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Heinz Abels

Einführung in die Soziologie 2


Hagener Studientexte zur Soziologie

Herausgeber:
Heinz Abels, Werner Fuchs-Heinritz
Wieland Jäger, Uwe Schimank

Die Reihe „Hagener Studientexte zur Soziologie“ will eine größere Öffentlichkeit für The-
men, Theorien und Perspektiven der Soziologie interessieren. Die Reihe ist dem Anspruch
und der langen Erfahrung der Soziologie an der FernUniversität Hagen verpflichtet. Der
Anspruch ist, sowohl in soziologische Fragestellungen einzuführen als auch differenzierte
Diskussionen zusammenzufassen. In jedem Fall soll dabei die Breite des Spektrums der
soziologischen Diskussion in Deutschland und darüber hinaus repräsentiert werden. Die
meisten Studientexte sind über viele Jahre in der Lehre erprobt. Alle Studientexte sind so
konzipiert, dass sie mit einer verständlichen Sprache und mit einer unaufdringlichen, aber
lenkenden Didaktik zum eigenen Studium anregen und für eine wissenschaftliche Weiter-
bildung auch außerhalb einer Hochschule motivieren.
Heinz Abels

Einführung in
die Soziologie
Band 2: Die Individuen
in ihrer Gesellschaft

4. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

.
.

4. Auflage 2009

Alle Rechte vorbehalten


© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009

Lektorat: Frank Engelhardt

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Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-16634-6
Vorwort 9
1 Werte und Normen 15
1.1 Simmel: Die Ordnung der Dinge - die Rangierung 17
nach Werten
1.2 Durkheim: Gewohnheiten, Regeln, sittliches Bewusst- 20
sem
1.3 Mead : Erfahrung des Richtigen, Generalisierung des 27
Guten
1.4 Parsons: Werte bestimmen die Richtung des Handeins 33
1.5 Inglehart: Wandel von materialistischen zu postmateria- 39
listischcn Werten
1.6 Klages: Pflicht, Selbstentfaltung, Wertesynthese 45
1.7 König: Normen - das Urphänomen des Sozialen 50
1.8 Nonnative Integration, Normverletzung und der 52
Nutzen der Dunkelziffer
2 Sozialisation 57
2.1 Durkhcim: Socialisation methodique 59
2.2 Freud: Über- Ich und Einschränkung der Triebbedürfnisse 62
2.3 Kulturanthropologie: Kulturelle Differenzen 68
2.4 Lernen unterden Bedingungen der Umwelt 77
2.5 Mead: Integration in einen organisierten Verhaltens- 82
prozess
2.6 Parsons: Herstellung funktional notwendiger Motivation 89
2.7 Hurrelmann: produktive Verarbeitung der Realität 97
3 Rolle 101
3.1 Parsons: Rolle - normative Erwartung 103
3.2 Merton: Der Rollen-Set 111
3.3 Dahrendorf Homo Sociologicus und die ärgerliche 11 8
Tatsache der Gesellschaft
3.4 Habermas: Kritik der Rollentheorie 127
6

4 Soziales Handeln 134


4.1 Verhalten unter gegebenen Umständen odersinnvolles 136
Handeln?
4.2 Weber: Bestimmungsgründe des Handelns 141
4.3 Parsons: Alternative Wertorientierungen des Handelns 147
4.4 Rationale Wahl, gerechter Tausch, symbolische 158
Transaktion
4.5 "Dualität der Struktur" 168
4.6 Rational e Wahl trotz .Jtabits" und .frames" 173
4.7 Habermas: Vier Handlungsbegriffe 180
5 Interaktion 184
5.1 Simmel: Wechselwirkung und Vergesellschaftung 187
5.2 Weber: Soziale Beziehung 191
5.3 Mead: Interaktion - Verschränkung der Perspektiven 196
5.4 Parsons: Rolle, Austausch, Kontingenz 201
5.5 Blurner: Symbolische Interaktion 208
5.6 Interaktionssysteme: Kommunikation unter Anwesenden 214
5.7 Ethnomethodologie: Methodisches im Alltagshandeln 219
5.8 Krappmann: Annahmen über das Gelingen von Inter- 227
aktion
5.9 Habennas: Kommunikatives Handeln und Diskurs 230
6 Gruppe 242
6.1 Durkheim: Die Herstellung moralischer Gefühle in 246
der Gruppe
6.2 Simmel: Die Selbsterhaltung der socialen Gruppe 249
6.3 Primärgruppen - "nursery ofhuman nature" 259
6.4 Peer group - Sozialisation auf der Schwelle zur 262
Gesellschaft
6.5 Wir und andere: Ethnozentrismus und Außenseiter 271
6.6 Bezugsgruppe und soziale Beeinflussung in derGruppe 277
7

7 Status 285
7.1 Linton: Zuschreibung und Leistung 287
7.2 Statuskriterien, Statusinkonsistenz, Statussymbole 289
7.3 Veblen: Demonstrativer Müßiggang und Konsum der 297
feinen Leute
7.4 Bourdieu: Die feinen Unterschiede 303
7.5 Goffman: Stigma und soziale Identität 312
7.6 Strauss: Statuszwang und Transformation von Status- 3 18
arten

8 Identität 322
8. 1 Simmel: Kreuzung sozialer Kreise und individuelles 325
Gesetz
8.2 Mead: Identität - sich mit den Augen des anderen sehen 333
8.3 Riesman: Außenleitung 34 1
8.4 Goffman: Wir alle spielen Theater 348
8.5 Parsons: Individuelles Code-Erhaltungssystem 360
8.6 Erikson: Identität im Lebenszyklus 367
8.7 Krappmann: Ich-Identität als Balance 376
8.8 Berger, Berger, Kellner: Krise der modemen Identität 380
8.9 Identität - ein relativer Standpunkt 387
9 Unversöhnlich 392

Literatu rverzeic hnis 394


Glied erung Band 1: Der Blick auf die Gesellschaft 413
Personenregister 415

Sa chregisler 4 18
Vorw or t

Soziologie befasst sich mit gesellschaftlichen Verhältnissen und dem


Handeln zwischen Individuen in diesen Verhältnissen. Diese Definition
aus dem ersten Band dieser Einführung soll die Brücke zwischen den
Fragen bilden, die dort behandelt werden, und denen, um die es hier
gehen wi rd. Dort steht die Frage im Vorde rgrund, wie Gesellschaft
möglich ist, in welchen Institutionen sie uns gegenübersteht und wie sie
sich sowohl als Struktu r wie auch als Prozess darstellt. Um es mit ei-
nem Schlagwo rt zu sagen: Es geht um die Makro themen der Sozi olo-
gie. Deshalb trägt der ers te Band auch den Titel " Der Blick auf die Ge-
seilschaft", was zug leich auch andeutet, dass und wie wir als Soziolo-
gen auf die Gesellschaft sehen.
In diesem zweiten Band wird die Frage ges tellt, wie die Individuen
Te il der Gesellschaft werden, wie sie in ihr handeln und wie sie zu "den
anderen" stehen. Wieder mit einem Schlagwo rt: Es geht um Mikrothe-
me n. De shalb lautet der Tit el auch " Die Individuen in ihrer Gese ll-
schaft". Obwohl im ersten Band der Einführung wichtige Grundlagen
für die Fragen hier angesprochen und hier Themen ausgeführt werden,
die die Gru ndlagen dort plastischer machen, meine ich doch, dass bei de
Bände für sich gelese n und verstanden werde n kö nnen. Was allerdings
das Ideale wäre, erhellt aus meiner eingangs gege benen Definition von
Soziologie.t
Die Erkl ärun gen meiner Art zu schrei ben und meine Überzeugung
zur " richtigen" Theorie will ich nicht wiederho len , und auch Nietzsches
Empfehlung zum Lesen kluger Bücher setze ich einfach voraus. Nur
eine Sache wiederhole ich wö rtlich, we il sie für den Zugang zur Sozio-
logie m. E. unabdi ngbar ist: Eine soz iologische Binführung soll mit
einer neuen Wi ssenschaft vertrau t gemacht werden , die von fast nich ts
anderem handelt als dem, was wir immer schon verstande n zu haben

Für alle Fälle habe ich die Hauptthemen der Gliederung aus Band 1 hier in das
Register übernommen.
10 Vorwort

glauben. Das gelingt am besten, wenn man in Ruhe mitdenkt. Werm ich
also imm er wieder Beispiele bringe, dann sollten Sie nicht das Tempo
erhöhen und sagen "klar, kenn' ich!'', sondern nachdenken, welches
Beispiel Ihnen dazu einfällt. Wenn Ihnen eins einfallt, das meine ÜberM
legungen oder die der anderen Soziologen widerlegt, umso besser.
Dann beginnt soziologisches Denken zu wirken ! Soziologie hat etwas
mit Irritation zu tun - und vor allem: mit dem Mut, sich des eigenen
Verstandes zu bedienen. Beim ersten beginnt Theorie, beim zweiten -
so hoffe ich - Praxis.
Jetzt zum Thema dieses zweiten Bandes. Wie sich das Individuum
als Mitglied von Gesellschaft erfahrt, das interessiert hin und wieder
auch den Mann auf der Straße, vor allem immer dann, wenn es ihm
nicht gut geht. Dann lamentiert er über die Verhältnisse ("Was sind das
bloß für Zeiten"!"), vermisst Freundlichkeit und Zuwendung ("Die an-
deren denken nur noch an sich!") oder fühlt sich von den anderen nicht
verstanden. Doch anders als der Mann auf der Straße, der sich oft nur
dann, wenn ihm seine "Betroffenheit" auf die Seele fallt, zum Nach-
denken anschickt, wartet der Soziologe nicht, bis ihn etwas persönlich
berührt, sondern macht sich professionell in den Problemen und ganz
besonders in den Gewissheiten im Alltag von ganz normalen Menschen
zu schaffen. Warum das so ist und auch so sein sollte und womit man
dann rechnen muss, wenn man beginnt, den Dingen auf den Grund zu
gehen, und sich im soziologischen Misstrauen übt, das habe ich aus-
führlich im ersten Band diskutiert.
Obwohl ich hoffe, Ihnen für das, was nach den ersten Verunsiche-
rungen und Aussichten dann an soziologischen Überlegungen zu vielen
Aspekten der gesellschaftlichen Realität gebracht wurde, auch etwas
Mut gemacht zu haben, will ich in diesem Vorwort doch noch einmal
daran erinnern, was Ihnen passieren kann, wenn Sie Soziologie als
"Lehre vom zweiten Blick", wie es NIKLAS LUH MANN (1979, S. 170)
einmal gesagt hat, betreiben. Sie können leicht zum Störenfried wer-
den, weil Sie Dinge, die anderen ganz selbstverständlich sind, ganz
anders sehen. Manche genießen diese Rolle als professionelle Durch-
blicker, wundem sich aber, warum ihnen keiner so richtig zuhört oder
warum sich die Verhältnisse nicht ändern. Andere sind frustriert, weil
ihre soziologischen Fragen bei den allermeisten ins Leere laufen. Die
wissen nämlich immer schon Bescheid, und die großen Erklärungen
wie AGIL-Schema und Autopoiesis oder Individualisierung sagen ih-
Vorwort 11

n en nich ts. Da b edarf es scho n gedu ldiger Aufkl ärung, um soziologi-


sches Denk en in Gang zu bringen . Ich verm ute, dass es bei den folge n-
den T hem en etwas leicht er se in wird, denn immerhin geht es um so
ein fache wie um stü rzende Fragen w ie zum Beispiel die folge nden :
• Woran orienti eren wir uns?
• Wi e werde n wir eigentli ch , was wir sind?
• Wie gehen wir mite inander um?
• W ie stehen wir z u "de n and eren"?
• Wie stellen wir uns vor anderen dar?
Si e m erken, die soziologisc hen Fragen rüc ken ga nz nah an das Ind ivi-
duum heran, auch an den Soziologen! In dem Augenblick nämli ch , wo
wir d ie Fragen für die Beob achtung der anderen schärfen, komm en die
von ALVIN W . GOULDNER so genannten .Hintergrundannahmen' '
(Gouldner 1970, S. 44) ins Spi el. Es sind implizite Annahmen über eine
"wah re" Gesellsc haft, üb er das "richtige" Ve rhalten des " Individuums
an sich" und - das dürfe n wir nicht vergessen - über un sere eigene
Iden tität! Wen n wir übe r die anderen sprec hen, sp rec hen wi r auch üb er
un s.
Ve rstehen Si e diese knappen Andeutungen, di e im ers ten Band die-
ser Einleit ung aus fuhr Iich beg ründet wurden, deshalb auch als Ermun-
terung und als Wamun g zugleich. Soziologie ist nic ht leich t zu haben,
auch wenn man meint, mit Fragen zu begi nnen, die ein em "eigentlich"
vertraut sind. Aber umgekehrt gilt auch: Von der Soziologie läss t man
nich t mehr so leicht, wenn m an erst einmal gelern t hat, sich vorzuste l-
len, wie die D inge auch anders se in könnten. Bei den guten kommen
wir so darau f, unter w elchen Bed ingungen wir sie erhalten können, b ei
d en sch lechte n, wi e wir sie m ögl icherw eise ändern können. Das wäre
n icht der schlecht este Beitra g, den die Soziologie al s nü tzli che und
praktische Wissenschaft für eine h umane Welt leis ten könnte!

vorwert zur 2., überarbeiteten und erweiterten Auflage


Wi e im ersten Band der Einführu ng habe ich auc h in di esem zweiten
Entw ick lungs linien der soziologischen Di skussion nachgezeichnet.
Nac h der dort vor geno mmenen Untersche idu ng zwischen einem nor-
mativen und einem interpretativen Paradigm a oder, and ers gesagt, zw i-
12 Vorwort

schen einer Perspektive, die vom Ganzen und von Strukturen, und ei-
ner, die vom Individuum und Prozessen ausgeht, habe ich bei den
Themen, wo das sinn voll war, die Theorien von GEORG SIMMEL, M AX
W EBER, GE ORGE H ERBERT MEAD und TALCon PA RSONS n ach g etra -
gen. An anderen Stellen habe ich Positionen noch etwas profiliert. Das
gilt unter anderem für den Anspruch und die Erklärungskraft des .me-
thodol ogischen Individualismus" , die ich im Kapitel über die individua-
listischen Theo rien des Verhaltens behandele, und für den Zusammen-
hang von Sprache und Sozialisation. Warum ich das urspr ünglich nicht
intendierte didaktische Prinzip der imm er neuen Hinführungen zu
Themen und der entsprechenden Wiederholu ngen in der zweiten Auf-
lage noch verstärkt habe, habe ich am Ende des neuen Vorworts zum
ersten Band erklärt.
Nach einigen Überlegungen habe ich die The se von DAVID R IESMA N
über die ,,Außenleitung" in der Modeme unter die Theo rien zur Identi-
tät subsumiert, um auf die riskanten Bedingungen aufmerksam zu ma-
ehen, unter denen das Individuum vor den Anderen auftritt.
Um den Bogen von der Gesellschaft zum Individuum zu schlagen
und dan n wiederum dessen Gewicht gegenüber dieser herauszuarbei-
ten, habe ich das Kapitel über Identität an den Schlu ss gestellt.
Dass ich ein neues Schlu sskapitel unter eine Über schrift geste llt ha-
be, die scheinbar unsoziologisch ist, hat zwei Grunde: Zum einen haben
mir die erfreulichen Reaktionen auf die Einführun g gezeigt, dass viele
Soziologinnen und andere Interessierte sie als Aufk lärung über die
Wechselwi rkun g zwischen Individuum und Gesellschaft gelesen und
darau s Hinweise entnommen haben, was sie selbst und ganz konkre t
unter gegebenen sozialen Verhältnissen tun könn en. Zum anderen woll-
te ich noch einmal betonen, dass die Re flexion "gegebener soz ialer
Verhältnisse" von einem bestimmten Interesse geleitet sein muss: Es
steht in den letzten drei Sätzen des Vorwo rts zur ersten Fassung dieses
zweiten Bandes der Einführung in die Soziologie . Und um es ganz klar
z u machen, worum es mir geht, endet dieser zweite Band mit demsel-
ben Satz wie der erste Band.

Hagen, im Apri l 2004


Vo rwort 13

Vorwort zur 3. Auflage


Die rasch notwendig gewordcne 3. Auflage gab mir die Gelegenheit,
den Text an einigen Stellen zu aktualisieren. Das Vergleichen innerhalb
der Theorien und zwischen ihnen habe ich erleichtert, indem ich in den
Fußnoten Seiten angegeben habe. Die vielen Rückmeldungen haben
mir gezeigt, dass mehr und anderes nicht erforderlich ist. Deshalb
zeichne ich den langen Weg "Vom Individuum zur Individualisierung"
an anderer Stelle (Abels 2006) nach und erweitere dort auch die Per-
spektive auf das Thema "Identität".

Münster, im Juli 2006


1 Werte und Nor men
1.1 Simm el: Die Ordnung der Dinge - die Rangierung nach Werten
1.2 Durkheim: Gewohnh eiten, Regeln, sittliches Bewusstsein
1.3 Mead: Erfahrun g des Richt igen, Generalisierung des Guten
1.4 Parsons: Werte bestimmen die Richtung des Hand eins
1.5 lnglehart: Wandel von materialistischen zu postmateria-
listischen Werten
1.6 Klages: Pflicht, Selb stentfaltun g, Werte synthese
1.7 König: Nonnen - das Urphänomen des Sozialen
1.8 Nonnative Integration, Normverletzung und der Nutzen
der Dunkel ziffer

Über den Handlungsreisenden Will y Loman schreibt Arthur Miller: "Er


besitzt tatsächlich Werte. Nur die Tatsache, dass diese Werte sich nicht
verwirklichen lassen, ist es, was ihn zur Verzweifl ung treibt, wie so
viele andere Menschen leider auch. Nur derjenige, der wirklich ohne
alle Werte und Ideale lebt, fühlt sich immer und überall vollkommen
wohl, denn zwischen nichts und irgendetwas ist ja kein Konflikt m ög-
lieh." ] Das erste mag man wohl glauben, das zweite ist soziologisch
wohl nicht denkbar, denn es gibt kein Individuum ohne Werte, und eine
Gesellschaft ohne Werte wäre keine Gesellschaft.
Im soziologisc hen Sinne kann man unter Werten die bewussten oder
unbewussten Vorstellungen der Mitglieder einer Gesellschaft verste-
hen, was man erstreben und wie man handeln soll. Durch diese kollek-
tiven Vorstellungen des Guten und Richtigen fühle n sich die Individuen
einander verbunden.
• Werte geben einen allgemeinen Orientierungsrahmen für Denken
und Handeln ab, Norme n schreiben mehr oder weniger streng
vor, wie gehandelt werden soll.
• Nonnen sind Regeln, Ober deren Einhaltung die Gesellschaft
wacht. Das tut sie mittels positiver oder negativer Sanktionen,

Arthur Miller im Programmhe ft ,,Der Tod eines Handlungsreisenden", Schauspiel


Essen 1993, S. 9
16 1 Werte und Normen

also Lob und Strafe. Sie erreicht No rmkonformi tät aber viel wi r-
kungsvoller dadurch , dass uns Normen im Prozess der Sozialisa-
ti on als "normal" nahe gebrach t werden, dass wir sie als vernünf-
tige Regelungen internalisieren und sie im täglichen Handeln als
"s elbstverständlich" be stätigen.
Obwohl Werten und Nonnen oft natürliche, gar gött liche Dign ität zu-
geschrieben wird, dar f man nicht vergessen, dass es Me nsche n waren,
aus deren Denken und Handel n sie erwuchse n. All erdin gs, da s hat M AX
WEBER in seiner Studie über di e " Protestantische Ethik und den Geist
des Kapitalismus" gezeigtt , können die materiellen und ideellen Inte-
ressen, di e unser Handeln unmittelbar beherrschen, durc h "Weltbilder"
in bestim mte Bahnen gelenkt werden. Diese Weltbilder wurzeln oft in
rel ig iösen Überzeugungen, und deshalb gelten sie vielen auch als abso -
lut und "selbstverstän dli ch". Es besteht die Gefahr, dass die " höc hsten
und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem
Leben Sinn und Bede utung geben, (..) von uns als etwas »objektiv«
Wertvo lles empfunden" werden. (Weber 1904 , S. 8 1)
Doch sie sind nur inso fern " obj ektiv" , als sie in dieser Kultur oder
sogar nur in dieser Gruppe tatsächlich gelten. So hat Durkheim auch
von sozi alen Tatsachen gesprochen . Wenn wir also in der Soziologie
von Werten sprechen, dann sind immer kulturspezifi sche Wert e ge-
meint. Natürlic h versichern w ir uns gerne allgeme inm enschliche r Wer-
te in der Hoffnun g, damit im globa len Konsens mit allen Gutmeinenden
zu sem.
Doc h die Geschichte hat gezei gt, dass es selt en um die Durchsetzung
universaler Werte, sondern meis t um höchst einseitige Auslegungen
solc her Werte gegangen ist. Wo die Gefahr dieser naiven - oder inte-
ressierte n! - Annahme "selbstverständlicher" Werte liegt, kann man in
Zei ten dogmati schen Denkens sehen . Dann unterscheiden Wi ssen-
sch aftler zwischen entwic ke lten und prim itiven Kulturen, Mi ssionare
ziehen aus, um anderen Völkern das Hei l zu bringen, und Fanatiker
entscheiden, was wertvoll bis hin zu m Lebenswerten ist.

Vgl. Band J, Kap. 10.3 " Weber: Asketischer Prot estantismus und rationa le Le-
bensführung".
Werte und Normen 17

An dieser Grenze zum Ethnozentrism us, der Werte nur aus der eige-
nen Kultur heraus definiert und zulässt, befinden wir uns immer. Des-
halb kann man die folgende Mahn ung Max Webers nicht ernst genug
nehmen:

Max Weber: Gleiche Dignität versc hiedener Kultu rwerte


"Nur positive Religionen - prä ziser ausged rückt: dogmatisch gebunde -
ne Sekten - verm ögen dem Inha lt von Kulturwerten die Dignität unbe -
dingt gültiger ethischer Gebote zu verleihen. Außerhal b ihrer sind Kul-
turideale, die der Einzelne verwirklichen will, und ethische Pfl ichten,
die er erfüllen soll, von prinzipiell verschiedener Dignität. Das Schick-
sal einer Kulturepoche. die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist
es, wissen zu müssen, das s wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus
de m noch so sehr verv ollkomrrmeten Ergebn is seiner Durchforsch ung
ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen,
das s »Weltanschauungen« niemals Pro dukt fortschreitenden Er/ all-
rungs wissens sein können, und dass also die höchsten Ideale, die uns
am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idea-
len sich auswirken , die Anderen ebenso heilig sind, wie uns die unse -
ren," (Weber 1904: Die »Objektivitätc sozialwissens chaftlicher Er-
kenntn is, S. 84)

1.1 Simmel: Die O rd nung der Dinge - die Rangierung nacb


Wer ten
Mit den Werten ordnen die Mitglieder einer Gesell schaft ihre Welt. Das
ist die The se von GEORG SIMMEL (1858-19 18). Er setzt an den Beginn
seiner " Philosophie des Geldes" , einem Schlüsselwerk der Soziologie
des 20. Jahrhund erts, einen Einwand : Aus der Sicht der Naturwissen-
schaft ruht "die Ordnung der Dinge, in die sie sich als natürliche Wirk -
lichkeiten einstellen", auf der Voraussetzung, dass die Dinge in ihrer
Existenz gleichberechtigt sind. M it dieser "gleichgültigen Notwendig-
keit" , geben wir uns aber nicht zufrieden, sondern verleih en der Ord-
nung der Wirklichke it eine andere, " in der die Allgleichheit völlig
durchbrachen ist" . Das tiefste Wesen dieser Ordnung ist "nicht die Ein-
heit, sondern der Unterschied (..): die Rangierun g nach Werten ." (Sim-
mel 1900, S. 23)
18 1 werte und Normen

Insofern bilden Werte den Hintergrund der Wechselwirkungen, in


denen Individuen und Gruppen untereinander und mit der objektiven
Welt stehen. Werte ordnen die Welt und differenzieren sie:

Georg Simmel: Die Weil der W erte fasst die Inh alte der
Wirklichkeit in eine völlig autonome Ordnung
"Ma n macht sich selten klar, dass unser ganzes Leben , seiner Bewusst-
seinsseite nach, in Wertgefühlen und Wertabwägungen verläuft und
überhaupt nur dadurch Sinn und Bedeutung bekommt, dass die mecha-
nisch abrollenden Elemente der Wirklichkeit über ihren Sachgehalt
hinaus unendlich mannigfaltige Maße und Arten von Wert für uns be-
sitze n. In dem Augenb lick, in dem unsere Seele kein bloßer interesselo-
ser Spiege l der Wirklichkeit ist - was sie vielleicht niemals ist, da selbst
das objektive Erkennen nur aus einer Wertung seiner! hervorgehen
kann - lebt sie in der Welt der Werte, die die Inhalte der Wirklichkeit in
eine völlig autonome Ordnung fasst." (Simme l 1900 : Philosophie des
Geldes, S. 25)

Die gerade zitierten Sätze muss man genau lesen, denn Simmel ver-
weist hier auf die subjektive Kompone nte des Interesses, mit dem den
Dingen Wert beigemessen wird. Deshalb kann " ein und derselbe Ge-
genstand in einer Seele den höchsten, in einer anderen den niedrigsten
Grad des Wertes besitzen" . (Simmel 1900, S. 28) Doch diese Subjekti-
vität vergessen wir leicht und meinen, die Dinge hätten einen Wert an
sich. Das ist aber nicht der Fall: "Dass Gegenstände, Gedanken, Ge-
schehnisse wertvoll sind, das ist aus ihrem bloß natürlichen Dasein und
Inhalt niemals abzulesen." (S. 23) Wertvoll sind sie nur insofern, als
wir ihnen eine bestimmte Bedeutung beimessen und sie begehren. Die-
se Bedeutung erhalten die Dinge auch erst in dem Augenblick, wo sie
dem Subjekt als Objekte gege nübertreten, über die es nicht mehr ohne
weiteres verfügen kann und die sich einer Erlangung widersetzen: "E rst
die Repulsionen, die wir von dem Objekt erfahren , die Schwierigkeiten
seiner Erlangung, die Warte- und Arbeitszeit, die sich zwischen
Wunsch und Erfüllung schieben, treiben das Ich und das Objekt ausein-
ander" (S. 43) - und wecken Begehren. Wir stellen uns vor, dass uns

Gemeint iSI das Erkennen, das durch den Prozess der Auswa hl und Gewichtu ng
dessen, was wahrgeno mmen wird, schon Wertung ist.
I Werte und Nonne n 19

etwas, was wir nicht haben, nützlich sein könnte oder dass es uns Lust
bereiten würde, wenn wir es besäßen. (vgl. S. 47)
Es gibt also ein Nebeneinander von Wert, der einem Obj ekt zuge-
schrieben wird, und Wirklichkeit. (vgl. Simmel 1900, S. 27) Diese Dif-
ferenz will der Mensch überwinden. Als ein Wesen, das Bedürfni sse -
materieller, sozialer oder geistiger Art - hat und diese Bedürfuisse be-
fried igen will, bewertet er in dem Augenblick, in dem er einem Objekt
eine Bedeutung zur Befriedigun g der Bedürfnisse beimisst. Bedeutung
beimessen heißt, dass wir nicht unmittelbar die Erftillung eines Wun-
sches durchsetzen, sondern von unserem Begehren zurücktreten und
nach Möglichkeiten der Befriedigung Ausschau halten. Wir legen also
eine Distanz zwischen unser Bedürfuis und die möglichen Objekte,
durch die wir es befriedigen wollen. Wo diese Distanz fehlt, ist es im
soziologischen Sinne kein Wert, der uns antreibt, sondern - unsoziolo-
gisch gewendet - Gier, wo diese Distanz allerdings zu groß ist, ver-
schwindet der Wert, weil er unrealistisch wird. Distanz ist also Voraus-
setzung für die Bewertung von Möglichkeiten des HandeIns. Distanz ist
darüber hinaus Antrieb zu handeln, denn " der Sinn jeder Distanzierung
ist, dass sie überwunden werde." (Simme1 1900, S. 49)
Damit muss man als weitere Konsequenz denken, dass Wert etwas
mit Balance zwischen zuviel und zuwenig zu tun hat. Wo kein e An-
strengung nöti g ist, Befriedigung zu erreichen, weil z. B. die Möglich-
keiten der Befriedigung im Übenn aß vorhanden sind, verliert jede ein-
zelne Möglichkeit an Wert; wo die Anstrengungen alles Maß überstei-
gen würden, löst sich der Wert im Abstrakten auf.
Bewertung heißt, von etwas, das man selbst nicht ist oder hat, eine
geringere oder höhere Befriedigung zu erwarten. Da wir nach einer
höheren Befriedigung streben, bevorzugen wir eben dieses gege nüber
einem anderen. Je häufi ger diese Befriedi gung eintritt, umso sicherer
wird sie erwartet. Je mehr Individ uen diese Erwartun g teilen, umso
genereller wird der Wert und leitet schließlich das Handeln vieler an.
20 I Werte und Normen

1.2 Durkheim: Gewohnheiten, Regeln, sittliches Bewusstsein


Entwickelte Gesellschaften, das war die These von EMILE DURKHEIM
(1858-1917), zeichnen sich durch Arbeitsteilung und organische Soli-
darität! aus. Das bedeutet zunächst einmal, dass sich mit steigender
Differenzierung der Funktionen das Gefühl einstellt, dass die Individu-
en voneinander abhängig sind. Was der eine nicht kann, kann ein ande-
rer; was dieser braucht, hat jener. Schließt man den Fall aus, dass sich
die Individuen das, was der andere kann und was sie selbst brauchen,
mit Gewalt verschaffen, und auch den Fall, dass j eder selbstlos und
ohne zu zögern alles, was er kann und hat, allen anderen schenkt, dann
muss man sich fragen, wie denn der Austausch von Leistungen auf
Dauer funktioniert.
Es geht also um die Frage, wie "die wechselseitigen Beziehungen
der Funktionen", denn in dieser Form stehen sich die Individuen ge-
genüber, geregelt werden. (Durkheim 1893, S. 434) Sie von Fall zu Fall
zu regeln, scheidet wegen der Vielfalt und Verzweigung aus. Außer-
dem wäre es unsinnig, Dinge, die immer wieder passieren, jedes Mal
neu zu regeln. Zweitens könnte man an Verträge denken, die Standard-
situationen reglementieren, aber dagegen wendet Durkheim ein, dass
" nicht alle sozialen Beziehungen dieser rechtlichen Form fähig" sind
(ebd.), man denke z. B. an Liebe, Vertrauen oder Hilfe, und außerdem
lässt jeder Vertrag Raum .Jür alle möglichen Reibungen" (ebd.), und
die wiederum sind durchaus nicht unnötig im sozialen Leben. Drittens:
Da der Mensch von Natur aus egoistisc h ist, kann man auch nicht dar-
auf rechnen, dass er von vornherein seine Solidarität empfindet. Ergo:
Es muss "die Art und Weise bestimmt sein", wie die Individuen "zu-
sammenwirken müssen, wenn auch nicht bei jeder Art ihres Aufeinen-
dertreffens, so doch für die am häufigsten anzutreffenden Umstände"
(ebd.). Und in der Tat gibt es diese Bestimmungen überall, wo Men-
schen zusammenleben. Durkheim nennt sie soziale Tatsachen oder In-
stitutionen)
In jeder Gesellschaft gibt es kollektive Vorstellungen, wie Gesell-
schaft sinnvollerweise geordnet ist und wie man sich deshalb zu verhal-
ten hat. Es sind Vorstellungen des Guten, und insofern sind sie als Wer -
te zu verstehen, und zugleich Vorstellungen des Richtigen, und insofern

1 Vgl. Band 1, Kap. 3.6 ,.Mechanische und organische Solidarität", S. 108.


2 Vgl. Band I, Kap. 4.1 "Soziale Tatsachen".
I werte und Normen 21

sind sie Normen. Es sind soziale Tatsachen, die vor jeder sozialen Be-
ziehung schon existieren und als Reg eln unser Verhalten bestimmen.
Wie kommen diese Regeln nun zustande? Durkheim sieht es so: " Es
gibt bestimmte Arten, aufeinander zu reagieren, die, weil sie der Natur
der Dinge gemäßer sind, sich öfter wiederholen und Gewohnheiten
werden. Diese Gewohnheiten verwandeln sich, je stärker sie werden,
sodann in Verhaltensregeln." (Durkheim 1893, S. 435) Sie werden ver-
bindliche Verkehrsform und soziale Norm. "Eine Regel ist nämlich
nicht nur eine gewohnhe itsmäßige Form des Handelns, sie ist vor allem
eine verpflichtende Fonn des HandeIns, d. h. sie ist in bestimmtem
Umfang der individuellen Willkür entzogen." (5 . 45)
Werte und Normen sind aufgehoben im Kol/ektivbewusstsein. Dar-
unter versteht Durkheim "die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen
Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder einer be-
stimmten Gesellschaft" . (Durkheim 1893, S. 128) Durkheim hat den
schwierigen Begriff des Kollektivbewusstseins häufig interpretiert. Am
ehesten kann man ihn so verstehen: Er meint das, was in der Gesell-
schaft als Vorstellung des Verbindenden und Verbindlichen existiert
und an dem jedes einzelne Bewusstsein teilhat. Die Betonun g der Bin-
dung in der Erklärung der Funktion des Kollektivbe wusstseins scheint
mir wichtig, denn religio heißt ursprün glich genau das! Luhmann inter-
pretiert Durkheim so, dass "das Kollektivbewusstsein (. . .) die Gesell-
schaft" ist, und deshalb könne man ihn auch mit dem Begriff der Moral
zusammenbringen. (Luhmann 1977, S. 24) Schließlich scheint Durk-
heim selbst das Kollektivbewusstsein mit Instit utionen gleichzusetzen,
denn die defin iert er an anderer Stelle gleichlautend als "a lle Glaubens-
vorstellungen" und - den Blick auf ihre Verbindlichkeit werfend - als
" durch die Gesellschaft festgesetzten Verhaltensweisen" (Durkheim
1895, S. 100)!
Werfen wir einen Blick darauf, wie die Individuen zu einem kollek-
tiven Bewusstsein des Verbindenden, den sozialen Gefühlen, und insti-
tutionalisierten moralischen Überzeugungen gebracht werden. Dazu
heißt es bei Durkheim : " Es ist unmöglich, dass Menschen zusammen-
leben und regelmäßig miteinander verkehren, ohne schließlich ein Ge-
fühl für das Ganze zu entwickeln, das sie mit ihrer Vereinigung bilden,
ohne sich an das Ganze zu binden, sich um dessen Interesse zu sorgen
und es in ihr Verhalten einzubeziehen. Nun ist aber diese Bindung an
etwas, was das Individuum überschreitet, diese Unterordnung der Ein-
22 I Werte und Normen

zelinteressen unter ein Gesamtinteresse, die eigentliche Quelle jeder


moralischen Tätigkeit. Damit sich nun dieses Gefühl präzisieren und
bestimme n und auf die gewöhnlichsten oder bedeutsamsten Umstände
auswirken kann, überträgt es sich in bestimmte Fonneln; und infolge-
dessen entsteht ein Korpus moralischer Regeln." (Durkheim 1893, S.
56) Diese Vorstellungen des richtigen Denkens und Handeins existier-
tcn schon, bevor wir auf die Bühne des Lebens traten, und sie werden
uns auch überdauern. Sie sind soziale Tatsachen und dauerhaft festge-
stellt, weshalb Durkheim sie auch als "Institutionen" bezeichnet, und
verbindlich. Institutionen sind Systeme von Nonne n, die spezifische
Prozesse regulieren. Wir kommen nicht an ihnen vorbei - ich wieder-
hole es - weil in ihnen festgelegt ist, wie "man" sich zu verhalten hat
und weil sie mit Sanktionen verbunden sind.
Mit der Aussage. dass Institutionen normative Systeme sind, ist auch
die Frage aufgeworfen, ob dann das in einer Gesellschaft als " normal"
bezeichnet werden kann, was institutionellen Regelun gen entspricht.
Für Durkheim lautet die Antwort: ja. Normal ist, was sich durchschnitt-
lieh am häufigsten zeigt. (vgl. Durkheim 1895, S. 147) Wenn man
Durkheim in dem Gedanken folgt. dass sozi ale Tatsachen nicht nur
normal, sondern auch normativ sind, dann kann man diese Antwort
leicht nachvollziehen. Und trotzdem bleibt eine zweite Frage als Sta-
chel: Und was ist mit all den Formen des nicht-normalen Verhaltens, z.
B. dem Verbrechen? Genau diese Frage hat sich Durkheim auch ge-
steilt. Getreu seiner Ford erung, Soziales nicht mit irgendeiner religiö-
sen oder philosophischen Spekulation zu beschreiben, sondern ..Sozia-
les mit Soz ialem", also das soziale Leben aus der "Natur der Gesell-
schaft" und einen sozio logischen Tatbestand aus den •sozialen Phäno-
menen, die ihm zeitlich vorangehen" (S. 186 und 193) zu erklären, hat
er sich der scheinbar individuellsten Handlung eines Menschen zuge-
wandt, dem Selbstmo rd.
Die Studie über den Selbstmord, die Durkheim im Jahr 1897 veröf-
fentlichte, ist das Ergebnis einer grandiosen empi rischen Untersuchung
und Dokume nt eines streng soziologischen Zugriffs auf ein soziales
Phänomen . Von der Psycho logie hält er sich fern, indem er nicht nach
den Motiven fragt. die jemanden bewogen haben könnten, seinem Le-
ben ein Ende zu setzen. Von Alltagserklärungen oder angeblich wis-
senschaftlichen Erklärungen, die z. B. das Klima, die Umwelt oder eine
Krankheit anführen, hält er sich fern, indem er den Selbstmord von
1 Werte und Normen 23

vornherein als ,,nonn ales" Phänomen in einer Gesellsc haft verankert.


Deshalb will er auch nicht den Selbstmord an sich erklären, sondern die
Selbstmordrate in einer bestimmten sozia len Situation. Die Erklärung,
die Durkheim gibt, wirft ein helles Licht auf den Zusam menhang von
Verhalten und Normen. Ich will sie kurz referieren.
Durkheim fiel auf, dass protestantische Länder höhere Selbstmordra-
ten als katholische Länder aufweise n, obwohl beide Kon fessionen den
Selbstmord in gleicher Weise verurteilen. Durkheim sah die Erklärung
darin, dass der Protestantismus dem eigenen Denken des einzelnen
Gläubigen mehr Raum gibt. Im Prinzip stellt sich der Einzelne seinem
Gott und hat die Wahrheit selbst zu entscheiden. Dadurch bleiben die
Bindungen an eine Glaubensgemeinschaft loser als das bei den Katho-
liken der Fall ist. Die Funktion der Gemeinschaft ist in zweierlei Hin-
sicht geschwächt: Sie übt eine geringere soziale Kontrolle aus, weil die
sozialen Beziehungen seltener und schwächer sind, und sie gibt deshalb
auch einem kollektiven Dasein nicht genügend Inhalt. (vgJ. Durkheim
1897, S. 185) Die Religion schützt den Menschen also nicht vor der
Selbstzerstörung, weil sie ihm "die Achtung vor seiner eigenen Person
predigt, sondern weil sie eine Gemeinschaft ist." (S. 184)
Wenn diese Erklärung richtig ist, dann müsste sich auch in anderen
sozialen Gemeinschaften, die eng und dauerhaft sind, eine geringe re
Selbstmordrate zeigen. Und das stellt Durkheim in der Tat auch fest: In
Gesellschaften, in denen die Familie enge Beziehungen aufweist, ist die
Selbstmordrate signifikant geringer. (vgl. Durkheim 1897, S. 219) Die
Tatsache, dass mit steigender Kinderzahl die Rate sinkt, erklärt Durk-
heim damit, dass mit der Anzahl der Mitglieder Kollektivgefühle wach-
sen. Das wiederum hängt damit zusammen, dass KoJIektiväußerungen
häufiger erfolgen und häufiger erwidert werden. Auf diese Weise stär-
ken sich soziale Gemeinsamkeiten und geben dem Einzelnen Halt. Fa-
zit: .Die Famil ie ist ein mächtiger Schutz gegenüber dem Selbstmord
und wirkt um so nachhalti ger, je fester sie gefügt ist." (S. 224)
Es ist die Bindungskraft einer sozialen Gemeinschaft, die das Ver-
halten des Einzel nen erklärt. Dann ist es nur zwangsläufig, auch über
den Zustand einer Gesellschaft insgesamt eine Selbstmordrate zu erklä-
ren. Landläufig wird oft angenommen, in Zeiten großer Bewegungen
oder des Krieges nähmen Selbstmorde zu. Das ist aber gar nicht der
Fall. Durkheim erklärt das damit, dass gerade solche sozialen Prozesse
.Kollektivempfl ndungen wecken, den Parteigeist ebenso wie den Patri-
24 1 Werte und Nonnen

otismu s, den politi schen Glauben wie den nationa len beleben und, in-
dem alle Kräfte auf ein einziges Ziel konzentri ert werden und weni gs-
tens für eine Zeitlang, eine größere Integration des Ganz en zuw ege
bringen." (Durkheim 1897, S. 231)
Nach seinen empirischen Untersuchungen kommt Durkheim deshalb
zu folgend em Sch luss: "Der Selbstmord steht im umgekehrten Verhält -
nis zum Integrationsgrad der Kirche, der Fam ilie und des Staats."
(Durkheim 1897, S. 231)
• Mit dieser These von der Integrationskraft einer Geme inschaft kann
man nun eine spez ifisc he Form des Selbstmordes erkläre n, die
Durkh eim als "egoistischen Selbstmord" bezeichnet: " Wenn die in-
nere Verbundenheit eine r Gruppe aufhört, dann entfrem det sich in
gleichem Maße das Individuum dem Gemeinschaftsleben, und seine
Ziele gewinnen Vorrang vor der Gruppe; mit einem Wort, die Ein-
ze lpersönlichkeit stellt sich über das Kollekti v. Je we iter die Schwä-
chung in der Gruppe fortschreitet, der er angehört, um so we niger ist
er von ihr abhängig, und um so mehr steht es dem zufolge bei ihm,
ob er noch and ere Verhaltensregeln anerkennt als die, die in seinem
Privatinteresse liegen. Wenn man also einen Zustand, in dem das in-
dividuelle Ich sich mit Erfolg gegen übe r dem soz ialen Ich und auf
Kosten desselben behauptet, mit Egoismus bezeichnen will , dann
können wir diesem beso nderen Typ von Selbstmord, der au s einer
übermäß igen Indiv idua tion hervorgeht, als egoistisch bezeichnen."
(Durkh eim 1897, S. 232)
• Der Selbst mord ist also ein soziales Produkt, und so ist auch die
zwe ite Form, die Durkheim als "altruistischen Selbstmord" bezeich-
net, zu verst ehen. Dazu kommt es, wenn jemand gegen über einer
übennächtigen Gem einschaft keine Individualität ausbilden kann
und sich nur als ausfUhrendes Werkzeug dieser Gem einschaft be-
greift . Vers agt er in dieser zweiten Hinsicht, verlangt die Gemein-
schaft sein Selbstopfer oder er selbst sieht sich seiner Ehr e verlustig
gega ngen und zieht die Konsequenz.
• Eine dritte Form bezeichnet Durkheim als ,fatalistischen Selbst-
mord '. Er komm e nicht so häufig vor, müsse aber der Vollständig-
keit halber genannt werden. Dieser Se lbstmord erwächst "aus einem
Übennaß von Reglementi erung"; es ist "der Selbstmord derjenigen,
denen die Zukunft mitl eid los verma uert wird." (S. 3 18, Anm . 29)
Wene und Normen 25

• Der gesellschaftstheoretisch interessanteste Fall ist nun der vierte


Typ, den Durkheim als .anomischen Selbstmord' bezeichnet. Erin-
nern wir uns: Den egoistischen Selbstmord hatte Durkheim mit zu
geringer Integration des Individuums in die Gesellschaft , und den
altruistischen mit zu starker Integration erklärt. Den anomischen
Selbstmord erklärt er damit, dass die Ordnung selbst durcheinander
gekommen ist und das Individuum seine Orientierung verliert.
Zu dieser Erklärung ist Durkheim gekommen, nachdem ihm ein ver-
blüffender Zusarrunenhang aufgefa llen war: In zahlreichen Ländern
zeigte sich, dass die Selbstmordraten anstiege n, wenn die Gesellsc haft
eine Wirtscha ftskrise durchmachte. Doch auch eine gegenteilige Ent-
wicklung, wenn der Wohlstand eines Landes plötzlich zunahm, hatte
einen Anstieg zur Folge! Daraus zieht Durkheim den Schluss: "We nn
also Wirtschafts- und Finanzkrisen die Selbstmordzahlen nach oben
treiben, dann nicht infolge der wachsenden Armut, Konjunkturen haben
die gleiche Wirkung; die Selbstmorde nehmen zu einfach wegen der
Krisen, das heißt , wegen der Störungen der kollektiven Ordnung."
(Durkheim 1897, S. 278) Und er fährt fort: .Jedesmal , wenn es im so-
zialen Körper tiefgreifende Umstellungen gibt, sei es infolge plötzli-
chen Wachstums oder nach unerwarteten Erschütterungen, gibt der
Mensch der Versuchung zum Selbstmo rd leichter nach." (S . 279)
Wie hat man sich das nun genau zu erklären? Die Antwort, die
Durkheim gibt, wurzelt in einer anthropologischen Annahme: Würde
man den Menschen lassen, wären seine Begierden unbegrenzt. "Unbe-
grenzte Wünsche" sind aber "ex definitione nicht zu befriedigen; und
nicht ohne Grund wird diese Unersättlichkeit als ein Krankheitssym-
ptom angesehen. Sie gehen immer und unendlich weit über das (Kor-
rektur H. A.) hinaus, was an Mitteln zu ihrer Befriedigung vorhanden
ist, weil nichts sie einschränkt. Es ist also nichts da, was sie beschwich-
tigen könnte. Ein unstillbarer Durst ist ein immerwährendes Strafge-
richt." (Durkheim 1897, S. 281)
Ich will es mit einem Bild erläutern: Würde man seine Ziele in alle
Richtungen suchen, könnte man gar nicht losgehen, und würde man
irgendeinen Schritt tun, wäre er genau so beliebig wie jeder andere, und
würde man sich überhaupt anstrengen, wäre es eine Bemühu ng, die um
nichts sinnvoller wäre als irgendeine andere! Ergo: "Der Mensch
braucht trotz aller Freude am Handeln, an der Bewegung, an der An-
26 1 Werte und Nonnen

strengung auch das Gefühl, dass seine Bemühungen nicht vergeblich


sind und dass er dabei weiterkommt. Man kommt aber nicht weiter,
wenn man ohne jed es Ziel marschiert, oder, was auf dasselbe hinaus-
läuft, wenn das Ziel, das man zu erreichen sucht, im Unendlichen
liegt " (Durkheim 1897, S. 281)
Daraus zieht Durkheim den Schluss, da ss den menschlichen Bedürf-
nissen Grenzen gesetzt werden müssen, damit der Mensch überhaupt
überleben kann. Doch genau so klar ist auch: Er würde sich von nie-
mandem Vorschriften machen lassen, wenn nicht eine Autorität dahin-
ter stünde, "die er respektiert und vor der er sich spontan verneigt."
(Durkheim 1897, S. 283) Diese mäßigende Rolle kann allein die Ge-
sellschaft spielen! Sie begrenzt durch kollektive Vorstellungen, welche
Bedürfnisse legitim und welche Mittel zu ihrer Befriedigung erlaubt
sind - und zwar für jeden! Im "s ittlichen Bewusstsein der Gesellschaf-
ten" gibt es ein Gefühl dafür, was die Dinge wert sind und wie An-
strengungen zu bewerten sind, sie zu erreichen. (ebd.)
Da die Kollektivordnung, an der die Individuen durch ihr Denken
und Handeln teilhaben, alle betrifft, allen dieselben Pflichten abver-
langt, aber auch dieselben Rechte einräumt, wird sie " in normalen Zei-
ten (...) von der großen Mehrheit der ihr Unterworfenen als gerecht
angesehen" . (Durkheim 1897, S. 287) Werte und Bedürfnisse auf der
einen Seite und Nonn en und Mittel auf der anderen Seite stehen prak-
tisch im Einklang. Wenn nun eine wirtschaftliche Krise hereinbricht,
werden bestimmte Bedürfuisse nicht mehr befriedigt oder die Mittel
dazu reichen nicht mehr. Umgekehrt springen in Zeiten plötzlichen
Wohlstands ganz neue Ziele auf, verlieren alte an Wert, und die traditi-
onellen Mittel passen nicht mehr zu den neuen Zielen. Normen erodie-
ren; die Gesellschaft wird anomisch; die Individuen verlieren ihre Ori-
entierung. "Man weiß nicht mehr, was möglich ist und was nicht, was
noch und was nicht mehr angemessen ist: ' (S. 288)
Anomie heißt also nicht, dass ein Individuum gegen irgendwelche
Gesetze verstößt, sondern meint den gesellschaftlichen Zustand der
Normauflösung. Damit verlieren die Individuen den Sinn. Das ist die
eine Konsequenz, die nur das Individuum betrifft. Die andere betrifft
die Gesellschaft: In einer anomischen Gesellschaft geht auch die Kon-
trolle über den Individualismus zurück. Die Individuen geben ihren
ungezügelten Begierden nach und setzen die kollektiven Regeln außer
Kraft. Werte verlieren ihre Funktion der sicheren Orientierung.
werte und Nonnen 27

Im Grunde weisen also der egoistische und der anomische Selbst-


mord, die Durkheim als ,,nahe Verwandte" (Durkheim 1897, S. 454)
bezeichnet, auf den Zerfall sozialer Bindungen hin: auf die zwischen
Individuum und Gesellschaft und auf die zwischen den Individuen.
Deshalb zieht Durkheim aus seiner Studie über den Selbstmord auch
den Schluss: "Es muss erreicht werden, dass der einzelne sich wieder
solidarischer mit einem Kollektivwesen fühlt." (S. 443) In dieser Hin-
sicht setzt Durkheim nicht auf die moralische Kraft der Gesellschaft
allein, sondern hofft, dass eine überschaubare Gruppe das leisten kann.
Das ist für ihn die .Berufsgruppe". Sie ist " eng genug mit den Dingen
dieser Welt verbunden" , dass sie " deren Werte richtig setzen" kann. (S .
456)
Wendet man die Botschaft Durkheims ins Allgemeine, kann man
sagen: Eine Gesellschaft ist dann "ges und", wenn sich Werte und Nor-
men, d. h. konkret Ziele und Mittel des Handeins, in einem Gleichge-
wicht befinden, dieses Gleichgewicht im kollektiven Bewusstsein ver-
ankert ist und die Individuen sich als integrativer Bestandteil der Ge-
sellschaft verstehen.

1.3 Mead: E rfah r ung des Richtigen, Ge ner alisier ung des G ute n
Im soziologischen Sinne sind Werte nichts Absolutes, sondern sie ent-
stehen aus Erfahrungen in einer bestimmten Gemeinschaft, und sie än-
dern sich auch mit der Entwicklung dieser Gemeinscha ft. Deshalb inte-
ressieren unter einer soziologischen Perspektive auch zwei Fragen vor
allem: Wie entstehen Werte, und wie werden Individuen so an gemein-
same Werte gebunden, dass Gesellscha ft möglich bleibt? Das waren
auch die Fragen, die GEORGE H ERBERT MEAD (1863-1931) gestellt hat.
Er hat sie mit der Theset beantwortet, dass die Gesellschaft eine Ord-
nung im Diskurs und dass Kommunikation "das Grundprinzip der ge-
sellschaftlichen Organisation des 'Menschen" ist (Mead 1934, S. 299).
Diese Organisation zeigt sich in der Orientierung an generellen Erwar-
tungen. Erwartungen, die über konkrete Andere hinaus für alle in einer
Gruppe oder Gemeinschaft gelten, nennt Mead den "generalisierten
Anderen" (S. 196). Bei dieser Erklärung werde ich kurz aufM eads Er-
klärung vorgreife n, wie " Interaktion" möglich ist. In aller Kürze lautet

1 VgJ. Band l ,Kap. 3.8, S. 11 8 u. 120.


28 I Werte und Normen

sie: Während wir handeln . versetzen wir uns fortlaufend in die Rolle
des anderen, denken von seiner Situation aus und reflektieren uns dabei
selbst. Auf diese Weise verschränke n sich unsere Perspektiven wech-
selseitig, und so verständigen wir uns in der Kommunikation über die
Rollen, die wir spielen wollen und spielen sollen. t
Im Geist des seinerzeit herrschenden Behaviorismus betrachtete
auch Mead den Menschen als ein Wesen, das auf Reize seiner Umwelt
reagiert und so lernt. Da Mead vor allem die soziale Umwelt in den
Blick nahm, bezeichnete er seine Theorie auch als Sot ialbehavio ris-
mus, (Mead 1934, S. 44 ) Die soziale Umwelt besteht in den wechselsei-
tigen Reaktionen der Individuen untereinander. Und das Lernen besteht
in der Sammlung von Erfahru ngen über Handlungen, die erfolgreich
ocIer weniger erfolgrei ch waren. Das kann man natürlich nach zwei
Seiten betrachten: erfolgreich nur im Sinne der totalen Erfüllung aller
Wünsche des Individuums und ohne Rücksicht auf die anderen, oder
erfolgreich im Sinne relativer Befriedigung, dafür aber mit sozialer
Anerkennung durch die anderen. Da man sich eine Gesellschaft, die nur
aus rücksichtslosen Egoisten besteht, nicht gut vorstellen kann, und da
es in diesem Kapite l um " Werte" geht und die Soziologie darin etwas
" Verbindendes" und letzt lich auch "Verpflichtendes" sieht, will ich die
soziale Genese von Werten und Nonnen auch in der Theorie von Mead
hervorheben. Sie lässt sich aus einem kleinen Beitrag über "Die soziale
Identität" aus dem Jahre 1913 herauslesen und dann aus der Theorie
des ..generali sierten Anderen " und den dort beschriebe nen sozialen
Entwick lungsphasen des Kindes.
Im Beitrag über ..Die soz iale Identität" fragt Mead. was dem Men-
schen eigentlich gegenübertritt, wenn er sich an sein früheres Handeln
erinnert. Seine Antwort lautet: Das Ich, wie es früher geha ndelt hat,
also ein Subjekt, und das Ich, auf das andere seinerzeit reagiert haben,
also ein Objekt . (vgI. Mead 1913, S. 241) Mit dem Erinnerungsbild der
persönlichen Identität taucht immer auch ein Erinnerungsbild der sozia-
len Identität auf. Das kann man sich am besten mit drei Fragen klarma-
chen : Wie haben mich andere gesehen, wie haben sie deshalb auf mich
reagiert , und welchen Schluss habe ich daraus gezogen, um mein weite-
res Verhalten so zu organisieren, dass ich weiter mit ihnen auskam?

