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DESIGN – EINE EINFÜHRUNG


BEAT SCHNEIDER GESTALTUNG: JIMMY SCHMID / DANIEL CHRISTEN


DESIGN – EINE EINFÜHRUNG
ENTWURF IM SOZIALEN, KULTURELLEN
UND WIRTSCHAFTLICHEN KONTEXT

BIRKHÄUSER – VERLAG FÜR ARCHITEKTUR


BASEL • BOSTON • BERLIN

Impressum

— —
Text Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Beat Schneider Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
— Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Gestaltungskonzept Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Jimmy Schmid
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von Anton Stankowski, 1957 Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media
(mit freundlicher Unterstützung der
Stankowski-Stiftung, Stuttgart) Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei
— gebleichtem Zellstoff ∞
Buchsponsoren Printed in Germany

ISBN-13: 978-3-7643-7241-5
Hochschule der Künste Bern HKB ISBN-10: 3-7643-7241-9

987654321

http://www.birkhauser.ch

Inhalt

Vorwort 9

Teil I Geschichte des Designs im Kontext

Einleitung 11
1. Industrialisierung und Beginn des Designs 15
2. Industriekritik von Arts&Crafts bis zum Jugendstil 27
3. Vormoderne in Chicago, Glasgow und Wien 37
4. Deutscher Werkbund zwischen Kunst und Industrie 45
5. Internationaler Stil: Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus 55
6. Avantgardekunst und Grafikdesign 75
7. Design im Faschismus 83
8. Styling: Design in den USA 93
9. Die Goldenen Fünfziger in Europa 103
10. Gute Form und die Ulmer Hochschule für Gestaltung 111
11. Swiss style. Der internationale typografische Stil 125
12. Krise des Funktionalismus 137
13. Postmodernes Design. Alchimia und Memphis 147
14. Die wilden achtziger Jahre und das «Neue Design» 163
15. Neue Einfachheit 173
16. Digitale Revolution und Design 181

Teil II Design im Kontext: Debatte

Einleitung 193
17. Design – Begriffe 195
18. Design – Corporate Identity 213
19. Design – Kunst 221
20. Design – Geschmack und Kitsch 229
21. Design – Dritte Welt 237
22. Design – Gender 249
23. Design – Theorie 257
24. Design – Forschung und Wissenschaft 273

Teil III Anhang

A Design Bibliografie 290


B Design Zeitschriften 292
C Design Museen 294
D Design Organisationen 296
E Personenregister 298
9


Vorwort

Design ist zu einem Modewort geworden. Es weckt Asso-


ziationen mit Schick, schönen Formen, ästhetischen
Lebenshaltungen und zivilisatorischem Komfort. Design
fasziniert – zumindest die Menschen in der wohlhabenden
nördlichen Hemisphäre, aber immer mehr auch die Bewoh-
nerinnen und Bewohner der südlichen Halbkugel. Design-
objekte erobern die Herzen: Sie sind oft schön und prak-
tisch. Manche geniessen Kultstatus. Für viele ist Design
die lebendigste und auch populärste Kunst der Gegenwart.
Mehr noch: Es ist ein massenkulturelles Phänomen, das
die Wahrnehmung prägt und deshalb massgeblich am Zu-
standekommen allgemeiner Geschmacksurteile beteiligt
ist: Baseballmützen, Bluejeans, Coca-Cola, Disney, Holly-
wood, Mac Donald's und Nike wirken weltweit nachhaltig
auf den kollektiven Geschmack ein, und Microsoft liefert
das digitale Design für die Mehrheit der Computerbenutzer.
Design, so kann verallgemeinert werden, hat den Anspruch,
die Welt zum Wohl der Menschen besser zu gestalten.
Doch hinter dem Begriff verbirgt sich weit mehr als eine at-
traktive Objektwelt. Design gestaltet Kommunikation und
schafft Identität. Es ist bewusstes Handeln zur Herstellung
sinnvoller Ordnung und somit Teil unserer Kultur.

Andererseits: Die schöne Gestaltung des Alltags ist vor


allem ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in einer Realität, in
welcher der Unternehmensprofit die fast ausschliessliche
Massgabe für den Erfolg des Designs darstellt. Und gehört
die grosse Mehrzahl der designten Gegenstände nicht in
die Kategorie überflüssig? Wirkt die flotte Gestaltung nicht
wie ein Marketingtrick, mit dessen Hilfe die Welt mit al-
bernen Angeboten überschwemmt wird, auf die niemand ge-
wartet hat? Design gestaltet Luxusspielzeuge in einer
sinnentleerten Konsumwelt. Der Wahn einer schönheits-
süchtigen Gesellschaft lässt Konsumobjekte zu Fetischen
werden und erzeugt einen Schönheitsschild, der die Häss-
lichkeit der existierenden Armut und Umweltzerstörung
überblendet. Dabei werden die kulturellen Standards der
industriellen Imperien wie selbstverständlich in die un-
terentwickelten Gesellschaften exportiert. Design wird vor-
wiegend von (weissen) Männern produziert, welche die
Frauen primär als Konsumentinnen und Werbeträger im
Blick haben.

Design hat also zwei Seiten – eine negative und eine posi-
tive. Grund genug, um uns intensiv mit ihm zu beschäfti-
gen. Die negative Seite verhindert, dass wir uns nur wohl-
wollend mit Designklassikern, mit der Stilentwicklung
des guten und schönen Designs befassen; denn das liefe
auf eine naive Verklärung und Entstellung der Realität
hinaus. Gefragt ist vielmehr die kritische Auseinanderset-
zung mit dem Gegenstand! Und das bedeutet, das Design
im Kontext und in seinen sozialen Qualitäten zu erkennen
und darzustellen und den Verstand für die übergeordneten
Zusammenhänge zu schärfen, in denen Design steht. Dazu
dienen der Geschichtsteil und der Debattenteil in diesem
Buch. Ich habe es in der Hoffnung verfasst, einen beschei-
denen Beitrag gegen die ständige Kommerzialisierung des
Visuellen und die Entmündigung der Konsumenten und
Konsumentinnen und letztlich auch der Designer und Desig-
nerinnen zu leisten.
11

TEIL I
GESCHICHTE DES DESIGNS
IM KONTEXT

— Auf die «Romanik folgt die Gotik».3 Man muss sich aber be-
Einleitung wusst sein, dass solche Periodisierungen vereinfachende
Konstrukte der Wissenschaft sind. In den industrialisierten
Gesellschaften der Moderne existieren verschiedene Stile
nebeneinander. Die einen leben weiter, während neue auf-
kommen, heute marginale Tendenzen, die früher dominant
waren, werden morgen vielleicht wieder eine Rolle spielen.
Bei aller geschichtlichen Einteilung des Designs in Dekaden,
Welche Disziplin? Bewegungen und Stilrichtungen muss immer wieder betont
Designgeschichte ist eine junge wissenschaftliche Disziplin. werden: Diese Kategorien erfassen nie das Ganze einer je-
Am weitesten fortgeschritten ist sie in Grossbritannien, wo weiligen Zeit; sie nennen Hauptströmungen, aber sie werden
es seit 1977 eine «Design History Society» und eine beacht- den einzelnen Protagonisten niemals völlig gerecht. Zu indi-
liche Zahl von Publikationen von Designhistorikern gibt. In vidualistisch sind Designer und Designerinnen vor allem in
ihren Untersuchungen und historischen Darstellungen wen- der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts, zu schnell wechseln
det die Designgeschichte ähnliche Methoden wie die Kunst- sie bisweilen ihren Stil. So war zum Beispiel das Grafikde-
geschichte an. In den letzten Jahrzehnten kam die aus der sign in den sechziger Jahren des 20.Jahrhunderts nie aus-
Literaturwissenschaft stammende Methode der Semiotik, schliesslich vom «Internationalen Stil» dominiert. Im Ge-
der Lehre von den Zeichen, in steigendem Mass zur Anwen- gensatz zur Architektur etwa gab es einzelne Designer und
dung. Daneben bedient sich die Designgeschichte immer ganze Gruppen, die andere Wege gingen. Ähnliches gilt für
auch benachbarter Disziplinen, unter anderem der Kultur- das postmoderne Design. Neben allen postmodernen Strö-
wissenschaft, der Psychologie (Wahrnehmungsforschung), mungen gibt es immer noch viele Designer, welche dem
der Soziologie und der Betriebswirtschaft. Zur Definition des «Internationalen Stil» treu geblieben sind oder ihn sogar erst
Designbegriffs sei auf den Debattenteil dieses Buches (vgl. neu entdeckt haben.
Kapitel 17) verwiesen. Was die Designobjekte betrifft, muss man sich vergegenwär-
tigen, dass alle materiellen Erzeugnisse menschlichen Kön-
Welcher Gegenstand? nens immer auch Manifestationen des menschlichen Geistes
Nach gängigem Urteil liegt der Schwerpunkt der Designge- darstellen. Und das aus zwei Gründen:
schichte auf den Designern und Designerinnen, dem Design- 1. Das Design eines Produkts besteht in der besonderen
prozess und den Designobjekten.1 Das umfassende Tätig- Anordnung der Materialien zu bestimmten menschlichen
keitsfeld der Disziplin untersucht das Design sowohl als Zwecken, die nicht von der Natur determiniert sind.
Gegenstand praktisch-instrumenteller Tätigkeit wie auch als 2. Sobald Produkte gekauft und benutzt werden, nehmen
Gegenstand der sozialen Kommunikation und der sinnlichen sie symbolischen oder zeichenhaften Charakter an, sie be-
Wahrnehmung.2 ginnen Bedeutungen und Werte zu vermitteln.4 Die Benutzer
Was die Geschichte der Designer und Designerinnen betrifft, reagieren nicht nur auf den Gebrauchswert eines Produkts,
werden Stilrichtungen und Moden und deren Abfolge übli- —
cherweise in Monografien beschrieben. Doch wie in der tra- 1 John Walker, Designgeschichte, München, 1992, S.39.
2 Bernhard Bürdeck, Design. Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung, Köln,
ditionellen Kunstgeschichte hat man sich allzu sehr daran 1991, S. 16. Vgl. zu den verschiedenen Definitionen des Designs Kapitel 17.
gewöhnt, Vorgänge der Mode und des Stilwandels in zeitli- 3 Lucius Burckhardt (Hg.): Design = unsichtbar, Rat für Formgebung, 1995, S. 100.
4 Walker, Designgeschichte, S. 77.
chen Folgen zu sehen – ganz nach dem vertrauten Muster:
12

sondern auch auf den emotionalen Nutzen, den so genann- hinaus auch das Grafikdesign, welches sogar die längere Ge-
ten emotionalen Mehrwert. Die Produktsprache des Designs schichte hat. Das getrennte Auftreten der zwei- und dreidi-
gestaltet beides. mensionalen Designdisziplinen ist jedenfalls kein Grund für
die getrennte historische Darstellung, denn beide sind weit-
Die Kanonbildung in der Designgeschichte, also die Entschei- gehend im selben wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und
dung darüber, welche Künstler und Designobjekte in die De- gestalterischen Kontext angesiedelt.
signgeschichte aufgenommen oder weggelassen werden, ist — In den Darstellungen des Produktdesigns fällt die durch-
derjenigen in der Kunstgeschichte vergleichbar, in der eben- gängige Bevorzugung des Designs von Möbeln und Haus-
falls nur bestimmte «Meisterwerke» den Eingang fanden haltsgegenständen auf. Hingegen fehlen zum Beispiel Textil-,
und finden. Der Vorgang der Kanonbildung ist komplex. Na- Mode-, Uhren-, Medizinapparate- oder Automobildesign.
türlich gehört die qualitative Unterscheidung zwischen ein- Diese Beschränkung hat geschichtliche Gründe. Hauseinrich-
zelnen Designern und Designerinnen und Objekten mit dazu. tungsgegenstände haben nämlich ähnlich wie die Architek-
Doch Gestaltungsqualität ist nicht objektiv messbar und tur eine stark repräsentative Funktion. Die Moderne, zum Bei-
nicht alleiniges Kriterium für die Aufnahme in die Geschich- spiel der Werkbund und das Bauhaus, hat die Wohnfrage –
te. Sicher ist: Wenn ein Kanon sich erst einmal etabliert hat, preiswerte und sorgfältig verarbeitete Ausstattung der Woh-
bekommt er eine Autorität, die von den nachfolgenden Gene- nungen für breite Bevölkerungsschichten - ins Zentrum der
rationen praktisch nicht mehr hinterfragt wird. Es gibt Betrachtung gerückt. So ist das Möbeldesign ein bis heute
jedoch gute Gründe, einem etablierten Kanon kritisch zu be- nachwirkender Richtwert geworden.8
gegnen:5 In den Designgeschichten fehlt durchweg das «ne- Die vorliegende Designgeschichte bemüht sich, so weit dies
gative Design», das im Dienste gesellschaftlich und mensch- heute schon möglich ist, die erwähnten Defizite zu beseiti-
lich negativer Zwecke steht: das quantitativ immense Design gen. Dem dienen unter anderem die Kapitel im Debattenteil.
der Tötungsinstrumente der weltweiten Waffenindustrie, der Im geschichtlichen Teil werden Industriedesign und Grafik-
Folter-, Überwachungs- und Unterdrückungsinstrumente, design ab dem beginnenden 19. Jahrhundert auf dem gemein-
das Design aller gefährlichen Erzeugnisse – böse Zungen samen geschichtlichen Hintergrund parallel dargestellt.
zählen auch Automobile dazu.
— Die Designgeschichte übergeht das Design in der so Welche Methode?
genannten Dritten Welt. In ihrer Beschränkung auf die Welt Aus dem Kontext ihrer Produktions- und Rezeptionsgeschich-
der mehr oder weniger wohlhabenden Schichten der kapita- te gerissen, «erliegen Designobjekte rasch der ästhetischen
listischen Industrieländer kümmert sie sich nicht um die Mystifikation» und beginnen ein Eigenleben zu entwickeln.9
Gestaltung der Produkt- und Kommunikationswelt in den Dazu tragen auch die Künstler selbst bei, die in ihrer oft star-
Ländern der Dritten Welt, um das «Design der Peripherie ».6 ken Objektbezogenheit dazu neigen, das kreative und schöp-
— Es muss die Frage gestellt werden, wieso so wenige ferische Spiel mit den Farben, Formen und Materialien zu
Frauen in die Geschichte des Designs eingegangen sind. In betonen und die übergeordneten Zusammenhänge, den Kon-
der unmittelbaren Vergangenheit und in der Gegenwart, wo text, zu vernachlässigen. Design findet jedoch nicht im luft-
eine wachsende Zahl von Designerinnen in den diversen De- leeren Raum statt. Eine Designgeschichte, die ihren Gegen-
signgruppen und in Wettbewerben eine Rolle spielt, bedarf stand angemessen würdigen will, muss das Spannungsfeld
diese Frage noch dringender einer Antwort! aufzeigen, in dem Design steht. Sie muss sich bewusst sein,
— Die Designgeschichte fokussiert Design oft ausschliess- dass die Formen der Produkte die Produktions- und Lebens-
lich auf Industrie- oder Produktdesign.7 Es gibt aber darüber formen unmittelbar widerspiegeln. Sie muss die Frage nach
13

dem Interesse hinter den Produkten stellen. Die ökonomi- chenden Theorien ergänzt, sofern solche entwickelt worden
schen Interessen, die Innovationen in Technik und Naturwis- sind. Abgeschlossen wird das Kapitel in der Regel mit einem
senschaft, die produktionstechnischen Bedingungen, der Kommentar des Autors.
soziale Wandel, die gesellschaftlichen Anforderungen bezüg- —
lich Hygiene und Gesundheit, die ergonomischen und ökolo- 5 Kritisch äußern sich zum Beispiel Bürdeck, Clark, Meggs, Selle und Müller-Brockmann
in ihren Publikationen.
gischen Anforderungen – sie alle bestimmen die Regeln der 6 Gui Bonsiepe, in: Bürdeck, Design, S. 17.
Benutzbarkeit eines Gegenstands. Es geht um den «Humus», 7 So bei Bürdeck, Hauffe und Selle. Meggs und Müller-Brockmann dagegen behandeln
ausschliesslich das Grafikdesign.
auf dem die Blüten des Designs wachsen. Ohne «Humus»
8 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, Zürich, 2001, S. 49.
keine Blüte! Die ästhetische Qualität, der Formcharakter und 9 Gert Selle, Design-Geschichte in Deutschland, Köln, 1990, S. 8.
Stil des Designs sind nicht annähernd deutbar ohne Be- 10 Walker, Designgeschichte, S. 48.
11 Selle, Design-Geschichte, S. 7.
rücksichtigung der in das Design eingegangenen wirtschaft- 12 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, Köln, 1973, S. 8.
lichen und ideologischen Hintergründe. Die Einflussnahme
von ökonomischen Faktoren auf das Design ist immer gege-
ben, so dass sie – unsichtbar bleibend – Menschen in Design-
berufen und Lehrenden oft nicht bewusst ist.10 Deshalb kann
Designgeschichte nicht wie Kunstgeschichte geschrieben
werden. «Kunst spiegelt gesellschaftliche Vorgänge anders –
unabhängiger und subjektiver als Design, das sie zwanghaft
unmittelbar vollziehen muss. Design ist eher Werkzeug zur
Produktion gesellschaftlicher Realität als Kunst.»11
Es ist ein Ansatzpunkt einer Sozialgeschichte des Designs,
wie sie hier skizziert werden soll, sich den Designphänome-
nen vom «Humus» ausgehend anzunähern. Ein anderer ist
es, die Wirkung von Designobjekten auf die Benutzer bezie-
hungsweise auf die soziale Wirklichkeit zu untersuchen. Da-
zu müsste zum Beispiel die Wirkung des Designs auf das
Konsumverhalten analysiert werden und die sozialen Identi-
fikationsmuster, welche Designobjekte den Benutzern ver-
schaffen, müssten untersucht werden. Müssten! Tatsächlich
ist diese sozialgeschichtliche Sicht bislang wissenschaftlich
kaum erforscht und etabliert.12 Im Debattenteil dieses Buches
wird dennoch die soziale und ästhetische Wirkung des De-
signs thematisiert.
Die Kapitel des Geschichtsteils sind folgendermassen auf-
gebaut: Zuerst wird der jeweilige wirtschaftliche und gesell-
schaftliche Kontext, eben der «Humus», auf dem das jewei-
lige Design gewachsen ist, beschrieben. Dann folgt das
Design: die Meilensteine, die Designerinnen und Designer
und ihre Objekte. Diese Darstellung wird durch die entspre-
1. INDUSTRIALISIERUNG
UND BEGINN DES DESIGNS
16

1. Industrialisierung
und Beginn des Designs

— ner ein selbständiger Beruf. Bald sollten Reformbewegun-


Wirtschaftliches und Soziales gen aus kunsthandwerklichen Kreisen und aus dem Bereich
der angewandten Künste den Gestaltungsanspruch stellen
und das «schöne» Design der Gegenstände für sich rekla-
mieren (vgl. Kapitel 2).

Wirtschaftlicher Wettbewerb und Reformen


Die Industrialisierung verschärfte den wirtschaftlichen Wett-
Design und Industrialisierung streit unter den Nationen. Der internationale Wettbewerb be-
Die industrielle Revolution des ausgehenden 18. und des kam seinen sichtbarsten Ausdruck in den im 19. Jahrhundert
19. Jahrhunderts wälzte die materielle und geistige Land- aufkommenden Weltausstellungen. Die erste fand 1851 in
schaft Europas und Nordamerikas gründlich um. Der Sieges- London statt (Abb. 1, 2). Im Laufe der zweiten Hälfte des
zug der Dampfmaschinen war nicht aufzuhalten, und in der 19. Jahrhunderts wurden diese Ausstellungen nationaler Leis-
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts feierte die Technik auf tungsfähigkeit zu internationalen Marktplätzen. Hier muss-
immer mehr Gebieten Triumphe. Die Folge: Industrie und Wirt- ten sich die nationalen Wirtschaften der Frage nach Eigen-
schaft wuchsen immer schneller. Die industrielle Fertigung art, Güte und dem Typischen ihrer Produkte stellen, hier war
von Produktions- und Konsumgütern breitete sich aus. Die der grösste Umschlagplatz für gestalterische Ideen, denn bei
neue industrielle Produktionsweise veränderte die meisten den Weltausstellungen war jeweils die nationale Entwerfer-
Aspekte des Lebens grundsätzlich. Elite vertreten.1
In den einzelnen Ländern führte der verschärfte internatio-
Mechanisierung und Arbeitsteilung nale, aber auch der binnenwirtschaftlich nationale Wettbe-
Die Industrialisierung mechanisierte viele der bis anhin hand- werb zu Bestrebungen, die Wettbewerbsbedingungen zu ver-
werklichen Tätigkeiten. Mit der Mechanisierung ging eine radi- bessern. Unter dem Druck von Industrie und Gewerbe kam es
kale Arbeitsteilung einher, denn bei der industriellen Herstel- mit staatlicher Hilfe zu Initiativen im Bildungs-, Ausstellungs-
lung von Produkten fiel die handwerkliche Einheit von Entwurf und im Museumswesen, die nicht zuletzt auch durch die Welt-
und Ausführung mehr und mehr auseinander. Die Gestaltung ausstellungen beeinflusst waren und deren gemeinsames Ziel
der Gegenstände (Kopfarbeit) und ihre Fertigung (Maschi- es war, die Erzeugung von konkurrenzfähigen Konsumgütern
nenarbeit) wurden zu getrennten Tätigkeiten. Hier, in der indu- zu sichern. Damit rückte die Gestaltung der Konsumgüter ins
striellen Arbeitsteilung, begann die moderne Entwurfstätig- Zentrum der Aufmerksamkeit. Erste zaghafte Reformen oder
keit, begann das industrielle Design. Es waren nun nicht mehr Korrekturen des Fabrik-Kunstgewerbes fanden statt.
die Handwerker, welche die meisten Dinge herstellten und Im Schulwesen gab es zum Beispiel in der Schweiz schon im
ihnen individuelle Formen gaben. Unternehmer liessen in ih- ausgehenden 18. Jahrhundert Versuche, Ausbildungsstätten
ren Manufakturen und Fabriken durch so genannte «Ent- für Handwerk und Gewerbe (private Zeichen- und Kunstschu-
wurfszeichner» oder «Mustermacher» (auch «Dessinateure» len) einzurichten. Im 19. Jahrhundert entstanden neue techni-
oder «Modelleure» genannt), die Produkte entwerfen, die sche Fachschulen, polytechnische Hochschulen und Kunstge-
dann maschinell hergestellt wurden. Diese Entwurfszeichner werbeschulen. Auch sie sollten dazu beitragen, die Produkte
genossen ihre Ausbildung zum Teil in Zeichen- und Kunst- international konkurrenzfähig zu machen.
schulen oder bezogen ihre Geschmacksurteile aus dem Um- Angeregt durch das Vorbild der Weltausstellungen, wurden
feld von Kunstakademien. Um 1800 wurde der Entwurfszeich- vielerorts nationale und regionale Gewerbeausstellungen
17

durchgeführt. In der Schweiz fand die erste 1862 in Lausanne ten Industrieprodukten, liegt im kapitalistischen Prinzip des
statt. Diese Gewerbeausstellungen wurden zu öffentlichen Wirtschaftens: Kapital wird in den Wirtschaftskreislauf inves-
Diskussionsforen, auf denen über die Güte der gewerblichen tiert, um Rendite abzuwerfen. Der Kapitalgeber ist daran inte-
und industriellen Produkte debattiert wurde. ressiert, möglichst viele Waren auf den Markt zu bringen und
Im Sog dieser Konkurrenz-Schauen entstanden in den euro- zu verkaufen, um eine möglichst hohe Rendite zu erzielen.
päischen Metropolen bald gewerbliche oder kunstgewerbli- Doch dazu muss er seine Konkurrenten aus dem Markt ver-
che Museen. Auch in ihnen fand die kompetitive Gegenüber- drängen, indem zum Beispiel die Produktionskosten unter das
stellung der besten Güter und ein Diskurs über Design statt. Niveau der Konkurrenz gedrückt werden. Wie ist das mög-
Zum ersten Mal wurde die Gestaltung von Alltagsgegenstän- lich? Der auf dem Markt realisierte Erlös aus den Waren, der
den zu einem öffentlichen Thema. Die ökonomische Bedeu- Gewinn, wird nicht ausgegeben, sondern zum guten Teil wie-
tung des Designs wurde erkannt. der in die Produktion investiert. Mit dem zusätzlichen Kapi-
Den Museen wurden übrigens da und dort zur gegenseitigen tal können kosten- und zeitsparende Produktionsmittel ent-
Befruchtung gewerbliche Schulen angegliedert, die vom Staat wickelt und eingesetzt werden, womit die eigene Position im
oder von den Höfen gefördert wurden.2 Die Gründung von Verdrängungswettbewerb verbessert wird. So kommen im-
Schulen und Museen vergrösserte den Fundus der Entwürfe mer mehr und immer neue Waren auf den Markt.
und machte die Gestaltung zum Gegenstand ideologisch ge- Es liegt in der Logik der kapitalistischen Produktionsweise (im
prägter Debatten.3 Gegensatz etwa zur mittelalterlichen feudalistischen oder der
Fazit: Die Industrialisierung hatte neben den ökonomischen so genannten asiatischen Produktionsweise), sämtliche Ge-
vielfältige bildungspolitische und kulturelle Auseinanderset- brauchsgüter zu Waren zu machen und alle erdenklichen Wa-
zungen zur Folge. Produktgestaltung wurde zu einem bewusst ren zu erfinden, mit denen ein zusätzlicher Profit realisiert
wahrgenommenen Faktor. werden kann. Das Kapital ist also nicht primär an der Art der
Güter, an deren Gebrauchswert, sondern vor allem an deren
Die technologische Triebfeder des Designs Tauschwert interessiert. Ohne permanentes Wachstum,
Nachdem durch die Mechanisierung der Produktion die ohne ständige Vergrösserung des Tauschvolumens kann die
Grundlage für die moderne Entwurfstätigkeit einmal gelegt Profitrate nicht gesteigert werden und ist das investierte
worden war, gab es in der technologischen Entwicklung im- Kapital nicht gewinnbringend angelegt. Die Massenprodukti-
mer wieder Innovationsphasen, welche die Triebfeder für eine on, also die Serienfertigung von standardisierten und günsti-
schubartige Entfaltung des Designs waren. Grundlage war gen Produkten, gehört zum Wesen des Kapitals. Sie ist der
das Aufkommen und die Nutzung von neuen Leittechnologien. Grund für die Entstehung der Massenkultur.
Eine solche Phase war die Mechanisierung des Maschinen- Um die Konsumenten und Konsumentinnen dazu zu bringen,
baus in den letzen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Die me- immer neue Gebrauchsgüter in Warenform zu kaufen, müssen
chanische (!) Herstellung von Maschinen für die Produktion die Güter nicht nur einen Zweck erfüllen, sondern verlockend
von Gebrauchsgegenständen und Druckmaschinen sorgte für und attraktiv gestaltet werden und sich von Konkurrenzpro-
eine grosse Ausdehnung der Entwurfstätigkeit im Bereich des dukten positiv unterscheiden. Die am Verkauf orientierte
Produkt- und Grafikdesigns.4 Industrie hat deshalb sehr rasch die grossen Möglichkeiten

Die wirtschaftliche Triebfeder des Designs 1 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 55.
2 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 44.
Die wirtschaftliche Triebfeder des industriellen Designs, der 3 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 45.
Gestaltung von seriengefertigten und deshalb standardisier- 4 Reinhart Kössler, Informationszeitalter, in: Widerspruch 45, Zürich, 2003, S. 29.
18

1. Industrialisierung
und Beginn des Designs

erkannt, welche die Gestaltung für eine wirksame Verkaufs-


steigerung bieten kann. Denn die Industrieprodukte erhalten
durch immer neue Gestaltung der äusseren Form wirksame
Anreize zum Kauf, ohne dass damit zugleich eine Verbesse-
rung des Gebrauchswerts verbunden wäre. Hier liegt der
Ursprung des Produktdesigns, eines Grossteils des Grafikde-
signs und des im 20. Jahrhundert entwickelten Corporate
Designs. Im Gestaltungsprozess «revolutionieren» die Desig-
ner und Designerinnen die Produkte als Ganzes oder an ihrer
Oberfläche immer wieder neu, sie versehen diese mit anderen
Worten mit der immer gleichen «konservativen» Botschaft:
Kauf mich! (Vgl. dazu auch die Abschnitte «Design und Wa-
renästhetik» und «Aufgabe des Industriedesigns» in diesem
Kapitel.)
Fazit: Design heisst zuerst einmal Integration der Ästhetik in
die Herstellung und den Vertrieb von Waren und Dienstleis-
tungen zwecks Verkaufsförderung. Es dient der Behauptung
gegenüber konkurrierenden Angeboten und der Verwertung
von Kapital.
19

1. Industrialisierung Meilensteine Theorie


und Beginn des Designs

Abb 1: Joseph Paxton: Der Londoner Kristallpalast für die Abb. 2: Charles Dutert et al.: Maschinenhalle der
Weltausstellung von 1851 nach dem Wiederaufbau in Pariser Weltausstellung, 1889. Quelle: Peter
Sydenham 1854. Hier wurden erstmals mechanisch herge- Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des
stellte Patentmöbel ausgestellt. Quelle: Peter Gössel, 20.Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 29.
Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20.Jahrhunderts,
Köln, 1990, S. 21.

Die Anfänge des industriellen Designs Historismus und Warenästhetik

Neue Bauaufgaben Historismus


Der Industrialisierungsprozess im 19. Jahrhundert brachte ei- Mit «Historismus» werden allgemein stilisti-
ne Vielfalt von neuen Gestaltungsaufgaben mit sich. Die Bau- sche Rückgriffe auf historische Kulturepochen
aufgaben in den Nationalstaaten erreichten ein bis dahin bezeichnet. Historismus im eigentlichen Sinn
nicht gekanntes Ausmass: Schulen, Spitäler, Parlamentsge- ist eine Strömung des 19. Jahrhunderts, die
bäude, Justizpaläste und (National-) Museen schossen aus bis zum Ende des Ersten Weltkriegs andau-
dem Boden. Darüber hinaus entstanden allerorten neue Fab- erte. Historistische Werke in der Architektur, in
riken, Bürogebäude, Kaufhallen, Passagen, Bahnhöfe, Eisen- der bildenden Kunst und im Kunsthandwerk
bahnbrücken, Ausstellungshallen und Hotels. leiteten ihr stilistisches Formenvokabular di-
Bei all diesen Bauten wurden die bisherigen Dimensionen ge- rekt aus vergangenen Epochen ab (Neoroma-
sprengt – sowohl in Bezug auf ihre Grösse wie auch in Bezug nik, Neogotik, Neorenaissance usw.). Dabei
auf die Ansprüche. Die neuen Bauaufgaben verlangten nach wurden die historischen Stile häufig leicht mo-
radikal neuen Lösungen. Sie wurden mit Hilfe von rationellen difiziert oder verschiedene Stile miteinander
Methoden und neuen Materialien wie Gusseisen, Stahl, Glas kombiniert (Stilpluralismus). Das Kunsthand-
und Beton bewältigt (Abb. 1, 2). Die Materialien wurden von werk orientierte sich bevorzugt an aussereu-
der jungen Industrie geliefert, die Methoden wurden von Inge- ropäischen Vorbildern (zum Beispiel an indi-
nieuren neu entwickelt. scher und japanischer Kunst).
Die interessantesten Bauwerke des 19. Jahrhunderts stamm- Der Historismus ist aber auch Ausdruck der
ten deshalb nicht von Architekten, sondern von Ingenieuren. stilistischen Unsicherheiten und kulturellen
Der Ingenieur des frühen Maschinenzeitalters gehört zu den Orientierungsschwächen der bürgerlichen Ge-
Pionieren des industriellen Designs. Er war der Prometheus sellschaft des 19. Jahrhunderts (vgl. den Ab-
des 19. Jahrhunderts.1 Die schöpferischen Kräfte in der Bau- schnitt «Wirtschaftliches und Soziales» in
kunst konzentrierten sich auf die technische Entwicklung und diesem Kapitel). Mit dem Rückgriff auf
Beherrschung der neuen Mittel. bereits «bewährte» historische Stilmuster
— wollte man der Unsicherheit stabile Werte
1 Im 20.Jahrhundert wird ihn Le Corbusier als «gesund und männlich, aktiv und entgegensetzen.
nützlich, ausgeglichen und glücklich» preisen (zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea,
Bern, 1999, S. 267). Vergangene Kulturleistungen genossen also
höhere Priorität als die Bemühungen um
neue, der Zeit entsprechende Kunstformen.
20

1. Industrialisierung Meilensteine Theorie


und Beginn des Designs

Abb. 3: Underwood-Schreibmaschine, 1900. Dieses Modell Abb. 4: Michael Thonet: Stuhl Nr. 14, 1859. Material: Bug- Abb. 5: Carl und Victoria Elsener: Schweizermesser, 1891.
wurde durch seine nachhaltige norm- und stilbildende holz und Buche (Firma Gebrüder Thonet, Wien). Quelle: Das legendäre Objekt beruht auf drei Prinzipien: hohe
Wirkung das erfolgreichste seiner Art. Quelle: Volker Albus Cathrine McDermott, Design A–Z, München, 1999, S. 108. Qualität, vielseitige Verwendbarkeit (Funktionalitätsgrad)
et al., Design! Das 20. Jahrhundert, München, 2000, S. 14. und exzellentes Design. Quelle: Cathrine McDermott,
Design A–Z, München, 1999, S. 218.

Industriell gefertigte Alltagsgegenstände Der Historismus wurde in der Moderne durch-


Obwohl die Alltagsgegenstände noch lange von handwerkli- gängig negativ beurteilt. Das änderte sich
chen Produkten dominiert wurden, fanden Industrie und Tech- in der Postmoderne, als sich der Historismus
nik allmählich ihren Niederschlag auch im Design des Alltags. steigender Beliebtheit erfreute. Die postmo-
Nach und nach kamen maschinell gefertigte Geräte auf den dernen Strömungen pflegten im Gegensatz
Markt – vor allem Gegenstände des täglichen Bedarfs in zur Moderne das Spiel mit vergangenen Stilen
Haushalt und Beruf. Am weitesten fortgeschritten war die und Ornamenten (vgl. Kapitel 13).
industrielle Massenproduktion von Alltagsgegenständen in
den USA. Dort wurde schon 1851 die erste Haushaltsnähma- Design und Warenästhetik
schine von Singer zum Verkauf angeboten. 1874 fuhr in New Die Funktion des Industriedesigns hat Wolf-
York die erste seriengefertigte elektrische Strassenbahn. Auf gang Fritz Haug in seinen Arbeiten analysiert
1
der Weltausstellung in Philadelphia wurde 1876 das erste Te- und dadurch besondere Bedeutung erlangt.
lefon ausgestellt, und ab 1876 wurden die ersten mechani- Die von ihm entwickelte «Kritik der Waren-
schen Schreibmaschinen produziert (Abb. 3). ästhetik» untersuchte den Doppelcharakter
Eine Pionierrolle in der industriellen Herstellung von Möbeln der Waren im kapitalistischen Wirtschafts-
kommt Michel Thonet (1796–1871) zu. Thonet gelang es, neue system, der sich mit Gebrauchswert und
produktionstechnische Verfahren im Möbelbau zu nutzen, die Tauschwert bestimmen lässt. Haug zeigte an
auch zu neuen einfachen Formen führten. Er kaschierte die verschiedenen Beispielen auf, dass das De-
industrielle Herstellungsweise der Möbel nicht, sondern sign vor allem als Mittel der Tauschwerter-
machte sie zum Prinzip der Formgebung und entwickelte ein höhung fungiert – dass also durch die ästhe-
Verfahren, um massive Buchenholzstücke unter Dampfein- tische Gestaltung der Gegenstände nicht
wirkung in geschwungene Formen zu biegen. Der Thonet- primär eine Gebrauchsverbesserung erzielt
Stuhl Nr. 14 (1859) wurde zum Inbegriff des Bugholzstuhls wird. «In kapitalistischer Umwelt kommt dem
und Prototypen moderner Massenmöbel. Bis heute wurde er Design eine Funktion zu, die sich mit der
über 100 Millionen Mal verkauft (Abb. 4). Funktion des Roten Kreuzes im Krieg verglei-
Einer der ältesten industriell hergestellten Gegenstände, der chen lässt. Es pflegt einige wenige – niemals
bis heute ein Beispiel für die symbolbildende und andauernde die schlimmsten – Wunden, die der Kapitalis-
Kraft des Designs ist, ist das Schweizer Taschenmesser mus schlägt. Es betreibt Gesichtspflege und
(Abb. 5). Es ist tatsächlich noch ein Produkt des 19.Jahrhun- verlängert so, indem es an einigen Stellen ver-
derts, denn es wurde 1896 von Carl und Victoria Elsener ent- schönernd wirkt und die Moral hochhält, den
worfen und für die Armee als «Offiziersmesser» serienmässig Kapitalismus wie das Rote Kreuz den Krieg.»2
21

Abb. 6: Robert Thorne: Fette Buchstaben, 1821. Die erste Abb. 7: S. Frizzali und J. H. Bufford: Plakat für den Präsiden- Abb. 8: Forst, Averell & Co.: Plakat für die Hoe-Druckpresse,
fette Schrift für Poster, Anzeigen und Werbung wurde zu tenwahlkampf von Cleveland und Hendricks, 1884. Zu 1870. Diese Presse machte eine Massenauflage von Chro-
Beginn des industriellen Zeitalters 1821 in England von beachten ist der extreme Realismus der Porträts. Quelle: molithografien möglich. Das Plakat demonstriert die neue
Robert Thorne entworfen. Quelle: Philip Meggs, A History of Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, Freiheit im Umgang mit Schriften und Buchstaben. Quelle:
Graphic Design, New York, 1998, S.127. S. 147. Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998,
S. 150.

hergestellt. Doch es sollte weit mehr als nur ein Taschenmes- Die Aufgabe des Industriedesigns
ser werden: ein kompakter Werkzeugkasten, ein Qualitätsbe- F. Mercer definierte die Aufgabe des Industrie-
steck und ein weltbekannter Werbeträger für schweizerische designers 1947 so: «Der Industriedesigner
Qualitätsarbeit. Heute sind mit ihm die meistgenannten Kon- ist ein technischer Experte für visuelle Wir-
notationen mit dem Namen «Schweiz» verbunden. kung. (Er) wird von einem Hersteller nur aus
einem Grund beschäftigt: Er soll die Nach-
Steigendes Kommunikationsbedürfnis frage nach Produkten durch ihre stärkere An-
Vor der Industrialisierung im 19. Jahrhundert war die domi- ziehungskraft für die Konsumenten erhöhen.
nante Form der Verbreitung von schriftlichen Informationen Der Hersteller bezahlt ihn nach Massgabe
das Buch. In der industrialisierten Gesellschaft nahm der Be- seines Erfolges bei der Erreichung dieses
darf an Kommunikation sprunghaft zu. Die nötigen technolo- Ziels. Der Industriedesigner steht und fällt
gischen Voraussetzungen wurden mit der Erfindung von mit seiner Fähigkeit, Handelsgewinne zu
dampfbetriebenen Druckmaschinen, mechanisierten Satz- erzeugen und zu erhalten. In erster Linie ist er
maschinen und Papierherstellungsmaschinen geschaffen. ein Industrietechniker und nicht vorwiegend
Reklameposter und Zeitungen konnten nun leichter herge- ein Geschmackserzieher der Öffentlichkeit.
stellt werden, und mit der Fotografie wurde ein völlig neues Unter den vorherrschenden Bedingungen
Kommunikationswerkzeug entwickelt. Eine neue Ära des Wis- muss sein Ziel in der Profitgewinnung für sei-
sens, der Bildung und der Literalität wurde eröffnet, und die ne Arbeitgeber liegen.»3
globale Verbreitung von Wörtern und Bildern wurde möglich. —
Das Zeitalter der Massenkommunikation hatte begonnen. 1 Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik,
Frankfurt a.M., 1971.
Die Buchtypografie, die aus der Handschrift entwickelt wor- 2 W.F.Haug, in: Bernhard Bürdek, Design, S. 176.
den war, genügte den neuen Anforderungen nicht mehr. Das 3 F. Mercer, in: Walker, Designgeschichte, S. 41.
Alphabet mit seinen sechsundzwanzig Buchstaben konnte
nicht mehr nur als phonetisches Zeichensystem funktionie-
ren. Das industrielle Zeitalter entwickelte diese Zeichen wei-
ter zu abstrakten visuellen Formen, die grosse kraftvolle,
kontrastreiche und fette Charaktere auf die Reklametafeln
projizierten. Die Innovation von neuen Schrifttypen nahm
ihren Lauf (Abb. 6).
Bald nach der Erfindung der Fotografie wurde in den sechzi-
ger Jahren des 19. Jahrhunderts das Fotodruckverfahren
22

1. Industrialisierung Meilensteine
und Beginn des Designs

Abb. 9: Verpackungen für Tabakdosen und Nahrungsmittel- Abb. 10: Henri Labrouste: Lesesaal der Bibliothèque Natio- Abb. 11: Stuhl aus dem Biedermeier-Zimmer des Oldenbur-
behälter, die mit Chromolithografie bedruckt sind. Quelle: nale in Paris, 1861–69. Gusseiserne Säulen mit korinthi- ger Stadtmuseums, um 1840. Kirschbaumholz furniert.
Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, schen Kapitellen und gotischen Kreuzrippengewölben. Foto: Quelle: Gert Selle, Design-Geschichte in Deutschland, Köln,
S. 151. Beat Schneider. 1987, S. 162.

entwickelt und damit die Vielfalt der Illustrationstechniken lich hergestellten Gegenständen lediglich durch ihre schlech-
weiter vergrössert (Abb. 7, 8). tere Qualität unterschieden. Viele der Massenprodukte wur-
Die bereits 1796 erfundene Lithografie wurde in Boston zur den ebenfalls mit historischen Ornamenten dekoriert.
Chromolithografie weiterentwickelt, was dem farbigen Illust-
rationsdesign ein neues Feld eröffnete. Neue Anwendungs- Bürgerliche Ästhetik
gebiete wurden unter anderem Poster, Etiketten und be- Zaghaft entwickelte die bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahr-
druckte Verpackungen (Abb. 9). hundert in einigen Ländern eigenständige ästhetische Leit-
bilder, die sich allmählich vom Rückgriff auf vergangene Stile
Imitation und Dekoration lösten und sich von den Leitbildern des Adels und des bürger-
Wie wurden die Gestaltungsaufgaben im beginnenden Ma- lichen Geldadels unterschieden. «Biedermeier» – ursprüng-
schinenzeitalter stilistisch gelöst? In den Werken der Archi- lich eine satirische Bezeichnung für die bieder-wohlanständi-
tektur fand der wirtschaftliche Reichtum der neuen industri- ge Kultur des Bürgertums zwischen 1814 und der Revolution
ell-bürgerlichen Schichten seinen direkten Ausdruck in von 1848 – war eine bürgerliche Gegenrichtung zu dem bis
reichem Dekor und üppiger Ornamentik. Das Bedürfnis der 1814 vorherrschenden feudalen Empire-Stil. Sie zeichnete
neuen Schichten nach Repräsentation wurde aber nicht durch sich durch eine rationale Grundhaltung aus. Biedermeier-
ein neues Design, sondern durch den Rückgriff auf die For- Möbel waren stark dem Ideal der Schmucklosigkeit und ein-
mensprache einst herrschender Schichten befriedigt. Des- fachen Formen verpflichtet (Abb. 11).2
halb erschöpft sich die Architektur des 19. Jahrhunderts, wie In einigen protestantischen Gebieten Europas waren die neuen
übrigens die Kunst auch, weitgehend in Nachahmungen ver- bürgerlichen Leitbilder von besonderer Sachlichkeit und Be-
gangener Stile. Kirchen, öffentliche Gebäude und die Häuser scheidenheit gekennzeichnet. Hier ist auf den Zusammenhang
der Gutsituierten wurden in den verschiedenen Neostilen und zwischen Moral/Religion und Gestaltung, beziehungsweise
oft auch in einer Mischung der verschiedenen Stile gebaut: auf die Entsprechung von puritanischer christlicher Ethik hin-
Neo-Romanik, Neo-Gotik, Neo-Renaissance, Neo-Barock und zuweisen. Immer wieder hat im Laufe der abendländischen Ge-
Neo-Klassizismus (vgl. den Abschnitt «Historismus» in die- schichte die durch Askese geprägte christliche Ethik zu puris-
sem Kapitel). Auch die neuen Bauten, von den Fabrikgebäu- tischen Gestaltungsformen geführt: Im Mittelalter war es etwa
den bis hin zu den Brücken, wurden an der Oberfläche mit die Ästhetik des Zisterzienserordens, die sich in der Innen- und
einem historischen Dekor versehen (Abb. 10). Aussenarchitektur der Klöster durch strenge, fast funktional-
Das Design der industriell gefertigten Alltagsgegenstände istische Merkmale hervortat (Abb. 12). Für das 19. Jahrhundert
ahmte in der beginnenden Massenproduktion zunächst die ist die puritanisch-protestantische Religionsgemeinschaft der
Formen der früher handwerklich hergestellten Produkte nach, Shaker in den USA zu nennen, deren Alltagsgegenstände sich
so dass sich die maschinell gefertigten von den handwerk- durch schlichte Schönheit auszeichnen (Abb. 13).
23

Abb. 12: Kirche der Zisterzienser-Abtei Fontenay im franzö- Abb. 13: Ein original eingerichteter Innenraum im Shaker- Abb. 14: Magazinsofa mit zwei Schubladen, München,
sischen Burgund, 12./13. Jahrhundert. Foto: Beat Schneider. Dorf Hancock in Massachusetts, um 1840. Die Shaker um 1820. Quelle: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, Köln,
nahmen mit ihrem religiös motivierten Streben nach Ein- 2000, S. 25.
fachheit wichtige Züge des modernen Designs vorweg.
Quelle: Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts,
Berlin, 1998, S. 13.

Im Gegensatz zum prunkvollen Empire-Stil der Oberschichten


verzichtete die bürgerliche Wohnkultur des 19. Jahrhunderts
grossenteils auf üppige Stoffe, Intarsien und ähnlichen Luxus
und bevorzugte einen bescheiden-einheitlichen Gesamtein-
druck der Räume. Als Folge der Industrialisierung fand sich
unter den Möbeln bereits standardisierte «Konfektionswa-
re», welche sich durch schlichte Formen, Funktionalität und
das industrielle Furnieren mit einheimischen Hölzern cha-
rakterisierte (Abb. 14).
Die genannten ästhetischen Leitbilder des Bürgertums soll-
ten das Design bis in die Gegenwart beeinflussen. Noch
heute gehört zu den wichtigsten Anforderungen des moder-
nen Designs Funktionalität, Schlichtheit und Sachlichkeit.
Andererseits muss an dieser Stelle betont werden, dass das
moderne Design mehr aus den Voraussetzungen der indu-
striellen Produktionstechnik als aus der bürgerlich-prote-
stantischen Ethik stammt.3 Denn der industrielle Zwang zur
seriengefertigten und deshalb standardisierten Herstellung
von Produkten war schliesslich der ausschlaggebende Grund
oder «Humus» für die Durchsetzung eines schlichten, sach-
lichen und funktionellen Designs.

2 Bis heute ist umstritten, ob das Biedermeier nur eine bürgerliche Werthaltung
verkörperte; die Tatsache, dass viele frühe und bedeutende Biedermeier-Möbel zuerst in
adeligen Haushalten standen, steht dieser These entgegen (vgl. auch: Dieter Weidmann,
Design des 20. Jahrhunderts, Berlin, 1998, S. 12).
3 Dies vertritt Thomas Hauffe, in: Design Schnellkurs, Köln, 2000, S. 22.
24

1. Industrialisierung
und Beginn des Designs

— eigenen Machtanspruch.1 Mit dieser Scheinwelt geborgter


Kommentar Formen bewirkte die neue industrielle Klasse die ästheti-
sche Einschüchterung des Kleinbürgertums. Es gilt als ein
soziologisches Faktum, dass «das klassenspezifisch diffe-
renzierte Produktangebot und der nachgeahmte feudalisti-
sche Prunk an den Gegenständen des täglichen Gebrauchs
und den privaten und öffentlichen ‹environments› Kapitalis-
ten und Kleinbürger im Bewusstsein vereinte.»2 So gesehen
Der ewige Zwang zum Neuen ist die schwülstige Produktsprache mit feudalistischem Prunk
Design als Entwurf von Gebrauchsgegenständen ist ein kul- nicht einfach sinnlose Dekoration, sondern erhält im Prozess
turelles Phänomen, das seit den altsteinzeitlichen Kulturen der Herstellung kultureller Vormacht ihren Sinn. Gleichzei-
bekannt ist. Design als ästhetische Gestaltung von Waren tig – und das steht nicht im Gegensatz zum bisher Ausge-
und als Gestaltung der Kaufanimation und der gesellschaft- führten – ist die historische Stilmaskerade ein Zeichen der
lichen Kommunikation ist eine Hervorbringung der abend- ästhetischen Unsicherheit der damaligen bürgerlichen Klas-
ländischen industriellen Gesellschaft der Neuzeit. Erst diese se. Denn die geistige und kulturelle Entwicklung hatte in den
trennte den Gebrauchswert und den Tauschwert der Produkte Jahrzehnten der rasenden industriellen Revolution Mühe,
und schuf das Universum der Waren. mit der wirtschaftlichen Entwicklung Schritt zu halten. Das
Design ist ein Ergebnis des ökonomischen Zwangs zur stän- Primat der wirtschaftlichen Werte brachte die überkommene
digen Revolutionierung der Warenwelt und zur standardisier- Kultur durcheinander. Das Bürgertum, immer mehr von den
ten Massenproduktion. Der ständige Formwandel ist in den neuen Generationen industrieller Unternehmer geprägt, war
kapitalbasierten Wirtschaften und Kulturen ein unverzicht- zur tragenden gesellschaftlichen Schicht geworden. Es hat-
bares Bedürfnis und der ewige Zwang zum Neuen ein kultu- te jedoch Mühe, sich kulturell zu orientieren, eine eigenstän-
relles Grundmuster geworden, das sämtlichen Lebensberei- dige Ästhetik zu entwickeln und diese mit dem wirt-
chen seinen Stempel aufdrückt. schaftlichen Prozess in Einklang zu bringen. Die kulturelle
Situation stellt sich deshalb sehr widersprüchlich dar.
Neues Maschinenzeitalter – alte Ästhetik —
Die industrielle Produktion führte zunächst nicht zu einer 1 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 41ff.
2 Ebenda, S. 43.
neuen technischen Ästhetik, die sich aus den neuen kon-
struktiven und technischen Möglichkeiten abgeleitet und
dem neuen kulturellen Selbstverständnis des Maschinen-
zeitalters entsprochen hätte. Stattdessen begnügte man
sich einerseits mit der blossen Imitation handwerklich herge-
stellter Produkte durch die Maschinenarbeit und anderer-
seits mit dem Rückgriff auf historische Stile und Dekorfor-
men. Wie ist das zu erklären? Die Imitation handwerklicher
Produkte hängt vermutlich mit der anfänglich besseren Ver-
käuflichkeit der so designten neuen Produkte zusammen.
Mit der Nachahmung der Formensprache einst herrschender
Schichten hingegen demonstrierte die neue Klasse ihren
2. INDUSTRIEKRITIK VON
ARTS & CRAFTS
BIS ZUM JUGENDSTIL
28

2. Industriekritik von
Arts & Crafts bis zum Jugendstil

— kapitalbesitzenden Unternehmern und den Arbeitern und


Wirtschaftliches und Soziales Arbeiterinnen entluden sich in Aufständen und führten in der
zweiten Jahrhunderthälfte zur Bildung von proletarischen
Selbsthilfeorganisationen, Gewerkschaften und sozialisti-
schen Bewegungen.
Die industrielle Revolution machte aus der Welt eine sozial
hässliche Welt. Zur Hässlichkeit des sozialen Elends, der E-
lendsviertel der Städte und Fabriken und der wachsenden
Unmenschliche Verhältnisse Umweltverschmutzung kam – in den Augen vieler Zeitgenos-
«Aus dieser schmutzigen Kloake (gemeint ist Manchester, sen – noch die Minderwertigkeit der qualitativ oft schlechten
B.S.) fliesst pures Gold. Hier erreicht die Menschheit ihre voll- und unpraktischen Gebrauchs- und Einrichtungsgegenstände
ständigste Entwicklung und ihre niedrigste, hier vollbringt aus der Massenproduktion dazu.2 Die Produktqualität hatte
die Zivilisation Wunder, und gleichzeitig wird der zivilisierte gegenüber der früheren handwerklichen und manufaktu-
Mensch fast in einen Wilden verwandelt.»1 Mit diesen Worten rellen Fertigung infolge der maschinellen Serienproduktion
fasste der französische Staatsdenker Alexis de Tocqueville und der Verwendung von billigen Materialien nachgelassen.
bereits 1835 mit grossem Weitblick den grundsätzlichen Wi-
derspruch der industrialisierten Welt zusammen: einerseits Widerspruch
die schier grenzenlose Entfesselung von Produktivkräften, Die unmenschlichen Lebensbedingungen, die damals schon
welche die Welt mit Waren, Maschinen, Bauten und einem verunstaltete Umwelt, die Unzahl minderwertiger Produkte
immensen materiellen Reichtum versieht, und andererseits und der gleichzeitig zur Schau gestellte Reichtum provo-
die Erzeugung von Herrschaftsverhältnissen, welche immer zierten Widerspruch und waren der Anstoss zu Reformideen
mehr Menschen und Völker in Abhängigkeit bringen und in und Reformbewegungen.
Massenelend und kulturelle Armut stürzen. Der Ruf nach Reformen kam aus verschiedenen Lagern:
Die Industrialisierung schuf für einen grossen Teil der Bevölke- 1. Die Gewerkschaften und die Sozialisten kämpften für
rung unmenschliche Verhältnisse. Mit der technischen Revo- bessere Arbeits-, Wohn- und Bildungsverhältnisse und for-
lution, der Erfindung der Maschinen, wurde aus ehemaligen derten einfache «preiswerte» und «ehrliche» Gebrauchsge-
Bauern, Handwerkern und deren Frauen eine neue gesell- genstände für die Arbeiter und Arbeiterinnen.
schaftliche Klasse, das Proletariat der Arbeiter und Arbeite- 2. Das Bildungsbürgertum wurde durch die sozialen Miss-
rinnen. Massenweise wurde Arbeit von handwerklicher Fer- stände sensibilisiert. In so genannten Bildungsvereinen wur-
tigkeit auf mechanische Manipulation mit Geräten und de deshalb versucht, zur Hebung des Bildungsniveaus der
Maschinen reduziert. Die Arbeitskraft wurde zur Ware auf dem arbeitenden Massen beizutragen. Die «Geschmacksverirrun-
industriellen Arbeitsmarkt. Die Lohnarbeiter wurden einem gen» der industriellen Massenproduktion und der «Nieder-
anhaltenden Verelendungsprozess ausgesetzt. Eine auf 14–16 gang der Kunst» wurden beklagt.
Stunden ausgedehnte Arbeitszeit pro Tag, unzulänglicher 3. Der ästhetische Widerspruch gegen die Folgen der in-
Schutz vor Arbeitsunfällen, geringe Entlöhnung, fehlende dustriellen Revolution bestand in künstlerischen und kunst-
soziale Sicherung gegen Krankheit und Alter sowie weit ver- handwerklichen Bewegungen, welche die hässlichen Produk-
breitete Kinderkrankheiten und völlig unzulängliche Wohn- te der industriellen Massenproduktion bekämpften und eine
verhältnisse kennzeichneten die Lage der proletarischen Wiederbelebung des Kunstgewerbes anstrebten. Sie wand-
Massen. Die sich verschärfenden Konflikte zwischen den ten sich gegen die schlechte Gebrauchsqualität und man-
29

gelnde Haltbarkeit der industriellen Produkte und gegen die von Möbeln und Gebrauchsgegenständen war also oft Be-
Verhüllung der technischen Formen mit «unehrlichem» De- standteil einer umfassenderen Bewegung, welche die Wohn-,
kor aus historischen Formen. Sie wollten den Standard der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der arbeitenden Bevölke-
Produktion und den Geschmack der Verbraucher und Verbrau- rung in den Städten verbessern wollte.
cherinnen heben. —
Die Reaktion auf die Industrialisierung kann man auch als 1 Beat Schneider, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte, Bern, 1999, S. 266.
2 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 30.
Verteidigung des angestammten Platzes verstehen: In vor- 3 Ebenda, S. 34.
industriellen Zeiten hatten sich das Kunstgewerbe und die 4 Der Engländer E. Howard entwarf die ersten Pläne für so genannte «Gartenstädte»,
das heisst Siedlungen, die mit viel Grün die bisherigen grossen Mietskasernen
dekorative Kunst um die Verzierung und Ornamentierung der
ablösen sollten. Die englischen Arbeitersiedlungen wurden auf dem Kontinent zum
Gebrauchsgegenstände gekümmert. Diese Kompetenz wurde Vorbild für ähnliche Reformen.
dem Kunstgewerbe nun durch die dominant werdenden in-
dustriell gefertigten Massenprodukte streitig gemacht.
4. Die Qualität der industriellen Waren war auch für Vertre-
ter von Gewerbe, Industrie und Handel ein Thema. Sie be-
klagten sich über die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der
schlechten und durch historische Ornamente verzierten Mas-
senprodukte. Das Formengemisch des Historismus wurde
zunehmend als ästhetisches Hemmnis in der internationalen
Konkurrenz empfunden.3 Die gewerblichen Forderungen, die
durch den Wettbewerb der Weltausstellungen an Bedeutung
gewannen, mündeten in den Ruf nach besseren Materialien
und technischen Produkten sowie nach Reformen im Pro-
duktionsprozess und Ausbildungswesen (vgl. Kapitel 1).
5. Daneben gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu
Beginn des 20. Jahrhunderts weitere Reformbewegungen wie
die Gartenstadtbewegung4, die Natur- und Heimatschutzbe-
wegung, die Gesundheitsreformbewegung sowie die Bewe-
gungen zur Boden- und Wohnungsreform.

Umfassende Bewegungen
Diese verschiedenartigen Reformbewegungen agierten nicht
unabhängig voneinander! Im Gegenteil, die Überschneidun-
gen und Vernetzungen waren vielfältig. Zum Beispiel verstan-
den sich kunsthandwerkliche Bewegungen wie die britische
Arts & Crafts immer auch als soziale oder sozialästhetische
Initiativen, welche die Gestaltungsaufgaben als soziale und
moralische Aufgabe auffassten. Das verwundert nicht ange-
sichts der Tatsache, dass die sozialen und ästhetischen Miss-
stände eng zusammenhingen. Die Reform bei der Gestaltung
30

2. Industriekritik von Meilensteine Theorie


Arts & Crafts bis zum Jugendstil

Abb. 15: Philipp Webb: Das Rote Haus in Kent, 1859. Abb. 16: William Morris: Rosentextildesign, 1883. Abb. 17: William Morris: Armstuhl, 1858.
Hier entstand Morris’ Firma nach mittelalterlichem Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, Der Rahmen ist aus geschnitztem Holz, das Dekor ist auf-
Bauhütten-Vorbild. Obwohl es ein mittelalterliches Aus- 1998, S. 64. gemalt. Dieser von mittelalterlichen Möbelformen be-
sehen hat, ist die Struktur funktional. Quelle: Thomas einflusste Entwurf wurde früher als «Webstuhl» bezeich-
Hauffe, Design Schnellkurs, Köln, 2000, S. 42. net, obwohl er sich aufgrund seiner Form zum Weben
gar nicht eignet. Er wurde vermutlich von Morris für seine
Wohnung am Red Lion Square entworfen. Quelle:
Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 51.

Reformbewegungen im gestalterischen Bereich Beginn der Designtheorie

Von den Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts interessie- William Morris, der Industriekritiker
ren in einer Designgeschichte vor allem diejenigen, welche In den kunstgewerblichen Reformbewegun-
sich der Gestaltung des Alltags annahmen. Das sind insbe- gen des 19. Jahrhunderts wurde erstmals der
sondere die britische Arts & Crafts-Bewegung, die europawei- Zusammenhang zwischen industrieller Her-
te Jugendstilbewegung und später der Deutsche Werkbund. stellung und gestalterischer Form wahrge-
nommen und die Frage nach dem Verhältnis
Die Arts & Crafts-Bewegung von Kunst und Industrie theoretisch erörtert.
Die britische Arts & Crafts-Bewegung war in den sechziger, In Grossbritannien führte der Kreis um William
siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Re- Morris (1834–96) die theoretische Debatte
aktion auf die industrielle Massenproduktion und die Ver- um Kunst und Industrie. William Morris war
drängung der handwerklichen und kunsthandwerklichen ein vehementer Gegner der maschinellen
Produktionsweise. Sie forderte eine Rückkehr zu handwerkli- Massenproduktion. Er beklagte den Verlust
cher Qualität, Materialgerechtigkeit und schlichtem Formen- der künstlerischen Qualität in der Produktion
vokabular. Ihr bekanntester Exponent und geistiger Vater, von Gebrauchsgütern und erinnerte daran,
William Morris (1834–96) (vgl. den Abschnitt «Beginn der De- dass «einst jedermann, der ein Ding machte,
signtheorie» in diesem Kapitel), schuf mit anderen zusammen es als Kunstwerk und zugleich als nutzbares
nach dem Vorbild der mittelalterlichen Bauhütten die Firma Hausgerät schuf, während heute nur sehr
Morris & Co. welche ab 1861 gediegene und relativ teure wenige Dinge auch nur den geringsten An–
handwerklich gefertigte Möbel, mit Pflanzenfarben bedruckte spruch darauf haben, als Kunstwerk angese-
Stoffe, handgewebte Teppiche, bemalte Kacheln und Glas- hen zu werden.»1 Nach Morris waren für die
fenster herstellte (Abb. 15–17). Dem Formengemisch des His- Zerstörung des Verhältnisses von Schönheit
torismus wurden klare Formen und Materialien sowie Orna- und Nützlichkeit bei der Erzeugung eines
mente aus der Natur entgegengestellt. Für Morris & Co. lag Gebrauchsgegenstandes die entfremdete Ma-
die Antwort auf die industrielle Revolution in einer Kunstge- schinenarbeit und die Profitinteressen der
werbereform, die sich auf das Mittelalter zurückbesann, wo kapitalistischen Unternehmer (Morris: «un-
Handwerk und Kunst, Nützlichkeit und Schönheit noch eine natürlicher Industrialismus») verantwortlich.
Einheit gebildet hätten. Morris & Co. wurde zum Vorbild für Die kapitalistische Produktionsweise sei zu-
zahlreiche Künstlergilden, aus denen die Arts & Crafts-Bewe- dem auch für die Umweltverschmutzung ver-
gung entstand (Abb. 18). antwortlich. Morris träumte sich an die Stelle
31

Abb. 18: Arthur H. Mackmurdo: Stuhl, 1881. Abb. 19: Lucien Pissaro: Zwei Seiten aus Verse von Abb. 20: Rudolf Koch: Halbfette deutsche Schrift, 1911;
Als Mackmurdo diesen Stuhl entwarf, achtete er sorgfältig Christina Rosetti, 1903 (Privatdruckerei). eine deutsche Schrift, 1906; schmale deutsche Schrift,
auf die Qualität des visuellen Designs und auf die funktio- Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New 1910. Deutschland war übrigens das einzige europäische
nalen Kräfte. Die Vereinigung von Konstruktion und Ornament York, 1998, S. 173. Land, das Gutenbergs Textura nicht durch römische
wurde ein Charakteristikum des Jugendstils. Stile ersetzte. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic
Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, Design, New York, 1998, S. 174.
1998, S. 164.

Arts & Crafts hatte auch grossen Einfluss auf das Grafikde- des hoch industrialisierten, natur- und men-
sign. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Qualität des schenausbeutenden Kapitalismus fiktive Gar-
Buchdesigns ein Opfer der industriellen Revolution. Der Nie- tenstädte und sozialistische Lebens- und
dergang der Buchkultur wurde erst Ende des Jahrhunderts Produktionsgemeinschaften.Konsequenter-
gestoppt, als durch die Arts & Crafts-Bewegung eine Buch- weise wurde er Sozialist; für ihn stand fest,
renaissance ausgelöst wurde. Zu nennen sind hier wiederum dass erst in einer sozialistischen Gesellschaft
William Morris, dann Arthur H. Mackmurdo (1851–1942), der wieder unentfremdet produziert und künstle-
die Designer-Gilde «The Century Guild Hobby Horse» initi- rische Qualität, die für alle nützlich ist, ge-
ierte, welche ein neues, künstlerisch inspiriertes Grafikde- währleistet werden könne. So wurde Morris
sign und die Kelmscott Press propagierte. Sie alle liessen (zusammen mit John Ruskin [1819–1900 ])
sich vom vergangenen Handwerk und von der mittelalterli- zum Begründer der ersten sozialen Theorie des
chen Buchkultur inspirieren und produzierten in privaten Designs.2 Er stellte die These auf, dass vor al-
Druckereien («private Druckbewegung») anspruchsvolle lem die Lebensbedingungen der Menschen
Bücher (Abb. 19). Die britische Buchrenaissance beeinflus- geändert werden müssten, um ihren Sinn für
ste das Buchdesign auch auf dem europäischen Kontinent. Schönheit und ihr Verständnis für die Kunst
Dort machte sich der Deutsche Rudolf Koch (Abb. 20) mit zu wecken. Seine Kritik der gesellschaftlichen
seinen Schriftentwürfen einen Namen. Zustände mündete jedoch nicht im Kampf
Durch Morris & Co. und Arts & Crafts erlebte das Kunstgewer- für revolutionäre sozialistische Veränderun-
be einen grossen Aufschwung. Aus der Reform entstand zwar gen, sondern im Einsatz für eine Kunstge-
kein neues Industriedesign – die industrielle Produktion wur- werbereform. Morris wartete nicht etwa neue
de mehrheitlich abgelehnt –, aber ein Kunsthandwerk von Lebensbedingungen ab, sondern entwarf und
hoher Qualität, ein handwerkliches Elitedesign für den privi- produzierte in seiner Bauhütte nach mittel-
legierten Teil der Gesellschaft. alterlichem Vorbild eine Vielzahl von verschie-
Mit der Ablehnung des Historismus, der Rückbesinnung auf denen gediegenen Objekten. Er stand damit
das Handwerk, der grossen Bedeutung, die man der Kunst im im Konflikt zwischen Theorie und Praxis:
Entwurf zumass, und mit der Vorliebe für einfachere und or- hier revolutionäre politische Theorie, dort
ganische Formen aus der Natur hatte die Arts & Crafts-Bewe- Entwurf und Herstellung von konkreten
gung Einfluss auf den Jugendstil, den Deutschen Werkbund Gegenständen. Morris blieb im Denken und
und das Staatliche Bauhaus in seiner Anfangsphase. —
1 Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 282.
2 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Designs, S. 49.
32

2. Industriekritik von Meilensteine Theorie


Arts & Crafts bis zum Jugendstil

Abb. 21: Victor Horta: Wohnungsmöbel im Hortamuseum Abb 22: Hector Guimard: Stuhl, 1900. Der Rahmen ist aus Abb. 23: Alphonse Mucha: Plakat für JOB-Zigaretten-
in Brüssel, 1898–1901. Quelle: Cathrine McDermott, Design Birnenholz geschnitzt, das Sitzpolster mit geprägtem Leder papier, 1898. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic
A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 109. bezogen. Guimards Jugendstilformen wurden so populär, Design, New York, 1998, S. 194.
dass man vom «Stil Guimard» sprach. Quelle: Charlotte und
Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 74.

Jugendstilbewegungen Handeln inkonsequent und löste diesen


Zwischen 1890 und 1914 fand die künstlerische und kunst- Konflikt nicht. Als Entwerfer gestand er sich
handwerkliche Reformbewegung statt, die in Frankreich als selbst ein, «dem schweinischen Luxus der
«Art Nouveau», in England als «Modern Style», in Österreich Reichen zu dienen».3 In seiner rückwärts ge-
als «Secessionsstil», in Spanien als «Modernismo» und in wandten Utopie war er in den Augen des im
Deutschland als «Jugendstil» bekannt wurde (Abb. 21, 22). Die 20. Jahrhundert lehrenden Philosophen Ernst
kunsthandwerkliche Renaissance der Morris-Zeit mit ihrem Bloch «ein romantischer Antikapitalist».4
Qualitätsdenken war die Voraussetzung für die sprunghafte
Entwicklung des internationalen Jugendstils. Auch dieser Befürworter der Industrie
lehnte den Historismus ab. Aber er verleugnete die dekorative Nicht alle Arts & Crafts-Vertreter teilten die
Tendenz der historistischen Epoche nicht, sondern setzte an Haltung von William Morris, was die Industrie
ihre Stelle ein überzeugenderes und originelleres Dekor: ein- betrifft. H. Cole, Mitinitiator der Weltaus-
fachere und konstruktionsgerechtere Ornamente, die sich stellung von 1851, O. Jones und Ch. Dresser
nach dem Vorbild der Natur richteten. waren explizit keine Gegner der industriellen
Als Antwort auf die industrielle Massenware machte sich der Produktion. Christopher Dresser (1834–1904)
Jugendstil eine umfassende künstlerische Durchgestaltung war unter den britischen Designern des
aller Lebensbereiche zum Ziel. Der Raum wurde als Gesamt- 19. Jahrhunderts eine besondere Erscheinung.
kunstwerk betrachtet, in dem das Zusammenspiel aller Küns- Er entwarf zu einer Zeit, in der Zeitgenossen
te und die wechselseitige Durchdringung von Kunst und wie William Morris die Rückkehr zur mittelal-
Handwerk stattfinden sollten. Das Ornament diente als ver- terlichen Gilde forderten, schlichte funktio-
bindendes Glied. Es sollte anders als im Historismus nicht nale Objekte, die zum ersten modernen In-
beliebig aufgesetzt sein, sondern «organisch» aus der Kon- dustriedesign gehören. Seine Botschaft an
struktion eines Gegenstandes erwachsen. Morris war: Die industrielle Entwicklung kann
Zuerst und am leichtesten verwirklichte sich der Jugendstil nicht verhindert werden. Es ist daher besser,
mit seiner Vorliebe für lineare, oft asymmetrische Ornamen- mit den neuen Techniken und Materialien
tik floralen und geometrischen Ursprungs im Grafikdesign vorbildlich designte Objekte zu schaffen, als
(Abb. 23–25) und generell in der Kleinkunst, dann in der In- sich der Zeit entgegenzustellen (Abb. 26, 27).
nenausstattung von Bürgerhäusern und zuletzt in der Archi-
tektur. Es war das Grafikdesign, das die Anhängerschaft des Gottfried Semper, der Reformer
Jugendstils stetig anwachsen liess, so dass immer mehr Pla- In Deutschland und in der Schweiz bestimmte
kate gedruckt werden mussten. Gottfried Semper (1803–79), der Architekt
33

Abb. 24: Will Bradley: Plakat für Bradley: His Book, 1898. Abb. 25: Peter Behrens: «Der Kuss» 1898. Sechsfarbiger
Das Plakat ist von Mittelalter-Romantik und «Art Nouveau» Holzschnitt. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic
geprägt, die Muster scheinen von Arts & Crafts inspiriert Design, New York, 1998, S. 204.
zu sein. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design,
New York, 1998, S. 197.

Innerhalb der Jugendstilbewegungen gab es eine Minderheit, des im historistischen Stil gebauten Poly-
welche die einfache Linie bevorzugte, die Gebrauchsgegen- technikums in Zürich (heute ETH), die theo-
stände stark unter dem funktionellen Aspekt entwarf und die retische Debatte in der ersten Hälfte des
Oberfläche der Gegenstände einfach und glatt und also ohne 19. Jahrhunderts. Semper gehörte zu den Ers-
viel Ornamente gestaltete. Zu diesem «strengen Jugendstil»1 ten, die sich dafür einsetzten, die ästheti-
gehörte zum Beispiel die schottische Gruppe um Mackintosh sche Qualität der Erzeugnisse des Industrie-
oder die späten Wiener Werkstätten und zum Teil auch Ver- zeitalters zu verbessern. Er kümmerte sich
treter der Darmstädter Künstlerkolonie (vgl. Kapitel 3). Die um die Reform des Unterrichts, plädierte für
Gegenstände, die sie schufen, waren zur Zeit ihres Entste- eine Lehre von «hoher und industrieller
hens zwar auch künstlerische Beispiele eines hoch stehen- Kunst» und verlangte für den Entwurf «kunst-
den Handwerks, in ihrer Einfachheit und Funktionalität technischer Produkte» die Einheit von
waren sie aber Vorformen einer neuen Ästhetik der industriel- Form, Material und Funktion. Er nahm damit
len Produktgestaltung. Die Minderheit half später den Jugend- Ideen und Unterrichtskonzepte der Kunst-
stil zu überwinden. gewerbeschulen des 20. Jahrhunderts, na-
Die Hauptströmung des Jugendstils war und blieb eine künst- mentlich des Bauhauses, vorweg.5
lerische Bewegung. Bei ihr dominierte die Ästhetisierung der
Gebrauchsformen über den funktionellen Aspekt. Um den Ent- Jugendstiltheoretiker
werfer im Jugendstil vom späteren Industriedesigner abzu- Henry van de Velde (1863–1957) war mit sei-
heben, wurde in der Geschichtsschreibung vorgeschlagen, nem grossem Einfluss auf die Theorie die zen-
ihn «artist-designer» zu nennen.2 «Im Wesentlichen ist der trale Figur des internationalen Jugendstils.
Jugendstil eine private Mäzenaten- und Künstler-Kunst, mit Er forderte die Kunst in der Gestaltung und
der sich Teile der Geld- und Adels-Aristokratie ein kulturelles strebte den Raum als Gesamtkunstwerk an,
Sonderprivileg verschafften. In der Eleganz der Formenspra- doch er verband das organische Ornament
che spiegelte sich das kulturelle Selbstverständnis einer stärker als andere mit dem Gedanken der
dünnen Elite-Schicht, die den Stil der Verfeinerung als ange- Funktion. In der Theorie ging er über Morris
messen empfand und entsprechend honorierte.»3 Sie konnte hinaus und stand auf der Schwelle zum
sich das Vorrecht der Befreiung aus der historistischen Enge —
und den erstarrten Konventionen der Vergangenheit leisten. 3 Zitiert aus: Gert Selle, Ideologie und Utopie
des Designs, S. 50.
— 4 Zitiert aus: Ebenda, S. 51.
1 Beat Schneider, Penthesilea, S. 266. 5 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland
2 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 30. Schweiz, S. 46.
3 Ebenda, S. 34.
34

2. Industriekritik von Meilensteine Theorie


Arts & Crafts bis zum Jugendstil

Abb. 26: Christopher Dresser: Suppenkelle, 1879. Abb. 27: Christopher Dresser: Teekanne, 1879.
Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum «Electroplated» (versilbert), schwarz gebeizter Griff.
London, München, 1999, S. 166. Quelle: Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts,
Berlin, 1998, S. 108.

Die lohnabhängigen Massen mussten sich im besten Fall mit Industriedesign, wie folgende Äusserung
industriell produzierten Jugendstil-Imitaten zufrieden geben. belegt: «Ich (…) wollte nicht die Maschine und
Der Wunsch nach einem von edler Kunst und überirdischer die maschinelle Herstellung diskreditieren,
Schönheit durchdrungenen Dasein war im Treibhausklima der im Gegenteil: Wir waren der Meinung, dass
satten und dekadenten Zeit um die Jahrhundertwende aufge- die Schöpfung von Modellen und die Wahl der
kommen. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde die Materialien beim industriellen Herstellungs-
schöne Dekoration des gehobenen Alltags jäh abgebrochen. prozess Künstlern anvertraut werden müs-
Der Jugendstil erwachte aus seinem Traum: 1914 wurde die sten. Wir sahen darin weder Abstieg noch
Schönheit durch die Wirklichkeit eingeholt. Erniedrigung.»6
Wir können uns dem folgenden Urteil von Thomas Hauffe an- Und der Schweizer Jugendstilvertreter Her-
schliessen: «Der internationale Jugendstil war eine Reform- mann Obrist (1863–1927) führte aus: «Wir
bewegung, die heute als eigentlich gescheitert angesehen sind uns alle klar darüber, dass ein gesundes
werden muss. Der berechtigte Aufstand gegen den Historis- Volkshandwerk nur möglich ist aufgrund ein-
mus und die schlechte industrielle Massenware führte in vie- facher, ehrlicher, praktischer, unbedingt
lerlei Hinsicht auch rückwärts und verzögerte die Entwick- zweckmässiger Formen.»7
lung des modernen Industriedesigns.»4 —
— 6 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 57.
4 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 51. 7 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 48.
35

— len Produktion in der Regel keine Affinität. Diejenigen, die


Kommentar nicht von der Kunst her kommen, projizieren sich – psycholo-
gisch gesprochen – zumindest gern in die sozial honorierte
Rolle des Künstlers hinein. Sie pflegen im Design den Mythos
des genialen Künstler-Entwerfers. Dieser Mythos hat in den
allermeisten Fällen mit der Realität nicht viel zu tun.
Neben dem Grossteil der Reformbewegungen können auch
andere historische Bewegungen aufgezählt werden, die die
Das Grunddilemma des Designs künstlerisch-kunsthandwerkliches Lösung bevorzugten:
Die gestalterischen Reformbewegungen des 19. Jahrhun- — im Deutschen Werkbund und dann auch im Staatlichen
derts machen ein Grunddilemma deutlich, in dem die Desig- Bauhaus das künstlerisch orientierte Lager; die Antidesign-
ner und Designerinnen bis heute stehen: Wie verhält sich das bewegung der sechziger Jahre des 20.Jahrhunderts;
Design gegenüber der Industrie oder, genauer, gegenüber — das Studio Alchimia und Memphis sowie weitere Teile
dem realen industriellen Verwertungsprozess ? Ignoriert es des postmodernen Designs.
diesen, oder bäumt es sich gegen ihn auf? Oder geht es von Für die industrielle Lösung lassen sich jedoch auch Anhän-
der realen Entwicklung der Produktivkräfte aus? Otl Aicher, ger aufzählen:
ein Vertreter der Ulmer Schule, sollte dieses Dilemma später — die Minderheit der Arts & Crafts- und Jugendstilbewe-
so formulieren: «ist design angewandte kunst (…) oder eine gung, die sich auf die Industrie zu bewegte;
disziplin, die ihre kriterien aus ihrer aufgabenstellung, dem — im Deutschen Werkbund das industrieorientierte Lager
gebrauch, aus der fertigung und technologie bezieht?»1 um Muthesius, Behrens und andere;
Die Vertreter von Arts & Crafts und Jugendstil lösen das — im Staatlichen Bauhaus das konstruktiv orientierte
Dilemma mehrheitlich so, dass sie die industrielle Entwick- Lager und die Vertreter der Neuen Typografie;
lung zur Massenproduktion, die ihnen als Künstler fremd ist, — die Bewegung um die Ulmer Hochschule für Gestaltung;
ablehnen. Sie gehen stattdessen einen Schritt zurück in das — das Bel Design in Italien;
vorindustrielle Kunsthandwerk und haben damit kurzfristig — die Neue Grafik in den fünfziger und sechziger Jahren.
Erfolg, wenigstens auf dem gehobenen Markt. Diese roman- —
tische Regression musste aber notwendigerweise scheitern, 1 Otl Aicher, Bauhaus und Ulm, in: Herbert Lindinger (Hg.), Hochschule für Gestaltung Ulm.
Die Moral der Gegenstände. Berlin, 1987, S. 126.
weil sie auf etwas rekurrierte, dem in der historischen Ent- 2 Wolfart Henckmann, Konrad Lotter (Hg.), Lexikon der Ästhetik, München, 1992, S. 40.
wicklung ökonomisch der Boden unter den Füssen wegge-
nommen worden war. Nicht nur ökonomisch, sondern auch
ästhetisch erwies sich dieser Versuch als überholt, denn
schon bald gab es Designvertreter, die funktionale Formprin-
zipien entwickelten, welche rasch auch eine maschinelle
Produktionsweise erlauben sollten. 2
Das Dilemma wird durch eine soziologische und psychologi-
sche Komponente verstärkt: Da viele Designer und Designe-
rinnen als selbständige Künstler in die Profession gelangen,
betreiben sie diese auch aus einem künstlerisch-individualis-
tischen Rollenverständnis heraus. Sie haben zur industriel-
3.VORMODERNE
IN CHICAGO, GLASGOW
UND WIEN
38

3. Vormoderne in
Chicago, Glasgow und Wien


Wirtschaftliches und Soziales

Design und Massenproduktion


Entscheidend für die Entstehung des Designs in seiner An-
fangsphase war es, das Verhältnis der Beteiligten zur indust-
riellen Produktion zu klären. Wichtige Impulse gingen – wie in
Kapitel 2 beschrieben – von den künstlerischen und kunst-
handwerklichen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts
aus. In der Arts & Crafts- wie auch in der Jugendstil-Bewe-
gung endete die Kritik an der industriellen Massenproduktion
jedoch meist im Rückzug in die Vergangenheit und in der Pfle-
ge kunsthandwerklicher Befindlichkeit. Trotzdem fanden
wichtige Vertreter des Jugendstils wie Henry van de Velde zu
einer sachlichen Formensprache, und Designer wie Peter Beh-
rens wandten sich neuen Aufgaben in der Industrie zu. Der
Weg zur wirklichen Gestaltung von Massenprodukten des All-
tags – zum modernen Design also – wurde um die Jahrhun-
dertwende an verschiedenen Orten und von verschiedenen
ProtagonistInnen geebnet.
39

3.Vormoderne Meilensteine Theorie


in Chicago, Glasgow und Wien

Abb. 28: Louis H. Sullivan: Pieri & Scott-Warenhaus in Chi- Abb. 29: Frank Lloyd Wright: Stühle für das Isabel Roberts Abb 30: Charles Rennie Mackintosh: Rekonstruktion des
cago, 1894–1904. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leut- House und für das Francis Little House, 1908 und 1902. Gastschlafzimmers in 78 Derngate Northampton,
häuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 36. Von Stühlen wie diesen wurde später Rietveld (De Stijl) be- 1919. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln,
einflusst. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, 2000, S. 148.
Köln, 2000, S. 139.

Die Schule von Chicago Form follows function: Funktionalismus


Chicago, ein bedeutender Standort für Schwerindustrie und Louis H. Sullivan (1856–1924) wurde einer der
Stahlerzeugung, Hauptumschlagplatz für Getreide und Vieh Väter der modernen Architektur und ein frü-
aus dem Mittelwesten, wurde zu einem der Zentren der frü- her Theoretiker des Funktionalismus. Von ihm
hen Moderne. Sullivan, Burnham, Cooldige, Le Baron Jenney, stammt der oft missverstandene, aber viel zi-
Hollabird, F.L. Wright und andere, die zusammen die so ge- tierte Satz «Form follows function», der
nannte Schule von Chicago bildeten, nutzten nach dem für die moderne Baukunst, das Design und
Stadtbrand von 1871 die einmalige Gelegenheit des Neuauf- die Moderne des 20. Jahrhunderts insgesamt
baus der Stadt und unterwarfen sich dem Gebot der Boden- richtungsweisend wurde. Die ästhetische
knappheit in der Innenstadt, um mit Stahlskelettkonstruktio- Form ergibt sich aus der funktionellen Aufga-
nen die ersten Verwaltungs- und Geschäftshochhäuser zu be der einzelnen Bauelemente und des
bauen. Die Skelettkonstruktionen prägten auch die Fassaden gesamten Bauwerks. Auf diese Grundidee
dieser ersten Wolkenkratzer. Sie wurden streng vertikal und bezogen sich die Vertreter des Funktionalis-
horizontal gegliedert. Die Bauästhetik wurde vorwiegend von mus vom Deutschen Werkbund über das
der Konstruktion bestimmt (Abb. 28) (vgl. nebenstehenden Staatliche Bauhaus und die Hochschule für
Abschnitt «Form follows function»). Der Einfluss der Schule Gestaltung in Ulm bis in die siebziger Jahre
von Chicago beschränkte sich nicht auf die Architektur, son- des 20. Jahrhunderts.
dern erstreckte sich auch auf die Innenarchitektur und das Sullivan übertrug auf die Architektur, was
Design. Gottfried Semper bereits 1852 für das hand-
werkliche Produkt gefordert hatte: dass die
Frank Lloyd Wright Form «jedes technischen Erzeugnisses das
Frank Lloyd Wright (1867–1959), ein ausgebildeter Ingenieur Resultat von Zweck und Material» sei. 1896
und früher Mitarbeiter von Louis H. Sullivan (1856–1924), wur- behauptete Otto Wagner (Wiener Moderne):
de einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. «Nichts, was nicht brauchbar ist, kann auch
Er kombinierte einfache und naturnahe Materialien mit mo- schön sein.» Bruno Taut (Staatliches Bau-
dernen Baustoffen, zum Beispiel Glas und Beton mit Holz und haus) formulierte noch später: «Die Brauch-
Naturstein. Er wurde ab 1910 zum wichtigen Impulsgeber der barkeit wird zum eigentlichen Inhalt der Äs-
europäischen Moderne. Wright war Vorbild für Gropius, Mies thetik.»1 Mit anderen Worten: Was brauchbar
van der Rohe, Behrens und auch für die De-Stijl-Bewegung. ist, ist wahr und folglich auch schön.
Er bekannte sich zumindest theoretisch zur maschinellen —
Produktion von Möbeln (Abb. 29). 1 Zitiert aus: Walter Ammann, Baustilkunde, 1988, S. 35.
40

3.Vormoderne Meilensteine Theorie


in Chicago, Glasgow und Wien

Abb. 31: Charles Rennie Mackintosh: Plakat für «The Scot- Abb. 32: Edward Johnston: Das U-Bahn- Logo, 1908. Abb. 33: Otto Wagner: Majolikahaus, Wien, 1898–99. Quel-
tish Musical Review», 1896. Solch abstrakte Interpretationen Quelle: Volker Albus et al (Hg.), Design! Das 20. Jahrhundert, le: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des
der menschlichen Figur wie die auf dem 2, 46 Meter grossen München, 2000, S. 50. 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 63.
Plakat waren vorher nicht gesehen worden. Quelle: Philip
Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 212.

Die Glasgow School of Art Der Funktionalismus ist nichts prinzipiell


In der von Architekten und KünstlerInnen in der schottischen Neues. Schon immer wurde für einen bestim-
Hafenstadt Glasgow in den neunziger Jahren des 19. Jahrhun- mten Zweck, sei es für Gebrauchsgüter, sei
derts gegründeten Glasgow School of Art entstanden in der es für Häuser, die ideale Form gesucht. Es
Blütezeit des Jugendstils neue sachliche Formen. Ornamente ist eine Grundkonstante des Kunstschaffens,
(florale Kurven) und Symbole wurden sparsam eingesetzt, be- einem Gegenstand zur Befriedigung der Be-
vorzugte Farben waren vor allem Schwarz und Weiss. dürfnisse der BenutzerInnen auch eine ideale
Die zentrale Figur dieser Gruppe war Charles R. Mackintosh Form zu geben.
(1868–1928), dessen geometrische Formen, flächige, brett- Doch im industriellen Zeitalter dringt der
artige Konstruktionen mit Waagrechten und Senkrechten, Funktionalismus am besten durch. Bei Fabrik-
zum wichtigen Impulsgeber für das moderne Design wurden gebäuden ist der Zweck ausschlaggebend.
(Abb. 30). Seine strengen Möbelformen nahmen die konstruk- In der Architektur tritt der Funktionalismus
tivistischen Tendenzen des späteren niederländischen «De nur zögernd in Erscheinung, am ehesten je-
Stijl» vorweg. Mit seinen Veröffentlichungen und Ausstellun- doch bei den Wohnbauten. Bei Kirchen und
gen hatte Mackintosh auf dem europäischen Festland Ein- staatlichen Gebäuden überwiegt die reprä-
fluss auf die Wiener Moderne (vgl. unten). sentative (Fassaden-) Funktion.
Das Grafikdesign der Glasgower Schule zeichnete sich durch
symbolische Bildwelten und stilisierte Formen und Figuren Charles R. Mackintosh
aus (Abb. 31) (vgl. den Abschnitt «Charles R. Mackintosh»). Das künstlerische Glaubensbekenntnis von
Macintosh kommt am besten in einem Brief
Die Londoner U-Bahn an Fritz Waerndorfer, einen Vertreter der Wie-
1890 wurde das erste elektrische U-Bahn-System in London ner Werkstätte, von 1903 zum Ausdruck: «Je-
eröffnet, und für die Underground Electric Railway wurde der Gegenstand (…) muss eine ausgesproche-
viel Werbung gemacht. In den ersten beiden Jahrzehnten ne Marke von Individualität, Schönheit und
war die Plakatwerbung eklektisch. Es war ein Direktor der exakter Ausführung tragen. Ihr Ziel muss von
Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) in Berlin (vgl. allem Anfang an das sein, dass jeder Gegen-
Kapitel 4), der die Londoner zum Entwurf eines verständli- stand den Sie erzeugen, für einen bestimmten
chen Firmendesigns brachte. Ab 1908 machte ein einfaches Zweck und Platz gemacht wird. Später, wenn
Logo mit einer funktionalen Schrift, beides von Edward Ihre Hände und Ihre Position durch hohe Qua-
Johnston (Abb. 32), an den Eingängen und auf Plakaten auf lität Ihres Produkts und durch finanzielle Er-
die U-Bahn aufmerksam. folge gekräftigt sind, dann können Sie kühn in
41

Abb. 34: Otto Wagner: Armstuhl für den Büroraum des öster- Abb. 35: Josef Hoffmann: Schrank für Schlafzimmer, 1904. Abb. 36: Koloman Moser: Armstuhl für die Haupthalle des
reichischen Postamtes, 1905–06. Der Stuhl zeichnete Grau lackiert, innen mit Ahorn fourniert. Quelle: Dieter Purkendorfer Sanatoriums, 1902. Der Stuhl nimmt in seiner
sich durch seine Modernität aus. Die Beschläge aus Alumi- Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, Berlin, 1998, S. 46. kubischen Gestalt und dem sparsamen Einsatz von Farbe
nium fungierten nicht nur als Schmuck, sondern schützten die Moderne vorweg. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000
die Möbel auch an ihrer empfindlichsten Stelle. Quelle: chairs, Köln, 2000, S. 116.
Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 115.

Die Wiener Moderne und die Wiener Werkstätte das volle Licht der Welt hinaustreten, den
Wie die anderen Jugendstilbewegungen war die Wiener Fabrikhandel auf seinem eigenen Grund und
Künstlervereinigung «Secession» gegen die traditionellen Boden angreifen, und das grösste Werk, das
Kunstakademien und den Historismus gerichtet. Auch die in diesem Jahrhundert vollbracht werden
Wiener Moderne beruhte auf dem Gedanken des Gesamt- kann, können Sie vollbringen: nämlich die Er-
kunstwerks und der Handwerksreform. Ihre bekanntesten zeugung aller Gebrauchsgegenstände in
Vertreter waren der Maler Gustav Klimt (1862–1918) (Abb. 37) herrlicher Form und zu einem solchen Preis,
und der Architekt, Möbeldesigner und Stadtplaner Otto Wag- dass Sie in dem Kaufbereich der Ärmsten lie-
ner (1841–1918) (Abb. 33, 34). Otto Wagner entwickelte den gen, und in solchen Mengen, dass der ge-
so genannten «Nutzstil», eine von Funktion, Material und wöhnliche Mann auf der Strasse gezwungen
Konstruktion bestimmte Architektur. ist, sie zu kaufen, weil er nichts anderes
Aus den Reihen der «Secession» ging die 1903 gegründete bekommt und weil er nichts anderes wird
Wiener Werkstätte hervor, eine «Productiv-Genossenschaft kaufen wollen.»2
von Kunsthandwerkern». Wichtige Vertreter waren: Koloman
Moser (1868–1918) (Abb. 36, 38, 39) und Josef Hoffmann Wiener Werkstätte
(1870–1956) (Abb. 35). Die Wiener Werkstätte entwickelte 1903 gründeten K. Moser und J. Hoffmann die
nicht zuletzt unter dem direkten Einfluss von Charles Mack- Wiener Werkstätte. 1905 beschrieben sie die
intosh und in krassem Gegensatz zum üblichen floralen Zielsetzung der Manufaktur im Arbeitspro-
Ornament des Jugendstils eine klare Formensprache, welche gramm: «Wir wollen einen innigen Kontakt
durch Rechtwinkligkeit und strenge Linienführung geprägt zwischen Publikum, Entwerfer und Handwer-
war. Das Quadrat wurde zum alles beherrschenden Design- ker herstellen und gutes, einfaches Haus-
element für Grafik, Schmuck und Möbel (vgl. den Abschnitt gerät schaffen. Wir gehen vom Zweck aus, die
«Wiener Werkstätte»). Der Jugendstil wurde langsam über- Gebrauchsfähigkeit ist uns erste Bedingung,
wunden. Das berühmteste Gesamtkunstwerk der Werkstätte unsere Stärke soll in guten Verhältnissen und
ist das Palais Stoclet von Josef Hoffmann, das 1906–1911 in guter Materialbehandlung bestehen. Wo es
Brüssel errichtet wurde. angeht, werden wir zu schmücken suchen,
Auch die Wiener Werkstätte verstand sich als Enklave inmit- doch ohne Zwang und nicht um jeden Preis.»3
ten des «grenzenlosen Unheils der Massenproduktion» (Josef —
Hoffmann). Sie teilte das Schicksal der Jugendstilbewegun- 2 Zitiert aus: Art. Das Kunstmagazin 1, 2004, S. 42.
3 Zitiert aus: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das
gen: die Produktion von kunstvollen Einzelstücken für die Jahrhundert des Designs, Frankfurt a.M., 2000, S. 75.
Elite, Design für den Bürgersalon. Die Konfrontation mit der
42

3.Vormoderne Meilensteine Theorie


in Chicago, Glasgow und Wien

Abb. 37: Gustav Klimt: Plakat für die erste Ausstellung Abb. 38: Koloman Moser: Plakat für die fünfte Ausstellung Abb. 39: Koloman Moser: Plakat für die 13. Ausstellung der
der Wiener «Secession», 1898. Quelle: Philip Meggs, der Wiener «Secession», 1899. Quelle: Philip Meggs, Wiener «Secession», 1902. Quelle: Philip Meggs, A History of
A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 215. A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 215. Graphic Design, New York, 1998, S. 219.Der Vergleich der
Plakate (Abb. 37, 38 und 39) zeigt die rapide Entwicklung
der Gruppe vom illustrativen allegorischen Stil der symbo-
listischen Malerei über den französisch inspirierten flora-
len Stil hin zum späten Stil, der deutlich den Einfluss der
Glasgower Schule zeigt.

