allgemeinen Willen, aber nwht als das unmittelbarseiende Wesen, weder ihn (den
allgemeinen Willen) als die revolutionäre Regierung fHl,p,r al.~ ilie. d1'.e Ariarchis ;u
kon.~tituieren strebende Anarchie, noch sich als Mittelpunkt dieser Faktion oder der ihr
entgegengesetzten, sondern der allgemeine Willen ist sein reines Wissen und Wollen,
und es (das Bewußtsein) ist allgAmP.i11er Wille, a'ls dieses reine Wissen und Wollen992 •
In der Wechselwirkung d,e,s reinen Wissens mit sich selbst steuert das Selbstbewußt-
sein zwischen der revolutionären Regierung der Französischen Revolution, der
Anarchie und der Reaktion hindurch. Die Anarchie in dieser Sicht bleibt ein
Interimistikum ohnP. geschichtliche Eigenkraft.
88
m. 8. Übertragung auf die Literatur 1794-1855 Anarchie
stehen, sondern erstreckt, sich über das ganze Gebiet· des Geschmacks und der Kunst.
Die hervorbringende Kraft ist rastk>s und unstet-. Goethe hat später, anknüpfend
an die englisch-französische Tradition, die Anarchie, wenn auch in einem Schlegel
entgegengesetzten Sinn, als ein historisch notwendiges Ausgangsstadium inter-
pretiert, als eine Stufe der Entwicklung ins „Weite" und „Diffuse", der neue
Festigkeit und ein allgemeiner Konsensus folgen muß. Freilich hat er sich mit dieser
Interpretation gleichermaßen von der Romantik distanziert: Ob wir gleich, was
Wissenschaft und Kunst betrifft, in der seltsamsten Anarchie leben, die uns von jedem
erwünschten Zweck immer mehr zu entfernen scheint; so ist es doch eben diese Anarchie,
die uns na:ch und nach aus der Weite ins Enge, aits der Zerstreuung zur Vereinigung
drängen muf11'2D. Die Beunruhigung durch die Unrast der Romantik klingt in diesen
Sätzen ebenso nach wie die Zuversicht der in die neue Zeit hineinragenden Klassik.
Oanz anders die Junghegelianer Bruno Bauer, Arnold Ruge, Ludwig Feuerbach
und die Jungdeutschen, Gutzkow und Laube vor allem, jedoch auch HEINRICH
HEINE. Heine, beeinflußt vor allem von Saint-Simon, sah visionär den Kommunis-
mus als sozialistische Weltrevolution heraufziehen. Deren Diktatur gegenüber nahm
Napoleon .die Züge einer lächerlichen Figur an, die Heine ironisierte: Es war eine
sonnig-marmorne Hand, eine mächtige Hand, eine von den beiden Händen, die das
vielköpfige Ungeheuer der Anarchie gebändigt und den Völkerzweikampf geordnet
hatten226• Du.mit erweist sich auch Heine als ein Repräsentant jener in den poli-
tischen Kämpfen des Vormärz sich herausbildenden Intelligenz, die mit dem
Begriff 'Anarchie' die falsche Gemeinschaftsideologie, das „falsche Bewußtsein"
der frühbürgerlichen Gesellschaft interpretieren, ironisieren und durchbrechen
wollen: Nur 0arom war die Anarchie an der Tagesordnung, weil alle die Einigkeit
wünschten227 • LAUBE bejahte die Anarchie als Ziel der Menschheitsentwicklung:
Anarchie ist das Ziel der Entwicklungsgeschichte228• Er hat, wie Walter Dietze heraus-
arbeitet, klar zwischen Anarchie als „Herrschlosigkeit" und „Unordnung" unter-
schieden229. Einer solchen zur positiven Bewertung neigenden Verwendung von
'Anarchie' korrespondiert der Gebrauch verstärkender Attribute, wenn 'Anarchie'
negativ gemeint ist. So hat GUTZKOW schon Ende der dreißiger Jahre die Anarchie
nur noch als gesetzlose Anarchie230, .als allgemeine Anarchie, das Chaos der Bildungs-
zu F. SCHLEGEL, Über das Studium der griechischen Poesie (1797), Kritische Sohr., hg.
v. Wolfdietrich Rasch (München o. J.), 115. Im 20. Jahrhundert hat FRANZ KÖRNER
die philosophische Anarchie als Vielfalt der Systeme ähnlich positiv bewertet; Die Anarchie
der philosophischen Systeme (Leipzig 1929), 8.
226 GOETHE, Geschichte der Farbenlehre (1808), HA Bd. 14 (1960), 42. Da.gegen SCHILLER,
Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen (1793/95), SA Bd. 12/2
(o.J .), 121 ff.
228 HEINRICH HEINE, Ideen. Das Buch Legra.nd (1826), SW Bd. 3/2 (o. J.), 159. Heines
Schilderung bezieht sich auf den Aufenthalt Napoleons in Düsseldorf Anfang November
1811.
227 KARL GUTZKOW, Aus den Briefen eines Narren an eine Närrin (1832), GW Bd. 3 (Frank-
(1839), Werke, hg. v. Reinhold Gensel, Bd. 8 (Berlin, Leipzig o. J.), 113.
89
Anmelaie
Die Übernahme des Begriffs 'Anarchie' im Rahmen der Nationalökonomie hat früh
begonnen, findet einen Höhepunkt jedoch erst in den vierziger Jahren des 19. Jahr-
hunderte. Schon 1792 sprach ANDR.E CB:ENIER von der schreckenvollen Anarchie,
1181 GUTZKOW, Die Ritter vom Geiste, Bd. 2 (Berlin, Leipzig o. J.), 271.
m LUDOLll' WmNBABG, Ästhetische Feldzüge (1834), hg. v. Walter Dietze (Berlin, Weimar
196'), 70.
•GUTZKOW, Vom Baum der Erkenntnis. Denksprüche (1852/68), Werke, Bd. 12 (o. J.), 61.
184 KARL ROSENKRANZ, Die Poesie und ihre Geschichte. Eine Entwicklung der poetischen
Ideale der Völker (Königsberg 1855), 668. 675.
m RICHARD WAGNER, Einleitung zum 3. und 4. Bande, C}es. Sehr. u. Dichtungen, 4. Aufl.,
Bd. 3 (Leipzig 1907), 6 f. THOMAS CABLYLE hatte das lweaking-out of unitJM&al mankind into
.ÄMrehy, into the faith and practice of No-GotJemment verkündet; History of Friedrich II
of Pruesia called Frederick the Great, Works, vol. 19/8 (London 1898), 2.
1181 EIOHENDORFI', Die geistliche Poesie in Deutschland, SW Bd. 8 (1961), 136.
90
m. 10. Le::dka 1790-1830 Aaarebie
die besO'nders in unsern schönsten Häfen herrsc'/itoa7 • BAADER brachte 1801 die all-
gemeine Anarchie d,es Welthandels mit dem Despotismus defo Nationen in Verbin-
dung238. Die Herauslösung des klassischen Topos „Anarchie und Despotie" aus der
Herrschaft.sformenlehre zeigt sich auch hier. Erst vierzig Jahre später wird der bei
Baader erstmals angedeutete, nach 1800 immer breiter gestreute Bedeutungsgehalt
des Begriffs 'Anarchie' auch in der Wirt.schaft voll sichtbar. KARL GRÜN beschränk-
te seine Anwendung noch auf den Handel (Anarchie des Handels; ... anarchistischef"
Handel) 239 • MARx verwendete 'Anarchie' erstmals 1847 als industrielle Anarchie, im
„Kommunistischen Manifest" (1847/48) als Anarchie in der Produkt,ion'IAO. Auf-
schlußreich ist, daß er den Begriff weder in den ökonomisch-philosophischen
Manuskripten (1844) noch in seiner Auseinandersetzung mit Proudhon (1845, 1847)
aufnahm. Es ist deshalb möglich, daß Marx den Begriff von WILHELM SCHULZ
(1843) übernommen hat. In Schulz' sozialkritischer Analyse der Zeit taucht dann
ein ganzer Fächer von Bedeutungen auf. Sie sind um den wirt.schaftlichen Bereich
konzentriert (anarchische Bewe.gung der Produkt,ion) 241 , führen von dort jedoch in
fast alle Bereiche der Gesellschaft: Anarckje in der Gesellschaftslehre, defo Wissen-
sch.a.ft, il.er Kunst; ... An.arch.ie und Zerfall.enhm:t in dR.r ii.lithRJ.i.~nhßn Prndukt,inn; ...
Anarchie defo Meinungen und Interessen; ... inkonsistentes und Anarchisckes242 •
Der Anarchiebegri:ff hatte seine Funktion als terminus technicus der .Herrschaft.s-
lehre endgültig verloren, er war zum kultur- und zeitkritischen Begriff geworden.
Der Wandel des Anarchiebegrift's aus der vorrevolutionären über die revolutionäre
bis in die nachrevolutionäre Phase hat seinen Niederschlag in Lexika und begrift's-
geschichtlich relevanten Wörterbüchern aller Art gefunden. Die Herauslösung des
1137 ANDRE CHENIER, Über die neuesten Intrigen der französischen Demagogen, Minerva 3
(1792), H. 13, 17.
1138 FRANZ v. BAA.PER, Berichtigung des öffentlichen Urteils über den na.turrechtlichen
Grund gegen die Aufhebung der Zünfte (1801), SW Bd. 6/2 (1854), 6.
1139 KARL GRÜN, Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien, Briefe und Studien
91
Anarchie m.10. Lexika 1790-1830
243Auch die Nullbelege sind beachtenswert - weisen sie doch da.rauf hin, daß 'Anarchie'
von den deutschen Sprachforschern nicht als deutsches, sondern immer nur als Fremdwort
angesehen wurde. CAMP.lll nimmt 1791 'Anarchie' in seine „Versuche deutscher Sprach-
bereicherung" nicht auf, obwohl er selbst das Wort schon 1789 verwendet hatte; Briefe aus
Paris, hg. v. Helmut König (Berlin 1961), 244. Dementsprechend führt er das Wort zwar
in seinem Fremdwörterbuch (1801; s. Anm. 244), nicht jedoch in seinem „Wörterbuch der
deutschen Sprache" (CAMPE Bd. 1, 1807) an. Aus dem gleichen Grunde ist 'Anarchie'
vermutlich nicht verzeichnet bei: HEYNATZ Bd. 1 (1795); GRIMM Bd. 1 (1854); LORENZ
DIEFENBACH/ERNST WÜLCKER, Hoch- und niederdeutsches Wörterbuch der mittleren und
neueren Zeit (Ba.sei, Leipzig, Frankfurt 1885). Andererseits ist das Wort aber auch nicht
in HEYNATZ, Antiba.rbarus, Bd. 1 (1796) enthalten. -Trotz der auffallend häufigen Ver-
wendung des Begriffs 'Anarchie' im Bereich der Philosophie wird der Begriff von KARL
HEINR. Lunw. PöLITz, Encyklopädie der gesammten philosophischen Wissenschaften
(Leipzig 1808) nicht behandelt, wohl aber von GEORG SAMUEL ALBERT MELLIN,
Allgemeines Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (Magdeburg 1806), 179.
m Vgl. CATEL t. 1 (1800), 59. Hier ist auch das Wort 'ana.rchiste' mit der deutschen Über-
setzung „Anarchist" verzeichnet, das außer bei CAMPE, Fremdwb. (1801), 152 im
deutschen Sprachraum nicht lexikographisch festgehalten worden ist.
M 6 Man kann daher aueh Zügellosigkeit für Anarchie aagen. So heißt ea z.B. in der Schweize-
rischen Bürgereidesformel: „. . . mit einem gerechten Haaae gegen die Anarchie oder Zügel-
losigkeit"; CAMPE, l!'remdwb., 152.
246 MELLIN, Wörterbuch, 179 (vgl. Anm. 243).
92
IV. 1. Begrlilaerweltel'UlllJ uad Begrl«1111ulweichu11g Anarchie
Radikalisierung der negativen Bedeutung von 'Anarchie' bis hin zu „Chaos" an-
dererseits. Darüber hinaus ist darauf zu verweisen, daß die
Definitionsmerkmale,
die Chr. D. Voß vorgeschlagen hatte, auch Eingang in die Lexikographie gefunden
haben. So heißt es im BROCKHAUS von 1827: Anarchie sei der Zustand nicht sowohl
der Gesetzlosigkeit, sondern vielmehr des Mangels einer mit Erfol,g befehlenden Macht251 •
RoTrECK hatte zuvor (1819) geschrieben: Anarchie ist der Zustand eines gemeinen
Wesens oder einer politischen Gesellschaft, worin keine (positiv angeordnete) Ober"
gewalt besteht oder anerkannt wird252 • Schließlich ist der Beachtung wert, daß die
konkreten Ereignisse der Französischen Revolution mit dem Begriff'Anarchie' kaum
in Verbindung gebracht wurden253• Ebenso ist der Begriff 'Anarchist' selten ver-
zeichnet und - wenn er aufgenommen wurde - nicht konkret politisch definiert
oder beschrieben worden264.
IV.
In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde 'Anarchie'
einerseits noch einmal auf den Begriff gebracht (Proudhon, Hess), andererseits
wird die Aufweichung der tradierten Bedeutungsgehalte - gerade in ihrer immer
stärkeren Polarisierung - in Italien, Deutschland und Frankreich offen sichtbar,
und die verhüllende Funktion des Begriffs tritt erstmals in seiner Geschichte klar
hervor. ·
Revolutionäre (MAZZINI 1831) gebrauchten den Begriff sowohl in unpolitischer
Beschreibung der .~ch,rP.ckli.chen Fol,gen der Revolution256 wie als Instrument der
politischen Entlarvung. Ähnlich wie bereits Buonarroti formuliert jetzt der re-
präsentative Programmatiker des neobabeuvistischen Kommunismus jakobinischer
Tradition .ALBERT LAPONNERAYE (1838): Sie wollen die Anarchie, sagen die Männer
an der Macht. Anarchie! Sie geben diesen Namen allem, was nicht zu ihrem System
gehört. Was ist aber das Ergebnis ihres Systems weiter als die niederdrückendste, die
unheilvollste Anarchie ?258. Weitere Nachweise sind in der radikalen Flugblattliteratur
in Deutschland zu finden. So hieß es etwa im Februar 1832 im „Westboten":
sind, erwähnt die .Französische Revolution nicht. BROCKHAUS 3. Aufl„ Bd. 1 (1814)
bezieht lediglich in einem Nebensatz die Französische Revolution mit ein. Demgegenüber
ROTTECK, Art. Anarchie, 469 (s. Anm. 252).
254 ÜA.llll'E, .Fremdw., 2: Aufl. (1813), 109 definiert: ein Gesetiloaer, Zügelloaer. B. (=Mit-
arbeiter Dr. Anton Bernd) hat Gesetzatürmer dafür vorgeschlagen. Vgl. CATEL t. 1 (1800),
59: Partisan de Z'anarchie, fauteur de tr<YUbZes; Mozm, franz. Tl„ 2° ed„ t.1 (1826), 46: Parti-
san de Z'anarchie, Regierungsfeind, Gesetzfeind.
1165GrusEPPE MAzZINI, Aphorismus, Schriften, hg. v. Ludmilla ABBins, Bd. 1 (Hamburg
1868), 196.
218 ALBERT LAPoNNERAYE (1838), zit. ROGER GARAUDY, Die französischen Quellen des
93
Anarehie IV. 1. .Begriffaerweitenmg un• Begrifr.aufweiebung
Wir könnten die Frage aufwerfen, was denn eigentlich Anarchie sei. Stall aller Antwort
dürften wir nur auf den Zustand Deutschlands verweisen, wo die Anarchie in der
erbiirni/,ichsten Gestalt uns entgegentritt. Denn was heißt Anarchie? Abwesenheit einer
gesetzmäßigen Regierung. Wo aber ist ein wahrh<zft gesetzmäßiger Zustand in Deutsch-
land? ... Doch es ist wahr, in Deutschland, als einer Gesamtheit, besteht keine An-
archie, denn wie kann Anarchie in einem Dinge bestehen, das selbst nicht besteht, das
ein bloßes Gedankending ist und nur am Oh<zmpagnertische der Frankfurter Junker
einige Realitiit"hat, woran es allerdings zuweilen etwas anarchisch hergehen mag•
. . . Heißt Wegräumung einer solchen schmachvollen, die Menschheit entehrenden
Willkürherrsch<zft Anarchie, nun ja, dann bin ich ein Anarchist. Und in den sog.
konstitutionellen Staaten? In einigen ists beinahe etwas besser, in andern noch schlim-
mer. Bayern z. B. hat eine Verfassung, aber die Regierung erkliirl im Landtags-
abschiede, daß sie sich nicht daran kehre. Dort geht die Anarchie vom Kabinett aus257.
'.Anarchie' ist also - ironisch und ernst verwendbarer - Kampfbegriff von „rechts"
wie von „links".
Der Junghegelianer ARNOLD RuGE unterschied 1849 zwischen theoretischer An-
archie (als thcorctisohcr Freiheit) und geordneter Anarch·ie (als Selbstregierung des
Volkes) 258, nachdem er schon in einem seiner Briefe an Marx (1843) vom freien Staat,
der keinem Herren gehört, geschwärmt hatte269• Der Linkshegelianer WmTH analysier-
te 'Anarchie' ideologiekritisch, rechnete ihre Abwehr den politischen Kunstgriffen
der Konservativen zu und stellte den Begriff in den Zusammenhang von Freiheit
und Aufklärung: Oder wollen die c!-eutschen Republikaner vielleicht die Anarchie,
sollte oder müßte durch ihr System etwa das Eigentum der wohlliabe,nden Bürger und
die lJfjentliche Ordnung in Gefahr gesetzt werden? Lasse man sich nicht durch das Ge-
spenst der Anarchie beunrohigen! Es ist dies nichts weirer, als ein Kunstgriff der
Gegner der Aufkliirung und Freiheit28o.
In der polemischen Lehrbuch- und Zeitschriftenliteratur wirkten sich wortge-
schichtlich interessante Begriffserweiterungen aus281 • Nachdem Hegel schon 1807
'Anarchie' und 'Entfremdung' in einem Zusammenhang verwendet hatte, drang
diese Verbindung jetzt, wenn auch noch nicht politisch artikuliert, in die eigentliche
politische Tagesliteratur vor: Die Reaktionäre nennen das Anar;.hie und von einigen
unserer Partei ist es aooh zugegeben worden, daß sie unser eigentliches Streben ist,
eine plumpe Aufrichtigkeit, die den schärfsten Tadel verdient, weil sie uns viele der
tüchtigsten H(J,nde und Köpfe entfremdet hat. Leider ist es nur zu wahr, das Volk ist
noch lange nicht in allen seinen Schichten politisch gebildet genug, um einzusehen,
daß einzig und allein die Revolution in Permanenz, mit anderen Worten Anarchie,
das Heil der Völker ist282 •
I
267 Westbote, Nr. 50 (19. 2. 1832).
268 ARNOLD RuGE, Die Gründung der Demokratie in Deutschland (Leipzig 1849), 73.
269 ARNOLD RuoE o.n Karl Marx (Mirz 1843), in: MAB.x, Frühe Schriften, hg. v. Siegfried
Landshut, Bd. 1 (Stuttgart 1953), 429.
210 JoH. GEORG Auo. WIRTH, Die politisch·reformatorische Richtung der Deutschen im
16. und 19. Jahrhundert (Beße.Vue 1841), 222.
211 Vgl. Anm. 132.
• JAXOB RADIXE, Lehrbuch der Demagogie (Leipzig 1849), 64.
94
a) Vorläufer: William Goclwin Anarchie
Der konservativ-reaktionäre Bedeutungsgehalt des Begriffs hat sich, wie aus diesem
Zitat ersichtlich, endgültig verfestigt. Diejenigen, die der Anarchie einen positiven
Bewegungscharakter verleihen, waren an den Rand der sich mehr und mehr
etablierenden bürgerlichen Gesellschaft gedrängt. Zweifellos liegt hier einer, wenn
nicht der wesentliche Grund, der zur Formulierung anarchistischer Utopien und
zum Kampf unter der Fahne der Anarchie geführt hat. Vous aviez, heißt es in ei-
nem Leitartikel des „Globe" a briser une hierarchie brtdale, des inegalites repoussan-
tes est une unite oppressive; vous leur avez oppose la negation de toute hierarchie,
c'est-a-dire l'anarchie; la negation de toute inegalite, c'est-a-dire egalite absolue; la
negation de toute unite, c' est-a-dire la liberte 26a.
95
Anarehie IV. 2. Zwiaehen Utopie und Organisation
ihn aber als „anarchistischen Vorläufer von Godwin" zu interpretieren267 , ist so-
wohl geistes- wie wortgeschichtlich ungenau. Auch Godwins Anarchismus entsprang
einem extremen Individualismus. Die - ebenfalls bei Milton268, Swift, Locke,
Bolingbroke und Adam Smith angelegte - Trennung von Staat und Gesellschaft
zielte auf eine rationale und gleichermaßen natürliche 'Gesellschaft ohne Regierung
und Herrschaft. Diese für Rousseau und die an ihn anschließenden Denker so un-
gewöhnlichen Auffassungen sind schon bei Locke ausgeprägt, bei dem bereits „the
state of nature" gleich dem „state of reason" war. BoLINGBROKE sah in der ab-
soluten Freiheit ebenso die (negativ gewertete) Anarchie wie in der absoluten
Demokratie. Die absolute Freiheit wie die absolute Demokratie hat er deshalb
gleichermaßen verurteilt. Absolute Demokratie war für ihn - obwohl sie weniger
weit von der „Natur" entfernt ist als die Monarchie - tyranny and anarchy both289.
GonwIN glaubte, daß die Anarchie der personal security des einzelnen gefährlicher
sei als der Despotismus; jedoch anarchy in its own nature is an evil o/ short duration
... despotism is as perennial as anarchy is transitory270 • Godwin hob auch deshalb
die positiven Züge der Anarchie hervor, weil sie der community frische Kräfte ver-
mittele: Anarchy awakens niind, diffuses eturgy and entet·prise tltfö·uglt tlw cum-
munity, though it does eUect this in thebest manner271 • Anarchie bleibt also nicht mehr
Zwischenzustand im verfassungs- und herrschaftstheoretischen Sinn. Damit wurde
der in ßurkes „natural society" angelegte Begriff der schöpferischen Freiheit des
einzelnen, über die Vermittlung Rousseaus272 , mit dem Begriff 'Anarchie' ver-
schmolzen. Dennoch interpretierte Godwin, der stärker der Tradition Lockes als
der Rousseaus verhaftet ist, 'Anarchie' individualistisch-rationalistisch („state of
reason "). Um diese positive Bedeutung von• Anarchie' abzusichern273, nahm Uotlwin
den klassischen Topos Anarchie/Despotie wieder auf, indem er ihn dreifach vari-
ierte: Anarchie könne in Despotismus ausmünden; sie könne zu einer Abmilderung
des Despotismus - und sie könne schließlich zur wirklichen Freiheit(,, true liberty")
führen. Godwin suchte diesen Gedanken auch historisch zu konkretisieren274 •
267 So P!ERRE R.urns [d. i. RUDOLF GRASSMANN], William Godwin, der Theoretiker des
1841), 178.
1170 GoDWIN, Enquiry (s. Anm. 267), ed. R. A. Preston, vol: 2 (New York 1926), 185. 186,
vgl. 48.
271 Ebd., 187.
272 Vgl. LEBLIE STEI'IIEN, History of English Thought in the Eighteenth Century, 3rd. ed.,
hundert (phil. Diss. Heidelberg 1907), 65 nennt diese Tradition „aus dem Gedankenkreis
des radikalen Dissidententums stammend".
274 GoDWIN, Enquiry, vol. 2, .188 (s. Anm. 270).
96
b) Pierre-Ju~epb Pruudbon Anarchie
Godwins Einfluß, nicht nur auf den Hauptstrom der Entwicklung des Anarchie-
begriffs, sondern auch auf seine Freunde und Zeitgenossen besonders in der Literatur
war beträchtlich. So sind Spuren seines Anarchiebegri:ffs bei seinem Freund SHEL-
LEY zu finden. In seiner philhellenischen Lyrik treten freilich, im Unterschied
zu Godwins rationalem Individualismus, die leidenschaftli~h-verzweifelten, die
romantischen und irrationalen Züge stärker in den Vordergrund276. Die Zer-
rissenheit der romantischen Intelligenz, ihre Visionen und ihr Haß auf Staat und
Kirche spiegeln sich in Shelleys Lyrik. Einerseits wertet er - in seinem Gedicht
„The Mask of Anarchy", das er kurz nach dem blutig niedergeschlagenen Aufstand
in Manchester (1819) geschrieben hat - 'Anarchie' negativ: Murder, Fraud, and
Anarchy276. Andererseits war ihm der Einbruch der Anarchie die letzte Hoffnung,
Tyrannei und Despotismus zu zerstören277 :
That multitud,inous anarchy did sweep
And hurst around their walls, like idle foam,
271 HENBY NolL BRAILSFORD, Shelley, Godwin and their Circle (London, New York,
Toronto 1949), 86.ff. -
27' PERCY BYSSHE SHELLEY, The Complete Poetical Works, ed. Thomas Hutchinson
459.
27s PRoUDHON, Oeuvres compl., t. 5 (1926), 339.
279 Allerdings finden sich in einigen Werken Proudhons, seit der 1852 erschlenenen Schrift
„Du principe federative", auch schon andere Bedeutungen der Anarchle (als „unerreich-
bares Ideal"). In der Literatur hat CARL GRÜNBERG, Art. Anarchlsmus, Wb. d. Volks-
wirtsch., Bd. 1 (1898), 68f. darauf hingewiesen.
280 PRouDHON, Qu'est-ce que la propriete ?, Oeuvres compl., t. 5; 339. Proudhon merkt
dort zum Begriff 'Anarchie' an: Le Bens ordinairement attribue au mot anarckie ut abaence
de principe, abBence de regle; d'<JU vient qu'on l'a fait ayn<>nyme de deaordre.
7-90385/1 97
Anarchie IV. 2. Zwischen Utopie nnd Or1aniaation
(l' anarchi,e des forces economiques ) 281 • Darin unterschied er sich von Babeuf und Buo-
narroti, jedoch auch von Laponneraye. '~igentum' wurde zum Schlüsselbegriff, 'Des-
potismus' ?.um negativ besetzten Gegenbegriff: La propriBM engenilre neoessairement le
despotisme'JB2. Proudhon forderte die Abschaffung des Eigentums und begründete da-
mit seine Freiheitslehre. Die Freiheit war aber nicht jene individualistische Freiheit,
wie sie Burke und Godwin beschrieben, im Gegenteil: La liberli est anarchie, parce-
qu' elle n'admet p<l!I le gouvernement de la volonte, mais seulement l'autmite de la loi,
c'est-a,dire de la necessite ... La liberte est essentiellement organisatrice'1ß8.- Dement-
sprechend wurde 'utopie' abgewertet: Tomberions-nous fatalement dans l' anarchie,
de l'anarchie dansi'utopie, de l'utopie dans le chaos?W.Aus der Verbindung von Frei-
heit, Gleichheit und Organisation schaffen sich jenseits aller oppression die Menschen
la plus haute perfection de la societe ... dans l'union de l'ordre et de l'anarchie286 •
In einem seiner spätesten Briefe (1864) formulierte Proudhon durchaus folgerich-
tig: Die Anarchie ist ... eine Regiemng.~Jnrm. nif,p,r VP.rfn.R.~u:rujlß&. Im An11chluß an
Proudhon sprach schließlich GARNIER-PAGES von der anarchie positive'lß7 •
Proudhoiis Lehre hat in Frankreich und Deutschland nachgewirkt - in Frankreich
besonders in den zahlreichen „clubs" und „ateliers", die auch in den vierziger
Jahren fortbestanden (z. B. „Les amis du peuple"). Deren Anhänger vertraten,·
unter Bezug auf Proutlhon, das individuelle Glück als Mittel zur allgemeinen Har-
monie188.
In Deutschland lassen sich direkte Einflüsse Proudhons bei Karl Grün, Wilhelm
Marr, Karl Vogt, Moses Rees und schon relativ früh (1848) bei Michael Bakunin
nachweisen289 • So hoffte GRÜN, den Begriff 'Anarchie' mit Hilfe der Wissenschaft
in bestimm.te JJ'om1en fassen zu können. Grün ist von Proudhon wie von Marx be-
einflußt: Das endliche Ziel selbst hat Proudhon in seinem Hauptmemoire in genialer
Weise richtig bezeichnet, indem er es Anarchie nennt. Allerdings, Anarchie ist da.~ Ziel.
Anarchie heißt Herrschaftslosigkeit, also die Entfernung jeder Selbstentäußerung, jeder
281 Ders., Idee glmere.le de la revolution au XIXe siecle, Oeuvres compl., t. 6 (1924), 128.
282 Ebd., 341.
283 Ebd„ 343 f.
2" PRoUDHON, Carnet Nr. 5 (1847), Carnets, 6d. Pierre Haubtmann, t.2 (Paris 1961), 134. Im
übrigen sei darauf verwiesen, daß dies eine der wenigen Belegstellen zu dem in der For.
schung noch wenig behandelten Problem.komplex .Anarchie - Utopie ist.
286 PRouDHON, Oeuvres compl., t. 5, 346.
288 PRouDHON am 20. August 1864, Correspondance, 6d. Jeröme Am6d6e La.nglois, t. 14
(1875), 32, zit. MAX NETTLAU, Der .Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine
historische Entwicklung in den Jahren 1859-1880 (Berlin 1927), 5.
287 LOUIS ANTOINE GARNIER-PAGES, Histoire de la Revolution de 1848, 2• ed., t.5 (Paris
1866), 470.
288 Vgl. LORENZ v. STEIN, Der Socia.Iismus und Communismus Frankreichs von 1830 bis
1848, 2. Aufl. (Leipzig 1855), passim; ferner NETTLAu', Vorfrühling, 141 (vgl . .Anm. 30).
288 KARL VOGT schrieb im Dezember 1849: Komm denn, du süße, welterlöaende Anarchie,
welcher daa bedrückte Gemüt dea Regierten wie des Regierenden entgegenaeufzt, als der einzigen
Retterin aua diesen Zuatänden der Verdumpfung, kamm und erlöae una von dem Übe],, daa man
Staat nennt, zit. NETTLAU, Vorfrühling, 165; vgl. 162.
98
e) MoseaHess Anarchie
c) Moses Hr.u. Eine letzte Aufgipfelung erfährt der Anarchiebegri:ff in den Jahr-
zehnten nach der Französischen Revolution bei MosEs HEss. Bei ihm treffen die
Ansätze Babeufs und Proudhons einerseits, Montesquieus andererseits mit, seiner
eigenen spiritualistischen (Jeschichtsphilosophie zusammen. Noch einmal tritt die
ganze Fülle der revolutionären und nachrevolutionären Bedeutungsgehalte hervor.
Hess sah, sicherlich noch über Proudhon hinausgehend, Anarchie einmal als Auf-
hebung aller Autorität und Hierarchie, zum anderen als den positiven Status der
Freiheit: Die Anarchie, auf welche sich die beiden Erscheinungen, Atheismus und
Kommunismus, zurückführen lassen, die Negation aller Herrschaft im geistigen wie
im sozialen Leben, erscheint zunächst als schlechthinnige Vernichtung aller Bestim-
mung, mithin aller Wirklichkeit. Aber es ist in der Tat nur das äußerliche Bestim1nt-
werden, die Herrschaft des einen über den andern, was die Anarchie aufhebt. Die Selbst-
bestimmung wird hier so wenig negiert, daß viel1nehr deren Negation (die durch das
Bestimmtwerden von außen gesetzt) wieder: aufgehoben wird. Die durch den Geist ge-
schaffene Anarchie ist nur eine Negation der Beschränktheit, nicht der Freiheit 296 •
Atheismus und Kommunismus, die beiden großen, wieder zu versöhnenden Mächte
der Zeit, führte er sowohl auf die Anarchie zurück, wie er sie mit Anarchie identi-
fizierte: ... aller Kommunismus und Atheismus, aller Anarchie ... 296 • Entsprechend
wurden auch Atheisten, Kommunisten und Anarchisten in einem Atemzug genannt297 •
290 GRÜN, Soziale Bewegung, 448 (s. Anm. 239). Vgl. auch GEORG ADLER, Die Geschichte
der ersten Sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland mit besonderer Rücksicht
auf die einwirkenden Theorien (Breslau 1885), 94; NETTLAU, Vorfrühling, 161. ,
291 WILHELM MARR, Anarchie oder Autorität ? (Hamburg 1852), 128.
292 Ebd., 108.
293 MosEs HEss, Sozialismus und Kommunismus (1843), Ausg. Sehr., hg. v. Horst Lade-
Hess sah mit der Französischen Revolution einen absoluten historischen Neuanfang
gegeben. Dieser Neuanfang ließ die frühere Geschichte der Menschheit, die in einer
wortgeschichtlich bedeutenden Weise charakterisiert wird - absolute Religion, ...
absoluter Staat, ... Monarchie, ... Despotismus, ... der Absolutismus der himm-
lischen und irdischen Tyrannen und Sklaven sind einige der von Hess gebrauchten
Begri:ffe298 - hinter sich. Dem stehe die neue Geschichte gegenüber: Das 1ndividuum
fängt wieder mit sich, die Geschichte mit Anno 1 an, macht in raschen Zügen, a'IJ,f den
Schwüngen des Geistes, den Weg von der Anarchie der abstrakten Freiheit aus durch
die Knechtschaft zum Zetzt,en Male und gelangt endlich zur wirklichen Freiheit299•
Hess unterschied, noch vor Marx, die Anarchie der abstrakten Freiheit nach der
Revolution von einer weiter zurückliegenden, roheren Form der Anarchie: Kom-
munismus und Anarchie tauchten auch damals auf, niimlich Bärenkommunismus,
}'reiheit als Bchrankenlosigkeit300• Die historische Frühphase der Anarchie wurde
noch einmal mehrfach aufgegliedert: Anarchie des ,Li,beralismus, ... Anarchie des
Terrorismus, ... Anarchie der materiellen lnteressen301• Alle diese Formen der
Anarchie seien historisch überholt. Die Gegenwart strebe einer dritten Form zu,
einer Synthese von revolutionärem Terror („die Tat") und Tugendhaftigkeit. Dies,
die Synthese aus Robespierre, Babeuf, Saint-Just einerseits, Montesquieu anderer-
seits und schließlich Burke und Godwin, ist gemeint, wenn Hess 'Anarchie' dahin-
gehend bestimmt, di,e äußerlichen Schranken in Selbstbeschränkung, den äußeren
Gott in den innern, das materielle Eigentum in geistiges umzuschaffen300 • Hess for-
derte, über die Revolution zur SiUlichkeit fortzuschreiten, das bisher unbegriffene
Symbol der Tugend mit neuem Inhalt zu füllen. Der Bezug auf Montesquieus Begriff
der Tugend, die dieser der Republik zugesprochen hatte, ist explizit: Die Vor-
liiujer der Revolution haben diese Lösung des Rätsels geahnt, Montesquieu schon sagte,
die Republik sei nicht möglich ohne Tugend3 03• Hess hat damit niobt nur den Anarchie-
begrifi' in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am schärfsten historisiert und
differenziert, er hat auch - aus dem Abstand zur Französischen Revolution __:_
eine Synthese der letzten Jahrzehnte herzustellen versucht, die wesentlich um den
Begriff der Anarchie konzentriert ist.
Seit 1830 und besonders seit 1848 versuchten Liberale, Konservative und Re-
aktionäre, sich von Anarchie und Anarchismus abzusetzen und im Zuge der sich
festigenden bürgerlichen Gesellschaft das Prinzip einer vemünftigen Positivitä.t
80l Ders„ Das Zusammenhalten der materiellen und Privatinteressen (1843), Philos. u.
sozia.listische Sohr. 1837-1850, hg. v. Auguste Comu u. Wolfgang Mönke (Berlin 1961),
249.
802 HEss, Philosophie der Tat, 143 f.
lOQ
IV. S. Kouenadve und Jlherale Reakdon seit 1830 Anarchie
ideologisch zu verankern. Dafür war fast jedes Mittel der Beschuldigung recht.
So wurde die deutsche Nationalversammlung vom Katholischen Verein Deutsch-
lands im Jahre 1848 warnend darauf hingewiesen, daß die ;1."ußerung falsch ver-
standener Freiheits'begriffe anarchische Bewegungen in manchen Teilen Deutschlands
erre,gt hätten804• Anarchie wurde jetzt als Verbrechen gegen den Swat, als Hochverrat
und .Rebellion805, jedoch auch als Abnormität, als ein Gebrechen des gesellschaftlichen
V erhäUni&ses806 angeprangert. Eine solche Abwertung wurde im Rahmen des er-
weiterten Verfassungsbegriffs, wie er sich schon Anfang des Jahrhunderts heraus-
gebildet hatte, vorgenommen: Anarchie sei der Zustand eines Staates, da die rich-
tende und ausübende Gewalt entweder aufgehört hat oder doch so gehemmt und gesunken
ist, daß den Gesetzen weiter kein Nachdruck gegeben werden kann3 07 •
Neben der Depravierung stand das Bemühen um Erklärung. Die soziologische
Zurechnung ist ebenso fortgeschritten wie der demagogische Appell an die ein-
sichtsvol'le Meh.rhe.it (Mitt,elst.anil), die niemals in der Geschichte einen anarch.ischen
Zustand dauernd gefordert und Ordnung um Verwirrung zu tauschen gewünscht hätte.
Dagegen sind solche anarchischen Zustände von der Intelligenz und derem abstrakten
Fr8',heitsprineip (BLUNTSOHLI) immer wieder ins Leben gerufen worden. Aber auch
die roheste, unterste. Volksklasse ebenso wie Aristokratie und Pfaffentum haben die
Anarchie gefördert, um im Ohaos der Anarchie Vorteile zu erringen308.
Ferner findet die Entwicklung zur „positiven" Anarchie hin auch einen gewissen
Niederschlag in der lexikographischen Literatur. In HERDERS „Conversations-
Lexikon" (1854) heißt es: ... seit 1848 kennt man auch die 'gemütliche' Anarchie,
wo die nicht mehr befehlen, die befeklen sollten, die des Gehorsams Entledigten ihre
Freiheit jedoch n.icht zu roher Gewalt mißbrauohen309 • Und LORENZ VON STEIN setzte
sich in der Enzyklopädie „Die Gegenwart" mit Proudhons Lehre auseinander:
Denn das ist der Oharakter der Proudhonschen Arbm,ten überha~pt, daß sie durchaus
nur negativ sind, daß sie an die Stelle dessen, was sie aufheben, nichts anderes zu
setzen wissen, als den nicht entwickelten, von Proudhon genannten Satz: daß die
„Anarchie, das ist die Herrscherlosigkeit, überhaupt die rechte Art des Gemeinwesens
sei". Es ist natürlich nicht wohl möglich eine so'lche Kritik darzustellen, da sie in
lauter negative Sätze ausZäuft31°.
Andererseits wird die „negative" Philosophie der Outsidergruppen, ihre Kritik am
Staat und dessen Bürokratismus durchaus ernst genommen: Alle diese sozialistischen
(1848), 393.
101
Anarchie V. 1. Der Anarehismua
und kommunistischen Syste~ haben aber, so wenig Positives sie gekistet h.aht>:n. '"nd
"leisten können, ein 'Jf'Oßes Verdienst, nämlich den Anstoß zu einer neuen Betrachtung
der Menschheit, wie sie 8'icli als „wußers1,aatliche 11w1l8chliche. Ge~inscha/t" zeigt,
gegeben zu haben. Sie führten die Wissenschaft wie den praktischen Staatsmann auf
den Be'}f'iU der Gesellschaft und machten darauf auf~rksam, daß selbst bei der
größten äußerlichen Ordnung des Staatswesens doch in der Gesellschaft, auf welcher
solch ein Staat ruht, die größeste Anarchie herrschen kann . . . Die Staaten ]Jwropas
befi,nden sich heutzutage fast ohne Ausnah~ auf dem Wege zu solchen Zuständen,
und es ist vor alkm Schuld des hi,beralismus, daß schon ein so großes Stück dieses
Weges zurückgekgt ist. Denn der Liberalismus sucht alles Heil in einer bestimmten
Form der staatlichen ZustiJ,nde und in der vollsten Ignorierung der gesell8chaftlichen311,
Diese Kritik am Liberalismus führte zur Formulierung der eigenen vom Gedanken
des Organismus getragenen UtOpie: Daher wird auch in Frankreich die Quelk der
Revolutioo und der Anarchie nioht dwoh dioson odor jenen formelkn politischen
Mechanismus verschlossen werden, sondern durch eine Abkitung und Verteilung der
Macht von der Spitze in den ganzen Körper, durch die Wiedererweckung des wahren
BegriUs der Gliederung, des Organismus, der den Charakter des germanischen Staates
bestimmt, der auch dem fränkischen Staate zu Grunde lag und ikr durr.h mma'fllische
und abstrakt philosophische Grund.,ätze verdrängt worden ist312•
Der Begriff 'Anarchie' hat damit bei den Konservativen keine neuen Inhalte er-
halten. Er wurde als eines der Instrumente der Abwehr nach „links" zwar weiterhin
benutzt, jedoch im Grunde leidenschaftslos. Es nimmt daher nicht wunder, daß
der Begriff 'Anarchismus', im Gegensatz zu 'Anarchist', seinen Ursprung nicht im
konservativen Lager hat.
V.
1. Der Anarchismus
Obwohl die Begriffe 'Anarchismus' und 'Anarchist' vereinzelt schon im 17. Jahr-
hundert313, im Verlauf und in. den Jahren nach der Französischen Revolution
('anarchiste') sowie Anfang des 19. Jahrhunderts (Krug: 'philosophischer Anarchis-
mus') auftauchen, beginnt sich 'Anarchist' als positive Selbst- und negative Fremd-
bezeichnung erst seit den dreißiger l„Westbote") und vierziger Jahren (PROUDHON
1840: je suis anarchiste) 31' durchzusetzen. WILHELM MARR gab, nachdem er wegen
seiner Verbindungen zu Wilhelm Weitling aus der Schweiz ausgewiesen worden
war, seit 1844 die Zeitschrift „Blätter der Gegenwart für soziales Leben" heraus,
in der die Worte 'Anarchist' und 'anarchistisch' häufiger vorkommen816•
erwii.hnt die im Juli und August 1841 erschienene Zeitschrift „L'Humanitaire"; Vor-
frühling, 138 f. (s. Anm. 30).
811 Vgl. JOHANN LANGHARD, Die anarchistische Bewilgung in der Schweiz von ihren An-
fängen bis zur Gegenwarl und die internationalen Führer (Berlin 1903), 2 f. In der anonym
102
V, 1. Der Anarchismus
Anarchisme wird im LARoussE 1866 als systeme politique begriffen, d'apres lequel
la societe pourrait se gouverner sans gouveTnement etabli, ou du moins sans gouverne-
ment central316 • In Deutschland kam das Wort 'Anarchismus' erst in den siebziger
und achtziger Jahren in Umlauf (Schulz) 317 • Die vielfältigen, noch unerforschten
Beziehungen des Anarchismus zum Darwinismus und der seit 1880 deutlich wer-
dende Einfluß der Entwicklungslehre auf den Anarchismus reflektierte BISMARCK
in einem Gespräch mit Lothar Bucher auf seine Weise: Sie werden unte'f den Anar-
chist,en nie einen rechten Naturforscher finden, einen Chemiker wohl, aber keinen Mann,
der so recht mit Lust und Liebe das Wachsen und Gedeihen in der Natur beobacht,et
und zu seinem Studium macht. Solche Leut,e wissen zu gut, daß die ganze Natur und
die ganze Kultur auf allmählicher, organischer Entwicklung beruht318 •
Marx und Engels sprachen, mit negativer Absetzung gegen Bakunin, ebenfalls erst
in den siebziger Jahren, häufiger von (sogenannten) Anarchisten und Anarchismus319 •
Für Schulz' Auffassung spricht auch, daß der 1. Internationale Anarchistische Kon-
greß erst 1881 in London stattfand. Weiterhin istMAx STIRNERalsVorläuferan-
archistischen Denkens erst nach 1892 über Frankreich in Deutschland wieder be-
kannt geworden. Sein bereits 1845 erschienenes Hauptwerk „Der Einzige und sein
Eigentum" ist im öffentlichen Bewußtsein lange Zeit verschollen gewesen. Obwohl
die Begriffe 'Anarchie', 'Anarchist' und 'Anarchismus' in ihm nicht enthalten sind,
ist Stirner von den anarcho-syndikalistischen Zeitschriften „La Revolte" und
„Les Temps nouveaux", jedoch auch von der „Revue blanche", dem „Mercure de
France", der „Revue rouge" und anderen eher der Sensation dienenden Zeitschriften
als der „Philosoph der Anarchie" gefeiert worden320• Stirners Aufwertung vergleich-
bar, wurde in der gleichen Zeit Rousseau in Frankreich zum vrai pere de l' Anarchis-
me: toute la tMorie se deduit de ses principes891.
erschienenen Schrift: Die geheimen deutschen Verbindungen in· der Schweiz seit 1833
(ßa.&el 1847) werden in der Vorrede anarchistiache Bestrebungen und anarchistiache Wiih-
lereien in der Schweiz erwähnt; zit. LANGHARD, Anarchistische Bewegung, 3. Unter dem
Eindruck der Juniereignisse 1848 in Frankreich entstanden in schneller Reihenfolge eine
Reihe von Arbeiten, in denen der „revolutionäre Anarchismus" beschworen wird: ERNEST
CoENDEROY, De la revolution da.ns l'homme et dans la societe (Brüssel 1852); JOSEPH
Di.JACQUE,La. questionrevolutionnaire(NewYork 1854). Vgl. NETTLAu, Vorfrühling, 205ff.
811 LAROU88B t. 1 (1866), 319.
117 SCHULZ/BASLER Bd. 1 (1913), 33.
118 BISMARCK, Gespräch mit L. Bucher, zit. FBANz MBFFBBT, Zur Theorie und Kritik des
Von der Schweiz aua, wo diese 'Anarchisten', wie sie aich aelb8t nannten, zuerat Wurzel ge-
achl,agen hatten, verbreiteten aie aich nach Italien und Spanien.
no LUIGI FABBBI, Die historischen und sachlichen Zusammenhänge zwischen Marxismus
und Anarchismus, Arch. f. Sozialwiss. u. Sozialpolitik 26 (1908), 594 f. In diesem Sinne
auch die Stirner-Deutung von GEORG ADLER, Stirners anarchistische Sozialtheorie, Fest-
gaben für WILHELM LBXIS (Jena 1907), 1 ff. Ferner wertete Jomr HENRY MA.OKAY
Stirner auf; Max Stirner. Sein Leben und Werk (Berlin, Leipzig 1898).
111 PAUL DESJABDINS, L'idee anarchiste, Rev. bleue, 3° s6r„ t. 52 (Paris 1893), 803,
Anm.4.
103
Anarchie V. 2. Anarchistischer und sozialistischer Manismus 1890-1910
Während sich der russische Anarchismus in den sechziger und siebziger Jahren
herauszubilden begann (Netschajef, Bakunin, Kropotkin), zeigen sich die ersten
Spuren der französischen (Reclus, Cafi.ero, Ch. Guerin), spanischen (Salvator,
Oller, Bisbal), niederländischen (Rienzi, Chroiset, van Rees) und italienischen
(Merlino, Malatesta)32a, schweizerischen (James Guillaume) und amerikanischen
(Tucker, Warren, Most) anarchistischen Bewegungen in den siebziger und acht-
ziger Jahren des 19. Jahrhunderts. In der neueren (Paul Eltzbacher) und neuesten
(George Woodcock, Oskar Jaezi) Literatur sind diese vielfältigen, Bewegungen
häufig, am eindringlichsten vielleicht von Irving L. Horowitz323, zu klaSBifizieren
gesucht worden. Horowitz unterscheidet den „utilitaristischen" (Godwin), den
„friedlichen" Anarchismus, den „Anarcho-Syndikalismus" (Pelloutier, Lagardelle,
Sorel), den „kollektivistischen" (Bakunin, Kropotkin), „konepiratorischen" (Most),
„kommunistischen" (Malatesta), „individualistischen" (Warren, Tucker) und den
,,pazifistischen" (Tolstoi, Gandhi) Anarchismus.
Wie auch immer die verschiedenen Bewegungen, die eich selbst als 'anarchistisch'
bezeichnet haben, aufgegliedert werden mögen, die Geschichte des Anarchismus
und Anarcho-Syndikalismus als einer internationalen Bewegung begann spä~.11tens
mit dem 1. ordentlichen Kongreß der Internationalen Arbeiteraseociation im Jahre
1866 in Genf324. Trotz aller inneren Gegensätze zwischen Marx und den sich vor
allem in der „Federation Jurasienne" sammelnden Bakunin-Anhängern hatte
MARX 1872 erklärt, alle Sozialisten 'V6f'stehen unter' Anarchie dieses: Ist einmal das
Ziel der proletarischen Bewegung, die Absclwffung der Klassen, erreicht, so ver-
schwindet die Gewalt des Staates325. Er hatte allerdings im gleichen „privaten Zir-
kular" die Anarchisten als „Spalter" der Internationale bezeichnet. ENGELS und
er bemühten sich fast bei jeder Gelegenheit, den Anarchismus als Feind jeglicher
Organisation, die Anarchisten als Freunde des Ohaos326 und als Erben des bürger-
(1964), 50.
3211 Vgl. dazu ENGELS an Ph. van Patten, 18. 4. 1883: Die Anarchisten ... erkli.iren, die
prolet,ariache Revolution mü&se damit anfang6'1l, daß sie die politische Organisation des
St.aates alJschafjt. Aber die einzige OrganiBatwn, die das siegende Prolet.ariat fertig vwfindet,
iBt eben der Staat. Er mag der Änderung bedürfen, ehe er seine neuen Funktionen erfüllen kann.
Aber ihn in einem solchen Augenblick zersüiren, das hie/Je, den einzigen Organismus zerst.ören,
vermittel8t dessen das siegende Proktariat seine eben eroberte Macht geltend machen ... kann;
MEW Bd. 36 (1967), 11.
104
V. 2, Anarchistischer und sozialistischer Manismus 1890-1910 Anarchie
soziologischer und juristischer Methode (Wien 1922; Ndr. Darmstadt 1964), 242. Vgl. zu
Adler jetzt: PETER HEINTEL, System und Ideologie. Der Austromarxismus im Spiegel der
Philosophie Max Adlers (Wien, München 1967), bes. 301 ff.
829 MICHAEL BAKUNIN, Gott und der Sta.a.t (1871), hg. v. Max Nettlau, 2. Aufl. (Leipzig
1922), 38.
aao PETER KRoPOTKIN, Modern Science and Anarchism (New York 1908), 5.
881 Congres anarchiste tenu a Amsterdam, a.o-0.t 1907. Resolutions approuvees par le
105
V. 3. Literari.eher Anuehiama1
3. Literarischer Anarchismus
Neben der Entwicklung der Begriffe 'Anarchie' und 'Anarchismus' im Rahmen des
Marxismus-Sozialismus sind Anarchosozialismus und -kommunismus sowie literari-
scher Anarchismus und - letztlich unpolitischer - Anarchoindividualismus mit
dem Naturalismus, dem Frühexpressionismus und schließlich dem Surrealismus
eine eigene Synthese eingegangen. Freilich sind die Übergänge hier fließend ge-
blieben. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde besonders in den
politischen und Künstlerzirkeln in Paris, Wien, Leipzig und Berlin 'Anarchismus'
in völlig neuen - positiven wie negativen - Verbindungen gebraucht. Dadurch
ist gleichsam eine historisch zweite Phase der Begriffsausdehnung eingeleitet wor-
den, die bis auf unsere Tage reicht888 : 'Anarchie' und 'Anarchismus' blieben positive
wie negative Bewegungsbegriffe: Anarchie! He"sckaftilose Ordnung, aufgebaut auf
der sittlichen Kraft freigewordener Einzelmenschen! U"eligion der Menschheit, GUiu-
'bensbelrenntnis der Zukunft und der Zukünftigen!•. Helmut Kreuzer hat darauf
888 PETER HEniTz, Art. Anarchismus, RGG 3. Aufl., Bd. l (1957), 353 ff.
IN Vgl . .AI.PHONS CoURTOIS Fn.s, Anarchisme theorique et collectivisme pratique (Paris
1885), 42.
886 MIOBELIB DE RIENZI, L'Anarchisme (Brüssel 1893), 7 ff. Vgl. JEAN GRAVE, La soci~te
mourante et I'ana.rchie (Paris 1898).
aae RIENZI, L'Ana.rchisme, 9.
187 CARLO Cil'IERO, Anarchie et communisme (Paris 1899), 5. ·
818 Vgl. dazu vor allem HELMUT KREUZER, Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung
(Stuttgart 1968), 279 ff.
818 THEODOR Pr.mVIER, Anarchie (Weimar 1919), 10.
106
V. 4. Emma Golclmann Aauehie
4. Emma Goldmann
Nach den vor allem von Emerson und Thoreau sowie von Proudhon beeinflußten
anarchistischen Denkern Benjamin R. Tucker und J osiah Warren842 war EMMA
GOLDMANN (1869-1940) nicht nur die wichtig11te VerLreLerin des amerikanischen
Anarchismus, sondern auch der internationalen anarchistischen Bewegung im 20.
Jahrhundert. Tucker hat die amerikanischen Anarchisten einmal „simply unterrified
Jeffersohian democrats"843 genannt. Dieser Ausspruch könnte auch von Emma
Goldmann stammen. Sie nahm sowohl die englische Tradition und besonders
Godwins Gedanken, aber auch Ideen des in den neunziger Jahren ebenfalls in
Amerika bekannt gewordenen Stirner wieder auf: Anarchism is the only philosophy
which brings to tnan the consciousness of himself, ... is the arbiter and pacißer of the
two forces for individual and social karmon'fl". Für Emma Goldmann zwang der
Anarchismus die Menschen, to tkink, to investigate, to analyse every prop.osition.
Er war die eigentliche Innovationskraft des 20. Jahrhunderts. Deshalb kam ihm
auch die Bedeutung einer pkilosophy of a new social orde.r zuM&. Der Anarchismus
war jedoch nicht nur Philosophie, sondern auch Anleitung zur direkten Aktion:
Anarchism stands for direct action8411 • Doch trat diese Bedeutung bei den amerika-
nischen Anarchisten in den Hintergrund.
140 JOHANNES R. BECHER, Verfall und Triumph, 2. Teil, Versuche in Prosa (Berlin 1914), 13.
au KURT Rn.LEB, Nach Thomas Mann: Franz Werfel (1918), in: PAUL PöBTNEB, Litera-
turrevolution 1910--1925. Dokumente, Manifeste, Programme, Bd. 2 (Neuwied, Berlin
1961), 425.
842 Dazu jetzt WILLlill O. REICHERT, Toward a New Understanding of Anarchism, The
"'Ebd., 71.
107
Anarchie VI. Ausblick
VI. Ausblick
In der akademischen Literatur des 19. Jahrhunderts findet sich emtmals die Ver-
bindung von 'Anarchie' und 'Nihilismus' (die Anarchie MS Bakunin od,er der
Nihilismus von hetde)347 • Auch die schon von Rotteck gebrauchte Charakterisierung
der Anarchie als „Verwirrung" wurde auf die verfassungspolitische Literatur über-
trage~. So sprach ÜTTo MEJER davon, daß Despotie und Anarchie Formen nicht
'der Verfassung, sondern der Verfassungsverwirrung sind348• Dies macht deutlich, daß
das negative Bezugsfeld, welches mit 'Anarchie' oder 'Anarchismus' in Verbindung
gebracht wurde, ständig weiter gewachsen ist. In den Lexika wurde in den siebziger
und achtziger Jahren 'Anarchie' häufiger der fehlenden Gewalt Ms Staates kon-
frontiert349. Diesen Zusammenhang reflektierte auch MAX WEBER in „Politik als
Beruf", wo er Staat (Gewalt) und Anarchie konfronticrtelllin. BIMMEL 11etzte 'Anarnh.ie'
in seiner „Soziologie" {1908) mit Wurzellosigkeit und Mangel an festem Lebensgefühl
gleich361. Er traf mit dieser Bezeichnung ein Charakteristikum des Anarchismus
schon des 19. Jahrhunderts: die Entwurzelung der radikalen Intelligenz, ihre
·existentielle Unsicherheit. Die Verbrauchtheit des Begriffs 'Anarchie', seine Beliebig-
keit und Auswechselbarkeit nach 1918 ließen Georg Bimmel in einem seiner letzten
Briefe an den Grafen Keyserling deutlich werden: All jenen Persönlichkeiten ... ist
Festigkeit gleich Erstarrtheit, FeRf,gr,-nn.gllltliP.i:t, RO'T'ni.e.rtheit. Ihr Wesen, das rein6
· Fluktuation ist und widerstandslos dahin ßießt, wo Eitelkeitsbefriedigung, Erregungs:
maximum, intellektueller Glanz sie jeweils locken, fordert diese Wertgleichung. Von
allen habe ich den Eindruck: sie können alle auch anders - es ist schließlich ein Zufall
Mr Situation und nicht von innen her notwendig, ob sie reaktionö,r od,er revolutionär,
freigeistig od,er katholisierend, autorifär oder ana,rchisch sind362•
In der politischen Sprache der hochentwickelten westlichen Industriegesellschaften
des 20. Jahrhunderts werden die Begriffe 'Anarchie', 'Anarchist' und 'Anarchismus'
weiter verwandt. Sie sind jedoch seit den zwanziger Jahren, seit den letzten großen
politischen Auseinandersetzungen von Anarchisten und kommunistischen Marxisten
entleert und haben ihre frühere Funktion weitgehend verloren.
Im marxistisch-kommunistischen Sprachhaushalt werden 'Anarchie' und 'Anarchis-
mus' in dem von Marx geprägten Sinne allerdings systematisiert bis in die Gegen-
wart hinein weiter benutzt. Der von Wilhelm Schulz erstmals gebrauchte und von
Marx und Engels dann aufgenommene Begriff 'Anarchie der Produktion' ist zu
einem festen Bestandteil der marxistisch-leninistischen Kunstsprache geworden:
Anarchie der Produktion ist die gesetzmäßig und unvermeidlich auftretende Planlosig-
keit der kapitalistischen Produktion auf der Grundlage der Wirkung des Grundwider-
srwuchs des Kapitalismus zwischen gesellschaftlicher Produktion und rwivatkapitalisti-
an RUDOLF MEYER, Der Emancipationska.mpf des vierten Standes, 2. Aufl., Bd. 1 (Berlin
1882), 44.
348 ÜTTO MEJER, Einleitung in do.e Deutsche Staatsrecht, 2. Aufl. (Freiburg 1884), 8.
349 HERDER 2. Aufl„ Bd. 1 (1875), 144.
860 MAx WEBER, Politik als Beruf (1919), Ges. polit. Sehr. (München 1921), 397.
861 GEORG SIMMEL, Soziologie, 3. Aufl. (München, Leipzig 1923), 293.
862 Zit. GEORG SIMMEL, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. v. Michael
108
VI. Ausblick Anarchie
Literatur
GEORG ADLER, Gesohichte des Sozialismus und Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart
(Leipzig 1899); ders., Art. Anarchismus, Hwb. d. Staatswiss., 3. Aufl., Rcl. 1 (1909),
444 ff.; JAMES JOLL, The Anarchists (London 1964; dt. Frankfurt, Berlin 1966); M.u
NETTLAU, Bibliographie de l'anarchie (Brüssel, Paris 1897); ders., Der Vorfrühling der
Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864 (Berlin
1925); ders., Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung
in den Jahren 1859-1880 (Berlin 1927); U. DIERSE, Art. Anarchie, Anarchismus, Hist.
Wb. d. Philos., Bd. 1 (1971), 267 ff.
PETER CmusTIAN Lunz
359 Vgl. den Diskussionsbeitrag zu: Planung in der Marktwirtschaft. Vorträge, Schriftenr.
109
Angestellter
1. Einleitung: Der Begriff im staatlich-öffentlichen Bereich seit 1800. 1. 'Angestellter'
und 'Beamter'. 2. Die Abhebung vom Lohnarbeiter. II. 1. Vom Industriebeamten zum In-
dustrieangestellten (1850-1890); a) Die Zweiteil~g der Arbeitnehmerschaft. b) Das
Problem der Staatsbeamtenähnlichkeit; c) 'Angestellter' als Oberbegriff zu 'Beamter im
Industriebetrieb'. d) 'Betriebsbeamter' und 'Angestellter' in der Gesetzgebung. 2. Vom
„Beruf" zur „Stellung" (1880-1900). a) Die Veräußerlichung des Berufsinhalts. b) Inter-
eBBengemeinsamkeit und staatliche Sozialinterventionen als Voraussetzungen des überbe-
trieblichen Angestelltenbegriffs. 3. 'Angestellter' und 'Arbeiter' in ihrer Abgrenzung bis
1911. a) Begriffliche Unschärfen. b) 'Ailgestellt~r' gegen 'Handlungsgehilfe' und 'Privat-
beamter'. c) Das Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) und der 'neue Mittelstand'. III.
Ausblick.
1 Vgl. ZEDLER Bd. 2 (1732), 784: Anatellen heisset bei einem Gute dem Gesinik wnd Ar-
beitern dasjenige anbefeklen, was dieselben von Zeit zu Zeit verrichten sollen; weitere Belege
RWB Bd. 1 (1914/32), 740 f.; TRÜBNER Bd. 1 (1938), 103.
1 Vgl. ADELUNG 2. Aufl„ Bd. 1 (1793), 282 ff.; CAMPE Bd. 1 (1807), 185.
3 Vgl. als eines der frühesten Beispiele: Joa. MICHAEL SEUFFERT, Von dem Verhältnisse
des Staats und der Diener des Staats gegeneinander im rechtlichen und politischen Ver-
stande (Würzburg 1793), 133: Der Diener des Staats erhäU al8o durch denAnatellungsverlrag
ein forwährendes Recht, dem Staate besondere Dienate zu leisten, welches ihm einaeitig nicht ent-
zogen werden kann, mithin ist die Entlassung widerrechtlü:h. Außerdem N1coLAus TluDDÄUS
GÖNNER, Der Staatsdienst aus dem Gesichtspunkt des Rechts und der Nationalökonomie
betrachtet (Landshut 1808), Anhang S.V über das bayerische „Anstellungsreskript";
KARL ALBERT v. KAMPrz/FRANz JosEPH FRH. v. STEIN, Über die Entschädigungsberech-
tigung der Staats-Diener bei Aufhebung ihrer Stellen (Frankfurt 1808), 5 f. über die
Rechte des Dienst-Anatellungs-Verlrags al8 wohlerworbene Rechte.
110
I. 1. 'Angestellter' und 'Beamter' Angeatellter
& MEYER Bd. 1 (1857), 886; 1842 verstand MEYER, große Ausg., Bd. 3, 153 unter 'an·
stellen': Jemandem ein Amt iibertragen (eine A118tellung geben), ihn in Die1l8t nehmen.
5 Vgl. PIERER 2. Aufl„ Bd. 2 (1840), 146.
'Vom 16. Oktober 1809, Generallandesarchiv Karlsruhe, Abt. 74, Fase. 2482. (Ich ver-
danke den Hinweis auf diesen frühen Beleg Frau Dr. Hannah Rabe, Düsseldorf.)
7 CARL FRIEDRICH RrrrEB v. W1EBEKING, Vorschläge zur Einrichtung einer Staatsver-
waltung i:gi allgemeinen und der Verwaltungszweige insbesondere (München 1815), 44. -
Die „Statistische Übersicht von der gestiegenen Bevölkerung der Haupt- und Residenz.
Stadt Berlin in den Jahren 1815 bis 1828 und der Communal-Einnahmeri und Ausgaben
derselben in den Jahren 1805 bis 1828" (Berlin 1829) führt in einer Statistik der Berliner
Hauseigentümer, Häuser und Mietserträ.ge u. a. 439 Offi,zia:nten als Eigentümer (von 7208)
an, offenbar unter Einbeziehung der Beamten (Anhang, o. S.); JoH. FRIEDRICH BENZEN·
BERG, Schreiben an den König bei der Überreichung der Gemeinde-Ausgaben der Städte
Düsseldorf, Elberfeld, . . . Berlin, Leipzig und Paris (Düsseldorf 1835), 60 druckt diese
Statistik ab, ersetzt jedoch 'Offizianten' durch AngestelUe. (Für diesen Hinweis danke ich
Herrn G. Liebchen, Berlin.)
111
Angestellter I. 2. Abhebung vom Lohnarbeiter
derjenigen Angestellten des Staats, der Gemeinde usw., deren Diensteinnahmen selbst
zur Befriedigung ihrer und ihrer Familien notwendigsten Bedürfnisse nicht aureicht 8 • -
1863 faßte eine preußische Statistik Postbeamte, -hilfsarbeiter und -unterbeamte
als die bei der k. Postverwaltung Angestellten zusammen 9 • Häufig bleibt unentscheid-
bar, ob es sich bei 'Angestellter' um das substantivierte Partizip oder bereits um
ein Substantiv handelte10.
Wenn auch die öffentliche Bedeutung von 'Angestellter' bis gegen Ende des Jahr-
hunderts dominierte11, wurde -'Angestellter' nicht völlig auf diese eingeengt. 'An-
gestellte' waren für ERscH/GRUBER 1853 neben Staatsbediensteten auch Personen
im Privatdienst, so etwa Haushofmeister, Kammerdiener und Schauspieler12. Vor-
wiegend meinte 'Angestellter' den Gehalt empfangenden, d. h. den in seinem öko-
nomischen und sozialen Status Markt- und Leistungsfaktoren nur sehr vermittelt
ausgesetzten abhängigen Inhaber einer relativ festen Dienststellung.
Während 'Beamter' dieser Bedeutung immer mehr entsprach, fiel andererseits die
als Produkt dei: Industrialisienmg entstehende Lohnarbeiterschaft aus dem An-
wendungsbereich von 'Anstellung' und 'Angestellter' heraus, obwohl es während
des 19. Jahrhunderts nie ganz unmöglich wurde, Arbeiter als 'Angestellte' zu be-
zeichnen. Der formal freie, immer kurzfristiger kündbare, die Arbeitskraft als Ware
behandelnde Arbeitsvertrag widersprach den Merkmalen von 'Angestellter' ebenso
wie die dem industriellen Arbeiter spezifische Bezahlungsart, der Lohn. Dessen
Begriff verengte sich mit der Durchsetzung erwerbswirtsohaftlicher Prinzipien zur
Bezeichnung eines schwankenden, vom Arbeits- und Gütermarkt wie von der
Leistung des Arbeiters unmittelbar abhängigen, in immer kürzeren Perioden be-
rechneten, jederzeit unterbrechbaren Äquivalents für geleistete Arbeit (meist Hand-
arbeit)13. 'Lohn' (des Arbeiters, Handwerkers, Gesindes, Tagelöhners und Fuhr-
1o IIi einer Kritik am deutschen ProfeBBOr schrieb GEORG HERWEGH 1840: Ea iat das
acküne Vorrecht unseres Jahrhunderts, da{J ea eine Wahrheit nur dann als Wahrheit anzu-
erkennen hat, wenn sie aua dem Munde eines Patentierten, eines Angeatellten kommt; Werke,
hg. v. Hermann Tardel, Bd. 2 (Berlin, Leipzig 1909), 158.
11 Noch der Art. Anstellung, in: MEYER 4. Aufl., Bd. 1 (1885), 620 handelt fast aus-
„Gotteslohn" nachwirken, unter 'Lohn' vor allem die eine Seite eines erwerbswirtschaft-
lichen Tauschaktes, von dem ehrwürdige und unschätzbare Tätigkeiten (Priester, Richter,
Lehrer, Ärzte) ausgenommen sein mußten; ZEDLER Bd. 18 (1738), 280 b f. Klar zeigt sich
die Verengung des Begriffs bei ADELUNG Bd. 3 (1777), 245 f.
112
a) Die Zweiteilung der Arbeitnehmencbaft Angestellter
II.
UEbd.
u Vgl . .Anm. 12.
1e Vgl. ebd. und MEYER 4. Aufl. Bd. 6 (1888), 1016.
17 Diese und viele der folgenden Angaben stützen sich auf ErgebniBBe einer Studie des
Verfassers über industrielle Organisation und Angestelltenschaft in1 19. und frühen 20.
Jahrhundert: JÜRGEN KocKA, Unternehmensverwaltung ilnd Angestelltenschaft am Bei-
spiel Siemens 184'1-1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deut-
schen Industrialisierung (Stuttgart 1969). Für die Möglichkeit der Akteneinsicht danke
ich der Archivabteilung des Werner-von-Siemens-Instituts für Geschichte des Hauses
Siemens in München, besonders ihrem Leiter Dr. v. Weiher.
18 WERNER SIEMENS, Brief an seinen Bruder Wilhelm v. 14. 5. 1858, zit. RICHABD EBREN-
BERG, Die Unternehmungen der Brüder Siemens (Jena 1906), 462.
8-90385/1 113
II. 1. Vom lndaatrlelieamten zum lntlustrieansestellten
nehmers) sollen die ständigen Arbeiter und Angestellten (Aufseher, Verwalter, Commis,
DirekWren) einen gebührenden Anteil bekommen19• An meine Beamten und Arbeiter
wandte sich 1872 der Berliner Fabrikant W. BoBOHEBT20 • Eine der ersten industrie-
organisatorischen Publikationen stellte 1874 fest: Es ist durchaus notwendig, daß jeder
Angestellte wisse, in was seine Beschäftigung besteht 21 • 1878 lobte RoESKY die
K.ruppschen Etablissements: In diesen fühlt sich der Beamte gleich einem Staats-
beamten und der Arbeiter nicht minder 22 •
b) Das Problem der Staatsbeamtenähnlichkeit. Letztlich resultierte die Anwen-
dung der Begriffe 'Beamter' und 'Angestellter', die über die Dimension der bisher
ausreichenden Berufsbezeichnungen (Kaufmann, Handlungsgehilfe, Ingenieur etc.)
abstrahierend hinausgriffen, aus dem Doppelcharakter der industriellen Unterneh-
mung, die Güter sowohl produzierte wie als Ware auf dem Markt verwertete, also
sowohl technisches wie kaufmännisches Personal benötigte und zudem neue ver-
waltende Stellen entstehen ließ. Die Kooperation verschiedener Berufe im Industrie-
betrieb durchkreuzte die bisher vorwiegend gültigen, rein beruflich definierten
OrdnungsStrukturen und forderte einen berufsneutalen Begriff.
Die Bezeichnung gewisser von privaten .Gesellschaften oder Einzelpersonen be-
schäftigter Arbeitnehmer als 'Beamter' wurde durch staatsbeamtenähnliche Züge
ihrer Situation nahegelegt: durch die Bezahlungsform des Gehalts, das häufig (auch)
Senioritätsgesichtspunkten folgte, durch ihre relativ gesicherte Stellung, durch den
schriftlichen, „büromäßigen" Charakter ihrer Arbeit und, zumindest für viele von
ihnen, durch die Teilhabe an delegierter Anordnungsbefugnis. Andererseits setzte
die dennoch drohende Kündigungsmöglichkeit, die Abhängigkeit ihrer Bezahlung
von Leistungs- und Marktkriterien, der Mangel eines auf formalen Qualifikationen
fußenden Berechtigungswesens und das Fehlen einer öffentlich-rechtlichen Unter-
mauerung ihres Dienstverhältnisses, generell: der Unterschied zwischen einer öffent-
lichen Behörde und einer privatwirtschaftlichen Unternehmung, dieser Beamten-
ähnlichkeit auch schon um die Jahrhundertmitte objektive Grenzen. Da 'Beamter'
zunehmend ein öffentliches Dienstverhältnis meinte, dessen Modell der Staats-
beamte war, der sein Amt als Dienst an der Allgemeinheit der Pflicht gemäß und in
würdiger Nähe zur Obrigkeit wahrzunehmen beanspruchte, bedeutete die Anwen-
dung des Begriffs auf privatwirtschaftliche Arbeitnehmer zugleich einen ideologi-
schen Identifikationsversuch mit der sozial akzeptierten, prestigebesetzten Gruppe
der (Sta.ats-)Bea.mten.
114
e) 'Angestellter' als OberbegrUr za 'Beamter im Industriebetrieb'
13 Schon 1872 saßen im Konstruktionsbüro der Firma Siemens & Halske, Berlin, 5 niedrig
bezahlte und kaum noch selbständig arbeitende Zeichner. 1892 verfügte allein die
Starkstromabteilung über 2 Konstruktionsbüros mit zusammen 57 Angestellten - 1903
(1909) standen in den Siemens-Schuokertwerken 2580 (5270) Angestellte 9691 (18 582)
Arbeitern gegenüber. Vgl. Anm. 17.
14 Neben Beispielen aus dem Siemens-Archiv (vgl. Anm. 17) zeigt eine Feststellung
des Werkmeister-Verbandes von 1884 das Problem. Dessen Werbeblatt zäkUe zu den
W erlcmeiatern nickt nur die Bwmten, die dieaen Titel direkt führten, aondem die Privat-
be,amten aller lnduatrien, die eine Meiateratelle veraehen; Deutscher Werkmeister-Verband
1884-1909. Fschr. zur 25jährigen Jubelfeier (Düsseldorf 1910), 16. Dem „Titel" (Beamter)
ist die funktionale Kategorie (Privatbeamter, in andern Fällen: Privatangestellter oder
Angestellter) gegenübergestellt.
25 Angesichts des Fehlens eindeutiger funktionaler Kriterien überließ der Reichstag
115
Angestellter Il. 1. Vom Induatrlelieamteu zum Industrieangestellten
Begründung) sowie den Bericht der Kommission am 21. 5. 1881, Sten. Ber. Dt. Reichs-
tag, Bd. 65, 222. 228. 237; Bd. 66, 834.
29 Vgl. K. SCHICKER, Die Reichsgesetze über die Krankenversicherung der Arbeiter und
über die eingeschriebenen Hülfske.ssen (Stuttgart 1884), 4; E. VON WoEDTKE, Unfall-
versicherung der in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen,
2. Auß. (Berlin 1888), 106; Auszug aus der Anleitung des Reichs-Versicherungsamts,
betr. den Kreis der nach dem lnvalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899 versicherten
Personen, vom 6. 12. 1905, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 281, 172 ff.: Anlage E zum Ent-
wurf eines Angestelltenversicherungsgesetzes, 174.
30 Diese größtenteils aus Gehaltsempfängern bestehende Gruppe, die nicht mehr zu den
Beamten rechnete, hatte es schon 1881 dem Regierungsentwurf unmöglich gemacht, das
Gehalt als eindeutiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Beamten und Arbeitern zu
benutzen. Vgl. Anm. 28.
a1 Vgl. das Gesetz betr. die Gewerbegerichte vom 29. 7. 1890, § 2, RGBl., 141.
116
a) Die Veräußerlichung des Berufsinhalts .Angestellter
keine besonderen Namen gab; vgl. Allgemeine Encyclopädie für Kaufleute und Fabrikanten,
4. Auß. (Leipzig 1841), 256.
86 Vgl. HEINZ PoTTHOFF, Der Begriff des „Angestellten", Arbeitsrecht 1 (1914), 106.
117
Angestellter Il. 2. Vom „Beruf" mar ,,Stellq" (1880-1900)
81 Vgl. die Begründung zum Regierungs-Entwurf für das Alters- und Invaliden-Versiche-
rungsgesetz vom 22. 11. 1888, Sten. Ber. Dt, Reichstag, Bd. 108, 66.
37 So Hmz Po'l'l'HOFl!' am 6. 3. 1905 im Reichstag, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 203,
5012.
88 Vgl. den entsprechenden, allerdings auf die Arbeiter bezogenen Gedankengang bei
KARL MA.Bx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Rohentwu,rf (Berlin 1953),25.
89 Nach der Liste der ersten Pensionäre des Vereins, Privat-Beamten-Zeitung 16 (1900),
68.
' 0 Vgl. die Entscheidungen des Preußischen Obertribunals vom 16. 6. 1843 und 9. 1. 1849,
118
b) lnteressen1emeimamkeit und Sozialinterventionen Angestellter
Auch ohne zusammenfassende Absicht bürgerte sich 'Angestellter' nach 1890 ein:
" Vgl. ebd., NF 2, TI. 1 (Berlin 1884), 63: Berufsstatistik vom 5. 6. 1882. Im Gegensatz
zu 1895 zählten die Meister 1882 noch zur Gruppe der Gehilfen, Arbeiter und Tagelöhner.
119
Angestellter D. 3. 'Angestellter' und 'Arbeiter' bis 1911
Ein Angestellter des Oomtoirs, einer der besseren Buchhalter ... war ein großer wohl-
genährter Mann mit goldigem Zwicker und goldiger Uhrkette (WETTSTEIN-ADELT
1893) 47 •
unlauteren Wettbewerbs oder die Einteilung der Statistik von 1895, die Selbständige,
Angestellte und Arbeiter unterschied.
60 ALBERT AUERBACH, Der Kaufmann und die Sozialdemokratie (Berlin 1891), 6; ähnlich
.2.2 f.
61 Mitteilungen des Dt. Handlungsgehilfen-Verbandes 2 (1895), 109.
68 Vgl. EMIL KRELLER, Die Entwicklung der deutschen elektrotechnischen Industrie und
120
h) 'Ang1111telher', 'Bandluagsgehilfe', 'Privatbeamter' Angestellter
den noch ein Lexikonartikel 1908 an erster Stelle nannte: Angestellter ist derjenige,
der von einem andern zur V O'fnahme einer gewissen Tätigkeit bestellt wi'fd 53 •
Noch 1911 gebrauchte STRESEMANN, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, diesen
weiten Angestelltenbegriff im Reichstag. Er sprach sich gegen eine einheitliche
Versicherung für Angestellte und Arbeiter aus; weil damit gewissermaßen die gemein-
same Idee des Klassenkampfes aller Angestelltenschichten in Deutschland auch in der
FO'fm der Versicherung das Siegel aufgedrückt erhalten sollte 54 •
Berufliche Mobilität und Sozialgesetzgebung hatten zwar insofern die Voraus-
setzung der Entstehung von Gruppe und Begriff der Angestellten geschaffen, als
sie die Berufs- und Wirtschaftszweigzugehörigkeit des einzelnen in ihrer Bedeutung
reduzierten. Eine klare Abgrenzung der entstehenden Gruppe „nach unten" leisteten
sie jedoch nicht. Vielmehr behandelte das AIVG die versicherungspflichtigen Ange-
stellten genauso wie die Arbeiter urnl beLonLe die Gleichheit ihrer wirtschaftlichen
und sozialen Lage. Während in den Unternehmen die Angestelltenzugehörigkeit in
Grenzfällen durch Dezision gelöst wurde, fehlte außerhalb der Betriebe das prak-
tische Bedürfnis nach einer klaren Trennung von Arbeitern und Angestellten. Diese
Situation und der seltene Gebrauch von 'Angestellter' hatten zur Folge, daß vor
rnoo 'ArhAitAr' noch nicht als klarer, eindeutig unterschiedener Gegenbegriff zu
'Angestellter' fungierte.
Bewerbungsschreiben oder: Wie jeder junge Kaufmann sicher Stellung findet, 12. Aufl..
(Berlin 1900).
6 8 Der Handels-Angestellte 1 (1892), Ausg. v. 15. Oktober.
67 Bezeichnenderweise trug die Zeitschrift zunächst den Untertitel Organ für die Interessen
121
Angeetellter n. 3. 'Angestellter' und 'Arbeiter' bis 1911
17. Deutschen Kaufmannsgehilfentag am 19. und 20. 6. 1926 in München", in: ÜTTo
THIEL, Die Sozialpolitik der deutschen Kaufmannsgehilfen (Hamburg 1926), 45 ff.
81 Vgl. Sten. Ber. Dt. ReiohsLag, Btl. 203, 469 (Nr. 37 der Anlagen).
11 Vgl. dazu HEINZ Po'I'l'HOl'll', Die Organisation des Privatbeamtenstandes, hg. v. Deut-
122
c) AVG und 'neuer Mittelstand' Angestellter
85 Vgl. S1EG1!'BIED KRAcAUER, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland (1930;
3. Aud. Allensbach, Bonn 1959), 4: Hwnderttauaende von .Angeatellten bevölkern tä.glich die
Straßen Berlina ... Die lntellektutllen Bind entwe,der aelbat .Angutellte, oder aie aind frei,
und dann iat ihnen der .Angutellte aeiner .Alltäglichkeit wegen gewöhnlich unintereaaant.
88 PoTTBo:n, Organisation, 14.
·67 Am 14. 2. 1903, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 187, 7944 f.
88 Das AVG umfaßte begrifflich auch die öffentlichen Beamten, doch waren diese insofem
von der Versicherungspflicht befreit, als sie öffentliche Pensionsansprüche besaßen. Diese
praktische Nichtanwendbarkeit des AVG auf die Beamten dürfte dazu beigetragen haben,
claß 'Beamter' aufhörte, Unterbegriff von 'Angestellter' zu 11ein.
123
Angestellter D. 3. 'Angestellter' und 'Arbeiter' bis 1911
89 Vgl. das Versicherungsgesetz für Angestellte vom 20. 12. 1911, RGBl., 989 ff., § 1.
70 Vgl. die Liste der im „Haupta.usschuß zur Herbeiführung einer staatlichen Pensions-
und Hinterbliebenen-Versicherung der Privatangestellten" zusammengeschlossenen An-
gestellten-Verbände, in: Die staatliche Pensions- und Hinterbliebenen-Versicherung der·
Privat-Angestellten, Schriften des Deutschen Werkmeister-Verbandes 1, 3. Aufl.. (Düssel-
dorf 1906), 14 f. Zum Folgenden genauer KocKA, Unternehmensverwaltung, 536 ff.
71 Nach einer Statistik verschiedener Angestellten-Verbände, die die Regierung bearbeitete,
gehörten 68,29 % aller männlichen und 93,57 % aller weiblichen Angestellten der beste-
henden Alters- und Invalidenversicherung an (1903). Vgl. Die wirtschaftliche Lage der
Privatangestellten. Denkschrift über die im Oktober 1903 angestellten Erhebungen,
bearb. im Reichsamt des Innern (Berlin 1907), 17.
79 Solche Äußerungen seitens verschiedener, meist kaufmännischer Angestelltenorgani-
sationen finden sich spätestens seit 1895. Vgl. ALFONS ENNESCH, Zur Frage der Pensions-
und Hinterbliebenen-Versicherung für Privatbeamte, Schriften des Butib 9 (Berlin 1906),
42 ff.; Privat Beamton-Zcitung 11 (1805), 124. 135.
78 Auf die Frage der Regierungsbeamten an die ihre Wünsche vorbringenden Angestellten-
vertreter, was ein Privatangestellter denn eigentlich sei, arbeitete der Haupta.usschuß
1903 eine Selbstdefinition aus, die diese negative Gemeinsamkeit betonte: Als Privat-
angeatelltt im Sinne dieses Gesetzes gelten Persunen, welche gegen Gehalt im Privatdien8te
oder bei 81,aatUchen, kommunalen oder kirchl,ichen Behörden in noch nicht, mit Pensüm&-
124
c) AVG und 'neuer Mittelstand' Ange1tellter
berechtigung a'UB(/esf,attden Stellen be11chäftigt sind, soweit sie nicht als gewerbliche .Arbeiter
(Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge, Fabrikarbeiter etc.), als Tagelöhner und Handarbeiter oder
als Gesinde Dienate verrichten. Vgl. Jb. f. d. soziale Bewegung der Industriebeamten 1
(Berlin 1907), 129. Zur Kritik vgl. PoTTHOFF, Der Begriff des „Angestellten", Arbeits-
recht 1 (1914), 97 f.
7' Vgl. Stresemanns Stellungnahme im Reichstag, oben S. 121.
76 Vgl. Privat-Beamten-Zeitung 5 (1889), 3 sowie den Aktionsaufruf des Deutschen
ler (ebd., 7); ähnlich schon 1901 bei Bö'I'TGER, Mittelstand, 40. Marbach macht darauf
aufmerksam, daß mit neuer Mittelstand eigentlich der unselbständige Mittelstand gemeint
war, zu dem auch alte Berufe, wie der des Buchhalters, rechneten; vgl. FRITZ MARBACH,
Theorie des Mittelstandes (Bern 1942), 196 ff.
79 So der Abgeordnete Lmz (Reichspartei) am 14. 3. 1907, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd.
227, 481.
125
Aqeltellter II. 3. 'Angestellter' und 'Arheiter' bis 1911
88 So der Nationalliberale v. HEYL am 14. 3. 1907, ebd., 467 und TRIMBORN (Zentrum)
am 20.. 10. 1911, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 268, 7439. Stresemann gebrauchte den
Begriff vom 'neuen Mittelstand' mit Berufung auf Schmoller; vgl. Gusuv STRESEMANN,
Die Stellung der Industrie zur Frage der Pensions-Versicherung der Privatangestellten
(1906), in: Wirtschaftspolitische Zeitfragen (Dresden 1910), 49.
81 So SOHMIDT (SPD) am 20. 10. 1911, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 268, 7444.
81 Vgl. THEODOR GEIGER, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer
126
m. Aushlick Angestellter
zwischen dem Prinzipal und dem Arbeiter86 präsentiert, um vor den andern Arbeit-
nehmern privilegiert zu werden. Abgesehen davon, daß diese Kennzeichnung fak-
tisch nicht zur Auswahl des anges.telltenversicherungspfiichtigen Personenkreises
benutzt wurde, traf sie keineswegs auf alle aufgezählten Berufsgruppen zu 87 • Sie
diente vielmehr als ideologische Rechtfertigung einer ganz anders entstandenen
Entscheidung.
ID. Ausblick
Wenn das AVG auch nur den Kreis der versicherungspflichtigen Angestellten um-
riß, so bedeutete das in einer Situation, in der es noch keinen festen allgemeinen
Angestelltenbegriff gab, die Entscheidung darüber, wer überhaupt Angestellter -
im Gegensatz zum Arbeiter -war, zumal der Angestelltenbegriff des AVG in andere
Gesetze des Sozial- und Arbeitsrechtes übernommen wurde und so seine gruppcn-
strukturierende Kraft verstärkte. In Praxis und Diskussion der nächsten Jahrzehnte
galt oft mangels be1515erer Kriterien als Angestellter, wer angestelltenversicherungs-
pff,ichti.g ist88.
Die Identifikation von Versicherungs- und allgemeinem Angestelltenbegriff wurde
durch die spätere (1924) Ausweitung des AVG-.Hcrufägruppcnko.t!Llogs o.uf die nio -
deren Büroangestellten crlciohtcrt8 9 • Die Klassifizierung der Angestelltentätigkeiten
als „gehoben" und „beamtenähnlich" und damit die Begründung ihrer .Privilegie-
rung erschien dadurch allerdings noch fragwürdiger als bei ihrer Verkündung 1911,
zumal der technologische _Fortschritt ständig neue, oft sehr arbeitsteilig-routini-
sierte, wenig qualifizierte Tätigkeiten hinzufügte. Der mittelständische Anspruch
der Angestellten und ihre soziale Verortung als Position zwischen den Klassen
(LEDERER) verloren fortschreitend an Berechtigung, wenn das Wort vom 'neuen
Mittelstand' auch noch nach der viele deklassierenden Wirtschaftskrise das ideolo-
gische Selbstverständnis zahlreicher Angestellten ausdrückte und in politischen wie
in wissenschaftlichen Diskussionen als Alternative zu klassengesellscha.ftlichen Vor-
stellungen fortwirkte 90• Für Juristen und Sozialwissenschaftler wurde es zunehmend
88 Vgl. den Regierungs-Entwurf zum AVG vom 20. 5. 1911, Sten. Ber. Dt. Reichstag,
Bd. 281 (Nr. 1035 der Änlagen), 68 ff. und Staatssekretär DELBRÜCKS Begiündung im
Reichstag am 19. 10. 1911, Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 268, 7432 f. Der Entwurf unter-
schied sich von der Endfassung u. a. dadurch, daß er die Bureauangestellten, soweit sie
§ 1, Abs. 2 der endgültigen Fassung nannte, noch nicht, dafür aber die später weggelas-
senen ka.ufminnischen Lehrlinge einbezog.
87 Etwa auf die große Gruppe der Ladengehilfen und -lehrlinge trafen Kriterien wie
Beamtenähnlichkeit oder gehobene Stellung ... _zwi&cken dem Prinzipal und dem Arbeiter
nicht zu.
88 Dies stellte 1931 LUDWIG HEYDE fest; Arl. Angestellte und Angestelltenbewegung, in:
zwischen Arbeit und Kapital; Em:r. LEDERER, Die Privatangestellten in der modernen
Wirtschaftsentwicklung (Tübingen 1912), 25 f. 215 f. 290. 1926 sah er die Basis dieser Mittel-
stellung schwinden; LEDEREii./Mil.sCHA.K, Der neue Mittelstand, 141. Doch noch 1932
127
Angl'.stellter m. Auahlick
schwieriger, Grundlage und Einheit des Angestelltenbegriffs zu bestimmen. Wäh-
rend sich jene u.a. auf die „Verkehrsanschauung" beriefen - die doch ihrerseits
engstens von Gesetzgebung und Rechtsprechung bestimmt war91 - , schlugen einige
V()n diesen eine Revision des Begriffs und der von ihm gemeinten, sich tendenziell
ohnehin den Arbeiterverhältnissen angleichenden Wirklichkeit vor92• Doch wie die
Entstehung der begrifflichen Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern
auf das engste mit sozialen und politischen Interessenkonflikten und -ausgleichen
verknü,pft war, so stehen ihrer Revision starke Interessen entgegen, solange die
Begriffsdifferenz nicht all ihren Wirklichkeitsgehalt verliert.
JÜRGEN KOCKA
hatte sich Geiger mit dem „neuen Mittelstand" und der Affinität seiner ständischen An-
sprüche zu nationalsozialistischen Versprechungen auseinanderzusetzen; GEIGER, Soziale
Schichtung, 98 ff. 109 ff. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Begriff kaum mehr an-
gewandt. Zur Verwendung von Mittelstandsbegriff und -theorien in der sozialwissenschaft-
lichen Diskusaion vgl. SIEGll'RIED BRAUN, Zur Soziologie der Angestellten (Frankfurt
1964), 24.
91 Vgl. H. SCHÜLER-SPRINGORUM, Wer ist Angestellter?, Der Betriebsberater 13 (1958),
237.
92 Vgl. Zur Neuabgrenzung der Begriffe Angestellter und Arbeiter. Ein Ausschußbericht,
hg. v. d. Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e. V. (Berlin 1959), bes. 19 ff.; GÜNTER
HARTFIEL, Angestellte und Angestelltengewerkschaften in Deutschland (Berlin 1961),
110 ff.
128
Antisemitismus
I. Einleitung. II. 1. 'Semitismus' und der säkulare Begriff des Juden als VoraUBBetzungen.
2. Entstehung und Verbreitung des Begriffs 'Antisemitismus'. 3. Bedeutung und Funktion
des Begriffs 'Antisemitismus'. III. 1. Entwicklungen im Kaiserreich. 2. Der Begriff 'Anti-
semitismus' im Nationalsozialismus. IV. Ausblick.
1. Einleitung
Das Wort 'Antisemitismus' ist eine Neubildung aus dem letzten Drittel des 19. Jahr-
hunderts. Seit der Antike und zumal seit der frühchristlichen Zeit hat es in Europa
eine Judenfeindschaft gegeben, die wesentlich vom Religionsgegensatz bestimmt
war. Im Mittelalter bildete sich infolgedessen eine ständische Absonderung der
Juden heraus, die Glaubensgemeinschaft wurde zur isolierten Lebensgemeinschaft,
die religiöse Judenfeindschaft verband sich mit der Feindschaft gegen eine außerhalb
der ständischen Gesellschaft stehende Gruppe. Das Wort 'Antisemitismus' meint
demgegenüber eine grundsätzlich neue judenfeindliche Bewegung, die sich seit dem
Jilnde der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zunä.chstin Deutschland, Osterreich
und Ungarn, dann vor all~m in Frankreich und unter anderen Bedingungen in
Rußland und anderen ost- und südosteuropäischen Ländern ausbreitete. Deutsch-
land ist das Ursprungsland dieser Bewegung und zugleich die Heimat des Begriffs
'Antisemitismus', der von hier aus - vielfach ausdrücklich als aus dem Deutschen
übernommenes Fremdwort bezeichnet - rasch in andere Sprachen eindrang:
antisemitism (engl.), antisemitisme (franz.), antisemitismo (span., ital.}, aHTH-
ceMHTHBM (russ.), antiszemitizmus (ungar.), antisemitism (rumän.) usw.
Als Schöpfer des Begriffs 'Antisemitismus' gilt im allgemeinen der deutsche Schrift-
steller Wilhelm Marr, dessen judenfeindliche Agitationstätigkeit 1879/80 ihren
Höhepunkt erreichte; Belege für diese Annahme sind jedoch nicht vorgelegt
worden. Die Wortbildung 'antisemitisch' ist bereits 1865 im RoTTECK/WELCKER-
schen „Staatslexikon" nachzuweisen, wo das Königtum unter tlen Jutlen als eine
antisemitische Geburt bezeichnet wurde1. Es handelt sich dabei jedoch um eine
zufällige und folgenlos gebliebene Formulierung, die etwa dem im gleichen Jahr
im ~,Staatswörterbuch" von BLUNTSCHL1/BRATER zu belegenden unsemitisch ent-
spricht2. Ähnlich dürfte es sich auch mit einer gelegentlich behaupteten, aber nicht
nachgewiesenen frühen Verwendung des Wortes durch Ernest Renan verhalten 3 ,
denn von einem etwaigen Wortgebrauch bei Renan gibt es jedenfalls keine Kon-
i GusTAV WEIL, Art. Semitische Völker, RoTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 13 (1865), 328.
In der 1. und 2. Aufl. fehlen entsprechende Artikel.
2 FERDINAND Hrrzm, Art. Semitische Völker und semitisches Recht, BLUNSCHTLI/BRATEB
9-90385/1 129
Aadaemitismus ß. I. 'Semitümu' unll tler llÜulare Begriff tles Jullen
n.
I. 'Semitismns' und der säkulare Begrift' des Juden als Vora1188ebungen
' Vgl. ROBERT F. BYRNES, Antisemitism inModemFrance, vol. l (New Brunswick 1950), 81.
'AtrG. LtJDWIG v. Scm.özER, Fortsetzung der Allgemeinen Welthistorie, Bd. 31 (Halle
1771), 281; vgl. WOLFGANG FRH. v. SODEN, Art. Semiten, RGG 3. Aufl., Bd. 5 (1961),
1690; FRIEDRICH SCHMIDTKE, Art. Semiten, LThK. 2. Aufl., Bd. 9 (1964), 653 ff.
'JoH. GoTTFRIED EICHHORN, Einleitung in das Alte Testament, Bd. l (Leipzig 1787),
45 ff.; vgl. dazu auch EBNEST RENAN, Histoire generale et systeme compare des langues
semitiques, t. l (Paris 1855), 2.
7 Vgl. Rhein. Conv. Lex., Bd. 7 (1827), 280, Art. Linguistik; HÜBNER 31. Aufl., Bd. 4
(Paris 1853/55; fast genau hundert Jahre nach RoUBlle&us berühmtem „EBBai").
1o Vgl. die in Anm. 8. 9 u. 11-13 genannten Schriften, sowie allgemein: The Jewish
Encyclopedia, vol. l (New York, London 1901; Ndr. 1964), 641 ff.
130
II. 1. 'Semitismus' und der säkulare Begriff des Juden Antisemitismus
11 Vgl. z.B. PAUL DE LAGARDE, Die Religion der Zukunft (1878) u. Die graue Inter-
nationale (1881), in: Dt. Sehr., 4. Auß., (München 1940), 255 ff. 367; Lagarde benutzte
differenzierend die Begriffe 'Juden' und 'Semiten'. ADOLF WAHRMUND, Das Gesetz des
Nomadenthums und die heutige Herrschaft der Juden (1887; 2. Auß. Berlin 1892); Wahr-
mund spraoh vom „Aaio.tiamua" und vom „Nomo.dontum" dor Juden.
i2 Vgl. Anm. 1. 2. u. 13.
19 Jou. KAsPAR BLUNTSCHLI, Art. Arische Völker .und arische Rechte, BLUNTSCKLI./
BRATER Bd. 1 (1857), 319 ff. - Auch ein Jude, MOSES HEss, übernahm, wenn auch mit
anderem Akzent, diese Gegenüberstellung: Dynamische Stofflehre (Paris 1837), 32 f. 36;
vgl. o.uoh Anm. 23.
131
Antisemitismus II. 1. 'Semitismus' und der silkulare Begri« des Juden
dern auch anthropologischen Kategorie. Zugleich wurde ein „Geist" des Judentums
konstruiert, der weit über den Bereich des Religiösen hinaus das Insgesamt des
politischen, sozialen und kulturellen Lebens der Juden einheitlich verstehbar
machen sollte. Der Geist des Judentums wurde als Volks- und Nationalgeist oder
(und) als weltgeschichtliches Prinzip aufgefaßt und blieb, gerade mit seiner negativ
kritischen Tendenz, keineswegs auf das Judentum des Alten Testaments beschränkt.
Diese Konstruktion ermöglichte die allmähliche Ablösung des Begriffs 'Judentum'
von der Religion14. In Philosophie und Wissenschaft wurden solche Deutungen, im
allgemeinen mit mehr oder minder negativen Wertungen verbunden, vielfach
üblich1 5• Die Hypostasierung einer historisch festgestellten Eigenschaft zum
„Wesen" des Judentums haben dann vor allem zahlreiche Sozialisten vorgenom-
men. Sie knüpften an die ältere Identifikation von Jude und Wucher etc. an und
übertrugen diese Beziehung aus der ständischen in die bürgerliche Gesellschaft;
dabei verwendeten sie den Begriff 'Jude' von vornherein in einem eindeutig säku-
laren Sinn. Zumal in Frankreich hat sich im Anschluß an Fourier, besonders bei
Toussenel und Leroux, die Identifikation des als Nation aufgefaßten Judentums
mit Handel, Banken, Kapitalismus und Ausbeutung ausgebildet,18•
In Deutschland sind für diese Position die Thesen von KABL MARX aus seinem
Aufsatz „Zur Judenfrage" von 1844 charakteristisch17. Die Juden seien weder
Religionsgemeinschaft noch Volk, ihre Nationalität eine schimiirische ... : Suchen
wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis
der Religion im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums?
Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden?
Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Das gelte auch für die
Religion: ihre Grundlage sei das praktische Bedürfnis, der Egoismus . . . Der Gott
der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott gewO'Tden. Der Wechsel ist der
wirkliche Gott des Juden. Inzwischen sei der praktische Judengeist zum praktischen
Geist der christlichen Völker geworden; ... aus ihren eigenen Eingeweiden erzeugt
die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden. Das Judentum sei der höchste
praktische Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung1 8 •
u Vgl. HEGEL, Theologische Jugendschriften, hg. v. Hermann Nohl (Tübingen 1907), 243 ff.;
LUDWIG FEUERBAOH, Das Wesen des Christentums (Leipzig 1841), Kap. 12; BRUNO
BAUER, Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, Bd. l (Zürich, Winterthur 1843), 71: Der
Jude müsse, um Mensch zu werden, seine Religion und das sclbimäre Privilegium sein.er
Naticmalität ganz und gar aufgeben; ders., Die Judenfrage (Braunschweig 1843). - Zu
den Junghegelianern ELEONORE STERLING, Er ist wie du. Aus der Frühgeschichte des
Antisemitismus in Deutschland 1815-1850 (München 1956), lll ff.; zur anthropologischen
Verwendung des Wortes 'Jude' in der Populä.rliteratur vgl. ebd., 76.
u Vgl. HEINRIOH LEO, Vorlesungen über die Geschichte des jüdischen Staates (Berlin
1828); .ARTHUR SOHOPENHAUER, Parerga 2 (1852), SW 2. Aufl., Bd. 6 (1947), 402 ff.
l& Dazu EDMUND SILBERNER, Sozialisten zur Judenfrage (Berlin 1962), 16. 46. 57 u.
passim. Schon der Saint.Simonist ENFANTIN hat, freilich positiv, definiert: Die Juden, das
ist der Handel; ebd., 14.
17 KARL M:ARx, Zur Judenfrage, MEW Bd. l (1957), 347 ff.; die Schrift richtete sich gegen
die Abhandlung Bruno Bauers zur Judenfrage; freilich war das Thema der Judenfrage nur
Anlaß, das allgemeine Thema der Emanzipation zu behandeln.
lB Ebd., 348. ·372 f. 374 f.
132
Il. 1. 'Semitismus' und der säkulare DegriJI des Juden Antisemitismus
19 Eine Fülle von Belegen, die freilich oft ungenau zitiert und nicht chronol.Ogisch fixiert
133
Antisemitismus D. 1. 'Semitismas' und der säkulare Begrlif des Jaden
H Zum Kampf um die eigentliche Benennung zur Zeit der beginnenden Emanzipation
- 'Juden', 'Israeliten', 'Hebräer', 'Mosaisten' - vgl. für Preußen ALFRED STERN, Ab-
handlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit (Leipzig 1885),
246. 255. 260.
15 WOLFGANG MENZEL, Cottasches Literaturblatt (1837), 93 u. ö.; vgl. GABRIEL RIESSER,
Jüdische Briefe, 2 Bde. (Berlin 1840/42), paBBim; auch: ders„ Ges. Sehr., hg. v. M. lsler,
Bd. 4 (Frankfurt, Leipzig 1868), 37 ff.
18 LUDWIG lllussER, in: Verh. d. 2. badischen Kammer 1861-63, 6. Beilagenheft, 134.
17 J. K. BL'UNTSOIILI, Art. Judcn„BLUlllTllOIILI/BBA.TJDB Bd. 5 (1860), 444.
18 fu.R.Ry BRESSLAU, Zur Judenfrage. Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heinrich
von 'l'reitschke, 2. Aufl. (Berlin 1880), 5; jetzt in: Der Berliner AntisemitismUBBtreit,
hg. v. WALTER BoEBLICH (Frankfurt 1965), 54. Vgl. EuGEN Dümmm, Die Judenfrage als
Racen-, Sitten- und Culturfrage (Karlsruhe, Leipzig 1881), 4: Wenn ich im Fol,ge'IUJ,en kurz-
weg von Jwn rede, so brauche ich diese Bezeichnung in ihrem natürlichen Sinn, also für
134
II. 1. 'Semitismus' una der säkulare Begriff lies Jullen Antisemitismua
der Meinung war, bei den Juden handle es sich weniger um den Glauben al,s um ·
die Race, schrieb von einem Gründungsunternehmer, .er habe alle Konkurrenten
überflügelt: uwl doch ist er nicht einmal semitischer, sondern bloß .germanischer
Abkunft. Andere Autoren begnügten sich mit dem zusammenfassenden Begriff
Semiten 29 • 'Semitismus' konnte schließlich in diesem Sinne im BROCKHAUS als
eine Bez:eichnung für das ausschließlich vom ethnologischen Stawlpunkt aus betrachtete
Judentum definiert werdenso.
In die im 19. Jahrhundert entstandenen säkularen Begriffe des Juden und des
Judentums waren viele der in der Tradition der abendländischen Judenfeindschaft
erwachsenen negativen Vorstellungen eingegangen. Die Begriffe boten sich daher
schon im frühen 19. Jahrhundert als Inbegriff des Negativen an: Was man Ver-
werfliches uwl Verhaßtes wahrnehmen oder erdichten mochte, - Zerstörendes uwl Va-
terlund/e·indl-iclIBs ·im Gebiete der Politik, UnsiUUc'/tes in d,em dtr M<>ral oder der
;t"sthetik, Frivoles, dem Christentum uwl allen Heiligen Feindliches in dem der
Rez.ig·ion - das ... wurde den Juden oder „ji14ischem Wesen, ji/4ischem Hasse,
jüdischen Leidenschaften, jüdischer Frechheit" usw. zugeschrieben 31• Solche negativen
Wmt.nngP.n 1mrl Vorstellungen dominierten in der Blütezeit des proemanzipa-
torischen Liberalismus keineswegs„11ie w11.r1m oft nnr unt.erschwellig vintlent, aber
sie waren vorhanden. Und sie prägten nun insbesondere den Bedeutungsgehalt der
in den siebziger Jahren sich verbreitenden ßegrüfe '8emiten', '8emitentum' und
'Semitismus' 32 • 'Semit' (oder 'Jude') konnte einfach als abwertende Bezeichnung
gebraucht werden 3 3.
Insbesondere aber gewannen die vereinzelten Ansätze zur ldentifilmtion von Ju-
dentum und Modernität nun erheblich an Gewicht und Resonanz und verbanden
sich zu einem einheitlichen Vorstellungskomplex. Alle Komponenten der Modeme
und der eigenen Gegenwart, die man negativ bewertete, konnten mit den Begriffen
'Semitismus', 'Semitentum', 'semitisches Wesen', 'semitische Talente', 'semitischer
Geist' verknüpft werden. 'Semitismus' usw. war mehr als nur das vom ethnologischen
Abstammung und Race. Dühring sprach auch schon von Halb- und Viertelsjuden oder auch
Dreiviertel8juden neben Vollblutjuden,· ebd., 144.
19 0. GLAGAU, Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin (Leipzig 1876), 317. 343;
vgl. Die deutsche Wacht (März 1880), 281: Semiten. Juden oder gdaufte Juden. Auch
BISJllARCK sprach im Sommer 1879 davon, er wolle den reckten Flügel der Nationalliberalen
•.• von den Semiten •.• (Lasker und Bamberger) trennen; zit. Lucros FBH. v. BALLBAusEN,
Bismarck-Erinnerungen (Stuttgart, Berlin.1920), 163 f.
80 BROCKHAUS 14. Auß., Bd. 14 (1895), 847; ähnlich ·:MEYEB 5. Auß., Bd. 15 (1897),
899: Semitismus, Bezeichnung für die Gesamtheit der Juden als Volksstamm, ohne Rücksickt
auf die Religion.
31 RmssER, Jüdische Briefe (1840), Ges. Sehr., Bd. 4, 133.
31 Für Frankreich vgl. SILBERNEB, Sozialisten, 65 über den Gebrauch von 'Arier' und
am 22. 11. 1880, es sei eine Tat8acke, daß man den .Na1men „Jude" iiberka1q)t 8Ckon als etn
Brandmal gebrauCht, da/J man aagt, man aei mit dem M enacken, den Butrebungen, den
Tendenzen, den <kdanken deaaelben fertig, aobald man beka1q)tet hat, der Mann aei ein Jude,
sei ein Semit; Sten. Ber. Preuß. Abgeordnetenhaus (1881), Bd. 1, 255.
135
Aotisemimmu• ll. 1. 'Semimmm' und der 1äkulare Begrift' des Juden
Standpunkt betrachtete Judentum, es war ein Zerrbild der Moderne 34• 'Semitismus'
war Synonym oder Umo.ohc für den Ko.pito.liamuo, für die o.uo den Bindungen von
Zünften, Ständen und Kirchen sich befreiende bürgerlich-liberale Gesellschaft, für
ihre antagonistische und pluralistische Struktur, für die Auflösung der Tradition,
für die Traditionskritik der Literaten, für die Macht der Presse, für linksliberale,
aufklärerische und westlich-demokratische, ja auch schon für sozialistische Ideen,
für den „Materialismus" und die „Veräußerlichung" der Zivilisation, schließlich
für den vermeintlichen Mangel an nationaler Integration, an wahrem Deutschtum
im Reich von 1871.
Diese Identifikation von Modernität und Judentum hing mit der modernen Juden-
frage zusammen. Emanzipation der Juden und Ausbildung der Moderne waren
gleichzeitig verlaufen. Die Emanzipation, die nicht nur Eintritt in die bürgerliche
Clesellschaft, sondern auch innere Ablösung vom traditionellen Judentum bedeutete,
hatte ein „neues" Judentum geschaffen. Die soziokulturelle Assimilation war aber
noch keineswegs vollendet, und'darin hatten bestimmte Besonderheiten der jü-
diimhen Minorität, die traditionskritische Po.c;ition der jüdischen Intelligenz, die
im Vcrglcioh zum Gesamtvolk' disproportionale Berufsverteilung der Juden und
ihre spezifische Wirtscha.fts~eba.rung ihre Ursache. Der Anteil der Juden o.m kapi·
talistischen System, am kritischen Journalisten- und Literatentum und an poli-
tiin:h link~ttilienden l!'Uhrung1:1gruppen war relativ hoch, das Judentum stand in
einer charakteristischen „Nähe" zu den Einrichtungen der Moderne. Die von den
Judengegnern vorgenommene Identifikation von Judentum und Modernität ist
allerdings allein als Reaktion auf solche Nähe nicht zu erklären, die entscheidende
Rolle spielten vielmehr alte Judenfeindschaft, Vorurteile gegen die Minorität und
Opposition gegen die Moderne überhaupt.
Für die siebziger Jahre nun ist der Gebrauch des Begriffs 'Semitismus' oder ent-
sprechender Begriffe vor allem Ausdruck einer Fundamentalkritik an den Prin-
zipien und Erscheinungsformen der modernen liberalen Gesellschaft. So urteilte
TREITSCHKE 1879 in diesem modernitätskritischen Sinn: Unbestreitbar hat das
Semitentum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-Unwesens großen
Anteil, eine schwere Mitschuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage, der
ieae Arbeit nur noch als Geschäft betrachtet und die alte gemütliche Arbeitsfreudigkeit
:unseres Volkes zu ersticken droht 36 • In den „Ära"-Artikeln der „Kreuzzeitung" von
1875 war die damalige Politik des Reiches als Judenpolitik und als Banquiers-
Liberalismus unter semitischer Führung diffamiert wordenH, und GLA.GAU meinte:
Das Judentum ist das angewandte, bis zum Extrem durchgeführte Manchestertum ...
Die soziale Frage ist wesentlich Gründer- und J udenfrage 87 • DÜHRING schließlich
84 Vgl. die Äußerung des Abg. DR. MEYEB (Breslau), ebd.: Man aagt, man faaae unter dem
Namen „J'l«IR:nJ;um" gewisse kranke und verwerfliche Bestrebungen der Zeit zuaammen.
86 HEINRICH v. TBEITSOHKE, Unsere Aussichten (1879), zit. BOEHLICH, Antisemitismus-
streit, 9.
an Kreuz.Zeitung (1875), Nr. 148 ff.
87 0. Gu.GAU, Der Bankerott des Nationalliberalismus und die „Reaktion" (Berlin 1878),
71, zit. PAUL W. MA.ssmG, Vorgeschichte des politischen Antisemitis:mus (Frankfurt 1959),
10. Ähnlich Naudh: das Judentum sei die Religion dea Mancheatertuma; H. NAUDH [d. i.
H. G. NoRDMANN], Professoren über Israel (1880), zit. BoEHLICH, Antisemitismusstreit,
186.
136
D. 2. Entstehung des BegrUfs 'Antisemitismus' Antisemitismus
schrieb: Warum ist der Deutsche Geist gegenwärtig so unheimisch bei sich selbst?
Weil er sich nicht bloß in der Religion, sondern auch im Geistesleben und namentlich
in der Literatur vergessen und an das Judentum veräußert hat 38 • Manche der Kritiker
gingen so weit, von einer drohenden oder wirklichen Herrschaft des Judentums
über Deutschland und die Welt zu sprechen, so MARR im Sommer 1879: Ich bin
überzeugt, ich habe ausgesp;ochen, was Millionen Juden im stillen denken: Dem Semi-
tismus gehört die Weltherrschaft 39 • Und CoNSTANTIN FRANTZ schloß 1876 eine
Polemik gegen den allgemeinen Materialismus, den Kultus des Erfolges, die Ver-
drängung des Christentums mit den Worten: Wer regiert denn nun eigentlich im
neuen Reiche? und wozu haben die Siege von Sadowa und Sedan gedient, wozu sind
denn die Milliarden erbeUtet, wozu wird Kultur gekämpft, wenn nicht vor allem zur
Beförderung der Judenherrschaft? Und da will man uns von dem Aufschwung unserer
Nationalität reden, wo viel mehr ein rechter Deutscher vor diesem verjudeten Neu-
d.e.1,i.scnt1tm. e.iriR.n fiiTmlir.hR.n Ti:lrR.l P.m.pfinikn m.iir.ht.&0 •
Es kann kaum überraschen, daß sich das Schlagwort 'Semitismus' in Deutschland
in den siebziger. Jahrfm imtAr dem Eindruck der Wirtschaftskrise, des Kultur-
kampfes und des Niedergangs dos Liboro.lismus mit großer Schnelligkeit ver-
breitete: mit Recht konnte man 1879 den Begriff Semitentum als neudeutschen
Jargon charakterisieren41 • Angesichts der seit Mitte der siebziger Jahre einsetzen-
den, zunächst vor allem vuu KornfürvaLiveu uud ZenLrumspublizisteuU getragenen
judenfeindlichen Bewegung konnte die Bildung eines entsprechenden Gegenbegriffs
beinahe nur noch eine Frage der Zeit sein.
137
Antisemitismus D. 2. Entstehung ties Begriffs 'Antisemitismus'
&a THEODOR MoMMSEN, Auch ein Wort über unser Judenthum, 3. Ndr. (Berlin 1880), 11;
138
ß. 2. Entstehung des Begriffs 'Antisemitismus' Antisemitismus
H Der Aufruf zur Bildung einer „Antisemiten-Liga" erschien als Inserat in der „VoSBischen
Zeitung" v. 26. 9. 1879; am 27. 9. 1879 wurde er in der „Germania" im redaktionellen Teil ab-
gedruckt, wobei im Kommentar auch von einer antisemitischen. Liga gesprochen wurde.
Die Statuten erschienen Mitte Oktober: Statuten des Vereins „Anti-Semiten-Liga",
Berlin (0. Hentze), Anfang Oktober 1879 (7 Seiten). Die „Antisemiten-Liga", die von
Marr schon im Sommer }879 gefordert worden war (s. Anm. 44), entstand nach einer Dar-
stellung der „Deutschen Wacht" (April 1881) besonders unter Ma"'s Mitwirkung (lS).
Insofern ist es sachlich sicherlich nicht unberechtigt, Marrs Namen mit der Entstehung
und Verbreitung des Begriffs 'Antisemitismus' in Verbindung zu bringen.
17 W. M.4.RR, Der Judenkrieg, seine Fehler und wie er zu organisieren ist. Antisemitische
Hefte 1 (Chemnitz 1880), 15; die „Antisemiten-Liga" hielt 1879 lediglich eine einzige öf-
fentliche Veranstaltung ab.
u Schon Mitte Oktober 1879 veröffentlichte ein Anonymus eine Persiflage auf die
„Antisemiten-Liga": Der Anti-Verjüdelungsverein. Ein Komisches Epos von 10 Gesängen
vonJuliusSimplex. - Am28.November inserierte in der „VossischenZeitung" bereits ein
I. antisemitisches Restaurant.
0 TREITSCHKE, Uns'ere Aussichten, zit. BoEHLICH, Antisemitismusstreit, 7 (s. Anm. 35).
MoMMSEN, Judenthum (s. Anm. 43); auch zit. BoEHLICH, Antisemitismusstreit, 211. 213.
221 ff. .
60 TREITSCHKE, Zur inneren Lage am Jahresschlusse (1880), zit. BOEHLICH, Antisemitis-
musstreit, 225. ·
139
Antisemitismus II. 3. Bedeutung und Funktion des Begrift's
n Text der Petition: SCllULTHESS, Geschichtskalender (1880), 208 ff.; vgl. dazu die Verhand-
lungen im Preuß. Abgeordnetenhaus am 20./22. 11. 1880: Sten. Ber. (1881), Bd. 1,
226 ff. mit zahlreichen Beispielen für den Sprachgebrauch in der „Judenfrage".
61 PAULUS CABSEL, Die Antisemiten und die evangelische Kirche (Berlin 1881); KARL
nach VoraUBBetzungen, Wesen, Berechtigung und Folgen dargelegt. Ein Beitrag zur Lö-
sung der Judenfrage (Zürich 1884).
64 Vgl. AnoLF STÖCKER, Sozialdemokratisch, sozia.Iietiech und christlich-sozial (1880), in:
Christlich-Sozial, Reden u. Aufs„ 2. Aufl. (Berlin 1890), 215 ff.; WALTER FRANK, Hof-
prediger Adolf Stöcker und die christlich-soziale Bewegung (1928; 2. Aufl. Hamburg
1935), 83; 229 (-+Christentum mit Exkurs: christlich-sozial).
66 So in einem Rückblick am 25. 7. 1882, S. 489. Einwände gegen den Begriff 'Semitismus'
e. S. 134; vgl. LUDWIG BAMBERGER, Deutschthum und Judenthum (1880), zit. BoEHLICH,
Antiscmitismusstreit, 159.
68 Vgl. auch den Leitartikel von L. PmLIPPBoN, Wie steht es gegenwärtig um den „Anti-
semitismus"? (26. 4. 1881), 267 f. Da von einzelnen Organisatoren der studentischen
„Antisemiten-Petition" 1880 gegen die Bezeichnung 'Antisemiten' protestiert worden war,
schlug QumDE, Antisemitenagitation, 17 vor, sie statt dessen Semitophoben oder vielleicht
am paaaendaten Semitoklaaten zu nennen.
140
II. 3. Bedeutung -a Funktion tlea Begriffa Antisemitismus
Deutschland aus wurde der Begriff 'Antisemitismus' rasch in andere Länder ge-
tragen. In Österreich ist er bereits zu Beginn der achtziger Jahre nachweisbar,
ebenso in Ungarn, wo es schon Mitte der siebziger Jahre erste Ansätze zu einer
judenfeindlichen Organisation gegeben hatte 67 ; in Frankreich findet er sich eben-
falls seit Beginn der achtziger Jahre, so z. B. in dem Titel einer kurzlebigen Zeit-
schrift L' Antisemitique von 1883 oder in E. DRUMONTS Plan einer Alliance anti-
semitique universelle von 1886 58 • Die Bedeutung des Begriffs 'Antisemitismus'
blieb jedoch in diesen Ländern ebenso vage wie in Deutschland. Bei den ver-
schiedenen Strömungen, die alle in den Antisemitismus ausliefen, schrieb 1884
E. LEHNHARDT, war ein 'bestimmter, faßbarer Begriff mit dem Wort Antisemitismus
gar nicht zu verbinden 59• Man konnte von einem nationalen, einem sozialen, einem
religiösen und einem rassischen Antisemitismus 80 oder von der Richtung des Anti-
semitismus, welche sich Mäßigung und Zurückhaltung zur Aufgabe gemacht habe,
und dem extremen und gewalttätigen Antisemitismus61 , von den radikalen Anti-
semiten und einem vernünftigen Antisemitismus nationaler und christlich-sozialer
Prägung sprechen 82 ; neben den konservativen Antisemitismus Stöckers trat schon
1880 il11r r11.ililrnl 1rnt.ikonservat.ive, demokratische Antisemitismus Henricis, und
in den späten achtziger Jahren bezeichneten die Radikalen die Oemä.ßigten bereits
als Scheinantisemiten oder falsche Antisemiten und polemisierten gegen einen
Talmi-Antisemitismus oder gegen den Quartalsantisemitismus der Mit1äufer83• In
Frankreich konstatierte LEROY-BEAULmu in ähnlichem Sinne: L'antisemitisme est,
en meme temps, une gue"e de religion, un confiit de races, une lutte de classes64• Gerade
in seiner Unbestimmtheit aber lag, wie S. W. BARON treffend herausgearbeitet hat,
zunächst die besondere Stärke des Begriffs 'Antisemitismus' und damit seine poli-
tische Funktion: „The very term 'anti-Semitism' became a source of strength to
those who gathered under it ... Such an omnibus term could easily cover a multi-
tude of motives and impulses" 6 5.
'Antisemitismus', soviel stand für die verschiedenen Anhängergruppen wie für die
Gegner fest, meinte Feindschaft gegenüber Juden und Judentum, und zwar in
einem von der traditionellen Judenfeindschaft, wie sie etwa gleichzeitig in Ost-
und Südosteuropa noch anzutreffen war, durchaus unterschiedenen Sinn. Der
ö7 Belege für Osterreich bei Pu:LzER, Entstehung, 123 ff. (s. Anm. 42).
68 Vgl. BYRNES, .Antisemitism, 135. 233 (s. Anm. 4); 1882 erschien bereit in der „Rev.
politique et litteraire" ein Aufsatz unter dem Titel „La question antisemitique" (ebd.,
111). - Die Wirkung der Vorgänge in Deutschland ist belegbo.r in zwei Aufsätzen von
H. KUHN: La. question juive enAllemagne, Rev. du monde catholique71 (1881), 70ff., 147 ff.
GB LEHNHARDT, .Antisemitische Bewegung, 56.
eo STÖCKER, vgl. .Antisemitische Correspondenz (Januar 1888), 21.
8 1 WILHELM Fmr. v. IlümEBSTEIN (1885), zit. FRANK, Stöcker, 137.
141
ß. 3. Bede„lUDIJ und Funktion a„ Begriß'1
Begriff definierte nicht nur einen alten Feind in neuer Weise, sondern beschrieb mit
der neuen Definition einen neuen Feind. Zunächst: 'Antisemitismus' benannte die
säkular gewordene Verhaltensform der Judenfeindschaft und ihre Ideologie; er
richtete sich nicht gegen die Religion der Juden und basierte nicht auf der Religion
der Christen, die Religionsfrage und die theologische Legitimierung wurden se-
kundär.
Sodann, das ist das Entscheidende: Der Antisemitismus verstand sich als eine
Reaktion auf die durch die Emanzipation neu und anders gestellte „Judenfrage",
und er war, das ist die Wahrheit dieses Selbstverständnisses, eine post-emanzi-
patorische Bewegung. Der unmittelbare Zweck der Antisemit.en-Liga sei es, die uns
widerwärtigen Juden wieder in die Schranken zurückzuweisen, welche eine unbedacht,e
Gesetzgebung zu unserem Schaden aufgehoben hat 88 • Der Antisemitismus richtete
sich nicht mehr gegen eine ständisch abgesonderte, relativ machtlose Gruppe mit
eigenen Lehensformtm; er richtete sich auch nicht mehr gegen den bloßen Anspruch
dieser Gruppe, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden, sondern er richtete sich
gegen eine nunmehr der Gesellschaft selbst zugehörige und mächtig gewordene,
wenn auch nicht voll assimilierte Gruppe.
Diese Tatsache wurde - trotz des Widerspruchs der Liberalen, die im Antisemitis-
mus nichts anderes als die Reaktivierung alter Vorurteile sahen• 7 - auch außer-
halb des Lagers der eigentlichen Antisemiten im allgemeinen anerkannt: Die
antisemitische Bewegung . . . ist durch den immer mehr wachsenden wirtschaftlichen
und politischen Einff,uß der von den früheren Schranken befreiten jüdischen Bevöl-
kemng veranlaßt .und strebt danach, diese Schranken wieder aufzurichten und die
Juden aus den öffentlichen Ämtern zu verdrängen, ja sie ganz zu vertreiben•&.
Der Kampf gegen scheinbare oder tatsächliche jüdische Machtpositionen in der
Gesellschaft, gegen die sogenannte „Judenherrschaft", war es, in dem sich die
Antisemiten aller Richtungen einig waren. Der wahre „Oulturkampf" nicht gegen
die Religion der Juden, nicht gegen die gesamte Judenschaft, aber gegen den Christen-
tum und deutsches Wesen bedrohenden jüdischen Geist und gegen die unserem nationa-
1.en Wohlstande tödliche jüdische Geldherrschaft ist dringend notwendig geworden und
glücklicherweise auch schon weithin populiir89•
1894 hieß es bündig im „Staatslexikon" der Görres-Gesellschaft: Juda ist eine
Macht. Der Antisemitismus setzt sich derselben entgegen70 • Diese Formel deckte ebenso
die Ziele der radikalen, schon im biologischen Sinne rassisch denkenden Anti-
semiten, wie die der konservativen oder christlich-sozialen Antisemiten, die weniger
die Juden als den „jüdischen Geist", den „Semitismus" bekämpften und die Juden
bei Wahrung ihrer formalen Rechtsstellung „nur" aus den staatlichen Ämtern
(Schule, Justiz) verdrängen wollten.
Die bei der Wahl des Begriffs 'Antisemitismus' prätendierte Wissenschaftlichkeit,
mit der an die Stelle der älteren naiv-emotionalen Judenfeindschaft eine reflek-
88 NAUDH, Professoren, zit .. BOEHLICH, Antisemitismusstreit, 183 (s. Anm. 37).
87 Vgl. z.B. BAMBERGER, Deutschthum, zit. BoEHLICH, Antisemitismusstreit, 161 (s.
Anm.55).
88 MEYER 5. Aufl., Bd. 1 (1893), 684.
H Germania, Leitartikel v. 9. u. 10. 9. 1875 (Nr. 207. 208). Im selben Sinne argumentierten
Stöcker und seine „Christlich-Soziale Partei".
70 Sta.a.tslexikon, Bd. 3 (1894), 530.
142
D. 3, Bedeutung und Funktion des Begriffs Antisemitismus
tierte und theoretisch begründete Position gesetzt werden sollte, hat sich im all-
gemeinen Sprachgebrauch nicht durchgesetzt. Nur einige der Theoretiker des ras-
sischen Antisemitismus sahen in der „ Wissenschaftlichkeit" der neuen Bewegung
ein wesentliches Moment. .
Sozialer Träger der unter dem Begriff des Antisemitismus vereinten Bewegung
waren Gruppen, die sich durch das liberal-kapitalistische System benachteiligt
fühlten: Handwerker, Kleinhändler und ein zunächst noch geringer Teil der Land-
wirte, sowie Angehörige der alten Führungs- und Bildungsschichten, deren Aus-
sichten im Gefüge der Gesamtgesellschaft durch die Dynamik der kapitalistischen
Entwicklung bedroht zu sein schienen; dazu kamen die ideologisch - vom inte-
gralen Nationalismus, von der romantisch-pessimistischen Kulturkritik, von der
Sorge um die christliche Lebensgestaltung des Volkes oder vom Antiliberalismus
undAntikapitalillmus-motiviertenKräfte. Die Frage, warum gerade diese Grup-
pen Träger der Bewegung des Antisemitismus geworden sind, ist Gegenstand zahl-
reicher soziologischer Theorien. So hat man den Antisemitismus der Gebildeten als
einen kollektiven Nationalstolz interpretiert, der ihre Deklassierung durch die
kapitalistisch-industrielle Schicht· und das Trauma ihrer enwungenen Identi-
fikation mit dem ehemals bekämpften Obrigkeitsstaat kompensierte 71• Oder es
wird diesen Schichten in einer Krise ein besonderes Maß von Orientierungslosigkeit
zugcsohriobon, weshalb sie für die vom Antisemitismus gebotene Situationser-
klärung und Verhaltensregelung spezifisch anfällig seien72 • Die begri:ffsgeschicht-
liche Analyse kann solche Theorien weder diskutieren noch um eine weitere
Theorie vermehren.
Der Antisemitismus verstand sich als Reaktion auf die moderne Judenfrage. Aber
der Rekurs auf die Judenfrage kann das Phänomen in keiner Weise zureichend
erklären. Soziologisch wie ideologisch ist der Antisemitismus eine Protestbewegung
gegen die Ideen von 1789, gegen die liberale Staats- und Gesellschaftsordnung und
die mit ihr verbundene kapitalistische Ordnung. Die wirtschaftliche und soziale
Krise nach dem Gründerkrach hatte in Deutschland den Boden für eine solche
Bewegung bereitet. Hochkonservative und Teile des Zentrums hatten sie um 1875
zum Kampf gegen Bismarck und die Nationalliberalen benutzt, ihre Zeit war
schließlich gekommen, als sich 1878/79 die große innenpolitische Wende in Deutsch-
land vollz'og. Denn die antisemitische Agitation von Treitschke über Stöcker bis
zu Marr und Dühring galt mit ihren nationalistischen, kulturkritischen, monar-
chisch-konservativen, christlichen, antikapitalistischen oder antisozialistischen Ar-
gumenten den Juden als den exponierten Vertretern der „modernen" Entwicklung,
des liberalen Systems. Die traditionellen Vorurteile gegen die Juden verflochten
sich mit dem Kampf gegen den Liberalismus. LAGARDE z. B. meinte: Juden und
Liberale sind naturgemäß Bundesgenossen, denn jene wie diese sind nicht Naturen,
sondern K unstprodukt,e: Wer nicht will, daß das Deutsche Reich der Tummelplatz
ed. KOPPELS. PmsoN, 2nd ed. (New York 1946), 218 ff.
143
AnliliewililiwWI Il. S. Bedeutung und Funktion des Begriffs
der homurwuli werde, der muß gegen Juden und Liberale ... Frontmachen 13 • Über die
katholische Agitation von 1875 urteilte eine jüdische Zeitung: Indem sie auf die
Juden losschlagen, glauben sie, den ganzen modernen Staat, die ganze liberale Tendenz
der Gesellschaft zu tre:ffen 74 • Und LUDWIG BAMBERGER konstatierte 1808: Der
Angriff gegen die Juden ist nur eine Diversion im heutigen großen Feldzug gegen
den Liberalismus 1 5. Die deutschfreisinnige Partei und ihre Nachfolgerinnen schließ-
lich hießen bei den Antisemiten nur die Judenschutztruppe 16•
Aber nicht nur in seiner konkreten politischen Frontstellung, sondern auch in
seinem innersten Kern war der Antisemitismus eine antiliberale Bewegung. Es war
kein Zufall, daß TREITSCHKE 1879 in seinem ersten antisemitischen Artikel gegen
die weichliche Philanthropie unseres Zeitalters polemisierte und feststelleh zu können
glaubte, daß durch die Entwicklung der letzten Jahre der naive Glaube an die un-
fehlbare sittliche Macht dett Bildung erschüttert sei und Tausende zum Nachdenken
über den Wert unserer Humanität und Aufklärung gezwungen wordfm seien 77 • Schon
wenige Monate später polemisierte M. Busen im Namen der Selbsterhaltung der
Völker gegen doktrinäre „Humanität" und empfindsam angekränk,elten Kosmo-
politismus und malte die Ausweisung aller Juden aus Deutschland aus 78 , zog
H. NAUDH gegen die Bildung und die Lehre von der grundsätzlichen Gleichheit
der Menschen zu Felde 79 ; und LAGARDE erklärte bündig: Mit der Humanität
müssen wir brechen: denn nicht das aUen Menschen Gemeinsame ·ist ·unsere e·igenste
Pflicht, sondern das nur uns Eignende ist es. Die Humanität ist unsere Schuld, die
Individualität unsere Aufgabe80 •
Angst und Sorge um die Nation und um die überlieferte Kultur, um die monar-
chische Verfassung und um die traditionelle Sozialordnung und den durch sie
garantierten Status wurden die bestimmenden Faktoren .. Demgegenüber erschien
der selbstverständliche Wert der Gleichheit ebenso fragwürdig wie die Werte der
Humanität und der Aufklärung und eine an diesen Werten orientierte Bildung.
Der Antisemitismus ist darum zugleich Symptom und Folge der Tatsache, daß die
Wertvorstellungen der bürgerlich-liberalen Welt ihre Verbindlichkeit zu verlieren
begannen, ist Symptom einer Krise der modernen Gesellschaft. Weit über den
Rahmen des Parteipolitischen hinaus konnte der Antisemitismus deshalb von An-
fang an als eine Ideologie der Unzufriedenheit mit der modernen Gesellschaft und
des Widerspruchs gegen ihre konstitutiven Prinzipien fungieren.
Trotz des Antiliberalismus ist der Antisemitismus keine konservative Bewegung,
so sehr er auch politisch den Konservativen zugute kam. Er enthielt wesentliche
78 LA.GARDE, Die graue Internationale, Dt. Sohr„ 370 f. (s. Anm. 11).
"Allgemeine Zeitung des Judentums (1875), 1, zit. JACOB ToURY, Die politischen Orien-
tierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar (Tübingen 1966), 250.
71 BAMBERGEB, Deutschthum, zit. Bmmr.rCH, Antisemitismusstreit, 156.
78 TOURY, Orientierungen, 206. Der Ausdruck wurde auch von Juden gebraucht.
77 TBEITSCHKE, Unsere Aussichten, zit. BoEHLICH, Antisemitismusstreit, 5 f.
78 M. BusCH, Beiträge zur Beurteilung der Judenfrage, Die Grenzboten 39 (1880), H. l, 557.
144
ß. 3. Bedeutung unll Funktion lles BegriJfs Antisemitismus
81 BmmxEL und Am.w.uwT führten ihre Wahlkämpfe mit der Pal'Qle Ge.gen Junker und
ebd„ 82; ÜTTO BoECKEL, Die Juden, die Könige unserer Zeit, 13. Aufl. (Leipzig 1887).
8 ' LA.GARDE, Die Stellung der Religionsgesellschaften im Staate (1881), Dt. Sehr., 291.
370; ders„ Programm (s. Anm. 80), ebd., 423 f. Schon 1853 schrieb er: Ea ist unmöglich,
eine Nation in der Nation zu dulden. Und eine Nation 8ind die Juden; über die gegenwärti-
gen Aufgaben der deutschen Politik, ebd., 30. Rasseantisemit war Lagarde nicht, er hielt
eine Assimilation, freilich nur bei Aufgabe der jüdischen Religion, für möglich.
86 MOMMSEN, Judenthum, 4, zit. BOEHLIOH, Antisemitismusetreit, 211 (s. Anm. 43).
87 BAMDERGER, Deutsohthum, zit. BoEHLIOH, Antisemitismusetreit, 157.
10-90385/1 145
Antisemitismus m. 1. Entwicklungen im Kaiserreich
Sinne ist der Antisemitiamuo oin Symptom für die Loslösung des railikalen und
integralen Nationalismus von dem gemäßigten Nationalismus der Liberalen.
III.
1. Entwicklungen im Kaiserreich
146
m. 1. Entwiekluagen im Kaiserreich Antisemitismus
de der Begriff 'antisemitisch' als ausschließlich negativ kritisiert 83• Die neue Partei
wurde schließlich .Antisemitische deutsch-soziale Partei genannt. Ein Jahr später
jedoch gründete Boeckel eine .Antisemitische Volkspartei, und als 1890 fünf anti-
semitische Abgeordnete in den Reichstag gewählt wurden, nannten sich vier von
ihnen unter Boeckels Führung Fraktion der .Antisemiten84 ; schon 1893 änderte aber
auch Boeckel den Namen seiner Partei in Deutsche Reformpartei96•
Das Jahr 1893 brachte mit 2,9% der Stimmen bei der Reichstagswahl und 16 Ab.
geordneten den Höhepunkt des parteipolitischen Antisemitismus älterer Prägung.
Auch für die folgenden Jahre - bis zu den Wahlen von. 1907 - lassen sich noch
zahlreiche antisemitische Abgeordnete nennen, aber das eigentliche antisemitische·
Parteiwesen entwickelte sich stark rückläufig 98• Ständige Parteispaltungen, die
minimale Wirksamkeit im Reichstag, die geringe Integrität der Führer und vor
allem die Wirtschaftsentwicklung, die auch dem kleinen Mittelstand die Anpassung
an das industriell-kapitalistische System erlaubte - das waren die wesentlichen
Gründe für den Rückgang der antisemitischen Parteien. Die antisemitischen
Gruppen wurden zu sektenähnlichen Gebilden. Sie haben freilich gerade in dieser
Sektenexistenz den Antisemitismus 1) zu einem umfassenden „System", das Er-
klärung und Lösung aller Weltprobleme bot, entwickelt; sie haben ihn 2) in der
Nachfolge der radikalen Antisemiten der Entstehungszeit endgültig mit der bio-
logisoh-deterministisch aufgefaßten, pseudowissenschaftlich gewordenen Rassen-
lehre verbunden; sie haben 3) seine Ziele radikalisiert: an die Stelle der Zurück·
drängung des jüdischen Einflusses und der Stellung der Juden unter Fremdenrecht
traten mehr. oder minder explizit die Forderungen nach Ausweisung oder Ver-
nichtung der Juden 97 : sie haben 4) im Zuge der ansteigenden Klassenkämpfe die
antisozialistische Komponente ihrer Ideologie verstärkt: neben den „jüdischen"
Kapitalismus trat - im Anschluß an manche ältere Vorbilder, z. B. Dühring -
gleichgewichtig· der „jüdische" Sozialismus, und zwischen beiden wurde eine
imaginäre Einheit konstruiert. TH. FRITSCH mit seiner Zeitschrift ;,Der Hammer"
und seinem .Antisemitenkateck~smus 98 kann als Exponent· dieser Gruppe gelten.
Von diesem sektierenschen Antisemitismus distanzierte sich die überwiegende
Mehrheit des deutschen Bürgertums. Der Begriff 'Antisemitismus' hatte als Name
kalender, 69 ff.
88 Seit der 26. Aufl. 1907 hat er den negativen Titel fallen gelassen und das Werk „Hand-
147
Antisemitismus m. 1. Entwicklungen im Kaiserreich
und Schlagwort jener Richtungen im Bürgertum keinen iut~u. X.lang; di11 11x-
tremsten Formen des Antisemitismus waren als „Radauantisemitismus" dis-
qualifiziert. Wichtiger als Parteien und Sekten wurde für den Antisemitismus eine
Reihe von Verbänden, in denen sich der Antisemitismus mit mittelständischer
Wirtschafts- und Sozialpolitik oder mit Nationalismus und Imperialismus verband:
die 1893 gegründete mächtige Interessenvertretung der deutschen Landwirtschaft,
der „Bund der Landwirte", der zumal in seiner DorfagitationundinseinerPubli-
zistik ausgesprochen antisemitisch war; die wichtigste Gewerkschaftsorganisation
der Angestellten, der 1893/95 von Parteiantisemiten gegründete „Deutschnationale
Handlungsgehilfenverband" 99, der weniger in der Propaganda als dadurch, daß er
keine Juden aufnahm, antisemitisch orientiert blieb; die „ Vereine deutscher Studen-
ten", die sich im Zusammenhang mit der Antisemitenpetition gebildet hatten; und
schließlich der „Alldeutsche Verband", der, nachdem der aus dem völkisch-antisemi-
tiichen Deutschbund hervorgegangene H. Cla00 1008 den Vorsitz übernommen haLLe,
sich immer eindeutiger zum Antisemitismus bekannte. Auch ein Teil der Korpora-
tionen und Burschenschaften ging mehr oder minder offen zum Antisemitismus
über. Der feudal und LrauiLiunell bestimmte Antisemitismus des Offizierskorps wirkte
über das lnstiL~t des Reserveoffiziers g1m1ilfl 11.nf niA jiinge.rp, uat.ionaliiti.llchfl Tnt.el-
ligenz und verstärkte die Tendenz zur antisemitischen ldeologie1oo.
Für die Ausbreitung einer den Antisemitismus begünstigenden Haltung waren so-
dann bestimmte ideologische Entwicklungen wichtig. Die Kulturkritik von LA-
GARDE und LANGBEHN, die das Unbehagen an der Moderne mit antisemitischem
Einschlag formulierte, fand um die Jahrhundertwende große Resonanz101. Rasse-
theorien - im Anschluß an die Rezeption und Übersetzung Gobineaus durch den
Lagarde-Schüler L. ScHEMANN102 und die Vorstellungen des Sozialdarwinismus -
fanden popularisiert Eingang in die allgemeine Bildung; der große Erfolg des aus
dem Bayreuther Wagnerkreis hervorgegangenen H. ST. CHAMBERLAIN mit seinem
Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" (1899) ist dafür symptomatisch.
Nationalistische, mittelständische, kulturkritische und antiliberale Tendenzen ver-
banden sich in dieser Situation immer stärker mit rasseantisemitischen Gedanken.
Die Rassetheorien fixierten endgültig den biologischen Sinn des Begriffs 'Rasse' und
erhoben ihn zum obersten Erklärungsprinzip der geschichtlichen Welt: der Begriff
der Rasse wurde historisiert und ideologisiert, ehe er politisiert wurde. Mit der
Historisierung des Rassebegriffs vollendete sich die Naturalisierung der politisch-
148
m. 1. Eotwicklaugeo im Kaiserreich Aotisemitisma1
sozialen Welt. Das Volle war nicht mehr religiös konstituiert, seine Eigenart war
· nicht mehr durch Geschichte, Sprache und Kultur bedingt, sondern durch die Rasse
bestimmt: 'Volle' hörte auf, ein geschichtlicher Begriff zu sein, wurde zum bloßen
Naturbestand. Damit aber wurde jede Assimilation, an die noch Treitschke ge-
glaubt hatte, unmöglich: die Abkehr vom Liberalismus wurde zur Abkehr von der
europäischen und christlichen Tradition, wenn die Entwicklung des Menschen aus
individuellem Willen gegenüber dem Faktor Blut und Rasse kaum noch Bedeutung
hatte.
Verbände einerseits und kultur- und zeitkritische Theorien andererseits haben
antisemitische Vorstellungen in größeren Teilen der Gesellschaft, wenn auch zu-
meist in abgeschwächter Form, virulent gemacht. Auch wo solche Vorstellungen
nicht akzeptiert wurden, galten sie vielfach doch als mögliche, nicht illegitime
Positionen, denen man nicht mehr grundsätzlich Widerstand leistete. Schließlich
breitete sich darüber hinaus auch ein „latenter", nicht weiter theoretiRch expliziter
Antisemitismus aus, etwas, was F. NAUMANN als antisemitische Gesellschaftsstimmung
charakterisierte103, also die Beibehaltung und Fixierung oder die Erneuerung anti-
jüdischer Vorurteile, die ihre potentielle Rechtfertigung in jenen antisemitischen
Theorien hatten. Selbst bei den liberalen Parteien dieser Zeit lassen sich antisemi-
tische Stimmungen und Rücksichten auf antisemitische Wähler nachweisen104 •
Die Haltung der Sozialdemokratie gegenüber dem Antisemitismus blieb zunächst
schwankend. Zwar lehnte F. ENGELS 1890 den Antisemitismus als eine Reakt,ion
mittelaUerlicher, untergehe'llile<r Gesellscha/tsschichün gegen die moderne Ge.,ellschaft
ab10 6,gleichzeitig aber schrieb F. MEHRING in der „Neuen Zeit": Über den Brutali-
täten, welche der Antisemitismus, mehr in Worten als in Taten, gegen die Juden be-
geht, darf man die Brutalitäten nicht übersehen, welche der Philosemitismus, mehr in
Taten als in Worten, gegen jeden begeht, der, sei er nun Jude oder Türke, Ohrist oder
Heide, dem Kapitalismus widerstrebtloe. Man wandte sich einerseits gegen die
Antisemiten als die Vertreter der Antikultur (W. LIEBKNECBT)101, glaubte aber an-
dererseits: Ja, die He"en Antisemiten ackern und säen, und wir Sozialdemokraten
werden ernten. Ihre Erfolge sind uns also keineswegs unwillkommenlos. In diesen
Zusammenhang gehört auch der zu Unrecht A. Bebe] zugeschriebene, wohl aus
Österreich stammende Satz: Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen
149
Aalllemkhunm m. 2. 'Antisemitismus' im Nationalsozialismus
Kerlsl°'. Auf dem Parteitag von 1893 erst nahm die Partei endgültig und eindeutig
ablehnend zum Antisemitismus Stellung, und in der Praxis erwies sich dann die
sozialistisch organisierte Arbeiterschaft als die einzige große Bevölkerungsschicht,
die dem .Antisemitismus gegenüber fast vollständig immun war.· ·
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte sich die Situation äußerlich beruhigt:
die radikalen Antisemitenparteien waren verschwunden, die wilden Versamm-
lungen und Pressekampagnen hatten aufgehört, der Grundsatz der gesetzlichen
GleiChberechtigung war trotz mancher gesellschaftlichen Diskriminierung zu keiner
Zeit ernsthaft gefährdet worden. Gleichwohl war der Antisemitismus auf lange Sicht
nicht ohne Wirkung geblieben: ein latenter Antisemitismus war weit verbreitet,
und große Teile der wilhelminischen Gesellschaft hatten Bestandteile des „anti-
semitischen Gedankens" in ihr Weltbild aufgenommen. Dieser Antisemitismus hatte
keine bestimmte Zielsetzung, kein konkretes Programm, keine praktischen Kon-
sequenzen, aber er war eine mögliche und mit anderen Positionen kombinier-
bare „weltanschauliche" Position geworden. Die Beziehung auf die „Judenfrage"
hatte sich bei diesem „weltanschaulichen" Antisemitismus gelockert; er wurde
deshalb auch durch die tatsächliche Entwicklung der „Judenfrage", die fortschrei-
tende Assimilation der Juden, nur wenig beeinflußt.
150
m. 2. 'Antjsemitismus' im Nationalsozialismus Antisemitismus
sich auszeichnen durch Konsequenz und Praxis, d. h. auf die Entfernung der Juden
überhaupt zielen113• 3) Schließlich gab Hitler dem Antisemitismus einenanderen und
neuen Stellenwert, indem er die „Judenfrage" ins Zentrum seines Kampfes rückte.
Er versuchte gerade mit dem Antisemitismus dem deutschen Volk in dieser FrOIJe
den großen, einigenden Kampfgedanken zu sckenken114. Der Jude wurde zum wich-
tigsten Antisymbol der nationalsozialistischen Propaganda, in der nun die verschie-
denen Stoßrichtungen eines nationalen, wirtschaftlichen, kulturellen und biolo-
gischen Antisemitismus und alle Unzufriedenheiten mit dem liberal-demokratischen
System gebündelt wurden. In diesem Sinne hat dann, wie Hitler darlegte, die
nationalsozialistische Bewegung die JudenfrOIJe ganz anders vorwärtsgetrieben. Sie
hat es vor allem fertiggel>racht, dieses Problem aus d,em engbegrenzten Kreise oberer
und· kleinbürgerlicher Schichten herauszuheben und zum treibenden Motiv einer
großen Volksbewegung umzuwandelfi115.
Der Antisemitismus wurde zum Bestandteil· eines umfassenden politischen Kon-
zepts. Dabei richtete Hitler seinen Antisemitismus nicht nur gegen das deutsche
Judentum, sondern gegen das „internationale Judentum", gegen „Juda" bzw.
„Alljuda": der Antisemitismus bekam im Nationalsozialismus eine weltgeschicht·
liehe Dimension im Sinne eines manichäischen Weltbildes.
Obgleich nach der Machtergreifung Hitlers zunächst in Deutschland und während
des Krieges dann im größten Teil Europas dieser Antisemitismus skrupellos in die
Praxis umgesetzt wurde, geriet der Begriff 'Antisemitismus' überraschenderweise
in Mißkredit. 1935 gab das Reichspropagandaministerium eine Anweisung an die
deutsche Presse: Das Prop<11Jandaministerium bittet, in der Judenfr<11Je das Wort
antisemitisch oder .Antisemitismus zu 1Jermeiden, weil die deutsche Politik sich nur
gegen die Juden, nicht aber gegen die Semiten schlechthin richtet. Es soll stattdessen
das Wort antijüdisch gel>ramht werden118. Das war eine eindeutige, mit außen-
politischen Rücksichten begründete „Sprachregelung", der noch im gleichen Jahr
die Anweisung, arisch durch deutschblütig zu ersetzen, parallel ging117 • Ganz uner-
wartet kam diese Maßnahme nicht, und sie hatte auch nicht nur außenpolitische
Gründe: in der Prope,ganda der sog. „Kampfzeit" der NSDAP, in den Äußerungen
Hitlers und schließlich in den offiziellen Verlautbarungen des „Dritten Reiches"
war ebenso wie im internen Sprachgebrauch der Nationalsozialisten selten von
„Semiten", vielmehr fast immer von „Juden" die Rede. Auch die Begriffe 'Anti-
semitismus' und 'antisemitisch', die in den politischen Auseinandersetzungen der
Zeit jedermann geläufig waren, waren im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten
seltener, als man vermuten würde. Der 'Antisemitismus' als „Weltanschauung"
war ein integrierender Bestandteil der nationalsozialistischen „Weltanschauung"
ua In dem in Anm. 112 zit. Brief heißt es am Schluß über den Anti8emitiamus der Vernunft:
Sein letztes Ziel aber mufJ unverrückbar die Entfernung der Juden iiherhaupt sein.
1u HrrLER, Mein Kampf, 628 f.
115 Ebd.
118 Anweisungen der Pressekonferenz der Regierung des Dritten Reiches v. 22. 8. 1035,
151
Antisemitismus IV. Ausblick
IV. Ausblick
Das Wort 'Antisemitismus' ist nach 1945inDeutschland zweifeUos häufiger gebraucht
worden als in den zwölf Jahren vorher. Wissenschaft, Publizistik und Pädagogik
haben den Antisemitismus als ein Schlüsselphänomen analysiert. Dabei ist die
Bedeutung des Begriffs'Antisemitismus' außerordentlich erweitert worden: er meint
nicht mehr nur die antijüdische Bewegung seit dem ausgehenden 19. Jah.rhundert
- die man nun meist als „modernen Antisemitismus" bezeichnet -, sondern alle
judenfeindlichen Äußerungen, Strömungen und Bewegungen in der Geschichte.
118 THEODOR FRrrsCH, Handbuch der Judenfrage, 49. Aufl. (Leipzig 1944), 18 u. passim;
die Kritik am Begriff 'Antisemitismus' findet sich auch schon in früheren Auflagen, aber
der Ersatzbegriff 'Antijudaismus' fehlt noch in der 48. Aufl. von 1943.
11 9 Vgl. JOSEF WULF, Aus dem Lexikon der Mörder. „Sonderbehandlung" und verwandte
Wörter in nationalsozialistischen Dokumenten (Gütersloh 1963).
120 Vgl. HENRY PlCKER, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1942, hg.
152
IV. Ausblick Antisemitismus
Jahrhundert jüdischen Lebens. Die Geschichte des neuzeitlichen Judentums, hg. v. Ellen
Littmann (Frankfurt 1967), 635 w:ird erwähnt, daß der jüdische Journalist MoBITZ STEIN-
SCHNEIDER beansprucht habe, das Wort 'Antisemitismus' zuerst gebraucht zu haben, und
zwar in einem persönlichen Brief, in dem er sich gegen Renans AUffassungen vom Charak-
ter der „Semiten" gewandt habe. Diese Mitteilung dürfte sich auf mündliche Überlieferung
gründen, sie enthält weder Quellenangaben noch eine Datierung; eine Verbindung von
einem eventuellen Wortgebrauch bei Steinschneider zur politischen Begriffsbildung von
1879 ist nicht zu erkennen.
153
Arbeit
I. Einleitung*
'Arbeit', das bewußte Han<leln zur Befriedigimg von Bedüf'fnissen, darüber hinaus als
Teil der Da11m:n~~erfiillung des Menschen 1 , hat eine auf die früheste Überlieferung
zurückgehende, noch keineswegs voll aufgearbeitete Begriffsgesohiohto, deren
Traditionszusammenhang im 18. Jahrhundert abgebrochen: wurde. Bis dahin, und
darüber hinaus immer noch weiter nachwirkend, war das deutsche Wort, ebenso
wie die entsprechenden Wörter in den antiken und europäischen Sprachen, begriff-
lich mehrdeutig. Neben die ursprünglich vorwaltende passive Bedeutung „Mühe,
Qual, Last" im manuellen Sich-Plagen trat schon früh, spätestens im Hochmittel-
alter häufig verwendet, die aktive Bedeutung einer bejahten und gesuchten An-
strengung um eines Zieles willen, die nicht allein Handarbeit sein mußte, bis schließ-
lich auch das gefertigte Objekt menschlicher Tätigkeit, sein Werk, 'Arbeit' genannt
werden konnte. War oder wurde 'Arbeit' also äquivok, so stand' Arbeit' andererseits
.in der Mitte eines Wortfeldes, das differenzierende Bezeichnungen von 'Mühe' bis
'Werk', 'sich mühen' bis 'werken', 'schaffen' bereitstellte. Anscheinend entspricht
diesem deutschen Befund sowohl onomasiologisch wie semasiologisch auch ·die
Wortgeschichte in den anderen europäischen Sprachen2 • Schon GRnm resümierte:
• Die Abschnitte II. 1 und II. 5 (teilweise) sind von MANFRED RIEDEL verfaßt und nur gering-
füg~g geändert worden. Für die Abschnitte II. 3 und II. 9 danke ich M. Riedel für mehrere
Belege. Außerdem danke ich Horst Stuke für kritische tlberprUfung und Otto Dann für
Arbeitshilfe im Zusammenhang mit seiner noch ungedruckten Dissertation über Fichtes
politische Philosophie.
1 BROCKHAUS, Enz., Bd. 1 (1966), 656.
2 Vgl. z. B. Gumo KEEL, Laborare und operari. Verwendungs- und Bedeutungsgeschichte
zweier Verben für „arbeiten" im Lateinischen und Galloromanischen (phil. Dies. Bem;
St.-Gallen 1942). Dort wird 'labor', 'laborare' in einer Zwitterstellung zwischen einem
„aktiven" und „passiven" Begriff erkannt („Mühe haben, leiden, sich anstrengen, er-
streben, pflügen, ackern"), während 'operari' allgemein„opus facere" bedeutet und darüber
hinaus (Vulgata) für religiöse Arbeit und spirituelles Wirken verwandt wurde. - KURT
BALDINGER, Vom Affektwort zum Normalwort. Das Bedeutungsfeld von agask. trebalh
„Plage, Arbeit", in: Etymologica, Fschr. w ALTHERV. wARTBURG (Tübingen 1958), 59 ff. -
Vgl. auch die extensivere Zusammenstellung von META KRUI'P, Wortfeld Arbeit,
Schlüsselwörter, Bd. 2 (1964), 258 ff.; HARTMUT GBA.A.CH, Labour and Work, ebd., ~87 ff.
154:
U. 1. Griechileh römiaehea Ventändnis
0 Arbeit
Während in der älteren Sproohe die Bedeutung von molestia und schwerer Arbeit
vorherrschte, die von opus, opera zwrückt,rat, tritt umgedreht in der heutigen diese vor
und jene erscheint seltenera.
II.
.Griechisch-römisches Verständnis
155
Arbeit II. 1. Grieehisch-römisehes Verstllndnls
zierung der menschlichen Tätigkeit bei ARISTOTELES. Oberster Begriff war Tätig-
sein überhaupt, eveeyeia, Am-Werk-Sein, das sich entweder a.ls Handeln, nea~ir;,
oder als Hervorbringen, nolriair;, darstellte. Die Unterscheidung gründete in den
verschiedenen Zwecken des Tätigseins, das, auf äußere Gegenstände gerichtet, ein
von ihm ablösbares Werk (leyov) zum Resultat und insofern den Charakter der
Arbeit hatte oder, innerhalb der Menschenwelt, der Polis sich bewegend, stets
betrieben werden mußte, um diese als Werk zu erhalten 13. Dabei wurde die ständige
Tätigkeit der Praxis, alles was zur Regierung und Bestimmung der zu einem guten,
d. h. tugendhaften und glücklichen Leben ( eJ Cijv) vereinigten Menschen gehörte,
der Arbeit des Hervorbringens übergeordnetu.. Nach klassisch-politischer An-
schauung blieb auch die zur „Kunst" (rexvri) gesteigerte Form der Arbeit stets dem
unterlegen, der sie zu gebrauchen wußte. Die Praxis, das ethisch-politische Handeln,
beherrschte die Poiesis, das Arbeiten; die Klugheit des Handelns, q;eo111Jatr;, war
HerrRchaftRwiRSen, <laR nicht jedermann, sonrlern mir rlem Hausherrn und dem
Politiker zukam16. ·
Die Differenz von Poiesis und Praxis lag der späteren Unterscheidung zwischen
„Künsten" und „Gosohäfton" zugrunde. Sie bestimmte bis über die Schwelle der
Neuzeit hinaus die Rangordnung des menschlichen Tätigseins. Dazu gehörte die
Trennung der Künste und Geschäfte von der Arbeit im engeren Sinne, d. h. den
Tätigkeiten, die auf Anwendung körperlicher Kräfte (Heben, Tragen, Laufen usf.)
beruhen. Diese Trennung war mit der modernen Entgegensetzung von körperlicher
und geistiger Arbeit nicht identisch, weil die Form der Tätigkeit bei Künsten und
Geschäften nicht als Arbeit, sondern als „Wissen" (q;eo111Jc11r;, Texvri) begriffen
wurde. Künste und Geschäfte setzten Arbeit, körperliche Dienste und Handrei-
chungen, Werkzeuge des Tuns 16 voraus, waren aber nicht selbst Arbeit.
Zwar wurde schon in der Spätantikeim Kynismus und Stoizismus der Lastcharakter
der Arbeit umgewertet; bei den Kynikern wurde Arbeit, novor;, Tugendmittel17;
die Stoiker18 prägten die Wörter e.Vnovla, „Fleiß" und q;iÄonovla, „Liebe zur Arbeit".
Doch die mittlere Stoa (Poseidonios) kehrte zur Arbeitsverachtung besonders des
Handwerks zurück. Diese kam bei CICERO klassisch zum Ausdruck, der die freien,
edlen Künste (artes liberal,es) von den unfreien, niedrigen und verächtlichen unter-
schied (qui liberales hahendi, qui sordidi sint)1 9 • In der Begründung folgte Cicero
der klassisch politischen Ansicht: die artes libera.les (Architektur, Medizin, Landbau,
Wissenschaften) beruhten auf der rpedVfJat~, lat. prudentia, der Tugend des freien
Mannes; ihr Zweck war dauernder Nutzen (utilitas) oder Ehre (honos) und nicht
die bloße Notwendigkeit ( necessitas) oder die vergängliche Lust ( voluptas) ; für
diese sorgten, wie Cicero mit TERENZ formulierte, Fischhändler, Fleischer, Köche,
Geflügelhändler, Fischer19•. Das Kriterium der Unterscheidung war entweder ein
18 ARlsTOTELES, Nik. Eth. 1094 a 1-18; Pol. 1254 a 5 ff.
14 PLATON, Euthyd. 289 c; Krat. 390 b; Pol. 601 c; 258 e.
15 ARlsTOTELES, Nik. Eth. 1140 a 25-28; End. Eth. 1219 b 2-5; PLATON, Symp. 209 e.
l& ARlsTOTELES, Pol. 1254 a 5-8.
17 KRATES, Ep. 208.
18 STOBA.IOS, 2, 105, 7 ff.
19 CIOEBO, Off. 1, 42, 150, zum Folgenden auch 151-153; vgl. auch SENECA,Ben. 6, 15 f.;
156
II. 1. Grieehisch-römischea Verstänclnis Arbeit
politisches (die freien Künste sind die des Freien würdigen Künste) oder ein
philosophisches, das mit dem Gegensatz von Körper und Seele gegeben war; es
konnte aber auch ein juristisches sein: für die operae liberales (Richter, Ärzte)
konnte ein honO'Tarium, für die operae illiberaks nur Lohn (merces) empfangen
werden19b.
Der bäuerlichen Tradition Roms entsprechend, auf der bis zum 2. Jahrhundert
v. Chr. die Wehrverfassung beruht hatte, wurde der Landbau freier Männer von
der Mißachtung der Arbeit ausgenommen. Zeugnis dessen ist die lateinische
Agrarliteratur (M. Porcius Cato, „Liber de agri cultura"; M. Terentius Varro,
„Rerum rusticarum") wie auch die Dichtkunst (Vergil, „Georgica"). Am folgen-
reichsten wurde VERGILS Erzählung vom Ursprung der ars colendi und aller
„Künste", die mit menschlicher Arbeit verbunden waren 20 • Ihr mythischer Hin-
tergrund war das Ende des „Goldenen Zeitalters", in dem es labor sowohl als
Mühe wie als werkende Tätigkeit noch nicht gegeben hatte; Jupiter verwandelte
die bisher friedliche, nahrungsspendende Natur und zwang die Menschen durch
Mangel (egestas) und Leid (labor) zur Tätigkeit: LabO'T omnia vincit improbus et
duris urgens in rebus egeslas 21• Schon in der Spätantike wurde Vergil jedoch so
verstanden, daß labor improbus die vom Menschen geleistete Arbeit sei; tatsächlich
meinte der Satz Vergils nicht den Sieg der menschlichen Arbeit über die Natur,
sondern deren Bezwingung durch labor und egestas, die, als Unheilsmächte in
allen Dingen wirkend, zur Tätigkeit nötigten 22 • Gleichwohl war der Satz vom Sieg
der Arbeit (labor omnia vincit) seit Vergil in aller Munde, wurde zum Topos und
beeinflußte noch Tugend und Arbeitsethik der europäischen Adelswelt 23 • Daß
dieser Deutungswandel oder gar eine frühe Ambivalenz des Verständnisses so leicht
möglich war, erklärt sich offensichtlich daraus, daß lat. labor spätestens seit dem
1. Jahrhundert v. Chr. als doppelsinnig erscheint, indem es sowohl navo(;' wie
ivefrysia entsprechen konnte. CICERO hob labor ausdrücklich von dolor ab: I nterest
aliquid inter laborem et do'/mem. Bunt finitima omnino, sed tamen differt aliquid.
Anschließend definierte er: Labor est functio quaedam vel animi vel corporis gravioris
operis et muneris, do'/m autem motus asper in cO'TpO'Te alienus a sensibus 24• Gewann
labor die Bedeutung von mühevoller, auf Leistungsziele gerichteter Tätigkeit,
so konnte sich dieser Begriff mit virtus verbinden, in die Nähe der hochgewerteten
industria rücken und dem Römer erstrebenswert sein, der durch la-
bor, d. h. tätige, tapfere Bewährung (besonders militärisch) Ehre gewinnen wollte 21•
ieb FoRCELLINI Bd. 2 (1940), 673,s. v. honorarium; vgl. ULPIAN, Dig. 50, 13, 1.
so VERGIL, Georg. 1, 43 ff.
11 Ebd. 145 f.
81 HEINRICH ALTEVOGT, Labor improbus. Eine Vergilstudie (Münster 1952).
18 MACRoBros, Sat. 5, 16, 7. Vgl. zum Fortleben (oder zur Rezeption T) etwa JoHANN
FlsCHART, Das glückhafte Schiff von Zürich, hg. v. G. Baesecke (Halle 1901), 4: Dann
nichts i8t alao schwer und scharf, das nicht die Arbeit unterwarf (1277). Der 'Satz wird auch
in die frühen Lexika übernommen. Vgl. z. B. BASILIUS FA.BEB, Thesaurus eruditionis
soholasticae (Leipzig 1605), 326: Labor, et Laboa, animi aeu corporia in re aliqua oooupatio,
Arbeit/Mühe (1. Auß. 1571).
H Cicuo, Tuso. 2, 35.
S& Vm:TOR Pöscm., Grundwerte römischer Staatsgesinnung in den Geschichtswerken des
Sallust (Berlin 1940), 12 ff.
157
Arbeit II. 2. Jüdisch-christliche 'Oberlieferung
Diese Ablösung des Begriffs von niedriger Knechts- oder Handwerksarbeit wirkte ins
Mittelalter hinein und verband sich mit der christlichen Arbeitstradition.
mühe und erbeit gewesen (endgültige Fassung 1531/45; WA Dt. Bibel, Bd. 10/1,
1956, 403) ist falsch; es müßte statt dessen heißen: das meiste da.ran ist Leid und Ent-
täuscku711J. Vgl. dazu WALTER BIENERT, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel (Stuttgart
1954), 136. Bienerte Untersuchung vermittelt den neuesten }~orschungsetand zu dem viel-
fä.ltig erörterten Problem. Vgl. auch (materialreich) HENRI RoNDET, Elemente pour une
theologie du travail, Nouvelle Rev. theol. 77 (1955), 27 ff. 123 ff.
80 SCHEMA.JA, 1. Jahrhundert v. Chr., zit. JOHANNES LEIPOLDT, Der soziale Gedanke in
der altchristlichen Kirche (Leipzig 1952), 77.
81 2. Thess. 3, 10.
158
D. 2, Jüdisch-ehristliehe Vberlieferung Arbeit
unerläßlich für jeden Menschen ohne Unterschied des Standes. Sie soll aber nicht
nur um des Unterhalts oder gar um materiellen Gewinns willen, sondern „um Gottes
willen", damit aber auch für den „Nächsten" und für die „Gemeinde" „von Her-
zen" getan werden, erfüllt von der „Freude" des „neuen Menschen in Christus" 82 •
Dabei wurde auch geistliches, missionarisches Handeln als Arbeit angesehen. Das
Apostelamt war wichtiger als die nur dem Unterhalt dienende Arbeit; aber beides
bedeutete Arbeit im Sinne von Mühs~l und schwerer „Sklavenarbeit" (~onor;) 83 ,
die als Dienst an Gott und den Menschen aus Berufung und als Pflicht verstanden
wurde. Paulus „arbeitete" {~omav) sowohl als Apostel wie als Handwerker und
bekannte sich ausdrücklich dazu. Arbeit wurde von solcher Wertung aus nicht
unterteilt in höher- oder geringerwertige, in mehr oder weniger ehrenhafte. Die
Gleichheit der Menschen vor Gott wurde vielmehr der üblichen sozialen Rang-
ordnung mit ihrer Auf- und Abwertung der Tätigkeiten übergeordnet.
Alle Arbeit war deshalb Erfüllung des Lebens, sofern sie im christlich-brüderlichen
Geiste mit Gebet verrichtet wurde. Sie war in ihrem Wert demnach nicht an einen
Status und dessen „Ehre" gebunden, woraus in praxi gefolgert werden konnte,
daß „Sklavenarbeit" zum Christendienst erhoben und geachtet wurde, gleichgültig,
welche Achtung sie in der hellenistisch·römi.eohcn Welt genoß. Die Zugehörigkeit
z11r Gemeinde Christi (laor; f>eoii) hob den Unterschied zwischen Herrn und Sklaven
auf. So war es verständlich, daß die Apologeten die Arbeitsamkeit der Christen
betonten und dem den tatenlosen Luxus der vornehmen Heiden entgegensetzten34•
AUGUSTIN sprach vom Wert der Handarbeit, auch für die Mönche, und verlieh dem
Handwerk seine Arbeitsehre. Er betonte die Arbeitspflicht und Anerkennung aller
ehrlichen Arbeit (ohne Betrug} vor Gott, an dessen Werk der Mensch durch seine
ihm wesensmäßig eigentümliche Arbeit Anteil hat. Bei ihm findet sich demgemäß
in starker Betonung die Ranggleichheit jeder Arbeit vor Gott, sofern sie als Gottes-
dienst, redlich und ohne Jagen nach Gewinn getan wird. Was immer die Men-
schen ... ohne Betrug arbeiten, ist gut, gleich ob als Hirten, wie viele Patriarchen,
oder als Schuster, wie griechische Philosophen, oder als Zimmermann, wie der
heilige Joseph 36 • So blieb der christliche Arbeitsbegriff lebendig, in bewußter Aus-
einandersetzung mit dem antik-hellenistischen, mit dem er andererseits immer
wieder kompromißhafte Verbindungen einging38•
Der christliche (jüdische) Komplementärbegriff zu 'Arbeit' war (Sabbat-, Sonn-
tags-) 'Ruhe', die nicht nur „Ausruhen" (vgl. das Ausruhen Gottes nach seiner
Schöpfungsarbeit am siebenten Tage), sondern ungestörte Hinwendung zu Gott er-
möglichen sollte. Damit war die Arbeit begrenzt: sie sollte keinen Eigenwert be-
82 Zahlreiche Belegstellen bei BIENERT, Arbeit, 191 ff. (Jesus). 285 ff. (Urgemeinde und
Paulus).
88 Ebd., 316.
u CLE!llENs, Paed. 3, 11, 64 a.
36 AUGUSTIN, De opere monarchorum 13, 14. CSE~ Bd. 41 (1900), 555. Vgl. HELMUT
1903); IGNA.Z SEIPEL, Die wirtechafteethiechen Lehren der Kirchenväter (Wien 1907), bes.
130 ff.; als Monographie ergiebig: AUGUST .ADAM, Arbeit und Besitz nach Ratherus von
Verona (Freiburg 1927). Dort Arbeit als Christenpflicht, 76 ff.
159
Arbeil II. 3. 'Arbeit' im Hochmittelalter
sitzen. Die Tage der Arbeit (auch sie mit Beten) erhielten ihren Sinn nur, wenn der
„geheiligte" arbeitsfreie Feiertag sie regelmäßig unterbrach. „Ruhe" war also nicht
gleich dem römischen otium {„Muße"). Der christliche Gegenbegriff zu 'Arbeit' war
'Müßiggang' (otiositas), gegen die schon Paulus seine Arbeitsermahnungen gab.
Das Gegensatzpaar labor - otiositas wurde fortgesetzt weiter tradiert. Otiositas
inimica est animae 3 7.
Max Weber hat es als „Fabel" bezeichnet, daß der Arbeit „im Neuen Testament
irgend etwas an neuer Würde hinzugefügt wurde" 38 ; mit diesem schroffen Satz
wehrte Weber ein modernes Mißverständnis ab. In der Tat ging es bei Jesus, den
Aposteln und Kirchenvätern nirgends um einen Selbstwert der Arbeit, der mit
modern idealistischen Wendungen umschrieben werden kann. Andererseits darf
die prinzipielle Aufhebung des sozial bedingten antiken Arbeitsbegriffs durch das
grundlegend andere christliche Bezugssystem nicht unterschätzt werden. Der
christliche Arbeitsbegriff unterschied sich grundsätzlich vom griechischen und
enthielt weitreichende Konsequenzen in sich. Zunächst entstand, da die griechisch-
römische Wertung der Arbeit fortlebte, die oben erwähnte Spannung, mochte sie
auuh in der politisch-gesellschaftlichen Praxis durch „weltliche" Kompromi111111
verdeckt werden.
Der christliche Arbeitsbegriff im Sinne des „laborare ex orationc" und als „mi-
nisterium ex :fide in Deum"S 9 LraL iIDlller von neuem aus dieser Verdeekung hervor,
vor allem in den Mönchsregeln von dem bcncdiktinischen „ora et labora" bis zu
den Franziskanern40 • Damit war für das allgemeine Bewußtsein ein entscheidender
Schritt über die ständegebundene Arbeitswertung hinaus getan, sei es im Sinne
faktischer Aufwertung jeglicher Arbeit in der „Welt", sei es in asketischer {mön-
chischer) Abkehr von der Welt, sei es in Verbindung mit der Vorstellung, sich durch
Arbeit {„gute Werke") Verdienste vor Gott zu erwerben. All solchen Umdeutungen
oder Abweichungen lag - stets wach gehalten oder neu bewußt gemacht -
der neutestamentlich-frühchristliche „Dienst"-Charakter der Arbeit zugrunde, wie
er sich als spezifisch christliche Arbeit, als praktizierte caritas in der Diakonie vom
Urchristentum bis zur Gegenwart bewährt hat.
3. 'Arbeit' im Hochmittelalter
37 HL. BENEDIK'l', Regula monachorum, c. 48. Hierzu und zum Folgenden vgl. FRANZ
STEnraACH, Der geschichtliche Weg des wirtschaftlichen Menschen in die soziale Freiheit
und politische Verantwortung (Köln, Opladen 1954).
38 MAx WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft (Tübingen 1925), 800.
3 9 BIENERT, Arbeit, 390. 396.
40 Vgl. FRANz VON ASSISI, Testament, Nr. 21: ad reppellendam optiositatem; in: Les
opuscules de Saint Fran90is d'Assise, ed. DAMIEN VoRREUX, PAUL BAYART (Paris 1955),
150.
41 Die althochdeutschen Glossen, hg. v. E. STEINMEYER u. E. SIEVERS, 5 Bde. (Berlin
1879-1922).
160
II. 3. 'Arlieit' im Boohmit&elal&er Arbeit
42 Die Belege zu den Glossen und zu Notker s. bei IIILDBURG GEIST, Arbeit. Die Ent-
scheidung eines Wortwertes durch Luther, Luther-Jb. 13 (1931), 85 f.
48 Ebd., 92. Viele Belege aus mittelhochdeutschen Dichtungen bei GEBTRUD SCHWARZ,
11-90385/1
161
Arheil D. 3. 'Arlieit' im Hochmittelalter
Die scholastische Philosophie sah den Nutzen dieser Arbeit vor allem in drei
Dingen: Primo ad otium tollendum, secundo ad corpus domandum, ... tertio ... ad
quaerendum victum48 • Im allgemeinen galt, daß Arbeit eine Pflicht für diejenigen
sei, die keine Mittel haben, sich am Leben zu erhaltert 47, aber sie war nicht all~
gemein .Pflicht. THOMAS erklärte ausdrücklich, daß nur die Notwendigkeit zur
körperlichen Arbeit zwinge: Sola enim necessitas victus cogit manibus operari48 •
Darüber hinaus suchte die kirchliche Lehre nach Einschränkungen der körperlichen
Arbeit. Hier machte sich der Einfluß der griechischen Philosophie (Aristoteles)
wieder stärker bemerkbar, die 'Überordnung des „beschaulichen" und die Ver-
achtung des „tätigen Lebens": Vita contemplativa simpliciter melior est quam vita
activa4 9. So konnte Thomas 60 behaupten, das Gebot der körperlichen Arbeit sei
nicht allgemein verpflichtend ( praeceptum de labore manum non obligat aliquem
singulariter), womit das Ledigsein des Priester- und Ritterstandes von der Arbeit
im engeren Sinne seine Rechtfertigung erfuhr. Die Rezeption der Politik des Aristo-
teles und die politisch-soziale Rangordnung seiner Zeit, denen Thomas schon von
seiner Herkunft her verpflichtet war, ließen ihn sich von einem radikalen christ-
lichen Arbeitsbegriff entfernen.
Aber wenn auch in der distributio afficiorum 61 die Arbeit der Geistlichen und des
Adels höherstand als die der Handwerker' und Bauern, so konnte doch die neu
übernommene griechische Philosophie nic.:hL so weit einwirken, daß di11 körp11rlinh11
Arbeit dieser Schichten der Mißachtung anheimfiel. Die christliche Wertung blieb
erhalten oder setzte sich, besonders bei den Bettelmönchsorden, wieder verstärkt
durch. Mochte z. B. BERTHOLD VON REGENSBURG (Mitte 13. Jahrhundert) auch
die Laien und körperlich Arbeitenden in die „niederen Chöre" einordnen52, so
umschrieb er doch einen für alle Stände gültigen, christlichen Arbeitsbegriff:
alliu diu antwerk 00,er ander arbeit, sie sin geistlich oder weretlich, die eht der werlte
nützelich und erlich sind, . . . die sol man arbeiten mit der triuwe und mit der gerehti-
keit, daz es iu nütze werde an libe und an sele. Die „Nützlichkeit" der Arbeit be-
stimmte so ihren Wert, gab ihr aber doch auch immer noch oder immer wieder einen
geringeren Rang als den des geistlichen Lebens. Dies wurde von MEISTER EcKEHART
als edel bezeichnet im betonten Unterschied zum arbeitsamen Dasein, das nur
nütze war 63 • Ähnlich sprach TAULER vom Nutz des schauenden Lebens, weil es erlaube
zu wircken ohne Arbeit/ dann Arbeit kömmt von nirgend anders/ denn von Über-
ladung der Oreaturen; ein rechtschauender Mensch sei aller Oreaturen und damit
auch aller Arbeit ledig. So blieb der Religiose höher eingestuft als alle übrigen Men-
162
D. 4. Reformation Arbeit
sehen; er war ohne Arbeit der Not des kreatürlichen Lebens enthobenH. Das hin-
derte aber nicht, daß trotzdem im Spätmittelalter besonders die bürgerlich-hand-
werkliche Arbeit in den Städten hoch bewertet und damit die reformatorische Lehre
vom -+ Beruf vorbereitet wurde.
4. Reformation
Dieser Lehre lag der Arbeitsbegriff des Neuen Testaments zugrunde. Nur wurde
dieser nun wiederum aufs neue radikal angewandt; damit steigerten sich die
Möglichkeiten des christlichen Arbeitsbegriffs. Mit der Gleichheit der Wertung
jeder im christlichen Gehorsam getanen··Arbeit sollte Ernst gemacht werden. Der
Vorrang der Arbeit der Religiosen 'Wurde verneint oder gar als Müßiggang ge-
brandmarkt.
Die harte Arbeit des Bauern und Handwerkers hatte schon vor Luther als Gottes-
dienst aufgefaßt und dem Beten gleichgestellt werden können. Etliche Menschen
beten wenig mit dem Munde und wird doch die Arbeit ihrer Hände von Gott als ein
Gebet geachtet 6 5. LUTHER wurde nicht müde, dies immer von neuem zu wiederholen.
Die vita activa wurde der vita contemplativa nicht mehr untergeordnet. Denn alle
Christen waren für ihn warhafjti,g geystlichs stands 68 • Als Maßstab für den Wert
einer Arbeit galt allein, wieweit sie gläubig dienend getan wurde, nicht dagegen,
was sie vor Menschen galt oder was sie an Gewinn einbrachte, auch nicht im Sinne
des „guten Werks" als Verdienst vor Gott. Die erbeit sei nütze und fruchtbar .. „ so
Christus dazu kompt . . . Das ist, wo der glaube ist . . . Darumb darU mans niemand
scliuld geben, wo wir mit unser erbeit und mühe nichts oder wenig ausrichten denn
unserm unglauben oder je der schwachheit unsers Glaubens 67 • So mußte selbst der
Reiche arbeiten, auch ohne um seines Lebensunterhalts willen dazu gezwungen
zu sein. Denn die Arbeit war Gottes Gebot für alle ohne Unterschied des Standes.
Der Christ arbeitete und überließ Gott die Sorge. Gott gibts im Glauben durch die
Arbeit, nicht als ob es die Arbeit mache 68 • Aber das rechte mittel ist: Nicht faul und
müssig sein, auch nicht auU eigen erbeit und thun sich verlassen, sondern erbeiten
und thun und doch alles von Gott allein gewarten. Das ist so viel gesagt: Es mus alles
im glauben und trawen zu Gott geschehen 69 • Arbeit um Gottes und des Nächsten willen
machte den Christen zu Gottes Larve, d. h. zum Mitarbeiter und Vollstrecker des
göttlichen Willens auf Erden80• Daraus ergibt sich, daß Luther die :Arbeit nicht
H Jox. TAULER, Nachfolgung des armen Lebens Christi, Tl. 2, § 41, zit. KLARA VoNTOBEL,
Das Arbeitsethos des deutschen Protestantismus (Bern 1946), 58. Dort für Luther und die
Wirkung der Reformation (s. den folgenden Abschnitt) zahlreiche Belege.
66 So der Dominikaner MAB.Kus VON WEIDA um 1500, zit. NIKOLA.US PAULUS, Die Wertung
der·weltlichen Berufe im Mittelalter, Bist. Jb. 32 (1911), 747. Vgl. _JOHANNES ERBEN,
J,utherund die neuhochdeutsche Schriftsprache, M.&.URER/STROH 2. Au11.„ Bd. 1 (1959), 454.
68 LUTHER, WA Bd. 6 (1888), 407.
67 Ebd., Bd. 22 (1929), 83.
68 Ebd., Bd. 29 (1904), 441 ('Übersetzung).
163
Arheit II. 4. Reformation
81 KABL HoLL, Der Neubau der Sittlichkeit, Ges. Aufs. z. Kirchengesch., Bd. 1,
6. Aufl. (Tübingen 1932), 262; ähnlich WERNER ELERT, Morphologie des Luthertums,
Bd. 2 (1932; verb. Ndr. München 1958), 468 ff.; dagegen DIENERT, Art. Arbeit III,
544 unter Berufung auf Karl Barth.
12 WENZEL LINK, Von Arbeit und Betteln (1523), Werke, hg. v. Wilhelm Reindell, Bd. 1
(Marburg 1894), 155.
83 Ebd„ 160.
164
D. 4. Reformation Arlieit
vollen Reichen wurde von nun an (im protestantischen Bereich) verworfen. Wurde
die christliche .Armut, das Leben von Spenden anderer, abgetan und der Bettler
als eine unsittliche Erscheinung angesehen, die beseitigt werden mußte, so ergab
sich daraus der Gedanke, daß Arbeit sowohl Strafe wie Zucht und Erziehung sein
und daher von der Obrigkeit erzwungen werden konnte. Dem entsprachen Arbeits-
und Zuchthäuser, die seit dem 16. Jahrhundert von calvinistischen Ländern,
besonders Holland, ausgingen. Labore nutriw, labore pkctw; Durch Arbeit ich er-
nehre mich, durch Arbeit man bestrafet mich; Miseris et malis, so und ähnlich lauteten
die Hausinschriften dieser Arbeitshäuser (hier Hamburg und Dessau) 65 , die auch
in lutherischen Territorien schon vor SPENERS Vorschlag eines Armen~, SckaO-
und Zuchthauses in Frankfurt (Main) eingerichtet wurdenss.
c) Aus der neuen, radikal christlichen Wertung der Arbeit folgte die Tendenz zur
Arbeitsgesellschaft, in der es prinzipiell außer durch Krankheit oder im Kinder-
und Greisenalter keine sittlich begriindete Befreiung von Arbeit im Doppelsinne
von tätigem Schaffen und harter Mühe mehr geben durfte. Das hieß, den allge-
meinen Christenstand zu einer allgemeinen Arbeitspflicht in Beziehung zu setzen,
Christus (um 1650) in der Arbeiter-Zunft, den Teufel aber in der Müßiggänger-
Zunft zu sehen~l7, um schließlich (um 1750) pietistisch zu bedenken, daß die Arbeit
zum Christentum geMre 68 und solcherart die allgemeine Gleichheit vor Gott in der
Welt wirken zu lassen. Da aber vom christlichen Arbeitsbegriff ein Streben nach
sozialem Aufstieg und sozialer Mobilität ebensowenig abgeleitet werden konnte
wie Programme sozialer Wandlung oder gar eines sozialen Umsturzes, folgte aus
solcher Gleichheit keine sozialrevolutionäre Gleichmachung, sondern blieb die ge-
stufte Ordnung unangefochten, ja durch den christlich begründeten Fürstenstaat
neu legitimiert, erhalten (- Beruf). Gleichen Rang und gleiche Ehre aller Arbeit
im „Christenstand" zu betonen, hieß daher auch keineswegs, in der politisch-wirt-
schaftlichen Praxis die Vielfalt der jeweils durch ständisch bedingte.„Ehre" unter-
schiedenen Arbeit abzubauen. Auch wurde das Wort 'Arbeit' in der Umgangs-
sprache des 16. bis 18. Jahrhunderts noch keineswegs gleichmäßig auf alle mensch-
liche Tätigkeit im Sinne des angestrengten, zielgerichteten Schaff'ens angewandt.
Die Bedeutmigstradition von „Mühe" und „Qual" wirkte fort, so auch beim Ver-
bum 'arbeiten', das sich als „tätig schaff'en" bis in die Gegenwart hinein in großen
Teilen des deutschen Sprachbereichs, vor allem des Südens ('schaffen' statt 'arbei-
ten') nicht durchgesetzt hat. Auch die Wort- und Begriffsgeschichte· von - 'Ar-
beiter' paßt zu jener ursprünglichen Bedeutung von „Mühe und Arbeit". Das
Zögern der Sprache, einen allgemeinen Arbeitsbegriff anzunehmen, in dem das
Glückseligkeit sey / wann sie und ihre Kinder sich in der Gottesfurcht üben, zit. J OH.
BALTHABAR SCHUl'P,Lehrreiche Schrifften, hg. v. Justus Burchard Schupp, Bd. 1,2. Aufl.
(Frankfurt 1677), 887.
88 NIKOLAUS- Lunw. GRAF v. ZINzENDORF, zit. OTTO UTTENDÖRFER, Alt-Herrnhut.
165
Arheit II. 4. Reformation
89 MAx WEBER, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Ges. Aufs.
z. Religionssoziologie; Bd. 1, 5. Aufl. (Tübingen 1963), 17 ff.
70 ELERT, Luthertum, Bd. 2, 466 ff., bes. 492 ff. Vgl. LUTHER, WA Bd. 27 (1903), 343;
166
II. 5. Altbruch und Bewahrung der Tradition Aüeit
79 FRANcrs BACON, Novum organum, Dispositio. Works, vol. 1 (Ndr. 1963), 136; ähnlich
Nov. org. 1, 2; 1, 3; 1, 11. ·
7 11& Ders., Nov. org., Praefätio. Works, vol. 1, 152.
78 Ders., Nov. org. 2, 52. Works, vol. 1, 365. Vgl. ders., De dignitate et augmentis scientia-
rum 3, 5; 5, 2.
167
Arbeit II. 5. illmieh uncl Bewahrung cler Tradition
168
Il. 5. ilhruch 11ntl Bewahrung tler Tradition Arheil
hommes 80, ein Gedanke, der in den Utopien (Morus und Campanella) bereits aus-
gesponnen worden war. Lag in diesem Gedanken die Konsequenz, Arbeit als Mühsal
durch Technik so weit wie möglich zu ersetzen, so konnte der Entlastungsgedanke
umgekehrt - auf dem Grunde christlicher Arbeitsbejahung - auch zur Vorstellung
führen, daß die Arbeit um so mehr Freude bereiten werde, je weniger sie notwendig
und qualvoll sein werde. So LEIBNIZ: Man möchte sagen, die Handwe;rksl,eute arbeiten
jetzo mehr aus Not. Wenn man ihnen alk N otdurU verschaffen wird, werden sie nichts
arbeiten. Ich sustiniere das contrarium, daß sie alsdann mit Lust mehr als jetzo aus
Not tun werden 81 •
Zugleich verlor sich der Gegensatz zwischen 'Künsten' und 'Geschäften' (indem
beide zur Arbeit überhaupt, d. h. unabhängig von spezifischen Zwecken und
Richtungen des Tätigsein:s, wurden), auch zwischen 'Arbeit' und 'Muße' bzw.
'Müßiggang' (an dessen Stelle ein neuer trat, der Gegensatz zwischen 'Arbeit' und
'Spiel', wobei beide als 'Beschäftigungen' galten, d. h. als Anfüllung der Zeit, im
Unterschied zur Muße, die nun als „leere Zeit" (Kant) gedacht wurde: Je mehr
wir beschiiftigt sind, je mehr fühkn wir, daß wir 'leben, und desto mehr sind wir uns
unseres Lebens bewußt. In der Muße fühlen wir nicht allein, daß uns das Leben so
vorbeistreicht, sondern wir fühlen auch sogar eine LebloBigkeit82 • Sohließlioh änderte
sich der Gegensatz zwischen 'Natur' und 'Arbeit',indem an 'Arbeit' das Moment
der die Natur nachahmenden 'Kunst' (ars, TEXll'f/) schwand, so daß sie, universell
geworden, die Ordnung der Natur immer schon überstieg. Nicht mehr Arbeit
bzw. Kunst und Nachahmung, sondern Arbeit und Vermittlung (zwischen Mensch
und Natur) gehörten von nun an zusammen. Betrachtet man von hier aus Struktur
und Inhalt des Begriffs, wie er uns im deutschen Sprachbereich am Beginn des
18. Jahrhunderts entgegentritt, wird deutlich, daß sich der angedeutete Wandel
zwar abzeichnet, aber im ganzen doch die traditionellen Momente noch überwiegen.
So wurde der Begritf zunächst noch an die „Verrichtungen" der klassisch-aristo-
telischen Ökonomie gebunden: Arbeiten sind in. ikf' Ökonomie diejenigen Verrick-
tungen, wdche eift Hauswirt fliuf dem Felde, Wiesen., in Weinbergen und sonst daM
Jrikr über zu besorgen hat (ZEDLER 1132)11 , oder er wurde vorzu.gsweise dem
Umkreis der biblischen Arbeitstopologie zugerechnet: ..4.rbeu, liues Wort hat in
heiliger Schrift Mancherlei Veratand . ..4.Uo Weutet u alla"/tattd Miüt,e utti Arbeit
du Leibes vtld (}emüts ... E1 wirtl genommen für tli8 Sünien-.Ärbeit, JM ist, fii.r
w t!bel ud Uttrdt ... , für lie Straf-..4.rbeit, M, tMn ftc.\ vmer Ut.en P . mv,fJ
abarbeiten und müde machen ... , für die schtoere .Ämü- und Erlöaungs-.Ärbeit OMilti
. : . für Zank, Ha6er, allalei Üppigkeit UM Ungl,üclc ... für Kreuz, Leükn und
Trübsal ... und eMlick für <Jl,falei Fal,schheit, Betrug, Unrecht utt.d Venwrteilvttg".
Die Wörterbücher registrieren auch sonst den traditionellen Begriffsbest&nd. Im
• 0 RENE DESCARTES, Discours de la methode, Tl.· 1. Oeuvres, t. 6 (1902), 6. Vgl. auch ders.,
Regulae ad directionem ingenui, Nr. 7. 8. Oeuvres, t. 10 (1908), 391. 397 ff.; ders„ Brief
an Picot, preface zu: Principes de la. philosophie. Oeuvres, t. 9 (1904), 2. 15. 18. 20.
81 G. W. LEIBNIZ, Societät und Wirtschaft (1671 ?), AAR. 4, Bd. 1 (1931), 559 ff., bes. 560.
88 1. KANT, in: Eine Vorlesung Kants über Ethik, hg. v. PAUL MENZER (Berlin 1924), 201.
169
Arbeit ll. 5. Abbruch und Bewahrung der Tradition
allgemeinen werden die Begriffe 'Kunst' .und 'Arbeit' getrennt aufgeführt, wobei
'Arbeit' auch unter den Titeln: Dienst, Werk, Mechanik, Industrie auftreten kann.
Im „Dictionnaire fran9ais-allemand-latin" (1660) heißt es: Art/Kunst/Ars -
arts liberaux/die freien Künste/artes ingenua, liberales ... art mechanique/Hand-
werk/mechanica, unterschieden von: Travail/Arbeit/Opera, Travail qu'on prend a
faire quelque chose/Mühe und Arbeit/die man auf etwas anwendet/Nisus, conatus,
Le grand travaille surmonte tout, Arbeit überwindet alles/Labor improbus omnia vincit,
Avec grande travail/mit großer Mühe/Industrie.
Eine ähnliche Problemlage ergibt sich auf dem Gebiet der Philosophie. Hier lassen
sich Beharrung µnd Bewegung in den Grundlagen des Begriffs genau unterscheiden.
Bei THOMASIUS z.B. hingen Arbeit (in bloßer Redlichkeit) und Armut noch inso-
fern zusammen, als Arbeit ohne Verstand ('Witz') nicht zu Reichtum, umgekehrt
aber bloßer Witz, losgelöst von Arbeit, zur Betrügerei führt. Der traditionelle
Zusammenhang der verschiedenen Begriffsmomente wird eigentümlich antithetisch
zugespitzt, der Prozeß ihres Auseinandertretens wird sichtbar: Jedoch ist es die
Arbeit nicht allein, dadurch man reich wird, sondern es gehöret auch eine Geschick-
lichkeit oder Witz dazu. Arbeit ist ein Werk des Leibes, Geschicklichkeit aber ein
Werk des Gemüts, und kann keines ohne das andere sein, wenn man klüglich handeln
will. Witz ohne Arbeit verwandelt sich in Betrug und Spitzbüberei. Esels-Arbeit aber
ohne Witz bringet nicht Reichtum, sondern Disteln, und lässet sokhe Leute unter ihrer
täglichen Arbeits-Last in der höchsten Armut stecken 85 • CHRISTIAN WoLFF erweiterte
den Arbeitsbegriff über das Gebiet des Körperlichen hinaus und bemühte sich um
eine allgemeine Definition; die Verallgemeinerung führte jedoch nicht zu einer
näheren Angabe, welche Phänomene (Kopfarbeit, Geistesarbeit usf.) damit im
einzelnen verbunden sind. Die Arbeit ist die Mühe, welche man auf die Hervor-
bringung von körperlichen und unkörperlichen Sachen und zur Beförderung der Be-
quemlichkeit, des Vergnügens und des Wohlstandes anwendet . . . Menschen sind ver-
bunden, sowohl körperliche als unkörperliche Sachen hervorzubringen; deswegen muß
jeder Mensch arbeiten, und keiner darf müßig gehen 86 • Dieser Satz, der die protestan-
tische Arbeitsfreudigkeit der Frühaufklärung einschloß, ~de andererseits wieder
relativiert. Denn Wolff hob ausdrücklich hervor, daß, wiewohl auch der Reiche
arbeiten müsse, die Arbeit als solche von unserem Stande und Vermögen abhängig
sei; es gab nach wie vor niedrige, unanständige, d. h. nicht zum Stande passende
Arbeiten: Derowegen muß ein Vornehmer und Reicher dergkichen Arbeit nicht
selbst tun, die er durch einen geringen Menschen kann ve"ichten lassen und naclt
Gebühren belohnen: viel weniger gar selbst mit dergleichen ihm unanständiger Arbeit,
oder auch mit andern, damit sich Arme zu nähren p'fl,egen, etwas zu erwerben suchen 87 •
Dem entsprach, daß Wolff an anderer Stelle den Arbeitsbegriff auf die Bedingungen
des zeitlichen Vermögens einschränkte. Hierunter verstand er einen (begrenzten)
Vorrat von Dingen, die zur Notdurft, zum Vergnügen und Wohlstand seines
170
II. 5. Abbruch und Bewahrung der Tradition Arbeit
Lebens dienten 88• Dadurch wurde die Allgemeinheit des Arbeitsgebots noch weiter
relativiert: D·ie Verrichtungen, welche der Mensch vornimmet, ze-itliches Vermögen
zu erwerben, werden Arbeit genennet. Da wir nun gesehen haben, wie weit er verbunden
ist, nach zeitlichem Vermögen zu streben(§ 522);· so verstehen wir zugleich, wie weit
er zu arbeiten verbunden ist. Nämlich er m'lfß so viel arbeiten, als ohne Abbruch seiner
Gesundheit .. . und der zulässigen Ergötzlichkeit seines Gemütes geschehen kann 89 • Die
Maschinenarbeit und die Herstellung von Maschinen in den Manufakturen be-
handelte auch Wol:ff unter dem oben erörterten Aspekt der Arbeitserleichterung.
Arbeit blieb Arbeit der Hände und des Körpers, ihr Zweck war die Sicherung der
menschlichen Notdurft und Bequemlichkeit; Maschinen dienten dazu, daß viele
Arbeit, welche sonst mit Menschen-Händen zur Notdurft zu verrichten wäre, leicht
geschieht: wodurch den Menschen dasjenige, was sie zu ihrer Nahrung und Kleidung,
auch sonst zu ihrer Bequemlichkeit brauchen, in geringerem Preise verschafft. wird,
als sie sonst nicht haben würden (1723) 90 •
Während also im allgemeinen Sprachgebrauch der Mühsal-Charakter, die alte
Vorstellung gesellschaftlicher Niedrigkeit der Arbeit, andererseits aber auch die
sie aufhebende Arbeit „im Christenstand" noch durch das ganze 18. Jahrhundert,
ja darüber hinaus weiterwirkten und demgemäß üblicherweise Arbeit auf Bauern
und Handwerker, nicht dagegen z. B. auf Kaufleute, die 'handelten' oder 'Hand-
lung' trieben, angewandt wurde, war doch im 17./18. Jahrhundert die aktive Be-
deutung von 'Arbeit' als zielgerichteter Tätigkeit soweit fortgeschritten, daß Wolff
einen sehr weit umfassenden, allgemeinen Arbeitsbegriff (s. o.) zeitgemäß formulie-
ren konnte.
Damit war die gegen Ende des 18. Jahrhunderts populärphilosophisch und im
Sprachgebrauch sich ausbreitende Tendenz angedeutet, die Arbeit vom Druck
ständischer Fixierung zu emanzipieren, sie säkularisiert auf den Menschen allge-
mein zu beziehen und als „Tätigkeit" zu begreifen, die ihm den Weg zu seiner
und seiner Mitmenschen „Glückseligkeit" eröffne. Das Wort 'Arbeit' enthielt, wie
gezeigt wurde, traditionell solche Erweiterungsmöglichkeit in sich, war aber doch
andererseits wiederum traditionell so stark nach .:unten" hin belastet, daß 'labour'
im Sinne von Locke (s.o. S. 168) nicht ohne Hemmung durch Arbeit allein wieder-
gegeben werden konnte. 'Tätigkeit' und 'Arbeit' ergänzten sich im gewünschten
Sinne, konnten dann auch tautologisch und schließlich synonym verwendet werden.
Die ihnen zugehörige Tugend der diligentia, sedulitas, industria, des Fleißes, der
'Industriosität', der 'Arbeitsamkeit' machten den Menschen erst recht eigentlich
zum Menschen, für den es als ein Unglück angesehen wurde, daß er so sehr zur
Untätigkeit geneigt ist 91 • CHRISTIAN GARVE formulierte 1798 zeitgemäß: Alles ver-
einigt sich also dahin, daß der Hauptzweck des Menschen und die Quelle seiner
tugend diligentia s. OTro FRIEDRICH BoLLNOW, Wesen und Wandel der Tugenden (Frank-
furt 1958), 50 ff.
171
ArbelL D. 5. Ahllruela un• Bewabntag der Tradition
92 Cmt. GARVE, Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre
16.
98 JoH. ANDREAS ÜRAMER, Sämmtliche Gedichte, Bd. 2 (Leipzig 1782), 285.
172
D. 5. Abbruch und Bewahrung der Tradition Arbeit
sollen unsere jungen Leute in Philanthropinen vorbereitet werden (ISELIN 1776) 98.
PESTALOZZI faßte zusammen (1781): Arbeit ist ohne menschenbiZdenden Zweck nicht
Menschenbestimmung99.
Die Verbindung von 'Arbeit' und 'Bildung' wirkte als eine der mächtigsten Trieb-
kräfte in das bürgerliche und proletarische Bewußtsein des 19. Jahrhunderts
(z. B. 'Arbeiterbildungsvereine'!) hinein.
Die Applikation von 'Arbeit' (labour) auf Eigentumsstreben und Wertschöpfung
(Locke) oder auch andere planmäßige Verbesserung des Lebens, war bis zur Mitte
des 18. Jahrhunderts in Deutschland offenbar noch nicht üblich, obwohl ein „mo-
derner" Veränderungs- und Machtwille ('Aufnehmen', 'Wachstum', 'Flor', 'Ge-
winst', 'Macht'; „Über-alles-Sein", wenn man „nur will" usw.) in Inhalt und
Diktion das kameralistische Schrifttum erfüllte 10o. Menschliche Tätigkeit wurde
bei allen Kameralisten von Becher bis Justi nach Nutzen und Erfolg gemessen.
Jede Arbcitakraft Gollto mögliohßt .ilwcokmäßig genutzt worden. Auoh Bottler und
Tagediebe waren ·in die Arbeit zu stellen, Zuchthäuser sollten zugleich Werkhäuser
sein: dann was nutzet ein Dieb, der um 50 Gulden ist gehängt worden, sich oder
diesem, dem er gestohlen? Da er doch in einem Werkhaus in einem Jahr wohl viermal
s011iel wieder 11erdienen kann 101 • Niemand sollte mehr ein 1mniitze., MitgliR.d (k,,
ye.mefr1.en We..~e.n.~ Rein .. F.s Rei Pflicht der Menschen, dem Staate durch ihren Fleiß
und Arbeit nützlich zu werden (JusTI 1755) 102 • Das alte christliche Arbeitsgebot
für alle war also verwandelt auf den Nutzen des 'Staates' oder des 'gemeinen We-
sens' bezogen, wobei Justi betonte, daß die Bemühung um eigenen „Gewinst"
zugleich auch der Allgemeinheit zugute komme. Aber so sehr das Prinzip allgemei-
ner nutzbringender Tätigkeit und das Ziel, den Reichtum des Staates besmndig zu
vermehren, Justis große Themen sind, so hat er dafür doch noch nicht den .Ai-beits-
begri:ff zur Verfügung. Um das Ziel des Reichtums und gesteigerter Macht zu er-
reichen, seien drei Hauptwege gangbar: Vermehrung der Einwohner des Landes,
d·ie Oommercien m:it fremden Völkern und. Bergwerke, also Vervielfältigung der
Arbeitshände, Handelskapital und vermehrte Ur-(Metall-)Produktion103• 'Arbeit'
als Begriff und Prinzip der Produktionskraft war zwar schon impliziert, aber noch
nicht formuliert. Das Wort 'Arbeit' brauchte Justi zwar einerseits schon deutlich
für geistige, disponierende Tätigkeit (für Regenten, Räte und Bediente im ,',Ca-
meralwesen", andererseits aber auch noch traditionell: Man kann alle Gewerbe in
drei Hauptarten einteilen, 1) in bloß handelnde Gewerbe, 2) in Gewerbe, die zugleich
arbeiten und handeln, und 3) in Gewerbe, die allein arbeiten und gar nicht handeln10 4 •
(1776), 3. Stück; in: Pädagogische Schriften, hg. v. Hugo Göring (Langensalza 1882), 307.
99 JoH. HEINRICH PESTALozzr, Christoph und Else (1781/82), SW Bd. 7(Berlin1940), 321.
100 Vgl. die vielen Beispiele in der Sammlung von KmtT ZIELENZIGER, Die alten deutschen
und Abnehmens der Städt, Länder und Republicken (1668; 2. Au1l. Frankfurt 1673),
244 f., Tl. 2, Kap. 26; zit. ZIELENZIGER, Kameralisten, 238 f ..
102 JoH. HEINRICH GoT'rLOB JusTI, Staatswirthschaft, Bd. l (1755; 2. Aufl.. Leipzig 1758,
173
Arbeit D. 6. Ökoaomisieruag
101 [WINDSCHEIDT ?], W &hrhafte Beschreibung des Zustandes, worin die Solinger Fabriken,
durch die Neue Ordnung vom 15. März 1777, ~ersetzt worden, in: SCHLÖZEBS Stats-An-
zeigen 2 (1782), 448.
10• Joa. GEORG LEm, Von Verbesserung Land und Leuten (Leipzig, Frankfurt 1708);
zit. ZIELENZIGER, Kameralisten, 374 f.
1o 7 THEODOR LUDWIG LAu, Politische Gedanken (1717); ders., Entwurff einer wohleinge-
richteten Policey (1717); zit. ZIELENZIGER, Kameralisten, 394. 402.
174:
D. 6. Ökonomisierung Arbeit
Joseph II, der Maria-Tkeresen gelten zu lassen 1 os, wilrde in Deutschland durch die
„nationalökonomische" Rezeption der Sprung zum modernen Arbeitsbegriff getan.
War im Kameralismus bereits alle menschliche Tätigkeit utilitarisiert worden,
ohne daß ein dem gemäßer neuer Arbeitsbegriff gebildet worden war, wurde 'Arbeit'
bei den Physiokraten, sodann bei den Smithianern (deren Vorläufer seit PETTY):
Tkat Labour is the Fatker and active principle of W ealth as Lands arte the
Motker 109 zu einem Zentralbegriff ihres Systems, in dem der aufgeklärte Eu-
dämonismus ökonomisch begründet wurde. Doch war es für das neue Ver-
ständnis von Arbeit nicht genug, daß das Schwergewicht der Glückseligkeitslehre
vom moralischen Zustand und der Zufriedenheit der Seele in sich ausdrücklich auf
den äußerlichen Zustand 110 und das natürliche Reckt des Menschen zu Genießungen
gelegt wurde 111 , so daß das physische Glück zum Grund von der moralischen Glück-
seligkeit der Menschen wurde112• Entscheidend wurde vielmehr, darauf beruhend,
die Forderung nach „Vervielfältigung" der „Produktion" und nach „Wachstum"
des individuellen wie des „Nationalreichtums". In das theoretische System einer
grundsätzlich wachsenden Wirtschaft hineingestellt, wurde ATbeit zum Produk-
tionsfaktor, zum Mittel nicht nur der Existenzerhaltung, sondern darüber hinaus
der Bildung wachsenden „Kapitals", auch dies sowohl individuell wie als Fond
der Nation verstanden. Die Menge der genießbaren Sacken ... muß unaufhörlich
vervielfältiget werden ... ; desto glücklicher wird die ganze Gesellschaft . . . Diese
Materien zum Glück der Menschen herbeischaffen und vervielfO.ltigen, ... verteilen,
umformen und verarbeiten und auch Ve'farbeitet wieder verteilen: dieses sind .die
zwei großen Geschäfte, welche der menschlichen Gesellschaft ihre Glückseligkeit zu-
bereiten118. Das bewußte Streben nach grundsätzlich erwünschtem, durch Arbeit
bewirktem Wachstum, nach unaufhörlicher Vermehrung der Productionen (bezeich-
nender physiokratischer Neologismus zu einer auf Wachstumseffekt zielenden
Arbeit!) und nach Vervielfältigung derer ... Natur-Producte 114 erforderte logisch
die Bemühung um eine Definition der Arbeit als des Weges zum „Glück" durch
wirtschaftliches Wachstum. Physiokratisch hieß demgemäß Arbeit das Mittel, der
wohltätigen Wirkungen der Erde uns teilhaftig zu machen und die Produkte verar-
beitet und umgeformt in den Güter- und Geldkreislauf zu bringen115, oder allge-
meiner politisch (nicht philosophisch) definiert: Arbeit (politisch) ist immer eine
bestimmte Anstrengung der der Willkür unterworfenen Kräfte, um dadurch besonderen
Effekt wirklich zu machen118• Auch diese Definition stand im System der Physio-
108 So WII.JI. LUDWIG WEXBRLIN, Die Privattugend der heutigen Regenten, Chronologen 1
(1779), 286 ff.
169 WILLIAM PE'l'l'Y, A Treatise ofTaxes and Contributions (London 1662), in: TheEoonomic
Writings of Sir William Petty, ed. CHARLES HENRY HuEL, vol. 1 (Cambridge 1899), 68.
110 JoH. AUGUST Scm.ETTWEIN, Allgemeine Sätze von der Glückseligkeit der Staaten
(Mainz 1782), 3.
111 Ders., Die wichtigste .Angelegenheit für das ganze Publicum: oder die natürliche
175
Arheit II. 6. Ökonoinisierung
kraten: Arbeit sollte „interessant" sein, zum „Glück" führen und konnte nur in
·freier „Konkurrenz" ihren „Effekt" für Gewinn und Wachstum haben. Verviel-
fältigung und Arbeitsteilung (so besonders schon Turgot vor Smith) ließen sich
steigern, so daß die Vermehrung des Reichtums, sowohl für den Staat wie für alle,
auch die ärmeren Bürger, aus vernünftig angesetzter Arbeit folgen sollte. Alle
Lebenserfordernisse entstünden aus den Arbeiten der Nation; die Arbeit ist also
der ursprüngliche Fond, der ein Volk mit allen Notwendigkeiten und Bequemlich-
keiten dieses Lebens versorgetll 7.
Aus dem ökonomischen Verständnis der Arbeit war alle Mühsal, Pein und Verachtung,
aber auch der Bezug von redlicher Arbeit zu christlich treu gelebter Armut verbannt.
Arbeit sollte mit Hilfe ökonomischer Ratio zur Freude werden118• Oberster Wert
war das Streben nach Glück im materiellen und moralischen Sinne. Dies aber konnte
nur durch Befriedigung der „Bedürfnisse" erreicht werden. Die Bedürfnisse wie-
derum forderten Arbeit und weckten den Trieb zur vernünftigen Arbeitsamkeit,
d. h. einer fortgesetzten Vervielfältigung der Arbeitsleistung durch verbesserte
Technik, Organisation und Arbeitsmoral. Der Beziehung von Arbeit und Bedürfnis
entsprach ausdrücklich die von Production und Oonsumtion, die beide das ganze
Werk des „Systems" der natürlichen Ordnung in der Politik ausmachtenue.
Bedürfnisnachfrage und Arbeitsangebot standen in einem wirtschaftlichen Kreis-
lauf, in dem es (bei den Physiokraten) zunächst noch Wertschöpfung nur durch
Arbeit in der Urproduktion gab, in dem aber „umformende" und „verteilende"
Arbeit gleichwohl im Interesse aller lag. So kam es bereits zur Formulierung eines
„Systems" der Interdependenz aller Menschen durch die Beziehungen ihrer Be-
dürfnisse und die Beziehung ihrer Arbeit in einer grande unite d'inter&s; dazu gehörte
der Kernsatz K.uu; FRIEDRICIIS VON BADEN, daß die Menschen nicht anders als
durch erfolgreiche Arbeit in der Gesellschaft glücklich leben könnten: que par
leurs sucds mutuels. L'inter8t de chacun est le m8me que l'interet des tous 120•
Neben die traditionelle Pflicht zur Arbeit, an der betont festgehalten wurde, trat
im ,,System" der „Ökonomisten" das (Natur-)Recht auf Arbeit, worin die Freiheit
der Wahl (Art und Ort) eingeschlossen war. ScHLETTWEIN hat diesen dann häufig
wiederholten, später variiert sowohl in den Liberalismus wie in den Sozialismus
eingehenden Grundsatz klassisch formuliert (1773): Dies ist die wesentliche Ge-
rechtigkeit, daß ein jeder Mensch nach seinem eigenen Gefallen arbeiten darf, was
weil der Mensch nur arbeitet, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, weil die Industrie bei einem
Volke in dem Maße zunimmt, in welchem sich bei selbigem die Bedürfnisse vervieZfäUigen;
ScHLETTWEIN, Allgemeine Sätze, 8; vgl. ders., Angelegenheit, Bd. 1, 125.
m KARL FRIEDRICH VON BADEN, Abrege des principes de l'ooonomie politique (1770;
Karlsruhe 1786), 43. 45. Vgl. dazu neuerdings die Einbeziehung der Rezeption des physio-
kratischen Systems durch Karl Friedrich in die Wirtschafts- und Sozialpolitik, speziell
die Arbeitserziehung in Baden bei J-OLANDE E. RUMMER, Die Uhren- und feine Stahlwaren-
fabrik im Pforzheimer Waisenhaus, in: Die Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie,
hg. v. ERICH MABOBKE (Pforzheim 1966), 77 :ff. 87 :ff.
176
II. 6. Ökonomisierung Arbeit
und wie er will, und daß er seine Arbeiten freiwilligen Li,ebhabern überlassen kann,
in welchem Preis er will. Diese Freiheit ist einem jeden Menschen vermöge seines
Wesens interessant und die absolute Gerechtigkeit gibt sie einem jeden. Also ist es ein
natürliches, unveränderliches Eigentumsrecht der Menschheit, die eigenen Kräfte und
Geschicklichkeiten nach eigenem Gefallen zu brauchen, und jede mögliche Arbeit zu
verrichten, dadurch ein Mensch Genießungen erwerben kann 121.
Dieser Grundsatz hatte auflösende Konsequenzen für die Wirtschafts- und Sozial-
ordnung: Bauernbefreiung stand gegen Grunduntertänigkeit, Gewerbefreiheit gegen
Zunftzwang und monopolistische Privilegierung, Freizügigkeit gegen Ortsgebun-
denheit, Entfesselung der Konkurrenzwirtschaft gegen jegliche Bindung, d. h.:
überall sollte Arbeit befreit und damit die Leistung zur Gewinnsteigerung frei-
gesetzt werden, z.B. die Landwirtschaft nicht mehr ein bloßes Mittel des Unterhalts
und damit von gar keinem Nutzen für einen heutigen Staat, sondern ein Gewerbe, für
selbigen von unendlicher Wichtigkeit sein122 • Das Postulat vom Recht auf freie
Arbeit wurde auch rein ökonomisch begründet und führte im Wirtschaftsmodell
des (zur „Harmonie" strebenden) freien Spiels der Kräfte zu Theorien über Ar-
beitspreis und Arbeitslohn, wobei die Arbeit bzw. der Arbeiter als Ware erscheinen
und freie Arbeitsverträge auf dem Arbeitsmarkt geschlossen werden123• Folge-
richtig ergab sich in diesem Zusammenhang auch sogleich der Begriff der 'Ar-
beitslosen'. Sowohl der selbst verschuldeten wie der unverschuldeten Arbeitslosig-
keit sollte ökonomisch vernünftig und nicht mit unrentablen, karitativen Pal-
liativmitteln begegnet werden; denn eine weise Staatsverwaltung und Polizei kann
keine arbeitslose Menschen dulden 124• Der Begriff der Arbeitslosigkeit ist also im
Ansatz des ökonomischen Arbeitsbegriffs konsequent mit gegeben.
'Arbeitslosigkeit' und 'Arbeitsloser' setzten sich als weithin verbreitete Begriffe
freilich erst auf dem Boden des voll ausgebildeten Industriesystems, d. h. in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Sie gehörten jedoch prinzipiell von
Anfang an zum ökonomisch begründeten Gesellschaftsbegriff und unterschieden
sich in ihrer Bedeutung scharf von 'Armut' und den 'Armen'.
Daß im neuen wirtschaftlichen „System" das Bettelwesen noch weniger seinen
Platz in der Gesellschaft haben konnte als vorher schon in den protestantischen
Staaten, versteht sich von selbst. Auch hier sollten die Mittel zu seiner Bekämpfung
ökonomischer als in den „Arbeits- und Zuchthäusern" angewandt werden. Diese
waren im Grunde nur noch vertretbar, wenn sie als Manufaktur einen günstigen
Standort hatten und der Gedanke der Strafe aus ihnen verbannt wurde, damit auch
dergleichen Unglückliche dort freiwillig nutzbringend arbeiten konnten125• Folge-
richtig war auch die von den Physiokraten noch kaum, von der britischen National-
121 ScHLETTWEIN, Angelegenheit, Bd. 2, 185 f. u. ö . .Ähnlich Dt. Enc., Bd. 1 (1778), 703.
12 2 AltTHUR YoUNG, Politische Arithmetik ... An die ökonomischen Gesellschaften in
Europa gerichtet (1774), dt. v. Clm. J. KB.Aus (Königsberg 1789), 54. Darauf fußend
ALBRECHT THAER: Die Landwirtschaft i8t ein Gewerbe, welchea zum Zweck hat, durch Pro-
duktion .•. vegekibilischer und tierischer Bttbatanzen Gewinn zu erzewJen oder Geld zu er-
werben; Grundsätze der rationellen Landwirtschaft, Bd. 1 (Berlin 1809), 3, § 1.
123 So z. T. schon vor der Blüte des Smithianismus in Deutschland in der Dt. Enc., Bd. 1
12-90385/1 177
Arbeit D. 6. Ökonomisierung
ökonomie dagegen offen vollzogene Umwertung des Verhältnisses von Arbeit und
Luxus. Im Hinblick auf den Produktionsanreiz eines hohen Konsums konnte der
Luxus nicht länger verpönt sein; Arbeit sollte Überfluß erzeugen und damit nicht nur
eine allgemeine Steigerung des Lebenszuschnitts, sondern auch Luxus inmitten des
Wirtschaftswachstums ermöglichen. Arbeit schaffe Reichtum und somit verstärk-
ten Geldumlauf. Dieser vergrößert den Luxus, und dieser die Konsumtion: erstlich
indem er die Zahl der Menschen vermehrt; zweitens indem er macht, daß sie weichlicher
und besser leben und drittens, indem er Anlaß zur Verschwendung gibt. All das wurde
als „Glück" begehrt - eine Umwertung der Werte auf Grund ökonomisierter
Arbeit12e.
Ohne Zweifel war der neue Arbeitsbegriff der „Ökonomisten" (nicht allein physio-
kratischer Richtung) in seiner Konzeption und seinen Verwirklichungstendenzen
eine der wesentlichen Voraussetzungen für die „Revolution" sowohl im industriellen
wie im politisch-sozialen Sinne. Doch ist dem einschränkend hinzuzufügen, daß
seine Verfechter von den sechziger bis zu den achtziger Jahren: zwar Reformen
wie Ba.uernbefreiung und Gewerbefreiheit wünschten, je~och keine Sozialrevolu-
tionäre waren; den Effekt und die Ziele jeglicher Arbeit, auch wenn sie von ihren
Hemmungen befreit waren, sahen sie stets begrenzt in der Achtung des zum
Menschenrecht erklärten Eigentums sowie in dem Grundsatz, daß die Pff,icht zu
arbeiten zu den natürlichen Pff,ichten gehöre; wer aber durch die Beobachtung dieser
Pflicht höhere und wichtigere Pff,ichten übertritt, handelt unrecht127 • Die Arbeit sollte
also wohl ökonomisch, aber nicht sittlich entfesselt sein. Überhaupt ist festzu-
halten, daß Vorstellungen und Wertungen der antik-christlichen Tradition nicht
nur nicht kraft des ihnen eigenen Schwergewichts weiter lebendig blieben, sondern
künftig auch ausdrücklich ·festgehalten oder wenigstens nicht offen bekämpft
'Wurden, soweit sie nicht quietistisch selbstgenügsam den erwünschten Wachstums-
prozeß allzu offensichtlich störten. Besonders Topoi und Sprichwörter, die Fleiß,
Treue und Redlichkeit des Menschen in seiner Arbeit lobten, blieben erwünscht,
da diese die notwendige Arbeitsdisziplin unter den beginnenden modernen Bedin-
gungen ebenso förderten, wie das traditionell stets der Fall gewesen war. Dem
Geflecht von Kompromissen einerseits, Konflikten andererseits, die sich seit dem
ausgehenden 18. Jahrhundert zwischen den mannigfachen Realisierungen alter und
moderner Begriffe, Vorstellungen und Wertungen der Arbeit ergeben haben, im
einzelnen nachzugehen, übersteigt den Umfang dieses Artikels.
Mit ADAM SMITH begann zwar nicht so eindeutig, wie behauptet wird, „die Ent-
wicklung der Auffassung, daß die Arbeit die eigentliche 'Quelle des Reichtums',
d. h. der einzige Produktion~faktor fm wirtschaftli ehern Sinne" sei 128, a her die in die-
ser Richtung liegenden Ansätze der „Ökonomisten" seiner Zeit hat Smith zusammen-
gefaßt, intensiv durchdacht und vor allem zu weiter Wirkung gebracht 129. Den
1 19 YoUNG, Polit. Arithmetik, 58. Vgl. allgemein: WERNER SoMBART, Luxus und Ka.pi-
taJismus (München, Leipzig 1913), bes. 133 ff. ·
117 Dt. Enc., Bd. 1, 703.
m So ERICH C.ARELL, Art. Arbeit, Hwb. d. SozWiss., Bd. 1'(1956), 231.
1n Smith wirkte in Deutschland rasch, aber sehr begrenzt, durch die Übersetzung von
Jos. FB. SOBILLER (1776/78), sodann außerordentlich stark durch die von GARVES (1794).
178
II. 6. Ökonomisierung Arbeit
Arbeitsbegriff befreite er vom Vorrang der agrarischen als der allein wertschaffenden
Arbeit (Physiokraten) und entwickelte die zentrale Bedeutung der Arbeit im
Wirtschaftskreislauf: Arbeit liege primär aller Wertschöpfung und Preisbildung
zugrunde; sie sei der wahre Maßstab des Tauschwerts al"ler Güter 130• Arbeit war nicht
nur durch Erschließnng neuen Landes und neuer Bodenreichtümer oder durch
Vermehrung der Arbeitshände („Population"), sondern vor allem durch verbesserte
Technik und Organisation der Arbeit („Arbeitsteilung") in ihrem Effekt zu stei-
gern, d. h. „produktiver" zu machen. Doch konnte Arbeit als der einer wachsenden
Wirtschaft zugrundeliegende Produktionsfaktor nur d!mn in ihren Möglichkeiten
ausgeschöpft werden, wenn sie in einem ungehemmten, „harmonisch" funktio-
nierenden Geld- und Güterkreislauf wie eine Ware frei beweglich war.
Fassen wir die im Werk Adam Smi~hs versammelte Reflexion der „Ökonomisten"
über'Arbeit'in ihren politisch-sozialen Implikationen zusammen, so ergibt sich:
a)'Arbeit'wurde zu einem Hauptbegriff der ökonomischen Theorie und damit der
alsbald zur Spezialdisziplin werdenden Wirtschaftswissenschaft (Politische Öko-
nomie, Nationalökonomie, Sozialökonomie). Als solcher spielt er seit Smith seine
Rolle in der Dogmengeschichte dieses Fachs.
b) Der Ökonomismus besaß für seine Verfechter den Rang einer aufgeklärten
Weltdeutung („natürliche Ordnung"), in der die Arbeit eine bis dahin nicht ge-
kannte zentrale Stellung einnahm. Durch Arbeit (im neuen Verständnis) entstand
„Vervielfältigung" der Lebensmöglichkeiten, konnten die „wachsenden" Bedürf-
nisse und das Streben nach „wachsendem" Glück befriedigt werden. „Glückselig-
keit" brauchte nicht mehr in der Verbindung von Arbeit und Gebet oder gar durch
weltabgewandte Kontemplation erhofft zu werden. Sie ergab sich vielmehr aus eigener
Kraft, aus „productive powers" und „Industrie", durch die materielle Werte und
erleichterte Lebensbedingungen geschaffen wurden. In solchem Arbeitsglück fühlten
sich die Menschen des aufgeklärten Geistes selbst bestätigt. Sie dankten dem Schöp-
fer der Erde für die Freigabe ihrer Energie zum vernünftigen Gebrauch ihrer
Kräfte.
c) Die sozia-len Konsequenzen des von der Ökonomie bestimmten Begriffs waren
weitreichend. Daß alle liberalen Reformen der Wirtschafts- und Gesellschafts-
verfassung, in erster Linie Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit, von der neuen
Arbeit her, sei es naturrechtlich moralisch, sei es ökonomisch131, begründet wurden,
trifft den Kern der sozialen Problematik der Begriffswandlung. Im ökonomisch
freien System gab es prinzipiell keine Privilegien, Herrschafts- und Monopol-
stellungen. Damit waren der Adel, aber auch wirtschaftlich Privilegierte aller Art,
besonders die zünftigen Handwerksmeister getroffen. Soziale und politische Fol-
gerungen waren unvermeidlich. Dei: durch freie, wertschaffende Arbeit bestimmten
Tauschwirtschaft entsprach eine bürgerliche Leistungsgesellschaft, in der prin-
130 ADA.111 SMITH, An lnqliiry into the Nature and Causes ofthe Wealth ofNations, 2 vol.
(London 1776), zit. die tJbersetzung von CHRISTIAN GARVE u. d. T.: Untersuchung über
die Natur und die Ursachen des Na.tionalreichthums, Bd. 1 (Frankfurt, Leipzig 1796), 48.
131 Als Beispiel der häufigen ökonomischen Argumentation für Abschaffung der Frohn-
die~ vom Begriff der freien Arbeit her: CHR. JAKOB KRAus, Gutachten über die Auf-
hebung der Privatuntertänigkeit in Ost· und Westpreußen (1802), Vermischte Sohr.,
hg. v. Hans v. Auerswald, Bd. 1 (Königsberg 1808), 173 ff.
179
Arlieit n. 6. Ökonomisiemog
zipiell kein Platz für einen privilegierten Adel mehr war, mochte auch praktisch
diese Konsequenz noch nicht gezogen werden. Smith selbst war nicht bereit, adels-
feindliche Folgerungen aus seiner Theorie herzuleiten, sondern neigte dazu, die
Über- und Unterordnung der Menschen infolge von Vermögen und Geburt als
gegeben hinzunehmen. Darüber hinaus ergab sich für ihn systemimmanent aus dem
ökonomischen Begriff der Arbeit (Arbeitsteilung, Produktionsverhältnisse der
Manufakturen) eine neue soziale Schichtung dadurch, daß Unternehmer Arbeit
gaben und Arbeiter für einen niedrigen Lohn, der sich nach Angebot und Nachfrage
für die „Ware" Arbeit sowie nach den Preisen zu richten hatte, abhängig arbeiteten.
So stieß bereits Smith auf die später (Ricardo, Marx) schärfer durchdachte Gegen-
sätzlichkeit von Arbeit und „Kapital", in der er jedoch noch kein soziales Problem
sah. Im Gegenteil war Smith vom gemeinsamen Interesse der Unternehmer und
Arbeiter im Geiste des Harmoniedenkens überzeugt. Das steigende Angebot pro-
duzierter Güter in der arbeitsteiligen Gesellschaft zivilisierter Nationen müsse zu
vermehrtem Konsum führen, und so ve'l'lweitet sich ein al1,gemeiner Überfluß übe'/'
alle Klassen der Gesellschaft 132 • Smith wandte sich daher gegen die verbreitete Auf-
fassung, daß nur ein am Existenzminimum ausgerichteter Lohn die Arbeiter (aus
Not) zum Fleiß antreibe. Er kehrte dieses alte Argument um, sah in der Möglichkeit,
den Lohn zu erhöhen, das natü'l'liche Ermunterungsmittel des Fleißes 133 und ver-
mochte das Glück der Gesellschaft nur dann verwirklicht zu sehen, wenn ihre Glie-
der nicht arm und elend seien134• Auch die labouring poors, in deren (in England
allgemein gebräuchlichem) Namen die traditionelle Verbindung von Arbeit und
Armut ausgedrückt war, sollten - wiederum moralphilosophisch und zugleich
ökonomisch begründet - am wachsenden Wohlstand durch (nicht zuletzt ihre
eigene) Arbeit teilhaben. Diese Umkehrung des alten Grundsatzes, die Arbeit,
d. h. die abhängige Handarbeit, in der Besitzlosigkeit zu halten, der modernisiert
als These in den „Kapitalismus" einging, wurde in Deutschland von den Smithia-
nern übernommen und von der „Freihandelsschule" fortgesetzt. Noch zurückhalten-
der als in der Adelsfrage verhielt sich Smith zur Frage des (na.chheutigerTerminologie)
tertiären Bereichs der Berufe. Zur ökonomisch begriffenen Leistungsgesellschaft
gehörten für ihn nur die produkJ,iven Tätigkeiten (Urproduktion, Verarbeitung,
Verteilung). Auf diese allein applizierte er den Begriff der Arbeit, wogegen die
unprodukJ,iven, ökonomisch nicht wertschaffenden Dienstboten, Landesregenten,
Militär-und Zivilbeamte, Pfarrer, Ärzte, übet"haupt alle Ge'leh'l'te, ferner Schauspieler,
Tänzer, Sänger usw. nichts hervorbrachten, wofür man eine gleiche Quantität Arbeit
erkaufen könnte 135•
Schärfer konnte der Traditionsbruch des Gesellschafts- und Arbeitsbegriffs kaum
bezeichnet werden. In einer durch „self-interest" verbundenen und auf Arbeits-
teilung beruhenden Gesellschaft der Produktion und Konsumtion (Arbeit und
Bedürfnis) ergab sich eine soziale Umwertu~g von Grund auf: die „Praxis" der
(alten und neuen) Herrschaftsstände wurde als unproduktiv abgewertet. Vom Maß-
188 SMITH/GARVE, Ne.tionalreichthum, Bd. 1, 8 ff.; Bd. 2 (1796), 5 ff.; das Zitat Bd. 1, 18.
1aa Ebd., Bd. 1, 138.
134 Ebd., 133.
180
D. 7. Fortbildung des ökonomischen Begmls Arbeit
stab wertschaffender Arbeit aus gesehen, rückten diese neben Gesinde und Ko-
mödianten(-+ Gesellschaft, bürgerliche).
d) Auch und gerade weil die neue Ökonomie individuelle Freiheit des wirtschaften-
den Menschen im System des Tauschs und Wettbewerbs forderte, war sie auf
die „Nation" oder den „Staat" · bezogen. ('Politische' oder 'National-
ökonomie', dt. 'Staatswirtschaft'). Alle Literatur der „Ökonomisten" war national-
staatlich (im vorrevolutionären Sinne) durchdrungen. Durch Arbeit sollte Wohl-
stand, Reichtum, Macht entstehen. 'Arbeit' war also nicht nur der je individuelle,
sondern in ihrer Summe als Gesamtheit der Produktionsfaktor für den Reichtum
der Nation. Durch Arbeit als Kollektivobjekt wurde jeweils der National-Fon<l,
die später als „Sozialprodukt" bezeichnete Größe, geschaffen. The annual labour
of every nation is the /und which originally supplies it with all the necessaries arul
conveniencies of life ... 136• Die deutschen Smithianer haben diesen Ausgangspunkt
in der Regel mehr oder weniger wörtlich genommen. CHRISTIAN JAKOB KRAUS
prägte dabei den Begriff N ationalarbeit137 • Damit erhielt Arbeit vom Nationalstaat
ihren politischen Wert - sowohl im Rückblick auf Vorstufen primitiver, wie im
Hinblick auf die Konkurrenz gegenwärtiger „zivilisierter" Nationen, mit denen
und demgemäß auch mit deren Arbeit die eigene Nation durch ein kosmopolitisches
Band verknüpft sein sollte.
188 Der erste Satz des Smith'schen Werks! Garve übersetzt: Die Arbeit, wel,ehe je.de Nation
jährlich, verrichtet, ist der Fond, der sie ursprünglich mit allen . . . Notwendigkeiten und
Bequemlichkeiten des Lebens versorgt; ebd., Bd. 1, 1. GEORG SARTORIUS, Handbuch der
Staatswirthschaft . . . nach Adam Smith's Grundsätzen (Berlin 1796), 1 spricht in der
Wiedergabe dieses Satzes vom Produkt der Arbeit eines Volkes.
137 CHR. J. KRAus, Staatswirthschaft, Bd. 1 (Königsberg 1808), 6. Als weitere Beispiele
für Adam Smiths Rezeption in Deutschland vgl. SARTORIUS, Handbuch und AUGUST
FERDINAND LuEDER, "Ober Nationalindustrie und Staatswirthschaft (Berlin 1800).
138 Das Folgende zunächst im Anschluß an ALFRED Ä.MoNN, ·Art. Ricardo, Hwb. d.
181
II. 8. Französische Revolution
fügbaren Lohnfonds sowie von der Korrelation Profit - Lohn mit den gegenläufi-
gen Tendenzen zur Lohnsteigerung einerseits, zum Druck auf die Löhne anderer-
seits je nach Arbeitsangebot und -nachfrage („Marktlohn"). Die sozialen Impli-
kationen deSBen (Konflikt zwischen „Kapital" und „Arbeit") wurden zwar von
Ricardo, der klarer als Smith auf reine Ökonomie (in Praxis und Theorie) ausging,
noch nicht thematisiert, aber sie drängten sich den Zeitgenossen der Krisenzeit
1817 bereits weit stärker auf als den optimistischen Ökonomen und 1776. Die Eigen-
tümlichkeit des Begriffs im Verhältnis iu seiner Umwelt lag also bei Ricardo darin,
daß 'Arbeit' potentiell eine politisch-gesellschaftliche Bedeutung erhalten hatte
wie nie zuvor, daß aber just in diesem historischen Moment die Ökonomisierung
des Begriffs so weit getrieben wurde, daß 'Arbeit' zwar ins Zentrum des wirtschaft-
lichen Systems gestellt, dort aber isoliert und damit philosophisch und politisch
reduziert wurde. Die im ökonomischen Sinne wertschaffende Arbeit war moralisch
wertfrei geworden. Andererseits wies der am Beginn des wissenschaftlichen Fachs
die Nationalökonomie139 stehende Begriff mit seiner Implikation des sozialen Kon-
flikts unverschleiert darauf hin, daß „reine" Ökonomie sozial schonungslos war.
Die Zustände der in Bewegung geratenen Gesellschaft am Beginn der frühen In-
dustrialisierung kamen solcher Entschleierung entgegen. EDUARD GANS fragte
1830, ob die jetzt freigelassene Arbeit aus der Korporation in die Despotie, aus der
Herrschaft der Meister in die Herrschaft der Fabrikherrn verfal"len solle140• Ähnliche
Zeugnisse der Sorge über die „Freilassung" der Arbeit ließen sich für die dreißiger
und vierziger Jahre häufen. AUf der anderen Seite hielt sich der optimistische
Glaube an Harmonie durch Konkurrenz, an allgemeine Wohlstandssteigerung und
die im Industriesystem liegenden Chancen aller arbeitenden Menschen mit der
Möglichkeit der individuellen und genossenschaftlichen „Selbsthilfe", wie sie be-
sonders von SCHULZE-DELITZSCH seit 1850 verkündet wurde141• Traditionelle
Arbeitsethik verband sich dabei mit dem Gedanken, nicht nur ein kleines Ver-
mögen zu ersparen, sondern in den vielfältigen neuen Berufsmöglichkeiten sozialen
Aufstieg durch Arbeit zu erreichen. Die „entfesselte" Arbeit erfüllte also liberale
Ökonomen mit Optimismus, forderte aber auf der anderen Seite die Abwehr der
Konservativen und den Kampfwillen der Sozialisten heraus. Diese beiden Reaktio-
nen sind ohne die Wirksamkeit sowohl der Französischen Revolution wie der
deutschen Philosophie des transzendentalen Idealismus nicht zu verstehen.
189 Vgl. HEGELS Bemerkung über die St,aats-Ökcmomie ala eine der WiaaeMchaften, die in
neuerer Zeit als ihrem Boden entstanden ist; Rechtsphilosophie, § 189.
· 140 E. GANS, Rückblicke auf Personen und Zustände (Berlin 1836), 99 f.
141 Belege bei WERNER CoNZE, Möglichkeiten und Grenzen der liberalen .Arbeiterbewegung
182
II. 8. Französische Revolution Arbeit
Stellung eiri, da in ihr verwirklicht wurde (oder werden sollte), was bisher für den
europäischen Kontinent nur in der Welt des Gedankens gelebt hatte. In vielfacher
Hinsicht war die Revolution für den Arbeitsbegriff von Bedeutung. Die längst ent-
wickelte Scheidung zwischen produktiven und unproduktiven Klassen oder zwi-
schen dem arbeitenden „Dritten Stand" und den privilegierten, „müßiggehenden"
Ständen des Adels und der Geistlichkeit wurde politisch aktualisiert durch die
Identifizierung des Dritten Standes mit der Nation, die damit zu einer von den
„Parasiten" befreiten, auf allgemeine Arbeit gegründeten Leistungsgemeinschaft
wurde142 • Dem entsprach der Fundamentalsatz im Titel 1 der Verfassung von
1791 : Que tous les citoyens sont admissibles aux pl,acest et emplois sans autre distinction
que celle des vertus et des talents. Die in der Literatur der Ökonomisten geläufige Ver-
bindung von Arbeit und Nation wurde damit politisiert und dem entstehenden
neuen Gesellschaftsbegriff entsprechend demokratisiert. Da in der für den späteren
Liberalismus wirksamen ersten Phase der Revolution nicht die Arbeit, wohl aber
das Eigentum zu den grundlegenden Menschenrechten gehörte, konnte die For-
derung der „Freiheit" mit dem Prinzip mobiler Arbeitskraft im freien Spiel der
wirtschaftlichen Kräfte verbunden werden. In der zweiten Phase (Verfassung von
1793) trat das Problem der „Gleichheit" neben oder vor das der „Freiheit". Dem
(fast) allgemeinen und gleichen Wahlrecht entsprachen Forderungen der Eigen-
tumsbeschränkung („Maximum des Besitzes"), so.wie der Preis- und Lohnfest-
legung. Das bedeutete .indirekt eine Aufwertung der Arbeit urid des durch Arbeit
Erworbenen. In der „Declaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1793
wurde demgemäß bestimmt: das Recht auf Eigentum sollte in sich die freie Ver-
fügung über die Früchte der Arbeit und des Fleißes der Bürger enthalten (Art. 16);
die freie Wahl der Arbeit sollte garantiert sein (Art. 17); es sollte kein bindendes
Dienstverhältnis (domesticite) mehr geben, sondern lediglich freie Arbeitsverhält-
nisse (Art. 18), die „Gesellschaft" sollte die Fürsorgepflicht für die „Unglücklichen"
haben, sei es, daß si~ Arbeit beschaffte, sei es, daß sie Unterstützung gewährte
(Art. 21, ähnlich schon in Titel 1, 10 der Verfassung von 1791 und 1794 im ALR
Tl. 2, Tit. 19, § 1. 2). Die Pflicht zur Arbeit war hierin, wenn auch nicht ausge-
sprochen, enthalten; vom „Recht auf Arbeit", wie später bei Fourier, war dagegen
noch nicht ausdrücklich die Rede. Immerhin war der Zusammenhang zwischen einer
sich nicht nur formal verstehenden Demokratie der Gleichheit mit dem Problem
der Arbeit bereits sichtbar, allerdings noch nicht ausdrücklich auf eine vorwiegend
durch industrielle Lohnarbeit· bestimmte Arbeitsverfassung gerichtet. Der Sans-
cullottismus war vielmehr noch in erster Linie auf „freie" Arbeit kleiner Eigen-
produzenten in Land und Stadt bezogen. Daher ergab sich wohl der Bezug des
Gleichheitsprinzips auf die Arbeit, vor allem der Kleingewerbetreibenden, aber noch
nicht die völlige Durchdringung der Staats- und Sozialverfassung mit Arbeit als
konstitutiven Prinzip143. Babeuf (1797) ging über diese kleinbürgerlich-demo-
kratische Stufe hinaus. und wies voraus auf den Sozialismus (s. u. S. . 196 ff.).
142Vgl. ABBE EMMANUEL SIEYES, Qu'est-ce que le tiers etat? (Paris 1789).
ua Hierzu ALBERT SoBOUL, Das Problem der Arbeit im Jahre lt, in: Jakobiner und
Sansculotten, hg. v. WALTER MARKOV (Berlin 1956), 151 ff.; vgl. Die Sa.nsculo.tten von
Paris, hg. v. WALTER MARKOV u. ALBERT SoBOUL (Berlin 1957).
183
Arbeit II. 9. Idealistische Philosophie
114 Vgl. z. B. seine traditionsbestimmte Ablehnung der Lockeschen, später von den
Nationalökonomen sowie von Fichte und Hegel fortgeführten Ableitung des Eigentums
von Arbeit anstelle von occupatio: KANT, Die Metaphysik der Sitten (1797), Rechtslehre,
Tl. 1, § 16. AA Bd. 6 (1907/14), 267.
m J. G. FICHTE, Das System der Sittenlehre (1798), Einleitung,§§ 4. 7. SW Bd. 4 (1845),
3 ff., bes. 9.
m Ders„ Grundlage des Naturrechts (1796), § 18, 2. SW Bd. 3 (1845), 211.
147 Ders., Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806), SW Bd. 7 (1846), 43.
m So mehrfach bei Fichte; vgl. bes.: Die Bestimmung des Menschen (1800), SW Bd. 2
(1845), 265 ff., bes. 277; ders„ Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, SW Bd. 7, 42 ff.
u 9 Ders„ Die Bestimmung des Menschen, SW Bd. 2, 265.
160 Ebd„ 268 f. Vgl. auch: Der geschloßne Handelsstaat (1800), SW Bd. 3, 422 f.
in Ders„ Grundzüge, 44.
184
II. 9. idealistische Philosophie Arbeit
162 Ders., Das System der Rechtslehre (1812), NW Bd. 2 (1834), 542. 544.
168 Ders., Reden an die deutsche Nation (1808), SW Bd. 7 (1846), 426 f.
164 FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, 'Ober die Religion (1799), 4. Rede. SW 1. Abt., Bd. 1
(1843), 353.
185
Arheit Il. 9. Idealistische Philosophie
sah diesen Entlastungs- und Befreiungsprozeß, doch ohne utopische Hoffnung und
mit tieferem Blick für die Dialektik von - Emanzipation und - Entfremdung.
des Menschen durch die moderne Arbeit - eine Widersprüchlichkeit, die jenseits
der zeitgemäßen Einseitigkeiten (Fortschritt oder Niedergang des Menschen durch
entfesselte Arbeit) in scharfer Prägnanz zuerst von Hegel durchdacht worden istl55.
Hegel verstand Arbeit ökonomisch-sozial, anthropologi~ch, metaphysisch und ge-
schichtlich; er fügte sie als einen seiner zentralen Begriffe seinem - besonders
hier nicht „harmonischen" - System im ganzen ein158 • Den ökonomischen Begriff
übernahm er, soweit er für seine politische Philosophie wichtig war, von Stewart und
Smith, später ergänzt durch die Lektüre von Say und Ricardo. 'Arbeit' war für
Hegel die allein dem Menschen eigene zielgerichtete Tätigkeit zur Bedürfnis-
befriedigung; bei zunehmender Aufteilung und Spezialisierung der Arbeit nahm
sie für ihn einen immer abstrakteren Charakter im System der Bedürfnisse ein, als
das die auf Arbeitsteilung beruhende bürgerliche G~sellschaft erscheint. So wie der
alten bürgerlichen Gesellschaft Arbeit im Sinne von :novo• ferngehalten bzw. in ihren
Unterbau verwiesen worden war, so war in der neuen bürgerlichen Gesellschaft
Arbeit als der einzige Produktionsfaktor und Maßstab der (wirtschaftlichen)
Werte konstitutiv für den Zusammenhang der Wechselbeziehungen der Menschen
im sozialökonomisch definierten System. Wenn bei zunehmender Abstraktion des
Produzierens der Mensch von der immer mechanischer werdenden Arbeit am Ende
wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten lassen kann 157, durch die der
Mensch die Natur betrügt, so drückte Hegel damit nur eine Tendenz technisch fort-
schreitender Arbeitsentwicklung aus, enthielt sich dabei aber eines utopischen
Optimismus und sah stattdessen das Niedrigerwerden des Menschen im mechani-
sierten Getriebe. Der Mensch werde durch die Abstraktion ikr Arbeit mechanischer,
abgestumpfter, geistloser. Das Geistige, dies erfüllte, selbstbewußte Leben, wird ein
leeres Tun ... Er kann einige Arbeit als Maschine freilassen; um so formaler wird
sein eigenes Tun ... Es werden also eine Menge zu den ganz abstumpfenden, ... die
Geschicklichkeit beschränkenden Fabrik-Manufaktur-Arbeiten, Bergwerken us/. ver-
dammt, ... und diese ganze Menge ist der Armut, die sich nicht helfen kann, preis-
gegeben ... Fabriken, Manufakturen gründen gerade auf das Elend einer Klasse ihr
u& Der Arbeitsbegriff Hegels ist in der Literatur, besonders in jüngster Zeit, oft und ein-
gehend interpretiert worden. Vgl. vor allem KARL LöWITH, Von Hegel zu Nietzsche,
2. Aufi. (Stuttgart 1950; 5. unv. Aufi. 1964), 286 ff.; GEORG Lux:!cs, Der junge Hegel
und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft (Zürich, Wien 1948), 407 ff. 431 ff.;
HERBERT MAttcusE, Reason and Revolution. Hegel and the Rise of Social Theory, 2nd ed.
(London 1955), dt. u. d. T.: Vernunft und Revolution (Neuwied, Berlin 1962); JOACHIM
RITTER, Hegel und die französische Revolution (Köln, Opladen 1967), 35 ff.; MANFRED
RIEDEL, Theorie und Praxis im Denken Hegels (Stuttgart, Berlin 1965), 62 ff. Schließlich
wurde herangezogen: MANFRED RIEDEL, Bürgerliche Gesellschaft. Untersuchungen zu
einer Kategorie der klassischen Politik und des modernen Naturrechts (noch ungedruckt).
168 Zum folgenden: G. W. F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes (1807), bes. Abschn.
IV A. VII Ac. SW Bd. 2 (1927; 4. Aufi. 1964), 148ff. 53lff.; ders., Rechtsphilosophie
(1821), § 182 ff. SW Bd. 7 (1928), 262 ff.; ders., Vorlesungen über die Philosophie der
Weltgeschichte, hg. v. Georg Lasson (Leipzig 1930), passim.
157 Ders., Rechtsphilosophie, § 198.
186
II. 9. idealistische Philosophie Arheit
der Weltgeschichte: Die Vernunft in der Geschichte, hg. v. Johannes Hoffmeister, 5. Aufl.
(Hamburg 1955). ,
182 HEGEL, System der Philosophie, Logik, § 24, Zusatz 3. SW Bd. 8 (1929), 96. Vgl.
187
Arbeit Il. 10. Liheraler Arbeitsbegrilf
Die Ökonomisierung der Arbeit seit der Mitte des 18. Jahrunderts hatte nicht nur
in die Dogmengesohichte eines neuen wissenschaftlichen Faches geführt, sondern
warf grundlegende Fragen des Verständnisses der in den „Revolutionen" als Ende,
Beginn oder Übergang begriffenen Zeit auf. Was auf der philosophischen Re-
flexionsstufe Hegels hierzu bereits gedacht, prognostiziert oder auch nur ange-
deutet worden war, das wurde im weiteren Verlauf des Jahrhunderts - immer neu
angestoßen durch die Wandlung der sozialen Umwelt - aufgefächert und in aus-
einanderlaufenden breiten Strömen ideologisiert. Der erste dieser Ströme kann
(annähernd) dem Liberalismus zugeordnet werden. Bei aller Vielfalt und Wider-
sprüchlichkeit im einzelnen ist bis in ·die sechziger Jahre die Verbindung von
'Arbeit' und 'Freiheit' innerhalb eines optimistischen, am Gedanken des Fort-
schritts orientierten Weltbildes für die Liberalen typisch gewesen. Bei ERscH/
GRUBER wurde 'Arbeit' noch rein ökonomisch, wenn auch kritisch zu Smith, im
Anschluß an Hufeland, Say .und Storch mit der damals üblichen Tendenz abge-
handelt, daß es sich nicht allein um Werktäti,gkeit, sondern auch um Geistestäti,gkeit
183 HANs FREYER, Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahr-
hunderts (Leipzig 1921), 57; dazu R!EDEL, Theorie und Praxis, 68, Anm. 90.
184 Im Anschluß an RIEDEL, Theorie und Praxis, 69; die Zitate bei.HEGEL, Rechts-
philosophie,§ 123, Zusatz.§ 272, Zusatz; die „Zusätze" fügte Eduard Gans aufgrund von
Vorlesungsnachschriften 1833 hinzu.
186 RIEDEL, Theorie und Praxis, 76 ff., bes. 77; HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie
188
II. 10. Liberaler Arbeitsbegriff Arbeit
handele1 67 • Mochte die geistige Arbeit als ökonomisch produktiv oder als wertvoll
an und für sich selbst angesehen werden, jedenfalls wurde damit nicht nur der
Arbeitsbegriff der Nationalökonomie über Smith hinaus erweitert, sondern auch
die Bedeutung des Wortes' Arbeit' als jede menschliche Tätigkeit, welche mit deut-
licher Vergegenwärtigung eines zu erreichenden Zweckes unternommen und vollbracht
wird16B für ein breiteres Bewußtsein endgültig durchgesetzt. Noch immer wirkte
bis dahin die alte Vorstellung Arbeit, ... gewöhnlich mühselige Tätigkeit 169 nach.
Diese alte Auffassung wurde von FRIEDRICH LIST in seinem Artikel im „Staats-
lexikon" (RoTTECK/WELCKER 1834) nur noch im rohen Naturzustand sowie im
wilden und patriarchalischen Zustande für passend gehalten und· historisch als
notwendige Schule für die rohe Menschheit begriffeni damit diese sodann auf dem
Wege zu den Fortschritten der Zivilisation der Segnungen der freien und freiwilligen
Arbeit teilhaftig werden könne. List übernahm also die Vorstellung von der Ge-
schichte. als eines durch Arbeit (geistig und körperlich) fortschreitenden Zivilisa-
tionsprozesses und steigerte dabei wie die Saint-Simonisten die Arbeit zum Prinzip,
das einst die ganze Erde besiegen und beherrschen und friedestiftend den bisher das
Leben der Völker bestimmenden Krieg ablösen werde. Die schöpferische, bauende
und erhaltende Arbeit erschien ihm als das Prinzip des Friedens, während der
Krieg, Gegenbegriff zu Frieden, nicht nur die Früchte der Arbeit zerstöre, sondern
ihr als destruierende Macht der Herrschenden die Ehre nehme. List erkannte, daß
die Arbeitenden, die einst unter den durch Kriegsübung Herrschenden standen,
aufstiegen; schon führt hier die geistige Arbeit zu Ehren und Würden, die körperliche
zu Achtung und Ansehen; Arbeit stehe über dem Müßiggang und der rohen Gewalt.
Diesen auf eine glückliche Zukunft weisenden Anzeichen stellte List freilich den
düsteren Hinweis auf die Entwürdigung der arbeitenden Klassen auch unter den
freien Bedingungen seiner Zeit gegenüber, setzte dem allerdings die Überzeugung
entgegen, daß durch ökonomischen Fortschritt und verantwortungsbewußte Politik
die Lebenshaltung verbessert und die Daseinswürde aller arbeitenden Menschen
erreicht werden würde. Alle, auch die nicht unmittelbar wertschöpfende Arbeit sei
produktiv, sofern alle Berufsgruppen im rechten Verhältnis zueinander stünden,
das Potential der gesamten Arbeit also zweckmäßig verteilt sei. List ging über die
Lehrmeinung hinaus, daß sich das Wirtschaftssystem ohne Eingriff von selbst
harmonisiere und erhob die vorsorgende Wirtschaftspolitik zum Rang produktiver
Arbeit. Im nationalen System der politischen Ökonomie erhielt Arbeit daher einen
engeren, stärker voluntaristischen Bezug zur Nation, als es bislang in den Systemen
der Ökonomisten der Fall gewesen war. List stand mit den Liberalen und liberal-
demokratiscY. Gerichteten grundsätzlich in einer Linie, wenn er die Emanzipation
der Arbeit als Grundlage für den staats- und gesellschaftspolitischen Fortschritt
ansah und dies der dunkel·zurückliegenden Zeit entgegensetzte, in der eine freie
Arbeitsgesellschaft unter dem Druck der schädlichen Herrschaft ·privilegierter
187 R. v. BossE, Art. Arbeit, ERSCH/GRUBER 1. Sect., Bd. 5 (1820), 106 ff. im Anschluß
an HEINRICH STORCH, Cours d'economie politique, Bd. 1 (Berlin, Halle 1815), 128; ähnlich
z.B. KARL HEINIUCH LUDWIG PöLITz, Die Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit,
Bd. 2 (Leipzig 1827), 50. 72 ff.
188 PöLITz, Staatswissenschaften, Bd. 2, 72.
189
Arheit n. 10. Liheraler Arheitshepilf
Arbeitsverächter (Müßiggänger) verhindert worden war. List sah, daß nur in
freien, religiösen Liindern Arbeit von den Menschen bejaht und darum nicht nur
mit Freude, sondern auch wirtschaftlich effektiv geleistet werde170 , während in
despotischen und sittlich verdorbenen Arbeit verachtet, mißmutig verrichtet werde und
daher die teuerste seim. Der liberaldemokratische Abgeordnete LöWE steigerte dies
liberale Credo an den nicht nur wirtschaftlichen, sondern sittlichen Fortschritt
1848 in der Paulskirche: Ist früher das Vorrecht heilig gewesen, so ist heute die Arbeit
heilig; die freie Arbeit, der Fleiß und die Tätigkeit ... ist heute die höchste Ehre1 72 •
Von da aus war es nur noch ein kleiner Schritt, wenn Arbeit selbst zur modernen
Religion, zum eigentlichen Sinn des Lebens überhaupt wurde - ein logisch zwar
ungereimter, aber einer bürgerlichen Hochstimmung gemäßer Schluß, der kon-
servativer und christlicher Wertung ebenso widersprach wie der liberalen Wurzel
im Eudämonismus des 18. Jahrhunderts. Denn die alte Triade „Bedürfnis - Ar-
beit - Genuß" war tendenziell aufgehoben, wenn die Arbeit selbst zum Genuß
werden sollte und somit auch der Nötigungscharakter des Verhältnisses von Be-
dürfnis und Arbeit zwar nicht geleugnet, aber ideologisch gelindert wurde. Diese
letztmögliche, weniger von der Theorie als im praktischen Leben sich aufdrängende
Konsequenz aus der ökonomisch und ethisch begriffenen Arbeit wurde in erster
Linie von Unternehmern des 19. Jahrhunderts gezogen. Sie stand im Gegensatz
zur Erfahrung der Lohnarbeiter und zur sozialistischen Theorie ihrer Fürsprecher,
aber auch zum traditionellen Arbeitsverständnis der Mühsal und des wohlverdien-
ten „Feierabends". Die gruppentypische Arbeitsaskese der Unternehmer in der
Frühindustrialisierung und z. T. weit darüber hinaus, die durch den Zwang zum
Kapitalgewinn in der wachsenden Industriewirtschaft und - anfangs noch ele-
mentarer____: durch die Existenzgefährdung der jungen Unternehmen herausgefor-
dert wurde, hatte bcgriffsgcschichtlich vielfältige Wurzelstränge. Liberalutilita-
ristische Vorstellungen waren mit christlichen vermischt; lutherisch begründete
Berufspflicht, calvinistische Bewährungsforderung, letztere z. T. auf dem Umweg
über die Wirkungen eines säkularisierten Puritanismus (BENJAMIN FRANKLIN:
Bedenke, daß die Zeit Geld ist}1 73, wirkten zusammen, um die - unbeschadet aller
lnterpretationskontroversen - von Max Weber richtig gesehene „innerweltliche
Askese" kapitalistischer Unternehmer (vorwiegend) protestantischer Herkunft zu
erzeugen.
Harte Arbeitsforderungen sich selbst und den Arbeitern gegenüber, „Rastlosigkeit",
Arbeit als Gottesgebot und Erfüllung des Lebens, Bcwö.hrungsbewußtsein in der
v 0 n Gott gesegneten Arbeit, Gewinnstreben für das Wachstum der Unternehmung,
170 FRIEDRICH LisT ging später der Frage nach, inwiefern Religionen, Sekten, Institutio-
nen der Arbeitsproduktivität nützlich oder schädlich sefen: Darum sind Manogamie,
.Christentum und Freiheit geeigneter, die Entwicklung der produktiven Kräfte und der Arbeit
zu begünstigen als Polygamie, Mohammedanismus und Kmchtschaft •.. Darum gibt es
sogar einen bemerkeniwerten Unterschied der produktiven Kraft zwischen den Anhängern
der verschiedenen christlichen Sekten; Le systeme nature! d'1foonomie politique (1837;
dt. Übers.), Schriften, Bd. 4 (1927), 529.
171 Ders., Art. Arbeit, RoTTECK{WELCKER Bd. 1 (1834), 646.
190
II. 10. Liberaler Arbeitsbegrift' Arbeit
nicht dagegen für persönlichen Genuß oder gar Luxus - Der Genuß ist also unier
das Kapital, das genießende Individuum unter das kapitalisierende subsumiert
(KARL MARX 1844) 174 ---' Erziehung zur Arbeit und durch Arbeit, Scheu vor jeg-
licher Zeitaufopferung, außer der „Berufsarbeit", dem Gottesdienst und - weit
verbreitet - der Tätigkeit für das öffentliche.Wohl175 - das alles kennzeichnet
den Arbeits- und Berufsbegriff vieler oder jedenfalls der als repräsentativ geltenden
Unternehmer vor und nach der Jahrhundertmitte. Bei keiner anderen Berufsgruppe
hat sich der moderne (ökonomisch-moralische) Begriff der Arbeit mit den christ-
lichen, besonders protestantischen Überlieferungen, z. T. mit Hilfe alter, für diese
Verbindung nützlicher Topoi (zu „Arbeit und Fleiß"), derartig eng und zweck-
mäßig verbunden. Ein ähnlicher Rigorismus der Arbeit ist wohl nur noch im Ge-
lehrtenstand, d. h. in akademischen Berufen, vor allem bei Professoren und höheren
Beamten anzutreffen gewesen. Nur trat dort anstelle des Kapitalgewinnstrebens,
ja oft mit starkem Affekt gegen Erwerbs8inn und Genußssucht, das Selbstbewußt-
sein der „geistigen", autonom zweckfreien Arbeit. Von diesen beiden Richtungen,
den führenden Bürgern der Bildung und des Besitzes, wurde die Arbeit noch lange,
wenn auch nach der Reichsgründung mit abnehmender Intensität, weiter im öko-
nomisch-ethischen und idealistisch-christlichen Sinne begriffen176 • Verfolgen wir
diese Linie von der Wende der Revolution (1848) in die fünfziger und sechziger
Jahre hinein, so erkennen wir, daß zwar die Grundlage des aktiven Optimismus
beibehalten, dessen Überschwang aber eher „realistisch" zurückgenommen als
gesteigert wurde. So wurde in späteren Auflagen des „Staatslexikons" der ur-
sprüngliche Artikel von List im wesentlichen beibehalten, jedoch die Antithese
Arbeit und Frieden gegen hemchaftlichen Müßiggang 'l!-nd Krieg aufgegeben und
Zusätze sozialökonomischer Art gemacht, die der weitergegangenen Entwicklung
und der politischen Aktualität (Sklavenfrage in Amerika) angepaßt waren177 •
Solchem Realismus der fünfziger Jahre entsprach auch MANGOLDTS gegen jede
sozialistische Utopie, aber auch liberale Illusion gerichteter Artikel im „Deutschen
Staatswörterbuch" (BLUNTSCBLI/BRATER Bd. 1, 1857, 263 ff.).
Charakteristisch für die Begriffsentwicklung seit der Jahrhundertmitte war fernei;
die gesteigerte Einbeziehung der „sozialen Frage" in den Zusammenhang von
Freiheit und Arbeit. Schon in den dreißiger und vor allem in den vierziger Jahren
war ein „reiner" Liberalismus mit dem Glauben an die fortgesetzte ökonomische
Selbstheilung selten gewesen, vielmehr immer wieder um der sozialen Frage willen
eingeschränkt worden178• In BROCKHAUS' „Die Gegenwart" ist die den deutschen
werden. Vgl. Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz, hg. v. WERNER CONZE (Stutt-
gart 1962); Die Eigentumslosen, hg. v. CARL JANTKE u. DIETRICH HILGER (Freiburg,
München 1965), passim.
191
Arbeit II. 10. Liberaler Arbeitsbegriff
192
II. 11. Romantisch-konservative Abwehr Arbeit
bewegung vermittelt, welche ohnedem nicht durchführbar ist. Der endliche vollständige
Sieg dieses großen Prinzips ist der Sieg <ier Menschlichkeit, das Endziel unserer gesell-
schaftlichen Entwickl1.f,ng 182 • So nahm der Praktiker der Genossenschaftsbewegung
zu relativ später Stunde noch einmal die liberale Utopie einer Selbstverwirk-
lichung der Menschheit durch die Freiheit der Arbeit auf.
Nicht minder folgenreich als der soziale Zusatz zum liberalen Arbeitsbegriff war die
dem Neuhumanismus und der idealistischen Philosophie entstammende geistig-
sittliche Korrektur. Wandten sich die Vertreter der philosophisch-historischen
Wissenschaften überhaupt, wie so oft, von der modernen Arbeitswelt ab und hul-
digten sie demgemäß einer Ideologie der schönen Nutzlosigkeit, dann trugen sie
zum Begreifen der Arbeit in der industriellen Epoche nichts bei. Wichtig dagegen
waren Versuche des Verstehens und der Versöhnung, für die DROYSEN repräsentativ
ist. Indem er, nicht ohne Vorwurf gegen die von der Sittlichkeit abstrahierende bloße
Ökonomie mit ihren banausischen Folgen für das Leben, das System <les wirtschaft-
lichen Lebens in der großen Weltökonomie aufgehoben und so das bloß Sinnliche
in <ler sittlichen Sphäre geadelt und vergeistigt sah, war es ihm möglich, auf seine
Weise, in der Nachfolge Hegels, den Fortgang der Arbeit in der Geschichte der
Freiheit zu sehen: den unendlichen Fortschritt von dem bornierten Vorrecht des
Nichtarbeitens in der antiken Welt zur sittlichen Anerkennung <ler Arbeit im Christen-
tum. Und auch da hat es erst <ler tiefeingreifenden Reformation bedurft, um die
Arbeit zu ihrer Ehre zu erheben, sie zu emanzipieren. Die freie Arbeit ist das gl,änzende
Ergebnis der großen Bewegung der Aufkl,ärung im 18. Jahrhundert geworden 183•
Wie sich die Konservativen von Anfang an als „gegenrevolutionär", d. h. gegen die
Franzfüiische Revolution und ihre philosophischen Voraussetzungen gerichtet ver-
standen, so entwickelten sie ihre sozialökonomischen Ansichten in Abwehr gegen die
liberale Nationalökonomie und ihre Anwendung, gegen das Gewinnstreben oder den
„Materialismus" (F. Schlegel). So lehnten sie auch die Ökonomisierung von
Arbeit und Arbeitsteilung ab, wiesen aber dennoch - besonders früh FRIEDRICH
SCHLEGEL - dem Arbeitsbegriff eine zentrale Stellung in ihrem politischen Denken
zu und berührten sich darin mit frühsozialistischen Vorstellungen184• Ihre Vor-
stellung vom 11dlen christlichen Mittelalter, von dessen Verlust in einer gottlos
gewordenen Gegenwart und von der Zukunftshoffnung neuer Vermittlung und
neuer christlicher Durchdringung des Lebens bestimmte ihre Arbeitsvorstellung.
Mit dieser maßen sie, ausgerichtet an Idealen statisch-ständischer Ordnung, die
neue Zeit, in der das gleichmacherische Prinzip allgemeiner Arbeit die Vielfalt
gottgewollter Herrschaftsordnung in die Universalfabrik des stiidtischen Lebens,
schaffen können, und nur derjenige, der · den Stoff hervorbringt, der ihn weiter verarbeitet,
müßte das Recht haben zu handeln; F. SCHLEGEL,. Philosophische Vorlesungen, SW
Bd. 13 (1964), 156. Vgl. unten S. 197 (Babeuf). , '
13-90385/1 193
Arbeit II. 11. Romantiseh-konservati-ve Abwehr
l86 ADAM MÜLLER, Agronomische Briefe (1812), I. Brief, Ausg. Abh., hg. v. Jakob Baxa
(Jena 1921), 74 f.
188 Ders., Die Elemente der Staatskunst, Bd. 3 (Berlin 1809), 10 f.
194
D. 11. Romantisch-konservative Abwehr Arbeit
188 .A. MÜLLER, Die innere Staatshaushaltung systematisch dargestellt auf theologischer
men, .Ausg. Sehr. über Sozialreform und Genossenschaftswesen, hg. v. K. Munding (Berlin
1894), 462 ff.
195
ArLeit D.12. Frühsoziidismus, Junghegelianer, Man:
det, die Arbeit, die ehrliche, nützliche, den Mann und die Seinen wenn auch not-
dürftig nährende Arbeit ( sc. und nicht der Besitz!) die Signatur der arbeitenden
Klassen sein, darin liege ihr konservativer Rechts- und Ehrenbrief (1857)1 9 2. Eine
Zusammenfassung der (betont sozial-)konservativen Auffassung in ihrer reifen
Stufe findet sich in HERMANN WAGENERS „Staats- und Gesellschafts-Lexikon"
1859. Er setzte noch einmal den liberalen Ökonomen, die die Menschen vergöttern,
den Menschen als Person im christlichen Sinne entgegen und stellte damit die Arbeit
in das rechte Maß: gegen künstliche Bedürfnisse ... Üppigkeit, Einbildung, Mode-
launen, . . . übertriebenes Verlangen nach Gewinn, . . . Gewinnsucht ohne Arbeit, für
Maßhalten in der Arbeit, Erholung, Sabbatruhe, deren Abschaffung der Industrialis-
mus der Neuzeit hie und da (selbst ... auf einem deutschen Universitätskatheder) zu
empfehlen sich nicht entblödet hat; für Ehrgefühl, PP,ichtgefühl und christliche Liebe
als Triebfeder rechter Arbeit, für sachangemessene, nicht sozialistisch"doktrinäre
Organisation der Arbeit (korporative Organisation), für Fürsorge und Wirksamkeit
des Staates, Schutz der Arbeit, ohne natur- und geschichtswidrige Reglementierun-
gen. Denn nur in den geschichtlichen Überlieferungen und volkstümlichen Institutionen
sind allerdings die rechten GTundlagen der Organisation sozialer Verhältnisse zu finden.
Die Regierungen können sie nicht neu erfinden, gerade wenn sie ihre soziale Verant-
wortlichkeit ernst nehmen. Die Arbeit wurde damit ausdrücklich ins historische
Recht gestellt. Wagener begründete seine Ablehnung des liberalen Arbeitsbegriffs
durch den Gedanken des „Dienstes", den er dem konservativen Arbeitsbegriff zu-
ordnete. Er zitierte die „Freimütige Sachsenzeitung" (1856), die in einem Artikel
„Dienen und Arbeiten" die Folgen der Arbeitsauffassung im Gefolge von Adam
Smith bezeichnet habe: als die Aufhebung alles Dienstes im Reiche Gottes auf Erden,
die allmähliche IIerauspraktiz.ierung aller Ehre aus den Arbeiten, das Brechen aller
Schranken im Leben, welche diesem Streben im Wege waren ... Man hebe . .. die Ab-
hängigkeit gegen Personen und Stände aller Art auf und stoße dafür 99/100 Teile der
Menschen in die schlimmste Arbeit-Sklaverei Sachen und Personen gegenüber193•
Mit einem solchen antimodernistischen und doch nicht unzeitgemäßen Begriff der
Arbeit hat Wagener auf Bismarck gewirkt.
Sowohl die Liberalen wie die Konservativen hatten ihre Sicht des modernen Ar-
beitsproblems mit der „sozialen Frage" verbunden, mochte das auch jeweils ihrer
ideologischen Ausgangslage nicht entsprochen haben, da sie beide eine Gesellschaft
der Gleichheit mit ihren sozialen Folgerungen ablehnten. Eben dies war dagegen
die Konzeption der Vorläufer und frühen Vertreter des Sozialismus und des Kom-
munismus. Vom egalitären Gesellschaftsbegriff aus wurde das im Zentrum der
liberalen Grundrechte stehende Eigentum in Frage gestellt oder abgelehnt. Statt-
dessen sollten Arbeit und Bedürfnis allein der neuen Gesellschaft im Sinne sozialer
Gleichheit zu Grunde liegen. Die Idee der allgemeinen Arbeit als Pflichtdienst an
192 HuBER, zit. INGWER PA:ULSEN, Victor Aime Huber als Sozialpolitiker, 2. Aufl. (Berlin
1956), 179.
193 WAGENER Bd. 2 (1859), 478 ff., bes. 486, Anm. 1.
196
II. U. Frühsozialismus, Junghegelianer, Man Arbeit
der Gesellschaft und als einziger Rechtstitel auf Genuß bzw. (Anteil am) Eigentum
hatte bereits im Mittelpunkt der Utopien (besonders Morus und Campanella) ge-
standen, war im 18. Jahrhundert vor allem durch Mably, Morelly, Rousseau - an
die Wirklichkeit herangeführt worden194 und wurde zum ersten Mal durch BABEUF
Zu.m politischen Programm erhoben: nach Aufhebung jeglicher Ungleichheit des
Eigentums und der Machtchancen sollte die allgemeine Gleichheit als Gliick durch
das Recht auf gleichen und anständigen mittelmäßigen Wohlstand einerseits, die
Pflicht zu gemeinschaftlicher Arbeit andererseits, gesichert werden. Menschliche
Existenz durfte also nur auf Arbeit gegründet sein195• Über BuoNARROTI mündete
dieser Arbeitsbegriff in die früheste deutsche Arbeiterbewegung ein: In der deut-
schen Fassung der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" (1834:) wurde
Arbeit als Schu1.d definiert, welche jeder arbeitskräftige Bürger der Gesellschaft abtragen
muß; Müßiggang soll gebrandmarkt werden als ein Diebstahl1 96 • Dazu trat der
Einfluß SAINT-SIMONS und seiner Schule. War noch Saint-Simons Begriff der
'industriels' als der produktiv Arbeitenden (Bauern, Handwerker, Kaufleute ohne
Klassenspaltung) im Gegensatz zu den adligen Parasiten (oisifs) nicht neu gewesen,
so enthielt doch sein Zukunftsbild einer Gesellschaft des reinen, von der unproduk-
tiven Klasse des Feudalismus gesäuberten Industrialismus vieles, was auf die sozi-
alistische Fortführung seiner Lehren in der „Exposition de la doctrine des Saint-
a
Simon" (1829/30) vorauswies. Der berühmte Grundsatz chacun selon sa capacitl,
a chaque capacite selon ses oeuvres 197, der zum Gemeingut und Gemeinplatz des
kommenden Sozialismus wurde, sollte zum Prinzip der neuen Gesellschaft (associa-
tion universelle) ohne Ausbeutung und ohne Vererbung des Elends werden. L'homme
n'exploite plus l'homme; mais l'homme, associe a l'homme, exploite le monde livre
0
a sa puissance198•
Dieser Entgegensetzung - Ausbeutung der Natur durch den Menschen anstelle
der des Menschen durch den Menschen - lag die schon liberale oder allgemein
„aufgeklärte" Vorstellung vom epochalen Wandel der Arbeit zugrunde. War die
bisherige Geschichte charakterisiert durch arbeitsfeindliche Herrschafts- und
Kriegsverfassungen, so bedeutete deren Aufhebung das Freiwerden der mensch-
lichen Arbeit für den Fortschritt in einem Friedenszustand, der die Energien allein
zur Überwindung der Natur einzusetzen erlauben sollte: La force guerriere, d'abord
dei'{iee, est detranee par le travail pacifique1 99.
lH Anstelle von Einzelinterpretationen und -belegen sei auf den Überblick (mit weiterer
Literatur) bei Tmr.o RAMM, Die großen Sozialisten als Rechts- und Sozialphilosophen, Bd. 1
(Stuttgart 1955), 45 ff. verwiesen.
196 Bibliographie und Abdruck der Programmsätze bei RAMM, Sozialisten, 131 ff. 174 ff.
198 Text bei WOLFGANG ScmEDER, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Aus-
landsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830 (Stuttgart 1963), 316 f.
197 Das Motto der Zeitschrift „Le Globe"; vgl. RAMM, Sozialisten, 293.
198 Doctrine de Saint-Simon. Exposition (1829), ed. C. BouGLE et E. IIAL:EVY (Paris 1924)
94. Vgl. LORENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, hg. v. Gott-
fried Salomon, Bd. 2, 3. Aufl. (1850; Ndr. München 1921), 166: bei Saint-Simon (bes. im
„Catechisme des Industriels") sei die Arbeit zum Hauptelement aUes Bestehenden erhoben
(das Zitat findet sich in der 2. Aufl. 1848 noch nicht).
199 Doctrine, 164; weiter ausgeführt 235 ff. Vgl. dazu Friedrich List, oben S. 189 f.
197
.Arbeit Il. 12. Frühsozialismus, Junghegelianer, Marx
Extrem und konsequent erschien der sozialistische Begriff der Arbeit in der deut-
schen Sprache zuerst bei WILHELM WEITLING200 • Er ordnete seine zukünftige Gesell-
schaft als Gütergemeinschaft nach den Kriterien der Arbeit (Geschäftsordnung)
und des Genusses (Familienordnung). Diese bestimme die Bedürfnisse aller, jene
die Mittel zu deren Bestreitung. In einer zentralgelenkten Planwirtschaft sollte
allgemeine Arbeitspflicht herrschen. Ein bis ins einzelne ausgeführter Entwurf
dieser sozialistischen Zukunft, in der gesellschaftliche Gleichheit mit persönlicher
Freiheit vereinbar sein sollte, lief auf das Endziel hinaus, der Menschheit ein dauern-
des Glück zu gewähren.
Der allen sozialistischen oder kommunistischen Systemen innewohnende Zwang
zur planmäßigen Organisation der Arbeit ( organisation du travail) war schon
von den Saint-Simonisten zum Gegenbegriff des Laissez faire, laissez passer ge-
macht worden201 , wurde aber erst durch Louis BLANC popularisiert (1839/40) und
politisch aktualisiert (1848) 2 0 2 • Auch bei ihm war dieser Begriff gegen den öko-
nomischen Liberalismus (anarchische Konkurrenz) gerichtet, aber noch schärfer
als in der „Exposition" von 1829/30 sozialistisch-gemeinschaftlich begründet, wobei
das grundlegende Schlagwort der Saint-Simonisten ( capacite, wuvres) die von nun
an für den Sozialismus geläufige Wendung zum 'Bedürfnis' hin erhielt: de chacun
selon sa faculte, a chacun selon ses besoins 203 • Durch die Verwirklichung dieses
Grundsatzes in der Organisation der Arbeit sollte die Spaltung von Kapital und
Arbeit aufgehoben werden.
Der deutsche Beitrag z11 den frühsor.ialiRtiRch.en Systemen mit dem darin gnmd-
legenden Arbeitsbegriff war - von Weitling abgesehen - unerheblich gewesen.
Um so bedeutender wurde die Fortbildung des .Begriffs in der Nachfolge Hegels,
im revolutionären Sprung zur „Philosophie der Tat" bei den Linkshegelianern,
vor allem bei Marx. ,ARNOLD RuGE (1833/38) übernahm die Hcgelsche Ablehnung
der aristotelischen Polistradition mit ihrer Trennung von bürgerlicher Freiheit und
sklavischer Arbeit und sah mit Hegel die Vereinigung von Freiheit und Arbeit in
der Geschichte des Geistes. Er ging aber betont über Hegel hinaus, indem er die
menschlich-sozialen Folgerungen aus dem alle Menschen (Arbeiter) in gleicher Weise
wesensbestimmenden,. hohen, zivilisierenden ehrenden Begriff der nationüberwin-
denden Arbeit zu ziehen suchte. Der Notstaat der bürgerlichen Gesellschaft müsse
als Freiheitsstaat konstituiert werden. Es komme darauf an, den Unterbau selbst
zum Oberbau, d. h. zum einzigen Bau zu erheben 204• Weil der Arbeiter die höchste
Form des Menschen ist, so ist die bürgerliche Gesellschaft nicht eher zu ihrer vollkomm-
nen Idealität erhoben, als bis sie eine freie Arbeitergenossenschaft geworden ist, in der
alle Privilegien der Nichtarbeiter aufgehoben, aber alle Arten von Arbeiter, Hand-
100 W. WEITLING, Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte (Paris 1838/39); Inter-
198
II. 12. Frühsozialismus, Junghegelianer, Man: Arbeit
205 Ebd., 377. Vgl. LöWI'l'B, Von Hegel zu Nietzsche, 292 ff. mit weiteren Belegen.
20 s RuGE, Aus früherer Zeit, Bd. 4, 360 f.
287 F. ENGELS, Die Lage Englands Rez. Thomas Carlyle, Past and Present, Dt.-Franz.,
Marcuse (s. o. Anm. 155) für die. Interpretation des Begriffs wichtig: TmLo R.um, Die
künftige Gesellschaftsordnung nach der Theorie von Marx und Engels, in: Marxismus•
Studien, Bd. 2 (Tübingen 1957), 77 ff.; ERWIN METZKE, Mensch und Geschichte im ur-
sprünglichen Ansatz des Marxschen Denkens, ebd., 1 ff.; LEO KOFLER, Das Prinzip der Arbeit .
199
Arbeit U. 12. Frühsozialismus, Junghegelianer, Man:
war von Anfang an (1843/44) im Marxschen Arbeitsbegriff mehr enthalten als nur
politische Demokratie und Junghegelianismus. Abgesehen davon, daß der Rück-
griff auf und die Kritik an Hegel unmittelbar und durchaus ohne Vermittlung er-
folgten, nahm Marx auch die so widersprüchlichen Begriffskomplexe der Früh-
sozialisten (besonders Fourier) und der Ökonomisten (Smith, Say, Ricardo) in sein
System auf.
Bei ihm liefen also die Linien von Smith, Hegel und Saint-Simon zusammen und
blieben im neu gedachten Zusammenhang der ökonomischen und geschichtlichen
Theorie aufgehoben. So ist es verständlich, daß der schon für die drei genannten
Vorläufer zentrale Arbeitsbegriff bei Marx noch zwingender eine „Schlüsselposi-
tion" einnahm und geradezu eine „Entzifferungsfunktion" für den lnterpreten211
auszuüben vermag.
Seitdem die von Marx nicht veröffentlichten Manuskripte „Nationalökonomie und
Philosophie" (1844) und die „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie"
(1857/58) in den Jahren 1932 und 1953 ediert und damit der Forschung zugeführt
wurden, ist der Marxsche Arbeitsbegriff immer schärfer (bis zum Höhepunkt der
Interpretation bei Klages) im Zusammenhang des Systems im ganzen ins Ver-
ständnis gehoben worden. Wie bei Hegel ist der Begriff zunächst ontologisch und
historisch, sodann dessen Ansätze (freilich nur der Phänomenologie, der Rechts-
und Geschichtsphilosophie) fortführend und verkehrend, ökonomisch und sozio-
logisch zu fassen.
Marx knüpfte mehrfach explizit an Hegel an; so etwa 1844: Das Große an der
Hegelschen „Phänomenologie" sei es, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen
als eimen Pruzeß faßt, ... daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständ-
lichen Menschen, wahren weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit
begreift. Arbeit macht für Marx da.~ Wesen des Menschen aus, allerdings nicht mehr
nach Hegelscher (spiritualisierender), sondern nach Feuerbachseher Anthropologie:
des „gegenständlichen", d. h. allein „wirklichen" Menschen, der sich durch Arbeit
als Selbsttätigkeit „vergegenständlicht", selbst „verwirklicht", „entäußert" 212 •
Wie Hegel stellte er diese Wesensbestimmung des Menschen in die Geschichte
als eines (nun freilich entspiritualisierten, materialistischen) Prozesses: die ganze
sogenannte Weltgeschichte sei nichts anders als die Erzeugung des Menschen durch
die menschliche Arbeit213• Auch und gerade im zukünftigen Kommunismus sollte
der Mensch nach Aufhebung seiner „Entfremdung" in der kapitalistisch fremd-
bestimmten Arbeit sich als emanzipierter Arbeiter „verwirklichen".
574.
218 Ebd., 546.
200
II. 12. Frühsozialismus, Junghegelianer, Man: Arbeit
Bis zu diesem Ende der Geschichte als Entfremdung oder der ,;Vorgeschichte"
des Zu-sich-selbst-Kommens des Menschen in der Zukunftsgesellschaft habe der
Mensch bestimmte Stufen seiner Entwicklung durchlaufen, die durch die Wand-
lungen der Arbeit bestimmt waren. Nach einem rohen Urzustand, in dem die Arbeit
noch nicht entfremdet, d. h. dem Menschen noch voll zugehörig oder unmittelbar
auf den Bedarf bezogen war, folgte der „ökonomische Sündenfall" der „ursprüng-
lichen Akkumulation", d. h. einseitiger Überfl.ußproduktion, die die spätere Tren-
nung von Kapital und Arbeit und damit die Klassenspaltung in Kapitalisten und
Proletarier, die durch das Geld eingeleitet wurde, ermöglichte. Damit wurde jenseits
der produktiven Tätigkeit eine neue „ 'Vergegenständlichungs' - und 'Gegenstands' -
Dimension" 214 aufgebaut, die als „Ware" und „Kapital" im Tauschumlauf das
wirtschaftliche Interesse beanspruchte, während die eigentliche Arbeit als primäre
Vergegenständlichung ökonomisch nur Produktionsfaktor, menschlich aber als das
Elend der Entfremdung anzusehen war. Indem der Arbeiter sich selbst als Ware
verkaufte, der Kapitalist aber seine Arbeitskraft einkaufte, um den Arbeiter zu
„exploitieren" (Mehrwertentzug), folgten aus der Entfremdung Feindseligkeit,
Klassenhaß und Revolutionsbereitschaft. Diese sich zunehmend verschärfende
Konfliktsituation ist unter den gegebenen Verhältnissen nicht auflösbar, weil der
Arbeiter eigentumslos ist: er besitzt keine Produktionsmittel und kein über das
Existenzminimum hinausgehendes Privateigentum. Dieses war für Marx das
Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit ... Das
Privateigentum ergibt sich also durch Analyse aus dem Begriff der entäußerten Arbeit,
d. i .... des entfremdeten Lebens, des entfremdeten Menschen 215 . Existenz und Wesen
des durch Arbeit definierten Menschen waren für Marx also weit auseinander-
getreten. Der universal gerichtete, seine Freiheit in Selbsttätigkeit suchende
Mensch ist seinem Wesen entzogen. Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhältnis
dahin um, daß der Mensch ... sein Wesen nur zu einem Mittel für seine Existenz
macht21e.
Die Arbeit ist aber nicht nur als fremdbestimmtes Mittel zur nackten Existenz
vom Menschen als Menschen (seinem Wesen nach) getrennt und lediglich dem
entmenschlichten Menschen als „Proletarier" und „Ware" zugehörig, sie ist unter
den Bedingungen der Maschinenindustrie auch in ihrem technischen Vollzug unter
das spezifisch Menschliche gesunken. Denn. die eigentliche Arbeit wurde vom auto-
matischen System der Maschinerie 21 7 übernommen, der Arbeiter zum Handlanger
degradiert; seine Arbeit wurde· zur Langeweile monotoner Arbeitsplackerei und der
Tendenz zur Gkichmachung oder Nivellierung der Arbeiten218 unterworfen. Die
Tätigkeit des Arbeiters, auf eine bloße Abstraktion der Täti,gkeit beschränkt, ist nach
alkn Seiten hin bestimmt und geregelt durch die Bewegung der Maschinerie, nicht
umgekehrt . . . Der Produktionsprozeß hat aufgehört, Arbeitsprozeß in dem Sinne zu
201
Arbeit ll. 12. Frühsozialismus, Junghegelianer, Marx
sein, daß die Arbeit ihn als die Um beltemchende Einheit übergriffe ... In der Ma-
schinerie tritt die vergegenständlichte Arbeit der leberuligen Arbeit im Arbeitsprozeß
selbst als die sie beherrschende Macht gegenüber, die das Kapital als Aneignung der
lebendigen Arbeit seiner Form nach ist. Die lebendige Arbeit sei verwandelt in bloßes
lebendigesZubehördieser Maschinerie 219 . Marxnahmalsoeinhalbes.Jahrhundertspäter
und daher auf einer breiter gewordenen Erfahrungsgrundlage Hegels frühe· Ein-
sichten aus der „Jenenser Realphilosophie" ohne Kenntnis derselben auf und stei-
gerte sie zur absoluten Hoffnungslosigkeit unter den gegebenen Bedingungen der
kapitalistischen Arbeitswelt. Die optimistische Antwort der Liberalen auf das Elend
der Arbeit und des arbeitenden Menschen im Sinne des Fortschritts von Freiheit
und Wohlstand durch die entlastende Maschine und das allgemein wohlstands-
steigflrnofl Wirt.<111h11.ft.Rw11.nhRt.11m lehnt.e er schroff ab. Marx .zitierte John Stuart
Mills skeptische Bemerkung: Es ist fraglich, ob alle bisher gemachten mechanischen
Erfindungen die 1'agesmühe irgendeines menschlwhen Wesens erleichtert haben,
um festzustellen, daß dies keineswegs der Zweck der kapitalistisch verwandten
Maschinerie sei. Sie sei vielmehr allein Mittel zur Produktion von Mehrwert22o, und
damit kamen weder der akkumulierende Kapitalist noch der des Gewinns erhöhter
Produktivität 1m·au1Le .A.rlieiLt:1· au~ iltJrn 7.irkel tle.r Selbstentfremdung durch eine
ihres Sinns entkleidete Arbeit heraus. Auch Hegels Zuversicht einer Überwindung
der Spannung von „En täußerung" und „ Verwirklichung" durch Arbeit teilte er nicht,
blieb aber doch Hegels „List der Vernunft" nahe, wenn er denEntfremdungsprozeß
sich zuspitzen und auf den revolutionären Umschlag zutreiben ließ, der das Ende
der Entfremdung und die Emanzipation des Menschen als Arbeiter bringen sollte.
Dies sah Marx sich nicht etwa nur dadurch vollziehen, daß die Produktionsmittel
sozialisiert, die ausgebeutete Klasse beseitigt und über die Herrschaft des Prole-
tariats der Weg zur klassenlosen Gesellschaft freigegeben werden sollte. Eine
Assoziation zu verwirklichen, worin die freie Entwicklung eine., jeden die Bedingung
für die freie Entwicklung aller ist221 , konnte vielmehr nur dadurch gelingen, daß das
automatische System der Maschinerie in sich die - im Kapitalismus verhinderte -
Möglichkeit besaß, den Menschen zu einem sein Wesen venivirklichenden, wiirdigen
Arbeitsleben freizusetzen. Der Entlastungs- und Vervielfältigungseffekt maschinel-
ler Produktion sollte also nicht mehr die Versklavung, sondern die Befreiung des
Menschen herbeiführen helfen. Gerechter Gewinn, geringere Arbeitszeit, menschen-
würdige Arbeitsbedingungen sollten das Reich der Notweruligkeit 222 zu einem freien,
119 MA.Rx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-1858
(Berlin 1953), 584 f.; vgl. KLAGES, Techn. Humanismus, 74.
280 MARX, Kapital, Bd. 1, Kap. 13, Anfang. MEW Bd. 23, 391.
221 Mßx/F. ENGELS, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), MEW Bd. 4 (1959), 482.
121 Vber das „Reich der Notwendigkeit" und das „Reich der Freiheit" s. vor allem die
vieldiskutierte Stelle bei MA.Rx, Kapital, Bd. 3 (1894); Kap. 48. MEW Bd. 25 (1964),
828. Klages' Deutung hebt die bisher vorherrschende „dualistische" Interpretation dieser
St{llle auf und fügt sie überzeugend in das Gesamtverständnis des Arbeitsbegriffs, ohne
prinzipielle Widersprüchlichkeit zwischen dem „jungen" und dem „alten" Marx. Vber die
hier angeführten Belege hinaus s. KLAGES, Techn. Humanismus, 78 :ff.
~02
II. 12. Friihsoziaijsmus, Jmaghegelianer, Marx Arbeit
d. h. freudig bejahten und bewältigten Bereiuh des Lebens machen, in dem die
Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis 223 sein
sollte. Bereits im Reich der Notwendigkeit, d. h. in der daseinsermöglichenden
materiellen Produktion, sah Marx, explizit im Gegensatz zur Fluch-Tradition von
der Bibel bis zu Smith, die Arbeit als Selbstvef"llJirklichwng, Vergegenswndlichung
des Subjekts, d. h. reale Freiheit, deren Aktion eben die Arbeit sei224 ; in ihr, nicht außer
und nach ihr, d. h. in der Ruhe, liege schon BeWtigung der Freiheit. Marx polemisierte
ausdrücklich gegen die Vorstellung, daß grundsätzlich die Nicht-Arbeit als „Freiheit
und Glück" im Gegensatz zur Arbeit als äußere Zwangsarbeit erscheine. Das gelte
zwar für die historischen Formen der Arbeit als Sklaven-, Fronde-, Lohnarbeit, aber
nicht für Arbeit schlechthin und gewiß nicht für die Arbeit in der kommunistischen
Gesellschaft, iri der es wirklich freies Arbeiten g1=m1m1ll da.durch gebe, daß 1) ihr
gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, 2) daß sie wissenschaftlichen Charakters, zu-
gleich aUgemeine Arbeit ist. Marx' Erkenntnis, daß die Arbeit im Industriesystem
auf wissenschaftlicher Grundlage beruhe und fortgesetzt neue wissenschaftliche
Forschung provoziere, wurde von ihm mit der Zukunftserwartung verbunden, daß
die Arbeitszeit verkürzt und dadurch zunehmend Freizeit gewonnen werde, d. h.
Zeit /iilt die volk Entwicklwru.1 11.e.~ lruU•1Jül•u1ums, J„w selbst ·wieder al& difl größ~ Pro-
duktionskraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit996• Das Reich der Freiheit
wird also nicht als Glück der Muße, sondern als schöpferische Energiequelle be-
griffen, vom Standpunkt des unmittelbaren Produktionsprozesses aus betrachtet ...
Produktion von ... capital fixe being man himself, Zeit für höhere Tätigkeit, für die
Entwicklung der geistigen Kapazif,äten 228, für die geistige Arbeit, die mit der körper-
lichen in Wechselwirkung steht, sie ergänzt und von ihr, da sie auf den Produktions-
prozeß oder die zunehmende Beherrschung der Natur h11zog1m blieb, nicht mehr
getrennt sein sollte. Arbeit des emanzipierten Menschen sollte sich in den einander
durchdringenden, das Dasein des Menschen also nicht trennenden, sondern ver-
bindenden Reichen der Notwendigkeit· und der Freiheit auf eine wissenschaftlich-
technologische Weise vollziehen, so daß in· der Notwendigkeit Freiheit und in der
Freiheit Notwendigkeit enthalten sein werde. Der Mensch sei durch seine Selbst-
verw.irklichung in solcher Arbeit in ein anderes Subjekt verwandelt 227 worden.
Seheii wir die Spannung zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Hand- und Geistes-
arbeit, zwischen Land und Stadt, zwischen Herrschaft und Knechtschaft für Marx
in dieser Weise aufgelöst, so kann zusammenfassend geurteilt werden, daß die
Wesensbestimmung des Menschen durch Arbeit, damit aber auch die Reduktion
auf Art, Inhalt und materielle Bedingungen seiner Produktion noch nie vorher so
umfassend und konsequent drirchgeführt worden ist. „'Arbeit' im Sinne der un-
mittelbaren und mittelbaren Produktionstätigkeit ist die Art und Weise, in der
der Mensch sich selbst aus seiner bloß substantiellen Möglichkeitsform 'heraus-
schafft' und - am Ende - der kontinuierliche Vollzug der Einheit zwischen
menschlicher 'Existenz' und menschlichem 'Wesen'. Marx' 'realer Humanismus'
123 K. M.utx, Kritik des Gothaer Programms, MEW Bd. 19 (1962), 21.
114 M.utx, Grundrisse, 504 ff.; auch zum Folgenden.
216 Ebd„ 599.
116 Ebd.
ss1 Ebd.; vgl. KLAGES, Techn. Humanismus, 98 ff.