Vgl. unten Kap. 5.3 " Interaktion - Verschränkun g der Perspektiv en", S. 198f. und
20 1.
Werte und Normen 29

An diesem reflexiven Prozess interessiert hier vor allem diese letzte


Frage, denn sie zielt auf Erfahrungen, die in einem sozialen Hand-
lungszusammenhang gemac ht wurden und die für beide Seiten relevant
waren. Hinter dieser ziemlich abstrakten Überlegu ng steckt eine sehr
konkrete Annahme: Mead sagt, dass wir nur handeln können, indem
wir uns vorstellen, wie die anderen auf unser Handeln reagieren wer-
den. Und das können wir uns vorstellen, weil wir uns die Reaktionen in
ähnlichen Situationen vergegenwärtigen . Mead spricht von "Gedächt-
nisbildem von Reaktionen der Menschen unserer Umgebung" , auf die
wir in unserem Handeln zurückgreifen. (Mead 1913, S. 246)
An dieser Stelle kann man einen Weg zu der Frage eröffnen, wie
Werte entstehen. Der Mensch tut etwas, um etwas zu erreichen, was
ihm aus welchen Gründen auch immer wichtig ist. Er handelt also in
Einschätzung des Wertes des Handlungsergebnisses. So hat auch
Charles W. Morris, der erste Herausgeber der Mitschriften von Meads
Vorlesungen, dessen Definition von Wert referiert: Wert ist die " zu-
künftige Eigenschaft des Objektes, insoweit es unsere Handlungen ihm
gegenüber bestimmt." (Morris 1934, S. 33) Wert ist also zunächst ein
individuelles Konstrukt. Doch bei seinem Verhalten macht das Indivi-
duum die Erfahrung, dass es typische Reaktionen der anderen gibt. Bei
den Reaktionen wird ihm schnell klar, dass sie deshalb typisch erfol-
gen, weil alle in der Gesellschaft sie für normal halten. .Normal'' heißt
nicht nur ..in solchen Situationen aus Erfahrung angemessen" , sondern
- mit Blick auf Erwartungen an alle Handelnden in "solc hen Situatio-
nen" - zugleich auch Bewertung von "richtig" und "fa lsch" !
Nun zu dem zweiten Zugang zur sozialen Genese von Werten. Wie
ich später! ausführlicher zeigen werde, lernt das Kind diese Werte, in-
dem es sich im Rollenspiel, das Mead als »play« bezeichnet, in die Rol-
le wichtiger (»signifikanter«) Bezugspersonen - von der Mutter bis
zum freundlichen Metzgermeister - hineinversetzt und aus ihrer Sicht
denkt und redet. Auf diese Weise verinnerlicht es Werte, die Ober seine
eigenen hinausgehen und sie allmählich überfonn en. Es macht also
Erfahrungen, wie ..man" in seiner kleinen Welt denkt und handelt.
In einer zweiten Phase lernt das Kind mit anderen zusammen zu
spielen, und zwar nach Regeln, die für alle gelten, und auf ein gemein-
sames Ziel hin. Ein solches geordnetes Spiel, z. B. Fußballspiel, nennt

I Vgl. Kap. 2.5 .J ntegration in einen organisierten Verhaltensprozess", S . 84.


30 Werte und Normen

Mead »garne«. Vom Rollenspiel unterscheid et es sich dadurch , dass das


Kind nicht nur in einer Rolle auftritt, sondern sich mit mehreren kon-
kreten Mit spielern und ggf. ebenso konkreten Gegenspielern ko nfron-
tiert sieht, von deren Verhalten das eigene beeinflusst wird und deren
Verhalten es selbst auch beeinfl usst. Um im Spiel zu bleiben, muss es
wissen, wer wann was tut oder tun soll und wie wer auf was reagiert.
Dazu versetzt es sich innerlich in die Rolle aller ande ren und denkt aus
ihrer Perspektive. Unter der Hand lernt es den Sinn des Spie ls und die
Regeln des ,,richtigen" Verha ltens . Die Summe der Erwartungen aller
anderen an da s richtige Verhalten ist der »generalisierte Andere«.
Im play zieht das Kind die Rollen »signifikanter Anderer« an sich
heran und lernt ihre Werte, indem es in ihrer Rolle auftritt. Da es das
für sich allein tut und höchstens die stumme Puppe sich sagen lassen
muss, was sie falsch gemacht hat, verirmerlicht es Werte, wie es sie
eben versteht. Einer sozialen Kontrolle hat es sich nicht zu stellen.
Wenn es hoch kommt, dann wechselt das aufgeweckte Kind von der
einen Rolle in die andere, aber auch dann wird es sich die Argumente
50 zurecht legen, wie es ihm gerade in den Kram passt, und was die
Mama heute sagt, kann morgen ganz anders lauten, und die stumme
Puppe hat sich ohnehin zu fügen. Das ist beim »game« natürlich an-
ders. Dort merkt das Kind an den Reaktionen der anderen sofort, ob es
sich ,,richtig" verhält. Die Bindung an Werte erfolgt also über die so-
ziale Kontrolle des Verhaltens.
Unter diesem Gesichtspunkt der sozialen Reaktion auf Verhalten hat
Schneider die Entstehung von Nonnen nach der Theorie von Mead
nachgezeichnet: In der Phase des »play« antizipiert das Kind konkrete
Reaktionen konkreter anderer auf konkretes Verhalten. " Bei zerrissenen
Hosen ist mit schimpfenden Eltern zu rechnen. Zwischen richtigem und
falschem Verhalten, zwischen »gut« und »b öse« kann deshalb nur an-
hand der erwartba ren Folgen unterschieden werden. »Richtig« ist, was
angenehme (oder zumindest neutrale) Reaktionen auslöst, »falsch« ist,
was zu unangenehmen Reaktionen fuhrt." (Schneider 2002, Bd. 1, S.
215) Ein moralisches Bewusstsein existiert noch nicht, es sei denn, dem
Kind wird eingeredet, die zerrissene Hose sei auch etwas Verwerfli-
ches, das die Mam a betrübt.
Werte und Normen 31

Zurück zum - hoffentlich - normalen Fall der Orientierung an den


Reaktionen der anderen kann man sagen, dass das Kind in der Phase
des »play« nonnative Erwartungen nur bei einem individuellen Gegen-
über und nur als konkrete Erwartungen in einer spezifischen Situation
wahrnimmt. Zu einer generellen Beurteilung nonn ativer Erwartungen
eines ge neralisierten Anderen ist es deshalb noch nicht in der Lage,
"weil dazu mehrere Perspektiven voneinander differenziert und mitein-
ander koordiniert werden müssen." (Schneider, S. 216) Zu dieser kog-
nitiven Leistung ist das kleine Kind noch nicht fähig, und deshalb tut es
etwas " Gutes" nicht, weil es an einen abstrakten Wert glaubt, sondern
weil es angenehme Reaktionen auslöst, und es unterlässt das "Fa lsche"
nicht, weil es nach einer abstrakten Wertvorstellung "böse" ist, sondern
weil es unangenehme Reaktionen gewärtigt.t
Erst in der Phase des »game« kann das heranwachsende Kind die
Dinge von einem dritten Standpunkt aus, also j enseits des eigenen und
eines konkreten anderen, beurteilen. Es ist in der Lage, sich in mehrere
Rollen zugleich hineinzuversetzen und das Handeln aus diesen ver-
schiedenen Rollen heraus nach einer generellen Regel zu beurteilen.
"Gemeinsam geteilte Nonnen definieren einen Vergleichsmaßstab, an
dem Handlungen gemessen und als »richtig« oder »falsch« erkannt
werden können, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob sie angenehme
oder unangenehme Konsequenzen fü r den jeweiligen Akteur zur Folge
haben. Erst jetzt kann sich ein autonomes Konzept der Gerechtigkeit
bilden, das entkoppelt ist von persönlichen Interessen, Vorlieben und
Abneigungen. »Gerechtigkeit« bedeutet die unparteiische Anwendung
sozial geltender Nonne n zur Beurteilung und Sanktionierung von
Handlungen." (Schneider, S. 216)
Im Hinblick " auf das moralische Bewusstsein des Kindes" interpre-
tiert Hans Joas diesen Prozess als "eine fortschreitende Universalisie-
rung des Urteils." (Joas 1997, S. 245) Erst von dieser Stufe der Orien-
tierung an einem generalisierten Anderen an ist eine Konfliktregelung
im Konsens möglich, weil sie auf einer überindividuellen nonn ativen
Verpflichtung aufruht. Soziales Verhalten ist wechselseitig antizipier-
bar, weil sich die Perspektiven aller Beteiligten wechselseitig ver-

Nur vernünftige Eltern erwarten, dass Kinder bei einem Konflikt "etwas einse-
hen". Die aber folgen leider dem Gesetz des Stärkeren oder strecken sich nach der
Decke der geringsten Sanktion!
32 I Werte und Nonnen

schränken und weil bei allen Beteiligten eine gene relle Wertbindung
unterstellt werden kann.
D ie se Erklärun g trifft natürlich nicht nur auf die kleine Gruppe zu,
in der sich alle Beteiligten an gemeinsame Nonnen halten. Mead geht
es ja um mehr. und er zeigt auf, wie auch größere Gemeinschaften und
die Gesellschaft als ganze letztlich über das Prinzip der Orientierung an
einem »generalisierten Anderen« funktionieren könnten. Ich sage
"könnten", denn an diesem Punkt ist Mead durchaus Idealist. Wie ge-
zeigt t, stellt er sich nämlich eine " ideale Gesellschaft" vor, die deshalb
- im wertenden Sinn - " idea l" ist, weil sie als "u niverseller Diskurs"
funktioniert. In ihr orientieren sich alle an dem, was für alle gilt, und
sie handeln so, dass die Interessen aller zur Ge ltung kommen. Es wäre
die so bezeic hnete " Demokratie der Gleichen" (Mead 1934 , S. 368 ).
Hinter dieser idealistischen Vision, die Mead durchaus als Anspruch
form uliert, wird zugleich das Prinzip der W ertbildung und der Wert-
bindung deutlich : Es besteht in der Kommunikation. Kommunikation
bedeutet, dass Indi viduen in Beziehung zueinander treten, auf ihr Ver-
halten wechse lseitig reagieren und aus dcr Erfahrung dieser wechselsei-
ligen Reaktionen gemein same Symbo le bilden, mit denen sie sich den
Sinn des HandeIns anzeigen. Da sie sich dabei auf einen " generalisier-
ten Anderen" beziehen , können sie erstens kooperieren und zweitens
auch Störungen der Kommunikation - konk ret Konflikte - bewälti gen .
In Meads Ethik, so hat es HANS lOAS formuliert, wird damit Kommuni-
kation selbst zum "substantiellen Ideal". (Joas 1997, S. 266)
Als Begründ ung von Werten oder Nonnen kann ma n des halb auch
anführen: Die erstere n haben sich aus dem wechselseitigen Verhalten in
einer Gemei nschaft so erg ebe n bzw. wurde n in Prozessen des Lern ens
oder der Sozialisation tradiert; für die letzteren kann nur angeführt
werden , dass sie sich im universellen Diskurs bewähren müssen . (vgl.
Joas 1997, S. 267) Nur was als Pri nzip des Handein s aller gelten könn-
te, darf den Anspruch erheben, Nonn zu sein, und nur was im Diskurs
auf beiden Se iten als "gut" vermittelt werden kann , darf als sozialer
Wert angese he n werden. D ie Ptiifun g darf sich also nicht aus einer
transzendentalen Setzun g und auch nicht aus dem wiederholt en Etfo lg
eines Akteurs begrü nden, sondern muss in der Komm unikation selbst
liegen .

I Vgl. Band 1, Kap. 3.8 "Gesellschaft - Ordnung als Diskurs", S. 123f..


1 Werle und Normen 33

1.4 Pars onst Werte best immen di e Richtung des lIandelns


Bezogen auf das Individuum sind Werte die Bedeutungen, die es Din-
gen und Handeln beimisst. Bezogen auf die Gesellschaft stellen Werte
den Rahmen de r Bedeutungen dar, die zur Aufrech terhaltung der ge-
sellschaftlichen Ordnung notwe ndig oder förderlich sind. Gese llschaft
ist ohne Werte nicht denkbar. Das ist eine Grundannahme in der struk-
turfunktiona listischen Theorie von TALCOIT PARSONS (1902- 1979).
Zu m Verständnis der Verbindung zwisc hen Individuum und Gesell-
schaft über Werte und Nonnen ist ein kurzer Rückblick I auf seine
"Theorie des allgeme inen Handlungssystems'' vonnöten.
Nach dieser Theorie sind an jeder Handlung drei Systeme beteiligt:
das kulturelle System, das sozia le System und das Persönlichkeitssys-
tcm. Das "kulturelle System", das Parsons auch als " Wertesystem" be-
zeic hnet, hat nonnative Kontrollfunktion gegenüber den anderen Sys-
temen. Unterhalb des kulturellen Sys tems gibt es "soziale Systeme" , in
denen Handlungen von Individuen in ei ner bestimmten We ise geordne t
sind. Beispiel sozialer Systeme sind die Familie, ei ne O rganisation oder
auch die Gese llscha ft als ganze . Die Strukt ur einer Gesellschaft oder
eines sozialen Syste ms besteht aus Mustern nonnativer Kultur. Struktur
heißt, dass die nonnative Kultur in der Gese llschaft oder anderen sozia-
len Syste men institutionalisiert ist. Unterhal b der sozialen Syste me gibt
es das .Persönlich keitssystem". Als Mitglieder der sozialen Systeme
haben die Persönlichkeiten die nonnative Kultur, die ihnen in Rollen-
erwartungen en tgegentritt, internalisiert . (vgl. Parsons 1958d, S. 44 9)
Die Strukt ur einer Gesellschaft oder eines anderen sozialen Systems
setzt sich aus vier versch iedenen Komponentena zusa mmen: Werte,
differenzierte Nonnen, Kollektlvit ät und Rollen, und diese Komponen-
ten besitzen einen unterschied lichen Grad von Allgemeingültigkeit.
• Gesellschaftliche Werte habe n den höchsten Grad an Allgemeingü l-
tigkeit , denn es " sind die von den Mitgliedern geteilten Vorstellun-
gen einer erstrebenswerten Gesellschaft", (Parsons 1958d, S, 449 )
Auch wenn man auf die Ebene eines konkreten sozialen Syste ms
geht. wird man sich zunächst einmal auf diese allgemeinen Werte
beziehen.

Vgl. Band I, Kap. 3.9 .Ncrmauve Integration", S. 128 und 13lf.. und Kap. 6.2
•D as allgemeine Handlungssystem und seine Subsysteme", S. 210-213.
2 Vgl. Parsons' Kurzdefinition der Funktion dieser Komponenten unten S. 104.
34 Werte und Norme n

• Bei einer genaucren Anal yse wird man allerdings feststellen, dass
sich die ausdifferenzierten sozialen Subsysteme einer Gesellschaft
durch spezifische "Werturteile", die die Mitg lieder " auf die Eigen-
schaften und das Verhalten" anwe nden, voneinander unterscheiden.
Diese Urteile sind " Spezifikationen" des allgemeinen Wertesystem
auf einer konkreteren Ebene. Deshalb unterscheidet Parsons auch
zwischen allgeme inen Werten und ausdifferenzi erten Normen. Nor-
men sind das Ergebnis der Differenzierung des Verhaltens, das in
einem bestimmten sozialen System institutionalisiert ist. (vgl. Par-
sons 1958d,S.450)
• Eine Kollektivit ät stellt eine differenzierte Einheit innerhalb eines
sozialen Systems dar, woru nter im Gren zfall sogar ein Individuum
verstanden werden kann, das eine bestimmte Funkt ion erfüllt. Des-
halb betrifft die nonnative Kultur auch nur funktional spezifizierte
Teile eines sozialen Systems und bestimmt sich nach den "besonde-
ren Zielen, Situationen und Ressourcen" der spezifischen Einheit.
Deshalb steht die Kollektivität auch " auf einer noch niedrigeren E-
bene in der nonn ativen Kontrollhierarchie des Verhaltens" als die
differenzierten Nonnen. (S. 451)
• "Alle sozialen Systeme erwachsen aus der Interaktion von Individu-
en als Einheiten ." (ebd.) Umgekehrt müssen soziale Systeme und
Kollektivitäten sicherstellen, dass die Individuen effektiv handeln
können. .E ffektiv" heißt, so zu handeln , dass das umfassende Sys-
te m seine Ziele erreicht. Das wird gewährleistet, indem es ein Sys-
tcm nonn ativer Erwartun gen gibt, die sagen, was das Individuum in
eine r bestimmten Funktion zu tun hat. Solc he normativen Erwartu n-
gen bezeic hnet Parsons als Rollen . (ebd.)
Werte gehören neben Institution en und der politischen Organisation zu
den unabdingbaren Voraussetzungen eines sozialen Systems. Das sozi-
ale System als ein System des Handeins, von der Fami lie bis zur Ge-
sellschaft als ganzer, funktioniert, weil es verbindliche Werte gibt. an
denen sich die Handelnden orientieren. .Values in this sense are the
commitments of individual pcrsons to pursue and support certain direc-
tions or types of action for thc collcctivity as a system and hence de-
rivatively for their own roles in the collectivity." (Parsons 1958c, S.
172) Mit dem Bez ug auf Rollen macht Parsons klar, dass Werte Struk-
turkomponenten des sozialen Systems sind. (vgl. S. 171) Sie werden
I Werte und Normen 35

von den Mitgliedern des sozialen Systems geteilt, weil sie sie verinner-
licht haben. Werte sind in der individuellen Persönlichkeit verankert
und in der sozialen Strukt ur institutionalisiert. (vgl. Parsons 1958c, S.
170)
" Commitment" als Bindung wie als Bereitschaft ist das Ergebnis ei-
ner erfolgreichen Sozialisation . Deshalb misst Parsons auch den Agen -
turen der Sozialisation, vor allem der Familie und der Schule, eine sol-
che Bedeutung bei. Darauf werde ich im nächsten Kapitel zurückkom-
men. Hier nur soviel zur Funktion der Familie, die DIE1ER CLAESSENS
im Sinne von Parsons so beschrieben hat: Die Fami lie ist die wichtigste
Sozialisationsagentur, die Werthaltungen immer wieder und dauerhaft
herstellt. Ihre Funktion besteht in der Enkulturation, das heißt, dort
werden die für eine Gesellschaft typischen Werthaitungen ..gelehrt und
gelernt". (Claessens 1972, S. 38) In der Famili e kommt es zur " zweiten,
sozio-kulturellen Geburt" des Menschen. Dass es dabei in erster Linie
um eine Persönlichkeit geht, deren Wertorientierung auf die gese ll-
schaftlichen Anforderungen "passt", deutet Claessens mit diesem Un-
tertitel seines Buches schon an! In der Familie werden die Werte als
"Haltungen" im Kind verankert. Da die Familie auch grundlegende
emotionale Bedürfnisse des Kindes befriedigt und Identifikationen an-
bietet, über die das Kind sich selbst und als Teil einer sozialen Gruppe
erkennt, wirkt dieser Prozess der Enkulturation so nachhaltig, dass die
dort erfahrenen Gru ndorientierungen des Handeins lange Bestand ha-
ben.
Werte sind das Kriterium, nach dem zwischen Handlungsmöglich-
keiten entschieden wird. (vgl. Parsons 1951, S. 12) Dass die Entschei-
dung nicht aus dem Rahmen der allgemeinen Erwartungen innerhal b
einer Gesellschaft fallt, dafür sorgt die ordnende Kraft des kulturellen
Systems, das ja nicht nur abstrakt als Summe der typischen Werte der
Gesellschaft existiert, sondern uns in konkreten typischen Erwartungen
begegnet. Das kulturelle System bestimmt Ziele und Formen gemein-
samen Handeins (Sozialsystem) und gibt auch den Rahmen der indivi-
duellen Orientierung (Persönlichkeitssystem) vor.
Auf diese Orientierungsfunkt ion der Werte hebt Parsons mit folgen-
der Definition ab: .Values are modes of nonnative orientation of action
in a social system which define the main directions of action withou t
referen ce to speciflc goals or more detailed situations or structures.'
(Parsons 1958c, S. 17 1) Werte geben also die allgemeine Richtung des
36 I Werte und Nonnen

Handeins vor. Insofern sind sie auch allgemeiner als Ziele oder Interes-
sen, die in einer konkreten Situation des Handeins eine Rolle spielen.
Von Nonnen unterscheiden sich Werte insofern, als Werte einen all-
gemeinen Rahmen für mögliches Handeln abgeben , während Nonn en
als " spezifische, konkrete und mit äußeren Sanktionen verbundene
Verhaltensregeln gelten" . (Dreitzel 1968, S. 131) Werte sorgen - über
die Prozesse der Sozialisation und der Internalisierung - für die allge-
meine Verp flichtung ("commitment") der Mitglieder einer spezifischen
Gesellschaft, in einer bestimmten Weise zu handeln. (Parsons 1958c, S.
174) DANIEL BELL ha t diese Sicht so wiedergegeben: Parsons ver steht
Werte "als ein alle anderen Komponenten der Gesellschaftsstruktur
(Nonn en, Kollektive und Rollen) hierarchisch bestimmendes Ord-
nungsprinzip." (Bell 1975, S. 362)
Auf die Frage, woher die Werte, denen er ja zentrale Bedeutung für
den Erhalt sozialer Ordnung beimisst, kommen und was sie also letzt-
lich sind, gibt Parsons eine lapidare Antwort: Es sind "e xistential be-
liefs about the world", und insofern liegt die Begtiindung der Werte
jenseits des empirischen Wissens. (parsons 1958c, S. 174) Sie gründen
in religiösen Überzeugungen und philosophischen Annahmen. Es sind
die grundlegenden Antworten, die die Menschen in einer bestimmten
Kultur auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gegeben haben. Fest-
gehalten im kollektiven Wissen und festgestellt in entsprechenden In-
stitutionen sind es Urteile über richtig und falsch. Werte bilden den
Hintergrund für soziale Erwartungen. Folgt das Individuum ihnen, er-
fährt es Anerkennung, entspricht es ihnen durch sein Verhalten nicht,
muss es mit Sanktionen rechnen. " So gesehen liegt der wesentliche
Aspekt der sozialen Struktur in einem System von Erwartungsmustem,
die das rechte Verhalten für Personen in bestimmten Rollen definie-
ren." (Parsons 1945, S. 56)
Werte sind im Grunde Bewertungen, und aus diesen Bewertungen
ergeben sich Vorstellungen und schließlich Vorschriften des entspre-
chenden Handeins: "Werte sind (.:) »normative Muster«, die ein positiv
bewertetes soziales System beschreiben. Nonnen sind generalisierte
Muster von Erwartungen, die die ausdifferenzierten Erwartungsmuster
für die ausdifferenzierten (..) Einheiten innerhalb eines bestimmten
Systems definieren. Nonn en stehen in einem System immer auf einer
niedrigeren Stufe der kulturellen Allgemeingültigkeit als Werte. Mit
I Werte und Normen J7

anderen Worten : Normen können durch Werte legitimiert werden, aber


nicht umgekehrt ." (Parsons 1958d, S. 450f.)
Werte sichern den Zusammenha lt einer Gese llschaft. Das ist die
The se in dem grund legenden Aufsatz .Values and value-orie nrations in
the theory of action" (195 1) des amerikanischen Kulturan thropologe
C LYDE KLUCKHOHN. Danach haben Werte ers tens etwas mit der Be-
friedigung von Bedürfnissen, welcher Art auch immer, zu tun. Bedürf-
nisse veran lassen uns zu handeln. Zwei tens haben Werte aber etwas mit
dem Zusam me nhalt ei ner Gesellschaft zu tun. Sie sind die entschei den-
de Verbindung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, inso-
fern sie die O rientierung angeben , wie gehande lt werden so ll. Gäbe es
keine verbindlichen Werte, würde die Gesellschaft auseinanderbrechen;
gäbe es keine entsprechen de Wertorientierung auf der Seite der Indi vi-
duen, kön nten sie nicht handeln .
Die Ta tsache, dass Kluckhohn Werte mit konk reten Bedürfnissen
zusammenbringt, bedeutet nicht , dass man " Werte" direkt und nur be-
zogen auf ein Indi viduum "beobac hten" könnte , sondern sie erschließen
sich erst über das Handeln von Individuen in einer spezifischen Gese ll-
schaft. Werte sind Abstrak tionen wie Sys tem oder Kultur. Kluckhoh n
zählt sie zu den .aymbohc systems'', die man eher " verstehen" müsse
den n "erkläre n" - er verwendet die deu tschen Begriffe - könne . Kluck-
hohn versteht wie Parsan s Kultur als ein System, das über Sym bole
definiert ist, einen inneren Zusa mmenhang aufwe ist und die Tendenz
zur Erhalt ung hat. Wen n er nun die folgende Defi nition von Wert ab-
gi bt, da nn ist zu bedenken , dass es um Handeln in diese m kultu rellen
S yste m und nach Maßgabe seiner Struktur geh t: " A value is a co ncepti -
on , explicit o r implici t, distinc tive of an individual or charactcristic of a
gro up, of the desirable whic h intl uenees the selectio n from avai lable
modes, means, and ends of action." (Kluckhohn 1951, S. 395) Indem
Kluck hoh n den Begriff des .Wünscnenswerten " mit der " Auswahl"
von möglichen Formen, Mitteln und Zielen des Handeins ver bindet,
beton t Kluckhoh n, dass es imm er um Präferenzen geht. Diese Präferen-
zen hahen aber eine Vorgeschic hte, denn es sind nicht nur die individu-
el len Bed ürfnisse, d ie sich in ihnen entfalten , sondern es sind die Präfe-
renzen, die in einer bestimmten Gese llschaft oder Gruppe normalerwei-
se gelten .
38 Werte und Normen

Werte sind nach Klu ckhohn notw endig für da s .persc nality syst em",
also das Individuum, und ruf da s .soc ial systern'' , das System des Han-
deln s von Individuen :

C1yde Klu ckhohn: Values ad d a n eleme nt ofpr edictabilily


10 socia l life
"In cu ltural systems the sys temic elemen t is cohe rence: the compone nts
of a cultural system must, up 10 a point, be either logically consistent or
meaningfully congruous. Otherwise the culture carriers feel uncom-
fortab ly adrift in a capricio us, chaotic world . In a personality system,
behavior must be reasonably regular or predic table, or the individual
will no t get expectable and needed respo nses from others beca use they
will feel that they cannat »d epend« on hirn. In other words, a social life
and Iivin g in a soeial world both require standards »w ithin« the indi-
vidual and standards rough ly agreed upon by ind ividuals who li ve and
wo rk together. There can be no personal security end no stability if so-
cial organization unless random carelessness, irresponsibili ty, and
purely impulsive beh avior are restrained in tenns o f private and group
codes. Inadequate behavior is selfish from the viewpoint of soci ety and
autistic from the viewpoint o f pers ona lity. If one asks the que st ion ,
»Why are there val ues?« the reply must be : »Because social Iife would
be impossible without them; the functioning of the soc ial could not con-
tin ue to achieve group goals; individuals could not get what the y want
and need from other individua ls in personal an d emotional terms , nor
could they feel with in the mse lves a requisire measure of order and uni-
fied purpose.« Above all, velues add an element o fpred ictabili ty to so-
cial 1ife." (Kl uckhohn 195 1: Values an d value-orientations in the theory
of acti on, S. 399f.)

Die ser letzte Blick auf die relativ e Sicherh eit der Orienti erun g de s In-
dividuum s darf nicht übersehen machen, dass die strukturfunktionalist i-
sche Theorie der Werte vo r allem die Erhaltung der sozialen Ordnung
im Blick hat. Deshalb kann man sie auch so zusamme nfasse n: Werte
stellen die entscheidende Verbindu ng zwisc hen dem Individ uum und
dem sozialen System her. Decken sich individuelle Ori entierungen und
kulturell e Werte , ist die Gesellscha ft in einem sicheren Gleichgewicht.
Wo Werte in Frage geraten, ist soz iale Ordnung in Ge fahr. Genau so
wurde dann auch in den 70er Jahr en R ONALD I NGLEHARTS The se vom
Wertewandel verstanden .
I Werte und Nonnen 39

1.5 Ingleh ar t: Wande l von materia listischen zu postmaterialisti-


schen Werten
Der amerikanische Politikwissenschaftler RONALD F. INGLEHART
(*1934) ging davon aus, "dass sozio- ökonomische Veränderung die
Wertpräferenzen von Menschen verändern kann, die in einer bestimm-
ten Gese llschaft leben. Und es gilt auch, dass wesentl iche Veränd erun-
gen von gesellschaftlichen Wertpräferenzen und gesellschaftlichem
Wissen ihrerseits die Struktur der Gesellschaft graduell verändern kön-
nen." (ln glehart 1980, S. 145) Die erste Annahme ließ einen Werte-
wandel erwarten, die zweite ließ sich zur Prognose des gesellschaftli-
ehen Wandels nutzen. Um diese Hypothese zu prüfen, hat Inglehart
1970 in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft und 1973 in der
erweiterten Gemeinschaft und den USA gefragt, welche Werte und
Ziele für die wichtigsten gehalten wurden. Ihnen wurde eine Liste mit
folgenden Items vorgelegt (vgl. Inglehart 1980, S. 146):
A Aufrechterhaltung der Ordnung im Land
B Verstärkte Mitsprache des Volkes bei den Entscheid ungen der
Regierung
C Bekämp fung der Preissteigerung
D Schutz der freien Meinungsäußerung
E Wirtschaftliches Wachstum
F Sicheru ng der Verteidigungsstärke des Landes
G Mehr Mitspracherecht der Menschen an ihrem Arbeitsplatz
und in der Gemeinde
H Verschönerung unserer Städte und unserer Landschaften
I Eine stabile Wirtschaft
J Verb rechensbekämp fung
K Eine Gesellschaft, die freundli cher und weniger unpersönlich
ist
L Eine Gese llschaft, in der Ideen mehr zählen als Geld
Die Wahlmöglichkeiten A, C, E, F, I und J sollten ökono mische und
physische Sicherheitsbedürfnisse (" materialistische Ziele"), die übrigen
das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und nach intellektueller und ästheti-
scher Befriedigung (..postmaterialistische Ziele") erfassen. Bevor ich
auf das Ergebnis zu sprechen komm e, will ich den theoretischen Hin-
tergrund und die Hypothesen skizzieren.
40 I Werte und Nonnen

Inglehart bezieht sich auf die Annahme des Psych ologen ABRAHAM
H . MASLOW, dass Wert e m it einer H ierar chi e von Bedürfnissen zu-
sammenhängen. (Maslow 19 54) Maslow nimmt eine feste Reihen fol ge
der Entw ick lung vo n Grund bedürfnissen an: ph ysiologische Bedürfnis-
se (Hunger, Durst, Schmerz), Bedürfnis nach Sicherheit, soziale Be-
dürfnisse nach Geborgenheit und Liebe, Bedürfnis nach Geltung und
Anerkennung und Bedür fnis nach Selbstverwi rklichung.
Bedürfn issen, die nur wenig befriedigt werden, kom mt eine beson-
dere Bedeutung zu. In diesem Sinne legte Inglehart seiner Untersu-
chung des Wertwandels eine Mangelhyp othese zugrunde: ..Die Prioritä-
ten eines Menschen reflektieren sein sozioökonomisches Umfeld: Den
größten subjektiven Wert misst ma n den Dingen zu, die relati v knapp
sind." (Inglehart 1989, S. 92) Ganz ohn e Iron ie ste llt Inglehart fest: ,,Je
reicher man wird, desto unw ichtiger wird Reichtum." (Inglehart 1980,
S. 146) Zweitens vermutete Inglehart, dass die Er fahrungen des soz io-
ökonomischen Umfeldes selbst einen entscheidenden Einfluss darst el-
len . Deshal b ergänzte er die Mangelhypothese du rch eine Sozialisati-
onshypot hese. Danach spiegeln die gru ndlegenden Wertvorstellungen
eines Men schen "weithin die Bedingungen wider, die in seiner Jugend-
zeit vorherrschend waren." (Inglehart 1989, S. 92) Wenn also j emand
in einer wirtschaftlichen Notsituati on aufgewachsen ist, wird er später
andere Wert e vertreten als j emand, der einen solchen Mangel nicht
kennen gelernt hat. Da in allen untersuchten Länd ern nach dem Zwei-
ten Weltkrieg ein massiver wirtscha ftlicher Aufschwung erfo lgte, sollte
sich ein Unterschied der Wertpräferenzen zwischen den Generatio nen
nachwe isen lassen. Inglehart fasst seine Ann ahm en so zusam men:

Ro na ld In glehart: Post-materialist goa ls


.People have a variety of needs and give most attention to those they
feel are in short supply. The generation bom after World War 11, having
been raised during a period of unprecedented prosperity, tend to give
relatively high priority to nonmaterial goals; their parents and grand-
parents, having experienced hunger and turmoil during their formative
years, remain Iikely to emphasize economic and physical security. This
hypothesis implies that post-materialists have only recently emerged in
significant numbers. Even now they probably constitute a distinet mi-
nority in the populations of Western countries." (Inglehart 1976: Val-
ues, levels of eoneeptualization and protest potential among western
publies. S. 2)
1 w erte und Nonnen 41

Nun zu den Ergebnissen der Unters uchungen. Inglehart hat tatsächlich


einen Wertewandel herausgefunden. Es gibt eine eindeutige Verschie-
bun g von materialistischen zu postmaterialistischen Werten. Sowo hl
die Mangel- als auch die Sozialisation shypothese wurden bestätigt:
.Befragte, die in relativ wohlhabenden Familien aufgewachsen sind,
präferieren postmaterialistische Ziele in stärkerem Maße als solche, die
in weniger wohlhabenden Umständen leben mussten, und dies gilt für
jede Altersgruppe. Auch das Muster zwischen den Altersgruppen zeigte
in die erwartete Richtung: die Materialisten stellen die Mehrheit in den
älteren Kohorten, und die Postmaterialisten gewinnen an Bedeutung in
den Kohort en der Nachkriegsge neration." (ln glehart 1980, S. 147)
Zweitens zeigte sich, wenn ein "materialistisches" Item gewählt wurde,
dann wurden auch die anderen gewählt, und umgekehrt lagen bei den
anderen Werttypen die .postmaterialistischen" Werte eng beieinander.
Als weiteres Ergebnis zeigten die Untersuchun gen .,ein hohes Maß
der Vergleichbarkeit zwischen den Ländern." (Inglehart 1980, S. 147)
Das ließ sich einmal mit der vergleichbaren wirtschaftlichen Entwick-
lung erklären. Inglehart stellte das Ergebni s aber auch noch in einen
kulturtheoretischen Zusammenhang. (Inglehart 1989) Dabei bezog er
sich auf Webers Erklärung des Kapitalismus, der ganz wesentlich von
der protestanti schen Arbeitsethik gefordert wurde. So lässt sich in der
Tat zeigen, dass vor allem in den protestantisch geprägten Ländern in
Europa und Nordamerika im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mate-
rialistische Orientierungen im Vordergrund standen. Auf einem öko-
nomi sch hohen Niveau setzte in diesen Ländern dann allmähl ich eine
stille Revolution der Werthaltungen ein, die in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts auffällig wurde. Interessanterweise verlief eine paral-
lele Entwicklung in wirtschaftlich erfolgreichen Ländern, die nicht von
einer protestantischen Ethik geprägt waren, in eine ähnliche Richtung.
Die ' Erklärung liegt in globalen Modernisierungsprozessen, in denen
postmaterialistische Bedürfuisse attraktiv gemacht werden und dank:
relativen Wohlstandes auch als realisierbar gelten. Ganz ohne Ironie:
Man muss sich die Kritik an materialistischen Werten auch leisten kön-
nen!
Die These des Wandels von materialistischen zu postmat erialisti-
schen Werten ist breit rezipiert worden, und j eder kann dafür auch aus
eigener Erfahrung Belege finden. Gleichwohl ist die Kritik an der The-
se und vor allem an den empirischen Untersuchungen dazu hart gewe-
42 1 Werte und Nonnen

sen . Die einen hielten die These für übertrieben und bewerteten tatsäch-
liche Veränderungen nur als Randerscheinungen. Andere meinten,
Ingleha rt habe falsche Fragen gestellt, die nicht die wirkliche Mentali-
tät beträfen oder nichts mit dem tatsäc hlichen Handeln der Befragten zu
tun hätten. Wieder andere warfen ihm vor, mit seiner The se einer kon-
servativen Kritik an einer angeblich verderbten Welt Wasser auf die
M ühlen geleitet zu haben. Die Tatsache, das s Inglehart seine Forschun-
gen unter dem Titel "The Silent Revolution" (1971, 1977) veröffent-
licht hatte, zeigt, wie er den Wertewandel einschätzte, und erklärt, wa-
rum besorgte Politik er um die Zukunft des Westens fürchteten. Die
Sorge wurde nicht geringer, da Inglehart auch herausgefunden hatte,
dass postmaterialistische Werte gehäuft von jungen Leuten mit einem
höheren Bildungsniveau vertreten werden. Da sie die künftigen Eliten
sein würden, musste man davon ausgehen, dass ihre Wertorientierun-
gen über kurz oder lang die gesamte Bevölkerung ergreifen würden. In
der Tat haben dann vergleichende Studien in vielen Industriegesell-
schaften gezeigt, dass sich "E rscheinungsbild und politische Zielrich-
tung des Postmaterialismus" zwischen 1970 und 1988 signifikant ver-
ändert haben. Kennzeichnete diese Wertorientierung anfangs vor allem
die studentischen Protestbewegungen, sind es Ende der 80er Jahre die
jungen Eliten, bei denen postmaterialistische Werte eine entscheidende
Roll e sp ielen. (Ing lehart 1989, S. 92)
Anlass zur Sorge bot die These vom Wertewandel auch bei kriti-
schen Beobachtern der Gesellschaft, die hinter den postmaterialisti-
schen Werten fehlendes Engagement für die Gesellschaft und wach-
senden Egoismus vermuteten. Statt vieler anderer zitiere ich dazu den
amerikanischen Soziologen DANIEL BELL, der in seinem Buch "The
Coming of Post-Industrial Society" (1975) Ingleharts Thesen weiterge-
dacht und von einer tiefgreifenden Kulturkrise gesprochen hat.
Die Krise ergibt sich daduroh, dass durch die Prinzipien der Wirt-
schaft ..Effizienz und funktionale Rationalität betont und die Menschen
auf Rollen und ihre Eignung dafür festgenagelt werden sollen, während
die Kultur Selbstverwirklichung und Selbstgenuss fordert und sich da-
durch in direkten Widerspruch zur techno-ökonomischen Ordnung be-
gibt. Auf einer anderen Ebene manifestiert sich dieser Widerspruch in
der für die westeuropäischen Gesellschaften typischen Spaltung der
Generationen in die ältere, die in einer Zeit des Mangels und der Ar-
beitslosigkeit aufgewachsen ist, weshalb ihr Materialismus und Sicher-
1 Werte und Nonnen 43

heit als oberste Werte gelten, und die jüngere, die, in einer Zeit des Ü-
berflusses groß geworden, die »Notwendigkeit des Engagements« so-
wie die Wichtigkeit der geistigen und ästhetischen Belange, d. h. sog.
»nachbürgerliche Wertee betont. Aus eben diesem Grunde sollen sich
angeblich auch viele Kinder der früheren Mittelschicht zunehmend zur
»Neuen Linken« oder mehr »kommunalen« Werten hingezogen fühlen,
mit anderen Worten, radikale Sichten angenommen haben." (Bell 1975,
S. 16f.) Als theoretische und empirische Fundierung seines Argumentes
nennt Bell ausdrücklich die Arbeiten von Inglehart.
Die tiefgreifenden Änderungen der Gesellschaft kann ich hier nicht
wiedergeben. Ich möchte nur aus dem Schlusskapitel, in dem Bell "Die
Aufgaben der Zukunft" benennt, eine Passage zitieren, die eine tiefe
Krise der Gesellschaft, insonderheit von Kultur und Bewusstsein, be-
schreibt:

Dani el Bell: Das Syste m kennt kein erl ei


transzendente Ethik mehr
"Bisher haben alle bedeutenden Soziologen die Gesellschaft auf die ei-
ne oder andere Weise als Einheit aus Sozialstruktur und Kultur aufge-
fasst. Nun hat sich aber m. E. entgegen diesen Konzeptionen in der
westlichen Gesellschaft während der letzten hundert Jahre etwas völlig
anderes vollzogen, nämlich eine immer spürbarere Trennung von Ge-
seIlschaftsstruktur (Wirtschaft, Technologie und Berufssystem), und
Kultur (symbolischem Ausdruck von Sinngehalten), wobei die beiden
Bereiche von jeweils unterschiedlichen axialen Prinzipien gelenkt wer-
den - die Gesellschaftsstruktur von funktionaler Rationalität und Effi-
zienz, die Kultur von der antinomischen Rechtfertigung der Steigerung
und Überhöhung des Selbst.
Der Anstoß kam jeweils aus anderer Richtung. Der vom Prinzip der
Kalkulation, der Rationalisierung von Arbeit und Zeit und einer linea-
ren Fortschrittsauffassung geprägte »Lebensstik der Gesellschafts-
struktur ging letztlich auf das Bestreben zurück, die Natur durch Tech-
nik zu meistem und die vom Wechsel der Jahreszeiten und den abneh-
menden Bodenerträgen bestimmten Lebensrhythmen durch völlig neue
zu ersetzen. Diese technische Bewältigung der Natur verquickte sich
mit einer bestimmten Charakterstruktur, aus der heraus sich der einzel-
ne damit abfand, auf sofortige Belohnung zu verzichten und sich in Ge-
nügsamkeit und Nüchternheit der Arbeit zu widmen, überzeugt, damit
ein moralisches, gottgefälliges Leben zu führen und vollauf zufrieden,
sich durch Achtbarkeit den eigenen Wert zu beweisen. In dieser Hin-
44 1 Werte und Normen

sicht war die bürgerliche Gesellsc haft auf de m Höhepunkt der kap italis -
tischen Zivil isation im 19. Jahrhundert tatsäc hlich ein integriertes Gan-
zes, in dem Kultur, Charakterstruktur und Wirtschaft aus ein und dem-
selben Wertsystem erwuchsen.
Die Ironie des Schicksals aber wollte es, dass all dies vom Kapita-
lismus selbst untenn iniert wurde, der durch Massenproduktion und
Massenkonsum die protestantische Ethik zerstörte und an ihrer Stelle
eifrig eine hedonistische Lebensweise forderte. Um die Mitte des 20.
Jahrhunderts suchte sich der Kapitalismus nicht länger durch Arbeit
oder Eigentum zu rechtfertigen, sondern begnügte sic h mit den Status-
symbolen materiellen Besitzes und der Ausweitung der Vergnügungen.
Ein höherer Lebensstandard und eine Lockerung der Sitten wurden nun
als Zeichen persön licher Freiheit gewertet und zum Selbstzweck erho-
ben.
Da s aber führte zu einer Spa ltung der Gesellscha ftsstruktur. Denn
während das System im Hinblick auf die Organisation von Produktion
und Arbeit nach wie vor Vorsorge, Fleiß und Selbstdiszi plin, Hingabe
an die Karriere und den Erfolg verlangte, forderte es im Konsumbereich
die Haltung des carpe diem, d. h. Versc hwendung, Angeberei und die
zwang ha fte Jagd nach Amüsement. Eine s fre ilich habe n beide Bereiche
bei aller Verschiedenartigkeit doc h gemein: eine absolute Profanität, da
da s System keinerlei tra nszendente Ethik meh r kennt.
W ie aber die auf Techn ik und Messung gegründete modeme Gesell-
schaftsstruktur eindeut ig eine historisch neue Art von sozia ler Organi-
sation darste llt, so verbindet die zeitgenössische Kultur in ihrer Be-
schä ftigung mit dem Selbst die tiefsten Antriebskräfte des Menschen
mit der modemen Abneigun g gegen die bürgerlic he Gesellschaft." (Ben
1975: Die nachindustrielle Ges ellschaft, S. 362-364)

Neben der pessimistischen Zeitdiagnose, in der das von Hobbes ange-


nommene Menschenbild aufscheint, fallt vor allem die von Bell so ge-
nannte .antinomtsche" Rechtfertigung des Selbst auf Das konnte nur
als gegen die Nonne n von Gesellschaft gerichtet und als Widerspruch
des Individuums zur Gesellschaft gelesen werden. Aus diesem Geist
geriet die Diskussion über Wertewandel leicht in eine Kritik an gesell-
schaftlichen Verhältnissen, die auf eine Auflösung der Ordnung hi-
nauszulaufen schienen. In Deutschland war es dann HELMUT KLAGES,
der mit seiner Version des Wertewandels auf den ersten Blick ähnliches
zu beschwören schien.
1 Werte und Normen 45

1.6 Klages: Pflicht, Selbstent fa ltung, Wertesynth ese


HELMUT KLAGES (*1930) stimmt mit Inglehart überein, dass es in den
Industriegesellschaften einen Wertew andel gegeben hat. In der Bundes-
republik setzte er Anfan g der 60er-Jahre ein. Klages bezeichnet ihn als
Wandel von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu SelbstentfaItungswerten.
(Klag es 1984a, S. 17ff.) Er belegt es an Erziehungswerten, die das
Meinungsforschungsinstitut EMN ID in repräsentativen Befragungen
über mehrere Jahrzehnte erhoben hat. Eitern wurd en gefragt auf weiche
Eigenschaften die Erziehung der Kinder in erster Linie hinzielen sollte.
Die Antworten zeigen, dass Werte wie Gehorsam und Unterordnung
deutlich zurückgehen, während Selbständigkeit und freier Will e stark
ansteigen:

Erziehungsziele in der Bundesrepublik und den alten Ländern 195 1-1995


.
(Angabe n in % wichtig")
195 1 1964 1972 198 1 199 1 1995
Ordn un sliebe und Fleiß 25 31 37 38 36 33
Gehors am und Unterordnung 28 25 14 8 9 9
Selbständigkeit und freier Wille 41 45 45 52 63 65
Tab. In Anlehnung an Klages (1998b) : Werte und Wertew andel. S. 702

Interessanterweise halten sich gleichze itig Ordnungsliebe und Fleiß auf


einem konstanten, relativ hohen Niveau. Das ist einer der Gründe, wes-
halb Klages gegen Inglehart kritisch einwende t, der Wertewandel gehe
nicht komplett in eine Richtung. Deshalb erlaubten die Daten auch kei-
ne Prognosen.
Zweitens stimmt er mit Inglehart überein, dass sich eine statistische
Korrelation zwischen der Höhe des Bruttosozialprodukt s und der Aus-
prägung eines »individuali stischen« Wertkomplexes feststellen lässt.
(Klages 1984b, S. 224) Doch anders als besorgte Leser der Inglehart-
sehen These von de r Zunahme postmaterialistischer Werte sieht Klages
darin eine Entw icklung, die vom Bildungs- und Beschäftigun gssystem
geboten ist. Drittens schließlich stellt Klages wie Inglehart fest, dass es
offensichtlich einen Zusammenhang zwischen eher individ ualistischen
Werten und der Höhe des Bildungsniveaus gibt. Auf diesen Zusam-
menhang will ich zunächst eingehen.
46 1 Werte und Normen

Der Wertewandel machte sich insbesondere bei Schülern und Stu-


denten in der Altersgruppe zwischen 16 und 24 Jahren bemerkbar. Die-
se Gruppe ist traditionell progressiver in ihren Einstellungen als berufs-
tätige Jugendliche. Ihre Wertedisposition wurd e durch die Intensivie-
rung der Bildungsprozesse verstärkt, und die Gruppe wurde erheblich
größer, weil mehr Jugendliche länger im Bildungssystem blieben. Als
Gründe, warum Bildung zu einem Wertewandel beiträgt, kann man in
Anlehnung an Klages (I 984b, S. 229-232) die folgenden nennen:
1. Das Bildungssystem vermit telt ein Wissen, das in Konkurrenz zum
Alltagswissen, z, B. in der Familie steht. Es ist nicht nur ander s,
sondern reflektiert und relativiert es. So kommt es zu einer Werte-
verunsicherun g oder gar zu einem Werteverlust. In dem Maße, wie
die Familie als Legitimation für Werte wegfällt, werden auch Werte
wie Pflicht und Gehorsam in Frage gestellt. Da immer mehr Jugend-
liche immer länger mit Altersgleichen zusammen sind, nimmt die
Bedeutung der peer group filr die Wertbildung zu. Da die peers aber
alle dabei sind, sich von den Eltern abzunabeln und ihre Selbstän-
digkeit zu testen, weist auch die Sozialisation in der peer group in
die Richtung Selbstentfaltung.
2. Kinder aus unteren Sozialschichten, die in weiterführende Bildungs-
systeme kommen, lösen sich oft von ihrem Herkunftsmilieu. Das
hängt ebenfalls mit dem anderen Wissen zusammen, das in der
Schule vermittelt wird. Das hängt aber auch damit zusammen, dass
die Zugehörigkeit zu einern "höheren" kulturellen Niveau durch
Verweigerun g des Gehorsams und übertriebene And ersheit zum
Ausdruck gebracht wird .
3. Das Wissen in der Schule ist nicht konkret auf Arbeitsrollen bezo-
gen, sondern will im Gegenteil generelle, gewissermaßen kritisch-
reflex ive Fähigkeiten ausbilden. Zu lernen, wie man Wissen erwirbt
und wie man damit umgeht, heißt, selbst gefordert zu sein, sich
selbst entfalten zu müssen.
4. In der Schule ist jeder für seine Leistung allein verantwortlich. An-
ders als im Beruf, wo die Tätigkeiten ineinander greifen und Pflicht
und Verantwort ung funktional geboten sind, hän gt der Erfolg in der
Schule allein davon ab, was der Einzelne tut.
5. Ein letzter, sicher nicht unwesentlicher Faktor ist die Tatsache, dass
das Bildungssystem von der Zeit und von der Struktur her den Ju-
gendlichen sehr viel mehr Möglichkeiten bietet, sich selbst darzu-
Werte und Norme n 47

stellen. Erleichtert wird das auch dadurch, dass sie durch die Familie
versorgt werden und somit noch keine Verantwortung für den Le-
bensunterhalt oder andere Pflichten zu übernehmen brauchen.
Mit diesen Überlegungen hat Klages die Erklärung geliefert, warum es
zu einem Wertewandel in Deutschland gekommen ist. Eine ganz andere
Frage ist nun, was dieser Wertewandel für die Gesellschaft bedeutet.
Wie ich oben gezeigt habe, haben ja viele besorgte Beobachter der Ge-
sellschaft die These vom Übergang zu postmaterialistischen Werten als
Beleg für eine Entwicklung gelesen, dass der Einzelne nur noch an sich
denkt. Als Klages in Deutschland eine Abnahme von Pflicht- und Ak-
zeptanzwerten und eine Zunahme von Selbstentfaltungswerten konsta-
tierte, konnte das auf den ersten Blick gcnau so gelesen werden. " In
einer solchen Formel", räumt Klages ein, "schien ein mit dem Werte-
wandel einhergehender Moralitätsverlust ja fast schon überdeutlich mit
bloßen Händen greifbar zu sein." (Klages 1998a, S. 109) Umso energi-
scher verteidigte er dann auch den Wertewande l. Das tat er mit zwei
Argumenten.
Zum einen erinnerte er daran, dass wir seit Spencer und Durkheim
wissen, dass die sozioökonomische Entwicklung Differen zierung bein-
haltet. Es entstehen mehr oder weniger autonome Subsysteme, die un-
tereinander zwar in einem strukturierten Zusammenhang verbunden
sind und einander bedingen, die selbst aber eigene Werte ausbilden.
Das heißt aber, dass die Gesellschaft insgesamt immer weniger über
universelle Werte integriert, sondern durch abstrakte Medien wie Geld,
Macht, Recht oder Wahlen "g esteuert" wird.
Das hat Konsequenzen für das Individuum und sein Wertebewusst-
sein. Da es in unterschiedlichste Teilsysteme eingebunden ist, die alle
einer eigenen Logik folgen, also je eigene Werte vertreten, kann es gar
nicht anders, als sich flexibel auf diese jeweils vertretenen einzulassen.
Es muss lernfähig sein, Entscheidungen selbst treffen und individuelle,
besondere Leistungen unter gewandelten Bedingungen erbringen kön-
nen. Von seiten der Teilsysteme sind " Kreativität, Beweglichkeit" und
Neugier gefragt, "d. h. Eigenschaften, die viel eher mit »individualisti-
schen« Selbstentfaltungswerte n Hand in Hand gehen." (vgl. Klages
1998a,S.I I I)
48 1 Werte und Normen

Die gerade beschri ebene Modemisierung hat einen " funktionalen


Identitätswandel" zur Folge - und fordert ihn. Eine Identität, die
zwa nghaft einen Gleichklang individueller und gesellschaftlicher Wer-
ten versuchte, würde an der Pluralität und Heterogenität der Werte zer-
brechen, und eine Identität, die festgeftigt ist und konseq uent verbindli-
chen Werten folgt, würde weder den Erfordernissen der Modemisie-
rung noch ihren Chance n gerecht. ,,» Rational« wird demgege nüber die
Entwicklung einer Identität, welche eine hohe Mobilität im Sinne von
jederzeitigen Ziel-, Stan dort-, Tätigkeits- und Habitusveränderungen
bei geringst möglichen psych ischen »Umstellungskosten«, d. h., wen n
man so will, den heute öfters kolportierten Patchwork-Lebenslau f er-
möglicht." (Klages 1998a, S. 112) Funktional gebote n ist nicht eine
Identität, die sich über Normbefolgung stabilisiert, sondern eine Identi-
tät, die sich selbs t unter wechselnden Bedingungen kontrolliert. Das
Individuum ist auf sich selbs t gestellt. Seine besten Leistungen wird es
nur erbring en, indem es sich selbst entfa ltet!
Klages fasst denn auch diesen funktionalen Identitätswandel so zu-
sammen: "Es zeigt sich, dass die von den Modemisierungsbedingungen
abge forderte »individualis tische Selbstentfaltung« völlig missverstan-
den würde, wenn sie als affektiv betonte und lustvoll erlebbare »Trieb-
bcfriedigung« interpretiert würde. Die rea le Herausforderung zur
Selbstentfaltung bedeutet vielmehr den Zwang zur Herausstellung von
Fähigkeiten, die das Indi viduum in die Lage versetzen, jenseits ehema-
liger Sicherheiten und Geborgenheiten mehr oder weniger auf sich ge-
stellt zu existieren, sein Leben »in eigener Verantwortu ng« zu führen
und dabei sehr viel instrumentelle Intelligenz, Flexibilität, Anpassungs-
und Umstellungsgeschick und -energie und social skills, wie auch eine
hochentwic kelte Fähigkeit zum Ertragen und produkt iven Verarbeiten
von Versag ungen und Misserfolgen zu entwickeln." (Klages 1998a, S.
114)
Das zweite Argument, mit dem Klages den Wertewandel von
Pflichtwerten zu Selbstentfaltungswerten verte idigte, stützte sich auf
empirische Untersuc hunge n und war dazu angetan , besorgte Gemüter
zu beruhigen. Klages belegte nämlich, dass von einem Verlust solcher
Werte wie Ordnungsliebe, Fleiß und Pflichterfüllung überhaupt nicht
die Rede sein könne. Deshalb hatte er auch schon früher gegen Ingle-
hart eingewan dt, die beiden Pole Materialismus und Postmaterialismus
lägen auf verschiedenen Ebenen und würden auch nicht zwangsläufig
1 Werte und Narmen 49

gegenseitig substituiert. (Klages 1984a, S. 23) Es sei vielmehr so, dass


Werte flexibel und situationsangemessen gehandhabt würden. Wie
gleich zu sehen ist, schließen sich Selbstentfaltung und Akzeptierung
von Pflicht auch nicht aus.
Selbstentfaltung bedeute auch keineswegs Egoismus und Verant-
wortungslosigkeit. So sei die Toleranz gegenüber andersartigen Men-
schen - von Homosexuellen bis zu Behinderten, von Ausländern bis zu
Randgruppen - deutlich angestiegen. Selbstentfaltung habe auch nicht
die oft beschworene Anonymisierung und Isolation gebracht. Im Ge-
genteil seien ganz neue soziale Netzwerke entstanden. Die Bindung an
den Wohnort sei außerordentlich hoch. Schließlich hätten die empiri-
schen Befunde gezeigt, dass die meisten Eltern ihren Kindern weite
Rechte einräumen, sich frei zu entfalten, was Hobbys, Kleidung, politi-
sche Ansichten, Freunde oder Religion anbetrifft. Auf der anderen Seite
sind sie aber genau so entschieden der Meinung, sie sollten (und woll-
ten) ihre Kinder beeinflussen, was ihr Benehmen, den Umgang mit der
Wahrheit, ihr Verhalten anderen Menschen gegenüber oder ihre Ein-
stellung zu Schule und Beruf angeht. (vgl. Klages 1998a, S. 118) Ob
sie es tatsächlich tun und wie erfolgreich es ist, das steht natürlich auf
einem anderen Blatt!
Alles in allem kann man Klages wohl zustimmen, dass von einem
totalen Umbau der Werte keine Rede sein kann. Es scheint vielmehr so
zu sein, dass Werte j e nach Bedarf synthetisiert werden. Deshalb hält
sich auch der »alte« Erziehungswert " Ordnung und Fleiß" trotz der seit
den späten 60er Jahren deutlich ansteigenden Zustimmung zu dem
»neuen« Wert "Selbständigkeit und freier Wille" auf einem konstanten
Niveau.
Mit der Darlegung, dass ein Wertewandel in Richtung Selbstentfal-
tung den Bedingungen einer differenzierten, modernen Gesellschaft
optimal entspreche - Klages spricht von einer .Eufunkt ionalität des
Wertewandels" ( 1998b, S. 700) -', und dem empirischen Nachweis,
dass immerhin eine größere Gruppe zur Verft.lgung steht, die diese in-
dividualistischen Werte mit konventionellen, auf die Gesellschaft ge-
richteten Werten verbindet, hat Klages auch versucht, die Diskussion
über " neue Werte" zu beruhigen. Das ist in der Soziologie sicher ge-
lungen. Im Gespräch zwischen den Generationen und vor allem bei
Politikern halten sich aber ganz andere Schlagworte. Begriffe wie " Ell-
bogengesellschaft", ,,Anspruchsdenken" oder "Egoismus" zeigen, dass
so I Werte und Normen

in der Öffentlichkeit das Th ema Wert ewandel fast durchweg mit der
Sorge verbunden wird , nun sei der Anfang vom Ende gekommen. Ich
vermut e, das haben die Alten schon im Jahre 1708 vor Chr. schon so
gesehen.
Nun zu dem Thema, das mit dem Begriff der Werte eng verbunde n
ist und schon mehrfach angesprochen wurde , dem Them a Normen.
Während Werte generelle Orientierungen des Handeins meinen, drückt
der Begriff der Norm die Verpflichtung aus, in einer bestimmten, von
der Gesellschaft erwarteten, oft auch vor geschri ebenen Weise handeln
zu sollen.