Industrie wurde kaum gesucht. Anders als der Mitbegründer Ornament und Verbrechen
des Deutschen Werkbundes, Peter Behrens (vgl. Kapitel 4), Adolf Loos (1870–1933), österreichischer
war die Wiener Werkstätte nie am Design von Massenkon- Architekt und Theoretiker, der das Ornament
sumgütern interessiert. vehement ablehnte, forderte in seinen zahl-
Der Architekt Adolf Loos (1870–1932) (Abb. 40) führte eine reichen stiltheoretischen Veröffentlichungen
scharfe Polemik gegen die Wiener Werkstätte. In einem Vor- eine rein funktionale Formgebung in Archi-
trag über das «Wiener Weh» kam Loos zum Kern der Sache: tektur und Design. Er war ein Gegner dekora-
«Der moderne geist ist ein sozialer geist, moderne gegenstän- tiver Strömungen innerhalb der Wiener
de sind nicht nur für eine oberschicht da, sondern für jeden.»1 «Secession» und stellte sich 1908 in seiner
(Vgl. den Abschnitt «Ornament und Verbrechen».) Adolf berühmten Schrift Ornament und Verbrechen
Loos wurde mit Bauten wie dem Café-Museum in Wien gegen sie. Zu seinen bekanntesten Werken
(1899) zu einem der Wegbereiter der strengen Formenspra- zählen das Café-Museum in Wien (1899) und
che des Funktionalismus. die Villa Karma in Clarens (Schweiz, 1906).
Wiener Moderne wie Glasgow School gehörten zum Jugend- In Ornament und Verbrechen bekennt Loos:
stil, bildeten aber eine Minderheit. Auch sie verstanden sich «Ornament ist vergeudete arbeitskraft und
als Künstler, die auf ein hoch stehendes Handwerk abzielten. dadurch vergeudete gesundheit (…) Heute
Doch die Einfachheit und Funktionalität ihres Designs trugen bedeutet es auch vergeudetes material, und
dazu bei, den Jugendstil zu überwinden und Vorformen einer beides bedeutet vergeudetes kapital (…)
neuen industriellen Ästhetik zu schaffen. der moderne mensch, der mensch mit den
modernen nerven, braucht das ornament
Die Darmstädter Künstlerkolonie nicht, er verabscheut es.»4 Für Loos bedeute-
Um die Jahrhundertwende initiierten Joseph Maria Olbrich te das «entfernen des ornaments aus dem
(1867–1908), Mitbegründer der Wiener Secession, und gebrauchsgegenstand» auch sozialen Fort-
Peter Behrens (1868–1940), einer der Begründer der Mün- schritt. Er ging dabei von dem Gedanken aus,
chner Werkstätten, auf Einladung des Grossherzogs Ernst dass bei der Herstellung einfacher, zweck-
Ludwig von Hessen die Darmstädter Künstlerkolonie auf der mässiger Gebrauchsgegenstände ohne sinn-
Mathildenhöhe. Der Grossherzog wollte bezahlbare Häuser los repräsentierende Ornamentik (und deren
für den Darmstädter Mittelstand und träumte von einer neu- modische Wechsel im Sinne des Styling) der
en, reformierten Wohnkultur. Der Architekt Olbrich, der zwi- Arbeitsaufwand geringer, die Arbeitsproduk-
schen spielerischer Dekoration und funktionalem Aufbau tivität und sogar der Arbeitslohn aber höher
schwankte, schuf die Mathildener Anlage samt Ateliers, sein müssten. Lebensdauer und Gebrauchs-
43

Abb. 40: Adolf Loos: Wohn- und Geschäftshaus Goldman & Abb. 41: Joseph Maria Olbrich: Ausstellungsgebäude auf der
Salatsch in Wien, 1909–11. Quelle: Peter Gössel, Mathildenhöhe in Darmstadt, 1900–1908. Quelle: Peter
Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20.Jahrhunderts, Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20.Jahrhun-
Köln, 1990, S. 88. derts, Köln, 1990, S. 85.

Ausstellungshalle und Wohnhäusern (Abb. 41). Behrens, der wert der Produkte werden für ihn zum aus-
später einer der ersten modernen Industriedesigner wurde schlaggebenden Faktor.5
(vgl. Kapitel 4), entwickelte während seiner Darmstädter —
Zeit in seinem vom Grundriss bis zum Geschirr entworfenen 4 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 56.
5 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 93.
Haus eine sachliche Formensprache. Die Künstlerkolonie
präsentierte 1904 das Ergebnis ihrer Arbeit in einer Ausstel-
lung: einfache, behagliche Wohnräume und künstlerisch
geprägte Serienfabrikate.

1 Zitiert aus: Art. Das Kunstmagagzin,1, 2004, S. 42.
4. DEUTSCHER WERKBUND
ZWISCHEN
KUNST UND INDUSTRIE
46

4. Deutscher Werkbund
zwischen Kunst und Industrie

— Export zu schaffen.» Er fuhr fort: «Es gilt, mehr als die Welt
Wirtschaftliches und Soziales zu beherrschen, mehr als sie zu finanzieren, sie zu unterrich-
ten, sie mit Waren und Gütern zu überschwemmen. Es gilt,
ihr das Gesicht zu geben. Erst das Volk, das diese Tat voll-
bringt, steht wahrhaft an der Spitze der Welt, und Deutsch-
land muss dieses Volk werden.»2

1 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 51.
2 Zitiert aus: Julius Posener, Anfänge des Funktionalismus, Frankfurt a.M., 1964, S. 205
Deutsches Reich: durch Design konkurrenzfähiger und Julius Posener, Der Deutsche Werkbund. Beilage zu Werk und Zeit Nr. 5, 1970, S. 42.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte unter den National-
staaten Europas ein heftiger wirtschaftlicher und politischer
Konkurrenzkampf um die Eroberung neuer und den Ausbau
bestehender Märkte. Am deutlichsten kam das bei den Welt-
ausstellungen, den internationalen Wettbewerbsschauen,
zum Ausdruck. Deutsche Produkte hatten damals wegen
ihrer Qualität einen schlechten Ruf. 1876 hatte der offizielle
deutsche Berichterstatter der Weltausstellung in Philadel-
phia (USA) «von der schwersten Niederlage Deutschlands»
gesprochen, die Folge der Devise «billig und schlecht» sei.1
Durch zeitgemässe und gute Gestaltung sollte nun dem
schlechten Ruf deutscher Industrieerzeugnisse begegnet
werden, damit sie auf dem Binnen- wie vor allem auf dem
Weltmarkt wieder konkurrenzfähiger würden. Industrielle
Massenware sollte mit künstlerischem Anspruch gestaltet
werden, qualitätsvoll, schlicht und auch für die Arbeiterhaus-
halte erschwinglich sein.
Der Ort, an dem dafür gesorgt wurde, dass es nicht beim
Appell blieb, war der 1907 gegründete Deutsche Werkbund.
Diese bald sehr einflussreiche Organisation unterstützte an
vorderster Front die Umsetzung der gestalterisch-wirtschaft-
lichen Ziele. Einer ihrer Wortführer, Hermann Muthesius
(1861–1927), preussischer Staatsbeamter und Architekt, for-
mulierte unverblümt die wirtschaftlichen und nationalis-
tisch-imperialistischen Motive des Werkbundes: «Von der
Überzeugung ausgehend, dass es für Deutschland eine Le-
bensfrage ist, seine Produktion mehr und mehr zu veredeln,
hat der Deutsche Werkbund als eine Vereinigung von Künst-
lern, Industriellen und Kaufleuten sein Augenmerk darauf zu
richten, die Vorbedingungen für einen kunstindustriellen
48

4. Deutscher Werkbund Meilensteine Theorie


zwischen Kunst und Industrie

Abb. 42: Ludwig Mies van der Rohe: Miethausblock mit 24 Abb. 43: Hermann Muthesius: Seidenweberei Michels & Cie,
Wohnungen, 1927. Er überragt das Gelände und bildet Neubabelsberg, 1912. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leut-
den Mittelpunkt der Weissenhofsiedlung und das Kernstück häuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 95.
der Stuttgarter Werkbundausstellung «Die Wohnung».
Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des
20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 163.

Der Deutsche Werkbund Die zwei Standpunkte


Der Deutsche Werkbund wurde 1907 als Vereinigung von Un- in der Werkbund-Kontroverse
ternehmern, Architekten, Künstlern und Kunsthandwerkern Über den Weg, der in der Produktgestaltung
von Peter Behrens, Hermann Muthesius, Henry van de Velde, eingeschlagen werden sollte, herrschte im
Joseph Olbrich (Abb. 41)und anderen gegründet. Werkbünde Deutschen Werkbund Uneinigkeit. Die Positio-
wurden 1910 auch in Österreich, 1913 in der Schweiz1, 1915 in nen der beiden Lager formulierten Muthesius
Grossbritannien («Design and Industries Association») und und van de Velde:
1917 in Schweden ins Leben gerufen. Hermann Muthesius: «Die Architektur und
In der Satzung des Deutschen Werkbundes von 1908 wurden mit ihr das ganze Werkbundschaffensgebiet
hehre Ziele formuliert: «Der Zweck des Bundes ist die Ver- drängt nach Typisierung und kann nur durch
edelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von sie diejenige allgemeine Bedeutung wieder
Kunst, Industrie und Handwerk durch Erziehung, Propaganda erlangen, die ihr in Zeiten harmonischer Kul-
und geschlossene Stellungnahme zu einschlägigen Fragen.»2 tur eigen war (…) Nur mit der Typisierung, die
Darin klingt an, was der Werkbund auch in Realität war: eine als Ergebnis einer heilsamen Konzentration
Vereinigung von einander widersprechenden, traditionellen aufzufassen ist, kann wieder allgemein gel-
wie zukunftsweisenden Vorstellungen von gestalterischen tender, sicherer Geschmack Eingang finden.»1
Funktionen.3 Im Unterschied zu seinem Vorbild, der Arts & Und Henry van de Velde hielt dagegen: «So
Crafts-Bewegung, liess sich der Werkbund auf die modernen lange es noch Künstler im Werkbund geben
industriellen Produktionsbedingungen ein. Er war mehrheit- wird und so lange diese noch einen Einfluss
lich nicht maschinenfeindlich, sondern suchte die Reform auf dessen Geschicke haben werden, werden
auf dem Weg über die Industrie. Allerdings war man sich sie gegen jeden Vorschlag eines Kanons oder
uneinig über die Richtung, die die Produktgestaltung ein- einer Typisierung protestieren. Der Künstler
schlagen sollte (vgl. unten). Der Werkbund verstand sich als ist seiner innersten Essenz nach glühender
Instrument, das den deutschen «kunstindustriellen Export» Individualist, freier spontaner Schöpfer (…)
verbessern sollte. Die sozialen Theorien und Sozialutopien Deutschland hingegen hat den grossen Vor-
eines W. Morris und J. Ruskin (vgl. Kapitel 2) machten einem zug, noch Gaben zu haben, die den anderen
«volkswirtschaftlichen Realismus»4 Platz. Forderten jene die älteren, müderen Völkern abgehen, die
Aufhebung der entfremdeten Industriearbeit durch Rückkehr Gaben der Erfindung, der persönlichen geist-
zur kunsthandwerklichen Produktion, so vertrat der Werkbund reichen Einfälle. Die Anstrengungen des
die Qualitätssteigerung der nationalen (Export-)Produkte Werkbundes sollten dahin abzielen, gerade
und die Ausweitung des Warenverkehrs. diese Gaben der individuellen Handfertigkeit,
49

Abb. 44: Peter Behrens: Wertheim-Stuhl, 1902. Behrens’ Abb. 45: Peter Behrens: Das Turbinenwerk der AEG in Berlin.
strenge Formgebung löste sich von der Formensprache des Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des
Jugendstils und wurde typisch für sein weiteres Werk. Quel- 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 92.
le: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 93.

Der Deutsche Werkbund pflegte ein grosses Elite- und Sen- die Freude und den Glauben an die Schönheit
dungsbewusstsein. Sein Ziel war die Auslese der besten einer möglichst differenzierten Ausführung zu
Kräfte aus Kunst, Industrie und Handwerk und die kulturel- pflegen und nicht durch eine Typisierung zu
le Spitzenstellung in der Gestaltung durch das deutsche hemmen, gerade in dem Moment, wo das Aus-
Volk. Als Gütezeichen schuf er den Begriff der «Deutschen land anfängt, an deutscher Arbeit Interesse
Wertarbeit». zu empfinden.»2
Der Werkbund organisierte 1914 (Ausbruch des Ersten Welt-
kriegs) die «Erste Deutsche Werkbundausstellung» in Köln, Peter Behrens:
wo die Pläne und Arbeiten der Mitglieder auf grosses Behrens formulierte 1907 den für sein Schaf-
Publikumsinteresse stiessen (Serienmöbel, Haushaltsge- fen wichtigen Satz: «Es gilt, Verzicht auf die
genstände, Schlafwageneinrichtungen usw.). Die Ausstel- Kopie handwerklicher Arbeit, historischer Stil-
lungsgebäude wurden von Peter Behrens, Walter Gropius, formen und anderer Materialien zu leisten.»
Bruno Taut und Henry van de Velde entworfen. Mit der Köl- Und drei Jahre später, 1910, ergänzt er:
ner Ausstellung erreichte der Werkbund den Zenit seines «Gerade bei der Elektrotechnik handelt es
Einflusses. 1915 erschien das «Deutsche Warenbuch», eine sich nicht darum, die Formen durch verzieren-
katalogähnliche Zusammenstellung vorbildlich gestalteter de Zutaten äusserlich zu verschleiern, son-
Gebrauchsgüter. Nach dem Ersten Weltkrieg, unter dem Ein- dern, weil ihr ein vollkommen neues Wesen
druck wachsender sozialer Spannungen, wandte sich der innewohnt, die Formen zu finden, die ihren
Werkbund dem Arbeiterwohnungsbau und dem Entwurf von neuen Charakter treffen.»3
preiswerten Einrichtungsgegenständen zu. Höhepunkt der —
«sozialen Ausrichtung» war die berühmte Werkbund-Aus- 1 Zitiert aus: Julius Posener, Anfänge des Funktionalismus,
1964, S. 205.
stellung «Die Wohnung» (1927) mit der Weissenhofsiedlung 2 Zitiert aus: Posener, ebenda, S. 206.
in Stuttgart (Abb. 42). Die Ausstellung wurde zum interna- 3 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 62 und 63.
tionalen Forum der Moderne und des «Neuen Bauens». In
der Weissenhofsiedlung wurde unter der Leitung Mies van

1 Der Schweizerische Werkbund (SWB) gab die Verbandszeitschrift «Das Werk» heraus und
organisierte 1918 in Zürich die erste Ausstellung.
2 Zitiert aus: Schwarz, Gloor (Hg), Die Form. Stimme des Werkbundes 1925–34, Gütersloh,
1969, S. 59.
3 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 82.
4 Ebenda, S. 83.
50

4. Deutscher Werkbund Meilensteine


zwischen Kunst und Industrie

Abb. 46: Peter Behrens: Katalogausschnitt mit AEG-Tee- Abb. 47: Peter Behrens: AEG-Markenzeichen, 1907;
kesseln, 1908. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Umschlag des AEG-Buches zur Deutschen Schiffbauaus-
Designmuseum London, München, 1999, S. 217. stellung, 1908. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic
Design, New York, 1998, S. 226.

der Rohes versucht, die Frage nach sozialgerechten Formen Peter Behrens und die AEG
der Architektur beispielhaft zu lösen. Peter Behrens (1868–1940) war Architekt, Grafikdesigner, In-
Von 1926 bis 1934 wurde die Zeitschrift «Die Form» heraus- dustriedesigner, Maler, Mitbegründer der Darmstädter Ju-
gegeben. 1934 wurde der Werkbund aufgelöst und nach dem gendstil-KünstlerInnenkolonie sowie des Deutschen Werk-
Zweiten Weltkrieg neu gegründet. bundes. Er entwickelte sich vom Jugendstil zur schlichteren,
sachlicheren Formensprache des Bauhauses (Abb. 44) und
Die zwei Lager des Werkbundes gilt als Schlüsselfigur für die Entwicklung des (funktionalis-
Von Beginn an war der Werkbund in zwei Lager geteilt, und tischen) Designs des 20. Jahrhunderts. 1906 wurde er von der
zwischen den Mitgliedern entwickelte sich eine öffentlich Allgemeinen Electrizitäts-Gesellschaft (AEG) mit dem Entwurf
ausgetragene Debatte um die Frage der Typisierung: Sollte von Werbematerial beauftragt und schliesslich als «künst-
der Werkbund künftig einer standardisierten, industriellen lerischer Berater» engagiert (Abb. 45–47). AEG war das erste
Massenproduktion (Muthesius) oder einem individuellen, grossindustrielle Unternehmen, das einen «künstlerischen
künstlerisch geprägten Stil (van de Velde) folgen? Muthesius Berater» anstellte. Von 1907–1914 stellte er das Erschei-
(Abb. 43) war der Ansicht, dass man nur durch Typisierung nungsbild des Unternehmens auf den Kopf. Er entwarf das Fa-
des Entwurfs brauchbare Industrieformen und preiswerte brikgebäude, Ausstellungsräume, Arbeiterwohnungen, Wer-
Serienprodukte mit langer Lebensdauer schaffen könne. Van bemittel (Kataloge, Preislisten), elektrische Hausgeräte und
de Velde hingegen verteidigte die individuelle Entwurfsarbeit schliesslich die gesamte Corporate Identity (vgl. Kapitel 17).
des Künstlers und hatte individualistisch-künstlerische und Alles sollte den Wünschen der KäuferInnen angepasst und in
elitär-kunsthandwerkliche Produktionsvorstellungen (vgl. betont sachlicher und funktionsgerechter Form gestaltet
den Abschnitt «Die zwei Standpunkte»). Das Grunddilemma sein. Behrens strebte bei der maschinellen Produktion von
des Designs in seiner Haltung gegenüber der Industrie, das Gegenständen die enge Verbindung von Kunst und Industrie
bereits im 2. Kapitel zum ersten Mal beschrieben wurde, an, ohne Ornamente und überflüssigen Dekor zu verwenden.
bestand also auch im Werkbund. Lange Zeit hatte das Lager Die AEG war nach der Jahrhundertwende neben General
um van de Velde die Oberhand. Erst nach dem Ersten Welt- Electric Company, Westinghouse und Siemens mit ihren über
krieg und mit der Zuwendung zum sozialen Wohnungsbau 70 000 Angestellten einer der weltweit führenden Elektro-
und zu preiswerten Einrichtungsgegenständen wendete sich konzerne. Früher als andere arbeitete die Elektrizitätsge-
das Blatt zugunsten des Muthesius-Lagers. Doch auch zum sellschaft nach amerikanischem Vorbild mit modernsten
«Neue Bauen» gab es im Werkbund kontroverse Haltungen. Maschinen und rationellen Organisations- und Produktions-
Die fortschritts- und industriekritischen konservativen methoden. Mit ihrer sachlich-modernen Formensprache auf
Werkbund-Mitglieder begrüssten schliesslich die Kulturpo- hohem künstlerischem Niveau6 wollte sich die AEG als Ver-
litik des Nationalsozialismus.5 treterin einer jungen Industrie auch Ansehen im kulturellen
51

Abb. 48: Peter Behrens: Umschlag für Dokumente des Mo-


dernen Kunstgewerbes, 1901. Dieses geometrisch-deko-
rative Design und die serifenlose, quadratisch strukturierte
Schrift nahmen das spätere Art Déco der zwanziger und
dreissiger Jahre voraus. Quelle: Philip Meggs, A History of
Graphic Design, New York, 1998, S. 223.

Bereich verschaffen. Hier wurde die Wichtigkeit der Selbst-


darstellung eines Unternehmens für die Absatzchancen auf
dem Markt erkannt. Behrens’ Arbeit für die AEG machte ihn
zum Pionier der modernen Industriekultur und zum ersten
modernen Industriedesigner.
Der Grafikdesigner und Pionier des Konzeptes des Corporate
Designs war auch Promotor der deutschen Typografiereform
und Advokat der serifenlosen Schrift (Abb. 48) (Serife: bei
der Antiqua die kleinen Abschluss- und Begrenzungsstriche
an Fuss und Kopf der Buchstaben).

5 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 61.
6 Ebenda, S. 63.
52

4. Deutscher Werkbund
zwischen Kunst und Industrie

— Designs für Firmen (vgl. Kapitel 17). Die Profitinteressen der


Kommentar Firma X, welche für das CD ausschlaggebend sind, werden als
«Firmenphilosophie» oder allgemeines kulturelles Interesse
mystifiziert. Die ideologische Komponente des Designs der
Gegenwart fusst also auf einer langen Tradition.

Designtheorie als Ideologie


Die Ideale des Deutschen Werkbundes galten der hohen ge-
stalterischen Qualitätsarbeit, der Steigerung des Gebrauchs-
wertes der Produkte und der Befriedigung der Interessen der
BenutzerInnen. Damit verbunden war ein kulturelles Ideal,
das in der Verbindung von künstlerischen Ansprüchen mit so-
zialen Anliegen der Gesellschaft bestand. Stichwort: Erzie-
hung der Massen zum «guten Geschmack» durch «gutes De-
sign für alle».
In der Tat war das Tun der EntwerferInnen, wie oben darge-
stellt, ganz anderen Interessen untergeordnet. Es galt vor al-
lem der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der nationalen
Produkte auf dem internationalen Markt. Mit der besseren
Formgebung sollten die Produkte als Waren wettbewerbs-
tauglicher gemacht werden. Der Widerspruch zwischen pro-
pagiertem Ideal (und Selbstverständnis) einerseits und prak-
tisch-wirtschaftlicher Realität anderseits war den wenigsten
Beteiligten bewusst. Die Designerinnen und Designer nahmen
kaum zur Kenntnis, dass ihre Ideale in die «höheren» Interes-
sen des Markts eingebettet waren.
Wenn die realen Interessen nicht als solche wahrgenommen
oder ausgesprochen werden, so werden die Absichtserklärun-
gen, auch wenn sie noch so ehrlich gemeint sind, zur Ideolo-
gie. Die ideologische Komponente des Designs besteht in der
Verleugnung der nüchternen wirtschaftlichen Interessen und
der Verbrämung derselben mit erhabenen künstlerisch-ästhe-
tischen oder benutzerorientierten Absichten. Es wird zwar
versichert, die Bemühungen des Designs dienten den Bedürf-
nissen der Menschen. Die Frage nach dem Interesse hinter
der realen Produktion aber bleibt ausgeklammert.
Heute geschieht Ähnliches bei der Gestaltung des Corporate
5. INTERNATIONALER
STIL : KONSTRUKTIVISMUS,
DE STIJL, BAUHAUS
56

5. Internationaler Stil:
Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus

— gemeint war täuschender – Wirklichkeit verzichteten. Die


Wirtschaftliches und Soziales Kunst wollte «hässlich» sein und auf den Wohlklang und die
Schönfarbigkeit des Impressionismus verzichten. Sie zer-
störte die «malerischen Werte» und flüchtete ängstlich vor al-
lem Angenehmen, Gefälligen und Dekorativen. Sie sagte den
konventionellen Ausdrucksmitteln wie der Zentralperspektive
und der abendländischen Kunsttradition den Kampf an. In der
Verachtung der bürgerlichen Kultur, im Kampf gegen ihre «Ver-
Krisen und Umwälzungen logenheit», im Vorwurf, den brutalen wirtschaftlichen Darwi-
Zwar hatte schon im ganzen 19. Jahrhundert ein Teil der Intel- nismus mit einer schönen und idealistischen Kulturfassade zu
ligenz und der künstlerischen Strömungen die Folgen der in- verkleiden, und in der radikalen Ablehnung dieser Scheinwelt
dustriellen Zivilisation kritisiert und diese selbst in Frage wussten sich sämtliche avantgardistischen Strömungen einig.
gestellt.1 Aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu um-
wälzenden neuen Erkenntnissen und Entwicklungen: Marie Aufhebung der Kluft zwischen Kunst und Leben
Curie entdeckte 1898 die radioaktiven Elemente Polonium und Die avantgardistischen Bewegungen wollten die Kluft zwi-
Radium; 1900 publizierte Sigmund Freud seine Traumdeutung schen Kunst und Leben in der bürgerlichen Kultur aufheben.
und begründete seine Tiefenpsychologie; für die Entdeckung Sie wollten die Differenz zwischen ästhetischen und alltägli-
der Röntgenstrahlen erhielt Röntgen 1901 den Nobelpreis; chen Erfahrungen und damit die Differenz zwischen Hoch-
ebenfalls 1901 wurden die ersten drahtlosen Telegramme ü- kunst und Massenkultur beseitigen.
ber den Atlantik gesandt, und 1905 entwickelte Albert Ein- Um den Widerspruch zwischen Kunst und Leben – damals ei-
stein die spezielle Relativitätstheorie. Die Folge all dieser Er- ne geläufige programmatische Formel – zu lösen, wurden ver-
neuerungen waren Zweifel am materialistischen Weltbild und schiedene Wege begangen:2
eine tiefe geistig-kulturelle Krise der satten bürgerlichen — Es wurde versucht, das Alltagsleben in die Kunst aufzu-
materialistischen Welt des «Fin de siècle». nehmen. Das geeignete Mittel hierfür schien die Zerstörung
der bürgerlichen Kunst-Werte zu sein, wie sie Dadaismus,
Radikalisierung durch den Ersten Weltkrieg Futurismus, der Verismus in Deutschland und die Bewegun-
Eine zusätzliche Dimension erhielt die Krise durch die Erfah- gen der Neuen Sachlichkeit propagierten.
rung des Ersten Weltkriegs. Angewidert von Militarismus und — Es wurde versucht, das künstlerische Schaffen an ein
Nationalismus brachen auf den Schlachtfeldern Europas für veränderungspotentes, revolutionäres politisches Handlungs-
viele Menschen die bürgerlichen und nationalen Ideale zu- subjekt zu binden. Das organisierte Proletariat wurde der po-
sammen. Für weite Teile der Intelligenz war der Erste Welt- litische Adressat. Die ArbeiterInnenbewegung war für viele a-
krieg Anlass für den Bruch mit der traditionellen Ordnung und vantgardistische KünstlerInnen attraktiv, weil sie sich durch
für einen radikalen Neubeginn. Fast alles wurde nun in Frage sie einen unmittelbaren Zusammenhang mit den breiten
gestellt. Die Krise der bürgerlichen Lebensordnung und der Schichten des arbeitenden Volkes erhofften. Diesen Weg gin-
Zusammenbruch von Weltbildern und Wirklichkeitsbegriffen gen zum Beispiel surrealistische KünstlerInnen, der Konstruk-
erfassten die Kunst. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstan- tivismus im revolutionären Russland, die Proletkultbewegung
den künstlerische Bewegungen, man nennt sie in der Kunstge- in der jungen Sowjetrepublik oder die proletarisch-revolutio-
schichte Avantgardebewegungen, die grundsätzlich auf jede nären KünstlerInnen im Westen.
Wiedergabe der Natur und die Herstellung von illusionärer – — Es wurde versucht, die Künste in den gesellschaftlichen
57

Reproduktionsprozess zu integrieren. Die Kunst sollte sich Annäherung von Kunst und Design
aus der Isolation der bürgerlichen Hochkunst lösen und sich Auf diesen Grundlagen – dem massenkulturellen Konzept und
der industriellen (Massen-) Produktion annehmen. Diesen der Technologiefreundlichkeit der künstlerischen Bewegun-
Weg verfolgten (durchaus in reformistischem Sinn) der Werk- gen – ist die Annäherung zwischen Kunst und Design zu Jahr-
bund und das Staatliche Bauhaus. hundertbeginn zu verstehen. Diese Grundlagen waren einem
Die avantgardistischen Strömungen hatten also in allen drei nüchternen Verhältnis der Kunst zur Gestaltung der Alltagsge-
Varianten in irgendeiner Weise ein massenkulturelles Kon- genstände förderlich.
zept. Kunst und Leben hiess Zusammenführung von Kunst mit Wir können im frühen 20. Jahrhundert zwei parallele Entwick-
dem Alltagsleben, den arbeitenden Massen und der industri- lungen feststellen:
ellen Produktion. 1. In Wirtschaft und Industrie zog die voll mechanisierte
Produktion ein: Viele Betriebe normierten, typisierten, stan-
Die Faszination des Technischen dardisierten und rationalisierten. Um die Produktivität zu stei-
Während die Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts mehr- gern, wurde Ballast abgeworfen.
heitlich zivilisations- und technikkritisch waren und am An- 2. Im gestalterischen Bereich, in Architektur, Kunst und De-
fang des 20. Jahrhunderts die Kritiker der industriellen Mas- sign, wurde ebenfalls Ballast abgeworfen: Verzierungen und
senproduktion noch die Meinungsmehrheit hatten, begann Ornamente waren unzweckmässig für Formen, die der (ma-
sich um 1920 eine wahre Maschinenbegeisterung durchzu- schinellen) Funktion folgten.
setzen.3 Die avantgardistischen Bewegungen des beginnen- —
den 20. Jahrhunderts hatten in ihrer Mehrheit ein positives 1 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Beat Schneider, Penthesilea, S. 288ff.
2 Ebenda, S. 289.
Verhältnis zu den wissenschaftlichen und technischen Errun- 3 Marion Godau, Produktdesign. Eine Einführung mit Beispielen aus der Praxis,
genschaften der Moderne. Wladimir Kandinsky sprach dies Basel, 2003, S. 58.
4 Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 295.
aus: «Die Flügel der Wrights und Blériots sind unsere Flügel.
Die Welt beginnt erst.» Auch Walter Gropius (Staatliches Bau-
haus) äusserte sich in diesem Sinne: «Wir wollen eine Archi-
tektur, die unserer Welt der Maschinen, der Radios und
schnellen Autos angepasst ist; eine Architektur, deren Funk-
tion in ihrer Beziehung zur Form klar erkennbar ist.»4
Zu jener Zeit war die Maschine das Symbol für Bewegung und
Fortschritt und wurde von vielen als Möglichkeit gesehen, är-
mere Bevölkerungsschichten mit erschwinglichen Gütern zu
versorgen. Sie wurde daher positiv beurteilt. Die avantgardis-
tische Kunst teilte den Glauben an die Machbarkeit durch
Technisierung und Rationalisierung mit Hilfe von Maschinen.
Bei der Zusammenführung von Kunst und Leben spielte die
Maschine eine Schlüsselrolle. Etwas verallgemeinernd könn-
te man sagen, dass die avantgardistische Kunst die Metapher
der Maschine (oder des Maschinenzeitalters) war. In pointier-
ter Weise trifft das für den Futurismus, den so genannten «In-
ternationalen Stil» oder das deutsche Bauhaus zu.
58

5. Internationaler Stil: Meilensteine Theorie


Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus

Abb. 49: Le Corbusier und P. Jeanneret: Doppelhaus 14/15 Abb. 50: Charlotte Perriand: Chaiselongue 2072, ab 1932 Abb. 51: Konstantin Melnikow: Sowjetischer Pavillon auf
der Weissenhofsiedlung in Stuttgart, 1927. Die Siedlung (Re-Edition des Stahlrohrklassikers durch Cassina). der «Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Indu-
vermittelte dem Bauhaus und dem Funktionalismus wichti- Quelle: Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, striels Modernes» in Paris, 1925. Quelle: Peter Gössel,
ge Impulse. Le Corbusier sah es gern, wenn seine Häuser Berlin, 1998, S. 63. Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts,
zusammen mit Automobilen, hier einem Mercedes-Sportwa- Köln, 1990, S. 145.
gen, fotografiert wurden. Automobile, Flugzeuge und Oze-
andampfer waren für ihn «Ausleseprodukte» der modernen
Maschinenwelt, Typen von maschineller Präzision und Per-
fektion. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architek-
tur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 169.

Entscheidender Schritt zum modernen industriellen Design Kunst und Leben


Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der deutschen und Das programmatische Grundanliegen der
russischen Revolution, zu einer Zeit, in der überall in Europa avantgardistischen Kunst, Alltagswirklichkeit
die gesellschaftlichen und geistigen Zeichen auf Veränderung und Kunst einander wieder näher zu bringen,
und Erneuerung standen, machten sich politische und küns- war bereits das Ziel des Jugendstils. Die
tlerisch-gestalterische Avantgarden an die Umsetzung ihrer 1896 erstmals in München erschienene Zeit-
Ideen. In den Bemühungen um den Aufbau einer neuen, klas- schrift «Jugend» erklärte im Untertitel die
senlosen Gesellschaft, in welcher Handarbeit und Kopfarbeit, Überwindung der Trennung zum Programm:
Kunst und Leben und Kunst und Technik miteinander versöhnt «Wochenschrift für Kunst und Leben».
würden, wurden auch die Künste selbst nicht mehr in freie und Später, im Jahr 1944, formulierte «Graphis»,
angewandte Kunst unterteilt. Die KünstlerInnen sollten viel- die Zeitschrift der Schweizer Grafik, dass
mehr als UniversalgestalterInnen reformerisch und erziehe- sie mithelfen wolle, «Kunst wieder ins Leben
risch wirken. zu stellen». 1946 schrieb Georgine Oeri
Die Bewegungen und Institutionen, die in dieser Beziehung ei- zum Schweizer Plakatstil: «Die heutige ange-
ne wichtige Rolle spielten und die entscheidende Schritte auf wandte Grafik ist (…) die mit dem Leben,
dem Weg zum modernen industriellen Design machten, waren dem alltäglichen Bedürfnis zur Deckung ge-
die holländische De-Stijl-Bewegung, der russische Kon- kommene avantgardistische Kunst von
struktivismus und das deutsche Bauhaus. Die Theoriebildung gestern.»1
im De Stijl um van Doesburg und Mondrian und im russi-
schen Konstruktivismus um Tatlin und El Lissitzky hatte Le Corbusier und die Maschinenmetapher
grossen Einfluss auf das Bauhaus.1 Auch personell waren Le Corbusier wendete das industrielle Prinzip
die drei Bewegungen miteinander verbunden. 1932 wurden nicht nur in der Stadtplanung an (wie das
sie – auch das Umfeld von Le Corbusier in Frankreich ge- Beispiel des «Plan Voisin» von 1925 zeigt, wo
hörte dazu – von den amerikanischen Architekten Philip er versucht hat, den Kern der Stadt Paris
Johnson und H.-R. Hitchcock unter dem Begriff «Internatio- nach dem Vorbild einer modern organisierten
naler Stil» zusammengefasst. Dieser bezog sich zunächst Automobilfabrik in ein neues urbanes Wohn-
auf die Architektur. Die genannten Bewegungen erstreckten und Arbeitszentrum zu verwandeln), sondern
sich aber in sämtliche Bereiche der Gestaltung, so dass er deutete das industrielle Prinzip von Fa-
«Internationaler Stil» selbstredend die gesamte gestalteri- brikbauten auch zu einem Rahmen individuel-
sche Bewegung meinte. ler (Wohn-) Gestaltung um. Er erfand das
Avantgardistisches Design war in den ersten Jahrzehnten des Haus neu, entwickelte das, was er selber «die
59

Abb. 52: Konstantin Roschdestwenskij: Tasse und Unter- Abb. 53: El Lissitzky: Titelblatt für Veshch, 1921–22. Abb. 54: El Lissitzky: Schlag die Weissen mit dem roten Pfeil,
tasse. Lomonossow-Porzellanmanufaktur in Leningrad. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, 1919. Der rote Pfeil als Emblem der Roten Armee.
Quelle: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, Köln, 2000, S. 68. New York, 1998, S. 265. Der Slogan des Kampfes gegen die weissen Truppen wird
visuell umgesetzt. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic
Design, New York, 1998, S. 264.

20. Jahrhunderts – mit Ausnahme etwa der «Neuen Typogra- Wohnmaschine» nannte, und trieb damit die
phie» (vgl. unten) – einer relativ kleinen intellektuellen Elite Anlehnung an die Maschinenmetapher
vorbehalten. Der «Internationale Stil» hatte erst in den fünf- auf die Spitze (Abb. 49). Er schrieb in «L’Esprit
ziger, sechziger und siebziger Jahren Breitenwirkung, indem er Nouveau»: «Das Haus ist eine Maschine
mehr oder weniger das ganze gestalterische Tun in Europa, zum Wohnen, Bäder, Sonne, heisses und kal-
Nordamerika und in vielen Metropolen der südlichen Hemi- tes Wasser, Temperatur, die man nach Belie-
sphäre prägte. Heute kann in der Rückschau festgestellt wer- ben umstellen kann, Aufbewahrung der
den, dass er der erste einigermassen universelle Stil seit der Speisen, Hygiene, Schönheit durch gute Pro-
Blüte des Hochmittelalters, des Barock und des Klassizismus portionen. Ein Sessel ist eine Maschine
und der erste wirklich moderne Stil seit der Renaissance war.2 zum Sitzen (…) Die Waschbecken sind Ma-
In den zwanziger und dreissiger Jahren gab es ferner einen schinen zum Waschen.»2 (Abb. 50.) Und die
nicht funktionalen Modernismus, der parallel zum «Interna- einzig denkbare Grundlage einer Baukunst,
tionalen Stil» verlief (vgl. unten: «Art déco: der nicht funktio- die der präzisen Maschinenwelt entspricht,
nale Modernismus»). war für Le Corbusier die Mathematik, im Be-
sonderen die Geometrie: Prismen, Würfel,
Konstruktivismus als Revolutionsdesign Zylinder, Pyramiden und Kugeln als «reine Vo-
(1913 – Mitte der zwanziger Jahre) lumen».
Die moderne Avantgarde hatte schon im vorrevolutionären
Russland im bürgerlich-städtischen, allerdings sehr isolierten Russischer Konstruktivismus:
Milieu ein grosses Echo gefunden. Sie begrüsste fast aus- Wladimir Tatlin
nahmslos die Revolution von 1917, nicht zuletzt, da sie den Tatlin beschreibt seinen Konstruktivismus so:
KünstlerInnen im eigenen Land soziale Wirkungsmöglichkei- «Auf dem Gebiete der Möbel und anderer
ten und Perspektiven eröffnete.3 Der 1913 in Russland ent- Gebrauchsgegenstände befindet sich die Ar-
standene Konstruktivismus fand in der jungen Sowjetrepublik beit noch im Anfangsstadium; die Einrichtung
ein beachtliches Betätigungsfeld. Viele russische Avantgar- neuer, für unser tägliches Leben unverzicht-
dekünstlerInnen wie Rodtschenko, El Lissitzky, Tatlin oder barer kultureller Einrichtungen, in denen die
Melnikow engagierten sich für die russische Revolution und arbeitenden Massen leben, denken und sich
— —
1 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 87. 1 Zitiert aus: Christoph Bignens, Swiss Style,
2 Beat Schneider, Penthesilea, S. 298. Zürich, 2000, S. 71.
3 Jutta Held et al., Sozialgeschichte der Malerei vom Spätmittelalter bis ins 2 Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 272.
20.Jahrhundert, Köln, 1993.
60

5. Internationaler Stil: Meilensteine Theorie


Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus

Abb. 55: El Lissitzky: Titelblatt von «De Stijl», 1922. Abb. 56: El Lissitzky: Plakat für eine Ausstellung in der Abb. 57: Alexander Rodtschenko: Plakat, 1937. Die Fotomon-
Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, Schweiz, 1929. Die Gleichbehandlung von Mann und Frau, tage zeigt den überlebensgrossen Lenin, dessen
New York, 1998, S. 274. die hier zu einer Einheit geklont sind, ist in einer tradi- Hand symbolisch die Masse kontaktiert. Das «Podium» ist
tionell von Männern dominierten Gesellschaft, wie Russ- ein Ausschnitt aus der Zeitung «Prawda», die Frieden,
land eine war, eine bezeichnende symbolische Kommu- Brot und Land proklamiert. Quelle: Philip Meggs, A History
nikation. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, of Graphic Design, New York, 1998, S. 269.
New York, 1998, S. 268.

hatten die einzigartige Gelegenheit, Architektur, Kunst, De- entwickeln können, fordert vom Künstler
sign, Typografie, Dekoration und Mode in den Dienst der Pro- nicht nur ein Gefühl für das äusserlich Deko-
pagierung und des Aufbaus einer neuen Gesellschaft zu stel- rative, sondern auch – und vor allem – ein
len. Sie wandten sich von der Kunst um ihrer selbst willen ab Gefühl für die Dinge, die sich für das moderne
und widmeten ihre Arbeit der Alltagskunst: dem Industrie- Dasein und seine Dialektik eignen.»3
design und der visuellen Kommunikation (Grafikdesign). Sie K. Hutten meint zu Tatlin: «Die Theorie hinter
entwarfen Gebäude und Gebrauchsgegenstände wie Möbel, Tatlins Konstruktivismus ist: eine rationale
Kleider und Geschirr, welche sich durch ein hohes Mass an Konstruktion, eine logische Struktur, beru-
Standardisierung für die Massenproduktion eigneten (Abb. hend auf den Eigenschaften des Materials, d.
52). «Neu war (…) in der Sowjetunion die vereinzelt in die Tat h. die grundlegenden Ideen, die gleicher-
umgesetzte Forderung nach Integration des Künstlers in die massen für die Kunst wie für die revolutionä-
Produktionsprozesse der Fabrik, um nicht nur auf die Ge- re Gesellschaft gelten.»4
stalt der Produkte Einfluss zu nehmen, sondern auch auf die Zur revolutionären Gestaltung äussert sich D.
Tätigkeit der Arbeit selbst!»4 Bucher: «Sich in die architektonischen Ent-
Der Konstruktivismus, der sich vom Kubismus und Futuris- würfe der Avantgarde einzufühlen ist nicht im-
mus ableitete, bekannte sich zur modernen industriellen mer einfach. Beton ist heute nicht nur ein
Technik und verstand sich als eine Kultur der Materialien. Die Baustoff, sondern illustrierende Metapher für
KonstruktivistInnen konstruierten eine abstrakt-geometrische eine versteinerte Gesellschaft. Da sind be-
Formensprache und fanden so eine der Technik adäquate Äs- tonierte Träume, gar soziale, kaum vorstellbar.
thetik. Die gegenstandslose Geometrie war ein ästhetisches Dagegen steht das fortschrittsbegeisterte
Zeichen für eine internationale und klassenlose Gesellschaft. Bejubeln der neuen Materialien, beispielswei-
Die meisten KünstlerInnen arbeiteten an den Höheren Staat- se durch Leo Trotzki: ‹Die künftige Epoche
lichen Künstlerisch-Technischen Werkstätten (WCHUTEMAS), ist die Epoche des Eisens, des Betons und des
in Abteilungen, in denen die verschiedenen Materialien ge- Glases.› Missverständnisse zwischen den
staltet wurden: Holz, Metall, Keramik und textile Stoffe. Nicht heutigen BetrachterInnen und den Idealkon-
alle russischen Avantgardisten setzten die Akzente gleich. zeptionen der revolutionären Baumeister
Während Wladimir Tatlin, El Lissitzky und Alexander Rodt- sind vorprogrammiert. Aber die Irritation ist
schenko angewandte Kunst (im Dienst des Alltagslebens) durchaus reizvoll (…) Was alle Bemühungen
statt reiner Ästhetik forderten, betonten W. Kandinsky oder um die ‹gebaute Revolution› kennzeichnet:
A. Pevsner das Geistige in der Kunst, und K. Malewitsch legte Hier waltet trotz grosser Begeisterung für
das Primat auf die freie Kunst. technische Innovation kein abstrakter Ingeni-
61

Abb. 58: Theo van Doesburg und Laszlo Moholy-Nagy: Abb. 59: Theo van Doesburg: Ausstellungsplakat, 1920. Abb. 60: Gerrit T. Rietveld: Schröder-Haus in Utrecht, 1924.
Buchumschlag, 1925. Quelle: Philip Meggs, Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des
A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 271. New York, 1998, S. 273. 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 142.

Unter den GrafikdesignerInnen war der Maler, Architekt und eurstil, sondern die soziale Utopie ist das,
Ausstellungsmacher El Lissitzky (1890–1941) die herausra- was die russischen ArchitektInnen antreibt.
gende Figur. Er konstruierte sein Design auf einer dynami- ‹Die moderne Architektur muss die neue
schen diagonalen Achse mit asymmetrisch balancierenden sozialistische Lebensweise kristallisieren›,
Elementen, das Hauptgewicht oben auf der Seite und mit ei- formulierte die erste Nummer der Zeitschrift
nem Gefühl für weisse Flächen. El Lissitzky dekorierte nicht ‹Sovremennaja Architektura› (Moderne Archi-
ein Buch, sondern er konstruierte ein Buch, indem er das gan- tektur) 1926 als Leitsatz (…) Nirgendwo
ze Objekt visuell durchprogrammierte (Abb. 53–56). anders im international aufkommenden Funk-
Alexander Rodtschenko, der andere grosse sowjetische Gra- tionalismus wurde die soziale Funktion so
fikdesigner, experimentierte mit Typo- und Fotografie und er- betont wie in der Sowjetunion. ‹ Gebt den Ar-
neuerte die russische Illustrationstechnik mit der Fotomon- beitern Wohnungen! Verpflegung! Kultur!›,
tage (Abb. 57). lautete die Parole, die von den ArchitektInnen
Die russischen KonstruktivistInnen – alle hatten mit der rus- der Revolution auch beherzigt wurde.»5
sischen Revolution grosse Hoffnungen verbunden – mussten
in den zwanziger Jahren die bittere Erfahrung machen, dass El Lissitzky
dem sozialistischen Publikum, den Arbeiter- und Bauern- «Unserem Baukünstler ist klar geworden,
massen, die avantgardistischen Neuheiten und die abstrakt- dass er durch seine Arbeit als aktiver Mitar-
geometrische Formensprache des Konstruktivismus zum beiter am Aufbau der neuen Welt teilnimmt.
grössten Teil verschlossen blieben. Peter Weiss kommentier- Für uns hat das Werk eines Künstlers keinen
te dies mit den Worten: «Was die Avantgarde (…) hier ent- Wert ‹an und für sich›, keinen Selbstzweck,
warf, musste den russischen Arbeitern unverständlich blei- keine eigene Schönheit; alles dieses erhält es
ben. Es half ihnen wenig, wenn es hiess, dass die Revolution nur durch seine Beziehung zur Gemein-
der Formen jetzt vereint werden sollte mit den revolutionären schaft.»6
Umwandlungen des gesamten Lebens. (…) Das Modernisti- —
sche, das Abstrakte, musste vorläufig Privileg derer bleiben, 3 Zitiert aus: Münchner Kunstverein (Hg.), Katalog Wladimir
Tatlin 1885–1953, München, 1970, S. 63.
die sich mit künstlerischen Problemen beschäftigten, eine 4 K.G.P. Hutten, Vorwort zum Katalog Tatlin, S. 4.
proletarische Kunst konnte daraus nicht werden, auch wenn 5 Delf Bucher in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 313.
6 El Lissitzky, Russland: Architektur für eine Weltrevolution,

Berlin, 1965. Zitiert aus: Beat Schneider,
4 Gert Selle, Design-Geschichte in Deutschland, S. 151.
Penthesilea, S. 314.
62

5. Internationaler Stil: Meilensteine Theorie


Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus

Abb. 61: Gerrit T. Rietveld: Rot-blauer Stuhl, 1918–23. Abb. 62: Eileen Gray: Wandschrank, um 1925/29. Beachte Abb. 63: Walter Gropius: Armsessel für das Direktions-
Der maschinell herstellbare Stuhl besteht lediglich aus ein- die konstruktivistische Anordnung der Schubladen büro des Weimarer Bauhauses, 1923. Quelle: Charlotte
fachen Vierkanthölzern sowie zwei Brettern als Sitzfläche und Türen. Quelle: Dieter Weidmann, Design des 20. Jahr- und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 158.
und Lehne. Die einzelnen konstruktiven Elemente sind durch hunderts, Berlin, 1998, S. 47.
die Farbgebung betont, wobei die Ähnlichkeit mit den Bil-
dern Mondrians nicht zu übersehen ist. Quelle: Cathrine
McDermott, Design A–Z. Designmuseum London,
München, 1999, S. 112.

die Urheber meinten, die wahre Sprache eines revolutionären De Stijl:


Volkes zu sprechen.»5 Bald kam von den Revolutionsorganen Piet Mondrian
der Ruf nach einer wirklichkeitstreuen, sprich realistischen Er formulierte ab 1917 seine Theorie des
Wiedergabe des Lebens vom engagierten sozialistischen «Neoplastizismus» und forderte, dass
Standpunkt aus. Die AvantgardistInnen mussten anhören, wie die Kunst völlig abstrakt sein solle, was er in
ihre Arbeiten als «Verfallsprodukt der bürgerlichen Kultur» folgendem Diktum zum Ausdruck brachte:
diffamiert wurden, und miterleben, wie ihr anfänglich gros- «Das Leben des heutigen Kulturmenschen
ser Spielraum durch die Machtorgane immer mehr einge- wendet sich mehr und mehr vom Natürlichen
engt wurde. Viele Projekte blieben unausgeführt oder ab; es wird immer mehr abstraktes Leben.»7
unvollendet. Die führenden KonstruktivistInnen emigrierten T. Hauffe urteilt über De Stijl: «Die Idee der
im Laufe der zwanziger Jahre unter dem Druck der politi- Reinheit und die Ablehnung dekorativer Or-
schen Verhältnisse und trugen ihre Ideen in den Westen, namente wurzelten im Puritanismus der
insbesondere ins deutsche Bauhaus. calvinistischen holländischen Gesellschaft,
und die Bestrebungen der De-Stijl-Gruppe
De Stijl in den Niederlanden (1917–1931) hatten durchaus etwas von protestantischer
Eine andere konstruktivistische Abstraktionsbewegung ent- Bilderstürmerei. Nun sollte die formale As-
wickelte sich in den Niederlanden um die von Theo van Does- kese das ästhetische Programm der Moderne
burg 1917 gegründete Zeitschrift «De Stijl». Die Bewegung transportieren und darüber hinaus auch
aus Architekten, Malern und Bildhauern lehnte jede Natur- dem Gedanken der Funktionalität und den
wiedergabe ab und verstand die Malerei als ein autonomes technischen Erfordernissen der Industrie-
System von Form, Fläche und Farbe. Das Emotionale und In- produktion dienen. So traf sich traditionell
dividuelle sollte aus der Kunst verbannt und das Konstruktive bürgerliches Ethos mit avantgardistischer
und Gesetzmässige zur Anschauung gebracht werden. Die Utopie.»8
De-Stijl-KünstlerInnen trieben wie niemand zuvor die Ano-
nymisierung des malerischen Ausdrucks voran. In ihrer Kunst Theo van Doesburg
wurde das Figürliche und Erzählerische zugunsten der Geo- Über die Möbel von Rietveld schrieb Theo van
metrie restlos eliminiert, und die persönliche Pinselschrift Doesburg: «Unsere Stühle, Tische und
wich einem anonymen «Anstrich».6 Die reine Abstraktion und Schränke und andere zweckgebundene Ge-
die strenge geometrische Ordnung waren der formal-ästhe- genstände sind die ‹abstrakt-realen›
tische Ausdruck der modernen, industrialisierten und tech- Skulpturen unserer zukünftigen Einrichtung.»9
nisierten Gesellschaft. Die formale Gestaltung wurde auf «Für einen Stil, dessen Aufgabe nicht mehr
63

Abb. 64: Johannes Auerbach zugesprochen: Das erste Abb. 65: Walter Gropius: Das Bauhaus in Dessau, 1925–26.
Bauhaus-Signet, 1919-21 im Gebrauch. Es ist voller Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des
Anspielungen auf den handwerklichen Bau. Die tragende 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 136.
stilisierte Figur ist von zünftischen und kosmischen Zeichen
umgeben. Auch die ersten Vorboten der bauhaustypischen
Geometrisierung (Dreieck, Gerade, Winkel usw.) sind vorhan-
den. Im ersten Signet, das eine typografisch noch nicht
durchgearbeitete «Handschrift» trägt, überwiegt der Ein-
druck des Organischen. Quelle: Philip Meggs, A History
of Graphic Design, New York, 1998, S. 279.

einfache, ständig wiederkehrende Grundelemente reduziert. darin besteht, individualistische Einzelheiten,


Ästhetik wollte eine «mechanische Ästhetik» (Theo van wie lose Bilder, Schmucksachen oder Privat-
Doesburg) sein. Darin stimmten sie mit den russischen Kon- wohnungen, zu schaffen, sondern den ökono-
struktivistInnen überein. Obwohl die beiden Bewegungen mischen Verhältnissen entsprechend ganze
anfänglich voneinander isoliert waren, ist die Verwandtschaft Stadtteile, Wolkenkratzer, Flugzeugstationen
offensichtlich. Beide vereinte die Suche nach der reinen Art kollektiv in Angriff zu nehmen, kann eine
der Herstellung von visuellen Beziehungen. Beide verwende- handwerkliche Ausführung nicht in Betracht
ten reine Linien, Flächen und Farben, um ein Universum von kommen (…) Infolge der geistig-praktischen
harmonisch geordneten und reinen Beziehungen zu kreieren. Bedürfnisse unserer Zeit wird die konstrukti-
Dies wurde als utopischer Prototyp für eine neue Weltord- ve Bestimmtheit Forderung. Nur die Maschi-
nung angesehen. Beide Bewegungen massen der so ver- ne kann diese konstruktive Bestimmtheit ver-
standenen Kunst und Gestaltung in der Gesellschaft eine wirklichen.»10
Avantgarderolle zu.
Das Vokabular von De Stijl wurde direkt im Grafikdesign Bauhaus:
angewendet (Abb. 58). Theo van Doesburg verwendete hori- Walter Gropius
zontale und vertikale Strukturen für die Buchstabenform und «Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeiten
das Gesamtlayout (Abb. 59). ist der Bau! Ihn zu schmücken war einst
Gerrit Rietveld (1888–1964) setzte in seinen Häusern und Mö- die vornehmste Aufgabe der bildenden Kün-
beln die De-Stijl-Ideen manifestartig um (Abb. 60–61). Das ste, sie waren unablösliche Bestandteile
Beispiel seines «rot-blauen Stuhls» (Abb. 61) verdeutlicht, der grossen Baukunst. Heute stehen sie in
dass die konstruktivistischen Objekte von De Stijl zualler- selbstgenügsamer Eigenheit, aus der sie erst
erst ästhetischer Ausfluss einer gestalterischen Idee oder wieder erlöst werden können durch bewus–
Utopie waren, eher Symbole und Kunstwerke als Gebrauchs- stes Mit- und Ineinanderwirken aller Werk–
gegenstände. Trotzdem hatte De Stijl mit seinen rigiden geo- leute untereinander. (…) Architekten, Bild-
metrischen Gestaltungsprinzipien zusammen mit dem russi- hauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk
schen Konstruktivismus einen nachhaltigen Einfluss auf das zurück! Denn es gibt keine ‹Kunst von Be-
Bauhaus und die weiteren Bemühungen um ein industrielles —
— 7 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 70.
5 Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt a. M., 1983, zitiert aus: 8 Ebenda, S. 71.
Beat Schneider, Penthesilea, S. 317. 9 Ebenda, S. 72.
6 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 37. 10 Zitiert aus: H.L.C. Jaffé, De Stijl 1917–1931, Berlin,
1965, S. 164.
64

5. Internationaler Stil: Meilensteine Theorie


Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus

Abb. 66: Oscar Schlemmer: Das spätere Bauhaus-Signet, Abb. 67: Joos Schmidt: Plakat für die Bauhaus-Ausstellung,
ab 1922 im Gebrauch. Die exakte Kreisform und die konstru- 1923. Echos auf den Kubismus, den Konstruktivismus
ierte Schrift zeugen von der geometrischen und maschi- und De Stijl. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic De-
nellen Orientierung des Bauhauses. Das Geometrische hat sign, New York, 1998, S. 279.
das Organische abgelöst, es gibt keine Andeutungen ans
Mittelalter mehr. Das Ganze bildet eine Einheit. Quelle: Philip
Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 279.

Design (Abb. 62) (zum Einfluss von De Stijl auf das Grafikde- ruf›. Es gibt keinen Wesensunterschied zwi-
sign vgl. Kapitel 6). schen dem Künstler und dem Handwerker
(…) Bilden wir also eine neue Zunft der Hand-
Das Bauhaus (1919–33) werker ohne die klassentrennende Anmas-
1919 gründete der vom Deutschen Werkbund kommende sung, die eine hochmütige Mauer zwischen
Architekt Walter Gropius (1883–1969) (Abb. 63, 65) als Kunst- Handwerkern und Künstlern errichten wollte!
gewerbeschuldirektor im konservativen Weimar mit Unter- Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam
stützung der linkssozialistischen thüringischen Landesre- den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer
gierung das staatliche Bauhaus. In seinem Manifest zur Gestalt sein wird: Architektur und Plastik
Eröffnung forderte Gropius die Einheit der bildenden Künste und Malerei, der aus Millionen Händen der
unter der Führung der Baukunst. Gropius schwebte wie einst Handwerker einst gen Himmel steigen wird als
William Morris eine (rückwärts gewandte) Utopie vor: ein kristallenes Sinnbild eines neuen kommen-
Bauhaus in Analogie zur mittelalterlichen Bauhütte, die für den Glaubens.»11
den gotischen Kathedralenbau sämtliche bildenden Künste
unter einem Dach und einer Idee vereinigte. Hannes Meyer
Am Bauhaus wollte Gropius mit einer neuen Organisations- «Was fand ich bei meiner Berufung vor?
und Ausbildungsstruktur sein altes Ziel, die Überwindung des Ein Bauhaus, dessen Leistungsfähigkeit von
Historismus, durch eine klare Formensprache und eine neue seinem Ruf um das Mehrfache übertroffen
Einheit von Kunst und Handwerk verwirklichen. Die Bauhaus- wurde und mit dem eine beispiellose Reklame
künstlerInnen orientierten sich an einem egalitären und so- betrieben wurde. Eine ‹Hochschule für Ge-
zial ausgerichteten Gesellschaftsmodell und verstanden sich staltung›, in welcher aus jedem Teeglas ein
selbst als «schöpferische Werkgemeinschaft» ohne klassen- problematisch-konstruktivistelndes Gebilde
trennende Unterscheidung zwischen HandwerkerInnen und gemacht wurde. Eine ‹Kathedrale des So-
KünstlerInnen. zialismus›, in welcher ein mittelalterlicher Kult
In der Vorlehre (auch Vorkurs genannt) wurde zuerst zweckfrei getrieben wurde mit den Revolutionären der
mit Farbe, Form und Material experimentiert. Nach dem Vor- Vorkriegskunst unter Assistenz einer Ju-
kurs fand die Ausbildung in Werkstätten statt, die von zwei gend, die nach links schielte und gleichzeitig
Leitern, einem «Meister der Form» und einem «Meister des selber hoffte, im gleichen Tempel dermal-
Handwerks» geführt wurden. So sollte dem Ziel der gleichbe- einst heilig gesprochen zu werden. Inzüchtige
rechtigten Ausbildung von künstlerischen und handwerkli- Theorien versperrten jeden Zugang zur
chen Fertigkeiten nachgelebt werden. lebensrichtigen Gestaltung. Der Würfel war
65

Abb. 68: Marcel Breuer: Freischwinger B32, um 1926. Abb. 69: Carl Jacob Jucker und Wilhelm Wagenfeld: Tisch- Abb 70: Marianne Brandt: Teekännchen, 1924. Messing-
Verchromter Stahl, Holz und Rohrgeflecht. lampe, 1923/24. Der Schweizer Jucker entwarf 1923 blech von innen versilbert. Griff aus Ebenholz.
Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum als Erster eine Tischleuchte mit gläsernem Fuss und Quelle: Bernd Polster et al., Dumont Handbuch Design
London, München, 1999, S. 113. Schaft. Das Kabel, das durch den transparenten Schaft ver- International, Köln, 2004, S. 80.
lief, machte die Elektrizität sichtbar. Wagenfeld ersetzte den
metallenen Reflektor durch eine Milchglaskuppel. Berühmt
wurde diese Ganzglasversion. Quelle: Cathrine McDermott,
Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S.
146.

Das Bauhaus durchlief verschiedene Phasen, in denen mehr Trumpf, und seine Seiten waren gelb, rot,
oder weniger intensive Auseinandersetzungen und Kontrover- blau, weiss, grau, schwarz. Diesen Bauhaus-
sen über «mehr Kunst versus mehr Handwerk beziehungswei- würfel gab man dem Kind zu spielen und dem
se mehr Industrie» geführt wurden. Bauhaus-Snob zur Spielerei. Das Quadrat
war rot. Der Kreis war blau. Das Dreieck war
1. Weimar: Von der Bauhütte zum Bauhaus (Abb. 64) gelb. Man sass und schlief auf der farbigen
In der Anfangsphase suchte wie erwähnt das Bauhaus unter Geometrie der Möbel. Man bewohnte die
Gropius wie die Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts gefärbten Plastiken der Häuser. Überall er-
(Arts & Crafts, Jugendstil) die Rückwendung zum Mittelalter drosselte die Kunst das Leben. So entstand
nach dem Vorbild des mittelalterlichen Gesamtkunstwerks. meine tragikomische Situation: Als Bauhaus-
Es wurden wieder kunstgewerbliche Traditionen aufgenom- leiter bekämpfte ich den Bauhausstil.»12
men. Die Entwürfe hatten noch stark handwerklichen Cha- Und Meyer fährt fort: «wir erkennen in jegli-
rakter. Es dominierten die individualistisch-künstlerischen cher lebensrichtigen gestaltung eine organi-
und elitär-kunsthandwerklichen Produktionsvorstellungen. sationsform des daseins. wahrhaft verwirklicht
Die im Werkbund nicht endgültig gelöste Frage – kunsthand- ist jede lebensrichtige gestaltung ein reflex
werklicher Individualismus gegen Typisierung der techni- der zeitgenössischen gesellschaft. bauen und
schen Form für die Serienproduktion – wurde ins Bauhaus gestalten sind uns eins, und sie sind ein ge-
hineinverlagert. Ein Hindernis für die Anpassung der Ent- sellschaftliches geschehnis, als eine ‹hohe
wurfspraxis an die industrielle Produktionsweise lag im Prin- schule der gestaltung› ist das bauhaus dessau
zip von Meister, Geselle und Lehrling. Denn diese Lehrstruktur kein künstlerisches, wohl aber ein soziales
führte zur Überbetonung des individualistischen künstleri- phänomen. als gestalter ist unsere tätigkeit ge-
schen Prinzips (Kult des berühmten Meisters).7 sellschaftsbedingt, und den kreis unserer auf-
gaben schlägt die gesellschaft. fordert nicht
2. Dessau: «Bauhausform» (Abb. 65–70) heute in deutschland unsere gesellschaft tau-
Anfang der zwanziger Jahre kam die Wende zum Funktiona- sende von volksschulen, volksgärten, volks-
lismus: Nach dem Einfluss der De-Stijl-Gruppe und nach häusern? hunderttausende von volkswohnun-
der Ersetzung des Vorkurslehrers Johannes Itten durch Lasz- gnen?? millionen von volksmöbeln???
lo Moholy-Nagy entwickelte das Bauhaus eine elementare —
und funktionale Formensprache, die in der Reduktion aller 11 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 87.
12 Hannes Meyer, Mein Hinauswurf aus dem Bauhaus, 1930,
— in: Claude Schnaidt, Hannes Meyer, Bauten, Projekte
7 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 89. und Schriften, Teufen, 1965, S. 100.
66

5. Internationaler Stil: Meilensteine Theorie


Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus

Abb. 71: Walter Gropius: Wettbewerb «Haus der Arbeit» Abb. 72: Laszlo Moholy-Nagy: Umschlagentwurf für vier
(Ausschnitt), 1934. Quelle: Beat Schneider, Penthesilea. Die Bauhausbücher, 1924–30. Quelle: Philip Meggs, A History of
andere Kultur- und Kunstgeschichte, Bern, 1999, S. 300. Graphic Design, New York, 1998, S. 283.

Gegenstände auf geometrische Elemente bestand. Diese so (was frommt hingegen das piepsen irgend-
genannte «Bauhausform»8 sollte Designgeschichte machen. welcher kenner nach den kubistischen kuben
Es kam zum entscheidenden Schritt der Annäherung an die der bauhaus-sachlichkeit?) (…) die neue bau-
industrielle Formgebung, und es entstanden die ersten schule als eine erziehungsstätte zur lebens-
industrietauglichen Entwürfe. Nach der Übersiedlung des haltung trifft keine begabtenauslese. sie ver-
Bauhauses nach Dessau (1925) verlagerte sich der Schwer- achtet affenhafte geistige beweglichkeit
punkt der Ausbildung auf das Industriedesign und die Archi- der begabung, sie achtet die gefahr der geis-
tektur. Hauptziel wurde neben den Anforderungen der indu- tigen sektenbildung: inzucht, egozentrik,
striellen Fertigung die Aufgabe, preiswerte Massenprodukte weltfremdheit, lebensferne (…)
für breite Bevölkerungsschichten zu schaffen. dergestalt ergreift erziehung zur gestaltung
Das Bauhaus wollte bis anhin privilegierte Produkte für den den ganzen menschen. entfernt hemmung,
massenkulturellen Bedarf sozial erobern. Die schmucklose beklemmung, verdrängung. beseitigt vorwand,
Zweckmässigkeit und der massenhafte Gebrauchswert der vorurteil, voreingenommenheit. sie vereinigt
Produkte sollten eine klassenlose Alltagskultur schaffen, ge- die befreiung des gestalters mit der eignung
wissermassen gesellschaftliche Gleichheit ästhetisch vor- zur eingliederung in die gesellschaft (… )»13
wegnehmen. Hier kamen Formgestaltung und gesellschafts- «Zum ersten Mal habe ich gesehen, wie der
politische Zielsetzung zusammen: «Technologie, Maschine Sozialismus Wirklichkeit geworden ist und
und Sozialismus» sollten zur Einheit eines praktischen Funk- kein blosses Hirngespinst blieb. Unsere ganze
tionalismus verschmelzen. Voraussetzung für diese wirklich westliche Erziehung war nur eine Rekrutie-
funktionale Formgebung war die Befreiung von den konstruk- rung für den Kampf aller gegen alle. Das war
tivistisch-formalistischen Gestaltungstendenzen. für unsere Stellung charakteristisch. Und
es war für uns charakteristisch, dass die Bör-
3. Die Ära Meyer sen in Form von Tempeln gebaut sind. Die
In den Jahren 1926 und 1927 spitzten sich die Richtungs- neue russische Architektur entsteht durch den
streitigkeiten zwischen Kunst und Industrie wieder zu. Sie Willen aller, nicht durch irgendwelche Pläne
führten letztlich zur Demission von Walter Gropius im Jahr irgendeiner Gruppe. Unsere Bauten tragen die
1928. Der Leiter der neu geschaffenen Architekturabteilung Züge des Kollektivismus, gepaart mit ameri-
und Nachfolger von Gropius als Direktor, der Schweizer Han- kanischer Sachlichkeit, mit strengster leninis-
nes Meyer (1899–1954), verschob den Akzent theoretisch tischer Wissenschaftlichkeit und revolutio-
und praktisch weiter in Richtung auf Technisierung und närer Elastizität.»14
«sozialen Funktionalismus». Das Bauhaus unter Meyer war
67

Abb. 73: Herbert Bayer: Universales Alphabet, 1925. Abb 74: Herbert Bayer: Ausstellungsplakat, 1926. Schrift Abb. 75: Jan Tschichold: Titelseite von «elementare typo-
Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New und Bild sind in einer funktionalen Steigerung der Grösse graphie», 1925. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic
York, 1998, S. 284. und des Gewichts von den unterstützenden Details bis zu Design, New York, 1998, S. 286.
der wichtigsten Information geordnet. Quelle: Philip Meggs,
A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 284.

vergleichbar mit Theorie und Praxis der sowjetischen WCHU- Vom letzen Bauhaus-Direktor und späteren
TEMAS (vgl. oben), wo Rodtschenko, Lissitzky und Tatlin Architekten in Chicago, Mies van der Rohe,
lehrten. Unter Meyers Einfluss rückte das Bauhaus noch ent- stammt der für die Architektur und das De-
schiedener vom künstlerischen Elite-Bewusstsein ab, das sign des «Internationalen Stils» bezeichnen-
seit van de Velde die Motivation für besondere Entwürfe lie- de Satz «Less is more» (Weniger ist mehr).
ferte. Meyer verlangte die Anbindung des Entwurfs der neu-
en Gebrauchswerte an den sozialen Bedarf. Er forderte vom Funktionalismus
Design Standardprodukte, die als Typen in Serie hergestellt In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts
werden und die Grundbedürfnisse der arbeitenden Men- analysiert Gert Selle den Funktionalismus
schen befriedigen sollten. Die Bedürfnisse der Massenge- der zwanziger Jahre folgendermassen: «Das
sellschaft traten in den Vordergrund. Meyer strebte auch sachliche Sozialdesign und die elegante
eine Verwissenschaftlichung des Unterrichts an und richtete Moderne (…) können als Formen der Selbst-
Fächer wie Psychologie, Soziologie und Ökonomie ein. In der funktionalisierung im höheren industrie-
Architektur sollte von der «Analyse gesellschaftlicher Fakto- rationalen Interesse verstanden werden. Sie
ren» ausgegangen werden. Der Entwurf sollte ökonomischen sind Gewalten, die vom Design nicht erkannt
und sozialen Gesichtspunkten folgen, und es sollte mit mög- werden (…) Historisch-theoretisch und prak-
lichst billigen, neuen Materialien und vorgefertigten Elemen- tisch-semantisch war ihr in der Einheit von
ten gebaut werden. Das Bauhaus wurde eine auf Reklame, Zweck und Schönheit bearbeiteter (…) Gegen-
Typografie und Architektur (sozialer Wohnungsbau) bezoge- stand gesellschaftlicher Ausdruck produktiver
ne Gestaltungsschule. «Die Entdeckung der sozialen und Lebensrationalität im Industriezeitalter
politischen Verantwortung des Architekten und Designers schlechthin.»15
gab dem Bauhaus in der Ära Meyer noch einmal neuen Auf- —
schwung und Bedeutung.»9 13 Ebenda, S. 98f.
14 Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesiliea, S. 315.
15 Gert Selle, Design-Geschichte S. 194 und 291.
4. Entpolitisierter Neuversuch
Nach der auch von Gropius betriebenen Entlassung des kom-
munistischen Bauhausdirektors Hannes Meyer wurde mit
dem «unpolitischen» Mies van der Rohe ein entpolitisierter

8 Julius Posener in: Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 87.
9 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 153.
68

5. Internationaler Stil: Meilensteine


Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus

Abb. 76: Jan Tschichold: Buchdeckel für Penguin, 1946–49. Abb. 77: Henry C. Beck: Plan der Londoner U-Bahn, 1933. Das tabellarische Matrix-Prinzip für Entfernungsstrecken
Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Der Prototyp eines modernen funktionalistischen Verkehrs- gehört heute zu den verbreitetsten Orientierungshilfen im
Designmuseum London, München, 1999, S. 254. plans. Indem er die traditionelle, geografisch orientierte Bereich des Verkehrswesens. Quelle: Philip Meggs, A
Karte durch eine schematische ersetzte, die aus horizonta- History of Graphic Design, New York, 1998, S. 292.
len, vertikalen und im 45-Grad-Winkel quer liegenden Ent-
fernungslinien besteht, vereinfachte er die Kommunikation
für die U-Bahn-BenützerInnen. Diese visuell schnell über-
schaubare Lösung wurde später international übernommen.

Neuversuch gestartet. Das soziale Engagement des Designs «Internationalen Stils» erst begann. Nach der Übergabe der
wurde zurückgenommen, und das bedeutete, das Prinzip der Macht an die Nazis in Deutschland und der endgültigen Zer-
funktionalen Sachlichkeit vom sozialpolitischen und sozial- schlagung des Bauhauses sowie der Emigration einiger «In-
kulturellen Programm des Entwerfens zu trennen. Die Mies- ternationalisten» aus Deutschland übernahmen die USA die
Phase dauerte bis zur Auflösung des Bauhauses durch die Na- führende Rolle im konstruktivistischen Design und in der mo-
zis an seinem letzten Zufluchtsort in Berlin 1933. Zwar erlebte dernen Architektur. Von einigen in die USA emigrierten Bau-
es in Berlin – nun auf privater Basis – einen letzten kurzen hauslehrern wurde 1937 in Chicago das «New Bauhaus» ge-
Aufschwung, doch die Schliessung konnte auch der gemäs- gründet. Dessen Direktor wurde L. Moholy-Nagy, ungarischer
sigt bürgerliche Ludwig Mies van der Rohe nicht verhindern. Designer und ehemaliger Vorkursleiter am Bauhaus. 1939
wurde aus dem «New Bauhaus» die «School of Design» und
5. Bauhaus und Hakenkreuz 1944 das «Institute of Design des Illinois Institute of Techno-
Einige Bauhäusler wurden verhaftet, Juden und Linke unter logy» (ITT). So lebte der «Bauhaus-Gedanke» in den USA wei-
ihnen landeten in Konzentrationslagern, andere gingen frei- ter. Mies van der Rohe, Moholy-Nagy, Gropius und wie sie alle
willig ins Ausland, wieder andere mussten später emigrieren, hiessen fanden in den USA ein breites Wirkungsfeld.
doch die Mehrheit verhielt sich gegenüber dem Dritten Reich Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte der «Bauhaus-Gedanke»
nicht anders als der Rest der deutschen Bevölkerung: Sie ar- aus der Emigration nach Europa zurück. Mit ähnlicher Aufga-
rangierte sich mit den neuen Verhältnissen, marschierte mit benstellung wie im ehemaligen Bauhaus wurden in der Bun-
oder versuchte – wie einige prominente Bauhäusler – sogar, desrepublik Deutschland die Hochschule für Gestaltung in
eine bedeutende Rolle zu spielen. So biederte sich der Ulm (HfG) (vgl. Kapitel 10) und in der Deutschen Demokrati-
Schweizer J. Itten bei den Nazis an, und auch W. Gropius stel- schen Republik die Hochschule für Gestaltung in Halle-Gie-
lte mit einer Reihe anderer Bauhäusler seine Schaffenskraft bichenstein geschaffen. Ähnliche Anstrengungen gab es
dem Dritten Reich zur Verfügung (Abb. 71). Mies van der Rohe auch an andern Kunsthochschulen der DDR (Weimar, Dres-
rief 1934 zur Wahl Hitlers zum Reichspräsidenten auf, und den, Berlin). Die Traditionen des Bauhauses wurden in der
Oskar Schlemmer, neben Klee und Kandinsky einer der gros- DDR dann aber über Jahre hinweg negiert. Erst Mitte der
sen Bauhäusler der ersten Stunde, betonte 1933 seine Über- siebziger Jahre wurden das Bauhaus und die Prinzipien der
einstimmung mit der NS-Ideologie – und blieb trotzdem ver- funktionalistischen Gestaltung als «nationales Erbe» der
femt. Die Liste der Kollaborateure liesse sich verlängern.10 DDR entdeckt.11

6. Erfolg im Exil und Rückkehr Das Bauhaus und die «Neue Typographie»
Die Ironie der Geschichte lag darin, dass mit der Schliessung Im Bauhaus sorgten die typografischen und fotografischen
die weltweite Wirkung des Bauhauses beziehungsweise des Leidenschaften von L. Moholy-Nagy für das Interesse der
69

Abb. 78: Herbert Matter: Plakat für den Schweizer Touris- Abb. 79: Herbert Matter: Plakat für Pontresina, 1935. Abb 80: William von Alen: Chrysler Building, New York,
mus, 1935. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New 1928–30. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Design-
New York, 1998, S. 298. York, 1998, S. 299. museum London, München, 1999, S. 46.

BauhäuslerInnen an visueller Kommunikation. Er machte — Verwendung von Strichen, Linien und Kästen für die
wichtige Experimente für die Vereinigung dieser beiden Kün- Struktur, das Gleichgewicht und die Betonung
ste und sah Grafikdesign, insbesondere das Plakat, sich zum Das Ziel war die Entwicklung der Form aus der Funktion des
«typophoto» entwickeln. Er nannte die Integration von Wort Textes («form follows function») (Abb. 77).
und Bild, um eine Botschaft zu kommunizieren, «die neue 1927/28 nannte der Katalog der Ausstellung «Neue Typogra-
visuelle Literatur»12 (Abb. 72). phie» im Gewerbemuseum in Basel die gleichen Merkmale in
Herbert Bayer entwarf eine Universal-Schrift, welche das Al- etwas andern Worten:
phabet auf klare, einfache und rational konstruierte Formen — knapper Ausdruck
reduzierte (Abb. 73, 74). — Asymmetrie
Viele der kreativen Innovationen entstanden im Grafikdesign — keine Ornamente
während der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts als Teil — spannungsvolle Gliederung der Fläche
der künstlerischen Bewegungen der Moderne (vgl. Kapitel 6) — Verzicht auf eine persönliche Note
oder im Bauhaus. Dieser neue Umgang mit der visuellen Die «Neue Typographie» betonte die objektive Kommunika-
Kommunikation hatte aber meistens nur ein begrenztes Publi- tion und beschäftigte sich mit der maschinellen Produktion.
kum. Doch der Bauhäusler Jan Tschichold (1902–74) machte Die «Maschine Fotoapparat» wurde als der angemessene
das neue Design zu einem Alltagsdesign. In seinem 1925 in Umgang mit dem Bildermachen angesehen. Die meisten von
den «typographischen mitteilungen» erschienenen Artikel der «Neuen Typographie» verwendeten Fotos waren einfach
mit dem Titel «elementare typographie» erklärte er einer und neutral. Die Rolle der Fotografie war diejenige eines gra-
breiten Leserschaft von Druckern, Setzern und Designern die fischen Kommunikations-Werkzeuges.
neue asymmetrische Typografie (Abb. 75, 76). In dem Jahr- Der Schweizer Designer und Fotograf Herbert Matter (1907–
zehnt nach 1927 legte Tschichold das solide theoretische 84) entwickelte diese Rolle. Seine Plakate aus den dreissiger
Fundament der «Neuen Typographie». 1927 erschien sein Jahren (Abb. 78, 79) verwendeten die Montage, den dynami-
gleichnamiges Buch, in dem folgende Merkmale der «Neuen schen Wechsel des Massstabs und die effektive Integration
Typographie» aufgeführt sind: von Typografie und Illustration. Fotografische Bilder wurden
— Verzicht auf unwichtige Elemente bildhafte Symbole, die aus ihrer naturalistischen Umgebung
— Reduktion der serifenlosen Schrifttypen auf ihre ele- herausgelöst und in unerwarteter Weise miteinander verbun-
mentare Form (Verwendung der Groteskschrift) den wurden. Matter experimentierte auch mit der Integration
— Konstruktion des Designs nach einer zugrunde liegen- —
den horizontalen und vertikalen Struktur 10 Zum Bauhaus unter dem Hakenkreuz: Beat Schneider, Penthesilea, S. 299–301.
11 Bernhard Bürdek, Design, S. 71.
— Grösse der Leerräume als wichtige gestalterische Ele- 12 Philip Meggs, A History of Grafic Design, S. 281.
mente
70

5. Internationaler Stil: Meilensteine


Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus

Abb. 81: Jean Prouvé: Fauteuil de grand repos, 1928–30.


Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000,
S. 199.

von Schwarzweissfotografien, Zeichen und Flächen. nalität, sondern schuf auch luxuriöse Zeichen der kapitali-
Fazit: Das Bauhaus wurde zum führenden intellektuellen und stischen Macht.
kreativen Zentrum des Modernismus und der Idee des Funk- Die «Art déco» lebte nicht von den einheitlichen, konsequent
tionalismus und legte die Grundlagen des modernen Designs, nachempfundenen Vorstellungen wie der der Funktionalität,
wie es bis in die siebziger Jahre international gepflegt wurde. sondern war eine eklektische Mischung sehr unterschiedli-
cher Komponenten. Der Art-déco-Stil war primär auf alle
Art déco: der nicht funktionale Modernismus Bereiche der Innenausstattung, aber auch auf Plakat- und
Wenn vom Design der zwanziger und dreissiger Jahre die Re- Buchkunst sowie auf Malerei und Plastik (v.a. Kleinplastiken)
de ist, darf nicht nur der «Internationale Stil» erwähnt wer- gerichtet. Gemeinsam ist allen Objekten eine geometrische
den, denn es gab auch einen nicht funktionalen Modernis- Struktur, gemischt mit andersartigen – etwa floralen – Ele-
mus, der neben ihm eine eigenständige Rolle spielte. Dieser menten. Wenn der «Internationale Stil» vieles der funktiona-
Modernismus wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- len Reinheit opferte, so schöpfte die «Art déco» aus der Vita-
hunderts als authentischer Stil erkannt13, und er erhielt rück- lität der Volkskunst sowie der ornamentalen Fülle fremder
wirkend in Anlehnung an die internationale Kunstgewerbe- Stile und gab diesen verschwenderischen Spielraum. Sie imi-
ausstellung («Exposition Internatinale des Arts Décoratifs et tierte Formen aus verschiedenen Epochen und Kulturen. Sti-
Industriels Modernes»), die 1925 in Paris stattfand, den listische Elemente der Art nouveau, des Deutschen Werk-
Namen «Art déco».Der Begriff umfasst die dekorativen bundes, des Bauhauses, des Kubismus und Futurismus, von
künstlerischen Tendenzen zwischen 1920 und 1930. De Stijl und fremden Kulturen (etwa afrikanische, ägyptische
Das Europa der zwanziger und dreissiger Jahre wurde zwar oder chinesische) fanden in ihr Repertoire Eingang.
durch tiefe soziale Widersprüche, Klassenkämpfe und Bei der «Art déco» ging es zunächst nicht um industrielle
Revolutionen geprägt. Krieg und Wirtschaftskrisen hatten Massenproduktion, sondern um die kunsthandwerkliche
vielerorts grosses Elend und Armut hervorgebracht. Trotz- Herstellung exklusiver Einzelstücke aus wertvollen und
dem führten die wohlhabenden Schichten ihren gewohnten ungewöhnlichen Materialien. Im Laufe der zwanziger und
Lebensstil weiter. In Frankreich, wo die oberen Klassen den dreissiger Jahre verbreitete sie sich als Ausdruck moderner
Ersten Weltkrieg im Vergleich zu Deutschland relativ unbe- Eleganz im übrigen Europa und in Übersee (Abb. 80). Sie
schadet überstanden hatten – es gab auch reiche und neu- nahm auch immer mehr Elemente des «Internationalen
reiche Kriegsgewinnler –, entwickelte sich «ein luxuriöser Stils» auf und verarbeitete industrielle Materialien wie Stahl
Einrichtungs- und Dekorationsstil, der wirtschaftliche Macht und Glas (Abb. 81) und auch neue Materialien wie Aluminium
und gehobenen Lebensstil demonstrierte».14 Mit andern und Bakelit, den ersten rein synthetischen Kunststoff (1907).
Worten spiegelte das moderne Design nicht nur sozialen und Mit diesen Materialien fand die «Art déco» auch in die Pro-
politischen Fortschrittsglauben und wirtschaftliche Ratio- duktion beliebter Massenartikel Eingang (Abb. 82).
71

Abb 82: Alfonso und Renato Bialetti: Moka Express, 1933.


Dreiteilige Espressokanne aus Aluminium und Bakelit (bis
heute unveränderte Form). Quelle: Cathrine McDermott,
Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 210.

In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die


«Art déco» von Architektur und Design der Postmoderne
wieder entdeckt (z. B. Hans Hollein: Österreichisches Ver-
kehrsbüro in Wien, 1978). Gert Selle weist auf eine inhaltli-
che Parallele von «Art déco» und Postmoderne hin. In der
«Art déco» wurde in den zwanziger und dreissiger Jahren
von den Entwerfern ein längst obsoleter Individualismus aus-
gelebt und das Bewusstsein gepflegt, einer elitären Avant-
garde anzugehören. In der Postmoderne der siebziger und
achtziger Jahre verstanden sich die Designer wieder als
Künstleravantgarde.15

13 H. Honour, J. Fleming, Weltgeschichte der Kunst, München, 1992, S. 602.
14 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 88.
15 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 205.
72

5. Internationaler Stil:
Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus

— mus» der sechziger und siebziger Jahre zu sehen, in dem der


Kommentar Funktionalismus die Hülle für die kurzfristigen wirtschaftli-
chen Profitinteressen wurde.

2. Die monolithische Rezeption


Das Bauhaus wird nur als monolithische Institution akzep-
tiert. Die Tatsache seiner verschiedenen Entwicklungspha-
sen wird verdrängt, die Widersprüche werden nicht zur
Der Bauhaus-Mythos Kenntnis genommen. Die Richtungsstreitigkeiten zwischen
Es spricht für die zentrale Bedeutung des Bauhauses, dass dem «künstlerischen Lager» und dem «Industrielager» wer-
es wie kein anderes Phänomen der Designgeschichte von My- den verharmlost. Das Bauhaus wird als gelungene Fusion
then umrankt ist. Die Rezeptionsgeschichte der Bauhaus- von Kunst und Industrie abgefeiert, eine Fusion, die es so nie
ideen ist selbst ein spannendes geschichtliches Phänomen. gegeben hat. Die Fiktion der Einheit von Kunst und Industrie
Von der Chiffre «Bauhaus» wurde und wird aus verschiedens- führt konsequenterweise zur Nicht-Rezeption der Ära Meyer.
ten Interessenlagen heraus Gebrauch gemacht. Entspre- Es wird nicht wahrgenommen, dass das Bauhaus hier seinen
chend wurden Aspekte unterschlagen, einseitig betont und konsequentesten Schritt weg vom künstlerischen Anspruch
aus dem Kontext gerissen, so dass Bauhaus-Bilder entstan- hin zum industriellen Design und zum sozialen Funktionalis-
den, welche die Wirklichkeit verzerren. mus gemacht hat.

1. Die unpolitische Rezeption 3. Die fortschrittliche Rezeption


«Das Bauhaus wird nur im oberflächlichen restaurativen Sin- Das Bauhaus wird nur als fortschrittliche Institution akzep-
ne akzeptiert. Das Verständnis der eigentlichen Bedeutung tiert. Im Nachkriegsdeutschland wurde der Mythos geboren,
des Bauhauses (…) gibt es nicht.»1 Dies behauptete 1963 wonach Bauhäusler zu sein gleichbedeutend sei mit Wider-
kein geringerer als Tomas Maldonado, prominenter Vertreter stand und Verfolgung, die Bauhaus-Moderne mithin faschis-
des «Internationalen Stils» und in den sechziger Jahren musresistent sei. Wie schon gezeigt, hat die Identifizierung
Direktor der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Tatsächlich mit den Ideen der Moderne offensichtlich auch prominente
wird das Bauhaus oft aus seinem gesellschaftlichen und Bauhäusler nicht vor der opportunistischen Anpassung an
politischen Kontext herausgelöst, von seiner politischen und der Kollaboration mit dem Faschismus bewahrt. Die
Designtheorie gereinigt und als ein unpolitisches, ästheti- Bauhaus-Moderne ist nicht eo ipso antifaschistisch! Der
sches Phänomen behandelt. Der gestalterische Anspruch verborgene Sinn einer solchen Mythenbildung ist das
des Bauhauses war jedoch in allen Phasen wesentlich mit Bemühen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, an das
einem sozialen und damit auch politischen Anspruch ver- «Vorher» anzuknüpfen, an die Zeit vor dem grauenvollen
bunden. Sie bildeten eine unauflösliche Einheit. Der Funktio- Ereignis des Dritten Reichs. Mit dem Herstellen der Konti-
nalismus war also nicht ein neutraler, sondern ein sozialer. nuität zum demokratischen modernen «Vorher» war ein Bei-
Die Bauhausform orientierte sich am Gebrauchswert der trag zur eigenen demokratischen Legitimation gegeben. Eine
Objekte und damit an den BenutzerInnen. Die Gebrauchsge- wirkliche Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Dritten
genstände wurden in sozialer Funktionalität gestaltet. Was Reichs konnte sich so erübrigen.
es bedeutet, wenn der Funktionalismus «neutralisiert» oder
umfunktioniert wird, ist am «Bauwirtschaftsfunktionalis-
73

4. Die Rezeption des Scheiterns


Das Bauhaus wird nur als gescheitert akzeptiert. Wer seine
grosse Bedeutung für die Designgeschichte reklamiert, wird
etwa darauf verwiesen, dass das Bauhaus doch gescheitert
sei. Wenn man es an seinem unmittelbaren Einfluss auf die
industrielle Produktionspraxis misst, scheint es tatsächlich
zuzutreffen, denn die direkte Breitenwirkung der «Bauhaus-
form» war gering. Sein avantgardistisches Design war in den
zwanziger Jahren einer kleinen intellektuellen Elite vorbe-
halten. Die Sachlichkeit und Ehrlichkeit der Sozialdesig-
nerInnen und SozialarchitektInnen der zwanziger Jahre und
das in ihren Produkten ausgedrückte gesellschaftliche
Gleichheitsprinzip überzeugten Intellektuelle und die linken
politischen Eliten, aber nicht die eigentlichen Adressaten,
die Masse der ArbeiterInnen. Zu stark wurde dieser ästhe-
tisch konservativ gebliebenen Klasse die neue Sachlichkeit
aufgepfropft. Zu wenig war die neue ästhetische Kultur ein
Teil ihrer selbst.2
Die Innovation des Bauhauses war gegenüber den vorherr-
schenden kulturellen Traditionen trotz relativ weit entwickel-
ter Industrialisierung noch zu radikal. Das massenkulturelle
Konzept des sozialen Funktionalismus musste aber auch an
der damals noch fehlenden ökonomischen Grundlage für
einen Massenkonsum scheitern. Und im Dritten Reich, als
diese Grundlage zum ersten Mal geschaffen worden war, war
das Bauhaus aus ideologischen Gründen organisatorisch
bereits zerschlagen. Im Nordamerika der Kriegszeit und im
Europa der Nachkriegszeit waren die Grundlagen für die
Realisierung des massenkulturellen Konzepts gegeben. Hier,
in Chicago, und dort, in Ulm, hatte die emigrierte bezie-
hungsweise zurückgekehrte «Bauhausidee» denn auch
Erfolg. Das Bauhaus hatte einst die Grundlagen für das
moderne funktionalistische Design gelegt, wie es bis in die
sechziger und siebziger Jahre international gepflegt wurde.