203
Arbeit II. 12. Frühsozialismm., Junghegeliaaer, Man:
kratie. Erläuterongen zum Erfurter Programm (1892; Berlin 1912), 175. Weitere Belege
ähnlicher Richtung bei SUSANNE Mn.LEB, Das Problem der Freiheit im Sozialismus.
Freiheit, Staat und Revolution in der Programmatik der Sozialdemokratie von La.ssalle
bis zum Revisionismus-Streit (Frankfurt 1963), 242 ff.
204
D. 13. Auseinandersetzung mit dem Sozialismus Arheit
verein" stand - nach Schilderung des Elends und der Ausbeutung der berühmt
gewordene VeTs:
Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne Deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn Dein starker Arm es will 2 3 2•
Wenn 'Arbeit' so, mit dem Gegenbegriff der Faulheit, zur Begründung des Klassen-
kampfes wurde und 'Arbeit' in der Schlagwortsprache gegen 'Kapital' stand, so
schwang im BegriffWidersprüchliches zusammen: 'Arbeit' als Plage der Unterschicht,
fortgeschleppte alte Tradition, und'Arbeit' als Ehrentitel für den „Arbeiterstand",
wie ihn Lassalle gepriesen, oder für das „Proletariat", wie Marx es geschichts-
philosophisch überhöht hatte, sicherlich aber auch der Stolz auf die gelernte Arbeit
in der Überlieferung des „ehrbaren Handwerks", wie die frühen Berufävereine
(Gewerkschaften) sie pflegten. Diese „Berufs"-Einstellung ist - je nach Umwelts-
bedingungen unterschiedlich - besonders in der frühen handwerklich geprägten
Arbeiterbewegung zweifellos noch stärker verbreitet gewesen als der Haß auf den
Dämon Arbeit und die Devise „Arbeit und Enthaltsamkeit", den PAm. J,AFARmrF.
(1883) don .Arbeitern Dto.tt ihrer Arbcits1moht und Liebe :mr Arbeit einimpfen wollte.
D1L11 v11r11tii.nilni11lo11 geforderte Re.cht att/ Arbeit war für Laforguo unter don gcgobo·
nen Bedingungen nur ein Recht auf Elend. Nur revolutionär werde ein Gesetz zu
erzwingen sein, das jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten.
Mit dem Lob auf die Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden schloß
Lafargue als hedonistischer Außenseiter seine Broschüre233 - weit entfernt von
Marx' Wesenbestimmung des Menschen durch Arbeit, auch im „Reich der Freiheit".
232 G. HERWEGH, Bundeslied für den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein (1864), Neue
205
Arbeit ll. 13. Auseinanileraeb1mg mit dem Sozialismus
206
D. 13. Ameiuandenetzung mit dem Sozialismus Arbeit
.Arbeit und dieses ihr höheres Reckt verwirklicht wird 238 • Hierzu bedürfe es der Hilfe
des Staates, auf daß durch Verbindung von politischer und sozialer Demokratie
(später „soziales Königtum") die soziale Revolution vermieden und die soziale
Reform eingeleitet werden könne. Diese könne nicht in der .Aufhebung der Klassen
bestehen, da dies ein Verkennen der Natur i;iei, sondern müsse zur Harmonie in der
Vereinigung der Interessen führen. Die besitzende Klasse müsse zur Einsicht kom-
men und' der Staat dazu helfen, daß die letzte .Arbeitskraft die Fähigkeit habe, zum
Kapitalbesitze zu gelangen 240• Ähnlich wie Hegel und Marx ging es Stein also um
die Selbstverwirklichung des Menschen durch seine - nicht fremdbestimmte und
gewinnberaubte - Arbeit. Nur bezog sich Stein konkreter als jene beiden auf die
gegebenen Verhältnisse und erhoffte vom Gegebenen her die Lösung.
Waren die oben erwähnten, auf den Sozialismus reagierenden Lehren von Victor
Aime Huber einerseits, Schulze-Delitzsch andererseits noch betont konservativ
bzw. liberal gewesen, so wurde durch die Reichsgründung eine Lage geschaffen, in
der Liberale und Konservative, aber auch Konservative und „Staatssozialisten"
näher aneinanderrücken konnten und durch die „Kathedersozialisten" staatliche
Sozialpolitik propagiert wurde. Unausgesprochen 1ag z. B. GusTAv ScHMOLLERS
HAnr. „DiA ROr.info Fmgr. nnn ncr prcnßi11chc Staat." (1874) ein ArbcitoRhcgriff V.11-
grunde, der etwa Lorenz von Steins Auffassung entsprach, wenn Schmoller den
vim·tmb 8tamd w·icdm· ltamwnisvlt in t.kn 8taat1J- und (}csellsclu-"f tsurgtmismus einfügen
wollte 2' 1 • Wirkte solche bürgerliche Sozialverantwortung in das neue Reich weit
hinein, so stand dem nicht minder wirkungsvoll der betonte Antisozialismus liberal-
konservativer Prägung en:tgegen, den HEINRICH VON TREITSCHKE (1874) gegen
Schmollers demokratisch-monarchische Arbeitsvorstellung kehrte242• Nicht nur
gegen die Sozialisten, sondern im Grunde auch gegen den älteren Liberalismus und
Ökonomismus, nicht zuletzt (sicher unbewußt) gegen Hegel knüpfte Treitsch.ke
an die antike Wertung der Arbeit an, indem er die Einführung der Sklaverei eine
rettende Tat der Kultur nannte und daran die Begründung für die aristokratische
Verfassung der Gesellschaft knüpfte. Keine Kultur ohne Dienstboten! Unabänderlich
sei das Gesetz : nur einer Minderzahl ist beschieden, die idealen Güter der Kultur ganz
zu genießen; die große Mehrheit schafft im Schweiße ihres .Angesichts. Daran ändere
auch die Maschinenindustrie nichts. Dem Arbeiter sei ein hartes und beschränktes
Dasein beschieden, aber ein gesundes und ehrenwertes Leben, wenn er seinen Platz
in der Gesellschaft kräftig behauptet und die Ehre der .Arbeit lebhaft empfindet. „Ehre
der Arbeit" - damit nahm Treitsch.ke eine Wendung auf, die in seiner Zeit bereits
zum Schlagwort geworden war. WILHELM HEINRICH RIEHL hatte 1861 diesen Topos
aufgegriffen 243, ihn von seiner ständischen Tradition gelöst, aber hinzugefügt:
Die moderne .Arbeit hat jede .Arbeitfrei gemacht und ehrt jede .Arbeit. .Aber freilich
ist die Ehre der .Arbeit für uns keines'l.Öegs gleichheitlich . . . Wir unterscheiden mit
Recht zwischen höherer und niederer .Arbeit . . . und messen demgemäß auch de1 hö-
207
Arbeit Il. 14. 'Nationale Arbeit'
hercn Arbeit höhere Ehre zu als der ~iederen. Doch schränkLe Riehl in moderner
Weise wiederum ein: Dies ist aber eine aus dem Begriff der Arbeit selbst fließende
Unterscheidung, nicht von außen hereingetragen, wie man vordem nach dem äußeren
Maßstab der Standesehre die Arbeit wertete. Treitschke stand, indem er aus gelehrter
Kenntnis und aristokratischem Bildungsbewußtsein urteilte, dem sozialkonserva-
tiven Riehl durchaus nahe, indem er das ihm literarisch überlieferte Modell einer
aristotelisch konzipierten „bürgerlichen Gesellschaft" der verachteten modernen
Klassengesellschaft entgegensetzte und statt der Ausbeutung das wechselteilige
Geben und Empfangen, den wundervollen Zusammenhang zwischen den Höhen und
Tiefen des Volkslebens herausstellte. In dieser wunderbaren Gemeinschaft der Arbeit
finde jede redliche Kraft ihren Platz und ihre Ehre. In solchem Geiste sollte der
.Arbeiter Zufriedenheit statt RAgAhrlichkeit entwickeln.
Es wurde gezeigt, daß bei den „Ökonomisten" (von den Physiokraten über Adam
Smith bis zu Friedrich List) '.Axbeit'stets, wenn auch keineswegs ausschließlich, auf
„Nation" bezogen, d. h. in der „National-Ökonomie" vue1· im „nat.ionalen Systelil
der politischen Ökonomie" begriffen worden war. In der Französischen Revolution
war .Arbeit. weit darüber hinaus der politisch-revolutionären :Nation zugeordnet
worden. Das hatte sich 1792/94 zur Idee und Wirklichkeit eines dem Wehrdienst
zur Seite stehenden .Arbeitsdienstes der Nation gesteigert. Babeuf hatte schließlich
die allgemeine .Arbeitspflicht in der „nationalen Gütergemeinschaft" gefordert und
LORENZ VON STEIN lmLLe in Babeufs System zum ersten Male die Vorstellung von
einer Organisation der nationalen Arbeit auftreten sehen 244• Damit verwendete er
den 1848 aus Frankreich nach Deutschland hinüberwirkenden Begriff „nationale
.Arbeit" in einem ausgeprägt staatssozialistischen Sinne. In Frankreich hatte die
provisorische Regierung ein von Louis BLANc verfaßtes Dekret erlassen, in dem
das „Recht auf .Arbeit" zugesagt und dem .Arbeiter sein Unterhalt durch .Arbeit
garantiert wurde, d. h. die revolutionäre Regierung verpflichtete sich, allen Bürgern
.Arbeit zu schaffen und ihnen den Ertrag ihrer .Arbeit zu sichern. Daraus folgte die
Errichtung der ateliers nationaux. So wurden das „Recht auf .Arbeit", die „Pflicht
zur .Arbeit" und das „Recht auf den vollen .Axbeitsertrag" zur Sache der Nation
gemacht. Das schon vor der Revolution gängige Schlagwort Louis Blancs („Organi-
sation der .Arbeit") wurde als Organisation der Nationalarbeit durch die Staatsgewalt
(Lorenz von Stein) politisch konkretisiert 2•5.
In der Debatte der Frankfurter Nationalversammlung vom 9. Februar 1849, in
der die Demokraten vergeblich den Schutz der Arbeit in die Grundrechte aufgenom-
men wissen wollten, wurde von ihnen der Staat der Arbeit246 gefordert, der die .Arbeit
(die .Arbeiter) nach innen (Staatshilfe gegen Invalidität und „.Arbeitslosigkeit")
und nach außen (Schutzzölle gegen ausländische Konkurrenz) schützen sollte.
Wurde dieser „Staat der .Arbeit" von den Liberalen als wirtschaftstörend ab-
gelehnt, so vereinigten sich doch Demokraten und Liberale im Begriff der „natio-
14 ' STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 1, 339 (s. Anm. 198. 234).
m Ebd., Bd. 3 (1921), 268;
m Abg. SCHÜTZ (Mainz), St. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 7 (1849), 5130.
208
II. 14. 'Nationale Arbeit' Arbeit
nalen" oder der „vaterländischen Arbeit", die lediglich die für beide Richtungen
verbindliche Hochschätzung der Nation sowie das nationale Bedürfnis ausdrückte,
inhaltlich aber jeweils scharf gegensätzlich entweder zum liberalen Laissez-passer
oder zur staatlichen Reformpolitik bzw. zu staatssozialistischen Tendenzen führte.
In der harten Debatte stand so das berüchtigte Recht auf Arbeit dem heiligen Recht
auf Arbeit entgegen; von demokratischer Seite wurde die Arbeit als das Höchste,
das Heiligste im Staate bezeichnet, so daß alle im Vaterlande sollten leben können als
in einer Gesellschaft von Arbeitein247 • Das Programm und das Scheitern staatlicher
Arbeitsorganisation in Frankreich waren der Debatte schon vorausgegangen.
Nicht allein deswegen blieb sie auch in ihren radikalen Spitzen hinter dem Sozialis-
mus zurück und wies in mancher Hinsicht auf den Komplex der kommenden
Sozialpolitik deutscher Staaten, vor allem des Reichs nach 1879, voraus. Der demo-
kratische Unternehmer EISENSTUCK (Chemnitz) betonte in der gleichen Debatte die
Eigentümlichkeit dieser sozialpolitischen Tendenz für den Arbeitsbegrifl'2' 8 • Wir
(müssen) zunächst wissen, was wir hier unter Arbeit verstehen. Es werde sich zeigen,
daß man keineswegs die Arbeit als den absoluten Begri'fl klar ins Auge faßt, sondern
daß man nur einen gewissen Teil der Arbeit meint. Dieser beziehe sich auf den Teil
des V olkfJs, dessen Arboit nur iJur Geltung lcommt, dMoon Arboitoloraft nur rlll.UGba.r
ist in seiner Assoziation mit dem Kapital, und während wir diesen Teil des Volkes
aus der Gesellschaft ausgeschlossen und das Kapital darin gelassen haben, haben wir
de11r sozialen Kampf zwischen beiden hervorgerufen, die bestimmt waren und natur-
gemäß bestimmt sind, sich gegenseitig zu tragen und zu halten. Damit war die Aus-
gangslage für die (hier noch klar demokratisch gemeinte) Sozialpolitik (gegen
Sozialrevolution) bezeichnet. In diesen Rahmen wurde praktisch, ohne besondere
theoretische Bemühung, der Arbeitsbegriff gestellt. Dabei tauchten vielfältige neue
Wortbildungen auf, aus denen alsbald das „Arbeitsrecht" herauswuchs. Eisenstuck
sagte dazu recht bezeichnend: man sehe eine Menge technische Ausdrücke auftauchen
in der Geschichte der neuesten sozialen Bewegung. Sie hören von dem Recht auf Arbeit,
von dem Schutze der Arbeit gegen das Kapital und einer Menge ähnlicher Sätze aus
der sozialen Politik der Neuzeit. Mehr oder weniger sind sie Begri'(fe, mehr oder weniger
sind sie es auch nicht. Es kam dem Redner nicht auf begriffliche Klärung, sondern
auf die gute Sache einer demokratischen Sozialreform an, in deren Mitte ein auf die
„soziale Frage" bezogener Arbeitsbegriff ohne theoretischen Anspruch stand. Das
blieb typisch für die kommenden Jahrzehnte, in denen die „soziale Frage" oder
die Sache der Arbeit im Gegensatz zum „Kapital" aus dem theoretisch-publizisti-
schen Stadium des Vorniärz in das der praktischen Politik - Aufstieg der Sozial-
demokratie einerseits, staatliche Sozialgesetzgebung andererseits - überging. Hö-
hepunkt dessen war die BrsMARCKsche Sozialpolitik nach 1879, als der Reichskanz-
ler aus grundsätzlichen und aus politisch-taktischen Motiven die Konsequenzen
aus dem gewandelten Arbeiterproblem zog, indem er seine patriarchalische Er-
fahrung und Denkweise mit der modernen Arbeiterfrage, dem Gedanken der Staats-
hilfe und der berufsgenossenschaftlichen Verantwortung verband. So erschienen
die Forderungen des „Rechts auf Arbeit", der „Ehre der Arbeit", des „Schutzes
der Arbeit" in einem für ihn spezifischen Bezugssystem des „sozialen Königtums"
14-90385/1 209
Arlteit ß. 14. 'Nationale Arlteit•
und des „Staatssoziali!mu11" mit der doppelten Frontstellung gegen Liberale und
S.ozialdemokraten. Der Staat sollte das Recht auf VersO'Tgung anerkennen. Wozu
soll nur iler, welcher im Kriege oder als Beamter erwerbsunfähi,g gewO'Tden ist, Pension
haben und nicht auch der Soldat iler Arbeit? (1881) 20 • Geben Sie ilem Arbeiter das
Recht auf Arbeit, solange er gesund ist, geben ·Sie ihm Arbeit, solange er gesund ist,
sichern Sie ihm P'flege, wenn er krank ist, sichern Sie ihm. VersO'Tgung, wenn er alt ist 260 •
Dazu wollte er sich bekennen, nicht· durch Übernahme der sozialrevolutionären
sozialistischen Tradition des Begriffs, sondern, sozialkonservativ-selbstbewu.ßt,
in einer erweiterten A'uslegung der Bestimmungen, unter denen wir Preußen seit länge-
rer Zeit gelebt haben. Dabei wies er mehrfach auf die alte Fürsorge unserer Köni,ge
fürdiearbeitendeKlassesowie auf das ALR hin 261 • Der staatlichen Verantwortung
für die Arbeit in der <ieRfllliu1haft fmt.Rprach die Verpflichtung, die Arbeit nach außen
zu schützen,.· iler einheimischen nationalen Arbeit und Produktion im Felde sowohl
wie in der Bta.J,t und in iler l ndustrie sowohl wie in der Landwirtschaft ilen Schutz zu ge-
währen, ilen wir leisten können, ohne unsere Gesamtheit in wichti,gen 1nteressen zu
sckädi,gen262 •
Der Begriff der 'nationalen Arbeit' war in der Epoche der Reichsgründung so ein-
prii.gMm und unentbehrlich; daß er keiuet1weg1:1 nur mit•den Gedanken des Zoll-
schutzes und des „Staatssozialismus" (Bismarck) verbunden wurde. Er lag vielmehr
auch den Weltausstellungen zugrunde, deren Reihe in London 1851 eröffnet wurde.
In diesen AuBBtellungen sollte es sich im liberal-freihändlerischen Geiste um natio-
nale Konkurrenz in national verstandener „Weltwirtschaft" handeln. Die Nationen
wol1ten und sollten ihre „Arbeit" im fortscJiritt.sfördernden Wettstreit auf diesen
AUBBtellungen zur Schau stellen 25 3. Der Prager Professor RICHTER stellte 1875 diesen
eigentümlichen Zusammenhang dar. Die Arbeit erschien bei ihm als das große
Subjekt der modernen, in Leistungsnationen gegliederten Menschheit. Die Arbeit
präge dem Menschen den Stempel seines Wesens auf; sie bildet die Nation. N ationali-
tät und nationale Arbeit sind gleiche Begrige. Die Steigerung dessen über die Nation
hinaus sei im Namen der dritten, der Internationalen Ausstellung des Jahres 1862
zum Ausdruck gekommen. Di,e Internationalität war bisher nur ein Rechtsbegrig.
Jetzt nahm er di,e Arbeit iler Welt in sich auf, und er konnte es, weil man in iler Arbeit
schon das große weltverbindende Gli,ed erkannte, das verband, indem es ausglich, das
ausglich, indem es di,e Gesamtheit iler Menschen empO'Thob zur Erkenntnis ihrer gleichen
Berechti,gung im Weltenleben durch ihre gleiche N otwendi,gkeit für dasselbe. Mit Stolz
führte Richter sodann die deutsche Arbeit in jene internationale „Olympiaden"2H;
sie trete jetzt in den V O'Tilergrund, und so könne nunmehr (Wien 1873) die Welt-
auBBtellung - ein Bi'ld iler gesamten matemllen und idealen Kultur iler Welt - zum
m BISllU.RCK, Gespräch mit dem Schriftsteller Moritz Busch (1881), FA Bd. 8 (1925), 419.
110 Ders., Rede v. 9. Mai 1884, FA Bd. 12 (1929), 450.
111 Ebd., 461; der Bezug auf das ALR ebd., bes. 454.
111 Ders., Rede v. 8. Mai 1879, FA Bd. 12 (1929), .79.
118 KARL THOMAS RIOHTEB, Die Fortschritte der Cultur. Einleitung in ·das Stadium der
Berichte über die Weltausstellung 1873, Bd. 2 (Prag 1875), 12 ff.
m Richter verglich die Weltausstellungen in ihrem agonalen Charakter mit den Olympi·
achen Spiel.Im du Altertuma, den Turnieren der krieg&gewappneten Völker, den Kirchen-
festen du Güiubigen; ebd., 7.
210
m. Ausblick Arbeit
ersten Mal auf tleutschef' Erde sein. Auf diese Weise war die alte weltbürgerliche Sicht
der nationalen Ökonomie zeitgemäß gesteigert und für die Zukunft der modernen
Welt verbindlich gemacht. Die Arbeit als Subjekt - anstelle des Weltgeistes -
produziert, so könnte der Text gedeutet werden, den Fortschritt internationaler
Kultur in einer Welt der vereinten Nationen.
Solche Arbeits- und Kulturgesinnung blieb sicherlich auch dem nationalwirtschaft-
lichen Geiste des nachbismarckschen Deutschland nicht fremd. Doch lag im Begriff
der 'nationalen Arbeit' auch und zunehmend eine Verengungstenilenz, bis sich mit
ihm der Begriff der -+Autarkie verbinden konnte. 'Nationale Arbeit' konnte aber
auch in einem nicht-ökonomischen, geistig-kulturellen Sinne verwendet werden
und dann die Farbe nationaler Spätromantik, den Stolz auf den „Volksgeist" und
die Sorge vor Geschmacksüberfremdung und Modernisierung annehmen. Ahnherr
dieser Ausprägung des Begriffs war WILHELM HEINRICH RIEHL (1861), für den es
tler niederste Gesichtspunkt und tler äußerlwhste Begriff tler nationalen .Arbeit war,
wenn man sie faßt als die Summe tler wirtschaftlichen Menschenkräfte, ·welche zu-
sammenwirken, um den materiellen Reichtum der Nationen herzustellen255• Vielmehr
wollte er in der nationalen .Arbeit den Geist der Nation ausgedrückt sehen; es sollte
beim wahren Fortschreiten der Kultur zuletzt jeden Arbeiter das Bewußtsein bcgoiswrn,
daß er ... f'Ür 1Ue N atiun arbeUet, daß er 'frt•itwirkt, d·ie Gr•w11,J,l,ayen ·u1i,seres kbenJ1i,ysle'I•
Lebens, unseref' Volkspersönlichkeit, eigenartig zu gestalten 256• In solchem Sinne allein
schien Riehl der Schutz tler nationalen .Arbeit sinnvoll zu sein.
So rückte der in der Zwangslage der jungen deutschen Industrie bei List und Bis-
marck noch pragmatisch im Sinne der Nationalwirtschaft verwendete Begriff
'nationale Arbeit' zweifach in die ideologisch-politische Verengung: wirtschafts-
politisch zur Autarkie, kulturpolitisch zur romantisch-bewahrenden Abkapselung.
In beiden Richtungen wurde der moderne Arbeitsbegriff zurückgenommen oder
gebrochen.
m. Ausblick
Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert sind die vielfältigen Möglichkeiten, Arbeit
je von den bis zur Reichsgründungszeit gewonnenen Positionen aus zu begreifen,
weiterhin in mancherlei Fortführung oder Variation wahrgenommen worden.
Wollte man die Zeugnisse dessen sammeln und sichten, so würde sich für die
Wilhelminische und Weimarer Zeit vermutlich eine Polarisation des Begreifens
- gemaß der vorherrschenden Dichotomie - in bürgerlich liberal-konservativer
und in proletarisch-sozialistischer Richtung nachweisen lassen. Doch konnten diese
beiden Tendenzen, die mittelbar auf die gemeinsame Wurzel des ökonomisch be-
gründeten Eudämonismus der Aufklärung zurückgingen und je auf ihre Weise fort-
schrittsoptimistisch eingestellt waren, nicht unbeschwert und ohne Widerspruch
fortlaufen. Sie wurden vielmehr teils durch überlieferte Vorbehalte gegenüber dem
211
Arbeit ID. Aa1hlick
m MAx SCHELER, Christentum und Gesellschaft, Bd. 2 (Leipzig 1924), 48. Dil( Kritik am
modernen, auf den Ökonomisnius des 18. Jahrhunderts zurückgehenden Arbeitsbegriff
schon bei SOBELER, Ober Ressentiment und moralisches Werturteil (zuerst 1912).
16 3 SCHELER, Christentum und Gesellschaft, Bd. 2, 73.
212
m. Ausblick Arbeit
mit der Neubesinnung auf den christlichen Glauben. Die publizistischen und offi-
ziell-programmatischen Äußerungen der Kirchen, vor allem der katholischen
Kirche seit der Enzyklika „Rerum novarum" von 1891, blieben jedoch zunehmend
nicht bei der Ablehnung der Arbeit als „weltlicher Religion" stehen, sondern such-
ten zur modernen Arbeitswelt unter Voraussetzungen; die in ihren Soziallehren
begründet wurden, ein positives Verhältnis zu gewinnen. Diese Voraussetzungen
bestanden in nichts anderem, als den christlichen Arbeitsbegriff auf die moderne
Arbeitswelt zu beziehen, um ihn dort wirken zu lassen. „Kapitalismus" und
„Sozialismus"264 wurdeµ. abgelehnt, die modernen Produktionsweisen jedoch als
gegeben hingenommen; die Aufgabe wurde darin gesehen, praktische Nächstenliebe
und rechtlich garantierte Achtung vor dem Menschen gegen die Tendenz der
intr.rr.Rsr.n- odr.r zwr.ckorientierf.en 8chommgRlosigkeit mächtig werden zu laRsen.
Die Arbeit ist keine freie Ware. In ihr muß die Menschenwürde des Arbeiters berück-
sichtigt werden 265• Das Wirtschaftsleben sollte nicht ohne Rücksicht auf den soziakn
Charakter der Wirtschaft, ohne Rücksicht auf die sozia1,e Gerechtigkeit und das Ge-
meinwohl eine ungehemmte Eigenmacht ausüben2&&. Die auf die Zentralbegriffe
des Eigentums und der Arbeit begründete katholische Soziallehre hat sich seit dem
ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem auf Thomas von Aquin berufen und im
Thomismus der Arbeit ihre hohe und zugleich begre~ Stellung zugewiesen167 •
Dem standen auf evangelischer Seite ähnliche Bemühungen zur Seite, die teils zu
sozial radikaleren Ergebnissen führten (z. B. im religiösen Sozialismus), teils in
der jüngst stärker entwickelten evangelischen Soziallehre ihren Platz fanden.
Allgemein ist festzustellen, daß christlich begriffene Arbeit nicht mehr notwendig
in Widerspruch zur modernen Arbeitswelt stehen muß, da auf kirchlicher Seite der
Rr.alismns ihrr.r Umw11lt g11g11niih11r gewar.hsen ist und umgekehrt die ethischen
Forderungen, durch die die christlich-sozialen Bestrebungen vielfältig mit sozialisti-
schen Zielen und staatlicher Sozialpolitik verbunden gewesen sind, weitgehend
erfüllt werden, soweit das durch gesetzliche Maßnahmen möglich ist. So läßt sich
zusammenfassend sagen: der christliche Arbeitsbegriff wurde aus seiner „Rück-
ständigkeit" herausgebracht, modernisiert, angepaßt und durch theologische Rück-
besinnung erneuert. Er gewann dadurch an Wirksamkeit und schwächte seinen
„Antimodernismus"-Charakter erheblich ab. Auch für die ideologisch bestimmten
Begriffsrichtungen des 19. Jahrhunderts gilt, daß sie seit dem ersten Weltkrieg viel
von ihrer scharfen Antithetik eingebüßt haben. Das trifft heute vor allem für die
liberale und die sozialistische Grundrichtung in Westdeutschland zu, während im
östlichen Deutschland die begriffliche Fixierung von der ideologischen Entwicklurlg
264 Afs Marxismus und Materialismus ! Die mehrfach angestellten Versuche, einen „christ-
WELTY 0. P., Von Sinn und Wert der menschlichen Arbeit (Heidelberg 1946).
213
m. Auablick
im BowjetkollllllWÜHwus abhängig war, z. T. aber auch selbständig weiterentwickelt
worden ist (Heise, Klaus) 1188• Der Begriff der 'nationalen Arbeit' scheint sich schon
in den zwanziger Jahren abgeschwächt zu haben und als Terminus wenig
gebräuchlich gewesen zu sein, so sehr auch der Gedanke, alle Arbeitskraft der Nation
zur Gesamtleistung anzuspannen, durch <,len Weltkrieg und danach durch den
Zwang des Friedensvertrags von Versailles nahegelegt wurde. Im Nationalsozialis-
mus wurde die „nationale Arbeit" noch einmal überhöht und für die Politik Hitlers
funktionalisiert. Bezeichnend waren militante Wortbildungen wie 'Arbeitsfront',
'Arbeits'- bzw. 'Erzeugungsschlacht' sowie die Umdeutung des 1. Mai zum „Tag
der (nationalen) Arbeit". 'Arbeitsdienst' wurde als Bezeichnung nationaler Arbeits-
pflicht dagegen schon seit dem Ersten Weltkrieg geprägt, die Sache gegen Ende der
WAimarer Republik .z. T. realisiert, war aber nioht o.uf Deutschland beschränkt
(vgl. z. B. den Zionismus und Bulgarien) 2611 • Dabei muß jedoch festgehalten werden,
daß der nationalsozialistische Arbeitsbegriff stets rassistisch verankert war, wie
die Rede des Reichsarbeitsführers HIERL deutlich macht (1937): Unsere Arbeits-
lager sind Bollwef-ke gegen jene jiidisch-rnateriaUstiscke Arbeit.,m1,fln.slt'ltm.g, d,',e. in du
Arbeit nur ein Ge'filgesckäft, in der Arbeitskraft eine Ware siekt 270• ADOLF HITLER
h11.LLtl ltttr~it.t-1 1920 seinen - Antlaemi.tismus - wie sohon o.ndore Antisemiten vor
ihm271 - aus dem Arbeitjlbegriff entwir.kAlt272 . ~ine altruistisch-ethillche Arbeits-
definition blieb zunächst noch scheinbar im traditionellen Rahmen: Arbeit ist eine
Tätigkeit, die ich nickt um meiner selbst willen ausübe, sondern auch zu Gunsten
meiner Mitmenscken 27 3. Diese „Mitmenschlichkeit" wurde aber allein auf die
„arische" Rasse bezogen, denn nur dieser, wird der ethische Arbeitsbegriff zuge-
ordnet; er wird zugleich abgehoben von einem anderen, „unechten", jüdischen
.Arbeitsbegriff, einer anderen Aroott2H, der die ethische Bindung fehle: der Juue
betreibe Arbeit nicht wie der nordische Mensch vor allem aus ideellen Gründen,
188 Vgl. WALTBB BDINEBT, LUDWIG Buss, CLAus D. KEBNIG, Art. Arbeit, SDG Bd. l
(1966), 246 ff. Ferner wichtige Hinweise bei PETBB CHR. LuDz, Parteielite im Wandel
(Köln, Opladen 1967), 259 ff.
m Vgl. zur Geschichte einschließlich der Begriffsgeschichte HENimTG KöHLEB, Arbeits-
dienst in Deutschland (Berlin 1967); außerdem WOLFGANG BENZ, Vom freiwilligen
Arbeitsdienst zur Arbeitsdienstpfilcht, Vjh. f. Zeitgesch. 16 (1968), 317 ff.; BEBNING ·
(1964), 17.
170 KONSTANTIN H:mm., Rede, in: Der Parteitag der Arbeit, 6. bis 13. September 1937
(München 1938), 90. ,
m So forderte z.. B. ÜTTO GLAGAU, Der Börsen· und Gründungs.Schwindel in Berlin
(Leipzig '1876), :XXVI die Juden auf, aufzugehen im Volksganzen und redlich die karte
Arbeit mit uns zu teilen, und E. Dümmm, Die Judenfrage als Racen„ Sitten- und Cultur-
frage (Karlsruhe, Leipzig 1881), 42 sprach von der jüdischen Scheu vor jeglicher Arbeit ... ,
die wirklich etwas schafft. Weitere Belege - Antisemitismus.
112 A. HITLER, Warum sind wir Antisemiten t, abgedr. REGINALD H. PHLEPB, Hitlers
„grundlegende" Rede über den Antisemitismus, Vjh. f. Zeitgesch. 16 (1968), 400 ff.; vgl.
dazu die Bemerkungen von Phleps ebd., 390 ff., sowie EBERHARD Jl.CKEL, Hitlers Welt-
anschauung (Tübingen 1969), 63 ff.; HITLEB, Mein Kampf, 636.--MO. Aufl. (München
1941), 325 ff. 482 ff.
178 HITLER, Rede, 400.
174 Ebd., 409.
214
DI. Ausblick Arbeit
d. h. wegen ihrer Notwendigkeit an sich 27 5, sondern aus purem Egoismus 278• Dies
aber nennen (wir) ... nicht Arbeit, sondern Raub 277 • Die Aufspaltung des Arbeits-
begriffs in einen „eigentlichen", positiven und einen „uneigentlichen", negativen
und die jeweilige rassische Zuordnung erlaubten es Hitler, alle Kulturschöpfung
dem nordischen Menschen zuzuschreiben, die Juden demgegenüber als bloße
Parasiten 278 abzutun, schließlich ihre Entfernung . . . aus unserem Lande 279 pro-
grammatisch zu fordern und, nach Erringung der politischen Macht, auch einzu-
leiten. An dieser schlichten Begriffspolarisierung ließen sich in propagandistisch
wirksamer Weise alle die Schlagwörter aufhängen, von denen Hitlers Rhetorik
·lebte: Ariertum bedeutet sittliche Auflassung rler Arbeit und doourch ... Sozialismus,
Gemeinsinn, Gemeinnutz vor Eigennutz - J urlentum bedeutet egoistische A ulfassung
rler Arbeit und doourch Mammonismus und Materialismus, das konträre Gegenteil
rles Bozialismu.~2so.
Die Gegenwartslage ist nur unzulänglich dadurch Lezeichnet,, daß die Arbeits-
begriffe der Positionen und Ideologien des 19. Jahrhunderts noch immer, wenn
auch gemindert oder gewandelt, fortleben. Vielmehr ist Arbeit im weitumfassenden
Sinne zweckgerichteter, dem arbeitsteiligen 8ystem eingefügter und ihr in mannig-
faltigster Weise nützlicher Tätigkeit allgemein als konstitutives Prinzip für die
moderne demokratisuhe Oesellsch11.ft, die bezciohncndcrwcißc ncucrdingß hiiufig
a.ls 'Leistungsgesellschaft' bezeichnet wird, anerkannt. Der Arbeitsbegriff ist heute
durch den allgemein gültigen oder als gültig geforderten. Grundsatz der sozialen
Gleichheit sowie der technisch-ökonomischen Effizienz bestimmt. Infolgedessen
sind - ungeachtet mannigfaltiger Bewußtseinsrelikte - alle oben dargestellten
sozialen Eingrenzungen und Unterscheidungen (Arbeit nur llandarbeit oder Arbeit
nur „produktive" Arbeit im Sinne von Smith usw.) gegenstandslos geworden.
Bei zunehmender Differenzierung und Spezialisierung der Tätigkeiten und Berufe
ist der Arbeitsbegriff immer mehr einer Vereinheitlichung, Erweiterung und Ver-
sachlichung unterworfen worden. Damit ist seine allgemein verbindliche Bedeutung
gewachsen. Ein Blick auf die zahlreichen Komposita von 'Arbeit', die teils schon
aus der Ökonomisierung des Begriffs im 18. Jahrhundert folgten (z~ B. 'Arbeits-
teilung', 'Arbeitsloser'), zum größten Teil aber erst im Zeitalter des entwickelten
Industriesystems geprägt worden sind (z. B. 'Arbeitsrecht', '-ordnung', '-vertrag',
'-amt', '-kammer', -'ministerium', aber auch Bildungen wie 'Jugendarbeit', 'Bil-
dungsarbeit' usw.) macht diese Allgegenwart von Arbeit im modernen Leben deut-
lich. Das uralte Problem vom „Segen" oder „Fluch" der Arbeit, von „Selbst-
verwirklichung" oder „Selbstentfremdung" des Menschen durch Arbeit ist in dieser
modernen Arbeitspräsenz - einschließlich der „Freizeit" und „Erholung" - stets
aufs neue enthalten und wird daher auch immer wieder neu formuliert ins Bewußt-
sein gehoben. WERNER CoNzE
215
Arbeiter
I ..Einleitung. II. 1. 'Arbeitende Klasse(n)' als Neologismus um die Wende vom 18. zum
19. Jahrhundert. 2. Die differenzierenden Bezeichnungen der 'Klassen' innerhalb der
'arbeitenden Klasse(n)', speziell 'Fabrikarbeiter'. 3. Die Tendenz zur Erweiterung des
Begriffs: 'Kopf-' oder 'Geistesarbeiter'. 4. Die „Arbeiterfrage": die neuen Begriffe 'vierter
Stand' und 'Proletariat'. 5. Arbeitervereine. 6. 'Arbeiterbewegung'. 7. 'Arbeiterstand'.
8. Politische Aktualisierung 1863: Lassalle. 9. Sozialdemokratie. 10. Liberaldemokratie.
11. Liberalismus: Treitschke .. 12. Konservative: Huber, Riehl, Wagener, Bismarck.
13. Untemehmer-Patriarchalismua. 14.Kathedersozialisten: Schmoller. 15. Die christlichen
Kirchen. III. Ausblick.
1. Eiuleituug *
* Für die hilfreichen Hinweise zu diesem Artikel danke ich besondere Kurt Baldinger,
Ulrich Engelhard und Horst Stuke. Der Artikel bricht dort ab, wo begriffsgeschichtlich
die Problematik 'Proletariat', 'Proletarier' beginnt.
1 Vgl. zur älteren mittellateinischen Begriffsbildung KARL BosL, Potens und Pauper.
216
I. Einleitung Arbeiter
'ERICH NEuss, Entstehung und Entwicklung der Klasse der besitzlosen Lohnarbeiter
in Halle (Berlin 1958), 231.
6 ZEDLER Bd. 2 (1732), 1151.
6 WENZEL LINK, Von Arbeit und Betteln (1523), Werke, hg. v. Wilhelm Reindell, Bd. 1
(Marburg 1894), 155.
7 JoH. Hl:NRicH WICHERN, Wie sind die nötigen Arbeiter für den Dienst der inneren
Mission zu gewinnen (1850), Werke, Bd. 2 (1965), 153 ff.
217
Arbeiter D. 1. 'Arbeitende Klasse(n)' als Neolo!Jismus
Beide Vorstellungen, dor Arboitor u.Ici der ohri.tiLlioh „B1:1rufäne" und der Aru1:1iL1:1r
als der tätige Mensch überhaupt, gingen zwar bis zum 19. Jahrhundert nicht ver-
loren, vermochten jedoch nicht, den in erster Linie sozialen Begriff des Arbeiters
als Mannes der Unterschicht zu verändern. Wohl aber lagen sie beide wirksam dem
Bewußtsein der Zeitgenossen zugrunde, als es um die „soziale", die „Arbeiterfrags"
oder die Emanzipation des „vierten Standes" im revolutionären Gesellschafts-
wandel ging und der Arbeiter nicht nur in seiner sozialen Geltung erhöht, sondern
zum Repräsentanten des ganzen Menschengeschlechts werden konnte (Lassalle,
s. u. s. 232).
n.
l. 'Arbeitende Klossc(n)' als NcologismW! um die Wende
vom 18. zum 19. Jahrhundert
8 MuRRA.Y vol. 10/2 (1928), 298 bringt einen ersten Beleg für die Verbindung von 'Arbeiter'
und 'Klasse' zwar erst für 1813; doch erschien schon 1797 FREDERIC MoRTON EDEN,
The State of the Poor, or an History of the Labouring Classes iii. England, 3 vol. (London
1797; repr. New York 1963), und für 1772 nennt MURRA.Y vol. 2 (1888), 466 einen Beleg für
lower daaaea of the pwple. Jedenfalls ist die Verbindung unseres Wortes mit dem Begriff
'Klasse' in England erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Aufkommen, von Beginn des
19. Jahrhunderts an weithin üblich. Vgl. auch AsA BRIGGS, The Language of Class in
Early Nineteenth Century England, in: A. BRIGGs/J. SA.VILLE, Essays in Labour History
(London 1960), 43 ff.
9 Im Französischen wurde es während der Revolution üblich, 'classe' häufiger auch auf
den sozialen Bereich anzuwenden. So dernierea claasea du peuple (1792); c"laase ouvriere
(1795); zit. FREY (1925), 92. Vermutlich geben diese Jahreszahlen nicht die wirklich.
frühesten Vorkommen an. Zu 'classe' s. FEW Bd. 2, (1940), 745 b.
10 JOSEPH v. SONNENFELS, Grundsätze der Polizey, Handlung, ~nd Finanz, Bd. 3 (Wien
218
II. 2. J)l«erenzierende Bezeichnungen Arbeiter
besonders geistlichen Staaten, im Verhältnis gegen die arbeitende zu groß 11 • Als Beispiel
für einen ungenaueren Sprachgebrauch vgl. GEORG FoRSTER (1790): In den meisten
Häusern ißt man nicht vor drei Uhr, in den vorne,hmeren erst um vier; die arbeitende
Klasse der Bürger macht indessen hier, wie überall, eine,A.usnahme12 • Wog, wie nach
diesen Belegen vermutet werden kann, zunächst der Singular 'Klasse' anstatt des
alsbald häufig werdenden Plurals 'Klassen' vor, so kann darin eine Vorstufe des
später (Sismondi, Marx) ökonomisch schärfer fixierten Begriffs der 'Arbeiter' oder
der 'arbeitenden Klasse' gesehen, werden. Dem alsbald nach 1800 beliebig aus-
wechselbaren Gebrauch der Numeri lag entweder die Vorstellung einer von allen
angeseheneren, berechtigteren und wohlhabenderen Klassen abgehobenen Unter-
schicht (traditionell nicht zur societas civilis gehörig) oder einer Vielfalt unter-
scheidbarer Klassen innerhalb der Unterschicht zugrunde. Dem singularen Sprach-
gebrauch war seit der Französischen Revolution die „soziale Frage" einer
Emanzipation dieser minderen, aber „Freiheit" und „Gleichheit" anstrebenden
'Klasse' impliziert, dem Plural 'Klassen' dagegen das Interesse, die soziale Vielfalt
der Unterschicht zu begreifen - sowohl traditionell, entsprechend der Zunft-
ordnung und der alten Agrarverfassung, als auch zeitgemäß im Bestreben, die
berufliche Differenzierung in der modernen Wandlung :r.u hA:r.AinhnAn,
11 FRlEDR. CARL FRH. v. MosER, Über die Regierung der geistlichen Staaten in Deutschland
(Frankfurt, Leipzig 1787), 172. Vgl. auch mit Bezug auf das antike Rom WILH. LUDWIG
WEKBRLIN,. Chronologen 4 (1779), 87: cUe arbeitende K'la8ae, •.• da8 geringe Volk und die
Sklaven, hier also die manuell Arbeitenden, die Wekhrlin dem Adel, den Reichen, den Bür-
gern entgegensetzt. Vgl. ferner A. L. SCHLÖZERS Stats-.Anzeigen 18 (1793), 21.
12 GEORG FoRSTER, Ansichten vom Niederrhein, Sämtl. Sehr., Bd, 3 (1843), 308.
11 FEW Bd. 7 (1955), 369 b; vgl. ebd., 366.
219
Arbeiter II. 2. Dillerenzierende Bezeiclµiungen
que ce soit. Im einzelnen wurden dazu vor allem die fabriquans et manufactwriers
der verschiedenen Textilindustrien sowie Bau, Münz- und Schmiedearbeiter ange-
führt14. In Preußen wurde das Fremdwort 'Ouvrier' in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts in der Verwaltungssprache häufig verwendet, um Facharbeiter
verschiedener Gewerbe, vor allem wohl der Textilindustrie, damit zu bezeichnen.
So fehlten 1777 in Rügenwalde für eine neue Leinenfabrik geschickte ouvriers,
während ein Kaufmann, der in Gollnow eine Bandfabrik angelegt hatte, 1779 von
Schwierigkeiten in dem Anzuge der Auslandisch Ouvriers berichtete15.
Eine andere Möglichkeit, Facharbeiter (auch ohne zünftige Ausbildung) in Manu-
fakturen oder Fabriken von dem zu unbestimmten 'Arbeiter' oder 'Arbeitsmann'
abzuheben, wurde in den Bezeichnungen 'Manufakturist' oder 'Fabrikant' gefun-
den16, so im ALR. Dooh wa.r da.fl vorwirrond, weil da.runter sowohl Unternehmer
wie Arbeiter verstanden werden konnten. Daher setzte sich auch dies Wort als
Bezeichnung für Arbeitnehmer nicht durch. JOHANN HEINRICH JuNG17 suchte
'Arbeiter' als Begriff schärfer zu fassen, indem er ihn der Fabrikation zuordnete
und dazusetzte (1792): Arbeiter könnten auch Professionisten genannt werrlen
und seien in zwei Klassen einzuteilen: a) Lohnarbeiter, b) Commerzierende oder
handelnde Arbeiter. Das kam einem Traditionsbruch gleich, da bislang 'Arbeit'
nicht auf 'Handlung' und 'Arbeiter' nicht auf 'Hii.nrller' auRgedehnt worden war.
Spätestens ·seit etwa 1800 kam 'Fabrikarbeiter' 18 auf, das erlaubte, den Fach-
arbeiter in Fabriken sowohl gegenüber dem im Handwerk arbeitenden Gesellen
wie gegenüber dem ungelernten 'Handarbeiter' abzugrenzen. Diesem gegenüber
bedeutete 'Fabrikarbeiter' eine Heraushebung des Qualifizierten und auch des
Gesicherten, worauf in der Zeit des Vormärz oft hinge-wiesen wurde19.
War die Unsicherheit über die Bezeichnung der 'Fa.brilmrbcitcr', wie es bis zur
Mitte des 19. Jahrhunderts vorwiegend statt 'Ouvriers' oder 'Fabrikanten' hieß,
überwunden, so ergab sich die Gliederung der 'handarbeitenden' oder 'unteren'
Volksklasse ganz von selbst. Den altgewohnten Gruppen des 'Gesindes', der
'Handwerksgesellen' und der vorwiegend, aber nicht allein auf dem Lande arbeiten-
den Tagelöhner wurden nun die 'Fabrikarbeiter' gegenübergestellt 2o. Dabei war
'
§ 465 f.
18 Vgl. z. B. Preuß. Kabinettsordre, 2. 1. 1800, Acta BOrussica, (Seidenindustrie), Bd. 2
(1892), 539; Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern (München 1813), 160; Fl:sOHEB,
Ba.den, 334.
19 WERNER CoNZE, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: Staat
werker, die Feldarbeiter, die Fabrikarbeiter, die Dienatboten und die Tagelöhner; W. A.
Scmm>T, Die Zukunft der arbeitenden Klassen und die Vereine für ihr Wohl (Berlin 1845),
18.
220
II. 2. Dift'erenzierende Bezeichnungen Arbeiter
697; - Fabrik.
22 J. G. HOFFMANN, Bemerkungen über die Ursachen der entsittlichenden Dürftigkeit
oder des sog. Pauperismus (1845), zit. Die Eigentumslosen, hg. v. CARL JANTKE u.
DIETRICH IIILGER (Freiburg 1965), 365.
18 KOSELLECK, Preußen, 698 ff.
24 Reichliches Material zum Sprachgebrauch für die einzelnen „Klassen" der Gesamtheit
der „arbeitenden Klassen" z.B. bei JANTKE/IIILGER, bei P. MOMllERT, Aus der Literatur
über die soziale Frage und über die Arbeiterbewegung in Deutschland in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts, Arch. f. d. Gesch. d. Sozialismus u. d. Arbeiterbewegung 9 (1920),
169 ff. sowie in der Zs. d. Vereins f. dt. Statistik, Jg. 1847 und 1848.
26 WILHELM HEINRICH RIEHL, Die Arbeiter. Eine Volksrede aus dem Jahre 1848, in: ders.,
221
Arheiter II. 2. Dlifereazierende Bezeichnungen
sehen Sprachgefühl der modernen Einengung, die Riehl als aus dem Französischen
entlehnt empfand, widerstrebte2&, Die junge „Arbeiterbewegung" leistete der Ein-
engung des Begriffs Vorschub, da sie in Handwerks- und Fabrikbetrieben, nicht
dagegen in der großen Masse der „handarbeitenden Klasse" entstand.
Bezeichnend ist die Selbstdefinition des· Arbeitervereins Gotha 1865: 'Arbeiter'
seien im allgemeinen genommen alle diejenigen, die im Dienste anderer von ihrer
Hände Arbeit leben ... eigentlich oder speziell genommen ... nur Gesellen, Gehilfen,
Fabrikarbeiter; dann aber auch noch sokhe kleine, arme Meister, die im Dienste eines
andern Meisters stehen27 • Über die mangelhafte Eindeutigkeit des Begriffs 'Arbeiter'
wurde vielfach geklagt, so z. B. in Sachsen 1863, verbunden mit einer Kritik der
Gewerbestatistik: Die Klasse der sog. Handarbeiter seien nicht zu exakter Ausfüllung
der Bo~n zu bringen. 1 n manohan Gawarban arbaitan salbst in den gcschlosscnon
Etablissements viele Arbeiter, die nach den älteren üblichen Einte·il'l111i,gen der Gewerbe
auch als Gesellen qualifiziert werden können und die sicli dann liäufig nicht als Fabrik-
arbeiter, sondern als Gesellen oder doch mit dem zünftigen Namen ihres speziellen
Gewerbes angeben. So z. B. viele Maschinenarbeiter als Schlosser, Schmiede usw.,
ohne daß immer ersichtlich ist, daß sie zur Zeit in einer Fabrik arbeiten 28 •
Im übrigen war der amtliche Sprachgebrauch in den jeweiligen deutschen Staaten
nicht einheitlich. Auf die Unterschiede der Rezeichmmgen hiflr im flinzP.lnen ein-
zugehen, entspricht nicht unserer Aufgabe. Es sei lediglich auf eine sehr auffällige
Verschiedenheit Österreichs (im Unterschied zu Preußen) hingewiesen. Allgemein
scheint das Wort 'Arbeiter' verhältnismäßig früh auf den qualüi.Zierten 'Fabrik-
gesellen' und 'Fabriksarbeiter' eingegrenzt worden zu sein. In der Behördensprache
setzte sich dafür die Bezeichnung 'Hilfsarbeiter' durch, die allerdings auch für
unselbständig Boaohii.ftigto o.ußor den Fo.brikon, z. B. im Ho.ndcl und in Behörden
verwandt wurde29 , so daß auch das Wort 'Fabrikhilfsarbeiter•so geprägt werden
konnte. Die österreichische Gewerbeordnung von 1859 unterschied ..zwischen den
selbständigen Gewerbetreibenden und ihrem Hilfspersonal (Gehilfen und Lehr-
lingen; § 72): Unter Gehilfen werden in diesem Gesetze Handlungsdiener, Gesellen
und Fabrikarbeiter, dann die in gleichen Dienstverliältnissen stehenden weiblichen
Hilfsarbeiter verstanden (§ 73). Vorher schon waren in der Preußischen Gewerbe-
ordnung von 1845 die Bestimmungen für Gesellen und Gehilfen ausdrücklich auch
auf die Fabrikarbeiter ausgedehnt worden. Es ist in dieser Ordnung immer wieder
von Gehilfen, Gesellen und {oder) J!'abrikarbeitern die .Rede . .Das war die Konsequenz
Claraus, daß Handwerk und Fabrikarbeit unter dem Begriff 'Gewerbe' zusammen-
gefaßt wurden. Andere Gruppen der 'handarbeitenden Klassen' aber, wie besonders
88 VICTOR Ami HUBER, Reisebriefe aus Belgien, Frankreich,und England, Bd. 2 (Ham-
222
D. 2. Differenzierende Bezeichnungen Arbeiter
cläti GtisiIHle und ilie Tagelöhner, wurden ausdrücklich 11.ut1geschlosson. Die Berufs-
gruppenbestimmung der Verarbeitung oder Produktion war also begri:ffsbestimmend
und durchbrach die Trennung nach Schichten, wie sie in dem nun abkommenden
Begriff der '(hand-)arbeitenden Klasse(n)' ausgedrückt gewesen war 31 •
In der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (1871 als Reichsgewerbe-
ordnung übernommen) ist unter dem gleichen Oberbegriff des Gewerbes stets von
Gehilfen, Gesellen oder Arbeitern bzw. Fabrikarbeitern die Rede.'
Um den Arbeiter rechtlich genauer zu bestimmen, wurde im Deutschen Reich in
der Reichsgewerbeordnung der seit den vierziger Jahren aufgekommene Begriff
'Arbeitnehmer' verwandt, unter den alsbald auch die Angestellten fielen. 'Arbeiter'
wurde damit rechtlich eindeutiger als zuvor fixiert als ein gegen Lohn auf Grund
eines Arbeitsvertrages abhängig (meist körperlich) Arbeitender, dessen Recht,R-
stellung zunehmend durch Arbeiterschutz, Sozialversicherung,· Arbeitslosenhilfe
oder -versicherung, 'l'arifschutz u. a. m. ausgebaut wurde. Dem 'Arbeitnehmer'
stand der 'Arbeitgeber'3 2 gegenüber. Im Maße wie spätestens seit der Gewerbe-
ordnung von 1869 'Arbeiter' zu einem rechtlich und sozialstatistisch faßbaren Be-
griff wurde33, verschwand die Sammelbezeichnung '(hand-)arbeitende Klasse(n)' mit
ihren UnterklaHRen 34 • Die HanclwerkHgflHflllfln onflr -gehilfän wurden entweder,
sofern sie in die Fabrikindustrie übergingen, zu Arbeitern oder, sofern sie im
Handwerk blieben, zu Handwerkern mit „mittelständischem" Anspruch; Gesinde
und Dienstboten ließen sich kaum als' Arbeiter' bezeichnen35 und erschienen auch
als solche nicht in der Statistik; die c;lamaligen Tagelöhner gingen mehr und mehr
81 Vgl. auch noch die österreichischen Gewerbegesetznovellen von 1883 und 1885, wo unter
223
Arbeiter ·II. 3. Erweiterung des Begriffs: 'Kopf-' oder 'Geistesarbeiter'
aber ist kein Zwei/ el, daß die Grenze zwischen Lohnarbeitern und selbständigen Handwerks-
meistern, zwischen kleinen Meistern und selbständigen ( d. h'. herdf eaten) Stückgesellen
sehr flüssig und sehr breit ist, und daß dio Arbeiterbewegung sieh über diCBC8. ganze Grenzgebiet
nach beiden Seiten, aber allerdings viel weiter über die niedrigere Stufe erstreckt, während
die Zun~bewegung begreiflich nur das Handwerk ergriffen hat; V. A. HUBER, Die Arbeiter-
frage in der Zunftreaction. Arbeiter-Bewegung und Genossenschaft, Jb. f. Gesellschafts-
u. Staatswiss., 1. Jg., Bd. 1 (1864), 54. 1857 hob Huber die dienende Klasse (Gesinde,
Dienstboten) ausdrücklich von der arbeitenden Klasse ab; Art. Arbeitende Klassen, BLUNT-
SOHLI/BRATER Bd. l (1857), 279 ff.
ae A. RuGE, Aus früherer Zeit, Bd. 4 (Berlin 1867), 360. Dazu ders., Unser System (1850;
Frankfurt 1903), 1 ff. Vgl. KARL LÖWITH, Von Hegel zu Nietzsche, 2. Aufl. (Stuttgart
1950), 335.
37 Vgl. als zeittypischen Ausdruck dessen z. B. einen Vortrag von J. L. TELLKAMPF,
Mitglied des preußischen Herrenhauses (1870): unter .Arbeiter seien eigentlich alle diejeni-
gen Menschen zu verstehen, welche nicht nur durch ihre körperliche, aondern auch durch ihre
geistige Tätigkeit Nutzen gewähren. Es seien daher die Gelehrten, die Unternehmer und die
Handarbeiter sämtlich Arbeiter; Der Arbeiterfreund 8 (1870), 145 f. Ähnlich im gleichen
Jahr das Vorstandsmitglied des Centralvereins in Preußen für das Wohl der Berliner
Volksküchen, LINA MORGENSTERN: Auf dem Felde der Arbeit, begegnen sieh die Hand-
werker, der Bürgerfleiß in lnd·ustrie ;und Handel, die Landwirte, die Studierenden und Ge-
lehrten, die Künstler, die Erzieher der Jugend; die Staatsmänner und die Kämpfer für die
Ideale der M enaehheit, welche Vernunft und schöne Sittlichkeit verbreiten; Der Arbeiterfreund
8 (1870), 191 ff. - ERNST JÜNGER, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (Hamburg
1932).
224
II. 4. Neue Begrlile 'vierter Stand' und 'Proletariat' Arbeiter
Büros, DR. ENGEL, der von den Proletariern vom Geiate und den Proletariern vom Hammer
und Ambos, von der Spindel und dem Webstuhl spraoh; Der Arbeitsvertrag und die Arbeits-
gesellschaft (lndustrial Partnership). Vortrag, gehalten am 16. 3. 1867 in der Juristischen
Gesellschaft zu Berlin, Der .Arbeiterfreund 5 (1867), 142.
4oa FERDINAND FREILIGBATH, Requiescat (1846), SW hg. v. Ludwig Schröder, Bd. 6
(Leipzig 1908), 9 ff., 2. Strophe.
15-90385/1 225
Arbeiter II. 4. Neue Begriffe 'vierter Stand' und 'Proletariat'
dem er bis dahin stand, ins grelle Licht großer politisch-sozialer Auseinandersetzun-
gen. In den vierziger Jahren wurde die, ,Arbeiterfrage" zur „sozialen Frage'' schlecht-
hin, und in Analogie zum Beispiel zum 'dritten Stand' als der französischen Nation
. von 1789 ·wurde der 'vierte Stand' ebenso wie die beiden vorgenannten Wort-
bildungen sprachlich neu geprägt oder wieder aufgenommen. Der Begriffwurde
unter dem Eindruck der französischen und deutschen Revolution von 1848 zwar
nicht erst gebildet 41 , aber doch jedenfalls besser verständlich und allgemein ver-
breitet. In Frankreich regiere nun der 1Jierre Stand, schrieb FRIEDRICH RoHMER
Ende März 1848; das sei der Inbegriff aller niedern Volksklassen - die Gesellen der
Handwerke, die Arbeiter der Fabriken und Druckereien, die kleinen Bauern, die
Taglöhner in Stadt und Land, die Dienstboten, was wir in Deutschland den „gemeinen
Mann" nennen. Der vierte Stand könne und dürfe nicht regieren. In Deutschland
sei die Monarchie dazu berufen, die endliche Sicherung des Loses der niederen Klas-
sen, die endliche Verwirklichung der Freiheit aller herbeizuführen 4-2 • Wie ungewohnt
freilich das Wort und wie flüssig die Begriffsbildung überhaupt war, zeigt die
Korrektur in einem BriefRohmers an den bayerischen Kronprinzen vom 18. März
1848, wo im Konzept statt vierter Stand noch Proktariat gestanden hatte4 3 •
War VUlll 'vierLeu SLaml' die R1;Jde, dauu wurde kum1eque11L auch 'ArueiLtm1La11d'
möglich - eigentümlich doppelsinnig: revolutionär, insofern dem Arbeiter im
Gegensatz zur Tradition eirie Standschaft zugebilligt wurde, konservativ, wenn
damit eine Einfügung des Arbeiters („Einbürgerung des Proletariats", F. VON BAA-
DER 1835) in eine ständisch gegliederte Gesellschaft gemeint war - oder besser: ge-
meint sein konnte, denn die sprachliche Unterscheidungsbereitschaft war vielfach
schwach, so daß 'Stand' und 'Klasse' fast synonym verwandt werden konnten.
Hielt sich die Betrachtung der „Arbeiterfrage" im Bereich des Sozialökonomischen,
so wnrdfm vor allem die Übervölkenmg der Unterschicht und das darauR folgende
Massenelend („Pauperismus") ins Auge gefaßt. Dann ging es - wie in vielen
Schriften der Zeit 44 - um ein Problem der „bürgerlichen Gesellschaft" im Sinne
41 Schon 1789 erschien der 'Vierte .Stand' in der Beschwerdeschrift: Cahiers du quatrieme
ordre, celui des pauvres journaliers, des infirmes, des indigens etc, !'ordre sac~e des in-
fortunes (Paris 1789; Ndr. 1967) mit der Frage, warum er noch aus der Nation ausge-
schlossen sei. Dazu .TAQUER GonEOHOT, La prise de la Bastille (Paris 1965), 174. Noch
zögernd und vage H. C. E. v. GA.GERN, Die Resultate der Sittengeschichte, Bd. 2: Die
Fürnehme:p. oder die Aristocratie (Wien 1812; 2. Aufl. Stuttgart 18315); dort S. 73: Wo noch
die Benennung eines 4. Standes oder einer 4. Kaste vorkO'mnu, da gehören die vorzüglich hi?i,
die ein abhängiges Gewerbe treiben und um Lohn für die drei vordern Stände arbeiten.
42 F;aIEDRICH RoHMER, Der vierte Stand und die Monarchie, in: Wissenschaft und Leben,
hg. v. H. Schulthess, Bd. 4 (Nördlingen 1885), 513. 516. 533. Zum Begriff 'vierter Stand'
-+ Stand und Klasse.
43 ALFRED ÜTTO STOLZE, Der vierte Stand und die Monarchie. Die Politik des Rohmer-
en France, 2 t. (Paris 1840) unter vielen anderen etwa JULros BEHRENDS, Wie ist der Not
der arbeitenden Klassen abzuhelfen?, 2. Aufl. (Leipzig 1847), oder schon, mit dem Blick
auf beginnende „Bewegung" in oder im Namen der Unterschicht: CARL RoDBERTUS-
J AGETZOW, Die Forderungen der arbeitenden Klassen (1837; von der „Augsburger Allge-
226
II. 4. Neue Begmre 'vierter Stanil' unil 'Proletariat' Arbeiter
HEGELS. Dieser hat die gefährliche Frage demgemäß auch im Kapitel über die
„Bürgerliche Gesellschaft"' behandelt. Dort sprach er von der übermäßigen 'Ver-
mehrung der Unterschicht, dem Herabsinken einer großen Masse unter das Maß
einer gewissen Subsistenzweise, der Erzeugung des Pöbels, der gegenüber die bürger-
liche Gesellschaft nicht vermögend genug sei, wirksam der Verelendung zu steuern.
Hegel sah die Anhäufung der Reichtümer auf der einen, die Vereinzelung und Be-
schränktheit der besonderen Arbeit und· damit· die Abhängigkeit und Not der an diese
Arbeit gebundenen Klasse auf der andern Seite45 •
Das, was Hegel hier beschreibt und was nach ihm mehrere Jahrzehnte lang immer
wieder beschrieben, ja beschworen worden ist,· führte zu einer Um- und Neu-
wertung des Begriffs 'Arbeiter', der in der geistig-politischen Auseinandersetzung
des 19. Jahrhunderts seit etwa 1830 weit mehr wurde als nur eine Kollektiv-
bezeichnung für die verschiedenen Berufe und Schichten der 'handarbeitenden
Klasse'. Mit dem Begriff 'Arbeiter' war vielmehr von nun an die 'soziale Frage'
"al"t;o:v}v bezeichnet. Wandlung, Vermehrung und Bewegung der handarbeitenden
Unterschic_b.ten warfen beunruhigende, scheinbar kaum lösbare Probleme auf. Der
Arbeiter war daher nicht mehr. mit lang überlieferten Vorstellungen zu begreifen;
er forderte neue Aufgaben und Forderungen heraus; er schien die Gesellschafts-
ordnung überhaupt in Frage zu stellen. In solcher Lage genügte offenbar das
alte Wort 'Arbeiter' nicht mehr, um alles Neuartige auszudrücken. Es wurde in
den dreißiger und vierziger Jahren immer häufiger durch das vom Gelehrten- zum
Modewort werdende 'Proletarier', 'Proletariat' ersetzt, das zunächst sich als Be-
griff für die Menschen der Massenarmut des im Übermaß reproduzierten „Pöbels"
anbot und von solcher Bedeutung aus zum' Arbeiter' als dem anständigen, :fleißigen,
ordnungsliebenden Typus in Gegensatz gebracht wurde 48• Dagegen löste sich der
Begriff des Proletariats bei Lorenz von Stein, Karl Marx und Friedrich Engels gänz-
lich von solcher pejorativen Sinngebung und damit auch von 'Proletarier' als
einem Gegenbegriff zu 'Arbeiter'. 'Proletariat' bot sich, frei von aller wortgeschicht-
lichen Belastung, für eine revolutionäre Deutung des gesellschaftlichen Prozesses
oder der Geschichte überhaupt in wirkungsvoll absurder Dialektik aufs beste an.
Damit war nicht mehr der Gegensatz zum Arbeiter, wohl aber eine Erhöhung des Ar-
beiters zu einem revolutionären Gestalttjpus ausgedrückt. Für STEIN war (1850)
in der sich formenden industriellen Gesellschaft endlich aus dem industriellen Arbei-
terstande das Proletariat der Gegenwart gewoiden41. FRIEDRICH ENGELS setzte die
Wörter 'Arheiter' und 'Proletarier' 1845 in seiner „Lage der handarbeitenden
KlaRse in England" gleich; damit ermöglichte er die Ersetzung von 'Arbeiter'
meinen Zeitung" als nicht aktuell abgelehnt), Aus dem literarischen Nachlaß, hg. v.
Adolph Wagner u. Theophil Kozak, Bd. 3 (Berlin 1885), 195 ff.
'6 HEGEL, Rechttjphilosophie, §§ 243-245.
"So besonders typisch in FRIEDRICH liARKORT, Brief an die Arbeiter (1849), abgedr. bei
WILHELM SOHULTE, Volk und Staat. Westfalen im Vormärz und in der Revolution 1848/49
(Münster 1954), 319 ff. Vgl. dazu WERNERCONZE, Vom „Pöbel" zum „Proletariat", Vjschr.
f, Sozial- u. Wirtschaftsgesch. 41 (1954), bes. 344 f., auch in: Modeme deutsche Sozial-
geschichte, hg. v. IIANs ULRICH WEHLER (Berlin 1966), 111 ff. ·
' 7 LoRENZ v. STEIN, Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf
unsere Tage, Bd. 2 (Leipzig 1850), 96.
227
Arbeiter D. 5. Arbeitervereine
durch 'Proletarier'H. Er leistete damit aber auch der Tendenz Vorschub, daß
'Arbeiter' in der Sprache der sozialistischen (später marxistischen) Theorie nicht
hinter 'Proletarier' zurücktrat, sondern in der Regel synonym mit ihm verwendet
wurde. Das gleiche galt auch für die Sprache der Agitation. Da aber der Begriff
des 'Proletariats' nicht zufällig von MARX als Zentralbegriff seiner revolutionären
Theorie eingeführt (1843) und bevorzugt worden ist, soll die begri:lisgeschichtliche
Linie von Marx zum Marxismus dem Artikel „Proletariat" vorbehalten bleiben.
In der frühen und auch späteren deutschen Arbeiterbewegung - diese Wort-
bildung allein weist schon darauf hin - blieb praktisch 'Arbeiter' stets der ge-
bräuchlichere Begriff, obwohl 'Proletarier' auch unabhängig von l\larx und meist
ohne betonte Gegensätzlichkeit zu Arbeiter in die Theorie und Alltagssli'rache der
Arbeiterbewegung seit den vierziger Jahren einfloß. 'Arbeiter' wurde damit zum
Kampfbegriff in und außerhalb der Arbeiterbewegung; daraus folgte der'Zwang
zur Ideologisierung.
5. Arheitene1·eine
Das war bedingt durch den Wirkungszusammenhang des sozialökonomischen
Wandels (beginnende industrielle Verkehrswirtschaft einerseits, Handwerker-,
Heimarbeiterkrise und Pauperismus andererseits) mit den Anzeichen eines neuen
Lagebewußtseins der Arbeiter durch „Aufklärung", d. h. das Bedürfnis, die Parolen
von Freiheit und Gleichheit auf die eigene Existenz zu beziehen. Genauer gesagt
trat dieser Wirkungszusammenhang zwischen 1830 und 1848 dort ein, wo auf-
geklärt revolutionäre Intelligenz mit Arbeitern zusammentraf, die auf Grund ihrer
besonderen Lage wach und empfangsbereit waren, d. h. in den deutschen Arbeiter-
und Handwerkervereinen der Schweiz, Frankreichs, Belgiens und Englands, wo
allein die Begegnung von politischen Flüchtlingen und wandernden Gesellen, die
sich 'Arbeiter' nannten, möglich war. In dieser Selbstbezeichnung von jungen
Männern, die fast alle noch dem Gesellenstande angehörten und ein dementsprechen-
des Selbstbewli.ßtsein besaßen, kam das Neue zum Ausdruck: ein „überkorporatives
Zusammengehörigkeitsgefühl", ein „Gruppen- und Solidaritätsbewußtsein" 49 •
'Arbeiter' wurde damit zum verbindenden Begriff, in dem sich überlieferte Hand-
werkerehre mit dem Ehrbewußtsein verband, in der Gemeinschaft der· Arbeiter
an der Spitze aller Armen und Entrechteten ein neues Zeitalter im Geiste der
Menschen- und Bürgerrechte herbeiführen zu wollcn°0. 'Arbeiter' wurde zum
Ehrennamen.
'8 F. ENGELS, Die Lage der handarbeitenden Klasse in England (1845), MEW Bd. 2
(1959), 234. Die Begriffsgeschichte von 'Proletariat', 'Proletarier' wird hier nur in ihrer
Verknüpfung mit 'Arbeiter' angedeutet.
"Vgl. WOLFGANG SCBIEDER, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslands-
vereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830 (Stuttgart 1963), bes. 82 ff.; vgl.
die Aufnahmeformel des „Bundes der Gerechten", zit. TmLo Rilllll, Die großen Sozialisten,
Bd. 1 (Stuttgart 1955), 482.
10 z.B. EMIL ADOLF Rossl\1ÄSSLER, Ein Wort an die deutschen Arbeiter, 2. Aufl. (Berlin
1863), 16; ebenso Rmm., Die Arbeiter, 275 (s. Anm. 25).
228
D. 6. 'Arbeiterbewegung' Arbeiter
6. 'Arbeiterbewegung'
Was sich dergestalt im Bewußtsein der Arbeiter (Gesellen und qualifizierte Fabrik·
arbeiter) vollzog, das wurde in der 'Arbeiterbewegung' aktualisiert. Seit der
Französischen Revolution war in den europäischen Sprachen 'mouvement', 'Be-
wegung' auf das politisch-soziale Gebiet angewandt worden. Nach 1815 stand dem
'parti du mouvement', 'Bewegungspartei', die „Partei" der Beharrung oder der
Reaktion gegenüber. In den dreißiger Jahren war es üblich, von 'Bewegung' oder
'Bewegungen' zu sprechen, und zu Beginn der vierziger Jahre wurden die Begriffe.
'soziale Bewegung(en)' und 'Arbeiterbewegung(en)' vereinzelt, 1848/50 schon häu-
figer verwendet. KARL MARX brauchte das Wort bereits 1844 in seinen „Kritischen
Randglossen" gegen Arnold Ruge, der den Beginn der englischen und französischen
Arbeiterbewegung mit der eben beginnenden deutschen Bewegung hätte vergleichen sol-
len. Im gleichen Text ist noch einmal von der Eigentümlichkeit der deutschen Arbeiter-
bewegung die Rede 52. Im gleichen Jahr ist das Wort auch in der Presse belegt; so
sprach die „Mannheimer Abendzeitung" 1844 von 7,ängst erwarteten und befürchteten
Arbeiterbewegungen 5 3. Bei den sich 1848 in den Vereinen der „Arbeiterverbrüde-
rung"54 organisierenden Arbeitern war das Wort noch wenig im Gebrauch; STEFAN
BORN verwendete es 1848; sonst tauchte es gelegentlich im Plural in Artikeln der
61 WERNER CoNzE, Der Beginn der deutschen Arbeiterbewegung, in: Geschichte und Ge-
genwartsbewußtsein, Fschr. HANs RoTBFELS (Göttingen 1963), 323 :ff. Vgl. auch F. EN-
GELS' Benennung robuate, gutbezahlte Arbeiterklasse für Wuppertaler Fä.rbergesellen: Die
deutsche Reichsverfassungskampagne, MEW Bd. 7 (1960), 126, auf die WOLFGANG KöLL-
MANN, Wuppertaler Fä.rbergesellen-lnnung und Fä.rbergesellen-Streiks 1848-1857 (Wies-
baden 1962), 4 hinweist.
na V. A. HUBER, Zur Signatur der arbeitenden Klassen (1869), Ausg. Sehr., hg. v. K. Mun-
ding (Berlin 1894), 525 f.
52 K. MARx, Kritische Randglossen, MEW Bd. 1 (1957), 404.
53 Belege bei KURT KoszYK, Die Bedeutung des Jahres 1845 für den Sozialismus in Deutsch-
229
Arheiter n. 6. 'Arbeiterbewegung'
Zeitschrift „Arbeiterverbrüderung" auf56• Ende 1849 hieß es dort im Jahresrück-
blick des Redakteurs GANGLOFF (28. 12. 1849), es sei zu beklagen, daß infolge der
Ereignisse mancher der aUgemeinen Arbeiterbewegung untreu geworden sei. Nach
der Revolution von 1848/49 setzte sich das Wort allmählich durch und war beim
Wiederbeginn, d. h. von 1863 an, in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen.
Daß dies in den fünfziger Jahren jedoch außerhalb der revolutionären oder sozial-
politisch versierten Kreise noch nicht geschehen war, zeigt die knappe Notiz im
ersten Band von GRIMMS Wörterbuch (1854): Arbeiterbewegung = Aufruhr der
Arbeiter, Arbeiterkrawall (543).
Seit den vierziger Jahren war somit der Arbeiter zum Phänomen eines sozialen
Gruppentypus von höchster politischer Bedeutung geworden 56, der in der begriffs-
geschichtlich entscheidenden. Zeit der vierziger bis siebziger Jahre sich als solcher
im allg1m1einen Bewußtsein festigte, wenn auch selb11tver11tändlich in vielfältig
verschiedenen und entgegengesetzten Wertungen, je nach dem Standort der
Urteilenden und je nach dem Vorwalten entweder der sozialen Konflikts- oder der
sozialen Integrationsvorstellung. ·
Die gesellschaftliche Konfliktstheoi:ie verband sich mit der Idee aktiver Revolution
oder mindestens mit der Vorstellung sozialer Spannung, die gefährlich für Eigentum
und gesetzte Ordnung war bzw. sein sollte. Bei solcher Sicht lastete auf den Arbei-
tern die alte Vorstellung der classes dangere·uses, der gefahrdroherulen Arbe-ilerrnusse 67 ,
des Gespenstes des Kommunismus, worauf Marx und Engels im „Kommunistischen
Manifest" sich bezogen. Das Gefährliche lag darin, daß es sich nicht mehr bloß
um „Krawalle" oder Aufstände von „Pöbel" handelte, sondern, daß Arbeiter im
modernen Sinne Mich organiMieren und selbst sogar führend Mein konnten. Für
Lorenz von Stein und Karl Marx führte die Vorstellung einer revolutionären
Arbeiterklasse zur politischen Theorie vom Proletariat. In der Praxis der Arbeiter-
bewegung von der „Arbeiterverbrüderung" 1848/50 über den „Vereinstag" und
den „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" (1863) bis zur „Sozialdemokratischen
Partei" (1869/75) stand aber die nie geleugnete Konfliktslage (in den sechziger
Jahren Übernahme des Marxschen Begriffs 'Klassenkampf') hinter der Integrations-
oder Emanzipationstheorie zurück, so besonders bei der „Arbeiterverbrüderung";
in den sechziger Jahren dagegen stand die Arbeiterbewegung unter dem Einfluß
von Marx und Engels (beginnender „Marxismus" ), allerdings nicht mehr eindeutig.
66 STEFAN BoRN, Die soziale Frage, in: Die Verbrüderung, 3. 10. 1848: Wir, die Leiter dP.r
Arbeiterbewegung. Ferner Leitartikel 31. 10. 1848 und Artikelreihe im Herbst 1848.
66 Vgl. die Feststellung von BRUNO HILDEBRAND: Während der Arbeiter der Vergangenheit
in einem halbtierischen Zustande träge und arbeit&&cheu hinvegetierte und niemals über den
nächsten Gesicht&kreis hinaUB &eine Gedanken erweiterte, fühlt der Arbeiter der Gegenwart,
der im Verkehr mit den Maschinen aufgewach&en ist, daß er mit den Fähigkeiten seine&
Kopfes und seines Arme.9 au,ch an dem. uroßen Bau.e der Geschichte mitarbeitet; Die National·
ökonomie der Gegenwart und Zukunft (1848), neu hg. v. Hans Gehrip; (Jena 1922),
zit. JAN'i'KE/IJILGER, Die Eigentumslösen, 455 (s. Anm. 22).
67 G. H. PERTHAT.ER, F.in RtA,nflpnnkt ti:nr VArmitt.hmg tJocfo.Ic.r lliliß11tändo im Fabrib·
betriebe, Zs. f. österr. Rechtsgelehrsamkeit 3 (1843), 121. Vgl. ROBERT Mom. schon 1835:
Es müsse versucht werden, die so höch&t bedenklich droltende Stellung, welche die Arbeiter
immer mehr und mehr in der bürgerlichen Gesell&chafi und gegen dieselbe einnehmen, in eine
ungefährlichere ••. zu verwandeln; Arch. d. polit. Ökonomik u. Polizeiwiss. 2 (1835), 184.
230
II. 8. Politische Aktualisierung 1863: Lassalle Arbeiter
Es ging der Arbeiterbewegung seit 1848 um die Verwirklichung der Menschen- und
Bfugerrechte: 1. auf die geistige und sittliche Ausbildung M8 Arbeiters al,s Mensch und
Bürger einzuwirken; 2. ihm Erkenntnis einzuflößen über seine Stellung in der Zeit und im
Staate, und ein Bewußtsein seiner Rechte als Mensch und als Staatsbürger, ihm, der
seither im Staate nur Pflichten kennen sollteö&.
7. 'Arbeiterstand'
Im Jahre 1863 wurde der Begriff des neuen Arbeiters politisch aktualisiert. In
diesem Jahr gipfelte gewissermaßen die ~schichte des Begriffs, der durch neu
entstehende Arbeitervereine und vor allem durch LASSALLES Formulierungen einer
pragmatisierten Theorie historisch-politisch stärker als vorher in zwingende Bah-
nen geleitet wurde. Etwa zur gleichen Zeit, in der sozialrechtlich und -statistisch
der Begriff 'Arbeiter' in Anpassung an den Gesellsoho.ftswandel einer g1:1wissen
Klärung entgegengeführt worden war, erhielt auch 'Arbeiterbewegung' endgültig
ihren festen geschichtlichen Platz, so daß Wort und Inhalt von nun an al& bekannt
und gegeben überall vorausgesetzt und nicht mehr übersehen oder bestritten wer-
den konnte~. Damit wurde 'Arboitor' o.lß sozialer Begriff im politisoLeu Kampf
klar· :fixiert. Lassalle gab ihm sprachlich und inhaltlich eine bestimmte weiter-
wirkende Richtung, die sich vom Arbeiterbegriff Bebels, Liebknechts und damit
68 Leipziger Arbeiter-Zeitung, Nr. 1 (1848), zit. JOHANNES HOJl'MANN, Das Herz der deut-
der 'Klasse' nahen Verständnis und begrift'Jich bewußt innerhalb seines Systems präzisiert.
231
Arbeiter Il. 8. Politische Aktualisienmg 1863: Lassalle
232
D. 9. Sozialdemokratie Arbeiter
9. Sozialdemokratie
Dieser Arbeiterbegriff Lassalles unterschied sich von dem der Demokraten dadurch
daß durch ihn ein besonderer Arbeiterstand von der Bourgeoisie abgehoben und
zur Grundlago oinor „Arboitorpartei" gemacht wurde; doch blieb der gemeinaame
Untergrund allgemeiner Demokratie sehr viel unmittelbarer als bei der Marxsohen
Umdeutung des Arbeiter- zum Proletariatsbegriff erhalten. Und da diese in der
Wurzel ungeeohieden demokratische Einordnung des Arbeiters bei Bebel und
LIEBKNECHT - da die Arbeiter das Gros des Heeres der Demokratie bilden (1868) 70
- ursprünglich sogar noch stärker als bei Lassalle betont worden war, ist es ver-
ständlich, daß die Sozialdemokratische Partei seit 1869 trotz des allmählich auf-
genommenen Marxismus diesen demokratischen Arbeiterbegriff, wenn auch in Kon-
kurrenz oder Mischung mit dem dialektisch-revolutionären Proletariatsbegriff,
faktisch beibehielt. So kann zur Zeit der Vereinigung der beiden sozialistischen
Arbeiterpart.ei11n imr SA PD (Gotha l 87f>) eine Dreistufenunterscheidung des Arbei-
terbegriffs festgestellt werden: 1) der reale Kern der Arbeiter-Gesellen, aus dem
die Arbeiterbewegung faktisch noch vorwiegend bestand; 2) die Gesamtheit des
Arbeiterstandes oder, wie es nun meist hieß, der 'Arbeiterklasse' im Gegensatz zur
'Bourgeoisie' oder zum 'Bürgertum'; 3) die Erhöhung des Arbeiters zum Menschen
schlechthin (s. o. Ruge, S. 224; Lassalle, S. 232). Hierzu äußerte sich Lieb-
66 Ders., Werke, paBBim; s. vor allem Bd. 3, 217.
68 Ebd., 264.
n Ebd.; 287.
88 nArR., WArkA, Rcl. fi (1919), 341; ii.hnlich auch ebd., 340.
69 .ALBERT ScHÄFFLE, Bourgeois- und Arbeiter-Nationalökonomie, Dt. Vjschr. 27/2 (1864),
267.
70 LIEBKNEOHT, in: Bericht über den Fünften Vereinstag der Deutschen Arbeitervereine
233
Arbeiter D. 10. Liheraldemokratie
10. Liheraldemokratie
Damit erhielt sich - auch nach dei· Trennung der proletarischen von der bürgerlichen
Demokratie 72 in den sechziger Jahren - eine gewisse Nähe der sozialdemokratischen
Arbeiterbe;egung zu den Demokraten linksliberaler Richtung. Die „Trennung"
blieb allerdings eine Tatsache, und beide, die Sozial-Demokraten und die Liberal-
Demokraten, bildeten demgemäß ihren Arbeiterbegriff entweder mit der Tendenz
zum klassenkämpferisohen Proletariat oder zum harmonisierenden IlürgerLum aus.
Auf liberaldemokratischer Seite wurde also die Trennung verneint, bedauert oder für
überbrückbar erklärt. SCHULZE-DELITZSCH setzte auf der Grundlage des optimisti-
schen Glaubens der liberalen „Freihandelsschule" in den fünfziger und sechziger
Jahren seine Hoffnung auf die Hebung der hanilarbeitenilen Klassen, d. h. der
selbständigen Handwerker und der eigentlichen Arbeiter, durch die Einführung
des Genossenschaftswesens in das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte. So sollten
die Klassengegensätze sich abschwächen; die handarbeitenilen Klassen sich zum
Niveau eines allgemeinen Wohlstanils oder zum Mittelstanil hinbewegen 73 • Schulze
versuchte, vorübergehend erfolgreich, auf die Dauer vergeblich, eine liberale
.Axbeiterbewegung mit solcher Tendenz ins Leben zu rufen und sie dem „tren-
nenden" Arbeiterverein Lassalles entgegenzustellen. Eine ·Generation später sah
der Liberaldemokrat l!'RIEDRICH NAUMANN die Möglichkeit und Notwendigkeit,
die Trennung der Demokratie im Zug zum politisch-wirtschaftlichen Inilustrievolk
oder inilustriellen Arbeitsvolk zu überwinden, innerhalb dessen der Arbeiter als
der neue Massenstanil organisiert, qualifiziert und bildungsfähig, die entscheidende
234
D. 11. Lilteralismus: Treitscbkc Arbeiter
n. Liberalismus: Treitscbke
Im Gegensatz zu den konsequenten Liberaldemokraten75 hat der deutsche Liberalis-
mus in seiner Mehrheit von 1848 bis zum Ersten Weltkrieg alle Forderungen, die
sich aus der Verbindung des .Arbeiterbegriffs mit der Demokratie ergaben, mit
Besorgnis und Ablehnung angesehen. Mochte die Möglichkeit des individuellen
Aufstiegs aus der .Arbeiterschicht durch Bildung und Fleiß begrüßt werden, so war
die Abneigung gegen die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der
.Arbeiter allgemein verbreitet. In der Revolution von 1848 trat diese Abwehr-
haltung gegenüber der Gefahr der .Arbeiteremanzipation dominierend zutage.
Das besitzende und gebildete Bürgertum war noch weit über die Mitte des 19. Jahr-
hunderts hinaus an die überlieferte Geringachtung der, handarbeitenden Unter-
schicht so gewöhnt, daß zwar eine Verantwortung zur Hilfe in Fortbildung der
christlichen ca.rita.l:! vielfältig anerkannt, jegliche EmanzipaLiun auer verneinL
wurde. Im Maße wie ein modern-demokratischer Gesellschaftsbegriff mit seinen
Konsequenzen für ein allgemeines und gleiches Wahlrecht, für einen allgemein
gleichen Zugang zur Bildung, für Mitgewinn oder Mitbestimmung, für Koalitions-
und Vereinsfreiheit der .Arbeiter abgelehnt wurde, wie es, von Ausnahmen ab-
gesehen, der Fall war, wurde auch ein demokratischer .Arbeiterbegriff verworfen
und dem .Arbeiter unterhalb der bürgerlichen Gesellschaft (im älteren oder neueren
Verständnis) sein Platz angewiesen.
Noch Anfang der siebziger Jahre (1874) schrieb HEINRICH VON TREITSCHKF. sein
für diese Haltung des liberalen Bürgertums klassisches Pamphlet gegen Schmollers
„Kathedersozialismus": gegen das Wahngebilde der natürlichen Gleichheit der
Menschen, gegen die Begehrlichkeit des Pöbels, für eine bürgerliche Gesellschaft
gegenseitiger Abhiingigkeit, die eine Aristokratie sei, während die große Mehrheit
im Schweiße ihres Angesichts schaffe. Die bürgerliche Gesellschaft eines gesitteten
Volkes ist eine natürliche Aristokratie, sie kann und darf die höchsten Arbeiten und
Genüsse der Kultur nur einer Minderheit gewähren, doch sie gestattet jedem ohne
Ausnahme emporzusteigen in die Reihen dieser Minderheit. Deutschlands gebildete
Stände haben in diesem Jahrhundert ihre Pftjchten ge.gen die niederen Klassen niemals
gänzlich vergessen . . . Sie weisen den Wahn zurück, als ob in der sittlichen Welt
irgend etwas sich schenken ließe, als ob irgendeine Sozialreform den Arbeitern geben
könne, was ihnen eine verlOgene W üklerei zu zerstören droht: das Ehrgefühl der
A.rbe.it76 •
7' FRIEDRICH NAUMANN, Demokratie und Kaisertum, Werke, Bd. 2 (1964), passim,
bes. 38 ff. 82. 121. 136.
76 Mit, diP.RP.m K ollP.kt.ivhP.eriff 11011 nioht diP. ViP.lfalt dP.r individ1111ll und :r.Aitlir.h vArar.hi11-
denen AuffaBBungen der deutschen Liberalen verwischt werden. Auch im „linken" Li-
beralismus wurden Arbeiter und soziale Frage nicht einheitlich begriffen.
78 H. v. TREITSCBXE, Der Sozialismus und seine Gönner, Preuß. Jbb. 34 (1874), 67 ff.
-+-Arbeit.
235
Arheiter 11.12. Konservative: Huber, Riebl, Wagener, Bismarck
Treitschkes Aufsatz ist ein besonderer Höhepunkt liberaler Abwehr gegen die
Gefahr der Nivellierung der Bildung durch eine gleichmacherische Zerstörung der
„bürgerlichen Gesellschaft", in der eine Kultur von hohem Rang allein wegen der
in ihr vorhandenen Ungleichheit möglich sein sollte. Ebenso wie z. B. bei Dahl-
mann und Droysen war dieser Liberalismus begründet durch die idealistische
Philosophie und die Vorbilder der Antike, in der die Arbeiter von Gesellschaft und
Bildung ausgeschlossen gewesen waren.
Solche Kontinuität des politisch-kulturellen Ausschlusses der Arbeiter (bei Aner-
kennung von individuellem Aufstieg und bürgerlicher Verantwortungspflicht ge-
genüber den Arbeitern je nach Erfordernis) war nicht nur spezifisch liberal, sondern
entsprach dem traditionellen Sein und Bewußtsein allgemein. Das konnte je liberal,
konservativ oder auch christlich begründet werden. Allerdings finden sich bei allen
diesen Richtungen bemerkenswerte Sonderausprägungen, Abweichungen oder zeit-
gemäße Anpassungen an .die sich wandelnden Verhältnisse der modernen Arbeits-
welt.
Vorn konservativen Standpunkt aus lag der Gedanke der Fürsorgepflicht gegenüber
den Arbeitern bei gleichzeitigem Verwerfen eines Laissez faire-Liberalismus be-
sonders nah. Daraus konnte, überwiegend und typisch, ein patriarchalisch be-
stimmter Begriff vom Arbeiter entstehen, der allerdings schärfer sehenden und
denkenden Konservativen allein nicht mehr genügen konnte. So forderte VICTOR
Anm HUBER die Selbsthilfe von unten in angemessener Begrenzung. Die arbeitenden
Klassen müßten vor den beiden Extremen der ge/ährlichen und der hilflosen Klassen
durch ehrliche Arbeit, unterstützt durch den Staat, vor allem aber gestärkt durch
genossenschaftliche Selbsttätigkeit, bewahrt werden. Huber sah die Zweiklassen-
spaltung von arbeitenden und besitzenden Klassen, nahm den Klassenkampf als
unvermeidlich gegeben an, wollte aber nicht in diesem Kampf Stellung nehmen,
sondern sah mit der Hilfsbedürftigkeit die Möglichkeit und Verpflichtung zur
Staats-und Selbsthilfe 77 • WILHELM HEINRICH RIEHL stand dieser Auffassung nahe.
Er kam, ohne sich selbst „christlich-sozial" zu begründen, aus der christlichen
Tradition, wenn er zur Achtung jeder ehrlichen Arbeit aufforderte .. Er ging darüber
hinaus, wenn er sich zum neuen E~rennam,en der Arbeiter bekannte und diesen
als die Urkunde einer großen sozialen Revolution78 bejahte. Machte er sich so zum
Fürsprecher der Ehre und Lebenswürde der Arbeiter inmitten wirtschaftlicher
Skrupellosigkeit und sozialer Auflösung, so setzte er sich gleichwohl oder gerade
deswegen von demokratischen oder sozialisLümhen Tendenzen sozialkonservativ
ab, indem er den Arbeiter in seinem Stande bewahrt wissen und ihn die Erfüllung
seines Lebens in seinem Erbteil, neidlos, entsagungsvoll und um Gotteswillen zu
arbeiten79 , finden lassen wollte. Riehl wünschte nicht eine Emanzipation, sondern
236
11.12. Konservative: Buher, Rieb], Wagener, Bismarek Arbeiter
eine sittliche Reorganisation der Arbeiter .•. , daß sie höher stei,gen in Reli,gion und
Sitte, in Bildung und genossenschaftlichem und häuslichem Gemeinleben 80 • Diese
Arbeiter waren für ihn vom Proletariat und von seinem Begriff des vierten Standes
unterschieden, den er ausdrücklich als Stand der Standlosen oder Negation der
Stiinde in die Nähe seiner Deutung des Proletariats rückte. Er verwahrte sich da-
gegtm, daß er diese höchst ehrenwerte Klasse der um ihr tiigliches Brot ringenden
Arbeiter als solche zu dem sozialen vierten Stande, dem Stande des Abfalles und der
Standeslosigkeit hätte zählen wollens1.
Riehl stemmte sich also wie alle Sozialkonservativen gegen die moderne Auflösung
alter Ordnung, die er gewiß nicht versteinern oder starr restaurieren, aber doch auch
um keinen .Preis liberal oder „sozial-demokratisch" verändert wissen wollte. Es
ging ihm um einen besser gesicherten, in seinem Fleiß und seiner Arbeit geachteten,
von begehrlicher Veränderungssucht geheilten, lebenserhaltender Sitte wieder-
gegebenen Arbeiter. Dieser bildete für Riehl, gemessen an seinem Begriff des
natürlichen, durch Sitte und Lebensart gefestigten Standes, noch keinen Stand.
Er sollte aber in einer regenerierten Gesellschaft eine Zukunft haben und in ilir
dereinst einen idealen vierten Stand bilden; der gegenwärti,ge vierte Stand dagegen
ltat neben ·ikm nur eiti Recht der EZ'istenz wie Mephisto neben FaustR 2•
Klarer als bei Huber und Riehl wurde bei den preußischen (Partei-)Konservativen,
soweit sie sich überhaupt sozialreformerisch bemühten, der Begriff des Arbeiters
an den Staat und damit an die „Sozialpolitik" gebunden. Das entsprach um die
Mitte des 19. Jahrhunderts noch keineswegs der allgemeinen Anschauung. Sowohl
einer überlieferten patriarchalischen wie einer wirtschaftsliberalen Vorstellung
widerstrebte eine staatsunmittelbare Position des unselbständigen Arbeiters, moch-
te die immediate Beziehung zwischen Staat (Monarchen) und dienenden bzw. hand-
arbeitenden Menschen auch seit der Französischen Revolution und den Staats-
reformen zu Beginn des Jahrhunderts im Kommen sein. J. G. HOFFMANN hatte die
preußische Klassensteuer von 1820 in solchem Sinne gedeutet: die Besteuerung
von Personen statt von Haushalten in der untersten Steuerklasse sollte den Wahn
beseitigen, als ob der Handarbeiterstand auch noch jetzt dem Staate nur mittelbar
angehöre 8 3.
Zwei Meinungen lagen den konservativen Gedanken einer staatlichen Sozialpolitik
zugrunde: 1) der Arbeiter bedürfe des Schutzes und der „Interessen"-Vertretung,
könne aber nicht vom Fabrikherrn oder Grundbesitzer vertreten werden, weil
die Interessen dieser verschiedenen Klassen, wie JARcKE 1854 schrieb, ... größtenteils
gerade entgegengesetzt sind. Jener vierte Stand (das moderne Proletariat), der seiner
Natur nach ohne Bevormundung nicht leben kann, darf nur von der Regierung ver-
treten werden, und diese allein ist im Stande, dessen 1nteressen den höheren Klassen
der Gesellschaft gegenüber wahrzunehmen und zu schützen. Nur auf diesem Wege wird
dem Kriege zwischen Armen und Reichen vorgebeugt84 • Diese aus der Bedürftigkeit
80 Ebd., 404.
81 Ders., Die bürgerliche Gesellschaft, 8. Aufl.. (Stuttgart 188f!), 281.
81 Ebd., 297.
83 Zit. KosELLECK, Preußen, 69 (s. Anm. 21).
"'CARL ERNST JARCKB, Hundert Schlagworte zur Verfassungspolitik der Zukunft, Ver-
miSchte Sohr., Bd. 4 (Paderborn 1854), 196 f.
237
Arbeiter II. 13. Unternehmer Patriarehalismus
0
des Arbeiters hergeleitete, den Gedanken selbsttätiger Harmonie ebenso wie den
autonomer Selbsthilfe ausschaltende Anrufung des Staates wurde 2) konkretisiert
durch die seit Lorenz von Stein (1850) häufig wiederholte und auf die Hohenzollern
angewandte Idee vom Königtum, da.s in der modernen Entwicklung der Klassen-
kämpfe ein kerer Schatten oder eine Despotie werden o~r untergehen in Rep'Ublik
müsse, wenn es nicht den hohen sittlichen Mut hat, ein Königtum der soziakn Re/Mm
zu werden 85 •
HERMANN WAGENER schloß sich 1859 mit der These vom Bedürfnis des vierten
Standes, vertreten und bevormundet zu werden 86 , an Jarcke an und begründete damit
sein Programm sozialer Politik in scharfer Ablehnung des Manchester-Liberalismus,
verbunden mit der Hoffnung, die Arbeiter durch Reformen eines soziakn Königtums
zufriedenzustellen und damit immun zu machen gegen die Agitation der Soziafü1ten.
Der Arbeiter sollte gesichert, gehoben, eingegrenzt und im wörtlichen Sinne ein-
gefügt werden: Sicherung eines angemessenen Arbeitslohnes durch korporative Ge-
staltung, ähnlich den zünftigen, zugleich als Grundlage für die politische Vertretung
jener Volksklasse, für das nach Ständen geordnete W ahl'fp,r,n!. 87 • niP. JJö1mng der
Arbeiterfrage durch staatliche Sozialpolitik (Versicherungsgesetze der achtziger
Jahre) urnl Bildung berufsständischer Korporationen, d. h. durch eine Verbindung
von staatlicher Vorsorge und berufsgeno.'!llenschaftlicher Selbstverwaltung als
möglicher Grundlage für eine berufsständische Volksvertretung schwebte auch
BISMARCK vor, der von den Ideen Wageners beeinflußt wurde. Er liebte es, an den
sozialen Beruf der preußischen Könige zu erinnern (Friedrich der Große: roi des
gueux) und die Analogie zur Stein-Hardenbcrgschen Bauernbefreiung herzustellen:
Auch das war Sozialismus, dem einen ilas Gut zu nehmen, dem andern zu geben; ...
1m:r h.abe.n dadtirch einen sehr wohlhabondon, freien Bauernstand erhalten, und icl&
hoffe, wir werden mit der Zeit Ähnliches für die Arbeiter erreiohen88• Suchte Bismarck
also durch seine Sozialversicherung den Arbeiter an den Staat zu binden, so begriff
er den Arbeiter andererseits noch immer als einer patriarchalischen Führung be-
dürftig und blieb mit dem staatlichen Eingriff da stehen, wo seiner Auffassung nach
allein der Unternehmer als Herr im Haus die Verantwortung zu tragen hatte. Der
Arbeiterschutz sollte daher im Gegensatz zur Sozialversicherung nicht reichs-
gesetzlich geregelt werdenB 9 •
13. Untemebmer-Patriarchalismos
Hier kam Bismarck also den Unternehmern entgegen, denen er seiner „staats-
sozialistischen" Neigungen wegen sonst vielfach suspekt war. Unter ihnen war
wil.h.rend des ·19. Jahrhunderts die Vorstellqng des „Hauses" in Fortbildung des alten
Handwerksbetriebs noch unmittelbar lebendig. In zahlreichen Zeugnissen ist be-
legt, daß der Arbeiter in der Fabrik in seinem ,Verhältnis zum „Brotherren" wie ein
238
ll. 13. Untemehmer-Patrüu:ehalismus Arbeiter
Glied der familia gegenüber dem pater familias begriffen wurde. ALFRED KRUPPS
Feststellung in einem Aufruf gegen den Streik (187~). daß ich in meinem Hause
wie auf meinem Boden Herr aein und bkiben will, drückte diese allgemeine Auf-
fassung typisch aus 90• Bedeutete das in diesem Fall Strenge gegen Unbotmäßigkeit
und Abwehr gegen Einmischung in sein eigenes 'Haus' von außen, so hieß das auf
der anderen Seite Fürsorge und Wohltätigkeit in seinen sozialen Einrichtungen.
Nicht allein dies häusliche Bild, in dem der Fabrikherr als ein kluger Meister und
wie ein guter Familienvater91 erschien, sondern auch das Modell eines Fürstenstaates
diente dazu, die Stellung des Arbeiters metaphorisch zu begreifen. So 1840 bei
dem saarländischen Papierfabrikanten Louis PIETTE: Eine Fabrik gleicht einem
Staate, dessen Oberhaupt Mr Fabrikherr ist. Beamten und Volk sind die Werkmeister
und Arbeiter. Hat Mr erste die Fabrik, um Ruhm und Vermögen zu erlangen, und
benutzt er dazu Arbeiter, die gegen Lohn ihm Zeit, Kräfte, Geschicklichkeit und
Freiheit überlassen, so muß er dagegen für das moralische und materielk Wohl seines
Völkchens sorgen; seine Einsicht, seine Sittlichkeit und sein gutes Benehmen beförMrn;
über seine Bedürfnisse, seine Gesundheit, seinen Wohlstand wachen und durch weise
Verordnungen die gegenseitigen Pfiichten und Rechte MS Herrn und der Untertanen
zur A•usüb•uny briny1m 93 . Neben die Dilder „Ila.u!va.ter - Knecht" und „Fürst
Untertan" trat als drittes das militärische „Kommandeur - gemeiner Soldat".
STUMM-liALBERG betonte ausdrücklich die Analogie zwischen Mn Betrieben und der
Armee. Ein Unternehmen müsse militärisch organisiert sein. Dabei ging Stumm
sogar so weit, dies nicht nur um der selbstverständlich erforderlichen Arbeitsord-
nung willen zu erklären, sondern zu fordern, daß die Arbeiter MS Neunkirchener
Werks wie ein Mann hinter ihm stehen müßten, wenn es gelte, die Konkurrenz
sowohl wie die finsteren Mächte des Urn..~t11.rze.~ z11, bekämpfen, ebenso wie die Soldaten
gemein.~am gegen Mn Feind ziehen, wenn ihr König sie ruft 93 •
An solcher Überforderung des Arbeiters mitten in der Zeit hoch gestiegener Span-
nung zwischen persönlicher Herrschaft und Demokratisierung wird deutlich, daß
hier noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus der uralte Begriff
einer dienenden Schicht unterhalb der 'bürgerlichen Gesellschaft' in das moderne
Industriesystem übertragen wurde und dort, unbeschadet aller gebotenen Strenge
einer technisch bedingten Arbeitsdisziplin mit unvermeidlicher Über- und Unter-
ordnung, nicht haltbar war. Denn der demokratische Arbeiterbegriff stellte den
patriarchalischen in Frage, mochte dieser auch mehr oder weniger stark allen
„bürgerlichen", konservativen oder liberalen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts
zugrundeliegen.
Opladen 1962), 241. Als Prototyp für den „Herr-im-Haus-Standpunkt" gilt Frh. v. Stumm-
Halberg; über ihn vgl. FRITZ HELLWIG, Carl Frh. v. Stumm-Halberg 1836-1901 (Heidel-
berg 1936).
91 So Lours l'IETTE, Bemerkungen über die gegenseitigen Pflichten der Fabrikherren und
Arbeiter. Aus der Vorrede zu: Die Nützlichkeit der Maschinen für die Arbeitnehmer und
Arbeiter (Köln 1840), abgedr. bei FRITZ HELLWIG, Louis Piettes Entwurf einer Fabrik-
ordnung, Tradition 7 (1962), 135.
92 Ebd., 134.
93 HELLWIG, Stumm-Halberg, 295.
239
Arheiter II. 15. Die christlichen Kirchen
" s. o. s. 235.
95 G. SCHMOLLER, Die sociale Frage und der preußische Staat, Preuß. Jbb. 33 (1874),
323 ff., auch in: ders„ Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart (Leipzig 1890),
37 ff. (danach zit.).
ss Ebd., 55. 62 f. 54. 62.
87 Ders„ zit. HEINRICH HERKNER, Die .Arbeiterfrage, 8. Aufl„ Bd. 1 (Berlin, Leipzig 1922),
439, Anm. l.
•s Ders„ Soziale Frage, 56.
240
m. Ausbliek Arlteiter
m. Ausblick
Durch den Weltkrieg und den Wandel der Staatsverfassung 1918/19 kam die
Demokratisierung, wenn auch noch vielfältig gehemmt, zum Durchbruch. Mit ihr
hob sich die Stellung des Arbeiters in der Staats- und Kommunalverfassung sowie
in den gcscllscho.ftliohen Organisationen. Die aus dem 19. Jahrhundert über-
kommene Spannung im Arbeiterbegriff - Avantgarde der sozialen bzw. 1:1oziallliti-
schen Revolution oder bürgerliche Integration - blieb bestehen, desgleichen der
99 WILH. EMMANUEL KETTELER, Die Arbeiterfrage und das Christentum (Mainz 1864).
Kritische Inhaltsangabe bei FRrrz VIGENER, Ketteler. Ein deutsches Bischofsleben des
19. Jahrhunderts (München, Berlin 1924), 444 ff.
100 ADOLF STOEOKER, Christlich.sozial, evangelisch-sozial, kirchlich-sozial (1904), Reden
u. Aufs., hg. v. Reinhold Seeberg (Leipzig 1913), 164 f. SIEGFRIED A. KAEHLER, Stoeckers
Versuch, eine christlich-soziale Arbeiterpartei in Berlin zu begründen (1878), in: Deutscher
Staat und deutsche Parteien, Fschr. FmEDRIOH MEINECKE (München, Berlin 1922),
227 ff.
101 WIARD v. KLoPP, Die sozialen Lehren des Freiherrn von Vogelsang, 2. Aufl. (Wien
16-90385/1 241
Arbeiter m. Ausblick
Gegensatz zwischen 'ArbeiterklaBBe' und 'Bürgertum', zwischen Arbeiterparteien
und „bürgerlichen" Parteien. Die Sozialdemokratie sprach ihre Arbeiter sowohl
als KlaBBenkämpfer gegen den „bürgerlichen Kapitalismus" für eine sozialistische
„Wirtschaftsdemokratie" wie als Hüter der Demokratie gegen den Umsturz von
links oder rechts. an. Beides mochte theoretisch in Einklang gebracht werden,
schloß sich aber in der Praxis weitgehend aus. In beiden Zielvorstellungen wurde
jedoch die politische Hochwertung des Arbeiternamens bewahrt.
Die politische Suggestivkraft des Arbeiters kam auch im Namen der NSDAP
zum Ausdruck. HITLER übernahm, wenn auch ideologisch umgedeutet, die Hoch-
schätzung des Arbeiters bei gleichzeitiger Mißachtung des „nationalen Bürger-
tums", obgleich er dieses größtenteils; die Arbeiter aber kaum gewann. Er begriff
den Arbeiter als den ehrlichen, fleißigen „VolksgenoBBen", der durch Juden und
Marxisten verhetzt und verbildet, von falscher Lehre befreit, seiner „Volksgemein-
schaft" wiedergegeben werden sollte. Die Spannungen innerhalb der Arbeiterschaft
sowie zwischen Arbeiter und Bürgertum sollten aufgehoben werden.
W1mn in fler T11.t flieRe ß,lt,en Rp11.nnnngen hiR :i:11r Gegenwart zwar nicht aufgehoben,
aber abgeschwächt und neuartig verwandelt worden sind, so ist das allerdings
weniger die Folge der .N 8-Volksgemeinschaft als des allgemeinen, nicht allein
Deutschland betreffenden Reifungsprozesses industrieller Wirtschaft und Gesell-
schaft, in der die Dichotomie zwischen Arbeiterklasse und Bürgertum in-
mitten einer sich zunehmend demokratisierenden· Gesellschaft immer mehr
an bestimmender Realität einbüßt. Die Einheit der Klasse verliert an Gewicht,
der Wohlstandsausgleich nimmt zu, Überhöhung und Pathos des Arbeiters, wie
es zu Beginn des Jahrhunderts noch in der Arbeiterdichtung hervorgetreten war,
finden keinen rechten Platz mehr im schnellen Wandel der lllouernen Arbeits-
gesellschaft, in der die Zahl der „Unselbständigen" oder der „Arbeitnehmer"
immer mehr zunimmt, der Anteil der Arbeiter im eigentlichen Sinne zurückgeht
und der Arbeitername gern hinter differenzierten Berufsbezeichnungen zurück-
gestellt wird. Die Arbeiterfrage besteht nicht mehr als „soziale Frage", sondern
löst sich auf in eine Vielzahl von sozialen Fragen, an denen nicht allein die Arbeiter
teilhaben. Diese Tendenz hat der westliche Teil Deutschlands gegenwärtig mit den
westlichen Industrienationen gemein. Im östlichen Teil Deutschlands ist dagegen
im Anschluß an die Sowjet-Union und in Anknüpfung an die KPD die leninistisch-
marxistische Begriffsregelung für 'Arbeiter' offiziell verbindlich gemacht und ist die
Entwicklung seit 1945/49 als „Sieg der Arbeiterklasse", als Aufstieg des „Arbeiter-
und Bauernstaats" und als Erfüllung des Kampfes der sozialistischen Arbeiter-
bewegung gedeutet .worden1 oa.
WERNER CONZE
.1 oa Vgl. HANs MoMlllSEN, Art. Arbeiterbewegung, SDG Bd. l (1966), 273 ff.; MARGARET
DEWAR, Art. Arbeiterklasse, ebd., 314 ff.
242
Aufklärung
I. Einleitung*
Die im 18. Jahrhundert beginnende Geschichte des Begriffes 'Aufklärung' ist im
wesentlichen durch drei Momente bestimmt: 1. durch die Verdichtung und Ver-
engung der allgemeinen W ortbedeuiung sowohl zu einem historischen Epochen-
begriff als auch zum Begriff der diese Epoche tragenden geistigen Bewegung sowie
der aus ihr ableitbaren, sie prägenden und überdies selbständig weiterwirkenden
Ideen; 2. durch das ungeschmälerte Fortbestehen und Weitergelten der „ursprüng-
lichen", allgemeinen Wortbedeutung gegenüber dieser Spezialbedeutung, die im 19.
und 20. Jahrhundert sogar noch zu einer erheblichen Aqsdehnung des allgemeinen
Anwendungsbereiches, d. h. zu Bedeutungserweiterungen, und zu einer produktiven
Veränderung des Wortfeldes von 'Aufklärung' führt; 3. durch die Substitution, Er-
gänzung oder Verdrängung des Aufklärungsbegriffs durch andere, oftmals schon
vor dem Aufkommen dieses Begriffs gebräuchliche oder bekannte Begriffe (z. B.
'Kultur', 'Bildung', 'Zivilisation', 'Wissenschaft', 'Philosophie;, 'Erziehung'), die
entweder über eine stärkere Integrationskraft und einen höherei;i Generalisations-
* Dieser Artikel ist die gekürzte Fassung eines mehr als doppelt so umfangreichen
Manuskripts, deSBen vollständige Veröffentlichung vorgesehen ist.
243
Aufklärung II. 1. 'Aafklirung' als Epochenbegml
effekt verfügen oder aus sonstigen Gründen bei der Bezeichnung gleicher oder ähn-
licher Sachverhalte vorgezogen werden.
Obgleich schon im 18. Jahrhundert Formulierungen wie die vom „Zeitalter der Auf-
klärung" oder von der „aufgeklärten Zeit" und den „aufgeklärten Zeiten" zusam-
men mit denen vom „philosophischen Jahrhundert (le siecle philosophique)", dem
„Zeitalter der Vernunft (the age ofreason)" oder „Je 11iP.cle des lumieres", dem „er-
leuchteten ZeiLalLer", dem „Zeitalter der Kritilc" und dem „Jahrhundert des
Zweifelns" verwendet wurden, ist die Herausbildung des Epochen- und Bewegungs-
begriffs 'Aufklärung' nicht so selbstverständlich, wie es heute erscheinen mag. Erst
relativ spät hat der Epochenbegriff Eingang in die Lexika, Hand- und Wörterbücher
ge.funde.n. Noch Mitte der 1860er Jahre hielt es D&OY8EN für nötig, boi dor Benut-
zung des Ausdrucks die englische Aufklärung in Parenthese hinzuzufügen: wenn es
erlaubt ist, die Zeit der sog. Deisten so zu bezeichnen1 • Ähnlinh vnr11i1.1htig spricht LRL
BIEDERMANN 1858 von den Anfängen der sogenannten Aufklärung in Deutschland
gegen das Ende des 17. Jahrhunderts. Seinen Christian Wolffbehandelnden Abschnitt
leitet er mit Bemerkungen über die weitere Ausbreitung und Entwicklung der „Auf-
klärung" ein 2 und deutet damit an, daß für ihn die Verwendung dieses Ausdrucks
alles andere als unstreitig ist.
Die Gründe für die langsame Herausbildung und Durchsetzung des Epochenbegriffs
sind vielfältig. Sicherlich hat der Umstand, daß Aufklärung weiterhin als erkenntnis-
theoretische oder als moralisch-pädagogische, d. h. als aktuelle Aufgabe verstanden
und nicht ausschließlich für das Objekt einer historischen Betrachtung oder das
Wesensmerkmal eines vergangenen Zeitalters gehalten wurde, dabei eine wichtige
Rolle gespielt. Ausschlaggebend dürfte gewesen sein, daß 1. der Aufklärungsbegriff
bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein auch von solchen geistigen
Richtungen in Anspruch genommen, d. h. positiv verwendet wurde, die jeden
„Rationalismus" entschieden bekämpften und die Identifikation von Aufklärung
und „Vernunftherrschaft" ablehnten; 2. die ursprünglich „neutrale" Wortbedeu-
tung sich erfolgreich gegenüber einer inhaltlichen Festlegung historischer oder dok-
trinärer Art behauptete; 3. der Aufklärungsbegriff schon im 18. Jahrhundert zu
uneinheitlich, gegensätzlich, ja widersprüchlich bestimmt und angewendet wurde,
um allgemeingültig festgelegt werden zu können. Was. unter 'Aufklärung' begriffen
werden sollte, darüber bestand sogar bei den Anhängern und Vertretern der Idee~,
die heute im Epochen- und Bewegungsbegriff 'Aufklärung' zusammengeschlossen
sind, keine Einigkeit. Das Ergebnis, zu dem nach ernstem Bedenken 1783 ZÖLLNER
gelangte, ist dafür nur ein Zeugnis von vielen: Was ist Aufklärung? Diese Frage, die
beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit?, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe
244
0. 1. 'Aufldäraag' als Epoehenhesriff Aufldäruag
man aufzuklären anfinge/ 3 • Auch die Antworten, die 1784 Mendelssohn und Kant
eigens auf Zöllners Frage gaben, schufen in dieser Beziehung keinen Wandel. Sechs
Jahre nach Zöllner kam BAHRDT zu dem gleichen Ergebnis: Das Wort Aufklärung
ist.jetzt in dem Munde so vie'ler Menschen, und wir haben g'leichwohl noch nirgends
einen BegriO gefunden, der ganz bestimmt und gehörig begrenzt gewesen wäre 4 •
Lange bevor Romantik, Idealismus und Erweckungsbewegung die mit dem Epochen-
begriff gemeinte Sache kritisierten und bekämpften, war das Wort 'Aufklärung'
zum Modewort geworden, das alles und nichts bedeuten konnte. So heißt es 1787
beispielhaft in SALZMANNS pädagogischem Roman „Carl von Carlsberg": Manche
setzen die Aufklärung in der ( !) Frisur und in französische Kleidertracht; andere glauben,
sie bestehe in Lästerung Gottes und J esu Christi ... Ja ich habe einen jungen LaQen
gekannt, der ltieU B'ich deswegen für aufgeklärt, weil er Französisch plaudern konnte 5•
Nach der heute vörherrschenden Definition bezeichnet 'Aufklärung' als Epochen-
begriff jene in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einsetzende und im 18. Jahr-
hundert kulminierende europäische Geistesbewegung, durch die in einem alle mensch-
lichen Lebensbereiche von Grund auf verändernden Säkularisationsprozeß die „mo-
derne Welt" heraufgeführt und eine umfassende „EutzauLeruug uer Welt" (Max
W e.hf'lr) f'lingr.leitet wird. Ziel dieser „Entzauberung" ist im Prinzip die Emanzipation
des Menschen aus der Welt des geschichtlichen Herkommens, d. h. seine Befreiung
von allen Autoritäten, Lehren, Ordnungen, Bindungen, Institutionen und Kon-
ventionen, die der kritischen Prüfung durch die autonome menschliche Vernunft
nicht standzuhalten vermögen, sich der Einordnung in ihr gesetzmäßiges System
entziehen und sich infolgedessen als Aberglaube, Vorurteil, Irrtum usw. erweisen.
Im Zuge dieser „Entzauberung" strebt die Aufklärung die Erziehung des Menschen
zu einem selbstbewußten Vernunftwesen und zu einer selbständigen sittlichen Le-
bensweise an, die nicht durch die Überlieferung und die Wahrheit einer positiven
Religion, sondern durch die Vernunft und die von ihr kraft ihres selbsteigenen Ver-
mögens klar, deutlich und nachprüfbar erkannte Wahrheit über Gott, Welt und
Mensch bestimmt ist. Als Basis der Aufklärung erscheint somit die absolut gesetzte,
für unwandelbar und allgemeingültig gehaltene Vernunft, die in den verselbständig-
ten Wissenschaften ebensosehr die Autonomie des Denkens realisiert wie sie in ihnen
ihr wichtigstes Organon besitzt, durch das sich der „moderne" Mensch auch prak-
tisch zum Zentrum seiner Welt macht und die Natur als Objekt seine~ rational ge-
leiteten Arbeit beherrscht.
In einer einflußreichen Wesensbestimmung der Aufklärung, die am Ende der sich
durch das ganze l~. Jahrhundert hinziehenden Bemühungen um die Deutung und
Einordnung dieses Phänomens steht, stellt 18~7 ERNST TROELTSCH zwar ihren un-
endlich mannigfaltigen Inhalt heraus, vertritt aber zugleich mit Nachdruck die An-
sicht, der durchgängige Kampf gegen den kirchlichen Supranaturalismus und dessen
praktische Folgen sowie eine gewisse Gemeinsamkeit der hierbei gebrauchten Methoden
verleihe der Aufklärung einen relativ einheitlichen Charakter. Deshalb ist für ihn ihr
8 JoiI. FR!EDBIOH ZÖLLNER, Ist es ratsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion
zu sanciren ?, Berlinische Monatsschr. 2 (1783), 516.
~ K. F. BAHRDT, Über Aufklärung und die Beförderungsmittel derselben (Leipzig 1789), 3.
6 CHR. GoTTBILF SALZMANN, Carl von Carlsberg, oder über das menschliche Elend, Bd. 3
(Karlsruhe 1787), 85 f.
245
Aufklärung 11.1. 'Aufklärung' als Epochenhegrift'
Wesen der Widerspruch gegen den bisherigen ZwiespaU von Vernunft und Offenbarung
und gegen die praktische Herrschaft der supranaturalen Offenbarung über das Leben ..
Eine immanente Erklärung der W eU . . . und eine rationale Ordnung des Lebens im
·Dienste allgemeingültiger praktischer Zwecke ist ihre Tendenz. Da sie beides ... auf
dem Wege rein verstandesmäßigen Raisonnements zu erreichen suchte, so ist ; . . ihr
Hauptcharakter eine nüchtern zergliedernde Verständigkeit und ein reformlustiger
Utilitarismus . ... Als der erste umfassende Kampf gegen die Überlieferung der Kirche
und der Antike ist sie schließlich erfüllt von einem einzigartigen Selbständigkeitsgefühl
und einem unbegrenzten Optimismus . . . Der endlich mündig gewordenen Vernunft
(traut sie) eine nie geahnte weltverbessernde Wirkung zu 6 •
Vergleicht man solche und ähnliche Definitionen mit dem, was im 18. Jahrhundert
unter 'Aufklärung' verstanden wurde, dann liegt die Differenz deutlich auf der Hand.
Unschwer läßt sich zeigen, daß das ganze 18. Jahrhundert hindurch kein derartiger
Aufklärungsbegriff entwickelt worden ist und es erst am Ende des Jahrhunderts
einige wenige Ansätze gegeben hat, das Ganze jener Geistesbewegung des 18. Jahr-
hunderts unter dem Wort 'Aufklärung' begrifflich zusammenzufassen. Das bedeu-
tet nicht, daß es der Zeit a.n Versuchen begrifflicher SelU1:1Lerfa1:11mug gefehlt hat.
Indes erwies sich dafür das vieldeutige Modewort 'Aufklärung' wenig geeignet.
Diese Feststellung gilt trotz Ko.ntfl borühmtor Aufkli:i.rung13dcfinition, die offenbar
erst im Zug~ der „Rückkehr zu Kant" und der Ausbildung des Neukantianismus die·
Konsolidierung des Epochenbegriffs begünstigt hat, während sie unter Kants Zeit-
genossen nur geringe Beachtung fand. So beruft sich HERMANN HETTNER 1855 aus-
drücklich auf Kant und spricht von jenen großen Bildungskämpfen, die man als das
Zeitalter d.er Aufklärwng z11. bezeich.nen pftegt 1 •
Unter wiederholten Hinweisen auf Kant hält 1873 der Rabbiner Tom As CoHN seinen
Vortrag über „Die Aufklärungs-Periode". Aber für ihn beginnt diese Periode mit
den Ausläufern der Reformation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, und buch-
stäblich alles, was seither in der Philosophie, Kunst, Literatur, Religion und Natur-
erkenntnis als etwas schöpferisch Neues, kraftvoll Originäres auftritt, wird von ihm
der 'Aufklärung' zugeordnet, gleichgültig, ob es sich dabei um Breughel und Murillo,
Shakespeare und Montaigne, Pascal oder Klopstock handelt. Möglich ist eine solche
Zuordnung deshalb, weil Cohn überall dort Aufklärung am Wcrkc sieht, wo er die.
Absicht spürt, die Unmündigkeit zu beseitigen, den Autoritätsglauben zu brechen und
dafür dem eigenen Geiste, dem Geist der Zeit die Zunge z11, lö.~en, und darüber hinaus
für ihn die Geschichte der Aufklärung überhaupt nie zuerst begonnen hat und nie
enden wird, sondern ewig bleiben und schaffen, immer weitere Kulturbahnen öffnen,
immer reinere Ziele zeigen wird 8, weshalb jeder Genius im Reiche der Kultur an
dieser Geschichte der Aufklärung teilhat.
Daß sogar am Anfang der 1880er Jahre der Aufklärungsbegriff noch nicht konsistent
verwendet wird, macht LORENZ VON STEIN deutlich, indem er 1884 den von Windel-
band eingenommenen Standpunkt, den Begriff der Aufklärung mit dem Vorhanden-
sein aufgeklärter Philosophen oder Männern der Wissenschaft zu identifizieren, ver-
e E. TRoELTSCH, Die Aufklärung (1897), Ges.Schr., Bd. 4, hg. v. Hans Baron (Tübingen
1925), 339.
7 H. HETTNER, Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Tl. 1 (Braunschweig 1856), 3.
8 TOBIAS CoHN, Die Aufklärungs-Periode (Potsdam ·1873), 4. 40.
246
U. 2. Zur WortgellCbiehte 'YOD 'Aufklärung' Aufklärung
wirft und glaubt, er werde wohl nur von den wenigsten geteilt werden. Dabei er-
innert Stein scharfsinnig an die ebenso end"losen als ergebnis"losen Streitigkeiten, welche
sich seit der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis fast mitten in das gegenwärtige
hinein an jenes Wort geknüpft haben, und fährt fort: Wenn man dabei fragt, was die
einzelnen eigentlich darunter verstanden, so wird man sehen, daß genau genommen
keiner sich davon klare Rechenschaft ablegte, und zwar darum nicht, weil jeder annahm,
jeder andere verstehe ganz gut, was er damit meine 9•
8 L. v. STEIN, Die Verwaltungslehre, Tl. 8 (Stuttgart 1884; Ndr. Aalen 1962), 509.
lO STIELER Bd. 1 (1691; Ndr. 1968), 969.
11 ADELUNG Bd. l (1774), 451; 2. Aufl., Bd. l (1793), 503.
12 JoH. CHR. GoTTLIEB SC1LA.UMA.NN sohreibt 1793: Man gebra'UCht im gemeinen Leben daa
Wort Aufkliirung sowohl zur Bezeichnung einer Begebenheit als zur Bezeichnung einer Be-
sckaffenheit • . . - als wörtliches Zeichen einer Begebenheit (von etwas, das geschieht) - soUte
dieses Wort ausschließlich gebra'UCkt werden; denn die deutsche Endsilbe ung vergegenwärtigt
bei aolchen Wörtern, als Aufk7iirung ist, dem Bewußtsein immer ein Geschehen, kein Sein. Für
die Beschaffenheit, die der Aufgekliirte, als solcher, hat, paßt sich das Wort Au/yeklürthe·it
bC8oor; Versuch über Aufklii.nme, Freiheit, Gleichheit (Halle 1793), 19 Anm. Tatsächlich
„vergegenwärtigt" das Suffix -ung keineswegs „immer ein Geschehen", sondern häufig
auch einen Zustand (z. B. 'VerfaBBung'), einen reinen Gegenstand (z. B. 'Festung') oder
einen Gegenstand, der auch als l\Iittel bei einer „Begebenheit" fungiert (z. B. 'Nahrung')
sowie schließlich das Ergebnis eines Vorgangs (z. B. 'Lichtung', 'Versammlung').
247
Aufklärung D. 2. Zar Wortgeschichte von 'AUfklärung'
seits die gerade von LEIBNIZ häufig verwendeten französischen Ausdrücke 'eclairer',
'eclaircir' und 'eclaircissement' und andererseits das in den einflußreichen eng-
lischen Moralischen Wochenschriften verbreitete Wort 'to enlighten' korrekt ins
Deutsche zu übersetzen13. Dafür standen an sich schon die auch von Leibniz gelegent-
lich so verwendeten deutschen Ausdrücke 'erleuchten' und 'Erleuchtung' zur Ver-
fügung14. Tatsächlich wurden diese auch bis ins 19. Jahrhundert synonym mit 'Auf-
klären' und 'Aufklärung' gebraucht, so daß es im Grunde keine zwingende Not-
wendigkeit gab, bei der Übersetzung der genannten französischen und englischen
Wörter auf 'aufklären' und 'Aufklärung' zurückzugreifen. Manches spricht dafür,
daß bei der Wortwahl der den französischen und deutschen Wörtern gemeinsame
Bestandteil lateinischer Herkunft (clarus) den Ausschlag gegeben haben könnte;
doch erklärt dies nicht die deutsche Wiedergabe von 'to enlighten' durch 'aufklären',
weil in diesem Fall das sprachlich völlig konforme deutsche Verbum 'erleuchten' ist.
Beim gegenwärtigen Stand der wortgeschichtlichen Forschung muß deshalb die
Frage nach den letztlich ausschlaggebenden Motiven urid Faktoren der Bedeutungs-
erweiterung offenbleiben.
Enucheidend beteiligL au ue1· BeueuLung1:1erweiterung des Verbums 'aufklaren' und
seiner Verbreitung waren in den 1720er Jahren die Schweizer J. J. BonMF.R 1md
J. J. BREITINOliln. mit ihrer Wochenschrift „Discourse der Mahlern" (1721/23), die
Hamburger Wochenschrift „Patriot" (1724/26) und JoH. CHRISTOPH GoTTSCHED;
letzterer besonders mit seiner in Leipzig erscheinenden Wochenschrift „Die ver-
nünftigen Tadlerinnen" (1725/26). Obwohl die beiden Schweizer und mehr noch
Gottsched deutlich unter dem Einfluß der rationalistischen Philosophie Christian
W olffs standen, ihre Wochenschriften vom Geist der englischen Moralphilosophie
erfüllt waren und sie wie Addison das Ziel verfolgten, die Philosophie aus den Aka-
demien und Schulen zu holen, damit sie überall unter den Leuten Platz nehme, wäre
es verfehlt, in der bei ihnen exemplarisch nachweisbaren Bedeutungserweiterung als
solcher bereits eine reine Erscheinungsform der Aufklärungsbewegung zu sehen.
Die in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts erstmals in größerem Maße greif-
bar werdende Erweiterung des Bedeutungsgehaltes verläuft in weithin „neutralen"
Bahnen, die zur Herausbildung eines neuen, figürlichen und in sich sehr vielschich-
tigen Bedeutungskomplexes führen.
18 F&rrz SOIIALK, Zur Semantik von „Aufklärung" in Frankreich, Fechr. Walther von
Wartburg, hg. v. KURT BALDINGER, Bd. 1, .(Tübingen 1968), 251 ff.; FEW Bd. 3 (1949),
247 ff.; Bd. 5 (1950), 445; Dict. de Trevoux, 2• ed., t. 2 (1721), 1335 f. 1591. 545 f.; OED
vol. 3 (1933), 191 f.; vol. 5 (1933), 46 f.
14 Die genannten französischen und deutschen Ausdrücke sind bei LEIBNIZ keine festen
philosophischen Termini, geschweige denn rationalistisch fixierte. Ihre Anwendungs-
möglichkeiten werden von ihm in keiner Weise auf die Bezeichnung „moderner" Sachver-
halte, Ideen, Systeme, Epochen u. ä. beschränkt. Als Lichtmetaphern bezieht er sie
sowohl auf das lumen divinum wie auf das lumen naturale. Vgl. Essais de Theodicee,
hg. v. Jacques Jalabert (Paris 1962), 25 f. 26. 29. 43; Von der GlückSeligkeit (ca. 1694/98),
KI. Sohr. zur Metaphysik. Leibniz-Studienausgabe, hg. v. Hans Heinz Holz, Bd. l (Darm-
stadt 1965), 399; Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache besser zu üben,
samt beigefügten Vorschlag einer teutschgesinnten Gesellschaft (1697), Politische Schriften,
hg. v. Hans Heinz Holz, Bd. 2 (Frankfurt, Wien 1967), 60 ff„ bes. 66 ff. 77 ff. 79 (er-
leuchteter Ver&tand).
248
n. 2; Zur Wortgeacbichte TOD 'Aufklärung' Aufldiimng
16 RENE DESCARTES, Discours de la methode, hg. v. Etienne Gilson (Paris 1925), 18. Vgl.
dazu die Definition von „klar" und „distinkt" in seinen „Principia Philosophiae" (pars
prima, Nr. 45).
11 Im Vorstehenden ist eine Fülle von Einzelbelegen aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts
249
Aufklärung m. 1. 'Aufklärung' a1a Erleuchtung
und pädagogisches Moment eignet, so verbindet sich mit ihnen grundsätzlich der
Eindruck einer sich vollziehenden oder erreichten, bewußt angestrebten Prüfung,
Klärung, Erweiterung und Verbesserung vorgegebener Ansichten oder Veränderung
und Reform bisheriger Zustände. Damit muß jedoch kein geschlossener zeitlicher
und gesellschaftlicher Zusammenhang oder ein einmaliger historischer Bewegungs-
ablauf gemeint sein. Infolgedessen ist es ebensogut möglich, von der Aufklätrung
über griechisches und römisches Altertum17 wie von der Aufklärung ... bei den
Alten 18 oder von Aufklärung und Wissenschaften in den Zeiten der Barbarei, d. h. im
Mittelalter 19 , und von Lut~ers Reformation oder Aufklärung20 zu sprechen, kann
das Zeitalter der Aufklärung ... das Jahrhundert Friedericns genannt werden 21 und
gleichwohl alle Aufklärung von den Griechen im klassischen Zeitalter Athens aus-
gegangen sein 22 • Daraus erhellt weiter, warum 'Aufklärung' sowohl als potentiell
historische Kategorie, Programm- und Zielbegriff in der Fortschrittsideologie der
Aufklärer einen ?.entralen Platz einnimmt wie als gnoseologisch-psychologische,
wenn nicht theologische Kategorie und überzeitlich gültiges Denk- und Wissens-
prinzip von deren Gegnern beansprucht werden und ihnen bis weit ins 19. Jahr-
hundert hinein zur Verfügung !!!tehen konnte.
Die jeweilige Thematik, Spannweite, Einschätzung und Anwendungsweise des sich
an und aus jenen Wortbedeutungen entfaltenden Aufklärungsbegriffes hängt darum
von der jeweiligen konkreten Beantwortung der allgemeinen Frage ab, wer von wem
über was, aus welchem Grunde, mit welchen Mitteln und auf welches Ziel hin „auf-
geklärt" werden soll 2 3.
2o .ANDREAS RIEM, Über Aufklärung, ob sie dem Staate - der Religion - O<ler überhaupt
gefährlich sei und sein könne?, in: Bibliothek der deutschen Aufklärer des 18. Jahr-
hunderts, hg. v. MARTIN v. GEISMAR Ld. i • .IJ:DGAR BAUER], H. 5 (Leipzig 1847; Ndr. Bd. 2,
Darmstadt 1963), 354; Vifl. ebd., 330. 334.
21 KANT, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), AA Bd. 8 (1912), 40.
22 Wrnr.Awn, DasGeheimniß des Kosmopoliten-Ordens (1788), AA 1. Abt., Bd.15 (1930), 209.
23 Vgl. ELISABETH HEIMl'EL-MlcHEL, Die Aufklärung. Eine historischcsystematische
Untersuchung (Langensalza 1928), bes. 10 ff„ der ich wichtige Hinweise verdanke.
250
m. 2. 'Aufklärung' als universaler Erkenntnisbegriff Aufklärung
den Augen, Pl,atz '11!00hen dem Lfoht in Verstand und Herz, ooß es jenen er'leuchte,
dieses erwärrM, und eintreten in die Gebiete der W ahrkeit und der Ordnung, wo die
Bestimmung des Menschen, die wahre.Glückseligkeit thront. Mit solchen Augen werden
wir nach Maß des Verdienstes einst Gott schauen. Eingehender befaßt er sich mit dem
Verhältnis der Aufklärung zur Nation: Eine Noi,ion aufklären, Tag bei ihr werden
laasen, will ... weder mehr noch weniger sagen, als sie von denjenigen Grundwahrheiten
und Maßregeln, ohne deren Be/olgung ihr wahres Wohl nicht bestehen kann, überuugen
und ihr dieselben als liebenswürdig ans Herz legen. Worin die durch die Aufklärung
der Nation vermittelten „ Grundwahrheiten und Maßregeln" bestehen, sagt Westen~
rieder nicht. Er bemerkt lediglich, daß bei dem Geschäft der Aufklärung die Nation
einmal überzeugt werden soll durch allerdings wiederum unbestimmt bleibende
philosophische Gesetze, durch die Gescliiclüe, durch mündliche und schriftliche Lehren,
welche aus dem Mund denkender Männer ausgehen, und zum anderen gerührt wird
durch die Werke der Kunst und lA,teroJ,ur; weil durch diese die Gemüter erweicht, ge-
bildet, nach einem gewissen Ton gestimmt, von gewaltsarMn, aufbrausenden Bewegungen
... entfernet werden 24• Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen gewinnt Westen-
rieders Aufklärungsbegriff zunehmend an pädagogischer QualiLli.L. IJle wird offenbar,
daß für ihn 'Aufklänmg' 11inh allgemein als Erziehung und speziell als „National~
erziehung" voll.Zieht 2' und im letzteren Sinn einen die ganze Nation um- und er-
fassenden Gesittungs- und Bildungsprozeß einschließen soll, der den Bildungsstand
bei allen „Klassen der Nation" auf eine solche Höhe hebt, daß sie alle den Strahl
der Wahrheit erblicken, IAcht über das Volk kommt wid in jedem Menschen durch
„aufklärende Schriften" etwas Würdiges aufgeweckt wird, was ihn nachdenken
macht, ihn menschlicher denken lehrt und veredeU. Zu diesem Erziehungs- und Bil-
dungsprozeß gehört für W estenrieder als unumgängliche Voraussetzung die. Be-
seitigung des Analphabetismus. Obwohl er zu den Bildungszielen, an denen sich
sein Aufklärungsbegriff inhaltlich orientiert, gelegentlich auch die Gelehrsamkeit,
das ist die Wissenschaft nützlicher Kenntnisse, rechnet, läßt sich nicht übersehen, daß
bei ihm die mit 'Bildung' und 'Verfeinerung' praktisch identische 'Aufklärung' ent-
scheidend durch Bildungsgüter und Kenntnisse bestimmt wird, die ausschließlich
dem Bereich der Dichtung, Kunst und Philosophie entstammen 26 • Dadurch wird sie
von ihm zugleich in jene große und nicht nur in den 1780er Jahren verbreitetste
Gruppe von Definitionen eingereiht, die bei aller Unterschiedlichkeit das typische
Merkmal gemeinsam haben, unter 'Aufklärung' wesent.linh eine gewisse Art und
Menge von Kenntnissen zu verstehen.
Als der extremste Vertreter dieses Typs eines materialen Aufklärungsbegriffs ist
WIELAND anzusehen, der bereits seit den 1750er Jahren eine maßgebliche Rolle bei
der Verbreitung des Wortes gespielt hat. Bei Wieland muß sich nach einer Formu-
lierung im Jahre 1789 Aufklärung, das ist so viel Erkenntnis, als nötig ist, um das
(Kempten 1832), 1 f.
26 ·Vgl. ders., Über Nationalerziehung (1781), ebd., 60 ff.
28 Ders., Aufklärung, 4. 12; Nationalerziehung, 82 f.
251
m. 2. 'Aufldirang' u univenaler ErkeautniaLegrilr
Wahre und Falsche immer und überall unterscheiden zu können, ... über alle Gegen-
stände ohne Ausnahme ausbreiten, worüber sie sich ausbreiten kann, das ist über alles
dem äußern und innern Auge Sichtbare 27 . Deshalb vertritt er konsequent die Mei-
nung, übel stände es uns an, ... der Aufklärung ... unnatürliche Grenzen setzen zu
wollen, da sie doch, vermöge der Natur des menschlichen Geistes ebenso grenzenlos ist
als die Vollkommenheit, wozu die Menschheit mit ihrer Hilfe gelangen kann und soll2s.
Wie Wieland die wichtigste Voraussetzung dieser von einem universalen Erkenntnis-
anspruch bestimmten Aufklärung in der „Freiheit des Denkens und der Presse" er-
blickt und sie konstitutiv an die Wissenschaften bindet, welche für den menschlichen
V erstand das sind, was das Licht für unsre Augen29, so sieht er in der freien Mitteilung
aller Gedanken, Meinungen, Tatsachen, Bemerkungen, Untersuchungen, Vorschläge
usw., wodurch der Zustand der menschlichen Gesellschaft gebessert werden könnte, das
sicherste Beförderungsmittel derselben 30• Als durch die „Rechte und die Sache der
Vernunft" postulierter und konstituierter universaler Erkenntniszusammenhang
und ebensolcher, durch die Ausbreitung der nützlichsten Kenntnisse sowie den freien,
unabhängigen Geist der Untersuchung und des Selbstdenkens31 bestimmter allgemeiner
Wissensstand erscheint ihm überdies 'Aufklärung' nirgendwo „heller" und „aus-
gebreiteter" als in Deutschland32 • Wähxend auf diese Weise für Wieland 'Auf-
klärung' jeweils abhängig ist vom Stand der Denk- und Pressefreiheit, der Wissen-
schaften sowie der wissenschaftlichen und pädagogischen Einrichtungen, hat um-
gekehrt die Aufklärung, falls sie wahre Erleuchtung über alles, was den Menschen
wesentlich angeht, bedeutet und diese unser wichtigstes und allgemeinstes Interesse ist,
·ihrerseits Verbesserungen als ihre natürlichen Folgen 33 • Das Verhältnis der Aufklärung
.zu ihren Bedingungen ist also kein einseitig-passives, sondern besteht in oinom
dialektischen Wirkungszusammenhang. Eine weitere ebenso natürliche Folge der
Aufklärung erblickt er in dem Umstand, daß, je weiter die Grenzen unserer Kennt-
nisse hinausgerückt werden ... , desto weiter ... auch der Kreis des Möglichen sich
ausdehnt 34 • 'Aufklärung' ist als zeitlich nicht festgelegte Erscheinungsform wissen-
schaftlicher Kenntnisse mithin in ihrer faktischen Modalität als Funktion des wissen-
schaftlichen Fortschritts ein von niederen zu höheren und höchsten Stufen auf-
steigender Prozeß der allgemeinen Ausbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse.
Dieser Prozeß ist zwar nicht unbedingt ein spezifisch historischer. Gleichwohl läßt
ihn Wieland im klassischen Athen beginnen und- nach der auf die „Jahrhunderte
27 WIELAND, Sechs Antworten auf sechs Fragen (1789), SW Bd. 30 (1857), 372.
28 Dere., Kosmopoliten-Orden (s. Anm. 22), 229.
119 DeTR., Üher rlie Rechte und Pflichten der Schriftsteller (1785), AA 1. Abt., Bd. 15, 66.
80 Dere., Worte zur rechten Zeit an die politischen und moralischen Gewalthaber (1793),
ebd., 605.
81 Dere., Freym.üthige Gespräche über einige neueste Weltbegebenheiten (1782), ebd.,
581.
88 Dere., Antworten und Gegenfragen auf die Zweifel und Anfragen eines vorgeblichen
252
m. 2. 'Aufklärung' als universaler Erkenntnisbegrlil Aufklärung
36 Ebd., 324.
RR Dom., Über den freyen Gebra\lch dor VAmnnft, in Glaubemsaohon (1788), ebd., Bd. 15,
115; Über den Hang der Menschen, 325. . '
37 Ders., Über die Hechten und Ptlichten (s. Anmerkung 29), 07 f.
3 8 Ders., Vernunft, 136.
39 Ebd., 135; Kosmopoliten-Orden (s. Anm. 22), 208.
' 0 Im gleichen Zusammenhang ist es in England zu dieser Zeit üblich, von 'improvement'
zu sprechen.
253
Aufklärung m. 2. 'AufkJänmg' als universaler ErkenntnislJegrUI
aus 41 • Damit verliert '.l:'hilosophie' jedoch nicht ihren Rang als Zentral- und
Oberbegriff.
Schließlich spricht Wieland in seinen Anfang der neunziger Jahre geschriebenen
Aufsätzen über die Französische Revolution meistens nur ganz allgemein von der
KuUur un,d Ausbildung .der Menschheit, die seit dreihundert Jahren in d,em größeren
Tei'le von Europa von einer Stufe zur andern emporgestiegen ist„ und charakterisiert
die dadurch hervorgebrachte beinahe gänzliche Umänderung der alten Vorstellungs-
arten, Meinungen und Gesinnungen deutlich und genau, indes ohne den leisesten An-
satz zur Formulierung eines entsprechenden Aufklärungsbegriffs, als eine Art von
allgemeiner intel'lektueller und moralischer Revolution ... Die Französische Revolu-
tion, an deren Notwendigkeit er trotz scharfer Kritik nicht zweiftllt, ist für ihn im
Prinzip ein Ausdruck der „Wahrheit", daß ilie Mem1chheiL ·in E•uropa die Jahre der
Mündigkeit erreicht hat und sich anzuschicken scheint, in das „Reich der Vernunft"
einzutreten. Da er diesen geschichtlichen Vorgang jedoch nicht als 'Aufklärung' be-
stimmt, besteht für Wieland auf eine in den neunziger Jahren schon nicht mehr ganz
verständliche Weise der Zusammenhang zwischen Aufklärung und Französischer
Revolution darin, daß durch die Französische Revolution die Aufklärung wesentlich
gefördert worden ist: Wirkliche und eingebilMte, echte· und falsche Aufkliiru.ng ltat in
dieser kurzen Zeit seit dem Ausbruch der Französischen Revolution sichtbarer zu-
genommen als in d,en fünfzig vorhergegangenen Jahren. 'Aufklärung' wird hier wieder-
um vornehmlich verstanden als Wissensverbreitung und bezogen auf jene Folgen der
Französischen Revolution, durch die eine Menge unwahrer, halbwahrer, übertriebener
und gefährlicher Sätze, die in vie'len Köpfen gar seUsam durcheinanderbrausen, aber
auch vie'le Wahrheiten von der höchsten Wichtigkeit, vie'le wohlgegründete Zweifel gegen
manches, das man sonst jü1· a·usye'lluwltt lt'ieU; ... in allgemeinen Um'lauf gekommen
und bis zu den untern Volksklassen durchgedrungen sind42 •
Wielands Deutung der Französischen Revolution als „notwendiges und heilsames
Werk" der „richLigt1ten" Vernunft, die allein imstande sei, die revolutionären Übel
zu heilen 43, beweist erneut seine tiefe Vernunftgläubigkeit. Sie hebt jedoch seine aus
geschichtlicher Erfahrung gewonnene und von einer starken Skepsis erfüllte Über-
zeugung nicht auf, daß die Menschen niemals nichts als vernünftige Wesen sein und
niemals alle Vorurteile aus der W eU verschwinden werden und die Vernunft immer nur
einen kleinen Teil des menschlichen Mikrokosmus mit vol'lem Lichte bestrah'len
wird 44 •
'Aufklärung' ist infolgedessen bei Wieland unaufhebbar eine ständige Aufgabe und
ihr Fortgang bei aller größtmöglichen Zunahme ein unendlicher Progreß. Allein
nicht nur das, Wielands geschichtlicher Sinn, sein „dialektischer Realismus"
(Friedrich Sengle) führen ihn schließlich zu der Gewißheit, daß nicht nur die uni-
versale und totale Aufklärung ein unerreichbares Ziel ist, sondern überhaupt mit
jeder Zunahme der Aufklärung dialektisch auch ihr Gegenteil wächst, der Zeitpunkt
d,er höchsten Verfeinerung immer zugleich derjenige der äußersten sittlichen Verd,erbnis
254
m. S. 'Aufklänwg' als Erziehungshegritf
ist und die Epoke d,er köclisten Aufklärung immer diejenige war, worin aUe Arten von
Spe~ion, Wahnsinn und praktischer Schwärmerei am stärksten im Sehwange
gingen 46• ·
Als Wieland am Ende des Jahrhunderts erneut die Frage aufnimmt nach dem, was
man die Aufklärung unsrer Zeiten nennt, da versteht er unter Aufklärung 1) etwas
ironisch das Helldunkel, das durch die immer fortschreitende Kultur d,er Wissenschaften
in den Köpfen d,er Europäer nach und nach entstanden ist, und 2) pointiert diejenige
Art von Erleuchtung des V ers~ndes, die den Menschen wirklich vernunftmäßig und
konsequent denken und handeln macht. Gemessen an der ersten Sinndeutung des
Wortes erscheint ihm nun das gegenwärtige Europa wohl etwas weniger 'finster als ini.
16. Jahrhundert, aber deswegen nicht aufgeklärter. Das ist es vor allem dann nicht,
wenn man einem Vergleich des 18. mit dem 16. Jahrhundert die zweite, von ihm an
dieser Stelle für allein maßgAh1md gehaltene Sinndeutung des Wortes 'Aufklärung'
zugrunde legt. In diesem Fall, meint er, müßten wir unsrer Zeit schändlich schmei-
cheln, wenn wir ihr den geringsten wahren Vorzug vor allen vorhergehenden einräumen
wollten . . . Es WÜI"de sich näinlich finden, daß zwar einige Wissenschaften auf einen
ungleich hökern Grad gestiegen sind, daß wir eine zierlichere und schlauere Sprache
reden, m.e.h.r .Rii.r.h.P.r .~r.h.rP.ihen, mehr lesen und die Kunst, uns selbst zu belügen, ungleich
m~hr 1!F.rfP.1'.nert Jmbi:n: u.b1:r <laß wü·, ün. Grtitlil.P.'fl, (JP.nnm.rn.t1r1,, we'ii11:r, lmm:r ·und glück-
licher wären, dai•on illt mir nichts bekannt41 .
Am Ende des 18. Jahrhunderts fehlt somit beim alt.en WiAland nicht nur weiterhin
jeder Versuch, einen Epochenbegrifi' 'Aufklärung' zu entwickeln, vielmehr stellt er,
ohne 1fon von ihm in den achtziger und frühen neunziger Jahren benutzten Auf-
klärungsbegriff wesentlich zu verändern, überhaupt die Berechtigung in Zweifel,
dem 18. Jahrhundert ein besonderes Verhältnis zur Aufklärung beizumessen, wellll
zu deren Kriterium die Einheit von rationalem Denken und Handeln erhoben und
von ihr eine reale „ Weltverbesserung" erwartet wird.
Einen besonders wichtigen Beitrag zur Entwicklung und Begründung des materialen
Anfklii.rungsbegriffes haben in den achtziger Jahren die Philanthropinisten geleistet,
die heute als Hauptvertreter der deutschen Aufklärungspädagogik gelten. Ihre
Haltung unterscheidet sich trotz mannigfacher Berührungen gründlich von Wie-
lands weitgespanntem Aufklärungsverständnis. Schon der ErwarLwigshorizont, der
Rie hARtimmt, entspricht nicht dem von Wieland. Und anders als Wieland bemühen
sich die Philanthropinisten, den Aufklärungsbegriff exakt zu definieren, um ihn da-
durch vor jedem Mißverständnis zu bewahren und eine generelle Einigung herbei-
zuführen über das, was eigentlich Aufklärung sei, nachdem so vieles in der Welt Auf-
klärung genannt(wird), was doch nicht Aufklärung ist41 • Dabei ist ihnen bewußt, daß
das Wort Aufklärung ... jetzt allmählich an(fängt), so wie die Wörter Genie, Kraft,
415 Ders., Göttergespräche, Nr. 12 (1793), SW Bd. 31 (1857), 484 (Worte Jupiters).
" Ders., Gespräche unter vier Augen, Nr. 11-(1798), SW Bd. 32 (1857), 252 f. (Worte des
Gesprächspartners Geron, die mit Wielands Meinung nicht ganz identisch sind).
417 SALZMANN, Carlsberg, Bd. 3, 100 (s. Anm. 5).
255
m. 3. 'Aufklärung' als Erziehwigshegriff
gutes Herz, Empfindsamkeit und andere, in üblen Ruf zu kommen48 • Letzterem zu be-
gegnen, halten sie vor allem deshalb für dringend geboten, weil der Fortgang einer
Sache im großen Publikum gar sehr von dem Ansehen ihres Namens abhängig ist;
so wäre es in der Tat nicht gut für die deutsche Nation, wenn es dahin kommen sollte,
daß dieses Wort schon aus unsrer Sprache -weggespöttelt würde, da in der wichtigen
Sache, die es bezeichnet, noch so wenig geschehen ist 49 • Zu einer derartigen Begriffs-
klärung bestand für die Philanthropinisten in den 1770er Jahren um so weniger
ein Anlaß, als ihnen (und das heißt an erster Stelle Basedow) damals bei der Dar-
stellung ihrer neuen, zukunftweisenden Erziehungslehre die Verwendung des Wortes
'Aufklärung' noch ganz unnötig schien50•
a) Christian GotthiH Salzmann. SALZMANN wendet sich bei dem Versuch, den
„wahren" Aufklärungsbegriff aufzustellen, bezeichnenderweise allgemein gegen die-
jenigeu, ilie jede Veränderung der Einsicltten, die ein Mensch oder eine Nation be-
kommt, Aufklärung zu nennen pflegen. Was er dabei im Auge hat, wird deutlich,
wenn er fortfährt: Wenn z. E. eine Gesellschaft, die sonst meinte, ihrer Glückseligkeit
wäre es hinlänglich, wenn sie einen gesunden Leib, ein gutes Gewissen, ein hinlänglic'Ms
4.1iakommen wnd häusliche Freuden hätte, mm zu du Einsicht kommt, daß dasu Spiel,
Tanz, Komödien, ausländische Fabrikwaren u. dergl. noch_ erforderlich wäre, so sagt
man, sie sei aufgeklärt geworden. Falsch ist danach jede Auffassung, durch welche die
Veränderung der Einsichten auf solche Verbesserungen der gesellschaftlichen Ver-
hältnisse bezogen wird, die rein äußerlicher oder technisch-zivilisatorischer Art sind
und 'Aufklärung' mit 'Verfeinerung' gleichsetzen. Demgegenüber besteht die wahre
Aufklärung ... ·in Verbesserung unserer E·inS'icliten 'VU'rZ'üybicli in die Dinge, die mit
uns genau verbunden sind 51 • Sie ist Aufklärung des Menschen als Menschen, zu der
jedoch nur diejenigen Kenntnisse (gehören), die-zur Veredlung seiner Gesinnung, Be-
förderung seiner Wirksamkeit, Zufriedenheit, Erhaltung seiner Gesundheit, Stärkung
seiner körperlichen Kraft und zur Verbesserung seines Zustandes die notwendigsten
und nützlichsten sind 52 • Diese Aufklärung hat weder in einem philosophisch-meta-
physischen noch in, einem naturrechtlich-politischen Sinne einen fundamentalen
Charakter. Der Mensch als Mensch ist für Salzmann der Mensch in seiner physischen
Beschaffenheit und in seiner konkreten gesellschaftlichen Situation. Diesem Men-
schen soll durch Aufklärung zu Kenntnissen verholfen werden, die zwar generell zur
Veredelung seiner Gesinnung notwendig sind, sich daneben aber vornehmlich durch
ihre praktische Eignung für die Beförderung und Erhaltung seiner persönlichen
Leistungsfähigkeit im eigenen, alltäglichen Wirkungskreis auszeichnen. Der Er-
wartungshorizont, der sich mit Salzmanns Aufklärungsbegriff verbindet, ist infolge-
deBBen nicht, wie im Kontext des Wielandschen, der einer das Bestehende transzen-
dierenden „ Weltverbesserung", sondern der einer im Rahmen des Bestehenden sich
vollziehenden „ Verbesserung unserer Einsichten".
48 .RtTDOLI' Z..t.ClliRiil BECKER, Versuch über die Aufklärung des Landmannes, Der
2ö6
b) RwloJf Zacharias Becker Aufklänmg
b) RudoH Zaeharias Becker. Schärfer als Salzmann weist 1785 BECKER sowohl
die Identifikation der Aufklärung mit jeglicher „Verfeinerung" als auch die mit
einer umfassenden wissenschaftlichen Bildung und Gelehrsamkeit als folgenschweren
Irrtum zurück. Mit aller Entschiedenheit formuliert er das Verdikt: Gelehrsamkeit
ist nicht Aufklärung und Verfeinerung ist auch nicht Aufklärung. Verfeinerung ist es
vor allem deshalb nicht, weil diese Art von Entwicklung des menschliclien Geistes und
der menschlichen Fähigkeiten allein eine Verbesserung der Geschmackskultur und der
materiellen Lebensbedingungen bedeute und eine künstlich-äußerliche Lebensweise
herbeiführe, die auf Kosten von Verstand, Vernunft und Tugend einseitig Empfin-
dung, Einbildungskraft, Begierden und Wohlleben fördere. Das hat nach seinem
zivilisationskritischen Urteil am Ende eine Art von moralischer Vernichtung sowohl
des einzelnen Bürgers wie des Staates zur Folge, von welcher die politische nicht sehr
weit entfernt zu sein pflegt.
Nicht weniger klar distanziert sich Becker von jenen „vielen", die unter Aufklärung
eine unbestimmte Vermehrung der Kenntnisse aller Art verstehen, verbunden mit der-
jenigen Ausbildung der Seelenkräfte und der Freiheit von Vorurteilen, 'IJ}elche durch
gelehrte Untersuchungen und durch schulmäßige Erlernung der Wissenschaften und
J(·ünste erworben wird. Dieses .Aufklärungsverständnis hält er für fälsch, weil die
wahre Aufklärung nicht durch die Mitteilung wissenschaftlicher Kenntnisse bewirkt
werden könne; insbesondere dann nicht, wenn diese mit unsermdermaligen Wirkungs-
kreise in keiner Verbindung stehen und nicht die praktische Charakterbildung be-
fördern53.
Im Anschluß an diese Kritik und in Verbindung mit von W olfI beeinflußten Be-
trachtungen über „Menschen- und Staatenglück" entwickelt Becker seine eigene
The.orie der A1t/klär?tng. Ihr liegt, ausgehend vom gewöhnlichen Sprachyeljrauclte, für
den zur Aufklärung überhaupt Wahrheit und richtige Verbindung der Begriffe und
damit eine bestimmte Beschaffenheit der Denkkraft gehöre, folgende Definition zu-
grunde: Das Wesen der Aufklärung besteht bei dem einzelnen Menschen in der rich-
tigen Kenntnis seines persönlichen Wirkungskreises in seiner Verbindung mit dem
Ganzen, dessen Teil er ist54• Schon aus ihr geht deutlich hervor, daß Becker emanzi-
patorische Gesichtspunkte ebenso fernliegen wie der Gedanke einer Veränderung
der bestehenden Staats-und Sozialverfassung. Kriterium vermehrter Vervollkomm-
nung oder fortschreitender Veredelung des einzelnen Menschen ist µtm nicht· der
Grad seiner Annäherung an ein absolutes Huma.nitä.tsideal oder der ~ang seines
Beitrages zur allgemeinen Förderung der Kultur, sondern allein der Grad der Er-
füllung aller aus seinen wirklichen Verhältnissen entspringenden Pflichten, sie mögen
noch so gering und unbedeutend sein. Wo jemand oft zu sich sagt: Du sollst das
Gute und Schöne in der Welt Gottes ... vermehren; darum mußt Du ... das FeW wu/s
beste bauen, Deine Profession immer geschickter treiben, Deinem Hauswesen immer
sorgfältiger vorstehen; Deine Bürgerpflicht immer gewissenhafter erfüllen und gegen alle
Menschen stets redlich und wohltätig sein, und dann auch entsprechend handelt, da
gibt es nach Becker diese einzige wahre Aufklärungss.
17-90385/1 257
Aufklärung
berühmt.em „Not- und Hülfsbüchlein für Bauersleut.e", dessen erst.er Band 1788 herauskam
(der zweit.e erschien 1798) und von dem im Laufe eines Vierteljahrhunderts über eine halbe
Million Exemplare vertrieben wurde.
258
e) Friedrich Eberhard von Roehow Aufklärung
und dürfen (1783; 2. verb. Aufl. Halle 1789), abgedr. in: Sämtl. päd. Sehr., hg. v. Fritz
Jonas u. Friedrich Wienecke, Bd. 2 (Berlin 1908), 13.
80 Ebd., 3 f. 14.
81 Ders., Beantwortung der Frage, welche die Akademie der Wissenschaften zu Berlin
fürs Jahr 1783 aufgegeben hat, Braunschweigisches Journal 1 (1788), 1. Stück, 48 ff.
(verfaßt Okt. 1784). - Die Frage der Akademie lautete: Welches ist die beste Art, B<nJJOhl
rohe al8 schon kultivierte Nationen, die sich in mancherlei Irrtümern und Aberglauben be-
finden, zur gesunden Vernunft zurückzuführen?
259
m. 3. 'Aafldänmg' als Eniehuilgihegrift'
Nation gilt dabei eine Nation, der diese vier Stücke als: BucMrucker-, Schreibe- und
Rechenkunst nebst einer richtigen Gotteserkenntnis nicht fehlen und deren weit über-
wiegende Mehrheit lesen, schreiben und rechnen kann. Alle Mitglieder des Staats zu
allem guten Werk geschickt zu machen, bezeichnet Rochow in diesem Zusammenhang
als den Endzweck des Staates, zu dessen Erfüllung in jeder Gesellschaft Regenten,
als Vormünder des Volks, nötig seien. Gleichzeitig macht er die Aufklärung seines
Volks zur unerläßlichen Pflicht des Regenten und weist nach, warum verständig-
machende Lehre in Schulen und Kirchen eines der wichtigsten Staatsgeschäfte bei der
Besorgung der ganzen Polizei des Volks sein muß 88• Seine Begründung der vom
Regenten im eigenen Interesse zu ergreifenden Maßnahmen gipfelt in der Forderung
und moralischen Rechtfertigung der uneingeschränkten Schulhoheit des Staates,
d. h. des staatlichen Monopols in allen Unterrichtsangelegenheiten einschließlich der
AU8bildung der „künftigen Volkslehrer". Mit aller Deutlichkeit gibt Rochow zu ver-
stehen, an welchen Maßstäben er seine Konzeption der Volksaufklärung gemessen
und in wessen Dienst er sie gestellt sehen will. Es ist der die umfassende Vormund-
schaft über seine Bürger ausübende, aber dabei an ,;Gesetze" gebundene absolu-
tistische Polizeistaat qua Wohlfahrts- und Ordnungsstaat. Aufklärung und Ver-
ständigwerden zielen wie bei Becker e.uoh bei Rochow nicht auf den „mündigen",
sittlich autonomen Menschen und Bürger, der sich seines Verstandes als Grund·
lagc freier sittlicher Selbstbestimmung, Kriterium der Wa.hrheitserkenuLIÜt! UllU
Organ einer freien Prüfung der Gesetzgebung bedient, sondern auf den seinem
Wesen nach „unmündigen" Untertan, der die heteronomen Gebot.ti l!eiuer Obrig-
keit aus moralischer Einsicht anerkennt und den eigenen Verstand als Instrument
solcher positiven Einsicht und bewußten Unterordnung unter den Staatszweck
benutzt.
260
d) Peter Villaume
der Erzieher seinen Zögling nicht vollkommener machen,. als es sein. Stand erlaubt64 •
Die Kritik derjenigen Widersacher der Aufklärung des Volkes, die diese als ein
schädliches Klugmachen, verstehen, weil man dadurch den gemeinen Mann nur zu
.seinem Geschäft untauglich und ihn selbst unglücklich mache, erscheint ihm unter der
Voraussetzung berechtigt, daß es in der Tat zum Ziel der Aufklärung erhoben wird,
den gemeinen .Mann dahin zu bringen, daß er alles vor den Richterstuhl seiner Ver-
nunft fordere; von Religion, Gesetzen und dergl. nichts annehme, als was er, nach seiner
Prüfung, für gut und wahr und billig erklärt hat. Dies wäre nun freilich mißlich. Dann
würde sein Gehorsam, sein Gtaube verkYrengehn und mit ihnen sein Glück und seine
Ruhe, sein Trost und seine Brauchbarkeit verschwinden ... Von Aufklärung und Ver-
edlung des Volks kann nach seiner Meinung füglich nur in dem Sinne gesprochen
werden, daß man dem Volk so viel Kenntnisse und .Menschengefühle beibringen soll,
als zu seinem Wohl in seinem Stande gehören. Diese „richtige" Bestimmung der Auf-
klärung; die sie zum gesellschaftlichen Stabilisationsfaktor qualifiziert, erläutert
Villaume mit den Worten: .Man will nicht, daß es alles wegräsonieren, sondern fester
glauben soll; und deswegen zeigt man ihm das Vernunftmäßige, das Nützliche in den
bestehenden Verhältnissenss.
Das gilt nicht nur für die Aufklärung des gemeinen Mannes. Da Villaume unter 'Auf
klärung' prinzipiell etwas Pädagogisches, Unterrichtsmäßiges und nichts Wissen-
schaftlich-Philosophisches versteht - ein aufgeklärtes Volk ist für ihn ein wohl-
unterrichtetes Volk - rechnet er weder kritische Untersuchungen der Bibel, der
kirchlichen Dogmatik oder der Einrichtungen des Staates noch die Verbreitung von
Zweifeln an gewissen Religionssätzen oder Aufschlüssen über Mängel der Staats-
verfassung zu den Aufgaben und Gegenständen der Aufklärung. Diese hat es auch
als AVtfklärung des Verstandes nicht mit der „geprüften Erkenntnis" der Wahrheit
zu tun.
Worum es Villaume, der persönlich den religiösen Aberglauben scharf kritisierte
und sich zu Rousseaus „Contrat social" bekannte, bei seiner Sinnbestimm.ung der
Aufklärung geht, das ist entscheidend ihre gesellschaftliche Effizienz. Alle seine
darauf gerichteten Überlegungen haben zwar zum Ausgangspunkt das „Menschheits-
recht auf Veredlung", das er zu den „Rechten des einzelnen" 66 zählt, die der Staat
zu achten hat, will er nicht als „Greuel der Menschheit" verabscheut werden. Mit
Friedrich Gabriel Resewitz steht er jedoch auf dem in der Wolffschen Schultradition
begründeten Standpunkt, daß der .Mensclt ... alle seine Vollkommenlicit und Ver-
edlung, ... , in der Gesellschaft und durch die Zusammenwirkung derselben (erhält).
Wo diese letztere fehlt, da wird er auch nie, ... , veredelt werden. Die Gesellschaft ist
aber nicht um seinetwillen allein da, sondern auch für andre; er muß also auch wieder
für die Gesellschaft ·und für andre dase·in. Urid lt·ierin iiegt ... der Grund de-r Ver-
bindlichkeit für jeden .Menschen, ... der Gesellschaft brauchbar zu werden 61 •
8ieht, daß dessen Kräfte ihn offenbar zu einem andern Stande bestimmen (526).
85 Ebd:, 527. 529.
261
m. 3. 'Aufklänmg' a1s Eniehunphegml
Die Veredelung des einzelnen Menschen wirft in Villaumes Argumentation für die
Aufklärung so lange keine fundamentalen Probleme auf, als sie mit den Bedürfnissen
des jeweiligen Standes oder der Gesellschaft insgesamt übereinstimmt. In diesem
Fall kann der aufklärende Lehrer sich ohne Bedenken an die beiden Haupt-Gesetze
der Veredlung halten: 1. Veredelt alle Menschen, insofern es ihre Brauchbarkeit in
allen Verhältnissen, in welchen sie zu stehen pflegen, er/ordert; und 2. Veredelt die
Menschen so viel, als es ihre Verhältnisse erlauben. Zu einem Kardinalproblem wird
sie erst da, wo die individuellen Fähigkeiten eines Menschen über die Erfordernisse
seines Standes hinausgehen und seine Bedürfnisse als Mensch mit dem von Villaume
ebenfalls als „Recht" bezeichneten Anspruch der Gesellschaft auf seine Brauchbar-
keit in Widerspruch geraten, die „Rechte des einzelnen" und die „Rechte der Ge-
sellschaft" sich folglich unvermittelt gegenüberstehen. In dieser Situation gibt es
in seiner den bestimmenden Einfluß der klassischen deutschen Naturrechtsschule
von Pufendorf und Wolff verratenden Sicht nur eine Lösung: Die Unterordnung der
Rechte des Einzelnen unter die Rechte der Gesellschaft und die inhaltliche Fest-
legung der Aufklärung nach den Erfordernissen der Staatsutilität68 •
e) Joachim Heinrich Campe. CAMPES Aufklärungsbegriff scheint auf den ersten
Blick alles andere als pragmatisch-utilitär zu sein, wenn 'er 1789 in der Abwehr eines,
wiA Ar l'IFJ, ohne Nnmon a.nzu~cbcn, 1Lusdrückt, neuerlichen „Devalvatiom1ver11uohoa11
auf die unscltuld·igen, y·uten ·u·1ul ehrwürdigen Wörter Aufkliirung und Päilagogik die
Ansicht, Aufklärung bedeute nichts mehr und nichts weniger als Irreligion und gänz-
l·iclw S·ittenlus·iyke·it, energisch zurückweist und ihr entgegenhält: Wenn m.an bis
dahin von Aufklärern in Deutschland redete, so dachte doch jeder, so viel ich weiß,
nicht an diesen oder jenen leichtsinnigen Blattschreiber, sondern man dachte sich dabei
durchgäiigig die ehrwürdige1i Namum _e·ines Ernest·i, Jet"usulems, BpuW;inys, Sernkrs,
(d. jüngeren) Tellers, Dieterichs, Nicolais, Zolliko/ers usw. 69 • Von diesen „Auf-
klärern" sind weit über die Hälfte bedeutende Theologen der neologischen Richtung.
Es liegt daher die Vermutung nahe, Campe begreife unter 'Aufklärung' im wesent-
lichen die theologischen Erkenntnisse der Neologen, die übrigens den Ausdruck
selber nicht als System- oder Sammelbegriff ihrer theologischen Bestrebungen be-
nutzt haben. Offensichtlich gehen seine Intentionen jedoch nicht in diese Richtung.
Der Definition eines Anonymus im Septemberstück 1788 der „Schlesischen Pro-
vinzialblä.tter": Dasjenige, ... was eigentlich die Aufklärung macht, sind die religiösen
und moralischen Kenntnisse, will e~ nämlich allenfalls mit der einschränkenden Ein-
fügung sind vorzüglich zustimmen. Und seine anschließenden Bemerkungen zu die-
sem Thema beweisen, daß selbst' mit dieser Einsohrö.nkung schwerlich sein eigener,
bewußt weit gefaßter Begriff von der Aufklärung angemessen wiedergegeben wird.
Führt er doch über diesen seinen eigenen Begriff aus: Mir gehört jede wichtige, au/
Menschenwohl abzweckende Erkenntnis dazu, sie betreffe, welchen Gegenstand sie wolle.
Wenn der Landmann eine ihm nützliche ökonomische oder physikalische Kenntnis er-
langt, die er vorher noch nicht hatte, so nenne ich das Aufklärung. Wenn der Handwerks"
m.ann den Grund einsehen lernt, warum. das, was er bis dahin mechanisch verrichtete,
nur so und nicht anders geschehen oder v<Jrriohtot wcrilcn lcönnc, so nenne ich das Auf-
262
e) J-düm Heinrich Campe
kl,ärung. Wenn der Bierbrauer die der Gesundheit schädlichen Bestandteile gewisser
Pflanzen kennenlernt, wodurch er seinem Bier eine berauschende Kraft zu geben wußte,
so ist auch das mir Aufkl,ärung. Kurz: jeder Zuwachs an nützlicher Erkenntnis sowie
jede Anregung zum eignen Nachdenken über Gegenstände, welche Beziehung auf
menschliches Wohlsein haben, scheinen mid mit Fug und Recht unter diesem Worte
mitbegriffen zu werden70 •
Aus dieser Definition ergibt sich, daß der Aufklärungscharakter des von den Neo-
logen bewirkten „Erkenntniszuwachses" primär nicht in ihrer Bibelkritik oder in
ihren spezifisch theologischen Lehren besteht; vielmehr ist es der moralische Gehalt
ihrer Lehren, sind es ihre im gesellschaftlich-beruflichen Leben der Menschen prak-
tisch brauchbaren und für deren „Wohlsein" nützlichen Schriften und Gedanken,
die ihre Eigenschaft als „Aufklärer" bezeugen.
Daß die Aufklärung als sozialpädagogische Aufgabe grundsätzlich nicht allgemein,
einheitlich und gleich sein kann, weil in ihrem Zentrum nicht das Allgemein-Mensch-
liche als übergreifende Humanitätsidee steht; ist dabei für Campe nicht weniger gewiß
als für Villaume. Die Eigenart seines Beitrages zur Formulierung des Aufklärungs-
begriffes der Philanthropinisten besteht geradezu in dem Versuch, die Aufklärung
inhalt.lich AO sehr ?.11 nifferen?.ieren, naß flA möglich ist, jeder „Menschenklaaae" die
Aufklärung zuteil werden zu lassen, die für sie.unter genauer Berücksichtigung ihrer
jeweiligen Lebensweise und Berufsart, Fähigkeiten und Pflichten, Tugenden und
Laster, Glüqkseligkeitserwartungen usw. notwendig und im Interesse des „öffent-
lich~n und des individuellen Wohls" am zweckmäßigsten ist. Nach seinem BegriU
von Aufkl,ärung hat deshalb nicht bloß jede der drei Hauptmenschenklassen, sondern
auch jede darunter begriffene Unterabteilung ihre besondern und eigentümlichen Gegen-
stände ... , worüber sie vorzüglich und mehr als andere aufgekliirt zu werden nötig hat71.
Im Endergebnis laufen Campes Vorstellungen über die Aufklärung darauf hinaus,
für jeden besonderen. Stand und jede besondere Berufsart - im einzelnen unter-
scheidet er zehn große „Menschenklassen" 72 - eine nach Inhalt und Gegenstand
besondere Art der Aufklärung zu entwickeln und anzuwenden, die vom Unterricht
in Religion und Moral bis zur beruflichen Ausbildung, einschließlich der Vermitt-
lung berufsspezifischer Verhaltensweisen, Natur- und Warenkenntnisse sowie ent-
sprechender Belehrungen über Diätetik, Mechanik, Physik usw. reicht, in der Art
von Beckers „aufgeklärtem Gedankensystem" für den Bauernstand.
Auoh Campes Aufklärungskonzeption ist fest in der bestehenden Sozialverfassung
der absoluten Monarchie verankert und beabsichtigt noch am Vorabend der Re-
volution nicht, sie zu verändern'. Da sein Aufklärungsbegriff beliebig zur Bezeich-
nung eines jeden Zuwachses an nützlicher Erkenntnis verwendet werden kann und
die Nützlichkeit selbst sachlich ebensowenig eindeutig festgelegt erscheint wie das
menschliche „Wohlsein", auf das er mittelbar bezogen wird, behält der Begriff bei
Campe ungeachtet seiner pragmatisch-utilitären Zuspitzung und rein pädagogischen
gegen eine von mir ausgestellt.e Preisfrage, über die einer jeden besonderen Menschenklasse
zu wünschende Art der Ailllbildung und der Aufklärung, gemacht worden sind, Braun-
schweigisches Journal 1 (1788), 3. Stück, 355 ff.
71 Ebd., 357;
268
Aufklirang m. 3. 'Aafldinmg' als Eniehangsliegrift'
Ausrichtung auf den Bereich einer ständisch begründeten Berufsbildung unvermin-
dert den neutralen Charakter. und die vielfältige Anwendbarkeit, die für das Wort
in seiner „ursprünglichen" Bedeutung typisch sind.
Daraus dürfte nicht zuletzt die Leichtigkeit zu•erklären sein, mit der Campe sich
kurz darauf des Ausdrucks 'Aufklärung' bedient, um aufgrund seiner Pariser Er~
fahrungen ganz andere Aspekte oder Gegenstände des geistig-kulturellen Lebens zu
benennen. In seinen 1789 geschriebenen „Briefen aus Paris zur Zeit der Revolution";
die keine Definition des Aufklärungsbegriffes enthalten, ist deutlich die Absicht
erkennbar, in der 'Aufklärung' so etwas zu sehen wie den Inbegriff jener Ideen,
Lehren und Erkenntnisse über die Rechte des Menschen und des Volkes, die zumal
von den Enzyklopädisten und Louis Sebastien Mercier 73 formuliert und verfochten
worden sind und sich sämtlich scharf gegen den „Despotismus" richten. Daneben
wird 'Aufklärung' im gleichen Zusammenhang als eine Art Korrelatbegriff zu 'Kul-
tur' und 'Veredelung' aufgefaßt und bezieht sich dann in erster Linie auf die in
Gesittung, Geschmack, Einsicht und Artigkeit, dem hohen Grad von „Menschlich-
keit" und „Milde" offenbar gewordene ungewöhnliche Kultur und Veredelung des
französischen Dritten Standes, besonders der untersten Klasse desselben. Unter beiden
Gesichtapunkten ist 'Aufklärung' eine allgemeirw AufldiiHWllt{J und als diese, wie
Campe schon im August 1789 erkennt, eine der Ursachen der Französischen Re-
volution~ Wie er im Vergleich mit den Verhältnissen in Deutschland erstaunt fest-
stellt, habe sich in Frankreich die TäJ,igkeit des Geistes entscheidend von der Poesie
zur politischen Beredsamkeit, von der Bearbeitung der schönen Wissenschaften über-
haupt zum Nachdenken über die Rechte der Könige und ihrer Untertanen, von den
thea/,raUschen Belustigungen zur Erlirterung wichtiger Fragen aus den Staatswissen-
schaften gewandt und dadurch Kultur und Aufklärung politisiert.
Die Stelle, an der er zum ersten Mal emphatisch den Kausalzusammenhang zwischen
Aufklärung und Revolution anspricht, lautet: Ganz obenan - nämlich auf der Liste
der Ursachen, denen Frankreich den Sieg der Menschenrechte über di.e 11.nnatürlichen
Anmaßungen des Despotismus verdanke - und mit Dank gegen die Hand der Vor-
sehung, die es aufsteckte, muß das wohltäJ,ige Licht der· Aufklärung gestellt werden,
welche Frankreich früher, und besonders allgemeiner, als irgendeinen andern despoti-
schen Staat in Europa erleuchtete 14• Die begriffsgeschichtliche Bedeutung dieser Stelle
ist eine doppelte. Erstens kehrt sie Wielands Deutung des Verhältnisses von Auf-
klärung und Revolution genau um und ordnet es im Sinne einer unverwechselbaren,
irreversiblen historischen Abfolge. Zweitens verleiht sie dem Aufklärungsbegriff das
Aussehen eines Eigennamens. Zumindest setzt Campe hier deutlich dazu an, einen
Systembegriff 'Aufklärung' zu bilden und darunter ausschließlich solche Kenntnisse
zu verstehen, die sich auf das philosophisch-politische Ideensystem der Menschen-
rechte beziehen und dieses selbst zum Moment des Begriffes erheben.
Campe. hat diesen Ansatz· jedoch nicht weiterverfolgt und den· Ausdruck in den
Revolutionsbriefen sogar meistens im neutralen Sinn benutzt, dessen Aktualität
1a M1mamna Schriften, vor allem sein „Ta.blea.u de l'a.ris 11 (10 Dde., Amsterdam 1788/90)
und „L'an 2440" (3 Bde., London 1772, dt. Leipzig 1775), fänden in Deutschland große
Beachtung.
7 ' CAMPE, Vierter Brief aus Paris, Braunschweigisches Journal 2 (1789), 12. Stück, 426
264
sich als die Aktualität der Zusammenhänge erweist, auf die er bezogen wird, ohne mit
ihnen im Regelfall eine begriffliche Einheit zu bilden und zum Individualbegriff zu
werden. Zeitspezifisch sind die Themen; über die aufgeklärt wird, und die Schnel-
ligkeit, mit der dies überall in Frankreich geschieht und ein bestimmtes philosophi"
sches und politisches Wissen in allen Ständen und Klassen des bisher „unwissenden
und dummen" Volkes verbreitet wird. In diesem eingeschränkten Sinn, dem sich die
Perspektive zugesellt, über Frankreich hinaus eine aUgemeine Aufklärung .zu ver•
breiten, den Despotismus zu stürzen und die Menschheit in die ihr geraubten Rechte
um so viel schneller und gewisser wieder einzusetzen 75 , ist für Campe noch Ende 1789
'Aufklärung' nicht der Begriff, wohl aber ein hervorstechendes Merkmal seines
Zeitalters.
7 6 Ders„ Viert.er Brief, 433. Diese Perspektive ist auf Deutschland nicht ohne weiteres
anwendbar. Seinen Zweiten Brief vom 9. 8. 1789 beschließt Campe nämlich mit den Wor-
ten: Ruhet unterdes aanft; ihr lieben Schl,afenden zu Braunschweig und zu Wolfenbüttel!
Und wenn ihr morgen erwacht, so vergeßt nicht, euch des Glücks zu freuen, in einem Lande
zu leben, wo ihr das, was man hier erst durch Menschenblut erkaufen mußte - Ruhe, Sicher-
heit und auf Vernunft gegründete Freiheit - unentgelaich habt (ebd„ 307).
78 KANT, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, Anh. AA Bd. 4 (1903), 380. 383.
265
m. 4.. Die Mehrdeutigkeit dee Bepiffs liei Kaut
in einem Zeitalter der Au/klärung77 • Trotz der knappen Begründung, die Kant für
seine Unterscheidung gibt, ist klar erkennbar, daß für sie formal-subjektive Gesichts-
punkte entscheidend sind. Im Gegensatz beispieJ.Sweise zu ScHILLER, der 1794 ganz
auf der Linie eines materialen Aufklärungsbegriffes der Ansicht ist: Das ZeitaUer
ist au/geklärt, das heißt, die Kenntnisse sind gefunden und öUentlick preisgegeben,
welche hinreichen würden, wenigstens unsere praktischen Grundsätze zu bericktigen7 &,
wird bei Kant in dem angeführten Zusammenhang die Aufgeklärtheit eines Zeit-
alters prinzipiell nicht bezeugt durch seinen Wissensstand oder das Vorhandensein
und die Verbreitung bestimmter Kenntnisse. Sie wird es vielmehr durch die allge-
meine Fähigkeit der Menschen, sich, im ganzen genommen, in bestimmter Hinsicht
ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen. Derlei
Aufgeklärtheit ist für Kant gleichermaßen Grundlage wie Ausdruck der Mündigkeit
und sittlichen Autonomie des Menschen überhaupt und erscheint ihm als der „Beruf
jedes Menschen". Dementsprechend definiert er am Anfang seines Auf11atzes von
1784 Aufklärung aJ.8 „Vorgang" mit den später vielzitierten Worten: Aufklärung ist
der Ausgang des Menschen aus seiner selbstversckul,det,en Unmündigkeit. Unmündigkeit
ist das Unverm(jgen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Belh11t1Jftf11r:k1JldpJ. illf. diR.11P. T!ri.mii.ndi'.tflr.P:it, 111mn diR. Ursa.c.he derselben nickt am Mangel
des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sieh seiner ohne
Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dick deines eigenen Ver-
standes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Au/klärung79 • Nach dieser Charakte-
ristik zu urteilen, ist 'Aufklärung' jene Handlung, in der sich der einzelne Mensch
aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herausarbeitet, ist sie der
Schritt aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit, aber noch nicht diese selbst, ist sie
deshalb als Reform der Denkungsart der Übergang zum Selbstdenken, jedoch Dicht
deSBen Vollzug und Bewährung.
Mit dieser Deutung der Aufklärung lassen sich drei Erläuterungen, die Kant hierzu
gibt, eigentlich kaum vereinbaren. Er sagt nämlicli:·: 1. zur Aufklärung werde nichts
erfordert als die Freiheit, von seiner V ernun/t in allen Stücken öUentlichen Gebrauch
zu machen; 2. allein der öUentliche Gebrauch seiner Vernunft könne Aufklärung unter
Menschen zustande bringen, und 3. der Privatgebrauch der Vernunft dürfe öfters sehr
enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortscltriu der Aufklärung sonderlich
zu hindern. Allem Anschein nach wird in diesen Sätzen von Kant unter 'Aufklärung'
sowohl der aktive Vollzug des Selbstdenkens im freien Gebrauch der Vernunft als
auch etwas verstanden, was gerade nicht mit dem „öffentlichen" Gebrauch der Ver-
nunft identisch ist, sondern durch diesen aUererst zustande kommt und aus ihm
resultiert. Hinzu kommt, daß er nicht explizite zwischen den einzelmenschlichen und
den gesellschaftlichen Voraussetzungen der Aufklärung unterscheidet. Auf diese
Weise verwischt Kant den von ihm angenommenen Unterschied zwischen Auf-
klärung und Aufgeklärtheit wieder und bringt Aspekte mit ins Spiel, die Bedingun-
gen und Konsequenzen, Ursache und Wirkung der Aufklärung gleichermaßen als
'Aufklärung' erscheinen lassen.
266
m. '- Die Mehrdeutigkeit tlea Begrift'a hei Kant Aufldinmg
Daß Kants Sprachgebrauch uneinheitlich und 'Aufklärung' bei ihm kein fester
Terminus ist, geht auch aus anderen Äußerungen hervor. Wenn er z.B. davon
spricht, ein Zeitalter dürfe nicht d,as fo'f{/ende in einen Zustand versetzen, darin es ihm
unmöglich werden muß, seine ... Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reini-
gen, und überhaupt in der Aufklärung weit.erzuschreiten, oder wenn er bemerkt, ein
Mensch könne für seine Person nur auf einige Zeit, in dem, was ihm zu wissen obliegt,
die Aufklärung aufschieben, und er zu dieser Art Aufklärung Einsicht in die Beschaf-
fenheit der Religions-Sachen sowie sorgfältig geprüfte und wohlmeinende Gedanken
über d,as Fehlerha~ im Symbol der Kirche und Vorschläge wegen besserer Einrichtung
des Religions- und Kirchenwesens zählt, - dann umschreiben augenscheinlich
Wissensgehalte, Erkenntnisresultate, kurzum rationale Kenntnisse verschiedenster
Art den Begründungszusammenhang der Aufklli.rung.
Neben Mehrdeutigkeit und Dehnbarkeit sind es nicht zuletzt die Restriktion der
,,Mündigkeit" oder des Selbstdenkens auf den „öffentlichen" Gebrauch der Ver-
nunft und die Fixierung des Hauptpunkts der Aufklärung in „Religionssachen",
welche die Eigenart des Kantischen Aufklärungsbegriffs von 1784 ausmachen.
Zwar soll seine Charakteristik der Aufklärung im Prinzip uneingeschränkt gelten.
Praktisch und konkret schränkt er sie aber auf den „öffentlichen" Gebrauch der
eigenen Vernunft ein, worunter er paradoxerweise den Gebrauch versteht, den je-
mand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Als Privat-
gebrauch bezeichnet er dagegen denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten
bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf nach Maßgabe seiner
Pflichten, obrigkeitlicher Vorschriften u. ä. m. Exe~plarisch erläutert Kant diesen
Unterschied 11.11 c.ltir Tii.Ligkeit eines Geistlichen, der als Amtsperson vor seiner Ge-
meinde im Gebrauch seiner Vernunft nicht frei sein kann, hingegen als Gelehrter
das Recht einer uneingeschränkten Freiheit genießen soll, sich seiner eigenen V er-
nunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen. Diese Freiheit impliziert
für Kant grundsätzlich die Aufgabe der Kritik an den bestehenden Einrichtungen
des Religions- und Kirchenwesens. Wenngleich er auch die Möglichkeit berührt,
in der Kritik der Gesetzgebung öffentlich von der eigenen Vernunft Gebrauch zu
machen, so hat es für ihn die Aufklärung doch in erster Linie mit jenem geistigen
Bereich zu tun, der durch die Künste, Wissenschaften und Religionsdinge repräsen-
tiert wird; indessen nur in dem Maße, als sich in ihm das Interesse der Beherrscher
auswirkt, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen. Weil Kant Unmündigkeit in
Religionssachen für die schädlichste und entehrendste unter allen hält, außerdem nach
seiner Meinung jenes Interesse in Ansehung der Künste und Wissenschaften nicht be-
steht, erhebt er die „Religionssachen" zum Hauptpunkt der Aufklärung80•
Die Variabilität der Kantischen Ausdrucksweise spiegelt sich ebenfalls in seinem
ausgesprochen beiläufig formulierten Wort von dem eigenen Zeitalter als dem „Zeit-
alter der Aufklärung" wider, dessen prinzipielles Gewicht seit dem 19. Jahrhundert
so gründlich überschätzt worden ist. Kants Beschäftigung mit der Aufklärungs-
thematik ist im Ansatz zwcifollos nicht ohne starke zeitepezifische Bezüge. Daa be-
deutet aber nicht, daß für ihn 'Aufklärung' als Ausgang aus der Unmündigkeit ein
einmaliger historischer Vorgang und das ausschließliche Wesensmerkmal des gegen-
so Ebd., 36 f. 38 f. 37 f. 41.
267
Aufklärung, m. 4. Die Mehrdeutigkeit ilee Begrift's bei Kanl
wärtigen Zeitalters wäre. Was auch immer Kant sich jeweils unter 'Aufklärung'
vorstellt, ob er sie als Begriff einer allgemeinen Entwicklungsphase des Menschen,
als Grundbegriff einer Denkweise oder eines Erkenntnisinhaltes bestimmt,. oder
ob er ihren Bedeutungsumfang weitgehend offenläßt, der Begriff bleibt im hohen
Grade abstrakt und wird in seinen Anwendungsmöglichkeiten zeitlich nicht fest-
gelegt. Wie es für. ihn schon in früheren Zeiten, zumal in der Antike, aufgekliirte
Nationen gegeben hat, so gab es auch in früheren Zeitaltern bereits Aufklärung
und wird es sie desgleichen in künftigen Zeitaltern geben. Kants Frage nach der
Signatur des eigenen Zeitalters lautet nicht, ob es das Zeitalter der Aufklärung,
sondern ob es ein aufgeklärtes oder ein Zeitalter der AufklärÜng sei; und in seiner
Antwort heißt es ausdrücklich, man lebe jetzt in einem Zeitalter der Aufkliirung.
Wenn er dann einige Sätze weiter plötzlich bemerkt, es sei dieses Zeitalter das Zeit-
all.er der Aufkliirung oder das Jahrhundert Friedrichs, dann gilt diese einmalige
Verwendung des bestimmten Artikels nur in diesem Betracht, nämlich im Hinblick
darauf, daß den Menschen jetzt die Möglichkeit eröffnet wird, in Religionsdingen
sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, und, nach
deutlichen Anzeigen zu schließen, die Hindernisse der allgemeinen Aufkliirung ...
allmählich wenig& WfJ'l'dcn; und zwar deshalb, weil Friedrich es fü1r Pfl1ii-ht halte,
in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle
Freiheit zu lassen. Nach dieser Formulierung ist Kants·eigenes Zeitalter nicht dar-
um „das Zeitalter der Aufklärung", weil in ihm die allgemeine Aufklärung zu-
nimmt, sondern weil deren Hindernisse abnehmen 81 •
Nach Friedrichs Tod ist Kant auf diese Wendung nicht wieder zurückgekommen
und hat z.B. 1794 die Gegenwart die Zeit der größten Aufkliirung, die je unter
Menschen war, genannt. Dieser Superlativ macht deutlich, daß es nicht die 'Auf-
klärung' als solche, sondern deren bisher unerreichtes qualitatives und quantitatives
Ausmaß ist, das der „Gegenwart" epochale Einmaligkeit verleiht. Unabhängig
davon gewinnt Kants Aufklärungsbegriff oder genauer: einer seiner verschiedenen
Aufklärungsbegriffe gleichsam den Rang eines geschichtsphilosophis-Ohen Fort-
schritts- und Perspektivbegriffs, wenn er 1784 in seinem Aufsatz über die „Idee
zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" die in den einzelnen
Zeitaltern vorhandene oder gewonnene Aufklärung in Beziehung setzt zur „Ge-
schichte der Menschengattung" als Geschichte der vollen Entfaltung ihrer Natur-
anlagen und „Fortschritt zum Besseren" oder Fortschritt im Gebrauch der; Ver-
nunft. In diesem Zusammenhang scheint 'Aufklärung' jeweils die Summe des
Wissens zu bedeuten, das in einer Generation von der Bestimmung des Menschen
sowie dem Wesen und Zweck seiner Naturanlagen enyorben worden ist. In einer
viel"leicht unabseliUclum Reilte von Zeugungen arbeitet sich der Mensch mit der
allmählichen Verbesserung, Erweiterung und Vermehrung seiner Einsichten in die
Absichten der Natur und die Möglichkeiten der Vernunft aus der größten Rohigkeit
. . . zur größten Geschicklichkeit, innerer Vollkommenheit der Denkungsart und
(soviel es auf Erden möglich ist) dadurch zur Glückseligkeit empor. Dieser geschicht-
liche Fortschritt ist gleichbedeutend mit dem Aufstieg von niedrigsten und klein-
sten zu höchsten und größten Stufen und Ausmaßen der Aufklärung. Er geschieht
Bd. 8, 29.
268
m. 4. Die Mehnleatigkeit des Begri«s hei Kant Auf.ldänmg
auf die Weise, daß die eine Generation der andern ihre Aufklärung überliefert, bis
die Natur endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwickelung
getrieben hat, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist, und so durch fortge-
setzte Aufklärung der Anfang zur· Gründung einer Denkungsart gemcicht ist, welche
die grobe N aturanUi.ge zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte
praktische Prinzipien verwandeln kann. Selbst Rückschläge und politische Kata-
strophen können in Kants Augen den Fottschritt nicht aufhalten, weil bisher
immer ein Keim der Aufklärung übrig blieb, der, durch jede Revolution mehr ent-
wickelt, eine fo'fgende noch höhere Stufe· der Verbesserung vorbereitete 82 •
Markiert Kant hier mit 'Aufklärung' einerseits generell die verschiedenen „Stufen
der Einsicht" beim „Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur", so bezeichnet er
andereTRP.itR mit ihr gelegentlich auch speziell jene Einsicht, die auf die Aufhebung
der persönlichen Einschränkung des Bürgers in seinem Tun und Lassen und
die aUgemeine Freiheit der Religion zielen. In diesem.Sinne sieht er dem Fortschritt
der Freiheit allmählich Aufklärung, als ein großes Gut, entspringen. Eine solche
Aufklärung und mit ihr auch ein gewisser Herzensanteil; den der aufgeklärte Mensch
am Guten, das er vollkommen begreift, zu nehmen nicht vermeiden kann,· müsse nach
und rtacli ltis zu deti Tlironen hinaufgehen, und sel,bst auf ·ih1'e Reg·ierungsgrundsätze
Einßuß haben. Es ist diese 'Aufklärung', mit der Kant dann· hoffnungsvoll die
Perspektive verbindet, daß endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein
al'fgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schoß, worin alle ursprüngliche Anlagen
der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zustande kommen werde 83 •
Nach 1784 zeichnet sich in Kants Sprachgebrauch die Tendenz ab, seine durch
popularphilosopbische Gesichtspunkte geprägte Verwendung des Wortes 'Auf-
klärung' sowie das Schwan lrnn r.wii111hen fOTma,l-i;n hjektiven nnil mateTial-objektiven
Kritierien zugunsten .einer konsequenten Formalisierung des Aufklärungsbegriffs
einzuschränken oder zu präzisieren. Bereits 1786 hat er die Unterscheidung zwi-
schen· 'Aufklärung' und 'Aufgeklärtheit' aufgegeben und unmißverständlich das
Selbstdenken zur einzigen Maxime, d. h. zum subjektiven Grundsatz der Auf-
klärung erhoben: Selbstdenken heißt; den ober.sten Probierstein der Wahrheit in sich
selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu
denken, ist die Aufklärung. Was damit gemeint sein soll, erläutert Kant mit direkter
Spitze gegen die Ansichten derjenigen, welche die Aufklärung in Kenntnisse setzen,
mit den Worten: Sich seiner eigenen Vernunft bedienen will nichts we:iter sayen, als
bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde,
den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man
annimmt, fo'lgt, zum al'fgemeinen Grundsatze seines V ernunftgebrauchs zu machen?
AU:fklärung als zeitlos gültige Methode eines solchen Vernunftgebrauchs muß nach
Kant in ihren „Annahmen" von· einer Rechtfertigung durch objektive Gründe
und materiale Aspekte nicht nur frei sein, sie ist überdies vielmehr ein negativer
Grurulsatz im Gebrauch seines Erkenntnisvermögens, weshalb öfter der, so an Kennt-
nissen überaus reich ist, im Gebrauch derselben am wenigsten aufgeklärt ist. Da. nach
einer Formulierung von 1790 das bloß Negative ... die eigentliche Aufklärung aus-
macht, vollbringt diese, wenn sie genauer als Befreiung vom Aberglauben und Be-
82 Ebd., 19 f. 21. 3Q; Das Ende aller Dinge (1794), ebd„ 339..
0 ~ Ders., Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), ebd., 146f., Anm .. ; Kritik der
Vorrede zur 2. Aufl. (1787), AA Bd. 3 (1904), 19. Vgl. ders., Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft (1793), AA Bd. 6 (1907), 155.
270
m. '- Die Mehrdeutigkeit des Begriff• bei Kant
Verstand weist Kant ausdrücklich die 'Aufklärung' zu, wobei er das SelhsfAlenken
näherhin als die Maxime der vorurteilfreien Denkungsart bezeichnet und diese
wiederum die Maxime des Verstandes nennt.
Aufklärung als Maxime des Verstandes und das bloß N e,gative ... in <ler Denkungsart
muß deshalb dort unvermeidlich zum Problem werden, wo der Mensch etwas zu
wissen verlangt, was über seinen V erstand ist, d. h. wenn er nicht nur durch den
V erstand vermöge der Be,griffe erkennen (intelligere), sondern durch die Vernunft
erkennen o<ler einsehen (perspicere) oder sogar be,greifen (comprehendere) will8 6 . ·
Diese, erkenntnistheoretische Abgrenzung der Aufklärung impliziert in dem Maße
ihre Kritik, als die „aufgeklärte Denkart" absolut gesetzt oder dort ausschließlich
angewendet wird, wo andere Denkarten und Maximen erforderlich sind. Kant selbst
hat eine solche Aufklärungskritik explizite nicht entwickelt, aber durch seine
Zuordnung der Aufklärung zum Verstand und nicht zur Vernunft i. e. S. die
Aufklärungskritik des Deutschen Idealismus indirekt vorbereitet.
Trotz der systematischen Festlegung eines streng formalen Aufklärungsbegriffes
im Rahmen seiner kritischen Philosophie hat Kant auch in den l 790er Jahren
nicht darauf verzichtet, verschiedentlich 'Aufklärung' in einem materialen Sinne zu
gebrauchen und sie dann abermals vornehmlich auf „Religionssachen" zu beziehen.
Während er 1797 von den seinen Glauben betreffenden Einsichten eines Volkes kurz
als der Aufklärung spricht, sieht er 1793 die wahre Aufklärung in der Unterscheidung
zwischen Religion als Fetischdienst, bei dem statutarische Gebote, Glaubensre,geln und
Observanzen die Grundlage und das Wesentliche desselben ausmachen, und der
wahren Religion, wo dies reine Gesinnung und Prinzipien der Siulichkeit sind. Erst
durch eine solche Unterscheidung werde <ler Dienst GoUes . . . ein freier,, mithin
moralischer Dienst 87 • 'Wahre Aufklärung' ist folglich ein Moment jener „Morali-
sierung", die nach Kants Auffassung die Überwindung bloßer „Zivilisierung" und
die Vollendung der Kultur bedeutet; eine Vollendung freilich, deren geschichtliche
Realität ihm allenfalls als das äußerste Ziel der Menschheitsgeschichte denkbar
erscheint.
1798 schließlich befaßt sich Kant in einigen Sätzen mit der Volksaufklärung. Im
Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen ist diese bei ihm nicht identisch mit der
Ausbreitung der Aufklärung genannten Sachkenntnisse, Bildungsgüter, Fertigkeiten
u. ä. m. im Volk. Volksaufklärung in Kants Definition ist die öffentliche Belehrung
des Volks von seinen Pflichten und Rechten in Ansehung des Staats, dem es angeltöret.
Weil es sich hierbei nur ~m natürliche und aus dem gemeinen Menschenverstand
hervorgehende Rechte handele, seien die natürlichen Verkündiger und Ausleger <ler-
selben im Volk nicht die vom Staat bestellete - amtsmäßige .:___, son<lern freie Rechts-
lehrer, d. i„ die Philos<Yphen. Kritisch stellt Kant weiter fest, daß diese Philosophen
um dieser Freiheit willen, die sie sich erlauben, dem Staate, der immer, nur herrschen
will, anstößig sind, und unter dem Namen Aufklärer, als für den Staat gefährliche
Leute verschrien werden, obwohl sie ihre Stimme nicht vertraulich ans Volk (als
der Urteilskraft,§ 40, AA Bd. 5, 294 f.; Logik (1800), Einleitung, Abschn. VIII. AA Bd. 9
(1923), 65. '
87 Ders„ Metaphysik der Sitten (1797), AA Bd. 6, 327; Di~ Religion innerhalb der Grenzen
271
Aufklänmg m. 5. 'Aufklärung' als ,;theoretische Bildung"
welches davon und von ihren Schriften wenig oder gar keine Notiz nimmt), sondern
ehrerbietig an den Staat richten 88 • Eng bringt Kant hier die naturrechtlich ausge-
richtete „ Volksaufklärung" mit der „Publizität", als ihrer politischen Voraus-
setzung, und dem „Fortschritt eines Volks zum Besseren:', als ihrem moralischen
Ziel, .zusammen. Die geschichtliche Perspektivität des Aufklärungsbegriffes, die
auf diese Weise erneut ausgedrückt zu sein scheint, bleibt indessen weiterhin
äußerlich und zufällig und wird im wesentlichen allein durch die Sachverhalte
repräsentiert, auf die ihn Kant jeweils bezieht, d. h. sie ist nicht ein Moment des
Begriffes an sich.
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts behält Kants Aufklärungsbegriff einen varia-
blen, schwankenden Bedeutungsumfang. Er konkretisiert sich weder zum Epochen-
und Bewegungsbegriff noch zu einem zentralen geschichtsphilosophischen Per-
spektivbegriff, wiewohl es gewisse Ansätze in dieser Richtung gibt. Ausschlag-
gebend bleibt für ihn - auch im Blick auf seine unmittelbare geschichtliche
Wirkung - seine formale Bindung an den „Verstand" und seine materiale Fixie-
rung auf die „Religionssachen" und deren Moralisierung.
272
m. 5. 'Aafldinmg' als "theoretische Bild11111J" Aufklänmg
18-90385/1 273
m. 6. 'Aufklänmg' als dift'user Einheitshegrift'
beiwohnenden Grundsätze der ReUgion und Siulichkeit niederzureißen. Der tugend-
liebende AufklJirer wird in seinen Augen deshalb lieber das Vorurteil dulden, als die
mit ihm so fest verschlungene Wahrheit zugkich mit vertreiben, mag diese Maxime
auch von jeher Schutzwehr der Heucheki gewesen sein und Jahrhunderte von Barbarei
und Aberglauben verschuldet haben.
In dieser Auffassung sieht sich Mendelssohn um so mehr bestärkt, als ihm sowohl
der Gedanke an den Mißbrauch der Kultur als auch an den Mißbrauch der .A.uf-
klJirung vertraut ist. Während jener Üppigkeit, Gleißnerei, Weichlichkeit und
Sklaverei erzeuge, schwäche dieser das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Ego-
iBmus, I"eligion und Anarchie. Eine solche Einsicht erscheint ihm gerade in den
aufgeklJirtesten Zeiten am Platze91 • Damit ist von Mendelssohn eine Ambivalenz 1for
Aufklärung angesprochen worden, die Kant immer unbeachtet gelassen hat und auf
die Wieland erst no.oh der Französischen Revolution ausführlich eingegangen i8t.
274
m. 7. Grundlepng der ,,absoluten Aufldänmg"
die Zusammenhänge der Natur exakt zu berechrien und zu beherrschen, die Logik
des De_nkens zu begründen und die Kriterien für die Wahrheit der Erkenntnis,
wenn nicht diese selbst zu liefern; hier repräsentiert 'Aufklärung' die Totalität der
Wissenschaften und die Summe aller ihrer Erfahrungen, das Wesen freier, schöpfe-
rischer Gelehrsamkeit und die allgemeinen Interessen und Rechte der Menschheit,
die Weisheit der St~atsoberhäupter, das Glück der Staatsbürger, die Sicherheit der
Staaten und nicht zuletzt die Schutzmacht der Völke:rl16•
Riems Erhebung der 'Aufklärung' zum undifferenzierten, globalen Einheitsbegriff
von Philosophie, Naturwissenschaft, Geistesstärke und rationaler Lebensführung,
der ihre inhaltliche Konkretisierung zum Epochen- oder Systembegriff von vorn·
herein o.USBchließt, korrespondiert eine. entschiedene Verurteilung jeder „una.uf-
geklärten" Religion, des Priesterdespotismus und Pfaffengeistes. Davon nimmt er
bez.eichrienderweise die heiligste aller Religionen, das Christentum, insoweit aus, als
es bei jedem neuen !Achte der A. ufklärung mit seinem Stifter in höherem Glanze
leuchtet und „vernünftig" ist. Ein Theologe ohne Aufklärung, ohne das Bestreben,
jede Religion am Maßstab ihrer Rationalität, Moralität und Utilität zu messen,
ist ihm eine Pestiknz der Menschheit. Die Reformation des 16. Jahrhunderts und
besonders die reformierte Theulugie Zwinglis wird von Uicm allerdingl!I l!lelber als
4.ufkliilrung bezeichriet. Folgerichtig nennt er Christus den weisen A.ufkliire:r uni!
seine Botschaft Aufklärung, womit er wohl hauptsächlich die reine Tugendkhre
Christi meint'e.
Während er seine Religionskritik bis zum Verwerfen der Trinität treibt, verhält
sich Riem gegenüber dem Staat ausgesprochen zurückhaltend, wenn nicht respekt-
voll. Die Stimme der Aufklärung soll sich nach seiner Überzeugung nur in Ausnahme-
fällen a1i die Beulrteil·ung der Staatsfehler wagen. Wahre AufklärUtUJ ehre sogar im
schwachen Re,geitten ... die Wohltat der erblichen Thronfolge und achte die Majestät
eines Staatsoberhaupts selbst in Tyrannen ... , da die Gesetze und das öffentliche
Wohl ihrer Stimme bedürfeno1.
275
Aufklärung m. 7. Grundlegung der ,,absoluten Aufklärung"
und die Erziehungsideen des Philanthropinismus bestimmt. Zusammen mit Freun-
den gründete er 1787 die freimaurerische „Deutsche Union", deren auf das Beste der
Menschheit gerichteter Zweck durch wahre Aufklärung und Entthronung des Fanatis-
mus und moralischen Despotismus befördert werden sollte. Am Anfang seiner Schrift
teilt er die bisherigen Begriffsbestimmungen sehr instruktiv nach ihren jeweils den
Ausschlag gebenden formalen oder materialen Kriterien in zwei Gruppen ein. Zur
ersten Gruppe rechnet er alle Definitionen, nach denen 'Aufklärung' viel Verstandes-
kraft oder Geisteskraft im hohen Grade bedeutet und man sich unter einem aufge-
klärten Mann eigentlich einen Denker, einen geübten Philosophen vorzustellen hat,
der gründlicher und vollständiger philosophischer Kenntnisse empfänglich ist. In die
.zweite Gruppe weist er alle Definitionen, die unter A 14klär111ny m:nr. ymm:.~.~r. M a.sse. iion
Kenntnissen verstehen, deren Besitz den aufgeklärten Mann auBmachen soll. Dazu
würden an erster Stelle gehören die Kenntwisse der Melaphys,ik, der Logik, des Natur-
rechts, der Moral und Physik, nebst jenen kritischen, exegetischen und historischen
Kenntnissen, die zur Beurteilung und Prüfung der verschiedenen Religionen sowohl als
Staatsverfassungen der Menschen erforderlich sind. Beide Definitionsgruppen schlie-
ßen für Bahrdt die Idee einer Volksaufklärung aus. Deshalb sei es nur konsequent,
wenn in ihrem. Rahmen die einen von der Unmöglichkeit sprächen, Aufklärung bis
in die HiiJJ,en des Volks zu verbreiten, und die anderen hehanptetim, daß ei:ne all.ge-
meine Aufklärung der Nation schädlich sein würde98.
Um Aufklärung zum Gemeingut der Menschheit machen zu können, ist es deshalb
notwendig, sie anders zu bestimmen. Bahrdt tut dies, indem er zunächst den Formal-
begriff der ersten mit dem Materialbegriff der zweiten Definitionsgruppe auf die
Weise verbindet, daß 'Aufklärung' bloß und allein eine gewisse Beschaffenheit der
Erkenntnisse eines Menschen bedeutet; und zwo,r 1. doutliohe Begriffe und 2. eige?~
grii,ndliche Überzeugung. Bahrdt nennt diesen „dritten" Aufklärungsbegriff, der
nicht von ungefähr an Wolffs „notio clara" und die von Kant kritisierte „Deutlich-
machung der Erkenntnisse" in der Logik der Wolffischen Schule erinnert, einen
bloßen Beziehungsbegiiff. Als dieser setze 'Aufklärung' weder eine große Erkenntnis-
kraft noch eine bedeutende Masse von Erkenntnissen voraus, sondern drücke sie
wesentlich d,as Verhältnis einzelner Sätze gegen die Art, wie sie erkannt und für wahr
f}ehalten werden, aus.
Mit diesem Aufklärungsbegriff gibt sich Bahrdt indes noch nicht zufrieden, weil
diese relative Aufklärung ... kein Mensch bei allen Sätzen kahen und man sie daher
am wenigsten vom Volke verlangen könne. Im Fortgang seiner Argumentation stellt
er als vierten Begriff den der ah1mlutr.n Aufklärung auf, die wirklich allen Menschen
·möglich und heilsam und ein Prädikat des ganzen Menschen ist, ohne mit einem uni-
versalen Erkenntnisanspruch verbunden zu sein und hohe Anforderungen an die
Denkkraft zu stellen. Gleichwohl soll sich dieser „absolute" Begriff aber nicht mit
formalen Kriterien (wie der „Beziehungsbegriff") begnügen, sondern darüber hinaus
das Kriterium eines materiellen Objekts enthalten; 'Aufklärung' könne nämlich nur
dann ein Gemeingut der Menschheit werden, wenn sie auf ein Objekt bezogen sei,
dessen Erkenntnis dem Menschen wegen seiner eigenen Glückseligkeit erstrebens-
wert erscheine.
98K. F. BA..HRDT, in: Bibliothek (s. Anm. 20), H. 1 (1846; Ndr. Bd. 1, 1963), 104; ders.,
Über Aufklärung (s. Anm. 4), 5 ff.
276
m. 7. Grundlegung der „absoluten Aufklärung" Aufklärung
In diesem Sinne sind nach Bahrdt für jeden Menschen ... nur zwei Klassen von Er-
kenntnissen wichtig ... : die moralischen und die ökonomischen. Unter den möralischen
verstehen wir diejenigen Erkenntnisse, welche teils als Anweisung und Antrieb zur
Vervollkommnung des Geistes und zur Führung eines tugendhaften Wandels, teils als
Grund des Trostes und der Beruhigung im Leiden und Tode - allen Menschen -
erkennbar und unentbehrlich sind. . . . Zu den ökonomischen Wahrheiten rechnen wir
alle die Erkenntnisse, die ein Mensch zur Erhaltung seiner Gesundheit, zur guten
Führung seines Hauswesens, zur Erziehung seiner Kinder und zur Betreibung seines
Gewerbes nötig hat,99 • Von politischen Erkenntnissen ist an dieser Stelle, die den Ein-
fluß der philanthropinistischen Aufklärungstheorie verrät, auch nicht andeut.tmgs-
weise die Rede -vermutlich wegen der Zensur10o.
Ein aufgekUMter Mensch ist sodann für Bahrdt jeder, der im Rahmen jener beid4:ln
„Erkenntnisklassen" nichts für ganz ausgemacht und sicher wahr hält, bevor er sich
nicht 1. deutliche und eigene Begriffe davon gebildet hat, 2. vernunftmäßige Beweise
davon entdeckt, selbst durchdacht und bei mehrmals wiederholter Prüfung bewährt und
3. - dieses Kriterium wird von ihm unvermittelt formuliert-durch eine zusammen-
stimmende Autorität bestätigt gefunden hat. An die Menge der Kenntnisse eines „auf-
geklärten Menschen" stellt er demgegenüber keine Ansprüche. Sie soll selbst in dem
Fall belanglos sein, wo sich die ganze Summe seiner moralischen und ökonomischen
Wahrheiten nur auf ein Oktavblatt schreiben ließe 101 •
.Als „absolute Aufklärung" erweist sich damit im Endergelmii; i;chlechLerilings jedes
methodisch verfahrende, logisch begründete und erprobte Erkennen oder Selln!L-
denken in moralibus et oeconomicis - unabhängig vom jeweiligen Erkenntnis-
umfäng wid Erkenntnisgehalt. Wie sich mit dem Selbstdenken die „Zustimmung
einer Autorität" als Wahrheitskriterium vereinbaren läßt, wird von Bahrdt nicht
erörtert. Er stellt lediglich fest: Wer alle Autorität verachtet und sich allein bei seinem
Nachdenken und Untersuchungen für untrüglich hält, ist ein ungebildeter V ernünftler
und ist in Gefahr - ein bedauernswürdigster Zweifler zu werden. Und als einziges
Beispiel für eine Autorität, die zur Bestätigung einer vorhergegangenen eigenen Über-
zeugung erforderlich ist, erwähnt er lakonisch die Autorität der „Heiligen Schrift"102 •
Ähnlich wie Riem nennt Bahrdt in diesem Zusammenhang Christus ein Licht der
Welt, das alle Menschen erleuchten und aufklären sollte. Der walire Freigeist - im
edelsten Sinne des Wortes-, der echte Protestant und der echte Christ und Schüler J esu
ist darum derjenige, der sich durch den Geist Jesu hat freimachen lassen vom Gesetz,
d. h. von allem, was dem menschlichen Geiste Fesseln anlegte.
Mit seiner Wesensbestimmung der „absoluten Aufklärung" ist für Bahrdt im Prin-
zip die Möglichkeit gegeben, Aufklärung zu einem Gemeingut der Menschheit zu
machen, nach dem alle Menschen streben und welches Fürsten und Schriftsteller ...
98 Ders., Über Aufklärung, 9 f. 192 f. 43. 47 f.
1oo 1790 - während seiner Festungshaft - nennt er nämlich Aufklärung den freien Ge-
brauch der gesunden Vernunft bei Betrachtung und Beurteilung des Sf.aats, der Religion und
der Menachheit; B.AHBDT, Bibliothek, 86.
1o1 Ders., Über Aufklärung, 193 f.
102 Ebd., 195; vgl. ders., System der moralischen Religion, zur endlichen Beruhigung
für Zweifler und Denker, 2 Bde. (Berlin 1787); ders., Sämtliche Reden Jesu, aus den vier
Evangelien gesammelt und so gestellt, daß man das echte Lehrgebäude über8ehen und mit
der eigentlichen Religion Jesu sich bekannt machen kann (Berlin 1787).
277
A~klärung IV. 1. Polarisierung und Politisierung des Sprachgebrauchs
über alle Menschen verbreiten können. 'Aufklärung' wird in diesem Bezug zu einem
Erwartungsbegriff, der in die Zukunft weist, die bei Bahrdt allerdings merkwürdig
vage bleibt. So sehr er von der Möglichkeit überzeugt ist, Aufklärung zwar nicht
jetzt, nicht in jedem Individuo des dümmsten Indianers und Europäers, nicht in jedem
Türken-, Heiden- und Christenkopfe, wie er gegenwärtig ist, wohl aber nach und nach
und dereinst ... allgemein zu machen 103 , so wird diese Möglichkeit von ihm doch
nicht zu einer geschichtsphilosophischen Gewißheit stilisiert.
Bahrdts Beitrag zur Geschichte des Aufklärungsbegriffes erschöpft sich nicht in der
sachlichen Formulierung des Begriffs 'absolute Aufklärung'. Bemerkenswert ist
außerdem, daß sich bei seinen Bemühungen, Mitglieder für die geheime „Deutsche
Union" zu gewinnen, die Tendenz abzeichnet, den Ausdruck 'Aufklärung' als
Losungswort zu benutzen und ihm den Charakter eines Parteibegriffs zu geben.
Ein Aufruf mit einem anonymen Rundschreiben richtet sich zwar 1787 an die
Freunde der Vernunft, W ahrhcit und Tugend und läßt diese Trias als den eigentlichen
Sammelpunkt seiner auf die Herrschaft der gesunden Vernunft zielenden Bestre-
bungen erkennen; gleichzeitig wendet er sich jedoch an alle, wekhe die Aufklärung
lieben, und erwartet von den Adres\jaten die Versicherung, daß auch sie die Auf-
lrJiirwng Zie.be.n wnd rin d.urchgrei/endea, den atrtmg.dm <i«RRtztm dRr Moral angcmcsscrws
Mittel zur Verbreitung derselben zu kennen wünschen. Um eine Gegenwirkung hervor-
zubringen gegen den großen Haufen unserer Antipoden, sollen alle Mitglieder über
den Plan verständigt werden, die Aufklärung und Bildung der Menschheit zu be-
fördern und alle bisherigO'lli Hindernisse derselben nach und nach zu zerstören. Fast
schon im Stil eines Parteiprogramms erklärt er Anfang 1789: Unser Zweck - ist
Aufklärimg und deren möglichste V erbroitungm.
278
IV. 1. Polarisierung und Politisierung des Spracbgehrauclu Aufklänmg
10 6 Vgl. ADOLF FRH. v. KNIGGE, Über den Umgang mit Menschen, Bd. 2 (Hannover 1788;
Ndr. ebd. 1967), 80. 316. 124; Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der
Französischen Revolution 1780-1801, hg. v. JOSEPH HANSEN, Bd. 1 (Bonn 1931), 360 Anm.
(1789); LEOPOLD Arms HOFFMANN, Geschichte der Päpste (Wien 1791), II.
108 Vgl. ScHAUMANN, Versuch über Aufklärung _(s. Anm. 12), 24 f.
l07 HANSEN, Quellen, Bd. 1, 496 (1789). 701 (1790); Bd. 3 (1935), 52 (1794). 465 (1795);
Allg. dt. Bibi. 88 (1789), 223; Journal von und für Deutschland 7 (1790), 9. Stück, 201;
JoH. MICHAEL SAILER, SW 3. Aufi., Bd. 3 (Sulzbach 1830), 83 (1785 u. 1795).
1o8 SCHAUMANN, Versuch über Aufklärung, 13 f.
109 FRANZ WILHELM FRH. v. SPIEGEL ZUM DIESENllERG, Rede als Kurator bei der Ein-
führung des neuen Rektors der Universität Bonn am 20.11. 1788, in: HANSEN, Quellen,
Bd. 1, 330. Vgl. ScHAUMANN, Versuch über Aufklärung, 78; Braunschweigisches Journal 1
(1789), 5. Stück, 8.
279
Aufkllrang IV.1. Polarisierung und Politisierung des Sprachgehraaehs
zeichnet' werden kann110• Von nun an ist es nicht mehr ungewöhnlich, betont von
Freunden und Feinden der .Aufklärung zu sprechen, wird es sogar weithin üblich,
Anhänger oder Beförderer der Aufklärung und Verteidiger der N ich.taufklärung oder
Unaufklärung antagonistisch zu konfrontieren und diesen Antagonismus als Kul-
minationspunkt des alten Streites zwischen Licht und Finsternis zu deuten, der in der
Gegenwart zugleich ein Kampf zwischen Altem und Neuem, Herkommen und Zu-
kuni1l, Barbarei und Kultur u.ä. sei 111 •
Was auch immer im Streit der Meinungen jeweils unter 'Aufklärung' verstanden
wird, - ob sie beispielsweise als Erkenntnis-, Wissens- oder Verstandesbegriff,
Moralprinzip, Erziehungs-, Lehr- oder Unterrichtsmethode, Kultur-, Bildungs- oder
Zivilisationskorrelat, Systembezeichnung oder Gesinnungssymbol benutzt, material,
formal oder rein funktional begründet, theoretisch-universal, wissenschaftlich-
philosophisch oder praktisch-utilitär, moralisch-pädagogisch aufgefaßt, allgemein-
menschlich oder ständisch differenziert betrachtet wird, ob sie ganz abstrakte und
ubiquitäre Sachverhalte und Vorgänge bezeichnet oder mehr auf Ideen und In-
stitutionen bezogen wird, die der „Moderne" angehören, ob prinzipiell alles ihr
Gegenstand sein kann oder ausschließlich philosophisch-wissenschaftliche Kenntnisse
nnn Fähigkeiten oder allein die „gründliche und deutlioho Erkenntnis der Religion",
religiös-moralische Einsichten oder die möglichst „genaue Kenntnis der Kirche und
des Staates" oder ob berufskundliche, ökonomische und diätetische Sachkenntnisse
für sie konstitutiv sein sollen, ob es sich weiter bei ihr um solche Belehrungen über
staatsbürgerliche Pflichten und Rechte handelt, die der Freiheit des Menschen als
Menschen förderlich sind oder in erster Linie dem Staatszweck dienen, oder ob sie
generell die Verbreitung der für das merumhliche Wohl-sein schlechthin nützlichen
Kenntnisse bedeutet, -in allen diesen und ähnlichen Fällen, ja selbst in den vielen
anderen, wo auch aus dem Kontext nicht mit Sicherheit erschlossen werden kann,
was an der betreffenden Stelle der Autor mit 'Aufklärung' eigentlich gemeint hat,
und 'Aufklärung' häufig eine bloße Redensart ist, löst allein schon die Erwähnung
des Wortes 'Aufklärung' immer wieder bei Freunden und Gegnern emotional die
gleichen Assoziationen und Reaktionen aus. Sie lassen trotz seiner Vieldeutigkeit
'Aufklärung' als etwas erscheinen, das im Grunde „modern" und „progressiv" ist,
Kritik, Prüfung, Wandel und Neuerung impliziert, sich auf irgendeine Weise gegen
Bestehendes und Vorgegebenes richtet und die jetzige „Beschaffenheit der Dinge"
110 Unter den Hauptgründen dieser Politisierung und Polarisierung sind zu erwähnAn da.s
Verbot des Illuminatenordens (1785) in Verbindung mit dem z. T. schon früher einsetzenden
Kampf gegen die Geheimgesellschaften überhaupt und deren angebliche Umsturzpläne,
daa Wöllnersohe Religionsedikt (1788) und die in beiden sowie in den ve1'!1chärfüm Zensur-
maßnahmen nach 1789 (vor allem ab 1791/92) zum Ausdruck kommenden Re;Aktionen
der Regierungen auf die als bedrohlich empfundene Wirksamkeit des philosophisch-reli-
giösen und politisch-gesellschaftlichen „Rationalismus". In der von Ludwig v. Buri hg.
Zeitschrift „Drunter und Drüber" heißt es am 16. 2.1792: Unsere Füraten fangen an, die
Aufklärung wieder zu unterdrücken; aelbat diejenigen unter ihnen, welche aie sonst zu beför-
dern 8'UChten; zit. HANSEN, Quellen, Bd. 2 (1933), 77 Anm. 1.
11 1 ScHAUMANN, Versuch über Aufklärung, 9; SPIEGEL, Rede, HANSEN, Quellen, Bd. 1,
329; Allg. dt. Bibi. 97 (1790), 177; Neue allg. dt. Bibi. 26 (1796), 198; vgl. Journal von und
für Deutschland 9/1 (1792), 3. Stück, 247; FRANZ DAUTZEN11ERG, 'Ober den Geist unserer
Zeit (1792), HANSEN, Quellen, Bd. 2, 6 f.
280
IV. l. Polarisierung und Politisierung des Spraehgelirauchs Aufklärung
Bd. 3 (Leipzig 1790), 174; MEINRAD WmMANN, Wer sind Aufklärer? beantwortet nach
dem ganzen Alphabet, 2 Bde. (Augsburg 1786); Allg. dt. Bibi. 88/1 (1789), 223.
118 Vgl.obenS.262;J.G. v.ZIMMERMANN,Fragmente, Bd. 3, 180.183.194;ders.,Denkschr.
an Kaiser Leopold II. über die Auswüchse des Zeitalters und die Möglichkeiten ihrer Be-
281
AufkJlrung IV. 1. Polarisienmg und Politisierung des Sprachgebrauchs
Als einer der Hauptwortführer des Kampfes gegen eine so eingeschätzte Aufklärung
hat sich JOHANN GEORG v. ZIMMERMANN exemplaris(lh hervorgetan. Seine a:ffekt-
geladene Polemik richtet sich speziell gegen die Berliner Aufklärer, vor allem gegen
den Kreis um Nicolais „Allgemeine Deutsche Bibliothek" und die von Gedike und
Biester herausgegebene „Berlinische Monatsschrift", danach gegen Bahrdt117 und
auch gegen die „Volksschulmeister" in Braunschweig, also den Kreis um das
„Braunschweigische Journal" von Campe, Heusinger, Stuve und Trapp. In einer
Denkschrift an Kaiser Leopold II. beschuldigt er 1791/92 die deutschen Aufklärer
oder Worthalter der Vernunft der politischen Mordbrennerei und behauptet, sie woll-
ten die Fürsten entbehrlich machen und reizten ihre Untertanen zum Aufruhr. Den
Wahnwitz unseres Zeitalters will er in der Begierde erkennen, heimlich oder öffentlich
alle Völker so aufzuklären, damit sie die Fesseln aller Religion abwerfen, ihre Könige,
ihre Fürsten und ihre Regierungen absetzen und keine andere Herrschaft anerkennen,
als die H crrsohaft der Volksschulmeister und der V olkskraft118 . Für Zimmermann sind
dergestalt die Ideen der „deutschen Aufklärer" der Ausdruck eines entschiedenen
antireligiös-politischen Radikalismus, der die Errichtung einer religionslosen De-
mokratie zum Ziel hat. Während es wenig später weithin üblich wird, in diesem
Sinne Aufklärung und Jakobinismus zu identifizieren, hat Zimmermann seinerseits
schon 1790 das, was er summarisch berl·irt'isclw Aufklärung zu nennen pflegte, wir-
kungsvoll unter den Begriff llluminatismern subsumiert und hierdurch· entlarven
wollen. In seinen „Fragmenten" tituliert er die berlüi-isclten A·u/klärer uuer Berliner-
philosophen in rabiatester Manier z.B. als Aufklärerbande, Aufklärungssynagoge,
schändliche Betrüger, Schwärmer, gelehrte Marktschreier und politische Quacksalber,
nennt er ihre Ideon, Lohron und Üborzougungcn Jcsuitcnricclwrci, Marktschrcierei,
Volksverführung, Windbeutelei, mondsüchtige Aufklärungsnarrheit (illuminatisme),
Abgang, Denkfrechheit, Sehnsucht für die Herüberkunft und Verdeutschung der fran-
zösischen Hundswue120.
Angesichts der heftigen Kritik, die das preußische Religionsedikt vom 9. 7.1788
gerade in Berlin hervorrief, und der fortgesetzten Versuche, seine Durchführung zu
vereiteln, erklärt Zimmermann: Dieses ganze Beginnen nennet man jetzt in Berlin
Aufklärung (llluminatisme); die Mitglieder der Synagoge heißen Aufklärer (lllumi-
kämpfung (1791/92); abgedr. FluTz VALJAVEO, Die Entstehung der politischen Strömungen
in Deutschland, 1770-1815 (München 1951), 519; HANSEN, Quellen, Bd. 2, 236 Anm.
(1792); Bd. 3, 52. 59 f. (1794); Wohin zielen die Absichten der heutigen Aufklärer?,
in: Neueste·Sammlung jener Schriften, die vor einigen Jahren hier über. verschiedene
wichtigsten Gegenstände zum Steuer der Wahrheit im Druck erschienen sind, Bd. 13
(1785), 59 ff. .
111 Vgl. dazu BAHRDTS Gegenschrift „Mit dem Herrn von Zimmermann •.• D1mtsch
gesprochen" (1790), in: Bibliothek (s. Anm. 20), Bd. 1, 83 ff. Ferner: Flm. v. KNIGGE Die
deutsche Union gegen Zimmermann. Ein Schauspiel in vier Aufzügen (Dorpat 1790).
11e ZIMMERMANN, Denkschr„ 516 ff.
11e Daß Zimmermann mit der Bezeichnung 'Illuminatisme' trotz ihrer französischen Fas·
sung auf den 1776 in Ingolstadt von Adam Weishaupt, der sich Spartacus nannte, ge-
gründeten und 1785 verbotenen Geheimorden der Illuminaten anspielt, dürfte unbestreitbar
sein.
120 ZIMMERMANN, Fragmente, Bd. 3, 190 f. 165. 173. 150. 149. 177. 181 u. passim. Ähnlich
BAHRDTS Pasquil „Das Religionsedikt", 2 Tle. (Wien 1789).
282
IV. 2. „Wahre" und ,,falsche" Aufklänmg AufkJänmg
nants); und Aufgeklärte (Illumines) heißen die blinden Sklaven dieser Sekte 121 • Im
weiteren Verlauf seiner Auseinandersetzung stellt er schließlich folgende Definition
auf: Berlinische Aufklärung in Absicht auf Sf,a,af,sverfassung und Regierungssachen
(llluminatisme politique) ist Glauben an Mirabeau, Berlinische Aufklärung in Ab-
sicht auf Religion (llluminatisme philosophique) ist Wegwerfung unserer ersten und
wichtigsten Religionsgrundsät,ze, Bestreitung einer hökern Offenbarung, willkürliche
Behandlung der Bibel und geheime Untergrabung ihres göttlichen Ansekens122 • Mit dem
Namen Mirabeau will er hierbei einen umstürzlerischen Antidespotismus und zügel-
losen Reformeifer bezeichnen.
Neben Zimmermann bekämpften auch andere die Aufklärung als Illuminatismus,
für dessen hervorstechendstes Merkmal man übereinstimmend planmäßige Ver-
schwörertätigkeit hielt,
121 ZIMMERMANN, Fragmente, 169. Vgl. FruTz VAL.JAVEC, Das Wöllnersche Religions-
edikt und seine geschichtliche Bedeutung, Hist. Jb. 72 (1953), 386 :ff.
122 ZIMMEBlllANN, Fragmente, 179. .
123 Vgl. dazu oben S. 255 das Zitat von SALZMANN sowie die Beispiele bei ScHA.UMANN,
Versuch über Aufklärung, 25 f.; ferner HANSEN, Quellen, Bd. 3, 57 Anm. (17Q4).
IH GEORG WEDEKIND, Über Aufklärung. Eine Anrede an seine lieben Mainzer, gehalten
in der Gesellschaft der Volksfreunde zu Mainz am 26. Oktober im ersten Jahre der Freiheit
und Gleichheit (1792), in: Mainz zwischen Rot und Schwarz. Die Mainzer Revolution
1792-1793 in Schriften, Reden und Briefen, hg. v. CLAUS TRÄGER (Berlin 1963), 154.
283
Aufkläruag IV. 2. „Wabre" uncl ,,falsche" Aufkläruag
125 Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, hg.
V. HEINBICH SCHEEL (Berlin 1965), 441. 452 (1800/01).
as WEDEXIND, Über Aufklärung, 151. 153. 152 f. Da gibt es auch wie.der amkre, die sagen,
die Art der Aufklärung taugt nichts, man hiilt filr A1ifk'lärung, was nicht .Aufklärung ist. -
Seht, so schwätzen die Leute immer viel über Aufk'lärung und werden nicht einig Z'U8am-
men (148).
1 2 7 CHll.ISTOPH MEINERS, Hist.orieche Vergleichung der Sitten und Verfassungen, der
Gesetze und Gewerbe, des Handels und der Religion, der Wissenschaften und Lehranstalten
des Mittelalters mit denen unsers Jahrhunderts in Rücbicht auf die Vorteile und Nach-
teile der Aufklärung, Bd. 3 (Hannover 1794), 526 f. 528.
1
284
IV. 2. "Wahre" und ,,falsche" Aufklärung Aufklärung
285
IV. 3. Neotralisienmg dea Allgemeinbegriil1
immer wieder auf die Abgrenzung der falschen von der wahren Aufklärung, mochte
auch der Vorwurf der falschen Aufklärung vorzüglich den radikalen Vorkämpfern
des religiös-politischen Rationalismus gemacht werden.
Als Beispiel sei hier die Bestimmung erwähnt, die 1794 MEINERS gegeben hat: Unter
falscher Aufklärung verstehe ich eine jede Sammlung von Grundsätzen und Lehrsätzen,
wodurch vielleicht Aberglauben und Schwärmerei gehemmt, aber auch zugleich der
Glaube an das Dasein und die Vorsehung Gottes, an Unsterblichkeit der Seele und wahre
Tugend zerstört oder geschwächt ... und eben dadurch Unterdrückung, Zügellosigkeit
und Anarchie hervorgebracht oder vorbereitet werden. Derartige Grundsätze und
Lehrsätze seien auch deshalb falsche Aufklärung, weil sie nicht nur die Glück-
seligkeit und Tugend einzelner Menschen, sondern auch die Ruhe der Gesellschaft
untergraben 131 •
In diesen Zusammenhang gehören gleichfalls jene nach 1795 sich mehrenden und an
Westenrieder erinnernden Stimmen, die verlangen, daß die durch Aufklärung ver-
mittelten Kenntnisse nicht bloß theoretisch den Verstand aufhellen, sondern auch
prak1.1:.~nh mlf dfl.~ HP.rr. tt.nd a.u.s dem Herzen toirken müssen, wenn Bio don Namen
wahrer Aufklärung verdienen sollen 132 , oder für welche wahre Aufklärung allein die-
jenige Aufklärung ist, welch.e da.Y Herz veredelt und die Menschenliebe befördert133 •
Anstelle von „falscher Aufklärung" ist in den neunziger Jahren wiederholt von
Afteraufklärung und Afterphilosophie134 die Rede, bis sich die abschätzigen Be-
nennungen Aufklärerei und Aufklärling selbst in den Kreisen durchsetzen, die dem
„Rationalismus" nicht kritisch gegenüberstehen1 35.
Je mehr sich in den Auseinandersetzungen der neunziger Jahre die Gegensätze ver-
steiften und widersprüchliche Aufklärungsdefinitionen die allgemeine Begriffs-
verwirrung vergrößerten, desto stärker wurde die allgemeingültige, genaue Bestim-
mung des Aufklärungsbegriffs als eminent wichtiges Zeitbedürfnis empfunden 138•
Um dieses Bedürfnis zu befriedigen, schienen zwei Wege besonders erfolgverspre-
chend zu sein: 1. der Ausgang von einer Verbaldefinition und 2. eine streng logisch
verfahrende, auf die Bestimmung der „Aufklärung überhaupt" zielende Begriffs-
bildung, die als Gattungsbegriff an der Spitze eines ganzen Begriffssystems 'Auf-
286
IV. 3• Neutraliaierang des Allgemeinhegriila
klärung' stehen sollte. Schon 1790 glaubte A. RAABE, dann am wenigsten auf Wider-
spruch zu stoßen, wenn er das Wort Aufklärung, welches so viel gemißbraucht ist,
daß es verdächtig und verächtlich wurde, so verstehe, daß es grün<lliche Belehrung über
alle wissenswerte Kenntnisse bedeute. Diese Bedeutung stimme völlig mit der Sache
überein, die das Wort bezeichnen soll, nämlich das Verschaffen klarer Begriffe und
Vorstellungen von einem Gegenstand durch eine Erleuchtung in Gestalt gehöriger
H ül/smittel1 37 •
Am intensivsten hat sich 1793 ScHAUMANN darum bemüht, die Voraussetzungen zu
gewinnen für die Aufstellung jener Merkmale, die dem reinen Begriffe von Auf-
klärung - demjenigen Begriffe, durch welchen weder die wahre noch die /alsche, weder
die nützliche noch die schädliche, sondern nichts als Aufklärung überhaupt gedacht
wird - nichts weniger als eigentümlich sin<l. Beginnend mit dem Stammbegriff von
Aufklärung, dem Begriff klar, kommt er am Ende einer eingehenden Analyse der
reinen Wortbedeutung - zunächst in seiner sinnlichen Beziehung und dann in
seiner Beziehung auf geistige Erscheinungen - zum reinen un<l bestimmten Begriff
il.er At4k1iirwng iihP:rn.anpt, cfor cfü1 charakteristischen Merkmale der Gattung Auf-
klärung enthält. Durch Determination gelangt er dann zum Artbegriff 'Aufklärung'
und unterscheidet prinzipiell so viele Arten Aufklärung, wie es artbegründende
Merkmale gibt. Genauer unterscheidet er einmal religiöse, philosophische, politische,
juristische, ökonomische usw., mithin ihrem Gegenstandsbereich nach verschiedene
Aufklärung, und zum anderen formal, funktional und kategorial verschiedene Auf-
klärung, und zwar sinnliche, intellektuelle, rationelle Aufklärung, theoretische,
praktische, ästhetische Aufklärung, echte, unechte, einseitige, allseitige, falsche,
wahre Aufklärung138 • Alle diese Aufklärurigsarten sind für ihn als solche - mit Aus-
nahme der rationellen Aufklärung, die von ihm wieder _in theoretische oder prak-
tische Aufklärung unterteilt wird, - unabhängig voneinander; sie haben nur das
generische Merkmal miteinander gemeinsam und dürften daher eigentlich auch nur
mit dem sie spezifizierenden Beiwort verwendet werden.
Damit hat Schaumann - und das ist begriffsgeschichtlich gesehen vielleicht sein
wichtigster Beitrag zur Aufklärungsdiskussion der neunziger Jahre - zum ersten
Mal systematisch der Annahme den Boden entzogen, die Aufklärung sei in concreto
nur eine und es könne deshalb auch nur eine Begriffsbestimmung der Aufklärung
die allein richtige sein. Eine allein richtige, allgemeingültige Begriffsbestimmung ist
nach seiner Argumentation nur von der „Aufklärung überhaupt", also in abstracto,
möglich. Indes sei bisher gerade eine solche' Bestimmung nicht entwickelt worden,
wie er im Anschluß an eine instruktive historische Erörterung des Begriffes Auf-
klärung nachzuweisen suchte.
-In dieser historischen Erörterung, die als eine der ersten ihrer Art besondere Be-
achtung verdient, setzt Schaumann den Beginn der Periode der Aufklärung nach der
Periode des Genies und der Phanta.sie an, d. h. am Ausgang der siebziger Jahre. Aller-
dings räumt er ein, es habe schon lange vor der Entstehung des Namens Aufklärung
und au/geklärte Männer gegeben: Sokrates, Arißtoteles, Epikur, Lukrez, Cäsar, Horaz
und Luther. Auch sei das Wort Aufklärung kein Neuling in unserer Sprache. Aber auf
187 A. Ru.BE, Trägt das Studium der alten Sprachen zur Aufklärung bei?, Journal von
287
Aufklärung IV. 3. Neotralisiemng des Allgemeiahegri6
geistige Tatsaclien sei es erst damals bezogen worden. Die „Allgemeine deutsche Biblio-
thek", Lessing, Mendelssohn, Semler, Wieland, Spalding u. a. hätten die Herrschaft
des Verstandes eröffnet, und die Periode der dunkeln Vorstellungen und Gefühle habe
der Periode der Begriffe Platz gemacht. Schließlich sei das Mittel, wodurch man den
V erstand ... in alle seine Rechte wieder einzusetzen suchte, ... Aufkliirung genannt
worden. Danach sei der Aufklärungsbegriff immer abstrakter und formaler geworden
und seine Anwendung über Theologie und Religion hinaus auf so viele verschiedene
Gegenstände ausgedehnt worden, daß er jede Eindeutigkeit verloren habe und man
direkt erschrecke, wenn man sehe, was man sich itzt alles unter Aufklärung denkt,
was nicht bloß unter den Ungebildeten, sondern auch unter den Gebildeten unter diesem
Namen verkauft wird.
Daraus zieht Schaumann den Schluß, daß die folgenschweren Streitigkeiten über
Aufklärung auf das bei den streitenden Parteien obwaltende Mißverständnis aber
den Begriff Aufklärung zurückzuführen sind. Dieses Mißverständnis hinwiederum
beruhe auf der Verwechslung von Art- und Gattungsbegriff,. durch die unterschied-
liche Urteile über die Aufklärung zwangsläufig zu. disjunktiven würden, weil 11ie
fälschlich auf ein und dieselbe Aufklärung bezogen würden, während sie in Wahrheit
jeweils eine objektiv andere Aufklärung meinten. Wo immer die jeweils intendierte
Aufklärungsart exakt bezeichnet werde, ließen sich dagegen alle logisch formulierten
Aussagen über die Aufklärung miteinander vereinbaren und als etwas Richtiges
erweisen: Das Recht ist also zwisclien den streitenden Parteien geteilt. Die Wahrheit
liegt auch hier in der Mitte. Die Gegner sowohl als die Freunde der Aufkliirung behaup-
ten etwas Richtiges, wenn sie nur ihre behaupteten Sätze genauer bestimmen.
Im Verlauf seines Versuches, den Antagonismus zwischen „Freunden und Feinden
der Aufklärung" theoretisch aufzuheben, kommt freilich auch Schaumann im Grunde
nicht umhin, unter anderem Namen wahre und falsche Aufklärung erneut mit-
einander zu konfrontieren. Er unterscheidet nämlich scharf zwischen der Aufkliirung
der Weisheit und der Aufkliirung der Klugheit und verbirgt nicht seine Sympathien
für die erstere. Während jene für den uneigennützigen, rein vernünftigen Trieb
arbeite und die Tätigkeit der Vernunft für die Vernunft selbst wecke, arbeite diese
für den eigennützigen, sinnlichen Trieb und betätige für dessen Interesse die (theo-
retische) Vernunft. Jene wirke nach den 'unveränderlichen Gesetzen der Moral,
diese nach den veränderlichen Regeln der Politik. Und wie er jene durch Sokrates,
Jesus, Luther, Zollikofer, Garve, Kant, Jacobi, Reinhold, Dalberg, Schiller und
8palding rAprä.sentiert sieht, so diese durch Mohammed, die Jesuiten, Mirabeau und
andere französische Revolutionäre 1 39„
Schaumanns Absicht, den „Streit über Aufklärung" durch :µistorische Erörterungen,
philologische und logische Deduktionen zu schlichten und als philosophisches Pro-.
blem durch die Neutralisierung des Gattungsbegriffs 'Aufklärung' endgültig zu
lösen, mißlang. Das gleiche gilt für MEINERS' ähnlich orientierte Bemühungen, den
Aufklärungsbegriff jenseits von „Reaktion" und „Fortschritt" im Prinzip auf einer
l'osition der Mitte und des Ausgleichs zu fixieren. Zu diesem Zweck unterschied er
zwischen dem allgemeinsten Sinn und der engeren Bedeutung von 'Aufklärung'.
Unter jenem versteht er eine jede Masse von schönen und nützliclien Kenntnissen,
wodurch der menschliche Geist gebildet oder das Herz des Mensclien veredelt wird. Nach
288
V. Wortgebrauch in der ,,Deutschen Bewegung"
dieser besteht sie in einer solclten Kenntnis der Natur und ihres Urhebers, in einer
solclten Kenntnis des Mensclten und seiner Verhältnisse, wodurch diejenigen, welclte
sie besitzen, gegen Aberglauben und Schwärmerei ebensowohl als gegen Unglauben,
gegen Despotismiis wie gegen Anarchie und Zügellosigkeit bewahrt oder davon befreit
und über ihre wahre Bestimmung und Glückseligkeit, über ihre Pßichten und Rechte
unterrichtet werden140•
Obwohl es diesen Definitionsversuchen nicht gelang, eine allgemeine Übereinkunft
über die Verwendung des Wortes 'Aufklärung' zu erzielen, sind sie symptomatisch
für den damaligen Stand und den weiteren Verlauf der Geschichte des Au,fklärungs-
begriffes. Meiners und vor allem Schaumann haben nicht allein großen Einfluß auf
den in den Lexika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts festgehaltenen Sprach-
gebrauch gehabt, sondern darüber hinaus maßgeblich dazu beigetragen, daß die
Bedeutungsverengung des Aufklärungsbegriffs zum historischen System-, Richtungs-
oder Epochenbegriff nur sehr zögernd Anklang fand und seine allgemeine Verwen-
dung als neutralen „Gattungsbegriff" nicht in Frage zu stellen vermochte.
1. Vorbemerkung
Es ist eine der nicht wenigen Paradoxien in der Geschichte des Aufklärungsbegriffes,
daß zu denen, die ihn am eindringlichsten und nachhaltigsten zum Inbegriff der die
„Moderne" geistig begründenden Prinzipion, Mothodon, .Anooho.uungon und Vor
gänge formten und als „rationalistischen" System- oder Richtungsbegriff festlegten,
an vorderster Stelle „Gegner der Aufklärung" gehören. Zwar wäre es unzulässig zu
behaupten, der historische Epochen- und Bewegungsbegriff 'Aufklärung' sei zuerst
von konservativen.und antirevolutionären Aufklärungskritikern konzipiert worden;
dennoch läßt sich nicht übersehen, daß er durch sie entscheidend vorbereitet worden
ist, weil sie stärker als andere daran interessiert waren, die zahlreichen Definitionen,
Deutungen und Verwendungen des Ausdrucks 'Aufklärung' ideologisch zu verein-
heitlichen, und sie aus polemisch-systematischen Gründen eher bereit waren, wegen
der vermeintlich gleichen oder gemeinsamen Voraussetzungen und Konsequenzen
ihres Ansatzes die „Freunde der Aufklii.nmg" für konformer und radikaler zu halten,
als diese es selbst taten. Nicht zufällig erwächst die erste voll und ganz geschichts-
philosophisch motivierte Anführung des Aufklärungsbegriffs aus einer wahrhaft·
religiös empfundenen, in irrationalen Gewißheiten verwurzelten und zu alledem von
eschatologischen Erwartungen erfüllten extremen Gegnerschaft. Sie findet sich 1799
in dem für die romantische Geschichtsauffassung programmatischen Aufsatz von
NovALIS über „Die Christenheit oder Europa", der sicherlich einen der wichtigsten
Einschnitte in der Geschichte des Aufklärungsbegriffes markiert und im bestimmten
Sinne die romantische Gegenbewegung gegen den rationalistischen Geist des 18.Jahr-
hunderts eröffnet. Die aus der Geistesgeschichte bekannte Kritik der Romantik am
Rationalismus wird hier von Novalis ausdrücklich Init dem Aufklärungsbegriff ver-
knüpft und in weltgeschichtliche Zusammenhänge gestellt.
19-90385/1 289
Aufklärung v. 2.1..eUing
Um den .Anteil der Romantik und überdies des Deutschen Idealismus an der Be-
deutungsverengung des Aufklärungsbegriffs zum inhaltlich rein rationalistischen,
neuzeitlichen System- und Epochenbegriff voll ermessen zu können, ist zu beachten,
daß die Romantik nicht den Anfang, sonderri das Ende mannigfaltiger Gegenströ-
mungen des 18. Jahrhunderts gegen den „Rationalismus" bildet und spätestens seit
der Mitte des Jahrhunderts der „Irrationalismus" sich in den kulturkritischen Aus-
einandersetzungen der Zeit mächtig ausbreitet. Die Geistesgeschichte verweist hier
auf die einflußreichen Gegenströmungen der sog. englischen Präromantik, die star-
ken Wirkungen Rousseaus, die Gefühlskultur des Pietismus und der sog. Empfind-
samkeit, die als sensualistische Unterströmungen den dominanten Rationalismus
zunächst mehr in Gestalt komplementärer Geisteshaltungen, Lebensweisen oder Stil-
richtungen begleiteten, bis sie ihn dann zurückdrängten, sowie vor allem auf die
Sturm-und-Drang-Bewegung, deren politisches Credo und Freiheitspathos freilich
den Ideen des politischen Rationalismus verpflichtet blieb. Es erhebt sich deshalb
die Frage, wie in diesen Gegen- und Unterströmungen 'Aufklärung' bestimmt oder
verwendet worden ist. Sie soll am Beh1piel von Lessing, Hamann, Herder und Schiller
beantwortet werden. Hamann und Herder verdienen um so größere Aufmerksam-
keit, als sie die geistigen Väter der Sturm-und-Drang-Bewegung waren und gemein-
hin zu den Hauptgegnern der Aufklärung oder den hervorragendsten Wortführern
des „Kampfes wider die Vernunft" (Carlo .Antoni) gerechnet werden. Für Lessing
gilt das gleiche, wenn man in ihm nicht nur einseitig den Wegbereiter oder gar
Vollender, sondern mehr noch den Kritiker und Überwinder der Aufklärung
sieht. Und Schiller gebührt eine solche Aufmerksamkeit nicht minder, weil er, der
in seiner Frühzeit leidenschaftlich für die Freiheitsforderungen des Rationalismus
eingetreten ist, sich in der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution
als einer der schärfsten Kritiker dieser Revolution und der „abstrakten Vernunft"
erwies.
2. Lessing
Trotz seiner hervorragenden Stellung im Geistesleben des 18. Jahrhunderts ist
LESSINGS Beitrag zum Thema Aufklärung in begriffsgeschichtlicher Hinsicht er-
staunlich schwach. Er kennt selbstverständlich das Wort 'Aufklärung', benutzt
es aber in seinen Schriften und Briefen relativ selten und meistens in seiner
neutralen Bedeutung. Irgendeinen epochalen Sinngehalt mißt er ihm nicht bei,
und direkte .Ansätze zu einem Bedeutungswandel sind in seinem Sprachgebrauch
nicht erkennbar. 1768 versichert erz. B. einem Kritiker seines „Laokoon", daß
es diesem bei seinen Erinnerungen und Widerlegungen lediglich nur um die Auf-
klärung der Sache, nur um die Wahrheit zu tun ist und nicht um die Eitelkeit,
alles besser zu wissen. 1773 spricht er im gleichen Sinne von der Aufklärung und
Berichtigung der Geschichte des sogenannten falschen Demetrius. 1776/77 versteht
er es als eine zeitlose Aufgabe und Eigenschaft des Philosophen, sich die dunkeln
lebhaften Empßndungen ... in deutliche Ideen aufzuklären und hinsichtlich eines
von der Schwärmerei beanspruchten spekukitiven Enthusiasmus die Begriffe, worauf
es dabei ankommt, aufzuklären und so deutlich als möglich zu machen. In einem
Brief an Fr. Nicolai ist 1779 davon die Rede, daß ein Buch, welches die kaiserliche
Bücherkommission verbiete, durchaus kein denkender Kopf so behandeln müsse; gerade
290
v. 2. Le,eeing Aufklärung
weil es in gewissen Ländern verboten wäre, sei es zuverlässig zur Aufklärung gewisser
Menschen zuträglich. Hier und auch anderwärts weist er den Vorwurf zurück, es der
Welt zu mißgönnen, daß man sie mehr aufzukären suche, und es nicht von Herzen zu
wünschen, daß ei.n jeder über die Religion vernünftig denken möge141 •. Dabei zeichnet
sich ein zeitspezi:fischer Sprachgebrauch ab, der jedoch ohne begrifflich-theoretische
Konsequenzen bleibt.
In seinem geschichtsphilosophischen Versuch von 1780, der. „Erziehung des Men-
schengeschlechts", zeigt sich dagegen bei Lessing nicht einmal andeutungsweise die
Absicht, 'Aufklärung' z.B. als Sammelnamen der „Vernunftswahrheiten" oder In-
begriff der „Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten" auf der
geschichtlichen Stufe des Übergangs zur „Zeit der Vollendung" zu bestimmen. Wohl
erscheint es ihm unumwunden o.ls ein ethisches Postulat, daß der V erstand in der
Übung an geistigen Gegenständen zu seiner völligen Aufklärung gelangen und die-
jenige Reinigkeit des Herzens hervorbringen soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst
willen zu lieben, fähig macht. Auch wirft edm gleichen Zusammenhang rhetorisch die
Frage anf, oh da.' menschliche GC$chlecht auf diese höchste Stufen der Aufklärung und
Reinigkeit nie kommen soll 1 und ordnet solchermaßen die höchste Stufe der. Auf-
klärung dem Ziel der Menschheitsgeschichte zu, insoweit diese mit der „Erziehung
des Menschengeschlechts" identisch ist. Aber wenn schon von dieser Menschheits-
geschichte generell gilt, daß ihr Ziel für Lessing nicht in einer zeitlich gemeinten Zu-
kunft liegt, so gilt das noch weit mehr für die Aufklärung, deren geschichtlicher und
geschichtsphilosophischer Charakter nicht zwingender ist als der von „Reinigkeit"
oder „Ausbildung" und allemal an Evidenz gänzlich hinter dem von „Erziehung"
zurücksteht. Auch und gerade in der „Erziehung des Menschengeschlechts" ist und
bleibt 'Aufklärung' gewissermaßen ein noetisoher Qualitätsbegriff und wird sie als
solcher zur (inho.ltlioh unbestimmten) Kategorie eines stufenweise sich voll-
ziehenden autonomen Erkenntnisprozesses des Verstandes. Durch ihn bewirkt nicht,
sondern erlangt der Verstand am Ende „völlige Aufklärung" über seine eigentüm-
lichen Kräfte aud Aufgaben, wodurch wiederum der Mensch in die Lage versetzt
wird, das Gute zu tun, weil es das Gute ist14 2 •
Während sich 'Aufklärung' somit wesentlich auf bestimmte Eigenschaften und
Kräfte des menschlichen Verstandes bezieht, verwendet Lessing mit Vorliebe den
Ausdruck 'Erleuchtung', wenn es ihm darum zu tun ist, nicht besondere Er-
kenntnisf ähig kei te n, sondern besondere, substantielle Erkenntnisinhalte her-
vorzuheben143. Mit dieser Bedeutung des Wortes 'F.rlimr.htnng' stimmt es übereill,
do.ß er vom 18. Jahrhundert als der weit erleuchteteren Zeit spricht und an einer
anderen Stelle die Völker Europas als die Völker dieses jetzt so erleuchteten
m LESSING, Briefan Christ.oph Gottlieb v. Murr v. 25. 11. 1768, Werke (Hempel)., Bd. 20/1,
hg. v. Karl Christian Redlich (Berlin o. J.; zit. „Briefe"), 299; Beantwortete Anfragen,
Werke (Petersen/Olshauaen; zit. „Werke"), Bd. 25 (o. J.), 55; "Ober eine zeitige Aufgabe
(1776/77), ebd., Bd. 24, 150 f.; Brief an Friedrich Nicolai v. 30. 3. 1779, Briefe, Bd. 20/1,
786; an Karl Lessing V• 2. 2. 1774, ebd., 571.
142 Ders., Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777), Werke, Bd. 6, 80f.
143 Ebd., 72; Ernst und Falk (1777), ebd., 39; Vierter Anti-Goetze (1778), Werke, Bd. 23,
212; Axiomata (1778), ebd., 174; ähnlich auch bei Hamann, Herder und Schiller (nach
1790).
291
Aafldänmg v. 2. Lessing
Weltteils bezeichnet. Daneben verwendet er Formulierungen wie phil<>so-phischere
Zeiten oder aufgeklärtere, tugendhaftere Zeiten. Auffällig ist die vorherrschende
Komparativform der von Lessing zur Charakterisierung der eigenen Zeit benutzten
Adjektive. Sie schließt zwar die alleinige Zuordnung dieser Adjektive zum 18. Jahr-
hundert aus, verleiht diesem aber gerade dadurch den Charakter des Progressiven.
Das darf freilich in seinem sachlichen Gewicht nicht überschätzt werden. Im Grunde
liegt Lessing die Absicht einer historisch-systematischen Analyse und Einordnung
seines Zeitalters fern. Die große Veränderung, welche zu unsern Zeiten mit der
christlichen Religion geschehen ist und geschieht, hat Lessing deutlich wahrgenommen,
ohne indes den Versuch zu unternehmen, sie in spezifischer Weise auf den Begriff
zu bringen. In den itzigen Religionsbewegungen sah er gelegentlich keine V erände-
rungen in der Ordnung der Dinge, sondern höchstens Fermentationen ... , welche die
Bewegung, •in welcher das fermentierende Ding mit andern Dingen außer ihm steht,
nicht ändern, sondern zur Aufklärung und zum Wachstum desselben beitragen. 'Auf-
klärung' wird an dieser Stelle ganz im ursprünglichen Wortsinn als der natürliche
Vorgang des Klarwerdens und Enttrübens verstanden und zielt metaphorisch auf
das Bestreben der evangelischen Kirche, noch weiter in sich selbst zu wirken und alle
heterogene Materie von sich zu stoßen1 44.
Als Beitrag zur „Fermentation" des „wahren Christentums" und nicht als „Ver-
änderung in der Ordnung der Dinge" hat Lessing auch seine eigene kritische Be-
schäftigung init der „christlichen Religion" aufgefaßt. Den Widerstreit der Zeit
zwischen Vernunft und Offenbarung suchte er weder alternativ noch dadurch zu
lösen, daß er ihr theologisches Mit-, Neben- oder Gegeneinander in ein geschichts-
philosophisches Nacheinander transformierte. Er verstand es vielmehr als den
Auftrag der autonomen Vernunft, sich in Freiheit der transzendenten Offenbarung
zu öffnen145• Seine Kritik richtet sich gegen Deisten und Neologen nicht weniger
scharf als gegen die Orthodoxen. Demgemäß haben die Begriffe Freidenkerei und
Freigeisterei für ihn überwiegend negative Bedeutung. Beide Begriffe bezeichnen
bei Lessing eine ubiquitäre Denkungsart, die darum kein Spezifikum unsrer Zeit ist,
und werden von ihm auch nicht ansatzweise als Epochenbegriffe verwendet. Um
144 LESSING, Werke, Bd. 7, 69 (1752); Bd. 8, 24 (1751); Über eine zeitige Aufgabe, 150;
Rrst.er Anti-Goetze (1778), ebd., Bd. 23, 193; Bd. 21, 254 (eo.. 1775); Über die itzigen Reli-
gionsbewegungen (1780), Bd. 23, 354 f.
146 Die Freiheit der Vernunft gegenüber der Offenbarung geht zunächst für Lessing so weit,
daß er allein der Vernunft die Möglichkeit zuerkennt zu entscheiden, ob eine Offenbarung
Bein kann und sein muß, und welche von so. vielen, die darauf Anspruch machen, es wahr-
scheinlich Bei; doch dann fährt er fort: Aber wenn eine sein kann und eine sein muß und die
rechte einmal ausfindig gemacht worden, so muß es der Vernunft eher noch ein Beweis mehr
für die Wahrheit derBelben ala ein Einwurf darwider Bein, '!Denn sie Dinge darin findet, die
ihren Begriff überateigen. Wer dergleichen aus seiner Religion auspolieret, hätte ebensogut gar
keine. Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret? ... Eine gewisse Gefangennehmung
unter den Gehorsam des Glaubens beruht alao gar nicht auf dieser oder jener Schriftstelle,
sondern auf dem wesentlichen Begriffe einer Offenbarung •.. Vder vielmehr - denn das Wort
Gefangennehmung scheinet Gewaltsamkeit auf. der einen und Widerstreben auf der .anderen
Seite anzuzeigen - die Vernunft gibt sich gefangen; ihre Ergebung ist nichts als das Bekenntnis
ihrer Grenzen, sobald sie von der Wirklichkeit der Offenbarung versichert iat; Werke, Bd. 22,
190 f. (1777).
292
V. 3.. Rpmapn
die Eigenart seiner Zeit zu erfassen, bedient er sich vorzüglich der Begriffe „gesunde
Vernunft", „gesunder Menschenverstand", „Philosophie", „ Tugend", „ Toleranz",
„Freiheit zu denken und zu schreiben"146 •
3. Hamann
Es kennzeichnet lIAMANNS Sprachgebrauch, daß er seine kritische Auseinander-
setzung mit dem Geist des 18. Jahrhunderts nicht am Ausdruck 'Aufklärung' fest-
macht. Er verwendet das Wort in seinen Briefen und Schriften häufiger als Lessing,
.ohne ihm dabei aber eiueu zeitapezifischen Sinn abzugewinnen öder zuzuschreiben.
Wenn er seine· eigene Zeit charakterisiert, dann geschieht dies eigentlich ohne
systematische Absicht. Neben „unserm Jahrhundert" finden sich Wendungen wie
erleuchtetes Jahrhundert (1761), moralisches Jahrhundert (1772), sokratisches Jahr-
hundert (1773), erkuchtetes und gesittetes Jahrhundert (1775), kutseliger: Aeon (1777),
dieses philosophische Jahrhundert (1779), kritisches Jahrhundert (1784), unsere er-
leuchteten Zeiten (1784) und auffallend spät aufgeklärtes Jahrhundert (1788). Die
Epitheta werden oft nur zitiert und nicht selten mit ironischem Unterton. In der
Regel bewegL sich sein Wortgebrauch eng im Rahmen der ursprünglichen Wort-
bedeutungen. So spricht er z.B. von Aufklärung der im Text sich gehäuften An-
spielungen und Aufklärungen der Orthographie (1776). Selbst Formulierungen wie
rlie von den bisherigen Aufklärungen und neuesten Offenbarungen gesunder Vernunft
(1776) oder von jenen Kritikern, welche die allgemeinen deutschen Schriftsteller und
Leser hinters Licht ihrer eigenen philosophischen Aufklärung führen (1786), stellen in
dieser Beziehung keinen Bedeutungswandel dar. Denn im Blick auf Gottes Religion,
die größte Beförderin der Freiheit, fordert er schon 1758 in einem positiven Sinn:
all,e freie christliche Staaten (sollten) auf die Ausbreitung und Aufklärung seiner
Lehre beda,cht sein141 • Von Bedeutungswandel kann im wesentlichen auch in den
Briefen nicht die Rede sein, in denen sich Hamann kritisch mit Kants Aufsatz
von 1784 über die Aufklärung auseinandersetzt. 'Aufklärung' ist hier für ihn weder
ein epochaler System- und Bewegungsbegriff noch ein spezifisch modernes Wissens-
und Erkenntnisprinzip; vielmehr bedeutet sie für ihn weiterhin im neutralen Ver-
stande Kenntnisse, Einsichten, Aufschlüsse, Belehrung, richtigstellende Aufdek-
kung, Wissen, Wissensstand, geistig-moralischer Zustand u. ä. m.
Der Ausdruck die Aufklärung unsres Jalirhunderts bezieht sich, sofern er kritisch
gemeint ist, nicht auf die Aufklärung als solche, sondern allein auf ihre in einem
bestimmten Sinne vorherrschende Erscheinungsform im 18. Jahrhundert. Dieser
ganz bestimmten Form von Aufklärung und nur dieser wirft er vor, ein bloßes
Nordlicht zu sein, ein kaltes unfruchtbares Mondlicht ohne A·u/kwrung (!) für den
faulen V erstand, indem er sie mit keinen Katzen" sondern reinen und gesunden
Menschenaugen ansieht..
m Ebd., Bd. 20, 173 (1760/64); Bd. 23, 231 (1778); Brief an Nicolai v. 25. 8. 1769, Briefe
(s. Änm.141), 330; Briefe an seinen Bruder Karl v. 8. 4.1778, v. 2. 2. 1774, ebd„ 552. 571 f.
„Gesunde Vernunft" ist bei Lessing auch die Übersetzung von 'reason', vgl. Bd. 21, 184
(1773).
147 JoH. GEORG IIAMANN, SW hg. v. JosefNadler, Bd. 4 (Wien.1952)> 265; Bd. 3 (1951), 51.
72. 146. 213. 227. 284. 303; Bd. 4, 460; Bd. 3, 181 Anm.13. 189. 186. 402; Bd. 1 (1949), 53.
298
V. 3. Ramann
148 Ders., Brief an Christian Jacob Kraus v. 18. 12. 1784, Briefwechsel, hg. v. Arthur
Henkel, Bd. 5 (Frankfurt 1965), 289 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang SCHAUMANNS von
einer ganz anderen Position aus an Kant geübte Kritik: Iat Uberdie8 daa Merkmal „selhat-
verschuldet" wohl ein wuentliches Merkmal du Definitums? Läßt 8ich daaaelhe nicht auch auf
diejenigen beziehen, die - nicht aus Mangel ·an Entschließung und Mut, 801ldern - aus
Mangel an Gekgenheit und Belehrung und Uberhaupt durch die nicht von ihrer Willkür ab-
hängenden Umstiinde im Zustande der Unmündigkeit lebten und nach Wegräumung dieaer
Hindernisseerat aus demselhen hervorgingen; Versuch über Aufklärung, 39.
m Ders., SW Bd. 3, 193. 178 (1776). 319 (1786). .
294
V. 4. Herder
und dem Begriff nach auf die „Menschenvernunft", und zwar vorzüglich die sog.
gesunde oder natürliche Vernunft, als deren Wesensmerkmal er die ;;Selbstver-
klärung" und nicht die „wahre Aufklärung" erkennt. Das beweist in seinen Augen
1. der Versuch, die Vernunft von aller Überlieferung, Tradition und Glauben daran
unabhängig zu machen; 2. die wissenschaftliche Abstraktion von aller lebendigen
Wirklichkeit, die gewalttätige Entkleidung wirklicher Gegenstände zu nackten Be-
griffen und b"loß denkbaren Merkmalen, zu reinen Erscheinungen und Phänome,nen;
und 3. die hinter der angeblichen Allgemeinheit, Unfehlbarkeit und Evidenz ihrer
Wahrheitserkenntnis verborgene Anmaßung und Usurpation: Denn was ist die
hochge"lobte Vernunft ... ? Ein Ens rationis, ein Ölgötze, dem ein schreiender Aber-
glaube der Unvernunft göttliche Attribute andichtet. Hamann kommt darum zu dem
Schluß: Die Gesundheit der Vernunft ist der wohlfeilste, eigenmächtigste und unver-
schämteste Selhstruhm, dwrch den alles zum voraus gesetzt .wird, was eben zu beweisen
war, und wodurch alle freie Untersuchung der Wahrheit gewalttätiger als durch die
Unfehlharkeit der römisch-katholischen Kirche ausgesch"lossen wird.
Sowohl die Auflösung der Religion unter dem Deckmantel einer pharisäischen
Moralität wie die Zersetzung und Verleumdung der Regierungsart. der Fürsten be-
zeichmiL er als 'Freigeisterei'. Gleichwohl be11thnmt er weder diesen Begriff noch
den der 'Philosophie' oder der 'gesunden Vernunft' als einen geschichtlichen .Be-
wegungsbegriff. Er geht sogar so weit, diesen Begriffen eine geschichtliche Qualität
prinzipiell abzusprechen, weil für ihn Geschichte auf Offenbarung und Weissagung
beruht und die zeitlichen und ewigen Geschichtswahrheiten nur durch den biblisch-
christlichen Glauben erschlossen werden können150•
'Überall da, wo Hamanns Vernunftkritik erkenntnistheoretisch argumentiert, wird
deutlich, daß sie von der Kants gar nicht 11ehr weit entfernt ist. Indem er unter
immer neuen Gesichtspunkten die Grenzen der Vernunfterkenntnis aufzeigt, geht
es ihm zugleich um den Nachweis der wesensmäßigen Unfähigkeit gesunder, natür-
licher oder wissenschaftlicher Vernunft, das zu leisten, was sie im „aufgeklärten
Jahrhundert" als ihre zentrale Aufgabe versteht: wahre Aufklärung, Erkenntnis
oder Ermöglichung und Verbreitung der Erkenntnis der Wahrheit des Menschen
und seiner Welt im . Ganzen zu sein. Hamanns kritischer Aufweis der Grenzen
menschlicher Vernunft gipfelt nicht in der völligen Negation der Vernunft, sondern
in dem Versuch einer Bestimmung der wahren Vernunft, deren Wesen er aus der
Sprache erschließen und die er in einer wincidentia &ppositorum mit der Offenbarung
zusammenführen will. Dieser Versuch richtet sich gegen die Orthodoxie nicht weniger
eindeutig als gegen die gesunde Vernunft und soll als christliche Antwort ebenso
weltoffen wie zukunftsvoll sein in.
4. Herder
Ä.hnlich wie Hamann verwendet HERDER das Wort 'Aufklärung' anfänglich ganz
im neutralen Wortsinn und bedient sich seiner weder bei der Analyse der allge-
meinen Weltveränderung im „gegenwärtigen Zeitalter" noch um das 18.Jahrhundert
160 Ebd., 284 (1784, mit direktem Bezug auf Kant). 385 (1786). 225 (1779). 193 (1776).
304 (1784).
151 Ebd., 194. 107. 319. Orthodoxie und ge8'Unde Vernunft sü;td für Hamann gleich unfähig,
295
V. 4. Herder
auf den Begriff· zu bringen. Sofern ihm überhaupt daran gelegen ist, seine Zeit
n~her zu charakterisieren, verwendet er hierzu beliebte zeitgenössische Selbst-
bezeichnungen wie unser erleucktet,es Jahrhundert, dieses lichteste Jahrhundert,
unsere gebildete Zeit; eine eigene Prägung ist der Titel Jahrhundert des Zwei-
fems152. Was für den jungen Herder 1774 die Eigenart des 18. Jahrhunderts
ausmacht und den Ansatzpunkt seiner Zeit- und Kulturkritik bildet, ist seine
Philosophie: Unser Jahrhundert hat sich den Namen Philosophie! mit Scheideioasser
vor die Stirn gezeichnet. Diese Philosophie sieht er repräsentiert durch den philo-
sophischen Geist, den die Voltaire, Hume, Helvetius, Bayle und Konsorten einge-
führt haben; er ist das Modegespenst des Jahrhunderts, das n·icltt bwß im Finstern
rlaher schleicht, sondern selbst wie eine Pest am Mittag verderbet. Die Hauptmerkmale
dieser Philosophie gruppieren sich für ihn um die Fixpunkte IAcht, Freidenken und
Selbstdenken, Gerlankenfreiheit, Freigeisterei, Zweifel, UngTAwbe, I"eligion, Raisonne-
ment11>s. Sie rufen seine Kritik hervor, weil sich auf sie- die Vorherrschaft bloßen
Denkens und unfruchtbarer Gelehrsamkeit stütze, die ihrerseits eine ·abstrakte,
mechanische, kalte Welt herbeigeführt habe, die voller Haß sei gegen alles Wunderbare
und Verborgene. In dieser unsrer philosophischen, kalten europäischen Welt, meint
Herder, gebe es. eigentlich nur eine Papierkultur, ende im folgeulot:1eu Spiel die
künstliche Denkart unsres Jahrhunderts, seien Kopf und Herz getrennt, zeigten sich
Philosophie und Gelehrsamkeit . . . unwissend und unkräftig in Sachen des Lebens
und müßten „unsere Zeiten" gewiß Zeiten der Klügelei eher als des gesunden V er-
standes; mehr des Vernünftelns als der Vernunft heißen. Doch diese Kritik hindert
ihn nicht, die Einzigartigkeit seines Jahrhunderts zu sehen und zu rühmen:
Wahrlich ein großes Jahrhundert als Mittel und Zweck: ohne Zweifel der höchste
Gipfel des Baums in Betracht aller vorigen, auf denen wir stehen/ 1 54.
Verglichen mit Hamann. ergeben sich in diesem Zusammenhang für Herders Ver-
wendung des Wortes 'Aufklärung' eine Reihe neuer Gesichtspunkte. Während
sich Hamanns positive Auffassnng der Aufklärung an ihrem Verhältnis zur ge-
offenbarten Wahrheit bemaß, steht bei Herder nicht dieser christlich-gnoseologische
Bezug im Vordergrund, sondern das wechselseitige Verhältnis von Wissen und
Leben, Denken und Praxis. Uneingeschränkte Anerkennung findet bei ihm 'Auf-
klärung' als dynamische Gestalt und Entfaltungsform des schöpferischen Geistes,
als lebendiges Wissen,. nicht jedoch als Form des „abgezogenen Geistes", als
abstrakte, unfruchtbare Gelehrsamkeit. So erklärL Herder 1769 zur Aufgabe eines
von ihm damals geplanten „Jahrbuches der Schriften für die Menschheit" das,
was für die Menschheit unmiUelbar ist, sie aufklären hilft, sie zu einer neuen Höhe
erhebt, sie zu einer gewissen neuen Seite verlenkt, sie in einem neuen Lichte zeigt. Der
au/geklärte, unter1"iclttete, feine, •vernünftige, gebildete, tugendhafte, genießende Mensch
erscheint ihm als der Mensch, den GoU auf der Stufe unsrer Kultur fordert. Im
gleichen Jahr spricht er wiederum positiv von dem Weisen, der auf seinem Wege
162 JoH. GOTTFRIED HERDER, Auch eine Philosophie der Geschicht.e zur Bildung der
Mollßohhcit (1773/74), SW Bd. 5 (1891), 544. 478. 481J. 512 Anm. Vgl. In diesem Zusammen-
hang WERNER KRAuss, Der Jahrhundertbegriff im 18. Jahrhundert, in: ders., Studien zur
deutschen und französischen Aufklärung (Berlin 1963), 9 ff.
15a Ebd„ 486. 524. 537. 543. 575. 577 ff. 583.
164 Ebd., 562. 535 f. 478. 484. 545. 540. 535. 457. 545.
296
V. 4. Beider
fortgeht, die. menschliche Vernunft aufzukliiren, und nur dann die Achseln zuckt,
wenn andere Narren von dieser Aufkliirung als einem ktzten Zweck, als einer Ewigkeit
reden. Kritisch beurteilt er primär nicht einen bestimmten Erkenntnisinhalt der
Aufklärung, sondern solche Auffassungen, die sie im Namen von Wissenschaft und
Gelehrsamkeit zum Selbstzweck erheben. Dem setzt Herder sein Prinzip entgegen:
Alle Aufkliirung ist nie Zweck, sondern immer MiUel. Wo Aufklärung aufhört,
Mittel im Dienste des Lebens zu sein, da beginnt nach Herders an Rousseau. ge-
schultem Urteil der Verfall, arbeiten wir uns mit unsrer zu feinen Kultivierung der
Vernunft selbst ins Verderben hinein.
Wenn in Herders Geschichtsphilosophie von 1774 ein kritischer Unterton bei der
Verwendung des Wortes 'Aufklärung' überwiegt und er gelegentlich sogar gegen-
über der Meinung, in Europa sei jetzt mehr Tugend ... als je in aller Welt gewesen ...
weil mehr Aufkliirung darin ist, den Standpunkt vertritt: ich glaube, daß eben deshalb
weniger sein müsse, dann setzt dies keine veränderte Einstellung zur Aufklärung
voraus. Seirie kritische Benutzung des Wortes 'Aufklärung' richtet sich weiterhin
nicht gegen die Aufklärung als solche: Eben an Baumes höchsten Zweigen blühen
und sprießen die Früchte - siehe da die schönste V oraussickt des größten Werkes
Gottes! Aufkliirung _wenn sio uns. gloich nicht immer zu statten kommt ... Aaaozi1:ert.e
BegriOe.aus aller Welt: eine Kenntnis der Natur, des Himmels, der Erde, des Men-
schengeschlechts, wie sie uns beinah unser Universum darreichen kann - ....
Ständiger Anlaß zur Kritik ist ihm immer wieder der Umstand, daß Aufkliirung für
Glückseligkeit, Winter für Werke genommen werden. „Aufkliirung!" wir wissen jetzt
so viel mehr, hören, lesen so viel, daß wir so ruhig, geduldig, sanftmütig, untätig sind1 5 5 •
Herders kritischer Vorbehalt beim Umgang mit der Aufklärung entspringt somit
offenkundig seiner aktivistischen, dynamischen Lebensauffassung und wird nicht
inhaltlich begründet.
In seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784-1791)
und den „Briefen zur Beförderung der Humanität" (1793-1797) fehlt sowohl
jener kritjsche Vorbehalt als auch die Ambivalenz seiner früheren Deutung des
eigenen Zeitalters. An die Stelle der Kritik am „Geist der neuern Philosophie" ist
ein beinahe vollständiges Einverständnis mit den „progressiven" Ideen der Zeit
getreten. So sehr auch die religiös-transzendenten und_ kulturkritischen Gesichts-
punkte des jungen Herder in den „Ideen" zurücktreten und so stark er selbst
nunmehr in Thema und Resultat, nicht in Methode und Theorie, zu naturalistisch-
rationalistischen Gedankengängen neigt, sein in einer organisch-praktischen Ge-
samtauffassung der „Seelenkräfte" begründetes negatives Verhältnis zur „neuern
Philosophie" bleibt davon im wesentlichen unberührt. Entscheidend verändert
haben· sich dagegen die Voraussetzungen, unter denen er die konstitutiven Merk-
male des Jahrhunderts zu bestimmen sucht. Im Gegensatz zu 177 4 legt er nun den
Hauptakzent auf die positiven Eigenschaften der Zeit, die für ihn im Zeichen seiner
neuen geschichtsphilosophischen Leit- und Zielidee der 'Humanität' stehen. Diese
Idee tritt in den achtziger Jahren derart beherrschend in sein Denken, daß dadurch
'Aufklärung' als potentieller Zentralbegriff völlig verdrängt wird. Ich wünschte,
erklärt er 1784, daß ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich bisher
über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und
m Ebd., Bd. 4 (1878), 367. 411 f.; Auch eine Philosophie, 554. 573; 511. 555.
297
V. 4. Herder
Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der
Erde gesagt habe: denn der Mensch hat, kein edleres Wort für seine Bestimmung als Er
selbst ist, in dem. das Bild des Schöpfers unsrer Erde; wie es hier sichtbar werden
konnte, abgedruckt lebet. Unter diesen Schlüsselbegriff subsumiert er gleichermaßen
„Vernunft", „Freiheit", „Billigkeit", „Tugend", „Toleranz" und „Glückseligkeit"
wie „Religion", „Bildung", „wahre Kultur", helle Wahrheit, reine Schönheit, freie
und wirksame Liebe, „Menschheit" und „Menschlichkeit" ebenso wie „Menschen-
rechte", „Menschenpflichten", „Menschenwürde" und „Menschenliebe" 156 •
'Humanität' ist bei Herder zwar ein eminent geschichtsbezogener Begriff, aber sie
ist zugleich auch der Inbegriff der „organischen" Naturanlagen des Menschen und
ein die Zeiten übergreifendes, absolutes Vernunft- und Tugendideal, das auf
ewigen Gesetzen ruhet. Das schließt nicht aus, daß von Herder in der fortsohroitonden
Beförderung und Vermehrung der Humanität die Signatur der die „neueren
Zeiten" und insbesondere den „Geist unsrer Zeit'' konstituierenden Kräfte erblickt
wird, durch die nach der langen Nacht der Barbarei, wie er in Übereinstimmung mit
dem rationalistischen Geschichtsbild feststellt, die dickste Finsternis weicht dem
Lichte, die Schauen des Aberglaubens verjagt werden und hinfort alles durch das
Med·i·um der nt•tum A•1tfkl.llmng ge.sehen wird. Diese Aufklärung, die er im Blick auf
die „alte" der Griechen „neu" nennt, ist für ihn das Ergebnis der Wiederauflebung
der Wissenschaften, der Reformation und der ihr folgenden Philosophie167 • Trotzdem
entwickelt Herder nicht einmal in der Mitte der neunziger Jahre den Aufklärungs-
begriff zum epochalen System- oder Richtungsbegriff.
'Aufklärung' bleibt für ihn, ohne daß er diesen Wortgebrauch in einer regel-
rechten Definition festlegt oder sehr weitreichende Variationen ausschaltet, eine
zeit.lieh beliebig verwendbare Bezeichnung für eine bestimmte Art von rationalem
Wissen. Damit meint er in erster Linie ein Wissen, das generell auf die Humanität
bezogen ist, das den Vorgang und das Resultat vernunftgeleiteter Erhellung und
Erweiterung des Bewußtseins der Menschen von sich selbst ebenso umfaßt wie den
Gewinn und die Zunahme von Kenntnissen über die ursächlichen Zusammenhänge
ihrer Welt, einschließlich der Natur, das weiter „die Gestalten der Dinge, wie sie
sind", zeigt; und das schließlich nicht zuletzt ein Wissen ist, das in einer entsprechen-
den freien Denkart und geistigen Lebensform Reinen Ausdmck findet. Mit dieser
Grundauffassung von 'Aufklärung' hat Herder an verschiedenen Stellen eine Fülle
unterschiedlicher Gesichtspunkte verknüpft, durch die ihr Sinngehalt mehrfach
in extremer Weise abgewandelt wird.
So kann Herder 1785 'Aufklärung' als eine GrunderRnheinung menschlicher Existenz
und Lebenstätigkeit überhaupt begreifen und die Erziehung unsres Geschlechts,
m Ders., Ideen zur Philosophie der Geschicht.e der Menschheit (1784), SW Bd. 13 (1887),
154. 201 Anm •. In der 3. Sammlung der „Humanitätsbriefe" (1794) weist Herder eine
Gleichsetzung der letzt.eren Begriffe mit dem der „Humanität" und erst recht seine Er-
setzung durch diese nachdrücklich zurück; SW Bd. 17 (1881), 138.
157 Ders., Ideen, SW Bd. 14 (1909), 219; ebd„ Bd. 17 (1881), 249; Bd. 18 (1883), 95. 307.
95 f. (1792 u. 1796); vgl. Ideen, Bd. 14; 243. 260 (1787 u. 1791). Zu beacht.en ist in diesem
Zusammenhang, daß Herders „Ideen" unvollständig geblieben sind. Sie brechen im 4. Teil
(1791) mit dem späten Mitt.elalt.er ab, enthalten also keine ausführliche Deutung des
18. Jahrhunderts.
298
V. 4. Berder
d. h. die zweite, geistige Genesis des Menschen, die sein ganzes Leben durchgeht,,
wechselweise als Aufklärung und Kuüur bezeichnen, deren gemeinsame Kette er
bis ans Ende der Erde, bis nach Feuerland reichen sieht. Beide Begriffe sind für ihn
synonym, weil weder die Kultur noch die Aufklärung, wenn sie recht,er Art ist, ohne
die andre sein kann. Schon wer Bogen und Pfeile zu machen verstehe, besitze
beide, weil er Sprache und Begriffe habe, Übungen und Künste, die er lernte, wie wir
sie lernen; in diesem Sinne ist nach Herder auch der Feuerländer wirklich kuüiviert
und aufgeklärt und kennt er keinen prinzipiellen, sondern nur einen graduellen
Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen kuüivierten und
unkultivierten VIJlkern.
1787 dagegen hat Herder nicht mehr die Synonymie von Kultur und Aufklärung
im Auge, wenn er die geschichtliche Bedeutung der Hebräer u. a. darin erkennt,
sowohl durch das Christentum als den MohamrMdanismus eine Unterlage des größesten
Teils der Weüaufklärung geworden zu sein. Hier werden mit 'Aufklärung' Wesens-
erkenntnisse der „Humanität" und jene geistigen Wirkungen angesprochen, durch
welche die Lehre vom Eini,gen Gott, dem Schöpfer der Welt zum Grunde aller Philo-
sophie und Religion wurde. An anderer Stelle unterscheidet Herder direkt Gattungen
menschlicher Aufklärung will rechnet zu ihnen alle Gattungen der griechischen Kunst
einschließlich der Rednerei und eigentlich auch jede Art der. menschlichen Kennt-
nisse.
Beim Vergleich Spartas mit Athen erblickt er jedoch in Patriotismus und Auf-
klärung die beiden Pole ... , um welche sich alle ßittenkuüur der Menschheit beweget,
und weist Sparta dem ersten und Athen dem zweiten Pol zu. In diesem Zusammen-
hang bezieht er 'Aufklärung' auf „Staatskunst" und meint mit ihr die Aufklärung
des Volkes in Sachen, die zunächst filr dasselbe. ge.hüre.n, und die als solche Gegenstand
einer politischen Einricht,ung sein darf. Wegen seiner Volksregierung und Volks-
rednerei · und zumal weil das Volk in jeder öffentlichen Sache, die vorgetragen ward,
Kenntnisse hatte oder wenigstens empfangen konnte, ist für ihn Athen ohnstreitig die
aufgeklärteste Stadt in unsrer bekannten Weü gewesen und zum Urbild politischer
Aufklärung geworden. Deshalb seien in Absicht, der bürgerlichen Aufklärung ... wir
dem einzigen Athen also das meiste und Schönste aller Zeiten schuldig.
Umgekehrt Rtellt er in seiner Kritik der Kreuzzüge fest, keiner der geistlichen Ritter-
orden habe Aufklärung nach Europa gebracht, oder dieselbe befördert, wobei er diesmal
den Ausdruck auf Künste und Wissenschaften bezieht w1u speziell an die Gnomonik
und eine bessere Baukunst denkt. Doch verwendet er in der gleichen Kritik aufgeklärt
im Sinnfl von „zivilisiert", d. h. als das Gegenteil von losgebunden, frech und üppig.
Weitere Varianten seines Wortgebrauches treten u. a da hervor, wo es Herder im
Hinblick auf die Aufklärung des menschlichen Verstandes fast eine Sünde dünkt,
die römische Hierarchie eine Mutter der Aufklärung nennen zu wollen. Dennoch ist
es ihm keine Frage, daß die römische Kirche nicht, hie und da Wissenschaften und
Aufklärung ... habe befördern helfen und der größte Teil von Europa ihr die Grund-
lagen der äüesten schriftlichen K uüur schuldig ist. Gleichzeitig sieht er iu uem VUll ihr
bewirkten St.nr:r. rlflr nordi.~chen G6tzen auf der Linie der Humanitäts-Erkenntnis
ebenfalls Aufklärung, die sich dann freilich im Laufe der Zeit zum Schlechten
gewenuet habe, was indes Ilerder trotz schärfster Kritik nicht veranlaßt, ihrer
so beurteilten religiösen Entfaltung den Titel „Aufklärung" völlig abzusprechen:
Es ist eine schlechte Aufklärung, wo der Aufklärer selbst so beschaffen ist, daß er
299
V. 5. Sehiller
den schrecklichsten Wahn der Menschen mit Frevd,en annimmt und iltn befestigt und
stärket168•
Obwohl im Rahmen seiner Kritik der „Päpstlichen Religion" Herders Wortgebrauch
unverkennbar zeitspezifische Züge annimmt, verliert 'Aufklärung' bei ihm nie die
Eigenschaft einer inhaltlich vagen und in ihrem Bedeutungsumfang ständig schwan-
kenden Kategorie des Wissens.
5. Schiller
Noch am Ende der achtziger Jahre nimmt das Wort 'Aufklärung' in ScmLLERB
Wortschatz einen unbedeutenden Platz ein:. Und selbst nach 1790 zeigt sich .sein
Sprachgebrauch von der zeitgenössischen Aufklärungsdiskussion unbeeinflußt. Im
Zentrum seiner rntionalistischen Geschichtsphilosophie und Gegenwartsdeutung
stehen die Begriffe 'Vernunft', 'Veredlung', 'Freiheit' und 'Kultur', und begeistert
preist er 1789 unser menscklickes Jahrhundert als das Zeiwlter der Vernunft. 'Auf-
klärung' und 'Erleuchtung' sind für ihn synonyme Wörter, und wenn eines von
ihnen zu dieser Zeit einen größeren und zugleich konkreteren· Anwendungsbereich
hat, dann ist es die 'ErleuchLung'; tiie wird von ihm auch und betont auf die Ver-
fassung der „Staaten" bezogen, während er 'Aufklärung'· fast nur auf die „Köpfe",
den Verstand, bezieht. Immerhin fällt auf, daß er im Unterschied zu Herder das
Wort 'Aufklärung' auf die Bezeichnung solcher Kenntnisse, Einsichten und Ent-
deckungen beschränkt, die im Zus~mmenhang mit der Wahrheit, Sittlichkeit und
Freiheit des „neuen Menschengeschlechts" stehen, d. h. der Neuzeit angehören.
Schiller begründet dies damit, daß Aufklärung wie die Weisheit eine langsame
Pflanze {ist), die zu ihrer Zeitigung einen glücklichen Himmel, viel Pßege und eine
Reihe von Frühlingen braucht, zumal der V erstand, dem sie anvertraut sei, nur durch
fremde Nachhülfe sich entwickeltl&e.
Nachdem er schon 1788 erste, tiefreichende Zweifel an der unaufhaltsamen Fort-
schrittlichkeit und einzigartigen Größe des 18. Jahrhunderts dichterisch formuliert
und dabei in die Kritik des monotheistischen Christentums auf eigenartige Weise
die des modernen Verstandestums eingeschlossen hatte, entfaltet er unter dem
negativen Eindruck, den der Verlauf der Französischen Revolution auf ihn macht,
1793/95 seine schonungslose Kritik des eigenen Zeitalters. Kennzeichnend für sie ist
im Ansatz Schillers ungebrochener Glaube an die mögliche geschichtliche Verwirk-
lichung der „Monarchie der Vernunft" und sein unbeirrbares Festhalten an der
Fortschrittsidee. Beides schließt für ihn den Gedanken an eine Rückkehr zu ver-
gangenen Epochen der Menschheitsgeschichte aus, bestärkt ihn aber zugleich auch
in der Überzeugung, daß die Französische Revolution die Menschheit nicht nur
nicht in das Reich der Vernunft geführt, sondern im Gegenteil einen betriichtlicken
Teil Europens, und ein ganzes Jahrhundert in Barbarei und Knechtschaft zurück-
geschleudert hat. Die Vernunft der Zeit gibt sich ihm jetzt als V ernünftelei oder Ab-
straktionsgeist zu erkennen, der dem alles trennenden V erstand eigen ist, den Schiller
m Ders., Ideen, SW Bd. 13, 348; Bd. 14, 58. 147 f. 121 ff. 474. 530.
iae Flmi:DBIOH ScmLLEB, Antrittsvorlesung (1789), SA Bd. 13, 12. 23; Universalhistorische
Übersicht der vomehmsten an den Kreuzzügen teilnehmenden Nationen (1789/90), ebd.,
117f.
V. S. Sehiller Aufklärung
als Prinzip des „abstrakten Denkens" und einer „kalten", zergliedernden und
„bornierten" Erkenntnis begreift. Unter den Bedingungen des abstrakten Verstan-
des und seiner Kultur hat für Schiller der Mensch die Totalität seines Lebens verloren,
sind seine geistigen und sinnlichen Kräfte entzweit, Kopf und Herz, Wille und Ge-
fühl auseinandergerissen. Der inneren Zerrüttung des modernen Menschen entspricht
die äußere in der politisch-gesellschaftlichen Welt. Wie die Revolution die los-
gebundene Gesellscliaft nur in das Elementarreich, das politische Chaos zu führen ver-
mocht habe, weil sie keine Schöpfung der Vernunft gewesen sei und die moralischen
Voraussetzungen ihres Gelingens in einer verderbten, unreifen Generation fehlten,
so bewege sich die neuzeitliche Gesellschaft überhaupt zwischen den Extremen der
Anarchie, des wilden Despotismus der Triebe oder des reiri. physischen Wohlseins und
der Herrschaft des materiellen Bedürfnisses, das die gesunkene Menschheit unter .sein
tyrannisches Joch beuge; Der Nutzen ·ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen
und alle Talente huldigen sollen. Im besonderen Maße erscheinen Schiller die beiden
Ext,reme, Verwilderung und Erschlaffung, als die herrschenden Gebrechen des gegen-
wärtigen Zeitalters, und zusammenfassend sieht er den Geist der Zeit zwischen Bar-
barei und Schlaffheit, Freigeisterei und Aberglauben, Roheit und Verzärtelung
sohwanken160•
Die vernichtende moralische Kritik, die Schiller an seiner Zeit übt, und seine wieder-
holten Hinweise auf die noch so aUgemeine Herrschaft der Vorurteile und die Ver-
finsterung der Köpfe, hindern ihn nicht; dieses Zeitalter dennoch- wahrschein lieh im
Anschluß an Kant - das Zeitalter der Aufklärung 161 zu nennen. Das erklärt sich
einfach daraus, daß Sohill!lr unter 'Aufklärung' prinzipiell Aufklärung des Ver-
standes oder A·ufkliirung der Begriffe versteht, sie für ihn etwas rein Intellektuelles,
Ge~ankliches, Lehr- und Wissonstnäßiges, Theoretisch-Philosophisches und nichts
Praktisches, Objektives und Institutionelles ist. „Zeitalter der Aufklärung" kann
das „gegenwärtige Zeitalter" deshalb mit Recht genannt werden. Es ist aufgeklärt,
weil es allgemein über die Kenntnisse verfügt, die als Kenntnis der Wahrheit und des
Rechts und Materialien zur Weisheit an. sich die theoretischen Grundlagen bilden,
die zur Verwirklichung der „Monarchie der Vernunft"· erforderlich sind, und deren
Verbreitung theoretisch auch die ehrwürdigsten Säulen des Aberglaubens zum Ein-
sturz bringen und den Thron tausendjähriger Vorurteil~ umwerfen mii ßte. Da der
Name „Zeitalter der Aufklärung" nichts über die politisch-gesellschaftlichen Ein-
richtungen und vor allem nichts über die sittliche Einstellung und das tatsächliche
Verhalten der Menschen aussagt, können :mmit diP. MAmmhP.n dieses Zeitalters prak-
tisch weiter Barbaren sein und bei allem Licht, das eine griiindM.che.re. Ke.nn.tni., der
Natur, ein tieferes Studium des Menschen und seiner Verhältnisse aufsteckte, ... noch
das Joch der Vorurteile tragen.