1.7 König: Normen - Urphänomen des Sozialen


Der Begriff .Joorm'' kommt aus dem Lateinischen, wo .norma'' das
Winkelmaß und im bi ldliehen Sinn dann eine Regel oder Vorschrift
bezeichnet. Heute wird der Begriff entweder im Sinne einer Vor schrift
(Schraubengewinde müssen der Deutschen Industrie Norm entspre-
chen) oder eines durchschnittlich erwartbaren Tatbestandes (mit sin-
kenden Temperaturen steigen regelmäßig die Heizölpreise) gebraucht.
In der Soziologie bezeichnen Normen allgemein gültige Regeln des
Handelns. Während Werte allgemeine Orientierungen für das Handeln
sind, sind Normen " Verhaltensregeln, die zur Verwirkl ichung der Wer-
te dienen." (Claessens 1972, S. 35) Der Wertbe griff ist also weiter als
der Begri ff der sozialen Norm.
RENE KÖNIG (1906-1992) hat einmal gesagt, man könne den ,,Be-
griff der sozialen Norm (oo) auf keinerlei Weise aus anderen Begriffen"
ableiten. In ihm stelle "s ich gewisse rma ßen das »Urphänomen« des
Sozialen dar," (Kön ig 1969, S. 978) Hintergrund dieser Aussage ist
Durkheims schon genannte These, dass das Handeln des Menschen
durch das Kollektivbewusstsein bestimmt wird. Es ist die Summe von
Konventionen, sozialen Regeln und rechtl ichen Vereinbarungen, auf
die der Einzelne zunächst keinen Einfluss hat. Soziale Normen sind
Teil dieses Kollektivbewusstseins. In den Normen äußert sich die Per-
spektive der Gesellschaft oder ande rs: Das Nonn ative ist die Grundlage
von Gesellschaft. " Nonnen im Sinne der Soziologie sind (oo) »Regeln«,
die das Verhalten in einem gegebenen Kreise tatsächlich bestimmen
und über die jeweil s ein Einverständnis in diesem Kreise besteht, das
I Welle und Normen 51

mehr oder weniger ausdrückl ich sein kann. Im Französischen hat sich
dafür der Ausdruck »rea lite mc rale« seit langem eingebürgert, der auch
zur Bestimmung der Sozialwissenscha ften als »Moralwissenschaften«
ge führt hat." (König 1969, S. 978)
Ganz im Sinne der Du rkheimschen Erklärung der Entstehung von
Institutionen beze ichnet Dahrendorf Institutionen als "G estalt gewo r-
dene Normen". (Dahrendorf 1989, S. 4) Nonnen stellen "eine eig ene
Dimension der Wirklichkeit dar" und begründen "die Wiederholunge n
und Regelmäßi gkeiten" des sozialen Lebens. (König 1969, S. 979)
Nonnen machen das Leben in der Gem einschaft bereche nbar und kon-
trolli eren es. Manche Nonnen ge lten für alle, manche nur für bestimm-
te Grup pen. H EINRICH POPITZ unterscheidet deshalb zwischen allge-
meinen Normen und partikularen Nonnen. (Popitz 1980, S. 40) Immer
abe r geben sie an, wie bei Strafe der Missbilligung in ein er soz ialen
Situation gehandelt werden muss. Anders als Werte lassen sie im Prin-
zip keine Entscheidung zw ischen Alternativen zu.
Zur Entstehung von Nonnen konkurrieren verschiedene theoretische
Grunda uffassungen. wie sie schon bei der Begründung von Werten
ank lange n. Einige berufen sich auf ein Naturrecht, andere leiten sie
direkt aus dem göttlichen Ratschluss oder aus Ideen ab, die am bestirn-
ten Himmel über uns ewig kreisen.
Auf der anderen Se ite stehen die Vert reter des positiven ! Rechts, die
zeigen, da ss jede Norm von Menschen geschaffen wurde. Das heißt
natürlich nicht, das s sie geplant sein müssen. So kenn en wir alle die
" normative Kraft des Faktischen". Damit ist gemeint, dass sich Rege-
lungen des Alltags allmäh lich so verfestigen, dass man an ihnen nicht
vorbeiko mmt. Diese Regelungen sind zwar keine Nonnen im rechtli -
chen Sinn, aber sie haben verpflichtenden Charakter für eine bestimmte
Gruppe . Manc hmal bew egt das Fakt ische dann auch den Gesetzgeber,
Nonnen neu zu definieren. Als z. B. veränderte moralische Vorstellun-
gen dazu führten, dass viele Männer ihre Zunei gung flireinandcr offen
zeigten, begann eine Disku ssion über den Sinn dem entgegen stehender
Nonnen.
Die " normative Kraft de s Fakt ischen" kom mt auch bei einem ande-
ren Normbegriff zum Ausdruc k, der eingangs schon angedeutet wurd e.
Dort hieß es, dass der Begriff auch im Sinne eines durchschnittlich er-

1 "positiv" im lar. Sinn, dass etwas gesetzt wurde


52 Werte und Normen

wartbaren Tatbestandes verwendet wird. Ein solcher, eher statistisc her


Normbegri ff spielt auch in der Sozio logie eine Roll e. Wenn man z. 8.
liest, die Menarche trete im Durchschn itt mit 13 Jahren ein, dann wird
das zu einem Faktum, an dem sich soziale Vorstellungen von einer
Normalentwicklung ausrichten. Die normale Streuung von I 0-1 6Yl Jah-
ren wird dann meist gar nicht mehr zur Kenntnis genommen. Das
Durchschn ittliche wird also zur Norm.
Wie ein statistischer Wert - oder was da für ausgegeben wird - in ei-
ne fast verpflichtende Nenn umschlagen kann, kann man sich an fol-
gendem erfundenen Beispielt klar machen: Wenn Jugendzeitschriften
und besorgte Femsehmagazine feststellen, dass 87,93% aller 13jährigen
Mädchen sage n, sie hätten schon sexue lle Erfahrungen gemacht, dann
kann man davon ausge hen, dass über kurz oder lang kein 14jähriges
Mädchen zu den restlichen 12,07% "S pätentwicklern" gehören will. Da
statistische Nonnen mit dem Gewicht der große n Zah l operi eren, er-
schei nen sie vielen Mitgliedern der Gese llschaft auch als soz iale Norm,
an der man sich orientiert .

1.8 Nor mative Integration, Nor mverletzu ng und der Nutzen der
Dun kelziffer
Soziale Normen sagen , was in einer bestimmten Situation geboten oder
verboten ist. Ihre Funktion ist, das Leben in der Ge sellschaft zu rege ln,
es sicher und planba r zu machen.
Nun ist aber nicht zu übersehen, dass einze lne Nonnen in sich nicht
eindeut ig und die Nonnen insges amt keineswegs widers pruchs frei sind.
Das Spektrum der Interpretati onen ist groß. In einer Gesellschaft, die
sich plurali stisch versteht, verlieren auch die Nonnen eine klar e Orien-
tierungs funktion. Das ist eine Erklärung für abweichendes Verhalten.
Du rkheim hat in seiner Studie über den Se lbstmord gezeigt, wie die
Aufweichung von Nonnen zu individuellen und kollektiven Reaktionen
führt , die auf Dauer den gesellschaftli chen Zusammenhal t gefährden.
Den Zustand einer tiefgreifenden Erosion der Nonnen nennt er Ano -
mie. Auf der anderen Seite erö ffnet eine neue Interpretation der Nor-
men aber auch Freiräume. Mit der Frage nach dem Sinn bestimmt er

Die Zah len sind natürlich frei erfu nden, das Prinzip des Beispiels und die Macht
der Suggestion durch " Genauigkeit" dagegen nicht.
1 Werte und Nonnen 53

Nonne n beginnt der Prozess der Innovation. Diese Frage ist die Vor-
aussetzung dafür, dass sich Gesellschaft wandelt und dass die Norm
selbst ihren Sinn immer aufs Neue erweist.
Nonnen werden aus unterschiedlichen Gründen befolgt. Der hau-
figste Grund - wenn man von der Gedankenlosigkeit absieht, mit der
man durch seinen Alltag geht - ist sicher, dass einem die Nonne n als
vernünftig einleuchten. Sie regeln die Dinge des Lebens und erweisen
sich als zweckmäßig. Insofern erscheinen sie auch legitim. Zu diesem
Eindruck trägt auch die Tatsache bei, dass wir alle in dergleichen Ge-
sellschaft leben und die wichtigsten Nonne n von allen in dergleichen
Weise gelernt und verinnerlicht worden sind.
Ein sicher nicht unerheblicher Grund, weshalb wir sie befolgen, liegt
auch in den Sanktionen, die mit ihnen verbunden sind. Sie reichen von
ausdrücklichem Lob bis zu drakonischer Bestrafung, von der stummen
Bestätigung durch Nichtreaktion bis zur deutlichen Verurteilung nach
Recht und Gesetz. Es gibt Sanktionen, die unterschiedslos alle treffen
(z. B. der Starenkasten am Ortseingang), und solche, die typisch für
einen begrenzten sozialen Kreis sind (z. B. das schrille Lob der besten
Freundin).
Die soziale Integration der Gesellschaft würde aber auf Dauer nicht
funktionieren, wenn die Nonne n nur wegen äußerer Kontrolle befolgt
würden. Deshalb kennt jede Gesellschaft den Prozess der Sozialisation,
in dem die sozialen Nonnen so in den Individuen verankert werden,
dass sie gewissermaßen automatisch befolgt werden. Das ist die stärks-
te Verankerung sozialer Nonnen , dass sie gelernt und verinnerlicht
werden. Die innere Kontrolle ist die verlässlichste sowohl für das Indi-
viduum als auch für die Gesellschaft.
Mit dieser begründeten Annahme, dass soziale Normen Teil der Per-
sönlichkeit werden und werden müssen, kann man in der Theorie von
Parsons Normen als kulturelle Standards für Verhalten bezeichnen. Es
sind institutionalisierte Rollenerwartungen. Durch den Prozess der In-
ternalisierung, den schon Durkheim zur Erklärung sozialer Ordnung
beschrieben hatte, werden Nonne n "unserer persönlichen Willkür" rela-
tiv entzogen und "zu Maximen des eigenen Wollens gemacht." (König
1969, S. 982) Diese Verinnerlichung nonna tiv wirkender Rollen haben
auch PETER L. BERGER und THOMAS LUCKMANN vor Augen, wenn sie
schreiben: ,,Mittels der Rollen, die er spielt, wird der Einzelne in ein-
zelne Gebiete gesellschaftlich objektivierten Wissens eingewiesen,
5. 1 Werte und Nonne n

nicht allein im engeren kogn itiven Sinne, sondern auch in dem des
»Wissens« um Nonnen, Werte und sogar Gefühle." (Berger u. Luck-
mann 1966, S. 81) In dies em Sinne ist .normatlve Integration" ruf Par-
sons Bedingung der Stabilität. (N unne r-W inkler 1984, S. 406)
Nun könnte man annehmen, dass die Integration der sozialen Ord-
nung am ehesten gewährleistet ist, wenn niemand gegen sie verstößt,
wenn es also gar keiner strafenden Sanktionen bedarf. Dies scheint aber
nicht der Fall zu sein. So war schon EMILE DURKHEIMaufgefallen, dass
die Geltung von Nonnen aus dem kollektiven Bewu sstsein schwindet,
wenn sie nicht ab und an verletzt werden! " Das Verletzen einer sozia-
len Norm hat eine integrative Funktion für das Überleben des Gesamt-
systems der sozialen Nonn en, das bei kont inuierlichem Befolgen, also
bei totaler Kon formität schnellstens verdämme rn würde." (König 1969,
S. 980)
Deshalb haben vor allem die strafenden Sanktionen die Aufm erk-
samkeit der Soziolo gen auf sich gezogen. Sie interessierte weniger die
Frage, was Strafe für das Individuum bedeu tet, sondern wie diese Sank-
tion den Zusammenhalt einer Gese llschaft tangiert. Nach Durkheim
haben Strafen "die nützliche Funktion, (die Kollektivgefühle) auf dem
nämlichen Intensitätsgrad zu halten; denn jene Gefühle würden bald
erschlaffen, wenn die ihnen zugefügten Verletzungen nicht gesühnt
würd en." (Durkheim 1895, S. 181) Man kann es auch so sagen: Nor-
men, über die nicht geredet wird, verlieren ihre Wirkung . Deshalb gibt
es in bestimmten Ländern heute noch öffentliche Hinr ichtungen. Ob
diese Abschreckung letztlich jemanden von einem Verbrechen abhält,
ist umstritten, aber dass mit der öffentlichen Demonstration der Ent-
schlossenheit des Staates, Normverletzungen zu bestrafen, auch die
Normen selbs t ins Bewusstsein gerückt werden, ist unbestritten.
Durkh eim geht sog ar noch einen Sc hritt weiter: Auch das Verbre-
chen selbst, also die schwere Übertretung einer sozialen Norm, ist tor-
der lieh fiir den Erhalt und kann nützlich tur die Entwicklung einer Ge-
sellschaft sein. Förderlich für den Erhalt ist es, weil es moralische Emp-
findungen verletzt und sie somit im öffentl ichen Bewusstsein festigt.
(vg l. S. 160) Nützlich für die Entwicklung einer Gesellschaft kann es
sein, weil manche s Verbrechen "wirklich bloß eine Anti zipat ion der
zukünftigen Moral, der erste Schritt zu dem , was sein wird", ist. (ebd .)
Der Fall des Sokrates ist ein promin enter Bewei s.
Werte und Normen 55

Das erste Argument findet sich auch bei GEORGE HERBERT MEAD,
der im Vollzug der Strafe ein psychologisches Moment zur Stützung
des Rechtsbewusstseins sieht. Mead fragt aber weiter, waru m diese r
Effekt eintritt und welche Folgen er hat. Er tritt ein, weil sich jedes In-
dividuum mit eine r Gruppe identifiziert, der es angehört. Selbstver-
ständ lich nimmt es an, dass sie Teil der "gu ten Gesellschaft" ist, dass
also die allgemeinen Nonnen dort gelten . In dem Augenb lick, wo je-
mand diese Nonnen verle tzt, empfindet das Individuum das als Angriff
auf sich selbst und seine Gruppe . (vgl. Mead 19 18, S. 879) Instinktiv
rückt es näher an die ande ren in seiner Gruppe der Gesetzestreuen her-
an, um gemeinsam mit ihnen den äußeren Feind abzuwehren. Das kann
drastische Formen annehmen, wie wir es von der Lynchjustiz her ken-
nen, das kann aber auch in symbo lischen Gesten der Nonnkonfonnität
zum Ausdruck kommen .
Die öffentliche Entrüst ung über bestimmte Nonnverletzungen, die in
den Medie n insze niert wird , ist ein solcher symbol isch er Beweis. Wenn
dann auch noch eine öffe ntliche Bestrafung verm eldet wird, weiß sich
das gesunde Volksempfinden auf der richtigen Seite. Wenn die Skan-
dalpresse wieder einmal einen Ministerpräsidenten entdeckt, der sich
Frei flüge schen ken lässt, dann befriedigt das auf den ersten Blick Sen-
sationsgier, auf den zweiten Blick hat es aber eine ganz wichtige sczia-
le Funktion: Es zeigt, dass man nicht nur die Kleinen hängt, und das
wiederum hat zur Folge, dass sich der Glaube an die Gültigkeit der
Nonnen mit neuer Kraft auflädt.
Es muss aber auch gesehen werden, dass Sanktionen, die zu oft an-
gewandt werden, ihre Wirkung verlieren . Es kann sogar so sein, dass
die Verletzung der Nonnen dadurch, dass sie immer wieder sanktio-
niert wird, nun erst recht betrieben wird. Manches Verhältnis zwisc hen
den Vertretern der öffe ntlichen Ordnung und denen, die sie in mehr
ode r minder geistreicher Fonn störten, ist von so lchen gegen teiligen
Effekten geprägt. Eine exzessive Verme hrung der Nonnen, meint
HEINRICHPOPITZ (1925-2002), sanktioniert eine Norm zu Tode , eine zu
seltene Anwendung von Sankti onen schwächt die No rm ebenfalls:

Heinrich Popitz: Normen und Sanktionen


"E ine exzessive Vermehrung der Sanktionen (..) müsste dazu führen,
dass die Normen, die bewahrt werden sollen, zu Tode sanktioniert wer-
den. Wenn auch der Nachbar zur Rechte n und zur Linken bestraft wird,
56 1 Werte und Normen

verliert die Strafe ihr mora lisches Gewicht. Etwas, das beinahe jedem
reihum passiert, gilt nicht mehr als diskriminierend. Auch die Strafe
kann sich verbrauchen. Wenn die Norm nicht mehr ode r zu selten sank-
tioniert wird, verliert sie ihre Zähne , - muss sie dauernd zubeißen, we r-
den die Zähne stu mp f. (...)
Aber nicht nur die Sanktion verliert ihr Gewicht, wenn der Nachbar
zur Rechten und zur Linken bestraft wird. Es wird damit auch offenbar
- und zwa r in denkbar eindeu tiger Weise - , dass auch der Nachbar die
Norm nicht einhält.
Diese Demonstration des Ausmaßes der Nichtgeltung der Norm
wird sich aber ebenso wie der Gewichtsverlust der Sanktion auf die
Konformitätsbereitschaft auswirken. Werden allzu viele an den Pranger
gestellt, verliert nicht nur der Pranger seine Schrecken, sondern auch
der Normbruch seinen Ausnahmecharakter und damit den Charakter ei-
ner Tat, in der etwas »gebrochen«, zerbrochen wird." (Popitz 1968 :
Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, S. 17)

Po pitz deutet hier eine weitere Paradoxie in der Geltung von Nonnen
an: Wo z u häufig bekannt wird, dass Nonnen übertreten werde n, verlie-
ren sie ebenfalls ihre Wirkun g. Deshalb vert ritt Popitz die These, dass
kein Gesetzgeber daran interessiert se in dar f, alle No nnverletz ungen zu
kennen: " Ke in System sozialer Norme n könnte einer perfekten Verha l-
tenstransparen z ausgesetzt we rde n, ohne sich zu Tod e zu blamieren.
Eine Gesellsc haft, die jede Verhaltensabweichung au fdeck te, würde
zugleich die Ge ltung ihrer Normen ruinieren." (Popitz 1968, S. 9)
Wenn zu oft über Ste uerhinterziehu ng berichtet wird, bleibt nicht aus,
dass die allgemein e Steuermo ral sinkt. Die Dunkelziffer hat also eine n
Entlastungseffekt. Popitz sprich t sog ar vom "Nutzen der Dunk elzi ffer" .
(S . 14)
An mehreren Stellen wurde di e Frage angedeutet, wa rum Wert e und
Nonnen so se lbstverständlich gelten. Auf die se Frage haben die Th eo-
rien der Sozialisation eine Antwort gegeben. Um dieses Them a geht es
nun.
2 Sozialisation
2.1 Durkheim: Socialisation methodique
2.2 Freud: Über-Ich und Einschränkung der Triebbedürfnisse
2.3 Kulturanthropologie: Kulturelle Differenzen
2.4 Lernen unter den Bedingungen der Umwelt
2.5 Mead: Integration in einen organisierten Verhaltensprozess
2.6 Parsans: Herstellung funktional notwendiger Motivation
2.7 Hurrelmann: produktive Verarbeitung der Realität

Die Frage, wie wir werden, was wir sind, ist keine neue Frage. Seit je
hat man darüber nachgedacht, wie das Verhältnis zwischen Individuum
und Gesellschaft zustande kommt. Interessanterweise spielt in allen
Erklärungen dieses Verhältnisses der Gedanke eine Rolle, dass der
Mensch nicht von selbst mit der Gesellschaft zurechtkommt und umge-
kehrt dass auch die Gesellschaft sich ihrer Mitglieder nicht von vorn-
herein sicher sein kann. Vor allem dieser Aspekt scheint auch schon bei
der ersten Verwendung des Begriffes Sozialisation im Vordergrund
gestanden zu haben. Im Oxford Dictionary of the English Language aus
dem Jahre 1828 wird "to socialize" nämlich im Sinne von "to make fit
for living in society " verwendet. (Clausen 1968, S. 21)
In Gesellschaft leben zu können, ergibt sich offensichtlich nicht von
selbst, sondern man muss es irgendwie lernen. Damit stellt sich die
Frage, warum man es lernen muss, wie man es lernt und was die Be-
dingungen sind, unter denen man es lernt. Die Nachdenker haben dar-
auf ganz unterschiedliche Antworten gegeben, die bis heute in die Dis-
kussion über den Prozess und das Ziel von Sozialisation hineinspielen.
Man kann sie grob nach ihren Grundannahmen über das Verhältnis
zwischen Mensch und Gesellschaft unterscheiden. (vgl. Geulen 1991,
S. 21) Einige wurden schon unter dem Stichwort "Wie ist Gesellschaft
möglich?" angedeutet.
Eine Annahme lautet, dass der Mensch von Natur aus egoistisch sei.
Das war z. B. die Ansicht von Thomas Hobbes. Damit nicht einer des
anderen Feind werde, müsse man den Menschen durch Furcht im Zaum
halten. Dieser Gedanke der nachdrücklichen Anleitung zum " richtigen"
2 Sozialisation

sozialen Verhalten spielt in vielen Sozia lisationstheorien eine wichtige


Rolle. Als wichtigste nenne ich die von EMlLE DURKHElM, SIGMUND
FREun und auch von TALCOTI PARSONS. Für Durkheim wirkt die Ge-
sellschaft durch die Macht ihrer Institutionen und die Sanktione n, die
erfolgen, wenn man sie missachtet. Aber sie betreibt Sozialisation auch
methodisch in eigens dafür vorgesehenen Einrichtungen. Freud, der den
Begriff Sozialisation selbst nicht benutzt. betrachtet den Menschen als
ein Wesen, das in einem schmerzhaften Prozess davon abgehalten wer-
den muss, nur seinen egoistischen Trieben zu folgen. Der Macht der
Gesellschaft beugt sich das Kind, indem es die Gebote und Verbote der
Gesellschaft verinnerlicht. Auch die Theorie von Parsons wird die An-
leitung zum "richtigen", spric h: normalen Verhalten herausstellen, al-
lerdings mit dem wichtigen Untersc hied, dass die Bindung an die Ge-
sellschaft letztlich freiwillig erfolgen müsse.
Eine nahezu gegenteilige Ansicht, haben wir bei den Erk lärungen
sozialer Ordnung gesehen, vertrat JEAN JACQUES ROUSSEAU. Für ihn ist
der Mensch von Natur aus gut, und deshalb solle man ihn sich frei und
natürlich entfalten lassen. Die Gesellschaft sei etwas Künstliches und
tue der ursprüng lichen Unbefangenheit und Unschuld des Kindes Ge-
walt an. Aus dieser Annahme speisen sich kritische Einwände gegen
Sozialisationstheorien, hinter denen das Ziel einer simplen Anpassung
an die gesellschaftlichen Verhältnisse vermutet wird. In der Hochzeit
der Kritik an diesen Verhältnissen kam denn auch die grundsätzliche
Frage auf, was dem Individuum im Prozess der Sozialisation eigentlich
widerfahre.
Eine dritte Richtung betrachtet die Gesellschaft als eine Umwelt, an
die sich die Individuen anpasse n müssen, um überleben zu können. Auf
die Macht der Umwelt heben lernthe oretische Ansätze ab, die erk lären,
wie der Mensch lernt und wie man deshalb auch seine Umwelt so ver-
ändern kann, dass er ein ganz bestimmtes soziales Verhalten lernt. Jede
Umwelt hat ihre spezifisc he Struktur, also muss auch die Sozialisation
spezifisch sein. Diese kulturellen Untersc hiede stellen kultu ranthropo-
logische Theorien heraus.
Eine vierte Richtung erinnert daran, dass diese Bedingungen kei-
neswegs von selbst entstanden sind, sondern Produkt menschlichen
Handeins sind. Das wird bei der Theorie von GEORGE HERBERT MEAD
im Vordergrund stehen, aber auch dort geht es letztlich um die Inte-
gration in eine bestehende Ordnung. Dieser letzte Gedanke findet sich
2 Sozialisation 59

dann verstärkt wieder bei TALCOTI PARSONS, für den Sozialisation die
Herstell ung funk tiona l - d. h. konkre t: aus der Forderung der Gesell-
schaft! - not wendiger Motivation bedeutet.
A ll diese Theori en m üssen aber imme r vor dem Hintergrund gedac ht
werden, dass gese llschaftliche Bedingun gen, unter denen wir aufwac h-
sen und "Gesellsc haft lernen" , nicht von Natur aus so sind, wie sie sind,
sondern vo n Menschen gesc haffen wurden. Aus dieser Perspektive
stell t sich also immer die kritische Frage nach der Legitim ität der Be-
ding unge n und der Ziele von Sozialisation in einer konkreten Gesel l-
sc haft. Einen Versuch, das Individu um als Kritiker und Konstru kteur
gese llschaftlicher Realität ins Spie l zu bringen , untern immt KLAUS
HURRELMANN.

2.1 Durkheim: Socialisation methodique


Obwohl der Begriff der Sozialisati on scho n seit dem frühen 19. Jahr-
hundert bekan nt war, setz te eine theoretisc he Diskussion unter d iesem
Titel erst Ende des Jahrhunderts ein. Den wichtigste n theo retischen
Beitrag zur Funktion und zum Prozess der Sozialisation hat sei nerzei t
EMlLE DURKHElM geliefert. Seine Theorie der Sozialisation steht im
Mitte lpunk t seiner Gese llschaftst heorie , die oben! unter der Frage be-
handelt wurde, wie gese llschaftliche Ordnung möglich ist. Dort stand
natürlich die Seite der Gesellschaft im Vordergrund.
Der Seite des Indi viduums wendet sich Dur kheim mit einer Kritik an
trad itio nellen Erzieh ungsvorstellungen und dann mit einer dezidierte n
anthro pologische n Feststellu ng zu. Zunächst zur Kritik. Durkheim wirft
den Pädagogen vor, sie würden in der "Erziehu ng eine rein individuelle
Ange legenheit" sehen, in der es daru m gehe , in jedem Individuum " die
für wese ntlich geha ltenen Eigenschafte n der mensc hlichen Gattung
sc hlec hth in zur Vollendung zu bringen." (Durkhei m 190 3, S. 38) In der
Ann ahme, dass alles sc hon in der Natur des Menschen ange legt sei,
sä he die Erziehung ih re Aufga be dari n, die latenten Kräfte zu erkennen
und zu fördern. Etwa s Neues zu schaffen, beabsichtige sie nich t, und
deshalb verlören auch "d ie Bedingu ngen der Zeit und des Ortes, die
Zustände, in denen sic h die soz iale Umwe lt befindet , jedes Interesse für
die Pädagogi k." Leider, besc hließ t D urkheim seine Kritik an der Päda-

I Vgl. Band 1, Kap. 3.6 •.Mechanische und organische Solidarität".


60 2 Sozialisation

gogi k, stehe "diese Au ffassung der Erziehung in direktem Widerspruch


zu allem , was uns die Geschichte lehrt." (Durkheim 190 3, S. 39) Ers-
tens unterscheiden sich nämlich die Gesellschaften danach, was sie ruf
das Ideal der Erziehung halten. Sie lenken die Kinder von Anfang an in
eine Richtung, die der Idee der gesellschaftlichen Ordnung entspricht.
Wer in Sparta groß wird, soll letztlich bereit sein, sich für seine Stadt
zu opfern, wenn das Gesetz es befiehlt , und wer in Indien groß wird,
soll wissen, dass Kasten göttlicher Vorsehung entsprechen. Zweitens
wird auch innerhalb einer Gesellschaft nirge ndwo eine allgem eingült i-
ge Erziehung für alle praktiziert, sondern überall werden d ie Kinder auf
ihre spez iellen Aufgaben in der Gese llsch aft vo rbe reitet. Natürlich gibt
es " eine gewisse Anzahl von Ideen, von Gefüh len und Praktiken (...),
die die Erziehu ng unterschiedslos allen Kindern beibringe n muss, wel -
cher sozialen Kat egorie sie auch angehören ." (S . 42) Ab er von einem
gew issen Alter an wird die Erziehu ng ungleich, nicht aus Unge rechtig-
keit, sondern weil sie sich spezialisiert und so "die Spezialarbeiter'
vorbereitet, deren die Gese llschaft bedarf. (S . 40f.)
Die Gese llschaft gest altet den Menschen nach ihren Bedürfnissen.
Diesen Prozess betreibt sie planmäßig in Form von Erziehung. Das Ziel
ist, das Individuum auf die Gese llscha ft einzustellen : ,,Der Mensch, den
die Erziehung in uns verwirklichen muss, ist nicht der Mensch, den die
Natu r gemacht hat, sondern der Mensch, wie ihn die Gesellschaft haben
will; und sie will ihn so haben, wie ihn ihre innere Öko no mie braucht."
(Durkheim 1903, S. 44) Das pädagogische Ideal ist "bis in die Einzel-
he iten das Werk der Gesellschaft. Sie zeichnet uns das Porträt des
Menschen vor, das wir sein müssen." (S . 45) Erziehung heißt Erzie-
hung auf eine bestimmte soziale Ord nun g hin. D iese planmä ßige Erzie-
hung nennt Du rkheim deshalb auch socia/isation methodique.

Emile Durkheim: Socia lisatio n met hod ique


"Statt dass die Erziehung das Individuum und sein Interesse als einzi-
ges und hauptsächliches Ziel hat, ist sie vor allem das Mittel, mit dem
die Gesellschaft immer wieder die Bedingungen ihrer eigenen Existenz
erneuert . Die Gesellschaft kann nur leben, wenn unter ihren Mitgliedern
ein genügender Zusammenhalt besteht. Die Erziehung erhält und ver-
stärkt diesen Zusammenhalt, indem sie von vornherein in der Seele des
Kindes die wesentlichen Ät'ul1ichkeiten fixiert, die das gesellschaftliche
Leben voraussetzt. Aber ohne eine gewisse Vielfalt wäre andererseits
je de Zusammenarbeit unmöglich. Die Erziehung sichert die Fortdauer
2 Sozialisation 61

dieser notwendigen Vielfalt. indem sie sich selbst vervielfältigt und


spezialisiert. Sie besteht also unter der einen wie der anderen Ansicht
aus einer methodischen Sozialisierung (socialisation methodique) der
jungen Generation." (Durkheim 1903: Erziehung, Moral und Gesell-
schaft. S. 45f.)

Sozialisation ist also ..Fixierung" von generellen sozialen Einstellungen


und Ausbildung spezieller funktionaler Qualitäten, die eine arbeitsteili-
ge Gesellschaft für ihren Zusammenhalt braucht. Deshalb hält Durk-
heim die Wörter "sozialisiert" und "z ivilisiert" auch für gleichwertig.
(Durkheim 1902, S. 56) Soweit zur gesellschaftlichen Notwendigkeit
von Sozialisation.
Jetzt zur anthropologischen Feststellung, mit der die Notwendigkeit
der Sozialisation begründet wird. Durkheim unterscheidet zwei Be-
standteile der Persönlichkeit, einen privaten Teil (Triebe, Bedürfnisse),
der keinerlei überindividuelle Strebungen zeigt, sondern egoistisch und
asozial ist, und einen sozialen bzw. moralischen Teil, der die verinner-
lichten sozialen Nonnen und Vorstellungen enthält. Der Mensch ist
also ein homo duplex. Die private oder asoziale Seite bringt er von Ge-
burt mit, die soziale oder moralische muss hergestellt werden.
Damit ist das Problem fixiert, vor dem jede Gesellschaft immer wie-
der steht, denn das Kind bringt bei seiner Geburt "nichts mit außer sei-
ner Natur als Individuum. Die Gesellschaft muss mit jeder neuen Gene-
ration sozusagen wieder von vorne anfangen. Sie muss auf dem ra-
schesten Weg dem eben geborenen egoistischen und asozialen Wesen
ein anderes Wesen hinzufügen, das imstande ist, ein soziales und mora-
lisches Leben zu fuhren. Das ist die Aufgabe der Erziehung." (Durk-
heim 1903, S. 46f.) Ihr Ziel ist die Herausbildung des sozialen Wesens
m uns.
Durch methodische Sozialisation wirkt die Gesellschaft so auf das
Individuum ein, dass es den Zwang der " sozialen Tatsachen" akzeptiert
oder - subtiler - ihn nicht als Zwang empfindet und sich freiwillig dem
fügt, was von ihm erwartet wird. Die sozialen Tatsachen - als Regeln
und Pflichten - gehen dem Individuum in Fleisch und Blut über. Die-
sen Vorgang nennt Durkheim Internalisierung. Sie ist die unabdingbare
Voraussetzung für den Erhalt sozialer Ordnung.
62 2 Sozialisation

Doch wie ist es mit dem Individuum? Ich hatte oben die Frage ge-
steilt, wieso die sozialen Tatsachen, die ja immerhin eine Einschrän -
kung seiner egoistischen Triebe bedeut en und einen moralischen
Zwang (contrainte) ausüben, so zwingend sind, dass sie internalisiert
werden. Durkheims Antwort lautet: Wenn man sich an die sozialen
Tat sachen hält, brin gt das Prestige. Was alle seit je für selbstverständ-
lich halten, was also im kollektiven Bewusstsein richtig ist, ist auch die
Norm, nach der wir Denken und Handeln beu rteilen. Deshalb kann man
sagen, dass die Sozialisationstheorie von Durkheim normativ ist.
So wie Durkh eim Sozialisation diskutiert, könnte man meinen, sie
führe notwendig zu einer Unterdrückung von Individualität. Das ist
aber seines Erachtens nicht der Fall: " Daraus, das s sich uns die sozialen
Glau bensvorstellungen und Verhaltenswei sen von außen aufdrängen,
folgt nicht, dass wir sie passiv aufnehmen und sie etwa keiner Mo difi-
kation unterzögen. Indem wir die kollektiven Instit utionen erfassen, sie
uns ass imilieren, individ ualisieren wir sie und verleihen ihnen mehr
oder minder unsere persönliche Marke." (Durkhe im 1895, S. 100
Anm .) Dass diese Erkläru ng am Vorrang der Gesellschaft gege nüber
dem Individuum keinen Zwe ifel lässt, braucht man nicht eige ns zu be-
tonen!
Eine ähn liche Ansicht vom Verhältnis zwischen Gesellschaft und
Individu um findet sich in einer zweiten großen Theorie, die sich zwar
nicht expli zit mit dem Th ema "S oz ialisation" befasst hat, aber ein en
außero rden tlichen Einfluss auf die Theorie der Sozialisation und die
öffentliche Diskussion über de n Prozess selbst gehabt hat, in der Psy-
choanalyse.

2.2 Freud: Über-Ich und E ins chr ä nkung der Triebbedürfnisse


Obwohl der Arzt SIGMUND FREUD( 1856- 1939) selb st im Grunde keine
Sozialisationstheorie entwickelt hat, sind von seiner Theorie der Psy-
choanalyse doch entscheidende Impulse für die Sozialisationsforschung
gekommen. Dies aus zwei Richtungen: einmal aus einer Theorie der
Persönlichke it heraus und zum and eren aus einer anthropologischen
Annahme der notw endigen Zurichtung des Individ uums filr die Gesell-
schaft. Wenden wir uns zunächst der Th eorie der Persönlichkeit zu, die
als Theorie einer psychischen Entwick lung angelegt ist. Freud nimmt
2 Sozialisation 63

an, dass das Seelenl eben ein Apparat ist, der sich aus mehreren Teilen
oder Instanz en zusam mensetz t, die wiederum bestim mte Funktionen
erfü llen :

Sigmund Freud: Der psychische Appar at


" Die älteste dieser psychischen Provinzen oder Instanzen nennen wir
das »Es«; sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, kon-
stitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation
stammenden Triebe. t (...)
Unter dem Ein fluss der uns umgebenden realen Außenwelt hat ein
Teil des Es eine besondere Entwicklung erfahren. Ursprünglich als
Rindenschicht mit den Organen zur Reizaufnahme und den Einrichtun-
gen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine besondere Organisation
hergestellt, die von nun an zwischen Es und Außenwelt vermittelt. Die-
sem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des »Ichs«. (...)
Es hat die Aufgabe der Selbstbehauptung, erftillt sie, indem es nach au-
ßen die Reize kennenlernt. Erfahrungen über sie aufspeichert (im Ge-
dächtnis), überstarke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen
begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt, die Außenwelt in
zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern (Aktivität); nach
innen gegen das Es, indem es die Herrschaft über die Triebansprüche
gewinnt, entscheidet, ob sie zur Befriedigung zugelassen werden sollen,
diese Befriedigung auf die in der Außenwelt günstigen Zeiten und Um-
stände verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt. In seiner
Tätigkeit wird es durch die Beachtungcn der in ihm vorhanden oder in
dasselbe eingetragenen Reizspannung geleitet. Deren Erhöhung wird
allgeme in als Unlust, deren Herabsetzung als Lust empfunden . (...) Das
Ich strebt nach Lust, will der Unlust ausweichen. (...)
Als Niederschlag der langen Klndheitsperiode, während der wer-
dende Mensch in Abhängigkeit von seinen Eltern lebt, bildet sich in
seinem Ich eine besondere Instanz heraus, in der sich dieser elterliche
Einfluss fortsetzt. Sie hat den Namen des »Über-Ichs« erhalten. Inso-
weit dieses Über-Ich sich vom Ich sondert und sich ihm entgegenstellt,
ist es eine dritte Macht, der das Ich Rechnung tragen muss.
Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den
Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügt, also de-
ren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß. Die Einzelheiten der
Beziehung zwischen Ich und Über-Ich werden durchwegs aus der Zu-

In einer Anme rkung sagt Freud, dass dieser älteste Teil des psychischen Apparates
durchs ganze Leben der wichtigste bleibt.
64 2 Sozialisation

rückführu ng auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern verstän d-


lich. Im Elterne infl uss wirkt natürlich nic ht nur das persönliche Wesen
der Eltern . sondern auch der durch sie fortgepflanzte Einfluss von Fa-
milien-, Rassen- und Volks tradi tion sowie die von ihnen vertre ten An -
forderungen des jeweiligen sozi alen M ilieus. Ebenso nim mt das Über-
Ich im Laufe der individuellen Entwicklung Beiträge von seiten späte-
rer Fortsetzer und Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher. öffentl i-
che Vorbilder, in der Gesellschaft verehrter Ideale.
Man sieht, dass Es und Über -Ich bei a11 ihr er funda mentalen Ver-
schiedenheit die eine Übere instimmung zeigen, dass sie die Einflüsse
der Vergangenheit repräsentieren. das Es den der ererbten, das Über-Ich
im wesentlichen den der von anderen übernommenen, während das Ich
hauptsächlich durch das selbst Erlebte, also Akzidentelle und Aktuelle
bestimmt wird." (Freud 1938: Abriss der Psychoanalyse, S. 9-11)

Für eine Sozialisationstheorie ist vor allem die Funktion des Über-Ichs
interessant, denn Freud sagt, dass sich in ihm nicht nur die Einflüsse
der Eltern niederschlagen, sondern auch die der Gesellschaft. Den Pro-
zess seiner Ausbildung, den Freud am Ende seines Lebens so lapidar
beschreibt, muss man sich in Wirklichkeit als dramatische Auseinan-
dersetzung des Kindes mit dem Vater vorstellen. Freud unterstellt, dass
das Kleinkind in einer engen affektiven Bindung an die Mutter lebt und
den Vater als Rivalen um die emotionale Zuneigung der Mutter emp-
findet. Freud hat das in Anlehnung an den griechischen Mythos, nach
dem Ödipus unwissentlich seinen Vater Laos erschlagen und seine
Mutter lokaste geheiratet hat, den Ödipuskonflikt genannt: Das Kind
will sich unbewusst der Mutter sexuell bemächtigen und sie für sich
allein besitzen. Gleichzeitig hat es - ebenso unbewusst - Angst, dass
der Vater diesen Wunsch bemerkt und es bestraft. Um diesen Konflikt
abzuwehren oder zu dämpfen, identifiziert es sich mit dem Vater. Es
nimmt ihn gewissermaßen als Teil in das eigene Ich hinein, indem es
seine Gebote übernimmt.
Mit der Identifikation mit dem Vater übernimmt das Kind auch die
durch ihn vertretenen gesellschaftlichen Werte und Nonnen. Die psy-
chische Entwicklung ist nach dieser Theorie also " die Geschichte eines
Konflikts zwischen konstitutioneller Triebstruktur und Realität." (Geu-
len 1991, S. 25) Deshalb ließ sich die Theorie auch als Sozialisations-
theorie nutzen, weil sie erklärte, wie die Gesellschaft in das Individuum
eindringt, ohne dass es sich dessen bewusst wird und ohne dass es eine
2 Sozialisation 65

Chance hätte, sich dagegen zu wehren. Vor allem dieser letzte Aspekt
spielte in der frohgemut-dogmatischen " antiautoritären" Dis kussion
eine zentrale Rolle, indem man diesen Prozess des Eindringens der Ge-
seilschaft in die Köpfe und Herzen der Kinder zieml ich undifferenziert
mit der Unterdtiickung durch die Eltern gleichsetzte. Die kamen noch
gut dabei weg, wenn man auch ihnen zugestand, selbst Opfer der Ver-
hältnisse zu sein. Ganz grundsätzlich ging man aber davon aus, dass die
lustvolle Entfaltung der Triebe - zur Not auch noch nachträglich - das
Individuum frei mac ht.
Die Konzentration der populären Diskussion auf den ödipalen Kon-
flikt blendete die andere Seite des Beitrags der Psychoanalyse für eine
Sozialisationstheorie, die pessimistische Ku/turtheorie, aus. Sie liegt
nahe bei Durkheims Erklärung der Sozialisation des homo duplex. Was
waren die Kemannahm en dieser Kulturtheorie? Freud geht davon aus,
dass die Gesellschaft nur bestehen kann , wenn sie die Triebbedürfnisse
des Individuums weitgehend reguliert. Der Mensch ist nämlich "sp o n~
tan nicht arbeitslustig"; deshalb muss die zur Arbeit erforderliche psy-
chische Energie durch Sublimierung sein er Triebe gewonnen werden.
Das aber heißt ihre ursprü ngliche, wilde Gestalt zu zügeln und in eine
neue, gese llschaftlich erwünschte Fonn zu bringen. Oder anders: Kul-
tur ist ohne Triebverzicht nicht zu haben.
Hinter dieser The se steht nun eine Anthro po logie, die überha upt
nichts mit der opti mistischen Hoffnung auf die Befreiung durch Trieb-
enthemmung zu tun hat, im Gegenteil. In sein em betiihmten Beitrag
über "Das Unbehagen in der Kultur" (1930), in dem der alte Freud auf
die Erfahrung des ersten Weltkri eges zutiickblickte, schreibt er:

Sigmund Freud: Kultur heißt Einschrä nku ng


individueller Freiheit
"Vielleicht begi nnt man mit der Erklärung , das kulturelle Element sei
mit dem ersten Versuch, diese sozialen Beziehungen zu rege ln, gege-
ben. Unterbliebe ein solcher Versuch, so wären diese Beziehungen der
Willkür des einzelnen unterworfen , d. h . der physisch Stärkere würde
sie im Sinne seiner Interessen und Triebregungen entscheiden. Daran
änderte sich nichts, wenn dieser Stärkere seinerseits einen einzelnen
noch Stärkeren fände. Das menschliche Zusammenleben wird erst er-
möglicht, wenn sich eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als
jeder einzelne und gegen jeden einzelnen zusammenhält. Die Macht
dieser Gemeinschaft stellt sich nun als »Recht« der Macht des einzel-
66 2 Sozialisation

nen , die als »rohe Gewalt« verurteilt wird, entgegen. Diese Ersetzung
der Macht des einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entschei-
dende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, dass sich die Mitglie-
der der Gemei nscha ft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschrä n-
ken, während der einzelne keine solche Schranke kannte . (..) Die indi-
vidue lle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kul-
tur, allerdings dama ls meist ohne Wert, weil das Individuum kaum im-
stande war, sie zu verteidigen. Durch die Kulturentwicklung erfahrt sie
Einschränkunge n, und die Gerec htigkeit fordert, dass keinem diese Ein-
schränkungen erspart werden." (Freud 1930: Das Unbehagen in der
Ku ltur, S. 90)

W as Freud m it der Einschränku ng ind ivi d ue ller Freihe it anspricht , ist


d ie Ho bbesschet Lösung des Prob lems sozialer Ordn ung. Freud fügt
di eser Lösung vo n außen nun eine inner e Lösung hi nz u und schreibt,
das s K ultur nur m it e ine r Umformu ng de r Triebe zu gewinnen und zu
siche rn is t:

Sig mu nd Freud: Kultur muss den Aggressionstrieben


der Menschen Sc hr a nken setzen
"Das gern verleugnete Stück Wirklich keit hinter allede m ist, dass der
Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchs-
tens , wen n angegriffen, auch zu verteidigen verm ag, sondern dass er zu
seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggre ssi-
onsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur
möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung,
seine Aggressi on an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Ent-
schädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu
gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen,
ihm Schmerzen zu bereiten, ihn zu martern und zu töten . Homo hamini
lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Gesch ichte
den M ut, diesen Sa tz zu bestreiten? Diese grausame Aggression wartet
in der Regel eine Provokation ab oder stellt sich in den Dienst ein er an-
deren Absicht, deren Ziel auch mit mildernden Mitteln zu erreichen wä-
re. Unter ihr günstigen Umständen, wenn die seelischen Gegenkräfte,
die sie sonst hemmen, wegge fallen sind, äußert sie sich auch spontan,
enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen
Art fremd ist. (..)

VgJ. Band 1, Kap. 3.1 .Hobbes: Die Furcht vor dem Leviathan" .
2 Sozialisation 67

Die Existenz dieser Aggressionsneigung, die wir bei uns seihst ver-
spüren können, heim andere n mit Recht voraussetzen, ist das Moment,
das unser Verhältni s zum Nächsten stört und die Kultur zu ihrem Au f-
wand nötigt. Infolge dieser pr imären Feindseligke it der Me nsche n ge-
geneinander ist die Kulturgesellschaft bestä ndig vom Zerfa ll bedroht.
Das Intere sse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhal-
ten, triebha fte Leidenschaften sind stärker als vernü nftige Interessen .
Die Kultur muss alles au fbieten, um den Aggressionstrieben der Men-
schen Schranken zu setzen , ihre Äußerungen durc h psyc hische Reakti-
onsbildungen niederzuhalten." (Freud 1930: Das Unbehagen in der
Ku ltur, S. 102)

Sozialisation heißt nach dieser Theorie Unterwerfung unter Kultur, und


das bedeutet Einschränkung ursprünglicher Freiheit. So erklärt sich das
Unbehagen in der Kultur, das Freud programmatisch angesprochen hat:
" Wenn die Kultu r nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggres-
sionsneigung des Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir
besser, dass es dem Menschen schwer wird, sich in ihr bcglückt zu fin-
den. Der Urmensch hatte es in der Tat darin besser, da er keine Trieb-
einschränkungen kannt e. Zum Ausgleich war seine Sicherheit, solches
Glück zu genießen, eine sehr geringe. Der Kulturmensch hat für ein
StOck Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht." (Freud
1930, S. 105)
Freud stellt nun die Frage, welcher Mittel sich die Kultur bedient,
" um die ihr entgegenstehende Aggression zu hemmen, unschädlich zu
machen, vielleicht auszuschalten", und kommt zu folgender Antwort:
" Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin
zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich
gewendet. Dort wird sie von einem Antcil des Ichs übernommen, das
sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als »Gewissen«
gegen das Ich diese lbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das
Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. (..) Die Kul-
tur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums,
indem sie es schwächt, entwaffuet und durch eine Instanz in seinem
Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen
lässt." (Freud 1930, S. llOf.)
Gelänge es der Gesellschaft nicht, in jedem Individuum ein festes
Über-Ich zu bilden, wäre Kultur nicht zu halten! Individuelle Freiheit
ist ohne Verpflichtung nicht zu haben. Parsans wird diesen Gedanken
68 2 Sozialisation

der sicheren B indung an die Kultur in seiner Sozialisationstheorie au f-


nehmen.
Ich komme zu einem zweiten Einfluss auf die Sozialisationstheorie,
durc h den deutlich wurde , dass Form, Inhalt und Dauer von Soz ialisati-
onsprozessen j e nach Gesellschaft erheblich variieren.

2.3 Kulturanthropologie: Kulturelle Differenzen


Mit der Gesellschaft wird das Individuum nicht nur zum Zeitpunkt sei-
ner Geburt konfrontiert, und es lernt auch nicht nur in der Kindhei t und
der Jugend, wie es sich in dieser Gesellscha ft zu verhalten hat, sondern
Sozialisation ist ein lebenslanger Proze ss. Dieser Geda nke ist eigentlich
selbstverständlich, dennoch hat sich die Sozialisationsforschung in ih-
ren Au ffingen fast ausschließlich auf die Phase der Kindheit und Jugend
konzentriert. Das gilt auch für die Kulturanthropologie. Deren For-
schungen habe n die Diskussion in dreierlei Hinsicht bereichert : Sie
haben gezeigt, dass die klassische Annahme der Psychoanalyse nicht
für jede Kultur zutrifft, dass der Prozess der Sozialisation extrem ver-
kürzt sein kan n und dass die Kultur einen bestimmten Persönlichk eits-
typ prägt. Für alle drei Bereicherungen will ich ein Beispiel geben.
Ich beginne mit der Kriti k an einer Annahme, mit der die klassische
Psychoanalyse die Bedingungen und die Fonn der grundlegende n Kon-
frontation zwischen Individu um und Gesellschaft erklä rt hat. Der pol-
nisch-englische Kulturanthropologe B RONISLAW M ALINOWSKI ( 1884-
194 2) veröffentlichte im Jahre 1924 einen interessanten Aufsatz unter
dem Titel "Mutterrechtliehe Fam ilie und Ödipus-Komplex" in der Zeit-
schri ft Imago, der Zeitschr ift für psychoana lytische Forschu ngen. Aus
dieser Studie will ich zwei Ergebnisse nennen, die für eine psych oana-
lytische Sozia lisationstheorie von ziemlicher Bedeutung sind. Mali-
now ski wendet gegen den Begri ff "Ö dipuskom plex" und die ihm
zugrunde liegende Theorie ein, dass er nur für eine patriarchale Gesell-
scha ft zutreffe. In mutterrechtliehen Gesellschaften gebe es andere
Konflikte, wobei die Rivalität mit dem leib lichen Vater keine Rolle
spielt. Deshalb sollte man besser von einem Kernkomplex sprec hen.
Zweitens bemängelt Malinowski, bisher gäb e es in keiner psych o-
analyt ischen Betrachtung irgendeinen Hinweis " auf das soz iale Mi lieu,
noch weniger die Erörteru ng dessen, wie der Kem komplex und seine
2 Sozialisation 69

Wirkungen mit der sozialen Sch icht in unserer Gesellschaft wechseln."