1 Tomas Maldonado: «Ist das Bauhaus aktuell?», in: Ulm, Nr. 8,9, 1963, S. 8.
2 Gert Selle, Design-Geschichte in Deutschland, S. 191–194.
6. AVANTGARDEKUNST
UND GRAFIKDESIGN
76

6. Avantgardekunst
und Grafikdesign


Wirtschaftliches und Soziales

Avantgardekunst und Grafikdesign


Die gesellschaftlichen und politischen Umstände in den ers-
ten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts schufen die Grundlagen
für eine Annäherung von Kunst und Design auf der Basis eines
gemeinsamen massenkulturellen und technologiefreundlichen
Konzepts. Die avantgardistischen Bewegungen der modernen
bildenden Kunst beeinflussten die Designszene vor allem im
Bereich des Grafikdesigns («Reklamegrafik»).1 Während eini-
ge dieser Bewegungen eine begrenzte Wirkung hatten, beein-
flussten andere, wie Kubismus, Futurismus, Dada, Surrealis-
mus, De Stijl, Konstruktivismus und Expressionismus, die
Sprache des Grafikdesigns unmittelbar. Das gemeinsame In-
teresse an der Schaffung einer allgemein verständlichen Zei-
chensprache, die den gesellschaftlichen Aufbruch ihrer Zeit
angemessen zu visualisieren vermag, verband die Reformer
unter den (Reklame-) Grafikern mit vielen avantgardistischen
Künstlern. Es wäre allerdings falsch zu behaupten, das moder-
ne Design sei ein Stiefkind der bildenden Kunst. Wie schon in
den vorhergehenden Kapiteln gezeigt, waren die Chicagoer
Schule, die Glasgower Schule, die späte Wiener Werkstätte
sowie Adolf Loos und Peter Behrens in ihrem Bewusstsein für
Raum und geometrische Formen um die Jahrhundertwende
weiter als die damalige moderne Malerei.2 Im Folgenden sollen
nicht die Avantgardebewegungen der ersten drei Jahrzehnte
des europäischen 20. Jahrhunderts dargestellt, sondern an-
hand exemplarischer Beispiele die ablesbaren Auswirkungen
der modernen Kunst auf das Design aufgezeigt werden.

1 1935 veröffentlichte Jan Tschichold, ein Protagonist der «Neuen Grafik», in den
«Typographischen Monatsblättern» (Zürich, 1935) einen Aufsatz über «Die
gegenstandslose Malerei und ihre Beziehungen zur Typographie der Gegenwart».
2 Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 262.
77

6. Avantgardekunst Meilensteine
und Grafikdesign

Abb. 83: George Braque: Häuser in L’Estaque, 1908. H. Abb. 84: E. McKnight Kauffer: Plakat für den «Daily Her- Abb. 85: A.M. Cassandre: Plakat für die Pariser Zeitung
Honour, J. Fleming, Weltgeschichte der Kunst, München, ald», 1918. Dieses Plakat zeigt, wie der formale Ausdruck «L’Intransigeant», 1925. Ein piktografisches Bild von «Mari-
1992, S. 574. des Kubismus (und des Futurismus) für ein Grafikdesign anne», der symbolischen Stimme Frankreichs, welche Neu-
mit klarer Kommunikation verwendet werden konnte. Quel- igkeiten ausruft, die sie über Telegrafendrähte erhält.
le: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, Indem er seine Gegenstände auf ikonografische Symbole
1998, S. 255. reduziert, näherte sich Cassandre sehr stark dem syntheti-
schen Kubismus an. Quelle: Philip Meggs, A History of Gra-
phic Design, New York, 1998, S. 256.

Kubistische Revolution die moderne Illustrationsgrafik. Légers platte Farbflächen,


Die kubistische Bewegung um Braque und Picasso war die die städtischen Motive und die schneidige Präzision seiner
avantgardistische Strömung, die den radikalen Bruch mit den Maschinen halfen, das Design nach dem Weltkrieg zu defi-
künstlerischen Traditionen des 19. Jahrhunderts zuerst voll- nieren (Abb. 87).
zog. Sie entwickelte ein neues Abstraktionsverfahren durch
Reduktion aller Formen auf ein System von Würfeln, Zylindern Futuristischer Geschwindigkeits- und Technikkult
und scharf begrenzten Facetten und Flächen («analytischer Auch die futuristische Bewegung proklamierte den Bruch mit
Kubismus»). Es war eine grundsätzlich neue Bildvorstellung, der Vergangenheit der Museen und Akademien, die Zerstö-
die mit dem tradierten naturalistischen Illusionismus brach rung des Alten und die Sprengung der künstlerischen Traditi-
(Abb. 83 ). Auf diese Weise wurden die Objekte gleichzeitig on. Dagegen stellte sie die «Pracht des durch die siegreiche
von verschiedenen räumlichen und zeitlichen Ansichten prä- Wissenschaft verwandelten zeitgenössischen Lebens.»2 Die
sentiert: eine komplexe Sicht der Realität. Komplexe Prozes- futuristische Kunst wollte die rauschhaft erlebte moderne
se und nicht mehr nur Zustände waren auch der Gegenstand Welt in ihre Texte, Bilder und Skulpturen übersetzen. Sie
der modernsten zeitgenössischen Forschung in Physik und wollte die Welt der Technik «als allgegenwärtige Geschwin-
Chemie. So schufen die KubistInnen eine Revolution in der digkeit» spiegeln. In dem von Filippo Marinetti (1876–1944)
Malerei, die ein Äquivalent zur Revolution im wissenschaftli- 1909 verfassten «Manifest des Futurismus» erschienen der
chen Weltbild darstellte.1 Rhythmus des modernen Lebens, die Geschwindigkeit und
Die visuellen Erfindungen des Kubismus wurden zum Kataly- Ästhetik der Maschinen und die Aggressivität der techni-
sator für Experimente, welche auch das Design zu geometri- schen und militärischen Welt wie eine Verheissung.3
scher Abstraktion und zu einem neuen Zugang zur Illustrati- Die gestalterische Umsetzung erfolgte durch simultane Dar-
on brachten. Viele DesignerInnen und IllustratorInnen der so stellung: Verschiedene Erlebnis- und Ereignisphasen eines
genannten postkubistischen modernen Illustration, wie E. Motivs wurden in einem einzigen Bild (oder einer Plastik) si-
McKnight Kauffer, A.M. Cassandre oder Jean Carlu, übertru- multan dargestellt.
gen Konzepte und Ideen in ihre Entwürfe, vor allem in Plaka- —
te (Abb. 84–86 ). 1 Beat Schneider, Penthesilea, S. 291f.
2 Die Zitate stammen aus dem «Manifest des Futurismus» von 1909, zitiert aus:
Die Formen der Buchstaben in Fernand Légers Malerei und Schneider, Penthesilea, S. 291.
seinem grafischen Werk für Blaise Cendrars Antikriegs-Buch 3 In den zwanziger Jahren nahm der italienische Futurismus eine offen faschistische
Haltung ein und begrüsste die absolute Verherrlichung der nationalistischen Aggression
La Fin du Monde, filmée par l’Ange Notre-Dame markierten
im faschistischen Staat Mussolinis.
den Weg zu geometrischen Buchstabenformen. Seine beina-
he piktografischen Vereinfachungen der menschlichen Figur
und der Gegenstände waren eine bedeutende Inspiration für
78

6. Avantgardekunst Meilensteine
und Grafikdesign

Abb. 86 : Jean Carlu: Buchumschlag für «Vanity Fair», 1930. Abb. 87: Fernand Léger: Seiten aus «La Fin du Monde, fil- Abb. 88 : Filippo Marinetti: Montagne + Vallate + Strade x
Stilisierte geometrische Köpfe evozieren Neonlicht und mée par l’Ange Notre-Dame», 1919. Quelle: Philip Meggs, Joffre (Berge + Täler + Strassen x Joffre), 1915. Dieses
Kubismus, während sie in den Nachthimmel glühen. Quelle: A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 233. Gedicht beschreibt Marinettis Reise nach Frankreich, an
Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, die Front und zu F. Léger. Quelle: Philip Meggs, A History of
S. 258. Graphic Design, New York, 1998, S. 234.

Der Futurismus hatte einen revolutionierenden Einfluss auf und Ahnungen. Es ist eine Welt, die zuvor von Verstand und
die andern künstlerischen Bewegungen (Dada, Konstrukti- Logik verhindert wurde. Der Surrealismus rehabilitierte das
vismus und de Stijl). Filippo Marinetti rief auch zu einer Reich von Magie und Aberglaube. Die surrealistische Welt ist
typografischen Revolution auf. Seit Gutenbergs Erfindung die Domäne des Unbewussten, der Triebe, der Traumwelt und
des Satzes mit beweglichen Typen hatte das Grafikdesign ihrer Bilderwelt. Es ist eine dunkle, dem logischen Denken
eine strenge horizontale und vertikale Strukturierung ge- verschlossene und absurd erscheinende Region. Der Arzt
pflegt. Die FuturistInnen gaben diese Tradition auf und ani- und Psychiater Sigmund Freud (1856–1939) hatte mit seiner
mierten ihre Seiten mit dynamischen, nicht linearen Wort- Tiefenpsychologie und Trieblehre den Schlüssel für die Ent-
kompositionen. Für sie sollten Wortinhalt und Typografie deckung dieser Welt des Unbewussten geliefert.
gleichzeitig expressive visuelle Form annehmen. Das neue In seinem «Surrealistischen Manifest» ( 1924 ) betonte der
typografische Design bekam den Namen «parole in liberta» französische Schriftsteller André Breton die Sinnlosigkeit
(Worte in Freiheit ) (Abb. 88, 89). einer logischen, ästhetischen und moralischen Zivilisati-
onsfassade gegenüber der existenziellen Übermacht des
Dada Irrationalen.
Dada entstand zunächst als literarische Bewegung, die op- Die SurrealistInnen glaubten an eine lebbare Verbindung der
ponierte, rebellierte und provozierte. Die Dadaisten publi- neuen Wirklichkeit mit der Alltagsrealität, wenn die Letztere
zierten Nonsense-Gedichte mit absurden Titeln und mit einem nach ihren Vorstellungen revolutioniert würde. André Breton:
ebenso charakteristischen Design (Abb. 90). Dada-Künst- «Ich glaube an die künftige Lösung dieser beiden äusserlich
lerInnen erfanden die Fotomontage, nämlich die Technik, vor- so widersprüchlich erscheinenden Zustände – Traum und
gefundene fotografische Bilder zu manipulieren und damit Wirklichkeit – in einer Art von absoluter Wirklichkeit – von
ein widersprüchliches Nebeneinander und Assoziationen des ‹surréalité›.» Der Bruch mit der Tradition und die Utopie
Zufalls zu kreieren. einer «surrealen» Gesellschaft brachte die surrealistische
John Heartfield, der antifaschistische «Fotomonteur», be- Bewegung politisch in die Nähe der revolutionären linken
nutzte die Fotomontage als potente Propagandawaffe gegen Bewegungen und Parteien. André Breton schrieb: « Der Sur-
die Nazis – er gestaltete zum Beispiel die Titelseiten der realismus ist im Dienst der Revolution ».5
deutschen «Arbeiter-Illustrierten-Zeitung» (AIZ) (Abb. 91). Die Wirkung der SurrealistInnen auf das Grafikdesign war
unterschiedlich (Abb. 92). Sie bahnten den Weg für neue
Die surrealistische Traumwelt Techniken und demonstrierten, wie Fantasie und Intuition auf
Die surrealistische Bewegung fand anstelle der realen Welt – visuelle Art ausgedrückt werden können. Die surrealistischen
dieser «Weltkonstruktion der Vernunft» – eine «nicht weni- Bilder und Ideen wurden später von den Massenmedien über-
ger wirkliche Welt»4, bestehend aus Vorstellungen, Fantasien nommen und trivialisiert.6
79

Abb. 89 : Guillaume Apollinaire: Kalligramm «Il pleut» (Es Abb. 90 : Hugo Ball: Dada-Gedicht, 1917. Solche Gedichte Abb. 91: John Heartfield: Der Sinn des Hitlergrusses, 1932.
regnet), 1918. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic drückten den dadaistischen Wunsch aus, den logischen Titelblatt der «Arbeiter-Illustrierten-Zeitung», Nr. 42. An-
Design, New York, 1998, S. 236. menschlichen Unsinn durch einen unlogischen Unsinn zu lass dieser Fotomontage war die finanzielle Unterstützung
ersetzen. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, Hitlers durch das deutsche Monopolkapital. Quelle: Beat
New York, 1998, S. 239. Schneider, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstge-
schichte, Bern, 1999, S. 343.

Der surrealistische Künstler Max Ernst (1891–1965) ver- schmucklose, technisch wirkende Satzschriften verwendeten
wendete eine Reihe von Techniken, die im Grafikdesign (vor allem die Grotesk), und sie entindividualisierten die Bild-
übernommen wurden. Fasziniert vom Holzdruck der Novel- elemente, indem sie für Illustrationen das anonymere Medium
len im 19. Jahrhundert, erfand er diesen neu, indem er techni- der Fotografie der individuellen Handzeichnung vorzogen.7
sche Collagen schuf, um merkwürdige Nebeneinanderstel-
lungen zu kreieren (Abb. 93). Diese surrealistischen Collagen Avantgardistische Fotografie
hatten einen starken Einfluss auf die Illustration. Es war unvermeidlich, dass die neuen visuellen Sprachen der
avantgardistischen Bewegungen die Fotografie beeinflus-
De Stjil/Konstruktivismus sten, genauso wie Futurismus und Dadaismus ihre Wirkung
Der konstruktivistische Einfluss auf das Design durch die auf die Typografie hatten. Die Fotografie wurde erfunden, um
russischen und holländischen KonstruktivistInnen ist bereits die Realität mit grösserer Genauigkeit zu dokumentieren, als
erwähnt worden (vgl. Kapitel 5). De Stijl und der russische dies die Malerei vermochte. Im frühen 20. Jahrhundert stiess
Konstruktivismus suchten nach einer reinen Art der Herstel- die Kunst die Fotografie jedoch in ein neues Reich der
lung von visuellen Beziehungen. Mondrian und Malewitsch Abstraktion und des Designs.
verwendeten dazu reine Linien, Flächen und Farben, welche In seinen Manipulationen von Fotos in der Dunkelkammer
die Basis einer allgemein verständlichen Zeichensprache bil- und in seinen bizarren Aufbauten im Studio brachte Man Ray
den sollten. Die so gewonnene strenge geometrische Ordnung (1890–1976) Dada und Surrealismus in der Fotografie zum
war für sie ein visionärer Prototyp für eine neue Weltordnung Einsatz. Er war der erste Fotograf, der das kreative Potenzial
oder anders formuliert: der formal-ästhetische Ausdruck für der Solarisation ausnutzte, indem er eine Emulsion mit grös-
eine universelle und klassenlose Gesellschaft, welche auf der serer Lichtmenge belichtete, als zur Erzielung der Maximal-
modernen Industrie und Technik basierte. schwärze notwendig ist, so dass eine Bildumkehr eintrat.
Der Gebrauch solcher geometrischer Konstruktionen im Ent- Rays kameralose Drucke, die er rayographs nannte, waren
wurf von gedruckten Seiten hatte durch das ganze 20. Jahr- komplexer als Schattenbilder. Er verwendete auch die Ver-
hundert hindurch einen dominierenden Einfluss auf die visu- zerrungstechnik, den Druck durch Gewebe hindurch und die
elle Kommunikation: Mehrfachbelichtung, um traumähnliche Bilder und neue
Das Vokabular von De Stijl wurde direkt im Grafikdesign Interpretationen von Zeit und Raum zu schaffen und so den
angewendet. Die konstruktivistisch entwerfenden Grafike- Surrealismus im Grafikdesign umzusetzen (Abb. 95 ).
rInnen benutzten für das Gesamtlayout und zum Teil auch für —
die Schrift die horizontalen und vertikalen Strukturen von 4 Beat Schneider, Penthesilea, S. 293f.
5 Zitiert aus: Ebenda, S. 294.
Mondrians Gitter (Abb. 94; vgl. auch Abb. 59). Sie anonymisier- 6 Philip Meggs, History of Graphic Design, S. 245.
ten die Typografie, indem sie statt Zier- und Handschriften 7 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 38.
80

6. Avantgardekunst Meilensteine
und Grafikdesign

Abb. 92: Herbert Bayer: Titel der Zeitschrift «Die neue Abb. 93: Max Ernst: Collage «Une Semaine De Bonté», Abb. 95: Man Ray: Pistole mit Buchstabenquadraten, 1924.
Linie», März 1932. Surreale Flugreisesehnsucht Quelle: 1934. Fotomechanische Drucktechniken machen (Schnei- In diesem «rayograph» verwandeln Mehrfachbelichtungen
Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert de-) Ränder unkenntlich und vereinheitlichen so das Bild. (Solarisation) und wechselnde Lichtquellen die Gegenstän-
des Design. Geschichte und Zukunft der Dinge, Frankfurt, Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, de der Fotografie in eine neue visuelle Ordnung. Quelle: Phi-
2000, S. 105. 1998, S. 244. lip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998,
S. 248.

Der «Plakatstil» breitung. Die Regierungen benutzten in diesem globalen


Die Geschichte des Plakats als Massenkommunikationsme- Konflikt für ihre Propaganda- und Überzeugungskampagnen
dium begann im 19. Jahrhundert. Zur Zeit der aufkommenden Plakate, die massenweise verbreitet wurden (Abb. 98).
Markenartikelindustrie wurde das Bild-Plakat zum wesentli-
chen Werbemittel. Seit der Erfindung der Lithografie durch
A. Senefelder (1798) konnte das Plakat in grossem Format
und hoher Auflage produziert werden. Um die Wende zum
20. Jahrhundert schufen Jugendstilkünstler wie E. Grasset
und A. Mucha einen spezifischen Plakatstil mit fliessenden
ornamentalen Linien und neuen Schriftformen, der in Europa
grossen Einfluss hatte.
Um 1900 begann die Markenartikelindustrie zu florieren. Als
Folge davon prosperierten auch Plakat- und Werbegrafik. In
dieser Zeit wurde das Plakat beziehungsweise das Illustrati-
onsdesign wie gezeigt stark von der modernen Kunst beein-
flusst. Das reduktive, farbflächige Illustrationsdesign, das in
Deutschland im frühen 20. Jahrhundert entstand, wird «Pla-
katstil» genannt. In Berlin wurde Lucian Bernhard (1883–
1972) Schöpfer einer neuen Plakat-Form, des «Berliner Sach-
plakats». Er reduzierte die Bildelemente auf eine grafisch
vereinfachte Produktabbildung und den Firmenschriftzug
(Logo); dazu benutzte er intensive Farben (Abb. 96). Mit die-
ser Vereinfachung des Bildaufbaus sollte die Wahrnehmung
der Plakate im Stadtbild verstärkt und der wachsenden Ver-
kehrsdichte Rechnung getragen werden. Sein Stil machte
Schule: H.R. Erdt, J. Gipkens und andere entwarfen ähnliche
Plakate (Abb. 97).
Im Ersten Weltkrieg stellten diese Designer ihr Können teil-
weise in den Dienst der Kriegswerbung – ein Vorgang, der
auch im Design der USA zu beobachten war. Im Krieg erreich-
te das Kommunikationsmedium Plakat seine grösste Ver-
81

Abb. 96: Lucian Bernhard: Plakat für Zündhölzer der Firma Abb. 94: Richard P. Lohse: Anzeige der Adolf Feller AG Hor- Abb. 98: Lucian Bernhard: Plakat für eine Kriegsanleihe-
Priester, 1905. Ursprünglich war auf diesem Entwurf für gen, um 1950. Quelle: Christoph Bignens, Swiss Style. Die Kampagne, 1915. Der dominierende militärische Eindruck
einen Firmenwettbewerb noch ein Tisch zu sehen, auf dem grosse Zeit der Gebrauchsgrafik in der Schweiz 1914–1964, wird durch die gotische Inschrift verstärkt. Quelle: Philip
die Zündhölzer und eine Zigarre lagen, und im Hintergrund Zürich, 2000, S. 38. Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 251.
tanzende Mädchen. Bernhard reduzierte das Plakat kurz
vor dem Abgabetermin auf zwei Aussagen. Quelle: Philip —
Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 249. Abb. 97: Hans Rudi Erdt: Plakat für Opel-Automobile, 1911.
Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York,
1998, S. 250.
7. DESIGN IM FASCHISMUS
84

7. Design im Faschismus

— von jener Kunst der Reduktion, die wir beim «Plakatstil» ken-
Wirtschaftliches und Soziales nen gelernt haben ( vgl. Abb. 96, 97)?

Die Ästhetisierung der Politik


Die alte politische Elite hatte der neuen NS-Führung bei der
Machtübergabe 1933 zwei grosse ungelöste Fragen hinter-
lassen: die soziale Frage, das heisst der sich zuspitzende
Klassenkampf, und die nationale Frage, das heisst die Über-
Es gibt wichtige Gründe, weshalb in einer Designgeschichte windung der «nationalen Schmach» des Versailler Friedens
die Gestaltung im Faschismus und insbesondere im National- und die «Wiederherstellung nationaler Grösse und Geltung».
sozialismus nicht übergangen werden darf: Die Lösung der sozialen Frage suchten die Nazis in der Über-
Die Alltagsästhetik und das Design spielten im Dritten Reich windung der klassengesellschaftlichen Spaltung. Anstelle der
eine sehr zentrale Rolle. Die Ästhetisierung des Alltags und Klassengesellschaft setzten sie das Modell der klassenüber-
der Politik, inklusive der staatlichen Gewalt, ist eine der windenden «Volksgemeinschaft». Dazu gehörte auch die Zer-
«Errungenschaften» des Faschismus. Ohne die Analyse des schlagung der organisierten Arbeiterbewegung mit allen
zweifellos gekonnten Umgangs der Nazis mit den damals ver- staatlichen Mitteln der Gewalt und des Terrors.
fügbaren Mitteln der visuellen Kommunikation kann das Die Lösung der nationalen Frage bestand in der Schaffung
Funktionieren der Nazi-Herrschaft nicht angemessen ver- des «tausendjährigen Reiches» mit dem Leitbild des «Füh-
standen werden. rers». Dazu diente die beispiellose Aufrüstung staatlicher
Es entspricht einer verbreiteten Meinung, dass nationalso- Macht und die offen imperialistische und aggressive Expan-
zialistische Ästhetik und ihr Design etwas Eigenständiges sionspolitik.
seien, was mit den geschichtlichen Vorgängern nicht viel Die Lösung beider Fragen allein mit repressiven Mitteln – das
gemein habe. Das stimmt so aber nicht. Der Funktionalismus wussten die Nationalsozialisten – war illusorisch. Schon für
lebte, entwickelte sich weiter und konnte sich in der Gestal- die legale Machteroberung war der Terror nur eines der Mittel.
tung von Alltagsprodukten realisieren – und das in der er- Aber auch der Ausbau der faschistischen Macht nach 1933,
sten europäischen Massenkultur. das Vorhaben also, die Mehrheit des deutschen Volkes für die
Im Dritten Reich gab es tatsächlich Design! Die Produktge- NS-Ziele zu gewinnen, wäre mit einer einseitigen Ausrich-
stalterInnen und GrafikerInnen, die sich ihr Rüstzeug zum tung auf Gewalt und Terror nicht möglich gewesen.
grossen Teil in einer Zeit geholt hatten, die vom «Internatio- Neben den repressiven Mitteln setzten die Nationalsozialisten
nalen Stil» geprägt wurde, waren unter der faschistischen ästhetische ein. Sie betrieben einen grossen Aufwand, um
Herrschaft mehrheitlich nicht untätig. Man muss annehmen, ihre Politik zu ästhetisieren. Der Faschismus wollte die krude
dass Tausende von IndustriedesignerInnen die Produktviel- Klassenwirklichkeit nicht verändern, aber er versuchte sie mit
falt einschliesslich der Vernichtungsmaschinerie der Nazis schönem Schein zu maskieren und so ihre Wahrnehmung zu
auf hoch stehendem Niveau gestalteten, Tausende von Grafi- verändern. Neben der brutalen Gewaltanwendung brauchte er
kerInnen die gigantische Nazipropaganda mitsamt der For- zur unerlässlichen Stabilisierung des Regimes die permanen-
mulare der Mörder qualitätsvoll entwarfen. Und sie hielten te Inszenierung einer solchen Scheinwirklichkeit. Durch Insze-
sich in der Regel an formale Prinzipien, die sie vorher entwi- nierung und Kulissen, durch eine beispiellose Dekoration der
ckelt und gelernt hatten. Oder zeugen die «normalen» All- Macht und des Alltags wurde der Unterschied zwischen dem
tagsplakate aus der Zeit des Dritten Reichs (Abb. 103) nicht schönen Schein und der hässlichen Wirklichkeit überspielt.
85

«Die Ästhetisierung erschien für die Bearbeitung der natio- sie war politische Ästhetik. Der Nationalsozialismus war eine
nalen und sozialen Frage deshalb so unentbehrlich, weil die Kultur- und nicht eine Klassenrevolution (vgl. den Abschnitt
Realisierung dieser Ziele entweder nur mit repressiven Mit- «Politisierung des Ästhetischen»).
teln möglich oder überhaupt illusorisch war. Diese Strategie
diente weniger der Veränderung der Wirklichkeit, als der Ver- Erste europäische Massenkultur
änderung ihrer Wahrnehmung oder der Täuschung über die Die Basis für die ästhetische Instrumentalisierung des Alltags
wahren Absichten des Regimes. Dafür nutzten die Nazis viel- und der Politik durch die Nazis war die Massenkonsumkultur.
fältige Instrumente und Techniken, die sie überwiegend im Ohne sie wäre die Effizienz der nationalsozialistischen Kul-
Fundus der Selbstdarstellung bürgerlicher und proletari- turrevolution nicht möglich gewesen. Die Nazis entwickelten
scher politischer Akteure vorfanden, die sie perfektionierten unter dem Primat der Politik die erste kapitalistische Mas-
und zugleich pervertierten und die im Übrigen mit dem Drit- senkultur auf europäischem Boden. Diese beruhte auf einer
ten Reich nicht einfach untergegangen sind.»1 leistungsfähigen kapitalistischen Ökonomie mit relativ diffe-
In der Erzeugung des schönen Scheins war das NS-Regime renziertem Massenkonsum und Massenkaufkraft. Der Mas-
bis weit in die Kriegsjahre hinein erfolgreich. Natürlich konn- senkonsum, auch der von Kulturgütern, wurde von den Nazis
te es auf die Bereitschaft der Massen zur Selbsttäuschung bewusst als ein die Massen blendendes und bindendes Herr-
aufbauen! Dabei kam den Nazis jedoch ihre gegenüber dem schaftsmittel eingesetzt. Die Massenmedien waren auch
Liberalismus und dem Marxismus überlegene Einsicht zu- schon hier die Instrumente der Massenkultur. «Dem Natio-
gute, dass das Verhalten der Menschen nicht ausschliesslich nalsozialismus ist es zwischen 1933 und 1945 also gelungen,
wirtschaftlich und durch die Vernunft motiviert ist. Vielmehr 1. ein tragfähiges Konzept, eine die Massen bindende und
baut es auch auf einem überpersönlichen Motiv für das sie zugleich zufrieden stellende Massenkultur zu entwickeln
Dasein auf. Die Faschisten vertrauten auf die klassenspren- und zu installieren;
gende Kraft ihrer Parolen: «Nation», «Ehre», «Grösse», 2. in dieses Konzept zentrale Elemente bürgerlicher Kul-
«Opferbereitschaft», «Hingabe» usw. Sie befriedigten das tur einzubauen, die innerhalb der Massenkultur eine führen-
Massenbedürfnis nach Identifikation, Gemeinschaft, Unter- de, besser: eine herausragende oder sinnstiftende Aufgabe
haltung und Schönheit. Sie teilten die Ängste der Menschen übernehmen.»2
und boten ihnen eine rückwärts gewandte Utopie an – in ein —
Land, wo alle verlorenen Paradiese liegen. Sie mythisierten die 1 Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs, Frankfurt a. M., 1993, S. 373.
2 Franz Dröge, Michael Müller, Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder
Politik mit der Beschwörung von vormodernen heilen Welten die Geburt der Massenkultur, Hamburg, 1995.
des «Reichs» und der «Volksgemeinschaft». Sie personifi-
zierten die Politik im «Führer» als dem Ersatzkaiser und Erlö-
ser. Sie begleiteten den langweiligen Alltag mit einem pau-
senlosen Feuerwerk grosser Schaustellungen, mit Paraden,
Weihestunden, Fackelzügen, Höhenfeuern und Aufmärschen.
So gesehen, verdankte der Nationalsozialismus seinen Erfolg
neben dem umfassenden Einsatz repressiver Mittel auch der
Mobilisierung und Integration durch ästhetische Massenfas-
zination, der Verführung der Menschen durch das Bündnis
von Macht und «Schönheit». Ästhetik war ein Element der
Machttechnik und der Systemsteuerung des NS-Regimes;
86

7. Design im Faschismus Meilensteine Theorie

Abb. 99: Plakat für KdF. Mit Kraft durch Freude nach Italien. Abb. 100: Plakat «Deutschland – Das Land der Musik», Abb. 101: Werbeplakat für Siemensstaubsauger, um 1935.
Quelle: Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs, 1935. Quelle: Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Quelle: Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs,
Frankfurt a. M, 1993, S. 371. Reichs, Frankfurt a. M, 1993, S. 381. Frankfurt a. M, 1993, S. 377.

Der schöne Schein des Dritten Reichs Politisierung des Ästhetischen


Mit dem Begriff des «schönen Scheins des Dritten Reichs» statt Ästhetisierung des Politischen!
drückte Peter Reichel in seinem gleichnamigen Buch aus, Der Begriff der «Ästhetisierung des Politi-
dass für die nationalsozialistische Kulturpolitik das Schöne schen» ist Walter Benjamin (1892–1940)
nicht nur eine Sache der Künste war. Schönheit war eine der zu verdanken. Benjamin hatte den italieni-
am meisten gebrauchten Vokabeln im kulturellen Jargon des schen Futurismus und dessen obszöne
Nationalsozialismus.1 «Sie charakterisiert und umgibt nicht Ästhetisierung des Krieges vor Augen. Er stell-
nur die Arbeit als notwendige Verrichtung, sondern auch (…) te der «Ästhetisierung des Politischen» als
den Wohnungsbau, die Küche, die Kaffeekanne, die Jagdflie- Herrschaftsmodell der reaktionären bürgerli-
gerstaffel, die Fahnenpräsentation der einmarschierenden chen Kräfte und des Faschismus die «Po–
Sportler, den Reigentanz des BDM (Bund deutscher Mädel, litisierung des Ästhetischen» als Postulat der
B.S.), das Werk ‹Glaube und Schönheit› des BDM, den ge- Linken gegenüber. Die Linke hatte nach Ben-
flochtenen Haarkranz der blonden Deutschen, vor allem aber jamin die Aufgabe, den politischen Kontext
das Rasseideal des meist nackt dargestellten nordisch-deut- und die politische Bedingtheit des Ästheti-
schen Menschen. Das Analogon für ‹Schönheit› ist die ‹Wür- schen hervorzuheben, denn die bürgerliche
de›, so dass sich der neue Staat für und in seinen Menschen Gesellschaft hatte seit der Aufklärung das
in Schönheit und Würde präsentiert.»2 Schöne in einer unpolitischen «interesselo-
Die Bedeutung des Ästhetischen im Aufbau und in der Steu- sen» Sphäre angesiedelt und damit den
erung der nationalsozialistischen Volkskultur bedeutet nicht, Blick für die politische Dimension des Ästheti-
dass die Nazis nur den NS-Stil zugelassen hätten. Diesen NS- schen weitgehend verstellt. Die Folge dieser
Stil gab es nämlich gar nicht, denn je nach Verwendungs- Haltung war, dass das Bürgertum der Ästheti-
zweck wurden historisierende wie moderne Formen einge- sierung des Politischen (etwa durch die Nazis)
setzt und kombiniert. In der Architektur gab es keinen so hilflos ausgeliefert war. Während die Ästhe-
genannten «Führerstil», es gab Platz für verschiedene Archi- tisierung des Politischen die Massen von der
tekturen. Neben volkstümlicher, völkisch biederer Alltagsar- Wahrnehmung der Wahrheit ablenkte, sollte
chitektur gab es für repräsentative Zwecke pseudoklassi- die Politisierung des Ästhetischen aufklären
zistische Monumentalarchitektur («Reichskanzleistil») und und die Wahrnehmung des politischen
für avancierte industrielle Zweckbauten funktionalistische Gehalts visueller Prozesse schärfen.1
Architektur mit einem sparsamen, technisch-rationellen Stil.
87

Abb. 102: AEG-Reklame für einen Kühlschrank, um 1935. Abb. 103: Ludwig Hohlwein: Plakat für die deutsche Luft- Abb. 104: Ludwig Hohlwein: Konzertplakat, 1938. Eine teu-
Quelle: Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs, hansa 1936. Ein mythisches geflügeltes Wesen symbolisiert tonische Kriegerin, von unten beleuchtet. Quelle: Philip
Frankfurt a.M, 1993, S. 377. die Luftfahrtsgesellschaft, den deutschen Sieg an der Berli- Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 255.
ner Olympiade (1936) und den Triumph der Nazibewegung.
Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York,
1998, S. 254.

NS-Alltagsästhetik Politik als Gesamtkunstwerk


Die Bedeutung des Designs und der Warenästhetik im Dritten Joseph Goebbels bemerkte 1937 über Adolf
Reich ist kaum überschätzbar (Abb. 99, 100). Die im natio- Hitler: «Sein ganzes Werk bezeugt einen
nalsozialistischen Sinn gesteuerte Produkt- und Umweltge- künstlerischen Geist: Sein Staat ist ein Bau-
staltung wollte den Alltag prägen und dazu beitragen, einen werk von wahrhaft klassischen Massen.
«neuen Lebensstil», eine «neue Volkskultur» zu schaffen. Es Die künstlerische Gestaltung seiner Politik
sollten «kulturell wertvolle» und «für das Volk erschwingli- stellt ihn, wie es seinem Charakter und
che Produkte» erzeugt werden. Die Palette reichte von der seiner Natur gebührt, an die Spitze der deut-
Agfa-Box, den elektrischen Haushaltgeräten (Abb. 101, 102), schen Künstler.»2
dem «Volksempfänger VE 301» (Abb. 106) bis zu Coca Cola –
erst ab 1942 wurde der Markt mit der vom Import unabhängi- Völkischer Funktionalismus
gen Fanta versorgt – und zum «Volkswagen» (Abb. 107). Für Und in seiner Rede vor der Reichskulturkam-
Massenbedarfsgüter wurde Einfachheit und Sparsamkeit mer vom 1. Mai 1939 führte Joseph Goebbels
verordnet. weiter aus: «Der Nationalsozialismus hat das
Das NS-Regime knüpfte in seinen produktionsästhetischen Wunder fertig gebracht, die Technik dieses
Anstrengungen an die Entwicklungen der zwanziger Jahre an, Jahrhunderts, die schon im Begriff stand, den
als von der Industrie erstmals genormte und typisierte Pro- Menschen sich vollständig botmässig zu
dukte gestaltet worden waren. Traditionell völkische, vormo- machen, aufs Neue zu beseelen und sie mit
derne Elemente fanden im Design weniger Eingang als in Ar- dem Geist nicht nur der Zweckmässigkeit,
chitektur und bildender Kunst. Beim Nazi-Design standen sondern auch der ästhetischen Schönheit zu
vielmehr Sachlichkeit, Effektivität und Zweckmässigkeit im erfüllen.»3
Vordergrund. Was schlicht und praktisch war, galt so auch als —
schön, ganz im Sinn des Werkbund-Designs der zwanziger 1 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M., 1963.
Jahre. Der Leitspruch modernen Gestaltens, Louis Sullivans 2 Zitiert aus: Schneider, Penthesilea, S. 329.
«form follows function», wurde im Dritten Reich nicht aufge- 3 Ebenda, S. 342.
geben, sondern umfunktioniert. Formbestimmende Kraft war
jetzt nicht irgendeine Funktion, sondern die «arteigene Funk-
tion», und die hatte ihr Vorbild in der Natur. Die Gestaltung

1 Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs, Frankfurt a. M, 1993.
2 Franz Dröge, Michael Müller, Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder
die Geburt der Massenkultur, Hamburg, 1995.
88

7. Design im Faschismus Meilensteine

Abb. 105: Ludwig Hohlwein: Plakat für die militärische Re- Abb. 106: Walter Maria Kersting: VE 301 Volksempfänger, Abb. 107: Der KdF-Wagen, der auch Volkswagen (VW) und
krutierung, 1940. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic 1936. Das Gehäuse war aus Bakelit, die abgerundeten später Käfer genannt wurde, 1937. Quelle: Peter Reichel,
Design, New York, 1998, S. 255. Ecken und die geschwungene Linie der Senderanzeige las- Der schöne Schein des Dritten Reichs, Frankfurt a.M,
sen den Art-Déco-Einfluss erkennen. Quelle: Cathrine 1993, S. 371.
McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München,
1999, S. 343.

technischer Produkte hatte sich an organisch-natürliche For- Eine Weltpremiere: ein Amt für Design
men anzupassen (vgl. «Völkischer Funktionalismus»). Aus Es hiess natürlich nicht «Amt für Design», sondern Amt
politisch-ideologischen Gründen wurden die moderne Kunst «Schönheit der Arbeit», erfüllte aber genau diese Funktion.
und die künstlerische Avantgarde bekämpft, aber das Wer meint, dass sich hinter diesem Namen eine ideologisch
Bestreben des Funktionalismus nach Einfachheit und Klar- ausgerichtete Institution versteckte, die Nazi-Schönheits-
heit, nach Standardisierung, billigen Materialien und preis- propaganda zu verbreiten hatte, täuscht sich. Denn das Amt
werten Massenprodukten wurde vom Naziregime problemlos «Schönheit der Arbeit» strebte die Modernisierung und Stan-
vereinnahmt. Einfachheit und Schlichtheit, das Pathos der dardisierung der Produktion in den Betrieben an. Es veran-
Nützlichkeit, entsprachen auch der Ideologie der «deutschen staltete Wettbewerbe, organisierte Kampagnen und gab Mus-
Volkskultur» und den Erfordernissen ihrer industriellen Mas- terbücher heraus. Es regte den Einsatz neuer Materialien wie
senproduktion. So konnte Wilhelm Wagenfeld (1900–90), Bakelit und Aluminium sowie neuer Technologien an und ver-
Bauhäusler und einer der Begründer des modernen deut- wendete dabei – in offensichtlichem Einklang mit der NS-
schen Industriedesigns (Abb. 69), 1935 ohne weiteres Leiter Ideologie – stets die funktionalistischen Prinzipien, die für
der Oberlausitzer Glaswerke werden. Dort entwarf er stapel- die Massenproduktion geeignet waren.
bares Systemgeschirr in geometrischer Kubusform und Gläser Zusammen mit «Kraft durch Freude» (KdF), einer der belieb-
für die Massenproduktion. «Seine schlichten und ‹zeitlosen› testen NS-Gemeinschaften, die über 130 000 ehrenamtliche
Formen kollidierten nicht mit dem Ewigkeitsanspruch des MitarbeiterInnen zählte und eine eigentliche Freizeitgesell-
Dritten Reichs.»3 Nach dem Zweiten Weltkrieg war Wagenfeld schaft aufbaute, erfüllte das Amt «Schönheit der Arbeit»
Mitbegründer des neuen Werkbundes und Dozent an der eine wichtige Funktion bei der Umsetzung der Designpolitik
Hochschule der Künste Berlin und wurde einer der Vertreter des Regimes – ja, man könnte sogar behaupten: eine moder-
des Anspruchs der «Guten Form». ne Funktion. Denn die Institution deckte sich in ihrer Aufgabe
Dem Nationalsozialismus gelang es also, den Funktionalis- weitgehend mit staatlichen Organismen, die man heute etwa
mus und andere Ziele der Reformbewegungen zu vereinnah- Amt für Technologietransfer, Kommission für Innovation oder
men. Es verwundert daher nicht, dass sich schon vor 1933 Amt für Kultur/Abteilung Design nennen würde.
viele Mitglieder des Deutschen Werkbundes im nationalsozia-
listischen «Kampfbund für Deutsche Kultur» organisierten. VE 301 – das wichtigste Instrument der NS-Medienpolitik
Nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 biederte sich ein Was Joachim Petsch das «wichtigste Instrument der faschis-
Teil der ehemaligen Bauhäusler bei ihnen an4 und fand sich tischen Medienpolitik»5 nannte, war ein kleiner Quader aus
im Amt «Schönheit der Arbeit» wieder. Auch andere bekannte Bakelit, der funktionell mit Art-Déco-Einflüssen gestaltet
Designer, wie der Grafiker Ludwig Hohlwein, stellten ihr Kön- wurde (Abb. 106). 1928 (!) hatte Walter Kersting das später
nen in den Dienst der neuen Machthaber (Abb. 103–105). «Volksempfänger 301» genannte Rundfunkgerät entworfen.
89

Abb. 108: Die Leichtigkeit des modernen Verkehrs: Moder-


ne Hängebrücke über den Rhein bei Köln. Quelle: Peter
Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs,
Frankfurt a.M, 1993, S. 372.

Im Dritten Reich wurde das staatlich subventionierte, günsti- auch «Volkswagen» oder einfach VW und später «Käfer»
ge und handliche Radio nun für den Massenbedarf produ- genannt.
ziert. Die massenhafte Verbreitung und die Tatsache, dass Der VW sollte aus Hitlers Sicht den «klassentrennenden Cha-
die EmpfängerInnen mit dem VE 301 technisch gesteuert nur rakter der Kraftfahrzeuge» überwinden und den einzelnen
deutsche Sender empfangen konnten, erklären die Aussage «Volksgenossen in die Volksgemeinschaft» integrieren. «Der
von J. Petsch. Der VE 301 ist ein Paradebeispiel für die von Kraftwagen muss», so Adolf Hitler, «das Verkehrsmittel aller
Thomas Hauffe getroffene Feststellung: «Nicht die Form der Volksschichten werden», sonst behält er seinen «klassen-
Gegenstände, sondern ihre politische Funktion war es, wel- spaltenden Charakter». «Die Leichtigkeit des modernen Ver-
che die Gestaltung der Architektur, der Industrieprodukte, des kehrs schüttelt die Menschen derart durcheinander, dass
gesamten Alltags bis hin zum arischen Menschenbild zum langsam und stetig Stammesgrenzen verwischt werden und
‹Nazistil› machte.»6 so selbst das kulturelle Bild sich allmählich auszugleichen
beginnt.» Der Kraftwagen sei zugleich «Teilnahme an den
Der VW-Käfer Errungenschaften unseres technisch bestimmten Zeital-
Das Regime war mit dem modernen Anspruch angetreten, ters».8 (Abb. 108.)
dass bald «jeder Volksgenosse» Besitzer eines Automobils Die Stromlinienform wurde von den Nazis zur «Bioform» um-
sein sollte. Gesucht wurde ein Personenwagen, der schlicht funktioniert, welche die «rassische» wie auch technische Ü-
und preiswert war. Zudem sollte er nicht wassergekühlt sein, berlegenheit Deutschlands darstellen sollte.
denn nicht jeder «Volksgenosse» konnte über eine Garage PS: Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Überleben-
verfügen. Gefunden wurde der Entwurf von F. Porsche (Abb. den einen VW kaufen.
107), der schon in den zwanziger Jahren an einem billigen —
Personenwagen für die breite Bevölkerung – in Anlehnung an 3 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 130.
4 «Das Bauhaus und das Hakenkreuz», in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 299ff.
das «Model T» von H. Ford – getüftelt hatte. Der Porsche- 5 Joachim Petsch, Kunst im Dritten Reich. Architektur, Plastik, Malerei,
Entwurf war bestechend einfach und nach amerikanischem Alltagsästhetik, Köln, 1987.
6 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 103.
Vorbild stromlinienförmig gestaltet (vgl. zur Stromlinienform
7 Zitiert aus: Gert Selle, Design-Geschichte, S. 232.
Kapitel 8). Diese Form fand auch die Zustimmung Adolf Hit- 8 Die Zitate von Adolf Hitler stammen aus Adolf Hitler, Mein Kampf, zitiert aus:
lers: «Wie ein Käfer soll er aussehen. Man braucht (…) nur Schneider, Penthesilea, S. 387.

die Natur zu betrachten, wie sie mit der Stromlinie fertig


wird.»7 Hitler unterstützte persönlich das Projekt und sorgte
für die staatliche Subventionierung des 1938 gegründeten
Volkswagenwerks in Wolfsburg. Der Personenwagen bekam
den Namen «KdF-Wagen» («Kraft durch Freude») und wurde
90

7. Design im Faschismus

— sich die Umstände, so wurde die Spreu vom Weizen getrennt:


Kommentar Ohne sich verleugnen zu müssen, konnten sich dann zum Bei-
spiel Vertreter des Deutschen Werkbundes oder des Bauhau-
ses der Reaktion anschliessen!

Die Ambivalenz auf Seiten des Nationalsozialismus


In der Faschismusdiskussion erfreut sich die Kontrastierung
von Faschismus und Moderne einer grossen Beliebtheit. Der
Ambivalenzen Faschismus wird als eine Rücknahme der Moderne verstan-
An dieser Stelle müssen zwei grundlegende Feststellungen den. Es war kein Geringerer als der Reichsminister für Volks-
getroffen werden: aufklärung und Propaganda, J. Goebbels, der behauptete:
1. Die gestalterischen Reformbewegungen einschliess- «Wir haben das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen.»2
lich des Bauhauses waren gegenüber dem Faschismus nicht Der Gegensatz von Faschismus und Moderne erfasst jedoch
immun. nur einen Teil der Wirklichkeit!
2. Der Nationalsozialismus vereinnahmte im Bereich des Zwar sammelte und formierte der Nationalsozialismus den
Designs und der Industriearchitektur den Funktionalismus Protest der verunsicherten kleinbürgerlichen und mittelstän-
und viele Ziele der Reformbewegungen, und im faschisti- dischen Klassen gegen die rasante Entwicklung des moder-
schen Italien setzte sich der «moderne Stil» in der Architek- nen Kapitalismus, den Protest gegen moderne Technik und die
tur durch – was Vertreter des Bauhauses wie W. Kandinsky existenzbedrohende Rationalisierung ebenso wie den gegen
dazu (ver-)führte, Mussolinis faschistischen Staat als Modell die grosse Wirtschaftskrise, die «Zinsknechtschaft», das
zu betrachten.1 «Chaos» der von Klassenkämpfen gezeichneten modernen
Beide Aussagen sind kongruent. Der Schlüssel für die Analy- bürgerlichen Gesellschaft und die «Amerikanisierung» des
se dieses Tatbestandes liegt in der Ambivalenz, die sowohl Lebens. Dieser Protest war Ausdruck der Krisenangst und
dem Nationalsozialismus als auch der Moderne innewohnte. Produkt der wirtschaftlichen und politischen Krise der
Gesellschaft und gleichzeitig der organisierte Massenprotest
Die Ambivalenz auf Seiten der Moderne gegen sie. Er wollte, wie der Kunsthistoriker Sedelmayr 1939
Die Ambivalenz der Moderne, ihre innere Widersprüchlich- sagte, «den bodenlos gewordenen Menschen an die Erde
keit, zeigte sich von der Arts & Crafts-Bewegung im 19. Jahr- zurückbringen, von der er sich gelöst hat».3 Millionen von
hundert bis zum Bauhaus immer wieder. In ihrem verbalen Menschen haben dies denn auch mit ihrem Leben bezahlt.
Widerstand waren alle diese Bewegungen radikal. Hinter der Der Nationalsozialismus wollte mit seiner konservativen
verbalen Kritik am Kapitalismus konnten sich jedoch zwei Revolution die Gesellschaft wieder in vormoderne, «heile»
verschiedene Stossrichtungen verbergen: die rückwärts ge- Zustände zurückführen. Und er war mit seinem antimoder-
wandte Utopie, die nicht selten dem national-konservativen nen Protest erfolgreich – erfolgreicher jedenfalls als der
Gedankengut entsprang oder sich ihm zuneigte und vormo- Prostest seiner Gegner auf der Linken, die ihrerseits die bür-
derne Zustände anvisierte, und die progressive Utopie, die gerliche Gesellschaft ja auch durch eine Revolution überwin-
mit modernen Mitteln eine neue egalitäre Gesellschaft auf- den wollten.
bauen wollte. Der Nationalsozialismus war aber nicht nur das Produkt der
Oft lebten beide Varianten unter einem Dach und liessen sich Krise der modernen bürgerlichen Gesellschaft, er war gleich-
nicht fein säuberlich voneinander trennen. Radikalisierten zeitig auch ihr Erbe. Das zeigt sich nirgends deutlicher als in
91

den Mitteln, die er für die Lösung der Probleme anwendete.


Es waren die Errungenschaften der modernen Technik und
Wissenschaften, und es waren die modernsten Massenmedi-
en und Kommunikationstechniken, deren sich der National-
sozialismus wie selbstverständlich bediente. Hitler war der
modernen Technik gegenüber aufgeschlossen wie wenige
Politiker der Weimarer «Sozi-Republik»!
Die vormoderne reaktionäre Vision wurde also mit techni-
scher Modernität verknüpft: Das NS-Regime plante und voll-
zog zum Beispiel die «Endlösung der Judenfrage» mit den
modernsten, rational-wissenschaftlichen, medizinischen Mit-
teln. Für diesen Tatbestand der Verknüpfung technischer Mo-
dernität und reaktionärer Vision prägte Jeffrey Herf den Be-
griff der «reaktionären Modernität».4 Walter Benjamin ging
noch einen Schritt weiter, als er behauptete, der Faschismus
wäre weniger eine vormoderne Abwehr gegen Technik, Indu-
strie, Demokratie und modernes Leben als vielmehr eine rea-
le Möglichkeit im Zentrum moderner oder sich modernisie-
render kapitalistischer Gesellschaft selbst. Er habe auf seine
Weise die Moderne nur radikal und konsequent auf die Spitze
getrieben.5 Vielleicht lebt er darum nach 1945 in den verschie-
densten Formen bis heute weiter, statt von der Bildfläche zu
verschwinden.

1 Beat Schneider, Penthesilea, S. 293.
2 Ebenda, S. 327.
3 Ebenda.
4 Ebenda.
5 Ebenda.
8. STYLING:
DESIGN IN DEN USA
94

8. Styling:
Design in den USA

— kommen liessen erstmals eine Konsumgesellschaft mit neu-


Wirtschaftliches und Soziales en Formen der Massenunterhaltung (Radio, Kino, Musical,
Sport) entstehen. Es dauerte nicht lange, bis es in den dreis-
siger Jahren in den meisten Mittelschichthaushalten neben
den Radios eine Vielzahl elektrischer Apparate wie Kühl-
schränke, Waschmaschinen und erste TV-Geräte gab. Serien-
produktion mit neuen billigen Materialien für den breiten Be-
darf und der Konkurrenzkampf der ständig wachsenden Zahl
Das Design ging in den USA im 20. Jahrhundert seinen eige- von Anbietern gehörten schnell zum Alltag. Ende der zwanzi-
nen Weg. Hauptunterscheidungsmerkmal zur Entwicklung in ger Jahre gab es eine stark expandierende Werbebranche,
Europa war seit den zwanziger Jahren seine direkte und die sich auf die Ergebnisse moderner Marktforschung (Mar-
unbeschwerte Wirtschafts- beziehungsweise Marktnähe. keting) abstützte und die starken kaufkräftigen Mittelschich-
Dies hing mit der wirtschaftlichen und politischen Entwick- ten bearbeitete: Die erste kapitalistische Massenkonsumge-
lung der USA zusammen. Unser Augenmerk gilt deshalb sellschaft war entstanden.
zuerst der Basis, auf der das US-Design von den zwanziger
Jahren bis in die fünfziger Jahre wuchs. Design als Marketingfaktor
Es leuchtet ein, dass in diesem wirtschaftlichen und gesell-
Erste kapitalistische Massenkonsumgesellschaft schaftlichen Kontext das Design in den USA einen eigenen
Vom Ersten Weltkrieg, in den die USA erst 1917 eintraten, wur- Weg nahm. Es war viel direkter als in Europa durch das Kon-
de das Land in seiner wirtschaftlichen Entwicklung nicht be- sumverhalten und die technische Entwicklung gezeichnet.
einträchtigt. Nach dem Krieg war die US-Wirtschaft, nach «Anders als in Europa, wo Reformen im Design fast immer
einer kurzen Anpassungskrise, durch einen rasanten Moder- unter sozialen und/oder funktionalen Fragestellungen abge-
nisierungsprozess und grosse Prosperität gekennzeichnet. handelt wurden, war US-Design in erster Linie ein Marketing-
Grundlage waren ein Bauboom und der Siegeszug des Auto- faktor.»1 Unter dem wachsenden Konkurrenzdruck, zum Bei-
mobils: Ende der zwanziger Jahre gab es in den USA bereits spiel in der Automobilbranche, wurde das Design ein
26 Millionen Kraftfahrzeuge! Auch die Elektro- und die Che- wichtiger Faktor, um sich von den Mitbewerbern auf dem
mieindustrie verzeichneten hohe Zuwachsraten. Die USA Markt zu unterscheiden.
waren zu Beginn der zwanziger Jahre auf dem höchsten Die Wirtschaftskrise von 1929, die viele Erfolge der US-Wirt-
technologischen Niveau aller Industrienationen. Der Innova- schaft wieder zunichte machte, verstärkte diesen Prozess,
tionsschub basierte auf der Systematisierung und Verwis- was auf den ersten Blick paradox erscheinen mag. Doch um
senschaftlichung der Produktionsorganisation, die vor allem die Krise zu überwinden, versuchte die US-Regierung, den
auf Frederick Taylor (1919), den Begründer der wissenschaft- Konsum mit allen Mitteln wieder anzukurbeln. Die Kaufkraft-
lichen Betriebsführung, zurückging und die von Henry Ford steigerung der Massen war das eine Mittel, das andere be-
erstmals adaptiert und in der Automobilfertigung mit Fliess- stand in der Erhöhung der Kaufanreize bei den Produkten
band praktiziert wurde. Dies ermöglichte die Massenproduk- durch neues, ansprechendes Design. Das geschah – und das
tion, die ihrerseits den Massenkonsum zur Bedingung hatte. ist das Neue in der Designgeschichte – durch eine formale
Eine expansive Aussenwirtschaftspolitik sorgte dafür, dass Überarbeitung und Neugestaltung der Produkte unter rein
die USA seit Kriegsende das grösste Gläubigerland der Welt ästhetischen und marketingorientierten Aspekten – eine
wurden. Rationalisierung, Verbilligung und steigende Ein- Methode, die seit 1929 «Styling» genannt wird.
95

Stromlinienförmiger Optimismus entierte und auf deren Grundlage ein klassenübergreifender


Nach der Weltwirtschaftskrise fand in den dreissiger Jahren, gesellschaftlicher Konsens zustande kam.
in der Ära des US-Präsidenten F. Roosevelt, ein allgemeiner Der Wirtschaftsboom, der nach dem Zweiten Weltkrieg ein-
Aufbruch statt. Eine aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik setzte, führte bereits anfangs der fünfziger Jahre zu einer
war mit einem neuen Selbstbewusstsein gekoppelt. Überall Sättigung des Binnenmarktes. Was tun in einer Situation, in
standen die Zeichen auf Optimismus, Dynamik und Fort- der die wichtigsten Konsumbedürfnisse befriedigt sind? Man
schritt. Als Symbol für diesen Fortschrittsglauben fanden die belebt die Nachfrage und schafft neue Bedürfnisse. Letzte-
Industriedesigner die «Stromlinienform» (engl.: «streamli- res fand im neu erschlossenen Feld der Medientechniken (TV-
ne»). Die Industrie nutzte diese Form und übertrug sie als und Transistortechnik) bald ein gigantisches Betätigungsfeld.
Instrument des Stylings mit Hilfe neuer, beliebig formbarer Die Belebung der Nachfrage erfolgte mit forciertem Einsatz
Materialien (Kunststoffe, Sperrholz usw.) und Techniken auf des «Stylings». Exemplarisch kann dies in der Automobil-
ihre Produkte. Die Form hatte wenig mit der Funktion des branche verfolgt werden, wo mit Hilfe der Gestaltung neuer
Gegenstands zu tun. So wurde die Stromlinienform bis zum Oberflächen und Formen und kleiner technischer Verbesse-
Ende der Fünfziger ein Symbol der wirtschaftlichen Haltung rungen, und natürlich unterstützt von Marktforschung und
und eines der Grundelemente des Industriedesigns der USA. Werbung, immer kurzlebigere Produkte gut verpackt auf den
Mit der New Yorker Weltausstellung von 1939, «Building the Markt gebracht wurden: vom amerikanischen Traumauto mit
World of Tomorrow», fand der Optimismus seinen vorläufigen «Flugzeugnase» und imposanten Heckflossen (Abb. 109) bis
Höhepunkt. Hier wurde deutlich, wie rasant sich das ameri- zu elektrischen Küchengräten im Überfluss.
kanische Industriedesign inzwischen entwickelt hatte und Der «American Way of Life» ist also unter anderem auch eine
wie sehr es sich theoretisch und praktisch vom europäischen Erfolgsgeschichte des amerikanischen Designs.
unterschied. —
1 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 96.

Der «American Way of Life»


Als einzige Macht gingen die USA gestärkt aus dem Zweiten
Weltkrieg hervor. Der Krieg hatte Vollbeschäftigung und die
Eingliederung vieler Frauen in den Arbeitsprozess gebracht.
Nach dem Krieg waren die USA eine wirtschaftliche und
politische Weltmacht und mit ihrer atomaren Überlegenheit
(Atomwaffenmonopol bis 1949) eine Supermacht mit unbe-
strittener Führungsrolle im kapitalistischen Lager. Die USA
erlebten einen erst Anfang der siebziger Jahre unterbroche-
nen stürmischen Wirtschaftsaufschwung mit einer durch-
schnittlichen jährlichen Wachstumsrate von vier Prozent.
Diese beruhte vor allem auf stetiger Produktionssteigerung
durch Innovation und Automatisierung. Der wirtschaftliche
Boom war die reale Grundlage des «American Way of Life»
der fünfziger Jahre. Mit diesem Begriff wird die damalige
amerikanische Massenkonsumkultur umschrieben, eine Kul-
tur, die sich an den Werten der weissen Mittelschichten ori-
96

8. Styling: Meilensteine Theorie


Design in den USA

Abb. 109: Harley Earl: Cadillac von General Motors, 1959. Abb. 110: Castagna: Alfa Romeo für den Comte Ricotti, 1913. Abb. 111: Raymond Loewy: Bleistiftanspitzer, 1933.
Heckflossen und triebwerkförmige Rückleuchten. Tropfenform am Einzelstück. Schon der autofreundliche Quelle: Volker Albus et al., Design! Das 20.Jahrhundert,
Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum italienische Futurismus hatte sich mit der Stromlinienform München, 2000, S. 61.
London, München, 1999, S. 239. beschäftigt. Quelle: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt
(Hg.), Das Jahrhundert des Design. Geschichte und Zukunft
der Dinge, Frankfurt a.M., 2000, S. 74.

Industriedesign in den USA: Raymond Loewy


Verschönerung unter Marketingaspekten «Von zwei Produkten, die gleich sind im Preis,
in der Funktion und in der Qualität, wird
Nach der industriellen Revolution hatten die USA im 19. Jahr- sich das schönere besser verkaufen lassen.»1
hundert die am meisten standardisierte und serienmässige
Produktion von Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs Das Re-Design-Verfahren
(vgl. Kapitel 1). Dies sollte auch im 20. Jahrhundert so blei- In Hässlichkeit verkauft sich schlecht (Unter-
ben und hatte – wie bereits erwähnt – in den dreissiger Jah- titel: Erlebnisse des erfolgreichsten Formge-
ren mit der Etablierung der ersten kapitalistischen Massen- stalters unserer Zeit) beschrieb R. Loewy das
konsumgesellschaft grosse Auswirkungen auf das Design. Re-Design-Verfahren folgendermassen:
«Als wir unseren Entwurf begannen, sah der
Traditionelles Design und die europäische Moderne ‹Coldspot-Eisschrank›, der schon auf dem
Bis in die zwanziger Jahre dominierte in Architektur und De– Markt war, ausgesprochen hässlich aus. Es
sign allerdings eine konservative, meist historistische For- war ein unproportionierter rechteckiger
mensprache. Amerikanische Architektur, Möbel- und Einrich- Kasten, mit einem Gewirr von Friesen, Füllun-
tungsgegenstände waren dem konservativen Geschmack der gen und anderem ‹Schmalz› ‹verschönt›.
Mittel- und Oberschicht angepasst, welche einen handwerk- Er hockte hoch über dem Boden auf vier dür-
lich-gediegenen Kolonialstil oder historisch-europäische Neo- ren Beinen, und der Türgriff war ein jämmer-
stile bevorzugten. Ausser den Ablegern der Arts & Crafts-Be- liches Stück billiges Metall. Das änderten wir
wegung gab es im gestalterischen Bereich keine eigentlichen im Handumdrehen. Der offene Raum unter
Reformbewegungen.1 dem Kasten wurde in den Entwurf einbezogen
Die Gedanken der europäischen funktionalistischen Moder- und als Vorratsbehälter vorgesehen. Der neue
ne fanden in den zwanziger Jahren in den USA nur wenig An- Türgriff war gediegen und so wohlgeformt,
klang und waren die Sache einiger weniger avantgardisti- als sei er für ein teures Auto bestimmt. Die
scher Architekten. Das änderte sich mit der Immigration von Scharniere wurden unauffällig eingefügt,
Bauhäuslern und andern Vertretern des «Internationalen und das Firmenschild sah wie ein hübscher
Stils», die vor dem Faschismus auf der Flucht waren. Die Idee Schmuck aus. Der Gesamteindruck war
der funktionalistischen Moderne fand in Architektur und In- Schlichtheit und höchste Qualität. (…) Am
dustrie- und Grafikdesign allmählich Verbreitung. In der Ver- wichtigsten aber war es auf jeden Fall, dass
mittlung der modernen Ideen spielte der finnische Architekt unsere gründliche Analyse des Problems in
Eero Saarinen (1910–1961) eine wichtige Rolle. Er leitete die Zusammenarbeit mit unserem Kunden und
97

Abb. 112: Raymond Loewy: Lucky-Strike-Packung, 1942. Abb. 113: Eero Saarinen: TWA-Terminal des J.F. Kennedy Abb. 114: Eero Saarinen: Tulpenstuhl, Modell Nr. 150,
Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum Airport in New York, 1956–62. Quelle: Cathrine McDermott, 1955–56. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs,
London, München, 1999, S. 197. Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 61. Köln, 2000, S. 319.

1932 in Detroit gegründete «Cranbook Academy», die ein seinen Ingenieuren einerseits das Aussehen
ähnliches Selbstverständnis hatte wie das Bauhaus. verbessert und andererseits die Herstellungs-
Die «Art Déco» mit ihrer ornamentalen Fülle hatte es etwas kosten herabgemindert hatte. Der Erfolg war
leichter als der Funktionalismus. Ihre Attraktivität bestand in verblüffend und begründete unseren Ruf.»2
den expressiven ornamentalen Formen und in der Verwen-
dung luxuriöser Materialien. Unter dem Einfluss der Welt- Die MAYA-Formel von Raymond Loewy
wirtschaftskrise setzte sich dann eine amerikanische, eher Bei seinen erfolgreichen Produktinnovationen
nüchterne Variante der «Art Déco» durch, die sich mit der ging R. Loewy von einem Prinzip aus, das er
neuen Stromlinienform verband und in der Gestaltung von selber in der so genannten MAYA-Formel zu-
zahlreichen Serienprodukten ihren Niederschlag fand. sammenfasste. «Most advanced yet ac-
«Spricht man von einem amerikanischen Beitrag zur Art ceptable» – um erfolgreich zu sein, also den
Déco, meint man die Stromlinienform.»2 Erwartungen der KonsumentInnen zu ent-
sprechen, muss sich in der Produktinformati-
Neues amerikanisches Industriedesign on ein ausgewogenes Verhältnis von Ver-
Das amerikanische Industriedesign hatte von den zwanziger trautem und Neuem ausdrücken. Um diese
bis in die vierziger Jahre eine starke Entwicklung, die sich vom Balance herzustellen, bedurfte es des Wis-
europäischen Design abhob. Im Mittelpunkt des eigenen Ver- sens aus der Markt- und Motivforschung und
ständnisses von Design stand das «Styling» als absatzfördern- einer von der Werbepsychologie unterstütz-
des Instrument und die Stromlinienform als ästhetisches Ide- ten Marktpolitik.
al (Abb. 109). Die Stromlinien- oder Tropfenform, ein Ergebnis —
der Aerodynamik, mit der sich übrigens bereits der Futurismus 1 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 96.
2 Zitiert aus: Wolgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.),
befasst hatte, ist die tropfenförmige Idealform eines Gegen- Das Jahrhundert des Design, S. 114.
stands mit dem kleinstmöglichen Widerstand (Abb. 110).
Die bekanntesten Industriedesigner dieser Epoche des US-
Designs – bezeichnenderweise kamen sie alle aus der Wer-
bebranche – waren Walter D. Teague, der für Kodak arbeitete,
Norman D. Geddes (Automobil- und Eisenbahnentwürfe) und
vor allem Raymond Loewy.

1 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 93.
2 Ebenda, S. 94.
98

8. Styling: Meilensteine
Design in den USA

Abb. 115: Charles und Ray Eames: La Chaise, 1948. Prototyp Abb. 116: Ben Bowden: organisch designtes Fahrrad, 1946.
aus Hartgummi mit Kunststoffüberzug. Es besteht eine Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum
gewisse Ähnlichkeit mit Plastiken von Henry Moore. Quelle: London, München, 1999, S. 376.
Bernd Polster et al., Dumont Handbuch, Köln, 2004, S. 275.

Raymond Loewy, eine amerikanische Legende «Organischer Stil»


R. Loewy (1893–1986), ein in die USA emigrierter französi- Die USA hatten nach der Immigration der Moderne aus Euro-
scher Schaufensterdekorateur, war ab 1929 bei Westinghou- pa in den dreissiger Jahren und während des Zweiten Welt-
se Electric Company Art Director. Ebenfalls 1929 gründete er kriegs in Kunst und Architektur die Führung übernommen.
seine Firma Raymond Loewy Associates. In den dreissiger Nach dem Krieg übernahmen sie auch die wirtschaftliche
Jahren gehörte er zu den wichtigsten Vertretern der Stromlini- Führungsrolle und etablierten sich bis weit in die fünfziger
enform und wurde zum Begründer des «Styling». Heute gilt er Jahre als führende Nation im Industriedesign. Der «American
als einer der erfolgreichsten Designer des 20. Jahrhunderts.3 Way of Life» begann seinen Siegeszug durch das Nachkriegs-
Er wollte die Menschen über ein angenehmes Erscheinungs- europa.
bild der Produkte mit der Technik versöhnen. Als erster Desig- In den USA der Nachkriegszeit bevorzugte das Industriede-
ner stützte er sich bei seinen Entwürfen auf Marktanalysen sign die ästhetischen Ideale der Vorkriegszeit, und das heisst
und brachte neue Produkte und übrigens auch sich selber und die Stromlinienform. Trotzdem wurden mit dem so genannten
seine Firma mit viel Werbeaufwand auf den Markt. Loewy «organischen Stil» oder «organischen Design» neue Wege ge-
wurde auch bekannt für sein Re-Design: Er überarbeitete be- sucht. Unter dem Titel «Organic Design in Homes Furnis-
ziehungsweise «stylte» die Produkte und versah sie mit ei- hings» hatte das Museum of Modern Art in New York, das in
ner attraktiven, stromlinienförmigen Hülle, die sie «neu» und der Gestaltung für die Meinungsbildung führend war, 1941
«schöner» machte und damit den Absatz förderte (Abb. 111). einen Wettbewerb für zeitgemässe neue Formen für Einrich-
Loewy arbeitete für Kodak und Texaco (Tankstellen) und schuf tungsgegenstände, Stoffe usw. organisiert. Gefragt waren
den Ford-Pavillon an der Weltausstellung von 1939. Mit seinen beschwingte leichte Formen mit Bezug zum menschlichen
Entwürfen schuf er bekannte Ikonen des «American Way of Körper und nicht geometrisch-funktionalistische Formen. Es
Life» der Nachkriegsjahre, so unter anderem das Coca-Cola- wurde ein «organischer Stil» kreiert, welcher durch die Wer-
Zapfgerät (1947), den Studebaker Commander (1950), den ke der Wettbewerbspreisträger Eero Saarinen (1910–61) (Abb.
Greyhoundbus, das Verpackungsdesign und die Werbung für 113, 114) und Charles und Ray Eames geprägt wurde. Aus
Lucky Strike (Abb. 112). 1944 gründete Loewy die amerikani- Polyester, Aluminium, Holz und Sperrholz schufen sie orga-
sche «Society of Industrial Design» und 1951 veröffentlichte nisch geschwungene Schalensessel, die schön und bequem
er Never Leave Well Enough Alone (deutsch: Hässlichkeit ver- sein sollten. Vorbilder waren Formen der modernen Kunst,
kauft sich schlecht), ein Buch, das den Raymond-Loewy-My- wie zum Beispiel diejenigen von Henry Moore oder Hans Arp
thos in der Designgeschichte begründete. (Abb. 115; vgl. Abb. 116, 117).
99

Abb. 117: Harry Bertoia: Stuhl Nr. 22, 1952. Abb. 118: Lester Beall: Titelseiten einer Werbebroschüre,
Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 315. 1935. Kontraste von Schrifttypen und von Zeichnung
und Fotografie. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic
Design, New York, 1998, S. 302.

Grafikdesign in den USA 1936 wurde Egbert Jacobson (1890–1966) in der CCA der ers-
te Corporate-Design-Director der USA. Paepcke glaubte,
Die moderne Bewegung dass das Niveau der öffentlichen Werbung durch den Einsatz
Während der zwanziger und dreissiger Jahre war das Grafik- von Kunst gehoben werden könnte und versuchte so das Bau-
design von der traditionellen Illustration dominiert, und das hausideal der «Einheit von Kunst und Leben» zu verwirkli-
europäische modernistische Design hatte vor den dreissiger chen. Er engagierte Künstler wie M. Cassandre und gewann
Jahren in den USA keinen signifikanten Einfluss. Jan Tschi- die Bauhäusler Herbert Bayer (Deutschland) und Herbert
cholds «elementare typographie» ( vgl. Kapitel 5) wurde am Matter (Schweiz) als Mitarbeiter. In den Nachkriegsjahren
Anfang stark abgelehnt. Trotzdem fand die Moderne da und entwickelte Paepcke in der CCA zusammen mit E. Jacobson
dort Eingang ins Buchdesign. Einzelne Buchdesigner brachen und H. Bayer die «vielleicht brillanteste öffentliche Werbe-
mit dem traditionellen Layout der Werbegrafik und übernah- kampagne in der Geschichte».4 Es war die Plakatkampagne
men die «Neue Typographie», so Alfred A. Knopf, S.A. Jacobs mit den «grossen Ideen der westlichen Kultur» (Abb. 120).
und Lester Beall ( Abb. 118). Die CCA setzte damit in der Nachkriegszeit den Standard für
In den späten dreissiger Jahren, als die ImmigrantInnen aus öffentliche Werbung, und 1953 publizierte sie mit dem World
Europa kamen, importierten bekannte Vertreter des «Inter- Geo-Graphic Atlas einen Meilenstein in der Visualisierung von
nationalen Stils» wie L. Moholy-Nagy ( Ungarn ), H. Bayer Daten. Im Vorwort des Werkes, das mit 120 Vollseitenkarten
( Deutschland ), W. Burtin (Deutschland), J. Binder (Deutsch- und 1200 Diagrammen, Grafiken und Symbolen zu Informatio-
land), M. Agha (Russland) und A. Brodowitsch (Russland) die nen aus allen wissenschaftlichen Disziplinen versehen war
neue Designsprache, womit eine wichtige Phase in der Ent- und an dem H. Bayer fünf Jahre lang gearbeitet hatte, sprach
wicklung des amerikanischen Grafikdesigns eingeleitet wur- Paepcke von der «Notwendigkeit eines besseren Verständnis-
de (Abb. 119). Ein Meilenstein war die Gründung des «New ses für andere Völker und Nationen».5
Bauhaus» 1937 in Chicago durch immigrierte Bauhäusler.
Dessen Direktor war L. Moholy-Nagy. 1939 wurde aus dem Die New Yorker Schule
«New Bauhaus» die «School of Design» und 1944 das «Insti- «In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde New York (be-
tute of Design» des «Illinois Institute of Technology» (ITT). dingt durch die historische Situation des Zweiten Weltkriegs
Eine, wenn nicht die zentrale Figur in der Entwicklung des und die wirtschaftliche und politische Führungsrolle der
modernen amerikanischen Designs der dreissiger Jahre war USA) das kulturelle Zentrum der Welt.»6 Die Stadt war ein
Walter P. Paepcke (1896–1960). Er war am Bauhaus interes- —
siert und unterstützte das «New Bauhaus». Paepcke gründe- 3 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 110.
4 Philip Meggs, A History of Design S. 310.
te die Werbefirma Container Corporation of America (CCA), die 5 Ebenda, S. 315.
zum grössten US-Hersteller von Verpackungsmaterial wurde. 6 Ebenda, S. 337.
100

8. Styling: Meilensteine
Design in den USA

Abb. 119: Joseph Binder: Plakat für A & P Coffee, das Abb. 120: Herbert Bayer: Plakat «Grosse Ideen», 1954. Dar- Abb. 121: Paul Rand: Filmplakat für «No Way Out», 1950. Die
Spuren des Kubismus aufweist, 1939. Quelle: Philip Meggs, stellung des Schutzes vor Ungerechtigkeit und Unter- Integration von Fotografie, Typografie, Zeichen sowie grafi-
A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 304. drückung durch Hände, die eindringende Pfeile abwehren. schen Formen und die umgebenden Weissflächen stehen im
Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New krassen Gegensatz zu den damals üblichen Filmplakaten.
York, 1998, S. 311. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York,
1998, S. 338.

Schmelztiegel für künstlerische Bewegungen, technische In- schen Stils» zur Anwendung und machte aus dem Magazin
novationen und eben auch für die Erneuerung des Grafikde- ein Medium der visuellen Kommunikation mit besserem Lay-
signs. Hier bekam das moderne amerikanische Grafikdesign, out (vgl. Kapitel 11). Diese Bemühungen sind an den damali-
gestützt auf seine europäischen Wurzeln, in den fünfziger gen Ausgaben der Design-Zeitschriften wie «Print» und
Jahren seinen internationalen Ruf, der bis in die neunziger «Communication Arts» ablesbar.
Jahre andauerte. Zu diesem Ruf trugen Paul Rand (1914–96), —
Bradbury Thompson (1911–95), Saul Bass (1921–96), Cipe 7 Philip Meggs, A History of Graphic Design, S. 337ff.
8 Cathrine McDermott, Design A–Z, S. 258.
Pineless (1910–91) und Herb Lubalin (1918–81) bei, welche
zusammen die so genannte «New Yorker Schule» bildeten.
Wie kein anderer US-amerikanischer Designer verkörperte
Paul Rand den Zugang zur europäischen Moderne.7 Er hatte
gute Kenntnisse der modernen künstlerischen Bewegung,
insbesondere von P. Klee, W. Kandinsky und dem Kubismus,
und erkannte den Wert von einfachen, universell verstehba-
ren Zeichen und Symbolen als Werkzeug für die visuelle Ko-
mmunikation (Abb. 121). Rand zeigte die wichtige Rolle von
visuellen und symbolischen Kontrasten auf: Rot gegen
Grün; organische Form gegen geometrische Schrift, fotogra-
fische Töne gegen flache Farben usw. «Paul Rand war der
meistbeachtete Grafiker Amerikas.»8 (Vgl. zu Paul Rand
auch Kapitel 11.)
Cipe Pineless war die erste Frau, die Mitglied des New York
Art Director’s Club wurde und damit die Bastion der männer-
dominierten Berufsorganisation des Designs knackte. Sie trug
zur Verbesserung der Gestaltung von Magazinen bei, die seit
den vierziger Jahren vernachlässigt worden war.
In der Gestaltung des Mediums Magazin, das in den späten
sechziger Jahren auch wegen der veränderten Publikumsan-
forderungen (Einfluss des Fernsehens) in die Krise gekom-
men war, ging die New Yorker Schule neue Wege. Sie brachte
typografische Erkenntnisse des «Internationalen typografi-
101

— Dieser Prozess verlief langsam, konfliktreich und mit Rück-


Kommentar schlägen (zum Beispiel in der Marktverweigerung des Desi-
gns Ende der sechziger Jahre). In der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts kam das Design in Europa dort an, wo es in
den USA in den dreissiger Jahren begonnen hatte. Dem Prin-
zip «form follows function» folgte das postmoderne Prinzip
«form follows emotion». In Europa wurde das Design «ameri-
kanisiert». Es scheint, als ob auf dem alten Kontinent in der
Das Unwort «Styling» unverblümten Hinwendung zu den Prinzipien des Marktes
Es gibt, historisch gesehen und typologisch vereinfachend, viel historischer Ballast abgeworfen worden wäre.
zwei Arten, wie die Frage nach «gutem Design» beantwortet PS: Es gehört heute – zumindest im Grafikdesign – immer
wurde: Gut ist Design erstens, wenn es gebrauchstüchtige, noch zum guten Ton (oder zum Abwehrritual?), sich gebets-
formschöne, geschmacksbildende und sozial nützliche Ge- mühlenartig von der Werbung und dem Marketing zu distan-
genstände hervorbringt. Gut ist Design zweitens, wenn es zieren und die Differenz zwischen Design und Werbung zu
verkaufsfördernd wirkt und die Ästhetik diesem Zweck dient. betonen.
Der erste Ansatz ist traditionell in Europa beheimatet, der
zweite ist das hervorragende Merkmal des amerikanischen
Industriedesigns seit den dreissiger Jahren.
In den USA bildete das Design mit dem «Styling» die Prinzi-
pien des kapitalistischen Marktes direkter ab als in Europa.
Beflügelt von den Fortschritten im Klima der ersten Massen-
konsumgesellschaft und «unbeschwert» von künstlerischen
oder sozialen Utopien, packte man in den USA die Fragen der
modernen Gestaltung weit weniger dogmatisch an.
In Europa stiess das «Styling» von Anfang an auf Abwehr. Es
wurde als «Formkosmetik», «Überredungskunst», «Innovati-
onszwang», «Gestaltung mit kommerziellen Zielen» und als
«modischen Strömungen folgende Haltung» verpönt und ge-
radezu als Schimpfwort verwendet. Die in Europa vorherr-
schende funktionalistische Haltung war von kulturellem und
politischem Idealismus getragen und betonte gerne den pä-
dagogischen, künstlerischen und sozialen Charakter des De-
signs. Sie stand traditionell unter einem permanenten Legiti-
mationsdruck. Die Sinnhaftigkeit und die Mission der auf den
Markt gehenden Kunst mussten wie aus einem schlechten
Gewissen heraus ständig begründet werden.
Aus historischer Sicht kann man feststellen, dass sich im eu-
ropäischen Design des 20. Jahrhunderts das Prinzip des
«Styling» und des Marketing ebenfalls durchgesetzt hat.
9. DIE GOLDENEN
FÜNFZIGER IN EUROPA
104

9. Die Goldenen
Fünfziger in Europa

— Starthilfe der USA wie Phönix aus der Asche. Der so genann-
Wirtschaftliches und Soziales te «Korea-Boom» von 1950 markierte den Beginn der Wirt-
schaftswunder-Ära, beruhend auf einer wirkungsmächtigen
Verbindung von ökonomischer Expansion und «Kaltem
Krieg». Mit dem Marshall-Plan, einem riesigen Kapitalinves-
titionsplan, halfen die USA, in Europa und insbesondere in
Deutschland den zerstörten Kapitalismus als wirtschaftli-
ches Bollwerk gegen den kommunistischen Osten wieder auf-
Neonlichtreklamen, Studebaker und Vespa, Nierentisch und zubauen. Sie legten damit den Grundstein für das deutsche
Gummibaum sind Klischees der fünfziger Jahre. In der Tat «Wirtschaftswunder» nach 1952. Wirtschaftliche Wachs-
widerspiegelte das üppige Angebot an Produkten des tägli- tumsraten in bisher nicht gekanntem Ausmass dynamisier-
chen Bedarfs die neu gewonnene (Konsum-) Freiheit der ten Westeuropa. Die Unternehmergewinne explodierten, und
durch die Entbehrungen der Kriegsjahre gebeutelten euro- die Reallöhne der Arbeiterschaft stiegen. Steigende Kauf-
päischen Gesellschaften – Gesellschaften aber auch, die mit kraft und zunehmende Freizeit machten den «Fortschritt»
Antikommunismus, «Kaltem Krieg» und Atomwaffenbedro- greifbar. Nachkriegsträume wurden wahr! Für die Durch-
hung lebten. Dennoch erscheinen die fünfziger Jahre als vi- schnittsbürgerInnen wurde ein Lebensstil möglich, den sich
tale Zeit voller Modernitätsglaube, Gegenwartsfreude und eine Generation zuvor nur die Wohlhabenden leisten konn-
Fortschrittsoptimismus. ten. Mit dem amerikanischen Kapital bahnte sich auch der
Das viele Neue auf den Trümmerhaufen des Weltkriegs war «American Way of Life» seinen Weg durch Westeuropa, ins-
von grossen Änderungen im Design begleitet. Die goldenen besondere durch Deutschland und Italien. Es war der Sieges-
Fünfziger wurden zu einem Design-Jahrzehnt: Der «Interna- zug der «freien KonsumentInnen». Der «American Way of
tionale Stil», der während des Faschismus in Europa fast Life» beeinflusste so gut wie alle Kultur- und Lebensberei-
zwei Jahrzehnte lang im Abseits stand, erlebte als «Gute che: Musik und Kunst, Konsumverhalten, Alltagsleben und
Form» und «Neofunktionalismus» einen Neuanfang oder viel- Design; Film und Werbung hatten grosse Wirkung auf die
mehr seine Fortsetzung; im Grafikdesign begann der «Swiss Schönheitsideale und Modewelten.
Style» seinen weltweiten Siegesmarsch; mit dem aus den Der Wirtschaftsboom war von starkem sozialen Wandel be-
USA importierten Wirtschaftswunder wurde auch der «Ame- gleitet. Die Klassengesellschaft, die bisher vom Kampf der
rican Way of Life» und die amerikanische Auffassung von De- beiden Pole Kapital und Arbeit gekennzeichnet war, wurde
sign als verkaufsförderndem Instrument sowie die Stromlini- nun – oberflächlich gesehen – von der klassenübergreifen-
enform und das «organische Design» importiert. den, modernen Wachstums- und Wohlstandsgesellschaft mit
Es hat also vor allem ökonomische und gesellschaftliche massenkulturellem Charakter abgelöst. Diese kristallisierte
Gründe, dass die fünfziger Jahre ein Design-Jahrzehnt ge- sich um die Familie als Konsumeinheit. Ein Ausschnitt aus
worden sind. Dies trifft auf seine inhaltliche wie auf seine einer Broschüre der Sozialdemokratischen Partei der
formale Seite zu. Schweiz am Ende des Jahrzehnts belegt diese Einschätzung:
«Der einst erniedrigte Arbeiter ist zum selbstbewussten Bür-
Wirtschaftsboom und Design ger (oder vielleicht besser: Konsumenten, B.S.) des Landes
Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg stieg in Europa geworden. Er hat mit seiner Familie teil am Wohlstand.»1 Die
der in den dreissiger Jahren von vielen totgesagte Kapitalis- herrschende Kultur orientierte sich an Familie und Privatle-
mus als «soziale Marktwirtschaft» mit milliardenschwerer ben. Im Zentrum stand der Traum vom trauten Heim und mo-
105

dernen Komfort. Die Leitbilder unter den Signeten der trivia- motorisierung folgte in den sechziger Jahren der Massen-
len Alltagskultur waren der Nierentisch, der Gummibaum, tourismus.
der Bikini, der Pferdeschwanz, der Hula-Hoop-Reifen (Abb.
122), moderne Schrifttypen, Rock'n'Roll, Coca-Cola und ame- Konsumismus und Antikommunismus
rikanische Automobile. Coca-Cola, einst bis in den Krieg hin- Das politische und geistige Klima der fünfziger Jahre wurde
ein eine der Erfolgsmarken der Nazizeit, erlebte in Deutsch- durch zwei eng miteinander verbundene Motive bestimmt:
land seinen Wiedereintritt in den Markt 1949 unter dem die neuen Konsumerwartungen einerseits – nennen wir die
Slogan: «Coca-Cola ist wieder da!»2 entsprechende Haltung «Konsumismus» – und der Anti-
Ein wichtiges kulturelles Ereignis war die Einführung des kommunismus anderseits. Waren während des Zweiten
Fernsehens. 1955 feierte die schweizerische Landesregie- Weltkriegs die nicht faschistische kapitalistische und die
rung die Television als «Symbiose von Bild und Geschwindig- sozialistische Welt noch gegen den Faschismus verbündet,
keit» und bemerkte, diese Überwindung von Raum und Zeit so wurden aus diesen Verbündeten nach dem Sieg wieder die
befriedige «den Wunsch des modernen Menschen, jederzeit alten Feinde der Vorkriegszeit – durch den beiderseitigen
und von jedem beliebigen Ort aus unmittelbar, authentisch Atomwaffenbesitz Feinde mit tödlichem Bedrohungspotenzi-
am Zeitgeschehen und den Ereignissen der Welt teilzuneh- al. Der West-Ost-Konflikt nahm seinen Anfang. Der Gegen-
men.»3 Starke Akzente im kulturellen Leben setzten auch die satz zwischen Kapitalismus und realem Sozialismus nahm
Mode (die Haute Couture von Christian Dior, Coco Chanel und die Form des so genannten «Kalten Krieges» an, der Ende der
anderen) (Abb. 123), die Werbung und das Design. 1950 stand fünfziger Jahre seinen Höhepunkt erlebte.
die Werbung – auch Reklame und Propaganda wurden bald Der Systemwettbewerb zwischen West und Ost wurde im
nur noch Werbung genannt – vor einer neuen Situation. Im Westen mit attraktiven Lebensstandards geführt, und dazu
Wirtschaftsboom wurden die neuen und alten Märkte mit gehörten die Steigerung des Konsums und der Ausbau sozi-
amerikanischen Verkaufsmethoden erschlossen. Marktfor- alstaatlicher Standards. Die Akzeptanz der westlichen Ord-
schung nach verkaufsstrategischen Gesichtspunkten (Mar- nung wurde mit anderen Worten durch steigenden Konsum
keting) wurde zur Aufgabe professioneller Werbeagenturen. erkauft, was als notwendige Voraussetzung für das Funktio-
Die Expansion des Konsums und der Märkte war mit einer nieren der westlichen Demokratien erkannt wurde.
Massenmobilisierung der Frauen nicht nur als Modeträgerin- Die im Westen aufgebaute Bedrohungskulisse des Weltkom-
nen, sondern auch als Hausfrauen und Agentinnen des Kon- munismus steigerte für die neuen KonsumentInnen die Kost-
sums verbunden. Früher waren viele Dinge des täglichen barkeit des Erreichten. Die Angst vor der Atombombe des
Bedarfs noch in den Haushalten hergestellt worden. Jetzt ex- Gegners nährte das Bewusstsein, die angenehmen Seiten
pandierte der kapitalistische Markt auch in diesen Bereich. des Lebens durch diese Bedrohung von ausssen jederzeit
Die Hausfrauen agierten als Käuferinnen der modernen wieder verlieren zu können. Diese Angst war jedoch der Preis
Geräte für den Haushalt. Diese Entwicklung führte übrigens für die «Freiheit in Wohlstand». Der Antikommunismus und
auch zur Entstehung einer neuen Sucht, der Kaufsucht. Der der Konsumismus waren die zwei Beine, die in den kapitalis-
Kauf bekam oft die Funktion, Gefühle der Leere und Sinnlo- tischen Industriestaaten den sozialen Frieden sicherten,
sigkeit des Alltags zu übertünchen. Eine weitere Begleiter- immer wieder den politischen Kompromiss ermöglichten und
scheinung des steigenden Wohlstands war die einsetzende —
Massenmotorisierung. Das Automobil war die ideale Ergän- 1 Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 357.
2 Ebenda, S. 342.
zung zum aufgewerteten Wohnalltag. Im Design dieser Au- 3 Ebenda, S. 360.
tos spiegelten sich die Wünsche der Zeit wider. Der Massen-
106

9. Die Goldenen
Fünfziger in Europa

somit den nationalen Konsens und die erstaunliche Stabi-


lität dieser Zeit garantierten.
Die gesteigerten Konsumerfahrungen und die besseren Le-
bensbedingungen in den fünfziger Jahren hatten ihre Wirkung.
Unter der ideologischen Glocke des antikommunistischen
Konsens nährten sie eine optimistische Grundstimmung. Das
charakteristische Lebensgefühl war das optimistische Gefühl
einer neuen Modernität, einer neuen Dynamik. Es war eine im
Grossen und Ganzen von Zweifeln unbelastete Zeit. Das Miss-
trauen gegenüber gesellschaftlichen Visionen und Utopien
sass bei den Erben einer durch Heilserwartungen verursach-
ten Katastrophe tief. Im Mittelpunkt stand die Festigung der
eigenen Lebenssituation – durch Arbeit und deren Früchte,
den Konsum.
107

9. Die Goldenen Meilensteine Theorie


Fünfziger in Europa

Abb. 122: Hula-Hoop-Reifen. Quelle: Beat Schneider, Pen- Abb. 123: Christian Dior: Kostüm mit O-Linie, 1951. Quelle: Abb. 124: Kinderwagen aus dem Neckermann-Katalog,
thesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte, Bern, Beat Schneider, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunst- 1955. Die Stromlinienform wurde auf alle möglichen Gegen-
1999, S. 356. geschichte, Bern, 1999, S. 360. stände übertragen. Quelle: Gert Selle, Design-Geschichte
in Deutschland. Produktkultur als Entwurf und Erfahrung,
Köln, 1990, S. 251.

Das Design im Europa der fünfziger Jahre Wirtschaftswunder


In den fünfziger Jahren zeichnete sich das Design durch ver- Bruno Zevi, italienischer Architekt, bemerkte
schiedene, teilweise gegensätzliche Strömungen aus, zu de- über das deutsche Auftreten auf der Welt-
nen sich, wie immer, regionale Besonderheiten gesellten. Die ausstellung in Brüssel (1958): «Deutschland
Palette reichte von konservativen Bestrebungen, die sich an vergisst für eine Weile die Gaskammern,
der restaurativen Vergangenheit der dreißiger und vierziger erscheint auf der Weltausstellung mit einem
Jahre orientierten, über neue, dem wirtschaftlichen Auf- glatten, eleganten Antlitz und tut so, als würde
bruch entsprechende Stromlinienformen bis zur Neubele- der Fortschritt der Technik alles rechtferti-
bung des «Internationalen Stils» als Neofunktionalismus gen, was zwischen einem Panzerkraftwagen
und der «Guten Form». und einem elektrischen Rasierapparat liegt.»1

Deutschland: Stromlinienform und Neofunktionalismus 1 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 118.

Die vordringlichsten Gestaltungsaufgaben der Nachkriegs-


jahre waren den Reparaturarbeiten an den immensen Kriegs-
schäden gewidmet. Es galt, nach der Zerstörung von Millionen
von Wohnungen, Häuser zu bauen und Wohnungen einzu-
richten. Dies musste mit beschränkten Mitteln geschehen,
was die Finanzen und das Material betraf. Preiswerte Woh-
nungen und leichte, handliche Möbel mussten massenweise
zur Verfügung gestellt werden.
Mit diesen dringenden Aufgaben beschäftigte sich die Aus-
stellung des neu gegründeten Werkbundes (dwb) im Jahre
1949 in Köln unter dem Titel «Neues Bauen». Seither findet
jährlich im Frühjahr die Kölner Möbelmesse statt.
Gegen Mitte des Jahrzehnts begann sich das deutsche «Wirt-
schaftswunder» zu entfalten. Dies manifestierte sich in ge-
sellschaftlichem Optimismus und einer allgemeinen Auf-
bruchsstimmung. Der Massenkonsum in Deutschland, der im
Grunde an zurückliegende erste Massenkonsumerfahrun-
gen im Dritten Reich anknüpfte (Coca-Cola), half, die bösen
Erinnerungen an die Nazizeit zu verdrängen und bei der
108

9. Die Goldenen Meilensteine


Fünfziger in Europa

Abb. 125: Nierentisch. Zeitgenössische Karrikatur. Quelle: Abb. 126: Corradino D'Asciano: Vespa, 125 ccm, 1951 (Firma Abb. 127: Carlo Mollino: Arabeskentisch aus gebogenem
Beat Schneider, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunst- Piaggio). Einteilige Karosserie, deren Stromlinienform an Sperrholz mit Glasplatte, 1949. Quelle: Cathrine McDer-
geschichte, Bern, 1999, S. 363. das US-Automobildesign erinnert. Quelle: Cathrine McDer- mott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999,
mott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 127.
S. 236.