Während Kant es 1786 als eine schwer zu meisternde Aufgabe ansah, ein Zeitalter
aufzuklären, dagegen die Aufklärung des einzelnen Menschen damals für relativ
160 SCHILLER, Brief an den Herzog Friedrich Christian v. Augustenburg am 13. 7. 1793,
Briefe, hg. v. Fritz Jonas, Bd. 3 (Stuttgart, Leipzig 1893), 333; ders., Über die ästhetischo
Erziehung des Menschen, SA Bd. 12, 16. 18. 24. 15. 6; Brief v. 11. 11. 1793, Briefe, Bd. 3,
375; an den Herzog v. Augustenburg, ebd., 333 ff.
1 6 1 Ders., Briefe, Bd. 3, 370. Seit 1791 setzte sich Schiller intensiv mit Kants Kritiken
auseinander.
301
V. S. Schiller
leicht hielt, verhält es sich bei Schiller genau umgekehrt. Für ihn ist nicht die Auf-
klärung des gegenwärtigen Zeitalters ein· Problem, da dieses schon aufgeklärt ist.
Ihm geht es vielmehr entscheidend um die Beantwortung der Frage, was bei den
Zeitgenossen der Aufnahme der Wahrheit, auch wenn sie noch so hell leuchtete, und der
Annahme derselben, auch wenn sie noch so lebendig überzeugte, im Wege steht und wie
demgemäß das dringendere Bedürfnis der Zeit zu bestimmen ist. Indem Schiller
sich diesen Fragen zuwendet, erkennt er, daß der praktischen Wirksamkeit der Auf-
klärung wesentlich subjektive Hindet-nisse entgegenstehen, die er generell aUfMängel
der praktischen Kultur, der sittlichen Gesinnung und der Charakterbildung zurück-
führt. Daneben ist jedoch die Aufklärung für ihre praktische Unwirksamkeit selbst
verantwortlich, weil sie bloß theoretische Kultur ist, eine reine Sache des Kopfes,
ohne Beteiligung des Herzens .. Wenn für Schiller die Überwindung jener Hindernisse
der Ausdruck: Sapere aude enthält, dann knüpft er damit wohl an Kant an, distan-
ziert sich abe'r zugleich wieder von ihm, weil für ihn „sapere aude!" nicht „der
Wahlspruch der Aufklärung" ist, sondern der „praktischen Kultur" angehört. Anders
auch als die Philanthropinisten hält Schiller an dem ausschließlich philosophisch-
theoretischen Charakter der Aufklärung fest und sucht den Schlüssel zur Über-
windung der Kri11e der Zeit in 1'lAm 1WR.f! er unnbhltngig von ihr l'crcdlung dr.s Oharakter.s
nennt. Damm hr.7.r.ilihnr.t r.r alR d.(l.s drfr19enil.ere Bediirfnis wn.Yers ZRi.ta.ltMR , . , di(I
Veredlting der Gefühk und die sittlichR RRinigung d'38 Willens .. . , denn für die Auf·
klärung des Verstandes ist schon sehr viel getan worden. Es fehlt uns nicht sowohl ...
an Licht als an Wärme, nicht sowohl an philosophischer als an ästhetischer Kultur.
Diese hält Schiller für das wirksamste Instrument der Oharakterbildung 102.
In dem Maße, wie 8chiller seine zeitkritisch motivierte Theorie der „ästhetischen
Erziehung des Menschen" entwickelt, nach der die uschöne Kunst" gleichfalls die
Voraussetzungen für die geschichtliche Verwirklichung der „Monarchie der Ver-
nunft" schaffen muß, gelangt er .zu einem neuen Verständnis der Aufklärung. Mit
dem in ihrer Definition als „bloßer theoretischer Kultur" steckenden Vorwurf, der
sich noch im Rahmen der aktivistischen Kritik des jungen Herder von 177.4: hielt,
begnügt er sich nicht. Wegen des „dringenderen Bedürfnisses der Zeit" will er nun-
mehr die Aufklärung des .Verstandes nur noch achten, insoferne ... sie auf den Cha-
rakter zv-rückfiießt. Das führt ihn zu dem harten und abfälligen Urteil: die Auf-
klärung des Verstandes, deren sich, wie er einräumt, die verfeinerten Stände nicht ganz
mit Unrecht rühmen, zeige im ganzen so wenig einen veredelnden Einfl,uß auf die Ge-
sinnungen, daß sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt, ja, geradezu helfe,
sie in ein System zu bringen 1'nd 1tnheilbarer zu machen. Der Anspruch der Auf-
klärung, „Kenntnis der Wahrheit "zu sein, wird im Grunde auch jetzt noch nicht
von Schiller bestritten. Allein auf dem Standpunkt der „ästhetischen Erziehung"
erweist sich für ihn die rein theoretische Wahrheit als verhängnisvolle Halbheit wid
Einseitigkeit, die da, wo man sie als Denkungsart absolut setzt und ihre moralisch-
ästhetische Ergänzungsbedürftigkeit mißachtet, bezeugt, wie stark eine Verderbnis
in den Prinzipien herrscht; was Schiller zu der düsteren Prognose veranlaßt, es werde
zu einer Unterdrückung, welche sonst die Kirche autorisierte, künftig die Philosophie
ihren Namen leihen103 • Kraft ihrer puren Intellektualität und Abstraktheit ist die
182 Ders., Ästhet. Erziehung, 29; Briefe, Bd. 3, 336 f. 374. 333. 370 f. 373 f. 371. 339. 337.
iea Ders„ Ästhet. Erziehung, 29. 15; Briefe, Bd. 3, 334 ff.
302
V. 6, AufldinmgsvCll"Btilldnia von R•mantik und Idealismus Auf.klirung
184 Die wahre K UMt aber hat es nicht bloß auf ein wrübergehendes Spiel abgesehen; es ist ihr
er'TUJt damit, den MentJehen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu ver-
setzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen; ders., Vorrede zur „Braut von
Messina" (1803), SA Bd. 16, 120.
303
· V. 6. Aafklinmgffentindni8 von.Romantik und Iaealilmus
Vernunft als Organ, Prinzip und Erkenntnis des Absoluten er- und begreifenden
spekulativ-dialektischen Philosophie als auch insbesondere von seiten der roman-
tischen Gefühlstheologie, für die Religion wesentlich „Herzenssache" und im Gegen-
satz zu Handeln und Denken „Anschauung und Gefühl" ist (Schleiermacher), sowie·
darüber hinaus der idealistischen Theorien, nach denen das Absolute, die Wahrheit
und ungeschiedene Einheit der Welt nur intuitiv erfaßt bzw. allein in der Unmittel-
barkeit der „intellektuellen Anschauung" oder der durch die Kunst vermittelten
„ästhetischen Anschauung" erschlossen werden kan:D.. Die Verstandeskritik fällt
desto kritischer aus, je mehr sich die Auffassung festigt und ausbreitet, daß im
Zeichen der „Herrschaft des Verstandes" in der „modernen Welt" die Erkenntnis
überhaupt auf die Erkenntnis endlicher Dinge beschränkt wird und die Existenz
alles dessen, was sich mit Verstandesbegriffen nicht erfassen läßt, bestritten oder als
leere ldealitJ!.t und Unendlichkeit der endlichen Wirklichkeit beziehungslos gegen-
übergestellt wird. Übereinstimmend wird von den verschiedenen idealistischen Kri-
tikern der „Verstand" oder die „Verstandeskultm" für platt, seicht, dürftig, kalt,
leer, nüchtern, beschränkt, einseitig, abstrakt, formell, negativ, zergliflclf1rnil, t.rP.n-
nend, auflösend, veräußerlicht, mechanisch, berechnend, nützlich-pragmatisch,
uLifüaristisch-eudämonistisch, rein diesseitig-endlich, geist- und substanzlos, gott-
verlassen und dergleichen mehr gehalten.
lm Hinblick auf die Entschiedenheit, mit der das Verstandestum systematisch kri-
tisiert wird, muß die geringe Beachtung und unheitliche Verwendung, die der Auf-
klärungsbegriff dabei im allgemeinen findet, ziemlich überraschen. Es sieht sogar
längere Zeit so aus, als komme dem Aufklärungsbegriff bei der romantisch-idealisti-
schen Auseinandersetzung mit der Verstandeskultur des 18. Jahrhunderts über-
haupt keine fundamentale. Bedeutung zu, obwohl die seit Jahrzehnten geläufige
Formel „Aufklärung des Verstandes" - die sich spätestens seit Kant nicht mehr
nur auf den Verstand als Gegenstand der Aufklärung bezieht (Genitivus obiectivus),
sondern auch und verstärkt die vom Verstand bewirkte Aufklärung (Genitivus
subiectivus) meint - eigentlich eine unmittelbare Kritik der 'Aufklärung' z. B. als
Erkenntnisweise und Wissensprinzip des Verstandes oder als durch den Verstand
begründete Geisteshaltung und Lebensauffassung erwarten läßt. Das hat zweifellos.
mehrere GriinilP. und hängt auch damit zusammen, daß um 1800 der Di:fferenzic-
rungsprozeß der Begriffe 'Aufklärung', 'Bildung' und 'Kultur' bereits sehr weit ge-
diehen ist und zumal der Bildungsbegriff manche der Bedeutungen an sich gezogen
hat, die zwischen 1780 uni! 1795 noch der Aufklärungsbegriff umfaßte oder mit-
umfassen konnte. Aufschlußreich ist es jedenfalls, daß 1799 in SoHLEmRMAOHERB
Reden „Über die Religion" der Aufklärungsbegriff keine Rolle spielt und Schleier-
macher die ootürliche Religion gegenüber den verachteten positiven Religionen kritisch
als die erleuchtete und nicht als die aufgeklärte Religion bezeichnet. Und WILHELM
v. HUMBOLDT kommt in seiner unvollendeten Abhandlung von 1796 „Über das
18. Jahrhundert" gänzlich ohne den Aufklärungsbegriff aus, der ihm durch seinen
Lehrer Campe nur zu gut vertraut war und in seinen früheren Schriften wiederholt
begegnet165•
186 FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren
Verächtern (1799), hg. v. Hans-Joachim Rothert (Hamburg 1958), 154 f. Nur in verbaler
Form benutzt er den Ausdruck, z. B. ebd„ 86.
304
V. 6. Aufklärungsverständnis von Romantik und Idealismus AafkJärung
Allem Anschein nach hat NovALIS 1799 als erster in diesem Kreis den Begriff
kritisch aufgenommen und ihn - erfüllt von dem Glauben, am Wendepunkt der
Weltgeschichte zu stehen - ohne jeden Vorbehalt in den Zusammenhang der
Geschichte des modernen Unglaubens eingeordnet. Zu den unmittelbaren Voraus-
setzungen dieser Geschichte zählt er sowohl die Reformation als auch vorzüglich jene
Philosophie, die das Resultat der modernen Denkungsart ist, alles umfaßt, was dem
Alten entgegen war, die rein wissenschaftliche Ansicht der Dinge geltend macht und im
Zeitraum der triumphierenden Gelehrsamkeit zumal in Frankreich zum neuen Welt-
system geworden ist. Den eigentlichen Beginn dieser Geschichte setzt er in der
letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts an, und ihren Höhepunkt nennt er eine zweite
Reformation, die Frankreich zuerst habe treffen müssen, weil dieses Land am meisten
modernisiert war. Zu den Hauptmerkmalen des modernen Unglaubens gehören für
Novalis die Entgegensetzung von Wissen und Glauben und das zu Wüsten des Ver-
standes und der Vernichtung alles Positiven führende Geschäft, rastlos die Natur,
den Erdboden, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu
sa'Ubern, - jede Spur des Heiligen zu vertilgen.
Gerade dieses „Geschäft" sei, so meint Novalis, von den Verfechtern des „neuen
Weltsystems" selber Aufkl/J,rung genannt wurlleu, uull zwar nach dem - für No-
valis harten und kalten - Licht, das wegen seines mathematischen Gehorsams . . . ihr
Liebling geworden sei. Kennzeichnend für die in Deutschland besonders gründlich
betriebene Aufklärung erscheint ihm nach der Reform des Erziehungswesens der
Versuch, der alten Religion einen neuern vernünftigen, gemeinern Sinn zu geben, in-
dem man alles Wunderbare und Geheimnisvolle sorgfältig von ihr abwusch. Gott sei auf
diese Weise zum müßigen Zuschauer des großen rührenden Schauspiels, das die Ge-
lehrten aufführten, gemacht worden, und eine neue europäische Zunft sei entstanden:
die Philanthropen und Aufklärer, die mit Vorliebe das gemeine Volle aufgeklärt
hätten 166 • Novalis bezeichnet allerdings - und das charakterisiert seine Individuali-
sierung des Begriffs - weder die „Geschichte des modernen Unglaubens" noch
deren Kulminationsphase als 'Aufklärung'. Er bedient sich dieses Ausdrucks viel-
mehr als eines Sammelbegriffs zur Kennzeichnung der Gedanken, Methoden, Aktio-
nen und Institutionen, durch die das „Geschäft" der „Modernisierung" bewirkt
und gefestigt wird. DltR geRchieht zwar nicht mittels einer genauen Definition, aber
dennoch so unmißverständlich, daß der Anwendungsbereich des Wortes 'Aufklä-
rung' historisch und sachlich bestimmt festgelegt ist.
Die AuRschließlichkeit, mit der Novalis den Aufklärungsbegriff auf den „mo-
dernen Unglauben" und das religionsfeindliche Ideensystem der modernen Philo-
sophie bezog, blieb zunächst - sieht man von A. W. Schlegel ab - im Kreis der
Frühromantiker eine Ausnahme. Als FRIEDRICH SCHLEGEL 1805/06 seine „Vor-
lesungen über Universalgeschichte" hält, da ist in ihnen nirgendwo von 'Aufklärung'
die Rede, dafür aber um so mehr von Bil<lung (speziell dem Streben nach Bil<lung,
die allerdings in der Moder:ie eine bloß natürliche ohne jenen höheren göttlichen Geist
und Seele, der in der alten Bil<lung sichtbar, sei), von dem gesteigerten aUgemeinen
moralischen Verderben, von moralischer Charakterlosigkeit der modernen Zeit, Zer-
störungssucht alles Alten, allgemeiner Erschlaffung und Anarchie. Zwar kommt in
seinen früheren Schriften der Ausdruck 'Aufklärung' verschiedentlich vor: einmal
20-90385/1 305
V. 6. Aufkliruagsverstäod.m von Rolll!lJltik .und Idealismus
306
V. 6. Aufklärungsverständnis von Romantik und Idealismus Aufklärung
um so merkwürdiger, als Fichte sich in diesen Schriften an mehr als einem Punkte
aufs engste mit der von Hegel expressis verbis unter dem Titel „Aufklärung" ent-
wickelten kritischen Darstellung der Verstandesphilosophie und der geistigen Be-
wegung des 18. J11-hrhunderts berührt.
Schlüsselbegriff seiner geschichtsphilosophisch-zeitkritischen Analyse der dritten
Epoche der Menschheitsgeschichte, die vor dem 18. Jahrhundert beginnt und das
„gegenwärtige Zeitalter" einschließt, ist ohne jeden Zweifel der 'Verstand'. Er
soll es sein, der besonders als gesunder Menschenverstand diesem Zeitalter als Maß-
stab alles seines Denkens und Meinens dient, weshalb es sich als Zeitalter der absoluten
Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit erweist und verglichen mit den andern Zeitaltern
allein als das dem 1nhalte nach durchaus vernunftwidrige dasteht. Auch in den
„Reden an die deutsche Nation" (1807/08) führt Fichte weder im positiven noch
im negativen Sinne den Aufklärungsbegriff als historisch oder systematisch fest-
umrissenen Begriff ein, obgleich er hier wiederholt von klarer Einsicht, Klarheit,
Trieb nach Klarheit, dem Streben der Zeit ... , die dunklen Gefühle zu verbannen,
11,nd allein der Klarheit und der Erkenntnis die Herrschaft zu verscha0en, spricht.
Lediglich an einer Stelle gebraucht er das Wort 'Aufklärung' doch einmal in signi-
fikanter Weise. Sie lautet: Aufklärung des nur sinnlich berechnenden Verstandes
war die Kraft, welche die Verbindung eines künftigen Lebens mit dem gegenwärtigen
durch Religion aufhob, zugleich auch andere Ergänzungs- und stellvertretende Mittel
der sittlichen Denkart 170• Der unmittelbare Bezug dieses Satzes zur „dritten Haupt-
epoche" ist offenkundig; aber er meint im negativen Sinne nicht die Aufklärung
als solche, sondern die begriffliche Einheit „Aufklärung des nur sinnlich berechnen-
den Verstandes" (Genitivus subiectivus), die als Kompositum 'Verstandesaufklä-
rung' auch eine formale Einheit bilden kann. Neben ihr erscheint eine positiv
aufgefaßte begriffliche Einheit „Aufklärung der Vernunft" logisch durchaus denk-
bar und wird von Fichte auch nirgendwo definitiv ausgeschlossen.
Neben jenen Vertretern der Romantilf und des Idealismus, die bei ihren Aus-
einandersetzungen mit dem Verstandestum und dem „Geist der modernen Kultur"
von dem Aufklärungsbegriff keinen oder keinen symptomatischen Gebrauch
machen, gibt es andere, bei denen er schon relativ früh in das Zentrum ihres
philosophisch-zeitkritischen Interesses rückt oder in zunehmendem Maße an
prinzipieller Wichtigkeit gewinnt.
Noch unmittelbar am Anfang ihrer gemeinsamen Jenaer Jahre scheinen Hegel und
Schelling das Wort 'Aufklärung' mehr im Sinne seiner nentralfm Re<leutung ver-
wendet und zwischen 'Aufklärung' und 'Aufklärerei' genau unterschieden zu
haben. Wenri HEGEL jedoch 1802 polemisch von der berlinischen Aufklärerei spricht
und sie vom Standpunkt der spekulativen Philosophie als platteste Gestalt unphilo-
sophischen Räsonierens über Humanität und Moralität, als eitles und leeres Ge-
. schwätz u.ä. m. charakterisiert, dann ist mit dieser 'Aufklärerei' nicht nur in der
Ende machte •.• Seine Denkfreiheit war die Befreiung von allem Ge,dachten; die Ungezähmt-
heit des leeren DenkeM, ohne l nhalt und Ziel. Freiheit du Urteil8 war ihm die Berechti,gung für
jeden Stümper und Ignoranten, üher alle/J sein Urteil abzugeben, er mochte etwas davon ver-
stehen oder nicht; ebd„ 50.
1 7 o Ders„ Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, SW Bd. 7 (1846), 21. 78. 64. 10 f. 18.
66 f.; Reden an die deutsche Nation, ebd„ 264. 306. 268. 272 f.
307
V. 6. Aaßdärungsverständnis von Romantik und Idealismus
Hauptsache der gleiche Kreis Berliner Aufklärer gemeint, gegen den gut ein Jahr-
zehnt früher - allerdings aus anderen Gründen - Zimmermann polemisierte, viel.
mehr wird darüber hinaus das Verhältnis zwischen 'Aufklärerei' und 'Aufklärung'
grundsätzlich so bestimmt, daß erstere allenfalls die seichteste und platteste Form
der letzteren ist. Was Hegel zu diesem Zeitpunkt kritisch unter 'Aufklärung' ver-
steht, zeigt der Satz: die Aufklärung drückt schon in ihrem Ursprung und an und
für sich die Gemeinheit d,es Verstandes und seine eitle Erhebung über die Vernunft
aus. 'Aufklärung' ist an dieser Stelle für Hegel zunächst einmal identisch mit der
Manier, alle philosophischen Ideen populär oder eigentlich gemein zu machen und
das Plattmachen zum System zu erheben.
Ins Zentrum seines Aufklärungsverständnisses führen die kritischen philosophischen
Erörterungen, in denen er die 'Aufklärung' als die eigentümlich wissenschaftliche
Gestalt und Methode der Aktivität und Wirksamkeit des Verstandes begreift, den
er seinerseits als die Kraft des Beschränkens, Berechnens und Setzens alles Ideellen
unter die Endlichkeit bestimmt und dessen „Reich" nach seinem Urteil auf dem
Prinzip beruht, daß das Endliche an und für sich absolut und die einzige Realität 1:.~t.
Zum Grundcharakter ... der Aufklärung gehört deshalb nach Hegel das absolute
Entgegengesetztsein des Unendlichen und Endlichen, wodurch das Ewige, Göttliche,
Absolute, der Gegenstand der echten Religion und die absolute Wahrheit des Seins
zum Nichts erklärt, das Schöne zu Dingen überhaupt, der Hain zu Hölzern, die Bilder
zu Dingen, . . . und, . . . zu Erdichtungen werden, und jede Beziehung auf sie als
wesenloses Spiel oder . . . als Aberglaube erscheint171 •
ScHELLING stimmt 1802 in der negativen Einschätzung des Verstandes völlig mit
Hegel überein und begreift unter gemeinem V erstand besonders den durch falsche
und oberftächliche Kultur zum hohlen und leeren Räsonieren gebildeten V erstand,
der ... in der neueren Zeit sich durch Herabwürdigung alles dessen, was auf Ideen
beruht, vorzüglich geäußert hat. Anders als Hegel hält er es aber im Grunde für eine
Anmaßung, daß diese ldeenleerheit, der die Philosophie am meisten entgegengesetzt
sei, sich Aufklärung nennt. Deshalb vermeidet er es in der Regel, den Ausdruck
zur Bezeichnung jener Richtung in der Wissenschaft zu verwenden, die darauf zielt,
den gemeinen V erstand zum Schiedsrichter in Sachen der Vernunft zu erheben. Als
angemessenen Richtungsbegriff benutzt er statt dessen lieber den der Aufklärerei.
Sie gehört für ihn der neuesten Zeit an, obgleich die Formulierung Operationen der
neuen Aufklärerei den Schluß nahelegt, Schelling denke hierbei an die griechischen
Sophisten als Vertreter der „älteren Aufklärerei". D~ejenige ihrer Operationen, die,
mit Hülfe einer .~og. ge.sunden Exegese, einer. aufklärenden Psychologie und schlaffen
Moral, alles Spekulative und selber das Subjektiv-Symbolische aus dem Ohristentum
entfernt, möchte er sogar eher die Ausklärerei heißen. Dennoch fehlt es 1802/03 auch
bei Schelling nicht an ausdrücklichen Hinweisen darauf, daß er gewillt ist, unter
308
V. 7. Moralisehe und bistorlsch-negative Aufklärung Aufklärung
172 SCHELLING, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802), SW
1. Abt., Bd. 5 (Stuttgart, Augsburg 1859), 258 f. 276. 300. 302; Philosophie der Kunst
(1802/03), ebd., 440.
173 HEGEL, Notizenblatt, 276 f.
309
V. 7. Morallache und hiatoriech-negative .Aufklärung
klärerei. Wenn er kategorisch erklärt, 'Aufklärung' als Aufklärung sei Sache, des
Verstandes, nicht des Herzens, weil der Verstand, nicht der Wille oder das Herz
aufgeklärt werde, dann ist dies für ihn allerdings keine Aussage über die ·„echte
Aufklärung", sondern über die „Aufklärung als solche" 17 '.
Unverkennbar unter dem Einfluß von Kants „negativer" Bestimmung der 'Auf-
klärung' bedeutet für Salat die „Aufklärung als solche" grundsätzlich ein Erkennen
der WahrMit, das Irrtum, Betrug oder Selbstüiuschung voraussetzt, also von dem,
was man Belehrung, Unterricht oder bloße Erkenntnis der WahrMit nennt, wesentlich
verschieden ist, indem eben diese notwendig nur Unwissenheit oder bloßen Mangel an
Wahrheit zur Voraussetzung haben. Diese Erkenntnisweise der Aufklärung als
Funktion des Verstandes ist ihrem Ansatz nach konstitutiv kritisch-negativer Art
und mehr geeignet, uns von Irrtümern zu befreien als mit neuen W ahrMiten zu be-
reichern. Damit ist sie zwangsläufig allen den Gefahren ausgesetzt, welche, mit der
Verstandeskultur als solcher verbunden sind. Um diesen Gefahren, die von der Zweifel-
sucht und Spottlust über den Unglauben. und den Indifferentismus bis zur völligen
Sittenlosigkeit, extremen Fanatismus und Zerstörungslust reichen, zu begegnen und
die Aufklärung als positive Kraft des Fortschritts der W eishe,it und HumanitöJ, zu
bowähron, bemüht Salat sich aufs angelegentlich!lte um den Nachweiil, uaß 1. Uie
„Aufklärung als solche" noch nicht die „echte Aufklärung" ist; 2. Aufklärung nicht
Selbstzweck ist und keinen absoluten Wert hat, ihr höchster Zweok vielmehr immer
die sittliche, Kultur, im weitern Sinne (ist), insofern sie nämlich al,les Wahre, Gute und
Schöne umfaßt; 3. es noch etwas Höheres gebe als Denken und Wissen und man das
Wahre mit dem Kopf allein nicht fassen könne; 4. die Ausbildung des Verstandes ...
nur Mittel (ist) zur (immer reinern und völligem) Ausführung des Sittengesetzes und
infolgeuessen 5. die eokte, bleibende und ... wahrhaft beglückende Aufklärung, in
reeller Hinsicht und folglich dem Stoffe nach moralisch bedingt ist. „Echte Auf-
klärung" ist mithin moraJische, Aufklärung,, und zwar vornehmlich deshalb, weil
sie auf dem Fundamente der Sittliehkeit basiert und für sie allein das MoraJische, -
nicht das Intellektuelle - absolut gut ist. Sie beginnt deshalb stets mit einer
moralisC?hen Reform des Menschen oder verlangt von dem echten Aufklärer einen
hohen Grad sittlicher Bildung. Als Erkenntnisoperation ordnet sie sich dem Sitten-
gesetz unter und folgt dem Primat der reinen praktischen Vernunft. Auf diese Weise
verfügt sie für Salat über alle die formalen Voraussetzungen und apriorischen Grund-
sätze, Uie notwendig sind, um sowohl den Verstand von Irrtümern zu reinigen,
als auch das Herz vor dem Einflusse dieser Irrtümer zu bewahren und eine positive
Aufklärung zu sein, welche WahrMit an die Stelle des Irrtums setzt175• ·
Salats Absicht, mit irilfe der Kantischen Moralphilosophie die „echte Aufklärung"
ebenso allgemeingültig wie normativ als „moralische Aufklärung" zu legitimieren,
fana in der zeitgenössischen Publizistik ein lebhaftes Echo und wird dadurch für
m JAKOB SALAT, Auch die Aufklärung hat ihre Gefahren! Ein Versuch zum Behufe der
höhern Kultur (München 1801; 2. Aufl. 1804), XII. XVIII. XX; ebd., 1. Aufl., 141f.185.
334; 2. Aufl.., 406. 457. 400. 454 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang seine Kritik an Novalis,
dem er u. a. wegen seiner „Hymnen an die Nacht" vorwirft, Okristua ..• zum Gegner der
Aufklärung und f<ilglich ••. zum VerP,mterer herabgewürdigt zu haben, obwohl ihm, wenn
einem, das Prädikat „Aufklärer" gebühre; 2. Aufl., 460.
175 Ebd., 1. Aufl., 338 f. 445. 339. 230. 333. 142. 376. 354. 74; 2. Aufl., 409. 444.
310
die Kontinuität der in den achtziger Jahren einsetzenden und in den neunziger
Jahren unter Kants Einfluß geratenden moralphilosophischen oder besser: moral-
pädagogischen Aufklärungsdiskussion besonders beweiskräftig. Er vermochte aber
nichts auszurichten gegen die im Umkreis des Deutschen Idealismus und. der
Romantik bestehende ode.r entstehende Neigung, unter 'Aufklärung' einerseits eine
kritische, negative oder indifferente Haltung gegenüber der Religion und anderer-
seits im historisch bestimmten Sinne die neuere und neueste Verstandesphilosophie
oder das moderne Verstandestum schlechthin zu begreifen.
Sieht man von Hegels „Phänomenologie des Geistes" (1806) einmal ab, so ist
dafür FR. 1. NIETHAMMER, der das Wort 'Aufklärung' 1808 direkt zum Begriff der
negativen Kultur und geistfeindlichen Bewegung des 18. Jahrhunderte zuspitzt, ein
relativ frühes und besonders prägnantes Beispiel. In der Schrüt „Der Streit des
Philanthropinismus und Humanismus", mit der er den Begriff 'Humanismus'
prägte, analysiert er einleitend die herrschende Denkart des Zi:italrers und die Grund-
züge der mit Friedrich II. beginnenden neuen BiUlungsepoche in Deutschland.
Hand in Hand mit der Förderung alles dessen, was für die Praxis nützlich zu
maciien gewe.11en sei, habe der große Rejormat,or seiner Zeit auch den Wissenschaften
zu neuem Leben und einer neuen Gestalt verholfen. Von ihm aei ebenfalls der
Impuls ausgegangen, der nach und nach eine Tot.alreform der teutschen Kultur be-
wirkte. Niethammer steht nicht an, wegen dieser von ihm hochgeachätzten Total-
reform die Zeit Friedrichs II. als Epoche einer höchstnötigen und höchstwohlfiitigen
Geistesrevolution zu rühmen, durch welche der Geist der Trägheit und der müßigen
Speku/,ation verbannt, das Reich des Aberglaubens erschüttert, die Fessel der swpra-
naturalistischen Buchst.a/Jp,natJduritäl, zerlnoolW?~, die schlummernde. Kraft gew«:kt,
das Denken freigemacht worden ist. Diese Charakteristik erinnert besonders im
Schlußteil an Kant und weist voraus auf den Aufklärungsbegriff von Troeltsch.
Symptomatisch für Niethammers.Aufklärungsverständnis ist jedoch die Tatsache,
daß er nicht auf diese gliinzenden Vorzüge der Epoche den Namen „Aufklärung"
bezieht, sondern auf solche Vorgänge, die ihn veranlassen, dieselbe Epoche ...
zugleich als den Zeitpunkt zu bezeichnen, mit welchem der Erdgeist seine verderbliche
Herrschaft unter uns begonnen. Dabei denkt er vor allem an die Auswirkungen des
„Erdgeistes" auf das rein geistige Gebiet des Wissens, durch welche die Religion zu
gemeinem. Moralismus, das Christentum zum. Eudämonismus, die Theologie. zum
Naturalismus, die Pliiloso-phie zum Synkn-etismMIJ und M atBrialismus, die Weltweisheit
zur Erdweisheit, die Wissenschaft zur .Pulsmacherei erniedrigt wird. Eben· dieses
Rücksehreiten der wahren Religion - neben den unverkennbaren Fortschritten viel-
fältiger BiUlung - und der mit ihm verknüpfte Haß alles rein Geistigen, Idealen,
in Kunst und Wissenschaft, durch welchen auch jedes Erheben über das Irdische aZs
mystische Gliiubelei in übeln Ru/, alles Leben in Ideen als Enthusiasterei verspottet
wurde, - dies alles, doch nur dieses geschieht für Niethammer unter dem Namen
Au/klär·ung. Sie ist der Titel der Schattenseite jener merkwürdigen Entwicklungs-
periode teutscher Kultur,' und wenn es bei Niethammer noch eine Steigerung seiner
negativen Einschätzung des geschichtlichen Kulturphänomens „Aufklärung" geben
kann, dann ist es die der A.u/kliirung als einer wahren Entgeistung der Nation17&.
311
Aufldänmg V. 8. Sehlegels ehriatliche Idee der Aafldärang
177 FRIEDRICH SCHLEGEL, Geschichte der alten und neuen Literatur. Vorlesungen gehalten
zu Wien im Jahre 1812 (1815; 2. Aufl. 1822), SW Bd. 6, hg. v. Hans Eichner (1961), 170.
353. 324. 390.
312
V. 8. Schlegels christliche Idee der AufkJänmg AufkJänmg .
313
Aufklärung V. 9. Hegels historisch-systematischer Begcift'
läßt. Schlegels Historisierung des Aufklärungsbegriffs reduziert sich auf die genaue
zeitliche Begrenzung seines Anwendungsbereiches, dessen inhaltliche Kriterien al-
lenfalls partiell der historischen Realität entnommen werden.
Innerhalb des Deutschen Idealismus ist die Möglichkeit einer systematischen Histo-
risierung des Aufklärungsbegriffes zuerst von HE!}EL im vollen Maße methodisch
erschlossen und eigentlich auch von ihm allein konsequent unter spezifisch geistes-
geschichtlichen Aspekten vollzogen worden. Zumindest übertrifft Hegels historische
Begriffsprägung Schlegels sonst unerreichte. Leistung auf diesem Gebiet an philo-
sophischer Intensität und geschichtsphilosophischer Universalität. Wenn für Hegel
1822 die Aufklärung etwas ... Antiquiertes ist179, dann kommt dadurch die Eigen-
art seines Aufklärwfgsverständnisses bereits sinnfällig zum Ausdruck. Dennoch geht
Hegel nicht so weit, 'Aufklärung' für etwas völlig Veraltetes und gänzlich Ver-
gangenes zu halten und sie vollständig mit den empirisch aufweisbaren Merkmalen
der im 18. Jahrhundert auftretenden Zeiterscheinung „Aufklärung" zu identifizieren.
Im einzelnen erweist sich sein Aufklärungsverständnis sogar als höchst vielschichtig,
kompliziert und von einer Fülle unterschiedlicher Gesichtspunkte geprägt. Das
spiegelt sich auch im wechselnden Ausmaß seiner Historisierung wider. Sie ist dort
am stärksten, wo Hegel unter phänomenologischen, geschichtsphilosophischen und
philosophiegeschichtlichen Gesichtspunkten die· 'Aufklärung' als „Bildungsstufe
des allgemeinen Geistes", „Gestalt des Bewußtseins und einer Welt" sowie „Gestalt
der Philosophie" im Zusammenhang sowohl der „Geschichte der Bildung des Be-
wußtseins zur Wissenschaft" wie der von Stufe zu Stufe durch eine Reihe von Ge-
stalten fortschreitenden weltgeschichtlichen „Entwicklung des Bewußtseins des
Geistes von seiner Freiheit und der von solchem Bewußtsein hervorgebrachten Ver-
wirklichung" darstellt und analysiert. Demgegenüber tritt der historische Charakter
der Aufklärung da am meisten zurück, wo Hegel unter systematisch-kritischen und
zeitkritischen Gesichtspunkten die 'Aufklärung' als geschichtlich vermittelte allge-
meine Denkweise, Erkenntnislehre und Weltanschauung des Verstandes bekämpft
und in der Kritik der Aufklärung oder genauer: in der doppelten Frontstellung gegen
Aufklärung und Pietismus, Reflexionsphilosophie und Gefühlstheologie, abstraktes
Denken und bloße Ilerzensfrön11nigkeit seine eigene Posit,ion einer „Philosophie uer
Versöhnung" begründet, für welehe die Aufklärung, diese Eitelkeit des Verstandes . ..
die lieftigste Gegnerin der Philosophie ist. In seiner Zeitkritik schließlich gilt Hegel
die gegen die Religion und die substantielle Erkenntnis Gottes negative Richtung der
Aufklärung außerdem als dasjenige der Zeitprinzipien, das am stärksten das Übel
der Zeit ausmacht, die Entzweiung und Zerrissenheit der „modernen Welt" bewirkt
und jenen Standpunkt verkörpert, den er für die letzte Stufe der Erniedrigung des
hg. v. Joh1.uwe1:1 Hu.lfmei1:1w1· (Hawuu1·g 1950), 07. Der iw Rahweu Utll' „Juuiläuw1:1aU1:1-
gabe" nur in der Bearbeitung durch seine Freunde und Schüler vorliegende Text von
Hegels „Vorlesungen", der zuerst von 1832 bis 1844 veröffentlicht wurde, ist an sehr vielen
Stellen unzuverlässig. Das muß bei den angeführten Vorlesungszitaten immer mitbedacht
werden.
314
V. 9. Hegel& hMtoriaeh·•ysi-a.tiseher ~ Aufklärung
Mensclien achtet180• Ungeachtet der sich in den 1820er Jahren verstärkenden, aber
nie ganz durchsetzenden Neigung Hegels, die Verwendung des Aufklärungsbegriffs
als Individualbegriff auf das 18. Jahrhundert zu beschränken und Im allgemeinen
Sinne von Rationalismus zu sprechen, wenn er die formelle Denkweise und ab-
strakt-endliche Wahrheitslehre des Verstandes bezeichnen will181, wird in seiner
Sicht der geistesgeschichtlich erbrachte Nachweis ihrer Historizität nicht durch
das Faktum einer andauernden Aktualität der Aufklärung widerlegt. Als Bildungs-
stufe und Gestaltungsprinzip des Geistes gehört sie für Hegel unwiderruflich der
Vergangenheit an: der lebendige Geist hat sie verlassen, hat diese „Form seiner
Gestaltung" abgelegt, diese „Stufe" durchlaufen und sich zu „neuer Bildung" er-
hoben.
Die Frage, was bei Hegel den Aufklärungsbegriff über seine Identifizierung mit d_er
Verstandesaufklärung hinaus als historischen Individualbegriff konstituiert, ist
nicht leicht zu beantworten. Hegel verfährt bei der Verwendung des Aufklärungs-
begriffs nicht schematisch. Unterschiedliche Gesichtspunkte, die teilweise mit den
besonderen Erscheinungsformen des historischen Gesamtphänomens „Aufklärung"
korrespondieren, können zu jeweils unterschiedlichen Zusammenstellungen und
·Bewertungen der kon11titutiven Merkmale der Aufklärung führen. Daraus erklärt
sich auch, warum er in seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie"
mit einem engeren und einem weiteren Aufklärungsbegriff arbeitet und den weiteren
wiederum auf einen allgemeinen bezieht, der in gewisser Weise den geistesgeschicht-
lichen Fundamentalbegriff 'Aufklärung' darstellt, ohne daß dies im übrigen von
ihm selbst. explizite auseinandergesetzt wird. So bezeichnet Hegel die deutsche
Philosophie des 18. Jahrhunderts vor Kant, besonders insofern sie nicht wol/fische
Metaphysik ist, ... mit dem Ausdruck Aufklärung, spricht dann jedoch hinsichtlich
der französischen Philosophie dieser Zeit von einer anderen Form der Aufklärung,
wobei mit der letzteren selbstverständlich nicht die deutsche A u/klärung gemeint ist.
Diese wird vielmehr ihrerseits so erläutert, daß das, was man französische Philosophie
genannt hat, Voltaire, M ontesquieu, Rousseau, d' Alembert, Diderot, . . . alsdann als
Aufklärung in Deutschland au/getreten ist. Um die Komplikation seiner Begriffs-
bildung perfekt zu machen, entwickelt Hegel seinen philosophischen Fundamental-
begriff der 'Aufklärung' phänomenologisch am Beispiel eben dieser französischen
Philosophie und ihrer Radikalisierung zum Materialismus und Atheismus. In gleicher
Weise dient ihm fast ausschließlich die französische Philosophie des 18. Jahrhunderts
!lils Grundlage seiner dialektischen Rechtfertigung und geschichtsphilosophischen
Würdigung der Aufklärung. Im Gegensatz zur deutschen Aufklärung, über die Hegel
tso Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion, SW Bd. 16 (1928), 350 f. 353;
Vorlesungen über die Philosophie der Religion, ebd„ Bd. 15 (1928), 49. 51. 53; Vorrede zu
Hinriohs' Religionsphilosophie, 77.
1s 1 Ders„ Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hg. v. Johannes Ho:lfmeister
(Leipzig 1940), 191. 366; Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, SW Bd. 17,
112; Rez. der ;,Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen im Verhältnis zur
christlichen Glaubenserkenntnis" von C. Fr. Göschel (1829), Berliner Schriften, 329. 297.
298; Vorrede zu Hinrichs' Religionsphilosophie, 77. Vgl. Encyclopädie der philosophischen
Wissenschaften im Grundrisse, hg. v. Johannes Ho:lfmeister (Leipzig 1949), 7. 16. 25 (Vor-
rede v. 1827 u. Vorwort v. 1830). ·
315
Aufklärung V. 9. Hegels historiseh-systematiseher Begriff
in der Regel ganz abfällig urteilt, findet er jene wegen der Konsequenz, geistigen
Nnergie und Kraft des Begriffs, mit der sie den Standpunkt der· Negation verficht
und gegen die Existenz, gegen den Glauben, gegen alle Macht der Autorität angeht,
bewunderungswürdig 1 82.
Relativ einfach ist es, den zeitlichen Anwendungsbereich des geschichtsphilosophi-
schen Begriffs anzugeben. Als herrschende Geistesrichtung gehört die Aufklärung
für Hegel der mit Friedrich II. in die Wirklichkeit tretenden neuen Epoche an, die er
bis zur Französischen Revolution datiert und mitunter Zeit der Aufklärung, Periode
des aufgeklärten Verstandes, Zeitalter des Rationalismus, wiederholt aber auch einfach
Aufklärung nennt. Im letzteren Fall wird von ihm der Ausdruck zum ersten Mal
vollgültig als historischer Epochen-, Richtungs- und Systembegriff zugleich benutzt.
Die wichtigsten Merkmalsbestimmungen dieses Begriffs ergeben sich aus seinem Ver-
hältnis zum Prinzip des Protestantismus und zum Prinzip des Denlcens. Beide Prin-
zipien faßt Hegel auch zusammen im Prinzip der modernen Welt, die für ihn mit der
Reformation beginnt. Darunter versteht er vorzüglich den Eigensinn ... , nichts in
der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist,
und die Forderung des freien Geistes, daß der Mensch nur glaube, was er wisse, daß
sein Gewissen als ein lleiligtl., u1uintastbar sein solle. Die1:1e FurlllulitJrungen nnCI mehr
noch ihre weitere Ausführung erinnern unverkennbar an Definitionen und Explika-
tionen des Aufklärungsbegriffs, wie sie von Wieland, Kant, Bahrdt, Riem u. a. ge-
geben worden sind. Gleichwohl erkennt Hegel beide Prinzipien nicht als eigentüm-
liche Prinzipien der Aufklärung an, und er bestreitet ihr mit Nachdruck, das „Prin-
zip der modernen Welt" zu verkörpern, weil dieses von ihr nur höchst einseitig er-
faßt worden sei. Zwar habe sie das „Prinzip des Denkens" zum absoluten Kriterium
gegen alle Autorität des religiösen Glauben.~, der positiven Gesetze des Rechts, insbeson-
dere des Staatsrechts erhoben und sich dadurch sowie durch ihr Eintreten für die
Herrschaft der Vernunft große Verdienste um den weltgeschichtlichen Fortschritt
erworben, die Hegel ausführlich würdigt. Doch jenes Prinzip sei in ihr ganz abstrakt
aufgetreten und sein Inhalt als rein endlicher gesetzt worden: alles Spekulative aus
menschlichen und göUlichen Dingen hat die Aufklärung verbannt und vertilgt. Und von
dem, was sie als Vernunft ausgegeben habe, gelte, daß es nicht das ist, was unter
Vernunft verstanden, sondern was Verstand genannt werden muß. Obwohl es Hegel
nicht versäumt, die Errungenschaften der Aufklärung zu beleuchten und ihr tiefes
gei1chichtliches Recht zu beweisen, ihr Recht gerade auch als Denken gegenüber
gedankenloser Gefühlsreligiosität, wird seine systematische Begriffsbildung ent-
scheidend nicht durch die Errungenschaften, sondern durch die Nachteile und Un-
zulänglichkeiten der Aufklärung bestimmt. Für deren Aufweis ist im wesentlichen
immer ihr Verhältnis zum „Absoluten" ausschlaggebend nach Maßgabe des von
Hegel aus der dialektischen Bewegung des lebendigen, unendlich~endlichen Geistes
selbst gewonnenen Prinzips des absoluten Wissens. Infolgedessen gehört die Ver-
endlichung des Denkens nur insoweit zu ihren konstitutiven Merkmalen, als sie
o·in U~bi·voroum dvr Erlcv1mtni11 und t:iii Reich de1· Wi!h1·Ttt·it 1ichafl't, a-uße1· ·welclw:m Gutt
182 Ders., SW Bd. 19 (1928), 486 f. 508. 531. 514. 510 (vgl. dagegen ebd., 553 f. als Beleg für
die Flexibilität des Begriffs); Phänomenologie des Geistes, hg. v. Johannes Hoffmeister
(Hamburg 1952), 383 ff.
316
V. 9. Hegels bistorisch-1y1tematischer Begriff Aufldänmg
gesetzt ist, so daß der Standpunkt des Endlichen für ein Letztes, Goll als ein Jenseits
außer dem Denken genommen wird1sa.
In dem Maße, wie Hegel unter 'Aufklärung' ausschließlich die deutsche Aufklärung
versteht, konzentriert sich seine kritische Begriffsbildung auf die Plattheit und
Seichtigkeit des Wissens und die inhaltlose Kahlheit der Aufklärerei, ist ihm Auf-
klärung wesentlich ein Anhängsel, eine mattere Form der französischen Philosophie
des 18. Jahrhunderts, die ohne Geist mit verständiger Ernsthaftigkeit und dem Prin-
zipe der Nützlichkeit die Ideen bekämpfte. Den Vertretern dieser Aufklärung, bemerkt
er 1828, sei es bar jeder einheimischen Originalität darum gegangen, die Grundsätze
des Deismus, der religiösen Toleranz und der Moralität, welche Rousseau und Voltaire
zur allgemeinen Denkweise der höheren Klassen in Frankreich . . . erhoben hatten,
auch in Deutschland einzuführen. Im Unterschied zu Frankreich, wo sich das
Emporkommen oder Empören des Denkens vornehmlich gegen den geistlichen Stand
gerichtet und sich ihm alles angeschlossen habe, was Genie, Geist, Talent, Edelmut
besaß, habe in Deutschland die Aufklärung in diesem Stand ihre tätigsten und
wirksamsten Mitarbeiter gefunden, sei hier in der Sphäre der Mittelklassen das
Geschäft der Aufklärung betrieben und gegen alles, was sich von Genie, Talent, Ge-
diegenheit des Geistes und Gerrvüts auftat, in feindselige, trakassierende, verhöhnende
Opposition getreten. 1828 wie 1802 gilt Hegel die Berliner Aufklärung, zu der er
vor allem Nicolai, Mendelssohn, Teller, Spalding, Zöllner, die Gesamtperson „All-
gemeine deutsche Bibliothek" und als Nachbarn Eberhard, Steinbart, Jerusalem
u.a. rechnet, als Inbegriff solcher, d.h. der Aufklärung. Von ihr hebt er mit aller
Schärfe einen Kranz 0rigineller Individualitäten ab, die zwar mit den Berlinern im
1nteresse der Freiheit des Geistes ubereinkamen, den aus Frankreich kommenden
großem. Tm.p11.l11 11.h11r 1111lh11t.ä.nilie aufnahmen und von jenen aufs gehij,J;sigste ange-
griffen und herabgesetzt wurden. Bei diesen durch das Gefühl oder Bewußtsein des
Unendlichen ausgezeichneten Individualitäten denkt Hegel namentlich an Kant,
Hippel, Hamann, Herder, Wieland, Goethe, später Schiller, Fichte, Schelling u. a.,
weiter Jacobi und nicht zuletzt Lessing 184. _,,
Mit dieser Gegenüberstellung formuliert Hegel Gesichtspunkte, die für die roman-
tisch-idealistische Aufklärungskritik insgesamt kennzeichnend sind und später in
der geistesgeschichtlichen Entgegensetzung von „ westlicher Aufklärung" und
„Deutscher Bewegung" ebenso wirkungsvoll wie schematisch ausgeprägt wurden.
Hegels Aufklii.ruug1Jverständnis läßt sich jedoch auf ein derartigtis Schema nicht
festlegen. Es bleibt im höchsten Grade flexibel1 85 und wird immer wieder durch
historische und systematische, logische und zeitkritische, weltgeschichtliche und
1ea Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, SW Bd. 11 (1928), 551 f.; Vorlesungen
über die Geschichte der Philosophie, 366 f.; Ästhetik, hg. v. Friedrich Bassenge (Berlin
1955), 486 (Text der verbesserten Ausg. v. 1842); Grundlinien der Philosophie des Rechts
(1820), SW Bd. 7 (1928), 36. 439; Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 19,
331. 512. 533 f.; Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 15, 32. 262.
1" Ders., Rede zum Antritt doo philooophieohen Lehramte11 an der Univenität BerliD.
(1818), Berliner Schriften, 7; Enzyklopädie, 18; Religionsphilosophie, 487. 531; Rez. v.
Hamanns Schriften (1828), Berliner Schriften, 224 f.
1 86 In den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" heißt es z.B. hinsichtlich
Kants ähnlich wie 1802/03: Das letzte Ruultat der Kanti8chen PhiloBOphie i8t die Avfldä·
317
Aufklärung VI. Aufldärungsventänclnis im 19. Jahrhundert
rung ... , und: Die Kantische Philosophie iat thwretiach die metkodiach gemachte Aufklärong.
. . . Sie führt das W iasen in das Bewußtsein und Selbstbewußtsein hinein, aber hält es au/
diesem Standpunkte als subjektives und endliches Erkennen fest,· SW Bd. 19, 553 f. 554:.
318
VI. 1. Allgemeine Charakteristik Aufklärung
319
Aufklärung VI. 1. Allgemeine Charakteristik
667. Vgl. FRIEDRICH ENGELS' Urteil über L. Büchner (ca. 1873): er kenne die Philosophie
nur als Dogmatiker, wie er selbst Dogmatiker des p"lattesten Abspülicht des deutschen Auf-
klärichts, dem der Geist und die Bewegung der großen französischen Materialisten ab-
handen gekommen (Hegel über diese) wie demNico"lai der des Voltaire; MEW Bd.20 (1962),
472 Anm.
320
VI. 2. Katholisehes Begriffaverständäi. Aufklärung
Die Begründung, Erneuerung oder Fortsetzung eines rein christlichen und speziell
katholischen Begriffsverständnisses· ist für die Geschichte des Aufklärungsbegriffs
im 19. Jahrhundert nicht weniger typisch, als es das eindeutige Vorherrschen der
von Schaumann und Meiners aufgestellten Definitionen in den Konversationslexika
des Vormärz ist. Trotzdem ist das kirchlich-christliche Verhältnis und wiederum
speziell das des weltanschaulichen Katholizismus zur Aufklärung damit noch nicht
genügend charakterisiert. Neben den katholischen Kreisen, die den Ausdruck 'Auf-
klärung' als Begriff wahrer· Erkenntnis ernst nehmen und deshalb als einen christ-
lichen zurückfordern, gibt es nämlich andere, denen die Unterscheidung zwischen
wahrer und falscher Aufklärung unnötig erscheint, weil sie in der Nachfolge der ro-
mantisch-idealistischen Aufklärungskritik oder der Identifikation der „Aufklärung"
mit Illuminatismus und Jakobiniamus in den Jahren um 1790 unter 'Aufklärung'
prinzipiell etwas gänzlich Widerchristliches, Freigeisterisches, Destruktives und
Privatives begreifen. Als System- und Gesinnungsbegriff wird sie in diesen Kreisen
ausschließlich auf den „zersetzenden Geist" des Protestantismus und die „un-
gläubige" oder „falsche Philosophie" des 18, Jahrhunderts zurückgeführt und
insoweit mit dem gleichgesetzt, was das „Kirchenlexikon" „falsche Aufklärung"
nennt. Auf die Spitze getrieben hat dieses rein negative Verständnis der „Auf-
.klärung" 1862 der im politischen, nicht weltanr;ichaulichen Sinne katholisch-liberale
Politiker AUGUST REICHENSPERGER mit der Definition: Aufklärung, so viel wie Auf-
21-90385/1 321
Aufklärwlg VL 2. Katholisebee Begriffsventändais
lösung aller BegriOe über Pßicht, Recht und Religion - die Klarheit~ Nichts 191•
Maßgeblich vorbereitet und unterstützt wurde diese Auffassung seit den 1840er
Jahren durch den Görreskreis und die „Historisch-politischen Blätter für das ka-
tholische Deutschland", an deren Kampf gegen den Jakobinismus in jederlei Ge-
stalt, gegen die Aufklärung, gegen „eine gottentfremdete Wissenschaft, eine gottes-
schänderische Literatur, die Grundsätze der Auflehnung gegen jede gottgesetzte
Autorität, angemeine Rechtlosigkeit und Sittenlosigkeit" sich seit den 1860er
Jahren die „Stimmen aus Maria-Laach" intensiv beteiligten 192 . Zwar finden sich in
Beiträgen der 1850er Jahre zuweilen noch kritische Hinweise auf eine „falsche Auf-
klärung" und läßt der Gebrauch de11 Wortes 'Aufklärung' in Anführungtizeicheu
auf gewisse Vorbehalte schließen198. An dem völlig negativen Verhältnis dieser
durchweg romantisch-kon11ervativen und betont „ultramontamm" RtrömnngAn zur
Aufklärung änderte ·sich dadurch auf die Dauer nichts. Begriffsgesohiohtlich ge-
sehen, besteht ihre Bedeutung in erster Linie darin, der negativen Jfixierung d~s
Aufklärungsbegriffs innerhalb des Katholizismus endgültig zum Durchbruch ver-
holfen und hierdurch den Weg freigemacht zu haben, auf dem sich der dem Ratio-
nalismus zugeordnete historische Epochen- und Bewegungsbegriff 'Aufklärung'
durchsetzen konnte. Welche Rolle in diesem Zusammenhang die Enzyklika „QuanLa
cura" vom Dezember 1864 mit ihrer Ablehnung der „modernen Ideen" im allge-
meinen und des Rationalismus in seiner absoluten und seiner gemäßigten Form, des
Liberalismua und der modernen Wissenschaft im besonderen gespielt hat194, ist im
. einzelnen schwer abzuschätzen.
KETTELER schreibt noch Ende 1861: Die Worte FortschriU, Aufklärung, Freiheit,
Brüderlichkeit, Gleichheit haben einen erhabenen, himmlischen, göUlichen Sinn. Sie
enthalten eine große Wahrheit, eine von Gott den M en.~chen (JP{Jeherui lwh.e Aufun.he.
Er betont, wie sehr die mit diesen Worten bezeichneten Ideen den Wahrheiten des
Christentums entsprechen, das allein ihren vollen und wahren Sinn angebe, und häit
es für unbedingt erforderlich, den Mißbrauch dieser Worte durch ihren _rechten Ge-
brauch zu überwinden. Anfang 1867 dagegen ist der Ausdruck 'Aufklärung' für ihn
eigentlich schon nicht mehr im christlichen Sinne verfügbar196 •
Welchen Weg das katholische Aufklärungsverständnis von den 1850er Jahren bis
zum Begirin des 20. Jahrhunderts nimmt und welche Bedeutungsveränderung der
Aufklärungsbegriff dabei erfährt, veranschaulicht musterhaft ein Vergleich des Auf-
322
klärungsartikels der 1. Auflage von Herders Konversationslexikon mit dem der
3. Auflage. 1854/56 wird Aufklärung im neutralen Sinne jener geistige Vorgang
genannt, in dem der Mensch durch eigenes N ackdenken oder durch Belehrung sich
eine richtige Einsicht in Verkältnisse efwirbt, die ihm früher dunkel waren, oder sich
Kenntnisse verschafft, die ikm früher fehlten. Als Faktoren der Aufklärung charakte-
risiert der Artikel die Kirche (arbeitet ge.gen den Aberglauben!), die Schule, die Ge-
meinde, den Staat und die freie Tätigkeit des Einzelnen und beschreibt danach die
falsche Aufklärung. 1902 stellt der Artikel nur noch am Anfang lakonisch fest, Auf-
klärung bedeute im weitern Sinn jede Be'lehrung, um dann den Ausdruck sofort ohne
Oberleitung als Bezeichnung einer rationalistisch•ungläubigen Richtung zu bestim-
men, die seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts den positiven christlichen Glauben als
Unwissenheit und Finsternis behandelt, die Vernunft „mündig" und von den Fesseln
der übernatürlichen Offenbarung freimachen wiUlH. ·
Als sich um 1910 der Reformkatholizismus erneut für eine differenzierte ßetrach-
tung der Aufklärungsthematik einsetzt, da orientiert er seine Fragestelltung nicht
mehr an der christlichen Idee der Aufklärung, sondern an dem historischen Faktum
der Epoche und Bewegung Aufklärung, um sie sachgemäß zu erfassen und dar-
zustellen107.
19 8 HERDER 1. Aufl., 2. Ausg., Bd. 1 (1856), 326; 3. Aufl„ Bd. 1 (1902), Sll.
197 SEBASTIAN MERKLE, Die katholische Beurteilung des Aufklärungszeit.alters (Berlin
1909); ders., Die kirchliche Aufklärung im katholischen Deutschland (Berlin 1910);
198 Vgl. EMANUEL HmsOH, Geschichte der neuem evangelischen Theologie, Bd. 5 (Güters-
323
VI. 3. Protestantisches Begrift'sverständnis
konstituiert und ein Glaubenssystem aufstellt, nach dem der Rationalismus die An-
nahme einer übernatürlichen Offenbarung gänzlich von sich weiset und die Vernunft
zur einzigen Erkenntnisquelle religiöser Wahrheiten sowie ihr siUliches Interesse zum
Prüfstein derselben macht; - 3. die rationalistische Denkart als eine solche, die mit
dem Gange der europäischen Kultur seit der Wiedergeburt der alten IÄteratur im 14.
und 15. Jahrhundert derart aufs genaueste zusammenhängt, daß von dieser Zeit an
sich gleichsam die Epoche des Rationalismus datiert199. Wenn im Rahmen des theo-
logischen Rationalismus der Ausdruck 'Aufklärung' verwendet wird, dann hat er
lediglich die allgemein-abstrakte Bedeutung „Belehrung", „Unterrichtung", manch-
mal auch „Einsicht" und „Wissen" oder „Gelehrsamkeit", sofern er nicht in der
Nachfolge des Philanthropinismus als einigermaßen festumrissener Erziehungs-
begriff benutzt und mit der pädagogischen Aufgabe der „Schärfung des Verstandes
überhaupt" verknüpft wird200.
Nachdem Hegel 'Rationalismus' und 'Aufklärung' unter systematischen Gesichts-
punkten im wesentlichen gleichgesetzt hatte, E. W. Hengstenberg und F. J. Stahl
hingegen bei der Bezeichnung des historischen (seit dem 17. Jahrhundert und im
Gegensatz zum Materialismus) urid des zeitgenössischen Abfalls vom Ohristentum
und christlicher Kirche allein den Ausdruck 'Rationalismus' verwendet hatten 201 ,
versuchte unter den Theologen zuerst F. A. THOLUCK 1864 im großen Stil das Ver-
hältnis zwischen Rationalismus und Aufklarung historisch-systematisch festzu-
legen. Er bezieht den Begriff 'Rationalismus' im eigentlichen Sinne auf die theo-
logische Richtung gl~ichen Namens und hebt von ihr die vorausgehenden Bewe-
gungen des Pietismus und der Aufklärung ab. Letztere sei kein Rationalismus i. e. S.
gewesen, weil sie nicht wie dieser den gesunden Menschenverstand als Autorität an d'ie
Stelle der Schrift gesetzt habe. Ale Aufklärung bezeichnet er im einzelnen eine in
Deutschland durch das ganze 18. Jahrhundert sich erstreckende historisch abge-
schlossene Richtung, welche - anstatt in das Geschichtlichgewordene sich liebevoll zu
vertiefen, ... mit oberflächlicher Verstandeskritik meist nach dem Kriterium der prak-
tischen Nützlichkeit das Geschichtlichgewordene verwarf, um aus abstrakten Prin-
zipien einen Neubau an die Stelle zu setzen. Abstraktes Räsonnement stau geschicht-
licher Vertiefung, Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit an sich und Interesse nur am
prakti.!chen Werte fii,r das Subjekt seien die Maßstäbe der Aufklärung, an denen nicht
bloß das Bestehende in der Kirche, sondern auch im Staate, in Kunst und Wissenschaft
gemessen wurde.
Weder Tholucks Abgrenzung der Aufklärung vom Rationalismus noch sein Verc
gleich der englischen und holländischen Aufklärung mit der deutschen Aufklärung,
die allein einen stufenmäßigen Ablauf gehabt und die Aufklärung im theologischen
Sinne bis zur letzten Konsequenz entwickelt habe, fänden im Sprachgebrauch der
m JoH. FRIEDRICH RoEHR, Briefe über den Rationalismus (Aachen 1813; der Verlagsc;>rt
ist fiktiv), 42 ff. 51 ff. Ausdrücklich spricht sich Roehr dagegen aus, völlige Religions-
8']JÖtter und Religionsleugner wie Voltaire und Diderot dem Systeme des Rationalisten zu-
zurechnen (14).
200 GusTAv FRIEDRICH DINTER, Die vorzüglichsten Regeln der Pädagogik, Methodik und
Schulmeisterklugheit, 4. Aufl. (Neustadt/Orla 1822).
20 1 FRIEDRICH JULIUs STAHL; Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche (Berlin
1863), 63.
324
AafkJiinmg
Zeit einen größeren Widerhall202 • In dem von BRUNO BAUER beeinflußten, wenn
nicht geschriebenen Aufklärungsartikel des Wagenerschen Lexikons wird die These
vertreten, 'Aufklärung' gehöre schon lautlich allein der deutschen Sprache an und
bezeichne als Zustand und Täti,gkei,t, als System und Propaganda vorzugsweise eine
NoJ,ionalnlrlAJekgenheit der Deutschen in der zweiten Hälfte des vori,gen Jahrhunderts.
Wie das französische lumieres nur einzelne Streiflichter, allenfalls auch eine ausge-
breitete Lchtmasse, ·aber nicht den dadurch bedingten Z,ustand der Gesellschaft oder
die Tätigkeit der .Aufklärer bezeichne und das englische enli,ghtening überhaupt nur
eine schwache NachJ:>i,ldung des Deutschen20 s sei, so müsse die Aufklärung wohl unter-
schieden werden von der Toleranzidee, dem Deismus, dessen Popularieierung durch
Voltaire und ähnlichen Eracheinungen2 °'.
Die Einzigartigkeit der Aufklärung wird zur Hauptsache aus den Geheimbund-
plänen und den entsprechenden Aktivitäten von K. Fr. Bahrdt und A. Weishaupt
abgeleitet und mit Argumenten begründet, die in der Behauptung gipfeln, sie sei
ein bewußt verschleiertes, absolut despotisches .Autoritätssystem gewesen, das nicht
der Erleuchtung und Befreiung der Welt, sond.em der Aufrichtung der unbestrittenen
Herrschaft der Aufklärer hätte dienen sollen. Der Versuch, die Welt dadurch dem
schrecklichsten Despotünnus zu •1.111Uerwe:r/en, daß man jm Geheimen eine moralische
Macht über die ganze N oJ,ion selbst bis in die Hütten des Volkes ~rrang und endlich eine
unbestreitbare Einheit des Denkens in der ganzen N oJ,ion herstellte, also eine Art Total-
ideologisierung vornahm, sei allerdings in der Praxis an der Armut und Schwäche der
ganzen .Aufklärungsarbeit gescheitert. Zeitgenössische Anklagen gegen den als aufge-
kfij,rten J esui.tismus interpretierten Illuminatiemus aufgreifend, geht es dem Artikel-
1108 FRml>RICH AUGUST TuoLuox, Geschichte des Rationalismus, Bd. 1 (Berlin 1865), 92 f.
ME .
101 Vgl. unten S. 336 die Auffassung L. v. St.eine zu diesem Punkt.
1 °' WAGENEB Bd. 3 (1860), 30, Art. Aufklärung. Die Argumente des Artikelautors haben
einiges für sich; Obwohl z. B. ZIMMEBMA.NN 1790 unter „les progres des lumieres" die
„ wahre Aufklärung" versteht (s. 0 S. 285) und der FRH. VOM STEIN um 1809 'les lumieres'
0
mit .Aufldäru1ng übersetzt (Br. u. Sohr., Bd. 3, 1932, 495), „verdeutscht" CAMPE noch
1808/09 'luinieres' mit die Einsichten (Fremdwb., 2. Aufl., 89). In der 2. Aufl. von Mozm
Bd. 1 (1823) heißen die entsprechenden französiSchen Ausdrücke zu „Aufklärung einer
Flüssigkeit": clarification; „eines Zweifels, einer Stelle": klairci&aement; „der Völker
etc.": la culture, Zes Zumih'ea; „die Aufklärung befördern" i favoriBer la culture de Veaprit;
a
„an der Aufklärung anderer arbeiten": travailler klairer lea kommes; „die Aufklärung
unserer Zeiten": leä lumih'es etc. (69). Im Allg. dt. Conv. Lex. (Bd. 1, 1839, 632) werden
als entsprechende französische Ausdrücke 'culture' und 'lumi~res' und als entsprechender
englischer Ausdruck 'enlight.ening' angegeben, und zwar für 'Aufklärung' im Sinne von
Erhi#AJ,ng du .Ansichten und Meinungen der Men8Cken über die Gegemtände dea Leben& und
ihre immer größere Steigerung 'IUICh den Gesetzen der Vernunft. Nach dem OED (vol. 3, 1933,
191) ist 'enlight.enment' amn.etimea 'U8e.d ( after German Aufklärung, Aufklärerei) to deaignate
tke apirit and aims o/ tke French philoaopkera o/ tke J8th c., or of otkera wkom it iB intended t.o
a880Ciate with tkem in tlie implied charge o/ shaUow and pretentiO'U8 intellectualiam, unrea-
aonable oontempt /or tradition and autlwrity, ef,c. - Zweifellos ist der französische Ausdruck
'les lumieres' nicht.ohne weiteres, d. h. ohne eine Verbindung z.B. mit. 'siecle', als Epochen·
begriff verwendbar. Der französische Historiker GEORGES LEFEBVRE spricht bezeichnender-
weise von l'Au/klärung, dont la Pf"U8ae devint la fortereaae; La Revolution fran9aise, 46 ed.
(Paris 1956), 71; vgl. ebd., 195. 202.
325
Aufldiinmg VI. 3. Protestantisches BegriflsverstäadnU
autor darum, unabhängig von der Frage der Irreligiosität und des rationalistischen
Autonomiedenkens die wesensmäßige ldeologiehaftigkeit der Aufklärung nachzu-
weisen und dem alten Vorwurf der Unwahrheit und Negativität den der Unwahr-
haftigkeit und Heuchelei hinzuzufügen 205 .
Eine ganz andere Deutung der Aufklärung findet sich im gleichen Le~on - und
auch das gehört zum vielfarbig schillernden Bild des Aufklärungsverständnisses im
19. Jahrhundert - unter dem Stichwort „Rationalismus". Hier wird 1864 unter
Einschluß der Klassik die gesamte zweite Hälfte des 18. Jahrhurulerts als das Zei-t-
alter der „Aufklärung" bestimmt und als dessen einheitliche Parole die Humanität
bezeichnet: Während der philanthropische Humanismus alle Lebensformen in Kirche
und Staat ihres höheren sittlichen Inhalts entleerte und den Nutzen als einzigen Maß-
st.crb se'l:nes Menschheitsba11es betrachtetll, slltztll d1J1 klassische HumaniBmtNJ mit dem
Motive des Schönen in den Gang der Aufklärung ein. Goethe, Schiller, F. A. Wolf,
Wieland, Lessing und Herder werden zu den auf der Höhe der Aufklärungsepoche
stehenden Zeitgrößen ernannt und die Gemeinsamkeit beider Arten des „Humanis-
mus" in der Zersetzung der Menschheit in ein Konglomerat von lri,d,ividuen gesehen,
deren jedes seine Meinung für die Vernunft und seine Grundsatze für religiös hieU.
Auf dtJn Triün·trUfl'n tler Atwtnrittlt.P.n in Kirch.e und Staat, auf der nivellierten
Ebene, die durch W egrasierung der Familien- und Volkstradition, der väterlichen SitJ.e,
der Standesunterschiede, alles positiv f3ittlicken und Religiösen - kurz aUes von oben
und außen her dem Menschen Gegebenen hergestelU war, hätten beide ihren Humani-
tätstempel erbaut206 •
Auf dem Hintergrund dieser aufschlußreichen, Verstandestum, Irreligiosität,
soziale :Bindungs- und 'l'raditionslosigkeit, Individualismus, Egoismus und Sub-
jektivismus zu den konstitutiven Merkmalen der Aufklärungsepoche erhebondon
Deutung wird dann uriter 'Rationalismus' ?.weierlei verstanden: 1. allgemein die
seit der Antike überall und in den verschiedensten Gestalten auftretende Geistes-
Richtung, welche in Sachen des Glaubens die Vernunft zum Maßstab der Wahrheit
macht, und 2. das ResuUat des Ganges der Theologie im ZeitaUer der sogenannten Auf-
klärung. Das entspricht im wesentlichen der Auffassung von Tholuck.
In Hinweisen auf die zeitgemäße Restauration des Rationalismus des gesunden
Menschenverstandes durch die Junghegelianer und seine Wirksamkeit 1:n den Volks-
massen, namentlich in den Schichten der halben BiUlung und in den „liberalen"
Beamtenkreisen wird dann jedoch die 48er Revolution zur Frucht des Rationalismus
als der lrreligion der Demokratie erklärt und da~t ein spezifisch politisch-sozialer
Rationalismusbegriff anvisiert. Gleichwohl soll nach Auffassung des Lexikons im
herrschenden Sprachgebrauch mit 'Rationalismus' der sdhulmäßige theologische
Rationalismus gemeint gewesen sein207.
Das trifft zweifellos, wie schon ein kurzer Blick auf den Wortgebrauch von C. Welcker,
H. Hettner und Heinrich Brück lehrt, nicht zu. Um so schwieriger ist die Frage
zu beantworten, warum die deutschen Übersetzer der einflußreichen „History of
the Rise and lnfl.uence of the Spirit of Rationalism lli Europe" (186u) von W. E. H.
20 6 w AGENER Bd. 3, 32. 30. 38. Vgl. dazu BRUNO BAUER, Freimaurer, Jesuiten und Illu-
minaten in ihrem geschichtlichen Zusammenhang (Berlin 1863).
208 WAGENER Bd. 16 (1864), 677 ff., Art. Rationalismus.
207 Ebd., 677. 684.
326
VI•. '- Allgemeiner welt.wn...laaulicher Aafldiraqlhepiß' Aafldiraq
Welche Motive die 'Obersetzer auch immer zu ihrer Wortwahl bewogen haben mö-
gen, begriffsgeschichtlich ist sie besonders bemerkenswert, weil sie auf einen Vor-
gang aufmerksam macht, durch den die Anwauuung1uuüglichkaiLeu des Aufklärungs-
begriffs einerseits sachlich eingeengt, andererseits jedoch in zeitlicher Hinsieht un-
begrenY.t ArwAit.ert worden 11ind. In dem Maße nämlich, wie sich in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts der historische Epochen- und Bewegungsbegriff 'Aufklärung'
bedeutungsmäßig festigt und von dem sach- und wertneutralen Allgemeinbegriff
'Aufklärung' abhebt, tritt die Tendenz zutage, einen allgemeinen Weltanschauungs~.
System- und Methodenbegriff 'Aufklö.rnng' auszubilden, der in der Sache generell
mit dem der historisch-konkreten Aufklärung übereinstimmt, dessen Anwendungs-
bereich aber nicht auf das „Zeitalter der Aufklärung" beschränkt ist, sondern im
Prinzip die gesamte Geschichte der Menschheit umfaßt.
Die Bedeutung, die dieser Begriff im Laufe der Jahre gewinnt, zielt darauf ab, unter
'Aufklärung' allgemein eine .Weltanschauung, Geisteshaltung, Denkweise u.ä. m.
zu verstehen, welche die bindende Autorität der Tradition verwirft und das Denken
von der Herrschaft überlieferter Glaubenslehren, dogmatischer Vorstellungsweisen
und Gebräuche befreien, seine Eigenständigkeit begründen sowie das von ihm als
vernünftig Erkannte zur Geltung bringen will. 'Ober die Anwendbarkeit eines solchen
Aufklärungsbegriffs auf das griechische Altertum (sei es positiv auf das gesamte
klassische Zeitalter Athen.S, sei es negativ nur auf die Sophistik) gab es kaum Mei-
nungsverschiedenheiten. Darüber hinaus werden nun Formulierungen gebraucht
wie die von einer Aufklärung nach A.rt Lukians, von der im Zeichen des Pharisäismus
und Sadduzäismus stehenden ersten jÜ<lischen A.ufklärungszeit, von d,en diese Auf-
klärung repräsentierenden Sadduzäern oder werden Kaiser Friedrich II., die
208 WILLiill EDWARD HARTPOLE LECKY, History of the Rise and Influence of the Spirit
ofRationalism in Europe (London 1865; 4th ed. 1870, rev. ed. New York 1872), dt. v. H.
Jolowicz u. d. T.: Geschichte des Ursprungs und Einfl.US8811 der Aufklärung in Europa
(Leipzig 1868; 2. Aufi. 1873); dt. v. Immanuel Heinrich Ritter u. d. T.: Geschichte des
Geistes der Aufklärung, seiner Entstehung und seines Einfl.usses (Berlin 1874; 2. Auß.
Heidelberg 1885).
•ot LECKY, History, vol. 1 (rev. ed. 1872), 16. 19. 16.
327
Aufklärung VI. 4• .ADgemeiner weltamehaalicher Aufklänmpbepift
italienischen Humanisten, Erasmus und Papst Leo II. A.ufgekliirte genannt. Fast
zur gleichen Zeit, als der evangelische Theologe und kirchlich-konfessionelle Päd-
agoge CHRISTIAN PALMER auf christlichem Boden bis zur Reformation, die er im Un-
terschied zur Zeit des Humanismus und der Renaissance nicht als A.ufkliirungs-
periode beurteilt wissen will, nur einzelne aufkliirerische Momente auftauchen sieht,
veröffentlicht der evangelische Theologe und Kirchenhistoriker Hl!lRMANN REUTER
1875/77 eine „Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter vom Ende des
achten Jahrhunderts bis zum Anfange des vierzehnten". Reuter interpretiert z.B.
Berengar von Tours als einen scharfsinnigen Theoretiker der A.ufkliirung, bezeichnet
1talien und Frankreich im 12.Jahrhundert als die Länder derA.ufkliirung, hält Abaelard
für einen aufgekliirten Christen, der aufkliirerische Ideen, ja das Evangelium der A.uf-
kliirung verkündet habe, dessen Gesinnungsgenossen die Propaganda der Aufkliirung
betrieben hätten und der den gleichmäßigen Eindruck des A.ufkliirers hinterlasse.
Diesem Wortgebrauch legt Reuter folgende typische Begriffsbestimmung zugrunde:
Unter „Aufklärung" verstehe ich die Opposition der als selbständiges Licht sich wis-
senden Vernunft gegen den als ·lichtscheu vorgestellten Dogmatismus, die Bewegung der
Emanzipation von den autoritativen Gewalten, weloli,e den Sturz oder doch eine wesent-
liche Schwächung dßracU)cn cr~iclt, in der Ll.b.~ioht an Rt.t:llf. df'.11 k.nth.nU.~r.h.M1. 011.rister~
tums ... sei es ein von der Kritik gereinigtes, von der Vernunft als dem Mchsten
Kriteium der rez.igiüsl3n Wahrheit umgestaltetes (Christentum), sei t'n~ di.e natürliche
Religion zu setzen, sei es alle Religion aufzulösen 210•
Im Rahmen dieses allgemeinen Aufklärungsverständnisse11, das z. T. in abgewan-
delter Form weite Verbreitung fand und auch heute anzutreffen ist211 , stellt sich die
europäische Geschichte als eine Abfolge von Aufklärungsperioden dar und wird in
der „Aufklärung" schlechthin ein oder der Grundzug dieser Geschichte von ihren
allerersten Anfängen an erkannt. Das bedeutet für das Verhältnis von Aufklärung
und „moderner Welt", daß Aufklärung nicht als der eigentümliche Grundzug oder
das spezifische Denk- und Wissensprinzip dieser Welt anzusprechen ist und die mit
dem Individualbegriff gemeinte historische Epoche bestenfalls als ein Gipfelpunkt
der bisherigen Aufklärungen zu gelten hat. Reuter verteidigte Ende 1874 seinen
Wortgebrauch mit dem Argument, es gebe keine kanonische Definition der A.uf-
klärung212. Diese Ansicht hatte in den siebziger Jahren sicherlich nicht weniger
Anhänger als die andere, die den Aufklärungsbegriff i. e. S. mit dem historischen
Individualbegriff identifiziert und ihm zu quasi kanonischer Geltung verhelfen
wollte. Das gelang in den siebziger Jahren selbst bei denen nicht immer, die dafür
an sich offen und bereit waren. An Konfusion grenzende Bedeutungsschwan-
kungen und große Unsicherheit im Sprachgebrauch gehören auch in den siebziger
Jahren noch zum allgemeinen Bild des Aufklärungsverständnisses. So akzeptiert
beispielsweise PALMER als Idee der Aufkliirung zunächst die generalisierte Wesens-
(Hamburg 1949), 77: Die sophi8ti8ckeAufklärung; Die Vorsokratiker, hg. v. WILHELM CAPEL-
LE, 4. Aufl.. (Stuttgart 1953), 317: Zeit,alterdergriechiackenAufklärungim 5.Jahrhundert.
212 REUTER, Geschichte, Bd. 1, VI.
328
VI. 5. Aufklärungsverständnis des Frühliberalismus Aufklärung
329
AufkJinmg VI. 5. Aufklänmgsverstindnis des Frühlilteralismus
gro.phon sein Gcgcubeg1i[ 'Aufklii.ruug' fllr zeitlich beliebig verw!!ndba.r uml tltir
Sache nach ubiquitii.r gehalten und in mehrere Arten. gegliedert. In diesem Sinne
ist 'Aufklärung' ein Erkenntnis- und Wissensbegriff, der generell die MiUeilung und
harmonische Vereinigung der wahren Tatsachen und Erkenntnisse sowie die, Aus-
bildung r,ichtigen und klaren Denkens und Begreifens zum Zwecke der Darstellung
aller Dinge in der Natur und dem Menschenleben, in der Religion wie in der Politik
in ihrem wahren Lichte und Zusammenhange umfaßt.
So sehr Welcker es begrüßt, daß vorzüglich im 18. Jahrhundert in England, Frank-
reich und Deutschland die Aufklärung und der Rationalismus gegen den Obskuran-
tismus des weltlichen Despotismus und Stabilismus, wie gegen den religiösen in die
Schranken getreten sind, und so sehr sich in seinen Augen die Aufklärungen (!)des
Ra.tionaliRmnR, 11P.i111R. '7-P:r11tfir'11111gP.n 11nn Abe:rgla11be.n. und V orurtei'.len aller Art, seine
Reformen und seine Revolutionen um den Fortschritt der menschlichen Kultur ...
überall in Staat und Kirche, in Kunst und Wissenschaft, in Handel und Gewerbe
verdient gemacht haben, es liegt ihm gänzlich fern, diese Vorgänge gleichsam
pauschal unter einem Epochenbegriff ·'Aufklärung' zusammenzufassen. 'Aufklä-
rung' ist und bleibt für ihn als allgemeiner ein normativer Begriff und infolgedessen
unlöebar mit der Aufg11.l11i vtirkuüpfL, iliti b1i1:iumltmm Rri,iul1einu11gsformen der Auf-
klärung am Maßstab ihrer zeitlos gültigen Norm oder Idee zu messen und danach
zwischen wahrer und falscher Aufklärung zu unterscheiden.
Dieser normative Aufklärungsbegriff basiert bei W elcker auf der philosophischen
Theorie, daß ein allseitig gesundes vollkommenes geistiges Erkennen, Leben und Fort-
schreiten nur da möglich und gewährleistet ist, wo alle menschlichen Erkenntnis-
kräfte harmonisch zusammenwirken. Jede .Bevorzugung oder einseitige Anwendung
einer d11r dr11i Rrk11nntniskräfte („Sinneswahrnehmung", „ Ventändigkeit" und
„Vernunft") verhindere nicht nur die wahre Aufklärung, sondern erweise sich
gleichzeitig als ·die allgemeinste Quelle des Obskurantismus. Ausgehend von dieser
Theorie erkennt W elcker in den rationalistischen und aufklärenden Bestrebungen
des 18. Jahrhunderts großenteils keine wahre Aufklärung, sondern einseitige; ledig-
lich verneinende und zerstörende Aufklärerei, die, darin gipfelt seine Kritik, selbst
ein Obskurantismus und Despotismus gewesen sei, weil sie es bewirkte, da/J in Frank-
reich Atheismus und Philosophie ein und derselbe Begriff wurden, und weil sie alk
höheren religiösen, sittlichen, ästhetischen Erkenntnisse, Gefühle und Ideen und ihre
Quellen, alles geschichtlich Bestehende, Christentum, llönigtum und Volkstum, statt
sie von Irrigem zu befreien, vielmehr ... anfeindete und zerstörte. Ganz im Sinne
von Meiners sind für Welcker noch 1864 Materialismus, Atheismus, Unglaube,
reiner Empirismus und reines Verstandestum nichts anderes als falscher Rationalis-
mus oder aufklärende V erdunkeluniJ. Konsequent hält er es deshalb für Verblendung,
eine obskurantische Unterdrückung aller hökern Wahrheiten einschließlich der Wahr-
heiten von dem wahren persönlichen Gott, und die Verdunkelung des Lichts der christ-
lichen Religion für „Aufklärung" auszugeben und mit der Abschaffung der Hexen-
prozesse und der Inquis#ion auf eine Stufe zu stellen;
Zwischen dem „Rechtsobskurantismus" bloßer Gefühlsmenschen, blindgläubiger
Christen, abergläubiger Mystiker und politischer Reaktionäre und dem „Links-
obskurantismus" reiner Verstandesmenschen, ungläubiger Aufklärer, alles vernei-
nender Atheisten und alles zerstörender Reyolutionäre markiert für Welcker im
Endresultat die jeden Extremismus ablehnende und der Geistesfreiheit ebenso wie
330
einer religiös-idealistischen Lebensauffassung v:erpflichtete liberale Mitte den
Standpunkt der allein wahren Auf~lärung 216 •
Ähnlich wie Welcker identifiziert schon 1830 der Verfasser des Obskurantismus-
Artikels im ERscH/GRUBER die „Aufklärerei" mit dem philosophischen Obskurantis-
mus, indem er darunter allgemein jene Gelehrsamkeit oder Verstandesbildung
versteht, die sich nicht zur Stufe wahrer Wissenschaft und Wissenschafaichkeit,
d. h. bis zur rein vernünftigen oder philosophischen BeschaUung der Wissenschaften
erheben kann und sich vor allem negativ gegen jeden Versuch verhält, das Sinn-
liche aufs Übersinnliche, das Empirische aufs Spekulative oder Vernünftige, das
Re,al,e aufs lde,al.e etc. zurückzuführen 2 H.
Besonders dieses Beispiel zeigt, wie wenig die Obskurantismuskritik geeignet war,
die Divergenzen über die Bedeutung des Aufklärungsbegriffs zu verringern. An-
gesichts der widersprüchlichen Verwendung beider Begriffe machte 1842 das
„Rheinische Conversationslexikon" mit Recht geltend, es sei möglich, daß ein
Mensch gerade das für Aufklär~ng halt, was ein anderer Verfinsterung nennt. Und
in. der „Deutschen Vierteljahrs-Schrift" wurde ein Jahr früher die verworrene
Situation mit den Worten geschildert: ... wer riefe nicht mit seinen heißesten W ün-
schen die Zeit herbei, wo aUe Geister VIJ'li Irrtum ·u1ul Vol"Urteil befreit und zum Licht
der Erkenntnis durchgedrungen wären? Aber, was ist Irrtum und Vorurteil- was ist
Wahrheit? JedBT Denker und Raisonneur, der transuncl.ent.al.P. Td.n!li.~t 111n.rl der tief-
sinnige MyJJtiker, der Anhänger des gemeinen Menschenverstandes und der sensuali-
stische Materialist - jeder hält sein System für Wahrheit und erblickt in dessen Ver-
breitung den Sieg der wahren Aufklärung2l7.
1. Aufl., Bd. 11 (1841), 735. 732. 727. 734. 729; 3. Aufl„ Bd. 10, 706; Rhein. Conv. Lex.,
4. Aufl„ Bd. 5 (1842), 306 f.; Allg. dt. Conv. Lex., 784.
211 MussMANN, Art. Obskura.nt, 216 f.
111 Rhein. Conv. Lex„ 306 f.; G. P„ Die nationale Bedeutung Friedrichs des Großen, Dt.
331
Aufklärung VI. 6. Der pädagogische Aufklänmgshegmf und seine llistorisiemng
dung' und 'Erziehung' schon vor der pädagogischen Profilierung des Aufklä-
rungsbegriffes durch die Philanthropinisten weitverbreitet waren und die mit dem
Siegeszug der neuhumanistischen Bildungsbewegung verbundene endgültige Durch-
setzung eines neuen, vergeistigten, universalen Bildungsbegriffs den pädagogischen
Geltungsbereich des Aufklärungsbegriffes bis zur Unkenntlichkeit verengte. Im
Bereich der „Bildung des Individuums" ist dieser Punkt im Grunde schon um 1800
unwiderruflich erreicht, wo eine Synonymie zwischen 'Bildung' und 'Aufklärung' nur
noch bezüglich der „intellektuellen Bildung" besteht. Im Bereich der Volks- oder
Nationalerziehung bzw. -bildung erstreckt sich der Prozeß der Substitution und
Entpädagogisierung des Aufklärungsbegriffs dagegen im wesentlichen bis zur Mitte
des 19. Jahrhunderts. Noch Ende 1849 bedeutet bei GoTTFRIEl> KELLER die soge-
nannte Aufklärung ... die Verbesserung und Ausbreitung der Volk.~schule21a.
Während HEINRICH STEPHAN! 1805 die formale und materiale Bildung des Ver-
standes unter dem Titel intellektuelle Erziehung und das Thema „Erwachsenen-
bildung" unter dem Titel Erziehungsanstalten für den volljährigen Teil der Nation
erörtert 219, unterscheidet 1806 A. J. HoLZWART ausdrücklich zwischen Erziehung
und Aufklärung. Gegenstand der Erziehung ist :für ihn der jugendliche Teil der
Nation, wohingegen es dic AufldiiA'wn,g mit der Fortbildung du tkr e·igentl·wlum Er~
ziehung entreiften Teils der Nation zu tun hat. Weil dem Staat die Erziehung und
Aufklärung der Nation obliege, spricht Holzwart auch von Staatserziehung und
Staatsaufklärung. Doch das ist nicht der einzige Grund. Nationalaufklärung oder
Volksaufkllilrung (genitivus obiectivus), beide Begriffe sind bei ihm identisch, ist
auch deswegen Staatsaufklärung (genitivus snbiectivus), weil sich ihre Notwendig-
keit aus dem Staatszweck ergibt:. Erreichung möglicher Stärke nach außen und
Erreichung möglicher Glückseligkeit nach innen. Um diesen Zweck erfüllen und seine
damit verbundene Höherbildung zu einer „tätigen Kultursanstalt" vollziehen zu
können, bedürfe der Staat ständiger Fortschritte in der Geisteskultur und besonders
der intellektuellen Ausbildung der gesamten Nation. Worin die „Staatsaufklärung",
die sich über alle Bürger verbreiten und diese zu einem lebendigen Ganzen organi-
sieren müsse, dann im einzelnen bestehen soll, geht beispielhaft aus der kurzen
Aufzählung ihrer wichtigsten Mittel hervor: 1. Volksunterricht; 2. Beseitigung der
Hintkrnisse wahrer Aufklärung (wie Müßiggang, Laster, Verbrechen) durch Polizei
und Rechtspßege; 3. Volksunterhaltungen und Bürgerfeste; 4. Beförderung und Leitung
der Volkslektüre; 5. Ausstellungen in- und ausländischer Muster der Fortschritte in
Wissenschaften, Künsten und Gewerben. Dabei steht es für Holzwart fest, daß eine
wahre Volksaufklärung ohne religiöse Ausbildung in den höchsten Ideen und die
Mitwirkung der Kirche nicht möglich ist2 20.
Zur gleichen Zeit als Holzwart ohne irgendwelche politischen Bedenken den Aus-
druck 'Aufklärung' verwendet, betrachtet PESTALOZZI zwar die Wörter 'Volks-
aufklärung', 'Volksbildung' und 'Volkserziehung' als vollaustauschbare Synony-
818 GoTTFRIED KELLER, Werke, Bd. 3 (Weimar 1963), 304 ( = erste Rezension von J eremias
332
VI.. 6. Der pädagogische Aufklänmgslaepiff und seine Biatorisienmg Aufklärung
ma, ist aber gesprächsweise dafür, das zum Giftwort der Zeit und ihrer Leiden-
schaften gewordene Wort Volksaufklärung „ wegzuwerfen", wenn es nicht gelingt,
gegenüber der in unglücklicher Ideenverbindung mit der Politik stehenden (falschen
oder) oberßächlichen Volksaufklärung die von einer solchen verderblichen Verbin-
dung gelöste (wahre oder) wirkliche Volksaufklärung zur Geltung zu bringen.
Jenseits der Frage einer politischen Umgestaltung der bestehenden Gesellschafts-
ordnung bestimmt Pestalozzi es als das Ziel dieser Volksaufklärung, die Menschen
aller Stände 1. so zu erziehen, daß sie in jedem Fall das sein werden, was sie sein
sollen und sein können und es sie nicht gelüstet, das zu werden ... ; was sie nie sein
können, nie werden können und nie sein und werden sollen, und sie 2. so zu bilden, daß
sie ihren Beruf mit Überlegung und mit Vorteil treiben können, das Beste aus ihrer
Lage zu machen vermögen und sich in ihren Umständen zu helfen wissen. Um dieses
Ziel zu erreichen, sei es notwendig, durch geeignete pädagogische Maßnahmen den
Geist der Menschen in allen Ständen zu wecken, ihre nötigen Einsichten zu erweitern,
ihre nötige Überlegungskraft zu stärken und auch dem Taglöhner zu Verstandes-
übungen, zu guten Einsichten und vielseitigen Fertigkeiten zu verhelfen.
Die eigentliche Bedeutung der Volksaufklärung bei Pestalozzi wird indes erst da sicht-
bar, wo er die VolkserZiehung als den Weg bezeiul11111t„ die Mensvltlu:it ·in ·iltre-t~ Ifrä/ten
und Anlagen in allen Ständen auf einen Grad auszubilden, den man bis dahin nicht
möglich glaubte, und er entscheidend das }'undament der· Volksbildung nicht so sehr
in der Ausbildung des einzelnen Menschen für seinen Stand als der Menschheit über-
haupt für ihre Natur erblickt. „ Wirkliche Volksaufklärung" beruht nach Pestalozzi
auf innerer Menschenbildung und bewirkt die allgemeine Entfaltung der allen
Menschen in allen Ständen gemeinsamen Geistes-, Herzens~ und Kunstkräfte, an
denen gemessen das Spezielle und Individuelle im Sein und Tun aller Menschen
allenthaUJen bloß äußere Modifikation in der Anwendung ihrer inneren Kraft ist121 •
Nach dem Zeugnis der zeitgenössischen Lexika ist es um 1820 nicht ungewöhn-
lich, unter 'Volksaufklärung' oder auch einfach 'Aufklärung' ohne irgendwelche
qualitativen Kriterien das „öffentliche Unterrichtswesen" eines Staates zu ver-
stehen. Entwickelt wurde diese Bedeutwig des Wortes zuvörderst in Verbindung
mit der deutschen Wiedergabe der russischen Bezeichnung für „Unterrichtsmini-
sterium", dessen von svet (= Licht) abgeleitetes Bestimmungswort prosveiiöenie
bedeutungsmäßig dem deutschen Wort 'Aufklärung' entspricht. So hieß das seit
1802 in Rußland als Zentralbehörde bestehende Unterrichtsministerium im Deut-
schen „Ministerium der Aufklärung" oder „Ministerium der bzw. für Volksauf-
klärung"; ein Name, der noch am Ende des _19. Jahrhunderts allgemein gebräuch-
lich war und in der Spezialliteratur auch heute verwendet wird 222 •
Für RoTTECK sind 1835 öffentlicher Unterricht und Volksaufklärung austauschbare
Begriffe und stellt Volksbildung einen Oberbegriff dar, insofern zur letzteren als
Staatstätigkeit in einem Ministerium der Volksbildung neben der Schule und den
andern Beförderungsmitteln der Volksaufklärung die Kirche, d. h. der Kultus oder
333'
Aafllinmg VL 6. Der pä~e Aufklinmpbegrli[ untl &eine lliatoriaierung
die kirohUcken A.ngtilt:yen!Ulik!n gehßren. Rotteck weiß, daß in Rußland ein Mini-
sterium der Volksaufklärung ... wirklich besteht. Er ist aber weder bereit anzu-
nehmen, Rußland sei <leshalb den übrigen Staaten vorangeschritten . . . in Volks-
aufklärung und Gesittung, noch findet er sich kritiklos mit der inhaltlichen Unbe-
stimmtheit dieses Begriffes ab. Da er seine kritischen Gesichtspunkte und Postulate
aber nicht zum integrierenden Bestandteil des Volksbildungs- und Volksaufklä-
rungsbegriffs erhebt, verlieren beide Begriffe auch bei ihm nichts von ihrer allge-
meinen Verfügbarkeit22a.
Wahrscheinlich wegen dieses Sprachgebrauchs vermeidet es DIESTERWEG, die Aus-
drücke 'Volksbildung' und 'Volksaufklärung' zu verwenden. Als er 1836 seine
Vorstellungen über die Lösung· der Aufgabe dieser Zeit entwickelt, da stehen im
Zentrum seiner Arenm1mt11.tion die Begriffe Erziehung oder öffentliche Er:siehung
und Bildung, insbesondere Lebens1Jildung. Wohl benutzt er einige Male die Wörter
'Aufklärung', 'wahre Aufklärung' und sogar 'Aufklärung des Volkes', jedoch
weder als Erziehungs- noch als kognitive Zielbegriffe. Das, was bei R. Z. Becker,
Wedekind und in abgeschwächter Form selbst 1822 noch bei G. Fr. Dinter zur
„Aufklärung" gehört: die Erkenntnis der Rechte oder Pflichten des Menschen und
Bürger.!!, die Kenntnil:I J.e.r v..,.1:faH11Wlg 11..,11 J,a111ltlM, cfor Gesetze, der Landesreligion
u. ä. m. sowie „die Vermittlung derjenigen Kenntnisse, die dem Menschen daR
Recht- und Guthandeln erleichtern" (Dinter), wird von ihm betont Lebens1Jildung
oder Bildung fürs Leben genannt. Sie umfaßt 1) Kenntnis der ewigen Geset,ze der
Religion, der Vernunft, wie Bibel und Ethik sie aufstellen; 2) Kenntnis der Reckte
<les Menschen und des Bürgers; 3) Kenntnis <les Organismus <les Staats ... und des
ganzen öffentlicken Wesens. Mit 'Aufklärung' wird in. diesem Zusammenhang
lediglich die didaktiimh-formale &ite der Kenntnisvermittlung angesprochen, so
daß die Ausdrücke Aufklärung, wahre oder reckte Aufklärung beliebig gegen die
Ausdrücke Belehrung oder reckte Belehrung ausgetauscht werden können und von
Diesterweg auch ausgetauscht werden. Auch die von ihm als notwendig darge-
stellte Aufklärung des Volkes über öffentliche Angelegenheiten ist ein didaktischer
Vorgang, der mit seinem Gegenstand keine begriffliche Einheit bildet224.
LORENZ VON STEIN hat 1884 gemeint, der Name ... „ Volksaufklärung" komme im
19. Jahrhundert nicht mehr vor und sei aus Literatur und Gesetzgebung verschwun-
den226. Das ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz offensichtlich nicht
der Fall. Auch in der zweiten Hälfte ist das Wort verbreitet. Und am Anfang des
20. Jahrhunderts steht es im Zentrum der Agitationstätigkeit der Freidenker-
bewegung, von der es inhaltlich auf die populäre, erzieherisch wirksame Behand-
lung religiöser und naturwissenschaftlicher Fragen im monistisch-freigeistigen
Sinne festgelegt wird. Das seit 1905 erscheinende, von Konrad Beißwanger heraus"
gegebene spätere Publikationsorgan des Zentralverbands deutscher Freidenker-
vereine „Der Atheist" trägt den Untertitel Illustrierte Wochenschrift für Volks-
aufklärung und verfolgt das Ziel, die heutige Pfaffenwirtschaft rücksichtslos zu
223 CARL v. RO'l.'TECK, Art. Bildrmg, ROTTECK/WELCKER, Bd. 2 (1835), 983 ff.
224 FRIEDR. ADOLF WILH. DIESTERWEG, Die Lebensfrage der Zivilisation oder: über die
Erziehrmg der unteren Klassen der Gesellschaft. Erster Beitrag zur Lösung der Aufgabe
dieser Zeit (Essen 1836), 1. 51 ff. 42. 49.
226 STEIN, Verwaltungslehre, Bd. 8, 516 (s. Anm. 9).
334
VI. 6, Der piUgogisebe Aufklinmgshegritf und seine Biatorißenmg
geißeln und selbst in die finstersten Winkel hineinzuleuchten, um auch den in tiefster
pfäffischer Finsterni11 Schmachtenden die Sonne der Aufklärung leuchten zu las-
sen22e.
Stein dachte an jener Stelle freilich nicht an das Verschwinden des Wortes über-
haupt, sondern lediglich an das eines inhaltlich eindeutig festgelegten Begriffs.
Mit dieser Einschränkung ist an seiner These vielleicht so viel richtig, daß es seit
der Mitte des 19. Jahrhunderts keinen inhaltlich festumrissenen Begriff 'Volks-
aufklärung' gegeben hat, der die allgemeine Verfügbarkeit des Wortes einzu-
schränken vermocht hätte. Auch der Sprachgebrauch der Freidenkerbewegung am
Anfang des 20. Jahrhunderts hat daran nichts geändert. Deshalb konnte der Aus-
druck 1933 von den Nationalsozialisten mühelos zur Bezeichnung des Goebbelsschen
„Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda" verwendet werden. In
dieser Verbindung umfaßt er inhaltlich die Aufgabe, dem Volk die Politik der
nationalsozialistischen Regierung „verständlich" zu machen, und zwar rein agita-
torisch, ohne Zuordnung zum Unterrichts- und, Volksbildungswesen, für welches
seit 1934 das „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung"
zuständig war. ·
W vg11.u 11ei11er inhltlir.lum TTnlie11timmthcit im a.llgomeinen Sprachgebrauch ~&t von
L. v. Stein 1884 der Standpunkt vertreten worden, daß die Aufklärung als solche
•. , nur einen historischen Sinn hat. Mit dieser hiHtorischen Aufklärung meint er
aber weder die Geistesbewegung noch die Ideenwelt oder die Epoche des 18. Jahr-
hunderts schlechthin. Seinen sehr konkreten Sinn empfängt der Aufklärungsbegriff
bei ihm allein im Rahmen der Geschichte des Volksbildungswesens des 18. Jahr-
hunderts. An diesem Platz erweise sich die Aufklärung am; mehreren Gründen als
ein rein historisches Phänomen: 1. bezeichne sie den Zeitpunkt in der Geschichte
der Bildung, an dem das alte konfessionelle Erziehungsprinzip aus der Bildungs-
gesetzgebung verschwinde und an seiner Stelle der auf die vorurteilsfreie Bildung des
Volkes gebaute Grundsatz der konfessionslosen, rein menschlichen Erziehung vom
Staat anerkannt werde; 2. verkörpere sie als historisch evidentes wissenschaftlich-
pädagogisches Prinzip im Bereich der Bildung an sich den Gedanken der Konfes-
sionslosigkeit der Erziehung, nach dem die wahre Volkserziehung nicht mehr durch
eine kirchlich-dogmatische Erziehung, sondern durch eine zu Selbstverantwortlich-
keit, Selbstbildung und Selbsterziehung erhebende, im reinen Gottesbewußtsein ver-
wurzelte freie Volksbildw1g erreicht werden solle; 3. und entscheidend stelle die
Aufklärung, indem sie aus der Bildung an sich in das Bildungswesen hineintritt und
von der Schulgesetzgebung anerkannt werde, als verwaltungsrechtliches Prinzip den
Gedanken dar, daß ein solches Volksschulwesen jetzt weder ein kirchliches noch e·in
der individuellen Willkür überlassenes, sondern nur eine Staatsanstalt sein könne.
Die kritische Konzeption, legislative Anerkennung und administrative Durch-
führung des Prinzips der Konfessionslosigkeit und Staatlichkeit des Volksbildungs-
wesens im 18. Jahrhundert umschreiben somit bei Stein in ihrer Einheit den histo-
rischen Sinn der Aufklärung. Aus ihnen leitet er als weiteres konstitutives Merkmal
der Aufklärung ihren spezifisch deutschen Charakter ab. Ähnlich wie über 20 Jahre
früher Wageners Lexikon steht Stein auf dem Standpunkt, daß die französische
wie die englische Sprache das Wort Aufklärung nicht kennen und es ebensowenig
. . .
296 Der Atheist. Illustrierte Wochenschrift für Volksaufklärung 1 (1905), 1; 3 (1907), 111.
335
Aufklärung VI. 7. Linbhegelianer und Nietzsches ,,neue AufklämDg"
zu übersetzen vermögen Wie die griechische oder die lateinische Sprache, weil es
„Aufklärung" weder in Frankreich noch in England gegeben habe: Nur das deutsche
Volk hat seine Aufklärung durchgemacht in Prinzip und Verwaltung.
227 STEIN, Verwaltungslehre, Tl. 8 (s. Anm. 9), 509. 514 ff.
zzs EMIL v. MEYSENBURG, Die Philosophie der Geschichte in ihrer gegenwärtigen Aus-
bildung, Hallische Jbb. 2 (1839), Nr. 312 v. 30. Dezember, 2496.
zzt KARL FRIEDRICH KÖPPEN, Rez. von Schlossers Geschichte des 18. Jahrhunderts und
des 19., Dt. Jbb. (1842), 18; ders„ Zur Feier der Thronbesteigung Friedrichs II., Hallische
Jbb. 3 (1840), 1181. 1180. 1185; ders., Schlosser-Rez., 18. Vgl. vor allem Köppens Buch:
Friedrich der Große und seine Widersacher. Eine Jubelschrift (Leipzig 1840), das als das
Hauptwerk der linkshegelianischen Rehabilitierung der Aufklärung angesehen werden
kann.
336
VI. 7. Linbbegelianer und Nietzsches ,,neue Aufklirung" Aufldirung
umfassenden Versuch, eine neue Periode der Aufklä'l'Ung herbeizuführen. Der pro-
grammatische Gehalt, das neue Weltprinzip, das die (historische) Aufklä'l'Ung
in sich hat, gibt den Anstoß zu einem neuen Begriffsverstän~nis, das den Auf-
klärungsbegriff als Ziel- und Kampfbegriff aktualisiert und zum philosophischen
Emanzipations- und Kritikbegriff der „modernen Welt" schlechthin transformiert.
RuGE hält es aus diesem Grunde für nötig, wie Voltaire und Rousseau zu schreiben
und verkündet 1841 im Hinblick auf die fortschreitende Radikalisierung der links-
hegelianischen Theologie- und Religionskritik sowie der politischen Auseinander-
setzung mit den konservativen Mächten und Ideen der Zeit: Die Zeit der Aufklärung
ist wieder da. Und noch im gleichen Jahr stellt er fest: Unsere Zeit ist die fundamen-
talste Aufklärungsperiode, die es je gegeben h,at2So.
Die Einmiitigkeit, mit der die Linkshegelianer die Wiederbelebung der Aufklärung
des vorigen Jahrhunderts betreiben und sich davon die Möglichkeit versprechen,
fortan deren Aufgabe vollständig durchzuführen2 81 , schließt freilich unterschiedliche
Auffassungen über den Sinngehalt und den Anwendungsbereich des Aufklärungs-
begriffs auch bei ihnen nicht aus. 1840 nennt Ruge Aufklä'l'Ung, Rationalismus und
Liberalismus die drei großen Kategorien der neuesten Geschichte und versteht dabei
unter 'Aufklärung' eine gnoscologisoho AUgcmßinheit des Wissens, die zusammen
mit dem Rationalismus als dem Inbegriff des rationalen Systems der Philosophie die
Kategorie der selbstgewissen und nur sich selbst anerkennenden Vernunft bildet; dem-
gegenüber bedeutet Liberalismus die Kategorie der sich selbst unerbiUlich verwirk-
lichenden Vernunft. „Aufklärung" und „Rationalismus" auf der einen und „Libe-
ralismus" auf der anderen Seite verhalten sich demgemäß zueinander wie Theorie
und Praxis, Philosophie und Politik. 1842 ist für Ruge im Anschluß an Köppen die
Aufklärung des 18. Jahrhunderts . . . als „ Vernunftreligion" ... Negation des
Ohristent·urns, als „Republik" des Absolutismus im Staat, die, indem sie nun Ernst
macht mit den „Rechten der Menschen und der Vernunft", die Revolution proklamiert,
welche nackt und deutlich den innersten Sinn der Aufklärung ausspreche. An dieser
Stelle impliziert 'Aufklärung' sowohl den theoretischen wie den praktischen Aspekt
der Autonomie des Geistes, umfaßt sie mithin auch den „Liberalismus" oder „De-
mokratismus". Aus dem Fortbestehen der alten Monarchie und der Kirche schließt
zur gleichen Zeit Köppen, daß die Aufklärung, die er nebenbei reine Einsicht nennt,
sich erst zu verwirklichen hat, also noch Theorie ist und den Bedingungen der von
den Linkshegelianern allgemein postulierten „Verwirklichung der Philosophie"
unterliegt 232 •
aao .ARNOLD RuGE, Briefwechsel und Tagebuchblätter aus den Jahren 1825-1880, hg. v.
Paul Nerrlich, Bd. 1 (Berlin 1886), 247 (am 7. 11. 1841 an Stahr). 220 (am 23. 2. 1841
an Moritz Fleischer). 246 (am 7. 11. 1841 an Stahr).
231 BRUNO BAUER, Das entdeckte Christentum (1843), in: ERNST BARNIKOL, Das ent-
deckte Christentum im Vormärz. Bruno Bauers Kampf gegen Religion und Christentum
und Erstausgabe seiner Kampfschrift (Jena 1927), 87.
232 ARNOLD RuoE, Köppen und Varnhagen, ein Gegensatz unserer Zeit, Hallische Jbb. 3
(1840), 1245; ders„ Briefwechsel und Tagebuchblätter, 259 (am 8. 1. 1842 an Prutz);
KÖPPEN, Schlosser-Rez„ 18. Vgl. RuoE, Neue Wendung der deutschen Philosophie, in:
Anekdote zur neuesten deutschen Philosophie und Publizistik, hg. v • .ARNOLD RuoE, Bd. 2
(Zürich, Winterthur 1843), 15 f. 17 f. 23. 42. 56. 58 f.
22-90l85/I 337
VI. 7. Linbhegelianer und Nietuehes ,,neue Auf.klärung"
Bei B11.uNo BAUER, der den Anwondungsuureich des Aufklärungtibegri.lfä uicht auf die
„moderne Welt" oder die neueste Geschichte beschränkt, bedeutet 'Aufklärung'
generell Destruktion der Religion und speziell die kritische Destruktion des Christen-
tums. Indem er die Weltgeschichte als den dialektischen Fortschritt der Menschheit
zur vollen Selbsterkenntnis und absoluten Freiheit begreift, der sich seit der Antike
in einer Reihe von Aufklärungen vollzieht, faßt er 'Aufklärung' im Prinzip als ge-
schichtlich bedingte emanzipative Wahrheitserkenntnis und Bewußtseinsbildung
auf, die vom natürlichen zum übernatürlichen religiösen Bewußtsein aufsteigt und
sich in der auton()men menschlichen Selbsterkenntnis vollendet. Weil alle mensch-
liche Wesenserkenntnis bis in die Neuzeit hinein durch religiöse Vorstellungen be-
stimmt ist, müssen dies notwendigerweise auch alle Erkenntnisfortschritte ein-
schließlich der sie bewirkenden Aufklärung RAin. Aufklärung kann infolgedessen
nach Bauer bis zum Atheismus des 18. Jahrhunderts nichts anderes als religiöse
Aufküirung sein, d. h. - und damit erhält der Ausdruck 'religiöse Aufklärung'
wieder eine andere Bedeutung - eine in religiöser Form ausgeführte Auflösung der
Religion. Die Aufküirung der Griechen und Römer konnte nur eine bestimmte, eine
noch unvollkommene Religion, d. h. eine Religion stürzen, die noch nicht durch und
d'!4rch Roligion war, un<I mußtil'I 11nvflrnu1idlic.h zur f.kffurt ei•mrr •1111wm. Religiott den
Anlaß geben. Allein das Christentum, das alle naturhaften Religionen zerstörte und
so die religiöse Vollendung der Aufklärung ist, welche das Judentum enthielt, weshalb
sie auch in diesem Zusammenhang christliche Aufküirung heißen kann, stellt nach
Bauer die vollendete, reine Religion dar. Deshalb muß die Aufküirung, die es erzeugt
und von der es gestürzt wird, . . . die Sache der Religion und der Menschheit überhaupt
eutscheiden933 •
Diese Aufklärung ist für Bauer die zentrale Anfgabe der „modernen Welt", bei
deren Lösung sie zum ersten Mal alle religiösen Formen zerbricht, um wirkliche,
vernünftige Aufküirung zu werden. Dieses Ziel habe im Gegensatz zur englischen
deistischen Aufküirung, die noch Religion habe sein wollen und deshalb nicht ratio-
nale Aufklärung sein konnte, im 18. Jahrhundert allein die französische atheistische
Aufküirung erreicht. Doch erst in der Gegenwart sieht er mit seiner eigenen Theo-
logie- und Religionskritik die Möglichkeit jener totalen und universalen Aufklärung
gegeben, welche die Religion schlechthin erküirt und auflöst, das Christentum zerRt.ört
und so die Geburt der Freiheit und selbst der erste Akt dieser höchsten Freiheit ist 234 •
Charakteristisch für Bauers Sprachgebrauch ist in dem zuletzt genannten Zusam-
menhang, daß er meistens die Kritik oder die Theorie, aber die wahre, die rücksichts-
lose Theorie, und nicht die 'Aufklärung' als die geistige Macht bezeichnet, welche
die Menschheit von aller Religion befreit. 'Kritik' und 'Theorie' übergreifen als
System- und Zentralbegriffe seines gegenwartsbezogenen Emanzipationsprogramms
den Aufklärungsbegriff. Er wird zum Instrumentalbegriff, der das Mittel nennt,
mit dessen Hilfe „Kritik" und „ Theorie" ihren Emanzipationskampf führen: näm-
lich durch rücksichtsloses, intensives und zielbewußtes „Belehren", „Entlarven",
„Enthüllen". In dieser, dem alltäglichen Wortgebrauch nahestehenden Bedeutung
verwendet Bauer den Ausdruck fast. immer verbal und nicht substantivisch: „Kri-
233 BAUER, Die Fähigkeit des heutigen Juden und Christen, frei zu sein (1843), in: ders.,
Feldzüge der reinen Kritik, hg. v. Hans-Martin Saß (Frankfurt 1968), 189. 183. 187. 183 f.
23 ' Ebd., 189. 184. 192; ders., Das entdeckte Christentum, 87. 157 ff. 164.
338
VI. 7. Linbhegelianer und Nietzsches „neue Aufklärung" Aufklärung.
tik" und „Theorie" haben ihr Befreiungswerk für ihn vollbracht, wenn sie die Men-
schen über unser Wesen aufgeklärt und über die Selbsttäuschungen des Bestehenden
aufgeklärt und dadurch die Vorurteile, die Fesseln, die Bande, das falsche Fleisch von
unserm Herzen abgerissen haben. 'Aufklären' meint somit als „Waffe der Kritik"
geradezu die agitatorische Seite des Einwirkens· der „Kritik" auf das Bewußtsein ·
der Menschen und der aus ihm resultierenden umstürzenden Bewußtseinsänderung
oder ariders ausgedrückt: Es bezeichnet die agitatorische Praxis der „ wahren
Theorie" 235 •
Unter dem Eindruck der allgemeinen Auflösung des philosophisch-politischen
Radikalismus der Linkshegelianer (1843/44) hat Bauer seine umfassende Auf-
klärungstheorie fallengelassen. 'Aufklärung' wird nun für ihn ein das 18. Jahrhun-
dert betreffender historischer Begriff, den er sehr abschätzig verwendet. Dieser
Bruch mit seinen früheren Überzeugungen durchzieht auch sein Werk über die
„Geschichte der Politik, Kultur und Aufklärung des 18. Jahrhunderts" (1843/45).
Im ersten Band ist mit 'Aufklärung' noch prinzipiell die Auflösung der bestehenden
Religionslehre und überlieferten Kirchenverfassung gemeint. Dazu rechnet er jede
kritische Äußerung gegen das „ßestehende", jede Form der Abkehr von der Ortho-
doxie, jeden Abbau dogmatischer Schranken, jedes Abwenden von alten und Zu-
wenden zu neuen Ideen, jede Regung freierer Bestrebungen auf dem Gebiete der
Religion. In diesem Sinne ist für ihn z.B. Dippel ein religiöser Aufldarer und der
Pietismus „religiöse Aufklärung". Im zweiten Band hingegen sieht er bereits in der
Halbheit, Schwäche und Inkonsequenz sowie in den „Illusionen" der „religiösen
Aufklärung" den entscheidenden Wesenszug der gesamten Aufklärung des 18. Jahr-
hunderts, worunter jetzt die philosophischen, religiösen und politischen Freiheits-
bestrebungen bis zum Staatsstreich Napoleons am 18. Brumaire verstanden werden.
Von dieser Aufklärung heißt es, sie sei ohne umfassende Grundsätze gewesen, habe
im Grunde mit der geistigen Welt, die sie bekämpft,e, übereingestimmt und nur die
Vollendung des alten Systems gebildet, dessen sie nicht Herr geworden sei. Eines der
Haupt,dogmen der Aufklärung soll die allgemeine und dauernde Unmündigkeit ge-
wesen sein 236 •
Im weiteren Umkreis der Nachwirkungen des Linkshegelianismus ist vielleicht auch
235 BRUNO BAUER, Die gute Sa.ehe der Freiheit und meine eigene Angelegenheit (Zürich,
Winterthur 1842), 206 f. 224 f. 209. 208. Marx und Engels haben zur Begriffsgeschichte
von 'Aufklärung' im Grunde nichts beigetragen. Bis 1846 hält sich ihr Sprachgebrauch
eng an die von Hegel und den Linkshegelianem (speziell Bruno Bauer) entwickelten Ge-
sichtspunkte, die sie allerdings seit 1844 in polemischer Absicht aufgreifen: vgl. MEW
Bd. 2 (1957), 114. 131. 132. 161 (1844/45); MEW Bd. 3 (1958), 394. 395 (1845/46). In
seinen Beiträgen für den „Vorwärts" (1844) über „Die Lage Englands", die als erstes „Das
18. Jahrhundert" behandeln, benutzt Engels den Begriff mehr beiläufig und nennt das Jahr-
hundert einleitend das Jahrhundert der Revolution (MEW Bd. 1, 550). Auch in seiner präg-
nanten Charakteristik des 18. Jahrhunderts am Anfang des „Anti-Dühring", in der er über
das Reich der Vernunft in diesem Jahrhundert sagt, es sei nicht weiter gewesen als das
ülealisierte Reich der Bourgeoisie, kommt 'Aufklärung' als Epochen- oder Richtungsbegriff
nicht vor. Herausgestellt werden lediglich die großen französischen Aufkliirerdes 18. Jahr-
hundert.s (MEW Bd. 20, 17. 16; 1876/77).
236 BAUER, Geschichte der Politik, Kultur und Aufklärung des 18. Jahrhunderts, Bd. 1
339
VII. Auahliek
NIETZSCHE zu sehen, der 1884/85 die neue Aufklärung ais Programm seiner Philo-
sophie der ewigen Wiederkunft formuliert. Sie hat mit der alten die Kritik und Ne-
gation des Christentums und des bestehenden Staates gemeinsam, wenn Nietzsche
fordert, die Aufklärung über die Lüge der Kirche so weit ins Volk zu treiben, daß die
Priester alle mit schlechtem Gewissen Priester werden, und er es ausdrücklich Aufgabe
der Aufklärung nennt, den Fürsten und Staatsmännern ihr ganzes Gebaren zur ab-
sichtlichen Lüge zu machen, sie um das gute Gewissen zu bringen und die unbewußte
Tartüfferie aus dem Leibe des europäischen Menschen wieder herauszubringen. Doch
diese Gemeinsamkeiten sind für Nietzsche äußerlicher Art. Seine „neue Aufklärung"
soll keine Erneuerung und Fortsetzung der alten sein, sondern deren Überwindung
zum Zwecke der Züchtung der künftigen „Herrenmenschen", die den „Herden-
menschen" der Demokratie befehlen und ihnen Gott ersetzen sollen. War die alte
Aufklärung im Sinne der demokratischen Herde: Gleichmachung aller, so will die neue
Aufklärung den herrschenden Naturen den Weg zeigen. Sie steht im Dienste des
„Willens zur Macht" und hat gewissermaßen die Aufgabe, eine Umkehrung der
Werte für eine bestimmte Art von M1mRr.h1m hör.hRt.fir f'.rp,i11tiglrnit nnd Willenskraft
vorzubereiten und als Beitrag zur Erziehung des höheren Menschen bei ihnen eine
Menge gebändigter und verleumdeter Instinkte zu entfesseln . .Nietzsches Begriff der
„neuen Aufklärung" ist auf dem Hintergrund seines Versuches einer Überwindung
des Nihilismus sowohl als kultur- und zeitkritischer Gegenbegriff der „ Tartüfferie" wie
als elitärer, den Vorrang des Willens vor dem Intellekt herausstellender Erziehungs-
begriff konzipiert. Er impliziert den Kampf gegen das Christentum nicht minder
als die Absage an die Leitideen der „alten Aufklärung": Moral, Vernunft, Huma-
nität, Kultur, Wahrheit, Philosophie. An ihre Stelle setzt er als richtunggebende
Prinzipien das „Leben" und den „Willen". Indem er den „Willen zur Wahrheit"
zur Funktion des „ Willens zur Macht" erklärt und seine Aufgabe darin sieht, einer
bestimmten Art von Unwahrheit zum Siege und zur Dauer zu verhelfen im Interesse der
Erhaltung einer bestimmten Art des Lebendigen 237 , sagt er sich bewußt von den Prin-
zipien der Aufklärung los, die sowohl ihrer rationalistischen wie ihrer christlichen
Interpretation zugrunde lagen. So beweist Nietzsche noch am Ausgang des 19. Jahr-
hunderts die vielfältige philosophische Verwendbarkeit des Wortes 'Aufklärung'.
Vll. Ausblick
Wenn sich trotz anhaltender Divergenzen im Laufe der achtziger Jahre ein kon-
sistenter Sprachgebrauch bei der Verwendung des historischen Begriffs 'Aufklärung'
abzeichnet und in den neunziger Jahren zur Regel wird, dann ist das zu keinem
geringen Teil ein Verdienst der Philosophiehistoriker von Schwegler über Erdmann
bis Windelband. Sie sind seit der Mitte des Jahrhunderts am nachdrücklichsten be-
müht, im Anschluß an Hegels „Geschichte der Philosophie" diesen Begriff zu prä-
zisieren und als wissenschaftlichen Terminus zu prägen, mögen auch die Angaben
über die zeitliche Begrenzung der Aufklärungsepoche im einzelnen erheblich von-
einander abweichen, was im übrigen auch noch heute der Fall ist. Ihrem Beispiel
folgen vor allem die Allgemeinhistoriker, anfänglich aber auch die Kultur- und
2a 7 NIETZSCHE, Die Unschuld des Werdens. Der Nachlaß, hg. v. Alfred Baeumler, Bd. 2
(Leipzig 1931), 282. 391 f. 282 ff.
340
VB. A1111hlick Aufldirung
188 JoH. GEORG Scm.ossER, Geschicht.e des 18. Jahrhunderts und des 19. bis zum Sturz
des französischen Kaiserreichs, Bd. 2 (Heidelberg 1837), 436; vgl. Bd. 1 (1836), 382 ff.;
HET'niER, Literaturgeschichte (s. Anm. 7), Tl. 1, 3; Tl. 3 (1864), 180. 176.
zs9 JoH. EDUARD ERDMANN, Grundriß der Geschicht.e der Philosophie, Bd. 2, 3. Aufl.
(Berlin 1878), 236 f. III. 241; KARL BIEDERMANN, Deutschland im 18. Jahrhundert, Bd. 2
(Leipzig 1858), 353; WILHELM WINDELBAND, Die Geschichte der neueren Philosophie in
ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaft.an,
Bd. 1 (Leipzig 1878), 237. 350. 428; TROELTSCH, Aufklärung (s. Anm. 6), 339.
341
AufkJärung VD. Ausblick
Auseinandersetzung über die Abgrenzung der „wahren" von der „falschen" Auf-
klärung, die einen Angelpunkt des zeitgenössischen Selbstverständnisses und einen
Gradmesser für die Beurteilung des Verhältnisses von Tradition und Fortschritt
bi~det, geht über in die häufig nicht weniger leidenschaftliche Analyse der Voraus-
setzungen und Konsequenzen der mit dem Individualbegriff bezeichneten ge-
schichtlichen Zusammenhänge, Krisen und Umbrüche. Das bedeutet indessen nicht,
daß diesem Aufklärungsbegriff fortan jeder Aktualitätscharakter fehlt. Neben dem
allgemeinen Weltanschauungs-, System- und Methodenbegrjff 'Aufklärung' ist es
immer wieder der historische Individualbegriff selber, der als Inbegriff bestimmter,
für die Konstituierung der „modernen Welt" wesensnotwendig erscheinender Ideen
und Emanzipationsprozesse der Aktualisierung und normativen Anwendung offen-
steht. Wo immer mit 'Aufklärung' die Idee der Selbsterkenntnis und Selbst-
befreiung der Menschheit in geschichtsphilosophischen Dimensionen verbunden -g.nd
eine darauf gegründete „moderne Welt" als noch ungelöste Aufgabe diagnostiziert
wird, wird wie .bei den Linkshegelianern eine radikale „neue Aufklärung" gefordert
oder die Gegenwart in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Zweite Auf~lärung inter-
pretiert und an der Vision einer Dritten Aufklärung gemessen240 • Aus den Diskus-
11ionen der Neuen Linken iot dor abermals im höch11ten Grad"' puliLiKillrt.e und
ideologisierte Aufklärungsbegriff als Instrumentalbegriff (wie bei den Links-
hegelianern) heute nicht mehr wegzudenken. Im Sprachgebrauch des die Traditionen
des alten Freidenkertums bewußt aufgreifenden und erneuernden „Club Voltaire",
der sich vom Aufklärungsverständnis der radikalisierten Linken distanziert, macht
sich jedoch ein neuer Differenzierungsprozeß bemerkbar. Sein Begriff der 'kritischen
Aufklärung' impliziert, sofern er nicht eine reine Tautologie bedeutet, wiederum
die Vorstellung einer wirklichen, echten, kurzum wahren Aufklärung.
HORST STUKE
Literatur
240 LUDWIG MAROUSE, Im Blick auf die Dritte Aufklärung, Club Voltaire. Jb. f. kritische
342
Ausnahmezustand
necessitas puhlica, Belagerungszustand, Kriegszustand,
Staatsnotstand, Staatsnotrecht
1. Einleitung
'Ausnahmezustand' ist ein Neologismus des 19. Jahrhunderts, der am Anfang des
20. Jahrhunderts als Terminus technicus für rechtliche Bestimmungen, die den
Militäreinsatz im Innern und die Bekämpfung von Unruhen regelten, eingeführt
wurde. Der neue Begriff ersetzte die im 19. Jahrhundert gebräuchlichen Bezeich-
nungen 'Belagerungszustand' und 'Kriegszustand'. Der Ausdruck 'Kriegszustand'
weist auf das vorverfassungsstaatliche „Kriegsrecht" zurück. Statt 'Ausnahme-
zustand' wird heute häufiger 'Staatsnotstand' oder 'Staatsnotrecht' verwendet.
Es ist jedoch zu beachten, daß das „Staatsnotrecht" im 19. Jahrhundert noch
deutlich vom Institut des Ausnahmezustands geschieden wurde.
Auch die Bezeichnung 'Staatsnotrecht' taucht nicht vor Beginn des 19. Jahr-
hunderts auf; Sie diente als Übersetzung älterer Wendungen wie plenitudo pcite-
statis, ratio status und dominium eminens. Das Staatsnotrecht fungierte zunächst
als Rechtfertigung für den außerordentlichen Eingriff von hoher Hand, wenn eine
necessitas publica vorlag. Die bis in das 19. Jahrhundert hinein in verschiedenen
Formen und Verbindungen auftretende 'necessitas' hat also als Leitwort für eine
Untersuchung zu gelten, die sich bl.s zum Anfang des 18. Jahrhunderts vorwiegend
innerhalb der lateinischen Gelehrtensprache bewegt. Der gegenüber 'Ausnahme-
zustand' und 'Staatsnotrecht' farblose, gegenwärtig jedoch sehr beliebte Ausdruck
'Staatsnotstand' wird im Folgenden als Oberbegriff für die zu erörternden Phäno-
mene verwendet.
1. 'Necessitas' im Mittelalter
Der Begriff 'necessitas' ist dem philosophischen und juristischen Sprachgebrauch
der Antike entlehnt1. Zahlreiche Hinweise auf seinen Gebrauch in mittelalter-
343
AU8118hmemstand I. 2. 'Obergänge zur Neuzeit
liehen Quellen gibt Merk 2 • 'Necessitas' steht hier meist in formelhafter Verbindung
mit 'utilitas'. füe Bedeutung beider Wörter kann jedoch nicht einfach mit einem
Rekurs auf ihren römischen Sinngehalt erschlossen werden. Vielmehr dürfte es
sich um Übersetzungen germanisch-mittelalterlicher Wortbildungen wie des angel-
sächsischen 'pearf' „Notwendigkeit, Bedürfnis, Vorteil, Nutzen" handelna. Das
spätere Mittelalter kannte entsprechende deutschsprachige Formeln wie „Nutz
und Frommen", „Nutzen und Notdurft" oder „Nutz, Ehre und Notdurft"'· Die
Berufung des Fürsten darauf führte zu gesteigerten Dienst- und Hilfspflichten der
Untertanen. Insbesondere konnten Steuerleistungen quotiens inevitabilis necessitas
urget und dummodo non transcendant necessitatis metas gefordert werden 5 • Als
necessitas rebellionis konnte sich die necessitas aber auch gegen den Fürsten selbst
richten 6 • Sie war überhaupt Berufungsgrund für jedermann in Not (THOMAS:
Furari propter necessitatem)7. Ein gesondertes Rechtsinstitut des öffentlichen Not-
stands gab es noch nicht. 'Necessitas' bezeichnete vielmehr ganz allgemein den
Grund für besondere Pflichten und Rechte in der zwischen privaten und öffentlichen
Belangen nicht unterscheidenden Ordnung des „guten alten Rechts". In diesem
Rahmen oblag es dem Fürsten, „pax", „ordo" und „iustitia" zu wahren 8 und
deren Störungen notfalls mit Hilfe der Rechtsgenossen zu beseitigen. Bis ins
16. Jahrhundert empfingen 'necessitas' und 'utilitas communis' von diesem Aspekt
der Restitution her ihren Sinn 9 • Ob und in welchem Maße Hilfe erfordernde „echte
Not", necessitas legitima, vorlag, bestimmten dabei die Hilfepflichtigen (Stände,
Landtage) mitlo.
frangit; zit. FRIEDRICH MEINECKE, Die Idee der Staatsra.ison in der neueren Geschichte,
3. Aufl. (München 1963); 160.
8 WALTHER MERK, Der Gedanke des Gemeinen Besten in der deutschen Staats· und Rechts·
entwicklung, in: Fschr. ALFRED ScHULTZE (Weimar 1934), 451 ff. (auch zum Folgenden).
3 Ebd., 459.
Anm.372.
7 THOMAS VON AQUIN, Summa theologiae 2, 2, qu. 66, art. 7.
8 Grundlegend für diese Vorstellung ist AUGUSTIN, De civitate Dei 19, 13.
9 Vgl. MERK, Gemeines Bestes, 469 ff. 491 ff.
10 Vgl. Orro BRUNNER, Land und Herrschaft, 5. Aufl. (Wien 1965), 276. 291 ff.
11 Vgl. u. S. 351.
344
lt) 'lu diTinwn' und 'aequitas' AWIDRhmezustand
b) 'Jus divinum' und 'aequitas'. Die rechtliche Begründung für den Eingriff in
herkömmliche Rechtspositionen unter außerordentlichen Umständen lieferte die
Scholastik mit der bis zum 19. Jahrhundert gültigen Unterscheidung von 'ius
divinum' ('ius naturale') und 'ius humanum' ('positivum'). Diese Unterscheidung
bot eine erste Möglichkeit, die überkommenen Verhältnisse im Sinne christlicher
Anschauungen unter Berufung auf ein höheres Recht zu reformieren (Kern) 21 •
12 Charakteristisch hierfür das von Otto Mayer auf die spätere Zeit gemünzte Wort:
„Dulde und liquidiere" (d. h. dulde den obrigkeitlichen Eingriff in das Eigentum und li-
quidiere die Entschädigung dafür).
13 Vgl. dazu außer Merk und Brunner JOACHIM GERNHUBER, Die Landfriedensbewegung in
Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235 (Bonn 1952); vgl. auch u. S. 352.
u Vgl. u. S. 353.
16 ÜTTO v. GIERKE, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3 (Berlin 1881), 566.
18 Vgl. PAUL Hnrscruus, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht
zo PIERRE DUBOIS, De recuperatione terrae sanctae, zit. WIERuszowsKI, Imperium, 172 ff.
n KERN, Gottesgnadentum, 124 f.
345
Ausnahmezustand J.2. 'Vhergänge zur Neuzeit
Artikuliert wurde dieser Sachverhalt mit Hilfe der aristotelischen Theorie der
Epikie 22 • Es entsprach dem höheren Recht, um der aequitas willen von der Befol-
gung menschlicher Satzungen zu dispensieren. Insoweit war auch der Herrscher
des späteren Mittelalters schon kgibus solutus 23• In diesem Verständnishorizont
bewegte sich auch das später zum Sprichw:ort erstarrte, vor allem kirchenrechtlich
bezeugte necessitas non kabet kgem 2 4.
c) 'Ratio status'. Ein grundsätzlicher Wandel der Verhältnisse trat aber erst dann
deutlich hervor, als mit der Berufung auf die ragion di stato im 16. und 17. Jahr-
hundert eine neue Necessitasvorstellung Platz griff, die den bisher grundsätzlich
gewahrten rechtlichen Rahmen sprengte 25 • Schon in der Verbindung des aristoteli-
schen „ius naturale" mit dem christlichen „ius divinum" in der Hochscholas~ik
war ein Spannungsmoment angelegt, das die Möglichkeit bot, die natura rerum
und eine naturalis quaedam necessitas der theologischen Ordnungskonzeption ge-
genüberzusetzen 28. Rerum necessitas und divina provisio, wie sie miteinander ver-
bunden im Prooemium der sizilianischen Konstitutionen FRIEDRICHS II. erschienen,
konnten zwar als eine Einheit gedacht werden, doch waren sie aufgrund ihrer
prinzipiell verschiedenen Berufungsgrundlage (Natur/Wort Gottes), auch gegen-
einander ausspielbar 27 • Eine derartige Loslösung des natürlich Notwendigen
vom göttlich Gewollten und damit menschlich Gesollten gab es damals wohl
nur in Ansätzen; seit MACHIAVELLI ist die neue Betrachtungsweise jedoch, nicht
ohne den Einfluß stoischer Fatumvorstellungen, voll ausgebildet 28 • Bei seiner
'necessita' handelte es sich nicht mehr um- jenen konkreten Einzelfall evidenter
Not, der das (unvollkommene) Recht menschlicher Provenienz negierte, um es in
seiner Vollkommenheit auf einer höheren Stufe sichtbar zu machen. Sie hatte viel-
mehr den Charakter einer Naturnotwendigkeit, die jenseits aller Bezüge auf ein
Sollen, auf ein vorgegebenes TeÄo~, zwangsläufig waltete. Diese im Ansatz natur-
wissenschaftliche Konzeption der necessitas gab dem Denken Machiavellis und der
sich auf ihn berufenden Staatsräsonlehre die grundsätzliche Divergenz, die seitdem
die mit „praecepta" arbeitende politische Theorie von der sich auf „principia"
berufenden Jurisprudenz scheidet. Doch auch bei Machiavelli war die 'necessita'
menschlichen Wünschen, Vorstellungen und damit auch Regelungen nicht völlig
unzugänglich. Das von Natur aus Notwendige konnte dem, der seine Zwangsläu-
figkeit durchschaute und sich seiner zu bedienen wußte, wenigstens vorübergehend
dienstbar werden, von seinem Willen gemeistert, „ordinata dalle leggi". Und so
verstanden stellt die „necessitas" tatsächlich einen „Schlüssel" dar, der das
„Schloß" zu öffnen vermochte, „mit dem mittelalterlicher Rechtssinn die Herrscher
21 ARISTOTELES, Ni.k. Ethik 5, 14; THOMAS VON AQUIN, S. th. 2, 2, qu. 120, art. 1 f.
23 ULPIAN, Dig. 1, 3, 31; s. u. s. 349.
24 Vgl. JOHANN VON SALISBURY, Policratius 4, 2; KERN, Gottesgnadentum, 262. 337;
346
a) Bürgerkrieg und ratio status Ausnahmezustand
3. Der Staatsnotstand in der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
29 So WIERUSZOWSKI schon für „necessitas", „ius naturale" und „ratio" bei Friedrich II.
von Hohenstaufen.
30 Zu Hobbes und der Frage der Souveränität JÜRGEN DENNERT, Ursprung und Begriff
uer SuuveräniLILL (SLuLLgarL 1904), 78 Jr. Zur hitir a:Ugeschnittenen Fi:ageetellung überhaupt
vgl. REINHART KOSELLECK, Kritik und Krise (Freiburg 1959).
81 ToMHAS VON AQUIN, De regimine principum 1, 14 f.
82 HEGEL, Rechtsphilosophie, §§ 183. 257.
83 THOMAS HoBBES, Leviathan 2, 18.
347
Aumahmezaatana I. 3. Bis llWD Emle aes 18. Jahrbuatlerts
hörden aus dem 'Krieg' erwuchs 84• Die zeitbedingte Verkoppelung der beiden
Aufgaben, den Frieden im Lande wiederherzustellen und gleichzeitig eine friedens-
wahrende Ordnung von Dauer aufzurichten, zeigt sich dabei am deutlichsten in
der Figur des „Kriegskommissars". Dem Heere beigegeben, hatte er nicht nur für
die Einkehr der Ruhe in den aufrührerischen Provinzen zu sorgen, sondern im
Anschluß daran auch die pazifisierten Landstriche zu reformieren; er trat schließlich
selbst als dauernder Gewährsmann der neuen Ordnung an die Stelle des alten
Magistrats 36•
Von traditionalistisch-juristischer Seite her erfuhr dieser aus einem rechtlichen
„Jenseits" kommende Einbruch in das Recht, der bis· zur völligen Aushöhlung
seiner mittelalterlich-ständischen. Ordnung führte, heftige Ablehnung. So stellte
REINKINGK 1656 fäst: Mit a,p,r liRhM!. J11~~til.ia c.ompe.tire.t. gar starck ihre una.rtige,
ungerathene Stiefschwester, genannt Status Ratio 38, und BYNKERSHOEK nannte diese
ratio status ein monstrum horrendum, in/Mme, ingens, cui lumen ailemptum 3'. Doch
gelang es der Jurisprudenz, mit dem Kunstgriff der Unterscheidung einer cattiva
ragion di stato von einer rechtlich zulässigen Staatsraison und durch deren Bin-
dung an die auf den Notfall bes~hränkten iura dominationis (CLAPMAR) 88 auch
diese rati-0 status schließlich so in die rechtliche Ordnung des SLaaLeti eiuzulnw1rn,
daß sie am Ende mit einigen anderen Bezeichnungen zusammen.zum Rechtsbegriff
einer der neuen staatlichen Ordnung immanenten NotstandAregelung wurde 39•
H Vgl. <>rro HnrrzE, Staatsverfassung und Heeresverfassung (1906), in: ders., Staat und
Verfa.esung, Ges. Abh., Bd. 1, hg. v. Gerhard Östreich, 2. Aufl. (Berlin 1962), 71. - Für
den Großen Kurfürsten s. FRITZ HARTUNG, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl.
(Stuttgart 1964), 107 ff.
3 s OTTO IIINTZE, Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verw'altungs-
geschichte (1910), Ges. Abh., Bd. 1, 242 ff.; SCHMITT, Diktatur, 76 ff. '
38 nnr.TRT(1Jf Hw.INKINGK, Biblische Policei (Frankfurt 1663), 232.
37 CoRNELIUS VAN BYNKERSHOEK, Quaestiones iuris publici ( 1737; 2. Aufl: Leiden
1751), 186.
38 ARNOLD ÜLAPMAR, De arcanis rerum publicarum (Bremen 1605).
39 S. Anm. 53.
348
b) Neeeasitas und utilitas publiea Ausnahmezustand
Souveränität) verlieh, allein 40 • Der Umfang dieser Gewalt wurde durch den Begriff
der 'plenitudo potestatis' ausgedrückt. Normalerweise war dieser Umfang be-
schränkt. Zwar galt der absolute Herrscher als von seiner eigenen Rechtssetzung
freigestellt, als legibus solutus, wie es für die Zeit vorbildlich BomN formulierte 41 •
Der Fürst blieb jedoch wie vordem an das „ius divinum", das „ius naturale" und
die daraus 'abgeleiteten Rechtspositionen des „ius gentium" gebunden - Zeichen
einer Zeit, die wieder Rechtsgrund unter ihren Füßen gefunden hatte. Wo es dem
Fürsten daher nicht gelang, die Rechte seiner Untertanen oder deren Korporationen
in von ihm gewährte und daher auch wieder frei entziehbare Privilegien umzu-
deuten, wie es vielfach bei den ständischen Mitbestimmungsbefugnissen geschah 42 ,
war ihm der Eingriffin die Rechtswelt seiner Untertanen verwehrt, wenigstens
aowoit diese sich auf naturrechtlich-wohlRrworhP.nP. Rfüihte, auf „iura quaesita"
berufen konnten. Die dadurch gegebenen rechtlichen Schranken überwand der
Fürst nur ex iusta causa, wenn necessitas vel utilitas publica ( communis) es erfor-
derten 43 • Li,cet autem iniquum est ius alteri aufferre, favore tamen publicae utilitatis
id de pknitudine potestatis fieri passet (MuLTz). Aus demselben Grunde: prout
aequitas et publica utilitas ... exposcunt44, war dem Fürsten auch der Eingriff in
MUSi$ singularibus, der ju8Lizuuruhlm:mhende „M&Chil!~pruoh" orlüubt. Noooseitas
et utilitas publica waren auch hier als „iusta causa" Eingriffsgrund und -beschrän-
kung .zugleich. Als Richtschnur des Eingriffs aber galt CICEROS immer und immer
wieder stereotyp zitiertes salus populi suprema lex est"'.
Unter 'salus publica' muß dabei jene Übernahme und Veräußerlichung der Staats-
zweck-Vorstellung der aristotelisch-scholastischen Tradition des „bene vivere"
verstanden werden, die ihren für den Wohlfahrtsstaat des 18. Jahrhunderts
charakteristischen Ausdruck seit Thomasius und Wolff in Formulierungen fand wie
Beförderung der Rtthe und äußerlichen Glückseligkeit (BIENER) 48 . Von da her gewann
der Begriff der necessitas seine für das 17. und 18. Jahrhundert charakteristische
Färbung. Bezogen auf den dynamischen Staatszweck der Wohlfahrtsförderung trat
die Bedeutung einer gesellschaftsbewahrenden „Notwendigkeit" zu Gunsten der
vielerlei „necessitates" eines Staates, der sich als eine Beglückungsanstalt für
349
Ausnahmezustand I. 3. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
c) 'Dominium eminens'. Von den gono.mi.ton Begriffen besitJ1:t der jüngste, 'uu-
minium eminens', für die Zeit eine besondere Signifikanz°', handelte es sich bei
den Eingriffen von hoher Hand damals doch in erster Linie um Sacheingriffe, wie
Enteignungen zur Anlegung von Landstraßen und Befestigungen. Der Begriff
wurde in der Staatslehre nach seiner Formulierung durch GROTIUS 50 ganz all-
gemein gebräuchlich, jedoch nirgends endgültig präzisiert (->- Eigentum).
51 So jedoch in der Literatur zuweilen für das „martial law" behauptet. IIi moderner Zeit
stellt sich diese Frage beim strafrechtlichen Staatsnotstand und der Staatsnotwehrhilfo
durch Privatleute.
62 BIENER, Kaiserliche Machtvollkommenheit, Bd. 1, 6.
63 Vgl. BIENER, Kaiserliche Machtvollkommenheit, Bd. 1, 7, Anm. 1. Vorher schon MULTZ,
Repraesentatio, 29; JoH. STEPHAN PüTTER, Elementa iuris publici Germanici, 4. Aufl.
(Göttingen 1766), 517 f.; später JoH. LUDWIG KLÜBER, Öffentliches Recht des Teutschen
Bundes und der Bundesstaaten (Frankfurt 1817; 2. Aufl. 1823), 884 ff. und zuletzt noch
HERMANN BISCHOF, Das Nothrecht der Staatsgewalt in Gesetzgebung und Regierung
(Gießen 1860), 47.
" Literatur s. Anm. 43.
65 GROTIUS, De iure belli 2, 14, 7f.; auch 1, 1, 6; 3, 19, 7 u. a.; HERMANN Bd.1 (1739), 331
350
d) 'Kaiserlicher Notschluß' Ausnahmezustand
Vom 'dominium' des Fürsten sprachen schon die italienischen Juristen im Mittel-
alter. Sie unterschieden ein „dominium secundum imperium" des Fürsten vom
„dominium secundum proprietatem" ·des Privaten. Man wird diese eigenartige
Verdoppelung des Begriffs als Versuch interpretieren dürfen, die Vieldeutigkeit
der mittelalterlichen „gewere" in Termini der römischen Rechtssprache auszu-
drücken5&. Dem 17. und 18. Jahrhundert ist dieser Bezug jedoch fremd geworden.
'Dominium' erschien nun vielfach der 'proprietas' gleichgesetzt und das Grotiani-
sche 'dominium eminens' wurde demzufolge als „Obereigentum" verstanden. Die
Behauptung, daß dem Fürsten ein Obereigentum an den „bona subditorum"
zukomme, fand jedoch sofort lebhaften Widerspruch. Hieran schloß sich ein er-
bitterter Streit darüber an, ob der Rechtsgrund für die Inanspruchnahme des Ver-
mögens der Untertanen in einem vorrangigen Eigentumsrecht des Herrschers
oder - wie andere unter Berufung auf Seneca wollten - in seinem gesellschafts-
vertraglich begründeten „imperium" zu finden sei, zumal ja nicht nur Eingriffe
„in bona", sondern auch „in personas" ihre Rechtfertigung durch das 'dominium
eminens' finden sollten57 • Die Vorstellung einer allgemeinen Befehls- und Ver-
fügungsmacht des Herrschers im Sinne der späteren Theorie der Staatsgewalt,
wie ihn der Begri:ff des imperium nahelegte, war jedoch im 17. Jahrhundert noch
so wenig geläufig, daß mit Erfolg an der Konzeption eines „dominium eminens"
als Gnmdlage für den außerordentlichen Eingriff von hoher Hand festgehalten
werden konnte. Erst das 18. Jahrhundert qualifizierte die Fragestellung als einen
bloßen Wortstreit ab 58 . Bei PüTTER schließlich findet sich der Versuch, die in der
Begriffsbildung liegenden Schwierigkeiten dadurch zu meistern, daß von einem
ius eminens ausgegangen wird, das als dominium eminens außerordentliche Rechte
in res, als potestas eminens außerordentliche Rechte in personas gewährt 59•
d) 'Kaiserlicher Notschluß'. Das lange Andauern althergebrachter Vorstellungen
zeigt sich trotz der grundlegenden Veränderungen, die das Problem des öffentlichen
Notstandes seit dem 16. Jahrhundert erfahren hat, auch noch im 17. und 18. Jahr-
hundert. Auch in dieser Zeit ist trotz aller Souveränitätsbehauptungen noch die
Frage virulent, wer den Ausschlag geben könne, was wirklich das gemeine Beste sage
und erfordere (MosER) 60 , und es wurde dafür mehrfach ein Mitwirkungsrecht der
Stände beansprucht, Auf Reichsebene, wo sich dieser Anspruch behaupten konnte,
erschien daher das „necessitas"-Problem in einer anderen, literarisch ebenfalls
stark diskutierten Gestalt. Da der Kaiser grundsätzlich an den Willen der Reichs-
stände gebunden war, erhob sich die Frage, wie in dringenden Fällen verfahren
werden sollte, wenn eine Entschließung der Stände nicht rechtzeitig erfolgte. Die
Antwort der Reichsjuristen darauf ist verschieden. Während Stamler die Ansicht
vertrat, daß der Kaiser bei Ausbleiben einer Entschließung der St.ände seinen Willen
Bavaricum civilem, Bd. 2 (München 1761), 802 f.: Logomachie; aber &uch schon Pufendorf
(s. Anm. 48).
öe PüTTER, Elementa (s. Anm. 53).
60 JoH. JACOB MosER, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen (Frankfurt 1769),
1187 f. (vgl. MERK, Gemeines Bestes, 517).
351
Ausnahmezustand L 3. Dia zum Ende de1 18. Jahrhunderte
352
e) KriegSl'eCht Ausnahmezustand
72, Art. Aufruhr; vgl. auch ADELUNG 2. Aufl., Bd. 1 (1793), 521; KLuGE/MrrzKA
19. Aufl. (1963), 612, s. v. Ruhr.
7 0 KLUGE{MJ.TZKA (1963), 588.
71 ~RUNNER, Land und Herrschaft, 40; KLuGE/MrrzKA (1963), 405; JOHANNES HooPs,
Rlex. germ. Altertumskde., Bd. 3 (1915/16), 101; ADELUNG 2; Aufl., Bd. 2 (1796), 1784 ff.
72 GROTius, De iure belli 1, 1, 2; 1, 1, 4; RoTTECK/WELCKER Bd. 9 (1840), 491 ff.; MEYER,
hundert: HÜBNER 31. Aufl., Bd. 2 (1825), 421; MEYER, großeAusg., Bd. 25 (1851), 212.
77 s. u. s. 359.
23-90385/! 353
Ausnahmezustand II. 1. Der Wandel zum 19~ Jahrhundert
n.
I. Der Wandel zum 19. Jahrhundert
Die Entstehung des neuzeitlichen Staates führte zur Fixierung eines von privaten
Notstandsproblemen deutlich abgehobenen öffentlichen Notstands der „necessitas
vel utilitas publica". Dieser Notstand provozierte in erster Linie nicht mehr be-
sondere Handlungs- und Hilfspflichten, sondern (Sach-)Eingriffe, wie es insbeson-
dere die Rechtsfigur des dominium eminens zeigt. Das Eingriffsrecht lag ausschließ-
lich in den Händen des Souveräns. Es handelte sich um einen Notstand der Obrig-
keit, die das salus publica bestimmte und die dadurch definierte Not mit den ihr
zur Verfügung stehenden Kräften beseitigte. Die hier obwaltende necessitas publica
erschien deutlich geschieden von der, die durch Mißbrauch des ihr anvertrauten
78 Die erst dem späteren Rechtsstaat zugehörige Kategorie des besonderen Gewaltver-
354
ll. 1. Der Wandel zum 19. Jahrhundert Ausnahmezustand
Amtes die Obrigkeit selbst verursachte. Eine derartige neoe1111itas führte zum
Widerstandsrecht der Untertanen8 2. Staatsnotstand und ius resistendi standen
in einem komplementären Verhältnis zueinander, waren aber nicht etwa zwei
Aspekte eines einheitlich konzipierten „öffentlichen Notstandes". Seinen Charakter
eines Obrigkeits-Eingriffsnotstandes behielt der öffentliche Notstand auch in der
folgenden Zeit bei.
Er erlitt jedoch im Wandel der Verhältnisse seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert
einige erhebliche Veränderungen. Zunächst ließ sich schon im 18. Jahrhundert
mit der Beanspruchung eines allgemeinen „ius politiae", eines „ius reformandi"
auf weltlichem Gebiet83 durch den Fürsten und später vor allem im Zusammenhang
mit dem Aufkommen ,der Enteignungsgesetzgebung eine Tendenz zur Generali-
sierung und Normalisierung des Sacheingriffs avs Gemeinwohlgründen beobachten,
die die Funktion des außerordentlichen Eingriffs auf wirkliche Notstände ein-
schränkbar machte. Diese Tendenz wurde unterstützt durch einen allgemeinen
Wandel in der Zweckbestimmung des Staates, der sich schon in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts ankündigte. Repräsentativ dafür sind PüTTERS restriktive
Definition der Polizei als mJ,ra a?Jertendi mala futura84., die allmähliche Verdrängung
der Wohlfo.'lirtofunktion aufl dioEJom Begriff und die Betonung der Aufgabe, die
äußere Sicherheit zu wahren, und KANTS Identifizierung der salus publica mit einer
freiheitlichen Verfassung, die es jedem unbenollillien ließ, den Weg zu seiner
Glückseligkeit selbst zu suchen 8 ~. Mit der Durchsetzung der Idee des Rechtsstaats
entfiel insbesondere die Befugnis des Souveräns, mit einem Machtspruch in Justiz-
verfahren einzugreifen 86 • Dafür aber begann eine alte Problematik die Notstands-
diskussion erneut zu beherrschen: die des Bürgerkriegi,;, oder, wie man im 19. Jahr-
hundert sagte, der 'Revolution' 87 • Die Emanzipation des Bürgertums, aber auch des
nachdrängenden Proletariats, die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft als
staatsfreier Sphäre neben der alten „societas civilis", dem „Staat", die „industrielle
Revolution'' und die „soziale Frage" bestimmten die kommende Epoche. Die
Träger der neuen Macht, die unter dem Titel „Besitz und Bildung" auftrat, glichen
sich im Laufe der Entwicklung mit der alten herrschenden Schicht ab, trafen
Verfassungsvereinbarungen und nahmen den staatlichen Machtapparat zum
Schutze ihrer Interessen in Dienst. Sie übernahmen den alten „Staatsnotstand",
soweit er ihrem Schutze diente, und verwendeten ihn in der neuartigen Bürger-
'
88 .An ob summam et urgentissimam necessitatem Majestati resistere liceat?; MuLTZ, Re-
praesentatio, Prolegome.na,45. Kap. 4, § 8. Zum Ganzen KERN, Gottesgnadentum (s. Anm. 6).
83 Vgl. J. J. MOSER, Von der Landes-Hoheit in Polizey-Sachen (Frankfurt 1773), 6:
ius reformandi politicun~ unter Berufung auf J. H. v. CRAMER, Resolutio problematis iuris.
84 J. ST. PÜTTER, Institutiones iuris publici Germanici (Göttingen 1770), 330.
85 IMMANUEL KANT, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt
aber nicht für die Praxis (1793), AA Bd. 8 (1912), 298. (Verhältnis der Theorie zur Praxis
im Staatsrecht, Folgerung).
88 Vgl. aber noch BIENER, Kaiserliche Machtvollkommenheit, Bd. 1, 232 :ff.; KLÜBER,
Öffentliches Recht, 776 und ROMEO MAURENBRECHER, Grundsätze des heutigen deutschen
Staatsrechts, 3. Aufl. (Frankfurt 1847), 339, Anm. 1. - Stellungnahme dagegen bei
HEINRICH ZöP:FL, Grundsätze des allgemeinen und constitutionell-monarehisehen Staats-
rechts (Heidelberg 1841), 240.
87 Vgl. dazu KosELLECK, Kritik, 133, Anm. 97 u. passim.
355
.Ausnahmezustand II. 2. Der Staatsnotstand im Vormärz
kriegssituation des Klassenkampfes. Sie unterwarfen ihn aber zugleich einer recht-
lichen Regelung von Grund auf und versuchten auf diese Weise, einen Mißbrauch
dieses Instruments durch die traditionellen Träger der staatlichen Macht zu ver-
hindern. Ihr Weg führte zwischen der Scylla des Weitertreibens der Revolution
über die gesteckten Ziele hinaus und der Charybdis der Gegenrevolution hindurch.
Tradition und Neuerung im Bereich des Staatsnotstandes äußerten sich im be-
ginnenden 19. Jahrhundert in den Begriffen 'dominium eminens', 'Staatsnotrecht'
und 'Ausnahmegesetze', neben denen die auf die Bekämpfung ausgebrochener
Unruhen zielenden „Tumultgesetze" und „Aufruhr-Akte" zunächst eine unter-
geordnete Rolle spielten88• Um die Mitte des Jahrhunderts wurde jedoch der kriegs-
rechtliche Entwicklungsstrang von 'Belagerungszustand' und seinem Begriffsfeld
aufgenommen und erhielt eine zentrale Bedeutung. An seine Seite trat ein neuer
Begriff von 'Staatsnotrecht', dem die 'Notverordnung' funktionell zugeordnet war.
Erst die folgende Zeit, die die Notstandsgefahren für überwunden hielt, so daß die
'Theorie sich bereits anschickte, den Begriff des Notrechts aus ihrem System als
·obsolet auszuscheiden, bürgerte den Ausdruck 'Ausnahmezustand' ein. Er leitete
über in eine neue Epoche, in der die Staatsnotstands-Problematik in verwandelter
Form wieder aufbrach.
88 s. u. s. 361.
89 S. Anm. 53 und z. B. auch :MAURENBREOHER, Staatsrecht, 85 oder ZöPFL, Staatsrecht,
240.
90 KARL HEINRICH LUDWIG PöLITz, Die Staatswissenschaften im Lichte unsrer Zeit, 2. Aull.,
Bd. 2 (Leipzig 1827), 140 ff.
11 ZÖPFL, Staatsrecht, 240.
911 Zum Zwangsverkaufs. z. B. ALR 11, 1, 4; zur Entwicklung der Enteignungsgesetzgebung
vgl. MEYER, Expropriation, 142 ff. (s. Anm. 43); HÜBNER 31. Aull., Bd. 1 (1824), 368
vermerkt zum dominium eminens, daß es selten benutzt werde.
356
h) Ausnahmegesetze Ausnahmezustand
357
Ausnahm.ezwitand D. 3. Die Revolution von 1848
1
werden in der Literatur seit dem 18. J a.hrhundert als Hauptfälle der Enteignung angegeben.
1°' Hierzu und zum Folgenden SCHMITT, Diktatur, 180 ff. (s. Anm. 19); HANS BoLDT,
Rechtsstaat und Ausnahmezustand. Eine Studie über den Belagerungszustand als Aus-
nahmezustand des bürgerlichen Rechtsstaats im 19.. Jahrhundert (Berlin 1967). Zeit-
genössisch CARL JosEF ANTON MrrTER111AIER, Die Gesetzgebung über Belagerungszustand,
Kriegsrecht, Standrecht und Suspension der Gesetze über persönliche Freiheit, Arch.
d. Criminalrechts 23 (1849), 29 ff.
358
h) 'Standrecht'J'Kriegsrecht' Ausnahmezustand
schwierig ist, rezipiertto5. Aber erst die Revolution von 1848 ließ ihn zum Zentral-
begriff militärischer Unruhebekämpfung werden.
Die Ereignisse der Jahre 1848 und 1849 führten zu zahlreichen Belagerungs-
verhängungen über Städte wie Paris, Berlin, Prag, Wien und in Ländern wie Baden
und der Rheinpfalz106 • Diese Praxis fand ihren Niederschlag in einer Reihe von Ge-
setzen, unter denen das preußische vom 4. 6. 1851 eine besondere Bedeutung für
Deutschland gewann, da seine Bestimmungen später im Ersten Weltkrieg für das
Deutsche Reich galten. In besagten Gesetzen erhielt der Militäreinsatz im Innern
eine rechtliche Regelung1 0 7• Er wurde verbunden mit der Suspension bestimmter
Grundrechte der neuen Verfassungen sowie der Außerkraftsetzung des Ausnahme-
gerichtsverbots zur Installierung einer ebenfalls gesetzlich neu :fixierten Stand-
gerichtsbarkeit. Durch die damit zusammenhängenden Strafverschärfungen und
Ausnahmebestimmungen für das materielle und prozessuale Strafrecht erhielt der
Belagerungszustand einen starken strafrechtlichen Einschlag. 'Belagerungszustand',
'Standrecht', 'Kriegsrecht', 'Ausnahmegericht', 'Kriegszustand', 'Martialgesetz',
'Suspension' waren die zum Teil schon älteren Wortschöpfungen, die durch die
Revolutionsproblematik von 184'8 zu einem neuen Begriffsfeld zusammengezogen
wurden. Dazu im einzelnen (b-g):
106 MEYER, große Ausg., Bd. 7 (1845), 217; vgl. außerdem RoTrEcx./WELCKER Bd. 2
(1835), 346 f.; MAURENBRECHER, Staatsrecht, 333. Vgl. auch den Hinweis auf den Be-
lagerungszustand in den. Bekanntmachungen des Feldmarschalls FÜRST WREDE bei
Übernahme des Kommissariats zur Pazifizierung der Rheinpfälz am 28. 6. 1832, abgedr.
WILHELM HERZBERG, Das Hambacher Fest (Ludwigshafen 1908), 154 ff.
108 Einzelheiten bei VEIT VALENTIN, Geschichte der deutschen Revolution von 1848-1849,
359
.Ausnalunezustand D. 3. Die Revolution von 1848
liehen Gerichtsordnung" von 1788 111• Doch wurde es in der Literatur auch jetzt
noch vorzugsweise als Zuchtmittel gegen Soldaten erwähnt112. Erst seine Regelung
um 1848 machte es zu einem „außerordentlichen Kriegsgericht" (Ausnahmege-
richt)113, das gerade gegen Zivilpersonen Anwendung fand, während der Soldaten-
stand in den Militärgesetzgebungen der kommenden Zeit eine an rechtsstaatlichen
Prinzipien orientierte ordentliche Militärgerichtsbarkeit erhielt.
(1828), 382; vgl. auch noch MEYER, große Ausg., Bd. 40 (1852), 66. Anders BucHNER, in:
RoTTEcK/WELCKER Bd. 15 (1843), 149 ff.
118 Im Zusammenhang mit Strafverschärfungen und Sonderdelikten findet sich eine
360
d) 'Martialgesetz', Aufruhr-Akte Ausnahmezustand
120 Vgl. das Stichwort „Kriegsartikel" bei MEYER, große Ausg„ Bd. 25 (1851), 174 und
die Stichwörter „Krieg" und „Belagerungszustand" .bei HERDER Bd. 1 (1854), 465;
Bd. 5 (1855), 662.
121 Baden: Gesetz über d1m Kriegszustand v. 29. 1. 1851; Preußen: Gesetz über den Be-
und Bill of Rights; vgl. FREDERICK WILLIAM MilTLAND, The Constitutional History of
England (1908; Ndr. Cambridge 1961), 266 ff.; ALBERT V. DlcEY, Lectures Introductory
to the Study of The Law of Constitution, 2nd ed. (London 1886), 296 ff.; neuestens
ERNST FRAENKEL, Martial Law und Staatsnotstand in England und USA, in: Der Staats-
notstand, hg. v. ERNST FRAENKEL (Berlin 1965), 138 ff.
361
Ausnahmezustand Il. 3. Die Revolution von 1848
Franzosen 1789 'loi martiale' als Bezeichnung für eine Regelung anläßlich lokaler
Unruhen. Sachlich schloß sich diese Regelung aber nicht an die Martial-law-Praxis
an, sondern an die Restriktion, die der Militäreinsatz gegen Zivilpersonen in Eng-
land schon 1714 in der „Riot Act" gefunden hatte125. Die „Loi contre les attroupe-
ments ou Loi martiale" band wie die „Riot Act" den Einsatz von Soldaten bei
einem Auflauf oder bei Zusammenrottungen in einer Ortschaft an die vorangegan-
gene Requisition des Militärs durch die Gemeindebehörden und an eine genau
fixierte Prozedur gegenüber der versammelten Menge, bis schließlich bei deren
renitenter Unbotmäßigkeit der Befehl zum Einschreiten mit Waffengewalt gegeben
werden durfte. Diese sogenannte „Aufruhr-Akte" regelte also nur den Fall eines
polizeimäßigen, nicht aber eines kriegsmäßigen Einsatzes des Militärs. Die fran-
zösische Gesetzgebung hat zahlreiche in- und am.ländische Nachahmung(1n wie die
„Tumultgesetze" in Deutschland gefunden. Der Einsatz aufgrund ziviler Requisi-
tion zählte seitdem neben dem Notwehrrecht und dem Belagerungszustand zu
den klassischen Fällen des militärischen Waffengebrauchs gegen Zivilpersonen12s.
Als Notstandsregelung wurde die Requisition jedoch vom Belagerungszustand
verdrängt.
125 Vgl. SCHMITT, Diktatur, 171 ff.; vgl. franz. cours martial für „Kriegsgericht".
128 Vgl. das preußische Tumultgesetz v. 30. 12. 1798; BoLDT, Rechtsstaat, 27. Die Einsatz-
modaJität1m 11inrl in rlP.n militii.rischen Wa1fengebrauchsvorsohrifton Iliodorgologt.
m BoLDT, Rechtsstaat, 70 u. passim (s. Anm. 104).
1 ~ 8 Aus V. MERCKELS Die fünfte Zunft .(Flugschr. 1848); bekannt durch die gleichnamige
362
f) 'Smpeaeion' Ausnahmezustand
und unerwünscht, so daß derlei Regelungsansätze Theorie blieben. Auch war die
„Aufruhr-Akte", an die sich die Vorstellung einer zivilen Requisition des Militärs
knüpfte, ja lediglich auf den polizeiwidrigen Auflauf, die einfache Zusammen-
rottung (attroupement, riot) berechnet, nicht jedoch als Mittel gegen revolutionäre
Erhebungen konzipiert.
Was den lokalen Tumult überstieg, wurde damals herkömm.licherweise als 'Auf-
ruhr' begriffen. Wie jedoch schon die Bezeichnung des Verfahrens gegen Aufläufe
als „Aufruhr-Akte" zeigt, war dieser Ausdruck recht unscharf. Er konnte alles
vom Auflauf, der in eine einfache Widersetzlichkeit gegen die Staatsgewalt aus-
artete, bis hin zur Rebellion, die' sich erklärtermaßen und mit Waffengewalt gegen
die Regierung richtete, umfassen - bis zu jenem Punkt, an dem der Erfolg der
Rebellen zu ihrer roohtliohen Anerkennung als BürgerkriegRp11.rtof\i fiihrtfl1 a0 • Für
eine Gesetzgebung, die angesichts der 1848/49 erfolgten „wilden" -Belagerungs-
zustands-Verhängungen auf eine Restriktion des von Zivilbehörden nicht mehr
kontrollierbaren Militäreinsatzes bedacht war, erhob sich damit die Frage, von
welchem Grad der Ausschreitung an sie die „Säbelherrschaft" gestatten wollte. Die
.Ansichten hierüber gingen stark auseinander. Während die einen die. Verhängung
des Helagerungszustands schon bei bloßen KrawaUen bef!lrwurLeLeu, wochten a.n·
dere sie auf den 'h.oo'h.- 1i,nd landesverräterischen Aufruhr beschränkt und keinesfalls
schon bei Aueschreitungen anläßlich einer Bierl.e11,er11,ng oder eines Streikes von
Arbeitern vorgenommen wissen131• In Frankreich führte diese Diskussion zur
restriktiven Formulierung einer revolte (insurrection) a main armee1 a2. In Deutsch-
land beließ man es dagegen schließlich, ohne eine Einigung zu erzielen, beim „Auf-
ruhr" ohne Zusatz.
130 Die traditionelle Unterscheidung von 'Aufruhr', 'Auflauf' und 'Aufstand' findet sich
in den Lexika. seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, jedoch in wechselnder Bedeutung der
einzelnen Begriffe. Vgl. die entsprechenden Stichworte bei SCHEIDEMA.NTEL, ADELUNG, in
der Dt. Enc., bei ERsCH/GRUBEB, im BROCKHAUS und HERD ER. Umschlag von ,'Rebellion'
in 'Bürgerkrieg': ROTTECJK/WEWKEB Bd. 9 (1840), 493. Dabei ist zu beachten, daß 'Auf-
stand' bis ins 18. Jahrhundert nur als Begriff aus dem Bergwerksweseri bekannt war; vgl.
das Stichwort bei HÜBNER Bd. 1 (1717).
131 Vgl. die Debatte um den Belagerungszustand in den Verhandlungen des Verfassungs·
ausschusses 1849, in: Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter
Nationalversammlung aus dem Nachlaß von J. G. Droyaen, hg. v. RunoLF HÜBNER
(Stuttgart, Berlin 1924), 405 ff., bes. 407. 415 ff. Dort 411: Krawall (v. Rotenho.m),
415 ff.: hoch- und 1,a11uksverräteri8Mer Aufruhr (Vorschlag Mittermaier); s. auch MITTER·
MAIER, Belagerungszustand, 58 (s. Anm· 104).
132 Vgl. den fra~ösischen Gesetzentwurf v. 1832 und die „Loisur l'etat de siege" v. 3. 4.
363
Ausnahmezustand II. 3. Die Revolution von 1848
eines Gesetzbuchs über das Verfahren in Strafsachen (o. 0. 1834), 217 ff. [handschriftl.].
364
g) ·Kritik am Belagenmgszastand Ausnahmezustand
sie auch selbst durchbrechen dürfe, fand in Deutschland kein Gehör. Im Gegensatz
zu Frankreich bl:eb hier die Erklärung des Belagerungszustandes mitsamt der
Suspension von Grundrechten der Regierung vorbehalteii.140• Die Vorkämpfer des
Rechtsstaates setzten zwar ihre Forderungen nach einer Reglementierung des
Kriegszustandes durch. Die gesetzliche Regelung selbst, die das Bürgertum, durch
die Zuspitzung der revolutionären Situation erschreckt, mit den konservativen
Trägern der Regierungsgewalt aushandelte, folgte ihren Vorstellungen jedoch nicht.
Die Angst vor den ZerstiYrungen des Oommunismus und der entfesselten Despotie
t-ierischer Leidenschaften, vor dem Aufruhr der Pöbelmassen, der Kirche und Staat
zu vernichten droht, indem er in entfesselter Leidenschaft vererbte Sitte und Unan-
tastbarkeit des Eigentums mißachtet (BiscuoF)141, vor dem demokratischen Dunkel-
m<mn und Ana.rch.isf.P.ri., lif~ß iliP. nach-revolutionären Parlamente den Regierungen
mehr Rechte einräumen, als es der radikal-liberalen Theorie billig erschien.
140 Vgl. die französische Entwicklung: Art. 14 der Charte von 1814; Art. 13 der Charte
365
Ausnahmezustand ll. 4. Der Wandel des Begriffs seit 1848
Rtlmrll:'IA, nnmliohdCtlflCII. Aufhebung, die den inneren Gegner 11ogo.r oohlcohicr u.fo
den völkcrrccihtlich geschützten äußeren Feind im Kriege stelle (WELCKER)l45.
Den Konservativen wiederum gingen die Befugnisse, die der Belagerungszustand
der Staatsgewalt einräumte, nicht weit genug. Sie plädierten für ein ungeregeltes
Kriegsgericht mit nachfolgender Rechenschaftsablegung der Regierung vor den
Ständen. Ihr Spott ergoß sich über den Belagerungszustand, der nichts anderes sei,
als Komplement und Konsequenz des in den modernen Verfassungen etablierten
Bürgerkriegs . . . in Schlafrock und Pantoffeln, in dem der Liberalismus die Werk-
stätten seiner eigenen Revolution, das Preß- und Vereinsrecht ungestört wissen wolle,
aber nichts dawider habe, wenn die mit ihren Forderungen über seine gemütliche
Anarchie und friedliche Revolution hinaus drängenden schlecht gekleideten Bürger
auf der Straße totgeschossen würden (WAGENER)146• Mit dem Stichwort „RiiTgp,r-
krieg" war denn auch das genannt, worum es damals wirklich ging. Verdeckt durch
die Idee der „unblutigen Revolution" konnte der Ausdruck für die Gesetzgebung des
Belagerungszustandes jedoch nicht thematisch werden. Der Belagerungszustand
blieb somit eine besonders in späterer Zeit in zunehmendem Maße verharmloste
„polizeimäßige" Maßnahme gp,gp,n dip, „Stömng" der gerade etablierten bürger-
liohon Ordnungl47, Er oroohoint dabei in die 8elb11tvf'lr11tii.ndlir.hkf'lit. gf'll1ii.1Jt,, da.IJ
es ja außerordentliche Mittel gegen außerordentliche Gefährdungen des Staates·
durch Aufruhr oder Krieg geben müsse, wie die den Sachverhalt vArdeckende
Formulierung seiner Voraussetzungen in den Gesetzen lautet. Hier schwang die
Reminiszenz an die militärtechnische Vergangenheit des· Belagerungszustands als
eines Mittels gegen den eindringenden äußeren Feind und die beide Erscheinungen
einer Staatsgefährdung umfäooondo uroprüngliohc Form des Kriegsrechts mit,
sowie die gelehrte Erinnerung an das „bellum et seditio" der rechtsstaatlichem
Denken verwandt empfundenen älteren römischen Diktatur. Allerdings wurde die
neue Diktatur auch im Falle des Krieges nicht gegen den äußeren Feind benutzt,
sondern gegen den inneren, und hier schon dann, bevor er überhaupt daran dachte,
zum Aufruhr zu rüsten, wie die Kriegszustands- und Schutzhaftpraxis des Ersten
Weltkriegs zeigt. Der in dieser Weise verdeckte und gezähmte Bürgerkrieg tauchte
freilich, kaum gemeistert, an anderer Stelle im neuen System des bürgerlichen
Rechtsstaats wieder auf, was der Wandel des Staatsnotrechtsbegri:ffs deutlich
macht.
a) 'Dominium eminens'. Auch nach 1848 ist die Lehre vom „dominium ius emi-
nens" noch anzutre:ffenl 48 • Allerdings hat sich durch den neuen Verfassungszustand
die Problemstellung insofern verschoben, als die neuen deutschen Verfassungen
m S. Anm. 122.
148 S. Anm.. 122; von Revolutionären in SclUafrock und Pantoffeln sprach (nach Böme)
schon FRH. ÜTTO v. MANTEUFFEL 1851 (eingegangen in den Büchmann).
147 S. u. S. 370.
us Vgl. ZACHARIÄ, Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. 2(1854),120 ff.; Zöl'FL, Staatsrecht, 4. Aufl.,
Bd. 2 (1856), 712 ff. (s. Anm. 86); vgl. auch den Art. eminens ius bei RoTTECK{WELOKEB
3. Aufl., Bd. 5 (1861), 85 ff.
366
b) 'Notverordnung' Ausnahmezustand
ganz generell nur noch eine Enteignung auf Grund eines Gesetzes vorsahen. Damit
war der Gemeinwohl-Eingriff seiner Außerordentlichkeit endgültig entkleidet und
normalisiert worden, was der zunehmenden Enteignungspraxis im Bereich des
Straßen- und Eisenbahnbaus entsprach. Daneben blieb jedoch das „dominium
eminens" zunächst bestehen als Rechtstitel für nunmehr wirkliche Noteingriffe
des Fürsten durch „Spezialverfügung", die über den beschränkten Umkreis der
gesetzlich legitimiertenExpropriationhinausgingen. Als Fall einer solchen wirklichen
Notbehebung erschien es in der Literatur denn auch gerade auf die Notlage des
Kriegszustandes bezogen, von dessen Fällen es bislang grundsätzlich geschieden
war. Charakteristischer aber als die sich hier abzeichnende Verbindung von „Staats-
notrecht/dominium eminens" und „Ausnahmerecht/Belagerungszustand" war, daß
das „Sta11.tsnotrecht", das durch die gesetzliche Regelung der Enteignung von seiner
bisherigen Funktion gleichsam freigesetzt wurde und das auch die Stelle einer
Rechtfertigungsgrundlage für staatliche Maßnahmen im Aufruhr durch die Ge-
setzgebung des Belagerungszustandes besetzt fand, sich nunmehr mit dem Not-
verordnungsrecht und dem neuartigen Fall des Verfassungskonfliktes verband.
367
Ausnahmezustand II. 4. Der Wandel des Begriffs seit 1848
d) Resümee. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich die Restriktion des
außerordentlichen Eingriffs auf „wirkliche" Notfälle durchgesetzt. Der Gemein-
wohl-Eingriff ist dagegen von der Gesetzgebung normalisiert worden. Aber der
Begriff des Gemeinwohls wurde nicht mehr von der salus publica-Vorstellung
des absolutistischen Staates bestimmt. Er erschien vielmehr von den Verkehrs-
bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft geformt, deren oberstes Prinzip die
Wahrung des Privateigentums war. Eine Durchbrechung dieses Prinzips ließ sich
daher nur noch in den Fällen rechtfertigen, in denen die Enteignung selbst als eine
Vorbild (Locke) von 'Prärogative' des Fürsten. Der Begriff kommt auch in der älteren
deutschen Staatsrechtsliteratur vor, vermochte aber keine eigenständige Bedeutung
zu gewinnen. Das 19. Jahrhundert setzte dafür, vor allem seit Stahl, das „monarchische
Prinzip".
Ula BISCHOF, Nothrecht, 67. 87.
152 WAGENER Bd. 3 (1860), 510 ff.
368
a) Begriffsverlall im 19. Jahrhundert Ausnahmezustand
Bedingung für das Prinzip der vollen Entwicklung der staatsbürgerlichen Gesellschaft,
dem freien Erwerb, erscheint (STEIN)15 3. Hier durfte dem Eigentümer freilich die
Grundlage seiner Existenz als freier Persönlichkeit, der Wert seines Besitzes, nicht
entzogen werden, sondern war volle Entschädigung zu leisten - das Prinzip einer
Eigentum erhaltenden und zugleich um seine Mehrung besorgten, Eisenbahnen
bauenden Gesellschaft. Die soziale Frage jener Zeit, das Problem des Pauperismus
war damit allerdings nicht zu lösen. Diese Frage tauchte. als juristisch relevantes
Notstandsproblem nicht auf. Es traten vielmehr ein bürgerlicher, „juristischer"
und ein sozialistischer, „philosophischer" Expropriationsbegriff („le prive, c'est le
vol"; Proudhon) auseinander. Sie wurden in der Literatur scharf gegenüber-
gestellt154. Trotz warnender Stimmen wie: Störungen der öffentlichen Ruhe wollen
nicht bloß mit Waffengewalt darnie,dergedrückt, sondern in ihren· Grundursachen er-
kannt und gehoben sein155, war der Stil jener Zeit nicht von dem die Gesellschaft
reformierenden Eingriff geprägt, sondern von einer traditionellen Angst vor
einem Abgleiten in das demokratisch-anarchistisch-kommunistische Chaos und in
eine neue Despotie, falls man sich über die Prinzipien des bürgerlichen Systems
hinwegsetzte und seinen Schutz vernachlässigte. Die necessitas-Regelung deR
Beht.g1mrngszusLandes diente als Riegel gegen einen schließlich in aufrührerischer
Betätigung explodierenden sozialenNotstand, nicht mehr als „Schlüssel" der Reform.
Soweit waren sich monarchische Regierungsgewalt und bürgerliche Majorität in
der Regel einig. Ihre verfassungsmäßig niedergelegte Vereinbarung fand aber da
ein Ende, wo der Konflikt zwischen den Vertragspartnern selbst aufbrach. Und in
dieser, iin neuen: System nicht mehr erfaßbaren und regelbaren Not siedelte sich
daher denn auch der neue Begriff des Staatsnotrechts an.
a) Begriß'sverfall im 19. Jahrhundert. Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
an wurde eine Reihe von Begriffen, die im Rahmen des Staatsnotrechts bislang
eine bedeutende Rolle spielten, obsolet. Der konsolidierte „bürgerliche Rechts-
staat", in dem ein spätliberales Bürgertum sich „gouvernemental" dem Staat zu-
wendete und der Staat sich mehr und mehr als Beschützer und Förderer der bürger-
lichen Interessen begriff, glaubte in positivistischer Manier, sich ganz auf das Er-
reichte als das positiv Gegebene konzentrieren und alle Störungen, sowie die
anormalen Befugnisse, mit denen man ihnen ehedem entgegentrat, ausscheiden zu
können. Der Machtspruch des Monarchen war schon in der ersten Hälfte des
Jahrhunderts als systemwidrig aus dem.Rechtsstaat ausgeschaltet worden. 'Macht-
vollkommenheit' ('plenitudo potestatis') und 'ratio status' verschwanden ebenfalls
aus der Terminologie des Verfassungsrechtsl 5&. 'Majestas', Inbegriff der gottgegebe-
nen Herrschaft, personifiziert im absoluten Fürsten, wurde in der konstitutionellen
Monarchie zum Prädikat ihres Prädikates, zur Bezeichnung der Unverletzlichkeit und
Unverantwortlichkeit des konstitutionellen Monarchen und schließlich zur reinen
24-90385/1 369
Ausnahmezustand II. 5. Das „Ende" des Staatanotreehts
Titulatur.Auchdie'Souveränitä.t'wurdeimneuenbundesstaatlichenSystemzueinem
fragwürdigen Begriff. Das 'dominium eminens' endlich hatte seine Rolle angesichts
der verfassungsrechtlichen Bindung der Enteignung an das Gesetz ausgespieltlö 7 •
Anstelle der traditionellen Begrifflichkeit trat die abstrakt-allgemeine, ,Staatsgewalt''
als Inbegriff eines absoluten Staatswillens, der sich durch „Organe" mit verfassungs-
mäßiger Kompetenz äußerte. Auch das Staatsnotrecht wurde dieser Staatsgewalt zu-
gerechnet, deren Träger zunächst freilich Monarch blieb. Augenfällig erschien das
insbesondere dann, wenn er sich sogar über die Verfassung hinwegsetzte und sich
kraft des „monarchischen Prinzips" auf seine Staatsgewalt zurückzog.
Aber auch das Staatsnotrecht verfiel schließlich dem Verdikt. Da es seiner Natur
nach einen außerordentlichen, nicht vorher berechenbaren Eingriff in das positive
Recht auf überpositiver Rechtsgrundlage darstellte, wurde es von der seit den
achtziger Jahren zur Herrschaft gelangten Theorie des Rechtspositivismus, die
alle übergesetzlichen Bezüge des Willens der Staatsgewalt auf ein höheres Recht
oder auf sittliche Zwecke als Vorspiel im Himmel (GERBER) denunzierte und strich,
zum juristischen Unding erklärt158• Da es aus der positiven Rechtsordnung heraus-
fiel, konnte es nicht länger Recht sein. Auch der Verfassungskonflikt konnte damit
nicht gelöst werden. Für die neue Theorie galt vielmehr in diesem Fall das Diktum:
Das Staatsrecht hört hier auf (A.NscHÜTZ)159• Die Kategorie des Staatsnotrechts
war ihr lediglich ein anderer .Ausdruck für den Satz, daß Macht vor Recht geht
(JELLINEK)180• Dasselbe Schicksal der Verstoßung aus der Rechtswelt erlitt zur
gleichen Zeit auch der alte Gegenspieler des obrigkeitlichen Staatsnotstandes, das
Widerstandsrecht, bislang als Relikt vergangener Zeiten wenigstens in der·Theorie
noch bewahrL1 81 •
Die positiven Regelungen des Staatsnotstandes wurden im positivistischen Sinne sy-
stemadäquat umgedeutet: die Notverordnµng zum technischen Hilfsmittel für Fälle
der Verhinderung der Legislative („Gesetzgebungsnotstand") und der Belagerungs-
zustand zu einem polizeilichen Eingri::ft' gegen „Störer", womit Aufruhr und Re-
volution als Kategorien einer polizeiwidrigen Störung der öffentlichen Ruhe und
Ordnung erschienen182• Mit alldem war die Notrechtsproblematik teilweise eska-
motiert, teilweise entpolitisiert und in einem rein juristischen System heimisch
gemacht worden.
b) 'Ausnahmezustand'. Der Ausdruck tauchte, in einem untechnischen Sinne ge-
braucht, schon Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Noch WELCKER undMITTERMAIER183
370
m. 1. Die „'\Viederktohr'" dN Staatllnotrecbts . A111D&bmezuatand
m. Ausblick
1. Die „Wiederkehr" des Staatsnotrechts
371
Ausnahmezustand m. 2. Ausweitung des Ausnabmezustandshegriffs
.zu einer raschen und rücksichtslosen Notgesetzgebung durch die Regierung im
Stile der früheren Notverordnung öffnete. Doch sah man sich teilweise auch ge-
zwungen, den Regierungen darüber hinaus außerlegale Notkompetenzen zuzu-
sprechenl67. Das Problem wurde zunächst von JosEF KoHLER aufgegriffen, der un-
ter dem Titel „Not kennt kein Gebot" (Berlin, Leipzig 1915) ein neuhegelianisch
begründetes natürliches Notrecht des Staates im völkerrechtlichen Bereich be-
hauptete, um den deutschen Einfall in Belgien zu rechtfertigen. Für den inner-
staatlichen Bereich wurde es 1917 von HoERNI reklamiert als droit naturel ... que
Z'etat possMe deja par le single fait, qu'il eziste und justifie par les circonstances
memes, die den Staat zwangen, durch Rückgriff darauf, realiser les buts qui sont
Za raison a,'~tre de son existence168 • Auf die rechtliche Begründung dieses Naturrechts,
das bei Hoerni in einer für rechtsstaatliches Denken ungewöhnlichen Weise aus
der Existenz des Staates und soinor Rifoon ( !) dirokt ontopmng, wurde in der kom-
menden Zeit, besonders in der schweizerischen Literatur, viel Mühe verwendet160.
Ideologiekritisch verhielt sich KELSEN zu diesem Vorhaben, indem er feststellte:
Hinter der treuherzigen Versicherung, daß der Staat „leben" müsse, verbirgt sich meist
nur der rücksichtslose Wille, daß de,r Staat so leben müsse, wie es diejenigen für
richtig halten, die sich der Rechtfertigung eines „Staatsnotrechts" bedienen17o.
Da der moderne Staat eine umfangreiche Legalitßtsreserve für Notfälle in der
Ermächtigungsgesetzgebung und einer weitherzigen Tnteqm1tation vorhandener
Notstandsregelungen besaß, blieb in Deutschland das überpositive Staatsnotrecht
eine Angelegenheit der Theorie, trotz der Krisen der Weimarer Republik. Aber es
war bedeutsam für das aufkommende antipositivistische Denken, daß von der
Theorie nunmehr auch der Terminus 'Ausnahmezustand' in dieses Feld hinüber-
gezogen wurde.
11 7 Vgl. BOLDT, Rechtsstaat, 195 ff. Zur französischen Entwicklung speziell s. CILBERT
ZIEBURA, Der Staatsnotstand in Frankreich, in: Staatsnotstand, hg. v. FRAENKEL, 174 ff.;
zur Ermächtigungsgesetzgebung HERBERT TmGSTEN, Les pleins pouvoirs (Paris, Stock-
holm 1934) und CLINTON RossITER, Constitutional Dictatorship (Princeton 1948), 288 ff.
188 ROBERT HoERNI, De l'etat de necessite en droit public föderal Suisse (Genf 1917),
18. 185.
m Überblick bei FoLZ, Staatsnotstand (s. Anm. 43); vgl. J. LAMARQUE, La theorie de la.
ileuti1111ite tit l'artiule 16 de la. Constitution de 191!8, Rev. de droit public (1961), 558 ff.
i 7 o HANs KELSEN, Allgemeine Staatslehre (Berlin, Heidelberg, New York 1925), 157.
171 Vgl. HANS GMELIN, Der Ausnahmezustand, Handbuch der Politik, Bd. 3 (Berlin, Leip-
zig 1921), 156 ff. FRITZ :MAN°DRY u. a., Das Recht des Ausnahmezustands im Ausland, Bei-
träge zum ausländischen öffentlichen und Völkerrecht, hg. v. Rudolf Smend, H. 9 (Berlin
1928).
372
m. 3. Die moderne Diktatur Ausnahmezustand
sondern um jene Ausnahme, für die die Verfassung keine Regelung mehr vorsieht.
Vor ihr dürfe sich geraße eine Philosophie des konkreten Lebens nicht zurückziehen
... Sie besUitigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Aus-
nahme ... In der Ausnahme durchhricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste
einer in Wiederholung erstarrten Mechanik1 72 ,
Diese und ähnliche existentialistisch getönten, zum Teil direkt auf Kierkegaard
Bezug nehmenden Wendungen radikalisierten ein Staatsnotstands-Verständnis,
dessen Ansätze bis in die Zeit des Nachmärz zurQ.ckverfolgt werden können. Die
Funktion eiries überpositiven „Notrechts" im Woh,lfahrts- und Polizeistaat des
18. Jahrhunderts war es, ein noch in der aristotelisch-scholastischen Glückselig-
keits-Tradition stehendes „salus publica" gegen widerstreitendes „ius positivum"
zur Förderung der Zivilisation durchimsetzen. Im bürgerlichen Rechtsstaat des
19. Jahrhunderts hatte das Notrecht die Aufgabe, ilie Beiliugungen der bürger-
lich1m Rxist.enz, den konstitutionellen status quo zu sichern. Demgegenüber begann
seit der Konfliktszeit der sechziger Jahre eine neue Vorstellung vom Staatszweck
an Boden zu gewinnen, die vom Einfluß eines die rechtsstaatlichen Ideale und
Prinzipien relativierenden Historismus zeugt. KALTENBORNna und GEORG MEYER17•
z. B. rechtfertigten die Aufhebung wohlerworbener Rechte nicht einfach mit einer
Notlage für die Existenz des Staates, sondern mit dem Umstande ihres Verfalls
im Laufe der historischen und kulturellen Entwicklung. Was diese Entwicklung
einstmals förderte, wurde mit der Zeit zu ihrem Hindernis und verlor da.mit· sein
Dasein8recht. Auch die VerfaBBung durfte nach Kaltenborn aufgehoben werden,
wenn ihr die sozialen und natürlichen Vorbedingungen und Unterlo,gen in dem Leben
und Geiste der Nation fehlen.
Dieser historisch-naturalistische Ansatz erschien bei Carl Schmitt nun lebens-
philosophisch zugespitzt: Es lag für ihn in der Natur einer Rechtsordnung, daß sie
vor der Entwicklung des Lebens hinfällig würde. Die Funktion der Ausnahme
konnte daher nicht mehr rechtsstaatlich als zeitweilige Unterbrechung des Regel-
zustandes um dessen Erhaltung willen verstanden werden, sondern wurde zum
Signum einer Rückkehr zum Leben, das umgekehrt der Regelzustand nur vorüber-
gehend für die Dauer des Erweises seiner Seinsmächtigkeit unterbrochen hatte.
Die Geltung der Verfassung war durch die Normalität der Verhältnisse - rebus
sie stantibus176 - bedingt; nur lag es in der Natur der Verhältnisse, daß sie nicht
lediglich zeitweilig, sondern schließlich einmal auch grundsätzlich anormal werden
konnten.
Die Versuche eines über die alten Positionen hinausgreifenden Verständnisses der
Staatsnotstandsproblematik sind gezeichnet von der Erfahrung einer allgemeinen
Krise seit dem Ersten Weltkrieg. Sie begleiten das schon vorher einsetzende
373
Ausnahmezustand m. 3. Die modeme Diktatur
Machtstaatsdenken mit seiner eigenartigen, unter völligem Bruch mit der Tradition
erfolgenden Hcroisierung des Krieges, der nun nicht mehr als Rückfall in die
. Barbarei gewertet wurde, sondern als Höhepunkt des nationalen Daseins, in dem
die Nation ihre Lebensmöglichkeit erwies. Sie begleiteten ebenso die revolutionären
Umstürze der kommenden Jahre. Das ließ dem ältesten, aber über Jahrhunderte
vernachlässigten Begriff dieses Problembereichs, der->- Diktatur, wieder eine zen-
trale Bedeutung zukommen. Der dem römischen Staatsrecht entlehnte Begriff
spielte seit seiner Wiederaufnahme im Humanismus eine durchaus untergeordnete
Rolle in der gelehrten Reflektion, die sich am römischen Vorbild orienterite178•
Die Humanisten verstanden die Diktatur als eine '.Notstandsmaßnahme der Aristo-
kratie (Patriziat) gegen das Volk (Plebs). In bewegten Epochen, wie·der des reli-
giösen Bürgerkriegs, der Französischen Revolution und der 48er Zeit, erreichte der
Begriff zeitweilig eine erhöhte Bedeutung. Dazwischen fand er nur mehr beiläufig
als gelehrtA R.Aminiszenz Berück11ichtigung in der Literatur. So findet sich in uen
Lexika des 18. und 19. Jahrhunderts nur ein kurzer Hinweis auf das altertümliche
Institut des römischen Staatslebens neben einer ebenso wichtig genommenen· Er-
wähnung, daß ·man unter 'Diktatur' auch das Diktieren zu Protokoll durch den
Sekretär des Reichskanzlers auf dem Reichstag des alten KaisArrAi11hs verstehe177 •
In der 48er Zeit wurde der Begriff gelegentlich mit 'Belagerungszustand' synonym
gebraucht, besonders von cfon strikt rechtsstaatlich gesinnten Kritikern der neuen
Notstandsschöpfung. Noch FLEISCHMANN unterschied 1911 die bloße Grundrechts-
suspension nach § 16 des preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand als
Zivildiktatur von dem Militäreinsatz im Belagerungszustand als Milit,ärdiktatur1 78 •
Erst seine Aufnahme auf sozialistischer Seite verschaffte dem Begriff erneute Be-
deutung. Er erschien nun nicht mehr zur Bezeichnung gegenrevolutionärer Maß-
nahmen, deren Leitung in der Hand eines Mannes lag, sondern als Ausdruck der
von einer Klasse geschaffenen Ma.chtverhältnisse im Zuge einer nicht nur politi-
schen, sondern vor allem sozialen Revolution („Di.ktatur des Proletariats"). Aus
einer, nach klassischer Vorstellung zeitlich strikt begrenzten Notregierungsform
zur Wiederherstellung der Ordnung wurde so eine eigenständige Staatsform zur
Veränderung der Verhältnisse. Die sich darin zeigende Ambivalenz des Begriffes
deutete sich zwar schon in röinischer Zeit.im Wandel der älteren zur jüngeren Dik-
tatur rei gerun<lae causa an179, gewann aber erst im 20. Jahrhundert an Schärfe
und wurde jetzt von Carl Schmitt auf die begriffliche Unterscheidung von „kom-
missarischer" und „souveräner Diktatur" gebracht.
Der Begriff behielt daneben auch seine traditionelle rechtsstaatliche ]'unktion.
In diesem Sinne konnte unter Bezug auf den Artikel 48 der Weimarer Verfassung
von der „Diktaturgewalt des Reichspräsidenten" gesprochen werden (Grau). Und ge-
rade diesen Sinn versuchte HECKEL zu wahren, wenn er anfangs der dreißiger Jahre
374
m. 4. Gegenwärtiger Stand Ausnahmezustand
4. Gegenwärtiger Stand
lH HERBERT KRÜGER, Allgemeine Staatslehre (Stuttgart 1964), 30 f.; vgl. auch THOMAS
SPEISER, Vom Notrecht in der Demokratie (Zürich 1958).
375
Ausnahmezustand m. 4. Gegenwärtiger Stand
zu seiner Beseitigung kompetenten Träger der Notstandsgewalt vorweg zu bestin1-
men, wird dabei nicht aufgeworfen. Grundsätzlich jedoch geht man heutzutage
noch immer davon aus, daß auch die Notstandsbefugnisse in der Rechtsordnung
selbst eine Regelung finden müssen. Insofern wird das rechtsstaatliche Erbe des
19. Jahrhunderts gewahrt. Allerdings finden sich zum Teil extrem weite Notstands-
bestimmungen, wie z. B. im .Artikel 16 der Verfassung der französischen Fünf-
ten Republik, die kaum mehr sind als ein konstitutionelles Feigenblatt für
eine tatsächlich nicht mehr geregelte Eingriffsbefugnis.
Auch alle gegenwärtigen Regelungsbestrebungen sind vom herkömmlichen Aus-
nahmezustandsverständnis gekennzeichnet. Sie zielen auf vorübergehende Unter-
brechungen der normalen Verhältnisse zur Stabilisierung der Lage, auf freiheits-
beschneidende Eingriffe von hoher Hand, vielfach durch das Militär, bei zwar in ihren
Dimensionen erweiterten, grundsätzlich aber nicht veränderten Notsituationen. Ob
diese aber nonh in Rolcher Weiile, idealiter, o.lao „ßpurcnlos", meisterbar sirnl, uarf
bezweifelt werden. Das verfeinerte Rechtsstaatsverständnis zeigt sich in diesem
Rahmen als Ruf nach einer effektiveren politischen und gerichtlichen Kontrolle
der wie vordem in Notzeiten freigesetzten Staatsgewalt. Die Sprache unserer Zeit
ist allerdings inzwischen über diesen Zustand hinausgelangt.. Sie orientiert sich
11icht mehr an den Begriffen, die den alten Regelungen zugrunde lagen, wie Krieg
und Aufruhr, sondern haL·seit den zwanziger Jahren für die Notzustände der moder-
nen Industriegesellschaft einen neuen Begriff eingeführt, die 'Krise', die den alten
Aufruhr bereits zu einer antiquierten Kategorie des Historie gewordenen Obrig-
keitsstaates hat werden lassen und die auch die init ihm verbundenen nationalen
Grenzen grundsätzlich nicht mehr kennt ('Weltwirtschaftskrise'). Neben der staatli-
che Notmaßnahmen hervorrufenden Wirtschaftskrise wird in neuester Zeit das Vcr-
ständnis öffentlicher Notstände durch Wortschöpfungen wie 'Bildungsnotstand'
artikuliert. Hier, im Bereich der Probleme einer sich notwendigerweise immer
weiter fortbildenden Leistungsgesellschaft, in den Bereichen von Bildung, Technik
und Wirtschaft, scheinen neue Notstandsprobleme zu liegen. Sie lassen sich da-
durch kennzeichnen, daß es sich bei ihnen nicht um zeitweilige Unterbrechungen
eines sich selbst überlassenen gesellschaftlichen Normalzustandes zur Wieder-
herstellung des status quo init Waffengewalt handelt, sondern um dauernde plan-
volle Förderungsmaßnahmen zur Überwindung des jeweiligen status quo, da ein
Beharren zur technischen Rückständigkeit und damit trotz des erreichten zivili-
satorischen Standes in absehbarer Zeit in bittere Not führen würde186 • Das bedeutet
freilich, daß auch das offizielle Staatsnotstandsverständnis über sein in der Mitte
des vorigen Jahrhunderts erreichtes begriffliches Niveau grundsätzlich wird hinaus-
kommen müssen.
HANS BoLDT
185 HANS BoLDT, Der Ausnahmezustand in historischer Perspektive, Der Staat 6 (1967),
409 :ff.
376
Autarkie
Nur das stoische Verständnis der 'Autarkie' hat sich am Rande des römischen
Staatsdenkens, dann der christlichen Lehre gehalten und wurde in den neutralen
lateinischen Begriff der sufficientia verlegt. Die politische Autarkie verlor angesichts
der andersartigen politischen Struktur der römischen res publica ihre Bedeutung
und kam außer Sprachgebrauch. Auch mit dem Wiedergewinn der aristotelischen
„Politik" im Mittelalter2 wurde das griechische Wort nicht neu aufgegriffen, sondern
weiterhin mit „sufficientia" wiedergegeben. Was europäisches Staatsdenken im Rah-
men christlicher Polizeien, dann eingegrenzt auf politisch-ökonomische Frage-
stellungen für die gute Verfassung der Fürstentümer und Lande erstrebte, war
immerhin mit dem aristotelisch-politischen Entwurf der 'Autarkie' nahezu iden-
tisch3. Jedoch schon der christlichen Schöpfungslehre wegen konnte das Ideal des
377
Autarkie 2. Der suHicientia-Begriff
'Jou. HEINRICH JUNG gen. STILLING, Antrittsvorlesung an der Kamera! Hohen Schule
zu Kaiserslautern (1778), zit. WILHELlll STIEDA, Die Nationalökonomie als Universitäts-
wissenschaft, Abh. d. sächs. Ges. d. Wiss., philol.-hist. Kl., Bd. 25/2 (Leipzig 1906), 113 f.
• ZEDLER Bd. 2 (1732), 2264: A utarcia, ist die Ruhe dea Gemüts, da man mit seinem Glücke
zufrieden ist.
1 J. G. FICHTE, Der geschloßne Handelsstaat (1800), SW Bd. 3 (1845), 389 ff., bes. 480. 511.
7 F. LisT, Das nationale System der politischen Ökonomie, Schriften, Bd. 6 (1930).
'D. F. ScHLEIERM,A.CHER, Die Lehre vom Staat, SW 3. Abt., Bd. 8 (1845), 73; GusTAV
DROYSEN, Historik, hg. v. Rudolf Hübner, 4. Aufl. (Darmstadt 1960), 252.
378
3. Modeme BegriJrsbildung Autarkie
3. Moderne Begriffsbildung
In den Lexika des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wurde 'Autarkie' -wenn
man es überhaupt erwähnte - nie als politisch-wirtschaftlicher Begriff verstanden.
PIERERS „Universal-Lexikon" (1857) führte für 'Autarkie' die stoische, eine theo-
logische ( 4.llgenugsamkeit, SuUicientia, Eigenschaft Gottes, On,ß er keines Dinges oder
. Wesens außer sich bedarf) und eine medizinische Definition (der Zustand, wo man sich
bezüglich seiner Gesundheit zufrieden fühlt) sowie die frei verfügbare .Allgemeinbedeu-
tung Selhstgenugsamkeit, Selbständigkeit, das Sichselbstgenugsein auf9. Nur verein-
zelt läßt sich im 19. Jahrhundert auch eine politische und ökonomische Bedeutung
des Begriffs nachweisen. So schrieb 1843 KARL HEINRICH RAU: Kleine Staaten, die
sich keinem größeren Ganun anschließen können, vermögen am wenigsten zu einer sol-
r,1um, 111i1rl.,r:haft,lir:hen Selh.,täruligkeit ( .Äutarkie im Sinne des A.riswtelc8) zu gelangen,
ALBERT ScHÄFFLE nannte das Volk eine autarke, d. h. sich selbst genügende mensch-
liche Lebensgemeinschaft äußerlich und innerlich zusammenhängender Menschen-
massen. 'Volk' war für ihn die Nation, nicht der Staat. Zum Volk gehöre das Land,
d. h. die vom Volkstum her bestimmten, dieses zugleich prägenden Ortschaften, M ar-
ken, Gaue, Landschaften ... und Reiche 1o. Der Beleg bleibt vereinzelt, obwohl die
ualüuLtir llLtihllilUl:l VuniLdluug VOil der Nation als nur aul! 11ich 11elbst genügsa.mer
Lebensgemeinschaft den modernen Inhalt von 'Autarkie' bereits repräsentierte.
Diese Vorstellungen fanden als Organsystem, als System nationaler Bedürfnisbefrie-
digung eines Staates 11 , als volle Selbstherrlichkeit 12 , als Eigenwirtschaft13 in der Volks-
wirtschaftslehre seit Rodbertus bei Knies, BücHER, ScHMOLLER u. a. steigende Be-
rücksichtigung. Sie gehörten zum Streben nach einer neuen Ganzheit und Gesamtheit,
zur enLschiedenen Abkehr vom anachronistischen Freihandel des Liberalismus, zum
Neomerkantilismus und zu der Forderung nach gemeinwirtschaftlicher Betiitigung
dtes Staates. Diese Anschauung sollte nach KARL ÜLDENBERG durch die Selbstge-
nügsamkeit der Nation die elementare Unselbstiindigkeit des Industriestaates besei-
• PIERER 4. Aufl., Bd. 1 (1857), 334, Art. Allgenugsamkeit; Bd. 2 (1857), 85, Art. Autarkie.
MEYER 6. Aufl., Bd. 2 (1903), 184 hat die stoische Bedeutung, BROCKHAUS 14. Aufl.,
3. Neuausg., Bd. 2 (1908) und Suppl. Bd. 17 (1910) besitzt keinen Autarkieartikel.
°
1 K. H. RAU, Rez. v. Lists „Nationalem System",Bd. l (s.Anm. 7),Arch. d. polit. Ökono-
mie u. Polizeiwiss. 5 (1843), 351; .ALBERT ScHÄFFLE, Bau und Leben des sooialen Körpers.
Encyklopidischer Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psychologie der mensch-
lichen Gesellschaft, 2. Aufl., Bd, 1(Tübingen1896), 175 ff.; Bd. 2 (1896), 154. 228. 594.
1~ KARL BÜCHER, Die Entstehung der Volkswirtschaft (1893; 6. Aufl. Tübingen 1908), 142;
379
Autarkie · 3. Modeme Begriffshild11111
tigen, seine zwingerule Abhängigkeit vom Auslarule lösenH. Im Kampf der Zeit um
Freihandel oder Schutzzoll, der mit diesen Vorstellungen ebenfalls verknüpft wur-
il11, war a.llerilings umstritten, wie die Selbstgenügsamkeit aussehen Hollte. Während
orthodoxe Freihändler von jeher die Konsequenz des Ausscheidens aus dem Welt-
markt als unnational verurteilt hatten, forderten agrarisch-konservative Kreise ein
Höchstmaß an Schutz für die einheimische Landwirtschaft; ihr Ziel war die korn-
wirtschaftliche Autarkie (HEINRICH DIETZEL)15• Zwischen beiden Extremen beweg-
ten sich die „Weltmachtpolitiker", denen es nicht mehr um die Beantwortung der
Frage nach „Agrar- oder Industriestaat" zu tun war, sondern um die wirksame Ko-
ordination von agrarischer und industrieller Kraft der Nation. Mit RUHLAND ver-
standen sie die Volkswirtschaft als einen zweigeschossigen Etagenbau, dessen oberes,
industrielles Stockwerk über den landwirtschaftlichen Unterbau nicht allzuweit
auslatlen tlül'fe 16• Diese Am1gewogenheit konnte zwar auch durch Autarkie, durch
echte Abkapselung oder auch Selbstbeschränkung innerhalb der bestehenden Staats-
grenzen erreicht werden, wie OLDENBURG undDIETZEL glaubten17 • Weiter verbrei-
tet war aber der Gedanke, durch Flottenbau und Koloniegründungen das Land
und damit die agrarische Basis expansiv so zu verbreitern, daß kein Schrumpfen
des industriellen Oberbaus nötig würde. Nur so glaubten ScHMOLLER u. a. Deutsch-
lands wachsende Bevölkerung ans dem Staate sefüst. versorgen zu können, um
dessen Una.bhii.ngigkcit zu gcwii.hrlciatcn18.
FRIEDRICH RATZEL und seine anthropogeographische Schule gestalteten diesen Ge-
danken aus zu dem der theoretisch begründeten Großraumwirtschaft. Indem sie die
Diskussion aus den tagespolitischen Gegensätzen heraushoben, erarbeiteten sie
ähnlich wie Schäffle das Modell eines einheitlichen Organismus, der.· Volk, Raum
und Staat umgreifen sollte. Der Begriff der Autarkie wurde allerdings erst später
auf diese Modelle angewandt19. Ratzels organisch gedachter Staat wurde zum Träger
des „Kampfes ums Dasein", der sich nun von der zwischenmenschlichen auf die
zwischenstaatliche Ebene verschob. Wirtschaftliche Unangreifbarkeit und Unab-
hängigkeit wurde damit eine der wesentlichen Voraussetzungen staatlichen Über-
lebens, geradezu das Kriterium der wirklich souveränen Großmacht 20 • Sah Ratzel
u KARL ÜLDENBERG, Industriestaat und Exportindustrie, Soziale Praxis 8 (1899),
Nr. 28, 746; ähnlich PAUL VOIGT, Deutschland und die Weltmacht,. in: Handels- und Macht-
politik, Bd. 1 (1900), 138 (s. Anm. 12).
16 HEINRIOH DIETZEL, Sozialpolitik und Handelspolitik (Berlin 1902), 93; ders., Kornzoll
in: Handels- und Machtpolitik, Bd. 1, 33; VomT, ebd., 194; RICHARD EHRENBERG,
Die Seefahrt im Leben der Völker, ebd., 75 f.
19 F. RATZEL, Politische Geographie (München, Leipzig 1897), 149 ff. 194 ff. 412 ff. Den
Begriff' 'Autarkie' führte in Ratzels Werk erst der Herausgeber der 3. Aufl. (München, Ber-
lin 1923), EUGEN ÜBERHUMMER, ein; vgl. dort 132. 598, Anhang.
20 MAx SERING, Handelspolitik der Großstaaten, Bd. 2, 19 ff. 33 ff.; FRIEDRIOH v. BERN·
HARDI, Militärische und wirtschaftliche Zukunftssorgen, in: Der Tag, 17. 8. 1913; RuDOLl!'
KJELLEN, Die Großmächte der Gegenwart (1905; dt. Leipzig 1914).
380
3. Modeme Begriffsbildung Autarkie
105; RICHARD Scmm>T, Aufgaben der politischen Wissenschaft im Zeichen des Krieges,
Zs. f. Politik 8 (1915), 6; ROBERT SIEGER, Der österreichische Staatsgedanke und das deut·
sehe Volk, ebd. 9 (1916), 13. 22 ff.
H Vgl. FERDINAND FRIED, Autarkie (Jena 1932), 23. 39 ff.; GISELHER WIRSING, Zwischen-
europa und die deutsche Zukunft (Jena 1932). Wirtschaftswissenschaft und Publizistik
übernahmen in den Jahren der Wirtschaftskrise den Begriff 'Autarkie', um, in vielfachen
Abstufungen, ein Rezept des Umschwunge zu finden. KAYSERS Bücherverzeichnis nennt
e. v. „Autarkie" bzw. „Nationale Wirtschaft" 1925-1930 ein Werk mit „Autarkie" im
Titel, für 1930-1935 sind es über 20 Veröffentlichungen, die den Begriff allein im Titel
führen. Darunter finden eich auch ablehnende und nationalsozialistische Stimmen, vor al-
lem von seiten Gregor Strassers, die jedoch von der Position Hitlers abweichen und kaum
repräsentativ sind. ·
u ADOLF HITLER, Mein Kampf, 26. Aufl. (München 1933), 164 ff. 727.ff.
18 Vgl. z. B. WOLFGANG SAUER, Art. Wehrverfassung, in: Fischer Lexikon, Bd. 2: Staat
und Politik, hg. v. ERNST FRAENKEL und KARL DIETRICH BRACHER (Neuausg. Frankfurt,
Hamburg 1964), 366; SVEN HELANDER, Das Autarkieproblem in der Weltwirtschaft (Berlin
1955).
381
Autorität
1. Einleitung. II. 1. Die römische 'auctoritas'. 2. 'Autorität' im .Mittelalter. III. 1. Landes-
fürstliche Autorität am Beginn der Neuzeit. 2. Eliminierung des Autoritätsbegriffs bei.
Luther. 3. Rezeption des Autoritätsgedankens bei den Staatslehren des späten 16. und 17.
Jahrhunderts. 4. Zurückdrängung des Autoritäts- durch den Souveränitätsbegriff. 5. 'Au-
torität' in der deutschen Aufklärung: Entpolitisierung, Entinstitutionalisierung, Morali-
sierung. 6. Die Französische Revolution als exauctoritatio weltgeschichtlichen Aus-
maßes. 7. 'Autorität' als konservativer Sonderbegriff im frühen 19. Jahrhundert. a) Er-
neute Politisierung. b) Religiöse Fundamentierung. 8. 'Autorität' bei den Liberalen bis
1848. a) Negierung des Autoritätsproblems bei den Frühliberalen. b) Annäherung an den
konservativen Autoritätsbegriff am Vorabend der RevolutiOn. 9. Autorität und Freiheit im
konAe.rvativen Verständnis um die Jahrhundertmitte. 10. Konserva.tive Antoritätaideolo-
gie im Dienste des gesellschaftlichen Status quo. 11. Liberale Kritik an der konserva-
tiven Autoritätsideologie. 12. Abflauender Streit im Bismarckreich. 13. Der Kultur-
kampf. 14. Die sozialistische Konzeption der Autorität: Friedrich Engels. IV. Schluß.
1. Einleitung
Das Wort 'Autorität' ist eine Eindeutschung des lat. auctoritas, die sich - zu-
niich11t in den Formen 'aur.toriteit', 'aur.toritet', 'autoritet' - 11eit dr.m lfi .•fah1·-
hundert beobachten läßt und vermutlich mit der sogenannten Rezeption des
römischen Rechts zusammenhängt1 •
Diesem Zusammenhang und der bis zu den Kodifikationen des 18./19. Jahrhunderts
zumindest subsidiären Gültigkeit des römischen bzw. gemeinen Rechts in Deutsch-
land entspricht es, daß gerade die präzis juristischen Bedeutungen des Wortes und
häufig auch seine lateinische Form nahezu unverändert bis ins 19. Jahrhundert
durchgehalten WQrden sind: noch ERscH/GRUBER und PIERER sprechen ausführlich
von der auctoritas als der Garantie des Verkäufers für den Fall, daß der verkaufte
Gegenstand von einem Dritten, etwa dem Eigentümer, herausverlangt wird; auch
die „auctoritas tutoris" als die genehmigende Gegenwart des Vormunds bei Rechts-
geschäften des Mündels gehört in diesen Umkreis der noch im 19. Jahrhundert
lebendigen Juristensprache des gemeinen Rechts 2 • Freilich: nur der Juristen-
sprache; im Denken und Reden der Nichtjuristen, und zwar auch der gebildeten,
spielten diese Begrifflichkeiten kaum eine Rolle mehr, wie denn ja überha,upt die
Rezeption des römischen Rechts sehr wesentlich zur Rechtsfremdheit des deutschen
Volkes in den neueren Jahrhunderten beigetragen hat.
II.
382
II. 1. Die römische 'auctoritas' Autorität
des Römertums, Ausg. Aufs„ hg. v. Erich Burck, 3. Aufl. (Stuttgart 1960), 43 ff.; THEODOR
MoMMSEN, Römisches Staatsrecht, 3. Aufl.„ Bd. 3/2 (Leipzig 1889), 1028 ff.; THEODOR
EscHENBURG, Über Autorität (Frankfurt 1965), 12 ff.
4 MoMMSEN, Staatsrecht, Bd. 3/2, 1028.
5 So THEODOR GEIGER, Art. Führung, Handwörterbuch der Soziologie, hg. v. ALFRED
VIERKANDT (Stuttgart 1931), 137.
8 FRANz WIEACKER, Vom römischen Recht, 2. Aufl. (Stuttgart 1961), 12.
7 ULRICH GMELIN, Auctoritas. Römischer Princeps und päpstlicher Primat, in: Geistige
383
Autorität II. 2. 'Autorität' im Mittelalter
wieder die Bedeutung der „auctoritas maiorum", des verp:ß.ichtenden Vorbilds der
Ahnen: „Der Staat des Römers war ein Bündnis mit den Vorfahren, und nicht ein
(wie die festlandseuropäische Demokratie) plebiscite de tous les jours der Leben-
den"8; die auctoritas maiorum galt als letztgültiger Maßstab des politischen Lebens.
Es leuchtet ein, daß die Fruchtbarkeit dieses Autoritätsprinzips, daß namentlich
die gegenseitige Zuordnung von potestas und auctoritas an sehr bestimmte poli-
tische und gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden war: Magistrat und Senat
mußten einander in ihren fachlichen Qualitäten gewachsen sein; vom Senat ins-
besondere war ein Höchstmaß moralischer und politischer Integrität gefordert,
die ihrerseits nur auf der Grundlage wirtschaftlicher Unabhängigkeit infolge Reich-
tums durchzuhalten war. Eben diese Voraussetzungen schwanden seit der Re-
volution der Gracchen deutlich dahin; damit begann auch die auctoritas der alten
römischen Republik zu verfallen9 •
Eine neue, im Kern jedoch den altrömischen Traditionen fruchtbar verp:ß.ichtete
Lösung des Autoritätsproblems brachte die Herrschaft des AUGUSTUS. Auctoritas
und potestas rückten nun im Principat sehr eng zueinander, aber keineswegs
- und gerade das war ein glänzender Beweis für die Staatsklugkeit des Augustus -
bis zur völligen Verschmelzung und Identifizierung. Gewiß: wenn Augustus den
Senat um dessen Rat fragte und damit die alte republikanische Form wahrte, so
riet er seinerseits doch zugleich dem Senat, wie dieser zu raten habe. Der Autorität
des Senats wurde damit die des Princeps übergeordnet - aber eben doch nur die
im strengen Sinn rechtlich unverbindliche Autorität des Princeps, nicht dessen
zwingende „potestas". Im Bericht des Augustus heißt es denn auch ausdrücklich:
Post id tempus auctoritat,e omnibus praestiti, potestatis autem nihi"lo amplius
habui quam ceteri, qui mihi quoque in magistratu conlegae fuerunt 10 • Gleichwohl
- oder viel mehr gerade deshalb - war die „auctoritas" des Kaisers die politische
Grundlage des Prinzipats.
Auf die Dauer war eine solche Höhe politischen Stils nicht durchzuhalten. Unter
den Nachfolgern des Augustus führte der Weg eindeutig zu einer Institutionali-
sierung der auctoritas, und zwar im Sinne einer rechtlich erzwingbaren, übrigens
auch religiös begründeten Herrschaftsgewalt. Der 'Princeps' wurde zum 'Dominus',
der 'divus' zum 'deus', die 'auctoritas suadendi' zur 'auctoritas imperandi' 11 • Mit
dieser Identifizierung von 'auctoritas' und 'potestas' hörte die Autorität auf, eine
eigene politische Relevanz zu haben.
2. 'Autorität' im Mittelalter
Schon in der römischen Republik hatten die Priesterkollegien mit dem Pontifex
l\faximus an der Spitze eine eigene Autorität gehabt, die in sakralen Voten ihren
griffswandel von 'auctoritas' im Prinzipat vgl. ERNST MEYER, Römischer Staat und Staats-
gedanke, 3. Aufl. (Zürich, Stuttgart 1964), 553 f., Anm. 40.
11 HEINZ LöwE, Kaisertum und Abendland in ottonischer und frühsalischer Zeit, Hist.
384
II. 2. 'Autorität' im Mittelalter Autoritllt
Niederschlag gefunden hatte. Erst recht gewann die Autorität der christlichen
Kirche seit dem ausgehenden Altertum steigende Bedeutung. Die Frage, wie diese
Autorität beschaffen sei und wie weit sie reiche - namentlich als Autorität des
Papstes - wurde überhaupt zum Kernproblem der Autorität im Mittelalter.
Die Grundlagen für die Entwicklung des kirchlichen Autoritätsbegriffs legte
TERTULLIAN12, und zwar unter Aufnahme sowohl der privatrechtlichen als auch
der staatsrechtlich~politischen Begrifflichkeit der Autorität im alten Rom. Wie
nämlich nach römischem Privatrecht der Verkäufer dem Käufer als seinem Rechts-
nachfolger dafür haftete, daß die verkaufte Ware nicht etwa einem Dritten gehörte
(eben diese Gewährleistung hieß ja 'auctoritas'), so bürgten nach Tertullian die
Bischöfe als Rechtsnachfolger der Apostel für die Unversehrtheit des Glaubens-
guts, wie es in der „regula fidei" seinen Niederschlag gefund_en hatte. Mit dieser
privatrechtlichen Wendung band Tertullian die Autorität der Bischöfe an die
apostolische Sukzession, d. h. an die Tradition; zugleich aber verstand er. die
„principalis auctoritas regulae" als unbedingt verpflichtende Richtschnur nach
Analogie der kaiserlichen Gesetze.
In viel stärkerem Maße noch als Tertullian zog CYPRIAN 1 3 im 3. Jahrhundert die
staatsrechtliche Terminologie des römischen Kaiserstaats und seiner Ämter-
hierarchie zur Begründung der kaiserlichen Autorität heran. Potestas und auctoritas
der Bischöfe begannen ineinander überzugehen; überdies war die bischöfliche
Autorität - und über ihr erkannte Cyprian keine andere auctoritas oder potestas
in der Kirche an - als reine Amtsautorität gedacht: sie wurde durch die Weihe
erworben und war von der persönlichen Qualität ihres Trägers grundsätzlich
unabhängig.
Der Episkopalismus des Cyprian mit seinem völlig institutionalisierten und damit
erstarrten Autoritätsbegriff konnte sich indessen auf die Dauer nicht durchsetzen.
AUGUSTIN begründete den Gedanken der Autorität in der Kirche aufs neue: um-
fassender und differenzierter als je zuvor; die kirchenpolitische Entwicklung aber
führte zum päpstlichen Primat.
Mit den Kirchenvätern des 3. Jahrhunderts verstand AuGUSTINu Autorität zunächst
und in erster Linie als Autorität Gottes. Er konnte diese Autorität Gottes geradezu
mit potestas in eins setzen; daneben aber und sehr viel stärker griff er auf den alt-
römischen Gedanken des Ratsuchens und -erteilens zurück: der Mensch in seiner
Schwachheit und Sünde sei nicht imstande, aus der Kraft seiner eigenen Vernwift
zur Wahrheit und Seligkeit zu gelangen; er sei vielmehr auf Gottes Hilfe und Rat,
d. h. eben: auf die Autorität Gottes angewiesen. Diese Autorität Gottes aber müsse
geglaubt werden - und daß sie geglaubt werden könne, beruhe auf der überzeugen-
den Kraft der Person J esu Christi. Nicht einer Institution also, sondern einer
Person, nämlich der des menschgewordenen Gottes, kam nach Augustin die volle
und ursprüngliche Kraft der Autorität zu.
25~90385/1 385
Aulorilill II. 2. 'Auloritllt' im Mittelaller
Freilich übernahm Augustin nun auch den in der Kirche längst traditionell ge-
wordenen Gedanken, daß Jesus seine ursprüngliche Autorität auf die Apostel und
die Kirche übertragen habe. Auch diese Autorität der Kirche aber war bei Augustin
stärker als bei seinen Vorgängern auf das Evangelium bezogen und zugleich schwä-
cher institutionalisiert. Zum einen verstand Augustin die Autorität ja wesentlich
als eine zum Glauben treibende Kraft - evangelio non crederem nisi ·me catholicae
ecclesiae commoveret auctoritas 16 - ; zum anderen vermied Augustin es fast durch-
weg, ein bestimmtes Organ der sichtbaren, verfaßten Kirche zum letztlich maß-
gebenden, infalliblen Träger der „auctoritas ecclesiae" zu machen-was wiederum
mit Augustins Kirchenbegriff zusammenhing, in dem sich die Vorstellung einer
hierarchisch organisierten Heilsanstalt mit der anderen einer unsichtbaren, nicht
rechtlich fixierbaren „congregatio sanctorum" in spannungsvoller u.Ild oft genug
auch widersprüchlicher Weise verband.
Rr.hliAßlich fmtwickAlte Angmitin, n11.mflntlich in Rflinfln :>.wP.inndz~anzig Büchern
„De civitate Dei", für das Verhältnis der kirchlichen Autorität zum Staat neue und
überaus folgenreiche Ideen. Obgleich nämlich die civitas terrena als eine terrenae
utilitatis societas, ja societas impiorum, an sich in scharfem Gegensatz zur civitas Dei
als der wahren Kirche stehe, so komme doch auch dem Kaiser als derzeitigem
Haupt der civitas terrena um der Sicherung der pax terrena willen eine gewisse
AuLo.ritäL zu. Überilie1:1 küuuLeu auch ilie welLlicheu Herr1:1cher Bürger der civilas Dei
sein - wenn sie suam potestatem ad dei cultum ma:i;ime dilatandum majestati eius
famulam faciunt 16 • Daß sich in dieser Aussage die geschichtliche Erfahrung des Jah-
res 381 spiegelte, in dem das Christentum zur römischen Staatsreligion erklärt
worden war, ist klar. Zugleich aber suchte Augustin die weltliche potestas in den
Dienst der Kirche zu stellen und insofern der Autorität der Kirche unterzuordnen;
damit wies er der kirchlichen Hierarchie der folgenden Jahrhunderte die Wege.
Das mittelalterliche Problem des Verhältnisses von geistlicher und weltlicher
Autorität stellte sich prinzipiell auf allen Stufen der kirchlichen wie der weltlichen
Hierarchie17 • Zur eigentlich entscheidenden Frage aber wurde schon frühzeitig die
des Verhältnisses von Kaiser und Papst. Seit Papst Leo 1. (440-461) war di~
innerkirchliche Autorität des römischen Stuhles - allerdings nur für das Abend-
land - prinzipiell gesichert: Kaiser Valentinian III. erließ 445 ein Gesetz, durch
das die staatlichen Behörden verpflichtet wurden, alle Anordnungen der „apo-
stolicae sedis auctoritas" gegenüber etwa widerspenstigen Bischöfen notfalls mit
Gewalt durchzusetzen. Schon 451 allerdings, auf dem Konzil von Chalkedon, er-
kallllte Kaiser Marcian dem Patriarchen von Konstantinopel für die Ostkirche
eine gleichartige Suprematie zu; die Grenzen der päpstlichen Autorität gegenüber
der Ostkirche und zugleich die übergeordnete Autorität des Kaisers wurden durch
diesen Rechtsakt aufs deutlichste dokumentiert.
Für das Verhältnis zu den orientalischen Kirchen vermochte das Papsttum die
1 5 AUGUSTIN, Contra epistolam Manichaei quam vocant „fundamenti", in: Qu.ellen zur
Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, hg. v. CARL MrnnT, 6. Aufl.,
hg. v. KURT ALAND, Bd. 1 (Tübingen 1967), 170. Nr. 369.
18 AUGUSTIN, De civitate Dei 5, 24; vgl. dazu LooFs, Leitfäden, 333.
17 EscHENBURG, Über Autorität, 94 ff. Zum Folgenden auch GMELIN, Auctoritas, 100 ff.
386
II. 2. 'Autorität' im Mittelalter Autorität
Entscheidung von 451 trotz aller Anstrengungen nie mehr grundlegend zu revi-
dieren; wohl aber änderte sich das Verhältnis von kaiserlicher urid päpstlicher
Autorität. Bereits gegen Ende d~s 5. Jah;rhunderts bestritt GELASIUS 18 , daß
irgendeine irdische Autorität über der auctoritas sacrata pontificum stehen könne.
Während noch Leo I. von der augusta auctoritas des christlichen Kaisers gesprochen
hatte, reservierte Gelasius den Autoritätsbegriff überhaupt für die Kirche und
schrieb.dem Kaiser nur mehr 'potestas' zu: Zwei Dinge sind es, durch die vor allem
diese Welt regiert wird: die geheiligte Autorität der Bisckö/e ( auctoritas sacrata ponti-
ficum) und die königliche Gewalt (regalis potestas)1 9 • Das war eine klare Abwertung
der weltlichen Gewalt; denn wenn Gelasius auch zugab, daß der Kaiser in zeitlichen
Dingen (temporaliter) über der Kirche stehe, so hieß das doch in Wirklichkeit:
nur in zeitlichen Dingen, und es entsprach der erhabeneren Würde der auctoritas
gegenüber uer 11uLesLas, weun Gelai;iui; - freilich Uluß gelege11Llich uml rniL grußer
Vorsicht - die Kompetenz im Konfliktsfall der Kirche und namentlich der Kirche
des Heiligen Petrus zuschrieb 20 • Rosenstock-Huessy hat den Begriff der Autorität
als „Zauberwort der päpstlichen Gewalt" bezeichnet 21 • Und wirklich: durch ihte
inhaltliche Elastizität - 'auctoritas' konnte ja ebenso als bloß moralisches An-
sehen wie als rechtlich erzwingbare Vorherrschaft verstanden werden -, durch
ihre religiöse Fundierung und darniL UnangreifbarkeiL, schließlich uurch ilue
Institutionalisierung und damit Unabhängigkeit von der persönlichen Qualität
ihres jeweiligen Trägers entsprach die auctoritas apostolica in besonderer Weise
der ebenso zielstrebigen wie elastischen Politik der Päpste.
Die Möglichkeiten und Erfolge dieser Politik blieben freilich bis zur Jahrtausend-
wende noch relativ bescheiden. Unter Kaiser Justinian (527-565) triumphierte
der Cäsaropapismus auch gegenüber Rom. Nach dem endgültigen Zusammenbruch
der byzantinischen Herrschaft in Italien aber mußten sich die Päpste angesichts der
Bedrohung durch die Langobarden dem fränkischen Schutz anvertrauen. Auch das
blieb nicht ohne Rückwirkungen auf die päpstliche Autorität: Pippins berühmte
Anfrage über die Absetzung des letzten Merowingers setzte gewiß ein nicht uner-
hebliches Ansehen des Stuhles Petri bei den fränkischen Großen voraus - die
Anfrage wäre sonst politisch sinllios gewesen -, aber der Papst hätte praktisch
gar keirien negativen Bescheid wagen dürfen. Das altrqmische Verhältnis der Autori-
tät des Ratsuchenden zu der des Raterteilenden war hier in ähnlicher Weise um-
gekehrt wie schon einmal zur Zeit des Augustus.
18 Zu Gelasius ERICH CASPAR, Geschichte des Papsttums, Bd. 2 (Tübingen 1933), 63 ff.
ist natürlich von kaiserlicher Seite auch nach Gelasius eine „auctoritas imperia.lis" bean-
sprucht worden, und diese Tradition hat sich im abendländischen Kaisertum fortgesetzt;
vgl. WILHELM ENSSLIN, Auctorita.s und Potesta.s. Zur Zweigewa.Itenlehre des Papstes Gela-
sius 1., Hiat. Jb. 74 (1955), 661 ff.; LoTTE KNABE, Die Gelasianische Zweigewaltenlehre bis
zum Investiturstreit (Berlin 1936).
21 EuGEN RosENSTOCK-HUESSY, Die europäischen Rev9lutionen und der Charakter der
387
Auiorttllt II. 2. 'Autorität' im Mittelalter
Solche Präponderanz der königlichen Autorität vor der päpstlichen galt freilich
nur für den unmittelbaren fränkischen Herrschaftsbereich, und das änderte sich
auch durch die Annahme des Kaisertitels durch Karl den Großen nicht grundsätz-
lich22. Angesichts der Vielfalt von gentes und regna, in die das Abendland seit dem
endgültigen Scheitern der Weltherrschaftsansprüche des byzantinischen Kaiser-
tums zerfiel, war ein abendländisches Kaisertum ja überhaupt'nur in der Bindung
an ein bestimmtes Reichsvolk - zunächst eben die Franken, später die Deutschen-
möglich.
Gerade diese Bindung aber erschwerte die Begründung einer die anderen regna
übergreifenden und von ihnen a.nerkannten Autorität des Kaisertums ungemein;
bezeichnenderweise ist in karolingischer Zeit - z. B. in England und Asturien -
mit der Frankenherrschaft ausdrücklich auch die anctoritas rles Kaisers abgelehnt
wol'den. El'l:IL ahi 1:1i~h im 10./11. Jahrhundert die religiöse Wertung des abendlän-
dischen Kaisertums als einer Verkörperung des endzeitlichen Römischen Reichs
durchsetzte, konnte die imperiale auctoritas zu einer der entscheidenden Grundlagen
für den universalen Charakter von Reich und Kaisertum werden. Und auch dann
blieb die kaiserliche Autorität gegenüber den einzelnen Königreichen nicht un-
bestritten; sie verblaßte vollends, seitdem der Machtvorrang von Kaiser und Reichs-
vo~ mit dem Erstarken der westeuropäischen NationalsLaaLen im 1:1päteren Mittel-
alter sein Ende fand23. Gloiohzoitig o.bor gowo.nn do.a Papsttum, und zwar immer
wieder im Bündnis mit den regna, an universaler Autorität. Die Auseinander-
setzung zwischen Papsttum und Kaisertum um die höchste Autorität in der
abendländischen Christenheit stellte eich zunächst als · Kampf um rlic Eigen-
ständigkeit der Kirche gegenüber der weltlichen Gewalt dar, wandelte sich aber
schon bald in einen offenen und grundsätzlichen Streit um Vorrang und Vorherr-
schaft. Die unmittelbaren Voraussetzungen dieser Kämpfelagen in dem ottonischen
Reichskirchensystem; ihre erste und zugleich entscheidende Phase war der In-
vestiturstreit. Die maßgeblichen Formulierungen der päpstlichen Ansprüche stam-
men von Gregor VII., lnnocenz III. und schließlich Bonifaz VIII.
Hatte schon GREGOR VII. es als Nachfolger des Petrus und unter Berufung auf die
potestas und auctoritas Petri gewagt, die Absetzung des exkommunizierten
Heinrichs IV. auszusprechen 24, so hieß es 1198 bei INNOCENZ III. in bezeichnender
Fortbildung der Grundsätze des Gelasius: Gott habe zwei große Würden geschaffen,
eine größere, die die Seelen, gleichsam die Tage, leiten und eine kleinere, die die
22 HEINZ LÖWE, Von den Grenzen des Kaisergedankens in der Karolingerzeit, Dt. Arch.
388
m. 1. Landesfürstliche Autorität Autorität
Körper, gleichsam die Nächte, leiten solle: das seien die päpstliche Autorität und
die königliche Gewalt; wie aber der Mond sein Licht von der Sonne empfange, so
empfange die königliche Gewalt den Glanz ihrer Würde von der päpstlichen25•
Die politische Konsequenz dieser Auffassungen lag vor allem in dem Anspruch
des Papstes, die Eignung des Kaisers zu einem Amt zu prüfen bzw. die Kaiserwahl
zu bestätigen, und Innocenz III. selbst hat diese Ansprüche gegenüber Otto IV.
und Friedrich II. tatsächlich in weitem Umfang durchzusetzen vermocht. Daß
der Wettstreit zwischen Kaiser und Papst um die höchste Autorität in der Christen-
heit in diesen Auseinandersetzungen weithin zu einem rein politischen Machtkampf
wurde, ist sicher; auch begrifflich erscheinen die alten Unterschiede zwischen
'auctoritas' und 'potestas' bei Innocenz III. ja bereits verwischt. In noch höherem
Maße gilt das für den Streit Papst Bonifar.' VJTT. mit dem franr.ösischen Königtum.
In der Bulle „Unam sanctam" von 1302 verwendete Bonif'az die Begriffe 'auc-
toritas' und 'potestas' überhaupt als Synonyma, um die eindeutige Überordnung
von Kirche und Papst über jede weltliche Autorität und Gewalt darzutun: Oportet
autem gladium esse sub gladio, et temporalem auctoritatem spirituali subiici potestati ...
Spiritualem autem et dignitatß et nobilitate terrenam quamlibet praecellere potestatem,
oportet tanto clarius nos /ateri, quanto spiritualia temporalia antecellunt 26 • Diese
letzte Steigerung aber bedeutete zugleich Krise und Wendepunkt. Die Gefangen-
nahme des Donifaz, die Übersiedlung des Papsttums nach Avignon und schließlich
die Jahrzehnte des .Schismas dokumentierten das Absinken des Papsttums in
politische Abhängigkeit von Frankreich und zugleich den tiefen Verfall seiner
Autorität; an die Stelle der einen päpstlichen Autorität begannen schismatische
Obödienzien zu treten. Dazu kamen die schweren institutionellen und sittlichen
Schäden der Spätmittelalterlichen Kirche; die deprimierende Vergeblichkeit des
Rufs nach Reform der Kirche gerade an ihrem Haupte ließ die Autorität nicht
bloß einzelner Päpste, sondern des Papsttums als Institution fragwürdig werden.
Vollends die Reformation bereitete der päpstlichen Autorität für weite Gebiete
Europas überhaupt ein Ende.
m.
I. Landesfilrstliche Autorität am Beginn der Neuzeit
Das Papsttum des hohen und späten Mittelalters hatte es nicht verschmäht, sich
im Kampf um die höchste Autorität und Macht in der Christenheit mit den Herr-
l i Sicut univeraitatia C<JTUJ,itor De'UIJ duo mag7UJ luminaria in firmamento celi conatituit - lu-
minare mai'UIJ, 'Ut preesaet diei, et luminare min'UIJ, ut nocti preea8et -, sie ad firmamentum
univeraalia eccleBie, que celi nomine nuncupatur, duaa magnaa inatituit dignitate&: maiorem,
que quasi dielma animab'UIJ pree&aet, et minorem, que quaai noctilma preesset corporibus: que
sunt ponti'{kalia auctoritaB et regalis pote&taa: INNOZENZ III., Brief an den Prior des tus-
zischen Bundes Acerbo Falseronis u. a. vom 30. 10. 1198, in: Die Register Innozenz' III.
1. Pontifika.tsjahr, 1198/99. Texte, Bd. 1, hg. v. OTHMAR liA.GENEDER u. ,A},"ToN HAIDA-
cmm. (Gra.z, Köln 1964), 600. Nr. 401; vgl. FRIEDRICH KE111PF, Papst.turn und Kaisertum
bei Innocenz ill. Die geistigen und ·rechtlichen Grundlagen seiner Thronstreitpolitik
(Rom 1954), 284 ff.
H MmBT/ALilm, Quellen, Bd. 1, 459. Nr. 746.
389
Autorität m. 2. Eliminierung des Autorität1begriff1
Daß die Reformation für den Aufstieg und für die innere Konsolidierung dieses
deutschen Territorialstaat!! einen wesentlichen Beitrag geleistet hat,· ist sicher.
Inde:in der christlichen Obrigkeit als Notbischof, als praecipuum membrum ec-
ciesiae oder gar schließlich als summus episcopus die Aufgabe und das Recht der
Fürsorge für die Verkündigung des reinen Wortes Gottes zufielen, gewann sie
selbst - bei fortdauernd altständisch-patriarchalischen Wesenszügen - eine Art
religiösen Ansehens. Dabei spielte indessen der Begriff der Autorität kaum eine
Rolle. LUTHER 28 sprach stattdessen von 'uberkeyt' - ein Begriff, der nicht nur
volkstümlicher und konkreter war als das fremde Zauberwort 'Autorität', sondern
der vor allem neben dem Bedeutungsgehalt von 'Autorität' auch den von 'potestas'
deckte. Ansehen und Macht aber der Obrigkeit - vom Familienvater bis zum
Landesfürsten oder Kaiser - hatten für Luther ihren Grund und ihre Einheit allein
in Gottes Willen und Befehl. Nicht um Antorität, um Rat und Anerkennung ging
es in Luthers Verständnis der Obrigkeit, sondern um Gottes Gebot und den Ge-
horsam des Menschen: Ein jeder sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn luzt 29 •
2 7 Zur Stärkung der innerkirchlichen Autorität des Papsttums vgl. HANs ERICH FEINE,
Kirchliche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 3. Auß. (Weiinar 1955), 454 f. 487 ff. über das Schei-
tern der Versuche des 16./17. Jahrhunderts, auch die päpstliche „potestas in temporalibus"
gegenüber den weltlichen Staaten zu erneuern.
28 GERTA SCHARFFENORTH, Römer 13 in der Geschichte des politischen Denkens. Ein Bei-
trag zur Klärung der politischen Traditionen in Deutschland seit dem 15. Jahrhundert
(phil. Dias. Heidelberg 1964); EsCHEN:BURG, Über Autorität, 103 ff.
90 Röm. 13, 1. Soweit Luther den Autoritätsbegriff überhaupt aufnahm - namentlich im
Rekurs auf wissenschaftliche Autoritäten - , hielt er ihn durchweg von jeglicher Institu-
390
III. 3. Rezeption im 16. und 17. Jahrhundert Antoritilt
tionalisienmg frei. Daß er auch in seinem Kampf um den Vorrang der Heiligen Schrift vor
der sonstigen kirchlichen Überlieferung nicht auf den Autoritätsbegriff zurückgriff, sei
am Rande vermerkt.
3o GERHARD ÜESTREICH, Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates,
Rist. Zs. 181 (1956), 31 :ff. sowie in: ders„ Geist und Gestalt des frühmodernen Staates,
Ausg. Aufs. (Berlin 1969), 35 :ff.
31 JOHANNES ALTHUsrci's, Politica (1603; 3. Aufl. 1614, Ndr. Aalen 1961), 505 :ff.
391
Autorität m. 4. 'Souveräuität' etatt 'Autorität'
solutus est" 36 • Ganz entsprechend erörtert Keckermann das Erfordernis von Rat
und Zustimmung der consiliarii, der SLäwle mler anderer intermediärer Gewalten
für den Herrscher: Gewiß fehle es dem Fürsten, der für seine Entscheidungen einer
solchen Approbation bedürfe, für sich allein - d. h. ohne jenen zustimmenden
Rat - an der vollen Autorität. Das bedeute umgekehrt aber keineswegs, daß die
Autorität des absolutistischen Herrschers in ihrer Freiheit vom Gesetz und von
Rat und Zustimmung irgendwelcher Stände und Räte die eigentlich wünschens-
werte Ausprägung staatlicher Autorität darstelle. Im Gegenteil: gerade jene Bin-
dungen seien ein wirksamer Schutz vor der Entartung der Herrschaft zur Tyrannis,
die allemal das Ende wahrer Autorität bedeute 37 •
Solche kritische Zurückhaltung gegenüber absolutistischem Staatsdenken war
freilich je länger desto weniger zeitgemäß. Zumindest in Westeuropa waren die
Theoretiker des Absolutismus schon zu ganz anderen Ergebnissen gelangt.
36 Ebd., 82 f.
a7 Ebd., 248. 567 ff.
38 HOBBES, Leviathan 1, 26. Da.bei darf freilich nicht übersehen werden, daß diesem Au-
toritätsbegriff von Hobbes durch eine ältere Begriffstradition vorgearbeitet worden ist, in
der 'Autorität' einfach „Behörde" oder „behördliche Gewalt" bedeutete. In dieser Tradi-
tion, die in Westeuropa bis ins hohe Mittelalter zurückzureichen scheint, konnte folgerich-
tig auch von unrechter, illegitimer Autorität die Rede sein, namentlich von der „auctoritas
propria" des Tyrannen; vgl. z. B. CoLuccxo SALUT.A.TI, Tractatus de tyranno, hg. v. Fran-
cesco Ercole (Berlin, Leipzig 1914). In Deutschland hat diese Begriffstradition anscheinend
kaum Eingang gefunden; die Gründe für diese unterschiedliche Entwicklung bedürften
einer eigenen Untersuchung.
392
III. S. 'Autorität' in der deutschen Aufklärung Autorität
gerade in Deutschland hat Hobbes zunächst nur als .Ärgernis gewirkt: seine völlige
Säkularisierung der Staatslehre, dazu der „Naturalismus" und „Materialismus"
seines Denkens paßten allzu schlecht zur Theorie und Praxis des „Teutschen
Fürstenstaates", wie ihn Seckendorff noch gegen Ende des 17. Jahrhunderts
beschrieb, als daß sie ohne weiteres hätten rezipiert werden können. Selbst SAMUEL
VON PUFENDORF (1632-1694), der als t:influßreichster deutscher Staatsdenker der
frühen Neuzeit in vielem auf Hobbes zurückgriff, dachte im Grunde doch sehr viel
konservativer als der Engländer 39•
Umso wichtiger war nun freilich, daß die Identifizierung von Autorität und
Souveränität bei Hobbes offenbar einem weitverbreiteten Bedürfnis der Zeit
entsprach; sie findet sich, wenngleich gewöhnlich weniger scharf durchdacht als
bei ihm, seit der Mitte des 17. Jahrhunderts auch auf dem Kontinent in zahlreichen
Abwandlungen40 • Und die Entwicklung blieb selbst dabei nicht stehen: der Begriff
der Souveränität, im Grunde schon seit Bodin deutlich in seinem dezisionistischen
- d. h.: juristisch praktikablen - Charakter fixiert, gewann zusehends an Würde,
ja Pathos; in gleichem Maße aber wurde der Autoritätsbegriff entbehrlich. Im
Staatsdenken des 18. Jahrhunderts spielte er kaum mehr eine Rolle 41 • Dabei darf
allerdings nicht übersehen werden, daß die von der Doktrin postulierte Einheit der
souveränen 8taatsgewa.lt in der politischen Praxis doch rnunnigfä.ch durchl.Jruchtiu
war und blieb: der absolutistfache Sta.at vermochte ja oie öff'Fmtlichfl ftp,walt nifl
völlig zu monopolisieren. Das ha.t mich hAgrifl'Rgm'mhichtlich Rflinen Nieclerachlag
gefunden: Als 'souverän' galten im absolutistischen Staat zwar überall der Herr-
scher, nicht etwa auch die Stände, Parlamente oder sonstigen regional-eigenständi-
gen Institutionen; wohl aber kam auch diesen verfassungspolitisch retardierenden
Kräften nach Meinung der Zeit 'Autorität' zu. Die Grenzen solcher Autorität
waren freilich immer wieder umkämpft; ein sehr bezeichnendes Beispiel dafür ist
die Randbemerkung FRIEDRICH WILHELMS I. zu einer Eingabe seiner Stände
(1716): Ich komme zu meinen zweg und stabiliere die suverenitet und setze die krohne
/est wie ein Rocher von Bronse und laße die herren J uncker den windt von Landtdahgef.2.
and the Acceptance of Natural Law (Chicago, London 1965), 103 ff.
40 Anschauliche Belege dafür im Quellenanhang zu HERMANN KAUFMANN, Die Reunions-
(1710) und auch bei HERMANN (1729); vgl. jedoch Anm. 42.
42 Acta Borussica, Behördenorganisation, Bd. 2 (Berlin 1898), 352. Nr. 175.
393
A'!ltoritit W. 5. 'Autorit&t' in der deutaehen Aufklirung
394
m. 5. 'Autorität' in der deutsehen Aufklärung Autorität
gebende Autorität eines Staats, dem man natürlicherweise die größte Weisheit beilegen
mufJ, verkleinerlich zu sein, iiher die Grundsätze seines Verhaltens gegen andere
Staaten bei Untertanen (den Philosophen) BelehrUng zu suchen; gleichwohl aber sehr
ratsam, es zu tun. Also wird der Staat die letzteren stillschweigend (also indem er ein
Geheimnis daraus macht) dazu auffordern, welches soviel heißt als: er wird sie frei und
öffentlich über die allgemeinen Maximen der Kriegsführung und Friedensstiftung
reden lassen 48 • Die„Deutsche Encyclopädie"aber meinte das Problem dadurch aus
der Welt zu schaffen, daß sie von der Autorität der Obrigkeit - auc.h ohne jenen
Rekurs auf die Philosophie - eine ostensible Vernünftigkeit in deren Ausübung
verlangte und erwartete49 • Zwar sei der Obrigkeit die Berechtigung auch zur
Anwendung der gesetzlichen Zwangsmittel nicht geradezu abzusprechen. Jedoch
bewirke solcher Zwang nur durch Furcht Gehorsam; was aber die Untertanen eines
Staats durch Zwang und Furoht tun, das wird entweder nur ha.lb oder doch .~chief
getan, und der Endzweck der Regierung - nämlich den Menschen den Weg zu zeigen,
wie sie in der Gesellschaft ihr größtes Glück finden und genießen könnten - kann
nicht in seiner Vollkommenheit erreicht werden. Die Einsicht in die Vernünftigkeit
der obrigkeitlichen Regierung dagegen erzeuge Liebe und Vertrauen: Es ist daher
die größte Weisheit der Obrigkeit diese, daß sie, um die wirksamste Autorität zu
erhalten, sich bei dem Volke immer mehr Liebe und Vertrauen erwerbe und alle ihre
Anordnungen und Einrichtungen zu wahren Wohltaten für die Untergebenen mache.
Entsprechendes sollte auch von der Autorität der Schullehrer wie der Prediger
gelten: Alle Zwangsautorität, d. h. bloße Amts- oder „bürgerliche" Autorität
erschien hier als de:fiziente Form der Autorität; die wahre Autorität dagegen wmde
als eine zugleich moralische und vernünftige, auf Vorbild, Liebe und uneigen-
nütziger Fürsorge einerseits, auf der einsehbaren Vernünftigkeit ih1·er Gebote
anderseits beruhende Macht verstanden.
Daß mit alledem die Autorität in ihrem Kern entinstitutionalisiert wurde, ist
deutlich. Die Kehrseite der Medaille aber war natürlich, da.ß die alten Autoritäten -
Obrigkeit, Kirche, Schule - als Institutionen „entautorisiert" wurden, und das
war um so erfolgreicher, als gerade jetzt die Vorstellungen darüber, worin eine
gute - und das hieß: autoritätsbegründende ! - Regierung bestehen müsse,
immer mehr auseinandergingen. So sah wiederum schon die „Deutsche Ency-
clopädie" von 1779 eine wirkliche Autorität nur durch die physiokratische
Regierungsverfassung gewährleistet, bei welcher allein das Volk sehe, daß die
Obrigkeit in allen ihren Anstalten nur sein bestes bewirket 60 • Aber diese Reduzierung
der Autorität auf einen physiokratischen Sonderbegriff war offenbar eine ziemlich
schwache Konstruktion; denn es war eben doch keineswegs ausgemacht, daß das
physiokratische Prinzip, den· einzelnen seine Fähigkeiten und sein Eigentum nach
seinem Wohlgefallen zu seinem größtmöglichen Vorteil anwenden zu lassen, wirklich
zum Glück des Volkes ausschlagen und unter freudiger Empfindung über dieses
Glück den pünktlichsten Gehorsam zur Folge haben werde. Und überdies: war das
Prinzip der Autorität gerade im Zusammenhang der aufklärerischen Konzeption
einer prinzipiell autonomen Vernunft nicht im Grunde überhaupt überflüssig, ein
nur mehr traditioneller Begriffsballast~
395
Autorität m. 7. 'Autorität' ala koJUel'vativer Sonderhegriff
Der theoretischen Aushöhlung der Autorität durch die Aufklärung folgte mit der
Französischen Revolution eine praktische exauctoritatio von weltgeschichtlichem
Ausmaß. Es hing mit der Gewalt dieser Ereignisse, aber doch wohl auch mit dem
wenig eindeutigen und schillernden Autoritätsbegriff der Aufklärung zusammen,
daß die Revolution nun als Angriff auf die Autorität schlechthin empfunden wurde.
Nicht mehr nur die Autorität des einen oder anderen Herrschers, der einen oder
anderen Herrschaftsform, sondern das Prinzip der Autorität selbst geriet seit der
Französischen Revolution in den Streit der Ideologien.
61 CAMPE, Fremdwb., Bd. 1 (1801), 179; übereinstimmend die 2. Aufl. (1813), 138 . .Ähnlich
PIERER Bd. 2 (1824), 337 und noch HEYSE 13. Aufl., Bd. l (1865), 85.
5 2 Staats-Acten für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes, hg. v. PHIL.
ANTON Gumo v. MEYER, 2. Aufl. (Frankfurt 1833), 235 f. Vgl. da.zu den Einspruch der
Prager Zensur gegen eine Berufung auf die literarische Autorität Goethes und Schillers -
diese seien A ufQren wohl, aber nicht auch A ufQrifäten - bei TIM KLEIN', 1858. Der Vorkampf
deutscher Einheit und Freiheit (Ebenhausen, München, Leipzig 1914), 87.
396
a) Negierung des A.utorität1problem• Autorität
a) Negiemng des Autoritätsproblems bei den Frühliberalen. Es ist auf den ersten
Blick sehr merkwürdig, daß die liberalen Staatsdenker und Publizisten des frühen
19. Jahrhunderts gegenüber dieser konservativen Auffassung der Autorität als
uneingeschränkter und gerade deshalb staatsbegründender Autorität des aus
Gottes Gnaden regierenden Herrschers keinen eigenen Autoritätsbegriff entwickelt
haben. An sich hätte wohl schon Immanuel Kants Idee der Autorität des Gesetzes 56
zum Kern- und Ausgangspunkt einer eigenen liberalen Konzeption der Autorität
werden können. Das ist indessen faktisch bis zur Jahrhundertmitte und darüber
hinaus nicht geschehen; vielmehr haben die Liberalen aller Schattierungen Jahr-
zehnte hindurch das Autoritätsproblem überhaupt totzuschweigen gesucht. Be-
zeichnenderweise enthalten die beiden ersten Auflagen des RoTTECK/WELCKERschen
„Staatslexikons" (1834 bzw. 1845) nicht einmal das Stichwort „Autorität", und
wenn einer der Liberalen überhaupt einmal von Autorität sprach, dann in aus-
schließlich pejorativen Wendungen, wie z.B. WELCKER in seiner Schrift über die
Pressefreiheit: Und gäbe es etwa heute keine großen, unheifr~llen Vorurteile und Miß-
bräuche und keine Verletzungen der heilsamen Angriffe gegen sie, keinen blinden
Autoritätskram mehr? 57 • Unter den Gründen für diese Abstinenz .des älteren
53 FRIEDR. JULIUS STAHL, Die Philosophie des Rechts, 2. Aufl., Bd. 2 (Heidelberg 1847),
219f.
64 Ebd., 224.
u Ebd., 273.
58 S. Anm. 46.
57 CARL WELCKER, Die vollkommene und ganze Pr~ßfreiheit (Freiburg 1830), 19.
397
Autorität III. 8. 'Autorität' bei den Liberalen bis 1843
398
m. 9. Autorität und Freiheit bei den Konservativen Autorität
mit der Verneinung alles Posit·iven, aller Autoritäten und Schranken auch die Grund-
lagen wahrer Freiheit, ja bereits sich untereinander und zuletzt sich selbst verneinen ...
Wir Liberalen glauben und wollen ehrlich, daß die moralische Macht und Autorität
des Königtums, das also, was sein edelstes Wesen, sein heilsamstes Wirken und seine
wichtigste Stütze ist, nicht bloß erhalten, sondern gekräftigt und vermehrt werden müsse,
während die verhetzten konservativen Maßregeln und Ratscldäge sie schwächen und
mindern60 •
399
Autorität m. 10. Kouservafrve Autoritätsideologie
losigkeit führen müßten 63 • Ganz besonders übel aber sei der Versuch, die Rechts-
brüche einer maß- und schrankenlosen Königsgewalt durch die scheinchristliche
Lehre von der alleinigen Rechenschaft der Könige vor Gott rechtfertigen zu wollen:
das Gottesgnadentum des Herrschers als Amtstitel, der uns lehrt, daß der König
nur von Gottes Gnaden, nur als Gottesknecht König ist, schließe vielmehr die Aner-
kennung der Rechte der Untertanen ein, ja: es sei geradezu die Quelle der Freiheit:
Unser, der Untertanen Recht, ist heilig wie sein - des Königs - Recht, und sein
Recht ist durch das unserige beschränkt6'. Das alles hieß gewiß nicht, daß Gerlach
und die Konservativen um ihn ein schwaches Königtum gewünscht hätten: gerade
in der schweren Krise von 1848 hat Gerlach unmißverständlich erklärt, daß ein
König, der nicht wirklich regiere, das überflüssigste Ding von der Welt sei, und
bezeichnenderweise hat er auch stets daran festgehalten, daß die preußische
.Armee, um preußisch und um Armee zu bleiben, das Brot des Königs von Preußen
essen müsse und nicht das Brot der Zweiten Kammer 811 • Gleichwohl bedeutete
Gerlachs Verständnis der Autorität als Autorität eines durch Recht und Freiheit
seiner Untertanen beschränkten Königs einen sehr bedeutsamen Versuch, von durch-
aus konservativen Grundlagen her der politischen Wirklichkeit des Konstitutiona-
lismus gerecht zu werden.
Stimmten also Konservative und Liberale seit etwa der Mitte des Jahrhunderts im
wesentlichen darin überein, daß politische Freiheit und Autorität einander be-
dingten, nicht ausschlössen, so blieb doch die Frage, wie das Verhältnis dieser
beiden Prinzipien in der praktischen Politik aussehen sollte, ziemlich kontrovers.
Es war namentlich die Forderung des allgemeinen Wahlrechts und der parlamenta-
rischen Mehrheitsentscheidungen, die als „revolutionäres Kopfzahlprinzip" und
als „demokratische Majoritätsdespotie" immer von neuem den leidenschaftlichen
Widerspruch der Konservativen erregte. Und wiederum suchte man die konservative
Position mit Hilfe des Autoritätsbegriffs zu behaupten: Autorität, nicht Majorität-
das wurde nun nach einer Formulierung FRIEDRICH JuLIUs STAHLS zum polemi-
schen Schlagwort der Konservativen 88 •
Indessen trat gerade jetzt doch immer deutlicher hervor, daß es den Konservativen
im Kampf gegen das Majoritätsprinzip nicht nur und wohl nicht einmal mehr in
erster Linie um die Autorität des Königtums ging, sondern um die Bewahrung der
bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Eine der berühmten Invektiven Stahls
gegen den Liberalismus - es handelt sich um eine Erfurter Rede vom 12. 4. 1849 -
läßt diese Verquickung der Interessen deutlich erkennen: Wer hat die Bürgerwehr
als Garantie der Freiheit gegen den König gefordert ... , wer die absolute Trennung
von Staat, Kirche und Schule? Wer hat alle natürlichen Gliederungen und ihre ge-
gebenen Autoritäten aufzulösen gesucht, um nur das System der Wahl und der Zahl,
das System der Mehrheiten an deren Stelle zu setzen? ... Die Revolution ist nicht der
88 Ebd., 53 f.
H Ebd„ 37.
85 Ebd., 38.
88 STAHL, Philosophie des Rechts, 3. Aufl„ Bd. 3 (1854), 176.
400
m. 11. Liberale Kritik Autorität
Akt der Empörung, sondern der Zustand der Umwälzung; sie ist der Zuatand, daß
dasjenige, was nach ewiger Ordnung zuunterst stehen müßte, zuoberst zu stehen
kommt und umgekehrt ... Das ist das System der Umwälzung, daß nicht die Gliederung
der Gesellschaft als Grundrecht der Nation gilt, sondern ihre Entgliederung
bis hin zum absurdesten und gemeinsten Systeme des Sozialismus 67 •
Die Stahlsehe Konzeption war zu einflußreich, als daß man es von liberaler Seite
hätte unterlassen dürfen, die Fragwürdigkeit dieser Autoritätsvorstellung klarzu-
legen. Eine der glänzendsten Analysen dieser Art lieferte AUGUST LUDWIG VON
RocHAu in der 3. Auflage des Rotteck/Welckerschen „Staatslexikons" (1858)68.
Rochaus Hinweis auf die gesellschaftliche Motivation der konservativen Polemik
gegen das Majoritätsprinzip - namentlich i~ Preußen, wo die Regierung, da.<1
Junkertum und die Orthodoxie darüber einig sind, daß die Autorität das ·Heilmittel
enthält, ohne welches die kranke Zeit nimmer genesen wird - ; die Kritik
am Widerspruch einer mit hohen moralischen und religiösen Ansprüchen
verbrämten Autoritätstheorie zur Praxis eines wenig bedenklichen Polizeizwangs
im Dienste handfester wirtschaftlicher und Machtinteressen der Konservativen;
die Sprengung der herkömmlichen Bindung der Autorität an Person und
Institution des Fürsten - kann nicht vielmehr die Majorität selbst zur
Autorität werden ... ? ; die kritische Frage schließlich nach dem von den Kon-
servativen kaum bedachten Verhältnis der staatlichen Autorität zur Autorität
der Kirche : alles dies waren Beobachtungen und Einsichten, die an sich wohl
geeignet sein mochten, die Stahlsehe Autoritätsideologie zu zersetzen. Daß Roohau
gleichwohl nur wenig Resonanz gefunden hat, dürfte vor allem darin begründet
liegen, daß auch er-nicht anders als die Liberalen des Vormärz-keinen eigenen,
positiven Autoritätsbegriff zu entwickeln vermochte. Allenfalls konnte ja seine
Idee einer Autorität der Majorität als Ansatz zu einer solchen neuen und eigenen
Konzeption verstanden werden; indessen schienen hier demokratische Tendenzen
unvermeidlich, die zu ziehen das liberale Bürgertum schon längst nicht mehr
bereit war. Für dieses Bürgertum in stärkerem Maße repräsentativ als Rochau
war vielmehr der von AUGUST WILHELM HEFFTER verfaßte Artikel 'Autorität' in
Bluntschlis „Deutschem Staatswörterbuch" (1857). Hier wurde zwar einerseits
betont, daß es auch in einer Republik eine höchste Autorität geben könne und
müsse, die eben in dem all,gemeinen Willen zu finden sei; praktisch aber werde diese
Autorität doch durch künstliche Majoritäten von willkürlichen oder zufälligen
Massen repräsentiert, so daß die Frage, ob Autorität oder Majorität letzten Endes
mit dem Streit zwischen Fürstentum und Republik doch identisch sei. Nach diesem
Zugeständnis an die Stahlsehe Autoritätsideologie unternahm es He:ffter jedoch -
übrigens mit ausdrücklicher Zustimmung Bluntschlis -, den prinzipiellen Gegen-
satz von Autorität und Majorität zu einem fruchtbaren und spannungsvollen
Miteinander im Sinne des Konstitutionalismus umzuformen. Es sei nämlich die
Frage, meinte He:ffter, ob nicht die fürstliche Gewalt und Autorität solche Einrich-
87 Ders., Siebzehn parlamentarische Reden und drei Vorträge (Berlin 1862), 161 f.
88 RocHAu, Art. Autorität, RoTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 2 (1858), 90 ff.
26-90385/1 401
Autorit.11.t m. 13, Der Kulturkampf
tungen zu treUen oder zuzulassen habe, welche, ihrer natürlichen und siUlichen Basis
entsprechend, ihren Anordnungen eine freie und willige Anerkennung verschaffen ...
Bei Einrichtungen der vorbemerkten Art wird dann von selbst dem natürlichen Gewicht
der Majoritäten, welche sich von ausgewählten Organen der Landesgemeinde gewinnen
lassen, als einer Autorität Rechnung zu tragen sein ... ; ihre Zustimmung wird die
Überzeugung der obrigkeitlichen Autorität befestigen und klären, ihr Widerspruch
mindestens Zweifel erzeugen an der Richtigkeit beabsichtigter Anordnungen und
fernere Beschlußnahmen motivieren, indem vorläufig dahingestellt bleibt, ob nicht die
Minorität mit der Obrigkeit die sanior pars sei. In dieser Weise ergibt sich ein natur-
gemäßes Verhältnis zwischen Autorität und Majorität 69 •
Die Gültigkeit jener konservativen Konzeption wurde freilich schon durch den
Kulturkampf in Frage gestellt: die von Rochau gerügte Unklarheit des Verhält-
nisses von staatlichel' und kirchlicher Autorität wurde hier zum scharfen Gegen-
satz. An sich stand das katholische Verständnis der Autorität, wie es etwa KETTELER
noch in den sechziger Jahren des Jahrhunderts formuliert hatte, dem preußisch-
konservativen Denken - namentlich dem Autoritätsbegriff Gerlachs - sehr nahe:
Autorität und Freiheit wurden hier als gesunde, einander bedingende und er-
19 HEFlrTER, Art. Autorität; BLUNTSCHLI/BRA.TER Bd. 1 (1857), 613 ff. Vgl. auch JoH.
CA.Sl'AB BLUNTSOHLI, Deutsche Staatslehre für Gebildete (Nördlingen 1874), 88. 153. 167 ff.
10 Daß sich im Deutschland des späteren 19. Jahrhunderts die Kantsche Idee der Autorität
des Gesetzes in größerem Umfange durchgesetzt ha.be, wie EscHENBURG, Über Autorität,
133 ff. annimmt, läßt sich dagegen aus den Quellen kau:m belegen.
11 BISMARCK, FA Bd. 13 (1930), 470.
402
III. 14. Die •ozia1Uti1ehe Konzeption: F.ngr.IA Autoritllt
Dazu kam, daß - gerade in den ersten Jahren des Bismarckreichs - von sozia-
listischer Seite ein neuer und ganz eigenständiger Autoritätsbegriff entwickelt
wurde. Die Interessensolidarität zwischen Adel und Besitzbürgertum, di.e zur all-
mählichen Angleichung ihrer Autoritätsvorstellungen geführt hatte, war ja von
Anfang an eine Solidarität auf Kosten des vierten Standes gewesen. Kein Wunder
über die großen Probleme der-Oegenwart, 2. Aufl. (Mainz 1862), 31 ff. über die zwei Grund-
richtungen im Staate,· so etwa 32 f. 251: Wir wollen deshalb nunmehr beüie Richtungen im
Staate '!WCh ihrem innern Rechte betrachten und zugleich ihre Ausartung ins Auge faMen,
wenn &ich ihrer der Egoiamus bemächtigt. Wir werden dadurch den wahren Sinn für die Worte:
Freiheit und Revolution auf der einen Seite, wahre Autorität und Absolutiamus auf der andern
Seite finden ..• Autorität ohne Freiheit zerstört dadurch die Menschenw-ürde, daß aie die Jn.
divi,dualität vernichtet; Freiheit ohne Autorität zeraüirt die Menschenwürde, indem- aie des
Menschen Zusammenhang mit GoU und den Mitmenschen zerreißt, woraus allein aie ihre
Nahrung und Bedeutung achöpft. Vgl. auch ebd., 172 ff.
73 So am 30.Juni 1871 an Gra.fTauffkircheninRom; BISJIURCK, FABd. 6c (1935), 9. Nr. 9.
71 Pros IX., Enzyklika. „Quod nunquam" (5. 2. 1875), zit. MmBT, Quellen (s. Anm. 15),
4. Aufl. (Tübingen 1924), 471 ff. Nr. 613,' deutscher Text bei KARL BAOHEM, Vorgeschichte,
Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, Bd. 3 (Köln 1927), 300.
403
Autorität m. 14. Die so:r.ialiatUche 1'oozeptiona Engr.li.
also, daß dieser vierte Stand die herrschenden Autoritätsvorstellungen - seien
sie nun mehr konservativ, liberal oder gar kirchlich gefärbt - nicht als die seinen
akzeptieren konnte.
Den unmittelbaren Anstoß zur Diskussion des Autoritätsproblems bei den Sozia-
listen gab BAKUNINS Polemik gegen den beherrschenden Einfluß von Marx und
Engels in der Ersten Internationale. Nach Bakunins Vorstellungen sollte es nach
der Abschaffung des Staats in der zukünftigen, d. h. kommunistischen Gesellschaft
gar keiner Autorität mehr bedürfen, und da weiter die Internationale selbst bei
der sozialen Liquidation unmittelbar an die Stelle der alten Staatsorganisation
treten sollte, mußte sie schon jetzt dem Ideal der zukünftigen Gesellschaft mög-
lichst nahe kommen, d. h.: auf den Einsatz von Autorität verzichten. Die politische
Organisation und Praxis der Internationale erschien Bakunin von diesen Voraus-
setzungen her als völlig verfehlt; er kritisierte sie als diktatorisch, als hierarchisch
und - unter Aufnahme einer im Frankreich Napoleons III. geprägten Nuance
des Autoritätsbegriffs - als 'autoritär'75 • ·
Gegen diese Auffassung nun nahm FRIEDRICH ENGELS seit Anfang 1872 mehrfach
in scharfer Form Stellung und bestimmte damit für Jahrzehnte das Autoritäts-
verständnis des deutschen Sozialismus 76. Die Grundlage der Argumentation
Engels' war die nüchterne Einsicht, daß Autorität, definiert als Überordnung eines
fremden Willens über den eigenen, unter den modernen Produktionsbedingungen
völlig unentbehrlich sei: Die Wirtschaft verlange - sogar in steigendem Maße -
1& LrrTR:E t. 1 (1956), 742 bezeichnet das Wort 'autoritaire' als Neologismus und nennt als
friihest.en Beleg dn.s „Journal de11 debata" vom 15. Oktobor 1865, wo do.a Wort übrigt:m!
ganz wertneutral gebraucht ist. Die Eindeutschung erfolgte dann anscheinend durch En-
gels; weder bei ihm rioch bei den anderen deutschen Autoren bis in die Zeit des Ersten
Weltkriegs hatte das neue Wort einen gegenüber den alten Begriffen 'Autorität', 'auto-
ritativ' usw. klar abgrenzbaren - und schon gar nicht abwertenden - Sinngehalt. MAT-
TBIAS ERZBERGER erwartete noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs, daß die künftige
Trennungslinie im politischen Leben zwischen den Anhängern liberaler und autoritärer
Prinzipien verlaufen werde, wobei die A:utmitätaparteien durch die Respektierung von
Naturrecht und göttlichem Recht gekennzeichnet sein würden; zit. Kr.Aus EPSTEIN, Mat-
thias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie (dt. Berlin, Frankfurt 1962),
111 ff. Weitere instruktive Beispiele bei KURT WoLZENDORFll', Der Polizeigedanke des
modernen Staats (Breslau Hll8}, 120 ff.
7 e Der autoritäre Zug in der Leitung der Arbeiterbewegung selbst vermochte sich dagegen
nicht durchweg zu behaupten, wie etwa der Vergleich zwischen der Ersten und der sog.
„Neuen" Internationalen zeigt; vgl. ROBERT M:rcHELS, Zur Soziologie des Parteiwesens in
der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Grup-
penlebens, 2.Ndr. d. 2. Aufl., hg. v. Werner Conze (1925; Stuttgart 1970), 170f.,anderer-
seits aber ebd., 2' 3. 215. - Daß in Lassalles „Allgemeinem Deutschen Arbeiterverein''
ganz ähnliche Probleme angelegt waren, zeigt Michels ebd., 167 f: Wenn Lassalle theore-
tisch in Anspruch nahm: Die •.• Gegensiitze, die unsere StfJatamänner bisher für unvereinbar
betrachteten, deren Vereinigung sie für den Stein der Weisen hielten, Freiheit und Autmität-,
die höchaten Gegensiitze, Bie aind auf d.aB innigBte vereinigt in unserem Vereine, welcher Bo nur
d.aB Vorbi"ld im kleinen unserer niichaten GeaeUachaftaform im großen darateUt/ (zit. ebd., 168),
so war die Praxis seiner Leitung des Arbeitervereins doch kaum weniger autoritär als die des
Generalrats der Ersten Internationalen durch :Marx.
404
IV. Schluß Auto~hit
die· kombinierte TatigkeiJ, von Individuen Wer aber kombinierte Tatigkeit sagt,
sagt Organisation; ist nun Organisation ohne Autorität möglich? 11 Das gelte auch
für die Internationale, die ohne Autorität, freilich als Autorität der Majorität über
die Minorität, gar nicht existieren könne. Es sei daher absurd, vom Prinzip der
Autorität als einem absolut schlechten und vom Prinzip der Autonomie als einem
absolut guten Prinzip zu reden; in Wahrheit seien Autorität und Autonomie
relative Dinge, deren Anwendungsbereiche in den verschiedenen Phasen der sozialen
Entwicklung variieren 18• Diese grundsätzlich positive Wertung der Autorität schloß
für Engels allerdings nicht etwa auch die Anerkennung des Staats, der politischen
Autorität ein; diese politische Autorität müsse und werde vielmehr im Gefolge
der nächsten sozialen Revolution verschwinden. Wiederum aber sei es eine Illusion
der Bakunisten, die soziale Revolution mit der Abschaffung der Autorität beginnen,
d. h. den autoritären politischen Staat abschaffen zu wollen, bevor noch die
sozialen Bedingungen seiner Existenz vernichtet seien. Hätte etwa, fragte Rngels
rhetorisch, die Pariser Kommune auch nur einen einzigen Tag Bestand gehabt,
wenn sie sich gegenüber den Bourgeois nicht der Autorität des bewaffneten Volkes
bedient hätte F 9 Ich kenne nichts Autoritäreres als eine Revolution, und wenn man
den andern seinen Willen mit. Bomben und Gewehrkugeln aufzwi,ngt wie in jeder
Revolution, so schei,nt mir, daß hier allerdings Autorität ist! Nach dem Siege mag man
mit der Autorität machen, wozu man Lust hat80• Wenn Engels derart in der Revolu-
tion die Inkarnation der Autorität sah und diese revolutionäre Autorität zugleich
mit Entschiedenheit auf pure Gewalt reduzierte, so entfernte er sich damit offenbar
weit. von der traditionellen Begrifflichkeit von 'Autorität'. Aber auch die kon-
servative Autoritätsideologie hatte doch schon längst den Mangel an freiwilliger
Anerkennung der Autorität durch Zwang und Gewalt ersetzen wollon. So bedeutet
Engels' Position nichts anderes als die Vollendung der Ideologisierung des Autori-
tätsbegriffs unter den Bedingungen der Theorie des Klassenkampfs.
IV. Schluß
405
Autoritit IV. Schluß
Literatur
HOBST RABE
406
Bauer
Bauernstand, Bauerntum
I. Einleitung. 11.1. Der Begriff bis zum Beginn der modernen Wandlung im 17./18. Jahr-
hundert: die Vorstellung vom adlig-bäuerlichen Land.leben. 2. Christliche Tradition.
3. „Göttliches Recht" und Bauernkrieg. 4. Untertänige Stellung des Bauern bis zum 18.
Jahrhundert. III. 1. Kameralismus und aufgeklärter Absolutismus. 2. Aufklärung und
Emanzipation. 3. Der Rückgriff in die Geschichte: Möser. 4. Der revolutionäre Bauern-
begriff. 5. Das Verhältnis des Bauern zu Staat und Nation bei Stein und Arndt. 6. Die
rationelle Landwirtschaft Thaers. 7. Die Restauration beiAdam Müller. 8. Der Begriff 'Bauer'
im Spannungsfeld von Progression und Beharrung: Hegel, List. 9. Liberaler Historismus:
Welcker. 10. Der Begriff im Sozialismus: Marx und Engels. 11. Neue Bestimmung des
Bcgriffo ('Stand' im lndwitriesystem): R.i11hl. 12. Der Bauer in Abwehr und Selbsthilfe:
Genossenscho.ften und Vereine. 13. Der Bauer alR „ßlutquell" der Nation. IV. Ausblick.
1.. Einleitung
Etymologisch mit vorgerm. *bhü-ro-, ahd. bür, „Haus, Behausung", zusammen-
hängend, ist 'Bauer', ahd. gibüro, mh<l. gP.hürc, ursprünglich der Miteinwohne.r des
bür, der Dorfgenosse, der im Hochmittelalter deutlich vom Adligen und.vom Stadt-
bürger unterschieden wird. 'Bauer' ist seitdem als derjenige zu verstehen, der auf
einem Gehöft seßhaft ist und das ihm verfügbare Land für Ackerbau und Viehzucht
selbst arbeitend zu seinem Lebensunterhalt nutzt. Historisch entspricht das der
Seins- und Wirtschaftsweise des Hof- oder Pfiugbauerntums (im Gegensatz zum
Pfianzertum)l ..
Als Bezeichnung ist 'Bauer' weit umfassend gewesen. Vor den Städtegründungen
im deut8ch1m T.ebensbereich (11.-13. Jahrhundert) waren im wesentlichen nur Adel
einerseits, dienendes, besitzloses Gesinde andererseits sozial und damit politisch
vom Bauer unterschieden. Nach dem Aufkommen der Staut traL clie Unterscheidung
zum Stadtbürger als „Landmann" (rusticus) hinzu. Doch blieb bis um 1800 die
große Mehrheit des Volks (je nach landschaftlicher Eigenart 7~90 %) bäuerlich.
'Bauer' wurde im Hochmittelalter zum Standesbegriff im Gegensatz zu 'Adel' und
'Bürger', aber auch zu einem Ober- und Allgemeinbegriff, der eine Fülle von wirt-
schaftlich und rechtlich bestimmten Einzelbezeichnungen zuließ und erforderte,
damit Freiheit oder Unfreiheit verschiedener Abstufung, Eigentums-, Besitz- und
Nutzungsrechte sowie Betriebsgrößen und Rechtsstellung im Dorf fixiert werden
konnten: z. B. Grundholde, Höriger, Leibeigener, Eigenbehöriger, Meier, Erb-
zinser, Huber, Hübner, Anspänner, Kolon, Kötter, Kossäte u. a.
Hier geht es allein um die Geschichte des Standes- und Gesellschaftsbegriffs 'Bauer',
um seinen Bezug zum sozialen Gefüge und zum sozialen Spannungsfeld im ge-
1 Anstelle aller weiteren, hier nicht angeführten Literatur zur Geschichte der deutschen
Agrarverfäl!llung uud de11 Dauernstandes sei lediglich verwiesen auf liiuEDlUCH J,fumr.,
Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert
(Stuttgart 1963). Das Buch von GÜNTHER FRANz, Geschichte des deutschen Bauernsta.ndes
vom frühen Mittelalter bis zum 19.Jahrhundert (Stuttgart 1970), konnte nicht mehr berück·
sichtigt werden.
407
•
Bauer D. 1. Adlig bäuerliches Landlehen
0
schichLliche11 Wandel. Dabei ist zu beachten, daß bis zum 18. Jahrhundert der
Begriff von den oberen Ständen oder von Literaten bestimmt wurde, denn die
Bauern blieben fast gänzlich illiterat. Das änderte sich erst im Laufe des 19. Jahr-
hunderts, als der Bauer „emanzipiert" worden war und unter gewandelten Leb,ens-
bedingungen betonter und bewußter, als es in Jahrhunderten vorher gelegentlich
schon hatte der Fall sein können, zur Selbstäußerung veranlaßt wurde.
II.
1. Der Begrift' bis zum Beginn der modemen Wandlung im 17./18. Jahrhundert:
die Vorstellung vom adlig-bäuerlichen Landleben
So verschieden die Rechtsstellung und der Wohlstand des Bauern in deil deutschen
Ländern, Herrschaften und Dörfern vom hohen Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert
war, so bleibt doch für diese Zeit grundlcgcnd, daß der Bauer fast überall ,.,U11Ler-
tan" der adeligen Leib-, Grund- und Gerichtsherrschaft gewesen ist 2 und sich dem
Bürger gegenüber in einer schlechteren Rechtsstellung sowie in geringerer Freiheit
und sozialer AchLU11g Lefawl. Doch ist das adlig-bli.uerliche Verhältnis im Mittelalter,
und abgeschwächt auch noch bis zum 18. Jahrhundert, nicht im Ainni'\ einseitip;er
oder gar rechtloser Abhängigkeit, sondern als Treue- und Gegenseitigkeitsbeziehung
VOD Schutz und Dienst („Schutz und Schirm" - „Rat und Ililfc") zu veniLehe11.
Die bäuerliche Ehre lag darin, solche Stellung unter Wahrung der überkommenen
Rechte gegen die Tendenzen wachsender Herrenwi~lkür zu halten. Wir sullen
den kerren darumbe dienen, daz sie uns beschirmen. Beschirmen si uns nit, so sind
wir in nit dienstes sckul<lig nach reckte (Schwabenspiegel, 1275, Kap. 308).
Die Lebensweise des Bauern blieb bis zum 18. Jahrhundert in ihren Grundlagen
und ihrer Verfassung gleichartig3, wenn auch nicht unverändert. Bei gleichbleiben-
den, dauerhaften Grundstrukturen war das Jahrtausend alteuropäischer Geschichte
von der fränkischen Großreichsgründung bis zum aufgeklärten Absolutismus schon
von starken Bewegungen erfüllt, die die scheinbar unwandelbare Seinsweise des
Bauern und die altüberlieferten Vorstellungen, ihn zu begreifen, modifizierten oder
zeitweise sogar in Frage stellen konnten.
Aus der antiken Philosophie und Dichtung einerseits, dem Alten und Neuen
Testament andererseits wurden die Bilder und Begriffe übernommen, die außer-
ordentlich langlebig immer aufs neue vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert
hinein tradiert wurden. Adliger Auffassung entsprach die antike, direkt oder in-
direkt von ARISTOTELES übernommene Scheidung in Herrschende und Dienende,
a Nur unter den besonderen Bedingungen der Landschaften an der Nordsee und den
Alpentalgemeinden Tirols und der Schweizer Eidgenossenachaa hat sich freies Bauerntum
behauptet und blieb der Adel schwach oder fehlte überhaupt. Dort waren die Bauern nicht
„Untertanen", sondern selbst „Herren". Einen materialreichen Überblick über die soziale
und rechtliche Vielfalt der deutschen Bauern gibt CABL JosEl'H MrrrERMAIER bei ERBCH/
ClR.TTRlll& 1. Sect.; Bd. 8 (1822), 159 :ff. 168 :ff. in den Arti. Bauer (historisch) w1d Daut:r
(rechtlich) vom Zeiterlebnis der zu Ende gehenden alten Zustände aus.
0 Vgl. OTTO BRUNNER, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk
Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688 (Salzburg 1949); ders., Europäisches Bauern-
tum, in: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. (Göttingen 1968), 199 :ff.
408
•
D. 2. Christliche Tradition Bauer
Vornehme und Handarbeitende. Bei Aristoteles hatten sich bürgerlicher Stand und
Handarbeit ausgeschlossen; die Bürger der Polis hatten Landbesitz; das Land zu
bearbeiten aber oblag Sklaven, Fremden oder freien Bauern ohne Bürgerrecht
(yeweyov~ !500.l.ov~ 17 ßaeßdeov~ [17] neeiol"ov~; Politeia 1329 a ).
Diese politische Aussperrung und soziale Mißachtung des Bauern wurde literarisch
bis ins 18. Jahrhundert tradiert, weil die herrschaftliche Ordnung weithin auf
Untertänigkeit und Dienst des Bauern beruhte. Dem stand aber die aus der Wertung
altrömischer Verfassung stammende, in der lateinischen Agrarliteratur und Dich-
tung, besonders durch Vergils „Georgica", festgehaltene Hochschätzung des Land-
baus und des Bauern entgegen, so daß durch das Mittelalter hindurch die literarische
Tradition einer den Bauern ehrenden Topologie (bis bin zur bukolischen Schwärme-
rei) erhalten blieb: der Bauer sei einfach, unschuldig, naturnah, gesund, nicht ver-
rlArht. Tn Rolr.hAm T,ohprAiR rlAR Ra.11Arn 111.g rlAr hAt.ont.P. GAgAnRatz :zur vorhArrRr.hAn-
den Sioht vom rohen, tölpelhaften, dummen, schmutzigen, schwitzigen „gemeinen"
oder „armen" Mann, wobei 'arm' (1at. pauper) nicht wirtschaftlich zu verstehen ist,
sondern die Rechtsstellung der Hörigkeit und damit eine ständische Geringschät-
zung wiedergibt 4 •
2. Christliche Tradition
Die christliche Tradition bekräftigte beides: sowohl die dienende Stellung des
Bauern in der sozialen Ordnung als auch die Hochachtung des Nährstandes. Be-
zeichnend für die Einstufung des Bauern war die besonders im frühen Mittelalter
allgemein übliche, später nicht mehr durchweg gebrauchte, aber nie ganz aufge-
gebene lateinische Bezeichnung 'servus'. Der Bauer tat das gering geschätzte opus
servile im Schutze und unterhalb der potentes 5 • Vom späteren Mittelalter an wurde
wohl zwischen „hörigen" Bauern und servi unterschieden, wenngleich ein unwissen-
schaftlich emotionaler Gebrauch von „Sklave" für den gedrückten Bauern stets
möglich blieb und im 18. Jahrhundert geradezu Mode wurde. Die ständische Ein-
stufung des Bauern erschien in der Scholastik fest und unwandelbar. Die aus der
Antike tradierte Dreiheit von Wehr-, Lehr- und Nährstand wurde volkstümlich,
fand sich demgemäß vielfach auch in der Dichtung, z. B.: Got hat driu leben ge-
schaffen, gebure, ritter und pfaffenoa.
Tragend und leidend zugleich wird der Bauernstand in Bildern begriffen: Fuß-
boden des Kirchengebäudes, Füße des natürlichen Körpers oder Wurzel des
4 Zu den Variationen und Stereotypen des Lobpreises und der Mißachtung des Bauern in
der Literatur finden sich zahlreiche Belege bei Rn.DE HüGLI, Der deutsche Bauer im
Mittelalter, dargestellt nach den deutschen literarischen Quellen vom 11.-15. Jahrhundert
(Bern 1929); F&rrz MARTINI, Das Bauerntum im deutschen Schrifttum von den Anfängen
bis zum 16. Jahrhundert (Halle 1944); KURT UHRIG, Der Bauer in der Publizistik der
Reformation bis zum Ausgang des Bauernkrieges, Arch. f. Reformationsgesch. 33 (1936),
70 ff. 165 ff. - Zu 'arm': RWB Bd. 1 (1914), 823. Zu 'pauper' als dem üblichen Ausdruck
für den bäuerlichen Grundholden vgl. . KARL BosL, Frühformen der Gesellschaft im
mittelalterlichen Europa (München, Wien 1964), bes. 43 ff. 106 ff.
6 Vgl. vor allem BosL, Frühformen; dazu auch JOSEF HöFFNER, Bauer und Kirche im
409
Bauer Il. 2, Christliche Tradition
(Stände-)ßaums. Seine Arbeit im Sinne von Pein und Mühsal wird auf den
Sündenfall, seine Unfreiheit auf den Fluch Noahs über Ham zurückgeführt
(liberi de Sem, milites de Japhet, servi de Cham)6. ,
Doch stand dem die Wertung der bäuerlichen Arbeit gegenüber, wie sie der christ-
lichen Anerkennung der Handarbeit im Gegensatz zu ihrer Herabsetzung im
Altertum entsprach. Der Bauernstand wurde an die (zeitlich) erste Stelle gesetzt
und als Grund- oder Urstand, als der erste Stand bezeichnet: besonders betont
bei den Minoriten, aufgenommen von Luther und noch geläufig im 17./18.Jahr-
hundert, z.B. bei BECHER (1669): unsere erste Vocation, der Landbau7 • Das bedeutete
nicht nur Priorität und Primitivität, sondern auch fundamentale Wertschätzung.
Im späten Mittelalter war dies häufig mit dem Hinweis auf Adam, den Bauern vor
aller Ständespaltung, verbunden 8 • Schon im Paradies sei der Landbau von Gott
eingesetzt, sei also göttlicher Auftrag oder „Beruf" von Anfang an gewesen. Durch
'diesen unmittelbaren Bezug zur ursprünglichen Schöpfungsordnung erhielt der
Bauer seine Würde (dignitas rusticana, Ende des 15. Jahrhunderts) 9 • Von da war
es kein großer Schritt, wenn der Bauer im ausgehenden Mittelalter häufig als „edel"
oder als „Edelmann" im Sinne· einer vor aller ständischen Trennung liegenden
Würde des Arbeitsmenschen bezeichnet wurde 10• Die Bauern erschienen als be-
6 HoNORIUS AuouSTODUNENSIS, zit. M:rGNE, Patr. lat., t. 172 (1895), 166 - dann jahr-
hundertelang wiederholt. Vgl. die Wiedergabe des Bildes vom Ständebaum von Hans
Weiditz (1520) bei RENATE MARIA RADBRUCH/9-USTAV RADBRUCH, Der deutsche Bauern-
standzwischenMittelalterundNeuzeit, hg. v. Anneliese Stemper, 2. Aufl. (Göttingen 1961),
Tafel 7. Dort sind aber- gemäß der Sicht des Bauern als des letzten und des ersten Standes
- nicht nur die Wurzeln durch lasttragende, sondern auch der Gipfel des Baumes durch
heitere Bauern symbolisiert; zwischen ihnen die Vielfalt der durch die Höhe der Zweige
gegliederten Stände. Voller Zynismus dagegen das Bild vom Baum bei GRIM.Mi.;LSHAUSEN,
Der abenteuerliche Simplizissimus (1669), 1, 15; dort sind die Wurzeln von ungültigen
Leuten, als Handwerkern, Tagelöhnern, mehrenteila Bauern und dergleichen, die \lllter der
Last seufzen, besetzt; aber auf jedem Gipfel sitzt ein Kavalier. Das Bild ist bei Grimmels-
hausen nicht allein auf die ständische Ordnung, sondern besonders auf die Auspressung
der Bauern durch die Soldaten im Dreißigjährigen Krieg bezogen. - Die Fülle der vielen
Bilder der Ständeordnung mit den darin festgelegten Bauern sind hier nicht wiederzu-
geben. Vgl. dazu bes. HöFFNER1 Bauer und Kirche, 81 ff.
7 Zit. HERHF.RT HASSINGF.R, Johann Joachim Becher, 1635-1682. Ein Beitrag zur Ge-
schichte des Merkantilismus (Wien 1951), 130; vgl. KURT ZIELENZIGER, Die alten deutschen
Kameralisten (Jena 1914), 270.
8 Vgl. z.B. den rusticus bei FELIX HEMMERLIN [MALLEOLUS], De nobilitate (o. 0. 1497),
der sich darauf berief, daß schon Adam ein Bauer gewesen und daher der Bauernstand
der erste und edelste sei; zit. F. v. BEZOLD, Die „armen Leute" und die Literatur des späteren
Mittelalters, Rist. Zs. 41 (1879), 18. Der Adam-Topos wurde bis zum 18. Jahrhundert viel
verwendet, besonders in Predigten. Vgl. z.B. CHRISTOPH SELHAMER, Tuba rustica (Augs-
burg 1701): Der erste von Gott erschaffene und in die neue Welt versetzte Mensch war Adam,
und der war ein Bauer; zit. Das Bauernleben in den Werken bayerischer Barockprediger,
hg. v. KARL BöCK (München 1953), 49 f.
9 WERNER RoLEVINCK, De regimine rusticorum (1480), zit. HARRO BRACK, Werner
410
II. 3. „Göttliches Recht" und Bauernkrieg Bauer
sonders geliebte Söhne Gottes. In den Predigten der Minoriten wurden die Bauern
auf solche Weise angesprochen: Agrico"le, qui tam di"lecti filii dei sunt tum propter
laborem continuum, quideo placet, tumpropter oppressionem, qua a dominis opprimuntur
iniustell. Bei Luther wurde all das übernommen und mit seiner Lehre vom - Beruf
verbunden, die sich an die alte Lehre vom Amt anschloß .. wie sie schon in den
bauernfreundlichen, aber keineswegs aufrührerischen, vielmdflr auf die Bewährung
im gottgegebenen „Amt" gerichteten Predigten BERTHOLDS VON REGENSBURG
(um 1260) gelehrt12 und oft, z.B. bei Tauler, wiederholt wurde. Neu war bei LUTHER
die Erhöhung des „gemeinen Mannes" dadurch, daß er im „allgemeinen Priester-
stand" die Bibel verdeutscht lesen sollte; als arm pawr könne er baß Christum
vorstanden Bapst, Bischoff und doctores 13•
All das - selbst die letzte Steigerung durch Luther - sollte an der hörigen
Stellung des „armen Mannes" in der Ständeordnung nicht rütteln. Aber es konnten
doch daraus Folgerungen gründlicher Sozialreform oder gar der Umkehrung .des
bestehenden gesellschaftlich-politischen Gefüges gezogen werden. Die christliche
Gleichheit vor Gott und seinem Gericht hat stets das Mißverständnis der An-
wendung auf die Sozialverfassung in sich enthalten, und die Wiedergabe des tradi-
tionell theologischen „natura aequalis" mit „von nature" schon um 1300 (so bei
HuGo VOM TRIMBERG: Pfaffen, ritter und gebUre sint al"le gesippe von natare und
saln gar brüederlichen "leben) 14 zeigt an, daß von da aus die Forderung nach „gött-
lichem Recht" nahe lag und in den Bauernunruhen des 15./16. Jahrhunderts bis
hin zum großen Bauernkrieg von IU25 auch erhoben wurde. Entstand aus solchem
Gedanken die Tat, so war - verbunden mit sozialer Utopie - der modernen
Revolution in christlicher Begründung bereits deutlich präludiert. Soziale Unzu-
friedenheit und gekränkte Ehre verbanden sich mit christlichem Schwärmertum
und mit der solcherart begriffenen Reformation Luthers. Der Bauer war einer der
Hauptträger dieser allgemeinen Volksbewegungen. In weiten Teilen Süd- und
Mitteldeutschlands kam es zur Bauernrevolution, die sonst - von geringeren An-
sätzen dazu um 1790, 1830 und 1848/49 abgesehen - dem Standesbegriff vom
'Bauer' im deutschen Bereich meist fremd geblieben ist. Auch 1525 ist „göttliches
11 LUDOVIOUS (Schüler Bertholds von Regensburg, Ende des 13. Jahrhunderts), zit.
ADOLPH FRANz, Drei deutsche Minoritenprediger aus dem 13. und 14. Jahrhundert'
(Freiburg 1907), 88.