(Malinoweki 1924, S. 236) Deshalb fordert er, den Kemkomplex "s o-
ziologisch" zu untersu chen. Das tut er, indem er extreme Vergleiche
anstellt. Er vergleicht innerhalb der patri archalen Gese llschaft Europas
die Verhältnisse in den wohlhabend en Klassen mit denen in der nie-
dersten Klasse, und er ve rgleicht die Verhä ltnisse in der patriarchalen
Gesellschaft mit denen in der matrilinearen Gese llschaft au f Trob riand
(Papua-Neuguine a).
Wend en wir uns zunächst der Betrachtung der sozialen Klassen zu.
Der Vergleich zeigt, dass es in der Tat einen Ödipuskomplex in beiden
Schic hten gibt, aber Malin owski erklärt ihn "s oziologisch" und zwar
zwe ifach : einmal aus der Rolle, die die patriarchal e Gesellschaft für
den Vater vors ieht, und zum anderen aus der Konkurrenz, die im
Wech sel der Generationen gege ben ist.
Die Rolle des Va ters in den patriarcha len Gesellschaften Europas ist
für Malinowski eindeutig: Er "ist das Haupt der Famili e, er ist maßge-
bend für die Abstammung, und er ist auch der wirtschaftliche Versor-
ger. Ein abso luter Herrscher in der Fam ilie, kann er leicht zum Tyran-
nen we rden." (Malinowski 1924, S. 244) Diese Rolle hat aber je nach
Klasse spezifische ZUge und deshalb auch andere Konsequenzen. In
den wohlhabenden Klassen taucht der Vater nur selten im Horizon t des
Kindes auf und we nn, dann als strenger Fremder, vor dem sich das
Kind gut zu benehm en ha t. " Er ist die Quelle der Autorität, der Ur-
sprung der Strafen und wird somit ein Popanz. Das Ergebn is ist ge-
wöhnl ich ein Mischgebilde : er ist das vollk ommene Wesen, um desse n
Wohlwollen das beste von allem zu geschehe n hat, und gleic hzeitig ist
er ein Wauw au, vor dem sich das Kind zu fLirc hten hat und um dessen
Bequemlichke it will en, wie das Kind es sich vorstellt, der ganze Haus-
halt eingerichtet ist." (ebd.) Die Ge fühle des Kindes richten sich stärker
auf die Mutter. Die Soz ialisation, die über den Vate r vermittelt ist, ist
geke nnze ichnet durch Furcht vor einer abstrakten, aber imm er gewä rti-
gen Autorität, die erlaubt und verbietet nach dem Recht, das die Ge sell-
schaft festgeschri eb en hat. I

Den typischen Vertreter dieses Vaterbildes hat Heinrich Mann in seinem satiri-
schen Roman .D er Untertan" (1918) beschrieben.
70 2 Sozialisation

"Anders ist das Bild, wenn auch die Ergebni sse nicht unähn lich sind,
in den Einzimmer- und Einbetthaushalten der armen Bauemb evölke-
rung in Mittel- und Osteuropat , oder der niederen Arbeiterk lassen. Der
Vater gelangt in einen engen Kontakt zum Kind, was nur unter seltenen
Umständen eine größere Zuneigung zulässt, vielmehr in der Regel zu
heftigen und chronischen Reibungen fuhrt. Wenn der Vater müde von
seiner Arbeit heimkehrt oder betrunken aus dem Wirtshaus, lässt er
seinen Verdruss an der eingeschüchterten Familie, an Frau und Kindern
aus." (Malinowski 1924, S. 244f.) Die Gefühle zwischen dem Kind und
der Mutter sind durch die Erfahrung , Leidensgenossen zu sein, geprägt.
Die Sozialisation, die über diese Erfahrung vermittelt wird, ist be-
stimmt von einem Gefühl der Ohnmacht gegen soziale Verhältnisse.
Neben diese - aus dem Geist der zwanziger Jahre sicher überzeich-
nete - Beschreibung der klassenspezifischen Rolle des Vaters setzt Ma-
linowski nun eine zweite sozio logische Erklärung für die Konfrontat ion
zwischen Vater und Sohn, die der Konkurrenz im Wechsel der Genera-
tionen. Er schreibt: " Der Vater sieht in seinem Sohn seinen Nachfolger,
seinen Stammhalter, der ihn einmal ersetzen wird. Er wird daher umso
kritischer, und dies beeinflusst seine Empfindungen nach zwei Rich-
tungen. Wenn der Knabe gewisse geistige oder physische Defekte ver-
rät, das Ideal des Vaters nicht erfüllt, wird dies zur Quelle bitterer Ent-
täuschungen und Feindseligkeiten. Anderseits führt gerade auf dieser
Stufe ein bestimmtes Maß an Rivalität , der Groll wegen der zukünfti-
gen Absetzung, die Melancholie der verfallenden Generation, zu einer
gewissen Feindseligkeit. In beiden Fällen unterdriickt, verleiht diese
Feindseligkeit dem Vater eine gewisse Härte gegenüber dem Sohn, und
dies provoziert auf dem Reaktionswege eine Erwiderung der feindli-
chen Gefühle." (Malinowski 1924, S. 249) Da dieser Zusammenhang
zwischen Vatcr und Tochter nicht besteht, sind ihre Beziehungen zärt-
lichcr, wie das auch zwischen Mutter und Sohn ist. Fast überliest man,
was Malinow ski hier gegen Freuds Kemannahmen eingewandt hat,
wenn er zusammenfassend bemerkt, " dass die Neigung zum Kinde des
anderen Geschlechtes, weil es vom anderen Geschlechte ist, noch nicht
unbedingt eine geschlechtliche Neigung sein muss." (S. 250)

1 Malinowslci lebte bis 19 10 in Polen.


2 Sozialisation 71

Mit diesen soziologischen Erklärungen des Kernkomplexes wird ei-


ne zweite Korrektur an der klassischen Psychoanalyse vorbereitet. Ma-
linowski stellt nämlich fest, dass es ein enges .Jneinanderwirken biolo-
gischer Impulse und sozialer Regeln" gibt. (Malinowski 1924, S. 272)
Dazu stellt er den zweiten kontrastiven Vergleich an, der noch radikaler
als bei den sozialen Klassen ist. Er läuft nämlich auf die Frage hinaus,
ob der Ödipuskonflikt - verstanden als Auseinandersetzung mit dem
Vater - überhaupt universell ist. Die Antwort gibt Malinowski mit der
Beschreibung der typischen Beziehung zwischen dem heranwachsen-
den Kind und seinen Eltern in der mutterrechtliehen Familie auf
Trobriand. Während in Europa dem Vater tatsächlich eine ziemliche
Bedeutung zukommt, steht auf Trobriand die Autorität über die Kinder
dem Bruder der Mutter zu. Der Vater hat weder die ökonomische Stel-
lung des einzigen Ernährers der Familie noch die soziale Stellung des
Familienoberhauptes, sondern steht gewissermaßen auf der gleichen
Stufe wie die Kinder. Deshalb gibt es weder die von Freud behauptete
Rivalität um die Mutter noch die daraus resultierende drohende Autori-
tät des leiblichen Vaters. Folglich zeigt sich die "Ambivalenz von Ehr-
furcht und Abneigung" nicht gegenüber dem leiblichen Vater, sondern
gegenüber dem Bruder der Mutter. (S. 275)
Diese Beziehung entspricht also nicht dem klassischen Mythos von
Ödipus und seiner Mutter Iokaste, weshalb Malinowski auch nicht von
einem Ödipuskonflikt, sondern allgemeiner von einem Kernkonflikt
spricht.
Der Kernkomplex hängt also von der typischen Konstellation der
Bezugspersonen, und nicht von einer biologischen Verwandtschaft ab.
Entscheidend ist weiter, wie sexuellen Regungen des Kindes Raum
gegeben wird. In dieser Hinsicht ist der Kontrast zwischen den beiden
Kulturen sehr groß. Während in Neuguinea die Erwachsenen sexuelle
Gefühle nicht nur zulassen, sondern sogar noch ermuntern I, werden sie
in der patriarchalen Gesellschaft in Europa durch eine rigide Moralvor-
stellung unterdrückt. Der Ödipuskonflikt löst sich also nicht automa-
tisch, indem sich das Kind aus Angst vor dem übermächtigen Rivalen
unterwirft und dessen Bild als Ideal in sich aufrichtet, sondern er ist

Die erste Studie, die Malinowski zwischen 1915 und 1918 auf dieser melanesi-
schen Insel durchführte, trug den bezeichnenden Titel "Das Geschlechtsleben der
Wilden in Nw -Melanesien'' ( 1929).
72 2 Sozialisation

ganz wesentlich bestimmt von den Geboten, unter denen sich die för-
dernden und strafenden Eltern selbs t sehen.
Zusammenfassend kann man sagen: Malinowskis Vergleiche legen
die Annahme nahe, dass es einen Kemkompl ex in jeder kindlichen
Entwi cklung und in j eder Gesellschaft gibt. Dieser Kemkompl ex hat
imm er etwas mit der Auseinandersetzung mit einer Autoritä t und Ge-
fühlen zu nahen Bezugspersonen zu tun. Er stellt ein System von Ge-
fühlen dar, das typisch für eine bestimmte Gesellschaftsfonn ist. (Mali-
nowski 1924, S. 272) Wie sich der Kemkomplex entwickelt und wie er
sich äußert, hängt von kulturellen und sozialen Bedingungen ab. Damit
sind einmal die spezifischen Werte und Moralvorstellungen gemeint,
damit ist aber auch die Familienstruktur gemeint. Gegen die orthodox e
Psychoanalyse, die nur eine Form des Ödipuskomplexes annahm,
scheint es Malinowski "n otwendig, die Wech selbeziehung biologischer
und sozialer Einflüsse systematischer zu untersuchen, nicht überall die
Existenz des Ödipus-Komplexes zu behaupten, sondern jeden Kultur-
typus zu studieren und den besonderen Komp lex festzustellen, der zu
ihm gehört." (S. 276) Es war der freundliche Rat an Freud, der damals
j a auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit stand, seine Axiome "dehn-
barer zu gestalten", vor allem aber die Dinge konkreter zu analysieren.
Ich sagte es schon eingangs, dass sich die frühe Sozialisationsfor-
schung und die Kulturanthropologie fast ausschließlich mit der Phase
der Kindheit und Jugend befasst haben. Danach ist Sozialisa tion der
Prozess, in dem die Heranwachsenden in die Rolle eines vollgültigen
Mitgliedes der Gesellscha ft hineinwachsen. Das bedeutete in aller Re-
gel, sich auf den Übergang zum Status des Erwachsenen zu konzentrie-
ren. In modem en Gesellschaften erfo lgt das in einem längeren Über-
gang, der im Wesentlichen durch schulisches Lernen und abrupte For-
derung (von seiten der Heranwachsenden) und allmähliche Zuges te-
hung (von Seiten der meist überraschten Eitern) von Rechten gekenn-
ze ichnet ist. Die kuit uranthrop ologische Forschung hat nun geze igt,
dass dieser Prozess in bestimmten Gesellschaften außerordentlich kurz
ist und z. T. dramatisch gestaltet wird. Der Übergang vom Status des
Kindes oder Jugendlichen zum Status des Erwachsenen erfolgt in ei-
nem Akt der Initiation. Auch diese Erfahrung stellte die Selbstverständ-
lichkeit unserer Annahmen über den Prozess des Hineinwachsens in die
Gesellscha ft in Frage.
2 Sozialisation 73

Von den vielen empirischen Untersuchunge n, die zu " fremden" So-


zia lisationsprozess en im Laufe der letzten hundert Jahre durc hgefUhrt
worden sind, haben die Arbeiten der amerika nischen Ethnologin M AR·
GARET M EADI ( 1901- 1978) beson dere Aufmerksamkeit erfah ren. Sie
bezweifelte, dass es so etwas wie universelle Formen menschl ichen
Verhaltens gibt , und vermutete stattdessen, dass die allermei sten .aia-
türlichen" Verhaltensweisen in einer Gesellschaft das Prod ukt dieser
bestimmten Ziv ilisation sind. Um diese Vermutung zu erhärten, ging
sie für mehrere Jahre nach Samoa und untersuchte dort die Bedi ngun-
gen, unter dene n Kinder aufwachsen. Das Ergeb nis ihrer Beobachtun-
gen verö ffentlichte sie im Jah re 1928 unter dem Titel "Coming of age
in Samoa". Im Deutschen trug es den Titel " Jugend und Sexuali tät in
prim itiven Gesellschaften" , Mead schreibt über die Initiation eines Jun-
gen bei den Tscham buli:

Margaret M ead: Initiation bei den Tschambuli


"Zwischen acht und zwölf Jahren - der genaue Zeitpunkt liegt im Er-
messen seines Vaters - findet seine Initiierung statt. Er wird auf einem
Stein festgehalten, während ein Onkel mütterlicherseits und ein kundi-
ger Tätowierer allerlei Muster in seinen Rücken schneiden. Der Knabe
kann schreien, soviel er will; niemand kommt ihm zu Hilfe, niemand
kümmert sich um sein Geheul, und niemand ergötzt sich daran." (Mead
1928: Jugend und Sexualität in primitiven Gesellschaften, Bd. 3, S.
226f.)

Solche dramatischen Initiationsriten markieren den Übergang zwischen


dem Stat us des Kindes und dem des Erwachsenen. Initiatione n dienen
als Nachw eis der körperlichen ode r soz ialen Reife und de finieren die
neuen Rechte und Pflichten. Reste solcher Initiationen haben sich auch
in den Industriegesellschaften erhalten. Die erste geme insame Zig aret-
te, die Vater und Sohn rauchen, hatte früher die se Funktion . Die sexue l-
le Aufklärung , von der die j üngeren nur noch vom Hörensagen wissen,
war auch soziale Initiation. Heute ist es aber eher so, das s Jugendlich e
sich selbst in de n Status des Erwachsenen init iieren. So beanspru chen
manche Jugendliche mit dramati schen Mu tprob en auf eine n Schlag den
Status eines " richtigen Kerls" , Wer sich plötzlich die Haare grün färbt,

Da manchmal gefragt wird: Sie ist weder verwandt noch verschwägert mit George
Herbert Mead.
74 2 Sozialisation

mag vielleicht ähnliches im Si nn haben . Die allerme isten betreiben ihre


Initiationen aber kontinuierlich, unspektakulär, aber umso erfolgrei-
cher.
Ich komme zum dritten starken Einfluss der Kulturanthropologie auf
die Sozialisationsforschung. Er besteht in der These und dem Nach-
weis, dass die Kultur eine bestimmt e Persönl ichkeitsstruktur ausformt.
Mit die ser Th ese trat z. B. der amerik anische Psychoanalytiker ABRAM
KARDINER (1891 -1981) gegen biologische Erkläru ngen an, won ach
Persönlichkeit durch Vererbung festgelegt ist, aber auch gegen die
klassische Psychoanalyse, wonach Kultur das Ergebnis von Instinkt-
Repression ist, Institutionen also einen biologischen Ursprung I haben.
(Kardiner 1939, S. 16f.) Dagegen setzte Kardiner die venn ittelnde The-
se, unter den physikal ischen Bedingungen des Klimas und den sozio-
kult urellen Bedingungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur und der
damit gegebenen Nonnen werde in der frühen Kindheit eine .Basispcr-
sönlichkeit" (sb asic personality structure«) ausgebi ldet.
Es sind also die Institutionen, die die biologische Ausstattung über-
formen. So vertritt Kardiner denn auch nachdrücklich die These, .jhat
the individual stands midway between institutions which mold and di-
rect his adaptation to the outer world, and his biological needs, which
press for gratification. This viewpoint places a heavy emphasis on insti-
tutions and stresses the significant role they play in creating the adap-
tive systems of the individual." (Kardin er 1939, S. 17) Ähn lich wie
Freud sah Kardiner in der frühen Mutter-Kind-Beziehung die entschei-
dende Prägung der Persönlichkeit. Die Kräfte, die sich dort entwickel-
ten, sind es auch, die die Gesellschaft zusammenhalten. (5. 75)
Was die Pers önlichkeitsstruktur angeht, wandte der schon einige
Male zitierte RALPH LINTON, mit dem Kardiner zusammenarbeitete,
ein, dass auch spätere Einflüsse prägend sind, eine Sicht, die schließlich
die meisten Kult uranthropologen teilten. (vgl. Huber 1989, S. 32ff.)
Anfang der 50er Jahre veröffentlichte dann der dänisch-deutsch-
amerikani sche Psychoana lytiker ERIK H. ERIKSON (1902- 1994), der in
den 30er Jahren in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, sein
Buch "Childhood and Society ". Es enthält eine Theorie der Kindheit
unter den Modalitäten des sozialen Lebens und ein Entwicklungsmo-

Aus " basic needs" haben j a Sumner, aber auch Malinowski Institutionen erklärt!
(Vgl. Band I, Kap. 4.2 .Sumner: Folkways, Mores, Insntunons' und 4.3 ,,Mali-
nowski: Abgeleitete Bedürfnisse und die soziale Organisation des Verhaltens".)
2 Sozialisation 75

deli über das gesamte Leben. Breiten Raum nimmt außerdem die Be-
schreibung der Kindheit in zwei amerikanischen Indianerstämmen ein.
Erikson, der vor allem von Margaret Mead zu solchen Studien angeregt
worden war, wollte mit diesen Bildern von " Fremden im eigenen Land"
zeigen, dass es nicht nur ein Bild der Persönlichkeit ! gibt, sondern dass
Entwicklung und Struktur der Persönlichkeit von konkreten sozialen
und kulturellen Bedingungen abhängen.
So schilderte er, wie die Prärie-Indianer vom Stamme der Sioux in
Süddakota ihre Kinder aufzogen. Auf der einen Seite fiel Erikson, der
einige Zeit in diesem Stamm lebte, auf, dass das Kleinkind immer und
überall gestillt wurde, sobald es den Wunsch danach zum Ausdruck
brachte. Die Stillperiode dauerte manchmal drei bis fünf Jahre, und
eine systematische Entwöhnung gab es nicht. Die fehlende Frustration
schien soziale Sicherheit und eine große Freigebigkeit zu bewirken.
Auf der anderen Seite stellte Erikson fest, dass die Mütter ausgespro-
chen grausam mit ihren Kindern umgingen, wenn sie beim Saugen
Beißversuche machten. Dann stießen sie sie mit dem Kopf auf, was zu
einem Wutgeheul beim Säugling führte. Das kleine Siouxkind wurde
dann auf ein Wickelbrett gebunden und musste so seine Wut nach in-
nen richten. Erikson fragt, ob die auffällige Gewalttätigkeit der Sioux-
Indianer, aber auch ihre Fähigkeit, extreme Folter zu ertragen, nicht
damit zusammenhängen. (vgl. Erikson 1950a, S. 131-133)
Die Vorstellungen über den Zusammenhang von Kultur und Persön-
lichkeit bringt Erikson mit folgenden Worten zum Ausdruck:

Erik H. Erikson : Die Synthese von Kultur und Charakter


"Wir behaupten keineswegs, dass ihre Behandlung in der Kindheit eine
Gruppe von Erwachsenen veranlasst, bestimmte Charakterzüge zu ent-
wickeln, als brauchte man nur ein paar Knöpfe im Erziehungssystem zu
drehen, um diese oder jene Art von Stammes- oder Nationalcharakter
zu produzieren. Tatsächlich diskutieren wir Charakterzüge nicht im
Sinne irreversibler Charakteristika der Persönlichkeit. Wir sprechen
von Zielen und Wertungen und der Energie, die ihnen durch Erzie-
hungssysteme zufließt. Solche Werte leben weiter, weil die öffentliche
Meinung fortfahrt, sie für »natürlich« zu halten, und keine Alternative
zulässt. Sie bestehen fort, weil sie ein wesentlicher Teil des Identitäts-

Das wurde z. B. der Sozialisationstheorie von Taleort Parsons, auf die ich gleich
zu spreche n komme, immer wieder nachgesagt.
76 2 Sozialisation

gefühls geworden sind, welches das Individuum als Kem seiner inneren
Gesundheit und Leistungsfähigkeit bewahren muss. Aber Werte leben
nur dann weiter, wenn sie wirtschaftlich, psychologisch und geistig
wirksam bleiben . Und ich behaupte, dass sie dazu fortlaufend, Genera-
tion um Generation, in der frühen Erziehung des Kindes verankert wer-
den müssen, während die Erziehung ihrerseits, um ihre Konsistenz zu
bewahren, in ein System fortlaufender ökonomischer und kultureller
Synthese eingebette t sein muss. Denn es ist die Synthese, die in einer
Kultur wirksam wird, die immer zunehmend thematische Beziehungen
und wechse lseitige Verstärkung von Dingen , wie Klima und Körper-
bau, Wirtschaft und Psychologie, Gesellschaft und Erziehung , mitein-
ander zu verweben strebt." (Erikson 1950a: Kindheit und Gesellschaft.
S. 134)

Diese Studien wie auch die anderen Arbeiten Eriksons wurden rasch zu
einer optimistischen Instrumentalisierung der Psychoanalyse herange-
zogen. Abgesehen davon, dass er ohnehin eine Theorie sexueller und
sozialer Entwicklung vorlegte, in der lebenslang Korrekturen möglich
und Hoffnungen begrundet sind, war es Eriksons implizite Kritik am
fragwürdigen Umgang mit Sexualität in der westlichen Zivilisation,
was eine kritische Sozialisationsforschung beflügelte. Der folgende
Text venn ittelt etwas von der Faszination des kontrastiven Vergleichs:

Ertk H. El'"ikson: Missbehagen und Desorlentlerung


"Die Sioux vertr eten hinsichtlich der menschlichen Entwicklung den
Standpunkt, dass ein Kind, solange es klein ist, ein Individualist sein
darf. Die Eltern zeigen keinerlei feindselige Ablehnung gegenüber dem
Körper als solchem und tadeln kindlichen Eigenwi llen nicht, besonders
nicht bei Knaben. Man kennt keine Verurteilung infantiler Gewohn hei-
ten währen d der Zeit, in der das Kind das Kommunikationssystem zw i-
schen Selbst, Körper und Seinesgleichen entw ickelt, auf dem das kind-
liche leh fundiert . Erst wenn es körpe rlich kräftig und selbstsic her ge-
worden ist, wird von dem K ind gefordert, dass es sich einer Tradition
unerbittlicher Verspottung durch die öffentliche Meinung beugt, die
sich weit mehr auf sein soziales Verhalten als auf seine Körperfunktio-
nen oder Phanta sien richtet. (...) Gefährliche Instinktregungen werden
dab ei auf äußere Feinde abgelenkt , und die Quelle möglicher Schuld
darf immer aufs Übernatürlic he projiziert werden. (...)
Im Gegensatz dazu waren die herrschenden Klassen der westlichen
Zivilisation (...) der festen Überzeugung, dass eine systematische Regu-
2 Sozialisation 77

lierung der Funktionen und Impulse in frühester Kindheit der sicherste


Garant für eine spätere erfolgreiche Anpassung sei. Sie prägen dem
formbaren Säugling und Kleinkind das pausenlose Metronom der Rou-
tine ein, um seine ersten Erfahrungen mit seinem eigenen Körper und
seiner unmittelbaren körperlichen Umwelt zu regulieren. Erst nachdem
diese mechanische Sozialisierung stattgefunden hat, wird das Kind nun
ermutigt, sich zu einem eigenwilligen Individualisten zu entwickeln.
Das so vorgeprägte Individuum folgt ehrgeizigen Zielen, bleibt aber
zwanghaft an eine berufliche Standardisierung verhaftet, die im Verlauf
der Wirtschaftsentwicklung zu immer komplizierteren Formen mehr
und mehr die persönliche Verantwortung ersetzt. Die so entstandene
Spezialisierung hat der westlichen Zivilisation die Beherrschung der
Maschine ermöglicht, aber sie hat auch eine Unterströmung unendli-
chen Missbehagens und individueller Desorientierung mit sich ge-
bracht." (Erikson 1950a: Kindheit und Gesellschaft, S. 150f.)

Hinter der Kritik an der typischen Sozialisation in der westlichen Zivi-


lisation scheint die Annahme auf, dass bei einer Änderun g der Form
auch ein anderer Mensch gescha ffen werden könnte. Diese Hoffnung
wurde genährt durch eine psychologische Forschung, die gewisserma-
ßen im extremen Gegensatz zur Psychoana lyse stand. Ich meine den
Behaviori smus und die Lemtheorie, die Soz ialisation als Lernen unter
den Bedingun gen der Umwelt erklärten.

2.4 Lernen unter den Bedingungen der Umwelt


Der russische Physiologe IWAN P. PAWLOW (1849-1936) hatte fest-
gestellt, dass bestimmte Reize körperliche Reaktionen beim Tier aus-
lösten. So hatte er beobachtet, dass es bei einem Hund zum Speichel-
fluss kam, sobald er den Futternapf sah. Das erfolgte auch, wenn dab ei
gleichzeitig eine Glocke ertönte. Interessanterweise kam es auch dann
zu einern Speichel fluss, wenn nur die Glocke ertön te. Es wurden also
von außen Bedingungen geschaffen, die zu bestimmten Verhaltenswei-
sen fiihrten . Das Verhalten des Tieres wurde also konditioniert.
Der amerikanische Psychologe EDWARD LEE THORNDIKE (1874-
1949) entdeckte einen zweiten Zusammenhang: Zufällige Reaktionen,
die belohnt wurden, setzten einen Lernprozess in Gang. So hatt e eine
Katze im Käfig zufällig einen Hebel betätigt, wora uf Futter ausgesch üt-
78 2 Sozialisation

tet wur de. Andere Heb el spendeten kein Futter. Nach und nach " lernte"
die Katze nun, welcher Hebel der richtige war. Es handelt sich also um
ein Lerne n am Erfolg. Dieses Lernen durch Versuch und Irrtum dauerte
zwar ein ige Zeit, aber dafür klappte es schließlich auch umso besser.
Später kamen noch Theorien hinzu, in denen Lernen durch die Imi-
tation von Modellen erklärt wird. Aus diesen psychologischen Theorien
hat sich für die Soz ialisationsfo rschung die Annah me ergeben, dass die
konk rete Umwelt einen entscheidenden Ein fluss au f das soz iale Verhal-
ten hat.
Damit lag der Schluss nahe, dass man bei entsprechender Verände-
rung des Lemmilieus auch das Verhalten steuern könnte. Genau dies
hat dann der amerikanische Psycho loge lOHN B. WATSON (1878- 1958)
auch verspro chen. Er vertrat die The se, dass Verhalten durch äußere
Reize ausgelöst wird. Dieses Verhalten nannt e er Reaktion. Der
Mensch lernt , welche Reaktionen zu welchem Erfolg führen. Auf diese
Weise generalisiert er die Reakti onen und bildet ein zw eckmäßiges
Verhalten aus. Verhalten ist also kondit ionierte Reaktion. Nur dieses
beobachtbare Verhalten interessierte Watso n. Was andere übe r das sag-
ten, was in der »black box« - Seele oder Kop f oder irgendetwas Ähnli-
ches - passiert , hielt er für reine Spekulation. Den G lauben an die Exis-
tenz eines Bewu sstseins verwies er in die "alten Zeiten des Aberglau-
bens und der Ma gie." (Watson 1930, S. 36) Wegen dieser Konzentrati-
on auf objek tives Verhalten wird die Theorie auch »Behaviorismus«
genann t.
Watson lehnte auch Annah men über " Begab ung, Neigung und die
Vererbung aller soge nannten »seelischen« Eigenschafte n" ab: " Das was
nach der Geburt geschieht, mac ht den einen zum Holzfäller und zum
Wasserträger, den anderen zum Diplomaten, Dieb, zum erfolgreichen
Geschäftsmann oder we ltberühmt en Wissen schaftl er." (Watson 1930,
S. 114) Gegen die Annahme, dass die gene tische Ausstattung über die
kognit ive und soz iale Entwicklung eines Menschen entscheide, setzt
die lerntheoretische Sozialisationsth eorie auf den Einfluss des Mil ieus.
Lapidar konstatierte Watson: " Im allgemeinen sind wir das, was die
Situation von uns fordert." (S. 272) Der Mensch, das ist die zentrale
These des Behaviorismu s, ist ein Produkt seiner Umwelt.
So hatte es schon im [ruhen 19. Jahrhundert der eng lische Utopist
und Sozialreformer ROBERT OWEN gesehen . Mit dem Motto ,,man is
2 Sozialisation 79

the creature of circumstances" wollte er in einer gezielten Erziehung


eine neue Gesellschaft herbeiführen.
Ähnliches schwebte wohl auch Watson vor, der gegen die Annahme,
unser Verhalten würde von natürlichen Instinkten beein flusst, einwand-
te: Alles, was als »Instinkt« bezeic hnet wird, ist "größtenteils das Er-
gebnis von Übung und Erziehung - gehört also zum erlernten Verhal-
ten des Menschen," (Watson 1930, S. 115) Fest davon überzeugt, man
könne mit einem geziehen Arrangement von Reizen jeglichen Lerner-
folg erzielen, gab er ein berühmtes Versprechen ab:

John B. Watson: Verhalten ist konditionierte Gewohnheit


"Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine ei-
gene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantiere, dass ich jedes
nach dem Zufall auswähle und zu einem Spezialisten in irgendeinem
Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder zum Bettler
und Dieb, ohne Rücksicht auf seine Begabungen, Neigungen, Fähigkei-
ten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren. (...) Persönlichkeit ist
nichts anderes als das Endprodukt unserer Gewohnheitssysteme."
(Watson 1930: Behaviorismus, S.123 und 270)

Dieser Optimismus durchzieht natürlich die meisten pädagogischen


Theorien , und in der Soz iologie haben übereifrige Praktiker die Soziali-
sationstheorien, die die Bedeutung des Milieus betonen, auch so ver-
standen. Doch in der Soziologie geht es genau nicht um die Reaktion
auf irgendeinen äußeren Reiz, sondern um den Sinn, den ein Indivi-
duum äußeren Bedingungen beimisst, und das Handeln, das dara us
folgt.
Nun muss man aber sehen, dass auch die psychologische Verhal-
tenstheorie die schlichte These der bedingten Reaktion auf einen unbe-
dingten Reiz aufgegeben hat. So hat der amerikanische Psychologe
FREDERICK B. SKiNNER ( 1904-1990) eine Lemth eorie entwickelt, in der
der Mensch - wie jedes andere Tier auch - lernt. Ich sage das nicht
ironisch, denn von der psychologischen Theorie des Verhaltens her gibt
es da keinen Unterschied, und auch der amerikanisc he Soziologe
GEORGE CASPAR HOMANS (1910-1989), der sich auf seinen Freund
Skinncr berief, betonte, dass es zwischen dessen Tauben und dem Men-
80 2 Sozialisation

sehen in der Soz iologie im Prinzip keinen Unterschied gibt. I Lernen


heißt, aus Reaktionen auf eige nes Verhalten Schlüsse zu ziehen. Das
wiederum setzt de n Menschen in die Lage, die Bedingungen seines
weiteren Verhaltens auch zu manipulieren. In der Sprache diese r Psy-
chologie: Der Mensch schafft sich die Konditionen seines Verhaltens
selbst, indem er bedingte Reize herstellt. Sein Verhalten ist ein beding-
ter Reflex, aber er kann die Bedingungen, auf die er dann reagiert,
selbst herbeiführen. Reiz und Reaktion sind verbunden in einer wech-
selseitigen Verstärkung. Sozialisation ist nach dieser weit in die Sozio-
logie ausgreifenden psychologischen Theorie so etwas wie Selbstsozia-
lisarion.
lnteressanterweise blieb die Faszination dieser Lemth eorie hinter der
spontanen Hoffnung zurück, die Watsons Versprechen ausgerechnet in
der kritischen Sozial isationsforsc hung auslöste. Dort wurde es nämlich
genutzt, um darüber zumindest bestehende nachteilige Verh ältni sse zu
kriti sieren . So hat gerade die schichtenspezifische Soz ialisationsfor-
sch ung ihre praktischen Forderungen immer wieder mit dem Hinw eis
auf die Bedeutung der Lemumwelt begründ et. In der Psychologie hat
sich eine ökologische Sozialisationsforschung etabliert, in der die Be-
deutung des Milieus eine große Rolle spielt . Von der Soziologie ging
eine Sozialisationsfo rschung aus, die die objektiven Verhältnisse kri-
tisch analysierte und verlangte, durch eine gezielte Verbess erung des
räumli chen Umfe lds oder durch neue Lemmilieus Chan cengleichheit
herzustellen.
Das war die Zeit der schichtenspezifischen Sozialisationsforschungä,
und eines ihrer wichtigsten Themen war die sch ichtenspez ifische Spra-
che. Der englische Erziehungssoziologe B ASIL B ERNSTEIN (1924-2000)
hatte herausgefunden, dass Kinder je nach ihrer Stellung in der sozialen
Klassenstruktur einen unterschiedlichen Spracheode pflegen. Den in
der Unterschicht nannte er "restringiert", den in der Mittelschicht "e la-

Eh Mens ch sich zu früh freut, wenigstens mit solchen Cousinen verglichen zu


werden: in Wahrhe it soll es sich bei ihnen um höchst zänkische Exemplare der
Gattung Tier handeln! Sei 's drum. Die .P alken'' mac hen trotzdem den größten po-
litischen Ärger.
2 Die Literatur zu diesem Thema ist unübersehbar gewesen. Einen guten Überblick
bieten Günthe r Steinkamp (1991): Sozialstruktur und Sozi alisation und Hans-G.
Rolff(1967): Sozialisation und Auslese durch die Schule (überarbeitete Neuaus-
gabe 1997).
2 Sozialisation 81

boriert". (Bernstein 1964) Mit dieser Unterscheidung hob Bernstein


nicht nur auf den Umfang des Wortschatzes und auf die logische Struk-
tur der Sätze ab, sondern er unterstellte, dass in der Sprache unter-
schiedliche Formen sozialer Praxis zum Ausdruck kommen. Die Spra-
che signalisiert, wie die Sprecher sich selbst sehen. wie sie ihre Zukunft
planen und wie sie ihre Handlungen organisieren. Obwohl Bernstein
selbst betonte, dass " der eine Code nicht besser als der andere" ist und
j eder Code " seine Ästhetik, seine eigenen Möglichkeiten" besitzt
(Bernstein 1964, S. 114), war mit der Begrifflichkeit auch eine Bewer-
tung in der Welt. Der restringierte Code wurde in der öffentlichen Re-
zeption auf die Sprache reduziert und galt als defizitär . So wurden dann
auch die geringen Schulerfolge der Kinder aus der Unterschicht mit
ihrem beschränkten Wortschatz und ihrer mangelnden Fähigkeit, ab-
strakte Zusammenhänge zu denken und zu artikulieren, erklärt.
In Deutschland war es vor allem die bahnbrechende Arbeit von UL-
RlCH OEVERMANN (*1939), die den Zusammenhang von "Sprache und
sozialer Herkunft" (1972) und die Definitionsmacht der Gesellschaft
über diesbezügliche Chancen empirisch belegte. Er betonte gegenüber
der landläufigen Defizithypothese eine Differenzhypothese, die belegte,
dass auch die scheinbar " restringierte" Sprache zumindest in der sozia-
len Umgebung, in der sie im Alltag gesprochen wurde, angemessen und
völlig ausreichend war. Doch die neue Begrifflichkeit änderte nichts an
der Tatsache, dass Kinder aus der Unterschicht gerade wegen ihrer
Sprache deutlich schlechtere Leistungen in der Schule attestiert beka-
men. Das hatte zwei Konsequenzen. Eine kritische Diskussion nahm
die Schule aufs Kom, der sie vorwarf, tatsächlich eine Mittelklassen-
Institution (Lütkens 1959) zu sein, die gesellschaftliche Machtverhält-
nisse stabilisiere. Neben moderaten Stimmen, die neue curriculare In-
halte und einen liberalen Unterrichtsstil forderten, waren auch radikale
zu hören, die eine .Entschulung der Gesellschaft" (lll ich 1972) propa-
gierten oder mit dem revolutionärem Schlachtruf ..Scham die Schule
ab!" (Reimer 1972) gleich die "B efreiung aus der Lernmaschine" for-
derten. Die zweite Diskussion forcierte eine kompensatorische Erzie-
hung, die über außerschulische Arbeit mit Eltern und Kindern der Un-
terschicht Chancengleichheit zu verbessern suchten.
82 2 Sozialisation

Theoriegeschichtlich müssen vor dieser hoffuungsvo Jl-kritischen


Sozialisationsforschung noch zwei klassische Positionen betrachtet
werden, denn die eine, die von TALCOTT PARSONS. m achte die kritische
Sozialisationsforschung ganz wesentlich für die Chancenungleichheit
in der Gesellschaft verantwortlich, und mit der anderen, der von GE-
ORGE HERBERTMEAD, verband sie viele Hoffnungen.
Da die Arbeiten von Mead chronologisch vor denen von Parsons
liegen - auch wenn sie erst nach dem Siegeszug von dessen Theorie zur
Kenntnis genommen wurd en! - , werde ich also zunächst die Theorie
von Mead behandeln. Gedacht aus dem gerade skizzierten Zusammen-
hang der schichtspezifischen Sozialisation werden Sie also erst den
Rahmen geboten bekommen, aus dem heraus sich ..Fortschri tt" denken
ließ, und dann den Rahmen, der angeblich diesem entgegenstand.
Um den Bogen zu der Diskussion vorher zu schlagen, will ich noch
anmerken, dass sich die Theorie von Mead interessanterweise nach
Name und Inhalt auf die eben behandelte Lerntheorie von Watson be-
zieht, sich aber in einem entscheidenden Punkt von ihr entfernt.

2.5 Mead: Integration in einen organisierten Ver ha ltensp rozess


GEORGE HERBERT MEAD selbst hat den Begri ff Sozia lisation nicht ver-
wandt, aber er hat einige wichtige Erklärunge n geliefert, wie dieser
Prozess, den man nach seiner Theorie als Integration in einen "o rgani-
sierten gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozess" (Mead
1934, S. 300f.) ansehen kann, abläuft. Diesen Prozess muss man sich
als Kommunikation zwischen konkret en Individuen und zwischen dem
Individuum und dem "generalisierten Anderen" vorste llen. Einige Ele-
mente dieser Erklärung habe ich schon genarmt. t In diesem Kapitel will
ich genauer auf die Entwicklung des Individuums eingehen.
Mead hat seine Theorie als Sozialbehaviorismus bezeic hnet. (Mead
1934, S. 44) Damit wollte er Gemein samkeiten, aber auch Unterschi ede
zu der Theorie von Watson, mit dem Mead befreundet war, herausstel-
len. Wie Watson betrachtet er den Menschen zunächst einmal als ein
biologisches Wesen, das auf seine Umwelt reagiert. Diese Umwelt
sieht Mead vor allem in den wechselseitigen Reaktionen der Individuen

Vgl. Band I, Kap. 3.8 "Ordnung als Diskurs" , Kap. 4.4 " Institution als organisier-
te Form des Handeins" und in diesem Band S. 27.
2 Sozialisatio n 83

gegeben, und deshalb legt er auch so viel Wert auf die Beobachtung des
Verhaltens. Der Unterschied zum Behaviorismus Watsons besteht nun
darin: Für Watson war Verhalten konsequente Reaktion auf äußere
Reize und insofern ja auch regulierbar, wenn man eben die äußeren
Bedingungen veränderte. Was in der .jilack box" - von anderen Seele
oder Verstand genannt - passierte, interessierte ihn nicht, Spekulatio-
nen darüber waren für ihn keine Wissenschaft. Mead hielt aber gerade
die geistigen Aktivitäten, das Denken, als Erklärung für Verhalten für
wichtig. Während im strengen Behaviorismus ein passives Individuum
unter dem Diktat seiner Umwelt steht, rückte Mead das aktiv handelnde
und vernunftbegabte Subjekt in den Vordergrund.
Mead erklärt die tätige Auseinandersetzung des Menschen mit sei-
ner Welt mit einer spezifisch menschlichen Fähigkeit, die er Geist
nennt. Sie besteht darin, signifikante Symbole zu schaffen und zu ver-
wenden. Diese Fähigkeit, die das Verhalten steuert, ist in einer spezi-
fisch menschlichen Beziehungsform. die Mead Kommun ikation I nennt,
entstanden. In der Kommunikation nehmen sich die Individuen konkret
wahr, geben einander zu verstehen, welche Bedeutung sie ihrem Han-
deln beimessen und interpretieren so wechselseitig ihr Verhalten. In-
dem sie sich wechselseitigz in ihrem Handeln und in ihren Reaktionen
beobachten, beobachten sie sich auch selbst.
Mit dem Begriff Sozialbehaviorismus wollte sich Mead aber noch
von der zweiten großen psychologischen Theorie seiner Zeit abgrenzen,
von der "mehr oder weniger phantastischen Psychologie der Schule
Freuds" (Mead 1934, S. 255). Sein Vorbehalt gegen eine " Philosophie
der Bewusstseinsebenen" (S. 43 Anm. 3) hängt sicher auch damit zu-
sammen, dem Individuum ein Stück Freiheit zu erhalten: Mead sah das
Individuum eben nicht determiniert durch unbewusste seelische Vor-
gänge, die in der frühesten Kindheit abliefen und dann nur noch Varia-
tionen eines festliegenden Grundthemas zuließen. Die Freiheit des
Menschen besteht in einer spezifischen Fähigkeit zu handeln: Er kann
sich nämlich in die Rolle des Anderen hineinversetzen, sich und die
Situation des Handeins aus dessen Perspektive betrachten und dadurch

I Vgl. S. 82 Anm. I und weiter oben S. 32 .


2 Deshalb verwende ich auch gleich den Begriff .jnteraktlon'', der bei Mead m. W.
nur einma l auftaucht (vgl. unten S. 196), in dem Sinn wechselseitiger Reaktionen
und fortlaufender sozialer Beziehungen zwischen Individuen. Zur Beschreibung
des Proze sses der Sozialisation ist der Begriff je denfalls sehr hilfreich.
84 2 Sozialisation

selbst entscheiden, wie es weitergehen soll. Diese Fähigkeit der Rol-


lenübem alune (»taking the role of the other«) (Mcad 1934, S. 113)
entwickelt das Kind in zwei Phasen.
Die erste Phase ist das Rollenspiel, das Mead als play bezeichnet. Im
play schlüpft das Kind in die Rolle wichtiger Bezugspersonen, so ge-
nannter signifikanter Anderer. Es denkt und handelt von ihrem Stand-
punkt aus. Deshalb tut es auch nicht so, als ob es der andere wäre, son-
de m - so heiß t es bei Mead - es ist der andere in diesem Augenblick.
Es ist die schimp fende Mutter, und es ist das Krokodil, das dem Kasper
ans Zeug will. Es nimmt in seinem Handeln immer jeweils eine be-
stimmte Perspektive ein. Und wenn der Knab e mit Begeisterung und
Hingabe ganz allein für sich den Ball vors Garagentor wummert, dann
ist er der große OUi oder der kleine Icke.!
Nach und nach gerät das Kind aber in Spielsituationen, an denen
mehrere Handelnde gleichzeitig beteiligt sind und in denen bestimmte
Regeln, wie "man " handeln soll, existieren. So tritt es zunächst ganz
unbefangen gegen seinen Ball, bis es feststellt, dass andere ju st an die-
sem Ball auch Interesse haben. Gehen wir davon aus, dass beide lemfä-
hig sind und dass ihr Tun ansteckend ist, schon entwickelt sich ein
Spiel, in dem die einen dies und die anderen das wollen. Einige bringen
schon Erfahrungen mit und nennen das ganze dann Fußba llspiel. Es
werden Tore markiert und definiert, wer Freund und wer Gegner ist.
Damit ist auch klar, in welche Richtung und zu welchem Zweck der
Ball bewegt werden soll. Und schon ist es vorbei mit dem egoistischen
Vergnügen. Einer wird verdonnert, sich hinten hin zu stellen und jeden
Ball, der von den anderen kommt, nur ja festzuhalten . Einem zwe iten
wird klargemacht, dass er sich am besten hinten aufhält und die ande-
ren auf keinen Fall vorbeilassen darf. Alle anderen erklären sich zu
Stürme rn und rennen los. Doch wehe, wenn einer was falsch macht, z.
8. den Ball unter den Ann nimmt, oder wenn etwas nicht gelingt, dann
heißt es " Das darf man nicht!", " Du sollst doch .. !" oder "W arum hast
du nicht .. ?", und manche Kinder geben es dann auf. (Sie ahnen schon,
wie kompliziert es ist, was uns am Wochenende von professionellen
Spielern geboten wird!) Wenn das Kind aber weiter mitspielen will,

Ich weiß, dass die heute ganz anders heißen, aber da ich ihre Namen manchmal
schon gar nicht mehr richtig verstehe, sehen Sie mir bitte meinen Kenntnisstand
vergangener Zeiten nach!
2 Sozialisation 85

dann muss es sich an bestimmte Regeln halten. Ein solches geregeltes


Spiel nennt Mead game.
Im game muss jeder die Rolle, die ihm zugedacht ist oder die er be-
ansprucht, "ri chtig" spielen, und er muss gleichzeitig wissen, warum
und wie er auf das Handeln aller anderen reagieren muss. Er muss so-
zusagen den Geist des Spiels erfassen und die Rollen aller Beteiligten
mehr oder weniger in seinem Kopf präsent haben.
Während das Kind mit seiner Puppe oder allein mit seinem Ball vor
der Garage nur eine einzige Perspektive eines anderen einnahm, muss
sich das Kind nun in die Perspektive vieler anderer zugleich hineinver-
setzen. In diesem game, in dem die Handlungen aller Beteiligten sich
gegenseitig beeinflussen, reicht es nicht aus, wenn man sich nur auf
seine eigene Aufgabe oder die nur eines Mitspielers konzentriert, son-
dern man muss im Prinzip die tatsächlichen und möglichen Handlungen
und Perspektiven aller Beteiligten vor Augen haben.
Die Summe aller Perspektiven in einem bestimmten Handlungszu-
sammenhang nennt Mead den generalisierten Anderen.

Gec rg e Herbert Mead: The generalized ot her


"The fundamental difference between the game and play is that in the
game (Korrektur H. A.) the child must have the attitude of a11 the others
involved in that game. The attitudes ofthe other players whieh the par-
ticipant assurnes organize into a sort of unit, and it is that organization
which controls the response of the individual. The Illustration used was
of a person playing baseball. Each one of his own acts is detennined by
his assumption of the action of the others who are playing the game.
What be does is controlled by his being everyone else on that team, at
least in so far as those attitudes effect his own particular response. We
get then an »other« which is an organization of the attitudes of those
involved in the same process.
The organized community or soeial group which glves to the indi-
vidual his unity of self may be called »the generalized other«. The atti-
tude of the generalizcd other is the attitude of the whole community.
Thu s, for example, in the ease of such a social group as a ball team, the
team is the gencralizcd other in so far as it enters - as an organized
process or social activity - into the experience of any one of the indi-
vidual members of' it." (Mead 1934: Mind, self, end society, p. 153f.;
deutsch a.a.O., S. 196f.)
86 2 Sozialisation

Den Un terschied zw ischen dem signi fika nten And eren und dem gene-
ralisierten And eren kann man an einem Beisp iel ve rdeutlichen: Die
Mutter 8., die das Mädchen C. täglich erlebt, ist d ie sign ifika nte An de-
ce, die das Mädchen im play nachahmt. Wenn das Mädchen C. sich
sei ne Gedanken über die .neuen Mütter" macht, die sich von ihren
Kindern emanzipieren, dann orientiert es sich an der generalisierten
An deren. Der generalisierte And ere ist das Bild, das " man" in einer
Gesellschaft vo n einer bestimmten Roll e oder einem bestimmten sozia-
len Zusammenhang hat. Der generalisie rte An dere ist also d ie Summe
der generellen Haltungen, die man in einer konkreten Situation von
all en Handelnd en erwartet. Er ist das Prinzip oder, we nn man so wi ll:
der Sinn der Inter-Akti on.t
Im pla y geht das Kind in der Roll e eines signifikanten Anderen ganz
auf, im game muss es sich genau davon entfernen und das generelle
Prinzip des Hand eins aller Beteiligten erfassen. Letztli ch wächst das
Ki nd in immer größe re symbo lische We lten hinein und lernt ihre Re-
geln zu begrei fen. Es spielt nicht mehr nur seine Rolle und versteht
nicht nur die RoUe seiner unmittelbaren Partn er in der konkreten Inter-
aktion, sonde rn es erfahrt, dass es in der Fam ilie, in einer Org anisation,
in der Ge sellschaft allgemeine Vo rstellungen gib t, w ie zu handeln ist.
Insofern kann man den generalisierten An deren auch als die Summe
der Erw artunge n aller, und letztl ich als die No nnen und Werte der Ge-
sellschaft, die in einer bestimmten Sit uation relevant sind, bezeichnen.
Sozi alisation ist nach der Theorie Meads fortlau fende Interaktion zwi-
schen konkre ten Indi viduen mit bestimmten Erwartungen und ganz
allgeme in Kommunikation zwisc hen dem Indi viduum und dem genera-
lisierten Anderen.
In den Interakti onen spie lt natürlich auc h das Bild, das jeman d von
sich selbs t a ls Partn er der anderen hat, eine wichtige Roll e. Auc h das ist
ein Produkt der Kom munikation, denn imm er wird sich das Indi viduum
frage n: Wie sehen mic h die anderen? Welches Bil d habe ich mir von
mir selbst auf der Basis dieser verm uteten Einschätzung gemac ht? Nun
kann man unterstellen, dass das kein einhe itlic hes Bil d sein wird, son-
dern je nach Situat ion wechselt. In der Ro lle des ve rliebten Fre undes
wird mich mein e Angebetete - hoffentl ich - an ders sehen und ich mich

Das werde ich noch einmal in Kap. 5.3 .jnteraktion - Verschrä nkung der Perspek-
tiven", S. 200, ansprechen.
2 Sozialisation 87

selbst sicher auch, als wenn ich als Automechaniker gefordert bin. Die-
ses Ich, das die Erwartungen und Einschät zungen der anderen spi egelt,
nennt Mead das »me«. Ich m öchte es als "reflektiertes Ich" bezeichnen.
Darauf werde ich noch einmal zurückkommen. t Hier nur soviel. Das
reflektie rte Ich enthält die Summ e der Reaktionen konkreter anderer
und natürlich auch die generellen Reaktionen, die es "s eitens aller Mit-
glieder der Gemeinschaft auf eine bestimmte Sit uation" (Mead 1934, S.
308) gibt. Mead hat diese gemeinsamen, überindividuellen Reaktionen
organisierte Haltungen oder Institutionen genannt.2 Es sind die gene-
rellen Haltungen des generali sierten Anderen. Auch sie werden im Pro-
zess der Sozial isation erworben und in wech selseitigem, fortlaufendem
Handeln bestätigt. Sozi alisat ion besteht in der spezifisch menschlichen
Kommun ikation zwischen dem Individuum und konkreten Anderen und
dem generalisierten Anderen . Der generalisierte Andere definiert den
Rahmen, in dem diese Kommunikation sinnvoll möglich wird.
Damit ist eine weitere Erklärun g, wie Sozialisation nach der Theorie
von Mead abläuft, angesprochen. Ich beginne mit der Frage, was ei-
gentlich Interaktion en zwischen ego und alter, wie wir die beiden Part-
ner einmal nennen wo llen, auslöst und warum die Interaktionen über-
haupt weitergehen. Mead beantwort et die Frage mit einer Theorie der
Kommunikations, nach der die Individuen wechs elseitig und in gleicher
Weise auf "Zeichen" , "Gesten" und "S ymbole" reagieren. Ich will die-
se Erklärung kurz in Erinnerung rufen .
Zeichen ist alles, was unsere Sinne reizt, vom Donner, bei dem wir
unwillkürlich zusamme nzucken, bis zur prächti gen Sahnetorte, die uns
das Wasser im Munde zusammen laufen lässt. Unter Gesten versteht
Mead ein bestimmtes Verhalten. Sie drücken den Sinn (emeaning«)
einer Interaktion aus und bergen insofern auch die weiteren Reaktionen
in sich. Gesten setzen "passende Reaktionen" in Gang. (Mead 1934, S.
52 Anm. 9) Das trifft auf den Hund Benno, der durch Gesten wie z. B.
Schwanzwedeln zum Ausdruck bringt, wie Fiffi von Hohenstein bitte
reagieren möge, ebenso zu wie auf Menschen, die sich auf leisen Soh-
len und in Demutshaltung einander nähern. Tiere reagieren automati sch
auf eine Geste, doch der Mensch denkt nach, was sie in einem konkre-
ten Kontex t bedeuten könnte. Wenn j emand vor unseren Augen einen

1 Vgl. unten Kap. 8.2 .Jdennu t • sich mit den Augen des andere n sehen", S. 338.
2 Vgl. Band I, Kap. 4.4 "Institution als organisierte Form des Handelns", S. 152["
3 Vgl. oben S. 82 Anm. I und unten S. 196ff..
88 2 Sozialisation

Stock schwingt, kann das in der einen Situati on bed euten, dass jema nd
uns droht, und in der anderen, dass sich jemand als lustiger Laiendiri-
gent aufführt .
Symbole sind Zeichen oder Begriffe, die Erfahrungen bündeln, die
über die konkrete Situation hinaus auf einen weiteren Sinnhorizont
verweisen. Wenn uns jemand ein Kreuz vorhält, dann nehmen wir nicht
nur zwei Stäbe wahr, die quer zueinander befestigt sind, son dern die
einen assoziieren eine Erlösungsgeschichte und andere vielleicht eine
Unterdrückungsgeschichte. Symbole bringen einen Sinn einer Situation
oder eines sozial en Phänomens zum Ausdruck.
Symbole, die ego und alter gleich interpretieren und zu denen sie
sich in gleicher Weise verhalten, nennt Me ad signifikante Symbole.
(vgl. Mead 1934, S. 188f.) Wenn wir nun handeln, dann orientieren wir
uns an diesen Symbolen und stellen uns vor, welcher Sinn aktuell in
Rede steht. Das alles erfo lgt natürlich in den seltensten Fällen bewuss t,
da wir die mei sten Situationen schon kennen und uns an das halten, was
sich bislan g als richtig, d. h. erfolgreich erwiesen hat. Wenn die Ampel
Rot zeigt, bleiben wir stehen, in Cottbus und in Wanne-Eiekel und
manchmal sog ar nachts, wenn die Straßen leer sind. Verbind et man nun
die Vorstellung, dass ego und alter in einer konkreten Interaktion wech-
selseitig die Rolle des Anderen übernehmen, mit der begründeten An-
nahm e, dass sie Zeichen, Gesten und Symbole in dergleichen Weise
interpretieren und sich damit auf das beziehen, was als organisiertes
Verhalten typisc h für eine soziale Gruppe oder Gemeinschaft ist, dann
wird klar, warum die Übernahme der Rolle des anderen immer auch
eine Form der sozialen Integration ist! Indem ego und alter nämlich
ihre möglichen Reaktionen ins Kalkül ziehen, unterziehen sie ihr Ver-
halten einer sozialen Kontrolle. Sie revidi eren vielleic ht ihre Hand-
lungsabsichten oder bestärken sie und lösen ein bestimmtes Handeln in
sich aus, das dann wieder das Handeln des anderen beeinflusst. Auf
diese Weise verschränken sich in der wechselseitigen RolIenüb emahme
auch die Perspektiven wechselseitig . Der Mechani smus der Übernahme
der Rolle des And eren dient dazu, "den Einzelnen und seine Handlun-
gen im Hinblick auf den organisierten gese llschaftlichen Erfahrungs-
und Verhaltensprozess zu integrieren." (S. 30 1)
Damit ist nun auch das Ziel des Sozialisat ionsprozesses benannt In-
tegration in einen organisierten Verhaltensprozess. Das darf aber nicht
als Zurichtung des Individuu ms durch die geregelte Gesellschaft, die
2 Soz ialisation 89

Nonnen und Institutionen, verstanden werden, sonde rn es geht um die


fortlaufende Kommunikation , in der die Handelnden sich gegenseitig
den Sinn ihres Handeins und bestehender Regelungen anzeigen. Wie
ich im Kapitel über " Ordnung als Diskurs" gezeigt habe, unterstellt
Mead bei diesen Kommunik ationen das Prinzip einer idea len Gesell-
schaft . Sicher. Abe r sie mu ss wenigstens gedacht werden können!
Sonst wären Fragen nach der Legitimität der sozialen Ordnung kaum
möglich, und Sozialisation wäre nichts anderes als Ausfilhrung festlie-
gender Rollen. Das ist das Problem - vielleicht auch die Sicherheit! -
in der Theorie von TALCOTI PARSONS.