« Stunde null» neu zu beginnen. Die ästhetische Orientierung Nachkriegsaufschwung (niedrige Löhne, amerikanische Wie-
am «American Way of Life» beziehungsweise am stromlini- deraufbauhilfe, «italienische Flexibilität») spielte das Design
enförmigen Design suggerierte einen Neuanfang. Die Formen eine wichtige Rolle. Der wirtschaftliche und kulturelle Ein-
des «organischen Design» (vgl. Kapitel 8) und die Stromlini- fluss der USA machte sich zwar auch in Italien bemerkbar,
enform wurden deshalb in Westdeutschland begeistert auf- doch die Charakteristika des «American Way of Life» wurden
genommen. Sie wurden auf alle möglichen Gegenstände des durch das spezifisch Italienische (die Eigenarten der «Italia-
Alltags übertragen (Abb. 124, 125) und zeigten die «moderne nità») in ein selbständiges Design, die so genannte «italieni-
Einstellung» ihrer BenutzerInnen. Für die Gestaltung der Ge- sche Linie» umgesetzt. Mitte der fünfziger Jahre war die
brauchsgegenstände wurden neue Materialien verwendet, so «italienische Linie» bereits ein internationaler Begriff für
zum Beispiel Resopal, ein Kunststofflaminat zum Beschich- modernes Leben und Design.
ten bunter Oberflächen von Möbeln und andern Einrich- Die bekanntesten Nachkriegsprodukte waren der Vespa-Rol-
tungsgegenständen. ler (Abb. 126) und der Fiat 500. Von mittelständischen ober-
Im deutschen «Wirtschaftswunder» gab es aber auch konser- italienischen Unternehmen hergestellte Möbel und beson-
vative und restaurative Tendenzen. Die ehemaligen Oberklas- ders die Mode wurden veritable Exportschlager.
sen und die neuen Reichen hatten standesgemäße Reprä- «Im Gegensatz zur deutschen (theoretischen) und amerika-
sentationsbedürfnisse und umgaben sich wie schon früher nischen (marketingorientierten) Designauffassung war das
mit Möbeln in historisierenden Stilen. italienische Design eher geprägt durch Improvisation und vor
Neben den genannten Designströmungen gab es auch die allem durch die alte kulturelle Tradition, die Kunst, Design
Anknüpfung an die eigenen progressiven Vorbilder aus der und Wirtschaft – Schönheit und Funktion – nicht so strikt
Vorkriegszeit, an den funktionalistischen Stil. Dem Neofunk- voneinander trennte. (Eine spezifische Design-Ausbildung
tionalismus im Industriedesign und dem funktionalistischen gab es nicht, die meisten der italienischen DesignerInnen
Grafikdesign («Swiss Style») sind die Kapitel 10 und 11 die- waren ArchitektInnen.) Das Zusammenwirken von künstleri-
ses Buches gewidmet. scher Kreativität und der Tradition kleiner flexibler Hand-
werksbetriebe ist charakteristisch für Italien.»2 Im Möbelde-
Die «italienische Linie» sign wurde die zeitgenössische Kunst mit ihren abstrakten
«Italien, das vor dem Zweiten Weltkrieg der Designgeschich- und dynamischen Formen zum Vorbild. «Einheit der Künste»
te nur wenige wichtige Impulse gegeben hatte, erlebte nach war denn auch der Slogan der «Triennale» in Mailand von
dem Krieg die wohl stürmischste Entwicklung und stand 1953. Sie war die erste moderne italienische Möbelausstel-
nach einem Jahrzehnt als Design-Nation in den vorderen lung und wurde zu einer der wichtigsten regelmäßig statt-
Rängen. Man war modern um jeden Preis, ein Hang, der seine findenden europäischen Designausstellungen (Sie findet
Wurzeln noch im Futurismus hatte.»1 Beim italienischen gegenwärtig jährlich im Frühjahr statt). Nach 1954 vergab
109

Abb. 128: Hans Wegner: «Kuhhornstuhl», Modell Nr. PP 505, Abb. 129: Arne Jacobsen: der Stuhl «Ameise», 1952 (Firma
1952. Rahmen aus Mahagoni; Sitzfläche aus Rohrge- Fritz Hansen). Der erste dänische Stuhl, der in Massenpro-
flecht. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, duktion hergestellt wurde. Ähnlich wie Eames (Abb. 115)
2000, S. 301. setzte A. Jacobsen gebogene Schalen aus Sperrholz auf
Stahlrohrgestelle. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z.
Designmuseum London, München, 1999, S 119.

das Mailänder Warenhaus La Rinascente den Design-Preis Stuhl ist diesem ähnlich. Nach der Durchsetzung von indust-
«Compasso d'Oro». riellen Fertigungsmethoden und neuen Materialien kam es in
Carlo Mollino (1905–73) wurde in Italien mit schwellenden Dänemark nach dem Zweiten Weltkrieg zu Verbindungen von
organischen Formen in seinen expressiv gebogenen Schicht- Tradition und Moderne. «Das machte die Möbel modern und
holzmöbeln, die nicht selten der weiblichen Anatomie nach- gleichzeitig gemütlich, was der Hauptgrund für den weltwei-
gebildet waren, zum herausragenden Vertreter des «organi- ten Erfolg der skandinavischen Wohnkultur war: die Verbin-
schen Designs» (Abb. 127), das sich in Italien jedoch nur dung des ‹Internationalen Stils› mit gediegener Handwerks-
schwer durchsetzen konnte. Andere bekannte Designer der kultur auch in der industriellen Produktion. »3 (Abb. 129.)
Zeit waren Achille Castiglioni (1918*), Gio Ponti (1891–1979) Zum Design in der Schweiz vergleiche Kapitel 11: Swiss Style
und Osvaldo Borsani. Castiglioni ist einer der bekanntesten – der Internationale typografische Stil.
italienischen Gestalter. Seit 1940 beschäftigte er sich zusam- —
men mit seinen Brüdern Livio und Pier im gemeinsamen 1 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 112.
2 Ebenda, S. 113.
Architekturbüro mit der experimentellen Erkundung industri- 3 Ebenda, S. 127.
eller Produkte. Von ihm stammen unzählige Entwürfe für
Radios, Leuchten, Möbel und Haushaltwaren (Alessi). Er
erhielt insgesamt neunmal den «Compasso d'Oro».

Skandinavien: gemütlich und modern


Neben dem italienischen Design, dem amerikanischen «Sty-
ling» und dem deutschen Neofunktionalismus prägte beson-
ders das skandinavische Design die Wohnkultur der fünfziger
und sechziger Jahre.
In der skandinavischen Möbelkultur gab es auch nach dem
Zweiten Weltkrieg noch eine starke handwerkliche Tradition
der Holzverarbeitung (Birken- und Föhrenholzmöbel). Däne-
mark und Schweden verfügten über führende Möbeldesigner.
Dänemark entwickelte als europäischer Hauptimporteur von
Teakholz den dänischen Teakholzstil. Tonangebend waren
nach dem Krieg besonders die dänischen Möbeldesigner. Der
Stuhl JH 501 von H. J. Wegner (*1914) (Abb. 128) wurde zum
Symbol für das skandinavische Sitzmöbel. Der abgebildete
10. GUTE FORM UND
DIE ULMER HOCHSCHULE
FÜR GESTALTUNG
112

10. Gute Form und die Meilensteine Theorie


Ulmer Hochschule für Gestaltung

Abb. 130: Hochschule für Gestaltung Ulm auf dem Kuhberg.


Quelle: Frauen im Design. Berufsbilder und Lebensweg seit
1900, Stuttgart, 1989, Bd. 1, S. 245.

Neofunktionalismus Die gute Form


Im Design Nachkriegsdeutschlands mied man auf der Suche In einer Ausstellung im Internationalen De-
nach eigener Identität tunlichst die Nähe zum Kunsthand- sign Zentrum Berlin (IDZ) wurde Design fol-
werk, weil dieses allzu sehr durch die nationalsozialistische gendermassen beschrieben:
Blut-und-Boden-Propaganda belastet war, was jedoch nicht
verhindern konnte, dass es dennoch zu restaurativen Ten- Gutes Design
denzen kam. In dieser Situation lag es nahe, an die eigenen — darf keine Umhüllungstechnik sein. Es
progressiven Vorbilder aus der Vorkriegszeit, den «Interna- muss die Eigenart des jeweiligen Produkts
tionalen Stil» anzuknüpfen. So wurde nach Kriegsende die durch eine entsprechende Gestaltung zum
emigrierte Moderne – bedeutende Bauhäusler hatten in den Ausdruck bringen ;
USA den «Internationalen Stil» weiterentwickelt – aus den — muss die Funktion des Produkts, seine
USA re-importiert (zum Einfluss der USA, vgl. Kapitel 9). Handhabung, sichtbar und damit für die Be-
In der sowjetischen Besatzungszone, der späteren Deutschen nutzerInnen klar ablesbar machen;
Demokratischen Republik (DDR), entstand das Bauhaus in — muss den neusten Stand der techni-
Dessau neu, und in Halle-Giebichenstein wurde die Hoch- schen Entwicklung transparent werden lassen;
schule für Gestaltung mit ähnlicher Aufgabenstellung ge- — darf sich nicht nur auf das Produkt
gründet. Doch erst Mitte der siebziger Jahre wurden die Bau- selbst beschränken, sondern muss auch Fra-
haus-Ideen und die Prinzipien des funktionalen Gestaltens gen der Umweltfreundlichkeit, der Energieein-
als «nationales Erbe» wieder entdeckt. Von der DDR wurde sparung, der Wiederverwendbarkeit, der Lang-
«der Funktionalismus zum Gestaltungsprinzip erhoben, das lebigkeit und der Ergonomie berücksichtigen;
den Lebensbedingungen der sozialistischen Gesellschaft als — muss das Verhältnis von Mensch und
Zielvorstellung am meisten entspreche. Funktionalismus Objekt zum Ausgangspunkt der Gestaltung
wurde dabei nicht als Stilkategorie verstanden (grau, eckig machen, besonders auch im Hinblick auf
und stapelbar), sondern als eine ‹Methode der Arbeit›.»1 Aspekte der Arbeitsmedizin und der Wahr-
In der westlichen Besatzungszone, der späteren Bundesre- nehmung.1
publik Deutschland (BRD), wurde 1947 der Deutsche Werk-
bund (dwb) neu gegründet und 1951 in Darmstadt der «Rat
für Formgebung», eine dem Werkbund nahe stehende Insti-
tution des Bundeswirtschaftsministeriums, initiiert. Der Rat
hatte die Aufgabe, das westdeutsche Design mit Wettbewer-
ben und Auszeichnungen zu fördern. Eine Jury sollte jährlich
113

den Bundespreis «Gute Form» vergeben. 1953 kam dann die Zehn Regeln für gutes Design
Gründung der Ulmer Hochschule für Gestaltung (HfG) dazu. (nach Dieter Rams)
Alle diese Institutionen pflegten den Funktionalismus. Sie Gutes Design
lehnten sowohl den «organischen Stil» als auch die restau- — ist innovativ;
rativ-historisierenden Stile ab und bekamen in der Designge- — trägt zur Nützlichkeit des Produkts bei;
schichte das Etikett des «Neofunktionalismus». Die west- — ist ästhetisches Design;
deutschen Institutionen waren ab den beginnenden fünfziger — macht ein Produkt leicht verständlich;
Jahren der «Guten Form» verpflichtet. — ist unauffällig;
— ist ehrlich;
Die «Gute Form» — ist langlebig;
— ist konsequent – bis ins Detail;
Der Begriff — ist so wenig Design wie möglich.2
Der Begriff «gut» begleitete das Umfeld des deutschsprachi-
gen Designs schon seit längerer Zeit. «Gut» meinte schon Das «Braun-Design»
beim frühen Werkbund das, was ästhetisch einfach, ohne «Gekauft wird das ‹Braun-Design› », wie Hans
überflüssige Dekoration, funktional und gesellschaftlich nütz- Gugelot 1963 rückblickend bemerkt, «von
lich war. Das Wort umfasste immer auch die dem Begriff Intellektuellen, die aber über das ganze Bun-
innewohnende moralische Dimension. desgebiet verteilt sind, eben von denjenigen,
1949 organisierte der Schweizer Max Bill, ehemaliger Bau- die in oder zumindest aus den Städten ihre In-
häusler und späterer Gründungsdirektor der Ulmer Hoch- formationen und Anregungen beziehen.
schule für Gestaltung, in Basel und in Ulm eine Wanderaus- ‹Braun›, das ist schon bald nicht mehr eine
stellung des Schweizerischen Werkbundes (SWB) unter dem Marke neben anderen, sondern Teil eine Le-
Titel «Die gute Form». Diese Ausstellung sorgte auch in der bensauffassung, zu der um 1957 auch das
Bundesrepublik Deutschland für grosses Aufsehen. In der ‹Modern Jazz Quartett › und der Existenzia-
Schweiz war sie die Initialzündung für einen jährlich wieder- lismus, die Zeitschrift ‹Magnum› und die ab-
kehrenden Designwettbewerb, der 1952 unter dem Namen strakt-konkrete Kunst gehören.»3
«Die gute Form SWB» zum ersten Mal stattfand und form- —
schön und materialgerecht gestaltete handwerkliche (!) und 1 Zitiert aus: Bernhard Bürdek, Design, S. 17.
2 Zitiert aus: Marion Godau, Produktdesign. Eine Ein-
industrielle Bedarfsgüter prämierte. Die Ausgezeichneten führung mit Beispielen aus der Praxis, Basel, 2003, S. 96.
— 3 Zitiert aus: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.),
1 Bernhard Bürdek, Design, S. 72. Das Jahrhundert des Design, S. 154.
114

10. Gute Form und die Meilensteine Theorie


Ulmer Hochschule für Gestaltung

Abb. 131: Max Bill und Hans Gugelot: Hocker der Hochschu-
le für Gestaltung, 1954. Ein multifunktionales Möbel für die
StudentInnen der Hochschule. Es diente auch als Beistell-
tisch, Rednerpult und zum Transport von Büchern und ist
Symbol der rationalen Ulmer Gesinnung. Quelle: Wolfgang
Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design.
Geschichte und Zukunft der Dinge, Frankfurt a.M., S. 167.

durften mit dem Label «Die gute Form» werben. Die Durch- Die Ulmer Hochschule für Gestaltung
führung der Aktion «Die gute Form» dauerte von 1952 bis Walter Gropius sagte in der Eröffnungsrede
1968. Max Bill veröffentlichte 1957 ein gleichnamiges Buch. der Hochschule: «Breite Erziehung muss den
In Deutschland wurde der Begriff zur Richtschnur für das richtigen Weg weisen für die richtige Art der
neofunktionalistische Design sowie für den «Rat für Formge- Zusammenarbeit zwischen dem Künstler,
bung», der seit den fünfziger Jahren jedes Jahr eine Ausstel- dem Wissenschaftler und dem Geschäfts-
lung für den «Bundespreis Gute Form» organisierte. Der Be- mann. Nur zusammen können sie einen Pro-
griff wurde nie genau definiert. Er lässt sich aber als Summe duktionsstandard entwickeln, der den Men-
von diversen Verlautbarungen (Stellungnahmen einzelner Ex- schen zum Mass hat, das heisst die Imponde-
ponentInnen, Ausstellungskatalog zu Max Bills Ausstellung, rabilien unseres Daseins ebenso ernst nimmt
Kriterienkatalog der Jury des «Bundespreises Gute Form») wie physische Bedürfnisse. Ich glaube an die
folgendermassen umschreiben: Gute Form ist eine einfache, wachsende Bedeutung der Arbeit im Team für
funktionale und materialgerechte Form von zeitloser Gültig- die Vergeistigung des Lebensstandards in
4
keit mit hohem Gebrauchswert, langer Lebensdauer, guter der Demokratie.»
Verständlichkeit, Verarbeitung und Technologie, ergonomi- Gui Bonsiepe: «Die Hochschule für Gestaltung
scher Anpassung und ökologischer Nachhaltigkeit (vgl. unten). Ulm war so anziehend, weil sie mit Leiden-
schaft versuchte, das Design in eine begründ-
Signum für Qualität bare Tätigkeit zu verwandeln und aus blinder
«Gute Form» hatte einen hohen Anspruch, setzte sich von Ad-hoc-Praxis zu befreien. Das ist gelegent-
schlechter Gestaltung ab und wollte sich deutlich von modi- lich missverstanden worden als ein Versuch,
schen Strömungen und von der Gestaltung mit «kommerziel- das Design in eine Wissenschaft zu verwan-
len Zielen» – gemeint war natürlich das «Styling» – abhe- deln.»5
ben. Sie wollte besser sein als «der ‹Industriekitsch›, auf
dessen Verständnis und Verbrauch die Massen eingeschwo- Zur Ulmer Methodik
ren sind».2 «Gute Form» war «das Signum für Qualität. (Sie) Lucius Burckhardt kritisierte 1980 die präzise
besitzt bildende und prägende Kraft im humanen, sozialen, Ulmer Methodik folgendermassen: «Studen-
kulturellen Bereich. Ihre wirtschaftliche Bedeutung resul- tenarbeiten in Ulm begannen ungefähr fol-
tiert aus ihrem Vermögen, die Vollkommenheit und den Wert gendermassen: ‹Die Aufgabe lautet, feste bis
eines Produktes sichtbar zu präsentieren.» So definierte E. breiige Substanzen in Portionen von zehn bis
Schalfejew, der ehemalige Präsident des «Rates für Form- zwanzig Gramm von einem Teller etwa dreissig
gebung» die «Gute Form».3 Zentimeter in die Höhe zu heben und hori-
115

Abb. 132: Hans Roericht: Hotelstapelgeschirr TC 100,


1958/59 (Firma Rosenthal AG). Systemgedanke im Produkt-
design – «ein Idealentwurf der Ulmer Theorien: rationelle
Raumausnutzung und minimalistische Ästhetik», wie «Art»,
Nr. 9, 2003 auf Seite 41 meint. Quelle: Bernhard Bürdek,
Design. Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestal-
tung, Köln, 1991, S. 41.

«Gute Form» glaubte an die gesellschaftliche Wirkung des zontal zur Mundöffnung zu schieben, wobei
Designs. Gutes Design konnte einen Beitrag zum Fortschritt dann der Träger durch die Oberlippe von sei-
der Gesellschaft leisten, indem es seine «humanisierende ner Substanz entlastet wird.› Das Resultat ist
Kraft» im Rahmen der (neutralen?) Produktion entfaltet. Die nicht etwa Charly Chaplins Essmaschine,
gesellschaftlichen Absichten der «Guten Form» kommen in sondern – eine etwas modernistisch gestal-
einem – allerdings aus den sechziger Jahren stammenden – tete Gabel.»6
Kriterienkatalog der Jury des Bundespreises treffend zum
Ausdruck. Zur «gesellschaftlichen Funktion» wird dort Fol- Zur Krise der Hochschule für
gendes notiert: Gestaltung (kurz vor der Schliessung)
«1. Beitrag zum Fortschritt der Gesellschaft 2. Interessen der Anlässlich der Gedenkfeier zum 25. Jahrestag
Konsumenten 3. Marktbedürfnis 4. Preiswürdigkeit 5. Markt- der Hinrichtung der Geschwister Scholl am
relation 6. Abstimmung von formaler und praktischer Lebens- 20. 2.1968 veröffentlichten die Studierenden
dauer 7. Innovation 8. Entwicklungsfähigkeit 9. Anregung zur – wohl im Bewusstsein, dass die Schliessung
Kreativität (z. B. bei Spielzeugen) 10. Kommunikationsmög- der Hochschule unmittelbar bevorstand – ein
lichkeit.» 4 Referat, in dem sie Folgendes schrieben:
«die krise der hfg ist keine isolierte erschei-
Härter, kantiger, sachlicher nung. sie ist ein symptom für den übergang
Bekannte Produkte von deutschen Firmen wie Braun oder einer liberal-pluralistischen gesellschaft in
Rosenthal wurden zum Inbegriff der «Guten Form» und des eine formierte gesellschaft. (…) sie spiegelt
«German Designs». In den sechziger Jahren wurde die «Gute gleichzeitig die ökonomische krise wider. (…)
Form» zum Stilprinzip, «das von den verschiedenen Institu- die manipulation des menschen durch pres-
tionen, den Designzentren und dem ‹Rat für Formgebung› oft semonopole, werbung und trivialliteratur wird
geradezu dogmatisch vertreten wurde.»5 Im Vordergrund in ihrer geistigen und psychologischen gleich-
standen fast ausschliesslich funktionale und technologische schaltung der einzelnen individuen zum
Aspekte. Die DesignerInnen verstanden sich mehr als Ingeni- integrierenden element der politik der for-
eurInnen denn als GestalterInnen. Die Formen wurden härter, mierten gesellschaft. seitdem das land aus-
— schliesslich auf die wirtschaftliche expansion
2 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 102. —
3 Zitiert aus: Textsammlung des «Rates für Formgebung», Darmstadt, o. J. (vor 1958), S. 1. 4 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 121.
4 Punkt IV des Kriterienkatalogs der Jury des Bundespreises 1970. Typoskriptkopie beim 5 Zitiert aus: Bernhard Bürdek, Design, S. 136.
«Rat für Formgebung», Darmstadt, 1970. S. 2. 6 Zitiert aus: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt,
5 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 130. Das Jahrhundert des Design, S. 153.
116

10. Gute Form und die Meilensteine Theorie


Ulmer Hochschule für Gestaltung

Abb. 133: Dieter Rams: Rasierer Braun, 1951. Quelle: Cathri-


ne McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, Mün-
chen, 1999, S. 213.

kantiger und sachlicher, auch einfallsloser, aber sie hatten in ausgerichtet ist, werden die menschen nur da-
die Massenproduktion Eingang gefunden. «Ein schlecht nach bewertet, wie weit sie selbst die produk-
kopierter Funktionalismus, der nur oberflächlich den rechten tion oder ihr wissen – direkt oder indirekt –
Winkel zitierte, führte allzu oft zu langweiligen Massenpro- steigern. unter intelligenz wird nur noch die
dukten oder auch zu seelenlosen Trabantenstädten und Plat- fähigkeit verstanden, die direkt oder indirekt
tenbausiedlungen.»6 Ende der sechziger Jahre kam die die produktion steigern hilft. das ist das ein-
«Gute Form» in die Krise. Nicht zufällig wurde in der Schweiz zige mass, nach dem die gesellschaft ihre mit-
die 1952 von Max Bill initiierte Aktion «Die gute Form SWB» glieder beurteilt. (…) die geschwister scholl
1968 beendet: «Das Ende der Aktion (…) markiert auch das kämpften zu ihrer zeit gegen den faschismus
Ende des Versuches, (…) eine normative Ästhetik, das heisst des dritten reiches. die studenten der hoch-
den ‹guten› Geschmack zu etablieren.»7 schule für gestaltung kämpfen in ihrer
augenblicklichen situation gegen autoritäre
Die Hochschule für Gestaltung in Ulm massnahmen, die die freiheitliche und demo-
kratische struktur ihrer institution und darü-
Autonom, antifaschistisch und international ber hinaus der gesellschaft gefährden.»7
Die Hochschule für Gestaltung (HfG), die 1953 auf dem Kuh- —
berg in Ulm (D) ihren Unterricht aufnahm (Abb. 130), war eine 7 Zitiert aus: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt,
Das Jahrhundert des Design, S. 163.
Gründung der «Geschwister-Scholl-Stiftung». Sie hatte von
Anfang an ein antifaschistisches, internationales und demo-
kratisches Konzept. Inge Scholl, deren Geschwister von den
Nazis wegen ihres Widerstands in der Gruppe «Weisse Rose»
hingerichtet worden waren, schien es erforderlich zu sein, an-
gesichts des reaktionären Nachkriegsumfeldes in Ulm eine
Bildungsinstitution zu schaffen, die politische Aufklärung
leisten sollte, um ein erneutes Aufflammen des Faschismus
auf deutschem Boden zu verhindern. Die neue Hochschule
sollte – so die ursprüngliche Absicht – PolitikerInnen, Journa-
listInnen, LiteratInnen, KünstlerInnen in antifaschistischem
und demokratischem Geist ausbilden. Sie sollte von staatli-
chen, politischen und wirtschaftlichen Eingriffen unabhängig
sein und diese Autonomie als entscheidende Bedingung für
117

Abb. 134: Gerd Alfred Müller: Küchenmaschine Braun, 1957. Abb. 135: Kenneth Grange: Kenwood Chef, 1960 (Firma
Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum Kenwood). Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. De-
London, München, 1999, S. 214. signmuseum London, München, 1999, S. 215.

weit reichende theoretische und methodische Experimente Chance für die Gründung einer Bauhausnachfolge, die mit
benützen. Von Anfang an war die Verteidigung der Autonomie seinem Namen verbunden war. Er mass der Rolle der Kunst
gegen die reaktionäre Realität im Umfeld des Campus ein im Design eine wichtige Bedeutung bei. Im Gegensatz zum
harter Kampf. Die Hochschule entstand als gesellschaftspo- Bauhaus wurden jedoch im Studium keine künstlerischen
litisches Projekt aus einem weiten gesellschaftspolitischen Fächer angeboten. Bill konnte als erste Dozenten Otl Aicher
Horizont heraus. Sie sollte auf den Gang der Dinge Einfluss (Deutschland), Hans Gugelot (Schweiz) und Tomas Maldonado
nehmen, was wesentlich mehr war, als «nur» gute Gestaltung (Argentinien) gewinnen (Abb. 131).
zu produzieren. Die vier angebotenen Disziplinen waren Produktdesign, Ar-
Dass die finanziellen Mittel für die Gründung zur Hälfte aus chitektur, Visuelle Kommunikation und Information.
einem «Fonds zur kulturellen Entwicklung Deutschlands» Das Ausbildungskonzept für das vierjährige Studium umfas-
kamen, der dem amerikanischen Hochkommissar John Mc- ste ähnlich wie am Bauhaus:
Cloy unterstand, sei nebenbei erwähnt. Dass dieser Fonds — eine Grundlehre,
aus einem verschleierten Geheimprogramm des Geheim- — die Mitarbeit der Studenten an der Verwaltung,
dienstes CIA koordiniert wurde, war den damaligen Akteu- — Gruppenarbeit, das «learning by doing»,
ren wohl wenig bekannt oder durchschaubar.8 Tatsächlich — die theoretische Argumentation und Begründung des Tuns,
wollten die USA mit einem kulturpolitischen Programm den — fachübergreifende statt fachspezifische Ausbildung.
wachsenden Antiamerikanismus unter den deutschen Intel- Design hiess in Ulm, «Produkte aus ihrem Zweck, aus Mate-
lektuellen zurückdrängen und den steigenden Einfluss der rial und Fertigungsmethode, aus dem Gebrauch zu ent-
kommunistischen Ideologien eindämmen. Diese Zusammen- wickeln».10 Es meinte aber auch, nicht nur die Funktion exakt
hänge bei der Gründung der Hochschule für Gestaltung zu bestimmen und das bestmögliche Produkt zur Funkti-
«verdeutlichen (…) die gesellschaftspolitische Brisanz eines onserfüllung zu entwickeln, sondern die Funktion in ihrem
Projektes zur Integration gestalterischer Kräfte, die es sich Kontext zu sehen. Die zu berücksichtigenden Bestandteile
vorgenommen hatten, die moderne Zivilisation vom Weg dieses Kontextes aber änderten sich während der fünfzehn-
imperialistischer Kriege und menschenvernichtender Tech- jährigen Lehre an der Hochschule für Gestaltung. So war die
nologien wegzuführen».9 Sie verhinderten jedenfalls nicht, umfassende Gestaltung der menschlichen Umwelt vom
dass aus der neuen Schule ein ausserordentlich spannendes —
und einflussreiches gestalterisches Experiment wurde. 6 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 131.
7 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 100.
8 Jörg Petruschat, in: «form + zweck», Nr. 20, S. 2.
Bauhausnachfolge und Systemgedanke 9 Ebenda, S. 3.
10 Otl Aicher, Bauhaus und Ulm, in: Herbert Lindinger, Hochschule für Gestaltung.
Max Bill, der von Inge Scholl für die Hochschulpläne und für
Die Moral der Gegenstände, Berlin, 1987. S. 127.
das erste Rektorat gewonnen worden war, benützte die
118

10. Gute Form und die Meilensteine


Ulmer Hochschule für Gestaltung

Abb. 136: Hans Gugelot und Dieter Rams: Radio-Phono- Abb. 137: Andreas Christen: Wandkasten, 1986. Quelle:
Kombination SK 4, 1956. Dieses auch «Schneewittchen- Bundesamt für Kultur (Hg.), made in Switzerland, Bern,
sarg» genannte Gerät wurde zur Ikone moderner Gestaltung 1997, S. 35.
und ist heute ein begehrtes Sammelobjekt. Quelle: Cathrine
McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München,
1999, S. 344.

«Kaffeelöffel bis zur Stadt», wie es Max Bill postulierte, für tierung mit verschiedenen Firmen wie Braun oder Kodak
den seit 1957 massgeblichen Theoretiker der Schule, Tomas zusammen. In der Produktgestaltung vertrat sie einen Funk-
Maldonado, nicht als formale, sondern als gesellschaftliche tionalismus, der einfache Formen mit rechten Winkeln, eine
Aufgabe zu begreifen. An die Arbeit von Hannes Meyer, dem zurückhaltende Farbigkeit und, am wichtigsten, den System-
zweiten Direktor des Bauhauses, anknüpfend, wurden so ab gedanken propagierte: Der Entwurf von Produkten sollte nach
1958 Gesellschafts- und Humanwissenschaften zu wichti- dem Baukastenprinzip erfolgen. Die Idee war, dass autono-
gen Bestandteilen des Unterrichtsplans. me (!) BenutzerInnen die Baukästen nach ihrem selbst defi-
Ähnlich wie das Bauhaus durchlief auch die Ulmer Hoch- nierten Bedarf einsetzen sollten (Abb. 132).
schule verschiedene Etappen bis zu ihrer Auflösung 1968.
Nach den Anfängen begann sie sich vom Vorbild des Bauhau- Die Firma Braun und die Hochschule für Gestaltung
ses zu lösen und setzte die Schwerpunkte der Ausbildung Der deutsche, international renommierte Hausgeräteherstel-
auf die wissenschaftlichen, technologischen und methodolo- ler Braun AG gilt als das Unternehmen, welches das Ulmer
gischen Grundlagen des Designs. Dozenten wie Maldonado, Gedankengut in der Industrie realisierte.11 Braun arbeitete
Gugelot und Aicher wandten sich entschieden gegen die seit den fünfziger Jahren mit bekannten Vertretern des Funk-
Kunst im Entwurf, was zu Auseinandersetzungen mit Max tionalismus und der Ulmer Hochschule wie Dieter Rams,
Bill und schliesslich zu dessen Rücktritt führte. Hans Gugelot oder Wilhelm Wagenfeld zusammen. Die Firma
Unter der Leitung von T. Maldonado stand die rein technolo- wurde für viele andere Unternehmen wie Siemens, AEG, Tele-
gische Problemlösung im Vordergrund; auf seine Initiative funken, Krups oder Rowenta zum Vorbild für funktionale
hin wurde die Hochschule für Gestaltung neu auf Wissen- Gestaltung und ein mustergültiges, konsequent modernes
schaftlichkeit und Methodologie orientiert. Es erfolgte eine Corporate Design.12 Bis heute bestimmt die Tradition der Mo-
enge Durchdringung von Theorie und Praxis. Viele neue wis- derne die Unternehmens- und Designpolitik von Braun.
senschaftliche Disziplinen wurden erstmals gelehrt: Struk- Dieter Rams (*1932), dessen Leitsatz «Weniger Design ist
turtheorie, mathematische Operationsanalyse, Ergonomie, mehr Design» zum geflügelten Wort wurde, kam Mitte der
Semiotik, Methodologie oder Kybernetik. Wenn vom «Ulmer fünfziger Jahre als Chefdesigner in die Firma und entwickelte
Modell» gesprochen wird, so ist die empirisch-positivistisch zusammen mit Hans Gugelot und Herbert Hirche das Corpora-
ausgerichtete Schule unter Maldonado gemeint. Sie be- te Design und viele Produkte der Braun AG (Abb. 133,134). Er,
schäftigte sich jetzt mit Fragen der Informationstheorie und der mit der Hochschule für Gestaltung eng verbunden war,
mit der Gestaltung von Informations- und Verkehrssyste- verkörperte wie kein anderer das funktionalistische Image
men. Der Entwurf von Produkten war kaum mehr ein Thema. der Firma. Ihn «verehrten alle wie einen Heiligen Vater des De-
Unter der Leitung von H. Ohl arbeitete die Hochschule bis zum signs»13, und in seiner Ägide holte die Firma an der Mailän-
Ende ihres Bestehens im Sinne einer stärkeren Praxisorien- der «Triennale» regelmässig den Preis «Compasso d'Oro».
119

Abb. 138: Willy Guhl: Eternitstuhl, 1954. Eine Ikone des Abb. 139: Alfred Neweczeral: Sparschäler «Rex», 1947.
Schweizer Designs. Quelle: Gabriele Lueg et al., Sissmade. Quelle: Gabriele Lueg et al., Swissmade. Aktuelles Design
Aktuelles Design aus der Schweiz, Zürich, 2001, S. 59. aus der Schweiz, Zürich, 2001, S. 61.

Stark vom schlichten und geradlinigen Design der Firma Fazit


Braun beeinflusst war der britische Designer Kenneth Gran- Die Ulmer Hochschule hatte eine nachhaltige Wirkung, denn
ge (1929*). Grange ist einer der bekanntesten britischen In- das «Ulmer Modell» wurde weltweit zum Vorbild für die mo-
dustriedesigner und Schöpfer einer Vielzahl ganz unter- derne Designausbildung. Die vielen Ulmer SchülerInnen sorg-
schiedlicher Produkte, die sich durch hohen Gebrauchswert ten als PraktikerInnen oder als DozentInnen an den Hoch-
auszeichnen – von der Pocketkamera zum Nassrasierer und schulen dafür, dass der Neofunktionalismus bis in die
vom Taxi zur Küchenmaschine (Abb. 135). 1972 gründete siebziger Jahre zum Synonym für modernes Produktdesign
Grange mit anderen die ebenso erfolg- wie einflussreiche wurde. Viele Fach- und Hochschulen übernahmen die Ulmer
Agentur Pentagram. Begriffe und die Schulbezeichnung, wobei in der Lehre das
Ulmer Konzept vor allem in Darmstadt, Hannover und
Das bittere Ende Schwäbisch Gmünd Fortsetzung fand. Die Hochschule für Ge-
Die schon erwähnten Kontroversen über die Ausrichtung des staltung war im Urteil von J. Petruschat in «form + zweck»
Designs, über den Anteil der Kunst am Design und am Ent- «die letzte Zusammenführung gestalterischer Kräfte, die für
wurf wurden während der ganzen Existenz der Hochschule eine tief greifende Veränderung der modernen Gesellschaft
für Gestaltung mehr oder weniger heftig geführt. Dazu kam eintraten (…) Keiner andern Gestaltungsinstitution ist es
Ende der sechziger Jahre neu die Kritik der Achtundsechziger seither gelungen, einen nur annähernd grossen Einfluss auf
an der Konsumgesellschaft und am Design als dem «Hand- die Entwicklung von Theorie und Praxis der Gestaltung aus-
langer des Kapitals», die auch die Ulmer Hochschule berühr- zuüben.»15
te. Zusätzlich verschärft wurde die Lage der privaten (!) Ein-
richtung durch die Streichung der staatlichen Subventionen. Swiss Design: «Gute Form» in der Schweiz
Im restaurativen politischen Klima, das im Bundesland Ba- Die «Gute Form» und die Schweiz hingen von Anfang an mit-
den-Württemberg damals herrschte, wurde die Ulmer Hoch- einander zusammen, auch wenn die erste Konnotation mit
schule für Gestaltung 1968 von Hans Filbinger, dem Minister- «Guter Form» heute das deutsche Design der fünfziger und
präsidenten, mit folgenden Worten aufgelöst: «Wir wollen sechziger Jahre ist. Zu erinnern ist an die schweizerischen
etwas Neues machen, und dazu bedarf es der Liquidation Pioniere der «Guten Form», an den Begründer Max Bill und
des Alten.»14 Tragik der Geschichte oder besser deutsches —
Nachkriegsschicksal: Der CDU-Mann Filbinger war während 11 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 132.
12 Ebenda, S. 132.
des Dritten Reichs NSDAP-Mitglied und Richter gewesen. 13 Bernhard Bürdek, Design, S. 49.
14 Herbert Lindiger (Hg), Ulm. Hochschule für Gestaltung. Die Moral der Gegenstände,
Berlin, 1987.
15 Jörg Petruschat, in: «form + zweck», Nr. 20, S. 2.
120

10. Gute Form und die Meilensteine


Ulmer Hochschule für Gestaltung

Abb. 140: Kurt Thut: Stuhl mit drei Beinen, 1957. Quelle: Abb. 141: F. Haller: USM-Haller-Möbel, 1963. Quelle: Gabrie- Abb. 142: Ettore Sottsass und Perry King: Reiseschreibma-
Bundesamt für Kultur (Hg.), made in Switzerland, Bern, le Lueg et al., Sissmade. Aktuelles Design aus der Schweiz, schine «Valentine» mit Koffer (Firma Olivetti), 1969. Quelle:
1997, S. 73. Zürich, 2001, S. 65. Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London,
München, 1999, S. 360.

an Hans Gugelot, die beide in Ulm eine zentrale Rolle spielten. zenten Teo Jakob zusammen und wurde zum Bindeglied zwi-
Die Prinzipien der «Guten Form» fielen in der Schweiz auf schen der funktionalismusbegeisterten Generation und dem
fruchtbaren Boden. So war es auch schon mit den funktionali- Design der «Neuen Sachlichkeit» in den neunziger Jahren.
stischen Prinzipien des Deutschen Werkbundes und des Bau- F. Haller übernahm in den sechziger Jahren den Systemge-
hauses geschehen. Besonders in der Gebrauchsgrafik spiel- danken und entwarf nach einer Raumgitterstruktur die USM-
ten Schweizer DesignerInnen seit der «Neuen Typographie» Haller-Möbel für Grossraumbüros, einen internationalen
in den dreissiger Jahren eine prominente Rolle. In den fünfzi- Klassiker und eines der erfolgreichsten Schweizer Industrie-
ger und sechziger Jahren erlangte die funktionalistische produkte (Abb. 141).
Schweizer Grafik als «Swiss Style» Weltruf (vgl. Kapitel 11).
Im schweizerischen Design war die «Gute Form» von den Bel Design: Die «Gute Form» in Italien
fünfziger bis in die achtziger Jahre die dominante gestalteri- Wie überall in Westeuropa waren auch in Italien die sechzi-
sche Strömung. Sie firmierte unter dem Label «Swiss De- ger Jahre eine Zeit des Wohlstands und des Massenkon-
sign». Dies war sowohl der Name der von Teo Jakob und Al- sums. Gleichzeitig mit dem deutschen Nachkriegsfunktio-
fred Hablützel lancierten und international vertriebenen nalismus, der zwischen 1955 und 1967 vor allem in Ulm,
Möbelkollektion als auch die Bezeichnung für die 1958 ge- Frankfurt und Kronberg zu Hause war, begann in Italien eine
gründete Designvereinigung. Zu ihr gehörten unter anderem Designbewegung, die vom selben Ansatz ausging. Was in
Andreas Christen (Abb. 137), Willy Guhl, Alfred Neweczeral, der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz die
Kurt Thut und Hans Hilfiker. Willy Guhl (Abb. 138) spielte «Gute Form» war, war in Italien das «Bel Design».16 Es war ein
bei der Etablierung und Professionalisierung des Industrial rationales und produktorientiertes Design, das in das Kon-
Design in der Schweiz eine Schlüsselrolle. Er hatte ein frühes zept der rationellen industriellen Produktion passte und der
Interesse an ergonomisch und anatomisch richtiger Formge- italienischen Industrie willkommen war. Das italienische
bung, für neue Materialien (Nutzung des Potenzials der Design unterschied sich aber trotzdem vom Design jenseits
Kunststoffe), für schlichte, zerlegbare, leicht transportierba- von Gotthard und Brenner, denn es hatte in verschiedener
re und preiswerte Typen. Ab 1965 lehrte er an der Kunstge- Hinsicht einen anderen Stellenwert als im deutschen
werbeschule Zürich, einem der ganz wenigen schweizerischen Sprachraum.17 Ein Grund hierfür war, dass es in Italien keine
Ausbildungsplätze für Produktdesign. Ausbildungsstätten für ProduktentwerferInnen oder -gestal-
Alfred Neweczeral war der Designer, der sich hinter dem terInnen gab; es war vielmehr Tradition, dass Maler, Bildhauer
Sparschäler «Rex», einer der schweizerischen Designikonen, und vor allem Architekten mit Entwürfen für kunsthandwerk-
verbirgt (Abb. 139). Kurt Thut (Abb. 140), Mitbegründer der liche oder industrielle Produkte einzeln beauftragt wurden.
Gruppe «Swiss Design», arbeitete über drei Jahrzehnte mit Das führte zu folgenden Besonderheiten:
dem funktionalistisch orientierten Schweizer Möbelprodu-
121

Abb. 143: Eliot Noyes: Schreibmaschine IBM 72, 1961. Sie Abb. 144: Giancarlo Piretti: Der Klappstuhl «Plia», 1969. Abb. 145: Mario Bellini: Totem Stereo, 1970 (Firma Brionve-
war an die Produkte des italienischen Rivalen Olivetti ange- Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. ga). Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuse-
lehnt. Quelle: Volker Albus et al. (Hg.), Design! Das 20. Jahr- 443. um London, München, 1999, S. 347.
hundert, München, 2000, S. 127.

1. Die gestalteten Objekte wurden als individuelle Persön- zu dieser Zeit eine öffentliche Design-Diskussion, die in den
lichkeiten aufgefasst und waren semantisch viel mehr aufge- vielen Architektur- und Designzeitschriften stattfand und an
laden als etwa die Objekte des Ulmer Designs. Sie wurden der sich nicht nur die SpezialistInnen, sondern auch Architek-
zum Symbol – meist Statussymbol – gemacht. Das Produkt tInnen, PhilosophInnen und SchriftstellerInnen beteiligten.
wurde zum Designobjekt. Es hiess nicht «TS 45» (wie bei 3. Die dritte Eigenart des italienischen Designs war seine
Braun), sondern «Valentine» (Abb. 142, vgl. Abb 143). Experimentierfreudigkeit. Diese wurde ab Mitte der sechzi-
2. Design war Bestandteil der Kultur. Grosse Unternehmen ger Jahre durch die fast unbegrenzten Möglichkeiten geför-
(Olivetti, Fiat) pflegten bewusst die Zusammenarbeit mit be- dert, welche die neuen Kunststoffe (z. B. Polypropylen) bo-
kannten Designern; sie machten das Design zu einem wichti- ten. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb Italien zum
gen Bestandteil der Firmenpolitik. Deshalb hielten sich diese Vorreiter neuer Design-Entwicklungen wurde.
Firmen so genannte Consultant Designers, ein in Italien für Diese Vormachtstellung zeigte sich an der Ausstellung «Italy.
die Designberatung der Firmen eigens geschaffener Beruf. The New Domestic Landscape», die das Museum of Modern
Die Firma Olivetti – das bekannteste Beispiel – arbeitete zum Art in New York 1972 durchführte (viel gesuchter Ausstel-
Beispiel mit Designern wie G. Pintori, E. Sottsass, M. Zanuso lungskatalog!).
und M. Bellini zusammen (Abb. 142, 144, 145). Hier entstan- 4. In Italien stellte Design primär einen Anreiz für gehobe-
den eigenwillige, in Zusammenarbeit mit Technikern entwor- ne Einkommensgruppen und die kaufkräftigen metropolitanen
fene Produkte, die nicht formal vereinheitlicht, sondern Mittelschichten dar. «Da auch in Italien – wie in allen kapita-
unterschiedlicher Ausdruck der jeweils aktuellen Gestal- listisch organisierten Ländern – eine kleine Bevölkerungs-
tungsmöglichkeiten und -tendenzen waren. gruppe über einen grossen Anteil des Volkseinkommens ver-
Giovanni Pintori (1912) wurde schon 1936 vom Olivettikon- fügt, richtet sich das ‹Bel Design› primär an diese Schicht.
zernchef Adriano Olivetti angestellt, um ein Designprogramm Anders als etwa in Schweden, wo gerade der soziale Aspekt
zu entwickeln. Pintori verwendete vereinfachte grafische For- des Designs eine grosse Rolle spielt (vgl. die preisgünstigen
men, um Mechanismen und Prozesse zu visualisieren. Möbel der IKEA-Gruppe), ist in Italien Design primär eine Sa-
Ettore Sottsass, von 1958–80 beratender Designer für die che der gehobenen Einkommensgruppen der Metropolen.»18
Elektronikabteilung von Olivetti, trug nicht nur die Verant- —
wortung für die ausgesprochen funktionale Gestaltung neuer 16 In den USA entsprach der «Guten Form» das «Good Design», in Grossbritannien der
«Contemporary Style» und in Schweden «Nyttokonst».
Computer, sondern unterhielt auch eine eigene Abteilung für 17 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 124.
«kulturelle Beziehungen». 18 Bernhard Bürdek, Design, S. 81
In Italien entwickelte sich also schon früh ein Autorendesign,
wie es in anderen Ländern erst in den achtziger und neunziger
Jahren entstand (vgl. zum Autorendesign Kapitel 17). Es gab
122

10. Gute Form und die


Ulmer Hochschule für Gestaltung

— Lebensstandard erhalten wollten, im Wettbewerb mit Niedrig-


Kommentar preisländern oder mit Ländern mit hoher Produktivität (wie
etwa USA und Japan) auf die Dauer nur durch hohe Qualität
bestehen konnten. Qualität wurde für Länder wie die Bundes-
republik Deutschland und die Schweiz zum einzigen Wettbe-
werbsvorteil. Eine dieser Qualitäten, die mit relativ geringem
Kapitaleinsatz und geringen Kosten zu erreichen war, war die
Formgestaltung.2 Das Interesse an Qualität war in der Rea-
Qualität als Ideologie lität also primär mit der Realisierung von wirtschaftlichen
Die Designbewegung um die Ulmer Hochschule für Gestaltung Gewinnen und der Eroberung des Weltmarktes und weniger
und um die «Gute Form» hatte einen hohen Anspruch, und sie mit gesellschaftlichem Fortschritt verknüpft.
verfügte über eine soziale Theorie des Designs. Sie wollte Die Masse der VerbraucherInnen verstand den Gebrauchs-
einen Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt leisten, wo- wert der «Guten Form» nicht. Sie nahm die Gegenstände –
bei es ihr grosses Verdienst war, das Design auf intellektuel- sofern sie diese überhaupt kaufte – allenfalls als besondere
lem Niveau betrieben zu haben. Das muss hier hervorgeho- Waren, als Markenartikel. NormalverbraucherInnen in einer
ben werden! Sie wollte ein Qualitätsdesign mit Wirkung im Massenkonsumgesellschaft sind durch Gewohnheit und
humanen, sozialen und kulturellen Bereich. Es sollte sich Werbung auf die vorherrschende Warenästhetik «abgerich-
ausschliesslich am Gebrauchswert orientieren und den «rein tet», und das ist der Code des Styling, des raschen und ober-
kommerziellen Zielen» und dem Zwang zur «modischen Strö- flächlichen Wechsels der Formen.
mung» entsagen. Die Idee der positiven gesellschaftlichen Wirkung und des
Doch der emanzipatorische Ansatz von Ulm blieb Sache kulturellen Wertes des Designs in der Konsumgesellschaft
einer kleinen intellektuellen Minderheit, und «der hohe intel- war ein grosser Irrtum! Die so genannten Kulturgüter sind in
lektuelle und moralische Anspruch (…) blieb der breiten Mas- Wirklichkeit Konsumgüter ohne kulturellen Bezug. Der kultu-
se der Konsumenten unverständlich, und die Industrie über- relle Zeichencode gestalteter Produkte wird höchstens von
nahm gern den Ulmer Systemgedanken, weil sich Produkte im jenen wahrgenommen, die das Bildungsprivileg haben, gute
Baukastenprinzip tatsächlich rationeller herstellen liessen, Gestaltung erkennen zu können. Er ist eine gruppen- oder
der gesellschaftskritische Anspruch dahinter wurde freilich klassenspezifische Übereinkunft, die nicht für alle gilt. Otl
gern übersehen.»1 Aicher, ein Ulmer Urgestein, meinte 1984: «Wie viele haben
Diese Feststellung von Thomas Hauffe bedeutet nichts an- Braun-Geräte nur deshalb gekauft, weil sie damit die Zu-
deres, als dass sich Theorie und Ansprüche mit der Wirklich- gehörigkeit zu einer Design-bewussten Klasse von Menschen
keit nicht deckten. Die Wirtschaft übernahm nach Bedarf demonstrieren konnten.»3 1937 schon hatte der Kunsthisto-
den Funktionalismus, ignorierte (mit Ausnahmen wie der riker Peter Meyer geschrieben, dass «‹Form ohne Ornament›
Braun AG) jedoch die damit verbundene Ideologie (liess diese keineswegs die Devise einer Volksbewegung ist, sondern die
vielleicht sogar gern gewähren) und produzierte Massenwa- ziemlich exklusive Angelegenheit einer gebildeten und ge-
ren, bei denen der Gebrauchswert eine kleine Rolle spielte. schmackvollen Elite, die in den ornamentlosen Grundformen
Der Qualitätsdiskurs der «Guten Form» passte ganz gut ins den Reiz des spezifisch Modernen zu geniessen weiss.»4 Das
wirtschaftliche Konzept der fünfziger, sechziger und siebzi- trifft auch für die «Gute Form» zu!
ger Jahre: Die beginnende Liberalisierung des Weltmarktes Dem Anspruch der «Guten Form» auf gesellschaftliche Wir-
hatte zur Folge, dass die Industriestaaten, die ihren hohen kung und kulturelle Verantwortung lag ein Glaube zu Grunde,
123

der als Tatsache hingestellt wurde. Er war eine «Überbauung


andersgearteter Wirklichkeit mit gut gemeintem Wunsch-
denken (…) eine ideologische Selbsttäuschung.»5 Es war
eine politische Naivität zu glauben, dass das Design eine sol-
che Wirkung im Rahmen der bestehenden Produktion entfal-
ten könne. Dies setzte eine «Neutralität» des Produktions-
prozesses voraus, die es so nicht gab. « ‹Neutralität› und
‹Verantwortung› im kapitalistischen Produktionsprozess sind
eindeutig und einseitig interessenbestimmt. Diese Kategori-
en können (…) nur dazu dienen, die tatsächliche Funktion
der Gestaltung idealistisch zu verschleiern.»6 Die Ansprüche
der «Guten Form» wurden so – und das sei ihren PionierIn-
nen nicht als Absicht unterstellt – zum moralischen Mäntel-
chen, das zur «Rechtfertigung sonst allzu nackt erscheinen-
der Interessen diente».7

1 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 124.
2 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 105.
3 Zitiert aus: Cordula Meier, Designtheorie. Beiträge zu einer Disziplin,
Frankfurt a.M., 2003, S. 210.
4 Zitiert aus: Christoph Bignens, Swiss Style, S. 61.
5 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 103.
6 Ebenda, S. 105.
7 Ebenda, S. 103.
11. SWISS STYLE
DER INTERNATIONALE
TYPOGRAFISCHE STIL
126

11. Swiss Style Meilensteine Theorie


Der internationale typografische Stil

Abb. 146: Anton Stankowski: Kalendertitelblatt für Standard Abb. 147: Théo Ballmer: Wahlplakat für die Kommunistische Abb. 148: Ernst Keller: Plakat für das Rietbergmuseum,
Elektrik Lorenz AG, 1957. Stankowskis grösster Beitrag Partei der Schweiz, 1931. Quelle: Bruno Margadant, Das undatiert. Symbolische Bildsprache, vereinfachte geome-
zum Grafikdesign war die Schaffung visueller Formen, um Schweizer Plakat 1900–1983, 1983, S. 250. trische Formen und kontrastierende Farbe. Quelle: Philip
unsichtbare Prozesse und physikalische Kräfte zu kom- Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 320.
munizieren. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic De-
sign, New York, 1998, S. 322.

Deutschschweizerisch – männlich – puritanisch Kunst und Schweizer Grafik:


In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam im Grafik- Georgine Oeri schrieb 1946 in «Graphis», der
design in der Schweiz eine Bewegung auf, die am häufigsten Zeitschrift der Schweizer Grafik: «Die heutige
«Swiss Style» genannt wird.1 Andere, zum Teil weniger ge- angewandte Grafik ist (…) die mit dem Leben,
bräuchliche Bezeichnungen sind: «Neue Grafik», «Konstruk- dem alltäglichen Bedürfnis zur Deckung
tive Grafik», «Schweizer Schule», «Schweizer Industriegra- gekommene avantgardistische Kunst von
fik», «Swiss typography» oder «Rational typographic style». gestern.»
Seine Wurzeln hatte der «Swiss Style» im Konstruktivismus
und im Bauhaus. Begonnen hatte es in den zwanziger und Schweizer Grafik und Industrie:
dreissiger Jahren mit der «Neuen Typographie». Diese war Max Bill: «jede gestaltung, im sinne unserer
keineswegs eine eigene Erfindung, aber in der Schweiz, ver- heutigen lebensbedingungen, erfordert grösst-
mittelt durch deutsche und schweizerische Bauhäusler, auf mögliche wirtschaftlichkeit. grösstenteils ist
fruchtbaren Boden gefallen. Von den deutschen Vertretern klarheit das wirtschaftlichste (und) druckge-
seien namentlich die in die Schweiz immigrierten Herbert staltung ist organisation von satzbildern.»1
Bayer, Anton Stankowski (Abb. 146) und vor allem Jan Tschi-
chold genannt (vgl. Kapitel 5). Die schweizerischen Verbin- Richard P. Lohse (1902–88): «Unsere Zeit ist
dungsglieder waren Théo Ballmer (Abb. 147), Max Bill, Xanti die der industriell hergestellten Güterpro-
Schawinsky, Herbert Matter (vgl. Kapitel 5 und 8) und Ernst duktion, der Serie und des Fliessbandpro-
Keller. Ernst Keller (1891–1968) betonte schon in den zwan- duktes als dem eigentlichen Ideal der Indust-
ziger Jahren, dass sich die Lösung der Designprobleme aus riegesellschaft der Gegenwart. Niemand
einer strikten Beachtung des Inhalts ergebe. Er prägte über vermag sich dem Kraftfeld dieser weit ge-
Jahrzehnte die schweizerische Grafikszene (Abb.148). spannten Organisation von Energien, der
So gab es in der Schweiz eine kontinuierliche Entwicklung des ungeheuren Wucht und Präsenz des Kreis-
früheren konstruktivistischen Grafikdesigns, die schliesslich laufes von Erzeugung, Konsumation und
nach dem Zweiten Weltkrieg in einer starken Bewegung gip- Erzeugung zu entziehen.»2
felte, die Weltruf erlangen sollte. Heute, ein halbes Jahrhun-
dert nach der Blütezeit des «Swiss Style», ist kaum mehr be- Paul Schuitema: «der entwerfer ist kein zei-
kannt, dass es sich um einen international beachteten und chner, sondern organisator der optischen
einflussreichen Stil gehandelt hatte.2 Tatsächlich wurde der und technischen faktoren.»3
schweizerische Stil auch «Internationaler typografischer Stil»
oder «International Style» genannt.3
127

Abb. 149: Hans Erni: Plakat für die «Gesellschaft Schweiz - Abb. 150: Armin Hofmann: Markenzeichen für die Schweize-
Sowjetunion», 1944. Der Bundesrat verbot den Plakat- rische Landesausstellung, EXPO 64, 1964. Quelle: Philip
aushang. Quelle: Bruno Margadant, Das Schweizer Plakat Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 327.
1900 – 1983, Basel, 1983, S. 75.

«Swiss Style» war streng genommen eine Errungenschaft Hans Neuburg ist Texter und Grafiker. Lange
der deutschen Schweiz und müsste eigentlich treffender Zeit machte nur der illustrative Teil das Pla-
«Deutschschweizer Stil» genannt werden. Grund: «Swiss kat; bei Neuburg wurde auch die Schrift inte-
Style» war eine Industriegrafik, und in der französischen griert: «Ich trachtete danach, Idee, Text, Bild
Schweiz gab es relativ wenig Industriebetriebe.4 Festzuhal- und grafische Gestaltung zu einer wirklich
ten ist auch, dass die Protagonisten dieses Stils ausschlies- festen Einheit zu verbinden.»
slich Männer waren. Allerdings verhielt sich dies bei fast
allen Designbewegungen von den Anfängen bis in die siebzi- «Das Neue an dieser Grafik ist vor allem ihre
ger Jahre des 20. Jahrhunderts so. fast messbare Klarheit.» So äusserten sich
Um eine rationale Gebrauchsgrafik bemühten sich also vor Lohse, Müller-Brockmann, Neuburg, Vivarelli
allem Männer aus der Deutschschweiz, und sie konnten an im Vorwort zum ersten Heft der Zeitschrift
eine puritanische Tradition anknüpfen, in der Präzision, Sach- «Neue Grafik», 1958.
lichkeit, Strenge, Sauberkeit und Ordentlichkeit verbindliche —
gesellschaftliche Werte waren. 1 Zitiert aus: Christoph Bignens, Swiss Style, S. 49.
2 Ebenda, S. 52f.
Der «Swiss Style» gewann überall auf der Welt AnhängerIn- 3 Ebenda, S. 49.
nen (vgl. Kapitel 20). Der Grund für seine rasche Verbreitung
lag in der Harmonie und klaren Ordnung seiner Methoden
und in der Fähigkeit, mit elementaren Formen komplexe Ide-
en klar und direkt auszudrücken. Der Stil blieb über zwei De-
kaden eine wichtige Kraft, sein Einfluss dauerte bis in die
neunziger Jahre.
Der Schweizer Stil leistete einen wichtigen Beitrag zur Ent-
wicklung des so genannten «Corporate Design» (vgl. unten),
und ihm war es wesentlich zu verdanken, dass Grafik allmäh-
lich als visuelle Kommunikation verstanden wurde (vgl. unten).

1 Eine rund siebzig Seiten dicke Bibliografie zum «Swiss Style» befindet sich in:
Christoph Bignens, Swiss Style.
2 Ebenda, S. 12.
3 Philip Meggs, A History of Graphic Design, S. 320.
4 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 9.
128

11. Swiss Style Meilensteine


Der internationale typografische Stil

Abb. 151: Herbert Leupin: Plakat für den Zirkus Knie, Abb. 152: Armin Hofmann: Plakat für die Aufführung von Abb. 153: Richard P. Lohse: Ausstellungsplakat für «Kunst-
1956. Quelle: Allgemeine Plakatgesellschaft (Hg.), 50 Jahre «Giselle» im Basler Stadttheater, 1959. Ein organisches, stoffe», Gewerbemuseum Winterthur, 1958. Quelle: Allge-
Schweizer Plakate, Genf, 1991, S. 112. bewegtes und weich fotografiertes Bild kontrastiert mit meine Plakatgesellschaft (Hg.), 50 Jahre Schweizer Plakate,
einer harten geometrischen und statischen Typografie. Genf, 1991, S. 127.
Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York,
1998, S. 327.

Die visuellen Merkmale des «Swiss Style» sind folgende: der visuellen Botschaften. De Stijl hatte das Figürliche und
— visuelle Einheit, welche durch eine asymmetrische Orga- Narrative zugunsten der Geometrie eliminiert und so die
nisation der Gestaltungselemente auf einem mathematisch Anonymisierung des Ausdrucks am meisten vorangetrieben
konstruierten Raster erreicht wurde; (vgl. Abb. 58). Der erste Typograf, der die Brücke zu De Stijl
— objektive Fotografie und Kopie, welche visuelle und ver- schlug, war Jan Tschichold in seiner «elementaren typogra-
bale Informationen in einer klaren und sachlichen Art prä- phie» (vgl. Kapitel 5). «Was die Grafiker mit den avantgardi-
sentierten, frei von den übertriebenen Behauptungen der stischen Künstlern verband, war ein gemeinsames Interesse
Propaganda und der kommerziellen Werbung; an der Schaffung einer allgemein verständlichen Zeichen-
— Benützung von serifenloser Typografie in linksbündiger sprache, die den gesellschaftlichen Aufbruch zur Zeit der
(und rechts auslaufender) Randgestaltung. fortgeschrittenen Industrialisierung angemessen zu visuali-
Ziel war die grösstmögliche Steigerung der Aussagekraft, sieren vermochte. Mit ihren ‹exakten› Formen und bunten
sein stilistisches Mittel die grösstmögliche Vereinfachung. Farben glaubten sie, diese weitgehend gefunden zu haben»,
Die Protagonisten der Bewegung glaubten, dass die serifenlo- urteilt Christoph Bignens (vgl. Abb. 150).5
se Typografie den Geist eines fortschrittlichen Zeitalters aus-
drückte. Wichtiger als die visuelle Erscheinung ihrer Werke Wirtschaftliche Ordnung und visuelle Ordnung
war das Berufsethos, das durch die PionierInnen entwickelt Die schweizerische Gebrauchsgrafik des «Swiss Style» stellte
wurde. Sie definierten Design als eine sozial nützliche und sich ganz bewusst in den Dienst der Grossindustrie, vor
wichtige Tätigkeit. Persönlicher Ausdruck und exzentrische allem in der Chemie-, Maschinen-, Elektro- und Automobil-
Lösungen wurden abgelehnt, während ein universeller und branche. Sie verstand sich explizit als «Industriegrafik».
wissenschaftlicher Umgang in der Lösung von Designproble- Die Grafiker hatten politisch ein progressives Selbstver-
men angestrebt wurde. Die Designer definierten ihre Rolle ständnis (Abb. 147, 149) und produzierten neben der Indu-
nicht als die eines Künstlers, sondern als die eines objekti- striegrafik auch politische Grafik, vor allem Plakate für die
ven Begleiters der Verbreitung von wichtigen Informationen linken Parteien und Organisationen der Arbeiterklasse und
zwischen den verschiedenen Komponenten der Gesellschaft. für die Frauenrechtsbewegung. Es gab mehrere «Ateliers, auf
Das Ideal war die Erreichung von Klarheit und Ordnung. deren Zeichentischen sowohl Aufträge für die Anliegen der
Arbeiterklasse als auch solche für die Grossindustrie lagen».6
Anonymisierung und Purifizierung So entwarf R. P. Lohse Plakate für die sozialdemokratische
Eine der Wurzeln des «Swiss Style» lag in der Formensprache Zeitung «Volksrecht» (1944) und für den hydroelektrischen
des Konstruktivismus. Die Kunst von van Doesburg, El Lis- Grosskonzern Escher Wyss AG (1949). Max Bill schuf politi-
sitzky, Malewitsch, Moholy-Nagy und Mondrian war das Vor- sche Plakate für den Abstimmungskampf «Lohnabbau nein!»
bild bei der Purifizierung beziehungsweise Vereinfachung (1933) und Plakate für den «Internationalen Genfer Automo-
129

Abb. 154: Josef Müller-Brockmann: Plakat für den Schwei- Abb. 155: Siegfried Odermatt: Werbung für die Apotheke Abb. 156: Hans Hartmann: Plakat für die schweizerische
zer Autoclub, 1954. Quelle: Philip Meggs, A History of Gra- Sammet, 1957. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Konferenz für Sicherheit im Strassenverkehr, 1964. Quelle:
phic Design, New York, 1998, S. 329. Design, New York, 1998, S. 331. Fanny Hartmann, Hans Hartmann, Ein Leben für die Grafik,
Bern, 1993, S. 53.

bilsalon» (1929). Gottfried Honegger warb in den fünfziger vorzugte den Pinsel und den Zeichenstift und gestaltete vor
Jahren für die Luxusautomodelle von GM und gestaltete spä- allem Plakate; die zweite bevorzugte technische Medien,
ter Plakate für den «Tag der Arbeit» (1981). Satzschriften und die Fotografie und gestaltete vor allem
Wie vertrugen sich die beiden Bereiche, Grosskapital und Pro- Bücher, Prospekte, Logos usw.
letariat, miteinander? Ford und Marx an denselben Tisch zu Von der Basler Schule sind als Vertreter zu nennen: Niklaus
bringen war nur oberflächlich ein Widerspruch. Schon W. I. Stoecklin (1896), der Wegbereiter; Herbert Leupin (1916), über
Lenin, der russische Revolutionsführer und -theoretiker, hat- Jahrzehnte der populärste Schweizer Grafiker 9 (Abb. 151),
te dafür plädiert, die sozialen Errungenschaften des Sozia- Karl Gerstner (1930), der zusammen mit Markus Kutter 1959
lismus mit den materiellen Vorteilen Amerikas zu paaren, das Standardwerk Die Neue Graphik herausgab und Armin
indem man die modernen kapitalistischen Produktionsme- Hofmann (1920). Hofmann suchte in seinem Werk und seiner
thoden (Taylor, vgl. Kapitel 8) aufnehme. Und es gab zwischen Lehrtätigkeit eine dynamische Harmonie, in der alle Anteile
Grossindustrie und Avantgarde durchaus auch gemeinsame des Designs vereinigt waren. Er setzte Kontraste wie Licht
Bestrebungen, wenn auch aus verschiedenen Motiven: die und Dunkel, Kurven und Geraden, Form und Gegenform, Dy-
«Demokratisierung des Komforts».7 Sie wurde zwischen den namik und Statik als Mittel ein, um die Wirklichkeit des
Weltkriegen von beiden Seiten als Ziel formuliert, allerdings Lebens visuell umzusetzen. Eine Lösung war für ihn dann
nicht erreicht. Zur Zeit der Hochkonjunktur der fünfziger und gelungen, wenn in einer Grafik alles zur Harmonie gebracht
sechziger Jahre war man dem Ziel näher. Dabei spielte die werden konnte (Abb. 152).
Elektrifizierung eine bedeutende Rolle. Deshalb konnte da- Mit der Zürcher Schule sind folgende Namen verbunden: Ri-
mals ein fortschrittlicher Gebrauchsgrafiker wie Richard P. chard P. Lohse (1902–88) (Abb. 153); Josef Müller-Brock-
Lohse ohne ideologischen Spagat für die schweizerische Ele- mann (1914–96) (Abb. 154); Hans Neuburg (1904–83), der
ktrowirtschaft Aufträge übernehmen. Und: Im Gegensatz zu nach Christoph Bignens «der erhellendste Theoretiker des
den eher konservativen kleinen und mittleren konnten sich ‹Swiss Style›» war10 ; Carlo L. Vivarelli (1919–86); Gottfried
die grossen Firmen eine solche Grafik leisten! Honegger ; Emil Ruder (1914–70). Im Kunstgewerbemuseum
Zürich fand 1958 eine Ausstellung mit dem Titel «Konstruktive
Basler und Zürcher Hochburgen —
Die Entwicklung des «Swiss Style» ging wesentlich von den 5 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 36.
6 Ebenda, S. 61.
beiden Kunstgewerbeschulen Basel und Zürich aus, wobei 7 Ebenda.
die Basler Schule durch eine illustrativ entwerfende und die 8 Ebenda, S. 12. In der angloamerikanischen Fachliteratur wird der Begriff «Swiss Style»
ausschliesslich für die konstruktivistische Grafik verwendet (Christiph Bignens, Swiss
Zürcher Schule durch eine konstruktiv entwerfende Grafik
Style, S. 20).
geprägt wurden. Diese Typisierung wurde zumindest von R. P. 9 Ebenda, S. 21.
Lohse, W. Rotzler und anderen vorgeschlagen.8 Die erste be- 10 Ebenda, S. 54.
130

11. Swiss Style Meilensteine


Der internationale typografische Stil

Abb. 157: Schriftgiesserei Berthold: Akzidenz-Groteske, Abb. 158: Eduard Hoffman und Max Miedinger: Schrift Hel- Abb. 159: Helvetica. Quelle: Paul Clark, Julian Freeman:
1898–1906. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic De- vetica, 1961. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic De- Design. Logo, München, 2000, S. 135.
sign, New York, 1998, S. 224. sign, New York, 1998, S. 324.

Grafik» statt, auf der als Leitbilder Arbeiten aus den Ateliers (1928*) vollendete 1954 seine visuell programmierte Familie
von Lohse, Neuburg und Vivarelli gezeigt wurden. von 21 serifenlosen Schriften, «Univers» genannt. Die Palet-
Ausserhalb der beiden Hochburgen ist Siegfried Odermatt te der traditionellen typografischen Möglichkeiten wurde
(1926) zu nennen, der in der konkreten Anwendung des Stils dadurch um das Siebenfache ausgedehnt (Abb. 160).
in der visuellen Kommunikation von Handel und Industrie
eine wichtige Rolle spielte (Abb. 155). Im Schatten von Basel Internationale Zeitschriften des «Swiss Style»
und Zürich zeichneten sich in Bern einige Gebrauchsgrafiker Lohse, Müller-Brockmann, Neuburg und Vivarelli gründeten
wie Hans Hartmann (Abb. 156), Kurt Wirth und Heinz Jost 1958 die «Neue Grafik» (engl.: «New Graphic Design»), eine
durch namhafte Beiträge zum «Swiss Style » aus. dreisprachige «internationale Zeitschrift für Grafik und ver-
wandte Gebiete», wie der Untertitel lautete. Bis zu ihrer Ein-
Die neuen serifenlosen Schweizer Schrifttypen stellung waren die vier Gründer und Herausgeber (LMNV)
Der «Swiss Style» entwickelte in den fünfziger Jahren sei- auch für die Redaktion zuständig. Die achtjährige Erschei-
nen alphabetischen Ausdruck in einigen serifenlosen Schrif- nungszeit der «Neuen Grafik» war identisch mit der Blütezeit
ten. Der mathematisch konstruierte, serifenlose Stil der des «Swiss Style».
zwanziger und dreissiger Jahre («Neue Typographie», vgl. Die «Neue Grafik» war nicht das einzige Sprachrohr des
Kapitel 6) wurde zugunsten der Weiterentwicklung der aus «Swiss Style». Auch die 1944 gegründete «Graphis» mit dem
dem 19. Jahrhundert stammenden Akzidenz-Groteske abge- Untertitel «Internationale Monatsschrift für freie Graphik,
lehnt (Abb. 157). Gebrauchsgraphik und Dekoration» «machte den ‹Swiss Sty-
Eduard Hoffman und Max Miedinger von der schweizerischen le› zu einer von weit her erreichbaren Inspirationsquelle».12
Schriftgiesserei Haas nahmen sich der Erneuerung der Akzi- Anfänglich war «Graphis» das Organ des seit 1938 existie-
denz-Groteske an und entwarfen die so genannte «Neue renden «Verbands Schweizerischer Grafiker» (VSG). Über sie
Haas Groteske», die von den Deutschen – nach dem lateini- schrieb Willy Rotzler 1955: «So wie für einen Teil der Auslän-
schen Namen für die Schweiz – Helvetica genannt wurde. der die Schweiz identisch ist mit Käse oder Uhren, ist für
Die Helvetica ist eine Überarbeitung der herkömmlichen se- andere die Schweiz das Land von ‹Graphis›.»13
rifenlosen Antiquaschriften. Sie wurde wegen ihrer neutralen,
«wohldefinierten Formen, ihrem ausserordentlichen Rhyth- Internationaler Einfluss
mus»11 und ihrer vielfältigen Verwendbarkeit zu einer der Der internationale Einfluss des »Swiss Style» ging nicht nur
meistbenutzten, kopierten und weiterentwickelten Schriften auf die beiden Zeitschriften, sondern auch auf seine Expo-
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart nenten zurück. Max Huber, Xanti Schawinsky, Walter Ballmer
(Abb. 158, 159). und Carlo Vivarelli sorgten mit ihren langjährigen Aufenthal-
Der in Paris arbeitende Schweizer Grafiker Adrian Frutiger ten in Mailand dafür, dass der «Swiss Style» in Italien Fuss
131

Abb. 160: Adrian Frutiger: Schematisches Diagramm der se- Abb. 161: Jacqueline S. Casey: Ankündigung des MIT-Ozean- Abb. 162: Paul Rand: IBM Logo, 1956. Quelle: Cathrine
rifenlosen Schriften «Univers», 1954. Die Univers besteht Ingenieur-Programms, 1967. Quelle: Philip Meggs, A History McDermott, Design A- Z. Designmuseum London, München,
aus 59 Schnitten. Frutiger änderte die Formen systema- of Graphic Design, New York, 1998, S. 335. 1999, S. 258.
tisch von oben nach unten und von links nach rechts. Quel-
le: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York,
1998, S. 324.

fasste. Adrian Frutiger, Jean Widmer und Gérard Ifert mach- Beiträge zum Corporate Design
ten ihn in Frankreich bekannt (A. Frutigers typografische Ori- Die Bemühungen um die Gestaltung integrierter Erschei-
entierungstafeln in der Pariser Métro!). Nach Deutschland nungsbilder von Unternehmen, was man heute im Bereich
waren die Verbindungen über die Ulmer Hochschule für Ge- des Marketings als «Corporate Identity» bezeichnet, gehen
staltung (Max Bill, Ernst Hiestand, Josef Müller-Brockamnn in Europa bis auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück
u.a.) ohnehin eng. In den Niederlanden sorgten Pieter Brat- (vgl. Kapitel 4: «Peter Behrens und die AEG »). In den USA war
tinga und «Total Design», in Grossbritannien «Pentagram» in den dreissiger und vierziger Jahren die Container Corpora-
für seine Verbreitung. tion of America (CCA) einer der frühen Fürsprecher einer sys-
Herbert Matter und Armin Hofmann wirkten in den USA, zum tematischen «Corporate Identity». Paul Rand (1914–96)
Teil in enger Verbindung mit Paul Rand, Will Burtin und ande- wurde mit seiner Entwicklung des Corporate Designs der Fir-
ren (vgl. Kapitel 8). Der «Swiss Style» hatte in den sechziger ma IBM bekannt (Abb. 162).
Jahren einen starken Einfluss auf das Grafikdesign in den Ebenfalls in den USA wurden die ersten Schritte in der Signa-
USA und behielt diesen zwei Jahrzehnte lang. Ein nennens- letik gemacht (Signaletik: visuelle Orientierung im öffentlichen
wertes Beispiel ist das «Massachusetts Institute of Techno- und privaten Raum) – dies vor allem bei verschiedenen Trans-
logy» (MIT ). In den frühen fünfziger Jahren gab sich diese Uni- portsystemen, die offensichtlich Bedarf nach visueller Orien-
versität ein grafisches Designprogramm, das vom «Design tierungshilfe mit Hilfe von Piktogrammen hatten (Abb. 163).
Services Office» ganz im Stil des «Swiss Style» entwickelt Das Corporate Design für die deutsche Luftfahrtgesellschaft
wurde. Damit hatte eine amerikanische Universität schon Lufthansa – von Otl Aicher und anderen am Ulmer Institut für
sehr früh die Bedeutung von Design für Kultur und Kommuni- Design entwickelt und produziert – wurde ein Prototyp für
kation anerkannt (Abb. 161). ein geschlossenes Identitätssystem, in dem jedes Detail
Auch vorübergehend oder dauerhaft in der Schweiz nieder- standardisiert und absolut uniform war (Abb. 164).
gelassene ausländische Grafiker verbreiteten den «Swiss Die Olympischen Spiele von 1968 in Mexiko und von1972 in
Style» in ihren jeweiligen Herkunftsländern. Tomas Maldona- München waren Meilensteine in der Entwicklung von Design-
do, der im Dreieck Ulm, Schweiz, Italien wirkende argentini- programmen. Hier mussten die immensen Kommunikations-
sche Grafiker (und zweite Direktor der Hochschule für Ge- probleme der internationalen Teilnehmer gelöst werden
staltung), war die Schlüsselfigur in der Ausbreitung des (Abb. 165, 166).
«Swiss Style» in Lateinamerika. Der Schweizer Stil war um —
1960 auf dem Höhepunkt seiner Ausstrahlung.14 11 Philip Meggs, A History of Graphic Design, S. 325.
12 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 15.
13 Ebenda, S. 16.
14 Ebenda, S. 18.
132

11. Swiss Style Meilensteine


Der internationale typografische Stil

Abb. 163: Roger Cook und Don Shanosky: Piktogramm für Abb. 164: Otl Aicher et al: Zwei Seiten aus dem CI-Manual
das Signaletik-System des US-Verkehrsdepartements. der Lufthansa, 1962. Helvetica-Schrift. Quelle: Philip
Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 375f.
1998, S. 380.

In der Schweiz bemühte sich die Chemische Industrie Ba- Ende des «Swiss Style»
sel (CIBA), die bereits in den frühen fünfziger Jahren des Das Ende kann durch zwei Ereignisse datiert werden: 1965
20. Jahrhunderts zu einem global agierenden Pharmakon- stellte die «Neue Grafik» ihr Erscheinen ein, und gleichzei-
zern geworden war, als eine der ersten Firmen um die Ent- tig fand die Aufklärungskampagne «Die gute Form» des
wicklung eines international verständlichen Corporate- Schweizerischen Werkbundes zum letzen Mal statt. Das war
Design-Programms (Abb. 167). 1953 sprach der Amerikaner ein Wendepunkt in der fast fünfzigjährigen Blütezeit der
James K. Fogleman, der Promotor des Programms, von der Schweizer Grafik.
«Notwendigkeit eines integrierten Designs oder vom kontrol- Christoph Bignens sucht nach Gründen für diese Entwick-
lierten visuellen Erscheinungsbild, welches eine grosse Rolle lung: «Der Glaube an eine Ästhetik, die mit den formalen
spiele im Erreichen einer Corporate Identity.»15 Fogleman Mitteln der konstruktiven Gestaltung zu einer schlichten,
betonte immer wieder, dass Kommunikation zwei Funktionen zweckmässigen und ‹guten› Form gelangen will, war in der
habe: der unmittelbare Werbenutzen für ein Produkt und die Mitte der sechziger Jahre spürbar geschwunden (…) Die
Entwicklung des Rufs und des Images einer Firma, was län- Zweckgrafik (so wurde die konstruktive Grafik von Hans Neu-
gerfristig die wichtigere Funktion sei. Es ist kein Zufall, dass burg 1946 genannt, B.S.) geriet in der Hochkonjunktur bald
es gerade die chemische Industrie war, die unter Anleitung unter massiven Druck, weil sie in der aufblühenden, von Ame-
bedeutender Gestalter in der Kommunikationspolitik als Vor- rika geprägten Massenkultur den Forderungen nach rasch
reiter einer ganzheitlichen «Corporate Identity» eine Pionier- wechselnden und unterhaltsamen visuellen Reizen nicht
rolle spielte: Bei Pharmaprodukten gab es wenig zu gestal- mehr gewachsen war. Eine Erlebnisgrafik, wie sie die Post-
ten, aber umso mehr zu kommunizieren. Dazu kam, dass die moderne hervorbrachte, wollte die zurückhaltende ‹Schwei-
gesetzlichen Bestimmungen die allegorische Darstellung zer Grafik› nie sein.»17
der Wirkung pharmazeutischer Produkte verbot, was eine Richard P. Lohse hatte 1959 (!) im dritten Heft der «Neuen
typografische Lösung bevorzugte. Grafik» ahnungsvoll geschrieben: «Die Sintflut des Massen-
In den sechziger Jahren vereinigte sich der Schwung des produktes reisst auch die Ästhetik täglich mit sich fort.» Und
«Swiss Style» mit demjenigen der Bewegung um das Corpo- Max Bill äusserte 1988 resigniert, dass es nur noch eine
rate Design. Das Ergebnis: die systematische Entwicklung «Gestalterei» gebe, die Spielerei sei und der Verkaufsförde-
von anspruchsvollen Designprogrammen zur Verbindung von rung diene.18
komplexen unterschiedlichen Teilen (Produktdesign und vi- —
suelle Kommunikation) zu einem Ganzen. Gerstner und Kut- 15 Philip Meggs, A History of Design, S. 367.
16 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 58.
ter sowie Lohse und andere Agenturen realisierten nach 17 Ebenda, S. 10.
1959 ein konsequentes Corporate Design.16 18 Zitiert aus: Christoph Bignens, Swiss Style, S.69.
133

Abb. 165: Peter Murdoch und Lance Wyman: Signaletik für Abb. 166: Otl Aicher: Druckgrafik der 20. Olympiade, 1972. Abb. 167: Fritz Bühler (CIBA-Designgruppe): Corporate-
die 19. Olympiade, 1968. Quelle: Philip Meggs, A History of Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, Identity-Programm, 1953–60. Quelle: Philip Meggs, A His-
Graphic Design, New York, 1998, S. 383. 1998, S. 385. tory of Graphic Design, New York, 1998, S. 368.
134

11. Swiss Style


Der internationale typografische Stil

— schen Prinzip bündelte».2 Mit andern Worten sind Präzision


Kommentar und Qualität das kreative und innovative Mittel der Schwei-
zer Wirtschaft gegen naturgegebene Konkurrenz- Nachteile
(wie Rohstoffmangel).
Ähnliche Eigenschaften kennzeichneten auch den «Swiss
Style», so dass Willy Rotzler 1966 in Anlehnung an die
schweizerische Präzisionsmechanik von einer «Präzisions-
grafik» sprechen konnte.3
Präzisionsgrafik Das zweite Zitat stammt von Richard P. Lohse: «Das Neue an
Die konstruktive Grafik, der «Swiss Style», ist keine schwei- dieser Grafik ist vor allem ihre fast messbare Klarheit.»4 In
zerische Erfindung, und doch haben die relativ kleinen bester Schweizer Tradition hatte schon Le Corbusier 1923
Schweizer Grafikateliers und ihre Patrons zusammen mit eine Erneuerung der visuellen Kultur gefordert, die von einer
der Industrie in den fünfziger und sechziger Jahren weltweit «messbaren Ordnung» ausgeht.5 Die Präzisionsgrafik war
Designgeschichte geschrieben. Natürlich profitierte die wie die Präzisionsmechanik ein schweizerisches Exportpro-
Schweiz von ihrem Inseldasein während des Zweiten Welt- dukt, das auf dem Ideal messbarer Ordnungen basierte!
kriegs, der die Entwicklung anderer Designnationen lähmte, —
so dass ImmigrantInnen wesentliche Impulse in dieses Land 1 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 27.
2 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 27.
brachten. Einmal mehr glänzte die Schweiz nicht mit wissen- 3 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 30.
schaftlichen Erfindungen von weltweiter Bedeutung, aber 4 Richard P. Lohse 1958 im Vorwort zur ersten Nummer der «Neuen Grafik».
5 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 30.
mit einer international bedeutenden Pionierleistung auf der
Grundlage von ausländischem Wissen.1 Es war die Stärke des
«Swiss Style», dass das zweckrationale Gestaltungsdenken
in der Schweiz auf einen ausserordentlich fruchtbaren Bo-
den fiel. Zwei Zitate mögen dies veranschaulichen:
Max Bill bemerkte: «Weil die Qualitätsproduktion das Ziel je-
des seriösen Schweizer Industrieunternehmens ist, hat eine
der Industrieproduktion adäquate grafische Gestaltung in
der Schweiz schon zu Beginn der dreissiger Jahre sich
durchsetzen können.» Die industrielle Qualitätsproduktion
hatte ihren Ursprung im 19. Jahrhundert, wo zum Beispiel in
der Maschinenindustrie die Merkmale einer Präzisionsme-
chanik das Puritanische, das formal Zurückhaltende, das
Ernste, das Saubere und das Gepflegte waren. Die Wurzeln
dieses stark ausgeprägten Zweckrationalismus lagen in
einer Mentalität, die von Ordnungsliebe, Fleiss und Zuverläs-
sigkeit gekennzeichnet war. Lotte Schilder Bär nennt dies
«Eigenschaften, welche die Schweiz als Reaktion auf die
industriellen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts aus einer
bäuerlichen und calvinistischen Ethik heraus zum strategi-
12. KRISE DES
FUNKTIONALISMUS
138

12. Krise des Funktionalismus

— massiver Widerspruch gegen die gesellschaftliche und poli-


Wirtschaftliches und Soziales tische Entwicklung. Es war die erste Krise der westlichen
Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Zuerst in den USA
(Flower-power-Bewegung) und dann in Europa (Achtund-
sechzigerbewegung) kam es zu studentischen Protestbewe-
gungen, die zwei Hauptstoßrichtungen hatten: Die erste
richtete sich gegen die verkrusteten und autoritären Gesell-
schaftsstrukturen und gegen den imperialistischen Krieg
Zweifel am Design 1 der USA in Vietnam. Die zweite hatte das Konsumverhalten in
In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatten zwei den kapitalistischen Wohlstandsgesellschaften im Visier. Sie
Dinge einen bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung des mündete in einer Kapitalismuskritik, welche die «unauflösli-
Designs in den Industrieländern der westlichen Welt: einer- che Bindung von Unternehmerinteressen, Warengestaltung
seits die wirtschaftliche Hochkonjunktur und die Ausbreitung und Werbung»1 zum Gegenstand hatte. Der Protest galt dem
der Massenkonsumgesellschaft und anderseits die massive «Konsumfetischismus». Die Euphorie des Massenkonsums
Kritik an dieser Gesellschaft. und die damit verbundene Belastung des Ökosystems sahen
Rückblickend war der Wirtschaftsboom der Fünfziger nur der sich zunehmend heftigerer Kritik ausgesetzt. Die «Grenzen
Prolog für die Ausbreitung einer Gesellschaft, die auf Mas- des Wachstums» wurden beschworen. In den siebziger Jah-
senproduktion und -konsumtion, aber auch auf einem wach- ren überlagerte die Ökologieproblematik die primäre Kapita-
senden Verbrauch der natürlichen Ressourcen beruhte. Auf lismuskritik, was auch auf die Designtheorie durchschlug.
der Grundlage dieser Wohlstandsgesellschaft breitete sich Gefordert wurde die Umweltfreundlichkeit des Produzierens
nach US-Muster eine Massenkultur aus, die eine nachhaltige und Gebrauchens, die Schonung der Ressourcen und die
kulturelle Wende einläutete (vgl. Kapitel 13). Die wirtschaftli- soziale Handhabe des Gestalteten.2
che Entwicklung ließ das Design natürlich nicht unberührt: Die Attacken der Protestbewegungen bewegten sich auf ver-
Es wurde immer mehr nach einer Gestaltung verlangt, die schiedenen Ebenen: Antiimperialismus, Antirassismus, anti-
auf die stetig schneller sich wandelnden Bedürfnisse der autoritäre Erziehung, Antibabypille und auch Antidesign. Sie
Märkte «innovativ» reagierte und die Dinge im Sinne des ließen das Design nicht unberührt. Protestiert wurde gegen
«Styling» gestaltete und arrangierte. Das industrielle Design das etablierte Design («Mainstreamdesign»). Der Zweckra-
richtete sich denn auch in der Regel nicht nach den hehren tionalismus der modernen funktionalistischen Gestaltung
Regeln der «Guten Form», sondern kopierte aus wirtschaftli- wurde kritisiert und die Rolle des Designs generell in Frage
chen Überlegungen der Rationalisierung und der Kostenein- gestellt. Viele DesignerInnen wollten sich nicht länger in der
sparung den Funktionalismus sowie den Ulmer Systemgedan- Rolle eines «Handlangers des Kapitals»3 sehen; sie verwei-
ken. Das neofunktionalistische Design der «Guten Form», gerten eine kreative (Design-) Leistung im Dienst der Markt-
das sich seit Beginn vom «schlechten Industriekitsch» abge- wirtschaft und des Konsums und plädierten für eine Welt
grenzt hatte, geriet unter diesen Bedingungen immer mehr ohne Konsumgüter. Sie zogen es vor, frei und experimentell
unter Druck. zu arbeiten und sich politisch zu engagieren. Dazu gehörte
auch, politische Designkonzepte zu entwerfen.
Zweifel am Design 2 In Deutschland beeinflusste die so genannte «Kritische The-
Ab Mitte der sechziger Jahre regte sich in den westlichen In- orie» der Frankfurter Schule das Design: Die Frage nach sei-
dustriestaaten in der Hoch-Zeit des Wirtschaftswachstums ner Aufgabe in der Gesellschaft wurde radikal neu gestellt,
139

und es wurde kritisiert, dass die Funktion eines Gegenstan-


des auf den zweckrationalen und rein technischen Aspekt
eingegrenzt wurde (vgl. «Philosophische Designkritik»).

1 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 281.
2 Ebenda.
3 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 140.
140

12. Krise des Funktionalismus Meilensteine Theorie

Abb. 168: Guido Drocco und Franco Mello: Kleiderständer Abb. 169: Piero Gatti et al.: Sitzsack «Sacco», 1968/69. Der
«Cactus», 1971. Formen aus Comics konnten mit dem neu- mit aufgeschäumtem Polystyrolkügelchen gefüllte Sack
en Kaltpolyurethanschaum auch im Möbelbau umgesetzt sollte sich jeder Körperform anpassen und war damit Aus-
werden. Quelle: Bernd Polster et al. (Hg.), Dumont Hand- druck einer legeren und antiautoritären Wohnkultur. Quelle:
buch, Köln, 2002, S. 211. Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 471.