1B BERTHOLD VON REGENSBURG, Predigten, hg. v. Franz Pfeiffer, Bd. 1(Wien1862), passim,
bes. 11 ff. 140 ff. In seiner Ständelehre, die auf der Korrespondenz zwischen ei;iglischen und
irdischen „Chören" beruht, bilden alle die daz ertriche buwent .. . daz sint die gebure den
jüngsten Chor: die sullent getriuweliche leben gein ir herschaft unde gein ir genozen, freilich
in der Erwartung, daß die Herrn iliren armen liuten nicht übel tun (151). Zur Tradition
der himmlisch-irdischen Hierarchie s. BERTHOLD V ALLENTIN, Der Engelstaat, in: Grund-
risse und Bausteine zur Staats· und Gesellschaftsgeschichte (Berlin 1908); 41 ff.
13 MARTIN LUTHER, WA Bd. 7 (1897), 315. .
14 HUGO VON T:BnmERG, Der Renner, v. 505 f., hg. v. Georg Ehrismann, Bd. 1 (Tübingen
1908), 21. Später RoLEVINCK (1480): die bäuerliche Untertänigkeit sei injust.a, eo quod
natura omnes simus ingenui; zit. HöFFNER, Bauer und Kirche, 94.
411
Bauer II. 4. Stellung des Bauern bis zum 18. Jahrhundert
412
ID. 1. Kameralismos und aufgeklärter Absolutismus Bauer
des Bauern grundsätzlich unverändert und unbestritten. Das gehörte zum Begriff
des Bauern fast unlösbar dazu. Der Bauernstand, so wie er in unsern deutschen
Vaterlande eingeführet ist, lässet sich nicht Mnken, ohne zugkich Mn Begriff einer
ihnen vorgesetzten Herrschaft od,er fhundobrigkeit damit zu verbind-en17•
m.
1. Kameralismu8 und aufgeklärter Absolutismus
Die in aristotelischer Tradition als dauerhaft angesehene „politische Gesellschaft",
der der Bauer unwandelbar eingeordnet zu sein schien, wurde vom 16. bis zum
18. Jahrhundert - aufgehalten durch die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges
und nach diesem zunehmend beschleunigt - durch „Staat" und „Wirtschaft"
verändert. Die Ökonomie oder Hauswirtschaft des Fürsten wurde überhöht durch
die Staatswirtschaft. Der Fürstenstaat bediente sich der im Kameralismus modern
begriffenen Wirtschaft zur Steigerung seiner Macht und seiner Finanzkraft. Alle
„Untertanen" des Staates, und damit nicht zuletzt die Bauern, erhielten mehr und
mehr ihre Bewertung nach dem Nutzen, den sie für den Staat jeweils darstellten.
Der Bauer wurde in bisher unbekannter Weise utilitarisiert und funktionalisiert.
Schon bei den älteren Kameralisten ist diese Wendung deutlich begriffen. Es geht
ihnen um Verbesserung Land und Leut (GEORG ÜBRECHT 1606), um Auf- und
Abnehmen der StiiiJ,t, Liind-er und Republiquen, in specie, wie ein Land volkreich und
nahrhaft zu machen (JoH. JOACHIM BECHER 1668), von Verbesserung Land und
Leuten, und wie ein Regent seine Macht und Ansehen erheben könne (LEIB 1708),
oder in fürsorgend eudämonistischer Begründung, wie die Glückseligkeit eines Fürsten
mit Mr Glückseligkeit seiner Untertanen verknüpfet (WILH. v. SCHRÖDER 1686) 1 8
werden könnte.
Nach den Maßstäben der Macht- und Reichtumssteigerung sowie des gewollten
und reflektierten Wirtschaftswachstums erscheint der Bauer nicht allein bei
BECHER 111 in einem neuen Dreiständeschema der natürlich oder produktiv Arbei-
tenden: Bauer, Handwerker, Kaufleute. Die Zahl der Bauern sollte vermehrt
(„Peuplierung"), ihre Wirtschaft verbessert, und sie sollten statistisch erfaßt werden.
Eine nutz- und gewinnbringende Harmonie der drei schaffenden „Stände" wurde
erstrebt. Die Oonsumption erhiilt diese drei Ständ, die Oonsumption ist ihre Seel ...
ja der Oonsumption wegen ist d,er Kaufmann-Stand so nötig in Mr Gemeind, so groß
darinnen der Bauren-Stand, dann dieser vermehrt zwar die Populosität, jener aber
ernährt sie (Becher 1668) 20.
17 CARL FRIEDRICH v. BENECKENDORF, Oeconomia forensis, Bd. 5 (Berlin 1779), zit.
Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes in der Neuzeit, hg. v. GÜNTHER
FRA:Nz (München, Wien 1963), 274.
18 ZIELENZIGER, Kameralisten, 182. 208. 373. 299; ebenso ZEDLER Bd. 3 (1733), 717 ff.,
Art. Bauer.
19 JOHANN GEORG LEIB wendete sich 1708, die revolutionäre Wertung von 1789 zeitgemäß
413
Bauer m. 1. Kameralismus und aufgeklärter Absolutismus
Damit war die Leistung der „Stände" zum Maßstab der Wertung gemacht21;
Kaufmann und Bauer wurden gleichrangig ins Kalkül gesetzt. Der Funktionswert
des Bauern für den Staat wurde über das Wirtschaftliche hinaus noch erhöht, wenn
gelegentlich schon in Kenntnis alte;r Volkswehrverfassungen die Wehrpflicht des
Volkes, das hieß praktisch vorwiegend der Bauern, gefordert 22 und in Preußen durch
das Kantons-Reglement von 1722 auch bis zu einem gewissen Grade durchgeführt
wurde.
Eine dies mitumfassende Rollenbeschreibung des Bauernstandes in seiner Leistung
für den Staat gab FRIEDRICH DER GROSSE (1766): Die Bauern bildeten diejenige
Klasse ·von Leuten, wekhe die mehreste Achtung verdienen, zu denen Lasten des Staats
das mehreste beitragen, den ganzen Staat mit Lebensmitteln und Bedürfnissen ver-
sorgen, der Armee einen großen Teil der Rekruten und allen übrigen Klassen von
Untertanen einen Zuwachs von neuen Mitgliedern und Bürgern liefern, ohne von
letztem wieder einen reichlichen Zuwachs erwarten zu dürfen 29• In solchen wirklich-
keitsbezogenen Feststellungen ist die rationelle Nutzsteigerung der Bauern für den
Staat ebenso enthalten wie der Beginn einer unmittelbaren, im Ansatz schon
-gefühlsbetonten Beziehung der Bauern zum Landesfürsten, zum Staat, zum Vater-
land24.
All das trug, verstärkt seit der Mitte des aufgeklärten Jahrhunderts, den Keim zur
Emanzipation dcti Bauern aus seinem alten Abhängigkeitsverhältnis vom ndligcn
Herrn in sich. Doch wurde diese Entwicklung solange bewußt aufgehalten wie auch
der Adelsstand für den Staat funktionalisiert wurde ('Staatsdiener'), so daß an
dessen „Conservation" ebensoviel gelegen war wie an der des Bauern, den im alten
Untertänigkeitestand zu halten zweckmäßig zu sein schien. Im 11Allgemeinen Lanu-
Recht für die preußischen Staaten" (ALR, 1794) fand der Bauer innerhalb des
Systems der drei auf den Staat bezogenen und durch ihn gerechtfertigten großen
Stände des Adels, der Stadtbürger und der Bauern seinen Begriff und seine feste,
nach Wie vor kaum modifizierbare Stellung. Der Bauer blieb in seinem Stande ohne
Bewegungsfreiheit und belastet mit allen durch Recht und Herkommen ihm auf-
erlegten Pflichten sowohl gegenüber seinem Gutsherrn wie gegenüber dem Staat.
Gleichwohl stellte dasALR provokativ fest (§§ 147. 148 II 7): Untertanen werden,
außer der Beziehung auf das Gut, zu wekhem sie geschlagen sind, in ihren Geschäften
und Verhandlungen als freie Bürger des Staats angesehen. Die ehemalige Leibeigen-
schaft, als eine Art der persönlichen Sklaverei findet ... nicht statt. Indem der Bauer
schon als freier Bürger apostrophiert wurde, sollte über die Begriffsbestimmung
21 Feldbau als der erste berufj auch bei SCHRÖDER (1686), zit. ZIELENZIOER, Kameralisten,
314.
22 So VEIT LUDWIG v. SECKENDORFF, Christen-Staat (1685; Ausg. Leipzig 1716), 205 f.
der heißt Friderich! ... S. K. Majestät mit Leib und Blut gedienet; Acta Borussica, Bd. 8
(1906), 340.
414
m. 2. Aufklärung und Emanzipation Bauer
ein Rechtsweg in die Zukunft geöffnet werden25, Derselbe Grundzug wie in Preußen
läßt sich in den meisten deutschen Staaten bis zur Französischen Revolution beob-
achten: Interesse an der Hebung und Heranziehung des Bauernstandes an den
Staat, aber gleichwohl Belassen des bäuerlichen Staatsuntertanen in der adlig-
herrschaftlichen Untertänigkeit 28 .
SCHEIDEMANTEL begriff die Bauern 1782 dementsprechend zeitgemäß als Personen,
welche auf· dem Lande leben und sich von der Landwirtschaft ernähren. Sie gehören
zwar zum niedrigsten Stand, dennoch aber sind sie wirkliche Mitbürger in Ansehung
des Staats überhaupt genommen, und wegen des Gegenstandes ihrer Arbeit der nütz-
lichste, auch mehreste Teil der Einwohner. Sie sollten nicht in städtische Berufe
übergehen, aber in ihrem Landbau unterstützt und besser gebildet werden27 •
Die Spannung zwischen dem Festhalten an der Hörigkeit und den modernen
Anforderungen an eine vollkommenere Leistung des Bauern führte im Zusammen-
hang von Aufklärung und Revolution zur Verneinung der alten Ordnung (bürger-
liche--+ Gesellschaft), damit zum Gedanken der „Bauernbefreiung" und zu einem
grundlegend veränderten Begriff des Bauern. Zwar ist das Wort 'Bauernbefreiung'
erst eine spätere Bildung der Wissenschaft, speziell G. F. KNAPPS 28 und seiner
Schule seit den achtziger Jahren. Doch ist diese spätere Wortprägung der Sache
nicht unangemessen, um so mehr, als von den Zeitgenossen selbst neben den mehr
technischen Bezeichnungen für Teilbereiche der Bauern- und Bodenbefreiung wie
'Grundentlastung', 'Ablösung' usw. von 'Lösung' oder auch 'Freilassen' der Bauern
in umfassendem Sinne gesprochen worden ist. Für viele aufgeklärte Kritiker der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die traditionelle Gestalt des Bauern als
eines bloßen Untertanen mehr und mehr unerträglich. Das neue Menschenbild, die
Gedanken der Gleichheit, Freiheit und Würde, die Zuversicht, daß die Menschen
„veredelt" werden könnten, widersprachen der gedrückten Stellung des Bauern.
RoussEAU wirkte ein mit seinem Gedanken „natürlicher" Erziehung zu freien
Menschen. Er stellte die „Feinheit" des natürlichen Wilden der Grobheit der euro-
päischen Bauern gegenüber und begründete diese Depravation des Menschlichen
beim Bauern damit, daß dieser nur auf Befehl oder nach Gewohnheit arbeite, also
nur in routine, et, dans sa vie presque automate, occupe sans cesse des memes travaux,
Z'habitude et l'obeissance lui tiennent lieu de raison2 9 •
Diese Klage wurde wiederholt. Stumpfheit, Faulheit, Indolenz des Bauern wurden
2 5 Die Redaktoren hielten jede Bestimmling der Verhältnisse zwischen Herrschaften und
Untertanen für äußerst bedenklich, wollten aber aus Rechtsgründen nicht davon absehen
und glaubten es auch nicht. zu können, weil nicht überall die gleiche Stufe der Kultur herrsche,
die eine generelle Befreiung zulasse; Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuches für die preußi-
schen Staaten, Tl. 1, Bd. 2 (Berlin, Leipzig 1785), 30.
9& Um 1780 wurde freilich in Schleswig und Holstein, in Österreich und Baden bereits mit
der Bauernbefreiung begonnen.
27 SCHEIDEl\liNTEL Bd. 1 (1782), 332.
2s GEORG FRIEDRICH KNAPP, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter
in den älteren Teilen Preußens, 2 Bde. (Leipzig 1887; 2. Aufl. 1927).
28 RoussEAU, Emile, <Euvres compl., t. 3/1 (1823), 183.
415
Bauer IlI. 2. Aufklirung und Emanzipation
30 J. G. SCHLOSSER, Journal von und für Deutschland 3 (1786), 115 f. Urteile ähnlicher
Art sind sehr häufig, vgl. z. B. : der Landmann kriecht noch immer in seiner ge.dankenlosen
Finsternis; er stecket noch immer in seinem alten, irrigen Wahn; obgleich der nachdenkende
Teil der Welt anfängt, das Geschäft und die wohlgeleitete .Arbeitsamkeit des Landmannes für
die Gr'lindsäule aller Wohlfahrt gesitteter Länder zu halten; FR. G. RESEWITZ, Die Erziehung
des Bürgers zum Gebrauch des gesunden Verstandes und zur gemeinnützigen Geschäftig-
keit (Kopenhagen 1773), 56 f. Dazu AR'HIUR EICHLER, Die Landbewegung des 18. Jahr-
hunderts und ihre Pädagogik (Berlin, Leipzig 1933), bes. 51 ff.
31 JoH. HEINR. GOTTLOB v. JusTI, Über die Haupthindernisse für den landwirtschaftlichen
Betrieb (1767), zit. Quellen zur Geschichte der deutschen Bauembefreiung, hg. v. WERNER
CoNzE (Göttingen 1957), 43 f.
32 LEOPOLD KRua, Betrachtungen über den National-Reichthum des preußischen Staats
und über den Wohlstand seiner Bewohner, Bd. 1 (Berlin 1805), 463.
33 JoH. MICHAEL v. LOEN, Von dem Bauernstande (1771), zit. FRANz, Quellen, 261. Das
Prädikat des Sklaven wurde auch von aufgeklärten, durch Kants Philosophie gebildeten
Beamten der preußischen Reformzeit noch verwendet. So der Oberfinanzrat v . .Ar.TENSTEIN
(1807): Diese persönliche Skl,averei, welche den Menschen zur Sache macht, der erschwerte
Besitz von Grundeigentum und die Hindernisse, in einen anderen Stand überzugehen, haben
dem Staate unendlichen Schaden zugefügt und die .Ausbildung der Nation verhindert; zit. Die
Reorganisation des Preussischen Staates unter Stein und Hardenberg, hg. v. GEORG
WINTER, Bd.. 1/1 (Leipzig 1931), 403.
34 CHRISTIAN GARVE, Über den Charakter der Bauern und ihr Verhältnis gegen die Guts-
herrn und gegen die Regierung (1786; 2. Aufl. Bresiau 1796), 134 f.
416
m. 2. Aufklärung und Emanzipation Bauer
gelten zu lassen 35 • Er war, indem er sich qabei auf MoNTESQUIEU berief, skeptisch
gegen umstürzende Neuerungen und vertraute auch ohne diese auf die Möglich-
keiten zur Hebung des Bauernstandes, unter dem er nicht nur sklavisch gedrückte
Untertanen, sondern auch wohlhabende, stolze Männer sah, die sich auf ihren Stand
als Bauern, auf ihre Tracht und auf alles, was den Stand anzeigt, etwas zugute tun.
Durch die Erleuchtung ttnserer Zeiten werde es möglich sein, daß der adlige Herr
seinen Bauern nicht nur als ein Werkzeug ansehe, sondern als einen Menschen.
Schon dadurch - ohne daß der Staat durch p'lötzliche Reformen, die das Eigentum
angreifen könnten, ins Mittel träte - könne die Lage der Bauern verbessert und ihr
Charakter veredelt werden 36 •
So blieb Garve in der alten Verfassung stehen, während KANT konsequenter die
glebae adscriptio (Erbuntertänigkeit) mit der Würde der Person für unvereinbar
hielt 36a und in einer Aufzeichnung (1793) sein Prinzip, daß der Mensch, weil er
frei sei, nicht der Willkür anderer bloß als Mittel unterworfen sein dürfe, als wider d'ie
Erbuntertänigkeit gerichtet sein lassen wollte 37 • Der Bauer war für Kant „Mensch"
in voller Freiheit und Würde, somit „Staatsbürger" - zwar nur „passiv", poten-
tiAll ahflr mrnh „aktiv" (Rr.cht11lr.hre § 46).
Die Aufhebung der Hörigkeit wurde zudem, in gradliniger Kontinuität vom älteren
zum jüngeren Kameralismus (Justi), zum Physiokratismus (MarkgrafCarl Friedrich
von Baden, Schlettwein, Iselin) bis zur Anwendung der Nationalökonomie von
Adam Smith (Christian Jacob Kraus) durch ökonomische Zweckmäßigkeit begrün-
det, so daß der in der alten Verfassung indolente Bauer industriös, aktiv, aufgeklärt,
ja philosophisch werden sollte. Die Industrie des Bauernstandes ist Hauptbedingunfl.
des Nationalreichtums 38• ökonomische Gesellschaften gebildeter Liebhaber und
Praktiker nahmen sich als ökonomische Patrioten des Fortschritts der Landwirtschaft
und damit eines neuen Typus des Landwirts 39 sowohl im (adligen oder bürgerlichen)
Großgrundbesitz wie in bäuerlichen Wirtschaften an. Fürsten gaben dieser agrari-
36 Weiter oben sprach GARVE von der erzwungenen Faulheit .... Sie ist nicht sowohl Ab-
neigung von aller Arbeit, als Abneigung der Arbeit, die man ihnen aufträgt, weil sie die
Bewegungsgründe dazu nicht einsehen, oder weil diese Bewegungsgründe nicht st!J-rk genug auf
sie wirken; ebd., 29. 27. ·
36 Ebd., 124 f.
36 a KANT, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Tl. 2, 1. Abschn., Allg. Anm. D. AA Bd. 6
(1907), 330.
37 Lose Blätter aus Kants Nachlaß, hg. v. RUDOLF REICKE, Bd. 2 (Königsberg 1895), 292.
38 ARNOLD WAGEMANN, Über die Bildung des Volkes zur Indu1:1trie (1791), zit. KURT lvEN,
Die Industrie-Pädagogik des 18. Jahrhunderts (Langensalza, Berlin, Leipzig 1929), 60.
39 Das Wort 'Landwirt(schaft)' steht im Zusammenhang mit der Ausweitung der alten
27-90385/1 417
Bauer m. 2. Aufldänmg und Emanzipation
sehen Bewegung symbolischen Ausdruck, indem sie selbst den Pflug führten, so
Josef II. 1769 in Mähren. Gereizte Ehrbegierde zur Arbeit sollte sich unter den Bauern
ausbreiten 4 o. Musterbauern begannen sich hie und da hervorzutun, wie der bekannte
auch von Goethe aufgesuchte Züricher Bauer Kleinjögg, der philosophische Bauer
oder rustique Socrate 41 • Die bürgerliche Zuneigung zum Landleben und zum Land-
mann reichte von bukolisch-idyllischen Dichtungen wie GESSNERS Idyllen (1756) 42
über Landschwärmerei im Geiste Rousseaus und theoretische oder praktische An-
wendung der Aufklärungspädagogik auf das Dorf bis zur Tätigkeit der zahlreichen
ökonomischen Gesellschaften. Der Bauer sollte von nun an statt eines Sklaven ein
Mensch, statt eines bloßen Untertans ein Staatsbürger, statt eines stumpfen Bauern
ein vernünftiger Landwirt werden43• War damit der Bauer im Verhältnis zu Kirche,
Staat und gesellschaftlicher Umwelt von Grund auf neu, möglicherweise revolu-
tionär begriffen, so ist doch dabei nicht zu übersehen, daß bei solcher Neuerung
weitgehend sehr alte Vorstellungen vom Bauern verwendet und dem modernen
Geist anverwandelt wurden. Der verachtete „arme Mann" wurde allerdings von
den „Neuerern" nicht mehr als gegeben hingenommen, sondern seine Erscheinung
galt als verderbt durch die überkommene Herrschafts- und damit Wirtschafts-
verfassung, die entweder unzulänglich oder überhaupt von Grund auf verwerflich
zu sein schien. Die alte, christliche Hochschätzung des Bauern und seiner Arbeit
·sollte nun nicht mehr eine „ Umkehrung'' im Hinblick auf den Christenstand und das
Gericht Gottes oder ein Trost im Selbstbewußtsein des „ersten Berufs" sein,
sondern wurde umgedeutet als Ansporn zur Schaffung eines zur Freiheit und
'°HANS CASPAR HmzEL, Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers (Zürich 1761), 123.
41 Ders., Auserlesene Schriften zur Beförderung der Landwirthschaft, Bd. 1(Zürich1792),
195. Vgl. OLGA v. IlrPPEL, Die pädagogische Dorf-Utopie der Aufklärung (phil. Diss. Göt-
tingen 1939); GEORG C. L. SCHMIDT, Die Wandlung der Schweizer Bauernwirtschaft im
achtzehnten Jahrhundert und die Politik der ökonomischen Patrioten, Bd. 1 (Bern, Leipzig
1932), 91, bes. 142.
0 Hierzu und zum Problem der Bauerndichtung des 19./20. Jahrhunderts (mit weiteren
SCHLOSSERS über den Musterbauer Kleinjögg: Der Mann, der rastlos arbeitet, ... der Kopf es
genug hat, überall die Natur zu ergreifen, die ihm die Hand bietet, der auf nichts sinnt als auf
Verbesserung, auf Vermehrung des Ertrags, auf Erleichterung der Arbeit, attf Ersparung des
Aufwands, der so gerecht, so wahr, so äilel denkt, so gern hilft, so gern dem Staat sich unter-
wirft; Ober die Träume eines Menschenfreundes, Kl. Sehr„ Bd. 1, 2. Aufl. (Basel 1787), 173.
An anderer Stelle: Wer hat mehr .Recht an der Gesetzgebung und Anlegung der Imposten
teilzunehmen, als der Bauer? Er ist allein ans Land gefesselt, macht allein die Nation! Politi.-
sche Fragmente, ebd., Bd. 2, 1. Aufl. (1780), 239 . ....:... In ähnlichem Geist und aus der Praxis
eines die Bauern freilassenden Gutsherrn gesehen forderte GRAF CHRISTIAN RANTZAU
als PfUcht des Menschen und des Staatsbürgers, daß man den unterdrückten und ganz zum
Ackerwerkzeug herabgewürdigten Bauernstand wiederum hebe und beglücke; zit. Actenstücke
zur Geschichte der Anfhebung der Leibeigenschaft in Schleswig und Holstein (Kopenhagen
1848), 11. JoH. HEINRICH Voss schilderte die Erbitterung und Hoffnung von Leibeigenen
sowie den Edelmut eines die Leibeigenschaft anfhebenden Herrn in seinen Idyllen: Die
Leibeigenen (1774), Die Freigelassenen (1775), Die Erleichterten (1800); Sämtl. Gedichte,
Bd. 2 (Königsberg 1825), 3 ff. 16 ff. 33 ff.
418
m. 3. Rüekgriff in die Gesehiehte: Möser Bauer
Leistung bestimmten Bauern. Die Kontinuität von der christlichen Wertung zur
aufgeklärten Humanität ist bei den Wortführern der neuen Sicht deutlich erkenn-
bar. Sie hatten alle noch eine betont christliche Erziehung genossen; oft aber waren
sie selbst Pfarrer, die nun - sei es katholisch-jose:finistisch, sei es protestantisch -
selbst als Philanthropen und Ökonomen sich in den Dienst der großen Vered-
lungsaufgabe stellten oder von den Obrigkeiten dazu veranlaßt wurden. Im Bauer
wurde der Mensch überhaupt gesehen. Es ging darum, die Tugend und die Größe
der Seele in dem Bauern zu verehren". Die Kontinuität brauchte aber nicht christ-
lich zu sein. In der Literatur ist die Linie von der ä.lteren Bukolik zur Idylle, zur
idyllischen Epik und zum Bauernroman des 19. Jahrhunderts unverkennbar. Was
aber die neue „lndustriösität" des Bauern anbetrifft, so war auch sie nur eine
Steigerung der uralten und schon im Kameralismus modernisierten Vorstellung von
der Nützlichkeit des Nährstandes und der bäuerlichen Arbeit.
"So HrnzEL (1761), zit. SCHMIDT, Schweizer Bauernwirtschaft, Bd. 1, 111. Als Beispiel
für die Menschenbildungsarbeit unter Bauern, die eine Tugendgesellschaft und besonders
die Veredelung der Bauern im Auge hatte, vgl. J. G. SCHLOSSER, Katechismus der Sitten-
lehre für das Landvolk (Leipzig, Dresden 1772).
0 Die beste Interpretation für unsere Fragestellung findet sich bei ERNST-WOLFGANG
419
Bauer 1D. 4. Der reTolutionäre Bauernbegriff
gliederter bürgerlicher Freiheit, im Gegensatz also auch zum Modell einer Gleich-
heit der Untertanenschaft im Despotismus ... Die Geschichte von Deutschland, habe
geradezu eine ganz neue Wendung zu hoffen, wenn wir die gemeinen Landeigen-
tümer, als die wahren Bestandteile der Nation, durch alle ihre Veränderungen ver-
/ olgen, aus ihnen den Körper bil,den und die großen und kleinen Bedienten dieser
Nation als böse oder gute Zufäll,e des Körpers betrachten46 • Solle es nicht zum po-
litischen Verfall der Staats- und Wirtschaftsverfassung kommen, in der kein
Landeigentümer mehr zu finden und die Landesherrn Löwen geworden seien, die
nichts weiter als Ameisen unter sich erkennen41 , so müsse das (bäuerliche) Land-
eigentum konstitutiv für die staatliche Ordnung werden; das Landeigentum sei
im Sinne einer Aktie, einer Staatspfründe oder Vikarei des Staates48 zu verstehen.
Schon der OTiginalkontrakt sei ebenso wie moderne Koloniegründungen in Amerika
nicht von Menschen, sondern von Landeigentümern geschlossen49, denn nur Land-
besitzende könnten oder sollten politische Verantwortung ausüben.
Bei Möser war konsequent durch eine mehr geschichtliche als naturrechtliche
Theorie5 0 die Beziehung von Bauer und Politik hergestellt worden. Von da aus
führte der Weg_:.._ teils gegensätzlich zum vernunftrechtlich begründeten Staats-
bürgerbegriff, teils sich mit ihm vermischend - über den Freiherrn vom Stein und
andere Reformer seiner Zeit bis· zur Verbindung von· organischem Staatsdenken
mit dem frühen Liberalismus oder - in Abwendung von ihm - mit der konser-
vativen Theorie. Während MösER aber noch unter den Bedingungen der ständischen
Ordnung des Reichs und seiner Fürstenstaaten schrieb, wurden diejenigen, die
ihm in einer historisch-politischen Neubegründung der Stellung des Bauern nach-
folgten, durch die Bauernbefreiung in den deutschen Ländern sowie durch die
Revolution von 1789 bestimmt.
0 JusTus MöSER, Osnabrückische Geschichte (1768; 2. Aufl. 1780), SW Bd. 12/1 (1964), 34.
47 Ders„ Die Geschichte des künftigen Jahrhunderts, SW Bd. 9 (1958), 365.
48 Ebd.,298; ders„ Der Bauerhofals eine Aktie betrachtet, SWBd.6 (1954), 257 u. passim.
420
m. 4. Der revolutionäre Bauemhegriff Bauer
Selbstverständlich wurde solcher Vorstellrmg vom Bauern als einem Kämpfer für
Freiheit und Volksrecht der Begriff vom Bauern in der gottgewollten Ordnung
entgegengestellt. Der Fürst kann Fürst, Schutzherr seiner Untertanen, Oberhaupt
seines Staats bleiben, ohne Despot oder Tyrann zu werden, und der Bauer kann, darf
und soll, mit allem Genuß einer vernünftigen Freiheit, Bauer sein und bleiben, ohne
von Gleichheit der Stände zu träumen oder sich den Kopf durch Fratzen von Volks-
Majestät verrücken zu lassen (Mos1m)5 3 •
Der revolutionäre Begriff des Bauern, in noch gesteigerLer Verbindung des franzö-
sischen Vorbilds mit biblischem Pathos, findet sich am extremsten bei GEORG
BÜCHNER und dem Theologen LUDWIG WEIDIG („Der Hessische Landbote", 1834)
Die Hütten der Bauern und Bürger stehen den Palästen der Fürsten und des Adels
gngoniihcr. Daß Vollo, im Sinne der franzö11ilich11n clalillileli populaires, liP.gt 11nr 1:hnPm.
wie Dünger auf dem Acker. Mit Hilfe Gottes soll es gewaltsam aus der Dienstbarkeit
zur J!'reiheit gelangen, aus den Dornäckern der Knechtschaft zum W einberye de·r
Freiheit und zum Freisein bis ins tausendste Glied 54• Bezeichnenderweise wurde
auch die Erinnerung an den Bauer.ukJ:ieg von 1525 in den dreißiger und vierziger
Jahren verstärkt wachgerufen, gipfelnd in ZIMMERMANNS großer Darstellung
(1841/43) und ENGEL!!\' hi1:1turisch-umw1·ialÜ:!Li!luher Deutung (Hl50) 55• Im Gefolge
der Julirevolution von 1830 und vor allem der Februarrevolution von 1848 hat es
Ansätze zum Einbeziehen der Bauern in „volks"-revolutionäre und demo:lrratische
Bewegungen gegeben. Doch ebbte diese Bewegung 1848 in den meisten Gegenden
Deutschlands schnell ab, nachdem die Forderungen zum Abschluß der Bauern-
befreiung erfüllt waren. Der badische und pfälzische Aufstand 1849 - in Gebieten
des Bauernkriegs von 1525, in denen Realteilung vorwog und die ländliche Über-
völkerung des Kleinbauerntums zu bitterer Not geführt hatte - waren ein letzter
Ausdruck dafür, daß der Bauer ,,volks"-demokratisch begriffen werden konnte und
die alte ständische· Sonderung gegenüber den (Klein-)Bürgern sich dabei ebenso
verwischte wie die zwilicheu „Vollbauern" und untcrbäuerlioher Sohioht. Statt-
dessen setzte sich in der Periode der Bauernbefreiung zwischen 1780 und 1850 im
62 Zit. PERCY STULZ, Die antifeudale BauernbewegUng, in: PERCY STULZ/ALFRED ÜPITZ,
Volksbewegungen in Kursachsen zur Zeit der Französischen Revolution (Berlin 1956), 52;
vgl. auch KYÖSTI JuLKu, Die revolutionäre BewegUUg im Rheinland am Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts, Bd. 1 (Helsinki 1965), 273 f.
63 FRIEDRICH KARL FRH. v. Mos1m, Probe eines deutschen politischen Volcks-Catechismus,
(Stuttgart 1841/44); FRIEDRICH ENGELS, Der deutsche Bauernkrieg (1850). MEW Bd. 7
(1960), 327 ff.
421
Bauer DI. 5. Steüi wul Arndt
Spannungsfeld von Revolution und Restam-ation der Begriff eines Bauern, maß-
geblich auch für die folgende Zeit, durch, in dem die Forderungen der Reformer -
„Mensch", „Landwirt", „Staatsbürger" - zwar enthalten, aber durch die Betonung
des „Standes" ihrer revolutionären Konsequenz entkleidet wurden. Der Begriff des
Bauern wurde mehr und mehr in Anlehnung an eine idealisierte Vergangenheit, im
Gegensatz zu einer extremen Liberalisierung, Rationalisierung und allgemeinen
bürgerlichen Nivellierung gesehen. Damit verschwand zunehmend auch eine bis
dahin vielfach übliche begriffliche Unschärfe in der Abgrenzung der eigentlichen
Bauern mit voller Ackernahrung von den Kleinstellenbesitzern oder gar den land-
losen Leuten des Dorfes. Zwar waren diese Gruppen in der sozialen Rechtssprache
(z. B. in Westfalen: 'Vollerben', 'Halberben', 'Kötter', 'Heuerlinge') und in der
kommunalen Rechtsstellung scharf unterschieden worden, aber der Begriff 'Bauer'
hatte sie alle umfassen können.
Noch für CAMPE war 'Bauer' in der aZ'lgemeinen Bedeutung einer, der auf d,em Lande
lebt: dalier in Schwaben Edelleute, welclie auf dem Lande leben, sammtne Bauern
genannt werden . • . Dann solclie Bewohner des Landes, die keine BWrger sind und
auch keinen Ackerbau treiben, als Häusler, Tagelöhner etc. Freilich setzte Campe
hinzu: 1n engerer und gewöhnlicher Bedeutung diejenigen Landleute, welche eignen
AclreruU'u lretoon, dU'vun Uire N ah'f'lllYllJ ziehen und dem Gt'undherrn iinsen, Frohn-
dienste tun müssen etc.; in Gegensatz der Häusler, Brinksitzer etc. 56•
Setzte sich diese letzte Feststellung Campes durch - und das war überwiegend der
Fall -, dann war der Bauer inmitten der neuen sozialen Bewegung ständisch ab-
gegrenzt und virtuell von einem möglicherweise revolutionären „ Volk" getrennt.
5. Das Verhältnis des Bauem zu Staat und Nation bei Stein und Arndt
Entschiedener als bei dem aufgeklärten Hardenberg waren für .den FREIBERRN
VOM STEIN die. persönliche Befreiung und die Grundentlastung der Bauern vor allem
ein Teilstück seines Ziels, die „Nation", d. h. die selbständigen Grundeigentümer
des Landes sowie die hausbesitzenden, geschäftserfahrenen Stadtbürger Preußens;
durch aktive Verantwortung in Selbstverwaltung und Repräsentation dem Staate
zuzuführen, um diesen durch sie getragen und belebt sein zu lassen. Dabei wollte
er nicht nur die unterbäuerliche Schioht, sondern auch Kleinbauern ausschließen,
da er ähnlich wie Möser davon überzeugt war, daß nur ein Dasein in Selbständig-
keit und oberhalb täglicher Armutsplackerei Grundlage für eine öffentliche Ver-
antwortung sein konnte. Er wünschte daher, daß dfr, flfl,ndwfrt.~ch.aft von ver-
mögenden Besitzern betrieb,en werde 57 und daß es sich bei den zur Repräsentation
zugelassenen Rustikal-Besitzern oder den Bauren 58 nur um die mittlere Klasse der
422
m. 5. Stein und Arndt Bauer
423
Bauer m. s. Stein und Arndt
Der Bezug des aus dem „Feudalismus" freigelassenen Bauern zur „Nation" war
eine zentrale Frage für die neue Begriffsbestimmung des Bauern. War mit 'Na-
tion' im 18. Jahrhundert oft noch die Gemeinschaft der Stände, z. T. schon ein-
schließlich der Bauern, eines bestimmten Landes oder Staates gemeint, wie etwa
bei den „ökonomischen Patrioten" 64, so nahm seit Möser die Neigung zu, Äußerun-
gen über den Bauernstand ausdrücklich auf die deutsche Nation zu beziehen, oder
allgemeiner: die Freiheit .und Kraft eines Volkes in erster Linie in der bäuerlichen
Freiheit begründet zu sehe:p.. ERNST MoRITZ ARNDT tat das im leidenschaftlich
betonten Nationalgefühl, das allerdings die zeitgemäße Zusammengehörigkeit von
Patriotismus und Humanität noch nicht aufgegeben hatte.
Arndt verfocht in scharfer Abwehr gegen jede Adelsherrschaft die Freilassung und
die Erhaltung der Bauern in der Erinnerung an altgermanische Gemeinfreiheit
und in der Hoffnung auf die glückliche Zukunft der Nation Init dem „Mark"
eines kräftigen, freien Bauernstandes. Der Bauer ist des Vaterland68 erster Sohn;
wann er ein Knecht wird, ... dann ist es wahrhaftig untergegangen. Wer also ein
festes und glorreiches Vaterland will, der macht festen Besitz und feste Bauern6 ö.
Ein Land sei desto sicherer, stärker und wehrhafter, ... je mehr freie Bauern mit
kleinem oder mittelmäßigem Eigentum in Grundstücken es habe 66 • Diese Bauern aber
dürften nicht mehr länger als die Unmündigen ?J,nd Snhirm.ln.~P.n 11tl1'säumt und zuriick-
gesetzt, sondern müßten ail der Repräsentativverfassung gebührend beteiligt wer-
den07. In deutlicher Gefuhlssteigerung gegenüber Möser und 8tein wurde der Bauer
zum Träger der Volkskraft, zum Staatsbürger in politischer Verantwortung und im
WehrdiensL - im Einklang mit Scharnhorsts Militärreform. Alte Topoi vom „ersten
Beruf" und von der reinen Natürlichkeit des Bauern wurden dem imgnmde gelegt:
D·i131Jer Bwuernstand ist der Natur der menschlichen Dinge nach beides, die zahl-
reichste und ehrenwerteste Klasse des Volks. In ihr wohnt mehr als in andern Klassen
des Volks die ursprüngliche und gediegene Naturkraft, die Reinheit der Sitt.en, die
Treue und Redlichkeit der Gesinnung; in ihr wohnt der Mut und die Ausdauer, wel.che
die tapfersten und rüstigsten Verteidiger des Vaterlandes geben 68 •
Arndt war sich der Gefahr wirklichkeitsfremder Idealisierung seines kühnen
Bildes vom „freien", „edlen", aber nicht „vornehmen" Bauern, der seine „Men-
schenehre" im Gegensatz zur Adelsehre hochhielt, bewußt. Es ist bemerkenswert,
daß er dieses Bild auch nicht als allgemeingültig ansah. Es habe bisher nur dort
gelten können, wo der Bauer nicht „knechtisch", sondern überwiegend selbst Land-
besitzer gewesen sei. So stehen unter den Ländern Europas Schweden und Norwegen
8 ' Zweifellu1:1 auch etwa in den Sätzen Altensteins und SchloRRel'R (s. Anm. 33 u. 43). Auf
Preußen bezogen bei HEINRICH STEPHANI, Über die Elementarschulen auf dem Lande
(1800), zit. FRANZ, Quellen, 331: Da die Lawlbewohner den eigentlichen Kern jeder Nation
ausmachen und von der Natur berufen zu sein scheinen, denjenigen Stand zu bilden, wo
Unschuld des Herzens und wahre Glück8eligkeit am meisten zu Hause Bein kann ... Des freue
dich, BorusBia.
86 ERNST MoRITZ ARNDT, Über künftige ständische Verfassungen in Deutschland (1814),
424
W. 6. Die rationelle Landwirtschaft 'l'haers Bauer
425
Bauer III. 7. Die Restauration bei Adam Müller
anprangerte und ihre Übertragung aus den anders bedingten britischen Verhältnis-
sen auf Deutschland ablehnte: Die neue Theorie gehe darauf aus, alle nationak
Landwirtschaft in nwrkantilische zu verwandeln. Das Geschäft des Landbaus selbst,
seinem Ur8'P'f'unge nach Dienst des Staates und nichts Geringeres, soll durchaus zum
Gewerbe herabgewürdigt und dem großen Mechanismus der l ndustrie einverleibt werden.
Der Landwirt, d. h. sowohl o.ls Gutsherr wie als Bauer, müsse aber auch Staatswirt
sein, der erste Bürger und Diener des Staates. Die Wiederherstellung des nationalen
Ackerbaues sei der Natur und der bürgerlichen Gesellschaft (im personalen Sinne der
Lehensverfassung) angemessen. Die Lohnarbeit im Zivil- und Militärdienst, wie sie
von den Fürstenstaaten eingeführt worden sei, habe bereits das heilige Bündnis eines
71 ,J, G. KO'Pl'lll, TTnfa~rrinht, im Ankerbau und in der Viehzucht, 10• .A.Wl., hg. v, Emil v.
Wolff (Berlin 1873), XX ff.
7 3 Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der
Befreiungskriege, hg. v. F'mEDRICH MEusEL, Bd. 2/2 (Berlin 1913), 14. 19. 2L
74 ADAM MÜLLER, Agronomische Briefe (1812), Ausg. Abb., hg. v. Jakob Baxa (Jena 1921),
71 ff.
426
m. 8. Progression nncl Bebarrnngi Regel, List Bauer
Volkes mit seinem B00en geschwächt. Die neueste Richtung zur allgemeinen welt-
wirtschaftlichen Interdependenz aber verderbe die menschliche Ordnung von
Grund auf. Sie müsse, wenn ihren Konsequenzen nicht gewehrt werde, dazu führen,
daß der Landwirt als Lohnarbeiter in die Universalfabrik des stlidtischen Lebens
eingehe, die blind ihr Gesetz empfängt vom Markte und ihre endliche Vergeltung im
Krankenhaus.
427
Bauer IIl. 9. Liberaler Historismus: Welcker
wie der Trieb zum sozialen Prestige angedeutet. Doch klagte List zugleich: In
Deutschland ist zur Zeit einefreimütige Untersuohung über die Aolcerverfassung und
die darauf infiiereruien Institutionen kaum anzustellen, wenn man nicht Gefahr laufen
will, bei allen Parteien anzustoßen; denn der Adel sehe die Forderung auf alte
Vorrechte zugunsten einer aufgeklärten, freien und starlren Demokratie, in der ein
freier, wohlhabender und aufgeklärter Stand von Landwirten sich entfalten könne,
als Jakobinismus an. Erstrebe man aber eine zweckmäßige, den Großgrundbesitz
einschließende Betriebsgrößenverteilung - gegen eine Pulverisierung des Grund-
vermögens - , so werde man des Aristokratismus bezichtigt. Von der Beamten-
aristokratie aber werde man der Ideologie verdächtigt, wenn man von unzweck-
mäßiger Flurverfassung und der Gefahr der Güterzerstückelung spreche77 • Damit
war um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Begriff des Bauern in der Sozialverfas-
sung in den Streit der Interessen, der ,,l'arteien" und „Ideologien" geraten.
428
m. 9. Liberaler Historismus: Weleker Bauer
gung gebil,deten, so daß man diejenigen darunter versteht, welche auf dem Lande
wohnen und den Landbau als ihr Lebensgeschäft selbst betreiben.
Die Konsequenz solcher im Prinzip nicht nur liberalen, sondern auch demo-
kratischen Begriffsbestimmung wäre das Aufgeben des „Bauernstandes" zu-
gunsten „landwirtschaftlich tätiger Berufspersonen" überhaupt gewesen. Doch
davor scheute Welcker zurück. Zu den Entscheidungsfragen der Agrargesetz-
gebung (Unteilbarkeit, Unveräußerlichkeit) äußerte er sich sehr vorsichtig unter
Hinweis auf die besonderen Zeit- und Landesverhältnisse sowie die Mannigfaltigkeit
der Rücksichten. Zwar solle es keine Restauration der feudalen, kastenmäßigen
Absonderungen der Stiinde geben, aber auch keinen gesetzlichen Vorschub zu
Gunsten einer allgemeinen Gleichmacherei und zur unbedingten Zerstörung aller
früheren Verhältnisse, Einrichtungen und selbst der naturgemäßen Scheidungen
und Unterschiede der Stände, ihrer besonderen Sitten und Lebensweisen. Es ging
Welcker also zwar um die Befreiung und Bildung der Bauern im allgemeinen bür-
gerlichen Sinne, zugleich aber um Bewahrung ihrer naturgemäßen Standesart.
Man bewundere solcher Landleute physische Gesundheit und Kraft wie ihre unver-
dorbene und kräftige Gesinnung und ihr gesundes treffendes Urteil, das männliche
Festhalten alter Treue und alter Grundsätze und Sitten, alter Freiheiten und Rechte.
Ähnlich verband MITTERMAIBR die historische Retrachtung mit der Bejahung der
liberalen Reformen und sah die Zeit nahe, wo der alte Begriß: Bauer seine verächt-
liche Nebenbedeutwng verUeß und von einem .Bauernstande in dem Sinne, wie man
noch vor mehreren Jahren davon sprechen konnte, nicht mehr gesprochen werden kann.
JOHANN CARL BERTRAM STÜVE, der Schöpfer der hannoverschen Gesetzgebung zur
Bauernbefreiung, spannte 1828, aus der Anschauung seiner Osnabrücker Heimat
urteilend, den Bogen von der modernen Emanzipation. zur uralten freien Art
„königlicher" Bauern: Es sei die Folge der Herstellung freien Eigentums, daß sich
eine Klasse von Landwirten bildet, die als Könige auf ihrem Hofe die Freiheit schüt-
zen ... Der Charakter des Landmanns ist durchaus aristokratisch; er glaube, daß,
um gut zu sein, die Demokratie aristokratisch sein müsse wie überall, wo das Grund-
eigentum regiert 79 • Hierzu paßt Immermanns „Oberhof" im „Münchhausen" (1838)
und Gotthelfs Bauer, der, wenn er „recht" ist, ein „Edelmann" ist, wie die Bäuerin
eine „kleine Königin". Mit dieser Harmonisierung - sowohl Emanzipation wie
Erhaltung guter, o,lter Art - ist nicht nur die breite mittlere Linie des „Vormärz",
sondern im Grunde auch der darauffolgenden Zeiten bis an die Gegenwart heran
bezeichnet, anfangs noch in betontem Gegens-atz zum „niedrigen", „untertänigen",
„armen" Bauern der überwundenen Sozialverfassung des „Feudalismus". Nur blieb
es in der Härte des wirklichen Lebens nicht aus, daß es vielfach an der Fähigkeit
und am Willen gebrach, diese Synthese von Moderne und Standesbewahrung sach-
lich und begrifflich durchzuhalten. So liefen im 19. Jahrhundert typisch nebenein-
ander her: auf der einen Seite die nationalökonomische Kennzeichnung des kleinen
Grundbesitzers 80 oder des „Landwirts", die sich mühelos in jede Moderniserung ein-
fügen ließ, auf der anderen Seite der ideologisch befrachtete Begriff des Bauern,
der zu dieser Entwicklung meist im Gegensatz gesehen wurde.
7e Briefe Johann Carl Bertram Stüves, hg. v. WALTER VOGEL, Bd. 1(Göttingen1959), 116.
ao WILH. HEINRICH RIEHL, Art. Bauernstand, BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 1 (1857), 680.
429
Bauer m. 10. Der Begriff im Sozialismus: Man: untl Engel&
10. Der Begrilf im Sozialismus: Man: und Engels
Um 1840 traten auch die von List noch rocht mitgemeinten Sozialisten in diesen
Kampf ein. In den Utopien der frühen Sozialisten ging es um die Gesellschaft der
Zukunft mit Gütergemeinschaft und Arbeitspflicht, mit gemindertem oder gerecht
neu geregeltem (Grund-)Eigentum. Mochten solche Vorstellungen auf einen vollen
(insbesondere agrarischen) Kommunismus oder auf kleinbäuerliche Existenz im
Anarchismus hinauslaufen, sie blieben ohne wesentliche Bedeutung für die deutsche
Begriffsgeschichte vom Bauern. Dagegen stellte sich das Problem bei MARx und
ENGELS sowie später in der den „Marxismus" allmählich annehmenden deutschen
Sozialdemokratie. Marx verband sozialistisch-kommunistische Zukunftserwartun-
gen mit nationalökonomischen Lehren und Erfahrungen aus England, wenn er im
„Kommunistischen Manifest" und, breiter begründet, im „Kapital" von der not-
wendigen „Expropriation" oder „Proletarisierung" der „kleinen Mittelstände",
d. h. auch der Bauern, im fortschreitenden Prozeß der „kapitalistischen" Entwick-
lung sprach.
Bereits vor der großen Revolution mußte es für ihn zu einer Schwächung und
Verminderung der Bauern kommen. Nach der Revolution aber würden die Groß-
grundbesitzer enteignet, ihr Land aufgeteilt und die Ranern - in ihrem eigenen
Tnt~rr.RAP. - in landwirt.~chaftliche C'remeinwirtimhaftim iihArföbrt worden. 1848
sagte Marx voraus: Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung indus~ller Armeen,
besorulers für den Ackerbau; Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und 1ndustrie,
Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land
in einer glücklichen Zukunftsentwicklung, in der der Idiotismus des Landlebens
der Vcrgangenheit angehören werde 81 •
:Marx und Engels hofft&n also darauf, daß dor Bo.uor, gleichgültig welchen Typs,
überhaupt verschwinden werde. Sprachen sie aber nicht von der Zukunftserwar-
tung, sondern vom Bauern, wie er sich ihnen hie et nunc darstellte, so schwankten
sie zwischen zwei entgegengesetzten Vorstellungen:
a) Sie sahen den Bauern im Zusammenhang ,der „Mittelstände" hinter der die Ent-
wicklung vorantreibenden Bourgeoisie zurückbleiben oder sich dieser Entwicklung.
erfolglos entgegenstellen - nicht revolutionär, sondern· konservativ 82 • Im Hinblick
auf die französischen Bauern („Parzellenbauern") sprach Marx von ihrer wirtschaft-
lichen Selbstgenügsamkeit und ihrer individuell isolierten Lebensweise. Sie seien
zwar eine „Klasse" infolge ihrer gemeinsamen Interessenlage neben oder im Gegen-
satz zu den anderen Klassen; aber insofern nur ein lokaler Zusammenhang unter
den Parzellenbauern besteht, die Die.selbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit,
keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt,
bilden sie keine Klasse . . . Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten
werden83•
81 MARx/ENGELS, Kommunistisches Manifest (1848), MEW Bd. 4 (1959), 481.
82 Ebd., 472.
83 KARL M.utx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW Bd. 8 (1960), 198. Vgl.
Rrnm., Die bürgerliche Gesellschaft, 6. Aufl. (Stuttgart 1861), 111 f.: Ein Netz der revolu-
tionären Propaganda iiber den deutschen Bauernetand zu wer/en, ist um deawillen unmöglich,
weil man vorher den Bauern a'U8 seinem örtlichen Sonderleben hera'U8reißen müßte, und das
wäre eine Aufgabe für Jahrhunderte.
430
m. 11. 'Stand' im Industriesystem: Riehl Bauer
Für den Begriff des Bauern im deutschen Bewußtsein blieb das alles von geringer
Bedeutung, um so mehr, als sich. die SPD selbst praktisch und theoretisch zuneh-
mend auf den Individualbauern einstellte87 • Wir sehen vielmehr, daß von der Mitte
des 19. Jahrhunderts an, als Bauernbefreiung, RAvolution und ländlicher Paupe-
rismus aufhörten, drängende Probleme zu sein, die Begriffe des Bauern und des
Bauernstandes, ungeachtet des unterschiedlichen Fortschreitens oder Zurückblei-
bens der bäuerlichen Betriebe in der landwirtschaftlichen Entwicklung, eher von
84 ENGELS forderte, es müsse den Bauern begreiflich gemacht werden, daß wir ihnen ihren
Haus- und Feldbesitz nur retten, nur erhalten können durch Verwandlung in genossensclwft-
liehen Besitz und Betrieb. Es ist ia gerade die durch den Einzelbesitz bedingte Einzelwirtschaft,
die die Bauern dem Untergang zutreibt; Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland,
MEW Bd. 22 (1963), 500.
86 MARx:; Neue Rheinische Zeitung, Nr. 81 (20. 8. 1848), zit. WERNER CoNZE, Einleitung zu:
KARL MARx, Manuskripte über die polnische Frage (1863-1864), hg. v. Werner Conze und
Dieter Hertz-Eichenrode (Den Haag 1961), 12.
8 8 MARx, Brief an Engels v. 16. 4. 1856, MEW Bd. 29 (1963), 47.
87 Grundiegend EDUARD DAVID, Sozialismus und Landwirtschaft (1903; 2. Aufl. Leipzig
1922).
431
Bauer m. 11. 'Stand' iw ludustrlesystem: Riehl
neuem abgesondert, als der Vorstellung einer allmählichen Angleichung von Stadt
und Land im Industriesystem aufgeopfert wurden.
Die Forschung jener Zeit, gipfelnd in. Hanssen und Meitzen, hat diese Tendenz
gestützt. Sie war vorwiegend historisch, z. T. speziell rechtsgeschichtlich oder auch
sozialgeschichtlich-soziologisch vergleichend gerichtet88• Ein national bestimm-
ter Historismus war ihre sich fast von selbst verstehende Grundlage. Das führte
zu wissenschaftlich begründeter Erkenntnis über die eigene, nationale Art im Ver-
gleich öder im Gegensatz zu anderen Nationen und Völkergruppen, somit zu ver-
tiefter Verbindung von Bauern- und Nationalgeschichte. HAXTHAUSEN, der die
russische Eigenart in der bäuerlichen Umteilungsgemeinde des Mir oder der Obllcina
entdeckt zu haben glaubte89, legte seinen Studien das Prinzip zugrunde, daß ins-
IJesondere die l,ändlichen Verhältnisse, sowohl die materiellen als die Rechtsverhältnisse
bei jedem Volke eine "besondere nationale Grundlage haben 90• Von solcher Voraus-
setzung aus wurden die verschiedenartigen „Agrarverfassungen" der europäischen
Völker, z. T. bezogen auf Germanen, Slawen und auch Romanen, herausgearbeitet:
englisch-westeuropäische Geldpacht, französische Freiteilbarkeit, mediterrane Teil-
pacht, deutscher Bauernstand, russischer „UrkommunismuR" llRW., hiR 7.lH' niffe-
renzierung von Agrarverfassungstypen im deutschen Bereich durch die Schule
G. F. Knapps g1ig1m Emfo des Jahrhunderts 91• Wie leicht solche wissenschaftlichen
Erkenntnisse oder auch Irrtümer, wie im Falle von Haxthausens Interpretation
der Mir-Verfassung, national-publizistisch übersetzt zu (keineswegs durchweg un-
berechtigtem) Stolz, aber auch zur Überschätzung eines spezifisch deutschen Bauern-
tums führen konnten, zeigen viele Äußerungen zur deutschen Bauerngeschichte bis
hin zum Nat.ionalsozialismus.
Eine national-konservative Wertung zu Beginn dieser Entwicklung zeigt HERMANN
WAGENERS Lexikon (1860), wo die Geldpacht Italiens, Frankreichs, Englands und
Schottlands sowie die italienische Halbpacht als verderblich, ja zerstörend für den
Bauernstand {das Wort 'Bauerntum' fehlt auch hier noch!) bezeichnet, für Deutsch-
land aber festgestellt und gefordert wurde: Nur solange der Bauer ein echter Natural-
wirt bleibt, bildet er die wahre Wurzel des Volks in ökonomischer Beziehung92 •
In diesem Zusammenhang ist WILHELM HEINRICH RIEHL zu sehen, wenngleich
88 Typisch für das fast allein vorwaltende historische und rechtsgeschichtliche Interesse
sind die beiden Artikel „Bauer" („historisch" und „rechtlich") von l\fiTTERMAIER bei
ERSCH/GRUllER (s. Anm. 2).
88 AUGUST F1m. v. IIA..xTHA.USEN, Studien über die inncrn Zustände, das Volksleben und
Hwb. d. Staatswiss., 3. Auß., Bd. 1 (1909), 52 ff.; GEORG v. BELOW, Art. Agrargeschichte,
ebd., 4. Auß., Bd. 1(1923),48ff.; Fucns, Art. Agrargeschichte, Wb. d. Volkswirtschaft,
2. Auß., Bd. l (1906), 30 ff.; WERNER CoNzE, Art. Agrarverfassung, Hwb. d. SozWiss.,
Bd. 1 (1956), 105 ff.
9B W AGENER Bd. 3 (1860), 386 f.
432
m. 11. 'Stand' im Industriesystem: Riehl Bauer
93 RIEDL, Die bürgerliche Gesellschaft (Stuttgart 1851), 65. 75. 80. 107.147.
84 Ebd., 177.
96 Ebd., 73. 76. Allein Gotthelf, der gleich Riehl von „echten", gutgearteten Bauern sprach,
wird von dieser Ablehnung ausgenommen: er habe unter und mit ihnen gelebt·und gewirkt.
Die Spitze gegen die damals sehr erfolgreichen „Schwarzwälder Dorfgeschichten"
(Mannheim 1843, 4. Aufl. 1847, Fortsetzung in 3 Bänden 1848/53) von BERTHOLD AUER-
BACH ist nicht zu übersehen.
96 Ebd., 53.
28-90385/1 433
Bauer m. 11. •stand' im Industriesystem: Riebl
idee hat er sich bis zur Stunde noch nickt vol"lauf erheben können. So ist der deutsche
Bauersmann wohl national mit Leib und Leben, Geist und Herz und Sitte, aber die
bewußte Idee der Nationalität ist ihm so gewiß noch nickt aufgegangen, als er sie in
seiner Beschränkung in der Tat auch gar nickt nötig hat97•
Riehl hielt also die Wirklichkeit eines kräftigen, selbstbewußten, naturnahen
Bauerntums fest, wie es damals in Deutschland, ungeachtet aller von Riehl selbst
geschilderten landschaftlichen Mannigfaltigkeit bestand, nicht weil er davon über-
zeugt war, daß dieser Zustand für alle Zeit unverändert bleiben könne oder müsse,
wohl aber, weil er krampfhaft voreilige oder landfremd intellektuelle Angriffe
auf die gute alte Art des Bauern für verhängnisvoll hielt. Den Vollzug der Bauern-
befreiung in ihren verschiedenen Teilen nahm er bejahend als gegeben hin, warnte
aber vor den damit verbundenen Erfolg11il111RionAn. St.f'lllt.en wir oben die Bildung
desBauernzum„Mensohen",zum „rationollon Landwirt" und zum „Sta.a.tsbürger"
als den. Kern dessen hin, was die Reformer um 1800 als Begriff des neuen Bauern
im Sinne hatten, so erkennen wir, daß Riehls Begriff vom Bauern alle drei Prädi-
kate halb wieder aufgab: a) Der Bauer war für ihn gewiß ein Mensch, da er nicht
dem hörigen armen Mann oder den ausgemergelten deutschen Hungerbauern 98 , dem
BauernproZetariat 99 , gleichen sollte; er sollte aber, ähnlich wie bei Möser, keines-
wegs ein Mensch an sich, sondern der besondere Mensch von eigener bäuerlicher
Art sein~ In der sog. gebildeten Welt exi.<d.ierl, wi,rkt de.r Mensch vieZ mehr als ein-
zelner; der Bauer dagegen existiert und wirkt aZs Gruppe, als Gesamtheit des Standes 100.
b) Der Bauer sollte sich gewiß nicht prinzipiell der „rationellen Landwirtschaft"
verschließen. Aber nicht der Bauer sollte den Theorien der ökonomischen Ratio-
nalisten linterworfen werden, so11dern diese sollten ihre „ökonomische Politik"
bauernnahe der „sozialen Politik" einordnen. Dem Bauer obliege es nicht, theore-
ti~he V Br.mchB zu machen, sondern nur pMktt80lw, für die er mit .seinetn GeZdbe·utel
einstehen muß 101 • c) Schließlich sollte der Bauer durchaus Staatsbürger werden
können, aber auch hier nur allmählich; denn einstweilen habe er noch kein un-
mittelbares Verhältnis zur modernen Nation und zum modernen Staat, dem er
begreiflicherweise mit Mißtrauen begegne. Über die Gemeinde werde er zur poli-
tischen Verantwortlichkeit gelangen. Im zentralisierenden Polizeistaat sei der Bauer
nur durch seine Trägheit eine erkaltende Macht im Staate gewesen. Bei erhöhter Selb-
ständigkeit der Gemeinde wird er erst recht auch handelnd zur etrkaltenden Macht 102 •
Das könne eine festigende Wirkung für einen Staat der Zukunft ausüben, der
wahrhaft soziale Politik vernünftiger Bewahrung treibe. Der Bauer sei die konser-
vative Macht im Staate10 3 ; diese gelte es daher zu erhalten. „Konservativ" ist dabei
nicht ideologisch-pafteigerichtet, sondern allgemeiner im Sinne von „beharrend",
wenn auch in deutlicher Frontstellung gegen die liberal- und sozial-demokratischen
97 Ebd., 63:
98 Ebd., 138.
99 Ebd., 52. 90.
100 Ebd., 55.
101 Ebd., 68.
lOZ Ebd., 143.
103 Ebd., 136.
434
m. 12. Genouemebafteu muI Vereine Bauer
Strömungen der Zeit zu verstehen1 0'. Riehl hat mit diesen eozialkonservativen
Korrekturen die deutsche Bauernbefreiung und deren Begriff des Bauern zwar als
vollzogen angenommen, in ihren aufklärerischen Prinzipien jedoch verneint und
damit gewissermaßen in ihren Spitzen zurückgenommen. Das wirkte als Haupt-
strömung bis weit ins 20. J1J.hrhundert hinein, mochte diese Wirkung auch nur
teilweise auf Riehl selbst zurückgehen.
Dem entsprach es, daß alsbald nach der Mitte des Jahrhunderte eine neue Wert-
schätzung des Bauern aufkam, verbunden mit dem Bewußtsein, daß der Bauer
gegen die Gefahren geschützt werden müeee, die eich für ihn aus der zunehmenden
Abhängigkeit von der Geldwirtschaft ergaben. Zu diesem Zweck sollte der bäuer-
liche Selbstschutz in neuartigen Vereinen organisiert werden. Hierbei wurden, wie
noch nie zuvor, die Bauern selbst aktiv. Im landwirtschaftlich-ökonomischen Ver-
einswesen waren sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderte nur· beteiligt, aber kaum
führend gewesen. Nun entstanden bäuerliche Organisationen, die zwar nicht von
Bauern selbst ins Leben gerufen, aber von Bauern getragen wurden. So kam es
alsbald in. starkem Maße zu Selbstäußerungen der Bauern, die sich selbst „he-
griJ!o11" · freilich ganz in der eohon bereitliegenden, ideologi&ch p;olo.donen fü1griffs-
welt, die für wirtschaftliche Interel!Se11pulitik und berufsständische Behauptung
übernommen wurde.
RA.IFFEISENS Darlehenskassenvereine, für die Schulze-Delitzechs Neuprägung des
alten Wortes 'Genossenschaft' (statt 'Assoziation') übernommen wurde, entwickel-
ten eich in dieser Richtung. Raiffeisen hatte sie unter den Gedanken der Selbsthilfe
und der Solidarität llui Lehen gerufeu, g1uiz von der Pram herkommend, ohne
freilich einen vorgeprägten Begriff vom Bauern anzuwenden. Im Vorwort zu seinem.
Buch über die Darlehenskassenvereine (1866) gab er einen Bericht über die Ge-
schichte dieser Vereine, in der stete nur von länd,lieher oder l,and,wirtschaftlieher
Bevölkerung, vom wiehJ,igsten aller Gewerbe, der Land,wirtschaft oder von unbemit-
telten Land,wirten, nicht dagegen von 'Bauern' in Sonderbetonung die Rede iet106,.
Suchte Rai:ffeisen dem in der zunehmenden Vermarktung seiner Wirtschaft ge-
fährdeten Bauern praktisch und hilfsbereit durch die Organisierung eines genossen•
echaftlichen Kreditwesens die Anpaeeung an die eich wandelnden Wirtschafts-
bedingungen zu erleichtern, eo gingen die von den sechziger Jahren an eich bilden-
den Bauernvereine bewußt darüber hinaus, indem sie den Bauern nicht nur Wirt-
schaftshilfe, sondern vor allem christlich-stä.ndieohe Rückendeckung gegen die
„materielle Richtung" der Zeit geben sollten. FREIHERR BURGHARD VON SCHOR-
184 Vgl. de.zu HERDER Bd. 1 (1854), 430: Der eigentliche Bauer oder der Grund-
be8'tzer i8t durch &ein lntere8ae gezwungen, ein Konaervativer zu &ein, und der Bauernatanii
i8t ein eauptp/eüer de& monarchi&chen Staat&. Ähnlich RIEDL, Art.Bauernstand, BLUNTSCJilJ./
BRATER Bd. 1, 686: Er bildet keine konaervative Partei, aber er bil,det eine konaervative Macht.
Zur Wirkting Riehls. auf die Konversationslexika der zweiten Jahrhunderthälfte mit
Belegen zum „konservativen" Bauern vgl. MUTH, „Bauer", 89 ff. (s. Anm. 71).
105 FRIEDR. WILHELM RAilrFEIBEN, Die Darlehnskassen-Vereine ... als Mittel zur Abhilfe
der Noth der ländlichen Bevölkerung (1866; 3. Auß. Neuwied 1881), 2. 5.
435
W. 13, Del' Bauel' als „Blutquell" dl!I' Nation
Doch just in einer Zeit, in der (seit der Mitte des Jahrhunderts) der bäuerliche oder
der „landwirtschaftlich tätige" Anteil an der Gesamtbevölkerung im Sinken be-
griffen war, setzte sich in Wissenschaft und Publizistik die Vorstellung durch·, daß
die Regeneration des Volkes allein durch die überschüssige Lebenskraft des Bauern-
tums möglich sei, die nicht bodengebundenen Menschen und Berufe also stets der
nachwuchsspendenden Quelle des Landvolks bedürften.
106 Ders., Entwurf zu Statuten für einen zu bildenden Bauernverein (1862), § 1, zit. FRANZ,
Quellen, 457.
107 Statuten des westfälischen Bauernvereins (1871), § 2, zit. FRANZ, Quellen, 458 f.
436
IV. Aoehlir.k Bauet
GEORG .li.ANSSEN wandte sich 1889 gegen die Meinung, daß die tlrei Ilauptgruppen
der „Bevölkerung", Grundbesitzer, bürgerlicher Mittelstand und Proletarier, sich
jeweils aus eigener Kraft erhalten könnten. Die drei Klassen seien vielmehr die
verschiedenen Entwicklungsstufen derselben Bevölkernng. NU'f die erste Klasse, der
Stand der Grundbesitzer, ist dauernd; aus dem Überschuß an Kräften, wewhen er
erzeugt, bildet sich zuerst die städtische Bevölkernng, aus ihm wird sie fortwährend
erneuert und ersetzt1 08 • WILHELM RoscHER brauchte das Bild vom Bauernstand als
der Wurzel des Volksbaumes, an dem alles absterben könne, wenn nur die Wurzel,
aus der alles ersetzt werden könne, gesund sei10D.
Damit erhielt der Begriff des Bauern eine neue, auf die Macht des Nationalstaats
bezogene Wertung, die in Deutsch-Österreich110 deswegen besonders lebhaft ent-
wickelt wurde, weil sich das Deutschtum dort in die Defensive gedrängt sah. Mit
dieser Konzeption waren eng die Bestrebungen der Zeit verbunden, der „Land-
flucht"111 zu steuern, die „innere Kolonisation" zu beleben und deutsches „Volks-
tum" im Bodenkampf gegen das „Slaventum" zu behaupten. 'Bauerntum' wurde
nationalpolitisch und schließlich auch „rassisch" begriffen; es wurde ein wesent-
licher Bestandteil „völkischer" Ideologie.
IV. Ausblick
Der Begriff des Bauern ist im deutschen Sprachbereich seit der Mitte des 19. Jahr-
hunderts durch die Spannung zwischen „freiem Landwirt" und „bäuerlichem Stan-
desgenossen" beherrscht gewesen. Das deutsche Bauerntum im Zeitalter des Kapi-
talismus112 hatte sich zwar in ökonomischer Anpassung landwirtschaftlich ent-
wickelt; es war aber, wie ALBRECHT 1926 feststellte, bei den deutscheuBauem uiuht
zur Ausbildung eine.'3 „lrn.pitaliRtiimhen" Betriebes gekommen. Trotz allen Erwerbs-
strebens auch des Bauern sei bestehen geblieben: Der Klassencharakter des Bauern-
tums ... ist nicht das Entscheidende, das Bleibende und Endgültige in seiner geschicht-
lichen Entwicklung; dies ist vielmehr sein berufsständischer Charakter, wenn er auch
zu bestimmten Zeiten hinter anderen gesellschaftlichen Gliederungsformen zurück-
168 GEORG IlANSSEN, Die drei Bevölkerungsstufen. Ein Versuch, die Ursachen für das
Der Zug vom Lande und die soziale Revolution (Leipzig 1894), IV. Als „Denkspruch"
wurde cs Sohönerers Bauernprogramm von 1886 vorangestellt; EDUARD PrcHL, Georg
Schönerer, Bd. 1 (Oldenburg, Berlin 1938), 218. Vgl. RIEHL, Art. Bauernstand, BLUNTSCHLI/
BRATER Bd. 1, 372: WurzeZ des VoZks, auch schon unter Hinweis auf Roscher. Die Vor-
stellung von der volkserhaltenden oder volksverjüngenden Bedeutung der Bauern ent-
sprach offenbar der Steigerung des Nationalismus um und nach 1848. Vgl. CARL FRAAs'
Polemik gegen die Pseudozivilisation und seinen Preis der bäuerlichen Arbeit, die ursprüng-
Ziche Kraft der Rasse am sichersten erkaUend . ... Wie man VöZker in Masse künstlich ent-
arten machen kann, so mag sich auch wieder die Rasse veredeln lassen; Geschichte der Land-
wirtschaft (Prag 1852), 11 f.
110 Gute Beispiele dafür bei FRANZ, Quellen, 484 ff.
111 Typisch und anstoßgebend SOHNREY (s. Anm. 109).
1 11 So der Titel des Beitrags von GERHARD ALBRECHT, Grundr. d. SozÖk„ Bd. 9/1 (1926),
35ff.
437
Bauer IV. Ausblick
getreten ist113• Es war bezeichnend, daß hinter den Urteilen und Wertungen des
Albrechtschen Beitrags sowohl die Wiederentdeckung von Riehl als auch die Auf-
fassung vom „unbewegten" Wesen des Bauerntums bei SPENGLERstand11 4 •
Im Nationalsozialismus wurde diese berufsständische Idee mit der gleichfalls schon
älteren Vorstellung vom Bauerntum als dem gesunden Urgrund von Volkstum und
Rasse verbunden („Blut und Boden"). R. WALTHER DARRE, der in den Jahren vor
dem Zweiten Weltkrieg die nationalsozialistische Agrarpolitik propagandistisch
weitgehend bestimmte, sah Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rassel15,
als Blutsquelle des Volkes: Aufgabe des Bauerntums sei nicht nur die Ernährung
(und Autarkisierung116), sondern auch die „Aufnordung" des Volkes; zu ihr sei es
besonders berufen, weil es sich, allen Nöten zum Trotz, durch das letzte Jahrtausend
hindurch „artrein" erhalten habe117. Durch die Annahme dieser „blutsmäßigen"
Vorzugsstellung der Bauern kam Darre, ähnlich wie Arndt ein Jahrhundert zuvor,
zu der Forderung, einen neuen - Adel aus dem Bauerntum zu entwickelnllR,
In Anknüpfung an den germanischen 'Odals'-Begrift', demzufolge nur die Inhaber
eines . . . Erbhofes zum Adel gerechnet wurden 119, wollte er den Begriff 'Bauer' auf
den Eigentümer eines durch das Reichserbhofgesetz vom 29. 9. 1933 vor Veräuße-
rung und Verschuldung geschützten „Erbhofs" beschränkt wissen. 'Bauer' sollte
zum Ehrennamen werden, dem allM Abschätzige genommen war. lu bt1wußL 11.uLi-
liberaler Wendung120 ordnete Darre den Begriff 'Landwirt', seit dem 18. Jahrhun-
dert zunehmend Bezeichnung für den im rationellen Wirtschaftungssystem „ge-
bildeten Bauern", dem Pro:fitstreben des Kapitalismus zu und wertete ihn dadurch
ab 121• Das Reichserbhofgesetz ist dieser krassen Pejorisierung allerdings nicht ganz
gefolgt; 'Landwirt' wurde die Bezeichnung fii-r diej1migen Landleute, deren Besitz
größer oder kleiner war als die allein dem 'Bauer' reservierte Erbhofgröße von
mindestens einer Ackernahrung (rund 7,5 ha) bis höchstens 125 ha122•
Damit war der Begriff 'Bauer' weitgehend - entgegen alter Sprachtradition -
vom Kleinbesitz gelöst und nur den „mittleren Grundeigentümern" im Sinne des
438
IV. Ausblick Bauer
Freiherrn vom Stein vurLehalten. Indem nur 'Bauer' sein konnte, wer deutscher
Staatsbürger, deutscher oder stammesgleichen Blutes und ehrbar war12 3 , war die berufs-
ständische Bauernideologie mit der rassischen verschmolzen, damit zur letzten
Übersteigerung gebracht und durch Gesetz für das praktische Leben verbindlich
gemacht worden. Durch seine weltanschaulich begründete Überbetonung des
Bauerntums wollte der Nationalsozialismus den Bauern aus seiner Defensivstellung
im „Kapitalismus" herausholen und als „ersten Stand", als „Nährstand" in natio-
nalsozialistischer Neudeutung alter Begriffe, als Fundament der gesamten Nation 1 H
in eine „organische" Volksordnung hineinstellen, die der Modernisierung der Bauern
in der modernen Gesellschaft entgegenstand.
Nach dem Ende des Nationalsozialismus und damit auch der „Blut- und Roden"-
Ideologie ist in Westdeutschland die Tradition einer „mittelständischen" Inter-
essenpolitik für den Bauern bei zunehmender Entideologisierung unter dein Druck
schneller Strukturwandlung der Landwirtschaft und Anpassung an die rasche tech-
nische Umstellung fortgesetzt worden. Der Begriff eines 'Bauernstandes' eigener,
der Stadt entgegengesetzter Art, ist im Schwinden begriffen126 • Im östlichen Teil
Deutschlands dagegen ist der Begriff 'Bauer', soweit es sich um die offizielle Sprache
handelt, in die marxistisch-leninistische Tradition gestellt und klassenmäßig ver-
aukerL worden. Weil die werktätigen Bauorn wie die Arbeiter in gleicher We.il'IA vom
Kapital ausgebeutet würden, stimmten die (}rundinteressen der Bauern als Werk-
tätige ... mit denen der Arbeiterklasse überein; in gemeinsamem Kampf müßten sie
auf den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau des Sozialismus hinarbeiten.
Dieses Bündnis finde seinen Ausdruck in der leninisti1:ichen Begriffsverbindung
'Arbeiter- und Bauern-Macht'. Die Enteignung der 'Bauern' und ihre Verwandlung
in abhängige Arbeitskräfte nach dem Vorbild der russischen Kolchosniki in der
demokratischen Bodenreform habe zu einer grundlegenden Änderung der bäuer-
lichen Klassenstruktur geführt: Die werktätige· Bauernschaft wurde zu einer Grund-
klasse der antifaschistisch-demokratischen Ordnung, die - zusammen mit den ehe-
mals kapitalistischen Großbauern und den Landarbeitern - nach dem Eintritt in
landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften die neue Klasse der Genossenschafts-
bauern bilde 128•
WERNER CONZE
123 Einleitung zum Reichserbhofgesetz, zit. DARRE, Unser Weg, 101 (s. Anm. 122).
124 AnoLF llrrLER, Mein Kampf, 636.-640. Aufl. (München 1941), 151.
126 Einen wichtigen literarhistorischen Überblick auf die dem 19. Jalirhundert eigentümlich
gewesene Entgegensetzung gibt SENGLE, Wunschbild Land und Schreckbild Stadt (s.
Anm. 42). - Viele Hinweise zur Gesamtproblematik des Themas finden sich bei SIEGMUND
v. FRAUENDORFER, Ideengeschichte der Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im deutschen
Sprachgebiet, 2 Bde. (München, Bonn, Wien 1957/58).
126 Kleines politisches Wörterbuch, hg. v. K. ZEISLER (Berlin 1967), 49. 84 f. 332.
439
Bedürfnis
1 Eine Übersicht gibt der zweite Teil des Artikels „Bedürfnis" von U. ScuöNPFLUG,
440
II. 1. Etymologie und Bedeutungskomponenten Bedürfnis
' So z.B. in der gängigen Definition von Arbeit als bewußte& Handel,n zur Befriedigung von
Bedürfnisaen; BR0CX11Aus, Enz., Bd. 1 (1966), 656; vgl. auch RGG 3. Aufl., Bd. l (1957),
534. 537.
s Vgl. KLuaE/MrrZKA 18. Aufl. (1960), 149, s. v. dürfen.
441
Würfnis II. 1. Etymologie und BelleutungU:omponenten
gäugigeu Lexika keiue Am1kunft. Es ist jedenfalls jünger als 'Durft', 'Notdurft' und
'Bedarf' aus der gleichen Wurzel. Der Nachweis eines Erstbelegs dürfte problema-
tisch sein, da das Wort bereits in seinen frühesten Belegen einer Sprachschicht zu-
gehört, die Neubildungen immer aufgeschlossen gegenübersteht; eine Bildung auf
-nis war aber grundsätzlich immer möglich 6 • Als wissenschaftlicher Terminus ist das
Wort jedenfalls nicht geprägt.
Bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts kommt 'Bedürfnis' selten vor,
von etwa 1740-1760 nimmt es an Häufigkeit zu, von etwa 1770 an kann man es
dem allgemeinen Sprachgebrauch zurechnen. Das Spektrum der Verwendungs-
möglichkeiten, das es seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zeigt, ist
vom heutigen nicht mehr wesentlich unterschieden.
'Bedürfnis' als Neutrum setzt sich erst nach 1800 durch. In den älteren Belegen wird
es häufig auch als Femininum gebraucht. In ihnen hat es im Plural die Bedeutung
„fehlende notwendige Dinge", im Singular bedeutet es „Mangel", „Notlage",
„Bedrängnis", auch „Armut" 7• Im Lateinischen wären als Entsprechungen vor
allem „indigentia" 8, „necessitas", für den Plural „necessaria"9 zu nennen. Ent-
sprechend unterscheidet ADELUNG in seiner Bedeutungsangabe zwischen dem Zu-
stand, worin man einer Sache bedarf, und der Sache sellJst, deren man berlar/10 •
In dieser älteren Iledeutung entspricht 'Ilodürfnis' also durohwug 'NuWurft;' und
utuu bereits veraltenden Ausdruck 'Durft' aus der gleichen Wurzel. 'Notdurft' ist
der herkömmliche deutsche Aequivalenzbegri:fffür „necessitas", soweit es sich nicht
um dessen Stringenzkomponente in der logischen Verwendung handelt, sondern um
seine sozial-ökonomische Dimension 11 • Traditionell sind 'necessitas' und 'Notdurft'
8 Nhd. Rildnng i11t, am:nnehm1m, da ilifl mhd. VerbalabBtra.kta. auf ·IÜll durchweg vom
Perfektstamm ausgehen.
7 Man könnte die feminine Form der Bedeutung „Armut", die neutrale der Bedeutung
„Fehlendes" zuordnen. Es ist aber nicht sicher, ob dies durch eine Verwendungsstatistik
eindeutig zu bestätigen ist.
8 'lndigentia' als lat. Entsprechung gibt GRIMM Bd. 1 (1854), 1240, s~ v. Bedürfnis an;
442
D. 1. Etymolope und Bed.eutonsakomponenten Be48rfnls
u Z. B. omne, quod ad tlitae nostrae neceaaitatem ac ll'U8tentationem pertinet .•• Alles, waa zur
Leibeanakrung und -nofdurft gekört; LUTHER, Kleiner Katechismus (1529), WA Bd. 30/1
(1910), 304 f.
18 JusTUs MösER, Advertissement wegen der osnabrückischen Intelligenz-Blätter; SW
Bd. 8 (1956), 128; vgl. auch Bd. 4 (1943), 304 mit Bd. 8, 336.
u Eine eindeutige und verläßliche Übersetzungsbeziehung zwischen 'Bedürfnis' und einem
englischen Wort scheint nicht zu bestehen. Das zeigt ein Blick in die Lexika. Im ökonomi-
schen Bereich werden 'want' und 'Bedürfnis' zusammengerückt; das „Wörterbuch zur
Psychologie", hg. v. JAMES DREVER. u. WERNER D. FnöIILimr, 3. Aufl. (München 1970),
60 gibt 'need' als Entsprechung an. Die üblichen Handlexika bieten weiterhin desire, neces-
sity, requirement usw. und leiten so zu einer Synonymik des Wortfelde über.
u Im Deutschen des 18. Jahrhunderts tritt neben der Wendung „höchste Bedürfniese"
gleichbedeutend „erste Lebensbedürfnisse" au'f, wohl frz. „(premieree) necessites de la vie"
nachgebildet.
18 Vgl. ADELUNG Bd. 1, 692; FlusOH, Dt.-lat. Wb., Bd. 1 (1741), 185 rechnet 'Bedarf' zu
den unechten und veralteten Wörtern; HEYNATZ, Antibarbarus, Bd. 1 (1796), 201 f.;
ERNST 8TEIN1ucH, Vollständiges deutsch-lateinisches Wörterbuch, Bd. 1 (Breslau 1734),
311 stellt dazu fest: vox non ubique usiwt,a.
II. 1. Etymologie unll Beaeutungskomponenten
an mit der Unterscheidung in Zustand und Sache17• CAMPE hat diese Bedeutungs-
angabe für sein Wörterbuch übernom.men 18• Wie ein Bedeutungsunterschied zwi-
schen 'Bedürfnis' und 'Bedarf' nicht feststellbar ist, so ist auch 'Bedarf' von 'Not-
durft' kaum zu unterscheiden.
Campe freilich nahm 1794 an dieser Gemengelage der Ausdrücke Anstoß und for-
derte, daß 'Bedarf' in den allgemeinen Sprachgebrauch einzuführen sei. Er postuliert,
'Notdurft' auf das, was wir, um nicht Not zu leiden, brauchen, zu beziehen, 'Bedürfnis'
auf den Zustand, da man etwas bedarf, und 'Bedarf' auf die Sache, die man bedarf.
Er verwirft ausdrücklich eine Verwendung von 'Bedürfnis' in diesem letzten
. 19
Smn.
Diese Bestimmung von 'Bedarf' als je fohlende oder geforderte Sache, ohne Be-
schränkung auf das zum bloßen Lebensunterhalt Notwendige, ist für die Begriffs-
geschichte von 'Bedarf' wahrscheinlich ausschlaggebend geworden. Denn dieser
Gesichtspunkt kam der Ausweitung von Produktion und Handel entgegen, für die
eine Orientierung jenseits der bloßen Notwendigkeit immer wichtiger wurde, und
ließ ihn so zu einem Grundbegl-iff der Volkswirtschaftslehre werden. Deren Korre-
lation von 'Bedarf' und 'Bedürfnis' ist hier dadurch vorbereitet, daß 'Notdurft' von
'Bedürfnis' abgesetzt wird.
Im Sprachgebrauch gestaltete sich das Verhältnis der Ausdrücke zueinander anders,
als Campe es angestrebt hatte. 'Notdurft' wurde in ein Reservat kirchlich-formel-
haften Gebrauchs zurückgedrängt, 'Bedarf' wurde, wesentlich durch Voß und
Goethe gefördert 20, tatsächlich wiederbelebt, aber eine Unterscheidung zwischen
'Bedürfnis' und 'Bedarf' wurde im iiblichen Sprachgebrauch - in einigen Zusam-
menhängen bis heute - nicht deutlich.
Auf ufo11en „ungenauen" Sprachgebrauch ist ausdrücklich hinzuweisen. In ihm wird
nämlich eine zweite Komponente deutlich, die für die Begriffsgeschichte von 'Be-
dürfnis' wichtig ist, die sich aber nicht in einen genauen Traditionszusammenhang
zu einem lateinischen Vorläufer stellen läßt: nämlich, daß durch beide Substantive
ein praktisches Problem oder das Auftreten einer Komplikation angezeigt werden
kann. Diese Komponente ist auch in 'bedürfen' deutlich, das eine Unterbrechung in
einem Verlauf anzeigt, sobald man einer Sache oder Hilfe 'bedarf'. Sie kann also auf
das Ausgangsverbum selbst zurückgeführt werden, das die inhaltliche Einengung,
die bei dem Adjektiv 'bedürftig' vorliegt, nicht mitvollzogen hat.
Dabei ist eine Angemessenheitsbeziehung impliziert und ein Hinweis auf Umstände
enthalten. Es sei dazu auf die Wendung „je nach Bedarf" verwiesen, in der die
Elemente von Komplikation und Angemessenheit deutlich auf Umstände bezogen
werden, deren Beobachtung erst zu entscheiden erlaubt, ob „Bedarf" besteht und
was zu tun ist. Ein Element von Beliebigkeit oder Ermessen schwingt mit, etwa in
den Komposita „Bedarfshaltestelle" und „Bedürfnisprüfung", vor allem aber ein
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II. 1. Etymologie und Bedeutungskomponenten Bedürfnis
Moment des jeweils Aktuellen 21 • Hierzu gehört die in Buchvorreden beliebte Recht-
fertigung, das folgende Werk sei ein Bedürfnis der Zeit 22 •
Als zweite Komponente von 'Bedürfnis' sei also die des Praktischen, der Komplika-
tion, des Momentan-Aktuellen mit den immanenten Postulaten von Angemessen-
heit und Einsicht registriert. Es liegt auf der Hand, daß sie mit der Komponente des
Unerläßlich-Notwendigen nicht immer zu vereinbaren ist. Hier liegt die Wurzel
dafür, daß 'Bedürfnis' sowohl als Objekt und Grundlage des Planens erscheinen
kann als auch als grundsätzlich jedem Plan Widersprechendes 23•
Die dritte, nachhaltig wirksame Komponente von 'Bedürfnis' ergab sich dadurch,
daß das Wort im Verlauf des 18. Jahrhunderts in psychologische Zusammenhänge
gerückt wurde.
Das Aufkommen der Verwendung von 'Bedürfnis' im Sinn von „Streben", „Ver-
langen", „Trieb(kraft)" ist aus der anfänglichen Bedeutung und der seiner etymolo-
gischen Verwandten nicht zu begründen. Es steht fest, daß 'Bedürfnis' für 'Begierde'
eintritt, das seinerseits Übersetzungswort von 'appetitus' und in der Aufklärungs-
psychologie der Sammelbegriff für seelische Bewegungen und Strebungen ist 24 • Die
Ahlfümne von 'Begierde' durch 'Bedürfnis' zeigt sich daran, daß 'Bedürfnis' mit
Ausdrücken verbunden wird, die 'Begierde' resp. 'appetitus' zugehören und sie als
.Hewegungen charakterisieren, wie etwa 'erwecken' oder 'befriedigen'. Sie zeigt sich
auch in Umschreibungen der beliebten populär-stoischen Maxime von der „Be-
schränkung der Begierden". Daß hier 'Bedürfnis' eingesetzt wurde, hatte auf das
Wort eine wesentliche Rückwirkung: es wurde dadurch in Beziehung gesetzt zu
Glück und zu Freude und Schmerz. Gleichzeitig vermittelte 'Begierde' aber auch an
'Bedürfnis' ein Moment von irrationaler Unkontrollierbarkeit, die es als Nachfolge-
begriff von 'cupiditas' mitführte. ·
Eine Voraussetzung für das übergreifen von 'Bedürfnis' in den Bereich der seelischen
Bewegungen kann man darin sehen, daß zu Anfang des 18. Jahrhunderts ein Mangel
an Ausdrücken für Gemütsbewegungen allgemein registriert wird 25 • ZEDLER stellt
auch der Tugenden und Laster und vieler Beschaffenheiten, so zur Sitten-Lehr und Regierunga-
K unst gehören,· Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung
der Teutschen Sprache,§ 10, abgdr. bei PAUL PlETSCH, Leibniz und die deutsche Sprache,
Wiss. Beih. z. Zs. d. Allg. Dt. Sprachvereins, 4. R„ H. 30 (1908), 330.
445
II. 1. Etymologie und Bedeutungskomponenten
Zusammenhang von Steuererhebung und öffentlichen Aufgaben wie Militär, Brücken- und
Festungsbau usw. erscheint; der Ausdruck schwankt inhaltlich zwischen Geldforderung
Aufgabe, er kann auch öffentliche Notlage (vgl. 'Notdurft') bedeuten.
30 Vgl. RICHARD HoDERMANN, Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache. Christian
Thomasius, seine Vorgänger und Nachfolger, Wiss. Beih. z. Zs. d. Allg. Dt. Sprachvereins,
2. R.., H. 8 (1895), 112.
31 .Am allermeisten aber ist unaer Mangel ... bei denen Worten zu spüren, die sich auf das·
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II. 2. Traditionelle Themenverßeehtungen Bedürfnis
Eben dies sind die thematischen Bereiche, in denen seit rund 1760 die Verwendung
von 'Bedürfnis' außerordentlich zunimmt. Sie geht also wahrscheinlich auch auf den
damaligen Einfluß des Französischen zurück. Die Stellung von 'Bedürfnis' als Aus-
druck der gehobenen Verkehrssprache könnte das bestätigen. Bei einer näheren
Untersuchung wäre hier vor allem die Wirkung der Schriften Rousseaus und der sich
anschließenden Diskussion zu beachten3 2 •
Die Verklammerung der dynamisch-psychischen Komponente mit den beiden Kom-
ponenten von Notwendigkeit und Umständen in komplikationsbezogener Orientie-
rung konstituiert den modernen Begriff von Bedürfnis, wie er von etwa 1760-1770
an vorliegt. Sie erlaubt sowohl seine Verwendung als ökonomischen und psycholo-
gischen Terminus als auch die funktionale in aktuell-politischen Zusammenhängen.
Damit sich die Neuentwicklungen seit der Konstituierung deutlicher abheben,
werden zunächst einige thematische Verflechtungen skizziert, die die Komponenten
aus ihrer eigenen Geschichte in die von 'Bedürfnis' einbringen.
Die Tradition des necessariunr führt vor allem die Unterscheidungen mit sich
zwischen dem, was notwendig ist, und dem, was darüber hinausreicht. Da 'Be-
dürfnis' inhaltlich über das nur Notwendige hinausgreift, kommt von hier aus eine
Spannung in den Ausdruck, die besonders in der politisch-sozialen Diskussion zu
Verständigungsschwierigkeiten und Konflikten führt.
Diese Unterscheidungen entstammen durchweg der antiken und biblischen Tradi-
tion, die hier nicht besprochen werden können. Über das Mittelalter bis in die Neu-
zeit hi~ein wurden sie populär vermittelt in den Auslegungen der vierten Bitte des
Vaterunser, in der „panis" für das Lebensnotwendige steht. Inhaltlich wird dies
formelhaft bestimmt als Nahrung und Kleidung 33, seltener wird auch Wohnung
genannt; hinzu tritt öfters der Friede bzw. eine intakte und gute Obrigkeit34, so daß
also die inhaltliche Bestimmung von 'Bedürfnis' unter dem Aspekt der sustentatio
vitae in die Aufgaben des Gemeinwesens übergeht 35 . In den herkömmlichen Unter-
scheidungen zwischen Notwendigem und Nicht-Notwendigein tritt dieser Aspekt
allerdings kaum auf, und eine genaue Bestimmung fehlt gewöhnlich: das Lebens-
notwendige wird als allgemein eindeutig vorausgesetzt, der Skopus der Unter-
scheidungen liegt durchweg auf dem, was nicht notwendig ist.
88 LESSING benutzt 1751 in der Anzeige von RoUS8Caue 1. Disoours 'Bedürfnis' nioht;
Werke, Bd. 8 (o. J.); 24 :ff.; Wieland verwendet es in seinen zahlreichen Auseinanderset,
zungen mit Rousseaus Thesen ausgiebig.
s3. Im Anschluß an 1. Tim. 6,8 und ähnliche Bibelstellen.
81 Vgl. unten Anm. 45, weiter etwa LUTHER, Großer Katechismus (1529), WA 30/1, 204:
Nu gehöret nicht allein zum leben, daa UMer leib sein fuUer und decke und andere notdurfft
haJJe • • • Summa alles was beide heuaslich und nachbarlich odder l>ürgerlich weaen und regi-
ment belanget. Denn wo diese zwey gehyndert werden, .. . . da ist auch des lebeM notdurfft
gehynderl. Vgl. HAGEDORN, Allgemeines Gebet nach Pope, Werke, Bd. 1, 7 (s. Anm. 9).
86 Vgl. dazu etwa auch LEIBNIZ, Ermahnung an die Toutsoho, ihren verstand und spraohe
beßer zu üben, abgedr. PIETSCH, WiBB. Beih. z. Zs. d. Allg. Dt. Sprachvereins, 4. R., H. 29
(1907), 292 (s. Anm. 25).
447
Bedürfnis D. 2. Traditionelle Tbemenverßeehtangcn
36• Vgl. dazu auch l!ANs BLUMENBERG, Die Legitimität der Neuzeit (Frankfurt 1966),
201 ff.
ae Z.B. AUGUSTIN, Confessiones 10, 31, 44, CSEL Bd. 33 (1896), 259: Nahrungsmittel wie
Medikamente zu verwenden ut quemadmodum medicamenta aie alimenfa aumpturua accedam,
der Genuß würde unmittelbar die Gefahr bringen, ihm zu verfallen.
37 DiAR hiingt. mit. der für die Geschichte des westlichen Denkens wichtigen Unterscheidung
von uti Und frui zusammen; vgl. AUGUSTIN, De divers~s quaestionibus octoginta tribus
liber unus quaestio 30: Utrum omnia in utilitatem hominis creata sint, .MlGNE, .l:'atr. Lat.,
Bd. 40 (1887), 19 f. 'Uti' erscheint als das der menschlichen Rationalität schlechthin ent-
sprechende Verhalten, das auf alles beziehbar ist: ..• utitur etiam iia a quibua ae abatinet,
ad temperantiam (ebd., 20). Da uti als spezifische Fähigkeit des „animal quod rationis est
particeps" erscheint, enthält es zugleich eine Legitimation zu solcher Universalität. Wie
sich dies einerseits im ökonomischen Bereich, andererseits in dem der Kultur des Indivi-
duums ausgewirkt hat, ist noch nicht untersucht.
as Vgl. CHART.l'lS FOURIER, Theorie des quatre mouvements et des deetineee generales,
2. Tl., Epilog. <Euvres compl., 3° ad., t. 1 (Paris 1846; 1906), 183 ff. Vgl. ERNST BLOCH,
Freiheit und Ordnung (Hamburg 1969), 226 ff.
448
II. 2. l'railitiooolle 1'hemeovedlech'11DgeD Bedürfnis
Bedürfnisse politisch: hier werden sie als die V eranl,assung zur bürgerlichen Gesellschaft
begriffen, ihre Vermehrung durch Geld, Industrie und Handel im Gegensatz zum
Ackerbau wird begrüßt. In einem folgenden Artikel über die Bedürfnisse nach den Ge-
setzen der Policey wird hingegen mehr der Mäßigung des Luxus das Wort geredet 39 •
b) Die Unterscheidung zwischen Lebensnotwendigem, Standesbedingtem und Über-
.flüssigem: hier wird zumeist die Frage gestellt, ob der standesbedingte Aufwand dem
Notwendigen oder dem Über.flüssigen zuzurechnen sei. Dabei ergibt sich unter der
Hand eine sozioökonomische Folgerung: daß nämlich die, die keinem Stand zuzu-
rechnen sind, mit einem absoluten ökonomischen Minimum ihr Leben zu fristen
haben. Da andererseits der standesbedingte Aufwand als notwendig, ja als Last
angesehen wird, liegt hier zugleich ein Ansatz für eine gewisse poetische Verklärung
der Armut; auch die staatsfremde Idylle bezieht hieraus Motive.
Thematisch wird bei dieser Unterscheidung die Frage von Standesunterschieden
und ihrer Kennzeichnung durch unterschiedliche Bedürfnisse; sie verquickt sich
mit der Frage nach unterschiedlichen Fähigkeiten. Sie kann im Hinblick auf eine
quasi-biologisch begründete Gleichheit oder Verschiedenheit der Menschen in bezug
auf ihre Bedürfnisse diskutiert werden und bezieht häufig die Eigentumsproblematik
ein. Angesichts der die Unterscheidung in Notwendiges und Über.flüssiges relativie-
renden ökonomischen Entwicklungen der Neuzeit zeigen sich dabei regelrechte
Argumentationaayndrome konservativer und sozialistischer Prägung.
c) Schließlich wäre die für die Geschichte von 'Bedürfnis' wichtige, fast formelhaft
tradierte Unterscheidung in „necessarium und commodum" zu nennen. Sie ist ins
Deutsche unter verschiedenen Formulierungen aufgenommen worden und erscheint
z.B. als erhaltung und vergnügung 40 , erste Bedürfnisse und Wolilgeschmack 41 und
findet sich bei ADELUNG als inhaltliche Angabe von 'Bedürfnis': das umfasse
Sachen, die zum Unterhalte und zur Bequemliohlceit gohöron42, Sie erinnert o.n do.s
aristotelische ~ijv- 8fJ ~);, 43 • Man kann ihr die dreigliedrige Gruppe necessarium -
commodlim - voluptas resp. nothdurft - bequemlichkeit - wohllust 44 zur Seite
stellen.
Wichtig ist besonders die zweigliedrige Gegenüberstellung, sie ist deutlich von der
Einteilung in Notwendiges und Luxus abzusetzen. Sie bewertet nicht, sondern um-
faßt die Erscheinungen menschlichen Zusammenlebens als Kultur und legitimiert
so gerade das, was über das bloß Notwendige - das als physisch Notwendiges er-
scheint - hinausgeht. Dabei zeigt die Seite des commodum häufig einen ästheti-
schen Einschlag; es läßt sich also eine Beziehung zwischen dieser Einteilung und
etwa dem Staat der Not und dem Staat der Freiheit bei Schiller herstellen.
Die Dreierskala erscheint häufig in konkreten Zusammenhängen in der Weise von
Abwägungstopoi, bei denen als Maß die Dringlichkeit gilt. In den Begriff 'Bedürfnis'
tragen sie so die Unterscheidung zwischen dringenden und disponiblen Bedürfnissen
39 Dt. Enc., Bd. 3 {1780), 157 ff. 161 (s. Anm. 116).
40 LEIBNIZ,Ermahnung, 292.
41 MösER, Monarchie und Republik, SW Bd. 9 (1958), 257.
29-90385/1 449
U. 2. Traditionelle Themenverflechtungen
hinein. Dabei führen sie die Beobachtung mit, daß die Notwendigkeit als Deck-
mantel für Habsucht oder Genußsucht dient, und zwar auch vor dem Hab- oder
Genußgierigen selbst46 • Dies ist eine Art Vorläufer von Werbemethoden, die etwas
als notwendig suggerieren, was disponibel ist.
Indem innerhalb von 'Bedürfnis' zwischen Notwendigem und Disponiblem unter-
schieden werden kann, wird deutlich, daß im Zusammenhang der Geschichte dieses
Begriffs die Frage nach Wahl- und Entscheidungsfähigkeit und -freiheit des Men-
schen thematisiert werden kann. Je nach Zusammenhang kann sich damit ein
sozialer oder ökonomischer Bezug verbinden. Einerseits werden die Unterscheidun-
gen, in moralisch oder eher akademisch gefärbten Texten, so thematisiert, daß, in
kynisch-stoischer und christlich-asketischer Tradition, die Entscheidung des ein-
zelnen aufgerufen wird. Andererseits gehen sie in das große ökonomische, soziale
und politische Thema der Verteilung ein.
Die Geschichte der Verteilung „nach Bedürfnissen" und der Rolle, die das Nicht-
Notwendige dabei spielt, würde eine eigene Darstellung erfordern. Sie umfaßt
mehrere Fragen: nach der Berechtigung von Eigentum und Besitz, soweit dies über
das Notwendige hinausgeht, nach der primären Verteilung und der Möglichkeit
einer Neuverteilung. Sie verknüpfen sich mit der Instanz, die als Verteiler gesehen
wird: Gott, der Natur, einem Mächtigen, dem einzelnen, sofern er reich ist oder nur
mehr besitzt als ein anderer, der Gerechtigkeit selbst, dem Staat und endlich der
Wirtschaft. Sie verknüpfen sich mit dem Maß, nach dem zugeteilt wird: der Gleich-
heit, der Gerechtigkeit wiederum - in unterschiedlichen Formulierungen-, den
Leistungen oder Dedürfnissen des Empfängers oder seiner Dedürftigkeit. Und sie
verknüpfen sich mit der Frage nach dem, was verteilt wird: dem Überfluß der im
Luxus Lebenden, dem über das Notwendige Hinausgehenden des einzelnen, dem,
was allgemein vorhanden ist, oder endlich dem, was durch Produktion hinzukommt.
Zwischen diesen beiden letzten Gesichtspunkten liegt eine zeitliche Wende: bis in
das 18. Jahrhundert hinein gehen die Verteilungsvorstellungen gewöhnlich von
einer letztlich konstanten Menge von Verfügbarem aus.
Neben diesen Unterscheidungen der ökonomisch realisierbaren Bedürfnisse führt die
Tradition der Auslegung der viertenBitte noch die Vorstellung „unum necessarium"
mit sich48 • Hier ,h~t das Notwendige keinen Beiklang von Legitimem, sondern be-
deutet tatsächlich sich selbst, der Gegensatz ist eine unübersichtliche Vielfalt von
Belanglosigkeiten. Damit bietet dieser Auslegilngskomplex eine Einbruchstelle für
populärstoische Traditionen mit ihrer Entgegensetzung von Unruhe durch das
viele Gegenständliche und Ruhe im Einen Wesentlichen. Im Hinblick auf spätere
Entfaltungen von 'Bedürfnis' ist wichtig, daß mit der Beziehung von panis als
panis vitae auf das unum necessarium eine Verbindung zum Begriff 'Leben' über-
45 Z.B. AUGUSTIN, Confessiones 10, 31, 44, CSEL Bd. 33, 259: nam quod aaluti aatis est,
delectationi -parum est. Et saepe incertum fit utrum adhuc necesaaria corporis cura subsidium
'J)etat an ooluptaria cupiditatis fallacia ministerium 8Up'J)etat; lsrnoR, Sent.entiarum libri
tres2, 42, 15; Ml:GNE, Patr. Lat„ Bd.83 (1862), 649; LUTHER, Vondengut.en Werken (1520),
WA Bd: 6 (1888), 271.
" Anst.elle eines Katalogs von Quellen vgl. zu diesem trberlieferungskomplex ME!sTER
ECKHART, Tractatus super oratione dominica, hg. v. Erich Seeberg, Die deutschen und
lat.einischen Werke, Lat. Werke (Stuttgart, Berlin 1938 ff.), Bd. 5, 118 ff.
450
D. 2. Traditionelle Themen'ferßeehtungen
liefert wird; 'Leben' hier nicht als sustentatio, sondern als Fülle und Intensität; die
Wahl betrifft dabei nicht etwas Vernünftiges, sondern das Wahre: so kommt hier
eine Verbindung zwischen Leben, Intensität, Wahrheit und Notwendigkeit zu-
stande,· deren Verwirklichung auf einem Akt der Wahl beruht,
Hier ist die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen anzusetzen.
Die wahren sind dabei von Lebensintensität, die falschen von sinnloser Zerstreuung
und Unterwerfung des Menschen unter sie gekennzeichnet. Diese Unterscheidung
verbindet und vermischt sich freilich mit der in wahre als natürliche und scheinbare
als eingebildete, künstliche Bedürfnisse und mit der in notwendige und bloße Luxus-
bedürfnisse gelegentlich bis zur Ununterscheidbarkeit. Ihr Kriterium diesen gegen-
über ist jedoch, daß die wahren Bedürfnisse als Bedürfnisse des Menschen nicht auf
der Hand liegen, sondern die Forderung des 'J"'CiJfhI aedvi'dv enthalten: Das Wesen des
Menschen wird thematisch als Frage nach Freiheit und Selbstbestimmung. Sie ist aus
dem theologisch-moralischen Zusammenhang herausgetreten und hat im politischen
Bereich die enge Verbindung zwischen Bedürfnis und Revolution vorbereitet.
Dazu trug von vornherein die Beziehung zwischen Bedürfnis und Mangel bei. Sie ist
ilnrf'.h iliA n.lAir.h hAilAutnng von 'RAiliiri'ni11' nnfl 'inflieAnti11.' vArmitt11lt unfl iib11r-
liefert einen Ansatz zu dem Problem, wieweit Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf
.Bedürfnisse offen seien und welche Mächte sie beeinträchtigen. Dabei verflechten
sich Psychologisches und Ökonomisches: quicumque appetitus rectus nullo indigens
wird jeweils das Edlere vorziehen, weil nämlich propter indigentiam minus bonum
praeponitur et praeeligitur maiori, ut indigenti praeeligibik est ditari ipsi pkiW-
sophari0. Die Verbindung dieses Satzes mit dem Entwurf, der Leben, Wahrheit,
Intensität und Wahl zusammensieht, läuft unmittelbar darauf hinaus, daß eine
sozialökonomische Beschränkung den Menschen an seinem wirklichen Leben hin-
dert, und bereitet auch die Auffassung vor, daß die Äußerung der Bedürfnisse,
sofern sie nicht durch Umstände sozusagen verbogen wird, den Bedürfnissen selbst
entspricht. Die Übernahme der appetitus-Thematik als dritter Komponente von
'Bedürfnis' hat zu einer kräftigen Entfaltung dieses Themas in psychologischer und
politischer Hinsicht geführt.
Als letzte der Themenverflechtungen, die mit der necessarium-Notdurft-Kompo-
nente von Bedürfnis verbunden sind, ist schließlich der Vergleich von Menschen
und Tieren zu· erwähnen, der mit einem anderen Aspekt von Mangel verbunden ist:
Mangel wird hier, als necessitas, zum Anlaß menschlicher erfinderischer Tätigkeit,
der Produktion. Sicut etiam videmus quod per aliquam industriam subvenitur lwmini
in suis necessitatibus, puta in cibo et vestitu, quorum initia quaedam kabet a ·natura,
scilicet rationem et manus, non autem ipsum compkmentum, sicut cetera animalia,
quibus natura dedit sufficienter tegumentum et cibum48 • Der Ansatz ist vor allem im
Hinblick auf das Verhältnis von natürlichen und künstlichen Bedürfnissen folgen-
reich: während eine zivilisationskritische Auffassung die natürlichen Bedürfnisse
451
II.!, Traditionelle Tbenieuve.rßeoLLWl8eu
mit den wahren zu identifizieren geneigt ist, stellt sich hier die Natur als „Stief-
mutter" der Menschen dar, die zu ihrer hinreichenden Versorgung aktiv und er-
finderisch werden müssen. Mangel als Bedürfnis enthält also eine anthropologische
Aussage; Mangel ist so, als Bedürfnis, eine anthropologische Grundbefindlichkeit,
bei der das Bedürfnis nicht auf Vorfindliches zu seiner Befriedigung bezogen ist,
sondern das, worauf es gerichtet ist, schafft. Damit aber können Kultur und Zivilisa-
tion im weitesten Umfang !!-ls „menschliche Natur" legitimiert werden, und ,Bedürf-
nis' zeigt sich dabei als Stimulans für Aktivität und Zivilisation schlechthin.
Eine Darstellung der Momente, die die zweite Komponente von 'Bedürfnis' in die
Begriffsgeschichte des Wortes einbringt, kann sich nicht an einem lateinischen Vor-
läuferbegriff orientieren. Sie sieht sich direkt verwiesen auf die Thematik des je in
einer bestimmten Situation Erforderlichen, des gegenüber bestehenden Verhält-
nissen aus einer merklichen Komplikation heraus zu Verändernden und des in einem
gegebenen Bezugszusammenhang Angemessenen. Sie ist auch Im Lateinischen nicht
mit einer festen Begrifflichkeit verbunden, utilitas, exigentia, auch necessarium als
Kategorie der Dringlichkeit49 stehen neben z. T. formelhaften Ausdrücken wie
„pro lor.o At, tAmpom", iliA AneAmARRAnhr,it nnil Variahilitii.t vArhinilAn. Fiir die
Thematik aber gibt es ein herkömmliches Paradigma: das ist die Gesetzgebung
oder die Änderung von Uesetzen bzw. ihre Anpassung durch lnterpretation: so muß
die lex, unter anderem, loco temporibus conveniens sein und necessaria, d. h.
ut exigentibus necessitatibus hominum statuatur 50 ; ein Gesetz darf nicht leichtfertig
geändert werden, sondern nur nach gründlicher Prüfung, pro maxima utilitate vel
necessitate, die sich darin zeigen, quod lex consueta aut manifestam iniquitatem con-
tinet, aut eius obseivatio est plurimum nociva 51 • Die Gesetzgebung wird zum Para-
digma menschlicher Geschichte, soweit sie als Veränderung von Bestehendem in
regionaler und temporaler Variabilität erscheint, wobei doch eine Art von Ur-
motivation bestehenbleibt, die die Veränderungen als Anpassungen veranlaßt,
etwa wenn es heißt, quod ab eadem auctoritate debent kges et alia que per eleccionem
statuuntur, suscipere addicionem aut diminucionem vel totalem mutacionem, inter-
pretacionem et suspensionem, secundum exigencia temporum vel locorum et reliquarum
circumstanciarum 52 • Hieraus läßt sich folgern, daß man aus den jeweiligen Ergeb-
nissen auch wieder die Umstände und Bedingungen ablesen könnte. Den Übergang
zu solcher Sicht zeigt die Aufforderung, zum Verständnis historischer Vorgängc in
diese Uin,stände und Bedürfnisse einzudringen 53 • Dabei wird freilich als Promotor
der Veränderung nicht länger eine einzelne auctoritas vorgestellt, sondern eine kol-
lektive Instanz oder die Bedingungen und Verhältnisse selbst, die sich als Bedürf-
nisse bemerkbar machen: darüber wird die Anpassung zu einer - nicht notwendig
bewußten - Funktion des Lebendigen.
'Bedürfnis' wird so zu einer Kategorie, die das Lebendige mit seiner Umwelt in
einen Wirkungszusammenhang setzt, und wird so in die Thematik organischer und
49 Vgl. die Unterscheidung im Begriff des neoessarium bei THOMAS, ebd., art. 3 (S. 177).
&o Die Summa. des Pa.uca.pa.lea. zum Decretum Gra.tia.ni, hg. v. JoH. FRIEDRICH v. SCHULTE
(Gießen 1890), 10 zu distinctio IV, c. 2 (Isidor, Etym. 5, 21).
61 THOMAS VON AQUIN, S. th. 1, 2, qu. 97, a.rt. 2 (S. 190).
n M.u!.sILIUs VON PADUA, Defensor pacis 1, 12, § 3 (S. 64).
53 J. G. HERDER, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), SW Bd. 5 (1891), 73.
452
II. 2. Traditionelle Themenverß~htungen
historischer Vielfalt und Wandelbarkeit einbezogen. Darüber hinaus, .da hier die
Veränderung als Errungenschaft l}Ild Neues positiv erscheint, liegt hier eine Voraus-
setzung für die begriffliche Verbindung von 'Bedürfnis' und Spontaneität, die den
modernen Bedürfnisbegriff bestimmt.
Die Vorgeschichte der psychologischen Komponente von 'Bedürfnis' führt mit
appetitus und anderen Begriffen für die motus animae, wie cupiditas; libido, passio,
desiderium, imaginatio in die antike und mittelalterliche Affektenlehre zurück. Im
Deutschen würde sie das vielfältig sich verschiebende Gefüge von Willen, Vorstellung,
Gefühl, Empfindung, Streben, Einbildung, Leidenschaft, Trieb, Instinkt und Interesse
zu behandeln haben. Unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen und politischen Bedeu- ·
tung seien hier nur einige Aspekte dieser Vorgeschichte von 'Bedürfnis' skizziert.
Für den Begriff von Bedürfnis ist am folgenreichsten, daß mit der Übernahme dieser
Tradition 'Bedürfnis' mit 'Bewegung' verbunden worden ist.
Die Geschichte der Begriffe für seelische Bewegungen in ihrem Vcrhö.ltnis zueinan-
der kann als Entfaltung der Thematik gelesen werden, die vom Aufkommen solcher
Bewegungen handelt, von ihrer Gerichtetheit auf ein Ziel oder Erfüllung hin oder
von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer Steuerung und Kontrolle. 'Bedürfnis'
übernimmt dabei neben der appetitus-Überlieferung auch weitgehend die Proble~
matik der cupiditas. Während appetitus weitgehentl die BetleuLung eines Strebens
nach Befriedigung i~ sich birgt, fehlt dieser Endbezug bei cupiditas. Diese bringt
bereits aus der antiken hnf>vµla das Problem der Befriedung durch Herrschaft mit
ein. Das kann eine Herrschaft des Ich. durch ratio, intellectus oder temperantia
sein54 • Alternativ sieht sich der Mensch durch seine Begierden oder Affekte
versklavt 0 &. Oder die Bändigung der cupiditas wird als Aufgabe der Gesetze be-
trachtet; sie haben den Frieden der Gemeinschaft vor den Auswirkungen unkontrol-
lierter Begehrlichkeit, vor Streit, Unruhe und Chaos, zu schützen66 • Hie.r geht die
psychologische direkt in eine politische Thematik über. 'Bedürfnis' hat aus dieser
Tradition ein spannungsreiches Verhältnis zu Herrschaft und Frieden - als Be-
friedung und Befriedigung - übernommen.
Traditionell liegen dazu folgende Modelle vor: Zügelung durch Selbstkontrolle,
Normen oder Gesetze: dabei sind Herrschaft und Frieden ohne einander nicht denk-
bar. Oder die Begierden beherrschen die Menschen: diese Herrschaft bedeutet·Un-
freiheit, Versklavung und ist selbst ungreifbar und nicht verantwortlich. Oder end-
lich die Herrschaft über Menschen vermittelst subtiler Kenntnis ihrer Seelen-
regungen und Begierden: diese Herrschaft hat einen üblen Ruf, da sie unter dem
H Die gängige Metapher für diese Herrschaft über das aus sioh heraus Grenzenlose ist
'frenes', sie transportiert natürlich ein dualistisches Menschenbild.
66 Am Ende dieses Versklavungsvorganges kann in der psychologischen Tradition wiederum
Bedürfnis als subjektive Notwendigkeit (necessitas) aufgrund von Gewohnheit stehen, vgl.
etwa AUGUSTIN, Confessiones 8, 5, 10, CSEL Bd. 33, 178.
66 Cuius (sc. des Menschen) efjrenes motus et impetus nisi iustitie rigor opprimeret •.. suum
paci.R d?tlcrdo amitteret nomen et arbitrii communis abusio societatis humane fe.dera violaret;
Arenga einer Urkunde Konrads IV. (1254 ?}, MG Const., Bd. 2 (1896), 451, Nr. 344. Die
Verbindung von Begierde zu n10tu1:1 w1d impetus ist im Hinblick auf den politischen Be-
wegungsbegriff zu beachten.~ „Effrenata cupiditas", in verwandten Texten in gleicher
Stellung wie hier effrenes motus et impetus, ist die Übersetzung Ciceros von hnf>vµla;
PAUL WILPERT, Art. Begierde, Rlex. Ant. Chr., Bd. 2 (1951), 62 ff.
453
II. 2. Traditionelle ThemeaTedlechtangea
Deckmantel des Dienstes die Beherrschten für ihre eigenen Ziele benutzt07; dies ist ·
schließlich die Methode des Teufels. Daneben steht appetitus als zwar korrumpier-
bare Intentionalität grundsätzlich im Dienst des einzelnen Organismus und als
Beweggrund für Tätigkeiten, die für den einzelnen oder auch eine Gemeinschaft
notwendig oder angenehm sind.
Wenn nun die historisch recht beständigen Entwürfe der BeZiehungen zwischen
Herrschaft und Begierde im Zusammenfluß der Komponenten in 'Bedürfnis' auf
die vitale Intensität des unum necessarium oder auf die Dringlichkeit treffen, die
bei Gesetzesänderungen Bestehendes in Frage stellt, so kann sich innerhalb von
'Bedürfnis' ein Sprengsatz bilden, der die Vorstellungen einer Legitimität von
Herrschaft zumindest stark erschüttert. Verstärkt wird das noch dadurch, daß
'Bedürfnis' kraft der engen Beziehungen, die im psychologischen Wortfeld zwischen
'Empfindung' und 'Bedürfnis' bestehen, in die Lage gesetzt wird, die Tradition der
positiven Bewertung von Spontaneität aufzunehmen.
Dieser Schlüsselbegriff der Neuzeit selbst ist mit keiner der Komponenten von
'Bedürfnis' in der Tradition verbunden. Aspekte der positiven Bewertung von
Spontaneität sind in den Motiven enthalten, die das liberum arbitrium dem Han-
deln zugrunde legt: so wird etwa ein aus der Tugend der caritas hervorgehender Akt
eiTIP.m flr?.wnng1men Oilt':r aus Notlage hervorgehenden gegenüber höher geachtet.
Die moderne Spontaneitätsvorstellung rückte hier wohl über den Empfindungs-
begriff der Auflärung ein. 'Zwang' gewinnt dabei gegenüber 'Spontaneität' die
Färbung einer fast wertlosen und nur mechanisch geübten Gewohnheit 58• Dies
wirkt auf die Auffassung von Herrschaft zurück. Sie kann seitdem eo ipso als Her-
kömmliches und als Inbegriff alfos die Bediirfnisse und Spontaneität Unterdrücken-
des erscheinen: 'Bedürfnis' kann so in der Folgezeit zu einem Signal emanzipato-
rischer Bestrebungen werden.
Mit der Verklammerung der Komponenten durch den gleichen Wortkörper ist mit
'.Hedürfnis' seit etwa 1760/70 ein neuer Begriff entstanden. Er ist kräftig genug,
aiic.h seinen Komponenten fremde Traditionen an sioh zu ziehen. Gloiohzoitig ho.t
er aber aus seinen Komponenten Bedeutungselemente und Themenverflechtungen
übernommen, die ihn wie selbstverständlich in geradezu gegenläufigen Zusammen-
hängen, innerhalb kontroverser Modelle und Grundvorstellungen und zur Recht-
fertigung gegensätzlicher Ansichten und Maßnahmen auftauchen lassen. Inhaltlich
bestimmt ist er nicht; als 'Begriff' im engeren Sinn kann man ihn allenfalls dann
ansehen, wenn man ihn auf bestimmte Themen beschränkt, etwa auf die Wechsel-
wirkung zwischen Umwelt und Organismus, die Veranlassung menschlicher Pro-
duktion, die Verteilung der Güter.
67 Vgl. etwa GEORG FoRSTER, Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der
Menschheit (1794), Sämtl. Sehr., Bd. 6 (1843), 299.
68 • • • quia multum pl,acet <Yratio quam aarit,aa elicit, non nece88im; MEISTER EcKHART,
Tractatus super Or. Dom., Lat. Werke, hg. v. Ernst Benz, Bd. 4 (Stuttgart, Berlin 1956),
110; ..• folget man den Gebräuchen und nie den eigenen Empfindungen ... ; LESSING, Der
junge Gelehrte, Werke, Bd. 3 (o. J.), 55; nicht bloa aus Gewohnheit oder beruhnender Klug.
heit, sondern aus tiefatem Bedürfniß; HERMANN HlilTTNER, Literaturgeschichte des 18. Jahr-
hunderts, Bd. 3/1 (Braunschweig 1862), 221; • . . entsprang mehr der Notlage ala einem
ehrlichen Bedürfnis; Zeitungsbericht 1971.
454
m.1. Definitionen UDd wi-nschaftliehe Verwend11118
öt S. o. S. 442 (Adelung).
eo GRUBER, Art. Bedürfnis, 324 (s. o. S. 446).
81 FRIEDR. BENED. WILH. v. HERMANN, Sta.atswirthschaftliche Untersuchungen, 2. Aufl.
(München 1870), 5. In der 1. Aufl. (1832) ist die Definition nicht enthalten.
811 Vgl. z. B. FRANZ ÜPPENHEIMER, System der Soziologie, Bd. 3: Theorie der reinen und
politischen Ökonomie, 5. Aufl. (Jena 1923), 18 f.; Wörterbuch der philosophischen Begriffe,
hg. v. JOHANNES H0ll'FlllEI8TER, 2. Aufl. (Hamburg 1955), 105.
456
m. l. De6nttionen und wiuensehaftliche Verwendung
Störung im Gleiclujewicht der Substanz. oder Energie des Organismus und der damit
verbundene, auf Beseitigung der Störung gerichtete Trieb 63 • Dabei schließt. er sich aus-
drücklich der Auffassung McDougalls an, daß „Bedürfnis" ein umgeformter
Instinkt sei.
Das reflektiert Entwicklungen, die zum Thema der Interdependenz von Umwelt
und Organismus gehören und seit der Wende zum 19. Jahrhundert zunehmen.
Dabei erscheint 'Bedürfnis' grundsätzlich als etwas Gesundes, da der Homöostase
des Organismus Dienendes; die traditionellen Aspekte von Gefährdung treten zu-
rück. Noch bevor die Definitionsversuche einsetzen, spielt 'Bedürfnis' als Kategorie
des organischen Funktionszusammenhangs wissenschaftsgeschichtlich eine wichtige
Rolle bei der Ablösung der mechanischen Metaphorik im Zusammenhang der Deu-
tung biologischer Entwicklungsvorgänge und Gestaltbeschreibungen und historisch-
sozialer Erscheinungen 64• Da die Relation zwischen Organiflmm~ unrl Reirn~r UmwP.lt
wesentlich ökonomisch angelegt ist, konnte es weithin zu einem Leitwort materialisti-
scher Geschichtsauffassung werden: Bedürfnis: Streben oder V erl,angen des Menschen
nach Gleiclujewicht mit den ihm umgebenden objektiven Bedingungen ... Die Bedürf-
nisse drücken die praktische Verbindung des Menschen mit seiner Umwelt aus und sind
immer historisch-konkret. Sie sind die ursprünglichen Triebkräfte seiner Tätigkeit65.
Dies greift weit über we volkswirtechaftliche Korrela.tio11 ~wisr,heu Beuiilfüi1:1 UHU
Bedarf hinaus: sie ist auf die Verbindung zwischen Bedürfnis und Mang;el angewiesen.
Die Technik der Werbung demonstriert die Unvereinbarkeit der beiden Präzisie-
rungen zu der Definition Hermanns: wenn ·sie Schuldgefühle bei der Weckung
von Bedürfnissen mobilisiert, leugnet sie spontane Motivationen und setzt an die
Stelle eines auf Homöostase ausgerichteten, biologisch-organischen und als solchen
ökonomisch in sich ausgewogenen Systems eine utopisch-moralische Vollkommen-
heitsvorstellung, während die Störung deA Gleir.hgftwfoht<R rlumh einen Mangel 11.lR
Defekt abgelöst wird.
Die Präzisierungen führen also letztlich auf zwei „Begriffe" von Bedürfnis, die
miteinander nicht .r.11 vereinbaren sind.
Besonders in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist viel Mühe darauf ver-
wendet worden, 'Bedürfnis' zu einem wissenschaftlichen Begriff zu schleifen. Sie
sind großenteils merkwürdig folgenlos geblieben, vielleicht, weil das Wort in seiner
Vielfalt und Widersprüchlichkeit sich einer terminologischen Festlegung entzog.
Festzuhalten ist, daß ihnen die Entdeckung von 'Bedürfnis' als einer geradezu
universalen Kategorie der Erkenntnis historischer und politischer Zusammenhänge
unter psychologisch-ökonomischem Aspekt zugrunde lag. Denn: Das Reich der
Bedürfnisse ist das Leben in seinem Gesamtumfange; Leben heißt Bedürfnisse haben
und befriedigen . . . Die Geschichte und Theorie der menschlichen Bedürfnisse ist eine
Darstellung der menschlichen Wertvorstellungen und ihres Ausdrucks im Verhalten
ihrer Subjekte66.
ea OPPENBEIMER, System, 18 f.
" Vgl. unten S. 457 f.
u MEYER, Neues Lex., Bd. 1, 684.
68 JoAOBDI TmUBTIUS, Der Begriff des Bedürfnisses, Nationalökonomie u. Statistik 103
(1914), 789.
456
a) Bedürfnis, Bewegung und Geschichte Bedürfnis
67 HERDER, Über den Ursprung der Sprache, SW Bd. 5 (1891), 73 f.; vgl. GEORG FoRBTER,
Über die Beziehung der Staatakunst auf das Glück der Menschheit (1794), Sämtl. Sohr.,
Bd. 6 (1843), 284 f,
es GoBTHE, Gespräch vom 4.1. 1824, in: JoH. PETER ECKER.MANN, Gespräche mit Goethe
in den letu;ten .Jahren seines Lebens (Berlin 1911), 375 f. - Die Geschichte dieses Themas,
etwa der Verbindung zum griechisch.neutestamentlichen ieaieoi;-Begriff, kann hier nicht
nachgezeichnet werden.
457
Würlnis m. 2. Charakteristisebe Bedeutungaentfalhmgen
Hier kann man die neuzeitliche funktionale Verwendung von 'Bedürfnis' ansetzen,
die ökonomische, soziale oder politische Vorgänge damit begründet, daß ein ent-
sprechendes Bedürfnis bestanden habe.
'Bedürfnis' als Kategorie der geschichtlichen Bewegung ist aber nicht allein aus der
psychologisch-dynamischen und organologischen Bedeutung herzuleiten. Mit der
Hervorbringung von Neuem verschränkt sich die Vorstellung von einer Bewegung
in der Geschichte überhaupt, die ebenfalls als 'Bedürfnis' bezeichnet werden kann.
Der Ansatz für diese Nuance ist wahrscheinlich im Zus.ammenhang der Übertragung
des universalen kosmischen Bewegungsmodells des Uhrwerks auf Kultur und Zivi-
lisation zu sehen und scheint mit 'besoin' aua dem Französischen vermittelt zu sein;
sie geht der organologischen Nuance zeitlich voraus. Dabei werden als „Triebräder"
oder „Triebfedern" 69 der Kulturerscheinungen die Leidenschaften und Bedürfnisse
angegeben 70 • Sie übernehmen im Deutschen bald einen direkten teleologischen Bezug
auf Zivilisation, Staat, Kultur und erscheinen nicht nur als treibende, sondern als
vorantreibende Kräfte. LESSING etwa schreibt im Zusammenhang von Staats-
verfassung und Glückseligkeit: daß die Natur alles so eingerichtet habe, daß der
Mensch auf die Erfindung von Staaten habe verfallen müssen. Daher komme es,
daß einige die bürgerliche Gesellschaft für Zweck der Natur gehalten. Weil alles, unsere
Leidenschaften und unsere Bedürfnisse, alles darauf führe ... 71 • Der Ansatz für eine
Veruiudung mit der organologischen und dynamischen .Hedeutung von 'Bedürfnis'
ist damit gRgRlum. ~l~ folgt, daß air.h di11 ct11Rnhiohte nlFJ oino Bewegung da.r&tellt,
die ständig Neues als Fortschritt hervorbringen kann; das Neue ist nicht mehr
allein das Ursprüngliche am Anfang der Geschichte.
Ständig Neues hervorzubringen, erscheint weiterhin als eine Möglichkeit des Men-
schen, die mit Bedürfnis als Tätigkeit verbunden wird. Den Ansatz dafür bot das
alte Konzept von einem konstitutionellen Mangel der Menschen gegenüber den
Tieren, der zunächst eher auf eine kompensatorische erfinderische Tätigkeit des
Menschen in einer Art von Ursituation hinwies. Er wird nun ebenfalls geschichtlich
dynamisiert: denn dem Mangel wird nicht dadurch abgeholfen, daß der Mensch
mit Nahrung und Kleidung ve:rsorgt wird, sondern er erscheint als ein immer blei-
bendes und so über die jeweiligen Gegebenheiten hinausführendes Merkmal des
Menschen. Dies führt unmittelbar auf den Zusammenhang von Bedürfnisvermeh-
rung und Kulturentwicklung.
Die Bewegung der Geschichte stellt sich dabei als ein Fortschreiten in Differenzierung
dar. Alle Mlingel und Bedürfnisse, als Tier, waren dringende Anlässe, sich mit allen
Kräften als Mensch zu zeigen: so wie diese Kräfte der Menschheit nicht etwa bloß
schwache Schadlosha"ltungen gegen die ihm ver.~agüm, größeren Tiervollkommenheiten
sions qu'afin que notre indUBtrie les tournat a notre avanf,a,ge, VOLTAIRE, Traite de metaphy-
sique, zit. HANS BLUMENBERG, Paradigmen einer Metaphorologie, Arch. f. Begrüfsgesch. 6
(1960), 79 wirkt wie eine Umprägung fler oben S. 451 zitierten Stelle; die ökonomische
necessitas ist zur Antriebskraft dynamisch uminterpretiert.
71 LESSING, Ernst und Falk, 2. Gespräch. Sämtl. Sohr., Bd. 13 (1897), 353.
458
b) Umatiade, Gewohnheiten un• Bediirfniue Bedürfnis
waren, .. . : sondern sie waren ... seine Art 72 • Die Natur, die weniger stiefmiitterlich
ist, als ihre Verleuinder sie schildern, legt oft in ihre Kargheit selbst den Sporn, der
neue Anstrengung hervorruft und die Geistesanlagen entwickelt73 • - ••• und gleichwie
Bedürfnis von der einfachsten Art der Stachel ist, der unwillkürlich unsere ersten Be-
wegungen erregt, so wird im Fortgange der Ausbildung, wenn mehrere Gegenstände die
Begierden reizen, ein vervielfältigtes Bedürfnis die Quelle neuer Tätigkeit 74 •
'Entwicklung' ist das Leitwort dieser Zeit für Differenzierung, neben ihm steht zu-
nehmend auch 'Entfaltung'. Hinzu tritt, namentlich wohl auf GOETHE zurück-
gehend, 'Steigerung'. Die Verbindung dieser Ausdrücke mit 'Bedürfnis' verknüpft
Spontaneität mit dem geschichtlichen Vorgang der Kulturentwicklung als Diffe-
renzierung unter dem Aspekt von Entelechie und impliziert so letztlich Fort-
schritt.
Ausdrücke wie 'Entwicklung' und 'Entfaltung' zeigen an, daß ein Aspekt von Natur
zur Interpretation des Vorgangs der Kulturdifferenzierung herangezogen wird:
nämlich das Modell der Pflanze„ In seinem Rahmen hat Bedürfnis einen Beiklang
von innerer Notwendigkeit und eigenständiger Legitimität, es erscheint als eine Art
von innen treibender Kraft.
Daneben hält sich freilich ein zweiter Blickwinkel, unter dem die Kulturdifferenzie-
rung betrachtet und beurteilt wird: die eher kritisch gestimmte, vor allem durch die
Rechtswissenschaft tradierte Vorstellung einer im Lauf der Zeit geradezu zwangs-
läufig zunehmenden Komplizierung und Unübersichtlichkeit der Verhältnisse, die
sich behindernd auf das Leben auswirkt. 'Bedürfnis' tritt auch in ihrem Zusammen-
hang auf, die Voraussetzungen da.für bringt die kynisch-stoische 'Oberlieferung
der Kritik am Unnötigen und Unübersichtlichen als Lebensbehinderndem. 'Be-
dürfnis' erscheint dabei weniger .als Motor als vielmehr als etwas in dieser geschaf-
fenen Umwelt mit Vorfindliches, das den Menschen erfaßt.
Für die Texte ist nun bemerkenswert, daß durchaus beide Modelle mit den ihnen
zugeordneten Bedeutungen und Implikationen von 'Bedürfnis' nebeneinander vor-
kommen. Sie verbinden sich schließlich in der Fjrkenntnis der Geschichtlichkeit der
Bedürfnisse, die sowohl vorfindlich a.ls auch die Geschichte vorantreibend sind:
Die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung der ersten Lebensbedürfnisse war die erste
geschichtliche Tat. Mit ihrer Befriedigung und folgender Erzeugung neuer Bedürfnisse
beginnt sich der geschichtliche Prozeß zu entfesseln76 • Kulturdifferenzierung und
Bedürfnissteigerung werden so identisch. Doch die Bewertung beider ist immer,
zumindest unterschwellig, ambivalent. ·
459
Bedürfnis m. 2. Charakteristische Bedeutungsentfaltungen
auf einige wenige Triebe unterliegt76 , sind diese bedingten Bedürfnisse in der Viel-
falt ihrer Erscheinungsformen prinzipiell unbegrenzt. Umstände und Gewohnheiten
können alles Erdenkliche zum Bedürfnis werden lassen. Dabei können diese schließ-
lich als Eigenschaften erscheinen, die sich etwa in wiederholten Handlungen äußern,
auch ohne daß sie auf Bedingungen zurückzuführen sind: Der ausschweifend,ste
Aberglaube scheint ein Bedürfniß der Aegypter zu sein 77 •
Das unterliegende Thema ist hier zumeist der Kulturvergleich. Dabei können ein-
mal einfach die unterschiedlichen Bedürfnisse als Erscheinungen solcher Verschie-
denheiten beschrieben werden, es kann aber auch die Frage nach Bedingungen der
Unterschiedlichkeit der Äußerungsform gleicher Grundbedürfnisse gestellt werden.
In diesem Fall wird herkömmlich vor allem das Klima herangezogen: Viele von
den kleinern Staaten würden ein ganz verschiedenes Klima, folglich ganz verschiedene
Bedürfnisse und Befriedigungen, folglich ganz verschiedene Gewohnheiten und Sitten ...
haben18 •
Die Unterschiedlichkeit menschlicher Bedürfnisse ist in diesem Zusammenhang
durchaus gerechtfertigt, die Verknüpfung mit den Naturgegebenheiten wirkt eo ipso
legitimierend, ohne daß sie die normative Allgemeinheit natürlicher Bedürfnisse
einführen müßte. Die Frage nach dem Luxus bleibt ausgeklammert, auch wenn die
Unterschiede, wie es häufig der Fall ist, bei den Ernährungsbedürfnissen und -ge-
wohnheiten angesetzt wer<len, die an sich traditionellerweise problematisch sind.
Man kann zwar konstatieren, daß das, was ein Volk als notwendig ansehe, für ein
anderes Luxus sei7 9 : Luxus besagt dann aber kaum mehr, als daß das als Luxus
Geltende dort nioht oder kaum bekannt sei. Die eindeutige UnL1micheidbarkeit von
Notwendigem und Luxus oder Überflüssigem wird also im kulturgeschichtlichen
Bereich fraglich, Luxus bezeichnet hier kein moralisches Problem. Hier liegt die
Voraussetzung für die Bewertung auch gesteigerter Bedürfnisse als kulturgeschicht-
licher Erscheinung eigenen Rechts.
Traditionsgemäß stellte sich die Veränderung ökonomischer Umstände als Ver-
änderung der Umstände einzelner dar, sie führte so unmittelbar in die moralische
Luxus-Problematik. Im 18./19. Jahrhundert konnte die Veränderling wirtschaft-
licher Umstände als Veränderung der Lebensumstände einer Großgruppe erfaßt
werden: so trat an die Stelle der klimatischen Unterschiede die Variabilität der
sozialökonomischen Bedingungen. Unsere Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus
der Gesellschaft; wir messen sie daher an der Gesellschaft; wir messen sie nicht an den
Gegenständen ihrer Befriedigung. Weil sie gesellschaftlicher Natur sind, sind sie
relativer N aturso.
Auch sonst hatte man die Kategorien 'relativ' und 'absolut' auf die Bedürfnisse so
angewandt, daß bei den relativen gesellschaftliche Momente eine Rolle spielen und
270. Vgl. etwa auch FRIEDRICH CARL v. SAVIGNY, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetz-
gebung und Rechtswissenschaft (Heidelberg 1814), 148.
7 s LESSING, Ernst und Falk, 2. Gespräch. Sämtl. Sehr., Bd. 13, 356.
79 s. u. s. 468 f.
460
e) Bedürfais, Tätigkeit und GeseJlaehaft Bedürfais
also das absolut Notwendige vom durch die Umgebung vermittelten vermeintlich
Notwendigen abgesetzt wird 81 . Hier hingegen besagt gerade die Relativität der
Bedürfnisse und Genüsse, daß sie gesellschaftsimmanent real, begründet und inso-
fern notwendig sind. Und damit wird nun der moralisch-individualistische Entwurf
einer Wahlmöglichkeit als Freiheit problematisch.
Dem korrespondiert eine Wandlung im Konzept von den Bedingungen der Bedürf-
nisse. Die gesellschaftlichen Bedingungen stellen ein Gefüge von Umwelt her, das
einer distanzierenden Objektivierung durch ein einzelnes Glied der Gesellschaft
kaum zugänglich ist. Die Umstände beeinflussen die Bedürfnisse so, daß der einzelne
infolge der gesellschaftlichen Bedingtheiten nicht mehr in der Lage ist, seine wahren
und falschen Bedürfnisse zu unterscheiden: die Vorstellung von geschichtlich zu-
nehmender Kompliziertheit und Undurchschaubarkeit drängt sich hoch. Eine
Versklavung unter fälsche Bedürfnisse ist demgemäß auch nicht mehr auf einP.
individuelle, moralisch zu beurteilende Fehlentscheidung der Steuerung seitens des
Individuums zurückzuführen, sondern sie reflektiert die gesamte Verfassung der
Gesellschaft als falsch.
80 weicht die Freiheit des liberum arbitrium einer Freiheit als gesellschaftlichem
Entwurf, die sich als Freiheit von falschen Bedürfnissen und als Möglichkeit zu
einer Tätigkeit begreift, in der sich die Intensität des Leueus Let1Lii.Ligt.
c) Bedürfnis, Tätigkeit und Gesell8chaft. Der Begriff der Tätigkeit leistet für die
Begriffsgeschichte von Bedürfnis, daß eine unmittelbare Beziehung zwischen Be-
dürfnis und Äußerung und zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung gesehen
wird. Diese Unmittelbarkeit wird, als natürlich oder spontan, positiv bewertet. Als
üblicher Ausdruck für Iledür.fnisbefriedigung tritt vor allem Genuß auf: N_ur daß
er gen·ie/Jen, und glücklich genießen möchte, setzte die Natur ihn durch die Reizbarkeit
seiner Sinne mit der objektiven Welt in Zusammenhang, und es ist der Zweck einer
vernünftigen Erziehung, dafür zu sorgen, daß keiner von diesen Sinnen einseitig und
zum Nachteil der übrigen Sinne überschii,rft werde 82 . Bedürfnisse, Tätigkeit und Ge-
nuß auf der Grundlage der naturgegebenen Sinne führen zur Selbstentfaltung des
Menschen. Der künstlich aufgestachelte oder affektierte Genuß wird scharf abge-
wertet83, entsprechend auch sekundäre Motivationen: nur eine Tätigkeit, die nicht
von Äußerlichem veranlaßt wird, führt zur Ruhe als Glück im Genuß. Etwa durch
Besitzgier motiviertes Tun ist demgegenüber ein unruhiges Treiben, das ihn (den
Menschen) weit von dem wahren Lebensgenu/J und seiner· bessern Bestimmung ent-
fernet84. Dabei bleibt die Tätigkeit individuell konzipiert.· Im Hinblick auf die Ge-
sellschaft setzt sie den Menschen als autonomes Einzelwesen voraus. Dem korrespon-
diert ein Gesellschaftsmodell, das, der Mechanik Newtons nachgebildet, dem Bedürf-
nis die Rolle der Kraft zuweist, die jedes einzelne Element eines in sich bewegten
81 s. u. s. 470 f.
82 CARL WILH. FRöLICH, Über den Menschen und seine VerhältniBSe, hg. v. Gerhard
Steiner (1792; Berlin 1960), 18.
ea Die traditionelle Bewertung von Genußluxus und standesbedingtem Luxus wird dabei
umgekehrt: nif;kt der Magen- oder Einsiedl-er-LUX'UB oder der genießende i8t der giftigere .•• ,
sondern der Augen- oder Gesellackaft&-Luwua, der scheinende ••. ; Jl'lAN PAUL, Friedenspre-
digt Nr. 7. AA 1. Abt., Bd. 14 (Weimar 1939), 20.
84 FRöLICH, Über den Menschen, 98 f.
461
Systems in seinen Koordinaten bestimmt und an seinem Ort hält. Es unterlegt eine
überindividuelle und naturgegebene Harmonie der Bedürfnisse, die die Bestim-
mung des einzelnen als Selbsttätigkeit und Selbstentfaltung mit der Bewegung des
Ganzen vereintBli.
Dabei nimmt 'Bedürfnis' eine neue Nuance auf, die möglicherweise aus dem Eng-
lischen herzuleiten ist und die es in die Begriffssphäre von 'Eigennutz' rückt. Tat-
sächlich löst 'Bedürfnis' erst verhältnismäßig spät 'Eigennutz' in Zusammen-
hängen ab, die mit Mandevilles „private vices, public virtues" angedeutet werden
können, also wenn etwa davon die Rede ist, daß das Gleichgewicht des Systems
nicht allein ohne das Wollen und Wissen, sondern sogar gegen die Tendenzen der
Individuen bewirkt werde 8 8.
Mit HEGELS „System der Bedürfnisse" wird dieser Gesellschaftszusammenhang
philosophisch dargestellt 87 • Seine Basis ereohoint oJa sozioökonomisches Geflecht,
in. ihm tritt an Stelle universaler Tätigkeit ökonomische Tätigkeit, Arbeit. Dabei
zeichnet sich ein neues Modell von Verteilung ab: sie ist jetzt nicht mehr dem Er-
messen, der Gnade oder der Gerechtigkeit einer Autorität zugewiesen, sondern re-
guliert sich durch die Tätigkeit. Das entspricht der Konzeption eines Modells, das
kein Zentrum als bestimmendes Gewicht vorsieht und das wesentliche Auswirkun-
gen auf die Begriffe von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft und deren Verhältnis
. zueinander hat.
85 Während der Begriff des Interesses, der 'Bedürfnis' inhaltlich sehr nahe kommen kann,
von vornherein mit der Vorstellung des Konflikts verbunden ist, stößt man immer wieder
auf eine Verbindung von Bedürfnis und Harmonie, die im Zusammenhang mit der von
Bedürfnis und Gleichgewicht und einer Vorstellung von Natur als wirkender Kraft zu
sehen ist. Ihre Herkunft wäre motivgeschichtlich zu klären; Verbindungen zur epiku-
räischen Naturphilosophie liegen vor. Da.zu sei auch an.die Beschäftigung mit Lukrez im
18./19. Jahrhundert erinnert.
81 Vgl. KANT, Zum Ewigen Frieden, 1. Zusatz, 3. AA Bd. 8 (1912), 368; HERDEB, Ideen,
SW Bd. 14 (1909), 217 ff.; FOBSTEB., StaatRk11m1t, 303 .. Gelegontlioh kann 'Bedürfnis'
als gesellschaftlich bindende Kraft auch in Nachfolge des a.ppetitus socia.lis stehen, so
tiLwa bei. GoJC"rm: 1n der ZWllWlIIlenstellung ltiebe ·und Zutrauen, Bedürfnis und Treue;·
Pa.ra.lipomena zu den Anna.Jen, WA 2. Abt„ Bd. 36 (1893), 253. Diese Verwendung von
'Bedürfnis' scheint jedoch bald abzukommen.
• 87 HEGEL, Rechtsphilosophie, § 188 ff. (vgl. u. S. 474 f.).
462
Summe seiner Bedürfnisse zu verkleinern und die H eftiglceit seiner Triebe abzustumpfen
. . . Wohlan, ihr Fürsten und Priester! ... Anstatt uns GWck zu verheißen, laßt.eure
alleinige Sorge sein, die Hindernisse wegzuräumen, die der freien Entwicklung unserer
Kräfte entgegenstehen; öUnet uns die Bahn, und wir wandeln sie, ohne Hülfe eures
Treibersteckens, an das Ziel der sittlichen Bildung: denn seht! Wir empfangen Freude
und Leid,, unsere wahren Erzieher, aus der Mutterhand der Natur / 88 • Die Universalität
der Bedürfnisse wird zu einem principium emancipationis, die Konsequenz wäre
hier eine Verfassung, die eine ungestörte Entfaltung der Bedürfnisse garantiert.
In der Korrelation von Bedürfnis und Herrschaft sind Freiheit und Revolution stets
impliziert. Diese Konstellation ist bis in die Gegenwart wirksam geblieben, und in
ihrem Rahmen spielen sich die Neuentwicklungen ab, die bis jetzt nicht abgeschlos-
sen sind. Deren Kennzeichen ist, daß die Korrelation zwischen Bedürfnis und Herr-
schaft zunehmend komplizierter gesehen resp. zunehmend- als komplexer erkannt
wird, als dies in dem einfachen Modell, das sich an dem eben zitierten Beispiel zeigt,
der Fall ist. Herrschaft als Behinderung der Bedürfnisentfaltung - also der Un-
mittelbarkeit von Bedürfnis und Äußerung oder Bedürfnis und Bedürfnisbefriedi-
gung - wirft nicht nur ein institutionelles Problem auf, sondern auch ein psycho-
logisches, das zunächst aufklärerisch formuliert wird: Allein die Ursachen, welche
don M ensohen vlfl'hir1dern, seir1er Natur gemäß zu empfinden und zu, h.nm.d.P.ln, .<tt.nd
nicht absolut, sondern eine Folge allgemein herrschender verkehrter BegriUe, und der
ilaraus entstandenen zweckwidrigen Einrichtungen 89 • So deckt die Herrschaftskritik
unter dem Leitbegriff von Bedürfnis die Problematik der Kultur auf. Diese wird
aber nun nicht mehr unter dem alten Aspekt der luxuriösen Verweichlichung ge-
sehen, sondern unter dem eines Freiheitsbegriffs, der in der Begriffsgeschichte von
Bedürfnis seinen Ansatzpunkt in der Mormulierung von Mangel als Lebensbehin-
dorndem hat90• Dieser Freiheitsbegrift' ist insofern individualiRtiRr.h P.nt.worfän, alR
er mit der Selbsterkenntnis verbunden ist; er erhält von daher ein Pathos der
Wahrheit und Wahrhaftigkeit, das in den herrschafts- und kulturkritischen Be-
dürfnisbegriff eingeht: so postuliert NIETZSCHE die Freiheit der Persönlichkeit als
Wahrhaftigkeit gegen sich selbst und andere, und zwar in Wort und Tat, und sieht
als Ziel, eine Kultur anzup-fl,anzen, die wahren Bedürfnissen entspricht und die nicht,
wie die jetzige allgemeine Bildung, nur lehrt, sich Uber diese Bedürfnisse zu belügen
und iladurch zur wandelnden Lüge zu werden91 ,
468
Bedürfnis IV. Explikationen des ,,kritischen BedürfnisbegriJls"
96 Ebd., 546 f.
98 S.o. S. 449. - Vgl. WIELAND: T>ie. T,iehe ... macht uns auf die kleinsten Bedürfnisse
dieser geliebten Gegenstände aufmerksam und setzt alle unsere Fähigkeiten in Bewegung, ihnen
zwror z·u lwmmen. ·Nicht zufrieden, daß diese werten Geschöpfe nur leben sdllen, wollen wir,
daß sie angenehm leben. Wir arbeiten, wir erfinden; wir bessern unsre Erfindungen aus, und
gefallen una in einer Geschäftigkeit, welche diejenigen, die wir lieben, glücklicher macht;
Koxkox und Kikequetzel, Kap. 29. AA 1. Abt., Bd. 7 (1911), 366.
464
IV. Explikationen des ,,kritischen BedürfnisL4!gril's" Bedürfnis
dürfnisbegriff unterschieden. Ihr Problem ist das der Vereinbarung der Bedürfnisse
eines einzelnen Individuums mit den Anforderungen, die seine Umwelt in Kultur
und sozialen Verhaltensnormen stellt, und die Wirkungen, die sich daraus für das
Einzelwesen ergeben. 'Bedürfnis' ist dabei direkt auf Befriedigung angelegt und
steht begrifflich 'Trieb' nahe. Der kritische Aspekt liegt darin, daß 'Bedürfnis' in
dieser Gestalt sich kritisch zur Umgebung verhält, er zeigt sich in der Frage, wieweit
unter dem Druck der Umgebung die auf die Befriedigung gerichtete Dynamik um-
gelenkt werden kann, welche Folgen Unterdrückung oder Ablenkung haben, die
in die moralische Frage nach der Möglichkeit innerer Wahrhaftigkeit in einer kul-
turellen Umgebung umschlagen kann. Da die Umwelt dem Individuum gegenüber
mächtig überlegen ist, übernimmt sie die Rolle der Herrschaft: die Realität selbst er-
scheint als Behinderung der Bedürfnisse in ihren Äußerungen und Befriedigungen.
Die Untersuchung der Dynamik, die aus der Konfrontation zwischen „Lustprinzip"
und „Realitätsprinzip" (FREUD) resultiert, führte zur Entdeckung oder Konstruk-
tion psychologischer Mechanismen. Sie werden mit Begriffen beschrieben, von denen
im vorliegenden Zusammenhang vor allem die der Verdrangung, Sublimierung und
Verinnerlichung wichtig sind.
Mit 'Verdrängung' und 'Sublimierung' wird eine Theorie der Genese und Entwick-
lung der Kultur entworfen. Die Spannung, die zwischen ihr und den Bedürfnissen
des Individuums besteht, ist damit zugleich begründet, Kultw· ilirtm1eiLs stellt a.i1
<la11 Individuum die Fo:rderung nach VArdrängung 11ml Rnhlimierung. 'Verinner-
lichung' ist ein spezieller Mechanismus im Zusammenhang des Ausgleichs des Ich
mit der Umgebung, die ihm mit ihren Normen und Ansprüchen als Autorität, als
Über-Ich, entgegentritt. Das Einzelwesen übernimmt dabei die Normen so, daß es
sie als seine eigenen Bedürfnisse empfindet: es wird so also im Grunde die psycho-
logische Genese des Gewissens beschrieben97 • Auf diese Weise können auch solche
AnspTiiche der Umwelt übernommen werden, die gegen die Lebensinteressen des
Individuums gerichtet sind.
Auf die psychoanalytischen und therapeutischen Aspekte kann hier nicht einge-
gangen werden. Folgenreich für die politisch-soziale Diskussion von 'Bedürfnis'
wurde dieser Ansatz dadurch, daß er eine Antwort auf die Frage bot, wie überhaupt
falsche Bedürfnisse in den Menschen verankert werden. Der Ausdruck 'falsche
Bedürfnisse' wurde damit zugleich aus dem moralischen Bereich in den elementaren
des Lebens überhaupt zuriickgenommen, da man „falsch" als „gegen die Lebens-
interessen der Individuen gerichtet" präzisieren konnte.
Damit ist ein Thema skizziert, das in den Versuchen zur Verbindung marxistischer
und. psychoanalytischer Theorie, wie sie besonders seit etwa 1920 unternommen
wurden, eine große Rolle spielt. Marx hatte die Herrschaft des Kapitals als den
Lebensinteressen der ihr Unterworfenen feindlich angeprangert, er hatte ilie Ga-
rantie für ihren Fortbestand in der fortgesetzten Unterdrückung als Enteignung
gesehen, die den ökonomischen Mangel als Stachel für die entfremdete Arbeit per-
petuiert. Angesichts der veränderten ökonomischen Verhältnisse reichte dies zur
Erklärung für den Fortbestand des Kapitalismus in den wel!ltlichen Industrieländern
97Vgl. schon NIETZSCHE, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 199, Werke, hg. v. Alfred
Baeumler, Bd. 4 (Leipzig 1930), 108: BedürfniB (zu gehorchen) alB eine. Art formalen
GewiBBena.
30-90385/1 465
Wärfnia IV. Explikationen des ,.kritUehea Bedärfnishepiffa"
nicht mehr aus. Die Engführung von Marxismus und Psychoanalyse führte hier
also dazu, daß man als Bedingung dieser Herrschaft die Verinnerlichung falscher
Bedürfnisse sehen konnte als solcher, die das Leben in seiner Fülle und Intensität
behindern: Herrschaft und falsche Bedürfnisse werden also kurzgeschlossen und
treten gleichzeitig das Erbe des alten Begriffs vom Mangel an98 • 'Verinnerlichung'
stellt sich damit als die anthropologische Möglichkeit, eine lebensfeindliche Gesell-
schaft mit ihren Herrschaftsmechanismen zu institutionalisieren und aufrechtzu-
erhalten, ohne daß diese Herrschaft durch offe~e Unterdrückung zu erkennen ist.
Das führt dazu, daß die Anpassung an die bestehenden kulturellen Verhältnisse
grundsätzlich inFrage gestellt wird, sie wird als herrschaftsstabilisierend verdächtigt,
da alle Ile1·1·schaft, vtmliichLig gewurtlen ü1L: sie hat ilie Charakteristika. der eigen-
süchtigen Gängelung durch Manipulation der Bedürfnisse übernommen". Darauf!
ergibt sich in der Gegenwart eine besondere pädagogische Problematik.
Für 'Bedürfnis' zeichnet sich in der Gegenwart eine Entwicklung ab, ilie als die
falschen Bedürfnisse wieder die alten unnötigen und eingebildeten Bedürfnisse
sieht - aber nicht mehr unter dem Aspekt von Luxus und Verweichlichung, son-
dern, angesichts der Konsumgesellschaft in den westlichen Industrieländern, ein-
mal unter dem der Stabilisierung dieser Gesellschaft mit ihren wirtschaftlichen
Machtverhältnissen („Konsumterror"), andererseits unter dem Aspekt der bereits
eingetretenen Vermind1mmg der „Lebensqualität" als Beeinträchtigung AIAmen-
~a.rster Grundbedürfniooe und der o.bßchbo.rcn Bedrohung des LebeM selbst durch
den Müll der Überproduktion. ZU.gleich taucht die Kritik an der Betriebsamkeit,
die·die Selbstbesinnung behindert, wieder auf („Freizeitproblem"). Daneben ergab
sich, teilweise widersprüchlich zu den hier resultierenden Postulaten, innerhalb des
Begriffsgefüges von 'M.angel', 'Bedürfnisbefriedigung' und 'Tätigkeit' eine Verschie-
bung, nach der unter Bedingungen, die die Bedürfnisbefriedigung verhindern, die
Tätigkeit als Aggression hervorbricht. Begriffsgeschichtlich betrifft dies die Vor-
stellungen von Art und Motivation menschlicher Tätigkeit; unter dem Gesichts-
punkt von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung stellt sie ein dringliches soziales,
pädagogisches und politisches Problem dar.
Die Engführung von marxistischen und psychoanalytischen Ansätzen hat dazu
geführt, daß die Frage der Bedürfnisse ganz außerordentlich komplex und in sich
widersprüchlich geworden ist. Die Aufdeckung der Herrschaftsmechanismen impli-
ziert die Aufforderung zu ihrer Überwindung, sofern ihr Weiterwirken als gefährlich
erkannt wird. Aber ihre Beziehung zu den psychologischen Mechanismen scheint so
angelegt zu sein, daß die Überwindung von vornherein unmöglich ist: Revolution
und Aufkliinmg Rind in einem circ.ulus vitiosus von wahren und falschen Bedürf-
nissen und von Aggression gefangen, da die Verhältnisse insgesamt als lebensbehin-
dernd und beherrschend erscheinen. Die heutige politische, pädagogische, ökono-
mische, soziale, psychologische und biologische Diskussion von Bedürfnis und
Bedürfnisbefriedigung, Wirtschaftswachstum und Umweltschutz, Arbeit, Freizeit
und Konsum, Frustration und Aggression, Herrschaft, Repression ,Revolution und
Freiheit reflektiert in der Widersprüchlichkeit von 'Bedürfnis' die Verfassung einer
Gesellschaft, die ratlos ist.
UTTA KIM-WAWRZINEK
98 s. o. s. 451.
lt s. o. s. 453 f.
466
V. l. Heutige Terminologie Bedürfnis
1. Heutige Terminologie
'Bedürfnis' und 'Bedarf' sind im heutigen Alltag durch eine wechselseitige Doppel-
bedeutung charakterisiert, die beide Ausdrücke eng miteinander verflicht. Persön-
liche und gesellschaftliche Komponenten werden dabei aufeinander bezogen.
'Bedürfnis' wird in einem subjektiven Sinne - als Gefühl eines Mangels, verbunden
mit dem Streben nach dessen l3eseitigung100 - und in einer objektiven Bedeutung_
- als Mittel zur Beseitigung des empfundenen Mangels1 0 1 - gebraucht. Schon in
ADELUNGS Wörterbuch wird 1774 in diesem Sinne zwischen dem Zustand, worin
man einer Sacke lJedar/ und der Sacke selbst, deren .man be,d,ar/, unterschieden1 02.
Dasselbe gilt für 'Bedarf'. Der heutige Sprachgebrauch unterscheidet zwischen deni
subjektiven - einer Situation, in der man etwas bedarf - und dem objektiven
Bedarf - dem Gegenstand, dessen man bedarf, bzw. der Quantität der zur Be-
dürfnisbefriedigung erforderlichen Mittel. Die~e Unterscheidung findet sich ebenfalls
schon bei Adelung (1774); er trennt zwischen dem Zustand, da man einer Sacke
lJedar/ und demjenigen, wessen man bedarpoa. Im Bereich der Volkswirtschaftslehre
hat sich aber der objekthre Bedarfsbegriff weitgeheml uurchgesetzt104 •
'Bedürfnissteigerung' ist entweder die Ausweitung des menschlichen Begehrkreises,
sei es, daß der Wunsch nach verbesserter Qualität der Güter wach wird, sei es, daß
mehr Güter begehrt werden, oder aber die Steigerung der Qualität bzw. Quantität
der Güter, die der Bedürfnisbefriedigung dienen. Die Bedürfnissteigerung kann sich
auf den cinzelllen, auf eine gesellschaftliche Teilgruppe und auf alle Angehörigen
eines Gemeinwesens beziehen. .
gen, 2. Aufl. (München 1870), 5 ist 'Bedürfnis' das Gefühl eines MangelB mit dem Streben,
ihn zu beseitigen; JOACHIM TmuRTIUS, Der Begriff des Bedürfnisses, Jbb. f. National-
ökonomie u. Statistik 103 (1914), 726 definiert 'Bedürfnis' als ein a'U8 dem Gefühle oder der
VorateUung einer Gleichgewichtsstörung erwachsenes, auf Bewahrung oder WiederhersteUung
zielendes Begehren. Für F'B.ANz ÜPPENHEIMER ist das Bedürfnis •.. das Gefühl einer Störung
im Gleichgewicht der liubst.anz oder Energie und der damit verbundene, auf Beseitigung der
Störung gerichtete Trieb; System der Soziologie, 5. Aufl., Bd. 3/1 (Jena 1923). 18f.
10 1 Die Unterscheidung in objektives und subjektives Bedürfnis wird von GRUBER als
Sprachmißbrauch abgelehnt; man solle den gefühlten Mangel und den Gegenstand, der ihm
abhilft, nicht mit demselben Wort bezeichnen, da doch unserer Sprache für den Gegenst.and
des Bedürfnisses ein eigenes Wort nicht fehlt, nämlich Bedarf; ERticH/GRUBER 1. Abt., Bd. 8
(1822), 324. Noch 1896 lehnt es LUDWIG HEINRICH SCHULZE, Erörterungen über Begriff und
Einteilung der Bedürfnisse des Menschen (Heidelberg 1896), 29 ab, das Begehrte und Ent-
behrte als 'Bedürfnis' zu bezeichnen.
102 ADELUNG Bd. l (1774), 698.
108 Ebd., 692.
1°' Dafür die folgenden Beispiele: Schon JoH. PAUL HARL, Vollständiges Handbuch der
Staatswirtschaft und Finanz (Erlangen 1811), 148 definiert 'Bedarf' als die Sache, welche
das menschliche Bedürfniß erfordert. Nach CARL MENGER, Grundsätze der Volkswirtschafts-
lehre, Bd. 1 (Wien 1871), 32 ist 'Bedarf' die Quantitiit von Gütern, welche ein Mensch zur
467
Bedürfnis V. 2. Vorindustrielle Gesellschaft
HELLMUTH RössLER (Darmstadt 1965), 27 f. weist darauf hin, daß zu Ausgang des Mittel-
alters in Schwaben im Gegensatz zu den Bürgern der Städte kaum ein landsässiger Adeliger
reich gewesen sei. Die bedeutendsten Teilliaber der „Großen Ravensburger Handelsgesell-
schaft" hätten sich Adelsherrschaften erworben und Burgen und Schlösser gebaut.
108 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica 2, 2 quaest. 118, art. 1. Dt. Thomas-Ausg.,
468
V. 3. Kameralismus Bedürfnis
in der luxuriösen Lebenshaltung ihrer Zeitgenossen nicht nur ein Hindernis für die
Erlangung des ewigen Heils, sondern auch eine Gefährdung der sozialen Ordnung.
So beklagte LUTHER (1520) den ubirschwenglichen ubirflusz und kost der kleydung
Q,ailurch swviel Adel und reychs volcks vorarmet. Dabei hat uns Gott gnug geben,
wolle, har, flachsz, und allis, das zur zymlicher, erlicher kleydung einem yglichen stand,
redlich dienet, das wir nit bedurfjten, szo grewlichen grossen schatz /ur seyden, sammett
guldenstuck, und was der auszlendischen wahr ist, szo geudisch vorschutten109• Sorge
um die Bewahrung der überkommenen ständischen Ordnung nährte auch die Kritik
der Humanisten an der Bedürfnissteigerung. Darumh wer sich kleidt ander moß Von
/arb und gestalt/lang, kurtz/ und groß Dann fm von seinem stakt sich zim Oder der
gemein brauch zeyget fm/Derselb ist Gottes straO und zorn (S. BRANT 1494)110• Darüber
hinaus erblickten die Humanisten in der ständigen Steigerung des Aufwandes eine
Gefährdung der nationalen Unabhängigkeit und Größe. Nur ein armes, durch
Reichtum noch nicht verweichlichtes Deutschland könne sich auf die Dauer den
Anstürmen der Türken und Franzosen erwehren. HUTTENS patriotischer Sinn er-
blickte in der von Tacitus geschilderten Sitteneinfalt der Germanerl das Vorbild
für die Wiederherstellung von Deutschlands militärischer Kraft. Luxusgesetze zu
erlassen, sei deshalb eine der allerdringlichsten Aufgaben von Kaiser Karl V. 111•
Sebastian BranL verwies auf antike Vorbilder. Be?, allen völokcrn auO der erd/Ist
armut lang zeyt gwesen wert. V orauß die G'Tiechen dardurch hand Vil stett bezwungen/
leuth und land112. ·
109 MARTIN LUTHER, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen
lll ULRICH v. HUTTEN, Monitor 2, Schriften, hg. v. E. Böcking, Bd. 4 (Leipzig 1860), 358.
112 ßRANT, Narrenschiff, 39.
lla GoTTLIEB SCHNAPPER-ARNDT, Studien zur Geschichte der Lebenshaltung in Frankfurt
a. M. während des 17. und 18. Jahrhnndert.s, hg. v. Karl Bräuer (Frankfurt 1915), 353.
469
Bedürfnis V, 3. K.ameralismus
Dt. Enc., Bd. 3 (1780), 161. Na.eh JOSEPH v. SoNNENFELS, Grundsätze der Policey, Hand-
lung und Finanzwissenschaft, 2. Aufl., Bd. 2 (Wien 1771 ), 13 f. vermehrt der Prackt ... die
Beschiiftigunge.n, • • . erleichtert .•• und vervielfäUigt die N akrungswege.
117 J. F. PFEIFFER, Grundsätze der Universal-Cameral-Wissenscha.ft (Frankfurt 1783), 468.
118 J. H. G. v. JusTI, Grundsätze der Policey-Wissenscha.ft (Göttingen 1756), 139.
119 Ebd.; die Einteilung iri einen „besoin no.turol" und in „besoins chim6riques" findet
notwendige Bedürfnisse, die schon der englische Merkantilist JAMES STEWART, .All Inquiry
4:70
V. 3. Kameralismus
into the Principles of Political Eoonomy, vol. 2 (London 1796), 63 ff. kennt, wenn er
zwischen.„physical and political necessa.ries" unterscheidet, entspricht beim Spätkamera.-
listen JoH. GEORG BüscH die Unterscheidung in absolute und relative Armut. Im Falle der
absoluten Armut sei der Mensch nicht imstande, ad nur seine physiaeken notwendigen
Be.dürfni88e zu erwerben, bei der relativen Armut fehlten ihm die Mittel, das zu kaufen, was
er lediglich nadt, aeinen Umatänden tila Be.dürfnia anzusehen und zu aeinem A uakommen zu
rechnen gewohnt war; Abhandlung von dem Geldumlauf, 2. Auß., Bd. 2 (Hamburg, Kiel
1800), 735 f. Das Argument verlagert sich im Erfahrungsraum steigender Produktion bei
WILHELM SCHULZ, Die Bewegung der Production (Zürich, Winterthur 1843), 66: Denn
gerade weil die Geaamtproducti.on ateigt .•. , vermehren aich auch, die Be.dürfniue, Gelüate und
Anaprüche, und die relative Armut kann al.ao zunehmen, während die abaolute aich vermindert.
121 ANTONIO GENOVESI, Lezioni di oommercio osia d'eoonomia civile (1769), dt. v. August
471
Bedürfnis V. 4.. Aufklärung und Liberalismus
Die Bedürfnissteigerung des Staates und des einzelnen wird bei aller Reserve gegen-
über den gesellschaftsverändernden Wirkungen der Bedürfnisentgrenzung und trotz
aller handelspolitischen Bedenken ihres beschäftigungssteigernden Effektes wegen
von der kameralistischen Theorie begrüßt. Darin bekundet sich der radikale Wandel
gegenüber der vorindustriellen Haus- und Stadtwirtschaft. Im Gegensatz zu dieser
konnte erst in der interdependenten Staatswirtschaft des Absolutismus das dialek-
tische Verhältnis von Bedürfnisentgrenzung und Beschäftigungssteigerung, unter-
stützt von einer zentralistischen Wirtschaftspolitik, seine volle Wirksamkeit ent-
falten. Nun entledigen sich die Kameralisten weitgehend des bedürfnisfeindlichen
Affektes, der die Schriften der vorindustriellen Sozialanalytiker auszeichnete. Dem
Bedürfnisbegriff der kameralistischen Theorie eignet auf diese Weise ein vorwiegend
affirmativer Charakter.
1808), 80 f. Schon ADAM SMITH, Lectures on J ustice, Police, Revenue and Arms (1763),
472
V. '- Aufklirang und Liberalismus Bedürfnis
ed. E. Ca.nnan (Oxford 1896), 196 schreibt: all tke Arts are aubservient f.o the Natural Wanta
o/ Mankind. Au oh der Schweizer Physiokrat Is.ux: lsELIN, Träume eines Menschenfreundes,
Bd. 2 (Karlsruhe 1784), 188 hat die Bedürfnissteigerung bejaht.
182 KAN:T, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), AA Bd. 8 (1912), 122;
HEB.DER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784), SW Bd. 13 (1887),
191 zufolge war dies bei allen Be.dürfniBsen der Erde die Absicht der Natur: jedes derselben
sollte eine Mutrerhülle sein, in der ein Keim der Humanität sproßte; FICHTE, Einige Vor·
lesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794), AA Bd. 1/3 (1966), 60 hat.die Bestim-
mung der Menschheit gesetzt in den bestJJndigen Fortgang der Kultur und die gleichförmig
fortgesetzte Entwicklung aller ihrer Anlagen und Be.dür/nisse.
1 8 3 ROBERT v. MoHL, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsii,tzen des Rechtsstaats,
Wetzlar 1807), 24 f.
138 LUEDER, National-Industrie, 4.
137 LUDWIG HEINIUCH v. JAKOB, Grundsätze der National-Ökonomie (Halle 1805), 15.
473
V. 5. Reple ,,Syetem der Bedürfni1111t1"
und in Ansehung deren keine Gleichförmigkeit unter den Menschen besteht 1 as. HER-
MANN (1832) differenziert nach Individual- und Kollektivbedürfnissen, wobei er
letztere definiert als Beilürfnisse einer Mehrheit von Menschen, als eines Ganzen,
deren Befrieiligung lediglichder Gesamtheit ohne Bezeichnung einzelner Mitglieiler der
Verbindung und ihres Anteils dargeboten wirdl39 •
m Ebd., § 192.
144 Ebd., § 194.
474
V. 6. Romantisch-konservative Kritik Bedüttniii
Vermehrung der Abhängigkeit und Not 146 ; der Anhäufung von Reichtümern auf der
Seite der Besitzenden steht das Elend der arbeitenden Klassen gegenüber146 •
m Ebd„ § 1Y5.
m Ebd„ §§ 243 ff.
147 NovALIS, Die Christenheit oder Europa, GW Bd. 3 (1968), 509.
148 ADAM MÜLLER, Die Lehre vom Gegensatze, Ausg. Abh„ hg. v. Othmar Spann, 2. Aufl.
(Jena 1931)„ 220.
au JusTus MösER, Gedanken über den Verfall der Handlung in den Landstädten, in:
Patriotische Phantasien, SW Bd. 4 (1943), 23.
uo 0. KBA.us, Aus Heinrich Leos geschichtlichen Monatsberichten und Briefen, Allg.
Konservative Monatsschr. 51 (1894), 788.
1111 Ebd.
475
Bedürfnis V. 6. Romantisch-konservative Kritik
152 WILH. HEINRICH RIEHL, Die bürgerliche Gesellschaft (Stuttgart, Tübingen 1851), 268.
153 Ebd., 286 f.
164 Ders., Land und Leute, 8 Aufl. (Stuttgart 1883), 99.
156 Ebd., 103. .
166 ADAM MÜLLER, Versuche einer neuen Theorie des Geldes (Leipzig, Altenburg 1816), 116.
157 Ders., Die Elemente der Staatskunst, hg. v. Jakob Baxa, Bd. 2 (Jena 1922), 62.
15s Ebd., Bd. 1 (1922), 384.
476
V. 7. Sozialistische Sicht
Bedürfnisse, des gesamten physischen und geistigen Reichtums einer Nation 159•
Nach romantisch-konservativer Auffassung erheischt die menschliche Bedürfnis-
natur die Institution des politischen Gemeinwesens, eine Ansicht, die schon PLATON
vertrat 1 6o. Für NoVALIS ist das Bedürfnis eines Staates .... das dringendste Bedürfnis
eines Menschen 161 , und nach ADAM MÜLLER fühlt der Mensch das ewige Bedürfniß
des Staats (1816) 162 • Müller zufolge werden die fruchtbaren Gegensätze im staat-
lichen Organismus durch die Pole Jugend und Alter, Mann und Weib repräsentiert,
Gegensätze, die im Mikrokosmos Familie wurzeln und in den Makrokosmos Staat
emanieren. Sowohl den Geschlechts- als auch den Alterspaaren werden bestimmte
Bedürfnisse und soziale Positionen zugeordnet. Das Alter, der erste Stand, die
Geistlichkeit, repräsentiert das geistige Bedürfniß, die Jugend, welche sich in Weiblich-
keit und Männlichkeit bricht, steht für das physische Bedürfniß. Hierbei verkörpert
das Weib, der zweite Stand, das Bedürfniß zu erhalten, der Mann, der dritte Stand;
der tiers-etat dPJr Natur, das Bedürfniß zu produzieren (1809) 183• Die Verschiedenheit
der Menschen und ihrer Bedürfnisse bedingt eine hierarchische Sozialstruktur. Jedes
politische Gemeinwesen bestimmt sich nach FRANZ v. BAADER {1815) als ein Ver-
hältnis von Superiorität und Abhängigkeit, Überfluß und Bedürfnis 164• HALLER
zufolge (1816) konstituiert sich da, wo einerseits dem Bedürfniß an Nahrung und
Pflege, an Schutz, an Belehrung und Leitung höhere Macht, natürliche Überlegenheit
gegenübertritt, gesellschaftliche Über- und Unterordnung1 65.
loH Ebd., 37
160 PLATON, Pol. 369c;
161 NovALIS, }j'ragmente, UW .Hd. 3, 313.
162 MÜLLER, Theorie des Geldes, 150; 'Bedürfnis' wird von Müller definiert als Drang nach
Vereinigung, welcher in allen Individuen der bürgerlichen oder menschlichen GesellBchaft statt-
fi,ndet; Elemente der Staatskunst, Bd. 1, 366.
163 Ebd., 370.
184 FRANZ v. BAADER, Über das durch die französische Revolution herbeigeführte Bedürf-
niss einer neuen und innigeren Verbindung der Religion mit der Politik, SW Bd. 6 (1854), 16.
1s 5 CAitL LUDWIG v. HALLER, Restauration der Staat.swissenschaft, 2. Auß.., Bd. 1 (Winter-
thur 1820), 357.
1 88 LUDWIG GALL, Was könnte helfen? (Trier 1825), 3.
477
Bediirlois · V. 7. Sozialistische Sieht
Wünsche und Bedürfnisse (MosES HEss 1845) 167 gegeben werden. In der kapitalisti-
schen Klassengesellschaft entspreche der Raffinierung der Bedürfnisse und ihrer
Mittel auf der Seite der Besitzenden die viehische VerwiUerung, vollständige, rohe,
abstrakte Einfachheit des Bedürfnisses der Arbeiter (MARX 1844) 168. Was wunder,
wenn im Volke die Religion ein ebenso unerläßliches Bedürfniß, wie der Branntwein
seinem schmachtenden Magen sei (HEss 1845) 169. LASBALLE räumt 1863 wohl ein, daß
das Bedürfnisniveau der arbeitenden Klassen, sich im Laufe der Zeit erhöht habe,
behauptet jedoch, d!!-ß die Klassenlage des Proletariats dadurch keine Verbesserung
erfahren habe. Da sich die Lage der arbeitenden Klasse im Verhältnis zur sozialen
Situation der anderen Klassen bemaß und der Anstieg des Lebensstandards des
Proletariats Hand in Hand ging mit der Verbesserung der Lage anderer sozialer
8r.hir.ht.P.n,· blieb die gesellsc.haftliche Lage der Arbeiter8chaft letztlich unverii.n-
dert170. Es mangele dem deutschen Arbeiter vor allem an der Einsicht in die Miß-
lichkeit seiner gesellschaftlichen Situation. In seiner verdammten Bedürfnislosigkeit
gebe. er sich im Gegensatz zu seinen englischen und französischen Schicksals-
genossen mit einem Stück schlechter Wurst und einem Glas Bier zufrieden 171 .
Um den Aufwr.iR rlr.r F.ntfrAmilnng i!Ar MAnAchen in der kapitalilitisc.hen Kla1111en-
gesellschaft, um die Analyse des entfremdeten Bedürfnisses ist insbesondere
KARL MARX bemüht. Eigentlich sollte der andere Mensch als Mensch zum Bedürfnis
geworden sein (1844) 172 ; in der kapitalistischen Klassengesellschaft jedoch, in der
die Bedürfnisse des einzelnen dem Verwertungsprozeß des Kapitals überantwortet
seien, bestimme die Gewinnsucht das Verhältnis der Menschen untereinander. Nicht
der bedürftige Mensch, sondern das Streben nach möglichst hohem Gewinn sei das
Antriebsmoment der Produktion. Jedem gehe.es nur um.die Befriedigung seines ...
eigennützigen Bedürfnisses 1 7 3 • Gewinnstreben, das Bedürfnis nach einem stets aus-
gedehnteren Absatz für ·ili-re Prod·ukte jugt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel
187 MosEs HEss, Zwei Reden über Kommunismus, Philos. u. sozialistische Sehr. 1837-
1850, hg. v. Auguste Cornu u. Wolfgang Mönke (Berlin 1961), 357; FRIEDRICH LisT
schreibt in der „Allgemeinen Zeitung" über die Armut dieser Zeit: Unter den notwendigsten
Lebensbedürfnissen versteht man in vielen Gegenden Deutschlands ... KartoUeln ohne Salz,
eine Suwe mit Schwarzbrot zur höchsten Notdurft geschmälzt, Haferbrei, hie und da schwarze
Klöße. Die, welche sich schon besser stehen, sehen kaum in der Woche einmal ein bescheidenes
Stück frisches oder geräuchertes Fleisch auf ihrem Tisch, und Braten kennen die meisten nur
vom Hörensagen. Ich habe Reviere gesehen, wo ein Hering, an einem an der Zimmerdecke
befestigten Faden m·itten ·über de:ti Tisclt ltängend, unter den Kartoffele88ern von Hand zu Hand
herumging, um jeden zu befähigen, durch Reiben an dem gemeinschaftlichen Tafelgut seiner
KartoUel Würze und Geschmack zu verleihen; Allgemeine Zeitung, Nr. 308 (Augsburg 3. 11.
1844), 2458~
188 KARL M.utx, Ökonomisch-Phiiosophische Manuskripte (s. Anm. 92), 548.
189 MosEs HEss, Die eine und ganze Freiheit, Philos. u. sozialistische Sehr., 227.
17 ° FERDINAND LASSALLE, Offenes Antwortschreiben an das Zentral-Komitee zur Berufung
478
V. 7. Sozialistisehe Sieht Bedürfnis
(1848)17 4 • In der künftigen Gesellschaft werde, so hofft Marx, das Bedürfnis seinen
egoistischen Charakter verloren haben. Die Arbeit werde das erste Lebensbedürfnis
sein (1875) 1 7°.
Die Schärfe der sozialistischen Gesellschaftskritik ergibt sich nicht zuletzt aus der
Hoffnung, in der Zukunftsgesellschaft sei die volle Bedürfnisbefriedigung aller mög-
lich. Während in der bürgerlichen Gesellschaft die Güterproduktion noch nicht
ihren Höchststand erreichen könne, werde in der sozialistischen Gesellschaft nichts
leichter sein, als die Mittel zur Befriedi,gung der Bedürfnisse aller, .wekhe arbeiten
wollen, zu schaffen (MOSES HEss 1847) 176 • ENGELS glaubt, die industriellen Kräfte
wüchsen ungehemmt durch die Institution des Privateigentums, ins Riesenhafte
(1847); dadurch sei es möglich, der Gesellschaft eine hinreichende Masse von Pro-
du'/aen zur Verfitgung zu stellen, um damit die Bedürfnisse aller zu befriedigen177 •
Nach MARX werden in der sozialistischen Gesellschaft die Springquellen des genossen-
schaftlichen Reichtums ... -P,ießen und die Güter nach dem von ETIENNE ÜABET zum
ersten Mal 1839 178 formulierten Grundsatz: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem
nach seinen Bedürfnissen (1875) 179 verteilt werden. Die volle Bedürfnisbefriedigung
wird in der sozialistischen Gesellschaft nicht zuletzt durch die planmäßige Lenkung
der wirtschaftlichen Abläufe gewährleistet. Nun leiten nicht mehr einzelne, einander
Konku"'mz r1uiclwnde Faf.trikanten, sondern d·ie ganze Guellschaft nacli einem festen
Plan und nach den Bedürfnissen aller die industrielle Produktion (ENGELS 1847) 180•
Nach den Vorstellungen von RonBERTUS-JAGETZOW hat eine Zentralbehörde nach
den ermittelten Bedürfnissen die einzelnen Produktionen zu eröffnen und danach die
Arbeit und das Kapital ... einzuteilen und zu verteilen 181 • Zur Signatur der sozialisti-
schen Gesellschaft gehört auch, daß öffentliche Bediirfni.~.~e . . . alles individualisti-
schen Sträubens ungeachtet, einen ... zunehmend größeren Teil ausmachen 182 • Auch
S*~~~ -
177 FRIEDRICH ENGELS, Gundsätze des Kommunismus, MEW Bd. 4 (1959), 375.
178 ETIENNE ÜABET, Voyage en Icarie (Paris 1839), Titelblatt: A chacun suivant ses besoins,
De chacun auivant ses forces. Die Verteilung nach dem Prinzip der Bedürfnisse fordern schon
Morelly und Mably; MORELLY, Code de la nature ou le veritable esprit de .ses lois (1755;
Ausg. Paris 1953), 127 f. stellt fest: Rien dans la sociite n'appartiendra singulierement ni en
'J'TO-prieU a personne que 1.e.s chose.s'dcmt. il fera 1m. 11.r;a{Je a,r,t11R.l, Rnit pm1.r RPJI be110ins, aea plaiaira,
ou aon travail jourrwJier; GABRIEL BoNNOT DE MABLY, Doutes proposes aux philosophes
economistes (1768), Oeuvres compl., t. 11(London1789), 8 fordert: L'~tat, 'P"'O'J'Tiitaire de
tout, dietribue atix particuliers les choaes dont ila ont beaoin.
i 79 MARx, Kritik des Gothaer Programms, 21 (vgl. Anm. 93).
l80 ENGELS, Grundsätze des Kommunismus, MEW Bd. 4, 370.
181 CARL RoDBERTUS-JAGETZOW, Das Kapital, Schriften, hg. v. Adolph Wagner u. Theo-
in dem Nationalbedürfnia einen weit kleineren, ja zunehmend kleineren Teil, die kommunieti-
achen oder die, welche die Gesellachaft ala solche hat, einen weit größeren, ja zunehmend größeren
Teil; ebd„ 65.
479
Bedürfnis V. 8. 'Bedürfnis' in der Historischen Schule
die Qualität der öffentlichen Bedürfnisse ändert sich. Erziehungs- und Unterrichts-
budgets werden an die Stelle der Militärbudgets treten183.
DIETZGENS 1870 erhobene Forderung nach einer vollen Bedürfnisbefriedigung aller
Bürger, der Verteilung nach sozialem Bedürfnis und nicht nach dem Grundsatz des
suum cuiquel84 wurzelt in der ~ahme der Gleichheit der Bedürfnisse. Seine An-
sicht, die Natur habe uns allen daß gleiche Bedürfnis gegeben185, findet sich schon bei
C. W. FRÖLICH, einem sozialistischen Utopisten des 18. Jahrhunderts. Ihm zufolge
gründet sich das gleiche Recht aller Menschen, die Güter der Erde zu gewinnen,
auf ihre Bedürfnisse, die bei jedem dieselben sind (1792)186.
Wie die Aufklärung und der Liberalismus, so bejaht auch der Sozialismus die Be-
dürfnissteigerung als Unterpfand der kulturellen Entwicklung. WEITLING stimmt
Init MoRELLY187, dem sozialistischen Philosophen der französischen Aufklärung,
überein, wenn er im Wechselspiel von Fähigkeiten und Bedürfnissen das konstitu-
tive Prinzip der gesellschaftlichen Entwicklung zum Fortschritt erblickt. Bedürf-
nisse erheischen neue Erfindungen, diese steigern die Fähigkeiten, die ihrerseits
wiederum zur Weckung neuer Bedürfnisse beitragen188. Die uneingeschränkte Be-
jahung des kulturell-geschichtlichen Fortschritts verbindet sich bei den sozialisti-
schen Autoren Init der Ansicht, die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse sei die
Voraussetzung der höheren (DIETZGEN 1870) 189.
Obgleich den Vertretern der Historischen Schule der Nationalökonoinie eine kon-
~ervative Gesellschaftsauffassung eigen ist, so teilen sie doch nicht Init den kon-
servativen Autoren die Ablehnung der Bedürfnissteigerung. Sowohl in der älteren
als auch in der jüngeren Historischen Schule wird der Bedürfnisentgrenzung
sophie Frankreichs nimmt schon vor Frölich die Gleichheit der Bedürfnisse an. Morelly
und Mably aktualisieren im Gegensatz zur bürgerlichen Aufklärungsphilosophie (Holbach,
Holv6tius), die ebenfalls die Gleichheit der Dedürfnisse untei'!ltellt, die in der Annahme
dieser Gleichheit schlummernden, radikal-egalitären Potenzen. MoRELLY, ÜQde de la
nature, 44, stellt fest: Elle (die Natur) fait sentir a~ hommes r>ar la r>arite de sentiments
et de besoins, leur egalite de conditions et de droits, et la necessite d'un travail commun,· und
MA.BLY, Entretiens de Phocion (Amsterdam 1767), 150 fragt: Pourquoi des riches, 'JXYUrguoi
des '[>aUvres? Ne naissons-nous '[>a8 tous avec les memes besoins?
18 7 MoRELLY, Code de la nature, 42 f.
188 WILHELM WEITLING, Garantien der Harmonie und Freiheit (1842), hg. v. B. Kaufhold
480
V. 8. 'Bedürfnis' in der Bistorisehen Sehule Bedürfnis
1910), 25.
191 RoSOHER, Über den Luxus (s. Anm. 134), 446.
192 LuJo ßRENTANO, Versuch einer Theorie der Bedürfnisse .(1908), in: ders., Konkrete
Grundbedingungen der Volkswirtschaft (Leipzig 1924), 175.
19 a ADOLPH WAGNER, Grundlagen der Volkswirtschaft, in: ders., Grundlegung der politi-
schen Ökonomie, 3. Aufl., Bd. 1 (Leipzig 1892), 75.
m SoHMOLLER, Volkswirtschaft.slehre, Bd. l, 26.
195 RosOHER, tiber den Luxus, 410.
19 8 KARL BüOHER, Die Entstehung der Volkswirtschaft, 8. Aufl., Bd. 2 (Tübingen 1926),
340.
197 KARL KNms, Die politische Ökonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode
31-90385/1 481
Bedürfnü V. 9. Zentralhegriff in der Grenznotzemcbale der Nationalökonomie
Butiht-ti du M e1U1chen selbst, abBOl·uL oder relat•iv, ·1wtwe7Ulig ist •.. ; anderseits K ulturbw1lrf-
nisse, deren Befriedigung einmal zur Erhöhung des feineren LebensgenUBses, materieller wie
'immaterieller Art, sodann zur weiteren Entwicklung des Menschen, insbesondere se.iner geisti-
gen Seite, dient. b) I ndivwualbedürfnisse, welche aus dem physisch-geistigen Wesen des
einzelnen ... hervorgehen, und Gemeinbwürfnisse, welche beim einzelnen aus dessen Ange-
hörigkeit zu menschlichen Gemeinschaften entspringen.
199 BRENTA.NO, Theorie der Bedürfnisse, 108 ff. unterscheidet zwischen körperlichen und
Bedürfnissättigung", lautet in der Formulierung von FRIEDRICH WIESER: Bei jwem teil-
baren Bwürfnis wird innerhalb jwes Bwürfnisabschnittes der mit der ersten Verwendungs-
einheit vorzunehmende Befrwigungsakt mit der höchsten I nf.ensiflit begehrt, je,de Verwendung
weiterer Einheiten derselben Art wird mit abnehmender Intensiflit begehrt, bis der Sättigungs-
grad erreicht ist, darüber hinaus schUigt das Begehren in W werwillen um; Theorie der gesell-
schaftlichen Wirtschaft, Grundr. d. SozÖk., 2. Aufl„ 1. Abt., Bd. 2 (Tübingen 1924), 24.
Sowohl die ältere deutsche liberale Ökonomie (Jakob, v. Soden, LotZ, Rufeland, v. Her-
482
V. 10. Neokonservatismus Bedürfnis
10. Neokonservatismus
Dem Ganzheitsdenken der neokonservativen Nationalökonomie erscheint die von
der Grenznutzenschule vorgenommene Verankerung der Wirtschaftstheorie in den
Bedürfnissen der Individuen als Künstelei, die zur Zerfaserung des Wirtschaftslebens
führe. Wirtschaft ist nach GoTTL-ÜTTLILIENFELD (1928) nicht als Vorsorge des ein-
zelnen für die Befriedigung seiner Bedürfnisse aufzufassen, .sondern vielmehr als
Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens im Geiste dauernden Einklangs von
Bedarf und Deckung zu begreifen. Dabei wird '.Bedarf', dessen Träger im Gegensatz
zum 'Bedürfnis' nicht die einzelnen Wirtschaftssubjekte, sondern gesellschaftliche
Gebilde wie Haushaltungen und Unternehmungen sind, definiert als das Verlangen,
Verfügung über die Mittel der Bedürfnisbefriedigung zu erlangen 2 0 4 ,
Wie ihre konservativen Vorgänger, so rügen auch die neokonservativen Autoren
die Wirkungen der Wohlstandssteigerung auf Kultur und Gesellschaft. HANS
FREYER stellt fest, daß in der modernen Industriegesellschaft die Zuordnung be-
stimmter Konsumgewohnheiten zu bestimmten sozialen Rängen und Lebenskreisen weg-
gefallen ist. Der Verbraucher werde im sog. „sekundären System" auf diese Weise
genormt und proletarisiert. Der Gedanke eines gebührenden Bedürfnisses ist heute
ebenso reaktionlJ,r geworden wie der Gedanke einer mlJglichen Zufriedenheit mit dem
Seinen (1955) 206 • ARTUR MA.RAUN führt Klage über die gesellschaftlichen Folgen der
Bedürfnisentgrenzung, die im Deutschland der Gründerjahre um sich griffen. Die
bürgerliche Gesellschaft des Bismarckreiches sei zum Schauplatz öden und un-
geistigen Prunkes (1924) 206 geworden; da das Bürgertum ohnehin schon auf dem
Wege der Verfiachung und Willensentäußerung gewesen sei, hätten Luxus und
Wohlstand es um so verwundbarer treffen können 20 7• EDGAR JuNG wendet sich
gegen die Geschichtslüge ... , daß Bedürfniswsigkeit mit niederer Kulturstufe zu-
sammenfalle (1930) und verweist in diesem Zusammenhang auf die östlichen Kultur-
völker, die ihre Kultur mit der Erziehung des einzelnen zur Bedürfnisbeschränkung
(1930) 2 08 krönten. Die hochentwickelte moderne Reklametechnik, die den reibungs-
losen Verkauf der ständig wachsenden Güterfülle gewährleisten soll, gibt Jung
Veranlassung,. die kapitalistische Bedarfsreizungswirtschaft, die den Menschen in
einen entwürdigenden, sinnlosen Bedürfnistaumel stürze, am:uprangern 209 • Nlir 50
mann, v. Mangoldt, Storch, Rau) als auch die _romantisch-historische Schule {Müller,
Rascher, Knies, Hildebrand, Bernhardi) haben der Nutzwertlehre das Wort geredet.
.203 FRIEDRICH NIETZSCHE, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke, Bd. 3 (1960), 903.
2o6 ARTUR MARAUN, Das Jungdeutsche Manifest, 2. Aufl. (Berlin 1927), 27.
207 Ebd., 26.
208 EDGAR JUNG, Die Herrschaft der Minderwertigen, 2. Aufl. (Berlin 1930), 487.
483
Bedürfnis V. 12. Neoliberalismus
lange sei der Mensch Herr der Wirtschaft, solange er den Rahmen seiner Be-
dürfnisse, von der Natur und einer gesunden Kultur geleitet, selbst bestimmt 210•
LEOPOLD ZIEGLER befürchtet, die Überzüchtung des Bedarfs durch das ·neuzeitliche
Reklamewesen versetze die Konsumenten in einen Zustand der Überwachheit ... ,
der zuletzt ihre Vitalität, statt sie emotional zu entbinden, verzehren und erschöpfen muß
(1927) 211 •
11. Nationalsozialismus
Einziger Maßstab der nationalsozialistischen Wirtschaftslehre ist der völkische Ge-
danke. So sehr etwa VLEUGELS die von Gottl-Ottlilienfeld vertretene Auffassung
der Wirtschaft als Teilgestaltung menschlichen Zusammenlebens akzeptiert, RO
vermißt er doch in dieser neokonservativen Ansicht die völkische Akzentuierung 2 1 2 •
Der Sinn aller wirtschaftlichen Aktivität konstituiert sich für Vleugels erst im
Dienst an der völkischen Lebensordnung, an der bestmöglichen Bedarfsversorgung der
Volksgemeinschaft (1936) 213 • Dabei handelt es sich um planmäßige Bedarfsdeckung
Bnf priu„fknpitnl?:.~tischer fkwn.dl.a.ge (REl.TPKE 1931) 214 • Je.doc.h soll im Staate nicht
eine genußfreudige, sondern heroisch-asketische Lebenshaltung vorherrschen. Der
heroische Mensch ist materiell anspruchslos (BÄuMLER 1934)215 •
Es liegt im Wesen der nationalsozialistischen Wirtschaftslehre, daß sie den Be-
griffen 'Staatsbedarf' bzw. 'Staatsbedürfnis' eine dominierende Rolle zuweist.
JENS JESSEN (1935) zufolge dehnt sich in der nationalsozialistischen Wirtschaft der
Staatsbedarf, der in der Schaffung aller der Voraussetzungen besteht, die überhaupt
für die Existenz des Staates die Vorbedingung bilden, ständig aus 216 • Auffälligstes
Zeugnis dafür sei das Wachstum des Heeresbedarfs, bedingt durch die Fortschritte
in der Waffentechnik. Neben den Staatsbedarf tritt nach Jessen der Sammelbedarf
(Kollektivbedarf), der sich im eigentlichen Sinn aus dem Einzelbedarf (Individual-
bedarf), den Notwendigkeiien der Einzelwirtschaft zusammensetzt, dessen Deckung
d·urch den Staat aber . . . als zweckmäßig angesehen wird 217 •
12. Neoliberalismus
Als Reaktion auf die Planwirtschaftspolitik der antiliberalen Systeme des National-
sozialismus und des Bolschewismus fordert der Neoliberalismus die Entpolitisierung
der Bedürfnissphäre. Die Wirtschaftslenkung totalitärer Staaten besitze die Mög-
484
V. 13. Neue Liake Hr.dürfni11
lickkeit, sich in ihrem Wirtschaftsplan vom Konsumenten zu. emanzipieren und wirt-
schaftliche Bedürfnisse in· anderem Umfange und anderer Rangskala zu· befriedigen
(MÜLLER-ARMACK 1947). Der Wirtschaftsbürger sei in der Planwirtschaft ge-
nötigt, Güter zu kaufen, die seiner ursprünglichen Bedarfsricktung eventuell nickt
entsprechen. Wenn. auch die freie Marktwirtschaft durch Suggestionsreklame dem
Konsumenten künstliche Bedürfnisse aufrede, so sei es letzten Endes doch der Ver-
braucher und nicht die staatliche Planbehörde, der den Ablauf des wirtschaftlichen
Geschehens bestimme 218 • Aus diesem Grunde ist für WILHELM RöPKE die wahre
Bedarfsdeckungswirtschaft nicht die kommunistische, sondern die nach neolibe-
ralen Prinzipien ausgerichtete Ökonomie. Kann man ein Wirtschaftssystem, in dem
bei reiner Durchführung seiner Prinzipien die V erbrauckswünsche der Konsumenten
die Produzenten zur höchsten Leistung in der Befriedigung dieser Wünsche anspornen,
anders als eine Bedarfsdeckungswirtschaft nennen (1942) 1219 • Nur in der neoliberalen
Marktwirtschaft sei die Produktion an den Bedürfuissen der Menschen orientiert.
Wie die Paläoliberalen, so sind auch die Neoliberalen der Ansicht, daß kulturelles
Leben sich nur auf einer stabilen ökonomischen Grundlage entfalten könne. Das
Religiöse, das Ethische, das Ästhetische, kurz gesagt, das MensckUche; das Kulturelle
überhaupt können ALEXANDER RüsTow zufolge ohne die Wirtschaft nickt existieren
(1960). Eine prosperierende Wirtschaft ermöglicht die kulturelle Blüte eines politi-
schen Gemeinwesens. Primum vivere, dein.de pkilosophari220. Des weiteren erblickt
die neoliberale Schule in der stetigen Steigerung des Sozialproduktes die beste
Garantie für das Weiterbestehen der bürgerlich-liberalen Gesellschaftsordnung. Das
einzige, was die moderne Demokratie nickt überleben wird, ist die Notwendigkeit einer
wesentlichen Senkung des Lebensstandards im Frieden oder auch nur ein lang ·an-
haltender Stillstand des wirtschaftlichen Fortschritts (llAYEK 1945)221 •
Wie Marx und die anderen Sozialisten des 19. Jahrhunderts, so sorgen sich auch
die Sozialisten des 20. Jahrhunderts um eine humane Form der Bedürfnisbefriedi-
gung. Allerdings formulieren die .Vertreter der sogenannten Neuen Linken ihren
Protest nicht mehr in einer Gesellschaft, die der Mehrheit ihrer Bürger die Befriedi-
gung primitivster Bedürfnisse vorenthält. Sie erheben ihre gesellschaftliche Anklage
in einer Überfl.ußgesellschaft. In ihr wird der Mensch Opfer seines Verbrauchs-
bedürfnisses. Angestachelt durch eine aufwendige Werbemaschine, ergreift es von
ihm Besitz, gewinnt ein von der menschlichen Ratio unabhängiges Eigenleben; Das
ursprüngliche Verhältnis von Bedürfnis und Befriedigung, von Drang und Sättigung
ist merkwürdig verkehrt:· der Bedarf wird um so bedürftiger, die latente Konsum-
1948), 233.
220 ALEXANDER RüsTow, Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit (1960), in: ders.,
485
Becliirfnis V. 13. Neue Linke
Dem Menschen werden Bedürfnisse, die er ursprünglich nicht verspürte, von einer
riesigen Werbemaschine eingepflanzt. Die Auswirkung der Werbung auf die psy-
chische Verfassung des Menschen ist verheerend. Mit zunehmemlem Vtirbrauuhs-
tempo verwandelt der Verbraucher sich in einen gelangweilten Konsumautomaten.
Der Überhang unechter Bedürfnisse ließe sich nicht beliebig verdichten, wenn nicht
gleichzeiti,g mit der Stimulierung eines feden besonderen Bedürfnisses der unbestimmte
Bedarf, der allgemeine gesichtslose Bestand an Mangel, an Leere, an Üb.erdruß, an
Fremde potenziert würde 225• Seelische Verarmung ist also der Preis, der für die Über-
flußgesellschaft entrichtet werden muß. Zu den entscheidenden Merkmalen dieses
Pmq1P:ri.~m.11.~ dP.11 Tfon.'l'tt.m.~ gehört, daß die Gegenstände des Verbrauc.hs nicht mehr
wahrgenommen werden 228 • Im circulus vitiosus von Bedürfnisreizung und Bediirf-
nisbefriedigung wird der eigentliche Charakter der zum Konsum bestimmten Güter
immer weniger wichtig. Recht eigentlich ist es unangebracht, dem Ver\>raucher
Subjekt-Qualitäten zuzuschreiben. Denn der scheinsouveräne Alleskönner lebt nicht
mehr selbst, er wird vielmehr von den Dingen und Ereignissen, die er konsumiert, ver-
lebt und verkonsumiert (1956) 227 • Er wird in zunehmendem Maße Opfer der Erwar-
tungs- und Umgangsvorschriften des erwünschten und erworbenen Konsumgutes 228 •
Die Folgen dieser Außenlenkung sind abgerissene und wahllose Reaktionen, Verhal-
tenswillkür und Zufälli,gke:it der Oharakterbildung 229 • Die' kapitalistische Überfl.uß-
gesellschaft weist sich nach HERBERT MARCUSE vor allem durch den Gegensatz von
219 Ebd.
486
V. 13. Neue Linke Bedürfnis
wahren und falschen Bedürfnissen aus. 'Falsch' sind diejenigen, die dem Individuum
durch partikuläre gesellschaftliche Mächte, die an .seiner Unterdrückung interessiert
sind, auferlegt werden: diejenigen Bedürfnisse, die harte Arbeit, Aggressivität, Elend
und Ungerechtigkeit verewigen2ao. Alle 'echten Bedürfnisse', d. h. alle diejenigen,
welche die Befreiung des Individuums fordern und fördern, werden in der fort-
geschrittenen Industriegesellschaft unterdrückt. Hingegen erzwingt die soziale Kon-
trolle das überwältigende Bedürfnis nach Produktion und Konsumtion von unnützen
Dingen; das Bedürfnis nach abstumpfender Arbeit, wo sie nicht mehr wirklich not-
wendig ist; das Bedürfnis nach Arten der Entspannung, die diese Abstumpfung mildern
und verl,ängern2 31 • Im Gegensatz zur frühindustriellen Gesellschaft partizipieren die
Beherrschten in der spätbürgerlichen Überfl.ußgesellschaft an der Güterfülle; die
unterworfene Bevölkerung hat teil an den Bedürfnissen und Befriedigungen ... , die
der Erhaltung des Bestehenden dienen 23 2. Von dieser Euphorie im Unglück 233, von
den repressiven Bedürfnissen, muß das Individuum befreit werden. Organisierte man
den Produktionsapparat im Hinblick auf die Befriedigung der notwendigen Bedürf-
nisse, würde das Individuum von den fremden Bedürfnissen und Möglichkeiten 2H
befreit. Diese Befreiung kann jedoch nur das Werk von Menschen sein, die bereits
selber neue Bedürfnisse haben 235 • Der Aufbau einer neuen Gesellschaft hängt in
erster Linie davon ab, inwieweit die vitalen Bcdürfnisso nach Abschaffung des eta-
blierten Systems der Knechtschaft sich durchsetzen 23 6 • Eine gesellschaftliche Umwäl-
zung ohne das Hervortreten solcher neuen Bedürfnisse und ihrer Befriedigung würde
zu einer abermaligen Verknechtung des Menschen führen. Der Sensitivität und Sen-
sibilität zu ihrem Recht zu ~erhellen, das ist für meine Begriffe ein Grundziel des
integren Sozialismus 23 7 • In Übereim1timmung mit den Sozialisten des 19. Jahrhun-
derts verwerfen Habermas und Marcuse eine bedürfnisfeindlich-asketilluhe LeLemi-
weise. Nach Ma.rcwie bed.eut.et dü'. RP.frP.i.mig 11on der Überftußgesellschaft keine Rück-
kehr zu gesunder und robuster Armut, moralischer Sauberkeit und Einfachheit. Im
Gegenteil, das Beseitigen profitabler Verschwendung würde den zur Verteilung verfüg-
baren gesell8chaftlichen Reichtum vermehren 23 8 • Jürgen Habermas plädiert für eine
Konsumaskese in hedonistischer Absicht. Askese bezieht sich ... auf den Pauperismus
im Überfluß, sie weist den Konsumzwang ab, der die Menschen anhält, sich im Dienste
einer verselbständigten Produktion einem Angebot zu fügen, für das sie sich die Bedürf-
nisse von e,ben demselben Angebot erst beibringen lassen 239.
188 HERBERT MABcusE, Der eindimensionale Mensch (Neuwied, Berlin 1967), 25.
181 Ebd., 27.
282 Ebd., 28.
283 Ebd., 25.
4:87
Bedürfnis VI. Ausltlick
VI. Ausblick
Zu den Hauptproblemen sowohl der kapitalistischen als auch der sozialistischen
Wirtschaft gehört die Übereinstimmung von Produktion und Nachfrage. Den Plan-
experten der DDR zufolge soll die sozialistische Planung die optimale Befriedigung
der Bedürfnisse der Gesellschaft auf Grund des gegebenen Niveaus der gesellschaftlichen
Produktivkräfte gewährleisten (FRITZ BEHRENS 1961) 240• Dies geschehe durch eine
maximale Ausnützung der Produktivkräfte und die Ausrichtung der Produktion auf
die Bedürfnisse 241 • Ein besonderes Augenmerk richte die sozialistische Planung auf
die Befriedigung der Kollektivbedürfnisse, während in der kapitalistischen Markt-
wirtschaft der ganze Bereich der sozialen Bedürfnisse (PETER THAL 1966) 242 un-
berücksichtigt bleibe. Die kommunistische Produktionsplanung werde im Gegensatz
zur sozialistischen die V erte·il11,ng nach den Bedürfnissen und auf diese Weise die im
Sozialismus noch vorhandene konsumtive Ungleichheit beseitigen2 4a. Der Kapita-
lismus kennt keinen Zentralplan, der Produktion und Konsum zur Deckung zwingt.
Im kapitalistischen Wirtschaftssystem von heute ist es vornehmlich die Aufgabe
der Großbetriebe, die Kongruenz von Produktion und Konsum zu gewährleisten.
Ein Mittel dazu ist die geplante Obsule11:t.eil:t.; ui.e KummmgUter werden so konstru-
iert und produziert, daß sie vorzeitig verschlissen werden. Wichtiger als der geplante
Verschleiß ist jedoch die Werbung. Der Reklame kommt in der kapitalistischen
Wirtschaftsgesellschaft der Gegenwart vor allem die Aufgabe zu, neue Bedürfnisse
zu wecken, um so den Absatz der neuproduzierten Güter zu gewährleisten. Dabei
besteht dauernd die Gefahr, daß der Anstieg der Bedürfnisse Init dem Wachstum
der Produktion nicht Schritt halten kann. In dem Augenblick nämlich, in dem sich
die Konsumenten der Notwendigkeit enthoben fühlen, den Anpreisungen der Wer-
bung zu folgen, ist der ungestörte Ablauf des Wirtschaftsprozesses in Frage gestellt.
Nicht zuletzt dieser Gefahr wegen erhält die Konsumfreudigkeit einen bevorzugten
Platz im Tugendkatalog der Überßußgesellschaft. Derjenige, welcher dem stoisch-
zynischen Ideal der Bedürfnislosigkeit huldigt, sieht sich unter den obwaltenden
Umständen in die Rolle des Sozialschädlings versetzt. Solange sich die Konsum-
kapazität wegen der nur begrenzt verfügbaren Verbrauchszeit kaum entscheidend
steigern läßt, die Produktionskapazität auf Grund des technischen Fortschritts
jedoch laufend steigt, läßt sich ein Zeitpunkt errechnen, an dem es deshalb zur
Absatzstockung kommt. Spätestens dann kann man folgern, daß die Produktion
gedrosselt, der Leistungsdruck sowohl im Fabrikations- als auch im Konsumsektor
vermindert werden muß. Auch um einem kontinuierlich steigenden Raubbau an der
Natur Einhalt zu gebieten, kann eine Drosselung der Produktion geboten sein.
Sowohl im kapitalistischen als auch im sozialistischen Wirtschaftssystem verseuchen
die modernen Produktionsa.nlagen, Verkehrseinrichtungen und viele Konsumgüter
840 FRrrz BEHRENS, Ware, Wert und Wertgesetz (Berlin 1961), 124.
241 Ebd.
242 PETER THAL, ldeengeschichtliche und theoretische Aspekte des Gegensatzes zwischen
488
Betlürfnis
mit ihren Abfallstoffen die Umwelt. Die dauernde Steigerung der Bedürfnisse
erzeugt damit ein neues Bedürfnis: nach einem effizienten Umweltschutz.
Am hohen Bedürfnisniveau der entwickelten Industriegesellschaft orientieren sich
auch die wachsenden Ansprüche der Menschen in den Entwicklungsländern. Wäh-
rend in der Dritten Welt die „Revolution der steigenden Erwartungen" sehr oft
sowohl Ausdruck als auch Ursache eines „antiimperialistischen" Bewußtseins ist,
scheint in den entwickelten Industriestaaten des Westens die Demokratisierung
der Konsumgewohnheiten die sozialen Spannungen zu dämpfen. Die Einebnung
der gesellschaftlichen Unterschiede in der Konsumsphäre relativiert die Klassen-
differenzen iin Produktionssektor. Revolutionäre Ideen büßen insofern ihre Sug-
gestivkraft bei der Arbeiterschaft ein. Wie Georg Büchner 1835 an seinen Freund
Gutzkow schrieb, als er das Verhältnis einer natürlichen Bedürfnisbefriedigung zur
'Revolution' apostrophierte: Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die
ApCYpkx·ie. E·in Iluhn im Topfe jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden.
Literatur
489
Beruf
1. Einleitung
'Beruf' wird heute definiert als der Kreis von Tätigkeiten mit zugehörigen Pflichten
und Rechten, den der Mensch im Rahmen der Sozialordnung als dauernde Aufgabe
ausfüllt und der ihm zumeist zum Erwerb des Lebensunterhaltes dient1 • Der Begriff
wird in diesem Sinne wertfrei, funktional verstanden. Doch wohnt ihm tatsächlich
eine Wertung meist schon deswegen inne, weil es sich um eine dauernde Aufgabe
handelt, die nach verschiedenen Kriterien (Grad der Erlernung und Berechtigung,
Höhe der Vergütung, üblicherweise zuerkanntes Ansehen) gemessen zu werden
pflegt. 'Br.r11f' nntR.rRr.h11irl11t. Rir.h von r.ufälliger, wech.~elnder Erwerb11arbeit1 vom
'Job' 2 , aber auch von Lieblingsbeschäftigungen, die in die meist von der Berufs-
oder Arbeitszeit unterschiedene „]j'reizeit" (ehemals 'Feierabend') fallen. Läßt sich
also aus dem Verhältnis des Menschen zur modernen Arbeitswelt die Wertbezogen-
heit des Begriffs 'Beruf' (weit hinaus über eine bloße Funktion im arbeitsteiligen
Produktionszusammenhang) ableite_n, so drängt sich das Bedürfnis einer historischen
Interpretation des Berufslebens auf. Das Wort 'Beruf' ist im Deutschen seit der
Reformationszeit (Luther 1522) allgemein in Gebrauch gekommen, wobei andere
Bildungen des Wortfeldes wie 'Ruf', 'Berufung', 'Rufung' in ihrer Bedeutung für
die Geschichte des modernen Berufäbegri:ffs zurücktraten. Wenn auch das Wort
'Beruf' bereits im Mittelhochdeutschen bekannt war, so doch anfänglich nur in der
Bedeutung von „Ruf", „Leumund". Die Beziehung zu 'vocatio', „innerer Ruf"
sowie zu 'Stand' und 'Arbeit' wurde schon im späten Mittelalter hergestellt und
durch Luther vollendet, so daß durch diesen und seine Zeit das Wort den spezi-
fischen Begriff zu bezeichnen begann bzw. dieser der zunehmenden Festlegung auf
das Wort bedurfte 3 •
Mit der im Wort deutlich gemachten christlichen Prägung jeglicher Tätigkeit in
der Gesellschaft war die begriffliche Richtung im sozialethischen Sinne gewiesen,
wi~ sie dem deutschen Wort 'Beruf' durch alle Wandlungen und Brechungen
darüber haben die bisherigen Untersuchungen hinweggetäuscht, weil sie bei Texten aus
vorreformatorischer Zeit allein auf den Begriff sahen, seine Differenzierung in die Wörter
'rufung', 'ruf', 'berufung' und 'beruf' jedoch zu wenig beachteten. Die übliche deutsche
Bezeichnung für vocatio war vor Luther 'ruf', das zu Luthers Zeit schon allgemein den
Sinn von „Stand" besaß. - MAx WEBER, Die protestanti.Sche Ethik und der Geist des
Kapitalismus (1904/05), Ges. Aufs. z. Religionssoziologie, Bd. 1, 4. Aufl. (Tübingen 1947),
63 ff. ; KARL HoLL, Die Geschichte des Wortes Beruf, Ges. Aufs. z. Kirchengesch., Bd. 3
(Tübingen 1928), 203 ff.
490
II. 1. Chrütlich·vorreformatorische Grundlagen Bernf
hindurch z. T. noch bis zur Gegenwart eigentümlich geblieben ist. Max Weber hat
darauf hingewiesen, daß in den romanischen Sprachen (Katholizismus!) 'vocatio'
nicht zur Bezeichnung des weltlichen Berufs im deutschen Sinne geworden ist'.
Offenbar haben die Bibelüber11etzungen im protestantischen Bereich aus „dem Geist
der Übersetzer, nicht aus dem Geist des Originals 5" die Äquivokation in die zu-
gehörigen Sprachen eingeführt (so z. B. engl. calling, schwed. kallelse, niederlän-
disch beroep, tschech. povolani, poln. powol:anie, lett. piedäväjums, lit. paiaukimas,
estn. kutse, finn. kutsumus).
II.
1. Christlfoh-vorreformatorische Grundlagen
' WEBER, Protestantische Ethik, 63 ff. - Die wortgeschichtliche Scheidung der Bedeu-
tungen „Beruf" und „Berufung" findet sich z. B. auch im Englischen und Französischen
(profession/vocation), Russischen (professija/prizvanie ,= Lehnübersetzung von nhd.
Beruf), Lettischen (profesija, amats, specialitite/piedivijums), Litauischen (profesija,
uiieminas/paiauklmas, pavadlnimas). Dabei ist im Litauischen eine deutliche konfessionelle
Trennung festzustellen: Kalvinisten und Katholiken gebrauchen für vocatio im Sinne von
1. Kor. 7,20 paiauklmas, in dem die· Bedeutung des Auf- und Anrufens steckt, Lutheraner
pavadlnimas, das mit pavadlnti "(be)nennen, mit Namen nennen, bezeichnen" zusammen-
hingt: vgl. MAX NIEDERMANN /ALFRED SENN/ ANTON SAYLS, Wörterbuch der litauischen
Schriftsprache, Litauisch-Deutsch, Bd. 2 (Heidelberg 1933/1951), 623 f. 684; Litauisches
Etymologisches Wörterbuch, hg. v. ERNST FRA.ENKEL, Bd. 2 (Heidelberg, Göttingen 1965),
968.
5 WEBER, Protestantische Ethik, 65.
1 Holl neigt zu dieser Interpretation: er ist dabei offenbar einer naheliegenden Suggestion
verfallen, wie schon mittelalterliche Exegeten vor Luther; vgl. KrrrEL Bd. 3 (1938),
492 f., s. v. 'HÄijai~.
491
Beruf II. 1. Christlieh voneformatori1mhe Gnmdlageo
0
den) zu geistlichem Tun, das über das Arbeitsleben hinausweist. Dem entsprach es,
daß im Maße wie die Christianisierung fortschritt, und die Christen nicht mehr
(auserwählte) Minderheit in heidnischer Umgebung waren, die persönliche Berufung
oder Erwählung sich auf den innersten, gottnächsten Kern der Christenheit, auf die
Religiosen, konzentrierte. 'Vocatio' galt im Mittelalter primär für das Mönchtum,
das den Stand der Vollkommenheit durch die Erfüllung der evangelischen Räte
(consilia) des Gehorsams, der Keuschheit und der Armut besaß, während die
übrigen Christen nur die Gebote (praecepta) zu befolgen gehalten waren. Daß erst,
nachdem der Religiosenstand durch Luther ausgeschieden und der Priesterstand
im „allgemeinen Priestertum" aufgegangen war, vocatio und of.ficium zu 'Beruf'
verschmelzen konnten, ist von protestantischer Seite behauptet?, von katholischer
Seite dagegen bestritten worden 8 • Sicherlich ist es im Mittelalter nicht üblich
gewesen, den '.Beruf' im heutigen Sinne mit vocatio oder deren deutschen Ent-
sprechungen zu bezeichnen oder den theologisohen Begriff der vocatio explizit
mit den weltlichen Tätigkeiten zu verbinden. Allerdings ist offenbar 1. Kor. 7,
20 spätestens vom Hochmittelalter an schon in dieser Richtung gedeutet worden.
Dafür wurden Belege beigebracht, so im Kommentar des HL. BRUNO (t 1101) zum
1. Korintherbrief, wo status als vocatio begriffen wird, oder bei HERVAEUS VON
BoUBODIEN (t 1150), der von vocationu vitae im Anschluß au l. Kur. 7, 20 spricht0 •
Doch selbst diese bemerkenswerte pluralische Verwendung sollte nicht allzu modern
vernommen werden. Wohl war jeder in seinem Stande (Freiheit oder Knechtschaft,
Mann oder Frau, Ehebindung oder Ledigsein, beschnitten oder unbeschnitten)
zum Christen berufen. Aber die Vielfalt der Tätigkeiten in der arbeitsteiligen Ge-
sellschaft des Mittelalters wurde weder als 'Stand' bezeichnet, noch jeweils als
vocatio begriffen. Allerdings sind auch die dafür verwendeten Bezeichnungen
außer 'conditio' nicht wertneutral, sondern ethisch und angesichts der monastischen
Analogien auch religiös verstanden worden: so 'ordo', 'professio', 'ministerium' und
besonders 'offi.cium'. Die arbeitsteilige Gesellschaft wurde als gottgewollte und zu-
gleich naturgegebene distributio officiorum10 gesehen. Für diese galten die Grund-
sätze der christlich begriffenen Ehre der Arbeit ohne Ansehen des Standes und der
Person sowie der Ablehnung des Gewinnstrebens um seiner selbst willen. Damit
waren wesentliche Elemente des späteren (seit Max Webers „Protestantische
Ethik" zu einseitig als reformatorisch bezeichneten) Berufsbegriffs schon hoch-
mittelalterlich, d. h. seit der vollen Ausbildung der Stadt, beisammen. Die (refor-
matorisch-lutherische) Lehre vom Beruf steht also wesentlich in der christlich-
scholastischen Tradition. Wenn sie gleichwohl in der Radikalität der Auffassung
7 So Mo.x Weber und Karl Holl; außerdem KAm. EGER, Die Anschauungen Luthers vom
725 ff.; ders., Zur Geschichte des Wortes Beruf, ebd. 45 (1925), 308 ff.; ders., Der Berufs-
gedanke bei Thomas von Aquino, Zs. f. k.a.th. Theol. 50 (1926), 445 ff.; ÜTTO SCHILLING,
Die Staats- und Soziallehre des Heiligen Thomas von Aquin, 2. Aufl.. (München 1930),
bes. 245 ff.; AUGUST ADAM, Arbeit und Besitz nach Ratherus von Verona (Freiburg 1927),
bes. 75 ff.
9 Zit. PAULUS, Geschichte, 309 f.
10 THOMAS VON AQUIN, Summa contra. gentiles 3, 134 (1259/64), Opera, t. 14 (1926), 405.
492
D. 2. Die Reformation, hesonders Luther, als Wende? Beruf
über diese hinausgeht, so hatte sich eine solche Tendenz bereits vor Luther ver-
breitet. Dieser ist also für die Begründung eines über die Scholastik hinausgehenden
Berufsbegriffs weniger der Initiator als der Vollender gewesen.
493
Beruf D. 2. Die Reformation, lle.ond.en Luther, als Wende?
Jene wurde aber nicht mehr auf den Religiosenstand, sondern auf das allgemeine
Priestertum der Christen im Rückgriff auf Paulus bezogen. Nos habemus duplicem
beruQ, spiritua"lem et externam. Spiritualis est, quod omnes sumus per Evangelium
vocati ad baptismum et Ohristianam fidem . . . Ea vocatio est communis et similis ...
Altera vocatio, e~rna scilicet, macht ein unterscheid, Est yrdisch, quamquam etiam
divina (1531)13• Beide, sowohl der geistliche (immediata vocatio) wie der weltliche
{mediata vocatio) Stand oder Beruf des Christenmellilchen, bezeichnen bei Luther
nicht eine Stellung oder Tätigkeit im modernen Sprachsinn, unabhängig von der
Person, sondern sie sind stets persongebunden14• Gott (be)ruft als causa efficiens
den Menschen zum Dienst ohne Werkgerechtigkeit auf das Ziel, die causa finalis,
der Rechtfertigung allein aus dem Glauben hin. Beide vocationes sind zwar unter-
scheidbar, aber im Leben nicht zu trennen. So spricht Luther, beide überwölbend,
von einer generalis vocatio, die darin bestehe, credere in Christum, et baptizari in
nomine eius. lloc qu·i facit, postea, si mater, si pater, si'princeps est, studiose faciat
partes suas, et sie salvabitur15• Die später auseinanderfallenden Bezeichnungen
'Beruf' und 'Berufung' sind also bei Luther noch ungeschieden begriffen. Das ist
imAup;e zu behalten, wenn im Folgenden 11m nAr Rpii.tAren Begriffiientwioklung willen
das Schwergewicht der Deutung auf die vocatio externa gelegt wird.
LuLher iibernahm die Lehre von der distributio officiorum und stellte Stand und
Beruf (vor allem ordo, dann auch status, officium, vocatio) traditionell in die
Gesellschaft, konkret aktualisiert in den Fürstenstaat und die Stadtgemeinden
seiner Zeit. Das irdische und damit das politische Dasein des Menschen stand für
Luther unter dem „Gesetz", in deri. „heiligen", weil von Gott „gestifteten Ord-
nungen". In die häuslichen (Oeconomie) und öffentlichen (Politie, Polizei) Stellen
dieses geordneten Gefüges werden die Menschen als „Larve Gottes"16 berufen.
Durch deren „cooperatio" wirkt Gott fortgesetzt an seiner Schöpfung. Die Menschen
sind in all ihrer Tätigkeit nie bewirkende Ursache, sondern nur Diener und Mit-
arbeiter Gottes oder das Instrument, mit dem Gott dies tut1 7. So fehlt dem Beruf des
Menschen jede Eigenmächtigkeit. Gelingen fließt für den Gläubigen nur aus Gnade,
und die Arbeit im Beruf geschieht auf Befehl Gottes. Berufsarbeit ist also. gehor-
same Ausführung des göttlichen Willens. Nicht Ansehen und (kwinn, sondern
Erfüllung des Befehls und Treue im Wirken sind daher die Maßstäbe, die allein
an den Beruf angelegt werden dürfen. Es ist Gott nit umb die Werk zu tun, sondern
umb den Gehorsam . . . Daher kommts, Dass ein /rum Magd, so sie in ihrem Befehl
hingeht und nach ihrem Amt den Hof kehret oder Mist austrägt, oder ein Knecht in
g"leicher Meinung pflügt und /ähret, stracks zu gen Himmel geht, auf der richtigen
Strass, diewe1:Z einander, der zu St. Jacob oder zur Kirchen geht" sein Amt ·und Werk
liegen läßt, stracks zu zur Hel"len geht.
494
D. 2. Die Reformation, besonders Luther, als Wende? Beruf
Daromb müssen wir die Augen zutun, nit die Werk ansehen, ob sie gross, klein,
ehrlich, verachtlich, geistlich, leiblich oder was sie auch für ein Ansehen und Namen
auf Erden haben mügen, sondern auf den Befehl und Gehorsam, der drinnen ist;
geht derselb, so ist das Werk auch recht und köstlich, ganz göttlich, obs so geringe wäre,
als ein Strohhalm aufheben. Geht aber der Gehorsam und Befehl nit, so ist das Werk
auch nit recht und verdammlich, gewisslich des Teufels eigen, obs gleich so gross wäre
als Toten aufwecken ... 1s.
'Beruf' ist bei Luther aber nicht nur Befehl, d. h. auferlegter Zwang, sondern frei
und freudig ergriffener Dienst am Nächsten. Der arbeitsteilige Zusammenha~ der
Gesellschaft erfordert, wie schon von der Scholastik gelehrt, das gegenseitige Geben
und Nehmen. Entscheidend aber ist, daß es aus Liebe geschieht. Si Ohristiani et
habetis varia dona, videte et agnoscite vobis ea data et servite invicem19 • So steht der
Beruf in der christlichen, hier spezifisch lutherischen, Dialektik der „Freiheit
eines Christenmenschen", der Knecht (Gottes) und Freier (gegenüber der Welt)
zugleich ist. Aus solcher lfreiheit folgen Jl'reude in der Berufsarbeit (ex anirtUJ et
cum gaudio in.vocatione sua)2° und Mißachtung der teuflischen Versuchung, den
Beruf eigensüchtig (ohne Dienst am Nächsten) und gottlos eigenwillig auszuüben -
so wie· Luther es z. B. in der Auslegung des 101. Psalms (1534/35) beschreibt:
Füniil:ln uml R11.Lsher1·.11 r11.Lschlage.11 und reKiere.11, uhne :.c.u ueLe.11 und gen Himmel
zu rufen, gerade als solte der gute man (der unser Herr Gott heisst) müssig sitzen und
nicht dabeysein 21 • .
Luthers Berufsbegriff stand ini Ze1chen einer umfassenden Aufwertung der vita
activa in der „Welt", allerdings unter der Bedingung, daß diese Welttätigkeit in
göttlicher Schöpfung11- nnrl F.rhaltung11ordmmg verchristlicht, rl. h. von gläubigen;
zur dienenden Liebe bereiten Christen getragen werden sollte. Wohl war dies eine
Forderung, die von den sündigen Menschen, die Gott „müßig sitzen" ließen, nicht er-
füllt wurde. Aber der Anruf Gottes sollte sie erreichen; und die staatlichen, städti-
schen und adligen Obrigkeiten samt ihren Untertanen sollten sich bei gegenseitiger
Durchdringung von Kirche und Staat den „Beruf" zum allgemeinverpfiichtenden,
ethischen Prinzip ihrer statisch verstandenen Ordnung machen. Fleiß war ein
Attribut von Luthers Berufsbegriff; aus Fleiß folgte Leistung. Doch war die Arbeit
ini Beruf nicht auf Leistungssteigerung oder gar auf Veränderung, sondern auf
dienende Pflichterfüllung im Gegebenen ausgerichtet. Soziale Mobilität („über-
steigen", „überpochen") war ausdrücklich nicht ein Ziel des Berufs: Bleib in deinem
Stande und sei Z'U/rieden, d•u sitzest oben oder ·unten an ·und hüte dich für dem Über-
steigen, daß du nicht denkest: Weil ich ein Fürst, Edel, Gelehrt, Gewaltig bin, so muß
man mich allein ansehen und hochheben, sondern also sagest: Behüte mich, himmlischer
Vater, für der HoUart. Denn ich weiß, daß der geringste Ackerknechl kann für dir
besser sein denn ich .etc. 22 • Max Weber bemerkte demgemäß, daß die lutherische
Berufszufriedenheit im Ergebnis durchaus der Tradition entsprochen habe und
daß Luthers Berufsbegriff nicht unmittelbar auf die gesuchte Beziehung von
18 Ders„ WA Bd. 10/1 (1910), 310. Zu „Gottes Befehl" s. WINGREN, Luthers Lehre, 128 ff.
19 LUTHER, WA Bd. 41 (1910), 400.
20 Ebd„ Bd. 40/1 (1911), 51.
21 Ders„ Auslegung des 101. Psalms (1534/35), W A Bd. 51 (1914), 202.
21 Ders., WA Bd. 49 (1913), 609.
495
Beruf II. 3. •Beruf' im ebriatlichen Fürstenstaat
(1521), CR Bd. 21 (1854), 542 ff.: De magistratibus civilibus et d.ignitate rerum politicarum.
496
.U. 3. 'Beruf' Im ebrlstllehen FfirsleD11laal Beruf
bei ihm ohne Abweichen von der theologischen Grundlegung Luthers betont poli-
tisch gewertet. Er handelte darüber besonders in der Erklärung des 4. Gebots
(Dekalog) als des „Gebots des Gehorsams". Dort wurde das Dienen im Beruf ein-
bezogen in das durchgehende patriarchalische Herrschaftssystem des. Fürsten-
staates: Gott macht Ordnung zwischen regierenden Personen und Untertanen. In
dieser Ordnung solle gelten, daß ein jeder in seinem Beruf treulich diene, und greife
nicht in fremden Beruf, mache nicht den andern Verhinderung und Zerrüttung der
Ordnung. Dergleichen daß die Kinder, Schukr, Untertanen, hohe oder niedrige Per-
son, in rechter Gottes und des He'l"l'n Ohristi Erkenntnis, Gottes Forcht und Glauben,
ihre Vater und Mutter, Schulmeister, ehrliche Regiment, Gesetze und Gericht, und die
Personen, die ziemlich regieren, lieben, ehren, im Herzen gross achten, als durch
göttliche Weisheit also geO'l'dnet, ihnen auch in äusserlichen befohkn Werken gehorsam
sind, ein jeder in seiner Ordnung, nach seinem Beruf und Stande . ... ltem dass ein
jeder seinen Beruf und sein Amt verstehe und darinne treulich diene, und nicht in
fremde Beruf greife, damit Spaltungen, Ufruhr, Hass, Todschl<J,ge und ZerstlJ'l'ungen
angericht werden27.
Die hier verwendeten Verbindungen „Beruf und Stand" sowie „Beruf und Amt"
kehrten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert immer wieder. Mochten sie schließlich
. topologisch oder gar tautologisch 28 gebraucht worden sein, so lag doch in diesen
Wendungen anfangs ein voller Sinn. -'Stand' (ordo) und 'Amt' (officium) waren
klare Begriffe der Oeconomie und der Politie. 'Beruf' dagegen war ein primär
theologischer Begriff und bedeutete bis ins 18. Jahrhundert hinein die persönliche
Aufgabe der durch den göttlichen Rufer berufenen Christen in seinem Stand und
in seinem Amt, auch wenn Beruf in Bezug auf ein bestimmtes Amt oder eine
spezifisch definierte Arbeit 29 bereits in die Richtung der modernen Bedeutung de1:1
Wortes weisen lrnnnt.fl, wi11 Ri11 um 1700 durch die neue Wortverbindung 'Berufs-
arbeit' angedeutet wurde 30• Blieb 'Beruf' als Qualifikation des Christen und als
christlich begründetes moralisches ..Postulat eine den Untertanengehorsam be-
wirkende,, erzieherische Stütze der deutschen Staaten bis zum 18.•Tahrhundert,
so wanderte sich auch der Berufsbegriff bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts nicht
grundlegend in seiner Bedeutung31 • Daß der Stellenwert von 'Beruf' vor und nach
1700 bei Kameralisten einerseits, orthodoxen Theologen oder Pietisten andererseits
unterschiedlich war, ist einsichtig. Dabei ist die vitale Glaubensgewißheit Luthers,
besonders nach dem Dreißigjährigen Krieg, allmählich verblaßt und der Berufsbe-
17 Ebd„ 220 :ff. - Die lutherischen Dogmatiker behandelten seitdem die Berufslehre
11p11:r.i111l h11im 4. Gebot.
28 Im dt.-franz.-ital. Wb. von RÄDLEIN Bd. 1 (1711), 31 wird 'Beruf' - abgesehen von der
alten Bedeutung „Ltiuwuml" -11uwuhl alt! BeruU / 1n. be/ärdemng z·u tiatm Amt/ vocazione,
appellazicme; vocaticm, apel wie als beruff / Amt / ufficio, cdrica; office, charge begriffen.
29 Vgl. z. B.: Hanthierung und Gewerb ao ein je.der aeinem Beruff nach treibet; in: Das Beh-
mische Rechtt, wie dasselbe in des Königreichs Beheim Neüen Stadt Prag in üblichem
Brauch gehalten wirdt, ... verteutscht (Leipzig 1607), 2. Vorrede o. S.
30 PmL. JAKOB SPENER, Theologische Bedenken und andere briefliche Antworten auf
geistliche Materien, Bd. 2 (Halle 1713), Kap. 3, Art. 3, Sect. 1.
31 Hinweise zur Theologiegeschichte (J. Gerhard, Osiander, Hollaz) vermittelt GATZEN,
Beruf bei Luther, 99 :ff. - LANGEN (1954), 31 stellt zwar den Gebrauch, aber (wohl zu
oberflächlich) keine „neue Bedeutungsnuance" fest.
32-90385/t 497
Beruf TI. 3. 'Bemr im ehriatJichen Füretenstaat
81 ZEDLBR, Art. Beruff, Bd. 3 (1733), 1449 ff.; Art. Vocation, Beruff, Vocatio, frantz.
tJocation, Bd. 50 (1746), 17 ff.; Art. Vocation (Göttliche), LU. tJocatio divina, ebd„ 32 ff. -
'Vooation' wurde als Fremdwort im 17. Jahrhundert entlflhnt; HRmrrRNllF.RG (1904), 107.
88 Im Art. Vooation (Göttliche) (1746), der vor allem theologisch bestimmt ist, wurde über
den mittelbaren göttlichen Beruf ausführlich gehandelt, vorzüglich im Hinblick auf die
Kriterien, nach denen auf göttliche Legitimierung bei Berufs- oder Stellungswechsel
(Station, POBten) geschlossen werden kann. Es handelt sich also um die traditionelle
lutherische Zurückhaltung gegenüber Amts- und Standesmobilität ohne vocatio.
498
D. 3. 'Beruf' im christlichen Fiintenstaat Beruf
zösische entlehnt. Die Bedeutung „etat, condition, metier" ist dort zuerst 1410
belegt34 • Im gleichen Sinn erscheint 'Profession' - seit dem 16. Jahrhundert schon
als Fremdwort mit der Bedeutung „Klostergelübde" bekannt - im Deutschen erst
im 17. Jahrhundert 35• Zedler nahm es neben dem lat. „professio" schon als deut-
sches (nicht mehr fremdes) Wort in sein Lexikon auf38 und definierte: im gemeinen
Leben das Gewerb, Tun, die Hantierung; ingleichen der Stand, die Lebensart und Nah-
rung37. Dieser weiten Umfassung entsprechend wandte Zedler 'Profession' auf die
Bereiche der Wissenschaft, des Handwerks und der Kunst an. Er näherte sich von
der 'Profession' her dem 'Beruf', indem er jene nicht nur unser natürliches Leben
und die äußerliche Wohlfahrt befördern ließ, sondern in der Profession ein Mittel
sah, die Seelen zu bessern, damit man Gottes Willen vollbringen, ihn ehren und sich
selbst glüeklich machen könne. Daran fügte er die Remerlrnng: Wa.~ 11or Regeln in
Erwählung einer Profeßion zu beobachten, findet man in dem Artikel: Beruf. Beide
Begriffe waren solcherart ineinander verschränkt. Da 'Profession' in eben tlerselben
Zeit sich in Deutschland einzubürgern begann, als 'Beruf' das weite säkulare Feld
einzunehmen anfing, das 'profession' im Französischen bereits besetzt hielt, trat
'Profession' allmählich hinter 'Beruf' zurück, bis es sich auf die Bedeutung „Hand-
werk" einengte (vgl. 'Professionist') und seit 'tlem Anfang des 20. Jahrhunderts
fast ganz auße1· Gebrauch kam 38 • Dezeichnenderweise hat z. B. noch ÜHRISTIAN
W OLFF sich offenbar gescheut, das theologisch befrachtete Wort 'Beruf' anstelle
von 'Profession', 'Hantierung' oder 'Lebens-Art' zu verwenden 39• Ein halbes
Jahrhundert danach war solche Scheu nicht mehr am Platze. So sprach etwa
PESTALOZZI (1779/80) von gemeinen Bürgerberufen und setzt diese in engen Bezug
sowohl zu liäuslicher Glückseligkeit wie zum Gelderwerb (Gelderwerbe und Berufe
der Gesellschaft; bürgerlicher Beruf synonym mit Erwerbungsstand)4°.
38 Vgl. CAMPFl, Fremrlwh., 2. Ausg„ Bd. 2 (1808), 181; P:rKRFl'R 4. Aufl., Bd. 13 (1861),
616. - Neben 'Profession' ist 'Hantierung' als Vorbegriff des modernen Berufsbegriffs
zu erwähnen. Mhd. hantieren „Handel treiben" geht, auf franz. hanter zurück und wurde
an „Hand" angelehnt,. Vgl. K.LuGE/MrrZKA 19. Aufl. (1963), 288. 'Hantierung' bedeutete
demgemäß seit dem Spätmittelalter „Kaufhandel", „Gewerbe", auch „Handwerk",
„Rechtsgeschäft" und schließlich allgemein jllde beBcliäftigung, die um gewinneB oder
lebenaunterkaZte.s willen da1ternrl getrieben wird, wobei der engere be,griff deB kandwerks zurück-
tritt; GRIMM Bd. 4/2 (1877), 469 f. Vgl. RWB Bd.5 (1953/60), 207 f.; ADELUNG Bd.2 (1774),
967. Das Wort wurde ähnlich wie 'Profession' begrifflich eingeengt und trat im Laufe des 19.
Jahrhunderts allmählich ganz zurück. - 'Metier', im 18.Jahrhundert aus dem Franz. über-
nommen, kam im allgemeinen nicht über die Bedeutung „Gewerbe", „Handwerk" hinaus.
39 CHR. WoLFF, Vernünfftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen
und insondeiheit dem gemeinen Wesen zu Beförderung der Glückseligkeit des menschlichen
Geschlechtes, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (Frankfurt, Leipzig 1736), passim.
40 JoH. HEINRICH PESTALOZZI, SW Bd. 1 (1927), 214. 271. 201. 221.
499
Beruf ß, 4, Ab}Ösung VOD 'ßeruf' durch 'Berufung'
Im Maße wie das Wort 'Beruf' in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, eudämo-
nistisch und ökonomisch gefärbt, sich begrifflich von der 'Vokation' zur 'Profession'
verlagerte, löste es sich zunehmend von der theologischen Bindung. In der „Deut-
schen Encyclopädie" (1780) 41 war die alte Einheit aufgegeben; 'Berufung' (Gnaden-
berufung) wurde demgemäß in einem selbständigen, rein theologischen Artikel
von 'Beruf' abgetrennt. Darin wurden theologische Richtungsdifferenzen wieder-
gegeben, vor allem aber das Problem der (fehlenden) Offenbarung und damit Be-
rufung der nichtchristlichen Völker (streng christliche Berufung oder allgemeine
Berufung zur natürlichen Religion) abgehandelt - alles ohne Bezug .r.ur Lebens-
praxis in Haus- und Staatsgesellschaft. Unter dem Stichwort „Beruf" wurde da-
gegen, gesondert von Berufung, zweierlei, - von nun an maJJgebend - ver-
standen:
1) Noigung, innorlioh<Jr Triob (zu ctwaß „Beruf fühlen") 4 ?.. Das kam einer Sen-
sualisierung der göttlichen vocatio gleich. 2) Alles das]enige, wozu jemand berufen
worden, in der weitesten Bedeutung dieses Zeitworts, als Amt, pftichtmiißige Lebensart,
Bestimmung usw., daher das oft gerechte Vorschützen seiner Berufsgeschäfte. Wie bei
Zedler wurde hierbei die Beziehung .r.u Gott h11rg11Rt111lt, iler Fäh.igkeiten, Ne1'.gung
und Lust zu diesem äußeren Beruf gegeben habe. Dieser Beruf wurde auch hier
noch abgeschwächt traditionell auf Dienst (nicht mehr am Nächsten, sondern an
der „Welt") sowie Geben und Nehmen in der Gesellschaft abgestellt. Stärker noch
als bei Zedler stand der Glaube an das Glück menschlicher Gesellschaften dahinter;
neu war die Zuversicht, daß alles zum Besten des Ganzen. tätig sei und daß die Men-
schen im Strobon naoh Vollkommenheit Gott nachahmen könnten. Der Beruf des
Menschen stand also im System allgemeiner Harmonie. War er auch noch nicht aus-
drücklich auf den neuen ökonomischen Arbeitsbegriff (Physiokraten, Adam Smith)
ausgerichtet, so wohnte ihm doch die Betonung eines bürgerlichen Leistungswillens
inne; daraus folgte für die Zukunft mehr und mehr, 'Beruf' als „Profession" von
Leistungsnachweisen abhängig und darauf aufbauend zur „Berechtigung" zu
machen. ScHLÖZER stellte in solchem Sinne (1782) Leistungsberuf gegen Geburts-
privileg: Examen aller Art ist gut, um einen Beruf anzugehen; Examen aller Art
beweiset Kenntnis und Fähigkeit: aber wozu Ahnenprobe?43 Wurde dergestalt 'Beruf'
auf Leistung abgestellt und gegen Erblichkeit und Privileg abgesetzt, so entsprach
dem die Forderung freier Wahl des Berufs. Darin kam deutljeh ein emanzipatori-
scher Wille zum Ausdruck. SALZMANN fragte (1780) ironisch, wie man Kinder für
die Welt unbrauchbar und ihr Leben freudlos machen könne; er antwortete: Zwinge
sie zu einem Berufe, zu dem sie weder Lust noch Geschicklichkeit haben 44 •
In wie starkem Maße diese Berufsvorstellung als Fortbildung der protestantischen
41 Dt. Enc., Bd. 3 (1780), 416 ff., Art. Beruf und Berufung. Etwa gleichzeitig und ähnlich
begriffen: Jon. HEINRICH SCHULZ, Versuch efuer Anleitung zur Sittenlehre für alle Men-
schen, ohne Unterschied der Religion, Bd. 1(Berlin1783), 229 ff.
42 Vgl. ADELUNG Bd. 1 (1774), 792 f.: Neigung, innerlicher Trieb, Beruf bei sich zu etwas emp-
500
11. 4. Ablösung von •Beruf• doreh 'Berufung' Derut
Grundlagen angesehen wurde, zeigt die Tatsache, daß die „Deutsche Encyclopädie"
in einem zweiten Artikel „Beruf" das doppelte katholische Verständnis wiedergab.
In diesem handelte es sich 1) um den Gnadenruf Gottes, wobei der Endzweck dieses
Berufes die ewige Seligkeit sei; 2) um einen innerlichen Ruf, durch wekhen Gott den
Menschen zu einem gewissen Stande bestimmet und leitet. Als Beispiel wurden das
Berufen zum Soldatenstande, ... zum Kirchendienste, ja sogar zu einem gewissen
Ordensstande genannt. Hier war also die alte, vorreformatorische Begrifflichkeit,
wenn auch verkürzt und vereinfacht, festgehalten. Der Kontrast zu dem sich
säkularisierenden Wirkungsbereich des protestantischen Berufsbegriffs war scharf
betont.
So war um 1780 folgender Bewußtseinsstand erreicht: 1) Im politisch-wirtschaft-
lichen Leben hatte 'Beruf' das Subjekt gewechselt: „Gottes Beruf" oder „mein
Beruf" waren hinter das, wozu jemand berufen (Dt. Enc.), d. h. Amt oder dauerhafte
Erwerbstätigkeit zurückgetreten. 2) Die alte vocatio spiritualis war zur „inner-
lichen Neigung" oder Bestimmung geworden. 8) Berufung, vocatio (spiritualis)
war in der Theologie bewahrt und darin ungeachtet aller naheliegenden Be.ziehung
zur „innerlichen Neigung", gewissermaßen eingekapselt worden. 4) Im Katholizis-
mus wurde Abstand vor der unter 1)·und 2) genannten modernen Entwicklung des
füirufsbegriffs gewahrt. Dieser katholische Traditionalismus wurde freilich durch
die politisch-ökonomischen Lebensbedingungen und die konfessionell übergreifende
Aufklärung überholt. Die mit 'Profession' und 'Amt' verbundene Bedeutung von
'Beruf' wurde 1789 durch CARL FRIEDRICH BAHRDT iiber die „Deutsche Encyclo-
pädie" hinaus weitergeführt: Für den Bürger beruhe ein großer Teil seines Wohl-
standes und seiner Glückseligkeit auf seinem Metier oder Berufs/ach, wekkes er zum
Besten des SUUJ,ts abernomrnen hat 46 • CAM.l'E (1807) uud IlEINSIUS (1835) definieren
zunächst: Wozu jemand berufen ist: Amt, Pflicht, pflichtgemäße Lebensart 4 6. Bei
Campe erscheint darüber hinaus zum ersten Mal in den Lexika der Plural, und der
aller vocatio ledige, sozialökonomische Sinn tritt in der (schon nicht mehr neuen
- s. o. -, aber bis dahin wenig gebräuchlichen) Wortverbindung 'Berufsarbeit'
zutage. Sie sollte sein: Die Arbeit, wekhe der Beruf, das Amt, das man hat,
oder das Geschäft, Gewerbe, das man treibt, mit sich bringt; auch Berufsgeschäft.
Ferner werden angegeben: 'berufstätig', 'Berufspflicht', 'Berufstreue' und (folgen-
reich} 'Berufsstand' - Begriffe, in denen durch traditionsreiche Nomina auch der
moderne, sozialökonomisch bestimmte Beruf sozialethisch erfüllt bleiben sollte.
Selbst auf dieser begrifftigeschichtlichen Stufe war das Wort 'Beruf' noch immer so
stark von seiner verblaßten Herkunft bestimmt, daß Komposita wie 'Berufsarbeit',
'Berufsgeschäfte' und 'Berufsstand' zu Hilfe genommen werden mußten, um die
sprachliche Angemessenheit zu erreichen.
'Beruf' als „innerliche Neigung" war als säkularisiert-idealistisches Derivat der
vocatio spiritualis in der Spätaufklärung bis über die Jahrhundertmitte im Sprach-
gebrauch lebendig. So wollte sich z. B. J OH. AUGUST HERMES (1780) würdig des
Berufs erweisen, ein Mensch zu sein 47 , und FRIEDRICH LEOPOLD VON STOLBERG
46 CARL FmEDRIOH BAHRDT, Handbuch der Moral für den Bürgerstand (Halle 1789), 210.
46 CAMI'E Bd. 1 (1807), 474; HEINSIUS 5. Aufl. (1835), 472.
47 JoH. AUGUST HERMES, Handbuch der Religion (Berlin 1780), zit. Kr.ARA VoNTOBEL, Das
Arbeitsethos des deutschen Protestantismus (Bern 1946), 199.
501
Beruf ll. 4. Ablösung TOD 'Beruf' clureh 'Berufung'
dichtete: Ja, Herz Europens, sollt du, o Deutschland, sein! So dein Beruf/4 8 FRIED-
RICH GENTZ schrieb im Jahre 1800 :i:ur Idee des Friedens: Wenn auch rund um uns
her eine undurchdringliche Nacht die Erde umhiillt:-das ist unser klarer Beruf, und
das ·ist wni1!!'t' edelster Trost'°. Im gleichen Sprachsinn wurde im 19. Jahrhundert
oft von Preußens „deutschem Beruf" gesprochen, und LASSALLE sagte 1863:
Ich habe keine Lust und keinen Beruf, zu andern zu sprechen als zu Demokraten 50•
Am treffendsten wurde die Säkularisierung der lutherischen Duplizität des Berufs-
begriffs in der Dichotomie „innerer" und „äußerer" Beruf ausgedrückt. So bei
GOETHE, der es in „Wilhelm Meisters Lehrjahre" als unerträglich bezeichnete, ein
Handwerk, eine Kunst oder irgendeine Lebensart ... ohne inneren Beruf zu ergrei-
fen51. LAVATER gehörte für ihn zu den wenigen glücklichen Menschen, deren äußerer
Beruf mit dem innern vollkommen übereinstimmt62• WILHELM VON HUMBOLDT
unterschied für das Leben im Staat den allgemeinen Beruf als tätiges Mit,glied der
Staatsgemeinschaft, was das eigentliche Geschäft des StaatsbWrgers ist, von der Teil-
nahme am besonderen Beruf, als Staatsditner 63 • Das weisL in die Nähe der direkt und
indirekt für das Bürgertum im 19. Jahrhundert außerordentlich wirksamen Be-
rufslehre FICHTES, der Beruf und Stand einerseits, Beruf und Pflicht ('B~rufs
pflicht', 1798) andererseits aufs engste verband, indem Beruf als Stand nicht nach
Neigung, sondern nanh PP,icht gewählt werden &ollte,. d. h. nach baaoor Übcruugung;
daß nach dem Maße seiner Kräfte, seiner Bildung, der äußeren Bedingungen, die in
unserer Gewalt stehen, man gerade /ür ilin [den gewählten Stand] am besten passe.
Die Berufswahl sei eine Pflicht, denn den Zweck der Vernunft zu befördern ist die
einzige PP,icht aller; und derjenige Teil dieses Zwecks, dessen Beförderung ein ein-
zelner ganz besonders über sieh nimmt, ist sein Beruf54• Von diesem Prinzip deduzierte
Fichte sodann die Einteilung des möglichen menschlichen Berufs (Singular!) und
handelte die einzelnen Stände oder Berufe unter dem Oberbegriff der PfticJuen des
Menschen ab 55 : im einzelnen die PfticlUen des Gelehrten, der moralischen Volks-
lehrer, des ästhetischen Künstlers, der Staatsbeamten, d. h. höherer Beruf, höhere
Klasse; ferner der niederen Volksklassen: der Beruf der Landbauern, der Beruf der
Handwerker, Künstler [im alten Sinne der nzvln'J,], Fabrikanten, der Beruf der Kauf-
leute, d. h. insgesamt niederer, auf die Materie bezogener Beruf, nicht minder als
der höhere auf Beförderung des Vernunftszwecks gerichtet und dadurch geheiligt,
gleich wit das höchste Geschäft.
Fichte hat also versucht, die Kluft zwischen „innerem" und „äußerem" Beruf im
Pflichtbegriff zu überbrücken. Der Mensch soll dem Sittengesetz gemäß und in Ver-
(1904), 231.
64 FICHTE, D&a System der Sittenlehre (1798), §§ 21, II. 26. 28.
502
II. 5. 'Derufaataaa' Im 1namtrieay1tcm Beruf
antwortung vor dem V ernunftzweck seinen Beruf wählen und sich sodann der Ge-
sellschaft, der GerMine vernünftiger Wesen, gegenüber vernünftig, nützlich, am
vorteilhaftesten68 betätigen. „Innen" und „außen" sollten, wie bei Luther, wenn
auch nicht mehr theologisch, sondern philosophisch-idealistisch begründet, zur
Lebenseinheit verbunden sein. Fichte war sich, wie Luther mit seiner aus der
„sola :6.de" kommenden Berufsforderung, dessen bewußt, daß die sittlich verant-
wortete und gesellschaftlich zweckmäßige Berufswahl von den wenigsten Menschen
geübt werde. Er antwortete auf diesen Einwand, daß dies so nicht sein sollte und daß
jeder, kr dies einsieht, dahin zu arbeiten hat, daß es womöglich anders werde 67 •
So war auf den Rigorismus des Glaubens und der Nächstenliebe der Rigorismus
der Pflicht und der ·Vernunftgesellschaft gefolgt. Dazu gehörte für 'Stand' und
'Beruf' in diesem neuen (oder alten, neu verwandelten) Sinne „höher" und „nied-
riger" anzuerkennen und doch alle diese Grade oder Stufen in der „Heiligung"
durch (nunmehr) die Pflicht in einer allgemeinen Gleichheit hinsichtlich des Ver-
nunftzwecks aufzuheben. Diese Berufstheorie des deutschen Idealismus, in erster
Linie (auf Kant zurückgehend) Fichtes, lag der entsprechenden „Gesinnung" des
deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert zugrunde und verband sich mit der
„Religion" der Arbeit..
503
Benf ß, 5. 'BeralHtaad' im Industriesystem
Geburtsstand ist 'ledi,glich der Adel vorhanden 68 • Gegen diese Ausweitung des noch
juristisch klar definierten Standesbegriffs auf den freier verfügbaren Klassen-
begriff hin wendet sich BERGER mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit:
Unger rede plötzlich von dem Handels- und Militärstande, von Geistlichen und Be-
amten ... , als ob man es bei den Rechtsverhältnissen dieser gesellschaftlichen Klassen
mit ei,gentlichen Standesrechten zu tun hätte, die sich doch nur auf die sog. historischen
Stände: Adel, Bürger, Bauer, nicht aber auf die nur unei,gentlich als Stand bezeichneten
Berufsklassen beziehen, die doch lediglich besondere Gruppen der bürgerlichen Ge-
sellschaft seienH. BERGER beharrte historisierend auf dem alten Begriffsverständnis
und bemerkte daher nicht, in welchem Maße die Bildung des neuen Begriffs 'Be-
rufsstand' ein Indikator für den sich vollziehenden sozialen ~andel darstellte: die
Bindung der gesellschaftlichen Gliederung an den 'Beruf' statt an den alten 'Stand'
verlieh der neuen Gliederung die Würde der von ihr abgelösten alten Standes-
gliederung, wie sie zugleich dem Standesbegriff eine neue, im Sinne von 'Klasse'
freiere Schattierung gab, die ihm das Überleben in einem gewandelten sozialen
Kontext sicherte 80 • Die Kombination 'Berufsstand' erwies sich den neuen Gege-
benheiten als so adäquat, die von 'Stand' her bewahrte festere Bestimmtheit als
so lebenskräftig, daß 'Berufsklasse' als Gelegenheitsbezeichnung zurückblieb, wäh-
rend 'Beruf1111tand' sich bald zu einem relativ scharfen Begriff der Staatsver·
fassungs- und Sozialpolitik entwickelte, der als Gegenbegriff zu 'Partei' einerseits
und 'Klasse' andererseits politisches Gewicht gewann und im Kampf der Meinungen
ideologisiert wurde.
Er gewann zunächst in der Auseinandersetzung um das parlamentarische Re-
präsentativsystem in der konstitutionellen Monarchie Bedeutung. In Kontinuität
und MtiL1uuurphU1:m 11.lter politischer La.ndstände wurden während des ganzen HI.
Jahrhunderts zahlreiche Vorschläge für berufsständische Vertretungen in der
Staatsverfassung - anstelle von oder in Verbindung mit allgemeinen Abgeord-
netenparlamenten ..,.-veröffentlicht. Seit der Mitte des Jahrhunderts (Karl Levita,
185081, über Rotteoks und Dahlmanns Auffassungen hinausgehend, Sismondi auf-
nehmend) erhielt dabei der Gedanke, daß praktische „Interessen" der „Berufs-
klassen" besser als „Prinzipien" der Parteien konstitutiv für die parlamentarischen
Vertretungen sein sollten, die Oberhand. HERMANN WAGENER unterschied (1865)
materielle und geistige Berufsstände, entsprechend der natürlichen Teilung der Arbeit
in körperliche und geistige. Zu den materiellen Berufsständen gehörten Bauern-
stand, Gewerbestand und Handelsstand. Das Volk sei nur in solcher Gliederung, <l.ie
heit und des Staates, Bd. 2. (Leipzig 1863), 430 f.: In den neuen Berufsständen aber begeg-
neten aich die Glieder aller mittel,alterlichen Stände, trotz der Fortdauer sozialer Verschieden-
heiten, als Stanilesgerwssen.
81 KARL LEVITA, Die Volksvertretung in ihrer org&nischen Zusammenintzung im repräsen-
tativen Staat der Gegenwart (Leipzig 1850). Vgl. allgemein HEINRICH HERRFAHRDT, Das
Problem der berufsständischen Vertretung von der Französischen Revolution bis zur
Gegenwart (Stuttgart, Berlin 1921).
504
ll. 5. •ßerufsstSnd' im Industriesystem Beruf
maßgebend für die politische Repräsentation sein sollte, wirklich existent. Wolle
man stattdessen eine g"leichartige Masse als Volk annehmen, so könne man darin
- im Anschluß an Dahlmann - nur einen berufslosen Pöbel sehen82• Von solcher
Auffassung aus ergaben sich einleuchtende Begründungen für Bismarcks spätere
berufsständische Verfassungspläne sowie für das sozialpolitische Programm der
„Berufsgenossenschaften" in Verbindung mit der Arbeiterversicherung.
So diente der Berufsbegriff seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einer Staatslehre
und Verfassungspolitik, in der die Monarchie mit dem Volk als einem gegliederten
Organismus verbunden und gegen die Gefahren sozialer Nivellierung und politi-
scher Parteibildung abgeschirmt werden sollte. Auch in den „mittelständischen"
Bewegungen und Organisationen, seit der Mitte des Jahrhunderts in den Genossen-
schaften Schulze-Delitzschs, nicht zuletzt aber auch in den frühen Gewerkschaften
der sechziger Jahre, die sich 'Berufsvereine' bzw. '.Berufsverbände' nannten und
damit das handwerkliche Berufs- und Standesbewußtsein der frühen „Arbeiter-
bewegung" ('Gewerke', 'Gewerbe', 'Berufe') zum Ausdruck brachten, kamen Wort
und Begriff 'Beruf' zu neuer Blüte.
Ideologisch konnten sich also die Assoziationen, die .sich des Wortes 'Beruf' zur
Kennzeichnung ihres Selbstbehauptungswillens bedienten, verschieden orientieren.
Bei der zunehmenden Tendenz zu sozialer Organisationsbildung und „lntcrcmicn"-
Vertretung bot sich der Berufsbegriff immer wieder an. Er diente schließlich- ledig
jeglicher christlich oder idealistisch bedingten Äquivokation - als Klassifikations-
begriff der differenzierten 'Beschäftigungen' (statt des längst unüblich gewordenen
Wortes 'Profession') in den „Berufszählungen" der Reichsstatistik bzw. der öster-
reichischen Statistik, wobei die zahlreichen Einzelberufe in „Berufsabteilungen"
(„Berufsklassen") und „Berufsgruppen" zusammengefaßt wurden. Die offizielle
österreichische Statistik gliederte bereits 1857 die Bevölkerung 'fVU;h dem Berufe,
Erwerbe oder der Unterhaltsquel"le 63 • Wurden aber 'Beruf' oder 'Berufsgruppe' bzw.
'Klasse' zu dem in der amtlichen Statistik nicht verwendeten Begriff 'Berufsstand'
gesteigert, so war darin stets eine politisch-ideologische Voreingenommenheit oder
Absicht im Sinne der Ordnungsbewahrung inmitten der modernen Bewegung des
„Kapitalismus" oder des revolutionären „Sozialismus" enthalten.
Seit den achtziger Jahren wurde dieser Begriff in besonderer Weise durch die sich
in der Auseinandersetzung mit dem Industriesystem erneuernde katholische Sozial-
lehre in Anspruch genommen und vornehmlich von Karl von Vogelsang und Franz
Hitze, sodann in neuer Intensität in den zwanziger Jahren, besonders von Theodor
Brauer systematisch entwickelt und schließlich in der Enzyklika „Quadragesimo
anno" (1931) maßgeblich zusammengefaßt, so daß in HERDERS „Staatslexikon"
(6. Aufl. 1957) ein ausführlicher Artikel „Berufsständische Ordnung" (Bd. 1,
1124 ff.) aufgenommen wurde. FRANZ HITZE leitete 1877 den Begriff aus der alten,
für seine Zeit aktuell formulierten christlichen Berufslehre her: Die Arbeit ist dem
62 WAGENER, Art. Stände, ständisches Repräsentativsystem, Bd. 19 (1865), 669 ff., bes.
671. 676.
63 Orientierung über die Berufsstatistik mit den Wandlungen ihrer Klassifikationsbezeich-
nungen bei FRIEDRICH ZAHN, Art. Beruf und Berufsstatistik, Hwb. d. Staatswiss., 3. Aufl.,
Bd. 2 (1909), 793 ff. und 4. Aufl., Bd. 2 (1924), 524 ff.; FRANz RICHARD ZoPFY, Art. Berufs-
statistik, Hwb. d. SozWiss., Bd. 2 (1959), 28 ff.
505
Beruf m. Ausblick
Ohristen „Berof"; er stellt sich in ihr in den Dienst der Gesamtheit. Die Stellung wählt
er, wohin ihn natürliche Befähigung und die Erwartung allgemein nutzbringender
Tätigkeit ruft. Es ist der Wille Gottes, der ihn „beruft", heilig sind die Pflichten, die
die Berufswahl auflegt. So involviert die Idee des „Berufes" ein Verhältnis der Ge-
genseitigkeit, gegenseitiger Rechte und Pflichten zwischen Gesellschaft und Individuum,
zwischen Staat und Berufsstand. Der Hilfe und dem Schutz des Staates (den ein-
zelnen wie den Stand auch in seinem Berufe zu schützen) sollte die Assoziation oder
Organisation eines in Berofsgenossenschaften gegliederten Volkes - im Gegensatz
zum sozialistischen Klassenkampf-aus christlichem Geiste entsprechen64• Wenige
Jahre später faßte Hitze seine Anwendung organisch-korporativer Staats- und
Gesellschaftslehre auf das moderne Problem „Kapital und Arbeit" in dem Kernsatz
zusammen: Die Lösung der sozialen Frage beruht wesentlich und allein . . . in der
Reorganisation der Berufs-Stände 6 '>. Das Mittelalter habe alle Arbeit der Idee des
Berufes unterstellt 66 • Dies müsse unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen
wieder möglich werden, auch wenn die Idee des Berufes, die Gegenseitigkeit, verloren
gegangen sei. Die Menschen aufs neue mit einem Berufsethos im christlichen Sinne
zu erfüllen, sah Hitze als Voraussetzung zur „Reorganisation" an, die nicht allein
sozia!ethisch, sondern auch ökonomisch motiviert wurde: nur eine in ihrem Ar-
beitsle"ben „ständisch", da'!lernd, gegliederte, arbeitsteilige Gesellschaft mit „berufs-
mäßiger" Durchbildung bringt es zu entwickelter Wirtschaft 67 • Ritzes „Berufs-
stand" war - im Einklang mit der katholischen Soziallehre allgemein - scharf
gegen Liberalismus und Sozialismus gerichtet. Er wurde als konstitutives Prinzip
der modernen Industriegesellschaft begriffen. Dem Berufsstand allgemein uncl clen
„Berufsgenossenschaften" als Innungen der (}roßindustrie 68 im besonderen lag- bei
bewußtem Rückgriff auf clas Mittelalter - ein statisches, der moderne~ Bewegung
abholdes, gleichwohl keineswegs wirklichkeitsfremdes Gesellschaftsverständnis zu-
grunde.
Der Begriff des antiliberalen und antimarxistischen. Berufsstandes wirkte in die mit
der Erneuerung der katholischen Soziallehre entstehende christliche Arbeiter-
bewegung (Arbeitervereine, Gewerkschaften oder Berufs- und Fachvereine), damit
in die „Christliche Demokratie", aber auch in die Ständestaataideologie zur Zeit
des Faschismus hinein.
m. Ausblick
Trotz allen Abbaus werthaltigen Verständnisses im Sinne der "Berufsstatistik",
durch die 'Beruf' endgültig zu professioneller Erwerbstätigkeit geworden ist, hat
der Berufsbegriff bis zur Gegenwart seine begri:ffsgeschichtlich gewandelte Tradition
nicht durchweg verloren. Auch außerhalb des katholischen Wirkungsbereichs ist
H FRANZ HITZE, Die soziale Frage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung (Paderborn
1877). 188 ff.
86 Ders., Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft (Paderborn 1880), IV.
88 Ebd., 393.
87 Ebd., 273.
88 FRANZ HITzE, Die Arbeiterfrage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung (Berlin 1901),
u~ .
506
lll, Ausblick Beruf
die Frage nach Sinn und Verantwortung im Beruf bzw. nach Möglichkeit oder Un-
möglichkeit einer ethisch oder religiös verstandenen Berufserfüllung unter den
technischen Bedingungen der industriellen Gesellschaft immer wieder wach gehalten
worden. Die Auseinandersetzung um Max Webers Deutung des „kapitalistischen
Geistes" aus protestantisch-calvinistischen Wurzeln ist bereits in diesem Zusam-
menhang zu sehen89• Seitdem ist sowohl von theologischer wie von soziologischer
und psychologischer Seite das im Berufsbegriff enthaltene Problem des Verhält-
nisses von Gesellschaft und Individuum in seiner Spannung zwischen bloßem
Funktionsvollzug und Lebensbefriedigung in der Berufsarbeit in großer Vielfalt
und zunehmender methodologischer Perfektion, aber auch breit popularisiert,
abgehandelt worden 70• Dabei kehrt bezeichnenderweise die traditionelle Dicho-
tomie von 'Amt' und 'Beruf(ung)' bzw. „innerer" und „äußerer" Beruf (Fichte,
Goethe), modern mehr oder weniger gut verwandelt, immer wieder auf. FRIEDRICH
ZAHN stellte 1924 fest: Der solidaristisch-ethische Berufsgedanke wird ... vom indi-
vidualistisch-syndikalistischen Betriebsgedanken verdrängt. Dem entsprach seine Un-
terscheidung zwischen dem subjektiven oder individuellen und dem objektiven, durch
die Betriebszugehörigkeit bestimmten Beruf71 • Diese Unterscheidung wird auch ge-
genwärtig noch zur Berufsdefinition in der modernen Arbeitsverfassung für not-
wendig gehalten, so von JöRa JoHANNEBSON (1957): Dis ns'U6'1'sn Auffassungen
unterscheiden den „subjektiven Beruf", den jemand aus innerer Berufung „hat",
vom ausgeübten „objektiven Beruf". Jener sei Gegenst,and der Psycho'log-ie (Eignung
und Wahl), dieser Gegenst,and der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen, die sich den
einzelnen Komponenten des Berufsphänomens zuwandten72 • Die mehrfach bereits in
den zwanziger Jahren getroffene Feststellung gilt auch gegenwärtig, daß eine
„subjektive" Berufsbestimmung im eben bezeichneten Sinne im allgemeinen nur
noch bei ständisch orientierten Berufen mit hochentwickeltem Berufsbewußtsein73
möglich, in der bürokratischen, hochspezialisierten, funktionalisierten Betriebs-
verfassung (keineswegs allein der Industrie) aber nicht mehr wirklich und auch
durch ideologische Bemühungen nicht herzustellen sei, um so mehr, als dies von
Anfang an dem Industriesystem nicht entsprochen habe.
WERNER CONZE
89 Neuerdings zusammengefaßt in: MAX WEBER, Die protestantische Elihik II, Kritiken
MANN, Die Lehre vom Beruf. Eine Einführung in die Gosehiohto und Soziologie des
Berufs (Berlin 1922). Dort Beruf als „Funktion der Gemeinschaft" im Sinne von Tönnies.
THEODOR SCHAB.MANN, Arbeit und Beruf. Eine soziologische und psychologische Unter-
suchung über die heutige Berufssit~ation (Tübingen 1956) nimmt die Auseinandersetzung
um das moderne Berufsproblem seit Dunkmanns Buch auf, besondere GEORGES FB.nro-
MAN, Der Mensch in der mechanisierten Produktion (Köln 1952) berücksichtigend. Im
übrigen vgl. die Artikel in den Handwörterbüchern seit Beginn unseres Jahrhunderts.
71 ZAHN, Art. Beruf und Berufsstatistik, 526 f. (s. Anm. 63).
72 J. JOHANNESSON, Art. Beruf, Hwb. d. SozWiss., Bd. 2 (1959), 8.
7a ZAHN, Art. Beruf und Berufsstatistik, 525. ·
507
Bildung
1. Einleitung. II. Die ältere Bedeutung bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. 1. Mystik und
Pietismus. 2. 'Bildung' und 'Erziehung'. III. 1. 'Erziehung'/ 'Bildung' (als pädagogischer
Begriff) in Aufklänmg und Klassik bis 1790. 2. Die öffentliche und politische Erziehung,
Bildung des Bürgers. 3. Die Verselbständigung des Bildungsbegriffs: Herder. 4. Goethe.
5. Die Bedeutung der Griechen. 6. Allgemeine Bildung: Humboldt. 7. Inhalt, politische
Relevanz und Gefahren der Bildung. IV. 1. Revolution, Reform und nationales Bewußt.
werden (1790--1820). a) Politische Bildung. b) 'Gebildete Stände'. 2. Die Nationalbildung
zwischen Revolution und Nationalbewußtsein: Fichte. 3. Varianten des Bildungsbegriffs
(1790--1820). a) Menschen- und Berufsbildung. b) Der neuhumanistische Bildungsbegriff.
4. Bildung und Staat in Preußen. 5. Die „Gebildeten" in Gesellschaft und Staat. V. 1. Um-
fassende Begriffsbildung in Liberalismus, Restauration und Revolution. a) Hegel. b) Hum-
boldt. 2. Regriffäbe.11timm11ngen in den Lexika des Vormärz. 3. Der Begriff im politischen
Meinungskampf. a) Rotteck/Welcker. b) Robert von Mohl. c) Lorenz von Stein. 4. Bil-
dungsbegriff und Politik im Vormärz. a) Politische Bildung. b) Die soziale Relevanz des
Bildungsbegriffs. c) Politische Kritik. d) Arbeiterbildung; sozialistische Kritik am bürger-
lichen Dildm1g11begriff: Marx. VI. 1. Dildung a,111 Desitz. 2. Konservative Kritik. 3. Marxi-
stische Kritik und sozialistischer Bildungsbegriff. 4. Kulturpessimismus: Nietzsche,
Lagarde. VII. Ausblick.
1. Einleitung
Die WorteAufkliirung, Kultur, Bildung sind in unsrer Sprache noch neue Ankömm-
linge, sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe versteht
sie kaum . . . Indessen hat der Sprachgebrauch, der zwischen diesen gleichbedeutenden
Wörtern einen Unterschied angeben zu wollen scheint, noch nickt Zeit gehabt, die
(henzen derselben festzusetzen. Bildung, Kultur und Aufkliirung sind Modifikationen
des geselligen Lebens, Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen,
ihren geselligen Zustand zu verbessern ... Bildung zerfällt in Kultur und Aufkliirung.
Jene scheint mehr auf das Praktische zu gehen ... Aufkliirung hingegen scheinet sich
mehr auf das Theoretische zu beziehen. 1 Dieses Wort MosEs MENDELSSOHNS von
1784 reflektiert aufschlußreich die geschichtliche Situation, in der der moderne
Bildungsbegriff - wie 'Aufklärung' und 'Kultur' ein sehr komplexer und hoch-
abstrakter Begriff - seinen Weg zu breitester Anwendung im Bereich der Päd-
agogik, des gesamten Erziehungs- und „Bildungswesens", aber auch des Nach-
denkens und der Diskussion über Mensch und Menschheit, Gesellschaft und Staat
antrat, auf dem er zu einem Lieblings- und Zentralbegriff im deutschen Sprach-
bereich wurde. Hier hat er um 1800 und mit ·weitreichenden Folgen bis in die
Gegenwart eine einzigartige philosophisch-ästhetische und pädagogische Über-
höhung und ideologische Aufladung erfahren, die nur im Zusammenhang der
staatlich-gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands zu verstehen ist. Äqui-
valente zum deutschen Bildungsbegriff in seinem vollen Bedeutungsgehalt lassen
sich in anderen Sprachen nicht auffinden, vor allem nicht seine Heraushebung über
1 MosEs MENDELSSOHN, Über die Frage: was heißt aufklären?, Berlinische Monatsschr.
4 (1784), 193 f. (Ges. Sehr., Bd. 3, 1844, 399).
508
U. 1. Mystik und Pietismus Bildung
andere Begriffe wie 'Erziehung' und 'Ausbildung' 2 • Eine Parallele dazu bietet die
qualitative Unterscheidung zwischen 'Kultur' und 'Zivilisation' im Deutschen 3 •
1784 war 'Bildung' an sich kein Neologismus; als neu empfunden wurden seine
Anwendung, sein Bedeutungsgehalt und sein Gewicht als ein Leit- und Zentral-
begriff der intellektuellen Diskussion, in der er lange fast ausschließlich von
Menschen gebraucht worden ist, die sich selber zu den „Gebildeten" rechneten, also
von den Schreibenden und Lesenden. In die Umgangssprache wurde er nur zögernd
aufgenommen, als Folge einerseits des Ausbaus des institutionalisierten Erziehungs-
und Bildungswesens, andererseits der Diskussion um Bildung als sozialen Status
verleihenden Besitz und als Berechtigung. Damit fand er Eingang in die Sprache
der Politik, in der er heute, da Bildung zur wichtigsten Sache im Prozeß der Her-
Rtelhmg cfor „P.galitft rles c:onditions" geworden ist, allerorten verwendet wird 4 •
II. Die ältere Bedeutung bis zur Mitte dei;i lR. JahrhundertH
'Bildung' ist ein altes deutsches Wort, dessen Bedeutung im Laufe der Zeit nicht
so sehr abgewandelt als vielmehr durch Erweiterung seiner Anwendung, durch
bevorzugten Gebrauch in dem einen und Zurücktreten in dem anderen Bereich
vervielfältigt und unterschiedlich akzentuiert worden ist, ohne daß die eine oder
andere Bedeutung ganz verloren gegangen wäre. Seine früheste Bedeutung (spät-
ahd. bildunga, mhd. bildunge) ist sowohl „Bild", „Abbild", „Ebenbild" (imago), als
auch „Nachbildung", „Nachahmung" (imitatio). Wichtiger und von größter
Wirkung ist 'Bildung' in der Bedeutung von „Gestalt" (forma) und vor allem
„Goato.ltung" (formatio) gewesen, die letztere in der doppelten Richtung, die durch
die Verben 'bilden' und 'sich bilden' angezeigt ist: Hervorbringen oder Formgebung
durch äußere Einwirkung und Entstehung und Entwicldung in der Ausrichtung an
Beispielen. In diesem Sinne war um die Mitte des 18. Jahrhunderts der Bildungs-
begriff in sprachlich anspruchsvollen Schichten geläufig und fand Anwendung nicht
nur auf die äußere Gestalt - so noch in ADELUNGS Wörterbuch (Bd. 1, 1774,
912) in bezug auf das menschliche Antlitz: sie hat eine vortreOliche, eine ein-
nehmende Bildung-, sondern auch auf Intellekt, Sitte, Verhalten und selbst auf
Abstrakta, wofür die 1738 erschienene Übersetzung von SHAFTESBURYS „Soliloquy
B Vgl. franz. educatiqn in den Bedeutungen: en&emble des moyenB d Z'aide dC8quel8 on dirige
le developpement, Za formation d'un etre humain und connaisaance et pratique des U8age8 de
Za societe; ROBERT, nouvelle ed„ t. 2 (1966), 387. Vgl. auch franz. culture, civilisa.tion; ebd.,
t. l (1966), 786. 1068. Engl, education: tke pr0Ce88 of 'bringing up' ••. the systematic instruc-
tion, sehoolingor training ••• euUure or development ofpowers, formation of eharaeter, as con-
trasted with the imtJartiri,g of mere knowl,edge or skill; OED vol. 2 (1961), s. v.
3 Im Hinblick auf den Art. Kultur ist hier darauf verzichtet worden, der Bedeutungs-
geschichte dieses Begriffs nachzugehen, obgleich er sich in engster Verknüpfung mit dem
Bildungsbegriff entwickelt hat.
4 Zur Geschichte des deutschen Bildungsbegriffs sei allgemein verwiesen auf die Literatur
am Schluß des Artikels sowie auf HANS WEIL, Die Entstehung des deutschen Bildungs-
prinzips (Bonn 1930).
509
Bildung II. 1. Mya~ unil Pietismus
6 SHAFTESBURY, Unterredung mit sich selbst, oder Unterricht für Schriftsteller, dt. v.
Vensky (Magdeburg, Leipzig 1738). Hier wird 'to form' und 'formation' durchgehend mit
„bilden"und„Bildung"übersetzt: seine Sitten ••• bilden (168),Bildungender Begriffe (208),
sich selbst nach den besseren Mustern zu bilden und zu richten (52). ·
'EMMY CoNBTANTIN, Die Bcgiiffe „Bild" und „bilden" in der deutschen Philosophie von
Eckehart zu Herder, Blumenbach und Pestalozzi (phil. Diss. Heidelberg 1944), 8 ff.
7 Zit. ÜTTO ZIRKER, Die Bereicherung des deutschen Wortschatzes durch die spätmittel-
geburt, worinnen die Schrifftmäßige Einsicht und Ausübung der wahren Evangelischen
Mystic, oder des Geheimnisses der Evangelii, nach vier Stuffen der Wiedergeburt gezeiget
wird (Frankfurt, Leipzig 1735), 18. 312.
10 Vgl. HANs SPERBER, Der Einfluß des Pietismus auf die Sprache des 18. Jahrhunderts,
Dt. Vjschr. 8 (1930), 497 ff.; AUGUST LANGEN, Der Wortschatz des deutschen Pietismus
('l'iibingen 1954); vgl. ALBRECHT SCHÖNE, Säkularisation als sprachbildende Kraft.
Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne (Göttingen 1958); GERHARD KAlsER, Pietis-
mus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säku-
larisation (Wiesbaden 1961).
510
II. 2. 'Bildung' und 'Erziehung' Bildung.
HALLER war überzeugt (1752), daß wie bei der Bildung des Salzes auch ·bei der
Bildung eines Alexander Gesetze wirksam waren; LAVATER dagegen unterschied
im Sinne Bonnets 'Bildung' als organisches Werden von mechanischen Entstehungs-
prozessen (1770), und der Anthropologe und Anatom J. F.BLUMENBACH sprach nur
bei Organismen von 'Bildung'll.
11 .Ar.BRECHT v.HALLER, Allgemeine Historie der Natur, Bd. 2 (1752); Herrn Carl Bonnets
philosophische Palingenesie, dt. v. JoH. CASPAR LAVA'.l'ER, Bd. 1 (1770); JoH. FRIEDRICH
BLUMENllACH, Handbuch der Naturgeschichte, 4. Aufl. (1791); alles zit. CoNSTANTIN,
„Bild" und „bilden", 68 ff.
n ÜETINGER, Evangelische Ordnung, 308.
13 KLol'STOCK, Messias, 3. Gesang, v. 19.
14 FRIEDRICH GABRIEL RESEWITZ, Die Erziehung des Bürgers zum Gebrauch des gesunden
511
Bildung m. 2. Öffentliche und politische Erziehung
III.
I. 'Erziehung'f'Bildung' (als pädagogischer Begriff')
in Aufklärung und Klassik bis 1790
Quantitativ herrschte bis in die beiden letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts
der Begriff 'Erziehung' vor, der so außerordentlich dem Bewußtsein der Aufklärer
und ihrer Neigung entsprach, ihr ganzes Wollen als Erziehung zu verstehen. In der
ersten Jahrhunderthälfte war auch der Erziehungsbegriff der christlichen Haus-
väterliteratur ('Kinderzucht', 'Auferziehung') noch im Gebrauch; dann traten
'Unterricht', 'Unterweisung', 'Lehre' in der Bedeutung „Aufklärung" stärker
hervor. Wenn in der zweiten Jahrhunderthälfte 'Bildung' zunehmend gebraucht
wurde, so war oft weithin dieselbe Sache gemeint, nii.mlir.h F.rr.iehung unn Am~
bildung vor allem der Verstandeskräfte. J. G. SuLZER nannte 1745 die Bildung des
Verstandes und Urteils durch die Lehre das wichtigste Ziel der Erziehung;
hinzutreten müßten die Bildung des Gemütes und Geschmacks durch die Kunst; alle
gemeinsam machten den Menschen nach Maßgabe seiner vorgegebenen natürlichen
Bildung tugendhaft und vemünftig 16 • Auch F. E. VON Rocnow sah ganz im Sinne
der Aufklärungspädagogik den Zweck der Ausbildung darin, die vernünftig ange-
legten Seelen verständig zu machen; der Gebrauch der Vernunft schaUt Bildung
(Kultur)1 7 • Bildung erfolge durch Lehre, die Kenntnisse vermittelt und r.um
Denken bildet18 ; dies zu leisten sei Aufgabe der Schule, und der Bildung verstän-
diger Lehrer in Seminarien (Bildungsanstalten) müsse größte Aufmerksamkeit
gewidmet werden 1 9.
18 Jon. GEORG SULZER, Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder, 2.Auß.
(Zürich 1748), 77. 105. 4.
17 FRnr.nR. F.BF.RH~Rn v. RonHow, Anfgahfl fiir mein eigenes Na.chdenken orler meine Art
zu studieren (1804), Sämtl. päd. Sehr„ hg. v. Fritz Jonas u. Friedrich Wienecke,
Bd. 3 (Berlin 1909), 197. Rochow ging davon aus, daß zwar die eiue verwün/t·ige Seele wiL
mehr, die andere mit minderen Gaben aui~geMLaLieL sei, aber ausbildbar, d. i. belehrungswürdig
und kulturfähig, sei eine jede; ders., Zusätze zu dem Summarium oder Menschen-Katechis-
mus (1796), ebd., 103.
18 Ders„ Summarium, 113. 72.
19 Ders„ Berichtigung, Erster Versuch (1792), Sämtl. päd. Sehr., Bd. 2 (Berlin 1908),
185; ders., Versuch eines allgemeinen Schulplans (1800), ebd., Bd. 3, 190.
20 Vgl. ERNST CHRISTIAN TRAPP, Versuch einer Pädagogik (1780), hg. v. Theodor Fritzsch
512
m. 2. ö«entliche und politische Erziehung Bildung
und Pflicht habe, für die Erziehung - das ganze Leben des Menschen ist eine
Erziehung nach den Vorschriften der Theologie und Politik - zu sorgen; derjenige
Staat werde der vollkommenste sein, sagt DoHM, Zedlitz folgend 1777, in dem die
Menschen durch öffentliche Vorkehrungen am fähigsten würden, ihrer Bestimmung
nachzukommen, ihre Fähigkeiten und Kräfte auszubilden, sich zu vervollkommnen21 •
Zu diesen Vorkehrungen zählte Dohm auch einen Unterricht, der über die Pflichten
gegen die Gesellschaft, d. h. gegen Staat, Obrigkeit, Gesetze usw. belehrte, und zwar
verschieden nach den drei Klassen der Gesellschaft22• Dohm schloß sich Zedlitz'
Forderung nach solchem politischen Unterricht an, der eine immer mehr notwendige
Erweiterung des Schulunterrichts in den neuern monarchischen Staaten sei, und
auch er wollte ihn den drei Klassen: 1) der Produzierenden ... , 2) der Beso'ldeten
oder aller, welche die Nf!-tion bedienen, aufklären, bilden, 3) des Adels unterschiedlich
zukommen lassen, wollte aber als weitere Klasse die Krämer und Kaufleute hinzu-
fügen, die einer ganz verschiednen Bildung bedürften 23• Die Vorstellung einer
standesbezogenen .Bildung wurde vom friderizianischen aufgeklärten Spätabsolutis-
mus festgehalten, iiber staatspolitisch und pädagogisch uminterpretiert: jeder
St~tsbürger sollte die Bildung erhalten, die ihn in seinem Stande dazu befähigte,
optimale Leistungen für das Wirtschafts- und Wohlfahrtssystem des Staates zu
erbring1m.. In 1Ll.1Uere.u Fällll.11 äußt<de rifoh in rlf':T nf':t.nn11ng d~r Notwendigkeit von
spezieller, an der sozialen Funktion ·des einzelnen orientierten Erziehung und
Bildung schon die Kritik an Konzeptionen der „allgemeinen" Bildung, und zwar
von einer mehr pragmatischen als politisch konservativen Gesellschaftsauffassung
her. So notwendig die Verschiedenheit der Stände und Geschäfte, des Ansehens und
des Vermögens ist, so notwfmdi(J i.~t au.eh di,e Verschiedenheit der Ausbildung der
Körper- und Geisteskräfte. Der Landmann, der Handwerker, der Soldat, der Künst'let-,
der Gelehrte, der Regent, müssen jeder für ihre Verhältnisse und Geschäfte gebildet
werdenH. Dieser Gedanke durchzog das große, von Campe herausgegebene „Revi-
sionswerk", das als Kompendium der Aufklärungspädagogik verstanden werden kann.
In der Ablehnung Rousseaus wurde die Bildung des künftigen Bürgers (CAMPE) und
die Bildung des Menschen für die Gesellschaft (VILLAUME) als Aufgabe hervorgeho-
ben 25• In den Umkreis aufgeklärten pädagogischen und politischenDenkens gehörten
auch eine Reihe von Vorschlägen zur „Nationalerziehung", die seit 1780 vorlagen
und ebenso auf die durch Montesquieu angeregte Diskussion der sechziger Jahre um
21 CHRISTIAN Wn.H. DoHM, Über die F.inriohtung Ainer Volkslehre, in einem eigentlich mo-
narchi11chen Htaat, nach den Begriffen des Verfassers der Abhandlung: Über den Patriotis-
mus (s. Anm. 22), Dt. Museum 2 (1777), 98 f.
29 Ebd., 103 f.; vgl. KIBL ABRA.Hill Flm. v. ZEI>LITZ, Sur le patriotiame considere comme
104f.
24 JOHANN STUVE, Allgemeinste Grundsätze der Erziehung, hergeleitet aus einer richtigen
Kenntniß des Menschen, in: .Allgemeine Revision des gesa.mmten Schul- und Erziehungs-
wesens [zit. Revisionswerk], hg. v. JOACHIM HEINRICH CAMPE, Bd. 1 (Hamburg 1785), 261.
Vgl. auch KARL FRIEDRICH B.ilnmT, Über den Zweck der Erziehung, ebd., 62.
25 PETER VILLAUME, Revisionswerk, Bd. 8, (Wien, Wolfenbüttel 1787), 289 (Anm. CAMPEB);
ebd., Bd. 4 (Hamburg 1785), 464.
33-90385/1 513
Bildung m. 2. ö«entliehe -a politisehe Erziehung
den „deutschen Nationalgeist" zurückgingen wie durch das allgemeine wacher wer-
dende politische Bewußtsein der Deutschen des späteren 18. Jahrhunderts inspiriert
waren28. Rocuow ging es 1779 um staatliche Organisation eines guten Volksschul-
wesens zum Zwecke der Verbreitung guter Erziehung für alle Angehörigen eines
Staates 27 ; 1786 definierte RESEWITZ die Nationalerziehung als die öffentliche und
all,gemeine Veranstaltung eines Staates, seiner Jugend einerlei Grundsätze einzuflößen,
sie auf einen herrschenden Geist zu stimmen, ihre Le'bens- und Leilieskräfte nur auf
diejenige Tätigkeit zu richten, die den vMgesetzten Zweck der Staatsverfassung 'bewirken
kann, alle andere mögliche .Ausbildung dersel'ben a'ber darü'ber hintenanzusetzen oder
wenigstens nicht zum Augenmerk zu ha'ben. In Deutschland, das in viele unabhängige
Staaten geteilt sei, könne Nationalerziehung zunächst nur zweckmäßige Vermitt-
lung von vO'l'l,äufigen angemessenen Grundsätzen und Einsichten an jeden, für sein
bestimmtes Fach sein 28 • Schon 1773 aber hatte Resewitz eine soziale Gruppe als
besonders wichtig hervorgehoben: den gesitteten Mittelstand, in dem man den
Nationakharakter finde; von seiner Bildung hängt der Zustand des Ganzen ab, und
seine Sitten und Denkungsart haben wieder den nächsten und wirksamsten Einfluß auf
den großen Haufen 29• K. L. LACHMANN legte 1790 dann einen detaillierten Plan
für die Erziehung in Deutschland vor, der entsprechend der Vorstellung von der
Dreigliederung der staatsbürgerlichen GesellschafL Schulen für den Landmann und
für die untersten Stände der Städtebewohner, miUlere Bürgerschulen und unmittelbare
V O'l'übungsschulen für Gelehrte vorsah 30• Daß eine staatlich organisierte und gewähr-
leistete, öffentliche Erziehung auch Erziehung zum „Patriotismus" als aufgeklärte,
auf das Gemeinwesen bezogene Gesinnung und bewußtseinsmäßige „Teilnahme"
am Staat 11rnfa1111en müsse, dieser Vorstellung stand nichts im Wege, wenn man
Patriotismus für eine Tugend· und diese für !ehrbar ansah. Völlig zu Recht war man
überzeugt, daß Patriotismus, zumal wenn er sich auf große Staaten, auf das Reich,
auf die Menschheit bezog, ein Bildung11produkt sei 31 • Die Diskussion darüber wurde,
angefangen von Th. Abbts Schriften „Vom Tode für das Vaterland" (1761) und
„Vom Verdienste" (1765) in wachsender Breite geführt, wobei allerdings immer
auch betont wurde, daß nfoht nur die Erziehung, sondern noch mehr die Verhält-
ao KAnL LUDOLll' LACIIMANN, .Allgemeine Ideen über die einer jeden besonde1-en Menschtm-
klasse Deut.schlands zu wünschende Ausbildung und Aufklärung (1790), zit. KÖNIG,
Geschichte der Nationalerziehung, 213 f.
a1 Vgl. KÖNIG, ebd., 215 ff.
514
m. 3. Venelh1täaclifJua8 tle11 Bef!l'ill11: Bertler Bildung
nisse, also die Regierungsweise, die Gesetze, die Administration etc., Patriotismus
bewirkten. J. K. RmsBECK glaubte in Berlin den Beweis zu finden, daß nicht die
Verfassung der Regierung, sondern die Verwaltung den Geist eines Volkes bildet, und
daß das patriotische Gefühl kein ausschließliches V on"echt des Republikaners ist32 •
Diese Erziehung durch Lehre und Erfahrung zum Patriotismus, nämlich zu bürger-
licher Gesinnung, war „politische" Erziehung, „politische" Bildung in der Ver-
knüpfung von Moralismus und politischem Interesse und ·aUf der Grundlage der
Einheit von Moralistik und Politik in der praktischen Philosophi~. Der Terminus
'politische Bildung' selbst trat allerdings im späteren 18. Jahrhundert nur ver-
einzelt auf33•
Noch im Kontext des Aufklärungsdenkens, für das Erziehung weithin identisch war
mit Aufklärung, Verbesserung, Reform, gewann der Bildungsbegriff stärkeres
Gewicht und Eigenleben gegenüber 'Erziehung'. Mit Vorzug scheint er gebraucht
worden zu sein, wenn Formung, Pflege, abe~ auch Entfaltung und -Selbstvervoll-
kommnung der menschlichen Seelenkräfte, des „Herzens", des „Geschmacks"
gemeint waren. Bei GELLERT war einerseits 'Bildung' nooh Tun doo Bildondcn
(so hatte er sich alle Mühe gegeben, sie zu bilden und ihre edeln Empfindungen von den
rauhen Eindrückungen ihrer Erziehung zu reinigen), anderseits Selbsttätigkeit (sich
durch das Lesen guter Bücher den Verstand aufheitern und das Herz edler bilden34),
allerdings noch nicht selbständige }j]ntwicklung von innen heraus. Wie für Gellert
war auch für HERDER 'Bildung' nicht Erziehung, Lehre, sondern „lebendiges"
Wirken des Lehrenden und Aktivität des Sich-Bildenden 35, und zwar nicht nur
einzelner Menschen, sondern ganzer Völker und der Menschheit. 1769 entwarf er,
bei der Lektüre Montesquieus, ein Buch zur Bildung der Völker und unterschied
die Bildung einer Nation durch sich selbst, durch Anstalten, die nicht Gesetze sein
sollten, und nach anderen Nationen 38 • 'Bildung' als zielbestimmter und teleolo-
gischer Prozeß des einzelnen Menschen ist eine Bedeutungprägung, die erst in
Verbindung mit dem Individualitäts- und dem Entwicklungsbegriff in vollem
Umfange eintrat. In dieser Begriffskonstellation, die bei·Herder erreicht und für
Klassik, Romantik, Idealismus und Neuhumanismm1 kennzeichnend ist, erfuhr der
n JoH. KAsPAR RIESBEOK, Briofo eines reisenden Franzosen über Deutschland, Bd. 1
(o. 0. 1784), 87.