2.6 Parson s: He rs tell ung funktiona l notwendi ger Motivalio n


Als der Begriff Sozialisation zum ersten Mal in einer soziologisc hen
Zeitschrift auftauchte, geschah das in einem interessanten Zusammen-
hang. Im ersten Heft des American Journal of Socio logy veröffentlichte
im Jahre 1896 einer der Gründungsvä ter der amerikani schen Soziolo -
gie, EDWARD A. Ro ss, einen Beitrag unter dem Titel .Socie l contrc l".
In dies em Aufsatz werden zwei Mechanismen genannt, durch die die
Gesellschaft ihre schwierige Aufgabe bewältigt, "die Gefühle und
Wünsche der Indi vidu en so zu formen, dass sie den Bedürfnissen der
Gruppe entsprechen" : soziale Kontro lle und Sozialisation. (Geu len
1991, S. 22)
Den wichtigsten Beitrag zu einer Sozialisationstheorie, die dieses
gesellschaftliche Erfo rdernis in den Vordergrund stellt, hat zweifellos
TALCOTT PARSONS geliefert. Er integrierte die Theorien von Durkh eim
und Freud, die kulturanthropologische Forschung, die Lerntheorie und
den Sozialbehavi orismus von Mead. Diese breite Integration gibt seiner
Soz ialisationstheorie ein besonderes Gewic ht bis heute. Damit hängt
aber auch die Kritik zusamme n, Parsons lese diese Theorien nur aus der
Sicht der Gese llschaft bzw . genauer: aus der Sicht des Erhalts einer
sozialen Ordnung.
Erinnern wir uns, dass nach der sozio logischen Theorie von Parsons
Werte und Nonnen die entsc heidenden Faktor en sind, die soziale Ord -
nung garantieren. Damit stellt sich die Frage, wie die objektiven, insti-
tutionellen Bedingungen der Gesellschaft mit der subj ektiven Motivati-
on der Hand elnden verknüpft we rden können , oder genaue r, wie das
90 2 Sozialisation

instit utionalisierte Wertsystem Teil der Persönlichkeitsstruktur wird.


(Dahrendorf 1955, S. 232)
Die zwei Sichten, die man auf diese Frage nehm en kann, will ich mit
den Worten des volkstümlichen Aufklärers und Dichters Matthias
Claudius und des kritischen Psychoanalytikers und Mitgliedes der
Frankfurter Schule ERICH FROMM ( 1900 - 1980), der sich auf ihn bezog,
besc hreiben:
• Matthias Claudius ermah nte seinen Sohn: "Und der ist nicht frei,
der da will tun könne n, was er will, sondern der ist frei, der da
wollen kann, was er tun soll." (Cla udius 1799, S. 546)1 Die
Freiheit bewährt sich am vorn Philosophen Immanuel Kant so
genannten sittlichen Gebot.
• Erich Fromm hat diese Verbindung von Gese llschaft und Indi-
vidu um als Repression und als Ursac he von Neurosen verstan -
den: " In order that any soc iety may function we il, its memb ers
must acquire the kind of character whic h makes thcm want to act
in the way they have to act. (..) They have to desire what objec-
tive ly is necessary for them to do. Guter force is to be replaced
by inner compulsion." (Fro mm 1944, S. 38 1)
Parsons lässt diese Frage außen vor und sagt, was - aus Sic ht der Ge-
sellscha ft - im Prozess der Sozialisation passieren muss:

Ta lcott Parsons: Entwicklung einer adäquaten Motivation zur


Partizipa tion an sozial bewerteten Forme n des Han dein s
"Das wichtigste funktionale Problem hinsichtlich des Verhältnisses des
sozialen Systems zum Persönlichkeitssystem involviert lebenslanges
Lernen, Entwickel n und Aufrechterhalten einer adäquaten Motivation
zur Partizipation an sozial bewerteten und kontrollierten Formen des
Handeins. Umgekehrt muss eine Gesellschaft auch ihre Mitglieder
durch solche Formen des Handeins adäquat befriedigen oder belohnen.
wenn sie langfristig auf deren Leistungen angewiesen ist, um als Sys-
tem zu funktionieren . Diese Beziehung konstituiert »Sozialisation« •
den gesamten Komplex von Prozessen, durch welche Personen zu Mit-
gliedern der gesellschaftlichen Gemeinschaft werden und diesen Status
beibehalten." (Parsons 1966: Gesellschaften. Evolutionäre und kompa-
rative Perspektiven. S. 24)

Den Gedankenhat Hege! später fortgeführt. Danach entsteht Freiheit aus der Ein-
sicht in die No twendigke it.
2 Sozialisation 91

Im Prozess der Sozialisation werden dem Individuum die herrschenden


Werte und Nonn en der Gesellschaft nahegebracht. Was alle immer so
tun, gilt auch ihm als selbstverständlich. Es kommt noch ein zweites
hinzu: Jedes Individuum hat ein Interesse an Gratifikation und an Ver-
meidung von Frustration. Die Zustimmung zu dem, was allen als nor-
mal gilt, verspricht die größere Gratifikation, zumindest wird man nicht
bestraft. Auch aus diesem Grunde stimmt das Individuum den gesell-
schaftlichen Werten und Nonnen zu. So werden im Sozialisationspro-
zess äußere Werte und Nonnen auch nach innen genommen und Teil
der Persönlichkeitsstruktur. Diesen Prozess nennt Parsons lnternalisie-
rung .
Über den Weg dieser Internalisierung wird das institutionalisierte
Wertsystem Teil der Persönlichkeit und schafft eine Motivationsstruk-
tur, die den gesellschaftlichen Erwartungen und Möglichkeiten ent-
spricht. Das wiederum erklärt, warum sich die Handelnden im großen
Ganzen im Einklang mit ihren Bedürfnissen und den Erwartungen ihrer
Mitmenschen wähnen. Doch diese passive Einstellung des Individuums
reicht nicht, sondern es bedarf des willentlichen Engagements des Indi-
viduums: Es muss den Werten und Nonnen auch zustimmen wollen .
Dieses - aus Sicht der Gesellschaft - grundlegende Problem themati-
siert Parsons in einer Theorie der Motivationspr ozesse, die im Zentrum
seiner Sozialisationstheorie steht. In ihr wird der Anspruch der Gesell-
schaft auf willentliche Zustimmung des Individuums so deutlich formu-
liert, dass man die Theorie auch als voluntaristische Theorie bezeichnet
hat.I Die Erklärung für die adäquate Motivation liegt in der eben ge-
nannten Gewohnheit, so zu handeln, wie immer gehandelt wurde, in
dem Interesse an Gratifikation und schließlich in der Internalisierung
vernünftiger Regelungen. Die willentliche Zustimmung ist deshalb

voluntas - lat. Wille. Bei meiner Interpretation des " voluntaristischen" Aspektes
der Handlungstheorie stütze ich mich auf Parsons (1945, S. 55 und 56f.). Miebach
sieht es ähnlich: ,.Die Werte und Nonnen verwirklichen sich im Handeln nicht von
selbst, sondern müssen durch die Anstrengung des Individuums im Handeln zur
Geltung gebracht werden (Parsons 1935, S. 287). Der Begriff »Voluntarismus«
betont genau diese Willensanstrengung der Handelnden zur Verwirklichung von
Normen und Werten." (Miebach 2006, S. 70) Münch, einer der profundesten Par-
sons-Kermer, versteht den Voluntarismus allgemeiner, indem er das Handeln als
willentliche Entscheidung für bestimmte Mittel unter gegebenen normativen Be-
dingungen beschreibt. (Vgl. Münch 1982, S. 239 und S. 38; vgl. auch Band I,
Kap. 3.9 .Parsons: Nonna tive Integration", S. 126.)
92 2 Sozialisation

nach der struktur-funktionalen Theorie überhaupt kein Problem, denn


sie erfolgt im Grunde freiwillig, d. h. aus Einsicht in die Nützlichkeit
eines HandeIns, das dem Hergebrachten entspricht.
Das Ergebnis der Prozesse der Internalisierung und der Motivation
ist eine stabile Wertverpflichtung. Parsons bezeichnet sie als .commit-
meßt". Die Individuen wollen, was sie sollen!
Parsons verband das Ziel der Sozialisation mit seiner Theorie der
Motivatio n, und da nach muss das Individuum D ispositionen erwer ben.
die notwendig sind. um die Rollen zu spielen, die in der Gesellschaft
geboten sind. Rollen! werden definiert über einen Konsens von Werten
und gesichert durch Nonn en. Da sie funktional notwendig sind, muss
je des Individuum dazu gebracht werden, sei ne Ro llen zu spielen. Die
Aufgabe , Ro llen zu lernen, stellt sich nach dieser Sozia lisationstheorie
immer, das heißt lebenslang, und fUr alle.
Zum Problem wird der funktionale Prozess der Sozi alisation , wenn
neue Mit glieder der Gesell sch aft auf den Plan treten . Das ist in jedem
Auge nblick der Fall, wenn ein Mensch gebore n wird . Parson s wählt ein
beze ichnendes Bild für das, womit d ie Gesellschaft perm anent rechnen
muss und was sie um ihres Erhaltes willen deshalb permanent sic her-
ste llen m uss: .Whar has sometimes been called the »barbari an invasi-
on-a of the stream of new-bom infants is, of co urse, a criticaI feature of
the situation of any society. Alo ng with the lack of biological maturit y,
the conspicious fact abo ut the child is that he has to team the patterns
of behav ior expected of persons in his statutes in his society." (Parscns
1951 , S, 208 )
Sozia lisation heißt für Parson s die kulturellen Werte zu interna li-
siere n und die Rollen zu erlernen, die in einer bestimmten Gesell-
schaft ge lten. Aus dieser Sicht stellt sich der Prozess der Soziali-
sation als Enkulturation dar.

Auf Parsons' Rollentheorie gehe ich gleich in Kap. 3.1 ,,Rolle normative Erwar-
4

tung" ausführlich ein.


2 Nachdem ich dieses Bild lange Zeit aufgeregt zitiert habe, neige ich nun zu einer
kühleren Lesart: Das Bild von der Abwehr der Barbaren meint im Grunde nichts
anderes, als was Durkheim seinerzeit mit der methodischen Sozialisation des ho-
mo duplex gemeint hat! Und die noch pessimistischeren Ausführungen Freuds zur
Einschrä nkung des Aggressionstriebes durch Kultur, die Parsons natürlich auch
vor Augen hatte, unterstreichen. wie ernst ihm das Problem war.
2 Sozialisation 93

Der primäre Ort der Sozialisation ist die Kemfamilie. In der Interaktion
zwischen allen Beteiligten lernt das Kind, dass Interaktionen in Erwar-
tungen bestehen, die erfüllt werden müssen. Die Bedeutung komple-
mentärer Erwartungen wird ihm durch positive und negative Sanktio-
nen auf sein Verhalten nahegebracht. Da die Eltern von außen soziale
Erwartungen in die Familie mit hinein bringen und bestimmte Rollen
spielen, durchdringen sich im familialen Sozialisationsprozess Persön-
lichkeitsentwicklung des Kindes und Sozialstruktur. Anders als Freud,
dessen Theorie der Entwicklung des Über-Ich er im übrigen über-
nimmt, lenkt Parsons den Blick auf die Integration des Kindes in das
Gesellschaftssystem, von dem die Familie ein Teil ist. Er unterscheidet
fünf Phasen der Sozialisation:
1. In der ersten Phase ist das Kind völlig abhängig von der Mutter,
mit der es eine solidarische " Dyade" bildet. Diese Paarbeziehung
ist durch enge und dauerhafte Wechselwirkung gekennzeichnet.
Natürlich befindet sich die Mutter " in der Überwältigend domi-
nierenden Machtposition", indem sie z. B. die Stillzeiten be-
stimmt, aber schon auf dieser Stufe handelt der Säugling aktiv,
indem er z. B. durch Schreien die Mutter veranlasst, sich ihm
zuzuwenden. (Parsons 1958b, S. 107)
2. In der zweiten Phase wird vom Kleinkind schon erwartet, dass es
bewusst bestimmte Leistungen erbringt, die in dieser Gesell-
schaft von allen Kindern dieses Alters verlangt werden. Ich nen-
ne nur das leidige Thema " Schon trocken"!" . In dieser Phase
lernt das Kind auch zu sprechen und übernimmt damit auch die
sozialen Bezeichnungen der Dinge. Gleichzeitig nimmt es über
diese neue Form der Kommunikation Kontakt zu den anderen
Mitgliedern der Familie auf.
3. In der dritten Phase, die der ödipalen bei Freud entspricht, lernt
das Kind, dass es jünger ist als seine Eltern und dass es Unter-
schiede zwischen Vater und Mutter gibt. Es lernt die entschei-
denden sozialen Differenzierungen nach Alter und Geschlecht
und damit auch die Rollen, die damit verbunden sind. Bezogen
auf das Merkmal Alter lernt es den Zusammenhang von Hierar-
chie und Macht. Mit der Erfahrung des eigenen Geschlechts wird
zugleich der gesellschaftliche Anspruch virulent, erotisch-
emotionale Beziehungen zu Vater und Mutter zu neutralisieren.
Das ist auch die Funktion des lnzesttabus, mit dem sich Parsons
94 2 Sozialisation

in einem großen Aufsatz auseinandergesetzt hat. (Parsons 1954)


Sie besteht einma l darin, den Heranwachsenden aus der Familie
hinauszutreiben, damit er neue, generelle gesellschaftliche Er-
fahrungen macht, zum anderen aber auch darin, ihn zu emotional
distanzierten Rollenbeziehungen zu bewegen. Bezogen auf das
Merkmal Geschlecht behält das Mädchen seine Identifizierung
mit der Mutter bei und lernt, sich mit ihrer Rolle zu identifizie-
ren, während sich der Junge wegen seiner emotionalen Bindung
an die Mutter plötzlich in Konkurrenz zum Vater sieht. Diesen,
ganz im Sinne der Psychoanalyse zu verstehenden Konflikt löst
der Junge, indem er sich mit dem Vater identifiziert und dessen
Rolle verinnerlicht. Was die Rolle des Vaters angeht, versteht
Parsons sie als eine instrumentelle Rolle, d. h. in ihr werden die
sachlichen Erwartungen der Gesellschaft repräsentiert, die man
erfüllen muss, um dort erfolgreich zu sein. Die Rolle der Mutter
bezeichnet Parsons dagegen als expressiv, d. h. in ihr kommen
Orientierungen zum Ausdruck, die für die harmonische und soli-
darische Beziehung innerhalb der Gruppe wichtig sind.
4. In der vierten Phase komm t das Kind in Kontakt zu sog. peer
groups. Das ist die Spielgruppe mit Gleichaltrigen, dann der
Kindergarten. Dort merkt das Kind, dass die affekti ven Bezie-
hungen in der Familie nicht gelten, sondern dass neutrale, sach-
liche Beziehungen gefragt sind. Es kann auch nicht mehr in einer
Gesamtrolle Kind auftreten, sondern muss j e nach Situation eine
spezielle Rolle spielen. Während es in der Familie, egal was es
getan hat oder nicht geschafft hat, immer das liebe Kind ist, zählt
beim ersten Streit um das Klettergerüst im Kindergarten nur, was
es hier und jetzt tut. Während sein Status in der Familie zuge-
schriebe n ist (einmal goldig, immer goldig), hängt der Status in
der Gruppe der Gleichaltrigen von seiner Leistung ab.
5. In der flinften Phase, die die Schulzeit und den Beruf umfasst,
lernt der Heranwachsende, sich an den generellen Erwartungen,
die an jeden ohne Ansehen der Person gerichtet sind, zu orientie-
ren. Vor allem aber muss er den Leistungsanforderungen gerecht
werden, die in den einze lnen Teilsystemen der Gesellschaft gel-
ten.
2 Sozialisanon 95

Sozialisation heißt für Parsons also - ich wiederhole - das Erlernen von
sozialen Rollen. Jede Rolle in der Gesellschaft verlangt eine bestimmte
Motivation vom Handelnden. Parsons fragt also nicht, wie sich in ei-
nem Subjekt eine individuelle Motivation ausbilden kann, sondern ge-
nau umgeke hrt, "welche Motive durch gesellschaftliche Institutionen
jeweils als zulässig festgelegt werden", und deshalb steht für ihn das
Thema soziale Kontrolle im Vordergrund. (SprondeI 1977, S. 18)
In diesem Sinne ist auch der berühmte Aufsatz über .Die Schulklas-
se als soziales System" aus dem Jahre 1959 zu lesen, in dem Parsons
der Schule zwei Aufgaben attestiert: die Aufgabe der Sozialisation und
die Aufgabe der Allokation . Danach sollen in der Schule die Persön-
lichkeiten ausgebildet werden, die "der Erfüllung von Erwachsenenrol-
len motivationsmäßig und technisch gewachsen" sind. (Parsons 1959,
S. 349) Die Schule hat gleichzeitig die Funktion der Allokation. Das
bedeutet, dass sie Arbeitskraft herstellt und verteilt. Da es immer weni-
ger attraktive gesellschaftliche Positionen als individuelle Erwartungen
und vor allem Fähigkeiten gibt, setzt dieser Prozess der Allokation im-
mer auch Selekt ion voraus. Selegiert wird, indem Schüler nach dem
Kriterium der Leistung differenziert und in entsprechende Karrieren
eingewiesen werden. Woh lgemerkt: " Entsprechend" heißt, Art und
Wege der Karrieren werde n durch die Gesellschaft und nicht durch das
Individuum definiert!
Ziel der Sozialisation ist die Herstellung von Bedürfnisdispo sitio-
nen, die den vorgegebenen Rollen entsprechen. Das ist die Erklärung
für die Annahme Parsons', dass die Individuen den gesellschaftlichen
Werten und Normen letztlich freiwillig zustimmen. Sozialisation heißt
nämlich, die individuelle Motivation auf die funktionalen Anforderun-
gen der Gesellschaft auszurichten. Damit ist - ähnlich wie bei Durk-
heim - die Dominanz der Gesellschaft gegenüber dem Individuum be-
tont.
Der kritische Einwand, den man gegen diese Sozialisationstheorie
und die damit implizierte Erklärung der Entstehung und des Erhalts
sozialer Ordnung erheben kann, liegt auf der Hand : Nach der Intemali-
sierungstheorie erscheinen die "Akteure schließlich nur noch als Dupli-
kat der Nonnen und Werte der Gesellschaft" . (Hauck 1984, S. 153)
Deshalb hat DENNIS WRONG auch von einem .nbersoaiafisierten Men-
schenbild" (1961) gesprochen, in dem es keine Reste von Widerstand
oder Andersheit mehr gibt - oder geben sollte. Seine Warnung lautet:
96 2 Sozialisation

" Wenn unsere soziologische Theorie die Stabi lität und Integration der
Gesellschaft überbetont, werden wir in der Vorstellung landen, dass der
Mensch das körperlose, vom Gewissen getriebene und statussuchende
Phantom der modem en Theorie sei." (Wrang 1961, S. 238)
Die Krit ik las Parsons' Sozialisation stheorie als Theorie der Anpas-
sung an die gesellschaftlichen Verhältnisse. Da eine kritische Sozialisa-
tionsforschung diese Verhältnisse aber als zutiefst widersprüchlich
verstand, konnte eine kritische Sozialisation nur gedacht werden als
Teil oder gar als Voraussetzung zur Veränderung dieser Verhältnisse.
Zweitens wur de Parsons vorgeworfen, seine Sozial isationstheorie sei
auf die amerikani sche Mittelschichtge sellschaft zugeschnitten. Damit
favorisiere sie, was dort gilt, und bena chteilige die Ange hörigen der
Unterschichten. Von dieser Kritik aus entwickelte sich in den 70er Jah-
ren die Diskussion um Chancengleichheit. Dritt ens sah man in der Ein-
bindung dieser Sozial isation stheorie in eine Th eorie der sozialen Rolle
die Ge fahr, dass Individualität unterd rückt wird.
Der erste Einwand hat der Soz ialisations forschung übe r viele Jahre
zwa r viel Au fmerksamkeit beschert, sie letz tlich aber überfordert . Der
zwe ite Einwand ist nich t ganz richtig, aber auch nic ht ganz falsch.
Richtig ist, dass Parsons bei der Erklärung, wie Gesellschaft funktio-
niert, we lche Rolle die Familie in ihr spielt und was die Funktion von
Soz ialisation ist, natürlich die Gesellschaft seiner Zeit vor Augen hatte.
Falsch ist aber die Annahme, er sähe den Zusammenhang zwischen
Gesellschaftsst ruktur, Famili e, Schule und Sozialisation nur in diese r
ame rika nischen Gesellscha ftsstruktur gew ährle istet. Dieser Zusam-
menhan g gilt immer und überall. Von daher ist dann allerdings der drit-
te Einwand nicht von der Hand zu weisen. Natürlich konn te Parsons
aus seiner strukturfunktionalistischen Theo rie heraus und mit der Ori-
entierun g am Konzept der soz ialen Rolle der Individualität nur einen
nachgeordn eten Stellenwert einräumen. Merkwürdigerwe ise übersah er
dabei aber auch die konstrukti ve Leistun g, die das Individuum im Pro-
zess der Sozialisation selbst nach diese r Th eorie erbrachte.
Es dauerte einige Zeit, ehe diese konstruktive Se ite in der Soz ialisa-
tionsforschun g thematisiert wurd e. Angespro chen hatten sie schon PE·
TER L. BERGER und THOMAS LUCKMANN in ihrem Buch übe r "Die ge-
sellschaftliche Konstruktion der Wirklichk eit" ( 1966). Dort war die
These vertreten worde n, dass sich das Individuum seine Wirk lichkeit
du rchaus auch selbs t zurech tlegt - allerdings auch mit den Mitteln, die
2 Sozialisation 97

ihm die Gesellschaft über Wissen und Sprache an die Hand gibt. Sozia-
lisation ist insofern eine Form der Selbstsozialisation. als das Indivi-
duum durch sein Denken und Handeln seine Wirklichkeit immer wie-
der neu definiert.
Eine Sozialisationstheorie, die diese konstruktive Leistung des Indi-
viduums im Proz ess der Sozialisation ausdrücklich herausstellte, kam
erst in den 80er Jahr en heraus. Ein Vertreter dieser Diskussion ist
KLAUS HURRELMANN, der mit seinem "Handbuch der Sozialisations-
forschung" ( 1980), das er zusammen mit Dieter Ulich herausgegeben
hat, eine Syste matisierung der Diskussion in Deutschland vorgenom-
men hatte.

2.7 Hurrelmann : produktive Verarbeit ung der Realität


Etwa zur gleichen Zeit, als JÜRGEN HABERMAS (1981) 1 seine kritische
Theorie der Gese llschaft und der Interaktion wesentlich über die Theo-
rie der Symbo lischen Interaktion begründete, kam auch aus der glei-
chen Richtu ng Bewegung in die Sozialisationsforschung. Gegenüber
einer normativen Sozialisationsforsch ung. die von der Notwendigkeit
der Anpassung an die gesellschaftlichen Rollen ausgeht. setzte sich
Anfang der 80er Jahre der Gedanke durch, dass das Individuum deu-
tend und handelnd in seine soziale Wirklichkeit eingreift.
Diese Annahme liegt dem ,,Modell der produktiven Realitätsverar-
beitung" ( 1983) des Bielefelder Sozialisationsforschers KLAUS HUR.
RELMANN (*1944) zugrunde. Darin wird dem Individuum eine ent-
scheidende, konstruktive Rolle in seiner Sozialisation beigemessen,
weshalb Hurrelmann Sozialisation auch als "Prozess der sozialen Kon-
stitution der Subjektbildung" versteht. (Hurrelmann 1983, S. 16) Sein
Sozialisationskonzept. in das interaktionistische und phänomenologi-
sche Theorien hineinspielen, geht von einer wechse lseitigen Beziehung
zwischen Subjekt und gesellschaftlicher Realität aus. Danach ist das
Subjekt " in einen sozialen und ökologischen Kontext" gestellt, "der
subjektiv aufgenommen und verarbeitet wird, der in diesem Sinn also
auf das Individuum einwirkt, aber zugleich immer auch durch das Indi-
viduum beeinflusst, verändert und gestaltet wird." (Hurrelmann 1993,
S.64)

1 Vgl. unten Kap. 5.9 ,,Habermas: Kommunikatives Handeln und Diskurs".


98 2 Sozialisation

Wie ich eben schon angedeutet habe, ist diese neuere Sozialisations-
theorie von Berger und Luckmann geprägt, die das Indiv iduum als
Konstrukteur seiner Lebenswelt verstehen. Vor dem Hintergrund dieser
These entwirft Hurrelmann die Skizze seines Modells und zeigt, wo die
Vorteile. aber auch die Grenze n der so begründe ten Soziali sationstheo-
rie liegen:

Klau s Hurrclm ann : Symbolische Interaktion, Sozialisation


und sozia lst rukt ureIle Umwelt
"Mein Blick (..) richtet sich (...) auf die Theorie des Sy mbolischen ln-
teralaionismus. Obwohl nicht als Sozialisations- und Entwicklungsthe-
orie angelegt, sondern als Handlungstheorie, sind hier doch nach mei-
ner Einschätzung viele theoretische Aussagensysteme entfaltet, die in
das Grundgerü st einer umfassenden Sozialisationstheorie des beschrie -
benen Zuschnitts passen.
Der symbolische Interaktionismus t, etwa in der von Berger u.
Luckmann ausgearbeiteten Form, geht vom Modell des kreativen, pro-
duktiv seine Umwelt verarbeitenden und gestaltenden Individuums aus.
Der Mensch wird als ein schöpferischer Konstrukteur seiner sozialen
Lebenswelt verstanden. Die wesentliche Qualität, die ihn von der De-
terminierung der materiellen Welt befreit, ist die symbolische Kommu-
nikation: Der Mensch kann nach dieser Vorstellung seine Umwelt und
seine eigenen Handlungen in ihr mit Bedeutungen versehen, er kann
sich in die Rolle der anderen Kommunikationspartner begeben, die die
sozia le Umwelt konstituieren, er entwickelt auf diesem Wege Selbstbild
und Bewusstsein.
Die Beziehungen zwischen Mensch und Gesellschaft werden dialek-
tisch gesehen. Gesellschaftliche Bedingungen beeinflussen, determinie-
ren aber nicht die menschlichen Bewusstseins- und Handlungsstruktu-
ren. Menschliches Bewusstsein und menschliches Handeln ist kein me-
chanischer Ausdruck der sozialen Strukture n. Vielmehr bilden sich
nach dieser Theorie die sozialen Strukturen aus den wechselseitigen
Beziehungen der Menschen untereinander. Die sozialen Strukturen sind
das Produkt der Interaktion und Interpretation der menschlichen Sub-
jekte, die sozialen Strukturen sind aus diesem Grund auch ständig Ve-
ränderungs- und Umlagerungsprozessen ausgesetzt. Der symbolische
Interaktionismus sieht die soziale Realität im Kern als ein interindivi-

Hurre1mann nennt zwar als Bezug Berger und Luckmann, aber die dann referier-
ten Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus stammen wesentlich von
Herbert Dlumer. (Vgl.unten Kap. 5.5 .Bl urner: Symbolische Interaktion".)
2 Sozialisation 99

duelles Arrangement, das jeweils individuell mit Bedeutung belegt und


unterlegt wird. Ein Arrangement, das sich freilich verselbständigen. den
aktiven Interpretationsprozessen entziehen und den Individuen als
scheinbar dinghaft gestaltete Realität entgegentreten kann.
Dieser Umschlagpunkt von interaktiven in institutionelle soziale
Strukturen ist eine der faszinierendsten Komponenten der symbolisch-
interaktionistischen Theorie. Sie verdient eine stärkere Betonung, als
bei den meisten Vertretem dieses Ansatzes zu beobachten ist. Ohne die
Beachtung der Emergenzprozesse ist die Theorie des Symbolischen In-
teraktionismus zu »idealistisch«. Zwar handelt das menschliche Subjekt
in der sozialen Welt auf der Basis der Interpretationen und Deutungen,
die es dieser Welt gibt. Aber die soziale Realität besteht nicht nur aus
dem, was das Subjekt an Wissen und Interpretation von ihr besitzt, auch
wenn sie den Individuen immer nur in einer subje ktiv interpretierbaren
Weise erscheint und bedeutungsvoll wird. Soziale Strukturen verfesti-
gen und institutionalisieren sich und werden zusätzlich beeinflusst
durch die Modi der Auseinandersetzung mit der materialen Umwelt, sie
gewinnen ihre eigene Seinsqualität und entwickeln ihre eigene Dyna-
mik, mit der sie sich von ihren Schöpfern ablösen und ihnen als vorge-
formte Gegebenhe iten entgegentreten .
Hier liegen offensichtlich Grenzen der Theorie des Symbolischen
Interaktionismus, die nach Ergänzung und Korrektur verlangen . Für in-
dividuelles Handeln und individuelle Entwicklung ist mitentscheidend,
wie die sozial- und gesellschaftsstrukturellen Gegebenheiten beschaffen
sind, denn sie sind konstitutive Bestandteile des Sozialisationsprozes-
ses. Die Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. die durch diese
sozialstrukturelle Umweltkonstellation in ihrer jeweiligen historischen
Ausprägung gegeben sind, muss ich als Sozialisationsforscher situati-
onsspezifisc h in meine Analyse einbeziehen . Das gilt ganz besonders
auch CUr die Strukturen der sozialisatorischen Interaktion innerhalb und
außerhalb von Erziehungsinstitutionen. Über diese sozialisatorische In-
teraktion, die in sich die gesellschaftliche Wert- und Sozialstruktur
transportiert und transformiert, die zugleich aber auch nach eigener Re-
gelmäßigkeit und Dynamik Realität konstituiert, wird die Persönlich-
keit gebildet." (Hurrelmann 1983: Das Modell des produktiv realität-
verarbeitenden Subjekts in der Sozialisationsforschung, S. 16-18)

Das Modell der »prod uktiven Realit ätsverarbeitung« drü ckt nach Hur-
relm ann s eigener Einsc hätzung " den ge meinsamen Nenner der neueren
Sozialisationstheorie n aus, näm lich d ie Vorste llung vom Ind ividuum,
das sich einerseits suchend und sondierend , ande rersei ts konstru ktiv
100 2 Sozialisation

eingreifend und gestaltend mit der Umwelt beschäftigt, Umwe ltgege-


benheiten aufnimmt und mit den vorhandenen Vorstellungen und Kräf-
ten in Eink lang bringt und um eine ständige Abstimmung zwischen den
Umweltanforderungen und den eigenen Bedürfnissen und Interessen
und Fähigkeiten bemüht ist." (Hurrelmann 1993, S. 64)
So optimistisch diese neuere Lesart des Modells klingt: Man darf
nicht vergessen, dass Hurrel mann selbst gegen den Interaktionismus
eingewandt hat, das Gewicht der objektiven Bedi ngungen der Soziali-
sation und des Handeins zu unterschätzen. Eine kritische Sozialisati-
onstheorie wird deshalb immer auch die Ana lyse der objektiven Bedin-
gungen einbeziehen müssen. Das mindeste ist zu fragen, wie in der
Gesellschaft die sozialen Erwartungen zustande kommen, denen das
Individuum nachkommen soll, und welches Gewicht sie gegenüber
jeglichem Ansp ruch auf Individualität haben. Um diese Frage geht es
im folgenden Kapitel über "Rolle" .
3 Rolle
3. 1 Parsons: Ro lle - nonnative Er wart ung
3.2 Merton: Der Rollen-Set
3.3 Dahrendorf: Homo Socio logicus und die ärgerliche Tatsache
der Gesellschaft
3.4 Habermas: Kritik der Rollentheorie

..Die ganze Welt ist Bühne,


und alle Frau' n und Männer bloße Spieler .
Sie treten auf und gehen wieder ab.
Sein Lebe n lang spielt einer manche Rollen ..."
(Shakespeare 1599: Wie es Euch gefällt, Tl 7, 668ff.)

Genau dieses Bild des Auftretens und wieder Abtretens findet sich auch
bei dem amerikanischen Kulturanthropologen RALPH LiNTON, der in
einem Aufsatz über den kulturellen Hintergrund der Persönlichkeit
feststellt, dass "ein System fortbesteht, während die Individuen. die
Plätze in ihm einnehme n, kommen und gehen kö nnen" , (Linto n 1945.
S. 252) Im soz iologischen Sinne sind die Plätze Positi onen. Die " Ge-
sam theit der ku lturellen Muster", die mit einer Position verb unde n sind
und die unab hä ngig von eine m konkreten Einzelnen gelten, ha t L inton
»Rolle « genannt. (ebd .) Vo n dieser Defin ition nimmt die soziologische
Rollentheori e ihren Ausg ang . Danach sind Positionen "e tw as prinzi-
piell unabhängig vom Einze lnen Denkbares" , und der Begriff der soz ia-
len Rolle bezeich net ein Bündel von Erwart ungen. (Dahrendorf 1958,
S.33)
Die Rollentheorie sc hlechthin stammt von TALCOTI PARSONS, der
darin seine Antwort auf Frage, wie Gesellschaft überhaupt möglich istt,
spezifiziert hat. Im Prozess der So zialisation werden die Ind ividuen
dazu gebracht, die vorgegebenen Rollen zu spielen und sich so in die
Gesellschaft zu integrieren , Das Verh ältnis zwischen Indi viduum und
Gesellschaft ist nach diese r Theorie eindeutig geregelt: normativ von
ihrer Seite und "freiwillig" zustimmend von jenem .

1 Seine Antwort habe ich in Band 1, Kap. 3.9 ,,Nonna tive Integration". referiert.
102 3 Rolle

Eine entscheidende Revision dieser klassischen Rollentheorie hat


da nn ein Sch üler von Parsons, ROBERT K. MERTON, vorgenommen.
Nac h seiner Theorie ist die Nonn ativität der Rollen relativ, da das Indi-
viduum sich verschiede nen Bezugsgruppen gege nübersie ht. Es spielt
auch nicht nur eine Rolle, sondern sieht sich nicht selten mit mehreren
zugleich kon fronti ert. Von daher ble iben Ro llenko nflikte nicht aus.
Auch RALF D AHREl\noRF hat das Verhältnis zwi sc hen dem Indivi-
duum und seinen Rollen ganz anders als Parsan s gesehen. Danach han-
deln wir in unseren Rollen keineswegs freiwillig, sondern weil wir uns
ihnen nicht entzie hen können, denn das würde negative Sanktionen
nach sich ziehen. Was die Freiheit des Individuums angeht, so sieht es
sich mit der "ärgerlichen Ta tsache der Gesellschaft" konf rontiert. Kriti-
ker habe n in diese r The se ei nen neuerlichen Beleg für die typisch deut-
sche Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft gesehen.
Andere gingen genau von diesem Gege nsatz aus und hielten an der
Vorstellung fest, der Mensch an sich oder der eige ntliche Mensch sei
etwas anderes als der Mensch in seinen Rollen. Gena u das aber hatte
Dahrendorf behauptet: wenn man in der Soziologie vom Menschen
spreche, dann könne man nur über den Menschen als Rollenträger spre-
ehen. Er nannte ihn den .Jiomo socio logicus ". Andere Annahmen über
das Wesen des Menschen und sei ne Verbindung mit der Gesellschaft
gehörten in andere Wissenschaften.
M it der ersten Diskussion über die Rollentheorie in Deutschland
setzte denn aueh schon gleich die Kriti k an ihr ein. So hat JüRGEN HA·
BERMAS ganz grundsätz lich die Frage nach der Legitimität de r Rollen,
vor allem aber die nach ihrer Funktion geste llt. In seiner großen Kritik
der Rollentheorie, die der Diskussion über lange Jahre die Richtung
wies , ging er - wie Dahrendorf auch - von der Gefahrdung des Indivi-
duums in der Gesell schaft aus , legte seine Kritik aber grundsätzlicher
an, indem er fragte , ob nicht im Begriff der Rolle die Entfremdung des
Menschen unter gege benen Verhältnissen zum Ausdruck komme. Dass
es Rollen gibt und dass wir uns ihnen entspreche nd verhalten müssen,
bestritt Habenn as nicht. Er wies aber die glatten Erklärungen der Rol-
lentheorie zurück, vor allem aber deren normative Implik ationen.
3 Rolle 103

3.1 Parsons: Rolle - normative Erwartung


TALcorr PARsoNs will mit seiner Theorie der Rolle erklären, wie Indi-
viduen daz u kommen, sich so verhalten zu wollen, wie sie sich verhal-
ten sollen. Dieses Wortspiel! ist nicht zufällig gewählt, denn es geht
Parsons um eine Theorie der Ordnung, und zu dieser trägt das Indivi-
duum in dem Maße bei, wie es motiviert ist, sich zu verhalten, wie es
die Ord nung verlangt.2
Ich will zunächst den Begriff der Rolle in die allgemeine Theorie
Parsons' einordnen und dazu kurz auf das Zusamme nspiel von Pers ön-
lichkeitssystem , sozialem System und kulturellem System eingehen.
Persönlichkeit ist das Ergebnis eines spezifischen Sozialisation sprozes-
ses, aber auch Ausdruck spezifischer psychologischer Antriebe und
sozialer Bedürfnisse. Sie ist ein strukturiertes Ganzes, weshalb Parsons
auch von einem Persönlichkeitssystem spricht. Das System des Han-
deln s, d. h. den strukturierten Zusammenhang der Handlungen aller
Beteiligten an einer Situation, nennt Parsons soziales System. An ande-
rer Ste lle benutzt er auch den Begriff des Kollektivs. Das soziale Sys-
tem meint also konkrete Interaktionen. Im kulturellen System sind die
Werte und symbolischen Bedeutungen einer Gesellschaft aufgehoben.
Es ist das dominante System und durchdringt alle anderen Systeme.
Den Schnittpu nkt von Persönlichkeitssystem. sozialem System und
kulturellem System bildet die Rolle. Virulent wird sie im sozialen Sys-
tem, dessen interaktive Beziehungen ein bestimmtes Muster aufweisen.
Jeder einzelne Handelnde ist in eine Fülle solcher Interaktionen invol-
viert . Parsons betrach tet die Teilnahme an den Beziehungen unter zwei
grundsätzlichen Aspekten: " On the one hand there is the positional as-
pect - that of where the actor in question is »located« in the social sys-
tem relative to other actors . This is what we will call his status, which
is his place in the relationship system considered as a structure. that is a
pauerned system of pans. On the other hand there is the processual
aspect, that of what the actor does in his relations with others seen in
thc context of its functional significance for the social system. It is this

Sehen Sie mir nach. wenn es immer mal wieder auftaucht. Ich halte es für eine
treffende Beschreibun g dessen, welche Rolle Parsens dem Individuum zugedacht
hat. Und außerdem kann man sich sofort klar machen, warum nach der funktiona-
listischen Theorie Gesellschaft im Großen und Ganzen funktioniert.
2 Deshalb auch der Titel in Band I, Kap. 3.9 ,,Parsons: Normative Integration".
104 3 Rolle

which we shall call his rote." (Parsons 1951, S. 25) In seinem Status ist
der Handelnde Gegens tand der Orientierungen der anderen. indem er
seine Rolle spielt. orientiert er sich an den anderen. Rolle meint die
sozialen Erwartungen an das Handeln.
Rollen wie auch das soziale System, in dem sie zum Ausdruck kom-
men, werden von "N ormen reguliert" und sind "durch Festlegung auf
Wertmuster chara kterisiert" (Parso ns 1966a, S. 140). Die Normativit ät
ergibt sich aus dem kulturellen System, in dem die Werte ] der Gesell-
schaft aufgehoben sind. Werte versteht Parsans im Sinne des
" Mustergültigen" (ebd.). Unter dieser Perspektive und bezogen auf die
sozialen Rollen kann man sich das Wertesystem als latenten gesell-
schaftlichen Konsens vorstellen, wie in einer kon kreten Situation ideal-
erweise gehandelt werde n soll. Normen " haben regulative Bed eutung
für soz iale Prozesse und Beziehungen" (ebd.) , schreiben also konkret
vor, wie zu hand eln ist.
Parsons versteht Werte, Norm en , Soz ialsystem (Kollekti v) und Rol -
len als Strukturkomponente n der Gesellschaft, die jeweils eine spezifi-
sche Funktion für die Erhalt ung einer bestimmten Struktur haben:

Talcott Parsons: Die Funktion der strukturellen


Kompone nten der Gesellschaft
"Werte sind entscheide nd für Strukturerhaltungsfunktionen in e inem
Sozia lsystem. Normen sind in erster Linie integrativ; sie steue rn die
große Vielfalt von Prozessen, die zur Durchsetzurig der gebildeten
We rtbind ungen beitragen. Die Funktionen des Kollekt ivs liegen in der
Erreichung aktualer Ziele für das Sozialsystem. Soweit Ind ivid uen ge-
sellschaftlich wichtige Funktionen erfü llen, hande ln sie in ihrer Kapazi-
tät als Mitglieder eines Kollektivs. Die primäre Funktion der Rolle in
Sozialsyste men schließlich ist ada ptiv. Dies zeigt sich besonders deu t-
lich an der Kategorie de r Leistung: Die Fähigkeit, gese llschaftlich rele-
vante Rollen zu erfüllen. ist die grundlegendste generalisierte ada ptive
Ressource jede r Gesellschaft." (Parsons 1966a: Der Begriff der Gesell-
schaft: Seine Elemente und ihre Ve rknüpfungen , S. 140f.)2

Vgl. zu den Strukturkomponenten der Gesellschaft " Werte", ,,Normen", .Kollek-


ttv" und .,Rolle" oben S. 33f..
2 Zu dem hier aufscheinenden funktionalen Paradigma und den vier Funktionen
Anpassung (adaptation), Zielverwirklichung (goal anainment), Integration (integ-
ration) und Strukturerhaltung (latent pattem maintenance) vgl. Band 1. Kap. 6.3
"Grundfunktionen der Strukturerhaltung (AGIL-Schema)", S. 213·217.
3 Rolle 105

Jetzt stellt sich die Frage, wie Individuen dazu gebracht werden, dem
nonn ativen kulturellen System zu folgen, im sozialen System also ihre
Rollen zu spielen, und ihre Bedürfnisse auf die gesellschaftlichen Be-
dingungen abzustimmen oder genauer: wie das kulturelle System so im
Persönlichkeitssystem verankert wird, dass die Individuen so handeln
wollen, wie ... (ich sagte es schon). Auf diese Frage antwortet Parsons
mit seiner Rollentheorie. Danach bildet die Rolle den Schnittpunkt von
kulturellem System, sozialem System und Persönlichkeitssystem.
Wie schon gesagt, ist Parsans an der Frage interessiert, wie gesell-
schaftliche Ordnung zustande kommt und wie sie erhalten wird. Des-
halb fragt er in seiner Rollentheorie auch nach den funktionalen Erfor-
dernissen der Integration eines sozialen Systems. Sie hängt davon ab,
dass die Bedürfnisse des Individuums und seine Motivation zu handeln,
auf die soziale Struktur ausgerichtet werden:

Taleort Parsens. Soziale Handlungssysteme und


passende Verhaltensmöglichkeiten
..Da die Einheit des sozialen Systems der Handelnde ist, ist die soziale
Struktur ein System von sozialen Beziehungsmustem zwischen Han-
delnden. Allerdings zeichnet sich die Struktur von sozialen Handlungs-
systemen dadurch aus, dass in den meisten Beziehungen der Handelnde
nicht als individuelle Ganzheit beteiligt ist, sondern lediglich mit einem
bestimmten, differenzierten »Ausschnitt« seines gesamten Handeins.
Ein derartiger Ausschnitt, der die Grundeinheit eines Systems sozialer
Beziehungen darstellt, wird heute überwiegend als »Rolle« bezeichnet.
Die obige Aussage muss daher folgendennaßen umformuliert werden:
die soziale Struktur ist ein System von Beziehungsmustem zwischen
Handelnden in ihrer Eigenschaft als Rollenträger. Der Begriff der Rolle
verknüpft das Untersystem des Handelnden, als einer »psychologi-
schen« sich in bestimmter Weise verhaltenden Gesamtheit mit der ei-
gentlichen sozialen Struktur. (...)
Vom sozialen System her gesehen ist die Rolle ein Element jener
allgemeinen Muster, denen das Handeln der beteiligten Individuen
folgt. Doch handelt es sich hierbei nicht bloß um einen statistischen
»Trend«. Es handelt sich um Ziele und Verhaltensmaßstäbe. Vom
Standpunkt des Handelnden her gesehen definiert sich seine Rolle
durch die normativen Erwartungen der Gruppenmitglieder, die in den
sozialen Traditionen zum Ausdruck kommen. (...)
Es bringt Folgen für ihn mit sich, ob er diesen Erwartungen ent-
spricht oder nicht: im einen Fall Anerkennung und Belohnung, im an-
106 3 Rolle

deren Ablehnung und Bestra fung. Und was noch mehr ist: sie bilden
einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit. Im Ver lauf des Soziallsie-
rung sprozesses nimmt er - in mehr oder wen iger starkem Maße - die
Verhaltensmaßstäbe und Ideale der Gruppe in sich auf. Auf diese Weise
werden sie, unabhängig von äußeren Sanktionen, zu wirksame n Moti-
vierungskr äften für sein eigenes Verhalten. (...)
Vom funkti onalen Standpunkt aus stellen die ins titutionalisierten
Rollen Mechanismen dar, mit Hilfe derer die außerordentlich vielfälti-
gen Möglichkeiten der »mensc hlichen Natur« in ein einziges, inte-
griertes System eingefügt werden, das mit allen Situationserfordem is-
sen fertig werden kann, denen sich die Gesellschaft und ihre Mitglieder
gegenübetsehen (Korr. H. A.). In Bezug auf diese Möglichkeiten erfül-
len die Rollen zwei Hauptfunktionen: die erste ist selektiver Art und
besteht darin, dass sie die für die Bed ürfn isse und Toleranzen des j e-
weiligen Strukturmu sters »passenden« Verhaltensmöglichkeiten he-
rausbr ingen und alle anderen beiseite lassen oder verdrängen; die zwei-
te beste ht dar in, dass sie mit Hilfe bestimmter Interaktionsmechan ismen
die maximale monvierungsmäßige Stütze für ein den Rollenerwartun-
gen ent sprechendes Han deln sicherstellen. Wichtig ist vor allem, dass
die mit »Gewissen« und »Idealen, verbundene n, uneigennütz igen Mo-
tive und die eigennützigen Motive im Interesse gleicher verhaltenerich-
tungen wirken ." (Parsons 1945: Systematische Theorie in der Soziolo-
gie, S. 54-56)

Ich fas se z usam m en : " Soziales S ystem" m eint die jeweilige Ordnung in
den sozi a len Beziehungen. Die Ordnun g is t vo ra b gegeben und in der
Form vo n Institutionen, w orunter Parsons alle Rege lungen un d Fest set-
zungen des kulture llen Systems verste ht , unabhängi g vo n konkreten
Handlungen der Individuen. Aus dieser Sicht ist die Rolle ein sozial es
Muster, das un abhängi g von den Individuen ex istiert und ihnen un te r-
sch ied slos vorgib t, w ie sie handel n sollen . Parsons spricht von "stabili-
zoo patterns of inte raction" . H andeln ist du rc h W ert e, in stitutionelle
Vorgaben und d urch " no rmativ e M ust er" b estimmt, " die die w ün -
sche ns w erte R ichtung des Handelns in der Form vo n Z ie len und Ver-
ha lten smaßst äb en" an geben . (Parsons 194 5, S . 53 ) " W ünschenswert"
he ißt natürlich im Sinn e des Erhalt s eines bestimmten Systems, und
in sofern kommen der Rolle als S tru kturkom po nente des sozi al en S ys-
tems " in der Hauptsa che Anpassun gsfunktionen" zu. (P arsons 197 1, S .
16 und Parsons 1966a, S. 141)
3 Rolle 107

Der Berliner Soziologe und Bildun gsforscher LoTHAR KRAPPMANN


hat beschrieben, wann nach dieser Ro llentheorie Hand eln optimal funk-
tionieren müsste , wohlgem erkt: Er referiert die impl iziten und explizi-
ten Annahmen der Theorie von Parsons :

Lothar Krappmann : Bedingungen er folgre iche n Rollenhandeln s


na ch dem ko nventionellen RoJlenkon zept
1. "Erfolg im Rolle nhandeln ist desto sicherer gara ntiert, je weiterge-
hend Roll enn ormen und die Interpretation dieser Normen durch den
Inhaber der Rolle übere instimmen. Es wird unterstellt, dass die Rol -
le einde utige Verhaltensanweisungen wenigstens für die zentra len
Tätigkeitsbe reiche enthält. (...)
2. Damit die nicht zu leugnenden Diskrep anzen zwischen den Nonnen
in einer Gesellscha ft das Rollen hande ln nicht belasten , wird als op-
timal angesehen, dass das Individ uum sein Verhalten nur an jeweils
einer Rolle orientiert. Sind mehrere, viellei cht sogar widersprüchli -
ehe Roll en in einer Situation angesprochen, muss sich das Indiv i-
duum zwisc hen ihnen entscheiden oder Erwartungen aus be iden
Rollen kombi nieren. (...)
3. Erfolgreich es Rol1enhande ln ist desto wahrsc heinlicher, je weiter ge-
hend die Rolle npartner im Hinblick auf ihre gegense itigen Erwa r-
tun gen über einstimmen . Diffe renz ierende Interpretationen werden
als erste An zeich en von Rollenkonflikt gedeutet (...), der Devianz
verursachen und die Stabilität des sozia len Sys tems gefa hrden kann.
( ...)
4. Erfolgreich es Rolle nhandeln setz t voraus, dass die individue llen Be-
dürfnisse der Handelnden den instituti onalisierten Wertvorstellun-
gen der Gesellschaft entsprec hen . Die Üb ereinstimm ung von Rol-
lennorme n und Bedürfnisd ispo sition ist das Ergebnis eines gelunge -
nen Sozialisa tions prozess es. (...)
5. Die Orientierung an de n vorg egebenen Rollennonnen garantiert den
Rollenpartnern - im als optimal betrachteten Fall der Überei ns tim-
mung von We rten und Bedürfnissen - die gege nseitige Befriedigung
ihrer Bedü rfnisse. Unvolls tändi ge Bedürfnisbefriedigung wird als
Ge fahr für den Fortgang von Interaktion betracht et. (...)
6. Die Stabilität von Institutionen wird als gewährleistet an gesehen,
wenn die Individuen die Roll en aufgründ vorangegangen er Interna-
lisierungsprozesse gleichsam »au tomatisc h« erfüllen, aber dennoch
das Bewu sstsein haben , aus eigenem Entschlu ss und Antri eb zu
ha ndeln." (Krappmann 1971: Neuere Roll enkon zep te als Erklä-
run gsmöglichkei t für Sozi ahs ationskonzepte, S. 309ff.)
108 3 Rolle