Defizite und negative Folgen des Neofunktionalismus Philosophische Designkritik


Die meisten Vertreter der Theorie des Funktionalismus in Die Kritik am Funktionalismus fand einen
Architektur und Design konnten auf die Infragestellung des Höhepunkt in dem Vortrag von Th. W. Adorno
Neofunktionalismus (auch Spätfunktionalismus genannt1 ) («Funktionalismus heute») vor dem Deut-
und der gesellschaftlichen Rolle der Gestaltung keine befrie- schen Werkbund 1965. Dort kritisierte dieser
digenden Antworten liefern, zu sehr waren ihre PraktikerIn- Vertreter der Kritischen Theorie die puristi-
nen im rein technologischen und zweckrationalen Handeln schen Leitgedanken der FunktionalistInnen
verstrickt, zu sehr hatten sie ihre Fantasie und Freiheit und als ideologisch überhöht und stellte fest: «Das
die emotionale Beziehung zur Umwelt eingeengt und unter Unzureichende der reinen Zweckformen ist zu-
den Scheffel des nur praktisch-technisch verstandenen tage gekommen, ein Eintöniges, Dürftiges, bor-
Funktionalismus gestellt. niert Praktisches (…). Kaum eine Form, die
In Grossbritannien, später auch in Italien und Deutschland, neben ihrer Angemessenheit an den Gebrauch
bildeten sich radikale Gegenbewegungen gegen die funktio- nicht auch Symbol wäre (…). Die Zukunft von
nalistische Architektur sowie das «Mainstreamdesign» der Sachlichkeit ist nur dann eine der Freiheit,
Industrie und der Designinstitutionen, das den Funktionalis- wenn sie des barbarischen Zugriffs sich ent-
mus imitierte und langweilige Massenprodukte entwickelte. ledigt: nicht länger den Menschen, dessen Be-
Herd und Geschirrspülmaschine, Waschmaschine und Kühl- dürfnis sie zu ihrem Massstab erklärt, durch
schrank, die unterschiedlichsten Haushaltsfunktionen pas- spitze Kanten, Karos, kalkulierte Zimmer, Trep-
sten alle in immergleiche Kisten mit ähnlichen Bedienungs- pen und Ähnliches sadistische Stösse versetzt.
elementen – praktisch und vor allem unanschaulich. Autos, Fast jeder Verbraucher wird das Unprakti-
Schränke, Regale und Möbelgarnituren unterwarfen sich in sche des erbarmungslos Praktischen an sei-
den sechziger und siebziger Jahren einer zwar zweckmäßi- nem Leib schmerzhaft verspürt haben; daher
gen, anderseits aber formal ziemlich dürftigen Rasterstruk- der Argwohn, was dem Stil absagt, sei be-
tur. Gegen die «seelenlose» zweckrationale Eingrenzung der wusstlos selber einer.»1 Adorno wies darauf
Gegenstände auf ihre praktisch-technische Funktion wurden hin, dass mit dem Verzicht auf das Ornament
die emotionalen und symbolischen Funktionen thematisiert der Verlust von Menschlichkeit einhergehe.
und ins Zentrum gerückt. Auch die Frage nach der Rolle der G. Raulet stellte fest, dass der nur material-
Kunst im Entwurfsprozess, die der Funktionalismus streng gerechte, kahle, unverzierte Bau, das auf seine
vom Design getrennt hatte, wurde gestellt. Die ersten «post- konstruktiven Elemente reduzierte Möbel-
modernen» Theorien wurden formuliert (vgl. Kapitel 13). stück, dem Heimisch-Werden des Menschen
In Deutschland fand Mitte der sechziger Jahre zuerst in der in seiner Welt entgegenstehen würde.2
141

Abb. 170: Carlo Scolari et al.: Aufblasbarer Sessel «Blow Versprechen der Moderne für die Verbindung von Licht, Luft Abb. 171: Verner Panton: «Panton-Chair», 1968. Der Ent-
Chair» (Firma Zanotta), 1967. Möbel aus PVC-Folie kamen und Sonne für alle. Quelle: Cathrine McDermott, Design wurf von 1959 konnte erst 1968 produziert werden, zu-
Ende der sechziger Jahre als Inbegriff der Jugendlichkeit A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 129. nächst mit Glasfiberkern, kunstharzbeschichtet, ab 1968
und Flexibilität in Mode. Leicht zu transportieren, Platz aus Fiberglas und Polyester. Quelle: Dieter Weidmann, De-
sparend, geeignet für drinnen und draussen, für trocken sign des 20. Jahrhunderts, Berlin, 1998, S. 84.
und nass: Gegenstände, wie der «Blow Chair» waren
sowohl voluminös gestalteter Protest gegen die teuren
Reeditionen der Zwanzigerjahre-Klassiker als auch sar-
kastischer Hinweis auf das noch immer nicht eingelöste

Architektur und Städteplanung eine Debatte über die «emo- W. F. Haug lieferte in seiner Kritik der Waren-
tionalen Defizite eines reinen Zweckrationalismus» statt, der ästhetik eine politische Kritik der Rolle des
ausschließlich auf rationelle Massenproduktion ausgerich- Designs im kapitalistischen Wirtschaftssys-
tet war.2 Die negativen Folgen zeigten sich deutlich an den tem (vgl. Kapitel 1). Er verurteilte das Design,
großen Neubausiedlungen an der Peripherie der Städte, wo das den Gebrauchswert der Waren reduziert
mit einem «Planungs»- oder «Bauwirtschaftsfunktionalis- und ihnen aus Marketinggründen (Styling)
mus»3 rücksichtslos über die Bedürfnisse der Menschen hin- einen falschen Oberflächenglanz verleihe, der
weggegriffen wurde. «Aus der Poesie des weissen Rechtkants die VerbraucherInnen mit kurzlebigen Schein-
wurde die Wirtschaftlichkeit des Behausungscontainers.»4 versprechen betrüge.
Der Architekt W. Nehls forderte 1968: «Die heiligen Kühe des
Funktionalismus müssen geopfert werden!» Er verurteilte Neofunktionalismus kontra Funktionalismus
den unmenschlichen Formalismus der Betonplattenbauten Dieter Weidmann: «Während sich in den zwan-
der sechziger und siebziger Jahre und fuhr fort: «Das Verbre- ziger und dreissiger Jahren Stil und Produktion
cherische liegt darin, dass die Prinzipien des Klaren und so glücklich ergänzten, dass praktisch jede
Strengen uns in eine Öde der Gestaltung geführt haben.»5 funktionalistische Lampe dieser Epoche als
Im Übrigen fällt die Krise des Funktionalismus und damit des ästhetisch gelungen zu bezeichnen ist, und
Designs – seit Jahrzehnten waren Design und Funktionalis- während der Bauhausstil noch jene ästhetisch
mus in Europa dasselbe – praktisch zusammen mit dem be- pointierten Kontrastsetzungen aufwies, die
ginnenden Ende der sichtbaren Funktionalität der Gegen- auch einfacheren Formen eine interessante
stände; denn bei der zunehmenden Masse der modernen Physiognomie verliehen, fielen die funktiona-
elektronischen Alltagsgegenstände war die technische Funk- listischen Formen der sechziger und siebzi-
tion im Wesentlichen unsichtbar. Anders gesagt: Als die sym- ger Jahre immer monotoner aus, was ihren
bolischen und emotionalen Funktionen der Gegenstände ge- ästhetischen Reiz stark abschwächte und vor
stalterisch immer besser dargestellt wurden, wurde die allem in massierter Ballung den Eindruck
technische Funktion zunehmend unsichtbar. unerträglicher Langeweile verströmte.»3
— —
1 Wolfgang Schepers, Peter Schmitt, Das Jahrhundert des Design, S. 169. 1 Zitiert aus: Bernhard Bürdek, Design, S. 56.
2 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 142. 2 G. Raulet, Natur und Ornament, Darmstadt, 1987, in:
3 Planungsfunktionalismus in: Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 127; Henckmann, Lotter (Hg.), Lexikon der Ästhetik, München,
Bauwirtschafts funktionalismus in: Heinrich Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne- 1992, S. 184.
Postmoderne- Zweite Moderne, München, 1994. 3 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 21.
4 Heinrich Klotz: Ebenda.
5 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 143.
142

12. Krise des Funktionalismus Meilensteine

Abb. 172: Luigi Colani: Zocker (Sitzgerät Colani), 1971-72. Abb. 173: Archizoom Associati: Superonda, 1966. Konstruk- Abb. 174: Gruppe Strum: Sitz- und Liegemöbel «Pratone»
Zunächst hatte Colani eine Kinderversion dieses «Sitz- tion aus Schaumstoff mit Vinylbezug. Quelle: Charlotte und (Große Wiese), 1971. Eines der bekanntesten Beispiele des
werkzeugs» mit integriertem Sitz und Pult entworfen. Auf Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 469. Anti-Designs. Es sah abweisend und hart aus, war aber
diesem auf Multifunktionalität und Ergonomie ausgelegten weich und bequem. Ironie und Spiel mit der Wahrnehmung
Modell kann man entweder in konventioneller Haltung waren im Anti-Design sehr beliebt. Die Gruppe Strum woll-
oder rittlings wie in einem Sattel sitzen. Quelle: Charlotte te Architektur und Design als Mittel politischer Propaganda
und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 489. einsetzen. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs,
Köln, 2000, S. 495.

Alternativen aus der Pop-Kultur ger Jahren in der Industrie an und schreckte die VertreterInnen
Wer zum kritisierten Neofunktionalismus eine Alternative der langweilig gewordenen «Guten Form» auf. Colani machte
suchte, konnte sie im Protest der Jugendkultur finden. Die das Wort «Design» in Illustrierten und im Fernsehen populär.
amerikanische Hippie-Bewegung und die britische Pop-Mu-
sik hatten die Formensprache der «Flower-power» gefun- Anti-Design oder Radical Design in Italien
den, welche zusammen mit der aufmüpfigen Pop-Art die Auch in Italien rebellierte Ende der Sechziger die antiauto-
Kleidermode, das Möbeldesign und das Grafikdesign beein- ritäre Generation von DesignerInnen und ArchitektInnen ge-
flusste. Den stärksten Einfluss auf das Design hatte die Pop- gen die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen und gegen
Kultur in Italien. Dort erkannten die neuen Designgruppen das konsumorientierte Mainstreamdesign, das «Bel Design».
(vgl. unten) in der Pop-Bewegung eine über die reine Ästhetik «Man wollte keine eleganten Einzelstücke mehr entwerfen,
hinausgehende kulturelle Bedeutung.6 sondern übergreifend konzeptionell und global denken, den
Die Jugendkultur und die Pop-Kultur lehnten sich gegen tra- Entwurfsprozess ebenso neu betrachten wie die politischen
dierte Verhaltensweisen auf, auch die Pop-Art rebellierte ge- Voraussetzungen in der Konsumgesellschaft.»7 In Mailand,
gen den etablierten Kunstbetrieb. Alltagsgegenstände, Co- Florenz und Turin schlossen sich Gruppen zusammen, um
mics und Bilder aus der Werbung wurden in den Werken einen radikal neuen Ansatz zur Schaffung von «Grundlagen
eines A. Warhol oder eines R. Lichtenstein zu Kunst und in für ein neues Sein»8 zu erarbeiten. Dieses Anti-Design, es
ihrem verfremdeten Kontext (Kunstgalerien und Museen) zur wurde auch Radical Design genannt, war antikommerziell. Im
Parodie auf die Massenkonsumgesellschaft. Die Ästhetik Vordergrund standen Zeichnungen, Fotomontagen und Kon-
dieser Kunst beeinflusste auch das Design (Abb. 168). Kitsch zepte zu utopischen Projekten, mit denen der Protest gegen
und triviale Alltagskultur, selbst gebastelte Möbel und Sperr- das etablierte Design und den Konsumismus («consumis-
müll wurden salonfähig und fanden den Weg in die Wohn- mo») ausgesprochen wurde.
kultur (Abb. 169, 170). Eine der ersten Gruppen und der eigentliche Begründer des
Im Produktdesign ermöglichte die Verwendung der neu ent- Anti-Designs war die 1966 in Florenz gegründete Gruppe
wickelten Kunststoffe die Kreation von spielerischen und Archizoom (Abb. 173). Die anderen Gruppen des Radical Desi-
ungewohnt provokativen Formen. Der wohl bekannteste, voll- gns waren Superstudio (Mailand, 1966), Gruppo 9999 (Flo-
ständig aus Plastik gefertigte Stuhl dieser Zeit stammte vom renz, 1967), Gruppe Strum (Turin, 1966). Die Gruppe Strum
dänischen Designer Verner Panton (Abb. 171). Luigi Colani be- setzte Design als Mittel der politischen Propaganda ein und
nutzte Kunststoff, um seine Visionen von organischen und er- entwarf von der Pop-Art inspirierte Möbel (Abb. 174).
gonomisch abgestützten Formen zu realisieren (Abb. 172). Mit den Arbeiten von Superstudio, Archizoom und anderen
Flug- und Fahrzeuge, Kugelküchen und Kinderhocker: Mit sei- Gruppen wurde im Design eine neue Kategorie eingeführt:
nen biomorph-gerundeten Formen eckte Colani in den sechzi- das Konzeptdesign. In der bildenden Kunst wurde zu dieser
143

Abb. 175: Des-In: Reifensofa, 1974. Entdeckung der Alltags-


kultur und Protest gegen die Wegwerfgesellschaft nach
dem Öl-Embargo 1973. Das Reifensofa, das nach Gebrauch
nicht mehr auf die Müllhalde wandert, sondern aus Wegge-
worfenem erbaut wird. Bei einigen DesignerInnen wurde
nun weniger über die Form der Kaffemaschine als vielmehr
über die Lebensbedingungen der KaffeepflückerInnen
nachgedacht. Quelle: Volker Fischer, Design heute, München,
1988, S. 46.

Zeit die Concept Art entwickelt, in welcher die Ideen des hatte sich vom Norden (Finnland, Schweden und Deutsch-
Künstlers als rein geistige Konzeption im Mittelpunkt ste- land) und von den USA (Eames, Bertoia) in den Süden verla-
hen. Losgelöst von den materiellen Bedingungen, werden gert (vgl. Kapitel 13).10
diese Werke erst durch gedanklich assoziative Prozesse in
der Vorstellung der RezipientInnen existent. Im italienischen Alternativen?
Konzeptdesign drückte sich zum einen die politische Hoff- Die radikalen Bewegungen des Anti-Designs hatten Ende der
nung aus, dass nach einer revolutionären Veränderung der sechziger Jahre ein grosses mediales Echo. Die meisten
Gesellschaft neue und sozial sinnvolle Arbeiten erst möglich lösten sich aber wenige Jahre später wieder auf und ver-
würden. Zum anderen ging es aber auch um individuelle Ver- schwanden mehr oder weniger spurlos. Die verschiedenen
haltensänderungen, die durch die skizzierten Ansätze er- gesellschaftskritischen Ansätze blieben Theorie und änder-
möglicht würden.9 ten am individuellen Mainstreamdesign wenig.
1973 wurde Global Tools gegründet, ein Zusammenschluss Die experimentellen Projekte, mit denen Gruppen wie Des-In
von verschiedenen Gruppen wie Archizoom, Gruppo 9999, (Kürzel für die «Design-Initiative» von Angehörigen der Offen-
Superstudio und einzelnen DesignerInnen wie Ettore Sott- bacher Gestaltungshochschule im Jahr 1974) versucht hat-
sass sowie den Zeitschriften «Casa bella» und «Rassegna». ten, alternative Wege in Entwurf, Produktion und Verkauf zu
Das Ziel war, in Florenz ein Netz von Werkstätten aufzubauen, gehen, waren wirtschaftlich nicht tragfähig und konnten in
um den Gebrauch natürlicher technischer Werkstoffe und die der Produktion nicht Fuss fassen. Des-In entwickelte immer-
ihnen angemessenen Anwendungen zu unterstützen und auf hin ein Recycling-Design (Abb. 175) und gab den Anstoss zur
diese Weise die Kreativität zu fördern. Global Tools überlebte Do-it-yourself-Welle.11 Doch Erfolg hatten solche Bestre-
sein drittes Lebensjahr nicht. bungen nur, wenn sie – wie die Anregungen aus der Pop-Kul-
So erging es auch den Gegenbewegungen: Die meisten von tur – von der industriellen Produktion vereinnahmt wurden.
ihnen lösten sich Mitte der siebziger Jahre wieder auf. Die Die anfänglich gesellschaftskritischen Pop-Möbel wurden zu
radikale Ablehnung der Konsumkultur lief auf die Verweige- blossen modischen Accessoires.12 Die Utopien des Anti-De-
rung der realen Entwurfspraxis hinaus. Viele DesignerInnen, signs waren schwächer als die faktische Macht des kapitali-
so auch Sottsass, stellten ihre Entwurfstätigkeit ein. Vorü- stischen Marktes.
bergehend, wie sich bald herausstellte, denn in den Bewe- —
gungen Alichimia und Memphis fand das italienische avant- 6 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 97.
7 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 146.
gardistische Design eine Fortsetzung, die etwas vollenden 8 Ebenda.
sollte, was mit dem Anti-Design begonnen hatte: Italien wur- 9 Bernhard Bürdek, Design, S. 96f.
10 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 97.
de in den siebziger Jahren zum Designland schlechthin. Das
11 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 143.
Zentrum für Gestaltungsfragen (vor allem im Produktdesign) 12 Ebenda, S. 148.
144

12. Krise des Funktionalismus

— den. So hatte der Funktionalismus immer eine soziale und


Kommentar eine politische Dimension. Unter den herrschenden kapitalis-
tischen Bedingungen, wo nicht der Gebrauchswert und die
Lebensbedürfnisse, sondern der Tauschwert oder Marktwert
und die Profitinteressen das Primäre sind, hatte der Funktio-
nalismus immer etwas Utopisches. Im gegebenen gesell-
schaftlichen System konnte im Grunde kein (sozialer) Funk-
tionalismus praktiziert werden.
Kritik der Kritik Aus diesem Blickwinkel betrachtet, traf die Kritik lediglich
Die Kritik am herrschenden Funktionalismus war berechtigt. eine verengte ökonomistische Interpretation des Satzes
Es war eine Kritik an den Folgen eines sozial sinnentleerten «form follows function». Gert Selle meint, dass die Funktio-
Nachkriegsfunktionalismus, wie er sich zum Beispiel in der nalismuskritik noch eine andere Dimension hatte. Sie kriti-
Form eines Bauwirtschaftsfunktionalismus in der modernen sierte die Ecke und Kante und wollte stattdessen die «Softli-
Architektur und Städteplanung gezeigt hatte. Es war eine Kri- ne des differenzierten Warenkörpers, die Anschmiegsamkeit
tik am Funktionalismus, der sich als marktorientiertes Main- der Konsumobjekte».2 Sie gab sich als progressiv und sprach
streamdesign durchgesetzt hatte. Traf sie aber den Kern des im Namen der nicht berücksichtigten individuellen Bedürf-
Funktionalismus oder nur eine verflachte Variante? nisse der Menschen. Aber waren diese Bedürfnisse der Ver-
Vergegenwärtigen wir uns kurz den gemeinsamen Nenner der braucherInnen nicht eher die massenkulturellen Angebotsbe-
Bestrebungen eines L. Sullivan («form follows function»), dürfnisse des Marktes, die dank ästhetischer Manipulation
eines A. Loos (Utopie der Ornamentlosigkeit), eines W. Tatlin geschaffen wurden? Gert Selle kommt zu einem eindeutigen
(technische Ästhetik) und eines H. Meyer (nachkonstruktivis- Urteil: «Die elementaren individuellen Bedürfnisse spielten
tische Sachlichkeit des Baushauses): Angestrebt wurde die nämlich in der Massenproduktion kaum eine Rolle.»3 Stellte
Identität von Zweckmässigkeit und Schönheit, die Angemes- sich die Funktionalismuskritik damit nicht unbewusst in den
senheit der Form und der gestalterischen Mittel an den Zweck Dienst des immer schneller werdenden Konsums?
der Dinge, die Transparentmachung der Funktion durch die Ein gebrauchswertorientierter Funktionalismus hätte sich
Produktsprache und das Zusammenfallen des materiellen von seinem Wesen her gegen die Massenkonsum- oder Über-
Gebrauchswerts mit einer angemessenen Erscheinung des flussgesellschaft und gegen den permanenten und immer
Gebrauchswerts. schneller werdenden Konsum wenden müssen. Er hätte die
Die funktionale Produktgestaltung war gebrauchswertorien- Zahl der Gegenstände reduzieren müssen und sie gemäss
tiert. Sie war eine Methode der Optimierung von Gebrauchs- den reflektierten Bedürfnissen optimieren müssen!
werten. Der Gebrauchswert eines Gutes bestimmt sich einzig —
aus dessen Nützlichkeit für den Benutzer, und die Nützlich- 1 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 121.
2 Ebenda.
keit ist einzig durch die Eigenschaften des Gutes bedingt 3 Ebenda, S. 119.
und existiert nicht ohne dieses.1 Andere Werte als die so
verstandene Nützlichkeit gab es für den historischen Funk-
tionalismus nicht! Im Funktionalismus waren die zu gestal-
tenden Dinge den Lebensbedürfnissen untergeordnet und
dienstbar; sie sollten nicht das Leben beherrschen. In dieser
Sicht konnte Design niemals Styling oder Formkosmetik wer-
13. POSTMODERNES DESIGN.
ALCHIMIA UND MEMPHIS
148

13. Postmodernes Design.


Alchimia und Memphis

— Sein postulieren, war nicht primär die Veränderung des Den-


Wirtschaftliches und Soziales kens oder die geistige Krise. Das veränderte Denken war viel-
mehr eine Folge tiefer wirtschaftlicher und gesellschaftli-
cher Wandlungen. Es widerspiegelte die schier grenzenlose
technologische und wirtschaftliche Entfaltung der Massen-
konsumgesellschaft auf der Basis der neuen Kommunikati-
onstechniken. «In den achtziger Jahren beschleunigten sich
technische, gesellschaftliche, ökologische, kulturelle und sti-
Postmodernes Krisenbewusstsein listische Entwicklungen in einem Mass und in einer Radika-
In den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts lität, die das Jahrzehnt deutlich von den vorangegangenen
hatte die Nachkriegsmoderne in Westeuropa auf breiter Linie unterschieden.»1 Für das Verständnis der weiteren Designge-
gesiegt. Mit der Ausbreitung der modernen Massenkultur schichte ist die Auseinandersetzung mit dieser materiellen
hatte sich der Neofunktionalismus als Mainstream in Archi- Basis von grosser Bedeutung.
tektur und Design durchgesetzt. Es war eine Gestaltung, die
unter dem Primat der wirtschaftlichen Rentabilität immer Die vollständige Ästhetisierung des Alltagslebens
kurzlebigere Produkte (und Bauten) schuf. Das Alltagsleben wurde immer mehr Gegenstand ästheti-
Ende der sechziger Jahre wurde die kapitalistische Konsum- scher Gestaltung. Die grösste Dichte von visuellen Botschaf-
gesellschaft von der so genannten Achtundsechzigerbewe- ten in der bisherigen Kulturgeschichte und die immense
gung auf allen Ebenen in Frage gestellt. Es entstanden Anti- Schönung des Alltags durch bewusste Gestaltung des Wahr-
Bewegungen, die gesellschaftliche Alternativen und Utopien nehmbaren, insbesondere des visuell Wahrnehmbaren, hat-
entwarfen (vgl. Kapitel 12). Die Postulate dieser Gegenbe- ten zur Folge, dass ästhetische Wahrnehmung und Kommu-
wegungen wurden mehrheitlich nicht realisiert. In vielen nikation in der Erfahrung und Aneignung von Wirklichkeit
gesellschaftlichen Bereichen hinterliessen sie jedoch nach- einen grossen Stellenwert bekamen. Die Ästhetisierung der
haltige Spuren (etwa in der Frauen-, Bürgerrechts-, Dritt- Alltagsgegenstände ist ein Phänomen der modernen Mas-
welt- und Ökobewegung). Die Achtundsechziger hatten sich senkultur und so alt wie diese selbst. Sie bekam allerdings
als schwächer erwiesen als Macht und Strukturen der durch die sich überschlagenden technischen Innovationen
kapitalistischen Gesellschaft. der letzten Jahrzehnte neue Ausmasse.
Das politische Ohnmachtserlebnis angesichts des Behar-
rungsvermögens des wirtschaftlichen Systems, die konserva- Logik des kapitalistischen Marktes
tive Wende in den siebziger und achtziger Jahren («Reagano- Martin Heidegger notierte vor einigen Jahrzehnten: «Der
mics» in den USA und «Thatcherismus» in Grossbritannien) Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als
führten zu einer Krise der kritischen Intelligenz und bald zu Bild.»2 Die Entwicklung seit vielleicht 150 Jahren lässt sich
allgemeiner Resignation und zu einer geistig-kulturellen Kri- tatsächlich als Universalisierung des Ästhetischen durch die
se, welche das ganze Denken dieser Zeit erfasste. Die dama- Warenproduktion verstehen. Alle Kultur unter dem Kapitalis-
lige mentale Grundhaltung wird «postmodern» genannt (vgl. mus ist durch die massenweise Produktion und Distribution
den Abschnitt: «Der Begriff der Postmoderne»). Der Auslöser von Waren geprägt und läuft auf Massenkultur hinaus. Mas-
für diese postmoderne Haltung – das kann rückblickend fest- senkultur basiert mit andern Worten auf einer Wachstums-
gehalten werden, und das sollten all diejenigen bedenken, ökonomie, also auf einem ständig wachsenden Überschuss
die wieder das Primat des Bewusstseins gegenüber dem an Konsumgütern. «Es liegt in der Logik industriekapitalis-
149

tischer Produktionsweise, immer weitere, tendenziell alle Eine Fülle von Zeichen und symbolischen Verweisen
menschlichen Lebensäusserungen, soweit sie sich vergegen- Die «Ästhetisierung der Gegenstände des täglichen Ge-
ständlichen lassen, in den Distributionszusammenhang der brauchs, der Umgebung des täglichen Gebrauchs, des Ge-
Warenwirtschaft einzuverleiben.»3 Dabei ist zu beachten, brauchs der Umgebung und der Menschen selbst»7 hat eine
dass Waren nicht primär über ihren Charakter als Ge- enorme Ausweitung des Ästhetischen, eine «Rundumäs-
brauchsgegenstände bestimmend sind, sondern als «sinn- thetisierung» zur Folge. Die überbordende Produktion von
lich präsente und ungehindert zirkulierende Oberflächen, an Zeichen und bildhaften Bedeutungen in der Konsumkultur
denen sich – ökonomisch grundiert – Wünsche, Bedürfnisse der Gegenwart, speziell in den elektronischen Massenmedi-
und Sehnsüchte verschiedenster Art modellieren lassen».4 en, steigert die ästhetische Wirklichkeitserfahrung und be-
Viele fundamentale menschliche Bedürfnisse wie etwa das deutet in sich eine stetige Umwertung der Wirklichkeit in
nach Zuneigung und Anerkennung oder Musse und Freiheit eine Zeichenwelt.
werden fast ausschliesslich warenförmig und nicht sozial Wolfgang Welsch bringt es folgendermassen auf den Begriff:
befriedigt. «Viele der Waren, die zur Befriedigung der Bedürf- «Das Ästhetische ist heute überall präsent, es ist zu einem
nisse gekauft werden, sind Pseudo-Befriediger. So werden Schlüsselphänomen unserer Kultur geworden. Ästhetik be-
Autos von Männern häufig als Status-Symbol gekauft, oder schränkt sich nicht mehr auf die Sphäre der Kunst, sondern
Frauen kaufen Kosmetik und Kleider, um das Bedürfnis nach bestimmt ebenso Lebenswelt und Politik, Kommunikation
Liebe und Anerkennung zu befriedigen. Das tiefe Bedürfnis und Medien, Design und Werbung, Wissenschaft und Erkennt-
wird durch diese Käufe nicht befriedigt, darum muss dann nistheorie. Die Aktualität des Ästhetischen hat zunächst vor-
immer mehr gekauft werden.»5 dergründige Aspekte: Die Individuen geben sich gestylt;
Für neue Waren müssen immer zuerst neue Märkte oder Be- Stadt und Land werden einem gestalterischen Facelifting
dürfnisse geschaffen werden. Und diese Bedürfnisse werden unterzogen; die Politik gerät immer kosmetischer; soziale
ästhetisch erzeugt, indem mit bestimmten Waren bestimmte Kommunikation zielt auf Amüsement; die Medien präsentie-
Symbole verbunden werden. Das führt dazu, dass mit dem ren Wirklichkeit als ästhetisches Konstrukt (…) Die Aktua-
Erwerb bestimmter Waren die potenzielle Aneignung von lität des Ästhetischen hat zudem eine tiefergehende Seite:
Lebensgefühlen – weil symbolisch vermittelt – einhergeht. Ästhetik dominiert nicht nur an der Oberfläche, sondern
ebenso in den Basisstrukturen. Unsere Produktionsweisen,
Schönheitssüchtige Erlebnisgesellschaft unser Verständnis von Wirklichkeit und unsere Erkenntnis-
Der Konsum von Waren vermittelt mit anderen Worten ein Er- formen weisen zunehmend ästhetische Züge auf.»8
lebnis oder ein Ereignis. Gerhard Schulze charakterisierte —
deshalb die massenkulturelle Gegenwartsgesellschaft als 1 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 156.
2 Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 388.
«Erlebnisgesellschaft».6 Er stellte fest, dass in den letzten 3 Franz Dröge, Michael Müller, Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder
Jahrzehnten der Wunsch immer stärker geworden sei, das die Geburt der Massenkultur, Hamburg, 1995, in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 388.
4 Ebenda.
durch Werbung angebotene Schöne auch erleben zu wollen,
5 Maria Mies, zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 388.
was durch schön gestaltete Konsumerlebnisse ermöglicht 6 Ebenda.
wird. Dabei wird das Kaufereignis ebenso wichtig wie der 7 Franz Dröge, Michael Müller, Die Macht der Schönheit, in: Beat Schneider,
Penthesilea, S. 389.
Besitz der Ware. In diesen Kontext passt die forcierte Gestal- 8 Wolfgang Welsch, Die Aktualität des Ästhetischen, München, 1993, in:
tung von Einkaufszentren zu attraktiven Orten des Freizeit- Beat Schneider, Penthesilea, S. 389.
vergnügens und der Museen zu architektonischen Erlebnis-
räumen – unabhängig von dem darin Ausgestellten.
150

13. Postmodernes Design.


Alchimia und Memphis

Verinnerlichter Zwang und Anpassungsdruck Der Totalitarismus des Marktes


Die Ausdehnung der Ästhetisierung mit ihrer unendlich Wenn etwa vom «Totalitären» der Massenkultur die Rede ist,
zunehmenden Fülle von Zeichen und symbolischen Verwei- dann wird damit moniert, dass der Markt sämtliche mensch-
sen liegt in der Logik der kapitalistischen Warenproduktion. liche Lebensäusserungen in den Kapitalkreislauf einverleibt.
Der Wunsch nach Schönem bekommt in seiner kommerziali- Das «Totale» der Massenkultur besteht nun aber nicht nur
sierten Befriedigung und warenförmigen Aneignung etwas darin, dass sie universelle Gültigkeit erlangt hat, indem sie
Zwanghaftes. «Allgegenwärtige Schönheit ist die realisierte allen Menschen den Zugang ermöglicht, oder darin, dass sie
Horrorvision einer Gesellschaft, die sich offensichtlich nur suggeriert, das menschliche Leben ginge insgesamt in Kon-
noch in der Maske der Perfektion ertragen kann, sei es der sum und Ware auf. Das Totale oder der «Totalitarismus des
des Körpers, der Gesten, der Rede und der Texte, der Oberflä- Marktes» besteht auch darin, dass die Massenkultur mit
chen oder der privaten und öffentlichen Selbstinszenierun- ihrem schönen Schein in Form der mediatisierten Öffentlich-
gen von Individuen und Politik.»9 Für die Massenkultur ty- keit das private Leben aller Menschen durchdringt, indem sie
pische Kulturimages sind: körperliche Schönheit, Gesundheit ihre Sinnlichkeit kommerzialisiert.
und Fitness, Natürlichkeit, Reinheit und Sauberkeit, individu- —
eller Ausdruck, komfortables Privatleben, hohe individuelle 9 Franz Dröge, Michael Müller, Die Macht der Schönheit, in: Beat Schneider,
Penthesilea, S. 389.
Mobilität. Nach ihnen wird der «Lifestyle» inszeniert. 10 Ebenda.
Die brisante Schlussfolgerung daraus ist: «Als massenkultu-
rell verinnerlichter Zwang erzeugt Schönheit in unserer Ge-
sellschaft mittlerweile einen Anpassungsdruck, der eines
politischen Zwangsverhältnisses nicht mehr bedarf.»10
Der ästhetisierende Blick auf die Objekte, der tendenziell da-
von befreit, diese als das wahrzunehmen, was sie wirklich
sind, erliegt dem Bilderzauber der Kulturimages. Der schöne
Schein der Massenkonsumkultur – anders gesagt: die Ent-
wirklichung der Welt in eine medial vermittelte Zeichenwelt
– hilft eine krisengeschüttelte Wirklichkeit zu ignorieren.
Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Ausgrenzung existieren in ihr
nicht. Je mehr Aufmerksamkeit die Menschen dem schönen
Schein schenken, desto beharrlicher leugnen sie die Krise
und ihre strukturellen Grundlagen. Dadurch gelingt es ihnen,
der Konfrontation mit der harten Alltagswirklichkeit die Spit-
ze zu nehmen oder ihr aus dem Weg zu gehen.
Unter dem Deckmantel des Bilderzaubers erweist sich somit
der ganze eben analysierte massenkulturelle Komplex als
Instrument der mentalen Zerstörung und des Zerfalls des
Politischen.
152

13. Postmodernes Design. Meilensteine Theorie


Alchimia und Memphis

Abb. 176: Notch Project in Sacramento, Kalifornien, Abb. 177: Behnisch & Partner: Hysolar-Forschungsinstitut Abb. 178: Hans Hollein: Sofa «Marilyn», 1981. Edle Hölzer
1976 / 77. Quelle: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, der Universität Stuttgart, 1987. Dekonstruktivistische Ar- und Bezugsstoffe kennzeichnen viele postmoderne Möbel.
Köln, 2000, S. 149. chitektur. Von «Geschmackserziehung» oder sozialer Veran- Quelle: Volker Fischer, Anne Hamilton (Hg.), Theorie der
kerung des «guten Geschmacks», konnte angesichts der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design, Band 1, Bild 199.
ökonomischen Notwendigkeit des ständigen Modewandels
keine Rede mehr sein. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leut-
häuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 366.

Die Zweifel an der Moderne und «form follows fun» Der Begriff der Postmoderne
Die «Sintflut» der Massenprodukte, die Demokratisierung Der Begriff der Postmoderne fand schon im
des Luxus, der Medienzauber durch die Mikroelektronik, der 19. Jahrhundert Verwendung, in seiner enge-
darauf beruhende Pluralismus von Geschmackswelten und ren Bedeutung wurde er in der Literaturkritik
Lebensstilen – all das war der Nährboden für das nachfunk- der frühen Sechziger des 20. Jahrhunderts
tionalistische, postmoderne Design. Auf dieser Basis wuchs angewandt. Anschliessend wurde er in der
die Bedeutung des Designs. «Design übernahm eine Schlüs- Architektur und in den Gesellschafts- und
selrolle nicht nur in Marketing und Werbung, sondern auch in Geisteswissenschaften benutzt, in der Philo-
der Ausgestaltung des persönlichen Lebensstils, in den Kon- sophie etwa ab 1979. Die Diskussion um die
sumgewohnheiten und sozialen Verhaltensweisen. Das De- Postmoderne erreichte in den achtziger Jah-
sign wurde zum Medien- und Ausstellungsspektakel.»1 ren ihren Höhepunkt, als hitzige Debatten ge-
Weniger politisch, aber erfolgreicher als das Anti-Design der führt wurden und der Begriff oft polemisch
Sechziger, dessen Protagonisten verschwunden waren (vgl. umgesetzt wurde.
Kapitel 12), befreiten sich die postmodernen Bewegungen Nach dem Scheitern der Hoffnungen und Uto-
zunächst in der Architektur (Abb. 176, 177), dann im Design pien in den siebziger und achtziger Jahren
in den siebziger Jahren vom Diktat der Moderne und des des 20. Jahrhunderts, nach dem Schiffbruch
Funktionalismus. Postmoderne Bewegungen wie das Studio der grossen Ideologien («les grands récits»,
Alchimia (vgl. unten) hatten ihre Wurzeln in der radikalen Baudrillard), ist aus der Sicht postmodernen
Bewegung der Sechziger und knüpften an die Pop-Kultur Denkens all das in die Krise geraten, was mit
an. Sie nahmen die Unterteilung der Moderne in gut und dem Projekt der Moderne gemeint war.
schlecht, in «Gute Form» und Kitsch, Hochkultur und All- Das postmoderne Denken nahm Abschied von
tags- oder Trivialkultur nicht mehr ernst. Sie akzeptierten der Moderne. Es bedeutete eine Absage an
den einfachen Zusammenhang zwischen Form und Funktion, das Fortschrittsdenken und an das Vertrauen
wie ihn die Moderne vertrat, nicht mehr und befreiten die in die Vernunft, wie sie der Moderne eigen war.
gestalterischen Oberflächen vom Korsett der engen funk- Postmodernes Denken richtete sich gegen
tionalistischen Doktrin, der «technokratisch pervertierten die Erklärbarkeit der Welt in Systemen und
Moderne»2 und öffneten sie für eine Fülle von sinnlichen Zei- die daraus entwickelten gesellschaftlich-
chen und emotionalen Verweisen, mit denen sie ver- politischen Utopien. Es stemmte sich auch
schiedene Lebensstile bedienten. Den farb- und emotionslo- gegen die Vorstellung einer wissenschaftlich-
sen rationalen Formen der funktionalen Moderne stellten sie technischen Beherrschbarkeit der Welt,
Farbigkeit, Individualität, lockere und ironische historische gegen eine Vernunft, die im Namen ihrer Ob-
153

Abb. 179: Michael Graves: Pfeifender Kessel 9093, 1985 (Fir- Abb. 180: Alessandro Mendini: Re-Design des Wassily-Ses-
ma Alessi). Der Wasserkessel von Graves gehörte zu den sels von Breuer (1925), 1973. Quelle: Charlotte und Peter
ersten und erfolgreichsten Experimenten der Firma Alessi Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 537.
mit der Postmoderne. Mit seiner schlichten Form und dem
sparsamen Materialverbrauch ist der Kessel zwar sehr mo-
dern, doch verleiht ihm Graves mit dem bunten Kunst-
stoffvogel, der am Schnabel des Kessels befestigt ist und
singt, wenn das Wasser kocht, auch eine ironische Note.
Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum
London, München, 1999, S. 191.

Stilzitate, Kitsch und Prunk entgegen. «Die durch das funk- jektivität vermeint, die Gesetze der Natur
tionalistische Denken geprägte und in Designkreisen lange beherrschen und die ganze Welt durch mate-
vorherrschende Auffassung, Produkte (…) als ‹unaufdringli- rielle Prozesse (Arbeit) domestizieren zu kön-
che, stille Helfer› (Fritz Eichler) anzusehen, die unauffällig im nen und die damit die Menschheit in ausweg-
Hintergrund bleiben sollten, erwies sich als wenig realitäts- lose Sackgassen geführt hat.
gerecht. Statt nur instrumentalen Nutzen haben Produkte in Basisannahme postmodernen Denkens ist die
der prosperierenden, versingleten Grossstadtgesellschaft vor Nicht-Begreifbarkeit und die Nicht-Darstell-
allem auch expressive und kommunikative Funktionen zu barkeit dieser Wirklichkeit mit begrifflichen
übernehmen.»3 Der Wunsch nach Ornament, Dekor, vertrau- Mitteln. «Man kann die Welt nicht mehr auf
ten Formen und Kitsch zeigt, wie umfassend die Erziehung den Begriff bringen, man kann sie nur noch
zur «Guten Form» gescheitert war! wahrnehmen und mit Hilfe von Bildern be-
Design hiess nun: schreiben oder: wenn die Weltanschauung in
— farbenfrohe und zeichenhafte Gestaltung der Ober- die Brüche geht, ist es besser, sich die Welt
fläche, die von der Funktion inzwischen völlig unabhängig anzuschauen – indem man wegschaut.»1
geworden war, ganz nach Roland Barthes Diktum: «Jedes Dieses Zitat von U. Kösser drückt die Affinität
Objekt ist auch ein Zeichen» (Abb. 179); von post-modernem Denken zur Ästhetik
— Umdeutung von Gebrauchszusammenhängen; aus. Mit der Absage an die Moderne rehabili-
— Zitiere und Kombinieren historischer Elemente (Abb.180) 4; tiert die Postmoderne ästhetisches, auf
— Verwendung üppiger Ornamente und kostbarer und exo- Wahrnehmung orientiertes Denken. Wolfgang
tischer Materialien entgegen der funktionalistischen Doktrin. Welsch hält in diesem Zusammenhang fest:
Die zeitlos «Gute Form» war während dreier Dekaden dem «Heutige Wirklichkeit ist bereits wesentlich
Dogma der Überwindung des Stils gefolgt und hatte damit über Wahrnehmungsprozesse, vor allem
auch die Idee eines erneuten Stilwandels unterbunden. Die über Prozesse medialer Wahrnehmung kon-
Postmoderne erklärte Stil wieder als eine zeitgemässe Aus- stituiert.»2
prägung von Kunst, Architektur und Design, und seitdem Wahrnehmung, sinnliche Erkenntnis, wird
— deshalb aus postmoderner Sicht zu einer zen-
1 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 157. tralen Kompetenz, zu einer existenziell not-
2 A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt a.M., 1985, S.127f.
3 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), —
Das Jahrhundert des Design, S. 521. 1 U. Kösser, in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 302.
4 Ebenda, S. 151. 2 Wolfgang Welsch, Zur Aktualität des Ästhetischen, in:
Beat Schneider, Penthesilea, S. 302.
154

13. Postmodernes Design. Meilensteine Theorie


Alchimia und Memphis

Abb. 181: Studio Alchimia: Re-Design banaler Objekte mit Abb. 182: Ettore Sottsass: Bücherregal «Carlton», 1981. My- Abb. 183: Martine Bedin: Lampe «Super», 1981. Viele der
bunten Pfeilen, Fähnchen usw., 1980. Quelle: Thomas Hauf- thische Zeichen und bunte Plastiklaminate machten das Objekte der Gruppe Memphis waren von Kinderspielzeug
fe, Design Schnellkurs, Köln, 2000, S. 153. Möbel zum Kommunikationsobjekt. Quelle: Volker Fischer, inspiriert: lustig, bunt, verspielt. Quelle: Volker Fischer,
Anne Hamilton (Hg.), Theorie der Gestaltung. Grundlagen- Anne Hamilton (Hg.), Theorie der Gestaltung. Grundlagen-
texte zum Design, Band 1, Bild 169. texte zum Design, Band 1, Bild 171.

überragt das Problem des Stilwandels wieder die Tagesord- wendigen Leistung der Individuen im Umgang
nung der gestalterischen Disziplinen. mit Wirklichkeit. Postmodernes Denken ist
Die Etablierung der Postmoderne bedeutete aber nicht, dass ein Plädoyer für Wahrnehmung und Sinnlich-
der Funktionalismus ganz zurückgedrängt worden wäre. Es keit, für den Augenblick, für Pluralität, Diffe-
gab weiterhin DesignerInnen, die sich in der Tradition des renz und Heterogenität.
Funktionalismus verstanden. Und auch im Repräsentations-
bereich konnte seine Position nicht wirklich geknackt wer- «Less is bore»
den. «Die Leute haben sich rasch an Stahlrohr, Kunststoff Robert Venturi, der bekannte und für die Ge-
und Chrom gewöhnt. Niemand erwartet im Büro oder Kran- schichte der postmodernen Architektur wich-
kenhaus etwas anderes.»5 tige amerikanische Gestalter, parodierte be-
reits 1966 den Satz von Mies van der Rohe
Vom Studio Alchimia zu Memphis «Less is more» (Weniger ist mehr) mit «Less
Im Mittelalter aus banalen Stoffen Gold zu erzeugen, das war is bore» (Weniger ist langweilig).
Alchimie. Im italienischen postmodernen Design billige All-
tagsgegenstände mit schrillen Farben und angefügten Orna- Andreas Brandolini über seine Arbeit
menten in Designobjekte zu verwandeln, das war Alchimia. «An sich glaube ich – nach sechs Jahren ex-
Als erste postmoderne Designobjekte gelten die Möbel der perimenteller Designarbeit – zum heutigen
italienischen Gruppen Studio Alchimia und Memphis aus Zeitpunkt nicht mehr an die Notwendigkeit
Mailand. Studio Alchimia ging aus der radikalen Bewegung einer Designavantgarde. Das Phänomen der
der sechziger Jahre hervor und wurde 1976 gegründet. Die Avantgarde tritt immer zyklisch, nach langen
Gruppe verzichtete auf jegliche politische Stellungnahme Jahren der Etablierung ‹revolutionärer› Ideo-
und verstand sich als «postradikales Diskussionsforum».6 logien und deren Verhärtung (oder deren
Mitglieder waren unter anderem Ettore Sottsass (1931*), Breittreten) bis hin in den kleinsten Vorstadt-
Alessandro Mendini (1931*) sowie Trix und Robert Hauss- supermarkt auf den Plan.
mann (1931*). Jetzt sehe ich meine Aufgabe in erster Linie
E. Sottsass, der 1958 bei Olivetti als beratender Designer tä- darin, Ideologien durch meine Arbeit zu ver-
tig war und der zu Zeiten des «Bel Design» für ein struktu- hindern. Ich interessiere mich für das alltägli-
riertes, rationales Design stand, wurde zu einem seiner che, banale Leben. Die Freuden, wie zum
schärfsten Kritiker. Er wurde zur Leitfigur des italienischen Beispiel die vom Rummelplatz mitgebrachte
Gegendesigns und zum Mitbegründer des Studio Alchimia. Rose und der Platz, an dem sie dann landet,
1981 verliess Sottsass Alchimia. inmitten der technischen und elektronischen
155

Abb. 184: Peter Shire: Sessel «Bel Air», 1982. Quelle: Volker Abb. 185: Matteo Thun: Teegeschirr und Eierbecher
Fischer, Anne Hamilton (Hg.), Theorie der Gestaltung. Grund- «Neferiti», 1981. Quelle: Volker Fischer, Anne Hamilton (Hg.),
lagentexte zum Design, Band 1, Bild 172. Theorie der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design,
Band 1, Bild 446.

Alessandro Mendini war als entschiedener Gegner des Funk- ‹Wunder› unserer Zeit. Und wiederum für den
tionalismus der theoretische Kopf von Alchimia. In der Grup- Platz, den diese ‹Wunder› inmitten persönli-
pe brachte er seine Gedanken des Re-Designs, der formalen cher Erinnerungs- und Kitschanhäufungen
Überarbeitung von Klassikern des modernen Designs und finden, wie sie sich funktional und formal
des banalen Designs ein (Abb. 180, 181). In seinen Entwürfen integrieren. Oder für die im Treppenhaus auf-
spielen Ornament und Dekor eine entscheidende Rolle. «Ent- platzende Einwegtüte.
werfen ist Dekorieren», erklärte Mendini 1976. Design ist für mich die Auseinandersetzung
Das «alchimistische» Ziel der Gruppe war es, die kalte Funk- mit Lebensumständen – die zuweilen sehr
tionalität der modernen Massenprodukte durch eine emotio- turbulent sein können. Man erinnere sich nur
nale Funktionalität abzulösen. Zwischen den Objekten und an den Tschernobyl-Schock und seine Folgen
BenutzerInnen sollte eine neue sinnliche Beziehung und für den Alltag (oft zitiert, nie kapiert!!).
damit ein emotionaler Mehrwert hergestellt werden. Nicht Wenn die Fachwelt wieder und wieder ihre
seriengefertigte Produkte, sondern witzig fantastische, poe- Neo-, Post- und Nachmoderne-Diskussionen
tische und ironische handwerklich gefertigte Unikate wurden zelebriert, schwebt doch darüber immer
angestrebt. Das Design wurde zum Vermittler von Gefühlen, noch das Pathos einer ‹besseren› Welt, die
Ideen, Konzepten, ja sogar Utopien. Die Entwürfe wurden in sich durch Architektur und Design akzentu-
Ausstellungen, Performances und Zeichnungen präsentiert. iert. In Wirklichkeit wird sie weder besser
Alchimia war zu Beginn der achtziger Jahre die international noch schlechter. Sie wird einfach nur anders!
bedeutendste Designgruppe.7 Sie beteiligte sich an vielen Aber was man durch Architektur und Design
Ausstellungen, so auch am «Forum Design» 1980 in Linz durchaus bewirken kann, ist, dass sie sensi-
(Österreich), das für das postmoderne Design zu einer bahn- bler und raffinierter wird, dass die so oft be-
brechenden Veranstaltung wurde. In Linz wurden die gesam- schworene Humanität auch dort stattfindet,
te Designgeschichte, die Bedeutung von Design und seine wo sie hingehört: in den Unzulänglichkeiten
vielfältigen Funktionen, die Rolle der DesignerInnen und die und Dummheiten des Alltags!»3
Beziehung zwischen Objekt und BenutzerIn diskutiert.
Nachdem Ettore Sottsass das Studio Alchimia wegen inhaltli- Ettore Sottsass über die Zukunft des Designs:
cher Differenzen verlassen hatte, gründete er 1981 zusammen «Ich glaube, dass Design nie eine mehr oder
— weniger dramatische oder lustige Geschichte
5 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhundert, S. 21. —
6 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 152. 3 Andreas Brandolini, in: Design Report, 1,
7 Ebenda, S. 153. 2000, Frankfurt a.M.
156

13. Postmodernes Design. Meilensteine Theorie


Alchimia und Memphis

Abb. 186: Erik Spiekermann: Schriftbild der Berliner Abb. 187: Rosmarie Tissi: Werbung für E. Lutz & Co, 1964. Abb. 188: Siegfried Odermatt: Werbung für Union-Geld-
U-Bahn, 1990. Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Die fünf Elemente in den Kästen werden nicht, wie man es schränke, 1968. Das Markenzeichen war eine Antithese
Designmuseum London, München, 1999, S. 266. von «Swiss Design» erwartet, nach einem Raster geordnet, zum «Swiss Design», denn die Buchstaben im Wort Union
sondern scheinen intuitiv und zufällig auf einem Haufen sind zu einer kompakten Einheit zusammengepresst. Sie
platziert zu sein. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic sollten die Stärke des Produkts suggerieren. Quelle: Philip
Design, New York, 1998, S. 434. Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 434.

mit anderen in Mailand die Gruppe Memphis. In ihr arbeite- dargestellt hat oder darstellen wird, bei der
ten neben E. Sottsass, Andrea Branzi und Michele de Lucchi es um eher harte oder eher weiche Formen
zahlreiche international bekannte ArchitektInnen und Desi- geht. Vielmehr war es immer eine Metapher
gnerInnen, unter anderen Matteo Thun aus Frankreich, Mi- der Kulturgeschichte – wobei Kultur als
chael Graves aus den USA, Shiro Kuramata aus Japan und anthropologische Dimension zu verstehen
Hans Holein aus Österreich (Abb. 182–185). Memphis richte- ist, als Weltanschauung, wie es im Deutschen
te sich gegen die Formel «form follows function» und war die heisst. Und das wird auch so bleiben. Wenn
endgültige Absage an die Tendenzen des italienischen Radi- man Design definieren will, darf man jedoch
cal oder Anti-Design. Die Memphis-DesignerInnen lehnten nicht vergessen, über die industrielle Zivilisa-
den in ihren Augen zu intellektuellen und den kunsthand- tion zu reden, die mit der Erfindung der ma-
werklichen Ansatz des Studio Alchimia ab. Sie wollten nicht schinellen Massenproduktion begann. Es ist
nur Manifeste und provokative Einzelstücke für Ausstellun- ganz klar, dass die Massenproduktion der
gen produzieren; denn im Gegensatz zu Alchimia bejahten massenhaft auftretenden Käufer bedarf und
sie den Konsum, die Industrie und die Werbung. «Der schnel- dass die kaufende Masse dazu gebracht wer-
le Wandel der Moden, der den postmodernen Alltag prägte, den muss, bestimmte Produkte zu erwerben.
wurde für sie zur Inspirationsquelle, und die ‹Memphis>- Das bedeutet, dass die Käufer so wenig wie
Möbel waren ausdrücklich für die Serienfertigung gedacht.»8 möglich nachdenken dürfen, sondern sich den
Man übernahm die bunten Plastiklaminate (Resopal) aus den verführerischen Streicheleinheiten und Wer-
Bars und Eiscafés der fünfziger und sechziger Jahre und ver- besongs hingeben müssen – wie Kinder, die
wendete sie für den privaten Wohnbereich. Dieses Material, dem Schlaflied ihrer Mutter lauschen. Wenn
«Metapher für Vulgarität, Armut und schlechten Geschmack, nicht irgendetwas Gewaltiges geschieht, wird
wurde zum Alltagsmythos stilisiert».9 Die Dekors stammten Folgendes passieren: Massen von Menschen
ebenfalls aus dem Alltag der Comics, der Filme, der Punkbe- werden mit einem Lächeln auf den Lippen ein-
wegung oder des Kitsches. Sie waren bunt oder süsslich- fach wegdämmern. (…) Design wird folgen.»4
pastellfarbig, verspielt und witzig. Sie sollten eine spontane —
Kommunikation zwischen Objekt und BenutzerInnen herstel- 4 Zitiert aus: Volker Albus et al., Design Bilanz. Neues Deut-
sches Design der 80er Jahre in Objekten, Bildern, Daten
len, wobei der Gebrauchswert keine Rolle spielte. Viele Ob- und Texten, Köln, 1992, S. 109.
jekte waren Collagen, welche die Dekoration in den Mittel-
punkt stellten und das Chaos zum Prinzip machten. Dies
wurde als Abbild der Aufsplitterung, Unverbindlichkeit und
Mobilität der postmodernen Gesellschaft verstanden.10
157

Abb. 189: Steff Geissbühler: Broschürenumschlag für Geigy, Abb. 190: Wolfgang Weingart: Typografische Experimente, Abb.191: Dan Friedman: Umschlag der «Typografischen
1965. Die Lesbarkeit wurde zugunsten einer dynamischen 1971. Eine Form -und Raum-Untersuchung verbindet Monatsblätter», 1971. Buchstaben werden kinetische
visuellen Anordnung geopfert. Quelle: Philip Meggs, A His- Kugeln mit Schriftformen. Quelle: Philip Meggs, A History of Objekte, die sich durch Zeit und urbanen Raum bewegen.
tory of Graphic Design, New York, 1998, S. 434. Graphic Design, New York, 1998, S. 437. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design,
New York, 1998, S. 437.

Von Memphis sind viele Anregungen auf das so genannte 2. die «Neue-Welle-Typografie», welche in Basel begann,
«Neue Design» der achtziger Jahre in den anderen europäi- und zwar durch die Forschung und Lehrtätigkeit von Wolf-
schen Ländern ausgegangen (vgl. Kapitel 14). Gegen Ende gang Weingart;
des Jahrzehnts nahm der Einfluss von Memphis wieder ab. 3. der üppige Manierismus der frühen achtziger Jahre mit
Grund: Übersättigung an schrillen und schrägen Formen gewichtigen Beiträgen der italienischen Memphisgruppe und
und Farben.11 der San-Francisco-DesignerInnen;
4. «Retro», die eklektische Wiederbelebung und die exzen-
Postmodernes Grafikdesign trische Neuerfindung früherer Modelle (vor allem der euro-
Bei aller geschichtlichen Kategorisierung des Designs in Stil- päischen Dekade zwischen den beiden Weltkriegen);
richtungen und Bewegungen muss immer wieder bewusst 5. die elektronische Revolution, die durch die Macintosh-
gemacht werden: Diese Kategorien erfassen nie das Ganze Computer in den späten achtziger Jahren ausgelöst wurde.12
einer jeweiligen Zeit; sie nennen Hauptströmungen, aber sie
werden den einzelnen ProtagonistInnen niemals völlig ge- 1. Postmodernes Design in der Schweiz
recht. Zu individualistisch sind DesignerInnen (vor allem in Die ersten Tendenzen setzten GestalterInnen, die sich auf
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts); zu schnell können den «International Style» beziehungsweise «Swiss Style»
sie auch ihre Richtung wechseln. beriefen. S. Odermatt, R. Tissi und S. Geissbühler und andere
So war das Grafikdesign nie ausschliesslich vom «Interna- rebellierten in den sechziger Jahren nicht gegen den «Swiss
tionalen Stil» dominiert wie die Architektur. Ähnliches gilt Style»; sie erweiterten vielmehr dessen Rahmen (Abb. 187–
für das postmoderne Design. Neben allen postmodernen 189). Dann kam es in den siebziger Jahren zu einer Revolte,
Strömungen gab und gibt es immer noch viele DesignerIn- der so genannten «Neuen-Welle-Typografie».
nen, welche dem «Internationalen Stil» treu blieben oder
ihn sogar erst entdeckten. Der Grafikdesigner Erik Spieker- 2. Die «Neue-Welle-Typografie»
mann (1947*) zum Beispiel vertritt ein rationales Design, Die Opposition gegen den kühlen Formalismus der Moderne
das moderne Typografie mit neuen Technologien ergänzt entstand zuerst in der Schweiz und verbreitete sich dann
(Abb. 186). über die ganze Welt.
Im postmodernen Grafikdesign können nach P. Meggs folgen- —
de Kategorien unterschieden werden: 8 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 154.
9 Ebenda.
1. die frühen Erweiterungen des «Internationalen typogra- 10 Ebenda, S. 155.
fischen Stils» durch Schweizer DesignerInnen, die mit dem 11 Ebenda, S. 156.
12 Philip Meggs, A History of Graphic Design, S. 432.
Diktum der Bewegung brachen;
158

13. Postmodernes Design. Meilensteine


Alchimia und Memphis

Abb. 192: April Greiman: Logo für Luxe, 1978. Mischung von Abb. 193: Christoph Radl und Valentina Grego: Logo des Abb.194: Michael Vanderbyl: Werbezettel für die Simpson-
Schriften und Schrägschrift und Isolation jedes Buchsta- «Memphis Designs», frühe achtziger Jahre. Quelle: Philip Papiergesellschaft, 1985. Mit Objekten der Memphis-
bens als unabhängige Form. Quelle: Philip Meggs, A History Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 443. Gruppe. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design,
of Graphic Design, New York, 1998, S. 438. New York, 1998, S. 444.

Wolfgang Weingart (1941*), der in Basel bei Hofmann studiert 4. «Retro»


hatte, begann 1968 die Typografie der absoluten Ordnung Während der achtziger Jahre gelangten die GrafikdesignerIn-
und Sauberkeit in Frage zu stellen (Abb. 190). Er richtete sei- nen zu wachsendem Verständnis und Wertschätzung für ihre
ne Aufmerksamkeit auf das neue Offsetdruckverfahren und Geschichte. Die erste Bewegung, die auf der Wiederbelebung
auf Belichtungsverfahren. Weingart löste sich vom rein typo- historischer Stile beruhte, entstand in New York und breitete
grafischen Design und bezog die Collage als Mittel der visu- sich schnell aus (Abb. 195, 196).
ellen Kommunikation ein. 1972 hielt er an acht prominenten Ab Mitte der achtziger Jahre begann die stetig wachsende
amerikanischen Designschulen in den USA Vorträge, welche Begeisterung der DesignerInnen für das computergestützte
auf fruchtbaren Boden fielen. Dan Friedman, April Greiman Design (vgl. Kapitel 15).
und der Schweizer Willi Kunz verbreiteten die neuen Ideen. In
der Ausstellung «Postmoderne Typografie. Neuere amerika-
nische Entwicklungen», welche 1977 in Chicago stattfand,
wurden Werke von Geissbühler, Greiman, Friedman und Kunz
ausgestellt. Damit fand der aus der Architektur kommende
Begriff «postmodern» nun auch im Grafikdesign Anwendung
(Abb. 191, 192).

3. Memphis und San Francisco


Die Memphis-Grafikdesign-Sektion wurde von Christoph
Radl angeführt. Die experimentelle Haltung, die Faszinati-
on vom Taktilen und von dekorativen Farbmustern und über-
schwänglicher Geometrie hatten einen direkten Einfluss auf
das Design überall auf der Welt (Abb. 193).
Die Designschule von San Francisco war stark vom «Swiss
Style» beeinflusst. In den frühen achtziger Jahren verbreite-
te sich das postmoderne Design in San Francisco rasch und
verschaffte der Stadt den Ruf eines Zentrums für kreatives
Design. Michael Vanderbyl avancierte zum bekanntesten
Protagonisten der Bewegung in San Francisco (Abb. 194).
159

Abb. 195: Paula Scher: Plakat für Swatch-Uhren, 1985. Pa- Abb. 196: Daniel Pelavin und Judith Loeser: Buchumschlag
rodie des bekannten Herbert-Matter-Plakats aus den dreis- für The Notebooks of Malte Laurids Brigge, 1985. Die Be-
siger Jahren (vgl. Abb. 79, 5. Kapitel). Quelle: Philip Meggs, schriftung ist von einem Plakat von Gustav Klimt inspiriert.
A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 448. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York,
1998, S. 450.
160

13. Postmodernes Design.


Alchimia und Memphis

— titätsstiftende Funktionen übernahmen und dass Identität


Kommentar konsumtiv hergestellt werden konnte. Sie verlangten nach
der Bedienung ihrer verschiedenen Lebensstile durch Design.
Sie, das waren nicht nur die KonsumentInnen der Mittel- und
Oberschichten. Design, früher ein Luxus, der vor allem die-
sen Schichten vorbehalten war, wurde in den achtziger Jah-
ren zum Konsumartikel für eine breite Öffentlichkeit. Es wur-
de zum wirtschaftlichen Erfolgsfaktor und zum Lieblingswort
Emotionen – oder wie sich die der Massenmärkte. Ettore Sottsass konnte Ende der achtzi-
Industrie die Fantasie des Design zu eigen macht ger Jahre mit Recht feststellen: «Ohne Zweifel ist in diesem
Richard P. Lohse beklagte schon 1959, dass die «Sintflut der Jahrzehnt das Design explodiert wie eine Nova.»3
Massenprodukte die Ästhetik mit sich fortreisse», und Max Individualisierung der Lebensstile und Bedienung der Emo-
Bill stellte 1988 resigniert fest, dass es statt Design nur noch tionen, Wünsche und Sehnsüchte durch sinnlich modulierte
«Gestalterei» gebe, welche «Spielerei» sei und «nur der Ver- Oberflächen, das war die Art des Marktes zu expandieren.
kaufsförderung diene». Unter der fiebrigen Hektik der kurzle- —
bigen wirtschaftlichen Prozesse leide die Qualität der Be- 1 Beide Zitate aus: Christoph Bignens, Swiss Style, S. 69.
2 Rat für Formgebung (Hg), Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 103.
ständigkeit, die man den Produkten doch mit dem Design 3 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 157.
geben wolle.1 Von Geschmackserziehung oder sozialer Ver-
ankerung des «guten Geschmacks» konnte angesichts der
ökonomischen Notwendigkeit des ständigen Modewandels
keine Rede mehr sein!
Zur Situation des postmodernen Designs meinte Lucius
Burckhardt, dass sich die Gestaltung von der praktischen
Funktion gelöst habe, dass der Gebrauchswert der Dinge
zurückgetreten sei und die Form der Darstellung wieder
zum «Eigentlichen» geworden sei, «aber im Sinne eines
Spektakels, das nicht geglaubt, aber dennoch ernst genom-
men wird».2
Das spektakuläre Eigenleben der Form entsprach aber akku-
rat den industriellen Interessen der Massenproduktion. Ge-
fragt war die dekorative Modifikation der Produkte ohne Än-
derung der Fabrikationstechnologie und ohne Einbusse des
Images. Den Styling-Auftrag hatte das Design zu erfüllen. Es
konnte dies umso mehr, als die Angebotsseite (die unendli-
che Variation der Produktoberfläche) mit der Nachfrageseite
kongruent war: Die KonsumentInnen waren auf das pluralis-
tische ästhetische Ideal, welches individuellen Ausdruck
über alles stellte, «abgerichtet». Sie hatten sich daran ge-
wöhnt, dass gestylte Objekte und deren Umgebung iden-
14. DIE WILDEN ACHTZIGER
JAHRE UND
DAS «NEUE DESIGN»
164

14. Die wilden achtziger


Jahre und das «Neue Design»

— lichen Designs» zurückgreifen konnte, sondern dass es


Wirtschaftliches und Soziales «semantisch differenzierte Produkte erforderte, um den
gewachsenen Bedarf nach zeichenhafter Differenzierung zu
befriedigen».4 Das Design konnte in dieser Situation Inter-
pret gesellschaftlicher Befindlichkeit in Form adäquater
«Hardware» werden, die mit ihren visuellen Codes Einstel-
lungen, Lieblingsaktivitäten und Vorlieben ihrer BenutzerIn-
nen kommunizierten. Die neue Aufgabe des Designs konnte
Die achtziger Jahre: das «Designjahrzehnt» nicht mehr von der sachlichen «Guten Form» erfüllt werden.
In den achtziger Jahren erreichte die wirtschaftliche Konjunk- Das «Neue Design» kam den Bedürfnissen eher entgegen.
tur in Westeuropa ihren Zenit, und gleichzeitig erlebte das De- Ja, es war selber Ausdruck dieser Bedürfnisse. Darin gründe-
sign einen beispiellosen Höhenflug. Die Dekade ging, kaum te sein enormer medialer Erfolg.
war sie zu Ende, als «Designjahrzehnt» in die Geschichte
ein.1 War diese Beurteilung ein Schnellschuss? Es muss gute «Gewöhnliches Design»
Gründe geben, wenn eine Dekade so qualifiziert wird. Ein Die avantgardistischen Objekte des «Neuen Design» hatten
«Designjahrzehnt» waren die achtziger Jahre sicher in einer zwar die publikumswirksamen Medien auf ihrer Seite. Der Er-
Hinsicht: Das, was heute unter dem Begriff «Neues Design» folg hielt sich jedoch in Grenzen. Für diese Produkte jenseits
zusammengefasst wird, fand ein breites, bisher nie da gewe- aller Massenfertigung gab es zwar eine wachsende finanzstar-
senes Medienecho. Es war ein Medien- und Publikumserfolg. ke KäuferInnenschaft, die Design als Kulturleistung begriff.
Die grosse Verbreitung des Wortes «Design» in der Alltags- Aber die Mehrheit der Menschen kam als Benutzer nur mit
sprache datiert aus dieser Zeit! den massenweise verbreiteten Dingen des «gewöhnlichen
Die spektakulären Designobjekte wurden nicht durch Ver- Designs» in Kontakt. Die gewöhnlichen Dinge wie der aus Eng-
kaufserfolge, sondern vor allem durch die Medien bekannt. land stammende Toaster, die italienische Espresso-Kanne
Dass sich die Medien des Designs so exklusiv annahmen, war oder die asiatischen Essstäbchen sind es, die das Blickfeld
kein Zufall, sondern hing mit dem postmodernen Zeitgeist der Menschen in Beschlag nehmen. Die kunstvollen Design-
zusammen. In der Massengesellschaft legten immer mehr Gegenstände sind demgegenüber verdiente Bedeutungsträ-
Menschen Wert darauf, einerseits ein individuelles Erschei- ger ohne Breitenwirkung. Mehr als die Objekte des «Neuen
nungsbild zu pflegen und andererseits ihre Zugehörigkeit zu Designs» schmückten wohl die Möbel und Haushaltsgegen-
einer bestimmten Gruppe oder Szene auszudrücken. Die Ein- stände der skandinavischen Firma IKEA und anderer Mas-
zelnen sind ein «Massenprodukt, das mit aller Anstrengung senmöbelproduzenten die Haushalte. Möbel, Baumaschinen,
versucht, ein Markenprodukt zu sein. (…) Das hält die Illusion medizinische Geräte, aber auch die meisten Haushaltsgeräte
des eigenen Ego in der Masse aufrecht.»2 Die Ästhetisierung kamen ohne «Retro-Look» oder postmodernes Dekor aus.
der Lebensstile bekam einen zentralen massenkulturellen Sie blieben in den allermeisten Fällen den gewohnten funk-
Stellenwert. Das Design wurde zum Medium für die Erzeu- tionalistischen Gestaltungsprinzipien verpflichtet.
gung dieser Lebensstile. Ein solches Design hatte sich nicht —
mehr an den Anforderungen der Grossserie zu orientieren, 1 Vgl. Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 157; Dieter Weidmann,
Design des 20, Jahrhunderts, S. 17.
sondern musste sich um den individuellen Ausdruck des Zeit- 2 H. U. Brunner, in: Kulturwerkstatt der Berner Zeitug, Bern, 29.12.1993.
geistes kümmern.3 Es ist offensichtlich, dass die Selbstdefi- 3 Bernhard Bürdek, Design, S. 62.
4 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 53.
nition der Individuen nicht auf die Gegenstände des «gewöhn-
165

14. Die wilden achtziger Meilensteine Theorie


Jahre und das «Neue Design»

Abb. 197: Frank Schreiner («Stiletto»): Sessel «Consumer's Abb. 198: GIN_BANDE: Ausziehtisch «Tabula Rasa», 1987.
Rest». Der zum Sessel umgebaute Einkaufswagen, 1983 als Quelle: Volker Fischer (Hg.), Design heute. Massstäbe:
Prototyp entstanden, galt als provokatives Ready-made- Formgebung zwischen Industrie und Kunststück, München,
Objekt. Er ironisierte die Wohn- und Konsumgewohnheiten 1988, Bild 148.
und wird seit 1990 in Serie hergestellt. Quelle: Charlotte
und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 563.

Das «Neue Design» «Forum Design» Linz 1980


1980 fand in Linz (Österreich) unter dem Namen «Forum De- Helmuth Gsöllpointner: «Es geht um das Phä-
sign» eine Veranstaltung statt, auf der grundsätzlich und für nomen Design: darum, dass selbst die strik-
die Designtheorie wegweisend diskutiert wurde. Die Design- testen Theoretiker einsehen mussten, dass
geschichte, die Bedeutung des Designs und seine verschie- allein mit Logik, Vernunft, technischer Effi-
denen Funktionen sowie das Verhältnis von Objekt und Be- zienz und makelloser Ästhetik die Bedürfnis-
nutzerInnen standen zur Debatte. se des sozialisierten Wesens Mensch nicht
Das Design in Westeuropa verabschiedete sich nun endgültig abzudecken sind.»1
von den Prinzipien der Moderne und den Gedanken des
Funktionalismus. Es zeichnete sich durch einen Pluralismus Emotionen
von Stilen und Einflüssen aus. Die achtziger Jahre brachten Luigi Colani: «Der Mensch besteht aus Emo-
eine Vielzahl von zum Teil gegensätzlichen Gestaltungsrich- tionen, und wir versuchen, in irgendeiner
tungen hervor: expressive und puristische, ironisierende und Form seine spielerischen Bedürfnisse nach
historisierende, Hightech und Handwerk, ein «undogmati- Ornamentik, nach Weichheit (mit den neuen
sches Sammelsurium von Ansätzen und Tendenzen, ohne Kunststoffen möglich; B.S.), nach Spiel, nach
kritisch-emanzipatorischen Anspruch».1 Farbe – dem wollen wir entsprechen – in den
Die Wirkung des italienischen Designs, ist kaum zu überschät- Mittelpunkt zu stellen und seine Bedürfnisse,
zen. Dafür wurde der Begriff des «grassierenden Memphis- das ist alles, mehr haben wir gar nicht vor.»2
Syndroms» geprägt.2 Es regte die antifunktionalistischen
Strömungen im ganzen westeuropäischen Design an. Das «Hure des Konsums»
deutsche, britische, französische und spanische «Neue De- Dieter Meier: «Zum Ende dieses Jahrhunderts
sign» entwickelte durchwegs eigenständige Formen und Va- (des 20. Jahrhunderts, B.S.) ist die Ästhetik
rianten. «Gemeinsam war allen, dass sie unabhängig von der des Alltags im spätkapitalistischen Mitteleu-
Industrie und der Rationalität des Funktionalismus dachten.»3 ropa nur noch Hure des Konsums; Gebrauchs-
Das «Neue Design» wurde eine «Avantgarde des Zitierens» gegenstände und das Kunstwollen haben ihre
genannt, denn zitiert wurde jede Periode des Luxus und der Identität verloren, die Suppenteller gehen
Moden, vor allem die unerschöpfliche «Art Déco», aber auch auf den Strich, und die Stühle lügen, dass die
industrielle Massenprodukte der fünfziger und sechziger —
— 1 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 156.
1 Bernhard Bürdek, Design, S. 63. 2 Zitiert aus: Design und Konsum (5). Alternativen für die
2 Gert Selle, Design-Geschichte, S.184. Zukunft, Westdeutsches Fernsehen (wdr),
3 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 158. Köln, 1971, Sendeskript, S. 6.
166

14. Die wilden achtziger Meilensteine Theorie


Jahre und das «Neue Design»

Abb. 199: Siegfried Michael Syniuga: Künstlerstühle, 1987. Abb. 200: Wolfgang Laubersheimer (Gruppe «Pentagon»):
Quelle: Volker Albus et al., Design Bilanz. Neues Deut- «Verspanntes Regals» 1984. Eines der erfolgreichsten
sches Design der 80er Jahre in Objekten, Bildern, Daten Objekte des «Neuen Deutschen Designs». Quelle: Volker
und Texten, Köln, 1992, S. 143. Fischer (Hg.), Design heute. Massstäbe: Formgebung zwi-
schen Industrie und Kunststück, München, 1988, Bild 147.

Jahre.4 «Prunk, Luxus, Ethno und vieles mehr (…) gehörte zu Balken krachen. Das Wort Spätkapitalismus
den Ingredienzien, aus denen der brodelnde Designkessel kündigt nicht das nahe Ende eines Systems
eine endlose Flut von Objekten ausspuckte.»5 an, das keines ist, es beschreibt den verzwei-
felten Wahnsinn, mit dem das Kapital bei ga-
Gemeinsame Merkmale des «Neuen Designs» loppierender Zerstörung der Welt eine Über-
— Abkehr vom Funktionalismus flussproduktion anpeitscht, die nicht mehr
— Einflüsse von Subkulturen (Punk usw.) und des Alltags der Versorgung des Menschen dient, sondern
— Eklektischer Umgang mit historischen Stilen nur noch der Rendite der eingesetzten Mittel.
— Ironie, Witz und Provokation Krisen entstehen nicht mehr, wenn Produkti-
— Experimentelles Arbeiten on und Versorgung aus irgendwelchen Grün-
— Verwendung ungewöhnlicher Materialien den nicht klappen, sondern wenn die mör-
— Gruppenbildung derische Konsumation ins Stocken gerät.»3
— Abkoppelung von der industriellen Serienproduktion
— Herstellung von Unikaten und Kleinserien Bedürfnisse
— Nutzung der Medien als Podium Gert Selle: «Gesellschaftliche und individuel-
— Grenzüberschreitung zur Kunst le Bedürfnisse werden nicht befriedigt, wohl
Im Übergang zu den neunziger Jahren war das «Neue Design» aber wird die Bedürftigkeit des Menschen
nicht mehr provokativ. Der aufgeregte Medienrummel zu Be- ausgenützt, indem ihm die Objektwelt künst-
ginn der achtziger Jahre hatte sich längst gelegt. Das «Neue lich und kunstvoll so strukturiert wird, als sei
Design» hatte sich arrangiert. Viele Entwürfe landeten schon seine Entfremdung aufgehoben.»4
bald in Museen. Andere, einst als «dilettantische Bastelei»
und «luxuriöses Kunsthandwerk» verschrien6, fanden den Weg —
in die Serienproduktion von Möbelfirmen, wo sie zumindest 3 NZZ-Folio (Neue Zürcher Zeitung), November 1993,
in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 388.
teilweise als billige Kopien durch die Verkaufsausstellungen 4 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 132.
wanderten und noch wandern. «Wie die Punk-Bewegung
wurde auch die Protestgebärde des ‹Neuen Designs› von der
Konsumgüterindustrie assimiliert und zur Mode gemacht.»7

Annäherung an die Kunst


Mit der Verabschiedung der funktionalistischen Moderne
wurde auch deren Ablehnung der Kunst im Entwurfsprozess
167

Abb. 201: Susi und Ueli Berger: «Kung-Fu»-Regal, 1981 Abb. 202: Trix und Robert Haussmann: Kommode «Manhat-
(Produktion: Röthlisberger). Quelle: Lotte Schilder Bär, tan», 1987. Quelle: Bundesamt für Kultur (Hg.). made in
Norbert Wild, Designland Schweiz, Gebrauchsgüterkultur Switzerland, Bern, 1997, S. 39.
im 20. Jahrhundert, Zürich, 2001, S. 104.

über Bord geworfen. Memphis verhalf in ästhetischer und Kunst wurde von Bernhard Bürdek, einem ehemaligen Ab-
konzeptioneller Hinsicht einem neuen, erweiterten Design- solventen der Ulmer Hochschule für Gestaltung, folgender-
begriff zum Durchbruch. Die Gruppe führte das Design wie- massen kommentiert: «Nachdem sich das Design in seiner
der dorthin zurück, wo es zu Zeiten des frühen Jugendstils vermeintlichen Radikalität in den achtziger Jahren von funk-
schon einmal gewesen war, zum Kunst-Design. In dieser «Re- tionalen Sachzwängen verabschiedete, war es nur noch eine
gression zur Kunst»8 hatte die individuelle Fantasiearbeit Frage der Zeit, dass es sich endgültig zur scheinbar reinen
Vorrang, der subjektive Einfall stand am Anfang des Entwurfs- Kunst entwickelte. Die Parallelitäten sind offensichtlich: Die
prozesses der «Künstler-Designer» oder «Artist-Designer». Kunst hatte sich ausgangs der achtziger Jahre in weiten Tei-
Das Ergebnis waren oft Unikate oder Kleinserien, eigentliche len Jean Baudrillards Theorie der Simulation (1985) ver-
Kunstwerke, die nur selten massenhaft reproduktionsfähig schrieben, indem sie sich als Kunst des Spektakels und der
waren und die in Kunstgalerien, eigens neu geschaffenen Kulisse präsentierte. Dies war eindrucksvoll auf der ‹docu-
Designgalerien und sehr bald auch in Museen ausgestellt menta 8› im Sommer 1987 in Kassel zu besichtigen: Dort
wurden. Es waren Produkte, die für eine Auseinandersetzung sass das Design fast schon auf dem Thron der Kunst, wohin
auf die Präsenz in den Medien angewiesen waren. Ohne es nicht gehört und wo es nicht sein möchte, wie Michael
Medien wäre die Popularisierung des «Neuen Designs» nicht Erlhoff (1987) beteuerte.»14 Auf der «documenta 8» wurden
denkbar gewesen! Die Objekte (Zeichen) blieben also refe- Design, Kunst und Architektur zusammengebracht, weil sich
renzlos und setzten nur sich selbst als Wirklichkeit.9 die Künste annäherten, Architekten wie Plastiker arbeiteten,
Dass die Rückkehr zur Kunst sich vor allem in einer Wieder- Designer ihre Wohnungen künstlerisch inszenierten, Künstler
geburt der «Künstlermöbel» ausdrückte, hatte seine Ursa- wiederum zu Möbel- und Ausstattungseffekten, auch zur
che in der Tatsache, dass das Möbeldesign ein Bereich ist, der imaginären Architektur tendierten. So richteten die Künstler
traditionell dem subjektiven Einfall offener war als andere A . Warhol und R. Lichtenstein die Luxusvilla von Günther
Entwurfsfelder und dass der Wohnbereich, wenigstens der Sachs in St. Moritz (Schweiz) ein (vgl. Kapitel 18).
privilegierte, «schon immer ein Tummelplatz für kunst- und —
kunstgewerbeverbundene Entwurfslust war».10 4 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 295.
5 A. Bangert, in: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 156.
Dem Kunst-Design der «kunstgewerblichen Avantgarde», 6 Ebenda, S. 166.
wie das «Neue Design» auch genannt wurde11, ist es zu ver- 7 Ebenda, S. 156.
8 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 245.
danken, dass das Design in den achtziger Jahren die stilge-
9 A. Wildermuth, in: Bernhard Bürdek, Design, S. 66.
schichtliche Führungsrolle gegenüber der Malerei und 10 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 285 und 294.
Skulptur übernahm.12 Das Regalobjekt «Carlton» von Ettore 11 Ebenda, S. 285.
12 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 23.
Sottsass (Abb. 182) war das am häufigsten abgebildete 13 Ebenda.
Kunstwerk der achtziger Jahre.13 Die Annäherung an die 14 Bernhard Bürdek, Design, S. 64.
168

14. Die wilden achtziger Meilensteine


Jahre und das «Neue Design»

Abb. 203: Mario Botta: Stuhl, 1991. Quelle: Bundesamt für Abb. 204: Philippe Starck: Stuhl für das Café Costes, Paris,
Kultur (Hg.), made in Switzerland, Bern, 1997, S. 33. 1982. Die Inneneinrichtungen des Cafés und die dazu-
gehörigen Stühle wurden weltberühmt. Quelle: Charlotte
und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 570.

Autorendesign Das «Neue Deutsche Design»


Das Möbel- und Interior Design der «Neuen» der achtziger In den Städten und Regionen Deutschlands, in denen Ende
Jahre mit seiner künstlerischen Gestaltungsauffassung be- der siebziger Jahre die Kunst der «Neuen Wilden» und unab-
günstigte die Tendenz zum so genannten Autorendesign.15 hängige Musik angezeigt waren, fand der Aufbruch des
Ph. Starck, R. Arad, B. Sipek, J. Morrison, M. Ghini – sie alle «Neuen Deutschen Designs» statt. Wie die «Wilden» in der
entwickelten eine höchst individuelle Formensprache. Es sei Malerei, machten die VertreterInnen des «Neuen Designs»
daran erinnert, dass es noch nicht lange her war, seit Ulmer Furore. Junge HochschulabsolventInnen, die mit dem offizi-
Funktionalisten wie O. Aicher und W. Wagenfeld darauf ver- ellen Industriedesign und der Ausbildung unzufrieden waren,
zichteten, ihre Arbeiten zu signieren und ihre Namen in Ver- experimentierten im Möbel- und Produktdesign und stellten
bindung mit Produktentwicklungen öffentlich herauszustel- in handwerklicher Arbeit Prototypen und Einzelstücke her.
len, um sich von den Gepflogenheiten des Kunstbetriebs Progressive Möbelläden und Galerien boten ihnen eine Platt-
abzugrenzen. form. «Möbel Perdu – Schöneres Wohnen» nannte sich 1982
Nun liessen sich immer mehr Designer als Künstler und me- eine Hamburger Ausstellung ironisch. Gezeigt wurde das Er-
dienpräsente Stars feiern. Einerseits lebte das Kunst-Design gebnis von spielerischen Experimenten mit verschiedenen
mit seinen Unikaten und deren Inszenierung vom Kult um Techniken – die unerwartete Kombination von Materialien
den Autor. Anderseits erlaubte es die gestiegene Bedeutung wie Holz und Marmor, Neon und Beton, Gummi und Loch-
des Designs vielen Designern, sich als Künstler zu gebärden, blech, Plexi und Fliegendraht, Plüsch und Profanerem.19
«in der Annahme, den Zeitgeist in der Gestalt von Dingen so Die Ästhetik dieser Objekte war eine «Ästhetik der Collage
treffen zu können wie in einem Kunstwerk», wie es Gert Selle und der Brüche». Die Objekte sollten schockieren und den
formulierte.16 herkömmlichen Designbegriff in Frage stellen. Die Entwürfe
Der Trend zum Autorendesign und einer künstlerischen Ge- orientierten sich nicht wie diejenigen von Memphis an der
staltungsauffassung, für die «Individualität, Subjektivität, Einrichtung für die Oberschicht, sondern bezogen sich auf
eine prägnante, wieder erkennbare gestalterische Handschrift Punk, Jugend- und Subkulturen (Abb. 197).
und bekannte Namen das Salz der Suppe ausmachen», «Nicht die Simulation des Verbrauchs ist gefragt, sondern
widerspiegelte das Phänomen des oben genannten massen- der subversive Gebrauch der Warenwelt.»20
kulturellen «Zwangs» zum Individualismus.17 Der Autorenkult War das «Neue Deutsche Design» deshalb eine Bewegung
ist komplementär zur gesellschaftlichen Individualisierung. mit einer politischen Designtheorie? Dazu Volker Albus, einer
Diese stellt für alle eine unumgängliche Notwendigkeit dar, der Protagonisten der Bewegung: «Es denkt quer! In forma-
«der die «NormalbürgerInnen» mit ihrem individuellen Le- ler Hinsicht, jedoch nicht in einem grösseren (…) politischen
bensweg und -stil und mit beständiger Identitätsarbeit» Fol- Zusammenhang.»21 Aber die Auseinandersetzung mit dem
ge leisten.18 etablierten funktionalistischen Design der «Guten Form»
169

Abb. 205: Philippe Starck: Zitronenpresse «Juicy Salif», Abb. 206: Philippe Starck:Fernsehgerät «Jim Nature», 1994
1990 (Produktion Alessi). Inzwischen ein erschwingliches (Firma SABA). Pressholz und Kunststoff. Quelle: Cathrine
Kultobjekt; im Alessi-Taschenbuch 2000 wird vermerkt, McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, Mün-
dass «Juicy Salif» nicht zum Gebrauch bestimmt ist, son- chen, 1999, S. 353.
dern besser ins Bücherregal gestellt wird! Quelle: Volker
Albus et al. (Hg.), Design! Das 20. Jahrhundert, München,
2000, S. 165.

fand statt, und zwar heftig, und sie wurde zum Teil auf grund- Das «Neue Design» in der Schweiz
sätzlich-dogmatischer Ebene geführt. Für die VertreterInnen Die designintensive Zeit seit 1980 brachte auch Bewegung
der «Guten Form», die immer noch eine starke Position hat- in die Schweizer Designszene. Die international geführten
ten, ging es ja um nichts weniger als um die Aufhebung der für Debatten wurden von den Schweizer DesignerInnen aufge-
Deutschland typischen Trennung von Design und dem lange griffen und umgesetzt, allerdings ohne den Sinn für das Prak-
verpönten «Styling». Volker Albus: «Wir konnten es ja tag- tische aus den Augen zu verlieren.25 Im Gegensatz zum itali-
täglich miterleben, dass die Gute Form (…) keineswegs auch enischen Design um Alchimia und Memphis und zum
nur annähernd zur Befriedigung der Wünsche und Bedürfnisse «Neuen Deutschen Design» blieben die Schweizer Gestal-
der Menschen einer Kommunikationsgesellschaft taugte.»22 terInnen in den siebziger und achtziger Jahren im Allgemei-
Zum 75. Geburtstag des Deutschen Werkbundes (dwb) im nen einem traditionellen, sachlichen und funktionalistischen
Jahr 1982 hielt eine verantwortliche Arbeitsgruppe das «ra- Zugang verpflichtet.26 Der direkte Einfluss der «Neuen Wil-
tional-funktionalistische Design für abgenutzt.»23 Ein erstes den» beschränkte sich auf einen kleinen Kreis und betraf
Ergebnis war die Ausstellung mit dem Titel «Provokationen – hauptsächlich das Möbeldesign, während das Produkt- und
Design aus Italien – Ein Mythos geht neue Wege». (Zum Industriedesign weiterhin in den gewohnten Bahnen verlief.
«Neuen Design» in Italien vgl. Kapitel 13.) Von einer Welle eines «Neuen Wilden Schweizer Designs»
Das «Neue Deutsche Design» war keine einheitliche, son- konnte nicht die Rede sein. Dennoch wurde Design in den
dern eine pluralistische Bewegung mit verschiedenartigsten achtziger Jahren auch in der Schweiz zum Gesellschaftsthe-
Ansätzen. Diese reichten von minimalistischen Entwürfen ma.27 1986 wurde von Langenthaler Firmen zum ersten Mal
und konzeptionellen Arbeiten der «GIN_BANDE» (Frankfurt) der «Designer's Saturday» durchgeführt, was später unter
(Abb. 198) oder von «Kunstflug» (Düsseldorf) über provozie- anderem zur Eröffnung des «Design Center Langenthal»
rende Möbel von S. M. Syniuga (Abb. 199) und Ready-made- —
Objekten von «Stiletto» (Berlin) (Abb. 197) bis zum ironi- 15 Vgl. Kapitel 17.
16 Gert Selle, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 20.
schen Prunk und Kitsch von «Möbel perdu» (Hamburg). Zu 17 Dagmar Steffen, in: Ebenda, S. 54.
nennen sind auch die Gruppen «Pentagon» (Köln) (Abb. 200) 18 Ebenda.
19 Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Designs, S. 176f.
und «Cocktail» (Berlin).
20 Ebenda, S. 177.
Der Wendepunkt des «Neuen Deutschen Designs» war die 21 Volker Albus et al., Design Bilanz. Neues Deutsches Design der 80er Jahre in Objekten,
Ausstellung «Gefühlscollagen – Wohnen von Sinnen» 1986 in Bildern, Daten und Texten, Köln, 1992, S. 37.
22 Ebenda, S. 47.
Düsseldorf. Hier erfolgte die Hinwendung zum industriellen 23 Ebenda, S. 31.
Produktdesign, indem das Design von Einrichtungsgegen- 24 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 160.
ständen für Büros, Sitzungszimmer und der Möblierung öf- 25 Ebenda, S. 100.
26 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 100.
fentlicher Räume wieder zum Thema gemacht wurde.24 27 Ebenda, S. 114.
170

14. Die wilden achtziger Meilensteine


Jahre und das «Neue Design»

Abb. 207: Jean-Paul Gaultier: Kostüm für Madonna, 1990. Abb. 208: Hans Coray: «Landistuhl», 1938. Quelle: Gabriele
Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum Lueg et al. (Hg.), Swissmade, Zürich, 2001, S. 63.
London, München, 1999, S. 33.

führte. 1985 fand die erste «Schweizer Möbelmesse Interna- gleichzeitig als geschickter Marketing-Stratege, der die
tional» (SMI) statt, und 1991 wurde in Solothurn zum ersten Selbstdarstellung seiner Person geschickt zur Werbung für
Mal der «design preis schweiz» verliehen, der seither alle sein Design einsetzt.»28 Er entwarf gut verkäufliche und rela-
zwei Jahre vergeben wird. tiv preiswerte Produkte für die industrielle Serienherstellung.
Von den Möbel-DesignerInnen, welche die Grenzen der funk- Seine Arbeiten reichten von spektakulären Inneneinrichtun-
tionalistischen Moderne überschritten, seien hier die inter- gen bis hin zu alltäglichen Gebrauchsgegenständen (Abb.
national bekannten genannt: Susi und Ueli Berger (Künst- 205, 206). Starck wird manchmal mit dem kommerziell eben-
lerIn-DesignerIn) (Abb. 201), Trix und Robert Haussmann so erfolgreichen Raymond Loewy verglichen.29
(ArchitektIn-DesignerIn) (Abb. 202), Mario Botta (Architekt- Ein anderer Star am Himmel des französischen «Neuen
Designer) (Abb. 203). Designs» war der Modedesigner J.-P. Gaultier. Er provozierte
(Zum «Neuen Grafikdesign» in der Schweiz vgl. Kapitel 13.) die Öffentlichkeit mit Materialien aus der Pornografie, wie
Gummi, Lack und Leder (Abb. 207).
Das «Neue Design» in Frankreich
Das französische Design stand anfangs der achtziger Jahre Hightech in den achtziger Jahren
ebenfalls unter dem Einfluss von Memphis. Im Kontrast zur Die Faszination der Technik fand in der ganzen gestalteri-
Moderne fanden in Frankreich ungewöhnliche Farb- und Ma- schen Design-Moderne immer wieder ihren Niederschlag.
terialkombinationen den Weg ins «Neue Design». Das schlug Als Beispiel sei hier der «Landistuhl» von Hans Coray von
sich in Paris in der Einrichtung von Bars, Cafés, Geschäften 1938 genannt (Abb. 208). Mit diesem Möbel war Coray so-
und Restaurants nieder. ProduktdesignerInnen und Archi- wohl ästhetisch als auch produktionstechnisch eine frühe
tektInnen hatten sich in der Vergangenheit nur selten mit Vorwegnahme des späteren Hightech-Gedankens gelungen.
flüchtigen Projekten wie der Einrichtung eines Cafés oder Der Stuhl bestand aus einer bis damals unbekannten, extrem
eines Ladens beschäftigt. Und die professionellen Innenar- leichten Aluminiumlegierung. Das Material leitet keine Wärme
chitektInnen wurden lange belächelt. Beides hatte sich und ist rostfrei, daher auch die vielfältigen Verwendungs-
gewandelt. Der Möbel- und Produktdesigner Philippe Starck möglichkeiten des Stuhls. Er wurde ein wichtiger schweizeri-
(1949*) war ein Pionier dieser Entwicklung: 1984 richtete er scher Exportartikel und eines der meistverkauften Freiluft-
das Pariser «Café Costes» im «Retro-Look» ein (Abb. 204) möbel des 20. Jahrhunderts.
und definierte auf wenigen Quadratmetern den postmoder- Der Terminus «Hightech» aus der Architektur- und Design-
nen Zeitgeist. Seitdem ist das Prestige solch temporärer Pro- theorie setzt sich aus den Begriffen «High Style» und «Tech-
jekte stetig gestiegen (was auch daran zu sehen ist, dass nology» zusammen. Als Stilbegriff setzte er sich nach der
immer mehr Interieur-Bildbände erscheinen). Philipe Starck Einführung durch Slezin und Kron in dem gleichnamigen
wurde der Star der Szene. «Er gilt als kreativer Querkopf und Buch durch. Der Hightech-Stil betont die technologische Er-
171

Abb. 209: Renzo Piano und Richard Rogers: Centre Georges Abb. 210: Matteo Thun et al.: Stehleuchte «Chicago», 1985.
Pompidou, Paris, 1971-77. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leut- Volker Fischer (Hg.), Design heute. Massstäbe: Formge-
häuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 324. bung zwischen Industrie und Kunststück, München, 1988,
Bild 113.

scheinung – die Konstruktion – von Gebäuden und Gegen-


ständen durch demonstrativ nach aussen verlegte Installati-
onseinrichtungen und sichtbare Konstruktionselemente. Das
1977 von Renzo Piano und Richard Rogers erbaute «Centre
Pompidou» in Paris gilt als berühmtestes architektonisches
Beispiel für den Hightech-Stil (Abb. 209).
Der Hightech-Stil im Interior Design benennt die demonstra-
tive Verwendung technischer Elemente aus der Arbeitswelt
im privaten Wohnen, insbesondere bei Möbeln. Der Trend brei-
tete sich zu Beginn der achtziger Jahre explosionsartig aus
(Abb. 210). In diesem Sinn meint Hightech-Stil das genaue
Gegenteil zum Stil der «Neuen Einfachheit», der solche Spu-
ren unter grossem Aufwand verwischte (vgl. Kapitel 15).