33 Als Beispiel RIESBECK, Briefe, Bd. 1, 84: Wie ist ea möglich, da{J ein Hof die zum Gliick
dea Volks er/O'f'derliche politische Bildung und die Grundslitze haben kann, worauf der Wert
einer Regierung beruht •.. ?
34 CmusTIAN FÜltCHTEGO'l"r GELLERT, Leben der Schwedischen Gräfinn von G .• „ Bd. 2
(1748), Sämtl. Sohr., Bd. 4 (Ausg. Leipzig 1784), 375. - Vgl. auch Gellerts.Brief v. 4. 4. 1761,
ebd., Bd. 9 (l 784), 42.
36 JoH. GoTTFRIED HERDER, Über die neuere Deutsohe Litteratur, 2. Auß. (1768), SW
Dd. 2 (1877), ü7: büdl!:tt ·u1td nicltt unte"ichtili, Schrijt8ttller der Bildung, die nicht wie auf
Schulen und Akademien schreiben. Ders„ Journal meiner Reise im Jahr 1769, ebd.,
Bd. 4 (1878), 364: Verbesserung nickt &ehriftlich ... , aondern lebendig, durch Bildung.
38 Ders„ Einzelne Blätter zum „Journal der Reise", ebd., Bd. 4, 466. 477.
515
Bildung m. 3. Verselhständigung des Begriffs: Herder
Bildungsbegriff in Deutschland eine gewaltige Erweiterung, die ihn in die Nähe der
Begriffe 'Geist', 'Kultur', 'Humanität' rückte und damit die Bedeutungsebene von
'Aufklärung', 'Erziehung', 'Fortschritt' überholte. Bei Herder war 'Bildung' der
zentrale Begriff sowohl für Zweck und Intention derjenigen, die an der Verbesserung
der Menschen arbeiten, als auch für den Vorgang der körperlichen, seelischen und
geistigen Entwicklung. 'Bildung' wurde ihm zum selbständigen Begriff, weil das
Gemeinte selbstverständlich war: die wichtigste Sache der Menschen in Geschichte
und Gegenwart. So konnte er von Zeiten der BiUung, vom Geist der BiUung
sprechen'. Welche würdige Beschäftigung, dem Menschlichen G.eist, Geist 'der BiUung,
Geist der Völker, Geist der BiUung der Völker nachzuspüren/ 37 Das geistig-sittliche
Werden des einzelnen wie der geschichtliche Gang der Menschheit waren Bildung,
beide wurden in Analogie gesehen, 'Bildung' .war Wachstum, Fortschreiten,
geschichtlicher rrozeß, Entwicklung: das war die Grundidee des Duches von 1774;
„Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", deren Absicht
treffend als UniVM'sal,geschichl6 der BiUung der Welt bezeichnet .worden istss.
'Bildung' im umfassenden Sinne war nicht das Ergebnis bewußten, planmäßigen
Tumi, 1mndern daii Werk von Natur nnfl (l~Rr.hiclit.e. fäl.dwng 111n.d Forthildung einer
Nation ist nie anders ·als ein Werk des Schicksals: Resultat tausend mitwirkender
Ursacken, gleichsam des ganzen Elements, in dem sie leben 39• Der Mensch (wie die
menschliche Geschichte) war dadurch bedingt, daß er erst zu dem wurde, was er
sein konnte und sollte. Ist die Menschliche Natur keine im Guten selbständige Gottheit:
sie muß alles lernen, durch Fortgänge gebildet werden, im allmiihlichen Kampf immer
weiter schreiten; natürlich wird sie also von den Seiten am tneisten oder allein gebildet,
wo sie dergleichen Anwsse zur Tugend, zum Kampf, zum Fortgange hat - in gewissem
Betracht ist also jede Menschliche Vollkommenheit National, Säkular und am
gena·uesten betraclitet, lnd·i·V'iil·uell. Ma1i b{ldet 1i·icltts am, als woz·u Ze-it, Kz.ima,
Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlaß gibt' 0 • In: der Geschichte seien die jeweils vor-
handenen Institutionen und Herrschaftsformen den Entwicklungsphasen der
Menschheit angepaßte Mittel der Bildung gewesen. Die Entwicklung geschah aus
Orient und der Kindheit herüber- natürlich mußte also noch immer Religion, Furcht,
Autorität, Despotismus das Vehikulum der BiUung werden41 • Durch die verschiedenen
N ationalbiUungen seien die Seelenkräfte des Menschengeschlechte als durch Stufen
und Zugänge entwickelt .wordcn42.
N ocli umfassender war die An.wendung des Bildungsbegriffs in Herders „Ideen zur
Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784), wenngleich er hier quantitativ
zurücktrat. Einerseits hatte 'Bildung' hier die alte Bedeutung der äußeren Gestalt
(nördliche, östliche, asiatische, menschliche, vernunftähnliche Bildung etc.), an-
dererseits diejenige der Ausformung und zwar so.wohl der anorganischen und
37 Ebd., 478.
38 RUDOLF HAYM, Herder, Bd. 1 (1877; Berlin 1958), 573.
39 HERDER, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774),
SW Bd. 5 (1891), 539.
40 Ebd., 505.
41 Ebd.,490.
42 Ebd., 519.
516
III. 4. Goethe Bildung
organischen Natur, die der Mensch nicht verändern konnteu, als auch der seelischen
und geistigen Kräfte bis zur BiUlung der Humanitiit ... , der alk niedrigen Bedürf-
nisse der Erde nur dienen und selbst zu ihr führen solkn44• Das sonderbare Mittel zur
BiUlung der Menschen sei die Sprache, das, was ihn überhaupt zum Menschen
mache: außer der Genesis "lebendiger Wesen vielleicht das größeste (Wunder) der Erde-
schöpfung4&. -Durch dieses Verständnis der Geschichte als einheitlichen Bildungs-
prozeß, in dem Natur, Seele und Geist sich entwickeln, hat Herder nicht nur dem
Bildungsbegriff eine fast universale Bedeutung gegeben, sondern auch dem histori-
schen Verstehen eine neue Tiefendimension gewonnen. Dessen war er sich bewußt:
GoUlene Kette der BiUlung also, die die Erde umschlingt und durch alk 1ndividuen bis
zum Thron der Vorsehung rewhet, seitdem wh dwh ersah und in deinen schönsten
Gliedern . . . ver/07,gte, ist mir die Geschichte nicht mehr . . . ein Greuel der Verwüstung
m4 eirtR.r hR-iligen Erde ... Immer verjüngt in seinen Gestalten, blüht der Genius der
Humanitiit auf und ziehet palingenetisch in Völkern, Generationen und Geschlechtern
weiter46•
4. Goethe
' 3 So sehr uns in den Eingeweiden der Erde alles noch als Chaos, als Trümmer vorkommt, .••
so nehmen wir doch sdbst in dem, was unB das Kleinste und Roheste dünkt, ein sehr bestimmtes
Dasein, eine Gestaltung und Bildung nach ewigen Gesetzen wahr, die keine Willkür der
Menschen verändert. Auch: Bildung (genesis) ists, eine Wirkung innerer Kräfte; SW Bd. 13
(1887), 47. 173.
44 Ebd., 189; vgl. auch SW Bd. 14 (1909), 211.
45 Ders., SW Bd. 13. (1887), 354 f. - Sprache aber ist ihrerseits gebildet worden: Gesang,
Dichtkunst und ein früher Gebrauch des freien Lebens habe die griechische Sprache
zur Musensprache der Welt gebildet; SW Bd. 14 (1909), 99.
46 Ebd., Bd. 13 (1887), 353.
47 llANs-GEORG GA.DAMER, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen
' 9 Ders., Dichtung und Wahrheit, 16. Buch (1833), HA Bd. 10 (1959), 88.
517
Bildung Ill. 5. Die Bedeutung der Griechen
Meister, dessen Wunsch es von Jugend an war, mich selbst, ganz wie ich da bin,
auszubilden, fand dazu als „Bürger" keine Möglichkeit, denn in Deutsch'land ist nur
dem Edelmann eine gewisse allgemeine ... personelle Ausbi"ldung möglich. Ein Bwger
kann sich· Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine
Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen, wie er will. Wilhelm aber will
eine öffentliche Pers0n sein, gefallen, Geist und Geschmack ausbilden. Du siehst
wohl, daß das alles für mich nur auf dem Theater zu P,nden ist, und daß ich mich in
diesem einzigen Elemente nach Wunsch rühren und ausbilden kann. Auf den Brettern
erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern
Klassen 60 •
Eigenes Streben, Führung durch andere Menschen und Aufgabe, andere Menschen
zu bilden, lassen Wilhelm noch andere Stufen der Bildung durchschreiten. Bedeu-
tete schon beim klassischen Goethe Bildung zur Vollkommenheit in der Ausbildu11g
des Inneren und des Äußeren Einhalten des Maßes 61 , so verstärkte sich spät~r bei
ihm der Bezug auf praktische Bewährung: Eines recht wissen und ausüben gibt
höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen 52 • - Wenn Goethes Begriff der
Bildung und des gebildeten Menschen mehr als der Herdersche in das Bewußtsein
der deutschen Gebildeten aufgenommen worden ist, so wegen der implizierten
H11.rmonievorstellung - 'Bildung' bezog sich nicht nur auf Seele und Geist, sondern
auch auf äußere Gestalt, Auftreten, Rede - nnil wegen der aus oft simplifizierter
Identität von Person und Werk abgelesenen Vorbildhaftigkeit Goethes selber, dem
diese Gebildeten zwar die Außerordentlichkeit des Genies zubilligten, bei dem sie
aber doch auch unablässiges Bildungsstreben beobachteten, das ein Teil ihres
Selbstbewußtseins und, bis zur Trivialität, eine Maxime ihrer Pädagogik bildete.
Paradigma aller Bildung waren für Goethe die Griechen. WINCKELMANN hatte
schon 1755 festgestellt: Der einzige Weg für uns, groß, ja wenn es möglich ist,
unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten6 3. 1758 fand auch WIELAND
das Vorbild für die Bi"ldung des Verstandes und des Herzens oder die Bildung der
Seele bei den Griechen, die glaubten, der Mensch komme gleichsam n'!tr als ein
Embryon auf die Welt, er müsse erst zum Menschen ausgebildet werden. Ihre Aus-
bildung habe edle Simplizität und ungezwungene Eleganz ... , Natur, Humanität und
Anstand ... , Genie, Geist und Stärke hervorgebracht; alle Vorzüge und Vollkommen-
heiten . .. , die einen freien und edlen Menschen von einem Sklaven und menschen-
ähnlichen Tier unterscheiden 54• Werden nicht Denker, Gelehrte und Künstler
&o Ders., Wilhelm Meisters Lehrjahre, 5. Buch (1795), HA Bd. 7 (1950), 290 ff.
61 So iat'a mit aller Bildung auch besckaUen: / Vergebens werden ungebundene Geister/ Nach
der Vollendung reiner Höke streben. - /Wer Großes will, muß aick zuaammenraUen; /In der
Beackränlcung zeigt BiM erst der Meister, / Und das Gesetz nur kann uns Fr~ikeit geben;
ders., Das Sonett (1800), HA Bd. 1 (1948), 245.
61 Ders., Wilhelm Meisters Wanderjahre, 1. Buch (1829), HA Bd. 8 (1950), 148.
68 JoH. JOACBIM WINCKELMANN, Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke
in der Ma.lerey und Bildhauerkunst, 2. Aufl. (Dresden 1756; N dr. Baden-Baden 1962), 330.
H WIELAND, Plan einer Academie zu Bildung des Verstani:les und des Herzens junger
Leute (1758), AA 1. Abt., Bd. 4 .(1916), 194. .184. 189. 185.
518
m. 6. ADgemeine Bildung: Humboldt Bildung
angelockt, fragte Goethe 1798, sich in Gedanken in ein Volle zu versetzen, dem seine
Vollkommenheit, die wir wünschen und nie e'f'feichen, natürlich war, bei dem in einer
Fol,ge von Zeit und Leben sich eine Bildung in schö'ner und steigender Reihe ent-
wickelt, die bei uns nur als Stückwerk vornhergehend erscheint? 55 Deshalb sei die
.Annäherung an Sokrates, Platon und Aristoteles ein Ereignis, das unsere Bildung
zu befördern sich jederzeit kräftig erweist. Sich ernstlich am Altertum bilden zu wollen,
gebe die Empfindung, erst eigentlich Mensch zu werden; darum wünschte Goethe,
daß das Studium der griechischen und römischen Literatur die Basis der höheren
Bildung bleibe58• Daß das Studium der alten Sprachen die Grundlage der gelehrten
Bildung sein müsse, rechtfertigte HEGEL 1809 damit, daß die Griechen und Römer
sei'.t einigen Jahrtausenden ·. . • der Boden seien,. auf dem .alle Kultur gestanden hat;
jeder neue Aufschwung der Wissenschaft und Bildung habe sich aus der Rückkehr
zum.Altertum ans Licht gehol>en 61 • Der Bildungswert der Welt und der Sprache der
„Alten" für die gegenwärtige Bildung bestand aber für Hegel nicht schon darin, daß
man sie sich als Vorbild aneignete; sie boten vielmehr einen frühem Stoff und
Gegenstand, über den sie arbeitet, den sie verändert und neu formiert ... Um aber zum
Gegenstande zu werden, muß die Substanz der Natur und des Gei6te8 uns gegenüber
getreten sein, sie muß die Gestalt von etwas Fremdartigem erhalten haben68 •
Die Vorstellung, daß im antiken Griechenland die bisher in der Geschichte höchste
Bildungsstufe erreicht worden sei, bezog sich ganz vornehmlich auf die drei Bereiche,
die dann auch im Zentrum der Bildungsidee des deutschen Neuhumanismus
gestanden haben: Sprache, Philosophie und Kunst. In ihnen meinte man bei den
Griechen Vorbildlichkeit für alle Zeit: klassische Vollendung zu erkennen, die
zugleich als Hilfe dienen sollte, von der Orientierung an französischer Bildung
freizukommen. Mit der Festlegung des Gymnasiahmterrichts auf beide alten
Sprachen und des Zugangs zum gelehrten Unterricht o.uf do.e Gymnasium sind das
Griechische und Lateinische zum Grundelement des höheren deutschen Bildungs-
wesens und ihre Kenntnis zum Ausweis der „Gebildeten" geworden. Andererseits
hat die Kritik an der Monopolstellung der alten Sprachen und an der Geltung der
klassischen Bildung schon früh eingesetzt - z. T. in Verbindung mit der Kritik an
der Vemachlässigung der , ,Realien" im Unterricht und der praktischen Bildung für
Beruf und wirtschaftliche Klassenfunktion (s. u.).
519
Bildung m. 6. Allgemeine Bildung: Humboldt
(1785), und von P. V1LLAUME dahin beantwortet, daß die Gesellschaft berechtigt
sei, eine Begrenzung zu verlangen. Maßstab für die Grenze der Bildung, zu der jeder
Bauer über das hinaus, was ihm gut tue, fähig sei, sei das W okl des Staates5 9•
PEBTALOZZI dagegen ordnete die Berufs- und Standesbildung . . . dem allgemeinen
Zweek der .Menschenbildung unterao, und auch J. CH. VoLLBEDING meinte, erst soll
der Mensch gebildet werden, ehe man darauf denken darf, den Bürger oder Bauer
zu bilden81 • REHBERG setzte zwar unterschiedliche Bedürfnisse bei den ver-
schiedenen Ständen voraus, sah aber in dem Bestreben, auch dem. untersten
Stande die Bildung des Bürgers zu geben, einen der vorzügli<ihsten Gegenstände einer
edlern Staatskunst 62 • Der Staat benötige indes auch eine große Zahl fähiger Diener
von gebildetem Geiste und Kenntnissen 63 , die nur dann zur Verfügung stünden, wenn
viele sich entsprechend ausbilden könnten. Dem Zufall muß man also das freieste
Spiel lassen, die Gelegenheit zur vollkommensten Ausbildung so vielen als nur immer
möglich ist, verstatten, den allgemeinen Unterri<iht auf möglichste Vervollkommnung
gründli<iher Einsichten anlegen . . . Und alles dieses ni<iht sowohl, weil der Staat so
f!iele wissenschaftlich gebildete Menschen braucht, als vielmehr weil er schuldig ist, für
die mögli<ih größte und mannickfaltigste Ausbildung so vieler Köpfe zu sorgen, als
immer möglich64.
W1Ll:l.JllL.M. vo.N HuM.HOLll'l', für den Menschen bilden hieß, sie nickt zu äußeren
Zwecken zu erziehen, und der den Menschen nicht dem Bürger aufopfern wollte 65,
schrieb dann 1792 dem Staate nur eine ermöglichende Rolle zu und meinte, daß
die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete
Bildung des Menschen überall vorangehen müsse. Der so gebiUete Mensch müßte dann
in den Staat treten, und die Verfassung des Staates sieh gleichsam an ihm prüfen, nur
so sei wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation zu ho:lfen66• Noch
1810, als Humboldt dem Staate lö.ngst eine aktive Rolle in der Organisation des
Bildungswesens abverlangte, hielt er daran fest,. daß der Staat nur die in der
positiven Gesellschaft nötigen äußeren Formen und Mittel für die· Bearbeitung der
Wissenschaft (um sie als einen nicht absi<ihtlick, aber von selbst zweckmäßig vor-
bereiteten Stoff der geistigen und sittlichen Bildung zu seiner Benutzung hinzugeben) 67
bereitzustellen habe (und schon dabei schädlich sein könne).
Humboldt knüpfte die Bildung als vollkommene Entfaltung individueller Möglich-
69 VILLAUME, in: CAMPE, Revisionswerk (vgl. Anm. 24), Bd. 3 (1785), 535.
80 JoH. HEn.LUCH PESTALOZZI, Die Abendstunde eines Einsiedlers (1779/80), SW Bd. 1
(1927), 270.
81 JoH. ClllusTOPH VoLLBEDING, Über die Bildung des Bürgers, der Bildung des Menschen
520
m. 7. Politisehe Relevanz und Gefahren der Bildung Bildung
keiten, die der Staat durch seine Institutionen nicht zu steuern berechtigt war, an
die Bedingung der - durchaus politisch verstandenen - Freiheit: Der wahre Zweck
des Menschen . .. ist die höchste und proportionierlichsteBildung seiner Kräfte zu einem
Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung. Um-
gekehrt aber erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen
gleich hohen Grad der Bildung . . . Besitzt daher ilas gegenwärtige Zeitalter· einen
Vorzug an dieser Bildung, so muß man ihm auch die Freiheit gewähren, auf welche
derselbe mit Recht Anspruch macht68 • Daher sah Humboldt das letzte, nur durch
Gewährung der höchsten Freiheit erreichbare Ziel darin, die Bildung der Bürger bis
dahin zu erhöhen, daß sie alle Triebfedern zur Be/örderung des Zwecks des Staats
allein in der Idee des Nutzens finden, welchen ihnen die Staatseinrichtung zwr Er-
'l'eichung ihrer individuellen Absichten gewährt 69 • Diese Vorstellungen des jungen
Humboldt über die Aufgaben und Grenzen der Staatsgewalt maßen den Staat
daran, wie weit er individuelle und humane Bildung gestattete und begünstigte.
Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter, von dem ganzen Menschenge-
schlecht, wenn man ihm seine Achtung und seine Bewunderung schenken soll? Man
verlangt, daß Bildung, Weisheit und Tugend so allgemein verbreitet, als möglich, unter
ihm herrschen, daß es seinen innern Wert so hoch steigern, daß der Begriff der
Menschheit, wenn man ·ilin von ilim, als dem einzigen Beispiel, abziehen müßte, einen
großen und würdigen Gehalt gewönne 70 • Höher konnte die allgemeine geschichtliche
Bedeutung von 'Bildung' nicht gesteigert werden; in dem so gefaßten Begriff lag
indes nicht nur Herausforderung an die staatlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, er
drückte auch ein sehr hohes Selbstverständnis der Gebildeten von ihrer sozialen
Funktion aus. Es überstieg noch das Ausmaß dei:isen, was der Begriff 'Aufklärung'
implizierte, der nun zunehmend auf die intellektuelle Bildung durch Information,
Belehrung, Aktivierung der Vernunft eingeengt wurde, nachdem er allerdings auch
durch den vulgärphilosophischen Troß der Aufklärung diskreditiert worden war.
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre hatte sich der Bildungsbegriff im Bewußt-
sein der schreibenden und lesenden Deutschen weithin selbständig gemacht und
solche Dimensionen gewonnen, daß er 'Aufklärung' übergriff und der 'Erziehung'
die Rolle eines Mittels beilegte. 1785 definierte CHR. F. VON UNGERN-STERNBERG
den logischen Unterschied zwischen 'Bildung' und 'Aufklärung' derart, daß diese es
mit der erkennenden, jene es mit der ausübenden Vernunft zu tun habe. Die echte
Bildung ist nie ohne einen gewissen Grad von Aufklärung möglich, diese letztere
hingegen leider oft von aller Bildung getrennt 71 • Die schon in den siebziger Jahren
rege und breite Diskussion um pädagogische Fragen wurde durch den Begriff der
humanen Bildung, die sich der Planung weitgehend entzieht und durch Tradition,
H. BRUFORD, The Idea of 'Bildung' in W. v. HumboJdt's Letters, in: The Era of Goethe
(Oxford 1959), 17 ff.
71 CHR. FRIEDRICH FRH. v. UNGERN-STERNBERG, ~lick auf die moralische und politische
Welt. Was sie war, was sie ist, was sie seyn wird (Bremen 1785), 238, Anm. 2.
521
Bildung m. 7. Politische Relevanz und Gefahren der Bildung
Zeit, Nation, Menschheitsidee, Begegnung mit den „Alten" bestimmt ist, belebt
und durch zahlreiche Versuche vorangetrieben, Ziel und Aufgabe von Bildung, aber
auch ihre geschichtlichen Bedingungen zu bestimmen. Bildung des äußern Men-
schen ... ohne Bildung des innern Menschen gibt b"loß Politur; Bildung des Ge-
schmacks ohne Bildung des Herzens, gibt bloß Kultur; Bildung des Verstandes ohne
Bildung des Herzens und des Geschmacks gibt bloß Aufklärung72 • Daneben standen
Warnungen vor einseitiger ästhetischer Bildung, für die das Beispiel des von dieser
Seite so hochgebildeten Griechen'land ... , das an religiöser und sittlicher Aufklärong
so unverhältnismäßig zurückstand, genannt wurde 73 • Wichtiger sind Äußerungen,
die öffentlich - Humboldts Schrift von 1792 war zu ihrer Zeit vollständig nur im
kleinen Kreise bekannt! - den neuen Bildungsbegriff politisch-kritisch ver-
.wendeten. 1796 hieß es, das Naturgesetz gestatte keine andere Bildung als jene, die
in jedem einzelnen Menschen von innen heraus ... geschiehet. Allein der Despotismus
forderte Automaten; - und Priester und Leviten waren fühllos genug, sie ihm aus
Menschen zu schnitzen74..
Durch die Französische Revolution hat dann die schon vor ihrem Ausbruch
angeklungene negative Beurteilung der Aufklärung und der ihr zugehörigen Bildung
weiteren Auftrieb bekommen. Für FRIEDRICH GENTZ, der schon 1793 feststellte,
daß der ~i.»t dar Menschen in keinem Horoioh oo übcrgcbildct und verbiükt !!ei wie
in dem der Politik 75.• w11.r clie R.evoh1tion aua einer umglii.r.klir.htm. Misc.lmng tion
großer Bildung und Verfeinerung des Verstandes, und großer Verderbtheit des
Charakters 7 e hervorgegangen. In der „Eudämonia" 1797 wurde die gesamte Er-
ziehung der Jugend auf Schulen und Universitäten seit zwanzig Jahren als revo-
lutionär bezeichnet, auf sie die unselige Verbildung, die Vernachlässigung der reli-
giösen und sittlichen Bildung zurückgeführt und ihr die Intention der Religions-
11.nd Bt.aatsumwälzung zugeschrieben 77 • Die ohrietlioho Religion ho.bo viele 11.lillionen
einzelner Menschen in hohem Grad zu tugendhaften guten Bürgern gebildet, und zur
äußern politischen Kultur mehr beigetragen ... als alle phi"losophischen Anstrengungen
zusammengenommen7 8.
Die schon mit der Reaktion auf die Aufklärung einsetzende, im Illuminaten-Verbot
(1785) und im .Wöll~erschen Religionsedikt (1788) ausgedrückte Verdächtigung der
71 [FBANz PossELT], Apodemik, oder, die Kunst zu raisen. Ein systematischer Versuch zum
Gebra.uch junger Rfiisenden aus den gebildeten Ständen überhaupt und angehender Ge-
lehrten und Künstler insbesondere, Bd. l {Leipzig 1795), 269.
73 JoH. LUDWIG EwALD, Ist es jetzt rathsam, die niederen Volksklassen aufzuklären?·
(1797), 113.
522
a) Politi~he Bildun1 Bild uns
IV.
a) Politische Bildung. In den Jahren nach der Französischen Revolution ist auch
der Begriff der 'politischen Bildung' in der Diskussion über ihre Notwendigkeit und
ihre Gefahren voller ausgeprägt worden. In Auseinandersetzung mit der Französi-
schen Revolution hat F. GENTZ 1793 eine National-Erziehung für Frankreich zwar
als Bedürfnis angesehen, sie aber - nämlich die Absicht, die französische Nation
erziehen, sie zu Bürgern ... bilden zu wollen - als eine Chimäre bezeichnet; allen-
119. 121 f.
83 Genius der Esthen und Letten, Genius der Zeit, hg. v. August Hennings, 3 (1798), 39.
523
Bildun~ IV, 1, Revolution und Reform 171tß-1820
falls sei ein National-Unt,erricht möglich 84• REHBERG kam im gleichen Jahre, nach
vorheriger heftiger Kritik an der Ausweitung von gelehrter Bildung auf alle Klas-
sensli und an der allgemeinen Verbreitung von Schriften über politische Gegenstände
zu folgender Charakterisierung einer wahren politischen Bildung: Sie erfordere
einen Zusammenfluß von günstigen Umständen, allmiihlich entstandene Einrichtungen
u'Ylil Gewohnheiten, wodurch einige Mitwirkung zu .Ange'legenheiten des gemeinen
Wesens, dem Mittelstande zuteil wird: denn eine dazu geschickte Bildung l,äßt sich
doch nur von diesem hoffen, uni/, die unf,ersten Klassen von Menschen werden durch die
· Natur der Dinge von demselben ewig ausgeschlossen bleiben. Das erste Erfordernis
dieser politischen Bildung einzelner Menschen sowohl als ganzen Nationen, ist Mäßi-
gung u'Ylil Selbstbeherrschung, nicht über die Grenze hinausgehen zu wollen, wekhe die
Verfassung des Staats u'Ylil persönliche Verhältnisse vorschreiben. Der Ungestüm, den
die popul,ären Schriftsteller zu erregen suchen, widerstreitet dieser wahren politischen
Bildung noch rMhr als die sohl,äfrigc Gleichgültigkeit, aus der man allzu leicht ·in jene
entgegengesetzten Fehler übergeht 86• Das hier formulierte antirevolutionäre Ver-
ständnis von politischer Bildung ist für große Teile der deutschen Gebildeten
charakteristisch geblieben. Wenn andere mehr als Rehberg die vorteilhaften Folgen
der Volksbildung81 und einer zweckmiißigen Erziehung für den Staat betonten, die
da.11 e·inz·ig Mnwnglicli wfrksa'llw S·iclwrw1UJsm'itwl gegen revolutiorilire Grundsätze und
Ruhe störende .Absichten gewähre88, dann gelangten sie .doch konkret nicht über
aufgeklärt-patriotische Volkserziehungspläne hinaus, deren Tendenz es war, nicht
nur die bestehenden sozialen und politischen Verhältnisse zu rechtfertigen, son-
dern die „Staatsbürger" zur Einsicht in sie zu befähigen und von ihrem
patriotischen Engagement einen Zuwachs an innerer politischer Lebendigkeit wie .
an äußerer Stabilität des Staates zu gewinnen. Im „Staatsbürgerunterricht" sollte
die Vernunft gelenkt, der Patriotismus geweckt und aus beiden ein Handeln
ermöglicht werden, das vorher nur aus Gehorsam erfolgte; davon wiederum würde,
so hoffte man, nicht nur der Staat profitieren, sondern auch der einzelne Bürger als
moralische Person an Selbstachtung gewinnen. - Solche und ähnliche Erwar-
tungen wurden an die „Nationalerziehung" geknüpft, die zwar von unterschied-
lichen politischen Positionen her und mit verschiedenem Akzent vorgetragen
wurden, dennoch aber in einzelnen Punkten konvergierten. Vier z. T. sich über-
u GENTZ, Über die National-Erziehung in Frankreich, 1793, Ausg. Sehr., Bd. 2 (1837), 181 f.
e& Die Bildung der größem V olkaklasaen durch wissenschaftliches Lernen und durch Lesen
ist iiberhaupt unnatürlich. Die Art von Bittlicher Bildung, wilche dOOurch hervorgflJracht
werden kann und ausdrücklich von den Freunden dieses Systems beabsichtigt wird, schickt
sich nicht für den, der die Bil,d,ung zu seinen Geschäften auf einem an.dem Wege erhalten hat;
AUGUST WILH. REHBERG, Untersuchungen über die französische Revolution nebst kriti-
schen Nachrichten von den merkwürdigsten Schriften, welche darüber in Frankrefoh er-
schienen sind, Bd. 1 (Hannover 1793), 211.
H Ebd., Bd. 2 (1793), 411.
87 FERDINAND AUGUST GRAF v. SPIEGEL an seinen Bruder Franz Wilhelm, 20. 3. 1792,
zit. WALTER LreGENS, Ferdinand August Graf Spiegel und das Verhältnis von Kirche und
Staat 1789-1835, Bd. 2 (Münster 1965), 559.
88 CHRISTIAN DANIEL Voss, Versuch über die Erziehung für den Staat als Bedürfniß
unsrer Zeit, zur Beförderung des Bürgerwohls und der Regenten-Sicherheit, Bd. l (Halle
1799), 90 f.
524
b) 'Gebildete Stände' Bildnng
kreuzende Tendenzen sind erkennbar: 1) das soziale Interesse der Gebildeten selber,
das sich in den Nationalerziehungsplänen dokumentiert; 2) die Neigung, umfassende
Erziehungspläne (denn die politische Bildung im engeren Sinne war stets nur ein
Teil von ihnen) staatlich zu institutionalisieren und ihnen damit die Gewähr der
Verwirklichung zu geben; 3) die Hoffnung, auf dem Wege der Erziehung ein poli-
tisches Ziel zu erreichen, für das seine Verfechter die Machtmittel nicht in der Hand
hatten, und 4) das Interesse der Regierungen an einer Erziehung, die zugleich
nützliche und verständige, patriotische und gehorsame Untertanen bildete89 •
Gemeinsam war ihnen, daß sie den „Gebildeten" eine wesentliche Rolle im Staate
zuschrieben -sei es als Vertretern des Fortschritts, sei es als Garanten der Ordnung.
wissenschaft (Weißenfels 1797); dere„ System der öffentlichen Erziehung (Berlin 1805);
KARL SALOMO ZACHARIÄ., Erziehung des Menschengeschlechts (s. Anm. 15); .ANDREAS
lLDEFONS HoLZWA.RTH, ErZiehung und Aufklärung einer Nation durch den Staat (Nürn-
berg 1806); KARL HEINRICH LUDWIG PöLITz, Die Erziehungswissenschaft aus dem Zwecke
der Menschheit und des Staates praktisch dargestellt (Leipzig 1806).
90 ERNST BRANDES, Über die gesellschaftlichen Vergnügungen in den vornehmsten Städten
525
Bildung IV. 2. Fichte
sc1111.ften, bei denen es sich, gleich, wes Standes und Ranges ... so viele würdige und
verdienstvolle große Männer und Kenner . .. zur Ehre schätzen, ein Mitglied zu sein Da.
Das schreibende und lesende Publikum war gemeint, wenn vom ausgehenden 18. Jahr-
hundert an für einige Jahrzehnte in Titeln und Untertiteln von Büchern, Zeitschrif-
ten, Lexika die 'gebildeten Stände' angesprochen wurden. 1799 veröffentlichte
ScHLEIERMAOHER seine berühmten Reden „Über die Religion" an die GelJildeten
unter ihren Verächtern, und 1808 richtete FICHTE seine „Reden an die deutsche
Nation" an deren gelJildet.en Teil, die gelJildet.en Stände Deutschlands. Hier, auch bei
Fichte„ ist der selbständige Begriff 'die Gebildeten' vorhanden, der dann im 19.
Jahrhundert zu imm.er häufigerer Anwendung kam, sich 'dabei allerdings unter
dem Einfluß des institutionalisierten Bildungswesens und staatlicher Laufbahn-
vorechriften erheblich und charakteristisch in seiner Bedeutung verengte: 'gebildet'
war, wer höhere, 'gelehrte' Bildung erfahren hatte. .
In den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahm das Reden und
Schreiben über ~rz1ehung und .Hildung noch zu. Die politische und geistige
Erregung der napoleonischen Zeit hatte für Reformen im Erziehungswesen oino
günstige Situation geschaffen, aber auch für die Auffassung, daß der Wieder-
aufstieg Deutschlands, die nationale Erneuerung und größere Einheit, die Über-
windung des Absolutismus und die „Teilnahme" des Volkes am Staate nicht allein
und nicht im Entscheidenden ein Werk der Politik sein könne, sondern ein Ergebnis
der Erziehung und Bildung aller sein müsse, weil der Niedergang mehr war als
militärische Niederlage, nämlich die Folge von Gleichgültigkeit, mangelhaftem
nationalem Bewußtsein, Partikularismus usw. Mit gewaltigem Optimismus befaßten
sich zahlreiche Philosophen, Pastoren, Verwaltungsbeamte, Lehrer, politische
Schriftsteller und Journalisten mit speziellen und allgemeinen Problemen der
Bildung, und zwar in dem der Stilisierung der Katastrophe als Menschheitsereignis
entsprechenden Bewußtsein, damit zur Lösung wichtigster nationaler (und Mensch-
heits-)Aufgaben beizutragen. ·
Niemand hat dem heftiger und anspruchsvoller Ausdruck gegeben als FICHTE. So
ergibt sich denn also, daß das Rettungsmittel, dessen Anzeige ich versprochen, bestehe
in der Bildung zu einem durchaus neuen und bisher vielleicht als Ausnahme bei
einzelnen, niemals aber als allgemeines und nationales Selbst dagewesenen Selbst, und
in der Erziehung der Nation, deren bisheriges Leben erloschen und Zugabe eines
fremden Lebens geworden, zu einem ganz neuen Leben, das entweder ihr ausschließen-
des Besitztum bleibt, oder, falls es auch von ihr aus an andere kommen sollte, ganz und
unverringert bleibt be·i unendlicher Teilung; mit Einem Worte, eine gänzliche Ver-
änderung des bisherigen Erziehungswesen ist es, was ich, als das einzige Mittel, die
deutsche Nation im Dasein zu erhalten, in Vorschlag bringe94. Während die bisherige
Journal von und für Deutschland, Bd. 2, 11. Stück (1790), 465ff., bes. 466. 469.
" J. G. FICHTE, Reden an die deutsche Nation (1808), SW Bd. 7 (1846), 274.
526
lv. 2. Fichte Bildun1
Erziehung nur etwas am. Menschen gebildet habe, so habe die neue den Menschen
selbst zu bilden und die BiUlung keineswegs wie bisher zu einem Besitztume, sondern
vielmehr zu einem persönlichen Bestandteile des Zöglings zu machen, sie überdies allen
zu vermitteln. Wir wollen durch di,e neue Erz-iehung.di,e Deutschen zu einer Gesamt-
heit bilden; kein neuer gebildeter Stand solle entstehen; vielmehr solle die neue
BiUlung Bildung der Nation schlechthin als solcher, und ohne alle Ausnahme einzelner
Gli,eder derselben werden, in welcher, in der BiUJung zum innigen Wohlgefallen am
Rechten nämlich, aller Unterschied der Stände, der in andern Zweigen der Entwicke-
lung auch fernerhin stattfinden mag, völlig aufgehoben sei und verschwinde; und daß
auf di,ese Weise unter uns keineswegs Volkserziehung, sondern eigentümliche deutsche
Nationalerzi,ehung entstehe 96• Diese Erziehung, dieganz an Pestalozzi anknüpfen
müsse, sei die dermalen sich einzig au/dringende Angelegenheit der deutschen Vater-
landsli,ebe, an ihrem Bande solle jedoch auch di,e Verbesserung und Umsckaffung des
gesamnnten Menschengesckloohts zuerst in die Welt9 6 eingeführt werden.
Die Durchführung der „neuen Erziehung" trug Fichte dem Staate an, allerdings
unter der Bedingung, daß diese:i; von seinem bisherigen utilitaristischen Grund-
begriff vom Zweck der Erziehung abgehe und, einsehend, daß ihm (in der deutschen
Wirklichkeit von 1808!) kein anderer Wirkungskreis übriggelassen ist, in welchem
er . . . selbständig sich bewegen könne, außer diesem der Erzi,ehung der kommenden
Geschlechter97 , sie allgemein, d. h. zur Nationalerziehung für alle Bürger mache.
Di,ejenige BiUlung allein, di,e da strebt, und die es wagt, sich allgemein zu machen, und
alle Menschen ohne Unterschied zu erfassen, ist ein wirkliches Bestandteil des Lebens
und ist ihrer selbst sicher 98 • Fichtes 'Überzeugung schon in seinen Jenaer Jahren
(1794 ff.), daß Freiheit und Gleichheit in fortschreitender Annäherung an eine
Kultur- und Bildungsgesellschaft der Zukunft realisierbar seien, wurde hier auf die
Nation, wie er sie postulierte, bezogen. Zwar wendete sich Fichte an die „Gebil-'
deten", aber der Bildung der Nation wohnte deutlich eine auf Allgemeinheit zielende
demokratische Tendenz inne. Der 1812 erscheinende erste Jahrgang des „Archivs
Deutscher Nationalbildung", den der Herausgeber R. B. JACBMANN mit einem Auf-
satz „Ideen zur Nationalbildungslehre" eröffnete, trug Fichtes Porträt als Titelbild.
Nachdrücklich wurde hier das Ideal der harmonisch ausgebildeten und vollendeten
Menschheit als höchstes Ziel bezeichnet, dem di,e Menschennatur zugebildet werden
soll 99 • Allgemeine MenschenbiUlung, NationalbiUlung und Subfekts-BiUlung standen
in einem Überordnungsverhältnis: Di,e BiUJung des Individuum ist eine National-
biUlung mit besonderer Rücksicht auf die bedingende Eigentümlichkeit der sinnlichen
und geistigen Natur des individuellen Subjekts, und di,e N ationalbiUJung ist all.gemeine
Menschenbildung mit besonderer Rücksicht auf di,e bedingende Eigentümlichkeit der
Nation 100 • Die Ausbildung der Nationalität einer Nation nach dem Ideal voll-
kommener Nationalität widersprach also nicht nur nicht der allgemeinen Menschen-
96 Ebd., 276 f.
88 Ebd., 428.
87 Ebd., 432.
88 Ebd., 438.
89 Arch. Deutschei Nationalbildung, hg. v. Reinhold Bernhard Jachmann u. Franz Pas-
527
Bildung IV. 3. Varianten des BildungsLegriils 1790-1820
101 Vgl. auch JACHMANN, Das Wesen der Nationalbildung, ebd., 405 ff.
102 So auch schon ZACHARIÄ, Erziehung des Menschengeschlechts, 67: Der Mensch soll
durch die Erziehung das werden, was er sein soll, inwiefern er durch äußere Ursachen dazu
gebildet werden kann.
108 BROCKHAUS 2. Aufl., Bd. 6 (1815), 268. 270, Art. Menschenbildung.
des Geldes und der Staats-Wirtschaft, wie auch der Erziehung und des Unterrichts
(Erlangen 1805), 60.
528
L) Der neuhumanistische Blldungsbegrifl' Bildung
LOZZI entwarf (1806/07) im Gegensatz zur gewohnten Bildung zur Industrie, die die
Veredelung der menschlichen Natur vernachlässige, eine EkmentarlYildung zur
Industrie, die alle Anlagen der menschlichen Natur gemeinsam entfalten sollte und
das eigentliche Humanisierongsmittel 0-er Industrie sei1 0 8 •
101 PESTALOZZI, Über Volksbildung 11nd lnduetrie (1806/07), in: Grundlagen und Grund-
fragen der Erziehung, hg. v. THEODOR BALLAUFF, Bd. 1(Heidelberg1964), 13.
109 FRIEDRICH bmilroEL NIETHAMMER, Der Streit des Philanthropinismus und Humanis-
mus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit (Jena 1808), 76.
110 Ebd., 77.
der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung
durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus (Darmstadt 1956), 324. 352.
34-90385/1 529
Bildung IV. 4. Bilclung und Staat in Preußen
ScHLEIERMACHER betonte den Wert der höchsten Bildung113 für den S.taat, und
HUMBOLDT forderte vom Staat, dem er das Recht des Eingriffs in eigener Sache ab-
sprach, die Überzeugung, daß die Universitäten, wenn sie ihren Zweck erreichten,
auch die Zwecke des Staates, und zwar von einem viel höheren Gesichtspunkte ausl14,
erfüllten. Ihr Zweck bestehe darin, der Ort zu sein, wo der Mensch die Einsicht in
die reine Wissenschaft gewinne, 'die er allerdings nur durch sich und in sich selbst
finden kann. N otwendi,g dazu sei Freiheit und hülfereich Einsamkeit, und dement-
sprechend müßten die Universitäten organisiert sein. Der höchste Grundsatz der
Schulbehörde sei es, die tiefste und reinste Ansicht der Wissenschaft an sich hervor-
zubringen, indem man die ganze Nation möglichst, mit Beibehaltung aller individuellen
Verschiedenheiten, auf den Weg bringt, der, weiter verfol,gt, zu ihr führt, und zu dem
Punkte, wo sie und ihre Resultate nach Verschiedenheit der Talente und Lagen, ver-
schieden geahndet, begriffen, angeschaut, und geübt werden können, und also den
einzelnen durcli die Bege·isterung, die durch reine Gesamtstimmung geweckt wird, zu
Hilfe kommt116•
Als 1810 in Preußen (u. a.) alle Anstalten, welche Einfiuß auf die all,gerrieine Bildung
habenll&, der neu geschaffenen Abteilung für den Kultus und öffentlichen U nt11rricht
im Ministerium des Innern unterstellt wurden, war die staatspolitische Konsequenz
des neuen Bildungsbegriffs sichtbar gezogen worden. In den Statuten der neuen
Berliner Universität wurde als ihr Zweck angegeben, die all,gemeine und besondere
wissenschaftliche Bildung gehörig vorbereiteter Jünglinge . . . fortzusetzen und sie zum
Eintritt in die verschiedenen Zweige des höheren Staats- und Kirchendienstes tüchtig
zu machenll 7. Hinter dieser spröden Formulierung verbirgt sich die Sanktionierung
der Gymnasialausbildung 118 mit ihrem Ziel der „allgemeinen" Bildung als Be-
dingung für das Studium und das Eingehen des Staates auf die Idee der freien
wissenschaftlichen Bildung als Voraussetzung für den Eintritt in den höheren
Dienst. Im Hinblick auf diesen Vo;rgang hat HEGEL 1818 von Preußen sagen kön-
nen: Hier ist die Bildung und die Blüte der Wissenschaften eines der wesentlichen
Momente selbst im Staatsleben. Und er fügte dem idealistisch-humanistischen
Bildungsbegriff gemäß hinzu : Auf hiesi,ger Universität, der Universität des Mittel-
des Schulwesens im Preußischen Staate, abgedr. in: Quellen zur deutschen Schulgeschichte
seit 1800, hg. v. GERHARDT G1ESE (Göttingen 1961), 93. ·
530
IV. s: Die „Gebildeten" in Gesellschaft und Staat Bildung
punkts, muß auch der Mittelpunkt aller Geistesbildung und aller Wissenschaft und
Wahrheit, die Philosophie ihre Stelle und vorzügliche P'fkge finden 119• Daß Preußen,
ungeachtet aller Grenzen und Mißerfolge der Praxis, der Staat der Bildung sei, war
ein Bestandteil des politischen und sozialen Selbstbewußtseins der hohen Beamten
vor allem der ersten Jahrhunderthälfte, wie umgekehrt das .Ansehen der hohen
preußischen Bürokratie dieser Zeit nicht zuletzt auf ihrem hohen Bildungsniveau,
genauer ihrer wissenschaftlichen Ausbildung beruhte.
Im Zeichen der Restauration folgte der Gegenschlag. Daß der Staat ein aUge-
meines, in unserm dermaligen Zustande notwendiges Bildungsmittel der Menschheit
sei (J. HlLLEBRAND) 126, mochte grundsätzlich auch von konservativer Seite aner-
kannt werden; gegenüber den Plänen allgemeiner öffentlicher Erziehung, den Vor-·
stellungen von allgemeiner Menschenbildung und auch der Ausrichtung auf wissen-
schaftliche, „gelehrte" Bildung, der starken Betonung des Individualitätsprinzips
aber erhoben sich vielfältige Widerstände - nicht nur in Preußen und nicht nur
vonseiten der Regierung, sondern auch der Kirche, des Adels. Mit dem Umfang
der Diskussion über Bildung mehrten sich auch die kritischen Fragen, ob das, was
Bildung genannt wurde, wirklich darauf Anspruch erheben könne. E. BRANDES
sprach im Rückblick auf das späte 18. Jahrhundert von sogenannter Bildung in den
sogonannUJn gobildoUJn, oigontlich vorbildeten St4nden und meinte, daß nicht Bildung,
sondern Verbildung Fol,ge der Leserei 121 gewesen sei; er sah in rler wi1111em~nhaftlinhfm
Bildung der Offiziere einen Abweg, weil sie diesem Stande nicht angemessen sei 122 •
J. H. VON WESSENBERG verteidigte die Bildung der äußeren Klassen gegen das
Mißtrauen der höheren; oohte Bildung schärfe das Gefühl für Recht, Ordnung,
Schicklichkeit und könne auch in den reichern und angoschencrn KkuJson nur dann
herrschen, wenn das gemeine Volk daran teilhabe; lebe dieses in Ilarbarei, dann sei·
allerdings auch falsche Bildung und Afterbildung der vornehmern Stände möglich123•
1817 ist dann ein Autor des Begriffs ,Bildung' überhaupt überdrüssig geworden; er
sei so verschrol>en, daß man oft wünschen muß, keine Bildung zu haben ... Sehr nahe
liegen sich ... Bildung, Ton, - Mode!/ 12'
Wenn die „Gebildeten" der Bildung nicht nur für den einzelnen, sondern auch für
Gesellschaft und Staat größte, ja entscheidende Bedeutung zumaßen, so wurden
sie da.zu ebenso durch ihre Überzeugung von dem, was in der politisch-sozialen
119 HEGEL, Anrede an seine Zuhörer bei Eröffnung seiner Vorlesungen in Berlin, 22. 10.1818,
sw Bd. 8 (1929), 32.
120 JOSEPH HILLEBRAND, Versuch einer allgemeinen Bildungslehre (Braunschweig 1816), 341.
1111ERNST BRANDES, Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten
Decennien des vorigen Jahrhunderts (Hannover 1808), 20. 181. 216.
122 Ders., Über den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes auf die höheren Stände
531
Bildung IV. 5. Die „Gebildeten" in Gesellschaft und Staat
Entwicklung notwendig sei, wie von ihrem spezifischen sozialen Interesse geleitet.
Was sie für die wichtigste Aufgabe der Zeit, für den Inhalt der Geschichte hielten,
war dasjenige, was ihnen auch privat als das Wichtigste, als das galt, wodurch sie
sich sozial definiert sahen. Je mehr die Diskussion über Bildung sich verbreitete,
desto allgemeiner wurde die soziale, statusgebende Relevanz von Bildung bewußt,
aber auch die soziale Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten. 1803 unter-
schied J. G. HoFFMA~ zwischen dem gebildeten und dem arbeitenden Bürgerstand 125 ;
1810 stellte W. T. KRUG zwar fest: Eigentlich gibt es nur zwei Stände der menschlichen
Gesellschaft überhaupt, den der Gebildeten und den der Ungebildeten; er meinte aller-
dings mit den letzteren ursprünglich alle Kinder und ging deshalb davon aus, daß
durch Erziehung jeder von einem in den anderen Stand übertreten könne. Darum
auch seien exklusive Erziehungsanstalten für bestimmte Stände ungereimt12s.
Doch auch in den Jahrzehnten der Nationalerziehungs- und -bildungsprojekte
wurde ilie imziale E.xklutiivität der Bildung, trotz erheblicher Auflockerungen, nicht
überwunden und auf längere SicJit in bestimmter Weise noch verstärkt. Wenn
wissenschaftliche Ausbildung, im weiteren Sinrie „höhere" Bildung, zur Voraus-
setzung für Berufe, Funktionen und bürgerliche Rechte gemacht wurde (für
staatliche und kirchliche Ämter, Offizierstellen, für Wahlrecht und Wählbarkeit,
auch z.B. fur die rechtliche Gleichstellung der Juden) 121 , so war dasein.b:manzi-
pationsvorgang im Blick auf die ältere Ständegesellschaft, andererseits ein Schritt
von sozial etablierender, statusbestimmender Wirkung im Blick auf die bürgerliche
Leistungsgesellschaft. Vor allem hat das Erfordernis der Gymnasial- und Universi-
tätsausbildung für den höheren Dienst dazu beigetragen, Bildung zum Statusele-
ment zu machen. Andere Berücksichtigungen der sozialen Interessen der Gebilde-
ten kamen hinzu, so in Preußen die Institution des einjährigen freiwilligen Dienstes
für junge Leute aus den gebildeten Ständen 128 , bei denen fi-eilich eine gewisse Wohl-
habenheit vorausgesetzt wurde.
Hier zeichnete sich eine Entwicklung ab, in deren Verlauf die Begriffe 'Bildung'
und 'Gebildete' mehr und mehr zu sozialen Statusbegriffen wurden. Für die Ge-
12 5 JoH. GOTTFRIED HOFFMANN, Das Interesse des Menschen und Bürgers bei den be-
stehenden ZunftverfaBBungen (Königsberg 1803), 61.
1 28 WILHELM TRAuGOTT KRuG, Der Staat und die Schule. Oder Politik und Pädagogik in
Staaten 1814, 80 (Art. 7). - Der FRH. LUDWIG v. VINCKE äußerte sich 1808 ablehnend
zur allgemeinen Konskription und sprach dabei von dem bedeutenden Nachteil des Augen-
blicks, welchen die Verkündigung solchen Schrecknisses besonders unter den gebildetem
Ständen ( ••• ) anrichten muß; Brief an Stein, 30. 9. 1808, in: Die Reorganisation des
preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, hg. v. RUDOLF VAUPEL, Tl. 2, Bd. 1:
Das preußische Heer (Leipzig 1938), 598.
532
IV. 5. Die „Gebildeten" in Gesellschaft und Staat Bildung
129 Firn. VOM STEIN, Über die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-,
Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monar9hie, Juni 1807; Br. u. Sehr„
Bd. 2/1 (1959), 391.
130 Vgl. hierzu LUDWIG FRH. v. VmcKE, Darstellung der innem Verwaltung Großbritan~
533
Bildung V. 1. Liberalismus, Restauration, Revoliition
und die Funktion von politischen Institutionen geringer achtend als die Macht des
Wortes, der Belehrung und Aufklärung sowie der öffentlichen Meinung, noch hefti-
ger die Revolution ablehnten als den Despotismus und in der Bildung das Mittel
sahen, diesen zu überwinden und jene unnötig zu machen. Für viele von ihnen trat
auch die Schaffung einer Verfassung hinter der größeren Aufgabe der Volksbildung
zurück. Al'le Verfassungen . . . sind nicht,s als papierene Laternen ohne Licht, wenn
sie nicht in der zu ihnen passenden Volksbildung die. Gewähr ihrer Fortdauer tragen.
Die beste ist die schlechteste für ein schlechtes Volk, und aueh eine höchst unvoll-
kommene wird besser, wenn das Volk reifer ist133, hieß es 1816 bei J. CHR. VON
ARETIN; und WESSENBERG war überzeugt, daß die Gesetzgebung nirgendwo
einfacher, das Regieren leichter sei als bei einem Volk, das eine Bildung hätte, die
mit der Aufklärung des Verstandes die Einfalt der Sitten durch echte Religiosität
verbände 134•
Wenn KANT 1795 meinte, daß eine gute Staatsverfassung nicht vom Inneren der
Moralität, sondern umgekehrt die gute moralische Bildung eines Volkes 136 allererst
von einer guten Staatsverfassung zu erwarten sei, so nahmen die Männer der ideali-
stisch-neuhumanistischen Bildungsbewegung in der Mehrzahl an, daß politische Bil-
dung der Nation die Voraussetzung für Neugestaltung von Gesellschaft und Staat,
für die Verfassungsentwicklung sei ---- eine Bildung, deren Ermöglichiing oder
Durchführung allerdings auch sie dem Staate übertrugen, wenngleich sie die Vollen-
dung der individuellen Entwicklung in der gelehrten Bildung im wesentlichen als
ein Werk der Selbstbildung in der Begegnung mit Wissenschaft verstanden.
V.
1. Umfassende Bcgrift'sbildung in Liberalismus, Restauration und Revolution
a) Hegel. Die folgende Phase in der Geschichte des Bildungsbegriffs bis zur Mitte
des 19. Jahrhunderts ist bestimmt durch politischen Liberalismus, der in unter-
schiedlicher Akzentuierung die politische Normalhaltung großer Teile der Gebil-
deten bestimmte, durch staatliche Reaktion, aufgestaute Verfassungsbewegung,
weitere Institutionalisierung des Bildungs- und Berechtigungswesens, damit auch
des Besitzstanddenkens der Gebildeten, verstärkte Distanzierung der besitzenden
und gebildeten von den anderen bürgerlichen Schichten und das Sterilwerden der
idcalistisch-neuhumanistischen Bildungsidee. Gleichzeitig entfalteten sich jedoch
die sogenannten Geisteswissenschaften, die sich nicht nur im spezifischen Sinne als
Bildungswissenschaften verstanden, sondern auch Bildung als individuellen und
menschheitlichen geschichtlichen Prozeß zum Gegenstand hatten.
Umfassend hat HEGEL in seiner „Philosophischen Propädeutik" (1809/11) diese
Bildungsidee dargelegt. Als Geistes- und Vernunftwesen sei der Mensch nicht von
Natur, was er sein sollte; es bedürfe der Bildung, um ihn dazu zu machen. Seine
Pflicht gegen sich ist ... teils seine physische Erhaltung; teils sein Einzelwesen zu
133 Aussichten vuu dar Zeit in die Zukunft. In Briefen über einige allgemein wichtige Ge-
genstände, Allemannia 7 (1816), H. 2, 118.
la& WESSENBERG, Elementarbildung des Volks, 20 (s. Anm. 123).
185 KANT, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), AA Bd. 8 (1912), 366.
534
a) Hegel Bildung
seiner allgemeinen Natur zu erheben, sich zu biklen138. Er muß sich fähig machen,
von aich selber ab- und auf ein Allgemeines hinzusehen und sich von ihm her in
seiner Besonderheit zu begreifen. Das gilt· sowohl für die 'f>'aktische Biklung, zu
der es gehört, daß der Mensch bei der Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse und
Triebe ... Besonnenheit und Mäßigung beweise und fähig sei~ sie höheren Pflichten
aufzuopfern, als auch für die theoretische Biklung, die au{JM der Mannigfaltigkeit und
Bestimmtheit der Kenntnisse und der Allgemeinheit der Gesichtspunkte, aus denen die
Dinge zu beurteikn sind, den Sinn für die Objekte in ihrer freien Selbständigkeit, ohne
ein subjektives Interesse umschloß. Während der ungebildete Mensch in der unmittel-
baren .Anschauung, im subjektiven Sehen und .Auffassen stehenbleibe137, die Sache
selber nicht erkenne, gar nicht oder vorschnell, von einem einseitigen Gesichtspunkt
her urteile, kenne der gebildete Mensch ... die Grenze seiner Urteilsfähigkeit; er
suche in den Gegenständen, mit denen er sich beschäftige, nicht sein besonderes
Subjekt, sondern ohne eigenes Interesse die GegenRtände alR RiP. RP.lber in ihrer
freien Eigentümlichkeit. Ein derartiges, bildendes, uneigennütziges, nur auf die
Sache gerichtetes Interesse entfalte sich im Studium der Wissenschaften. Im
„Zweiten Entwurf" (1830) der „Vernunft in der Geschichte" hat Hegel diesen
Begriff der Bildung noch einmal erläutert und in seiner historischen Relevanz
gezeigt: Wo.o dor Monooh ooin ooll, könno or nur duroh Biklung, duroh Zuoht, duroh
sich selber werden; er muß sich alles erst selbst erwerben, eben weil er Geist ist; er
muß das Natürliche abschütteln. Der Geist ist also sein eigenes ResuZtat188. Von hier
ergibt sich auch die Bestimmung der Bildung im Hinblick auf den Staat; den Hegel
als die organische Gestalt des geistigen Individuums „ Volk" verstand. Das All-
gemeine, das im Staate sich hervortut und gewußt wird, die Form, unter die alles, was
ist, gebr(U)ht wird, ist dasjenige Oberhaupt, was die Biklung einer Nation ausmacht.
Der bestimmte 1nhalt aber, der die8e Form der Allgemeinheit erhält und in der konkreten
Wirklichkeit enthalten ist, die der Staat bildet, ist der Geist des Volkes selbst189• Von
niemandem anders ist die Zusammengehörigkeit von 'Bildung' und 'Geist' und ihre
inhaltliche geschichtliche Bedingtheit klarer definiert worden als von Hegel, der
auch überzeugt war, daß die Philosophie die Bedingung ihrer Existenz in der Bil-
dung140 habe. Für Hegel entfaltete sich Bildung im Prozeß des Von-sich-Absehens
und des Aneignens, das zugleich ein Zu-sich-selber-Kommen des Menschen ist. Das
traf vor allem dann zu, wenn der Gegenstand der Beschäftigung selber Bildung oder
Produkt der Bildung, Kultur war - wie im Bereich der „Geisteswissenschaften",
die es nach Thematik und Material mit Bildung zu tun hatten und naoh idealistisch-
humanistischer Tradition bis in die Gegenwart für ihre Weise des Erkennens
Bildung voraussetzen, nämlich das Vorhandensein eines nur aus Bildung hervor-
gehenden gebildeten Bewußtseins, eines a'USgebildeten „Verstehens" (Dilthey)
oder - wie H.-G. Gadamer es neuerdings formuliert hat: eines „allgemeinen und
gemeinschaftlichen Sinnes"141.
138 HEGEL, Philosophische Propädeutik, SW Bd. 3 (1927), 82.
137 Ebd., 83 f.
1 3 s Pers., Die Vernunft in der Geschichte (1830), hg. v. Johannes Hoffmeister, 5. Aufl..
(HambW"g 1955), 58.
1 3 e Ebd., 114 f'.
HO Ebd., 172.
U1 GADAMER, Wahrheit und Methode, 14. (s. Anm. 47).
535
Bildung V. 2. Lexika des Vormärz
Als Humboldt hier noch einmal die Bildungsidee des Neuhumanismus, seinen
Bildungsglauben formulierte und fast gleichzeitig Hegel seinen strengeren, inten-
tionell aber ebenso umfassenden Bildungsbegriff darlegte, war das Gerede über
Bildung offenbar bereits so allgemein und diffus geworden, daß ein Lexikon 1825
142W. v. HUMBOLDT, Über die Verschiedenheiten des urnnschlichen Sprachbaus, AA Bd. 7/1
(1907), 14. 27 f. 30.
536
a) Rotteek / '\Veleker Bildung
feststellen konnte: obgleich von nichts häufiger als von Bildung die Rede sei, so
möchte dennoch vielleicht nichts schwerer zu bestimmen sein, als eben sie; denn jeder
bemesse sie nach seinem beschränkten Urteil und Interesse, jeder möchte sie für
sich beanspruchen. Worum es dem Verfasser des Artikels dann am meisten zu tun
war - und nicht nur ihm-, war die Definition dessen, was allgemeine menschliche
Bildung sei und sein könne, wie sie im Hinblick auf nationale und soziale Unter-
schiede zu verstehen sei und welchen Anteil das Christentum an der Schaffung der
Möglichkeit allgemeiner menschlicher Bildung habe. Er nannte dieses aber nicht
allein, sondern sprach auch vom Welthandel und seinen Folgen sowie vom Buch-
druck, durch die alle die Einzelbil<lung der Völker aufgehoben seiH 3 • Andere Lexika
beschränkten sich auf die Deskription des Sprachgebrauchs, versuchten ihn zu
systematisieren und - vielleicht - zu kritisieren. W. T. KRuG setzte (1827)
'Bildung' im engeren Sinne mit Ku,lt?tr gleich, sah sie individuell nur bei gleich-
mäßiger Bildung des Verstandes, des Herzens und des Geschmaoks gegeben, andern-
falls müsse man von Verbil<lung sprechen, wie sie sich bei fast allen Gebildeten finde;
Aufgabe der Bil<lungsanstalten wie des Menschen als sein eigner Bil<lner sei es,
ebenmäßi<;e Bil<lung anzustreben, die sich auf verschiedenen Bil<lungsstufen und in
verschiedenen Bil<lungskreisen vollziehe und erst im Jenseits vollende1" . HEINSIUS
(1828) legte dar, wie eich die re·in m,ensclil·iclw Bild·ung nach den Gegem1Lii111le11 uer
Erkeµntnis, den Ständen und Gewerben der bürgerlichen Gesellschaft in zahlreiche
Bil<lungszweige aufspalte1"5. MEYERS „Conversations-Lexikon" (1845) nannte
'Bildung' sowohl den Zustand des Herangebildetwerdens, als den des vollendeten
Herangebil<letseins und hob die sittliche Bildung als höchsten Grad der Bildung
über die intellektuale und ästhetische hinaus146• Die „Allgemeine Realencyclopädie
oder Conversationslexikon für das Katholische Deutschland" (1846) betonte die
grenzenlose Bildungsfähigkeit des menschlichen Geistes; sie kannte einen quanti-
tativen Bildungsbegriff ('Bildung' als Totalität des Wissens überhaupt, oder das
Wissen in einer einzelnen Disziplin) und bemerkte zeitkritisch: In unseren Tagen,
wo man sich mit einer gewissen Art von Bil<lung brüstet und sie so gerne zur Schau
trägt, ist diese oft nichts anderes, als unreife Aufklärerei, eine gewisse äußere Politur,
e·in fashionabler Geisteszuschnitt und eine oft unerträgliche, mit einigen Bil<lungs-
phrasen schlecht genug verdeckte Hohlheit 147.
537
Bildung V. 3. Der Begriff' im polldscben Meinungskampf
heit besser148 • Hier tönte der alte Vorwurf der Aufklärungs- und Revolutions-
gefahr fort, daß „falsche" Bildung Unruhe schaffe. Etwas differenzierter, aber in
gleicher Richtung warnend, schrieb der liberale F. VON RAUMER 1836: Der ver-
dammungswürdige J akobinismus und Radikalismus erwächst aus Unwissenheit oder
falscher Überbildung,· echte Erziehung des Geistes und Herzens ist das beste, groß-
artigste, zuktzt alkin wirksame Mittel gegen diese zerstörenden Übel 149• Positiv muß
jedoch gesagt werden, daß sich für die Liberalen Bildung, Freiheit und Rechts-
staatlichkeit so vollkommen miteinander verbanden, daß ihnen 'Bildung' als
Grundlage des freiheitlichen Staates galt und Freiheit als Mutter und zugkich ...
Tochter menschlicher Bildung 150• Die Liberalen waren sich bewußt, daß die Ver-
wirklichung ihrer Forderungen nach Glaubens-, Rede- und Preßfreiheit, nach
Verfassung, Menschenrechten, Volksrepräsentation und Geschworenengericht ein
hohes Maß von Bildung, auch pnl?:#.~cher Rildwng151 , im Volke voraussetzten, vor
allem aber das Vorhandensein und die einflußreiche Position einer breiten Schicht
von Gebildeten, die einerseits in den Behörden saßen, andererseits den Ton in der
Gesellschaft angaben und das Verbindungsglied zwischen Regierung und Volk
darstellten.
Wie schon die Aufklärer dem Staat weiteste Befugnisse zugestanden, sofern er im
Sinne ihrer Vorstellungen reformerisch tätig war, so neigte auch ein Teil der
Liberalen dazu, die Kompetenzen des Staates im Bildungswesen weit auszulegen,
sofern sie in ihrem Sinne angewandt wurden. Denn allein vom Staate konnten sie
die Durchsetzung einer progressiven Volksbildung gegenüber Kirche, desinteres-
sierten Eltern und Interessenten an der Unmündigkeit des Volkes erhoffen. Im
einflußreichen „Staats-Lexikon", dem seine Herausgeber zur Aufgabe gesetzt
hatten, nicht nur den (}elehrten, sondern allen Gebildeten im Volk, alkn die poli-
tische Miindigkeit Erstrebenden in allen Bürgerklassen eine willkommene Gabe zu
büiten152 , nannte CARL VON RoTTECK es seine Hauptfrage, wieweit die Staatsgewalt
das Recht oder die Schuldigkeit habe, sich um die Bildung des Volkes . . . zu beküm-
mern, demnach befördernd oder bestimmend darauf einzuwirken. Er bejahte das
Recht, weil es im Staatszweck enthalten war und weil ohne die Sorge für die Volks-
bildung keine Gewährleistung des Rechts erreichbar wäre. Im eigentlichen Rechts-
staat komme das hohe Interesse der Bildung einer aufgeklärten öffentlichen Meinung,
d. h. der Erziehung der Bürger zur politischen Mündigkeit hinzu, ohne die eine
Beschränkung der Despotie nicht möglich sei; endlich bedarf der Staat ... für seinen
eigenen Dienst, sodann für die 1nteressen der Nationalökonomie . . . Kunst und
Wissenschaft einer entsprechenden Anzahl von höher Gebildeten. Dem stehe gegenüber,
daß wenigstens die höhere Bildung keineswegs durch Befehl oder Zwang hervorgebracht
werden, sondern nur die Frucht der selbsteigenen freien Entwicklung sein kann; und
dann, daß solche Freiheit der Selbstbildung, wie überhaupt die persönliche Freiheit,
538
a) RotteekfWelcker Bildung
wovon sie einen hoch wichtigen Teil ausmacht, ganz eigens dem Schutz des Staates
anempfoh'len, d. h. für jeden einzelnen zum Hauptzweck des Eintritts in den bürger-
lichen Verein gehä'l'ig, mithin einem bloß sekundli,ren Zweck oder gar nur einem bloßen
Mittel niemals aufzuopfern ist153• Es sei, so folgerte Rotteck, Recht (und die Pff,icht)
des Staates, durch niedere Schulen für ... E'lementar-Unterricht, durch Einrichtung
oder Förderung einer Kirchenanstalt für religiöse Bildung ... als die für al'le Men-
schen wohltätigste und für weitaus die meisten ganz unentbehrliche G'!'undlage und
Gewährleistung der Sittlichkeit, durch ·bürgerliche oder technische . . . ge'lehrte Schu'len
für die höheren und besonderen Unterrichtszweige, durch andere, mit dem persön-
lichen Freiheitsrecht al'ler einzelnen und mit dem vernünftigen Gesamtwil'len verein-
barliche Maßnahmen für die Förderung intel'lektuel'ler, moralischer und technischer
Bildung zu sorgen154• Daß jede Regierung das mächtige Mittel der Volkserziehung
benutzen werde, ihren Bestand zu sichern, sei nur natürlich und auch nicht zu
lnißbilligen, wenn alles Bestehende der Erhaltung wert wäre. Man könne auch den
Regierungen das Werk der Erziehung getrost überlassen, wenn sie weise oder
irrtumsfrei und tugendhaft seien. Da dies jedoch nicht zutreffe, dürfe die Volks-
d. h. dem Prinzip nach die Menschheits-Erziehung .. . nicht einigen wenigen Gewaltigen
anvertraut werden. Wo immer Zwangs-Erziehung oder diktierte Bildungs-Richtung
vorkomme, da werde UnrtJCht ... int lnttJrtJ1Jse ... ei1wr Klas8fJ, Kaato oder Familio
verübt. Diese Gefahr - damit stellte Rotteck die Verbindung von Bildungswesen
und Verfassung her - sei am geringsten in der Republik, denn in ihr, also auch in
der konstitutionel'len Monarchie, wenn sie eine Wahrheit ist, liebe man die Befä'l'derung
freier Regsamkeit al'ler Kräfte und deshalb die vom Staat wohl begünstigte, ... nicht
mehr ak durchaus nötig kontrollierte, Selbstbildung al'ler Bürger166•
Im Blick auf Belgien hielt Rotteck eine Regierung, die gemäß einer rechtskräftig
hf.11t11henikn 111nil der zu.,timmung der intelligenten Mehrheit des Volkes sich erfreuenden
Konstitution walte, für· verpflichtet, im Interesse der Freiheit zu verhindern, daß
Parteien, die der Verfassung feindlich gegenüberstünden, die Jugenderziehung in
den Händen hielten. Darum müsse die öffentliche Schu'le . . . unter Leitung und
Aufsicht des Staates stehen und die private Schule vom Staate genehmigt werden;
frei dagegen von Staatseinwirkung müßten häusliche Erziehung, der Unterricht in
höheren Wissenschaften und, als Voraussetzung für alle den Regierungen (aber auch
den Volksrepräsentationen) eingeräumten Rechte,. jede Gedankenkommunikation
mittelst Rede, Schrift und Druck sein. Einer echt konstitutionel'len, überhaupt die
liberale Richtung verfo7,genden Staatsgewalt wollte Rotteck auch das Recht geben, die
öffentlichen Lehrer . . . zu· ernennen, . . . überhaupt das ganze Geschäft der Volks-
bildung zu leiten und zu regeln, ... denn ihr eigenes 1nteresse hält sie auf der gerechten
und guten Bahn fest 1611• Auch eine gewisse Überwachung der Privaterziehung
gestand er ihr zu, nämlich insoweit das wahre Staatsinteresse solches fordert und das
selbständige Recht des Bürgers es erlaubt. Wenn Rotteck auf der einen Seite einer
benevolenten und liberalen Regierung weitgehende Rechte der Initiative und der
Aufsicht zusprach, auf der anderen Seite denjenigen Bereich bestimmte, auf den
539
Bildung V. 3. Der Begrift' im politischen Meinungskampf
sie sich nicht erstrecken sollte, so tat er das aufder Grundlage der Rechtsstaatsidee,
die der Staatsgewalt Rechts-Bewahrung und in zweiter Linie gewissermaßen ober-
vormundschaftliche Sorge zur Aufgabe macht, ihr jedoch klare Schranken setzt, die
etwa die Forderung nach einer bestimmten politischen Gesinnung der Lehrer oder
die Ausschließung ganzer Klassen oder Gruppen von den Lehrerstellen verbieten157 •
b) Robert von Mohl. Die Sorge des Staates für die geistige Persönlichkeit der Bür-
ger als ein Teil der „Polizei" war für R. VON MoHL (1832) noch selbstverständlicher
als für Rotteck. Auch er forderte möglichst ebenmäßig Bildung jedes einzelnen nach
'dem Maße seiner Anlagen; auch er war überzeugt, daß durch Zwang keine wahre
Bildung erzielt werden könne; wohl aber seien Anstalten nötig, welche zwar ohne
Zwang, allein durch Darbietung geordneter Hilfe die gewünschte Bildung methodisch
herbeiführen158• Ein Rechtsstaat, der die Aufgabe nicht erfülle, jede Art von Geistes-
bildung zu fördern, soweit seine Kräfte es irgend zulassen, bleibt hinter seiner PP,icht
in einem der wichtigsten und für ihn selbst nützlichsten Punkte zurück 1 5 9• Gleichwohl
lehnte Mohl alle Forderungen und Praktiken einer gleichförmigen Erziehung für
alle ab, weil der Mensch nicht ein Mittel für die Staatszwecke, sondern der l;'taat
em Mittel für die iwecke des Bürgers sei. Dieser habe das Recht, sich in jeder ihm
beliebigen Richtung auszubilden. Ein Volk, in dem dies möglich sei, werde sich auf
die Dauer einem anderen, in dem National-Einförmigkeit herrsche, als überlegen
erweisen1 &0 , Sowohl Rotteck als auch Mohl formulierten nicht bloß programmati-
sche Forderungen; sie verstanden Volksbildung konkret als Zuständigkeitsbereich
der sta!ttlichen Verwaltung und versuchten, ihn näher zu definieren, wobei sie sich
ebenso gegen den Nationalerziehungsplan Fichtes wandten wie gegen absolutistische
Regierungspraxis. So auch F. CH. DAHLMANN in seiner „Politik" (1835): mit viel
Reserve gegenüber dem Bildungsoptimismus vieler seiner Zeit- und Gesinnungs-
genossen und mit der Überzeugung, daß das Maß ,der Schulbildung der unteren
Klassen weniger von Anlage und Bildungsverlangen als vom Bildungsvermögen,
das will sagen, von den Auskommen der zu Bildenden abhänge. Für den erwachsenen
Staatsbürger gebe es keine Erziehung mehr; seine Zucht erfolge allein durch das
Staatsgesetz. Fortbildung könne ihm der Staat nicht durch Anstalten; sondern durch
die in seinem Innern he"schende Gerechtigkeit bereiten, die es nicht scheut, das
Staatsinnere vor dem Staatsbürger zur kh"eichsten Betrachtung aufzuschließen161 •
c) Lorenz von Stein. Ausführlich und systematisch handelte dann L. VON STEIN in
seiner „Verwaltungslehre" (1868) über die Verwaltung und das geistige Leben. Hier
definierte er den Begriff 'Bildungswesen', wie er bis heute administrativ gängig ist:
Die Gesamtheit der Grundsätze, Gesetze, Tätigkeiten und Anstalten, vermiige deren
die Innere Verwaltung die, dem einzelnen unerreichbaren Bedingungen seiner indi-
viduellen geistigen Entwicklung und damit des geistigen Lebens der Völker herstellt,
Zustände zurückgeführt (1835), hg. v. Otto Westphal (Berlin 1924), 241. 257.
540
c) Lorenz von Stein Bildung
nennen wir das Bildungswesen. Pädagogik und Methodologie lehrten, wie die Bildung
erworben werden soll, das Verwaltungsrecht des Bildungswesens dagegen, wie die
Bildung durch die organisierte Tätigkeit der Gemeinschaft erworben wird 162 • Die
Gemeinschaft, also der Staat, könne sich der Bildung gegenüber ebensowenig gleich-
gültig verhalten wie diese sich dem Staate entziehen werde; sei sie doch ein so
machtvoller Faktor des Lebens, daß man sagen könne, die Elemente der Geschichte
und Gesittung seien vor allem in dem Bildungswesen einer Zeit und eines Volkes
gegeben. Eine Bildung eines einzelnen gebe es eigentlich gar nicht, da jeder einzelne
im geistigen Leben zugleich Resultat und Faktor der gesamten Bildung sei. Aus
dieser Natur der Bildung resultiere, daß zu allen Zeiten ein Bildungswesen bestand,
das erst durch den Hinzutritt des Staates zu einem öffentlichen wurde. Dieses war
die in aller V.erwaltung tätige Staatsidee, insofern sie in das selbsttätige Bildungswesen
des Volkes eingreift1 &3 • Entsprechend der Einteilung der Bildung in Elementar-,
Berufä- und allgemeine Bildung ergaben sich für die Verwaltung des geistigen
Lebens unterschiedliche Aufgaben: Pflicht zur Herstellung der Volksbildung, Pflicht
und Recht zur Ordnung des Gebietes der Berufsbildung, Hebung und Erweiterung
der Bildung überhaupt, Errichtung spezieller Anstalten und Kulturpolizei im
Hinblick auf die allgemeine Bildung. Die letztere wurde von Stein definiert als
die Gesamtheit derjenigen geistigen Güter, welche nicht mehr für einen bestimmten
Erwerb und Beruf dienen sollen, also systematisch als Abschluß der Bildung gesehen,
nicht als ihre allgemeine Grundlage. Allgemeine Bildung sei die Anerkennung, ja die
Forderung der geistigen Freiheit und tatsächlich die Verwirklichung derselben; sie
sei das endgültige Kriterium der wahrhaft historischen, die Weltgeschichte bewegenden
Völker, denn sie greife in die öffentlichen Rechtszustände der Völker ein. Denn
während die Berufsbildung Unterschiede zwischen einzelnen und Klassen erzeuge,
hebe die allgemeine Bildung diese in der geistigen Welt wieder auf. Dadurch sei sie
die Trägerin der Gleichheit im geistigen und damit im gesellschaftlichen Leben und den
von ihm beherrschten Rechtszuständen der Menschheit ... Sie ist undenkbar ohne das
Prinzip der gleichen Bestimmung, sie erzeugt die gleiche Befähigung und fordert daher
ein gleiches Recht aller. Sie zu ermöglichen, also für die höchste Entwicklung aller
Staatsangehörigen äußerlich Raum zu schaffen und sie zu schützen, nicht aber sie
inhaltlich zu bestimmen, sei eine der wichtigsten Aufgaben der Verwaltung 164•
Hier war, und das macht Steins Darlegungen so bemerkenswert, der idealistisch-
neuhumanistische Bildungsbegriff verbunden mit der Idee des Staates der sozialen
Verwaltung, der die Grenzen durch das Wesen der Persönlichkeit gezogen waren.
Denn die Verwaltung sollte nichts anderes leisten, als die Bedingungen herzustellen,
die der einzelne sich für seine intellektuelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche
Entwicklung nicht selber zu schaffen vermochte; sie durfte auch nicht vorschreiben,
wie der einzelne sich der Bedingungen bedienen sollte. In der Phase des staats-
bürgerlichen Bildungswesens, diesseits von Kirchentum und Ständetum, aber auch
von humanistischer Vereinzelung, gebe es keine Bildung und kein Bildungswesen
mehr ohne den Staat, und keinen Staat ohne sein Bildungswesen und seine Bildung.
Die Bildung der einzelnen bedingte als die Bildung aller die geistige und politische
541
Bildung V. 4. Bildungsbegriff und Politik im Vormärz
Macht des Staatswesens. Bildung aber war prinzipiell, seitdem die europäischen
Völker erkannt hatten, daß sie nicht bloß eine Macht, sondern auch die Freiheit sei,
und praktisch seitdem es den Buchdruck gab, freie Selbstbildung. Während in der
ständischen Welt die Bildung der Stände die bildende Arbeit innerhalb derselben
erzeugt und ordnet, wird in der staatsbürgerlichen Gesellschaft das Bildungs'l.1lesen von
der Entwicklung der Selbstbildung beherrscht. Das Bildungswesen tritt in den Dienst
der aUgemeinen menschlichen Bildung. Der Staat mußte der Selbstbildung ein System
von Bildungsanstalten anbieten; er mußte aber 11-uch in diesem die Einheit erhalten
durch Schulordnung und Lehrplan. Im. UnterrichtSwesen erkenne man das Ver-
hältnis eines Staates zum Prinzip der freien und zugl,eich einheitlichen Selbstbildung
des Volkes in einem Staat 165• Es liegt auf der Hand, daß Stein vom neuhumani-
stischen Bildungsbegriff abging und zwar in dem Maße, wie bei ihm unter dem
Eindruck der sozialen Problematik des 19. Jahrhunderts der Rechtsstaat zum
Sozial- und Verwaltungsstaat geworden war.
zit. JOSEPH HANSEN, Gustav von Mevissen. Ein rheinisches Lebensbild 1815---1899, Bd. 2
(Berlin 1906), 108. - Vgl. auch WILHELM LÜDEBS, Art. Preußen, ROTTECK/WELCKER
Bd. 13 (1842), 126 f.
18 8 Vgl. die einschlägigen Artikel bei RoTTECK/WELCKER.
542
Dilduug
In solcher Argumentation sprach sich nicht nur der Glaube der Gebildeten an die
zugleich progressive und ordnungserhaltende, freiheitliche und Freiheit sichernde
Macht der Bildung aus, sondern auch die kritische Forderung an die eigene Gegen-
wart, sei es, daß auf Grund des Bildungsstandes der besitzenden und gebildeten
Schichten der Fortgang der verfassungspolitischen Entwicklung als zwingend an-
gesehen, sei es, daß um dieser Entwicklung willen breitere Bildung und verstärkte
„politische" Bildung verlangt wurden. Der letztere Begriff wurde in den dreißiger
und vierziger Jahren zunehmend gebraucht und ersetzte nicht so sehr den der
„Bildung zum Bürger", als daß er ihn in sich aufnahm. F. BüLAu bezeugt (1832),
daß das Bedürfnis einer gdie,genen politischen Bildung immer fühlbarer werde 169•
1839 definierte dann das „Staats-Lexikon": der Begriff der politischen Bildung
fasse eine in tausend Farben erscheinende bunte Mannigfaltigkeit in eines zusammen
und sei gleichbedeutend mit den jeweiligen politischen Ideen eines Volkes. Demnach
entsprächen die politischen Zustände der jeweiligen politischen Bildung110. 1847
meinte dann BüLow-CuMMEROW, der rheinische Provinziallandtag habe den Be-
weis für die schnelle politische Bildungsfähigkeit der Deutschen geliefert171 - was
w1migP. .TahrP. Rpii.tP.r von viP.]P.n, die ähnlich gedacht hatten, bezweifelt wurde.
b) Die 1oziale Relevanz de1 Bildungshegrilfs. Die soziale Geltung des Bildungs-
begriffs trat in diesen Jahrzehnten besonders deutlich hervor in der engen Ver~
koppelung mit dem Besitzbegriff wie auch in der Diskussion um das Verhältnis von
Bildung, Freiheit und Gleichheit. Die erstere vollzog sich vor dem Hintergrund
einer bezeichnenden Vorstellungsverschiebung; Bildung wurde zum Besitz: man
erwarb und hatte Bildung und genoß deshalb Rechte und Prestige. Bildung war, so
gesehen, ein Besit111tand, den zu verteidigen das Interesse der Gebildeten wo.r, dio
ihrerseits· mehr und mehr, durch Tätigkeit, soziales Ansehen und materielle Sicher-
heit, zu den etablierten und herrschenden Schichten gezählt wurden und sich selber
dazu zählten. Es wurde (abgesehen von Randgruppen wie Hauslehrern, Schrift-
stellern etc.) fast selbstverständlich anzunehmen, daß ein Gebildeter nicht arm
sei, sondern aus mehr oder weniger gesicherten Verhältnissen komme, in ihnen lebe
oder sie erwarten dürfe. Das Zusammentreffen von Mittellosigkeit und Bildung (die
jetzt durchweg als akademische Bildung verstanden wurde) erschien vielen als
ungesund, den Konservativen als gefährlich. Die schon im späten 18. Jahrhundert
anzutreffende, staatswirtschaftlich begründete Sorge vor einer zu großen Zahl von
Studierten ohne produktive Verwendung erschien nun als Teil der allgemeinen
Sorge vor dem wachsenden Pauperismus, aber auch vor dem politischen Radikalis-
mus des gebildeten Proletariats 172 : ein Schlagwort, das (auch: 'akademisches
Proletariat') als Formel pessimistischer Gesellschaftsanalyse oder politisch-
sozialer Polemik bis in die Gegenwart in Gebrauch geblieben ist.
Zwei Auffassungen, die sich beide auf Erfahrungen berufen konnten, !!lind zu
m Büu.u (1832), V.
170 SCllULZ-BODMEB, Art. Politische Ideen und Ideologie, RoTTECK/WELCKER Bd. 8
(1839), 287.
1 11 ERNST GoTTFRIED GEORG v. BÜLow-CUMMEBOW, Preußen im Januar 1847 und das
543
Billlung V. 4. Billlungshegritl unll Politik im Vormärz
unterscheiden: die eine betonte vor allem die sozial ausgleichende, die andere die
sozial differenzierende Wirkung von Bildung. HEGEL wies auf die allgemeine
Beobachtung hin, daß der gebildete Mensch ganz andere Forderungen erhebe als der
ungebiUete Mensch desselben Volkes. Bildung scheine' zunächst rein formell, also
allgemein zu sein, lYringt aber auch eine inhaltliche Differenz hervor173 • Ausgehend
von den staatswirtscha/tlichen Verhältnissen, aus welchen er die Verschiedenheit der
BiUung und des Besitzstandes unter den Staatsangehörigen hervorgehen sieht,
erklärte J. G. HOFFMANN 1844 die gewöhnliche Unterscheidung zwischen GebiUeten
und Ungebildeten für unzulänglich und untergliederte sie jeweils nach dem Besitz-
kriterium in die ungebildeten Eigentumslosen (Proletarier) und die ungebildeten
Eigentümer (Bauern, Handwerker, Kleinhändler) einerseits, die nicht arbeitenden
Gebildeten (Rentner, Herren) und die arbeitenden Gebildeten (Gelehrte, Künstler,
größere Landwirte, größere Unternehmer und Händler, höhere Beamte, aber auch
große Teile des Adel!!) andererseits 174• Die letztgenannte Klasse, der gebildete
Mittelstand, fügte Hoffmann hinzu, gelte in der öffentlichen Meinung als der
eigentliche Träger des geistigen und sittlichen, das ist des kostbarsten Eigentums der
Nationen; doch warnte er vor der Abstraktheit der Arbeit <lit1RP.r Gruppe, vor
Schwärmerei, Empörung gegen Recht und Pflicht, Selbsttäuschung und Ver-
irrungen des Geistes, die epidemisch wirken könnten, wenn sie der Scharen sich
bemächtigen, welche verlockt durch Eitelkeit und Arbeitsscheu, gleich entb"lößt von
innmim Re.mf 1t.nd äußeren Mitteln sich der ... Klasse der Gebildetfm anschließen.
Auch diese Warnung vor Wirklichkeitsfremdheit, Anarchismus, Dünkel der
Intellektuellen und vor dem Troß der Unberufenen, die sich um des höheren
Ansehens der geistigen gegenüber der Handarbeit in den Kreis der Gebildeten
drängten175, blieb eine Argumentation, die einem sich abflachenden Bildungsbegriff
mit der Tendenz zu sozialer Exklusivität entsprach.
Eine andere, ebenfalls durch Bildung gegebene Gliederung der Staatsgesellschaft in-
nerhalb des freien, rechtlichen Staats, der ein freier Hilfsverein und organisches
Gemeinwesen ist, schlug C. WELCKER vor: in einen Stand der Studierten (Gelehrte
und Beamte) und einen Stand der Nichtstudierten (Bürger und Bauem) 176 • 1847
stellte G. VON STRUVE fest, nur der Reiche habe in der Regel Aussicht auf wissen-
schaftliche und künstlerische AusbiUung. Demgegenüber forderte er als Demokrat,
ausgehend von einem unveräußerlichen Recht des Menschen jeden Standes auf eine
seinen Anlagen entsprechende BiUung und Erziehung, unentgeltlichen Unterricht in
allen Schulen, und ausgehend vom Recht auf freie Entwicklung eine Fülle von
einzelnen politischen Freiheitsrechten einschließlich Preß-, Gewissens-, Assoziations-,
Lehr- und Lernfreiheit1 77,
11a HEGEL, Die Vernunft in der Geschichte (s. Anm. 138), 179.
174 JoH. GOTTFRIED HOFFMANN, "Übersicht der allgemeinsten staatswirthschaftlichen
Verhältnisse, welche die Verschiedenheit der Bildung und des Besitzstandes unter den
Staa.tsa.ngehörigen erzeugt (1844), in: N11.nhl11.ß klP.iTIP.r SohriftAn staat.swirthschaftlichen
Inhalts (Berlin 1847), 170 ff.
171 Elnl., 200 .lf.
176 CARL WELCKER, Art. Stand; Unterschied der Stände, RorrEcKjWELCKER Bd. 15
544
e) Politilehe Kritik Bildun1
Solche und ähnliche Forderungen nach praktischer Verbreiterung der Bildung, nach
freier Entfaltungsmöglichkeit nicht nur weniger, sondern aller Staatsangehörigen,
waren nicht neu; sie hatten indes nun einen schärfer sozialpolitischen, oft einen
anklägerischen oder -warnenden Klang. Es fehlte auch die Prognose nicht: 1837
hieß es im „Staats-Lexikon" unter dem Stichwort „Demokratie", das Monopol des
Besitzes werde verschwinden wie das der Bildung. Mit der Zunahme der Bevölke-
rung, vor allem in den Städten, wachse das Bedürfnis einer allgemeinen Bildung;
neue Unterrichtsmethoden höben größere Volksklassen schneller bis auf einen
gewissen Grad von Bildung, und die gegenwärtige Literatur wirke auf den Zustand
einer gkichmiißigen Massenbildung hin. Sie sei die Hauptwirkung und das Ziel des
großen Bildungsprozesses unserer .Zeit1 7 8 • Und STRUVE meinte 1848, um die traurige
Lage des Proletariats zu ändern, komme es nur .darauf an, den übermiiß.igen Reich-
tümern und der Überbildung der bevorzugten Klassen einen Ab'fl,uß zu Gunsten der
Proletarier zu verschaffen, d. h. das gestörte Gleichmaß zwischen den Teilen des
Staatskörpers wiederherzustellen, konkret gesagt: dem Proletariat Wohlstand und
Bildung zu verschaffenl79.
c) Politische Kritik. Gegen solche Vorstellungen hat sich der Protest derjenigen,
vornehmlich konservativ-christlichen, aber auch gemäßigt und „organisch"
-Liberalen gewandt, die sie für abstrakt, unnatürlich, oberflächlich hielten. Kultur
und Bildung als Ersatzmittel der Natur, das sei, schrieb '.!!'. HoHMER 1844, die
beherrschende Idiosynkrasie der heutigen Radikalen. Der deutsche Radikalismus
fuße auf der unreifen Ansicht, daß durch g'lciche Bildungsmittel alle Stände auf Eine
Höhe gehoben und der Pöbel für immer vertilgt werden könne, weil die Deutschen am
meisten für unifassondo uiu/, wahrhafte Bildung begabt ocion und oic dcohalb leicht
überschätzten, aber auch, weil viele Schriftsteller, welche gebildet und dabei geistlos
sind, der Nation diese Theorie predigten, und schließlich, weil es in Deutschland zu
wenig politisches Leben gebe, als daß erfahren werden könnte, daß die Bildung,
womit ärmliche Geister übertüncht sind, wie Flitter in jeder Krisis hinwcgfällt, wo es
natürlichen Blick und V erstand gilt. Höher als die Idee der Bildung setzte Rohmer
die der Erziehung, die vor wenigen Jahren noch existiert habe, umfassender ge-
wesen sei und mehr von dem einzelnen verlangt habe; jetzt sei die alleinselig-
machende Kraft der „Kultur" an ihre Stelle gesetzt und Bildung bleibe Oberfläche,
auf der sich jedermann bewege. Das Ideal des Volksunterrichts bewirke nichts anderes,
als den Kern der Volkskraft in der Wurzel auszurotten. Es sei eine Folge dieses Wahns,
wenn Bildung und 11idividualität gleichgesetzt, die Menschen aus dem Beruf, den sie
nach dein Maße ihrer Natur hätten ausfüllen können, herausgerissen würden und
unter dem Ansturm der Masse der Bildung ihren gesunden Sinn verlören. Bildung
trage den jeweiligen Zeitgeist in sich, und so sei es gebildeter Ton, radikal oder liberal
zu sein. Nach Rohmers Ansicht war das seichter Liberalismus 180, dem die Radikalen
wie die Absolutisten anhingen. Echter Liberalismus hingegen wolle jeden Menschen
. zum Menschen erziehen, ohne jedoch die niedere Klasse selbst zu überbilden, denn
Ve.rhililnng iRt RnhlimmP.r 11.lR Nfr.ht.hili/,11m1Jl81.
35-90385/1 545
Bililllll8 V. 4, Bildllll8sbegriff und Politik im Vormärz
Be~eichnend ist, wie hier in der Abwehr demokratischer Gedanken auch der
idealistisch-neuhwiia.nistische Bildungsbegriff selber mit in Frage gestellt wurde,
dessen demokratisches Grundelement nun politisiert und im Zuge der sozialen
Entwicklung des 19. Jahrhundert.a unvermeidbar virulent wurde . .Ältere Warnung
vor politischen Konsequenzen sah sich nun bestätigt. Kritik an allgemeinen Volks-
bildungsplänen und an einem abstrakt bleibenden Begriff der allgemeinen Bildung
zum Menschen sollte nun der These dienen, daß politische Bildung mit Erziehung
zur Bejahung der bestehenden Ordnung gleichgesetzt wurde. Dabei wurde in den
Hintergrund gedrängt, was im deutschen Bildungsbegriff seit Herder enthalten
war: das Element der Freiheit und das Element der Gleichheit. LORENZ VON STEIN
bezog 1850 diese moralisch-politische Implikation des deutschen Bildungsbegriffs
klar auf die gesellschaftlich-staatliche 8pannung Reiner revolutionären Gegenwart:
Wo in einem Volk die niedero Klasse überhaupt nach Bildtt11u; strebt, da ist das erste
EletMnt der Bewegung der Freilieit vorhanden; wo sich dieses Streben nach Bildung
kundtut, da beginnt auf ihrer ersten Stufe der Kampf der abhängigen gesellschaftlichen
Klasse mit der herrschenden ... ; und endlich; wo von seiten des Staates oder der
Gesellschaft selber etwM für die Bildung des Volks getan wird, da kann m.an rm:t ft'.~f.r.r
Zuversickt behaupten, daß Staat und Gesellschaft, mögen sie sonst frei sein oder nickt,
am Ende dennoch die Freiheit wollen. . .. Die gegebene Bildung nun, als .Kntwickelung
der Gleichheit gei.~tigM (h'lf.P.r, ffih:rt n.ott11e.ri.di.g Z1" einem ne1"en, re1:n geistigen Prinzip
der Gesellschaft. . . . Dieses Prinzip der gleichen Bildungs/äkigkeit ist das. der Gleich-
heit der Menschen. Jede Bildung des Volkes langt daher unabänderlich bei einem
Punkte an, wo sie, auf die Bildungsfähigkeit und mit ikr auf den Begriff der Persön-
lichkeit zurüoksckeinend, die begriffliche Gleichheit der Menschen als Prinzip der
Bewegung der anderen Klassen aussprickt182 •
181 LoRENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf
Ta.g1:1, B<l. 1: D1:1r Begriff der Gesellschaft und die soziale Geschichte der Französi-
Ull.8e1"e
schen Revolution bis zum Jahre 1830 (Leipzig 1850; Ndr. Darmstadt 1959), 86 f.
188 Zit.FaoLINDE BALBER, Sozial-Demokratie 1848/49-1863, Bd. 2 (Stuttgart 1962), 530.
184 MARx, Kritik der Hegelsohen Rechtsphilos0phie (1843), MEW Bd. 1(1961),284.
546
VL 1. llilduag als Beeibi Bildung
hören (mit der sozialen Revolution gegen die Bourgeoisie) mit dem Aufhören der
Bildung überhaupt identisch sei, bedeute für die e~ Mehrzahl die H erarlhildung
zur Maschine 186• Es gab also für Marx keinen gemeinsamen, klassenübergreifenden
Bildungsbegriff. Die im Unterrichts- und Bildungswesen der feudalen oder kapi-
talistischen Staaten institutionalisierte Bildung war nach Inhalt und Zielsetzung
Klassenbildung, in der eine spezifisch bourgeoise Bildungsidee zur allgemeinen und
Menschheitsbildung stilisiert war.
VI.
In Gn:oorn „Dout.oohom Wörtorbuoh" wurdo 1860 'Bildung' oin houto sohr gang-
barer ... und für unsere Mundart bezeichnender186 Ausdruck genannt. In der Tat gibt
es bis heute nur wenige Begriffe, die zugleich so häufig gebraucht, so unterschiedlich
gemeint und in ihrer Bedeutungssteigerung so spezifisch deutsch sind wie 'Bildung'.
In diesen Begriff ist im späten 18. und fl'iihen 19. Jahrhundert viel vom deutschen
Selbstverständnis, von dem sozialen und politischen Credo der deutschen Gebildeten
eingegangen und in ihm erha:lten geblieben. Es hat sich mit ihm aber auch, wie ge-
Y.f'ligt, dif'I VnrRb1l111ng von Rild11ng alR Rt>.~itz fJP.isti.gP.r rhilR.r (T•. v. 8TFJTN) 187 verbun-
den. Sie ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschend und läßt den Unter-
schied zwischen Gebildeten und Ungebildeten in Analogie zum Unterschied zwischen
Besitzenden und Nichtbesitzenden sehen. Für die gesellschaftliche Praxis sind nicht
so sehr die Inhalte und Ziele der Bildung wichtig, als vielmehr die Zugehörigkeit
oder Nichtzugehörigkeit zu den „Gebildeten": zu den Leuten, die „höhere"
Schul- und akademische Bildung erfahren haben. Gebildet im efll}crn Sinrw, so hieß
es 1864 in einem Buche über „Die Bildung und die Gebildeten", ist nur ein Mensch,
der die, allen Menschen verständliche Art und Weise zu der seinigen gemacht, der sich
in die Formen eingelebt hat, welche Träger und Typen des generellen Geistes der
Menschheit sind . . . Die menschliche Gesellschaft muß· auf eine Norm, auf einen
idealen Typus halten, und die Formen, welche au8 der Individualität hervorgehen, als
abnorm und geschmacklos, fa als unsittlich in dem Falle erachten, wo diese Eigenart
gesetzgebend und aktiv werden will. Sich bilden heißt: die rechte Mitte halten, zwischen
der sittlichen Schablone und seiner Persönlichkeit 1 ee, und die Grenzen der Bildungs-
prozedur seien dadurch gezogen, daß sie nicht nur in einer Mehrung, sondern auch
in einer Minderung der persönlichen Freiheit und Eigenart, der Charakterwürde, der
Willens-Energie, der natürlichen Kraft und Divination189 bestehe. Von solcher
Auffassung her kritisierte dann der Verfasser die sogenannte allgemeine Bildung der
Humanisten und Philanthropen 190 , die ästhetische und wissenschaftliche Bildung
185 MABx/ENGBLS, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Bd. 4 (1959), 477.
188 GRIMM Bd. 2 (1860), 22.
187 L. v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 1, 85 (s. Anm. 182).
1 88 BoGUMIL GoETZ, Die Bildung und die Gebildeten. Eine Beleuchtung der modernen
Zustände, Bd. 1 (Berlin 1864), 104. 106.
m Ebd., 113 f.
uo Ebd., Bd. 2, 253.
547
Bildung VI. 3. Marxistische Kn"tik
usw., und forderte, daß der gebildete Mensch nicht aus der Art schlagen, nicht aus
dem gegebenen Herkunfts- und Gesellschaftskreis heraustreten solle. In solche~,
aber aucih in anderen, mehr „humanistisch" orientierten Schriften läßt sich ein
manchmii.l verkrampftes Bemühen erkennen, am idealistischen Bildungsbegriff
festzuhalten, ihn aber sozial anzupassen, d. h. praktisch ihn zu nivellieren und die
ihm immanente· soziale und politische Dynamik zu entschärfen.
2. Konservative Kritik
Es war das eine Reaktion auf die Tatsache, daß der Bildungsbegriff seit der Mitte
des 19. Jahrhunderts mehr als vorher in seiner politischen· Relevanz umstritten
war. Unter dem Eindruck der Revolution von 1848, in der die Gebildeten eine so
dominierende Rolle gespielt hatten, wurde von konservativer Seite die „wahre",
„echte", „christliche" Bildung der bloßen Verstandes-, Schein- oder Verbildung
gegenübergestellt. In WAGENERS „Staatslexikon" (1860) war 'Bildung' ein von
Gott herrührendes, den Menschen mitgegebenes Gut, das im Laufe der Geschichte
verderbt worden war. Der Selbstze'Tsetzungsprozeß der Bildung unte'T i/,p,n ... K11.ltwr-
völkern, der Abstieg von der echten, grürullicken urul abge'Turuleten Bildung zur
ve'Tweltlichten und entsittlichten Bildung, könne nur aufgehalten werden durch
Religion. Zugleich wurde auf die Riuforig.~ari.TagP.n d.e.'T we.1'.ße.n Völker hingewiesen,
insbesondere auf das bildungsk'Tä/tige ge'Tmaniscke Element, das fähig sei, die
ze'Tsetzerulen f'TemdenKultu'Telemente 191 auszustoßen. Der hier anklingende national-
exklusive Bildungsbegriff ist ·dann nach 1870, allerdings noch mehr im national-
liberalen als im konservativen Lager, vielfältig und oft nationalistisch depraviert
anzutreffen. Stolz auf das deutsche Bildungswesen wurde zu nationalem Bildungs-
stoig gegenüber Fremdon und Element politischen Überlegenheitsbewußt.seim.
181 WAGENER Bd. 4 (1860), 42. 37. 41, Art. Bildung (Culturt
1 91 BLUM Bd. 1 (1848), Vorwort.
548
VI. 4.. Kulturpeuimiamus: Nietuche, Lagarde Bildung
Im Erfurter Programm der SPD (1891) wurde die volle, von den Einkommens-
verhö.ltnisson dor ElLcrn unu.bhä.ngige Zugänglichkeit aller bestehenden Bildungs~
anstalten für alle geeigneten Schüler gefordert; in der Partei (wie später in den
Gewerkschaften) entfaltete sich ein eigenes, sehr wichtig genommenes Bildungs-
wesen (Parteipresse, -verlag, -schule, Kurse, Vortragszyklen). In den auf dem
Mannheimer Parteitag 1906 vorgelegten Leitsätzen zum Thema „Volkserziehung
und Sozialdemokratie" wurden zwar die alten Vorwürfe gegen die herrschenden
Klassen und ihre Tendenz, den unterdrückten Klassen nur das bescheidenste Maß
einer für die jeweilige Produktionsform unerläßlichen technischen Bildung einzu-
räumen, sowie gegen die Volksschule als Herrschaftsinstrument des Kapitals
wiederholt, aber auch ein positives Konzept der öffentlichen Erziehung, die eine der
wichtigsten sozialen Aufgaben sei, entworfen. Dabei wurde den Eltern, so lange der
Klassenstaat bestehe, die Aufgabe zugewiesen, planmäßig den Tendenzen des
Sohulunterriohts entgegenzuwirken und die Kinder im Geiste der sozialistischen
Weltanschauung zu erziehen, während die Eltern an ihrer theoretisch-sozialistischen
Weiterbildung wie an ihrer Charakterbildung arbeiten sollten. Zur Zusammenfassung
aller Bestrebungen wurde ein Bildungsausschuß der Partei vorgesehen und noch
1906 gegründet19 3. Auf dem Parteitag 1908 wurde nicht nur von dem Erfolg ge-
1:1pruuhen, mit dem die organisierten Arbeiter die Bildungsangelegenheiten in ihre Hand
genommen hätten, sondern auch vor zu großem BiUungseifer gewarnt. Die Bild?.1,ng11-
bewegung darf heute nicht als Selbstzweck betrachtet werden, der sie als gleichberechtigte
1nstitution neben Partei und Gewerkschaft stellt, sondern die Weiterbildung soll sich
dem großen Zweck der modernen Arbeiterbewegung unterordnen, sie soll ihr dienen 194 •
Wenn diese Warnung auch organisatorischen Kompetenzkonflikten entsprang, so
sprach sie doch eine grundsätzlich"ideologische Prioritätsvorstellung aus.
Auf der anderen Seite stand die sich zu allgemeinem Kulturpessimismus aus-
weitende Kritik an der deutschen Bildung, wie sie exemplarisch von Nietzsche und
Lagarde vorgebracht wurde und, oft un- und mißverstanden, in den wachsenden
Antiliberalismus deutscher Gebildeter Eingang fand. NIETZSCHE perhorreszierte
den auf die deutsche Kultur, wie er sie begriff, so stolzen Bildungsphilister und seine
Gebildetheit, die er für wahre Bildung halte. Bei völligem Mangel an Selbsterkenntnis
sei der Philister überzeugt, daß seine „Bildung" gerade der satte Ausdruck der rechten
deutschen Kultur sei: und da er überall Gebildete seiner Art vorfindet und alle öffent-
lichen Institutionen, Schul-, Bildungs- und Kunstanstalten gemäß seiner Gebildetheit
und nach seinen Bedürfnissen eingerichtet findet, so trägt er auch überallhin das
Biegreiche Gefühl mit sich herum, der würdige Vertreter der jetzigen deutschen Kultur
zu sein. Gegen die gleichzeitige Tendenz der Erweiterung und der Verminderung
der Bildung in Deutschland empfahl Nietzsche Verengung und Konzentration,
198 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands, Mannheim 1906 (Berlin 1906), 134 ff.
1 " 2. Jahresbericht des Bildungsausschusses 1907/08, Protokoll des Parteitages Essen
1907 (Berlin 1907), 87 f.
549
Biliaag VI. '9 Kultmpeaimismm1 Nietzsehe, Lagarde
Stärkung und Selbstgenügsamkeit der Bildung196• - Auch die viel engere Kultur-
kritik: LA.GARDES konstatierte den Verfall des deutschen Bildungswesens und gab
als Gründe Glaubenslosigk:eit, Sittenverfall, Materialismus und geistigen Sansculot-
tismus an. Demokratie und Bildung schlossen sich für ihn ebenso aus wie Demo-
kratie und Freiheit196 ; deshalb forderte er, der das Ideal der allgemeinen Bildung
ablehnte und den Schulen vorwarf, daß sie die Nation mit dem zähen Schkime der
Bildungsbarbarei187 überzögen, ein nationalistisches und elitäres Erziehungskonzept:
wirkliche Bildung für wenige solle eine Klasse schaffen, die vom Volke beamtet sei,
für dieses arbeite und einst die Selbstverwaltung übernehmen sollelH; die große
Mehrheit könne sich mit elementarer Ausbildung begnügen.
Diese Kritik Lagardes brachte -;- das machte ihren Erfolg aus - ein verbreitetes
Unbehagen zur Sprache, in dem sich die Ablehnung liberaler, egalitär-demo-
kratischer und sozialistischer Zcittondcru:cn mit gcistcso.ristokro.tisohcn Wunsch-
vorstellungen, Eliteideen, Neoidealismus und Historismus mischten. Daneben stand
die z. T. durch Standesinteressen bedingte, z. T. aus der naturwissenschaftlich-
technischen Entwicklung resultierende und in manchen Fällen durch die monistische
Weltanschauung unterbaute Verurteilung der humanistischen Allgemeinbildung
als unnütz, anachronistisch, wirklichkeitsfern. Und schließlich gab es die immer
wiederkehrende .Klage über den bloß formalen Charakter der auf höheren Schulen
vermittelten Bildung, über die Äußerlichkeit de.s Rilfhmgl'lhAt.riAhR, die AutoritJi.t.s-
gläubigkeit der angeblich Gebildeten, den Hochmut der Lehrenden, die Wertlosig-
keit vieles Gelernten189 : alles keine neuen Vorwürfe, jedoch solche, deren partielle
Berechtigung in dem Maße zunahm, wie Bildung zum Besitz, zum Statusausweis,
zum Laufbahnanspruch, zu dem wurde, an dem man teilhaben mußte, ~ etwas
zu gelten.
Wichtiger ist es,. auf die Verbindungslinien hinzuweisen, die von der Kulturkritik
Lagardes, Langbehns u. a~, von dem Aufstand gegen toten Wissensballast im
Zeichen der Jugendbewegung, vom lebensphilosophischen Vitalismus und der
Charakterisierung des „Geistes als Widersacher der Seele" (L. Klages), von den
verschiedensten Formen der „Zerstörung der Vernunft" (G. Lukacs) zur Diffa-
mierung der intellektuellen Bildung zugunsten von Gesinnung und „körperlicher
Ertüchtigung" durch den Nationalsozialismus führen. Auf diesem Wege ist der
deutsche Bildungsbegriff eben deshalb so fragwürdig geworden, weil so oft und so
lange behauptet wurde, man befinde sich noch immer in Übereinstimmung mit der
idealistisch-neuhumanistischen Bildungsidee. In Frage gestellt worden ist diese Idee
550
VD. Ausblick Bildung
VIl. Ausblick
Die zu ihrer Zeit progressive und bis heute nachwirkende Rezeption des neuhuma-
nistischen Bildungsbegriffs durch den Staat hat ihn auf lange Sicht i~ institutionali-
sierten System sozialer Geltung und politischer Macht steril werden lassen. Der
emanzipatorische Charakter von 'Bildung' verflüchtigte sich im Bewußtsein derer,
die sie „besaßen", während diejenigen, die sie als Element konkreter Freiheit
verstanden, zu Kritikern der bestehenden Verhältnisse wurden. Das hat die For-
derung nach Bildungsreform notwendig und permanent gemacht, die sich heute als
Forderung nach Anerkennung und Realisierung des „Bürgerrechts auf Bildung"
(Ralf Dahrendorf) ausdrückt. Damit ist der Bildungsbegriff, ungeachtet seiner
Versachlichung, Entleerung und Entidealisierung, neuerdings wieder stark politi-
siert worden, und zwar sowohl in der DDR, wo der alte Zusammenhang von Bil-
n11ng unn Arbeiterbewegung tro.dicrt wird, u.lo o.uch in dor BRD, wo die Forderung
einer Bildung für alle als die „soziale Frage des 20. Jahrhunderts" erkannt ist.
~war meint der Bildungsbegriff noch immer auch das individuell geprägte, in der
Beschäftigung mit Kulturgütern entwickelte Vermögen der wertenden Unterschei-
dung und der ordnenden Synthese, gleichwohl umfaßt er einen weiten Bereich
praktisch-zweckgebundenen Tuns und sozialer Wirklichkeit.
Literatur
RUDOLF VmBBAUS
551
Brüderlichkeit
Bruderschaft, Brüderschaft, Verbrüderung, Bruderliebe
1. Einleitung
Das Wort 'Brüderlichkeit' ist ebenso wie die älteren Wörter 'Bruderschaft',
'Brtiderschaft', 'Verbriidenmg' nncl 'Rrnrlerliehe', zu denen sich noch 'Rruder-
gesinnung' und 'Brudertum' hinzufügen lassen, etymologisch von dem alten deut-
schen Wort 'Bruder' - ahd./mhd. bruoder - herzuleiten. Es verweist damit in
das Wortfeld eines der idg. Schlüsselwörter; denn wie die meisten Verwandtschafts-
bezeichnungen findet sich das Wort Bruder in allen idg. Sprachen: von idg. ""bhrä-
tor- leitet die Sprachwissenschaft über germ. "'bröpar und got. bröpar neben ahd.
bruoder zum Beispiel auch engl. brother und schwed./dän. broder ab. Urverwandt
ist lat. frater, von dem sich wiederum ital. fratello und franz. fraire herleiten.
Das Wort 'Bruder' bezeichnete ursprünglich das enge Beziehungsverhältnis leib-
licher Geschwisterschaft, und etwas davon ist immer auch noch in den späteren,
von 'Bruder' abgeleiteten Begriffen lebendig. Die Begriffsgeschichte von 'Brüder-
lichkeit' beginnt mit der analogen Anwendung des Brtiderbegriffs auf Gemeinschaf-
ten außerhalb der familiären Bindung. Solche Übertragungen haben bis zum heu-
tigen Tage fortgesetzt in den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen
Bereichen stattgefunden bis hin zum rein Geselligen ('Duzbruder', 'Bundesbruder'),
das hier außer Betracht bleiben kann. Als 'brüderlich' wurden seit jeher Beziehun-
gen kollektiver Art empfunden, deren Grundlage eine gesteigerte Ideengemeinschaft
bildete, die als Gesinnungsgemeinschaft begriffen werden kann, wenn man „Ge-
sinnung" im ursprünglichen Sinne als Bezeichnung für einen wenigstens der In-
tention nach systematischen Ideenzusammenhang versteht.
Die ältere Begriffsgeschichte ist durch die institutionelle Einbindung jeglicher
brüderlicher Ideengemeinschaft gekennzeichnet. Der moderne Begriff der Brüder-
lichkeit ist dagegen im heutigen Sprachgebrauch und -bewußtsein ausschließlich
als politischer, sozialer oder religiöser Gesinnungsbegriff geläufig, der sich nicht
institutionell oder rechtlich fixieren läßt. Er enthält sogar eine ausgesprochene
Spitze gegen jede Art von Herrschaft oder Recht. Dieser Tatbestand ist das
Ergebnis einer modernen Entwicklung, durch ·die ältere Komplementärbegriffe
552
D. 1. Bruderbegrilfe der Antike Brüderlichkeit
II.
6 KARL HERMANN ScHELKLE, Art. Bruder, Rlex. Ant. Chr., Bd. 2 (1954), 631 ff.
8 KURT LATTE, Art. Phratrie, RE Bd. 20/1 (1941), 746 ff.
553
Brüderlichkeit II. 3. Geistliche Bruderschaften
auch von den Germanen überliefert ist11• Es überrascht daher nicht, da.ß aus der
griechisch-römischen Antike keinerlei nachweisbare Wirkungen auf das neuere
Bruderdenken ausgegangen sind. Für die Entfaltung des Begriffes war vielmehr
der frühchristliche Brudergedanke, wie er sich im Neuen Testament darstellt, von
grundlegender Bedeutung.
Die ersten Christen haben von den Juden die Sitte übernommen, ihre religiösen
Glaubensgenossen als „Brüder" (d<5eÄpol) und die Gemeinsamkeit und Gemein-
schaft der Christen untereinander als piÄa<5eÄpla zu bezeichnen12• Der Bruderbegriff
wurde damit freigesetzt für eine rein ideologische Verwendung, und dieser Gebrauch
hat sich in der christlichen Tradition bis heute erhaiten. Für die frühe Begriffs-
geschichte ist jedoch beze.ichnend, daß der als Gesinnungsbegriff entstandene
Bruderbegriff sich zunächst nicht als solcher entfaltete, sondern daß er mit seiner
Entstehung gleichsam institutionell gerann. Die bloße Gesinnungsgemeinschaft
der Christusgläubigen ist schon im Neuen Testament als soziale Gemeinschaft der
christlichen Gemeinde dargestellt. Aus der christlichen Gesinnung der piÄa<5eÄpla
wurdo dio d<50.lpoTl'/~1a. In der Auffäßßung der Kirchenväter hat sich die11e TradiLiou
erhalten14• Bei CYPRIAN war die Kirche die fraternitas nostra. TERTULLIAN sprach
von den proximarum fraternitatum 15•
3. Geistliche Bruderschaften
In der um ein vielfaches vergrößerten christlichen Kirche dofl Mittelalters ist diese
Bedeutung von 'fraternitas' in den Hintergrund getreten. Dafür lassen sich nun
innerhalb der großen kirchlichen Gemeinschaft kleinere Gemeinschaften von ge-
steigerter Religiosität nachweisen, die für sich den Brudernamen in Anspruch
nehmen: die Bruderschaften geistlichen oder weltlichen Standes. Wie schon in der
frühchristlichen Gemeinde wiederholte sich hier die gesellschaftsbildende Wirkung
des Bruderbegriffes.
Dies galt zuniichst für den geistlichen Stand. Die christliche Bruderschaftsidee
war für das Mönchstum des Mittelalters geradezu konstitutiv. Als Beispiel sei hier
nur auf die Gemeinschaft der Minderbrüder des FRANZ VON Ass1s1 verwiesen;
dieser bezeichnete die Gemeinschaft, die Rich um ·seine Person bildete, vornehmlich
als fraternitas 16• Diese Gemeinschaft sollte sich nach der Brüderlichkeitsforderung
von Matth. 23, 8-11 richten, die Franz ausdrücklich in seine „Regula" aufnahm.
Sie durchbrach damit prinzipiell die sozialen Strukturen, die durch die mittel-
11 OTTO HmscHFELD, Die Haeduer und Avemer unter römischer Herrschaft, KI. Sohr.
(Berlin 1913), 193 ff.
11 KrrrEL Bd. 1 (1933), 144.
21 1. Petr. 2, 17; 5, 9.
u Vgl. Du CANGE, 9° ed„ t. 3 (1884), 598; weitere Belege bei JosEPH RATZINGEB, Die
christliche Brüderlichkeit (München 1960), 56 ff.
UI TLL t. 6 (1922/26), 1258 f.
11 Vgl. KAJETAN EssEB, Anfänge und ursprüngliche Zielsetzungen des Ordens der Minder-
brüder (Leiden 1966), 25.
554:
D. 3. Geistliche Bruderschaften Brüderlichkeit
alterliche Feudalwelt gesetzt waren. Es ist jedoch bezeichnend, daß diese brüder-
liche Grenzüberschreitung sofort zu neuerlicher ständischer Festlegung hin tendier-
te. Franz von Assisi benutzte den Begriff 'fraternitas' eindeutig synonym mit
'ordo': Volo, inquit, ut ordo fratrom minorum fraternitas 1urec vocetur (THOMAS VON
CELANO, 1228)17 • Die brüderliche Gemeinschaft der „minores" war als geistlicher
Orden konzipiert. Sie ordnete sich damit wieder in die ständischen Gegebenheiten
ein, die sie durchbrach. Ähnliches ließe sich auch für andere mittelalterliche
Mönchsorden zeigen, etwa für die aus der Benediktinervereinigung hervorgegan-
genen Zisterzienser18.
Begri:ffsgeschichtlich bedeutsamer aber war die Idee und die Ausbreitung der ei-
gentlichen Bruderschaften (fraternitates, confraternitates). Am Anfang standen
hier die sogenannten „Gebetsverbrüderungen". In der Ostkirche schon im 4. Jahr-
hundert. überliefert, stellten diese mönchischen Gemeinschaften im 8. und vor allem
im 9. Jahrhundert im Abendland geistliche Zusammenschlüsse ganzer Kloster-
gemeinschaften mit einzelnen auswärtigen Ordensbrüdern oder auch Mitgliedern
anderer Orden und mit Weltgeistlichen zu gemeinsamer intensiver Religionsaus-
übung dar1 9 • Sie erstreckten sich ursprünglich vor allem auf den christlichen
Gebets- und Totenkult (Totenmessen, Jahresgedächtnisse). BoNIFATIUS berichtete
im 8. Jahrhundert aus Euglaml vuu 1mluheu Verbindungen, die er comuniones
fraternae benennt. ALKUIN überliefert in seinen Briefen um 800 zum ersten Mal
den später kanonischen Namen „fraternita11". Allgemeine Verbreitung fand diese
Bezeichnung aber erst unter dem Einfluß der kluniazensischen Bewegung seit dem
Ende des 10. Jahrhunderts. Häufig waren auch Bezeichnungen wie societas fraterna
oder societa.~ et fraternitas 2 o. Aus den ursprünglich rein kontemplativen Verbindun-
gen entwickelten sich innerhalb des Mönchstums im Laufe der Zeit feste gesell-
schaftliche Beziehungim, deren sozialgeschichtliche Bedeutung beträchtlich war 21 •
Es kam zur Anlage von Verbrüderungsbüchern (libri vitae), in denen sich die
Institutionalisierung der ursprünglich rein ideellen Gemeinschaften dokumentier-.
te 22 • Im hohen Mittelalter entwickelten sich daraus regelrechte Benefiz-Fraterni-
täten, die Angehörige verschiedener Klöster vertraglich aneinander banden 23 •
17 Ebd.
18 Vgl. Statuta capitulorum generalium ordinis Cisterciensis ab anno 1116 ad annum
1786, ed. JOSEPH-MARIA CANIVEZ, t. 2 (Lüttich 1934), 474, wo für 1260 die /raternitas
bonorum operum per universum ordinem erwähnt wird.
19 Vgl. KLAUS WESSEL, Art. Bruderschaften (kirchengeschichtlich), RGG 3.Aufl., Bd. 1
(1957), 1428; HANs ERICH FEINE, Kirchliche Rechtsgeschichte, 4. Aufl. (Köln, Graz 1964),
357; WILLIBALD PLöCHL, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. 2 (Wien, München 1962), 23lf.;
MATTHAEUS RoTHENHÄ.USLER/KoNltAI> BEYERLE, Die Regel des m. Benedikt, das Gesetz
des Inselklosters und seine Verwirklichung, in: Die. Kultur der Abtei Reichenau, hg. v.
K. BEYERLE, Bd. 1 (München 1957), 291 f.
10 Belege hierzu bei ADALBERT EBNER, Die klösterlichen Gebets-Verbrüderungen bis zum
Ausgange des karolingischen Zeitalters (Regensburg, New York, Cincinnati 1890), 5 ff.
111 Vgl. dazu grundlegend GERD TEU.ENBAcil, Liturgische Gedenkbücher als historische
Quellen, in: Melanges EuGENE TxssERANT, t. 5/2 (Vatikanstadt 1964), 389 ff.
BI EBNER, Gebetsverbrüderungen, 114 ff.; RoTHENllÄUSLER/BEYERLE, Regel des m.
Benedikt, 293.
aa Belege bei Du CANGE t. 3, 598.
655
Brüderlichkeit ll. 4. 'Fraternitas' im städtischen Bereich
Die Wirkung der christlichen Bruderidee blieb im Mittelalter nicht auf den geist-
lichen Stand .beschränkt.. Das Vorbild der geistlichen Bruderschaften rief im
Bereich der mittelalterlichen Stadt iihnliche Formen hervor. Die religiösen
Bedeutungsinhalte des Fraternitasbegri:ffs vermischten sich hier mit solchen
profaner Herkunft. Seit dem fruhen Mittelalter schlossen sich die Kaufleute ein-
zelner oder mehrerer Städte zu Oem11in11r.ha.ft.1m r.111111.mm~n. Schau HINKMA.~ vu.N
REIMS benannte diese Gemeinschaften in karolingischer Zeit (852) mit geldonias
vel confratrias 26 • Seit dem 12. Jahrhundert hießen sie allgemein „fraternitates"
oder „confraternitates" bzw. „gilden" 27 oder „bruderschaften" 28 • Bei diesen Zu-
sammen.schlüssen handelte es sich um genossenschaftliche Einungen, die wahr-
scheinlich aus dem germanischen Institut der Tisch- und Hausgemeinschaft her-
vorgegangen waren 29 • Die ursprünglich auf den leiblichen Bruder bezogene Treue-.
verpflichtung wurde auf den Gildebruder übertragen, die brüderliche Gesinnung auf
die neue Standesbindung bezogen.
Die meisten dieser Kaufmannsgilden waren bezeichnenderweise einem Heiligen
geweiht, so zum Beispiel die „fraternitas mercatorum" von Stettin dem HI. Nikolaus.
In Dortmund gab es eine Reinoldsgilde, in Fritzlar eine Michaelsbruderschaft30.
Regelmäßig hatten diese Bruderschaften auch religiöse und karitative Zielsetzun-
gen31. Sie wurden deswegen von der Kirche im allgemeinen gefördert. Die Grenzen
14 Die Statuten des Deutschen Ordens nach den ältesten Handschriften, hg. v. MAX
Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Berlin 1901, Ndr. Aalen 1965), 183.
29 HANS PLANITZ, Die deutsche Stadt im Mittelalter (Graz, Köln 1954), 77 f.
so Ebd., 459.
31 HEGEL, Städte, Bd. 2, 147 ff.
556
ß. 5. 'Fratemitas' in der bel'l'lw.haftlfohen VertragR11prache Brüderlichkeit
zu den geistlichen Bruderschaften waren oft fließend. Der christliche· Sinn ging in
die weltlichen (con)fraternitates über.
Das gilt auch für die Handwerksgilden. Die städtischen Handwerker haben sich
zur gleichen Zeit wie das städtische Patriziat der Kaufleute - und vielleicht nach
deren Vorbild - zu besonderen Gemeinschaften zusammengeschlossen. Sie be-
mühten dafür die gleiche Terminologie wie die Kaufleute: 'fraternitas'/'con-
fraternitas' bzw. 'gilde'/'bruderschaft'. Berühmt ist die Satzung der fraternitas
der Bettzeugweber zu Köln aus dem Jahre 1149 32 • In einer Urkunde des Rates der
Stadt Höxter aus dem Jahre 1276 hieß es: Sartoribus nostrae civitatis dedimus
1.inam fraternitatem quae vuT,gari nomine gilde nuncupatur 33 • Auch bei den Hand-
werkern kam die ursprüngliche Verknüpfung weltlicher Solidaritätszwecke mit
religiösen Zielsetzungen schon in der Namenswahl zum Ausdruck, so zum Beispiel
bei den Riga.er brodera unda sustera der broderscop unde gilde des. hilligen cruces
(1252)34 oder bei der confraternia, quae vulgar·iter dicitur zunft der Ilasler Schlachter-
meister des 13. Jahrhunderts, die ausdrücklich in honore b. Mariae virginis ge-
gründet wurde35 •
Der Begriff der Bruderschaft erweist sich damit im Bereich der mittelalterlichen
Stadt als ständischer Kohäsionsbegriff. Die ständischen Vereinigungen der Kauf-
leute und Handwerker leiteten sich zum guten Teil aus einem Gesinnungsdenken
her, da11 ehen110 wie die daraus abgeleiteten Tn11titutionen in starkem Maße religiös-
christlich geprägt war. Die städtischen Bruderschaften haben sich im Laufe der
Zeit dann von ihrem geistlichen Ursprung entfernt. Die vorbildhafte Bedeutung
der geistlichen Bruderschaften ist aber unbestritten. .
557
Brüderlichkeit D. 5. 'Fratemitas' ia der hernohaftliohen Vertngeapraehe
gemeinschaft 38• Aber die königlichen Brüder behandelten das gemeinsame Reichs-
erbe doch offenbar nur in Analogie zu der brüderlichen Hausgemeinschaft. Die
„fraternitas" war für sie auf politischem Gebiet nicht naturgegebene Realität, sonst
hätte sie nicht immer wieder erneut bekräftigt und beschworen zu werden brauchen.
Sie war ideale Norm, Ausdruck einer politischen Gesinnungsgemeinschaft, die
zudem auch hier wieder christlich überhöht wurde. Im Oktober 844 richtete die in
Yütz tagende fränkische Bischofssynode ein Schreiben an die zu gleicher Zeit in
Diedenhofen beratenden Brüder. Darin forderten die Bischöfe von den drei Königen
caritatem illam, quam apostolus docuit, de cO'f'de puro et conscientia bona et 'fide
non ficta inter vos studete habere39 • Der Chronist PRUDENTIUS bemerkte dazu,
die Brüder hätten sich zum Abschluß der Diedenhofener Besprechungen einander
be]µ-äftigt, inter se fraternitatis et caritatis iure in posterum non violanda40 • Das kann
nur heißen, daß die königlichen Brüder die christliche Liebesgesinnung, die Inhalt
der caritas ist, als Norm zu der politischen Brude.rgesinnung hinzugenommen haben,
ohne daß sich beides aber begrifflica gedeckt hätte. Diese begriffliche Deckung ist
auch später nicht nachzuweisen. Es dürfte aber kein Zweifel daran bestehen, daß
die Ausweitung ihrer blutsmäßigen Beziehungen auf ihre Hemmh11.ftRhP:r.iP:h11ng1m
für die königlichen Brüder auch im Zeichen der christlichen Brudergesinnung
ge8tanden ho.t.
Im übrigen war bei den jüngimm KarolingP:rn Richer die sehr alte, vor allem in
Byzanz entwickelte Vorstellung von der sakralen Herrscherwürde lebendig,_ die
Fürsten zu einer brüderlichen Familie verband. Karl der Große hat erst 812 in
Byzanz mit seiner politischen Gleichberechtigung auch die Anerkennung als „fra~
ter" durchgesetztü. Es wurde dadurch eine eigenartige Form brüderlichen Gleich-
heitsbewußtseins ins Abendland verpflanzt, die abgewandelt bis in die Neuzeit
reicht 42 •
Seit dem späten Mittelalter schlossen hochadelige Familien in Deutschland mit-
einander Erbverträge auf Gegenseitigkeit ab. Auch diese knüpften sachlich an die
überlieferte brüderliche Erbengemeinschaft an, dehnten die Erbberechtigung aber
über die Familienangehörigen aus. Als pactum successionis ist ein Zusammenschluß
dieser Art erstmals 1268 zwischen den Herzögen von Sachsen und den Landgrafen
von Hessen abgeschlossen worden 43 • 1459 wurde dieser Zusammenschluß als bruder-
schaft und aynung, 1485 als bruderschaft und erbeynung bezeichnet". Daraus geht
hervor, daß das bruderschaftliche Bündnis der beiden Familien auf der genossen-
schaftlichen Basis der „Einung" als Zusammenschluß von gleichberechtigten
und gleichverpflichteten Standesgenossen abgeschlossen worden ist. Die Bedeu-
558
m. 1. Luther, Pietismus Brüderliebkeit
6. Zusammenfassung
m.
1. Die Spiritualisierung des christlichen Bruderdenkens bei Luther und im Pietismus
559
Brüderlichkeit m. 1. Luther, Pietismus
'7 Sermons de J. Tauler, et autres ecrits mystiques, ed. A. L. CORIN, t. 2 (Paris, Lüttich
1929), 84.
•e MARTIN LUTHER, Eyn Sermon von dem Hochwirdigen Sacrament . . . Und von den
Bruderschafften (1519), WA Bd. 2 (1884), 756.,
0 Vgl. schon zwei zeitgenössische Belege: U. RHEGIUS, Ain scöne underweysung, wie wir
in Christo alle gebrüder und schwester seyen (1524); HANS STAYGMAYER, Ain kurtze under-
richtung von der waren Christlichen brüderschaft (1524), zit. STAMMLER (1954), 97,
Anm. 310.
560
m. 1. Luther, Pietismus BrüderUehkelt
schied der Religionen ... , der Gaben, des Verstandes, des Nutzens" 50 die Grundlage
der Gemeindebildung, und das Essentiale einer Gemeine, daß sie sich vom ersten bis zum
letzten Bruder, wenn man anders eine solche Distinktion machen kann, ... einander recht
zärtlich liebt 51 . Ähnlich sprach TERSTEEGEN um 1750 von der lauteren Bruderliebe,
die aus der Liebe Gottes komme. Aus ihm schöpfte er die wahre Liebe gegen die
Brüder, ja auch die Liebe zu allen Menschen 52 • GELLERT bekannte 1757 in einem
seiner Kirchenlieder:
Wir haben einen Gott und Herrn,
Sind eines Leibes Glieder;
Drum diene deinem Nächsten gern,
Denn wir sind alle Brüder 53 .
In demselben Sinne verwendete schließlich LAVATER 1776 erstmals das Wort
'Brüderlichkeit', wenn er sich gegen den Geist der Unbilligkeit und Unbrüderlichkeit
wehrte, mit dem das anonyme Sendschreiben eines Zürcher Geistlichen gegen ihn
polemisiert hatte 5'.
Die Gemeinschaft der in brüderlicher Liebe einander verbundenen Christen war
nach pietistischem Verständnis nicht mehr an konfessionelle oder kirchlich-organi-
satorische Schranken gebunden. ZINZENDORF sagte ausdrücklich: Je weniger die
Leute selbst wissen, daß sie eine Sozietät sind, desto besser ist' s, denn sobald Brüdern und
Schwestern Regeln gegeben werden, so wird dem Heiligen Geist seine Arbeit ge-
hindert55.
Der Brüderlichkeitsbegriff war damit für das pietistische Verständnis als rein
geistiger Gesinnungsbegriff freigesetzt. Die christliche Bruderschaft/Bruderliebe
mußLe uach uer luLherischeu Zweireichelehre allerdings unbedingt auf den gei11tigen
Bereich des Reiches Gottes beschränkt bleiben. Eine Anwendung auf die irdischen
Sozialverhältnisse war für die orthodoxe lutherische Tradition ausgeschlossen.
Der Pietismus ist hier nicht über Luther hinausgegangen, sondern hat dessen Lehre
vom weltlichen Amt - in Auseinandersetzung mit dem Rationalismus - insofern
eher noch verschärft, als et die Ungleichheit der weltlichen Existenz der Menschen
als gottgewollt bejahte. Dies war auch für den Brüderlichkeitsbegriff des Pietismus
bedeutsam. In seiner exegetischen Lehrschrift für die Brüdergemeinde nahm
AUGUST GoTTLIEB SPANGENBERG 1782 den Bruderbegriff ausdrücklich nur für das
Gottesverhältnis der Menschen in Anspruch:
Indes ist allen denen, die an Jesum Christum glauben, die Liebe untereinander ganz
besonders anbefohlen, µnd diese wird in den Schriften des neuen Testaments die brü-
derliche Liebe genennet. Der Grund davon liegt in den Werken unsers Herrn: Einer ist
euer Meister - Christus - ihr aber seid alle Brüder, Math. 23, 8, wonach sich auch
die Jünger Jesu gerichtet haben ... Denn obgleich der Heiland den Unterschied
60 ÜTTO UTTENDÖRFER, Zinzendorfs religiöse Grundgedanken (Herrnhut 1935), 151. Vgl.
63 CHR. FüRCHTEGOTT GELLERT, Die Liebe des Nächsten, zit. STAMlllLER (1954), 97.
64 JoH. KAsPAR LAVATER, Schreiben an seine Freunde (Winterthur 1776), 4.
66 ZINZENDORF, Über Glauben und Leben,hg. v. ÜTTO HERPEL (Berlin, Leipzig 1925), 99.
36-90385/1 561
Brüdedichkeit m. 2. Bauernkrieg
unter den Ständen nicht aufgehoben hat, ... so bleibt es doch fest dabei, daß in Absicht
auf die Dinge, die zu seinem Reich gehÖ'ren - sein Reich ist aber nicht von dieser
Welt - kein Unterschied stattfindet 56 •
Damit war klar ge,sagt, daß die Ablösung des christlichen Brüderlichkeitsbegriffes
von seinen partikularen ständisch-institutionellen Bindungen und dessen Über-·
tragung auf die Gläubigen des Reiches Gottes insgesamt nicht die Auflösung der
Ständeordnung herbeiführen sollte. Um den ehemaligen Standesbegriff als stände-
bedrohenden und -zerstörenden Revolutionsbegriff anzuwenden, bedurfte es eines
weiteren Schrittes: es mußte die innerweltliche Anwendung der christlichen
Bruderlehre akzeptiert sein. Auch dieser Schritt ist jahrhundertelang vorbereitet
worden. Es sei hier nur die Bewegung der Fraticellen im Italien des 14. und 15. Jahr-
hunderts erwähnt, die als fratticelli di paupere vita das franziskanische Armutsgebot
verabsolutierten und für völligen Verzicht.auf persönliches und gemeinschaftliches
Eigentum eintraten 57 • Die römische Kirche hat diese und ähnliche religiöse Be-
wegungen stets als häretisch indiziert und unterdrückt 58 • Dennoch ist bis in die
Reformationszeit hinein immer wieder versucht worden, die transzendente christ-
liche Bruderlehre innerweltlich zu interpretieren, ohne daß das hier im einzelnen
verfolgt werden kann. Begriffsgeschichtlich erheblich ist aber erst die Brüderlich-
keitsterminologie der aufständischen deutschen Bauern im 16. Jahrhundert.
61 A. G. SPANGENBERG, Idea fidei fratrum oder kurzer Begrif der Christlichen Lehre in den
evan~lischen Brüdergemeinen (1779; Ausg. :Jlv,rby 1782), 442.
1 7 FRANZ EHBLE, Die Spiritualen und ihr Verhältniss zum Franziskanerorden und zu den
Fraticellen, Arch. f. Lit.- u. Kirchengesch. d. Mittelalters 4 (1888), 1 ff.
18 Vgl. dazu HERBERT GRUNDMANN, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, 3. Aufl. (Darm-
stadt 1970). ·
19 BALTlliSAR HUBMAYERS Artikel, in: Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, hg. v.
GÜNTHER FRANZ (München 1963), 232; vgl. auch die Erklärung der Kemptener Gottes-
hausleute vom September 1525: Das aber auf gemeUen Tag etlich der Naclvpauren auch er-
achinen, alao zugehört, mag war sein. Das aber wir mit denselben ainich Verpuntnus, V er-
bruderachaft oder Ainung gemacht, wirt sich mit ainichem Gru1Ul, der Warhait nit finden;
FRANZ, Quellen, 131.
eo MARTIN ÜRONTHAL, Der Anschluß der Stadt Würzburg an die Bauernschaft, FR.rnz;
Quellen, 354.
562
ms.Freimaurer Hriiderliebkeit
Wichtiger als der Bauernkrieg war für die Genesis des modernen Brüderlichkeits-
begri:ffs freilich die Wirkung der europäischen Aufklärung. Sie hat auch das tra-
, ditionelle Bruderdenken einem folgenreichen Säkularisierungsprozeß Un.terworfen .
.Äußere Erscheinungsform dieses· säkularisierten Bruderbewußtseins war die Frei-
maurerei. Der Bmderkult der Freimaurer verwies durchaus auf den Kern des frei-
maurerischen Zeremoniells und der freimaurerischen Ideologie. Der Titel 'Bruder'
stand allen Mitgliedern der geheimen Logen zu. Nach dem „Dictionnaire ma9on-
nique" war frtre der nom quese donnent entre eux les masions de tous les grades. Le
douz nom de frtre esprime assez les devoirs du mas:on envers le mas:on 6'. Die Maurer
waren nach den „Alten Pflichten" der Konstitution von 1722 gegenseitig zu brü-
91 Belege für die Selbstbezeichnungen der bäuerlichen Vereinigungen bei FRANz, Quellen,
353. 469. ( ehriBtlieke BMJ.der). 235 ( cnatenlicke Verainigung und Bruderachaft; eriatenUche
Verainigung). 348 (loblicke ehri8tlicke Bruderachaft; bruderliehe, chriatliehe Ainigung).
351 ( elwi8Uicke V eraamlung und BMJ.derachaft;. Briukraehaft). 352 ( Bnul,eraehaft und
Ainigung; ehriBtlicke Bruderschaft). 354 (Bruderschaft). 504 (Bruder [Plural] der Gerechtig-
keit). 579 (BMJ.deraehaft oder GeaeUaehaft [ = negativ: Strafartikel des Schwäbischen
Bundes]); u. ö.
11 Ebd„235.
18 Ebd„ 422; vgl. auch 504.
563
Brüderlichkeit ID. 3. Freimaurer
H JAMES .ANDERSON, The Constitutions of the Free-Masons (London 1723), zit. nach dein
Auszug bei BERN.ARD FAY, La Franc-Ma9onnerie et la revolution intellectuelle du XVTH6
siecle (Paris 1935; 136 ed. o. J.), 273 f., appendice; vgl. die deutsche Übersetzung der
Neubearbeitung von 1758: JAKOB ANDERSON, Verbessertes Konstitutionenbuch der alten
ehrwürdigen Brüderschaft der Freimaurer, 4. Aufl., Bd. 1(Frankfurt1783), 421 f.
68 Rede des Hallenser Philosophieprofessors ANDREAS WEBER (1744), zit. FERDINAND
ihr euch bei Führung des Prozesses alles Zornes, aller Bosheit und Bitterkeit enthalten, auch
nickt das geringste sagen oder tun, was die Fortsetzung oder Erneuerung brüderlicher Liebe
und Freundschaft, so die Ehre und der Kitt dieser alten Bruderschaft zu nennen ist, verhindern
könnte.
68 Art. 1 der Freimaurerkonstitution beginnt mit dem Satz: A Mason is oblig'd by kis
564
a) Die '&ateroite' der Jakohioer Brüderlieh.keit
nach persönlicher Gleichheit aller Brüder her. In den Freimaurerlogen sollte kein
sozialer Rangunterschied bestehen. N ob"lemen, gent"lemen and workingmen - so die
Formel der Konstitution von 1723 - hatten grundsätzlich zu den Logen gleichen
Zutritt, auch wenn in der Praxis das bürgerliche Element eindeutig überwogen
hat 89• Wie groß auch unsere Rücksicht gegen Personen ist 1 die durch ihre Geburt und
durch den hohen Rang, in dem sie in der Welt stehen, Auszeichnung vor der Welt
verdienen, sagte der Frankfurter Logenmeister in einer oft zitierten Rede, so be-
achten wir eigentlich unter uns den Menschen nur, insoweit er gut ist von Natur, und
indem wir in dieser Beziehung nur.die Wasse'l"Waage der Natur anlegen, schätzen wir
uns al"le als BrüiJer7o.
Die Betonung lag hier freilich auf dem „unter uns". Die egalisierende Kraft der
Brüderlichkeit wirkte bei den Freimaurern nur unter dem Geheimnis der Loge.
Die Verpflicht11ng, alfon MenRr.h1m hriiderlir.he Sympathie entgegenzubringen,
schloß noch nicht die Forderung an alle Menschen nach sozialer Verbrüderung mit
ein. Gleichwohl darf dieses .Postulat nach einer überchristlichen, aus der Humani-
tät ableitbaren und auf ihr gründenden allgemeinen Vereinigung aller Menschen
als Zielpunkt der aufgeklärten Geschichtsphilosophie verstanden werden. So
schrieb etwa WIELAND (1770) lange bevor er Maurer wurde, daß Religion, Wissen-'
schaften und Künste das große Werk zur Vol"lendung zu bringen hätten, nämlich
aus al"len Völkern des Erdbodens ... ein Brudergesch"lecht von Menschen zu machen71 •
a) Die 'fraternite' der Jakobiner. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der
Begriff der Brüderlichkeit, vom Schutzmantel des Geheimnisses befreit, seine ver-
bindende Kraft des Zerstörens erweisen sollte. Mit qer Revolution von 1789 wurde
'fraternite' in Frankreich zum verbalen Symbol revolutionärer Grenzüberschrei-
tung. Die Jakobiner machten 'fraternite' zum Ausführungsbegriff der politisch
verstandenen 'egalite'. In der triadischen Verbindung mit 'liberLe' und 'egalite'
fiel der 'fraternite' gleichsam die Rolle des Schrittmachers zu: mittels ihrer ver-
einigenden Kraft sollte die politische Freiheit und Gleichheit der „citoyens" ver-
wirklicht werden.
Auf der Jahresfeier des Bastillesturms am 14. 7. 1790 schworen sich die Versammel-
ten auf dem Marsfeld: De demeurer unis a tous "les Fran9ais par les liens indis-
solubles de la f'raler·mile 72 • DESMOULINS berichtet, daß bei dieser Gelegenheit tous
"les soldats-citoyens zu sehen gewesen seien se precipiter dans les bras l'un de l'autre,
89 Dazu REINHART KosELLECK, Kritik und Krise (Freiburg, München 1959}, 55 ff.
70 FRiEDRICH WILHELM STEINHEIL, Rede in der Frankfurter Loge „L'Union" (gedr. 1746),
zit. RuNKEL, Freimaurerei, Bd. 1, 156.
71 C. M. WIELAND, Über die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen
Gattung nachtheilig sey, AA 1. Abt., Bd. 7 (1901), 437. JoH. GOTTFRIED HERDER, Auch
eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), SW Bd. 5 (Berlin
1891), 576 warnte dagegen: Freiheit, Geselligkeit und Gleichheit,. wie aie jetzt überall auf-
keimen - aie hciben in ta'U8end Mißbräuchen Übela gestiftet und werdena atiften.
79 Collection complete des Jois, decrets, ordonnances reglemens, avis du Conseil d'Etat,
565
Brüilerliebkeit DI. 4. Französisehe Revolution
b) Die 'fraternite' der Völker. Mit dem Vordringen der Revolution in Europa wurde
der Begriff über die Grenzen Frankreichs getragen. Nach der Besetzung Savoyens,
Belgiens und der Rheinlande di.trch die Revolutionsheere erklärte RüBL am 19. 11.
1792 im Konvent: Je demande que vous declariez que les peuples qui voudront fra-
terniser avec nous seront prote'ges par la nation franr;aise. Der Konvent erließ darauf-
hin am selben Tage ein Dekret, in dem allen Völkern, die es wünschten, fraternite
et secours versprochen wurde 77 • Die revolutionäre Gesinnung sollte also im Ge-
wande der „fraternite" die historischen Grenzen überspringen. Dahinter stand an-
fangs der Gla.ube an eine Art von Automatismus revolutionärer Solidaritäts-
erklärungen. Als die erwarteten Fraternitätsbekundungen jedoch ausblieben, ent-
sagten die Regierer in Frankreich dem System d,es Fraternisierens 78 • Durch das Dekret
78 BENOIT CAMILLE DESMOULINS, in: Revolutions de France et de Brabant, Nr. 35, 14. 7.
1790; wohl die erste Erwähnung der triadischen Formel „liberte, egalite, fraternite".
7 ' ALPHONSE AULARD, Histoire politique de la Revolution fran91lise (Paris 1901), 95.
7 & ALBERT MATHIEZ, La. Revolution fran91lise, t. 2, 7° ed. (Paris 1940), 90.
7 6 Übersetzung in: Europ. Annalen 4 (1795), 14.
566
c) Dte Aufnahme des BegrUrsin Deutschland Brttderllehkelt
vom 15. 12. 1792 schon wurde die „fraternite" in den von den Franzosen besetzten
Gebieten zwangsweise verordnet. Die Bedeutung von 'fraterniser' verkehrte sich
im Mun~ der Gegner seihlem in ihr Gegenteil. Der anonyme Verfasser des
„Wörterbuchs der französischen Revolutions-Sprache" von 1799 verglich z. B.
fraterniser mit der brüderlichen Liebe ..• der Affen, die ihre Jungen aus lauter
~ärtlichkeit totdrücken 7D.
o) Die Aufnahme des Begrift's in Deutschland. In Deutschland stellte sich die Ge-
sinnungsentscheidung, zu der die revolutionäre fraternite herausforderte, als
Übersetzungsproblem dar. Wir sehen die deutschen Zeitgenossen bis ins erste
Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hinein auf der Suche nach einem adäquaten deut-
schen Wort. Zwar hatte JOACHIM HEINRICH CAMPE schon 1790 mit sicherem In-
stinkt nach einem ganz neuen Wort für ein so neues Scliauspiel gesucht und dies
mit Brüderlichkeit gefunden80• Aber diese Neuschöpfung setzte sich keineswegs
sofort durch. GEORG FoRSTER sprach 1792 in bezug auf die Franzosen von Brüder-
treue und Bruderbund 81 • GöRREs übersetzte 1798 Freiheit, Gleichheit, Brüderschaft82 ,
während FRIEDRICH SCHLEGEL 1796, auf eine Übertragung überhaupt verzich-
tend, von einer l!'raternität aller Republikaner sprach 89• Also eine bunte Palette
von deut11chen Interpretame.nt.P.n fiir 'fr11.trt1rniM', die sich noch bereichert, wenn
man deutsche Gegner der Revolution mit einbezieht. Diese griffen anfangs vor-
wiegend auf die traditionellen .Begriffe '.Hruderschaft' und 'Bruderliebe' zurück.
Sie sprachen von den verführerischen Worten Freiheit, Gleichheit, Bruderliebe oder
von Bruderschaft und politischer Gleichheit, welche man nach der Weise der Malwmet
und Gengis errichten wollte 84• Auch das erwähnte „Wörterbuch der Französischen
Revolutions-Sprache" übersetzte fraterniti mit Brüderschaft, allerdings offensicht-
lich nur noch, um damit satirisch polemisieren zu können. Ein Mainzer Jude,
bemerkte das Wörterbuch ironisch, las die gewöhnlichen Zauberworte: Brüderschaft,
Gleichheit, folgendermaßen: Brüder-schaft - gleich-heut85•
Ein konservativer Kritiker Campes wollte dessen Wiedergabe von 'fraternite' Init
'Brüderlichkeit' nicht zustimmen:, weil er meinte, in vielen Fällen wäre wohl
Brudersinn erträglicher; aber damit begab er sich auch schon auf die Suche nach
einem adäquaten Wort für den neuen Revolutionsbegriff, zumal er das alte 'Bruder-
schaft' ausdrücklich den altständischen Gemeinschaften vorbehielt 88• CAMPE ver-
79 Wb. franz. Rev.Spr. (1799), 13 f.
80 J. H. CAMPE, Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben (Braunschweig
1790), 86, zit. STAMMLER (1954), 98, Anm. 315. Vgl. ADELUNG 2. Aufl., Bd. 1 (1793),
1217; s. auch Anm. 54.
81 G. FoRSTER, Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken, Säm.tl. Sehr., Bd. 6
567
Brüderlichkeit llI. 4.. Französische Re-volution
568
W. 5. 'Brüderliebkeitt und 'Verbrüderung' Brüderlichkeit
Der bürgerliche Zustand also, bloß als rechtlicher Zustand betrachtet, ist auf folgende
Prinzipien a priori gegründet: 1) Die Freiheit jedes Gliedes der Societät, als Menschen.
2) Die Gleichheit desselben mit jedem anderen, als Untertan. 3) Die Selbständigkeit
je,des Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürgers90 a.
Kant zog damit einen begrifflichen Trennungsstrich, der deutlicher seine Einstel-
lung gegenüber einer demokratischen Gesinnungsexpansion mittels „fraternite"
markierte als es eine einfache Ablehnung oder interpretierende Übersetzung des
Begriffs getan hätte.
90 • KANT, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber
nicht für die Praxis (1793), 2. Abhandlung (gegen Hobbes), AA Bd. 8 (1912), 290; das obige
Zitat aus den Vorarbeiten zum Gemeinspruch steht AA Bd. 23 [Nachlaß-Bd. 10] (1955),
139. Vgl. auch ebd., 141: Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit sind die Erfordernisse
aingidorum um Bürger zu sein.
91 Mozm, dt. TI., Bd. 2 (1813), 658: Verbrüderung als die Handlung, da man sich verbrüdert.
569
Brüderlichkeit m. 5. 'Brüderlichkeit' und 'Verbrüderung'
zur Bezeichnung von brüderlichen lntensivgemeinschaften verwendet. Es war je-
doch, wenn man von dem schon ins Mittelalter zurückreichenden Institut der
Erbverbrüderung absieht (s. o.), in geringerem Maße institutionell fixiert als die
Parallelbegriffe 'Bruderschaft' oder 'Brüderschaft'. Wie es scheint, wurde von
'Verbrüderung' nur immer dann gesprochen, wenn: der mehr ideelle Charakter
solcher Vereinigungen oder deren gesinnungsmäßiger Ursprung hervorgehoben
werden sollte.
Während zum Beispiel die Freimaurer ihi:e Verbindung meist als 'Bruderschaft'
oder 'Brüderschaft' bezeichneten (s. o.), sprach LESSING 1778 von der geheimen
Verlwüderung der Freimaurer, um damit zu betonen, daß diese im Grunde nicht auf
äußerlichen Verbindungen, die so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten, sondern
auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister beruhe 92 • H1PPEL be-
zeichnete die Maurerei in iihnliohem Sinne als eine Wortverbrüderung 93 , und auch
der alte WIELAND sprach 1809 bei seiner Aufnahme in die Weimarer Loge von einer
Freimaurer-Verbrüderung. Diese Verbrüderung bezeichnete er wenig später als eine
besondere Gesellschaft von Menschen, die in einem Bruderbund zusammentreten, weil
sii3 sich von einem wahrhaft brüderlichen Gefühl und Wohlwollen gegeneinander und
gegen die ganze Menschheit belebt fühlen 94 ~
Auch im 19. Jahrhundert wurden mit 'Verbrüderung' OcsinnungtJgcmcincmhaftcn
bezeichnet, die institutionell nur wenig verfestigt waren. Rein wortgeschichtlich
ge11ehen besteht hier eine viel unmittelbarere Kontinuität u.111 bei dem Neologi11mu11
'Brüderlichkeit'. So wurde etwa der Deutsche Bund gelegentlich als schöne,
einträchtige Verlwüderung (DAHLMANN 1815) 95 oder als Verbrüderung souveräner
Staaten (METTERNIOH) bezeichnet. Der Begriff wurde hier verwendet, um eine
ideologische Bindung der deutschen Bundesstaaten aneinander zu bezeichnen, die
über die staats- und völkerrechtlichen Gegebenheiten hinausging, ohne doch diese
in Frage zu stellen. Es war kein Widerspruch, wenn Metternich gleichzeitig von
der Existenz mehrerer geheimer Verlwüderungen in Italien oder der Verlwüderung der
deutschen praktischen Revolutionärs sprach 96 • Diese Geheimbünde lagen unterhalb
der Schwelle rechtlicher Anerkennung. Ihr Zusammenhalt war aber durchaus
ähnlich intensiv wie es der der deutschen Bundesstaaten nach der Vorstellung
Metternichs sein sollte. 'Verbrüderung' bezeichnet in beiden Fällen die spezifische
88 LESSING, Gespräche für Freymäurer (1778/80), Sämtl. Sehr., Bd. 13 (1897), 402.
93 THEODOR GoTTLIEB v. IIIPPEL, Kreuz- und Querzüge des Ritters Abis Z, Bd. 2 (Berlin
1794), 80. § 98.
H WrnLAND, Betrachtungen über den Zweck und Geist der Freimaurerei, AA 1. Abt.,
Bd. 20 (1939), 370 sowie zit. FRIEDRICH BEISSNER, Bericht des Herausgebers (1940), ebd.,
86A.
H FR. Cmu:sTOPH DA.HLMANN, Ein Wort über Verfe.ssung, hg. v. Rudolf Oeschey (Leipzig
1919), 37.
98 METTERNICH e.uf dem Karlsbader Kongreß 1819, zit. Wichtige Urkunden für den
Rechtszuste.nd der deutschen Nation, hg. v. JoH. LUDWIG KLÜBER u. CARL WELCKER
(Mannheim 1844), 173; ders., Denkschrift e.n den Kaiser Franz vom 3. 11. 1817, in: Nach-
gel. Papiere, Bd. 3/2 (1881), 85; ders., e.n Gentz, 17. 6. 1819, ebd.,254. Vgl. &uchders.,&n
Gentz, 9. 4. 1819, ebd., 227, wo Metternich im Zuse.mmenhe.ng mit der Ermordung Kotze-
bues de.von spricht, welcher Verbündete die Tat . . . a11ufükren solUe, und ferner den Brief
VARNHAGENB e.n Tettenbom vom 24. 3. 1819 zum gleichen Thema., in dem dieser e.uf eine
Gemei'll8Cha~ und Verbriiderung schließt; ebd., 226.
570
m. 6. Heilige Allianz Brüderlichkeit
Mit der endgültigen Niederlage Napoleons und dem Zusammenbruch seines Sy-
stems in Europa wurde die Eindämmung des revolutionären Frankreich durch die
europäischen Mächte abgeschlossen. Dieser große weltgeschichtliche Zusammenhang
fand auch in der Begriffsgeschichte von 'Brüderlichkeit' seinen Niederschlag. Der
demokratische Expansionsbegriff der bürgerlichen Revolution wurde zu einem
monarchisch-konservativen Solidaritätsbegriff umgeformt und zur Bekämpfung
eben dieser Revolution verwendet.-
Diese antirevolutionäre Brüderlichkeit wurde mit der Heiligen Allianz von 1814
geboren. Nach dem ursprünglichen Entwurf des russischen Zaren ALEXANDER 1.
sollte der Vertrag zwischen den drei Monarchen Rußlands, Preußens und Österreichs
dazu führen, daß sich die Untertanen (sujets) der drei vertragschließenden Par-
teien vereinigen par "les liens d' une fra.ternite veritable 91. Diese , ,wahre Brüderlichkeit''
sollte die der christlichen Lehre sein. Sie war nach Alexanders romantischer Vor-
stellung aber zugleich auch die vraie source de toute liberte civi"le 98 • Dem lag die An-
schauung eines christlichen Reiches der Völker zugrunde, dessen Inkarnation
paradoxerweise die Monarchie sein sollte. Es ist offensichtlich, daß der Zar damit
ohne es zu bemerken der egalitären, Kraft der revolutionären „fraternite" erlegen
ist. So stark war die expansive Kraft dieses Begriffes! 99 Es bedurfte der aufklären-
den Kühle eines Metternich, um das mißverständliche Programm des Zaren zu
entschärfen. METTERNICH strich aus dem Entwurf Alexanders genau den Abschnitt,
der sich auf die brüderliche Solidarität der Völker bezog100• Statt der Untertanen
als Subjekten der fraternite wurden von ihm die Monarchen selbst genannt: Con-
a
formement aux paroles des saintes Ecritures qui ordonnent tous les hommes de se
regarder comme freres, les trois Monarqtres contractants demeureront unis par le.~ liens
d'une fraternite veritable et indissoluble.
97 WERNER NÄ.1!', Zur Geschichte der Heiligen Allianz (Bern 1928), 32.
98 ALEXANDER 1. VON RussLAND, Brief an Lieven vom März 1816, zit. Hn.DEGARD
Sc.HA.EDER, Die dritte Koalition und die Heilige Allianz (Königsberg, Berlin 1934), 81.
89 Vgl. auch den Brief des FREmERRN VOM STEIN an den älteren Gagem vom 19. 4. 1822,
in dem er rückblickend davon spricht, daß. die Heilige Allianz .•• zuerat wieder nach J ahrhun-
derten die chriatliche Bruderliebe ala das Band, so die Nationen umschließt, ala den Leitstern
bei ihren wechselaeitigen Berührungen und Verhandlungen bezeichne: und diese chriBtliche
Idee iat milder, allgemeiner eingreifend ala es die Lehren der Grotiuse und der übrigen Kory-
phäen des Natur- und Völkerrechts sind; Br. u. Sehr., Bd. 6 (1965), 509.
ioo Vgl. SCHAEDER, Koalition, 83.
571
Brüderlichkeit m. 7. Bürgerliebe Demokraten 1848
An die Stelle des christlich-demokratischen Bundes der Völker trat damit die
Gemeinschaft der Monarchen. Den Untertanen sollte der mOme esprit de fraternite
nur noch durch die Monarchen comme peres de famille patriarchalisch vermittelt
werden101 • Auf dem Kongreß von Aachen wurde die monarchisch-christliche
fraternite bei der Aufnahme Frankreichs in die relations mutuelles der Monarchen
erneut bekräftigt. Die Signatarmächte bestätigten sich im Schlußprotokoll vom
15.11.1818 die union devenue plus forte etindissoluble par les liens de fraternite chretienne
que les souverains ont formes entre euz102 • Der Begriff der 'fraternite' ('Brüderlich-
keit') wurde damit vollends von seinem jakobinischen Ursprung gelöst. Fraternite
trat gegen fraternite, ein für die Geschichte des Begriffs entscheidender Augenblick.
Der Begriff war nunmehr frei konvertibel in jede Art von politischer, sozialer oder
religiöser Gesinnung.
in dem er von der noble et grande fraternite spricht, die mehr wiege que tous leB traites;
Nachgel. Papiere, Bd. 3/2, 70.
102 FRIEDR. WILHELM GHILLANY, Diplomatisches Handbuch, Bd. 1 (Nördlingen 1855), 413.
103 PmLn>P JAKOB SIEBENPFEIFFER, Aufruf zum Hambacher Fest, 20. 4. 1832, zit. WILHELM
HERZBERG, Das Hambacher Fest (Ludwigshafen 1908), 91; JoH. GEORG AUGUST WmTH,
Das Nationalfest der Deutschen.zu Hambach, H. 1 (Neustadt 1832), 6.
104 Flugblatt, am 28. 2. 1832 in Hambach verteilt.
1 0 5 A. RuGE, Programm, Dt.-Franz. Jbb. 1 (1844), 12.
106 Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, hg. v.
572
a) Arbeiterbewegung bia 1848 Brüderlichkeit
1836), 51.
1os RuoE, Dt.-Franz. Jbb. 1 (1844), 16.
110 La Reforme, 21. 9. 1843.
111 Vgl. für 1848 z. B. die .Adresse von Herweghs „Societe democratique allemande" in
Paris vom März 1848: Les democrates allemaruls de Paris se sont formes en legion, appelt!s par
leurs freres paur aJ,ler proclamer ensemble la Republique .Allemande,. f ondee sur la fraternite
des deux Nationalitt!s Fraw;aise et Germanique; zit. PIERRE QuENTIN-BAUCHART, Lamartine
et la politique etrangere de la revolution de fevrier (Paris 1913), 170. - Für die spätere
Zeit vgl. etwa die Resolution einer Londoner Demokratenversammlung vom 27. 2. 1855:
That this meeting, in which are the representatives of the Democracy of France, Germany,
ltaly, Poland, Hungary, Spain, Great Britain and other countries, repudiates the alliances
573
Brüderlichkeit m. 8. Arbeiterbewegung
Die Wurzeln dieses sozialen Brüderlichkeitsbegriffs reichen in die Frühzeit der
europäischen Arbeiterbewegung zurück. In Paris begründete der Kommunist
LAHAUTIERE 1841 eine Zeitschrift mit dem Titel La Fraternite, die 1845 den be-
zeichnenden Untertitel Organe des inte_rb,s du peuple, journal de reorganisation
sociale et de politique generale erhielt. Die chartistische „ Working Men's Association"
sprach 1837 in London von dem spirit of fraternity which becomes working men in
all the countries of the world. 1838 erklärte dieselbe Arbeiterorganisation in einer
„Adress of the Working Classes of Europe": Fellow producers of wealth! seeing that
our oppressors are thus united, why should not we, too, have our bond of brotherhood
and holy alliance?112 • WILHELM WEITLING schließlich entwarf 1842/43für die deut-
schen Arbeiter in der Schweiz ein Programm eines kommunistischen Bildungs-
vereins, für den er Brüderlichkeit durch Wiedereinführung des Du-Wortes, durch
Übung im Verzeihen jedweder Beleidigung, durch die Gewohnheit, jedes Vergehen als
eine Krankheit zu betrachten, durch Zusammenwirken für einen gemeinsamen Zweck
verlangte113 • In allen diesen Fällen erscheint der Begriff der Brüderlichkeit als
proletarischer Gesinnungsbegriff. An ihm entzündete sich erstmals das gemeinsame
Lage- oder Klasse~bewußtsein der Arbeiter. ·
Anfangs war das bruderschaftliche Vokabular bei den Arbeitern stark religiös-
christlich geprägt. Der Anspruch und die Hoffnung auf soziale Gleichheit, der mit
der Forderung nach allgemeiner Brüderlichkeit erhoben wurde, wurde mit dem
Inhalt der christlichen Botschaft identifiziert. LAHAUTIERE leitete beispielsweise
in seiner Schrift „De la loi sociale", die 1841 in der Schweiz auch ins Deutsche
üborootzt wurde, dio Brüdorliohkoit aWJ dom Munda Josu her. Von LAMENNAIB
lernten deutsche und französische Arbeiter, daß das Christentum eine religion de
l'amour, de la fraternite, de l'egalite sei114• Die fraternite war für Lamennais Aus-
druck der radikal innerweltlich verstandenen neutestamentlichen Brudergesinnung.
In seinen „Paroles d'un croyant" schrieb er 1834:Il est ecrit du fils de Marie comme
il ai•oit aime les siens, qui etoient frbes qui sont dans le monde, et aimez-les fusqu'a
la fin ... Je vous le dis en verite, celui qui aime, son coeur est un paradis sur la terre115•
Die gleiche Gesinnung findet sich auch in den Arbeitervereinen der dreißiger und
vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts wieder. KARL ScHAPPER erzählte 1838/39 den
deutschen Arbeitern in Paris, man finde bei der Lektüre der Bibel, daß Christus
nicltts anderes wollte als e·in großes Bruderreich gründen und deswegen in dem Volke
seine Anhänger suchte. Er forderte dazu auf, dieses Bruderreich, das er mit dem
System der Gütergemeinschaft identifizierte, errichten zu helfen118 • Es dürfte auch
between croumed deapots and U8'Urpers ..• , and de8ires to subatitute /or the same the alliance
of the peoples, based on mutual interesta and tending on universal brotherhood; in: The Peo-
ple's Paper, 10. 2. 1855.
112 The Life and the Struggles of w:a:.U.ui: LoVETT (London 1876), 129. 156.
113 JoH. K.AsPAR BLUNTSCHLI, Die Kommunisten in der Schweiz nach den bei Weitling
574
a) Arbeiterbewegung hia 1848 Brüderlichkeit
kein Zufall sein, daß die deutschen Arbeiter so häufig von 'Bruderliebe' sprachen,
wenn sie die verbindende soziale Gesinnung meinten, die sie mit der christlichen Leh-
re identifizierten117 • Dieser Begriff war im 19. Jahrhundert sonst fast nur noch als
Bezeichnung der christlichen caritas geläufig.
Die christliche Neubedeutung von 'Brüderlichkeit' hat sich in der Arbeiterbewegung
nur sehr allmählich abgeschwächt. Noch im Mai 1848 schrieb HERMANN GOTT-
SCHALK in der „Zeitung des Arbeitervereins zu Köln", daß die Lehre Jesu Christi
die erhabenste, heiligste Lehre sei, weil sie die Brüderlichkeit aller Menschen ver-
kündet habe118• Und „Die Verbrüderung", das Organ der „Deutschen Arbeiter-
Verbrüderung", veröffentlichte im März 1849 ,;Zehn Gebote der Arbeiter", von
denen das zehnte lautete: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Nur so
gelingt es dir, der Knechtschaft dich zu entziehen. Nur so kannst du wahrhaft frei sein,
denn Freiheit und Gleichheit gehen nur von einem Dritten: der Brüderlichkeit aus119•
Es besteht kein Zweifel, daß der Begriff der Brüderlichkeit in der Revolution von
1848 zu den zentralen politischen Begriffen der deutschen Arbeiterbewegung ge-
hörte. In ihm kam das endlich freigelassene Vereinigungsstreben der Arbeiter-
Handwerker zum Ausdruck, die zur Durchsetzung ihrer politischen und sozialen
Emanzipation auf Zusammenschlüsse der einzelnen in größeren Gruppen ange-
wiesen waren. Der Gesinnung gegenseitiger Brüderlichkeit entsprach der Hang
zu gemeinsamer Verbrüderllilg. Wo sich deutsche Arbeiter in der Revolution
zusammenschlossen, war von 'Brüderlichkeit' die.Rede und stellte sich der Begriff
der Verbrüderung ein zur Bezeichnung der in die Realität umgesetzten oder auf
politische Anerkennung drängenden „Brüderlichkeit".
Am stärksten wirkte die Ideologie der Brüderlichkeit in der großen „Allgemeinen ·
Deutschen Arbeiter-Verbrüderung", zu der sich im Herbst 1848 verschiedenartige
Arbeitervereine aus ganz Deutschland zusammenschlossen. Schon der Name
„Arbeiter-Verbrüderung" war bezeichnend. In den Grundstatuten vom Februar
1850 wurde die Brüderlichkeit zum alleinigen Vereinsprinzip erhoben: Die Arbeiter-
Verbrüderung hat den Zweck, unter den Arbeitern aller Berufsarten eine starke Ver-
einigung zu begründen, welche, auf Gegenseitigkeit und Brüderlichkeit gestützt, die
Rechte und den Willen der einzelnen zu einer Gesamtheit, die Arbeit mit dem Genuß
vermitteln soll120•
'Brüderlichkeit' erschien hier wieder als sozialer Gesinnungsbegriff mit ausschließ-
lichem Bezug auf die Arbeiter. Die Mitglieder der ,,Arbeiter-Verbrüderung'' legten
den Begriff sehr konkret aus. Die Grundsätze verpflichteten sie zur Verwirklichung
des Zwecks der Verbrüderung, sich zu be~~onderen Ge.~ellschaften ( Associationen)
zusammenzuschließen. Solche speziellen Verbrüderungen sind auch in reicher Zahl
117 K. SCHil'PER: Treue, Re.dliekkeit und Bruderliebe; zit. SCHIED ER, Arbeiterbewegung, 326.
Vgl. ANDREAS SCHERZER: Geaelladtaft der Bruderliebe; Ermahnung zur Nächstenliebe an die ·
deutsche Jugend (Flugsohr., Paris 1842),zit. ScmEDER, Arbeiterbewegung,284. W. WEIT-
LING: Banner der Bruderliebe; Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte (Paris 1838/
39). Betrachtungen eines deutschen Arbeiters über die neuesten Maßregeln der deutschen
Bundesregierungen: Gefühle der Bruderliebe (Flugblatt 1835).
118 H. GOTTSCHALK, Kommunistisches Glaubensbekenntnis, in: Zeitung des Arbeitervereins
zu Köln, 7. 5. 1848.
119 Die Verbrüderung, 9. 3. 1849.
120 Zit. FRoLINDE B.ALSER, Sozial-Demokratie 1848/49-1863, Bd. 2 (Stuttgart 1962), 508.
575
Brüderlichkeit m. 8. Arbeiterbewegung
1909), 445.
124 Neue Kölnische Zeitung, 12. 4. 1849.
126 H. HEINE, Lutezia 1, 15. SW Bd. 6 (1887 ff.), 230.
126 Ders., Denkworte für Ludwig Markus vom 22. 4. 1844, zit. WALTER WADEPUHL, Heine-
576
b) Revolutionäre Intelligenz Brüderlichkeit
Endlich hat die. Fraternih-ierung der Nationen heutzut<zge ebenfalls mehr als je eine
rein soziale Bedeutung. Die Hirngespinste von eur<Ypäischer RepUblik, eWigem Frieden
unter der politischen Orrganisation sind ebenso l,ä,cherlich geworden Wie die Phrasen
von der Vereinigung der Völker unter der lfgide allgemeiner Handelsfreiheit; und wäh-
rend so alle chimärischen Sentimentalitäten dieser Art ganz außer Kurs kommen, fangen
die Proletarier aller Nationen, ohne viel Wesens davon zu machen, schon an, unter
dem Banner der kommunistischen Demokratie Wirklich zu fraternisieren. Die Prole-
tarier sind auch die einzigen, die dies Wirklich können; denn die Bourgeoisie hat in
jedem Lande ihre Spezialinteressen und kann, da ihr das Interesse das Höchste ist,
nie über die Nationalität hinauskommen; und die paar Theoretiker bringen mit all
ihren schönen „Prinzipien" nichts fertig, weil sie diese Widersprechenden Interessen,
Wie überhaupt alles Bestehende, ruhig fortbestehen lassen . . . Die Proletarier allein
können die Nationalität vcrniohtcn, das crwaohcndo Prolotariat alloin kann dio vor
schiedenen Nationen /rat,ernisieren lassen128• Der Brüderlichk:eitsbegriffwurde damit
von Engels von seinem bürgerlichen Ursprung gelöst und zum Solidaritätsbegriff
für die beginnende Arbeiterbewegung erhoben. Ähnlich wie Marx war Engels der
Überzeugung, daß das Gefühl der allgemeinen Brüderlichkeit, von dem Weitling
auf dem von Engels beschriebenen Fest sprach, seine völkerverbindende Kraft er-
weisen könnte, wenn ca im Sinne eines Klo.aaonbogriffs vo:ratandon würdoln, Mit der
fortschre.it.i~nil1m Formn lifmmg ihrer polithmhen Theorie de11 Kla1111enkampfe11 iRt der
Begriff der Brüderlichkeit für Marx und Engels jedoch in zunehmendem Maße
unbequem geworden. Schon im Herbst 1846 mokierte sich Engels über das Gestöhn
von Brüderlichkeit130 , Nach ihrem Eintritt in den „Bund der Gerechten" und dessen
Umformung in den „Bund der Kommunisten" ersetzten sie 1847 dessen alte Parole
Alle Menschen sind Brüder durch das klassenkämpferische Proletarier aller Liinder
vereinigt euch! Diese Änderung entsprang zweifellos der Befürchtung, daß das Ziel
allgemeiner Menschenverbrüderung von dem Programm proletarischer Klassen-
solidarität ablenken könnte. Durch den Verlauf der Revolution von 1848 in Frank-
reich sah Marx sich in seinen Befürchtungen bestätigt: Die Fraterniti, die Brüder-
lichkeit der entgegengesetzten Klassen, von denen die eiri,e die andere exploitiert, diese
Fraternite, im Februar proklamiert, mit großen Buchstaben auf die Stirne von Paris
geschrieben ... - ihr wahrer ... Ausdruck, das ist der - Bürgerkrieg. . . Die Brüder-
lichkeit währte grade so lang, als das Interesse der Bourgeoisie mit dem Interesse des
Proletariats verbrüdert war131 • Und zwei Jahre später schrieb er im Rückblick
auf die „Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850": Alle Royalisten ver-
wandelt.en s1:cn. damals 1:n Rep1tblikaner 1tnd alle Mülümäre 11nn Pari.~ in Arbeiter.
Die Phrase, wekhe dieser eingebildeten Aufhebung der Klassenverhältnisse entsprach,
war die fraterniti, die allgemeine Verbrüderung und Brüderschaft. Diese gemütliche
Abstraktion von den Klassengegensätzen, diese sentimentale Ausgleichung der sich
widersprechenden Klasseninteressen, diese schwärmerische Erhebung über den Klassen-
kampf, die fratemiti, sie war das eigentliche Stichwort der Februarrevolution132•
'Brüderlichkeit' erschien hier geradezu als der Gegenbegriff zu Marx' geschichts-
128 F. ENGELS, Das Fest der Nationen in London, MEW Bd. 2 (1959), 614.
119 Ebd., 021.
130 Ders., Briefv. 23. 10. 1846, MEW Bd. 27 (1963), 63.
131 MARX, Die Junirevolution, Neue Rheinische Zeitung, 29. 6.1848, MEW Bd. 5 (1959), 134.
132 Ders., Die Klassenkämpfe iri Frankreich 1848 bis 1850, MEW Bd. 7 (1960), 21.
37-9038511 577
Brüderliebkeit m. 8. Arbeiterbewegung
philosophischem Zentralbegriff 'Klassenkampf'. Beide schlossen einander nach
seiner Theorie aus, wenn 'Brüderlichkeit' nicht nur als klassengebundener, sondern
auch als klassenüberwindender Integrationsbegriff verstanden wurde.
c) 'Brüderlichkeit' und 'Solidarität'. Marx' Kritik an der bürgerlich-proletarischen
Zusammenarbeit in der Februarrevolution zielte darauf ab, die Begriffe 'Brüderlich-
keit' und 'Verbrüderung' aus dem Vokabular der Arbeiterbewegung zu verbannen,
zu dem sie 1848 vorrangig gehört hatten. Dieser ganz und gar theoretische Versuch
einer ideologischen Begriffsmanipulierung mußte scheitern, weil er dem Bedürfnis
der Arbeiter zuwiderlief, ihrer spezifischen Form der Gesinnungsgemeinschaft be-
grifflich Ausdruck zu geben. Im übrigen entsprach das pointiert antinationale
Klassenkampfdenken bis in die siebziger Jahre hinein keineswegs dem politischen
Bewußtsein wenigstens der deutschen Arbeiterbewegung. Der aufklärerische Op-
timismus, auf friedlichem Wege zu Verbrüderung der Nationen zu kommen, den
die Arbeiterbewegung von der bürgerliehen Bewegung geerbt ho.ttc, lebte im Brü-
derlichkeitsdenken der Arbeiterbewegung weiter.
Wohl am reinsten ist dies in der Arbeiterbewegung der Österreichisch-Ungarischen
Monarchie zu erkennen, in der der Wortscha.tz der Brüderlichkeit bis tief in die
achtziger Jahre hinein - den täglichen Erfordernissen des Vielvölkerstaates ent-
sprechend - geläufig blieb. Der humaniwre <hundsatz der sozialenVerbrüderung133
erschien hier als ideologische Basis der proletarischen Zusammenarbeit, sollte aber
nicht nur die Arbeiter einigen, sondern auch die Voraussetzung für die imernationale
Verbrüderung der Völker sein1 34, und zwar für eine Verbrüderung aller Menschen
ohne Unte't'schied de'I' Nationalitat, Konfession oder RMse11l6. Es ist jedoch zu be-
merken, daß in der Sprache der von Marx unmittelbar beeinßußten Propagandisten
der „Internationalen Arbeiter-Assoziation" (lAA) der Begriff der Brüderlichkeit
in gewissem Umfang verdrängt worden ist. Er wurde durch den bis dahin wenig
gebräuchlichen, erst durch die Sozialtheorie von FoURmR wohl allgemeiner in
Umlauf gebrachten Begriff der 'Solidarität' ersetzt138• Beide Begriffe wurden, mit
deutlicher Begrenzung auf die gegenseitigen Beziehungen der Arbeiter untereinan-
der, synonym gebraucht, mit gelegentlichen tautologischen Überspitzungen. Das
Eindringen des neuen Begriffs für eine gleiche Sache zeigte jedoch deutlich das Be-
mühen an, die spezifische Gesinnungsgemeinschaft der Arbeiter begrifflich heraus-
zuheben. .
Das provisorische Reglement der IAA von 1864 sprach von der ,,olidariti entre le.~
ouvriers des diverses professions dans chaque pays, et d'une union fraternelle entre
les travailleurs des diverses contrees137 • J. PH. BECKER schrieb dazu erklärend in
seinem „Vorboten": Die IAA will aller ... VO'I' allem die l>estehenden Arl>eiter-
188 Der Arbeiter (Prag 1871), Nr. 1, 10. 1. 1871.
184 Der Arbeiterfreund, Reichenberg, 10. 2. 187'Z.
la& Volksfreund, Brünn, 12. 8. 1886.
136 Vgl. HIPPOLYTE RENAUD, Solidarite. Vue synthetique de la doctrine de Charles Fourier
(Paris 1842 und weitere sieben Auflagen bis zum Ende des Jahrhunderts, dt. Zürich
1855); dazu ABTHUR E. BESTOR, The Evolution of the Socialist Voca.bulary, Journal of
the History of Ideas 9 (1948), 273.
187 La Premiere Internationale, receuil de documenta, M. JACQUES FREYMOND et HENRI
BURGELIN, t. 1(Genf1962), 10; vgl. ähnlich die Statuts generaux der IAA von 1871, ebd.,
t. 2 (1962), 245. "
578
m. 9. Bürgerliehe Reaktionen Brüclerliehkeit
579
Briiderlichkeit m. 10. Kirebliche Reaktionen
so unglücklich beherrschten, zusammen. Er plädierte stattdessen für eine Brüderlich-
keit, die in der Anwendung christlicher Grundsätze bestehen sollte. Ahrens beurteilte
die sozialistischen Einflüsse mit einem Seitenhieb auf den zur Zeit der Restauration
herrschend gewordenen oberflächlichen, sei es religiös indifferenten oder irreligiösen
Liberalismus nicht so eindeutig negativ wie Welcker. Die Saint-Simonisten hätten
bis zum Überdrusse die unbestreitbare Tatsache dargelegt, daß . . . die höhere, in Gou
als gemeinsamem Vater gegründete Bruderschaft aller Menschen in eine der höheren
Beziehung entbehrende Brüderlichkeit umgewandelt sei. Ahrens setzte damit die
moderne 'Brüderlichkeit' der traditionellen 'Bruderschaft' entgegen'. Er plädierte
im Anschluß daran für die Wiedereinrichtung von Genossenschaften des deutschen
Lebens und Rechtes, in denen der Geist der christlichen Brudergesinnung. ver-
wirklicht werden sollte.
141 JoH. HINRICH WICHERN, Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche (1849),
SW Bd. 1 (1962), 274 f.
uz WESSEL, RGG 3. Aufl., Bd. 1 (1957), 1428.
143 JUAN EUSEBIO NIERENBERG, Geistliche und gottselige Bruderschaft (Nürnberg 1670).
580
IV. Ausblick Brüclerlichkeit
heiligen Elisabeth" 1844 in den Statuten gesagt, daß das Auge GoUes um so mehr
auf ihrem Walten ruhe, je inniger die drei evangelischen Räte Armut, Keuschheit
und Gehorsam vom Band schwesterlicher Liebe und Achtung umschlungen würden146•
Die Betonung der brüderlichen oder schwesterlichen religiösen Gemeinsamkeit
schloß hier wie auch sonst innerhalb der katholischen Orden eine Abwendung
von der revolutionären Brüderlichkeitsidee mit ein.
IV. Ausblick
Der moderne Begriff der Brüderlichkeit wurde geboren in einem umfassenden
Ablösungsprozeß, durch den sich das bis dahin ständisch gebundene Bruderdenken
verselbständigte. Als politischer und sozialer Expansionsbegriff wirkte er zugleich
zerstörend und konstruktiv; zerstörend, indem er traditionelle politische und soziale
Ordnungen gedanklich überwinden half, konstruktiv, weil sich in ihm Hoffnungen
auf neue Ordnungen manifestierten. Diese institutionellen Erwartungen ergaben
sich vor allem aus der Aufnahme des Begriffes in die triadische Formel „Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit". Das von seinen Protagonisten erhoffte Zeitalter der
Brüderlichkeit blieb jedoch unvollendet. Der Begriff der Brüderlichkeit hat keine
dauerhaften politischen und gesellschaftlichen Formen geschaffen, etwa von der Art
der mittelalterlichen Bruderschaften. Er blieb ein reiner Gesinnungsbegriff, für
Demokraten und Sozialisten, Konservative und Liberale gleichermaßen verfügbar,
obwohl er seiner ursprünglichen Intention nach auf institutionelle Verankerung
angelegt war. Ungeachtet gewisser Abnutzungserscheinungen hat der Begriff das
19. Jahrhundert überlebt. Er ist auch im 20. Jahrhundert noch unter wechselnden
Vorzeichen verwendet worden, zum Beispiel in den europäischen Einigungsbewe-
gungen seit den zwanziger Jahren, in der kommunistischen Internationale oder in
der Ökumenischen Weltkirchenbewegung. Auch gelegentliche faschistische Kampf-
ansagen haben den Begriff nicht aus dem politischen Vokabular verdrängen können.
Auf eine eingehende Darstellung dieser letzten Phase der Begriffsgeschichte von
'Brüderlichkeit' kann indessen hier verzichtet werden, da sich der Begriff seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts strukturell nicht mehr verändert hat. Eine Aufzählung
aller Bedeutungsschwankungen hätte rein statistischen Wert, ohne doch zur
Klärung des Begriffes weiter beiZutragen.
Literatur
ADALBERT EBNER, Die klösterlichen Gebets-Verbrüderungen bis zum Ausgang des karo-
lingischen Zeitalters. Eine kirchengeschichtliche Studie (theol. Dies. München; Regens-
burg, New York, Cincinnati 1890); FELDMANN (1911 ), 242 ff.; GERHARD KilsER, Pietismus
und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisa-
tion (Wiesbaden 1961); REINHART KosELLECK, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Patho-
genese der bürgerlichen Welt (Freiburg, München 1959; 2. unv. Aufl. 1969); JosEl'H
RATZINGER, Die christliche Brüderlichkeit (München 1960); KARL HERMANN SCHELKLE,
Art. Bruder, Rlex. Ant. Chr., Bd. 2 (1954), 631 ff.; STAMMLER (1954), 97 ff.
WoLFGANG ScHmDER
1" J. JUNGNITZ, Die Kongregation der grauen Schwestern von der heiligen Elisabeth
(Breslau 1892), 15.
581
Bund
Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat
I. Einleitung•
Das Bedeutungsfeld von 'Bund' reicht potentiell so weit wie das von Gesellschaft.
Freilich setzt ein Bund engere Beziehungen im religiösen, sittlichen, rechtlichen
oder politischen Bereich voraus, als sie ·.mit dem Ausdru,ck 'Gesellschaft' assoziiert
werden. Anthropologisch genommen ist jedenfalls das bündische Element für histo-
rische oder strukturale Fragen so unentrinnbar, wie die Gesohleohtsbestimmungcn
des Menschen es sind; Bundesformationen gehören zum menschlichen Dasein
schlechthin, 'Bund' indiziert ein Vorgebot zwischenmenschlicher Zusammenschlüs-
se, so wie heute. die Alltagssprache Varianten kennt, die vom Ehebund über den
Freundschafts- oder Männerbund bis zum Bundesstaat oder Völkerbund reichen.
Die Dehnungsfähigkeit unseres Wortsinnes deckt den engsten wie den weitesten
Verband ein, bis hin zum jüdisch-christlichen Bund mit Gott1 •
Die in unserer Gegenwartssprache enthaltene Betonung von Gefühlsmomenten
grenzt 'Bund' deutlich von Nachbarwörtern wie 'Verein', 'Verband', 'Gemeinschaft',
'Genossenschaft' oder 'Gesellschaft', 'Bündnis' oder 'Vertrag' ab. Eine Begriffsge-
schichte des Bundes muß um so mehr auf eine exakte Eingrenzung achten,· als es
sich um einen Grundbegriff der menschlichen Verfassungsgeschichte handelt, der
sich in leere Allgemeinheiten verflüchtigt, wenn er nicht durch jeweilige Definitionen
präzisiert wird. Im folgenden geht es daher nicht darum, alle gemeinten Sachver-
• Für zahlreiche Hilfen danke ich den Herren Jörg Fisch und Horst Günther sowie den
Studenten eines gemeinsamen Seminars.
1 THOMAS VON AQUJN:. fool'U8 amicitiae hominis ad Deum,- fool'U8 societ.ati& kumanae,·
Summa theologiae, Suppl. zu Tl. 8, qu. 6ö, a.rt. 4. Opera, t. 12 (1906), Suppl. p. 133.
682
D. 1. Wort• und terminologiegeschichtliche Vorbemerkung Bund
halte unter ihrer jeweiligen Bundesbezeichnung in den Blick zu rücken. Vielmehr sind
soziale und politische Erscheinungen auszulesen, die im deutschen Sprachbereich
. nur vom Wort 'Bund' her auf ihren geschichtlichen Begriff erhoben worden sind. ·
Historisch gesehen, kann der Bund seit rund 1800 als vorstaatlich, außerstaatlich,
innerstaatlich, zwischenstaatlich und überstaatlich, schließlich im wichtigen Spe-
zialfall als bundesstl).atlich interpretiert werden. Für die Hypothese einer „Sattel-
zeit", daß sich im Zeitraum vor und nach der Französischen Revolution ein ent-
scheidender Begriffswandel vollzogen habe, ist dieser Negativkatalog wegweisend.
Das Verständnis vom „Bund" wurde zunehmend aus seiner Beziehung zum „Staat"
gewonnen.
Die geschichtlichen Etappen, die das Heilige Römische Reich in seiner Relation
imm „Staat" als einer entstehenden modernen Verfassungsbauform durchlaufen hat,
können nur verstanden werden, wenn die Bundes- und Einungsformen der Stände
mit einbezogen werden. In gewisser Hinsicht läßt sich die Geschichte des Reiches
nur erklären, wenn beriickRichtigt wird, wie sehr Einungen, Föderationen und
Allianzen das Reich zugleich ausgezehrt und erhalten haben, - bis das Reich voll-
ends in der Nachfolgeformation eines Deutschen Bul}des 1815 aufging, der seiner-
seits durch den Bundesschluß von 1871 abgelöst wurde. Wie die Präambel der
Bii,imarckschen Verfa§lsung stilisiert wurde: Seine Majestät der König von Preußen
im Namen des Norddeutschen Bundes (und die anderen Herrscher) schließen einen
ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes . . . Dieser Bund wird den Namen
Deutsches Reich führen 2 • Seit dem Zerfall des Deutschen Reiches als Staat hat die
Herausforderung zu bündischen Organisationsformen im W ei,iten und im Osten,
wie auch zwischen West- und Ostdeutschland, eine neue Aktualität gewonnen. Die
politische Testfrage an bündische Formen jedweder Art scheint immer noch auf die
staatliche Souveränität und deren Anerkennung zu zielen.
'Bund' und seine Nebenformen, aus der idg. Wurzel *-bhend (binden; wie lat.
fascis, fides, foedus aus *-fad, *-fid, *-fod), sind erst spät in der mittelhochdeutschen
Rechtssprache aufgetaucht. Die ersten Belege .stammen aus der zweiten Hälfte
des 13. Jahrhunderts 3 • Älter und wesentlich häufiger gebräuchlich war das Wort
'Einung'' (ahd. einunga), neben dem der speziellere Ausdruck 'Bund' seltener ver-
2 Verfassung des Deutschen Reiches v. 16. April 1871, Dokumente zur deutschen Ver-
fassungsgeschichte, hg. v. ERNST RUDOLF HUBER, Bd. 2 (Stuttgart 1964), 290.
8 Di aaetzz und die bunde alle Bf.aete kalten (Oberösterreich 1281); umb alle artikel, gesetz
und pünde ..• getrewlich pfenden (Nürnberg 13. Jahrhundert); RWB Bd. 2 (1932/35), 567.
Beide Belege lassen auf einen älteren Gebrauch schließen. Ferner GRIMM Bd. 2 (1860),516ff.
"NOTKER 1, 31: tiu einunga hiez aenatuscon.mltum (11. Jahrhundert), zit. RWB Bd. 2, 1477;
weitere Belege ebd., 1477ff.; GRIMlll Bd. 3 (1862), 333f.; JACOB GRIMM, Deutsche Rechts-
alterthümer, 4. Aufl., Bd. 2 (Leipzig 1899), 141. Vgl. auch den Beleg von 1203: unitas
mdgarirer Mninge dicitur, zit. B. H. SLICHER VAN BATH, Nederlandsche woorden in La.-
tijnsohe oorkonden en registers tot 1250, Tijdschrift voor Nederlandse Ta.al- en Letter-
kunde 65 (1948), 49.
583
Bund II. 1. Wort• und termino)o~egeschichtliche Vorbemerkung
wendet wurde. 'Bund' gehört in das stark besetzte Wortfeld, in dem sich Einung,
Einigung, Gelübde, Verständnis, Frieden, Freundschaft, Bruderschaft, Gesellschaft,
Genossenschaft, speziell Eidgenossenschaft und ähnliche Ausdrücke der spätmit-
telalterlichen Rechtssprache überlappen. Terminologisch lassen sich diese Ausdrücke
so wenig bestimmten rechtlichen Sachverhalten eindeutig zuordnen wie die lange
Reihe der lateinischen Äquivalente: foedus, foederatio, confoederatio; unio, liga,
amicitia, fraternitas, conjuratio, conspiratio; communitas, societas, concordia,
harmonia, universitas und entsprechende termini. So sicher ein bestimmter Aus-
druck eine konkrete Rechtslage umschreiben mag, so wenig lassen sich aus dem
Sprachgebrauch klare Verallgemeinerungen ableiten.
Für die Herausbildung „internationaler" Verträge boten sich lange Zeit lehens-
rechtliche Formen an 5 • Auch für Bündnisverträge deutscher Herrscher mit Reichs-
angehörigen im 12. und 13. Jahrhundert ist gezeigt worden, daß sie oft in die Form
einer Privilegienverleihung, Lehensverpfilchtung oder einer Verpfändung stili-
siert wurden 6 • Hinter ihnen haben sich de facto Herrschaftsverträge, Kriegsbünd-
nisse, Rückversicherungs-, Anerkennungs- oder Soldbündnissc versteckt. Gleich-
zeitig erscheinen für zweiseitige Abmachungen politisch gleichberechtigter Partner
Ausdrücke wie oompositio, conventio, pactum et concordia. Aber der Sprachgebrauch
auch solcher Jj'ormeln ist nicht eindeutig, wie etwa die Unterwerfung (deditio) Mai-
lands 1158 als fedus oder pactum umschrieben werden konnte. Trotz der Juristifi-
zierung der mittellateinischen Rechtssprache gab es anscheinend keine formalen
Kriterien, die die Wortbedeutungen bestimmten Sachverhalten zweifelsfrei zuord-
nen konnten. So sehr etwa im frühen Mittelalter die fraternitas eine Steigerung der
amicitia anzeigte und so sehr beide Ausdrücke eine engere Bindung meinten als
eine confoederatio 1 , bleibt es doch unwahrscheinlich, daß später aus solchen Aus-
drücken verschiedene Rechtsfolgen ableitbar waren, - wenn etwa Karl IV. und
seine Verbündeten mit Verona 1354 einen Vertrag schlossen, der zugleich liga,
unio, fraternitas et con/oederatio genannt wurde8. Grundsätzlich ist davon auszu-
gehen, daß bei der Würdigung einer spätmittelalterlichen Rechtsfigur „zwischen
deren äußerer Gestalt und dem sachlichen Gehalt streng unterschieden werden"
muß 9 • Die häufige Verwendung von Tarnformen10 zwingt dazu, die Rechtsausdrücke
durch konkrete Kontextanalysen in ihre eige:r;itliche Begrifflichkeit zu übersetzen.
Foedus, Amicitia, Fraternitas] (phil. Dias. Münster 1959); WILHELM JANSSEN, Die Anfänge
des modernen Völkerrechts und der neuzeitlichen Diplomatie. ·Ein Forschungsbericht
(Stuttgart 1965), 37ff.
8 Acta imperii inedita, hg. v. EDUARD WINXELMANN, Bd. 2: Urkunden und Briefe zur
Geschichte des Kaiserreichs und des Königreichs Sicilien in den Jahren 1200-1400
(Innsbruck 1885), 853.
8 GÖTZ LANDWEHR, Königtum und Landfrieden. Gedanken imm Problem der Rechts-
584
II. 2. Die historische Ausgangslage für den Sprachgebrauch von 'Bund' Bund
11 Ebd., 2lf.; vgl. ders., Die Willkür. Eine Studie zu deren Denkformen des älteren
deutschen Rechts (Göttingen 1953).
12 OTTO GIERXE, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1 (Berlin 1868), 269f.
18 ERNST Bocx, Monarchie, Einung und Territorium im späteren Mittelalter, Hist. Vjschr.
24 (1929), 557ff.
14 Vgl. HEINZ ANGERMEIER, Königtum und Landfriede im deutschen Spii.tmittelalter
(München 1966). Zu unbefristetem Landfrieden vgl. JoACBIM GERNHUBER, Die Land-
friedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235 (Bonn
1952), 40, Anm. l.
16 FRITZ HARTUNG, Geschichte des fränkischen Kreises, Darstellung und Akten, Bd. 1
585
Bund II. 3. Die 111.iiaducb ahgeKbicbtete Bündoia&eibeit
beitraten, desto stärker wurden die -zentrifugalen Kräfte, die schließlich dahin führ-
ten, das Reich in einen neuen Aggregatzustand zu versetzen. Aus der Bundesfähig-
keit mehrerer Stände wurde das Bündnisrecht der Territorialherrschaften. Aus dem
Schachtelsystem sich überlappender Einungen mit verschiedenen Intensitätsgraden
ihrer Organisation entfalteten sich mit der Tendenz zur Flächenherrschaft die Für-
stenstaaten.
586
II. 3. Die ständisch ahgeschicbtete Bündnisfreiheit Bund
587
Bund II. 3. Die ständisch abgeschichtete Büncbüsfreiheit
Kosten der städtischen und ritterlichen Freiheit auf die Kurfürsten und Fürsten
zugmmhnit,t.im worrlen war, zeigt per negationem der § 6: wir sollen und wellen auch
alle unzimblicke, kessige Pundnuß, Verstrickung und Zusammenthun der Undertha-
nen, des Adels und gemeinen Volgs, auch die Emporung, Aufruhr und ungeburlich
Gewelt gegen den Ohurfursten, Fursten und andern f orgenomen und die hinfuro ge-
scheen möchten, aufheben, abschaUen und für die Zukunft verbieten 2 5.
Die Bündnisfreiheit hatte sich also, rein legal gesehen, auf die oberen Stände einge-
pendelt, und zwar auf Kosten des Kaisers (nicht in seiner Eigenschaft als Landes-
herr) und der unteren Stände.
Die tatsächlichen bündischen Machtverhältnisse kamen hinter solchen Verboten
und Vorbehalten freilich nur undeutlich zum Ausdruck. Die kaiserlichen Erklärun-
gen wurden immer wieder durchbrochen, sei es durch eine erzwungene Duldung der
Bw.ule, Mei e8 durch deren Legalisierung in Form von Landfriedenseinungen. So ist
schon Wilhelm von Holland dem Rheinischen Stii.cltt~hnnrl, rl1m c.1'.uitates sancte pacis
federe coniurate 26 beigetreten, um dem Bündnis seine politische Spitze zu nehmen
und es als königlichen Landfrieden auf eine reichsrechtliche Ebene zu heben 27 •
Diese Tendenz fand auch ihren sprachlichen Ausdruck. 'Einung' und 'Bündnis' der
Stände gehören zur realen Voraussetzung der Landfrieden, aber es war die Regel,
seitens der Könige diese Au8drücke zu vermeiden - vor allem die Benennung
'Bund' -··, aob11ild aic eine eigenständige OrganisaLiou ui;:r SLii.udt1 an?.eigten. In
königlich-ständischen Vereinbarungen werden fast immer Fürsten, Herren und
Städte einzeln aufgezählt, selbst wenn diese unter sich eine eigene Verbindung ein-
gegangen waren. Freilich drückten Notlagen die kaiserliche Anerkennung von
Bündnissen durch. Als Ludwig der Bayer im Streit mit Johannes XXII. lag, schloß
er selber - in Form eines Gebotes - einen Bund mit 22 schwäbischen Reichs-
städten und dem Bischof von Augsburg, um in Süddeutschland den Landfrieden
zu sichern, und zwar mit einer Geltungsdauer von zwei Jahren über den Tod des
Kaisers hinaus, um die Nachwahl sicherzustellen. Der terminut1 technicus dieses
kaiserlich-zwischenständischen Vertrages war buntnust bzw. bungnust (1331) 28• Im
ganzen herrschte die Tendenz, Bündnisse „aufzulösen", um sie durch regionale oder
Reichsfriedensverträge in „Landfrieden" zu überführen. So wurde etwa 1350 von
Karl IV. die coniuratio cimtatum suetlicae aufgelöst, um als Landfriede doch geduldet
zu werden 29 • So mußte Karl IV. zu Ende seiner Regierung 1378 den Landfrieden in
Franken und Bayern in der üblichen Doppelform von lantfrid und puentnuezz ver-
künden30. So delegierte Sigismund einzelnen Kurfürsten das Recht, in seinem Na-
ha.t; zit. VISCHER, Geschichte, 187. Eine nicht vollzogene kaiserliche Bestätigung des
schwäbischen Bundes unter dem Na.men·bunt aus dem Jahre 1387 referiert JosEF VocHE·
ZER, Zur Geschichte des schwäbischen Städtebundes der Jahre 1376--1389, Forsch.
z. dt. Gesch. 15 (1875), 4 ff.
588
II. 3. Die ständisch abgeschichtete Bündnisfreiheit Bund
men friede, lantfriede, eynunge und verbuntnisse mit fursten . . . steten und gemeinden
zu unsern und des rychs eren und nucz zu machen, die gemachten abzunehmen und zu
widerrulfen (1418 und 1422) 31 • Im gleichen Jahr verfolgte er auch zum ersten Mal
die Politik- entgegen der Goldenen Bulle-, ausdrücklich die Stiftung von Bünden
niederer Stände, und zwar speziell der Reichsritterschaft, zu legalisieren: Daß des
Reiches Ritterschaft sych miteinander verbinden und vereynen sollen und moegen wie
sy das am besten zu seyn bedunken wirt das sy bey gleich und recht bleiben, und das sy
auch unsere und des richs stete in denselben bunt wol nemen moegen die sich zu in wolten
verbinden, doch uns und unsere nachkommen an dem heiligen römischen riche ausge-
nommen, das uns und denselben unseren nachkommen am reiche derselb bunt unsched-
lich sein sol 32 • Schließlich wird unter dem Druck der Hussitenkriege im Heeresan-
schlag (auf dem Nürnberger Reichstag 1431) der Terminus 'Bund' verwendet. Der
Bodenseebund = ein pund, die Schweizer eitgenossen und der Schwäbische Stll.dte-
hun<l unter Ulm = ein bund tauchen unter diesen Kollektivnamen auf33,
Friedrich III. veranlaßt auf dem Verordnungswege zum Schutz des gemeinen Land-
friedens ein zwischenständisches Bündnis der Ritter und Städte zu Schwaben, dem
auch verschieden Fürsten beitraten, - politisch eine Koalition gegen Wittelsbach
und die Schweiz 34 • Das kaiserliche Mandat von 1488 richtet sich an die gesellschafft
und verainigung Sanct J/Jrgen schilts in Schwaben und an die schwii.bfachen SLii.uLe -
einzeln aufgeführt-, die zusammen eine verainung und ein verpuntniß cingingen 36 •
Dieser letzte t!Chwäbische Bund wurde ein Instrument habsburgischer Politik, so
daß Maximilian, der selber beigetreten war, bei der Erneuerung der Verfassung
1500 sogar den Namen eines küniglichen Bundtes verwenden konntc38. 'Bund'
bezeichnet .hier jene größtmögliche Organisationsform, innerhalb deren ein zwi-
schenständischer Interessenausgleich, eine relative Friedenswahrung und ein kaiser-
licher Machtbereich mit wechselnder Intensität gerade noch zur Deckung kamen,
während all dies im Gesamtverband ues Reiches einheiLlich nicht zu regeln war.
Der Schwäbische Bund zerfiel, als zu den inneren Konflikten, die in der Front gegen
die Bauern vorübergehend zurücktraten, die konfessionellen Streitigkeiten hinzu-
kamen.
81 Ernennung des Erzbischofs Konrad III. von Mainz zum Statthalter in Deutschland
durch König Sigmund (25. 8. 1422), RTA Bd. 8(Ndr.1956),190; zit. ANGERMEIER, König·
turn, 352. Vgl. die entsprechende Ernennungsurkunde für Kurfürst Friedrich 1. von
Brandenburg (2. 10. 1418), RTA Bd. 7 (Ndr. 1956), 372 f.
32 RTA Bd. 8, 219 f.
33 Heeresanschlag gegen die Hussiten vom Nürnberger Reichstag (1. 3. 1431), ZEUMER,
Quellensammlung, 246.
H ERNST BocK, Der Schwäbische Bund und seine Verfassungen 1488-1534 (Breslau
1927), 17 f.
85 Jou. PmLIPP DATT, Volumen rerum Germanica.rum novum, sive de pace imperii
publica (Ulm 1698), 281 ff.
88 Ebd., 350. Dor Ausdruck ReichsBund für den Sohwäbisohen Bund taucht in der Ver·
nehmung Balthasar Hubma.iers 1528 auf; Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, hg.
v. GÜNTHER FRANZ (München 1963), 234.
589
Bund II. 4. Zur politischen Semantik von 'Einung', 'Bündnis' und 'Bund'
Es ist ein generelles Merkmal für die Ausdrücke, die den Obergang von Vereinba-
rungen zu Einungen bezeugen, daß sie noch nicht so abstraktionsfähig sind, um als
Modellformel für mögliche Institutionen zu dienen. Selbst die substantivischen All-
gemeinformeln leben aus ihrem jeweils situationsgebundenen Vollzug; sie sind
nicht an sich schon Begriffe, die appliziert würden: der Rechtsakt vollzog sich un-
mittelbar, indem er in jenen Formeln, die beschworen wurden, aufging. Entspre-
chende Obergangsformeln finden sich auch im Lateinischen, wie etwa 1255, als
Hamburg sein mit Lübeck geschlossenes Schutzbündnis auf drei Jahre verlängerte.
Zunächst werden die Bestimmungen verbal umschrieben: concotdavimus et vinculo
indissolubili sie con/ederati sumus, um erst zum Schluß als predicta concordia et.
con/ederacio zusammengefaßt zu werden41 • Ganz analog beginnt der deutsche
SprachgP-hrauch zunächst mit verbalen Wendungen, die den Eidvorgang, die
Rechtshandlung, umreißen: „Wir verbinden, verbüwfon, v1m1Lricken, vereinen,
verpflichten, verschreiben, verlragen uns"; Wendungen, die meist in Zweier-, ge-
legentli~h in Dreierformeln auftauchen und oft in der Vergangenheits- und Geg~n
wartsform zugleich. Erst das Resümee der vollzogenen und beeideten einzelnen
Punkte wird als 'Verbündnis' bzw. als 'Verbündnisse' im Plural zusammengefaßt.
Noch im 14. Jahrhundert wird gern jede Einzelbestimmung als 'Verbündnis' be-
zeichnet, oder 'punkt' wird mit 'punt' kontaminiert.
Im ganzen tritt der Terminus 'Bund' - wenn überhaupt ---' erst rückwirkend und
sekundär für ein bereits vollzogenes Verbündnis auf. So wird etwa der erste ewige
Bund der drei Waldstätte 1291 (pactum quietis et pacis) noch nach der lateinischen
antiqita forma con/ederationis von den conspirati, coniura# bzw. conprovinciali
beeidet. Die Erneuerung 1315 in deutscher Sprache wird dagegen noch rein verbal
beschlossen: Man versichert und bindet sich zusammen ze /ride und ze gemache und
ze nutze und ze eren, und zwar personal als eitgenozen, ohne einen deutschen Allge-
meinbegriff für den Pakt zu benutzen. 1351, als sich Zürich auf ewig den Vierwald-
stätten anschloß, tritt der termiTIUfl technicm1 eineR eungen huntnUSS und fruntschaft
auf, der personal beeidete Zusammenschluß wird auch als gesellschaft bezeichnet.
Dieses aktuelle, gerade vollzogene buntnuss erhält nii.n Rechtskraft vor allen bunden,
die später noch geschlossen werden mögen, ebenso wie die f>unt und gelupt, die.vor-
ausgegangen waren, aus dem Vertragsschluß ausgenommen werden. 'Bündnis' hat
noch die primäre Bedeutung eines präsenten Vollzugsbegriffs, während 'Bund' sich
eher einem Zustandsbegriff nähert. Das wird noch deutlicher in dem ewigen Bünd-
nis vom 4. Juni 1352, wo es heißt, daß unsern alten bunden dise buntnuss unsckedlich
sin soll, an all geverd 42 • Ganz analog haben sich die Kurfürsten zu Rhense 1338 zu-
nächst durch ihren verbalen Schwur vereint, um die Summe ihrer Abmachungen als
verbuntnusse bzw. buntnusse im Plural zu bezeichnen. Kurz darauf, in der Kurfürst-
lichen Erklärung zugunsten Kaiser Ludwigs, wird rückblickend bereits von dem
buntnüss und der verainung im Singular gesprochen4 3. ·
Ohne daß es auf alle sprachlichen Befunde zuträfe, kann man von einem wortge-
591
Bund II. 4. Zm politischen Semantik von 'Einung', 'Bündnis' nnd 'Bond'
44 Vgl. die Bündnisurkunde von 1376 mit den Zusätzen von 1377 bei VISCHER, Geschichte,
188 ff. (s. Anm. 29); dazu auch ebd„ 67 f. 192.
4& Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen, Bd. 4, hg. v. HERMANN WARTMANN (St. Gallen
592
lt) Ständische Sehwcrpunktbildungcn Bund
' 8 Zit. BocK, Schwäbischer Bund, 47, Anm. 5; vgl. DATT, Volumen, 311, wo punt die
Organisation, .Ainung den Vertrag mit der GeseUachaft deß Löwen meint (1490). Vgl. auch
ebd., 292 ff.
111 DATT, Volumen, 292.
60 Pfaffenbrief (7. 10. 1370), NABHOLZfKLÄUI, Quellenbuch, 33.
38-90385/1 593
Bund II. 4. Zur politischen Semantik von 'Einung', 'Bündnis' und 'Bund'
61 Vgl. dazu HERBERT ÜBENAUS, Recht und Verfassung der Gesellschaften mit St. Jörgen.
RWB Bd. 2 (1932/35), 1478. Die folgenden Belege zeigen die Konvergenz mit der Be-
deutung von 'Bruderschaft'. - Die maskuline Form 'der Einung' taucht in der Bedeutung
von „Zwing" und „Bann" einer Landgemeinde auf, wio OsoA.R VOGEL, Der ländliche
Einung nach den zürcherischen Rechtsquellen (phil. Diss. Zürich 1952; Aargau 1953)
nachgewiesen hat. ·
594
b) Ständische Schwerpunktbildungen Buna
595
tum. Zweck des Bündnisses sei der Schutz der Kaufleute zu Lande und zu Wasser.
Die Hanse werde auch nicht von Kaufherren regiert, vielmehr habe jede Stadt
ihren eigenen Herrn. Selbst der Hansetag sei kein consiZium, da er nur von instru-
ierten Gesandten ( oraüwea) beschickt werde. Es gebe auch keine Instanz, Zusam-
menkünfte zu berufen.
Wenn diese Selbstinterpretation au.eh eine diplomatische Untertreibung impli-
ziert, so schilderte sie doch die lockere Institution, die die. VoraUBBetzung einer
elastischen Handhabung der Macht darstellte. Soweit die Hanse wirklich zum
Kriege schritt, mußte sie spezielle Kriegsbündnisse schließen, die nicht ableitbar
waren aus der losen Summe der :Mitgliedstädte ihrer Vereinigung. Das berühm-
teste Bündnis ist die Kölner confoederatio, auch Ziga und verbund genannt, von
136781, in der der Krieg gegen Dänema.rk vorbereitet und beschlossen wurde. Ver-
suche, im 15. ,Jahrhundert die wirtAchaftliche Interessengemeinschaft der Städte
durch militä~ch-politische Zusammenschliisse wie in Süddeutschland mit binden-
den Abmachungen fester zu institutionalisieren - in den sog. 1.'okopesaten -, sind
nicht mehr gelungen82 • Die sprachliche Schwerpunktbildung, die dahin führte, in
der Hanse unter Zurückdrängung aller anderen Bedeutungen vorzüglich die Ver-
bindung von den steten van der duileschen hense zu meinen, entspricht also einem
einzigartigen politisch-sozialen Sachverhalt. Die Hanse war weder ein fester Bund
Wie die Rheinischen oder die Schwäbischen Städtebünde, noch war ihre Vereinigung
abzudecken durch den elastischen Ausdruck eines 'Bündnisses' mit seinen mannig-
faltigen Bedeutungen. Die geschichtlich einmalige Erscheinung hatte ihren einmali-
gen Namen gewonnen.
Eine weitere ständische Schwerpunktbildung läßt sich in der Verwe:µdung des Aus-
druckes 'Gesellschaft' aufzeigen. Obwohl der Terminus gelegentlich auch für die
Städtebünde verwendet wurde, bezieht sich sein häufigster Gebrauch auf die befri-
steten SchwurgenoBSenschaften der nicht fürstlichen Adligen, auf die Einungen des
vorzüglich ritterschaftlichen Adels83 • Zunehmend gegen Ende des 14. Jahrhunderts
bilden sich eine Fülle von Gesellschaften mit speziellen Namen und Wappenzeichen,
besonders im Rheinischen, Fränkischen und Schwäbischen84• Ihr Ziel war, zwischen
ei Ha.nserecesse, 1. Abt., Bd. 1, 373 ff., auch bei DOLLINGER, Hanse, 495.
11 Vgl. den Entwurf eines zwölfjährigen Schutzbündnisses der Hansestädte von 1418,
tozate unde varbund genannt, oder die Bezeichnung der Einigung sächsischer Hansestädte
von 1429, eyningke unde vordracht; Hansisches Urkundenbuch, Bd. 6, hg. v. :KARL KUNZE
(1905), 87 f. 476. Weitere regionale Verträge wurden 1443 unter dem Namen vorBtrickinge
wtuk v1Yrbu1ul, bzw. tulwpe8ate unde vorbuntntsae geschlossen; Hanserecesse, 1. Abt., Bd. 3,
hg. v. GosWIN v. D. RoPP (1881), 32 f. Siehe auch unten S. 618.
ea Zur Terminologie vgl. ÜBEN.Aus, St. Jörgenschild, 9 Anm. 1, 13 f.
" OTTO EBERBAOH, Die deutsche Reichsritterschaft in ihrer staatsrechtlich-politischen
Entwicklung von den Aniangen bis zum Jahr 1495 (Berlin 1913). Als der Kaiser 1495
bei einer Umlage auf die Stände auch von den geaelachaften je 1000 Gulden forderte, ent-
stand über den Ausdruck Streit. Die einen meinten, das die geaelschafften der Ritterschaft /
als sankt Jörigen schiU /der W oZO /Esel/ viach / valcken /und dergleichen Tornerß geaelachaften
/ dalJey verstanden: Die andern mainten /das die kaufleut geaelachaften damit gt1-nent wären.
Letzteres traf zu, worauf sich die Städte gegen Doppelbesteuerung beschwerten, zumal
violo Sfüdto gar koino Handclsgoeellschaften kennten und Handel nur familienweiee be-
trieben würde; DATT, Volumen, 843 f. (s. Anm. 35; dank frdl. Hinweis von Herrn Jochen
Goetze).
596
h) Ständische Schwerpwddhiltlungen
85 Belege hierzu außer in den Büchern von ÜBENAUS und MAu über den St. Jörgenschild
(s. Anm. 51. 52) auch bei GEORG LANDAU, RittergesellschafteninHessen(Kassel1840), 97f.
8 & ÜBENAUS, St. Jörgenschild, 195. ·
17 Unzulänglich darüber BERNHARD HEYDENREICH, Ritterorden und Rittergesellschaften.
Ihre Entwicklung vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit (phil. Diss. Würzburg 1961).
88 GÜNTHER FRANZ, Zur Geschichte des Bundschuhs, Zs. f. d. Gesch. d. Oberrheins
NF 47 (1934), 5.
eo Zit. ebd., 7.
597
D. 5, lnatitutioneile Merkmale
5. Institutionelle Merkmale
Im Wortfeld der 'Einung' siedeln sich nun einzelne institutionelle Merkmale an,
ohne daß sie streng dem einen oder anderen Ausdruck zuzuordnen wären. Gleich-
wohl darf gtlsagt werden, daß die strengste Institutionalisierung im Umkreis der
städtischen 'Bünde' und der ritterschaftlichen 'Gesellschaften' zu fuiden ist, obwohl
viele Merkmale, die aufgezählt seien, auch die Landfriedenseinungen und später die
Kreisorqnuiigen kennzeichnen76 • So wurden zur Rechts- und Friedenswahrung
10 HA.Ns GEORG WAOXERNAGEL, Einige Hinweise auf die ursprüngliche Bedeutung des
n Ebd.,UOf.
'" Ebd., 27. .
11 In dieser Bedeutung von „Verschwörung" ging der Ausdruck 'Bund' ins Slawische über,
vielleicht auch durch die Wirksamkeit des preußischen Städtebundes T Vgl. RWB Bd. 2,
.'.>67: oonfoederationea alias bunty, 1509; ERIOH BERNEKER, Slawisches Etymologisches
Wörterbuch,,Bd.1 (Heidelberg 1908/13), 101.
71 Dazu GIERXE, Genossenschaftsrecht, Bd. 1, 460 f. (s. Anm. 12) sowie die oben aufge-
führte Literatur, besonders ÜBENAUS, St. Jörgenschild (s. Anm. 51).
598
D. 5. Institutionelle Merkmale Bund
des 14. und 15. Jahrhunderts, Wies. Zs. d. Karl-Marx-Universität Leipzig, Ges.- u. sprach-
wiss. R.. 6 (1956/57), 517 ff.
79 Dazu FRITZ HARTUNG, Fränkischer Kreis, 57. 103 f. (s. Anm.15); J OH. An.ur KOPP, Gründ-
liche Abhandlung von der Associa.tion derer vorderen Reich11~Ct·aysse (Frankfurt 1739), 27.
so Vgl. ÜBEN.ms, St. Jörgenschild, 142; VOGEL, Der Einung, 116 (s. Anm. 55).
599
Bund m. 'Bund' und 'Bündnia' zwüehen Reformation und Re"l'olution
um durch die Kriminalisierung der Fehde Frieden zu stiften, aber im Maße, als
sich diese Politik von den Reichsgerichten unabhängig hielt, waren die Bünde und
Gesellschaften selber auch nicht rechtsfähig vor den Reichs- und Hofgerichten.
Alle Bundesausdrücke indizierten gemeinsam geregelte Formen des öffentlichen
Lebens, ohne jemals eine geschlossene Ordnung restlos zu umschreiben. Nur ein-
zelne Standesinteressen und rechtliche Bereiche und politische Absichten wurden
aufeinander zugeordnet, Bereiche, auf die sich die Bündner einigten, um sie insti-
tutionell, aber nur auf Zeit zu sichern.
Die Legitimitätstitel aller Einungen blieben Schutz und Schirm, Rat und Hilfe, vor
allem Recht und Frieden. Im folgenden Zeitabschnitt wird der Schutz des Glaubens
hinzutreten, wodurch in Anbetracht der konfessionellen Wirren den bündischen
Organisationen und damit auch den entsprechenden Terminologien eine zusätzliche
Sprengkraft verliehen wurde.
600
a) J,uthers Bibelübersetzung Rund
601
m. 1. Theulushic:he Au11weilllll8 und 11uzhalrevuluUonlre Aufladung
Zugleich aber konnte er auch das Gesetz Mose das alte Testament nennen, das nicht
auU Gottes gnaden, sondern auU Menschen wercken stund, es mußte veralten und es
must ein ander Testament komen, das nicht alt würde, auch nicht auU unserm thun,
sondern auU GoUes wort und wercke stünde, auU das es ewiglich wehret 8 •. Theologisch
wegweisend war nun, daß die einseitige Willensverfügung Gottes über sein „ Testa-
ment" auch den Bundesbegriff determinierte, und zwar in einer Weise, die über
pactum oder foedus hinausging. Eine menschliche Beteiligung am Vertrag mit Gott,
die dann über die römisch-rechtliche Vertragslehre und das Naturrecht und im
Rückgriff auf das Alte Testament im calvinistischen Bereich eine theologisch be-
gründete Gemeinschaftslehre abstützte 85, - gerade diese menschliche Beteiligung
wurde im Gefolge Luthers abgekappt. Gott allein schickt den Bund. Der Mensch
kann keinen· schließen se.
Zudem verhinderte die lutherische Unterscheidung zwischen 'Bund• und 'Testa-
ment', aus den sukzessiven Bundschlüssen im Alten Testament über das Neue
Testament hinweg eine Erziehungsveranstaltung Gottes auf dieser Erde abzultii-
ten: wie es etwa von lrenäus vorgedacht 87 und dann von der Föderaltheologie aus-
gebaut wurde 88• Der Ausdruck 'Bund' war von Luther sozusagen theologisch seiner
zukünftigen Entfaltungsfähigkeit beraubt worden, weil das Testament bis zum
letzt.en T&gfl gilt. naR TARtament ließ sich durch keinen neuen Bundschluß über-
holen oder gar kraft solcher in dieser Welt verwirklichen, wie es sich die Wieder-
täufer oder die brüderschaftlichen .Bauern erhofften. Besonders bruderschafjten
zählte Luther zu Rotten, Sekten und Häresien, da. sie das ·Evangelium nicht allen
zukommen ließen, sondern sich ettwas bessers duncken 89 • Demgemäß konnte bei
einem Verhör Müntzers diesem vorgeworfen werden, daß er seinen Dund nicht aus
der Heiligen Schrift ableiten könne, während doch die Verkündigung des Gottes-
wortes in sächsischen Landen überall geduldet werde90.
Es waren sicher nicht zuletzt die Erfahrungen, die Luther mit den christlichen
auf die göttliche bzw. die menschliche Natur Christi bezieht: Er beruft sich auf Hieronymus:
qooil d. HieronymUB in heb. pactum potiUB quam te8tamentum haberi dicit, und fährt fort:
Ja paciacitur qui vivu~ manet, teatatur moriturua. lta JeBUB ChriatUB, deUB immortalia, fe,cit
pactum, idem aimul teatamentum, quia futurUB mortalia: sicut idem deUB et h<Ymo, ita idem
pactum et teatamentum; WA Bd. 2 (1884), 521.
87 Vgl. HANs v. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der Heilsgeschichte. Der Aufbau des
christlichen Geschichtsbildes l.n der Theologie des ersten und zweiten Jahrhunderte,
Sa.eculum 21 (1970), 206 f.
88 GoTTLOB ScHRENK, Gottes Reich und Bund im älteren Protestantismus vornehmlich
bei Johannes Coccejus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus und derheils-
geschichtlichen Theologie (Gütersloh 1923).
19 LUTHER, WA B<l. 2, 755; Btl. 50 (1914), 272; B<l. 4-0/2 (1914),114. Dazu K.utl. HoLL,
602
b) Die theologische Ausprägung zum sozialrevolutionären BundesbegriJf Bund
Vcrcinigungcn vom Bundschuh bis zu den Wiedertäufern gemacht hat und die' er
allesamt als Schwärmer klassifizierte, die ihn in seinem theologischen Vorbehalt
bestärkt haben, allen Bundschlüssen weltlicher Art harten Widerstand entgegenzu-
setzen, soweit sie sich auf geistliche Motive beriefen.
603
Bund W. }, Thoologiseho Ausweitung Wld solJiaJreTOlutiouhe AWhuluug
auf, um sich gegen die alte Kirchenordnung zu wehren. Die lautere Verkündigung
des Evangeliillns und die Pfarrerwahl forderten sie fast allerorten. In diesem Sinne
wurde eine christliche bruderliche Ainigwng oder eine okristenliche Vereinigung und
Püntnüs oder auch nur eine Brudersclwft geschlossen. Besonders Verbrudersclwft
tauchte gern als Zusatzbestimmung der bäuerlichen Verbündnisse auf93. Im Maß
als die religiös gemeinte Brüderlichkeit den „weltlichen" Bundesbegriffimprägnierte,
konnte er auch die ständische Verfassung erschüttern. Die Bünde erheischten
Zwangsbeitritt, der, unter Berufung auf den Landfrieden°', oft schon eine wähl-
und absetzbare Obrigkeit herbeiführe:Q. sollte. So wuchs vielerorten die demokrati-
sche Tendenz bis hin zur Lehre HuBJllAYERS, wie das Volk einer jeden Landsclwft
zusamenkomen und einen Bund machen sollen96• ·Die Rntderschaft solcher Zwanga-
bünde von unten enthielt einen Gleichheitsanspruch, der sich gegen ständische
und lehensrechtliche Abschichtungen richtete.
Die Zwiachenlage der bäuerlichen Einungen zwiachen theologiacher Motivation und
sozialpolitischer Intention wird auch durch uau Mangel im~titutioneller Merkmale
gekennzeichnet. Die Verbrüderungen wurden durchweg geschlossen, um beim Evan-
gelium zu stehen, und dementsprechend kannten die Bünde keine Zeitfristen oder
wurden auf ewig eingegangen9 6. Die institutionelle Ordnung war geringfügig; zwar
wnrilfm RundP:Rmeister, Obristen, Hauptleute und Räte gewählt, aber mehr nioht:
teils weil die Bauern die Obrigkeit nicht grundsätzlich in Frage stellen wollten9 7,
teils weil ihnen dauernder Erfolg versagt blieb. Dementsprechend inspirierte die
religiös verstandene Brüderlichkeit zwar die Aufstände, trug aber auch zu deren
Mißlingen bei.
Eine Steigerung der innerweltlichen Wirksamkeit kennzeichnet nun die religiösen
Bundschlüsse der Täufer und von Thomas Müntzer. Die Gegner der Kindertaufe
schlossen als Erwachsene kraft der Taufe ein Pundtnus mit Gott, das sie von dieser
Welt trennte; so seint wir vereynigt worden von der absündrung ... alles was nit
vnserm Got und Ohristo vereynigt ist, nichts anders sei dann dy grewel, welche wir
meiden sollen und P,iehen98• Aus der gläubig-passiven Märtyrerhaltung vollzog sich
bei den Münsteraner Wiedertäufern der Umschlag zur aktiven Herbeiführung des
letzten Zeitalters. Aus dem Bund der Taufe wurde die Endgemeinde, die sich in
praxi die Welt anzuverwandeln suchte.·
Auch THOMAS MüNTZER glaubte, die zeit der vorenderung sey lwrt vor der thure"9.
Deshalb müßten sich die wahren Christen vorwandelen in eynen getreulichen Bund
98 FRANZ, Quellen, 365. 196. 131. 235. 438 ff. (s. Anm. 36). Auf S. 449 der seltene Fall, wo
L1·efl'tmd (1527), in: Urkunden zur Geschlchte des Ba.uernkrieges und der Wiedertäufer,.
hg. v. HE!Nm:CH BöHMER (Berlin 1933), 30.
89 Bericht des Schossere zu Allstedt v. 28. Juli 1524 a.n Herzog Johann, Neue Mittheilungen
604
c) Luther und der Schmalkaldener Vorstand Bund
gotliches wille8 100• .M.üntzer suchte den .Hund Gottes, den nur die /orchtsamen das
alte •u1nd neue Testament heyßen 101 , zu aktualisieren. Auch wenn er anfangs da.rin
einen Akt der Notwehr erblickte1 0 2, so veränderte sich kraft seiner außerschrift-
lichen Offenbarungsgewißheit die Gemeinde von Allstedt in einen Bund von Aus-
erwählten, dem in Kürze Hunderte beitraten103• Die Bundsgenossen entwickelten
eine eigene Organisation. mit Bundmeistern bzw. Prinzipalen, was schließlich die
bestehende Herrschaft in Frage stellte: Das Bündnis wider die gotlosen104 erheischte
den Beitritt der Fürsten, wenn sie sich nicht selbst als gottlose Tyrannen entlarven
wollten. Die Gemeinde sollte den Heiligen Bund mit Gott auf dieser Erde verwirk-
lichen in Form einer Gütergemeinschaft, in der jedem nach seyner Notdorft ausge-
t.eylt UJer<kn (.~ollteJ narli GelP,genheit 105• Der Regenbogen, als Symbol für Noahs
Bund mit Gott wieder aufgenommen, war auf der weißen Fahne eingezeichnet,
unter der die Bauern niedergemetzelt wurden.
Die meisten bäuerlichen Einungen wurden unerachtet ihrer ökonomischen Ursachen
religiös motiviert, die politischen Ziele dagegen verschieden gefächert. Der religiöse
Bund Thomas Müntzers war dagegen - ähnlich den Wiedertäufern - unmittelbar
politisch und sozial, sofern Müntzer im Gegenzug zur Zweireichelehr~ Luthers aus
der inneren Offenbarungsgewißheit seiner Visionen alle Ereignisse ün Horizont
der Heilserwartung apokalyptiBch identifi.zierte 10&. Der -Obenichritt von religiölil
motivierter Politik zur theologischen Politik war gleitend und der Bundesbegriff
das Vehikel der Radikalisierung.
Müntzcrs Bundesbegriff gewann eine eschatologisch legitimierte sozialrevolutionäre
Bedeutung, er war nicht nur antiständisch, sondern zuletzt gegen Herrschaft über-
haupt gerichtet. Dementsprechend wurden pundnus und au/rur zu Synonyma für
die lutherische Obrigkeit107 - womit ein Vorwurf formuliert wurde, den die Katho-
liken gegen Luther selbst erhoben hatten 108 • Um so verständlicher ist es, daß der
Bundesbegriff im Raum der Lutheraner nach der Niederwerfung der Bauern im
Sprachgebrauch stark reduziert wurde. Andere Ausdrücke drängten sich für die
protestantischen Schutzbünde vor.
100 TnolllAS MüNTZER, Briefwechsel, hg. v, H. Böhmer u, T. Kirn (Leipzig, Berlin 1931), 75.
101 Ebd., 88.
101 Ebd., 76.
103 CARL Hmrucas, Luther und Müntzer. Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit und
Merker (Straßburg 1918), v. 328: Daa niemans merck den argen List / Daa Luther8 Zer ein
buntsch'llh ist. Vgl. ferner die Verse 2599 ff. u. Anm. 328, S. 308 f.
605
Bund m. 1. Theologische Ausweitung und sozialrevolutionäre Aufladung
was Unrats draus folgen will, können wir nicht alles denken. Jedenfalls sei klar,
daß solch Bündnis nicht aus Gott, noch am Traimi iu Gott geaoltiolu, sundt:rn
aus menschlicher Witze. So ·wollte sich der junge Landgraf nicht allein schützen,
sondern auch angreifen. - Schwerer wog das Bedenken Luthers, auch die Refor-
mierten in das Bündnis aufzunehmen. Es gebti fürwahr kein fährlicher Bund, der
das Evangelium schände, dahinter stünde der Teufel. Schon im Alten Testament
habe Gott immer solche Bündnisse der Menschen verdammt. Sollen wir aber Bünd-
nis ha_ben, die wird er uns ohn unser Suchen und Sorgen zuschicken, wie er verheißt
Matth. 6109•
Luthers theologische Bedenken führten denn auch dahin, daß wenigstens eine ge-
meinsame Bekenntnisformel erarbeitet wurde 11 o, auf die sich alle Bündner zu ver-
pflichten hatten. ·
Zudem wurde die Schmalkaldische Einung auf flie reimi VertR.irlignng hin stili-
siert. Aber Luther war sich völlig darüber im klaren, daß sich Bündnisse zum
Glaubensschutz in der PraXis nicht von ihren weltlichen Verstrickungen trennen
ließen111• Gleichwohl gab er reichsrechtlich seine Bedenken 1530 auf, er ließ sich
sogar vom Recht zum Widerstand überzeugen, indem er zwischen der Person des
Kaisers und dem Tyrannen zu trennen suchte, der init dem Kaiser nicht identisch
8ei 112 • Zugleich zog Luther eine reichsrechtlich scharfe TrenuUllg1:1linie theologisch
aus: Da alles Regiment von Gott eingesetzt sei, dürften inittelbare Städte nicht
in den Schmalkaldischen Bund aufgenommen werden, nur Reichsstädte seien
potestates wie Fürsten und insofern bündnisfähig. Luther leitete daraus ein Nicht-
interventionsrecht ab, denn wenn jeder Untertan Schutz zu suchen berechtigt sei,
wo er wolle, dann würde alle Ordnung zerstört, und wenn jede Obrigkeit im Namen
des Glaubensschutzes auf benachbarte Untertanen ausgreifen dürfe, so werden alle
Herrschaften eine Herrschafft und ist eitel confusio 113 •
Schließlich hat sich Luther, nachdem sich die Schmalkaldische Einung als Schutz-
macht bewährte; darein gefügt, auch irdische Bündnisse zum Schutz der.Kirche
gutzuheißen. Verständnuß und Einigkeit seien gut, wie es 154:5 in einem von Luther
unterzeichneten Rechtsgutachten heißt114, denn der Krieg sei so vereitelt, Sekten,
opiniones und Aufruhr seien unterdrückt w.erden, Gott habe den Oontrabund zer-
fallen lassen, während die eigene Autorität nicht gefallen sondern erhöhet wurde. Für
lOB LUTHER, WA Br., Bd. 5 (1934), 76 f. Vgl. ferner ebd., 209 f. 259 f.
110 Dazu HANS v. SCHUBERT, Bündnis und Bekenntnis 1529/30 (Leipzig 1908).
111 Bedenken LUTHERS an Kurfürst Johann, Ende Juli/Anfang August 1529: Spricht man
aber mal: Dysser bund betreffe nicht die lere, sondern sol widder eusserlich gewallt, die man
wi,d,der recht /ur nympt, die weil ihene sich auU erkentniB erbieten, - Antwort: Das hellt nicht,
Denn man weis, das uns der wi,d,derteil umb keiner wrsachen willen angreiffen wil, denn umb
der lere willen. Drümb least siehe nicht gleuben, das wir widder unrecht gewalt sol,chen bünd
rrw,chen; W A Br., Bd. 5, 80.
112 EKKEHART FABIAN, Die Entstehung des Schmal.kaldischen Bundes und seiner Ver-
fassung 1524/29 -1531/35, 2. Aufl. (Tübingen 1962), 92 ff., bes. 122, Anm. 620.
113 Bedenken LUTHERS an Kurfürst Johann Friedrich aus dem Jahre 1532, zit. FRIEDRICH
HoRTLEDER, .Der Römische Keyser- und Königlichen Maiestäten Handlungen und Aus-
schreiben, [Bd. 1 :] Von den Ursachen des Teutschen Kriegs (Frankfurt 1617), 1223.
114 Gut,ar.htAn vermutlich verfaßt von BuGENlliGEN oder CREUTZIGER, a.bgedr. HoRT-
LEDER, Handlungen, Bd. 2 (1645), 1358 und in: Pmr.rPl' MELANCHTHON, Opera, ed. Karl
Gottlieb Bretschneider, Bd. 5 (Halle 1838), 719 ff. ·
606
c) Luther und der Schmalkaldeuer Vorstand Bund
Kirche und Herrschaften trage man miteinander Kosten und Arbeit, ... und wo
Bündniß zu solchem christlichen Schutz gemacht werden, damit die Hülf eine Ordnung
habe, sind solche Bündniß christlich und Gott gefällig. Freilich dürfte man· die Schwei-
zer nicht zulassen, da sie, wie alle Völker in ungleichen Bündnissen getan haben, ihre
·hegemoniale Stärke ausnutzten; zudem wachse die Konfliktanfälligkeit des Bundes,
da Dänemark und die norddeutschen Städte einen Schutz der Schweiz verweigern
würden. Kurz darauf wurde der Schmalkaldische Bund besiegt. . .
Luthers spirituelle Bundesauffassung, die jeglichen Bund im Rahmen seiner Zwei-
reichelehre dem geistlichen Bereich vorbehielt, wurde also im Laufe seines Lebens
in eine weltliche und damit auch politische Sphäre hineingezogen. Zugleich aber
gewann 'Runo' iiher oie Rinoung an oie KonfesRion eine Beoeutung, die iiher das
Reichsrecht hinauswuchs, ohne freilich die ständische Herrschaftsordnung zu tan-
gieren.
Durch die Aufspaltung der Kirche in verschiedene Bekenntnisgruppen erhielt das
ständische Bündniswesen neue Legitimationstitel, die auch eine Verschiebung auf
der Benennungsebene herbeiführten. Während die qhristliche Bruderschaft der
Bauern in der Konsequenz auf einen antiständischen Bundesbegriff hinauslief,
zielte die christliche Rechtfertigung der oberen Standeseinungen darauf, die Lehre
des Gotteswortes freizugeben und zu sichern: Dies sei das ambt der oeberkeit 115 •
Um deren göttlichen Auftrag zu begründen, betonten etwa Herzog Johann von
Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen bei ihrer ersten E·in·igung und Verständt-
nuß (1526), daß sie ihr Vertrauen nicht auf sich selber oder ihr Land und ihre Leute
setzten, sondern auf Gott, dessen Wille sich durch uns als seine werckzeug und In-
strument offenbahret116 • Später trat auch die Berufung auf natur und recht hinzu117 ,
um die gegenwehre gegen die Reichsexekution zu legitimieren. Die protestantische
Einung wurde also als Ausfluß eines Herrschaftsrechtes verstanden, das über das
·Reichsrecht hinaus theologisch und natürlich begründet wurde.
Bei der Selbstbenennung verzichteten die Schmalkaldener aus den genannten theo-
logischen Bedenken - im Unterschied zur katholischen Seite und zum historischen
Sprachgebrauch11 8 - auf die Ausdrücke 'Bund' oder 'Bündnis': Die Herren und
11 6 Präambel der Schmalkaldischen Eiriungsurkunde vom 27. Februar 1531, in: .Ur-
kunden und Akten der Stadt Straßburg, hg. v. ÜTTO WINCKELMANN, 2. Abt., Bd. 2 (Straß-
burg 1887), 18.
118 HoRTLEDER, Handlungen, Bd. 1, 1491.
117 Abschied Nürnberg, 26. 5. 1534, abgedr. Die Schmalkaldischen Bundesabschiede
607
Bund W. 1. Theolopcbe Auaweitung -d 1ozialrevolutionäre Aufladung
Städte 11chlo1isen einen 1,10rstand (1531); im Vorvertrag 1529 11prach man von der
christlichen vertreulichen einigung bzw. von einung oder Verstendnus 119 , Ausdrücke,
die auch bei den Verhandlungen überwogen; emphatisch war die Einigung christ-
licher und /reuntliclter Vorstand 12 0 genannt worden, die sich schließlich eine ver/as-
sung, eine ainigungsverschreibung (1535) gab, wie die Bundesverfassung stilisiert
wurde12 1, während sich der kaiserliche Gegenbund 1538 als christliches Bündnu{J
Verstand und Einigung bezeichnete122. Der Glaubensschutz implizierte nun keines-
wegs, daß sich die Schmalkaldische Einung selber als religiöser Bund begriffen hätte:
Sie war zunächst auf 6 Jahre befristet und als striktes Defensivbündnis verstanden
worden, zur eilenden rettung und gegenwehr 123• Nur die Verkündung des Gottes-
wortes und der erkannten Wahrheit gegen Verderbnis von Leib und Seele sollten
gesichert werden. Damit aber war der Überschritt in die Temporialia unausweich-
lich: Die Schmalkaldener schlossen sich nicht nur zum Schutz ihres Bekenntnisses
zusammen, sondern auch umb sachen willen, die aus dem Wort Gots, evangelischer
lere und dem hailigen glauben volgen 1 H.
Der Schmalkaldener Bund war insofern gegen die Rechtsordnung des heiligen
Reiches gerichtet, gegen Kammergericht und Reichstag, als geistliche Sachen und
daraus folgende strittige Besitzrechte betroffen waren125 . Über die gesprengte
Glaubenseinheit kamen Friede und Recht nicht mehr zur Deckung126. Damit ent-
fielen diese Legitimationstitel der alten Bundschlüsse - sie wurden freilich bei den
kaiserlichen Bundschlüssen weitergeführt. Da auch Landfriede und Glaubensschutz
einander widersprachen, suchten z. B. die Schmalkaldischen Städte im Schwäbi-
schen Bund, alle Religionssachen aus diesem herauszunehmen __:.. oder aber umge-
kehrt dem Schmalkaldischen Bund politische Ziele zu imputieren127 : woran zu-
nächst der Schwäbische Bund zerbrach (1534). Im Effekt richtete sich die Con/öde-
ration gegen die herkömmliche Rechtsstellung von Kaiser und Reich: Nur in euserli-
chen Sachen waren sie ausgenommen, in bezug auf religion und gewissen nicht128•
Mit dem Wechsel von der reichsrechtlichen zur religiösen Legitimation wandelte
sich auch die bündische Machtkonstellation. In der Schmalkaldener Verfassung von
110 RTA, jüngere Reihe, Bd. 7/2, hg. v. JOHANNES KüHN (193.5), 13. 21 ff. Im Briefwechsel
mit dem Kaiser übersetzten die Schmalkaldener das christliche Verständnis mit intelligence
ckristienne (1537); Staatspapiere zur Geschichte des Kaisers Karl V., hg. v. KARL LANz
(Stuttgart 1845), 239.
120 WINCKELMANN, Urkunden, 19.
121 FABIAN, Entstehung, 357 ff., bes. 358 f. (s. Anm. 112).
1 u HoRTLEDER, Handlungen, 1344•.
608
a) Die Reichllbwadplii11e KIU'hl V. Bund
1535 entsprechen sich eine Zunahme der territorialen Macht und eine Abnahme
der institutionellen Sicherungen der Einung. Zwar nutzte die Verfassung Regeln
des Schwäbischen Bundes, gegen den sie auch gerichtet war, aber die Fürsten bauten
eine generelle Unabhängigkeitsklausel ein129 ; die Gerichtsbarkeit wurde gar nicht
mehr entwickelt, und die Finanzen dienten fast nur dem Kriegsfall. Weder Kanzlei
noch ein Vorort waren vorgesehen. Die Abmachungen zielten vorzüglich auf poli-
tische Information und Zusammenarbeit in den Reichsorganen, während die Orga-
nisation auf den Kriegsfall hin gedacht war: mit zwei wechselnden Hauptleuten der
Hegemonialmächte Sachsen und Hessen· und einem Kriegsrat. Gerade hinter der
Bestimmung, die jeden Präventivkrieg verbot, entwickelte sich die Einung zu einer
europäischen Macht. In deren Schutz steigerte sich die Staatlichkeit, da mit dem
Abkappen des rechtlichen Instanzenzuges zugleich die territoriale Hoheit auf die
Landeskirchen ausgedehnt wurde. So führte die religiöse Schutztätigkeit der Oon-
föderaten zu einer verstärkten Bündniskraft der oberen Reichsstände, die sich
schnell auf die europäischen Staaten erstreckte.
a) Die Reichsbundpline Karls V. KARL V. griff immer wieder auf das exemple
~er lighe de Suave zurück, um mit einer bündischen Organisation zu erreichen,
was weder Kreise noch Reichsregiment, noch Reichstag gewährleisten konnten:
den Reichsfrieden. Schon der 72. Artikel der Schwäbischen Bundesverfassung
von 1500 sah die Möglichkeit vor, alle Stände des Reiches auf ihren Antrag hin auf-
zunehmen. In diesem Sinne projektierte GILLIS 1523: de pratiquer une lighe univer-
selle en tout l' empire, ad fin d' estre toutes factions, car autrement l.' empire sera en danger
d'cstre divise en trois 1 iio.
Noch im folgenden Jahr hoffte sich Karl V. als chief, souverain, aucteur et protecteur
des Schwäbischen Bundes zu sehen, um Geld gegen Türken und Franzosen zu er-
halten1 3 1 • Aber der Schwäbische Bund löste sich auf, sobald die Schutzbündnisse der
Evangelischen entstanden. In mehreren Anläufen versuchte der Kaiser, katholische
Gegenbünde zu initiieren, so 1535 oder 1538, als er eine Ohristliche Bündnuß/Ver-
39-90385/1 609
Bund m. 2. Vom 'B-d' mm 'Bündnis'
stand und Einigung defensive, und allein zur Ge,genwehr aufrichtete 132. Indem die
Terminologie der Sohmalkaldener übernommen wurde, trat das reaktive Moment
in der Legitimation besonders deutlich zutage. Das Bündnis richtete sich ausdrück-
lich gegen die Protestierenden defJ Schmalkal.dtschen Bunds verwandte Stände. Freilich
brauchte der Kaiser niemanden auszunehmen, da die Christlichen gebreuche und
Oeremonien, die überkommenen Satzungen, der Landfriede und die ordentlichen
Rechte gewahrt werden sollten. Es war ein Bündnis gegen lrrongen und Zweytracht,
aber politisch erfolglos, da sich die ~urfürsten enthielten. Auch auf dem Höhe-
punkt seiner Macht (1547) mißlang der Versuch des Kaisers, von einem Reichsbund
her mit einer Dreikurienverfassung im Sinne des letzten Schwäbischen Bundes das
ganze Reich zu erfalll:len, alle stend in die neue pundtnus zu zieken188. Gerade die
·religiöse Einheit, die der Kaiser mit unio, paz und concordia aller status Ugae an-
strebte134, erwies sich als unerreichbar. Die geplante lighe, bonne union oder oonfcdc-
ration186, zu deutsch Kaiserliche vereinigung und bundnus 188, war zugleich da.rauf
gerichtet, die kaiserliche Auctorite137 wiederherzustellen, wogegen sich die Fürsten
entschieden zur Wehr setzten; sie bevorzugten mit der Doppelformel einen kaiser-
lichen und des heiligen Reichs Bund138, der die Reichsreform in ihrem Sinne lösen
sollte. Auch Karl V. erhoffte sich, wie er seinem Bruder schrieb, daß die Liga. nicht
a
nur für die Gegenwartmais encore l'advenir 139 Deutschland ordne. Aber dagegen
einigten sich die Fürsten immer wieder unter sich, und ?.War quer zu den konfes-
sionellen Fronten140• So zeichnete sich durch Moritz' von Sachsen Initiative zu
Ende der Regierungszeit Karls bereits eine Zweiteilung Deutschlands ab, die Ferdi-
nand taktisch auszunutzen suchte: er zielte auf eine lighe de Saun und eine lighe
die Wahl FerdiJia.nds schloß: zunächst 1531 Vereinigung und Einigung im Rahmen der
Goldenen Bulle genannt, bei der Stiftung einer vorfaaaung 1533 sprach man von eyn,ung,
voratentnus oder einvoratentnus, lateinisch von /oedus ac pactionea der wnfederati, ohne daß
Frankreich bei seinem Sukkurs unter diesen Begriffen einbezogen worden wäre; Am>BEAS
SEBASTIAN STUMPF, Baierns politische Geschichte, Bd. 1 (München 1816), Anh. S. 18 f.
40 ff. 45.f. Vgl. ferner den Rheinischen Bund zwischen Mainz, Heeeen, Pfalz und Frank-
reich 1532 oder die Verträge zwischen Karl V. mit Landgraf Philipp (1541) oder mit
Moritz von Sachsen (1546) oder den Heidelberger Bund 1553 zwischen Bayern, Pfalz,
Württemberg und anderen.
610
b) Konfessionelle Kampfbände Bund
de Suavem und hoffte, jedes partWul,ar punt.ltnus142 könne einzeln für sich Karl als
Ohtief gewinnen. Aber die konfessionell und politisch quer zueinander laufenden
Fronten ließen sich noch nicht territorial festlegen. Schließlich resignierte Karl und
sah in den tatsächlichen Bünden die Schwundstufe minimaler Friedensordnung auf
dem Reichsboden', wie es sein Vi.iekanzler Seld in einer Art politischen Testamentes
umschri~b143. 'Bund' war also im kaiserlichen Lager von einem zwischenständischen
Begriff mit ambivalenter reichsrechtlicher Legitimität aufgerückt zu einem Ersatz-
begriff für das Reich, dessen Verfassung über den Bund neu zu ordnen sei. 'Bund'
wurde potentiell zu einem Reichsverfassungsbegriff, ohne freilich die tatsächliche
Verfassung des Reiches abdecken zu können. Der geschichtliche Weg verlief anders
- bis 1815 das Reich in einem Bund aufging.
b) Von den konfessionellen Kampfbünden zum Bündnisrecht der Territorialstaaten.
Bevor sich das konfessionell aufgeladene Einungsrecht zum freien Bündnisrecht
der oberen Stände entkonfessionalisierte, vollzog sich zunächst eine Polarisierung
der religiösen Lager. Im Streit wn die Besitzanteile der jeweiligen Konfessionen
bildeten sich, um die Kurpfalz und Bayern gi-uppiert, zwei Parteien, während Sach-
sen mit lutherischem Anhang eine zunächst neutrale Haltung einnahm. Aus der
Landsberger Landfriedenseinung (1556) 144 erwuchs die 'Liga' (1609), die korrespon-
dierenden Stände des Torgauer Bundes (1591) schlossen sich .1608 zur 'Union' zu-
sammen. Die als protestantische Union und als katholische Liga in die Geschichte
eingegangenen Verbindungen waren aber ursprünglich nicht unter diesen Bezeich-
nungen geschlossen worden. Beide Vereinigungen waren zwischenständische, d. h.
zwischen Fürsten (und protestantischen Städten) ausgehandelte Kampfbünde, die
sich als Defensivvereine stilisierten. Dabei war die protestantische Union erstmals
zwischenkonfessionell abgesprochen worden, als ein in etlichen Religionspuncten
ungleicher V erstandt 146• Entgegen der Schmalkaldischen Regel sollten religiö~e Fra-
gen nur den Theologen überlassen bleiben. Beide Vereine, Union und Liga, präten-
dierten die Verteidigung und Erhaltung ihres Glaubens, aber nur die Ligisten defi-
nierten offen als ersten Bundeszweck die defension und erkaltung der wahren catho-
lischen religion 148, während die Unierten ihre notwendige und erlaubte Defension
(München 1896), 147. 419 ff.; SALOllt:IBS, Pläne, 220 (s. Anm. 133); KARL BRANDI, Kaiser
Karl V. Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und eines Weltreiches, 5. Aufl. (Mün-
chen 1959), 518 f.
1 44 Auch Pünndtnuß oder Pundt genannt; vgl. die Urkunde bei FRANZ DoMINicus ffiBER-
LIN, Neueste Teutscbe Reichs-Geschichte, Bd. 17 (Ha.De 1785), X ff.
1'1 Art. 5 des Aha.usischen Unionsrezesses vom 4. Mai 1608, abgedr. CHR. FRIEDRICH
SATTLER, Geschichte des He:i:'zogthums Württenberg unter der Regierung der Herzogen,
Bd. 6 (Tübingen 1773), Beilagen S. 12. Zur Verallgemeinerung des ligistischen Bundes-
zweckes auf den Landfriedensschutz s. FRANZISKA NEUER-LANDFRIED, Die Katholische
Liga.. Gründung, Neugründung und Organisation eines Sonderbundes 1608--1620 (Ka.11-
münz 1968), 123 f. Über die reichl!lrechtliche Anfechtbarkeit konfelll!lioneller Sonderbünde
ebd., 8 ff.
1u Zit. ANDREAS SEBASTIAN STUMPF, Diplomatische Geschichte der teutschen Liga. im
siebenzehnten Jahrhunderte (Erfurt 1800), 5, Beilage 1.
611
Bund m. !. Vom 'Duud' zum 'Bündnis'
weniger ausdrücklich auf die Evangelischen Stendt 147 bezogen. Aber auch hinter
deren Verteidigungsformel der fridliebenden Stendt lauerte der Ausschließlichkcits-
anspruch auf die Interpretation des Religionsfriedens: Sei es, daß er nicht wörtlich
genannt wurde wie bei den Protestanten, oder sei es, daß die katholische Religion
als das Substrat der Reichsverfassung verstanden wurde wie bei den Ligisten, die
nur sich selber als ftidliebend bezeichneten. Jedenfalls beschworen beide Parteien
die erhaltung Fridens und Einigkeit im Reich148 bzw. den Landfrieden und den
Schutz der Reichsverfassung. So interpretierten die Unierten ihre '!rdnung subsi-
diär zur Kreisexekution, so gliederten die Ligisten den Rechtsinstanzenzug bis zum
Reichshofrat in ihre Verfassung ein. Indem beide Vereinigungen sich als Verteidi-
gungsbünde stilisiert hatten, war ihre Kriegsverfassung auf Angriff hin angelegt,
bei den Ligisten durch die ausdrückliche Bestimmung, vor der Zeit. die gegenwöhr
vornemmen 149 zu dürfen. Insofern beanspruchten beide Vereinigungen, potentiell
die authentische Interpretation der Reichsverfassung in ihrem Sinne durchsetzen
zu können, - nicht ohne Emphase beriefen sich die Unierten auf das geliebte
Vatterlandt, - ein reichsrechtlich neutraler Begriff - als Bezugsrahmen ihrer
Vereinigung160•
Im Ablauf der Zeit verhinderten politische Interessenkonflikte die erfolgreiche
Kooperation innerhalb der Einungen: Die oberen und niederen Stände der Union
tagten in Partikularkonventen, da sich die Städte nicht an der expansiven Fürsten-
politik beteiligen wollten; die Liga wurde mehreren Reformen unterzogen, je
nachdem ob Bayern oder Österreich eine hegemoniale Rolle durchsetzte. ·
Dem entspricht auf der Benennungs- und Selbstbenennungsebene eine auffallende
Unsicherheit, die schließlich zu Sprachregelungen führte, um die Diskrepanz zwi-
schen den Ansprüchen der Vereinungen und der Reichsverfassung nicht allzu deut-
lich werden zu lassen. 'Liga' und 'Union' waren zunächst auf beiden Seiten ver-
wendete, austauschbare Bezeichnungen ohne Unterscheidungskriterien. Während
der Vorverhandlungen sprachen die Evangelischen von bestendiger vereinigung,
union, confunction, vertrawliche verain und zusammensetzung, confoederation oder
liga -.so wie auch die Katholiken von den „protestierenden Ligisten" sprechen
konnten151 • In der Verfassungsurkunde hieß die Union nur viermal so, während
147 SATTLER, Geschichte, Beilagen S. 11. Die evangelischen Stände tauchen nur einmal,
waltenden Einflusses der Wittelsbacher, Bd. l, hg. v. MoRiz RrrrER (München 1870),
Nr. 9. 62. 66. 84. 362. 411. 462. 528 u. ö.
612
h) Konfessionelle Kampfh(inde
162 SATTLER, Geschichte, Beilagen S. 9 ff. Die weiteren Ausdrücke lauten in der Ver-
Directorien).
164 Briefe und Acten, Bd. 8, hg. v. KARL MAYR (1908), 197.
166 Ebd., 664. Ebenso wurde 1610 der Name münchnerisch bund nicht akzeptiert; ebd., Bd. 7,
hg. v. KARL MAYR (1905), 258. Ferner zur Sprachregelung NEUER-LANDFRIED, Katho-
lische Liga, 87. 91. 120 ff. Gegen Defensivrettungsbund und Katholischer Bund einigte man
sich 1610 auf in genere one merern zusaz simpliciter ein Defensiv- oder Schirmbsverainigung.
1 66 Briefe und Acten, Bd. 8, 757. Der Kaiser drängte da.rauf, den Sonderbund doch nit als
ein religionswesen oder union sonder als ein politisch wesen zu verfassen. Wie KHLESL sagte,
der namen der catholischen union, bund oder heiligen liga sei odios (NEUER-LANDFRIED,
Katholische Liga, 120) Die Bondtgenoten der Niederlande hatten sich am 23. 1. 1579
gegen die spanischen Habsburger in Utrecht zusammengeschlossen in einer Unie, Eeuwigh
Verbondt ende Eendracht; JEAN Du MONT, Corps universel diploma.tique du droit des
gens, t. 5/1 (Amsterdam, Den Haag 1728), 322. 324.
1 6 7 Zur Sprachregelung auf dem Regensburger Tag 1613: Briefe und Acten, Bd. 9, hg. v.
ANTON CHROUST (1903), 589. Weitere Ausdrücke in den folgenden Jahren: christlich
reehtsmeßige Defension, Defent1ÜJnlr/11P.11en-11erP.i11,i{J?tn{J, ·?J/f',rr.k, -uerei11., -t1erfassm1.g und
ähnlich. Vgl. ferner Briefe und Acten, Bd. 6, hg. v. FELIX STIEVE~(1895), 738.
168 Vgl. den spanischen Sprachgebrauch von liga bei den Vorverhandlungen 1608 und 1609:
613
Duel m. 2. Vom 'Buncl' zum 'Bünclnis'
Bisher war immer vermieden worden, ausländische Mächte diTekt in einer ständi-
schen Einung aufzunehmen, - es wurden, wenn überhaupt, höchstens zweiseitige
Abmachungen zwischen Einungen insgesamt und fremden Fürsten geschlossen.
So etwa in Chambord 1552, wo sich deutsche Fürsten expressis verbis gegen den
Kaiser verbündeten, um sich danach erst mit Heinrich II. von Frankreich vertreu-
lich in einen f e'l"stand und Einung einzulassen. Der ausländische Herrscher war
nicht Bundesmitglied109• Im ganzen lehnten auch Union und Liga ab, sich mit dem
Ausland zu „verbünden": das wurde im Dreißigjährigen Krieg unter dem Druck
der fremden Interventionen anders.
Gustav Adolf begann seinen Krieg damit, in Gegenverfassung zu schreiten1 60 , er
drängte auf eine Universalkonjunktion 161 , daß die Stände deß Röm. Reiclis durch
all,gemeine Haupt-Verfassung ... unter ein corpus zu bringen162 seien, dessen
Directorium er innehaben sollte. Damit wurde ein Bund angestrebt, der vermutlich
nicht mehr das Reich absorbieren, sondern vollends auf- bzw. ablösen sollte. Nach
seinem Tode kam es aber nur zur Oonfoederation von Heilbronn, innerhalb derer
dem schwedischen Kanzler die hegemoniale Rolle institutionell eingeräumt wurde.
Das war zwar eine Schwundstufe gegenüber den schwedischen Plänen, führte aber
erstmals zu einem Bund deutscher Stände, in den eine ausländische ~acht als
Bündner unmittelbar einbezogen wurde.
Die evangelischen Stände der vier oberdeutschen Kreise hatten sich 1633 unter-
einander noch enger und näher verbunden, ... neben dem sie als Glieder deß Reichs
kiafjt dessen Oonstitutionen ohne das verbunden waren. Auch die Verfassungsgrund-
lage der Reichskreise blieb aufrechterhalten, obwohl Schweden die Teilnahme der
Reichsritter durchsetzte. Auch eine offene Kriegserklärung an Kaiser oder Liga
unterblieb. Die Konföderation wurde auf Defension und Oonservation auch der
Briefe und Acten, Bd. 6, 487. 523. 526. 550, aber auch von Unicm: ebd„ 687 (Zuiiigas
Instruktionen und Schriftwechsel mit Philipp m.). FELIX STIEVE, Der Ursprung des
dreißigjährigen Krieges, Bd. l (München 1875), 88 vermutet in 'Liga' einen Schimpf-
namen aufgrund der französisch-spanischen „Ligue". Der berühmte Vertrag zwischen
Pius V„ Philipp Il. und Venedig gegen die Türken 1570 wurde la Lega bezeichnet, em-
phatisch una Lega & Uni<me; Du MoNT, Corps univereel, t. 5/1, 184 ff. Über den zeit-
genössischen Gebrauch des Zußl!otztitele „heilig" siehe UBERTO FoGLIETTA, De eacro foedere
in Selimum libri IV (Genua 1587). Der „heilige" Kampf richtete eich gegen Heiden und
Ketzer. Der Fridenaaccord zwischen den katholischen und den evangelischen Ständen zu
Ulm 1620 wurde von beyden Uni<men geschloBBen; Der Römischen Kayserlichen Majestät
und deß Heiligen Römischen Reichs •.• Acta Publica, hg. v. (MICHAEL) CASPARLONDORP,
Bd. 2 (Frankfurt 1629), 794 f. NICOLA.US HIER. GUNDLING glaubte dagegen 1737 ganz naiv,
daß die katholischen Stände ihren Bund .•• die Heilige Ligue nannten; Vollst. Discol's
über den Westphä.lischen Frieden (Frankfurt 1737), 30. Freilich bedauerte RENATUS KARL
Ftm:. v. SENXENBERG noch 1791, daß die Katholiken Ort, Jahr, Inhalt und die Teilhaber
die8e8 Bündni88e8 immer noch geheim hielten; HlBERLIN, Reichs-Geschichte, fortgesetzt v.
SENKENBERG, Bd. 22 (1791), 304.
159 DICKMANN, Geschichte in Quellen, Bd. 3, 198 (e. Anm. 150).
421. 426; FRrrz DICXMANN, Der Westfälische Frieden (Münster 1959), 151.
182 LoNDORP, Acta, Bd. 4, 302 (Rückblick aus dem Jahre 1633 bei den Bundesverhandlun-
gen).
614:
h) Konfe11&ionelle Kampfbünde Bund
Reichsverfa.s1mng hin stilisiert, jede OUensfon geleugnet. Die Front blieb freilich
noch konfessionell bestimmt: Wer von den Evangelischen austrete, wird für Feind
erkliirt; . . . Neutralität solle hiemit unter den Evangelischen gäntzlich auffgehoben
seyn (Art. 5) 163• Das mißlang bekanntlich infolge der Konkurrenz zwischen Sachsen
und Schweden. Jedenfalls blieb das Ziel reichsrechtlich eingebunden: Wahrung der
ständischen Libertät, Wiederherstellung der evangelischen Stände, Wiedererrichtung
des Religionsfriedens und eine Entschädigung für·Schweden.
Hinter dieser Kompromißerklärung stand gleichwohl der schwedische Versuch,
die Reichsverfassung kraft eines Bundes umzuwandeln. Schweden führte legal das
Directorium, faktisch auch im Consilium der Konföderation. Ohne eigene Gerichts-
barkeit näherte sich deren Verfassung praktisch den Bestimmungen eines Kriegs-
bündnisses, das einer Macht die Hegemonie einräumte, die reichsrechtlich nicht
ableitbar war. Ja, obendrein wurden auch andere außliindische Potentaten aufge-
fordert, in solchen Christlichen, Goll wolgefälligen, billichen und rechtmäßigen Bund
zu- und einzutrellen1 H. Damit wuchs dem üblichen Ausdruck für diesen „Bund"
der 'Confoederation' eine zugleich innen- und außenpolitische Bedeutung zu 16ö,
die um 1630 Maximilian 1. von Bayern bei seinen Verhandlungen mit Frankreich
noch vermieden hatte 1 66.
Einen letzten Versuch, das Bundes- bzw. Bündnisrecht ganz an sich zu ziehen,
machte Ferdinand II. 1635 im Prager Frieden: Es sollen alle und jede Uniones,
Ligae, Foedera und dergleichen Schlüs.~e / auch darauf gerichtete Eid mul Pff1ivltte /
gäntzlich aufgehoben .~eyn / und sich einig und allein an die Reichs- und Craiß- Ver-
fassunge / und an diese gegenwärtige Pacification gehalten werden. Nur der Chur-
Fürstliohc V oroin und die Erbeinigungen bzw. Erbverbrüderungen blieben von rlem
Verbot ausgenommen (Art. 27) 1 6 7• Die Ausbild_~ einer einzigen auswärtigen Ge-
walt schien damit dem Kaiser gelungen. Abetder Friede war weder allgemein,
noch durchsetzbar. Schon zu den Verhandlunge~i:'in Münster und Osnabrück zwi-
schen Kaiser, Frankreich und Schweden traten die deutschen Stände als Verhand-
lungspartner hinzu, wodurch sie als völkerrechtliche Subjekte eingeführt wurden.
In dem berühmten Artikel VIII,§ 2 des Westfälischen Friedens (IPO) erhielten die
Reichsstände über ihre gemeinsam.zu wahrenden Verfassungsrechte hinaus jeder
einzeln das Bündnisrecht eingeräumt: Cum primis vero ius faciendi inter se et cum
exteris /oedera pro sua ouiusque conservatione ac securitate singulis Statibus perpetuo
liberum esto; ita tamen, ne eiusmodi foedera sint contra Imperatorem et Imperium
pacemque eius publicam vel hanc imprimis Transactionem fiantque salvo per omnia
iuramento, quo quisque I mperatori et I mperio obstrictus estH&.
Damit war politisch und rechtsgeschichtlich ein Endpunkt erreicht. Das Reich
615
Buna m. 2. Vom 'Bund' zum 'Düud.u.üi•
wurde zwischenstaatlich in eine eigentümliche Schwebelage versetzt. Das über-
kommene Reichs- und Lehensrecht geriet kraft des ius foederis in die Zwickmühle
des sich neu artikulierenden Staats- und Völkerrechts. Vergeblich hatten die
kaiserlichen Gesandten darauf bestanden, daß die früheren Bündnisse nur aus
Fehden und Rebellionen entsprungen seien 169. Andererseits gaben selbst die Kur-
fürsten in den Verhandlungen zu, daß de Jure Foederum cum Exteris in Reichs-
Oonstitutionen keine sonderbahre Verordnung existiere, obwohl schon Foedera de
facto ... zwischen Exteris i.nd den Ständen geschlossen worden seien17o.
Aus einem bestenfalls innerreichischen, zwischenständischen Einungsrecht - erst
zum Schutz des Landfriedens, dann zur Rettung des Glaubens und zur Gegenwehr
- wurde jetzt das ius foederis, das den Territorialherrschaften offen und positiv
formuliert eingeräumt wurde und damit in der Konsequenz ein ius belli ac pacis.
Es 'l"ar dem ius territoriale zugeordnet, intentional der Souveränität, wie sie die
Franzosen in den Verhandlungen eingebracht hatten171. Während die früheren
regionalen Einungen ihre Legitimität aus einem üherterritorialen Rechtstitel ab-
leiten mußten, d. h. reichsrechtlich eingebunden blieben, war das neue ius foederis
nurmehr auf die Territorien als solche bezogen. Deren conservatio und securitas
dienten zur Zweckbestimmung möglicher Bündnisse - als von Natur erlaubtl 71•.
In dieser Formel ist zwar die herkömmliche Schutz- und Rr.hirmhe.stimmung auf-
gegangen, aber die Wahrung des Landfriedens war nicht mehr der vorgeg~bene
RlluhLt1LiLtil für foedera. Vielmehr durften die Bündnisse nur nicht gegen ueu öffent-
lichen Frieden gerichtet sein. Aus dem vergangenen Legitimitätstitel des Land-
friedensschutzes war eine bloße Vorbehaltsklausel, die Erhaltung ihrer selbst, zum
e.rst.en Rechtstitel der Fürstenstaaten geworden.
Immerhin hatten fast alle deutschen Stände gegen die Schweden und Franzosen
geschlossen die alte Vorbehaltsklausel durchgesetzt, nämlich Kaiser und Reich aus
allen Bündnissen ausnehmen zu müssen. Vergeblich suchte Schweden im Namen
des Aequilibriums foedera gegen den Kaiser zuzulassen, wann der Kayser etwas
contra lmperii Jura thun wollte 172 • Diese Unterordnung des Kaisers unter das Reich
wurde nicht durchgesetzt. Somit folgte aus dem ius foederis nach innen und nach
außen keine völlig gleiche Bewegungsfreiheit für die Fürsten.
Andererseits wurde auch das kaiserliche Bündnisrecht dem Herkommen entspre-
chend beschnitten. Vergeblich hatte der Kaiser Gegenseitigkeit der Genehmigung
118 JoH. Go'l"l'FRIED v. MEIERN, Acta pacis Westphalicae Publica oder: Westphälische
und das Bündnisrecht der Reichsstände, Der Staat 8 (1969), bes. 267 ff. 1662 vereinigten
sich evangelische Fürsten, um gegen die BChmälerung ihrer Gerecktigkeiten durch Kaiser und
Kurfürsten in der Wahlkapitulation vun 16158 zu protestieren. Zu diesen Gerechtigkeiten
1.ä.h lt.fln snhon - über 16'8 hinaus - die jura bcUi ao pooia, foederum, ferendarum legum,
proscripticmis statuum und dergleichen; SATTLER, Geschichte, 19, Beilage 6 (s. Anm. 145).
171& MEIERN, Acta, Bd. 2, 956; Bd. a, 68.
172 Ebd., Bd. 2, 186. Vgl. DICKMANN, Frieden, 328.
616
b) Konfe88ionelle Kampfbünde Bund
gefordert, daß den Btänden melllrer.~ als dem Oberhaupt nicht zugegeben werde173• Die
Stände mußten zwar Kaiser und Reich ausnehmen, waren aber ansonsten frei,
Bündnisse zu schließen, mit wem sie wollten. Der Kaiser bedurfte dagegen für seine
Bündnisse weiterhin der Zustimmung der Stände, eine Bedingung, die auf 14!)5
zurückgriff und die 1711 endgültig legalisiert, aber selten eingehalten wurde 17 '.
„Die Reichsstände sind in ihrem Bündnisrecht selbständiger und unangefochtener
als der an die ständische bzw. reichstägliche Zustimmung gebundene Kaiser" 176 •
Der Kaiser wurde positiv gebunden, die Fürsten blieben als Souveräne dem Reich
gegenüber nur negativ verpflichtet. Damit war die monarchische Chance des
kaiserlichen Hauses endgültig verspielt: Was die Staaten völkerrechtlich an An-
erkennung gewannen, verlor der Kaiser an Reichsstaatlichkeit. Der Trend führte
zur Verstaatlichung und Anerkennung der Territorialherrschaften als völkerrecht-
liche Subjekte.
Dem entsprach, daß „bündische" Formationen vorstaatlicher Art nicht mehr in
das ius foederis einnickten: Die Anerkennung des Han.Ye-Städtischen Bundes bzw.
des Foedus Hanseaticum konnte von norddeutschen Ständen nicht durchgesetzt
werden 176 ; es handelte sich um keine reichsunmittelbare Organisation, die zum
Völkerrechtssubjekt aufrücken konnte. Ebensowenig wurden die Erbverbrüderun-
er.n r.wiRr.h1m einigen fürstlichen Häusern (Pacta gentilicia 177 , confraternitates, unio-
nis pacta) in das ius foederis eingestuft17 8.
Der Sprachgebrauch spiegelt diese Reduktion der rechtlichen Zuordnung auf die
territorialstaatlichen Einheiten wider. In den Verhandlungen ha.t,t,en die Franr.mien
versucht, das Droit ... des Alliances et Confedbations durchzusetzen179, was zwi-
schen Bündnis und Bund eine denkbare Unterscheidung voraussetzte. Auoh bei
ihren politischen Plänen, 1643 eine I.tighe auf dem Reichsboden zu stiften, sahen sie
das allgemeine Recht vor, Allianzen, Assoziationen und Confoederationen zu
113 MEIERN, Acta, Bd. 2, 920; Bd. 3 (1734), 59. 68; Bd. 4, 495. Freilich ist, wie ScHEIDE-
MAN'i'EL Bd. 1 (1782), 434 feststellte, die Ausnahme zur Regel geworden; es ließen eich
wenig Bei8piele fi,nden, daß ein Bündni8s auf dem Reichstag sollte zur Wirklichkeit
gekommen sein.
174 Vgl. oben S. 588 f. u. Art. 6 des Entwurfs einer beständigen Wahllmpitulation von 1711
dass unsere Verständnis auf die Oommercia allein, und nicht zugleich mit auf die necessitatem
tuitionis vel commerciorum, vel ipsarum imprimi8 urbium, sich erstrecken solle. Die Historie
sei voll von foederihus et belli8, die die Hanse mit Königen, Potentaten, Fürsten und Herren
geführt habe; Aaaertio libertatis reip. Bremeneie (Bremen 1646). Die Staatsrechtler
drängten den Haneea.tiechen Bund zunehmend in die Bestimmung einer gesellschafaichen-
Verbindung ohne Hoheitsrechte, so ScHEIDEMA.NTEL Bd. 2 (1782), 415, der sich auf
ÜBRECHT, Dies. de imperii Germe.nici eiueque etatuum foederibue, §XV beruft: die Hanse
sei non tam foederi8 publici, quam privatae societatia iure censendam.
177 MEIERN, Acta., Bd. 2, 321. 956.
1 7 1 Ebd., Bd. 4 (1734), 492; Bd. 5 (1734), 762.
179 Die Kaiserlichen muthmasaeten freilich zu Recht, daß die Frantzosen, auf diese Arl alle
617
Bund m .. 2. V~m 'Bund' zum 'Bündnis'
618
c) Das Zeitalter der Sonderltüadnisse Bund
stellen und sich den gemeinsamen Beschlüssen zu unterwerfen. Damit sollte ein
Kern der künftig allgemeinen Verfassung gebildet werden, der stark genug sei, jede
Gegenallianz in Nord- oder Süddeutschland niederzuhalten bzw. alle Gegner zur
Nw,tralität zu zwingen186• Der Kaiser sollte als Kaiser aus der Allianzverfassung
herausgehalten werden, womit die Reichsbundpläne Karls V. jetzt erstmals auf
eine föderale Fürstenallianz angelegt wurden, die mehr sein sollte als nur ein impe-
rium in imperio 188 • Der Ausdruck 'Einung' war entschwunden, das Ziel war Einig-
keit durch Allianz187, anders gewendet: der Weg führte vom Bündnis zurück oder
voraus zum Bund188, wofür auch die niederländische Union Modell stand. Dieser
Plan, der vorzüglich auf das Altreich hin konzipiert war, scheiterte so sehr wie der
Versuch des Kaisers, ihm seinerseits durch eine 'Gesamtallianz' zu begegnen189 •
Die zweite, mittlere Ebene wird von WALDECK .1653 in seinem Gutachten für den
Großen Kurfürsten umrissen. Waldeck ging davon aus, daß weder Kreisverfassun-
gen, noch Vereine, noch Erbverbrüderungen als zwischenständische Organisations-
formen politisch den Schutz bieten könnten, den allein Bündnisae böten100. W aldtmk
schlug ein Bündnis vor, das herkömmlich als Gegenwehr gegen die monarchischen
Ambitionen des Hauses Habsburg und zur Trennung der Katholischen 191 gedacht
war. Brandenburg solle sich mit den evangelischen Fürsten und Städten zusammen-
schließen unc.1 zum Haupt der anderen Bundesgenosscn1112 mo.ohen. Das Bündnis
sollte den Friedensvertrag wahren und aufgrund dessen die Macht Brandenburgs
steigern. Von einer Unionsverfassung ist aber keine Rede mehr, auch wenn noch
schmalkaldische Motive anklingen. Vielmehr sieht der Plan von allen gemeinsamen
Institutionen ab, um durch Verfahrensabsprachen die Reichsverfassung gegen
österreichische Einflüsse abzusichern. Damit ist jener Typ des Sonderbündnisses
umrissen wordtm, uer 11ich als ..4.Uicmt. 193 11.nr.h 11.nf das Aufllo.nd ausdehnen könnte
und dem die Zukunft gehörte. Wie LunoLPH Huao in „De statu regionum Germa-
niae" 1661 schrieb: Si respublica bene constituta est, foederibus non opus est. Ubi
autem respublica . . . laborat, utique foedera necessaria sunt, ut pactis privatis securi-
tatem nobis conciliemus, quam iure publico non habemus. Nostra autem respublica tam
turbulenta, tam imbecillis fuit, ut solo hoc subsidio hactenus stetisse videatur. Oder, wie
KoPP 1739 bestätigte: Die allgemeine Ruhe und Sicherheit des Reichs ist nie so sehr
619
Bund m. 2. Vom •Bund' zum •Bündnis'
durch allgemeine Reichs-Verordnungen, als durch besondere Bündnisse aufrecht erhal-
ten worden 194•
Die dritte, untere, Ebene schließlich wird von dem württembergischen Rat KuLPIS
1669 zu betreten gefordert195 • Eine militärisch und politisch wirksame Reichsver-
fassung sah Kulpis weder über den Reichstag entstehen noch per pacta specialia
zwischen den Ständen. Deshalb wollte K;ulpis eine neue Reichsverfassung von der
Kreisebene aufbauen, a posteriori, da sich ein Aufbau a priori, von den oberen
Reichsorganen her, nicht mehr erwarten ließe. Auch dieser Weg scheiterte nach
einigen Anläufen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das ius foederis, das
JOHANN JACOB MOSER noch 1773 für die Kreise registrierte 196, engte sich in der
Praxis auf die Territorialherrschaften ein mit ihrem Recht zu Sonderbündnissen.
In der Verfassung von Reichskreisen, wie sie in den Jahren 1500, 1512, 1521 und
1555 festgelegt wurde 197 , hatte, organisationstechnisch gesehen, die Chance gelegen,
das Reich von oben her föderal aufzubauen. Die Kreise bedienten sich der bündischen
Verfa88Ullg8elemente, wie sie im späten Mittelalter entwickelt worden waren. Ihre
Aufgabe bestand darin, den Landfrieden zu wahren, im Kriegsfall das Reichsheer
zu stellen. Die Verfassungen kannten ein - interkonfessionell oft doppelt besetztes
- lJirektorium, einen Kreishauptmann bzw. -oberst, Kreisrat und Kreisversamm-
lung. Aus dem Reichsrecht abgeleitet, war ihre Organisation nicht befristet, kann-
ten sie keine eigene Gerichtsbarkeit, zumal sie selbst das Kammergericht zu be-
schicken, dessen Beschlüsse zu exekutieren hatten.
Ferner kannten die Kreise eine Art eigener Gesetzgebung in Form von Rezessen,
auf die sich die Teilnehmer verpflichteten. So entwickelten sie im Münz-, Polizei-
um.i Wirt8chuftswesen eine überterritoriale Aktivität, die bis in das 18. Jahrhundert
hineinreichte und die vor allem im Südwesten dco RcichcR <laR :politi11ch~ TJeben l\\U•
rechterhielt198 •
Nun lag in den Kreisen, als Reichsinstituten, ursprünglich der Verzicht auf eigene
Außenpolitik enthalten. So hatte 1563 die Verfassung des schwäbischen Kreises
gelegenen Creysen, abgedr. KoPP, Gründliche Abhandlung, Beilage XV, S. 61 ff. Dazu
.ALoYs SCHULTE, Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden und der Reichskrieg gegen Frank-
reich 1693-1697, Bd. 1 (Karlsruhe 1892), 336 f.; RICH.A..RD FESTER, Die Armirten Stände
und die Reichskriegsverfassung 1681-1697 (Frankfurt 1886), 135 ff.; GusTAv ADOLF
Süss, Geschichte des Oberrheinischen Kreises und der Kreisassoziationen in der Zeit des
spanischen Erbfolgekrieges (1697-1714) II, Zs. f. d. Gesch. d. Oberrheins 104 (1956), 204 ff.
198 MOSER, Staatsrecht, Bd. 10, 765. 772.
187 Vgl. u. a. HARTUNG, Fränkischer Kreis (s. Anm. 15); TRAUGOTT MALzAN, Ge-
schichte und Verfassung des Oberrheinischen Kreises von den .Anlangen bis zum Be-
ginn des Dreißigjährigen Krieges (phil. Diss. Mainz 1952); CARL ERDMANN, Ferdinand I.
und die Kreisverfassung, Hiat. Vjschr. 24 (1929), 18 ff.
18 8 GERH.A..RD ÜESTREICH, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mit.t.elalters bis zum Ende
des alten Reiches, in: BRUNO GEBH.A..RDT, Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl.,
Bd. 2 (Stuttgart 1970), 366 ff. 381 ff. mit Lit.
620
e) Das Zeitalter der SoaderLündnisse Buna
festgesetzt, daß sie gar nicht für eine sU'ntkre Pündtnus z·u achten oder anzuaehen sei,
sonder allein eine auffrechte y1Jtlu>trtzi,ge vertrewliohe Oorrespondentz, Exekution und
H andthabung des Religion- und Land/riiJens sichern sollte; die Kreisexekutionsord-
nung sei, wie erneut betont wurde, keine abgesönderte Oon/oederation oder Bündtnuss.
Dementsprechend durfte auch das Ampt des Kreishauptmanns keine superioritet
über die stende beanspruchenlDD.
In den Nachkriegswirren und um ihnen zu wehren, haben sich nun deutsche Fürsten
1650 bis 1652 erstmals wieder auf der Kreisebene zusammengefunden und sich im
Südwesten sowie im Norden kraft eines gemeinsamen Rezesses verbündlioh con-
cludiret200. Aber die Bündnisgewalt ließ sich nicht an der Kreisverfassung festma-
chen. Je mehr Territorien kleiner als ein Kreis waren, desto besser arbeitete dessen
Verfassung- aber je mehr Territorien die Kreisgrenzen überlappten, desto schlech-
tflr. "ßp,reita auf dem Westfälischen Frieden waren es die Stände, nicht die Kreise,
die vertreten waren. So ist auch die damals entscheidende Voraussetzung für eine
politische Handlungseinheit, die Aufstellung des miles perpetuus, eines stehenden
Heeres, in der Verfügung der Kreisobersten nicht gelungen. Die armierten Stände,
meist über die Kreisgrenzen hinausgreifend, unterstellten ihr Heer nicht den Krei-
sen, von denen sie gleichwohl die Truppenfinanzierung beanspruchten.
Erst unter der Aggression Ludwig XIV. kam die Frankfurter Allianz und Asso-
ciation von 1697 zwischen den Kreisen Kurrhein, Oberrhein, Schwaben, Bayern-
Franken und Westfalen zustande. Sie war vorzüglich zur mutuellen De/ension und
Assistence geplant, sie sollte, unter dem Antrieb Schönborns, ein eigenes Heer ala
gemeinsames Corpus zum Einsatz bringen 20 1 • Hinter dem Doppelausdruck 'Allianz'
und 'Association' verbarg sich ebenfalls die völker- und reichsrechtliche Zwischen-
lage, auc.h wenn der Ha.11pt11.k7.P.nt 11.nf !linem Militärbündnis lag; die Association
wurde zum Kriegsbündnis, zuin Special Foedus, um so mehr, als Österreich 1702
beitrat202 • Aber einmal in die außenpolitische Konstellation eingebunden, zerfiel
die „Association" schnell als eigenständige dritte Kraft zwischen Bourbon und
Habsburg. Die gesamteuropäische Allianz gegen Frankreich verzehrte die assozia-
tiven Verfassungselemente des Bündnisses zwischen den Kreisen. Auch spätere
Erneuerungsversuche scheiterten an den territorialstaatlichen Gegensätzen, die
stärker waren als die zentripetalen Kräfte der Reichskreise 203 •
198 ERNST LA.NGWERTH v. SIMMERN, Die Kreisverfassung Maximilians I. und der Schwä-
Chur- und Ober-Rhein v. 12. April 1651, da.zu ERDlllANNSDÖRFFER, Dt. Geschichte,
Bd. 1, 136; ADOLF KÖCHER, Geschichte von Hannover und Braunschweig 1648-1714,
Bd. 1 (Leipzig 1884), 609 f.: Urkunde des .(erst historiographisch so genannten) Hildes-
heimer Bundes vom 14. 2. 1652.
2o1 KOPP, Gründliche Abhandlung, Beilage XVII, S. 74 ff.
202 Nördlinger Tractat oder Assoziations-Recess vom 20. März 1702; ebd., 88 f.
2 03 Süss, Oberrheinischer Kreis (s. Anm. 195). JOHANN JACOB MoSER schildert im „Neuen
teutschen Staatsrecht", Bd. 10, Kap. 8 den Niedergang der Kreisassoziationen und wie
sie 1748 an ihr Ende g11langt seien. Die Gründe sieht er darin, daß 11ie als Syatema foedera-
tarum Civitatum •.• kein gemeinaamea Oberhaupt hätten, auch kein richtiges Direktorium,
keine Kasse und keine regelmäßigen Konvente, ferner daß sie am konfessionellen Gegen-
621
Bund m. !. Vom 'Bund' zum 'Btinclnls'
Die territorialstaatlichen Sonderbündnisse seit Ende des Dreißigjährigen :Krieges,
deren bekanntestes das Foedus Rhenanum wurde, zeigen nun zahlreiche Gemein-
samkeiten, die auf ihre erste Formulierung in der Hildesheimer Particular-V ereinig-
und Verwandtnüs von 1652 zurückzuführen sind 204• In den folgenden Allianzen
tauchen dieselben Bestimmungen auf, die den neuen Bündnistyp kennzeichnen.
Die Legitimation der Bündnisse beruhte - und zwar in dieser Reihenfolge .:__ im
hohen Landesfürstlichen Ambt, in der Anweisung d,es allerheiligsten, seligmachenden
Worts Gottes (nur bei Protestanten), in der natürlichen Vernunft, aller Völker Rechl,e
und schließlich der darauf basierenden Reichsverfassung 205• Schon die Abfolge der
Rechtstitel kennzeichnet die Abwendung von alten Einungstiteln zu Gunsten der
beanspruchten Hoheit der jeweilig Alliierten. Die Vertragschließenden pflegten
sich auf militärpolitische Minimalbedingungen zu einigen, um ohne Aufgabe der
eigenen Unabhängigkeit den Frieden erhalten zu können. Ro tauc:ht j11il1111mal die
Versicherung gegen Praeeminentz, mehrer Macht und Gerechtigkeit auf, unter was
Praetext auch immer sich jemand die Hegemonie anmassen wolle 206 - auch wenn
Frankreich durch seinen Beitritt zur Frankfurter Allianz im Foedus Rhenanum
eine hegemoniale Rolle anstrebte und zeitweise durchsetzen konntea07 •
Innerhalb des Reiches zielten die Bündnisse auf die Wahrung des Friedens von 1648,
vorzüglich aber auf die Beseitigung der furchtbaren Not und waren deshalb meist
nur auf zwei oder drei Jahre abgeschlossen worden, auch wenn etwa der später
sogenannte Rheinbund_ dreimal verlängert wurde. Als Selbstbestimmung setzte
sich die Hildesheimer Definition einer Particular-Defenai-Ons-Verfassung. durch.
Aber alles war darauf angelegt, Verfassungselemente im modernen Sinne oder im
Sinne alter Einungen auszufällen: gemeinsame Justiz entfiel bis auf das Militär-
recht; jeder Fürst blieb Oberbefehlshaber im eigP.lJP.n T.ani111, nur für Kriegszüge in
loco tertio war gemeinsamer Oberbefehl vorgesehen; alle Trupp~n wurden von den
sa.tz sowie an der mangelnden Zukunftsplanung leiden. Und anatatt daß, wann die Not
an den Mann ginge, die&e die Crayse hiitte zuaammentreiben sollen, so Mtte der eine große Hof
cUese, der andere jene Privat-Absicht, der eine ließe sich schrecken, der andere gewinnen, der
dritte wollte neutral bleiben, der vierte wollte warten, bia die Köpfe wieder unter Einen Hut
"kämen, der fünfte wußte nicht, was er tun sollte, und dabei bliebe es (277).
204 KÖCHER, Hannover, 609 :ff.
2 06 Ebd., 609. Für die Rheinische Allianz vom 15. 12. 1654: Du MONT, Corps universel,
t. 6/2 (1728), 98; für die „Frankfurter Allianz" (den „Rheinbund" vom 14. August 1658)
ebd., 235.
20 • KöoHER, Hannover, 612; Du MONT, Corps universel, t. 6/2, 99. 237 f.
207 Der Beitritt Ludwigs XIV. zur „Frankfurtischen .Alliantz" erfolgte herkömmlich durch
einen gesonderten Vertrag am 15. August 1658, und zwar in französischer Sprache (Du
MONT, Corps uniVersel, t. 6/2, 239 f.), wobei die Gegenseitigkeit und Gleichheit der Vertrag-
schließenden betont wurde. Die Bezeichnung lautet einmal union, sonst alliance defensive
oder convention particuliere. In der lateinischen Fassung (LoNDORP, Acta, Bd. 8, 422 f.,
s. Anm. 158) heißt der Vertrag durchweg foedua. Von foedua Rhenanwm wurde bald ge-
sprochen; vgl. LEIBNIZ, De foedere Rhenano (1670 T), AA R. 4, Bd. 1 (1931), 499. Der
Ausdruck 'Rheinbund' hat sich erst später eingebürgert. So spricht KoPP, Gründliche
Abhandlung, 72 von der Rheynischen AZliantz oder vom Großen Rlie.yniachen Bund: be-
zeichnenderweise ein VerfaSBer, der den Rheinbund in die Tradition der spätmittel-
alterlichen Bünde und Gesellschaften einordnet. .
622
e) Das Zeilalter der Sonderbündnisse Bund
entsendenden Territorien bezahlt; nur die Artillerie sollte gemeinsam gestellt wer-
den208, - womit jene kritische Schwelle bezeichnet wurde, hinter der erst eine
politische Handlungseinheit ihren Anspruch auf Unabhängigkeit anmelden konnte.
Die Tendenz war, möglichst neutral und passiv bleiben zu können; Dem entsprach
das weitere Merkmal der Entkonfessionalisierung 209. So versicherten etwa die
Rheinbundfürsten, daß obangeregte V erständnüs und Zusammensetzung . . . uO
keine neue ligam oder Union aus seien2 1 0. ·
Dieser Minimalisierung gemeinsamer Institutionen, dieser Reduktion des Bündnis-
inhaltes auf militärpolitische Schutzmaßnahmen und der Entkonfessionalisierung
entsprach semantologisch eine Verschiebung der Wortfelder: 'Alliance' oder einge-
deutscht 'Alliantz', 'foedus' in lateinischen und deutschen Texten drii.ngten sich vor
und waren sinngleich mit 'Bündnis'; 'Einung' wurde nicht mehr verwendet und
'Bund' trat nur noch beiläufig auf. Die neue Terminologie indizierte den gewandel-
ten Sachverhalt. Im Maß, als das Reich seit 1648 unter ausländische Garantie ge-
stellt wurde, wirkten die internationalen Mächtekonstellationen in das Reich hinein
und verwandelten die überkommenen Bundeskonstellationen in zwischenstaatliche
Bündnisse. Damit traten auch Reich und Kaiser immer weiter auseinander, denn
die Bündnisse konnten, indem sie sich auf das Reich beriefen, ebensogut gegen den
Kaiser gerichtet sein. ·
Das führt zum sogenannten Fürstenbund von 1785. Im Durchgang dnrch die euro-
päischen Allianzen und Koalitionen des 18. Jahrhunderts war Preußen so weit auf-
gerückt, daß die Reichsreformpläne deutscher Fürsten in den Sog des Dualismus
Österreich- Preußen gerieten. Die Folge war ein Fürstenbündnis unter preußischer
Hegemonie, das den Gegensatz von Kaiser und Reich maximierLe.
Der Vertrag stilisierte sich gemäß den Bestimmungen der Goldenen Bulle, des West-
fälischen Friedens und der jüngsten Wahlkapitulation von 1711 als ein vertrauliches
Bündnisz, zunächst dreier Chur/ürsten, ohne den Ausdruck 'Bund' zu verwenden 211 .
