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„Von meiner Hebammenkunst gilt dasselbe. Ich bringe keinen klugen Gedanken, keine Weisheit selbst hervor.
Da ich selbst eben keine Klugheit besitze, haben meine Kritiker mit diesem Vorwurf in gewisser Weise auch Recht.
Der Grund dafür ist: Es ist der Gott, der mich zwingt, nur die Geburtshilfe zu leisten. Er hat es mir aber nicht
möglich gemacht selbst etwas zu gebären. Daher bin ich selbst überhaupt nicht weise (sophós). Die aber mit mir
zusammenkommen, zeigen sich zwar zunächst teilweise als sehr ungelehrig, dann aber, nach einer längeren
Unterhaltung, kommen sie wunderbar voran. Und dies geschieht offenbar, ohne dass sie je etwas von mir lernen,
sondern sie finden selber viele hervorragende Wahrheiten bei sich und bringen sie hervor. Urheber der Geburt
aber sind der Gott und ich.“ (aus: Platon, Theaitetos)
Sokrates sah seine Aufgabe also darin, den Menschen bei der Geburt der richtigen Erkenntnis zu helfen. Denn
wirkliche Erkenntnis muss von innen kommen. Sie kann anderen Menschen nicht einfach aufgepfropft werden.
Nur die Erkenntnis, die von innen kommt, ist wirklich „Einsicht“.
Sokrates war überzeugt, dass alle Menschen in der Lage sind, philosophische Wahrheiten einzusehen, wenn sie
nur ihre Vernunft anwenden. Wenn ein Mensch „Vernunft annimmt“, dann holt er gewissermaßen etwas aus
sich heraus.
Sokrates: Der Klügste ist derjenige, der weiß, dass er nicht(s) weiß ...
Da kann sich der arme Menon nur noch geschlagen geben, während Sokrates erst so richtig in Fahrt kommt und
immer neue Beispiele anführt, um zu beweisen, dass alle möglichen und vorstellbaren guten Taten etwas
gemeinsam haben und dass dieses Gemeinsame „Güte“ ist.
Die sokratische Methode kann dabei helfen, fehlerhafte Ansichten – „Scheinwissen“ – zu widerlegen, von deren
Richtigkeit man fest überzeugt war. Die sokratische Methode führt vielleicht nicht direkt zur Erkenntnis; aber sie
öffnet zumindest die Augen für die Wahrheit. Erst indem wir uns von der Unhaltbarkeit unserer gängigen
Meinungen überzeugen, erhalten wir die Möglichkeit zu sehen, wie die Wirklichkeit eigentlich beschaffen ist.
Sokrates geht es in seinen Gesprächen vor allem darum, universale Definitionen für die Begriffe zu finden, die
für das Zusammenleben der Menschen von entscheidender Wichtigkeit sind: Gerechtigkeit, Besonnenheit,
Tapferkeit, Frömmigkeit, Schönheit. Es ging Sokrates bei der Philosophie nicht mehr um die Natur und den
Kosmos, sondern vor allem um die Bereiche der praktischen Philosophie, also die Ethik und Politik. Später sagte
man, Sokrates habe die Philosophie aus dem Himmel auf die Erde geholt.
Sokrates: Der Klügste ist derjenige, der weiß, dass er nicht(s) weiß ...
MENON: »O Sokrates, schon bevor ich mit dir zusammengekommen bin, habe ich bereits gehört, dass du andere
stets in Verwirrung bringt. Auch jetzt kommt es mir so vor, als ob du mich verzauberst, so dass ich keinen
Ausweg mehr sehe. Du scheinst dem Zitterrochen ähnlich, der auch jeden erstarren lässt, sobald er ihn
berührt. Und auch ich bin ganz starr geworden und weiß dir nicht zu antworten, obwohl ich doch schon
tausende von Reden über die Tugend gehalten habe, vor vielen Leuten – sehr gute Reden wie ich meine.
Jetzt aber kann ich überhaupt nicht mehr sagen, was eigentlich Tugend ist ... «
SOKRATES: »Es ist richtig was du sagst, Menon. Ich stürze andere Menschen in Aporien.1 Aber ich mache das
nicht, weil es mir Vergnügen bereitet. Vielmehr bin auch ich verwirrt. So eben auch, was die Tugend
betrifft. Ich weiß nicht, was sie ist. Du hast es vielleicht früher gewusst, bevor du mir begegnetest. Nun
bist du auch verwirrt. Dann lass uns doch beide darüber nachdenken und prüfen, was Tugend wohl ist.«
1
Aporie = wörtlich: Un – Durchgang = Sackgasse, Ausweglosigkeit, in denen es keine Hilfe gibt, Ratlosigkeit. Sokrates ist jemand,
der durch sein Fragen solche Aporien erzeugt und dadurch seine Gesprächspartner zunächst in Verlegenheit und schließlich in
die Sachgasse ihres Denkens führt.
Über dem Eingang zum Orakel in Delphi stand der Spruch „Erkenne dich selbst.“ Vielleicht bestand Sokrates
Weisheit gerade darin, dass er „sich selbst erkannt“ hatte. Er hatte keine Angst vor Selbstreflexion und
Selbsterkenntnis.
Erst wenn man bereit ist, über sich selbst nachzudenken, wird man ein wahrer Mensch, ein Mensch wie er sein
soll. Die meisten Menschen leben einfach aus, was andere ihnen sagen, oder sie sagen, was ihnen gerade so
einfällt oder sie tun, weil sie sich irgendwie dazu getrieben fühlen. Sokrates sagt: Zuerst kommt das Nachdenken.
Nur bei Menschen die nachdenken, bildet sich das heraus, was man Bewusstsein nennt.
Der Logos
In Platons Dialog Kriton formuliert Sokrates folgenden Grundsatz: „Denn nicht nur jetzt, sondern schon immer
folge ich dem Grundsatz, dass ich nichts anderem gehorche als dem Logos, der sich mir bei der Untersuchung
als der beste zeigt.“
Das griechische Wort Logos ist eigentlich kaum zu übersetzen. Es kann Wort, Satz, Gedanken, Behauptung, Rede,
Gespräch, Sprache, vernünftiger Grund, Bedeutung, Denkvermögen, Vernunft oder auch Weltgesetz bedeuten.
Sokrates will damit sagen: Bevor ich handle, muss meine Vernunft diesen beabsichtigen Schritt genau prüfen:
Die Prüfung, wie wir uns verhalten sollen, muss nüchtern und der Sache angemessen erfolgen, unabhängig von
Gefühlen, von der eigenen Befindlichkeit und Zufälligkeiten. Die Überprüfung erfolgt gemeinsam, im
vernünftigen, argumentierenden Gespräch miteinander.