28 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 164.
29 Ebenda.
15. NEUE EINFACHHEIT
174

15. Neue Einfachheit

— regierten Länder in den globalen Wirtschaftsmarkt in Euro-


Wirtschaftliches und Soziales pa Rezession, Arbeitslosigkeit und damit eine Vertiefung der
sozialen Krise, die dem kapitalistischen System immanent
ist. Auch die ökologische Problematik der galoppierenden
Zerstörung der Umwelt drang erneut ins öffentliche Bewusst-
sein. Betroffen waren alle europäischen Länder, wenn auch
in unterschiedlichem Ausmass.
Die Rezession und die sozialen Probleme führten zu einer im
Zurück zum Einfachen! Vergleich zur Hochkonjunktur der achtziger Jahre eher de-
Eine sozialhistorisch orientierte Designgeschichte hat zur pressiven Zeitstimmung und teilweise zu einem Wandel des
Aufgabe, historische Tendenzen und Trends aufzuspüren Konsumverhaltens. Beide drückten sich im Designtrend und
und auf ihren Kontext und ihre Hintergründe zu analysieren. im Modetrend, ja im gesamten Lebensstil aus. Mit anderen
In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es eine Worten: Der Designtrend traf die Zeitstimmung in direkter
deutlich feststellbare Stilentwicklung: Nach dem Form- und Weise. Einfachheit und Bescheidenheit waren angesagt!
Farbüberschwang, der in den wilden achtziger Jahren von Trends manifestieren sich nicht für alle Gesellschafts-
der Gruppe Memphis und dem «Neuen Design» entfesselt schichten auf die gleiche Art und Weise. Sie können durch-
worden war, bewegte sich das Produktdesign wieder in nüch- aus schichtenspezifische Phänomene sein. So war es auch
terne Bahnen. Offensichtlich waren die RezipientInnen vom mit der neuen Einfachheit der neunziger Jahre. Sie war vor
modisch-bunten, expressiven und avantgardistischen Über- allem in den gebildeten westeuropäischen Mittelschichten
schwang der achtziger Jahre mit seinen splittrigen und und Oberschichten zu Hause.
formkontrastierenden Tendenzen gesättigt oder gar über- Während der Konsum-Hedonismus nach den Motto «immer
sättigt und hatten ein Bedürfnis nach einfachen und arche- mehr, immer schneller» zu einem Unterschichten-Phänomen
typisch vertrauten Formen und der Verwendung von puristi- wurde3, waren die «neue Reflexivität in der Konsumkultur»
schen Materialien. Auch beim Automobildesign waren und die neue Bescheidenheit vor allem ein Mittelschichten-
vereinfachte und rundlich-fliessende Formen gut zu beob- Phänomen.4 Das Bewusstsein für Qualität, Langlebigkeit
achten.1 und ökologische Zusammenhänge (biologisch fundierte,
Allerdings greift es zu kurz, wenn der Trend zur neuen Ein- «nachhaltige» Lebenskultur) avancierte zum zeitgenössi-
fachheit nur als Gegenreaktion auf das Vorherige oder als schen Ausweis von Bildung und Wohlstand, einem Wohl-
«natürliche Reaktion» auf die popige und expressive Attitü- stand wohlverstanden, der nun durch ein verfeinertes
de des Designs im vorhergehenden Jahrzehnt dargestellt Understatement getarnt wurde.5 Diejenigen, die das Bewusst-
wird.2 Vielmehr müssen die zugrunde liegenden und aus- sein und die nötigen Mittel hatten, suchten als KäuferInnen
schlaggebenden Gründe für diese Entwicklung genannt wer- nicht mehr das Schrille und Repräsentative, sondern über
den. Doch was waren die Gründe für diese Beruhigung und den Gebrauchswert hinaus Authentizität und Lebenssinn.
formalästhetische Neuordnung? Es war zuerst einmal die Archaische Schlichtheit unterstützte das Bedürfnis nach
wirtschaftliche Rezession zu Beginn der neunziger Jahre. Orientierung und Sicherheit nach einem Jahrzehnt der Pro-
Der Zusammenbruch der ehemaligen sozialistischen Staa- vokationen.6
ten Osteuropas läutete in der Weltgeschichte eine neue Ära Neue Bescheidenheit und neue Einfachheit bedeutete je-
ein. An Stelle des erhofften konjunkturellen Aufschwungs doch keineswegs eine Rückkehr zum Primitiven wie in den
brachte die Einbindung der ehemals planwirtschaftlich Zeiten der Jutesack-Romantik der späten sechziger und
175

siebziger Jahre. Hoch im Kurs war vielmehr «hochwertige


Schlichtheit» nach dem Motto «Eating Potatoes with a Sil-
ver Fork» (Kartoffeln mit Silberbesteck essen) – wenn mög-
lich in neuer Einfachheit designt.

1 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 17.
2 So bei: Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 96.
3 Brigitte Holzhauer, in: Trends im Bekleidungsmarkt, in: «outfit», 3. Spiegel-
Dokumentation, Hamburg, 1994, S.10f.
4 Ingo Schoenheit, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt,
Das Jahrhundert des Design, S. 54.
5 Ebenda, S. 54.
6 Thomas Hauffe, Schnellkurs Design, S. 174.
176

15. Neue Einfachheit Meilensteine

Abb. 211: Philippe Starck: Badezimmer für Axor, Duravit und Abb. 212: Gaetano Pesce: I Feltri, 1987. Rahmen aus ver- Abb. 213: Ron Arad: «Well Tempered Chair», 1986/87 (ver-
Hoesch, 1994. Quelle: Wolfgang Schepers et al. (Hg.), nähtem Filz, mit Epoxiharz versteift. Sitzfläche aus Filz chromtes Edelstahlblech; Firma Vitra). Quelle: Cathrine
Das Jahrhundert des Design, S. 183 und Thomas Hauffe, auf Hanfschnüren. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München,
Design Schnellkurs, Köln, 2000, S. 183. chairs, Köln, 2000, S. 559. 1999, S. 137.

Europäische Designtrends der neunziger Jahre Die Darstellung der tief greifenden Auswirkungen der digita-
Die Designdekade der neunziger Jahre war durch grosse sti- len technischen Revolution sowohl auf das Industriedesign
listische Vielfalt geprägt, ganz im Unterschied zu den Sech- als auch die visuelle Kommunikation der neunziger Jahre ist
zigern oder Siebzigern, die von der fast monolithischen De- Gegenstand des 16. Kapitels.
sign-Doktrin der «Guten Form» und dem «Bel Design» und
dessen Kontrahenten und Abweichlern (Radical Design usw.) Neue Einfachheit
bestimmt waren. Selbst das Design der achtziger Jahre war Als Beispiel für den Designtrend zur neuen Einfachheit be-
graduell weniger vielfältig. In den neunziger Jahren wurde die ziehungsweise zur Vorliebe für eine Reduktion auf einfache
Tendenz einer bis in die letzten Ecken und zu den letzten und archetypisch vertraute Formen und für die Verwendung
Dingen vordringenden Ästhetisierung noch verstärkt1, das von puristischen Materialien sei Philippe Starcks Badezimmer
Design wurde allgegenwärtig. Design in den Neunzigern, das für Axor, Duravit und Hoesch von 1994 genannt (Abb. 211). Das
war Element der Ereignis-Kultur, das Abbilden der Dinge, das Badezimmer nimmt Bezug auf einfache archetypische For-
«Über-sie-Reden», die immer schnellere Folge der Stile und men. So orientiert sich die Acrylbadewanne am traditionellen
der Einzelentwürfe. Das Wort Design erlebte eine geradezu Waschzuber, der Wasserhahn an einer Pumpe, die WC-Schüs-
inflationäre Verwendung. sel und das Waschbecken an Eimern. Das Badezimmer bringt
In der grossen stilistischen Pluralität lassen sich einige modernste Sanitärtechnik in ein funktionales und beschei-
Haupttrends festmachen: Zuerst einmal die neue Einfachheit den harmonisches Ambiente. «‹Neue Bescheidenheit› oder
oder Bescheidenheit (auch neuer Minimalismus); dann das ‹back to basics› lautet das Motto, das neben ‹Sinnstiftung›
Retro-Look-Design, die Reeditionen und die «Neuen Dekors». für den Verbraucher und Markterfolgen für die Hersteller in
Daneben gab es ausser- und innerhalb der Haupttrends eine gewisser Weise und unter veränderten Vorzeichen eine Rück-
Vielfalt von sehr individuell geprägten Stilen. Das Autorende- kehr zur Rationalität andeutet.»2
sign mit wechselnden Stars und Signaturen war in den neun- Die ersten Impulse für ein neues einfaches Design kamen
ziger Jahren das dominante Image der Designprofession in aus Grossbritannien. Dort gab es im Gegensatz zum konti-
Ausbildung und Praxis. Artist-Designer wie Philippe Starck nentalen Rationalismus der Ulmer Schule schon in den sech-
prägten die Vorstellung eines allzeit kreativen Design-Genies, ziger Jahren eine experimentierfreudige und exzentrische
das jeden Tag die Welt neu erfindet.Nicht zu vergessen ist bei Gestaltungstradition, die auf einem kreativ-individualisti-
aller Aufzählung des Besonderen das gewöhnliche Design der schen Ansatz beruhte.3 In den späten achtziger Jahren zeich-
Gegenstände der alltäglichen Welt, die nicht in den Genuss nete sich in Grossbritannien das im übrigen Europa «Neues
des privilegierten Status von Designobjekten kamen, wie zum Design» genannte Design durch einen starken Trend zur Ein-
Beispiel das IKEA-Design, das in diesem Jahrzehnt die Haus- fachheit, zum Minimalismus aus, der dann zu Beginn der
halte in allen europäischen Himmelsrichtungen stetig füllte. Neunziger im kontinentalen Europa aufgenommen wurde.4
177

Abb. 214: Jasper Morrison: Sofa, 1988 (Firma Sheridan). Abb. 215: Jasper Morrison: Weinregal, 1994 (Firma Magis). Abb. 216: Thomas Sandell von der «PS»-Gruppe von IKEA:
Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum Banktruhe, 1995. Selbst ein wohl eher selten bewegter
London, München, 1999, S. 138. London, München, 1999, S. 195. Gegenstand wie dieser erhält grosse Räder, um der asym-
metrischen Schlichtheit eine charakteristische Form zu
geben. Quelle: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.),
Das Jahrhundert des Design. Geschichte und Zukunft der
Dinge, Frankfurt a.M., 2000, S. 184.

Die internationale Verbreitung des einfachen britischen dernen Designs beziehungsweise des «Neuen Designs» hat-
Designs erfolgte über den Möbelhändler Sheridan Coackley, te sich allerdings in der Schweiz in Grenzen gehalten (vgl.
der die britischen Künstler-Möbel über die Kölner und Mai- Kapitel 14). Stilistisch war das Schaffen der Neunziger von
länder Möbelmesse bekannt machte. einer «minimal tradition» geprägt, die sich wieder jener Ein-
Die «Neuen britischen DesignerInnen» verarbeiteten eher fachheit zuwendete, die bereits im ganzen 20. Jahrhundert
raue Materialien, wie zum Beispiel unbehandelten Stahl das Aussehen von Schweizer Produkten geprägt hatte. Ein-
oder Beton. Sie ähnelten darin mehr dem «Neuen Deutschen fachheit als qualifizierende Beschreibung für Gestaltung war
Design» als der italienischen Memphis-Gruppe. Sie unter- in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert ein wichtiges Krite-
schieden sich durch eine meist einfache Material- und For- rium.5 Der Begriff der neuen Einfachheit wurde bereits viele
mensprache von anderen Strömungen im «Neuen Design», Jahre vorher zum ersten Mal verwendet: 1959 fand im Waren-
die zum Teil in neobarocker neuer Prächtigkeit schwelgten haus Globus eine Ausstellung mit dem Namen «Die neue
(Abb. 212). Die Hauptvertreter der neuen Einfachheit in Gross- Einfachheit» statt!
britannien waren Ron Arad, Jaspar Morrison, Tom Dixon, Heimlicher Star der neuen Einfachheit war Kurt Thut (1931*).
Sebastian Bergue und Konstantin Greic. Als Mitbegründer der Gruppe Swiss Design, die in den fünfzi-
R. Arads Studio hiess «One Off Ltd.» und war eines der Zen- ger Jahren dem funktionalistischen Design verpflichtet war,
tren des «Neuen britischen Designs». Dieser Name bezog hatte er in den achtziger Jahren den Hightech-Trend mitge-
sich programmatisch auf die Produktion von Einzelstücken macht; in den neunziger Jahren schuf er nun Möbel im Stil
(Unikaten) (Abb. 213). der neuen Einfachheit (Abb. 218). Dabei hatte Thut seine Ge-
J. Morrison war der wichtigste Vertreter der neuen Einfach- staltungsprinzipien in all den Jahrzehnten gar nicht grundle-
heit (Abb. 214, 215). Minimalistische Schichtholzmöbel mit gend verändert! Er wurde so zum generationenübergreifen-
unbehandelten Oberflächen charakterisieren seine Arbeit. den Bindeglied zwischen der funktionalismusbegeisterten
Aus Protest gegen die neobarocken Spielarten luxuriösen Generation um 1960 und der neuen Einfachheit.6
Designs prägte er den Begriff «No-Design». —
Auch die skandinavische IKEA-Gruppe, die seit 1995 mit der 1 Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 181ff.
2 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 175.
«PS»-Gruppe über ein eigenes Designprogramm verfügte, 3 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 117.
schloss sich dem Trend zur Einfachheit an (Abb. 216). 4 Ebenda, S. 117.
5 Ebenda, S. 116.
6 Ebenda, S. 117.
Neue Einfachheit in der Schweiz
Im Schweizer Design fand in den neunziger Jahren ebenfalls
eine Abwendung von den gestalterisch expressiven Achtzi-
gern statt (Abb. 217). Der Einfluss des italienischen postmo-
178

15. Neue Einfachheit Meilensteine

Abb. 217: Sigg Bottles. Aluminium, Trinkflasche der Firma Abb. 218: Kurt Thut: Kleiderständer 1999. Quelle: Gabriele Abb. 219: Jasper Morrison: «Plywood-Chair», 1998. Der
Sigg, 1990. Quelle: Gabriele Lueg et al. (Hg.), Swissmade, Lueg et al. (Hg.), Swissmade, Zürich, 2001, S. 82. Plywood-Chair erscheint auf den ersten Blick als ein gelun-
Zürich, 2001, S. 110. genes Zeichen für die asketische Reduktion auf das Not-
wendige, doch bei genauer Untersuchung fällt auf, dass
unter der Prämisse formaler Einfachheit die Funktionalität
zurückstand und, um eine gewisse Stabilität zu erreichen,
ein zwar unter der Sitzfläche versteckter, doch nicht uner-
heblicher konstruktiver Aufwand betrieben wurde. Quelle:
Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert
des Design. Frankfurt a.M., 2000, S. 54.

Zweite Moderne? Retro-Look-Design und Reeditionen


Die Reduktion auf einfache geometrische Formen und die Ganz andere Trends als die neue Einfachheit waren das
Verwendung puristischer Materialien ist dem Funktionalis- Retro-Look-Design und die Reeditionen der neunziger Jahre,
mus der Moderne zum Verwechseln ähnlich. Gab es hier eine die übrigens ebenfalls bis in die Gegenwart andauern. Obwohl
Rückbesinnung auf die abstrakte Geometrie der Ulmer Hoch- beide aus einer ähnlichen Grundhaltung heraus entstanden,
schule für Gestaltung, ein Zurück zu den Ursprüngen der sind sie nicht gleichzusetzen. Reeditionen sind originaltreue
«Guten Form» und ihre Weiterführung? Oberflächlich gese- Wiederauflagen von Gegenständen vor allem aus den zwan-
hen, ist diese Frage zu bejahen. Genauer betrachtet, gab es ziger und sechziger Jahren. Favorit für die Lücke war das ame-
aber klare Unterschiede zum funktionalistischen Design: rikanische Stromliniendesign. Nicht die leicht zu reinigende
— Das Design der neuen Einfachheit hatte nicht die indus- «Braun-KM3» glänzte da stilgerecht, sondern die «Kitchen-
trielle Massenfertigung im Auge. Aid» und der nostalgische Toaster «Dualit» (Abb. 220).
— Es verfolgte nicht das Ziel, vorhandene Mittel möglichst Retro-Look-Design hingegen ist eine aktuelle Neuinterpreta-
effizient für rationale Zwecke einzusetzen. Neue einfache tion von historischen Gestaltungsmerkmalen. Die Produkte
Möbel hatten trotz ihrer formalen Reduktion oft sehr kom- erinnern an ihre Vorgänger, doch gleichzeitig lässt ihre Pro-
plexe Konstruktionen.7 Für die Einfachheit wurde viel kon- duktsprache keinen Zweifel aufkommen, dass sie aus den
struktiver Aufwand betrieben, was die Funktionalität ad Neunzigern stammen. Zeichenhaft wird auf Vergangenes und
absurdum führte (Abb. 219). Gegenwärtiges verwiesen.
— Es kam ohne den erzieherischen Anspruch und ohne die Neben der Kleidermode und dem Interior Design war die
doktrinäre Lehre der Moderne in den zwanziger, dreissiger, Hochburg des Retro-Look-Designs das Automobildesign. Pro-
fünfziger und sechziger Jahren aus. minente Beispiele: der «New Beetle» von Volkswagen (1998)
Trotzdem ist eine formale Verwandtschaft mit der klassi- oder der «Mini Morris» beziehungsweise der «Mini Cooper»
schen Moderne vorhanden. Und das folgende Urteil von Dieter von BMW (Abb. 221a,b).
Weidmann geht sicher nicht an der Sache vorbei: «Nachdem Und die Hintergründe für den Anklang an die Vergangenheit?
sich im Rahmen der Postmoderne ein geradezu mutwilliges Ist es der «eklatante Mangel an wegweisenden Utopien und
Aufbegehren gegen den Funktionalismus (…) ausgetobt hat, motivierenden Zukunftsvisionen», der es einem Teil der Zeit-
gelangen wir nun allmählich zu einem weniger ideologi- genossInnen nahe legt, «sich angesichts der komplexen ge-
schen, dafür ästhetisch gereiften und hoffentlich aus Scha- sellschaftlichen Probleme in Illusionswelten hineinzuträu-
den klug gewordenen Funktionalismus.»8 men, in vergangene Zeiten oder kindliche Spielwelten»?9
Oder einfach das «Bedürfnis nach Vertrautheit und Über-
schaubarkeit» angesichts der existierenden Unüberschau-
barkeit und Unsicherheit?10 Für diese von W. Schepers ge-
179

Abb. 220: Dualit, 1994. Quelle: Wolfgang Schepers, Peter Abb. 221a: Alec Jssigonis: «Mini Morris», 1959. Quelle: Abb. 221b: «Mini Cooper» von BMW, 2005. Quelle: Katalog
Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design. Geschichte und Albus Volker et al (Hg.), Design! Das 20. Jahrhundert, Mün- «Mini», BMW AG, 2005.
Zukunft der Dinge, Frankfurt a.M., 2000, S. 185. chen, 2000, S. 120.

äusserte Interpretation spricht, dass zum Beispiel im Auto-


mobildesign die Anleihen in eine Zeit zurückweisen, in der
der automobile Hedonismus ungetrübt von Verkehrschaos,
Parkplatznot oder Sommersmog noch genossen werden
konnte. Der Retro-Look weckte positive Emotionen, er ermög-
lichte gewissermassen die Rückkehr ins goldene Zeitalter
des Automobils.11 («Neue Dekore», vgl. Kapitel 16.)

7 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 116.
8 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 22.
9 Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 55.
10 Ebenda, S. 187.
11 Ebenda, S. 55.
16. DIGITALE REVOLUTION
UND DESIGN
182

16. Digitale Revolution


und Design

— ähnlich einschneidend wie die erste industrielle Revolution


Wirtschaftliches und Soziales und die Mechanisierung im 19. Jahrhundert. So wie damals
wandelte sich die Erzeugung der Verbrauchsgüter, drang die
neue Technologie in die Haushalte ein, prägte die Lebens-
führung, die Werte und Leitbilder und wurde in der Kunst
reflektiert.2 Digitalisierung und Computerisierung brachten
den Rationalisierungsprozess Ende des 20. Jahrhundert in
bisher nicht gekanntem Ausmass voran. Sie veränderten die
Die digitale Revolution Art, wie und wo wir arbeiten, wohnen, kommunizieren, ein-
Ausgangspunkt für die so genannte digitale Revolution, die in kaufen und produzieren. Sie trugen wesentlich zur weiteren
den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte, war die Auflösung der Bipolarität zwischen Öffentlichkeit und Pri-
ständig zunehmende Leistungsfähigkeit der Mikroprozes- vatheit bei - ein Prozess, der mit Telefon, Rundfunk und Tele-
soren bei gleichzeitigem Preiszerfall. Die Voraussetzung für vision begonnen hatte: Der öffentliche Raum drang als glo-
den Siegeszug der Mirkroelektronik sowie vor allem für die baler Raum in den Privatraum ein, und die Wohnung wurde
Entstehung expandierender Computernetzwerke lag sowohl zur Bühne für das Öffentliche.3
in den Aktivitäten experimentierender Computerenthusiasten Die digitale Revolution entfachte eine Zunahme der materiel-
als auch im Forschungsinteresse des Pentagons, des US- len Produktion. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ent-
Kriegsministeriums, das beträchtliche Summen in ein dezen- stand der so genannte «Neue Markt». Im Überschwang war
trales Kommunikationsnetz investierte, welches einen Atom- sogar von einer «Neuen Wirtschaft» die Rede.4 Der ICT-Boom
krieg überdauern sollte - der Ausgangspunkt des Internets. erschien als eine unerschöpfliche Goldgrube, die freilich um
Mikroprozessoren drangen in sämtliche Lebensbereiche ein die Jahrhundertwende wieder etwas versiegte. Das Internet bot
(«Mikroprozessualisierung»). Die meisten mechanischen und die technologischen Voraussetzungen für die Beschleunigung
elektronischen Produkte konnten so mit immer mehr Funk- des Geldverkehrs und erfüllte damit eine wesentliche Be-
tionen ausgestattet und verkleinert werden (Miniaturisie- dingung für die Entfesselung der Finanzmärkte. Die weltwei-
rung). Neue Geräte wurden entwickelt, vor allem im Bereich ten Kommunikations- und Transportmöglichkeiten überschrit-
der Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) und ten die lokal oder national definierten Formen und Konzepte
in der Unterhaltungselektronik. Es fand eine Demokratisie- der Produktion. Realisiert wurden nun Produkte, «die in Sidney
rung des Computers zum dezentralen Personal Computer entworfen, auf Sylt gekauft und in Sibirien entsorgt werden
statt. Die Computer nisteten sich in alle Haushalte der nörd- konnten».5 Die global wirkenden Wirtschaftsmechanismen
lichen Hemisphäre ein und warfen in den neunziger Jahren des Marktes führten zur Verbreiterung von Angebot und
mit dem Medium Internet ein digitales Netz über den Globus. Nachfrage nach Neuheiten und zu ständiger Neuinszenierung
Die Mikroprozessoren leiteten das digitale Zeitalter ein. Die- von konstruktiv Bewährtem. Die Produkte mussten immer
ses wird nicht einfach nur durch die Entwicklung von neuen schneller erneuert werden. Während eine Schreibmaschine
Medien charakterisiert, sondern vor allem durch die Tat- 1935 noch eine Anschaffung für Jahrzehnte darstellte, war ein
sache, dass unterschiedliche Medien wie Text, Grafik, Bild, Rechner 1990 schon beim Kauf technisch veraltet. Der Neuent-
Film, Ton und Musik in einer gemeinsamen Datenform, näm- wicklung und Neuinszenierung von Produkten entsprach auf
lich digital vorliegen. der KonsumentInnenseite der OECD-Industrieländer der
Die Mikroprozessoren wurden die «Dampfmaschinen unserer wachsende Kundenwohlstand, die Forderung nach Vielfalt
Zeit «genannt.1 Die digitale Revolution veränderte das Leben und Individualität und die «Nachfrage nach Differenz».6
183

Früher beruhte die industrielle Produktivität auf Zentralisie-


rung und Standardisierung der Produktion – im Gegensatz
zur vormaligen dezentralen handwerklichen Einzelstück-
und Kleinserienfertigung von Produkten. Nun aber wurde
dank numerisch gesteuerter Werkzeuge (Laser-Schnittrobo-
ter, CNC-Fräsen usw.) wieder eine Dezentralisierung und Di-
versifizierung der Produktion möglich, ohne dass dies höhere
Stückpreise zur Folge hatte. Ausgefeilte CAD- und CAM-Sys-
teme, RP (Rapid Prototyping) und damit flexible digitale
Fertigungsprogramme begünstigten die Herstellung kleiner
und gleichwohl kostengünstiger Mengen von Produkten, die
stärker auf die verschiedenen Zielgruppen, individuellen
Bedürfnisse und Geschmäcker zugeschnitten waren. Aus der
Massenproduktion war die «kundenindividuelle Massenpro-
duktion» geworden.7
Die durch die digitale Revolution entfachte Zunahme der
materiellen Produktion und der Ausbau administrativ-tech-
nisch-ökonomischer Komplexe, genannt Infrastruktur, ver-
schlangen jedoch ungeheure Mengen an Material, und die
globalen Netze, die Folge der neuen Technologien, beschleu-
nigten die Produktion und Verteilung einer qualitativ minde-
ren Ware. Die neuen Medien produzierten unendlich viele
Bilder ohne entsprechende gestalterische Qualität. Das Er-
gebnis fasst Tönis Käo zusammen: «Zu den Fussgängerzo-
nen als Müllverteiler kommt der visuelle Müll. Rein formal-
ästhetisch und auch real gesehen beginnt das Jahrhundert
als Mülldeponie.» 8

1 W. Davidow, Das virtuelle Unternehmen, Frankfurt a.M.,1993, S. 10.
2 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schepers (Hg.),
Das Jahrhundert des Design, S.60f.
3 Vgl. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität,
Frankfurt a.M., 1983; Paul Virilio, Die Ära des universellen Voyeurismus, in: Le Monde
Diplomatique, August 2003.
4 Art Nr. 2, 2004, Hamburg, S. 52.
5 Wolfgang Schepers, Peter Schepers (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 182.
6 Alex Buck, Dominanz der Oberfläche, Frankfurt a.M., 1998, S. 22f.
7 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schepers (Hg.),
Das Jahrhundert des Design, S. 65.
8 Tönis Käo, in: Cordula Meier, Designtheorie. Beiträge zu einer Disziplin,
Frankfurt a.M., S. 113.
184

16. Digitale Revolution Meilensteine


und Design

Abb. 222: Ergonomiestudie bei Mercedes–Benz mit Hilfe Abb. 223: Swatch-Uhr, ab 1987. Die ersten Prototypen wur-
der Computervisualisierung. Quelle: Thomas Hauffe, Design den von Ernst Thonke, Jacques Müller und Elmar Mock ent-
Schnellkurs, S. 170. worfen. Inzwischen sind unter anderem auch Matteo Thun
und Alessandro Mendini dabei. Quelle: Cathrine McDermott,
Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 219.

Digitalisierung und Integration des Designs Grafikprofession befürchtet wurde und weil anderseits der
Die digitale Revolution hatte einschneidende Folgen für Desktop die Haushalte sprunghaft erobert hatte, so dass
Industriedesign und die visuelle Kommunikation. Innerhalb plötzlich viele «SelfmadegrafikerInnen» mit der omnipräsen-
relativ kurzer Zeit erlebten beide Designprofessionen tief ten grafischen Software von Microsoft in den Stand versetzt
greifende Zäsuren und Neuausrichtungen sowohl im Gestal- wurden, einigermassen geradlinige grafische Erzeugnisse
tungsprozess als auch in den Gestaltungsaufgaben. selber zu produzieren. Bald wurde aber realisiert, dass die
So veränderten und rationalisierten im Industrial Design die Integration der gestalterischen Fertigkeiten neue, kreative
neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) und experimentelle Möglichkeiten bot und dass die neue
– das computergestützte Design (CAD) und die computerge- Komplexität der Designprofession eine Chance war (zur digi-
stützte Fertigung (CAM) mit Hilfe von CNC-Maschinen – den talen Bildherstellung und zum Grafikdesign vgl. unten).
gesamten Gestaltungsprozess von der Konzeption und Pla- Auch das Internet hatte in den neunziger Jahren deutliche
nung bis zur Ausarbeitung von Prototypen. Spezielle Grafik- Auswirkungen auf den Gestaltungsprozess. Die Leichtigkeit
programme ermöglichten den simulierten Entwurf und die in der Anwendung der neuen Kommunikationstechnik brachte
Darstellung eines Produkts am Bildschirm. Dabei konnten einen stetig wachsenden Transfer von Designideen mit sich.
nicht nur der Entwurf, sondern gleichzeitig alle wichtigen Der Globalisierung des Marktes folgte über das Internet die
technischen und ökonomischen Daten verändert werden. Globalisierung des Grafikdesigns, wobei zu vermerken ist,
Neben der präzisen Bildhaftigkeit ergab das den Vorteil der dass Globalität nicht Gleichwertigkeit bedeutet. Die Stil-
Flexibilität bei der Entwicklung von Produkten (Abb. 222). vorgaben stammen weiterhin aus den entwickelten kapitalis-
Das Grafikdesign war von der digitalen Revolution noch stär- tischen Industriestaaten, sie sind Exportprodukt aus dem
ker betroffen. Nachdem in der Folge der industriellen Revo- westlichen Kulturkreis.
lution der grafische Prozess in einzelne Fertigkeiten fragmen-
tiert worden war (Entwurf und Layout, Typografie und Satz, Individualisierung und «Neue Dekore»
Fotografie und Reprofotografie, Druck), ermöglichte die digita- Die meisten Konsumgüter kamen in den neunziger Jahren
le Technologie in den neunziger Jahren mit dem Desktop- ausgereift auf den Markt. In entsprechenden Preislagen
Computer die Integration fast sämtlicher Fertigkeiten, so dass waren Konkurrenzprodukte praktisch gleichwertig. Im Kampf
sie von einer einzigen Person ausgeübt werden konnten. Aus gegen die Konkurrenz blieb den ProduzentInnen als letztes
den ehemaligen GrafikerInnen wurden gleichzeitige Entwerfer- Mittel zur Unterscheidung noch das variable Design. Die
Innen, TexterInnen, RedakteurInnen, SetzerInnen, Retoucheur- computergestützten Produktionsmethoden erlaubten es den
Innen, FilmerInnen, VideografInnen und SonografInnen. HerstellerInnen, wie oben schon erwähnt die Oberflächen
Auf die neuen Möglichkeiten wurde anfänglich abwehrend äusserst schnell und flexibel zu variieren. So konnten sie mit
reagiert, weil einerseits eine technische Verflachung der der Individualisierung von Mustern und Details bei gleich-
185

Abb. 224: Frogdesign/Harmut Esslinger: Apple Macintosh, Abb. 225: Apple Design Team: Apple eMate 300, 1996. Abb. 226: Rudy VanderLans: Titelblatt des Magazins
1984. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmu- Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum «Emigre», 11, 1989. Drei Schichten von Informationen.
seum London, München, 1999, S. 363. London, München, 1999, S. 364. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York,
1998, S. 458.

bleibendem technischen Innenleben auf die verschiedenen sinnlich nicht erfassbar und auch nicht über die Form mit-
Geschmackswelten der KundInnen eingehen. Die individuell teilbar. Einer Diskette sieht man ihre Funktion nicht mehr an.
gestalteten Oberflächen erhielten in der Designgeschichte Komplexe Funktionsbündel werden latent im Unsichtbaren
den Namen «Neue Dekore».1 gestapelt. Sie werden von den BenutzerInnen, die sie aktivie-
Die Armbanduhren der Schweizer Firma Swatch wurden ren, in ihrem Ablauf weder kontrolliert noch verstanden. Mit
1983 zum populären Vorreiter dieser «Neuen Dekore», so gleicher Hardware können die unterschiedlichsten Funktio-
dass man heute von «Swatcherisierung» spricht (Abb. 223).2 nen erfüllt werden. Die Digitalisierung und die Miniaturi-
Durch ständig neue Dekore von bekannten Designern wie sierung führten zu einer Trennung von Hülle und Funktion,
Matteo Thun oder Alessandro Mendini oder mit Motiven von mit andern Worten zu einer Entkoppelung von Form und
bekannten Künstlern wie Keith Haring oder M. Paladino Funktion.
gelang es, ein Grossserienprodukt scheinbar unendlich zu Neue Designaufgabe wurde die Gestaltung der Hüllen und
differenzieren. Alljährlich wurden seit 1983 zwei Kollektionen Oberflächen. Das Design musste sie so gestalten, dass Augen
mit ungefähr dreissig neuen Modellen sowie limitierte Edi- und Hände noch Bedeutungen nachvollziehen konnten. Es
tionen herausgebracht. Inzwischen wurden über 100 Mil- musste die unsichtbaren Funktionen den BetrachterInnen
lionen Uhren verkauft. Die «Swatcherisierung» griff in den auf der Hülle sinnfällig vermitteln, um ihnen die Benutzung
letzten Jahren auch auf die Mobilfunkhersteller über. zu erleichtern, und orientierte sich dabei an vertrauten und
Während die Stile der neuen Einfachheit und des Retro- anschaulichen Vorgängern, «ein Versuch, die Menschen ‹be-
Look-Design hauptsächlich mentale Befindlichkeiten ver- hutsam› an die neue Technologie zu gewöhnen und eventuel-
schiedener Schichten, Milieus und Szenen der neunziger le Hemmschwellen beim Umgang mit elektronischem Gerät
Jahre widerspiegelten (vgl. Kapitel 15), wurden die «Neuen niedrig zu halten».5
Dekore» massgeblich aus den genannten produktionstechni- Die Entkoppelung und der erzwungene «Rückzug» auf die
schen und wirtschaftlichen Gründen geschaffen.3 Hülle brachte der Designprofession aber ungewollt neue, bis-
lang unbekannte gestalterische Freiheiten: die freie Formge-
Das Verschwinden der Gegenstände bung der Gehäuse mit wählbaren Zusätzen und Ornamenten.
Die digitale Revolution brachte neben allen andern Folgen —
auch das «Verschwinden der Gegenstände» mit sich.4 Was 1 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.),
Das Jahrhundert des Design, S. 53.
nach der Miniaturisierung und Mediatisierung der Gegen- 2 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 171.
stände zu gestalten übrig blieb, war ihre Oberfläche. Aus den 3 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.),
Das Jahrhundert des Design, S. 53.
Dingen wurden Oberflächen oder besser: Benutzeroberflä-
4 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 169.
chen. Konnte man die Funktion einer Nähmaschine noch klar 5 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.),
erkennen, so war die Organisation eines Mikroprozessors Das Jahrhundert des Design, S. 62.
186

16. Digitale Revolution Meilensteine


und Design

Abb. 227: John Hersey: Porträt von Ricky Ricardo «Lucy I'm Abb. 228: April Greiman: Holografiemodell. Quelle: april Abb. 229: Neville Brody: Innenseite einer Musikplatten-
Home», 1986. Eines der frühesten Beispiele für die Erfor- greiman, it’s not what you think it is, Zürich, 1994, S. 18. hülle für Micro-Phonies (Cabaret Voltaire), 1984. Quelle:
schung des Potenzials der digitalen Bildmanipulation. The Graphic Language of Neville Brody, München und
Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, Luzern, 1988, S. 71.
1998, S. 459.

Das Design landete wieder dort, wo es zu Beginn der Digitale Bildherstellung


Industrialisierung schon einmal gewesen war, als es darauf Ab Mitte der achtziger Jahre wuchs die Faszination der Gra-
ankam, den nackten Funktionen der Mechanik das hübsche fikdesignerInnen an dem Potenzial des computerunterstütz-
Kleid der Dekoration überzuziehen.6 Es gelangte aber auch ten Designs. Dies betraf nicht nur den Computer als effizien-
dorthin, wo es als europäisches Design lange nicht sein woll- tes Werkzeug, sondern auch als potenten Katalysator für
te: zu dem verpönten «Styling», das ja nichts anderes als Innovationen. Das Experimentieren mit Computergrafik und
eine ständige Anpassung der Hülle ist. die Erforschung der elektronischen Techniken aus dem
Obwohl das gegenstands- oder funktionsbezogene Design Blickwinkel des Designs schüttelte die modernen und post-
der digitalen Geräte in vieler Hinsicht obsolet geworden war modernen Designideen kräftig durch; Folge war eine noch nie
und dem Design nach Gert Selle nur noch «Formprothesen» da gewesene Pluralität und Diversifikation im Design. Weil
zu gestalten übrig blieben7, wurde es nicht überflüssig. Im die digitale Bildherstellung nahtlose und unentdeckbare Bild-
Gegenteil: Im Interface- und Interaction-Design fand es ein manipulationen erlaubt, verlor die Fotografie ihren Status als
neues Betätigungsfeld. Dort befasst es sich mit einer mög- unbestrittene Dokumentation der visuellen Wirklichkeit.
lichst benutzerfreundlichen, sich selbst erklärenden Gestal- Die digitale Revolution kam auf den Tisch der einzelnen De-
tung von Geräten der Informationstechnologie, der Unter- signerInnen als Resultat von technologischen Anstrengungen
haltungselektronik sowie von Software-Produkten. In der vor allem dreier Firmen: Apple Computer entwickelte den
Sprache des Zeitgeists gestaltet es die «Schnittstelle zwi- Macintosh-Computer (Abb. 224, 225); Adobe Systems erfand
schen Computer und Mensch». Doch in der Realität sind die PostScript-Programmiersprache für das Seitenlayout und
häufig die Programmierer mehr Designer als diejenigen, die elektronisch erzeugte Typografie; Aldus publizierte den Page-
sich so nennen. Diese neue Designaufgabe kommentiert Gert maker, eine frühe Softwareapplikation, die PostScript be-
Selle so: «Wenn Designer sich bemühen, einen PC benutzer- nützte, um Seiten auf dem Bildschirm zu entwerfen.
freundlich zu gestalten oder der Maus Plastizität für die
Hand zu applizieren, wirkt das wie der Entwurf eines Ret- Pioniere des digitalen Grafikdesigns
tungsrings: Jemand soll sich beim Übertreten der Grenzen In der Kindheitsphase des digitalen Designs wurden die Ent-
zum Unsichtbaren wenigstens an etwas festhalten können. husiasten und BenutzerInnern von denjenigen, die das Neue
Tatsächlich wird aber aufgezeigt, wo das Design aufhört. Das strikt ablehnten, als «die neuen Primitiven» verschrien. Zu
bisschen Ding, das da noch zu sehen und zu begreifen ist, den ersten «neuen Primitiven» gehörten April Greiman (Los
wird zum Rest, zur Kulisse, zur Benutzeroberfläche, wie es Angeles), Rudy VanderLans (Abb. 226), John Hersey (San
treffend heisst.»8 Francisco) (Abb. 227) und Zuzana Licko.
April Greiman erforschte die visuellen Eigenschaften der bit-
geplanten Schrifttypen, das Schichten und Überlappen auf
187

Abb. 230: David Carson und Chris Cuffaro: «Morrissey: The Abb. 231: Bill Hill, Terry Irwin und Jeff Zwerner (MetaDesign,
Loneliest Monk Ray Gun», 1994. Die ungewöhnlich gestutz- San Francisco): VizAbility Interaktive CD-ROM, 1995. Quel-
te Fotografie und die dekonstruierte Schlagzeile drücken le : Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York,
die Romantik und das Geheimnis des Musikers aus. Quelle: 1998, S. 471.
Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998,
S. 462.

dem Bildschirm, die Synthese von Video und Drucksachen


und die taktilen Muster und Formen, die durch die neue Tech-
nologie möglich wurden (Abb. 228).
Neville Brody war Ende der achtziger Jahre der bekannteste
britische Grafikdesigner seiner Generation; auch er ein Pio-
nier in der Erforschung der neuen digitalen Möglichkeiten
( Abb. 229).
Der US-Amerikaner David Carson (1956*) stiess 1980 zum
Design. Er verabscheute alle Raster und konsistente Layout-
oder typografische Muster und lehnte die traditionellen
Vorstellungen der typografischen Syntax und der visuellen
Hierarchien ab. Stattdessen versuchte er, die expressiven
Möglichkeiten jedes Themas und jeder Seite zu erforschen.
Carsons Textgestaltung stellte oft die fundamentalen
Kriterien der Lesbarkeit in Frage (Abb. 230).
Ein exemplarisches interaktives CD-ROM-Programm, wel-
ches das Hypertext-Konzept auf die Kombination von auditi-
ver, visueller und kinematischer Kommunikation ausdehnte,
wurde von MetaDesign San Francisco entwickelt. MetaDe-
sign ist eine Informations- und Grafikdesign-Firma, die vom
deutschen Designer Erik Spiekermann (1947*) geleitet wird
(Abb. 231).

6 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 292.
7 Ebenda, S. 291.
8 Gert Selle, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.),
Das Jahrhundert des Design, S. 19.
188

16. Digitale Revolution


und Design

— tierten Autorendesign der achtziger und neunziger Jahre


Kommentar (Artist-Design).
Die fortschreitende Mechanisierung im 19. Jahrhundert hatte
die ZeitgenossInnen ebenfalls beunruhigt und zu einer «Ver-
wüstung» der neuen industriell gefertigten Gegenstände
geführt. Als Reaktion hatte die kunsthandwerkliche Renais-
sance der Reformbewegungen stattgefunden, in der Kunst
und künstlerischer Entwurf in den Vordergrund gerückt wur-
«Form follows emotion» digital den (Artist-Design). Damit wären wir wieder am Anfang un-
Das postmoderne Design hatte sich in den achtziger Jahren serer Designgeschichte angelangt (vgl. Kapitel 1, 2).
von der funktionalistischen Gestaltungsdoktrin verabschie-
det und an ihre Stelle eine von den Funktionen unabhängige, Neue Leittechnologien und ihre Auswirkung auf das Design
üppige visuelle Semantisierung der Gegenstände gesetzt. Die Umbruchphasen, welche der moderne Kapitalismus
Die Gegenstände bekamen eine neue Funktion als vielfältige durchlief, waren durchwegs mit dem Aufkommen und der
Bedeutungsträger. Wolfgang Welsch stellte 2001 in einem Nutzung von neuen Leittechnologien verbunden. Und die
Rückblick auf das 20. Jahrhundert fest: «Es brauchte gar technologischen Innovationsschübe hatten in der Regel auch
keine postmoderne Polemik gegen den puren Funktiona- für das Design entscheidende Folgen.
lismus und kein postmodernes Plädoyer für geistreiche Arran- — Auf die Mechanisierung des Maschinenbaus in den neun-
gements – die technologische Entwicklung hat dies alles von ziger Jahren des 19. Jahrhunderts folgte eine grosse Aus-
selbst besorgt.»1 dehnung der Entwurfstätigkeit im Produktbereich und durch
Infolge der digitalen Revolution war der alte Leitsatz «form die maschinelle Mechanisierung des Drucksektors eine gigan-
follows function» im Design über weite Strecken untauglich tische Eröffnung von neuen Tätigkeiten im grafischen Sektor.
geworden. Die technologische Entwicklung selber entkräfte- — Die «Taylorisierung » der kapitalistischen Produktion in
te das seit dem Werkbund bis zur «Guten Form» vorherr- den USA – die Systematisierung und Verwissenschaftlichung
schende funktionalistische Paradigma, wonach Funktions- und die partielle Automatisierung der Produktionsorganisation
weise und materialgerechte Konstruktion eines Produktes in in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts – eröffnete
seiner Form anschaulich und nachvollziehbar zum Ausdruck neue Möglichkeiten der Massenproduktion und hatte eine bis
kommen sollen. Die äussere Form durfte jetzt wieder zufällig dato ungeahnte Aktivierung des Produktdesigns zur Folge.
sein und durch gestalterische Subjektivität bestimmt wer- — Und ebenso revolutionierte in den beiden letzten Jahr-
den. Der neue Leitsatz hiess nun: «form follows emotion».2 zehnten des 20. Jahrhunderts, in der bisher letzten Um-
Die postmoderne gestalterische Intention und die Auswir- bruchphase, die Mikroprozessualisierung (abgesehen von der
kungen der digitalen Revolution waren also nicht nur zwei weltweiten Vernetzung und Echtzeitkommunikation) verschie-
parallel verlaufende, sondern auch zwei kongruente Pro- denste Produktions- und Arbeitsprozesse. Davon waren mit
zesse. Der erste widerspiegelte den zweiten. den computergestützten Produktionsmöglichkeiten wiederum
Und es gab noch eine historische Parallele: Die Digitalisierung das Industrie- und das Grafikdesign entscheidend betroffen.
verunsicherte die ZeitgenossInnen im ausgehenden 20. Jahr- —
hundert und führte zu einer technologischen «Trivialisierung» 1 Wolfgang Welsch, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.),
Das Jahrhundert des Design, S. 25.
des Designs. Beides begünstigte im Sinn einer Reaktion die 2 Peter Wippermann, Emotional Design, Titel des Referats anlässlich der DGTF-Tagung
Annäherung von Design und Kunst im kunstgewerblich orien- «Wie viel Theorie verträgt/braucht die Profession?», Hamburg, 30., 31.1. 2004.
193

TEIL II
DESIGN IM KONTEXT:
DEBATTE

Einleitung

Angesichts des Komplexitätsgrads, den die globale menschliche Gesell-


schaft erreicht hat, sind Disziplinen wie das Design, die einen Beitrag
zu Orientierung, Klärung und vernünftiger Gestaltung leisten können,
gefordert. Das Design steht seit einigen Jahren in einem Prozess der
Standortbestimmung und Neuorientierung. Vor allem an Hochschu-
len sind Bemühungen feststellbar, das Design in der Bildungsland-
schaft und in der Gesellschaft zu definieren und zu positionieren.
Der Verfasser ist überzeugt, dass dieser zukunftsgerichtete Prozess nur
auf der Basis einer kritischen Auseinandersetzung mit der Designge-
schichte möglich ist, denn die Debatten sind immer sehr stark durch die
epistemologischen Traditionen geprägt, in denen das Design steht.
Der zweite Teil dieses Buches versteht sich als Beitrag zur laufenden
Debatte. In dieser Debatte erscheint es notwendig, angesichts des
inflationären Umgangs mit dem Designbegriff wichtige Begrifflichkei-
ten zu bestimmen. Dazu gehört auch, das Verhältnis des Designs zur
Kunst zu definieren. Ohne eine historisch grundierte Klärung kommt
man auch hier nicht weiter!
Sodann müssen Schwachstellen des Designs zur Sprache kommen. Zu
diesen gehört der mangelnde Genderdiskurs im Design sowie die
sexistische Seite der Designprofession – der Eurozentrismus des De-
signs. Es ist aber vor allem auch der Theoriemangel der Designpro-
fession, der sich in der fatalen Nichtheoretisierung des wirtschaftlichen,
gesellschaftlichen und politischen Kontextes äussert.
Schliesslich geht es um die Diskussion, was denn nun das Design als
junge Wissenschaft qualifiziert und welche Standards die Design-
forschung braucht. Das sind unabdingbare Elemente für die Positio-
nierung als gesellschaftsrelevante Orientierungsdisziplin.
195

17. DESIGN – BEGRIFFE

Die Geschichte des Designbegriffs

Das Wort Design erfährt heute eine modisch-inflationäre Verwendung.


Es ist zu einem Passepartout mit einem scheinbar beliebig erweiter-
baren Bedeutungsvokabular geworden. Das trifft zumindest teilweise
auch auf den fachsprachlichen Kontext zu. Der Beruf der Designerin
und des Designers ist nicht geschützt. Jede und jeder, die und der etwas
entwirft, kann sich Designerin oder Designer nennen.
Dabei erfreut sich der Begriff einer langen Geschichte: Das Wort «De-
sign» kommt sprachgeschichtlich aus dem italienischen «disegno».
In der Renaissance meinte der Begriff «disegno interno» das Konzept
eines auszuführenden Kunstwerks, den Entwurf, die Zeichnung und
ganz allgemein die einer Arbeit zugrunde liegende Idee. «Disegno
esterno» bedeutet dagegen das ausgeführte Werk. Im Oxford English
Dictionary aus dem Jahr 1588 wird zum ersten Mal «Design» er-
wähnt und als ein von einem Menschen erdachter Plan oder ein Sche-
ma von etwas beschrieben, das realisiert werden soll, ferner als ein
erster zeichnerischer Entwurf für ein Kunstwerk (oder) ein Objekt der
angewandten Kunst, der für die Ausführung eines Werkes verbind-
lich sein soll.1 Schon hier fällt die Zweiteilung des Begriffs in Prozess
und Ergebnis auf.
Im 19. Jahrhundert, mit dem Beginn der Gestaltung von Industriepro-
dukten, entzündeten sich im deutschsprachigen Raum immer wieder
Diskussionen um die Begrifflichkeit dieses neuen Phänomens, die bis
in die jüngste Vergangenheit andauerten. Meistens ging es dabei um
die Abgrenzung gegenüber der Kunst einerseits und dem Handwerk
oder Kunsthandwerk anderseits. Vorgeschlagen wurden Begriffe wie

1 Bernhard Bürdek, Design, S. 16.
196

17. Design – Begriffe

«technische Künste» (Gottfried Semper) oder «industrielle Künste».


Nach 1865 kamen in der Fachliteratur die Begriffe«Kunstgewerbe»
«Kunsthandwerk» und «Kunstindustrie» auf. Mit «Werkkunst», «an-
gewandter Kunst» und «dekorativer Kunst» versuchte das fortschrittli-
che Kunstgewerbe seine Arbeiten zu positionieren.
Im 20. Jahrhundert drang der Begriff «Design» in Deutschland erst
nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Schweiz sogar erst in den sechziger
Jahren aus dem Angloamerikanischen in den Sprachgebrauch ein.
Lange zuvor war er im deutschsprachigen Raum und vor allem in
Werkbundkreisen als Styling, als kosmetische marketingbasierte Mass-
nahme verpönt. Man behalf sich mit «industrieller Formgebung»
oder mit «Industrie-Entwurf» oder «Industrie-Formgestaltung» oder
schlicht mit «Gestaltung». In den siebziger Jahren setzte sich «De-
sign» auch im deutschsprachigen Raum endgültig durch. Es waren die
international beachteten Designergruppen wie Alchimia und Mem-
phis, die den Begriff als gebräuchliches Wort für Produktgestaltung be-
kannt machten. Im französischen Sprachraum hiessen und heissen
die Disziplinen der Gestaltung von Alltagsgegenständen «arts décora-
tifs» und der Beruf des Gestalters «dessinateur». Aber auch hier setzte
sich allmählich das englische Wort «Design» durch.
Mit der rasanten Zunahme der visuellen Kommunikation wurde der
Begriff in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stillschwei-
gend auch auf Entwurf und Fertigung grafischer Produkte ausgeweitet,
also auf die frühere Gebrauchs- oder Reklamegrafik (vgl. den Ab-
schnitt «Grafikdesign»).
Heute ist man in Fachkreisen über den inflationären Gebrauch des Be-
griffs unglücklich. Um vor allem von der herrschenden Verengung
auf die reine Objektbezeichnung wegzukommen, schlägt zum Beispiel
Gui Bonsiepe für den deutschen Sprachgebrauch «Entwerfen» und
«EntwerferIn» vor. Für das Französische brachte Alain Findeli die Be-
griffe «projet» und «projecteur» in die Diskussion.2

Design-Definitionen

Eine einheitliche und präzise Definition ist heute nicht möglich, was
mit folgenden Umständen zusammenhängt: 1. Das Wort Design hat
wie gezeigt eine grosse Entwicklungsgeschichte; seine Bedeutung hat
sich von der Renaissance bis in die Gegenwart verändert. 2. Der An-
wendungsbereich des Designs wurde seit den Anfängen laufend erwei-
tert. Waren es früher nur die Formen greifbarer Dinge, so sind es heute
Computerprogramme, Abläufe, Organisationsformen und Dienst-
197

leistungen, Erscheinungsformen von Firmen (Corporate Design) oder


Personen, die es zu gestalten gilt. 3. Design bezeichnet verschiedene
Sachverhalte: Es kann auf einen Vorgang verweisen (den Akt oder die
Tätigkeit des Entwerfens), auf das Ergebnis dieses Vorgangs (ein
Design, eine Skizze, ein Plan oder Modell) oder auf Produkte, die mit
Hilfe eines Designs hergestellt wurden (Designobjekte). Ferner kön-
nen Abläufe mit Hilfe eines Designs sinnvoll kenntlich gemacht werden
(Signaletik usw.), oder es kann das Aussehen oder den Gesamtentwurf
eines Produkts bezeichnen (das Design eines Kleides usw.).

Design ist Orientierung: ein Definitionsversuch

1. «Alle Menschen sind DesignerInnen. Alles, was wir tun, beruht


zumeist auf Design, denn es bildet die Grundlage menschlichen Schaf-
fens. Die Planung und Ausrichtung jeder Tätigkeit auf ein gewünsch-
tes, vorhersehbares Ziel stiftet den Designvorgang.»3 Design ist (wie die
Sprache) «ein Grundmodus des menschlichen Handelns».4
2. Design formt Objekte.
Design übersetzt die Funktionen pragmatischer, semantischer, affekti-
ver Art eines Gebrauchsgegenstands in einer kongenialen Inter-
pretation so in Zeichen, dass diese von den BenutzerInnen verstanden
werden. Ziel des Designs ist es, einen Gegenstand «sichtbar» und «les-
bar» zu machen, so dass Kommunikation möglich wird. Design ist
Transformation. Design verhilft Gegenständen und Bildern zu nach-
haltiger Wirkung auf die RezipientInnen. Design hat Deutungsmacht.
3. Design formt Botschaften.
Design schafft visuelle Übereinkunft im Handlungsprozess zwi-
schen individuellen und kollektiven menschlichen AkteurInnen, so
dass Kommunikation möglich wird. Design ist Orientierung.5

Fazit:

Design ist die planvoll-kreative Visualisierung der Handlungsprozesse


und Botschaften von verschiedenen gesellschaftlichen AkteurInnen
und die planvoll-kreative Visualisierung der verschiedenen Funktionen
von Gebrauchsgegenständen und ihre Ausrichtung auf die Bedürfnisse
der BenutzerInnen oder auf die Wirkung bei den RezipientInnen.

2 Gui Bonsiepe und Alain Findeli am ersten Design-Forschungssymposium Swiss Design
Network (SDN) vom 13.5.04 in Basel, Zürich 2005 (www.swissdesign-network.org).
3 V. Papanek, zitiert aus: John Walker, Designgeschichte, S. 44.
4 Cordula Meier, Designtheorie. Beiträge zu einer Disziplin, Frankfurt a.M., 2003, S. 12.
5 Ebenda.
198

17. Design – Begriffe

Funktionen des Designs

Prinzipiell kann jeder Gegenstand aus vielfältigen Gründen für einen


Menschen bedeutungsvoll sein. Das Design industrieller Gebrauchs-
gegenstände kann deshalb seit jeher verschiedene Funktionen erfüllen.
Es bedient nicht nur praktisch-technische, sondern ein ganzes Bündel
von ästhetischen und symbolischen Funktionen. «Neue Produkte
beispielsweise sollen zu vertrauten passen und sich dem Lebensstil der
Benutzer einfügen. Mit Hilfe der Dinge wird Ordnung geschaffen,
sie verbessern den Gebrauchsnutzen und ermöglichen die Identifikati-
on mit sozialen Milieus und gesellschaftlichen Idealen.»6

Praktisch-technische Funktionen

Sie bezeichnen Handhabbarkeit, Haltbarkeit, Zuverlässigkeit, Sicher-


heit, technische Qualität, Ergonomie und den ökologischen Wert.
Im allgemeinen Sprachgebrauch sind mit «funktional» die praktisch-
technischen Funktionen gemeint.7 Diese sind rational und relativ
präzise benenn- und bewertbar.

Ästhetische Funktionen

Solche Funktionen sind Form, Farbe, Material und die Oberfläche, wel-
che die Gestalt eines Gebrauchsgegenstands ausmachen. Sie sind die
«Zeichen», welche einen Gebrauchsgegenstand «lesbar» machen, und
geben visuelle Hinweise auf den Gebrauch. Gefällt der Benutzerin oder
dem Benutzer eines dieser Zeichen nicht, so hat ein noch so prakti-
scher Gebrauchsgegenstand kaum eine Chance. Die ästhetischen Funk-
tionen sind emotional und subjektiv, also vom Geschmack der Benut-
zerInnen abhängig. Dieser wiederum ist durch verschiedene Faktoren
bestimmt: durch die ästhetischen Vorlieben, die soziale Schicht und
die Kulturalisation, die Nationalität, das Geschlecht, das Alter und die
Gewöhnung (vgl. Kapitel 20).8 Ästhetische Funktionen bieten situativ
einen breiten Interpretationsspielraum. Sie sind deshalb nicht präzise
benenn- und bewertbar.

Symbolische Funktionen

Die verschlüsselten Bedeutungen eines Gebrauchsgegenstands, die von


der Besitzerin oder dem Besitzer an die Mitmenschen weitergegeben
werden, nennt man symbolische Funktionen. «Durch die Wahl seines
199

Besitzes oder auch dadurch, welche Dinge er nicht besitzt, gibt der
Mensch (vor allem in den Konsumgesellschaften, B.S.) anderen
Menschen fortwährend Zeichen, die diese entschlüsseln. Auf der kultu-
rellen Ebene verschreibt er sich bestimmten Traditionen und Ritu-
alen (z. B. Art des Essens und Tischsitten). Auf sozialer Ebene geht es
um Gruppenzugehörigkeit und um Status und auf individueller
Ebene um die Gefühlsbindung an Objekte.»9 Design gibt als Produkt-
sprache über verschiedenste Lebensstile und -auffassungen Auskunft.
Produktgestaltung kann so zum Zeichen eines Lebensgefühls wer-
den, dem sein Besitzer oder seine Besitzerin Ausdruck verleiht und das
von den Mitmenschen entsprechend wahrgenommen und interpre-
tiert wird. Indem Produkte für Lebensstile und deren Abgrenzungen
stehen oder identitätsstiftend sein können, sind sie zu Konsumartikeln
mit kulturellem Mehrwert geworden. Durch den Ausdruck kollekti-
ver Werte ermöglichen sie nicht nur soziale Integration, sondern auch
Differenzierungen und Klassifikationen.
Symbolische Funktionen sind benenn- und analysierbar, wobei je nach
Fall von der genauen Situation des Besitzers oder der Besitzerin eines
Gebrauchsgegenstands ausgegangen werden muss. Die symbolische
Funktion eines Gegenstands für ein Subjekt kann je nach individuel-
lem Hintergrund grundverschieden sein.
Bei einer genauen Bewertung eines Gebrauchsgegenstands muss man
sich vergegenwärtigen, dass der weitaus grössere Funktionsanteil
nicht der praktisch-technische, sondern der ästhetische und symboli-
sche ist.10 In der Geschichte des Designs wurde im 20. Jahrhundert bis
in die achtziger Jahre mit der «Funktion» eines Gebrauchsgegenstands
fast ausschliesslich Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit, Sicherheit
und technisches Funktionieren gemeint. In den sechziger und siebziger
Jahren wurde dieser einseitige «Funktionalismus», der sich um die
symbolische Funktion kaum Gedanken machte, radikal in Frage
gestellt (vgl. Kapitel 12).

6 Marion Godau, Produktdesign, Basel, 2003, S. 20.
7 Ebenda, S. 22 und 29.
8 Ebenda, S. 25.
9 Ebenda, S. 26f.
10 Ebenda, S. 29.
200

17. Design – Begriffe

Einzelne Begriffe

Autorendesign
Nachdem die Ära des funktionalistischen Designs in den
achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts vorläufig beendet worden war,
ging der Trend zum so genannten Autorendesign. Es sei daran erinnert,
dass zum Beispiel die Ulmer FunktionalistInnen bewusst darauf ver-
zichteten, ihre Arbeiten zu signieren, um sich so von den Gepflogenhei-
ten des Kunstbetriebs abzugrenzen. Nun, da im postmodernen «Neu-
en Design» Design und Kunst sich annäherten, trat die künstlerische
Gestaltungsauffassung wieder in den Vordergrund. Für sie machten
«Individualität, Subjektivität, eine prägnante, wieder erkennbare gestal-
terische Handschrift und bekannte Namen das Salz der Suppe aus.»11
Dieser Trend widerspiegelte das gesellschaftliche Phänomen des mas-
senkulturellen «Zwangs» zum Individualismus. Der Autorenkult
im Design ist komplementär zur gesellschaftlichen Individualisierung
– ein Trend, der durch die digitale Revolution in den Achtzigern und
Neunzigern verstärkt wurde. Die digitale Revolution führte zu einer
technologischen Trivialisierung des Designs, was zur Folge hatte, dass
viele DesignerInnen künstlerische Exklusivität anstrebten. Nun liessen
sich immer mehr Designer als Künstler und medienpräsente Stars
feiern. Das Kunst-Design erlaubte es vielen Designern – es waren fast
ausschliesslich Männer – , sich als Künstler zu gebärden.
In der Marketing-Sprache bedeutet Autorendesign, dass der Entwerfer
oder die Entwerferin bei der Vermarktung eines Produkts «brandbil-
dend» ist: Sie oder er spielen mit anderen Worten bei der Bildung
eines Markennamens (engl. «brand») eine entscheidende Rolle. Die
signierte Entwurfsleistung fungiert als Promotionsträger. Dabei
sind heute für das so genannte Namedropping (die Implementierung
eines Brands auf dem Markt) Trend-Accessoire-Firmen wie Alessi in
Italien, Authentics in Deutschland oder Wireworks in Grossbritannien
von grosser Bedeutung. In der Schweiz fehlt die Grundlage für eine
Namedroppingkultur im grossen Stil (Gegenteil von Autorendesign:
anonymes Design).

Briefing
Der Hersteller schickt Informationen an die Designerin oder
den Designer, die alle wichtigen Vorgaben enthalten, zum Beispiel
Produktbeschreibung und Funktion, Material, Farbe oder Zeitplan.
201

Consultant Designer
In Italien wurde in den siebziger Jahren des
20. Jahrhunderts ein neuer Beruf geschaffen: eine selbständig arbeiten-
de Person (DesignerIn), die eine Firma oder eine Institution in De-
signfragen berät.

Corporate Design
Das Corporate Design hat die Aufgabe, dem Kunden
– meist Firmen und immer mehr auch öffentlichen Körperschaften –
zu einer «Corporate Identity» zu verhelfen. Unter «Corporate Identity»
– einem Begriff aus der Marketingsprache, für den bis heute eine
schlüssige Theorie fehlt – versteht man die «Persönlichkeit», Philoso-
phie oder Identität eines Unternehmens. Das Corporate Design ge-
staltet das einheitliche Erscheinungsbild einer Firma nach innen und
aussen zur klaren Identifikation des Unternehmens und zur Abgren-
zung gegen die Konkurrenz. Es umfasst die Gestaltung aller Produkte,
Gebäude und Kommunikationsmittel (z.B. die Firmenzeitschrift,
Werbung, Briefpapier, Software usw.). Ein verwandter Begriff ist der
der Corporate Culture (CC), welcher die Bestrebungen eines Unter-
nehmens bezeichnet, sich ein anspruchsvolles kulturelles Image
zu geben, etwa durch Sponsoring oder besondere kulturelle und sozia-
le Leistungen (vgl. Kapitel 18).

Design in der Dritten Welt


Gui Bonsiepe schlug aus seinen Erfahrungen
in Lateinamerika 1986 vor, von zwei Arten des Designs zu sprechen,
die kaum etwas miteinander zu tun haben: vom «Design für die Metro-
polen» und vom «Design für die Peripherie».12
Im «Design für die Peripherie» sollten nach Bonsiepe folgende Ziele
erreicht werden (vgl. Kapitel 21):
— Steigerung der Gebrauchsqualität von Industrieprodukten;
— Verbesserung der visuellen oder ästhetischen Qualität von Waren;
— Förderung der Industrialisierung in Ländern der Dritten Welt;
— Steigerung der Produktivität;
— Steigerung des Verkaufsvolumens, also des Umsatzes einer Firma;
— Verbesserung der Umweltqualität, soweit diese durch Gegen-
stände bestimmt wird.

11 Dagmar Steffen, zitiert aus: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.),
Das Jahrhundert des Design, S. 54.
12 Bernhard Bürdek, Design, S. 17.
202

17. Design – Begriffe

Designmanagement
Dies ist der Bereich der Produktplanung, die sich
auf organisatorische, betriebswirtschaftliche, juristische und markt-
orientierte Fragen konzentriert. Bei komplexen, interdisziplinären De-
signprojekten bedarf es eines Projektmanagements.

Display-Design
(vgl. den Abschnitt «Verpackungsdesign»)

documenta
Sie ist seit 1955 die wichtigste Ausstellung internationaler
zeitgenössischer Kunst in Kassel (Deutschland). Auf der documenta 8
(1987) wurden zum ersten Mal Designobjekte ausgestellt.

Ergonomie
Seit sich der Kapitalismus im 19. Jahrhundert als gesellschaft-
liches System durchgesetzt hat, gibt es die Kritik an der kapitalis-
tischen Produktionsweise in Form der gewerkschaftlichen und politi-
schen ArbeiterInnenbewegung. Der Ruf nach «humaneren und
körpergerechteren» Arbeitsprozessen und Arbeitsplätzen gehört dazu.
Er wird nicht nur von ArbeiterInnenseite, sondern zum Teil auch
von UnternehmerInnenseite laut. Auf der UnternehmerInnenseite steht
dabei die Sorge um die Leistungsfähigkeit der ArbeiterInnen im
Vordergrund, also die Steigerung der Produktivität des investierten
Kapitals.
Mit der Gestaltung der Arbeitsprozesse hat auch das Industriedesign
direkt zu tun. Ergonomie, die heute ein wesentliches Kriterium des
Industriedesigns ist, beschäftigt sich als Teilbereich der Arbeitswissen-
schaften mit der Anpassung der Arbeit an den Menschen. Sie bedient
sich der Erkenntnisse aus Arbeitsmedizin und Arbeitspsychologie.

Environmental Design
Der Begriff bezeichnet die Gestaltung der alltäg-
lichen Umwelt (Wohn- und Arbeitsbereich), des Stadtbilds, der Ver-
kehrswege und Landschaft (auch Umwelt-Design).

Event Design
Die Gestaltung von grossen Ereignissen, «Events», von
nationalen Veranstaltungen, nationalen und internationale Schauen
usw. nennt man Event Design.
203

Funktionalismus
Dies ist die Stilrichtung in Architektur und Design,
welche die praktisch-technische Funktion zum alleinigen Kriterium
der Gestaltung erhebt («form follows function», L. Sullivan). Dinge
sollten so gestaltet sein, dass sie den Anforderungen von Praktikabilität,
Wirtschaftlichkeit und Sicherheit genügen. Die funktionale Produkt-
gestaltung (vor allem im Bauhaus und an der Ulmer Hochschule
für Gestaltung) war gebrauchswertorientiert. Sie war eine Methode der
Optimierung von Gebrauchswerten. Der Gebrauchswert eines be-
stimmten Gegenstandes bestimmt sich aus funktionalistischer Sicht
einzig aus dessen Nützlichkeit für den Gebraucher oder die Gebrau-
cherin, und die Nützlichkeit ist nur durch die Eigenschaften des
Gegenstandes bedingt. Andere Werte als die so verstandene Nützlich-
keit gibt es für den historischen Funktionalismus nicht!
Der Funktionalismus wurde von seinen Urhebern zur Überwindung
der (klassenkonnotierten) Stile ins Leben gerufen. Trotzdem hatte er
seine eigene Symbolsprache, auf die seine EmpfängerInnen reagierten.
Der Funktionalismus wurde ab den siebziger Jahren des 20. Jahrhun-
derts durch die Postmoderne radikal in Frage gestellt. In den Neunzi-
gern fand die funktionalistische Tradition jedoch eine Fortsetzung.

Grafikdesign
Es umfasst traditionell den Entwurf und die Ausführung
zweidimensionaler grafischer Oberflächen (Plakat, Buch, Werbeanzei-
gen usw.). Grafikdesign hat eine ältere Tradition als das Industriede-
sign, das erst im Industrialisierungsprozess entstanden ist (vgl. den Ab-
schnitt «Grafikdesign und Produktdesign»). Seit der Medienrevolution
Ende des 20. Jahrhunderts und der Gestaltung mit elektronischen Me-
dien ist der Begriff in den Hintergrund getreten. An seiner Stelle
werden die allgemeineren Begriffe «visuelle Kommunikation» oder
«Kommunikationsdesign» verwendet.

Grafikdesign und Produktdesign


Die Trennung zwischen Grafik- und
Produktdesign ist historisch seit dem 19. Jahrhundert gewachsen. Heu-
te ist sie in Lehre und Praxis fraglich. «Eine Abgrenzung zwischen
Produktdesign und visueller Kommunikation (vormals Grafikdesign),
also die Zäsur zwischen der zweiten und der dritten Dimension, ist
heute inhaltlich nicht mehr haltbar. Um sich an gegenwärtigen und zu-
künftigen Entwicklungen wie der Gestaltung von Software beteiligen
zu können, darf es diese Abgrenzung nicht mehr geben.
204

17. Design – Begriffe

Viele Hochschulen behindern sich mit ihrer traditionellen Gliederung


in Fachgebiete (…) Sie erschweren so – nein, sie verhindern da-
mit ein Studium, das zur Berufstätigkeit führt.» (Harald Hullmann)13

Ideologie
In seiner kritischen Bedeutung denunziert dieser Begriff ein
Bewusstsein, das seine gesellschaftliche Bedingtheit und seine Ge-
schichtlichkeit verleugnet. Indem sich das Bewusstsein gegenüber den
real vorhandenen Interessen und Wirkfaktoren verselbständigt, kann
es sich einbilden, unbedingt und absolut zu sein. Tatsächlich nimmt es
aber die Interessen, von denen es geleitet wird, nur nicht zur Kenntnis.
So ist es die Aufgabe der Ideologiekritik, die unbewussten und unter
dem Schein der Objektivität verborgenen Interessen aufzudecken und
darzustellen.
Die ideologische Komponente des Designs besteht in der Verleugnung
der wirtschaftlichen Interessen und in der Verbrämung derselben
mit erhabenen künstlerisch-ästhetischen oder benutzerorientierten
Absichten. Die Frage nach dem Interesse hinter der realen Produktion
bleibt ausgeklammert.

Industriedesign – Industrial Design


Industriedesign, das auch Produkt-
design genannt wird, ist der komplexe, hierarchisch gegliederte Prozess
der innerbetrieblichen, organisatorisch-gestalterischen Produktent-
wicklung von der Planung über den Entwurf bis zur Herstellungsreife.14
Es umfasst nicht nur die schöne Welt der Konsumgüter, sondern
ebenso die Instrumente der medizinischen Technik sowie die Mord-
waffen (Gewehre, Panzer, Raketen usw.).

Interface- und Interaction-Design


Das Ziel ist, eine für den Benutzer
oder die Benutzerin möglichst einfache, sich selbst erklärende Gestal-
tung von Geräten der Unterhaltungselektronik, der Informations-
technologie sowie der Software-Produkte zu erreichen.

Interior Design
Der Begriff bezeichnet die Gestaltung von Innenräumen
im Sinne des deutschen Begriffs Innenarchitektur.
205

Kommunikationsdesign
Der Begriff bezeichnet die visuelle Gestaltung
sämtlicher Kommunikationsprozesse. In den neunziger Jahren des
20. Jahrhunderts erfuhr das Kommunikationsdesign durch die Entwick-
lung der Informations- und Computertechnologie eine steigende Be-
deutung, die im 21. Jahrhunderts höchstwahrscheinlich weiter wachsen
wird: Die Gestaltung der Software, die Schnittstelle Maschine-Mensch
und nicht mehr so sehr die Hardware wird im Mittelpunkt des De-
signinteresses stehen (vgl. die Abschnitte «Visuelle Kommunikation»
und «Grafikdesign»).

Kontext
Einbezug des Kontexts heisst, bei Designobjekten das Umfeld
zu analysieren, in dem sie entstanden sind (1) und für das sie be-
stimmt sind (2).
1. Für den Entstehungskontext gibt die Sozialgeschichte der Desig-
nerInnen und die Geschichte des Auftrags Aufschluss.
2. Beim Bestimmungskontext geht es vor allem um die Funktionen
der Designobjekte (die praktisch-technischen, ästhetischen und sym-
bolischen Funktionen). Gefragt wird, ob die Objekte ihre Funktionen
zum Beispiel im alltäglichen Kontext (Gebrauchsobjekte) oder im
religiös-rituellen Kontext (religiöse und Ritualgegenstände) oder im
rein ästhetischen Kontext (Museumsausstellungsobjekte) erfüllen.
Dabei ist von der Erkenntnis auszugehen, dass Designobjekte auch auf
formaler Ebene die jeweiligen gesellschaftlichen Lebens- und Pro-
duktionsformen widerspiegeln. Dies bedeutet mit anderen Worten,
dass der Entwurf von Designobjekten sowohl gesellschaftliche Praxis
als auch Reflexion dieser gesellschaftlichen Praxis ist. Denn gesellschaft-
liche Praxis ist von zwei grundlegenden, nämlich den materiellen (a)
und den ideologischen (b) Verhältnissen bestimmt.
a Materielle Verhältnisse sind vor allem die Produktionsverhältnis-
se. Design ist eine Form von materieller Arbeit. Es verwendet Techni-
ken und Technologien (entsprechend dem Produktionsstandard der je-
weiligen Gesellschaft), und es ist an eine Arbeitsorganisation gebunden.
b Ideologische Verhältnisse meinen die Ideen und das gesellschaft-
liche Bewusstsein, welche die Produktionsverhältnisse reflektieren.
Design ist eine Modifikation des gesellschaftlichen Bewusstseins. Es re-
produziert und interpretiert in visueller Form die soziale Wirklichkeit,

13 Harald Hullmann, zitiert aus: Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 185.
14 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 27.
206

17. Design – Begriffe

also die Beziehungen, welche die Menschen zueinander und zur Natur
eingehen. Ästhetische Formen haben mit andern Worten einen welt-
anschaulichen Gehalt, sie drücken direkt oder indirekt wirtschaftliche
Interessen, Klasseninteressen und Bewertungen der gesellschaftlichen
Wirklichkeit aus.

Kontextualisierung des Designs


Kontextualisierung bedeutet, beim Ent-
wurf neben den praktisch-technischen, ästhetischen und symbolischen
Funktionen von Anfang an auch den gesellschaftlichen und politischen
Kontext zu berücksichtigen. Design nimmt so seine gesellschaftliche
und politische Funktion und Verantwortung wahr.

Kreativität
In der Fachsprache der DesignerInnen ist dies eine instru-
mentelle, jederzeit verfügbare Fähigkeit zur Entwicklung von Einfällen
für neue Produktvarianten im gegebenen Produktionsrahmen, die den
Produktions- und Konsummechanismus in Gang halten.15

Kunstgewerbe
Kunstgewerbe ist ein Sammelbegriff für vorwiegend
handwerklich hergestellte Gebrauchs- und Ziergegenstände mit ausge-
prägt künstlerischer Formgebung: Glaskunst, Goldschmiedekunst,
Keramik, Mobiliar, Schnitzerei, Textilkunst usw. Zweck- und Kunstcha-
rakter sind eng miteinander verbunden. Meist sind entwerfende und
ausführende Person identisch. Die Übergänge zu verschiedenen Diszi-
plinen des Designs sind oft fliessend (vor allem im Bereich Mobiliar
oder Textilkunst).
Doch liegt ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal darin, dass sich
das Design (besonders das Industriedesign) mit dem Entwurf und
der Planung von standardisierten Massenprodukten beschäftigt, wobei
das für das postmoderne Design nur bedingt zutrifft (vgl. Kapitel 13).

Logo
Der Begriff heisst vollständig Logogramm und bezeichnet ein
Bildzeichen, das als Erkennungssymbol einer Firma oder Institution
fungiert. Es kann rein grafisch (die Muschel der Firma Shell) oder
als Schriftzug (Firma Olivetti oder Firma Braun) oder als Kombination
von beiden (Lufthansa) gestaltet sein.
207

Ökologisches Design oder Ökodesign


Der ständige Wandel von Trends
und Moden und das beschleunigte Kommen und Gehen von Pro-
dukten hat zwar positive Folgen für das wirtschaftliche Wachstum und
für die Nachfrage nach Design, ist aber gleichzeitig bedenklich für die
Ökologie. DesignerInnen steuern durch ihre Gestaltung zur Zerstö-
rung der ökologischen Lebensgrundlagen bei. Das ökologische Design
versucht, dieser Tatsache entgegenzusteuern.
Ökologische Überlegungen im Design lassen sich bis in die frühen
siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen, sie standen
allerdings lange Jahre unter heftiger Kritik. Seit den achtziger Jahren
des 20. Jahrhunderts erfreuen sich die Forderungen des Ökodesigns
vor dem Hintergrund einer rasch fortschreitenden, globalen Umwelt-
verschmutzung allgemeiner Akzeptanz.
Es konzentriert sich vornehmlich auf die Umweltverträglichkeit seiner
Produkte und begnügt sich nicht mehr mit althergebrachter Alterna-
tiv-Ästhetik («Jute statt Plastik»). Die umweltgerechten Intentionen
des Ökodesigns richten sich auf einen energiesparenden, möglichst
schadstoffarmen Herstellungsprozess, wobei umweltfreundliche Mate-
rialien Verwendung finden. Es entwirft im Hightech-Bereich kom-
plexe Produkte, die langlebig und recycelbar und auf einem anspruchs-
vollen und individuellen ästhetischen Niveau sind. Auch ein möglichst
rückstandsfreies Recyclingverfahren der alten, ausgedienten Pro-
dukte gehört zu den grundsätzlichen Forderungen der ÖkodesignerIn-
nen. Die Frage bleibt, ob die Forderungen des Ökodesigns heute ent-
sprechend umgesetzt werden.16

Ornament
Die Verzierung von Bauwerken und Gegenständen des tägli-
chen Gebrauchs ist einer der handwerklichen Vorläufer des Designs
(das im engeren Sinn eine Erscheinung der Industrialisierung ist). Das
Ornament gibt es seit dem Jungpaläolithikum, und es gehört zu den
ersten Formen ästhetischen Gestaltens und der visuellen Kommunika-
tion. Kennzeichnend ist die Abstraktheit der Ornamente. Die Vielfalt
der Motive – meist aus der Natur – wird auf abstrakte Schemata redu-
ziert (Linie, Kreis, Spirale, Mäander) oder zu prägnanten Formen
stilisiert.
Das Ornament hat eine dienende Rolle. Es ordnet sich der Struktur

15 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 36.
16 Thomas Heider et al., Lexikon Internationales Design. Designer, Produkte,
Firmen, Hamburg, 1994, S. 244.
208

17. Design – Begriffe

oder der Funktion seines Trägers unter (eingemeisselt, aufgelegt, aufge-


malt, aufgedruckt, eingestickt, eingeschnitzt, eingelegt). Es akzen-
tuiert auch die ästhetische Wirkung seines Trägers, indem es Flächen
gliedert und belebt oder praktische Zwecke verdeutlicht. Im 19. Jahr-
hundert wurde das Ornament zunehmend zum Zeichen für einen fal-
schen gesellschaftlichen Anspruch und Geschmacklosigkeit.
Im 20. Jahrhundert fand eine rege Auseinandersetzung um den Be-
griff statt. Die funktionalistische Moderne verdrängte das Ornament
(«Ornament ist Verbrechen», A. Loos). Es wurde bemängelt, das mo-
derne Design habe nur auf das Ornament als «aufgepapptes» Schmuck-
motiv verzichtet, die Gesamtform als Ganzes könne aber durchaus ein
Ornament sein. So stelle zum Beispiel der Weissenhof-Stuhl von
Mies van der Rohe von 1927 als Ganzes eine formale Arabeske, eben
ein Ornament. dar.17
Th. W. Adorno und andere wiesen darauf hin, dass mit dem Verzicht
auf Ornamente ein Verlust von Menschlichkeit einhergehe.18

Produktdesign
(vgl. den Abschnitt «Industriedesign»)

Produktsprache
Der englische Begriff lautet «product semantics». «Der
spezielle Erkenntnisgegenstand der Designtheorie und somit auch
der praktischen Tätigkeit der DesignerInnen – ist die Produktsprache.
Darunter werden diejenigen Mensch/Produkt-Beziehungen verstan-
den, die über die Sinne vermittelt werden (…) Diese Definition hat
sich in den vergangenen Jahren als eine sinnvolle Basis erwiesen, um
Design zu praktizieren und darüber zu sprechen.» (B. Bürdek)19

Prototyp
Die erste Ausführung eines Produkts, die zur praktischen Er-
probung und Weiterentwicklung angefertigt wird, wird «Prototyp»
genannt. Im «Neuen Design» – Stichwort: Abkoppelung von der Seri-
enproduktion – wurde der Begriff auch für die Ergebnisse der Einzel-
anfertigung (Unikate) verwendet.

Recycling-Design
Design unter Wiederverwendung gebrauchter Materialien wie Kunst-
stoff, Blech, Papier, Leder usw. Es spielt in der Dritten Welt eine Rolle
(vgl. Kapitel 21).
209

Re-Design
Der Begriff bezeichnet die Überarbeitung oder Neugestal-
tung alter Designprodukte. Ein frühes, aber prominentes Beispiel:
In den späten zwanziger und frühen dreissiger Jahren des 20. Jahrhun-
derts veränderte Raymond Loewy in den USA mit der neuen Methode
des Styling das Design von Autos, um so den stockenden Absatz wie-
der anzukurbeln. Auch im Studio Alchimia erreichte das Re-Design Be-
deutung (vgl. Kapitel 13).

Reeditionen
Reeditionen sind originalgetreue Wiederauflagen von Ge-
genständen vor allem aus den zwanziger und sechziger Jahren.

Retro-Look-Design
Im Gegensatz zu den Reeditionen ist dies eine ak-
tuelle Neuinterpretation von historischen Gestaltungsmerkmalen.
Die Produkte erinnern an ihre Vorgänger, doch gleichzeitig lässt ihre
Produktsprache keinen Zweifel aufkommen, dass sie aus der jeweiligen
Gegenwart stammen. Zeichenhaft wird auf Vergangenes und Gegen-
wärtiges verwiesen. Prominente Beispiele im Automobildesign: «New
Beetle» von Volkswagen (1998) oder «Mini» von BMW (Abb. 221 a, b).

Servicedesign
Dies ist der neuste Bereich im Design. Designagenturen
bieten einen umfassenden Service an, der vor allem im Dienstleis-
tungs- und Freizeitbereich neben den Produkten auch die Gestaltung
von Organisations- und Umgangsformen umfasst.

Stromlinienform
Die tropfenförmige Idealform eines Gegenstands hat
den kleinstmöglichen Windwiderstand (engl.: «streamline»). Sie ist
das Ergebnis der Strömungsforschung im Flugzeug- und Automobil-
bau seit dem Ersten Weltkrieg und wird seit den dreissiger Jahren
zum Styling von diversen Produkten eingesetzt. Die Stromlinienform
ist zum Symbol für Dynamik, Optimismus und Fortschrittsglauben
geworden und wurde in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in
allen Industrienationen verwendet.

17 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 24.
18 Henckmann, Lotter (Hg.), Lexikon der Ästhetik, S. 183f.
19 Bernhard Bürdek, Design, S. 15.
210

17. Design – Begriffe

Styling
Styling nannte man im amerikanischen Design die formale
Überarbeitung und Neugestaltung der Produkte unter rein ästhetischen
und marketingorientierten Aspekten, um ihnen einen höheren Kaufan-
reiz zu bieten (Marketingfaktor). Der Begriff entstand 1929 nach der
Wirtschaftskrise, als die Industrie den Konsum wieder ankurbeln wollte.

Table Top Design


Sammelbezeichnung für Tischschmuck und Tisch-
gerätschaften jeder Art: Vasen, Tischlampen, Aschenbecher, Schalen,
Porzellan usw.

Verpackungsdesign
Geschlossen verpackte Nahrungsmittel, welche die
KonsumentInnen in Form von Dosen, Bechern, Flaschen, Kartons,
Tuben, Beuteln, Schachteln, Gläsern oder eingeschweissten Folien und
Schalen erwerben, gehören heute zu den allgemein gebräuchlichen
und vertrauten Dingen in der menschlichen Umgebung. Packungen
gestalten den sozialen Umgang mit Nahrungsmitteln, beim Einkaufen,
bei der Vorratshaltung und beim Verzehr.20

Visuelle Kommunikation
Der Begriff wurde Mitte der fünfziger Jahre
des 20. Jahrhunderts als Alternativbegriff zu Design proklamiert.
In der Ulmer Hochschule für Gestaltung war die Visuelle Kommuni-
kation ab 1955 neben Bauen, Information und Produktgestaltung einer
der vier Ausbildungsbereiche. Später bürgerte sich der Begriff als
Synonym für Kommunikations-Design und Grafikdesign ein.
In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde er im Zusammen-
hang mit der Erweiterung der bildenden Künste auf die Massen-
medien (Film, TV, Werbung, Comics) als zeitgemässer Oberbegriff für
die gesamte Sphäre der bildenden Kunst vorgeschlagen. Er sollte die
ProduzentInnen- und die RezipientInnenseite des visuellen Kommu-
nikationsprozesses umfassen.21

20 Gisela Hillmann, in: Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 116.
21 Henckmann, Lotter (Hg.), Lexikon der Ästhetik, S. 245.
213

18. DESIGN –
CORPORATE IDENTITY

Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist Corporate Identity,
beziehungsweise Corporate Design, im Design zu einem geläufi-
gen Schlüsselwort geworden. In einer gewissen Häufigkeit war schon
vorher «Identität» ein Thema der abendländischen Kultur des 20. Jahr-
hunderts: als Subjekt-Objekt-Identität in der idealistischen Philoso-
phie; als Ich-Identität in der Psychoanalyse und Individualpsychologie;
als Gruppen-Identität in der Soziologie und Politologie und zuletzt
eben als Unternehmens-Identität in der wirtschaftlichen Praxis.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam – zuerst im angloame-
rikanischen Wirtschaftsraum und dann in Westeuropa – zu den bis-
herigen Unternehmensstrategien, das heisst zum betriebswirtschaftli-
chen, zum konfliktorientierten und zum kommunikationsorientierten
Ansatz, ein neuer, der designorientierte Ansatz hinzu: die Corporate
Identity. Das, was man mit «körperschaftlicher Identität» oder vielleicht
freier als «Unternehmens-Persönlichkeit» übersetzen könnte, bürgerte
sich im deutschen Sprachraum in seiner englischen Version ein.
Hier hat sich das regelmässig überarbeitete und in seiner 11. Auflage
erschienene Buch Corporate Identity. Grundlagen Funktionen Fallbei-
spiele (1980) von Klaus Birkigt, Marinus Stadler und Hans Joachim
Funck als Standardwerk etabliert.1

Das Konzept der Corporate Identity

Auch im 21. Jahrhundert gehört das Konzept der Corporate Identity in


der Unternehmensstrategie, in der Unternehmenskommunikation und
im Design zu den prägenden Rezepten2, sei es unter dem ursprünglichen

1 Klaus Birkigt, Marinus Stadler und Hans Joachim Funck, Corporate Identity. Grundlagen
Funktionen Fallbeispiele, Landsberg/Lech, 2002 (1. Auflage 1980).
2 Vgl. Elio Pellin und Elisabeth Ryter (Hg.), Weiss auf Rot. Das Schweizer Kreuz zwischen
nationaler Identität und Corporate Identity, Zürich, 2004, S. 34.
214

18. Design –
Corporate Identity

Begriff, sei es mit neuen Begriffen wie «integrierte Kommunikation»,


«Corporate Imagery»3 oder «identitätsorientierte Markenführung»4.
Aus dem erwähnten Standardwerk ist folgende Definition zu entneh-
men: «In der wirtschaftlichen Praxis ist Corporate Identity die strate-
gisch geplante und operativ eingesetzte Selbstdarstellung und Verhal-
tensweise eines Unternehmens nach innen und aussen auf Basis einer
festgelegten Unternehmensphilosophie, einer langfristigen Unterneh-
mens-Zielsetzung und eines definierten
(Soll-)Images – mit dem Willen, alle Handlungsinstrumente des Unter-
nehmens in einheitlichem Rahmen nach innen und aussen zur Dar-
stellung zu bringen.»5
Corporate Identity ist entgegen weit verbreiteter Meinung mehr als
Öffentlichkeitsarbeit. Ihr geht es um die Verbesserung der Innen-
und Aussenstrukturen sowie um die Verbindung aller Einzelmassnah-
men zu einer einheitlichen Identität des Unternehmens, entsprechend
der vom Management festgelegten Unternehmensphilosophie. Auf
dieser Grundlage kann ein gutes Image (Unternehmensbild) aufgebaut
werden, mit dem ein Unternehmen auf den überfüllten Angebots-
märkten (Konkurrenz) und bei vergleichbarer technologischer Qua-
lität und zum Teil ähnlichem Design bestehen kann. Als Beispiel sei
hier die Automarke Mercedes genannt, die zeigt, dass mit einem guten
Image sogar Schwächen und Übergangsschwierigkeiten überbrückt
werden können.
Corporate Identity ist also ein Führungsinstrument zur Durchsetzung
der Unternehmensstrategie. Sie interpretiert die Zielsetzung des Un-
ternehmens6, sie ist die Basis für die «Integration der Systemmitglie-
der»7 (sprich der MitarbeiterInnen), und sie steuert generell innen
und aussen die durch das Unternehmen ausgelösten Interaktionen.8
Das CI-Konzept geht davon aus, dass ein Unternehmen so etwas wie
eine Identität besitzen kann, das heisst eine Einheit darstellt, die
wie eine unverwechselbare Persönlichkeit wahrgenommen wird. Bir-
kigt, Stadler und Funck sehen die Corporate Identity «in Parallele zur
Ich-Identität als schlüssigen Zusammenhang von Erscheinung, Wor-
ten und Taten eines Unternehmens mit seinem ‹Wesen› oder, spe-
zifischer ausgedrückt, von Unternehmens-Verhalten, Unternehmens-
Erscheinungsbild und Unternehmens-Kommunikation mit der
hypostasierten Unternehmenspersönlichkeit als dem manifestierten
Selbstverständnis des Unternehmens.»9 Denn nur eine wesenhafte
Person mit ihren spezifischen Charaktereigenschaften könne verständ-
lich und glaubhaft sein, was für den «Marktgang unabdingbar» sei.10
Diese (Unternehmens-) Identität aufzubauen und zu steuern ist die
215

Arbeit der Corporate Identity, sie sichtbar zu machen ist die Aufgabe
des Corporate Designs, sie zu kommunizieren ist die Sache der Corpo-
rate Communication und sich schliesslich danach zu verhalten ist
Corporate Behavior.11 Alles zusammen führt zu einem «Selbstbild des
Unternehmens». Das «Corporate Image» dagegen bezeichnet sein
«Fremdbild». «Image ist die Projektion der Identity im sozialen Feld.»12
Die Umsetzung der Corporate Identity (nicht nur des Corporate De-
signs!) ist Sache des Corporate Identity Managements [CIM]).