Trotz des historischen Rekurses in deutscher Sprache war der Interessenpakt kein
Bund mehr im alten Sinne. Er kannte weder einen gemeinsamen Rat noch gemein-
same Gerichtsbarkeit, noch gemeinsame Steuern; nur geheim und nur für den
Kriegsfall wurde ein gemeinsames Heer abgesprochen. Es handelte sich in der Tat
um ein Bündnis im Sinne der klassischen Diplomatie, das sich freilich der Elemente
der Reichsverfassung zu bedienen suchte. Nach seiner Präambel zielte der Fürsten-
bund darauf, die Crisis des Reichssystems abzuwenden, Reichsverfassung, Unpar-
teilichkeit der Rechtspflege, Herkommen und ständische Rechte zu wahren. Die
vereinigten Fürsten setzten sich als Hüter des Reiches ein, so daß es schließlich
208 Siehe die genannten Verträge; ebenso die „Defensiv-Alliance" zwischen '.Brandenburg
und Braunschweig-Lüneburg vom 19. Juli 1655; in: THEODOR v. MOERNER, Kurbranden-
burgs Staatsverträge von 1601--,1700 (Berlin 1867), 184 ff.
209 Vgl. Du MoNT, Corps universel, t. 6/2, 163. 236. 240; KÖCHER, Hannover, 636; ERD-
623
Bund m. 2. Vom 'Bund' lllDD 'Bündni•'
darauf ankam, wie ein Würzburger Gutachter scharfsinnig fragte: Wer wird die
Reichsverfassung interpretieren - der Kaiser oder die vereinigten Fürsten 212 ~
Damit war die Reichsverfassung potentiell durch ein Interessenbündnis gegen den
Kaiser absorbiert worden.
Die politischen Bestimmungen richteten sich darauf, in allen Reichsorganen enge
Zusammenarbeit zu wahren, Säkularisationen durch Joseph II. zu verhüten -was
dem Bündnis seinen interkonfessionellen Charakter verlieh -, und schließlich dar-
auf; Ländertausch zu verhindern, worin die „Paciscenten" den Kriegsfall gegen den
Kaiser erblickten. Damit entstand die Gefahr, daß selbst eine Kriegserklärung zum
Schutz der Verfassung als verfassungskonform interpretiert werden konnte. Ohne
bündische Institutionen war der sogenannte Fürstenbund ein hegemoniales In-
teressenbündnis, das die Reichsverfassung als Vehikel diplomatischer Aktion zu
nutzen wußte.
Im Gegensatz zu 'Verbindung', 'Union', 'Vereinigung', 'Association' und ähnlichen
Ausdrücken tauchte im diplomatischen Verkehr der Terminus 'Fürstenbund' nur
zitatweise auf 213 - dies aber war der Ausdruck, der in der Öffentlichkeit am mei-
sten Anklang fand: er rief vaterländische und patriotische Gefühle hervor, die sich
nunmehr von seiten der bürgerlichen Öffentlichkeit zunehmend am Bundesbegriff
ankristallisieren sollten. Wie CHRISTIAN ScHUBART ausrief: „Sei unser Führer,
Friedrich Hermann!" Er wollt's. Da ward der deutsche Bund214• So traf der 'Fürsten-
bund' auf eine Empfangsbereitschaft der sich herausbildenden bürgerlichen Gesell-
schaft in Deutschland, von der sich seitdem ein neuer Strang unserer Begriffsge-
schichte ableiten läßt (vgl. unter IV. 2).
212 KARL OTMAR FRHR. v . .ARETIN, Heiliges Römisches Reich 1776-1806. Reichsverfas-
624
d) Semantologischer Rückblick B0nd
Seit 1648 schob sich die bloße Sicherheit und Selbsterhaltung als Legitimation für
Bündnisschlüsse vor: die territoriale Hoheit hatte als völkerrechtlicher-und reichs-
rechtlicher Zuordnungspunkt die Bündnisfähigkeit zur Folge. 'Bündnis' wurde zu-
nehmend zum rein außenpolitischen Begriff, unter Absehung religiöser und verfas-
sungsgebundener Sinngehalte. Diesem Vorgang schließlich entsprach eine Ausfül-
lung aller institutioneller Bestimmungen, die den Bundesbegriff ausgezeichnet ha-
ben, die aber für ein Bündnis nicht mehr erforderlich waren.
Gleichwohl hat sich der zum historischen Ausdruck reduzierte 'Bund' auch in der
Rechtssprache lange gehalten, und zwar in Form zahlreicher Zusammensetzungen.
Auch wo der Ausdruck 'Bund' im 16. und 17. Jahrhundert verdrängt wurde, haben
sich die alten Verbindungen: Bundesrat, Bundeshauptmann, Bundesoberst, Bun·
deskasse, Bundeshilfe, Bundesgericht, Bundesgenossen usw. gehalten, solange es
die entsprechenden Sachverhalte gab. Man hat also auf den 'Bund' als einen tech-
nischen Ausdruck, der sich vorzüglich für Wortverbindungen eignete, in der Rechts-
sprache nicht verzichtet 21 s.
Die Wörterbuchebene des 18. Jahrhunderts bestätigt das Ergebnis für den Sprach-
gebrauch der gelehrten und zum Teil schon gebildeten Welt. BESOLD hat 1649 auf-
fallenderweise keinen Artikel „Bund" mehr, sondern nur Bündtnuss registriert 216 •
ZEDLER verzeichnet 1732 Alliance, Allianz oder Bündniß als politisch. sinngleiche
Terinini, während Bund erst im Supplementband 1754 nachgeholt wird 217 : unpoli-
tisch und föderaltheologisch, was den aufsteigenden Bedeutungsstrang aus diesem
Lager indiziert. 1780 in uer „Deutschen Enzyklopädie" 218 wird 'Bund' in seiner
gewöhnlichen Bedeutung als biblischer, vorzüglich aber als föderaltheologischer Be-
griff registriert, der die Stufen der Offenbarung in Gottes Haushaltung aufschlüsselt,
womit, Rinh rler lmmmenrle e;eRchicht.'lphilosophische Aspekt abzeichnet.
Ansonsten wird 'Bund' nur gelegentlich als sinngleich Init 'Bündnis' erwähnt, aber
selten. PoMAI 219 übersetzt Bund/Bündnis Init foedus, aber foedus nicht mehr Init
„Bund", sondern: alliance, appointement, traite de paix, pacte, accord und Bündnis,
Vereinigung. ADELUNG schließlich stellt 1774 und noch 1793 fest, daß 'Bund' fast
nur noch in dichterischer Schreibart gebräuchlich sei, sonst komme der Ausdruck
immer seltener vor, indem das W o-rt Bündniß üblicher geworden ist 220•
216 Vgl. STUMPF, Ba.iems Geschichte, Bd. 2 (1817), 41 f. für den Saa.lfelder Bund 1533
(s. Anm.140); SPIESS, Geschichte, 67. 79. 97. 110 ff. (s. Anm.133) für den kaiserlichen
Bund 1535; ferner HoRTLEDER, Handlungen, Bd. 1, 1344 (s. Anm. 113) für den
Nürnbergiachen OatholiBchen. Ge.genlYu.ndt von 1538; STUMPF, Liga (s. Anm.146) für die
Liga 1609; Du MONT, Corps universal, Bd. 6/2, 236, wo für die „Frankfurtische Alliantz"
von 1658 die Oonfoederirten, AUiirten und Bundsgen.oaaen zugleich auftauchen; ebenso noch
die Bundahülffe; KOPP schließlich verwendet die entsprechenden Ausdrücke in seiner
historischen Darstellung, auch wenn sie bei der Kreisassoziation von 1697 ff. nicht mehr
auftauchen; gründliche Abhandlung, passim (s. Anm. 79).
218 BESOLD (i649), 133.
217 ZEDLER Bd. 4 (1732), 1255 ff. u. Suppl. Bd. 4 (1754), 994 ff:
40-90385/1 625
Bund m. 2. Vom 'Bund' zum 'Bündnis'
Wenn 'Bund' auftaucht, dann fast nur noch biblisch und in den zahlreichen histo-
rischen Artikeln über Bünde der deutschen Vergangenheit, allenthalben über Grau-
bünden-oder andere Schweizer Bundschlüsse, die in die Gegenwart hineinreichen 221 .
'Bund' ist also, vom theologischen Bereich abgesehen, zu einem historischen und
auf die Vergangenheit bezogenen Begriff geworden, ohne jeden theoretischen An-
spruch. Diesem Reduktionsvorgang war auch 'Liga' und teilweise 'Union' unter-
legen222. Auch die alten zentralen ständischen Rechtsausdrücke 'Einung' und
'Verein' sind bis auf seltene historische Beispiele verschwunden 223. 'Einung' lebt
sporadiseh weiter, während der neue zukunftweisende Ausdruck 'Einheit' noch nicht
geprägt ist.
Diesem Negativbefund entsprechen die fast überall sinngleichen Definitionen von
'Bündnis' und 'Allianz'. Das Recht, Bündnisse zu schließen, hat sich auf Poten-
taten224, Puissanzen 225 eingeschränkt (einmal auch schon auf Völker 226 ausgedehnt).
ZEDLER spricht es nur den Mächten zu, die Krieg zu führen befugt sind, außer dem ist
niemand mit einer anderen Puissance ein Bündnis und Alliance zu schließen fähig.
Obwohl die reichsrechtlichen Vorbehalte weiterhin registriert werden, ist die Bünd-
nisfähigkeit zu einem völkerrechtlichen Attribut geworden. Dementsprechend ist
das Hauptgliederungsprinzip die Einteilung in Offensiv- und Defensivalliancen, in
Trutz- und Schutzbündnisse. Und für die Zeitfristen stellt Zedler lakonisch fest:
Es dauern die Allianzen so lange, als es großen Herrn gefällig, oder die Rai.~nn
d'l,tat erfordert 227. Folgerichtig zur Verstaatlichung. der Bündnisfähigkeit wird
jenes Bündnisrecht, das in mittleren Zeiten ... auch mittelbare Glieder des Reichs
behauptet hatten, als verderbliches Faustrecht deklassiert 228 ; bei Privatpersonen
121 ZEDLEIL Dd. 11 (17SG), OSS Jr.; Btl. 39 (1744), 838 f. 792; Bd. 33 (1742), 1431. Ferner
HÜBNER 8. Aufl. (1717), 1627 und LEU Bd. 6 (1799), 468. Die Schweiz bzw. die Eidgenos-
senschaft wird a.ls RepUblik definiert, die a.uf den Bund von 1315 zurückgeht.
181 Soweit nicht historische Erläuterungen, etwa. zur heiligen Liga. von 1576, geboten
werden, fällt auf, da.ß 'Liga.' oder 'Ligue' im 17. und 18. Jahrhundert eine pejorative Be-
deutung erhalten ha.t. Etwa. bei DuEz, Dict: (1642): Eine Verbundene Rotte/Factio oder im
Dict. fra.nc;.-a.ll.-la.t. (1675) = Bund oder bande faction, ein Verbündnuß/ZWJammenge-
achworner Hauff/Factio oder bei STIELER, Zeitungs Lust (1695), 208, ebenfalls ein Ver-
bündniß/ZWJammenschwerung und Rottirung. 'Union' hält sich neutral a.ls Vereinigung,
Vergleichung (Wohlm. Unterricht, 1755, Anh. 75), Vereinigung, Verein (CAMPE, Fremdwb.,
1813, 598), Vereinigung, Einigkeit, Eintracht; der Vergleich, das BündniB (RoTH Bd. 2
(1788), 554) oder nur ein Bündnia (HÜBNER 8. Aufl., 1904).
12 3 'Einung' taucht zuletzt bei ScHOTTEL, Sprachkunst, 2. Aufl. (1651), 340 a.uf,da.nnerst
wieder in der Dt. Enc„ Bd. 8 (1783), 131, wo es mit Einigung erläutert wird; vgl. ebd., 82.
211 HüBNERS. Aufl. (1717), 64; JABLoNsKI2. Aufl., Bd.1(1748),36; RoTHBd. 1(1788),10.
BH ZEDLER Bd. 1 (1732), 1255.
12s HALLE Bd. 2 (1780), 431, a.us dem Französischen.
227 ZEDLER Bd. 1, 1255 ff., bes. 1257.
HB So in der „Deutschen Enzyklopädie", die im übrigen Allianz a.ls Allgemeinbegriff ver-
wendet, der sich a.us den natürlichen BedürfniBsen der Staaten ableiten läßt; in einem
Kapitel mit politisch-geographischen Argumenten wird das Systepi der europäischen
Allianzen geschildert; der Ausdruck BündniBse wird dagegen historisch für die Griechen
und Römer, besonders a.ber für das d1mtsche St.a.at.arecht verwendet; der einschlägige
Artikel fäßt die Bestimmungen seit dem Westfälischen Frieden sehr präzise zusammen.
Er ist gegliedert in Bündnisse, die sich a.uf da.s gesamte Reich beziehen, die der Kaiser
626
m. 3. Theoretische Ansätze zur Duntleestaatslehre Bund
ist das Wort Bündniss ungebräuchlich229 ; die alte conjuratio heißt nur noch
V ersch11iiirung oder Zusammenschwörung230.
Eine theoretisch klare Trennung und Gegenüberstellung entlang den Ausdrücken
'Hund' und 'Bündnis' erfolgt erst nach der Französischen Revolution, die Erfah-
rungen der neuen bundesstaatlichen Organisation aufnehmend. Freilich hat die
Theorie des alten deutschen Reichsstaatsrechts der Bundesstaatslehre entschieden
vorgearbeitet.
2. Aufl., Bd. l (1793), 217 registriert die Allianz als ein ohne Not aus dem franz . .Alliance
entlehntes Wort - während CAMPE, Fremdwb., 99 bereits darauf verzichtet und darüber
hinaus für Tripel- und Quadrupel-Allianz Dreibündnia und Vierbündnis bzw. Dreibund
und Vierbund vorschlägt.
2a 1 SIEGFRIED BRIE, Der Bundesstaat. Eine historisch-dogmatische Untersuchung (Leipzig
1874); ÜTTO v. GIERKE, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen
Staatstheorien (1880; 5. Aufl. Aalen 1958), .Kap. 5; LoUIS LE FuR{PAUL PoSENER.,
Bundesstaat und Staatenbund in geschichtlicher Entwickelung (Breslau 1902); ÜTTO v.
GIERKE, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 4: Die Staats- und Korporationslehre
der Neuzeit (Berlin 1913); GoDEHARD Josu EBEBB, Die Lehre vom Staatenbunde
(Breslau 1910); ALBRECHT RANDELZHOFER, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Rö-
mischen Reiches nach 1648 (Berlin 1967).
232 JEAN BODIN, Respublica., das ist: Gründtltche und rechte Underweysung •.• 1, 2, dt.
von Johann Oswaldt (Mömpelgard 1592), 71 ff. In der lateinischen Fassung (De Republica,
4. Aufl. 1601): = De patrocini.o et clientela; q'll4nt'Ufm}m socius a peregrino, cif!is a soci.o,
cliens ab utroque distet.
627
Bund m. a. Theoretiaehe Ansitze ZW' Bundesstaatslehre
herr und Lehensmann, zwischen Patron und Klientel, zwischen Protektor und
Schiitzling sowie zwischen überindividuellen politischen Einheiten. Dabei drängt
Bodin durch den gleitenden Wortgebrauch von foedus, societas, consociatio, ami-
citia, sponsio, protectio, pactio hindurch auf eine klare Unterscheidung. Bodin
fragt danach, wie sich die verschiedenen Verbindungen zur natura und zur Kraft
( vis) einer respublica verhalten. Entweder sichern die foedera - seien sie gleich oder
ungleich - die Unabhängigkeit der Partner, oder sie erzeugen eine gemeinsame
Obrigkeit. Es werden aber Bündnussen gemacht / wie man gleich wölle / so behelt ent-
weder ein jeder sein gewalt / und hohe Obrigkeit / oder er gibt sich in deß andern ge-
walt / nimbt von im Gesetz und Rechten/ und wird also sein Underthan 233• Damit
werden o.uoh o.llo oonsooiti.tiones und societates entweder innerstaatlich oder zwi-
schenstaatlich eingeordnet. Innerstaatlich treten sie zugunsten der Grundfigur
Herr - Untertan zurück, und au ßp,npolitiAl'.lh zielt Bodin - trotz der von ihm regi-
strierten geschichtlichen Obergangsformen - auf die Alternative: entweder bleibt
eine societas zwischenstaatlich, oder sie wächst zu einer neuen respublica zusammen.
Dann ist al"lgemach auß vilen gemeinen Nutzen unnd H errschafjten nur einer erwach-
sen234. Quod si foederatae ciuitates in unius principis avt plurium optimatum fidem
veniant, una et eadem respublica censetur; quod non facile iudicari potest - wie Bodin
hinzufügt, um die Wichtigkeit der von ihm aufge!!LellLen AlLernative herauszu-
streichen236•
Als zeitgenössisches Beispiel dieser Antithese dient ihm die Eidgenossenschaft und
das Deutsche Reich. Die Schweiz gebe nur ihren Namen her für zwanzig gemeine
Nutzen, die voneinander unterscheiden/ einen Bund und freundtschaftt miteinander
gemacht haben [ = aequo foedere in societatem et amicitiam convenisseJ / wiewol sie an
bedingen 91;nil rlf'n•"t'tl.11. ~t11.gl.e.fr.]1. &~in . . . Da.ra.ms in·scl1ei•11,et / dwt su V'il gemsiner
Nutzen under den Schweitzern sind/ so vil sie ort haben. Ihre societas und amicitia
erzeugen kein gemeinsames Bürgerrecht. Denn weder Mehrheits- noch einstimmige
Beschlüsse auf ihren gemeinsamen Versam.riilungen, noch gemein Land/ oder gemeine
Feind und Freund / oder auch der gemeine Seckel / sonder die hohe Oberkeit unnd
gwalt uber die underthanen ein gemein Nutzen machen2 3 6.
Anders das deutsche Reich, das sich aus einer Monarchie in eine Aristocratia ver-
wandelt habe 237 und insofern - wie der Achaiische Bund - als eine einzige respu-
blica bestimmt werden könne. Die Stände wählten den Kaiser, der ihren Gesetzen
unterworfen bleibe. Unter der Zwangsalternative vieler, wenn auch verbündeter
Staaten oder einem Staat bleibt kein Raum für das theoretische Modell eines „Bun-
desstaats" - und damit hat Bodin der ge,nzen folgenden Diskussion die Wege ge-
wiesen. Ein Bund als solcher hat keinen staatlichen Charakter, Bündnisse werden
zwischen Freunden oder Feinden oder auch mit Neutralen geschlossen, aber nur,
sofern die Bündnisschließenden souveräner Gewalt mächtig sind 238 •
2 33 Ebd„ dt. Ausg., 76; la.t. Ausg., 109 f.: In omni foe.dere, aeu pactione, aeu aponaione,
iura maieat.atia cuique principi p<YJ>U"love aalva 11int opportet: aut alterum in alteriua po-
testatem ac fidem venire.
234 Ebd., dt. Ausg., 81.
2ao Ebd., la.t. Ausg., ll6.
23a Ebd., dt. Ausg„ 78 f.
628
III. 3. Theoretieehe Ansätze zor·Bundesataatalehre Bund
Semantologisch aufschlußreich ist nun die laxe Übersetzung von foedus und societas
bzw. von alliance, pacte oder Jigue: diese Ausdrücke, die eine definitorische Schwer-
punktbildung anooten, wurden noch mehr eingeebnet durch die ausschließliche
Eindeutschung in 'Bund' oder 'Bündnis', die obendrein völlig austauschbar ver-
wendet wurden. Lehensrechtliche, innen- oder außenpolitische Beziehungen, deren
Unterscheidung Bodin herausforderte___.;. so wie er alle ligue11 particulieres, foedera
cum exteris als staatsschädlich charakterisierte - blieben begrifflich undifferenziert.
Staats- und völkerrechtliche Unterschiede oder wie sich das Reich als politische
Einheit zur Bündnisfreiheit seiner Glieder verhalte, das war im Deutschen schwer
auf eindeutige Begriffe zu bringen. Aber von der Sachfrage her hat Bodin alle fol-
genden Reichsrechtler in Zugzwang versetzt.
Die frühneuzeitlichen Untersuchungen über das jus foederis brachten eine Fülle
systematischer und kasuistischer Unterscheidungen 239 • Man fragte nach Grund und
Ziel der foedera, teilte sie in Kriegs-, Schutz-, Handelsbündnisse usw; ein; fragte,
wer überhaupt bündnisfähig sei; ob Bündnisse mit dem Papst, Ketzern oder den
Heiden erlaubt seien (was zunehmend bejaht wurde); was gleiche, was ungleiche
Bündnisse, was starke, was schwache foedera seien; wie lange sie dauern, wann sie
gebrochen werden oder verfallen. Dabei wurden die foedera verschieden legiti-
miert. Sio wurden etwa. o.un Gottoo Willon abgoleitet, der jedem Volk 1111in11n Feind
sende - nur in Utopia gebe es keine Bündnisse; oder die foedera entspringen dem
Mangel menschlicher Natur - non ita /orte est vinculum Foederis Naturalis, quo
homo homini tenetur24°; sie gründen im Naturrecht oder in der daraus abgclcitcton
socialitas 241 ; schließlich werden sie durch die Staats~äson gefordert. Im Zuge solcher
Erörterungen wurde das jus foederis zunehmend eingeengt auf zwischeu:,;t,aatlidw
239 Außer den zahlreichen Quellen, die in der unter Anm. 231 genannten Literatur auf.
jurisprudentia universali .•. argumentis volumen primum (Frankfurt 1716), 99, der im
Gefolge Pufendorfs die socialitas gegen Hobbes ausspielt, aber gegen Pufendorf Zwi-
schenbildungen von Bund und Staat zu retten sucht (s. GIERKE, Althusius, 248). Vgl. in-
des seine Zuordmmg von foe<l.1111 zur Souveränität, in Rllimm „Elementa prudentiae civilis"
{Frankfurt 1712), 172: Foed'U8 in 'Pf'opria signiftcatione definiri potest, atat'U8 duarum vel
plurium civitatum, aub pacte de amicitia colenda, vel auxiliiB praestandis, vel comnierciis
ea:ercendis sociatarum, sine imminutione imperii.
629
Bund m. 3. Theoretisehe Ansätze zur Bundesstaatslehre
Beziehungen, so daß LOCKE 16\JO den Namen der J'ederative Power für die auswär-
tige Gewalt vorschlagen konnte24 2.
Für das deutsche Reich gelang diese Eingrenzung nicht eindeutig. BESOLD suchte
etwa 1614 foedus zu unterscheiden von amicitia- ein foedus amicitiae zwischen Pri-
vaten sei Namensmißbrauch-, von pacificatio und deditio, von der societas; aber er
konzedierte weiterhin den subditi ein Bündnisrecht im Falle der defensio, des Wider-
stands; er handelte weiterhin von Erbverbrüderungen oder vom Olientelare foedus2 43,
das - wie die anderen Gesichtspunkte - als Schutz- und Schirmgerechtigkeit noch
im 18. Jahrhundert seinen festen Ort im allgemeinen Bündnisrecht finden konnte 244.
Noch schwieriger war es, die Reichsverfassung zu begreifen, je mehr die Territorial-
herrschaften das jus focdcris an sich zogen. Die Definitionen einer Monarchie (Rein-
king, Arumäus) oder Aristokratie (Bodin, Bogislaw von Chemnitz) führten zu
keiner communis opinio. F.hP.r hotm1 sich in AnhP.tracht 1for st.R.ndillche.D Vielfalt die
Lehren von den Mischformen an: de statu reipublicae mixto 245 oder de re publica
compos·ita 246 • Dabei tauchten nun Klassifikationen auf, die der späteren Bundes-
begrifflichkeit vorarbeiteten. So hat W OLFF in seiner Disputation De statu reipublicae
subalterno 1614 das jus territoriale analog zur imperialen Gewalt stilisiert247 . Et kinc
recte dicitur, Territorii, sive Superioritatis Jus, illud Imperium esse; quod Status in
territorii& su·is pllrt·fo.ular·ilJ'lu e;i;m·cent: U!!IJ'ual·is ·ill·i Jwrisd·ivt·imvi, quam 1mperator
kabet universim. HuGo hat 1661 diese Lehre einer Superior respublica, der die infe-
riores reipublicae subjectae sunt, ausgebaut, indem er die Majestätsrechte, je nach-
dem, ·ob sie auf die allgemeine oder die spezielle Wohlfahrt bezogen seien, für teil-
bar erklärte 248. Aber aus der Beschreibung folgte kein Oberbegriff.
LEIBNIZ ging weiter, indem er ungeachtet der territorialen Hoheit ( superiaritas
f,p,mtrm:a.T.e) der deutschen Fürsten den Weg vom nudum foedus zur unio für möglich
erklärte, wobei eine Union - entgegen Hobbes - gleichwohl eine einzige Republik
sein könne. Ansonsten müsse Deutschland unter dem logischen Zwang einer unteil-
baren Souveränität als Anarchie definiert werden 249. Damit war jene Alternative
(Frankfurt, Leipzig 1773 [ = Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 19 im Gegensatz zum Bd. 20:
Teutsches Auswärtiges Staatsrecht (Frankfurt, Leipzig 1772)]; Ndr. Osnabrück 1967).
246 Titel einer Disputation bei Besold von JoH. MICHAEL BENDER (Tübingen 1614). Zur
Geschichte dieser Lehre in der frühen Neuzeit jetzt HORST DREITZEL, Protestantischer
Aristotclismus und absoluter Staat. Die „Pol~tica" des Henning A.J:nisaeus (Wiesbade11
1970), 285 :ff.
248 Dazu grundsätzlich GIERKE, Althusius; für den Terminus sein Verweis auf HoENONIUS,
ebd. 245.
247 JoH. ULRICH WoLFF, De statu reipublicae subaltemo (Tübingen 1614), § 6 [Disputation
summae imperii rei publicae aemulo ... (Helmstedt 1661). Dazu BRIE, Bundesstaat, 17 :ff.
(s. Anm. 231); GIERKE, Althusius, 246 und pointiert Huoo PREuss, Gemeinde, Staat
und Reich als Gebietskörperschaften (Berlin 1889), 12 :ff.
249 [TiF.TRNIZ,] Caesarini Fürstenerii De jure suprematus ac legationis principum Germaniae
(Amsterdam 1677), c. 11, wo er auch die Steigerung von der ronfoederatio zur unio mit
dem Unterschied von societas und collegium erläutert.
630
m. s. Theureliilche .Ansätze ZW' Dundeutaatalehre Bund
1675), 435: Bi non tam formuUl& oocabulorum, quam vim et effectum respicimJ; dt. u. d. T.:
Gründliche Untersuchung von der Art und Eigenschafft eines irregulairen Staate (Leipzig
1715) [anschließend an: Gründlicher Bericht von dem Zustande des H. R. Reiche Teutecher
Nation, 2. Aufl. (Leipzig 1715)], 1187. 1189. Vgl. auch ebd„ 1151.
263 Für eine ähnlich genetische Betrachtungsweise bei .Arnisa.eue s. DREITZEL, Arnisa.eue,
294. 302.
2 5' SEVERINUS DE MozAMBANO [d. i. PUFENDORF], De statu Imperii Germanici 6, 9, hg. v.
civitatum nobiB appellantur plures una civitates, vinculo aliquo ita inter Be connexae, et
unum corpus videantur constituere; quarum BingulaB tamen summum in seBe imperium
retineant. Der Übergang zur unio, von da zur einen civitas wird im einzelnen mit ve:r:fas-
sungerechtlichen Kriterien beschrieben.
268 Ders„ De rep. irregulari, §§ 22. 25 (S. 436 f. 444 ff.).
631
Bund m. 3. Theoretische Ansätze zur Bundesstaatslehre
Singula.r focdmi gern auf 'Hund' zielte. Die Teutsclie Rep·ubl·ik sei k!!!in ausdrücklicher
Bund, gerade weil die Fürsten Bündnisse schließen könnten. Höchstens käme das
Reich einem Systemati sociorum inaequaliter foederatorum nahe, zu deutsch nur
einem Systematischen Bund ungleicher socii257 • Der semantische Vorteil, das immer
doppeldeutige 'foedus' durch 'Bund' und 'Bündnis' zu differenzieren, wurde aber
nicht genutzt, weil sich vorerst der Pufendorfsche Terminus 'System' für (Staaten-)
Bund durchsetzte 25 8.
Pufendorf definierte auch die Minimalbedingungen - etwa die Homogenität der
Verfassungsformen aller Mitgliedstaaten oder die Verwandlung des Kaisers in einen
Princeps -, unter denen das deutsche Reich zu einem System souveräner civitates
werden könne. Damit zog Pufendorf seine historisch-genetischen Überlegungen in
die Zukunft aus, die eine juristische Begrifflichkeit überschritten, um Tatsächlich-
keit und Wünschbarkeit aneinander zu messen. Das führte schließlich zu dem resi-
gnierten Diktum MOSERS, daß Deutschland auf gut teutsch regiert werde, es sei ein
systema anonymon2f>9,
Im Lager der Naturrechtler vollzog indes N ETTELBLADT einen entscheidenden Schritt,
indem er eine allgemeine Gesellschaftslehre entwarf, die auf Althusius' Lehre der
aufgestuften consociationes aufbaute und in der alle Kombinationen berücksichtigt
wurden, die die-später so genanntfln Rt11.11.tenbiindc und Bundesstaaten abdeckten.
Nettelbladt beschreibt die respublica composita, die sich aus mehreren Republiken
konstituiert und in der eine duplex potestas civilis herrsche mit ausschließlicher oder
konkurrierender Zuständigkeit und dementsprechender doppelter Untertänigkeit.
550 zustimmend nach Kanzler Hert. Die Zustimmung bezieht sich auf die Negation; den
Ausdruck von bloß verbundenen Staaten ... , die zusammen einen größeren gemeinschaftlichen
Staat ausmachen, hält Moser für die deutsche Staatsverfassung - als Vertreter des Altreichs
- ebenfalls für unangebracht.
632
W. 3. Theoretische Ansätze zur Bundesstaatslehre Hund
Magdebw·g 1785), 483 f„ §§ 1172 Jf. (uach GIERKE, AlLhU11iu11, 24911i.J.wgltiich .wiL tlti.r 1. Au11.
1762 und der 3. Aufl. 1765). Eine Rückübersetzung des 'Systems' in 'Bund' findet sich bei
JusTr, Die Natur und das Wesen der Staaten (1759) als die Quelle aller Regierungswissen-
schaften und Gesetze mit Anmerkungen, hg. v. H. G. Scheidemantel (Mitau 1771), 221 ff.
(dank f.rdl. Hinweis von H. DrtiiLztil). E11 11pricht vun vielen freien Staaten, die in einer
gem.e.i11.8c.h.aftlich.e.n Ve.rbi11d11.11g, oder be.ttä.ndigen Bii.ndniß miteinander atehen. Sie seien am
besten kleine Republiken oder kleine Monarchien. Der Endzweck einer solchen Verbindung
ist die gemeinschaftliche Verteidigung. Alle Gesetze des Bundes können also nur diesen Punkt
betreffen; und es ist der Natur des Bundes und der Freiheit eines jeden Staats insbesondere
zuwider, daß der Bund Gesetze gibt, welche die innern Angelegenheiten eines jeden Staats be-
treffen. Der Bund werde durch Abgeordnete regiert und ein solcher Bund kann ein Oberhaupt
haben, wie Teutschland hat und wie die Griechen unter den makedonischen Königen. Diese
beiläufige Definition des Reiches als eines Bundes freier Staaten mit gemeinsamem Ober-
haupt, die in der Argumentationsrichtung Pufendorfs lag, wurde vom Herausgeber moniert:
Hr. von Justi mag dieses am Kaiserlichen Hof verantworten; überdies werden ihm auch viele
deutsche Staatslehrer nicht beipff,ichten, wie- HEINR. CHRISTIAN SENKENBERG, De forma
systematis Germa.niae (Gießen 1724), Kap. 6 zeige. Justi kritisiert das Reich, weil es die
Stimmen der Fürsten trotz ungleicher Macht gleichberechtigt zähle, paßt sich aber der
Verfassungswirklichkeit durch die Behauptung an: Daß aber einer den andern mit Krieg
angreift, ist nicht ganz wider die Natur des Bundes, weil ke-itie vollkommene oberste Gewalt
vorhanden ist, -'womit der Begriff wieder zugunsten der Empirie aufgeweicht worden war.
261 JoH. STEPHAN PüTTER, Beyträge zum teutschen Staats- und Fürstenrechte (Göttingen
1777), 19 ff.
282 Ders., Institutiones iuris publici Germanici, 4. Aufl. (Göttingen 1787), 36; dt. v. Carl
Anton Friedr. Graf von Hohenthal u. d. T.: Anweisungen zum deutschen Staatsrecht
(Bayreuth 1791), 32.
21 a PüTTER, Beyträge, 21.
284 Eine Auffassung, die in der Schweiz selber nicht geteilt wurde: sie sei ein durch Eide
und Bündnussen zu gemeinen Sicherheit und Erhaltung zusammengesetztes Wesen und Staat;
LEU Bd. 6 (1799), 476.
Bund m. S. Theorelisehe Ansätze zur Bundesstaatslehre
war als die des Reiches, das als ein, wenn auch zusammengesetzter, Staat begriffen
wurde. ·
Auf der einen Seite werden - im Gefolge Bodins oder Pufendorfs - die Schweiz und
die Niederlande als systemata foederatarum civitatum definiert, eingedeutscht als
verbundene 265 oder als zusammengesetzte Staatskörper 266 , die nur gleichsam ein Staat
seien 267 , als gleiche Gesellschaft ohne gemeinsame Zwangsgewalt 268 : ein Wortfeld, das
endlich von GÖNNER 1805 mit Staatsbund 269 abgedeckt wurde.
Die Reichsverfassung paßte andererseits nicht unter diesen Begriff, da Kaiser und
Reichsinstitutionen auf eine eigenständige Obergewalt verwiesen. So kam Pütter
zur Definition: Deutschland ist ein Reich, das in lauter besondere Staaten eingeteilt
ist, die jedoch alle nooh unter einer gemeinsamen höchsten Gewalt in Gestalt eines zu-
sammengesetzten Staates vereinigt sind 270• HÄBERLIN sprach von einer Realvereini-
gung unabhängiger Staaten 271, ScHEIDEMANTEL von der ungleichen Gesellschaft mit
Zwangsgewalt (selbst der ganze teutsche. Staat ist eine Gesellschaft 272 ), von einer Staa-
tenvereinigung, einer unio non incorporativa 273 • Schließlich bestimmte GöNNER
dieses Gebilde im Gegensatz zum.Staatenbund als Verein von Staaten, wobei er sich
zugegebenerweise vom Ideal des al"lgemeinen Staatsrechtes in hohem Maße entfernt21 4 ,
da der Ausdruck einer subordinierten Staatsgewalt in sich widersprüchlich sei. Die
Partikularstaaten, in welche Deutschland verteilt ist . . . hängen nicht durch einen
Staatenbund, sondern einen wahren Staatsverein zusammen 27 5.
'Verbindung', 'Vereinigung', 'Union', 'Verein' - selten 'Bund' - sind die Ausdrük-
ke, die über eine Beschreibung des Reiches hinausdrängten zu theoretischen Aus-
sagen über Staatenformationen, die sich auf dauernde und übergreifende Ziele hin
zusammenfügen ..
Dif'I R.f'ia.l- und Per11omilunion 11owie die kleinen Na.chba.rrepubliken standen dabei
Pate, und der alte reichsrechtliche Ausdruck 'Verein' wahrte eine gewisse Nachfolge
zu den 'Einungen' gleichberechtigter Partner auf dem Boden gemeinsamen
2111PüTTER, Beyträge, 25 f.
288 KARL FRIEDRICH Hi.BERLIN, Handbuch des Teutschen Staatsrechts, 2. Aufl.„ Bd. 1
(Frankfurt, Leipzig 1794), 122.
287 Ebd. Trotz Generalst.aaten in den Niederlanden und Kcmgreß im A?nerikanischen Frei-
form (Jena 1775), 398 ff. Da Scheidemantel den Ausdruck 'Bund' nur als historischen
Terminus kennt, muß er in der Reihe der außenpolitischen Bündnisse den Ausdruck
Vereinigungsbündnis einbringen, der diesen Typ meint; Staatsrecht, Bd. 3, 300 f. (s.
Anm. 239).
289 NIKOLAUS THADD.Aus GÖNNER, Deutsches Staatsrecht, Bd. 2 (Augsburg 1805), 64.
270 PüTTER, Beyträge, 38.
271 Gleichwohl mit gemeinsamem Oberhaupt; Hi.BERLIN, Handbuch, Bd.1,146.
634:
IV. 'Bund' als LeithegriJI Bund
Rechts274. Aber all diesen Definitionen war gemeinsam, daß sie keine Bundesstaats-
dogmatik freisetzen konnten, da das Verhältnis der Glieder zum Ganzen ungreifbar
wurde, so daß HEGEL 1801 ·sagen konnte: Es ist kein Streit mehr darüber, unter
welchen Begriff die deutsche V er/assung falle. Was nicht mehr begriffen werden kann,
ist nicht mehr 277 •
Wenn Deutschland unter der Alternative Staat oder Anarchie als nicht mehr exi-
stent betrachtet werden konnte, so ist doch festzuhalten, daß sich die Reichsstaats-
lehre Init dem Zerfall des Reiches langsam, aber sicher an eine Bundesstaatstheorie
herangetastet hatte, die Init dem Rheinbund ihr erstes politisches Experimentier-
feld fand. Ein sich steigerndes historisches Bewußtsein hatte zu juristisch mehr-
deutigen Begriffen geführt, die aber empirisch einlösbar blieben. Freilich wurde
erst im Durchgang durch die einmal errungene Staatlichkeit der ehedem im Lehens-
gefälle subordinierten Territorialherrschaften jene Plattform formaler Gleichberech-
tigung erreicht, auf der dann ein Bundesstaat vertraglich zustande kam.
635
Bund IV. 1. Der ühentaatliche Bundesbegrift'
alter weiterlebten und transponiert wurden. Insofern handelt es sich um ein struk-
turelles Grundproblem in zeitlich und räumlich verschiedener Ausfaltung, das sich
in der Begriffsgeschichte des Bundes artikuliert.
278 Dazu JACOB TER MEULEN, Der Gedanke der internationalen Organisation, 2 Bde. in
3 'T'eil1m (Tien H11.11.g 1917/1940); KURT v. R.AmR, F.wiger F.riene. Frif.lilen1m1fe und
Friedenspläne seit der Renaissance (Freiburg, München 1953); RoLF HELLMUT FoERSTER,
Europa.. Geschichte einer politischen Idee, mit einer Bibliographie von 182 Einigungs.
plä.nen aus den Jahren 1306 bis 1945 (München 1967); ders., Die Idee Europa 1300-1946.
Quellen zur Geschichte der politischen Einigung, dtv-Dokumente (München 1963).
279 Die Bundesversammlung bei Podiebrad-Marini heißt: corpus, universitas oder ooUegium:
die Vertragsformel bezieht sich auf connexio, -pax, fratemitas, conc.ordia, unio - für alle
Zeiten; Zielsetzung: vera, tpUra et firma -pax, unio et ckaritaa inter Ohriatianoa; zit. Memoires
de M. Ph. de Comines, nouvelle ed. par GoDEFROY et l'abbe LENGLET nu FRESNOY, t. 2
(London, Paris 1767), 424ft'. Die V8111"andlung dieser Formeln im Zuge der Friedensutopien
kann hier nicht verfolgt werden.
2 so RAUMER, Ewiger Friede, 153. Formulierung der mittsiebziger Jahre: Die letzte Voll,.
636
IV. 1. Der überstaatliche BundesliegriJI Bund
ner aber alle Kriege auf immer zu endigen suchte 281 • Kant enthielt sich aller organi-
satorischer Anregungen, suchte vielmehr den Ileweis zu erbringen, daß nur die
kollektive Einheit des vereinigten Willens aller den Frieden sichere. Nach dem Gebot
der Vernunft müßten sich die Völker eigentlich in einen Völkerstaat ( civitas gentium)
zusammenschließen, der Gesetzlichkeit und Freiheit aller sichere. Aber das Opti-
mum, das Kant in Anbetracht der historischen Erfahrung für erreichbar hielt, so-
weit sie sich in eine vernunftgemäße Praxis einholen ließe, war ein Völkerbund.
Eine einzige Weltrepublik drohe in Despotie und Anarchie umzuschlagen, während
die Vielfalt der Sprachen und Religionen eine fortwährend freie Association, eben den
Völkerbund erheische, der nur das negative Surrogat einer globalen bürgerlichen
Vereinigung darstelle. Es käme vorerst darauf an, Kriege zu verhindern, und zwar
in einem gesetzlichen Verfahren, das dem eines allgemeinen Staates nur analogisch
sei 282 • Damit blieb auch für Kant der einzelne Staat - als moralische Person - das
Bauelement des Völkerbundes.
Kants Plan stieß in eine Situation, in der durch die Revolution und die Auflösung
des Reichs ein Freiraum entstand, der eine neue völkerrechtliche Organisation
herausforderte 283 • Zeitgebunden zielte der Plan darauf, zwischen Frankreich und
Preußen (nach dem Baseler Frieden) auf dem Boden einer gemeinsamen republika-
uiHclum Regieru11gsweise (nicht Staatsform) jene Verbindung zu sichern, die ßioh
als nucleus der kommenden Völkerverbindung erweisen möge.
Der Bundesbegriff erhielt dabei eine Reihe von Merkmalen, in denen sich histori-
sche Erfahrung und eine aus Vernunft und Moral deduzierte Zukunftssicht zu-
sammenfanden. Waren Bünde bisher immer weniger als das Reich, auch wenn sie
dieses absorbieren sollten, so wird mit dem Zerfall des Reiches der politische Bun-
desbegriff eindeutig zum überstaatlichen Org11.niRR.tionRhAgriff (in Anlehnung an die
systemata foederatarum civitatum der Schweiz, Niederlande und der USA). Der
vorstaatliche „Bund", der zunächst an der Souveränität scheiterte, gewinnt seit-
dem an überstaatlicher Bedeutung. Die vernunftgemäße Idee der Föderalität 284 ,
die sich allmählich über alle Staaten erstrecken soll, fand nach Kant ihre Verwirk-
lichung im Völkerrecht, das - nach französischem Sprachvorbild285 - auf einen
281 KANT, Zum ewigen Frieden (1795), 2. Definitivart. AA Bd. 8 (1912), 356.
989 Ebd., .A.nh. 1. AA Bd. 8, 371. 379. In seiner „Metaphysik der Sitten",§ 61 verwendet
Kant. rlen .Am11lr1mk l~tn.atrm.11P.rP.in (analogi11r,h mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) im
Sinne des (unmöglich zu erreichenden) Völkerstaats. Der Völkerbund als Genossenschaft
( Föderalität) ohne souveräne Gewalt tritt dagegen als denkbarer permanenter Smtenkcmgreß
oder - noch reduzierter - als zu aller Zeit au/lösliche Zusammentretung verschiedener
Staaten in Erscheinung - Indiz für den damals gleitenden Sprachgebrauch, den Kant je
nach .Adressat sorgsam zu dosieren wußte.
2 8 3 RUDOLF VIERHAUS, Überstaat und Staatenbund. Wirklichkeit und Ideen internationa-
ler Ordnung im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons, .Arch. f. Kultur-
gesch. 43 (1961), 329 ff.
284 KANT, Zum ewigen Frieden, 2. Definitivart. AA Bd. 8, 356.
2 85 Die Kenntnis der MoNTESQUIEUschen Passagen über die republique federative (Esprit
des lois 9, 1 ff.) darf in Deutschland vorausgesetzt werden, zumal DE JAUCOURT sie unter
dem gleichnamigen .Artikel in der „Encyclopedie" fast wörtlich wiedergegeben hatte.
637
Bund IV. l. Der ühentaatlicbe Bwadeshegrilr
Föderalism't!-S freier Staaten gegrünMt sein solle286• Mit dem neuen Begriff des
'Föderalismus' wurde zugleich die republikanische Homogenität aller Mitglied-
staaten als conditio sine qua- non des Völkerbundes postuliert.
Da dieser Bund nicht unmittelbar auf dem ganzen Erdkreis verwirklicht werden
kann, gewinnt er darüber hinaus den Sinn eines Zielbegriffs; der als moralisches
Regulativ alle Politik in vernünftige Bahnen lenken solle, abgeleitet aus dem
kategorischen Imperativ in seiner rechtlichen Umsetzung. Er wird zum globalen
Zukunftsbegriff, der sich in zunehmender Zeitverkürzung 287 und räumlich in größt-
möglichem Umfang 28 8 erfüllen solle. Damit kam jene geschichtsphilosophische289
Komponente in den Bundesbegriff, der seitdem den Erwartungshorizont auszog.
Historisch gesprochen wurde das alte, im 18. Jahrhundert immer wieder gerühmte
Modell des Reiches als einer überstaatlichen Organisation in eine Allgemeingültig-
kP.it. beanspruchende Theorie de.s internationalen Rechts transponiert. Der Friede;
und zwar, was neu ist, im Namen eines universalen Rechts, wurde zum Legiti-
mationstitel des „Bundes". So wurde eine Perspektive gesetzt, die __:._ dank vieler
Eine rip11bliqu11 f4r18nJtii•a vereine im Innern dio Vol'l!iügo oinor ropublilmnioohon Regierung
mit der monarchischen Macht nach außen. Cette forme de gouvernement est une convention
par laquelle plusieura corpa politiquea conaentent a devenir citoyena d'un Ewt plus grand
qu'ila veulent /armer. C'eat une aociete de aocietea qui en f<mt une nouvelle qui peut a'agrandir
par de nouveauz aaaociea,juaqu'a ce que aa puiaaance auffiBe a la 8Urete de ceuz qui ae aont unia.
Außer den antiken aaaociati<ma und den Städtebünden sind für die Gegenwart Holland,
Deutschland und lea liguea auiBaea Beispiele solcher Republiken, die im Innern möglichst
eine, und zwar die republikanische Regierungsform haben müßwn. La re'P'uhlique fiderative
d'Allemagne, wmposee de princea et de villea librea, aubsiate, parce qu'elle a un ehe/ qui eat
en quelque fayon le magiatrat de l'uni<m, et en quelque fayon le monarque, - womit auch Mon-
tesquieu an einer eindeutigen Bestimmung scheiterte. Über die föderalen Ideale Montes-
quieus und Rouseea.us sowie über die föderalistische Bewegung zu Beginn der Französi-
schen Revolution sowie deren Einfluß auf Kant e. HEDWIG H:rNTZE, Staatseinheit und
Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution (Stuttgart, Berlin, Leipzig 1928),
Kap. 3 u. S. 235 f. - Die Termini federatif (zuerst seit MONTESQUIEU 1748), federal (zuerst
BRISSOT 1789), fe&ree (1790 erstmals seit dem 16. Jahrhundert - .wie fiderati<m) und
f ederalisme (1772 von ROBESPIERRE zuerst verwendet) sind schließlich 1798 in das Aca-
demie-Wörterbuch aufgenommen worden; BRUNOT t. 7/2 (1967), 1324 und ROBERT t. 2
(1951), 860 f. Diesem lexikalischen Befund geht in Deutschland das Aufleben der Bundes-
begrifflichkeit voraus, während die französischen Ausdrücke erst in der Revolution über-
nommen wurden. In England ist Federaliam nach MURRAY vol. 3 (1895), 126 f. 1793
von BUltKE eingebracht worden, während federal und foederal seit dem 17. Jahrhundert.
gebräuchlich waren. „The Federalist" von Alexander Hamilton, James Madison und John
Jay (New York 1788) wirkte in Deutschland erst im 19. Jahrhundert (dt. v. Felix Erma.-
cora, Wien 1958).
288 KANT, Zum ewigen Frieden, 2. Definitivart. AA Bd. 8, 354.
28 7 Ebd., 386 am Ende der Flugschrift.
288 Ebd., 385'.
280 ~'ür die geschichtsphilosophische Ableitung des Völkerbundes bzw. der Staatenverbin-
dung siehe den Satz 7 der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbiirgerlicber Ab-
sicht" (1784)und „ÜberdenGemeinspruch ••• ",Teil 3 (1793), wo der Ausdruck Föderation
- gerade aktuell - übernommen wurde; AA Bd. 8, 24 ff. 307 ff.
638
VI. l. Der überstaatliche Bundesbegriff Bund
290 Dazu.die Darstellung und Quellensammlung von FoERSTER (s. Anm. 278), auf die hier
(1797), 2. Anhang: Ober d8.s Völkerrecht,§§ 15---20. AA Bd. 1/4 (1970), 159 ff.
2 n ADAM MÜLLER, Die Elemente der Staatskunst (1809), hg. v. Jakob Baxa, Bd. 2 (Jena
639
Bund IV. 2. Vom Erwartungshegrlif zum Organüationshegrilf
Auf dem Weg vom religiösen Innenraum pietistischer Brudergemeinden zur „patrio-
tischen Erweclrung" 296 der folgenden Generation gewann der Bundesbegriff neue
Valenzen. Der nüchterne, schon stark historisch verblaßte Rechtsbegriff wurde aus
dem pietistischen Erfahrungsraum gefühlsmäßig aufgeladen, wobei die föderal-
theologische Komponente 297 den Erwartungshorizont eschatologisch, ja apokalyp-
tisch anreicherte. Im 'Bund' konnte seitdem eine Heilserwartung vom engsten
Konventikel bis zur Menschheit und ihrem weltgeschichtlichen Ziel aufgehoben
sein. Die Metamorphose religiöser Hingabe in humanitäre und patriotische Gefühle
verwandelte dabei langsam den semantisohon Stellenwert des Bundes, kraft dessen
sich die „Gemeinde", dann die „Gemeinschaft" zusammenfand. In diesem Sinne
konnte ERscH/GRUBER 1825 - wirlrungsgeschichtlich nicht ganz korrekt, aber für
die Zeit seit dem Pietismus richtig - feststellen 298 : Das Wort Bund ist unserer
Sprache eigentümlich und hat, in andern kein Synonym, am wenigsten im Lateinischen
des Mittelalters die conjuratio, oder in dem Französischen fedbation, aber bei uns eine
Art Heiligung, wahrscheinlich weil es durch Luthers Bibelübersetzung in der Bedeu-
tung eines Vertrages mit Gott unter das Volk kam.
So riof KLOl'flTOOK 1767 den edelsten Königessokn an, das christliche Volkslieer zu
versammeln. Schon erzittert das Volk . ... Länger nun nickt mehr! Die Gemeine/
Sinket daliin, auf ilir Antlitz zum Altare, Hell vom Kelche des Bundes! eilt, eilt!
Strömt ·in der Chöre Triumph/ 299 Das religiöse Einungserlebnis wird zunehmend
angefüllt mit politischen Stimrnungsgehalten, ohne daß auf den religiösen Bundes-
begriff verzichtet worden wäre. So wenn etwa im gleichen J o.hr LAVATER die kelve-
auch aufeinander bezogen, ß:AMANN da.gegen den Bundesbegriff für die gesamte Geschichte
der göttlichen Verheißung. Für potentielle Anfälligkeit des föd6ra.ltheologischen Sprach-
gebrauchs zugunsten politischer Auslegungs. FRIEDB. CmusTOPH ÖTINGER, Biblisches und
emblematisches Wörterbuch (Frankfurt 1778), 86 ff., ,Art. Bund: 'Bund' heiße eigentlich
Verfaaaung, Einrichtung, Ordnung. Da.her Ordnung des Hei'la; im.engeren Sinne Vergleich,
theologisch der Werkbund. Der dem entgegongcsetzte Bund der Gnade sei aber zusammen
mit dem Werkbund eigentlich nur ein einziger ewiger Bund. Der Gnadenbund erfasse von
Adam an die Auserwählten. Diesen Bund der Gnaden mii88en wir betrachten in 8einer zer-
8chiedenen Offenbarung, bi8 da8 höchste Manifest, die heilige Offenbarung, de1~ Bund i1t ei1ui
völlige Reicksverfaaaung verwandelt, Für die Politisierung dieses Ansatzes, die tief in das
19. Jahrhundert und weiter reicht, s. KA:rsER, Pietismus. Ötinger verwahrtesichschon
gegen eine Vereinfachung: Wann man nun aus fedem Gedanken ·will ein Sy8tem machen,
80 irrt man weit, noch mehr, wenn man die ganze Theologie metkodo foederali voratellt. Man
will es allzu deuaieh machen, aber 80 macht man es gezwungen. Die heilige Schrift hat die Art,
der Schwachheit des Begriff8 mit vielerlei zwtammengesetzten Sinnbildern aufzuhelfen (89).
281 v. DA.BSE, Art. Bund, ERBCH/G:e.uBER 1. Sect., Bd. 14 (1826), 21.
HD. KLOPSTOCX, Oden, hg. v. Franz Muncker u. Ja.ro Pa.wel, Bd. 1 (Stuttgart 1889), rni ff.
Dazu und über Zinzendorfs Einfluß - auch im Bundessprachgebrauch -, KA:rsER, Pietis-
mus, 63.
640
IV. 2. Vom Erwartungshepift ßlD Organi1atioa1bepijf Buncl
. tische Eintracht besingt300 : •.• Brüder! Brüder! schöner Namen!/ Unser Bund soll
ewig stehn! Schlaget Hand und Hand zusammen! / Eintracht! wie bist du so schön!
Aus diesem pietistisch getönten UntergrMd lebte auch der Vers SCHILLERS im
„Wilhelm Tell", der zu einem unendlich oft wiederholten Ruf des deutschen National-
gefühls werden sollte: Laßt uns den Eid des neuen Bundes schwören. Wir wollen sein
ein einzig Volk von Brüdern ... 301 . Der neue Bund sollte sich_ am alten stärken.
Nun wurde das Bundeserlebnis keineswegs nur auf das Vaterland bezogen, es blieb
vielmehr im Zeitalter der Aufklärung und Revolution zugleich an die private
Sphäre gebunden, aus der es sich speiste, wie es sich auch universal ausstrecken
konnte. Seit dem sogenannten „Hainbund" (1772) mehren sich die Freundschafts-
bünde302, in denen nicht zuletzt jene Sprache gefunden wurde, die dann das geistige
Klima der sich herausbildenden bürgerlichen Nation geschaffen hat, die sich vor-
erst weltbürgerlich eingebunden wußte. So konnte HERDER anfangs der neunziger
Jahre den Bastillesturm besingen: Vierzehnter Julius du / Bist der Menschheit
Taufe zugleich mü dem Feste des Bundes, / W e-iliest ein neues Geschleclit, we·ihst es von
jeglichem Fehl 303 • Eine irdisch-religiöse Verheißung schien sich zu erfüllen, jener
Bund der Humanität 304, der - ebenfalls nach Herder - zur Allianz aller gebildeten
Nationen führe, auf deren stillen Bund gewiß früher zu rechnen sei, als nach St. Pierre
a.itf ein förmlich.es Eirwerständni11 der Kabinette tind Höfe305 . 'Bund' wurde zu einem
dehnbaren, unterschiedlich besetzbaren Vollzugsbegriff weltlich-religiöser Erfül-
lung oder einer immanenten Heilserwartung. So führt aus dem schwäbisch-pietisti-
schen Lager von Bengel und Ötinger ein direkter Wirkungsstrang über Jung-
527, Anm. 2.
m Ebd., Bd. 17 (1881), 5 ff.
301 Ebd., Bd. 18, 271.
41-90385/1 641
Bund IV. 2. Vom Erwartangabegrfff znm OrganiaationsbegriJI
Stilling (der einen ewigen Bund3 0 8 mit Mme. St~rdza schloß), Frau von Krüdener
und Adam Müller zu jener sich selbst „p.eilig" nennenden „Allianz" der drei Monar-
chen. Unter Berufung auf die alten Titel justitia, C!Lritas und pax sollten sich die
Völker der drei christlichen Religionen zur mystischen Einheit einer einzigen christ-
lichen Nation zusammenschließen, um - nach der Version Alexanders - ein neues
(das dritte) Zeitalter {l.nbrechen zu lassen. Die Metternichsche Umschrift der Erst-
fassung und seine Politik hat diesen Bund schnell in eine Handhabe ideologischer
Steuerung verwandelt. Daher gibt es in der folgenden Generation kaum einen Be-
griff, der mehr einer Ideologiekritik unterzogen worden wäre wie der der 'Heiligen
Allianz', - auch von seiten derer, die ebenfalls eine Heilige A.ll·ianz, aber der
VölkerB07, anstrebten.
Aber auch der Bundesbegriff selber geriet mit seiner sozialen Ausfächerung und
politischen Frontbildung zunehmend in das Kreuzfeuer der Kritik aus den jeweils
anderen Lagern. Gerade seine religiöse Hintergrundbedeutung provozierte eine zu-
nehmende Spannung zur politischen Verwendung, so daß die Kritik gegenläufig
sein konnte: religiös an einer politischen Verwendung, politisch an einer religiösen
Verwendung des Begriffs -wobei freilich je nach der subjektiven Glaubenshaltung
der Kritiker das Religiöse und das Politische austauschbar sein konnten. Der aus
dem Religiösen o.bgoloitoto Bundosbogri:ffblicb insoweit ambivalent; seitdem haftet
dem Bundesbegriff eine ideologische, zumindest ideologisierbare Komponente an.
Sein schnelles Wiederaufleben bleib~ in jedem Fall ein Indikator der sich heraus-
bildenden bürgerlich-nationalen Gesellschaft. ..
Nachdem ADELUNG 1774 und noch 1793 außer in der dichterischen Schreibart den
Rückgang des Wortes registriert hatte 808, kann CAMPE 1807 auf elf (z. T. vermeint-
liche) Neubildungen verweisen wie Bundesfest, -freund, -mahl oder bündisch, das
• 08 Die Belege beiHlLDEGABD SORAEDER, Autokratie und Heilige Allianz, 2. Auß. (Darm"
stadt 1963) und MAX GEIGER, Aufklärung und Erweckung (Zürich 1963).
• 07 So JAKOB VENEDEY, La. France, l'Allemagne et les Provinces rhenanes (Paris 1840).
Vgl. THEODOR VON ScHÖNS Kritik am Heiligen Bund, da sich Fürsten nicht ohne oder
gegen ihre Völker verbünden dürften (1817); Aus den Papieren des Ministers und Burg-
gmfon von Mo.rienburg, Bd. 4 (Berlin 1876), (()9. v. BossE, Art. Bund, EMcH/GRUllER,
wo 1825 vorsichtig davor gewarnt wird, waa zu Schioärmerei und Aberglauben sich miß-
bra'UChen lasse (23). PAULUS hat im Art. Bund Gottes, ROTTECK/WELCKER Bd. 3 (1836),
122 das Testament k.antianisch interpretiert und kam zu folgendem Schluß: Die Entstehung
einer gottuwürdigen StaatatJerfasB'Ung durch einen freiwillig eingegangenen Bund, durch einen
pacte social, ist sogar nicht venoerflich, undenkbar oder U111JKS88end, daß aie vielmehr wohl als
ein biblisch-religiösea Vorbild aller nach M ose und J eB'U8 Ohrist'UB gottgläubiger Staatsvereine,
beacmders als Vorbild für jt,de heilige Allianzbetrachtetwerdendarf. - RoTTECKselberstellte
1834 fest, daß das Christentum nimmer aufgekommen wäre, wenn im römischen Reich die
hohe Polizei so allmächtig und allwiBBend gewesen wäre, wie es die Häupter dea heiligen
Bundes - selbst beste Absicht unterstellt - zu sein beanspruchen; Lehrbuch des Ver-
nunftrechts, Bd. 3 (Stuttgart 1834), 307. 1844 ironisierte WELCKER manche Re.actions-
männer und Freunde stiw.rtischer Staatatheorie, weil sie dieae heilige Alliance, die sich doch
auf die Grundsitze der heiligen christlichen Religion beriefe, als ihre StiUze, als einen
Fürstenbund gegen die Volksfreiheit darzustellen suchten·; Wichtige Urkunden für den
Rechtszustand der deutschen Nation (Mannheim 1844), 75.
aoe ADELUNG Bd. l (1774), 1130; 2. Aufl., Bd. 1(1793),1253 ff.,
642
IV. 2. Vom Erwartungshegrift zum Organisationshegrift Bund
von ihm selbst stammt808 • Die Idee des Buiides (lie,gt), wenn auch dunkel, dennoch
heutzutage schon in jedem Gemüte, wie MÜLLER im folgenden Jahr versicherte 310.
Oder wie ERNST MoRITZ ARNDT 1814 in völkischer Einengung gegen die Frei-
11w,ourer, Illwm·inaten, Rosenkr4nzler, Klubbisten, Assembleisten, Ressurcisten, Muse-
isten, Oasinisten eine teutsche Gesellschaft zu stiften forderte, ohne Weihen, Gelübde
und Geheimnisse. Unseres Volkes fröhlicher Mut und sein Trieb zu solchen Gesel-
lungen und Einigungen oder Innungen ist uralt; der Teutsche will sich in allem
innen, er will sein Wesen in alles hineinlegen, er ist ein inniger und innungslustiger
Mensch 811 •
Der Übergang des religiösen Erwartungsbegriffs zu einem gesellschaftlichen Organi-
sationsbegriff - ohne je den „religiösen" Erlösungs- und Offenbarungsgehalt ganz
abzustreifen - läßt sich in drei Etappen schildern. Die literarischen und zwischen-
ständischen Bruderschaften, Gesellschaften und Orden der beiden vorangegangenen
Jahrhunderte haben sich des Bundesbegriffs nicht bedient. Noch die deutsche Union
CAnL FmEDRIOII BA.IrnDTB aus dem Jahre 1784, als philanthropischer „Inter-
eSE>enverband" aufklärerischer Schriftsteller gedacht, um das Reich Gottes zu ver-
wirklichen, benutzte den Ausdruck nicht 312 • Der Zusammenschluß (quasi-)religiöser
Erwartung und weltlicher Orgarusation im neu entdeckten Bundesbegriff vollzog
11ich offenhar erRt nnt.P.r nAr HArll.llRfor<lArnng nP.R Fiir11t.P.nb11ndei;1, dem Y,, B. C.A.RL
FRIEDRICH VON BADEN - als gesellschaftliches Pendant - einen deutschen Ge-
lehrtenbund zur Seite stellen wollte 313• .Uer Übergang läßt sich an Möser und
Johannes von Müller zeigen. MösER erfaßte 1780 unter dem ästhetischen Vorgebot
ihrer Einheit das Grundproblem der neueren deutschen Reichsgeschichte. Er läßt
sie mit der glücklichen Konföderation des Landfriedens 1495 beginnen, hier liege der
aoe CAMPE Bd. 1 (1807), 648 f.; weitere Neuerungen: Bundubekörde, -hülfe, -kreis, -mässig,
-stadt, -verein, -vereinigung, z. T. in Unkenntnis der epätmittelalterlichen Rechtssprache.
a10 ADAM MÜLLER, Elemente, Bd. 2, 197 (e. Anm. 292).
an .ARNDT, Entwurf einer teutechen Gesellschaft (Frankfurt 1814), 27 f.
au MARTIN v. GEISMAR [d. i. EDGAR BAUER], Bibliothek der Deutschen Aufklärer, Bd. 1:
Carl Friedrich Bahrdt (Leipzig 1846; Ndr. Darmstadt 1963), 96 :ff.; GusTAv FRANK,
Dr. Karl Friedrich Rahmt, HiRt. 'fMchenbuch, hg. v. Friedrich v. Raumer, 7 (1866), 310.
Eine Auszählung der ,,Bibliographie der freimaurerischen Literatur", hg. v. AUGUST
WoLJ!'l!'.ru:u, 2 Bde. (Burg 1911/12) bezeugt, da.B seit rund 1830 in den Buchtiteln der mau-
rerischen Literatur der Ausdruck 'Bund' die bis dahin vorherrschenden Titel 'Gesellschaft'
und 'Orden' als Organisationsbezeichnung schnell und entschieden zurückdrängt - ver-
, mutlich ein Indikator für .die Wendung in das liberal-konservative Lager. Vgl. BRUNO
BAUER, Freimaurer, Jesuiten und lliuminaten in ihrem geschichtlichen Zusammenhange
(Berlin 1863). Ferner die Polemik gegen den Großlogenbund, den deutschen Dachverband,
der sich von 1871bis1909 standhaft gegen die Anerkennung des Grand Orient de France
gewehrt hat, in: Die B8.uhütte. Organ für die Gesamt-Interessen der Freimaurerei 52
(1909), 169 ff. EUGEN LENNHOFF / OSKAR PosNER, Internationales Freimaurerlexikon
(Wien 1932) definieren die Freimaurerei im Gegensatz zu den Gebetsbünden als ethischen
.Arbeitsbund. In werktätiger PP,ickterfüllung solle die Welt überwunden und eo gewonnen
werden. Der Freimaurerbund sei die große Synthese vergangener Bünde. Er ist eine religiöse,
die soziale und kulturelle .Arbeit pff,egende, der Wissenschaft und dem Menschentum dienende
kultische Brüdergemeinde, d. k. ein universeller Engbund (als Männerbund).
a1a WOLDEMAR WENCK, Deutschland vor hundert Jahren (Leipzig 1887), 175 :ff., bes. 263.
643
Bund IV. 2. Vom Erwartungshegrlil zUm OrganisationsLegri«
Anfang des neuen Systems, das man seitdem nur habe verbessern oder verschlim-
mern können. Die Konföderationsformel, wurde zur neuen Rei,chsformel, darin er-
blickte er den einheitstiftenden Leitfaden für die vollständige. Reichshistorie, die
einzig und allein in der Naturgeschichte seiner Vereinigung bestehen kann314. Gegen
Ende des Reiches tritt im historischen Rückblick jener Gesichtspunkt in den
Vordergrund, dem die Zukunft gehören sollte. Mit dem Fürstenbund wird der
Bundesbegriff vom ständisch-territorialen zum nationalen Einungsbegriff. Wie
DALBERG seine Hoffnungen darauf setzte, daß der deutsche Bund [seil. der Fürsten-
bund] ein Bund d,es Kaisers und der ganzen Nation wird316 • JOHANNES VON MüLLER
hat 1787 durchzuführen versucht, was Möser gefordert hatte 316 : die Geschichte des
Reiches nicht juristisch, sondern moralisch und politisch als eine Geschichte der
Assoziationen zu schreiben, kraft derer bisher alle Krisen des Reiches - und
Europas - überwunden worden sfilen. Das System der Reichsverfassung und das
europäische Gleichgewicht sah er so ineinander verflochten, daß das Reich als
defensiver Hort der Freiheit das SysLelll 1:1iuhere. Hierin liege auch die Mission des
Fürstenbundes. Der Fürstenbund sei eine ReichspP,icht. Dabei ·wandte sich Müller
nicht an die Höfe, sondern an das Volk und die Publicität, um zugleich in deren
Namen vom Fürstenbund eine gründliche Reichsreform zu fordern, damit auch wir
end.Zieh sagen dürfen: wir sind eine Nation! Da die Deutschen weder von einem
Herrn regiert noch demokratisch leben wollten, sollten sie dem Ideal einer wohlge-
ordneten, in genugsamer Freiheit vorwärts strebenden Bundesrepublik nachkommen.
Aber schnell sah sich der gottgefällige Patriotismus Müllers enttäuscht. Der Bund,
geschlossen im hellsten, verbesserungsfähigsten Jahrhundert, erfüllte nicht die Erwar-
tungen, die an ihn geknüpft wurdensn. ·
War bei Müller der Bundesbegriff noch reichsständisch konzipiert, nur daß sich
sein erhoffter Inhalt unter dem Schutz der Fürsten im Sinne der gelehrten Bürger
wandele - Fürstenmacht und Nationalfreiheit sollten zusammenbestehen318 - ,
so wurde er in der folgenden Etappe, unter der napoleonischen Fremdherrschaft,
zum Begriff gesellschaftlicher Selbstorganisation mit nationaler Zielsetzung -
durch gleiches Blut, gleichen Geist, gleiche S'P'fache uns teuer, zusammengeschlossen; zit.
WENcK, Deutschland, 182. Ferner HEGEL, der in seiner Verfassungsschrift (s. Anm. 277)
auf die Bedeutung der Schrift&teller und der öOentlichen Stimme zum Fürstenbund hinweist
(85).
818 MÜLLER, sw Bd. 24, 274.
644
IV. 2. Vom Erwartungsbegrlir zum OrganisatiOD&begrill' Buna
unter dem Vorbehalt staatlicher Duldung. Insofern wurde er zum Gegenbegriff der
revolutionären Clubs, deren Emphase in sich aufnehmend319.
Als Hardenberg 1807 sein Programm demokroiischer Grundsätze in einer monarchi-
schen Regierung formulierte, dachte er an einen Bund, ähnlich dem der Jacobiner,
der ohne ver'brecherische Mittel die größte Wirkung hervorbringen könne, vor allem,
wenn man das Interesse der Bundesglieder auf mehrfache Art dabei ins Spiel zijge320•
Auf diese Herausforderung reagierten 1808 preußische Patrioten, als sie sich -
mit staatlicher Genehmigung - die Verfassung der Gesellschaft zur Übung öffent-
liclter Tugenden, oder des sittlich-wissenschaftlichen Vereins gaben321. Der schnell so
genannte Tugendbund - eine Gesellschaft deutscher Biedermänner, wie er sich auch
stilisierte - war ein Verein der gebildeten Welt mit überständischer Erziehungs-
absicht, begriff sich als voierländisch und weltbürgerlich zugleich, und befleißigte
sich eines gesinnungstüchtigen, sittenpolizeilichen, letztlich unpolitischen Patriotis-
mus und scheiterte sowohl daran - er wurde 1809 verboten - wie an seiner über-
zogenen Organisation. Seine wirksamere, aber weniger Mitglieder zählende lockere
Folgeorganisation war der Deutsche Bund322 (1810), aus dem die Burschenschaften
- von FRIES Jugend-Bundesstaat genannt 323 - und die Freischaren hervorgingen,
weshalb ersieh 1813auflöste. Der „Deutsche Bund" richtete sich schon bewußt gegen
den Rheinbund und trug preußisch-republikanische Züge, die sich noch mehr ab-
zeichneten in den Deutschen Gesellschaften 324, die - auf Anregung Arndts - im
rheinhessischen Raum 1814 entstanden. Der Hoffmannsche Bund gehörte dazu, der
im bewußten Gegenzug gegen den damals entstehenden deutschen Bund (und im
Hinblick auf das preußische Verfassungsversprechen vom 22. Mai 1815) ebenfalls
Teutscher Bund genannt wurde 326. Im Kampf gegen Napoleon 1815 von Preußen
noch mit Sympathie gesehen, wurden diese Gesellschaften bald in den Untergrund
gedrängt.
Der „ Verein der Unbedingten" oder - zunächst in Fremdbenennung- „der Schwar-
zen" bildete sich in diesem Untergrund als lockere Geheimorganisation. Damit ist die
dritte Etappe erreicht. Dieser Verein, aus studentischen Kreisen hervorgegangen
und in die studentischen Verbindungen hineinreichend, sah sich als Kern einer zu
schaffenden liberal-republikanischen Reichsverfassung. Seitdem verläuft die Be-
811 Ein früher Fall des revolutionären Sprachgebrauchs der Aufruf ANDREAS RIED ELS 1792
und Hardenberg, hg. v. GEORG WINTER, Bd. 1/1 (Leipzig 1931), 306.
321 JOHANNES VoIGT, Geschichte des sogenannten Tugendbundes oder des sittlich-wissen-
schaftlichen Vereins (Berlin 1850), 5 und zuletzt RUDOLF IBBEKEN, Preußen 1807-1813
(Köln, Berlin 1970), 108 :ff.
3 22 IBBEKEN, Preußen, 328 ff.
aaa Zit. ERNST RUDOLF HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1 (Stutt-
gart 1957), 722; zum Ganzen 696 ff.
3 H FRIEDRICH :MEINECKE, Die deutscher Gesellschaften und der Ho:lfmannsche Bund
(Stuttgart 1891).
8 26 Bericht DoRows an Hardenberg, ebd., 75 ff.
645
griffsgeschichte des Bundes dichotom.isch: auf der staatsrechtlichen und auf der
- geheimen - gesellschaftlichen Ebene, deren Trennung von der politischen Poli-
zei überwacht wurde.
Der Bundesbegriff der Geheimgesellschaften ist durch drei Kriterien gekennzeich-
net. Erstens ist er - in Umwandlung der religiösen Gewißheit - ein "Oberzeugungs-
begriff. Auf dem Wege freier Ül>eruugung wurde die N O'l'm d,es H anilelns gefunden828•
Es ist der große toMsmutige Bund der echt christlichen Ül>eruugung, daß fetzt nur
durch liebende .Aufopferung für die Brüder, nur durch Tat nach Ohriati VO'Tbild, die
blöde, starre Welt kann.au/geschüttert und vor gllnzlickem VerBUmpfen und Verfatilen
gerettet werden,&27. Die freie Republik und die Vereinigung der Kirchen - mit schon
vorweggenommenem Abendmahl ohne Priester - fielen für die Gie.Bener Schwarzen
zusammen.
Sicher wegen seiner religiösen Emphase setzte sich der Bundesbegriff auch in solchen
ZusammenscblÜBBen durch, die sich selbst 'Vereinigung', 'Verein', 'Gesellschaft'
oder 'Verbindung' nannten. Wenn etwa ALi!' FoLLEN vom Dom des großen Bund-es
deutscher Jugend sprach828, so bediente er sich einer Metapher, die, dem 'Verein'
oder der 'Gesellschaft' zugeordnet, banal geklungen hätte. Diese Termini waren
zudem polizeirechtlich fixiert829 und bedurften immer einer Erläuterung, während
'Bund' -- aufgrund seines religiö~en Hintersinns - ein sich selbst tragender Be-
griff zu sein schien330 • Auch wegen seiner sprachlichen Bündigkeit ging der Bundes-
begriff besonders leicht in die politische Alltagssprache ein.
Zweitens wird der 'Bund' - die Tradition der Freimaurer aufnehmend - zum Mit-
tel, ein geschichtsphilosophiach geplantes Ziel zu erreichen. Wie WILHELM 8Nl:LL
1814 an K. Th. Welcker schrieb: Ein Bund ist nur das Mittel, um dem Volke mehr
Festigkeit und Einheit zu geben, WO'l'an es ihm hauptsächlich fehlt 881• Oder wie es in
12 9 Vgl. ALR II, 6: Von Gesellschaften überhaupt und die ergänzenden Kabinettsordres wie
vom 20. 10. 1798 wegen Verkiltung und Bestrafung geheimer Verbindungen u. ff. in: Er-
gänzungen und Erläuterungen des allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten,
hg. v. HEINBicm·GRÄFB', LUDWIG v. RÖNNE, HEINBICH SmoN, 2. Aufl., Bd. 3/3 (Breslau
1843), 511 ff.
3 3 o Der Aussagegehalt von 'Bund' lag zwischen „ Verein", „Gesellschaft" u. ii.. auf der einen
Seite, die immer einer zweckbestimmenden Ergänzung bedurften, und „Harmonie",
„Concordia", „Union", „Eintracht" u.ä. auf der anderen Seite. Diese mittelalterlichen
Einungsbegriffe wurden von den bürgerlichen Ressourcen gerne zur Vereinsbezeichnung
gewählt, weil ihr Sinn aus dem Wort ableitbar schien. Infolge ihrer Bestimmtheit gerannen
diese Ausdrücke - im Gegensatz zum elastischen ~Bund' - zu bloßen Vereinsnamen.
331 Zit. ME!NECKE, Gesellschaften, 72.
646
IV. 2. Vom Erwar111111sbegl'Uf zum Organlsadombegrlff Bund
einem Bundeslied von CARL FOLLEN heißt: Freiheitsbund, t1orf.r<i(JP. dR.i;nem Volke,
d,ei,ner Zeit das Freiheitsbanner kükn/3 32 Der Bund wurde zum Mittel, dem Reich
eine republikanische Verfassung zu schaffen, nach deren Einführung der Bund selber
überflüssig werde. Der Bund diente als politisches Instrument, eine nicht föderative
Verfassung zu stiften.
·Darin enthalten ist das dritte Kriterium. Der Bund wurde zu einer Organisation, die
- nach einem Entwurf WILHELM SNELLS - notwendig drei Klassen kenne; den
geheimen inneren Zirkel, für den allein der .Mittelstand . . . reif sei; die offenen
Vereine, zugänglich für alle Stände, als Plattform der Außenwirkwig; und schließ-
lich das ganze Volk, das erfaßt werden sollte333.
Damit war das strukturelle Modell formuliert, das - nach der Unterdrückung der
bürgerlichen Geheimorganisationen33" - auch die Geheimbünde der emigrierten
Intelligenz und der Arbeitergesellen prägte, die sich seit den dreißiger Jahren im
Ausland bildeten3s&. '
Als 1834 der deutsche Volksverein in den Pariser Untergrund ausweichen mußte,
beschlossen alle Mitglieder: Wir bleiben unter je.der Bedingung Angehörige des Bun-
des336. So entstand der Bund der Geächteten, von dem sich der Bund der Gereckten
(genau: der Gerecktif]keit) 1838 abzweigte. Beides waren Selbstbezeichnungen für die
OrganiRation der unterständischen Handwerker und Arbeiter, zunächst ebenfalls
auf eine deutsche Republik bezogen, aber unter dem Gebot sozialer Gleichheit und
mit dem Endziel des großen Familienbundes der Mensckheit 337 (WEITLING). Infolge
des Beitritts von MARX und ENGELS in den „Bund der Gerechten" 1847 benannte
er sich um in den Bund der Kommunisten, nunmehr von vornherein mit dem An-
647
Buna IV. 2. Vom Erwartuug11Lejrifr zum Organlsatlonsbegrlll
spruch, eine internaLionale Verbindung zu sein. Die Fassungen, die vom Entwurf
zum Statut führen, indizieren die politische Konzentration. Sie verschränkte voll-
ends die geschichtsphilosophische und die organisatorisch-planerische Komponente
des Bundesbegriffs338• Anfangs auf die Emanzipation schlechthin bezogen, sollte der
Bund jetzt zum Instrument der politischen Machtergreifung werden. 'Bund' wurde
damit zum Inbegriff einer straffen und zentral zu steuernden Organisation, die nach
außen die Arbeitervereine zu durchdringen hatte, im Namen einer Partei - die
Kommunisten bilden leider noch immer keine feste Partei 339 - , die erst zu schaffen sei.
Dementsprechend wurde aus dem kommunistischen Glaubensbekenntnis des Bundes
das Manifest der kommunistischen Partei (1848) 340•
Wie die Zentralbehörde an den Bund 1850 verlautbarte, als er von der als Sonder-
bund verfemten Arbeiterverbrüderung überholt worden war 341 : der Bund müsse dahin
wirken, neben den oUiziellen Demokraten eine selbständige geheime und öffentliche Or-
ganisation der Arbeiterpartei herzustellen und jede Gemeinde zum Mittelpunkt und
Kern von Arbeitervereinen zu machen342 ; so wurde 'Bund' - bis zum endgültigen
Zerfall des „Bundes der Kommunisten" in der Emigration 1852 - schließlich zum
Grenzbegriff, der den Übergang aus der illegalen Untergrundtätigkeit in die später
dem Staat abgerungene Öffentlichkeit einer politischen Partei indiziert.
Im Maße, als der Ausdruck 'Partei' den des 'Bundes' zurückdrängt, und das gilt
allgemein für die fünfziger und sechziger Jahre, wird 'Bund' frei für die Selbstbe-
zeichnung von Interessengruppen und 'Verbänden', die sich überparteilich organi-
sieren.
888 Statutenentwurf des Bundes der Kommunisten (9. Juni 1847), Art. 1. Der Bund be-
zwe,ckt die Entsklavung der M eMchen durch die Verbreitung der Theorie der GütergemeiruJchaft
und die baUlmöglich8te praktiache Einführung derselben. - Endfassung vom. 8. Dez. 1847:
Der Zweck des Bundes ist der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Auf-
hebung der alten, auf KlassengegeruJätzen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Grün-
dung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum; Der Bund der Kom-
munisten, 466. 626.
889 Aus der Ansprache der Volkshalle des Bundes der Gerecht.an an den Bund, unmittelbar
nach den Verhandlungen MOLLS mit Marx und Engels im Februar 1847: ebd., 454.
HO Ebd., 470. 589. 674.
841 FROLINDE BALsElt, Sozial-Demokratie 1848/49-1863. Die erste deutsche Arbeiter·
648
IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bundesstaat' (1806-1871) Bund
Die Lassalleaner und die Marxisten schlossen sich 1863 als „Verein" bzw. 1869 als
„Partei" zusammen, und die erste Internationale bediente sich 1864 der allgemein
verständlichen, eine Übersetzung erübrigenden Benennung einer „Internationalen
Arbeiter-Association". 'Bund' rückte seitdem mehr in das konservative Lager, um
dort berufsständische Organisationen zu bezeichnen, wie den Bund deutscher Land-
wirte343, während er im marxistischen Lager - 1897 - nur noch im Allgemeinen
Ji1<Zisc1ten Arbeiter-Bund in Rußland und Polen auftauchte, kurz Bund genannt und
so von rechts und links bekämpft344.
649
Bund IV. S. Vom 'Staatenbund' zum 'Bandeutut' (1806-1871)
geschichtlich von der Demokratie über die Aristokratie zur Monarchie hinführten.
Zugleich differenzierte er die herkömmlichen drei Formen durch die neuzeitliche
Lehre von der Gewaltenteilung, die er historisch unterschiedlich den Herrschafts-
weisen einfügte. Dabei war seine methodische Prämisse, den Inhalt dieser Begriffe
nicht als gegeben zu behandeln, sondern vielmehr genetisch aufzufassen. Der historische
Zugriff war zugleich ein geschichtsphilosophischer Entwurf, nach dem die eigene
Situation die Bildung einer Republik der-höheren Ordnung, nämlich den föderativen
Staat, fordere. Darin werde die Einheit des Volkes durch eine repräsentative Versamm-
lung von Abgeordneten der einzelnen Staaten dargestellt. Aber das Ganze schwankt,
solange das höhere Prinzip nirgends ein reines Organ habe. Denn es sei offen, ob das
Ganze ein Staat sein soll aus ungleich gebildeten und in gewissen Grenzen noch selb-
ständigen Teilen, oder statt des Bundesstaates nur ein Staatenbund, nur eine unbe-
.~timmte Vereinigung mehrerer Staaten auf so lange, als ihre Ansichten nicht zu weit aus-
einandergehen. Die Lösung dieser Antithese erwartete er vom zukünftigen Staat der
höchsten Ordnung, in dem die monarchische Form mit der konstitutionellen Organi-
sation des Volkes zusammenstimme. Schleiermacher kennzeichnet die Konvergenz
der historischen Fragestellung mit der geschichtsphilosophischen Perspektive, die
auch die Begriffsgeschichte der Föderativverfassungen in die politische Reflexion
einholte.
Ausdrücke, die in ihrer juristischen Fassung Zustände definieren sollten, werden
durch ihre geschichtliche Einordnung zu Bewegungsbegriffen. Dabei kann man drei
geschichtsphilosophische Positionen herausschälen, die nicht durchweg identisch
sind mit politischen Parteigruppierungen, was den Sprachgebrauch besonders viel-
deutig machte. ·
Erstens bezeichnet die Option für den Staatenbund (oder -verein) gegen den Bun-
desstaat eine Kampfstellung' gegen Zentralisation und Nationalisierung der
Bundesverfassung. Sie wurde vollzogen von Konservativen und föderalen Demo-
kraten. Beide wollten eine Bewegung verhindern, die - von einer zweiten Position
her vorangetrieben - den Bundesstaat als optimale Verfassung definierte, die den
Staatenbund zu überwinden habe. Diese Position wurde vorzüglich vom liberalen
Bürgertum, aber auch von Vertretern einer preußischen Hegemonie eingenommen.
Die dritte Position schließlic,h wurde bezogen von jenen, die - wie Schleiermacher
- die geschichtliche Entwicklung vom Staatenbund über den Bundesstaat hinaus
zu einem einheitlichen Nationalstaat hinführen sahen und die - Etatisten, Repu-
blikaner oder Sozialisten - diese Entwicklung voranzutreiben als ihre Mission be-
trachteten. Anders gesagt: entweder war der Staatenbund die bestmögliche Ein-
heit, oder der Bundesstaat oder beide waren nur Übergangsphasen zu einer Einheit,
die den Bund aufheben sollte. Universale, überstaatliche Föderationspläne waren
aus allen drei Positionen ableitbar, wenn auch der Kampf um einen Nationalstaat
auf Kosten der deutschen Bundesverfassung von 1815 geführt werden mußte.
Je nach der geschichtsphilosophischen Perspektive, in der die Bundesbegriffe ver-
wendet wurden, hatten sie einen anderen Stellenwert. Sie wurden zu Kampfbe-
griffen, die politische Fronten klären, die Entwicklungen vorantreiben oder ver-
hindern sollten. Obwohl alle drei Positionen im ganzen 19. Jahrhundert vertreten
waren, zeichnet sich institutionsgeschichtlich - und zwar quer durch die Parteiun-
gen - ein Trend ab, der terminologisch einwandfrei· als Weg vom Staatenbund zum
Bundesstaat beschrieben werden kann. Insofern indiziert die Begriffsgeschichte der
650
IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bundesstaat' (11116-1871) Bun4
651
Bund IV. 3. Vom 'Staatenhund' zum 'Bundes&taat' (1~1871)
a) Der Rheinbund. Der geschichtliche Anstoß zum Definitionsstreit über die Staa-
tenverbindungen ging 1806 von der Gründung des Rheinbundes aus. Die Rhein-
862 Da.zu ERNST DEuERLEIN, Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grund-
lagen des föderativen Prinzips, Beilage 1 und 5 zu: Das Parlament (1968), Beilage 1, 5 f.
an MoZIN, franz. Tl., t. 1 (1811), 648; 'federation' wird nur mit Bund und Verb1indung
übersetzt, 'confed6ration' nur mit Bund, Bündniaa; ebd., 273. 648;
au CAMPE, Fremdwb., 2: Auß. (1813), 324.
652
a) Der Rheinbund Bund
bundfürsten einigten sich par une oon/eilbation particuliere sous le nom d' Etats oon-
/edbes du Rhin (Art. 1) 355• Zugleich schloß die Konföderation kollektiv und jeder
Staat einzeln mit Frankreich eine alliatiu (Art. 35). Bei ihrer deutschsprachigen
Austrittserklärung3 56 aus dem Reich stilisierten sich die Staaten als Bund, der den
neuen Zeitumständen angemessen sei, während das Band, welches bisher die verschie-
denen Glieder des deutschen Staatskörpers mit einander vereinigen sollte ... schon au/-
ge'löst sei. In einer Vorstufe dieser Deutung war das Reich auf dem Preßburger
Frieden 1805 (Art. 7) bereits provokativ als Oonfederation germanique stilisiert
worden 357• Während FRANZ II. bei der Niederlegung seiner Kaiserkrone noch am
Ausdruck Staatskörper des deutschen Reiches358 festhielt, sprachen die Rheinbund-
fürsten nur mehr vom Verband, aus dem sie austräten, und interpretierten ihre con-
fäderation particuliere als Konsequenz aus dem bisherigen System, das die mächti-
geren Reichsstände - durch ihre Trennungspolitik - längst verfolgt hätten. Die
Verantwortung am neuen Bund wurde der alten Reichsverfassung zugesprochen,
auch wenn das „System" dureh einen partikularen Bund fortgesetzt wurde. Die
Kontinuität wurde aber nicht reichsrechtlich, sondern aus ~em Bündnissystem ab-
geleitet und nunmehr rein völkerrechtlich verstanden: Endpunkt der Geschichte
seit 1648. An die Stelle des Kaisers trat der Protecteur (Art. 12), der nach seiner
fligfm1m Rrklii.nmg nicht mehr iiie Rolle eineR S11,rerains spielen wolle, sondern der
vielmehr dank seiner überlegenen Macht ( superiorite de notre puissance) die Unab-
hängigkeit und 8ouveränität der einzelnen ]fürsten des Rheinbundes sicherstelle 3119•
Da die geplanten Bundesinstitutionen nicht zustande kamen und insofern die Sou-
veränität der Rheinbundstaaten weit stärker gewahrt schien, als der Vertrag es
vorsah, da aber zugleich Napoleon mit dem Rheinbund verfassungswidrig um-
sprang - es kam ihm nur auf Geld und Leute an, die er brauchte360 - , so entstand
ein Widerspruch zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, wie er
im alten Reich mit seinem Gewohnheitsrecht nicht greifbar war. Das hatte eine
doppelte Folge: die Bundes-Staatslehren des Rheinbundes blieben infolge der Tren-
nung von Recht und Macht politisch farblos, der hegemoniale Charakter wurde zu-
gunsten Napoleons des Großen 361 ausgeklammert, so daß - zweitens - der kon-
krete Rheinbund in seiner Weise ebenso anfällig wurde für eine Ideologiekritik wie
der religiös durchtränkte Bundesbegriff. Der Rheinbund konnte leicht von seinen
356 Rheinbunds-Akte, abgedr. HUBER, Dokumente, Bd. 1 (1961), 26 ff. (s. Anm. 2).
368 Ebd., 32 f.
367 ZEUMER, Quellensammlung, 531. Mit der Übernahme des Ausdrucks einer 'confedera-
Rheinische Bund, hg. v. PETER ADOLPH WINKOl'l', Bd. 2 (Frankfurt 1807), 416.
653
Band IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bandesstaat' (1806-lBn)
Gegnern als Schimpf- und Spottoonstitution 882 entlarvt werden, und im Laufe der
deutschen Einigungspolitik boten sich schnell Schlagworte an wie Rheinbündelei
oder Rheinbundgelilste863, um die Politik Frankreichs zu umschreiben oder die der
deutschen Mittelstaaten----' je nach Gelegenheit- des Partikularismus zu zeihen, .....,...
eine Deutung, die dann historisch auf den sogenannten ersten Rheinbund zurück-
wirkte.
Nach seiner Stiftung wurde der Rheinbund zunächst Staatenbund, aber auch Bun-
desstaat benannt - z. B. in WINKOPPS Z6itschrift „Der Rheinische Bund"-,
wobei das Modell und die Selbstbezeichnung der Schweizer Mediationsverfassung
von 1803 - die Schweiz sei von der N at,ur selbst zu einem Bundesstaate bestimmt _a84
leitend gewesen sein mögen. Indes hat die Staatsrechtslehre schnell - in Anlehnung
an Pütter und Kant - den Gegensatz von Völkerbund bzw. Staatenbund auf der
einen Seite und von Staatenstaat, Völkerstaat oder Bundesstaat auf der anderen Seite
artikuliert, um den Unterschied zur alten Reichsverfassung herauszuarbeiten 385 •
Als entscheidend galt, daß UWllllt1hr iliti gtiurninsame Obergewalt entfallen sei (vom
foedus clientelare wurde nicht gesprochen), Deutschland also kein Staatenstaat
mehr sei - was K. S. ZACHARIAE schon 1804 für das sogenannte <leutsche Reich fest-
gestellt hatte-, sondern ein Staatenbund388 • Oder wie KLÜBER 387 sagte: ein Staa-
tensystem ( Syrt1ma civitatum fosderatarum s. arohaioorum) , ... ei1i Verein te·ut.~dw:1·
Souverainstaat,en. Beide Autoren waren sich mit BERG un<J BEHR888, anderen Rhein-
bundinterpreten, darin· einig, daß der Verband nur durch einen völkerrechtlichen
Gesellschaftsvertrag zustande gekommen sei, der keine politische Oberhoheit er-
zeuge, sondern höchstens eine politische Social- oder Oollegia"l-Gewalt, die der Souve-
ränität entbehre. Der Rheinbund hat,, als solcher, kein Gebiet,· nur die Bundesfürsten
sind mit souveränem Staatsgebiete versehen 389 • Damit wurde eine Antithese zwischen
dem völkerrechtlichen Charakter eines Staatenbundes und dem staatsrechtlichen
Charakter eines Bundesstaates artikuliert, der - trotz seiner eip.pirischen Unhalt-
362 Vgl. FRIEDRICH GENTZ, Gedanken über die Frage: Was würde das Haus Österreich
unter den jetzigen Umständen zu beschließen haben, um Deutschland auf eine dauerhafte
Weise von fremder Gewalt zu befreien (1808): die rheinische Konföderation weder rf.r.hair.h
noch faktisch je zur Wirklichkeit gediehen ist; Staatsschriften und Briefe, hg. v. HANS v.
EoKABDT, Bd. l (München 1921), 184.
aea BISMA.RCK, Gedanken und Erinnerungen, Bd. l (Stuttgart 1898), 342; Bd. 2, 72. Ferner
Friedrich Wilhelm IV. an Franz Joseph 1852: rheinbundschwangere Mittelstaaten; ebd.,
Bd. 1, 84, ferner 183. 333. 342; Bd. 2, 40. 49. 52. 83. 89. 90.
m NABHOLZjKLlm, Quellenbuch, 185 (s. Anm. 42). Vgl. Actensammlung aus der Zeit
der Helvetischen Republik (1798-1803), hg. v. JOHANNES STRICKLER, Bd. 9 (Bern 1803),
1225.-1231 f.
au Dazu BRIE, Bundesstaat, 32 ff. ls. Anm. 231).'
318 Geist der neuesten Deutschen Reichsverfassung, Zs. f. Gesch. u. Politik 1 (1804), 34 ff.
654
b) Der deutsche Bund 1815 Bund
barkeit, wie RoTTECK 310 zu Recht feststellte - immer wieder in die Definitionen
einging 371 • ZACHARIAE hatte als erster den Gegensatz im deutschen Sprachgebrauch
formUliert, indem er die Auflösbarkeit durch Dissens für die societas eines Staaten-
bundes beanspruchte: I nterest ... , s·i jus spectes, inter civitatem, qua plures oivitates
continentur, et inter societatem civitatum foeileratarum hoc (Bundes-Staat - Staaten-
bund), quodsocietas dissensu singulorum sociorum dissolvitur, litesque inter socios ortae
non nisi transactione componi possunt; quae in civitate secus se habent312 .
Die Versuche, den Rheinbund durch seine Ausweitung und napoleonische Führung
als universitas (Zachariae 1810)3 7 3 oder als germanischen oder deutschen Bund 37 ' zu
begreifen, wurden von den Ereignissen überholt. Eingewirkt haben freilich die
Definitionen auf das juristische Selbstverständnis des Deutschen Bundes von 1815,
der sich wie der Rheinbund als Verein souveräner Fürsten zusammenschloß.
h) Der deutsche Bund 1815. Die Struktur der deutschen Bundesverfassung von
1815 war durch das Kräfteparallelogramm der europäischen Großmächte in ihren
Grundrissen vorgegeben. Daß DeuL~chlanu nicht wieder als Reich, sondern als
föderales Gebilde wieder errichtet würde, zeichnet sich in allen Phasen des Kampfes
gegen Napoleon ab: So schon in Bartenstein 376, wo sich 1807 Rußland und Preu-
ßen auf eine künftige feMration constitutionelle Deutschlands festlegten, die durch
eine besondere union intime et permanente der beiden Hegemonialmächte PTen ß1m
und Österreich ( ces deux puissances prepondbantes) geleitet werden solle; -:-- so bei
GENTZ, der 1808 GTundlinien einer deutschen Föderativ-Verfassung skizzierte,
in der der österreichische Kaiser als erbliches Oberhaupt und vorsitzender Bundes-
genosse des freien F lJderativ-Staate.s die exekutive Macht in sich vereinigen sollte378 ; -
so für den FREIHERRN VOM STEIN, der 1812/13 die Einheit seines Vaterlandes an-
strebte, sich aber in Anbetracht der Machtkonstellation zu einem Auskunftsmittel,
zu einem Übergang bekannte. Deutschland solle in zwei größere Bundesstaaten auf-
gelöst311 werden, die sich an die beiden östlichen Vormächte anschließen, wobei der
370 RoTTECK, Lehrbuch des Vernunftrechts, Bd. 3 (1834), 146 ff.: „Von den gesellschaft-
lichen Verbindungen unter den Völkern, oder von Staatensystemen", wo Rotteck gegen
Klüber feststellt, daß die Unterscheidung zwischen Gesellschafts- und Staatsgewalt un-
zulänglich sei, denn die Souveränität der Glie,der erfahre in jedem Fall so viele Verminderung,
als der Bundesgewalt an Rechten übertragen worden (152; s. Anm. :107).
871 Dazu CARL ScHMI1T, Verfassungslehre, 2. Aufl. (Berlin 1954), 366.
372 K. S. ZACHARIAE, Jus publicum civitatum quae Foederi Rhenano ascriptae sunt.
gedanke. Ein Beitrag zur Überwindung der Mainlinie, Arch. f. hessische Gesch. u. Alter-
tumskunde NF 18 (1933), 300.
376 Art. 5, zit. PUTTKAMER, Föderative Elemente, 67 (s. Anm. 211); Vgl. dagegen die Be-
zeichnung in der Schweizer Mediationsakte von 1803: C0118titution federale, die auf eine engere
Verbindung hinweist; LE FUR/PosENER, Bundesstaat und Staatenbund, 160 (s. Anm. 231).
8 7 8 GENTZ, Staatsschriften und Briefe, Bd. 1, 200 f. (s. Anm. 362).
377 F1m. VOM STEIN, Denkschr. für Hardenberg (Ende August 1813), Br. u. Sehr., Bd. 4
(1963), .245; vgl. Denkschr. für Alexander 1. (6./18. 9. 1812), ebd., Bd. 3 (1961), 751:
Si le retablis&ement de l'ancienne monarchie est im'[XJssible, alors encore le -partage de l'.Alle-
magne entre l' A utriche et la Pru&se serait preferable. Die verschiedenen Bundespläne Steins
zusammengefaßt von HUBER, Verfasslingsgeschichte, Bd. 1, 510 ff.
655
Hund IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bundesstaat' (1806-18ß)
378 WILHELM v. HUMBOLDT, Denkschr. über die deutsche Verfassung an den Freiherrn
vom Stein, AA Bd. 11/2 (1903), 95 ff.
379 Zum Ganzen HUBER, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 475 ff.
3 80 Zit. PuTTKAMER, föderative Elemente, 75.
381 HUMBOLDT an Hardenberg, Über die Behandlung der .Angelegenheiten des deutschen
Bundes durch Preußen (30. 9. 1816), AA Bd. 12/1, 2 (1904), 53 f„ bes. 80.
3 82 Acten des Wiener Congresses, hg. v. J. L. Kr.ÜBER, Bd. 1, H. 1 (Erlangen 1815), 45 ff.
656
b) Der deutsche Bund 1815 Bund
die offene Doppelhegemonie Preußen!!, das ostelbisch außerhalb des Bundes blei-
ben, und Österreichs, das nur mit den an Oberbayern angrenzenden Staaten Bun-
desglied sein sollte; es entfiel die starke Direktorialverfassung, die auf einer über-
staatlichen Kreiseinteilung aufbauen sollte; es entfielen die handelspolitische Ver-
einheitlichung sowie die teutschen Bürgerrechte. Statt dessen haben sich die sauve-
ränen Fürsten und freien Städte Deutschlands 383 vereinigt zu einem beständigen
Bunde, welcher der deutsche Bund heißen soll. Der Zweck desselben ist Erhaltung.der
äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und der Un-
verletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten, die als Bundesglieder allesamt gleiche
Rechte erhielten (Art. 1-3). Das gemeinsame, leitende Organ war der permanente
Gesandtenkongreß der Bundesversammlung, populär „Bundestag" genannt, in dem
ein siebzehnköpfiges Gremium die laufenden Geschäfte versah, während in Fragen
der Grundgesetze, der organischen Bundes-Einric4tungen und gemeinnütziger Anord-
nungen das Plenum zuständig war (mit 69 leicht unterschiedlich gewichtigen Stim-
men). Eine Abschichtung der Stimmenzählung von der reinen über Zweidrittel-
mehrheit bis zur Einstimmigkeit für Grundgesetzänderungen, organische Einrich-
tungen und Religionssachen führte zu einem potentiellen Vetorecht der schwäch-
sten Glieder. Wie im alten Reich war die auswärtige Gewalt auf Bund und Glieder
gedoppelt, nur daß - herkömmlich - die Gliedstaaten keine Bündnisse gegen den
Bund schließen durften. Alle unterwarfen sich einer gegenseitigen Garantie
(Art. 11).
All das veranlaßte KLÜBER 384, l!leine alte Definition del!I Ilheinbundel!I zu überneh-
men: auch der deutsche Bund sei eine völkerrechtlich gleiche Gesellschaft, ihre Spitze
eine politische Social- oder Collegial,gewalt, keine Staatsgewalt.
Ebenso neigte TITTMANN 1818 dazu, den deutschen Bund als völkerrechtliches
Verhältnis - zum gemeinsamen Schutz nach außen - zu definieren, als Staaten-
verein, nicht als Staatsverein, da die Bundesversammlung keine Zwangsgewalt aus-
übe: sowie sie diese entwickele, werde es ein Bundesstaat386. Insgesamt schwankten
die Benennungen sehr, weil man mit den Worten verschiedene Begriffe verband 38 &.
In der Tat war die Richtung offen, solange die organischen Gesetze, gemeinnützige
Anordnungen und handelspolitische Bestimmungen (Art. 19) noch nicht beschlossen
worden waren. Wie der österreichische Gesandte GRAF BuoL v. SCHAUENSTEIN 1816
proklamierte: D·ie Ze-it, die Cultur der Mensclthe-it, kennt keinen absoluten Grenz-
punkt; so wollen auch Wir das Gebäude unseres teutschen Bundes für heilig, aber nie
für geschlossen und ganz vollendet halten, - was Klüber mit dem Hinweis auf die
britische Verfassung und ihre perpetual innovation kommentierte. Aber Graf Buol
ließ keinen Zweifel an der Bestimmung: Der deutsche Bund ist weder ein Bundes-
staat, noch ein bloßes Schutz- und Trutzbündnis freier Staaten; er ist ein Staaten-
Bund. Buol leitete dieee Verfassung aus der deutschen Geschichte und ihrer
Mannigfaltigkeit ab, er berief sich auf den Heldenmut von 1813, der ganz Deutsch-
383 Deutsche Bundesacte vom 8. Juni 1815, HU11ER, Dokumente, Bd. 1, 75 ff.
384 J. L. KLüBER, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten,
2. Aufl. (Frankfurt 1822), 133.
38 6 FRIEDR. WILHELM TITTMANN, Darstellung der Verfassung des deutschen Bundes
(Leipzig 1818), 23 ff. 4 f.
386 Ebd., 31.
42-90385/1 657
Band
/,and zum treuen Bunde vereinte, und sah jetzt Deutschland in der Zeitgeschichte ...
dazu berufen, einen zugleich die Nationalität sichernden Staatenbund zu bilden.
'Staatenbund' war 1815 für die österreichische Sprachregelung der maximale Ein-
heitsbegriff für die deutsche Nation. So also erscheint Deutsch/,and wieder als Ganzes,
als eine politische Einheit; wieder als Macht in der Reihe der Völker 387 •
Die scharfsinnigste- und auch treffendste - Charakteristik gab HuMBOLDT 388, als
er ohne ängstliche Wortbestimmung eine Theorie des deutschen Bundes entwarf,
in der 'Staatenbund' und 'Bundesstaat' nicht auf die Souveränität der Glieder und
auf einen wirklichen Staatskörper hin festgelegt, sondern beide als Beziehungs-
begriffe verstanden wurden. Ruhe, Sicherheit und Gleichgewicht sei der - auch
europäische - Bundeszweck sowie die Unabhängigkeit der Glieder. Um diese
Zwecke zu erreichen, trage der deutsche Bund insofern die Natur eines Bundes-
staates, als alle Deutschen zu einer Einheit verbunden würden, als die Glieder Teile
ihrer Unabhängigkeit aufgeben und sich allgemeinen Bestimmungen unterwürfen.
Sowie aber äußere nnd innere Sicherheit nicht mehr Dundeszweck sei, t1u11ueru
Deutschland als Staatskörper eigene Politik verfolge, könnte niemand hindern,
daß nickt Deutsch/,and als Deutsch/,and auch ein erobernder Staat würde, was kein
echter Deutsch.er wollen kann. Der deutsche Bund habe vielmehr eine abwehrende,
'111'{/nJ.fo e:imcirk.emde., llnre.chJ, tierhindernde Aufgabe, um der zu genügen, er ein
Staatenbund sei: Der deutsche Bund ist· seiner ursprünglichen Bestimmung und
seinem politischen Dasein nach ein wirklicher Staatenbund ... , der sich aber zur
Erreichung seines innern und äußern Zwecks in gewissen ... Beziehungen eine Ein-
heit und einen Zusammenhang gegeben hat, welche ihn in die&en Beziehungen zu
einem Bundesstaate machen. Bundesstaat und Staatenbund verhalten sich also wie
Mittel und Zweck zueinander. Für die zukünftige Politik müsse also der BegriO
einer Verbindung selbständiger Staaten als die Grtmd,idee und der Zweck angesehen
werden, die den Bund zu einem collektiven Staat machende Einheit als Mittel zu diesem
Zweck. Unbeschadet juristischer Antithesen fand Humboldt 1816 eine politische,
speziell außenpolitische Definition, die ihm seinen Handlungsspielraum als Frank-
furter Bundesgesandter ausmessen sollte. Überspitzt formuliert, war ihm Deutsch-·
land ein nationaler Bundess.taat gerade so weit, wie es nötig schien, um seiner
europäischen Funktion als Staatenbund gerecht werden zu können. In diesem
Spannungsfeld solle Preußen seine Bundespolitik treiben.
Der juristische Definitionsstreit wur<le 1820 durch die Wiener Schlußakte 389
authentisch entschieden, indem nunmehr der deutsche Bund als völkerrechtlicher
Verein definiert wurde (Art. 1). Dieser Verein besteht in seinem Innern als eine
Gemeinschaft selbständiger, unter sich unabhängiger Staaten mit gle~chen Vertrags-
rechten, in seinen äußem Verhältnissen aber als eine in politischer Einheit verbun-
dene Gesamt-Macht (Art. 2). Die Bundesakte von 1815 wurde zugleich als der
Grundvertrag und das erste Grundgesetz dieses Vereins definiert. Die poli~che Pointe
dieser Definitionen richtete sich gegen die damals emporschießende nationale Ein-
heitsbewegung und ihre bündischen Organisationen. Alle Forderungen nach Be-
658
e) Der Zollverein Bund
39 0 ROTTECK wies 1834 da.rauf hin, daß die Bundesversammlung auch in solche Maieden
eingreife, über die konstitutionell beschränkte Regierungen nur mit Zustimmung der Land-
stände verfügen dürften. Von die8em Standpunkt aua • . • erscheint die Peraonifikation der
Bunde8gewalt a"la eine von jener der Staat.sgewalten der Bunde8'länder verschiedene und wahr-
haft he"iache Gewalt. In dieser Hinsicht sei atatt de8 N amen.s Staatenbund nicht nur der Name
Bunde8-Staat, .aondern aelbat der Name Bunde8-Reich oder Bunde8-Herrschaft ... am an-
geme.saenaten; Lehrbuch des Vemunftrechts, Bd. 3, 155 (s. Anm. 307).
3111 METTERNICH, Denkschr. vom 24. 6. 1833, zit. HEINRICH v. TREITSCHKE, Deutsche Ge-
schichte im 19. Jahrhundert, .Bd. 4 (Ausg. Leipzig 1927), 384 f. Der Zollverein hebe die
Gleichheit der Rechte und Pflichten des deutschen Bundes auf, er sei ein Werk der preu-
ßischen Bewegungapartei • • . Die Partei hatte, im Fal/,e der Verwirklichung ihrer P'läne,
ihr wahre8 Ziel e"eicht: Preußen mit einer neu repräaentativen Verfas&ung an der Spitze des
1ihrigen k<niatitutionellen Deutschlanda; - eine eingetroffene Prognose, die langfristige Ver-
fassungskräfte richtig - auch wenn sie nicht zwingend waren - kombiniert hatte.
aea Zit• .ADOLF Ril'P, Großdeutsch-Kleindeutsch (München 1922), 6 f.
659
Bund IV. 3. Vom 'Staatenbund' zwn 'Bundesstaat' (1806--1871)
Streben und Treiben nicht des Mühens wert; wie sollen wir zur Ruhe kommen und Frei-
heit behalten zu denken und zu tun, wenn in Deutschland nicht Einheit und eine kräftige
Einheit durch Preußen ist. Österreich - schon kein deutsches Haus mehr - könne
allein in dem europäischen Bunde stehen, Preußen müsse nach mehr streben. Ähnlich
schrieb CHRISTIAN DANIEL Voss 1816 ,;Ober die Täuschungen und über das W esent-
liche bei dem Deutschen Bunde": das Notwendigste sei eigentlich, daß Preußen
und Österreich sich . . . im Guten auseinandersetzten, daß sie sich teilten und trennten.
Diese Teilung und Trennung wäre für Deutschland ein viel größeres Heil gewesen als
der nichtige Bund und die chimärische Einheit. Österreich solle sich nach Italien wen-
den, Preußen die Schutzmacht des ehemaligen Rheinbundes werden und eine deut-
sche Verfassung stiften mit einem Schutz- und Bundeskönig an der Spitze 398. Un-
mittelbar an den König gewandt, schriebD.AVIDHANSEMANN1830, er solle Deutsch"
lands Führer . . . sein und dasselbe in einem gemeinsamen durch wahre 1nteressen fest
geknüpften Bund ... vereinigen, dessen Haupt Preußen ist 394• Der Wechsel in der
Stilisierung läßt den Wirtschaftsbürger erkennen, der sich schon auf die Zollpolitik
berief, die Motz initiiert hatte.
Die Hoffnungen - und Befürchtungen - , die sich an Preußens Führung anschlos-
sen, gewannen erst durch die Schaffung einer größeren Wirtschaftseinheit ihren
pragmatischen Boden. Dem nüchternen Zuschnitt der 1833 vereinigten nord- und
süddeutschen Zollvereine entsprach die Selbstbenennung Gesamtverein. Mit der Aus-
/ültrung des gegenwli,rtigen Vertrages tritt zwischen den contrahierenden Staaten Frei-
heit des Handels und Verkehrs und zugleich Gemeinschaft der Einnahmen an Zöllen
ein895. Der neue Zollverein wahrte strikt die föderale Gleichberechtigung der Mit-
glieder - Beschlüsse konnten nur einstimmig gefaßt werden, und die Dauer war auf
acht Jahre mit zwölfjährigen Verlängerungsfristen begrenzt - wohinter sich die
De-facto-Hegemonie Preußens wirksamer verbarg als die Metternichs im deutschen
Bunde. So streng Wirtschaft Un.d Politik getrennt schienen - RoTTECK/WEL-
CKER398 vermuteten im Zollverein ein Ablenkungsmanöver von politischen Konflik-
ten - , die neue Wirtschaftseinheit unter Ausschluß Österreichs galt als Kristalli-
sationspunkt einer nationalen Verfassung, wie sie MoTz 397 sich erhoffte und MET-
TERNICH898 als Revolution befürchtete. So schrieb der Verleger PERTHES zum Ver-
tragsschluß899: Nun sind wir wirklich hinein in den großen Zolltopf, ich freue mich
In dieser, auf gleichem Interesae und natürlicher Grundlage ruhenden und aich notwendig in
der Mitte von Deutschland erweiternden Verbindung wird erat wieder ein in Wahrheit ver-
bündete&, von innen und von außen feste& und freies Deutschland unter dem Schutz und
Schirm von Preußen bestehen; ebd., 370.
3 98 S. Anm. 389. Zum Ganzen HUllER, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 787 ff.; Bd. 2 (1960),
660
c) Der Zollverein Bund
darüber vor allem der politischen Folgen wegen, die nicht ausbleiben können; ein großer
Schritt zur Einheit des Vaterlandes ist getan. Elf Jahre später meinte KARL STEIN-
ACKER: Der Zollverein ist nun einmal vorzugsweise und tatsti,chlich die Heimat der 1 dee
der Einheit geworden, und in seiner Mitte wird sie sich mit immer größerer Kraft ent-
wickeln. Man wird sich immer mehr daran gewöhnen, namentlich im Auslande, unter
Deutschland hauptsächlich das zollverbündete zu verstehen 400• Es war eine wegweisende
Weichenstellung, daß die wirtschaftliche Forderung nach der optimalen Einheit der
politischen Industrienation - in LISTS Worten401 die notwendige Durchgangsphase
für eine Universalunion oder eine Konföderation aller Nationen - unter preußischer
Führung erfüllt wurde. Auf diesem Hintergrund konnte HEINRICH VON GAGERN in
der Paulskirche seinen - erfolglosen - Kompromißvorschlag eines engen Bundes
Deutschlands und eines weiteren Bundes mit Österreich vorbringen. Seit wann be-
gann. in Deutschland das Bedürfnis und das Bewußtsein der Einheit in erhöhetem
Maße sich zu entwickeln? Von dem Augenblick an, wo gemeinschaftliche nationale In-
teressen einen großen Teil Deutschlands vereinigten, die Möglichkeit einer separaten
Politik unter diesen näher verbundenen Staaten ausschlossen, von dem Beginn und der
Entwicklung des Zollvereins an. Unter dem Gesichtspunkt der materiellen Interessen
könne sich der engste Bund auch mit Österreich verbinden, ohne es zu einer Tei-
lung seiner deutschen und nichtdeutschen Provinzen zu nötigen. Auf diesem We.ge
sind Verbindungen möglich, wie Gagern taktisch formulierte, die zwischen dem Staa-
tenbund und den Bundesstaaten in der Mitte liegen 4 0 2•
Nachdem die Stiftung eines Doppelbundes gescheitert war, präjudizierte der Zoll-
verein weiterhin kraft seiner Existenz jene Lösung, die - wenn auch auf politisch
(1930), 164.
402 GAGERN; Sten. Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 4 (1848), 2898 f. Bundesstaaten verwendet
Gagem im Sinne der Gliedstaaten des engeren Bundes - wie es im Plural öfters, auch in
der Wiener Schlußakte, Art. 36 und 42 verwendet wurde. Ga.gern hielt zudem die Be-
griffe BundetJstaat für den engen, Staatenbund für den weiteren Bund für zu unbestimmt:
um die nationale Ilindung an Öste1Teich in der Debatte nicht herunterzuspielen. Gerade
die imperiale und ökonomische Expansion in den Balkan hinein sah er als gesamtdeutsche
Aufgabe an. In der Sache unterstützte er den Antrag des Wiener Abgeordneten v. Müm.-
FELD·: Wenn etJ aber nicht m-Oglich ist, daß Öste"ei.ch als Bundesstaat zu Deutschland halte,
dann m-Oge die FO'l'm des Staatenbundes gewährt werden, der den deutschen Bundesstaat uri.d
neben ihm den öste"ei.chischen Föderativstaat durch das deutsche Element verbinde;
Sten. Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 4, 2857. Zum Ganzen HUBER, Verfassungsgeschichte,
Bd. 2, 797. 816~ Die „Kleindeutsche" Beweisführung im Parlament beruhte sicher auf
der Kenntnis der Schrift PAUL PFlzERS „Das Vaterland" (1845), in der er forderte, daß
Preußen auf dem Wege über eine gemeinsame Verfassung in Deutschland aufgehe. Durch
den Zollverein allein entstehe kein volkstümlicher Bund auf Leben und Tod. Die ganze
heutige Gestaltung der deutschen Verhältni&se scheint daher auf eine staatsrechtli.ch-natioruile
·Verbindung mit Preußen und eine föderalistisch-völkerrechaiche mit den germanischen
Nachbarstaaten und mit Öste"eieh hinzuweisen, das eine Macht ersten Ranges auch ohne
Deutschland ist; zit. RAPP, Großdeutsch-Kleindeutsch, 31.
661
Bund IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bundesstaat' (1806--1871)
Föderalisten und ein Dialog zwischen den letzteren. Es gebe diese drei Parteien - wenn
nämlich übereinstimmende ']JOlitiache Anaickten ohne Verabredung und ohne Führer eine Partei
bilden können. Wir haben nickt einmal eigene Parteinamen erfunden, sondern behelfen uns
mit fremden. Die parteibildende Funktion der Verfassungsschlagworte im Vormärz wird hier
deutlich. Zu den Unitariern, die die unbedingte ']JOl,itische Einheit Deutschlands wollen, rech-
net Gagem die Gekhrten, den Handelsstand, die Heere und die ganze Jugend. Die Föderalisten
seien als die gemäßigte Partei wie überall die schwächste, - womit, wie 1848 zeigt, Gagem
zugleich recht und unrecht behielt; HEINRICH v. GA.GERN, Das Leben des Generals Fried-
rich von Gagem, Bd. 1 (Leipzig, Heidelberg 1856), 355 ff. 371. 386.· 379; vgl. ferner
DEUERLEIN, Föderalismus (s. Anm. 352), Beilage 5, 10.
662
d) Bund und Reich (1848-18Il) Bund
40 6 Über Bundesverfassung und Bundesreform, über Bildung und Grenzen der Bundes-
gewalt, zunächst in Beziehung auf den Schweizerbund und die Schriften von Troxler und
Zachariä über denselben (Leipzig, Stuttgart 1834). De.rauf aufbauend der Artikel: Bund,
Bundesverfassung, Staaten- oder Völke.rvereine, oder Föderativsystem.e, inabesO'lldere: ,f;Jtaaf.en.-
bündniß, Staatenbund, Bundes- (oder Staaten-) Staat. Grenzen der GewaU, Politik und Ver-
fassung der Bundesvereine im. .Allgemeinen; RoTTEOK/WELCKER Bd. 3 (1836), 76 ff.
408 W ELCKER konnte den enteprechendenArtikelim 2. Suppl. Bd. (1846), 184 ff. nachholen.
407 RoTTECK/WELCKER Bd. 3, 113. 108. 107. Eine wichtige Informationsquelle über die
USA bot RcmERT Mom., Das Bundes-Staatsre.cht der Vereinigten Staaten von Nord-
Amerika (Stuttgart, Tübingen 1824); wo der bundesstaatliche Charakter der USA a.m
Präsidenten, am Bundesbürgerrecht, am Senat und an der fehlenden Souverii.nität der
Staaten (als Prooinzen; 121) aufgewiesen wurde, ein Wunder unaerer Zeit, wie M:rrrER-
MAIER 1848 iD. der Nationalversammlung wiederholt; Sten. Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 4
(1848), 2724. - über die Schweizer Verfaeeungebewegung seit 1830 unterrichtete KARL
SALOMO ZACHARIÄ, der drei Parteien unterschied, die dem Völkerbund, dem Völkerataat
und dem einfachen Staat als jeweiligem Ideal nachstrebten; Über den gegenwärtigen
politischen Zustand der Schweiz (Heidelberg 1833).
4 os ROTTECK/WELCKER Bd. 3, 91 f. 88 f. 114.
663
Bund IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bundesstaat' (1806-ISn)
nämlich mit Entschied,enheit entweder einen wahren Bundesstaat oder einen wahren
Staatenbund erwählen, und jeden ganz und rein und konsequent durchführen muß409.
Man dürfe sich nicht mit Mischungen von Staats- und Völkerrecht trösten. Durch
W elcker sind die beiden Ausdrücke in den vierziger Jahren zu dem geworden, als
was sie auch weithin verstanden wurden: zu revolutionären Verfassungsparolen,
die von niedern Stufen ... zu den höheren fortzuschreiten aufriefen41o.
Der Leitbegriff für die revolutionäre Bewegung 1848 war aber nicht der Bund, auf
den die Massen mit Verachtung blickten411 , sondern das Reich. Wir wollen schaffen
eine Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich . . . Der Beruf und die V oll-
macht zu dieser Schaffung liegen in der Souveränität der Nation (HEINRICH VON
GAGERN) 412 • Die Einheit inFreiheit zielte auf eine konstitutionelle Reichsverfassung,
wenn auch die überkommene Vielfalt bundesstaatliche Verfassungsformen erheisch-
te. In diesem Sinn hat der Siebzehner-Ausschuß den Entwurf des deutschen Reichs-
grundgesetzes vorgelegt, dessen erster Artikel feststellte: Die zum bi,sherigen Deut-
schen Bund gehörigen Lande (einschließlich der preußischen Ostprovinzen und
Schleswigs) bilden fortan ein Reich (Bundesstaat). Die Selbständigkeit der einzelnen
Deutschen Staaten wird nicht aufgehoben, aber soweit es die Einheit De·utschlands for-
dert, beschränkt413 •
Sicher nicht ohne geschichtstheologische Anklänge, die den Übergang vom Bund
zum Reich verkündeten 414 , sollte das Reich die unerfüllten Versprechungen des
Bundes von 1815 einlösen, sich als eigene Einheit über den Gliedstaaten erheben,
die zu berücksichtigen als Verfassungsform - wie die Zusatzdefinition zeigt -
einen Bundesstaat forderte. Man fühlte, wie die „Deutsche Zeitung" diese Bestim-
mung glossierte 415 , daß das Wort Reich die Einheit zu ausschließlich ausspreche,· die
Umwandlung des Staatenbundes in einen Bundesstaat ist allgemein angenommener
. Weise die Aufgabe; man fügte also diese Bezeichnung zur Verdeutlichung bei. Das, was
man sagen wollte, drückte aber das Eine Wort Bundesreich in vollständiger Weise
aus. Damit werde der allgemeine Verfassungsbegriff konkret, klinge feierlich und
bezeichne etwas so praktisch, daß man unsere Sprache darum beneiden dürfte. Das
Wort entspricM der Sache darum so vortrefflich, weil es die geteilte und geeinte Natur
dieses förderativen Staates zugleich ausspricht. Im Folgenden wird die ganze Ver-
fassungsterminologie aus dem vorgeschlagenen Oberbegriff abgeleitet, man solle
statt eines am1pruuh1:1vollen Kaisers, der an Cäsaren und Napoleon erinnere, be-
409 WELCKER, Einleitung zu: Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen
schrift über die vom deutschen Bund zu ergreifenden Maßregeln (20. 11. 1847), ebd., 46ff.
412 HUBER, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 621.
664
d) B11nd llDd Reich 1848-lSn
scheiden den Reichsfürsten des deutschen Bundes einsetzen, die beiden Kammern
sollten Bundes- und Reichshaus. heißen usf. So trete man in Sache, in Begriff und
Benennung gleichmäßig in die neue Staatsordnung ein.
Die politisch-semantologische Intervention blieb folgenlos, nur die provisorische
Zentralgewalt des Reichsverwesers wurde für den 'Bundesstaat' eingesetzt418 , aber
die neue Verfassung wurde dem Deutschen Reich gegeben 417 , der Reichstag bestand
aus einem Staaten- und einem Volkshaus; der Bundesbegriff blieb von der Selbst-
benennung ausgeschlossen. Sogar bei der Festlegung des Gebietes auf das Gebiet
des bisherigen deutschen Bundes (Art. 1, § 1) schwebte keine Absicht vor, durch unsere
Bezeichnung das deutsche Reich nur als Fortsetzung des deutschen Bundes erklären zu
wollen 418• War der 'Bund' als politischer Leitbegriff verbraucht, so leistete 'Bundes-
staat' als verfa.ssungstechnischer Ausdruck gute Definitionshilfe. Wie MITTER-
MAIER die Verfassung motivierte 419 : Eine neue Bundesform, die zwischen der Ein-
heitsregierung und der bisherigen Form des Staatenbundes in der Mitte steht ... Die
Form des Bundesstaates entspreche derzeit allein den Verhältnissen und Interessen
Deutschlands. Dieser Bundesstaat beruht auf einer }IR!Trliclten Vereinigung von zwei
Elementen, dem nationalen Elemente der Gemeinsamkeit, und dem Elemente partiku-
larer Eigentümlichkeit . . . Die Bundesgewalt verwirklicht den Nationalwillen, aber sie
i-st beschränkt durch organische Gesetze, welche nach d~m Zwecke der Bundesverfassung
die GTenzen der Macht bestimmen: sie fordert Gehorsam von jedem Einzelstaate, soweit
dies notwendig zur Erreichung des Bundeszwecks ist. Damit war die Frage nach der
Beteiligung der herrschenden Fürsten an der gestifteten Verfassung umgangen.
Reichsgewalt, Reichsgericht und Reichsbürgerrechte zielten auf ein Gesamtinteresse,
dem sich die Einzelstaaten soweit unterzuordnen hatten, als die Einheit forderte.
Die Verfassungsstifter beriefen sich dabei auf eine Fülle von Erfahrungen, die sie aus
Amerika und aus der Schweiz nach dem Sonderbundskrieg verwendet hätten, um
den Bundesstaat zu organisieren420 • Nur jene Form löst die große Aufgabe, die Ein-
heit mit der Vielseitigkeit und der Gliederung ohne Nachteil für die erste zu verbinden.
665
Band IV. 3, Vom 'Staatenb-d' zum '8-deastaat' (1806-1871)
So war das durchgängige Ziel, das System bloßer Negation421, das seit 1815 verfolgt
worden sei, durch ein aktives national-deutsches Reich zu ersetzen, das sich zur
Pflege der allgemeinen Wohlfahrt als Bundesstaat organisiert. Die unüberschreit-
bare Bürde lag in der Einbeziehung Österreichs. Die großdeutschen Kompromiß-
paragraphen422 forderten de facto eine Teilung Österreichs, das mit seiner deutschen
Bevölkerung zum Reich zählen, für die übrigen Landesteile eine eigene Verfassung
und Verwaltung einrichten sollte. Da das Homogenitätskriterium des neuen Bun-
desstaates in der deutschen Nation lag, wurde eine Einheit gestiftet, die durch kei-
nerlei Organisation ganz Österreich erfassen konnte. Das hat die österreichische
Regierung sofort erkannt. Man wende dagegen nicht ein, daß ein solcher.einheitlicher
Staat nicht beabsichtigt werde, daß es sich ja um einen Bundesstaat handele. Wir kön-
.nen jene Behauptung und diese Benennung hierfür gleich wenig gelten lassen . . . Der
sogenannte Bundesstaat, der eben alles andere eher als ein Bundesstaat ist, polemisierte
SCHWARZENBERG weiter, ziele auf einen einheitlichen Zentralstaat und trage infolge-
dessen den Kmm unheilvoller Spaltungen in sich423 . Während der SLaatenbund eine
Doppelhegemonie vertragen und auch übernational sein konnte, schloß der natio-
nale Bundesstaat für Österreich jede Zwischenlösung aus.
Eine solche erstrebte Preußen sehr bald. Schon am 18. März hatte die Berliner Re-
gierung die politische Leitformel geprägt, daß Deutschland aus einem Staatenbunde
in einen Bundesstaat verwandelt werde' 24• Und während der ganzen Revolution hielt
es - im Gegensatz zu Frankfurt und Wien - am Bundesstaatsbegriff fest 425. Aber
im Maß, als Österreich nicht gewillt war, einem nationalen Bundesstaat beizutreten,
suchte Preußen die Lösung eines engeren ·und weiteren Ilundes voranzutreiben. So
wie innerhalb des Bundes der Zollverband nicht gestört habe, heißt es in einer Zirku-
lardepesche (Januar 1849)' 28, so müsse man jetzt zu einem engeren Vereine, zu einem
Bundesstaate innerhalb des Bundes kommen. Vor allem um die Verbindung der uni-
tarischen mit der demokratischen Partei zu bekämpfen, heißt es im Mai 1849, müsse
man die Doppelheit in den deutschen Verhältnissen - auf welcher der Reichtum der
inneren Entwicklungsfähigkeit Deutschlands beruht - durch eine Doppelheit auch in
der Organisation absichern. Die zwei Institutionen, die wir für nötig halten, und zwar,
wie wir bemerken dürfen, nicht nur vom deutschen, sondern vom europäischen Gesichts-
punkte aus - sind der deutsche Bundesstaat und die deutsche Union mit Österreich 421•
In diesem Sinne suchte Preußen nunmehr von oben zusammen mit .27 weiteren
deutschen Ländern die Reichsverfassung- in Anlehnung an das Frankfurter Vor-
u1 Von der Opposition übernommene Formulierung RADOWITZ', Ausg. Sehr., Bd. 2, 49,
wo er die Sehnsucht nach einem, a.n innerer Gemeinschaft wachsenden Deutschland zu
erfüllen als Preußens Mission entwickelt hat (51 f.).
ua Art. 1 der Reichsverfassung vom 28. 3. 1849. Da.zu die zweite Lesung a.m 17. 3. 49;
Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 8 (1849), 5741 ff.
ua SCHWARZENBERG a.n Schmerling, 4. 2. 1849, a.bgedr. HUBER, Dokumente, Bd. 1, 298ff.
u& Patent des Königs wegen beschleunigter Einberufung des Vereinigten Landtags,
a.bgedr. HUBER, Dokumente, Bd.1, 363.
&aa BRIE, Bundessta.8.t, 80 (s. Anm. 231).
ue HUBER, Dokumente, Bd.1, 295.
m Ebd., 422 ff.
666
d) Bund und Reich (1848-lBn) Bund
bild und mit Sukkurs der Liberalen - neu zu stiften (Erfurt, 28. Mai 1849). Aber
der Widerstand Österreichs und der deutschen Mittelstaaten blockierte die Ver-
wirklichung. So entstand erneut ein Spezialverein42 8 - Preußens und vieler Klein-
staaten - von dem aus RADOWITZ langsam einen neuen Bundesstaat zu erbauen
hoffte: Die Gesamtheit derjenigen Staaten, wekhe die Reichsverfassung anerkennen,
bildet den deutschen Bundesstaat unter dem Namen „Deutsche Union"' 29 • Es war der
alte Ausdruck, der nunmehr die Schwundstufe deutscher Einheit bezeichnete, die
aber nach Olmütz der alten staatenbündischen Verfassung von 1815/20 ebenfalls
weichen mußte.
Seit den Debatten über den engeren und weiteren Bund kamen 1848 die anschauli-
chenBezeichnungen 'kleindeutsch' und 'großdeutsch' dafür auf: Sie wurden nach den
Abstimmungsgruppen der Paulskirche schnell zu Parteinamen, die freilich nicht auf
gegenseitigem Gebrauch beruhten, da die „Kleindeutschen" vor dieser pejorativen
Selbstbenennung zurückschreckten4 30.
Aber schlagwortartig waren damit jene Positionen umschrieben, an deren Wider-
spruch der Bund 1866 zerbrach. 1859 entstand der „Nationalverein", 1862 der „Re-
formverein": Seitdem war -wie es die österreichische Regierung 1863 formulierte-
das Bedürfnis einer gründlichenNeugestaltung der Bundesverfassung anerkannt. Unauf-
haltsam habe sich ein fortschreitender Proieß der Abwendung von dem bestehenden
Bunde vollzogen, der Status quo sei schlechthin chaotisch' 31 • Im Kampf um die Bun-
desreform hielt nun Österreich strikt am Föderativprinzip fest, und das hieß: an
einer kollegialen Bundesleitung und indirekt zu wählender Repräsentation. Ein-
richtungen, wie eine einheitliche Spitze oder ein aus direkten Volkswahlen hervorgehen-
des Parlament, passen nicht für diesen Verein, sie widerstreben seiner Natur, und wer
sie verlangt, will nur dem Namen nach den Bund, oder das, was man den Bundesstaat
genannt hat, in Wahrheit will er das allmähliche Erlöschen der Lebenskraft der Einzel-
staaten, er Will einen Zustand des Übergangs zu ef,ner künftigen Unification, er will die
Spaltung Deutschlands, ohne wekhe dieser Übergang sich nicht vollziehen kann432 •
Damit war das Programm des Nationalvereins umschrieben, auf das nun die preu-
ßische Regierung setzte; ihr erschien die Bildung eines Bundesstaats im Staatenbund
mit dem Fortbestehen des letzteren sehr wohl vereinbar' 33 , - aber als dieser Weg diplo-
matisch nicht mehr begehbar war, kam es zum Konflikt, der die kleindeutsche Lö-
sung 1866-1871 herbeiführte.
428 Wenn der Geiat der Nation ala Bundeagenoaae dea Königa aich: erhebt, dann iat der Moment
gekommen, um durch Spezwlvereine zu erreichen, was auf dem Bundeswege unmöglich war.
Dieser Gedanke von RADOWITZ (Ausg. Sehr., Bd. 2, 66) am Vorabend der Revolution
wurde 1849 zum letzten Hilfsmittel, die Einheit unter Preußens Führung zu retten.
429 Additionalakte zur Erfurter Verfassung, nachdem sich die Mittelstaaten entzogen
den Jahren 1848-1849 (Berlin 1937). Wortkritik bei HEINmcH v. TREITSCHKE, Bundes-
staat und Einheitsstaat (1864), Hi8t. u. polit~ Aufs.,. 8. Aufl., Bd. 2 (Leipzig 1921), 95.
431 Denkschr. v. 31. 7. 1863, HUBER, Dokumente, Bd. 2,.117. Dazu TREITSCHKE, Bundes-
staat, 93.
432 HUBER, Dokumente, Bd. 2, 119.
433 BERNSTORFF am 20. 12. 1861, HUBER, Dokumente, Bd. 2, 107.
667
Bund IV. 3. Vom 'Staatenbund' zum 'Bundesstaat' (1806-1871)
Schwerpunktweise setzte sich für die österreichischen Pläne die Bezeichnung Föde-
ralismus oder Föderation durch, pejorativ Particularismus, der von „souveränen
Häuptlingen", Ländern, Stämmen oder von Parteien und ;f>arlamenten v-ertreten
werden konnte. Preußische und nationalliberale Konzepte galten als unionistisch,
zentralistisch u.ä., Anhänger eines preußischen Kaisertums als Oäsarianer, und der
Unionismus (gegen den Dualismus) gewann als Vollzugsbegriff den Sinn der Eini-
gungsbestrebung, die den Ansatz des Partikularbundes überschreitet434 •
Das ganze Sprachfeld war in den sechziger Jahren polemisch durchzogen, und ge-
messen an der Willensbildung politischer Parteien traten verfassungstheoretische
Analysen zurück. Gleichwohl gewann eine Schrift über „Das Wesen des Bundes-
staates" 1853 große Breitenwirkung. Sie stammte von GEORG WAITZ, der sie 1862
in seine „Grundzüge der Politik" aufnahm. Die Erfahrung von 1848 hatte die offene
Frage zurückgelassen, wie monarchische Gliedstaaten in einem nationalen Bundes-
staat zu vereinen seien. Waitz berief sich auf das Vorbild Tocquevilles und dessen
Diagnose der USA, in der die Union als volksunmittelbare Einheit und die konföde-
rierten Staaten gleichwohl als selbständig definiert wurden. So fand Waitz die zug-
kräftige Kompromißformel der doppelten Souveränität. Der Bundesstaat sei, wie
sein Name es sagt, ein Staat. Aber es finde eine zwiefache Organisation des Volkes zum
Staate · statt, teils in Gesamtheit, teils nach selbständigen Teilen . . . Beide, die
Bundesgewalt und die Gewalt der Einzelstaaten, müssen in ihrer Sphäre selbständig
(souverän) sein: diese darf ihre Gewalt nicht von jener empfangen, jene nicht auf Über-
tragung dieser beruhen. Wie auch immer die Kompetenzen abgegrenzt werden soll-
ten, der Gesamtstaat wurde als eine genuine Grqße eingeführt: Die Geschichle kann
immer noch neue Formen erzeugen 435 . Damit führte Waitz' Staatstheorie zurück in
die politische Debatte der sechziger Jahre.
BISMARCK ging in deren Kenntnis besonders behutsam vor. Beim Entwurf der nord-
deutschen Bundesverfassung achtete er darauf, daß sie - im Hinblick auf die süd-
deutschen Staaten - nicht zu zentralistisch bundesstaatlich werde. Man wird sich in
der Form mehr an den Staatenbund halten müssen, diesem aber praktisch die Natur des
Bundesstaates geben mit elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden Ausdrücken.
Als Zentralbehörde wird daher nicht ein Ministerium, sondern ein Bundestag fungieren,
bei dem wir, wie ich glaube, gute Geschäfte machen, wenn wir uns zunächst an das
Kuriensystem des alten Bundes anlehnen43&.
So schien der nationale Staatenbund unter prp,ußischer He1Jemonie nach Ansicht
434 Zahlreiche Belege in: Großdeutsch-Kleindeutsch. Stimmen aus der Zeit von 1815-1914,
hg. v. ADOLF RAPP (München 1922), bes. 191. 260 und bei ERNST DEuERLEIN, Föderalis-
mus, Beilage 5, 13 ff. (s. Anm. 352).
435 GEORG WAITz, Grundzüge der Politik (Kiel 1862), 162. 43 ff. und ders., Das Wesen des
Bundesstaats, Allg. Monatsschr. f. Wiss. u. Lit. (1853), 494 ff. Zum Vorbild der USA
zeitgenössisch EDUARD REDllANN, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika im Über-
gange vom Staatenbund zum Bundesstaat (Weimar 1855; Ndr. Stuttgart 1955); BRIE,
Bundesstaat, 95 ff. (s. Anm. 231); Rm>oLF ULLNER, Die Idee des Föderalismus im Jahr-
zehnt der deutschen Einigungskriege, dargestellt unter besonderer Berücksichtigung des
Modells der amerikanischen Verfassung für das deutsche politische Denken (Lübeck,
Hamburg 1965).
438 ÜTTO v. BISMARCK, Diktat v. 30. 10. 1866, FA Bd. 6 (1929), 167. Vgl. Reichstagsdebatte
v. 11. 3. 1867, ebd., Bd. 10 (1928), 320 ff.
668
d) Bund und Reich (lß4.8-1871) Bund
TREITSCHKES in den Kategorien des Staatsrechts kaum faßbar 437 • Der Norddeutsche
Bund wie das Reich von 1871 waren getragen von der doppelten Legitimation, so-
wohl ein Bund souveräner Fürsten wie auch national-demokratisch begründet zu
sein. Die preußische Hegemonie, nicht zuletzt in der Position des Kanzlers, war die
Klammer dieser Kräfte. Gerade im Bundesrat, als dem föderalen Träger der Souve-
ränität, war die preußische Führung so unaufdringlich wie effektiv. Deshalb ver-
wahrte sich Bismarck ganz entschieden dagegen, dieses Organ, auch nicht nach
1871, in 'Reichsrat' umzubenennen43 B. Es war kein Oberhaus, das eine unitarische
oder parlamentarische Rolle hätte spielen können, sondern das föderale Traditions-
organ, das auf den deutschen Bund zurückverwies, und noch weiter: es vereinte in
ständischer Tradition legislative, exekutive und jurisdiktionelle Aufgaben, die von
den deutschen Regierungen gemeinsam zu leisten waren. Freilich trat der Bundes-
rat in den kommenden Jahrzehnten hinter Kaiser, Reichstag und Reichsgericht zu-
rück - Indiz für die zunehmende Verstaatlichung des Reichs, innerhalb dessen sich
die föderalen Verfassungselemente zu Formen staatlicher Organisation wandelten.
Wie TREITSCHKE in seinem Aufsatz „Bund und Reich" 1874 provokativ formulierte:
die Idee der Föderation sei ein republikanischer Gedanke . . . Unser Reich ist in Wahr-
keit: der die Mehrheit der Nation unmittelbar beherrschende preußisch-deutsche Ein-
heitsstaat mit den Nebenlanden, welche seiner Krone in föderativen Formen unterge-
ordnet sind, oder kurz: die nationale Monarchie mit bündischen lnstitutionen439 . Oder
wie ÜONSTANTIN FRANTZ, der unermüdlich an den föderativen Beruf Deutschlands
appellierte, weil er den Föderalismus als das politische Entwicklungsprinzip der Zu-
kunft ansah, resigniert feststellte: das Reich sei nur :i;10ch ein leerer Name, in Wirk-
lichkeit ziele alles auf einen Staat440 •
Im Bereich der Staatslehre blieb dagegen 'Bundesstaat' - umstrittener - Zen-
tralbegriff der Theorie. Strikte Gegner des Bundesstaates, weil er der Souveränität
widerspreche, waren nur SEYDEL als Vorkämpfer bayrischer Eigenstaatlichkeit und
sein Antipode HELD. Dieser sah in Begriffen wie Fö,deralismus, Föderative, nationale
Staatenverbindungen, zusammengesetzter Staat, Bundesstaat, Staatenbund, Hegemonie
usw. nur Täuschungsmanöver, um die Wirklichkeit zu verhüllen. Held ideologisiert
die Ausdrücke im Horizont einer Geschichtsphilosophie, die den souveränen
Einheitsstaat als Zielpunkt setzt. Es komme darauf an, den großen Gang der Ge-
schichte zu erkennen, die entsprecliende Zukunft zu wollen - eben den Staat - und
bewußt daran zu arbeiten441.
437 TREITSCHKE, Die Verfassung des norddeutschen Bundes (1867), in: ders., Zehn Jahre
deutscher Kämpfe 1865--1874 (Berlin 1874), 194.
438 BISMARCK, Immediatbericht v. 29. 3. 1871, FA Bd. 6c (1935), 1 f.
439 TREITSCHKE, Bund und Reich (1874), in: Zehn Jahre, 581. 579.
44 ° CoNSTANTIN FRANTZ, Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staat-
liche und internationale Organisation, unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland
kritisch nachgewiesen und konstruktiv dargestellt (Mainz 1879), Ndr. u. d. T.: Deutsch-
land und der Föderalismus, hg. v. Eugen Stamm (Stuttgart, Berlin 1921), 215 f.; ders.,
Aufruf zur Begründung einer föderativen Partei, Bll. f. dt. Politik u. dt. Recht NF 1 (1875),
40f.
441 MAx SEYDEL, Commentar zw: Verfassungs-Urkunde für das deutsche Reich (Würzburg
1873), XIV; J osEPll v. HELD, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom staatsrechtlichen
Standpunkt aus betrachtet. Ein Beitrag zu deren Kritik (Leipzig 1872), 187 ff.
669
Bund V. Ausblick
V. Ausblick
Seit der Gründung des deutschen Reiches wurde der Ausdruck 'Bund' - wie ebenso
durch das Aufkommen der Parteien - politisch entschärft und für neue Bedeutungs-
felder freigesetzt. Einige Sektoren der Ausfächerung seien genanil.t:
1. Staatsrechtlich gesehen wurde der Bundescharakter durch die Weimarer Verfas-
sung reduziert. Wie sehr, bezeugt ANSCHÜTZ, der 1924 unter Zustimmung der mei-
sten Staatsrechtslehrer feststellte: Das Reich ist kein Bund der Länder, sorulem,
wenn man an der Denkform 'Bund' noch festhaUen will, der Bund des gesamten deut-
schen Volkes 445• Das gilt potentiell auch für das Bonner Grundgesetz. 'Bund' wurde
zu einem verfassungsrechtlichen Organisationsprinzip. Nach Art. 29 sollen Länder
geschaffen werden, die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Au/-
gaben wirksam erfüllen können.
2. Im historischen Bereich wurde der Bundesausdruck stark gedehnt. Die seit Bodin
üblichen Vergleiche zeitgenössischer Unionen usw. mit den Einungen der Antike
werden seit dem 19. Jahrhundert durch historisch-methodische Untersuchungen
überholt, auch wenn deren Ergebnisse wieder in dogmenhistorische oder weltge-
schichtliche Entwicklungslinien einbezogen werden448. Damit wachsen dem Aus-
druck neue systematische Valenzen zu, die
3. für die Soziologie ScHMALENBACH447 u. a. fruchtbar machen wollten. Schmalen-
bach suchte 'Bund' als früh- und spätzeitliche Kategorie der 'Gemeinschaft' und
der 'Gesellschaft' vor- und nachzuordnen. Er hatte auch den Kreis um Stefan George
im Blick und die bündische Jugend, innerhalb derer
4. 'Bund' zu einem voluntaristischen Aktionsbegriff wurde. Es ist nicht kicht, daB
Wesen des Bundes zu ergründen und scharf zu formulieren, wie ein „Jugendbewegter"
schrieb, der sich auf der Suche „vom Ich zum Wir" befand. Eine quasireligiöse Er-
wartung strömte erneut in den Organisationsbegriff ein. Der Bündische und Das
HEINRICH TRIEPEL, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten (Stuttgart 1938).
447 HERMAN ScHMALENBACH, Die soziologische Kategorie des Bundes, Die Dioskuren 1
(1922), 35 ff.
670
V. Ausblick Bund
Literatur
SIEGFRIED BRIE, Der Bundesstaat. Eine historisch-dogmati1111h11 TTnt1m=nrnhung (Leipzig
1874); ERNST DEUERLEIN, Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grund-
lagen des föderativen Prinzips, Beilagen 1 u. 5 zu: Das Parlament 5 (1968); ÜTTO v.
GIERKE, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde. (Berlin 1868/1913).
REIN.HART KosELLECK
(rechts- u. staatswiBB. DiBB. Greifswald 1934), 25. 114. 82 und zahlreiche weitere Belege._
Der Verfasser sympathisierte mit dem Strasser-Flügel und hoffte auf die zweite Revolution.
" 8 KosT, Bündische Elemente, 107. Auch bei HrrLER offenbar wenig Belege; vgl. Reden und
Proklamationen 1932-1945, hg. v. Max Domarus, 2. Aufi., Bd.1/2 (München 1965), 541.
00 EDUARD BERNSTEIN, Völkerbund oder Staatenbund, 2. Aufi. (Berlin 1919) 15 ff., bes.
15. 17. Vgl. CARL SCHMITT, Die Kernfrage des Völkerbundes (Berlin 1926), 16.
451 CARL J. FRIEDRICH, Trends of Federalism in Theory and Practice (New York, W ashing-
671
Bürger, Staatsbürger, Bürgertum
1. Einleitung. II. 1. Klassisch-griechische Philosophie. 2. Römisches Recht. 3. Einfluß des
Christentums. III. 1. Stadtbürger und Bürgerstand im Mittelalter. 2. Bürger und Unter-
tan in der neuzeitlichen Souveränitätslehre: Bodin. 3. Der tradltionell-aristotelische
Bürgerbegriff im deutschen Reichsrecht des 17. Jahrhunderts. 4. Strukturformen des
Begriffs 1680-1750: Besold, Zedler. IV. 1. Die deutsche Aufklärung: Scheidemantel,
Wolff, Abbt, Lessing, Wieland. 2. Rekonstruktion des traditionellen Bürgerbegriffs:
Justus Möser. 3. Die Genealogie von 'Staatsbürger': Eberhard, Wiela,nd, Klopstock.
4. Kritik und Bewahrung der TI:adition: 'Staatsbürger' und 'Schutz-' bzw. 'Staatsge-
nosse' bei Kant. 5. Der Einfluß der Französischen Revolution. 6. Adel und Bürger-
stand im Ursprung der neuhumanistischen Bildungsidee: Goethe und Schiller. 7. Aporien
des Bürgerbegriffs: Hufeland, Krug, Garve, Feuerbach, Campe, Vollgra:II. 8. 'Bürger',
'Staatsbürger' und 'Untertan' 1790-1830. 9. Das V1irhältniR r.wi1mhf'ln „ Bürger", „Mensch"
und „Privatperson": Hegel. 10. 'Staatsbürge1." und 'Bürger' im Spannungsfeld revolu-
tionö.r-domokra.tischer und konservaLiv-ruillanLhwher Theorie: Buchholz, Muller. 11. Ge-
schichtliche Legitimierung und „soziale" Gegensätze im konstitutionell-liberalen Bür-
gerbegriff: RotteckfWelcker. 12. 'Bürgertum' - 'Staatsbürgertum' - 'Bourgeoisie':
zur Genesis der „bürgerlichen" Klassenterminologie. 13. 'Bourgeoisie' - 'Proletariat':
Marx, Engels. 14. Der Begriff nach 1850: 'Bourgeoisie' - 'Bürgertum' - 'Bür~er'.
V. Ausblick.
I. Einleitung
Das Wort 'Bürger' gehört etymologisch zu 'Burg', das früh auch „Stadt" bedeuten
kann (got. batirgs, altengl. burg, ahd. bur[u]g, mhd. hure). Daher stehen schon ahd.
burga.ri, altengl. burgware, mhd. burgrere, burger .für den „Bewohner einer Stadt".
Ihnen entsprechen germ.-spätlat. burgarius, mlat. burgensis. Diese Ableitung bleibt
für die deutsche Wortgeschichte bestimmend. In den romanischen Ländern, aber
auch in England ('citizen'f'burgess') bilden sich unter dem Einfluß der lateini-
schen Kultur und Sprache bereits im hohen Mittelalter zwei oder mehrere Bezeich-
nungen für 'Bürger' heraus, so im Französischen 'bourgeois' (11. Jahrhundert),
'citoyen' (12. Jahrhundert), 'citadin' (15. Jahrhundert), während der deutsche
Sprachbereich immer nur über ein Wort verfügt1 •
n.
1. Klassisch-griechische Philosophie
Der gemeineuropäische Bürgerbegriff ist vom antiken Stadtstaat aus gebildet wor-
den. Griech. n0Äln1~ und lat. civis standen unmittelbar mit der „Stadt" (n6Ä1~,
civitas) als spezifischer Organisationsform der antiken Welt im Zusammenhang.
Ihr Verbandscharakter, der sie von außereuropäischen (orientalisch-asiatischen)
Gemeinschaftsformen unterschied, wurde von der klassisch-griechischen Philosophie
auf den Begriff gebracht. Nach .ARISTOTELES war die Polis eine Vereinigung von
1 GRIMM Bd.2 (1860), 534:1I.; KLuGEjMrrZKA 20. Aufl. (1967), 111 f.; DUDEN, Etymologie
(1963), 90; GAMILLSCHEG 2. Aufl. (1969), 138. 232.
672
D. 1. .Klassisch-griechische Philosophie Bürger
s Ebd. 1277 b 33 - 1278 a 36. Selbstverständlich wußte .Aristoteles, daß sie in demokra-
tischen oder oligarchischen Verfassungen das Bürgerrecht besaßen; ebd. 1278 a 15 - 21.
43-90385/1 673
Bürger D. 2. Römisches Recht
vom Erwerb des Lebensnotwendigen freie, über ein Haus ( o~o~) gebietende Mann,
„Bürger" genannt werden könne 7 • ·
2. Römisches Recht
Auch der civis Romanus war Bürger des Stadt und Land umfassenden Stadtstaates
(civitas). Römisches Recht und Stadtbürgerrecht waren ursprünglich identisch,
das ius civile war das unter Bürgern geltende Recht 8 • Das römische Recht unter-
scheidet zwischen „status libertatis" (die Menschen sind Freie oder Sklaven),
„status civitatis" (die Freien sind Bürger von Rom oder Nichtbürger) und „status
familias" (~er römische Bürger ist entweder „pater familias" oder „filius familias") 9•
Obwohl der Titel eines „civis '.Romanus" dem Hausherrn und Haussohn gleich-
mäßig zukam, genoß nur der „pater fämilias" die volle (öffentliche und private)
Rechtsfähigkeit; er allein war „homo sui iuris". Der Haussohn, der als Bürge~ an
der Ausübung der öffentlichen Rechte teilhatte, blieb der väterlichen Gewalt unter-
worfen („homo alieni iuris"); das Eigentum, das er erwarb (auch an Frau und
Kindern), gehörte nicht ihm, sondern dem Haus des pater familias. Im Hintergrund
steht das Modell der alten Bürgergemeinde. Seine Fundamente waren die Geschlech-
ter (gcntcs), die aus Freien (patrcs, patricii) und Hörigen (clientcs, plebeii) bestan-
den10. Der Kern der Bürgerschaft (populus, civitas) setzte sich auch in späterer
Zeit aus den freien, über ein Haus gebietenden Geschlechtsgenossen (quirites, später
cives) zusammen. Ihrer Abschließung nach innen, gegen die Auflösung der Haus-
verbände und gegen die Rechtsansprüche neuer gesellschaftlicher Gruppen und
Klassen, entsprach die nach außen. Die unterworfenen Völker und Länder traten
zunächst nicht in den römischen „Staat" (in civitate) ein, sondern nur unter die
römische Herrschaft (in imperio) 11 • Und ferner war, trotz wachsenden Handelsver-
kehrs, die Masse der Fremden (peregrini) vom „ius commercium" des römischen
Bürgers ausgeschlossen. Deshalb trat während des 3. Jahrhunderts v. Chr. neben
das ius civile ( = ius proprium civium Romanorum) das Fremdenrecht des ius gen-
.tium. Von .Anfang an galt es im ganzen Imperium. Erst in spätantiker Zeit wurde
das Stadtbürgerrecht der res publica zum Reichsbürgerrecht des Imperium Ro-
manum erweitert. Seit Caracalla (Constitutio Antoniniana 212 n. Chr.) kamen Titel
und Rechte des civis Romanus, mit Ausnahme einer Klasse der Bevölkerung (der
dediticii), allen „Untertanen" des Reiches zu. Der Begriff des Untertanen (sub-
ditus, subiectus) wurde jetzt, da der Unterschied zwischen Bürger und Nicht-
bürger an Bedeutung verlor, geprägt, besonders im oströmischen Reich (Byzanz) 12•
Reste der alten Ausschließungen (gegenüber Sklaven, Beisassen, Hörigen) bestanden
freilich weiterhin fort.
674
D. 3. Einflall des Chriatmtmm Bürpr
675
m.
1. Stadtbürger und Bürgerstand im Mittelalter
Entscheidend für die Umgestaltung des Begriffs war die Entstehung eines neuen
Typs der Bürgergemeinde im mittelalterlichen Europa. Seit dem 11. Jahrhundert
bildeten sich inmitten der ländlich-herrschaftlichen Gesellschaft die Städte als
genossenschaftliche Verbände freier Männer (= 'Bürger') heraus, die kraft eigenen
Rechts (Privileg) der Welt der Grundherrschaft gegenübertraten. Der griechische
noÄlTT}t; und der civis Romanus waren in der Regel Grundherren, die von der Arbeit
der Nichtbürger (Sklaven, Metöken) lebten. Die Bürger der mittelalterlichen Städte
hingegen waren vorwiegend Kaufleute und Handwerker. Gewerbe und Handel,
die das antike Bürgertum von sich ausschloß, wurden hier in den RiiTger-
begri:ff aufgenommen. Die Arbeit war nicht nur (unter dem Einfluß des Christen-
tums) als berechtigt anerkannt, sondern konnte sich unter dem Schutz eines
herrschaftlich gesicherten Friedensbezirks in einem vorher nicht gekannten Aus-
maß entfalten.
Freilich hat sich der Gewerbebürger (Handwerker) das Bürgerrecht oft erst erkämp-
fen müBBen. Die Rechtsverhältnisse der mittelalterlichen Städte ähnelten nicht
selten denen der antiken Stadtgemeinde. Am Anfang überwog der Rechts- und
nicht der Standesbegriff des Bürgers. Nur das vollberechtigte Glied der Bürgerschaft
konnte diesen Titel beanspruchen. In einigen Städten (auch Nordew:opas) bestanden
die Gemeinden, z. T. bis zum Ausgang des Mittelalters, aus „Rittern und Bürgern";
auch galten die Bürger vielfach als rittermäßig und lehensfähig und erwarben
a4elige Güter 21 • Der Rechtsbegriff des Bürgers erwies sich als sehr vielschichtig und
von Stadt zu Stadt verschieden. Voraussetzung für das Bürgerrecht bildete der
Besitz von Grund und Haus in der Stadt, eines „Erbes". In seinem Haus war der
Bürger „ Wirt"; Familie und Gesinde standen unter seiner Herrschaft und seinem
Schutz. Der vollberechtigte 'Bürger' unterschied sich vom „Inwohner" (= Bei-
sassen), der dauernd in der Stadt ansässig und tätig war, und von den nur vorüber-
gehend ansässigen „Gästen" (=Fremden). Doch konnten die Gäste auch zu „Mit-
bürgern" und damit denen gleich werden, so in der statt erboren sind 22 • Dazu kam,
daß sich auch innerhalb der vollberechtigten Bürgerschaft die rechtsfähigen Ge-
schlechter als 'Bürger' im engeren Sinne von der „Gemeinde" abheben konnten2 8 •
21 Hierzu und zum Folgenden ÜTTO BRUNNE&, Land und Herrschaft, 5. Aufl. (Wien 1965),
349 ff.; ders., Stadt und Bürgertum in der europäischen Geschichte, in: ders., Neue Wege
der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. (Göttingen 1968), 213 ff.; FRANZ STEINBACH,
Studien zur Geschichte des Bürgertums, Rhein. Vjbll. 13 (1948), 11 ff.; 14 (1949), 35 ff.;
28 (1963), 1 ff.; vgl. auch WILHELM ARNOLD, Verfassungsgeschichte der deutschen
Freistädte, Bd. 1 (Hamburg, Gotha 1854), 240 ff.
22 M.ul.ER (1561), 291 b: Mitburger /Ein frömbder der statt freyheit genoß unnd zu einem
burger angenommen / der statt und deß landa raeckt und beschwaerden teilhafftig / gleych wie
die so in der statt erboren sind.
23 Vgl. den Gegensatz zwischen Ober- und Unterschicht ('popolo gra.sso/minuto') in den
italienischen Städten. Bei THOMAS VON AQUIN werden optimates, populus honorabilia und.
676
m. 1. S1adlLürger uud Bürgent.aod im Mittelalter Bürger
miia populus (S. th. 2, qu. 108, art. 2 c), bei MA.RsILius VON PADUA (Defensor pacis 1, 5, 1)
honorabiZif.a& (Priesterstand, Adel, Juristen) und multitudo vulgaria (Dauern, Handwerker,
Händler) einander gegenübergestellt. Vgl. WILHELM SCHWER, Stand und Ständeordnung
im Weltbild des Mittelalters; 2. Aufi., hg. v. Nikolaus Monzel (Paderborn 1952). Vgl. auch
JEAN CHARLES Ll!:ONARD SIMONDE DE SISMONDI, Histoire des republiques italiennes du
moyen age, t. 5 (Paris 1809), 377. Ferner FRIEDRICH KARL v. SAVIGNY, Geschichte des
römischen Rechts im Mittelalter, 2; Aufi., Bd. 3 (Heidelberg 1834), 105 ff.
H FREIDANK, Bescheidenheit 27, 1: gebUre, ritter und pfaffen.
25 Vgl. MARTIN LUTHER, Der Heubt Artikel des Glaubens (1533), WA Bd. 37 (1910), 37.
28 Oberpfälzische Landesordnung (1599), zit. RWB Bd. 2 (1932), 599 f.
27 Monument& historiae Warmiensis (1349), zit. RWB Bd. 2, 600. Vgl. den „Schwaben-
spiegel" (um 1276): daz htizzet bur(/e"eht, awaz ein i,glick Bf,a,t ir selber ze rekte aezzet mit ir
kunges .•. willen, zit. RWB Bd. 2, 608.
28 MA.A.LER (1561), 83 a.
2 9 Zum Herrenstand ( = Adel) gehörten am Anfang auch die Stadtbürger, soweit sie ritter-
mäßig waren und adlige Güter auf dem Lande erwarben; vgl. BRUNNER, La.nd und Herr-
677
Bürger llL 2. Neuzeitliche Souverlaitätalehre
liehe" Stand ging hier noch ganz in der politischen Standschaft auf. Dabei spielte es
zunächst keine wesentliche Rolle, daß er zu dieser Zeit auch unter der Bezeichnung
'Volk' auftreten konnte. Das recht undifferenziert gebrauchte Wort umfaßte in der
Regel alle nicht zu Adel und Geistlichkeit gehörigen Stände (tiers etat), mußte also
nicht mit dem städtischen „Bürgerstand" identisch sein80•
Die Ansätze eines spezifisch neuzeitlichen Bürgerbegriffs haben sich während des
17. Jahrhunderts im Umkreis der Staatslehre ausgebildet. Die Theorie der Herrscher-
souveränität (Bodin) suchte die ältere „Obrigkeit" zur „Staatsgewalt" zu steigern,
die als alleinige Quelle des Rechts gelten sollte. Sie. drängte damit die Idee einer
über Herrscher und Volk stehenden natürlichen Rechtsordnung (le:x: naturalis)
zurück, die noch dem scholastisch-aristotelischen Begriffsverhältnis von civis und
sooiotas civilis zugrunde gelegen hatte. Danach war die bürgerliche Gesellschaft als
Ganzes früher als ihre Teile, die Bürger, gewesen, die ihrerseits als selbständige
Glieder des politischen Ganzen betrachtet wurden. In mannigfachen Brechungen
lebte diese Lehre auch im 17. Jahrhundert weiter, wurde aber nun bestritten, ja
heftig hekii.mpft.. Ar.hon hei RomN richt.f'lt.P. sich der Souve.ränitätsbeg.riff gegen die
traditionellen Societas- und Civis-Vorstellungen31• Die Auszeichnung der „Respu-
blica" vor allen anderen Gesellschaftsformen, das Merkmal der „summa potestas",
hatte zur Folge, daß die Bürgergemeinde (civitas) aus dem Zentrum der politischen
Theorie rückte. Durch die Unterordnung unter die absolute Herrschersouveränität
(summa potestas imperii) verwandelte sich ihr einstiger Träger, der 'Bürger' (civis),
nicht nur in den 'Untertan' (subditus), sondern wurde gleichzeitig zum 'Stadt-
bürger' (civis urbanus, bourgeois) herabgesetzt32 • Das war das eigentlich Neue an
der Bodinschen Theorie; der Bürger als Mitglied der Stadtgemeinde trug im Unter-
schied zum Bürger als Mitglied des „Staats" den Namen des 'bourgeois'. Auch
hiex, wie überhaupt im 16./17. Jahrhundert hatte dieser Name einen zunächst
politisch-rechtlichen Gehalt; es war der für den freien Stadtbürger gebräuchlich
gewordene Rechtstitel33• Soweit er aber mit der Scheidung von souveränem „Staat"
und Bürgergeineinde zusammenhing, artikulierten sich darin diejenigen Momente,
auf deren Wechselwirkung fortan die Geschichte des neuzeitlichen Bürgerbegriffs
beruhte. Denn dem 'civis urbanus' oder 'hourgAOis' Ata.nd bereits der 'civis' oder
echaft, 407 :ff. Die von Adel und Geistlichkeit beherrschten Städte wurden von diesen
schon mit „repräsentiert" (in Deutschland die Land· und BietUDlBBtädte, im Unterschied.
zu den freien Reichsstädten, civitatee imperiales liberae).
ao Vgl. Relations des a.mbaeeadeure Vemtiene, M. N1000LO TOMMASEO, t. 2 (Paris 1838);
496. '
81 Vgl. die Aristoteles.Polemik bei Bonnr, De republica. I, 6, 3. Aufl. (Frankfurt 1594), 76f.
81 Ebd., 76: civi& urban'U8 i8 eat, qui urbia, moenib'UB ac aedificii& e<mtinetur. Vgl. hier auch
den Hinweis, daß es eich bei der Unterscheidung von 'respuhlfoa' und 'civitae' um neu
eingeführte Begriffe handle: aed quia nenw liacten'U8 .•• ki& defi,nitionib'U8 'U8'U8 eat.
88 Vgl. M. C.urABD, Essai de eemantique. Le mot 'bourgeoiB', Rev. de philol. fran93ise 27
(1913), 33.
678
m. 3. Reichsrecht des 17. Jahrhunderts Bürger
'oitoyen' gegenüber 34• Beide Begriffe fielen bei Bodin al110 noch auseinander. Die
Idee einer notwendigen Verknüpfung durch ein und dasselbe Subjekt (den „Men-
schen"), wie sie uns am Ausgang des 18. Jahrhunderts begegnet, war Bodin fremd.
Ursache dafür dürfte der Traditionalismus gewesen sein, dem sein Bürgerbegriff
letztlich verhaftet blieb. Denn der 'citoyen', der auf der einen Seite den späteren
'Staatsbürger' (im· Unterschied zuni 'Stadtbürger') schon in sich enthielt, setzte
auf der anderen noch immer die klassisch-griechische wie römisch-rechtliche Vor-
stellung des selbständigen Hausherrn voraus, der als freier Mann und Herrschafts-
träger in die Gemeinschaft der Freien eintrat35•
Bei Bodin zeichnete sich die Tendenz des modernen Staates ab, den für die alte
bürgerliche (in moderner Begriffssprache: feudale) Gesellschaft charakteristischen
Unterschied zwischen unmittelbaren ( = Bürger) und mittelbaren „Untertanen"
(= Inwohner, Beisassen, Hörige, Knechte, Lohnarbeiter usf.) aufzuheben. Indem
der Begriff des Bürgers durch den des „Untertanen" definiert bzw. die Unterwer-
fung unter die höch11te Gewalt zu seinem Merkmal wurde, setzte die ncWJcitlicho
Souveränitätstheorie die bürgerlich-herrschaftlich durchformte „Gesellschaft" .zU
einem einheitlichen Untertanenverband herab. Das entsprach im allgemeinen der
politischen Praxis des 17. Jahrhunderts - auch in Deu~chland, wo die Zuordnung
von Untertan und Herrscher auf dem Wege über die landesfttrstlichen Territorien
erfolgte. Doch verhindert hier die Zugehörigkeit des Landesfürsten zum politi-
schen Verband des Reiches, daß sich die absolutistischen Tendenzen voll entfalten.
Auf dem Boden des „Heiligen Römischen Reiches" war zu dieser Zeit die „altstän-
dische Gesellschaft" noch einigermaßen intakt, und so kam es hier zu Versuchen,
den traditionellen Bürgerbegriff gegen seine Neubestimmungen auszuspielen.
In der Mitte des 17. Jahrhunderts definierte CELLARIUS im Anschluß an ARNISAEUS
den 'civis' als socius civitatis, qui jurium illius et immunitatum particeps est 88 • Man
sieht leicht, daß es sich hier nicht um die Zuordnung des Bürgers ( = Untertanen)
ZUIQ Souverän, sondern um seine Teilhabe an Rechten (Privilegien) und Frei-
heiten (lminunitäten) handelte. Der so verstandene, im Prinzip traditionell-aristote-
lische Bürgerbegriff wo.r duroho.us geeignet, die "Vielfalt der ständisch-herrschaft-
lichen Rechts- und Gesellschaftsverhältnisse zu bezeichnen. Prout ootem, sagte
Cellarius, immunitates ratione diversarum Rerumpublicarum postea variant: ita et
cives variare solent37 • Deshalb ließ er sich prinzipiell auf alle gesellschaftlichen
679
Bürger m. 3. Reichsrecht des 17. Jahrhunderts
38 Ebd., 77.
89 M:rcHA.EL PiccARD, Commentarium in libros politioos Aristotelis, 2. Aufl. (Jena 1659),
34lff.
&o CRISTOPH Wi:LHELM BLUME, Exercitatio de Germanici imperii civibus (Helmstedt 1641),
3. Vgl. auch GEBHARD THEODOR MEIER, In Aristotelis Politica ana.lysis (Helmstedt 1668),
194.
41 AUGUST MlLAGIUS, De cive et civitate in genere (Helmstedt 1653), 1: Pri~ autem civia
nomine vulgo venit omnia 8UbditU8: Quo spectant ii, qui civem per subjectionem definiunt, et
Bod. I de Republ. 6 et alii.
42 BLUME, Exercitatio, 3. Vgl. M:lLAGros, De cive, XXXV; MEIER, Analysis, 192.
680
m. 4. Strukturformen des Begriffs 1680-1750 Bürger
Übcrbliokt mnn dio vornohiedenen Bedeutungen, die dem Wort 'Bürger' zukommen
konnten, so heben sich aus der Vielzahl der möglichen Bedeutungswerte die folgen-
den heraus. Es bezeichnet 1) den Stadtbewohner, 2) das Mitglied des bürgerlichen
Standes im Unterschied zum Geistlichen- und Adelsstand (oder auch zum Bauern-
stand), 3) den Staatsuntertanen uml 4) Jen Menschen in seiner spezifischen Qualität
als 'Bürger'. Diese vier Momente, die zusammengefaßt den Sinn von 'Bürger' im
13. Obwohl Pufendorf in der Regel von „cives aut subditi" spricht, kannte er noch kein
allgemeines Sta.a.tsbürger- oder Untertanenverhältnis, wie er deutlich in De jure nat. 1, 1,
12 zeigt: alius est civis, pleno aut minus pleno iure,· alius inqui"linus, alius pereyrinus. Femer
unterschied Pufendorf noch immer zwischen Bürger im engeren (= patresfämilias) und
weiteren (= subditi) Sinne. Vgl. ders., De off. hom. 2, 6, 13: Etsi pressius illi quibusdam
dum taxat cives soleant dici, quorum coitione et eon&enau primo civitaa coaluit, aut qui in
korum locum successerunt, nempe patresfamilias.
681
Biirger lll. '- Strukt.iormea dea Bepiffa 1680-1750
18. Jahrhundert konstituierten, lassen sich nun ihrerseits in ver~chiedene, oft ältere
Bedeutungskomponenten zerlegen. Was den 'Stadtbürger' anbelangt, so haben wir
e13 noch am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert in der Regel mit mittelalter-
lichen Redeweisen zu tun. Man vergleiche etwa BESOLDS „Thesaurus Practicus"
(1679), Art. Burger / Burgerrecht /zum Burger aufnehmen: Oives alii kereAlifAlri·i,
Erbgesessene Burger / alii novitii, Einkömmlinge / quidam, PaJ,ricii, ex· praecipuis
familiis, caeteri plebei. Ferner wurde der Begriff nach Stand (status) und Beschaffen-
heit (conditio) untergliedert: hinc certi sunt ordines, gewisse Stände in OivitaJ,ibus.
Ihren Namen erläuterte Besold am Beispiel der Hansestädte (Lübeck): der obriste
oder erster/ der mittelste oder andere/ der dritte oder unterste Stand 41• Die Stadtbürger
waren entweder gemeine Burger und Handwerker oder Kauf- und Gewerbsleute oder
andere, so in Rai, von Geschlechtern oder Stand sein' 8 • Obwohl einerseits darauf ver-
wiesen wurde, daß auch „Einwohner" im Bürgernamen inbegriffen waren, machte
man andererseits doch einen genauen Unterschied. Die „incolae" gehörten noch
immer zur Klasse der 'Pfalburger', die hier unter dor Bezeichnung 'Pactburger'
auftreten - qui sub certa et denominata pensione annua, vel censu, vel ad certum
tempus recepti, et nihil aliud sunt, quam incolae . . . Et dicuntur Schutz- und Schirms-
verwandte&11. Ausdrücklich wurde hervorgehoben, daß der Name eines 'Bürgers'
nicht nur den Stadtbewohnern, sondern auch denjenigen zukommen könne, die
11nt11r einer geistlichen Herrschaft oder Grafschaft leben60,
In ZEDLERS „Universal-Lexikon" (1733) bezog sich der 'Stadtbürger' auf den
Untertan ( = '.Bürger') einer 'Republik' (= Staat); ilie Stadt ( = bürgerliche Gesell-
schaft) trat, unabhängig davon, welche „Immunitäten" sie besaß, unter die Ober-
hoheit des Landesherrn: Kann also diverso respectu einer ein Bürger und Untertan
sein, ei_n Bürger nach der biirgerUchen Societät, ein Untertan aber raJ,ione Rcipu-
blicae51.
Aus dem Zusammenhang geht nicht klar hervor, ob Zedler tatsächlich, wie es den
Anschein hat, den Begriff der 'bürgerlichen Societät' auf die Stadt einschränkte.
Denn gleichzeitig unterschied er auch innerhalb der 'Republic' 'Bürger' und 'Unter-
tanen' : Und differieret proprie loquendo von einem Untertanen. Denn dieses Wort ist
etwas weitläufiger als ein Bürger, und übertrifft ein Bürger einen Untertanen an der
Würde und Freiheiten. Es gibt viel Untertanen in einer Republic, die Güter darinnen
besitzen und doch keine Bürger sind. Docli ka·Mb c·i1w Pi"fson ein Bürger und zugleich
Untertan sein62 •
62 Ebd., Bd. 49 (1746), 2253, Art. Unterthan: Untertanen, lat. subditi, heißen alle diejenigen,
wekhe einer Obrigkeit unterworfen und deren Gesetzen und Be/elilen zu gehorchen verbunden
682
IV. 1. Die deutscht'I Aufkllmng Bürger
IV.
Die Entstehung des modernen „Bürgertums" ist geschichtlich mit der Ausbildung
eines einheitlichen Untertanenverbandes in der Epoche des Fürsten- und Staats-
absolutismus verbunden. Während des Mittelalters konnte weder der Begriff des
Bürgers noch der des 'Untertanen' allgemein zur Geltung gelangen. Die Städte
hatten 'Einwohner', die keine 'Bürger', die Territorien 'Bürger' ( = Stände des
Reichs), die keine 'Untertanen' waren. Diese Verhältnisse, ilie in DeuLllchland noch
lange vorherrschten, wurden durch die Regierungspraxis und -theorie des aufge-
klärten Absolutismus vereinfacht, wenn auch noch nicht gänzlich aufgehoben. So
standen nach der Mitte des 18. Jahrhunderts in den größeren Staaten des Reiches
(Preußen und Österreich) Souverän und Untertanen einander gegenüber; die staat-
liche Relativierung hatte eine Tendenz zur Gleichheit im Verhältnis der Untertanen
untereinander und zum Herrscher zur Folge. Sie bildete die äußere Voraussetzung
dafür, daß der Begriff des 'Bürgers' erweitert und potentiell auf alle 'Untertanen'
eines 'Staates' ausgedehnt werden konnte.
Der damit einsetzende Strukturwandel ging von der Bildung neuer Gegensatzpaare
aus, deren bekanntestes das franz. 'bouigeois'/'citoyen' war. An ihm wird deutlich,
daß der Begriff nach 1750 eine andere Basis erhielt. Es gehört zu den Kennzeichen
des ausgehenden 18. Jahrhunderts, daß es, nachdem der klassische Bürgerbegriff
Bind. Das Wort Bürger ist bisweilen eben das: es M.t aber 'IWCh andere Bedeutungen. Wichtig
ist hier die Unterscheidung der Untertanen in .Ansehung ihrer „Untertänigkeit" - da man
sie eingeteilt in unmittelbare Untertanen, welche unter niemand anders als unter dem Regenten
stehen; und mittelbare, die andern Untertanen unterworfen sind (ebd.). Vgl. HERMANN Bd. 1
(1739), 196 f.: Bürger: übertrifft Untertan an der Würde und Freiheiten. Es gibt viele Unter-
tanen in einer Republik, die Güter darinnen besitzen und doch keine Bürger sind; wörtlich
auch bei ZEDLER Bd. 4, 1876.
68 ZEDLER Bd. 4, 1875 ff. Vgl. HEBJIUNN Bd. 1, 196 f.
H ZEDLER Bd. 39 (1744), 1097, Art. Stand. Vgl. auch ebd„ Bd. 49, 2254, Art. Untertan.
683
Bürger IV. I. Die deubche Außdirung
nun in breitem Umfang rezipiert war, sich seines Abstands zur antiken politischen
Terminologie bewußt wurde. Das war eine gemeineuropäische, nicht nur auf Frank-
reich beschränkte Erscheinung. Der. Rezeption mißlang allerdings die Applikation
auf die neuen historisch-politischen Realitäten der Epoche: den Territorialstaat,
den Untertanen, den Stadtbewohner, die Staats-Wirtschaft. Das läßt sich an der
zeitgenössischen Reflexion über die Problematik des Bürgerbegriffs im einzelnen
nachweisen. Am weitesten ging RoussEAU mit seinem Vorschlag, Wörter wie
'Bürger' (citoyen) oder 'Vaterland' (patrie) ganz aus dem modernen Sprachgebrauch
zu streichen. Im „Emile" (1762) erschien unter dem Begriff 'bourgeois' der Mensch
unserer Tage, der weder ganz 'homme' noch ganz 'citoyen' war 66. Die Städte des
gegenwärtigen Frankreich, sagte DrnEROT zum gleichen Thema, seien voll von
'Bürgern' (bourgeois), doch gäbe es unter diesen nur wenige, die man 'citoyen'
nennen könne6&.
Im weniger radikalen Denken der deutschen Aufklärung, wo man die sprachlich
leichtere Differenzierungsmöglichkeit zwischen 'bourgeois' und 'citoyen' nicht
kannte, mußte man sich mit Hilfsdefinitionen begnügen. Man stand der begrifflich
schwierigen Aufgabe gegenüber, den faktisch apolitisch gewordenen Stadtbürger
und den Bürger(= Untertan) des Fürstenstaates mit dem einen, allein zur Verfü-
gung stehenden Wort wiederzugeben. So hob der sprachpolitisch einflußreiche
ScHEIDEMANTEL (1782) den Bürger nach besonderer Bedeutung von dem Bürger in
allgemeiner Bedeutung ab. Zu dieser gehörte ihm der 'Bürger' als Mitgz.ied des Staats
(civis), wobei der älteren Überlieferung zufolge selbst der Monarch als erster Bürger
seiner Nation erschien67 . Unter der besonderen Bedeutung verstand Scheidema.ntel
das Mitglied der Stadtgemeinde, den Ortsbürger und damit den Bürgerstand im
Unterschied zum Adels- und Bauernstand68.
Das eigentliche Problem.aber lag im Verhältnis von Bürger und Untertan, das
weder in der „allgemeinen" noch in der „besonderen" Bedeutung voll enthalten
war: Es ist auch ein wichtiger Unterschied zwischen Bürger und Untertan. Man findet
Untertanen, die keine Bürger sind, z. B. Fremde oder Knechte; andere sind zugleich
Bürger. Hingegen gibt es Bürger, die nicht Untertanen sind, z.B. der Monarch 59 • Das
1773), 339.
67 ScHEIDEMA.NTEL Bd. 1 (1782), 439. Vgl. HEINR. GOTTFRIED SCHEIDEMA.NTEL, Das all-
gemeine Staatsrecht überhaupt (Jena 1775), 208; ähnlich bei GOTTFRIED ACHENWALL, Die
Staatsverfassung der heutigen vornehmsten europäischen Reiche und Völker im Grund-
risse (Göttingen 1752), 5, der daralif hinwies, daß der Landesherr nicht außerhalb der Bür-
gerschaft stehe, sondern selbst als der vornehmste Bürger der Republik (civis eminens) mit
darunter begriffen werde.
68 SCHEIDEMA.NTEL Bd. 1, 439.
69 Ebd., 439. Die Würde und Größe des Namens 'Bürger' liegt in der historischen Erinne-
rung beschlossen: Wir wollen 'TWCh die Anmerkung beifügen, daß ehedem mächtige Fürsten
und Herren das Bürgerrecht angenmnmen haben. Wie groß war nicht die Ehre, ein Römischer
Bürger zu sein? Viele Könige waren stolz auf diesen Titel. Noch jetzt ist der König von Frank-
reich Bürger in der Schweiz (ebd.; 441).
684
IV. 1. Die deutsche Aufklärung Bürger
Verhältnis von Bürger und Untertan komplizierte sich dadurch, daß im deutschen
Territorialstaatsrecht die Stellung des Menschen sowohl nach den Grundsätzen der
absolutistischen Doktrin als ~ach denen der älteren Lehre vom 'Gemeinwesen' (res
publica) bestimmt wurde. Die Konsequenz der neuen Doktrin: daß nur der Herr-
scher ein (rechtsfähiger, weil -gebender) 'Bürger' im engeren Sinn zu nennen wäre,
während die ihm Unterworfenen 'Untertanen', aber keine 'Bürger' sein könnten,
lag bei Scheidemantels Konstruktionsprinzip nahe; aber faktisch bildete die Bürger-
vorstellung der alten bürgerlichen Gesellschaft (die 'Hausherrschaft') das geschicht-
liche Gegengewicht; die absolutistische Tendenz ging nur so weit, daß alle im „Staat"
befindlichen Personen dem Titel nach 'Untertanen' waren, ohne schon damit des
Prinzips der bürgerlichen Rechtsgleichheit teilhaftig zu sein: Alle wirklichen Mit-
glieder des Staats werden Bürger im allgemeinen Verstande genennet, und wiil das
Subjekt, welches die Majestät hat, das vornehmste Glied der Gesellschaft ist, so kann es
sich auch zugleich den Namen des Bürgers beilegen; Untertan aber ist ein jeder, welcher
den höchsten Befehlen des Regenten gehorchen muß 60.
Damit war der Bürgerbegriff auf dem Weg, sich in den „Staatsbürger" einerseits,
den „Privatbürger" (= Untertanen) andererseits aufzulösen. Man sieht jedoch
leicht, daß hier die Aufeinanderbezogenheit und Entgegenstellung der Begriffe aus
älteren geschichtlichen Grundlagen herauswuchs. Diese den deutschen Verhältnissen
eigentümliche Problematik ist bei CHRISTIAN WoLFF gut erkennbar. In den „Ver-
nünfftigen Gedanken vom gesellschaftlichen Leben der Menschen" (1721) definierte
Wolff auf der einen Seite das 'gemeine Wesen' als Zusammenschluß vieler 'Häuser':
die Kontraktfähigkeit innerha.lb rle::1 geselhmhaftlichen Grundvereins war abhängig
von der Herrschaft über ein Haus. 'Knechte', 'Hausgesinde' und 'Lohnarbeiter'
waren Bestandteile dieser Herrschaftssphäre, d. h. sie gehörten nicht - als 'Bürger'
- zum 'gemeinen Wesen' 61 • Auf der anderen Seite waren auch die Bürger der
Macht und Gewalt der hohen Landesobrigkeit unterworfen, die auf den Landtagen
versammelten 'Stände' mehr oder weniger Befehlsträger des Herrschers, 'Obrig-
keiten' und 'Untertanen' die beiden Pole das 'gemeinen Wesens'6 2 • Gleichwohl blieb
'Bürger' bei Wolff ein Traditionsbegriff, an dem z. B. auch das wesentlich später
(1740 ff.) verfaßte „Naturrecht" festhielt: Membra civitatis, seu singuli, qui socie-
tatem civilem ineunt, dicuntur cives 63 . Die „einzelnen" waren nicht die Individuen
der modernen „bürgerlichen Gesellschaft", auch nicht die dem „Staate" untertanen
Personen, sondern diejenigen, welche - als 'Bürger' - die einzelnen „Häuser"
repräsentierten. Dabei scheint Wolff durchaus zu wissen, daß man den Begriff auch
in anderem Sinne gebrauchen konnte. Er hielt ihn für einen Kunstausdruck (termi-
nus technicus), den er nicht habe restringieren wollen, weil er in dieser Bedeutung
schon lange angenommen sei. Seine Gegenbegriffe waren 'Fremder' (peregrinus)
60 H. G. ScHEIDEMANTEL, Das Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten der vornehm-
sten Völker betrachtet (Jena 1770), 41; vgl. ders., Allgemeines Staatsrecht, 207.
61 CHRISTIAN W OLFF, Vernünfftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Men-
schen (Frankfurt, Leipzig 1736), Bd. 1, 116; Bd. 2, 162 f.
82 Ebd., Bd. 2, 173. 470 f. 507 ff.
83 Ders., Jus naturae methodo scientifica pertractatum, t. 8 (Halle, Magdeburg 1748), 6.
685
Bürger IV. 1. Die deutsche Auftliirung
und 'Einwohner' (incola), nicht 'Untertan' ( !) und nicht 'Stadt-' oder 'Standes-
bürger'H.
Die eigentümliche Problematik, die den deutschen Bürgerbegriff nach der Mitte des
18. Jahrhunderts erfaßte, hatte ihre Ursache auch darin, daß sich auf dem zerklüf-
teten Boden des alten Reiches ein eigenständiges Bürgerbewußtsein kaum ausbilden
konnte. Statt dessen wurde der spätantike Begriff des 'Weltbürgers' zum Mode- und
Schlagwort der Aufklärung 86 • Er wurde teils dem Himmelsbürger 66 , teils dem 'Patri-
oten' und 'Stadtbürger' entgegengesetzt. In gewöhnlicher Bedeutung bezeichnete
'Weltbürger' oder 'Kosmopolit' einen Menschen, der nicht seßhaft war, so bei
WIELAND (1756): er ist aber auch kein bloßer Kosm<Ypolite wie ich, sondern ~n einer
Reichsst<dt in Schwaben seßhaft67 • Daneben hatte das Wort im 18. Jahrhundert auch
einen ausgesprochen polemischen Sinn, der gegen die „Fürstendiener" und „Unter-
tanen" der Zeit gerichtet war: Ich schreibe als Weltbürger, der keinem Fürsten dient,
erklärte SCHILLER in der Ankündigung der „Rheinischen Thalia" (1784). Frühe
verlor ich mein Vaterland, um es gegen die große Welt auszutauschen68 •
Daß es in Deutschland kein Reichsbürgerbewußtsein gab, beklagte TH. ABBT (1761):
Was für einen Mann will denn der Herr von M. (Moser) haben? Den Weltbürger?
Dieser wird unstreitig allen Menschen Guts wünschen und so viel an ihm liegt, ihr Wohl
befördern. Den deutschen Bürger? Er muß erst ein deutsches Interesse feststellen, an
dem alle Untertanen der verschiedenen Prinzen in Deutschland nach gemeinschaft-
lichen Gesetzen und Verbindlichkeiten Anteil nehmen können 69 • Der „Weltbürger"
stand über dem „Patrioten", der sich mit der Enge einer Stadt, seines „Vater-
landes" begnügte. Vielleicht zwar, schrieb LESSING 1758 an Gleim, ist auch der Pa-
triot in mir nicht ganz erstickt, obgleich das Lob eines eifrigen Patrioten, nach meiner
Denlcungsart, das allerletzte ist, wonach ich geizen würde; des Patrioten nämlich, der
mich vergessen lehrte, daß ich ein Weltbürger sein sollte 70 • Doch wurde die Vorlie-
be der Zeit für den „Weltbürger" auch negativ bewertet; J. G. SCHLOSSER sprach
von dem J edermannsbürger, der wie ein J edermannsfreund sei7 1, und WIELAND von
Weltbürgerei. Nach Wieland war sie nicht nur eine Flucht vor der Wirklichkeit des
deutschen Staatslebens, sondern das Produkt des absolutistischen Regierungssy-
stems, das Bürgertugenden überflüssig machte: Weil wir ohne Nerven sind, und in
dem Staate, worin wir zu leben die Ehre haben, auch keine nötig haben, sondern
Drahtpuppen, nervis alienis moltilia z.iyna sind, schwingen wir uns aber die ...
Bürgertugenden hinweg und schwatzen von allgemeiner Weltbürgerschaft 72 •
H Ebd. 1, 6-8.
86 Vgl. WILHELM FELDMANN, Modewörter des 18. Jahrhunderts, Zs. f. dt. Wortforschung
6 (1904/05), 345 ff.
88 CHRIBTHOLD, Geistliche Andachten (Leipzig 1729), 670.
8 7 C. M. WIELAND, Ausgewählte Briefe, Bd. 1 (Zürich 1815), 235.
88 Vgl. SCHILLER, Rheinische Thalia, .Ankündigung (1784), SA Bd. 16, 136.
89 THOMAS ABBT, Briefe, die neueste Literatur betreffend 11 (1761), 27.
70 LESSING, Sii.mtl. Sohr., Bd. 17 (1904), 156. Vgl. auch WmLAND, Das Geheimnis des
686
IV. 2. Rekonstruktion aes traclitionellen Bepiffa Bürger
Dagegen meinte 'Bürger' während des 18. Jahrhunderts noch überwiegend den
„berechtigten" Einwohner der Stadt, der von den übrigen Bewohnern unterschieden
wurde 73 • Als besonders traditionsgebunden erwiesen sich verständlicherweise die
freien Reichsstädte. Über die im einzelnen oft sehr unterschiedlichen Verhältnisse
unterrichtet recht gut F. N1cOLAIS „Beschreibung einer Reise durch Deutschland
und die Schweiz" (1783 ff.). Bemerkenswert sind seine Notizen über das Bürgerrecht
Nürnbergs, das die älteren Verhältnisse bis ins kleinste konservierte. Danach wur-
den die Einwohner der Stadt in 'Bürger' und 'Schutzverwandte', die 'Bürger' in
„eingeborene" und „angenommene" eingeteilt. Wenn ein Fremder das Bürgerrecht
erlangen wollte, durfte er an keinem anderen Ort Bürger sein; er mußte beweisen
können, daß er ein Vermögen besaß oder sonst ein Gewerbe hatte. Ferner setzte der
Erwerb des Bürgerrechts Zugehörigkeit zur protestantischen Konfession voraus;
Katholiken konnten nur 'Schutzverwandte' sein. Der Besitz von unbeweglichen
Gütern in und vor der Stadt war ein Privileg der Bürger 74 •
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit einer aus ganz ande-
ren Grundlagen erwachsenen Residenzstadt wie Berlin~ Nicolais „Beschreibung der
königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam" (1786) untergliederte die Ein-
wohner Berlins in sechs Klassen - den Militärstand, die Eximierten, die franzö-
sische Kolonie, die böhmische Kolonie, die Judenschaft und schließlich die Bürger-
schaft deutscher Nation. Nur die zur letzteren Klasse gehörigen Einwohner waren als
Bürger anzusprechen, worunter nach Nicolai diejenigen verstanden wurden, die
bürgerliche Nahrung treiben und ihrem Charakter oder Stand nach nicht von der Ge-
richtsbarkeit d,e.~ Magi.~trats und der Stadtgerichte eximiert sind76• Die „Bürgerschaft"
bildete, wie eigentlich in allen Städten des Reiches, nur den Kern der Einwohner-
schaft; 'bürgerliche Nahrung' als ihr wichtigstes Merkmal hieß: Teilhabe am „Com-
mercium "76, d. i. Erwerbsrecht durch Handwerk, Handel, Kauf- und Marktrecht,
wovon die Angehörigen der Judenschaft und der „Kolonien", trotz ihrer rechtlichen
Sonderstellung, nicht ausgenommen waren.
73 Hierzu geben die Bürgerbücher der Städte gute Aufschlüsse. Vgl.WALTRAUD MESCHXE•
Das Wort Bürger. Geschichte seiner Wandlungen in Bedeutungs- und Wortgehalt (phil·
Dies. Greifswald 1952), 57 ff., die aus dem Bergener Bürgerbuch zitiert: Vater Clas Rinck
ihn hier in Bergen, doch ohne Bürger zu sein, ge,zeugt hat (1725); Stadtdieners Michel Kniepeken
- welcher aber nicht Bürger gewesen (1739); in Greifawal,d Bürger und Müller gewesen
(1772).
74 CHRISTOPH FRIEDRICH NxcoLAI, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die
Schweitz im Jahre 1781 nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und
Sitten, Bd. 1 (Berlin, Stettin 1783), 224.
76 Ders., Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, und aller
687
Bürger IV. 2. Rekonstraktioa des traditionellen Begriffs
flektiert Verwendung fanden, wurden sie bei J USTUS MösER im Rahmen einer Ge-
schichtstheorie auf Begriffe gebracht, in der sich altständische und modern-staat-
liche, utilitaristisch-aufgeklärte und traditionell-politische Elemente überlagerten.
Durch seine Quellenstudien zur Geschichte des Hochstifts Osnabrück war Möser
schon früh das eigentümliche „Kostüm" aller alten Gesetze aufgefallen, die von dem
ke:utigen Untertan, eine Benennung, wodurch alles, was zur Menschheit gekört, in eine
Klasse geworfen wird, nichts wissen77 • Nach Möser arbeitete das philosophische
„Recht der Menschheit", welches die „Neueren" zur Grundlage der Staatsverfas-
sung erheben wollten, dem Absolutismus, der sich in Deutschland der „Territorien"
bemächtigt hatte, in die Hände. Die altgermanische Verfassung, deren. Grundzüge
in kühnen Strichen als Gegenbild des modernen Staatsabsolutismus entworfen
wurde, ruhte ursprünglich auf dem Land-, später (mit der Entwicklung der Städte)
auf dem Geldeigentum. Nicht 'Bürger' und 'Untertan\ auch nicht 'Bürger' und
'Mensch', sondern 'Bürger' und 'Knecht' waren hier Gegensatzpaare. Der Bürger
hatte als „Eigentümer" Anteil'an der gesetzgebenden Macht und Steuerbewilligung
und war der Ehre fähig, während dem eigentumslosen Knecht, der im Dienst seines
Herrn (= Bürger) stand, weder die Vorteile noch die Lasten des Bürgers zuteil wur-
den. Freilich erkannte Möser, daß die vom Geldreichtum und der Verwandlung des
Militärwesens bestimmte Entwicklung des modernen Staates die Stellung des be-
sitzlosen Knechts und der „Nebenwohner" (= Beisassen, Schutzgenossen) von
Grund auf verwandelte; beide wurden, mit den Bürgern, zu „Untertanen" des Ter-
ritorialstaates. Das geschah im wesentlichen aus ökonomischen Gründen. Zu dem
Zeitpunkt, da die Verdiem1t- und Vermögenssteuer zum Unterhalt der stehenden
Heere nicht mehr ausgereicht hätten, seien Personensteuern aufgekommen und da-
durch zuletzt jeder Mensch ein Mitglied der großen Staatskompagnie, oder, wie wir
jetzt sprechen, ein Territorialuntertan geworden, mithin diejenige allgemeine V er-
mischung von bürgerlichen und menschlichen Rechten entstanden, worin wir mit
unsrer philosophischen Gesetu;ebung dermalen ohne Steuer und Ruder herumgeführt
werden78 •
Brüchig wurde Mösers Theorie erst dadurch, daß sie die Dimension des Geschicht-
lichen, die sie gewann, zugleich wieder übersprang. Seine wertvollen Einsichten, vor
allem in die sozialgeschichtliche Gebundenheit der Begriffe, wurden zumindest teil-
weise verdeckt durch die offenkundig der eigenen Zeit entnonunemm Vorstellungen
des Bürgers als „Aktionärs", des Knechtes als „Mensch ohne Aktie im Staat" und
der bürgerlichen Gesellschaft als einer „Aktiengesellschaft". Mit ihrer Hilfe versuchte
Möser, die große Linie zu bestimmen, die nach seiner Auffassung den Bürger von dem
Menschen oder den Aktionisten von demjenigen, der. keine Aktie im Staate besitzt,
trennt 79 • Indem sie sich von der Geschichte ab- und der eigenen Zeit; mit den Denk•
mitteln beider, zukehrte, wurde Mösers Theorie des altgermanischen Landeigen-
tümerstaates und der altständiSchen Verfassung zur Ideologie. Sie wandte sich, im
Namen des „Aktionärs", der ihr als Bürger galt, gegen die Umwandlung der „Staats-
sten oder Bürger mit dem Menschen oder Christen verwechseln; ebd., 256f.
688
IV. 3. Die Genealogie von 'Staatsbtlrger' ·
Mösers Theorie vom Bürger als „Aktionär", die zwischen 1790-1795 lebhaft dis-
kutiert wurde, fand neben Zm1timmung auch Widerspruch. Aber die Einwände
berührten nicht die Theorie als solche; sie schlugen nur einige Modifikationen vor,
um sie auf die gegenwärtigen Verhältnisse besser anwenden zu können. In der Spra-
che der Zeit ging es dabei immer um die Bestimmung des Unterschieds zwischen den
Rechten des Menschen und Bürgers. Diese Frage war durch die „Declaration" der
französischen Nationalversammlung von 1789 aktuell geworden, die, zum ersten
Mal in der Geschichte, einer „bürgerlichen Gesellschaft" die Rechte der Menschheit
zugrundelegte. Im Namen dieses Rechts verzichteten die oberen Stände (Adel und
Geistlichkeit) auf ihre Vorrechte und vereinigten sich mit dem tiers etat zur 'Nation'
der Freien und Gleichen, die das passive Prinzip des absolutistischen Staates, die
Rechtsgleichheit aller Untertanen, durch das aktive der Mitwirkung an der poli-
tischen Gesetzgebung ergänzte. Mit dieser Forderung mußte der Begriff notwendig
einen neuen Sinn erhalten. Zu den teilweise schon anerkannten Rechten des „Unter-
tanen" als Menschen, den „bürgerlichen Rechten" in der Sphäre des Privat- und
Strafrechts, trat der Anspruch auf „politische Rechte" im Verfassungsleben, den
der Bürger unter Berufung a.uf das Recht des Menschen erhob. Im Sprachge-
brauch der Französischen Revolution war der Bürger, der sich mit dem Menschen
so Berlinische Monatsschr. 15/1 (1790), 499 ff., bes. 500 f. 502, .Anm.
n Ebd., 502 f.
44-90385/1 689
Bürger IV. 3. Die Genealogie von 'Staatsbürger'
81 JusTUs MösER, Über das Recht der Menschheit, als den Grund der neuen Französischen
Konstitution: 'Citoyen actif' war jeder, der volljährig, ansässig und beeidigt war sowie eine
direkte Kontribution zahlte, die dem Wert von drei Arbeitstagen gleichkam. Vgl. tit. 3,
c. 1, sect. 2, art. 2 der Konstitution von 1791. Die „Declaration des droits de l'homme et du
citoyen" von 1789, die ihr voransteht, hatte beide Rechtssphären bereits weitgehend zur
Deckung gebracht: Toua les citoyena • • • sont egalement admiaaibles a Wute8 digniMs, places
et emploi8 publics. seZon leur capacit,8 et sana autre diatinction que ceZZe de Zeurs vertus et de
kurs flJlena (art. 6). Der Satz ist z. T. wörtlich übernommen aus der kurz vor der Erklärung
der Nationalversammlung veröffentlichten Schrift des ÄBBE SIEYES, Preliminaire de la
constitution. Reconnaissa.nce et exposition des droits de l'homme et du citoyen (Versailles
1789).
88 Vgl. „Constitution de la Republique fran98ise" (1793), art. 1, 7; die Beseitigung der Diffe-
690
IV. 3. Die Genealogie 'Von 'Staatsbürger' Bürger
diese Stände selbst zerstört werden 88 • Daß wir es hier tatsächlich mit einer Neubildung
zu tun haben, läßt sich an Hand der Wörterbücher nachweisen: ADELUNG kannte es
noch nicht, erst CAMPE verzeichnete es 181087 • Die frühesten Belege lassen den Ein-
fluß er)rennen, den die Aufwertung von 'citoyen' durch die Französische Revolution
ausübte. WIELAND zitierte in Bezug auf die Pariser Ereignisse vom Juli 1789 eine
französische Zeitschrift: Die frechste Ungebundenheit (la licence) kann im ersten
sowie im letzten Rang der Staats-Bürger (citoyens) beinahe keinen Schritt mehr weiter
gehen. Und 1791 schrieb er: Nach der neuen Konstitution gilt kein Unterschied der
Stände mehr; alle Franzosen sind nun weder mehr noch weniger als citoyens (Staats-
bürger) und, als solche, alle von einerlei St,ande88. Es ist bemerkenswert, daß das Wort
auch in der Möser-Diskussion auftauchte, die seit 1790 in der „Berlinischen Monats-
schrift" geführt wurde89 ; hier war es vor allem KANT, der zur Verbreitung maß-
geblich beitrug (1793). Kant hatte sich, ohne Möser namentlich zu nennen, gegen
die Vorstellung gewandt, der Umfang der Land- oder Geldaktie sei das Kriterium
der Teilhabe an den politischen Rechten, Als Verteidiger des Rechts der Menschheit
vertrat Kant die These, daß die Zahl der zur Gesetzgebung berechtigten Bürger,
die er unter Hinweis auf franz. citoyen 'Staatsbürger' nannte, nach den Köpfen
derer, die im Besitzst,ande sind, nicht nach der Größe der Besitzungen beurteilt werden
müsse90• KLOPSTOCK lehnte dagegen das Wort als einen „unreinen" Neologismus
ab, der den alten Bürgerbegriff unnötigerweise verdoppele: Kant schreibt nicht
wekhe man Staat nennt: besonders ein sokhes, wekhes d,as Stimmrecht in der Ge11etzgebung für
den Staat hat. Daß bei ADELUNG 2. Aufl„ Bd. 1 (1793) der Begriff fehlte, obwohl die Sache
geschichtlich ausgebildet vorlag, lehrt der Punkt 6 des Art. Bürger: Figürlich: Einjedu
Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, d. i. einer Gesellschaft, wekhe sich dem Willen einea
einzigen unterworfen hat. 1n die!Jem Verstande werden die Einwohner einea jeden Staate11 und
Landes nach dem MU8ter delJ lat. OiviB, be11onders in der höheren Schreibart, Bürger genannt
(1263). Dieser „Schreibart", d. i. der politisch-na.turrechtlichen Terminologie, fehlte der
aktuelle Anlaß, um zur Bildung von 'Sto.o.tsbürgor' golangen zu können.
88 Cahiers de Lecture 6 (1789), 98, zit. WIELAND, Über die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs,
welchen die Französische Nation dermalen von ihrer Aufklärung und Stärke macht, Teut-
scher Merkur 3 (1789), 226; ders., ausführliche Darstellung der in derFranzösischenNa-
tionalversammlung am 26. u. 27. Novbr. 1790 vorgefallenen Debatten, Neuer Teutscher
Merkur 1/1 (1791), 42, Anm. Das Wort als solches läßt sich vereinzelt schon früher nach-
weisen, so bei WIELAND 1772 in dem Roman „Der goldene Spiegel", AA 1. Abt., Bd. 9
(1931), 313 und bei LUDWIG WEKHERLIN, Das graue Ungeheuer, Bd. 5 (Nürnberg 1785),
12. 246, bleibt aber in der Regel färb- und konturlos, so daß die These vom „Einfluß der
Französischen Revolution" (W. Feldma.rin, W. Meschke) nicht grundsätzlich bestritten
werden kann.
89 BRANDES, Über den verminderten Sinn des Vergnügens, BerlinischeMona.tsschr.15 (1790),
439; ders., Aus einem Schreiben des M'arkis von St. H. zu Paris an den Grafen S. zu H.
über die Abschaffung des Adels. Mit Anmerkungen von einem Deutschen, ebd. 16 (1790),
511, Anm.
90 KANT, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht
691
Bürger IV. 3. Die Genealogie von "Staatsbürger'
rein und ist oft unglücklich in seinen neuge-prägten Wörtern, berichtet FRIEDRICH
VON MATTHISON aus einem 1794 geführten Gespräch: Wir sagen Staatsbürger, äußerte
Klopstock bei dieser Gelegenheit, warum denn nicht Wasserfisch ?91 •
Die Bildung des von Klopstock verworfenen Wortes, das sich jedoch rasch durch-
setzte, ist durch den im 17./18. Jahrhundert entstandenen Gegensatz zwischen
,citoyen' und 'bourgeois' gefördert worden. Die beiden Begriffe wurden ursprünglich
synonym verwendet und bezeichneten den Bürger der Stadt (cite, civitas/bourg,
burgus). 'Bourgeois' findet sich bis zum.17. Jahrhundert weit häufiger als 'citoyen'.
In den Wörterbüchern von FuRETIERE (1734), im „Dictionnaire de Trevoux"
(1743) bis hin zum „Dictionnaire de l'academie fran9aise" von 1762 wurde 'citoyen'
als 'Stadtbewohner' definiert, mit lat. civis gleichgesetzt und; ohne Berücksichtigung
französischer Verhältnisse, am Beispiel der antiken Republiken erläutert. Die Wort-
bedeutung konnte noch zu dieser Zeit in die von 'bourgeois' übergehen: gelegentlich
stellte man fest, in Frankreich sei ein Aufenthalt von zehn Jahren notwendig, um
als 'bourgeois' anerkannt zu werden92 • Daneben trat der Unterschied zum Adels-,
später auch zum Militärstand in den Vordergrund. Wie Molieres „Le bourgeois
gentil-homme" (1670) zeigt, zog das 17. Jahrhundert eine genaue Grenzlinie zwi-
schen Adel und Stadtbürgertum.. Mit dem Verlust der.politischen und rechtlichen
Funktion des ticrs etii.t im Absolutismus nahm das Wort o.llmii.hlich dio Bedeutung
des vermögenden Stadtbewohners an, der eine fremde Arbeitskraft beschäftigte,
des Handwerksmeisters, Verlegers, Unternehmers. Während so 'bourgeois' bereits
im 18. Jahrhundert zur Bezeichnung eines von überwiegend wirtschaftlichen Inter-
essen bestimmten, privaten Bürgerbegriffs diente98, gewann das von alters her
gleichbedeutende, aber weniger verbreitete 'citoyen' durch RoussEAU und die
91 MA.TTHISON, SW Bd. 3 (Wien 1815), 198. Wie rasch sich das Wort durchsetzte, wird da.
durch bestätigt, daß es bereits in der ersten deutschen Übersetzung der aristotelischen
„Politik" von JoH. GEORG SCHLOSSER (1798) zur Wiedergabe von griech. noir.ln1; ver-
wendet wurde. Von da aus erklärt sich auch der von Schlosser erhobene Einwand gegen
Aristoteles, daß der Begriff des Staates nicht aus dem des Staatsbürgers, sondern umge-
kehrt der Begriff de8 Staatsbürgers, als ein Beziehungsbegriff, aus dem Begriff des Staat,,
erklärt werden müsse; ARISTOTELES, Politik, dt. v. J. G. Schlosser, Bd. 1 (Lübeck, Leipzig
1798), 218, Anm.
82 Vgl. BRUNOT t. 6 (1930), 120 f. Diese Begriffsgleichheit stimmt im allgemeinen mit den
56), sowie VOLTAIRE, Le siecle de Louis XIV, Oeuvres compl., t. 14 (1878), 500, der über
den Undank berichtet, den Colbert durch eine finanzpolitische Maßnahme trotz seiner
Verdienste für das Gemeinwohl bei den Parisern erntete: n y avait plUB de bourgeois que de
citnyen.
692
IV. 3. Die Genealogie von 'Staatshiirger' Bürger
Enzyklopädisten in Anlehnung o.n lat. oivis jene neue Bedeutung114, die man im
Deutschen mit 'Staatsbürger' wiedergeben mußte. Nach CAMPE hat der erste, der
zu Beginn der Französischen Revolution die Benennung 'citoyen' aufbrachte, das
Wort falsch gebraucht; er nannte sich auf dem Titel einer Flugschrift Oitoyen de
Paris, vermutlich in Erinnerung an das Pathos Rousseaus, ein „citoyen de Geneve"
zu sein. Dem Verfasser der Schrift wlirde hierauf im „Journal de Paris" erwidert,
daß man wohl bourgeois -de Paris sein könne; denn Paris sei nicht, wie Genf, ein
„Staat", sondern eine Stadt im Staat95• Die Bedeutung beider Begriffe lag also in
Frankreich zu diesem Zeitpunkt bereits fest; durch die Revolution wurden sie
lediglich offiziell zur Geltung und gegenüber Residuen älteren Sprachgebrauchs
zu allgemeiner Anerkennung gebracht. Auch in Deutschland bedeutete 'Bürger'
seit dem 17. Jahrhundert sowohl den Stadtbewohner wie den Territorial- oder besser
Staatsuntertanen; eine Neubildung wurde hier jedoch zunächst nicht als-notwendig
angesehen. Die Ursache dürfte, neben der noch mangelhaften Fixierung des Staats-
H Sie zeichnete sich seit etwa. der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich ab, eo bei MoBBLLY,
Uode de la .Nature (1755; Ausg. :Berlin 1964), 184f.: L'utilitl, des service8 de cluJque clt,oyen,
ähnlich bei n'.AnoENBON (1751) und ÄNNE RoDEDll' JAOQUEB TUBOOT1 Plan de l'in11truotion.
publique, Oeuvres, t. 4 (1931), 579 f. Weitere Belege bei BRUNOT t. 6, 140 f. Roussuu
definierte die cit,oyens als meml>res du rmp11 politique. A l'egard des associes, ils prennent
collectivement le nom de peuple, et s'appellent en parti.culier cit,oyens, comme participant a
l'autcritl, BOUveraine, et BUjets, comme soumis aux lois de l'Etat; Contrat eocia.l (1761), 1, 6.
Mit dieser Auffassung verband Roussea.u eine Kritik a.n dem zeitgenössischen Verständnis,
die die Wandlung des Verhältnisses zwischen 'bourgeois' und 'citoyen' widerspiegelte.
Nach Rouesea.u war der ältere Sinn in der Neuzeit fast ganz verlorengegangen, man hielt
eine 'ville' für eine 'cit6', einen 'bourgeois' für einen 'citoyen', weil man keine Vorstellung
mehr hatte, da.ß der Name 'citoyen' eine rechtliche und nicht bloß eine moralische.
Bedeutung in sich einschloß (1, 6, Anm.). Es war da.her folgerichtig, wenn 1771 der „Dict~
de Trevoux", 7° ed„ t. 2, 613 cit,oyen a.ls neuen ( !) Begriff a.u~ und definierte: Ce mot
a un rapport particulier a la socütl, politique; il deaigne un membre de l'Etat, dont la eo.
dition n'a rien qui doive l'exclure des charges et des emplois qui peuvent lui convenir, selon.
le rang qu'il occupe dans la Republique. - Zu Rousseaus Einfluß a.uf die politische Ter-
minologie des 18. Jahrhunderts vgl. FERDINAND GoBIN, Lee tra.nsformations de la languo
fran9aise penda.nt la deuxieme moitie du 186 siecle (Paris 1903), 124 f.
86 CAllll'E, Fremdwb„ 2. Aufl. (1813), 192, Art. citoyen. Da.s Stichwort fehlte übrigens noch
in der 1. Aufl. von 1801. Im Jahre 1791 wurde „citoyen" zum Titel der Revolution und
ersetzte „monsieur" und „mada.me"; BRUNOT t. 9/2 (1937), 682 ff. Obwohl nach der Thermi-
dor-Reaktion vorübergehend a.us der Mode gekommen und nur noch a.ls Bezeichnung für
die Dienstboten verwendet, wurde „citoyen" seit 1797 auf Anweisung des Direktoriums in
der Verwaltung allgemein eingeführt. „Citoyen" überlebte die Revolution, blieb unter dem
Konsulat erhalten, und erst seit 1804 tauchte „monsieur" in den Protokollen der Acad6Jnie
des Sciences wieder neben „citoyen" auf. Über die von der Französischen Revolution her-
vorgebrachten citoyen-Formen wie „citoyen actif" bzw. „pa.ssif" oder „inactif" (seit 1789),
„citoyen proletaire" (1789), „soldat citoyen" - „citoyen solda.t" (1790), „eitoyen a mar-
cher" (1793) vgl. BRUNOT t. 9, 709 f. 928 f. 933 f. Übrigens ging auch die Bildung roi-eit,oyen,
die nach 1830 a.ls Redewendung für Louis Philippe geläufig wird, auf die Revolution von
1789 zurück: der „Moniteur" von 20. Juli 1789 bezieht es auf Ludwig XVI.
693
Biirgef IV. 3. Die Gene.Iogie Ton. 'Staatahiirger'
begriffe, darin zu suchen sein, daß das Wort durch den Gegensatz Stadtbürger -
Adel nur wenig belastet war. Dieser gewann aber auch im deutschen Sprachbereich
durch die höfische und moralisch-rechtliche Abschließung des Adels, die mit dem
Verlust seiner politischen Funktion einherging, eine größere Bedeutung. 1777 wies
J. G. SCHLOSSER auf die „bürgerliche" Okkupation des Staates durch die Bürokratie
hin: Die Politik des Bürgers war, die Geschä,fte zu verwickeln, um den Adel von ihnen
auszuschließen oder abhä,ngig vom Bürger zu machen; die Politik des Adels wäre,
sie wieder einfach zu machen, um der Bürger embehren zu kiinnen98• Die ständischen
Grenzen zwischen Adel und Bürger wurden - vor dem Ausbruch der Französischen
Revolution - nicht in Frage gestellt, auch wenn das gesellschaftliche Spannungs-
verhältnis nicht mehr zu übersehen war. Laßt also dem Adel seine Vorrechte, schrieb
BRANDES 1787 in der „Berlinischen Monatsschrift", aber kontrolliert ihn, daß er
nicht weiter greife, nicht in Rücksicht seiner Geburt sich alles erlaubt halte - und, ihr
Bürgerlichen, vergeßt nicht, daß, wenn sie Edle sind, ihr Freie seid97• Der Gegensatz
wurde verstärkt durch die gleichzeitige wirtschaftliche und kulturelle Emanzipation
des Bürgertums im 18. Jahrhundert. Wohlstand ist das Wort für Städte, zitierte
HERDER aus einer der vielen damals (meist anonym) erscheinenden Schriften mit
dem Titel: „Bonhommien eines Bürgers". Aber Wohlstand sei mehr als Mittel und
Genuß hä,uslicher Glückseligkeit, was man sich allgemein dabei denke. Denn: Wohl
erworben zu haben, ist hier das gute Äquivalent von dem Wohl,geborensein des ersten
Standes ... IJi,e Anmutungen an den Stadtbürger sind jetzt: er soll erwerben, soll das
Erworbene genießen98• Von Seiten des Adels wurde der Gegensatz zum Bürger um
so stärker hervorgehoben, je mehr sich mit den sozialen und wirtschaftlichen
Veränderungen im 18. Jahrhundert die Stände einander anzugleichen und zu
vermischen begannen99• Hier mußte das Wort den Charakter eines „negativen
Wertbegriffs" (W. Meschke) annehmen, so daß man zur Bezeichnung des „Staats-
untertanen" nicht mehr ohne weiteres darauf zurückgreifen konnte. Da gleichzeitig
der politische und der Rechtscharakter des „Staatsbürgers" verblaßte, bedurfte
das Wort 'Bürger' einer Rehabilitierung, um wertneutral auf den „Staat" bezogen
werden zu können. Die revolutionäre Aufwertung von 'citoyen' war eigentlich nur
der Katalysator in jenem weitaus früher einsetzenden wortgeschichtlichen Um-
bildungsprozeß, der aus dem 'Bürger' im Sinn des über ein (adliges oder „bürger-
liche1:1") Haus gebietenden, politisch selbständigen „Herrn" den 'Bürger des Staates'
und schließlich den 'Staatsbürger' werden ließ 10o.
ioo Fl:OHTE, Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische
Revolution (1793), AA Bd. 1/1 (1964), 364 f.
694
IV. 4.. Kritik und BewabnmJ 4ler 'l'n4litioa; Kant Büqer
101 KANT, Reftexionen zur Rechtsphilosophie, Nr. 7974, AA Bd. 19 (1934), 568. Die von
ERIOH .ADICKES vorgeschlagene zweite Datierung (1790/91) darf als äußerst unwahrschein-
lich betrachtet werden.
1o1 Ebd., 568: Der Untertan, der zug1.eich g1,eicher Teilnehmer an der Oberherrschaft ist, hei{Jt
Bürger.
1oa Ebd., vgl. auch Reftexion Nr. 7853.
695
IV. 4. Kritik nnd Bew8Janms der Tradition1 Kant
ob es recht sei, daß das summum imperium sowke erblicken Herren setze als Marquis,
Graf etc. Sie wären alsdenn nicht bloß Staatsbürger, sondern würden eine erbliche
Dignität haben104.
Diese dem Staatsbürgerbegriff anhaftende Doppeldeutigkeit, die daraus folgte,
daß er hier noch ganz im römisch-rechtlichen Begriff des civis aufging, wurde von
Kant jedoch bald üoerwunden. Das geschah unter dem Eindruck der Erklärung der
Menschen- und Bürgerrechte von 1789; sie ermöglichte es, den 'Staatsbürger'
mit franz. citoyen zu erläutern und auf die „staatsbürgerliche" Emanzipation des
dritten Standes zu beziehen. So hieß es 1792/94: Jeder wird als möglicher Staatsbürger
geboren; nur0 damit er es werde, muß er ein Vermögen haben, es sei in Verdiensten oder
in Sacken ... Staatsuntertan ist jedermann und zwar erblicn (?)1° 5 •
In diese Zeit fiel Kants erste öffentliche Äußerung zur Rechts- und Staatsphilo-
sophie, der Aufsatz: „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein,
taugt aber nicht für die Praxis" (1793). In ihm erschienen die durch die Französische
Revolution zu neuer Bedeutung gelangten Bürgerbegriffe 'citoyen' und 'bourgeois',
aber so, daß die in der geschichtlichen Wirklichkeit sich vollziehende Trennung
beider unreflektiert blieb. Der Sache nach stand Kants Bürgerbegriff, obwohl er
in Staats- und Stadtbürger auseinandergelegt wurde, noch ganz auf dem Boden der
alten bürgerlichen Gesellschaft (societas civilis); 'Bürger' war, wer sich zu ihr in
einem unmittelbar politischen Verhältnis (der „Stimmgebung") befand: Derjenige,
wekher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger ( citoyen, d. i.
Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois). Die dazu erforderliche Qualität ist, außer
der natürlichen (daß er kein Kind, kein Weib sei), die einzige: daß er sein eigener
Herr (sui juris) sei, mithin irgend ein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Hand-
werk oder scMne Kunst oder Wissenschaft gezählt werden kann), wewhes ihn ernährt 106 •
Neben die Erweiterung des 'Bürgers' zum 'Staatsbürger' trat hier seine Aus-
dehnung auf den 'Stadtbürger' (den Bürgerstand); das „Eigentum" wurde, ganz
im Sinne der Emanzipation des dritten Standes, das wichtigste Kriterium im Begriff
des 'Staatsbürgers'. Aber damit war vorerst nur eine Tendenz bezeichnet, deren
Richtung Kant verborgen blieb. Die eigentlich zentrale Differenz des Bürger-
begriffs war fw ihn nicht die von Staats- und Stadtbürger, sondern die traditionell-
politische zwischen 'Bürgern' und 'Schutzgenossen'; diejenigen, welche nicht an
der politischen Gesetzgebung teilhatten, waren gkichwohl als GUeder des gemeinen
Wesens der Befol,gung dieser Gesetze unterworfen und dadurch des Schutzes nach
denselben teilhaftig; nur nicht als Bilrger, sondern als Schutzgenossen 1 0 7•
696
IV. 5. Der Einßuß der Französischen Revolution Bürger
Der neue Bedeutungsgehalt, der sich seit der Revolution mit dem Wort 'Bürger'
verband, erwuchs aus einer bis dahin unbekannten .Tendenz zur .Aktualisierung.
Charakteristisch dafür ist der Zusammenhang, in dem bei FRIEDRICH SCHILLER die
Neubildung 'Zeitbürger' auftritt: Ich möchte nicht gern in einem anderen Jahrhundert
leben und für ein anderes gearbeitet haben. Man ist ebensogut Zeitbürger als man
Staatsbürger ist 108 . Bei CHRISTIAN GARVE findet sich folgende Betrachtung: Wie
geht es in aller Welt zu, dachte ich zuerst, daß, da das Wort Bürger nichts anders als
den Mann aus dem Mittelstand bezeichnet, - aus dem Stande, der, nach aller, selbst
der Großen Geständnisse, das Achtungswürdigste in sich enthält, was eine Nation an
talentvollen und tugendhaften Leuten besitzt, das Beiwort bürgerlich demohnerachtet
eine verächtliche Nebenidee erwecktl09.
Garve fragte sich, ob die Ursache darin zu suchen sei, dail 'bürgerlich' so viel wie
'r.ivil', iL h. ili11 ii.11ß11r11n Rit.t11n 11in11R M11nRr.h11n oder einer Gesellsc.haft betreffend,
bedeute, worin allerdings der 'Mittelstand' hinter dem 'Adel' zurückbleibe, kam
aber dann bald auf den Gegensatz zwischen 'citoyen' und 'bourgeois' zu sprechen.
Interessant ist dabei vor allem die Klassifizierung der verschiedenen gesellschaft-
lichen. Gruppen nach den Gesichtspunkten, die der Gegensatz an die Hand gab.
In Ansehung des Bürgers als 'bourgeois' hieß es dazu: Unter Bürgern, im letztern
Verstande des Wortes, sind Handwerker, Krämer und kleine Kaufleute mit be-
griffen ... Zu dem Bürgerstande aber gehören, nach der gesetzlichen Rangordnung,
auch noch die Gelehrten und die Großhändler, zwei Klassen, bei welchen, wie immer
bei den Grenzen, Streit darüber ist, wohin sie und ihre Kinder gehören 110.
Während hier der einheitliche Bürgerbegriff unter dem Einfluß der Differenzierun-
gen zwischen 'citoyen' und 'bourgeois' problematisch geworden war, versuchten
umgekehrt die der Revolution nahestehenden Schriftsteller, diesen Begriff als
eine Einheit zu fassen. Bürgerlich, schrieb J. G. SEUME, war in der griechischen
Natur etwas Göttliches; auch die Römer hatten viel davon, und hier und da noch eine
Nation. Bei uns ist es fast ganz ausgerottet, und man fürchtet sich schon vor dem
Worte 111 . Seume schloß sich bewußt an die Aufwertung des Bürgerbegriffs in
Frankreich an, so mit dem Satz, daß intermediäre Lasten nicht blieben, weil Bürger
nur gegenüber dem „Staat" Pflichten haben könnten - und Bürger ist jeder,
der nur einen Fuß Landes besitzt112 (d. h. im Lande wohnhaft ist). Ähnlich GEORG
FoRSTER, für den die Franzosen - mit der Besetzung von Mainz - das Moment
108 SCHILLER, Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1794), 2. Brief, SA Bd.12, 5.
'Welt'- und 'Staatsbürger' traten bei Schubart nebeneinander auf: Nur der wahre Welt-
bürger kann ein guter Staatsbürger sein, gleich viel unter welcher Form ·u:nd Verfassung;
CHR. FRIEDR. DANIEL SCHUBART, Vaterlandschronik (Stuttgart 1789), 899.
109 CHRISTIAN GARVE, Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litera-
697
IV. 5. Der Eiafhdl der Fnmzö11iM-hen Revolution
der Untertänigkeit aus dem Bürgerbegriff be11eitigt hatten: lck bin jetzt Unter-
tan, - nein, das Wort ist hier verbannt, - Bürger der französischen Republik113.
KLOPSTOCK, dem der Titel des 'citoyen' von der französischen Nationalversammlung
verliehen worden war (1792), gebrauchte dafür das Wort 'Civismus', das der Unter-
tanengesinnung des Absolutismus entgegengesetzt wurde: Ich fing an gegen Ende
d,es Jahres 1788 meinen Oivismus in einer Ode zu zeigen, die ich Les Etats generauz
betiteltelH.
Diesen Begriff des Bürgers meinte auch SoNNENFELS (1798), der die Hoffnung aus-
sprach, daß sich an dem Werk weder Empörer noch Sklaven, sondern Bürger bilden
mögen und dazu anmerkte: Bürger, ja, Bürger. Denn warum soll in dem Miß-
brauche eingeräumt sein, den Sinn eines Wortes verdächtig zu machen oder zu ent-
stellen, das bis jetzt immer einen Menschen bezeichnet hat, der unter dem unmittelbaren
Schutze der öffentlichen Verwaltung die Rechte der gesellschaftlichen Vereinigung ge-
nießt und nur Gesetzen und dem Organe der Gesetze, dem Oberhaupt des Staates, unter-
tam. ~:st 116 • '
In diesem Sinne gebrauchte auch FICHTE das Wort. Für ihn bestand der charak-
teristische Grundzug des Zeitalters in bürgerlicher Rücksicht gerade darin, daß mit
der Revolution der Gegensatz von Freien und Knechten, Herrschern und Unter-
tanen durch den „Staat" überwunden worden war, der sich ihm als geschlossene
Summe seiner Bürger darstellte. So sind, um auch an einem Beispiele meinen Ge-
duitiken klar zu machen, keineswegs die Regie-renden der Staat, sondern sie sind Mit-
b-ürger daselben, so wie alle übrigen; es gibt im Staate überhaupt keine 1ndividuen
außer Bürgern116 • Fichte wandte sich gegen die Auffassung, daß der Klasse der
„Begünstigten" im Staat der Titel eines 'Bürgers' zukomme: Der Begünstigte,
insofern er das ist, ist sicher nicht Bürger. Erst wenn e~ seine Privilegien aufgegeben
und sich der „staatsbürgerlichen" Gesellschaft verbunden hat, wird er sein Stimm-
recht als Bürger wieder erhalten117 • Man bemerkt freilich auch, daß das so ver-
standene Wort im deutschen Sprachraum keineswegs jenen „staatsbürgerlichen"
Bedeutungsgehalt erreichte, der es mit franz. 'citoyen' vergleichbar erscheinen
ließe. Gesellschaftliche Gründe - die relative Stabilität der altständischen und
monarchischen Verfassung - standen allen Umwertungsversuchen entgegen. Nicht
von ungefähr konstatierte JEAN PAUL nach Ablauf der „revolutionären" Periode
die Vergeblichkeit solcher Bemühungen: Das Adel-Wort Bürger in Rom und unter
der Französischen Revolution ist bei uns unter die Bürgerlichen verstoßen 118•
118 GEORG FoBSTER, Brief an seinen Vater, 26. 11. 1792, Sämtl. Sehr., Bd. 8 (1843), 276;
vgl. den Brief an Buchhändler Vo.B, 10. 11. 1792, ebd., 245. J. G. FICHTE, Brief an seine
Frau, 26. 5.1794, Briefwechsel, hg. v. Hans Schulz, Bd. 1/2 (Leipzig 1925), 215.
m KLoPSTOCK (1793), SW Bd. 10 (Leipzig 1855), 336 f.
115 JOSEPH v. SoNNENFELS, Handbuch der innern Staatsverwaltung, mit Rücksicht auf die
698
IV, 6, GoMh" und ~hiß"r Bürgr.r
Tatsä.chlioh war der Begriff dos 'Bürgorliohon' in Dcumohland oinooitig durch don
Gegensatz zum 'Adligen' bestimmt. Die Emanzipation des Bürgerstandes schlug
sich in Begriffsformen nieder, die die Lebensweise des Adels, von der sie sich ab-
hoben, nicht nur als intakt bestehen, sondern als vorbildlich gelten ließen. Aller-
dings hatte diese Vorbildlichkeit im Kern selbst etwas „Bürgerliches" an sich.
Noch während der Französischen Revolution gab SCHILLER in einet Anmerkung
zu der einsichtsvollen V ergleich'}tng bürgerlicher und adeliger Sillen bei Christian
Garve 119 der These seine Zustimmung, daß zu den Prärogativen des adligen Jüng-
lings auch die frühzeitige Kompetenz desselben zu dem Umgange mit der großen Welt
gehöre, von welchen der bürg~liche schon durch seine Geburt ausgeschlossen sei.
Zugleich meldete Schiller aber Zweifel an; er fragte, ob dieses Prärogativ, das in
Ansehung der äußeren und ä11thetischen, auf R.Aprii.111mt.at.ion 11.ngAlAgtAn Rilihmg
unstreitig ein Vorteil sei, in Ansehung der inneren Bildung und des Ganzen der
Erziehung noch ein Gewinn heißen könne. Die neuhumanistische Bildungsidee
der sich „innerlich" entfaltenden Persönlichkeit entwertete die adlige Lebensweise,
ihr Angelegt.sein auf Repräsentation. Der Umgang mit der „großen", d. h. höfisch-
ständischen Welt, führte nur zur „Form", nicht zur „Materie" der Bildung, deren
Beherrschuug Arbeit vur11.us11eLzLe. Ullll wellll lllll.ll, 1:111.gLe Schiller, üLerlegL, wieviel
leichter sich Form zu einem Inhalt, als Inhalt zu einer Form findet, so dürfte der
Bürger den Edelmann um dieses Prärogativ nicht sehr beneiden 120 • Die „innere
Bildung" des Bürgers erwies sich der äußeren des Adligen gesellschaftlich überlegen;
als Bildung des Menschen war sie Bildung zur Gesellschaft und dieser zumal.
Gleichwohl ließ Schiller beide Sphären - Arbeit und Repräsentation - neben-
einander bestehen, mit einem Vorbehalt, den seiner Auffassung nach der Adelsstand
selber machen dürfte: Wenn es freilich auch fernerhin bei der Einrichtung bleiben
soll, daß der Bürgerliche arbeitet und der Adelige repräsentiert, so kann man kein
passenderes MiUel dazu wählen alsgerade diesen Unterschied in der Erziehung;
aber ich zweifle, ob der Adelige sich eine solche Teilung immer gefallen lassen wird121 •
Die Frage nach einer Überwindung des Gegensatzes zwischen adliger Repräsentation
und bürgerlicher Arbeit durch die der Sache nach „bürgerliche" Idee der--> Bildung
wurde etwa zur gleichen Zeit, in GOETHES „ Wilhelm Meister" (2. Fassung 1794-96)
gestellt. Nach Goethe handelte es sich hierbei um ein in der gesellschaftlichen Ver-
fasswig der deutschen Staatenwelt begründetes Problem: Ich weiß nicht, wie es in
fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse all-
gemeine, wenn ich sagen darf, personelle Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich
Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit
11e SOHILLER, Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen (1793/95),
SA Bd. 12, 139, Anm.
iao Ebd.
1 1 1 Ebd. Hierher gehört auch SCHILLERS populärer Vers: Arbeit iat du Bürgera Zierde , , ,
(„Lied von der Glocke") und GoETHES: Wo kam die ackiinate BWJ;u,ng her/ Wenn aie nicht
oom Bürger wär („Zahme Xenien").
699
Bürger IV. 7. A,Urlen des Bflrgerbegrilfa
yeltt uber 'Verlll'ren, er mag sich stellen, wie er will122 ; Der Gegensatz wurde von Goethe
als gesellschaftlich unwandelbar stilisiert; die Vorbildlichkeit der 11.dJigen Lebe.i:w-
form trat dabei deutlich in Erscheinung. Der Adlige war „öffentliche Person",
seine Lebensweise bei Hofe und in der Armee repräsentierte ihn selbst. Die Lebens-
weise des Bürgers hingegen war die Produktion, - Arbeit, in der sie sich im buch-
stäblichen Sinne erschöpfte. Im Unterschied zu Schiller legte Goethe Wert auf die
Bestimmung der „Grenzlinie", die dem Bürger gezogen war: Er darf nicht fragen:
„Was bist du?", sondern nur: „Was hast du? welche Einsicht, welche Kenntnis,
welche Fähigkeit, wieviel Vermögen?" Wenn der. Edelmann durch die Darstellung
seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts, und soll
nichts geben 1 Z3• Aber die auf Repräsentation angelegte Adelswelt hatte auch für
Goethe den Charakter gesellschaftlichen Scheins. Von Hof und Armee abhängig,
repräsentierte der Adlige nicht die traditionell-politische Sphäre der bürgerlichen
Öffentlichkeit, sondern sich selbst, seine „Person". Die „Grenzlinie" konnte daher
auch bei Goethe vom Bürger, sofern er sich ganss . . . awn:ubikkn bestrebt war,
überschritten werden; in der Sphäre des ästhetischen Scheins durch das Theater1 2',
in der des gesellschaftlichen. Seins durch die Verbindung mit einem Kreis adliger
Menschen, der sich der „bürgerlichen" Idee des Zusammenhangs von Arbeit und
Bildung bereits verpflichtet weißl25.
Mit der Ablösung der alten „bürgerlichen" durch die moderne, staatsbürgerlich
verfaßte Gesellschaft wurde der Bürgerbegriff im wesentlichen auf zwei Bedeutun-
gen reduziert, die seine weitere Entwicklung bestimmten: den 'Bürger' als privates
Individuum einerseits, als öffentlich-politischen 'Staatsbiirger' andererseits. In der
Mitte zwischen beiden stand die Formel 'Bürger des Staats', der die Funktion der
Privatisierung zufiel; an die Stelle von lat. civis trat jetzt privatus als Erklärung
des Bürgerbegriffs: Bürger des Staats ( privati) heißen alle im Staat, insofern sie nicht
die höchste Gewalt in derMelben haben12 6. Der Privatmensch war aber nicht mehr
„Stadtbürger", sondern verflochten in einen gesellschaftlichen Bewegungszusam-
menhang, der Stadt und Staat gleichermaßen umgriff. Der Staatsbürger konnte
daher per definitionem nicht Bürger in dem Sinne sein, daß er die Lebenselemente
der Gesellschaft (Stände, Kommunen, Korporationen usf.) politisch repräsentierte;
denn diese Elemente hatte der Staat in die einzelnen Individuen als ihre Bestandteile
aufgelöst. Er bedurfte keiner Repräsentation durch bürgerliche Lokalgewalten, weil
er selbst die staatsbürgerliche Gesellschaft repräsentierte. 'Bürger' sein bedeutete
ihn die Adelswelt zum bloßen Schein herab- und das Theater mit den Formen der höfischen
Repräsentation gleich6etzen lassen.
128 GoTTLIEB HUFELAND, Lehrsätze des Naturrechts (Jena 1790), 10.
700
IV. 7. Aporien des Biirgerhegriffa Bürger
hier ein Glied der großen bürgerlichen Gesellschaft, die man auch Staat nennt, sein, -
ein 'Staats-Bürger' nach der Regel jener Neubildung, die sich nun allgemein durch-
setzte. Nicht zufällig wies man nach 1800 darauf hin, daß dieses Wort kein Pleonas-
mus ist, wie Klopstock meinte, weil dadurch der Unterschied vom bloßen Stadtbürger
bezeichnet wird127• Auf der anderen Seite blieb doch eine Schwierigkeit zurück, die
damit zusammenhing, daß die deutsche Begriffsentwicklung nur auf das eine Wort
'Bürger' angewiesen blieb.
Wie kompliziert daher eine angemessene Bezeichnung der Begriffe war, wurde bereits
in den neunziger Jahren deutlich angesprochen, so von CHRISTIAN GARVE: Das
Wort Bürger hat im Deutschen mehr Würde als das französische bourgeois . . . Und
zwar deswegen hat es mehr, weil es bei uns zwei Sachen zugleich bezeichnet, die im
Französischen zwei verschiedene Benennungen haben. Es heißt einmal ein jedes
Mitglied einer bürgerlichen Gesellschaft, - das ist das französische citoyen; -.es be-
deutet zum andern den unadligen Stadteinwohner, der von einem gewissen Gewerbe
lebt, - und das ist bourgeois12.ll. Auf diese BemerkU]lgen von Garve nahm FEUER-
BACH in seinem „Anti-Hobbes" (1798) Bezug. Es sei zwar, so argumentierte
Feuerbach, aufgrund des üblichen Sprachgebrauchs nicht zu bestreiten, daß das
deutsche Wort 'Bürger' den Privat- und Staatsbürger in sich fäl!l!e, aber mau köm1e
11.ngp,sfoht.'I der ebenso unstreitigen Degri:ffädifferenzierungen nicht umhin, sprachlich
eine Unterscheidung zu treffen; d!lzu schlug Feuerbach die Schreibung 'Burger'/
'.Hürger' vor: Wenn dies auch wirklich nach dem gewöhnlichen Redegebrauch 110 'ist,
s~ glaube ich doch, daß wir in den Worten: Bürger und Burger zwei Worte von sehr
einander verschiedenen Begriffen haben12e.
Es braucht nicht erst hervorgehoben zu werden, daß der V ur1:1Uhlag, der an die
8ohreihweise mittelalterlicher Stadtbücher anzuschließen schien, praktisch wir-
kungslos blieb. Daß die Eigentümlichkeit des deutschen Bürgerbegriffs besonders
den Franzosen auffallen mußte, bezeugt eine interessante Notiz von J. H. CAMPE.
Als Sieyes Gesandter am preußischen Hof war, hatte ihn Campe in einem Brief, dem
französischen Revolutionsstil folgend, mit „Bürger" angeredet, worauf Srnrls
in seiner Antwort die Bemerkung machte: Ihre Landsleute würden wohl tun, wenn
sie Oitoyen wie Don und Lord ganz unübersetzt ließen, weil man sich unter dem
deutschen Worte Bürger etwas ganz anderes denkt als bei citoyen180. Campe stellte
ebenfalls fest, daß man im Deutschen 'bourgeois' und 'citoyen' unter dem einen
127 KRuG Bd. 1 (1827), 345 f. WILH. Tru.uGoTT KRUG, System der praktischen Philoso-
phie, Bd. 1 (Wien 1818), 244. Vgl. DANIEL JENISCH, Universalhistorischer 'Überblick der
Entwicklung des Menschengeschlechts, als eines sich fortbildenden Ganzen. Eine Philoso-
phie der Culturgeschichte, Bd. 1 (Berlin 1801), 55 f.
128 GARVE, Versuche, Bd. 1, 302 f. (s. Anm. 109). Vgl. auch: Annalen der leidenden
701
Bürger IV. 8. 'Bürger', 'Staatsbürger' und 'Untertan' 1790-1830
Worte Bürget begreife, so da.13 Siey~ mit seiner Bemerkung durchaus im Recht sei;
aber da, wo es auf eine begriffliche Unterscheidung ankomme, könne man eben
auch hier auf zwei verschiedene Bezeichnungen zurückgreifen und jenen St,aata-
bürger, diesen Sta&bürger nennen181 • Jedoch wurde sowohl die nach französischem
Muster eingeführte Abgrenzung von Staats- und Stadtbürger wie die von FICHTE
gelegentlich betonte Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen 'Staatsbürger'
und 'Bürger' 132 bestritten. Am weitesten ging der Rechtsphilosoph K. VoLLGRAFF
(1827/29): Das Wort Bürger bezeichnet weiter nichü als einen BurglJewohner, burgensis,
bourgeois, indem Burg jeden Bergeort oder mit einer Mauer umgebenen Platz bezeichnet.
Bürger ist daher durckaw nickt die deutsche Übersetzung von polites oder civis, indem
wir hierfür wie für civitas gar kein Wort haben, denn auch das Wort St,aata-Bürger,
das man neuerdings dafür au/gebrackt hat, drückt dies durchaus nickt aus133• Das
„neue" Wort hielt Vollgraff überhaupt für sinn- und bedeutungsleer, vor allem in
der Anwendung auf griechisch-römische oder mittelalterliche Verhältnisse. Aller-
ding!! ließ Vollgraff sich bei diesen Vergfoiohen allzu sehr von zeitgebundenen Vor-
stellungen der Restaurationsepoche leiten, was den begriffsgeschichtlichen Wert
seiner oft zutreffenden Beobachtungen wieder vermindert134•
181 Ebd. - Vgl. auch ABRA.HA.M GoTTHELF JasTNER, Über ein paar Wörter in der jetzigen
deutschen statistischen Sprache (1798), zit. WILHELM DoROw, Denkschrifton und Briefe
zur Charakteristik. der Welt und Literatur, Bd. 2 (Berlin 1838), 86.
182 Vgl. FICHTE, Grundlagen des Naturrechts (1796), AA Bd. 1/4 (1970), 23. Fichte forderte,
daß jeder Bürger dem Staat seine Erwerbstätigkeit angeben müsse - und keiner wird
80'TUICh Sf.aattJbürger überhaupt, 80ndem tritt zugleich in eint gewisse K"la88e der Bürger, &Owie
er in den Bf.aat tritt.
138 KARL VoLLGRAFF, Die Systeme der praktischen Politik., Bd. 3 (Gießen 1828), 178.
134 So wenn Vom.GRAFF, um den prinzipiellen Unterschied des heutigen städtischen Bürger-
rechttJ vom antiken hervorzuheben, da.rauf hinwies, daß gerade die ersten Stände, Adel,
Geistliche, Gelehrte und freie Künstler, es verschmähen, städtische Bürger zu sein und genannt
zu werden, während man sich im Altertum für unfrei hieU, wenn man nicht civis war; ebd., 73.
Das traf nur für die Spätphase der alten „bürgerlichen" Gesellschaft zu, in der sie sich zur
Ständegesellschaft umbildete.
m Ebd„ Bd. 4 (1829), 517 f.
186 Intere8sa.nt beeonders durch die Entgegengestellung zum „Untertanen" im älteren
Sinn, den Gutsuntertanen. Vgl. ALR § 147, II, 2; Codex Theresia.nus (1766), 2, 3, 17, wo
ebenfalls ein allgemeines Staatsbürgerrecht int.endiert ist.
702
IV. 8. 'Bürger', 'Staatsbürger' uncl 'Untertan' 1790-1830 Bürger.
Kindern eines öste"eickische.n St.aal.sbil.1(/e.rs dmr.h. difl Gtilr111rt ei,gen. Nach dem
preußischen Landrech~ ergab sich der Unterschied der drei großen Stände des Staats
- Adel, Stadtbürger, Bauern - fo<liglich aus der Art ihrer Ileschäftigurig und
Bestimmung; zum Bürgerstand, der alle diejenigen umfaßte, die nach ihrer Geburt
weder zum Adel noch zum Bauernstand gezählt werden konnten 137, gehörten so
verschiedene Gruppen von Staatsbewohnern, daß von einer festen Standschaft oder
„Genossenschaft" im politischen oder „sozialen" Sinne (der Ständelehre des frühen
19. Jahrhunderts) nicht die Rede sein konnte. Einziges Standesmerkmal war
eigentlich nur die Gleichheit des Untertanenverhältnisses138, was jedoch auf die
übrigen Stände genauso zutraf. Das setzte sich in den Edikten der preußischen
Reformzeit fort, wo der Begriff des Staatsbürgers ausdrücklich Verwendung fand.
So erklärte das Edikt über die Emanzipation der Juden (1812) diese für Einländer
und Preußische Staatsbil.rger (§ 1)139 • Vom Staat und seinem Herrscher her gesehen
erschienen die Staatsbürger freilich als Untertanen; die Emanzipation war nicht
ihr eigenes Werk, sondern das des Staates. Daher waren die preußischen Edikte all-
gemein an die „getreuen Untertanen" gerichtet. Der Souveränitätsanspruch des
Herrschers erschien nach 1815 als „monarchisches Prinzip", das nach § 57 der
Wiener Schlußakte (1820) für alle Staaten des Deutschen Bundes verbindlich war.
Dementsprechend Wurden schon die Verfassungen Bayerns und Badens von 1818
für un.sere Untertanen erlassen, ebenso die Verfassungen von Kurhessen und
Sachsen (1831 ). 1n Deutschland, merkte. EDUARD GANS 1832 in seinen „Vorlesungen
über Europäisches und ins Besondere Deutsches Staatsrecht" an, sind die Staats-
lYürger :noch Untertanen, bloß ein Fürst, der Großherzog von Baden, hat sie Staats-
angehörige genannt 140• Die Feststellung entsprach den Empfindungen des liberalen
Bürgertums, das von der fürstlichen Bürokratie bedrückt wurde. Doch waren in
den Verfassungen neben dem allgemeinen Untertanenrecht (Indigenat) staats-
lYürgerliche Rechte überall anerkannt, so daß gelegentlich auch von 'Staatsbürgern'
die Rede warm. Die bayerische Verfassung unterschied das lndigenat (Staats-
angehörigkeit), das den vollen Genuß aller lYürgerlichen, öffentlichen und Privatrechte
187 ALR § 1, II, 8. Vgl. da.zu REINHABT KoSELLECK, Preußen zwischen Reform und Revo-
lution (Stuttgart 1967), 52ff. 78ff. 89 u. Exkurs II über die Mehrschichtigkeit des recht-
lichen Sprachgebrauchs und dtll!lltln Wandel, 660 ff.
188 Vgl. MrrrEBMAIEB, .Art;. Bürgerstand, RO'l.'TECK/WELCKEB Bd. 3 (1836), 153.
188 Zit. ERNST RUDOLF HUBER, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1
(Stuttgart 1961), 45. Vgl. auch die Verordnung über den Landsturm (1813), §§ 1. 5, zit.
ebd., 51; Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volks (1815), § 4, zit. ebd.,
56. - Die zeitgenössischen Interpreten machten wie selbstverständlich vom Staatsbürger-
begriff Gebrauch, so HEINRICH v. KLEIST, Berliner Abendblätter 1 (1810), 200.
l&e EDUARD GANS, Vorlesungen über Europäisches und ins Besondere Deutsches Staats-
recht (Berlin, Sommer 1832), nachgeschrieben und durchgesehen von Immanuel Hegel,
Bestand des Juristischen Seminars der Universität Heidelberg, S. 134. GANS bezieht sich
offenbar auf die Badische Verf88Bung (1818), Art. 1, § 2, zit. HUBER, Dokumente, Bd. 1,
157.
m Bayrische Verf88Bung, Präambel 4, §§ 2. 9; 10, § 3; Badische Verfassung 1, § 2; 2, §§ 7.
9; 3, § 36; Kurhessische Verfassung 3, § 22; Sächsische Verfassung 3, §§ 25. 33; 7, § 78. Zit.
HUBER, Dokumente, Bd. 1, 141 f. 147. 155. 157 f. 161. 203 f. 228. 236.
703
Bürger IV. 8. 'Bürger', 'Staatshürger' und 'Untertan' 1790-1830
mit sich brachte, vom engeren Staatsbürgerrecht, das den· volljährigen und in
Bayern ansässigen Indigenen zukam. Ebenso trennten die badische und die sächsi-
sche Verfassung Staatsbürger von 'Landesangehörigen' (Baden) bzw. 'Landes-
einwohnem' (Untertanen). Die kur~essische Verfassung von 1831 kannte die
Unterscheidung von Staatsangehörigkeit, Ortsbürgerrecht in Stadt- und Land-
gemeinden und Staatsbürgerrecht, das zu ößentlichen Ämtern und zur Tei,lnakme
an der Volksvertretung berechtigte142. Bemerkenswert ist, daß der 'Staatsbürger'
in den Verfassungen von Württemberg (1819) und Sachsen-Coburg, in Ländern
also, wo es bisher noch keine „staatsbürgerlichen" Rechte gab, stärker hervor-
trat143.
Die 'Untertanen' oJer 'Staatsbürger' besaßen alle bürgerlichen Rechte, d. h. für
sie galten gleichmäßig das Privat- und Strafrecht und die verfassungsmäßig fest-
gelegten Grundrechte. Die ständischen Sonderrechte der alten bürgerlichen Gesell-
schaft wurden langsam außer Kraft gesetzt. So waren durch die preußischen
Reformedikte die Schranken des Grundbesitzerwerbs beseitigt worden; die recht-
liche Scheidung von adligen, bürgerlichen und bäuerlichen Gütern wurde aufge-
hoben, ebenso das Verbot für den Adel, einen bürgerlichen Beruf auszuüben. Ähn-
lich gestaltete sich in den anderen Staaten des Deutschen Bundes die Vereinheit-
lichung der bürgerlichen zur „staatsbürgerlichen" Gesellschaft144• In einigen süd-
deutschen Ländern wurden zu dieser Zeit durch neue Gemeindeordnungen auch
die bisherigen Unterschiede zwischen Vollbürgern und Beisassen oder Schutz-
verwandten aufgehoben145• Allmählich verschwand die ältere Bedeutung von
'füirger' (= privilegierter Stadtbewohner, dessen private und öffentliche Rechts-
stellung sich aus seinem Verhältnis zur städtischen Korporation ergab); wenn jeder-
mann überall im „Staat" Gewerbe treiben durfte, wenn die Stadt vor den Land-
gemeinden keine Vorrechte besaß, entfielen die traditionellen Gegensätze148, die
den Begriff bisher bestimmten.
sen-Weimar von 1816, wonach zur Repräsentation der „Staatsbürger" neben dem Stand
der Rittergutsbesitzer (11, davon 1 die Universität Jena) und Bürger (10) auch dor Bo.uorn-
stand (10) zugelassen war. Die Rittergutsbesitzer konnten auch bürgerlicher oder bäuerli-
cher Herkunft sein; der Landmarschall durfte allerdings nur aus ihrer Mitte gewählt wer-
den.
m Vgl. Badische Gemeindeordnwig v. 31. 12. 1831, § 2; Württembergische Gemeindeedikt
(1822), § 6; Kurhessische Gemeindeordnwig (1834), § 54.
148 Vgl.MrrTERMAIER,Art.Bürger,ERSCH/GRUBERl.Sect„Bd.12(1824),364f.mitdemHin-
weis auf den Einfluß, den die französische Gesetzgebwig nach 1800 in den rheinischen Pro-
vinzen ausgeübt habe, wo der Bauer ebenaowohl. sich Bürger nennt. Inwieweit auch die lokale
Amtssprache der preußischen Monarchie nach 1807 die neuen Begriffe aufnahm,.zeigt eine
Meldung bei HEINRICH v. KLEIST, Berliner Abendblätter 2 (1811), 203 über die allgemeine
Militär-, Konskriptions- und Dispensations-Verordnung für das Großherzogtum Fr11:nk-
furt: Dem. Grundgesetze gemäß ist jeder Staatsbürgers- und U ntertanasohn, ohne Unterschied
des Standes und der Religion, zur Leistung der Kriegsdienate verpflichtet ... Die Konskrip-
tion umfaßt alle Staatsbürgers- und Untertanssöhne vom 19. bis zum 25. Jahre.
704
IV. 8. 'Bürger', 'Staatshürgv' -·'Untertan' 1790-1830 Bürger
147 Vgl. KARL FRIEDR. EICHHORN, Einleitung in das deutsche Privatrecht (Göttingen 1829),
196f.
148 Vgl. EDUARD GANS, Beiträge zur Revision der Preußischen Gesetzgebung (Berlin
1830/32), 287 f.
u 9 Ebd., 288. Dazu KosELLECK, Preußen, 560 ff.
uo Vgl. HUBER, Dokumente, Bd. 1, 248 f.
m Vgl. M.aterialien zur Regierungsgeschichte Friedrich Wilhelms IV. (Königsberg 1842),
76; Thronrede zur Eröffnung des ersten Vereinigten Landtags, zit. KARL BIEDERMANN,
Geschichte des ersten preußischen Reichstages (Leipzig 1847), 17 ff.
45-90385/1 705
Bürger IV. 9. ,,Bürger", ,,Memeh", ,,Privatperson": Hegel
WIG VON HALLER vertrat schon zu einer Zeit, als die Verfassungen von Baden,
Württemberg und Bayern eben erlassen worden waren, die Auffassung, man solle
überhaupt nicht von Bürgern odCr Staatsbürgern reden, sondern, wie, es ehemals
geschah, im Eingang ie.<lßr landesherrlichen Verordnung die verschiedenen Klassen
von Untertanen aufzählen, damit ein jeder erkenne, in welchem Verhältnis er gegen
den Fürsten stehe152 •
706
IV. 9. ,,Bürger", „Mensch", ,,Prtvatpenon"a Hegel Bürger
schichtlichen Wirklichkeit einer VereinigWlg Platz gemacht hatte. Die Rechte des
Menschen erwiesen sich als Rechte des Bürgers, sofern er Mitglied der vom Staat
getrennten (modernen) „bürgerlichen Gesellschaft" war. Nach Hegels Darstellung
war der Mensch des Naturrechts, der Repräsentant der menschlichen Gattung,
eingeschmolzen in ihre natürliche Bedürftigkeit, in das Konkret,um der Vorstellung,
das man Mensch nennt. Dieses Konkretum. des Menschen, weit davon entfernt,
die menschliche Gattungsvernunft zu repräsentieren, unterlag ·dem Mitglied der
bürgerlichen Gesellschaft, dem Bürger als 'bourgeois', wie Hegel erläuterte153• Als
bloßer, d. h. natürlicher Mensch, :war der Mensch Bedürfniswesen, und als Bedürf-
niswesen war er Privatmensch. 'Mensch' und 'Bürger' standen sich nicht mehr,
wie im 18. Jahrhundert, gegenüber, sondern der 'bourgeois' enthielt den Menschen
in sich.
Das ist der eigentliche Kern jener Umwälzung, an deren Beginn, mit der Erklärung
der Menschenrechte der Französischen Revolution, die Freiheit des Menschen als
Monsohen zum Grund der Verfassung von Staat und GeeelIBchaft gesetzt wurde.
Damit erlangte ein Rechtszustand Wirklichkeit, in dem der Mensch galt, weil er
Mensch, und nicht, weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener, usf.
ist154• Der Mensch ...,..- das war, wie Hegel sagte, keine ßacke, abstrakte Q·ualilät,
sondern beinhaltete, als rechtliche Person in der bürgerlichen Gesellschaft zu gelten 155,
Subjekt des Privatrechts, des „bürgerlichen" Rechts zu sein.
Soweit man den Nachschriften folgen darf, leitete Hegel in seinen Vorlesungen
diesen Abschnitt der Rechtsphilosophie mit dem Hinweis auf den französischen
Begriffsgegensatz 'citoyen'/'bourgeois' ein: Die bürgerliche Gesellschaft hat zu ihrer
Grundl,age, ihrem .Ausgangspunkt das besondere Interesse ileJr bu1'ivid•uen. Die Fran-
zosen machen einen Unterschied zwischen bourgeois und. citoyen; das erste ist das
Verhältnis des Individuums in einer Gemeinde, in Rücksicht der Befriedigung seiner
Bedürfnisse, hat so keine politische Beziehung, diese hat erst der citoyen. Hier bet,rach-
ten wir nur die Individuen als bourgeois 156 • Der Gegensatz spielte bereits im po-
litischen Denken des jungen Hegel eine große Rolle; hier wurde der 'citoyen' ge-
schichtlich mit der attischen Polis, das Aufkommen des 'bourgeois' mit dem Unter-
gang des republikanischen Rom in Parallele gesetzt157 • Gelegentlich bezog Hegel
das Verhältnis auch auf das alte Reich, auf das Begriffspaar 'Spieß- und Reichs-
bürger', was aber sicherlich eine wehr ironisch gemeinte Erläuterung war - Aus-
druck der von ihm gleichfalls konstatierten Schwierigkeit158, den französischen
Gegensatz im Deutschen angemessen wiederzugeben: Beide Individualitäten (sind)
(1927), 499.
168 Vgl. ders„ Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Tl. 2, SW Bd. 18 (1928),
400: bürgerliche Freiheit (für bourgeoia und citoyen haben wir nicht zwei Worte) iBt ein not-
wendigea Moment, das die alten Staaten nicht kannten. '
707
B~er IV. 9• ..Biiqer", ,.,Mensch„, ~Tatperson": Hegel
... dieselben. Derselbe sorgt far sich und seine Familie, arbeitet, schließt Verträge
usf. und ebenso arbeitet er auch für das Al"lgemeine, hat dieses zum Zwecke. Nach fener
Seite heißt er bourgeO'is, nach dieser vituyen. Am R11.mle lllerkte Hegel dazu an:
Spieß- und Reichsbürger, einer so sehr formaler Spießbürger als der andere159•
Es gehört zu den bleibenden Einsichten Hegels, daß der Bürgerbegriff nicht
losgelöst werden kann von der geschichtlichen Bewegung, in die er jeweils ver-
schränkt ist. Der 'Bürger' galt ihm nicht abstrakt als 'Staatsbürger', sondern er
konnte, sofern er Bürger dieses Staats war, zunächst nur 'Privatperson' sein:
Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche· ihr eigenes
Interesse zu ihrem Zwecke haben 166• Die Vermittlung mit dem Staat, die eines der
zentralen Probleme der Regelsehen Staatslehre bildete (§§ 288 ff.), war nicht eine
„Begriffsbestimmung" dieser Personen, sondern der „Stände", Landstand (Adel,
Bauern) - Gewerbestand (Handwerker-, Fabrikanten-, Handelsstand) - Be-
amtenstand, die ihre „gesellschaftliche" Wirklichkeit waren. Wie Hegel es einer-
seits peinlich vormiod, dio Personen als 'Staatsbürger' zu bezeichnen, so vermied
er andererseits, den „Stand des Gewerbes" 'Bürgerstand' zu nennen161 ; denn als
die ihre eigenen Interessen verfolgenden 'Privatpersonen' waren die Mitglieder der
einzelnen Stände insgesamt 'Bürger'. Dieser Begriff war ebenso universell wie der
des 'Menschen', in dem er seine Baais l1attP.. AhP.r 1'1P.r l\fonAr.h w1i.r Privatmensch,
Subjekt des Rechts der bürgerlichen Gesellschaft und nicht des Staates. Politische
Bedeutung konnte der bürgerliche „Privatstand" erst durch die Vermittlung des
ständischen Elements erlangen. Nach Hegel war es die eigentümliche Begriffsbestim-
mung der Stände, daß in ihnen das subfektive Moment der allgemeinen Freiheit, die
eigene Einsicht und der eigene Wille in der Sphäre, die in dieser Darstellung bürger-
liche Gesel"lschaft genannt worden ist, in Beziehung auf den Staat vwr Ewistenz lcommt162•
Die Bestimmung, Mitglied des Staats zu sein, blieb abstrakt, wenn die Privatperson
nicht Mitglied eines solchen Standes, einer Genossenschaft, Gemeinde, Korporation,
war163• In deren „politischer" Gliederung sollte sich die Differenz von 'bürgerlicher
in Ders., Jenenser Realphilosophie II. Die Vorlesungen von 1805/06, hg. v. Johannes Hoff-
meister (Leipzig 1931), 249. - Der Begriff 'Spießbürger', möglicherweise eine mittelalter-
liche Bezeichnung des wehrhaften Stadtbürgers, ist mit Sicherheit erst seit de:oi. 17. Jahr-
hundert belegt; KLuGEjMrrZKA. 19. Aufl.. (1963), 727. Der ursprünglich studentische Spott-
name wurde im 18. Jahrhundert verallgemeinert: Jetzt braucht man ea nur in veriichtlickem
Ver8tand von einem jeden geringen Bürger; .ADELUNG Bd. 4 (1780), 582.
Ho HEGEL, Rechtsphilosophie,§ 187.
181 Vgl. dagegen noch Jenenser Realphilosophie II, 255 f. In der Rechtsphilosophie erachien
der Gewerbestand als die bewegliche Seite der bürgerlichen Geaelhchaft (§ 308), ~ eine Kenn-
zeichnung, die auch sonst zu dieser Zeit bei der Gegenüberstellung von Adel (Grundbesitz)
und Bürgerstand (Gewerbe) begegnet. Vgl. auch FRIEDRICH ScBLEIERllliCHER, Die Lehre
vom Staat (1829), SW 3. Abt., Bd. 8 (1845), 55; KABr. Vo:r,LGRAFF, Die Täuschungen des
Repräsentativ-Systems (Marburg 1832), 68 f.
m HEGEL, Rechtsphilosophie,§ 301. Vgl. auch§ 300.
168 Ebd., § 308. Die „Abgeordneten" der bürgerlichen Gesellschaft sollen. nicht, wie die
708
IV. 10, Domo.kmtischo und koll801'Votivo Theorie Bürger
Oesell8chaft' und 'Staa.t', 'bourgeois' und 'citoyen' so „aufheben", daß die von der
konstitutionell-liberalen Theorie geforderte, unter den Bedingungen des modernen
Staatslebens aber nicht realisierbare Erweiterung der 'Privatperson' zum 'Staats-
bürger' hinfällig wurde164.
gischen Landstände (1816), SW Bd. 6 (1927), 369 ff., vor allem a.ber die Auseinandersetzung
mit der liberalen Theorie in der 2. Ausg. der „Enzyklopädie der Philosophischen Wissen-
schaften" (1827), § 544, SW Bd. 10 (1929), 420 ff., bei der ebenfalls betont von Bürgern im
St,a,a,t (und nicht „Sta.a.tsbürgern") die Rede ist.
184 An iliesem Punkt. setr.t.e sowohl die Kritik der liberalen Bewegung ein - RoTTECK/
WELCKER Bd. 15 (1843), 59 - , wie auch derjenigen unter Hegels Schülern, die dem Vor-
märzliberalismus am nächsten standen. Typisch die Feststellung von .ARNOLD RuGE, Aus
früherer Zeit, Bd. 4 (Berlin 1867), 381: Hegel fehlt der Begriff des Swtabürgers, zu dem sich
je,der selbst bestimmt, indem er denkend und handelnd in die allgemeine Entwicklung mit ein-
tritt. Die Beobachtung ist sachlich richtig. Selbst wenn HEGEL das Wort 'Sta.a.tsbürger'
verwendet, hat es in der Regel keine bestimmte Prägung; vgl. schon: Theologische Jugend-
schriften 1795---1800 (Tübingen 1907), 174. 197, ferner: Die Verfassung Deutschlands
(1802), in: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, hg. v. Georg Lasson, 2. Aufl.
(Leipzig 1923), 10. 12. 22. 26. 28; Über die Verhandlungen der württembergischen Land-
stände (1816), SW Bd. 6 (1927), 372; Bericht a.n das Königl. Preußische Ministerium des
Unterrichts v. 7. 2. 1823, SW Bd. 3 (1927), 334.
16b .lfRIEDRICH .BUCHHOLZ, Journal f. l>eutschla.nd 2 (1815), 314 ff. 320 ff.
188 Ebd., 324. Vgl. schon JAKOB FRIEDRICH FRms, Philosophische Rechtslehre (Jena. 1803),
132, für den je.der Eingeborene im Volke Swtabürger ist. Da.ß mit der Aufhebung der Leib-
eigenschaft die Grenze zwischen Bauer und Bürger, Stadt und La.nd entfalle, vermerkt
LORENZ ÜKEN, Isis 10 (1817).
709
Bürger IV. 10. Demokratische und konservative Theorie
gertums geht auf Ludwig Tieck und W. H. Wackenroder zurück. Auch bei TIECK begegnet
die Frage, ob es denn nicht mögUch aei, eine .Art von Bürgeradel oder eine begründete Bürger-
lichkeit zu atiften,· Ges. Novellen, Bd. 3 (Berlin 1853), 253. Vgl. JosEPH FRH. v. EicHEN-
DORFF, Werke u. Sehr., Bd. 2 (1958/59), 1041 f.
110 MüLLER, Staatskunst, Bd. 1, 305, vgl. vor allem 311 :ff.
710
IV. 11. Konstitutionell-liberaler Bürgerbegriff Bürger
Der Einbruch des geschichtlichen Bewußtseins war für die Struktur des Bürger-
begriffs in der Zeit nach 1815 charakteristisch. Das galt besonders für die liberale
Theorie, die nun umgekehrt den Begriff des Staatsbürgers historisch zu bestimmen
suchte. Während der Historismus der Romantiker nur negativ, die Entdeckung
der Vergangenheit Mittel zur Distanzierung von Gegenwart und Zukunft war,
übernahm diese bei den Liberalen die Aufgabe einer positiven Begründung der
gegenwärtigen Zustände und ihrer „organischen" Fortentwicklung in die Zukunft.
Im Vordergrund stand der Nachweis 171, daß 'Bürger' schon im 16. Jahrhundert
die neue Bedeutung von „Staatsbürger" zu erhalten begann, die mit der Aus-
bildung der Landeshoheit verknüpft sei. Der geschichtliche Weg des Bürgers be-
schloß sich nicht, wie für die Anhängex der Romantik, in der mittelalterlichen
Stadt, sondern führte über sie hinaus auf den neu.zeitlichen „Staat", dessen „Kon-
stitution" den eigentlichen Mittelpunkt des liberalen Interesses bildete. Als konsti-
tutionelle Staaten wurden diejenigen angesehen, in denen die Bürger als freie
Genossen und Glieiler des regierten Volkskörpers (der sogenannten bürgerlic"hen Ge-
sellschaft) in Erscheinung tratenl 7 2.
Im Unterschied zur Regelsehen Vermittlungstheorie repräsentierten die Bürger
nicht das „ständische Element", sondern, zugleich mit der „poliLi1mh" v„rfu.ßLen
bürgerlichen Gesellschaft, sich selbst als autonome Rechtspersönlichkeiten, d. h.
als „Staatsbürger", die ihre re.chlliche und angeme.ssene Bt.ell1J.'fl{J und GlieÄerung in
Gemeinden, Provinzen, in Volks- und V ertreterversamm.lungen und die hierhin ge-
hörigen sta.a.f.sbii.r(Jerlir.h.en "fi'rt'!l:hR.i.t.~rej.,hJ.e z1J.r Verwirklichung und Vertretung ihrer
Privat- und ihrer Verfassungs- und Konstitutionsrechte gegenüber der Regierung
erhielten. Die mit dem regierten Volkskörper identische bürgerliche Gesellschaft
der Liberalen war selbst politisch „organisi~rt"; ihre Organe waren, neben Gerichten
und öffentlichen Kammern, alle Staatsbürger mit ihren konstitutionellen Rechten
der Petition, der Vereine, der Presse, der Wahlen 1 7 3 • Wie der Begriff des 'Staats-
bürgers' dem des 'Untertanen', so wurde die Lehre von der 'staatsbürgerlichen'
171 MrrTERlllAIER, Art. Bürger, RoTTECK/WELCKER Bd. 3, 149. Dazu auch BLUNTSCHLI,
Art. Bürgerstand, BLUNTSCHLI/BRA.TER Bd. 2 (1857), 302; KARL WELCKER, Art. Stand,
Unterschied der Stände, RoTTECK/WELCKER Bd. 15 (1843), 105 ff.; ders., Das innere und
äußere System der praktischen natürlichen und römisch.christlich-germanischen Rechts-,
Staats- und Gesetzgebungslehre, Bd. 1 (Stuttgart 1829), 327 ff.; ders., Art. Staatsverfas-
sung, RoTTEbK/WELCKER Bd. 15, 24 ff. In der 3. Aufl., Bd. 13 (1865), 568 schreibt J. HELD
am Beginn des Art. Staatsbürger: Der Be,griff von Staatsbürger gehört, wenigBtena in Beinem
8pezifiscken gegenwärtigen Sinne, erBt dem neuem Staatsrecht an, ob er Bich gleich an ältere
Muster anachließt.
172 Vgl. WELCKER, Art. Staatsverfassung, RoTTECK/WELCKER Bd. 15, 59. Vgl. KA:a.t.
STBINACKER, Art. Verfassungsprinzip, ebd., 697; FRIEDR, WILH. AUGUST MUR11ARD, Art.
Staatsverwaltung, ebd., 89; WELCKER, Art. Stand, Unterschied der Stände, ebd~, J32.
1 78 WELCKER, Art, Staat, RoTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 13 (1865), 512; ders., ffllstem,
Bd. 1, 202 ff: (s. Anm. 171). .
711
Bürger IV.11. Konstitutioneß·liheraler Bürgerhegriff
1 7' Vgl. RoTTECK, Art. Konstitution, RoTTECK/WELCKER Bd. 3, 172f.; WELCKElt, Art.
Staatsverfassung, Bd. 15, 75; CARL v. RoTTECK, Lehrbuch des Vemunftrechts und der
Staatswissenimha.ft.en, Rrl. 2 (Stuttgart 1830), 224 ff. Charakteristisch ist, daß es bei ROT·
TECK/WELCKER keinen Art. Untertan gibt. Vgl. auch WAGENER Bd. 19 (1865), 610, Art.
Staatsbürger.
176 WELCKEB, Art. Staatsverfassung, RoTTECK/WELCKER Bd. 15, 78. Zu den typisch
„liberalen" Begriffsbildungen zählten neben 'Staatsbürgerschaft' und 'Staatsbürgerrecht'
auch 'Staatsbürgerstand' (ebd., Bd. 15, Art. Stand) und 'Staatsbürgertum' (ebd., Bd. 15,
690, Art. Verfassungsprinzip).
178 So RoTTECK, Art. Constitution, RoTTECK/WELCKER Bd~ 3, 774; vgl. ders., Lehrbuch,
Bd. 2, 128f.
177 Vgl •. BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 9 (1865), 663, Art. Staatsangehörige, Staatsbürger;
KRuG Bd. 1, 345 f. Doch ~hte das „Staatswörterbuch" von Bluntschli/Brater nach den
Erfahrungen der Jahre 1848/49 Bedenken geltend; wenn man glaube, die letztere Klasse
könne ihr Staatibürge"echt in unruhigen, kritischen Zeiten mi/Jbrauchen, so ist darauf hin-
zuweisen, daß die Gefahr fürs Gemeinwe8en dad,urch nicht verringert wird, daß man diese
Klassen als 1>0litisch mundtot oder handlungB'Unfähig erklärt. Man verweist sie dann von An-
fang an auf den Gebrauch der phyBischen Gewalt (664). Hinweise dieser Art fehlten bei
HELD, Art. Staatsbürger, RoTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 13, 568 ff.
712
IV. 12. Genesis der ,,bürgerlichen" Klas11enterminologie Bürger
Die Verbreitung des Wortes 'Bürgertum' geht auf die gleiche Epoche zurück,
welcher der Staatsbürgerbegriff seine Ausbildung verdankt. Obwohl schon während
de1:1 10. uud 17. JahrhuuderLtlm.whwei1:1u1u.1711 , empfuig e1:1 relaLiv 1:1päL, uuLer de111
Einfluß der Ideen über Menschen- und Bürgerrechte, eine feste begriffliche Form,
zuerst wohl bei FICHTE. 'Staat' und 'Bürgertum' waren bei ihm, nach dem klas-
sischen Muster der Identität des „bürgerlichen" mit dem „politischen" Leben (vita
civilis sive politica.), Korrelationsbegriffe: Die Menschheit sondert aich ab i•om Biirger-
tum, um mit absoluter Freilteit swh zur Moralität zu erheben; dies aber nur, inwiefern
tler Mensch durch den Staat hindurchgeht180. Die Gleichsetzung von 'Staat' und
'Bürgertum' blieb auch für die Zeit nach 1800 in Geltung; 'Bürgertum' war hier
zunächst nur ein neues Wort für die alte Bezeichnung 'bürgerliche Gesellschaft'.
Das geht aus einer Stelle von W. T. KRUGS „System der praktischen Philosophie"
(1818) _klar hervor. Eine gegebene Menschenmenge, die man wegen ihrer natürlichen
V erwandt,sckaft ein Volk nennt, konstituiert swh erst dadurch zu einem rechtlichen
Gemeinwesen, . . . daß es diejenige Daseinsform annimmt, welche Bürgertum heißt,
1nitkin sicli zu eitier Bürgergesellsclia/t oder e·inem Staat gestaüetUI. Wie der 'Bürger'
Zum 'Staatsbürger', so konnte sich das 'Bürgertum' zum 'Staatsbürgertum' er-
weitern - auch dies ein Wort, das vorzugsweise vom konstitutionellen Liberalismus
178 Die Gegensätze prallten vor allem in der Diskussion des Abschn. 6, Art. 1, § 132 (Jeder
Deutsche hat das deutache ßf,ao,tsbürge"echt) und Art. 2, § 137 (Vor dem Gesetz gilt kein Unter-
schied der Stände. Der Adel als Stand ist aufgelwben. Alle Standesvorrechte sind abgeschafft.
Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich) aufeinander. Vber die Bedeutung von§ 132 vgl.
Sten. Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 2 (1848), 957. Die altliberale Gegenposition formulierte
ROBERT MoHL, ebd., 876: Wir wünschen, daß die Aufnahme in das Sf,ao,tsbürge"echt eines
andern deutschen Sf,ao,tes geknüpft werde an die Unbescholtenheit und den genügenden Unter-
halt dessen, der für sich und seine Familie aufgenommen sein will. Der Gegensatz Adel -
Bürgertum kam bei der Debatte um§ 137 zum Ausdruck; vgl. auch HERBERT ARTHUR
STRAUSS„ Staat, Bürger, Mensch. Die Debatten der deutschen Nationalversammlung
1848/1849 über die Grundrechte (Aarau 1947), 97 ff.
178 RWB Bd. 2 (1932), 615.
18 0 FICHTE, Grundlage des Naturrechts (1796), SW Bd. 3, 206. Bei Fichte waren die Be-
713
Bürger IV.12. Genest. der nhOrgerUchen" Klassenterminologie
aufgenommen und verbreitet wurde181 • Zur gleichen Zeit traten jedoch die .Hegriffe
'bürgerlich', 'zivil' (im Sinne von „privat") unil 'polit.ii:mh', 'Rtaat.abürgerlich' aus·
einander183, und zwar gerade hinsichtlich der GrUn.dworte der „staatsbürgerlichen"
Emanzipation. Die Notwendigkeit einer Unterscheidiµig betonte schon Krug:
Bürgerlich heißt alles, was den Bürger oder das Bürgertum betrifft. Daher nennt man
auch den Staat selbst ein bürgerliches Gemeinwesen oder eine bürgerliche Gesellschaft.
Doch enthält das Wort oft noch eine nähere Bestimmung durch gewisse Beisätze und
Gegensätze. „Beisätze" dieser Art, die seine Bedeutung einschränkten, waren Frei-
heit und Gleichheit; so verstand man unter 'bürgerlicher Freiheit' die Unabhängig-
keit von der Staatsgewalt, die rechtliche Sicherung des Privatlebens durch Gleich-
heit aller vor dem Gesetz, unter 'politischer' oder 'staatsbürgerlicher Freiheit' das
Recht, an ihr teilzuhaben18'. Dem entsprach eine „engere" und „weitere" Bedeu-
tung im Bürgerbegriff, der Unterschied zwischen aktivem und passivem Staats-
bürger, der jetzt einen „sozialen" Charakter anzunehmen begann: Dieser Passiv-
bürger genießt nämlich bloß den Schutz des Staats ·in .Anselvuny seiner Pers()'fl, und
.seines Eigentums. Jener aber nimmt an dem Staatsleben einen tätigen .Anteil, der nach
den Umständen größer oder geringer sein kann186• Überträgt man diese Unterschei-
dung auf das 'Bürgertum' bzw. 'Staatsbürgertum', so ergibt sich .von selbst eine
„1m?.i11.lf~" niff1mm:r.i1mmg in diesem Begriff. Die bereit11 während d&S 18. Jahrhun-
derts getroffene Unterteilung des ständischen Bürgerstandes in 'Groß-' und 'Klein-
bürger'lllU setzte sich fort in der des 'Staatsbürgertums', das in diese beiden „Klas-
sen" auseinanderfiel, wobei zur letzteren nun die preite Masse der „Unselbstän-
digen" ,hinzukam. Der „bürgerliche" Konstitutionalismus, der nach 1815 das
revolutionäre Prinzip des allgemeinen Staatsbürgertums (souffrage universel) nicht
aufnahm, schloß in Deutschland an· die hi11toruch hergebrachten Zustände an.
Der Anteil an den Staatsbürgerrechten (politische Wahlfähigkeit) war durch die
Zugehörigkeit zu bestimmten Ständen, durch die Höhe des Vermögens (Zensus-
182 Teile in Abhebung von dem durch den absolutistischen Staat geschaffenen „Untertanen-
verband" (HELD, Art. Staatsbürger, RoTTECKfWELOKER, 3. Aufl., Bd. 13, 569 f.), teile in
Entgegengesetzimg zum „dynamischen" Prinzip des europii.iechen Stootcnsystcme. Vgl.
JoH. GuST.A.V DBOYBEN, Die politische.Stellung Preußens (1845), Polit. Sehr., hg. v. Felix
Gilbert (München, Berlin 1933), 59
1aa -+ Gesellschaft, bürgerliche.
lH KRuG Bd. 1, 347. Vgl. K.uu. SA.LOMO Z.A.OHARI!, Vierzig Bücher vom Staate, Bd. 1
(Stuttgart 1820), 38; K. H. L. PöLITz, Die Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit,
Bd. 1 (Leipzig 1823), 175 f.
186 KRUG Bd. 1, 345 f.
188 Vgl. JoH. FRIEDRICH GoLDBEOK, Volls~ndige Topographie des Königreichs Preußen,
Bd. 1 (Ma.rienwerder 1785), 7. Das „Preußische Landrecht" unterschied 1794 den „höheren"
vom „niederen" Bürgerstand: zum höheren Bürgeratand wurden hier gerechnet alle öffent-
lichen Beamte, ... Gelehrte, Künatler, Kaufleute, Unternehmer erheblicher Fabriken und die-
jenigen, welche gleiche Achtung mit diesen in der .-bürgerlichen Geaellsckaft genießen (ALR
§ 31, II, 1). Vgl. auch C',00.ex Bava.ricue civilis (1756; Ausg. München 1821), 4, 10, § 4~ Der
Begriff'Kleinbürger' ist übrigens weder bei Adelung (1775) noch bei Campe (1808) notiert;
er erscheint relativ spät bei HOFFMANN Bd. 3 (1861), 431: Kleinbürger: der kleine Bürger in
einer Stadt, der nicht viel Verm.-Ogen hat.
714
IV. 12. Geaesi& der "bürgerlichen" Klassenterminolosie Biirger
wahlrecht) und die Zugehörigkeit zu einer der drei christlichen Konfessionen be-
dingt. Das deutsche Staatsbürgertum war, wie man nicht zu Unrecht gesagt hat,
meist eine Mischung von ständischen, wirtschaftlichen und konfessionellen Elemen-
ten und somit auf eine unverhältnismäßig geringe Zahl von Staatsangehörigen
beschränkt, ohne daß dieselben zusammen eine sell>stbewußte Standesaristokratie,
wie dies in England der Fall, gebi,ldit und als sokhe eine politische Macht gehabt
kiiJten18 7• Dem stand der schon erwähnte schroffe Gegensatz zwischen Adel und
Bürgertum entgegen. Es ist bezeichnend, daß die frühesten Versuche, den Begriff
der bürgerlichen „Klasse" mit Hilfe von franz. 'bourgeoisie' zu bestimmen, nicht,
wie in Frankreich188, von der Entgegensetzung 'bourgeoisie'/'peuple' (L. Blanc) bzw.
'bourgeois'/'proleta.ire' (Sismondi, Saint-Simon), sondern von den alten ständischen
Gegensätzen ausgingen: Bürgerstand, Bourgeoisie, eine zahlreiche Klasse, welche alle
Freie unter sich begreift, die weder zu dem Adel noch zu dem Bauernstande gerechnet
werden können. Man unterscheidet daher den Staatsbürger, Citoyen, und den eigentlich
sogenannten Bürger einer Stadt, von den Bürgerlichen überhaupt, Bourgeois189 • Doch
drang der französische Einfluß vor 1840 nicht durch; das Wort wurde von den
Liberalen allgemein vermieden, obwohl gerade sie es waren, die anstelle der poli-
tischen Kriterien der altständischen Gesellschaft die „sozialen" der sich auch in
Deutschland entfaltenden Erw,:irbs- und Wirtschaftsgesellschaft setzten. Sie nah-
men an, daß für „konstitutionelle" Regierungssysteme nicht mehr die bisherigen
Ständeabteilungen, sondern die Unterschiede in vermögliche und unvermögliche Bürger
und vollends die in sell>ständige Familienväter und in persönlich abhängige Leute
von Bedeutung waren190• Der Besitz eines Vermögen.S verlieh das Recht dt1r Tt1il-
nahme an der Staatsgewalt, womit der „Staatsbürger" sich von der übrigen Masse
der Staatsangehörigen, den Besitzlosen, scharf abhob. Dit1 politiimht1 Funktion, die
der Besitz erhielt, schloß eine „soziale" in sich ein, deren Folge die Polarisierung
des Staatsbürgertums in „Klassen" war. Ihr entsprach das .Bestreben des Bürger-
tums, sich durch den Erwerb von Besitz und Bildung des Staates zu bemächtigen.
Während die „bürgerliche" Lebensweise im 18. Jahrhundert stets als einfach und
bescheiden geschildert wurde 191, verkündeten die „Bürger" in HEINRICH LAUBES
715
Bilrger IV.13. Man: und Engels
gleiohnamiger Novelle (1837): Besitz ist die Losung unserer Tage1 92. Die Gleich-
.setzung von 'Bürgertum' und 'Bourgeoisie', mit der laut TREITSCHKE die Schrift-
steller des Jungen Deutschland den Anfang machten193, erfolgte in den vierziger
Jahren.
Ein wichtiger Vermittler französischen Ideengutes war LORENZ VON STEIN. Er be-
griff das „Staatsbürgertum" als spezifische Gestalt. der modernen Erwerbsgesell-
schaft und deckte die „soziale" Kausalität auf, die der scheinbar universell-recht-
liche Begriff in sich enthielt194. Für ihn repräsentierten „Bürgertum" und „Bour-
geoisie", ähnlich wie in Frankreich, die „Mittelklasse" der Gesellschaft. Nach Stein
haben wir es in Deutschland allerdings erst mit den Anfängen der Bildung einer
Mittelklasse zu tun, die in dem Begriff und Wesen des sogenannten Bürgertums, der
Bourgeoisie, die wirtschaftlich in dem V ersuch der Kapitalassoziationen, gesellschaftlich
in dem der Bildungsvereine aller Art ihren ersten Ausdruck findet 195 •
Während Hegel den liberalen Begriff des Staatsbürgers nur negierte, ohne sich mit
ihm näher auseinanclerzlll!eLzeu, wurde er bei MAßx zum Gegenstand einer hi-
storisch-kritischen Analyse, in deren Verlauf 'Bürger' wie 'Staatsbürger' P.intm
neuen Gegenbegriff erhielten. Ausgangspunkt war die Kritik an Hegels Rechts-
philosophie, der Marx zu Recht zum Vorwurf machte, die von ihr kritisierte Sache,
das staatsbürgerliche H.epräsentativsystem des Liberalismus, nicht beim Namen
gP.na.nnt r.u haben196. Die Vermittlung zwischen "bürgerlicher Gesellschaft" und
Staat brach auseinander, indem Marx Rousseaus Unterscheidung zwischen 'homme'
und 'citoyen' uni! r.ugleich Hegels Identifizierung des 'bourgeois' mit dem 'Mon„
sehen' heranzog. Auf der Basis dieses doppelten Maßstabes und in genauerer
Kenntnis der Folgen der „staatsbürgerlichen" Emanzipation seit 1789 exponierte
Marx die Differenz von 'bourgeois' und 'citoyen' als die des 'homme' mit sich
selbst, der nicht nur „Bürger dieses Staate" (Hegel), sondern dieser Mensch (in
einer je bestimmten „gesellschaftlichen" Lebenssituation befindliches Individuum)
182 HEINRIOH LAUBE, Das Junge Europa. Die Bürger, Ges. Sohr., Bd. 7 (Wien 1876), 163.
Vgl. o.uoh die Schilderung des Gegensa.tzes Adel - Bürger, in: D11.11 Jwige Europa. Die
Poeten, Ges. Sohr., Bd. 6 (1876), 107 f.: Der Vorzug dea größeren Besitzea machte es ihm
(dem Adel) rwchlange Zeit möglich, eine höhere Kla8se zu reprä8entieren. Der spekulative
Geist des Bürgers riß nach und nach einen großen Teil dieses Besitzes an sich.
1 9 8 HEINRICH v. TREITSCHKE, Historische und politische Aufsätze, 3. Aufl. (Leipzig 1867),
356.
lH Vgl. LoRENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1794 bis
auf unsere Tage, hg. v. Gottfried Salomon, Bd. l (Ndr. d. 3. Aufl. 1850; München 1921),
476. Vgl. auch die 2. Aufl. u. d. T.: Der Socialismus und Communismus des heutigen Frank-
reich, Bd. 1 (Leipzig 1848), 34.
190 Ders.,·System der Staatswissenschaft, Bd. 2 (Stuttgart, Tübingen 1856)', 334. - Die
Anwendung des Klassenbegriffs war in Deutschland relativ selten, im allgemeinen domi-
nierten die Verbindungen mit 'Stand' ('Mittelstand/Bürgerstand'). 'Bürgerklasse' wurde in
den Wörterbüchern erst bei HOFFMANN Bd. 1 (1861), 592 verzeichnet.
198 K..uu. :MA&x, Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843), MEW Bd. 1 (1957), 279.
716
IV. 13. Man uncl EageJa Bürger
sei. Was Hegel am Beispiel des Wechselverhältnisses von 'bourgeois' und 'Mensch'
andeutete, brachte Marx in seiner Auseinandersetzung mit der konstitutionell-
liberalen Theorie energisch zur Geltung: die Korrelation von 'Mensch', 'Bürger'
und 'Staatsbürger': Bürgerliche Gesellschaft und Staat sind getrennt. Also ist auch
der Staatsbürger und der Bürger, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, getrennt.
Er muß eine wesentliche Diremption mit sich selbst vornehmen . . . Um also als wirk-
licher Staatsbürger sich zu verhalten, politische Bedeutsamkeit und Wirksamkeit Z'/.'
erhalten, muß er aus seiner bürgerlichen Wirklichkeit heraustreten, von ihr abstrahieren,
von dieser ganzen Organisation in seine Individualität sich zurückziehen; denn die
einzige Existenz, die er für sein Staatsbürgertum findet, ist seine pure blanke Indi-
vidualität197.
Aber die Individualität, der „Mensch", war nichts ohne diesen Menschen, das
Individuum oder den Bürger als Privatperson. Er stand dem „Staatsbürger" nur
deshalb gegenüber, weil er ständig aus ihm entlassen wurde. Die Emanzipation des
Staatsbürgers war keine Emanzipation des Menschen (im Sinne des „homme" von
Rousseau), sondern des Individuums und seiner partikularen („privaten") Lebens-
situationen. Der Differenz zwischen dem „religiösen" Menschen u.nd dem „Staats-
bürger", die nach Marx z. B. die staatsbürgerliche Emanzipation des JudentWllil
zur Folge haben würde; entsprach in anderen Sphären der Gesellschaft die Differenz
zwischen dem Kaufmann und dem Staatsbürger, zwischen dem Tagelöhner und dem
Staatsbürger, zwischen dem lebendigen Irulii1vidwurri und dem Staatsbürger. Der Wider-
spruch, in dem sich der religiöse Mensch mit dem politischen Menschen befindet, ist
derselbe Widerspruch, in welchem sich der bourgeois mit dem citoyen, in welchem sich
das JJ!Jit,glied der Mlrgerlichen Gesellschaft mit seiner politisvlwn LOwenlw1ut befiruktm.
Die „staatsbürgerliche" oder politische Emanzipation war daher nach Marx durch
eine menschliche zu ergänzen, deren Aufgabe es sei, das Individuiim von allen „so-
zialen" Partikularitäten zu befreien, um den „Menschen" als gesellschaftliches
Gattungswesen wiederherzustellen lDD. ·
Als Träger dieser Emanzipation erschien in der auf die „Judenfrage" folgenden
„Einleitung" zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" (1844) das Proleta-
riat. Der Proletarier „ist" zwar nicht der „Mensch", aber er repräsentiert ihn200, so
wie bei Rousseau der „roturier", der mittlere Stand der kleinen Handwerker und
Bauern, das Ideal des „homme" vertrat1101. Der Gegenbegri[ zum 'Proletariat' war
weder nur der 'Staatsbürger' noch der 'Bürger' als Privatperson, sondern die
'besitzende Klasse' oder die 'Bourgeoisie' 202 - eine Bezeichnung, die sich unter dem
Anm. 727.
20 2 Zuerst in MARx/ENGELS, Heilige Familie, Kap. 4, MEW Bd. 2, 37 f. Vgl. MARx, Deut-
sche Ideologie 1 (1845), MEW Bd. 3 (1958), 60 f. 76 und vor allem MARx/ENGELS, Manifest
717
Bürger IV. 13. Mars aad Engeb
der Kommunistischen Partei 1 (1848): Bourgeois und Pro~rier, MF.W Rd. 4 (1959),
462 ff.; Das Elend der Philosophie (1846), ebd., 181 f.; Lohnarbeit und Kapital (1849),
MEW Bd. 6 (1959), 399 ff. .
2oa. Und gelßgentlich mit dem vom 'freien Mann' und 'Philister' parallelisierte; vgl. MARX
an Ruge, 9. 5. 1843, MEW Bd. 1, 338: Menschen, das wären geistige Wesen; freie Männer
Reyuhlikaner. Beidu wollen die Spießbürger nicht sein, und ebd., 339: Die voll!C<Ymmenate
Philisterwelt, uMer De'l.d8chland, mußte alao natürlich weit hinter der franzöaischen Reoo-
lution, die den M enachen wiederheraieute, zurückbleiben.
20& Vgl. MABx, Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, 184 anlä.Blich Stirners widersprüchlichem
Spiel mit den Worten 'Bourgeosie' und 'Bürgertum', das er nie zu promulgieren gewagt,
wenn ihm nickt das deutache Wort „Bürger", das er nach Belieben ala „cif,oyen" oder „bour-
gwi.8" oder als deutscher „guter Bürger" auslegen kann, zu Hilfe gekommen wäre.
2o6 FRIEDRICH ENGELS, Lage der arbeitenden Klasse in England, Vorwort, MEW 'Bd. 2,
234.
2011 MARX, Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, 127.
201 Ebd., 53. 62. 71. 76. Vgl. ferner MEW Bd. 6, 253.
101 MARX/ENGELS, Manifest, MEW Bd. 4, 464 ff.
718
IV, 14. Der Begriff nach 1850 Bürger
\ .
oder zünftige Betriebsweise der Industrie aU:fgelöst, alle patriarchalischen, lokalen,
„naturwüchsigen" Verhältnisse. zerstört, die Individuen aus Stammes-, Standes-
und korporativen Bindungen herausgelöst, die industrielle Produktion revolutio-
niert, den Weltmark und den modernen Repräsentativstaat geschaffen, das Land
der Stadt unterworfen, die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zen-
tralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Kurz: die moderne
Epoche (17 ./18. Jahrhundert) war nach Marx und Engels die Epoche t1er Bourgeoisie,
der „bürgerlichen" Daseinsformen der Gesellschaft, die sie einerseits den „feudalen"
der mittelalterlichen Vergangenheit, andererseits den sozialistischen bzw. kommu-
nistischen der Zukunft entgegensetzten209. Daneben stand der Bourgeoisie noch
eine „Klasse" gegenüber, in der die alten ständischen Beschränkungen und lokalen
Gebundenheiten vorherrschten, die der „Kleinbürger". Sie wurde von Marx und
Engels als retardierender Faktor der modernen gesellschaftlichen Bewegung ange-
sehen und im Verhältnis zur. Bourgeoisie mit lediglich negativen Wertmaßstäben
gemessen: Der Kleinbürger repräsentiert lolcale, der Bourgeois universelk 1nteressen.