Bei diesen Annahmen fallt auf, dass zwischen den Erwartungen der
Handeln den Übereinstim mung unterstellt und als erstrebenswert ange-
sehen wird. In ihrer klassischen Fonn erklärt diese Ro llentheorie er-
folgreiches Handeln denn auch über Nonncnkonfonnität und Konsens
der Handelnden. Wenn ich sage ..klassische Form" , dann ist sc hon an-
gede utet, dass es noch eine andere Fo rm gibt. D as ist in der Tat so, aber
sie stellt das ideale Mode ll einer harmonischen Ord nun g nicht in Frage.
sondern trägt den reale n D ifferenzen und Dissensen Rechnung. Das
werde ich im Kapitel .Jnteraktion'' ! ausfü hrlich behand eln . Hier nur
einige And eutunge n.
Parsan s konstatiert zwar, dass jeder Handelnde sich an den kulturel-
len, no rmati ven Mustern orientiert. Das sollte den Einze lnen in seinem
Handeln eigentlich sicher machen. Doch ego wei ß, dass sei n Handeln
auch von den Erw artungen und Handlungen alters abhän gt, und wie
diese Erwartungen tatsächlich sind und welche H andlungen fol gen , das
kann ego nicht sicher wissen. Im Grunde kann ego nur von möglichen
Erwa rtungen alters ausgehen und dessen mögliches Handeln einkalku-
lieren . Da ein Teil der Erwartungen egos in möglichen Reaktionen al-
ters besteh t (Parsons 195 1, S. 5), sind egos Er wartungen nicht gewiss,
sondern kontin gent.
Das ganze gilt natUrIich auch für alter und seine Erw artungen . Die
Komplementarität der Erwartungen ist doppelt ungewiss. Deshalb ha-
ben Parsa ns und Shils die wech se lseitige Ab hängigkeit des Handeins
des einen von den möglichen Erwartungen und dem möglichen Handeln
als doppelte Kontingenz bezeichnet. (vgl. Parsons u. Sh ils 195 1, S. 16)
Warum und unter welcher Vora ussetzung kann den noch gehandelt
werden ? Ego kann alters Reaktion nur vorauss ehen und beeinflussen,
wenn ego und alter sich an de n gleichen kulturellen S tandar ds orientie-
ren. Gemeinsames Handeln setzt also voraus, dass die Intera ktionspart-
ner motiviert sind, nach den gleichen Nonnen und Werten zu hande ln,
und dass sie das auch voneinander annehmen ! Nur dann kann Möglich-
keit zumindest auf Wahrscheinlichkeit reduziert werd en .
Die Orientierung an gleichen Standards kann erwartet werden, weil
alle Handelnden in der gleichen Gesellschaft soz ialisiert wo rden sind.
Sie haben die Werte und No nnen mehr ode r weniger gleich intern ali-
siert. NatUrlich haben die Individu en höchst unterschied liche Situatio-

1 Siehe unten Ka p. 5.4 .Rolle, Austausch, Kontingenz" , S. 206f..


3 Rolle 109

nen des Handeins kennengelemt und orientieren sich auch an unter-


schiedlichsten Zielen. Doch im Laufe einer "e rfolgreichen" Sozialisati-
on ist es zu einer "s trukturellen Verallgemeinerung der Ziele" gekom-
men. (Parsons 1945, S. 60) Um es an einem konkreten Beispiel deutlich
zu machen: Wer gelernt hat, mit dem Auto auf der rechten Seite zu fah-
ren, muss nicht eigens lernen, auch mit dem Fahrrad rechts zu fahren,
denn er hat begriffen, dass der Straßenverkehr nach diesem Prinzip
funktioniert.
Parsons geht davon aus, dass es in jeder Gesellschaft eine typische
Struktur des sozialen Systems und eine typische Struktur sozialer Rol-
len gibt und dass damit auch eine typische strukturelle Verallgemeine-
rung von Zielen des HandeIns gegeben ist. Damit wäre das Fundament
für die Rollentheorie fast komplett, "fast", denn noch immer erfolgt der
Blick auf das Handeln aus der Sicht des sozialen Systems.
Die andere Perspektive aus der Sicht des Individuums erfolgt nun,
indem Parsons fragt, was auf der Seite des Individuums passieren muss,
um - wieder der Blick auf das System! - im Sinne eines geordneten
sozialen Systems ,,richtig" handeln zu können - und zu wollen. Die
Antwort hat Parsons mit der oben! behandelten Theorie der Motivation
gegeben. Dort haben wir auch gelesen, dass das Individuum ein Inte-
resse an Gratifikationen hat und Frustration vermeiden will. Größer ist
die Aussicht auf soziale Gratifikation, wenn man sich normal wie alle
verhält, oder umgekehrt: Wer den Erwartungen der anderen entspricht,
wird zumindest nicht bestraft.
Die Handelnden spielen ihre Rollen natürlich nicht allein, weil sie
Belohnung filr .normates'' Verhalten und Strafe für abweichendes Ver-
halten erwarten, sondern indem sie die kulturellen Werte internalisieren
und nach und nach äußere Erwartungen nach innen verlagern und zum
inneren Antrieb machen. In der Psychologie würden wir von Über-Ich
oder Gewissen sprechen, in der Theorie von Parsons geht es um die
Ausbildung einer sozial-kulturellen Persönlichkeit, die sich durch eine
feste Wertbilldung (scommitment«) an das kulturelle System auszeich-
net. Die kulturellen Standards werden zum konstitutiven Bestandteil
des Persönlichkeitssystems. Sozialisation - in der Fonn des Lernens
von Standards - dient also dazu, eine adäquate Motivation des Han-
delns zu erzeugen. Im Kern beinhaltet die Theorie der Motivation, dass

1 Vgl. obe n Kap. 2,6 •.Herstellung funktional notwendiger Motivation", S. 9 1f..


110 3 Rolle

das Individuum im Prozess der Soz ialisation zur freiwilligen Zusti m-


mun g zu den vorgegebenen Rollen gebracht wird .
Kritisch wird gegen diese Rollentheorie eingewand t, dass sie zu ei-
nem Verlust der individuellen Autonomie führe. Das war z. B. der
Vorwurf von Dahrendorf. Handeln ist nach der Ro llentheorie Handeln
nach Nonnen, weshalb diese Theorie auch als normative Theorie be-
zeichnet wird. "Indem die Notwe ndigkeit des Ausgleich s zwischen den
persönlichen Bedürfnissen und den sozialen Interessen in die Natur des
Menschen verlegt wird, begründet Parsons die für ihn notwendige The-
se, dass soziales Handeln vornehmlich außengeleitetes Handeln ist."
(Karte 1992, S. 179) Da Parsons aber davon ausgeht, da ss die gelten-
den Werte und Nonnen ihre Funktiorialität fllr diese Gesellschaft be-
wiesen haben, wäre diese Anleitung des Handeins auch funktional für
das Handeln aller.
Obwohl das gar nicht intendiert war, hat DAVID RIESMAN (1909-
2002), lange Jahre neben Parsons Soz iologe an der Harvard Unive rsity,
mit seiner Th ese von der Auß enleitung des modernen Menschen die
Rollentheorie von Parsons an einem wichtigen Punkt in Frage gestellt.
Er geht näm lich da von aus, dass es bei der Befolgung von Ro llen gar
nich t um ihre Legitimität geht, sonde rn wir handel n so, wie die, die für
uns wichtig sind, handeln. Wir äffen sie sozusagen nach. Die Nonnati-
vität kommt den Rollen nur durch die Macht der anderen zu. Da Ries-
man mit seiner These von der Außenleitung im Grunde ein e Beschrei-
bu ng de s modem en Soz ialcharakters in den westlichen Gesellschaften
geliefert hat, werd e ich die Begründung der These im Kapitel übe r
" Identität" behandeln. An dieser Stelle deshalb nur ein kurzes Re fera t.
Riesmans Buch "The lonely crow d", das er 1950 zus ammen mit an-
deren ver öffentlicht hat, läuft auf die These hinau s, da ss wir so denken
und handeln , wie wir meinen, dass die Anderen, die uns wichtig sind,
denke n und handeln . Die wichtigen Anderen k önnen Freunde, Ver-
wan dte, Nac hba rn oder Kollegen sein, aber auch die symbolischen Fi-
guren der Moden und Trends. Um im raschen Wechsel der Moden des
Wichtigen und Richtigen mithalten zu k önnen, legen wir uns nicht fest,
sondern sind ständig auf Empfang für die Signal e des Zeitgeistes. Wir
werden zu flexiblen Ro llenspielern, die es mit allen ein bi sschen kön-
nen. Im Gegensatz zum innengeleiteten Mensche n, de r sich mit festen
Prin zipien auf Kur s hielt, gibt der au ßengeleitete Mensch " die feste
Charakterroll e (..) auf und übernimmt daftir eine Vielfalt von Rollen,
3 Rolle 111

die er im geheimen festlegt und entsprechen den verschiedenen Bege-


benheit variiert." (Riesman 1950, S. 152)
Diese Haltung ist nicht nur möglich, sondern, so muss man Riesman
interpretieren, auch funktional angemessen, weil die verschiedenen
Rollen, die der außengeleitete Mensch den vielen anderen gegenüber
nacheinander oder gleichzeitig spielen muss, "weder institutionalisiert
noch klar voneinander abgesetzt sind." (Riesman 1950, S. 152) Die
Rollen sind keineswegs eindeutig, sondern diffus, und sie sind auch
nicht zwingend, sondern Optionen. In der ersten Hinsicht lebt der au-
ßengeleitete in der latenten Angst, etwas falsch zu machen, solange er
nicht weiß, was "man" heute so richtig macht. In der zweiten Hinsicht
ist er allerdings freier als der innengeleitete Mensch, denn er kann jede
Option für sich und die anderen legitimieren, wenn er nur die entspre-
chende Bezugsgruppe wählt.
Man kann Riesmans These als Zweifel an der Nonnativität des kul-
turellen Systems in der Theorie von Parsons lesen. Genau in diese
Richtung zielt auch die Kritik von ROBERT K. MERTON an der klassi-
schen Rollentheorie.

3.2 Merton: Der Rollen-Set


Der amerikanische Soziologe ROBERT K. MERTON (1910-2003), der in
den 30er Jahren Schüler von Parsans war, interessierte sich weniger für
die Ordnung an sich als filr die Phänomene der Unordnung. Während
Parsons davon ausging, dass nach einer richtigen Sozialisation alle In-
dividuen eigentlich den Rollenerwartungen freiwillig zustimmen müss-
ten, konstatierte Merton zunächst einmal, dass sehr viele Individuen die
Nonne n nicht erfüllen. Er vermutete, dass einige es nicht können und
andere es nicht wollen. I
Aus dieser Tatsache hat Merton dann eine Theorie der Anomie ent-
wickelt, in der abweichendes Verhalten damit erklärt wird, dass es Dif-

Diese zwe ite Vermutung hängt mit einem anderen Einwand gegen Parse ns zu-
sammen, den man als "struktu rtheoretische Erklärung sozi aler Prozesse" bez eich-
nen kann. Danach heißt Handeln nicht. dass Individuen nur unre flektiert soziale
Vorschriften exekutieren, sondern sie definieren sie als Handlungsmöglichkeiten,
treffen ihre Wahl und strukturieren dadurch die Situation und die Bedingungen ih-
res (Rollen-)Handelns. (Vgl. unten Kap. 4.6 "Rationale Wahl trotz »habits« und
»framesc", S. 173 Anm. L)
112 3 Rolle

ferenzen über kulturelle Ziele (cu ltu ral goa ls) und die legitimen Mittel
(instit ution al means), sie zu erreichen, gibt. Gegen Parson s gewendet
hieß das : O ffensichtlich gibt es höchst verschiedene Ziele in einer Ge-
sellschaft und viele Individuen haben nicht die Mittel, die offiziellen
Ziele zu erreichen, oder sie setzen andere Mittel ein. Je nachdem ob
Ziele und Mittel anerkann t oder nicht anerkannt werden, erge ben sich
die folgenden Verhaltensfonnen:

instit utionalisierte
Kulturelle Ziele Verhaltensformen
Mittel
+ + Ko nformität
+ - Innovation
- + Ritualismu s
- - Eskapismus, Apathie
+/- +/- Rebellion

• Wo jemand die gesellschaftlichen Ziele und die entsprechenden


Mittel anerken nt, kom mt es zu konform em Verhalten. Er weiß, dass
man in dieser Gesellscha ft ein schönes Au to brauc ht, und ergo spart
er ganz lange darau f Merton nennt die Übe reinstim mu ng vo n kul-
turell en Zie len und institutiona lisierten Mitt eln Konformität.
• Wo j emand die Ziele anerkennt , die Mi ttel aber nich t, komm t es zu
einem Verhalten, da s Merton neutral als Innovation bezeic hnet. Es
kann Reform aber auch Kriminali tät sein. Wer ein schönes Au to
will, aber nicht lange dafür arbeiten möchte, kann z. B. eins klauen
oder aber vom Staat verlangen, dass allen ohne A nsehen der Person
eins zur Verfügung gestellt wird.
• Wer die Ziele aus den Aug en ve rlore n hat, aber nach wie vor die
institution alisierten Mittel verwendet, die ursprünglich nötig ware n,
verhält sich traditio nell oder zw anghaft. Um im Beispiel zu blei ben :
Ihm wird das Sparen zum Selbstzweck. Ein anderes Beispiel wäre,
dass einer j edes Jahr zum 1. Mai die rote Fah ne rausha lt und sich in
den Blaum ann wi rft. Merla n nennt dieses Verha lten Ritualismus.
• Wo jemand die Ziele fur falsch hä lt und auch die Mittel, kann er ob
des Falsch en im Nicht-Versö hnten in stillen Weltschmerz verfallen
oder sich für einen Feldzug gegen das Auto schlechthin stark ma-
3 Rolle 113

ehen und dabei gleich noch die verklemmte Einstellung des Sparens
geißeln. Merton nennt das Apathie oder Eskapismus. In diesem Fall
steigt man aus dieser Gesellschaft mit ihren Werten und Nonnen
aus, und in jenem resigniert man.
• Und schließlich kann man sich noch den Fall denken, dass jemand
bestimmte Ziele und Mittel anerkennt, andere dagegen nicht, oder
die kulturellen Ziele und die institutionalisierten Mittel überhaupt
ablehnt, aber nicht aus der Gesellschaft aussteigen, sondern alles
umkrempeln will. Das nennt Merton Reb ellion . (vgl. Merton 1938,
S.293)
Diese Beispiele wurden nicht zufällig gewählt, um den Konflikt zwi-
schen Individuum und Gesellschaft zu beschreiben, denn Merton maß
die Stabilität der Gesellschaft an der Übereinstimmung von kulturellen
Zielen und institutionalisierten Mitteln, und dabei hatte er die amerika-
nische Gesellschaft vor Augen, die Reichtum und Erfolg als überragen-
de Ziele propagierte, aber nicht sah, dass vielen die Mittel fehlten, sie
zu erreichen. Bezogen auf die Rollentheorie lautet das Problem dann
so: Die Funktion der Ro lle ist, kulturelle Ziele zu definieren und Ver-
halten zu vereinheitlichen; wenn aber einem beträchtlichen Teil der
Gesellschaft die Mittel fehlen, diese Ziele auf sozial gebilligtem Wege
zu erreichen, verlieren sie ihre nonn ative Kraft.
Damit liegt der wichtigste Einwand gegen Parsons auf der Hand:
Die Werte einer Gesellschaft bedeuten nicht für alle Mitglieder der Ge-
sellschaft das gleiche, und die Möglichkeiten, sie erreichen zu können,
bzw. die Bereitschaft, sie erreichen zu wollen, sind verschieden. Das
heißt: Wenn es Gruppen gibt, in denen bestimmte Werte mit den insti-
tutionalisierten Mitteln nicht realisiert werden (können), kann man
sinnvoll auch nicht mehr von universellen Rollen sprechen. Merton
verdeutlicht seinen Einspruch gegen die Theorie seines Lehrers am
Widerspruch zwischen einer " amerikanischen Haupttugend" und einem
" amerikanischen Grundübel":

Robert Merton: Gemeinsame Ziele - fehl ende Miltel


"Nur wenn das kulturelle Wertsys tem bestimmte gemeinsame Erfolgs-
ziele für die ganze Bevölkerung über alle übrigen Ziele setzt, während
die Soziaistrukturfiir einen großen Teil dieser Bevölkerung den Zugang
zu den gebilligten Mitteln zum Erreichen dieser Ziele entscheidend ein-
engt oder sogar völlig verwehrt, haben wir abweichendes Verhalten in
114 3 Rolle

grö ßerem Umfa ng zu erwarte n. Ande rs ausged rückt : Unsere G leich-


heitsideolog ie leugnet implizit, dass es Individuen und Grup pen gibt .
die sich nicht am Wettbewerb um wirtschaftliche n Erfo lg beteiligen.
Sie defin iert vielmehr die gleichen Erfolgssymbole für alle. Die Ziele
ken nen ange blich ke ine Schichtgrenze n, sie sind nicht an diese gebu n-
den; die tatsächliche soziale Struktur jedoc h kenn t schichtspezifische
Unterschiede im Zugang zu diesen Zielen. Aus dieser Perspektive be-
trachtet. verursacht eine arner ikanische Haupttugend - das Strebe n nach
Erfolg - e in ame rikanisches Grundübel - abweichendes Verhalten."
(Merlan 1938: Sozialstruktur und Ano mie. S. 298)

Mit seinem Hinweis auf Schichtgrenzen bindet Metton die Nonnativi-


tät von Rollen an das Handeln von Individuen und kritisiert zugleich
eine soziale Ordnung, die mit angeblich universellen Zielen das Han-
deln ihrer Mitglieder überfordert! Der Unterschied zu Parsans liegt auf
der Hand: Wenn über Werte und Rollen gesprochen wird, dann müssen
die Bet ugsgruppen v genannt werden, für die sie gelten! Unter »refcren-
ce gro ups- versteht Merton Gruppen, deren Zustimmung oder Ableh-
nung dem Individuum sehr wichtig sind. (Merton 1957d) Dabei denkt
er nicht nur an eine konkrete Gruppe, an deren Erwartungen und Ein-
stellungen sich das Individuum in seinem Handeln und Denken orien-
tiert, sondern auch an die Schicht oder die Subkultur und auch einen
Betrieb oder eine Organisation, mit denen es sich identifiziert. Wie weit
der Horizont ausgedehnt sein kann, zeigt die globale Orientierung der
Jugendmode.
Bewegung brachte Merton noch mit einem anderen Gedanken in die
Rollentheorie. Gegen RALP" LINTON, der mit seiner berühmten Defini-
tion "Rolle als dynamischen Aspekt des Status" bezeichnet hatte, und
mit jede m Status auch eine entsprechende Rolle verbunden sah, wendet
Merton ein, dass zu jeder sozialen Position eine ganze Reihe von Rol-
len, ein Rollen-Set, gehört. (Merton, 1957b, S. 260) Deshalb kann man
auch unterstellen, dass die .Erwartungen, die andere an jemanden in
einer bestimmten Position richten, oft sehr unterschiedlich sind und
dass das Individuum in seiner Position mit unterschiedlichen, vielleicht
sogar mit widersprüchlichen Erwartungen fertig werden muss.
Nun hätte es nahegelegen, die Strategien des Individuums zu be-
leuchten, mit denen es diese unterschiedlichen Erwartungen auf die

I Zum theoriegeschichtlichen Hintergrund des Begriffs vgl. unten S. 277.


3 Rolle 11 5

Reihe zu bringen versucht. Doch Merton, der seine Theorie ausdrück-


lich mit Blick auf "Struk tur und Funktion sozialer Gebilde" (S. 258)
entwirft, fragt genau anders: Er fragt nach den "soz ialen Mechanis-
men" , die einen Konflikt verhindern oder minimieren, die also Ordnung
sicherstellen, die Struktur der Rollenbeziehungen erhalten und die
Handlungsfähigkeit des Individuums sichern. (S. 262) In einer anderen
Arbeit verbindet Merton das Problem, um das es hier geht, mit einer
sog. "Theorie des Rollenkonfliktes" . (Merton 1957c, S. 315 Anm. 79)
Dieser Begriff hat sich später durchgesetzt, und heute unterscheidet
man in der soziologischen Rollentheorie zwischen einem Intra- und
einem Interrollenkonflikt. (vgl. Dreitzel 1980, S. 44)
"
,. Beim Intrarollenkonflikt geht es um widersprüchliche Erwartun-
gen, die verschiedene Bezugspersonen an ein und dieselbe Rolle
eines Statusinhabers richten,
,. beim Interrollenkonfl ikt um widersprüchliche Erwartungen, die
an seine verschiedenen Rollen gerichtet werden.
Ein Beispiel filr einen Intra-Rollenkonflikt wäre der Lehrer, der aus
pädagogischen Gründen in den Klassen 3-4 keine Noten geben will,
damit aber in Widerspruch zu seinem Rektor, seinen Kollegen, ja sogar
zu den meisten Schülern und ihren Eltern gerät. Ein Beispiel für einen
Inter-Rollenkonflikt wäre das Mädchen, das mitten im Abitur steckt, als
Mitglied der Volleyballmannschaft an einem Trainingslager teilnehmen
soll und als Lieblingsenkelin zum Familienfest der Großmutter in eine
andere Stadt eingeladen ist.
Rollenkonflikte entstehen immer dann, wenn man sich in einer Rolle
gleichzeitig unterschiedlichen Erwartungen gegenübersieht oder wenn
sich die Erwartungen an mehrere Rollen, die man gleichzeitig spielt,
widersprechen.
Betrachten wir zunächst die sozialen Mechanismen zur Konflikt-
minderung, die Merton für einen Intrarollenkonflikt beschreibt:
• Die verschiedenen Bezugspersonen messen einer bestimmten Rolle
unterschiedliche Bedeutung bei, und deshalb sind sie auch unter-
schiedlich an dem Verhalten interessiert. Merton spricht von »diffe-
rentials of involvement«. (Merton 1957a, S. 113)
• Die verschiedenen Bezugspersonen verfügen nicht alle über die
gleiche Macht, ihre Erwartungen durchzusetzen. Entgegengesetzte
Kräfte können sich sogar neutralisieren.
116 3 Rolle

• Da niemand permanent mit allen seinen Bezugspersonen in Interak-


tion steht, ist ein Teil seines Verhaltens zumindest für bestimmte
Bezugspersonen und für eine gewisse Zeit nicht sichtbar. Metton
nennt das »insulation of role-activitics from observa bility by mem-
bers of the role-set«. (Merla n 1957a, S. 114)
• Die Bezugspersonen stellen fest, dass sie unterschiedliche Erwar-
tungen haben. Merlan nennt diesen strukturellen Mechanismus »ob-
servability of conflicting demands by memb ers of a role-set«. (Mer-
ton 1957a, S. 11 6) Das kann den Statusinhaber in die komfortable
Rolle des lachenden Dritten bringen, der aus dem Streit der anderen
seinen Nutzen zieht.
• Statusinhaber tun sich zusammen, artikulieren ihre Interessen und
unterstützen sich gegenseitig in der Abwehr von bestimmten Erwar-
tungen.
• Beziehungen werden eingeschränkt oder ganz abgebrochen. Das
setzt natürlich voraus, dass die soziale Struktur ein solches individu-
elles Verhalten zulässt. " Im großen und ganzen ist diese Chance j e-
doch selten und begrenzt, da die Zusammensetzung des Rollen-Set
gewöhnlich keine Frage der persönlichen Wahl, sondern Sache der
sozialen Organisation ist, in die sich der Status eingebettet findet.
Allgemeiner ausgedrückt: der Einzelne geht, die soziale Struktur
blei bt." (Merton 1957b, S. 266)
Soweit zu den sozialen Mechanismen, die Konflikte minimieren, in die
ein Individuum strukturell gerät, wenn es sich widersprüchlichen Er-
wartungen an sein Verhalten in einer bestimmten Rolle, also einem
Intrarollenkonflikt, ausgesetzt sieht.
H ANS P ETER D REITZEL (*1935), der mit seinem Buch " Die gesell-
schaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft" (1968) der
kritischen Diskussion über die Rollentheorie in den 60er Jahren die
Richtung gegeben hat und mit dem Untertitel "Vorst udien zu einer Pa-
thologie des Rollenverhaltens" auch deutlich angab, wo es lang gehen
sollte, hat nun in Anlehnung an Merton gezeigt, dass auch in der Kons-
tellation eines lnterrollenkonjliktes, wo also das Individuum mit unter-
schiedlichen Erwartungen, die seine verschiedenen Rollen betreffen,
fertig werden muss, Mechanismen zur Stabilisierung des Verhaltens
wirken:
3 Rolle 117

• "Manche Positionen schließen sich auf Grund ihrer konfli gierenden


Wertteilhabe von vornherein aus (ein katholischer Priester darf nicht
zugleich Ehemann sein);
• ferner wirkt das Wissen der anderen um die Vielzahl der Positionen,
die jemand einnimmt, modifizi erend und ausgleichend, weil die Po-
sitionen nach ihrer werthaften Bedeutung unterschiedlich beurteilt
werden (...);
• zwischen verschiedenen Positionen und Rollen wirkt eine räumliche
und zeitliche Trennung der Handlungsbereiche konfliktmild ernd
(der Chef, dessen Frau zu Hause die dominierende Rolle spielt, wird
zu vermeiden suchen, dass sie ihn im Büro aufsucht und dort in sei-
ner Chef-Rolle beeinträchtigt);
• und schließlich gibt es typische Reihen von Positionen und Rollen,
sogenannte Ro//ensequenzen I , die dafür sorgen, dass man mit be-
stimmten, schwer miteinander zu vereinbarenden Rollen in zeitlicher
Abfolge, das heißt nacheinander, konfrontiert wird (man wird übli-
cherweise erst heiraten, wenn man der Rolle des Kindes entwachsen
ist) (...); der Übergang von einer Rolle zur anderen in einer Rollen-
Sequenz wird erleichtert durch den Prozess der antizipatorischen
Sozialisierung (...), welcher für allmähliche, bruchlose Übergänge
zwischen verschiedenen Positionen sorgt, indem man sich rechtzei-
tig auf die neuen Rollenerwart ungen einstellt." (Dreitzel 1980, S.
45f.)

An diesen Konfliktlösungen fällt auf, dass nur die Trennun g der Hand-
lungsbereiche eine aktive Rolle des Individuums vorsieht. Die Erklä-
rung hän gt mit dem oben genannten Anspruch von Merton zusammen,
keine Theorie des Verhaltens, sondern eine Rollentheorie mit Blick auf
Strukt ur und Funktion sozialer Gebilde zu entwerfen. Diesen Blick
nimmt auch Dreitze1 bei seiner Darstellung der Lösungen von Interrol-
lenkonflikten ein.
Den Übergang zwischen dem strukturellen Aspekt und dem Hand-
lungsaspekt in einem Interrollenkonflikt kann man übrigens sehr schön
anhand einer alten schottischen Erzählung demonstrieren, an die RALPH
LINTON erinnert. Sie berichtet von einem Mann, der entdeckt , dass er

Dreitzel merkt an, dass Merton hier von sequences ofstatus (vgl. Merton 1957d,
S. 357) spricht. was eigentlich auch richtiger wäre.
118 3 Rolle

de n Mörder seines Bruders zu Gast hat. In der Rolle des Bruders ist der
M ann zu r Blu trach e berec htigt und sogar verpflichtet, in der Roll e des
Gastgebers hat er die Heiligkeit des Gastes zu respektieren. Der Mann
löst - im soziologischen Sinne - den Konfli kt über eine Statussequenz:
Er geleitet den Gast sicher übe r die Grenzen des Stammesgebietes und
verwickelt dann den Mörder in einen tödlichen Zweikampf. (Linton
1945, S. 254)
Das Thema »Rolle«, das dürfte nach den bisherigen Ausführungen
klar sein, steht für die Beziehung von Individuum und Gesellschaft.
Nach der Th eo rie von Parsons ist die Beziehung durch die Nonnativität
des kulturellen Systems und der damit gegebenen Rollen bestimmt.
Nach der Th eorie von Merton ist die Beziehung keineswegs einde utig,
sondern lässt Raum für abweichendes Verhalten oder erzwingt es so-
gar. Die Nonnativität der Rollen ergibt sich aus der jeweiligen Bezu gs-
gruppe, an der sich das Individuum orient iert. Für RALF DAHRENDORF
ist die Beziehun g zwischen Gesellschaft und Individuum eine "ärgerli-
che Tatsache", die nur dadurch gemildert wird, dass Rollen unter-
schiedliches Gew icht haben.

3.3 Dahrendorf: Homo Sociologicus und die ärgerliche Tatsache


der Gesellschaft
RALF DAHRENDORF (*1929) bringt das Verhältnis von Indiv iduum und
Gesellschaft auf die lapidare Forme l: " Die Soz iologie hat es mit dem
Menschen im Angesicht der ärgerlichen Tatsach e der Gesellschaft zu
tun". (Dahrendorf 1958, S. 18) Anders als z. B. Parsons fragt Dahren-
dorf nicht, welche Voraussetzunge n beim Individuum erfüllt sein müs-
sen, damit es überhaupt zu so etwas wie Gesellschaft kommen kann,
sondern umgekehrt: Inwiefern ist Gesellschaft Voraussetzung und für
was? Dara uf gibt er wieder eine lap idare Antwort, die das Ärgernis der
Gesellschaft erklärt : " Die Tatsach e der Gesellschaft ist ärge rlich, weil
wir ihr nicht entweich en können." (S . 27)
Nun ja, das ist nicht weni g, abe r auch noch nicht zuviel - in der Re-
ge l lässt es sich aushalten. Sozi ologisch konkreter wird es, wo Dahren-
dorf zeigt, dass die Gese llschaft nicht einfach da ist, sondern Ford erun-
gen an das Indi viduum stellt, indem sie Verhalten vorschreibt: " Für
jede Position, die ein Men sch haben kann , sei sie eine Geschlechts-
3 Rolle 119

oder Alters-, Familien- oder Berufs-, National- oder Klassenposition


oder von noch anderer Art, kennt »d ie Gesellschaft« Attribute und Ver-
haltensweisen, denen der Träger solcher Positionen sich gegenübersieht
und zu denen er sich stellen muss." (Dahrendorf 1958, S. 27) Wo nun
das Problem im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft liegt,
schildert Dahrendorf am Beispiel des Studienrates Schmidt, dem es
offensichtlich so geht wie allen, wenn sie die Bühne des Lebens betre-
ten: Sobald sich das erste Bewusstsein regt, stellen sie fest, dass alles
schon getan ist:

Ralf Dahrendorf: Die entfre mdete Gesta lt des Einzelnen


"E s lässt sich schwerlich bestreiten, dass die Gesellschaft aus Einzelnen
besteht und in diesem Sinne von Einzelnen geschaffen ist, wenn auch
die bestimmte Gesellschaft, in der Herr Schmidt sich findet, mehr von
seinen Vätern als von ihm geschaffen sein mag. Andererseits drängt die
Erfahrung sich auf, dass die Gesellschaft in irgendeinem Sinne nicht
nur mehr, sondern etwas wesentlich anderes ist als die Summe der in
ihr lebenden Einzelnen. Gesellschaft ist die entfremdete Gestalt des
Einzelnen, homo sociologicus ein Schatten, der seinem Urheber davon-
gelaufen ist, um als sein Herr zurückzukehren." (Dahrendorf 1958:
Homo Sociologicus, S. 43)

Dahrendorf sieht in der Gesellschaft mit ihren Strukturen und Instituti-


onen eine Einschränkung individueller Freiheit. Marx hat diesen Ge-
gensatz unter den Begriff der Entfremdung gefasst. Um die geht es
Dahrendorf auch, abcr mehr noch um die Mittel, mit denen die Gesell-
schaft täglich erzwingen kann, dass wir unsere Rollen spielen. Das
Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft sieht danach
so aus: " Übernimmt und bejaht er die an ihn gestellten Forderungen,
dann gibt der Einzelne seine unberührte Individualität zwar auf, ge-
winnt aber das Wohlwollen der Gesellschaft, in der er lebt; sträubt der
Einzelne sich gegen die Forderungen der Gesellschaft, dann mag er
sich eine abstrakte und hilflose Unabhängigkeit bewahren, doch verfallt
er dem Zorn und den schmerzhaften Sanktionen der Gesellschaft."
(Dahrendorf 1958, S. 27) Das Individuum erfüllt Erwartungen der Ge-
sellschaft, weil es negative Sanktionen furchtet bzw. positive Sanktio-
nen wünscht. Das wird die Grundaussage des Essays "Homo Sociolo-
gicus" aus dem Jahre 1958 sein.
120 3 Rolle

Jetzt aber zunächst einmal zum Begriff der Rolle, der damals in
Deutschland noch gar nicht so recht einge führt war. Dahrendorf
schreibt: " Der Punkt, an dem solche Vermittlung von Einze lnen und
Gesellschaft sich vollzieht und mit dem Menschen als gesellschaftli-
chem Wesen auch Homo Sociclogicus geboren wird, ist jener »Auftritt
als ...« auf der Bühne des Lebens, den Cicero in dem Begriff der »Per-
son«, Marx in dem der »Charektermaske« und Shakespeare - und mit
ihm die meisten neueren Sozio logen - in dem der »Rolle. zu fassen
sucht." (Dahre ndorf 1958, S. 27) Wenn in der Soziologie vom Men-
sehen gesprochen werde, dann nur vom Menschen als Rollenträger.
Deshalb der Titel " Homo Sociologicus".
Was wollte Dahrendorf? Nach eigenen Angaben suchte er " nach ei-
ner Elementarkatego rie für die eigenständige soziologische Analyse der
Probleme des sozialen Handeins." (Dahrendorf 1958, S. 5) Diese Kate-
gorie sieht er in der sozialen Rolle. Auf einen wichtigen theoretischen
Ausgangspunkt der The orie des homo sociologicus stößt man erst im
zweiten Teil, wo Dahrendor f sagt, dass er seine Elementarkategorie
»Rolle« und eine damit im Zusammenhang stehende Kategorie »Sta-
tus« bei dem schon erwähnten amerikanischen Kulturanthropologen
RALPH LINTON ge funden hat. Auf dessen Definition von Rolle hatte
sich auch schon Metto n bezogen. Bei Linton hieß es, die Rolle reprä-
sentiere den dynamischen Aspekt eines Status. Der Status ist definiert
über Rechte und Verpflichtungen, und wenn das Individuum ihnen in
seinem Verhalten nachkomme, spiele es eine Rolle. (vg l. Linton 1936,
S. 114)
Doch Dahrendorf wählt einen anderen theoretischen Hintergrund fü r
sein Konzept der Rolle. Ziemlich zum Schluss seines Essays gibt es
eine interessante Anmerkung zur strukturfunktionalen Theorie von
TALcolT PARSONS. Dahrendorf verweist zunächst auf sein Buch über
" Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft"
(1957) und fährt dann fort: " Bei der Skizzierung von Beispielen empi-
rischer Anwendungsmöglichkeiten der Kategorie der Rolle habe ich
hier bewusst Problemen des sozialen Konfliktes den Vorzug gegeben.
Im Kategorienschema des sog. strukturell-funktionalen Ansatzes zur
soz iologischen Theorie sind, wie sich zeigen lässt, die Elementarbegrif-
Ce »Positi on« und »Rolle« auf eine höchst unglück liche Weise mit einer
analytischen Position verquickt, deren Einseitigkeit sich nachwe isen
lässt. Es ist dies die Integrationstheor ie der Gesellschaft, nach der sozi-
3 Rolle 121

ale Struktureinheiten als Systeme begri ffen werd en können, zu deren


Funktionieren sämtliche ihrer Elemente in angebbarer Weise beitragen
bzw. deren Elemente, wo sie dies nicht tun, als »dysfunktional« aus
dem Rahmen der Ana lyse herausfa llen. So sinnvoll dieser Ansatz für
gewisse Probleme der Forschung ist, so unsinnig ist seine Verabsolutie-
rung, und so gefährlich ist daher der Versuch, von ihm her die Definiti-
on der Elementarteilchen soziologischer Analyse einzuengen. Wir ha-
ben Roll en als sozialen Positionen anha ftende Kompl exe von Verhal-
tenserwartu ngen defin iert . Dabei ist jedoch keine Annahme der Art
vorausgesetzt, dass nur solche Verhaltensm uster als Erwartungen in
Frage kommen, deren Verw irklichung einen Beitrag zum Funktionieren
eines bestehenden Systems leistet. Auch Verhalten, das vom Stand-
punkt der Integrationstheorie »dysfunktional« ist, kann normiert, also
zu Rollenerwartungen verfestigt sein." (Dahrendorf 1958, S. 78f. Anm .
84)
Mit dieser Krit ik an Parsons verschärft Dahrendorf seine These von
der ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft, denn er sagt, dass Gesell-
schaft keineswegs nur über »funktionale« Elemente integriert wird,
sondern im Gegenteil auch über sog. »dysfunktion ale«. Wo die Gesell-
schaft als Ärgern is emp funden wird und wo sich daraus ein Konflikt
ergibt, steht nicht die Ordnung auf dem Spiel, sondern dort wird das
Verhältnis zwischen Individuum und Gesellsch aft neu definiert. Dah-
rendor f unterlegt seiner Theorie des homo socio logicus also eine Kon-
fl ikuheorie. Nach dieser Theo rie ist die Gesellschaft nicht durch Kon-
sens zusammengehalten, sondern basiert auf Zwang. Insofern ist sie
auc h eine Theorie der ungleichen Verteilung von Macht und eines An-
tagonismus zwisch en Gesellschaft und Individuum.
Ungleic hgewic htig sind aber auch die Weltanschauungen und die
kulturellen Werte in einer Gesellschaft. Das Prinzip des Sozialen ist
deshalb der Konflikt, nicht das ze itlos Gültige. Anders als Parsons, der
Konfli kte als Störung der Ordnung betrachtete, hält Dahrendorf Kon-
flikte für den Motor einer notwendigen Entwicklung von Gesellschaft.
Bezo gen auf die Rollentheori e kann man deshalb sagen: Die Erfahrun g,
dass die Gesellscha ft ein Ärgernis ist, ist der Beginn, sie neu zu
bestimmen.
Nach dieser ersten Suche nach Thema und Theorie nun wieder zu-
rück zu der An leihe bei Linton und seiner Definition des Verhältnisses
von Position und Rolle. Auch Dahrendorf geht von sozialen Positionen
122 3 Rolle

aus, die in einer Gesellschaft exrstteren: "Zu jeder Stellung, die ein
Mensch einnimmt, gehören gewisse Verhaltensweisen, die man von
dem Träger dieser Position erwartet; zu allem, was er ist, gehören Din-
ge, die er tut und hat; zu j eder sozialen Position gehört eine soziale Rol-
le. Indem der Einz elne soziale Positionen einnimm t, w ird er zur Person
des Dramas, das die Gesellschaft, in der er lebt, geschrieben hat. Mit
jeder Position gibt die Gesellschaft ihm ein e Rolle in die Hand, die er
zu spielen hat. Durch Positionen und Rollen werden die beiden Tatsa-
ehen des Einzelnen und der Gesellschaft vermittelt; dieses Begriffspaar
bezeichnet Homo Sociologicus, den Menschen der Soziologie," (Dah-
rendorf 1958, S. 32)
Der Homo Sociologicus steht " arn Schnittpunkt des Einzelnen und
der Gesellschaft", es ist "d er Mensch als Träger sozial vorgeformter
Rollen. Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind
ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft." (S. 20) Mit der
Rolle ist vorgeschrieben, was der Einzelne zu tun hat: " Während Posi-
tionen nur ürte in Bezugsfeldern bezeichnen, gibt die Rolle uns die Art
der Beziehungen zwischen den Trägern von Positionen und denen an-
derer Positionen desselben Feldes an. Soziale Rollen bezeichnen An-
spruche der Gesellscha ft an die Träger von Positionen. (...) Soziale Rol-
len sind Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesell-
scha ft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen." (Dahren-
dorfl 958. S. 33)
Dahrendorf stellt nun die Frage, wer eigentlich soziale Rollen defi-
niert und über ihre Einhaltung wacht. Seine Antwort bezieht wieder die
Situation des schon bekannten Studienrats Sclunidt ein:

Ralf Dabrend crf Rollenerw artungen, Nor men


un d Sanktionen der Bezugsgru ppe
" Die These, die hier vertreten werden soll, besagt, dass die Instanz, die
Rollenerwartungen und Sanktionen bestimmt, sich in dem Ausschnitt
der in Bezugsgruppen geltenden Normen und Sanktionen finden lässt,
der sich auf durch diese Gruppen lokalisierte Positionen und Rollen be-
zieht. Studienrat Schmidt ist Beamter und als solcher den allgemeinen
beamtenrechtlichen Bestimmungen wie den Sondervorschriften und -
gewolmheiten der für ihn zuständigen Behörde unterworfen; er ist Leh-
rer und in dieser Funktion gehalten, den Satzungen und Vorschriften
seiner Standesorganisation zu folgen; aber auch die Eltern seiner Schü-
ler und die Schüler selbst bilden Bezugsgruppen mit bestimmten Nor-
3 Rolle 123

men und Sanktionen, die sich auf das Verhalten des Lehrers beziehen.
Allgemein lassen sich für jede menschliche Gruppe gewisse Regeln und
Sanktionen angeben, mit denen diese Gruppe auf das Verhalten ihrer
Mitglieder und auf das von Nichtmitgliedern, zu denen die Gruppe in
Beziehung tritt , einwirkt und die sich prinzipiell von den Meinungen
der Einzelnen innerhalb oder außerhalb der Gruppe ablösen lassen. In
diesen Regeln und Sanktionen liegt der Ursprung von Rollenerwartun-
gen und ihrer Verbindlichkeit. Die Artikulierung solcher Erwartungen
stellt uns also in j edem einzelnen Fall vor die Aufgabe, zunächst die
Bezugsgruppen einer Position zu identifizieren und sodann die Normen
ausfindig zu machen, die j ede Gruppe im Hinblick auf die in Frage ste-
hende Position kennt." (Dahrendorf 1958: Homo Sociologicus, S. 48)

Die se einschränkende Definition des Begriffs der Roll e auf die Geltung
in einer Bezugsgruppe wird leicht überlesen. Sie ist aber wichti g, denn
Dahrendorf löst den Begriff gleichsam unter der Hand aus der all ge-
meinen kulturellen Nonnativität, die Parsans postul iert hatte. Jetzt er-
hält der Begriff der sozialen Rolle eine viel konkretere Bed eutung,
denn er meint keineswe gs "Verha ltensweisen, über deren Wün schbar-
keit ein mehr oder minder eindruc ksvo ller Consensus der Meinungen"
in der Gesellschaft besteht, sondern n ur solche, "die für den Einze lnen
verbindlich sind und deren Verbindlichkeit institution ali siert ist, also
unabhängig von seiner oder irgendeines anderen Meinung gilt." (Dah-
rendorf 1958, S. 47)
Dahrendorf betont, dass Ge sellschaft eine " ärge rliche" Ta tsache ist.
Das ist sie, weil sie übe r ihre Roll en normativ ist, Entsch eidungen zu
handeln also einschränk t, und weil sie Sanktionen zur Verfügun g hat,
individue lles Handeln also kontroll iert : "Soziale Roll en sind ein
Zwang, der auf den Einzelnen ausg eübt wird - mag dieser als eine Fes-
sel seiner privaten Wün sche od er als ein Ha lt, der ihm Sich erheit gibt,
erlebt werden. Dieser Charakte r vo n Rollenerwartungen be ruht darauf,
dass die Gesell scha ft Sanktionen zur Verfügung hat, mit deren Hilfe sie
die Vors chriften zu erzwin gen verm ag. Wer seine Rolle nicht spielt,
wird bestraft ; wer sie spielt, wird be lohn t, zumindes t aber nicht be-
straft," (Dahrendorf 1958, S. 36) Roll enhandeln erfolgt somit, weil das
Individ uum negative Sanktionen befürchtet ode r positive erhofft.
Die Bedeutung einer Rolle miss t Dahr endorf an der St renge der ge-
sellschatllichen Erwartunge n und dem Gewi cht der gesellschaftlichen
Sanktionen , die dam it verbunden sind. Er un terscheidet zwischen
124 3 Rolle

Muss-, Soll- und Kann-Erwartungen und entsprechenden Sanktionen.


Das verdeutlicht er am Beispiel eines Schatzmeisters in einem Sport-
verem:

Ar t der Art der Sanktione n Sc ha tz meister eines


Er wartu ng pos itiv negat iv Sportvereins

Muss-Erwartung - Gerichtliche ehrliches


Bestrafung Finanzgebaren

Soll-Erwartung Sympathie sozialer aktive Teilnahme


A usschluss am Klubleben

Kann-Erwartung Schä tzung Antipathie freiwi lliges Sammeln


von Geldern

[Dahrendorf 1958: Homo Sociologicus, S. 39)

Mit dieser Differenzierung der nonnativen Erwartungen greift Dahren-


dor f einen zentralen Gedanken von Durkheim auf, den Parsons später
zur Erklärung von Interaktion herangezogen hat: Danach kann Interak-
tion weder mit dem einfachen Reflex auf gegebene Verhältnisse, noch
mit einer rein utilitaristischen Einstellung, sondern nur mit dem morali-
schen Gewicht erklärt werden, den soziale Regelungen haben. Mit ab-
nehmendem Gewicht der Erwartungen nimmt auch das Gewicht der
negativen Sanktionen ab; interessanterweise nimmt aber in gleichem
Maße das Gewicht der positiven Sanktionen zu.
Dahrendorf spricht von der "ärge rlichen Tatsache der Gesellschaft",
aber auch davon, dass sie Sicherheit durch Regeln gibt, die schützen
und leiten: "Gewiss bezieht der Mensch viele seiner Sorgen und Nöte
aus der Tatsache, dass die Gesellschaft ihn in Bahnen und Formen
zwingt, die er sich nicht selbst gewählt oder geschaffen hat. Doch sind
es nicht nur Sorgen und Nöte, die ihm hieraus erwachsen." Ebenso klar
ist, " dass die Tatsache der Gesellschaft ein Gerüst sein kann, das uns
aufrechterhält und Sicherheit gibt." (Dahrendorf 1958, S. 42) Denn die
" Bahnen und Formen", in die die Gesellschaft zwingt, gelten für alle
und machen insofern Verhalten erwartbar. Fragt man zusammenfas-
send, was Rollen bewirken, dann kann man sagen: Sie vereinheitlichen
Handeln, machen es somit regelmäßig, berechenbar und vorhersehbar.
3 Rolle 125

So weit lässt sich gegen Dahrendorfs Argument kaum etwas ein-


wenden, und dennoch haben sich seinerzeit viele Soziologen mit ilun
auseinandergesetzt. Die einen wollten nicht, dass die Dinge so sind, wie
sie nach Dahrendorf sind, die anderen warfen ihm vor, mit seinem Es-
say über die Kategorie der Rolle einer theoretischen Diskussion Vor-
schub zu leisten, die die Entfremdung des Menschen zum Inhalt hat
und sie noch verstärkt. Einige Kritiker hielten Dahrendorf vor, das
Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft antagonistisch zu
sehen. Dem hielt z. B. der deutsche philosophische Anthropologe und
Soziologe HELMUTH PLESSNER (1892-1985) entgegen, dass die Gesell-
schaft keineswegs ärgerlicher Gegensatz, sondern notwendige Voraus-
setzung für die Selbstverwirklichung des Individuums sei. Erst indem
es sich mit etwas außerhalb t seiner selbst identifiziere, werde es sich
seiner Eigentlichkeit bewusst. (vgl. Plessner 1960a, S. 28 u. 34) Dieses
"Außen" ist die Kultur, die Plessner als Kompensation für fehlende
Instinkte des Menschen und insofern als natürlichen Bestandteil seines
Wesens ansieht.
Der wichtigste Einwand kam von FRIEDRICH H. TENBRUCK (1919-
1994), der Dahrendorf vorhielt, er folge "dem düsteren Gedanken der
Selbstentfremdung, der sich als roter Faden durch die Schrift hindurch-
zieht." (Tenbruck 1961 , S. 3) Der Gesamteindruck ist für Tenbruck
eindeutig: " Die Rolle wird als etwas dem Individuum Fremdes von
außen an den Menschen herangeschoben. Rollenhandeln meint die kon-
form isti sche Selbstübergabe des Individuums an die Gruppe. Es drückt
die Ansprüche und Erwartungen der anderen aus." (ebd.) Weil Dahren-
dorf das so sehe, sei es nur konsequent, dass er den Sanktionen, und
hier bezeichnenderweise den negativen, eine zentrale Bedeutung bei-
messe: " Rollen werden ausge führt , weil hinter den Erwartungen der
anderen Sanktionen stehen. Der Zwangscharakter der Rolle entspricht
ihrer Entfremdungstendenz." (ebd.)
Dies wird denn auch der durchgängige Vorwurf sein, dass nach Dah-
rendorfs Konzept Rollen nur gespielt würden, weil die Individuen ne-
gative Sanktionen fürchteten. Und in der Tat hatte Dahrendorf j a ge-

Damit ist Plessners These angesprochen, dass der Mensch das einzige Lebewesen
ist, das sich mit Hilfe des Denkens aus dem Zentrum seines unmittelbaren Milieus
hinausbegeben kann und sich von außen, aus einer "exzentrischen Positionalität"
( t 928, Kap. 7, I) betrachten kann und muss, um sich seiner selbst bewusst zu wer-
den.
126 3 Rolle

sagt: " Wer seine Rolle nicht spielt, wird bestraft; wer sie spielt, wird
belohnt, zumindest aber nicht bestraft ." (Dahrendorf 1958, S. 36) Das
Verhältnis von Individuum und Gesellschaft war für ihn klar geregelt:
Der ärgerl ichen Tatsache konnte jenes leidlich ent gehen, wenn es sich
dieser gegenüber nichts zuschulden kommen ließ! Rollenhand eln war
Sanktionsvenneidungsve rhalten.
Eben diesen Ausgangsp unkt bestritt Tenbruck, indem er behauptete,
dass rein logisch Sanktionen gar nicht der auslösende Faktor sein kön-
nen. Das demonstriert er an einigen Beispielen, die zugleich belegen
sollen, dass Dahrendorf zu Unrecht aus dem Gewicht von Erwartungen
und Sa nktionen auf die Bedeutung von Rollen schließt. Ich zitiere zwei,
in denen es um vitale Interessen der Gesellschaft geht, wo aber Sankti-
onen nicht erfolgen, wenn die gesellschaftlichen Erwartungen nicht
erfüllt werden: " Wer nicht heiratet, setzt sich allenfalls sehr geringen
Sanktionen aus, obschon das Heiraten für die Gesellschaft vital ist.
Man verlässt sich also darauf, dass zum Heiraten nicht genötigt zu wer-
den braucht." (Tenbruck 1961, S. 19) Und das andere Beispiel: "F ür die
modem e Industriegesellschaft vital ist jene Mischung aus rationeller
Lebenseinstellung und Konsumanspruch, die dem wirtschaftlichen Ge-
triebe als Basis dient. Dennoch sind auch hier die Sanktionen relativ
minim al, weil man sich darauf verlassen kann, dass diese Haltungen
normalerweise erzeugt werden." (ebd.)
Wieder andere Kritiker fragten geradezu empört, welches Men-
schenbild Dahrendorf mit dem Homo Sociologicus vertrete. Was sie
vor allem aufbrachte, war wohl Dahrendorfs unbekümmerte Feststel-
lung, dass das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellscha ft so ist,
wie es ist. Es gibt Rollen, und nach ihnen richtet sich das Individuum.
Und nur um diesen Menschen - den homo socio logicus eben - gehe es
in der Soz iologie. Die einen in der Zunft sahen das Individuum in sei-
ner Würde und Einzigartigkeit aufgegeben, die anderen sahen ihre Wis-
senschaft zum Instrument des Konformism us degradiert, und wieder
andere hielten den Gedanken, das Verhältnis zwischen Individuum und
Gesellschaft könnte entfremdet sein, für übertrieben bis falsch.
Genau diese Annahme aber war es, die JÜRGEN H ABERMAS zu einer
grundsätzl ichen Kritik an der Rollentheorie veranlasste. Grundsätzlich
deshalb , wei l er behauptete, dass in der Kategorie der Rolle die Ent-
fremdung des Menschen zum Ausdruck komm e. Habenn as vollzieht
mit seiner Kritik der Rollentheorie den Schritt von einer ordnungstheo-
3 Rolle 127

retischen Begründung des Verhältnisses zwischen Individuum und Ge-


sellschaft, zu einer Theorie des Handeins, für die die Freiheit des Indi-
viduums konstitutiv ist.