Corporate Design

Das Corporate Design ist ein Element, aber nicht das einzige, das die
Corporate Identity konstituiert. Durch das einheitliche Zusammen-
wirken von Markendesign, Grafikdesign und Architekturdesign wird
die Unternehmenspersönlichkeit dargestellt. Corporate Design gestal-
tet das gesamte Erscheinungsbild des Unternehmens beziehungsweise
die visuelle Einheit von Produktionsform, Werbung, Verpackung, Fir-
men-Architektur, Verkaufsstätten, Transportmittel usw. Es ist, wie Uta
Brandes bemerkt, «struktureller Vermittler zwischen Technik, Produk-
tion, Marketing, Distribution und Öffentlichkeit.»13
Auffälligstes Merkmal und Grundstock des Corporate Designs sind die
Markenzeichen. Sie machen nach innen und aussen Identität kenntlich,
indem sie sich einprägen (Brand, das englische Wort für Marke, heisst
auch Brandmal und Brandzeichen; das Tätigkeitswort meint «unaus-
löschlich einprägen»).
Corporate Design geht von der These Anton Stankowskis aus, dass das
Unternehmens-Erscheinungsbild der Bereich ist, in dem sich ein
Unternehmen am deutlichsten wahrnehmbar von andern unterschei-
den kann: «Ein Firmenbild, in dem alle Visuals und Masse aufein-
ander abgestimmt sind, ist nicht nur schneller wieder zu erkennen, es
hat auch einen höheren Behaltewert. Je klarer, eindeutiger und stärker
ein Erscheinungsbild gestaltet ist, desto weniger Worte sind not-
wendig, um der Öffentlichkeit zu zeigen, was ein Unternehmen sein

3 D. Herbst und Ch. Scheier, Megatrend. Corporate Imagery, www.dieter-herbst.de, 29.6.2004.
4 Herbert Meffert et al. Markenmanagement. Wiesbaden, 2002.
5 Birkigt et al. Corporate Identity, S. 1.
6 Ebenda, S. 39.
7 Ebenda, S. 41.
8 Ebenda, S. 42.
9 Ebenda, S. 18.
10 Ebenda, S. 18.
11 Ebenda, S. 18.
12 Ebenda, S. 23.
13 Uta Brandes, Design ist keine Kunst, Regensburg, 1998, S. 65.
216

18. Design –
Corporate Identity

will, was es anbietet.»14 Ein Unternehmen wird nicht mehr allein an


bestimmten Produkten im Markt kenntlich, sondern durch seinen
Namen und sein Image. Es werden mit andern Worten nicht mehr
Turnschuhe verkauft, sondern Dynamik und Lifestyle des Unterneh-
mens Nike. «Das Unternehmen als Gesamtkomplex und Gesamter-
scheinung präsentiert sich, die Produkte gliedern sich ein.»15In einer
Wahrnehmungswelt, die so komplex geworden ist, dass es immer
schwerer wird, sich in ihr zu orientieren und Relevantes von Irrelevan-
tem zu unterscheiden, wird dem menschlichen Grundbedürfnis nach
Orientierung mit visuellen Botschaften entsprochen, mit denen die
KäuferInnen sich identifizieren, herausheben und persönlich auszeich-
nen können.
Historisch gesehen hat es schon vor dem eigentlichen wirtschaftlichen
CI-Konzept Bemühungen um ein Corporate Design gegeben. Eines
der frühesten und dazumal einzigartigen Beispiele war die Allgemeine
Elektricitäts-Gesellschaft (AEG), für die Peter Behrens zwischen 1907
und 1914 ein einheitliches Produkt-, Grafik- und Architekturdesign
entwickelte (vgl. Kapitel 4, Abb. 45 – 47). In den USA ist die Container
Corporation of America (CCA) zu erwähnen, die in den dreissiger
Jahren des 20. Jahrhunderts erste Schritte zu einem Corporate Design
machte. Ebenfalls in den USA wurde in den fünfziger Jahren Paul
Rand mit seinem Corporate Design für die Firma IBM bekannt (vgl.
Abb. 162). In Europa war es in den Jahrzehnten nach dem Zweiten
Weltkrieg das Corporate Design für die deutsche Luftfahrtgesellschaft
Lufthansa durch Otl Aicher (1962) (vgl. Kapitel 11, Abb. 164). In der
Schweiz gaben sich moderne Grossunternehmen aus der Chemie- und
Elektroindustrie die ersten einheitlichen Erscheinungsbilder (vgl. Abb.
167). Die olympischen Spiele von Mexiko (1968) und München (1972)
waren Meilensteine in der Entwicklung von komplexen Designpro-
grammen (vgl. Kapitel 11, Abb. 165, 166).
Das Corporate Design bildete das Fundament, um Design «nicht allein
als Verpackung, sondern als komplexen Vorgang zu begreifen».16 Der
zum Teil hohe Komplexitätsgrad der im Corporate Design zu lösenden
Aufgaben machte aus dem Design allmählich einen multidisziplinären
Gestaltungsprozess. Das Design gelangte so in den Bereich der kon-
zeptuellen Gestaltung, der marktpolitischen Strategien und der unter-
nehmerischen Abläufe. Design wurde zum Design-Management und
immer mehr zur Gestaltung von Prozessen (obwohl es in der Öffent-
lichkeitswahrnehmung immer noch vorwiegend mit Objektgestaltung
identifiziert wird).
217

Corporate Identity und Staatsdesign

In letzter Zeit ist an verschiedenen Orten der Versuch feststellbar, das


CI-Konzept als Strategie der Identitätsentwicklung auf staatliche
Korporationen (Kommunen, Städte17, Staaten und sogar Nationen 18 )
zu übertragen. Die Versuche haben ihre Vorläufer in der traditionsrei-
chen Werbung für touristische Orte und Regionen und im verbreiteten
Standortmarketing von Städten.19
Die Aktualität der Übertragungsversuche des CI-Konzepts auf öffent-
lich-staatliche Institutionen hängt mit der sich verbreitenden Öko-
nomisierung des gesamten öffentlichen Handelns zusammen. Staatli-
che Institutionen werden als Dienstleister verstanden und nach
den Prinzipien des so genannten «New Public Management» organi-
siert. Im englischen Sprachgebrauch hat sich der Begriff «Governmental
Design» eingebürgert. Im deutschsprachigen Raum hat sich der Be-
griff «Staatsdesign» bisher nicht durchgesetzt. Er meint die «Gesamt-
heit aller kommunikativen Äusserungen einer Regierung und ihrer
Verwaltung»20 und unterscheidet sich vom Anliegen des «Nation Bran-
ding». Darunter wird der Aufbau des Erscheinungsbildes der natio-
nalen Identität eines Landes nach den Prinzipien der Markenbildung
verstanden.21
Die Übertragbarkeit des CI-Konzepts ist nicht unbestritten. Elio Pellin
und Elisabeth Ryter weisen in ihrer Untersuchung «Weiss auf Rot.
Das Schweizer Kreuz zwischen nationaler Identität und Corporate
Identity»22 darauf hin, welche Probleme das CI-Konzept für öffent-
lich-staatliche Institutionen stellt: Wenn eine Regierung als Unterneh-
mensleitung verstanden wird, muss sie gemäss Corporate Identity
einen festen Wesenskern formulieren, der dann als Wertereferenz sämt-
liche Äusserungen leiten soll. Das, so Pellin und Ryter, «wird in demo-
kratischen Systemen nicht möglich sein».23 Es würde eine autoritäre,
extrem hierarchische staatliche Organisation voraussetzen, wie
man sie von totalitären Staaten kennt. «Würde man das Prinzip der
Corporate Identity etwa vom Bereich der Ökonomie in den Bereich

14 Birkigt et al, Corporate Identity, S. 191.
15 Uta Brandes, Design ist keine Kunst, S. 65.
16 Ebenda, S. 66.
17 Vgl. Birgit Kutschinski-Schuster, Corporate Identity für Städte. Eine Untersuchung zur
Anwendbarkeit einer Leitstrategie für Unternehmen auf Städte, Essen, 1993.
18 Vgl. Wally Ollin, Trading Identities- Why countries and companies are taking on
each others roles, London, 1999.
19 Christian Jaquet, Das Staatsdesign der Schweiz – Zustand und Reform
(Forschungsbericht der Hochschule der Künste Bern HKB), Bern, 2004, S. 6.
20 Ebenda, S. 6.
21 Ebenda, S. 6.
22 Pellin, Ryter, siehe Fussnote 2.
23 Ebenda, S. 36.
218

18. Design –
Corporate Identity

der Politik verlagern, müsste man nach Hannah Arendt von einem to-
talitären System sprechen, das mit seiner Organisationsform und
Kommunikation (Propaganda) eine zentrale ideologische Fiktion» in
die Wirklichkeit umsetzt.24 Pellin und Ryter geben weiter zu bedenken:
«Der Staat, öffentliche Verwaltungen und einzelne Ämter haben es
zudem nicht mit Kundinnen und Kunden zu tun, denen sie sich ledig-
lich als effiziente Dienstleisterinnen und Dienstleister präsentieren
müssen, die Verwaltung hat es mit Bürgerinnen und Bürgern zu tun,
die wesentlich am Prozess der kollektiven Identität beteiligt sind;
Widerstand gegen die Art des Auftritts von Ämtern und Verwaltungen
ist also nicht einfach eine lästige und unliebsame Störung, sondern Teil
der öffentlichen Auseinandersetzung um kollektive Identität.»25

Würdigung und Kritik

Das CI-Konzept hat auf das Design eine äusserst ambivalente Wirkung
gehabt. Einerseits hat die wirtschaftlich motivierte Unternehmens-
strategie das Design aus einer Art Dornröschenschlaf geweckt. Es hat
sich aus der Begrenztheit auf die reine Objektgestaltung gelöst und
eine Erweiterung des Anwendungshorizonts erfahren. Es hat begon-
nen, sich als komplexen Vorgang der visuellen Kommunikation zu ver-
stehen und zu entfalten: Design als Prozessgestaltung, als Manage-
ment, als Orientierungsdisziplin. Bazon Brock hatte schon 1972
versucht, diese Akzentverschiebung im Begriff «Sozio-Design» zu fas-
sen. Sozio-Design als Dimension des Denkens, Planens und Ent-
werfens bezieht sich nicht primär auf die Dinge, sondern auf die Inter-
aktionsprozesse, auf das, was an der dinglichen Umwelt gesellschaftlich
vermittelnd wirkt oder was als Verhaltens- und Vorstellungsform sich
nicht verdinglichen lässt.26
Anderseits hat das CI-Konzept das Design in einige Fallen gelockt:
1. Das Design hat das CI-Konzept in der Praxis oft nur selektiv in-
korporiert. Es hat sich leicht daran gewöhnt und sich darauf be-
schränkt, für Unternehmen nach einer fixen Methode das grafische Er-
scheinungsbild zu liefern, indem es Markenzeichen (Logo) neu
schafft oder verbessert, die Hausfarben, die Hausschrift und die Druck-
sachen ordnet. Dabei wäre doch vom CI-Konzept her Corporate
Design mehr als nur Kosmetik und Verkaufshilfe. Corporate Design
hätte die Aufgabe, eine «Einheit in der Vielfalt zu schaffen, (das Unter-
nehmen) zu einem Wertgefüge zu verbinden in Verhalten, Kommuni-
kation und Darstellung».27 Kurt Weidemann meint dazu: «Wer das
nicht beherrscht, bleibt Dekorateur, Fassadengestalter.»28 Ist das Design
219

von der ihm im CI-Konzept zugewiesenen aktiven Rolle überfordert?


2. Mit dem CI-Konzept übernimmt das Design dessen prinzipielle
Probleme: seinen ideologischen und seinen autoritären, um nicht zu
sagen totalitären Charakter. Das CI-Konzept überträgt in einer proble-
matischen Vereinfachung die Identitätsleistung einer Person auf ein
Unternehmen und ideologisiert damit die Unternehmensstrategie. Zi-
tieren wir nochmals Pellin und Ryter: «Für Personen ist Identität nicht
eine Zielgrösse, die sich jemand (die Unternehmensleitung, B.S.) vor-
gibt und dann umsetzt. Die Identitätsleistung ist (…) ein komplexer
Prozess, der sich bildet aus Vorstellungen, Wünschen, Zielen, Rück-
meldungen, Zuweisungen durch Vorurteile sowie Strategien dagegen,
Selbstwahrnehmung, gespiegelter Fremdwahrnehmung.»29 Identi-
tätsleistung ist demnach ein sehr interaktiver Prozess, während Corpo-
rate-Identity-Bildung ein Einwegprozess ist.
Wenn Corporate Design Unternehmen nicht als das darstellt, was sie
ökonomisch sind, nämlich Kapitalverwertungsinstitutionen zur
Gewinnmaximierung, sondern sie als Personen mit einer übergreifen-
den Philosophie verbrämt – Banken sind nicht mehr kapitalistische
Geldinstitute, sondern kulturelle Institutionen – , so hilft es bewusst
oder unbewusst, die Unternehmen zu ideologisieren. «Corporate Iden-
tity und Corporate Image legitimieren die Warenwelt noch einmal
neu, in dem die Dinge dem Unternehmen inkorporiert werden und die-
ses als synthetisches Ganzes in die Produktions-, Kommunikations-
und Konsumtionsformen einzieht.»30
3. Der zentralistische und autoritäre Charakter des CI-Konzepts
wurde bereits im Zusammenhang mit dessen Übertragung auf
staatliche Institutionen angesprochen. Auch die erwähnte Reduktion
der Identitätsleistung auf einen innerbetrieblichen Einwegprozess von
oben nach unten hat autoritären Charakter; denn die Mitarbeitenden
haben sich angesichts der von oben festgelegten Identität des Unterneh-
mens konsequent zurückzustellen und diese Identität zu verinnerli-
chen.31 Der Psychologe Jürgen Straub spricht in diesem Zusammenhang
von «normierenden Konstruktionen kollektiver Pseudo-Identitäten».32

24 Pellini, Ryner, S. 35 (Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
München, 2001 (1. Auflage 1951), S. 766ff.).
25 Ebenda, S. 36.
26 Bazon Brock, Umwelt und Sozio-Design, in: Format, Nr. 36, 1972, S. 60.
27 Kurt Weidemann, in: Kompendium. Corporate Identity und Corporate Design, Stuttgart, 1997, S. 8.
28 Ebenda, S. 9.
29 Pellin, Ryter, S. 35.
30 Uat Brandes, Design ist keine Kunst, S. 66.
31 Pellin, Ryter, S. 35.
32 Pellin, Ryter, S. 35.
221

19. DESIGN – KUNST

«Design ist die Kunst des 20. Jahrhunderts.»1

Diese Aussage entstand nicht zuletzt unter dem Eindruck der zwei letz-
ten Dekaden des Jahrhunderts, welche stark durch das medien-
wirksame «Stardesign» geprägt waren. Zur Erinnerung: In den achtzi-
ger Jahren war das Regalobjekt «Carlton» von Ettore Sottsass das am
häufigsten abgebildete Kunstwerk (Abb. 182).2
Das Design eroberte sich diese Stellung weitgehend unbemerkt vom
Kunstestablishment und entgegen den Grundsätzen der konventio-
nellen Kunstkategorien wie Seltenheit, Kostbarkeit oder höchstes sozi-
ales Niveau. Als einer der Ersten hatte der Künstler Marcel Duchamp
erkannt, dass Kunstwerke nicht unbedingt erschaffen, sondern vor
allem als solche erkannt werden müssen, dass nicht mehr das materiel-
le Moment, der Umgang mit Öl und Pinsel, Hammer und Meisel,
sondern der Umgang mit Ideen und Konzepten für die Kunst und alle
kreativen Metiers entscheidend ist.3 Duchamp hatte ein anonymes
Designobjekt, einen Flaschentrockner, ausgestellt und behauptete nicht,
ihn geschaffen, aber ihn als Kunstwerk entdeckt zu haben. Wo liegt
nun der Unterschied zwischen Duchamps Flaschentrockner und der Zi-
tronenpresse von Philippe Starck (Abb. 205) oder dem Sparschäler
«Rex» (Abb. 139)? Gibt es überhaupt einen?
Es ist die alte Frage nach der Differenz zwischen Kunst und Design. Die
fast 150-jährige Geschichte des modernen Designs ist mehr oder
weniger intensiv durch das Spannungsverhältnis zwischen zwei Positi-
onen geprägt: Die eine wollte die Nähe des Designs zu den
realen Produktivkräften der Industrie und hatte die Technik als Ver-
bündeten; die andere betonte den künstlerisch-individuellen Entwurf

1 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 20.
2 Ebenda, S. 23.
3 Ebenda, S. 20.
222

19. Design – Kunst

und fühlte sich der Kunst nahe. Für die Erörterung des Verhältnisses
von Kunst und Design ist es von Vorteil, zuerst die historischen Zu-
sammenhänge, die Grundzüge der abendländischen Kunstentwicklung
in Erinnerung zu rufen.

Die historische Dimension der Differenz

Vor der Begründung der Kunst als autonomer Institution in der euro-
päischen Aufklärung war ihr durch den Kult Zeit, Ort und Funktion
im gesellschaftlichen Leben angewiesen worden. Inhalt und Form der
Künste waren davon abhängig, ob sie bei einem Hochzeitsfest oder
Totenkult, bei einem Fruchtbarkeits- oder Opferritus mitzuwirken
hatten und dabei der Verlebendigung der überlieferten Mythen und
Riten dienten oder sie überhaupt erst schufen.4
Im europäischen Mittelalter wurde nicht zwischen Kunst und Kunst-
handwerk unterschieden. Was wir heute Kunst nennen, war da-
mals in den allermeisten Fällen Auftragsarbeit für Männer, die sich als
Handwerker – oft geistlichen Standes – verstanden. Altarbilder,
Kirchenfenster, Domskulpturen, Illuminationen von Evangeliaren, aber
auch Kelche und Tabernakel, Portraits, Wandteppiche usw. hatten
einen klar zugewiesenen Zweck in der visuellen Kommunikation im
kirchlichen Kult und im feudalistischen Repräsentationssystem. Viele
Werke hatten zudem einen eindeutig festgelegten Gebrauchszweck.
In der frühen Neuzeit war künstlerische Arbeit meist immer noch ein
Auftragswerk. Allerdings begannen die Objekte, insbesondere die-
jenigen der Malerei, im Repräsentationskontext der Renaissancegesell-
schaften, unabhängig vom religiösen Gebrauchswert einen zu-
sätzlichen, nämlich einen künstlerischen Wert zu bekommen. Bilder
von Raffael oder Tizian wurden von den AuftraggeberInnen primär als
Kunstwerk bestellt, gekauft und rezipiert.
Im Prozess der europäischen Aufklärung und den damit verbundenen
bürgerlichen Revolutionen entstand der Diskurs über die so genannte
«freie Kunst». Die künstlerischen Individuen versuchten sich aus
der geistigen und materiellen Vormundschaft durch Kirche und Adel
zu befreien. Sie verweigerten die traditionelle religiöse Funktion
und die Funktion der gesellschaftlichen Repräsentation. Die Kunst
emanzipierte sich von ihren AuftraggeberInnen und damit auch vom
«sozialen Körper» und dem gesellschaftlichen Kontext. Die Eman-
zipationsbewegung der Kunst in der Neuzeit hatte einen bedeutenden
Teil der ursprünglichen Verbindungen von Kunst und Leben aufgelöst!
Die logische Folge des Autonomiekurses war die Feststellung der Diffe-
223

renz zwischen einerseits «freier Kunst» und anderseits angewandter


«zweckorientierter Kunst».
Diese Differenz ist ein kulturhistorisch gesehen neues und einmaliges
europäisches Phänomen. Im bürgerlichen Kultur- und Kunst-
betrieb bildete sich sehr bald eine eindeutige Werthierarchie heraus.
Seit Immanuel Kant war die Rede von der Kunst als dem «Höchsten»,
dem «Erhabenen», dem «Idealen», dem mit «interesselosem Wohl-
gefallen» begegnet wird. Der Autonomiediskurs führte zu einer Hypos-
tasierung der gesamten ästhetischen Sphäre, zu einer Irrationalisierung
der künstlerischen Produktion und zu einer Transzendierung des
künstlerischen Werks in die auratische Ferne völliger Autonomie.
Die Kunst wurde bürgerlicher Religionsersatz, der Kunstbetrieb ein sä-
kularer Kult um das «Erhabene».
Im 20. Jahrhundert kam dann die Retourkutsche. Die meisten avant-
gardistischen künstlerischen Bewegungen des beginnenden Jahr-
hunderts teilten ein gemeinsames Anliegen: die Kunst aus der «interes-
selosen» Sphäre des bürgerlichen Kulturbetriebs zu befreien und
wieder mit einem «sozialen Körper» zu verbinden. Kunst und Leben
(eine stehende Formel!) oder künstlerisches Handeln und gesellschaft-
liche Wirklichkeit sollten wieder zusammenfinden.
Diese Zusammenführung hatte eine konkret-utopische Perspektive im
russischen Konstruktivismus. In der jungen Sowjetunion engagier-
ten sich die VertreterInnen der künstlerischen Avantgarde für die Revo-
lution und stellten Architektur, Kunst, Design, Typografie, Dekora-
tion und Mode in den Dienst der Propagierung der neuen Gesellschaft.
Sie wandten sich von einer Kunst um ihrer selbst willen ab und wid-
meten ihre Arbeit der Alltagskunst: dem Industriedesign und der visu-
ellen Kommunikation. Mit einer klaren funktionellen Formensprache
wurde, wie später im Bauhaus, versucht, eine neue Einheit von Kunst,
Handwerk und Industrie zu verwirklichen.
Die Verschmelzung von Kunst und Design zu einer neuen gesellschaft-
lichen Praxis wurde in der Sowjetunion wie auch im Bauhaus durch
die politische Entwicklung (hier Stalinismus, dort Naziregime) jäh ab-
gebrochen.
In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es wieder zu einer
Annäherung oder besser gesagt zu einer Verwischung der Differenz –
diesmal aber unter umgekehrtem Vorzeichen. Die Initiative ging
nicht von den künstlerischen Bewegungen, sondern vom so genannten
«Neuen Design» aus. In der vehementen Konfrontation mit dem

4 Henckmann, Lotter (Hg.), Lexikon der Ästhetik, S. 130.
224

19. Design – Kunst

hergebrachten Funktionalismus entstand ein neues Designverständnis,


das die alten Leitbilder des Designs wie Einfachheit, Reduzierung
auf Funktionalität und auch die Definition über die industrielle Mas-
senproduktion nicht mehr akzeptierte. Nun galt – zuerst in Italien –
auch das als Design, was als Prototyp in handwerklicher (Einzel-) Fer-
tigung entstand und in Galerien und Museen zur Diskussion gestellt
wurde. Der Gebrauchszweck war nicht mehr das primordiale Charak-
teristikum der Designobjekte. Designobjekte, vor allem auch Klassiker,
wurden zu Kunst- und Ausstellungsobjekten.
Das Ergebnis war eine Grenzüberschreitung zwischen Kunst, Handwerk
und Design. Das Erlebnis des «Neuen Designs» in seiner Nähe zur
Kunst, die grenzüberschreitenden Arbeitsweisen zwischen Kunsthand-
werk, Kunst und Industrie, die zahlreichen Museumsausstellungen
und das neue Selbstverständnis der Stardesigner liessen auch im brei-
ten Publikum das Bewusstsein von Design als gleichberechtigtem
Teil der Kultur wachsen. Es entstanden Design-Museen oder Abteilun-
gen in den Kunstmuseen. Auf der «documenta 8» 1987, die documenta
ist die wohl wichtigste Kunstausstellung der Welt, war Design erstmals
mit einer eigenen Sektion vertreten.
Wie Musik, Theater, Film oder Kunst wurde auch das Design zum Ge-
genstand des Kultursponsorings von Unternehmen. Viele nutzten
die Popularität und die kulturelle Anerkennung des Designs für ihren
Imagetransfer.

Auf der Suche nach der Differenz

— Der materielle Schaffensakt, das haben wir am Beispiel von Mar-


cel Duchamp gesehen, bestimmt nicht die Differenz zwischen Design
und Kunst.
— Sie liegt auch nicht in der Einheit von Entwurf und Ausführung,
obwohl diese Einheit heute für den Kunstanspruch oft noch als
grundlegend gilt.5 Bis ins 19. Jahrhundert war die Aufteilung von Ent-
wurf und Ausführung in der Kunst nicht selten, und auch in der Ge-
genwart ist sie häufig wieder vorzufinden (vgl. reproduzierte Kunst).
Im Design fand seit der Postmoderne die gegenläufige Bewegung statt,
nämlich hin zur Einheit von Entwurf und Ausführung (vgl. das «Neue
Design» und das Autorendesign der achtziger und neunziger Jahre).
— Ob ein Werk ein Unikat oder ein Serienprodukt ist, ist heute kein
Qualitätsmerkmal eines Kunstwerkes mehr. Spätestens seit A. Warhol
gelten Kunst und Massenauflagen nicht mehr als unvereinbar.
Die Aura des Unikats reicht also nicht, um den Kunstcharakter zu be-
225

gründen. Dazu kommt, dass seit dem «Neuen Design» die so genann-
ten «Künstlermöbel» als Unikate oder Kleinserien angefertigt wer-
den und in Galerien und Museen landen. Auch das Argument, es hand-
le sich bei den Möbeln um Gebrauchsgegenstände, ermöglicht keine
sinnvolle Abgrenzung. Wie viele Kunstwerke offenbaren ihren Charak-
ter erst bei der Benutzung: Wenn sie betreten, betrachtet oder verän-
dert werden.6
— Die Differenz in der Unterscheidung von Auftragsarbeit und freier
Arbeit zu suchen führte schon immer in eine Sackgasse. Kunst war
im grössten Teil ihrer abendländischen Geschichte Auftragskunst, und
Design entsteht heute oft als freie Arbeit. Beide waren und sind mehr
oder weniger wirtschaftsabhängig und haben in der Gegenwart – ob
das ihre ProtagonistInnen wahrhaben wollen oder nicht – Waren- und
damit Kapitalcharakter.
— Seitdem Designobjekte kultische Verehrung geniessen, kann auch
der Kultstatus von Kunstwerken nicht mehr die Differenz zum De-
sign begründen. Kult – verstanden als von einer Gemeinschaft prakti-
zierte Formen der Verehrung des Göttlichen – bediente sich schon
immer der Künste, um den Praktizierenden einen unmittelbaren Kon-
takt mit dem Göttlichen und Transzendenten zu ermöglichen. Seit
ihrer Emanzipationsbewegung in der Neuzeit erfüllte die Kunst sozu-
sagen als säkularer Religionsersatz weiterhin diese Funktion.
Im säkularisierten Modus des Kults kann die Verehrung und Hingabe
mit säkularen Kultbildern und Fetischen stattfinden. Dabei spielt es
heute keine Rolle mehr, ob der Kultgegenstand ein Kreuz, ein Bild von
Leonardo, eine Sport- oder Filmikone oder ein Designobjekt ist. Sie
alle verhelfen den spezifischen Gruppen zu ihrer kulturellen und sozi-
alen Identität. Die leichter zugänglichen Designobjekte aus dem
Alltag können diese Funktion manchmal fast besser erfüllen, als Werke
der Hochkunst, die für den Gebrauch im «kultischen Alltag» zu aura-
tisch und hermetisch sind.
— Für die Definition der Differenz bleibt uns schliesslich noch der
kommunikationstheoretische und semiotische Vergleich. Die Zeichen-
welten von Kunst und Design spielen in der visuellen Kommunikation
im jeweiligen historischen Kontext eine zentrale Rolle. Kunst war das
dominante visuelle Medium in der Vergangenheit bis ins 19. Jahrhun-
dert. Design, und zwar Grafikdesign und Industriedesign, ist an die
Stelle der Kunst getreten und nimmt heute eine ähnliche Stellung ein.

5 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 9f.
6 Volker Albus et al., Design Bilanz, S. 74.
226

19. Design – Kunst

Beides sind frei modulierbare und materiell grundierte Flächen, auf die
Verweise (Signifikanten) eingeschrieben sind, Symbole der Herrschaft,
Werthaltungen, moralische Einstellungen, gesellschaftliche Diskurse,
Emotionen usw. Designobjekte können, das zeigt uns nicht erst die
Postmoderne, mit Verweisen semantisch geladen werden und so über
sich hinausweisen.
Wenn Kunst dann möglich wird, «wenn der (künstlerische) Eingriff
den Gegenstand in einen Kommentar über unsere Lebensgewohn-
heiten, unsere Wahrnehmungsweisen oder sozialen Beziehungen ver-
wandelt»7, dann ist zum Beispiel der Sessel «Consumer’s Rest»von
Stiletto (Abb. 197) Kunst, denn er ist ein solcher Kommentar über un-
sere Lebensgewohnheiten und unsere Wahrnehmungsweisen.
Bleibt die Frage der Decodierung. Unterscheiden sich Designobjekte
von Kunstwerken dadurch, dass die Produktsprache des Designs
(die Zeichen) von den RezipientInnen in ihrem Bedeutungsgehalt in
jedem Fall decodiert werden können? Während das bei Kunstwerken
offen bleiben kann?
Das trifft sicher für das «gewöhnliche Design» der alltäglichen Gegen-
stände zu. Dort ist die Verbindlichkeit des Zeichensystems unabding-
bare Voraussetzung für die Funktionalität und den Gebrauch des mit
Zeichen versehenen Gegenstands.

7 Katharina Hegewich, in: Albus, Design Bilanz, S. 74.
229

20. DESIGN –
GESCHMACK UND KITSCH

Der Mensch ist ein visuelles Wesen. Die so genannte «visuelle Intelli-
genz» beansprucht fast die Hälfte der menschlichen Grosshirnrinde.
Sie erschafft die komplexen visuellen Wirklichkeiten, in denen die
Menschen leben, sich bewegen und darin interagieren.1 Daraus folgt,
dass der visuellen Kommunikation eine grosse Bedeutung, ja eine
viel grössere, als sich der Mensch als kognitives Wesen in der Regel ein-
gesteht, zukommt.
Ein Parameter, der die visuelle Kommunikation neben den Bildwelten
beeinflusst, ist der Geschmack. Viele Entscheide – oft so genannte Vor-
urteile – werden durch den Geschmack gelenkt. Was ist Geschmack?
Mit Geschmack ist hier nicht die menschliche Sinnesempfindung
gemeint, sondern das Urteilsvermögen, Gegenstände nach ästhetischen
Standards zu unterscheiden (etwa in «schöne» und «hässliche»
Objekte). Geschmack ist eine Eigenschaft der Personen und nicht der
Gegenstände.

Das «Schöne-Wahre-Gute»

In der abendländischen Geschichte spricht man erst seit relativ kurzer


Zeit, nämlich seit dem 18. Jahrhundert von «Geschmack». Das be-
deutet nicht, dass es vorher keinen ästhetischen Diskurs gegeben hätte.
Im Gegenteil, die abendländische Ästhetik ist durch die beachtliche
und sehr einflussreiche Tradition der so genannten «Kalokagathie» ge-
prägt. Das Wort setzt sich aus den griechischen Worten «kalos»
( = anmutig, schön) und «agathos» (= gut) zusammen. Es meinte in der
griechischen Antike die Verbindung von Schönheit und Sittlichkeit.
Was schön war – zum Beispiel das idealtypische Abbild des menschli-

1 Donald D. Hoffmann, Visuelle Intelligenz, 1998.
230

20. Design –
Geschmack und Kitsch

chen Körpers – , hatte Anteil an der idealen göttlichen Schönheit. Das


Schöne ist dadurch wahr und hat damit immer auch den erzieheri-
schen Anspruch, sittliches Vorbild zu sein. Die Kalokagathie war also
ästhetisches, pädagogisches und damit gesellschaftliches Richtmass.
Die Kalokagathie oder das «Schöne-Wahre-Gute» galt unter christli-
chen Vorzeichen auch im Mittelalter, dann verstärkt in Renaissance,
Aufklärungszeit und in der bürgerlichen Epoche mit ihrer ästhetischen
und erzieherischen humanistischen Orientierung am antiken Ideal.
Es war das Anliegen der gesamten Klassik, dass das Reale das Unsicht-
bare hinter dem Realen abbildet und abbilden soll. In den Bauten,
von den griechischen Tempeln bis zu Le Corbusiers «Modulor-Bau»,
sollte das Göttliche, die Natur oder sollten die dahinter stehenden Na-
turgesetze abgebildet werden.

Geschmack ist relativ

Seit Mitte des 17. Jahrhunderts fand in der europäischen Aufklärung der
Begriff «Geschmack» Eingang in die ästhetische Diskussion, was eine
Subjektivierung des ästhetischen Urteils zur Folge hatte. Das Schöne
war nicht mehr ein für alle Mal und objektiv gegeben und beurteilbar,
sondern musste durch den Geschmack des Einzelnen angeeignet
werden. Durch den Geschmacksbildungsprozess kam das ästhetische
Urteil zustande. Dazu bedurfte es der Bildung des Geschmacks.
Das Emanzipatorische an diesem ästhetischen Diskurs war, dass auf
der Ebene des neuen ästhetischen Urteils jeder (!) Mensch prinzipiell
gleich war. Denn es kam jetzt darauf an, den Geschmack zu schulen.
«Das Geschmacksurteil war also der Ort, wo die neue Klasse (das
Bürgertum, B.S.) sich emanzipieren konnte.»2 Das Emanzipatorische
lag darin, dass die Frage, ob Geschmack angeboren und allgemein-
gültig sei, eindeutig verneint wurde. Folglich ist Geschmack zwar etwas
subjektiv Erworbenes, aber keineswegs etwas rein Subjektives!
Nachdem das ästhetische Urteil durch die Aufklärung eine solche Rela-
tivierung erfahren hatte, war auch die Möglichkeit zur Kritik des
herrschenden Geschmacks gegeben. In den europäischen Gesellschaf-
ten galt bis ins 19. Jahrhundert Geschmack (gemeint war der «gute
Geschmack», das heisst die Urteilskraft über das, was schön ist) immer
als eine Fähigkeit, die nur einer kleinen Minderheit zukam. Diese
hatte die Definitionsmacht über das, was als «guter Geschmack» galt.
Ihre Definition war für die ganze Gesellschaft verbindlich und kam
wie eine objektive Naturgegebenheit daher. Dieser allgemein gültige,
herrschende Geschmack war aber nichts anderes als der verallgemei-
231

nerte Geschmack der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Klasse.


In der Zwischenzeit ist auf Grund von soziologischen Untersuchungen
im 20. Jahrhundert die Beziehung zwischen Geschmack und sozia-
len Faktoren wie Klassen-, Schichten- und Gruppenzugehörigkeit, Be-
ruf, Besitz und Bildung längst nachgewiesen.3
Selbstverständlich spielen bei der Geschmacksbildung auch die Fakto-
ren Gewohnheit, Tradition und Beeinflussung durch Mode und Zeit-
geist (was immer das auch ist) eine Rolle.
Gerade wegen der Interdependenz von Geschmack und sozialen Fakto-
ren ist es verfehlt, von einer absoluten Subjektivität des Geschmacks-
urteils auszugehen. Innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen und
kulturellen Kontextes, innerhalb von sozialen Gruppen und inner-
halb von Zeitepochen gibt es Geschmackskonventionen, das heisst Ab-
machungen, die für die zugehörigen Individuen normative Gültigkeit
haben oder eine Art kontextuelle «Objektivität» beanspruchen.
P. Bourdieu zeigte zudem, dass Geschmacksvorlieben einer Gruppe
nicht isoliert zu verstehen sind, sondern als Unterscheidungsmerkmal
im Hinblick auf den Geschmack aller andern Gruppen (These von der
«differenzierenden Natur des Geschmacks»).
Als Fazit können wir uns der Definition von Geschmack durch Gert
Selle anschliessen: «Geschmack ist eine sozial determinierte, klas-
senspezifische Übereinkunft (der Herrschenden) auf verbindlich wer-
tende Wahrnehmungsweisen und Verhaltensnormen beziehungsweise
Leitbilder, in die nicht nur Gewohnheiten und Traditionen eingehen,
sondern auch massive Anpassungszwänge.»4

«Guter Geschmack» und die «Gute Form»

Im Laufe des 20. Jahrhunderts gab es von Seiten des Designs grosse Be-
mühungen, noch einmal die Deutungshoheit über das, was «guter
Geschmack» ist, zu erlangen. Diese Bemühungen hatten schon zu Be-
ginn des Jahrhunderts im Werkbund begonnen, hatten mit dem
Bauhaus internationale Ausstrahlungskraft erlangt und wurden in der
«Guten Form» ab den fünfziger Jahren für mehr als zwei Dekaden
zur Gestaltungsdoktrin. Hier wurde der «gute Geschmack» im Sinne
der funktionalistischen Prinzipien gedeutet. Wenn die VertreterInnen
von Werkbund, Bauhaus und «Guter Form» «form follows function»
forderten, dann erfolgte mit Funktionalität, Einfachheit, Sachlichkeit,

2 Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 71.
3 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 1982.
4 Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 46.
232

20. Design –
Geschmack und Kitsch

langer Haltbarkeit und zeitloser Gültigkeit nicht nur eine ästhetische,


sondern gleichzeitig eine ethische Bewertung, denn das Funktionelle
und Schmuckfreie war gleichzeitig das «Gute», das «Echte» und
das «Ehrliche». Funktionalismus umfasst deshalb immer eine erziehe-
rische und politische Dimension. Design sollte in den Augen der
FunktionalistInnen den «guten Geschmack» in der breiten Bevölkerung
implantieren. Was nicht ins Dogma der «Guten Form» passte, fiel bei
ihren Hütern unter das Verdikt des «Kitsches» (vgl. unten).
Diese gestalterischen Ansprüche der funktionalistischen Moderne wa-
ren nun aber nicht ein Spezifikum der Moderne. Sie standen viel-
mehr in der Tradition der bereits erwähnten abendländisch-humanis-
tischen Kalokagathie, des «Schönen-Wahren-Guten».
Das historische Urteil über den Erfolg der Bemühungen um eine Ver-
ankerung der «Guten Form» in den Massen ist verheerend: «Die
Modernen, die (…) glaubten, den ‹guten Geschmack› ein für alle Mal
verankern zu können, wollten die ökonomische Notwendigkeit des
ständigen Modewandels nicht wahrhaben. Viel eher als ihrer gut
gemeinten erzieherischen Aktion ‹Die gute Form› gelang es ungefähr
gleichzeitig den Amerikanern, mit Baseballmütze, Bluejeans, Coca
Cola, Disney, Hollywood, Mc Donald’s und Nike weltweit nachhaltig
auf den kollektiven Geschmack einzuwirken.»5

Die Macht des Marktes

In der sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausbreitenden ka-
pitalistischen Massenkultur sind zwei Phänomene zu beobachten:
Einerseits gibt es keinen von einer Klasse diktierten Geschmacksstan-
dard mehr, der wie früher allgemeingültiger herrschender Geschmack
ist und den Bedürfnissen eines ganzen Volkes übergestülpt ist. Die
kulturelle Hegemonie ist dem herrschenden Bürgertum weitgehend ab-
handen gekommen. Die Vielfalt der Massenprodukte, Massenkommu-
nikationsmittel und Geschmacksrichtungen stiftet eine verwirrende
Relativierung der Massstäbe und Werte. Die postmoderne Massenkul-
tur zerfällt in eine Vielzahl von Subkulturen mit eigenen Geschmacks-
welten. Diese Subkulturen werden nicht durch eine dominante ge-
schmackbildende Hochkultur zusammengehalten, sondern durch den
Markt und die ICT-Kommunikation. Die Hochkultur ist selber eine
marktabhängige Subkultur unter anderen geworden. Deshalb wird der
Kulturbetrieb sowohl inhaltlich als auch formal immer marktförmiger
und übernimmt die Sprache des Marktes und der ICT-Medien.
Anderseits hat eben diese Massenkultur in ihrer globalisierten Form
233

eine schichten- und gruppenübergreifende Geschmacksangleichung


und schnell wechselnde Uniformitäten und globale Trends zur Folge.
Der Markt hat mit andern Worten für beide Tendenzen, die
Vielfalt und die Uniformität, entsprechende Strategien entwickelt.

Der Kitschvorwurf ist elitär

Wie wir oben gesehen haben, belegten auch die HüterInnen der «Guten
Form» das «schlechte» Design von industriellen Massengütern mit
dem Verdikt des Kitsches. Was ist nun nach dem Gesagten von diesem
ästhetischen Urteil zu halten?
Kitsch ist gemeinhin die Bezeichnung für geschmacklose und minder-
wertige Erzeugnisse, welche den Anspruch erheben, Kunstwert zu
besitzen. Kitsch kam erst in der Massenkultur, das heisst in der serien-
mässigen Produktion von Waren zur vollen Entfaltung. Die Bilder-
welten des Kitsches nehmen im Leben der heutigen Menschen einen
grossen Raum ein.
Der Verurteilung des Kitsches und des «schlechten Geschmacks» ist
elitär und problematisch. Elitär, weil eine Minderheit bestimmt, was
für alle schön und hässlich ist, und damit ihr Geschmacksurteil
verabsolutiert. Problematisch, weil Geschmacklosigkeit von jeweiligen
ZeitgenossInnen auch Werken vorgeworfen wurde, die später eine
hohe Wertschätzung erfuhren. So ist es etwa dem Jugendstil ergangen.
Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann sich die Ein-
stellung zum Kitsch zu differenzieren. Er wurde als Geschmacksaus-
druck eines Teils der Bevölkerung ernst genommen und intellektuell
rehabilitiert. Dazu kam ein bewusst spielerisch-ironischer Umgang mit
Kitsch in der Postmoderne.

Eine kritische Analyse des Kitsches

Man kann Kitsch als eigenständige Geschmacksform akzeptieren und


ihn trotzdem einer kritischen Analyse unterziehen.
Die Besonderheit des Kitsches liegt nicht primär in mangelhafter Tech-
nik oder Originalität begründet. Was kitschige Objekte charakteri-
siert, ist ihre (bewusste oder unbewusste) Verfälschung der Wirklich-
keit. Wesentliches Fundament des Kitsches ist die (Selbst-)Täuschung.
Er will die Illusion, nicht die Wirklichkeit darstellen. Erzeugnisse des
Kitsches führen in eine Scheinwelt der Tagträume und Fantasien,

5 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 70.
234

20. Design –
Geschmack und Kitsch

in eine schiefe Gegenwelt zum Alltag (Glamour, Reichtum, billiges


Glück). Anstelle von Erkenntnis liefert Kitsch Rührung, Sentimenta-
lität und Happyend. Kitsch ist «auf Sehnsuchtswerte gerichtet, die
unbefriedigte Bedürfnisse leicht konsumierbar, ohne irgendwelches
kritisches Potenzial ausgleichen.»6 Kitsch absorbiert und lenkt ab,
indem er je nach Umstand an Wünsche, Gefühle oder Sinne appelliert:
an Heimatliebe, Patriotismus, Moral, Naturliebe, Kinderliebe, Fami-
liensinn (differenziert nach Knaben und Mädchen), Häuslichkeit (auf
Frauen gerichtet), positive Helden, die alles lösen (wie Batman), Erotik
(Pornografie) oder Religiosität (Devotionalien-Kitsch).
Dazu bedient sich der Kitsch häufig folgender ästhetischer Muster und
Motive: Kindchenschema, Verniedlichung, Anthropomorphisierung
von Tieren, Pflanzen und Gegenständen, Sehnsuchtsmotive einer hei-
len, vorindustriellen Welt (Gartenzwerge), Flucht in Naturidyllen
(Landschaft mit Sonnenuntergang), historisierende Darstellung (Fotos
aus der «guten alten Zeit»). In der Gegenwart müssen zu den Instru-
menten des Kitschs immer mehr auch Sexualisierung und Brutalisie-
rung der Motive (Brutalo-, Sex- und Horrorvideos, oft mit neonazisti-
schem Inhalt) gezählt werden. Auf der Suche nach Marktlücken oder
Profitquellen sind alle Mittel recht!
Indem der Kitsch Bedürfnisse und Sehnsüchte breiter Bevölkerungs-
schichten aufnimmt und sie mit Pseudobefriedigung erfüllt, ab-
sorbiert er im Grunde das utopische und kritische, auf Veränderung
gerichtete Potenzial dieser Menschen.7

6 Dtv-Lexikon der Kunst, 1996.
7 Beat Schneider, Penthesilea, S. 381f.
237

21. DESIGN – DRITTE WELT

Design – Eurozentrismus

Design, so wie wir es bisher vor allem kennen, ist eine Angelegenheit,
die nur eine Minderheit der Menschen betrifft. «Die Entwurfspraxis
gilt nicht für 85 Prozent der Menschen in der Dritten Welt.»1 Gui
Bonsiepe, von dem diese Aussage stammt, wies in den sechziger und
siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts als erster prominenter Design-
vertreter auf diese Tatsache hin und eröffnete einen Diskurs, der später
allerdings wieder etwas abflaute, aber dennoch auch heute aktuell ist.
Für die Debatte prägte Bonsiepe die Begriffe «Design in den Metropo-
len» und «Design in der Peripherie» – in den Ländern der so genann-
ten Dritten Welt.
Alle bisher erschienenen Designgeschichten, dies betrifft zum grossen
Teil auch die vorliegende, haben das Design der Metropolen zum
Gegenstand. Auch in den Nachschlagewerken und Bildbänden zum In-
dustrie- und Grafikdesign kommen nur Designobjekte aus den hoch
entwickelten kapitalistischen Industriestaaten Europas und Nordame-
rikas vor. Was ist die Ursache? Muss man den Autorinnen und Autoren
einen eingeengten eurozentristischen Blickwinkel vorwerfen, der einen
Teil der Designpraxis ausblendet? Einerseits stimmt das, denn es gibt
in der Peripherie tatsächlich eine Entwurfspraxis, die systematisch un-
erwähnt bleibt und «in den Metropolen allenfalls als Kuriosum
Interesse findet».2 Anderseits entspricht der Eurozentrismus leider der
Designrealität. Die Designpraxis in der Peripherie folgt weitgehend
den Stilvorgaben und Regeln, die aus den westlichen Kulturen Europas
(und zum Teil der USA) importiert wurden. Der Eurozentrismus der

1 Gui Bonsiepe, Peripherie und Zentrum. Acht Fragen an Gui Bonsiepe, in:
form+zweck, 2+3, 1991.
2 Ebenda.
238

21. Design – Dritte Welt

Designgeschichte hat also zwei Seiten. Erstens ist er eine Optik der Ge-
schichtsschreibung, und zweitens ist Design vorwiegend ein Phäno-
men der Metropolen. Wenn es in der Peripherie eine Designpraxis gab,
dann als Import.
Freilich ist das Metropolen-Design, das in den letzten zwei Dekaden
am meisten Aufmerksamkeit erregt hat, nicht das «gewöhnliche
Design» für den Alltag der breiten Bevölkerung, sondern das Yuppie-
und Lifestyle-Design, das die Bedürfnisse der zahlungskräftigen Ge-
sellschaftsschichten im Sinne von «form follows emotion» bedient hat.

Kolonialismus, Imperialismus und Globalisierung

Bekanntlich wurden einst bei der Kolonisierung der Drittweltländer


durch die imperialistischen Staaten Europas die indigenen Traditionen
dieser Länder zum grossen Teil ausgelöscht. Hand in Hand mit der
Auslöschung ging die Eroberung durch die europäische visuelle Tradi-
tion. Dies hatte zur Folge, dass es während langer Zeit keine au-
tochthone Gestaltung mehr gab und dass nur die importierten euro-
päischen Traditionen wiederholt wurden.
Die antikolonialen Befreiungskämpfe im 20. Jahrhundert galten neben
dem Kampf um politische Unabhängigkeit auch den Bemühungen
um eigene Würde und Freiheit und dem Aufbau einer eigenen nationa-
len Identität. Das Letztere wurde – oft unter dem Einfluss von Bera-
terInnen aus Osteuropa, Kuba oder China – mit einer Rückbesinnung
auf die eigenen «nationalen» Traditionen verbunden. Der politische
Befreiungsprozess war mit einer grossen kulturellen Arbeit verbunden,
bei der KommunikationsdesignerInnen in den betreffenden Ländern
mit der Gestaltung von Plakaten, Flugblättern, Büchern, Zeitschriften,
Zeitungen und dem neuen Fernsehen ihren Beitrag leisteten. Zu-
dem galt es, eigene, nicht auf die imperialistischen Metropolen ausge-
richtete öffentliche Infrastrukturen und an die eigenen materiellen
Ressourcen anknüpfende Industrien zu entwerfen und aufzubauen.
Als Beispiel sei hier die demokratische Revolution in Chile genannt.
Zeitgleich mit dem Protest-Design in den westlichen Metropolen wur-
den 1970 nach der Wahl Salvador Allendes zum Präsidenten die
«Comites des Disegno» gegründet. Mitbeteiligt war übrigens auch der
oben zitierte Gui Bonsiepe, der zu jener Zeit gestalterischer Berater
Allendes war. Die «Comites» setzten sich unter anderem den Entwurf
«sozial nützlicher Güter» zum Ziel: agrarische Maschinen, medizini-
sche Geräte und Einrichtungen für das Volksgesundheitswesen,
Güter für den «Basiskonsum» wie Standardmöbel, Geschirr oder Haus-
239

haltgeräte, Transportmittel sowie Produkte der Leichtindustrie. Das


Ziel war die Schaffung von «tatsächlichem Gebrauchsbedarf»,
die Entwicklung einer autonomen «materialen Kultur», wie Bonsiepe
1974 erläuterte.3
Das für die Schwellenländer in der Dritten Welt bis anhin einmalige
Konzept wurde durch den faschistischen Militärputsch unter General
Pinochet 1974 beendet.
Nach der kolonialen Befreiung blieben die meisten Drittweltländer un-
gewollt oder von den eigenen Oberschichten gesteuert in wirtschaft-
licher Abhängigkeit von den internationalen Märkten, die von den
Metropolen beherrscht wurden. Lange bevor die digital gestützte Glo-
balisierung der Wirtschafts- und Finanzmärkte in den neunziger
Jahren des 20. Jahrhunderts begann, war in den Drittweltländern die
Globalisierung der Wirtschaft Wirklichkeit geworden. Im Folgenden
soll auf die Auswirkungen auf das Design eingegangen werden, wobei
Produktdesign und Grafikdesign zu unterscheiden sind.

Produktdesign
Der grösste Teil der industriell hergestellten Konsumgüter
wurde in den Drittweltländern seit jeher importiert. Und das ist heu-
te nach wie vor so. Dort, wo es eine eigene industrielle Produktion gab,
wie zum Beispiel in den so genannten Schwellenländern Brasilien,
Argentinien, Mexiko, Indien und Südkorea, folgte das Produktdesign
den Leitbildern der internationalen Konzerne in den Metropolen, was
durchaus in profilierter und professioneller Weise geschah. Doch der
eigene Markt war noch nicht so ausdifferenziert und kaufkräftig, dass
Produktdesign als Werkzeug hätte eingesetzt werden können.
Nachdem auch ärmere Drittweltländer im grossen Stil als Billiglohn-
länder «entdeckt» worden waren, wurde in oft grossen industriellen
Komplexen von Firmen mit Sitz in den Metropolen günstig produziert,
wobei die Produkte in den Metropolen entworfen wurden.

Grafikdesign
Dagegen gab es in der Dritten Welt regionale Märkte für
Grafikdesign, denn das Bedürfnis nach Kommunikationsmitteln und
Gebrauchsgrafik war vorhanden. Vielerorts fand ab Mitte des 20. Jahr-
hunderts ein Aufschwung des Grafikdesigns statt, lokale Design- und
Werbeagenturen entstanden, die ihr Können oft auch in den Dienst
von Fernsehanstalten stellten.

3 Gui Bonsiepe, Peripherie und Zentrum. Acht Fragen an Gui Bonsiepe, in:
form+zweck, 2+3, 1991.
240

21. Design – Dritte Welt

Die DesignerInnen gehörten in der Regel der oberen Mittelschicht und


der Oberschicht an, die sich eine künstlerische Ausbildung (in den Me-
tropolen) leisten konnten. Sie hingen den Geschmacksrichtungen
ihrer Schicht an, die sich an der Ästhetik der Metropolen orientierte.
Sie bedienten sich der modernen IC-Technologien, die aus den
Metropolen stammten, und reproduzierten damit indirekt noch ein-
mal die ästhetischen Vorgaben der Metropolen.
Auf diese Weise setzte sich in den siebziger und achtziger Jahren in vie-
len Drittweltländern das funktionalistische Metropolen-Design in
den Drittweltländern durch. Als Beispiel sei die typografische Gestal-
tung mit der Schrift «Helvetica» genannt, die in verschiedenen Varian-
ten in Drittweltländern eine grosse Verbreitung fand (Abb. 158, 159).
Diese Entwicklung hat auch Bonsiepe beschrieben: «Man kann sich des
Erstaunens kaum erwehren, wie stark sich ‹Ulm› durchgesetzt hat (…)
Diese Beobachtung trifft auch auf weite Teile des japanischen De-
signs zu. Sony Design war von Ulm geprägtes Design – ausgeschliffen
bis ins Detail.»4
Der Prozess der Universalisierung des Grafikdesigns der Metropolen
wurde im Globalisierungsschub Ende des 20. Jahrhunderts noch
verstärkt. Die digitale Revolution machte die Omnipräsenz des Metro-
polen-Designs in der Peripherie auch technisch möglich. Durch das
Internet findet ein Werttransfer von den Metropolen in die Peripherie
statt. Manche sprechen von einer «zweiten Eroberung der Dritten
Welt» durch das Internet, von einem «trojanischen Pferd»5 oder gar
vom «Cyberimperialismus».6
Eine interessante Gegenbewegung findet seit einiger Zeit in der Volks-
republik China statt, wo grosse Anstrengungen unternommen wer-
den, um einen eigenständigen export- und konkurrenzfähigen Design-
sektor zu entwickeln.
Natürlich gab es in den Drittweltländern auch Eigenentwicklungen. In
der Regel fanden diese aber im informellen Sektor der Armut statt
und konnten mangels Sprachrohr in Gesellschaft und Wirtschaft nicht
kulturell mehrheitsfähig werden. Ein Ausnahmebeispiel ist das sozi-
alistische Kuba mit seiner beachtlichen eigenen kulturellen Produktion
in der politischen Grafik (Plakate) und im Filmdesign.

Grafikdesign in Lateinamerika

Die folgende Auswahl der Länder und Inhalte des Grafikdesigns in der
Peripherie folgt unter anderem der Zusammenstellung der dritten
241

und bisher letzten Ausgabe des Who’s Who in Graphic Design 7, in dem
ein weltweiter Überblick über die Strömungen des Grafikdesigns und
seiner ProtagonistInnen gegeben wird.
In allen nachfolgend aufgeführten Ländern ist auffällig, dass es meis-
tens künstlerisch Ausgebildete und an den visuellen Traditionen der
Metropolen Geschulte waren, welche das erste Grafikdesign entwarfen.

Argentinien
Das Grafikdesign wurde in den vierziger Jahren des 20. Jahr-
hunderts aus der europäischen Kultur importiert. Dieser Transfer
wurde über die Hinwendung zur Kunst der europäischen Moderne ver-
mittelt. Bis in die sechziger Jahre erlebte das Grafikdesign einen gros-
sen Aufschwung. Die Verbindung nach Europa funktionierte über die
Achse Buenos Aires-Ulm-Zürich-Mailand und wurde durch den
Argentinier Tomas Maldonado, den zweiten Direktor der Ulmer Hoch-
schule für Gestaltung, personifiziert. T. Maldonado eröffnete 1951
sein erstes Grafikdesign-Studio «Axis» in Buenos Aires und gründete
die typografisch orientierte Grafikdesign Zeitschrift tipografica. Nach
Ulm liess sich Maldonado in Mailand nieder.
Heute werden in den meisten argentinischen Universitäten Grafikde-
sign-Ausbildungen angeboten. Carlos A. Mèndez Mosquera von der
Universität Buenos Aires meint allerdings, dass «in vielen unserer Städ-
te immer noch grafische Barbarei vorherrscht.»8

Brasilien
Von den sechziger bis neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts
entstand in stetiger Auseinandersetzung mit dem europäischen und
teilweise auch mit dem US-Design das brasilianische Grafikdesign.
Es erlebte in den letzten beiden Jahrzehnten einen Aufschwung, der
nach Felipe Taborda mit der Entwicklung des rückständigen industri-
ellen Sektors im Zusammenhang stand – eine «zweite Eroberung Bra-
siliens» (sic!).9
Der Einzug der digitalen Techniken aus den Metropolen führte wie
überall in der Welt zu einer starken Umstellung der Designprofession.

4 Gui Bonsiepe, Peripherie und Zentrum. Acht Fragen an Gui Bonsiepe, in:
form+zweck, 2+3, 1991.
5 Richard Heeks, Failure, Success and Improvisation of Information Systems Projects in
Developing Countries, Development Informatics Working Paper Series. N° 11,
Manchester, 2002, S. 9.
6 Jack Epstein, Colonialismo Cibernetico? San Francisco, Freedom Magazines
International, Inc. Latin Trade, 2000.
7 Andrea Grossholz (Projektleitung), Who’s Who in Graphic Design, Zürich, 1994.
8 Ebenda, S. 19.
9 Felipe Taborda, in: Ebenda, S. 56f.
242

21. Design – Dritte Welt

Chile
In Chile gewann das Grafikdesign in den sechziger Jahren erste
Konturen. Auch hier war es an Europa orientiert und dem «universel-
len Design» der Metropolen verschrieben.10 In der demokratischen
Revolution unter Salvador Allende wurden die lateinamerikanische und
insbesondere die spezifisch chilenische Eigenart stark betont. Zu nen-
nen sind der Stil von Vicente Larreas und der revolutionär-sozialisti-
sche Stil, den die Ramona-Parra-Brigaden von den Graffiti und Wand-
gemälden für die Printmedien übernahmen. Nach dem Scheitern der
«Unidad Popular» wurde im Grafikdesign nur noch der international
gängige Stil gepflegt. In den achtziger Jahren wurde mit der Fachhoch-
schulgründung das Design bildungspolitisch institutionalisiert.

Kolumbien
Die kolumbianische Entwicklung verlief wie in den andern
lateinamerikanischen Ländern: Die europäische Designtradition
wurde kopiert. Die grosse präkolumbianische gestalterische Tradition
Kolumbiens von der Zeit vor dem 16. Jahrhundert war schon lange
zuvor zerstört worden. In den achtziger und neunziger Jahren fand eine
Auseinandersetzung mit den kümmerlichen Resten dieser ausgestor-
benen autochthonen Tradition statt, indem an die präkolumbianische
Ikonografie angeknüpft wurde.
Zentrale Figur des Grafikdesigns war Trujillo Magnenat, dessen Plaka-
te dem amerikanischen Stil der Mexikaner Orozco und Siqueiros ver-
pflichtet waren.

Kuba
Als einziges lateinamerikanisches Land schaffte Kuba auf der
Grundlage des radikalen Wandels durch die Revolution von 1959 die
Entwicklung eines relativ eigenständigen Designs – relativ deshalb,
weil der Einfluss des «Internationalen Stils» («Swiss Style») im kuba-
nischen Grafikdesign auch feststellbar ist. Vor der Revolution war
Design ein reines Importprodukt.
Kuba stellte dem Design politische und wirtschaftliche Aufgaben, die
sich in Lösungen in der Grafik, in der Plakatkunst, in Film und Foto-
grafie, im Verlagswesen und im Entwurf von Industrieprodukten
ausdrückten. In den achtziger und neunziger Jahren liess der kreative
Elan des kubanischen Grafikdesigns nach.
243

Mexiko
In Mexiko fand der Aufschwung des Grafikdesigns in den sech-
ziger Jahren statt. Wegmarke waren die olympischen Spiele von 1968,
wo Lance Wyman das Corporate Design gestaltete (Abb. 165). Von den
mexikanischen Universitäten, an denen Design gelehrt wird, genoss
die Design-Fakultät der autonomen Universität von Mexiko-Ciudad
Weltruf.11

Grafikdesign in Afrika

Ägypten
Das Design war wie Kunst und Architektur in Ägypten ein Be-
gleitprodukt des Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert. Design
hiess also Vertrautheit mit den europäischen Techniken und Medien
und Verarbeitung der europäischen Trends des «Internationalen Stils».
Wie in Lateinamerika ist es auffällig, dass es im Westen visuell ge-
schulte, freie Künstler waren, welche das erste Grafikdesign entwarfen.
Das pharaonische, koptische und islamische kulturgeschichtliche Erbe
spielte im Design kaum eine Rolle.

Marokko
Mit der politischen Unabhängigkeit Marokkos von Frankreich
war in den sechziger Jahren die Entstehung des Grafikdesigns verbun-
den. Die Impulse gingen auch hier von der westlichen Avantgarden-
kunst aus und wurden den marokkanischen Protagonisten über ihr
Studium in Frankreichs Akademien vermittelt. Die Künstler erforschten
die eigene reiche Tradition der arabischen Kalligrafie und der geo-
metrischen Symbole der Volkskunst. In den sechziger Jahren entstand
eine international beachtete Plakatgrafik, die mit den Namen von
Mohammed Melehi und Hussein Miloudi assoziiert wird.12
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, den Marokko in den siebziger
Jahren erlebte, stieg der Bedarf an Werbe- und Gebrauchsgrafik, der
mangels eigener Ausbildungsstätten und Fachhochschulen und wegen
der internationalen Isolation des Landes kaum befriedigt werden konn-
te. So machten viele Firmen ihre Gebrauchsgrafik selber, und zwar mit
Partnern, die sich aus eigenem Antrieb mit den neuen grafischen
Computertechniken vertraut gemacht hatten. Entsprechend war das
gestalterische Niveau.13

10 Marion Fonseca, in: Grossholz, Who’s Who, S. 96.
11 Francisco Fuentes de la Vega, in: Ebenda, S. 352.
12 Toni Maraini, in: Ebenda, S. 360.
13 Ebenda.
244

21. Design – Dritte Welt

Simbabwe
Der antikoloniale Befreiungskampf in den siebziger Jahren
machte einerseits neue Kräfte frei und schuf anderseits neue Be-
dürfnisse: Plakate, Flugblätter, Zeitschriften, Zeitungen usw. Vor der
Revolution von 1980 hatte das weisse Rassenregime die Aufträge an
Weisse vergeben. Nach der Revolution hatte Simbabwe Probleme mit
der Rekrutierung von GestalterInnen, die den neuen Aufgaben ge-
wachsen waren. Dazu kam noch, dass die Bedeutung des Designs für
den Aufbau der neuen Gesellschaft und für die Schaffung einer neuen
Identität vom Regime nicht erkannt wurde.14

Südafrika
Die Geschichte der Gestaltung, der Werbung und des Marke-
tings wurde in Südafrika von der kolonialistischen Situation be-
stimmt. Bis zu Beginn der neunziger Jahre wurden die gestalterischen
Aufgaben in die Hände von importierten Fachkräften gelegt. Die
Ausbildung erfolgte auf der Grundlage importierter Modelle und war
der weissen Bevölkerung vorbehalten. Die neuen IC-Techniken
erlaubten «die Aneignung des ‹Internationalen Stils›, dem blindlings
gefolgt wurde».15
Der Sturz des Apartheid-Regimes war mit Hoffnungen auf eine revo-
lutionäre Wirkung auf das Design verbunden. Die Neudefinition
der Bedürfnisse, Ziele und Werte einer nicht rassistischen Gesellschaft,
die Suche nach einer afrikanischen Identität, eröffneten dem Kom-
munikationsdesign ein breites Aktionsfeld. Als Erstes führte das zu
einer Infragestellung der tradierten blinden Gefolgschaft gegenüber den
internationalen Stilrichtungen.16 Die Suche nach einem eigenstän-
digen südafrikanischen Designansatz brachte aber auch eine «banale
Afrika-Nostalgie» hervor.17 Mangelndes Verständnis für das Design
und das Fehlen einer nationalen Infrastruktur zu seiner Förderung
wirkten sich auf die anfänglichen Hoffnungen lähmend aus.

Grafikdesign in Asien

Der Grafikdesigner Tai-Keung Kann aus Hongkong schätzt die Qua-


lität seiner Disziplin in Asien so ein: «Die allgemeine Hebung des
Lebensstandards in Asien hat das Bewusstsein der Menschen für Äs-
thetik gestärkt – ein Phänomen, das die Gestalter in diesem Raum
zur höchsten Kreativität motiviert. Nach 20-jährigem Ringen um mo-
dernes Design hat Südkorea ein überdurchschnittliches Qualitätsni-
veau erreicht, das sogar jenes Hongkongs übertrifft. Singapur und
245

Thailand hatten zwar durchaus ähnliche Möglichkeiten, engagieren sich


aber stärker auf dem Gebiet der Werbung als auf dem Feld des De-
signs. Alles spricht dafür, dass im kommenden Jahrzehnt der Osten in
der Welt führend sein wird. Daraus folgt, dass neben anderen asiati-
schen Ländern China, Taiwan und Hongkong im Brennpunkt des In-
teresses stehen werden.»18 In der Zwischenzeit sieht es ganz so aus,
als ob sich diese Einschätzung bewahrheiten sollte. Die Volksrepublik
China und die Republik Korea (Süd) machen gigantische Anstrengun-
gen, um sich mit Design wirtschaftlich neu zu positionieren.

China
In China wurde die Entwicklung des Designs seit der Revolution
1949 durch die Abschottungspolitik der fünfziger bis siebziger Jahre
stark behindert. Die Wirtschaftsreformen des Landes in den achtziger
und neunziger Jahren brachten eine Öffnung und eine rasante Ent-
wicklung des Wirtschaftsfaktors Design. Das chinesische Design stand
lange ganz und gar unter dem Einfluss Hongkongs. Heute ist China
auf dem besten Weg, seinen Rückstand gegenüber dem Westen aufzu-
holen und auf dem internationalen Markt eine Rolle zu spielen.19

Korea
In den letzen dreissig Jahren erlebte das Grafikdesign in (Süd-)
Korea «phänomenale Fortschritte».20 Auslöser auf dem Gebiet der gra-
fischen Gestaltung waren das wirtschaftliche Wachstum und die
neuen Technologien der Druck- und Computerindustrie. Eine grosse
Zahl von grossen und kleineren Werbeagenturen und Designbüros
etablierten sich im ganzen Land. Sie erhielten Aufträge von den grossen
Industriekonzernen der Pharma-, Verlags-, Elektronik- und Automo-
bilindustrie. Das koreanische Design unternahm grosse Anstrengungen,
um international wettbewerbsfähig zu werden. Die Erfolge haben sich
bereits eingestellt.21 Wegmarken für das Corporate Design waren
die olympischen Spiele von 1988 und die Fussballweltmeisterschaft von
2003 in Seoul.
Korea verfügt heute über siebzig Hochschulen und fünfzig Colleges so-
wie über 150 unabhängige Berufsausbildungsstätten für Grafikdesign.

14Chaz Maviyanne-Davies, in: Grossholz, Who’s Who, S. 585.
15 Marian Santhoff, in: Ebenda, S. 428f.
16 Ebenda.
17 Ebenda.
18 Ebenda, S. 255.
19 Ebenda.
20 Siwha Chung, in: Ebenda, S. 347.
21 Ebenda.
246

21. Design – Dritte Welt

Jährlich erhalten etwa sechstausend StudentInnen ihre Grafikdiplome,


die Korea «das Zeug dazu (geben sollen) auf dem Gebiet des Grafikde-
signs Weltklasse zu erreichen».22

Indien
Die fünf Jahrtausende alte indische Gesellschaft hat in den zwei
letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den Anschluss an die Me-
tropolen geschafft.23 Die Globalisierung des indischen Marktes und sei-
ner Medien und das Eindringen multinationaler Konzerne mit ihrem
globalen Werbeformat in den indischen Markt sowie der Zugang zu
den westlichen Medien durch Satellitenkanäle überrollten in den neun-
ziger Jahren das indische Grafikdesign sowohl hinsichtlich seines Stils
als auch hinsichtlich der Technik. Der neuen DesignerInnengeneration
scheint der Umstieg auf die elektronischen Medien gelungen zu sein.
Am Beispiel von Indien wäre es aufschlussreich zu untersuchen, in-
wiefern die Globalisierung bereits zu einer neuen kulturellen Kolonisa-
tion geführt hat.24

22 Grossholz, Who’s Who, S. 349.
23 Kisti Trivedi, in: Ebenda, S. 275.
24 Vgl. Ebenda.
249

22. DESIGN – GENDER

Gender Design, ein marginales Thema

Das Geschlecht (Gender) bringt eine soziale und kulturelle Prägung


mit sich, die die Alltagswahrnehmung und -handlung essenziell prägt.1
Design bildet da keine Ausnahme. Sowohl die Designtätigkeit als auch
der Gebrauch der Gegenstände wird durch die Geschlechtskonstruk-
tionen bestimmt.
Wer erwartet, dass die Behandlung der Genderproblematik einen eben-
so breiten Raum einnehmen wird wie die andern Kapitel, wird ent-
täuscht werden. Denn die Genderproblematik ist im Design ein margi-
nales Thema. In den bisherigen Designgeschichten kommt sie nicht
vor. Die wenigen existierenden Versuche einer Designtheorie beziehen
Geschlecht nie als eine soziale Strukturkategorie ein. Sie wähnen
sich allgemein-menschlich.2 In der Designausbildung wird Gender De-
sign nur vereinzelt gelehrt. So gibt es im deutschsprachigen Raum zum
Beispiel an der Kölner Fachhochschule einen Lehrstuhl für Gender
Design und an der Zürcher Hochschule für Gestaltung ein Nachdi-
plomstudium «Cultural and Gender Studies», wo ebenfalls das Design
thematisiert wird. 1989 organisierte das Design Center Stuttgart die
Ausstellung «Frauen im Design».3 In den neunziger Jahren wurde
in Deutschland das «Designerinnen Forum e.V.» (DF) gegründet, das
seither kontinuierliche, zum Teil auch internationale Aktivitäten ent-
wickelt. Doch damit sind auch schon fast alle Aktivitäten aufgezählt.

1 Uta Brandes, in: Vorlesungsverzeichnis zum Lehrgebiet Gender Design an der KISD,
Köln, 2004.
2 Uta Brandes, Designing Gender, in: Design ist keine Kunst, Regensburg, 1998, S. 82.
3 Design Center Stuttgart (Hg.), Frauen im Design. Berufsbilder und Lebenswege seit 1900,
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, 2 Bde., Stuttgart, 1989.
250

22. Design – Gender

Die Sozialgeschichte der Designerinnen ist noch zu schreiben

Die lange Absenz der Frauen in der bisherigen fast zweihundertjährigen


Designgeschichte und die Gründe für die Dominanz der Designer in
der Profession bis heute werden kaum theoretisiert, die Sozialgeschich-
te der Designerinnen muss also noch geschrieben werden. In vielem
wird sie vermutlich Parallelen mit der Sozialgeschichte der bildenden
Künstlerinnen haben. Die Geschlechtersegregation wird auch hier so-
ziale, institutionelle und ideologische Gründe haben.
— Zuerst muss die fast banale Feststellung gemacht werden, dass der
Beruf der Designerinnen in der industriellen Gesellschaft seit dem
19. Jahrhundert im Widerspruch zum vorherrschenden patriarchalen
Rollenverständnis der Geschlechter stand, das die Frau an Haus und
Familie bindet. Diese Bindung war die höchste Barriere für die Frauen.
Die Rolle des Entwerfers, eine Neuschöpfung der industriellen Revo-
lution, blieb den männlichen Protagonisten vorbehalten. Auch die Rol-
le des Kreativ-Schöpferischen war seit der Antike von den Männern
besetzt. Mit zunehmender Tendenz wurde seit der Renaissance das, was
Frauen produzierten, nicht mehr als Kunst oder Handwerk bewertet,
sondern als Teil oder «Ausfluss» ihres weiblichen Wesens. Es war
sozusagen «natürlicher» Teil ihres Geschlechts. Ihren Arbeiten wurden
bestimmte «weibliche» Eigenschaften zugeschrieben, die man in
ihnen auch suchte. Fehlten sie, wurde dies bemängelt. Solche Eigen-
schaften waren: zart, gefällig, lieblich, reizend, verspielt.4 Seit der
Goethezeit hielten sich hartnäckige patriarchale Vorurteile und Kli-
scheevorstellungen über die weiblichen gestalterischen Fähigkeiten.
Man schrieb den Frauen zwar Begabung für die Fläche, kindliches Se-
hen, Ursprünglichkeit, Intuition und Reichtum an Nuancen zu,
aber kritisierte den Mangel an umfassendem Blick und Intellekt sowie
Harmlosigkeit.5
Auch in der «heroischen Phase der Designgeschichte», in den zwanzi-
ger Jahren des 20. Jahrhunderts, die durch gestalterische und so-
ziale Progressivität geprägt war, waren Designer und Designerinnen
«zutiefst davon überzeugt, dass es geschlechtsspezifische Begabungen
gebe, wobei Fähigkeiten zu Intellektualität und dreidimensionalem
Gestalten prinzipiell Männern vorbehalten seien.»6
— Wichtige Voraussetzung für die Designprofession war lange Zeit
die Absolvierung einer Kunstakademie, einer technischen oder
kunstgewerbliche Schule oder die Ausbildung an Lehrwerkstätten, die
in der Neuzeit von Männern, den Pionieren der industriellen Revo-
lution, geschaffen und beherrscht wurden. Für die Designlaufbahn wa-
251

ren das konstituierende Faktoren, weshalb Frauen vor nicht zuletzt


auch psychologischen Barrieren standen.
— Eine ideologische Barriere bestand in der Symbolsprache des De-
signs, die im Design der industriellen Produktion stark durch den
Stempel männlicher Interessen (Maschinen, Automobile usw.) geprägt
war. Das Vokabular der Moderne – denken wir nur an die Maschinen-
metapher, die den «Internationalen Stil» nachhaltig prägte – trug
mit andern Worten die Merkmale des herrschenden männlichen Ge-
schlechts. Die Überwindung dieser Barriere verlangte von den De-
signerinnen der Vergangenheit, aber auch heute noch ein hohes Mass
an bewusster oder unbewusster Anpassung an die herrschenden
«Regeln des Designs».

Frauen im Design

Die Widerstände der Männer und der patriarchalen abendländischen


Gesellschaft gegen das Eindringen der Frauen in die Männerdomäne
des Entwerfens waren im 19. Jahrhundert vielschichtig und hartnäckig
und hielten auch im modernen, von progressiven Schüben gekenn-
zeichneten 20. Jahrhundert an. Die Emanzipation der Frauen war
inzwischen aber so weit fortgeschritten, dass man sich gezwungen sah,
Konzessionen zu machen.
So gab es auf den Weltaustelllungen in Wien 1873, in Philadelphia 1876,
in Chicago 1893 und in Paris 1900 Frauenpavillons oder so genannte
«Frauenpaläste», in denen die Produkte der Frauenarbeit ausgestellt
wurden. In Deutschland wurden die ersten weiblichen Ausstellungsab-
teilungen erst 1914 eingerichtet, und zwar etwa gleichzeitig auf der
Kölner Werkbundausstellung und auf der «Ausstellung für Buchgewer-
be und Graphik» in Leipzig. In separaten Räumlichkeiten und mit
eigenem Katalog durften die Frauen dort ihre Produkte präsentieren.
Die Absonderung und die Ausgrenzung aus der männlichen Kunst
sollte jede Konkurrenz mit den Männern verunmöglichen.7
Im Bauhaus war in der Begeisterungsphase im ersten Jahr die Gender-
frage kein Thema. Es wurde dann jedoch eine «Frauenklasse» ein-
gerichtet, die sehr bald identisch war mit der Textilabteilung, in die von
jetzt an die Mehrzahl der Frauen, welche die Aufnahme ins Bauhaus
geschafft hatten, eingegliedert wurden. Bei der Aufnahme wurden die

4 Magdalena Droste, in: Frauen im Design, Stuttgart, 1989, Band 1, S. 175.
5 Ebenda, S. 190.
6 Katrin Pallowski, in: Frauen im Design, Band 2, S. 13.
7 Magdalena Droste, in: Frauen im Design, Band 1, S. 186.
252

22. Design – Gender

Bewerberinnen strenger beurteilt als die Männer, das Ziel war erklärter-
massen die Zugangserschwerung.8 Die Bauhaus-Statistik zeigt, dass
der prozentuale Anteil der Studentinnen im Bauhaus von Jahr zu Jahr
geringer wurde.9 Grund: die zunehmende Konzentration auf Ent-
wurfsarbeit für die Industrie – Technik und Industrie galten bekannt-
lich nicht als weibliche Arbeitsbereiche.
Auch in den fünfziger Jahren erging es den Frauen trotz neuer pro-
gressiver Entwicklungen in der Designgeschichte statistisch ge-
sehen nicht viel besser: In der Hochschule für Gestaltung in Ulm be-
trug der Frauenanteil in den fünfundzwanzig Jahren ihres Bestehens
ganze 15 Prozent von insgesamt 640 StudentInnen.

Das Schicksal begabter Designerinnen

«In der Geschlechterfrage, so scheint es, sind die sonst so sehr um sozi-
alkulturelle Avantgardefunktionen bemühten Designer eines der
Schlusslichter der Entwicklung», notiert Katrin Pallowski.10 Designer-
innen waren in der Männerdomäne Design die Ausnahmen. Die
folgende Auswahl symptomatischer Schicksale ist zwar zufällig, aber
exemplarisch zu verstehen:
Eine Designerin, die in Designgeschichten nur nebenbei erwähnt wird,
aber zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des Designs gehört11, ist
Eileen Gray (1878 – 1976). Dieter Weidmann stellt fest: «Obwohl phäno-
menal talentiert und fleissig, konnte sie sich gegen Platzhirsche wie
dem wegen seiner Geltungssucht geradezu berüchtigten Le Corbusier
nur schwer behaupten und liess sich aufgrund ihrer fast krankhaften
Schüchternheit ständig in den Hintergrund drängen.»12 Erst in hohem
Alter durfte sie mit der Wiederentdeckung der Art Déco ihren eigenen
Nachruhm noch erleben.
Eileen Gray war weit davon entfernt, aus ihren funktionalistischen Ent-
würfen (Abb. 62) Statements zu machen, ihr ging es um durchdachte
Funktion, wie ihr legendäres Beistelltischchen zeigt, dessen Gestell ge-
schickt unter ein Bett geschoben werden kann. «Ihr Beispiel zeigt
deutlich, welches Potenzial in Architektur und Design in diesem Jahr-
hundert ungenutzt blieb.»13
Charlotte Perriand (1903 – 1999): Ihre Möbel entstanden in Zusammen-
arbeit mit Le Corbusier. Sie tragen deutlich ihre Handschrift und
wurden berühmt, aber nicht unter ihrem, sondern unter dem Namen
von Le Corbusier. Wer bringt den berühmten Stahlrohrklassiker
«Chaiselongue 2072» schon mit Perriand in Verbindung (Abb. 50)?
253

Le Corbusier entwarf nach dieser Zusammenarbeit nie wieder Möbel,


Perriand hingegen arbeitete bis ins hohe Alter als Möbelentwerferin.
Ihr Schicksal ist ein Paradebeispiel dafür, dass es fast unmöglich war,
sich als eigenständige Designerin einen Namen zu machen.
Auch im Bauhaus bildeten die Frauen eine Ausnahme. Marianne Brandt
(1893–1983) durfte als einzige Frau 1928 die stellvertretende Leitung
der Metallwerkstätte übernehmen. Brandt gilt als eine der wichtigsten
Künstlerinnen der Bauhaus-Metallwerkstatt. Bekannt wurde sie vor
allem durch ihre Entwürfe von Industrieprodukten und Einzelstücken
aus Metall und Glas (Abb. 70). Nur die klassischen Frauendisziplinen
wie die Weberei waren in weiblicher Hand: Gunta Stötzl (1897 – 1983)
leitete die Dessauer Webklasse.
Eine Möglichkeit, sich als Frau einen Namen zu machen, war das Auf-
treten als Gattin eines Designers. So traten zum Beispiel Ray Eames
in den vierziger Jahren (Abb. 115) und später in den achtziger Jahren
Susi Berger (Abb. 201) und Trix Haussmann (Abb. 202) immer zusam-
men mit ihren Ehemännern Charles, Ueli beziehungsweise Robert
als KünstlerInnen- und DesignerInnen-Ehepaare auf. Diese Frauen wa-
ren an allen Arbeiten ihres Mannes massgeblich beteiligt. Mit ihrem
gemeinsamen Auftritt nahmen sie in Kauf, in einer nach wie vor patri-
archal geprägten Gesellschaft nur im Schatten ihres Ehepartners wahr-
genommen zu werden.

Harte und weiche Designdisziplinen

Seit einigen Jahrzehnten gibt sich das Design als Beruf, der allen Ge-
schlechtern offen steht. Die Zahl der Studentinnen, die den Aus-
bildungsgang Design belegen, hat drastisch zugenommen. Die bei den
Studierenden erreichte Geschlechterparität ist bei den Lehrenden
allerdings nicht annähernd erreicht. Die Männerdominanz im Lehrper-
sonal der Designhochschulen ist eklatant – zu untersuchen wäre, wie
sich diese Dominanz auf das Sprachklima auswirkt. «Die Hochschulen,
an denen Design gelehrt wird, leben also gegenwärtig mit einem
Widerspruch: Sie sind nicht mehr Hochschulen primär für Männer,
aber immer noch von Männern geprägt.»14

8 Magdalena Droste, in: Frauen im Design, Band 1, S. 189.
9 Ebenda, S. 199.
10 Katrin Pallowski, in: Frauen im Design, Band 2, S. 11.
11 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 20.
12 Ebenda, S. 20.
13 Ebenda.
14 Katrin Pallowski, in: Frauen im Design, Band 2, S. 15
254

22. Design – Gender

Uta Brandes stellte fest, dass es im Design von Beginn an «eine Seg-
mentierung, nämlich eine Aufspaltung in so genannte harte und
weiche Bereiche gibt».15 Hier die harten Disziplinen wie Industriede-
sign, Medien- und Interface-Design oder Management, dort die haus-
arbeitsnahen, auf das Private und das Heim ausgerichteten Disziplinen
wie Textil-, Mode-, Schmuck-, Keramik-Design oder Illustration.
Diese Differenzierung ist in der beruflichen Praxis sehr ausgeprägt, aber
auch in der Ausbildung – mit abnehmender Tendenz – festzustellen.
In Industrieunternehmen sind Designerinnen immer noch selten. So
kommt denn auch das deutsche «Frauenkulturbüro NRW» zu der ein-
deutigen Aussage: «Zwar steigt die Zahl der Studentinnen im Industrie-
design stetig, doch die geschlechtsspezifische Benachteiligung auf dem
Arbeitsmarkt bleibt.»16
Mit der geschlechtsspezifischen Segmentierung ist nach Uta Brandes
aber nicht nur eine «Geschlechterzueignung», sondern auch eine
«Bewertungshierarchie» verbunden.17 Die gesellschaftliche Höherbe-
wertung der harten Disziplinen widerspiegelt die nach wie vor exis-
tierenden geschlechtsspezifischen Herrschaftsverhältnisse.
Das trifft seit jeher auch auf das Möbeldesign zu. Obwohl das Möbel-
design eher den «weichen» und «inneren» Bereich des Heims be-
trifft, ist es im Gegensatz zum Textildesign eine männliche Domäne.
Diese Besonderheit hat eine einfache Erklärung: Berufsdisziplinen, die
ökonomisch und sozial anerkannt, also mit Prestige verbunden sind,
werden zu männlich besetzten Disziplinen. Die Möbelproduktion
ist ökonomisch bedeutend, und Möbel gehören zu den ausgeprägt re-
präsentativen und statusbildenden Gegenständen. Das befördert das
Möbeldesign in eine vorwiegend männliche Domäne.
Eine Antwort auf die Geschlechtersegregation im Design war im Ge-
folge der Frauenbewegung der siebziger und achtziger Jahre des
letzten Jahrhunderts die Selbstorganisation der Designerinnen. 1992
wurde in Deutschland das «Designerinnen Forum» (DF) gegründet,
das mit seinen Aktivitäten das Bewusstsein für die Berufssituation
von Designerinnen schaffen und ein Netzwerk von Beratungsangeboten
aufbauen will. 2003 organisierte das DF in Kooperation mit der Köln
International School of Design (KISD) den «Ersten Europäischen
Gendertag», wo es um Bilder der Weiblichkeit und Männlichkeit im
Design, in den Medien und der Automobilwelt ging.
255

Gender und Markt

Zur Design-Gender-Problematik gehört auch die geschlechtsspezifi-


sche Rezeption des Designs in Bezug auf Produkte und BenutzerInnen.
Gender Design beschäftigt sich mit der scheinbaren Geschlechtsneu-
tralität der Produkte, die sich bei genauem Hinsehen als geschlechtsspe-
zifisch konnotiert erweisen.
Uta Brandes wies in ihren Arbeiten die weibliche und männliche Kon-
notation der einzelnen Formen der Mobiltelefone nach. Das Pro-
duktdesign von «Handys» bezieht beim Entwurf seiner Produkte be-
wusst und in durchaus manipulativem Sinn die Assoziation mit
geschlechtsspezifischen Objekten mit ein – mit entsprechendem Erfolg.
Der Markt scheint die Erkenntnisse aus der Geschlechterfrage ge-
konnt zu instrumentalisieren, um das «weibliche Marktsegment bedie-
nen zu können».18
Mit seinen Auftraggebern hat das Design zum Beispiel entdeckt, dass
auf Grund demografischer und statistischer Aussagen die Zukunfts-
märkte weiblicher sein werden. Das «Kompetenzzentrum Frau und
Auto an der Hochschule Niederrhein» ging deshalb der Frage nach, wie
Frauen sich das weibliche Auto wünschen. Es ermittelte die An-
sprüche und Bedürfnisse in repräsentativen Recherchen und erstellte
daraus einen «Frauenautoindex». Auch eine Art von «Gender Main-
streaming»! Nur werden dabei vermutlich die alten sexistischen Rollen-
klischees weitergegeben.19

15 Uta Brandes, in: Design ist keine Kunst, S. 83.
16 Frauenkulturbüro NRW e.V., www.frauenkulturbuero-nrw.de.
17 Uta Brandes, in: Designing Gender, S. 83.
18 Uta Brandes, in: Das undisziplinierte Geschlecht, Opladen, 2000, S. 184.
19 Gender Mainstreaming bedeutet die Gesellschaftsgestaltung ohne Ausgrenzung des
einen oder anderen Geschlechts auf dem Weg zu einer gleichgestellten Gesellschaft.
257

23. DESIGN – THEORIE

Neue theoretische Bemühungen

Wer in den folgenden Ausführungen eine Theorie des Designs erwar-


tet, muss zur Kenntnis nehmen, dass eine solche Theorie nicht das
intelligible Produkt eines Einzelnen sein kann, sondern allenfalls das
Ergebnis einer Designdisziplin sein könnte, welche ihre Praxis re-
flektiert. Gibt es gegenwärtig eine solche Disziplin? Zu beobachten sind
an verschiedenen Orten zaghafte Bemühungen, die von der Erkennt-
nis ausgehen, dass heute ein Designdiskurs dringend notwendig ist.
Solche Bemühungen finden an verschiedenen Designhochschulen
statt, bei denen die Theoriebildung – so sollte man wenigstens meinen
– zum Kerngeschäft gehört. Hier sind im deutschsprachigen Raum
namentlich die Hochschulen von Offenbach, Weimar, Köln, Essen, Bre-
men und Schwäbisch Gmünd zu erwähnen. Von Letzterer ist in den
neunziger Jahren eine Initiative zur Theoriebildung ausgegangen.1
Es gibt aber auch zwei hochschulübergeifende Initiativen: die Grün-
dung der «Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung»
(DGTF) im Jahr 2002 und das «Swiss Design Network» (SDN),
das 2004 von der Regierung als nationales Forschungsnetzwerk der
schweizerischen Hochschulen für Gestaltung anerkannt worden ist.2
Beide Institutionen hielten im Jahr 2004 Symposien ab, die der Design-
theoriebildung gewidmet waren. Ausserhalb des deutschen und schwei-
zerischen Raumes gibt es Bemühungen zur Designtheorie, deren Be-
ginn schon länger zurückliegt: Im angloamerikanischen Bereich sind
diese mit Namen wie Morris Asinow, Christopher Alexander und Bruce
Archer verbunden, im frankokanadischen mit Alain Findeli (Montreal).

1 Diese Initiative ist dokumentiert in: Cordula Meier (Hg.), Design Theorie. Beiträge zu einer
Disziplin, Frankfurt a.M., 2003.
2 Vgl. www.dgtf.de und www.swiss-design.org.
258

23. Design – Theorie

In Europa hat der so genannte Bologna-Prozess zu Beginn des 21.Jahr-


hunderts mit seiner von oben initiierten und gesteuerten Durchset-
zung verschiedenwertiger Hochschulausbildungsgänge einen sanften
Zwang auf die Theoriebildung ausgeübt. Die Masterausbildung ist
auch im Bereich Design nicht ohne vertiefte theoretische Auseinander-
setzungen vorstellbar – das Gleiche gilt im Grunde freilich auch für die
Bachelor-Grundausbildung.
All den erwähnten Initiativen und Bemühungen ist gemeinsam, dass sie
erst am Anfang stehen und kaum untereinander verbunden sind.
Das Design steht also am Beginn eines durchaus viel versprechenden
Prozesses. Die folgenden Ausführungen bilden einen Beitrag zu diesem
Prozess. Sie reflektieren als metatheoretische Überlegungen das Ver-
hältnis des Designs zur Theorie und stellen Bedingungen und Möglich-
keiten für eine Designtheorie zur Diskussion.

Theorielosigkeit des Designs?

Gui Bonsiepe charakterisierte treffend die Situation im Design: «Schaut


man sich die gegenwärtige Lage des Designs an, fällt der eklatante
Widerspruch zwischen der Publizität des Designbegriffs – nach dem
Motto ‹Alles ist Design› – und der Theorielosigkeit des Designs auf. Ich
schreibe dieses Phänomen nicht einer Theoriemüdigkeit zu, wie
Habermas sie für die Sozialwissenschaften feststellte. Design ist heute
ein theoretisch unerschlossenes Phänomen, und das trotz (oder sollte
man sagen wegen?) seiner allgegenwärtigen Präsenz im Alltag und
in der Wirtschaft.»3 Dem ist zuzustimmen, zumal Bonsiepe aus-
drücklich «von der gegenwärtigen Situation» und von «heute» spricht.
Er konnte 1992 die neusten Bemühungen noch nicht kennen. Er
deutete damit aber auch an, dass der Zustand des Designs nicht immer
so war; denn in der Designgeschichte gab es immer wieder Theorien
oder zumindest Theorieversuche und Manifeste.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmte Gottfried Semper
in Deutschland und in der Schweiz eine frühe theoretische Debatte
über das Design. In der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts entwarf
William Morris, der einflussreiche Initiator der Arts & Crafts-Bewe-
gung, zusammen mit John Ruskin die erste soziale Theorie des Designs.
Im Jugendstil theoretisierte Henry van der Velde das Verhältnis des
Designs zur Industrie. Die Wiener Moderne verfügte im «Wiener
Kreis» und im «Verein Ernst Mach» über ein starkes theoretisches, zum
Teil wissenschaftliches Argumentarium zur Begründung ihrer Praxis.
Im deutschen Werkbund verfügten die beiden kontrahierenden Lager
259

in der Person von Hermann Muthesius und Henry van der Welde über
Theoretiker, welche die Anfänge des Funktionalismus eingehend
begründeten. Der Konstruktivismus, insbesondere der russische, liefer-
te gesellschaftspolitisch fundierte Theorien zur Designpraxis. Die
Theorie des Funktionalismus wurde dann im Bauhaus zu einer ratio-
nal-analytischen Entwurfsauffassung vertieft und in der Ära Meyer zu
einer sozialen Theorie ausgebaut. Die Ulmer Hochschule für Gestal-
tung legte in den fünfziger und sechziger Jahren die bisher umfassend-
ste theoretische Begründung der Gestaltung vor. Von ihr stammte
die erste wissenschaftliche Gestaltungsmethodik, die auf das deutsche
und internationale Design der sechziger, siebziger und achtziger Jahre
einen nachhaltigen Einfluss ausübte. Rationale Ansätze, die diskursori-
entiert die Nähe zu wissenschaftlichen Nachbardisziplinen aufwiesen,
gab es in den fünfziger und sechziger Jahren auch in der Schweiz
(«Neue Grafik» oder «Swiss Style»), England, Holland und in den USA.
Es ist schwierig nachzuvollziehen, wie angesichts der genannten Theo-
riebemühungen Cordula Meier in ihrem ansonsten sehr aufschlussrei-
chen und anregenden Buch zur Designtheorie zu der Aussage kommen
konnte, dass man «erst seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts
(…) von designtheoretischen Überlegungen sprechen (kann)».4
Es scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein: In den achtziger Jahren
versandete mit der «Überwindung des Funktionalismus» der theo-
retische Diskurs. In den achtziger und neunziger Jahren lagen Theorie
und Wissenschaft einerseits und visuelle Gestaltung anderseits weiter
auseinander denn je. Die Theoriebildung des Designs steht seit einiger
Zeit vor einem Neuanfang.

Theorieferne des Designs

Thomas Wagner stellte 2004 am zweiten DGTF-Kongress in Hamburg


zum Thema «Wie viel Theorie verträgt die Profession?» fest, dass
viele erfolgreiche DesignerInnen gegenüber der Theorie unsicher seien
und das Klima zwischen Theorie und Praxis im Design gespannt sei.
Er stellte die rhetorische Frage, ob der Grund dafür im schlechten Ge-
wissen liege, das aus einer weit verbreiteten Praxisfetischisierung
resultiere, in der Angst vor der Macht des Diskurses oder gar in Ver-
dächtigungen, dass die Theorie die Praxis bevormunden wolle? Es ist
eine empirische Erfahrung des Autors, dass sich die DesignerInnen

3 Gui Bonsiepe: Die sieben Säulen des Design. Design braucht keine Manifeste,
sondern Fundamente in: form+zweck, 20, Berlin, 2003.
4 Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 21.
260

23. Design – Theorie

tatsächlich nicht gern dem theoretischen Diskurs stellen. Fitzgerald K.


Quietude notiert: «Design hat keine Tradition der Kritik oder des
Überzeugtseins vom Wert der Kritik. Ausbildungsprogramme des De-
signs betonen weiterhin das visuelle Ausdrucksvermögen, nicht aber
sprachliches oder schriftliches Ausdrucksvermögen. Das Ziel besteht
darin, einem Kunden oder hypothetischen Publikum eine Entwurfs-
idee zu verkaufen. Selten wird Design in Bezug auf Kultur und Gesell-
schaft thematisiert.»5 Design interessiert sich nicht für Theorie, sondern
für Rhetorik. Nicht das Warum und Wofür, sondern das Wie steht
im Vordergrund. Das ist einerseits verständlich, denn in der Praxis zählt
in der Regel der gute Entwurf und nicht die vermeintlich sekundäre
Recherche und die brillante Analyse. Anderseits scheint darin auch
eine Angst zu liegen, die zu einer Abwehrhaltung führt. Es ist die Angst
vor der vielleicht unliebsamen theoretischen Erkenntnis, dass es mit der
Freiheit des Designs gar nicht so weit her ist, wie man sich einbildet.
Vielleicht wehren sich die DesignerInnen instinktiv gegen die Selbster-
kenntnis, dass sie einen Mythos leben, dass sie dem Markt im Grunde
retrogradisch nachhinken und ihn kaum schöpferisch beeinflussen
können und dass sie in der Praxis nicht Demiurgen sondern Diener
übergeordneter wirtschaftlicher Innovationszwänge sind?