Der Kleinbürger findet seine Stellung hinreichend gesichert, wenn er bei indirektem Ein-
fiuß auf die Staatsgesetzgebung direkt an der Provinzialverwaltung beteiligt und Herr
se-iner lokalenMunizipalVerwaltung ist ... Die klassische Schöpfung des Kleinbürgers
waren die deutschen Reichsstiidte, die klassische Schöpfung des Bourgeois ist t1er fran-
zösische Repräsentativstaat210. Wie der Proletarier, so bekämpfte auch der Klein-
bürger die Bo:urgeoisie; aber er war nicht revolutionär, sondern konservativ, aU:f die
bloße Sicherung seiner partikularen Existenz bedacht, Insofern trug er auch den
Namen des 'SpießbiirgerR' oder 'Philisters', dem, vor allem unter dem Eindruck der
Schwäche des deutschen Bürgertums während der Jahre 1848/49, Marx' und En-
gr.lR' 11ngeteilte Verachtung galt211 •
Seit 1848/49 bezieht sich der Bürgerbegriff einerseits aU:f eine oder mehrere Klassen
bzw. Stände, andererseits auf den Staat bzw. die Gesellschaft. Trotz der Niederlage
der ;,bürgerlichen" Revolution wurde daran festgehalten, daß das Bürgertum den
Universalismus. des modernen gesell.schajtlichen Lebens am entschiedensten vertrat.
209 MARx, Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, 63. 76 f.; ·MARx/ENGELS, Manifest, MEW
719
Bürger . IV. 14. Der Begriff nach 1850
So schrieb RrnHL im Jahre 1851: Viele nehmen Bürgertum und moderne Gesellschaft
für gleichbedeutend. Sie betrachten den Bürgerstand als die Regel, die anderen Stände
nur noch als Ausnahmen, als Trümmer der alten Gesellschaft, die noch so beiläufig an
der modernen hängen geblieben sind212 • Nach Riehl ließ sich die universelle Stellung
des neuzeitlichen Bürgertums durch den Sprachgebrauch vielfach bestätigen. Der
oberste Gemeindebeamte des Dorfes heiße z. B. 'Bürgermeister', obwohl er ledig-
lich über Bauern gebiete; man spreche von 'bürgerlicher Ehre', 'bürgerlichem
Tod', wo man weit allgemeiner von 'gesellschaftlicher Ehre', 'gesellschaftlichem'
und 'politischem Tod' sprechen sollte, und schließlich nehme man .den „bedeut-
samsten Teil" für das Ganze und rede von 'Staatsbürgern' statt von 'Staatsgenos-
sen'. Dabei wußte auch Riehl, daß der Begriff inzwischen von den sozial-politischen
Parteien ideologisch zerrieben worden war: den Revolutionären sei das Bürgertum
die Wurzel allen Stillstandes und Rückschrittes, den Anhängern des bundesstaat-
lichen Absolutismus der Urquell aller Empörung und Überstürzung. Gleichwohl hät-
ten beide Parteien vermieden, das Bürgertum direkt beim Namen zu nennen21a. Die
Demokratie habe sich das Wort als „Bourgeoisie" erst ins Französische übersetzt, um
tlann, ohne zu erröten, den Kampf gegen dasselbe beginnen zu können, und die abso-
lutistischen Regierungen erilichteten sich das Phantom eines „echten" Bürgertums,
das ständische Ruhe und Beharrung im Gegensatz zur politischen Unruhe des
„Staatsbürgertums" darstellen solle. Aber für Riehl, der beide Parteien bekämpfte,
war der Bürgerbegriff ebensowenig eine Einheit wie die ihm korrespondierenden
Begriffe des Standes und der Klasse; ähnlich wie Marx und Engels, nur mit umge-
kehrtem Vorzeichen, hob er den 'Bürger' vom 'Philister', seiner modernen „Ent-
artung" ab; der Philister ziehe sich in die Gleichgültigkeit seines Privatlebens zu-
rück und iiherlasse Gesellschaft und Staat ihrem Schicksal; er war nach Riehl
weder Gesellschafts- noch Staatsbürger 214 • Dem Staatsbürgertum begegnete Riehl
mit dem Mißtrauen der konservativen Partei, deren gemäßigter Anhänger er war.
Er hielt ei;i, wie der Verfasser des Artikels „Bürger, Bürgerstand, Bürgertum" in
WAGENERS „Staats- und Gesellschafts-Lexikon" (1860), für eine der bedenklichsten
Erscheinungen der neueren Zeit215 • In seiner geschichtlichen Beurteilung stimmte
die Gruppe der Konservativen um W agener mit den Revolutionären annähernd
überein: in der jetzigen Auffassung und Behandlung sei das sogenannte Staatsbürger-
tum nichts als ein Zurücksinken ·in den anl:iken Beg·riff des Bürgert·ums, in den ur-
sprünglichen Gegensatz des Patriziers und Plebejers, des Bürgers und des Sklaven,
212 Vgl. WILH. HEINRICH Rrnm., Die bürgerliche Gesellschaft (1851; 8. Aufi. Stuttgart
1885), 200 f.
213 Ebd., 211.
214 Vgl. ebd., 223 f. Nach Riehl war das Gegenstück zum bürgerlichen Philister,
720
IV. 14. Der Begriff nach 1850 Bürger
Gegensätze, die sich bald zu dem des reichen und des armen Sklaven vereinfachen
dürften 216 •
Es' war daher kein Zufall, daß die konservative Partei nach 1850 das Kampfwort
'Bourgeoisie' von den Revolutionären übernahm 217 , während es die bürgerlichen
Liberalen allgemein ablehnten. ROBERT MoHL sprach von dem angeblich tiefen Un-
terschied, der zwischen Arbeitern und Kapitalbesitzern bestehen solle, wobei man
die letzteren gegen alle Geschichte und Statistik als den dritten Stand der Bourgeois
darstellt 21 B. Die Wortführer des liberalen Bürgertums bekämpften den Klassen-
begriff der 'Bourgeoisie', mit dem die sozialistischen Theoretiker die sozialen Gegen-
sätze der Zeit auf eine einfache Formel ('Bourgeoisie'j'Proletariat') zu bringen ver-
suchten. Zum Begriff der Bourgeoisie, hieß es im „ Wochenblatt des Nationalvereins"
(1867), gehört ein politisches Vorzugsrecht, wie es in Frankreich durch hohen Wahl-
und Wählbarkeitszensus begründet war, in Deutschland aber nirgends existiert noch
jemals existiert hat 219 • Das letztere war historisch falsch; der vormärzliche Konsti-
tutionalismus beruhte z. T. durchaus auf dem Wahl- und Wählbarkeitszensus, er
war, wie wiederum Riehl zustimmend notierte, Bourgeois-Liberalismus 220 • Gerade
das Zensuswahlrecht machte während des 19. Jahrhunderts die Ausbildung eines
einheitlichen, auf den Staat bezogenen Burgerbegriffs unmoglich. LORENZ VON
R'l'F.TN hat flimmn Umstand klar ausgesprochen: die Bestimmung des Bürgerbegriffs
sei nicht unserer Zeit gelungen, weil sie in demselben Grade schwieriger werden muß,
in welchem das .Bürgertum mit der Souveränitlit identisch wird, oder wie wir sagen
würden, in welchem die Gesellschaft die Staatsgewalt in ihre Hände bekommt 221 • Diese
,;Gesellschaft" war die im engeren Sinne „bürgerliche" des 19. Jahrhunderts, deren
Merkmale Besitz und Bildung waren. Sie wurde einerseits als eine „Gesellschaft von
Ständen" (Riehl), andererseits als eine der „Klassen" begriffen, wobei keineswegs
nur die Sozialisten, sondern auch die Theoretiker des liberalen Repräsentativstaats
diesen Ausdruck verwandten. So war für BLUNTSCHLI der Bürgerstand die Klasse
des gebildeten und freien Staatsbürgertums, die 'Mittelklasse' oder das 'höhere Riir-
gertum'. Obwohl nicht unmittelbar im Besitz der Staatsgewalt, war sie meistens die
einflußreichste und in dem gewöhnlichen Gang des öffentlichen Lebens geht sie voran.
Die öffentliche Meinung ist regelmäßig die Meinung dieser Klasse 222 • Ihr stand auf der
und ihr Verhältnis zu dem Leben der Gesellschaft, Zs. f. d.gesamte Staatswiss. 9 (1853), 137 ff.
222 JoH. CASPAR BLUNTSCHLI, Allgemeine Staatslehre, 5. Aufl. (Stuttgart 1875), 209.
46-9038511 721
Bürger V. Ausblick
einen Seite die Aristokratie, auf der anderen „das Volk" gegenüber, wozu neben
dem „Proletariat'' auch der niedere Bürgerstand (die „Kleinbürger") und die Bauern
rechneten. Obwohl die verschiedenen Klassen bei Bluntschli ineinander übergehen
konnten, waren sie durch das gemeinsame „Staatsbürgerrecht" nur unzulänglich
miteinander verklammert. Der Widerspruch zwischen 'Bürger' als partikularem
Klassen- und allgemeinem Staatsbürgerbegriff wurde nicht nur nicht behoben; er
bildete die Basis von Bluntschlis staatsrechtlicher Darstellung. Das trat vor allem
dadurch in Erscheinung, daß sie nach konstitutionellem Muster den „Staatsbürger
im engeren Sinne" aus der Masse der Volks- und Landesangehörigen heraushob 223.
Gerade dagegen, gegen die Besitzenden als bereits verschiedentlich organisierte und
leiblich vorhandene Staatsbürger-Kasten 224, wandte sich die frühe deutsche Arbeiter-
bewegung. Während ihre führenden Theoretiker BÜrger und Arbeiterklassen als
'Bourgeoisie' und 'Proletariat' gegenüberstellten, versuchten die praktischen Or-
ganisatoren, an den allgemeinen Staatsbürgerbegriff anzuschließen. So fanden sich
in FERDINAND LASSALLES „Arbeiterprogramm" (1862) die charakteristischen
Sätze: In die deutsche Sprache würde das Wort „Bourgeoisie" mit Bürgertum zu über-
setzen sein. Diese Bedeutung hat es bei mir aber nicht; Bürger sind wir alle, der Arbeiter,
der Kleinbürger, der Großbürger usw. 226. Zweifellos wirkte hier ~as Citoyen-Pathos
der Französischen Revolution, aber auch Lassalles Einschätzung des Staates als
potentiellen Garanten der Arbeiterrechte nach, die ihil von Marx und Engels trenn-
te. In diesem Punkte begegnete sich Lassalle mit einigen anderen, liberal-demokra-
tischen Wortführern der frühen Arbeiterbewegung. Ihr Bestreben war es, die von
der konstitutionell-liberalen Theorie aufgerissene Kluft zum „Staatsbürgertum" zu
überwinden. So wurde in den Reden des 1. Vereinstages der deutschen Arbeiter-
vereine zu Frankfurt· a. l\'l. (1863) die „Arbeiterbevölkerung" betont als Glied dß8
Bürgertums bezeichnet und als Ziel der Vereine ein sittlich achtbares, wirtschaftlich
selbständiges und politisch freies Bürgertum angegeben2 2e.
V. Ausblick
Die begriffsgeschichtliche Entwicklung tendierte auf eine Gleichsetzung zwischen
Staatsangehörigkeit und Staatsbürgertum, nachdem 'Bürger' als Standesbegriff
seinen politi11chen Charakter im 19. Jahrhundert endgültig eingebüßt hatte; es gibt,
heißt es bei BLUNTSCHLI, keine Gesamtorganisation mehr des Bürgerstandes durch das
ganze Reich, und es wäre ein Fehler, woUte man sie restaurieren2 21.
Auf dem Boden der modernen Gesellschaft sind die Stände zu Berufs- und Gesell-
123 Ebd., Ka.p. 22: Die Staatsbürger im engeren Sinne, 246 ff.
aa& Manifest des Berliner Arbeiterkongresses an die Deutsche Nationalversammlung,
2. 9. 1848,,HUBER, Dokumente, Bd. 1, 370 (vgl. Anm. 139).
m FERDINAND LAssALLE, Das Arbeiterprogramm, Ges. Red. u. Sehr., Bd. 2 (1~19), 172.
128 Bericht des 1. Vereinstages der deutschen Arbeitervereine, Frankfurt 7./8. 6. 1863. Die
erste Wendung von A. REuss (Nürnberger Arbeiterverein), die zweite aus der Begrüßungs-
rede des Vorsitzenden der Deutschen Arbeitervereine RöHRICH (Handelsschuldirektor,
Frankfurt).
121 BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 2 (1857), 305, Art. Bürgerstand.
722
v. .Awliek Bürger
228 Vgl. MAx QuA.BOK, Die erste deutsche Arbeiterbewegung (Leipzig 1924), 71.
129 Verfassung des Deutschen Reiches v. 28. 3. 1849, HUBER, Dokumente, Bd. 1, 318.
180 Reichsgesetz über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause v. 10. 4. 1849, Art. 1,
iat jekr Norddtutacltt, weklttr das 25. LeheMjahr zurllckyeleyt lw,t. Vgl. .Archiv des Nord-
deutschen Bundes 3 (Berlin 1871), 856 ff.
181 GEORG GoTTFRIED GERVINUS, Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts
723
Bürger V. Ausblick
Klassengesellschaft" kritisiert wurde. Dazu kam, daß sich die Gegensätze zwischen
Dorf- und Stadtgemeinde und in den Stadtgemeinden die Unterscheidungen zwi-
schen 'Bürgern' und 'Einwohnern' nicht aufhoben. Hier behielt das Bürgertum
seinen beherrschenden Einfluß auf die städtische Selbstverwaltung und die Ver-
gabe des Bürgerrechts („Honoratiorenbürgertum"). Dadurch ist in Deutschland
trotz des für alle gleichen Staatsbürgerrechts die Ausbildung eines einheitlichen
Bürgerbegriffs gehemmt bzw. verhindert worden. Je mehr sich das Bürgertum von
der sozialistischen Arbeiterschaft in seiner sozialen Stellung bedroht wußte, um so
bereitwilliger fügte es sich dem monarchisch-bürokratischen Staat ein und verzich-
tete weithin darauf, selbst Träger des Staates zu sein. Der Bürger wurde zu Beginn
des 20. Jahrhunderts von seinen Kritikern im Sinne von Heinrich Manns „Unter-
tan" verstanden, bei dem die ökonomische Macht zur geringen Ausnutzung seines
politischen Gewichts in einem offenkundigen Mißverhältnis stand, das sich auch
durch übersteigerten Nationalismus nicht verdecken ließ.
Diese Welt des wilhelminischen „Untertanen", utJ1:1 üku11umi1:mh teils dynamischen,
teils saturierten Bürgers und des kommunalpolitisch aktiven Honoratiorenbürger-
tums ging mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende. Die Gesetzgebung der Weimarer
Republik befreite den Bürgerbegriff von den rechtlichen Schranken, die seiner
Geltung hiR ila.hin g1w:og1m w::m~n. Nach den in die11er Zeit erlassenon Gomoindc
ordnungen waren alle über 20 Jahre alten Einwohner der Gemeinden zugleich 'Bür-
ger' und wahlberechtigt, wie nun auch die Einwohner der Landgemeinden 'Bürger'
und ihre Vorsteher 'Bürgermeister' hießen. Gleichwohl kam es nicht zu einer Dek-
kung von Staatsbürger- und Bürgerbegriff; der Begriff 'Bürger' wurde zwischen
den ideologischen Fronten der bürgerkriegsähnlichen Situation zerrieben. Die
sozialistisch-kommuniatischc und die nationalsozialistische Bewegung erMeLzte11
ihn durch den Begriff 'Genosse'. Ihre wortpolitischen Intentionen waren aller-
dings einander genau entgegengesetzt. Während der Nationalsozialismus durch
seine Rassengesetzgebung das Staatsbürgerrecht einschränkte und den Begriff des
Bürgers mindestens juristisch ganz in dem rassisch verstandenen des 'Volksgenos-
sen' aufgehen ließ, blieb 'Genosse' in der sozialistischen bzw. kommunistischen
Terminologie eine Parteibezeichnung. In den westlichen Demokratien wie in der
Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern hat sich gegenwärtig die Bedeutung
von 'Bürger' als „Staatsbürger" allgemein durchgesetzt. lnsofern entspricht die
damit erreichte Universalität fies Regriffs der Emanzipation des einzelnen von den
ständischen Ausschließungen der alten bürgerlichen Gesellschaft und der zuneh-
menden Einebnung der Klassenunterschiede in der modernen Industriegesellschaft.
Anders verhält es sich mit dem Adjektiv 'bürgerlich'; da zu den Klassenbegriffen
'bourgeois' und 'Bourgeoisie' ein Adjektiv fehlte, konnte dieses Wort stärker abge-
wertet werden, so daß es bis heute der sprachlichen Ideologisierung verfallen ge-
blieben ist. An seinem Gebrauch ('bürgerliche Parteien', 'bürgerliche Wähler' usw.)
spiegelt sich wider, daß die politische Emanzipation des Bürgers selbst von parti-
kulär-gesellschaftlichen Momenten abhängt, die der intendierten Universalität des
Begriffs widerstreiten müssen, wenn sie die fortschreitende Bildung der Gesellschaft
und ihres Bewußtseins nicht in sich zurücknimmt. ·
724
V. Ausblick Bürger
Literatur
CARL BRINoXMANN, Art. Bourgeoisie, Encyclopaedia of the Socia.l Sciences, vol. 2 (New
York 1950), 654 ff.; OTTO BRUNNER, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte,
2. Aufl.. (Göttingen 1968); ders., Land und Herrschaft, 5. Aufl.. (Wien 1965), 349 ff.; Bltu-
NOT t. 6 (1930); M. CANARD, Essai de semantique. Le mot „bourgeois", Rev. de philol.
fra.n9ßoise 27 (1913), 32 ff.; FELDMANN (1911/12); ders., Modewörter des 18. Jahrhunderts,
Zs. f. dt. Wortforschung 6 (1904/05), 101 ff. 299 ff.; HANs FREYER, Art. Bürgertum, Hwb.
d. SozWiss., Bd. 2 (1959), 452 ff.; WALTRA.UD MEsOHKE, Das Wort Bürger. Geschichte
seiner Wandlungen in Bedeutungs- und Wortgehalt {phil. DiBB. Greifswald 1952); MAN-
FRED RIEDEL, Der Begriff der „Bürgerlichen Gesellschaft" und das Problem seines ge-
schichtlichen Ursprungs (1962), in: ders., Stndien zu Hegels Rechtsphilosophie (Frank-
furt 1969), 135 ff.; ders., Art. Bürger, Rist. Wb. d. Philos., Bd. 1 (1970), 962 ff.: FRANz
STEINBACH, Stndien zur Geschichte des Bürgertums, Rhein. Vjbll. 13 (1948), 11ff.;14:
(1949), 35 ff.; 28 (1963), 1 ff., jetzt in: Collectanea Franz Steinbach, hg. v. FRANz PETRI
u. GEona DnoEaE (Bonn 1967), 776 ff. 811ff.866ff.; DoLll' STEBNBERGlllR, loh wiimmht.e,
ein Bürger zu sein (Frankfurt 1969); PAUL-LUDWIG WEINAOHT, „Staatsbürger". Zur
Geschichte und Kritik eines politischen Begriffs, Der Staat 8 (1969), 41 ff.
MANFRED RIEDEL
725
Cäsarismus
Napoleonismus, Bonapartismus~
Führer, Chef, Imperialismus
1. Einleitung. II. 'Chef' und 'Führer'. 1. Vom Monarchen zum 'Chef d'Etat' oder 'Staats-
oberhaupt'. 2. Vom 'Chef' zum 'Führer'. 3. 'Imperialismus' vor dem modernen Begriffs-
wandel. III. Das Auftreten des ersten Napoleon, gesehen von Anhängern und Gegnern.
1. Die ersten Ansätze zu einer Theoriebildung. 2. Die Bonapartisten in Deutschland. Das
Beispiel Heines. 3. Vorbereitung neuer Frontbildungen. 4. Ale:xis de Tocqueville und Lorenz
von Stein. IV. Die Revolution von 1848 und der Staatsstreich Louis Napoleons. 1. Pie
verschiedenen Gesichter des Napoleonismus. 2.Die deutschen Reaktionen. 3.Marx, Engels,
Lassalle und die wiederbeginnende deutsche Arbeiterbewegung. V. Die weitere Entwick-
lung der Begriffe vor und nach dem Sturz Napoleon11. 1. Die Zeit der Reichsgründung. 2. Der
Imperialismusbegriff kurz vor seiner Umfunktionierung. VI. Der „Cäsarismus" in den
Sozialwissenschaften. 1. Roscher und Schäffle: Der Cäsarismus als Teil einer „Naturlehre"
vom Staat. 2. Oswald Spengler. 3. Von der cäsaristischen Führerauslese zur souveränen
Diktatur: Max Weber, Robert Michels und Carl Schmitt. VII. Ausblick.
I. Einleitung
Im Gegensatz zu vielen im 19. Jahrhundert entstandenen oder weit verbreiteten
Begriffen war 'Cäsarismus' oder 'Bonapartismus' kein sozialer Verfassungs- oder
Richtungsbegriff, wie es 'Liberalismus', 'Demokratie' oder 'Sozialismus' in steigen-
dem Maße wurden, sondern ein Herrschaftsbegriff vor allem politischer Natur.
Inmitten der Ideologisierung entwickelte dieser Begriff und die mit ihm gemeinte
Wirklichkeit eine eigentümliche· Dialektik. Einerseits wurde mit ihm die Fr11igo
nach der politischen Herrschaft in einem für das 19. Jahrhundert neuen Sinn
gestellt, wie etwa in der Abstimmung, die den Staatsstreich Louis Napoleons vom
2. Dezember 1851 legalisieren sollte: „Heißen Sie den Staatsstreich. gut ... 1"
Doch dieser plebiszitäre, unverhüllt das Herrschaftsmoment aussprechende Appell
war nur die eine Seite des Cäsarismus, die andere war die Propaganda, die vom
Vorhandensein eines „Gespensts" oder Sündenbocks lebte -vom „roten Gespenst"
bis zum „ Weltjudentum" - und einen oft messianische Züge annehmenden Führer-
kultus nährte. Diese Ideologisierung zeigt, daß auch die Macht cäsaristischer Pro-
venienz sich nicht von selbst verstand und einer wie auch immer gearteten g~
schichtsphilosophischen Rechtfertigung bedurfte. Der Rechtfertigung durch die
Anhänger standen die Angriffe der Gegner gegenüber, und es wird zu unterscheiden
sein, welche politischen Richtungen den Cäsarismus als Aufhalter von Anarchie oder
Revolution und welche ihn als Verhinderer einer herbeigewünschten Revolution.
oder politischen Entwicklung sahen.
Die Entstehung und Wandlung des Cäsarismusbegriffs begleitet gleichsam den
letzten Akt eines großen Themas der europäischen Geschichte der Neuzeit, nämlich
die Ablösung der Erbmonarchie und damit jeglicher Form von politischer Herr-
schaft, die durch Religion (von Gottesgnaden) und Tradition (durch Abstammung),
durch Formen der Herrschaft, die geschichtsphilosophisch oder sozialeudämo-
nistisch, oft auch durch beides, legitimiert wurden. Dieser Prozeß war wiederum
ein Teil des alle Gebiete umfassenden Rationalisierungsprozesses, dem nicht nur die
Ausübung der Herrschaft, sondern auch ihre Legitimierung unterlag.
726
I. Einleitung
Um die Ablösung der Vorstellung, daß politische Herrschaft schlechthin mit mon-
archischen Institutionen, letzthin jedoch mit der Person eines Monarchen ver-
bunden sei, zu untersuchen, ist es notwendig, die Wandlungen zu verfolgen, denen
die Begriffe 'Chef' und 'Führer' unterlagen. 'Chef d'Etat' und 'Staatsoberhaupt'
waren nämlich als staatsrechtliche Begriffe Indizes für den Rationalisierungsprozeß
politischer Herrschaft. Hierzu gehörte auch die durch die Aufklärung geleistete
Entmythologisierung der Persönlichkeit des Monarchen, die wohl ihren sinnfällig-
sten Ausdruck in der Hinrichtung Ludwigs XVI. fand.
Freilich gab es auch einen dieser Entwicklung zugeordneten rückläufigen Prozeß,
der sich nicht nur in der Rückbindung der neuen Begriffe und Formeln an die
Topoi der „Politik" erschöpfte. Die Verwandlung Napoleons 1. in einen „Empereur"
hatte zur Folge, daß seine Anhänger nicht mehr nur 'Bonapartisten', sondern auch
'Imperialisten' genannt wurden, wobei dann auch die "ismus-Bildung nicht mehr
lange auf sich warten ließ. Daß sie aber an Napoleon und seinen imperialen Glanz
geburnleu war, zeigL die spätere ßegri:ffäveränderung von 'lmporio.liemus' in den
modernen lmperialismusbegriff, die um 1880 erfolgte, wobei allerdings zu bemerken
ist, daß einige mit ihm gemeinte Tendenzen schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts
·beschrieben wurden. Das Selbstverständnis beider Imperialisrnen, des sozusagen
innenpoliti11che11. der Napoleon11 1mil il11R 11.11ßfmpolitiRnhen zux Zeit des letzten
Höhepunkts der europäischen globalen Expansion, weist auf das Imperium Roma-
num zurück. Diese Analogie wurde durch die große geschichtsphilosophisuhe
Parallele mit dem Untergang Roms, der Entstehung des Christentums und der
Heraufkunft neuer Völker, deren Invasion von außen oder Aufstieg im Innern der
·neue Cäsar wehren sollte, vermittelt. Es nimmt nicht wunder; daß in diesem
Zusammenhang von Anhängern und Ideologen des Cäsarismus eifrig auf die ange-
sichts der <hohenden Gefahren notwendige Einheit und Einigkeit hingewiesen
wurde.
Neben der bereits erwähuten Möglichkeit, ein Kriterium daraus zu gewinnen, ob
man den Cäsarismus positiv als Aufhalter oder negativ als Verhinderer politischer
Entwicklungen wertete, ist noch auf zwei andere Gliederungsgesichtspunkte hinzu-
weisen. Der eine ist die Charakterisierung des Cäsarismus als nationales Phänomen
oder als sozusagen globales. Analog der von Tocqueville in seinem Amerikabuch
angewandten und klassisch zu nennenden Methode wurde die Beschreibung fran-
zösischer Zustände gewählt, um den. eigenen Landsleuten oder den anderen- euro-
päischen Nationen die „Signatur des Zeitalters" zu verdeutlichen. Im e;rsten Fall
wurde meist auf den französischen Nationalcharakter und ähnliche Invarianten
rekurriert, um die Definition des Cäsarismus als typisch nationales, sprich französi-
sches, Phänomen zu begründen.· Ein weiterer Gliederungsgesichtspunkt, der sich
mit dem oben entwickelten nicht immer zur Deckung bringen läßt, ist der, ob es
sich bei der Beschreibung des Cäsarismus um eine Adaption alter Begriffe an ein
neues Phänomen - wobei durchaus die hier untersuchten Begriffe im Sinne der
klassischen aristotelischen „Politik" Verwendung :finden können, durch die oft eine
Analyse vorgetäuscht wurde - pder aber um die An11.lyRP. AinP.s neuen Phänomens
handelt, dessen Neuheit auch reflektiert wurde. Meist deckte sich die Definition
des Cäsarismus als globaler Erscheinung mit dem .Hegreifen, daß es sich hier um
etwas Neuartiges handelt. In .diesem Sinne könnte man etwa von einer Soziologie
des Cäsarismus sprechen, die _von Tocqueville bis Max Weber entwickelt wurde.
727
Ciisorismus II. 1. Vom Monarchen zum 'Chef d'Etot'
1 Vgl. GÜNTHER BoRNKAMM, Die Zeit des Geistes, Heidelberger Jbb. 10 (1966), 3; ferner
KARL LöWITH, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 2. Aufl. (Stuttga.rt 1952), 136 ff.
2 Procea de Condamnation de Jeanne d'Arc, ed. RADIOND OURSEL (Paris 1953), 221.
de Trevoux, 28 ed., t. 1 (1721), 1711 f. u. folgende Auflagen; Dict. Ac. Fran9„ 48 ed., t. 1
(1762), 204 f. u. a.
8 Dict. fran9.-all.-lat„ dt. Tl. (1660), 161.
7 POMEY, Grand dict. royal, 5 8 ed„ franz. Tl. (1715), 161.
728
n.· 1. Vom Monarchen zum 'Chef d'Etat'
als eine Zeit, wo une intime union de tous les MemlJ'l'es avec leur Chef, womit Karl
der Große gemeint war, bestanden habe9 • Sprach MoNTESQUIEU in den „Considera-
tions" noch von den ehefs des republiques qui font l'institution, als er die Gründe
der Größe Roms behandelte1o, so bezeichnete n'ARGENSON in seinem „Journal"
den roi als ehe/ du gouvernement11 • TURGOT gebrauchte 1751 den Begriff 'chef' mit
der typischen, gegen das absolute Königtum gerichteten Spitze, daß der König nicht
mehr maUre, sondern als ehe/ nur noch komme sei12 • Damit war angedeutet, was in
dem Wort Friedrichs II. vom König als dem ersten Diener seines Staates ausge-
sprochen wurde: daß nicht mehr der König das vornehmste Bezugsmoment der
politischen Ordnung war, sondern der Staat. Das implizierte in gewisser Weise eine
Desinstitutionalisierung des Königtums, das fürderhin mehr auf der Person des
„chef d'etat" oder Staatsoberhauptes beruhte als auf der Institution der Monarchie
als solcher. Damit wurde freilich der Monarch von den politischen Ereignissen, von
seiner „Fortune" mehr als zuvor abhängig. Dieser Prozeß ging parallel mit dem
Schwinden des alten Königtums von Gottes Gnaden, an dessen Stelle das „monar-
chische Prinzip" trat, welches zur legitimierenden Formel des vorkonstitutionellen
Staatsrechts wurde. Der Herrscher wurde Organ eines Staats, der als Anstalt,
Realperson oder juristische Person gedacht wurden.
Erscheint in dieser Abteilung der „Staatimhef" alR eine Art i1P.priw1.tiver Modus des
Monarchen, so wurden von Seiten RoussEAUS Momente beigetragen, die auf die
LuLalitären Demokratien vorausdeuteten. Das Volk in seiner Unfähigkeit, seinen
wahren Willen zu erkennen, bedurf~ nach Rousseau der guidesu, der chefs16, wie es
in ausdrücklicher Aufnahme des Montcsquieuschen Wortgebrauchs hieß. Macht und
Autorität konnten nicht mehr durch sich selbst, sie mußten durch Ideologie gerecht-
fertigt werden: Le plus grand talent dC8 ohefs cst de deguiser leur pouvoir pdur le
rendre moins odieux16• Im Kapitel des „Contrat social" über die Diktatur erschien
der Diktator als ehe/ supr~me17 , der allerdings noch traditionell bestimmt wurde:
Il peut taut faire, exceptt! de,, kiis.
'Chef d'etat' und 'Staatsoberhaupt' finden sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts
noch nicht in den Wörterbüchern. So erläuterte die 5. Aufl. des „Dictionnaire de
l'Academie Fran9aise" von 1800 das Wort ehe/ für den politischen Bereich mit
12 TURGOT, Oeuvres, t. 1 (Paris 1913), 283. Zur Interpretation vgl. REINHART KosELLECK,
Kritik und Krise (Freib\Jrg 1959), 119 ff.
18 Zur Frage des Gottesgnadentums vgl. OTTO BRUNNEB, Vom Gottesgnadentum zum
monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter,
in: Das Königtum, hg. v. THEODOR MAYER, Mainauvorträge 1954 (Lindau, Konstanz 1956),
279 ff., bes. 302 f.
H RoussEAU, Contrat social 2, 6. Oeuvres compl., t. 3 (1964), 332 ff. Der guide ist ~i Rous-
seau identisch mit dem UgiBl,ateur.
15 Ebd.
729
Cäsarismus II. 2. Vom 'Chef' zum 'Führer'
folgendem. Satz: ll se dit figur6ment de celui qui est ala t6t8 d'un Oorps, d'une Assem-
blee, qui y a l,e premier rang et la principal,e autorite1 8 • CAMPES Verdeut.schungs-
wörterbuch (1808) erklärte acht Jahre später Okef mit Oberhaupt, Anführer, Haupt-
anführer19, was auf einen Wortgebrauch hinweist, der mehr mit dem militärischen
Bereich und weniger mit den politisch höchsten Rängen verbunden war.
Die Verfassungen und Kodifikationen der damaligen Zeit reflektierten die Tatsache,
daß der Monarch Organ des Staates geworden war. So wurde im „Allgemeinen Land-
recht für die Preußischen Staaten" von 1794 der König Oberhaupt des Staates ge-
nannt20, während, wenn von dem Leiter des Ressorts die Rede war, das Wort 'Chef'
benutzt wurde, z.B. Okef der J ustiz 21 . Die „ Charte constitutionellefran9aise" von 1814
bezeichnete den König staatsrechtlich als ckef supreme de l' etat 22 ; in der Bayerischen
Verfassung von 1818 findet sich der Satz: Der König ist das Oberhaupt des Staates 23.
Nun gab es aber noch eine andere Möglichkeit, das französische 'chef' im Deut.sehen
auszudrücken, und zwar eine, die sich mehr an den Sachgehalt von 'guide' und
'conducteur' anlehnte. Erschwert wurde dies durch eine Bedeutungsverengung des
Begriffs 'Führer' und seiner französischen Entsprechungen, die im Gegensatz zu
dem des 'chef' konkreter blieben. Findet man 1660 im „Dictionnaire Fran9ois-
Allemand-Latin" Führer mit capitaine, ckef, conducteur - dux übersetzt24, so gibt
SCHWAN 1782 für FiihrP-r nur noch menmtr, conducteur, directeur, inspecteur, guide 25.
Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeigen sich Ansätze, den Führer-Begri.IF aua
seinen engeren Bezügen zu lösen, um ihn zu politisieren. So etwa, wenn GEORG
FoRSTER vom Nordamerikaner sagte, daß er keines Herrn und ke·ines Pr·iesters
bedürfe; wenn er in den Krieg zieht, wählt er den Tapfersten seines Heeres z1im Führer 26 .
Die demokratisch-plebiszitäre· Komponente war hier genausowenig zu übersehen
wie bei WEITLING, der in den „Garantien der Harmonie und Freiheit" für das Über-
gangsstadium aus der jetzigen in die zukünftige Gesellschaft eine Diktatur forderte.
Auf die sich selbst gestellte Frage, wie man denn den Diktator finden könne, ant-
wortete er mit frappierender Naivität: Wer der erste aufsteht, wer der erste vorangeht,
wer am tapfersten aushält und dabei seine Lebenslage gleichstellt mit der aller übrigen,
ist Führer 27 • Hier erscheint wohl zum ersten Mal der 'Jführer', bei dem Weitling
an Rich selber gedacht hat, als Diktator demokratischer ProveD.ienz. Auch die
Generation 1 (1842), 85 ff. Dieser Führer wird an mehreren Stellen der zweiteMe11aiaa genannt.
730
n. 3. 'Imperialismus' vor dem Begriffswandel Cäsarismus
messianische Komponente fehlte hier nicht, denn der Diktator sollte ein Führer in
das Zeitalter der Harmonie und Freiheit sein.
Zur selben Zeit taucht in einem deutsch-französischen Wörterbuch die Wendung
auf: Moses war der Führer des Volkes, was mit fut le conducteur du peuple de ...
übersetzt wurde 28• Die oberflächliche Bedeutung ist hier wohl die, daß Moses sein
Volk auf Gottes Geheiß ins gelobte Land führte, indem er·den Weg wies. Nimmt
man aber die Widerstände hinzu, die er überwinden mußte, um sein Volk von der
Notwendigkeit der Wanderung zu überzeugen, so erscheinen die Führereigenschaf-
ten in einem wesentlich anderen, wenn man will, politischeren Licht. Dazu kommt,
daß Moses das Werkzeug Gottes war im Rahmen des Heilsplans: der Führer des
auserwählten Volkes.
Diesem Auserwä.hltheitsbewußtsein begegnet man in säkularisierter Form mehr
oder weniger stark bei allen Völkern, die von cäsaristischen Herrschern beherrscht
werden. Meist fällt es mit dem Glauben ~n die Auserwä.hltheit des „Führers" zu-
sammen, der weniger als „großer Mann" im Sinne der Aufklärung oder des deut-
schen Idealismus 29 denn als „starker Mann" galt und in Krisenzeiten herbei-
gewünscht wurde. Ein bezeichnender Ausdruck dieser Hoffnung, die seit der Revolu-
tion vorhanden war, mit fortschreitender Verbesserung der Propagandatechniken
aber immer mehr manipuliert wurde, sind einige Verse EJUNVEL GEIBl!lLS aus
„Deutsche Klagen vom Jahr 1844", die in der Zeile gipfelten: 0 Schicksal, gib uns
einen, einen Mann! Die folgenden Zeilen sind für die sozialpsychische Disposition,
der cäsaristische Diktaturen ihre Entstehung mit verdanken, typisch geworden:
Was frommt uns aller Witz der Zeitungskenner,
Was aller Dichter ungereimt Gepwnkel
Vom Sand der Nordsee bis zum wald'gen Brenner/
Ein Mann ist Not, ein Nibelungenenkel,
Daß er die Zeit, den toll gewordnen Renner,
Mit ehrner Faust beherrsch' und ehrnem Schenkezao.
Zwei Seiten weiter findet m~n dann die in völkischen und faschistischen Ideologien
so geläufige Verbindung vom Wunsch nach dem starken Mann und dem Wunsch
nach einem Krieg als Einiger und Stahlbad der Nation:
Krieg! Krieg! Gebt einen Krieg uns für den Hader,
Der uns das Mark versenget im Gebein! -
Deutschland ist totkrank - schlagt ihm eine Ader/81
Als weitere Komponente der hier untersuchten Begriffe ist das ältere Verständnis
von 'Imperialismus' zu behandeln, das erst in den achtziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts vom modernen Wortsinn abgelöst wurde. 'Imperialist' (engl.) und
731
Cäsarismus m. 1. Erste Ansätze zur Theoriebilduag
'imp6rialiste' (franz.), die im 16. Jahrhundert entstanden, wurden bis etwa 1800
hauptsächlich dazu benutzt, einen Anhänger des deutschen Kaisers zu bezeichnen.
Seit 1800 setzten sich die Wörter in beiden Sprachen allmählich zur Bezeichnung
eines Parteigängers Napoleons durch 32 ; impmaliste in diesem Sinne taucht zum
ersten Mal 1802 in einem Dictionnaire auf3 3 und ist 1826 im Deutschen als 'Imperia-
list' belegt34 • Imperialisrne begegnet zum ersten Mal 1791 im Sinne der alten
Bedeutung, nämlich zur Bezeichnung der Geisteshaltung der Anhänger des habs-
burgischen Kaiserhauses, was auch mit Uopolilisme wiedergegeben wurde3°. Dann
läßt sich das Wort in Frankreich seit 1836 als Bezeichnung für die politischen
Anschauungen der Anhänger Napoleons und seiner Verwandten nachweisens•,
wurde aber noch 1851 als Neologismus betrachtet37 - ein Zeichen dafür, daß das
Wort noch keine weite Verbreitung gefunden hatte. Die 3. Aufl. des Mozm gab
1843 für Imperialisme die Bedeutung Imperialismus, ... Lehre ... der Imperia-
listen, wobei letztere als Anhänger des Kaisers Napoleon oder eines Prinzen seiner
Familie definiert wurden88• Einen Hinweis verdient in diesem ZW!ll.mmenhang, daß
der neue Imperialismus-Begriff offenbar nicht gebraucht wurde, bevor die politi-
schen Bestrebungen Louis Napoleons mit dem Straßburger Putschversuch von 1836
offenkundig geworden waren. Weitere Verbreitung sollte der .Begriff erst finden,
a.la er nach 1851 .zwiammen mit 'Cä11arismwi', 'Napoleonismwi' und 'Bonapartismus'
allgemein und in allen politischen Lagern benutzt wurde.
m. Das Auftreten des ersten Napoleon, gesehen von Anl1ü11gern und Gegnern
l. Die ersten Ansätze zu einer Theoriebildnng
Das Aufkommen nachköniglicher Einherrschaftsformen, wie sie bald mit dem
Namen Napoleons verbunden wurden, war schon von einigen Aufklärern voraus-
gesehen worden (z.B. Diderot, Friedrich II. von Preußen). Die Prognosen stützten
sich dabei vorzüglich auf die historische Erfahrung bekannter Bürgerkriege, so des
Untergangs der römischen Republik oder auf die Herrschaft Cromwells als des
ersten modernen Usurpators einer Erbmonarchie. Theoretisch war damit verbunden
eine stillschweigende oder offene Umdeutung der überkommenen Tyrannis- und
Despotielehre als einer der Monarchie zugeordneten Weise der Kritik, sowie -
während der Französischen Revolution - eine Umdeutung der Diktaturlehre, die
bis dahin noch von der befristeten Dauer des altrömischen Verfassungsinstituts
ausging 39• Die Symptome kommender cäsarischer Herrschaftsformen wurden zu-
nächst aus dem langsamen Wandel der absolutistischen Monarchien abgeleitet. So
verwies F. K. VON MOSER auf das verfassungspolitische Pendant der Verstaatlichung
732
m. 1. Erste Ansätze zur Theoriebildung Cäs':ll'ismus
der Erbmonarchien, als er den allgemeinen Verfall der Landstände schilderte, die -
wenn überhaupt noch- nurmehr zur Geldbewilligung einberufen würden. Er stellte
bereits 1787 eine Prognose auf, die er mit Hilfe der großen Parallele aufschlüsselte:
Es geht auf eine Römisch-militärische Verfassung los, wie unter den Oäsaren, und
ihre Legionen und Lictoren, sie vertreten nun die Stelle der Landstände, die nach ver-
lorenen Volksrechten freilich nur noch der Schatten eines Leichnams waren40 •
WIELAND kam 1777 zu einem ähnlichen Ergebnis, als er umgekehrt das göttliche
Recht der Obrigkeit gegen das von Dohm vertretene absolute Widerstandsrecht
ständischer Repräsentanten verteidigte. Er argumentierte gegen die ständische
Volkssouveränität zwar empirisch zugunsten der Erbmonarchie; verlängert man
sein Argument aber in die Theorie hinein, so vindizierte er dem jeweils Stärksten ein
naturgesetzliches Herrschaftsrecht 41 • Wieland ging nämlich von dem Grundsatz aus,
daß in der menschlichen Natur ein angeborener Instinkt liege, denjenigen für unseren
natürlichen Obern, Führer und Regenten zu erkennen und· uns willig von ihm leiten
und meistern zu lassen, dessen Oberniacht wir fühle1i. Die Erbmonarchie bilde die
sanfteste Form derartiger Obrigkeiten, aber alle Bürgerkriege zeigten, daß das Volk
auch im Namen der Volksrechte seine Anführer find_e, daß sich immer der Stärkste
zum Oberhaupt der übrigen emporschwinge. Als Exempel dienten ihm Casar sowie
Oromwell, der von den europii.i1111hen Königen alR rMhtmii.ßieflr H!lrrRr.hm· anf\rkannt
worden sei. Wieland nahm eine naturrechtliche Reduktion der Verfassungsformen
vor, der zufolge die „.ffiinherrscho.ft" unter vci:schicdcnen Masken als Dauertypus
emporsteigt. Seitdem rückten die Könige funktional in den gleichen Rang ein wie
andere Obere, Führer oder Regcnten42 • Ohne daß sich Wieland mit dieser Theorie
identifiziert hätte, befähigte sie ihn zwanzig Jahre später, das Ende der ersten
französischen Republik vorauszusehen. Wiederum überschritt er die überkommene
Verfassungstypologie, als er im März 1798 seine bekannte Forderung und Prognose
eines Dictators, Protectors, Protarchonten formulierte. Und unbeschadet seiner eigenen
Rinst.ellung benannt.e Wieland bereits anderthalb Jahre vor dem Staatsstreich den
Mann, der berufen sei, euer und der ganzen Welt Retter zu werden: Bonaparte. Er
allein sei ein Mann, wie es in jedem Jahrhundert kaum einen gibt und dessen Genius
alle andern in Respekt zu halten und zu überwältigen wüßte, und er allein könne die
zwischen so vielen Parteien und Faktionen hin und her schwankende Demokratie in
ein geordnetes Staatswesen überführen49 • Wieland wurde nach dem Staatsstreich
Bonapartes wegen seiner Prognose von der „Times" fälschlich als dessen Propa-
gandist angegriffen. So rückte bereits die erste Analyse in das kommende Zwielicht
zwischen Für und Wider. Noch 1813 bestätigte GoETHE dem Verstorbenen: Da aber
40 FmEDR. KARL v. MOSER, Über die Regierung der geistlichen Staaten in Deutschland
die höchste Gewalt in einem Staate durch das VoTh: geschaffen sei", AA 1. Abt., Bd. 21
(1939), 357 ff.
42 Die (geheimen) 'Oberen' und 'Regenten' gehörten damals auch zu den Rangbezeichnun-
gen der Freimaurer, besonders der Illuminaten; vgl. KosELLECK, Kritik und Krise, 63 ff.
43 WIELAND, Gespräche unter vier Augen, Gespräch 2: Über den Neufränkischen Staatseid:
„Haß dem Königtum!", SW Bd. 32 (1856), 33 ff. 53. Dazu die Analysen von FRITZ
MARTINI, Wieland, Napoleon und die Illuminaten, in: Un Dialogue des Nations, Melanges
Fucns (München, Paris 1967), 65 ff.
733
Cäsarismus m. 1. Erm Ansitze mur Theoriebildung
der 1.'umult der Anarchie immer heftiger ~ird und eine freiwillige Vereinigung der.
Masse undenkbar erscheint, so ist er der erste, der die Einherrschaft wie.der anrät und
den Mann beuichnet, der das Wunder der Wiederherstellung vollbringen werde".
Im gleichen Jahr, in dem Wieland seine Prognose auf Grund der Durchbrechung
der überlieferten Verfassungstypologie formulierte, entfaltete J. G. SCHLOSSER noch
einmal die prognostische Relevanz der Regeln der klassischen Politik, die durch
das Ereignis der Revolution freilich bereits ihren Inhalt verändert hatten. Im Kom-
mentar zu seiner Übersetzung von Aristoteles' „Politik" wies er für die Zeitgenossen
deutlich genug auf Bonaparte hin: Falls das gewaltsame Regiment in Frankreich durch
Beendigung der Revolutionskriege nicht ein bürgerliches werde, sei der Militär-Staat
unvermeidlich. Dann werde nämlich ein Tyrann ähnlich wie Cromwell, der die eng-
lische Revolution abschloß, die Franzosen in ein noch härteres Joch spannen 46 •
Wenn Wieland die pro~ostische Konsequenz einer naturrechtlichen Theorie zog
oder Schlosser versuchte, die Französische Revolution in eine politische Kontinui-
tü.t, nii.wlich Ge1mhichteal1:1 TrailiLiun 48 , einzuholen, 1:10 enLhielLeu iliel:!e Pul:!iLiunen
in nuce bereits die oben skizzierten zwei möglichen Formen der Adaption, die das
ganze 19. Jahrhundert durchzogen, nämlich die traditionelle, an den Begriffen der
klassischen „Politik" orientierte Analyse des 'ßonapartismus' oder 'Cäsarismus'
einerseits und die in ihnen eine Signatur der revolutionären Epoche erkennende,
später meist soziologisch fundierte Analyse andererseits.
Mit dem Aufstieg Napoleons I. geriet jede Diagnose und Prognose sofort in den
Streit zwischen Anhängern und Gegnern. Über die bisherigen, in Ansätzen vorhan-
denen geschichtsphilosophischen Verortwigen und verfassungst)'Jlologischen Ein-
ordnungen hinaus wurde mit der Expansion des napoleonischen Frankreich auch
eine nationalpolitische Stellungnahme unumgänglich. Aber der Zentralpunkt aller
Deutungen war und blieb auch für die Theorie des Bonapartismus oder Cäsarismus
das Verhältnis der Napoleone oder des Cäsars zur Revolution. Von der Revolution
her empfingen alle verfaseungepolitischen und geschichtsphilosophischen Parallelen
ihre Relevanz, und sie verlieh auch noch manchen nationalen Positionen, beson-
ders nach dem Sturz Napoleons I„ eine eigentümliche Ambivalenz. Parallelen von
Napoleon zu Karl dem Großen etwa 4 7 oder zu Friedrich II. von Preußen 48 erreich-
ten nicht im entferntesten dieselbe Bedeutung in unserem Zusammenhang wie die
zu Cäsar und Alexander411 oder gar die schon von Moser, Wieland und Schlosser
(Lübeck, Leipzig 1798), 331, Anm.115; 353, Anm. 138 zum 3. Buch; vgl. dazu MANlraED
RIEDEL, Aristoteles-Tradition am Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Alteuropa und die
moderne Gesellschaft. Fschr. ÜTTO BRUNNER (Göttingen 1963), 278 ff., bes. 314.
' 8 Zu Schlossers Gegensatz zu den „Traditionalisten" in diesem Zusammenhang vgl.
RIEDEL, Aristoteles-Tradition, 283.
' 7 CARL Lunwm v. WoLTMA.NN, Carl der Große und Buonaparte (1804).
' 8 Wie siez. B. von JoH. GOTTFRIED SEUME (1806/7), wenn .auch im antinapoleonischen
Sinn, verwendet wurde und später im Sinne des Heldenkults das ganze Werk Carlyles
durchzogen; Prosaschriften, hg. v. Werner Kraft (Darmstadt 1962), 1378.
49 JoH. lsAA.K FRH. v. GERNING, Bonaparte 1800, in: Fremdherrschaft und Befreiung
734
W. 1. Erste Ansätze zur Theoriebildung Cäsarismus
evozierten zu Cäsar und Cromwell, die mit gutem Gespür für politische Wirkung
von der bonapartistischen Propaganda sofort aufgenommen wurden. So veröffent-
lichte LucIEN BONAPARTE, ein Bruder Napoleons, 1800 eine Broschüre mit dem
Titel: „Parallele entre Cesar, Cromwell et Bonaparte".
Diese Parallelisierungen entfalteten eine Dialektik, die durch ihre rasche Abnut-
zung, d. h. Multiplizierung und Biologisierung signalisiert wird. Sobald sich die
Emanzipation der Geschichte als eigenständige Realität von der „Politik". voll-
zogöo - „Politik" als Kunst, welche auf der Natur des Menschen beruhte, die nur
insoweit geschichtlich war, wie er sich ethisch und politisch verhielt - wurde der
exemplarische Charakter der historischen Ereignisse und damit auch jede histori-
sche Parallele eigentlich hinfallig. Andererseits wurde aber mit der Verselbständi-
gung der Geschichte als Prozeß eine Bestimmung des eigenen Standorts in diesem
Prozeß doppelt notwendig, woraus die Relevanz der geschichtsphilosophischen
Parallele mit dem Untergang Roms und dem Aufstieg des Christentums und der
Germanen und der verfässungstypologisohen, die Napoleon mit Ciisar und Cromwcll
verglich, resultierte. Der strukturadäquate Versuch, nämlich die Standortbestim-
mung mittels eines Ablaufmodells von Revolutionen, etwa Reformation, Französi-
sche Revolution, zuküiiftige soziale Revolution, war damals noch nicht unter-
nommen worden. Deshalb war auch die mit verschiedener Wertung vorgebrachte
Boho.uptung, Napoloon habo dio Revolution vollcndot, bocndot oder überwunden,
umso einleuchtender. Dabei stand das Verhältnis Napoleons zu dem einen inhalt-
lichen Moment der Revolution, der Gleichheit, und damit das Problem der Einheit
von Demokratie und Diktatur, Revolution und Napoleon im Vordergrund des
Interesses. Als sich dann in späteren Jahrzehnten die soziale Revolution des Prole-
tariats anzukündigen schien, verlängerte sich dieses Problem zu dem von cäsaristi-
schem Herrscher und Arbeiterbewegung.
Die geschichtsphilosophischen Einordnungen Napoleons und des Cäsarismus als
Beschleuniger oder Aufhalter der Revolution, die ebenfalls das ganze 19.•Jahrhun-
dert durchziehen sollten, wurden bereits zu dessen Beginn deutlich markiert. Die
Radikalen begrüßten ·den Napokonismus als Inbegriff der Herausschleuilerung der
Französischen Revolution auf ganz Europa, als Beschleuniger der Europäischen Revo-
lution61. Für Woltmann war 1804 Napoleon der einzige, welcher die Revolution in
ihrem Wesen begriff und deshalb nie SchwlJ,rmer far sie werden konnte; daher sei es
ihm auch gelungen, die Revolution in dem Moment festzuhaUen, da .AJles zu erlöschen
schien, was sie verheißen hatte62 • Indem Napoleon die Intelligenz der Welt um sich
versammele, erweise er sich als der wahre Universal-Monarch 63 • Neben den ge-
735
Cäsarismus m. 1. Erste Ansätze zur Theoriebildung
schichtsphilosophischen Einordnungen liefen die Versuche einher, Napoleon ver-
fassungspolitisch zu deuten. Die in Napoleon realisierte Einheit von Demokratie
und Diktatur wurde z. B. 1805 von FRIEDRICH BUCHHOLZ apostrophiert. Er sah im
18. Brumaire die Ankündigung eines neuen Leviathan, dessen Voraussetzung die
Lösung des Problems, die Einheit der Gewalten (Monarchie) mit dem Fundamental-
gesetz der Gleichheit ... zu vereinbaren, durch Napoleon sei. Damit sei jeglicher
Dualismus überwunden: Auf diese Weise bildet die Re.gierung ein Ganzes°'.
Im Gegensatz zu den eben Genannten erkannte JOHANN GOTTFRIED SEum: (1806/07)
gerade einen Zwiespalt zwischen der Revolution, der in der Weltgeschichte das Ver-
dienst gebühre, zuerst Grundsätze der Vernunft in das öffentliche Staatsrecht getragen
zu haben, und Napoleon, der nach Willkür handle und deshalb seinen Beruf ver-
sä~t habe, der Fixstern der politischen Vernunft zu werden. So begnügte er sich
damit, ein Komet zu sein, der Zerstörung droht. Seine Macht komme nicht von
ungefähr, denn wären die Fürsten nicht bloß Geißel der Länder und Freiheit und
Gerechtigkeit verwirklicht, dann würde er eben nicht herrschen können. Der Kern
der Argumentation Seumes ist wohl in jenem Satz zu erblicken, daß, ließe man die
Grundsätze der Vernunft wieder sterben, ... jeder Weltteil seinen sublimierten Bona-
pwrte verdiente 66 • Da.mit war zum ersten Mal Bonaparte als 'l'ypus des nachrevolu-
tionären Zeitalters bezeichnet, eineR 7.eit.J1,lt-ArR, welc.hes nach Seum.e eben die rovo
lutionären „Grundsätze der Vernunft" nicht realisiert hatte und deshalb die Herr-
schaft der Willkür und Zerstörung erdulden mußte.
Die Deutungen der Philosophie HEGEJ:.S als Philosophie der 'Französischen Revolu-
tion66, die zutreffend seine „Rcchtsphilo1mphie" von 1820 in den Mittelpunkt
stellen, da· Hegel den Sinn der Revolution in der Verwirklichung der Freiheit und
Rechtsfähigkeit aller Menschen begriff, legen es nahe, kurz auf Ilegels Verhältnis
zu Napoleon einzugehen. Hegels Versuch, „die Revolutionierung der Wirklichkeit
unter Abzug der Revolution selbst vor dem Begriff zu legitimieren" 67 , ließ ihn in
Napoleon den Überwinder der Revolutionäre und den Hüter einer revolutionierten
Ordnung begrüßen. Aber im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen sah
Hegel, für den die Emanzipation mit der Monarchie eng verbunden war, in Napoleon
einen Monarchen, der mit seinen Kodifikationen die Emanzipation garantierte,
und keinen Despoten. In seiner zwischen 1799 und 1802 ausgearbeiteten Kritik an
der Verfal!1:mng des Deutschen Reiches hoffte Hegel wie Machiavelli auf einen
Theseus, der den gemeinen Haufen des deutschen V olkR.s nebst ihren La.ndständen ...
durch die Gewalt eines Eroberers in eine Masse versammelt. Die deutschen Völker-
64 FRIEDRICH BUCHHOLZ, Det neue Leviathan (Tübingen 1805), 152 f. Vgl. auch von der
anderen Seite die Bemerkung des damaligen russischen Gesandten in Berlin, MiltKov:
e'e8t taut le jaeobinisme renferme dans un seul homme et arme de tous les instrument8 revolu-
tiimnaire8; zit. F. CH. SCHLOSSER, Geschichte des 18. Jahrhunderts und des 19. bis zum
Sturz des französischen Kaiserreichs, 3. Aufl., Bd. 3 (Heidelberg 1844).
65 SEUME, Prosaschriften, 1287. 1309. 1387.
5& Vgl. JOACHIM RITTER, Hegel und die Französische Revolution (Köln, Opladen 1957);
MANFRED RIEDEL, Tradition und Revolution in Hegels „Philosophie des Rechts", Zs. f.
Philos. Forsch. 16 (1962), 203 ff.; JÜRGEN HABERMAS, Hegels Kritik der Französischen
Revolution, in: Theorie und Praxis (Neuwied 1963), 89 ff.
57 HABERMAS·, Hegels Kritik, 91.
736
m. 1. Erate .An.ätze zur l'heoriebildung Cäsarismus
schaften ... müßten gezwungen werden, sich zu Deutschland gehörig zu betrachten 58•
Diese Hoffnung kann nur verstanden werden auf dem Boden einer Theorie, die durch
die Reflexion des Widerspruchs des Existierenden - hier die tatsächliche Lage des
Deutschen Reiches - mit seinem eigenen Begriff - hier die Reichseinheit - dieses
zur Selbstaufgabe zwingen wollte. Diese praktische Aufgabe hatte Hegel 1798 in
seiner Kritik der WürttembergischenMagistratsverfassung der Theorie zugewiesen 69 •
Hegel hat aber den cäsaristischen Herrscher - Max Weber und Friedrich Naumann
forderten 100 Jahre später ein „soziales Kaisertum", das die innenpolitische Struk-
tur Deutschlands den außenpolitischen Erfordernissen eines Nationalstaates im
Zeitalter der Industrialisierung und Weltpolitik anpassen sollte - nicht mit
Napoleon identifiziert, ja ganz im Gegenteil das monarchische Staatsprinzip selber
in Napoleon verkörpert gesehen. Die Akklamation Napoleons als des berittenen
W eltgfliRtR.R hfl<lm1tfltR. nicht, daß Hegels Rede in der „Phänomenologie des Geistes"
vom erscheinenden Gott, den der Philosoph erscheinen läßt, Napoleon meinte 6 0; sie
meinte die Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit in dem die Freiheit garan-
tierenden Sittengesetz, das in der Sphäre des Rechts verwirklicht wurde. Die
staatsrechtliche Form dieser Verwirklichung war, wie die „Rechtsphilosophie"
ausweist, die konstitutionelle Monarchie. In diesem Sinn hat Hegel dann Napoleon
als den großen Staatsreclitsleltret' ·in Pur·is 61 aput1Lruphiert. Abgel:!ehen von der um
1800 ausgesprochenen nationalpolitischen Hoffnung auf einen cäsaristischen Herr-
scher, der die Reichseinheit herstellen sollte, eine Hoffnung, die auf Grund der
Zertrümmerung des Reiches durch Napoleon gegenstandslos geworden war, finden
sich bei Hegel keinerlei Neigungen dieser Art. Sein Verhältnis zu Bonaparte war
sozusagen von allen bonapartistischen Beimengungen frei. .
Nach der Niederlage Napoleons suchte das nationale Lager den Sieg zur Ächtung
aller Bonapart.istfln 11.m1:r.11nutzen. Unter diese fielen alle Lobredner des Kaisers in
der Zeit des vaterländischen Unglücks. Es gelte jetzt, sie einzeln namhaft zu
machen, damit sie fort und fort gehlYtig ausgeschieden blieben aus dem Volke 02 •
Dem gleichen Zweck diente ein Aufsatz von HEINRICH LuDEN 63 • Er ordnete die
besiegten Mitläufer, die sich aus den sogenannt Gebildeten und ehemaligen Republi-
kanern rekrutierten, sich Demokraten und Freiheitsfreunde nannten, Leute in mitt-
leren Jahren waren und der Philoso-phie und der Geschichte, ... die Mathematik und
die Statistik vorzuziehen pflegten, semantologisch ein: Man erkenne sie an ihrer
eigentümlichen Sprache, woraus man s·icli besonders folgende Liebz.ingswU'rle merke:
Geist der Zeit, Fortschreiten mit dem Zeitgeiste, Kultur, liberale Ideen, Zivilisation,
Organisation, Toleranz, Humanitiit; veraltet, Altfränkisch, Feudalitiit, Bigottismus,
Anarchie, Finsternis des Mittelalters. Im Zuge seiner politischen Sprachrevision
versuchte Luden auch, den revolutionären Verfassungstyp neuen Stils zu definieren.
Für ihn war Napoleon der Testamentsvollstrecker Rousseaus: Einheit, Unteilbar-
68 HEGEL, Die Verfassung des Deutschen Reichs, hg. v. G. Mollat (Stuttgart 1935), 120.
69 l!ABERMAB, Hegels Kritik, 97.
60 So ALEXANDRE KOJEVE, Introduction a la lecture de Hegel (Paris 1947), 153, bezogen
47-90385/1 737
Cäsarismm DI. 1. Ente Amätze zur Theoriebildung
avec la civilieation europeenne, Oeuvres, Cd. AHred Roulin (Paris 1957), 983 ff.
87 Ebd., 1027. 1029.
738
m. 2. Die Bonapartisten in Deubeh1aad Cäsarismus
d,e l'usurpation zur Monarchie: es verdanke seine Entstehung der Armee und könne
sich nur gestützt auf diese erhalten68 ; andererseits genüge eine einzige Niederlage,
um es zu beseitigen69• Es bediente sich im Gegensatz zum Despotismus aller Formen
freiheitlicher Meinungsäußerung, besonders auch der öffentlichen Meinung, korrum-
piere aber dadurch die Freiheit selbst 70 • Trotz des Hinweises auf die weltgeschicht-
liche Parallele mit dem Verfall Griechenlands und dem Untergang Roms, an deren
Beginn jeweils Usurpatoren wie Philipp und Cäsar gestanden hätten 71, umging er
die daraus ableitbare Untergangsprognose. Die Herrschaft eines Usurpators werde
nur ermöglicht durch die Invasion von Barbaren oder das Hochkommen ungebil-
deter Massen, die stark vom herrschenden Standard abwichen. fo Frankreich sei
dieser Einbruch durch die Revolution erfolgt, aber deshalb weniger gefährlich und
weniger von Dauer gewesen, da die Differenz der verschiedenen Klassen geringer
gewesen sei als in Griechenland und Rom72 •
Diese optimistische Wendung der großen Parallele ging auf Constants optimistische
Geschichtsauffassung zurück, die von der Aufklärung und der Rationalisierung
politischer Entscheidungen den Fortschritt erwartete. Für sie war im Frühjahr 1814
Napoleon nur eine, wenn auch unliebsame Episode gewesen, deren Charakteristika.
zwar scharf erkannt, deren Bedeutung als eine Signatur des Zeitalters von Uonstant
aber nicht gesehen werden. konnte.
Weniger täuschte sich KARL VOLLGRAFF über die Dauer der beobachteten Erschei-
nungen (1828/29). Bei ihm wurde zum ersten Mal die große Parallele explizit als
geschichtsphilosophisohos Gesetz gefaßt, indem er auf die seit JahrhundP.rten ge-
läufige Analogie zwischen biologischen Lebens-, vor allem aber Altersprozeß und
der Geschichte zurückgriff und sie systematisierte. Vollgraff behauptete, daß die
germanisch-slavischen Völker schon llingst d,en Zertitlt . . . ilirer charakUristi&chen
Lebensent111ir:klung überschritten und sonach "längst sich gerad,eso auf dem Rückwege
befänMn, wie einst die (}riechen nach Alezand,er und die Römer nach Oäsar73 • Ähnliche
geschichtsphilusophische Konzeptionen begleiteten auch später die Ausarbeitung
des Bonapartismus- oder Cäsarismus-Regriffs und verliehen ihnen eine spezifische
historische Tiefendimension.
88 Ebd„ 1032.
88 Ebd„ 1043.
70 Ebd„ 1037 f.
n Ebd„ 1039 ff.
a Ebd„ 104i f.
73 KARL VoLLGRAFF, Die Systeme der praktischen Politik im Abendland, Bd. 1 (Gießen
739
Cäsarismus m. 2. Die Bonapartisten in Deutschland
solcher Despot erscheine ... .Aus Stimmungen, wie sie jetzt herrschen, gäkren Drachen
au/ 74• 1830, anläßlich der Julirevolution, war dann selbst der gemäßigte Perthes
der Ansicht, daß Frankreich eines großen Despoten und Europa eines großen Mannes
bedürfe. Eine Vorstellung, die sich dann später im Zeichen der achtundvierziger
Forderungen nach Nationaleinheit zum Wunsch nach einer „letzten Diktatur"
durch den „letzten aller Diktatoren" verdichtete 75• Perthes fügte einige Jahre später
hinzu, weder rechts nock Zinks, weder Hock und Niedrig noch Jung und Alt ließen
sich durch kümmerliche Polizeiverbote zur Ruhe bringen. Wie sehr die Sehnsucht
nack gewalti,gen Individualitäten die verschiedenen Verfassungspositionen durch-
kreuzte, zeigten seine weiteren Feststellungen: .Alle Welt sehnt sick trotz ihres
Liberalismus, beherrscht zu werden, und deshalb habe man gegenwärtig (1834) Gott
zu danken, daß die Geschickte, um den Menschen die Freiheit zu bewahren, Monar-
chen, d. k. Fiktionen gewaltiger Individuen geschaffen und ihnen die Macht gegeben
kat, die wirklich gewaltigen Individuen unsckädlick zu machen 76 • Hier wurde wohl
zum ersten Mal die Monarchie als Aufhalter des Bonapartismus oder Cäsarismus
im vollen Bewußtsein der Tatsache begriffen, daß sie selbst cäsaristisch zu werden
begann 77 •
So färbte der napoleonische Schatten selbst das monarchische Prinzip ein, wie um-
gekehrL ELIAS REGNAUL'l' (1842)7 8 frohlocken konnte: Le8 revolutions d'autrefois
n'etaient que des ckangements de dynastie; grdce au sabre de N apoUon, ks ckangements
de dynasties ne seront que des essais malheureux et des modifications sans duree. Es
gelte die Revolution von 1789 in diesem Si.im zu vollenden ( compUt,er). So verstan-
den kam auch in den liberal-demokratischen Gruppen des „Jungen Deutschland"
eine Art bewußter Bonapartismus auf, der sich als antifeudalistisch, antiaristo-
kratisch und antikirchlich, mit einem Wort als antilegitimistisch verstand. Die
Napoleonlegende diente im vormärzlichen Deutschland sowohl der Heldenver·
ehrung in fast allen Schichten der Bevölkerung79 als auch dem Wachhalten liberaler
1<1Friedrich Perthes' Leben, bg. v. CLEMENS THEODOR PEBTHES, 6. Aufl., Bd. 3 (Gotha
1872), 281.
71 JoH. GEORG FISCHER in einem Gedicht vom Februar 1849, in: ARTHUR MENNEtL/
BRUNO GABLEPP, Bismarck-Denkmal für das Deutsche Vollt (Chicago, Berlin 1895), 148.
n Ebd., 314. 369. 406.
77 Eine Erkenntnis, die hundert Jahre später durchaus noch aktuell und alles andere als
weit verbreitet war. CA.BL SCHMITTs Hüter der Verfassung (Tübingen 1931) hätte im
Idealfall eine Art republikanischer Monarch im Sinne von Perthes sein sollen (s. Anm. 189).
78 ELIAS REGNAULT, Art. Empire, DuCLERC (Ndr. 1868), 363.
„ In diesem Zusammenhang muß auch THOMAS CABLYLE und sein Einfluß in Deutschland,
der freilich der einer bereits durch den deutschen Idealismus vermittelten Tat- und Heroen-
ethik war, erwähnt werden. „On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History" er-
schien 1841, vier Jahre nach Carlyles „History of the French Revolution". Bezeichnender-
weise waren seine anderen historischen Arbeiten Cromwell („Cromwell's Letters and
Speeches", 1845) und Friedrich II. („Frederick the Great", 1858-1865) gewidmet. Sein
Buch über die Heldenverehrung erlebte in Deutschland zwischen 1846 und 1898 immerhin
drei Auflagen. Carlyles Affinität zum Cäsarismus wurde bei WAGENER Bd. 5 (1861), 95,
Art. Carlyle zutreffend erkannt: Carlyle treffe mit jener Grurulrichtung unserer Zeit zu-
&ammen, welche kräftigen GeiBtern nur zu leicht den G~uben an eine eigene me&&ianiBche
740
m. 2. Die Bonapartiaten in Deutschland Cä1arümua
Ideen bei den Radikalen. Bei letzteren kam noch die Hoffnung hinzu, mittels einer
Diktatur national-demokratischer Provenienz in das System der Metternichzeit
eine Bresche zu schlagen80• Der Haß, mit dem die radikalen republikanischen Publi-
zisten, wie z. B. der junge Görres, nach dem 18. Brumaire Napoleon als Verräter
der Freiheit verfolgten81, war schon lange vergessen.
HEINRICH HEINE war Zeit seines Lebens einer der eifrigsten Anhänger eines ideali-
sierten Napoleon, eines Bildes von Napoleon, das er 1828 so beschrieb: ieder Zoll
ein Gott! ... Sein Name schon klingt uns wie eine Kunde der Vorwelt und ebenso amik
und heroisch wie die Namen .Alexander und Oäsa,,&. Die Parallelisierung von Napo-
leon mit .Alexander und Cäsar war zu dieser Zeit schon ein Topos geworden, der
gleichzeitig die Gelegenheit bot, die große Parallele zu evozieren. Das von Heine
entworfene Bild Napoleons eignete sich vorzüglich als Losungswort einer ästhetisch-
individualistisch ausgerichteten, politisch gesehen liberal-demokratischen Oppo-
sition _gegen die damaligen deutschen Zustände.
Im März 1832 hatte Heine über die bonapartistische Poesie und deren Gefahren
für die Regierung Louis-Philipps berichtet und von Volksdichtern gesprochen, die
als Tyrüien des Bonapartismus bekanm sind83• Anläßlich des Todes des Herzogs von
Ileichstadt gab Heilnl elliige Mu11aw 1:1päwr ei11e Beschreibung dieses Bonapartis-
mus. Er unterschied Bonapartisten, die an die Auferstehung des Fleisches glaubten
und für die jetzt alles zu Ende sei, von denen, die an die Auferstehung des Geistes
glaubten, wozu er sich offenbar auch selber rechnete. Der Bunapartismus ist fw
diese nicht eine Überlieferung der Macht durch Zeugung und Erstgeburt; nein, ihr
Bonapartismus ist fetzt gleichsam von aller tierischen Beimischung gereinigt, er ist ihnen
die Idee einer .Alleinherrschaft der höchsten Kraft, angewendet zum Besten des Volks,
tm.d wer die.se Kraft hat und sie so anwendet, den nennen sie Napoleon II. Wie Oäsar
der bloßen Herrschergewalt seinen Namen gab, so gibt Napoleon seinen Namen einem
neuen Oäsaremume, wozu nur derjenige berechtigt ist, der die höchste Fähigkeit und
den besten Willen besitzt8'.
Könnte man Heines Begriffsbildung vom Frühjahr 1832 noch als Zufallsprodukt
abtun, so zeigt doch gerade seine Beschreibung des Bonapartismus vom August
1832, die_ wohl die kürzeste und prägnanteste gerade auch in ihrer Verbindung von
Bonapartismus und Cäsarismus war, in beinahe klassischer Weise, wie sich eine
-ismus-Bildung vollzieht, nachdem die Bezugsperson gestorben ist. Der private
Name des nächsten Napoleon tutjetzt nichts mehr zur Sache! Einen besonderen
Hinweis verdient Heines Bemerkung über den 'Cäsarismus' als bloße Herrscherge-
Bestimmung einflößt und mit der Überzeugung schmeicheU,. daß sie als Cäsaren für den
Thron bestimmt seien. A ua dem Gefühl die.ser nahen Berührung mit dem Cäsarismussind die
beiden bedeutendsten Geschichtsarbeiten Carlyles hervorge,gangen, sein Cromwell und sein
Friedrich der Große.
80 Vgl. GusTAv ADOLF REIN, Bonapartismus und Faschismus in der deutschen Ges~hlchte
741
Cäsarismus DI. 2. Die Bonapartisten in Deutschland
walt, was ja nichts anderes bedeutet, als daß es sich hierbei um einen politischen und
keinen sozialen Verfassungsbegriff handelt. Nicht nur bei der Beschreibung des
Cäsarismus, sondern auch bei der des Napoleonkultus in Frankreich betonte Heine
die demokratische Struktur von Napoleons Kaisertum, in der er auch einen der
Hauptgründe für diesen Kultus sah, wie man den „Französischen Zuständen" ent-
nehmen kann 80 •
Die mit dem Begriff 'Cäsarismus', wie Heine ihn beschrieb, implizierte reine Herr-
schaft bejahte Heine noch mehr zehn Jahre später angesichts des Oommunismus
und der Gefahr einer Prolet,arierherrschaft 86 • Er sah eine Weltrevolution herauf-
ziehen, einen großen Zweikampf der Besitzlosen mit der Aristokratie des Besitw;,
Wird nun die alte absolute Tradition nochmals auf die Bühne treten, wenn auch in
einem neuen Kostüm und mit neuen Stich- und Sc/Uagwörtem? . .. Es wird vielleicht
alsdann nur einen Hirten und eine Herde geben, ein freier Hirt mit einem eisernen
Hirtenstab und eine gleichgeschorene, gleichblökende Menschenherde! Wilde, düstere
Zeiten drOhmn lteran, und der Prophet, der eine neue Apokalypse schreiben wollte,
müßte ganz neiie Bestien erfinden, und zwar so schreckliche, daß die älteren J ohan-
neischen Tiersymbole dagegen nur sanfte Täubchen und Amoretten wären81•
Der Bonapartismus oder Cäsarismus erschien hier als Beendiger oder Verhinderer,
als Aufhalter des Bürgerkrieges und als Bekii.mpfer der OommuniBkn, iri denen
Heine die neueri Galliläer sehen wollte88• Die Interpretation als Aufhalter legt ein
.Brief Heines aus .Paris von 1851 nahe: Für den Präsidenten bin ich mit Leib und
Seele, aber nicht bloß, weil er der Neffe des Kaisers, sondern weil er auch ein wackerer
Mensch ist und durch die Autorität seines Namens größerem Unheil entgegenwirkt. Er
sei ein Mirakel zugunsten der Franzosen und seine Präsidentschaft das Wiederau/-
strahlen des lwpe,rial,i..Ym·us, al110 d~111m, w11.11 H11in11 gut ?.Wll.rt?.ig ,fahre frtther als
'Bonapartismus' bezeichnet hatte89• Das letzte Zitat belegt, daß Heine rund ein
Vierteljahrhundert hindurch seine Einstellung gegenüber dem von ihm beschriebe-
nen Phänomen des 'Bonapartismus' oder 'Cäsarismus' als Aufhalter der von ihm
als einem der ersten und mit großer Klarheit prognostizierten, aber auch gefürchte-
ten sozialen Revolution durchgehalten hat. Ähnlich wie gegenüber anderen Phäno-
menen, etwa dem von ihm als unaufhaltsam angesehenen Aufstieg Rußlands, war
seine Haltung gegenüber der sozialen, auf eine gewaltsame Umwälzung von Staat
und Gesellschaft gerichteten Bewegung ambivalent. Einerseits wünschte er die Ver-
nichtung der bestehenden Ordnung durch die „neuen Barbaren" - die große
„Parallele" war ihm wie allen Linkshegelianern stets gegenwärtig-, seien es nun
die Russen oder die Proletarier; andererseits fürchtete er aber die egalisierenden,
also die demokratischen Tendenzen im gesellschaftlichen Sinn, eines neuen Zeitalters.
miB&ion de celui qui l'e:cercait; on peut affi,rmer, fügte er allerdings hinzu, que Bonaparte ne
comprit paa un moment ce.tte Bituation, - was er dann an innen- wie außenpolitischen Bei-
spielen belegte, die alle auf die contre-revolution verwiesen hätten; DuCLERO (Ndr. 1868),
160, Art. Bonapartisme.
86 HEINE, Lutezia, Tl. 2, 20. 6. 1842, SW Bd. 6, 315.
742
m. 3. Vorhereitwig neuer Frontbildungen Cäsarismus
Zu einer Bejahung der als unausweichlich erkannten Bewegung, wie etwa bei
Tocqueville, konnte sich Heine nie durchringen. Ohne das Ethos des Politikers
gegen die Ästhetik des Schriftstellers zu sehr auszuspielen, kann man sagen, daß sie
diese Difrerenz am besten markieren.
Die dreißiger Jahre waren für Begriffsbildung und Ansätze zu einer Theorie sehr
günstig, weil durch die Julirevolution in Frankreich die Tatsache, daß die Franzö-
sische Revolution alles andere als beendet war, offenkundig wurde. 1833 schrieb
VICTOR AiME HUBER in einer ~chrift über die romantische Poesie in Frankreich,
daß für einen großen Teil des französischen Volkes der Napoleonismus eine Religion
ist, daß ihre höhere Erkenntnis, alles, was sie über die gemeinsten Interessen des täg-
lichen Lebens erhebt, in dem Gedanken an Napoleon konzentriert ist90• Offenbar meinte
Huber mit 'Napoleonismus' das, was im 19. Jahrhundert als 'Weltanschauung'
und im 20. als 'Ideologie' bezeichnet wurde. Eine strikt christliche Position war am
ehesten geeignet, den 'Napoleonismus' als Ersatzreligion zu kennzeichnen. Ähn-
lich konnte ein anonymer Aufsatz in der „Deutschen Vierteljahrsschrift" 1847 das
fra.nzösisohe Erziehungswesen als N apoleoniBieruing der Nation aohildern, woil es
aus dem Menschen einen Gott machen wolle, ihn de facto aber fa1tonniere, den Gott
in ihm töte und das 'fier in ihn hineinfüttere91 •
Im Februar 1833 hatte CARL ERNST JARCKE in einem „Revolution und Absolutis-
mus" überschriebenen Artikel diese beiden Begriffe aus einem höheren ·Standpunkte
betrachtet und für identisch erklärt92 • Dieser „höhere Standpunkt" erWies sich der
Position Franz von Baaders nahe verwandt. Absolutismus und Revolution seien
beide eine Negation wirklicher und bestehender Rechte, um einen anderen durch die
Theorie gefundenen Zustand in deren Stelle zu setzen, ja, ihre Identität enthülle sich
a.uoh darin, daß die Revolution nur vollende, was der Absolutismus begonnen; sie
wolle nämlich die absolute Staa.tsgewalt in andere Hände bringen, damit der wahre
Volkswille desto richtiger erkannt werde und seine Vollstreckung desto gewisser sei. Aus-
drücklich verwies Jarcke auf das Beispiel Napoleons, der den absoluten Staat inso-
fern vollendet habe, als er einen Mechanismus erfand, kraft dessen die Staatsgewalt
in jedem Augenblick über den vollen Umfang aller Kräfte jedes einzelnen im ganzen
Lande verfügen könne. Die totalitären Regimen eigentümliche Mobilisierung des
Volkes wurde hier vorausschauend beschrieben. Das katholisch-konservative
Räsonnement Jarckes · versuchte mittels der Ineinssetzung von Absolutismus
und Revolution, als deren Inkarnation die Person Napoleons bezeichnet wurde,
die zunehmende Machtfülle des modernen Staates, die in cäsaristischen Regimen
• 0 VICTOR AmE HUBER, Die neuromantische Poesie in Frankreich und ihr Verhiltnis zu
der geistigen Entwicklung des französischen Volkes, Aueg. Sehr. über Socialreformen und
Genof1Sen11ohaftswe~en, hg. v. K. :MundiDg (Berlin 1894.), 34..
9 1' Das Volk und seine Freunde in Frankreich, Deutschland und England, Dt. Vjschr. 2
(1847), 131.
81 C. E. JABCKE, Revolution und Absolutismus, Berliner Polit. Wochenbl., 16. 2. 1833,
H. 7, 38 ff.
743
Cäsarismus m 3. Vorhereitunl{ neuer Frontbildungen
98 Der Staatsstreich Napoleons III. sollte für die christlich-konservativen Argumente eine
erneute Bestätigung bringen, etwa für LEOPOLD v. GERLACH, der 1857 - ganz im Sinne
Jarckes -schrieb, daß Bonaparte ein Prinzip und zwar daa der autokratischen oder viel,mehr
der abaolmistischen Revolution repräsentiert, waa sich selbst gegen aeinen Willen geltend
machen muß; Denkwürdigkeiten, Bd. 2 (Berlin 1892), 521.
H JoH. FRIEDRICH BöHMER, Leben, Briefe und kleinere Schriften, hg. v. Johann Janssen,
Bd. 1 (Freiburg 1868), 279.
95 WILHELM SCHULZE-BODMER, Art. Diktator, Diktatur, RoTTECK/WELCKER Bd. 4 (1837),
395 f.
744
W. 4. ..Uc~11 de Tlkqucville und Lorenz von Stein t:ä11ari11mm;
Als „die" geschichtliche Tendenz des neuen Zeitalters, auf dessen Schwelle er sich
glaubte, hatte TocQUEVILLE in seiner „Democratie en Amerique" (1835 u.1840) die
Demokratisierung als ein alle Lebensgebiete umfassendes Phänomen und die ihr,
besonders im politischen Bereich korrespondierende Zentralisierung, die „concen-
tration du pouvoir", beschrieben. Er sagte von ihr, daß sie in den kommenden
siecles demO<YTatiques ... le gouvernement naturel sei, da die Gleichheit dem Men-
schen "la pensee d'un gouvernement unique, unif<Yrme et fort suggeriere. Freiheiten und
Unabhängigkeiten müßten als produit de l'art, d. h. mit bewußter Anstrengung ihr
gegenüber aufrechterhalten werden98• Dem Problem, mit welchen Institutionen
man diese Freiheiten in einer egalitären Gesellschaft erhalten kann, widmete er das
letzte Kapitel seines Werkes 97 • Diese Aufgabe mußte ihm um so dringender erschei-
nen, als er im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen nicht die aus Revolutionen
hervorgehende Anarchie98, sondern den Despotismus fürchtete. Denn, so lautete
sein Argument, Revolutionen, die Monarchien stürzten und des hommes nouveaux
an die Spitze eines peuple demO<YTatique brächten, würden den Prozeß der Macht-
konzentration noch beschleunigen. Dazu komme eine weitere Tendenz: wenn aimer
l'egaliU ou de le faire croire im Zeitalter der Demokratie zur einzigen Bedingung
werde, um die Macht in einer Hand konzentrieren zu können, dann werde die bisher
komplizierte &cümce du de&poti&me vereinfacht, l!lie reduziere !!lieh auf ein einziges
Prinzip, das stets zu beachten sei, die Gleichheit00 • Der Schluß lautete: Le despo-
ti.~me me para?,t donc particulierement aredouter dans les ages democratiques 100• Aber
es handle sich um eine völlig neue Art des Despotismus, les anciens mots de despotis-
me et de tyrannie ne conviennent point. La chose est nouvelle, il faut donc tächer de la
definir, puisque jene peux "la nommer1 0 1 • Tocqueville war der erste, der bewußt ein
neues Phänomen analysierte und die Unangemessenheit der klassischen Begriffe
kritisch reflektierte. Er entwarf auf den folgen<len Stiiten das. Rilfl fliner Gesflllschaft
und eines Staates, in welchem der einzelne Bürger auf seine Privatsphäre und die
gesellschaftliche Reproduktion reduziert war; über diesen erhob sich ein sozialeudä-
monistischer Staat, der absolu, detailU, regulier, prevoyant et doux war, aber nicht
etwa zum Ziel hatte, die Menschen auf Selbständigkeit vorzubereiten, sondern sie
im Gegenteil im Zustand der Unmündigkeit festhalte: Il reduit enfin chaque nation
an'&re plus qu'un troupeau d'animaux timides et industrieux, dont le gouvernement est
le berger. Besonders verhängnisvoll würden diese Tendenzen aber, wenn die moderne
Konzentration politischer Macht in die Hände d'un homme ou d'un c<Yrps irre-
sponsable gerate 102 • Auch die Möglichkeit einer Militärdiktatur war Tocqueville
745
m. 4., Altmi.e de To01f11mile und Lorenz Ton Stein
nicht fremd. Im modernen, d. h. im Zeitalter der Gleichheit, sehe ihr Resultat so aus:
'le peup'le devenu une image de l'armee, et la societe tenue comme une caserne1 oa.
Tocquevilles Leistung bestand darin, daß er als erster eine Soziologie des Cäsaris-
mus entwickelte und gleichzeitig durch seine Weigerung, den Begriff 'Cäsarismus'
oder 'Bonapartismus' zu verwenden, andeutete, daß der alte Begriff der neuen
Sache, nämlich der spezifischen totalitären Demokratie mit einem souveränen Dik-
tator an der Spitze, nicht mehr angemessen war. Dieser neue Despotismus war für
ihn kein Ergebnis einer Pervertierung einer im Grunde zu bejahenden Entwicklung
zum Fortschritt, wie für Liberale und Demokraten, noch das Ergebnis eines Ver-
falls oder einer Verschwörung, wie für die Konservativen, sondern eine latent über-
all vorhandene Möglichkeit der Demokratie. Der Bewußtheit, mit der er neue Phä-
nomene analysierte, entsprach sein Verzicht auf jegliche Parallelisierung und vor-
schnelle begriffliche Klassifizierung: . . . deja les termes de comparaisons nous man-
quent . . . je n'aper9Qis rien qui ressemble a ce qui est saus mes yeux104 • Begriffe wie
'Bonapo.rtismus' oder 'Napolooniamus' hätten gerade die .Allgemeingültigkeit der
analysierten Tendenzen eingeschränkt. Deshalb vermied er auch die dann sehr
geläufigen Begriffe nach dem Staatsstreich, den er für sehr gefährlich hielt, da Na-
poleon III. zugleich konservativ und revolutionär war und die politische Freiheit
nun weder bei den vorwärts- noch bei den rückwärts weiRenden T1mdenzen Zu-
flucht finden konnte 105 • Erleichtert wurde ihm dies dadurch, daß sein in Nord-
amerika gewonnenes Material die Allgemeingültigkeit zumindest für europäische
Leser, die in Amerika ihr künftiges Geschick erkennen sollten, gleichsam von selbst
mitlieferte. Die Erkenntnis der Neuartigkeit der globalen und unausweichlichen
Entwicklung zur egalitären Demokratie war konstitutiv für Tocquevilles politische
Philosophie: Il faut une science politique nouvelle a un m.onde taut nouvaautoo.
Standen für Tocqueville' die Demokratisierung und ihre Folgen im Mittelpunkt seiner
Theorie, so war sie für LoRENZ VON STEIN ebenfalls eine gesellschaftliche Erschei-
nung., dio soziale Bewegung. In der LöR1mg der 110?.ia.l11n Frage, d. h. die arbeitende
Klasse zu einer unabhängigen, materiell freien zu machen, sah er die größte Aufgabe
der Geschichte 107 • Deshalb ging er auch einen entscheidenden Schritt über Hegel, als
dessen Schüler Stein sich verstand, hinaus. Diesel'. hatte die soziale Frage in seiner
„Rechtsphilosophie" zwar als Problem erkannt, aber ihre Lösung bis ans Ende
seines Lebens gleichsam vor sich hergeschoben und seinen Schülern überlassen.
Wie bei Hegel stand die Verwirklichung des Rechts im Zentrum der politischen
Philosophie Steins, diese war aber Sozialphilosophie, d. h., die a,nalog zu Hegel auf
dem Boden des Rechts vom Staat zu verwirklichende Freiheit war nicht mehr nur
die sittliche, sondern auch die materielle Freiheit, besonders des vierten Standes.
ebd., t. 6/1 (1954), 119 ff.; Denkschr. für den Grafen Chambord, 14. 1. 1852, zit. ANTOINE
REDIER, Comme disait M. de Tocqueville (Paris 1925), 245 f.; an seinen Bruder, 14. 2. 1852,
ebd., 227 ff.
10 9 TocQUEVILLE, ebd., t. 1/1, 5.
107 LoRENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich bis auf unsere Tage,
746
ID. 4. Ales..i!I de Tucque\lille uud Lureu:a vou Stein Cäsarismus
Das konstitutionelle Königtum und seine Exekutive, das als „pouvoir neutre" kon-
zipiert war, wurde damit notwendig zum „sozialen Königtum", das die soziale Re-
form durchführen und so die soziale Revolution verhindern sollte. Der Staat wurde
dann zum Sozialstaat, die „Verfassungsfrage" zur „Verwaltungsfrage" und die von
Stein begründete Verwaltungslehre zur Grundlage der Sozialpolitik. Die so verstan-
dene Monarchie wurde für Stein nicht nur zum Aufhalter und Verhinderer der
sozialen Revolution, in der sich die Gesellschaft und ihre nicht befriedigten Be-
dürfnisse selbständig machten, sondern auch der sozialen Dilctatur, die durch aus-
schließliche Herrschaft der Staatsgewalt gekennzeichnet war 108 • Beide Möglichkeiten
entsprachen dem unabweisbaren Beilürfnis der Gesellschaft, die ihre richtige - für
Lorenz von Stein ihre dem Gesetz der gesellschaftlichen Bewe,gitng _.:... entsprechende
Verfassung noch nicht gefunden hatte. Dieses Bedürfnis und nicht sein Charakter
habe auch Napoleon ... zum Despoten gemacht. Konsequenterweise waren deshalb
für Stein Diktatoren wie Cromwell und Napoleon nicht wie für viele seiner Zeitgenos-
sen Beender der Revolution, sondern sie standen am Anfang einer fliCtwn gesell-
schaftlichen Ordnung, weshalb sie soziale. Dilctatur genannt werde. Dies unterschied
sie grundlegend von einer Diktatur, die einem administrativen oder militärischen
Beilürfnis ihr Dasein verdankte, also von der kommissarischen Diktatur.
niP. rlP.m „<1P.RP.t?. cfor gP.RP.llRr.haftlir.hP.n ßP.wP.gnng" um diP. Mitte des 19. Jahrhw1-
derts entsprechende Verfassung war für Stein die konstitutionelle Monarchie, die
die Lösung der sozialen füage in ihre Verfaesung aufnahm und damit zum „sozialen
Königtum" wurde. Hatte Tocqueville seinen Landsleuten Nordamerika, so Lorenz
von Stein Fra:nkreich als Spiegel vorgehalten, in dem künftig mögliche Entwick-
lungen zu erkennen waren. Die Präsidentschaft Louis Napoleons fiel noch in die
Zeit der Abfassung seines Werkes und harrte der Analyse109 • Die Wahl des Präsi-
denten war für ihn die Wiederherstellung einer selbständigen, über den Parteien stehen-
den Staatsgewalt, die Frankreich abhanden gekommen war. Diese auch im Smne
·seiner Theorie liegende Lösung sah er aber durch das allgemm:ne Stimmruht gefähr-
det, da dies nur bei sozialer Gleichheit, die in Frankreich nicht gegeben sei, stabili-
sierend wirken könne, so wie die Dinge einmal lagen aber die industrielle Reaktion
in ihrer Angst vor der sozialen Demokratie dazu treibe, sich der Staatsgewalt zu be-
mächtigen, um ihre Eroberung mittels des Stimmzettels durch die kapitallose ...
nicht besitzende Klasse zu verhindern. Dies geschah durch die Person Louis Napo-
loons. Eine Prognose des Kommenden verbot sich Lorenz von Stein.
Ähnlich wie für Hegel, dessen Staatsrecht in der konstitutionellen Monarchie gipfel-
te, wurde für Stein, für den mutatis mutandis dasselbe galt, der Cäsarismus oder die
Diktatur nie zu einem zentralen Problem wie etwa für Tocqueville. Sein „soziales
Königtum" trug keinerlei cäsaristische Züge, es sollte durch seine Unabhängigkeit
und seine Stellung über den Parteien Diktatur und Despotie durch allmählichen
Ausgleich sozialer Gegensätze verhindern. Gerade weil sie die Staatsgewalt absolut
verselbständigten und auf die Person stellten, was freilich für ihn stets Ausdruck
eines „gesellschaftlichen Bedürfnisses" war, konnten sie von einer Klasse usurpiert
werclfm. DiP.RP. DP.RpotiP. konnt.P. 11.lRo flnt,wP.dP.r am Anfang P.inflr ne1.ren ge.,ell.,chaft-
lichen Ordnung stehen, wie bei Napoleon I., oder den Bürgerkrieg einleiten, wie die
108 Diese Boziale Diktatur wurde am Beispiel Napoleons abgehandelt; ebd„ 396 ff.
109 Diese gab LORENZ v. STEIN im Sohlußkapitel, ebd„ Bd. 3 (1959), 393 ff.
747
Cäsarismus IV. 1. Die Gesichter des Napulieouismus
letzten Sätze seines Werkes es für Louis Napoleon nahelegen, weil sie es ermöglichte,
daß sich „eine" Klasse in den Besitz der Staatsgewalt brächte. Gerade dies sollte
die konstitutionelle Monarchie in ihrer Qualität als pouvoir neutre verhindern, sie
sollte in ihrer Qualität als soziales Königtum die Gesellschaft soweit reformieren,
daß die soziale Gleichberechtigung ihrer Mitglieder (die Lösung der sozialen Frage)
zur politischen (allgemeines Wahlrecht) hinzutrat und die cäsaristischen Konse-
quenzen der letzteren aufhob.
IV. Die Revolution von 1848 und der Staatsstreich Louis Napoleons
Vive Napoleon, vive la republique und Vive Napoleon, abas la republique, so lauteten
die Rufe, die in Frankreich nach der Februarrevolution nebeneinander ertöntenno.
Das bedeutete, daß Napoleon in den Augen der einen die Revolution pcrsonifi-
zierte111, in den Augen der anderen dagegen die Hoffnung auf Beendigung eben-
derselben Revolution, die offenbar bei jedem Ausbruch an Intensität und Ausbrei-
tung zunahm. Für Frankreich bedeutete die Revolution das Ende der Napoleon-
legende und den Beginn des „Bonapartismus" als Ideologie der Gegenravolllt.ion 112 .
Doch läßt sich weder die Frontstellung vor noch nach dem Staatsstreich auf die
einfache l~ormel RevoluLio11 - Gegenrevolution bringen. Es gab Konservative,
die vor dem Staatsstreich Louis Napoleon als Retter vor der Anarchie apostrophier-
ten und ihn naeh dem 2. Dezember bekämpften, wie etwa Donoso Cortes113• Es gab
Sozialisten wie Proudhon 114, die die soziale Revolution als einzig mögliches Programm
Louis Napoleons nach dem Staatsstreich bezeichneten, nachdem sie ihn vorher be
kämpft hatten, und versuchten, ihn auf dem Weg der Revolution weiterzustoßen,
nachdem sie erkannt hatten, daß er zugleich konservativ und revolutionär war.
uo Vgl. ANDRE-JEAN TuDJoJSQ, La legende napoleonienne en France en 1848, Rev. Hist. 218
(1957), 64 ff., bes. 71.
1 11 Vgl. ebd., 66 f.
112 Vgl. ebd., 85.
113 Donoso Cortes hat aus dem Erlebnis der Revolution von 1848 seine Geschichtsphilo-
sophie und Staatstheorie entwickelt, die auf eine Befürwortung der Militärdiktatur, der
„Diktatur des Säbels" hinauslief, da die Armee inmitten der Anarchie der letzte Fixpunkt
wäre; vgl. dazu DIETER GROH, Rußland und das Selbstverständnis Europas (Neuwied
1961), 279 ff. Die Beziehungen Donosos und Napoleons III. und den Wandel in der Ein-
schätzung untersucht sehr detailliert WOLFGANG EBERT, Die Haltung zeitgenössischer
französischer Polit.iker '1\Um Cäsarismus Napoleons III. (phil. Diss. Heidelberg 1957;
Mschr.), 99. 179 f.
114 Zur Ablehnung vgl. Proudhons Tagebucheinträge vom 6. 12. 1851 und 11. 3; 1852, zit.
EnouARD DoLLEANS, GEORGES DUVEAN, Introduction zu: PIERRE JOSEPH PROUDHON,
La revolution sociale demontree par le Coup d'Etat du Deux Decembre, Oeuvres compl.,
ed. C. Bougle, H. Moysset, t.10 (Paris 1936), 57. 69. Konservativ und revolutionär: an Ch.
Edmond 6. 3. 1852, Correspondance de P.-J. Proudhon, ed.•T. A. Langlois, t. 4 (Paris 1875),
232. In seiner 1852 verfaßten Schrift „La revolution sociale" versuchte Proudhon den
Staatsstreich für seine Variante des Sozialismus zu usurpieren und aus Napoleon einen
Agenten der Revolution zu machen.
748
IV. l. Die Gesichter des Napoleonismus Cäsarism118
Dann wären die Anhänger Louis Napoleons zu nennen, die in ihren Propaganda-
schriften die Angst vor dem „roten Gespenst" zu seinen Gunsten ausnutzten, nicht
ohne zum Teil durch die Wahlergebnisse vom 20. Dezember 1851 ironischerweise
ins Unrecht gesetzt zu werden, die klar zeigten, daß die Mehrheit der Axbeiterschaft
für den neuen Napoleon stimmtelu.
Nach dem Staatsstreich Napoleons erlebte der Begriff 'Cäsarismus', bis jetzt nur
vereinzelt registrierbar, eine weitere Verbreitung. 'Napoleonismus' und 'Bonapar-
tismus' erhielten durch Staatsstreich und Präsidentschaft Napoleons III. eine un-
mittelbare Evidenz. Die Rückwirkungen auf den Gebrauch blieben nicht aus. Waren
es bisher nur wenige politische Denker und Publizisten, die sich mit dem Problem
des 'Cäsarismus' oder 'Napoleonismus' auseinandersetzten, so gehörte von nun an
diese Auseinandersetzung zu den Topoi politischen Räsonnements. Das hatte zur
Folge, daß neben die unreflektierte Verwendung besonders des Begriffes 'Bona-
partismus' zunehmend der Zwang trat, sich intensiver mit dem 'Bonapartismus' oder
'Cäsarismus' zu beschäftigen. Der weiten Verbreitung auf der einen stand die zu-
nehmende Differenzierung auf der and&en Seite gegenüber.
Wie früh man die Austauschbarkeit der politischen Gruppen und der ihnen zuge-
ordneten sozialen Verfassungsvorstellungen angesichts der Frage nach politischer
Herrschaft schlechthin im Gefolge der revolutionären Umwälzungen erkennen und
die teilweise Identität von 'Cäsarismus' und 'Kommunismus', die dann später
ein Topos der antinapoleonischen Publizistik werden sollte, diagnostizieren konnte,
dafür gab der von Tocqueville beeinflußte Joi~.l!ll'H VON EöTVÖS ein gutet1 Btiispiel:
Der Kommunismus, indem er eine Ordnung der Gesellschaft zu begründen sucht, deren
Aufrechterhaltung nur durch die despotische Gewalt eines einzelnen möglich ist, und die
Verteidiger des Bestehenden, die, um diese Gefahr abzuwenden, die Macht der Staats-
gewalt zur unbegrenzten zu machen suchen, arbeiten auf verschiedenen Wegen nur dem-
selben Ziel entgegen. Sie kämpfen doch nur darüber, wer von beiden Oäsar die Krone
überreichen sollell 6 •
Gegen die Ablehnung Bonapartes, wie sie etwa in M:EYER's „Universum" 1850 zum
Ausdruck kam117, wo als sein einziges Verdienst seine Unfähigkeit bezeichnet und
der Tag seines Staatsstreiches als Sterbestunde der alten Gesellschaft vorausgesagt
wurde, trat nun die bonapartistische Propaganda in die Schranken. Nicht nur am
weitesten verbreitet, sondern auch am weitesten - wenn auch aus propagandisti-
schen Gründen - zur Theoriebildung vorgedrungen ist von den Anhängern Bona-
partes AUGUSTE RoMIEU. Sein „L'ere des Cesars", im Sommer 1850 verfaßt und
noch im gleichen Jahr erschien!ln, wurde unter dem Titel „Der Cäsarismus oder die
Notwendigkeit der Säbelherrschaft, dargetan durch geschichtliche Beispiele von den
Zeiten der Cäsaren bis auf die Gegenwart" 1851 ins Deutsche übersetzt. Seine
nächste, ein halbes Jahr später verfaßte Schrift: „Le spectre rouge de 1852",
749
Cäsarismus IV.·2, Die deutschen Reaktionen
war mehr auf französische Verhältnisse zugeschnitten. Hier zeigte er sich als Haupt-
vertreter der These, daß die Gesellschaft der Besitzenden nur durch den 'Cäsaris-
mus' vor der roten Gefahr gerettet werden könne1lB.
Die Geschichte, als Kreislauf begriffen, gab die geschichtsphilosophische Unterlage
für die Behauptung Romieus, daß es bei den Völkern einen Augenblick höchster Zivili-
sation gibt, dessen Ausgang der Cäsarismus ist ... Aus dem, was bei dem Verfall,e des
Heldentums vorging, glaubte ich auf das schließen zu können, was bei dem Verfall,e des
Christentums vorgehen wird 119• Wie wenig geläufig das Wort 'Cäsarismus' den Zeit-
genossen war, erhellt aus dem folgenden Satz: Ich muß dies Wort, welches weder
Königtum noch Kaiserreich noch Despotismus noch Tyrannei ist,Jeutlicher erklären,"
es hat seinen ganz eigentümlichen und wenig gekannten Sinn (14). Dieser wurde vor
allem bestimmt durch qas Schlüsselwort Einheit, exemplifiziert am römischen Bei-
spiel der Zusammenfassung von Oberkommando und Tribunat: di,es war das zum
Manne gemachte römische Volk ... ,- dann durch den Gegensatz von Macht und Dis-
kussion, die nur das Chaos und den Bürgerkrieg gebäre (15). Andere Bindemittel
für Staaten und Völker gebe es nicht mehr, da Religion und Legitimität den Glau-
ben voraussetzen, aber dieser nicht mehr bestünde (47), womit sich Romieu als
Schüler de Maistres und Donoso Cortes' ausweist. Deshalb begründeten auch die
modernen Cii.saren in der Nachfolge Napoleons keine Dynastie mehr (53), der Cäsa-
rismus kbt durch sich selbst und allein (78). Er sei das letzte Zufluchtsmittel der Ge-
sellschaft angesichts der verhängnisvolkn Notwendigkeit des Bürgerkrieges (83), in
welchem der neue Cäsar die Kultur vor den neuen Barbaren, den sozialistisch ver-
hetzten Arbeitern (32), die aber keine neuen Christen sein würden (51), retten
werde (63 f.) - ein Gedanke, der dann im „Spectre rouge" in extenso ausgeführt
·wurden°.
Die Tagebücher VARNHAGEN VON ENSFJS kommentierten seit dem 3. Dezember 1851
täglich bis Mitte des Monats und dann in größeren Abständen die aus Frankreich
eintreffenden Nachrichten und die Reaktionen darauf in Berlin. Er selber sah in
Bonaparte eine Bloßstellung der deutschen Staatsrettung: ... Dieselben Vorwände,
118 War auch die Furcht vor dem „roten Gespenst" oder dem „Gespenst des Kommunis-
mus" in vielen europäischen Ländern verbreitet, so ergab sich doch für Frankreich eine
besondere Situation, da sowohl die Amtszeit des Präsidenten als auch die Legislaturperiode
des Parlaments im Frühjahr 1852 o.bliof. Für diese Zeit des Machtvakuums wurden von
vielen Seiten sozialistische oder anarchistische Aufstandsversuche erwartet. Diese Befürch-
tungen machte sich die bonapartistische Propaganda mittels der Schrift Romieus und
anderer geschickt zunutze.
119 AUGUSTE RomEu, Der Cäsarismus oder die Notwendigkeit der Sii.belhelTSchaft, dargetan
durch geschichtliche Beispiele von den Zeiten der Cii.saren bis auf die Gegenwart (Weimar
1851), 4. 14. 81 f.
120 Gewalt und Einheit statt anarchischer Freiheit, das waren auch die Losungsworte der
anderen bonapartistischen Propagandisten sowohl vor als auch nach dem Staatsstreich
vom 2. Dezember 1851. Vgl. zu den verschiedenen Theorien der Bonapartisten, bei denen
der Begriff des „faisceau" meist im Mittelpunkt stand: EBERT, Haltung französischer
Polit~er, 28 ff.
750
IV. 2. Die deutsehen Reaktionen Cäsarismus
Ruhe und Ordnung, Autorität, Wohlfahrt des Volks, haben auch sie gebraucht und von
ihren Zusagen keine erfüllt, im Gegenteil erst re,cht Gesetzlosigkeit, Not und Schmn,ch
hervorgebracht. Der Schuft bringt nur alles in größerem Maß und mn,cht die Sachen
re,cht auffallend121• Im Bonapartismus und seinen Äußerungen sah Varnhagen all das
potenziert, was er an den damaligen deutschen Verhältnissen ablehnte und kriti-
sierte, nämlich Gewaltanmaßung, Oktroyierung~ Polizeiwillkür, Fre,chheit. Anderer-
seits war für ihn die Tatsache, daß sich Bonapartismw ... in Neapel, in Sachsen, in
Kurhessen rühre, ein Grund dafür auszurufen: Schmach und Sckand,e für die Regie-
rungen, daß dergleichen möglich ist1 22.
Zum ersten Mal wurden hier ausdrücklich die deutschen Regierungen offen als
bonapartistisch qualifiziert, und das unterschied Varnhagen, ganz abgesehen von
seinem liberaldemokratische~ Standpunkt, von den katholisch-konservativen Kri-
tikern des Bonapartismus und Cäsarismus im Vormärz.
Den ersten Versuch von deutscher Seite, die Bedeutung des 'Napoleonismus' zu
klären, unternahm CoNSTANTIN FRANTZ in seiner unmittelbar nach dem Staats-
streich verfaßten Schrift „Louis Napoleon". Der Napoleonismus habe schon einmal·
unter dem ersten Napoleon den Krater der Revolution mit dem Thron der Cäsaren
geschlossen und erhebe sich heute wieder auf den Trümmern der Faktionen. Die
charakteristischen Merkmale dieses neuen Staatswesens seien die Diktatur, und
zwar die souveräne, die Frantz als die prinzipielle im Gegensatz zur exzeptionellen
bezeichnete, die man heute kommissarische nennen würdel2 8, dann die demokra-
tische Grundlage, die nicht durch die Majorität eines Parlaments, sondern nur durch
die Majorität eines Volkes vermittelt werden könne, weil nur dadurch der Kollektiv-
wille, der sich in dem Chef vereinigt, die Macht einer physischen Notwendigkeit ge-
winnt (58 f.). Frantz nannte dieses System die Umkehrung des parlalllt1nLarischen,
denn nach dem pa.rlamentari.~chen System wählt das Volk, um sich repräsentieren zu
lassen, hier aber wählt es, um sich regieren zu lassen, wobei die Staatsgewalt ... in
dem Chef ruht (59 f.). Der Napoleonismus war für ihn die Bestätigung seiner sich
von Schelling herleitenden politischen Anthropologie, da durch ihn das Prinzip der
Diskussion darniedergeworfen ist und es deutlich werde, daß die Persönlichkeit sich
zuerst im Willen manifestiert, indessen das Denken nur eine abgeleitete und sekundäre
Tätigkeit ist. Von hier war es zu einer Verherrlichung Napoleons nicht mehr weit
(60 f.). Die Brechung des Eigenwillens nach zwei Seiten war die gestellte Aufgabe:
Wählt das Volk sich einen Chef, an den es seinen Eigenwilkn aufgibt, um diesem Chef
zu gehorchen, und gibt dieser Chef seinen Eigenwillen auf, um dem Volke zu dienen,
dann knüpft sich zwischen beiden Teilen ein moralisches Band (75). An dem Gebrauch
des Wortes 'Chef' durch Frantz ist abzulesen, daß das Wort 'Führer' noch nicht
genügend verbreitet war. Aber Antiparlamentarismus, Willensphilosophie als Vor-
form der Lebensphilosophie, die einen gewissen Antirationalismus implizierte, bil-
121 KARL AUGUST VARNHAGEN VON ENSE, 11. 12. 1851, Tagebücher, hg. v. Ludmilla. Assing,
Bd. 8 (Zürich 1865), 467; s. auch ebd., Register, Bd. 15 (Leipzig, Zürich, Hamburg 1905),
233 f.
112 Ebd., 29. 8. 1852, Bd. 9 (1868), 351.
123 CoNSTANTIN FRANTz, Masse oder Volk. Louis Napoleon, hg. v. Franz Kemper (Potsdam
1933), 18. 68. 69. Vgl. die grundlegende Unterscheidung von CARL SCHMITT, Die Diktatur.
Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassen·
kampf (1920; 3. Auft. Berlin 1964).
751
"
Cäsarismus IV. 2. Die deutschen Reaktionen
deten schon bei Frantz die Grundlage für eine Bejahung des "Überganges der Demo-
kratie in die Diktatur. Links, so stellte er abschließend fest, führte die Straße über
den Parlamentarismus zum Kommunismus, rechts über die Restauration in die
Revolution, nur der Weg geradeaus verheiße für Frankreich noch Rettung, denn
das napokonische System sei für das heutige Frankreich das alkin angemessene, nur
Napoleon habe den Appel au peupl,e gewagt und bestanden (76 ff.). Der Zusammen-
hang von volonte generale und Diktatur, das Hauptmerkmal des Bonapartismus,
ist wohl von keinem Zeitgenossen so scharf erkannt worden wie von Constantin
Frantz. Seine Option für den Cäsarismus Napoleons III. ist für eine Position gerade-
zu paradigmatisch, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vereinzelt, um
die Wende des Jahrhunderts aber gehäuft auftrat. Es handelte sich dabei um eine
lebensphilosophisch fundierte Ablehnung des Parlamentarismus und eine willens-
philosophisch interpretierte volonte generale - um einen politischen Irrationalis-
mus, der seit 1848 sich langsam ausbreitend auch Gruppen der ehemals linken In-
telligenz erfaßte und sich schließlich in politischen Mythen, wie dem des General-
streiks, der Revolution oder des Krieges, artikulierte. Diese Elemente und auch der
mehr oder weniger explizite Führerkult bildeten e:ine der geistesgeimhir.htlir.hfln
Wurzeln faschistischer Ideologien und selbst Lenins Revolutionstheorie. Wenn
auch FranL.:.: ein seiner Auft'assung nach typisch französisches Phänomen beschrieb,
tendierte seine Konzeption grundsätzlich dahin, den Bonapartismus oder Cäsaris-
mus als internationale Erscheinung und als Signatur des Zeitalters zu werten.
Unter den preußischen Konservativen schwankte die Bewertung des Staatsstreichs
vom Dank, daß er der revolutionären Wirtschaft ein Ende gesetzt habe124, bis zur
strikten Ablehnung alles dessen, was man unter 'Bonapartismus' oder 'Cäsarismus'
subsumieren konnte, wovon die französischen Verhältnisse nur eine extreme Aus-
formung waren. So bedeutete 1851 für RADOWITZ der moderne Cäsarismus eine
bloße Herrschaft der Gewalt125, eine der drei Reaktionsformen auf die revolutionären
Ereignisse von 1848, die ganz Europa ergriffen hätten und die hier in die altständi-
sche Richtung, dort in den Patrimonialstaat, anderswo in den nackten Cäsarismus
hineindrängt. Die Angst vor einer sozialen Revolution und der daraus resultierende
Wunsch nach einer starken Regierung seien die Hauptmotive für die Wahl Napo-
leons gewesen (1852)12&.
In der Diskussion zwischen BISMABCK und LEOPOLD VON GERLACH über das Pro-
blem des Bonapartismus, den Gerlach für den ärgsten Feind der Christenheit hielt127,
und in der Bismarck dieses Konzept elastischer benutzte, um nach Bedarf die je-
weiligen politischen Gegner damit zu treffen128, ohne jedoch den Bonapartismus
124 JoH. FRIEDRICH BöHMER, Brief an General v. Hoffmann, 31. 12. 1851; Leben, Briefe,
(Stuttgart, Berlin 1912); z. B. 28. 1. u. 15. 3. 1853, ebd„ 33. 44 f.; 2. 9. 1856, ebd., 199
(Zitat); 6. u. 21. 5. 1857, ebd., 208 ff.
i2s Vgl. z.B. BISMARCK, Briefe v. 12. 7. 1851, 6. 11. 1852, 6.1.1853, in: Werke, Bd. l (1962),
426.498.503;Briefev.9.u.28.4. 1854,6. l.u.15.9. 1855,11.5. 1857,4.5.u.3.7. 1860,
in: ebd„ Bd. 2 (1963), 13. 16. 52. 75 f. 151. 322 f. 334.
752 •
IV. 2. Die deutschen Reaktionen Cäsarismus
irgendwie zu verteufeln, bildete Bismarcks Brief von 30. Mai 1857 129 und Gerlachs
Antwort darauf vom 5. Juni180 den Höhepunkt. Die politische Kernfrage lautete,
ob Preußen die damals günstige Disposition Frankreichs ausnutzen sollte, um seinen
'Einfluß innerhalb des Deutschen Bundes zu stärken, oder ob es sich auf jeden Fall
auf der Seite Österreichs halten sollte. Bismarck lehnte es entschieden ab, seine
Politik dem Prinzip des Kampfes gegen die Revolution unterzuordnen. Wo sollte
man beginnen und wo aufhören, wenn man den Grundsatz quod ab initio vitiosum,
lapsu temporis corivalescere nequit auf die praktische Politik anwenden wolle 1 Der
Bonapartismus ist nicht der Vater der Revolution, er ist nur, wie jeder Absolutismus,
ein fruchtbares Feld für die Saat derselben, außerdem die einzige Methode, nach der
Frankreich auf lange Zeit hin regiert werden kann. Napoleon III. habe· die Herr-
schaft als herrenloses Gut aus dem Strudel der Anarchie herausgefischt. Zwar liege der
Ursprung seiner Herrschaft in der Volkssouveränität, aber er empfange keine Ge-
setze mehr von dem Willen der Massen. Gerlach war grundsätzlich Bismarcks Mei-
nung, warf ihm aber vor, das Wesen des Bonapartismus zu verkennen, wenn er auch
diesem die Legitimierung durch die Zeit zugestehen wollte. Die beiden Bonapartes
hätten nicht bloß einen revolutionären unrechtmäßigen Ursprung, sondern sie sind
selbst die inkarnierte Revolution . .Napoleon Hl. könne sich von der Volkssouverä.nität
nie lossagen. Bismarcb Gleichsetzung von 'Absolutismus' und 'Bonapartismus'
lehnte er ab, denn ersterer könne sich auf ein jus divinum gründen, während der
Bonapartismus noch nicht einmal Cäsarismus sei, d. h. Anmaßung eines Imperiums
in einer rechtmäßigen Republik, die sich durch den N otsta.nd rechtfertige. Der „Bo-
napartismus" war für Gerlach dagegen souveräne Diktatur, denn die Revolution,
d. h. die Volkssouveränität sei für Bonaparte der Rechtstitel schlechthin.
Auffällig ist die erstaunliche Kontinuität der konservativen Stellilngnahmen seit
Beginn des Jahrhunderts. Meist galt hier der Bonapartismus als typisch französi-
sches Phänomen - Versuche von altkonservativer oder katholisch-konservativer
Seite, mit der bei seiner Beschreibung entwickelten Typologie auch deutsche Ver-
hältnisse zu kritisieren, bildeten eine Ausnahme - und als vorübergehende Er-
scheinung, als Folge der Revolution, Volkssouveränität etc. Zu einer Soziologie des
Cäsarismus drang man hier nicht vor.
Die ganze Skala der Deutungsmöglichkeiten wurde in den fünfziger Jahren offen-
bar, als die Deutungen Napoleons III. zwischen „Beender der sozialen Revolu-
tion" und „Wegbereiter des Kommunismus" schwankten. Zum ersten Mal traten
sämtliche Begriffe nebeneinander auf und es machten sich bei aller Konfusion auch
leichte Bedeutungsunterschiede bemerkbar. Es finden sich auch Ansätze verschie-
denster Art zur Ausbildung einer Soziologie des Cäsarismus, sie blieben aber, im
Gegensatz zu Tocqueville oder Frantz, in guten Beobachtungen stecken, die nicht
systematisiert wurden.
WILHELM HEINRICH RIEHL sah im Staatsstreich vom 2. Dezember die Bestätigung
seiner Theorie, daß die soziale Bewegung, die soziale Politik die eigentlich entschei-
dende Politik der Gegenwart sei, denn Napoleon habe seinen Kaiserthron auf die
Furcht vor der sozialen Revolution gegründet, indem er geschickt das allgemeine
Stimmrecht, das wirksamste unter allen Reagentien des sozialen Gärungsprozesses ...
48-90385/1 753
Cäsarismus IV. 2. Die deutschen Reaktionen
754
IV. 2. Die deutschen Reaktionen Cäsarismus
Staates und der Gesellschaft seien zerstört, neue noch nicht gefunden, was bedeute,
daß noch kein neues Gleichgewicht, daß noch nickt wieder Zustände möglich gewor<len
seien. Dieser Übergangszustand werde gekennzeichnet dwch eine Verwandlung des
Wesens der Freiheit durch den Begriff der Gleichheit, dann: durch die Verwandlung
des Staates aus einem Inbegriff von gegebenen und in sich ruhenden socialen und
Rechtszuständen in eine Institution, die Macht erzeuge und iibe, alle Formen von
Autonomie zerstöre, omnipotent sei und jeden und jedes in jedem Augenblick mobi-
lisiere. Aber auch Droysen wurde nicht gewahr, daß die von ihm diagnostizierte
Krise eben permanent geworden war und keinen Übergang zu einer neuen Stabili-
sierung, zu neuen „Zuständen" bildete. War die Krise aber permanent, so war auch
der Cäsarismus eine permanente Möglichkeit der europäischen Entwicklung.
Wurde bei den meisten Schriftstellern, die den Begriff 'Cäsarismus' verwandten,
Cäsars Herrschaft unbedenklich diesem zugerechnet, so unterstrich THEODOR
MoMMSEN gerade die Differenz zwischen Cäsar und dem 'Cäsarismus'. Er wandte
sich expressis verbis gegen die Unsitte, sein Urteil über Cäsar in ein Urteil über <len
sogenannten Cäsarismus umzudeuten185 • Mommsen hatte nämlich 1856 in der
1. Aufl. seiner „Römischen Geschichte" Cäsar außerordentlich positiv gezeichnet
und war deswegen als Verteidiger des modernen 'Cäsarismus' mißverstanden wor-
dcnlao. Er fügto deshalb seit der 2. Aufl. (1857) einen größeren Abschnitt über Cä-
sarismus ein, den er zuerst Oaesarianismus nannte, ein Wort, das, von 'caesarianus'
abgeleitet, Nachfolger und Anhänger Cäsars meinte 137, wogegen 'Cäsarismus' sich
von Cäsar direkt ableitete. In den späteren Auflagen seines Werkes hat Mommsen
diese Nuance jedoch aufgegeben. Trotz des genialen Impulses seines Schöpfers
Cäsar, so betonte Mommsen, erstarb von Cäsar an das römische Wesen gemäß dem
Naturgesetz, daß aWJk jede noch so mangelhafte Vet'/assuruJ, die der freien Selb.~tbe
stimmung einer Mehrzahl von Bürgern Spielraum läßt, unendlich mehr sei als <ler
genialste und humanste Absolutismus! Eine absolute Militärmonarchie, wie sie der
Cäsarismus darstellte, sei nur legitimiert als Schlußstein eines oligarchischen Abso-
lutismus, unter anderen Entwicklungsverhiiltnissen sei sie zugleich eine Fratze und
eine Usurpation.
THEODOR MUNDT sah in seinen „Pariser Kaiser-Skizzen" 188 im Imperialismus den
roten Fa<len, der geeignet sei, alle Ereignisse jenseits des Rheins zu erklären. Er gab
jedoch der konstitutionellen Monarchie viel größere Chancen bei dem Experiment,
Wie l<leen der Revolution in legitime Tatsachen zu verwandeln. Die reine Isolierung auf
185 THEODOR MoMMSEN, Römische Geschichte, Bd. 3, 7. Aufi. (Berlin 1882), 477.
186 Vgl. LUDo MomTz HARTMANN, Theodor Mommsen (Gotha 1908), 65 ff.
137 Den Ausdruck 'Cäearia.ner' benutzte MollDISEN öfter zur Bezeichnung der .Anhänger
Cäsars. - Der Textvergleich zwischen der 1. und 2. Aufi. ergibt: Der Abschnitt V era-ucken
wir im einulnen Reeke:nackaft zu geben ••• , der ab 2. Aufi. 1857 mit der Randübersohrift
CaelJfJrB Werk versehen wurde, endete in der 1. Aufi. mit iiberraac1" haben möchte (443).
Darauf folgte unmittelbar der Abschnitt Die Stellung des neuen Bt<zataoberkaupta .•• (ab
2. Aufi. mit Randüberschrift Formulierung der neuen Mcmarckie, später abgeändert in
Diclatur/). Die 2. Aufi. sohloß den Einschub mitten im Satz an möchte mit und die ieden,
dem sie in kbendiger Wirklichkeit-::. an. Er umfaßte fast zwei Druckseiten (S. 457--459,
in den späteren Auflagen S. 476--478).
188 THEODOR MUNDT, Pariser Kaiser-Skizzen, Bd. 1(Berlin1857), Vorwort u. S. 34.
755
Cäsarismus IV. 2. Die deutschen Reaktionen
die GewaU mache den Imperialismus unfähig zu dieser Aufgabe. In seinem 1858 er-
schienenen Buch „Paris und Louis Napoleon" definierte Mundt 'Imperialismus' als
napo"le-Onische Idee, die schon durch Napoleon verwirklicht worden sei und sich auf
die Begriffe Führung und Armee grü'Ylile (71 f.). Was er nun unter 'Napoleonismus'
verstand, ist weit entfernt von dem, was er ein Jahr zuvor seinen Lesern als 'Im-
perialismus' beschrieb. Es war eine Synthese von Demokratie (1789) und .Absolutis-
mus (Ludwig XIV., 164 ff.), die ihre historische Berechtigung und Kraft schon seit
den Tagen Napoleons I. wesentlich aus zwei Dingen ziehe: negativ aus der Vernich-
tung der Feudalwelt und positiv, indem sie die Industrie als die eigentlich schöpfe-
rische Grundlage des modernen St,aates hinstellte und entwickelt. Ja, er ging so weit,
den Industrialismus als eigentlichen Geist des napoleonischen Systems zu bezeichnen.
Der Napoleonismus, der durch Überwindung der alten aristokratischen und feudalen
Gewalten zur Herrschaft gelangte und darin allerdings seine demokratische und revolu-
tionäre Grundnatur behauptete, kann darum auch nur eine Gesellschaft brauchen, die
Industrie geworden ist, wie er eine Armee hat, welche der Staat selbst geworden ist
(175 f.) 139•
Die Reduzierung der Gesellschaft auf die Industrie und des Staates auf die Armee
als Definition des 'Napoleonismus' oder 'Imperialismus' blieb in ihrer Einfachheit
und Schärfe im 19. Jahrhundert ve.re.Uu.elL Wlll ve.rdfo.uL a.uge1:1iuhL1:1 uer geraue erYt
richtig einsetzenden Industrialisierung besonders hervorgehoben zu werden. Sie ist
einerseits der Gegenpol zu Marx' Definition des Bonapartismus als Exponent der
Kleinbauern, andererseits aber bereits die Vorwegnahme eines Moments der mar-
xistisch-leninistischen Imperialismustheorie, die ja gerade diese Reduktion als spezi-
fische Erscheinung des letzten Stadiums des Kapitalismus wertete. Nur habe~ wir
es hier mit der innenpolitischen Seite des Imperialismus im Sinne des jüngeren
Imperialismus-Begriffs zu tun. Wichtig ist, daß hier wie<:ter im Zusammenhang mit
dem Napoleonismus der Begriff der Führung besonders betont wurde.
RocRAus .Buch über die „Grundsätze der Realpolitik" (1859) erschien zwar schon
kurz vor Ausbruch des österreichisch-französischen Krieg,es, war aber bereits durch
die außenpolitische Krise beeinflußt1 40. Wie die meisten seiner Zeitgenossen wertete
auch er den Bonapartismus als Bestätigung seiner These. Für ihn war eben die
Machtergreifung Napoleons ein Beleg dafür, daß nur die Politik der Tatsachen Ge-
walten schaffe und Gewalten stürze, die Verfassungen dagegen zu unheilbarer
Nichtigkeit verdammt seien (208). Für ihn bedeutete der 2. Dezember 1851 eine
große Epoche in der politischen Geschichte der Neuzeit, einen Tag, an dem Frankreich
von einem neuen Absolutismus heimgesucht wurde, wie er jenseits der russischen
Grenzen schon lange nicht mehr existiert habe (207 f.). Doch mehr als solche
Reduzierung einer neuen Erscheinung auf gängige Topoi findet man bei Rochau
nicht.
Kaum anders war es bei den aus Anlaß der außenpolitischen Krise des Jahres 1859
veröffentlichten Pamphleten und Schriften, die fast alle für Österreich Partei
139 Ders., Paris und Louis Napoleon. Neue Skizzen aus dem französischen Kaiserreich,
756
IV. 2. Die tleut11cben Reaktionen Cäsarismus
141 z.B. EDUABD FBH. v. CALLOT, Die neue Karte von Frankreich und Oberita.lien im Jahre
1860 (Leipzig 1859). Andere Schriften verzeichnet HANs RosENBERG, Die nationalpolitische
Publizistik Deutschlands vom Eintritt der neuen Ära in Preußen bis zum Ausbruch des
deutschen Krieges, Bd. 1 (München, Berlin 1935), 47. 50. 52. 266. 400. 411 f.
1u FERDINAND LAssALLE, Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens (1859), Ges.
Red. u. Sclu·„ Dcl. 1 (1919), 24.
1'8 W AGENER Bd. 4 (1860), 259 ff.
1u Ebd„ Bd. 5 (1861), 122, Art. Cäsarismus.
145 Ebd., Bd. 10 (1862), 9, Art. Imperium.
ua Ebd„ 805. 806, Art. Kaisertum.
757
Cäsarismus IV. 3. Marx, Engels, Lassalle
gebannt auf den Zusammenhang von Revolution und Cäsarismus und wurde durch
das Auftreten N!!>poleons III. in der Auffassung bestärkt, daß es sich um ein typisch
französisches Phänomen handelte, das ebenso wie Revolution und Absolutismus
dem deutschen Volkscharakter, der aber noch nicht biologisch bestimmt wurde,
fremd sei. Damit war jeder Erkenntnis des Cäsarismus als einer Signatur des Zeit-
alters und eines neuen Phänomens ein Riegel vorgeschoben.
Im preußischen Verfassungskonfilkt, der den Begriffen 'Cäsarismus' und 'Bona-
partismus' zur Kennzeichnung der Haltung der Regierung Bismarck von Seiten
ihrer liberalen Gegner weite Verbreitung brachte, zeigte sich, daß die Hochkonser-
vativen, was die technische Seite des Bonapartismus anging, diesem gar nicht so
fern standen. Die Staatsstreichpläne, für die der militärische Operationsplan vom
König schon unterschrieben war, sahen an Stelle der Verfassung von 1850 ein
kryptoabsolutistisches System vor. Auch RooN befürwortete damals den Staats-.
streich, wie aus einem Brief an Manteuffel hervorgeht: der König will nicht Trumpf
spiekn; es könme ein' Brumaire nötig werden, und der einzig Bereehtigte perlwrres-
zierte die Rolk des Bonapartem.
Marx und Lassalle stellten sich mit dem Phänomen Napoleon zugleich die Frage,
weshalb die Revolution von 1848 scheiterte bzw. warum die Revolution sich nicht
zu einer proletarischen oder sozialen weiterentwickelt hatte. Sie mußten a1Ro, ähn-
lich wie die napoleonische Propaganda oder etwa Constantin Frantz in Napoleon
und dem Bonapartismus den Aufhalter der Revolution sehen, freilich mit entgegen-
geRetztem Vorzeichen. War Napoleon aber der Verhindcrcr der Revolution, dann
war er gleichzeitig auch die letzte und extremste Ausformung der Klassenherrschaft
der .Bourgeoisie.
Diese Position, die die Begründer des Marxismus - und auch Lassalle - Napoleon
zudiktierten, trug wesentlich dazu bei, daß die dem Marxschen Denken inhärente
Reduktion politischer auf soziale Phänomene innerhalb des Marxismus selber nicht
mehr kritisch aufgelöst werden konnte. Die damalige Konstellation hatte zwei
wichtige Folgen: einmal wurde die für die kommunistischen Regime typische Po-
tenzierung politischer Herrschaft bis weit in die fünfzigar Jahre des zwanzigsten
Jahrhunderts hinein von marxistischer Seite aus nicht gesehen; zweitens wurden in
den zwanziger ttnd dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts faschistische Regime
von Seiten der kommunistischen Parteien stets unterbewertet, weil sie als Epiphä-
nomene der Spätphase des Kapitalismus analysiert wurden. Im Gegensatz zu vielen
politischen Publizisten der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurde die für den
modernen Staat. typische Machtkonzentration, auf die sohon die katholisch-kon-
servativen Kritiker des Napoleonismus in den dreißiger Jahren des vorigen Jahr-
hunderts hingewiesen hatten und die nicht zuletzt durch die gegenseitige Durch-
dringung von Staat und Gesellschaft herbeigeführt wurde, in ihren Ursachen ver-
kannt.' Ein weit besseres Sensorium für politische Entwicklungen bewiesen die-
jenigen, die die Identität von Cäsarismus und Kommunismus, ihre gegenseitige
1 ' 7 ALBRECHT GBA11' v. RooN am 7. 12. 1862, zit. ERNST RUDOLll' HUBER, Deutsche Ver-
faBBungsgeschichte seit 1789, Bd. 3 (Stuttgart 1963), 349.
758
1V. 3. Man:, Engels, Lassalle Cäsarismm
759
Cä1ariamu11 IV, 3, Mun:, Engels, Lussulle
15o Vgl. MAXIMILIAN RUBEL, Karl Marx devant le Bonapartisme (Paris, Den Haag 1960).
1s1 ENGELS an Marx, 13. 4. 1866, MEW Bd. 31 (1965), 208.
m ENGELS an Eduard Dernstein, 27. 8. 1883, MEW Bd. 36 (1967), 54.
ua. Briefe von RoDBERTUS an Lassalle vom 9. 5. 1863, zit. LASSALLE, Nachgel. Br. u. Sehr.,
Bd. 6 (1925), 342 :ff. und 13. 5. 1863, ebd., 350 f.
lH Zit. GuSTAV MAYER, Johann Baptist von Schweitzer und die Sozialdemokratie (Jena.
1909), 109.
760
V. l, Die Zei& der Reiohsgründung Cäsarismus
V. Die weitere Entwicklung der Begriffe vor und nach dem Sturz Napoleons
berg (2. Aufl. 1868; Ndr. Leipzig 1928), 27; Sten. Ber. Dt. Reichstag, Bd. 1(1869),569.
160 l\IARx, Erste Adresse über den Deutsch-Französischen Krieg, MEW Bd. 17 (1962),
/S; vgl. auch M.IBx an Kugelmann, 13. 12. 1870, MEW Bd. 33 (1966), 162 ff.
16 1 Aus Kaiser Friedrichs Tagebuch 1870-1871, hg. v. E. ENGEL, Dt. Rundschau 15
(1888), 14.
162 Vgl. HEINRICH v. TREITSCHKE, Frankreichs Staatsleben und der Bonapartismus,
761
Cllsulsmus V. 1. Die Zeil de1· Reiclulgrüuduus
188 Ders., Politik, hg. v. Max Cornicelius, Bd. 2 (Leipzig 1898), 189 f.
m Ebd., 203 f.
166 Ebd., 205.
168 .ANToN PmLIPP SEGESSER, Die Monarchie und die Republik in Europa und Amerika
(1866), in: Sammlung kleiner Schriften, Bd. 1 (Bern 1877), 338 ff.; ders., Das Ende des
Kaiserreiches (1870) und: Studien und Glossen (1877), ebd., 460. 548 ff.
167 HEINRICH BLANKENBURG, Verfassung und innere Politik des 2. Kaiserreiches, Unsere
762
V. 2. 'lwperalismus' vor der Umfwaktionierung Cäsarismus
ua KARL lhLLEJ!RAND, Frankreich und die Franzosen in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hundert!!, in: Zeiten, Völket", Mem1chen, Bd. 1 (Berlin 1873), 195.
1s 9 HERMANN WAGENER, Die Lösung der sozialen Frage, vom Standpunkt der Wirklichkeit
und Praxis (Bielefeld, Leipzig 1878), 8.
1 7 o MEYER 4. Aufl., Bd. 8 (1888), 904.
171 BRUNO BAUER, Zur Orientierung über die Bismarck'sche Ära (Chemnitz 1880), 4 f.
763
Cäsarismus VI. 1. Cäsarismus als Teil einer ,,Naturlehre" "Vom Staat
1. Koscher und Schäft'le: Der Cäsarismus als Teil einer „Naturlehre" vom Staat
Es wäre falsch anzunehmen, daß es bei den zu behandelnden Versuchen, dem Cä-
sarismus einen bestimmten Ort im Gesamtsystem einer politischen Soziologie anzu-
weisen, an ideologischen Implikaten oder Reflexen der historischen Situaiiou man-
geln würde. Nur treten diese hier gefilterter auf.
Auf einem vierzig Jahre vorher unternommenen Versuch, bei dem jeder Bezug auf
Napoleon fehlte, aufbauendl74, veröffentlichte WILHELM RoscHER 1888 seine „Um-
risse zur Naturlehre des Cäsarismus" 176, in der das klassische aristotelische Schema
für die Kulturvölke·r des Abendlandes abgewandelt und als Regel folgendes Schema
aufgestellt wurde: Geschlechterstaat, patriarchalisch-volksfreies Königtum, ritterlich-
priesterliche Aristokratie, absolute Monarchie. Letztere pflegt sich ... , wenn der
Mittelstand zu wachsen fortfährt, mehr und mehr mit demokratischen Elementen zu
versetzen, wohl gar einer völligen Demokratie Platz zu machen. Die Demokratie artet
zuletzt aus: der Mittelstand, auf dem sie beruht, schmilzt von oben und unten her immer
enger zusammen; das Volk spaltet sich in einen Gegensatz überreicher Kapitalisten und
gänzlich vermögensloser Arbfiiter. Den a·uf solclte Art gebildeten Zustand nenne ich
Plutokratie mit der Kehrseite des Proletariats (642). Die Analogie mit der marxisti-
schen Konzentrations- und Verelendungstheorie liegt auf der Hand. Nur ließ Ro-
scher dort, wo die soziale Revolution anzusetzen wäre, den Cäsarismus auftreten:
Endlich beschließt den ganzen Kreislauf eine neue Monarchie, die Militärtyrannis, die
764
VI. 1. Cäsarismus als Teil einer ,,Naturlehre" vom Staat Cäsarismus
wir ... Cäsarismus nennen (642). Polemisch gegen die Gegner Bismarcks hieß es
dazu in einer Anmerkung, daß dieses Wort heutzutage sehr willkürlich, also unwissen-
schaftlwh gelwaucht werde. Viele bezei,chnen jeile kräftige Monarchie, die ihnen zu
kräftig ist, mag es wirklwh eine absolut-monarchische oder selbst eine konstitutionelle
sein, mit dem von ihnen als Scheltwort gemeinten Namen Oäsarismus. Als eine der
wichtigsten Eigentümlichkeiten, aber auch Stärken des Cäsarismus nannte Roscher
das J anushaU!pt . . . mit einem extrem monarchischen, einem extrem demokratischen
Angeswht (646). Mit letzterem hinge es zusammen, daß der Cäsar immer streben
muß, vor allen anderen hervorzuglänzen (647), was dann dazu führe, daß Sieg oder
Niederlage im Feld über das Schicksal seiner Herrschaft entscheiden (658 f.). Die
Tatsache, daß nur Frankreich als Experimentierfeld des modernen Cäsarismus bis-
her in Erscheinung getreten sei, erklärte Roscher nicht wie viele seiner deutschen
Zeitgenossen damit, daß der Cäsarismus eine nur auf Frankreich beschränkte Er-
scheinung sei, sondern daraus, daß bei den Franzosen die meisten Entwicklungen,
die von allen europäischen Völkern durchzumachen sind, besonders früh auftreten und
besonders rasch, leider auch besonders gewaltsam und blutig durchgesetzt werden (737),
eine Wendung, die an Lorenz von Stein erinnert. Letztlich sei der Sturz Napo-
leons 1. vornehmlwh seinem Streben nach Weltherrschaft zuzuschreiben (747).
Ä.LBEBT SoHÄFFJ.E zitierte in aoinom „Bau und Lobon doo oozio.lon Körporo" 176 zu-
stimmend Karl Vollgraff: Tyrannis ist das konservierende Salz, Sublimat oder der
ätzende Weingeist, worin der tote Körper noch lange Zeit Gestalt und Form behalten
mag, ohne jedoch dessen geschichtspessimistischen Konsequenzen zu übernehmen.
Die Parallelisierung benutzte er wie Bruno Bauer, wenn er schrieb: Der Oäsarismus
ist das Produkt eines längeren ermüdenden Kampfes zwischen Ari.~tokraten und Demo-
kraten, Rewhen und Armen; aus der Anarchie des Bürgerkrieges erhob sich, 'gesell-
schaftsrettend' und demokratisch zuglewh, die altgriechische Tyrannis, das römische
I mpe·ratorentum; die moderne Oäsarie. Sie ist der eiserne Notreifen einer innerlich
zersetzten Gesellschaft'. Er nahm direkt Bezug auf Aristoteles177 und bezeichnete
dessen Charakteristik der Tyrannis als Portrait rlflR m.nde.rn„~f,e;n Napol,e;nnism.1J.S.
Gesperrt gedruckt wurde der Satz von Aristoteles zitiert: In unseren Tagen bilden
sich keine Königtümer mehr, sondern Tyrannien. Den Ausgangspunkt für die Ablei-
tung des Cäsarismus bildete bei Schäffle die Monarchie (479 f.), in der von ihm als
ideal betrachteten Form der konstitutionellen Monarchie, die durch einen formellen
Dualismus beider Gewalten, nämlich der Krone einerseits und der Volksvertretung
und staatsbürgerlichen Rechte andererseits gebildet wurde. Dieser Dualismus, eine,
wie Schä:ffle sagte, wohltätige Schranke, war aber auch der mögliche Ausgangspunkt
für die Zersetzung der konstitutionellen Monarchie, denn wenn in diesem Dualismus
wirkliche Gegensätze machtvoll sich festsetzen, so verliert der konstitutionelle Staat seine
Einheit . . . Eine Rettung des Staates aus dem Schwanken des Machtschwerpunktes
endet dann regelmäßig ... entweder mit der Absolutie, sogar in Form einer neuen Oä-
sarendynastie, oder mit dem förmlichen Sturz der Mona'fchie, sei ~s durch die aristo-
kratische, sei es durch die demokratische Republik (484). Die Zukunft der europäischen
konstitutionellen Monarchien machte Schäffle allerdings von zwei Bedingungen
176 ALBERT ScHÄFFLE, Bau und Wesen des sozialen Körpers, 2. Aufl., Bd. 2 (Tübingen
1896), 486.
1 77 ARISTOTELES, Politik, Buch 5, Kap. 10 u. 11.
765
Cäsarismus VI. 1. Cäsarismus als Teil einer „Naturlehre" vom Staat
abhängig, von denen wir heute wissen, daß sie nur z. T. erfüllt WUrden und diese
Nichterfüllung dann auch die prognostizierten Folgen hatte: Meine Ü"berzeugung
ist es, daß die konstitutionelle Erbmonarchie durch Schutz des vierten Standes, in Völ-
kerstaaten durch Schutz der Gleichberechtigung der Nationalitäten, an Lebensdauer ge-
winnen kann . . . Versäumt sie diese Aufgabe, so droht ihr ... das Schicksal der Bour-
bonen, die Herabsetzung zur Restaurations-, Gekl~ und Proletariats-Despotie (Oäsa-
rie), der Untergang in Volksherrschaft oder der Untergang in der soziakn Republik.
Durch Einräumung des allgemeinen Stimmrechts ist die Weiterentwicklung schon in
diese Alternative hineingedrängt, (485).
Sowohl Roscher als auch Schä:ffle traten für den innenpolitischen status quo ein und
rechtfertigten ihn theoretisch, ohne aber die Gefahren zu übersehen, die der kon-
stitutionellen Monarchie drohten. Wurde schon das allgemeine Stimmrecht einge-
räumt, so könnte man Schäffle interpretieren, dann war der Weg zum Cäsarismus
bereits beschritten und nur noch dadurch aufzuhalten, daß die Monarchie die
soziale Frage durch die Gleichberechtigung des vierten Standes löste. Die Ent-
wicklung von Schäffles Theorie verfolgte auch den Zweck, die konstitutionelle
Monarchie seiner Zeit auf diese ihre Aufgabe hinzuweisen. Die Gefahren, die er beim
Versagen vor dieser Aufgabe heraufziehen sah, wurden, wenn auch theoretisch ein-
gekleidet, deutlich aufgewie1.um. Aber auch Schi.i.ffie umgwg geschickL ille ilirekte
Anwendung des Cäsarismusbegri:ffs auf moderne Zustände. 'Cäsarismus' war für
ihn zwar der übergreifende Begriff, aber seine moderne Ausprägung wurde als 'Cä-
sarie', 'Tyrannis' oder 'Napoleonismus' bezeichnet. Rm1cher dagegen verwandte
don Begriff unoingoaohränkt, a11h moh 11ber gezwungen, in einer Anmerkung den
Verdacht von sich zu weisen, ihn als „Scheltwort" zu benutzen.
Dio Analogien, besonders von Schä:fflc, zu Lorenz von Steins theoretischen Ablei-
tungen und praktischen Intentionen sind verblüffend, so daß man geradezu von
einer Wiederhol~g Steins in neuem Gewande sprechen könnte. Doch bei näherem
Zusehen erweist sich das neue Gewand als ziemlich alt und signalisiert einen Rück-
fall im Vergleich mit dem von Stein und auch Tocqueville erreichten Niveau der
Analyse. Der Grund dafür liegt darin, daß die modernen, Sozialwissenschaften bis
zu Pareto Gesetze der sozialen Welt nach dem Modell eines kreisförmigen Ablaufs
konstruierten, in dem Verfassungs- und Gesellschaftsformen nach .bestimmten
Regeln aufeinanderfolgten. Dabei konnten sie an die Aristoteles-Tradition der klas-
sischen „Politik", die fast ungebrochen bis zur Französischen Revolution reichte,
anknüpfen. Der Cäsarismus blieb so in die „Naturlehre" - in die Lehre von der
gesellschaftlichen und politischen Natur des Menschen - der Politik eingebettet.
Wie die Beispiele zeigen, wurden dabei.die klassischen Begriffe an ein neues Phäno-
men angepaßt und nicht bewußt ein neues Phänomen analysiert. Der Einholung
des Cäsarismus in die Tradition entspricht die Einholung der sich seit der Französi-
schen Revolution !lmanzipierenden Geschichte in die klassische „Politik". Das Ver-
ständnis für die Neuartigkeit der analysierten Phänomene, das einem neuen ge-
schichtlichen Sinn entsprach, wie ihn Tocqueville und Lorenz von Stein auf je
eigene Art besaßen und der bei ihnen durch das Bewußtsein von der Unangemessen-
heit der alten Begriffe und den Versuch, neue zu schaffen, belegt wurde, findet sich
nicht. Roscher und Schä:ffle mochten wohl beide die Bedeutung der sozialen Frage
und die Wichtigkeit ihrer Lösung für die Erhaltung der konstitutionellen Monarchie
erkennen, der Sinn für neue Herrschaftsbegriffe fehlte ihnen.
766
VI. 2. Oswald Spengler Cäsarismus
2. Oswald Spengler
178 OSWALD SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 2 (München 1923), 502.
179 Ebd., 518 ff.
180 Ebd., 537 ff.
767
f.ä1111rismu11 VI. 3. Vom Cäsarism1111 zur llOU'Veränen Diktatur
Bei MAx WEBER erschien das cäsaristische Prinzip als Endpunkt der Rationalisie-
rung von Herrschaft, als Herrschaftsprinzip, das jede traditionelle, sprich irrationale
Beimischung von sich abgestoßen hatte. Es stand aber nicht nur mit dem erbmonar-
chischen Legitimismus, sondern auch mit dem parlamentarischen Prinzip in Span-
nung durch die cäsaristische Wendung der Führerauslese, zu der jede Demokratie
neige. Der politische Führer gewinne in diesem Fall seine Macht mit massendem-
agogischen Mitteln, die dann durch direkte Volkswahl, durch die „reinen" Formen
cäsaristischer Akklamation, die nichts anderes als die Bekennung eines „Glaubens"
an den Führerberuf des zu Wählenden seien181• Im Rahmen der Weberschen Herr-
schaftssoziologie haben wir es hier mit einer Art der charismatischen Herrschaft,
nämlich mit der plebiszitären Demokratie als wichtigstem Typus der Führer-Demo-
kratie zu tun, die an Cromwell, Robespierre, Napoleon 1. und Napoleon III. exempli-
fiziert werden (156 ff.). Der durch Affekte und Emotionen legitimierten Herrschaft
an der Spitze konnte, dies arbeitete Weber bei der Behandlung der Bürokratie
heram1, uurchaw1 eine h0chl:1t ratiunafo Herrschaftsorganisation entsprechen, da die
Stellung des Führers oder Cäsars ihm erlaube, sein Augenmerk bei der Auswahl der
Beamten und Offiziere allein auf höchste Qualifikation zu richten und sich von Tra-
dition und anderen Rücksicliten bei diesem Ausleseprozeß frei zu machen. Auch inner-
halb der Bürokratie erblickte Weber im reinen Typus des bürokratischen Beamten,
welcher vom gewählten Chef ernannt wurde, ein oäsaristisohos Merkmal (562).
Mit den bei der Beschreibung der charismatisch bestimmten „Führer-Demokratie"
entwickelten Kategorien Webers läßt sich ohne weiteres der Weg zur Macht be-
schreiben, den Hindenburg und Ludendor:ff im Ersten Weltkrieg (dies wäre nach
Weber der „militaristische Weg") und später Mussolini und Hitler (der „bürger-
liche Weg") beschritten. Es bedurfte immerhin mehr als ein halbes Jahrhundert,
um den Begriff 'Cäsarismus' aus den Implikationen seiner Entstehungszeit zu lösen
und für eine Funktionsanalyse moderner Herrschaft benutzbar zu machen. Die seit
einem Jahrhundert beschriebenen Elemente des 'Napoleonismus', 'Bonapartismus',
'Imperialismus' oder 'Cäsarismus' wurden von Weber gleichsam auf einen Nenner
gebracht und auf ihre Tauglichkeit im Rahmen der modernen Bürokratie und des
modernen Staates hin untersucht. Die Diagnose fiel bei aller Zurückhaltung in der
Wertung eindeutig positiv aus. 'Chef' wurde bei der Untersuchung der Bürokratie
benützt, im rein politischen Bereich dagegen 'Führer'. Seit Constantin Frantz 1852
'Chef' auf Louis Napoleon angewandt hat, ist das Wort offenbar entpolitisiert wor-
den, wogegen ']l'ührer' die .Bedeutung annahm, die in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts dem Oberhaupt zugemessen wurde.
Bei allen historischen Beispielen und Parallelen, die er im Rahmen seiner Herr-
schaftssoziologie entfaltete, darf nicht übersehen werden, daß Weber sich bewußt
war, mit dem, was er Führer-Demokratie 182 nannte, auch ein spezifisch modernes
Phänomen, eine Erscheinung des Zeitalters aktiver Massendemokratisierung zu be-
181 MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl., 2. Halbbd. (Tübingen 1956), 869 f.
182 Ebd., 858.
768
VI. 3. Vom Cäsarismus zur souveränen Diktatur Cäsarismus
schreiben1S 3 • Wie diese, so war auch das Äuftreten des modernen cäsaristischen
Prinzips ein globales Phänomen, das er in allen seinen verschiedenen Erscheinungs-
formen aufspürte. Zur Charakterisierung seiner Legitimation übernahm er den
Begriff 'Charisma' aus der Kirchengeschichte (Rudolf Sohm) in seine Soziologie. Der·
Kern der charismatischen Legitimation war aber in der von den Beobachtern des
Bonapartismus oder Cäsarismus seit Beginn des 19. Jahrhunderts als charakte-
ristischer Zug festgehaltenen ständigen Bewährung, d. h. im Erfolg des charismati-
schen Herrschers zu sehen. Weher, der seine Theorie im engen Zusammenhang mit
seinen politischen Anschauungen, mit seiner Kritik am Wilhelminischen Reich ent-
wickelte184, hat etwa im Unterschied zu FRIEJ;>RICHNAUMANN185 nicht erkannt, wie
weit auch schon die deutsche Monarchie, das Kaisertum seit der Reichsgründung,
cäsaristische Momente in sich aufgenommen hatte. Man könnte dies sogar von allen
Monarchien behaupten, hinter deren Fassade die Macht noch nicht an das Parla-
ment und die von diesem de facto abhängigen Minister übergegangen war. Die Probe
aufs Exempel wurde während und am Ende des Ersten Weltkrieges gemacht, als
sich mit der militärischen Niederlage schlagartig zeigte, wie sehr die meisten Monar-
chien bereits den Erfolg in ihre Legitimationsgrundlagen aufgenommen hatten. Mit
der .Niederlage Deutschlands und dem Sturz der deutschen Monarchie wurde an-
dererseits auch offenbar, daß die preußiilch-deutsche Monarchie versäumt hatte,
was Weber und Naumann seit den neunziger Jahren unablässig gefordert hatten:
die innenpolitische Basis des Nationalstaats der von ihnen begrüßten weltpolitisch
orientierten Machtpolitik herzustellen durch Demokratisierung und Parlamentari-
sierung (Weber) oder durch die auf der Demokratie aufi:uhenden Führerstellung des
Kaisers als Diktator der neuen industriellen Aristolcratie (Naumann) 186.
Nach den Ansätzen Tocquevilles und Lorenz von Steins war Webers Herrschafts-
soziologie nach über einem halben Jahrhundert der erste Versuch, eine Soziologie
des 'Cäsarismus' zu schaffen, die notwendig zur Herrschaftssoziologie gehörte, da
der 'Cäsarismus' ein Herrschaftsbegriff und kein Richtungsbegriff ist. Gleichzeitig
wurden die traditionellen Begriffe zwar aufgenommen, aber nur historisch-deskrip-
tiv; sie erhielten- analog zu den eben genannten -keine systematische Funktion
mehr, womit sich die endgültige Ablösung der hier untersuchten Begriffe durch sol-
che wie 'Führer', 'Führerdemokratie', 'plebiszitäre' oder 'totalitäre Demokratie'
und 'Diktatur' abzeichnete, wie sie dann seit den zwanziger Jahren dieses Jahr-
hunderts ausschließlich gebraucht werden.
183 Ebd„ 869.
18 'Vgl. dazu WOLFGANG J. MoMMSEN, Max Weber und die deutsche Politik (Tübingen
1959), 387 ff.
185 Vgl. FRIEDRICH NAUMANN, Demokratie und Kaisertum, Werke, Bd. 2 (1964), 255 ff.
bos. 265 f.
186 Ebd., 174. Statt der innenpolitischen Konsolidierung fand eine zunehmende Aushöh-
lung der monarchischen Legitimation, der eine Stärkung der cäsaristischen Komponente
entsprach, statt: durch neue konservativ-völkische Bewegungen, wie etwa den Bund der
Landwirte, durch die zunehmende Bedeutung der öffentlichen Meinung für die außen-
politischen Entscheidungen seit der Jahrhundertwende, durch die besonders während der
neunziger Jahre auftretenden Staatsstreichpläne, in deren Zentrum die Aufhebung des
allgemeinen und gleichen Wahlrechts standen, durch das Auftreten Willielms II. in der
Öffentlichkeit, dessen hochtönende Reden in keinem Verhältnis zu dem von ihm ausgeübten
„persönlichen Regiment" standen, und durch die Diktatur der OHL im Krieg.
49-90385/i. 769
Cäsariamus VI. 3. Vom Cäeari.smas zur souveränen Diktatur
Einen - von der Soziologie Max Webers her gesehen - Teilaspekt cäsaristischer
Tendenzen untersuchte ROBERT MICHELS 187 •
Weit weniger nüchtern als Weber hegte er die für seine gesamte Kritik des modernen
Parteiwesens grundlegende Illusion, daß die demokratische Genese des als 'Bona-
partismus' von ihm beschriebenen Phänomens die undemokratische Weiterent-
wicklung, wenn nicht ganz verhindern, so doch zumindest heilen werde. Er unter-
suchte den Bonapartismus, weil er Züge enthalte, die für die Geschichte der moder-
nen demokratischen und revolutionären Parteien wesentlich seien. Er hielt sich
dabei, trotz seiner breiten Anwendung des Begriffs, mehr an den „Bonapartismus".
Er definierte ihn als Synthese de;r Demokratie mit der &lbstherrscliaft, wobei die De-
mokratie hier als Volkssouveränität bestinimt wurde. Letztere gipfelt in dem Recht,
sich selbst abzuscliaffen. Der „Bonapartismus" war fernerhin die Theorie der Herr-
scliaft des 'llH'sprünglich aus dem Gesamtwillen hervorgegangenen, aber von ihm eman-
zipierten, selbst Herr gewordenen Einzelwillens, den seine demokratische Entstehung
vor den Ge/ahren seiner undemokratischen Gegenwart schützt. Dieser letzte, ganz im
Sinne der Michels'schen Konzeption liegende und letzten Endes auf Rousseau zu-
rück:führbare Satz konnte ohne weiteres v_on cäsaristischen Regimen sowohl fa-
schistischer als auch kommunistischer Observanz benützt werden, um jede auf illre
tataächliche Pram zielende Oppo11ition zum Schweigen zu bringen.
CARL SCHMITT kam bei seiner Untersuchung des Diktaturbegriffs zu dem Schluß,
daß der politische Sinn des Wortes 'Diktatur' in der bürgerlichen politischen Litera-
tur am besten dadurch gekennzeichnet werde, daß es die persönliche Herrscliaft
eines einzelnen bedeute, aber mit zwei anderen Vorstellungen notwendig verbunden
sei: einmal, daß diese Herrscliaft auf einer, gkichgültig wie, herbeigeführten oder unter-
stellten Zustimmung des Volkes, also auf demokratischer <kundlage beruht, und zwei-
tens der Diktator sich eines stark zentralisierten Regierungsapparates bedient, der zur
Beherrschung und Verwaltung eines modernen Staates gehört. Napoleon I. ist für diese
Auffassung der Prototyp des modernen Diktators. Nachdem er viele Beispiele für das
Auswuchem des Begriffs der Diktatur angeführt hatte, schloß Schmitt diesen Ab-
satz mit folgender Bemerkung: Stets aber ist nach dem neueren Sprachgebrauch eine
Aufhebung der Demokratie auf demokratischer <kundl,age für die Diktatu~ cliarakte-
ristisch, so daß zwischen Diktatur und Cäsarismus meistens kein Unterschied mehr
besteht und eine wesentliche Bestimmung, nämlich das, was im folge1ulen als der kom-
missarische Oliarakter der Diktatur entwickelt ist, entfällt188• Im Rahmen von Schmitts
Unterscheidung zwischen souveräner und kommissarischer Diktatur fiel der Cäsa-
rismus mit der souveränen Diktatur zusammen, wobei seine staatsrechtliche Grund-
lage durch eine absolute Delegation gebildet wurde: der Souveränität durch das
souveräne Volk!
Schmitt verschleierte seine Rolle, wenn er davon sprach, daß die bürgerliche politi-
sche Literatur 'Diktatur' und 'Cäsarismus', um die von ihm herausgearbeitete Un-
terscheidung aufzunehmen, 'souveräne Diktatur' und 'Cäsarismus' gleichsetze. Er
si1lber hatte mit seinen grundlegenden Ausführungen mit daran Teil, daß diese
187 RoBERT MICHELS, Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie (1911),
2. Ndr. d. 2. Aufl. 1925, hg. v. Werner Conze (Stuttgart 1970), 208 ff. ,
188 SCHMITT, Diktatur. XII. xm. (s. Anm. 123).
770
VII. Ausblick Cäsarismus
vn. Ausblick
1
Von den hier untersuchten Begriffen war in der nationalsozialistischen Publizistik
nicht mehr die Rede. Und auch die Diskussion nach dem Zweiten Weltkrieg über
Erscheinungsformen und Geschichte totalitärer Systeme, Herrschaften und Ideolo-
gien, ob sie sich nun wie bei Hannah Arendt mit der politisch-soziologischen Seite
oder wie bei J. L. Talmon mit der geistesgeschichtlichen Herkunft aus der totali-
tären Demokra.tie, d. h. von Roussea.u und Ma.bly, besohäftigen, benutzen die tradi-
tionellen Begriffe wie schon im 19. Jahrhundert Tocqueville und Lorenz von Stein
nicht mehr. Es ist dies Ausdruck einer im Vergleich zum 19. Jahrhundert gegen-
läufigen Entwicklung. Versuchte man damals, die neuen Phänomene mit tr11.ditio-
nellen Begriffen zu bewältigen, so scheidet man heute die traditionellen Begriffe aus,
um das Neue besser sichtbar zu machen.
DIETER GROH
~ 89 Vgl. den Anhang zur 2. Aufi. von „Die Diktatur" (München 1928), Ober die Diktatur
des Reichspräsidenten nach Art. 48 WV i CA.RL Scmi:rrr, Der Hüter der VerfaBBung, Arch.
d. Öffentlichen Rechts NF 16 (1929), 161 ff., erweiterte Fassung (Tübingen 1931); ders.,
Legalität und Legitimität (München, LeipZig 1932), Ndr. in: Verfassungsrechtliche Auf-
sätze aus den Jahren 1924-1954 (Berlin 1958), 263 ff.
ltO PHILIPP Boum..ER, Napoleon (München 1941), 9.
191 HmNz BBBMEB, Der sozialistische K\Liser, Die Tat 30 (1938), 160 ff.
1n WOLFGANG WINDELB.ilID, Die historische Figur Napoleons III., Dt. Rundschau 248
(1936), 103.
771
Christentum
I. Einleitung
1 Die umfassendste Darstellung gibt EMANUEL HmsCH, Geschichte der neuem evangeli-
schen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen
Denkens, 5 Bde. (Gütersloh 1949 ff.), auf die hier generell verwiesen wird.
772
I. 2. V~ im MiUelaher
2. Voraussetzungen im Mittelalter
Das allmähliche Aufkommen einer eigenen Terminologie für 'Christentum' im Mittel-
alter folgt.e der Notwendigkeit, ilie territoriale, soziale und politische Einheit der
christlichen Welt semantisch zum Ausdruck zu bringen, nachdem sich für die
tendentiell universale und ökumenische Mission der christlichen Kirche deutliche
Grenzen herausgebildet hatten8 • Als eigener Terminus unterschied er sich von
den engeren Begriffen der christlichen Kirche und ihrer theologischen wie insti-
geschichtliche Begriff, der den Ausgleich zwischen Allgemeinheit und positiver Geschicht-
lichkeit der christlichen Religion anstrebte. In FrnHTES „Anweisung zum seligen Leben"
(1806) fand sich mit dem Satz: Nur das Metaphysische, keineswegs aber das Historische,
macht selig die für den religionsphilosophischen Begriff seit der Aufklärung charakteristische
Struktur; SW Bd. 5 (1845), 485.
' In der Theologie ist der Begriff nur teilweise rezipiert, auf konservativer Seite aber ge-
legentlich als Fremdbezeichnung empfunden worden. So begann AUGUST FRIEDRICH
CHRISTIAN VILMAR, Dogmatik (Gütersloh 1874), § 5: Wesen des Christentums, mit der
Erklärung, es handle sich um eine Rubrik, die nur dem Gegner gegenüber Bedeutung hat,
und nur ihm gegenüber möglich iBt (42).
6 Darüber orientiert ÜTTO RITSCHL, System und systematische Methode (Bonn 1906).
8 Vgl. zum Folgenden vor allem DENYS HAY, Europe. The Emergence of an Idea (Edin-
773
1. 2. Vorauuetzungen im Mittelalter
tutionellen Definition und umfaßte alle Christen mitallen Lebensbezügen ihrer Welt.
Die Tendenz auf den allgemeinen Begriff profilierte sich nach außen gegenüber dem
Rest der Welt und brachte jene Zusammengehörigkeit zum Ausdruck, die über alle
Differenzen der christlichen Kirchen und Länder, ihrer rassischen und nationalen
Eigentümlichkeiten hinweg angesichts der nicht-christlichen Welt bewußt wurde.
Diese geistlich wie politisch qualifizierte Einheit des Christentums konnte auch,
als römisches Erbe, den Unterschied der Zivilisation zur Barbarei artikulieren.
Befördert wurde dieses Verständnis nach außen im Zeitalter der Kreuzzüge und·
der islamischen Angriffe auf schon christlichen Territorien, wo die durch die
christliche Mission geprägte Welt auf die Begriffsbildung einwirkte. Nach innen
war der Begriff sehr viel weniger scharf umrissen. Die beiden lateinischen Worte
christianismus7 und christianitas standen für den christlichen Glauben und die
Christen. Sie hatten Äquivalente in den Landessprachen der westlichen Welt. Den
Begriffen Christentum und Christenheit8 im Deutschen entspricht christendom und
christianity im Englischen, während sich cristianite im Italienischen, chretiente
im Französischen und cristianidad im Spanischen allein von christianitas her-
leiteten. Im Vordergrund stand zuerst die geistliche Bedeutung, doch in Wendun-
gen wie populus christianus, christianorum genus, christiana res publica, christianus
orbis9 zeigte sich jene Tendenz, die Einheit der christlichen Welt umfassender .zu
definieren. Anders als beim Begriff der Kirche und seinen institutionsbezogenen
Derivaten war die Kompetenz zur Verwendung hier nicht eindeutig fixiert. Dieser
Sachverhalt prägte auch die weitere Begriffsgeschichte, die Zuständigkeit für die
Wahrnehmung des Begriffs nach innen konnte von verschiedenen Positionen aus
reklamiert werden. Die Verpflichtung gegeniiber dem Christentum als stiftender
Einheit der westlichen Welt war vor allem für die mittelalterlichen Führungs-
schichten von Bedeutung und mit deren Geschichte verbunden. Die Selbständigkeit
im Verhältnis zu kirchlich-dogmatischen Begriffen gab die Möglichkeit zu neuen
Verbindungen, von denen die mit dem Begriff Europas die politisch weittragendste
war10 • Im Spätmittelalter verlor die offizielle Kirche ihre praktische Identität mit
dem Christentum. Konziliare und mönchisch-spirituale Bewegungen einerseits, die
politische Verselbständigung Europas andererseits trugen dazu bei, die Überein-
stimmung der territorialen bzw. lebenspraktischen mit der kirchlichen Abgrenzung
des Christentums aufzulockern. In diesem Prozeß lag die Chance der Reformbewe-
gungen, so auch der Reformation und Luthers kritischer Verwendung von 'Christen-
tum' und 'Christenheit'11 • Schließlich zog die neuzeitliche Verwendung des Begriffs
7 Ein Graecismus, der auf xe1una'll111µoc; zurückverweist; vgl. dazu den einschlägigen
Beleg bei IGNATIUS VON ANTroo.eIEN, Magn. 10, 1-3, wo Glaubensinhalt, christliche Hal-
tung wie Abgrenzung nach außen (Judentum) schon darin enthalten sind.
8 So bei W ALTHEE VON DER VOGELWEIDE: UnkriatenlfAiker dinge ißt al diu kristenheit aß vol;
Leich 6, 30. Die Gedichte Walthers von der Vogelweide, 10. Aufl„ nach Lachmann hg.
v. CARL v. Kru.us (Berlin, Leipzig 1936), 7.
8 Verwiesen sei dazu auf JEAN RUl'P, L'idee de Chretiente da.DB la pensee pontificale des
774
I. 3. Der Vorhepiff lös 11$0 Cbrietentum
hieraus ihre Kraft, da sie ihrer Tendenz nach jene Einheit zum Ausdruck zu bringen
suchte, die durch die Kirche nach deren Spaltung nicht inehr gegeben war. An die
Stelle der Grenzziehung nach außen trat die Überwindung der Grenzen kirehlich-
dogmatischer Traditionen.
12JOHANN .ARND [ARNDT], Vier Bücher vom wahren Christentum (1606/10), Vorrede, vgl.
WILHELM KoEPP, Johann Arndt (Berlin 1912), 40. Zum Zusammenhang vgl. liANs STEUBE,
Die Reformideen in der deu~schen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie (Leipzig
1924).
1a LUTHER, WA Bd. 25 (1902), 331. Vgl. ebd., 99. 33. 24. Es handelt sich bei diesen Scholien
zu Jesaja um praktisch-theologische Schriftauslegung.
u Zu Spener s. PAUL GRÜNBERG, Philipp Jakob Spener, 3 Bde. (Göttingen 1893/1906).
775
Christentum I. 3. Der Vorhegriff bis 1750
revolutionär wirken mußte. Wo die Ohristliche Kirche recht in ihre Ordnung gesetzt
werden solle, so muß die Verfassung also sein, daß in allen Stücken, welche zu dem
Kirchen-Wesen gehören, alle drei Stände selbst ihr Werk liaben, und miteinander kon-
kurrieren. Spener beklagte, daß die beiden oberen Stände dem dritten Stand die Übung
seiner jurium an meisten Orten entzogen haben, und sah darin die Notwendigkeit einer
fortgehenden Reformation, die zwar dem weltlichen überstand seine Rechte wieder-
gegeben habe, nicht aber auch dem dritten Stande. Die rechte Ordnung, die dem
Christentum entsprach, war damit noch nicht hergestellt, und es erschien als ein
Rückfall, wo ein Stand allein, sonderlich der Prediger sich der Gewalt in der Kirchen
anmaßet, - ein unrechtmäßiger Zustand, das recht PapsUurn und Anti-Ohristen-
tum15. Diese Forderungen wurden durchaus als revolutionär empfunden. Schon Arnd
gegenüber hatte die Antikritik die Nähe zu den Täufern und Spiritualisten hervor-
gehoben. Seit Spener mußte sich jede selbständige Wahrnehmung der Frömmigkeit
gegen den Vorwurf des Separatismus verteidigen. Die Sprengkraft solcher Be-
freiung von der kirchlichen Theologie und ihrem Lebell88ystem zeigte sich während
Speners Frankfurter Wirksamkeit, wo seine Anhänger tatsächlich eine Abspaltung
von der verfaßten Kirche unternahmen. Spener suchte aber mäßigend einzuwirken
mit „Der Kla.gen über das verdorbene Christentum Mißbrauch und rechter Ge-
brauch" (1685). Hier zeitigte der Kampf nm daR rir.htigA Oh.rist.fmtum unmittelbar
religionspolitische Konsequenzen, weil es ein Kampf nicht mehr um die Lehre, son-
Jern um das Leben und seine Gestaltung war. Und es trat auch bereits die Unsicher-
heit hinsichtlich dieser Konsequenzen auf, die dem kritischen Gebrauch des ßAgriffs
'Christentum' eigen ist; denn der Impuls der Kritik richtete sich doch zuerst auf Jas
innere Leben, die individuelle Gestalt der Frömmigkeit, während Kriterien seiner so-
zialen Praxis fehlten. Die Aufklärung wurde hier von innen her vorbereitet, wie es für
Deutschland charakteristisch war. Die selbständige Wahrnehmung des Christentums
artikulierte sich aber auch in einer Deutung der Geschichte des Christentums, die sol-
che Emanzipation legitimierte. So gab die „ Wahre AbbilJung Jes inwendigen Chri-
stenthums" von GOTTFRIED ARNOLD (1709) eine Darstellung der Geschichte des Chri-
stentums, in der die offiziellen Kriterien ihrer Beurteilung schlicht umgekehrt wur-
den, wie das in seiner „Kirchen- und Ketzerhistorie" (1699/1700) der Fall war16 • Die
Maßstäbe, nach denen die geschichtliche Welt des Christentums beurteilt werden
sollten, wurden damit grundsätzlich zur Diskussion gestellt in seiner ausdrücklich
über- und unkonfessionellen Weise, die von den Normen der Kirchentheologie nicht
mehr gedeckt war.
Die Position, die sich hier abzeichnete, konnte zunächst aus inneren, sodann in
zunehmendem Maße aus soziologischen Gründen nicht mehr mit den Begriffen der
Kirche und der dogmatischen Theologie formuliert werden. Hier trat der Begriff
'Christentum' in seine für die Folgezeit bestimmende Funktion ein. Der Begriff
1 SPENER, Von der verfaesung unserer Kirchen, betreffend die gewalt des kirchen-standes
(1691), zit. WALTHER BIENERT, Evangelische Kirchengestaltung (Halle 1940), 81.
ie G.ÄRNOLD, WahreAbbildungdesinwendigenChristenthume (Frankfurt 1709), Vorrede:
Die Lehrart des innerlichen Chriatentums ist nur polemisch auf die äußerlichen Handleitungen
bezogen und formuliert keine selbständige Gestalt. Ders., Unparteyische Kirchen- und
Ketzer-Historie von Anfang des Neuen Testaments bis auff das Jahr Christi 1688, 2 Bde.
(Frankfurt 1699/1700; Ndr. Hildesheim 1967).
776
D. 1, Emonadp•tioa TOD Kirohe - • Dopaatik Christentum
der allgemeinen oder natürlichen Religion, der gleichzeitig vom englischen Deismus
herkommend in diese Auseinandersetzung hineinwirkte, vermochte das nicht zu
leisten, weil er nicht auch die geschichtliche Welt artikulierte, in der sich diese
Emanzipation des Lebens gestalten wollte.
D.
1. Die Struktur des Begrift's in der Zeit der Aufklärungstheologie bis I • :
die Emanzipation von Kirche und Dogmatik
Der Schritt zur modernen Allgemeinheit des Begriffs vollzog sich in der deutschen
Aufklärungstheologie nach 1750. Neben das Recht der inneren, individuellen Frei-
heit der Frömmigkeit trat jetzt der Anspruch, das Christentum in den Dimensionen
des wissenschaftlichen, moralischen, dann auch politischen und gesellschaftlichen
Lebens allgemein zu bestimmen. Jetzt wurde das „Wesen de~ Chri8tentl1llIB"
thematisch17, wobei die kritische Reduktion auf das Wesentliche zugleich die
Freiheit ermöglichen sollte, die Entfaltung des Wesentlichen den Kriterien der
alten Theologie zu entziehen, um sie dem Leben der christlichen Individuen, der
denkerulen Ohriaten18 zwiuwcieon. Für dio hior zu verfolgende Begriffsgeschichte sind
weniger die inhaltlichen Darlegungen der nun bald entstehenden Wesensliteratur
von Interesse, als die Kriterien, unter denen die Frage zugelassen oder begrenzt
wurde. Neben dem „Wesen" des Christentums findet sich das „Charakteristische",
der „Geist" und der „Kern", das „vernunftgemäße" wie das „reine, allgemeine"
und das „echte". Solche und ähnliche Formeln drückten gemeinsam aus, wovon
sie dieses Christentum. zu unterscheiden suchten. Es bildete sich eine Theorie der
Unterscheidung des Christentums von seinen Manifestationen in der Tradition,
von seinem Dasein als Kirche wie in den biblischen Schriften. Das methodische
Mittel dieser Theorie und zugleich das Instrument der Loslösung war die kritische
HiRt.oriRifmmg rlAr Kirohflngfl11ohichte und der Exegese. Deren Subjekt war nun
nicht mehr der unmittelbare fromme Christ, sondern der Christ als Zeitgenosse
einer sich vernünftig begreifenden Welt. Darin sprach sich das Bewußtsein eines
Fortschritts gegenüber der Tradition aus, weil das Ohristentum in verschiedenen
Zeiten und zufol,ge der Fassungskraft der verschiedenen Klassen der Menschen, denen
es bekannt gemacht worden, eines Wachstums seiner Vollkommenheit fähig ist19•
Wer dagegen die Geschichte der Bekanntmachung des Ohristentums ... für ebenso
17 Vgl. zur Begrifflichkeit HEINRICH HOFFMANN, Die Frage nach dem Wesen des Christen-
tums in der Aufklärungstheologie, in: Harnack-Ehrung, Fschr. ADOLll' v. HARNAOK
(Leipzig 1921), 353 ff. und das reiche Quellenmaterial bei KARL ANER, Theologie der
J;.essingzeit (Halle 1929; Ndr. Hildesheim 1964) sowie RoLF SCHÄFER, in: Zs. f. Theologie
u. Kirche 65 (1968), 368 f.
18 So JoH. SA.LOMON SEMLER, Versuch einer freiem Lehrart (Halle 1777), 181. Im Titel
der lateinischen Fassung der Schrift tauchte wohl zuerst der Ausdruck „liberal" für
die Theologie auf: Institutio ad doctrinam Christiana.m libera.liter discendam (Halle
1774).
19 Ders., Hrn. Caspar Lavaters und eines Ungenannten Urtheile über Hrn. C. F. Steinbarts
777
Chrlttentuw II. 1. .l!:blllöZipatioa voa Kirche und Dosmatik
wesentliclt zum Ohristentum ge}t/J'tig ansah wie tlessen allgemeines Wesen selbstao,
verfehlte die Aufgabe des gegenwärtigen Zeitalters und fixierte das Christentum
auf seinem anfänglichen, kindlichen S~nde. Die Analogie des christlichen Fort-
schritts mit dem Wachstum vom Kindes- und Mannesalter wurde gern bemüht,
um die Freiheit, die in Anspruch genommen wurde, vom Ruch des Revolutionären
zu reinigen. SEMLER21 rechtfertigte seinen „Versuch einer freiern theologischen
Lehrart" (1777) aus den gleichen Gründen, aus denen er die historisch-kritische
Bibelforschung .entwickelt hatte: So wie die Bibel für das Verständnis und die
Umstände ihrer damaligen Adressaten verfaßt wurde, muß ihr Inhalt, das .
Christentum, für die eigene Zeit und Welt dargestellt werden. Im Unterschied liegt
zugleich die Kontinuität. Das war das Ziel einer menschenfreundlichen Theorie
des Christentums22 • Diese Theorie zielte auf einen solchen Begriff des Christentums,
mit dem die entschieden ergriffenen Unterschiede zur Tradition als Momente inner-
halb seiner Geschichte verstanden werden konnten. Es war die Theorie einer
relativen, nicht prinzipiellen Emanzipation von der Tradition. Die Freiheit zur
Gegenwart hing daran, daß sie konkret, für die jeweils gegenwärtigen Bedürfnisse
wahrgenommen wurde und also kein abgeschlossenes System erstrebte, wie es
gerade der kirchlichen Dogmatik vorgeworfen wurde. So entzündete sich denn
auch der Streit im Lager der aufgoklö.rtcn Theologie an der Fra.ge, miL welcher
Konsequenz diese Freiheit durchgebildet werden sollte. Semler rügte an STEINBARTS
„Philosophie des Christentums" (1778) 23, daß er anstelle der alten eine neue
Lehrart verbindlich setzen wolle. Wurde die Freiheit zu sagen, was 'Christentum'
sei, tler Tradition abgerungen, so wurde sie sofort wieder verspielt, wo sie in die
Gestalt eines neuen Lehrsystems überführt wurde. Die Theorie des Christentums
sollte vielmehr die Mögliohkeit schaffen, sich im schon vorhandenen Christentum
frei und selbständig zu bewegen. Gibt es ein Christentum ohne Men.~ch.e.n, die. es zttf
eigenen Fertigkeit haben? Da die eigene gewissenhafte Annahme des Christentums
unaufhJJr.zich subjelaivische Ungleichheit und Verschiedenheit beliält: so kann niemand
sich anbieten, er wolle. das lautere Christentum wieder herstellen; es ist niemalen ver-
loren w<>f'den; es steckt, aber nicht in Formeln und Systemen; es gehört zu seinem Dasein
eine subjelaivische Gemütsverfassung; diese ist und bleibt frei, ungestimmt nach einem
einzigen Ton23 • Gerade in der Unbestimmtheit des Begriffs lag seine Liberalität
und es war die Aufgabe der Kritik, für diese Freiheit Platz zu lassen. Es wurde die
volle Übereinstimmung von historisch-kritischer Forschung und gegenwärtigem
Leben intendiert, die mit dem Unterschied auch di~ Kontinuität aussagte. Diese
1 0 Ebd.; vgl. auch de~ .• Über historische, gesellschaftliche und moralische Religion
778
U. 2. Spannungsfeld Kirehe und Politik Christentum
Freiheit machte dann aber eine christliche Zeitdeutung notwendig, die für die fol·
genden Zeiten das Bild der Begriffsgeschichte bestimmt. Wurde die Freiheit darin
konkret, wie sie der Gegenwart genügte, dann rückte die Zeitdeutung an die Stelle
des kirchlichen Lehrsystems. So sprach TELLER (1772)26 über das nationell gewordene
Ohrisientum, oder über das männliche Alter clesselben als einem reiferen Zeitalter,
für das darum andere Kriterien gelten als für die Anfangszeit. In einer schon christ-
lichen Nation solle man in theologischer Hinsicht nicht so tun, als ob die Ohristen
im'lMf' von vorne anfangen. Zur Zeit Jesu herrschten andere Volksideen, die Begriffe
entsprachen denen eines zu mehr geistiger Denkart noch nicht erhobenen Volkes.
Wo aber das -Christentum eine Nationalsache geworden ist, müßten auch andere
Ideen und Begriffe gebildet werden. Hier wurde die Kritik nach positiven Grund-
sätzen betrieben und war darum in eine Richtung disponiert, die das Wesen des
Christentums mit einer Verständigung über die eigene Zeit und Welt zu verbinden
suchte. Während die historische Kritik die formalen, wissenBBoziologischen Kate-
gorien bereitstellte, war der Begriff selbst offen für die unterschiedlichsten inhalt-
lichen Verbindu.ri.gen. Unter der Voraussetzung der allgemeinen Vernunftnatiir des
Menschen schien das Feld der christlichen Wirklichkeit dieser allgemeinen Formel
auch zu entsprechen. In unserem Zeitalter muß alles das zum Ohristentum gehören,
was Jesus und die Apostel, wenn sie gegenwärtig lebten und lehrten, als Ohristentum
nach den Bedürfnissen unseres Zeitalters aufstellen würden26• Der einheitliche Sinn
dieser Bedürfnisse erschien uallll ln Begriffen der Moralität und des ethi11chen
Rewußtseins. Sie lieferten die allgemeine Verständigungsbasis für die gegenwärtig
aktuelle Be!:!Limmung des Begriffs 'Christentum'. Mit der Denkensfreiheit und dem
Fanatismus der Philosophie, dem schönen Kennzug des Jahrhunde!ts wurden etwa
die Beispiek eines 'P"aktischen Ohristentums, eine tätigere Sittenlehre, tugendhaftere
Monarchen und bessere Bürger in selbstverständlichen positiven und kausalen Zu-
sammenhang gesetzt27 •
Doch ilie religiom1_voliLischen Konsequenzen traten zuer11t all!! ein instit11tioneller
Konflikt hervor. Dieses politische Element hat wiederum am nachhaltigsten
Semler erkannt und den Konflikt durch die Unterscheidung der „öffentlichen"
und „privaten" Religion zu schlichten versucht.
Das Subjekt jener religiösen Emanzipation, deren Ausweis der Begriff 'Christentum'
bildete, war der private Christ. Hatte schon SPENER sein Reformprogramm als eine
Privat-( an )gelegenheit28 des Christen formuliert, so wurde dieses Privatrecht zur Basis
211 WILIIELM AllRAilAM TELLER, Wörterbuch des Neuen Testaments zur Erklärung der
christlichen Lehre (Berlin 1772), 43. 56. 61 f.
18 So C.ABL HEINRICH LUDWIG PöLITZ, Beitrag zur Kritik der Religionsphilosophie und
ethik dieser Zeit hat materialreich dargestellt und der Vergessenheit entrissen .ALEXANDRA
SCHI.INGENSIBPEN-POGGE, Das Sozialethos der lutherischen Aufklärungstheologie am Vor-
abend der Industriellen Revolution (Göttingen, Berlin, Frankfurt 1967).
28 In einem Zusammenhang, in dem die effektive Ausübung des allgemeinen Priestertums
gefordert wird; PmL. JAKOB SPENER, Theologische Bedencken, Bd. 2 (Halle 1700), 596.
779
Christentum D. 2. Spa111111113sfeld Kirche und Politik
für die Verständigung über den Konflikt mit der kirchlichen und politischen
Institution, die der Freiheit enge Grenzen zog. So legte JoH. BERNHARD BASEDOW
seinen „Versuch einer freimütigen Dogmatik nach Privateinsicht" (1766) vor und
lieferte dazu auch gleich ein „Privatgesangbuch" 29 • Und die von ihm angeredeten
„Selbstdenker" waren es nun auch, für die Semler die Freiheit vorbehalten. wissen
wollte. Die Unterscheidung einer öffentlichen und _privaten Religion oder Theologie
diente dem doppelten Zweck, sowohl das Recht der Emanzipation wie das der
bestehenden kirchlichen Institution zu rechtfertigen. Der erste Erfolg der Kritik
war die Reduktion des Alleinvertretungsanspruchs der kirchlichen Theologie für
das Christentum auf die Funktion, die sie für das institutionelle System Kirche
ausübte. An die Stelle des eigentlichen, moralisch-religiösen Zwecks in der Kirche
trat die Theologie als Mittel zur Beförderung der äußerlichen Einigkeit der kirch-
lidhen Gesellschaften30• Die Theologiekritik wurde damit über die Institutionenkritik
auch zur politischen Kritik. Wo die unveränderte Geltung der historischen Lehr-
formel behauptet wurde, handelte es sich wn ein poliLi1:mhe1:1 Problem, nämlich die
Aufrechterhaltung des kirchlichen Herrschaftssystems31 • Angesichts der geistlichen
Fürstentümer und des landesherrlichen Kirchenregiments verbreitete sich folge-
richtig in der Aufklärung der Gedanke, die Kirche diene zugleich dem bestehenden
politischen System.
In diesem Sinne rief MosER32 die Erinnerung an die einfältige Lehre des Christen-
tums wach, die mit der 1'rennung des Menschengeschlechts in Klerisei und Volk
verlorengegangen sei. Die Opposition gegen da11 du.rch Menschen-Satzung mißstellte
Christentum berief sich auf die Reformation, die die Freiheit fürs Volk herauf-
ge1ührt habe, die nun gegen die Mängel de'I geistlichen Regierungen politisch durch-
gesetzt werden müsse. Im Namen einer Aufklärung, die wahre Philo8oph1:e mi:t
wahrem Christentum verband, appellierte Moser an jene Allgemeinheit des Christen-
tums, die von der Lebenswirklichkeit des Volkes getragen wurde und über alle
kirchliche rartikulariLii.L reichte, wt·il wfr ·uns allerseits zum Christentum belcennen,
wahre, erleuchtete, verständige und mit Leben und Wandel unsere heilige Religion
zierende und bekennende Oh'listen.
Die Dogmatik hat jetzt nicht mehr das Leben zum Zweck, sondern den großen Vorzug
der Kirche, ohne welche der Staat sich daneben nicht erhalten kann und die Parallele
lief darauf hinaus, daß die Unterwerfung aller anderen Christen an .die Kirche so
geschieht wie sie dem Staate al.~ Bürger ?Lnterworfen sind33 • Die Möglichkeit einer
politischen Funktion der Kirche wurde zu einem selbständigen Aspekt, wo die
freie Auffassung des Christentums und des christlichen Lebens nicht mehr bedin-
gungslos an deren Verfassung gebunden erschien. Tatsächlich bildete sich dann aber
bemerkt kritisch AuG. HERMANN NIEMEYER, Briefe a.n christliche Religionslehrer (Halle
17116; 2. AuH. 1803), XVIII.
32 FRIEDRIOB: CARL FRH. VON MosER, Über die Regierung der geistlichen Staa.ton (Fro,nk-
780
II. 2. Spannungsfeld Kirche und Politik Christentum
neben der institutionellen eine neue, andere Öfi'enLlichkeiL, die sich al1:1 ilie ue1:1
Privaten vorstellte. Die Argumente für die Institution wurden damit zwangsläufig
politisiert, weil sie mit dem religiösen Selbstverständnis nicht mehr notwendig
verbunden war. Die politischen und pädagogischen Gesichtspunkte entsprachen
in der aktuellen Auseinandersetzung den historisch definierten, geographischen und
gesellschaftlichen Bedingungen der Kirchen- und Dogmengeschichte. So rücken
die öffentlichen Religionsübungen bei CARL FRIEDRICH BAHRDT unter den Aspekt
des bürgerlichen Verhaltens, wenn er forderte, daß der Bürgerstand auch darum
sich v<Yrzüglich für öffentliche Religionsübungen interessieren sollte, weil er die
Nation ausmacht und weil nach ihm der Nationalcharakter beurteilt werde34 • In
diesem Zusammenhang ergab sich dann eine Auseinandersetzung um die Kon-
sequenzen, die aus dem selbständig wahrgenommenen Christentum gezogen werden
konnten. Das Wöllnersche Religionsedikt bildete den Anlaß zu einer Fronten-
bildung, weil dieses im Ganzen durchaus vom Geist der Aufklärung geprägte
EilikL35 uer Freiheit eine Grenze zog, WO sie die bestehende Rechtsordnung an-
tasten konnte. Die Gründe, die Semler veranlaßten, dieses Edikt gegen eine kon-
sequente Selbständigkeit eines (privaten) Christentums zu unterstützen, sind auf-
schlußreich für die widersprüchlichen Motive, die sich im religionspolitischen Feld
auswirken können. Semler wollte die ohriatliohe Froihoit no.oh don Fähigkoiton
der Christen begrenr.t wissen, damit aus dem vernünftigen Christentum kein neues
Gesetz für alle entsteht. Er verband die Unterscheidung der öffentlichen und
privaten Religion mit einer Theorie der zwei Klassen von Christen, die durch die
Fähigkeit oder Unfähigkeit zu selbständiger Wahrnehmung des Christentums
unterschieden wurden.86• Hier wurde um der Freiheit willen ein Interesse an der
Institution formuliert. Der freie Begriff des ChristentumR fand Reine Grenr.e an den
religiösen Bedürfnissen derer, die notwendig auf die Hilfe der Institutionen an-
gewiesen waren, das Volk. Der Sache nach kann man hier auch schon die Be-
gründung finden, die später die Zurückdrängung der Aufklärung um des Volkes
willen legitimierte, wenn, wie infolge der Befreiungskriege, die Volksverbundenheit
der Religion zu einem Politikum wurde. Dann konnte sich dieses Argument auch
gegen das emanzipative Verständnis des Christentums richten, aber aus anderen
Motiven als sie Semler bewegten. Aufs Ganze gesehen führte der aufgeklärte Begriff
des Christentums nicht zu eigener Konfessions- oder Gruppenbildung, weil er sich
als Ausdruck dessen verstand, was in der Zeit schon allgemein war. Die Gründung
einer Christentumsgesellschaft37 war denn auch Zeichen einer missionarischen
Gegenbewegung gegen die Aufklärung38 • Die Unterscheidung von öffentlich und
privat wie die Zweiklassentheorie Semlers waren Friedensvorschläge, die von dem
u C.ARL FRIJ!lL>ll.ICH BAHRDT, Handbuch der Moral für den Bürgerstand (Tübingen 1789), 165.
36 Vgl. dazu auch FRITZ VALJAVEC, Das Woellnersche Religionsedikt und seine geschicht-
liche Bedeutung, Hist. Jb. 72 (1953), 386 ff. ·
36 Vgl. dazu RENDTORFF, Kirche, 53 ff.
37 Dazu und zu Urlsperger s. HERZOG 3. Aufl., Bd. 3 (1897), 820 f.
Storr w1d Lava.tcr otwu. otollton gogon 0cinc cmanzipa.tive Fa11sung einen 11okhen „GehiL"
des Christentums, der auf die historische Bindung des Begriffs abhob, und artikulierten
damit schon jenes Moment des Historischen, um das sich später die Reaktion scharte. Dazu
GOTTLOB CHRISTIAN STORR, Über den Geist des Christentums. Eine historische Unter-
781
Christentum D. S. Das Problem der &eigesetzten Folgen
begrenzten Ziel und gemäßigten Willen zeugen, der dieser Emanzipation eigen war.
Weil dieser Begriff des Christentums seine Freiheit gegenüber der Tradition auf
das schon Erreichte stützte, war er selbst nicht revolutionär gemeint, sondern
suchte sich im Bestehenden zu entfalten.
suchung, in: Magazin f. christl. Dogmatik u. Moral, hg. v. Joh. Friedrich Flatt (Tübin-
gen 1796), H. 1, 103 ff.
39 Vgl. ERICH FÖRSTER, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung
König Friedrich Wilhelm III., Bd, 1 (Tübingen 1905), 287 f. 298. 291. Femer WALTER
-WENDLAND, Die Religiosität und die kirchenpolitischen Grundsä.tze Friedrich Wilhelm m.
in ihrer Bedeutung für die kirchliche Restauration (Gießen 1909).
• 0 Bei NIEMEYER, Briefe, 235 zur Charakterisierung des lntereuu an der Religion und ihren
Formen.
u N1EMEYER, Briefe, 32 f. 246. 247.
782
m. 1. Freiheit und Gleichheit des Christentums Christentum
wenigstens an der äußeren Religion zu schwächen. Und diese Wirkung mußte uner-
wünscht sein, weil die Abwendung von der äußeren Religion zur Vergessenheit aller
Religion führen konnte. Eine solche Tendenz wurde vom Begriff nicht mehr ge-
deckt. Denn er hatte keine institutionsspezifischen Züge und war doch der Kon-
kretisierung bedürftig. Aus diesem Konflikt empfing die christliche Deutung der
Zeit ihre Impulse, die sich in dem Streit um den religiösen Charakter der Zeit vollzog.
Dieser Streit konnte ein Politikum werden, weil die hier gewonnenen Urteile auch
die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse mitbetrafen. Ausführlich hat
TITTMANN (1805) diese Frage behandelt in einem ersten Rückblick auf die Wir-
kungsgeschichte der kritischen Theologie. Er unterschied in der Religion als Lehre
von dem religiösen Geist des Zeitalters ilR.R OhriRt.fmtnm als Wissenschaft (Angelegen-
heit der Berufstheologen), als allgemeines (Angelegenheit des Menschen) und als
gemeinsames Band der Gesellschaft (Angelegenheit des Staates und der bürger-
lichen Gesellschaft), weil der .Ausdruck: Christentum so zweideutig ist, daß die wenig-
11ll:!n 'Vun denen, d·ie über den Verfall desselben klagen, wohl nimmer rooht oigantlich
wissen mögen, worüber sie am meisten zu klagen Ursa,che hätten. Sie verwechseln
Religion und Theologie, den Glauben und das System42 • Durch die erhöhte wissen-
schaftliche Kultur hätten die Zeitgenossen einen mittelbaren Anteil auch an den
theologischen Auseinanderset:mngP.n nnd würden dadurch unsicher. Wenn diese
Verunsicherung aber Anlaß zu einer theologischen Reaktion sei, an den alten For-
meln festzuhalten, dann sei die ]folge, daß die Gleichgültigkeit gegen die Formeln
der Dogmatik notwendig zur Gleichgültigkeit gegen das Christentum selbst führe.
Wegen dieser inneren Dialektik forderte der Begriff jetzt zur Stellungnahme gegen-
über Theologie und Kirche heraus, die zugleich eine Stellungnahme zu den Ten-
denzen der Zeit wurde. Von seinen Wirkungen her sprengte der Begriff 'Christentum'
die Unterscheidung der öffentlichen und privaten Sphä:re und wurde selbst Maßstab
für ein neues Öffentlichkeitsbewußtsein. Kirchlichkeit und Unkirchlichkeit wurden
damit zu Ausdrücken, mit denen im Bereich der Folgen die Verantwortung für
bestimmte Tendenzen der Zeit diskutiert und diese selbst beurteilt wurden. Der
Blick weitete sich dann aber über das Verhalten der einzelnen Christen auf die
weltgeschichtlichen Bewegungen. Der Begriff 'Christentum' bezeichnete also in den
drei erörterten Hinsichten eine Position, die der allgemeinen Bewegung der Eman-
zipation korrespondierte und die das Leben gegenüber dem System einnahm. Die
mit ihr hervortretenden religionspolitischen Konsequenzen wurden im 19. Jahr-
hundert in weltgeschichtlichem Maßstab diskutiert.
m.
1. Der Begrift' in der allgemeinen Zeit· und Gesellschaftsdeutung bis 1835: Frei·
heit und Gleichheit des Christentunis
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verband sich der Begriff 'Christen-
tum' mit einem solchen epochalen Geschichtsbewußtsein; in ihm wurde die Stärke
und Überlegenheit de!' Gegenwart wie auch ihre Legitimation gegenüber der bis-
42 JoH. AuG. HEINRICH Trl"rMANN, Pragmatische Geschichte der Theologie und Religion
in der protestantischen Kirche während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Breslau
1805), 329. 318. 15. 335.
783
Christentum ID. l. Freiheit und Gleichheit clee Chriatentama
4 3 WILIIELM TB.AUGOTT KBuG, Geschichtliche Darstellung des Liberalismus alter und neuer
Zeit (Leipzig 1823), 47.
44 Vgl. dazu WoLF-DIETER MARsOH, Die Gegenwart Christi in der Gesellschaft. Eine
Kirche, 75 ff.
48 Die Evangelische Kirchenzeitung 30 (1842), 629 ff. hob in einer Rezension über L. Stein,
Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich, hervor, daß das Christentum
eine Tendenz auf politische Gleichheit habe, wie ja alle neueren geistigen Richtungen immer
noch vom Christentum geborgt haben.
784
lll. 1. Freiheit und Gleichheit des Christentums Christentum
schaft des Staats und der Gesellschaft in Anspruch genommen werden 47 • Besonders
pointiert wurde diese allgemeinste gesamtgeschichtliche Bedeutung des Christen-
tums für die gegenwärtigen Verhältnisse dann von RoTHE. ausgesprochen. Die Ge-
schichte der christlichen Kirche löst sich je länger desto m.ehr in die Kulturgeschichte der
christlichen Menschheit, der Christenheit auf4 8 • Konkretisiert wurde diese These von
Rothe dahin, daß dem Reiche Christi die Erfindung der Dampfwagen und der Schie-
nenbahnen eine weit bedeutendere positive Förderung geleistet hat als die A usklügelung
der Dogm.en vonNicäa und Chalcedon49 . Hier wurde !tUCh erneut sichtbar jener eman-
zipative Klang, der dem allgemeinen Begriff 'Christ~ntum' eigen war und von dem
aus GOETHE verlangte, von einem Christentum des Worts und Glaubens immer mehr
zu einem •.• Christentum der Gesinnung und Tat zu komm.en. Von der konkreten und
zugleich umfassenden Ausfüllung dieser Forderung gab RANKE eine Vorstellung, als
er das osmanische Reich vom christlichen Wesen übermannt sah und erläuterte:
so verstehen wir darunter freilich nicht ausschließend die Religion; auch mit den W or-
ten: Kultur, Zivilisation würde man es nur unvollkomm.en bezeichnen. Es ist der Genius
des Okzidents. Es ist der Geist, der die Völker zu geordneten Armeen umschafft, der die
Straßen zieht, die Kanäle gräbt, alle Meere mit Flotten bedeckt und in sein Eigentum
verwandelt, die entfernten Kontinente mit Kolonien erfüllt, der die Tiefen der Natur
mit exakter Forschung ergründet und alle Gebiete das Wissens oingonommcn und sio
mit imm.er frischer Arbeit erneuert, ohne darum die ewige Wahrheit aus den Augen
zu verlieren, der unter den Menschen trotz der Mannigfaltigkeit ihrer Leidenschaften
Ordnting und Gesetz handhabt. 1n ungeheurem Fortschritt sehen wir diesen Geist be-
griffen. Diese Emanzipationstendenz verwickelte freilich zugleich den Begriff des
Christentums in Auseinandersetzungen um das Recht solchen Fortschritts, bei
denen die politische Funktion solcher Geschichtsdeutung hervortrat.
Diese allgemeinste Fassung des Begriffs konnte sich in der Zeit nach 1800 auf eine
weitreichende Übereinstimmung berufen, die hier nur andeutungsweise belegt wer-
den kann. Sie zeigt sich auch im lexikographischen Reflex. So hieß es 182760 vom
christlichen Europa, es trage in seinem sittlichen und politischen Leben das Gepräge
der Erziehung, die es dem Christentum verdankt. Oder das Selbstbewußtsein dieser
Position drückte sich in der Feststellung aus: Sämtliche Kulturvölker der Erde, in
deren Hand die gesamte sittliche, intellektuelle, politische und industrielle Gegenwart
und Zukunft ruht, gehören dem Christentum an 51 • Und im Geist der christlichen
Fortschrittsidee hieß es noch 1883, daß der Geist des Christentums sich heute in
der ganzen Breite des sittlichen Menschen- und Völkerlebens eine neue Stätte seiner
welterneuernden und weltversöhnenden Wirksamkeit suche52 • Diesen Globaldeutungen
Eckermann, 11. 3. 1832, in: Goethes Gespräche, 2. Aufl., hg. v. FLODOARD FRll. v. BmDER-
MANN, Bd. 4 (Leipzig 1910), 443; LEOPOLD v. RANKE, Serbien und die Türkei im 19. Jahr·
hundert, SW Bd. 43/44 (1879), 518 f.
50 BROCKHAUS 7. Aufl., Bd. 2 (1827), 646.
51 BROCKHAUS 10. Aufl„ Bd. 4 (1852), 156.
50-90385/1 785
Christentum m. 2. Christentum una Gesellsehaftskritik
war durchgehend ein geschichtliches Bewußtsein eigen, das mit der Frage nach
seinen konkreten Bedingungen und den Verhältnissen, für die es gemeint war,
dann in den Streit eintrat, der um Recht oder Unrecht solcher Gegenwart
geführt wurde. Hier bildeten sich die Fronten, die dann zur Mitte des Jahrhun-
derts hin die allgemeine Geltung dieses Begriffs des Christentums auflösten.
786
m. 3. Die Allgemeinheit des Christentums Christentum
galt ihm als der Unterschied von Freien und Sklaven, wobei der Sklave rein die
Stelle einer Maschine vertritt. Vom christlichen Standpunkt aus habe man diese
Unterscheidung nieinals legitimieren können. Denn wer der Gemeinschaft mit Christo
fähig ist, und das sind nach christlicher Anschauung alle, muß ein freies Wesen sein,
keine lebendige Maschine. Schleiermacher wollte keine revolutionären Anschauun-
gen vortragen, sondern vom Allgemeinen des Christentums her in einen möglichen
Streit eingreifen: Wenn jemals eine Gesamtheit irgend e.ine Klasse von einzelnen so
ganz aus ihrer Obhut herausläßt, daß sie der Willkür anderer preisgegeben wird, so ist
das ein absoluter Widerspruch gegen die christlwhe Gesinnung, die unter keinen
Umständen einen Zustand der Sklaverei begründen kann. Die. Kritik führte also an
die Schwelle einer Einsicht, die erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts allgemein
geworden ist.
Ungefähr gleichzeitig mit Schleiermacher hat BAADER 6 8 erste Schritte zu einer
christlichen Gesellschaftskritik unternommen, die sich ausdrücklich auf das Prole-
tariat bezog. Es war die gleiche Gesinnung, die vom Proletarier sprach als dem
Bürger, der Bürger sein mußte, ohne sich geborgen zu finden, weil die Proletarier
zum nicht mehr gehört werdenden Teil des Volkes herunrergekommen waren. Ihre ge-
steigerte Vogelfreiheit, Schutz- und Hilflosigkeit sei unchristlich nach dem Grundsatz,
Christentum ist Menschentum. Baader verband seine Kritik auch schon mit dem
politischen Rechtsproblem und erkannte, daß hier Verhältnisse entstanden, die
zu einer Revolutionierung des positiven Rechtsbeistandes führen konnten, wenn die
nötigen Reformen nicht auf evolutionärem Wege geleistet wurden. Diese Einsicht
ist deswegen bemerkenswert, weil hier erkannt wurde, daß dem Christentum eine
wirkliche Bedrohung erst aus den Folgen der Emanzipation erwachsen konnte,
während die allgemeine liberale Position ihre Freiheit vorwiegend noch gegenüber
der Tradition behauptete, von der sie ihren Ausgangspunkt genommen, hatte.
Der Gegensatz von Evolution und Revolution vermochte allerdings dann die Front-
linie zwischen christlich und unchristlich zu markieren.
F.ig1mtiimlich war diesen Bezugnahmen auf das Christentum, daß ihnen ein ein-
deutiges Handlungssubjekt fehlte. Sie vertrauten auf die Kraft der Gesichtspunkte
und Ideen, die als christliche den Prozeß der politisch-sozialen Welt bestimrilen
sollten. Das war anders, wo nach dem Verhältnis der Konfessionen unter den
Bedingungen des allgemeinen Begriffs 'Christentum' gefragt wurde.
Die Anfänge des 19. Jahrhunderts waren bestimmt dUl'ch ein starkes Bewußtsein
der Relativität der Konfessionen. Das allgemeine Verständnis des Christentums
68 FRANZ v. BAADER, Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs
zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in Betreff ihres Auskommens sowohl in
materieller als inte~ektueller Hinsicht aus dem Standpunkte des Rechts betrachtet (1835),
in: Sehr. z. Gesellschaftsphilos„ hg. v. Johannes Sauter (Jena 1925), 319 :ff. Mit konservativen
.Argumenten hat ÄDAM MÜLLER, Die innere Staatshaushaltung systematisch dargestellt
auf theologischer Grundlage (1820) dieZerspaltung der Nation in zwei feindliche ökonomische
Völker als Folge der V eräußerlichkeit aller Dinge kritisiert und dagegen den christlichen
Gehorsam als Tür zur wahren Freiheit gegen die sichtbare geistliche und weltliche .Autorität
gestellt; zit. Der konservative Gedanke, hg. v. HANS BARTH (Stuttgart 1958), 141.
787
Christentum m. 3. Die Allgemeinheit des Christentums
nahm konkrete Züge an in der Tendenz, die Gegensätze 'der Konfessionen zu über-
winden und in einer höheren Einheit aufzuheben. So konnte NIPPOLD für die Zeit
von einer Union vor <Zer Union sprechen57 • Die mögliche Vereinigung der Kon-
fessionen war zunächst ganz unpolitisch gedacht. Die tatsächliche Verständigung
über ihre Grenzen hinweg war eine rein religiöse 58, die sich nicht schon mit den
allgemeinen Theorien deckte, die dafür entworfen wurden und meist ein Gefälle
zugunsten einer Seite hatten. So wurde STARCKS Vorschlag zur Vereinigung der
verschiedenen Religionssozietäten69 seine kryptokatholische Tendenz vorgeworfen,
während die zahlreichen von protestantischer Seite vorgetragenen Theorien alle
ein weltgeschichtliches Gefälle haben, bei dem der Protestantismus als entwick-
lungsleitend galt. Eine Reihe dieser Argumente sind versammelt bei MARHEINEKE6o,
der die Einheit des Christentums mittels der Unterschiede der Konfessionen be-
stimmte. Der Protestantismus galt als Reich des Verstandes, der Erkenntnis und
des Denkens, der Katholizismus wurde charakterisiert durch Phantasie, Empfind-
samkeit und Kunstverständnis. Das verschiedene Klima und die Unterschiede der
Geschlechter wurden bemüht in einer Phänomenologie, die im Grunde den Unter-
schied von Romanismus und Germanismus ethnographisch ausmalte. Jedoch die
Kraft der Einheit lag dann auf der protestantischen Linie. Marheineke definierte
die Wissenschaft als die Einheit in der Trennung, wonn nur boido Parteien wohl
bedenken, daß das wahre Wissen nie ein von Gott verlassenes, sondern schlechthin ein
in Gott seliges, und d. h. ein echt theologisches und damit christliches ist. Und er sah
im Geiste Katholiken imd Protestanten ein Simultaneum errichten, in das sie ein-
zogen, um einen Frieden zu halten, <Zer höher ist als der W estphälische und keine
bloße Wirkung von diesem 61 • Daß die Einheit des Christentums auch als die der
Kirchen ein großer Gedanke der Zeit war, ist noch durch den Streit hindurch er-
kennbar, der um die Bedingungen geführt wurde, unter denen diese Einheit
definiert werden sollte. In solchem Geiste sprach TzscHIRNER 62 über Das Dritte
Zeitalter <Zer Europäischen Menschheit, das nach Christianisierung und Reformation
dort anfange, wo der Gegensatz <les Katholizismus und des Protestantismus aufhörete,
<Zer Mittelpunkt der Weltgeschichte zu sein. Und er setzte seine Hoffnung darauf,
daß die Zahl derer wachse, die nur die allen Kirchen gemeinsamen Lehren als das
Wesentliche d,es Christentums und als die notwendigen Stützpunkte der frommen und
sittlichen Gesinnung betrachteten. Politische Züge hatte diese Hoffnung, weil sie
1906), 65.
68 Vgl. dazu FRANZ SmrNARF.r,, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 3. Aufl., Bd. 4
Protestantismus und die projektierte Kirchenvereinigung (Heidelberg 1810), 17. 19. 20;
ders., Aphorismen zur Erneuerung des kirchlichen Lebens im protestantischen Deutsch-
land (Berlin 1814), bes. 36 ff.
11 MARHEINEKE, Über das wahre Verhältnis, 75 f.
12 HEINRICH GoTTLIEB TzsCHIRNER, Das Reactionasystem, dargestellt, geprüft (Leipzig
788
m. 3. Die Allgemeblheit des Christentums Christentum
der bürgerlichen Freiheit korrespondierte, die nicht mehr durch die Bekenntnis-
bildung begrenzt war 0 a. Aber auch hier war die Tendenz deutlich. Was gegenwärtig
der Katholizismus den Staaten leisten kann, das leistet er ihnen als Ohristentum, aber
nicht mehr als Katholizismus. Hier wurde das Verhältnis der Konfessionen aus dem
Standpunkte der Politik betrachtet. Denn dafür war der allgemeine Begriff des Chri-
stentums maßgeblich. Näherhin aber stand das Verhältnis doch in dem der Ab-
lösung. Der Katholizismus ist das notwendige Erziehungsmittel der Europäischen
Welt in ihrem Knabenalter. Jetzt aber drängt sich die Welt allerorten den Grundsätzen
des Protestantismus entgegen, dessen Sache die der Freiheit und des Lichts ist.
Dieselben volksmäßigen, klimatischen und anderen Unterschiede, die Marheineke
aus höherer Einheit rechtfertigte, wurden hier kritisch abgewandelt. Der Katholi-
zismus wolle in einem Lande gerade das sein, was er in dem andern ist und könne
darum niemals so national werden wie es der Protestantismus geworden ist. Die Über-
windung der konfessionellen Parteilichkeit führte doch zu neuen, nicht mehr
theologisch motivierten Konfessionsideen, die sich mit den alten Grenzen auch
wieder assoziieren konnten.
Aus anderen Gründen untersagte FRIEDRICH WILHELM III. die Bezeichnung
'Protestanten' 84• In einem Zirkularschreiben zur Vorbereitung der Säkularfeier der
Reformation eollte die Darotollung doo wahron Goiotco dor Rcforrnat1:rm 11. 11.. d11.rin
zum Ausdruck kommen, daß das Unpassende der Benennung Protestanten erkannt
und durch evangelisch ersetzt werde. Hier, wo es um die innere Einigung des Pro-
·testantismus ging, hatte der Begriff keine Funktion, aber hier waren nuoh die über
das Kirchliche hinausdrängenden Tendenzen des Begriffs 'Protestantismus' uner-
wünscht65.
Doch bestimmte es die Begriffsgeschichte, daß der Gedanke der Einheit der Christen
eine Deutung der Weltgeschichte verlangte, die solche Einheit ermöglichte. Diese
Deutung konnte den Fortschritt auch der schönen Vergangenheit des Christentums
unterordnen. Es waren scliöne glänzende Ze·iten, wo Europa ein cltr·istliches Land war,
wo Eine Ohristenhei'.t diesen menschlich gesta.lteten WeltfR.il bewohnte, begann NovALIS
1799 sein Fragment „Die Christenheit oder Europa" 66 • Der Frieden dieses Zeitalters
sei durch den Protestantismus frevelnd zerrissen worden, weil er seine Bedingung,
die christliche Einheit zerstörte. Mit der Reformation wars um die Christenheit
getan; die Aufklärung war ihre notwendige Folge und das Ende des lebendigen
Gemeingeistes. Aber jetzt sei die Zeit der Auferstehung gekommen, es zeigten sich die
Spuren einer neuen Welt, denen Hardenberg zu folgen aufrief. Er aktualisierte den
mittelalterlichen Begriff des Christentums, seine geistliche und territoriale Einheit,
in der Hoffnung auf eine christliche Regeneration ·Europas, die aus dem alles-
umarmenden Geist der Christenheit erwachsen sollte. Nur die Religion kann Europa
wieder aufwecken und die .Völker sickern, und die Christenheit mit neiter Herrlich-
es Ders., Protestantismus und Katholizismus aus dem Standpunkt der Politik {l·eipzig
1823), 30. 105. 101. 80.
84 Zit. FÖRSTER, Landeskirche, Bd. 1, 270.
789
m. 4. Der Streit am ate Ursachen der Re't'oludon
keit ... in ihr altes frie<lenstiftendes Amt installieren. Das aber müsse geschehen
unt,e.r de.r Le.i.t,lmg dP.r eine.n sichtbare.n KimhP., rliP. iihAr A,llA T,A,nrlAl':lgrenzen hinweg
alle Reformen überwache. Deren Hierarchie gab die symmetrische Grundfigur der
Staaten ab, das Vorbild einer neuen politischen Wissenschaftslehre. Diese politische
Vision des Christentums ging darauf aus, die stürmischen Veränderungen der
Neuzeit in das Bild des mittelalterlichen Christentums zu integrieren.
In der Staatslehre An.AM MÜLLERS war diese politische Theologie zum system-
leitenden Grundgedanken ausgebildet 67 • Der politische Charakter Christi wird über
den nur Privat-Charakter Christi gestellt, wie er der protestantischen Frömmigkeit
allein eigen war, um die Idee des Staates aus der einen christlichen Religion zu
entwickeln. Diese Einheit aber schloß sich bei Müller an das politische Zeitalter
des Christentums, das Mittelalter, an und zog daraus die Kraft, gegenwärtig all
das in sich aufzunehmen, was die neue Zeit, Reformation und Aufklärung hervor-
gebracht hatten und was alleine keinen Bestand haben konnte. So kam Müller zu
eiuer puliLii;clieu Theurie, iu· U.er ilie kuufei;i;iuuelle DesLinunLheiL de1:1 Chrii;LeuLu111t1
in der Idee des politischen Christus aufgehoben wurde. Der Katholizismus bleibt
das heilige Archiv unseres Glaubens und bewahrt das Gesetz und damit die politische
Kontinuität. Der Protestantismus bewahre das Prinzip der Freiheit und demnach
der Allgegenwärtigkeit der Religion. Der Weg zur Einheit aber war ein Wegwelt-
geschichtlicher Erinn'erung: an der Hand der Geschichte durch die Jahrhunderte
der Spaltung zu dem Jahrtausend der Vereinigung zurückzusteigen, zu dem reinen
Qullll aller Freiheit und a.ll.es Gesetz.es. An solcher Deutung der Weltgeschichte aber
i;chieden sich die Geister. Der Geist der Zeit bewirkte eine Auseinandersetzung,
in deren Verlauf auch die Unterschiede wieder schärfer artikuliert werden konnten.
Solche Rekonfessionalisierung war dann aber nicht theologischer, sondern politi-
scher Natur.
87 ADAM MÜLLER, Die Elemente der Staatskunst (1809), hg. v. Jakob Ba:xa, Bd. 2 (Jena
1922), 186. 232 f. Vgl. auch ders., Traum von möglichen Vorbereitungen zur Wieder-
vereinigung des protestantischen Deutschlands mit der heiligen Kirche, ebd., 550. 552: dort
setzte Müller auf eine Wissenschaft, deren F:insicht sie notwendig zur katholischen Kirche
.führt.
es LilmNNAIS, Versuch über die Gleichgültigkeit in Religionssachen, dt. v. M&:x v. Kaiser-
feld (Wien 1820), 22 f. 30.
790
m. 4. Der Streit um die Ursachen der Re"t'oluti- Chriatentum
Deutschland (Gotha 1820); ders., Die Theologie und die Revolution, oder: die theologi-
schen Richtungen unserer Zeit in ihrem Einflusse auf den politischen und sittlichen Zu-
stand der Völker (Leipzig 1835); ders., Der Simonismus und das Christentum, oder:
beurtheilende Darstellung der Simonistisch1m R111igion, ihmR V11rhii.lt.niRRAR 7.Ur chriRtlir.hen
Kirche und die Lage des Christentums in unserer Zeit (Leipzig 1832).
71 Ders., Simonismus, 128 f.
72 Ders., Theologie und Revolution, 165.
791
Christentum ID. 4. Der Streit um die Unachen der Revolution
78 Zum Tugendbund vgl. FRIEDRICH MEINECKE, Das Zeitalter der deutschen Erhebung,
7. AuH. (Göttfugen 1963), vor allem aber ERNST RUDOLF HUBER, Deutsche Verfassungs-
geschichte seit 1789, Bd. 1 (Stuttgart 1957), 702 f. ARNDT rechtfertigte seine Zugehörig-
keit zu einem formlosen Männerbund 1840 in den „Erinnerungen aus dem äußeren
Leben" damit, dieses Bündniswesen sei getragen von der allgemeinen Bewegung der
. Deutschen, es handle sich also um offene Verschwörung; und er bekannte, daß Geheim-
bünde der Idee des Staates und volknds der Idee des protestantisch christlichen Staates wider-
sprechen, welche auch im Christentum alle geheimen Gesellschaften •.• verabscheuen muß;
Werke, Bd. 7 (1908), 288. 290.
7 ' BRETSCHNEIDER, Theologie und Revolution, 3. 6.
75 JOSEPH GöRREs, Teutscbland und die Revolution (1819), Ges. Sehr., Bd. 13 (1929), 73 f.
76 Vgl. dazu KARL BUCHHEIM, Ultramontanismus und Demokratie. Der Weg der deutschen
Katholiken im 19. Jahrhundert (München 1963), 37 ff. 53 ff., der das einseitig protestan-
tische Klima des fortschrittlichen Deutschlands der Zeit beschreibt.
7 7 GöRRES, Teutschland, 79. 81. 110 ff.
792
m. 4. Der Streit um die Ursachen der Revolution Christentum
Sache solcher Parteibildung. Auch Görres galt Deutschland als das Haupt der Chr1:-
.~tP.nhp,it78,
nur daß er dafür ein vorrP.fnrmat.oriRr.l1es Dat.um wählte. Aber die Ideen
der Gleichheit und SklavenuefreiUllg, ilie Neigung zur Wissenschaft, die als dem
ChriRt.entum eigentümlich galt.en, wurdfln von ihm genauso in Anspruch genommen
wi1i im PruLst1LanLit1mut170 • D::i.rin zeigte aiuh t.lOwohl dio .Kraft des allgemeinen Be-
griifä 'Christentum', d.er nicht mP.hr kirchlich definiert war, wie auch seine Sohwiioho
im Feld der direkten Inanspruchnahme, weil ihm ein eigenes historisch-soziolo-
gisches S:ubjekt fehlte.
Gleichzeitig mit Görres hat auch DE WETTE 80 das Verhältnis von Protestantismus
und Katholizismus in der politischen Dimension zu klären versucht in der Hoffnung,
die Katholiken könnten sich zur Idee der freien Menschenbildung erheben. Es wurde
mit der ganzen Kirchengeschichte und mit der Weltgeschichte der Protestantismus in
seinem iva.hren Lichte gezeigt. Es sei der Ge·isl der Frei,/113-it, der l:liuh ull:l dor oinoa Zeit-
alters nur zeigen könne, wenn er zuniiohst Sohoidung bewirke. 80 vm·tcidigtA <lfl W11tt11
die Reformation gegen den Vorwurf, die Einheit Deutschlands zerstört zu haben, und
gab dieser Scheidung einen weltgeschichtlichen Sinn. Der Zwiespalt, den die Re/or-
m.ation ·in Europa angerichtet hat, miißte endlich auch darum im deutschen Vollce selb11t
bestehen, weil dieses Volk von Gott dazu ausersehen scheint, der Führer und Vorkämpfer
Europas auf der Bahn echt christlicher Bildung zu werden und die GP..~chich.t.e des
ya.nvm Erdteils 1'.n s1:ch selbst iiorztt.bilden. Deshalb feiert de Wette die Reformation als
Wendepu.nkt der ganzen europäischen Geschichte 81 , jene Wendung zur Freiheit, an
der die Katholiken nur als Nutznießer Anteil hätten. Und es war die Gestaltung
der Freiheit, in der ilie Deutschen nun auch politisches Vorbild geben könnten.
Zunächst in Kunst und Wissenschaft galt: Wir Protestanten, und zumal wir Deut-
schen, bei denen der Protestantismus doch allein sein volles Leben entfaltet, übertreffen
alle 82 • Während in Sitte und Bildllllg alle anderen Völker irgendwo einseitig seien,
seien die Deutschen in der Verbesserung unseres bürgerlichen Zustandes zurück-
geblieben. Die kirchliche hat die politische Trennung bewirkt. Aber daraus folgte
für de Wette die Möglichkeit einer schöneren Einheit, die in freier· Übereinstimmung
bei äußerer Trennung besteht. Deutschland wird auch darin Europa Vorbild werden,
daß es ein völkerschaftliches Gemeinwesen in sich darstellt, wie es in Europa im Großen
bestehen soll. Dieser Vorschlag, der aus der Not der religiös-politischen Trennung die
Tugend einer übernationalen Einheit machte, zog seine Kraft aus einem Bewußtsein
der Sendung der Deutschen, die sich nicht als nationalistisch darstellte. Das gleiche
78 El:id., 112.
79 Einen großangelegten Versuch, dem Protestantismus die Urheberschaft an den fort-
schrittlichen Elementen der modernen Aufklärung streitig zu machen, findet sich bei dem
französischen Katholiken RoBELOT, Über den Einfl.uß der Reformation Luthers auf die
Religion, die Politik und die Fortschritte der Aufklärung (1822; dt. Mainz 1824), Hier wird
durchgehend die Gegenrechnung aufgemacht und der Katholizismus als „Prinzip des Fort-
schritts" dargestellt. Vgl. dazu später HlilRMANN SCHELL, Der Katholizismus als Prinzip
des Fortschritts (Würzburg 1897), allerdingR ohne Bezugnahme auf Robelot.
80 WILH. Mü·1·U1 Llil.UJU~Jill.J.li'.C .Ll.lll WETTE, Katholi:r.i11m1111 uni!. Prot.estant.ismus im Ver-
hii.IL!l..ii! zur chril:ltlichen Offenbarung. Eine polemische Abhandlung, in: Theol. Aufs., Bd. 1
(ßerlin 181!!), 1 ff., beJ!. 5. 21.
81 Ebd., 46. 75 f.
793
Cbriateatum llL S. Cbristeatum uaa nationale Bewegung
galt dann auch für den Gedanken der Einheit der Konfessionen. De Wette sagte,
er verlange von den Katholiken nicht, zum Protestantismus überzutreten, aber
nicht viel amures verlange ich, nämlich daß sie bessere Deutsche und Ohri~ten werden.
Aus der gleichen g~istigen Heimat wie Görres stammend, geistesgeschichtlich in
Romantik und Idealismus, politisch in der Bewegung der Befreiungskriege wur-
zelnd, wurde von de Wette das Erbe der christlichen Aufklärung weitergeführt.
Er war dabei ihren Motiven vielleicht stärker verbunden als die gleichzeitigen
Rationalisten83. Die Scheidungen aber, die hier im Begriff des Christentums vor-
genommen wurden, nahmen solange keine alternative Form an, als es sich um solche
innerhalb des Christentums und seiner geschichtlichen Welt handelte. Erst wo dem
Christentum seine gegenwärtige Bedeutung überhaupt bestritten wurde, verlor
die liberale Christentumsauffassung in ihren zahlreichen Schattienmgen die Mög-
lichkeit, sich auf solche Allgemeinheit über dem Streit zu berufen u.nd wurde selbst
Partei.
88 So fügte DE WETTE dem Begriff 'Christentum' eine neiie Formel hinzu, es sei der lWchste,
reinste Gemeingeist die Seele des Christentums (ebd., 77), und die Aufgabe der Zeit die
Wiedereinführung eines echt christlichen Gemeingeistes (ebd., 80). In die Genealogie der
Zeichen der Zeit, die solches heraufführte, bezog de Wette auch die Französische
Revolution, die deutschen Befreiungskriege, Schillers und Goethes Dichtung, Jacobis und
Schellings Philosophie, die neuere deutsche 'l'heologie, den sich verbreitenden Mystizismus
(o.bor o.uch die neuen Unternehmen und Fabriken!) ein; ebd., 249 ff. Zita.te a.us: ders.,
Heinrich Melchthal oder Bildung und Gemeingeist, Bd. 2 (Berlin 1829).
84 Dafür sei auf die ausführliche und materialreiche Begriffsanalyse von GERHARD KAlsER,
Protestantismus im 19. Jahrhundert, in: ders., Das' Nationale als europäisches Problem
(Göttingen 1954), 109 ff.
88 ARNDT, Phantasien zur Berichtigung der Urteile über künftige deutsche Verfassungen
(1815), Werke, Bd. 14 (1908), 181. 183. 185. Die bestimmteste politische Erwartung gepaart
mit allgemeinster Bewegungsideologie war kennzeichnend für die Verbindung von Chri-
stentum und Deutschtum. Deutschland gehöre nicht eher zu den vollkommenen chriBtlichen
Staaten ... , ala daa ChriBtentum auch wieder äußerlich in einem frewU.gen und be,geiBterten
Leben aufblühen wird, hieß es in denselben „Phantasien", ebd., 163. Dort auch die Vor-
stellung vom Christentum als einer Art himmliBcher Demokratie auf Erden,· ebd., 145.
794
m. 5. Christentum nnd nationale Bewegung Christentum
1nnersten der Herzen wirkte. Dieser Geist kann nichts anderes sein als ein christlicher
Geist, als ein kühner und begeisterter Flug, den das Christentum nimmt, und auf
dem es das ermattete und vergeistigte Menschengeschlecht mit den Flammen eines neuen
und kräfti'.gen Daseins füllt. Der Kosmopolitismus der Aufklärung wurde in diesem
Geist der Zeit zum Nationalismus verdichtet, und dieser nahm dann jene extremen
Züge an, die in der Haßpredigt gegen Frankreich gipfelten. Einmütigkeit der Herzen
sei eure Kirche, Haß gegen die Franzosen eure Religion, Freiheit und Vaterland
seien die Heiligen, bei welchen ihr anbetet! Mit einem neuen und lebendigeren Geist,
mit einem höheren Atem des Lebens muß die Welt und das Christentum wandeln;
einer neuen lfirche und eines neuen Heils warten wir 87 • Dieser Nationalismus war
von dem konservativer und katholischer Prägung völlig verschieden. Er war eine
späte Abart des einst aufgeklärten Begriffs 'Christentum' und hat doch im Ganzen
einen gegenaufklärerischen Geist angenommen. In seinen Wirkungen hat er solche
Tendenzen begünstigt, die sich theologisch in der Rückwendung zum alten Glauben
auswirkten, wobei das alte deutsche Erbe den Vorrang einnahm. Dieser Begriff
hat damit auch in der politisch-gesellschaftlichen Sphäre durchweg eine Stärkung der
konservativen Kräfte hervorgerufen 88 • Wo das Interesse sich vorwiegend der inner-
deutschen Stabilisierung zuwandte, wirkte sich deren religiöse, christliche Arti-
kulation in einer Weise aus, die den allgemeinen Begriff des Christentums ein-
schränkte. Das Deutschtum wurde zur Formel für die Einheit des Christentums
im religiös-politischen Programm der Burschenschaften und schlug sich in ihren
Grundsätzen von 1817 nieder 89 • Die Lehre von der Spaltung Deutschlands in das
katlioz.isclie und in das protestantische Deutschland ist irrig, falsch, unglückselig.
Es ist eine Lehre, von einem bö.,en Feind au.,gegangen. Wenn viele Deutsche sich zur
katholisclten Kirche bekennen. und viele Deutsche den protestantischen Grundsätzen
anhängen, so sind sie darum nicht minder sämtliche Deutsche und eins durch das eine
Vaterland. Wir Deutsche haben alle einen Gott. Aber während 1818 der Verfassung
der Burschenschaften90 noch die christlich deutsche Ausbildung als allgemeiner
Grundsatz genügte, wurde das ÜbergeWicht der nationalen Bestimmung des Chri-
stentums schon 1822 deutlich 91 • Der Grundsatz der christlich deutschen Ausbildung
erhielt den Zusatz: Es sollen daher keine Juden und Ausländer als solche aufgenommen
werden, weil jene kein Vaterland haben und durch diese die ·deutsche Ausbildung
gestört wird.
Der Tendenz zur Einschränkung des allgemeinen Begriffs 'Christentum' konnte
THEODOR SCHWARZ 1816 Ausdruck geben, wenn er das Fazit der religiösen Bewe-
gung der Befreiungskriege so sah, daß damit im positiven Glauben dem eitlen an-
795
Christentum IV. 1. Das &eie Christentum 8ls Partei
maßenden Vernünfteln, was ebenso unbürgerlich wie unchristlich ist, Damm und
Grenun gezogen seien92 • Und HuNDESHAGEN konnte rückblickend sagen, daß der
deutsch-protestantische Geist seine ursprüngliche Synthese mi.t der protestantischen
Frömmigkeit wiederherstellte und sich damit wieder die Fähigkeit eines lebendigen
Verständnisses seiner einstigen dogmatischen Bildungen erobert hatte 9 3. Diese Er-
neuerung der Liebe zum Positiven des Christentums war aber eine Rückwirkung
der deutschen Erneuerung gegenüber dem fremden Eroberer und hatte den sekmi-
dären Effekt, der vorkritischen Theologie und Kirchlichkeit Unterstützung zu
geben. Hier zeigten sich die ersten Umrisse eines Prozesses, in dem jede Erneuerung
des „Kirchenglaubens" (Kant) tatsächlich als Reaktion auf die mit dem allgemeinen
Begriff des Christentums eröffneten Folgen zustande kommt; und der sich Bewegun-
gen verdankt, die diese Folgen als Krise begreifen. Zunächst allerdings hatte die
Verbindung deutsch-christlich einen politischen Sinn, der liberal war, und wurde
erst durch die Nichteinlösung· der politischen Hoffnungen der Befreiungskriege
funktionslos und willkürlicher Aneiguung ausgesetzt. Dann traten konservative
und radikale Positionen seine Erbschaft an.
IV.
1. Chr.istenlwu iw Kawpf von Fortschritt und Restauradon nach 1835:
das freie Christentum als Partei
Unter den Bedingungen der poli.Li.1:1chen und kirchlichen Restauration verlor der
· emanzipative Begriff seine Funktion als allgemeine Verständigungsbasis der Zeit.
Jetzt faßte auch in Deutschland zum ersten Male die radikale Aufklärung Fuß und
bemächtigte sich polemisch des Begriffs 'Christentum'. Dabei vollzog sich eine
Radikalisierung, in der der undogmatische Begriff 'Christentum' zum Ausweis
parteiähnlicher Minoritäten wurde, die zwischen die Extreme von rechts und links
gerieten. Die gemäßigte Fassung des Begriffs dagegen wurde nunmehr vorwiegend
auf den Staat bezogen als diejenige Institution, die die im Begriff gemeinte All-
gemeinheit zur repräsentieren vermochte und auch die Erfahrungen der Befreiungs-
kriege zu bewahren schien. Wo auch die konservativen Kräfte sich einem insti-
tutionellen Begriff des Christentums, der Kirche und dem Staat zuwandten, ver-
lagerte sich die Auseinandersetzung auf die Bestimmung des christlichen Staates.
Mit Strauss' „Leben Jesu" (1835) und Feuerbachs „Wesen des Christentums"
(1840) kündigte sich auf literarischem Gebiet eine Radikalisierung im Begriff
'Christentum' an, die alsbald isolierend wirkte auf die Position derer, die sich der
radikalen Kritik anschlossen. Die sich gegenseitig eskalierenden Extreme von rechts
und links reduzierten die Möglichkeiten einer unbefangenen Inanspruchnahme des
92 THEODOR SCHWARZ, Verschiedene Ansichten des Christentums (Berlin 1819), IV. Auf-
schlußreich für den geschichtlichen Zusammenhang ist der Hinweis auf ein Gedicht von
LA.VATER mit dem Titel: Die Christus-Religion, oder Der beßte Christ, der beste Bürger;
zit. KAt1:11C&, Pietismus, 92.
93 KARL BERNHARD HUNDESHAGEN, Der deutsche Protestantismus, seine Vergangenheit
796
IV. I. Das freie Christentum als Partei Chriltentum
F.RIEDRICB Nll'l'OLD, Handbuch der neuesten Kirchengeschichte Reit der Re11taura.tion von
1814, 2. Aufl. (Elberfeld 1868), 171 ff. 337 ff.; HuNDESHAGEN, Protestantismus, 341 ff.
421 IT.
96 Vom Geist freier Entwicklung des Christentums sprach KÖNIG, einer der Führer der
heit, seine Verkehrung und seine Wiedergeburt durch Freiheit und Liebe. Dem deutschen
Volke gewidmet (Darmstadt 1847), 3. 6. ·
97 Zur Terminologie vgl. FRIEDRICH CARov:E, Der sogenannte liberale Katholizismus und
der römisch-katholische Hierarchismus, Hallische Jbb. 1 (1838), 1132 ff. In diesem Zusam-
mcnhnng ßprach KARL THEODOit IlAYEitHOFFEit auch 8ohon von den „anti.!looialen Ilioh•
t\mgen der Gegenwart", womit die erstarkende Restauration gemeint war; Das wahre
VerhäJtniß des freien Christlichen Staates zu Christlicher Religion und Kirche und deren
Gegensätzen. Zur wissenschaftlichen Niederschlagung der antisocialen Richtungen und
UmLriebe der Gegenwart (Leipzig 1838).
es Ev. Kirchenzeitung (1839), Nr. 2, 10.
797
Christentum 'IV. 1. Das freie Christentum als Partei
nach Außen, der mit vereint.en Kräften geführt werden muß, aus. Diesem Gedanken
des gemeinsamen kirchlichen Kampfes nach außen entsprach die gemeinsame Front
der religiös-liberalen Parteibildung bei Protestanten und Katholiken. In diesem
Sinne begrüßte auch GERVINUS die Mission der Deutschkatholiken 99 und formulierte
sie weit über deren tatsächliche Bedeutung hinaus. Die Formel für die Einheit der
Bewegung wurde in eindeutig politischen Kategorien ausgesprochen, das Losungs-
wort war eine große national,e Reformation, in der sich Politik und Religion die Hand
reichen zu einem vaterländischen Werk. Die Sendung bestand darin, die Kluft,
die Deutsche von Deutschen trennte, aufzufüÜen durch eine Annäherung an den
Prot.estantismus, letztlich aber zum Ziele der politischen Umwälzung. Den politi-
schen Zulauf und die theoretische Unterstützung, die die Bewegung von den Jung-
hegelianern erhielt, verdankte sie der Chance, die für alle in dem popularen Charakter
der Bewegung lag. Wo Junghegelianer1° 0 und überhaupt Kräfte des politischen
Liberalismus101 die Lichtfreunde und Deutschkatholiken und deren Versammlungen
als Forum ansahen, um der liberalen Opposition eine eigene Öffentlichkeit zu ver-
schaffen, wurden die Bewegungen über die nur religionspolitische Wirkung hinaus-
gedrängt zu politischen Zielen, die ihre selbst formulierten Ziele zurückdrängten.
Die Bewegungen verliefen sich dann in der Gründung von Vcrcinen und freien
Gemeinden, die freie Wahrnehmung des Christentums nahm sektenhafte Züge an.
Der Streit drängte damit auf eine Alternative zu, die der alten Liberalität keine
wirksame Position mehr ließ. So verhallte hier der Einspruch von dieser Seite 102, der
die Kirche davor warnte, als Partei zu handeln, die alle anderen für ungläubig und
politisch verdächtig erklärte. Den Verfassern, die die Gefahr des Extremismus von
rechts und links formulierten, trug das nur den Spottnamen der „Dämmerungs-
freunde" ein. Angesichts dieser Bewegungen hat STRAUSS den Zusammenhang von
religiöser und politischer Parteibildung formuliert103 • Er postulierte eine solche
Vereinigung von Protestanten und Katholiken, die überhaupt über das bisherige
Christentum hinausführe. Dem katholischen Ultramontanismus entspreche ein
protestantischer Ultramarinismus, nämlich das Festhalten an seinem asiatischen
Prinzip, dem urchristlichen Herkommen. Um diese letzte Bindung zu sprengen,
forderte er die Fortbildung des Christentums zum reinen Humanismus oder vielmehr
die Herausbildung des letzteren aus dem gesamt.en Boden der modern-europäischen
Kultur, in welchem das Christentum nur einen Bestandteil ausmacht. Das sei der
Weg, wie der theologische Liberalismus dem politischen in die Hände arbeite.
RosENl!ERG, Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Li~eralismus, Rist. Zs.,
Beih. 31 (1933), bes. Kap. 3: Vom religiösen zum politischen Liberalismus, 84 ff.
101 Ausführlich bei HANS ROSENBERG, Theologischer Rationalismus und vormärzlicher
Vulgärliberalismus, Hist. Zs. 141 (1930), 497 ff., bes. 529 ff.
102 Diesen Einspruch der 88 Freunde Schleiermachers, unter denen eich Bischöfe befanden,
1848); der Aufsatz erschien zuerst in dem von Wislecenus herausgegebenen Blatt der
Lichtfreunde „Reform" (1843), H. 3 v. 9. U. 15.
798
IV. 2. Christentum and Glaubensfreiheit Christentum
1o' CARL LunwIG Ml:OHELET, Der historische Christus und das neue Christentum. Die
Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes. Eine philosophische Trilogie. Zweites
Gespräch (Darmstadt 1847), 27. 30. 43. 53. 56. Wir stellen diese bloß literarische Gruppen-
bildung den Lichtfreunden an die Seite wegen der strukturellen Paralltlle.
lOi Ebd., 57. 175.
101 Sten. Ber. Dt. Nationalvers„ Bd. 3 (1848).
799
Christentum IV. 2. Christentum und Glaubensfreiheit
sondern sie in der politischen Praxis bewahrt sehen wollten. Sie erblickten in der
Trennung der Kirche vom Staat eine Bedrohung der Freiheit, weil das Christentum
dann allein in der unkontrollierten Zuständigkeit der Kirche aufzugehen drohte.
Pauschal konnten die Freiheitsrechte und die Trennung von Staat und Kirche auf
die eine Idee der Freiheit der Person gegründet werden. Die Idee der freien Persön-
lichkeit ist eine der Grundideen des Ohristentums. Machte der Staat diese Idee zu
seiner eigenen, so ist er gewiß nicht ein unchristlicher zu nennen, auch wenn er der
Kirche, die er nur mit Gewalt sich angetragen hat, den Scheidebrief gibt. Der Staat
ist christlich, wenn er keine Gesetze hat, welche dem Evangelium widersprechen und
es den Christen unmöglich machen, als Christen zu leben107 • Die nur indirekte, nicht
institutionsspezifische Beanspruchung des Christentums zusammen mit der For-
derung einer klaren Trennung von der Kirche stand auf dem Hintergrund der Er-
fahrung des Religionmachens108 , der Religionsfabrikation109 , wo eine bestimmte
Artikulation des Christentums sich staatlicher Förderung erfreute, sei es im Wechsel
der unterstützten Frömmigkeitstypen, sei es mit dem Begriff des christlichen oder
christlich-germanischen Staates110 • So galt es als Fortschritt des Christentums, daß
die Idee der allgemeinen religiösen Freiheit sich gegen das Amalgamieren der Kirche
mit dem Staat durchsetzte. Denn deren Verbindung erschien als die doppelte
Unterdrückung der Freiheit: religiös uml poliLisch. Diese FreiheiL mußLe nicht
abstrakt-prinzipiell gemeint sein, sondern in dem pragmati15chen Sinne, der in der
Klage zum Ausdruck kam, solche Religionsmacherei habe die Folge, daß gegenwärtig
kein rechtlicher Mann sich zum Christentum bekennen darf, ohne Gefali'f' zu laufen,
daß er entweder für einen Heuchler oder für einen Dummkopf verschrieen wird111 •
Im Interesse solcher Männer, die sich als Freie imm Christentum bekannten, sprach
die Opposition gegen die Trennung von Kirche und Staat. Sie fürchtete den in-
stitutionellen Mißbrauch solcher Freiheit durch die Kirche und wollte die Freiheit
durch einen besseren Staat gewahrt sehen. Die allgemeine Glaubens- und Gewissens-
freiheit wurde hier unterschieden von der Regelung des Verhältnisses Staat -
Kirche112 • Statt der Trennung als Folge der Freiheitsrechte wurde hier die Eintracht
von Kirche und Staat als Ziel gefordert. Sie liege im Interesse der Christen, die zu-
gleich Staatsbürger seien; die Trennung von Kirche und Staat aber komme nicht
der Kirchengesellschaft, sondern allein der Hierarchie zugute. In dem kirchlichen
Ruf nach Trennung der Kirche vom Staat sah man lediglich die Abwehr der
demokratischen Einrichtungcnm. Frei werden dürfe die Kirche nur, wenn und wo
sie diese Freiheit an ihre Genossen weitergebe. Wo ?.wischen Christentum und Kirche
nicht unterschieden wurde, führte das Freiheitspathos dann aber zur extremen
Forderung, die Trennung des Staates von der Kirche an die Bedingung zu knüpfen,
daß überhaupt das, was Kirche genannt wird, vernichtet werde, weil jede Kirche
immer ein Hemmschuh der Zivilisation sei. Sollte die Kirche ihren Ort im Himmel
800
IV. 3. Der Begriff de9 christlichen Staates - fortschrittlich Cbriatentum
114 Abg. VOGT, zit. W. WICHMANN, Denkwürdigkeiten aus der Paulskirche (Hannover
1888), 181. Im gleichen Sinne der Abg. JORDAN: die Kirche als Kirche muß fallen etc.;
ebd., 182.
116 80 et.wa der Abg. SlllPP, St.en. Ber. Dt. Na.t.ionalvers., Rd. 3, 1689.
116 PHILIPP KONRAD MARHEINEKE, Die Reform der Kirche durch den Staat (Leipzig 1844),
7.10. 4.
117 CHRISTIAN HERMANN WEISSE, Über die Zukunft der evangelischen Kirche. Reden an
51-90385/1 801
Christentum IV. 3. Der Begriff des cluiBtlichea Staates - fortschrittlich
eben nur erst in dieser explizieren kann. Der Epoche des in sich geschlossenen An-
fangs folge das Stadium der bloß kirchlichen Existenz des Christentums und dieser
die Entwicklung des inneren und wesentlichen Verhältnisses zum Staate. Der Am1bn1ch
aus den Grenzen der Kirche hatte hier jeden kämpferischen Klang verloren und
suchte sich vielmehr in einer politischen Entwicklung zu beruhigen, die durch den
modernen Staat bereits erreicht war. Darum war für Marheineke nun umgekehrt die
Aufgabe, das politische Element der christlichen Kirche analog dem Staat zu ent-
wickeln, d. h. die Praxis des neuen Begriffs des Christentums den inner-theologi-
schen. und weltanschaulichen Kämpfen zu entziehen und an einem solchen Muster
zu orientieren, das den religionspolitischen Auseinandersetzungen durch schon voll-
brachte Praxis überlegen war. Diese Wendung im Begriff 'Christentum' ist charak•
teristisch. Bei vielen Vertretern des Kulturprotestantismus zeigte sich diese Wand-
lung, bei der der Degriff des 'Christentums' seine KrafL nicht mehr au1:1 der theolo-
gischen Emanzipation zog, sondern sich an die schon 'geschehene politische, kul-
turelle oder gesellschaftliche Emanzipation anschloß, um jene Allgemeinheit zu
bewahren, die sich in den internen theologischen und kirchenpolitischen Kämpfen
nicht einstellen wollte.
Aus der Unterscheidung von Christentum und Kirche bezog H. VON SYBEL seine
Argumente gegen die christlich-germanische Staatslehrell 9 und für den Rechtsstaat,
der der irdische Abglanz des christlichen Willens und zugleich das uranfänglioho ZioZ
des germanischen Gemeinwesens sei120• Es war dies die Konsequenz einer Theorie
der Zeit, für die die sit~liche Bildung ••• noch andere Organe hat als die kirchliche und
einen geistigen Inhalt von außerkirchlichem Wesen. Deshalb konnte das Recht nicht
an kirchliche Orthodoxie gebunden werden, wie in der christlich-germaniRchen
Schule. Der Fortschritt an Humanität und Sitte, den der Rechtsstaat politisch ein-
holte, wäre undenkbar, wenn das Verschwinden des konfessionellen Geistes und der
Sturz der Kirchenherrschaft über Staat und ·Gesellschaft zugleich auch ein Absterben
religiöser Gesinnung bedeutet hätte. Daß die neuen Bestrebungen des Menschengeistes
die geschichtliche Fortentwicklung des Christentums sind, nicht aber der revolutionäre
Sturz desselben, mußte gegenüber der kirchlichen Gesinnung genauso verteidigt
werden wie gegenüber der radikalen Religionskritik. Das war jetzt der Kern des
Kampfes um den Begriff 'Christentum'. Sybel suchte dessen Gehalt so für den Staat
zu reklamieren, daß der Staat nicht zum Missionär gewisser theologischer Dogmen
und zum Handlanger geschlossener kirchlicher Gesellschaften werde, sondern die sitt-
liche Grundaufgabe des Ohristentums121 in seiner Verfassung nach den Bedürfnissen
jeder Kulturstufe und Nationalität auf selbständige Weise ergreife. Diese Sprache war
dem allgemeinen und emanzipativen Begriff des Christentums verpflichtet und
suchte seine Weite vor jenen Tendenzen der politischen und religiösen Orthodoxie
zu schützen, die das Christentum allein für sich beanspruchte.
Mit der Wendung zum Nationalen, das als Drittes gegen Kosmopol~tismus und
802
Christentum
Individualismus gestellt wurde, wies der Begriff des christlichen Staates bei
HUNDESHAGEN122 in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Sittlichkeit
bildete das entscheidende Kriterium für die Christlichkeit des Staates. Der christliche
St,aa,t ist nicht der streng und ausschließlich konfessionelle ..• sondern der sittliche
St,aa,t im Gegensatz zum bloßen Rechts- oder Polizeist,aa,t. Damit war einmal eine·
Stellung bezeichnet, die sich gegen Mechanismus und äußere Legalität stellte und
für den lebendigen Gemeinsinn plädierte. Die Ohristlichkeit des Staates beruht
wesentlich auf seinem Okarak/,er als sittliche Lebensgemeinschaft. Sodann wies der
Begriff darauf zurück, daß der Staat auf das Christentum angewiesen war. Damit
wurde die allgemeine Bedeutung des Christentums in die Gegenwart eingeholt,
indem der Staat auf die fortdauernde Einwurzelwng in den Elementen der christlichen
Religion hingewiesen wurde um seiner eigenen Existenz willen. Denn der ganze
Umst,and sittlicher Begrifje, auf dem die heutigen zivilisierten St,aaten ruhen, sei ein
Eru'Ul]nis des OkristenturM. Was für den Staat das Christentum empfehlenswert
machte, war zugleich die aktuelle Bedeutung seiner protestantischen Fassung,
'Sittlj.chkeit' und 'Kirchlichkeit' waren Begriffe, die sich ablösten und das Epochen-
schema ausdrückten, das nun nicht mehr unmittelbar im Verhältnis der Konfessio-
nen nacheinander in .Anspruch genommen wurde, sondern neutralisierl durch die
sittliche Bestimmung des Staates. Auch Hundeshagen diente der Begriff des christ-
liohon Stao.tcs B1l1' Beruhigung der politisch-theologischen Kämpfe. Hintergrund
war eine Geschichte des Antichristianismus, den er bis hin zu den Linkshegelianern
betrachtete in seiner Bedingtheit durch die Piida,gogik des Polizeistaates12 3. Dieser
nämlich hatte die deutsche Entwicklung zu Extremen getrieben, die neben der
kirchlichen Reaktion einen eigenen endemischen Antichristianismus hervorbrach-
ten124. So wurde der Staat nicht einfach gegen den Antichristianismus zu Hilfe
gerufen, sondern der bessere, nämlich der christliche und sittliche Staat wurde
angerufen gegen den schlechten, den Polizeistaat, der die Schuld an den anti-
christlichen Bewegungen der Zeit hatte. Der christliche Staat nahm jene überpartei-
liche Allgemeinheit in der Praxis wahr, die den sittlichen Ideen des Christentums
selbst innewohnte. Zugleich befreite er den Bürger aus der Privatheit einer aus-
sckUeßlick literarischen Existenz, die symptomatisch war für jenen auch von RoTHE
beklagten Rückzug in die Privatheit, wo der Staat keinen Reiz zum lebendigen
Ergreifen des Nationalen bot126• Eben dies Nationale aber war der Begriff, in
dem die Bestimmung des Staates und die des einzelnen Subjekts in ihrem Lebens-
zusammenhang ausgedrückt werden sollte und, als Reflex der Befreiungskriege,
die Kontinuität· auch der religiösen Bewegung im Einklang mit der politischen
111 HUNDESlliGEN, Der deutsche Protestantismus (s. Anm. 93), 321. 326 f. 328. 329.
111 Ebd., 171 ff.
lH Ebd„ 131 ff.
116 Ebd„ 148. 141, vgl. 137; RICHARD ROTHE, Zur Orientierung über die gegenwärtige
Aufgabe der deutschen evo.ngelisohon Kircho (1861), in: Ges. Vorträge u. Abh. (Elberfeld
1886), 3 f., wo es heißt: Statt eines christlich-nationalen Lebens sei die religiöse Kraft
wieder in die Enge der rein privatUchen Lebenskreüe konfiniert. Das Christentum konnte
nicht am ataatlichen Gemeinwuen Anhalt finden, und Rothe folgerte daraus die Ab-
wanderung der Frömmigkeit in das private Christentum des Pietismus, in das sich die
nationale Bewegung geflüchtet ha.be. Aber der Pietismus kann kein Volkschristentum Bein.
803
Christentum IV. 3. Der Begriff des christlichen Staates - fortschrittlich
festgehalten wurde. Nationalität des Staates bedeutete dann aber, daß das Subjekt
in ihm einen festen, seine Bedürfnisse als sittliches Individuum bindenden Ort
hatte. Damit wurden die weitergehenden Kräfte der Kritik positiv begrenzt. Diese
antikritische Funktion des Nationalen verband sich bei Hundeshagen mit der
christlichen Legitimation des Staates, die zugleich die Bedeutung war, die der
Protestantismus als politisches Prinzip hatte12 s. ·
Den Konflikt zwischen dem allgemein menschheitlichen Begriff des Christentums
und seiner widersprüchlichen individuellen Rezeption und institutionellen Reali-
sierung hob RICHARD RoTHE127 auf in die Idee einer weltgeschichtlichen Entwick-
lung des Christentums, deren Ziel der christliche Staat war als die allgemeine mensch-
liche, d. h. religiös-sittliche Gemeinschaft, damit zugleich Vollendung des Begriffs
des Staates überhaupt. In seiner den Geist des spekulativen Idealismus atmenden
Theorie der Christentumsgeschichte wurde die von den Linkshegelianern pro-
klamierte Ablösung des Christentums überboten. Rothe verwendete den Begriff
'Christentum' konsequent unterschieden von dem der 'Kirche' als rein religiöser
Gemeinschaft. Diesen Unterschied aber hatte erst die Reformation realisiert, sie
war der Wendepunkt, mit welchem das Christentum seine kirchengeschichtliche
Period,e durchbricht und in 8eine poiiti8ch-gC8chichtUche hinüber8chreitet. Die Wirkung
der Reformation auf die kirchlich-einheitliche Faeeung des Christentums, sonst
Grund zur Klage für katholische oder lutherisch-orthodoxe Stimmen, trat jetzt
erst hervor. In der Reformation selbst war nur im Prinzip erkannt worden, daß die
Kirche als Notbehelf zu gelten habe. Für die Gegenwart aber gelte das Hinau.~
brechen des Christentums aus der Kirche auf das Gebiet des an sich Sittlichen, um auf
ihm die Fahne des Oliristentums aufzupfianzen für alle Zukunft128• Diese Geschichts-
theorie gab so einen Aspekt auf die Zukunft frei, der von dem Anspruch befreite,
jenes allgemeine Christentum gegenwärtig vollends wahrnehmen zu können. Rothe
gab nicht das Prinzip der Aufklärungstheologie preis, aber er befreite es aus. der
Enge der individuellen Fähigkeiten, indem er es mit dem Staat verband. Im Prozeß
der Verwirklichung des christlichen· Prinzips wurde der Staat „christianisiert"
und „entsäkularisiert". Auch wenn ein Nebeneinander von Staat und Kirche ge-
dacht werden mußte, so war die entwicklungsleitende Tendenz doch diese Ent-
säkularisierung des Staates und das Zurücktreten der Kirche, mit der Rothe
bereits 1838 Aufsehen erregte129• In demselben Verhältnis, in welchem sich der
b,g. v. Daniel Schenkel u. Johannes Bleek, Bd. 2 (Elberfeld 1869), 71 f.: Die Kirche sei ein
vorübergehender Notbehelf, die Welt selbst, das gesamte menschliche Leben soll das Ge-
biet der christlichen Gemeinschaft bilden.
ue RoTHE, Die Anfänge der christlichen Kirche und ihrer Verfassung, Bd. 1 (Wittenberg
1837), 85.
804
IV. 3. Der Begriff des christlichen Staates - fortschrittlich Christentum
Staat· e'lllsäkularisierl, säktilarisiert 8Wk die Kirche, d. k. sie triU als pt"ovi,sorischer,
imrMr ungenügender we;rdender Notbau /Ü'I' den ckristlwhen Geist zurück. Dieses
Gefälle qualifizierte die Christentumsgesehichte. Im christlichen Staat normali-
sierte sieh das christliche Leben, weil das Nebeneinanderbestehen des religiös-
kirehliehen und des weltlichen Prinzips des Christentums aufgehoben wurden.
Der Staat, dem solches Prädikat „christlich" zukam, war der Kulturstaat, das Ziel
der KuUurgesckiclde der Menschheit, dem die Geschichte über die Epochen der
katholischen oder kirchlichen Zeit und die prot.estantische oder staatlwhe, weUlwke,
siulwhe politische Zeit entgegenging130• Der Protestantismus konnte so voll und
ganz für jene Emanzipation in Anspruch genommen werden, die doch zugleich seine
kirchliche Zuständigkeit überschritt. Diese Emanzipation als Bewußtsein der Mün-
digkeit war der Gegenwart aufgegangen und als eigentlich rMnsckliche Aufgabe
"bewußt geworden, wenn auch mehr erst der Tendenz nach als schon tatsäcklick1B1.
Das gab Rothe Anlaß, alle konkreten Bestimmungen der Sittlichkeit des politi-
schen, gesellschaftlichen, industriellen Lebens in seine Gesamtperspektive auffo-
nehmen. Aber die Tendenz bedurfte der gegenwärtigen Subjekte, in denen siebe-
wußt wurde und die die Träger solchen Geschichtsverlaufs sein konnten. Hier trat
für Rothe das Problem auf, wie sich die Theorie des christlichen Staates mit der
Christlichkeit seiner Bürger vereinigen ließ, wenn dlese nicht allgemein war oder
doch nicht allgemein bewußt. So wurde Rothe zu Erklärungen über das Christentum
außerhalb 1for Kirr.he gefiihrt., nie nie Tra.gweit.e des Ilegriffs beleuchten können.
Das Christliche steckt demjenigen Teil der Menschheit, den wir die Ch'l"istenheit nemwn,
schon im Blut, nämlich als die konkret geschichtlich gewordene und so nur durch das
Christentum gewordene Welt132 • Doch die Frage blieb, ob Rich die weltgeschicht-
liche Tendenz zum christlichen Staat auch im künftigen Bewußtsein realisieren
würde. Darum gehe der gegenwärtige Kampf, in dem diese Theorie ihre Stimme er-
hebe und ~en sie zu bestimmen suche. Rothe formulierte den Gedanken eines
„unbewußten" Christentums, das der Aufklärung darüber harrte, was es schon war,
und stellte es in polemische Beziehung zum kirchlichen: Die Kirche kielt diese
moderne Bildung für eine unchristliche, weil das Christliche in ihr nickt das bisher
altherkömmliche Gewand des Christlichen trug, sondern im Hausrock des einfach
Menschlwhen einherging, und das katt,e dann freilich für die junge, über sich noch
höchst unklare Kultur die sehr üble Folge, daß.sie sich selbst ihrer wesentlichen Christ-
lichkeit gar nicht eigentlich bewußt wurde1 33• Die Dialektik, die darin ausgesprochen
wurde, markierte das Dilemma, in dem sich solche Theorie hinsichtlich der Praxis
befand. Rothe mußte fordern, daß die Menschen gleichsam geschichtsbewußt ge-
macht würden, aber das nächstliegende Instrument solcher Bewußtseinsbildung,
die Kirche, kam gerade nicht in Frage. Vergleicht man die Situation mit der bei
Marx gegebenen, der das Proletariat klassenbewußt zu machen suchte, um dem
Subjekt der geschichtlichen Entwicklung der Zukunft zu sich selbst zu verhelfen,
so lagen die Dinge bei Rothe gänzlich anders: Zwar bedurfte die Differenz von
Tendenz der Geschichte und Bewußtsein von ihr der Klärung, aber weil der Abb8'.u
805
Christentum IV. 4. Der Begriff des christlichen Staates - konservativ
parteilicher Wahni.ehmung der Weltgeschichte im Prinzip lag und dieses als gegen-
wärtig schon wirksames im christlichen Staat gesehen wurde, konnte es keine
kämpferische Bewußtseinsbildung geben. Die einzige Position, die Rothes Theorie
in der Praxis fand, war die des Vereinslebens im „Protestantenverein", dessen
Gründung er 1863 seinen Segen gab134• Während Rothe aber auf den Gang der
Gesohiohte vertraute, bewegte eioh der Verein vorwiegend in kireheninternen Aus-
einandersetzungen, auch weJin er von ihm das Thema übernahm, das Christentum
im Zusammenhang der Kulturentwicklung zu begreifen1 3 5 •
Rothes Theorie vom christlichen Staat faßte noch einmal alle Motive des allgemei-
nen und emanzipativen Begriffs des Christentums zusammen. Ihre ausdrückliche
Gefolgschaft war klein. Auf sie, d. h. auf Überzeugungsträger aber stützte sich die
gegenläufige Theorie des christlichen Staates, die Stahl im Streit der Parteien und
bewußt parteilich vortrug.
ia 4Vgl. RoTHES Rede auf dem ersten Protestantentag, in: Ges. Vorträge (s. .Anm. 125),
129 ff.
185 Vgl. dazu die Schrift DANIEL SCHENKELS, des Gründers des Protestantenvereina:
806
IV. 4. Der Begriff des cluistlicheu Staates - komervati't' Christentum
Gegensätze. Wo das liberale Denken zu vermitteln suchte, forderte Stahl den Kampf,
um diejenigen, die unter dem Schein des Ohristentums einhergingen, indem sie dem
.Ohristentum einen anderen Sinn und I nhaJJ, go.bon, zu ontlo.rvon. Christon waren
eindeutig nur die Anhänger der kirchlichen Partei, alle anderen waren Rationa'listen,
Deisten, Pantheisten, Atheisten138• Und so bekam auch die aktuelle Bewegung der
Emanzipation, die des Sozialismus, einen theologischen Namen, die Emanzipation
des Fkisches und der Kampf gegen sie enthielt Züge des Weltgerichts. Der Kampf
mit der Revolution war nicht ein Kampf bloß weltgeschichtlicher Faktoren, sie war
ein Kampf der ewigen Mächte, sein Ausgang ein Gericht nicht bloß für die Zeit,
sondern für die Ewigkeit. Stahl sah im Sozialismus die grauenhafteste Verirrung der
Emanzipation und sprach damit aus, was in der Folgezeit bestimmend wurde für
die Auseinandersetzung der Kirche mit der neuen sozialen Bewegung. Wo nicht
mehr der allgemeine Begrüf des Christentums leitend war, sondern allein die Kirche,
wurde der religionspolitische Str.eit in jene absoluten Gegeni1ii.tze gezogen, cfü1 nir.ht
überwunden werden konnten, sondern bei denen es nur· noch darum gehen konnte,
Menschen zum Übertr.itt von der einen Partei zur andern zu bewegen. Die Änderung
der sozialen Verhältnisse war dann eine Funktion in diesem weltgeschichtlichen
Parteikampf. Das besondere Problem dieser Position des christlichen Konservatis-
mus lag darin, sich als protestantisch zu rechtfertigen. Hatten die bisherigen
Proteota.ntiamuadoutungcn ihn vor allem mit den progressiven Kräften zusammen-
gebracht, so mußte dietie dezidiert antifortschrittliche Haltung eine Unterscheidung
vornehmen, die das Modell für die neulutherische Zweireichelehre wurde. Stahl
wehrte sich dagegen, den Protestantismus genealogisch mit der Aufklärung zu
verbinden139• Er unterschied zwischen der echten Freiheit deti Glaubens und der
falschen Freiheit. Die protestantische Emanzipation bewirke keine äußerliche sicht-
bare Autorität, habe keine im öffentlichen Leben aufgerichtete Objektivität. Eine neue
Epoche sei der Protestantismus gerade als das Hinausführen über die menschliche
Autorität zu göttlicher Autorität und von Gott gesetzter Ordnung. Deshalb durfte der
Protestantismus nicht politisch reklamiert werden; die Pointe bestand darin, daß
damit die Überhöhung einer den Menschen nicht nur aktuell, sondern prinzipiell
nicht verfügbaren Autorität GotteS ausgesagt wurde, die der Staat wahrzunehmen
hatte. Mit Stahl hatte der Begriff des christlichen Staates jene Konturen des zeit-
genössischen Parteikampfes angenommen, die einer Gegenposition entsprachen, die
im Christentum die Macht der vergehenden Welt sah. Von der anderen Seiteaus
mußte darum jeder Fortschritt zu Lasten des Christentums gehen.
807
Christentum V. 1. Das Ende des Begriffs im Sozialismus
V.
1. Die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus:
das Ende des Begrift's im Sozialismus
ao KA.m. Milu:, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung (1844), MEW
Bd. 1 (1957), 378.
1 41 BRUNO BAUER, Das entdeckte Christentum, eine Erinnerung an das achtzehnte Jahr-
hundert und sein Beitrag zur Krise des neunzehnten (Zürich 1843), Ndr. hg. v. Ernst Bar-
nikol (Jena 1927). Der Titel verweist zurück auf HoLBACHS Le ohristi&nisme devoile (Lon-
don 1756), dieses wiederum auf JoH. ANDREAS EISENJ\IENGER, Entdecktes Judentum
(Frankfurt 1700). Vgl. MARTIN ScillDDT, Art. Deismus, RGG 3. Aufi., Bd. 2 (1958), 67.
l&B Zu Engels' Entwicklung vgl. KARL KUPISCH, Vom Pietismus zum Kommunismus
(Berlin 1953).
808
V. 2. Die ehrisdich~aoziale Bewegailg Chriateatum
Hier wurde der Begriff des 'Christentums' wieder auf seine primär kirchliche
Fassung zurückgedrängt.
JOHANN HINRICH WICHERN suchte für die Innere Mission die große nationale Basis
als innere Vollendung der Nationalität, die sich im christlichen Sozialismus als eine
höhere Einheit vollenden sollte. Dieser Sozialismus wurde formuliert für die tragen-
den Kräfte in Kirche und Staat. Nichts ist patriotischer als das Ohristentum143•
Im selben Jahre 1847 hatte MARx dem Christentum schon den Abschied er-
teilt, wenn er. dagegen erklärte: Die sozialen Prinzipien des Christentums sind
duckmiiuserisch und das Proletariat ist revolutionär1 44 • Dieser Gegensatz be-
stimmte Wicherns Lebenswerk, die bloß kirchliche Armenpflege zu einer Bewegung
zusammenzufassen, die als Ganze die Rettung der unchristlich gebliebenen und wieder
antichristlich gewordenen Massen zum Ziele hatte. Der revolutionären Bewegung
der Arbeiterschaft trat also eine defensive Bewegung zu ihrer Wiedergewinnung
entgegen, in der die OhristZichkeit des Staates und die OhristZichkeit der Kirche
in der Einheit der christlich-sozialen Idee zusammengefaßt waren145• Sie traten in
offenen Kampf gegen Sozialismus und Kommunismus, die als Bewegungen des
Separatismus den faZsohen Sozialismus vertraten, Die Begri.II1ichkeit Wir.herns
entsprach der von Stahl, jedoch wurde die politische Aufgabe der Kirche jetzt als
die christlich-soziale Aufgabe definiert und galt auch einer anderen Praxis. Gegenüber
der frühreifen, monströsen Karrikatur des Sozialismus entwarf Wiehern in seiner
Denkschrift146 das Bild eines interkonfessionellen und internationalen christlichen
Sozialismus, der sich in der neuen gesellschaftlichen Form der Assoziation kon-
kretisierte, in den Vereinen der Inneren Mission. Kirche und Staat waren vereint
in der Aufgabe, dem materiellen und inneren Pauperismus als der Gestalt einer
massenkaftenSünde entgegenzutreten. Die Denkschrift hatte den doppelten Zweck,
einerseits der Inneren Mission zu ihrem allgemeinen Bewußtsein zu verhelfen,
andererseits ihre Gestaltung in dem sich überschneidenden institutionellen Zu-
ständigkeitsgeflecht von Staat und Kirche zu rechtfertigen. Beide Absichten waren
charakteristisch für die Konfliktlage, der sich die christlich-soziale Begriffsbildung
ausgesetzt sah. Im Stile der Programmschrift suchte Wiehern die verstreuten
Unternehmungen der christlichen Liebeswerke in eine weltgeschichtliche Sendung
zu überführen, um so ihr gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Das war die Frucht
der Einsicht, daß auch der Kommunismus zur Idee der Arbeiter nur geworden war
durch systematische Lenkung und Taktik. Die christlich-soziale Bewegung mußte
aus dem unbewußten ins bewußte Stadium überführt werden147 • In der Gestaltung
aber war sich Wiehern des möglichen Konflikts mit den legitimen Institutionen des
ue Ders., Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die
deutsche Nation (1849), SW Bd. 1, 271.
u 7 Ders., Der Kommunismus und die Hilfe gegen ihn (1848), ebd., 135 f.
809
Christentum V. 2. Die christlieh soziale Bewegung
0
Staates und der Kirche bewußt, deren Sorge gegenüber dem neuen Prinzip der
Assoziation er durchgehend zu beschwichtigen suchte. Er tat das, indem er das
Ziel der Wiederherstellung angab, als eine Zukunft der Normalität, die die Selbst-
aufwsung der Inneren Mission zugunsten der Ordnung der Kirche in ihrem Ver-
hältnis zum Staat bringen sollte148 • Erst auf diesem Hintergrund wird verständlich,
warum die christlich-soziale Idee jene Allgemeinheit nicht erlangen konnte, diei
Wiehern vor Augen stand. Sie war der Begriff eines kirchlichen Ausnahmezustandes
geworden, 'der außerordentliche Aktion verlangte und damit auf seine eigene Über-
windung und Aufhebung drängte. Je mehr dieser Ausnahmezustand durch den
drastisch erkannten Gegner bedingt erschien, um so weniger konnte er für die Kräfte
der Normalität attraktiv sein. Der konservative Lutheraner VILMAR sah denn auch
die socialen Neuerungen der Gegenwa'f't ... teils als Prüfungen, teils als Versuchungen
für die .Kirche an1411• Zwar dürfe es nicht für unmöglich erklii'f't werden, auch die neuen
gesellschaftlichen Verhältnisse wie die „Assoziation" mit einem chrisaichen Geist
zu erfüllen, was aber bei weitem schwieriger sei als alle sonstigen Aufgaben der Kir-
che, die deswegen nicht vernachläeeigt werden dürften. Die veränderte und ver-
ändernde christlich-soziale Praxis zielte letztlich auf die Wiederherstellung eines
Zustandes, dessen Zerstörung eine solche Aktion erst nötig machte: sie war darum
efu.e Aktion der Bewahrung. Diese Zielsetzung aber trat der geforderten Praxis in
den Weg, weil diese nur vorübergehend war und sich das theoretische Fundament
versagen mußte, deeeen sie bedurfte. Die Widersprüchlichkeit wurde deutlich, als
Wiehern, der selbst die Assoziation als die gesellschaftliche Form der christlich-
eozialen Idee formuliert hatte, doch den Gegensatz von Gesellschaft und Gemeinschaft
feststellte, wobei die Ge~ellschaft diejenige war, die aus lauter solchen einzelnen besteht,
die sich nur zufällig und vorübergehend zusammenfinden, die Gemeinschaft aber
substantiell gedacht war, wo einer Glied am Ganzen sei und die allein im christlichen
Sinn liege160• Das Verständnis des Gesellschaftlichen als vorübergehendes Moment
hat der christlich-sozialen Praxis einen Makel im kirchlichen Bewußtsein vermacht,
der eich mit dem Gefühl verband, es hier mit einer Praxis zu tun zu haben, die von
einer unchristlich gewordenen Zeit der Kirche aufgedrängt wurde und ihrem Selbst-
verständnis widersprach. Die negative Genealogie der eozialenFrage, in die auch die
Aufklärung und ihre theologischen Folgen einbezogen waren, mußte eo den christ-
lichen Appell mindern und ließ als Subjekt dieses christlichen Sozialismus nur die
Kirche übrig. Als kirchliches Werk hat denn auch die von Wiehern machtvoll ge-
schürte Bewegung ihren geschichtlichen Weg genomin.en.
810
V. 3. Von 'ebrisdicb sozial' zu 'national 11ozial'
0 0 Cbri11lllntum
811
Christentum VI. Ausblick
Die begriffliche Unsicherheit hinsichtlich der christlichen Praxis, die die zweite
Hälfte des 19. Jahrhunderts gebracht hat, spiegelte sich in dem Übergang FRmn-
RICH NAUMANNS von der Formel „christlich-sozial" zu einer De:finition156, die sich an
die Spitze der Entwicklung zu setzen suchte und dem Christlichen nicht die Funktion
des erhaltenden Dammes, sondern der kommenden Gestaltung zuwies. Die Christ-
lich-Sozialen sollten nicht die Zweige am konservativen Baum sein, sondern ständen
für ein neues Bewußtsein. Die christlich-soziale Zeit kommt erst nach der sozial-
demokratischen Zeit und die christlich-soziale Satzbil.dung habe erst begonnen. Doch
die von der konservativen Fassung übernommene normative Wesensbestimmung,
die einen einseitig überlegenen Gehalt formulierte, bewirkte bei dem, der sich von
der alten Ordnung zu emanzipieren suchte, daß er die Normativität des Christen-
tums allein in seiner Anfangsgestalt, dem Jesus der Zeit Palästinas sehen konnte.
Stand die Gegenwart aber unter den Forderungen einer Gesamtpolitik (Weber),
in die auch das Soziale eingeordnet werden mußte, dann wurde diese Gesamtheit
von Christentum nicht mehr erreicht. Die neue Formel wurde darum manifest
in der Gründung des „National-Sozialen Vereins" (1897).
VI. Ausblick
Das dem allgemeinen Begriff des 'Christentums' zugehörige Begriffsfeld wurde
unter den Wirkungen der radikalen religionsfeindlichen wie der auf sie reagierenden
konservativen· Bewegung in seiner aktuellen Bedeutung zersplittert in parteiähn-
liche Standpunkte. In der bürgerlichen Bildungswelt wurde die Distanz zum ge-
schichtlich gewordenen Christentum durch die Kritik NIETZSCHES beeinflußt, die
ihre Emanzipation als eine vom Christentum überhaupt aussprach. Hier stellte
die Freiheit ihre Stärke gegen die Geburt des Christentums aus dem Geiste des Ressenti-
ment167 gegen ein Christentum, in dem die Instinkte U nterworfner und Unterdrückter
in den Vordergrund treten. Nietzsche sah in der Empfind,ung für das Christentum
das Kriterium dafür, ob jemand, zu uns gehiYrt oder nicht ... : Steht er irgend,wie
and,ers zu ihm als kritisch, so gehörte er nicht auf die Seite der Emanzipation168•
Wo das Christentum für die gegenwärtigen Verhältnisse in Anspruch genommen
wurde, war die Aufklärung verschleiert und regierte die Heuchelei: Man fordert
ein Deutschtum aus reichspolitischer Besorgnis und ein Christentum a'lls sozialer
Angst, in der die Nation ihr Gesicht in deutsch- und christentümelnd,e Falten Zegt169•
Die Kritik richtete sich gegen jede öffentliche Geltung des Christentums. Das
Christentum ist möglich als privateste Daseinsform; es setzte eine unpolitische Gesell-
schaft voraus. Ein „christlicher" Staat, eine „christliche Politik", dagegen ist eine
der einzelnen, es bedarf erst der tTberwindung der Ketten-Krankheit. Das .Christentum ist
daran zugrunde gegangen, daß es zu zeitig die Befreiung von den Ketten auf sein Banner
schrieb; ebd„ 1006.
ue Ebd„ Bd. 1, 843.
812
VI. Ausblick Christentum
Schamlosigkeit, eine Lüge160. Bei Nietzsche wurde die Unterscheidung von Christen-
tum und Kirche überboten durch eine neue, radikalere, indem das wahre Christen-
tum. des Ursprungs und die Wclt des Christentums prinzipiell getrennt wurden.
Das Wort 'Christentum' schon sei ein Mißverständnis -, im Grunde gah es nur einen
Christen, und der starb am Kreuz ... Das Christentum ist etwas Grondverschiedenes von
dem gewQ'fden, was sein Stifter tat und wollte1 61 • Die historische Differenz zum .Anfang
des Christentums sollte als radikale und unüberbrückbare namhaft gemacht wer-
den. Damit wurde der Prozeß der Aufklärung, wie er sich in der Begriffsgeschichte
spiegelt, noch einmal eröffnet. Das war schon die Tendenz der Christentumskritik
KIERKEGAARDs162• In der „Christenheit" sind alle Christen; wenn alle Christen sind,
dann ist eben damit das Christentum des Neuen Testaments nicht mehr da, ia es ist
unm/Jglick. Die Versuche, auf dem Boden der neuzeitlichen Welt jene Differenzie-
rung der christlichen Überlieferung zu formulieren, die das Christentum als gegen-
wärtige Welt begreifen läßt, kamen zu einem Ende, an ifom - die Orthodoxie
noch überbietend - der Gegensatz des wahren Christentums zu seiner Gegenwart
radikal behauptet wurde. Noch in der Kritik aber sprach sich die Einsicht aus, daß
der Begriff des 'Christentums' nicht eine einzelne, bestimmte gegenwärtige Position
zu bezeichnen geeignet war.
Die allgemeine Struktur des Begriffs wird nur dort formulierbar, wo er von un-
mittelbaren politischen, sozialen oder religionspolitischen Absichten freigesetzt
wird. Nur als literarisches Ereignis konnte HARNACKS Wesen des Ckristentums1 88
der christlichen Bildungswelt noch einmal das Bewußtsein jener Allgemeinheit des
Begriffs vermitteln, mit dem die deutsche Aufklärung angetreten war. In der die
gesamte Christentumsgeschichte erfassenden historischen Dimension des Werkes
von ERNST TROELTSCH trat die Weite des Begriffs erneut hervor, jetzt aber nicht
thetisch als Position, wie in den klassischen Zeiten des liberalen Begriffs 'Christen-
tum', sondern in jener kritischen Analyse16', die die Einsicht in die wechselnden
Gehalte verband mit der Kraft einer solchen Vergegenwärtigung, die dem Recht der
Gegenwart den Vortritt ließ vor allen normativen Festlegungen der Tradition.
Ernst Troeltsch relativierte die Selbstverständlichkeit, mit der ein überlegenes
soziales Prinzip des Christentums allen anderen Gestalten der modernen Gesell-
schaft übergeordnet wurde durch die Definition seiner verschiedenen Typen, aber
auch durch das Aussprechen ihrer Gegenwartsschwäche165• Das Fazit der Sozial-
lehren· war die Einsicht in die problematische Lage aUer christlich-sozialen Arbeit,
des Themas: Was heißt Wesen cle11 Chr.istentwns ?, Ges. Sehr., Dd. 2 (Tübingen 1913), 186ff.
16 5 Ders., Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Ges. Sehr., Bd. l (Tü-
bingen 1912), 985. Das umfangreiche Werk war entstanden als Kritik an dem naiven nor-
mativen Bewußtsein der evangelisch-sozialen Bewegung, wie es vertreten wurde von MARTIN
v. NATHUSIUS, Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der soZia.Ien Frage (Leipzig 1895).
813
Christentum
wo sie noch nicht das Niveau der Gegenwart erreichte. Soll es eine christlich-soziale
Bemeisterung der Lage geben, so werden hier neue Ge,danken nötig, eine lebendig-
gegenwärtige Neugestaltung. Unter veränderten und sicher erschwerten Bedingun-
gen versuchte Troeltsch eine solche Verständigung über den Begriff 'Christentum',
die zugleich eine über die Gegenwart überhaupt ist. Dabei traten die :für den nur
kirchlichen Begriff des Christentums kennzeichnenden scharfen Konturen zurück.
Der Begriff wurde vielmehr nur indirekt für die soziale und politische Sphäre ins
Spiel gebracht. So sah Troeltsch das Verhältnis von politischer Ethik unil Ohristen-
tum166 durch zwei Tendenzen des Christentums bestimmt, das Christentum als
die Religjon des Personalismus und als Gedanke der Autorifiit; der ethisch begründeten
ÜberO'fdnungs- unil UnterO'fdnungsverhältnisse. Doch waren dies die beiden Begleit-
ge,danken der.zentralen christlichen Idee, darum nur von mittelbarer Verbindlich-
keit. In pol·it·isclum Fwmeln übersetzt heißt das: Das Ohristentum ist demokratisch
unil konservativ zugleich. Gegenwärtige Gültigkeit hatten diese Ideen nur, weil das
politisch-ethische Ideal selbst die Vereinigung des liberal-demokratischen unil des
konservativen Gedankens fwde'ft. In so bescheidenem Anspruch knüpfte Troeltsch
doch an die große Tradition des modernen Christentumsbegri:ffs an und suchte ihn
gleichsam von unten her, aus der Geschichte, neu zu konkretisieren. Die da.raus
folgende Begriffsbildung verließ das Gebiet der dogmatisch-theologischen _wie
kirchlichen Eindeutigkeit und markierte den vorläufigen Schluß der Geschichte
des Begriffs in seiner spezifisch neuzeitlichen Fassung. Die veränderte Situation des
theologischen und kirchlichen Bewußtseins nach dem ersten Weltkrieg negierte
die liberalen Grundlagen des Begriffs, verdrängte ihn weitgehend aus dem Sprach-
gebrauch und überließ ihn damit anderen Einflüssen.
(Abgeschlossen 30. 4. 68.) TRUTZ RENDTORFF
186 TROELTSCH, Politische Ethik und Christentum (Göttingen 1904), 24. 26. 29. 35. 43;
vgl. auch ders., Die Sozialphilosophie des Christentums (Zürich 1922).
814
Exkurs: christlich-sozial
1 HANS MAIER, Revolution und Kirche. Studien zur Frühgeschichte der christlichen Demo·
kratie 1789-1901(Freiburg1965), 103 f. 115; ANNETTE KUHN, Die Kirche im Ringen mit
dem Sozialismus 1803-1848 (München 1965).
2 JEAN FRAN90IS DE LAHARPE, Du Fanatisme dans la langue revolutionaire, ou de la
persecution sucitee par les barbares du dix-huitieme siecle contre la religion chrCtionne et
ses ministres (Paris 1797).
815
Exk11rs: christlich-sozial
Ndr. 1930), 499; ToRBEN ÜHRISTENSEN, Origin and Hist-Ory of Christian Socialism 1848-
1854, Acta. Theologica Danica, Bd. 3 (Aarhus 1962).
8 NEVILLE CHARLES MAsTERMANN, John Malcolm Ludlow. The Builder of Christian So-
(Jena 1931), 47; ders., Die christlich-soziale Bewegung in England (Leipzig 1883).
8 KARL GoTTLIEB BRK'rSCHNEIDER, Über die Unkirchlichkeit dieser Zeit im protestanti-
816
E~s: ebristlieh-sozial
bringen wollen, leistet auch das reine Christentum, wenn man es von der vergänglichen
Form, in welcher es die eine oder andere Kirche verfaßt hat, unterscheidet 9 • Bret-
schneider übernahm Saint-Simons Begriff des sozialen Priesters,. der die Verbindung
zwischen Gelehrten und Industriellen herzustellen habe. Mit seiner letztlichen
Ablehnung des Saint-Simonismus als „Jesuitismus" oder als „Mittel zur Beherr-
schung der Gesellschaft" schwand bei ihm die Vokabel „sozial". Obgleich sich
zwischen den Orthodoxen, Pietisten und Rationalisten eine heftige Diskussion zum
Thema „Christentum und Vergesellschaftung" entfachte, entbehrten bei ihnen
beide Begriffe den zu ihrem Zusammenwachsen erforderlichen Bedeutungsgehalt.
Als einer der ersten hat HEINRICH HEINE die Ohren der deutschen Öffentlichkeit
für das Wort „sozial" geöffnet. In seiner „Geschichte der Religion und der Philo-
sophie in Deutschland" (1834) versprach er, die großen Ereignisse allein von ihrer
sozialen Wichtigkeit her zu beleuchten10. 1845 berichtete K. MARX, daß das Publi-
kum mit Heißhunger nach allem greift, was nur das Wort 'sozial' an der Stirne trägt,
weil ein richtiger Takt ihm sagt, welche Geheimnisse der Zukunft in diesem Wörtchen
verborgen liegen 11 • Die Religionskritik des Sozialismus hatte die Reduktion des
Christlichen auf das Jenseits, auf das egoistische, individuelle, die Gesellschaft
atomisierende Heilziel zum Inhalt, wie auch die Gleichsetzung des Christentums mit
der alten ständischen Ordnung und ließ neue Synonyma für „christlich" entstehen;
einerseits individualistisch oder spiritualistisch, andererseits hierarchi.iich, pfäffisch,
knechtisch (Marx, Engels). „Christlich" wurde dabei einseitig vergeistigt oder mit
der bestehenden Gesellschaftsgliederung, d. h. mit der Reaktion identifiziert,
während „sozial" zur Beschreibung eines besseren, humaneren, freieren Zustandes
diente. Dabei blieb die Dialektik zwischen dem „wahren Christentum" und dem
herrschenden Christentum lebendig. ROBERT BLUM sprach von der „christlichen
Partei", welche das Volk als bloße Untertanen betrachtet und den Herrscher zum Volks·
vertreter Gottes auf Erden macht, im Gegensatz zu den „Männern des Evangeliums",
d. h. den Deutschkatholiken, nach denen vernünftige soziale Einrichtungen, öffent-
liches Leben und politische Freiheit des Volkes gerade mit dem Geiste Christi überein-
stimmen und die Verweigerung dieser Güter unchristlich sei1 2 • Erst durch Marx'
geschichtsphilosophische Absage an die frühsozialistisch-utopische Denkweise
reduzierte sich christlich zur historisch-deskriptiven Vokabel und schwand immer
mehr aus dem Mittelpunkt der sozialistischen Diskussion.
Im utopischen Sozialismus wurde der Versuch der Verschmelzung beider Begriffe
unternommen. MOSES HESS bezeichnete die wahrhaft menschliche Gesellschaft als die
Erfüllung all dessen, was uns im Christentum prophetisch und phantastisch in
Aussicht gestellt worden ist13• WEITLING behauptete, er wolle dem Christentum wieder
auf die Beine helfen. Damit will ich einer christlichen kommunistischen Religion auf
die Beine helfen, wenn dem Kommunismus eine solche nötig ist. Dabei diente ihm die
52-90385/1 817
Exkurs: ebrietllch.sozial
christliche Urgemeinde als utopischer Vorentwurf11• Hinzu trat das Verlangen nach
einer wissenschaftlichen Begründung des 'Überga:v.gs von einer theologischen zu
einer sozialen Gesellschaftsvorstellung. Nach GRÜN erschien die Theologie in
Deutschland auf dem Maskenball des Lebens, und wenn man ihr am anderen Morgen
die Larve herunterzieht, so steht die soziak Weltanschauung vor uns16 • In diesem z. T.
auch politisch bedingten Versuch der Trennung der Bereiche lebte geistesgeschicht-
lich die idealistische Scheidung von Religion und Sittlichkeit weiter18• Während
Grün der Tarnbezeichnung „christlich" ein baldiges Ableben prophezeite, befürch-
tete BIEDERMANN eine mögliche Usurpierung des soziakn Gedankens durch das
Ohristentum17. Die Deutschkatholiken und protestantischen Lichtfreunde haben
die praktische Nützlichkeit der Wortverbindung erwogen. Aus Furcht vor Zensur
und Polizei schreckten sie vor dem programmatischen Gebrauch von „sozial"
zurück, während sie „christlich" vor allem „der Praxis halber", d. h. der Masse
zuliebe, beibehielten. Die Prägung „christlich-sozialistisch" findet sich bei Kampe,
dem Historiographen der Deutschkatholiken, allerdings nur zur Beschreibung
älterer, religiöser Gemeinschaftsformen18• Für die Begriffsbildung ist bedeutungs-
voll, daß die „freien" Gemeinden ähnlich wie die Junghegelianer zwischen dem
jetzigen Christentum und dem christlichen Geist einer humanen Religion oder einer
sozialistischen Theokratie unterschieden.
Die Drücke zu Baaders Begriffsprägung hat die Romantik geschlagen. Die Frage
nach der Begegnung zwischen Christentum und Gesellschaft19 stand bei Ritter
VON Buss im Vordergrund, als er die Trennung von „sozialen Dogmen" und christ-
licher Lehre durch einen „Gesellschaftsglauben" zu überwinden suchte. Die
romantischen Gesellschaftslehren von Adam Müller, Friedrich Schlegel und Joseph
Görres haben die geistige Atmosphäre mitgeschaffen, die die Wortprägung Baaders
ermöglichte.
In seinem Aufsatz von 1834 „'Über den Evolutionismus und Revolutionismus oder
über die positive und negative Evolution des Lebens überhaupt und des sozialen
Lebens insbesondere", prägte BAADER den Begriff 'christlich-sozial'. Das Ohristlich-
Soziak ist ein geistiges Prinzip, dessen Unterdrückung den revolutionären Zustand
der Gesellschaft notwendigerweise zur Folge hat. Weder politische noch soziale
Maßnahmen im materiellen Sinne, sondern allein die Freisetzung des christlich-
soziakn Prinzips in Gesinnung und. Erkenntnis könnte die Revolution in evo-
lutionäre Bahnen lenken und damit eine gründliche Restauration der Sozietät
herbeiführen 20• Eine Rückkehr zur Gütergemeinschaft der ersten Christen, wie sie
H ERNST BARNIKoL, Weitling der Gefangene und seine „Gerechtigkeit" (Kiel 1929), 121.
15 KARL GRÜN, Theologie und 'Sozialismus, in: Rhein. Jbb. z. gesellschaftlichen Reform
2 (1846), 22.
18 H.uo HOLBORN, Der deutsche Idealismus in sozialgeschichtlicher Beleuchtung, Hist.
Zs. 174 (1952), 359 f.
17 KARL BIEDERMANN, Der praktische Sozialismus, in: ders., Unsere Gegenwart und Zu-
kunft, Bd. 2 (Leipzig 1846), 239. .
18 FERDINAND KAMPE, Das Wesen des Deutschkatholizismus mit besonderer Rücksicht
auf sein Verhältnis zur Politik (Tübingen 1850), 103.
1e Som.E!XR.MACHER, Über die Religion (Berlin 1799).
• 0 FRANZ v. BA.ADER, Gesellschaftslehre, hg. v. Hans Graßl (München 1957), 209.
818
E:dmn1 cbri.tlfoh.eoziaJ
21 WILH. EMANUEL Flra. v. KETTELER, Die großen sozialen Fragen der Gegenwart (Mainz
1849), 16.
22 WICHERN, sw Bd. 1 (1962), 85.
23 OSWALD v. NELL-BREUNING, Mitbestimmung (Landshut 1950), 67 f.
Christlich-Sozial, Reden u. Aufs„ 2. Aufl. (Berlin 1890), 227. - Auf einem Wahlplakat
der christlich-sozialen Partei zur Reichstagswahl 1903 hieß es: Katholiken und Proteatan-
ten/ Vereinigt euch in brüderlicher Liehe gegen den Todfeind des Deutschtum11, dsn Juden-
kapitalismus und die aaiatiacke Geldmaral •• „ indem Ihr alle .. . für diejenige Partei eintretet,
'IJcm wcloher daa fremde Pamaitenvolk mit EntschJ,osaenheit und naek Gebühr bekämpft wird;
zit. PETER v. PoLENZ, Geschichte der deutschen Sprache (Berlin 1970), 165 f.
819
Euurs 1 christlioh-sozial
Riitsel der sozialen Fra,ge zu bezeichnen und zu lösen, wie dieses 24• In Stöckers rein
politischem Verständnis des Christlich-Sozialen sah WAGENER eine Verengung
der christlich-sozialen Fra,ge. Nach Wagener soll die christlich-soziale Bewegung,
einschließlich der katholischen und jüdischen Richtungen, nicht als Mittel zum
Zweck der Staatserhaltung, sondern ausschließlich als Selbstzweck verstanden wer-
den. Nicht der falsche Begriff des christlichen Staates, sondern die Kirche soll dem-
nach die Grundlage der christlichen Aktion sein 25• FRmDRICH NAUMANN gab
zunächst auf die von ihm selbst gestellte Frage Was heißt christlich-sozial? die
Antwort: Eine Seelenbewegung, die unmittelbar an das Tun undLebenJesu anknüpfe.
Nicht in christlich-sozialen Programmen, sondern im christlich-sozialen Geist, in
christlicher Bruderliebe, verwirkliche sich das Christlich-soziale. 1892 meint er
noch, die christliclt-soziale Zeit kommt erst nach der sozialderrwkratischen Zeit 26• An
die Stelle des 'Christlich-sozialen' trat für ihn seit 1895 das 'National-soziale'.
KAISER WILHELMS II. Telegramm christlich-sozial ist Unsinn, Stöckers Austritt
aus dem Evangelisch-sozialen.Kongreß zugunsten eines neu gegründeten kirchlich-
sozialen Kongresses und Naumanns Gründung des national-sozialen Kreises - alle
drei Ereignisse im Jahre 1896 - bezeichnen das Ende der alten evangelisch-sozialen
Bewegung, die sich zum Begriff christlich-sozial bekannte.
Die Abwendung Naumanns vom christlich~sozialen Gedanken war charakteristisch
für ilie zwiespältige Haltung zum Christlich-sozialen im evangelischen Christentum.
Naumann sprach damit nicht nur sein Bekenntnis zur nationalen Machtpolitik
aus. Er machte ernst mit der besonders von R. Sohms vertretenen Theologie, die
eine strikte Trennung von Geist und Recht forderte. Als Reaktion auf diese radikale
Trennung von christlicher Botschaft und Weltgestaltung fanden sich seit der
Neuorientierung der Kirche nach 1919 Vertreter einer Synthese. In den 20er Jahren
waren vor allem die Gedanken P. T1LLICHS wirksam, der Christentum und Sozialis-
mus als gegenwartslebendige Geistesströmungen verstand, die sich fO'ftentwickeln und
eins werden in einer neuen Welt- und GesellschaftsO'fdnung 27 • Allerdings hat die
dialektische Theologie von Karl Barth, die alle „synthetischen Lösungen" von
Christentum und Welt verwarf, zu einem weitgehenden Verdikt über'das Binde-
strichwort geführt. Die von den Schweizern Ragaz und Kutter gewählte Bezeich-
nung 'religiös-sozial' erwies sich als kurzlebige Lösung. Die eigentümliche vielfache
Wiederkehr des christlich-sozialen Grundmotivs seit dem Aufkommen des Sozialis-
mus und des säkularisierten Staates sucht WENDLAND 28 mit dem Wesen der
christlichen Liebe zu erhellen, die in Christus selber Person, auch in der Gestalt
christlicher Bruder- und Nächstenliebe eine ewige Dynamis ist, die die Grenzen der
Epochen zu durchschla,gen verma,g und zu immer neuer, geschichtlicher Realisierung
führt.