3.4 Habermas: Kritik der Rollentheorie


Während Tenbruck das Verhältnis zwischen Individuum und Gesell-
schaft keineswegs als entfremdet ansah, hat JORGEN H Aß ERMAS
(*1929), seinerzeit Philosoph in Heidelberg, genau das grundsätzlich
gegen die Rollentheorie - und damit war natürlich die nach Parsons
gemeint - ins Feld geführt. Er warf ihr vor, sie würde " die gesellschaft.-
liehe Entwicklung als eine geschichtliche ignorieren" und " geschichtli-
che Entwicklung auf die gesellschaftliche Abwandlung der immer glei-
chen Grundverhältnisse reduzieren." (Habermas 1963, S. 239) Im Klar-
text hieß das: Eine auf Rollenanalyse verpflichtete Soziologie nimmt
nicht zur Kenntnis, dass Rollen in konkreten gesellschaftlichen Ver-
hältnissen entstanden sind, in diesen konkreten Verhältnissen eine
" quasi dingliche Existenz gegenüber den Personen" bekommen und
diese sich in den Rollen " entäußern" müssen. (ebd.) Da die gesell-
schaftlichen Verhältnisse durch Macht und nicht durch die Freiheit ge-
kennzeichnet sind, werden sich die Individuen also fremd, wenn sie die
Rollen dieser Verhältnisse spielen.
Genau dieser Zusammenhang muss auch, so muss man Habermas
lesen, bedacht werden, wenn eine soziologische Theorie zur Erklärung
des Zusammenhangs zwischen Individuum und Gesellschaft konzipiert
bzw. herangezogen wird. Es ist also die Frage, welche persönlichen
Wertungen vorab die Auswahl einer Theorie geleitet haben. Diesen
Zusammenhang hatte Dahrendorf ausführlich thematisiert in seinem
Beitrag " Sozialwissenschaft und Werturteil" , der kurz vor seinem Es-
say " Homo Sociologicus" entstanden und etwas später veröffentlicht
worden war. (Dahrendorf 1961b)
In diesem Beitrag geht es um die alte Frage der Wertfreiheit sozial-
wissenschaftlicher Forschung, und im " Homo Sociologicus" sagt Dah-
rendorf vor dem Hintergrund der damaligen Überlegungen, warum er
just diese Theorie zur Erklärung des Verhältnisses von Individuum und
Gesellschaft. ausgewählt hat: " Es besteht keine Gefahr fü r die Reinheit
wissenschaftlichen Tuns, wenn der Soziologe solche prüfbaren Theo-
128 3 Rolle

rien vorzieht, die dem Recht und der Fülle des Einzelnen Rechnung
trage n. Es ist metho disch durchaus unverdäc htig, bei der wissenschaft-
lich en Beschäftigun g mit der Ges ellscha ft den Gedanken an die mögli-
che Anwendung von Resultaten zum Nutzen und Woh l des freien Ein-
ze Inen nicht aus den Aug en zu verlier en." (Dahrendor f 1958, S. 94)
Dieses Bekenntnis reicht Habennas nicht, denn man müsse doch
fragen, wie sich solche Ziele " in der konkreten Situation rational aus-
weisen" ließen und ob diese "erkenntnisleitenden Interessen" nicht
möglicherweise durc h die Wah l so grundlegender Kategorien wie " Ro l-
le" in Frage geste llt würden. Um seine Kritik zu vers tehen, ist ein B lick
auf "die" Rollentheorie vo nnö ten, wie er sie An fang der 60er Jahre sah:

Jürgen Ilabermas: Die quasi din gliche Existenz von Rollen


und die Entäußer ung der Per son
.Die Soziologie betrachtet heute die Menschen als Träger sozialer Rcl-
len. Mit der operationellen Einführung dieser Kategorie erschließt sie
Bereiche des gesellschaftlichen Verhaltens exakter Analyse. Soweit die
als Verhaltenserwartung einer Bezugsgruppe definierte »Rolle« eine
historische Größe darstellt, muss deren Variation im Laufe der Ent-
wicklungsgeschichte der Menschheit soziologischer Untersuchung ent-
zogen bleiben. Vor dieser Schranke machen auch dynamische Theo-
rien, die dem Prozesscharakter des gesellschaftlichen Geschehens eben-
so wie seinen Konflikten gerecht werden wollen, halt.
Erst in einem fortgeschrittenen Stadium der industriellen Gesell-
schaft ist mit dem, was Max Weber die Rationalisierung ihrer Verhält-
nisse genannt hat, die funktionelle Interdependenz der Institutionen so
gewachsen, dass die Subjekte, ihrerseits von einer zunehmenden und
beweglichen Vielfalt gesellschaftlicher Funktionen beansprucht, als
Schnittpunktexistenzen sozialer Verpflichtungen gedeutet werden kön-
nen. Die Vervielfältigung, die Verselbständigung und der beschleunigte
Umsatz abgelöster Verhaltensmuster gibt erst den »Rollen« eine quasi
dingliche Existenz gegenüber den Personen, die sich darin »ent äußem«
und in der zu Bewusstsein kommenden Entäußerung den Anspruch auf
Innerlichkeit entfalten - wie die Geschichte des bürgerlichen Bewusst-
seins, zumal im 18. Jahrhundert, zeigt.
Marx war überzeugt, die Verdinglichurig der Verhaltensweisen auf
die Ausdehnung der Tauschverhältnisse, letzten Endes auf die kapitalis-
tische Produktionsweise zurückführen zu können. Das mag dahinge-
stellt sein; so viel ist jedenfalls gewiss, dass die analytische Fruchtbar-
keit der Rollenkategorie nicht unabhängig von dem Entwicklungsstand
3 Rolle 129

der Gesellschaft ist, an deren Beziehungen sie sich zunächst einmal


bewährt. Wird sie aber in der Anwendung auf gesellschaftliche Ver-
hältnisse schlechthin zu einer universalhistorischen Kategorie verall-
gemeinert, muss die Rollenanalyse mit ihrer eigenen geschichtlichen
Bedingtheit überhaupt gesellschaftliche Entwicklung als eine geschicht-
liche ignorieren - so, als sei es den Individuen äußerlich, ob sie, wie der
Leibeigene des hohen Mittelalters, einigen wenigen naturwüchsigen
Rollen, oder aber, wie etwa der Angestellte in der industriell fortge-
schrittenen Zivilisation, vervielfältigten und beschleunigt wechselnden,
in gewissem Sinn abgelösten Rollen subsumiert sind. In dieser Dimen-
sion der Entwicklung wächst, etwa mit der Chance, sich zu Rollen als
solchen verhalten zu können, sowohl die Freiheit des Bewegungsspiel-
raums in der Disposition der Rollenilbemahme und des Rollenwechsels,
als auch eine neue Art Unfreiheit, soweit man sich unter äußerlich dik-
tierte Rollen genötigt sieht; vielleicht müssen sogar Rollen um so tiefer
verinnerlicht werden, je äußerlicher sie werden.
Eine auf Rollenanalyse verpflichtete Soziologie wird diese Dimen-
sion überspringen, und damit geschichtliche Entwicklung auf die ge-
sellschaftliche Abwandlung immer gleicher Grundverhältnisse reduzie-
ren müssen. Die Rollen als solche sind in ihrer Konstellation zu den
Rollenträgem konstant gesetzt, als sei der gesellschaftliche Lebenszu-
sammenhang dem Leben der Menschen selbst auf immer die gleiche
Weise (...) äußerlich." (llabermas 1963: Zwischen Philosophie und
Wissenschaft: Marxismus als Kritik, S. 238f.)

Rollenth eorie " überspringt" nach der Kritik vo n Habennas die konkre-
ten gesellschaftlichen Verh ältni sse und tut so, als ob es " immer gleiche
Grundve rhäl tnisse" gebe . Diese Soziologie ist blind "gegenübe r dem
histori schen Charakter der Gesellschaft" . (Habermas 1963, S. 239) Man
muss die Krit ik ab er noch we iter lesen, denn implizit wirft Habennas
der Rollentheorie nach Pa rsons vor, dass sie die " gesellschaftliche Ab -
wan dlung immer gleicher Grundve rhä ltnisse" in die spezifischen ge-
sellschaftlichen Verh ältnisse gutheißt.
Später hat Hab ennas seiner Kritik an der Rollentheorie eine etwas
andere Wendung gegebe n. Sie bezog sich nicht mehr in erster Linie auf
die Ges ellschaft, sondern auf die Annahmen über das Gelingen vo n
Hand eln , die seines Eracht ens der Rollentheorie zugrunde liegen. Diese
Kritik erhob er in einer Vorlesung im Jahre 1968, deren Mitschri ft ku rz
darauf als Raubdru ck unter dem Titel "S tichworte zur Theorie der So-
zialisation" bundesweit kursierte und erheblich zu der neuen Sicht auf
130 3 Rolle

"die" Rollentheorie beigetragen hat. Habennas wirft dem " üblichen


Rollenkonzept" vor, "drei Dimensionen unberücksichtigt" zu lassen,
"in denen das Verhältnis des handelnden Subjekts zu seinen Rollen
gefasst werden kann," (Habennas 1968, S. 124f.) Deshalb stellt er drei
Annahmen, die die klassische Rollentheorie seines Erachtens macht,
drei fundamentale Einwände entgegen :
};> Die Rollentheorie geht erstens von der Annahme aus, "dass in
stabil eingespielten Interaktionen auf heiden Seiten eine Kon-
gruenz zwischen Wertorientierungen und Bedürfuisdispositionen
besteht." (Habermas 1968, S. 125) Dieses Theorem bezeichnet
Habermas als Integrationstheorem . Diese Annahme lässt sich
aus der Theorie von Parsons, um den es ja bei dieser klassischen
Rollentheorie geht, so erklären: Die Individuen wünschen nur
das zu tun, was sich in der Gesellschaft als wünschenswert
durchgesetzt hat; wer anderes wünscht, ist potentiell abwei-
chend. Gegen dieses Integrationstheorem stellt Habenn as (in
Anlehnung an A LVIN W. GOULDNER) das Repressionstheorem.
Habenn as nimmt nämlich an, "dass in allen bisher bekannten
Gesellschaften ein fundamentales Missverhältnis zwischen der
Masse der interpretierten Bedürfnisse und den gesellschaftlich
lizenzierten, als Rollen institutionalisierten Wertorientierungen
bestanden hat. Unter dieser Voraussetzung gilt das Repressions-
theorem: dass vollständige Komplementarität der Erwartungen
nur unter Zwang, auf der Basis fehlender Reziprozität, herge-
stellt werden kann." (ebd.) Es gibt also mehr Bedürfuisse als zu-
gelassen werden; wo nicht mehr Bedürfnisse als soziale Rollen
existieren, sind sie unterdrückt worden.
>- Die klassische Rollentheorie - so die Kritik von Habennas -
nimmt zweitens an, dass "in stabil eingespielten Interaktionen
auf beiden Seiten eine Kongruenz zwischen Rollendefinitionen
und Rolleninterpretationen besteht." (Habennas 1968, S. 126)
Gegen dieses so bezeichnete Identitätstheorem setzt Habennas
ein Diskrepanztheorem.
Danach ist "ei ne vollständige Definition der Rolle, die die de-
ckungsgleiche Interpretation aller Beteiligten präjudiziert, (...)
allein in verdinglichten, nämlich Selbstrepräsentation ausschlie-
ßenden Beziehungen zu realisieren." (ebd.) Bei diesem Diskre-
3 Rolle l3l

panztheorem bezieht sich Habenn as besonders auf RALPH Tu R-


NER (role-taking vs. role-making) und auf A NSELM STRA USS und
ER V ING GoFFMAN . Deren Annahmen kann man so zusammen-
fassen: Wo unterschiedliche Standpunkte möglich sind, interpre-
tieren die Menschen nonnalerweise Rollen unterschiedlich.
};> Schließlich kritisiert Habenn as eine dritte Annahme der klassi-
schen Rollentheorie, wonach " eine stabil eingespielte Interaktion
auf einer Kongruenz zwischen geltenden Nonne n und wirksa-
men Verhaltenskontrollen" beruhe; " eine institutionalisierte
Wertorientierung (Rolle)" entspreche "einem internalisierten
Wert {Motiv)." (Habenn as 1968, S. 126) Diesem Konf ormitäts-
theorem setzt Habcnn as das Modell der Rollendistanz gegen-
über, das E RV ING G OFFMAN Ende der 50er Jahre in Abgrenzung
zu Parsons entwickelt hatte.
Danach müsse unterschieden werden zwischen einer "reflexi-
ven Anwendung flexibel verinnerlichter Nonn en von einer kon-
ditionierten Verhaltensreaktion" auf der einen Seite und einer
"z wanghaft automatischen Anwendung rigide verinnerlichter
Nonne n andererseits." (ebd.) Aus den von Goffman beschriebe-
nen Belegen für diese Haltung lassen sich drei Schlüsse ziehen,
erstens dass Rollen nicht vollständig internalisiert werden, zwei-
tens dass sie das auch gar nicht sein müssen, um erfolgreich mit-
einander handeln zu können und drittens das auch gar nicht sein
sollten, um die eigene Individualität im Spiel zu halten: " Auto-
nomes Rollenspiel setzt beides voraus: die Internalisierung der
Rolle ebenso wie eine nachträgliche Distanzierung von ihr,"
(ebd.) Diese Fähigkeit nennt Habenn as Rollenkomp elenz.

Ich stelle die von Habenn as so gesehenen Annahmen der klassischen


Rollentheorie und seine fundamentalen Einwände gegenüber:

Annahmen der klassisch en


funda me nta le Ei nwä nde
Rollentheori e
Integrationstheorem Repressionstheorem
Identitätstheorem Diskrepanztheorem
Kon formit ätstheorem Rollendislanz
3 Rolle

Was ist also der zentrale Vorwurf an die Rollentheorie? Habennas sagt
es ganz deutlich : Sie vernachlässigt "drei Dimensionen möglicher Frei-
heitsgrade des Handelns." (Habennas 1968, S. 126) So schließt das
Integrationstheorem aus, dass wir das Ausmaß der Repressivität in ei-
ner Interaktion durchschauen; das Identitätstheorem sieht nicht vor,
dass wir die Rigidität der Rollendefinitionen durchschauen; und das
Konformitätstheorem sieht nicht vor, dass die Handelnden ihre mögli-
che Autonomie erkennen. (vgl. S. 127) Damit verschiebt Habennas die
Kritik an der Rollentheorie auf die Ebene des Bewusstseins und der
Qualifikation des handelnden Subjekts in und gegenüber den gesell-
schaftlichen Strukturen. Das lag natürlich nahe, da es Haberrnas ja in
seiner Vorlesung um eine Theorie der Sozialisation ging. Wenn er So-
zialisation nicht als bloße Zurichtung des Individuums auf die beste-
henden Verhältnisse verstehen wollte - und das verbot sich aus der von
ihm vertretenen Kritischen Theorie und aus dem Geist der Zeit sowieso
- , dann musste er Rollenhandeln eben als reflektiertes Handeln gegen
herrschende, in sich widersprüchliche Verhältnisse definieren.
So bemisst Habenn as denn auch "die im Sozialisationsprozess er-
worbenen Grundqualifikationen eines handelnden Subjekts in einem
gegebenen Rollensystem" erstens danach, ob der Handelnde der Rol-
lenambivalenz gewachsen ist, also Frustrationstoleranz hat, oder ob er
umgekehrt "die Komp lementarität der Erwartungen in offenem Rollen-
konflikt" bewusst abwehrt und verletzt oder sogar sich und anderen
vorspiegelt, seine Bedürfnisse würden in Wahrheit befriedigt, und so
die Komplementarität zwanghaft aufrechterhält. Er bewertet sie zwei-
tens danach, ob der Handelnde die Zweideutigkeit einer Rolle (Rollen-
ambi guität) zu einer kontrollierten Selbstdarstellung nutzt oder sich
selbst diffus präsentiert oder sich gar restriktiven Rollendefinitionen
ohne Widerstand unterwirft. Schließlich bewertet Habermas die
Grundqua lifikationen daran, ob der Handelnde "s ich relativ autonom
verhält und gut verinnerlichte Nonnen reflexiv anwendet" - das nennt
er fl exible Über-fch-Formation - oder ob er dazu neigt, auf auferlegte
Normen gehorsam zu reagieren oder sie gar zwanghaft anzuwenden.
(vgl. Habenn as 1968, S. 128f.)
Mit diesem Maßstab der Beurteilung des Handelns gegenüber Rol-
lenerwart ungen hat Habermas nicht nur die Nonn ativität der Rollen-
theorie nach Parsons in Frage gestellt, sondern gleichzeitig einen Maß-
stab zur Bewertung des Handeins vorgelegt. Der oben angefiihrte Be-
3 Rolle 133

gri ff der Rollendistan z bekommt nun eine gese llschaftskritische und


identitätsichem de Dimension: Rollendistanz heißt, sich reflexiv mit
Erwartungen auseinanderzusetzen, innerlich und auch explizit die Fra-
ge nach ihrer Legitimät zu stellen. Je nachdem wie die Antwort ausfallt,
steht die Nonnativität von Rollen auf dem Spiel.
Ma n kann sagen, dass mit dieser Krit ik in Deutschland der Übergang
von einer Ordnungstheorie der Roll e zu Theo rien der Interaktion be-
gann . Diese Theori en der Interaktion werden allerdings erst verständ-
lich, wenn man die Theorien des sozialen Handeins betrachtet, auf die
sie sich manchmal beziehen, von denen sie sich aber auch absetzen
oder die sie einfach unter neuen Etiketten weiterführen . Differenzen
und Gemeinsamkeiten zwischen den Theorien der Interaktion und des
soz ialen Handelns werden am Ende des nächsten Kapitels unter Bezug
auf Haberm as' Unterscheidung von vier Handlungsbegri ffen vorge-
stellt. Da dort auch die Verbindun g zur Rollentheorie noch einmal auf-
genomm en wird, kann man dieses Unterkapitel auch als rasche Einfüh-
rung zuerst lesen.
4 Sozia les Handeln
4.1 Verhalten unter gegebenen Umständen oder sinnvolles Han-
deln?
4.2 Weber: Bestimmungsgründ e des Handelns
4.3 Parsons: Alternative Wertorientierungen des Handelns
4.4 Rationa le Wahl, gerechter Tausch, symbolische Transaktion
4.5 "Dualität der Struktur"
4.6 Rationale Wahl trotz .Ji abits" und .Jrames''
4.7 Habennas: Vier Handlungsbegriffe

Das Spektrum der Diskussion über soziales Handeln ist breit.t Zur
Vorgeschicht e einer höchst aktuellen Diskussion gehört eine Theorie,
die im strengen Sinn nicht in die Soziologie, sondern in die Psycholo-
gie, und zwar in eine ziemlich frühe Ausrichtung der Psycholo gie ge-
hört. Ich meine die Theorie des Behaviorismus, nach der Verhalten
durch äußere Bedingungen konditi oniert ist. An sie schloss eine Lern-
theorie an, die den Menschen zu den intelligenten Tieren zählt, die sich
die Bedingungen ihres Verhaltens selbst schaffen. Um die Frage, was
dem Menschen sein Tun bedeuten könnte , an welchem Sinn er es orien-
tiert, geht es in der psychologischen Lemtheorie nicht. Aber genau an
dieser Frage, welchen Sinn die Handelnden mit ihrem Handeln verbin-
den, wird in der Soziologie die Unterscheidung zwischen Verhalten
und Handeln fest gemacht.
Diese Differenzierung steht gleich in der klassischen soziologischen
Theorie des Handeins, der von MAX WEBER, im Vordergrund. Er er-
klärt Handeln aus dem Sinn, den die Handelnden mit ihrem Tun oder
Unterlassen verbinden, wobei dieser Sinn natürlich nicht aus ihnen
selbst geschöpft wird, sondern sich aus den kulturellen Vorgaben er-
gibt, unter denen sie handeln. Konkret sind es Tradition und Sitte, kul-
turelle Muster der Affekte und spezifische Wertorientienmgen, aber
auch die Ziele, die in dieser Gesellschaft als typisch erstrebenswert

Eine Hilfestellung zur Orientierung im weiten Feld habe ich in den letzten Sätzen
des letzten Kapitels angeboten.
4 Soziales Ilandein 135

gelten. Diese Vorgaben leiten unser Handeln, und sie garantieren, dass
wir uns in unserem Handeln in aller Regel auch verstehen.
TALCOlT PARSONS fragt, in welchen Strukturen die Individuen han -
dein und was ihr Handeln fur sie und für die Gesellschaft bedeutet.
Damit verbindet er die Theorie von Weber mit der von Durkheim . Par-
sons versteht unter Gesellschaft die "soziale Struktur" von Handlungen.
Handeln erfolgt wie bei Durkheim unter Befolgung institutioneller
Vorgaben und hat die Funktion, die gesellschaftliche Ord nung zu erhal-
ten. Deshalb komm t in der strukturfunktionalistischen Handlungstheo-
rie der Handelnde nur in Bezug zu sozialen Rollen vor. Im Zusammen-
spiel von kulturellen Werten, sozialen Nonnen und persönl icher Moti-
vation werden zwar individuelle Entscheidungen getroffen, aber sie
sind durch alternative Wertorientierungen sozial begrenzt.
Eine andere Sicht auf das Handeln kommt mit den Theorien auf, die
systematisch vorn individ uellen Akteur und seinen Entscheidungen
ausgehen. Wissenschaftstheoretisch sind die Akteurtheorien dem Erklä-
rungsprinzip des ,,methodologischen Individualismus" verp flichtet.
Nach diesen Theorien sind soziale Strukturen nicht als zwingende
Hand lungsbedingungen, sondern als Handlungsmöglichkeiten zu ver-
stehen. Ocr Akteur verfo lgt selbstgewählt e Ziele, verfolgt Strategien,
sie zu verwirklichen, und setzt die Mitt el ein, die den größten Erfolg
versprechen oder wenigstens den geringsten Aufwand erfordern. Durch
ihr Handeln, zumal es im Zusammenwirken mit dem der anderen Ak-
teure erfolgt, schaffen die Akteu re die Bedingungen weiteren HandeIns,
also Strukturen.
Ein klassisches Beispiel einer Akteurtheorie ist die Austauschtheorie
von GEORGE CASPAR HOMANS, die an die eben erwähnte Lerntheorie
anknüpft. Für Hornans ist Handeln im Prinzip die rationale Wahl von
Strategien in Abw ägung von Kosten und Nutzen. Das soll im ersten
Teil der Überschrift mit dem Begriff der "rationalen Wahl" angedeutet
werden. Dam it ist aber nicht gesagt, dass die Handlungsfolgen auch
rational oder intendiert sind. Die Entscheidungen des Akteurs werden -
bewusst oder unbewusst - in Konk urrenz oder auch in Kooperation mit
anderen Akteuren getroffen. Die Akt eure sind also interdependent, und
sie handeln unter der stillen Ann ahme eines "gerechten Tauschs" . Des-
halb kommen auch spez ifische Konstellationen oder Strukturen des
HandeIns zustande. Auf der Seite der Akteure selbst spielen dann natür-
lich auch die Erwartungen, die sie aneinander haben, und die Deutun-
136 4 Soziales Handeln

gen, die sie über ihr Handeln und das der ande ren vornehmen, eine ent-
scheidende Rolle. Erwartungen und Deutungen verbinden sich eben-
falls zu Strukturen.
Um die Annahm e, dass das "Sozial e" in einer fort laufend en wech-
selseitigen Konstitution von Handeln und Strukturen besteht, geht es
unter der Überschrift "Dualität der Struktur" . Dort wird die These von
ANTHONY GIDDENS vorgestellt, nach der gesellschaftliche Strukturen
nicht an sich, sondern nur in Fenn von Handlungen existieren. Struktu-
ren bedingen Handeln nur insofern, als sie es ermöglichen, umgekehrt
bedingen die Individuen die Strukturen insofern, als sie sich für be-
stimmte Handlungen entscheiden. Handeln ist also strukturiert und es
strukturiert seinerse its Handlungsbedi ngungen. Giddens spricht des-
halb von einer .jfuafity of struct ure".
Die Krei sbew egung Hand eln, Struktur, Hand eln nimmt auch HART·
MUT ESSER an, aber er lenkt den Blick auf einige Rahmenbedingungen
des Hande lns. Er nennt sie .Ji abits" und .Jrames". Sie scheinen auf den
ersten Blick der The se von der rationalen Wahl, die Esser vertritt, zu
widersprechen. Doch weder die Tatsache, dass sich die Hand elnde n an
Routinen ("habits") orientieren, noch die, dass sie Situation en durch die
Angabe eines übergreife nden Ziel s vereinfachen und strukturieren
("framing"), widersprechen dieser These.
Zum Sch luss werde ich als Zusammenfassung der Theorien des
Hand eins und z ur Vorb ereit ung der Theorien der Interakt ion die vier
Handlungsbegri ffe nennen, zwisc hen den en JüRGEN HABERMAS unte r-
schiede n hat.

4.1 Verha lten unt er gegebenen Umstä nden oder sinnvolles Han-
d eln ?
Wir kennen den Fall, dass der Mensch "aus sich heraus", "spon tan"
etwas tut. Hand elt cr dann oder verhält er sich "nur"? Nehmen wir z. B.
die Situation, in der der erste Mensch vor Urze iten durch die Sav anne
lief, plötzlich von einem brüll end en Löwen überrascht wurde und spon-
tan das Richti ge tat, indem er ihn mit der Ese lsbacke erschlug.t Jedes
Tier hätte - natürl ich hätte es keiner Eselsbacke bedu rft! - in einer ähn-
liche n Situation "richtig" reagiert , nämlich instinkti v. Reste des richti-

I Ich weiß, ich missbrauche dieses schöne Bild einer alten Erzählung!
4 Soziales Handeln 137

gen, instinktiven, das heißt nicht-reflektierten Reagierens finden wir


auch noch bei uns modemen Menschen. So schrecken wir instinktiv
zusammen, machen also gewissermaßen unsere Angriffsflächen klein,
wenn unmittelbar neben uns ein lauter Krach losbricht. Umgekehrt wis-
sen wir, dass sich viele junge Leute scheinbar instinktiv ganz groß ma-
chen, wenn der laute Krach jeden Samstag Punkt 23 Uhr und begleitet
von Laserblitzen losbricht. Im ersten Fall ist es eine Reaktion, die zu
unserer biologischen Ausstattung im Umgang mit der natürlichen Um-
welt zählt, im zweiten zu einem Verhalten, das zur sozialen Ausstat-
tung im Umgang mit der vom Menschen geschaffenen künstlichen
Welt gehört.
Auch scheinbar spontane Reaktionen haben eine Vorgeschichte, die
durch die spezifische Sozialisation in der Gesellschaft geprägt ist. Ein
Kind der Südsee gerät wahrscheinlich beim ersten Feuerwerk in Panik
(wie Freitag seinerzeit beim BüchsenknaII), wohingegen die Kinder in
Hagen bei jeder Leuchtrakete .ah!" schreien. Während unsereiner
spontan aus dem Zimmer rennt, wenn er eine fette Spinne sieht, fällt
einem anderen spontan ein, dass ihm ein freundliches Schicksal wieder
einmal einen billigen Mückenfanger frei Haus geliefert hat.
Doch um diese mehr oder weniger spontanen Reaktionen geht es
nicht, sondern um gelerntes Verhalten unter gegebenen Umständen.
Nehmen wir wieder das Beispiel mit dem inszenierten lauten Geräusch
Samstagabend Punkt 23 Uhr. Wir könnten uns j a vorstellen, wenn wir
alle Menschenj eden Samstagabend in diese Situation brächten, würden
nach einiger Zeit wahrscheinlich nur noch die Renitentesten so tun, als
ob sie erschrocken wären. Alle anderen hätten gelernt, diese spezifische
Ausformung von Geräuschen als Aufforderung, sich ganz zwanglos zu
geben, zu verstehen. Und da alle anderen das auch so sehen und sich
gegenseitig durch ihr Verhalten auch bestätigen, reagiert man letztlich
quasi instinktiv und automatisch auf die immer gleiche Situation. Die-
ses Beispiel öffnet natürlich die schönsten Aussichten, wie man Men-
schen dazu bringen könnte, sich in einer bestimmten Weise zu verhal-
ten: Man muss nur bestimmte äußere Bedingungen herstellen, um be-
stinunte Dinge dann zu lernen. Das ist der Punkt, an dem sich die Fra-
ge, was der Unterschied zwischen Verhalten und Handeln ist, gut be-
antworten lässt.
138 4 Soziales Handel n

Von Verha lten sprechen wir immer da nn, wenn die ge lernte Reakti-
on auf äußere Bedin gungen gemeint ist. Der Psych ologe FREDERICK B.
SKINNER entw ickelte, wie gesagt , das Reiz-Reaktions-Schema weiter,
indem er nachwies, dass Tiere durch Le rne n am Erfolg ihr Verha lten so
organisieren. dass sie ohne die langen Umwege durch Versuch und
Intum direkt zum Erfolg komme n. Die Tauben, die nach vie len vergeb-
lichen Versuc hen. die Fu Uerklappe zu öffnen, endlich auf den Trichter
gekommen sind. dass da s Drücken der grü nen Taste zu m Erfolg führt .
drUcken schließ lich von vornhere in auf die grüne Taste. S ie schaffen
sich die Bedingungen des weiteren Verhaltens selbst. Der Soziologe
GEORGE CASPAR HO:MANS, der mit Skinner befreundet war, meint . dass
es zwi schen den Tau ben in der Psych ologie und dem Menschen in der
Soziolog ie im Prinzip kei nen Unterschied! gebe. Lerne n hei ßt, aus Re-
akt ionen auf eigenes Verh alte n Sc hlüsse zu ziehen. Das wiederum setzt
den Menschen in die La ge , die Bedi ngungen sei nes weiteren Verhal-
tens auch zu manipu lieren . Er tut, was nützlich ist, und vermei det. was
keinen Erfolg bringt.
T heori en. die von die se m Erklärun gsp rinz ip der Psyc hologie ihren
Au sgang ne hmen . ist vorgeworfen worden. sie seien redu kt ionistisch,
weil sie soziale Prozesse und Strukturen auf psyc hisc he Prozesse zu-
rUckführten und soziologisc he Aussagen d urch psyc hologisc he Hypo -
thesen ersetzten. (vgl. Hillm ann 1994. S. 90 1) Wie ich gleich zeigen
werde, betrachten d ie pro minentesten soziologi sc hen Theorien des
Ver haltens, die sich auf die Psyc hologie bezi ehen , das nicht als Vor-
wurf, so ndern zeigen. wie frucht bar dieser Ansatz ist. Wenn sie den-
noch von Handeln statt von Verhalten sprec hen, da nn hängt das d amit
zusammen, dass sie auf die konstrukti ve Leistun g der Individuen hin -
wei se n. Sie wählen unter Handlun gsmöglichk eiten, ziehen die Selekti-
onen der andere n in Betracht, tausc hen sich mit ihnen über d ie Bedeu-
tu ng der Sit uation und die Ziele ihres Handeins aus, kurz sie verle ihen
der Hand lungssituation Sinn.
Sinn ist in der Tat, wie es der Bielefelder Soziologe NIKLAS LUH-
MANN ( 1927- 1998) einmal gesagt hat, ein - oder vie lleic ht sogar der? -
Gru ndbegriff der Soziologie . Die spezi fisc he Funktio n des Sinn s sieht
Luhm ann in der Reduktion VOll Komplexität. Er ste llt fest. dass "der

Ich verweise vorsichtshalber noch einmal auf meine Anmerk ung über Tauben und
Falken auf S. 80 !
4 Soziales Handeln 139

Sinnbegri ff (...) die Ord nungsfonn mensc hlichen Erlebe ns" ist. (Luh-
mann 1971. S. 3 1) Wenn wir etwas erleben, dan n wissen wir, dass es in
diesem Augenb lick auch noch etwas anderes außerhalb dieser Sit uation
gib t, un d wir ahnen auch, dass die Situation selbst auc h ganz anders
erlebt we rden kann. Erleben we ist immer über sich hinaus. " Unaus-
weichlich bleibt daher das Problem, die Aktualität des Erlebe ns mit der
Transzend enz sei ner anderen Möglichkeiten zu integrieren, un d unaus-
we ichlich auch die Fo rm der Erlebn isve rarbeitu ng, die di es leistet. Sie
nennen wir Sinn." (Luhmann 1971, S. 3 1)

Nikl as Luhmann: Sinn als Reduktion von Komplexität


"Worin besteht nun, genauer gefasst, jenes Problem der Integration des
Brlebens mit seinen es transzendierenden Möglichkeiten? Eine funktio-
nale Definition des Sinnbegriffs erfordert eine Antwort auf diese Frage.
Die im Erleben sich abzeichnende Differenzierung von Aktualität
und Potentialität hat ihre wichtigste Eigentümlichkeit im Charakter der
Überftille des Möglichen, die bei weitem das überschreitet, was hand-
lungsmäßig erreicht und erlebnismäßig aktualisiert werden kann. Der
jewei ls gegebene Erlebnisinhalt zeigt in der Form von Verweisungen
und Implikationen weit mehr an, als zusammengenommen oder auch
nacheinander in den engen Belichtungsraum der Bewusstheit einge-
bracht werden kann. Dem gerade akut bewussten Erleben steht eine
Welt anderer Möglichkeiten gegenüber. Die Problematik dieser Selbst-
überforderung des Erlebens durch andere Möglichkeiten hat die Dop-
pelstruktur von Komplexität und Kontingenz. Durch den Begriff Kom -
plexität soll bezeichnet werden, dass es stets mehr Möglichkeiten des
Erlebens und Handeins gibt, als aktualisiert werden können. Der Be-
gri ff Kont ing enz soll sagen, dass die im Horizont aktuellen Erlebens
angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens und Handelns nur Mög-
lichkeiten sind, daher auch anders ausfallen können, als erwartet wurde.
( ...)
Komplexität heißt also praktisch Selektionszwang. Kontingenz heißt
praktisch Enttäuschungsgefahr und Notwendigkeit, sich auf Risiken
einzulassen. (...)
Erleben und Handeln ist unaufh örliche Selektion, darf aber die
nichtgewählten Alternativen nicht ausmerzen und zum Verschwinden
bringen, bis ein Zufall sie wieder vor Augen führt, sondern darf sie nur
neutralisieren. Komplexität darf mithin nicht, wie es im Computerjar-
gon heißt und für Maschinen auch adäquat ist, »vcmichtet« werden,
sondern wird nur gleichsam ausgeklammert, von Moment zu Moment
140 4 Soziales Handeln

in immer anderer Weise reduziert und bleibt dabei bewahrt als allge-
mein konstit uierter Selektionsbereich. als »woraus. immer neuer und
immer anderer Wahlen - als Welt . Mit diesen Überlegungen haben wir
das Bezugsproblem abgeta stet, im Hinblick auf welches der Sinnbegri ff
sich funktiona l definieren lässt. Sinn fungiert als Prämisse der Erleb-
nisverarbe itung in einer Weise, die die Auswahl von Bewusstseinszu-
ständen erm öglicht, dabei das jeweils nicht Gewählte aber nicht ver-
nichtet, sonde rn es in der Fonn von Welt erhält und zugänglich bleiben
lässt." (Luhmann 1971: Sinn als Grundbe griff der Soziologie , S. 32-34)

Sinn ist ein Prozess, in dem Komplexität reduziert und die Handlungs-
möglichkeit selegiert wird, die den subjektiven und objektiven Bedin-
gungen am besten zu entsprechen scheint.
Was Luhmann hier ausgefü hrt hat, darf aber nicht so verstanden
werden, als ob es nur um das individuelle Erleben und Handeln ginge.
Im Gegenteil, das Individuum in der soziologischen Betrachtung steht
immer in Beziehung zu anderen Individuen, und sein Handeln hat im-
mer etwas mit dem Handeln der anderen zu tun. Natürlich kann ich
auch mit der sorgfaltigen Drapierung meines Kopfkissens einen Sinn
verbinden (dass ich mir z. B. jeden Morgen ein schönes Beispiel meiner
Ordentlichkeit liefern will) oder den Nachrichtensprecher lauthals be-
schimpfen, weil er m. E. bestimmte politische Meinungen immer mit
einem ironischen Lächeln vorträgt, doch das ist eher ein Fall für den
Psychologen als für den Soziologen. Sobald sich das Ganze aber vor
den Augen anderer abspielt, indem ich z. B. meiner Frau demonstriere,
wie man Betten "richtig" macht, ist die Soziologie gefragt. Denn dann
geht es um soziales Handeln und die Frage, welchen Sinn Handelnde
mit ihrem Handeln und dem der anderen - die uns z. B. beobachten -
verbinden.
Von dieser Frage, welcher Sinn gemeint ist, wenn Handelnde sich in
ihrem Handeln aufeinander beziehen, geht die bekannteste Definition
von Soziologie und knappste Gegenposition zu den psychologischen
Theorien des Verhaltens aus, die Definition von MAx WEBER. Um sei-
nen Begri ff des sozialen HandeIns geht es in der ersten soziolog ischen
Theorie des Handeins.
4 Soziales Handeln 141

4.2 Weber: Bestimmungsgründe des Handeins


Als ich MAX WEBERS Erklärung, was Ordnung ist und wie sie sich er-
hält, vorgestellt habe, habe ich auch ! seine De finition der Wissenschaft
von " gesellschaftli chen Zusammenhängen" zitiert: "Jede Wisse nschaft
von geis tigen oder gesellschaftlichen Zusammenhängen ist eine Wis-
senschaft vom menschlichen Sichverhalten (wobei in diesem Fall jeder
geistige Denk akt und jeder psychische Habitus mit unter diesen Begriff
fällt.)" (Webe r 1917, S. 387). An dieser Definition fallt auf, dass da s
Spektrum des "SichMVerhaltens" sehr breit ist. Es reicht vom Denke n
über die psych isch e Verfassung bis zum konkreten Hand eln. Erinnern
wir uns auch an die zwe ite Definition der Wissenschaft , mit der Weber
die "Soziologischen Grundbegriffe" beginnen lässt. Danach soll Sozio-
logie heißen "eine Wissen schaft, welche soziales Handeln deut end ver-
stehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkunge n ursächlich
erklären will." (Weber 1920b, S. 653)
Wie passt diese enge re Defini tion mit der ersten zus ammen, und was
hat Sic h-Verhalten mit soz ialem Handeln zu tun? Diese Fragen sind
nicht leicht zu bean tworten, da die diesbezüglichen Ausfü hrungen, wie
vieles bei Webe r, kompliziert nach Geist und Sp rache sind.z Ich begin-
ne mit Webers berühmter Definition des sozialen Hand eins :

l\1ax Weber: Handeln und soziales Handeln


,,»)Handeln« soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres
oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und inso-
fern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn ver-
binden. »Soziales« Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, wel-
ches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf
das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orien-
tiert ist." (Weber 1920b: Soziologische Grundbegriffe, S. 653)

Nur wenn wir mit unserem Verhalten irgende inen Sinn verbinde n,
sprechen wir von " Han deln", und nur we nn Menschen irgendeinen
Sinn mit dem Verhalten untereinander verbinden, sprechen wir von

Ich werde auch noch andere Aussagen von Weher wiederholen müssen. Bena ch-
ten Sie das als Chance der Verfestigung Ihrer Gedanken beim Lesen.
2 Weber selbst warnt in einer Vorbemerkung, er werde "unvermeidlich abstrakt und
wirklichkeitsfremd wirkende Begriffsdefinitionen" vorstellen. Wohl wahr! Lassen
Sie sich aber nicht davon abhalten, sie wieder und wieder zu lesen. Es nützt.
142 4 Soziales Handeln

"sozialem Handeln". Wenn ich vor Müdigkeit vom Fahrrad falle, ist es
kein Handeln, aber wenn ich vom Fahrrad springe, weil sich plötzlich
die Straße vor mir auftut, ist es Handeln. Es macht Sinn filr mich.
Wenn ich in die Hände klatsche, weil ich mich freue, ist es Handeln,
aber kein soziales Hand eln, aber wenn ich in die Hände klatsche, um
mit den Fans unsere Mann scha ft anzufeuern , dann ist es soziales Han-
deln. Es macht Sinn, und zwar ruf uns. Sinn heißt, dass es eine rationa-
le Erklärung für das Handeln gibt, dass wir also mit unserem Handeln
etwas Bestimmtes meinen und das dem anderen gegenüber zum Aus-
druck bringen und dass wir meinen, auch der andere habe mit seinem
Handeln etwas ganz Bestimmtes gemeint. An diesem wechselseitig
"gemeinten Sinn" ist soziales Handeln orientiert.
Weber betont, dass es beim so definierten sozialen Handeln nicht um
irgendeinen objektiv "richtigen" oder einen metaphysisch begründeten
"wahren" Sinn (Weber 1920b, S 654), sondern um den subjektiv "ge-
meinten" Sinn! geht. Nach dieser wichtigen KlarsteIlung bestimmt
Weber den Begriff des sozialen HandeIns genauer:

Max Weber: Der Begriff des sozia len Han dein s


1. "Soziales Handeln (einschließl ich des Unterlassens oder Duldens)
kann orien tiert werden am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig
erwarteten Verhalten anderer (Rache für frühere Angri ffe, Abwehr ge-
gcnwärtigcn Angri ffs, Vcrteidigungsmaßregeln gegen kilnftige Angrif-
fe). Die »anderen« können Einzelne und Bek annte oder unbestimmte
Viele und ganz Unbekannte sein. (»Geld« z. B. bedeutet ein Tauschgut,
we lches der Handelnde beim Tausch deshalb annimmt , weil er sein
Handeln an der Erwartung orientiert, dass sehr zahlreiche, aber unbe-
kannt e und unbestimmt vie le Andere es ihrerseits kilnftig in Tausch zu
nehmen bereit sein werden).
2. Nicht jede Art von Handeln - auch von äuße rlichem Handeln - ist
»soziales« Handeln im hier festgehaltenen Wortsinn. Äußeres Handeln
dann nicht, wenn es sich lediglich an den Erwartungen des Verhaltens
sachlicher Objekte orientiert. (...)

Alfred Schütz (1932) hat kritisiert, dass auch diese Einschränkung nicht erkläre,
wie der Sinn denn überhaupt zustande kommt. Wer nachlesen will, wie Schütz die
Konstitution von Sinn bis zu den passiven Prozessen nachzeichnet, in denen sich
Erlebnisse in uns ablagern und über Bewusstseinsleistungen in Erfahrungen ver-
wandelt werden, mit denen wir dann uns die Wirklichkeit konstruieren, kann das
nachlesen in Abels 1998, Kap. 3.
4 Soziales Handeln 143

3. Nicht je de Art von Berührung von Menschen ist sozialen Charakters,


sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des anderen orientiertes eigenes
Verhalten. Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. ist ein bloßes Er-
eignis wie ein Naturgeschehen . Wohl aber wären ihr Versuch, dem an-
deren auszuweichen, und die auf den Zusammenpra1t folgende Schimp-
ferei, Prügelei oder friedliche Erörterung »soziales Handeln«.
4. Soziales Handeln ist weder identisch a) mit einem gleichmäßigen
Handeln mehrerer, noch b) mit je dem durch das Verhalten anderer be-
einflussten Handeln. a) Wenn auf der Straße eine Menge Menschen
beim Beginn eines Regens gleichzeitig den Regenschirm aufspannen,
so ist (nonnalerweise) das Handeln des einen nicht an dem des andern
orientiert, sondern das Handeln aller gleichartig an dem Bedürfnis nach
Schutz gegen die Nässe. - b) Es ist bekannt, dass das Handeln des ein-
zelnen durch die bloße Tatsache, dass er sich innerhalb einer örtlich zu-
sammengedrängten »Messe« befindet, stark beeinflusst wird (..): mas-
senbedingtes Handeln." (Weber 1920b: Soziologische Grundbegriffe,
S.670-672)

Ich will einige Erläut erungen geben. Die zeitliche Dimension des sozia-
len Handeins ist ev iden t. Die zweite Differenzierung kann man sich an
einem Beispiel klar mach en. Wenn ich beim Mikadospiel au f die Tücke
der wackligen Stäbchen reagiere, dann ist das kein soz iales Hand eln.
We nn ich aber einen Zusammenbruch des Haufens herbeiführe in der
Hoffnung, dass dann einige Stäbchen zur Se ite rollen und meine Toch-
ter endlich auch mal einen Punkt bekomm t, dann ist es soz iales Han-
deln.
Die dritt e Differenzi erung hat Weber selbst wiede r erläutert. Ich will
sie noch weiter komm entieren, weil daran deutlich wird, warum ich
später Webe rs Begriff des sozialen Handeins unter der Präm isse, dass
die Handl ungssituation das erste am Sinn des HandeIns eines anderen
orientierte Handeln überdauert und eine Reaktion eines zweiten erfolgt,
auf den - von ihm nat ürlich noch nicht benutzten! - Begriff der Inter-
aktion zu führe. t Ich schmücke Webers Beispiel mit dem Zusamme n-
stoß zweier Rad fahrer aus. Wenn die zwe i Radfahr er ineinander knal-
len, dann ist das im soz iologischen Sinn ein Ereignis, das nichts mit
Hand eln zu tun hat. Auch die Tatsache, dass an diesem beda uerlichen
Ereignis zw ei Individuen beteiligt sind, macht das Ereignis nicht zum
sozialen Handeln. Wenn aber, so malt Weber die Koll ision aus, beid e

I Vgl. unten S. 180 Anm. I und Kap. 5.2 Weber: Soziale Beziehung", S. 193.
144 4 Soziales Handeln

sich anschließend prügeln, dann sprechen wir von "sozialem Handeln",


denn das Handeln des einen ist an dem Sinn des Handeins des anderen
orientiert. Selbst wenn wir den unwahrscheinlichen Fall nehmen, dass
der eine dem anderen eine runterhaut und der so Gezüchtigte ergeben
stillh ält. wäre das soziales Handeln, denn er reagiert j a, wenn auch in
ungewöhnlicher Form. Aber eigentlich reichte es schon, wenn einer
dem anderen eine Ohrfeige gibt, um von sozialem Handeln zu spre-
chen, denn Weber hatte ja definiert, dass Handeln "seinem von dem
(...) Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezo-
gen" sein müsse. (Weber 192Gb, S. 653) Im konkreten Fall hat A den
Sinn des Ereignisses sofort verstande n: B ist ein rücksichtsloser Rowdy
und verdient deshalb eine Ohrfeige. Das wär' s dann von seiner Seite.
Das Handeln von B ist in seinem Ab lauf natürlich umgekehrt an dem
gemein ten Sinn des Handeins von A orientiert: Meint je ner, dass dieser
im Recht ist, hält er still; meint er, dass der andere sich unverhältnis-
mäßig aufplustert, schlägt er zurück.
Bei der vierten Differenzierung helfen vielleicht folgende Beispiele:
Wenn ich einen Regenschirm aufspanne, um mich wie alle anderen
auch vor Nässe zu schützen, ist es kein soziales Handeln. Wenn ich
aber keinen Regenschirm aufspanne, weil bestimmte Leute, an denen
ich mich orientiere, das auch nicht tun (in einem bestimmten Alter ist
das woh l so), dann ist das soziales Handeln. Oder: Wenn zwei Leute
den Regenschirm aufspannen, um dam it zugleich den Abstand zwi-
schen sich zu vergrößern, dann ist es soziales Handeln . Und: Wenn nur
einer den Regenschirm aufspannt in der Hoffnung, dass die andere sich
unterhakt, ist es ebenfalls soziales Handeln. Den letzten Fall des durch
andere beeinflussten Verhaltens kann man sich schließlich an folgen-
dem Beispiel klar machen: Wenn ich nach einiger Zeit merke, dass ich
wie alle anderen Zuschauer me ine Fußballmannscha ft mit einem
Schlachtgesang anfeuere, ist es kein soziales Handeln. Ich habe mich
unbewusst anstecken lassen, ohne darüber nachzudenken. Wenn ich
aber nach reiflicher Überlegung zu dem Ergeb nis komme, dass ich
durch Mitsingen mein Scher flein dazu beitrage n könnte, drohendes
Unhe il von meiner Mannschaft abzuwende n, dann ist es sozial es Han-
deln. Ich orientiere mich nämlich an dem Sinn des Handeins der ande-
ren. Und als Beispiel fü r ein Handeln, das durch die Masse bedingt ist,
nenne ich die Situation, wo der Pulk Sie in die Disco schiebt, obwohl
Sie gerade beschlossen hatten, nach Hause zu gehen: Wenn Sie sich mit
4 Soziales Handeln 145

schieben lassen, ist es ke in soziales Handeln, we nn Sie den Rückwärts-


gang ein legen, schon.
Der Unterschie d zw ischen Handeln und sozialem Handeln ist, dass
letzteres immer seinem Si nn nach auf das Verha lten anderer bezogen.
Na türlich, sagt Weber, sind die Übe rgä nge fließen d.
Weber fragt nun weiter, was uns veranlasst, in einer besti mmten
Weise zu handeln. Das wäre die Frage nach dem Sinn, den wi r mit ihm
verbinden. Die Antwort ist nicht übe rraschend: Exakt kann man es in
der Regel nicht sage n. Gleichwo hl kann man grobe Unterschei dunge n
der Motive des Hand eins vornehmen. Weber nennt sie .Bestimmungs-
grü nde sozialen Handeins": Es sind in Rein form vier.

Mal' Weber : Bestimmungsgr ünde des sozialen Handeins


"Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1.
zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen
der Außenwelt und von andren Menschen und unter Benutzung dieser
Erwartungen als »Bedingungen« oder als »Mi ttel« für rational, als Er·
folg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke, 2. wertrational: durch
bewussten Glauben an den - ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie
immer sonst zu deutenden - unbedingten Eigenwert eines bestimmten
Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, 3. affek-
tuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen.
4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit." (Weber 1920b: Soziolo-
gische Grundbegriffe, S. 673)

Gehen wir die Bestimm ungsgründe des sozialen Hande Ins einze ln
du rch .
)- Das soziale Handeln kann erstens zweckrational bestimm t sein,
d. h. es werden gezielt bestimmte Mittel eingesetzt, um bestimm-
te Zwecke zu erreichen. .Zweckrational hand elt, wer sein Han-
deln nach Zweck, Mitt el und Nebenfolgen orientiert und dabei
sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die
Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen
Zwecke gegeneinan der ration al abwägt." (1920b, S. 675)
)- Zweitens kan n soz iales Handeln wertrational bestim mt sein .
" Rein wertra tiona l hande lt, wer ohne Rücks icht auf die vora us-
zusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung." Es
ist ein " Handeln nac h »Geboten« oder gemäß »Forderungen«,
die der Hand elnd e an sich ges te llt glaubt." (S. 67 4) D ieses Han-
146 4 Soziales Handeln

dein ist häufi g mit unb edingtem Geho rsam verb und en . Beispiele
finden wir in religiösem Verhalten und im Verhalten unter be-
stimmten Vorstellungen von Disziplin und verbindlichen Aufga-
ben. Das Handeln fundamentalistischer Bewegungen ist so be-
grü ndet , aber auch das Hand eln von Offizieren, die sich einem
bestimmten Ehrencodex verpflichtet fühlen. Die ökologische
Bewegung handelt nach bestimmten Werten, und eine konse-
quent e christliche Nächstenliebe fühlt sich bestimm ten Werten
verpflichtet. Ab er auch ganz andere Überzeugungsgemeinschaf-
ten könne n nach bestimmten Werten handel n. Für alle gilt, dass
für die Ziele des Handelns erst in zwe iter Linie Zustimmung
nach Logik und Ration alität, sondern in erste r Linie Zustimmung
nach Gefühl und Überzeug ung gesucht wird. Se lbst wo die Ziele
des Handelns obj ektiv von irrational gese tzten Wertungen be -
stimmt sein mögen, ist das Handeln , in diesem Fa ll die Verfo l-
gung der Ziele, in der Regel rational, d. h. kon sequ ent. Beispiele
für dies e Vermischung wertrationalen und zwec kra tion alen Han -
delns ist das Opfer der christlichen M ärtyrer ebe nso wie das OpM
fer ma ncher politisch entschiedener Üb erzeu gungstäter der Ne u-
ze it.
>- Die dritte Orientierung nennt Web er affektuell. insbesondere
emotional. Das Handeln kann ein e hemmungslose Reaktion au f
einen äußeren Reiz od er ein Ausbruch mä chti ger Gefü hle sein.
Im strenge n Sinn, wo dieses Handeln also ohne Refle xion, also
Rat ion alisierung, erfo lgt, steht das affektuelle Han deln "an der
Grenz e und oft jenseits dessen, was bew usst »sinnha ft« orien tiert
ist" . (Weber I920b, S. 674)
>- Viertens kann das soziale Hand eln traditional bestimmt sein. In-
sofern es "se hr oft nur ein dumpfes in der Richtung der einmal
eingelebt en Einstellung ablaufe ndes Reagieren au f gewohnte
Reize" ist, steht auch dieses Handeln im strengen Sinn "ganz und
gar an der Grenze und oft j enseits dessen, was man ein »sinn-
haft« ori entiertes Hand eln Oberhaupt nennen kann". Und Weber
fuhrt fort : " Die Masse alles eingeleb ten All tagshandelns nähert
sich diesem Typus." (vgl. S. 673f.) Beim traditiona len Handeln
result ieren Zie le und Verlauf des Handelns aus der Gewohn heit,
ohne dass viel darüber nachgedacht wird.
4 Soziales Handeln 147

Diese Differenzierung hat natürlich nur heuristische n Wert und dient


nur dazu , die vorrangige oder auffällige Orientieru ng zu bezeichnen,
denn soziales Handel n ist selten "nu r in der einen oder der andre n Art
orientiert," (Weber 1920b, S. 675) Immer werden sich die Erschei-
nungsfonnen als komplex darstellen, und die Unterscheidung, die Max
Weber getroffen hat, ist eine idealtypische, die kein Abbild der Wirk-
lichkeit ist. Diese Arten der Orientierung sind lediglich "für soziologi-
sche Zwecke geschaffene , begriffl ich reine Typen, denen sich das reale
Handeln mehr oder minder annähert oder aus dene n es - noch häufiger
- gemischt ist," (S. 676) Die Unterscheidung der Bestimm ungsgrt.inde
sozialen Handeins lässt sich nur treffen mit Hilfe solc her Konst rukte
"reiner" Forme n des sozialen HandeIns.
Die von Weber ange nommenen Bestimmungsgründe des sozia len
HandeIns bilden de n Hintergrund für die Differenzie rung der Orienrie-
rungen, die TALCOTf PARSONS bei der Beschreibu ng und Erklärung des
Handeins annimmt

4.3 Parsonst Alternative Wertorient ier ungen des Handeins


Der Konsens über Werte und Nonnen ist für TALCOTf PAR S O~ S Erklä-
rung und Bedingung sozialer Integration.t Werte und Nonnen werden
den Individuen im Prozess der Sozialisationä nahegebracht. Sie stim-
men ihnen freiwillig zu, weil sie ihnen als bewäh rt erscheinen , oder
auch notgedrungen, weil Abweich ungen sanktioniert werden. Im Pro-
zess der Internalisierun g werden die Werte Teil der Persönlichkeit
Der Schluss, der aus Parsons' Erklärung der Stabilität einer sozialen
O rdnung und aus der Theorie der Sozia lisation gezogen werden kann,
liegt auf der Hand: Die nonnative Integration, also die Anerkennung
soziale r Werte und Nonnen, ist auch Bedin gung gemeinsamen Han-
delns . Gleichzeitig ist die Anerkennung sozialer Werte und Nonnen
aber auch Konsequenz dieses HandeIns. Gesellschaft en tsteht aus
/landlungen und besteht in Handlun gen - so könnte man die Grundan-
nahme, die Parsons in seine m ers ten Hauptwerk "The Structure of So-
eial Action" aus dem Jahre 1937 vertritt, zusammenfassen.

Vgl. Band 1, Kap. 3.9 .,Normative Integration", S. 133f. und in diesem Band Kap.
1.4 .werte bestimmen die Richtung des Hande1ns", S. 33f,.
2 Vgl. oben Kap. 2.6 .Herstellung funktional notwendiger Motivation", S. 9 1.
148 4 Soziales Handeln

Handlungen erfolgen nicht zufällig, sondern weisen eine bestimmte


Struktur auf, das heißt, sie folgen einer bestimmten Ordnung und sind
aufe inander bezogen. Außerd em haben sie eine bestimmte Funkt ion,
das heißt sie haben füreina nder eine bestimmte Bedeutung. Den Zu-
sammenhang von Struktur und Funktion fasst Parsan s unter dem Be-
griff des Systems . Das habe ich an anderer Stelle schon dargelegt.t
Da die Gesellschaft als Ge samtheit aller Orientieru rigen und Hand -
lungen verstanden wird und da je des Handeln d urch die generellen
Werte bestimm t wird, bezeichne t Parsons die Gesellschaft auch als all-
gemeines Handlungssystem.z Es setz t sich aus Subsystemen zusammen,
in denen die Elemente des Handeins j e spezifisch organisiert sind. Par-
sons un terscheidet zwischen vier S ubsys temen :
• Organ ismisches System , wom it im Wesentlichen die biolog ische
Verfa ssung des Me nschen gemei nt ist.
• Persönlichkeit ssystem, das die psychische und motivationale
Verfassung des Individuums meint.
• Soziales Syst em , das die konkreten und symbolischen Interaktio-
nen von Individuen umfasst.
• Kulturelles System, in dem die Werte und Verpflichtunge n einer
Gesellschaft aufgehoben sind und das insofe rn normati ve Funk -
tion hat.
Diese Su bsyste me bilden also zusammen da s allgemeine Handlungs-
system. Sie stehen in einer Hierarchie , wobei dem kultu rellen Sys tem
ein domini erender Ei nfluss zukommt, den n die kulturellen Werte und
Nonnen strukturieren jegliches Handeln, we il sie dem Indi viduum im
Prozess der Sozialisation nahe gebracht worden sind. Über die Werte
besteht Konsens, weshalb Parsons das kulture lle System auch als .aha-
red symbolic system" bezeichnet. Der Konsens bzw. - so muss man im
Vorgriff auf mögliche D issense sagen - die funk tionalen Kontrollme-
chan ismen, die der Gesellschaft zur Verfügung stehen, um Abweich un-
gen vom Kon sens zu sanktio nieren, sichern das gemeinsame Zusam-
menleben .