Die Hypothek der Kunst

Aus dem historischen Überblick ist ein Grund für die Behinderung des
theoretischen Diskurses in der Kunstlastigkeit des Designselbstver-
ständnisses zu erkennen. Das Design verstand sich als Unterkategorie
der Disziplin Kunst und nicht als als selbständige Disziplin und
überliess Theorie und Geschichtsschreibung allzu oft der Kunstwissen-
schaft und Kunstgeschichte. Eine starke, bisweilen dominante Tra-
dition in der Geschichte des Designs seit der Industrialisierung bis in
die Gegenwart war und ist von der Kunstmotivation, von der Kunst-
inspiration für ein expressives Design geprägt. Sie hatte seit jeher die
Tendenz, die eigene Praxis als künstlerische zu fetischisieren, sich
des rationalen Argumentierens zu entheben und stattdessen die Sphäre
der irrationalen künstlerischen Kreativität zu lieben und die Aura des
Autorendesigns zu pflegen. In diesem Kontext entstand immer aufs
Neue der Mythos vom kreativen «Artist-Designer», der mit seinem
«guten» Design die Dinge der Welt arrangiert. Der Mythos vom kreati-
ven Schöpfer – Frauen spielen in der abendländisch-patriarchalen
Tradition keine schöpferische Rolle – nährte sich auch aus der empiri-
schen Erfahrung, dass es selbstbezogene Kreativität immer wieder
261

braucht, um Neuem in der Geschichte zum Durchbruch zu verhelfen.


Der Mythos war aber dazu angetan, der Designprofession den Blick
auf die Realität eher zu verstellen als zu erhellen. Otl Aicher fragte des-
halb: «war kunst nicht insgesamt ein alibi, um die wirklichkeit denen
zu überlassen, die sie beherrschten?»6 Und diese Wirklichkeit sah
und sieht bekanntlich nicht nach «gutem» Design aus. Aber die Zunft
hielt liebend gern an den Ritualen des Autorendesigns (Jurierung,
Preisverleihung, individualisierte Ausbildungskarrieren usw.) fest.
Die Wurzeln des antirationalen Designmythos liegen seit der europäi-
schen Aufklärung in der Hypostasierung der gesamten ästhetischen
Sphäre ins Reich des «Höchsten»‚ «Erhabenen» und «Interesselosen»,
in der Irrationalisierung der künstlerischen Produktion und in der
Transzendierung des künstlerischen Werks in die auratische Ferne völ-
liger Autonomie. So lastet auf dem Design seit Ende des 18. Jahr-
hunderts die «Hypothek der Kunst» (Lucius Burckhardt), die den Weg
zur Industrialisierung des Designs immer wieder behinderte.7
Werkbund und Bauhaus, um nur zwei prominente Beispiele zu nen-
nen, lebten in der ständigen «Auseinandersetzung einerseits mit
Kunstakademien und anderseits mit den Kunstgewerbeschulen, wie sie
aus dem späten 19. Jahrhundert überkommen waren. Auch die Ent-
werfer von Gegenständen des Kunstgewerbes waren Künstler, die an
den genialen Allüren der Kunstakademie geschult waren.» Das
Bauhaus löste die Auseinandersetzung, indem es die neu(alten) Figu-
ren des «Lehrlings», «Gesellen» und «Meisters» schuf, ein eher
«krampfhafter Versuch» wie L. Burckhardt bemerkte.8

Markt kontra Designtheorien

Die Designtheorien der Moderne standen seit den Reformbewegungen


des 19. Jahrhunderts alle in einer gemeinsamen historischen Vermitt-
lungslinie: Basierend auf der Tradition der Aufklärung, traten sie mit
hochgesteckten sozialreformerischen Vorstellungen und moralischen
Anliegen an. Sie hatten die Ambition, mit «gutem Design», mit dem
Wissen um angemessene Gestaltungslösungen und mit sozialem Enga-
gement die Welt etwas besser zu machen.

5 Fitzgerald K. Quietude, zitiert aus: Gui Bonsiepe, Von der Praxisorientierung zur
Erkenntnisorientierung, in: Erstes Design Forschungssymposium, 14.,15. Mai 2004,
Swiss Design Network (SDN), Zürich 2005, S. 17 (www.swiss-design.org).
6 Otl Aicher, in: Herbert Lindinger (Hg.), Hochschule für Gestaltung Ulm.
Die Moral der Gegenstände, Berlin, 1991, S. 124.
7 Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 189.
8 Ebenda.
262

23. Design – Theorie

Ebenso gemeinsam war diesen Theorien, dass sie zwar die Praxis der je-
weiligen Designgemeinschaft reflektierten, aber im Widerspruch zur
effektiven wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität standen. Die
theoretischen Begründungen für ein «gutes Design» und für die
Durchsetzung des guten Geschmacks in der breiten Bevölkerung hiel-
ten den Fakten des realen industriellen Produktionsprozesses in der
Regel nicht stand. Im historischen Rückblick kann man feststellen,
dass sich das wirtschaftliche Paradigma des «Mehr-schneller-billiger»
im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts im Design trotz Widerständen
allmählich durchsetzte. Wenn zum Beispiel ab Mitte des 20. Jahr-
hunderts in Deutschland dem viel geschmähten amerikanischen Sty-
ling, das heisst der marketingorientierten Verwandlung der Ober-
fläche der Objekte, noch heftiger Widerstand entgegengesetzt wurde,
so war Ende der achtziger Jahre das Mainstreamdesign bereits voll-
ständig dem marktgängigen Prinzip des «form follows fun and emoti-
on» verschrieben.
Das Beispiel des Stylings zeigt, dass das Design dort Erfolg hatte, wo es
die Prinzipien des Marktes adäquat abbildete. Zwei weitere Beispiele:
1. Das Prinzip der «Wohnmaschine» von Le Corbusier setzte
sich nicht mit seinen elitären Objekten durch, sondern im kulturhisto-
risch viel bedeutenderen Bauwirtschaftsfunktionalismus der Tra-
bantenstädte und Plattenbausiedlungen der sechziger und siebziger
Jahre des 20. Jahrhunderts.
2. Das Bauhaus produzierte an den Bedürfnissen der arbeitenden
Bevölkerung vorbei und scheiterte an der deutschen Vorkriegsrealität.
Es setzte sich aber in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren
in der neofunktionalen Massenproduktion und in der funktionalen
Werbegrafik des «Swiss Style» weltweit durch.

Designtheorie als Ideologie

Die theoretischen Begründungen des Designs ignorierten die ökono-


mischen Realitäten oder blendeten sie aus. Sie wollten nicht wahr-
haben, dass Produktdesign unter anderem ein Ergebnis des ökonomi-
schen Zwangs zur ständigen Revolutionierung der Warenwelt und
zur standardisierten Massenproduktion ist, so wie Innovation und der
«Zwang zum ewig Neuen» im Grunde ein Marketingtrick sind.9
«Die Modernen (…), die glaubten, den ‹guten Geschmack› ein für alle
Mal verankern zu können, wollten die ökonomische Notwendigkeit
des ständigen Modewandels nicht wahrhaben. Viel eher als ihrer gut ge-
meinten erzieherische Aktion ‹Die gute Form› gelang es ungefähr
263

gleichzeitig den Amerikanern, mit Baseballmütze, Bluejeans, Coca-


Cola, Disney, Hollywood, McDonald’s und Nike weltweit nachhaltig
auf den kollektiven Geschmack einzuwirken.»10
Die sozialästhetische Idee der Moderne, dass guter Geschmack von der
Gestaltung gemacht werde, hat ihre Wurzeln in der vormodernen Er-
fahrung, wonach die feudale gesellschaftliche Elite in Mode und Kunst
den Geschmack weitgehend von oben nach unten bestimmen konnte.11
Die GestalterInnen und KünstlerInnen der Moderne täuschten sich, als
sie annahmen, dass dies auch für die Massenkulturen des 20. Jahr-
hunderts zutreffe.
Den wirtschaftlichen Kontext nicht kritisch zu analysieren war für eine
Disziplin, die sehr direkt von diesem Kontext determiniert wird,
fatal. Die mit der Neugestaltung der Dinge und der Umwelt verbunde-
ne Hoffnung auf eine bessere Welt blieb eine uneingelöste Utopie.
Ja, die Idee der idealistischen und positivistischen Designtheorien von
einer positiven gesellschaftlichen Wirkung des Designs in der Kon-
sumgesellschaft war ein naiver Irrtum. Das Design konnte nicht zu
einer die Gesellschaft prägenden Kraft entwickelt werden. Vielmehr be-
stimmten die wirtschaftlichen, technischen, sozialen und kulturellen
Rahmenbedingungen ihrerseits das Design und die Ästhetik der Din-
ge. «Es gibt kein unabhängiges Design.» Der Ulmer Otl Aicher, der
dies 1970 sagte, wagte später die These, dass das Industriedesign den
Zerfall einer humanen Welt nicht verhindert, sondern sogar beschleu-
nigt habe, da «es sich vor den alles bestimmenden apparat der markt-
beherrschung und wirtschaftsexpansion spannen liess».12
In diesem Licht betrachtet, wird das Beharren der Designtheorie auf
ihren ästhetischen und moralischen Ansprüchen zur Ideologie. An-
ders formuliert: Die ideologische Komponente der Designtheorien be-
steht in der Ausblendung oder Ignoranz gegenüber den realen wirt-
schaftlichen Mechanismen und in deren Verbrämung mit erhabenen
künstlerisch-ästhetischen und gebraucherorientierten Absichten. Das
Verfügen über eine Utopie oder eine Vision ist an und für sich noch
keine Ideologie. Die Utopie muss sich aber auf die Praxis beziehen und
sich an ihr spiegeln. Wenn sie nur zur Aufrechterhaltung eines Mythos
dient, wird Theorie zur Ideologie.

9 Meret Ernst, Vom ewigen Zwang zum Neuen, in: Hochparterre, 3, 2004, S. 40.
10 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 70.
11 Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 76.
12 Otl Aicher, Die Ästhetik ist das große Geschäft, in: form 50, S. 5ff.
264

23. Design – Theorie

Zwei aktuelle Beispiele

Dieter Rams («Weniger Design ist mehr Design»), der Chefdesigner der
Firma Braun ab den fünfziger Jahren und prominenter Vertreter der
«Guten Form», befand im Jahr 2000, dass das «funktionale Design»
wieder eine Zukunftsaufgabe habe. Rams wörtlich: «Die Gestaltung der
Produkte muss zur nachhaltigen Verkleinerung der Produktmenge
beitragen. (…) Der Designer (…) trägt wieder soziale Verantwortung,
denn neues Design muss: Herstellungs- und Betriebskosten senken
(…), die Art der Nutzung verbessern, Umweltverträglichkeit sichern,
zum richtigen Verhalten auffordern.»13 Erstaunlich, was das Design
nach der Phase der postmodernen Beliebigkeit plötzlich alles wieder
leisten soll. Nach allen Erfahrungen der Vergangenheit wird es einmal
mehr überfordert sein!
Von guten Absichten und gleichzeitig theoretischer Hilflosigkeit zeugt
auch die «Zweite Deklaration des St. Moritz Design Summit» aus
dem Jahr 2003. Dreissig namhafte DesignerInnen und ExpertInnen ver-
abschiedeten in ihrer jährlich stattfindenden Alpen-Retraite folgende
Erklärung (in vollem Wortlaut):
«Im Rahmen globaler Ökonomie werden im Geschäftsleben oft Ent-
scheidungen über Design zu kurzfristig getroffen. Zunehmend ge-
rät Design unter willkürlichen Termindruck und wird zur hektischen
Innovationsmaschine. Das lässt keine Zeit zum Nachdenken und ver-
hindert vernünftige Entwicklungsprozesse. Deshalb ermöglicht Design
häufig dubiose Innovationen, die die Welt mit nur immer mehr Din-
gen für jene überschwemmen, die ohnehin schon alles haben.
Intelligentes Design dagegen verweigert sich der Anbiederung an Mar-
keting Hypes und streikt. Wir fordern Zeit, um über die Situation
des Design und unsere Position in der Gesellschaft nachzudenken:
zum Nutzen einer besseren Design- und Lebensqualität. Deshalb
erklären wir den 21. Juni jeden Jahres zum internationalen
Design-Aktionstag. St. Moritz, Dezember 2003.»14
Im Gegensatz zu Dieter Rams optimistischem Szenarium geht die De-
klaration von einer relativ nüchternen und fast resignierten Lage-
beurteilung aus. Das Denkmuster ist aber durchaus traditionell: Hier
das gute Design, das nun das «intelligente Design» heisst, und dort
die wirtschaftlichen Zustände der «globalen Ökonomie», die so hek-
tisch seien, dass «häufig» (bedeutet das mehrheitlich?) kein intelligen-
tes Design zustande komme. Dieses Muster kennen wir seit den
Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts: William Morris, der «Vater»
der Arts & Crafts-Bewegung, hatte in seiner sozialen Designtheorie den
265

«entfremdenden Kapitalismus», den «unnatürlichen Industrialismus»


für die Unmöglichkeit eines guten Designs verantwortlich gemacht.15
Die letzte Konsequenz aus dieser Erkenntnis, nämlich die Verweigerung
der Entwurfstätigkeit unter den gegebenen Bedingungen und die Not-
wendigkeit der Veränderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingun-
gen, mochte Morris bekanntlich nicht ziehen, obwohl er Sozialist war.
Er löste den Konflikt nicht und blieb in Denken und Handeln wider-
sprüchlich. Als Entwerfer unter entfremdeten Produktionsbedingungen
gestand er sich ein, nur «dem schweinischen Luxus der Reichen zu
dienen».16 Hier geht die Deklaration einen Schritt über Morris hinaus.
Design will nicht mehr «hektische Innovationsmaschine» sein und
zu «dubiosen» Geschäften beitragen. Es will «unter den herrschenden
Bedingungen der Marktwirtschaft» nicht länger «mitverantwortlich
(sein) für kurzfristige Hypes, die nur dank Marketingtricks ein Publi-
kum finden».17 Design will sich nicht dem Markt «anbiedern», son-
dern es ruft wirklich zur Verweigerung, ja zum «Streik» auf. Bei ihrer
Verweigerung bleibt die Deklaration aber auf halbem Weg stehen,
indem sie den «Streik» auf eine symbolische Handlung, einen jährli-
chen Aktionstag sublimiert. Also doch keine Verweigerung! Mit dem
«Streik», der keiner ist, bleibt den AutorInnen der Deklaration auch
erspart zu präzisieren, wen sie bestreiken wollen und an wen sie Forde-
rungen stellen. An die Hochschule, wo sie ProfessorInnen sind? An das
Designatelier, das ihnen selber gehört? Das ergibt keinen Sinn! Oder
an die KundInnen in Form der Verweigerung von «dubiosen» Aufträ-
gen? Das wäre schon eher sinnvoll. Aber wieso dann nur an einem
Tag, und an den restlichen 364 Tagen gibt sich das «intelligente De-
sign» weiterhin dem hektischen Innovationsgeschäft hin? Die Wahrheit
ist, dass Design, zumindest Produktdesign, heute nichts anderes ist
als ein Innovationsmetier!
Damit sind wir wieder bei William Morris angekommen. Dieser wurde
auch nicht müde, neben seiner «entfremdeten» Entwurfstätigkeit,
bei der sich übrigens gutes Geld verdienen liess, ab und an in Vorträgen
die üblen Zustände des Kapitalismus anzuprangern.

13 Dieter Rams, Ist funktionales Design noch eine Zukunftsaufgabe?, in:
Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Designs, S. 286.
14 Laut Hochparterre 3, 2004, Zürich, S. 42 haben folgende Personen an den Gesprächen
teilgenommen: Volker Albus, James Auger, Ruedi Baur, Uta Brandes, Tim Brown, Susanna
Dulkinys, Kenji Ekuan, Michael Erlhoff, Meret Ernst, Mieke Gerritzen, Achim Heine,
Welfhard Kraiker, Peter Krouwel, Seiichi Mizuno, Ruedi Alexander Müller, Milena Mussi,
Claudia Neumann, Chantal Prod’Hom, Britta Pukall, Stefan Sagmeister, Manfred
Schneckenburger, Jutta Simson, Erik Spiekermann, Axel Thallemer, Johann Tomforde,
Paolo Tumminelli, Garth Walker, Stefan Ytterborn, Jörg Zintzmeyer. Außer Ruedi Alexan
der Müller haben die Deklaration alle unterzeichnet.
15 Vgl. Kapitel 2.
16 Vgl. Kapitel 2.
17 Die Summit-Teilnehmerin Meret Ernst in ihrem Kommentar, in: «Hochparterre»,
3, 2004, Zürich, S. 42.
266

23. Design – Theorie

In der Analyse des gesellschaftlichen Kontextes des Designs war Morris


vor 150 Jahren allerdings etwas weiter als die Deklaration von 2003.
Seine Schriften zeugen von einer theoretisch fundierten Gesellschafts-
und Wirtschaftskritik, während die Deklaration den Eindruck er-
weckt, theoretisch nicht eben beschlagen zu sein. Sie will ja auch zuerst
über die «Position des Designs in der Gesellschaft nachdenken». Schlei-
erhaft ist, wie aus diesem Nachdenken eine «bessere Designqualität»
und erst noch eine «bessere Lebensqualität» (für wen?) resultieren
soll. Denn allem Nachdenken zum Trotz wird die «globale Ökonomie»
wohl auch weiterhin das Design wie eine «hektische Innovationsma-
schine» benutzen!
Und so ist aus dem von der «Lucky Strike Foundation» (British Ame-
rican Tobacco) bezahlten und im Fünfsternehotel Suvretta House
abgehaltenen St. Moritzer Designgipfel nichts anderes als eine kleine
ideologische Nebelpetarde hervorgegangen. Denn diese Deklaration ist
ein nicht ganz durchdachter Appell für einen halbherzigen Rückzug
aus dem Tagesgeschäft – ein folgenloses Moralisieren über die gesell-
schaftlichen Zustände. Beides wie gehabt!

Design braucht Theorie

Die beiden Beispiele machen deutlich: Design braucht Theorie! Zu we-


nig Theorie – der Status quo – schwächt das Design an sich und in
seiner Positionierung als Disziplin unter anderen Disziplinen, während
zu viel Theorie – das sei an die Adresse derjenigen gerichtet, die sich
vor einer Bevormundung der Praxis fürchten – nicht schädlich ist. Was
zu viel ist, wird wie überflüssige Vitamine aus dem menschlichen Kör-
per ausgeschwemmt.18
Eine seriöse Disziplin ist immer ein Komplex aus Praxis und Theorie.
Die Designdisziplin ist ein Gebilde aus Kunst- und Handfertigkeit
(skill) und Entwurfsintelligenz (Diskurs).19 Spätestens seit Immanuel
Kant wissen wir, dass Anschauungen ohne Begriffe blind sind.20
«Design gründet in Sprache», hat Gui Bonsiepe richtig bemerkt21, was
freilich nicht mit Geschwätzigkeit zu verwechseln ist. Denken und
Reflexion sind ein Teil des Gestaltungsprozesses. Hier kann die Theorie
anknüpfen – im Sinne einer Reflexivität, die den Entwurfs- und
Gestaltungsprozess problematisiert. Diese Reflexivität ist notwendiger
denn je, weil heute sowohl die gesellschaftliche und technische als
auch die Designpraxis sehr komplex geworden sind. Die Designpraxis
braucht eine Theorie, die ihrer Komplexität entspricht. Die Komple-
xität des Designs gründet in ihrem heutigen Gegenstand und in ihrer
267

interdisziplinären und transziplinären Verfassung. Ein Netz von vielen


Disziplinen, wissenschaftlichen Disziplinen aus dem Bereich der
Human-, Sozial- und Ingenieurwissenschaften, Disziplinen aus Indus-
trie, Handel, Verwaltung und Kultur und die komplexe Vielfalt
der BenutzerInnen sind am Designprozess und an der gemeinsamen
Lösung von Aufgaben beteiligt. Die Transdisziplinarität verlangt
Kommunikation und fordert vom Design vor allem eine eigene «Dis-
zipliniertheit hinsichtlich begrifflicher Schärfe und methodologischer
Stringenz».22
«Im gegenwärtigen Zustand einer Informations- und Wissensgesell-
schaft und eines verwissenschaftlichten Alltags wird der Verzicht
auf das Instrument ‹wissenschaftliche Theorie› unverständlich, die Res-
sourcen Wissenschaft und Forschung sind längst ein Bestandteil
des kulturellen Kapitals geworden. (…) Die Welt ist ohne Wissenschaft
nicht vorstellbar, eine Gestaltung wohl kaum ohne wissenschaftliche
Theorie», analysiert Cordula Meier.23 Designtheorie muss die visu-
elle Gestaltung in einen diskursiven und rechtfertigungsbefähigten
Kontext stellen.
Fazit: Design braucht empirische Theorie, die systematisch geordnete,
allgemeine rationale Aussagen über den Bereich der objektiven Re-
alität macht, der das Design betrifft. Eine Theorie, die in der Verallge-
meinerung ihres Wissens und zwar auch ihres impliziten Wissens
(Know-how) und ihres stillschweigenden Wissens (tacit knowledge)
besteht. Eine Theorie, die zum Beispiel Aussagen über Gesetz-
mässigkeiten der Visualisierung im Sinne einer visuellen Rhetorik
macht. Eine Theorie, die sich also nicht nur auf eine Methodologie des
Entwurfsprozesses beschränkt – ganz abgesehen davon, dass das
Design auch hier grosse Defizite aufweist. Eine Theorie, bei der die ge-
sellschaftliche Praxis das entscheidende Kriterium ist, an dem sie sich
zu bewähren hat.
Keine Theorie in diesem Sinn braucht ein Produktdesign, das seine Auf-
gabe darin sieht, den Innovationsbedürfnissen und technologie- und
trendbedingten Anpassungen der jeweiligen Märkte Ausdruck zu ver-
leihen und die Dinge zu beschönigen. Hier kann man das Geschäft
ruhig weiterhin der ungezügelten praktischen Kreativität, angereichert

18 Der Vergleich stammt von Thomas Wagner anlässlich des Zweiten DGTF-Kongresses
in Hamburg, 30. Januar 2004.
19 Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 14.
20 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft I, zweiter Teil.
21 Gui Bonsiepe, Interface Design neu begreifen, Mannheim, 1996. S. 233.
22 Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 15.
23 Ebenda.
268

23. Design – Theorie

mit etwas Marketing und Ergonomie, überlassen. Anders ist es, wenn
sich das Design als eine Orientierungswissenschaft versteht, als eine
Disziplin, die sämtliche Bereiche kommunikativer und sozialer Praxis
tangiert und die davon ausgeht, dass Design (ähnlich wie Sprache) ein
Grundmodus des Handelns ist.24

Aus der Geschichte lernen

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Designgeschichte


einige Fragen hinterlässt. Der Theoriediskurs muss versuchen, Ant-
worten zu finden und so aus der Geschichte die nötigen Lehren zu zie-
hen, im Bewusstsein, dass auch die Antworten historisch bedingt sind.
1. Die Designtheorie muss von den bisherigen Mythenbildungen Ab-
schied nehmen. Es ist ein ganzes Bündel von Mythen, das die De-
signtheorie über Bord werfen muss: dass Design eine treibende Kraft
sei; dass es ein Kunstdesign gebe; dass Design die Produktionsab-
läufe beeinflussen könne; dass das Design Anwalt der VerbraucherIn-
nen sei; dass mit «gutem Design» der Geschmack der Bevölkerung
beeinflusst werde könne; schliesslich muss auch der Mythos verabschie-
det werden, dass bei der Auseinandersetzung um ökologische Nach-
haltigkeit das Design mehr als eine untergeordnete Rolle spielen kann.
2. Die Designtheorie muss Design radikal kontextualisieren und
systemisch denken. Am Anfang und im Zentrum aller Intentionen steht
der wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Kontext. Design
ist als Subsystem in ein System eingebunden, das es von Anfang an und
in jeder Designpraxis zu reflektieren gilt. Designerisches Handeln
orientiert sich an «einem Denken in Systemzusammenhängen ökono-
misch-ökologischer und lebensweltlicher Wirkungsnetze».25 So be-
fähigt sich Designtheorie, allgemeine Interessen von partikularen über-
zeugend unterscheiden zu können.
3. Designtheorie ist zwingend normative Theorie. Jede Theorie, auch
wenn sie sich als wertneutral gibt, ist in einen normativen Zusam-
menhang und in einen Wertkontext eingebettet. Die Logik der Kontex-
tualisierung führt das Design zu einem (systemischen) Denken, das
von vorneherein normative Postulate einbezieht und diese stets trans-
parent macht. Solche normativen Postulate wären etwa die Überle-
bensfähigkeit unseres Planeten und der Menschheit, die Nachhaltigkeit
des gesellschaftlichen und individuellen Handelns und die Auf-
klärung. Die ökonomische Rationalität, in die das Design als marktteil-
nehmende Tätigkeit eingebunden ist, erweist sich aus einer kritischen
aufklärerischen Optik immer mehr als eine, die unter dem Diktat von
269

Partikularinteressen versagt.26 Wolf Reure meint: «Die Rolle des De-


signs als verkaufsförderndes Stimulans ist nur noch in dem ignoranten
Kalkül einer Firma aufrechtzuerhalten, nicht aber in einem Selbst-
verständnis, in dem es sich gesamtsystemischen Zusammenhängen
stellt. Damit hätte es sich auch dem Verwertungszusammenhang
zu entziehen, in dem es – kritisch – schon von Herbert Marcuse als Ge-
sellschaftskritiker und Otl Aicher als Designer gesehen wurde, die
die Manipulation zu nicht an Bedarf orientiertem Konsum als Intenti-
on individualistisch-bornierten Wirtschaftskalküls unter Beschuss
nahmen.»27
Eine kontextualisierte und kritische Designtheorie sorgt dafür, dass
das designerische Potenzial, vor allem die gestalterische Kreativität, le-
gitimierbar und verantwortbar platziert wird.

Design als Orientierung

Nach den ausführlichen Präliminarien kann dazu übergegangen wer-


den, weitere Eckpfeiler für eine Designtheorie zu setzen. Als Bezugs-
punkt wird der Rekurs auf eine Entwurfs- und Gestaltungsgeschichte
vorgeschlagen, wie sie sich im rationalen Gebrauchsdesign, insbe-
sondere im «Swiss Style» herausgebildet hat. Dieses international ein-
flussreiche Design ging von einem rationalen, in der Tradition der
Aufklärung und der Moderne stehenden Ansatz aus, strebte in der Lö-
sung von Designproblemen einen universellen und wissenschaftlichen
Umgang an und definierte sich als eine soziale, in den gesellschaft-
lichen Kontext eingebettete Praxis. Es stand selber wiederum in Bezie-
hung zur rational-analytischen Entwurfsauffassung des Bauhauses
und der Gestaltungsmethodik der Ulmer Hochschule für Gestaltung.
Ein aktueller Ansatz, der in dieselbe Richtung geht, ist die design-
theoretische Initiative, die in den neunziger Jahren von der Hochschule
für Gestaltung Schwäbisch Gmünd und dort insbesondere vom früh
verstorbenen Thomas Rurik ausgegangen ist.28 Auch auf diese Initiative
wird im Folgenden Bezug genommen.
In der genannten Traditionslinie der Moderne stehend, soll Design als
eine Orientierungsdisziplin theoretisiert und positioniert werden.29

24 Vgl. Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 12.
25 Wolf Reuter, Komplementäre Rationalitätskonzepte beim Entwerfen von Objekten in
einer abgeklärten Moderne, Ulm. Auch in: Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 107.
26 Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, ebenda.
27 Ebenda.
28 Thomas Rurik et al., Gestaltung als Aufklärung. Historische Konzepte und Perspektiven
einer anderen Designgeschichte, in: Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 144-150.
29 Die Begriffe «Orientierung» und «Design als Orientierungswissenschaft» werden hier von
Cordula Meier übernommen (vgl. Meier, Frankfurt .a. M. 2001[2. Auflage: 2003]), S. 16ff.
270

23. Design – Theorie

Ihre Aufgabe ist es, als Wissenschaft dazu beizutragen, unsere komplexe
Welt sicht- und lesbar zu machen. Sie steht im normativen Kontext
der aufklärerischen Tradition der Alphabetisierung und Demokratisie-
rung von Wissen und Erkenntnis. «Sie heisst immer auch Aufklä-
rungsgestaltung für gesellschaftliche Öffentlichkeit; insofern ist sie mit
dem Politischen oder der Zivilität untrennbar verbunden.»30 Design
ist immer politisch, wenn nicht, ist es überflüssig!
Design dient der Vereinfachung und Verständlichkeit von komplexen
und unübersichtlichen Datenmengen und Informationsgebilden.
Es baut die Kompliziertheit der Welt ab und macht sie zum Zweck der
besseren Verständigung einfacher.31 «Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht
(…) die Frage nach der Brauchbarkeit, dem Funktionieren von
kommunikativen Inhalten.»32 Die visuelle Argumentation gestaltet In-
formation so, dass sie zu Kommunikation und Handlung führt. Als
Kommunikationsgestaltungsprozess wird auch die Gestaltung be-
ziehungsweise die semantische Aufladung von Gegenständen durch
das angestammte Produktdesign verstanden.
Die Arbeits- und Problemfelder des Designs als Orientierung umfassen
die Tätigkeit des bisherigen Produkt- und Grafikdesigns und sind
folgende:
1. Die öffentlich-soziale Kommunikation (die Gestaltung der Orien-
tierung im öffentlichen Raum, des Verhältnisses zum privaten Raum,
der Kommunikation unter den gesellschaftlichen Akteuren, der multi-
kulturellen Integration usw.)
2. Die wissenschaftlich-technologische Kommunikation (die Gestal-
tung der Verwandlung von Information zu Kommunikation, der visu-
ellen Lesbarkeit der Wissenschaften, der Kommunikation unter den
Wissensträgern usw.)
3. Die didaktisch-pädagogische Kommunikation (die Gestaltung der
Demokratisierung des Wissens, der Orientierung in den Informations-
netzen usw.)
4. Die kulturelle Kommunikation (die Gestaltung der Orientierung
in der eigenen Kultur, der Internationalisierung der kulturellen
Kommunikation und der Vermittlung zwischen den Kulturen usw.)
5. Die wirtschaftliche Kommunikation (die Gestaltung der Kommu-
nikation unter den wirtschaftlichen Akteuren, der Corporate Identity
dieser Akteure usw.)
6. Die politische Kommunikation (die Gestaltung der Orientierung
in den politischen Prozessen, des Auftritts staatlicher Institutionen und
der politischen Willensträger usw.)
271

Als Orientierungsdisziplin ist das Design eine rationale Methode, die


sich durch Analyse und Argumentation auszeichnet. Eine Verstän-
digung in einer komplexen Welt ist nur auf rationaler Ebene erfolgver-
sprechend. Verlangt sind Genauigkeit, Klarheit und Sparsamkeit in
allen Produktionsfeldern des Wissens und der Erkenntnis. Die entwer-
ferische Aufgabe heisst Rationalisierung. «Voraussetzungen hierfür
sind die konstruktiven Elemente der Normierung, Standardisierung
und Typisierung. (…) Soziale Verständigung benötigt ein Regelinstru-
mentarium, das die Bedingung für wechselseitiges Verstehen ist.»33
Die Glaubwürdigkeit des Designs als Orientierung wird an seiner Ver-
ständlichkeit, seiner gesellschaftlichen Verpflichtung und der Funktio-
nalität seiner Mitteilungsformen gemessen.

30 Cordula Meier, Design Theorie, S. 149.
31 Ebenda, S. 147.
32 Ebenda, S. 144.
33 Ebenda, S. 146.
273

24. DESIGN – FORSCHUNG


UND WISSENSCHAFT

1. Begriffsklärung

Forschung in Zusammenhang mit Design ist seit einiger Zeit auch im


deutschsprachigen Teil Europas ein Thema.1 Forschungsförderungsin-
stanzen in Deutschland und in der Schweiz sehen sich mit der neuen
Entwicklung konfrontiert, dass aus dem Designbereich Forschungsan-
träge präsentiert werden, und an verschiedenen Orten findet neuer-
dings eine rege Debatte über Designforschung und über den epistemo-
logischen Status von Design statt.2 Wir wollen die bisherige Diskussion
kurz zusammenfassen:3
In der Designforschung werden im Wesentlichen zwei Kategorien un-
terschieden, die beide den Anspruch erheben können, wissenschaftliche
Forschungsdisziplinen zu sein:

Designforschung I: Forschung über Design

Die Designforschung ist die Untersuchung der Disziplin Design.


— Diese wird Forschung über Design genannt (engl.: «research into
design»4 ; frz.: «recherche sur le design»5).

1 Zur Designforschung in Grossbritannien und Finnland: Dagmar Steffen, Doctoral
Education in Design, in: hfg forum, Nr. 18, Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung
Offenbach am Main, Offenbach, 2003.
2 2002 wurde in Köln die «Deutsche Gesellschaft für Designtheorie und -forschung»
(DGTF) gegründet, die seither jährlich einen Kongress zu Aspekten der Designforschung
veranstaltet. 2004 erhielt das «Swiss Design Network» (SDN), das nationale Forschungs-
netzwerk der schweizerischen Hochschulen für Gestaltung, von der Bundesregierung die
Akkreditierung. Das SDN veranstaltete 2004 ein Symposium zur Designforschung, an dem
ReferentenInnen aus Deutschland, Brasilien und Kanada teilnahmen. Der Reader zum Sym-
posium: Erstes Design Forschungssymposium, Swissdesignnetwork. www.swiss-design.org.
3 Der Autor ist als Vorstandsmitglied der DGTF und als Präsident des «Swiss Design Net-
work» (SDN) in den aktuellen Diskurs über Designforschung involviert.
4 Christopher Frayling, Research in Art and Design, in: Research Papers Royal College
of Art, Vol. 1, Number 1, 1993–94, S. 5.
5 Alain Findeli, Erstes Design Forschungssymposium, S. 50.
274

24. Design – Forschung


und Wissenschaft

— Hier ist Designforschung eine wissenschaftliche Disziplin unter


andern wissenschaftlichen Disziplinen. Untersuchungsgegenstände sind
zum Beispiel die Designgeschichte, die Ästhetik oder die Designtheorie,
in der das Wesen des Designs oder seiner Methoden reflektiert wird.
— Forschung über Design gelangt in ihrer Analyse der Design-
tätigkeit zu allgemein nachprüfbaren Erkenntnissen.
— Forschung über Design «agiert von aussen, den Gegenstand auf
Distanz haltend. Forscher sind wissenschaftlich arbeitende Beobachter,
die den Gegenstand möglichst nicht verändern.»6
— Zu dieser oft mit dem traditionellen Begriff der Grundlagenfor-
schung belegten Kategorie von Designforschung gehören Projekte
etwa im Bereich der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Designs (wie
die Untersuchung des Wirtschaftsfaktors Design), in der Wahrneh-
mungsforschung oder Ästhetik sowie Methodenprojekte etwa im Be-
reich der auch experimentellen Verbesserung der Designmethodo-
logie, der Steuerung der Entwurfsprozesse, der Standardisierung von
Repräsentationsmethoden usw.

Designforschung II: Forschung durch Design

Designforschung kann aber auch die Entwurfstätigkeit des Designs,


beziehungsweise die Entwicklung durch Design sein.
— Diese wird Forschung durch Design genannt (engl.: «research
through design»; frz.: «recherche par le design»).7
— Forschung durch Design ist eine Entwurfs- beziehungsweise eine
Entwicklungsdisziplin.8 Sie wird auch «Handlungsforschung» (engl.:
«action research») genannt.9
— Entwicklung im Allgemeinen bezeichnet die erstmalige oder min-
destens kontextuell neuartige Kombination vorhandenen Wissens und
besonderer Forschungsergebnisse, die mit dem Ziel erfolgt, Neues zu
schaffen oder herbeizuführen (Prozess- und Produktinnovation).
— Entwicklung durch Design im Besonderen bezeichnet die planvoll-
kreative Neu- und Weiterentwicklung von Visualisierungen, und
zwar einerseits von Handlungsprozessen und von Botschaften ver-
schiedener gesellschaftlicher Akteure und anderseits von diversen Funk-
tionen von Gebrauchsgegenständen und deren Ausrichtung auf die
Bedürfnisse der Benutzer oder auf die Wirkung auf die Benutzer. Das
Ergebnis der Entwicklung durch Design sind materielle und im-
materielle Produkte (Konzepte usw.)
— Forschung durch Design und Forschung über Design haben
unterschiedliche Sichtweisen. Die zweite beobachtet ihren Gegenstand
275

aus der Perspektive der Erkennbarkeit, während die erste die Welt
zuerst einmal aus der Perspektive der Entwerfbarkeit angeht und dabei
zu neuen, auch grundlagenorientierten Erkenntnissen gelangt.
— Das neue Wissen, das Forschung durch Design hervorbringt –
Bildwissen ist mitgemeint – ist dann wissenschaftlich, wenn der Ent-
wicklungsprozess und seine Resultate sowie die neuen Erkenntnisse in
einem Bericht nachprüfbar formuliert10 und allenfalls visualisiert und
einer allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich gemacht sind.11
— Forschung durch Design besteht in der Regel aus verschiedenen
Phasen (Informationsphase und Recherche, analytische Phase, Ent-
wurfsphase, Entscheidungsphase, Verwirklichungsphase), deren Metho-
den unterschiedlich sind.
— Die Methoden lassen sich rational beschreiben, womit sie allge-
mein verbindlichen, intersubjektiv gültigen Forschungsstandards
Genüge leisten. Einzig die Entwurfsphase lässt sich nicht abschliessend
rational beschreiben, da sie unter anderem auf Intuition und Kre-
ativität beruht.
— In den einzelnen Phasen der Forschung durch Design werden
nach Bedarf Wissen und Forschungsergebnisse aus den Ingenieur-
und Sozialwissenschaften, der Ergonomie, der kognitiven Psychologie,
der Semiotik, der Politologie usw. verwertet und angewendet; denn
komplexe Entwurfsprobleme lassen sich heute ohne vorgeschaltete und
parallel laufende Forschungstätigkeiten nicht mehr bearbeiten. Die
Entwurfstätigkeit ist in zunehmendem Mass «kognitiv durchwoben».12
— In den meisten Fällen ist Forschung durch Design deshalb inter-
disziplinär.
— Wenn die Methoden, die in der Forschung durch Design zur An-
wendung kommen, reflektiert, beschrieben und weiterentwickelt
werden (Designmethodologie), handelt es sich um Forschung über
Design (vgl. Designforschung I).
— Auch wenn versucht wird, das Wissen, das im Forschungsbericht
festgehalten ist, zu einer Theorie zu verallgemeinern, handelt es sich
um Forschung über Design.

6 Wolfgang Jonas, Forschung durch Design, in: Erstes Design Forschungssymposium, S. 29.
7 Deutsch: Wolfgang Jonas, ebenda; Englisch: Christopher Frayling, Research in Art and
Design, S. 5; Französisch: Alain Findeli, in: Erstes Design Forschungssymposium, S. 50.
8 Zum Verhältnis von Forschung und Entwicklung vgl. Brockhaus-Enzyklopädie, 1988,
Band 7, S. 468.
9 Christopher Frayling, Research in Art and Design, S. 5.
10 Christopher Frayling: Die Entwicklungsschritte werden in einem Protokoll dokumentiert
und die Resultate schriftlich referiert und kommuniziert. «Both the diary and the report
are there to communicate the results which is what separates research from the gathe-
ring of referend materials», Research in Art and Design, S. 5.
11 Dazu ist die Diskursfähigkeit der Designprofession gefordert.
12 Gui Bonsiepe, Von der Praxisorientierung zur Erkenntnisorientierung, in: Erstes Design
Forschungssymposium, S. 16.
276

24. Design – Forschung


und Wissenschaft

In Abgrenzung zur Forschung und Entwicklung werden im schweizeri-


schen Hochschulkontext unter Dienstleistungen alle Tätigkeiten sub-
summiert, die den Hauptzweck haben, bekanntes Wissen routinemäs-
sig anzuwenden und zu transferieren. Dazu zählen Beratungen,
Gutachten, Firmenschulungen usw.13

Designforschung III: Forschung sui generis

Darüber hinaus wird Forschung durch Design in der Diskussion immer


wieder auch als eine Forschung sui generis betrachtet, eine Forschung
also, die sich nicht unter die beiden genannten Kategorien subsum-
mieren lässt.14
— Design wird als spezifische Methode in der Herangehensweise
zur Welt qualifiziert, welche neues, bildhaftes Wissen über diese Welt
generiere.
— In dieser Forschung wäre die Erkenntnis sozusagen mit dem
künstlerischen Artefakt vereint («embodied»15). Das Ziel wäre nicht
primär kommunizierbares Wissen im Sinn von verbaler Kommunika-
tion, sondern im Sinn von visueller oder ikonischer Kommunikation.16
— Dieser Ansatz von Designforschung ist bisher nicht über die
deklamatorische Ebene hinausgegangen.
— Da eine solche Forschung nicht nachprüfbares und diskursfäh-
iges Wissen hervorbringt, stellt sich die Frage, ob aus dem Anspruch je
eine anschlussfähige Forschungsdisziplin wird.
— Der Ansatz ist auf der Ebene der kreativen Entwicklung von
visuellen Interpretationen der Wirklichkeit anzusiedeln, womit all-
fällige Forschungsprojekte am ehesten bei der Kategorie «Entwicklung
durch Design» anzusiedeln wären.
Die ersten beiden Kategorien etablieren sich gegenwärtig zusammen
mit der Designlehre an den Hochschulen für Gestaltung als Design-
wissenschaft.
277

2. Der Stand der Dinge

2.1 Ausgangspunkt

Design in der Schweiz bedeutet seit jeher hohe Leistungsqualität. Diese


geht unbestritten auf die Tradition ausführlicher Ausbildung in
kunsthandwerklichen und technischen Kategorien und damit auf die
Praxis des Designs in verschiedenen Bereichen zurück. Dies gilt in
der Produktgestaltung für Möbel-, Uhren- und Textildesign, in der
Typografie ist an den «Swiss Style» und das «Präzisionsdesign» zu
denken, auch in der Fotografie gab es einen hohen Standard. Charak-
teristisch für diese Gestaltungstradition ist ihre handwerkliche Praxis-
orientiertheit. Designausbildung fand bis in die jüngste Vergangen-
heit ausschliesslich in den privaten Ateliers und an den Schulen für Ge-
staltung, den vormaligen Kunstgewerbeschulen, statt.
Praxisorientiertheit der Designdisziplin bedeutet nun aber nicht, dass
keine theoretischen Überlegungen stattgefunden hätten. In den De-
signausbildungsstätten der Kunstgewerbeschulen wurde unter dem Ein-
fluss zum Beispiel des Dessauer Bauhauses oder später der Ulmer
Hochschule für Gestaltung von den Dozierenden die Entwurfspraxis
theoretisiert. Dazu gab es auch entsprechende Publikationen (vgl. Ka-
pitel 23, Abschnitt «Theorielosigkeit des Designs?»). In den schweizeri-
schen Designzeitschriften wie Graphis und Neue Grafik fand
in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein intensi-
ver Diskurs über die Designdisziplin statt.
Eine kontinuierliche Debatte zur Designtheorie und eine Forschungs-
tradition (im Sinn der beiden im ersten Abschnitt dieses Kapitels
genannten Kategorien) gab es allerdings nicht. Das trifft jedoch zumin-
dest auch für die Nachbarländer Deutschland, Österreich und
Frankreich zu. In der Schweiz kommt dazu, dass das Land keine Kunst-
hochschul- und Kunstakademietradition kennt, was die zusätz-
liche Absenz einer ausgeprägten Theorietradition an der Schnittstelle
Kunst / angewandte Kunst erklärt.
In jüngster Zeit hat sich mit der Gründung der sieben schweizerischen
Hochschulen für Gestaltung die Situation grundsätzlich geändert.

13 Konferenz der Fachhochschulen der Schweiz (KFH): Anwendungsorientierte Forschung
und Entwicklung an Fachhochschulen, 20.11. 2004, Bern.
14 Christopher Frayling nennt diese Forschung in seiner Systematik «Forschung für Design»
(Research for design), Research in Art and Design, S. 5.
15 Ebenda, S. 5.
16 Ebenda, S. 5.
278

24. Design – Forschung


und Wissenschaft

2.2 Wo findet Designforschung statt?

— In einigen fortgeschrittenen Designunternehmen werden Ent-


wicklungsprojekte durchgeführt, an denen oft verschiedene Diszipli-
nen beteiligt sind. Publiziert werden diese Forschungserfahrungen
allerdings kaum.
— An den universitären Hochschulen wird die traditionelle bil-
dungsbürgerliche Hierarchie von Kunst und angewandter Kunst weiter
gepflegt. Design ist kein Thema. Im besten Fall gibt es einen Lehr-
stuhl für Gegenwartskunst, an dem es zwangsläufig zu Berührungen
mit dem Design kommt.
— An den Hochschulen für Gestaltung findet seit den neunziger Jah-
ren des 20. Jahrhunderts Forschung in den beiden oben genannten
Kategorien statt.
Forschung über Design: Diverse Grundlagen- und Methodenprojekte
wurden bereits abgeschlossen oder sind im Gang. An verschiedenen
Hochschulen wird Designgeschichte gelehrt und zum Teil auch er-
forscht. Theoretische Bemühungen über Design fanden in den neun-
ziger Jahren im Umfeld des Museum für Gestaltung in Zürich und
des Instituts für Theorie der Gestaltung der Zürcher Hochschule statt.
Forschung und Entwicklung durch Design: Die grössere Anzahl der
laufenden und abgeschlossenen Forschungsprojekte sind Entwicklungs-
projekte, die anwendungsorientiert sind oder zusammen mit einem
wirtschaftlichen oder öffentlichen Partner abgewickelt werden.

2.3 Forschung an den Hochschulen für Gestaltung

1. Der erweiterte Leistungsauftrag


Im Unterschied zu den andern europäischen Gestaltungshochschulen
sind die sieben Hochschulen für Gestaltung in der Schweiz durch
das Fachhochschulgesetz von 1995 (FHSG) zum so genannten erweiter-
ten Leistungsauftrag und zum Wissens- und Technologietransfer
(WTT) verpflichtet. Neben der Lehre, auf der nach wie vor das Haupt-
gewicht der Fachhochschultätigkeit liegt, sollen Forschung und Ent-
wicklung vorangetrieben werden. Nicht dass in den andern europä-
ischen Gestaltungshochschulen nicht geforscht würde. Die Forschung
konzentriert sich dort aber eher auf Designtheorie und -geschichte und
weniger auf anwendungsorientierte Entwicklungsprojekte. Der Leis-
tungsauftrag ist der Hauptgrund für die Tatsache, dass es in der Schweiz
im europäischen Vergleich eine relativ stark forcierte Forschungstätig-
keit gibt. So gesehen ist der Leistungsauftrag für das Design eine Chance.
279

2. Forschung an Fachhochschulen ist anwendungsorientierte


Forschung
Der verbindliche Forschungsauftrag im Rahmen des erweiterten Leis-
tungsauftrags ist allerdings auf anwendungsorientierte Forschung
beschränkt. Anwendungsorientierte Forschung ist auf die Erzeugung
von neuem lösungsorientierten Wissen und auf die Entwicklung von
innovativen Produkten ausgerichtet. Der Slogan der Kommission für
Technologie und Innovation (KTI) des Bundesamtes für Berufsbildung
und Technologie (BBT), «science to market», spricht diesen Sachver-
halt unverblümt aus. Diese Forschung wird mit wirtschaftlichen, öf-
fentlichen oder kulturellen Partnern zusammen durchgeführt. Die
Forschungsprojekte werden deshalb zuerst durch Drittmittel, also
durch die Partner finanziert. Erst dann kommen die Mittel der staatli-
chen Förderinstanzen dazu. Grundlagenforschung, was immer auch
darunter verstanden wird, ist nach der Auffassung des Gesetzgebers den
universitären Hochschulen vorbehalten.

2.4 Design war als Wissenschaft bisher nicht gefragt oder umstritten

Design war in der Vergangenheit nicht gezwungen, sich als Wissen-


schaft zu definieren und zu reflektieren. Es verstand sich vorwiegend
als berufliche und teilweise als künstlerische Praxis. Allerdings gab es
in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Industriedesign in
Deutschland intensive Überlegungen zum Design als Disziplin, genau-
er zum Entwurfsprozess und seinen Methoden ( = Designmethodo-
logie). Die Ulmer Hochschule für Gestaltung spielte dabei eine weg-
bereitende Rolle.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte in den europäischen Industrielän-
dern bekanntlich ein intensiver wirtschaftlicher Aufschwung statt-
gefunden; der Wettbewerb der nationalen Wirtschaften verschärfte sich
bald zu einem internationalen Konkurrenzkampf. «In dieser Situation
musste sich auch das Industrial Design den veränderten Bedingung-
en anpassen, das heisst, es konnte nicht weiterhin subjektive und emo-
tionale Gestaltungsmethoden praktizieren, während die Industrie
zunehmend begann, Entwurf, Konstruktion und Produktion zu ratio-
nalisieren. Somit lag es nahe, dass sich die Industrial Designer da-
rum bemühten, wissenschaftliche Methoden in den Entwurfsprozess zu
integrieren, um damit in der Industrie als seriöse Gesprächspartner
akzeptiert zu werden.»17 Das bedeutete nun allerdings nicht, dass sich

17 Bernhard Bürdek, Design, S. 119.
280

24. Design – Forschung


und Wissenschaft

Design durchgängig als Wissenschaft zu verstehen begann. Auch an


der Hochschule für Gestaltung in Ulm nicht. Gui Bonsiepe, selber ein
Mitglied dieser Hochschule, meinte 1989: «Die HfG Ulm war so an-
ziehend, weil sie mit Leidenschaft versuchte, das Design in eine be-
gründbare Tätigkeit zu verwandeln und aus blinder Ad-hoc-Praxis zu
befreien. Das ist gelegentlich missverstanden worden als ein Versuch,
das Design in eine Wissenschaft zu verwandeln.» Und er fährt fort:
«Design ist weder noch kann es eine Wissenschaft sein. Design ist die
konkrete Intervention in die Realität, um Produkte zu erfinden, zu
entwickeln und herzustellen. Es kann zwar einen wissenschaftlichen
Diskurs über Design geben, aber Design selbst ist keine Wissen-
schaft.»18 Der Hauptgrund für den «nicht wissenschaftlichen Charak-
ter» des Designs lag nach dieser von Bonsiepe pointiert vertretenen
Auffassung in dem Argument, dass der Entwurfsprozess sich nicht ab-
schliessend rational beschreiben lasse. Das kreative Element des
Designprozesses sei nicht diskursfähig, womit eine wesentliche Voraus-
setzung für Wissenschaftlichkeit fehle. Seit der Auflösung der Hoch-
schule für Gestaltung im Jahr 1968 ruhte die Debatte mehr oder weni-
ger. Sie wurde erst in jüngster Vergangenheit wieder aufgenommen.
Ob der Entwurfsprozess tatsächlich die «pièce de résistance» bildet, ist
zu bezweifeln. Denn der kreative Entwurfsprozess kann durchaus
Element einer Wissenschaft sein. Auch die Ingenieurwissenschaft ist
vorwiegend Entwurfsdisziplin, und heute käme niemand auf die Idee,
die Ingenieurwissenschaften deshalb unwissenschaftlich zu nennen.
Am besten wird deshalb ganz pragmatisch mit diesem Problem umge-
gangen, was in der Realität auch passiert. Die Frage, ob Design sich im
Hochschulkontext als wissenschaftliche Disziplin etabliert oder
nicht, wird meines Erachtens nicht theoretisch sondern praktisch-his-
torisch gelöst. Was ist damit gemeint?

2.5 Was macht eine wissenschaftliche Disziplin aus?

Kurz beschrieben ist eine wissenschaftliche Disziplin Folgendes: Sie ist


die Gesamtheit der Voraussetzungen, Begriffe, Theorien, Methoden
und Werkzeuge, mit denen eine bestimmte Gruppe von Wissenschaft-
lerInnen und ForscherInnen, die Forschungsgemeinschaft (scien-
tific community), arbeitet. In den frühen Entwicklungsphasen einer
Disziplin sind die meisten dieser Voraussetzungen selbstverständlich
und werden nicht weiter bedacht. Wenn sie dann Gegenstand der
Reflexion werden, bildet sich das Selbstverständnis der Disziplin heraus.
Zu den Grundkategorien einer Disziplin gehört die intersubjektive Ver-
281

ständigung der jeweiligen Forschungsgemeinschaft über ihre Zieldefini-


tion, den Gegenstand und die Methoden der Disziplin. Die Letzteren
drücken sich in verbindlichen Standards aus.19
Diese Beschreibung impliziert, dass wissenschaftliche Disziplinarität
nicht eine absolute, sondern eine historische Kategorie ist. Viele Diszi-
plinen traten (wie die Medizin, die Soziologie oder die Ingenieurwis-
senschaften) in einem ganz bestimmten historischen und gesell-
schaftlichen Kontext in den Kanon der Wissenschaften ein. Medizin
gehört längst zu den Wissenschaften, obwohl sie ursprünglich vorwie-
gend eine praktische Disziplin war, die Wissen anwendete. Soziologie
wurde erst im 20. Jahrhundert zu einer wissenschaftlich eigenständigen
Disziplin, als offensichtlich eine dringende gesellschaftliche Notwen-
digkeit und Bedarf für soziologische Analytik bestand. Ebenso wurden
technische Disziplinen in einem ganz bestimmten komplexen tech-
nischen Entwicklungsstand der industriellen Gesellschaft zu Ingenieur-
wissenschaften.

2.6 Der Druck auf das Design hat zugenommen

Vom Design wird seit einiger Zeit verlangt, dass es sich im bildungspo-
litischen Hochschulkontext als wissenschaftliche Disziplin definiert
und ausweist. In der Schweiz sind diese Bestrebungen mit der Grün-
dung der Fachhochschulen in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre
ins Rollen gekommen. Schon allein die Tatsache, dass die ehema-
ligen Designschulen zu Hochschulen für Gestaltung geworden waren,
zwang diese, sich neben all den andern Fachhochschuldisziplinen
zu positionieren. Dazu kam, dass die Designstudiengänge vom eidge-
nössischen Fachhochschulgesetz verpflichtet wurden, Forschung und
Entwicklung zu betreiben.
Der Druck auf das Design kam aber nicht allein aus der Tatsache, dass
das Design nun auch auf Hochschulstufe gelehrt wird. Er hatte vor
allem wirtschaftliche und technologische, aber auch gesellschaftliche
und politische Wurzeln.
1. Wirtschafts- und Kulturfaktor Design
Dass Design sich als wissenschaftliche Disziplin positionieren muss,
hängt mit seiner wachsenden Bedeutung als Wirtschaftsfaktor zu-
sammen. «In einer Zeit, in der viele Produkte technisch ausgereift sind,
Qualitätsunterschiede in bestimmten Marktsegmenten eigentlich

18 Zitiert aus Bürdek, Design, S. 136 und 161.
19 John Walker, Designgeschichte, S. 11.
282

24. Design – Forschung


und Wissenschaft

nicht mehr bestehen und auch die Preisgestaltung bei etwa gleichen
Lohn- und Materialkosten kaum noch variieren kann, wird Design
zum letzten und wichtigsten Unterscheidungsfaktor im Wettbewerb mit
der Konkurrenz.»20 Neuste Untersuchungen für die Schweiz, welche
die wirtschaftliche Wertschöpfung der kulturellen Tätigkeiten zum Ge-
genstand hatten, belegen in eindrücklicher Weise die wirtschaftliche
Bedeutung des Designs und insbesondere die des Grafikdesigns.21
Die nationalen Regierungen in Europa und die EU haben angesichts
der grossen Konkurrenz- und Wettbewerbssituationen, in der ihre
Wirtschaften stehen, die Aufgabe übernommen, sämtliche Wissens-
und Technologieressourcen zu aktivieren und in die Wirtschaft zu
transferieren. Das Design ist auch eine solche Ressource. In der so ge-
nannten wissensbasierten Gesellschaft 22 hat die bildförmige und
gestaltete Kommunikation eine Expansion und überkritische Masse
erreicht. Design ist ein Produktions- und Kulturfaktor geworden.
Auch das Design als Hochschuldisziplin ist zu Wissens- und Techno-
logie-Transfer (WTT) in die Wirtschaft und Gesellschaft aufgerufen.
Angesichts der konkurrenzbedingten infiniten Flexibilisierungswün-
sche des Marktes soll das kreative Potenzial von Design und Kunst
aktiviert werden.
2. Komplexität und Inter- und Transdisziplinarität der Design-
profession
Schon 1964 formulierte einer der Väter der Designmethodologie, Chris-
topher Alexander, die Notwendigkeit, sich dem Entwurfsprozess sys-
tematisch zuzuwenden. Seine Begründung: 1. Die Entwurfsprobleme
sind zu komplex geworden, um sie rein intuitiv zu behandeln. 2. Die
Zahl der für die Lösung von Entwurfsproblemen benötigten Informa-
tionen steigt sprunghaft an, so dass sie eine Designerin oder ein De-
signer allein gar nicht sammeln, geschweige denn verarbeiten könne.
— Die Zahl der Entwurfsprobleme hat rasch zugenommen.
— Die Art der Entwurfsprobleme verändert sich in zügigerem Rhy-
thmus als in früheren Zeiten, so dass man immer seltener auf lang ver-
bürgte Erfahrungen zurückgreifen kann.23
Der Komplexitätsgrad der Designprofession hat in den letzten beiden
Jahrzehnten noch sprunghaft zugenommen. Das betrifft einerseits
die technologische Komplexität auf der «handwerklichen» Seite. Die
Revolution der Informations- und Computertechnologie (ICT) hat
den Beruf grundlegend verändert. Folge: Aus der ehemaligen Gestalte-
rin ist gleichzeitig Setzerin, Texterin, Redakteurin, Retuscheurin,
Filmerin, Videografin und gar Sonografin geworden.
Die Komplexität des Designs gründet aber auch in seiner interdiszipli-
283

nären und transdisziplinären Verfassung. Ein Netz von wissenschaft-


lichen Disziplinen aus dem Bereich der Human-, Sozial- und Ingeni-
eurwissenschaften, Disziplinen aus Industrie, Verwaltung und
Kultur und die komplexe Vielfalt der BenutzerInnen sind am Design-
prozess und an der gemeinsamen Lösung von Aufgaben beteiligt.24
Die Transdisziplinarität verlangt Kommunikation und fordert vom De-
sign eine eigene Diszipliniertheit hinsichtlich begrifflicher Schärfe und
methodologischer Stringenz.25 «Im gegenwärtigen Zustand einer In-
formations- und Wissensgesellschaft und eines verwissenschaftlichten
Alltags wird der Verzicht auf das Instrument ‹wissenschaftliche Theo-
rie› unverständlich, die Ressourcen der Wissenschaft und Forschung
sind längst ein Bestandteil des kulturellen Kapitals geworden. (…) Die
Welt ist ohne Wissenschaft nicht vorstellbar, eine Gestaltung wohl
kaum ohne wissenschaftliche Theorie.»26
Starkes Gewicht bei der Beurteilung der Entwicklungsprojekte hat der
innovative Aspekt, und der wird letztlich am wirtschaftlichen Nutzen
für den Partner gemessen. Dabei geht es um die technologieorientierte,
um formalästhetisch-kulturelle und gebrauchsfunktionale Innovation.

2.7 Wo steht das Design als wissenschaftliche Disziplin?

Zwar gibt es an den schweizerischen Hochschulen für Gestaltung seit


einigen Jahren Designlehre und Forschungsprojekte im Sinne von For-
schung über und durch Design, aber es fehlen heute noch wichtige
Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Disziplin im Sinne der
Kriterien (Was macht eine wissenschaftliche Disziplin aus?) – das trifft
im Übrigen nicht nur auf die Schweiz zu.

1. Forschungsgemeinschaft
Designforschung in der Schweiz ist bis heute
vor allem eine Tätigkeit von EinzelforscherInnen; es bestehen kaum
Forschungsgruppen, die kontinuierlich forschen. Es gibt eine Design-
gemeinschaft, aber keine Design-Forschungsgemeinschaft. Auch die
respektable Anzahl von Projekten kann nicht darüber hinwegtäuschen,
dass insgesamt an den Gestaltungshochschulen nur eine geringe For-
schungserfahrung besteht.

20 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 9.
21 Christoph Weckerle et al., Kultur-Wirtschaft-Schweiz. Ein Forschungsprojekt der
HGKZ, 2003 (siehe: www.hgkz.ch).
22 Es ist hier nicht der Ort, die Problematik dieses ideologischen Begriffes zu reflektieren.
23 Zitiert aus: Bernhard Bürdek, Design, S. 158.
24 Vgl. Kapitel 23.
25 Vgl. Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 15.
26 Ebenda.
284

24. Design – Forschung


und Wissenschaft

Die einzelnen Hochschulen setzen mit ihren 100 bis 700 Studierenden
natürliche Grenzen. Die personellen, organisatorischen und zum Teil
auch finanziellen Ressourcen sind beschränkt. Die bisherige Konkur-
renzsituation zwischen den einzelnen Schulen behinderte Kooperati-
on, Aufgabenteilung und eine Schwerpunktbildung. Dazu kommt das
tendenzielle Konkurrenzverhalten innerhalb der Designgemeinschaft:
Bei der Bereitschaft zur Vernetzung – etwas, was in den Natur- und
den Ingenieurwissenschaften längst selbstverständlich ist – gibt es
deutliche Mängel. Die Bildung des nationalen Kompetenznetzes De-
sign der schweizerischen Fachhochschulen, «Swiss Design Network»
(SDN), war der entscheidende Schritt zur Konstituierung der Design-
forschungsgemeinschaft.

2. Zieldefinition und Gegenstand


Die Forschungsgemeinschaft kann
sich über die Forschungsziele und den Gegenstand der Forschung sehr
bald verständigen. Über die Kernkompetenzen der Designdisziplin –
ästhetischer Sachverstand, technische Kompetenz, Sinn für Wahrneh-
mungsprozesse, Einfallskraft – besteht in der Praxis weitgehender Kon-
sens. Die Kategorisierung der Forschungsprojekte in Grundlagen und
Entwicklungsprojekte zeigt, dass auch in der Definition des Gegen-
stands praktische Erfahrung besteht.
Anlass zu Zweifeln gibt hingegen die Trennung der Disziplin in Grafik-
und Produktdesign. Sie ist historisch seit dem 19. Jahrhundert ge-
wachsen. Heute ist sie in Lehre und Praxis und vor allem in der For-
schung fraglich. «Eine Abgrenzung zwischen Produktdesign und visu-
eller Kommunikation (vormals Grafikdesign), also die Zäsur zwischen
der zweiten und der dritten Dimension, ist heute inhaltlich nicht
mehr zu halten. Um sich an gegenwärtigen und zukünftigen Entwick-
lungen wie der Gestaltung von Software beteiligen zu können, darf
es diese Abgrenzung nicht mehr geben. Viele Hochschulen behindern
damit ein Studium, das zur Berufstätigkeit führt.»27

3. Methoden
Es gibt designspezifische Methodologien. Die Methoden
sind allerdings meist selbstverständlich und oft nicht Gegenstand der
Reflexion.
285

Komplexitätsreduktion
«Roter Faden der klassischen Designmethodolo-
gie ist der Gedanke der ‹Komplexitätsreduktion›.»28 Im Design stellt
sich die Aufgabe, komplexe Sachverhalte in eine nur das Allernot-
wendigste berücksichtigende verständliche Produktsprache zu reduzie-
ren (vgl. Design war als Wissenschaft bisher nicht gefragt oder
umstritten). In einer immer komplizierter werdenden Welt verlangt
das – wie bereits ausgeführt – von den DesignerInnen eine hohe analy-
tische Fähigkeit, um ihre Aufgabenstellungen angesichts komplexer
Wirklichkeiten zu verstehen und zu lösen.
Die Visualisierung der Mikroelektronik (Stichwort: «Immaterialität»),
das Software-Design, das Wetware-Design (Entwurf von Bio-Chips)
oder die Visualisierung der Nanotechnologie sind neue Aufgaben, die
einen hohen Komplexitätsgrad haben.

Phasen des Entwurfsprozesses


Die verschiedenen analytischen Modelle
des Entwurfsprozesses (Gugelot, 1962, Rittel, 1973, Koberg, Bagnall,
1972) bestehen aus ähnlichen Phasen, die man folgendermassen fest-
halten könnte: 29
1. Informationsphase: Definition und Verständnis der Aufgaben-
stellung (Problem erkennen) und Sammeln von Informationen.
2. Analytische Phase: Analyse der gewonnenen Informationen; Ver-
gleich mit der Aufgabenstellung.
3. Entwurfsphase: Ideen entwickeln und nach alternativen Lösungs-
konzepten suchen.
4. Entscheidungsphase: Beurteilung des Für und Wider der Lösun-
gen; Entscheidung für eine oder mehrere Lösungen.
5. Phase der Kalkulation und Anpassung des Produkts an die Be-
dingungen der Produktion.
6. Verwirklichungsphase: Prototyp herstellen, testen, auswerten, an-
passen und implementieren.

Methodologische Gemeinsamkeiten mit anderen wissenschaftlichen


Disziplinen
Es ist darauf hinzuweisen, dass das Design einerseits aus de-
signspezifischen Disziplinen besteht und anderseits aus Disziplinen,
welche das Design mit anderen Wissenschaften gemein hat. Zu den

27 Harald Hullmann, in: Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 185.
28 Bernhard Bürdek, Design, S. 119.
29 in: Ebenda, S. 159ff.
286

24. Design – Forschung


und Wissenschaft

spezifischen Disziplinen wird etwa die eigentliche Entwurfsphase


gezählt: die Kreativität, die Erfindung, die Entwicklung von Ideen. Die
gemeinsamen Disziplinen sind folgende:
— Beschreiben und Beobachten: ➛ Phänomenologie
— Wissen sammeln: ➛ Geschichtswissenschaft
— Vorgehensweisen festlegen und organisieren: ➛ Methodologie
— Konzepte und Strategien entwickeln: ➛ Methodologie
— Werkzeuge nach bestimmten Standards bedienen: ➛ Technologie
— Erkenntnisse festhalten und erweitern: ➛ Epistemologie 30

4. Verbindliche Standards
Jede Art von Wissen benötigt eine eigene
Form der Repräsentation. Aufgrund der nicht vorhandenen For-
schungsgemeinschaft fehlt dem Design bisher weitgehend die Verstän-
digung über die Repräsentationsstandards, die es als wissenschaftliche
Disziplin qualifizieren – als Disziplin mit Prozessen, die abrufbar, ein-
sehbar und kommunizierbar sind. Gerade das aber zeichnet kreative
Forschung und eine funktionierende Forschungsgemeinschaft aus.
Zu den Standards gehören nicht nur die designspezifischen, sondern
auch jene, welche die Designwissenschaft mit anderen wissenschaftli-
chen Disziplinen gemein hat:
— wissenschaftliche und methodologische Relevanz;
— gesellschaftliche Relevanz für Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur;
— Innovationspotenzial;
— Beteiligung an Forschungsnetzen;
— Publikationen, Preise, Ausstellungen usw.
Die Designforschung muss ihre Kompetenzen klar definieren und in
die Projekte einbringen und gegenüber den Förderinstanzen selbst-
bewusst behaupten. Noch viel zu oft wird dem Design in Forschungs-
projekten – wenn es überhaupt berücksichtigt wird – die Rolle des
letzten Glieds in der Kette zugeschrieben. Die wissenschaftliche Füh-
rung wird den technischen oder sozialwissenschaftlichen Disziplinen
überlassen.
287

3 Probleme

3.1 Die Marginalität der Design-Disziplinen

Die Forschungstätigkeit im Bereich des Designs ist gemessen am Ge-


samtforschungsbetrieb immer noch marginal. Nirgends ist das deutli-
cher ablesbar als am praktisch inexistenten Anteil der Designforschung
an den grossen Rahmenprogrammen der Europäischen Union. De-
signforschung hat wie das Design allgemein eine schwache politische
und gesellschaftliche und eine praktisch nicht bestehende wissenschaft-
liche Lobby.

3.2 Eine falsche Arbeitsteilung

Die Hochschuldesignforschung sollte sich nicht in die falsche Arbeits-


teilung zwischen anwendungsorientierter Forschung an den Fach-
hochschulen und Grundlagenforschung an den universitären Hoch-
schulen hineinmanövrieren lassen. Dieses Schema hat seinen
Ursprung vor allem in den technischen Wissenschaften und in der Eta-
blierung der Fachhochschulen. Die Abgrenzung ist für das Design
nicht brauchbar und hinderlich. Denn die Designhochschulen sind ge-
zwungen, ihre Bemühungen um Designtheorie zu intensivieren und
Grundlagenforschung zu betreiben. In der visuellen Gestaltung gibt es
zudem weite Bereiche, in denen bisher an den universitären Hoch-
schulen keine Grundlagenforschung betrieben wurde und auch in Zu-
kunft nicht betrieben wird. Wer untersucht zum Beispiel die Wirkung
von Farbe, Bewegung, Raum und Licht unter dem Designaspekt?
Oder wer untersucht die Mechanismen der Überzeugungskraft von De-
sign? Hier besteht für die Designforschung ein grosser Nachholbedarf,
den nur das Design selber einlösen kann.

3.3 Das Konzepts des Wissens- und Technologie-


Transfers (WTT) und seine Wirtschaftslastigkeit

Der verschärfte Konkurrenzdruck in der globalisierten Wirtschaft hat


wie oben beschrieben zum politischen Ruf nach vermehrtem Wissens-
und Technologietransfer geführt. Es soll an den Hochschulen mög-
lichst viel innovatives Wissen generiert werden, das auf direktem Weg

30 Nach Oliver Wrede anlässlich seines öffentlichen Vortrags am ersten Designsymposium
der Kölner International School of Design (KISD) vom 15. 11. 2002.
288

24. Design – Forschung


und Wissenschaft

in die Wirtschaft, vor allem in die kleinen und mittleren Unternehmen


(KMU) fliessen soll.
Im Bereich von Design und Kunst gibt es nun allerdings viele Projekte,
die einen innovativen kulturellen Mehrwert haben, bei denen aber
nicht von vorneherein ein profitierender Wirtschaftspartner vorhanden
ist. Der Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen im Bereich
von Design und Kunst geht zum Teil andere Wege als in den übrigen
Bereichen der anwendungsorientierten Forschung und Entwicklung der
Fachhochschulen.
Das «Deriverable» kann neben veröffentlichten wissenschaftlichen Be-
richten oder verwendbaren Produkten zum Beispiel auch eine Aus-
stellung sein.
Hier gilt es ganz unmissverständlich daran zu erinnern, dass die Hoch-
schulen Institutionen der Res publica sind und aus öffentlichen
Steuergeldern gespeist werden und deshalb auch andern als nur wirt-
schaftlichen Interessen dienen sollten.
Wie soll sich Designwissenschaft und Designforschung angesichts die-
ser Situation verhalten? Es gibt verschiedene Möglichkeiten:
1. Die Designwissenschaft ist eine unkritische Disziplin und betei-
ligt sicht als unreflektiertes, meist letztes Glied am Kapitalverwer-
tungsprozess und liefert den Auftraggebern die verlangten Konzepte
und Bilder und den begehrten Kreativitätsschub.
2. Die Designwissenschaft verweigert sich dem neoliberalen Main-
stream – ganz nach dem Motto: autonom, aber dafür ohne Einfluss.
3. Die Designwissenschaft entwickelt selbstbewusst zusammen mit
Partnern lohnende Forschungsprojekte; sie positioniert sich lustvoll als
kritische wissenschaftliche Disziplin und als gesellschaftliche Praxis und
holt dazu auch noch die zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel
und Gelder ab. Dies ist die Variante, die auch der Autor bevorzugt.
290

A Design – Bibliografie

— Fischer, Volker: Bürdek, Bernhard:


Nachschlagewerke / Lexika Design heute. Massstäbe: Formgebung Design. Geschichte, Theorie und Praxis der
zwischen Industrie und Kunststück. Produktgestaltung. Köln, 1991
Bertsch, G. et al: München, 1988
Euro-Design-Guide. Ein Führer durch die Fiell, Charlotte und Peter:
Designszene von A–Z. München, 1991 Lueg, Gabriele und Gantenbein, Köbi: Design des 20. Jahrhunderts. Köln, 2000
Swissmade. Aktuelles Design aus der Schweiz.
Butin, Hubertus: Zürich 2001 Fiell, Charlotte und Peter:
DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössi- Designing the 21st Century. Design des
schen Kunst. Köln, 2002 Margadant, Bruno: 21. Jahrhunderts. Köln, 2001
Das Schweizer Plakat 1900 – 1983. Basel 1983
Heider, Thomas et al: Frauen im Design. Berufsbilder und Lebens-
Lexikon Internationales Design. Designer, McDermott, Cathrine: wege seit 1900. Design Center Stuttgart:
Produkte, Firmen. Hamburg, 1994 Design A–Z. Designmuseum London. (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung)
München, 1999 (2 Bde). Stuttgart, 1989
Henckmann/Lotter:
Lexikon der Ästhetik. München, 1992 Polster, Bernd et al: Godau, Marion:
Dumont Handbuch. Design International. Produktdesign. Eine Einführung mit Beispie-
Honour/Fleming: Köln 2004 len aus der Praxis. Basel, 2003
Weltgeschichte der Kunst. München, 1992
Rotzler, Willy et al: Gössel, Peter und Leuthäuser, Gabriele:
— Politische und soziale Plakate der Schweiz. Architektur des 20. Jahrhunderts. Köln, 1990
Bildbände Zürich, 1985
Hauffe, Thomas:
Albus, Volker et al: Weidmann, Dieter: Design Schnellkurs. Köln, 2000
Design! Das 20. Jahrhundert. München, 2000 Design des 20. Jahrhunderts. Berlin, 1998
Meggs, Philip:
Allgemeine Plakatgesellschaft (Hg.): — A History of Graphic Design. New York, 1998
50 Jahre Schweizer Plakate ausgezeichnet vom Designgeschichte / Einführungen
Eidgenössischen Departement des Innern. Müller-Brockmann, Josef:
Bern, 1991 Albus, Volker et al: Geschichte der visuellen Kommunikation.
Design Bilanz. Neues Deutsches Design A History of Visual Communication.
Bolster, Bernd et al: der 80er Jahre in Objekten, Bildern, Daten Niederteufen (CH), 1986
Design International. Marken, Macher, und Texten. Köln, 1992
Klassiker. Dumont Handbuch. Köln, 2002 Radice, Barbara:
Bignens, Christoph: Memphis. Gesicht und Geschichte eines
Bundesamt für Kultur (Hg.): Swiss style. Die grosse Zeit der Gebrauchsgra- neuen Stils. München, 1988
made in Switzerland. Gestaltung - 80 Jahre fik in der Schweiz 1914 – 1964. Zürich, 2000
Förderung durch die Eidgenossenschaft. Reicher, Peter:
Zürich 1997 Bonsiepe, Gui: Der schöne Schein des Dritten Reiches.
Design und kulturelle Identität in der Peri- Faszination und Gewalt des Faschismus.
Clark, Paul und Freeman, Julian: pherie in: Cultural Identity Today. Ernst und Frankfurt a. M., 1993
Design. Logo. München, 2000 Sohn. Berlin, 1989
Schepers, Wolfgang/Schmitt, Peter:
Fiell, Charlotte und Peter: Das Jahrhundert des Design. Geschichte und
1000 chairs. Köln, 2000 Zukunft der Dinge. Frankfurt a. M., 2000
291

Schilder Bär, Lotte und Wild, Norbert: Haug, Wolfgang Fritz:


Designland Schweiz. Gebrauchsgüterkultur Kritik der Warenästhetik.
im 20. Jahrhundert. Zürich, 2001 Frankfurt a. M, 1971

Schneider, Beat: Marx, Karl:


Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunst- Grundrisse der Kritik der politischen
geschichte. Bern, 1999 Ökonomie. Berlin, 1974

Selle, Gert: Meier, Cordula:


Design-Geschichte in Deutschland. Designtheorie. Beiträge zu einer Disziplin.
Produktkultur als Entwurf und Erfahrung. Frankfurt a. M., 2003
Köln, 1990
Pross, Harry:
Walker, John: Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer
Designgeschichte. Perspektiven einer Geschmackfrage. München, 1985
wissenschaftlichen Disziplin. München, 1992
Selle, Gert:
Walther, Ingo: Ideologie und Utopie des Design. Zur
Kunst des 20. Jahrhunderts. Köln, 2000 gesellschaftlichen Theorie der industriellen
Formgebung. Köln 1973

Designtheorie Welsch, Wolfgang:
Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte zur
Birkit et al: Postmoderne-Diskussion. Weinheim, 1988
Corporate Identity. Grundlagen, Funktionen,
Fallbeispiel. Lenzberg Lech, 2000 —
Designwissenschaft
Bourdieu, Pierre:
Die feinen Unterschiede. Kritik der Boom, Holzer van den:
gesellschaftlichen Urteilskraft. Grundzüge der Designwissenschaft.
Frankfurt a. M., 1987 Ein Versuch zur Orientierung in: Öffnungs-
zeiten, Papiere zur Designwissenschaft.
Burckhardt, Lucius: Nr. 7 / 98 S. 6 – 11
Design = unsichtbar. Rat für Formgebung
(Hg.) 1995 Frayling, Christopher:
Research in Art and Design, in: Research
Claus, Jürgen: Papers, Royal College of Art, Vol. 1,
Das elektronische Bauhaus. Zürich, 1987 Number 1, 1993 – 94. S. 5

Fischer, Volker und Hamilton, Anne:


Theorie der Gestaltung. Grundlagentexte
zum Design. Band 1

Funck, H.J.:
Corporate Identity. Grundlagen, Funktionen,
Fallbeispiele. Landsberg, 1992
292

B Design – Zeitschriften

Blueprint formdiskurs Journal of Design History


— — —
englisch deutsch englisch
Verlag Blueprint London Zeitschrift für Design und Theorie Verlag Oxford University Press, London
ein führendes Designmagazin in Europa Wissenschaftliche Beiträge zur Designgeschichte
form + zweck

Design + Design deutsch MODO
seit 1991
— Zeitschrift für Gestaltung —
deutsch vormalige Zeitschrift des Zentralinstituts für Gestaltung italienisch / englisch
seit 1984 der Deutschen Demokratischen Republik Berlin Verlag Ricerche Design Editrice, Mailand
vormals «Der Braun-Sammler» bedeutende italienische Designzeitschrift

Graphis
Design Issues — Neue Grafik
— Internationale Zeitschrift für visuelle Kommunikation —
amerikanisch seit 1944 dreisprachig
Verlag MIT Press, Chicago zuerst in Zürich und heute in New York 1958-65
wissenschaftliche Beiträge zum Design Internationale Zeitschrift für Grafik und verwandte Gebiete
Hg.: Lohse, Müller-Brockmann, Neuburg, Vivarelli (LMNV)
Zürich
Hochparterre
designbooks.net. (online) —
— deutsch Novum
englisch seit 1984
Zeitschrift für Architektur und Design —
das digitale magazin für designer und kreative deutsch
Zürich
monatlich
Forum für Kommunikationsdesign
design report ID international Design World of Graphic Design
München
— —
deutsch amerikanisch
Publikumszeitschrift Verlag Design Publications Inc. New York
Hg.: Rat für Formgebung, Frankfurt a.M. bedeutendste US-amerikanische Designzeitschrift Page

deutsch
seit 1986
Design Week Das internationale Design Handbuch Digitale Gestaltung und Medienproduktion
— — Hamburg
englisch deutsch
Verlag Design Week, London Verlag Bangert München
Internationale Beiträge zum Design aufwendig bebilderte Dokumentation Parkett

deutsch
seit 1984
form Kunstzeitschrift
— Zürich
deutsch
seit 1957
Zeitschrift für Gestaltung. The European Design Magazine TERRAZZO
Verlag form GmbH Frankfurt a.M. —
aktuelle Informationen über alle Bereiche des Designs, italienisch
auch wissenschaftliche Beiträge Hg.: Barbara Radice, Mailand
Verlag Bangert München
293

Typografische Monatsblätter

deutsch
erstmals 1933
Schweizerische Zeitschrift. Typo, Photo,
Graphik, Druck
Gewerkschaft Comedia

Das Werk

deutsch
1914 –76
Verbandszeitschrift des Schweizerischen
Werkbundes (SWB)
Verlag MA Cup Verlag Hamburg

werk und zeit



deutsch
Hg.: Deutscher Werkbund, Frankfurt a. M.
publizistisches Organ des Deutschen Werkbundes (dwb)
294

C Design – Museen

— Museum Thonet Design Museum


Schweiz Michael-Thonet-Strasse 1 Butler’s Wharf
D-35059 Frankenberg (Taunus) Shad Thames
Museum für Gestaltung Zürich GB-London SE1 2YD
Ausstellungsstrasse 60 Deutsches Architektur-Museum
CH-8005 Zürich Schaumainkai 43 Hunterian Art Gallery
D-60594 Frankfurt a. M. University of Glasgow
Centre Le Corbusier GB-Glasgow G12 8QQ
Heidi-Weber-Haus Museum f. Kunst u. Gewerbe
Höschgasse 8 Steintorplatz 1 —
CH-8008 Zürich D-20099 Hamburg USA

Musée de design et d’arts appliqués Museum für Angewandte Kunst Museum of Modern Art (MoMA)
contemporains An der Rechtschule 11, West 53rd Street
6, place de la Cathédrale D-50667 Köln New York, N.Y. 10019 USA
CH-1200 Lausanne —
Pinakothek der Moderne legendäre Designabteilung

Historisches Museum Bern Neue Sammlung


Helvetiaplatz 5 Designsammlung auf Weltniveau —
CH-3000 Bern Prinzregentenstrasse 3 Frankreich
— D-80538 München
Historische Sammlung von Gegenständen aus dem Musée des Arts Décoratifs
schweizerischen Alltag
Vitra Design-Museum 107 rue de Rivoli
Charles-Eames-Strasse 1 F-75007 Paris
— D-79576 Weil am Rhein
Österreich —
— Dänemark
Österreichisches Museum für Holland
Angewandte Kunst Kunstindustrimuseet
Stubenring 5 Stedelijk Museum Bredgade 68
A-1010 Wien Paulus Potterstr. 13 DK-1260 Kopenhagen
Postbus 5082
— NL-1070 AB Amsterdam —
Deutschland Schweden

Bauhaus-Archiv Grossbritannien Nationalmuseum
Museum für Gestaltung S. Blasieholmshamnen
Klingelhöfer Strasse 14 Designsammlung des Box q 61 76
D-10785 Berlin Victoria-and-Albert Museum S-10324 Stockholm
Cromwell Road, South Kensington
Kunstgewerbemuseum GB-London SW7 2RL
Tiergartenstrasse 6
D-10785 Berlin

Hessisches Landesmuseum
Friedensplatz 1
D-64283 Darmstadt
296

D Design – Organisationen

— —
Schweiz Deutschland

Swiss Design Network (SDN) Deutscher Werkbund e.V.


Hafnerstrasse 31 Weissadlerstrasse 4
CH-8031 Zürich D-60311 Frankfurt a. M.

Nationales Kompetenznetzwerk für Design Rat für Formgebung
der Schweizer Fachhochschulen
Ludwig-Erhard-Anlage 1
D-60327 Frankfurt a. M.
Schweizerischer Werkbund (SWB)
Limmatstrasse 118 Internationales Design Zentrum
CH-8031 Zürich Berlin e.V. (IDZ)
Kurfürstendamm 66
Design Network Switzerland D-10707 Berlin
Schulhausstrasse 64
CH-8002 Zürich —
— Grossbritannien
Ehemals: Schweizer Grafiker Verband (SGV)
(nicht zu verwechseln mit dem Swiss Design Network)
British Council of Industrial Design
(gegr. 1944)
Swiss Design Association (SDA) —
Weinbergstrasse 31 auch Design Council genannt

CH-8006 Zürich
Design Research Society
Verband Schweizer Grafik Designer
Limmatstrasse 63 Degree Shows
CH-8005 Zürich —
eine der weltweit wichtigsten DesignerInnen-Schmieden

Vereinigung Schweizer Innenarchitekten (VSI)


Dachslerenstrasse 10 —
CH-8702 Zollikon Italien

Form Forum Associazione per il Disegno Industriale


c /o Design Center (ADI) (gegr. 1956)
Mühleweg 23 —
CH-4910 Langenthal italienischer Dachverband

Bundesamt für Kultur


Sektion Kunst und Design
Dienst Design
Hallwylerstrasse 15
CH-3003 Bern
298

E Personenregister

Adorno Theodor W. 140, 208 Casey Jaqueline 131 Gatti Piero 140
Aicher Otl 35, 117ff, 131ff, 168, 216, 261, 263, 269 Carlu Jean 77ff Gaultier J.P. 170
Alchimia Studio 35, 152, 154ff, 169, 196, 209 Carson David 186ff Geddes Norman 97
Apollinaire Guillaume 79 Cassandre AM 77, 99 Geissbühler Steff 157ff
Apple Design 185ff Castiglioni Achille 109 Gerstner Karl 129, 132
Arad Ron 176ff Christen Andreas 118, 120 GINBANDE 169
AArchizoom 142ff Coackley Sheridan 177 Gipkens J. 80
D’Asciano Corradino 108 Cocktail 169 Global Tools 143
Auerbach Johannes 63 Colani Luigi 142 Goebbels Joseph 86ff, 90
Cook Roger 132 Grange Kenneth 119
Ball Hugo 79 Coray Hans 170 Graves Michael 153, 156
Ballmer Theo 126 Gray Eileen 62, 252
Bass Saul 100 Des-In 143 Greiman April 158, 186
Bayer Herbert 67, 69, 80, 99ff, 126 Dior Christian 105, 107 Gropius Walter 39, 49, 57, 63ff, 114
Beall Lester 99 Dixon Tom 177 Gruppe Sturm 142
Bedin Martrine 154 Doesburg van Theo 58, 61ff, 128 Gruppo 9999 142ff
Behrens Peter 33, 35, 38ff, 42ff, 48ff, 76, 131, 216 Dresser Christof 32, 34 Gugelot Hans 114, 117ff, 285
Behnisch 152 Drocco Guido 140 Guhl Willy 119ff
Bellini Mario 121 Duchamp Marcel 221, 224
Benjamin Walter 86ff, 90 Dutert Charles 19 Hablützel Alfred 120
Bergue Sebastian 177 Haller F. 120
Berger Uli und Susi 167, 170, 253 Eames Charles 98, 109, 143, 253 Hartmann Hans 129ff
Bernhard Lucian 80ff Earl Harley 96 Haug Wolfgang Fritz 20, 141
Bertoia Harry 99, 143 El Lissitzky 58ff, 128 Haussmann Trix und Robert 154, 167, 170, 253
Bialetti Alfonso 71 Elsener Carl und Victoria 20 Heartfield John 78ff
Bill Max 113ff, 116ff, 126, 128, 131, 160 Erdt H.R 80ff Hersey John 186
Binder Joseph 99ff Ernst Max 79ff Hiestand Ernst 131
Bonsiepe Gui 114, 196, 201, 237ff, 258, 266, 280 Hilfiker Hans 120
Borsani Osvaldo 108 Findeli Alain 273, 275 Hill Bill 187
Botta Mario 168, 170 Fogleman James 132 Hoffmann Josef 41
Bourdieu Pierre 230 Ford Henry 94 Hofmann Armin 127ff, 131, 157
Bowden Ben 98 Frayling Christopher 273, 275, 277 Hoffmann Eduard 130
Bradley Will 33 Friedman Dan 157ff Hohlwein Ludwig 87ff
Brandt Marianne 65 Frizzali S. 21 Hollein Hans 70, 152
Brandes Uta 214, 218, 254 Frogdesign 158 Honegger Gottfried 129
Brandolini Andreas 154 Frutiger Adrian 130ff Horta Victor 32
Branzi Andrea 156
Braque George 77 Itten Johannes 65, 68
Brattinga Pieter 130
Braun AG 113ff, 118ff, 122, 206, 264 Jacobs SA 99
Breton Andre 78 Jacobsen Arne 109
Breuer Marcel 65, 152 Jakob Teo 120
Brody Neville 186ff Johnson Philip 58
Bühler Fritz 132 Johnston Edward 40
Bürdeck Bernhard 167 Jost Heinz 130
Burckhardt Lucius 114, 160, 261 Jucker Jacob 65
299

Kandinsky Wladimir 57, 60,68, 90, 100 Neuburg Hans 127, 129ff, 132 Semper Gottfried 32ff, 39, 196, 258
Keller Ernst 126 Neweczeral Alfred 119ff Shire Peter 155
Kersting Walter 89 Noyes Eliot 121 Sottsass Etore 120ff, 143, 154ff, 160, 167, 221
Knopf Alfred 99 Spiekermann Erik 156ff, 187, 265
Koch Rudolf 31 Obrist Hermann 34 Stankowski Anton1 126, 215
Kunstflug 169 Odermatt Siegrfried 129ff, 156ff Starck Philippe 168, 169ff, 170, 176, 221
Kunz Willi 158 Ohl H. 118 Stiletto 165, 169, 226
Kuramata Shiro 156 Olbrich Joseph Maria 42ff, 48 Stöcklin Niklaus 129
Kutter Markus 129, 132 Ollin Wally 217 Sullivan Louis 39, 87, 144, 203
Superstudio 142ff
Labrouste Henri 22 Paepcke Walter 99 Syniuga Siegrfried 166, 169
Laubersheimer Wolfgang 166 Panton Verner 141ff
Le Corbusier 19, 58ff, 134, 230, 252ff, 262 Paxton Joseph 19 Tatlin Wladimir 58ff, 67, 144
Léger Fernand 77ff Pelavin Daniel 159 Tylor Frederick 94
Leupin Herbert 128ff Pentagon 166, 169 Teague Walter 97
Loewy Raymond 96ff, 170, 209 Perriand Charlotte 59, 252ff Thompson Bradbury 100
Lohse Richard 81, 126ff, 130, 132, 160 Pesce Gaetano 176 Thone Robert 21
Loos Alfred 42ff, 76, 144, 208 Piano Renzo 171 Thonet Michel 20
Lubalin Herb 100 Pineless Cipe 100 Thun Matteo 155ff 171, 184ff
Pintori G. 121 Thut Kurt 120, 177ff
Mackintosh Charles 33, 39ff Piretti Giancarlo 121 Tissi Rosmarie 156ff
Mackmurdo Arthur 31 Pissaro Lucien 31 Tschichold Jan 67ff, 76, 99, 126, 128
Maldonado Tomas 72ff, 117ff, 131, 241 Prouvé Jean 70
Malewitsch K. 60 VanderLans Rudy 185ff
Marinetti Filippo 77ff Radl Christoph 158 Vanderbyl Michael 158
Matter Herbert 69, 99, 126, 131, 159 Rams Dieter 113, 116, 118, 264ff de Velde van Henry 33, 38, 48ff, 67
Memphis 143, 154, 156ff, 165, 167ff, 174, 177, 196 Rand Paul 100, 128, 131 Vivarelli Carlo 127, 129ff
Mendini Alessandro 153ff, 184ff Ray Man 79, 80
Mercer F. 21 Rietveld Gerrit 61ff Wagenfeld Wilhelm 65, 88, 118, 168
Meyer Hannes 64ff, 72, 118, 144, 259 Rodtschenko Alexander 59ff, 67 Wagner Otto 39ff
Miedinger Max 130 Roericht Hans 115 Walker John 21, 197, 281
Mies van der Rohe Ludwig 39, 48ff, 67ff, 154 Rogers Richard 171 Wegner H.J. 109
Möbel Perdu 168ff Roschdestwensky Konstantin 58 Weingart Wolfgang 157
Mollino Carlo 108ff Rurik Thomas 269 Wirth Kurt 130
Mondrian Piet 58, 62, 79, 128 Ruskin John 31, 48 Wright Frank Lloyd 39
Moore Henry 98
Mohoöy-Nagy Laszlo 61, 65ff, 68, 99, 128 Saarinen Eero 96ff Zanuso M. 124
Morris William 30ff, 48, 64, 258, 264ff Sandell Thomas 177
Morrison Jaspar 168, 177ff Scolari Carlo 141
Moser Koloman 41ff Schawinski Xanti 126
Mucha Alphonse 32, 80 Scher Paula 159
Müller-Brockmann Joseph 127, 129ff Schilder Bär Lotte 17, 33, 134, 143, 167ff
Muthesius Hermann 35, 46, 48, 50 Schlemmer Oskar 64, 68
Schmidt Joos 64
Scholl Inge 116ff
Schreiner Frank 165
Selle Gert 67, 70, 107, 144, 166, 168, 186, 231

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