ANNETTE KunN
16 HERRMANN WAGENER, Die Mängel der christlich-sozialen Bewegung, in: Soziale Zeit-
820
Demokratie
I. Einleitung: .Antike Grundlagen. II. Überlieferung und Rezeption im Mittelalter. ill.
Auflösung der Tradition in der frühen Neuzeit. 1. Politische Theorie. a) 'Demokratie' als
politeia. b) 'Demokratie' als Entartungsform der politeia. c) Weiterbildung der Theorie.
d) Die Eindeutschung des Wortes 'Demokratie'. 2. Verfassungspraxis. IV. Das Zeitalter
der Französischen Revolution. 1. Öffnung des geschichtspbilosophischen Horizonts:
Wieland, Kant. 2. 'Demokrat'. 3. 'Demokratie' als politisch-sozialer Gruppenbegriff.
4. Die Französische Revolution. V. Die Demokratie als Indikator geschichtlicher Bewegung
(19. Jahrhundert). 1. Verfassungspolitisches Verständnis-. a) Repräsentative Demokratie.
b) Demokratie im Großstaat. c) Demokratie, Aristokratie und Monarchie. 2. Das „demo-
kratische Prinzip". 3. Die Historisierung des Begriffs. a) Rückgriff auf die Polis. b) Rück-
griff auf die „alte deutsche Freiheit". c) Rückgriff auf die protestantische Tradition. 4. Der
Abschied von der .Antike. VI. 'Demokratie' in der modernen Bewegung. 1. „Demokratisches
Prinzip" 11nrl knmrt;it.ntinnr,lJp, Monarchie. a) VerknüpfUDg der Prinzipien: Görres, Rotteck.
b) Scheidung der Prinzipien: Gentz, Schleiermacher, Hegel. 2. Die Situation um 1848.
3. „Soziale Demokratie". 4. Marx und Engels. 5. Zurückdrängung des Demokratiebegriffs.
6. Christliche Demokratie. VII. Ausblick.
1 CHRISTIAN MEIER, Drei Bemerkungen zur Vor'. und Frühgeschichte des Begriffs Demo-
kratie, in: Discordia concors, Fschr. EDGAR BoNJOUR, Bd. l (Basel 1968), 5, .Anm. 3. 24.
Zum Gesamtkomplex vgl. ders., Entstehung des Begriffs „Demokratie". Vier Prolegomena
zu einer historischen Theorie (Frankfurtl970}, 7 ff.
2 Vgl. el;>d., 26 f.
3 Ebd., 24. Dazu: daß X(!aTelv einen· anderen Wertakzent gehabt habe als liexew, ist ganz
821
Demokratie 1. Antike Grundlagen
war natürlich schon lange vorher bekannt. Es ergab sich einfach aus dem Vorhan-
densein der Tyrannis im Unterschied zu der normalen Form des aristokratisch
regierten Gemeinwesens. Im 6. Jahrhundert sind die quantitativ bestimmten
Begriffe µ6vaQxor; und µovaQxla bezeugt; schon bei HoMER begegnet als schlechtes
Gegenbild des „Einen Herrn" die „Vielenherrschaft" (mehrerer Adliger) 6 • Wenn
aber µovaQxla (und TV(!avvlr;) eine besondere Form von Herrschaft (genauer: von
Herrschaftsposition 7 ) bezeichneten und wenn diese den gesamten Zustand einer
Polis bestimmte, so spricht doch Ilichts dafür, daß auch dieser Zustand damals
schon als „Tyrannis" aufgefaßt und benannt worden wäre, oder daß man schon
zwei verschiedene Arten staatlicher Ordnung nach dem Kriterium der Herrschaft
unterschieden hätte. Die Entdeckung, daß Verfass1mgen wesentlich als Herr-
schaft (eines einzelnen, weniger, vieler, aller etc.) zu begreifen seien, wurde
vielmehr erst im 5. Jahrhundert gemacht. Da sie für .die Entstehung des
Begriffs 'Demokratie' wie für die gesamte Verfassungsklassifikation ausschlag-
gebend war, müssen ihre Vorgeschichte und Voraussetzungen hier zunächst dar-
gestellt werden.
Als entscheidendes Kriterium für die Kennzeichnung der Ordnung eines Gemein-
wesens galt in archaischer Zeit daR Recht (vtS1mr;). Die einzige positive Bezeichnung
einer solchen Ordnung, die im 6. Jahrhundert begegnet, ist elwoµla (ganz allgemein
etwa „Wohlordnung") 8 • Das Wort stand damals für das in ganz Griechenland als
verpflichtend angesehene Ideal der alten, auf religiös begründetem v6µor; („Sitte,
Recht, Herkommen") beruhenden „Verfassung". Dabei ging es (entsprechend der
Problematik der Zeit) nicht so sehr darum, daß der v6µor; gut war, wie darum, daß
er wirklich galt. Das Grundmuster eines in bestimmter Weise patriarchalisch ge-
prägten Gemeinwesens war mehr oder weniger vorgegeben. Die Regierung lag -
wie auch immer - fast überall beim Adel. Institutionelle und soziale Unterschiede
waren vorhanden, aber offenbar nicht so stark, daß man von daher verschiedene
Arten staatlicher Ordnung unterscheiden konnte. So kannte eßvoµla als Gegensatz
lange nur ihre Negation: dvavoµla oder dvoµla („widerrechtlicher, ungeordneter
Zustand"). Die zentrale Frage für die Beurteilung und Charakterisierung des Zu-
stands und insofern der Verfassung eines Gemeinwesens war also, wie es um die
Geltung des Rechts bestellt war; und da als Recht überall mehr oder weniger das
gleiche angesehen wurde, gab es nur zwei mögliche Antworten.
Die Frage nach der .Verteilung der Herrschaft war weitgehend darin impliziert,
im übrigen sekundär. Die Tyrannis wird der maßgebenden Adelsschicht zumeist als
Herr- (und Knecht-)schaft und damit als Abweichung von der normalen rechtlichen
Ordnung (die sie nicht als besondere Form von Herrschaft verstehen konnte) er-
schienen sein. Sie rangierte für sie - vermutlich mitsamt schlecht funktionierenden
aristokratisch bestimmten Ordnungen - unter den Dysnomien. Andere mögen sie
als Eunomie aufgefaßt haben, aber es fragt sich, ob diese Auffassung, wenn es sie
denn gegeben hat, je über den Kreis der Anhänger von Tyrannen herausgekommen
ist.
Sofern aber elwoµla als Maß und Ideal das gute alte Recht voraussetzte, hing seine
6 MEIER, Bemerkungen, 9. noJ.v~oi(!aVl1J, HOMER, Ilias 2, 204; ARISTOTELES, Pol. 1292 a 13.
7 Vgl. MEIER, Bemerkungen, 9.
•Zum Folgenden ebd., 5 ff.; Entstehung, 15 ff.
822
1. Antike Grundlagen Demokratie
Verbindlichkeit daran, daß das Verständnis von v6µo, einigermaßen allgemein und
damit objektiv war. Nachdem es jedoph im einzelnen gewiß schon immer ver-
schiedene Auffassungen darüber gegeben hatte, löste sich dieser Maßstab mit zu-
nehmender Differenzierung zwischen Ständen und Gemeinwesen auf. Ein nennens-
werter Wandel scheint allerdings erst um 500 ehigetreten zu sein. Damals wurde
das alte Ideal weithin durch ein neues abgelöst: luovoµla (etwa „Ordnung staats-
bürgerlicher Gleichberechtigung"). Teile des nichtadligen Volkes, zunächst vor-
nehmlich die Bauern, dann häufig auch die untersten Schichten, forderten Gleich-
heit der politischen Rechte ~ nicht unbedingt Zugang zu den Ämtern, aber zu der
mit. wichtigen Funktionen ausgestatteten oder auszustattenden Volksversamm-
lung, dem häufig erst zu konstituierenden Volksgericht und meist wohl auch zum
Rat. '/uovoµla nahm unverkennbar auf si'Jvoµla Bezug, stand aber nicht unbedingt
im Gegensatz dazu, sollte vermutlich das alte Ideal nur modifizieren: breitere Teile
der Bürgerschaft verselbständigten sich politisch und übernahmen um des guten
alten Rechts willen9 Kontrolle über das Gemeinwesen; das Recht sollte gleich sein
nicht nur um der Gleichheit,. sondern auch um des Rechtes willen, das eben durch
die Mehrheit der Bürger (samt vielen Adligen) am besten gewahrt wurde. Immer-
hin antwortete luovoµla auf die Frage, wie die politischen Rechte verteilt seien
oder sein sollten und wurde dann nahezu auswechselbar mit &r]µo"(!aTla 10.
Wie man dann zu der Einsicht kam, daß die neue Ordnung eine „ Volks-Herrschaft",
und dann vor allem: daß sie in erster Linie als Volksherrschaft zu bestimmen sei,
ist nur in Umrissen auszumachen. Ihre Verfechter mögen noch eine Weile geglaubt
haben, sie sei wesentlich dadurch charakterisiert, daß sie das Recht besser sichere.
Ihre institutionelle Garantie sahen sie in der Stellung der Volksversammlung (t5ijµo, ).
Diese wurde in Athen unter den Schutz besonderer Bestimmungen gestellt (so daß
sich, je umfassender die Bedingungen der neuen Ordnung verstanden wurden, dieses
Verständnis mit der Zeit auf das Wort '5ijµo, übertragen konnte, bis dieses endlich
die Bedeutung „Volksherrschaft" annahm) 11 • Früh wurde aber auch bewußt und
stolz herausgestellt, daß hier der '5ijµo, herrschte 12 , mit EuRIPIDEs' Worten: Die
Stadt ist frei, das Volk regiert 13 • Dabei wurde zumeist - auch in der Geschichts-
schreibU.ng - der Gegensatz zur Tyrannis in einer Weise betont, daß es scheint,
als· hätte es außer luovoµla bzw. &r]µo"(!aTla und Tyrannis nichts Drittes gegeben.
Das kann nicht heißen, daß alle nicht tyrannischen Ordnungen für „isonom" oder
„demokratisch" gehalten wurden, sondern nur, daß man in Athen und anderswo
zumal die Tyrannis als Gegenbild 11.rnui.11 (und enge Adelsherrschaften dagegen ver-
nachlässigte). Von der Volksherrschaft aus gesehen war der wesentliche Gegensatz
jedenfalls: „isonom" oder „nicht-isonom" 14• In den Isonomien bildete die Bürger-
schaft im ganzen oder in einem irgend beträchtlichen Teil die oberste politische
823
Demokratie I. Antike Grundlagen
Instanz. Dort war die Stadt also amo"ediwe lav-rijr; (Herr ihrer selbst)l6. Dabei
spielte es eine besondere Rolle, daß man - erstmals in der Weltgeschichte - über-
zeugt war, in dieser Ordnung institutionelle Garantien für das Recht zu besitzen,
während vorher und anderswo fast alles auf den Charakter der Regierenden an-
kam18. Ein Gegensatz zu den Adligen und deren Anschauungen scheint nicht
bestanden zu haben (abgesehen von der Ablehnung besonders selbstherrlicher
Kreise und ihrer Regierung).
Im allgemeinen Bewußtsein der sich als einzige rechtliche Möglichkeit·setzenden
laovoµla = &jµo"ea-rla unterschied man mithin - wie zur Zeit des eiwoµta-
ldeals - wesentlich nur zwei Arten staatlicher Ordnung. Das Herrschen des ßijµor;
erschien als einzig legitime Form der Herrschaft: diese Ordnung bringe alle Ent-
.~cheidwngen vor die Allgemeinheit ... Denn in der Gesamtheit ist alles drinl7. Wie
staatsbürgerliche Gleichheit als Recht gegen Willkür stand, stand die Herrschaft
des ßijµor; als Freiheit gegen die Gewaltherrschaft von Tyrannen und engen Oli-
garchien. Insofern waren laovoµla und &jµo"ea-rla ungefähr deckungsgleich, wenn
auch laovoµla wesentlich nicht eine spezifische Verfassung bezeichnete, sondern
primär ein Maß, an dem Verfassungen gemessen werden konnten18. Aber die
Demokratie erfüllte eben dieses Maß.
Anders stellten sich die Dinge den Anhängern der alten aristokratischen Formen
dar: dort fand man sich in der Mitte zwischen Demokratie und Monarchie. Die
Einteilung in drei Verfassungen drängte sich geradezu aufl9 • So ist es vielleicht kein
Zufall, daß sie zuerst bei Pindar begegnet. Ebenso mußte die Verfassungstheorie,
die um die Mitte des 5. Jahrhunderts aufkam, sich dieser Dreiheit bewußt werden20 •
Der Adel verstand seine eigene Herrschaft als legitim, die des Volkes (seiner Auf-
fassung von ßijµor; entsprechend) im Sinne von „Pöbelregime". Mit dem Ausdruck
ßnµouea-rla konnte er sich also identifizieren, der konnte ihm als Entlarvung
von laovoµla dienen (wie um.gekehrt seine Gegner eövoµla als oJ.iyaexta ent-
larvten). Wo jedoch der Begriff ßnµo"ea-rla gebildet worden ist, ist nicht auszu-
machen.
Zuspitzung und wesentlich neues, tieferes Verständnis erfuhr der Begriff ß11µo"ea,-rla
dann um die Mitte des 5. Jahrhunderts. Damals hatte sich in Athen eine neue Form
spe.zifisch demokratischer Politik herausgebildet, die teilweise durch den Gegensatz
16 TnuxYDIDES 3, 62, 4.
16 HERODOT 3, 80, 6 mit GREGORY VLAsTos, Isonomia, American Journal of Philol. 74
(1953), 358. Besonders ist die Rechenschaftspfl.icht der Beamten zu erwähnen; vgl. JAKOB
A. 0. LARBEN, Kleisthenes and the Development of the Theory of Democracy at Athens,
in: Essays in Political Theory, Presented to G. H. Sabine, ed. M. R. KoNVITz, A. E.
MURPHY (Ithaka 1948), 7. 9. ff.
1 7 HERODOT 3, 80, 6. Einmal spricht er auch von lao"ea-rla, etwa: „Gleichverteiltheit der
Herrschaft" (5, 92, 1). Für noJ.J.6v = „Gesamtheit" vgl. MEIER, Bemerkungen, 25 ff. zu
dem entsprechenden nJ.ijbo,.
1s VLASTOS, 'laovoµla noJ.in"?], 9.
19 Wenngleich ·natürlich nach wie vor die Möglichkeit bestand, nach eiwoµla und dvoµla
bzw. jetzt: "a"ovoµla zu unterscheiden; MEIER, Bemerkungen, 12, Anm. 37. So noch
Ps.XENOPHON, Ath. Pol. 1, 8.
20 Erstmals in der Verfassungsdebatte HERODOTS (3, 80 ff.) bezeugt.
824
1. Antike Grundlagen Demokratie
825
Demokratie L Antike Grundlagen
vielen (und in der Oligarchie die wenigen) die oberste Gewalt in Händen hätten,
sei akzidentiell. Der eigentliche Unterschied zwischen den Herrschaftsinhabern
·bestehe zwischen Arm und Reich 28 . An· anderer Stelle führten ihn differenziertere
Erwägungen zu dem Schluß, Demokratie sei gegeben, wenn die Freien und Armen,
in der Mehrzahl befindlich, die oberste Staatsgewalt besitzen 29• Damals war die
politische Problematik freilich schon mehr ins Wirtschaftliche transponiert, wo-
durch der partielle Ausfall übergreifender außenpolitischer Gegensätze im Sinne
einer Erhaltung der Stände- bzw. jetzt mehr Klassengegensätze kompensiert
wurde.
Indem man aber den grundsätzlichen und wohlbegründeten Interessenunterschied
zwischen Adel und breiter Menge erkannte, entstand ein umfassenderer, politisch
bestimmter Verfassungsbegriff. Solange das Volk nur als unwissend und ungezügelt
galt 30, blieb im ganzen die Möglichkeit, es zu lenken. Nun fand man (bzw. kam zu
OP.T ATIRir.ht), rlaß nir.ht nnr rliP. TnRtitntionP.n, nie Voraussetzungen de!I Bürgene.chts
und auch nicht nur die Politik, sondern die Art des Denkens, des Lebens, der
Bürgertugend und der Gesetze in den verschiedenen Ordnungen verschieden seien81 •
So durchdringend schien die Verteilung der Herrschaft das ganze Gemeinwesen zu
bestimmen. Seitdem erhielt die Frage, wer Aktivbürger war, eine neue Bedeutung:
sie entschied vielfach, in welchem Sinne regiert und gelebt wurde. Die Abstufung
und Auadehullllg Je1:1 BürgerreuhL1:1 (:iwÄmla) er1:1uhien al1:1 die entl:lcbeidende Be-
stimmung der politischen Ordnungen.
So kam es, daß man die Verfassungen nicht mehr so sehr nach den Institutionen
bzw. der Herrschaft eines Einzelnen, Weniger oder des Mjµor;, sondern nach dem
Gesichtspunkt der Identifikation verstand. Demokratie erschien als „Bürgerschaft"
(:rioÄ1Tela) und „Politenstaat" (im Gegensatz etwa zur „Machthaberschaft", &va-
cnela). Der Begriff :rioÄmla hatte - und behielt - einen normativen Gehalt,
wurde aber bald darauf zur Bezeichnung politischer Ordnung überhaupt formali-
siert32. Es ist nicht nur eine Ironie, daß er aufkam, als man stärker zwischen dem
Wohl der Stadt (= „Bürgerschaft", :rioÄiula) und dem der herrschenden Schicht
( = „Aktivbürgerschaft", :rioÄ1Tela) unterscheiden lernteaa.
Mit der wesentlich politischen Bestimmung der „Bürgerschaften" (=Verfassungen),
d. h. der neuen Art politischer Gegensätze, entstand ungefähr gleichzeitig eine neue
Aufteilung politischer Ordnungen: verschiedene, die bis dahin als Demokratien
(phil. Dies. Basel 1945; Zürich 1950), 79 f.; ANTON MEDER, Der athenische Demos zur Zeit
des Peloponnesischen Krieges im Lichte der zeitgenössischen Quellen (phil. Diss. München
1938), 102 ff„ bes. 106. f.
31 Vgl. außer Ps.Xenophon bes. TmrxYDIDES 2, 36. ff. und zu den Gesetzen: Thrasymachos
bei PLATON, Pol. 338 d ff.; vgl. ders„ Nom. 714 b. Die Entdeckung der Verschiedenheit der
jeweiligen 710µ01 ist alt; HERODOT 3, 38. Jetzt wurde sie erstmals auf den Vorteil der
Herrschenden bezogen.
39 Zur Eigenart dieses vom :ri0Mn1r; ausgehenden und an die Stelle anderer Begriffe (im
Sinne von „Einrichtung", „Ordnung" sich setzenden) Verfassungsbegriffs vgl. MEIER, Ent-
stehung, 57 ff.
33 Ebd„ 56. f.
826
L Antike Grunc11agen Demokratie
gegolten hatten, galten künftig eher als oligarchisch oder gemischt, so etwa viele
Hoplitendemokratien, die dem Gehalt nach konservativ waren3 3&, Auch die Pro-
blema.tik der Gleichheit !tellte !ich neu: erst hatte der Arme dem Hochstehenden
gleich sein wollen, jetzt wurden die Hochstehenden oft als Minderheit praktisch zu
. Benachteiligten34• Und indem nun breiteren Kreisen klar wurde, daß in den Demo-
kratien nicht die Allgemeinheit gegen einen oder wenige, sondern eine Gruppe der
Bürgerschaft gegen die andere stand, gewann die Dreiteilung der Verfassungen ihr
volles Gewicht. Je mehr die Herrschaft des Volkes als interessenbedingt verstanden
wlirde, um so weniger konnte eine rechtliche Alternative dazu geleugnet werden.
Mehr oder weniger gleichzeitig aber wurde deutlich, daß die Dreiteilung der Ver-
fassungen nicht ausreichte. Man versuchte, anknüpfend vermutlich .an das alte
luovoµla-ldeal, ein neues Konzept einer wirklich gleichen und gemeinsamen86
Verfassung zu entwerfen, einer Art Mischverfassung, die man als Wiederherstellung
der väterlichen (ndr.ew~ ~.oAir.ela) 88 verstand. Andererseits fand man, daß der
gleiche Verfassungstyp recht verschieden ausfallen konnte, je nach politischen,
sozialen und moralischen Besonderheiten37 • THUKYDIDES entdeckte gar Abweichun-
gen im Sinne des modernen Begriffs der Verfassungswirklichkeit 38 • So ergaben sich
Differenzierungen, die endlich von PLATON und ARISTOTELES in der Unterscheidung
von guten und schlechten Formen der drei Grundverfassurigen systematisiert wur·
den 30• Die Geschichte der Verfassungstheorie bestand seit 400 nicht zuletzt in dem
Versuch, neue Kriterien zur Bestimmung der Verfassti.ngen zu schaffen, nachdem
man von neuem gefunden hatte, wie viel auf die Art der Vollberechtigten, d. h. der
Herrschenden und besonders auch auf die Gesetzmäßigkeit der Regierung ankam.
Als erster scheint SOKRATES diese Gesichtspunkte zur Geltung gebracht zu habcn' 0 •
Über die allgemeinen Merkmale der Demokratie herrschte bei Anhängern und
Gegnern im 5. Jahrhundert weithin Übereinstimmung. Es besteht Gleichheit zwi-
schen Arm und Reich, d. h. alle (oder doch sehr viele) Männer bürgerlicher Ab-
stammung sind politisch vollberechtigt, Staatsbürger41 • Das ist die ursprüng-
liche und wichtigste Hestimmung. Es besteht Freiheit von der Herrschaft eines
einzelnen oder weniger. Diese Freiheit verwirklicht sich in der Herrschaft des
38 Vgl. ALEXANDER FUKS, The Ancestral Constitution (London 1953), 33 ff. 52 ff. TmlisY·
MACHOS bezeichnete sie als uowor.dT1J -roi~ noAlTai~ oJua niiut; Die Fragmente der Vor-
sokratiker, 12. Au1l.., hg. v. HERMANN DIELS u. WALTHER KRA.Nz, Bd. 2 (Dublin, Zürich
1966), 324. Vgl. TRUKYDIDES 6, 18, 6; 8, 97, 2; XENOPHON, Hell. 2, 3, 48; GROSSMANN,
Schlagwörter, 24 f.
97 Vgl. z.B. THUKYDIDES 3, 62, 3; 4, 74, 3; 5, 81, 2; 8, 53, 3; 8, 89, 2.
88 THUKYDIDES 2, 65, 9.
39 Vgl. JAQUELINE DE RolllILLY, Le classement des constitutions d'Herodote 8. Aristote,
827
Demokratie 1. Antike Grundlagen
Volkes 42 , die einerseits durch das Los, andererseits durch den jährlichen Wechsel
der Regierenden bestimmt ist43 • Zumindest alle wichtigen Entscheidungen kommen
vor die Volksversammlung"'. Dort entscheidet die Mehrheit. Dort gilt vor allem
„Isegorie" 45 (Rede- und Antragsrecht jedes Bürgers, eine besonders bedeutsame
Manifestation seiner Gleichheit und Freiheit, wichtig auch, damit alles frei vor dem
Volle ausgetragen werden konnte). Die Beamten sind rechenschaftspfl.ichtig46 •
Man hat geschriebenes Recht. Dies letztere wurde von den Anhängern besonders
stark hervorgehoben; es rechtfertigte den Anspruch, daß die Demokratie der eigent-
liche Staat der Gesetze und die Verfassung schlechthin sei47 • Endlich wurde in der
Leichenrede des Perikles bei THUKYDIDES besonderes Gewicht darauf gelegt, daß
die Bürger leben könnten, wie sie wollten, d. h. nicht nach festliegender Norm
und von Staatswegen erzogen und in ihrem Lebenswandel überwacht würden wie
in Sparta und anderen Oligarchien48 ,
Verschieden bei Freund und Feind war die Auffassung von Mjµor; in ~riµo,,;eaTla,
genauer: von der Geltung des einzelnen und der Stände in dieser Verfassung. Die
einen sahen im Mjµo~ nur das niedere Volle, fanden es ungebildet und zügellos und
meinten oft, es werde von verantwortungslosen Demagogen beherrscht 49 • Daneben
standen am Ende des 5. Jahrhunderts andere Auffassungen, nach denen in der
Demokratie das ganze Volk angemessen zur Geltung kam. Eine Variante vertrat
der Syrakusaner Athenagoras bei THUKYDIDES: Das Ganze der Bürgerschaft heißt
Volk, Oligarchie a.be.r ist bloß ein Te·il; dann mügm die Reichen die besten Wächter der
materiellen Güter sein, zu raten aber am besten sind die Verständigsten und zu ent-
scheiden am besten die Menge, wenn sie gehört hat. Und das befindet sich, wie in den
.Teil.en ,,o mwh im ga.nun, in der Demokratie im Gkichgewich.t 50 • Eine andere Variante
ging mehr vom einzelnen Bürger aus und betonte die Gleichheit des Rechts und
der Chancen so sehr wie etwa, daß der Würdigste den größten Einfluß hätte:
dort erschienen die Stände wie aufgehoben im politischen Bereich51 • Mehrfach
42 EURIPIDES, Hik. 405 f.; Ps.XENOPHON 1, 8: Der Demos wolle nicht geknechtet sein,
sondern -frei sein und herrschen. Beide verstanden unter Volk freilich Verschiedenes.
43 HERODOT 3, 80, 6; EURIPIDES, Hik:. 406 f.
44 HERODOT 3, 80, 6.
45 HERODOT 5, 78; EURIPIDES, Hik. 438 ff.; Ps.XENOPHON 1, 2. 6, vgl. 12. GEORG Busor.T,
'7 EURIPIDES, Hik. 430 ff., .A:rsCHINES 1, 4 f.; DEMOSTHENES 6, 25; 24, 75 f.; HYPEREIDES,
Eux:. 5; vgl. Tlfux.YDIDES 3, 62, 3. Ferner die yearpr, :riaeavoµwv sowie die Scheidung
zwischen voµot und tp'T}<pluµar:a in Athen: dazu ARNOLD H. M. JONES, Athenian Demo-.
cracy (Oxford 1957), 53. Vgl. Anm. 69.
48 THUKYDIDES 2, 37. Vgl. GROSSMANN, Schlagwörter, 83; MEDER, Athenischer Demos, 44.
49 HERODOT 3, 81 f.; EURIPIDES, Hik. 416 ff. Vgl. Ps.XENOPHON 1, 7; MEDER, Athenischer
Demos, 130 ff. Bezeichnend für die Gegner: die praktischen Einwände. Für die Antworten:
das demokratische Ethos (Euripides).
50 THUKYDIDES 6, 39, 1, übers. in Anlehnung an Regenbogen. „Herrschaft des ganzen
828
1. Antike Grundlagen Demokratie
wurde betont, daß das Urteil der breiten Menge (im Unterschied zu dem ihrer einzel-
nen Mitglieder} gut sei. Diese Vorstellungen, die außer in Ideal und Propaganda im
tatsächlichen Erscheinungsbild mancher Demokratien gewurzelt haben mögen,
wirkten in der alltäglichen Auffassung der Demokraten von ihrer Verfassung, wie
wir sie bei den attischen Rednern fassen, nach. Besonders zu erwähnen ist die ver-
breitete Meinung, die Demokratie mache die Polis nach außen stark62 •
Die Theorie bewegte sich, so weit wir sie kennen, vornehmlich in den Bahnen der
Gegner. Sobald man wieder primär nach der Art der Regierenden fragte, konnte
die Demokratie auch kaum zu den guten Verfassungen zählen. Das änderte sich
allerdings spätestens mit Aristoteles; aber selbst bei ihm, der eine Fülle verschie-
denster Ausprägungen der Demokratie kannte und mit ihnen arbeitete, erschien als
Muster für die allgemeine Bestimmung dieser Verfassung die letzte, die radikale
Demokratie Athens, deren Bild er überdies noch tendenziös verzeichnete 63 •
Für PLATON war die Demokratie vornehmlich durch Freiheit bestimmt: Nicht wahr,
an erster Stel"le steht doch dies, daß sie freie Menschen sind und daß der Staat förmlich
überqu,illt von Freiheit und Schrankenlosigkeit im Reden und daß jeder in ihm die
volle Möglichkeit hat zu tun, was er will64 • Nichts ist in dieser Verfassung einheitlich
geformt, alle Sitten, alle Verfassungen sind in ihr vertreten, sie ist eine Trödel-
bude der Staatsverfassungen66• Die Menschen sind „verschiedener Art". Im ganzen
also eine reizende Verfassung, herrschaftslos, • • • so etwas wie Gleichheit gleichmtißig
an Gleiche und Ungleiche verteilend66 • Die Gleichheit ist aber nicht nur Ausdruck der
Nachsicht gegen alles und jedes, sondern resultiert zugleich aus dem heftigen Frei-
heitsverlangen. Die Regierenden, die sich wie Regierte, und die Regierten, die sich
wie Regierende benehmen, werden gepriesen und geehrt 57 • Platon konstatierte also
dort, wo Aristoteles den Wechsel von Regierenden und Regierten feststellen wird,
deren Angleichung auch in ihren Rollen. Er sprach weiter von der Gleichsetzung
von Sohn und Vater, Frau und Mann, Bürger und Metöke, Herr und Skla~e, ja
Tier und Mensch68 • Sein eigentliches Interesse galt dem demokratischen Menschen.
Denn er behauptete, zu jeder Verfassung gehöre ein bestimmter Menschentyp.
Oder meinst Du, die Verfassungen leiteten ihren Ursprung wer weiß woher, von Eiche
oder Fels und nicht von den im Staate herrschenden sittlichen Anschauungen, die nach
der einen oder anderen Seite ausschlaggebend wirken, indem sie alles übrige mit sich
ziehen? 69 • Der demokratische Menschentyp ist bei Platon nicht ständisch und nicht
durch Überzeugung, Gesinnung oder Interesse bestimmt, sondern durch seine Art;
und diese ist nicht einfach eine Funktion der Verfassung, sondern bildet sich
irgendwie gleichzeitig mit ihr und nach einer historischen Gesetzmäßigkeit im Rah-
6B HERODOT 5, 78. 91; Tmra:.YDIDES 2, 36, 3 f. Vgl. EURIPIDES, Hik. 442 ff.
53 Indem etwa. Aristoteles übersieht, da.ß in seinem Muster Athen durchaus die Gesetze
herrschen.
u Platon, Pol. 557 b.
155 Ebd. 557 d.
68 Ebd. 563.
19 Ebd. 544 d. e.
Demokratie 1. Autike Grundlagen
men der Abfolge der Verfassungen 60, welche einer jeden Verfassung baldigen unauf-
haltsamen Verfall bringt, solange man nicht durch Schaffung einer idealen Ver-
fassung ans ihr heraustritt. Der demokratische Mensch tut stets, was ihm gerade
paßt, schätzt gute und schlechte Begierden gleich und in der gleichen Beliebig-
keit, mit der die Stadt durch das Los ihre Ämter verteilt, läßt er sich von ihnen
beherrschen61.
Im „Politikos" traf. Platon - offenbar als erster - die Scheidung zwischen einer
guten und einer schlechten Demokratie (Königtum und Tyrannis sowie Aristokratie
und Oligarchie waren schon vorher unterschieden worden 62 • Freilich mag man die
„väterliche" (Misch-)Verfassung auch als gute Demokratie angesehen haben 63).
Er meinte allerdings,· der Unterschied sei nicht sehr groß. Denn die Herrschaft der
Menge ist ganz schwach und vermag weder·im Guten noch im Bösen viel im Vergleich
zu den anderen, weil nämlich die Ämter in ihr unter viele ins Kleine verteilt sind64 •
Dies ist wohi auch der Grund, weshalb er die beiden .Arten nicht mit besonderen
Namen belegte. Maßgebend für die Scheidung ist, ob die Herrschaft gemäß den
Gesetzen ausgeübt wird 66 • Da aber in der Demokratie -wie in Monarchie, Timo-
kratie, Oligarchie etc. - Herrscher und Beherrschte sich wie Herr und Sklave ver-
halten, ve:rdient sie ebenso wenig wie jene den Namen „Verfassung" (noli-rela),
sie ist nur eine „Staatsverwaltungsart" (nol.ew, oix1]a,,), wenn nicht eine „Partei-
herrschaft" (a-raaiw-rela)H. Sie entsteht aus der Oligarchie und gebiert aus sich die
Tyrannis 67 •
Um die Mitte des 4. Jahrhunderts wurde dann für die gute Form der Demokratie
der Name noli-rela - verstanden als Verfassung im eigentlichen Sinn oder als
,,Verfassungsstaat'' - in Anspruch genommen. Auch ARISTOTELES verwendete ihn
durchweg, wenngleich er einmal erklärte 68 , T'JIO"ea-rla (= Herrscha~t eines -
relativ weiten - Kreises Vermögender) sei passender. Man erkannte also den An-
spruch der Demokratie, die noli-rela zu sein69 , in einer Situation theoretisch an,
in der dies nicht mehr nur hieß: die „Bürgerschaft" (oder der „Politenstaat"),
sondern die „Verfassung" im Sinne rechtlicher Ordnung, der Verfassungsstaat.
Gleichzeitig beschränkte man diesen Anspruch aber auf die gute Variante der
Demokratie, die in Wirklichkeit eine Art von gemischter Verfassung war. Iloli-rela
trat damit in gewissem Sinne an die Stelle von la011oµla. In ihr, wie in den (oft
na-reioi noli-relai genannten) Mischverfassungen, lebte das nach der Zuspitzung der
Auffassung von Herrschaft heimatlos gewordene Konzept der wirklich Gleichheit
und Recht garantierenden Ordnung wieder auf.
sondere Art der Demokratie, häufig aber auch als vierte Verfassung (vgl. etwa IsoKRATES,
Panath. 131 f.) angesehen haben, sofern mari sich überhaupt darüber Rechenschaft gab.
64 PLATON, Polit. 302 d; 303 a.
65 Ebd. 302 e. Anders: ders., Nom. 832 c: Herrschaft über Freiwillige.
66 Ders., Nom. 712 e; 715 b; 832 c. Vgl. ders., Polit. 303 c.
67 Ders., Pol. 555 b :ff.; 562 a ff.; 565 d; 566 c :ff.; 569 c.
68 .ARISTOTELES, Nikom. Ethik 1160 a 34.
69 DEMOSTHENES, 1, 5; 6, 21; 6, 25; 15, 20; !SOKRATES 4, 125; ep. 6, 11. Vgl. Anm. 47.
830
L Antike Grundhagen Demokratie
Aristoteles hat die noÄn:ela als die beste unter normalen Umständen mögliche Ver-
fassung angesehen 70 • Er definiert sie als Mischung von Oligarchie und Demokratie,
genauer: als die zur Demokratie hinnP-igimde "Form dieser Mischung (die andere
wäre die Aristokratie). Die Mischung muß so gut sein, daß man sie sowohl für eine
Demokratie wie für eine Oligarchie wie für keines von beiden halten kann 71 •
Sie besteht vor allem darin, daß die Zugehörigkeit zur VollbÜrgetschaft einerseits
einen Zensus voraussetzt, dieser aber nicht - wie in den Oligarchien - so hoch
ist, daß nicht ein relativ großer Teil, möglichst die Mehrheit der Freien bürgerlicher
Abstammung ihn erreichte 72 • Hinzu kommt, daß bestimmte, in Oligarchien bzw.
in Demokratien verbreitete Vorschriften, die die Teilnahme armer bzw. wohlhaben-
der Bürger sichern bzw. ihr entgegenwirken sollten, kombiniert werden könD.eE,,73.
Gemischt werden also insbesondere die Prinzipien der Zusammensetzung der Bür-
gerschaft samt der darauf bezogenen lm1LiLuLiumm; ilie gegenseitige Überwachung
oder das Zusammenspiel von Organen, die auf verschiedenen Ständen aufbauen,
spielen demgegenüber kaum eine Rolle. Aristoteles kannte entsprechend der da-
maligen Wirklichkeit fast nur die Herrschaft der Gesamtbürgerschaft direkt, durch
Ausschüsse oder durch Beamte. Entscheidend war also nur die Frage, wer die
Bürgerschaft ausmachte.
Das .Prinzip der noÄn:ela ist Freiheit und Reichtum '4. Vorherrschend in ihr sind
die Mittleren (etwa - Hopliten) 711 • Diese sind_ die besten Bürger. Sio vormögcn
am ehesten der Vernunft zu gehorchen, können Reich und Arm ausgleichen und -
während die anderen nur herrschen oder (zum Teil) dienen wollen - für das Ganze
des Gemeinwesens sorgen76 • Die Polis will aus möglichst Gleichen und Ähnlichen
bestehen, und dies ist am meisten bei den Miuleren der Fall. Daher wird notwendig die
Polis am besten regiert; die aus solchen besteht, aus denen sich, wie gesagt, von Natur
eine jede Polis zusammensetzt77 • Ihr Staat istgemeinschaftlwh und wahrhaft gleiclJ, 78,
d. h. Gleichheit nach Würdigkeit zuteilend; und da das Gemeinschaftliche zugleich
das Polisartige, das ;,Politische" ist, verdient er es - so wären Aristoteles
Gedanken wohl zu ergänzen --, noÄn:ela genannt zu werden. Im überlieferten Text
heißt es nur: Wenn die Mehrheit des Volkes den Staat mit Rücksicht auf-das Gemein-
wohl verwaltet, so wif'd dies mit dem gemeinsamen Namen all,e,,. Verfassungen, nämlich
noÄn:ela genannt79 •
Während das ideale Königtum und die Aristokratie wesentlich auf der durch Er-
ziehung bewirkten Güte eines einzelnen oder weniger beruhten, konnte eine ideale
Form der Demokratie nur auf der (seit dem Ende des 5. Jahrhunderts begegnenden)
Hochschätzung der Mittleren begründet werden, d. h. auf der These, daß die Güte
831
Demokratie I. Antike Grundlagen
der µeatfrf}r; sich gerade auch darin manifestierte, daß ein ganzer Stand auf Grund
seiner wirtschaftlichen Stellung ein besonderes Ethos hervorbrachte. Da freilich die
Mittleren selten zahlrei.ch waren, kam die ~oJ.iTela fast nie vorSO, wurde sie auch
im System der aristotelischen Verfassungslehre nur ungenügend berücksichtigt -
abgesehen davon, daß sie fast unmerklich in die angrenzenden Formen überging.
Die andere, von der Norm abweichende Form der Demokratie wurde von Aristoteles
- wie erwähnt - als Verfassung definiert, in der die Freien und Armen, in der
Mehrzahl befindlich, die oberste Gewalt besitzen. Damit war impliziert, daß diese die
Herrschaft zu ihrem Vorteil, nicht zu dem des Gemeinwesens ausüben81 • Das Prin-
zip der Demokratie sah auch Aristoteles in der Freiheit: sofern die Demokratie
durch die Gleichheit bestimmt ist, bezieht diese ihren Inhalt von der Freiheit82 •
Die demokratische Gleichheit ist nämlich Gleichheit nach Maßgabe der Zahl (nicht
des Wertes). Denn die Demokratie entstaniJ, dadurch, daß man meinte, Leute, die in
P.inP.r hP..~t1:m.mtwn. Hin.~ir:ht (JlP.ir:h.-t1inil, .~P.if'.n f'..~ dam.it au.r.h .~r.hrm. t1r.h.1.P.r.h.th.in - snfP.rn
nämlich alle, die gleichermaßen von freier Geburt sind, sich damit schon für schlechthin
gleich ansehen83 • 'Freiheit' meinte hier also primär den Personenstand als geringst-
mögliche Qualifikation für das Vollbürgerrecht. Darüber hinaus besteht sie vor
allem in zweierlei: daß die Bürger abwechselnd herrschen und beherrscht werden
und daß man lebt, wie man will84 • Jenes ergibt sich zugleich aus der Gleichheit
uach Maßgabe der Zahl, denn wenn diese Gleichheit die demokratische GerechLig-
keit ist, müssen die Freien (und besonders auch die Armen) an den Ämtern teil-
haben, und zwar möglichst gleichm.äßig85• Ebenso besteht die Freiheit als Freiheit
von Herrschaft, indem sie die einzige Qualifikation des Vollbürgers ist, in dieser
Abwechslung. Sie wurde also als Recht nicht so sehr gegen wie auf die Regierung
verstanden. An anderer Stelle charakterisierte Aristoteles die Demokratie dadurch,
daß alle über alles Gewalt hätten und daß die Mehrheit (der Freien) entscheide 86 •
Daß die Macht der Volksversammlung durch den ständigen Wechsel in den Ämtern
und die häufige Bestellung der Beamten und Ratsherren durch das Los institutio-
nell ermöglicht wurde, spielte bei Aristoteles keine Rolle, so sehr er die beiden Fak-
toren als demokratische Einrichtungen hervorhob. Die Freiheit der Lebensführung
bedeutet vor allem Freiheit von Bevormundung durch staatliche Erziehungs- und
Sittenaufsichtsorgane, eine Einschränkung also der staatlichen Kompetenz. A1ts
dieser Bestimmung der Freiheit folgt aber, daß man sich nicht regieren läßt, und zwar
am liebsten von niemandem; soweit aber dies unmöglich ist, nur abwechslungsweise,
und so trifft denn hierin dieses zweite Merkmal der Freiheit wieder mit dem ersten,
nämlich der Gleichheit zusammen 87 •
Innerhalb der Demokratie unterschied Aristoteles eine Reihe verschiedener Aus-
prägungen, wobei ihm als Kriterien einerseits die Zusammensetzung der Bürger-
832
L Antike Gnm.U.,en Demokratie
schaft, andererseits die Frage des "6eioii, der obersten Gewalt diente, genauer: ob
die Gesetze oder die (dann an Gesetze sich nicht haltende) Volksversammlung herr-
schen (dabei sind die Gesetze natürlich demokratisch). Die beiden Kriterien hängen
für Aristoteles aufs engste zusammen, das rechtliche ist kaum mehr als eine
Funktion des gesellschaftlichen88• Entscheidend für die Art einer Demokratie ist
also, welche Bevölkerungsschicht vorherrscht und wie - bei grundsätzlich besten-
falls niedrigem Zensus - die Zulassung zum Vollbürgerrecht geregelt ist; wo etwa
die Bauern und andere Schichten mit mäßigem Zensus vorherrschen, in der besten
Demokratie, hat man kaum die Zeit, mehr als die notwendigsten Volksversamm-
lungen zu veranstalten - um so mehr läßt man die Gesetze gelten. Dort regieren
denn auch die besten Bürger, denn nur wer Geld und Zeit genug hat, kann
Ämter bekleiden. In der extremen Demokratie der Handwerker und Lohnarbeiter
dagegen werden Diäten gezahlt, die .Armen können a.n den da.nn hll.u.fl.g tägenden
Volksversammlungen und den Ämtern teilnehmen, es herrschen Volksbeschlüsse,
und Demagogen. üben den maßgeblichen Einfluß aus. Institutionelle Unterschiede
spielen höchstens als Funktion der gesellschaftlichen bzw. bürgerrechtlichen eine
Rolle - wie etwa. in einer Demokratie, in der man nur wenige Volksversammlungen
abhalten kann, der Rat das wichtigste demokratische Organ darstellt, während er,
sobald Diäten gezahlt werden, weitgehend entmachtet wird89• lu der letzten, extre-
men Demokratie uQt das Volk praktisch eine Willkürherrschaft aus. Mo.n ko.nn
sagen, daß sie keine Verfassung sei - denn dort herrschen Gesetze - und damit
auch keine Demokratie90• Gleichwohl entnahm .Aristoteles das eine der beiden
Merkmale der demokratischen Freiheit .:..- zu leben, wie man will - der extremen
Demokratie91• Das abwechselnde Regieren und Regiertwerden kommt auch nicht
überall, aber fast immer vor. Fehlt es, so spricht die Ausübung von Wahl und
Abnahme von Rechenschaft durch die Volksversammlung für den demokratischen
Charakter der Verfassung. Immer ist die Teilhabe aller oder fast aller Freien Kenn-
zeichen der Demokratie.
Wenn .Aristoteles frühe von späten Formen der Verfassung und insbesondere der
Demokratie unterschied, so war ihm klar, daß ohne die geschichtlichen Verände-
rungen zumal der Gesellschaft und der Heeresverfassung verschiedene Verfassungs-
formen nicht möglich wären. Er rechnete aber nicht damit, daß die Verfassungs-
geschichte in einer bestimmten Richtung weitergehe, meinte vielmehr, daß auf
Grund der erreichten Größe der Städte die demokratische Verfassung besonders
dauerhaft sei. Einen Kreislauf der Verfassungen kannte, soziale Veränderungen
erwartete er nicht. In der Rangfolge der Verfassungen folgte für ihn auf die Politie
die Demokratie, dann Oligarchie und Tyrannis92 • Monarchie und Aristokratie waren
zwar besser, aber nur unter besonderen Umstjinden möglich.
Nach .Aristoteles hat die Politie als gute Form der Demokratie, so weit wir sehen
53-90385/1 833
Demokratie I. Antike Grundlagen
können, keine Rolle mehr gespielt. PoLYBIOB nennt die gute Form 'Demokratie' und
hat für die schlechte neue Namen: öxlo"eaTla („Pöbelherrschaft") und xeieo"f!aTla
(„Herrschaft der Faust") 83• Demokratie finde statt, wenn in einem Gemeinwesen,
in dem es Herkommen und Sitte ist, den Göttern zu dienen, die Eltern zu ehren, den
Alten Respekt zu erweisen und den Ges~tzen zu gehorchen, der Wille der Mehrheit
maßgebend ist94 • Die Demokratie entsteht aus der Oligarchie und lebt so lange, wie
Gleichheit und Freiheit sich noch nicht von selbst verstehen, d. h. zwei Generationen;
dann geht sie in die Ochlokratie über, da die dritte Generation maßlos in ihrem
Streben nach Macht. ist und das Volk an Geschenke gewöhnt, so· daß dieses in
Abhängigkeit von einem Führer gerät, der es zu gewalttätiger Herrschaft bringt95 •
Wie für Platon waren für Polybios also moralische Kriterien und eine von dort-
her bestimmte, fast gesetzmäßige Abfolge von Verfassungen maßgeblich. Die gesell-
schaftliche Struktlir beachtete er weiter nicht; die großen Vorzüge der aristoteli-
schen Betrachtungsweise waren inzwischen wieder verlorengegangen. Dauerhaft
war für Polybios nur die Mischverfassung, die er - oder einer seiner Vorgänger -
neu konzipierte als System des Ausgleichs zwischen verschiedenen relativ eigen-
ständigen Faktoren.
Außerhalb der Theorie gewann &Jµo"eaTla spätestens im 2. Jahrhundert v. Chr.
wieder den allgemeinen Sinn der „freien Verfassung" im Unterschied zur Monar-
chie, bezeichnete also Demokratien wie (jedenfalls viele) Oligarchien und wurde
teilweise synonym mit 'Freiheit', auch außenpolitisch88 • Wie es dazu kam, ist nicht
deutlich. Vermutlich war der Unterschied zu den mächtigen Monarchien dieser
Zeit so prävalent, daß alle anderen Unterschiede demgegenüber gleichgültig wurden.
Auch hatte das politische Interesse der untersten Schichten so weit nachgelassen,
daß man in demokratischen Formen oligarchisch regieren konnte. .Man gab sich
denn also weitgehend als Demokratie aus. In den nachchristlichen Jahrhunderten
trat eine weitere interessante Verschiebung des Begriffs auf: .AR1sTJ.DES nannte das
römische Weltreich eine Demokratie unter dem Kaiser. CAssms Dm meinte, die
wahre Demokratie bestehe unter der Monarchie. In ihrer herkömmlichen Form sei
sie Freiheit des Pöbels und Knechtschaft der Besten und damit gemeinsames Ver-
derben. Hier dagegen werde die Besonnenheit geehrt und allen das gleiche nach
Würdigkeit verschafft. Dabei wurde dann das ideale Ziel dieser Verfassung an die
Stelle der Institutionen, die dieses Ziel erst sichern sollten, gesetzt. Nicht mehr um
die Organe der Verfassung ging es, sondern 1im den (behaupteten) Erfolg der Ver-
Polybios und PHILO JuDAEUS (vgl. De virtute 180) sind die einzigen bekannten Autoren,
die gute und schlechte Demokratien unterscheiden und den Namen für die gute reservieren.
Dieser hat offenbar in Hellenismus und Kaiserzeit einen sehr guten Klang gehabt. Für
Philo vgl. noch: Quod deus sit immuta.bilis 176; De Abraha 242; De confusione linguarum
108.
91 POLYBIOS 6, 4, 5.
96 Ebd. 6, 8, 4 ff.
99 LAR8EN, Judgement (s. Anm. 51), 9 f.; ders., Representa.tion a.nd Democracy in Hel-
lenistic Federalism, Classica.l Philol. 40 (1945), 88 f.; HELMUT BERVE, Die Herrschaft des
Agathokles (München 1953), 76, Anm. 72.
834
II. 'Oherllefenmg und Rezeption Im Mittelalter Demokratie
waltungspra:xis, und wenn dieser Erfolg in Freiheit (verstanden als soziale und
rechtliche Sicherheit) bestand, dann hatte man es eben mit Demokratie zu tun87•
Im Lateinischen kommt das Wort..:.. abgesehen von drei entlegenen Stellen -
nicht vor. CICERO sprach in ~,De re publica" von cimtas popularia (in quo in populo
sunt omnia). Er unterschied einen guten Volksstaat (populus iustus et moderatus)
von ei}(em schlechten {furO'f' multitudinis licentiaque) 98 • Seine Ansichten darüber
waren der griechischen Theorie entnommen~ (Für Rom- Republik.)
CmusTIAN MEIER
97 Vgl. JOCHEN BLEIOKEN, Der Preis des Aelius Aristides auf das römische Weltreich
(.Akad.-Abh. Göttingen 1966), 239. 250, Anm. 54. 252 f. 269. Besonders interessant für die
Auffassung der Kaiserzeit ist HIPl'OLYTS Interpretation des Traumes Nebukadnezars; vgl.
SANTO MuzAR"mo, Das Ende der antiken Welt (München 1961), 38. 172 f.
98 C!oEBo, De rep. 1, 42; 1, 43; 1, 44; 1,69.
99 Bezeichnenderweise wurde der Begriff 'Demokratie' in den Etymologien des Isidor von
Sevilla. nicht behandelt. Cim. GOTTLOB !Lu.TAUS, Glossarium germanicum medii aevi
(Leipzig 1758) verzeichnet den Begriff 'Demokratie' nicht. Auch das „Mediae latinitatis
lexicon minus", ed. JAN FREDERIK NIERMEYER (Leiden 1954 ff.) hat 'democratia' nicht
aufgenommen.
100 Mit letzter Sicherheit läßt sich nicht ausschließen, daß das Wort 'Demokratie' nicht
835
Demokratie D. 'Oberlieferung und RezeptioQ. im Mittelalter
elemente als der göttlichen Ordnung in der „politia commixta" ebenso entsprechend
wie Elemente anderer Verfassungsformen: Talis enim est optima politia, bene com-
mixta ex regno, in quantum unus prae6st; et aristooratia, in quantum multi 1'rincipantur
secundum virtutem; et ex democratia, id est potestate populi, in quantum ex popularibus
posaunt eligi princip~s, et ad populum pertinet electio principum. Et hoc fuit institutum
secundum lf!gem divinamioa.
Bei WILHELM VON MoERBEKE, einem der bekannten Aristotelesübe:rsetzer, der in
der Zusammenarbeit mit Thomas von Aquin Aristoteles kennenlernte, findet sich
zuerst der von Aristoteles übernommene Demokratiebegriff 104•
Im französischen Sprachraum trifft man bei NIKOLAUS VON ÜRESME, ebenfalls einem
Aristotelesübersetzer, in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf den von
Aristoteles übernommenen Demokratiebegriff. Democratie est une espece de policie,
en laquelle J,a multituäe de populaire tient le princey10 b • .Hei ihm findet sich auch das
Verb democrati.~P.r, OP.RRP.n RP.nAntung wie folgt angegeben wird: Les demagoges qui.
sont maintenant et qui veullent estre gracieulx au peuple democratizent moult de choses
par les pretoires ou par les cours, c'est a dire que ilz font et ordonnent trop de choses au
plaisir du menu communet par ftaterie1 06.
Die abwertende Bedeutung des Wortes 'Demokratie' kommt zum Ausdruck in dem
auf die Mitte iles 14. Jahrhunderts datierten „Vocabularius optimus". In dem
Absatz „lle dignitatibus secularibus" wurden einander gegenübergeRtellt d.emo-
gracia als gebulfels fraventlicher gewalt und tymogracia als gebufels tugendlicher
gewalt 107• .
Als weitere Autoren, die bei der Darstellung und Erörterung von Verfassungsformen
den Begriff 'Demokratie' verwendeten, saien Marsilius von Padua und Engelbert
von Admont genannt. MARSILIUS VON PADUA berief sich ausdrücklich auf Aristo-
teles, wenn er schrieb: Bunt autem principative partis seu principatuum genera duo,
unum quidem bene temperatum, reliquum vero viciatum. Voco a·ulern bene temperatum
... , in quo dominans principatur ad commune conferens secundum voluntatem sub-
ditorum; viciatum vero, quod ab hoc deficit. Horum rursum generum utrumque divi-
ditur in tres species: primum quidem, temperatum scilicet; in regalem monarchiam,
aristocraciam et policiam; reliquum vero, viciatum scilicet, in tres oppositas species
dividitur, tyrampnicam monarchiam, oligarchiam et democraciam 108• Zur Charakteri-
sierung der Demokratie schrieb er: Policia vero, licet in una significacione sit com-
mune quiddam ad omne genus vel spe<Yi,em regiminis seu principatus, in una tamen
ipsius sigriificacione importat speciem quandam principatus temperati, in quo civis
quilibet participat aliqualiter principatu vel consiliativo vicissim iuxta gradum et facul-.
tatem seu condicionem ipsius, ad commune eciam conferens et civium voluntatem sive
con.~ensum. Democracia vero illi opposita est principatus, in quo vulgus seu egenorum
836
II. 'Oberlieferung und Rezeption im Mittelalter Demokratie
·multitudo statuit principatum et regit sola, preter reliquorum civium voluntatem sive
consensum, nec simpliciter ail commune conferens secundum proporcionem convenien-
tum100.
Auch Marsilius sah also in der Demokratie die verderbliche Abart der Politie ~
engeren Sinne110•
Als Beispiel für die besondere Schwierigkeit, „die mittelalterliche Lehre" einer der
Verfassungsformen darzustellen, sei noch auf ENGELBERT VON ADMONT, auch Engel-
bert von Volkersdorf genannt, kurz eingegangen. Er schrieb Aristoteles eine Dreier-
gruppierung der Verfassungsformen in „Regnum", „Demokratie" und „Olikratie"
.zu. Davon ausgehend und sioh dagegen absetzend, kam er zu einer Vierergruppie-
rung in „Regnum" bzw. „Tyrannis", „Aristokratie" bzw. „Olikratie", „Olikratie"
bzw. „Clerotis" und „Demokratie" bzw. „Babaries", wobei jeweils die an zweiter
Stelle genannte Form die Entartung der zuerst genannten darstellte. („Olikratie"
trat sowohl als gute wie als verderbte Verfo.ooung auf.) Mit 'Demokratie' bezciehneto
Engelbert die Herrschaftsform, die Aristoteles im engeren Sinn des Wortes 'Politeia'
nannte 111 : populus autem secundum Zegem et electionem seu oonsensum maioris partis
dinffiiunt, ... quorum est democratia. Ein zuverlässiges Erfassen der Bedeutung von
'democratia.' bei Engelbert setzt zumindest voraus, daß eindeutig geklärt würde,
was er sich unter 'populus', 'lex', 'electio' und 'consensus maioris partis' in diesem
Zusammenhang vorstellte. Wie problematisch eine 'Übersetzung ins Hochdeutsche
ist, erhellt etwa daraus, daß z.B. das Verfahren der Kooptation bei der „Ratswahl"
in den Städten oder der gesamte Vorgang der „Königserhebung" einschließlich aller
Vorverhandlungen 'electio' genannt werden konnte.
Bedeutsam für die Beurteilung eines auf das Gemeinwesen bezogenen Begriffes wie
etwa 'Demokratie' ist die von Engelbert vorgenommene Verdeutlichung dieser
Begriffe am Bild der Familie und des Hauses. Der Hausvater beherrschte das Weib
aristokratisch, die Kinder monarchisch, die jüngeren Brüder olikratisch und die
nachbarlich nebeneinander bestehenden Hausstände seien in demokratischer Form
verbunden112 • Es ist leicht ein~usehen, daß ein präzises Verständnis von 'demo-
109 Ebd. 1, 8, 3.
110 Wie leicht gerade Marsilius mißverstanden werden kann, zeigt der lange Streit um die
Behauptung, Marsilius habe bereits die modernen Begriffe von Volkssouveränität und
Demokratie vorgeprägt. Vgl. RICHARD SCHOLZ, Marsilius von Padua und die Idee der
Demokratie, Zs. f. Politik 1 (1908), 61 ff. Eine kritische Würdigung der bisherigen For-
schungsergebnisse gibt HER.MANN SEGALL, Der „Defensor Pacis" des Marsilius von Padua..
Grundfragen der Interpretation (Wiesbaden 1959),.bes. 8 ff. 52 f., .Anm. 72. 63 ff.
111 ENGELBERT VON ADMONT, De regimine principum 1, 10; zit • .ANDREAS PosCH, Die
sta.a.ts- und kirchenpolitische Stellung Engelberts von Admont (Paderborn 1920), 65,
.Anm. 3. Vgl. auch F. FÖRSTER, Die Staatslehre des Mittelalters, Allg. Monatsschr. f. Wiss.
u. Lit. (1853), 832 ff. 922 ff.
111 Zur Literatur sowie zur Verbreitung .der Schriften Engelberts s. ÜTTOKAR MENZEL,
Bemerkungen zur Staatslehre Engelberts von Admont und ihrer Wirkung, in: Corona.
querenea., Fschr. KARL STRECKER (Leipzig 1941), 390 ff.; GEORGE BrNGHAM FOWLER,
Intellectual Interests of Engelbert of Admont (New York 1947); ders„ Engelbert of Ad-
mont's Tractatus de officiis et abusionibus eorum, in: Essays in Medieve.I Life und Thought,
Fschr. A. P. EVANS (New York 1955), 109 ff.; ders„ Engelbert of Admont a.nd the Univer-
sal Idee., Fundamente 3 (i958). .
837
Demokratie lL tlherlieferung - • Rw.eption im Mittelalter
118 Vgl. z.B. CICERO, De rep. 1, 41 f.: regnum - civiwa optimatium arbitrio regi dicitur -
civit,aa popul,ariB, oder 3, 48: popularia rea 'jJ'Ublica. Obwohl die Schrift dem mittelalterlichen
Leser nicht vorlag, kann vorausgesetzt werden, daß der Inhalt insbesondere durch Augustin
bekannt war •. Vgl. auch WERNER SUEBBAUM, Vom ant.iken zum frühmittelalterlichen
Staatsbegriff, Über Verwendung und Bedeutung von Res Publica, Regnum, Imperium
und Status von Cicero bis Jordanis (Münster 1961) und die sehr aufschlußreiche Rezension
von ALVABO n'ORS, Der Staat 4 (1965), 360; ·
838
m. Auflösung der Tradition in der frühen Neuzeit Demokratie
114 R. R. PALMER, Notes on the Use ofthe Word „Democracy" 1789-1799, Polit. Science
Quarterly 68 (1953), 204. Auch die Amerikaner kannten zu Beginn ihrer Geschichte
'democracy' nur als gelehrtes Wort: GusTA.V H. BLANKE, Der amerikanische Demokratie-
begriff in wortgeschichtlicher Beleuchtung, Jb. f. Amerikastudien 1 (1956), 41.
m Vgl. Anm. 70 ff.
118 HERMANN CoNRING, De politia (Helmstedt 1680); ders„ De democratia (ebd. 1681).
dere Stelle gefunden werden könnte; doch dürfte die oben gemachte Feststellung hierdurch
nicht wesentlich verändert werden.
839
Demokratie m. 1. Politische Theorie
1. Politische Theorie
Die Umschreibung des Begriffs in den Wörterbüchern und der politis~h-wissen
schaftlichen Literatur läßt erkennen, daß der Schwerpunkt der Bedeutung im
17. und beginnenden 18. Jahrhundert noch ganz im aristotelischen Sinne in der Be-
zeichnung der Staats- und Herrschaftsform lag118 • Dabei wurde sowohl die positive
Bedeutung tradiert (Demokratie als gute Staatsform, mit 'politeia' gleichgesetzt-
a), als auch die negative Bedeutung (Demokratie als Entartungsform -b); daneben
sind theoretische Weiterbildungen und Differenzierungen des Begriffs zu verzeich-
nen (c).
a) 'Demokratie' als politeia. Nach PUFENDORF gehörte die Demokratie zu den oivi-
tatilJ regu'laris tres formae; in ihr ist summum imperium . . . penesconcilium ex uni-
versis Patribus familiae constans 120• Ähnlich definierte Ä.LsTED in der Linie der
Ilerborner aristotelischen 8chulphilosophie121 Demokratie als polywrcli·ia, ·in q·aa
summa potestas est penes populum. Unde status popularis dioitur122 • Die Möglichkeit
einer tatsächlichen Wahrnehmung der Regierungsgeschäfte durch die Mehrheit der
Bürger räumte BESOLD ein: Democratia summum Reipublicae ius penes populum
constitttlum 1u1.be.t: ita tl.t ci11.1ilm11 ·1m·i·1ier11i11 aut e.urum ma:r.um<1e 'P<irti, iu• Bit imperan-
di123. Jedenfalls war die Ermächtigung durch die Gesamtheit der Bürger (Haus-
118Außer den weiter unten angeführten Autoren haben folgende Gelehrte in den Bahnen
der Aristoteleetradition die Demokratie als eine der drei bekannten Regierungsformen
dargestellt: JoHA.NNES ÄLTHUBIUS, Politioa 39, 21. 60 (3. Aufi. Herborn 1614); PHILIPP
CLÜVER, Germania antiqua. 38 f. 41 (Leiden 1631); MATTHIAS ßERNEGGER, Ex C. Cornelü
Taciti Germania et Agricola questiones, qu. 55 (Straßburg 1640); Jou. FRIEDRICH HORN,
Politicorum pars architectonica de civitate (Frankfurt 1672), 17; Jou. HEINRICH BoEOLER,
Institutiones politicae 6 (Straßburg 1674); ULRICH HUllER, De jure civita.tis 1, 8, 4 (Leiden
1669; 4. Auß.. Frankfurt, Leipzig 1708), 301 ff.; Juuus BERNJURD v. RoHR, Einleitung
zur Staatsklugheit (Leipzig 1718), 250; N1coLAUS HIERONYMUS GUNDLING, Politica 5, 7
(Frankfurt, Leipzig 1733); CHRISTIAN WoLFll', Philosophia practica universalis 9, 2073 ff.
(Halle 1738).
uo PuFENDORF, De officio hominis et civis juxt& legem naturalem 8, 3 (Frankfurt 1709).
Pufendorf, der sich bekanntlich bei der Beschreibung des Deutschen Reiches der aristo-
telischen Kategorien entimhlagen hatt.e, d11flnilll't.fl nie Oemolmi.tle in l'll'linl'lr "niARl'lrtA.t.io
de republica irregulari" (Lund 1668) entlang der aristotelischen Dreiteilung; in deutscher
th11:1rset:.-.ung (Leipzig 17UI) tauchte sie in fol~ender Definition auf: Eine Dem-0eratie ist
alsdann lobenswert, wann in einer gleichen Freiheit die Gemüter einerlei gesinnet sein und sich
die allgemeine Wohlfahrt der Republic nach Vermögen zu Herzen gehen lassen und wann bei
ihnen guter Rat leichtlich PT,a,tz findet und angenommen wird, und allezeit der Geschickte&te
zu den vornehmaten Ämtern gezogen wird; hingegen die andern, wie sich& gebühret, Gehorsam
leisten (1115). Im Anschluß stellte Pufendorf die Demokratie als Verfallsform der ordent-
lichen democratiacken oder 'JX>'Plll,ariachen Regiments-Art gegenüber, ohne freilich, mit
Hobbes, derartigen Benennungen spezifizierende Bedeutungen zukommen zu lassen (1124).
181Vgl. PlllTJllR PlllTlllRSER, Geschichte der .Ari11totelischen I'hilot1ophie im protesta.ntischeu
Deutschland (Leipzig 1921), 166 ff. 184 ff.; HA.NS MAIER, Ältere deutsche Staatslehre und
westliche Tradition (Tübingen 1966), 12.
1u ALsTED, Compendium (1626), 1303.
US CHRISTOPH BESOLD, Discursus politici 3: De democratia, in: Opera politica, t. 3 (Ausg.
Straßburg 1641), 38.
840
a) 'Demokratie' als pnliteia Demokratie
väter) für das demokratische Regiment unentbehrlich, wie sowoh~ Besold als auch
MYLER AB EHRENBACH darlegten: ... ut Magistratus ab ipso popuk> constituatur,
atque ab eoclem auctoritatem sumat124• - Nam olim Romae, durante atf,huc Demo-
oratico lmperio, Magistratum constitutio, ad purum Populi favorem pertinebat, adeo
ut lez Valeria ... Oaput ejus jusserit, qui Imperium nisi a Populo haberet126•
Ein ähnliches Bild ergeben die zahlreichen deutschen Belege vom 16. bis 18. Jahr-
hundert. Hier wird 'Demokratie' beschrieben als herrschung und regierung des
gemeinen volcks (1561) 12 6, al-herschender stand (1645) 1 2 7, eine ordentliche Form
der Republic, da die höchste Gewalt dem ganzen Volke zukommt (1726) 128, eine Regi-
ments-Form, worinnen das höchste Regiment von dem ganzen Volke geführet wird (1727,
noch 1766) 129, Regiment des ganzen Volkes (1755)1 30, eine Regierungsform, da das
unabhängige Volk zu befehlen hat (1780)1 31 , diejenige Art von Regierungsformen, in
welcher das ganze Volk an der Regierung des Staats Anteil hat (1791) 182 , kurz Volks-
regierung, V olksherrschung (1792) 183 oder, wie ScHLÖZER 1793 die aristotelische
Tradition des Ausgangs von der Zahl der Herrschenden noch einmal prägnant
zusammenfaßt: Nur einer hat die Herrschaft, - Monarchie. Oder ein Ausschuß, -
Aristokratie. Oder die bei jeder Herrscher-Handlung besonders erforschte Mehrheit, -
Demokratie 1 S 4•
Auch in der übrigen europäischen Literatur ist der Reflex der aristotelischen Staats-
formenlehre zu erkennen: so bei TEMPLE 13\ LocKE 136, MoNTESQUIEUu 7 und im
Anschh1ß an diese in der „Encyclopädie" (DE JAUCOURT) 138 • Im angelsächsischen
:WEbd.
126 MYLER All EHRENBACH, Hyparchologia (Stuttgart 1678), 27 ff.
128 MA.AI.ER (1561), 219.
127 PHILIPP v. ZESEN, Adriatische Rosemund (Amsterdam 1645; Ndr. Halle 1899), 177.
Leipzig 1755), 603, ebenso in den weiteren Auflagen (1776), 639 und (1792), 635.
1211 SPERANDER (1728), 186. Noch bei KRACKHERR (1766), 116.
130 Wohlm. Unterricht (1755), Anhang, 19.
131 H AT.T.F, "Rrl. 2 (1779), 430 {7.usa.t7. des Übersetzers).
which the 8overeign power iB neither lodged in one man, nor in the nobleB, but in the collective
body of the people. While many of the Bervant8, by industry and virtue, arrive at richea and
esteem, then the nature of the government inclines f,o a democracy; zit. JOHNSON vol. 1 (1755),
s. v. democracy.
138 JOHN LocKE: The majority having the whole power of the community, may employ all that
power in making lawB, and executing thoas laws; and there the form of tho government i8 a
perfect democracy; zit. JOHNSON, ebd.
137 MONTESQUIEU, De l'esprit des lois 2, 2: Lor8que, danB la republique, le peuple en corps
841
Demokratie W. 1. Politische Theorie
Bereich wurde oft im .Anschluß an die antike Tradition 'Demokratie' weniger als
selbständige Staatsform. denn als Element einer gemischten Staatsform. betrachtet,
so in den Vßrfassungsschriften von Blackstone und De Lolme und bei J OBN ADAMS,
der 1775 die Frage stellt: I s not the democracy ·as essential to the English Oonstitution
as the monarchy or aristocracy? 139 - eine Frage, die auch in Deutschland diskutiert
wurde.
189 JOHN ADAMS, zit. Sources and Documenta Illustrating the American Revolution,
1764-1788, ed. Samuel E. Morison, 2nd. ed. (Oxford 1953), 127.
1'0 MJCBAELIUS (1653), 306 ff.
m Dict. fran9.-all.-lat. (1660), 230.
ua FRIEDR. CmusTUN BA'UMEISTER, Philoeophia definitiv&, 9. AuH. (Wittenberg 1758),
197 f., Nr. 1202.
ua MoNTESQUIEU, Esprit des lois 11, 4.
iu J. J. RoussEAU, Du contrat social 3, 4.
16 C. M. WIELAND, Sendschreiben an Herrn Professor Ehlers in Kiel (1792), AA 1. Abt.,
842
e) Weill'lrltildung der Theorie Demobatie
mit swh s-elbst und mit der Freiheit ist. Die traditionell - als forma imperii - ver-
atandene Demokratie habe dem Individuum nicht den rechtsstaatlichen Schutz ge-
währen können, den der von Kant erstrebte R.ep'llhlilranism - als forma regiminis -
biete. Anders als in der Monarchie und in der Aristokratie sei in der Demokratie
eine gewaltenteilende repräsentative Regierungsart, die Absonderung <Zer ausfüh-
renden GewaU ... von der gesetzgebenden, unmöglich, weil alles da Herr sein will148•
ua KANT, Zum ewigen Frieden (1795), 1. Definitiva.rt. AA Bd. 8 (1912), 352 f. (e. Anm.
177. 191).
m BESOLD, Discursue politici (e. Anm. 123) 3, 39.
m PAUL MATTHIAS WEHNER, M.etamorphosie rerUm.publicanun, Das ist/von Mutation/
VerenderungfUntergang/AuffnelunungfVerwalidelung unnd Perioden der Regimenten
unnd Gemeinden/in Politischem Zustand (Frankfurt 1626), 3.
u• Jene ist, da die höchate Gewalt diejenigen haben, so in der Stadt wohnen; diese aber ist bei
den Dörfern, da keine Süül,te Bind; W ALCH (1726), 484.
l&O ZEDLER Bd. 7 (1734), 524.
m PALMER, Notes (vgl. Anm. 114), 205.
Demokratie DI. 1. Politische Theorie
tyrannique se remarque par 1.a violence de ses mouvements et par l'incertitud,e de ses
Mliberations. Dans la veritable Democratie on agit par deputes, et ses deputes sont
autoris6s par l' 6lection, la mit1Rion cWB &tUJ du poupk; et Z' autoriti qui ks appuye,
constitue 1.a puissance pubZique: leur devoir est de stipuler pour l'inter& du plus grand
nombre des citoyens, pour leur eviter les plus grands maux et leur procurer les plus
grands biens162 • In der seit 1778 erscheinenden „Deutschen Encyklopädie" unter-
schied KösTER die „unvermischte" oder „wahre" Demokratie von der mit dem
Repräsentativsystem verbunden~n: Zu einer wahren Democratie wird erfordert, daß
das ganze Volk an der gesetzgebenden Gewalt Anteil nehme. ... Ein jeder Hausvater
wenigstens muß hierbei das Recht haben, mitzusprechen. Wenn aber wegen der allzu-
großen. Volksmenge und den dttrch die Abstimmung einer jeden einzelnen Person ent-
stehende1i Weitliiu'figkeiten oder allenfalls aus andern Ursachen nur gewisse Personen
sind, die die ilb'ligen vertreten oder reprasentieren, so ist e.~ Ir.eine ganz reine JJemocratie
mehr; jedoch kommt sie derselben ziemli.f:h. tuih.P., wt:nm. da.s Volk t1orher cliese seine
Repräsentanten jedesma.l selbst erwählt. Wofern diese Repräsentanten nicht anders
stimmen dürfen, als das und wie es ihnen aufgetragen worden, so ist es eine völlige
Democratie, indem es einerlei ist, ob jemand seine Stimme selbst oder durch einen
a.ndern gibt. H ahtm abP.r gewisse Personen das Recht, Repräsentanten vorzustellen, ohne
dazu erwählt zu werden, so ist es insofern keine Democratie mehr, sondern eine Aristo-
cratie163. Köster vermochte al!o die politische Reprii.11e11taLiu11 (nichtimperatives
Mandat) noch nicht völlig mit dem Demokratiebegriff zu verbinden. Während
d'Argenson darin bereits die „legitime" oder „wahre" Demokratie sah, verwendete
er für solche Übersetzung unmittelbarer Hausväterdemokratie in eine Ausschuß-
herrschaft noch traditionell den Aristokratiebegri:ff.
Köster kam zu dem Ergebnis, daß die - theoretisch gesehen - „ursprüngliche"
Regierungsform der Demokratie zwar die beste sei, aber in der Praxis sich nicht
bewähre. Da.gegen stellte er die suggestive Frage, ob nicht eine gemischte Democratie
der unvermischten Aristocratie oder uneingeschränkten Monarchie vorzuziehen sei.
d) Die Eindeutschung des Wortes 'Demokratie'. Bereits im Laufe des 17. J ahrhun-
derts wurde im Deutschen gelegentlich versucht, das lateinische Wort zu entlehnen.
So tauchen deutsche Wendungen wie Democratey bei MICRAELIUS (1639), Demo-
cratie bei GROTTNITZ (1647) und Democraty bei HIRSCH (1662) auf164• Aber solche
Versuche blieben auf der gelehrten Ebene und drangen nicht in die Volkssprache
ein.
Ansonsten umschrieben die Wörterbücher das Wort weiterhin; so etwa PoMEY
(1715) das lat. democratia und das franz. democratie mit Herrschung (bzw. Herr-
schaft) und Regierung des gemeinen Volks 156• Ein deutsches Wort 'Demokratie' wird
hier ebensowenig verzeichnet wie etwa bei CASTELLI in seinem italienisch-deutschen
„Sprach- und Wörterbuch" 168, Dagegen wurde hier democratico stato bereits mit
844
m. 2. Verfasmagspruis Demokratie
2. Verfassungspraxis
Die Möglichkeit der Eindeutschung des Fremdwortes hing jedoch nicht nur von
den theoretischen Weiterbildungen ab, die bisher genannt wurden, sondern ebenso
von der Chance, den Begriff auch in der unmittelbaren Erfahrung anzuwenden.
Wann erstmalig der Begriff 'Demokratie' - über den geschilderten politisch-theo-
retischen Sprachgebrauch hinaus - auf konkrete Verfassungen der Zeit angewendet
wurde, bedürfte einer näheren Untersuchung. Einer der in der frühen Neuzeit
seltenen Belege für die Verwendung dcß .Bcgriffü zur .Bozoiohmmg lronkrntm~ Hen-
schaftsverhältnisse findet sich in LUTHERS Tischreden, wo die Herrschaft in der
Schweiz und in Dithmarschen als Beispiel für 'Demokratie' genannt werden 160.
Schon 1647 wurde eine der Keimzellen der amerikanischen Demokratie, das von
Roger Williams gegründete Gemeinwesen, in den „Colonial Records of Rhode
Island" als „demokratisch" charakterisiert: lt is agreed ... that the forme of Govern-
ment established in Providence Plantations is Democraticall; that is to say, a
Government held by ye free and voluntarie consent of all, or the greater parte of the free
inhabitants 161 •
Etwa von den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts an wurde es gebräuchlich, von
Staaten wie Holland und der Schweiz als 'Demokratien' zu sprechen162 , wobei
freilich die Bezeichnung 'Republik' noch sehr viel häufiger verwendet wurde und
bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschend blieb. D'ARGENSON bezeichnete
in seinen „Oonsiderations" die Schweiz als eine pure democratie, ebenso gehöre
Holland zu den demokratisch regierten Staaten, und in den Fürstenstaaten des
magiBtratus habet multw apecies: Monarchiae, alada iat regnum Galliae, Angliae, Porttugaliae,
Bohemiae, Ungariae, Pol.oniae, AriBtocratia est magiBtratus civiliB, ut Germaniae, democratia,
ubi plurea regunt, al8 in Schweitzen und Dytmara, Oligarchia ala in Erfurdt. In der deut·
schen Nachschrift lautete der Zusatz zu 'Demokratie': wo der gemeine Mann regiert. Vgl.
dazu WERNER ELERT, Morphologie des Luthertums, Bd. 2 (1932; Ndr. München 1958),
326.
m BLANKE, Demokratiebegriff (s. Anm. 114), 41 f.
112 Auch der Plural trat erst um diese Zeit auf.
845
Demokratie JD. 2. Verlaasangspruü
Deutschen Reiches fand er different& M<Jres de, Dbnocratie183. Auch in den deutschen
Lexika und der gelehrten Literatur der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam
diese Anwendung des Demokratiebegriffs auf die Gegenwart gelegentlich vorl&&;
SCHEIDEMANTEL führte Sparla, Athen, die mehresten Städ,t,e in d.en vereinigten Nieikr-
lanikn, Genf und vie"le Bchweizerkantons als Beispiele an185• Als Muster für ein
demokratisches Stimmrecht, wo eine feik Mannsperson oon 16 Jahren ihre Stimme
hat, nannte KösTER in der „Deutschen Encyclopädie" (1783) die Schweizer Kantone
Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Glarus, Appenzell, das Bündner- und Walliser-
land188. PÜTTER sprach in seiner „Staatsverfassung" (1787) von der mehr oikr minikr
eingeschränkren oikr unbeschränkt enaristOC'l'atischen oder ikmocratischen Verfassung
der deutschen Reichsstädt187. Athen und Sparta sowie das republikanische Rom
wurden gleichfalls als historische Beispiele einer demokratischen Regierungsform
angefll.hrt100, jedoch im allgemeinen noch nicht die altgermanischen und altdeut-
schen Verfassungszustände, die erst im 19. Jahrhundert - im Zuge der doppelt.en
Erweiterung der Begriffe der'alten deutschen Freiheit' und der'Demokratie' -in die
historische Geneologie der demokratischen Verfassungen einbezogen wurden1•.
Immerhin war es symptomatisch für die Vorbereitung des bürgerlichen Geschichts-
bildes im 18. Jahrhundert, wenn die Einwohne1'8Cha.ft von Köln 1788 gegen die
Toleranzgesetzgebung Josephs II. unter Berufung auf die demokratische Verfassung
der Stadt protestierte 170 und wenn die Aachener :Bürger in den ltevolutionskriegen
gegenüber den französischen Neuerungen darauf beharrten, stets eine demokrati-
sche Verfassung besessen zu habenl71.
Die auffälligste Erweiterung des Demokratiebegriffs vor 1789 findet sich - in der
Literatur des 18. Jahrhunderts völlig vereinzelt dastehend- in den schon erwähn-
ten „Considerations" des Marquis n'ARGENSON. Hier stoßen wir auf ein neues Ver-
ständnis von 'Demokratie', das nicht mehr von der Herrschafts- und Verfassungs-
ordnung ausgeht, sondern vom gesellschaftlich-so.hlalen Bereich. Tocquevilles Be-
trachtungsweise vorwegnehmend sah d'Argenson die französische Geschichte unter
dem Gesichtspunkt des progr~ de, la Democratie, wobei das Königtum als Schritt-
macher der Entwicklung gewürdigt wurde: seine Autorität habe die Feudalgewalten
zurückgedrängt und das Vorrecht des Adels zerbrochen, ce qui nous prouve, q'IU>i-
qu'on en dise, que la Dbnocratie est autant' amie de, la Monarchie qire l'AristOC'l'atie en
846
IV. Das Zeitalter der Französischen Revolution Demokratie
est ennemie 172 • Mit zunehmender Pazifizierung Europas werde der Adel auch seine
militärische Führerrolle einbüßen, wie er bereits das Verwaltungprlvileg an die
hiirgerlich1m Schir.ht1m verlor1m habe; Demokratie und Königtum würden gemein-
sam zur Herrschaft aufsteigen. Die Dispositioris aetendre la Democratie en France 173
sahen eine Reihe liberaler Reformen -ungefähr in der Linie der Politik der Reform-
minister--,. vor, die auf die destruction de la N ob"lesse, die Befestigung der materiellen
Prosperität des Landes und die Sicherung der Monarchie gerichtet waren. Der
Begriff der 'Demokratie' wurde bei d'Argenson über das. rein verfassungspolitische
Verständnis hinaus zur geschichtsphilosophischen Chiffre für bürgerlichen Aufstiegs-
willen und Verlangen nach sozialer Gleichstellung17'. Seine royalistische Tönung 176
wirkte noch in der späteren; aus den Anfängen der Revolution stammenden Formel
der „Democratie royale"l 78 nach.
Die Eulwickluugt>li.llie eiuer iu waucher Ilins.icht verwandten Awiweitung de!
Demokratiebegriffs nimmt von KANTS Unterscheidung von 'Demokratie' (als forma
imperii) und 'Republikanism' (als forma regiminis) ihren Ausgang1 ?7. Seit Kant
kann eine Monarchie „republikanisch" sein.
folgenden Inhalts: Le Gouvernement fra'Tlrl(ais est une Democratie royale. Mnul!EAU be-
merkte zu dieser Wortprägung im „Courier de Provence" (no. 34, 7) folgendes: Le Baron
de Wimpfen, en reunissant deux nwts Bi eloignh juaqu'a present l'un de l'autre, exprimoit
une grande verite; c'est que la Democratie s'allie naturallement avec la Monarchie; c'est qu'il
n'existe auoune opposition entre leurs interets, puis-que le voeu du Roi soit a88ez fort 'JKYU1'
s'op]X>Ber a l'introduotion d'une aristocratie, qui tend toujours a l'independanoe et dont la
puisaanoe ne a'exerge jamais <[lt'aux depens du PrinrR. et du Pl'.upll'.. Im Gegensatz hierzu
charakterisierte JOHANN VON TÜRXHEIM, Bericht an die Gemeinde von Straßburg, Franz.
Staatsanzeigen (1789), H. 2, 125•. 131 die Democratie royale als Versuch, den König völlig
zu entmachten, ihn zu einem rEin dekorativen Verfassungselement zu degradieren und
Nationalversammlung und Straße zu autorisierten Machtträgern zu erheben.
177 KANT, Zum ewigen Frieden (1795), 1. Definitivart. AA Bd. 8 (1912), 349 ff.
847
Demokratie IV. 1. Öftinm• des gesehiehtsphilosophischen Borizonta
Die Französische Revolution provozierte im Zuge ihres Ablaufs ein neues Demo-
kratieverständnis im deutschen Sprachbereich, und zwar auf allen Jföenen: der
gelehrten Theorie, die sich zunehmend der politischen Aktualität stellte, der Pam-
phletistik und schließlich auf der Ebene der Wörterbücher für den bürgerlichen
Leser.
WIELANDS laufondo Kommontilro im „Toutschen Merkur" zeugen i;lliläohsL vuu
dem aristotelisch bedingten Vorverstä.nilnis, mit dem die Probleme der auftauchen-
den Demokratie angegangen wurden. Aus ihm gewann Wieland die Maßstäbe seiner
Kritik, die sich außerdem vergangener Beispiele aus der Revolutionsgeschichte in
England, Deutschland und Amerika bediente. Im Laufe eines Jahrzehnts gelangte
Wieland freilich zu Formulierungen, die dem modernen Phänomen sprachlich
gerechter werden sollten.
WIELAND präzisierte seine Kritik in vier untersoheidbaron Hinsichten:
a) Gemäß der Herkunft leugnete er zunächst schlechterdings die Möglichkeit einer
reinen Demokratie, wenn sie sich über eine Bewohnerschaft von drei bis vier Mil-
lionen hinaus ausdehnt; nur für einen Stadtstaat sei sie realisierbar. Es sei ein
leichtes und luftiges Ding, ... eine Derrwkratie .von fünfundzwanzig Millionen Men-
schen . . . aufzuführen. Da Frankreich· zu groß sei für eine d,emokratische Repuhlik,
möge es sich durch die Rückgabe von Elsaß, Lothringen und der drei Bistümer ver-
kleinern, um seinem Verfassungsideal näher zu kommen i 7e,
b) Eine Demokratie - im Sinne von Plato, Rousseau und de Jaucourt in der
Encyklopädie - setze den tugendhaften Menschen voraus, könne ihn aber nicht
erziehen. Im Gegensatz zu den amerikanischen Staaten sei es daher ein unnatürlicher
Zustand, in Frankreich, wo die Einfalt und Reinheit der Sitten fehlten, eine Demo-
kratie einzuführenl79,
c) Auch wenn Wieland dazu neigte, die Möglichkeit einer reinen Derrwkratie zu
bejahen, solange man innerhalb der Theorie stehenbleibt180, so hegte er doch theo-
retische Bedenken gege:h diese Verfassungsform überhaupt. Mit Rousseau hielt er
sie für unerfüllbar, für eine politische Schimiire 181 , weil sie institutionell zu ihrer
178 WIELAND, 'Ober Krieg und Frieden (1794), AA 1. Abt., Bd. 15 (1930), 643 ff., bes. 648. 653.
ue Ders., Sendschreiben an Ehlers (1792), ebd., 423.
180 Ders., Über Krieg und Frieden, ebd., 652.
181 Ebd., 647.
848
IV. 1. Öffnung des gesebiehtsphilosopbisehen Horizonts Demokratie
182 Ders., Geschichte des Agathon 8, 1-3 (1766 ff.). AA 1. Abt., Bd. 6 (1937), 202 ff.
183 Ders., Über Constitutionen (1792), Werke, Bd. 31(1857),161. 167. 264. 269. 287 ff.
184 Ders., Athen, Werke, Bd. 34 (1857), 377 f.
1116 Ders., Sendschreiben (vgl. Anm. 179), 426. 429.
l86 Ders., Gespräche unter vier Augen (1798), Werke, Bd. 32 (1857), 56 ff. 69. 113.
187 Ebd., 100.
188 Ebd., 88.
54-90385/1 849
Demokratitt IV. 1. Öffnung des geschiehtsphi1oeophileben Horizont•
sehen Mutterkirche18 9 , aber eben deshalb blieb er Realist genug, den Demokratie-
begriff als einen universellen Erwartungsbegriff mt analysieren: Die republikanische
Verfassung ist in einer Art von 'JYf'ophetischem Geiste, für ein anderes JahrhttlniltJrt,
für ein Volk, M,s erst noch dazugebildet werden solZ, gemachtl90.
Diese Wende des Demokratiebegriffs wurde nun von KANT theoretisch erfaßt,
wenn auch unter dem Terminus Republikanismus. Görres, Schlegel und Arndt
seien dafür genannt, wie der moderne Demokratiebegriff als ein geschichtsphiloso-
phischer Erwartungsbegriff in den deutschen Sprachraum allgemein eingeführt
wurde.
Kant hinterfragte 1795 die herkömmlichen, statisch gedachten drei Herrschafts-
formen der Autokratie, Aristokrat-ie und Demokrat-ie (als formae imperii), indem er
ihnen die Frage nach der Form der Regierung überordnete. D-ie Form der Regierung
(fotma regiminis) ... betrifjt di,e auf die Konstitution (den Akt des allgemeinen
Willens, wodurch die Menge ein Volk wiril) ge,gründete Art, Wie tkr St.an.t "'m .~P.i11e
Machtvollkommenheit Gebrauch macht: und ist in dieser Bez-iehung entweder republi-
kanisch oder despotisch. Der überkommenen Triade von Herrschaftsformen stel!te
Kant eine Zwangsalternative gegenüber, die eine Wende zur besseren Zukunft her-
beifiihr1m sollte. Der bisher übliche Wechsel von einer Herrschaftsform zur anderen
gehöre zum Maschinenwesen de„ St11,at.~verfassuiu.J und führe nicht weiter; in Wirk-
lichkeit komme es auf den Geist an, auf die Art und Weise, wie in Zukunft regiert
werde: das allein führe zur einzig rechtmäßigen Verfassung. Dort, wo die Gewalten-
teilung eingerichtet, wo die Gesetzgebung durch ein repräsentatives System ge-
sichert, wo M,s Gesetz selbstherrschend sei, überall dort herrsche die reine Republik,
die einzige bkibende Staatsverfassung 191 • Diejenige Herrschaftsform, die weder Ge-
waltenteilung noch Repräsentation dulde, sei per definitionem eine Despotie: d. h.
also in erster Linie die Demokratie. Damit verschärfte Kant das alte Diktum, daß
die Demokratie immer Gefahr laufe, in die Tyrannis umzuschlagen: sie sei despo-
tisch schlechthin.· Anders die restlichen Herrschaftsformen der Monarchie und der
Aristokratie: sie hätten die Chance, sieh sowohl republikanisch, d. h. in Richtung
auf eine repräsentative Republik wie etwa unter Friedrich II. von Preußen, oder
despotisch zu verhalten. Die Prinzipien dieser geschichtsphilosophisch vorweg-
genommenen Bewegung hießen nun bei Kant Despotism, der zum Absterben ver-
urteilt sei, und Republikanism. Wer diesem folge, habe die Aufgabe, die überkom-
menen Herrschaftsformen dahin zu nutzen, daß durch allmähliche Re/O'Tmen19l.a im
Effekt die Prinzipien einer reinen Republik zur Geltung kamen. Die Republik war
das Tslo'" der Republikanismus das Prinzip der Bewegung. 'Republikanismus'
wurde als Indikator g~chichtlicher Bewegung zugleich ein Handlungsbegriff. Er
enthielt die moralische Aufforderung, auf das theoretisch zwingend ableitbare Ziel
einer Republik als der einzig wahren Verfassung hinzuarbeiten.
Mit dieser geschichtsphilosophischen Verwandlung der aristotelischen Politeia-
850
IV.1. Öffnang des gesehicbtsphilosopbisehen Borizonta Demokratie
851
Demokratie IV. L Öffnwig des geschichtaphilosoplüschen Horizonts
196 J. G. FICHTE, Grundlage des Naturrechts (1796), AA Bd. 1/3 (1966), 440.
Ebd., 441 f.; vgl. FlcBTES Rez. der Kantschen Friedensschrift, ebd„ 217 ff.
1e 7
198F. SCHLEGEL, Versuch über den Begriff des Republikanismus (1796), SW Bd. 7 (1966),
12 ff., bes. 17. ·
852
IV. 1. Öffnung des geschichtsphilosopbischen Horizonts Demokratie
erschienen ist, und daß die reine Herrschaftslosigkeit in der endlichen Zeit nicht ein-
treten wird199. Aber den Weg dahin müsse man einschlagen. Das konkrete Programm
entwickelte er in seiner Nachfolgeschrift „Der allgemeine Frieden, ein Ideal", das
zum Ende des ersten Koalitionskrieges (1798) erschien. Die ideale Staatsform sei
die holarchisch demokratische, die selbst die Gewaltenteilung kenne, indem bei der
vollkommenen Holarchie alle einen Teil der legislativen und eukutiven Macht zugleich
bekommen. Konkret gesprochen bildete Frankreich die Form des Normalstaats, die
die demokratische sei. Gegenüber allen Regulativstaaten (der Koalition), mit denen
der Friede zu schließen sei, stünde dem Normalstaat eine lange Reihe von Erzie-
hungs- und Interventionsrechten zu, die dafür sorgten, daß sich die geschichtliche
Bewegung nicht umkehre, sondern zur allgemeinen Erfüllung des idealen demo-
kratischen Zieles hinführe200.
Indem Görres Kants Unterscheidung zwischen Herrschaftsform und Regierungs-
weise wieder zur Deckung brachte, verwandelte sich Cler geimhichtsphilosophische
Zielbegriff in einen Erziehungsbegriff, den zu erzwingen der empirisch aufweisbare
Normalstaat eine rechtliche, nicht nur politische Pflicht habe. In diesem Sinne
konnte der Demokratiebegriff auf alle Staaten übertragen werden, selbst dorthin,
wo er später mit einer antinapoleonischen Wendung verknüpft wurde wie bei
ERNST MoRITZ ARNDT, der die geschichtliche Regel formulierte: Alle Sta,af,en, auch,
die noch keine Demokratie sind, werden von J alvrliundert z·u J alirliundert mehr demo-
kratisch werden. Um diesem Gesetz Folge zu leisten, gelte das jus revolutionis, das
die Zeichen der dritten Epoche des Ohristenf;urns trage 201 •
Andererseits konnte in diesem Horizont der geschichtsphilosophischen Demokratie-
erwartung auch Kants Entgcgcnsctzung von Herrschaftsform und Regierungsart
wieder aufgegriffen werden, um die Reformen zu legitimieren, die den Rechtsstaat
einleiten sollten. So schrieb HARDENBERG in seiner Rigaer Denkschrift vom 12. 9.
1807: Demokratische Grundsätze einer monarchischen Regierung: dieses scheint mir
die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist 202 , wobei Hardenberg wieder
den alten Topos aufgriff, daß eine reine Demokratie sich nie verwirklichen lasse:
diese Hoffnung dürfe man getrost auf das Jahr 2440 (der Utopie von Mercier) ver-
schieben. Das von d'Argenson vorbereitete und von Kant theoretisch erhärtete
Zusammenspiel von - aristotelisch gesprochen - Demokratie und Monarchie
konnte seitdem in.das 19. Jahrhundert hineinwirken.
So vollzog sich im Rahmen einer allgemeinen ausgreifenden geschichtsphilosophi-
schcn Demokratiedeutung eine Reihe von Neubildungen und Verschiebungen des
gesamten Wortfeldes. Die moderne Politisierung, die „Sozialisierung" und die par-
teiliche Streuung sollen nun im einzelnen geschildert werden. Wie sehr 'Demokratie'
zu einem Handlungs- und Erfüllungsbegriff geworden war, zeigt sich bereits an dem
Neologismus 'Demokrat', der zum Träger der Aktion wurde.
REINHART KosELLECK
199 J. GöRRES, Das rothe Blatt, Ges. Sehr., Bd. 1 (1928), 196.
2° 0Ders., Der allgemeine Frieden, ein Ideal (1798), ebd., 29 ff.
2o1 E. M. ARNDT, Über künftige ständische Verfassungen in DeutF.chland (1814), Werke,
Bd. 1 (1908), 222; ders., Staat und Vaterland, hg. v. Ernst Müsebeck (München 1921), XI.
202 HARDENBERG, Rigaer Denkschrift (1807), in: Die Reorganisation des Preußischen
Staates unter Stein und Hardenberg, hg. v. GEORG WINTER, Bd. 1/1 (Leipzig 1931), 306.
853
Demokratie IV, 2. 'Demokrat'
2, 'Demokrat'
Ein Vor0picl zu der mit der Revolution einsetzenden .l:'arLeilicheu Politisierung des
Begriffs bildete.das Auftauchen des Wortes 'Demokrat' („Anhänger der demokrati-
schen Regierungsform") und seines Gegenbegriffs 'Aristokrat'. Der erste Beleg für
'Demokrat' stammt von KLOPSTOCK aus Dänemark, der 1760 zur Hundertjahrfeier
der dänischen Erb-Souveränitätsverschreibung in einer Ode feststellte, daß nicht
nur, wo das Gesetz und Hunderte ·herrschen, sondern auch, wo das Gesetz und einer
herrscht, Opferbereitschaft bestehe, daß hier aber auch größere Friedenschancen
bestünden. 0 Freiheit, Freiheit! nicht der Demokrat allein / Weiß, wer Du bist!/ Der
gut~n Könige glückliche Sohn/ Der weiß es auch/ 203 Weitere Belege für 'Demokrat',
'Demokraten' stammen aus den Niederlanden 204• So bezeichnete der Rotterdamer
Patrizier VAN HoGENDORP dle gegnerischen Parteien der Revolutionsbewegung von
1784/87 11.li; Aristokrat.en und Dem-0kraten 206 , Im belgischen Aufäto.nd von 178!)
nannten sich die Führer der revolutionären Partei braves Democrates und bons
Democrates 20 6 • Als Selbstbezeichnung radikaler revolutionärer Gruppen tritt das
Wort dann in Frankreich während der Revolution auf, wobei seine Verbreitung
freilich gegenüber anderen stärker bevorzugten Wörtern - 'Patriot', 'Jakobiner',
'Sansculotte' - deutlich zurückbleibt 2 0 7 • Breitere Ausstrahlung und europäisches
Echo fauJ Jer Begriff t:miL all:! Schelt- und Schimpfwort, das die Revolutionsgegner-
ihrerseits von den Revolutionären als 'Aristokraten' gebrandmarkt - gegen die
prorevolutionären Kräfte ins Feld führten. Vor allem in Deutsch land wurde das
Drama der Französischen Revolution als Kampf zwischen „Aristokraten" und
„Demokra ten" empfunden2oa.
Nach den vorliegenden Zeugnissen ist es unwahrscheinlich, daß - wie man im
19. Jahrhundert gelegentlich vermutet hat 209 - dieser Sprachgebrauch aus den
angelsächsischen Ländern übernommen wurde. Weder der Ausdruck 'Aristokratie'
noch der Ausdruck 'Demokrat' ist im englischen Sprachbereich vor 1789 bezeugt.
„No 'democrats' fought in the American Revolution; and the Age of Aristocracy,
203 FRIEDR. GoTTLIEB KLoPSTOCK, Auf das Jubelfest der Souveränität in Dännemark,
v. 13 ff. (Titel letzter Hand: Das neue Jahrhundert]. Oden und Elegien (Darmstadt 1771;
Ndr. Heidelberg 1948), 43.
2NPALMER, Notes (s. Anm. 114), 205 f.
206 Zit. ebd. ,..
206 Zit. SuzANNE TASSIER, Les democrates belges de 1789. Etude sur le Vonckisme et la re-
volution brabam;onne, Memoires de l'Academie royale de Belgique, Classe des Lettres,
2• ser., t. 28/2 (Brüssel 1930), 424 f.
207 BRUNOT t. 9/2 (1937), 652.
2os Vgl. GEORGE P. GoocH, Germany and the French Revolution (London 1920); ALFRED
STERN, Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben (Stuttgart.,
Berlin 1928).
2oe So etwa LOTHAR BucHER, Ober politische Kunstausdrücke, Dt. Rev. 12/2 (1888), 71:
.A."linliche Notizen macht der Royalist Präsident HenauU in aeiner Geschichte Frankreich&. Er
erwähnt z. B. zu Anfang dea Jahrea 1789, d,aß d,amala der Klub, da8 Wort und die Sache,
aua England eingeführt worden aei und d,aß man in den Kluba zum eraten Male die Bezeich-
nung Demokraten und AriatOkraten angewandt habe, beziehungaweiae auf den dritten Stand
und die beiden anderen Stände.
854
IV. 2. 'Demokrat' Demokratie
not to be revived until the founding of the Democratie pa.rty a generation later." Daß sich
der Ausdruck unter den linken Gruppen der USA erst gegen 1900 allgemein verbreitet habe,
und zwar bei gleichzeitiger Differenzierung zwischen sozialer und politischer Demokratie,
zeigt MURRAY S. STEDMAN JR., „Democracy" in American Communal and Socialist
Literature, Journal of the Hiat. of Ideas 12 (1951), 151 ff.
217 F. v. RAUMER, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Bd. 2 (Leipzig 1845), 27.
218 Einzelheiten bei P ALMER, Notes, 217. In Holland gingen 'Demokraten' und 'demo·
kratisch' auch frühzeitig in die offiziöse politische Sprache ein, weit stärker als in Frank·
reich; so nannte sich eine wichtige Amsterdamer Zeitung der Revolutionszeit De Demo-
craten. Im Januar 1798 wurde im holländischen Parlament eine Petition für ein,e demo-
kratische Repräsentativverfassung eingebracht; ein Verfassungsausschuß erklärte dem
französischen Gesandten, daß die Niederländer ein größerea Maß an Demokratie vertrügen
ala die Franzosen.
219 Zuerst belegt bei dem Genfer F. BomvARD 1550 als Rückbildung aus dem Französischen,
zit. KLuaE/.MrrZKA 18. Aufi. (1960), 126; vgl. FRANZ SEBASTIAN M:EmmGER, Gedanken
über die gewöhnlichsten Regierungsformen Demokratie, Aristokratie und Monarchie
(1777), 28: keine Epoche, die die Triebfedern aller Handlungen der Demokraten unteraucht;
vgl. o . .Anm. 203.
855
Demokratie IV, 2. 'Demokrat'
als Schelte der Republikaner begegnet: die Demokraten, die derma"len in Frankrewh
den Meister spielen 220• Aber bald geriet der Ausdruck in den Sog der revolutionären
Verschärfung. So schrieb GENTZ 1794: im Vorwort zu seiner Mallet d~ Pan-Überset-
zung: Die U nhekanntschaft mit dem wahren Gange der Revolution und die I nkonse-
quenz bei der Beurteilung ihrer verschiedenen Metamorphosen hat in Deutschland, wie
allenthalben, jede demokratische und antidemokratische Partei in eine große Anzahl
von Unterparteien zerspalten, deren ganze Differenz auf Irrtümern gebaut, an und für
sich aber ganz nichtig ist. So gibt es noch auf den heutigen Tag Demokraten bis zum
5ten Oktober 1789, Demokraten bis zur Entstehung der zweiten Legislatur, Demokraten
bis zum Jüten August 1792, Demokraten bis zur Ermordung Ludwig des XVI„ Demo-
kraten bis au/die Vertreibung der Brissotschen Faktion im Monat Juni dieses Jahres
(Robespierre war noch nicht gestürzt) 221 • Der geschichtsphilosophische Bewegungs-
begriff des 'Demokratismus' entließ entlang dem Ablauf der Revolution perspek-
tivische Parteibegriffe aus sir,h h1m1.11R, niA Rich in der Abschattierung der 'Demo-
kraten' äußerten.
Bereits 1792 setzten die ersten Verdeutschungsversuche ein, die noch von philo-
logisch scheinbar neutraler, in Wirklichkeit revolutionsfreundlicher Haltung zeugen:
CAMPE übersetzte 'Demokrat' mit Volksfreund oder Freund der Volksregierung und
fügte erlii.uternd hinzu: Dewtb rle•r De11w"7rat will nwlit gerade selbst hwrrschen, er will
nur, daß das Volk durclt seine 8telluertret,er nR.rrsche. Jenes will der Demagog 222 • Für
ADELUNG ist der 'Demokrat' einer, dor dio demokratische Verfassung begünst·igt,
derselben ergeben ist 223 • Ausführlich äußerte sich CAMPE in seinem „Verdeutschungs-
buch" (1813) über den Begriff: D1:es Wort bedeutet 1) den Bürger eines Staates, worin
das Volk durch seine Stellvertreter sich selbst regiert; und insofern kann man es durch
Freibürger verdeutschen, wofür andere, aber ohne Glück, auch Freiliinder (wie Nieder-
länder) versucht haben. 2) Einer, der freibürgerliche Gesinnung hegt; und da ist es ein
freibürgerlich Gesinnter, ein Volksfreund, Volksgesinnter, ein Freiheitsfre·und. In den
letztverftossenen Jahren haben die Freunde der Alleinherrschaft und des Adels das
Wort Democrat zu einem Schimpfwort gemacht, womit man, wie Voß (im M usenalma-
nache 1794) sagt, jeden belegt, 'der nicht alles Hergebrachte für unverbesserlich hielt'.
Allein dieser unnatürliche Sprachgebrauch wird mit den Umständen, die ihn veranlaßt
haben, vorübergehen 224• SCHELLING mußte sich (1796) den Verdacht, ob wh Demo-
schweig 1792), 56 f.
228 ADELUNG 2. Aufl., Bd. 1 (1793), 1444.
224 CAMPE, Fremdwb. (1813), 253. Vgl. JoH. HEINRICH Voss' Ekloge (nach John Gay)
„.Junker Kordt", Musen-Almanach (1794), 203: Der Baur und Bürger wird Kanalj' und Pack
betiteU, / Und 8einem .Anwach8 früh die Men11chheit ausgeknittelt: JSchulmei8ter, 8priclit er,
macht die Buben nicht zu klug!/ Ein wenig Chri8tentum und Leaen iBt genug// Beim Pfeifchen
Bchwatzt mit ihm von Korn- und Pferdeachacher / Sein Pfäfflein, und beaeufzt der neuen
Büchermacher J Gottlo8igkeit. Verdammt zum Galgen und zy,m Rad / wird dann durch beider
Spruch FreigeiBt und Demokrat/ Dazu Anm. 27: Freigeist, ein alte8 Schimpfwort für den,
85.6
IV. 2. 'Demokrat' Demokratie
· krat, Aufklärer, Illuminat u.s.w. seie, gefallen lassen 226 • Und so schrieb FICHTE
(1799) an Reinhold: Ich habe nie geglaubt, daß sie meinen vorgeblichen Atheismus
verfolgen, sie verfolgen in mir einen Freidenker, der anfängt, sich verständlich zu
machen (Kants Glück war seine Obscurität), und einen verschrieenen Demokraten; es
erschreckt sie wie ein Gespenst die Selbständigkeit, die, wie sie dunkel ahnen, meine
Philosophie· weckt 226.
Von Ultra-Demokraten und Ultra-Aristokraten sprach VON ARETIN (1809) 227 • Wäh-
rend hinter der Vorsilbe ultra- damals oft noch der Versuch stand, die ursprüng-
lichen Bedeutungen gegen die revolutionäre Verschärfung zu retten, mußten über-
zeugte Volksmänner wie ARNDT den Verfall ihres gemeinten „eigentlichen" Begriffs
registrieren : Demokrat, demokratisch, Demokratie sind durch die Klänge der letzten
zwanzig Jahre und durch den Mißbrauch, den man mit diesen Klängen getrieben hat,
für die Herzen und Ohren aller Guten eine Art Rattenpulver geworden; in ihnen selbst
lie{Jt nichts Absch.e.ulich.e.s, sie beziehen sich allein au,/ das Große m1d Allqemeine, was
man Volk nennt, und die besten Kaiser und Könige und alle edle Menschen haben ja
auch immer nur bekannt, daß sie für das Volk da sind und für das Volk und mit dem
Volke regieren. Das Volk ist ebenso heilig, als der Pöbel unheilig ist. Jemand, der
wünscht, daß für das Volk und durch das Volk geherrschet werde, heißt Demokra.t,
wer es mit dem Pöbel halte, Ochlokrat 228 • Das aristotelische Schema scheint hinter
aller ge1:1chichL8philo1:1ophllichen Erwa1·Lung, die sich zunehmend zermürbt hatte,
bei Arndt wieder durch. Und in diesem traditionalistischen Sinn ist es bezeichnend,
daß in Deutschland anders als in Frankreich - neben der vorherrschenden Bedeu-
tung des „freiheitlich Gesinnten" - auch noch der objektive Sinn des „in einer
Demokratie lebenden", des „Freibürgers" oder „Freiländers" fortexistierte; in
diesem Sinne gibt noch ÜERTEL in seinem „Fremdwörterbuch" (1830) die Erläute-
rung: 1) eig. Volksherrscher, 2) Freibürger, Bürger eines Staates, in welchem das Volk
durch seine Stellvertreter sich selbst regiert und seine Stimme durch ganze Gemeinheiten
gibt, 3) Freibürgerlichgesinnter, Freiheitsfreund, Volksfreund 229 •
der nicht je,d,em angemuteten Glauben seine Vernunft unterwirft. Demokrat, ein neues Sehimpf-
wart für den, der nicht alles Hergebrachte fiir unverbesserlich hiilt.
225 ScHELLING schreibt in einem Brief an Hegel von einer Hofmeisterstelle, die man ihm
nicht ohne weiteres geben will; Briefe von und an Hegel, hg. v. JOHANNES HoFFMEISTER,
Bd. l (Hamburg 1952), 35.
226 FICHTE, Brief an Reinhold v. 22. 5. 1799, in: Johann Gottlieb Fichte's Leben und
literarischer Briefwechsel, hg. v. IMMANUEL HERMANN FICHTE, 2. Aufl., Bd. 2 (Leipzig
1862), 258.
227 CHRISTOPH FRH. v. ARETIN, Die Pläne Napoleons und seiner Gegner (München 1809), 3.
228 ARNDT, Über künftige ständische Verfassungen in Deutschland (1814), Werke, Bd. 13
(1908), 222.
229 ÜERTEL (1830), 228; ähnlich schon HEINSIUS Bd. l (1818), 742: Demokrat, ein Volka-
857
Demokratie IV. 4. Die Frauzöai&che Revolution
858
IV. 4. Die Französische Revolution Demokratie
wiederaufnahm - tout poude peuple, tout par le peuple, tout au peuple 237 - waren
die Gesetze der Demokratie von Gott selbst den Menschen gegeben worden; die
Demokratie war delllllach die von Gott sanktionierte Regierungsform. OhristWJ
starb pour la Mmooratie de l'univers 238 • Der konstitutionelle Bischof GREGOIRE
sprach von der alliance si naturelle du christianisme et de la democratie 239 • 'Demo-
cratie fraternelle', 'democratie chretienne' waren Begriffe dieser Zeit 240 • Freilich
hatte dieser emphatische Demokratiebegriff in den ersten Jahren der Revolution
keine unmittelbare politische Bedeutung; er spielte z. B. in den Debatten um das
allgemeine Wahlrecht 1790 noch keine Rolle241 • Erst mit der Jakobinerherrschaft
und dem Konventsregime drang er in die politische Öffentlichkeit vor. So rühmte
lIERAULT-SECHELLES den Verfassungsentwurf des Konvents als repräsentativ und
demokratischm (während der Entwurf selbst das Wort 'Demokratie' nicht enthielt);
RoBESPIERRE entwickelte in seiner Rede vom 5. Februar 1794 einen .Hegrifi' der
Demokratie, der praktisch synonym war mit 'Republik'; 'Demokratie' konnte nach
ihm sowohl direkt-demokratische wie repräsentative Elemente umfassen; entschei-
dend war nicht die verfassungsmäßige Ausgestaltung, sondern der Geist, die „Seele"
der Demokr.atie, die gleichbedeutend war mit vertu publique und amour d' egalite,
wobei er die Definition aus der „Encyclopcdie" aktualisierte 243 • Obwohl das Wort
auch unter dem Konvent keine Alleinherrschaft errang, wurde es für den Geist der
Zeit symptomatisch; CoNSTANTIN STAMA'l'l datiert.e z. B. einige seiner Briefe aus
dem Jahre 1793 im zweiten Jahr nach der Demokratie 244•
Der Nachhall dieses neuen Demokratiebegriffs war am stärksten im revolutionären
Italien zwischen 1796 und 1800. Man sprach von governo democratico, educazione
demooratica, Risorgimento della democrazia oppressa, democratizzare il Popolo, ja ein
Theaterstück proklamierte die Demokratisierung des Himmels 245 • Der Bischof von
CA.MPK, Fremdwb. (1813), 2153: Demokratie können wir bald durch Vulksherrscliaft, bald durch
Bürgerreich, bald durch Freistaat verdeutsclt,en. Die Begriffe Demokratie und Republik P,ießen
ineinander.
M3 Discours et rapports de Robespierre, 6d. C. VELLAY (Paris 1908), 324 ff.
'"C. STAMATI, zit. PALMER, Notes, 213, Anm. 23.
HI P ALMEB, Notes, 220 ff.
859
Demokratie IV. '· Die Französische Revolution
Imola - später Papst Prns VII. - ermahnte Weihnachten 1797 seine Gläubigen,
gute Christen zu sein und sich brüderlich zu zeigen: dann werdet Ihr auch die be-
sten Demokraten sein240.
Trotz aller revolutionären und geschichtsphilosophischen Ausweitungen und Um-
formungen scheint in der deutschen Literatur häufig eine traditionelle Bestimmung
durch, wenn auch die Erweiterung zur repräsentativen Demokratie, wie schon bei
Köster 1783, und die Verschmelzung mit dem Begriff der Republik bei einigen
Schriftstellern anklang. Vorerst hielten die Theoretiker oft daran fest, daß zur
Demokratie dip Ausübung der Souveränität durch das Gesamtvolk gehöre. So
schrieb EBERHARD (1793): Wenn die Vereinigung der bürgerlichen Gesellschaft zu-
stande gekommen ist: so muß sie sich nun entschließen, ob sie die oberste Herrschaft,
selbst ausüben oder ob sie ihre Ausübung andern übertragen will . • • Wenn sie beschließt,
daß der ganze politische Körper die Ausübung der Souveränität beibehalten soll: so ist
ihre Regierungsform oder ihre Staatsverfassung eine Demokratie~ 47 • PossE (1794):
Nehmen nicht alle einzelnen Mitglieder eines Staats an der Verwaltung desselben un-
mittelbar Anteil, so fällt das Charakteristische der Democratie weg, und es entsteht
entweder Aristocratie oder Monarchie 248 . .
.A UI) den Vo1·gii.ngen in Fra.nkrl;-\id1 zog das „Cmiveroiat,inns-Lexikou" Vl.IU 1796 a~.11
alten Schluß, daß eine ganz reine Demokratie eigentlich gar nicht stattfinden kann, weil
es nie an verschlagenen Köpfen fehlen wird, welche das Volk nach ihrem Willen lenken
und oft gar tyrannisieren. Die Konstitution von 1793, welche in Frankreich eine reine
Demokratie einführen sollte, war doch so beschaUen, daß sie unmöglich lange bestehen
konnte, ob sie gleich von den Grundsätzen einer eigentlichen Demokratie noch sehr weit
entfernt war 249 . Ähnlich hieß es in Anlehnung an rousseausche Gedanken bei
WAGNER (1804): ... wenn die Idee der Democratie, .~ich unmütelbar selb.~t zu, regieren,
herrlich scheint, so muß sie doch notwendig durch jede Darstellung zu Grund gehen;
denn ein Volk, das sich selbst zu regieren vermöchte, bedarf kein Forum und keine
Oomitien; sein Privatleben wird selbst ein öUentliches sein . . . Die Democratie aber,
indem sie selbst ihr gemeines Wesen jedem bloßgibt, der etwas Kraft haben möchte, es
zu gouvernieren ... , die Democratie muß betrogen werden, um eine Regierung zu
haben, denn der Demagog darf nie als Herrscher erscheinen; dagegen aber erregt die
Democratie durch die HoUnung zu herrschen jedes Talent einzelner und vergönnt jedem
das freieste Leben2°0.
Als Fazit kann festgehalten werden, daß es der Revolution nicht wirklich gelang,
die traditionelle Reserve gegenüber der reinen oder absoluten Demokratie wegzu-
246 Zit. ALBERT DUFOURCQ, Le regime jacobin en Italie. Etude sur la republique romain
1798-99 (Paris 1900), 30; vgl. dazu KARL BucHHEIM, Über christliche Demokratie,
Hochland 53 (1960/61), 407 ff.
247 JoH. AUGUST EBERHARD, Ueber Staatsverfassungen und deren Verbesserung, [Bd. l]
(Berlin 1793), 46 f.
248 A. F. H. PossE, Über das Staatseigentum an den deutschen Reichslanden und das
860
V. Demokratie als Indikator gesebiehtlieher Bewegung Demokratie
räumen; sie hat sie im Gegenteil durch das Scheitern ihrer als radikaldemokratisch
aufgefaßten Verfassungsexperimente erheblich nrstärkt. So blieb nach der napoleo-
nischen Zeit der Begriff der Demokratie im eigentlich verfassungspolitischen Kern-
bereich nach wie vor umstritten. Am stärksten war die Ablehnung im englischen
Sprachraum, wo das Wort zunächst nur bei P AINE und Fox, in geringem Umfang
bei JEFFERSON und später bei JACKSON in einer positiven Bedeutung auftrat2 6 1;
aber auch im kontinentaleuropäischen Sprachgebrauch der Restaurationszeit blieb
'Demokratie', 'Demokratismus' 252 ein meist ~bwehrend gebrauchtes Schimpf- und
Scheltwort. Erst 1848/49 erhielt das Wort dann breitere und z. T. auch positivere
Bedeutung253 . Bleibendes Ergebnis der mit der Revolution beginnenden Periode
war aber, daß der Begriff 'Demokratie' seine Fixierung auf den verfassungspoliti-
schen Bereich und die Ebene der Staatsform verlor und eine historische und ideo-
logische Ausweitung erfuhr. Mit dieser Bedeutungsausweitung hängt auch die Ent-
stelnmg fies Ausilr1rnkR 'ilemolrrati11ieren' zusammen, der, bereits 1798 von WIELAND
verwendet (s. o. S. 849), in ÜAMPES „Verdeutschungsbuch" 1813 folgendermaßen
umschrieben wurde: 1) Freibürgerliche Gesinnungen äußern, an den Tag legen, zu
erkennen geben, auskramen, freibürgern, 2) freibürgerliche Gesinnungen einfi-Oßen 264•
'Demokratie' war zum Tendenz- und Bewegungsbegriff geworilen, ein verändertes
Verständnis brach sich zunächRt im Vormärz langsam Bahn.
251 PALMER, Notes, 208 f. 223 :ff.; ßLANKE, Der amerikanische Demokratiebegriff, 43 ff.
(s. Anm. 114).
262 Die Warnung vor einem debordement du democratisme franJiais findet sich bereits in
einer Proklamation FRIEDRICH WILHELMS III. von 1794; vgl. ZAJAZEK, Histoire de la
revolution de Pologne en 1794 par un temoin oculaire (Paris 1797), 248; vgl. PALMER,
Notes, 211. In Deutschland wurde 'Demokratismus' 1796 von FRIEDRICH SCHLEGEL,
Begriff des Republikanismus (s. Anm. 198), 19 verwendet: Wenn es hier der Ort wäre,
so würde e.s nicht schwer sein, zu erklären, warum bei den Alten die Ochwkratie immer in
Tyrannei überging, und bis zur höchsten Evidenz zu beweisen, daß sie bei den Modernen in
Demokratismus übergehen muß.
263 Hierzu allgemein FRIEDRICH EDDING, Vom Ursprung des Demokratismus in Deutsch-
861
Demokratie V. 1. Verfassungspolitisehes Verstäntlnü
1. Verfassungspolitisches Verständnis
Die zunehmende Orientierung der Demokratietheorie aq der demokratischen
Praxis, wie sie sich in den europäischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts und in
dem jetzt in den Vordergrund tretenden Verfassungsmodell der Vereinigten Staa-
ten266 entfaltete, bewirkte zunächst eine Verschiebung innerhalb des engeren
verfassungspolitischen Verständnisses der Demokratie: ·diese wurde jetzt immer
weniger als eine von andern klar abgegrenzte Staatsform verstanden, der als Alter-
native Monarchie oder Aristokratie gegenüberstanden, sie galt vielmehr als ein
den modernen Verfassungen im ganzen inhärierendes politisches Element, das sich
je nach sozialer Verfassung und historischer Situation mit aristokratischen und
monarchischen Elementen verbinden konnte. Dementsprechend flossen aus dem
Demokratiebegriff zunächst alte Bedeutungen aus: 1) die Fixierung auf „reine"
oder „direkte" Demokratie, 2) die Bindung an kleine Staaten und einfache Gesell-
schaftsformen, 3) schließlich sogar der Gegensatz zu aristokratischen und monarchi-
schen Ordnungen. Wir gehen dieser Entwicklung - die sich ebenso im angel-
sächsischen und romanischen Sprachraum bemerkbar machte - im folgenden
hauptsächlich an Hand deutscher Quellen nach.
(1841), 189: Die Demokratie kann in ihrer Reinheit nur unter einem Volke bestehen, woEinfaU
der Sitten und Achtung für Tugend herrscht. Jetzt sind die nordamerikanillchen Freistaaten
die einzige wirklich bestehende Demokratie.
267 KARL HEINRICH LUDWIG PöLITZ, Die Staatswissenschaft im Lichte unserer Zeit, Bd. 1
(Leipzig 1823), 441. Begriff und Gedanke sind jedoch älter (s. o. S. 846).
862
•) Demokratie Im Großstaat Demokratie
nach der Gesamtzahl des Volkes statistisch festgesetzt wird 268 • Obwohl dieser Gedanke
nicht unangefochten blieb269, war doch die Unterscheidung von reiner (direkter)
und · repräsentativer (gemäßigter) Demokratie ein bleibendes Ergebnis der im
Vormärz geführten Diskussion; sie begegnete bei BLuM 2eo, MEYER 20 1, BROCKHAus2s2
und BLUNTSCHLI/BRATER, wo die Repräsentativdemokratie eine aristokratisch-
ermäßigte, d. h. veredelte Demokratie2 8 3 genannt wurde. Es ist bezeichnend, daß die
Theorie jetzt nicht mehr - wie noch im 18. Jahrhundert - Repräsentativdemo-
kratien als echte oder verschleierte Aristokratien kennzeichnete, sondern bemüht
war, ein breites Feld demokratischer Ordnung in repräsentativen Formen einerseits
von der absoluten Demokratie 264, andererseits von der Aristokratie im eigentlichen
Sinne abzugrenzen - ein deutliches Zeichen der veränderten historischen Situation,
in der Demokratie nicht mehr nur in den Formen des angelsächsischen town-
government oder der Schweizer Landsgemeinde auftrat, sondern auch die Ver-
fassungsformen großer Staaten beeinflußte und umbildete.
b) Demokratie im Großstaat. Dem entspricht es, daß in der Theorie die demokrati-
sche Regierungsform jetzt nicht mehr auf kleine, einfache und gesellschaftlich homo-
gene Staatsgebilde beschränkt wurde. Hatte noch ScHLÖZER von der Demokratie ge-
meint, sie könne bestehen bei einem kleinen unverdorbenen unkultivierten Volke,
das keine andere Gemeindegeschäfte betreibt, als zu denen bloß schlichter Menschen-
verstand gehört, während bei einem großen verfeinerten, d. i. verdorbenen Volke die
Demokratie die despotischste aller Regierungsformen sei 286, so begannen sich auch
in diesem Punkt die Anschauungen im Vormärz allmählich zu wandeln. Entschei-
dend war vor allem das amerikanische Beispiel, das jetzt - nach der Tocqueville-
Übersetzung F. A. Rüders (1836) - immer stärker zum Mittelpunkt theoretischer
Reflexion über demokratische Regierungsformen wurde 288. So bemerkte der
BROCKHAUS von 1838: Die Demokratie als eigentliche Volksherrschaft hat ihr Feld
in .Amerika; sie wird es dort gewiß noch lange behaupten und sich in den verschiedenen
Gestaltungen, deren sie fähig ist, nicht allein weiter auslaufen, sondern auch sehr
bedeutend, und je mehr die europäischen Sprachen . . . dort Boden und Wurzel ge-
winnen, desto bedeutender auf das alte Europa zurückwirken267 • Die Vereinigten
2" Der Ausdruck bei BLUNTSCBLI/BRATER Bd. 2, 699 und bei BROCKHAUS 10. Auß., Bd. 4,
689.
115 Scm.özER, Stats-Gelartheit (s. Anm. 134), Bd. 1, 128 f.
281 Vgl. ERNST FRAENXEL, Amerika. im Spiegel des deutschen politischen Denkens (Köln
1959).
117 BROCKHAUS, CL Gegenwart, Bd. 1 (1838), 914.
868
Demokratie V. 1. Verfassungspolitisches Verständnis
Staaten - in geringerem Maße auch England - wurden in der Theorie zum Muster-
fall der ermäßigten oder repräsentativen Demokratie, auf die sich nach dem
Scheitern der Französischen Revolution vielfach die Hoffnungen der liberalen
Kräfte richteten: es ist gerade ein Vorzug dieser Regierungsform, daß vermöge ihrer
der Volkswille nicht in seinem ersten und unmittelbarsten, oftmals leidenschaftlichen
und unklaren Erguß, sondern erst geliiutert, gemäßigt und abgekliirt durch eine Reihe
von M Ütelstufen und Organen zur Verwirklichung gelangt . . . Die absolute Demokratie
äußert sich namentlich dann in ihren Wirkungen höchst gefährlich, wenn, was nur
zu leicht geschieht, die Macht, die unbeschränkt und ohne Gegengewicht in der Hand
einer Volksversammlung liegt, von dieser oder deren Führern gemißbraucht wird, um
rückhaltlos in alle Verhältnisse einzugreifen und eine Allmacht des Staats zu begründen,
welche mit der persönlichen Freiheit der einzelnen im schneidendsten Widerspruche
steht. Gerade dadurch zeichnet sich die repräsentative Demokratie, wie sie namentlich
in den Vereinigten Staaten organisiert ist, aufs vorteilhafteste aus, daß dort der Grund-
satz möglichster Selbstregierung des Volkes in allen seinen Verhältnissen, also mög-
lichster Beschränkung der Staatsgewalt auf das Notwendigste, mit äuß_erster Strenge
und Sorgfalt überall festgehalten wird 288.
Bemerkenswert ist einer der :frühesten Belege für die Gegenüberstellung von Liberalismus
und Demokratie, die in Deutschland erst sehr viel später üblich wurde: Wenn der Liberali.!-
mus aich noch mehr von den Schl,acken demokratiacher Tendenzen gereinigt haben wird, welche
ihn in den letzten Jahrzehnten verunataltet haben, ao wird man immer allgemeiner einsehen,
daß die Mcmarchie in der falachen Aristokratie auch nur falache Freunde und heimliche
Gegner besaß, hingegen ihre mutvollaten und treuesten Verteidiger, wenn es deren bedarf, in
dem Vereine der echten Aristokratie und des wahren Liberalismus zu suchen hat: ebd., 222.
864
e) Demokratie, Aristokratie und Monarchie Demokratie
Ende der alten Aristokratie fest, wollte aber eine modernisierte Aristokratie mit
einer durch solche Kombination entschärften Demokratie verbinden. Auf dem Weg
des Zweikammersystems läßt sich die Aristokratie und die Demokratie nebeneinander
konstituieren, beide gleichberechtigt, die eine Kontrol"le für die andere. Man nehme
aber auch die richtige Aristokratie und die wahre Demokratie. Die Aristokratie der
früheren Zeit war der Adel, die Demokratie der Mittelstand. Dieser Zustand ist ein
überwunderµJr. Der Adel als Stand hat seine Rechte verloren, der Mittelstand ist nicht
mehr Demokratie. Erkennen die Regierungen diese Wahrheit, so lassen sie den Adel
fallen, ·machen aus der früheren Demokratie die jetzige Aristokratie und räumen der
neuern Demokratie den ihr gebührenden Platz ein. Was gibt in dieser Zeit Anspruch
auf eine aristokratische Stellung? Intelligenz und Geld. Diese beiden Kräfte konsti-
tuiere man zusammen, aber nur nicht die letzte ohne die erste, denn das hieße in den
Fehler der ersten Konstitutionen zurückfallen. In der ersten Kammer würden mithin
Repräsentanten Platz nehmen des großen Besitzes, der Kaufleute, Fabrikanten und
reichen Gewerbetreibenden, der Gelehrten, Ärzte, Advokaten, Geistlichen, Schullehrer
und Beamten. Die zweite Kammer müßte durch allgemeines Wahlrecht gebildet werden.
Eine solche Verteilung würde sich segensreich auswirken212.
Auch der Möglichkeit eines Bundes zwischen den demokratischen Kräften und
einer aufgeklärten Monarchie blieb man sich bewußt. So bemerkte lIARTLEBEN
(1824): Noch streitet aber zum Glück in diesem politischen Kriege die Demokratie
nicht gegen die Monarchie, sondern nur gegen die Anmaßungen der Aristokratie. Wir
dürfen daher hoffen, daß Billigkeit von beiden Seiten eintreten werde, und was das
konstitutionelle Deutschland insbesondere betrifft, so haben sich fast in allen dessen
Teilen die Regenten überzeugt, daß die Stände voll Liebe, Treue und Anhänglichkeit
nicht das monarchische Prinzip zu untergraben suchen, sondern vielmehr nur der
ministeriellen Willkür oder Mißgriffen entgegentreten273• Der Demokratieartikel des
HüBNERschen „Zeitungs- und Conversationslexikons" versuchte sogar eine Brücke
zwischen den· Staatsgrundsätzen der Heiligen Allianz und der 'Demokratie' zu
schlagen .derart, daß 'Demokratie' ganz unbestimmt als Herrschaft allgemeiner
Interessen der Staatsfamilie oder ihrer Mehrheit, selbst wenn diese sich ohne
politische Rechte befinden sollte, bestimmt wurde. Natürlich scheint ohne Gefahr
auch in der Monarchie dieses Interesse vorherrschen zu können, und dieses Kön-
nen, wenn die Monarchie sich nicht dabm: gefährdet glaubt, haben die Gesetze der
·weisesten Allianz nicht abgeändert, denn man huldigt dem Grundsatz des National-
interesses, welches zwischen dem Erbmonarchen und seinem Volke stets gemein-
schaftlich ist274 •
HEGEL dagegen wehrte sich gegen die Amalgamierung der Begriffe 'Monarchie'
und 'Demokratie'. Anfang der zwanziger Jahre schrieb er in der „Rechtsphilo-
sophie", es sei nicht passend, wenn. in neuerer Zeit soviel vom demokratischen, aristo-
kratischen Elemente in der Monarchie gesprochen worden ist; denn diese dabei ge-
meinten Bestimmungen, eben insofern sie in der Monarchie stattfinden, sind nicht
55-90385/1 86ö
Demokratie V. 1. Verfas1•11mg11politiachea Verständnia
866
V. 2. Das "tlemokratisehe Prinzip" Demokratie
281 Das Wort wohl er11tmals bei GöRRES 1814 (no.oh KLuoE/MxTZKA 18. Aufl., 1960, 126);
ähnliche Bildungen aus der gleichen Zeit sind demokratische Gesinnung (J. v. HENDRICH,
Einige entferntere Gründe für Sti.ndische Verfassung, Leipzig 1816) und demokratischer
Geist, das schon bei J. WEITZEL, Hat Deutschland eine Revolution zu fürchten T (Wies-
baden 1819), 102 f. auftritt, wo es heißt: Ich aagte oben, die Stimmung der Zeit aei wesentlich
demokratisch; in den aufgeküi,rten Ländern aber ist aie es besonders. Daa Wort wird den nicht
ach.recken, der die Sache kennt. Freiheit und Gleichheit, d~aer ao verachriem Ruf • • • ist daa
Loaungawort der Ge.genwart, daa, wo auch nicht allenthalben, la.ut und öffentlich auag~,
doch in den Herzen der Völker widerhallt; Freiheit, die Be/ugn,ia, nur dem GeMtz zu ge-
horchen, Gleichheit, die allgemeine Verpflichtung, einem und demselben Gesetze untertan
zu sein • • • Daß dieser demokratische Geist wuentlich monarchisch ist, bt.darf kaum einer
Erwähnung.
182 RoTTECK/WELCKER 2. Aufl., Bd. 3 (1846), 712 ff. Vgl. BROOKlUUS 7. Aufl., Bd. 3 (Ndr.
1830), 103.
288 HARTLEBEN ßd. 1 (1824), 236.
28' ROTTECK/WELCKER Bd. 4 (1837), 261.
867
Demokratie V. 2. Das "demokratische Prinzip"
868
V. 3. Die Bistori&ienmg des Begriffs Demokratie
des demokratischen Prinzips, gesprochen. In diesem Punkte also scheidet sich die
demokratische Partei (oder, wie man hemzutage alkrdings sprach1ich nicht richtig
häufig sagen hört, die Demokratie) in eine rein demokratische, welche tiur die politischen
Konsequenzen des demokratischen Prinzips: das allgemeine Stimmrecht und die
absolute Gleichheit aller staatsbürgerlichen Rechte anerkennt und geltend macht, und
eine social-demokratische, welche diese politischen Errungenschaften nur als Miuel
zur Erringung allgemeiner socialer Gleichheit unter den Menschen ansieht 286 • Die
historische Tatsache der socialen Demokratie in der zweiten Republik in Frankreich
brachte LORENZ VON STEIN mit der Frage nach Verfassung und Verwaltung in
Zusammenhang; es schien ihm gewiß, daß es von jetzt an weder eine reine Demo-
kratie, noch einen reinen Sozialismus mehr geben wird; und damit ist denn endlich
der Schwerpunkt des Staatenlebens und der Staatstätigkeit ve"ückt und aus der V er-
fassungsfrage in die Verwaltungsfrage hinübergetragen287 • Für die Entwicklung der
deutschen Sozialdemokratie blieb der Kern der Steinsehen Prophezeiung in etwa
gültig; anders der revolutionäre Marxismus, der in der „reinen" Demokratie nur
eine Vorstufe sah, die bekämpft und überwunden werden mußte, sobald sie erreicht
war288 •
Es war unabweisliches Bedürfnis des 19. Jahrhunderts, die so - nämlich als Ten-
denz, Prinzip, geschichtliche Bewegung - verstandene Demokratie in den Gang
der europäischen Geschichte einzuordnen, den modernen demokratischen Ideen
gewissermaßen „die Nativität zu stellen". Dies geschah aber jetzt in grundsätzlich
neuer und anderer Weise als in der Zeit vor der Revolution. Wenn damals über
Elemente und Ursprung demokratischer Regierungsformen reflektiert wurde, so
im wesentlichen in der Gefolgschaft traditioneller Kreislauflehren - nämlich in der
Weise, daß man die sozialen und geistigen Entwicklungstendenzen zu beschreiben
versuchte, die zu einem „Umschlag" (aus der Aristokratie oder Monarchie bzw.
deren Entartungsformen) in die Demokratie führen konnten, und demnach Ver-
haltungsmaßregeln für die Regierenden entwarf. Das 19. Jahrhundert löste sich
sowohl von der pragmatischen Absicht wie von der zyklischen Orientierung solcher
Untersuchungen - die Demokratie war für die meisten Theoretiker nicht mehr
ein Verfassungszustand, der andere Formen zur Voraussetzung hatte und eines
Tages von anderen abgelöst wurde, sondern ein Endpunkt der Geschichte, auf den
die „historische Tendenz" seit Jahrhunderten alle Bewegungskräfte hingespannt
hatte. Dementsprechend suchte man jetzt nach einer generellen, alle Umstände
berücksichtigenden Erklärung des Phänomens. Sie bot sich historisch in drei-
facher Richtung an (um nur die wichtigsten Erklärungsversuche zu nennen):
a) von der antiken Vorgeschichte der Demokratie her, b) aus der Idee der „alt-
germanischen Freiheit", c) aus dem (angelsächsischen) Protestantismus.
2se Ehd.
287 LORENZ v. STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, 3.Aufl., Bd.3 (1850;
Ndr. München 1921), 406.
28 8 s. u. s. 889 ff.
869
Demokratie · V. 3. Die Historiaierung des Begriffs
a) Rückgrift' auf die Polis. Nur gering war in Deutschland die Zahl derer, die das
historische Vorbild der modernen Demokratie in den antiken demokratischen
Gemeinwesen sahen. Das revolutionäre „Ainsi faisaient les Romains" als politischer
Antrieb und historisches Vergleichsmaß wurde nach dem zeitgeschichtlichen Ein-
schnitt der Französischen Revolution weder in Frankreich noch in Deutschland
wirkungefähig fortgesetzt. Die humanistische Komponente der modernen demo-
kratisch-republikanischen Gestaltungsversuche war zwar gegenwärtig; aber aus der
seit Niebuhr auf streng quellenkritiecher Grundlage arbeitenden .Althistorie ergab
sich ein wesentlich skeptischerer, von allzugroßen Idealisierungen freierer Blick auf
die Wirklichkeit der antiken Demokratie als im Frankreich und Deutschland der
Revolutionszeit. So wurde fast allgemein darauf hingewiesen, daß die antike
Demokratie keine absolute Gleichberechtigung aller Staatsbürger oder gar aller
Menschen hinsichtlich ihrer politischen Rechte gekannt habe: Weder die gänzliche
Rechtlosigkeit des größern Teils der Bevölkerung, der Sklaven, noch die Unterschiede,
welche die Gesetzgebung auch unter den eigentlichen Staatsbürgern in Bezug auf ihre
Teilnahme an der Herrschaft aufstellte (z. B. die Ausschließung der untersten Olasse
von den Staatsämtern nach der Solonischen Verfassung), wurden als unverträglich
mit dem Wesen der Demokratie betrachtet, wenn schon in letzterer Hinsicht allerdings
die wachsende Macht des demokratischen Prinzips in der allmählichen A.ustilgung
dieser Ungleichheiten, der Übertragung der öffentlichen Gewalt auf die ganze Masse
des Volks ohne Unterschied, und somit also in der Erhebung der an Zahl stärksten
untersten Olasse über die andern sich geltend rnacJite289.
b) Rückgrift' auf die „alte deutsche Freiheit". Stärker ist das Motiv der „alten
deutschen Freiheit", in der man besondere im Kreis der verfassungsgeschichtlich
interessierten deutschen Liberalen eine Art von Urbild der modernen Demokratie
zu sehen meinte. Elemente dieses Geschichtsbildes waren: die fast völlige Gleichheit
aller freien Männer bei den germanischen Völkerschaften und eine wahrhafte Selbst-
regierung dieser Freien - ein Zustand, der modern-liberal als Abwesenheit herr-
schaftlichen Zwanges und als Bindung der Handlungen der Regierenden an die
Zustimmung der Volksversammlung gedeutet wurde. Dieser Zustand allgemeiner
Freiheit und Gleichheit wurde aber nach dieser Anschauung bereits im frühen und
hohen Mittelalter durch die Ausbildung des Lehnsrechtes verlassen, der größere
Teil der anfänglich Gleichberechtigten geriet damals in Abhängigkeit von einer
Minderheit,' an deren Spitze der Monarch als oberster Lehnsherr stand. Die demo-
kratische Gleichheit verwandelt sich also in eine monarchisch-aristokratische Gliederung.
Nur in einzelnen Gebieten Europas, so in den Schweizer Urkantonen, erhielt sich
die alte demokratische Verfassung, und diese kleinen Demokratien traten dann auch
bald gänzlich aus dem Verband des großen,Feudalreichs heraus und wurden unab-
hängige Republiken. In den großen Feudalstaaten entwickelte sich dagegen all-
mählich eine demokratische Bewegung von unten, hervortretend in den Städten,
dem Handelsverkehr, der Industrie; sie habe allmählich auch die in feudaler
Abhängigkeit befindlichen niederen Stände, zuletzt das Bauerntum, ergriffen.
So war denn allmählich ein Teil nach dem andern jene.~ im Mittelalter von dem herr-
schenden· Stande so verachtungsvoll zurückgestoßenen und unterdrückten Volkes aus
870
c) Rückgriff auf die protestantisehe Tradition Demokratie
diesem Zustande der Unfreiheit und Zurücksetzung herausgetreten und zu einer mehr
oder weniger vollständigen GT,eichheit mit dem früher all,ein berechtigten Stande gel,angt.
Damit sei aber die Entwicklung n<lch nicht abgeschlossen gewesen; denn da sich
innerhalb der von der Französischen Revolution geschaffenen „Gesellschaft der
Gleichen" wiederum eine neue Aristokratie des Geldes und Besitzes bildete, wirkte
das demokratische Prinzip weiter: Von diesem Gesichtspunkt aus ist es, daß man das
allgemeine Stimmrecht und die Herrschaft der K<Ypfzahl mit Beseitigung jeder aus-
schließenden Bedingung wie Vermögen, Grundbesitz, Zensus usw. als ein notwendiges
Postulat und eine .~elbstverständliche Konsequenz des demokratischen Prinzips prokl,a-
miert hat 290 •
c) Rückgrift' auf die protestantische Tradition. Endlich ist des wirksamsten Topos'
unter den histo:riSchen Ableitungen der Demokratie im 19. Jahrhundert zu ge-
denken: der Verbindung der demokratischen Regierungsform mit dem Geist und
der Geschichte der protestantischen Konfession. Schon im Vormärz da und dort
geäußert (vor allem polemisch bei den katholischen Traditionalisten in Frankreich),
ist der Gedanke durch Tocquevilles Amerikabuch (1835/40) populär geworden,
in dem freilich neben dem spezifisch protestantischen Erbt.eil anr.h die Bede11t1'lng
der allgemein christlichen Tradition betont wurde (unendlicher Wert der Einzelseele
und damit der Individualität; Gleichheit aller Menschen vor Gott etc.). In Deutsch-
land verband sich diese Lehre meist mit der Betonung germanischer Traditions-
einflüsse. Als Kronzeuge sei GERVINUS zitiert, der diese Lehre in seiner „Einleitung
in die Geschichte des 19. Jahrhunderts" (1853) breit ausgeführt hat; hiernach
war den germanischen Völkern der große Beruf zugefallen, nachdem sie auf dem
religiösen Boden Geist und Gesinnung erregt hatten, auch die ersten freiheitlichen
Ordnungen in Kirche und Staat zu begründen ... Der Geist der Genossenschaft
des Mittelalters habe sich in der Neuzeit in den Geist des Individualismus umgebildet,
der die Saat demokratischer Freiheit gestreut hat. Auf allen Lebensgebieten zeige die
290 Ebd.; bemerkenswert ist die Fortsetzung: Damit verbindet sich dann häufig noch der
weitere Gedanke, daß auf diesem Wege nicht b'loß die politische, sondern auch die soziale
Grundlage des bisherigen Gesellschaftszustandes e.ine Umwandelu11.f1 erfahren, daß die be-
sitzende Kla8se (die BO'Urgooisie) niclu b'loß der politischen Vorrechte, die. &ie bisher genos&en,
sondern auch der materiellen Basis dieses Vorrechts, ihres Besitzes, zu Gunsten der besitdosen
Kla8se (des eigentlichen Volkes) ganz oder zum Teil entkleidet, daß also nicht nur eint voll-
ständige poUtischt, sondern auch eine materielle und soziale Gleichheit aller Klassen der·
Gesellschaft hergestellt werden müsse. In diesem Sinne hat man von einer sozial-demokratischen
Staatsordnu11.f1, einer demokratischen und sozialen Republik, als dem notwendigen Zielyunkte
der Entwickelu11.f1 des demokratischen Prinzips, gesprochen. In diesem Punkte also scheü/,et
sich die demokratische Partei (oder, wie man heutzutage allerdings sprachlich nicht richtig
hä11.fi{/ 80{/en hört, die Demokratie) in eine rein demokratische, welche nur die politischen
Kon&equenzen des demokratischen Prinzips: das allgemeine Stimmrecht und die absolute
G"leichheit aller. 81,aatsMJ,rgerlichen Rechte anerkennt und geltend 'fllf1d/,/,, und eine sozial-
demokratische, welche diese pol,itischen E"ungenachaften nur als Mittel zur E"ingu11.fl all-
gemeiner sozialer Gleichheit unter den Menschen ansieht (687). Zur Rückprojektion zeit-
genössischer Verfassungsforderungen in die deutsche VerfasBUilgsgescbichte vgl. ERNST-
W OLFGANG BöOKENFÖRDE, Die deutsche 'verfäBBungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahr-
hundert (Berlin 1961), bes. 74 ff. 99 ff. 134 ff.
871
Demokratie V.'- Der .AIJeehiec1 TOD der Antike
deutsche Volksnatur das Verlangen nach Bildung und freier Regung der Kräfte;
darauf aber beruht alle derrwkratische OrdnWIVJ und alle Möglichkeit ihres Bestandes;
diese große Lehre haben die germanischen Stämme der damaligen romanischen wie der
heutigen slavischen Welt gegenüber den neueren Zeiten gegeben291 • Die germanisch-
protestantischen Staats- und Kirchenbildungen antizipierten also die derrwkratischen
Konsequenzen (ebd., 45) der Neuzeit; im Calvinismus traten zunächst aristokrati-
sche Elemente hervor: sie hatten dann im Westen Europas eine aristokratische Phase
im Calvinismus und fanden in dessen puritanischen Fortbildungen ihre derrwkratische
Entfaltung, vorübergehend in England und auf die Dauer in [Nord-]Amerika (49),
das in dieser Hinsicht drastisch von Lateinamerika mit all seiner ursprünglichen
Barbarei und Herabwürdigung des Menschen (89) abgesetzt wurde. Seit 1789 sah
Gervinius auch für das alte Europa wiederum den Siegeszug freiheitlicher Demo-
kratie im Gange und prognostizierte seine Vollendung auch nach Rußland hin-
ein292.
Gervinus' parteiisches Gemälde des neueren Laufs der Demokratie ist nicht ohne
Anfechtung und Widerspruch geblieben. U. a. hat der katholische Staatsrechtler
HEINRICH ZoEPFL in seiner Schrift „Die Demokratie in Deutschland" (1853) die
Aufstellungen des berühmten Literaturhistorikers im einzelnen zu widerlegen ver-
sucht888. Gleichwohl blieb die Schrift bedeutsam, weil sie ein Vor-Urteil des liberalen
Deutschland mit aller 01Tenlniif, 1m1l.ol.yl'iM1~h anH J,id1f, l111h: 11iti tnmr1r.tiugu11g
nämlich, daß sich in den modernen demokratischen Bewegungen letzte Kon-
sequenzen der Reformation (die ihrerseits als germanische Geistestat aufgefaßt
wurde) zu Wort meldeten und daß daher Entfaltung und künftiges Schicksal der
Demokratie wesentlich von der Leistung und Zügelung durch die protestantischen
Kräfte abhänge.
191 GEORG GOTTFRIED GERVINUS, Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhun-
derts (Leipzig 1853), 41 f.
292 Ebd.
298 H. ZoEPFL, Die Demokratie in Deutschland. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Würdi-
872
VI. 1. „Demokratisches Prinzip" uncl konstitutionelle Monarchie Demokratie
nicht aus, wenn wir die moderne Repräsentativdemokratie erkennen und von andern
Staatsformen untersclieiden wollen294• W AGENER betonte zwar, daß alte und moderne
Demokratie dasselbe Ziel erreichen wollten, nämlich Freiheit, verbunden mit Gleich-
heit, jedoch sei die moderne Demokratie eine der Theorie entsprungene Forderung
der Vernunft, während der antike Demokratiebegriff, zumindest der des Aristoteles,
der Praxis der Politeia und der ihr stets drohenden Pöbelherrschaft nachgebildet
worden sei296 •
Es zeigt sich freilich an der Entwicklung der Theorie im 19.Jahrhundert, daß auch
hier begriffliche Abstraktion und bloße tradierende Übernahme vor der Neuheit
und Eigenart der geschichtlichen Realität sich rasch auflösten; und schon von der
Jahrhundertmitte an schritt die Entwicklung des Demokratiebegriffs, gelöst vom
antiken Konzept, ja schließlich von der verfassungspolitischen Konkretisierung
des Wortes überhaupt, in neue Richtungen vorwärts.
HANS MAIER
In den vor11tehenden Abschnitten wurde gezeigt, wie der nie ganz eindeutige, aber
gleichwohl stets relativ klar definierbare Traditions- und Rezeptionsbegri:ff 'Demo-
kratie' aus seiner gelehrten Abschirmung heraus mitten in das revolutionär-poli-
tische Kampffeld hineingestellt wurde. 'Demokratie' war damit zu einer Partei-
bezeichnung geworden, sei es in selbstbestätigender, sei es in herabsetzender Absicht.
'Demokratie' sollte darüber hinaus auf neue Weise allgemein, d. h. nicht nur in den
Ausnahmen kleinräumiger Sonderformen verwirklicht oder umgekehrt im Rea-
lisierungsanspruch aufs neue widerlegt werden. Zu solcher Widerlegung reichte
die alte Rede, Demokratie (im klassischen Sinne direkter Demokratie) sei in groß-
räumigen und stark bevölkerten Staaten unerfüllbar, nicht mehr aus, da mit der
Prägung des Terminus 'repräsentative Demokratie' der entscheidende Schritt dazu
getan worden war, den Demokratiebegriff für moderne Verfassungen verwendbar
zu machen. Mit Hilfe verfassungsrechtlich institutionalisierter Repräsentation des
„Volkes" sollte grundsätzlich für alle Staaten die Identität von Regierenden und
Regierten ermöglicht werden. Im Maße wie (seit Fichte und Schlegel) eine solche
Verfassung 'Demokratie', eine solche politische Überzeugung 'Demokratismus' und
die bewußt betriebene Bewegung dahin 'Demokratisierung' genannt wurde, war
der Ausweitung und vielseitig widersprüchlichen Verwendung des Begriffs der Weg
geebnet. Wohl mochte jedem Demokratieverständnis der Gedanke einer geschichts-
philosophischen Einrichtigkeit, wie zuerst im „Republikanismus" Kants, zugrunde
liegen. Doch wurden das Ziel und der Weg jeweils schon in den ersten Jahrzehnten
des 19. Jahrhunderts so verschieden verstanden, und die Suggestivkraft des Worts
steigerte sich so außerordentlich, daß GuizoT es unter dem Eindruck der Revolution
von 1848 als le mot souverain, universel bezeichnen konnte, das von allen Parteien
873
Demokratie VI. 1• .;De~ Prinzip" - • ko...tttutioaelle Monarchie
wie ein TaliRman vflrwflnclflt wti.rde. Te~ e.ft l'emyire clv mot tUmnnrn.t.itl qtlJ.l n~d
gouvernement, nul parti n'ose vivre, et ne croit le pouvoir, sans inscrire ce mot sur son
drapeau 296•
Tatsächlich wurde 'Demokratie' zwischen l 789 und 1848 nach und nach allen
modernen bzw. sich als modern anpassenden Bewegungen oder ldeolo~n zu-
geordnet oder konnte sich mit ihnen verbinden: der (koDBtitutionellen und indi-
viduellen) Freiheit (Liberalismus), der politisch und meDBchlich verstandenen
Gleichheit (bis zum Sozialismuß und Kommunismus), der Nation und National-
bewegung, dem (wie auch immer begriffenen) Christentum, ja selbst der Monarchie
und dem Monarchismus. Für alle diese wertgeladenen, großen Tendenzen der west-
und mitteleuropäischen RevolutioDBepochen lassen sich jedoch auch jeweils typische
Abwehrreaktionen gegenüber 'Demokratie' feststellen. Der Anziehungskraft des
Begriffs stand eine stets stark bleibende, in Deutschland nach 1848 und besonders
seit 1871 sich wieder 11teigernde Zurückhaltung, ja F1iiud1:1chaft gegenüber. Die
Bewahrung, z. T. sogar die erneute Befestigung überkommener monarchischer und
aristokratischer Institutionen bzw. Wertungen bewirkte, daß der Demokratie-
begriff bis 1918 nie zur Bezeichnung deutscher Verfassungen - es sei denn im
hiRt.oriRnhr.n Hiinkhlink ode.r in Zuku.uf'tlierwartung - hat dienen können. So konnto
es im Deutschland des 19. Jahrhunderts endgültig nicht zum „empire du mot
democratie" kommen, das Guizot 1849 für Frankreich festgestellt hatte, mochte
auch in den vierziger Jahren und in der Revolution 1848/49 der deutsche Anteil
an der ExpaDBion des Begriffs beträchtlich gewesen sein.
In den Jahren unmittelbar nach 1815, als es um die Durchsetzung des „Ver~
fassungsstaats" mit Repräsentation ging, drängte sich der Begriff der 'Demokratie' .
oder besser: des 'demokratischen Elements' bzw. 'Prinzips' auf, wenn die Tendenz
stärkerer Mitbestimmung größerer Teile des Volks in der Staatsverfassung bezeich-
net werden sollte. Damit verband sich die liberal-romantische Vorstellung einer
altgermanischen, durch den „Feudalismus" verderbten Freiheit, für die sich nun-
mehr das Wort 'Demokratie' erklärend anbot.
287 Deutschland und die Revolution (1819), Ges. Sohr., Bd. 13 (1929),
JOSEPH GöRRES,
111 ff.
874
a) Verknüpfung aer Prinzipien Demokratie
Ari.llf.nlrtmJ,ir. 1Hl1'einigten298 , sollte zum Vorbild dienen. Görres wollte also eine Ideal-
verfassung der Zukunft jenseits der „tiberwucht" eines zentralistischen Absolutis-
mus einerseits, eines jakobinischen DesputIBmW! u.mlere.rseits, auf einer Demokratie
vor allem der Grundeigentümer aufgebaut wissen, die ihre ton der Gemeinde an
aufsteigende Eigenverantwortung mit dem Gehorsam an die Monarchie verbinden
sollten. Hat die Democratie sich erst tlOn jenem fO'f'malen Despotism losgerungen und
wieder W urzeZ im alten Boden sCJilage:M, zuerst sich uncl dann auch die ohnmäcktige
Monarchie gekräftigt und belebt; ... dann wird ... die Bewegung , .. in der Ver-
fassung . . . wieder eine steigende werden299. .
In der Nä.he von Görres' „historischer" Demokratie stand ERNST MoRITZ ARNDT,
der 'Demokratie' nach dem jakobinischen Mißbrauch, durch den das Wort für die
HtJl'Ze'fl, uncl Ohren aller Guten eine Art Rattenpulver gewO'f'den sei, in geschichtlicher
Rückbesinnung für die Gegenwart wiederzugewinnen suchte. ·J e,des Volk, das dar-
steUcn,do und atändiaohe V erfasrungen hat, di6 aus allm Klassen der Eimtiohner m-
sammengesetzt sind, hat, dadurch schon demokratische Verfassungen; denn wo der
Bauer und Bürger, dieser größte und ehrwürdigste Teil jedes Volkes, öffentlich ver-
treten wird, da kann man die Verfassung schon demokratisch nennen300 •
Hatte sioh trotz aller Betonung des Ausgleichs bei Görres die Waage auf die
„historische" zu Ungunsten der vernunftrechtlichen Seite des „demokratischen
Prinzips„ geneigt, so kehrte sich diese Gewicht,averteilung im konstitutionellen
Staatsrecht von ARETIN (1824) und in dessen Fortsetzung durch RoTTECK (1839)
um301 • Hier wurden im Volk als der Gesamtheit der Staatseinwohner ... drei Haupt-
interessen gesehen, die man in der Schulsprache auch Prinzipien oder Elemente
nennt: das monarchische, das aristokratische und das demokratische. Dieses werde
nickt bloß von den untern Volksklassen repräsentiert, sondern auch von allen nickt an
Güterbesitz, an Zunftgeist und am Herkommen gebundenen Beschäftigungen, vom
Handelsstand, von den Besitzern des beweglichen Vermögens, von den Gelehrten und
Künstlern, von den Industriellen, überhaupt von allem, in welchem Regsamkeit,
Bildungs- und Entwicklungslust vO'f'kerrsckte. Das demokratische 1nteresse forderte
im Sinne dieses Staatsrechts und gemäß dem Optimal-Soll der damals neuen Ver-
fassungen die üblichen „politischen" und „bürgerlichen" Freiheiten der liberalen
Staatslehre. Das demokratische Prinzip wurde also im wesentlichen vom (hier nicht
so bezeichneten) „Mittelstand" der Bildung und des Besitzes getragen und sollte
den Forderungen des Liberalismus in der Wesenheit der konstitutionellen Monarchie
mit ihrer weisen Vereinigung und gegenseitigen Beschränkung der drei Haupt-
interessen das erforderliche Gewicht verleihen302 • Die Harmonisierung der Prin-
zipien wurde also so weit getrieben, daß nicht nur Monarchie und Demokratie
875
Demokratie VI. 1. „Demokratuchea Prinzip" uad kon1titutionelle Monarchie
803 RoTTECK, Art. Demokratisches Prinzip, RoTTECKjWELCKER Bd. 4 (1837), 256: Daa
monarchi8che und das demokratische Prinzip können gar wohl nebeneinander bestehen, ja sie
mögen sich wechselseitig unterstützen.
8111 Ebd.
SOii H. v. GAGERN, Brief an Max v. Ga.gern, 15. 3. 1838, in: Deutscher Liberalismus im
Vormärz. Heinrich v. Ga.gern, Briefe und Reden 1815-1848, hg. v. PAUL WENTZKE
u. WoLFOANG KLöTZER (Göttingen 1959), 196.
806 DAVID HANsElllA.NN, Preußen und Frankreich, 2. Aufl. (Leipzig 1834), 226 f. 228 f. Vgl.
Staates unter Stein und Hardenberg, hg. v. GEORG WINTER, Bd. 1/1 (Leipzig 1931), 306.
876
lt) Scheidung der Prinzipien Demokratie
308 FmEDRIOH GENTZ, Über den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsen-
tativ-Verfassungen. Beilage zu den Ca.rlsba.der Protokollen (1819), in: Wichtige Urkunden
für den Rechtszustand der deutschen Nation, mit eigenhändigen Anm. v. Joa. LUDWIG
Kr.ÜBER, hg. v. CA.B.L WELOKER (Mannheim 1844), 221 f.
809 Belege hierzu bei HEmruoH v. SBB11t, Metternich, Bd. 1(München1925), 366 f.
310 Denkschr. eines preußischen Staatsmanns aus dem Jahre 1822, KLüBEB/WELOKEB,
Urkunden, 365 f.
an W. v. HmmoLDT, AA Bd. 17 (1936), 293.
311 FRIEDRICH SOHLEIEBMAOHE&, Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen (1818),
877
Demokratie VI. L ,,J1emobatisehea Prinzip" und konatitationelle Monarchie
macher kehrte also die revolutionäre, seit F. SCHLEGELS „ Versuch" von 1796813
in Deutschland mehrlach wiederholte oder weiterentwickelte Vorstellung ge-
schichtlich notwendiger Bewegung zur Demokratie um, indem er der utopischen
Zukunftserwartung die geschichtliche Erfahrung (einschließlich der Französischen
Revolution) entgegensetzte. Der großräumige moderne Staat, der die Einheit eines
ganun Volkes als eine wahre und notwendige Natureinheit im Bewußtsein auffaßt
und in den Formen des Lebens ausspricht, war durch Schleiermachers historisch-
empirische Ableitung für die Gegenwart und Zukunft als monarchisch bestätigt,
die 'Demokratie' ad absurdum geführt.
Daß die Abwehrhaltung gegen die Verwendung des Demokratiebegriffs in der
Verfassungslehre - auch wenn es sich schon um „repräsentative" Demokratie
handelte - um 1820 weit verbreitet war, zeigt das Urteil des BROCK.HAUS (1818):
die Demokratie gehe unaufhaltsam in .Aristokratie oder Despotie unter . • . In der
neruirm Zmt (Jl'iliR.lum die Demokratien nicht314 • Diese Tendenz, der Demokratie den
Einlaß zu versperren und ihre neuerliche Ausbreitung lediglich auf „Fehler" der
Verantwortlichen zurückzuführen, hielt sich - trotz Rottecks Einfluß - auf der
·mittleren Ebene der Konversationslexika. So räumte BROCKHAUS' „Conversations-
Lexikon der Gegenwart" (1838) zwar ein, Demokratie als eigentlwhe Volksherrschaft
habe ikr Feld in .Amerika gefllllden; aber selbst dort hielt deT Veri°RAAP.T, im Gegen-
satz zu Tocqueville, die Demokratie nicht für unbedingt endgültig; in Europa
werde sie niemals aufkommen oder W urz:el fassen, es sei denn alB ]'olge von politischem
Versagen. Demokratie sei nur in gedachten Extremverhältnissen (allgemeine Ver-
breitung hoher Bildung oder Primitivzustände) effektiv möglich. Die moderne
demokratische Tendenz, daß die materialen Interessen mehr als billig hervorträten,
wurde als unheilvoll angesehen; sie einzudämmen befürwortet. Demokratie wurde
damit also nicht nur mit traditionellen Argumenten als Herrschafts- oder Regie-
rungsform verworfen, sondern auch um der hökern geistigen oder moralischen
Interessen willen als erniedrigend abgelehnt316• Vermutlich ist diese Auffassung des
Brockhaus als repräsentativ für die Mehrheit des gebildeten Publikums im Vormärz
anzusehen. Zu solcher verbreiteten Neigung, 'Demokratie' in den Hintergrund zu
schieben und mit ihrem Begriff nichts zu treffen, was ernsthaft die Verfassungs-
wirklichkeit, der Gegenwart oder auch der Zukunft bezeichnete, paßt auch GOETHES
Bemerkung: in der Jugend, wo wir nichts besitun oder doch den ruhigen Besitz nicht
zu schätzen wissen, sind wir Demokraten, im vorgerückten Alter dagegen des Eigen-
tums und seiner Vererbung wegen .Aristokraten318 •
Auch in HEGELS Staatslehre der Jahre um 1820 wurde das demokratische Prinzip
nicht als konstitutives Element eingelassen, da Hegel dieses nicht wie Görres
historisch-ständisch, ·sondern von der Französischen Revolution her egalitär-
individualistisch verstand. In seinem konkreten Staat, der das in seine besonderen
Kreise gegliederte Ganu war und dessen Mitglied seine wirklwhe und lebendige
Bestimmung für das .Allgemeine . . . zunächst in seiner Sphäre der Korporation,
818 s. o. s. 852.
au BROCKHAUS 4. Auß„ Bd. 2 (1818), 305.
• 16 BROCKHAUS, CL Gegenwart, Bd. 1 (1838), 914 f.
81• JoH. PETER EOKERMANN, Gespräche mit Goethe, 15. 7. 1827.
878
b) Scheidung der Prinzipien Demokratie
.Gemeine u.s.f. erreichte, fand eine repräsentative Demokratie keinen Platz. Die
Vorstellung, daß alle an den St,aatsgeschäft,en teillwhen sollen, war für ihn abge-
schmackt. Nur einem oberp,äc,hlichen Denken entspreche diese Vorstellung, welche
das demokrat,ische Elernent ohne alle vernünftige Form in den St,aats-Organismus, der
nur durch solche ·Form es ist, setzen wollte. Der abstrakten Bestimmung, Jfitglied des
Staat,es zu sein, setzte Hegel die Zugehörigkeit zum Stand oder zur Korporation
entgegen, von der aus.eine Repräsentation allein sinnvoll sein könne, im Gegensatz
zur Repräsentation von einzelnen, von einer Menge. Gegen eine solche atomistische,
abstrakte Ansicht stellte Hegel die (ausdrücklich nicht demokratische) Auffassung
vom Staat als einer Organisat,ion von solchen Gliedern, die für sich Kreise sind, und
in ihm soll sich kein Moment als eine unorganische Menge zeigen. Man dürfe nicht
die in jenen Kreisen schon oorhandenen Gemeinwesen, wo sie ins Politische, d. i. in
den Standpunkt der höchsten All,gemeinheit eintreten, wieder in eine Menge von 1ndi-
vidtten auflösen317 • H p,gel hflgrifl' dflnkend difl Verfas1mng seines „konkreten Staates"
als einen korporativ geordneten, von vernünftigen, gebildeten Staatsbeamten re-
gierten Organismus, ohne dabei die Traditionsbegrifi'e der 'Aristokratie' und
'Demokratie' noch zu verwenden. Er lehnte sie auch in ihrer Herabsetzung zu Mo-
menten in der konstitutionellen Monarchie ab. Mit solehen quantitativen Unter-
scheidungen werde nichts zum BegriO der Sache beitragen. Es sei auch unpassend,
wertrt ·irt 1wuerer Zeit so ·viel vom demokrat,ischen, aristokrat,ischen Elemente in der
Monarchie gesyrochen worden ist; denn diese dabei gemeinten Bestimmungen, eben
insofern sie in der Monarchie staU'fi,nden, sind nicht mehr Demokrat,isches und Aristo~
krat,isches318• Die Anpassung der alten Lehre von der gemischten Verfassung an
moderne Verfassung war für Hegel also nicht.asagend. Aristokratie und Demokratie
hatten weder als alte Herrschaftsformen noch als Elemente oder Prinzipien einen
Ausgangswert für den monarchisch-korporativen Beamtenstaat als eines Ausdrucks
höchstmöglicher politischer Vernunft. 'Demokratie' blieb begrifflich außerhalb
eines s_olchen deutschen Staatsrechts. Aber· außerhalb Deutschlands· spielte sie für
Hegel eine erhebliche Rolle. Die Konstitution Frankreichs vom Jahre 111 unter
Robespierre wurde.' von ihm als demokrat,isch bezeichnet; denn sie war weitgehend
unmittelbare Demokratie gewesen. Hegel vermerkte, daß sie vom ganzen Volk an-
genommen wurde, aber freilich um so weniger zu irgendeiner Ausführung kam319 •
Für sie galt, daß sie ein Gemachtes war und daß ihr eiri bloßer at,omistischer Haufen
von Individuen zugrunde lag320• Daß ein solches Extrem nicht dauerhaft realisierbar
sein konnte, war für Hegel ebenso ausgemacht wie die Erkenntnis fortgesetzter
jakobinisch-demokratischer Bedrohung der vernünftigen Ordnung. Hegel hatte die
Demokratie also bei der Revolution verortet. Damit hatte sie zwar im Fortschritt
der Selbstverwirklichung des Geistes der Freiheit ihren notwendigen Platz erhalten,
hatte aber dort nicht die Versöhnung, sondern neue Entzweiung gebracht und war
geschichtlich hinter der höchsten erreichten Stufe des Vernunftstaats im Sinne der
Rechtsphilosophie Hegels zurückgeblieben. Demokratie als Volkssouveränität gemäß
879
Demokratie VI. 2. Die Situation um 1848
den verworrenen Gedanken, denen die wüste Vorstellung des Volkes zugrundeliegt, ...
die formlose Masse, die kein Sf,aaf, mehr ist321, war für Hegel trotz ihrer aktuellen
Gefährlichkeit schon etwas Überholtes, eine überwundene Phase des geschichtlichen
Prozesses, der bei den germanischen Völkern vornehmlich über die jakobinische
Demokratie hinaus zu neuer Versöhnung und Freiheit fortgeschritten war. Darin
lag das politisch Wirksame dieser Auffassung Hegels: der Demokratie wurde die
Suggestivkraft der Progressivität und der Unumgänglichkeit genommen; sie lag
schon „hinten" und war durch eine höhere Staatsidee überwunden, die der
Demokratie gegenüber nicht reaktionär oder defensiv restaurativ sein mußte.
Direkt oder indirekt wirkte diese geschichtsphilosophische Abwertung der Demo-
kratie in Deutschland fort bis zur Vorstellung einer eigenen deutschen „Staats-
idee", die im Ersten Weltkrieg als Kontrastbegriff zu Westeuropa einen Höhepunkt
erreichte. ·
All dem stand freilich, zumal in Süddeutschland, bis 1848 die Wirkung der RoT-
'l'F.CKSchen Einbeziehung de1:1 Demokratiebegriffs in das konstitutionelle Staatsrecht
entgegen322. Auch ist an den Heidelberger Staatsrechtler ZAOHARIÄ zu erinnern,
der in der konstitutionellen Monarchie zwei Parteien, eine royalistische und eine
demokratische wirken lassen und die Regierungsbildung parlamentarisch von der
jeweils stärkeren der beiden Parteien abhängig wissen wollte32 3 • Eine solche
parlamentarisch-demokratische Tendenz entsprach dem Begriff der demokratischen
Monarr.hie, der in Deutschland wohl bekannt war, aber wenig verwendet wurde und
auch nach seiner Propagierung im Jahre 1848 endgültig keine größere Bedeutung
erlangt hat, weil die durch Rotteck und Zachariä bezeichnete Linie in der Wirklich-
keit nicht genügend bestätigt wurde32". Immerhin hielt sich noch lange die These,
daß auch in dem monarchischen Europa ... nicht die Unterdrückung, sondern die
richtige Organisierung und Beachtung der demokratischen Elemente anzustreben sei
(BLUNTSCHLI 1857)326• BIEDERMANN ging 1860 noch um eine Nuance weiter, wenn
er seine Hoffnung auf den besseren Teil <ler Demokratie in Deutschland setzte, der
die Überzeugung gewonnen habe, daß auch unter monarchischer Verfassungsform
eine Befriedigung der vernünftigen <lemokratischen Wünsche nach politischer Freiheit
recht wohl möglich sei, wie das Beispiel der sogenannten demokratischen Monarchie
in Belgien beweist326• Biedermann sprach vom „besseren Teil der Demokratie";
dem lag die Erfahrung zugrunde, daß die Demokratie oder die Demokraten im
bloßen Anteil („demokratisches Element") an Staat und Gesellachaft monarchisch-
1863), 122 sprach von der merkwürdigen Bezeichnung der demokratischen Monarchie.
326 BLUNTSCHLI/BRATER Bd. 2 (1857), 689.
329 ROTTECK/WELCKER 3. Aufl., Bd. 4 (1859), 357, Art. Demokratie.
880
VI. 2. Die Situation um 1848 Demokratie
großen und ganzen eben nicht den Weg der Vermittlung im Kompromiß der
kon~titutionollon Monarchie gesucht hatten. Entgegen der dargestellten T1mcl1mir.
eines quid pro quo waren Liberalismus und Demokratie, wie die Revolution von
1848 gezeigt hatte, in Deutschland auseinandergetreten. In der Lehre des liberalen
Konstitutionalismus, wie sie DAHLMANN in seiner „Politik" entwickelte, wurde
das Wort 'Demokratie' zurückgedrängt. Dahlmann vermied den Begriff, obwohl er
sich ausdrücklich für das Repräsentativ- und gegen das landständische Prinzip
aussprach327 • Dahlmanns Zurückhaltung gegenüber Wort und Inhalt der Demo-
kratie stellte allerdings das „rechte" Extrem des Liberalismus um die Jahrhundert-
mitte dar. Auf der anderen Seite stand GERVINUS, für den die Geschichte seit dem
Ausgang des Mittelalters ein einziger Kampf der demokratischen Ideen, die durch
die Reformation in die Gescltlecluer geworfen wurden, mit den aristokratischen Ein-
richtungen des Mitte'lalters war. Das Demokratische wurde von ihm durch typisch
liberale Werte wie Geist des 1 ndividualismus ... , Freiheit ... , Bildung ... , freiere
Bewegung im Glauben und im Wissen, in politischen Rechten, im Besitz und geschäft-
lichen Betriebe gekennzeichnet328 • Gervinus sah die demokratische Bewegung
unaufhaltsam fortschreiten. Verbindet ihn schon dies mit Tocqueville, so stand
er dessen Demokratiebegriff auch insofern nahe, als er die kommende Demokratie
im Zusammenhang mit der Gleichmachung der Gesellschaft, mit dem Streben nach
der Gleichheit aller Verhältnisse, mit dem Emanzipationswillen der Massen, mit den
Wirkungen der Literatur .... die in allen Teilen Europas gleichmäßig demokratisiert
ist, begriffen hat329 • Wie Tocqueville sah Gervinus die Spitze der sich verwirk-
lichenden Demokratie in Nordamerika erreicht. Ohne selbst radikaler Demokrat
zu sein, war er sich des notwendigen Fortschritts zur egalitären Demokratie be-
wußt, versuchte diesen Trend liberal zu begründen und auch für die Zukunft von
liberalen Idealen erfüllt zu sehen. Gervinus stand mit einer solchen Auffassung im
Blick auf die Vereinigten Staaten nicht allein. Robert von Mohl, Karl Salomo
Zachariä und Friedrich Murhard hatten vorher schon ihren Demokratiebegriff
am amerikanischen Modell überprüft und dort die Bestätigung dafür gefunden,
daß stellvertretende Volksherrschaft (MoHL 1835) möglich sei330.
Alle diese deutschen Gelehrten kannten Tocquevilles „De la democratie en Ame-
rique" (1835/40). Doch keiner von ihnen hat seine Voraussetzungen und Kon-
sequenzen voll übernommen. Mohl vor allem hat ihn wohl bewundert, sich mit
ihm (auch später) intensiv auseinandergesetzt, hat sich ihm aber im Kernpunkt
(der Gleichheit) doch widersetzt und die egalitäre Demokratie, die über einen
bloßen Anteil („demokratisches Element") an Staat und Gesellschaft monarchisch-
827 FRrnnR. CHRISTOPH DAHLMANN, Die Politik auf den Grund und das Maa.ß der gegebenen
EOKHART G. FRANZ, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/49 (Heidelberg
1958), 87 mit weiteren Belegen. Zur modernen Anwendung des Gedankens der Repräaen-
tation auf Volksherrschaft vgl. auch Mom., Die Geschichte und Literatur der Staatswissen-
schaften, Bd. 1 (Erlangen 1855), 514.
56-90385/t 881
VI. 2. Die Sitaalion ·um 1848
881 Vgl. Mom.s ~. v. Tooquevilles „Dela demooratie en Amenque", in: Kritische Zs. f.
Reohtswiss. u. Gesetzgebung d. Auslandes 8 (1836), 359 ff. u. bes. 16 (1844), 275 ff.;
s. 1!-Uoh TmaoDOB Esom:NJIUBG, Tooquevilles Wirkung in Deutschland, in: ALEXIS DE
TocQUEVILLE, Werke und Briefe, hg. v. J. P. Mayer, Bd. 1 (Stuttgart 1959), XIX ff.
881 A. Dl!I TooQUEVILLE, De la dllmooratie en Amenque, Introduotion, Oeuvres compl.,
t. 1/1 (1951), 1 f. 4.
888 Ebd.' 45 ff.
886 Dies immer wiederholte Grundthemas. bes. ebd., 2, 4, 6. Oeuvres compl. t. 1/2 (1951),
322 ft'.
881Ebd.,1, 4, 7. Oeuvres compl., t. 1/2 (1951), 328.
882
VI. 2. Die Situation um 1848 Demokratie
jedoch ausgeliefert zu sein: die Bewegung zur Demokratie war zwingend und daher
zu bejahen; sie wurde jedoch nicht mehr als Fortschritt, sondern eher als Verhängnis
gewertet.
Tocquevilles Demokratiebegriff hat in Deutschland nicht in die Breite gewirkt und
blieb politisch im 19. Jahrhundert im allgemeinen ohne Folgen. Die Verbindung
von wertfreier Deutung und politischer Bejahung der modtlrnen Demokratisierung
setzte sich zwischen den ideologisch befrachteten Positionen des Fortschritts zur
Demokratie einerseits, der Perhorreszierung der Demokratie andererseits nicht
durch. Gleichzeitig mit dem Bekanntwerden Tocquevilles in Deutschland meldeten
sich Männer zum Wort, die im Unterschied zu Tocqueville selbst Demokraten
waren und demgemäß Demokratie zur Sache ihres Bekenntnisses machten. Im
Kampf gegen die „.Aristokratie" oder gegen die „reaktionäre Partei" - und darum
ging es um 1840 unausweichlich - wurde Demokratie notwendig zur Glaubensüber-
zeugung und wurden die Demokraten zur „Partei". Tocquevilles Deutung wurde
pathetisch übertroffen, wenn es etwa hieß, daß 'Demokratie' nicht nur Opposition
gegen die Regierenden oder eine besondere konstitutionelle oder politisch-ökonomische
Veränderung sei, sondern eine totale Umwandlung desjenigen Weltzustandes und ein
in der Geschichte noch nie gewesenes, ursprünglich neues Leben verkündigt; es müsse
begriffen werden, daß die Demokratie eine Religion sei. Die demokratische Partei
sei vorläufig noch schwach und negativ; aber das sei der Beginn eines Weges zum
Ziel: eine jugendliche und herrliche Welt, in de:r alle gegenwärtigen Dissonanzen zur
harmonischen Einheit sich auflösen werden; denn ihrem Prinzirie nach sei die demo-
kratische PaTtei da.'f Allgemeine, das Allumfassende336• Dies Pathos und dieser
Absolutheitsanspruch wiesen über die liberale Tendenz hinaus, die „Prinzipien"
oder „Elemente" - unter ihnen das 'demokratische' - zu harmonisieren. Ein
solches Selbstverständnis von 'Demokraten' führte zur Abwendung von der ver-
mittelnden liberalen Staatslehre, damit aber auch fort von der Möglichkeit, Demo-
kratie pragmatisch und kompromißwillig zu denken und anzustreben. So wurden
zwar wiederum die kontradiktorische Qualität der aristokratischen und demo-
kratischen Partei aus der Zeit der Französischen Revolution, daneben aber nun
auch der darin nicht aufgehende Bourgeois-Liberalismus hervorgehoben. Dieser
spiele, wie beWußte Demokraten - hier WILHELM MA.BR (1844) - betonten, wohl
in dieser faulen Zeit die Hauptrolle, jedoch ohne Aussicht auf endgültigen Erfolg.
Unumschränkteste Demokratie hieß, im Fall einer Revolution den Liberalen gegenüber
die Rolle de:r Montagnards gegen die Gironde zu spielen837• Der stärker theoretisch
bemühte FRÖBEL fügte die demokratische Siegeszuversicht in eine Kulturstufen-
Lehre ein: der sich schwer von religiöser Einbindung lösende Staat durchlaufe die
Stufen der monarchischen, aristokratischen und demokratischen Republik. Dies seien
die großen Schritte auf dem Kulturwege de:r konstituierten Gesellschaft. Erst in der
Demokratie habe sich das Reich der Sittlichkeit wirklich konstituiert. Dabei stellt
Fröbel - typisch für die „Demokraten" der vierziger Jahre - die nationalstaatliche
Verwirklichung der Demokratie (für die Gegenwart oder nahe Zukunft), das
universal-transnationale Ziel (für die fernere Zukunft) fest. Am Ende sollte stehen:
ase JULES ELYSARD, Die Rea.ction in Deutschland, Hallische Jbb; 5 (1842), 986.
a37 WILHELM 1\1.um, Das junge Deutschland in der Schweiz (Leipzig 1846), 115. 172.
883
Demokratie VI. 2. Die Situation um 1848
338 JuLIUs FRÖBEL, System der socialen Politik, Bd. 2 (Mannheim 1847), 66 ff. 468 f.
339 BROOXHA.US 8. Aufl„ Bd. 3 (1840), 372; ebd., Bd. 8, 833.
a&o Hierzu Näheres in der vor dem Abschluß stehenden Heidelberger Dissertation von
llANs DREHER, Radikale und soziale Demokratie am Ausgang der Juli-Monarchie.
HI DUDEN, Etymologie (1963), 547.
841 A. RUGE, Dt. Jbb. (1843), 12, 2.
al3 Vgl. z. B. den Sprachgebrauch (meist 'radikal', daneben auch 'Bewegungspartei' und
'demokratisch') bei BRUNO BAUER, Vollständige Geschichte der Parteikämpfe in Deutsch-
land während der Jahre 1842-1846, 3 Bde. (Charlottenburg 1847).
884
VI. 2. Die Situation um 1848 Demokratie
344 Vgl. die Anfrage des Abgeordneten JAHN an die Frankfurter Nationalversammlung vom
26. 8. 1848, ob die Reichsgewalt keine ent&chei,denden Schritte gegen da8 wühlerische Treiben
der communistischen Vereine der sogenannten Radical·Demokraten tun will, ( • •. ) d·ie eine
Verschwörung gegen Ordnung, Recht und Freiheit bil.den und es auf einen blutigen Bürgerkrieg
anlegen; Sten.Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 3 (1848), 1719.
w BRUNO BAUER, Vollständige Geschichte, Bd. 3, 27; vgl. MosES HEss, Philosophische
und sozialistische Schriften 1837-1850, hg. v. A. Comu u. W. Mönke (Berlin 1961), 197.
ue S. u. S. 886 ff. 889 ff.
847 Abg. SIMON, Sten.Ber. Dt. Nationalvers., Bd. 9 (1849), 6419. 6424.
848 Schwäbische Kronik, 7. 7. 1848. Ähnlich in den Statuten des Landesausschusses der
885
Demebade VI. 3, ,,8omiale Demokratie"
folgende Gründung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reichs besiegelte
die von SmoN schon 1848 festgestellte Spaltung in die (endgültig siegreichen)
Komervativen und Konstitutionellen einerseits, die Demokraten andererseits.
Ihre Trennung vom Liberalismus, insofern darunter (seit 1867) die N ationa.lliberalen
zu verstehen waren, war von da an endgültig. Dazu war innerhalb der Demokratie
selbst noch eine andere Trennung getreten, die sich gleichfalls schon seit den vier-
ziger Jahren angekündigt hatte: die Scheidung in eine (Arbeiter-)Sozial- und eine
(bürgerliche) Demokratie, die sich (links-)liberal oder republikanisch verstehen
konnte.
3. „Soziale Demokratie"
350 Beide Begriffe seit 1834/35 wiederholt in den deutschen .Arbeitervereinen verwandt;
dazu WOLFGANG SOHIEDER, Anfinge der deutschen Arbeiterbewegung (Stuttgart 1963),
174 ff.
au Doch schon 1838 im BROCKHAUS, CL Gegenwart; s. Anm. 315.
361 JosEI' STA'MMHAMMER, Bibliographie der Sooia.1-Politik, Bd. 2 (Jena 1912), 82.
868 s. o. s. 884.
886
VI. 3. ,,8oziale Demokratie" Demokratie
Demokratie ge,gen die Aristokratie· voraus. Die Demokratie, der England entgegen-
gehe, werde eine sozüde Demokratie sein865 • Mit Akzentverschiebung auf sozial-
revolutionäre Bewegung konnte auch vom demokratischen Sozialismus gesprochen
werden, so von KARL GRÜN 1845368 • In der Revolution von 1848 wurde die Be-
zeichnung 'soziale Demokraten' oder 'Sozial-Demokraten' vor allem in den Vereinen
der „Arbeiter-Verbrüderung" als Unterscheidung zu den (nur politischen) Demo-
kraten in den demokratischen Vereinen und den Parlamenten allgemein üblich,
so schon ·in der Rede FRIEDRICH HEoKERS am 5. März 1848 im Heidelberger
Schloßhof. STEFAN BORN schrieb 1849, in der „Verbrüderung" haben wir uns ..•
offen als Sozial-Demokraten bekanm357 • Mehrfach wurde in der Revolution auch von
der 'demokratisch-sozialen' oder der 'sozial-demokratischen Republik' gespro-
chen358.
Nach der Revolution wurde der Terminus der 'sozialen Demokratie' 'oder der
'Sozial-Demokratie' von LORENZ VON STEIN begrifflich präzisiert. In seiner ain
französischen Beispiel entwickelten Theorie stand die. „soziale" Demokratie am
Schnittpunkt der sozialen Init der rein politischen Bewegung. Jene zielt auf die
Herrschaft der bisher beherrschten nichtbesitzenden K'lasse; diese, die republikanische
oder demokratische Bewe,gung, auf eine freie Staatsverfassung Init dem Grundsatz
staatsbürgerlicher Gleichheit369 • Verbanden sich die sozia;le und die konstitutionelle
Tendenz, so verwirklichte sich jene in der Verwaltung, diese in der Verfassung des
Staates. Diese Verbindung beider Bewegungen wurde· als „soziale Demokratie"
begriffen. Das Prinzip der sozialen Demokratie ist demnach das allgemeine Stimmrecht
für die Verfassung, die Aufhebung der gesellschaftlichen Abhängigkeit in der arbeiten-
den Klasse für die Verwaltung. In der sozialen Demokratie .ist die Konstitution daher
das demokratische, die Administration das soziale Element. Nicht nur im Aufweis
der Notwendigkeit dieser Entwicklung, sondem auch durch die in ihr enthaltene
Altemativprognose - soziale Reform oder soziale Revolution - erinnerte Stein,
ungeachtet der Andersartigkeit seines von Hegel kommenden, dialektischen Den-
kens, an Tocqueville880• Er wies dainit, indem er die Revolution durch die Reform
abzuwehren hoffte, auf den kommenden Sozialstaat voraus381 • Die bisherige Demo-
866 F. ENGELS, Die 'Lage Englands II. Die englische Konstitution (1844), MEW Bd. 1
(1957), 592; vgl. auch ders., Das Fest der Nationen in London (1845/46), MEW Bd. 2
(1959), 612.
351 KARL GRÜN, Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien (Darmstadt 1845), 82.
367 STEPHAN BORN, Verbrüderung, 23. 1. 1849, zit. FRoLINDB BALSBR, Sozial-Demokratie
1848/49-1863, 2. Aufl., Bd. 1(Stuttgart1965), 144, Anm. 362. Ebd., Anm. 361 der Beleg
für Hecker.
368 Mehrere Belege bei HANS MÜLLBB, Ursprung und Geschichte des Wortes 'Sozialismus'
Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in: Alteuropa und
die moderne Gesellschaft, Fschr. ÜTTo BBUNNBB (Göttingen 1963), 248 ff.
887
Demokratie VI. 3. ,,Boziale Demokratie"
kratie sei, insofern sie die Verfassung zur Hauptsache macht, ... unmächtig. Wenn
sie die Verwaltung zum Gegenstande macht, so ist sie keine Demokratie mehr. Das Ende
der bisherigen Demokratie ist da, sowie die beiden Klassen sich über ihr wahres gegen-
seitiges Interesse verständigen . . . Der Übergang der Demokratie zu jener neuen
Gestalt ist bereits angedeutet in dem Losungswort der sozialen Demokratie362 •
In den sechziger Jahren wurde 'soziale Demokratie' als Selbstbezeichnung end-
gültig zum gängigen Begriff im Sinne einer Verbindung von Arbeiterbewegung und
Demokratie in Abhebung von einer bloß 'politischen' oder 'bürgerlichen' Demo-
kratie. Deutlicher als 1848/50 wurde er damit zur Parteibezeichnung. So sprach,
während Lassalle selbst noch zurückhaltend war, JEAN BAPTIST VON SCHWEITZER
schon am 13. Oktober 1863 von der soziaUemokratischen Partei Kampf gegen die
liberale Bourgeois-Partei, und am 15. Dezember 1864 erschien die erste Nummer
der Zeitung des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereine" mit dem Titel Der
Social-Demokrat363 • 1867 hieß es in J. PH. BECKERS „Vorbote": Während die ein-
seitige politische Demokrat,ie die ins Stocken geratene Revolution zu vollem Durchbruch
und in der Bourgeoisierepublik zum Abschluß bringen will, will die Sozialdemokratie
diesen Abschluß beschleunigen helfen, um sofort darüber hinaus zu gehen und die
Gründung eines neuen Volksstaates - eine neue Kulturepoche ,;...._ die soziale - ein-
zuweiken384. Damit war das Bewußtsein verbunden, daß sich die politische Demo-
krat,ie . . . zu dem konsequenteren, fortgeschritteneren und höheren Begriff der Sozial-
demokratie erhoben habe365• Als die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei" sich
1869 in Eisenach ihr Programm gegeben hatte, war 'Sozialdemokratie' von da an
zur dauerhaft festgelegten Bezeichnung für die kommende SPD geworden.
War in der Begriffsgeschichte von 'Sozialdemokratie' zwischen 1840 und 1870
noch die gesellschaftliche Zielsetzung mit dem (für 'Demokratie' traditionellen)
verfassungspolitischen Leitbild verbunden gewesen, so wurde in der politischen
Sprache um die Jahrhundertmitte noch ein Schritt darüber hinaus getan, indem
'Demokratie' auch allein auf die Gesellschaft bezogen wurde. Eine von der „Aristo-
kratie" befreite Gesellschaft der Gleichheit konnte seit etwa 1840 als 'demokratisch'
oder - gesteigert - als 'sozialistisch' bezeichnet und die Gesellschaft demgemäß
als in einem Demokratisierungsprozeß befindlich begriffen werden. Die Gesellschaft
gleicht sich mehr und mehr aus, demokratisiert sich; die Ansprüche der hökern Stände
auf das Privilegium der BiUung, des Genusses, der politischen Herrschaft, des Ton-
angebens in der äußern Sitte werden immer mehr herabgestimmt, die Ansprüche der
niedern Stände stimmen sich hinauf366. In ähnlichem Sinne konnte LUDWIG HÄUSSER
sagen: die badische Gemeindeordnung von 1831 demokratisierte die Fundamente
881 STEIN, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 3 (1921), 207. Er führt seinen Gedanken-
gang fort im Art. Demokratie und Aristokratie, in: BROCKHAUS, Gegenwart, Bd. 9 (1845),
306 :ff. Dort Absetzung der sozialen Demagogie von der sozialen Demokratie, die in Verbindung
mit der „Constitutionellen Partei" wünschbar ist - gemäß der Zusammengehörigkeit des
Prinzips der Bewegung (Demokratie) mit dem dor Erhaltung (Aristokratie); -Adel.
888 Zit. MÜLLER, 'Sozialiamus' (s. Anm. 358), 162.
aH Vorbote 9 (1867).
886 Nürnberger Anzeiger (1869), zit. Huao EOKEBT, Liberal- oder Sozialdemokratie. Früh-
geschichte der Nürnberger Arbeiterbewegung (Stuttgart 1968), 122 f.
888 Gedanken über die moderne schöne Literatur, Dt. Vjschr. 3 (1840), 269.
888
VI. 4. Man: und Engels Demokratie
der politischen Gesellschaft 361• Zur Zeit der Revolution von 1848/49 war 'Demo-
kratisierung der Gesellschaft' im politischen Sprachgebrauch weithin üblich und
mit der Vorstellung verbunden, daß sie gar nicht einmal an eine staatliche Form
gebunden sein müsse und sich in Homogenität der Lebensweise, Kleidung und Gesell-
schaft zeige368 • Ein solcher, bis heute üblicher Sprachgebrauch von 'Demokratie'
und 'Demokratisierung' war uferlos in allen gesellschaftlichen Bereichen anwend-
bar. Er soll hier nur von seiner Wurzel her, d. h. von der Absonderung des Gesell-
schaftlichen vom Staatspolitischen, erwähnt werden.
889
Demokratie VI. 4. Maß untl EageJa
.An die Stelle des Hegelschen Staat.eR trat alAo dia Dlimokratia. Sie war von der
Vorstufe (Hegel) in die Endstufe eines von göttlicher Führung befreiten Prozesses .
·der Geschichte gerückt. In diesen Denkansatz wurden kurz darauf die Revolution
durch das Proletariat. sowie der Kommunismus als Bezeichnung für das Ziel der
Geschichte hineingestellt und dienten zu seiner Konkretion.
Darin verband sich mit FRIEDRICH ENGELS, der schon 1843 die Französische Re-
volution als Ursprung der Demokratie in Europa bezeichnet und hinzugesetzt hatte,
daß aus unwahrer und geheuchelter Demokratie eckte Freiheit und eckte Gleichheit,
das heißt Kommunismus, entstehen müsse370. Zwei Jahre später definierte er: Die
Demokratie, das ist heutzutage der Kommunismus ... Die Demokratie ist proletarisches
Prinzip, Prinzip der Massen geworden871 • Diese Gleichsetzung von 'Kommunismus'
und 'Demokratie' galt im Sinne des ursprünglichen, explizit vorkommunistischen
.Ansatzes von Marx, nur für die zukünftige Endphase und das Bekenntnis zu diesem
Glauben boi der „Partei" der Kommunisten. Für die Gegenwart wurde zwa.r solche
Gleichsetzung programmatisch gefordert, aber nicht für diejenige' Demokratie
vollzogen, die vor und in der Revolution von der „Partei der Demokraten" in
Anspruch genommen wurde. Mit dieser konnte es lediglich ein politisches Bündnis
auf Zeit und zur rechten Zait-Ao 1848 - g11hFm 372 . AiA w11.r11n di11 kl.e.inbii.rgerliche.n
Demokraten, . . • die Partei der KleinlJ'ii;rgerschaft, die von den liberal,en Bourgeois
einerseits, der revolutionären Arbeiterpartei andererseits abgehoben wurden373• In
der Phase der liberal-demokratischen Revolution und ihres Scheiterns (1848/50)
wurden von Marx und Engels die politischen Termini 'Liberalismus', 'Demokratie'
und 'Kommunismus' durch die sozialen Attribute 'Bourgeois', 'Kleinbürger' und
'Arbeiter' ('Proletarier') sowie in der Steigerung vom föderativ-monarchistischen
über einen stärker zentralisiert föderativen zum einheitlich zentralistischen, re-
publikanisch-demokrl!-tischen (kommunistischen) Nationalstaat37' begriffen. Im
Programm jedoch verband sich 'Demokratie' schon jetzt mit 'Proletariat' unter
der Voraussetzung, daß die Revolution nicht kleinbürgerlich mit begrenztem Ziel
geführt und abgebrochen werden dürfe, sondern Revolution in Permanenz sein
müsse375 • In dieser Programmatik war die „Sozial-Demokratie" selbstverständlich
enthalten, aber nicht als Endziel begriffen, da die allgemein sozial-demokratischen
Phrasen zu unrevolutionär mit der kleinbürgerlichen Demokratie im Kompromiß
zusammenliefen378 • Die sogenannte sozial-demokratische Partei, wie sie Marx im
870 ENGELS, Fortschritte der SoziaJreform auf dem Kontinent (1843), ebd., 481.
371 Ders„ Fest der Nationen (s. Anm. 355), 613.
871 Vgl. hierzu z. B. ENGELS, Die Kommunisten und Karl Heinzen (1847), MEW Bd. 4
(1959), 316 f.; ders., Grundsätze des Kommunismus (1847), ebd., 372 f.; MA.Bx/ENGELS,
Manifest der Kommu'listischen Partei (1848), ebd., 481 f. 492 f.
878 MABxjENGELS, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, MEW
Bd. 7 (1960), 244 :lf., bes. 244. 246.
874 Wenngleich schon deutsche „Jakobiner" vor 1800, „Demokraten" um 1848 und am
radikalsten MABx und ENGELS die „eine und unteilbare Republik" anstrebten, gehörte
selbst für diese der unitarische Zentralismus nicht notwendig zum Begriff der Demokratie;
diese wurde im Gegensatz zu dieser Tendenz häufig auch ausdrücklich mit dem Föderalis-
mus verbunden, wofür die Vereinigten Staaten UJJ,d die Schweiz die Modelle abgaben.
875 MABx/ENGELS, MEW Bd. 7, 254 (vgl. Anm. 373).
890
VI. 5. Zurüekdräogung des Demokratie~ Demokratie
R,iir.khlir.k (1Rfi2) für Fmnlm~inh 18~8/~9 bcfloh:ricb, cmohicn ihm allil eine n1ue
Montagne mit sozialem Akzent. Der eigentümliche Charakter <1er Sozial-Demokratie
fasse sich dahin zusammen, da/J demokratisch-republikanische Institutionen als M iUel
verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, be1:de a?J,/znh.eben,
son<lern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln377.
Der Prozeß von „purer Demokratie"378 über „Sozial-Demokratie" zum revolu-
tionären Sprung („Diktatur des Proletariats"), der den Weg zur eigentlichen
Demokratie des Kommunismus eröffnen sollte, wurde von Marx und Engels von
1843-1852 theoretisch voll entwickelt. Alles Spätere erscheint nur als je neue
Anwendung und Anpassung379.
LASSALLE blieb hinter der theoretischen Präzision von Marx und Engels zurück.
Er stand inmitten des allgemeinen Demokratieverständnisses zwischen 1848 und
1863. Seine Bedeutung liegi. nicht in begriffsgeschichtlicher Originalität, sondern
in der puliLi11eheu Kuukretion des allgemein Demokratischen auf die Situation von
1858 bis 1864. Das heißt: er registrierte und vollzog seinerseits die Trennung vom
Liberalismus (Fortschrittspartei), und er erklärte den „Arbeiterstand" zum Träger
der Demokratie. Die Demokratie war das einende Band zwischen der Bourgeoisie
und dem Arbeiterstand. Indem man diesen Namen abschüttelte und verleugnete, zer-
schnill man von jener Seite her dieses einende Band, pfianzte man da.~ Banner ni.cht
11wlir e·i.,,,er derrwkratischen, son<lern einer liberalen Bourgeoisbewegung aur80 • Lassalle
stand insofern Marx nahe, als auch er - freilich noch verschwommener - 'Demo-
kratie' in der Bewegung des geschichtlichen Prozesses sah, wobei er jedoch - von
Marx her gesehen - auf der Stufe der „Sozial-Demokratie" stehenblieb und die
allgemein vertretene Beziehung von Demokratie und „Nationalität" („Selbst-
. bestimmung") besop.ders stark hervorhob381 •
377 M.utx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW Bd. 8 (1960), 141.
. 3 78ENGELS schreibt von den puren Demokraten im Brief an Joseph Weydemeyer v. 12. 4.
1853, MEW Bd. 28 (1963), 579.
879 Vgl. z. B. M.utx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (1875),
MEW Bd. 19 (1962), 15 ff.
°
38 FERDINAND LAssALLE, Rede v. 19. 5. 1863, Ges. Red. u. Sehr., Bd. 3 (1919), 273.
Eine neue Interpretation des politischen Denkens Lassalles in der noch ungedruckten
Heidelberger Dissertation von GÜNTER TRAUTlllANN, Wahlorganisation und parlamentari-
sche Tätigkeit des Allgemeinen Arbeitervereins von 1867 bis 1871/74 (1968).
8 81 Das Prinzip der freien, unabhä,ngigen Nationalitäten ist also die Baaia und Quelle, die
Mutter und Wurzel dea Begriffs der Demokratie überhaupt; LASSALLE, Ges. Red. u. Sehr.,
Bd. 1 (1919), 31 f.
891
Demokratie VL S. Zuräckdrängang des Demokratiebegriffs
882 F. NAUMA.NN, Fortschrittliche Volkspa.rteil (1910), Werke, Bd. 5 (1964), 448. Vgl. das
892
VI. 5. Zurll~kdrlngung des Demokradehegrlffs Demokratie
widerspreche, so daß Demokratie nur möglich sei, wenn sie von ihrem eigenen
Prinzip abweiche und damit nicht mehr konsequent sei. Dies zeigte Treitschke
nicht nur für die Schweiz und die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch
für das klassische Vorbild, die athenische Demokratie, die auf der Sklavenbasis
beruht und in Wirklichkeit als Massenaristokratie der Vollbürger888 über Sklaven
geherrscht habe. Die Demokratie der allgemeinen Gleichheit enthalte eine contra-
dictio in adfecto; sie erstrebe ein Ziel, das ... undenkbar ist; sie habe demgemäß
den krampfhaften Zug, ein an sich unerreichbares Ideal erzwingen zu wollen389 • Auch
das der Demokrati4i1 meist beigegebene Attribut der Freiheit läßt Treitschke nicht
gelten, indem er auf die lndividualitätsvemeinung der antiken Demokratie und
auf die Freiheitsverwirklichung in der modernen Monarchie hinweist, wenngleich
er es ablehnt, die politische und die persönliche Freiheit bestimmten Staatsformen
zuzuweisen, wie es einer verbreiteten Modet,orheit entspreche390 • Erweist sich für
Treitschke sowohl aufgrund einer politischen „Naturlehre" (Aristoteles, Roscher)
wie aufgrund historischer Erfahrung und politischer Zielsetzung Demokratie
prinzipiell als unwirklich und in pragmatischer Realitätsanpassung als geringwertig,
so beobachtet er doch ein historisches Geset,z der Demokratisierung der Staatsformen
innerhalb der moder.a.en Monarchien, die dadurch allerdings nur gewandelt, keines-
wegs aber eines Tages von der Demokratie als Staatswesen abgelöst werden könn-
ten. Dies Gesetz beruhe darauf, daß Wohlstand und Bildung sich immer weiter
verbreiteten und damit die Berechtigung zur aktiven Teilnahme auf immer größere
Kreise übergehe. Das sei in vernünftigen Schranken berechtigt. In Deutschland sei
man hierbei leider an der äußersten Grenze angelangt, über deren Unvernünftigkeit
nichts mehr hinausgeht, beim allgemeinen gleichen Stimmrecht391 • Eine solche Grenz-
überschreitnng widersprach der „Natur" der „bürgerlichen Gesellschaft" und wies
auf die von Treitschke wiederholt beschworene soziale und geistige Einebnungs-
tendenz hin, die aller Demokratie innewohne. Von „aristokratisch"-„bürgerlichen"
Wertungen aus erschien ihm die Natur der Demokratie als „mittelmäßig". Ein Be-
such der Schweiz (1864) bestätigte ihm den vorhergewußten Eindruck einer
allgemeinen ehrenwerten Mittelmäßigkeit 392 • Dies brachte er mit der Kleinräumigkeit
in Beziehung und wendete damit die traditionelle Vorstellung, daß Demokratie
nur in kleinen Staaten möglich sei und diese allein auf die Dauer demokratisch
sein könnten, auf seine Gegenwart, d. h. implizit auf die deutsche Frage an. Eine
große, welthistorische Nation (Hegel) konnte und sollte nicht demokratisch verfaßt
sein.
Der Hinausweisnng der Demokratie aus dem politischen Horizont des offiziellen
deutschen Reichs- und Nationalbewußtseins entsprach es, daß 'Demokratie' für
das Staatsrecht des Deutschen Reichs außerhalb lag. Für J ellinek war - unter
Berufung auf die Tradition seit Aristoteles bzw. Machiavelli - „Demokratie"
mit „Monarchie" unvereinbar. Sie konnte demgemäß nur als „demokratische
893
Demokratie VI. 6. Christliche Demokratie
6. Christliche Demokratie
Als bisheriges Ergebnis sei festgehalten, daß nach 1848 in Deutschland kein nach-
haltiges Bedürfnis mehr bestand, den Begriff der Demokratie in das verfassungs-
politische Denken konkret einzufügen - es sei denn in der Negation des Be-
stehenden, d. h. in Beziehung zur Revolution, deren neue Extreme des Sozialismus
und Kommunismus freilich ihrerseits den Begriff der Demokratie okkupierten, ihn
überholten und entbehrlich machten oder ihn als 'Sozial-Demokratie' sich an-
verwandelten.
War 'Demokratie' dem deutschen Staatstypus der konstitutionellen Monarchie
fremd geblieben, so hatte sich der Begri:H' auch kaum mit Kirche und Christentum
verbunden. Es war typisch für den Lebenszusammenhang von Staat und Kirche
in Deutschland, daß es wohl eine .christlich-soziale, aber keine christlich-demo-
kratische Bewegung gegeben und die Wortverbindung 'christliche Demokratie'
nur in don Jahron um 1818 oino auoh damalo nur poriphoro Rollo goDpiolt hat.
'Christlich-sozial' war intrakonstitutionell vertretbar, 'christlich-demokratisch' wies
dagegen in eine revolutionäre Richtung, die beiden Kirchen, ungeachtet ihres
unterschiedlichen Verhältnisses zum Staat, weit fern lag und auch von christlich-
sozialen Protagonisten beider Konfessionen wie WICHERN und KETTELE& be-
kämpft wurdesN.
So fällt der Begriff 'christliche Demokratie' für die deutschen Staaten des 19. Jahr-
hunderts kaum ins Gewicht, w13nngleich er nicht unbekannt gewesen ist. Denn er
war in Frankreich schon 1791 in Beziehung zuin. Kirchenkampf geprägt und in den
dreißiger und vierziger Jahren (Lammenais, Buchez) stark verbreitet worden, da das
Bedürfnis dafür angesichts des Zwiespalts zwischen fortwirkender Revolution und
sich erneuerndem Katholizism1,lll lebendig war395• Dies Bedürfnis setzte sich unter
den Bedingungen der Dritten Republik auf neue Weise fort, besonders nachdem
Leo XIII. seit 1885 die Indi~erenz gegenüber der Staatsform propagierte und somit
das „ralliement" der Katholiken mit der Französischen Republik ermöglichte. In
der E:µzyklika „Graves de communi" (1901) wurde allerdings den Katholiken auf-
888 GEORG JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. (1900; 7. Ndr. Bad Homburg 1960),
666. 710 :ff.
89' Bei W1ommN wird allein schon das Wort 'Demokratie' selbst kaum verwendet. Vgl. eine
der seltenen, scharf aburteilenden Aussagen Wicherns bei MARTIN GEBHARDT, Johann
Hinrieb Wiehern. Ein Lebensbild, Bd. 3 (Hamburg 1931), 246. - KETTELER betonte
immer wieder, daß, der Geist eines säkularisierten oder antichristliohen Staates und des
Christentums unvereinbar seien. Der Begriff 'christliche Demokratie' lag ihm ganz fern;
vgl. WILHELM EMANUEL v. KETTELER, Schriften, hg. v. Johannes Mumbauer, 2. Aud.
(München 1924), passim, bes. Bd. 1, 247 :ff.; Bd. 2, 5 if.
886 Vgl. MAIER, Revolution und Kirche (s. Anm. 237); ders., Herkunft und Grundlagen
der christlichen Demokratie, in: Christliche Parteien in Europa (Osnabrück 1964), 11 :ff.
Das Buch von MICHAEL FOGA.RTY, Christliche Demokratie in Westeuropa 1820-1953
(Basel, Freiburg, Wien 1959) ist begritrsgeschichtlich unergiebig.
894
VD. Ausblick Demokratie
VD. Ausblick
Im Kaiserreich war 'Demokratie' als Inhalt und Begriff entweder wie in der
„Politik" Treitschkes verdrängt oder bei linken Liberalen, vor allem der „Deut-
schen Volkspartei", als verpflichtende Erinnerung wenig Wirksam festgehalten oder
aber in der Sozialdemokratie in den „Nahzielen" des Erfurter Programms kon-
kretisiert und dem Sozialismus eingeordnet worden. Erst im Zusammenhang der
geistigen Bewegung um die Jahrhundertwende, als auch die gesellschaftlich-ver-
fassmigspolitische Ordnung der wachsenden Industrienation neuartig irr Frage ge-
stellt wurde, stellte sich das Bedürfnis ein, den Begriff 'Demokratie' zur Struktur-
und Bewegungsanalyse der Gegenwart wieder zu Hilfe zu nehmen. FRIEDRICH
NAUMANN übte in dieser Hinsicht die größte Wirkung aus. Hatte er noch 1895
das „Christlich-soziale Programm" politisch im zeitüblichen Sinne verfaßt, indem
er das konstitutionelle System gegenüber den abgelehnten Extremen des monarchi-
schen Absolutismus und der republikanischen Demokratie hervorhob398, bediente
er sich von 1900 ab des Begriffs 'Demokratie', um an ihm Staat und Gesellschaft
des Kaiserreichs zu messen und sich zu ihm als Inbegriff rettender Zukunfts-
erwartung zu bekennen. Treitschkes Vorstellung, daß die Primitivität kleinräumiger
396 KARL BACHEM, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Zentrumspartei, Bd. 8
(Köln 1931) und 9 (1932), passim. - Ein halbes Jahr nach der El\zyklika. „Gra.ves de
communi" sprach LIEBER auf dem Dt. Katholikentag (August 1901) in Osnabrück über
„Christliche Demokratie"; E. Fn.THA.UT, Deutsche Katholikentage 1848--1958 und soziale
Frage (Essen 1960), 164.
ae 7 BACHEM, Zentrumspartei, Bd. 7 (1930), 300. 316.
398 NAUMANN, Gedanken zum christlich-sozialen Programm (1895), Werke, Bd. 5 (1964), 72.
895
Demokrade VB. Ausbllck
896
VII. Ausblick Demokratie
404 So stellte Pfarrer GOTTFRIED TRAUB (NDVP) den Geist der Stein.sehen Verfassung und das
Erbe des Liberalismu.a dem Geist des Materialiamu.a und des Mammonismu.a auf dem Grunde
gleichmachender Demokratie gegenüber; Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre
1919, hg. v. EDUARD HEILFRON, Bd. 1 (Berlin 1919), 498 f.
406 Vgl. außer zahlreichen Darstellungen zur Geschichte der Weimarer Republik und
Österreichs nach 1919 bes. KURT SoNTHEIMER, Antidemokratisches Denken in der Wei-
marer Republik, 3. Aufl.. (München 1966).
406 ADOLF HITLER, Mein Kampf (München 1925), 364; vgl. die Ausg. 1930, 378. Dazu:
HERMANN HAMMER, Die deutschen Ausgaben von Hitlers „Mein Kampf", Vjh. f. Zeit-
gesch. 4 (1956), 171.
407 Vgl. FRIEDRICH KARL FROMME, Der Demokratiebegriff des Grundgesetzes, Die öffent-
57-90385(1 897
Demokratie VD.Amhliek
898
VB. Auahlick Demokratie
Literahir
GusTAv H. BLANKE, Der amerikanische Demokratiebegriff in wortgeschichtlicher Beleuch-
tung, Jb. f. Amerikastudien 1 (1956), 41 ff.; JENS A. Cmm!TOPHEBSEN, The Meaning of
„Democracy" as Used in European ldeologies from the French to the Russian Revolution.
A Historical Study in Political Language (Oslo 1966); WILHELM HENNIS, Demokrati-
sierung. Zur Problematik eines Begriffs (Köln, Opladen 1970); CmusTIAN MEIEB, Drei
Bemerkungen zur Vor- und Frühgeschichte des Begriffs Demokratie, in: Discordia concors,
Fschr. EDGAR BoNJOUB, Bd. 1 (Basel 1968), 3.ff.; ders., Die Entstehung des Begriffs
Demokratie, Polit. Vjschr. 10 (1969), 535 ff., jetzt in: ders., Entstehung des Begriffs.
„Demokratie". Vier Prolegomena zu einer historischen Theorie (Frankfurt 1970), 7 ff.;
R. R. PALMER, Notes on the Use of the Word „Democracy" 1789-1799, Polit. Science
.Quarterly 68 (1953), 203 ff.
899
Diktatur
I.
I. Einleitung
Das Wort 'Diktatur' gehört ebenso wie der Terminus 'Tyrannis' zu jenen aus der
.Antike überlieferten staatsrechtlichen Begrllfen, denen in der monarchisch-
feudalen Welt des Mittelalters und der frühen Neuzeit keine Wirklichkeit präzis
entsprach. Aber da die Tyrannis von Platon und Aristoteles mit scharfer Betonung
und entschiedener Wertung als naebeßaoi~ der Monarchie behandelt worden war
und da eine Bezeichnung für einen schlechten Monarchen vom Leben selbst ge-
fordert wurde, erfreute sich das Wort 'Tyrann' schon im Ausgang deR Mittelalters
und fast ohne Unterbrechung bis ins 19. Jahrhundert hinein einer außerordentlichen
Verbreitung und Beliebtheit. Der ständische Widerstand gegen den aufkommenden
Absolutismus und der aufklärerische Angriff gegen den „Aberglauben" verwendeten
ebensogem den Terminus 'Despot' bzw. 'Despotismus', und es wäre in der Tat nicht
schwierig, den Kem der Staatsphilosophie von Spinoza, Montesquieu, Helvetius
oder Condorcet in einen Satz zu fassen, in dem 'Tyrannei' oder 'Despotismus' das
logische Subjekt wären. Nichts ähnliches gilt für das Wort 'Diktatur'. Es taucht
stets nur am Rande und - von wenigen Ausnahmen abgesehen - als Bezeichnung
für die römische Institution auf. Aber in der Epoche der Französischen Revolution
gewinnt es den übermächtigen Konkurrenten gegenüber zeitweilig eine Art von
Gleichberechtigung, und nach einem erneuten, wenngleich abermals nur temporären
Raumgewinn um die Mitte des 19. Jahrhunderts verdrängt es sie nach dem Ersten
Weltkrieg fast vollständig, so daß heute 'Tyrannei' eine in der Hauptsache anti-
quarische Bezeichnung darstellt, während 'Diktatur' mit aktueller Bedeutung ge-
füllt ist. Diesen Prozeß der Gewichtsvertauschung, der aber keineswegs ein bloßes
Auswechseln der Bedeutungen zum Inhalt hat, gilt es zu verfolgen1 •
1 Da der Verfasser keine Umarbeitung des 1966 geschriebenen Artikels mehr vornehmen
konnte, wurden mit seinem Einverständnis einige Anmerkungen zum Zwecke zusätzlicher
Information vom Redaktor hinzugefügt (2a. 4. 5tw. 9. 10. lltw. 15. 18. 19. 26. 32. 36.
39. 44 tw. 46.). - Als einführende Literatur vgl. CARL SCllMl'rr, Art. Diktatur, Staats-
lexikon, 5. Aufl.., Bd. l (1926), 1448 ff.; GusTAv E. KAFKA, Art. Diktatur, ebd., 6. Aufl..,
Bd. 2 (1958), 907 ff. Weitere Literatur s. Anm. 45.
900
L 2. Die klauisch·aatitpmrische Bedeutuag Diktatur
a Die Macht de& Dictafmia war ganz könj,gZich. Er herrachte a'la ein 1101.weräner Herr. Vorher:
Sylla hat am er11ten 11eine Gewalt gemißbraucliet und Bi,ch eine be&fiindj,ge Dictamr ••• ange-
901
Diktatur I. 2. Die ldassisch·antiqwuüehe Bedeutung
Dieser klassisch-antiquarische Begriff, der vor allem in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts die Fachgelehrten beschäftigte2•, ist ein Gewächs des Kultur-
kreises im ganzen. Für die große Mehrzahl der Konversationslexika bleibt er bis
ins 20. Jahrhundert bestimmend. :Pie alte Genauigkeit im einzelnen geht jedoch
durchweg verloren, der Unterschied der beiden Arten der Diktatur wird oft mehr
konstatiert als bewertet; aber :noch in der 3. Auflage des MEYER.Sehen Lexikons
von 1875 wird das Stichwort „Diktator" ohne jede aktuelle Bezugnahme behandelt,
und unter „Dictatura publica" (Bd. 7, 799) erscheint nach wie vor das Verfahren
des ehemaligen Reichs- bzw. Bundestages3 •
So beweist schon ein flüchtiger Blick auf die Enzyklopädien, daß das Wort 'Dikta-
tur' bis zur Jahrhundertwende im wissenschaftlichen Sprachgebrauch über die
antiquarische Bedeutung nicht hinausgekommen ist4• Umso dringlicher wird die
ma88et ••• 8yllae Exempel folgte Juli'U8 Gaeaar, der es aber noch achlimmer '171(/,Chf,e ala Sylla,
denn er machte aich nicht aUein zum -perpetuo dictatore, aundern auch zum Bürgermeiater und
Praefecto morum zugleich; ZEDLER Bd. 7 (1734), 798. Die „Deutsche Encyclopädie", Art.
Dicta.tur (Bd. 7, 1783, 255 ff., verfaßt von dem Regensburger Gymnasialrektor Professor
Jon. PmLIPP ÜSTERTAO) hat nicht nur die dauernde, sondern a.uoh die befristete Di\to.tur
bereits sehr viei kritischer beurteilt: Die.11e Wilrde der Didat1'r war dem Volke allzeit verhaßt,
daa aie ala eine Erfi,ndung der Sf.aatakunat anaah, die ihm Schrecken einjagen und es zur
Knechtachaft gewöhnen aollte (258). Die Einführung der Diktatur, um eine militärische Krise
zu Wf'.nden, sei vom Senat nur z1~ Vorwand gebraucht worden, aein u'"'hrer Beweggrund
habe darin gelegen, das Volk der Adelsherrschaft zu unterwerfen. Die antithetische Inter-
pretation der befristeten und der dauernden Diktatur wird da.mit bereits unterlaufen.
2a Nach Lipentills sind zwischen 1648 und 1697 nicht weniger als sechs Hochschularbeiten
über die römische Diktatur erschienen, fast alle im Reichsgebiet. Dagegen wird für das
18. Jahrhundert nur eine einzige Arbeit von 1783 nachgewiesen; MARTIN LIPENTIUS,
Bibliotheca realis iuridica, Bd. 1 (Leipzig 1757), 395; Suppl •• Bd. 3, hg. v. L. G. Madihn
(Preßburg 1816), 480. Wie wenig dagegen die moderne Staatsrechtslehre an dem Begriff
'Diktatur' interessiert war, läßt sich da.ran ablesen, daß die Staatslexika bis in die jüngste
Zeit hinein in der Regel einen entsprechenden Artikel nicht aufführen, wenn man von
RoTTEOK/WELCKER (s. s. 910f.), WAGENER (Bd. 6, 1861, 377 f.), der sich auf den römisch-
rechtlichen Begriff beschränkt, und dem Herderschen „Staatslexikon" (s. Anm. 1) einmal
absieht. BLUNTSCHLIS Artikel „Absolute Gewalt" und „Nothrecht" im BLUNTSCHLI/BRATER
enthalten einige konstitutionelle Bemerkungen zum staatsrechtlichen Begriff (Bd. 1, 1857,
11; Bd. 7, 1862, 337 f.).
1 Es ist kennzeichnend, daß noch in der Auflage der „Encyclopaedia Britannica" von 1902
das Stichwort „Dictatorship" überhaupt fehlt, während sich unter „Diaz" eine recht wohl-
wollende Darstellung des mex:ilmnischen Alleinherrschers findet. Dagegen bringt BROCK-
HAUS 14. Aufl., 3. Neuausg., Bd. 5 (1908), 226 nach dem Referat der genannten historischen
Bedeutungen bereits das moderne Verständnis: Gegenwärlig verateht man unter Diktatur und
diktatoriacher Gewalt überhaupt eine in ihren Befugniaaen ganz oder doch größtenteils wnbe-
achränkte, nicht auf dem geltenden 8taatarechte beruhende Macht, welche aich über die verfaa-
BUngamäßigen Autoritäten atellt.
' Über die Wortgeschichte von 'Diktatur' und seinen Vcrwandtcn im -Deutschen ist wenig
bekannt. Bis in die jüngste Zeit hinein blie:ben die Worter 'Diktatur', 'Diktator' und 'dik- ·
tatarisch' - ·der Lehrtradition der deutschen Philologie entsprechend, die den Wörter-
büchern der deutschen Sprache nur Wörter aus germanischer Wurzel vorbehielt - in die
Fremdwörterbücher verbannt. Als Erstbelege sind mit aller in der Wortforschung ange-
brachten Vorsicht folgende Stellen anzusehen: Der älteste bekannte Beleg für 'dictator' in
902
1. 2. Die ldassisch antiquari8ehe Bedeutung
0 Diktatur
903
Diktatur L 2. Die kJassiaeh-antiqwuisehe Bedeutung
Frage, welches die inneren Qualitäten des Begriffes waren6 , die ihm das Schicksal
von Wörtern wie 'Tribun' oder 'Triumvir' ersparten, so daß er seit der Französischen
Revolution an den Knotenpunkten der politischen Geschichte Verwendung fand
und nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Art von Alleinherrschaft gelangte. Es
für das 16. Jahrhundert; „Schwärmer", zit. GoMBERT, Bemerkungen, 5; CHR. WEISSE,
Die drey ärgsten Ertz-Narren in der gantzen Welt (1673; Ndr. Halle 1878), 85, vgl. HECH-
TENBERG (1904), 47; CAMPE, Fremdwb., Bd. l (1801; Ndr. 1808), 254; Bd. 3 (1809), 68;
JoH. ERNST l'mLlPPI, Cicero ein großer Windbeutel, Rabulist und Charletan (Halle 1735)
[= CICERO, Orationes, dt.], zit. GoMBERT, Bemerkungen, 5; ADELUNG 2. Aufl., Bd. 3
(1798), 10; SCHEIDEMANTEL Bd. 3 (1793), 340, vgl. ZEDLER Bd. 19 (1739), 1384 und für das
Weiterleben als juristischem Fachterminus im 19. Jahrhundert PIERER 4. Aufl., Bd. 10
(1860), 668; CATEL Bd. 2 (1811), 68; Mozrn, dt. TI., Bd. 1 (1811), 262; JAKOB HEINRICH
K.ALTSCHMIDT, Geeammt-Wörterbuch der deutschen Sprache, 5. Aufl. (Nördlingen 1869),
571. Zur Eindeutschung vgl. auch CARL SCHMITT, Die Diktatur. Von den Anfangen des
modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf (1920; 3. Aufl.
Berlin 1964), 4 ff. R. STUMPF
6 Vielleicht darf der Terminus 'dictamen rationis', der in der ganzen rationalistischen Phi-
904
L 2. Die ~-autitfuarische Bedeutung Diktatur
scheint, daß in ihm zwei Probleme von allgemeinster Bedeutung zum Vorschein
kamen und daß er von einer Tatsache profitierte, die bis zum Beginn des 19. Jahr-
hunderts unübersehbar war. Es handelt sich um die Probleme des Verhältnisses
von Souveränität und Begrenzung bzw.· von Freiheit und Zwang und um die
Tatsache der Vorbildlichkeit des Römischen. Die Wichtigkeit dieser drei Momente
läßt sich am Werk von drei politischen Denkern aufweisen, in deren Werken der
Begriff der Diktatur eine mehr als nur beiläufige Rolle spielt.
NwcoLo MACHIAVELLI hat im 34. Kapitel des ersten Buches der „Discorsi sulla
prima deca di Tito Livio" (1531) ausdrücklich von der Diktatur gehandelt und ihr
Wesen schon in der 'Oberschrift in eine enge Beziehung zur Freiheit gesetzt:
L' autorita dittatoria fece bene e non danno alla Repubblica rom.ana; e come le aut01·ita
ehe i cittadini si tolgono, non quelli ehe sono loro dai suffragi liberi date, sono alla vita
civile perniziose6 • Als Paradigma der usurpierten Autorität erscheinen gerade die
Diktaturen Sullas und Cäsars, die aber nach Machiavellis 'Oberzeugung nur den
Namen mit der eigentlichen Diktatur gemein haben und in Wahrheit Tyrannen-
herrschaften waren 7• Wo dagegen die Diktatur zum Schutz der Freiheit übertragen
und angenommen wurde, war sie immer wohltuend für die Stadt. Diktatur und
Republik sind voneinander schlechterdings unabtrennbar, die Diktatur ist nichts
anderes als ein Panzer qer Freiheit in gefährlichen Situationen: E pero concliiudendo
dico ehe quelle repubbliche le quali negli urgenti pericoli non hanno rifugio o al
Dittatore o a simili autoridadi, sempre ne' gravi accidenti rovineranno 8 • Wenn
Machiavellis Hauptwerk gleichwohl den „Principe" zum Gegenstand hat, also
den Tyrannen, so kommt in diesein Gegensatz Machiavellis abgründiger Pessimis-
mus zum Vorschein, der es ihm unmöglich macht, dem verderbten Geschlecht der
Gegenwart die römischen Institutionen auch unter praktischen Gesichtspunkten
als Vorbilder zu empfehlen.
Für JEAN BomN ist im achten Kapitel des ersten Buches der „Six livres de la
republique" (1577) die Diktatur der Punkt des Anstoßes, von dem aus er seinen
Begriff der Souveränität gewinnt. Denn die zeitliche Begrenzung der Diktatur
bedeutet, daß sie einem Auftraggeber untersteht, mithin kommissarisch ist. Da
Bodin aber ein unableitbares Prinzip staatlicher Befehlsgebung sucht, müssen
Souveränität und Begrenzung einander ausschließen: En quoy il appert que le
Dictateur n'estoit ny Prince, ny Magistrat souverain, comme plusiers ont escrit, et
n'avoit rien qu'une simple commission pour faire la guerre,oureprimer la sedition, ou
reformer l'estat, ou instituer nouveaux offiCiers. Or souverainete n'est limitee, ny en
• Die dikf.atoriache Gewalt brachte der römiachen Reyuhlik Vorteil, nicht Schaden. Gefährlich
für ifus Sta.at8leben ist die Gewalt, die ein Bürger an sieh reißt, nicht die, welche ihm durch
freie Wahl erteilt wird; MA.OHIAVELLI, Disoorsi 1, 34, dt. v. Friedrich v. Oppeln-Bronikowski,
2. Aufl., hg. v. Erwin Faul (Köln, Opladen 1965), 79.
7 Zugleich erhebt sich Machiavelli über eine naive Gleichsetzung von semantischen Be-
zeichnungen und Sachlagen: Hätte in Rom der Diktatortitel gefehlt, so bßtte man einen andern
gefunden, denn die Macht schafft sieh leicht ihren Namen und nicht der Name die Macht;
ebd., 80.
8 Ich ziehe daher den Schluß: Die Reyuhliken, die in dringender Gefahr nicht zur Diktatur
oder zu einer ähnlichen Gewalt ihre Zuflucht nehmen, werden bei schweren Ereigniasen stets
zugrunde gehen; ebd., 81.
905
Diktatur
• JEAN BODIN, Les six livres de la republique (Ausg. Paris 1583; Ndr. Aaleri 1961), 123 f.
In lateinischer Fassung: Quibua verbis planum fit dicf,afm'em, neque principem, neque aum-
mum fuiase magiatratum,. ut plerique putarunt; sed oorafm'em, quem nostri commissarium
vocant: nec aliud i1li tributum juisse, praeter curationem beUi gerendi, aut sediti,onis sedandae,
aut Reipub. constituendae, aut magistratuum creandorum, aut claui figendi. Maiestas vero nec
maiore potestate, nec legibua uUiB, nec tempore definitur (Ausg. Ursellis 1601, S. 125); und in
der deutschen Übertragung der „Respublica" von Johann Oswaldt (Mömpelgard 1592),
86 („Von der hohen Oberkeit" = „De iure maiestatis"): Darauß dann leichtlich zu verste-
hen / daß der Dictafm' zu Rom weder Herr noch hohe Oberkeit / wie der mehrer theil wöhnen
wiU / sondern allein derselben oorstaender / oder wie wirs jetzt nennen/ Oommüsariua gewesen
sey /dann sie zu anderm nicht/ als Krieg zu führen/ die Auffnihrn zu stillen/ das Regiment
zu bestellen / und neue Amptleut zu machen/ erwehlet 'IDUrden: Da sonsten.der hohen Oberkeit
wl!lkr Gesatz 1WCh utt f1lrgeschrßen /noch eltt Heft' ubt1' den Halß gesetzt werden katt / 8&11.-
dern sie ist uber alle. Vgl. ferner Buch 3, Kap. 3, wo Bodin auch philologische Ableitungen
des Diktatorbegrüfs anbietet.
10 Eine vergleichbare unmittelbare Beziehung auf eine gegenwärtige Einrichtung liegt bei
MoNTESQUIEU im dritten Kapitel des zweiten Buches des „Esprit des Lois" vor, wo in
einem Atemzug von den Diktatoren Roms und den inquisiteurs d' Etat Venedigs gesprochen
906
D. 1. 'Diktatur' als aktueller politischer Begriff Diktatur
n.
1. Anlange der Verwendung von •Diktatur' als aktuellem politisthen Begrlft' Im
Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons
Die Voraussetzung für das Eindringen des römischen Paradigmas in die politische
Praxis war der Sturz der traditionellen Monarchie, aber dieser Sturz war umgekehrt
wiederum das Werk von Männern, die sich von den Werken der römischen Historie
und Rhetorik genährt hatten. Die Französische Revolution bedeutet auch für das
Wort 'Diktatur' den Übergang aus der Sphäre der Literatur in die Sphäre des
Lebens 11• Einen Monarchen von Gottes Gnaden hatte man 'Tyrannen' oder
wird. Im „Dia.logue de Sylla et d'Eucra.te" und in den „Considera.tions sur les ca.uses de la.
. grandeur dAS H.omains et leur decadence" Wl.l'd der Begriff ganz im antiquarisch-kla.sslschen
Sinne gebraucht. Für weitere Hinweise auf einen zeitgenössischen Gebrauch des Diktatur-
begriffs im 16. und 17. Jahrhunderts. SCHMITT, Diktatur, 28. 33. Bei Leibniz und Herder
.findet sich ein Sprachgebrauch der Diktatur, der per negationem zeitgenössisch aktuell
war: LEIBNIZ schildert in seinem „Bedenken, welcher Gestalt Securitas publica interna im
Reich auf festen Fuß zu stellen", was aus dem st.ändischen Reich würde, wenn ein Regi-
mentsrat bestellt würde: bald würde sich eine Oligarchie bilden, aus der sich ein Meister
emporschwänge. Denn zugkich 008 aerarium und milea demae1ben anhängig wäre, und er da-
durch perpetuus dictat<>r oder ein absoluter Monarch werden würdf,; AAR. 4, Bd. 1 (1931),
136. liERDER stellt fest, daß eine deutsche Geschichte nicht im Sinne der antiken Historie
verfaßt werden könnte. Eine Kaiserhistorie zum Beispiel gebe nichts her, da Deutschland
kein Schauplatz des Despotimnus oder der Diktatur gewesen sei; Ueber die Reichsgeschichte:
ein historischer Spatziergang,. Kritische Wälder, 3. Wäldchen (1769), SW Bd. 3 (18.78), 467.
Schließlich findet sich 1779 bei W. L. WEKHRLIN, Febronius, eine politische Kontroverse,
Chronologen 3 (1779); 35 ff. der seltene Fall einer Übertragung des Kanzleisprachgebrauchs
von 'Diktatur' (speziell von Gregor VII.) auf die politische Herrschaftsfunktion: Wekhrlin
unterstellt in einem fiktiven Gespräch zwischen Gregor VII. und Clemens XIV. dem ersteren
die Forderung, daß der Papst immer das Schwert entblößt vor sich hertragen solle, da er
zugleich als Konsul und als Dictator der Christenheit zu handeln habe (ebd., 39). Eine be-
kannte Übertragung des klassischen Gebrauchs auf die Gegenwart ist die vorübergehende
Ernennung des rangjungen Generals von Wedell zum „Diktator" durch FRIEDRICH DEN
GROSSEN im Siebenjährigen Krieg: Der Generalkutnant von W edell stellet bei der d<>rtigen
.Armee v<>r, was ein Dictat<>r bei der Römer Zeiten v<>r&telkte . .Also müssen alk und jede Offi-
ciers, sie mögen Namen haben, wie sie wollen, ihm den schuldigen Geh<>rsam geben, welcher
mirzukammet; Handschreibendes Königs an Wedell v. 20. 7. 1759, zit. Die Werke Fried-
richs des Großen, hg. v. GusTA.V BERTHOLD VoLZ, Bd. 4 (Berlin 1913), 187, Anm. 1.
11 Innerhalb des deutschen Bereichs mag als Beispiel für die Verschärfung der politischen
Auseinandersetzungen, in deren Rahmen auch das Wort 'Diktator' eine aktuellere und
polemischere Verwendung findet, eine 1790 erschienene anonyme Schrift „Wiederhall aus
der deutschen Lese-Welt auf des Herrn Hofrath Schlözers Ausruf von Büchern na.ch einem
Höllen-Plan" dienen. Darin heißt es: Besinne sich der Herr H. R. Schlözer, daß er in der
deutschen Leiiewelt bei weitern keine entscheidende Stimme, noch weniger zu einem Dictator-
Ton die geringste .Anlage ••• habe. Bereits fünf Jahre früher ist in der „Deutschen Encyclo-
pädie" mit deutlicher Beziehung auf die Fanatiker bestimmter Schulen der Aufklärung
von Dictatorsprüchen sowie Universalarzneien die Rede, denen. der weise Gesetzgeber. sich
widersetzen müsse; Art. Freiheit, Bd. 10 (1785), 509 f. Im Artikel „Dictator(' registriert
die „Deutsche Encyclopädi~" bereits die Ausweitung des Bedeutungsfeldes über das Staats-
907
Diktatur ll. 1. 'Diktatur' als aktueller politischer Begriff
rechtliche hinaus, indem dictatorisch jeder Satz oder Ausspruch genannt wird, bei welchem
kein11 Griind11 ang11g11b11n w11rd1m, iiiarum man ihn für u:ahr odar 'llarbindliok halton mü{Jto:
Bd. 7 (1783), 259 (vgl. Anm. 2). CAMPE (1801; Ndr. 1808) hat das Adjektiv mit macht-
tJpr'echerisch, aber auch mit herritJch und gebieteritJch eingedeutscht (vgl. Anm. 4). Tn die.~em
Sinne dringt die Bedeutung in die politische und soziale Alltagssprache, so daß etwa J. C.
SCHWEIZERS „Fremdwörterbuch", 4. Aufl. (Zürich 1835), 133 feststellen kann: Jetzt bedeu-
tet es (das Wort 'Diktator') bisweilen auch einen Mann, der verlangt, daß man seinen M einun-
gen sogleich beistimme, Beinen ÄUBBpriichen in allem gemäß handle und seine Behauptungen
ohne weiteren Beweis für wahr und richtig erkenne. Es ist jener Sprachgebrauch, gegen den
aioh im Borcich der Philosophie Kant und in seinem Gefolge auch Krug gewehrt haben, der
sich aber im Kampf der politischen Ideologien seit der Französischen Revolution offenbar
?.. T. durchgesetzt hat.
12 Vgl. aber Anm. 10, wo Leibniz einen absoluten Monarchen mit dem Dictator perpetuus
Histoire parlementaire de la Rev-olution fran9aise, t. 33 (Paris 1837), 320 ff., bes. 323.
16 FRAN901s .ALPHONSE AuLARD, Histoire politique de la Revolution fran~ise (Paris 1909),
418; vgl. BRUNOT t. 9/2, 738. In Deutschland erregte WIELAND größtes Aufsehen, als er
1798, anderthalb Jahre vor dem 18. Brumaire, im zweiten seiner „Gespräche unter vier
Augen" (Der Neue Teutsche Merkus 1, 1798, 259 ff.) die Forderung nach einem Diktator •••
oder Lord-Protekror oder Protarchon, oder wie ihr ihn sonst nennen wollt, für die durch Par-
theyen und Fakzionen zerrissene Demokratie erhob und dabei unzweideutig Napoleon Bona-
parte im Auge ha.tte. Das Vorbild der Diktatur suchte Wieland in Rom, in einem ad hunc
actum ernannten Diktator; aber die Befristung definierte er offen: solange als er es aUBdauert,
womit der Überga.ng vom kommissarischen zum souveränen Diktator definiert war. Er
solle in Wielands Worten zugleich offen und verschlossen, sanft und heftig, geschmeidig und
hart, mild und unerbittlich, jedes zu seiner Zeit, kurz ein Mann Bein, wie es in jedem J ahrhun-
dert kaum einen gibt und dessen GeniUB alle andre in Respekt zu halten und zu überwältigen
wüßte. Ein anderer als ein Bokher könnte euch, in der außerordentlichen Lage, in welche die
Revoluzion euch geworfen hat, nichts helfen; ebd., 285. 287 f. 286. Später fügte Wieland in der
öffentlichen Auseinandersetzung noch hinzu: Er könnte sogar, in streng moralischem Sinn,
ein sehr böser Mensch sein, ohne daß ich ihn darum für weniger tauglich hielte, als Dictator
oder Erster Konsul Frankreich zu retten; Meine Erklärung über einen im St. James Chro-
nicle, Janua.ry 26, 1800 abgedruckten Artikel, ebd. 1 (1800), 243 ff., bes. 271. Vgl. hier,1;u
im einzelnenFRrr7.MARTINI, Wieland, Napoleon und die Illuminaten. Zu einem bisher un-
bekannten Briefe, in: Un dialogue des na.tions, Melanges ALBERT FucHS (München, Pa.ris
1967), 65 ff.
Schon 1796 ·hat FRIEDRICH SCHLEGEL in seinem , ,Versuch über den Begriff des Republika-
nismus" (SW 1. Abt., Bd. 7, 1966) auf die Möglichkeit einer republikanischen Diktatur
908
11.1. 'Diktatur' als aktueller politischer Begriff Diktatur
Gefahr, in welcher die Republik schwebte, offen vor aller Augen. Aber ganz unver-
kennbar empfand die große Mehrzahl der Abgeordneten selbst des Konvents sehr
viel stärker die Nähe des Begriffs zu dem 'Tyrannen' als seine Herkunft von der
altrömischen Institution, die Machiavelli und Rousseau so sehr gelobt hatten. Es
war daher nur konsequent, daß Robespierre immer wieder mit Catilina, mit Bulla
oder mit Cromwell verglichen wurde. Das Wort 'Diktatur' wurde zu einer all-
mächtigen Waffe in der Hand seiner Gegner und nicht zuletzt einiger Dezemvirn,
denen er ja juristisch nicht übergeordnet war. So war seine letzte Rede im Konvent
am 8. Thermidor 1794 zu einem guten Teil der Apologie gegen den Vorwurf ge-
widmet, er erstrebe die Diktatur. Sie verhinderte es jedoch nicht, daß er am folgen-
den Tage unter den Rufen „A bas le tyran", „Mort au tyran" verhaftet und wenig
später unter den gleichen Rufen zur Guillotine geführt wurde. Dem gleichen Ruf
der Volksvertreter sah sich vier Jahre später am 18. Brumaire NAPOLEON BONAPARTE
konfrontiert, und es fehlte nicht viel, daß auch ihm das Schicksal seines Vurgäilgers
bereitet wurde. Aber Napoleon befand sich im Angriff, wo Robespierre sich nur
noch verteidigte, und in der Tat ging es beim Staatsstreich des 18. Brumaire um
die Frage, ob dem jungen General die Diktatur übertragen werden sollte. Freilich
vermied auch er den Terminus, und im vorbereitenden Stadium. wurde er nicht
miiile zu wiederholen, daß er weder Cäsar noch Ci.'omwell sein wolle. Dennoch
schleuderte ihm die Majorität der „Fünfhundert" mit ebensoviel Pathos das
„A bas le dictateur" wie das „A bas le tyran" entgegen 16 • Als die Rufe zum
Schweigen gebracht waren, hatte Napoleon eine ganz eigenartige staatsrechtliche
Position gewonnen. Er war Diktator, insofern ihm nach allgemeiner Ansicht ein
zeitlich begrenzter Auftrag zur Erreichung eines ganz bestimmten Zieles, nämlich
der Wiederherstellung des Friedens, erteilt worden war; er war nach den über-
hingewiesen, die sich einerseits an das römische Vorbild anlehnt, sofern die Diktatur be-
fristet sein muß, da das Volli: nie die Souveränität zedieren könne. Aber die Diktatur ist
nach Schlegel notwendig ein transitorischer Zustand, womit der Wechsel, der Übergang in
eine neue Verfassungsform, mit anderen Worten die geschichtsphilosophische Perspektive,
umrissen wird, im Gegensatz zur zeitlichen Befristung. Die traMiU>rische Diktatur aber ist
eine politisch mögliche Repräsentation - also eine republikanische, vom Despotismus wesent-
lich verschieane Form (14). Hier gewann der Begriff der Diktatur bereits jenen geschichts-
philosophisch legitimierten positiven Sinn, der ihn vom negativen Despotismus absetzte.
Für die Forderungen nach einem starken Mann, der an dem Vorbild Napoleons sich zu
orientieren habe,-Cäsarismus. Gerade Gegner Napoleons, die sich als Demokraten ver-
standen, waren seit 1815 auf der Suche nach einem solchen Mann, der freilich nicht mehr
oder nur selten a.1s 'Diktator' bezeichnet wurde. So hat JAHN die Diktatur als Überwindung
der Waltlosigkeit (Anarchie) Ruhwartschaft genannt, während er auf der Suche nach der
deutschen Einheit und Einigkeit eine neue Walte (Staatsgewalt, Regierung, Souveränität)
sich erhoffte: Jeaea gereini:gte und geeinigte Volk verehrt den Walteschöpfer und Einheits-
achaffer als Heiland und hat Vergebung für alle seine Sünden - womit das bonapa.rtistische
Modell a.uf Deutschland übertragen wurde; F. L. JAHN, Werke, hg. v. Carl Euler, Bd. 1
(Hof 1884), 408. 418; vgl. K. H. SCHEIDLEB, Art. Gewalt (sprachlich), ERSCH/GBUBEB
1. Sect., Bd. 65 (1857), 308. Mit dieser Eindeutschung zeichnet sich die Bedeutung von
'Diktatur' als eines Erlösungsbegriffes deutlich ab.
16 AULARD, Histoire, 699; ALBERT SoBEL, L'Europe et la Revolution fra.n9aise, t. 5 (Paris
1903), 479 f.
909
Diktatur II. 2. Zurücktreten tlee Begriffa im Vormärz
17 NAFOLEON selbst hat sich im Rückblick nicht selten als 'Diktator' einer Republik be-
zeichnet; vgl. z.B. Gespräche Napoleons 1., hg. v. FmEDBICR Kmcm:lsEN, Bd. 3 (Stutt-
gart 1913), 186.
18 Der gelegentliche Sprachgebrauch während des Vormärz verweist entweder auf eine Be-
deutung zur Zeit der Französischen Revolution, etwa in Büchners „Dantons Tod" (1835)
oder in dem Roman von ELsNEB, der über „Robespierre, Dictator von Frankreich" handelt
(Stuttgart 1838), oder die Wortbedeutung steht in der neu gestifteten Tradition einer euro-
päischen Vormacht, wie sie Napoleon ausgeübt hatte. So wurde etwa in einer Hambacher
Rede 1832 festgestellt, daß aus der Tagesgeschichte unwiderredlich hervorgehe, daß Ruß-
land.! Autokrat a.ich aelbat unberufen zum eurO']JiiiachenDiklator aufgeWdrfen hat, ••• und daß
die übrigen eurO']Jiiiachen Regierungen atillachweigend dieae UBUrpierte Dikt,atur anerkennen;
JoH. GEORG AuG. WmTH, Das Nationalfest der Deutschen in Hambach (NeustadtfHardt
1832; Ndr.1957), 23. EBBCH/GBUBEB stellte schon 1825 im Artikel „Bund" (1. Seot., Bd. 14,
23) fest, daß die Heilige Allianz das Mittel des russischen Zaren sei, wod1urch Rußland zur
D-ü;t,atur zu gelangen B'Uchte. Es handelt sich also um eine Historisierung des neuen Begriffe,
wie er sich aus der Französischen Revolution her verstehen ließ, sowie um eine Aktuali-
sierung des Ausdrucks, soweit er sich gegen europäische Hegemonialmächte richtete.
910 '
0. 2. ZurO.ektreten de11 BegriJI8 im Vormärz
18 ROTTECK/WELOKER Bd. 4 (1834), 395 f.; der Artikel, der von WILHELM ScHULZ-.ßODNER
stammt, taucht fast unverändert in der dritten Auflage (Bd. 4, 1860, 539 ff.) wieder auf.
Ferner JoH. GEORG Lunw. HESEKIEL, Von Turgot bis Babeuf. Ein sozialer Roman, Bd. 3
(Berlin 1856), 21: Robupierre ala Dictator. Sehr viel knapper als bei RoTTECK/WELOKEB
heißt ee bei BLUM (1848) unter dem Stichwort „Dictator": Auch die neuere Zeit hat Bei-
apie'le, wo Völker aich in kritiachen Zeitläufen mit unbedingtem Vertrauen 1tnil rii.cJcaichta'loaer
Hingebung der Führung einea einzelnen überließen. Der Tat nach war Washingt.on Dicfß,tor
von Nordamerika, Robeapierre Dicfß,tor von Frankreich, mehr noch·apiUer Bcmaparte, we'lch
letzteren Bolivar in Südamerika nachahmte ••. Und Zange wilrde eine aokhe Herrachaft auch
bei einem künftigen Dicfß,tor - wenn die Ereigniaae wieder aokhe aUmächtige M enachen
hervorbringen aollten - nicht dauem, weil awh die Guamtheit ihre Freiheit nicht länger al8
durcha'U8 nötig wäre auf dieae W eiae beeinträ.chtigen laaaen wilrde. Die Dictatur iat eine A 'U8-
nahmeatelltung in einem A'UBnahmez'Ulltanile. Dauert dieae Gewalt länger al8 die Sf.aatakriaia,
911
Diktatur D. 3. Zweite Amweltung tles Begrift'sgehrauchs
welche sie hervorgerufen, so ist nicht mehr von Dictatur, 801ldern von Usurpation und Tyrannis
die Rede. Zur gleichen Zeit freilich schießen bereits wieder die Forderungen nach dem.
starken Mann empor, der die deutsche Einheit stiften solle, und zwar aus allen politischen
Lagem, wie ERICH BRANDENBURG, Die Reichsgründung, 2. Aufl., Bd. 1 (Leipzig 1922),
342 ff. zeigt. So steht JoH. GEORG FISCHER am meisten in der Tradition von Jahn, wenn er
ausruft: Komm Einz'ger, wenn du schon geboren,/ Tritt auf, wir folgen deiner Spur, /Du
letzter aller Diktatmen, /Komm mit der letzten Diktatur/, womit der quasi religiös-apokalyp-
tische Erwartungshorizont in das politische Geschehen eingezogen wurde; Neue Ge-
dichte (Stuttgart 1865), 133. In seiner „Bismarck"-Ballade berichtet Fischer, nach den
Wirren des Frankfurter Parlaments sei die deutsche Uneinigkeit so groß gewesen, Daß alle
germanische Welt wie nie / Nach einem deutschen Diktatm schrie: dann sei Bismarck ge-
kommen, amlers als wir gedacht, und habe Deutschland eins gemacht; Auf dem Heimweg.
Neue Gedichte (Stuttgart 1891), 77. 79.
2o LORENZ v. STEIN, Geschichte der socialen Bewegung .in Frankreich von 1789 bis auf
'unsere Tage, Ndr. d. 3. Aufl. (1850), hg. v •. Gottfried Salomon, Bd. 1(.München1921), 131.
21 Ebd., 402. 452.
22 Ebd., 402.
912
II. 3. Zweite Ausweitung des Begriffsgebrauchs Diktatur
sondern eine historische Konsequenz. Sie ist keine Diktatur, wenn sie eingesetzt wird,·
sie muß sich selber erzeugen 23• Und deshalb bot sich nicht für das orleanistische
Königtum, wohl aber für die Republik von 1848 erneut die Möglichkeit der Diktatur.
·Louis Blanc habe durch sein Zögern am 28. Februar die Möglichkeit aus der Hand
gegeben, die soziale Diktatur der Arbeiterschaft zu errichten 24, die Herrschaft
Cavaignacs nach den Junitagen sei die Diktatur der reinen Demokratie25 gewesen,
und in den abschließenden Betrachtungen läßt Stein die Möglichkeit einer Diktatur
der industriellen Reaktion unter Louis Napoleon immerhin offen. So darf sein
Werk als das erste gelten, das den spezifischen Charakter der modernen Diktatur
als einer Entwicklungsphase der industriellen Gesellschaft mit großer begrifflicher
Schärfe ans Licht gehoben hat.
Dieser allgemeine Zusammenhang war aber für die deutschen Liberalen so wenig
selbstverständlich, daß z. B. GERVINUS 1853 die französischen Vorgänge durch
den Nationalcharakter und die lateinische Kulturtradition zu erklären versucht:
Die Bewegungsmänner Frankreichs suchten ein übergroßes Maß der Freiheit und
unterwürfen zuletzt alles einer neuen römischen Diktatur oder Papate 26• Auch für
TREITSCHKE 27 ist das System der Diktatur und des Cäsarismus wesentlich
„ welscher" Art: gezwungen, auf die Überzeugung Verzicht zu tun, daß diktatorische
Systeme mit dem Charakter der modernen Zivilisation unvereinbar seien, flüchtet
die Freiheit unter das schützende Dach der germanischen Völker und überläßt
das· Romanentum seiner offenbar unheilbaren Neigung zur Zwangsherrschaft.
Aber auch die Konservativen sehen sicl1 vor der Erscheinung des dritten Napoleon
gespalten. Für das legitimistische Denken war der Bonapartismus nur die jüngste
Erscheinungsform des alten Feindes, nämlich der Revolution, die schon mit dem
Absolutismus und seinen zentralistisch-nivellierenden Tendenzen begonnen hatte
und vom älteren Napoleon auf ihren ersten, alle „christlich-germanischen" Über-
lieferungen bedrohenden Höhepunkt geführt worden war. Daß Demokratie und
„Bonapartismus" nicht Gegensätze, sondern einander bedingende und fordernde
Komplemente seien, war für dieses Denken ganz selbstverständlich. In den Briefen
Leopold von Gerlachs an Bismarck hat es einen klassischen Ausdruck gefunden.
Aber es gab andere Konservative, die in Napoleon III. den „Retter der Gesellschaft"
vor den Gefahren des roten Umsturzes zu schätzen wußten, und die mithin die
Gegnerschaft zwischen dem Prinz-Präsidenten bzw. dem Kaiser und der Linken
(Leipzig 1853), 177. Vgl. auch GusTAV DIEZEL, Deutschland und die abendländische
Civilisa.tion. Zur Läuterung unserer politischen und socialen Begriffe (Stuttgart 1852),
109 ff., wo der Weg von sozialistischen Fraktionsprogrammen, die eine Dict,atur aus der
Partei (109) fordern, zum „Communismus" beschrieben wird. Napoleon III. und seine
l>ik:tatur vollende den „Communismus", weil er die Staatsgewalt ncch absoluter gemacht,
ncch sinnreicher 1ind umfassender zentralisiert hat (111), was in germanischen Verfassungen
nicht denkbar sei. 'Diktatur' wird zunehmend zu einem beweglichen Partei- und Perspek-
tivbegriff, der je nach den politischen Positionen verschieden definiert wird.
27 HEINRIOH v. TREITSCHKE, Der Bonapartismus (1865/69), Rist. u. Polit. Aufs., 7. Aufi.,
Bd. 3 (Leipzig 1915), 45 ff.
58-90385/1 913
Diktatur U. S. Zweite Ausweitung clea Begrif&gehraueha
•
fllr keinen ulußeu Fur111UllLe1"11uhiecl hlelLeu. Wuhl .iaL cler Liefe Pe1:1simismus nicht
zu verkennen, der sich in den Worten DoNoso CoRTts' ausspricht, er wolle lieber
unter der Diktatur des SiiJJels als unter der Diktatur des Dolches leben 28 ; aber die
Äußerungen eines Mannes wie CoNSTANTIN FRANTz lassen es begreiflich erscheinen,
daß er dem General von Gerlach als Bonapartist verdächtig war. Der Haß gegen
den Parlamentarismus treibt bei Frantz das Lob des Mannes hervor, iier als ein
neuer Herkules die lemäische Schlange der Demagogie getötet und sich bei der
diskutierenden Bourgeoisie verhaßt gemacht hat, ·während er beim Volke stets
populär war. Allerdings liegt es Frantz fern, die napoleonische Lösung für allgemein-
gültig zu erklären. Ihre Voraussetzung ist auch für ihn eine spezifisch französische:
nämlich die Zerstörung der ganzen Substanz des alten Staatslebens, so daß eine
hloß fäkti11r1hA, ninhtlAgitimA Hel'l'Rcha.ft einAR M11.nn1111 iihAr die ungegliederte
Masse möglich wird. Dieses System nennt Frantz an einer hervorgehobenen Stelle
seines Werkes über Louis .Napoleon das 8ystem der Diktatur, aber seine Aus-
drucksweise macht ganz deutlich, wie wenig geläufig der Terminus noch sechzig
Jahre nach Robespierres Tode war: Man sieht zunächst, dafJ die wesentliche Form
eines solchen Staatswesens die Diktatur ist. Man erschrecke nickt vor dem Worte, es
w
·ist wirkUicli su . . • ültr~1ul d·i~ DtklafJU7' uwr ·i,n U1~flm &p·uli/;iken exupt·i,mwU
auftrat, wird sie hier prinzipiell, eben desha'lb, weil die französische Republik ein
ganz exzeptionelles Staatswesen biklet, wie noch nie dagewesen 29•
Tatsächlich läßt sich ganz generell sagen, daß die Neuartigkeit des Herrschafts-
systems Napoleons III. von den Liberalen und Konservativen klar erkannt, aber
nur relativ selten und meist nur beiläufig mit dem ebenfalls neuartigen Begriff
der Diktatur bezeichnet wurde. Vorwiegend wurden die Begriffe 'Cäsarismus',
'Bonapartismus' und 'Imperialismus' verwendet; daneben war auch recht häufig
von 'Despotismus' die Rede, obwohl es auf der Hand lag, daß Napoleon III. als
der „elu des sept millions" kein Despot im überlieferten Sinne sein konnte. Der
umfangreiche Artikel „Bonapartismus" in HERMANN WAGENERS „Staats- und
Gesellschafts-Lexikon" ver~endet den Terminus 'Diktatur' nur in einer An-
merkung, um so häufiger aber den Begriff 'Despotismus', dem durch die Zusammen-
stellung mit den revolutionären Begriffen der Volkssouveränität und des N ationali-
tätenprinzips eine verwandelte Bedeutung verliehen wird.
Daß Bismarck eine „bonapartistische Persönlichkeit" sei, ist von den Altkonserva-
tiven früh behauptet worden. Sein Bündnis mit der deutschen Nationalbewegung,
dessen kennzeichnendster Ausdruck die Einführung des allgemeinen Wahlrechts
für den Reichstag des Norddeutschen Bundes war, erschien ihnen schlechthin als
ein Paktieren mit der Revolution und als Verrat an den Prinzipien des europäischen
und speziell des deutschen Legitimismus. Aber der Umstand, daß die Reichs-
gründung sich schon in den vorbereitenden Stadien gegen Napoleon vollzog und
daß Bismarck mindestens äußerlich im Rahmen des monarchistischen Systems
18 DoNoso CoRTES, Rede über die Diktatur, gehalten in den spanischen Cortes am 4. 1.
1849, in: ders., Briefe, parlamentarische Reden und diplomatische Berichte aus den letzten
Jahren seines Lebens 1849-53, hg. v. Albert Maier (Köln 1950), 209. Vgl. ebd., 181:
Diktatur . • . ist ein furchtbares Wort, d,och niemala so furchtbar wie da8 Wort „Revolution"
da& da8 furchtbarate von allen ist.
19 CoNSTANTIN FRANTz, Louis Napoleon (1852; Ndr. Darmstadt 1960), 58 f.
914
II. 3. Zweite Ausweitung du Begriffsgebrauchs
ao BISllrlABOK, FA Bd. 12 (1929), 195. Bei der Erörterung des Sozialistengesetzes verlangt
Bismarck, ihm das Maß von, nennen wir es Diktatur zu gehen, das wir zur erfol,greichen
Bekiimpfung du Übel,a brauchen,· Rede v. 9. 10. 1878, zit. Die politischen Reden des Fürs1"/6n
Bismarck, hg. v. HORST Kom., Bd. 7 (Stuttgart 1893), 294. Ein Jahr später identifiziert er
Diktatur und Absolutismus: Ich bin kein Gegner des kcmatitutionellen System8, im Gegenteil,
ich halte es für die einzige mögliche Regiernngs,farm, - aber wenn k-h geglaubt hätte, daß eine
Diktatur in Preußen, daß der Absolutiamua in Preußen der Förderung des deutschen Eini-
gungawerkes nützlicher gewesen wä.re, so würde ich ganz unbedingt und gewiaaenloa zum
Absolutiamua geraten haben; Rede v. 9. 7. 1879, zit. Kom., Reden, Hd. 8 (1893), 146.
Ganz in diesem Sinne hatte ein Teil der Konservativen während des Verfassungskonflikts,
allerdings vorwiegend aus innenpolitischen Gründen; die königliche Dictatur gefordert,
z. B. HERMANN WAGEN'ER in einer ROO.e vor dem „Preußischen Volksverein" im
September 1863; Berliner Rev. 35/4 (1863), 8. Diese innenpolitische Begründung erscheint
im Rückblick auch bei Bismarck selbst als entscheidend: Es gelang mir, ihn (Wilhelm 1.)
zu überzeugen, daß es sich für ihn nicht um Ccmaervativ oder Liberal in dieser oder jener
Schattierung, sondern um Königliches Regiment oder Parlamentaherrachaft handle und daß
die letztere notwendig und auch durch eine Periode der Dictatur abzuwenden sei; Erinnerung
und Gedanke 1, 11. FA Bd. 15 (1932), 179. Umgekehrt konnte Bismarck am 24. 1. 1882 den
Vorwurf des ,,ministeriellen Absolutismus", den Mommsen erhoben hatte, umkehren:
Also dieses Ministerregiment, diese Kanzlerdikwtur iat etwa&, waa gerade dann m-Oglich wird,
wenn Sie überhaupt das M iniBte"egiment an die Stelle du lcöniglichen Regiment& setzen, das
in Preußen tatsächlich herrsche; zit. Kom., Reden, Bd. 9 (1894), 227. Alle Wendungen
zeigen, wie fungibel der Ausdruck in der zweiten Jahrhunderthälfte geworden war. Die
grundsätzlichste Äußerung Bismarcks über die Diktatur ist eine keineswegs originelle
Wiederaufnahme der antiken Theorie vom Kreislauf der Verfassungen: Das begehrliche
Element hat daa auf die Dauer durchachlagende Übergewicht der größeren M aase. Es iat im
Interesse dieser Masse selbst zu wünachen, daß dieser Durchachlag ohne gefährliche Beschleu-
nigung und ohne Zertrümmerung des Staatawagena erfolge. Geschieht die letztere dennoch, 80
wird der geschichtliche Kreislauf immer in verhältnismäßig kurzer Zeit zur Diktatur, zur
Gewaltherrschaft, zum Ab80Zutiam'lia zurückführen, weil auch die Massen schließlich dem
Ordnungsbedürfnis unterliegen. Und wenn sie es a priori nicht erkennen, 80 sehen sie ea
infolge mannigfaltiger Argumente ad hominem schließlich immer wieder ein und erkaufen
die Ordnung von Dictatur und Oaesariamua durch bereitwiUigea Aufopfern auch du berech-
tigten und festzuhaltenden M aßea von Freiheit, welches europäische staatliche GeaeUachaften
vertragen, ohne zu erkranken,· Erinnerung und Gedanke 2, 10. FA Bd. 15, 288. Von Gegnern
und kritischen Anhängern ist Bismarcks Regime gelegentlich immer wieder als 'Diktatur'
bezeichnet worden, so von PAUL DE LAGABDE, Über die gegenwärtige Lage des deutschen
Reichs (1875), Dt. Sehr. (Göttingen 1886), 155, LUDWIG B..umEBGER, in: Bismarcks großes
Spiel. Die geheimen Tagebücher Ludwig Bambergers, hg. v. EBN'sT FEDER (Frankfurt
1932), 339 oder von Josu GABRIEL FINDEL, Des Reichskanzlers Wohlfahrts-Politik und
915
Diktatur D. 8. Zweite Ausweitung aes Begriffsgebrauchs
Begriff der Diktatur war im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts der
Terminus 'Diktaturparagraph', der gewisse Sondervollmachten des Statthalters
von Elsaß-Lothringen umschrieb: die wiedergewonnene liberale Zuversicht und
der Wille, in Bismarcks Werk etwas eigentümlich Deutsches zu sehen, wirkten
zusammen, um die mit dem Bonapartismus aufgetauchte Frage nach der „Dik-
tatur" als einer auch und gerade in der Moderne möglichen weder despotischen
noch liberalen noch legitimistischen Verfassungsform zu unterdrücken31 • Es war
symptomatisch, daß der wichtigste Beitrag zur Fortentwicklung des Diktatur-
begriffs von einem sozialistischen Emigranten gegeben und vom offiziellen Deutsch-
land bis zum Jahre 1918 kaum zur Kenntnis genommen wurde. Im Frühling 1852
veröffentlichte KARL MARX in der von Joseph Weydemeyer herausgegebenen New
Yorker Monatsschrift „Die Revolution" seine Streitschrift „Der 18. Brumaire des
Louis Bonaparte", in welcher er eine exakte Definition der „Diktatur Bonapartes"
zu geben beabsichtigte. Für ihn ist diese Diktatur wie für Stein die temporäre
Verselbständigung der Exekutivgewalt infolge der Wechsellähmung der großen
gesellschaftlichen Klassen, der Bourgeoisie und des Proletariats. Es steht offenbar
in unmittelbarem Zusammenhang mit der Arbeit an dieser Schrift, wenn Marx
in einem Brief an Weydemeyer vom 5. März 1852 zum ersten Mal wörtlich von dor
DiktaJ,ur des Pro1,et,a,ria,ts spricht, zu welcher der Klassenkampf notwendig führen
müsse und die selbst nichts weiter sei als der Übergang zur Aufhebung aller
Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft38• Dieser Begriff unterscheidet sich
die Demokratie (Leipzig 1881), 24 f., der die Minüterdilct,atur beklagte, aber vom real.
politischen Standpunkt aM ••• als eine Notwendigkeit hinnahm. Der deutsche Botschafter
in St. Petersburg LOTHAR VON SCHWEINITz beklagte 1886 in einem Brief an seine Frau,
daß die Dilct,atur Biamarcks ••• die höheren Schichten der amtlichen Welt erniedrigt, während
sie auf die Masse des deutachen Volkes eine erziehende und im ganzen wohltätige Wirkung
ausübe; BriefWechsel des Botschafters General v. Schweinitz, hg. v. WILHELM v. SoHWEI-
NITZ (Berlin 1928), 214. Für ausländische Urteile vgl. HA.Ns-ULRIOH WEHLE&, Bismarck
und der deutsche Imperialismus (Köln, Berlin 1969), 182.
81 Der schlagendste Beweis für die Bedeutungslosigkeit des Begriffs 'Diktatur' von 1870
bis 1914 ist die Tatsache, daß er bei Nietzsche gar nicht, bei Max Weber nur in seltenen
Fällen vorkommt („Diktator des Wahlschlachtfeldes" u. ä.). Das heißt natürlich nicht,
daß er aus der politischen Sprache verschwunden gewesen sei. So nennt z. B. WILHELM
MABR das Judentum den socwlpolitiBchen Dilcf,afm Deutschlands; Der Sieg des Judenthums
über das Germanenthum, 4. Aufl. (Bem 1879), 23. Bei FmEDR.IOH NAUMA.NN findet sich
der Satz: Der Kaiser führt die Nati<m als Diktaf.Qr der neuen Industrie. Indem er aber dieses
tut, braucht er die Masse, die Demokratie (Demokratie und Ka.isertum,4.Aufl.,1905, Werke,
Bd. 2, 1964, 273), womit er den Begriff im bona.partistischen Sinne positiv verwandte~
82 MEW Bd. 28 (1963), 508. Es ist nach MAURICE DoMJ.11ANGET, Les idees politiques et
sociales d'Auguste Bla.nqui (Paris 1957), 170 ff. und nach .Al.LAN W. SPITZER, The Revolu-
tionary Theories of Louis Auguste Bla.nqui (New York 1957), 176 offenbar eine Legende,
daß der Ausdruck 'Diktatur des Proletariats' von Blanqui aus dem Jahre 1837 stamme.
Jedenfalls hat Blanqui die erste Wendung von Marx aus dem Jahre 1850 beeinflußt, als er
in den „Klassenkämpfen in Frankreich" (MEW Bd. 7, 1960, 89) den revolutionären Sozia-
lismus beschrieb, für den ... die Bourgeoisie selbst den Namen Blanqui erfunden hat.
Dieser Sozwlismus ist die Permanenterkllirung der Revolution, die Klassendiktatur des
ProletarwtB als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede über-
haupt, zur Abschaffung sämaicher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abscha/-
916
II. 3. Zweite Auaweihmg des Begriffsgehrauehs Diktatur
von dem traditionellen Verständnis der Diktatur dadurch, daß er statt eines
einzelnen ein Kollektiv zum Subjekt macht 33 ; er stimmt mit ihm jedoch insofern
überein, als er den Übergangscharakter betont. Weit wichtiger aber ist, daß der
Gegenbegriff nicht etwa 'Monarchie' oder 'Demokratie', sondern ebenfalls 'Diktatur'
heißt 34 ; denn die sogenannte bürgerliche Demokratie ist für Marx nichts anderes
als die l)iktatur des Bürgertums, und die proletarische Diktatur ist nicht etwa
erst nach ihrem Ende, sondern schon während ihres Verlaufs auf viel genuinere
Weise eine Demokratie, als es die bürgerliche Demokratie je gewesen war. Marx
erläutert diese Konzeption 1871 am Beispiel der Pariser Komune, die das allge-
meine Stimmrecht erstmals zu einer Wahrheit und zum Diener des Volkes gemacht
ture des clubs", „dictature fina.nciere" usw. (BRUNOT t. 9/2, 738), Kollektiva., die sich um
1870 stark häuften; vgl. JEAN DuBOIS, Le vocabulaire politique et social en Fra.nce de
1869 a 1872 (Paris 1962), 288 f.
84 Vgl. das Ablaufschema. der achtundvierziger Revolution, das Marx im „18. Bruma.ire"
(1852; MEW Bd. 8, 1960) gegen Ende liefert, wo er von der Diktatur der reinen BourgeoiB-
RepubZikaner (192), der parlamentarischen Diktatur der Ordnungapartei (193) spricht, um
dann den Sieg Bonapartea als imperialistische Rest.aurationsparodie (ebd.) zu glossieren.
Auf S. 130 wird der Belagerungszustand traditionell als Diktatur Cavaignacs und der Kon-
stituante beschrieben.
917
Diktatur n. 3. Zweite Ausweihmg des Begriffsgebrauchs
habe. Vier Jahre später komint er in der „Kritik des Gothaer Programms" noch
einmal mit sehr knappen Worten auf diesen Begrlff zurück36, und ENGELS faßt
1891 die konkrete Bedeutung, aber auch den Widerstand, dem der Terminus sogar
innerhalb der sozialdemokratischen Partei begegnete, in den. Worten zusammen:
Der sozial-demokraJ,ische Philister ist neuerdings wieder in heilsarrum Schrecken
geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr
wissen, wie diese DiktaJ,ur aussieht? Sekt euch die Pariser Kommune an. Das war die
Diktatur des ProletariaJ,s 38• Im ganzen schließt diese Auslegung eine bis dahin
Un.erhörte Ausweitung und Verwischung des Begriffe in sich. Wenn alles Diktatur
ist, dann ist gar nichts auf spezifische Weise Diktatur: die Vorstellung wird nur
im Horizont des Begriffes der klassenlosen Gesellschaft begreiflich und identifiziert
Diktatur mit Staatsgewalt überhaupt. In ihrer praktischen Auswirkung läuft sie
aber darauf hinaus, die Linke von ihrer traditionellen Feindschaft gegen die
Diktatur zu befreien, ohne daß sie sich geistig dem Bonapartismus- zu nii.l\ern
brauchte. So wurde sie trotz oder vielleicht gerade wegen ihres fragmentartigen
Charaktere zur wichtigsten Voraussetzung für eine politische Revolution aus dem
11 Zwiachen der ka-pi,taliBtiaeken. und der kommuniBtiachen Gese"ll8chaft liegt die Periode der
revolutionären Umwandlung der einen in die a1ukre. Der entspricht auch. eine tp0Zitiathe
ÜbergangsperWde, deren Staat niikta anderes aein kann aZa die reoolutiuniire Diktatur des
Proletariata; MEW Bd. 19 (1962), 28.
39 ENGELS, Einleitung zu: Der Bttrgerkrieg in Frank.reich, MEW Bd. 22 (1963), 199.
Einen Monat vor dieser Feststellung von Engels hatte der SPD-Abgeordnete GRILLEN-
BERGER im Reichstag ausdrücklich erklärt, daß es der SPD fernliege, gewaltaame Revolu-
tionen provozieren zu wollen. Auf eine Rückfrage von Benningsen hin unterschied er scharf
zwischen dem Postulat nach einer Diktatur des revolutionären Proletariats und der SPD,
die aich dieaem Programmvoraehlag von Marz nicht gefügt hat. Er versicherte, daß inf<ilge-
desBBn von einer revolutionären Diktatur des Proletariata bei una niemala die Rede gewesen ist.
Gegen eine derartige Aufweichung der M.a.rxschen Position wandte sich auch KAUTSKY im
Schreiben an Engels vom 9. März 1891. Vgl. HANs-JosEF STEINBERG, Sozialismus und
deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem I. Weltkrieg (Hannover 1967),
71, Anm. 177, dort auch das Grillenbergar-Zitat. In der Tradition von Lorenz von Stein
stehend und als Antithese zum M.a.rxschen Diktaturbegriff benutzte SCHMOLLER den
Terminus, teils um in seinem evolutionistischen Klassenkampfmodell den eigenen Standort
zu definieren, teils um ihn provokativ seinen Zeitgenossen vorzuhalten. In sozialen Kämp-
fen würden in der Regel die unteren Klassen zunächst unterliegen, aber nicht zum Begen
der Besitzenden und nicht zum Vorteil einer ruhigen normalen Entwicklung. Lange Zerrüttung
f<ilgt; die poZitiache Freiheit wird begraben; die Diktatur wird notwendig und aie nimmt naCh
Jahrzehnten, oft erat nach Jahrhunderten, die Forderungen der leidenden Volkaklaaaen wieder
auf, die man aeinerzeit denEm'[JÖrUn, aluieaiemit den Waffen in der Hand gef<Yrdert, abge-
achlagen. Erst dann erblühe ein neues Wir"8ehaftareckt, ein neues Arbeitarecht und eine
neue Eigentuma- und geUiuterte Bocialordnung . • • a'U8 den Ruinen; Die sociale Frage und
der preußische Staat (1870), in: Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart, Reden u.
Aufs. (Leipzig 1990), 43. Auch hier wird die zeitliche Befristung umgeWa.ndelt in eine
langfristige Zukunftsprognose, die das politische Verhalten beeinflussen soll. Vgl. auch die
Wendung von DAvni FRIEDRICH STBA.uss, Preußen und Schwaben, Preuß. Jbb. 19 (1867),
199: überhaupt, ein wenig Dictatur iat in aolchen Übergangazeiten unerUißlich; und glücklich,
daß diese Dictatur in einer 80 kräftigen und geschickten Hand wie die des Grafen Bismarck
liegt.
918
ß, 4. Vorhernehaft des DiktatarheRrifl's seit 1919 Diktatur
Geiste des Marxismus und im Gegenzug die eigentliche Ursache dafür, daß auch
die Rechte ihr eingewurzeltes l\fißtrauen gegen den Begriff der Diktatur bis zu
einem gewissen Grad überwand, der nach der Russischen Revolution wie mit
einem Schlage zum Mittelpunkt der politischen Diskussion wird und sich erst
damit endgültig aus einem antiquarischen und staatsrechtlichen in einen aktuellen
Begriff verwandelt.
37 LENIN, Staat und Revolution (1917), Werke, Bd. 25 (1960), 424. Lenin gibt in den
Jahren 1918-1920 mehrere Definitionen der „Diktatur des Proletariats", z.B. : Die revolu-
tionäre Diktatur des Proletariat8 ist eine Macht, die erobert W'Urde und aufrechterhalten wird
durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoiaie, eine Macht, die an keine Gesetze
gebunden ist; Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky (19l8), Werke, Bd. 28
(1959), 234. Der wissen.schaftliche Begriff der Diktatur bedeutet nichts anderes al8 die durch
nichts bp,achränkte, durch keine Gesetze, absolut durch keine Regeln eingeengte, sich unmittelbar
auf Gewalt stützende Macht; Geschichtliches zur Frage der Diktatur (1920), Werke, Bd. 31
(1959), 345.
919
Diktatur II. 4. Vorhei'rschaft des Diktaturbegriffs seit 1919
Partei, di,e in Wirlclichkeit nichts anderes ist als die Diktatur ihrer Führer 38 • Kautsky
hat also einen ganz liberalen Begriff der Diktatur als eines unkonstitutionellen
Regimes, und er charakterisiert sie primär durch jene Willkürlichkeit (das
„arbitraire"), die im 18. Jahrhundert. als Kennzeichen der Tyrannis gegolten
hatte. Es ist sehr die Frage, ob er damit die spezifische Natur einer Herrschaft
erfaßte, die zum ersten Mal in der Geschichte nicht auf der Macht der Armee
be:ruhte wie diejenige Napoleons I., nicht auf dem Spiel eingewurzelter Massen-
vorurteile wie die Präsidentschaft und das Kaisertum Napoleons III., sondern auf
den Überzeugungen einer straff organisierten Partei89• Die ideologische Diktatur,
welche die im weitesten Sinne gefaßte Diktatur, d. h. die Staatsgewalt überhaupt,
beseitigen wollte, wa~ eine ganz neuartige Erscheinung. Aber es ist ebenso gewiß,
daß das maschinenmäßige Hersagen Marxscher Formeln auf der Seite ihrer Ver-
teidiger eine noch größere Distanz zwischen Realität und Interpretation in sich
schloß.
In unmittelbarem Zusammenhang mit der von Lenin, Kautsky und Trotzki ge-
führten Auseinandersetzung steht die bedeutendste und gründlichste Behandlung,
die der Begriff der Diktatur von seiten eines rechtsgerichteten Schriftstellers
erfahren hat. Wenn CARL SCHMITT in seinem erstmals 1920 erschienenen Buch
„Die Diktatur" eine Unterscheidung von „kommissarischer" und „souveräner"
Diktatur macht, so formuliert er nur mit juristischer Strenge die älteste Differenz,
die in dem Begriff enthalten ist: die Differenz der altrömischen und der sullanischen
Diktatur, von denen die eine die bestehende Verfassung gegen eine konkrete
Bedrohung durch temporäre Aufhebung der Verfassung zu schützen bestimmt ist,
während die anderen gerade den bestehenden gesellschaftlichen Zustand be-
seitigen und einen neuen an seine Stelle setzen will (dictatura rei publicae con-
stituendae causa): Der kommissarische Dilaator ist der unbedingte Aktionskommissar
98 KARL KAUTSKY, Die proletarische Revolution und ihr Programm (Stuttgart, Berlin
1922), 136 f. Kautskys negatives Verständnis der Diktatur wurde von der Führung der
Mehrh~tssozialdemokratie geteilt. Es gibt schwerlich ein Dokument, das für die Zukunft
Deutschlands im Jahre 1918 folgenreicher war als das Antwortschreiben des Vorstandes
der SPD an den Vorstand der USPD vom 9. November. Darin heißt es zur Forderung der
Unabhängigen, daß die Gesamtmacht bei den Arbeiter- und Soldatenräten liegen solle:
Ist mit diesem Verlangen die Diktatur eines Tei"ls einer Klasse gemeint, hinter dem nicht die
Volksmehrheit steht, &o müs&en wir diese Forderung ablehnen, weil sie unaeren derrwkratÜJchen
Grundsätzen widerspricht; zit. Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918
und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, hg. v. HERBERT
MICHAELIS, ERNST ScHRAEPLER, GÜNTHER SCHEEL, Bd. 3 (Berlin o. J.), 6.
89 Vgl. die erste der 21 Bedingungen, die auf dem zweiten Kongreß der Dritten Internatio-
nale 1920 aufgestellt wurden und denen sich jede Partei unterwerfen mußte, die um Auf-
nahme in die Komintern nachsuchte: Die gesamte Propaganda und Agitation muß einen
wirklich kommunÜJtÜJchen Charakter tragen . • • Von der Diktatur des Proletariats darf nicht
einfach wie von einer kindUiufigen eingepaukten Formel gesprochen werden, &ondern sie muß
so propagiert werden, daß ihre Notwendigkeit jedem einfachen Arbeiter, Arbeiterin, Soldaten
und Bauern versfJindlich wird a'U8 den Tatsachen des täglichen Lebens, die '1Jon unaerer Presse
sy&temati,sch beobachtet und Tag für Tag a'U8genutzt werden müssen; zit. Utopie und Mythos
der Revolution. Zur Geschichte der Komintern 1920-1940, hg. v. THEO PmKER (München
1964), 24 f.
920
D. 4. Vorherrschaft des Diktatarbegriffs seit 1919 Diktatur
40 SCHMITT, Diktatur, 146. Wie rasch der Begriff der Diktatur im Bereich der wissenschaft-
lichen Erörterung in den Vordergrund trat, zeigen etwa die Verhandlungen der Tagung der
deutschen Staatsrechtslehrer zu Jena am 14./15. 4. 1924, die unter dem Titel „Der deutsche
Föderalismus. Die Diktatur des Reichspräsidenten" veröffentlicht wurden (Berlin 1924).
Der überlieferte liberale Begriff der Diktatur kommt in der neuen polemischen Zuordnung
sehr schön im Programm der „Deutschen Demokratischen Partei" vom Dezember 1919
zum Vorschein, wo es heißt: Unbeirrt durch den Streit des Tagu und durch eigensüchtige
Versuche, das Unglück du Vaterlandu auszumünzen für die Wiedererrichtung der alten
Gewaltherrschaft oder für neue Diktaturen geht unsere Partei der Aufgabe nach, die deutsche
Repvhlik mit wahrhaftigem, staatsbürgerlichem und sozialem Geist zu erfüllen; zit. Deutsche
Parteiprogramme, hg. v. WILHELM MoMMSEN (München 1960), 509.
'1 Der Cäsarismus wächst ay,f dem Boden der Demokratie, aber seine Wurzeln reichen tief in
die Untergründe des Blutu und der Tradition hinab .•• Mögen die Machthaber der Zukunft,
da die große politische Form der Kultur unwükrruflich zerfallen ist, die Welt als Privatbuitz
beherrschen, so enthä,lt diue formlose und grenzenlose Macht doch eine Aufgabe, die der un-
ermüdlichen Sorge um diese Welt, die das Gegenteil aller Interessen im Zeitalter der Geldherr-
schaft ist und die ein hohe8 Ehrgefühl und Pftichtbewußtaein fordert. Aber eben duhalb erhebt
sich nun der Endkampf zwischen Demokratie und Cäsarismus, zwischen den führenden
Mächten. einer diktat,orischen Geldwirtschaft und dem rein politischen Ordnungswillen der
Cäaaren; OSWALD SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes (1918/22; Ndr. München
1963), 1143 f.
921
Diktatur D. 4. Vorherrschaft des Diktatarhegrif& seit 1919
hin und wieder von der „nationalen Diktatur" die Rede, aber im großen und ganzen
wird doch (in Anknüpfung an die nationalliberalen Tendenzen bei der B<>napar-
tismusdiskussion des 19. Jahrhunderts) dem „Führer" und dem „Führertum" bei
weitem der Vorzug gegeben. Der germanische 'Führer' wird dem romanischen
'Diktator' ebenso schroff entgegengesetzt wie der „organische deutsche Staats-
gedanke" dem „mechanischen westlichen Denken". Durch den Blick auf Musso-
lini, den man im allgemeinen verehrte, kam man freilich in Schwierigkeiten: es
mangelte dem nationalen „Führertum" so wenig an Dunkelheit wie der sowjeti-
schen Diktatur des Proletariats. Wie wichtig aber der Marxsche Begriff als Gegen-
bild für die Entwicklung des nationalsozialistischen Führerprinzips gewesen ist,
läßt sich sehr gut bei HITLER verfolgen, der in „Mein Kampf" einen notwendigen
Zusammenhang von Demokratie, Diktatur und Judentum aufzuzeigen bedacht ist:
So versucht er (der Jude) p'lanmäßig, rlas Rassenniveau durch eine rlauernde Ver-
giftung der einzelnen zu senken. Politisch aber beginnt er, den Gedanken der Demo-
kratie abzulösen durch den der Diktatur des Proletariats. In der organisieJl'ten Masse
des Marxismus hat er die Waffe gefunden, die ihn die Demokratie entbehren läßt und
ihm an Stelle dessen gestattet, die Völker diktatorisch mit brutaler Faust zu unter-
iochen und zu rP{/ieren42 • 'Diktatur' he<leutet hier also nicht so sehr Willkiir wie
von außen kommende Brutalität. Ganz in diesem Sinne sagt Hitler als Reichs-
kanzler in der Rede vom 7. März 1936, er habe sich nie als 'Diktator', sondern
immer nur als 'Führer' und Mandatar des Volkes gefühlt43• Eben dieser Mandat-
charakter war hundert Jahre zuvor der Inhalt des konservativen Verständnisses
der Diktatur gewesenH.
So stehen sich in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts drei ganz verschieden-
artige Diktaturbegriffe gegenüber, und ihre endgültige Auseinandersetzung voll-
zieht sich schließlich nicht in Büchern45 , sondern auf dem Schlachtfeld.
Der liberale Begriff hatte die älteste Tradition und faßte 'Diktatur' ganz negativ
922
D. 4. Vorherrschaft d.es Diktatmbegriffs seit 1919 Diktatur
in den frühen zwanziger Jahren ganz vorwiegend negativ und polemisch, in erster Linie
wegen des Aufkommens des Faschismus. Vgl. die offizielle Definition des XIII. Plenums des
EKKI vom Dezember 1933: Der Faackismua i8t die offene te"oriBtiacke Diktatur der am
meiBten re.aktihnären, chawvini&tiacken und imperiaZiBtiBchen ET,eme:n,te des Finanzka'J"i,taU.
923
Diktatur m. Ausblick
Abwandlung, der Diktatur, radikal entgegengesetzt sei49• So sah man sich auf die Vor-
stellung der Artgleichheit als des eigentlichen Legitimationsgrundes zurückgeführt,
ohne sich allerdings die .ll'rage vorzulegen, ob d.ieseriaturhaft verstandeneHomogenitä t
mit der tatsächlichen Vielfalt der geschichtlichen Nation in Einklang stehen konnte.
m. Ausblick
Das Kriegsergebnis bedeutete den Untergang dieser Interpretation, die zweifels-
ohne etwas Künstliches an sich hatte und von dem genuinen Utopismus der
Marxschen Auffassung ebensoweit entfernt war wie von der altüberlieferten Klar-
heit der liberalen Konzeption. Aber auch der Begriff der Diktatur des Proietariats
überstand das Kriegsende nicht ohne Schaden. Neue Begriffe wie 'Volksdemokratie'
oder 'antifaschistische Einheitsfront' traten an seine Stelle, und in der kommu-
nistischen Polemik verdrängte der alte Terminus 'Imperialismus' weitgehend den
der 'faschistischen Diktatur'. Eine um so stärkere Expansion vollzog der liberale
Begriff der Diktatur. Im Zuge des Zweifrontenkampfes der westlichen Welt gegen
den besiegten Faschismus und gegen den konkurrierenden Kommunismus mußte
er beide Gegner unter sich vereinigen und wurde zum Begriff des Totalitarismus
fortgebildet 50• Aber wenn er an Genauigkeit zu wünschen übrig ließ, weil er nur das
Gemeinsame zweier Erscheinungen fassen konnte, deren jahrzehntelange ideologi-
sche und kriegerische Auseinandersetzung kein bloßer Zufall gewesen sein konnte,
so blieb selbst sein substantivischer Charakter zweifelhaft - anders als beim
Bonapartismus, der -dem Wort 'Diktatur' nur eine beiläufige Existenz übrig-
gelassen hatte. Da es absolutistische Erbmonarchien so gut wie nicht mehr gab,
mußte der Begriff 'Diktatur' alles bezeichnen, was nicht eine funktionierende
parlamentarische Demokratie war, und damit wurde es unumgänglich, eine Fülle
von Unterscheidungen zu treffen: 'progressive' und 'reaktionäre', 'kollektive' und
'individuelle', 'totalitäre' und 'autoritäre', 'revolutionäre' und 'legale' Diktaturen.
Was im 18. Jahrhundert 'Despotismus' und 'Tyrannis' hieß, die unbeschränkte
bzw. willkürliche Machtausübung, wird heute in der Regel ebenso als 'Diktatur'
bezeichnet wie die Herrschaft einer Partei, die ihren Repräsentanten weder
Schrankenlosigkeit noch Willkür gestattet. Das Mißliche dieser Situation liegt vor
allem darin, daß dasjenige, was weltgeschichtlich anscheinend weit eher die Regel
als die Ausnahme ist, mit einem Terminus bezeichnet wird, der seit seinen römischen
Anfängen die Bedeutung des Ausnahmezustandes trotz aller Wandlungen nie
völlig hat ablegen können. Damit bringt der Begriff der Diktatur heute jene In-
kongruenz von Bezeichnung und Realität wohl zum schärfsten Ausdruck, welcher
freilich keiner der aus der Antike überlieferten politischen Termini :völlig zu ent-
gehen vermag.
ERNSTNOLTE
19 Vgl. PAUL RrrrERBuscH, Demokratie und Diktatur (Wien, Berlin 1939), 67: Führung
ist eben weder Kompromiß ge,gensätzlicker Elemente noch Diktatur eines über die anderen.
Füh""ng ist al8 politische Verfa11aung überhaupt nickt a'U8 einem pT!uraUstiBcken BegriOe des
sozialen Seins gedanklich zu entwickeln. -
60 Die wichtigsten Etappen dieses Weges werden durch die Bücher von SIGMUND NEUMA.NN,
Permanent Revolution (New York, London 1942), liA.NNA.H .A:&ENDT, The Origins of
Tota.lita.ri.a.n:ism (New York 1951), dt. u. d. T.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
(Frankfurt 1955) und Fm:anBIOH/BBZEZINSKI (s. Anm. 45) markiert.
924
Verzeichnis der benutzten Quellenreihen, Sammelwerke
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59-90385/1 .929
Bibliographie der Lexika, Wörterbücher und
Nachschlagewerke
Die Bibliogra.phie ba.siert a.uf Vorarbeit.an, die in die Anfangszeit des vorliegenden
Werkes zurückgehen •. Für den Druck wurde sie vollständig übera.rbeit.et und um einige
Tit.el ergänzt. Da.bei wurde versucht, die Quellen möglichst einzusehen. Wo dies nicht zu
erreichen wa.r, wurden die Anga.ben den beka.nnt.en bibliogra.phischen Hilfämitt.eln ent-
nommen. Besonders hervorzuheben für unseren Bereich sind in diesem Zusammenha.ng:
ERNST OSCAR Pn.Tz, Zur Geschicht.e und Bibliographie der encyklopä.dischen Lit.era.tur
insbesondere des Conversations-Lexikons, in: F. A. Brockhaus in Leipzig. Vollständiges
Verzeichnis der von der Firma. F. A. Brockha.us in Leipzig seit ihrer Gründung durch
Friedrich .Arnold Brookha.us im Jahre 1805 bin zu d0980n hundertjährigem Geburt!itage
im Jahre 1872 verlegt.an Werke, hg. v. HEINRICH BROCKHA.US (Leipzig 1872-1875),
1-LXXU u. ROBERT UoLLISON, Encyclopa«lia.s: The History throughout the Ages
(New York 1964). Die Bibliogra.phie enthält sowohl die bibliogra.phischen Angaben
wie a.uch die Siglen in a.lpha.betischer · Ordnung. Soweit Anga.be und Sigle in ihrem
a.lpha.betischen Pla.tz nicht korrespondieren, erleicht.ert ein Verweis die Suche.
HELGA REINIIART
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ADLBR/GORMAN
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(Rotterdam 1702); von der 31 Aufl. gibt es zwei verschiedene Exemplare: a) 38 M. a la-
quelle on a ajoute la vie de l'auteur et mis ses additions et corrections a leur place, 3 vol.
(Rotterdam 1715); b) 38 ed., revue, corrigee et augmentee par l'auteur, 6d. Prosper
Marchand, 4 vol. (Rotterdam 1720); 4e ed., revue, corrigee et augmentee (Prosper
Marchand). Avec la vie de l'auteur par Des Maiseaux, 4 vol. ·(Amsterdam 1730); von der
5. Aufl. gibt es wiederum verschiedene Exemplare: a) 5e ed., augmentee de remarques
critiques, 5 vol. (Amsterdam-Trevoux-1734); b) 58 ed., 4 vol. (Basel 1738); c) 58 6d.,
4 vol: (Amsterruim 1740); Nouveau Dictionnaire historique et critique, pour servir de
suppl8ment ou de continuation au Dictionnaire historique et critique de M. Pierre Bayle
par Jacques-George de Chaufepie, 4 vol. (Amsterdam 1750-1756); nouvelle 6d.,
augmentee de notes extraites de Chaufepie, Joly, La Monnaoie, Leduchat, L.-J. Leclerc,
Prosper Marchand etc., ed. A. J. Q. Beuchot, 16 vol. (Paris 1820-1824) BAYLE
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translated by Pierre Des Maizeaux, 5 vol. (London 1734-1738)
BAYLE/DEs MAlzEAUX·
BAYLE, PIEBRE, Herrn.Peter Baylens ••• historisches und critisches Wörterbuch :qach
der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt; auch mit einer Vorrede und ver-
schiedenen Anmerkungen, sonderlich bey anstössigen Stellen, versehen von J. C. Gott-
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[dt. Übersetzung nicht von Gottsched] BAYLE/GOTTSCHED
59*-90385/1 931
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7th ed., 21 vol. + 1 vol. Index, ed. Macvey Napier (1827-1842), Supplemente hier
eingearbeitet; 8th ed., 21 vol. + 1 vol. Index zum ganzen Werk, ed. Thomas Stewart
Traill (1853-1861); 9th ed., ed. Thomas Spencer Baynes u. William Robertson Smith
(1875--1888); 1 vol. Index (1889); viele weitere Aufl. folgten Enc. Britannica
Encyclopedie ou Dictionnaire ·raisonne des sciences, des arts et des metiers, par une
SooiAtA cle genR cle l11ttmR. Mis en orclm et puhlie par M. Diderot, et, quant A la part,i11
math6matique, par M. d'Alembert {Paris 1751-1780), t. 1-17: A-Z, t. 18-21:
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t. 33: Planches supplement {Paris, Amsterdam 1777), t. 34---35: Tables, par P. Mouchon
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{Livorno 1770---1779), 46 { ?) 6d. par M. de Felice (Yverdon 1770-1775), 58 vol.,
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Encyclopedie
Encyclop6die catholique. Repertoire universel et raisonne des sciences, des lettres, des arts
et des metiers. Publie ... SOUS Ia direction de M. I'abbß Jean Baptiste Glaire et Je
vicomte M. Joseph Alexis Walsh et d'un Comitee d'orthodoxie, 18 vol. {Paris 1838--49)
· Enc. catholique
Encyclop6die des gens du monde. Repertoire universal des sciences, des Iettres et des arts,
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