Vgl. Band 1, Kap. 3.9 .Normauve Integration", S. 128f., und Kap. 6.1 ,,s ystem-
theorie der Strukturerhaltun g".
2 Vgl. Band I, Kap. 6.2 .D as allgemei ne Handlungssystem und seine Subsysteme".
4 Soziales Handeln 149

Jede Fonn sozialer Ordnung und jedes Handeln stellen nach dieser
Theorie des allgemeinen Handlungssystems das Ergebnis des Zusam-
menspiels von kulturellen, sozialen und persönlichen Faktoren dar.
So weit zum makrosoziologischen Aspekt. Bevor wir nun einen
Blick auf die konkrete Handlung werfen, will ich noch einmal an die
gerade referierte Antwort Parsans' auf die Frage der sozialen Integrati-
on, d. h. der Erklärung und des Erhalts sozialer Ordnung erinnern: Im
Prozess der Sozialisation internalisiert das Individuum allgemein ver-
bindliche Werte und Nonnen. Parsons stellt dieser Antwort nun eine
zweite an die Seite: Die Gesellschaft funktioniert als ein System gegen-
seitiger Erwartungen und wechselseitiger Wertorientierungen der Han-
delnden. Diese Annahme steht im Zentrum der Handlungstheorie.
Parsans geht von der Interaktion zwischen ego und alter aus. Unter-
stellt man - und das tut Parsons - , dass beide ein Interesse daran haben,
ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und unterstellt man, dass die Ziele und
die Mittel dazu von beiden ähnlich gewichtet werden, dann sind ego
und alter im Prinzip füreinand er Konkurrenten. Das ist die Situation,
die THOMAS HOSSES vor Augen hau e. Während Hobbes annahm, dass
diese kritische Situation nur dadurch verhindert werden kann, dass je-
der Einzelne seine Macht auf eine zentrale Gewalt delegiert und sich
damit dem Zwang einer geregelten Ordnung unterwirft, nimmt Parsans
einen anderen Mechanismus der Ordnung an. Er geht davon aus, dass
sich Individuen zweckrational verhalten, sich dabei aber von kulturel-
len Geboten leiten lassen und sich deshalb in ihren Handlungen aufein-
ander einstellen.
Hintergrund dieser Annahme ist die Auseinandersetzung mit dem
Utilitarismus, einer sozialphilosophischen Strömung in England Ende
des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts, die unterstellte, dass jeder
Mensch »von Natur aus« nach größtmöglichem Nutzen in allen Berei-
chen des Lebens strebt. Parsons teilt die Grundannahme, dass das Indi-
viduum Bedürfnisse (eneed-dispositions«) befriedigen und Frustratio-
nen vermeiden will. Er nimmt auch ein Interesse an Gratifikation, also
Belohnung für Leistung, an, aber er bestreitet, dass es ein unbedingtes
Nutzenkalkül in allen Bereichen gibt. So gebe es neben vielen Berei-
chen, in denen dieses Streben nach Maximierung des Profits gelte (z. B.
in der Wirtschaft), andere Bereiche, in denen es keineswegs gelte (z. B.
in der Familie oder in einer Freundschaft).
150 4 Soziales Handeln

)- Daraus zieht Parsons den Schluss, dass dem Handeln eine nor-
mative Orientierung zugrundeliegt.
)- Zweitens nimmt Parsons an, dass der Hand eln de ein besti mmtes
Ziel vor Augen hat und dieses Ziel durch die Anwendung be-
stimmter M ittel zu erreichen sucht. Han deln ist also zweckorien-
tiert. Doch Parsons schränkt ein: Sow ohl bei der Definition der
Ziele seines Handeins, als auch bei der Abw ägurig der erforder-
lichen Mittel, sie zu erreichen, orientiert sich das Individuum an
dem, was in der Gesellschaft insgesamt oder in einem Teilsys-
tem kulturell geboten ist.
:» Schließl ich konst atiert Parsons, dass Handlun gen durch symboli-
sehe Prozesse angeleitet werden. Der Handelnde verbindet mit
seinem Handeln einen bestimmten Sinn, der über Symbole mit
dem Handeln anderer vermittelt ist.
Diese dritte Annahme wird verständlich, wenn wir wieder auf die Aus-
gangssituation, den Handlungszusammenhang von ego und alter zu-
rückgehen. Ego und alter sind im Prinzip Konkurrenten füreinander, sie
sind prinzipiell aber auch Partner füreinander. In jedem Fall gilt, dass
die Handlungen des einen nicht ohne Folgen für das Handeln des ande-
ren sind. Auf Handlungen alters, die ego für seine Zwecke für förder-
lich hält, wird ego wohlwollend, auf hinderliche Handlungen eher ab-
lehnend reagieren. Das gleiche gilt natürlich auch fü r alter. Beide wer-
den also ein Interesse daran haben, das Handeln des anderen zu antizi-
pieren, und ihr Wissen über das Handeln des anderen nutzen, um posi-
tive Handlungen des anderen he rbeizu führen oder negative zumindest
zu verhindern. Es entsteht eine »Komplementarität der Erwartungen«,
durch die "die Handlung eines jeden (...) an den Erwartungen des ande-
ren orientiert" ist. (Parsons 195 1, S. 205 u. 204)
Allmählich entsteht so ein System gegenseitiger Erwartungen, das
festlegt, wie ego und alter sich verhalten sollten. Es erhält eine norma-
tive Funktion. Diese normativen Muster bezeichnet Parsons als Werte,
die Orientierung der Handelnden nennt er Wertorientierung. Werte
reichen über konkrete Interaktionen hinaus. In dem Maße, wie der
Konsens über diese Werte wächst und ego und alter den Sinn ihres ge-
genseitigen Handeins nach diesen überindividuellen Werten beurteilen,
verfestigt sich eine symbolische Ordnung. Dieses "shared symbolic
system" stellt dann das kulturelle System dar. Die Struktur sozialer
4 Soz iales Handeln 151

Systeme wird aus dem gemeinsamen Bezugsrahm en der Handlungen


(action fram e of reference) abgeleitet. Das ist in Kurzfassung die Aus-
sage des ersten Hauptwerks "The structure of social action" , mit dem
Parsons im Jahre 1937 eine soziologische Diskussion eröffnete, die fast
ein halbes Jahrh undert andauerte.
Im Jahre 1951 brac hte Parsons dann in seinem Buch "The Social
System" eine interessante Optio n des Handeins ins Spiel. Er sah näm-
lich, dass im Zusammenspiel von kulturellen Werten, sozialen Nonn en
und persönl icher Motivation durchaus individuelle Orientierungen he-
rauskommen. Interessant ist nun, dass Parsons dieses Zusammenspiel
resp. die möglichen Konfl ikte auf eine Dichotomie verk ürzt, in der sich
kulturelles und soziales System auf der einen Seite und der Handelnde,
als Persönlichkeitssystem, auf der anderen Seite gegenüberstehen. Par-
sons nimmt nämlich an, dass sich die Handelnden zwischen alternati-
ven Wertorientierungen entscheiden müssen. Diese alternativen Wert-
orientierungen nennt er »pattem-altematives of value orientation« (Par-
sons 1951, S. 58-67; Parsons 1960) oder auch »p attern vartables«) In
einem ersten Entwurf hatte Parsons darunter die nonnativen Muster
oder die typische Motivierung der Handelnden in einer sozialen Situa-
tion verstanden. (vgl. Parsan s 1939a, S. 164 und 175)
Welche Bedeutung Parsons der Differenzierung der alternativen
Wertorientierungen beimisst, kann man sich am besten klar machen,
wenn man die Architektur seiner Handlun gstheorie genauer betrachtet.
Parson s geht von der Handlungssituation zwischen ego und alter aus.
Ihr Handeln hängt ab von der Bedingung der Situation, von ihren Be-
dürfuissen, d. h. von den Zielen und den Motiven ihres Handeins, und
von ihren Vorstellungen, was die Konsequenzen des Handeins wohl
sein werden. Um gemeinsam handeln zu können, müssen ego und alter
die Situation sinnhaft auslegen und zwar so, dass beider Handeln für-
einander interp retiert wird. Das ist nur möglich, wenn sie sich der glei-
ehen symbolischen Bedeutungen bedienen. Eben dies macht das kultu-
relle System aus: "Kultur ist die Menge der Inlerprelationsschemata,
die das Geschehen auf einen gemeinsamen Sinn auslegt." (Jensen 1976,
S. 34) Das kulturelle System beinhaltet die Nonnen, wie in einer be-
stimmten Situation gehandelt werden soll.

Es gibt in der Li teratur unterschiedliche Übersetzungen. Ich sp reche in der Regel


von »Orientierungsaltemariven« oder »alternativen Wertorientierungen«.
152 4 Soziales Handeln

Die Erwartungen, die sich danach an alle Individuen in dieser be-


stimmten Situation richten, kann man als Rollen bezeichnen. Die Ge-
sellschaft ist ein System von Rollen. Sie begrenzen den Umfang mögli-
chen Hand eins. Innerhalb dieses Rahm ens - manchm al natürlich auch
außerhalb - handelt jedes Individuum aus bestimmten Mo tiven und im
Hinblick au f bestim mte Zie le. Die Handl ungssituation wird also unbe-
stimmter, zumal jedes Individuum gleichze itig eine ganze Reihe vo n
Rollen wahrnimmt. Unbestimmter wird sie aber auch deshalb, weil eine
Rolle immer nur einen Teil des Individuums betriffi. Das ist ein Hin-
tergrund der Theorie der Orientie rungsalternativen: Sie bringen Ord-
nung in die Handlungssituation, denn sie werden nicht zufällig ent-
schieden, sondern folgen den Mustern, die in dieser Gesellschaft üblich
und geboten sind.
Anders als das Tier, das auf seine Umgebung automatisch richtig re-
agiert, ist der Mensch weltoffen und kann die Dinge so oder so betrach-
ten. Da nahezu jede soziale Situation relativ unbestimmt ist, muss er
sich »orientieren«, das heißt der Situation ihren spezifischen Sinn ge-
ben :
1. "Wi e ist - rein kognitiv betrachtet - die Situation beschaffen,
welche Objekte bauen sie auf?
2. Welche emotionale Bedeutung hat diese Situation für mich - in-
wieweit kommt sie meinen Bedürfnissen und Wünschen entge-
gen, inwieweit widerspricht sie ihnen?
3. Welche Bewertung ist unter diesen Umständen vorzunehmen -
soU und darf ich gemäß meinen Wünschen mein »Verhalten frei-
setzen« oder gibt es Schranken?" (Jensen 1980, S. 58)

Die Situation des Handeins muss also vorab bestimmt werden: Das
Individu um muss sich klar machen, was erwartet wird, was seine Inte-
ressen sind und wie seine Handlungsmöglichkeiten wohl sind. l ede
Entscheidung strukturiert die nächste Handlungssituation. Das gilt für
das Individuum wie für die anderen Handelnden gleichermaße n. Das ist
die Ausgangssituation, in der sich das Individuum nach den Orientie-
rungsalternativen entscheidet, die in seiner Gesellschaft als kulturell
angemessen gelten. Parsons unterscheidet nun zwischen den folgenden
Orientierungsmustem :
4 Soziales Handeln 153

» Universalismus oder Partikularismus


In bestimmten Situationen wird erwartet, dass alle sich nach dem
allgemeinen Prinzip einer bestimmten Rolle verhalten, in ande-
ren, dass sie dem besonderen Fall Rechnung tragen. So kann
man erwarten, dass ein Prüfer immer gerecht urteilt, ein Arzt je-
den Patienten gleich gut und ein Polizist jeden Übeltäter gleich
streng behandelt. In anderen Rollen ist es dagegen möglich oder
erforderlich, auf die besondere Situation einzugehen. Meine be-
sondere Zuneigung zu einer bestimmten Person werde ich nicht
dadurch zum Ausdruck bringen, dass ich versichere, so sei ich
immer zu anderen Menschen. Von einem Therapeuten, dem ich
mein ganzes Herz ausgeschüttet habe, kann ich etwas anderes
erwarten als die regelmäßige Abfrage nach einer Checkliste.
Und selbst bei Rollen, in denen eine universelle Orientierung
("ohne Ansehen der Person") normalerweise geboten ist, ist
manchmal genau die andere Wertorientierung angebracht oder
erwünscht. Dann hofft man, dass der Prüfer wegen der besonde-
ren Umstände milde ist und der Dorfpolizist dem Jungen von
nebenan, der im ersten Vollrausch grölend durch die Straßen
zieht, nur gehörig ins Gewissen redet.
Friedrichs hat dieses »dilemma of choice« zwischen Univer-
salismus und Partikularismus in folgender Frage zusammenge-
fasst: "Wie soll der Akteur die Objekte beurteilen: nach den all-
gemeinsten und generellen Normen des sozialen Systems, dem
er angehört, oder nach speziellen Normen, die sich aus der Be-
ziehung des Akteurs zu den Objekten ergeben, z. B. besondere
Qualitäten des Objekts oder Beziehungen zu den Eigenschaften
des Akteurs selbst (z. B. als Freund)?" (Friedrichs 1968, S. 57)
Dazu wieder ein Beispiel: Der Handwerksmeister wird den ers-
ten Hocker, den sich sein kleiner Sohn zusammengezimmert hat,
sicher nicht nach den universalistischen Kriterien beurteilen, die
er bei einer Gesellenprüfung anlegt, sondern gerührt nach parti-
kularen Kriterien loben!

» Orientierung an Leistung oder Zuschreibung


Bei dieser Alternative geht es um die Einschätzung, ob die Situa-
tion ein Handeln nach zugeschriebenen {eascription«) Vorschrif-
ten erfordert, oder ob individuelle Leistungen {eachievement«)
154 4 Soziales Handeln

möglich oder gar gefordert sind. Ein Beispiel für die Orientie-
rung an der Handlungsalternative Zuschreibung wäre der Dienst
nach Vorschrift, ein Beispiel für die andere Alternative das Han-
deln eines freien Unternehmers.
Später hat Parsons diese Alternative neu benannt, indem er
zwischen Eigenschaft (equality«) und Leistung (»performance«)
unterschied. (vgl. Brandenburg 1971, S. 64) Damit kam ein neu-
er Aspekt hinein, nämlich die Einschätzung des Handeins der
anderen Beteiligten. Ein Beispiel für die Orientierung »Eigen-
scha ft« ist "das Kind aus schlechtem Haus, von dem man be-
stimmte Dinge gar nicht erst erwarten kann", eines für die Orien-
tierung »Leistung« ist die sachliche Konstatierung der individu-
ellen Leistung.
Dass die Orientierung »Eigenschaft« nicht nur zu einer ganz
bestimmten Erwartung, sondern auch zu einer anderen Wahr-
nehmung gegen über den Betroffenen und sogar einem bestimm-
ten Verhalten bei diesen selbst führen kann, haben Experimente
in der Schule geze igt. So berichten Rosenthai und Jacobson
(1968), dass Lehrern zwei Gruppen von Kindern zugewiesen
wurden, die sie in ihre Klassen aufn ehmen sollten. Von der ers-
ten Gruppe hieß es, es seien Kinder, bei denen der Leistungstest
besond ers gute Ergebnisse gezeigt habe, von der zweiten, die
Leistungen seien unterdurchschnittlich. In Wahr heit unterschie-
den sich die Leistungen der Kinder überhaupt nicht. Als man
dann nach einem halben Jahr diese beiden Gruppen testete, zeig-
te sich, dass ihre Leistungen tatsächlich dem entsprachen, was
man ihnen vorher "zugeschri eben" hatte. Die Erklärung liegt auf
der Hand: Positive Erwartungen fuhren zu wohlwollender Unter-
stützung und spornen zu besonderen Leistungen an, negative
führen zu Unterforderung und demotivieren.

>- Sp ezifiUit oder Diffusität


Manche Rollen sind sehr spezifisch. So wird sich ein Bankange-
stellter über die korrekte Beratung in Gelddin gen definieren und
nicht über das persönliche Mitleid mit einem Kunden, wenn er
über einen Kredit verhandelt. Dagegen gibt es andere Rollen, die
sehr diffus sind. Nehmen wir die Rolle der Mutter. Sie ist Tröste-
rin, Mülleimer, Prellbock, Dienerin, Vertraute und zum Mutter-
4 Soziales Handeln "5
tag sogar der Mittelpunkt der Familie. Bei ihrem Verhalten wird
sie immer ein bissehen von allem sein - oder es zumindest im
Hinterkopf haben. Die Soziologin, die vom Ortsvere in der Grü-
nen in Herzlake eingeladen wird, um über Naturschutz und neu-
es Gemeinschaftsdenken zu referieren, wird sich auf sehr spez i-
fische Erwartungen und Fragen einstellen, währe nd die Soziolo -
gin, die in der Volkshochschule Sigmaringen zum Thema "Die
Gesellschaft und wir" sprechen soll, in ihren Ausru hrungen
wahrscheinlich ziemlich allgemein bleiben wird.
Die Frage, vor der sich der Handelnde bei diese r Alternative
sieht, lautet deshalb: Geb ietet (oder ermö glicht) der Handlungs-
zusamm enhang ein auf den spezifischen Kontext begrenztes
Handeln oder kann und mu ss man dabei auch 'viele andere Ne-
benbed ingungen berücksichtigen?
Um es wieder an einem Beispiel zu verdeutlichen, worin das
»dilemma of choice« (vielleicht ja auch die Chan ce) besteht:
Spezifisch ist die Rolle des Arztes in einer städtischen Unfall-
ambulanz , diffus die des Arzt es in einem kleinen Dorf, wo man
darauf achtet, wie "der Doktor" seinen Vorgarten pflegt und
welc he Figur er auf dem Schützenfest abgibt.

}i> Affektivität od er Neut r alität


Manche Rollen erfo rdern oder erm öglichen ein unmi ttelbares
emotionales Eng ageme nt. Eine Mutter wird ihr Kind, das sich
gerade das Knie aufgeschlagen hat, spontan trösten, ehe sie ihm
die Fallgesetze erklärt. Die Mutter handelt also aus dem Gefühl
heraus, affektiv . In anderen Rollen ist sachliches Verhalten ge-
boten oder zulässig. So wird von einem Prü fer erwartet, dass er
eine Leistung objektiv und affektiv neutral bewertet, auch wenn
er die theoretische Richtung ablehnt, und der Richter muss die
Wahrnehmung eines Grundrechts auch bei denen schützen, de-
ren politische Richtung ihm persönlich höchst zuwider ist.
Eine affektive Orientierung ist typisch z. B. für das Verhalten
in der Familie oder einer Freundschaft , eine neutrale für die Ab-
wicklung eines Geschäfte s.
156 4 Soziales Handeln

» Selbstorientierung oder Kollektivorientierung


Bei bestimmten Rollen erwartet man, dass die Handelnden ihre
eigenen Interessen verfolgen. Das gilt für die Rolle des Ge-
schäftsmannes wie für die des Tennisspie1ers. Bei anderen Rol-
len erwartet man, dass die Handelnden allgemeinen Interessen
folgen. Beispiele ruf solche Rollen sind die des Politikers, des
Priesters oder des Arztes. Ihr Verhalten sollte sich am Gemein-
wohl orientieren. Dass wir in dieser Hinsicht oft enttäusc ht wer-
den, spricht nicht gegen die Alternative der Wertorientierung.
sondern zeigt, dass mancher die Verantwortung, die mit einer
bestimmten Rolle verbunden ist, höchst egoistisch wegschiebt.

Das Modell der Orientierungsaltema tivcn kann man einmal so verste-


hen, dass damit die Entscheidungen angesproche n werden, die das In-
dividuum für sich und sein individuelles Handeln trifft.
In diesem Sinn kann man auch das kleine Beispiel verstehen, das ich
Ihnen nicht vorenthalten möchte. Es stammt von Stefan Jensen. Er
schreibt: .J emand, der in eine »Peep Show« geht, klassifiziert die Ob-
j ekte seiner Begierde nach ihren universelle n Merkmalen - jeder Kör-
per, der ihn erregen könnte, wird akzeptiert. (})Universell«( sind also
Objekte immer dann, wenn sie als austauschbare, beliebige Elemente
einer Menge angesehen werden.) Des Weiteren interessiert den Show-
Besucher nicht die Gesamtheit der Merkma le, die das obskure Objekt
seiner Begierde aufweist, sondern eine besondere Disposition: die Qua-
lität als Stripperin. Die Einstellung (des Show-Interessenten) gegenüber
der Sit uation und ihren Objekten ist zum einen stark selektiv, also funk-
tional spezifisch (auf bestimm te sexuelle Aspekte reduziert), zum ande-
ren affektiv - in dem Augenb lick nämlich, wo der Interessent »ent-
hemmt« dem Trieb zum Handeln nachgibt. Solange er dagegen ein
»braver Junge« bleibt und der Versuchung widersteht, ist er »inhibiert«
beziehungsweise affektiv-neutralisiert. Gibt er dem Affekt nach und
macht das, was er immer schon gern wollte, dann ist das (aus der Sicht
des Beobachters) eine Performanz - der Aktor stürzt sich ins Abenteu-
er." (Jensen 1980, S. 68)
Das wäre ein Beispiel für die Strukturierung des eigenen Handeins.
Doch wenn man den einsamen Betrachter verlässt und eine Situation
nimmt, in der ein Individuum zusammen mit anderen handelt, dann ist
klar. dass jede Entscheidung für eine Orientierungsalternative Konse-
4 Soziales Handeln 157

quenzen auch für jeden anderen Beteiligten hat. Das Modell der Orien-
tierungsalternativen verbindet die Kategorisierung der Situation durch
die Individuen mit den Motiven ihres HandeIns.
Die pattern variables markieren j eweils Pole von individuellen
Handlungsmöglichkeiten und individuellen Bewertungen des Handeins.
Dadurch dass es aber ein nonnatives System gibt, das Erwartungen an
Rollenhandeln definiert, markieren sie auch Pole von sozialen Hand-
lungsverpflichtungen und sozialen Bewertungen.
Diese doppelte Bedeutung kommt auch in den Fragen zum Aus-
druck, in denen UWE SCHIMANK die pattern variables umschreibt. Ich
zitiere sie als Zusammenfassung der nonnativen Orientierungen, wobei
ich die letzte Frage allerdings umfonnuliert habe:
). "Erlaubt eine Rolle das Ausleben affektiver Impulse, oder hat
das Rollenhandeln affektiv neutral zu sein?
,. Fordert eine Rolle dem Handelnden die Ausrichtung an den Be-
langen der jeweiligen Kollekü vitdt ab, oder kann er vorrangig
sein Eigeninteresse verfolgen?
>- Verpflichtet die Rolle den Handelnden zur Berücksichtigung
partikularistischer Standards der Situationsbeurteilung, oder hat
er universalistische Standards zu beachten?
)0 Ist die Rolle au ffu nktio nal spezifisch e Erwartungen hin angelegt,
oder sieht sich der Handelnde diffusen Erwartungen gegenüber?
)0 (Wird das Handeln in einer Rolle nach objektiver Leistung beur-
teilt, oder ist ihm die Rolle) aufgrund leistungsunabhängiger At-
tribute - z. B. sozialer Herkunft oder Geschlechtszugehörigkeit -
zugeschrieben?" (Schimank 1996, S. 85)

Die letzte Frage habe ich deshalb umfonnu liert, weil ich die Alternative
"achievement" anders als Schimank in Richtung der Beurteilung des
Handeins durch andere interpretiere. So hat es auch Linton, an dem
sich Parsons ja bei dieser Unterscheidung ursprünglich orientierte, ge-
sehen. Diese Interpretation sehe ich auch dadurch gestützt, dass Parsons
diese Alternative später in »performance« umbenannt hat Diese Um-
benennung ist Teil einer deutlichen Revision des Modells der pattern
variables, indem Parsons den Gedanken der typischen Motivation
fallengelassen und stattdessen in den pattern variables Muster der Klas-
sifikation von Objekten gesehen hat. (vgl. Parsons 1960) Als solche
158 4 Soziales Handeln

dienen sie dem Beobac hter zur Differenzierung der physischen , sozia-
Jen und kulturellen Obje kte seiner Handlungssituation .
So weit zum Konzept der pattem vari ables sel bst. Ich will noch kurz
andeuten, wie sie zur Strukt urerhaltung sozialer Systeme, die man als
..stabile Muster" von Interaktionen handelnder Personen (vgl. Parsons
1971. S. 15) bezeichnen kann, beitragen. Damit ein soziales System, als
System der Handlungen von Rollentr ägem. nicht in grundsätzliche
Unordnung gerät, müssen die Handlungsori entierun gen vorab und für
alle Beteiligten in gleicher Weise geregelt sein - zumindest muss das
Spektrum, innerhalb dessen individuelle Entscheidungen getroffen
werden. bekannt sein. Deshalb kann ma n auch eine Tendenz ausma-
chen, nach der Orientierung saltemativen letztlich entsc hieden werden
sollen: Damit das soziale System funktioniert, mü ssen part ik ulare in
universelle, zuschreibende in leis tun gsbezogene, spezifisc he in diffus-
allgemeine, affektive in neutrale und selbstbezog ene in kollektive Ori-
enti erun gen umgewandelt werden! Darin sieht Parson s auch kein Pro b-
lem, den n er geht von einem gemeinsamen kulture llen System aus, auf
da s sich die Handelnden bezie hen, und er hat mit seiner Theori e der
Internalisierung kulturelle r Werte auc h erklärt , warum man diesen ge-
meinsamen Bez ug zurec ht unterstellen kann. Die Werte bilden die kul -
turellen St and ards, die für das Handel n in einer bestimmten Gesell-
sc haft gehen. Handeln ist für Parsons also Handeln, das durc h kulturel-
le Werte und Nonnen gesteuert wird.
Di ese Sicht auf den Zusam menhang von Individuum und Gesell-
scha ft hat THOMAS P. WILSON als »normatives Paradigma« bezei chnet.
(Wilson 1970, S. 55ft.) Der Mensch , um den es in dieser Th eorie geht,
ist de r hamo sociotogtcus. Er defi niert H andlungssituationen als "m us-
tergülti ge" Beispiele normativer Erwartungen. Das war die Grundlage
der Rollentheori e von Par son s, und so kann man auch seine The orie des
Handeins lesen .

4.4 Rationale Wahl, gerechter Tausch, symbolische Transaktion


Ge gen Parsons, der das Handeln aus den Nonnen eine s besteh enden
Syste ms erklärt, wurde eingewandt, in seiner Theorie er scheine "das
men schliche Subjekt nicht genuin als prinzipi ell frei un d selbstbe-
stimmt handelndes Wesen , sondern eher als passive Marionette un-
4 Soziales Handeln 159

durchsichtiger nonnativer und struktureller Kräfte und Mechanismen."


(Giddens 1988, S. 287) Diesen Einwand erhoben vor allem Theorien,
die bei der Erklärung sozialer Phänomene systematisch das Handeln
von Individuen in den Vordergrund stellen. Sie werden manchmal als
.Handlungstheorien" und manchmal als .Akteurtheorien" bezeichnet. I
Außerdem behaupten diese Theorien, dass soziale Struktu ren nicht
an sich existieren, sondern ,,nur insofern »wirkliche" werden, "als sie
in konkreten Handlungsprozessen von menschlichen Subjekten selbst
gesetzt werden." (Kießling 1988, S. 290) Das heißt:
• Individuen definieren - bewusst oder unbewusst - die Strukturen
als Bedingungen ihres Handels nach ihrer Relevanz für bestimm-
te Ziele,
• wählen entsprechende Mittel aus, sie zu verwirklichen,
• und schaffen durch ihr Handeln somit neue Strukturen als Be-
dingungen weiteren Handeins.

Das ist in Kurzfassung eine wesentliche Annahme der "Theorie der


Strukturierung", auf die ich im nächsten Kapitel eingehen werde. Ich
erwähne diese Kreisbewegung Handeln-Strukturen-Handeln nur des-
halb schon, damit die Verbindung zwischen den folgenden Überlegun-
gen über den Zusammenhang von "rationaler Wahl, gerechtem Tausch
und symbolischer Transaktion" und der "Dualität der Struktur" immer
im Auge behalten wird. Also: Das Thema ist dasgleiche, aber die Ak-
zente werden etwas anders gesetzt.
Da die folgenden Theorien systematisch von der Erklärung des So-
zialen durch das Handeln der Ind ividu en ausgehen, firmieren sie unter
dem wissenschaftstheoretischen Begriff des »methodologischen Indivi-
dualism us«. Damit ist keine Theorie des Individuums oder des Han-
delns gemeint, sondern das methodische Prinzip soziologischer Erklä-
rung, die "das Tun der Akteure und die Wirksamkeit der Strukturen
gleichermaßen ernst nimmt". (Esser 1999, S. 28) Der methodologische
Individualismus "geht von den Strukturen aus, denen das Handeln der
Akteure in strukturierter Weise folgt, und kehrt dorthin wieder zurück."
(ebd.)

Münch (2003) spricht von ,,Handlungstheorie" und rechnet dazu auch Phänome-
nologie, Ethnomethodologie und Interaktlonismus, die ich unter dem Blick "Inter-
aktion" (Kap. 5) behandele. Den Begriff Akteurtheorien bevorzugt Schimank
(2000), der allerdings auch die Rollentheorie in diese Perspektive einbezieht.
160 4 Soziales Handeln

Noch eine letzte Vorbemerkung: Nach meinem früheren Zugang zu


diesen Theorien, dessen Fokus "Individuum" ich in der Überschrift
»Individualistische Theorie n« (Abeis 2001, Bd. 2, Kap. 4.4) zum Aus-
druck bringen wollte, möchte ich nun mit der Differenzierung der bei-
den Überschriften »Raticnale Wahl, gerechter Tausch, symbolische
Transaktion« und »Rationale Wahl trotz .Jtabits" und .Jrames?« stärker
den Effekt und den Rah men seines Handeln s betonen. Was ich über die
historische Einbettung dieser Art, "das Soziale" zu denken, und einige
Grundannahmen der Theo rien , die vom Handeln der Individu en ausge-
hen, sage, gilt deshalb für die beiden theoretischen Akzente.
Fragen wir zunächst, wo Wurzeln dieses Denkens liegen. Eine wich-
tige ist die schottische Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts. Ihre Er-
kläru ngen des Handeins will ich kurz wiede rholen. ' Die schottischen
Mora lphilosophen betrachteten den Menschen als ein Wesen, das ein
eingeborenes Se lbstinteresse mitbringt und aus Erfahrungen, vor allem
sozialen Erfahrungen, lernt. Es behält Verhaltensformen bei, die sich
zur Befriedigu ng der eige nen Bedürfnisse als nützlich erwiesen haben.
Der Mensch ist aber auch das Wesen, da s die Reaktion der anderen auf
sein Hand eln genau beobachte t, und de shalb tut es Dinge, die von den
anderen gutgeheißen oder zumindest nich t be hindert werden. Aus der
wech selseitigen Beobachtu ng nützlichen und sozial anerkannten Ver-
haltens entstehen soziale Gewohnheiten (xhabits«) und aus denen bil-
den sich schließlich, so die These von ADAM SMITH (172 3-1790), " all-
gemeine Regeln darüber, (...) was zu tun oder zu meiden schicklich und
angemes sen ist". (1759, S. 238)
Die Gesell schaft basiert also letztlich auf der wechselseitigen Beo-
bachtung angemessenen und nützlichen Handeins. Als Beispiel, wo
diese Form der Beziehung hervorragend funktioniert, verweist Smith
au f da s wirtschaftliche Handeln. Dort schufen sich Individuen sachli-
ch e, ratio nale Regeln, die von allen Beteiligten anerkannt wurden und
zu imm er größerem Erfo lg - zumindest in einem bestimmt en Hand-
lungsbereich - führten . Ihr Hand eln war durch den " Austausch guter
Dienste" gekennzeichnet , "die gleichsam nach eine r vereinbarten Wert-
bestimm ung geschätzt werd en." (Smi th 1759, S. 128) Sozia le Bezie-
hungen funktionieren also, weil sie nützlich sind.

Vgl. Band I, Kap. 3.3 ..Schottische Moralphilosophie: Erfahrungen und Gewohn-


heiten".
4 Soziales Handeln 161

Für eine individ ualistische Theorie des HandeIns ist auch die These
von ADAM FERGUSON (1723- 1816) wichtig, won ach die "Kunst" zur
Natur des Menschen gehört. Ferguson meint es in dem ganz radikalen
Sinn der Veränderung der Natur und des Schaffens von Bedingungen:
Der Mensch "ist gewissermaße n sowohl der Künstler seiner eigenen
Ges talt als seines Schicksals." (1767, S. 103) Er ist das Wesen, das in
seiner "vorwärtsdrängenden Aktivität" seine sozialen Verhältnisse
selbst! schafft. In moderner Terminologie würden wir sagen : Die Ge-
sellschaft ist die Summe der Handlungen der Akteu re.
An den Gedanke n des ursprünglichen Selbstinteresses der Individu-
en und der allmäh lichen Herausbildung zweckmäßiger sozialer Rege-
lungen schloss sich eine »utilitaristischeeä Philosophie an. Danach ist
das, was allen nützt, auch das Gute. Da j eder sein individuelles Glück
mehren will, handeln alle nach dem Prinzip der Nützlichkeit. Doch der
Nutzen kann nicht maximal, sondern immer nur relativ sein, da die in-
dividuellen Interessen in Konk urrenz zueinander stehen können und da
die Mittel, sie zu verfolgen, nicht gleich verte ilt sind. Dennoch gilt: Um
ihre Bedürfnisse zu befriedigen, entscheiden sich die Individu en filr die
Handlungsmöglichkeiten, die den relativ größten Nutzen versprechen
und die geringsten Kosten verursachen. Ende des 18. Jahrh underts for-
mulierte der englische Sozialphilosoph und Volkswirt JEREMY
BENTHAM (1748-1832) die gri ffige Parol e des Utilitarismus, wonach
das Prinzip der Sittlichkeit im "größten Glück der größten Zahl" liegt.
Wenden wir uns nach der sozio logiehistorischen Einbettung der
Th eorien, die systematisch vom Handeln eines Individuums ihren Aus-
gang nehm en, nun einigen Grundannahmen der soziologischen Diskus-
sion zu, die im letzten Dri ttel des 20. Jahrhunderts bega nn. Ich will sie
so formulieren:
};> Erstens, Aussa gen über soziale Strukt uren und Prozesse können
auf Auss agen über das Handeln von Individuen zurückgeführt
werd en.

Hier dürfte KA RLMARX, den Esser ebenfalls in die Ahnenreihe des methodologi-
sehen Individualismus rechnet, seine Zweifel gehabt haben. Gerade deshalb zieht
Esser ihn aber als Kronzeugen für die Erklärung des Zusammenhangs von Struk-
tur , Handeln und Struktur heran. Ich komme darauf in Kap. 4.5 ,,Dualität der
Struktur" gleich zurück.
2 utilis, lat. "brauchbar, nützlich"
162 4 Soziales Handeln

);. Zweitens, die Bestimmungsgrü nde des Handelns liegen nicht in


irgendwelch en abstrakten kulturellen Systeme n ode r Strukturen
eines kollekti ven Bewusstsein s und auch nicht in der psychi-
schen Befin dlichke it oder "der" Nat ur des M enschen, sonde rn in
den Erfahrungen, die die Indi viduen mit ihrem Handeln gemac ht
hab en, und in den Zielen , die sie für sich aufs tellen.
);> Drittens, die Strukturen werden als Handlungsmög/ichkeiten be-
trachtet.
);> Viertens, es we rden die Handlungsmöglichkeiten - bewusst oder
unbewusst - als Mittel ode r Strategien der Zielerreichung ge-
wählt, die Aufwand und Ertrag in ein möglich st gutes Verhält nis
bringen .
};> Fünftens, die Erfahrungen, Ziele und Strategien sind ihrerseits
auch beeinflu sst durch die sozia len Strukturen, in de nen die Ak-
teur e hand eln , und - hier schließt sich der Kreis - sie beeinflus-
sen andere rseits wieder diese soz ialen Strukturen, sc haffen sie
also.

Den deutlich sten Impuls, den Zusammenhang von Gese llscha ft und
Individ uum von dessen Handeln aus zu denken, gab im Jahr 1964 der
damalige Präsid ent der Am erik anischen Soziologischen Ges ellschaft
GEORGE CASPAR HOM ANS ( 1910 - 1989) , der seine »Presidentia l
Adress« unter den sprechenden Titel .Bringing Men Back In" stellte. In
diesem Vortrag, in dem Hom ans nach eigener Aussage bewu sst "giftig"
sein woll te, bezeichnete er die bis dahin herrschende Schule des Funk-
tion alism us als "Hindernis" für da s " Verständnis sozialer Phänomene"
(1964 , S. 44) und begründete das damit, er hab e nur kon statiert, dass
etwas vorha nden sei, z. B. No nnen, Rollen oder Institut ionen, und dann
behauptet, dass sie ein bestimmtes Verhalten nach sich zögen od er eine
bestimmte Wirkun g hätten. D ie Frage aber, wie es überhaupt zu Nor-
men , Rolle n oder Instituti onen kom me, sei überh aupt nicht ges tellt
worden. Und auf die Frage, wa rum sich Menschen an Nonnen halten.
sei höch st allgemein geantwortet worde n, sie hätt en eben bestimm te
Werte intern alisiert. Eine Erklärung sei das nic ht, und Hom ans mokiert
sich über den Funktionalismus, dass man eine solche doch eigentlich
schon bei einem seiner Gründungsv äter. BRONISLAW MALlNOWSKl,
hätte lesen könn en . Der hatte nämli ch den Gehorsam gegenüber den
No nnen damit erklärt, dass er nach dem Maß ihre r Erfüllung "gewöhn-
4 Soziales Handeln 163

lieh belohnt wird, (..) während Nichtbeachtung die Bestrafung" nach


sich zieht. (zit. nach Homans 1964, S. 51)
Und um zu zeigen, wo Soziologen, die nicht von sozialen Systemen,
sondern vom Individuum aus denken, ihre Erklärungen des Handeins
suchen sollten, bringt Homans gar nicht soziologielike eine Hypothese
der Psychologie ins Spiel, wonach ein Mensch eine Aktivität umso eher
ausführen wird, je mehr sie belohnt wird. (vgl. Homans 1964, S. 51)
Deshalb lautet auch seine Erklärung der Beziehung zwischen Gesell-
schaft und Individuum: "Nicht die Bedürfnisse der Gesellschaften er-
klären die Beziehung, sondern die Bedürfnisse der Menschen." (S. 52)
Dieser Vortrag war "der Ausgangspunkt für die Wiederentdeckung
des Menschen als handelndes Subjekt und als der - das nicht immer
durchschauende - »Konstrukteur« der ihn umgebenden Gesellschaft.
Es war der Beginn des Verfalls des Parsonssehen Struktur-
Funktionalismus und der Startschuss für die Entwicklung der erklären-
den Soziologie." (Esser 2001, S. 418) Um bei dem Letzteren gleich
anzufangen: Es war der Beginn einer Soziologie, die, nach dem Prinzip
der Naturwissenschaften, Handeln nicht nur verstehen, sondern sach-
lich, rational erklären wollte. Dazu hatte Homans schon vor seinem
präsidialen Paukenschlag auf die psychologische Lemtheorie seines
Freundes FREDERICK B. SKINNER zurückgegriffen, der nachgewiesen
hatte, dass Tiere auf Reize von außen nicht nur passiv reagieren, son-
dern dass sie am Erfolg lernen und den immer wieder herbeiführen,
indem sie selbst die Umstände ihres Verhaltens bewirken. Skinner hatte
das die Fähigkeit des »operanten t Konditionierens« genannt. Es werden
die Verhaltensweisen beibehalten oder verstärkt, die die größte Beloh-
nung nach sich ziehen.
Homans übertrug den Gedanken des operanten Konditionierens auf
eine Theorie des menschlichen Verhaltens. Der Grundgedanke ist ein-
fach: Menschen reagieren auf äußere Reize, machen Erfahrungen, in-
dem sie wiederholte Reaktionen zusammenbringen, und übertragen
diese Erfahrungen auf neue Situationen, die sie dann in der gleichen
Weise bewältigen, wie sie es früher schon getan haben. Lösungen, die
befriedigen (Belohnung), werden beibehalten, Lösungen, die nicht be-
friedigen oder gar bestraft werden, werden ausgeschieden. Wie die Tie-
re können auch die Menschen gezielt Situationen herbeiführen, in de-

1 cperare, lat. "bewirken"


164 4 Soziales Handeln

nen sie Grat ifikationen erhalte n, wo also ihr Verhalten bestätigt wird .
Diese Elementarform sozialen Verhaltens nennt Homans »Tausch«.
Get auscht werden nicht nur sichtbares Verhalten, sondern auch Ge-
fühle. (vgl. Homans 1961, S. 29) Das Geruht, das den Soziologen am
meisten interessiert, ist die soziale Anerkennung . Es ist der soziologi-
sche Begriff für die Belohnung im Skinnerschen Lernprogramm. Ho-
mans erläutert das Prinzip de s Tau schs an dem Beispiel, dass eine Sek-
retärin an einer bestimmten Stelle nicht weiter weiß und abwägt, ob sie
ihren Vorgesetzten fragt, was u. U. eine schlechte Beurteilung nach
sich ziehen würde , oder ob sie sich an eine Kollegin wend et. Sie tut
letzteres, bekommt Hilfe und bedankt sich. In den Worten der Tausch-
theorie des sozialen Verhaltens: Hilfe wurd e gegen Anerkenn ung ge-
tauscht. (vgl. S. 27)
Personen tau schen Leistun gen aus und be kommen dafür Gratifikati-
onen. Wer mitreiße nd reden kann , wird in den Bun destag gewählt, und
wer eine Oma über den Zebras treifen winkt, erntet ein freundli ches
Lächeln. In diesem Fall wird er sich den Genuss, belohnt zu werden,
durch wiederholt es freundliche s Verhalten verschaffen, injenem seinen
Wählern imm er wieder schöne ex empla seines rhetori schen Talents
liefern. Wer zw eimal ausg elach t wurde, we il er vor sich hinstammelte,
wird es sich dreimal überlegen, ob er Redner werden soll t, und wem
die vierte Oma noch immer nicht zugelächelt hat, wird in Zukunft auf
alte Mensch en im Verkehr nur noch im Notfall Rücksicht nehm en.
Kurz: Durch das Erbringen oder Unterlassen vo n Leistungen und das
Gewähren oder Vorenthalten von Gratifikationen verstärken die Akteu-
re wechselseitig ihr Verhalten. Im Sinne einer ökonomischen Theorie
kann man sagen, das Verhalten reguli ert sich nach Kosten und Nutzen.
"Soziales Verhalten ist als Gilteraustausch anzuse hen", der sich auf
Dau er bei einem " Gleichgewicht von Tauschgütem'' (Ho mans 1958, S.
184f.) einp endelt und auch nur so lange funktioni ert, wie alle Beteilig-
ten den Eindruck haben, dass der Tau sch gerecht ist, dass also der Wert
der Guter stimmt.
Homan s betont ausdrücklich, dass der Wert der Güter und die Ratio-
nalität des Verhaltens nicht von einem Beobachter und schon gar nicht
von einer "objektiven" Warte au s definiert werden können, sondern es

Den Fall des Demostheues lasse ich beiseite, da ich nicht weiß, ob man ihn nach
einer kognitiv gewendeten Lerntheorie oder nach der Theorie der paradoxen Inten-
tion behandeln soll.
4 Soziales Handeln 165

geht immer und ausschließlich um die Rationalität, die sich aus indivi-
duellen, erlernten Werten ergibt. Rational verhält sich der kleine Junge,
der raucht, weil er gelernt hat, dass ihm das soziale Anerkennung in
seiner Gruppe gebracht hat. Wir, die vernünftigen Nicht-mehr-Raucher,
wissen, dass das "eigentlich" irrational ist - nach unseren Maßstäben!
Das Verhalten einer Person ist rational, "wenn es (...) so berechnet ist,
dass sie daraus auf lange Sicht die größtmögliche Versorgung mit die-
sen Werten erhält." (Homans 1961, S. 68)
1. Der Austausch funktioniert auf Dauer nur, wenn alle beteiligten
Akteure auf ihre Kosten kommen, das heißt, möglichst viele Beloh-
nungen erhalten bzw. möglichst geringe Kosten haben. Unter dieser
Prämisse treffen sie eine rationale Wahl .
2. Zweitens muss der Austausch gerecht! sein, d. h. die Chancen des
Erfolgs und die Zumutungen der Einschränkungen müssen gleich
verteilt sein.
3. Das lässt sich nur feststellen und einfordern, wenn die Akteure sich
auf ein gemeinsames Wertsystem beziehen. Dieser Anspruch auf
einen gerechten Austausch führt drittens dazu, dass sich die
Tauschgtiter einpendeln.
4. Aus dauerhaften Austauschprozessen entsteht viertens eine be-
stimmte soziale Struktur. Sie verfestigt sich aber nicht, sondern
bleibt Prozess, in dem Individuen durch ihr Verhalten ständig
wechselseitig die Bedingungen für ihr Verhalten schaffen.
5. Und schließlich folgt aus diesen Überlegungen, dass Verhalten in
spezifischen sozialen Konstellationen erlernt wird und auch verän-
dert werden kann.

In dieser Akteurtheorie behält das Individuum das Heft des Verhaltens


in der Hand, denn - so muss man die psychologische Lerntheorie in die
soziologische Austauschtheorie verlängern - es kann auch neue soziale
Konstellationen schaffen oder aufsuchen, in denen neue Formen des
Austauschs möglich sind und zu mehr Gratifikationen fuhren! Akteure
wählen unter möglichen Handlungen die aus, die nach ihrer Erfahrung
die größte Belohnung versprechen.

Dieses Prinzip des »conrinual bartering of one thing for another« hatte schon der
zynische Beobachter der englischen Gesellschaft, Bernard Mandeville, in seiner
Bienenfabel als Erklärung dafür abgegeben, warum Menschen einander Dienste
leisten. (vgJ. Mandeville 1723, S. 349)
166 4 Soziales Handeln

Auc h der Chicagocr Soz iologe JAM ES S. COLEMAN ( 1926- 1995) geht
davon aus, dass die Akteure die Handlungen auswählen, die die größte
Befriedigung ihrer Interessen versprechen. t Sie folgen nicht einfach
Nonne n, sondern verfolgen Intentionen, und deshalb treffen sie auch
bei der Entscheidung, welche Handlungsmöglichkeiten in Frage kom-
men, eine rationale Wahl (» rational choice«). Auf seine Grundhypothe-
se über die Intentionen und die Selektion der Handlun gsmöglichkeiten
hatte seinerzeit schon Homans hingewiesen. Sie lautete: "Jeder Han-
delnde wird versuchen, seine Macht auf solche Handlungen auszudeh-
nen, an denen er das größte Interesse hat." (Coleman 1964, zit. nach
Homans 1964, S. 50) Macht heißt ruf Coleman die Kontrolle über Res-
sourcen (Coleman 1990, Bd. 3, S. 146f.), aus denen das Handeln der
Akteure in einer konkreten Situation seinen Wert bezieht. Geht es z. B.
um den ökonomischen Erfolg, ist es in der Regel die Ressource Geld,
geht es um die Konkurrenz in einer Fakultät, ist es die Ressource Repu-
tation, und wenn Tom Sawyer vor den schönen Augen des fremden
Mädchens den penetranten Streber in den Staub zwingt, dann geht es
um die Ressource Aufmerksamkeit.
Damit ist auch schon das Problem benannt: Der Akteur kennt die
richtigen Mittel und Wege, um seine Ziele zu erreichen, aber er muss
feststellen, dass er diese Mittel und Wege nicht allein kontrolliert. Eini-
ge Bedingungen zur Befriedigung seiner Interessen werden von ande-
ren kontrolliert. Wenn ich z. B. überzeugt bin, dass die große Politik
ohne mich nicht erfolgreich sein kann, dann muss ich die Ochsentour
machen, um irgendwann ins Rampenlicht treten zu können. Es gibt
Konkurrenten, die das gleiche wollen, und lästige Mitläufer, die man
nicht abschütteln kann. Da jeder die Kontrolle über wichtige Ressour-
cen erlangen will, kann es passieren, dass man seine Ziele nur erreichen
kann, indem man die Kontrolle der anderen schwächt. Dazu bedarf es
weiterer symbolischer Austauschforrnen oder »Transaktionen«, die
man mit anderen Akteuren eingeht. Zu solchen Transaktionen gehören
z. B. "Bestechungen, Drohungen, Versprechen und Investitionen an
Ressourcen" . (Coleman 1990, Bd. I , S. 36) Es sind gewissermaßen
soziale Investitionen, von denen man hofft, dass sie sich rechnen. Da
die Handlungen der Akteure in der Regel voneinander abhängig und

Hier hat mich Rainer Schützeichel um eine schwierige Klippe der Formulierung
herumgelotst.
4 Soziales Handeln 167

aufeinander bezogen, also »interdependent« sind, und da alle Akteure


ihre Kosten möglichst gering halten und ihren Gewinn möglichst groß
machen wollen, kann das Ergebnis des Austauschs nie ein ideales, son-
dern nur ein soziales Optimum sein.
Das Handeln der Akteure, ich wiederhole es, erfolgt immer unter
dem wechselseitigen Einfluss aller Beteiligten. Auf die strukturellen
Bedingungen des HandeIns hebt Schimank mit der Differenzierung der
drei Arten von sozialen Strukturen, in denen die Handelnden zusam-
menwirken und die sie durch dieses Handeln immer wieder schaffen:
Das ist erstens die Struktur der Erwartungen, die die Handelnden legi-
timer Weise in einer Gesellschaft oder einer konkreten Handlungssitua-
tion aneinander richten. Das ist zweitens die Struktur der Deutungen,
worunter die "kulturelle Leitidee" des Handeins oder der Sinn des sozi-
alen Handelns verstanden werden kann. Und drittens ist es die Struktur
der Konstellation , worunter man das eingespielte Muster der wechsel-
seitigen Handlungen verstehen kann. (Vgl. Schimank 2000, S. 176ff.)
"Diese drei Arten sozialer Strukturen werden allesamt aufgebaut, erhal-
ten und verändert durch das Abarbeiten von Intentionsinterferenzen
zwischen Akteuren." (S. 179) Damit ist gemeint, dass sich die Intentio-
nen der Akteure in einer Handlungssituation überlappen, stören, för-
dern oder ausschließen, j edenfalls wechselseitig beeinflussen.
..Klar ist jedenfalls: Bei kaum einem Handeln ist ein Akteur in dem
Sinne unabhängig von anderen, dass diese handeln könnten, wie immer
sie wollten, ohne dass ihn dies bei der Verfolgung seiner Intentionen
tangierte." (Schimank 2000, S. 174) Und was die Abarbeitung der In-
tentionsinterfcrenzen angeht, so kann sie "als gewollte Gestaltung von
sozialen Strukturen" (5. 179) erfolgen, sie kann aber auch als unbe-
wusste Reaktion erfolgen und sogar nicht intendierte Folgen zeitigen.
So oder so: Überall, wo Akteure zusammen handeln, bringen sie Wir-
kungen hervor, die ihr weiteres Handeln prägen. Und deshalb ist der
Gegenstand dieser Art Soziologie die ,f ortlauf ende wechselseitige
Konstitution von sozialem Handeln und sozialen Strukturen." (S. 9) Um
diese Wechselseitigkeit geht es im folgenden Kapitel "D ualität der
Struktur" .
168 4 Soziales Handeln

4.5 " Dua lität der Str uk tur"


Zunächst eine Vorbemerkung: Was ich im Folgenden referiere, ist kei-
ne Theorie, die aus dem Erklärungskonzept des method ologischen In-
dividualismus herausfiele, sondern eine Profil ierun g von Gedanken, die
Homans schon angesprochen hat, wo er z. B. sagte, dass aus dauerha f-
ten Austauschprozessen eine bestimmte sozi ale Struktur entsteht. Den-
noch möchte ich zur Einführung des Konzeptes der ,,Dualität der Struk-
tur" kurz auf die wissenschaftshistorische Ein bettung der Theorien
nach dem Erklärungsprinzip des methodologischen Individualismus
zurückkomme n, wo ADAM FERGUSON mit dem Satz zitiert wurde , der
Mensch sei der Kün stler seines eigenen Schicksals. In der Arunerkung
habe ich angedeutet, wer in dieser Hinsicht seine Zweifel gehabt haben
dürfte, und dass Esser just in diesem Zweifel eine weitere histori sche
Wurzel für die Erklärung des Zusammenhangs von Strukt ur, Handeln
und Struktur gesehen hat.
Zweifel dürfte KARL MARX(18 18-1883) gehabt haben, heißt es doch
bei ihm : " Die Menschen machen ihre eige ne Geschichte, aber sie ma-
chen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern
unter unmittelbar vorge fundenen, gegeb enen und überl ieferten Um-
ständen." (1852, S. 115) In soziologischer Terminologie:
• Die Akte ure handeln und schaffen durch ihr Handeln Bedingun-
gen des weiteren Handeins - für sich und für die anderen, also
Strukturen;
• aber sie handeln unter dem Eindruck der Strukturen, die vorher
schon bestanden, mit dem Gepäck ihrer Soziali sation und in Re-
aktion auf das Handeln der anderen . Hand eln ist also strukturiert.
Das ist in Kurzfassun g die »Theorie der Strukturi erun g« des englischen
Soziologen ANTHONY GIDDENS ("' 1938). Diese Doppelseit e der Struk-
tur, dass Handeln strukturiert ist und Stru kturen schafft, bringt er im
Konzept der »dualit y of structu re« zum Ausdruc k.
Erinnern wir uns, dass Giddens gegen Parsons eingewandt hat, in
seiner Theori e erscheine "das menschliche Subj ekt nicht genuin als
prinzipiell frei und selbstbestimmt handelndes Wesen, sondern eher als
passive Marionette undurchsichtiger nonnativer und struktureller Kräf-
te und Mechani smen." (Giddens 1988, S. 287) Die Theorie von Parsons
impliziere "e inen Imperialismus des gesellschaftlichen Objekts" (Gid-
dens 1984, S. 52). Das gelte auch für den Funktionalismus überhaupt.
4 Soziales Handeln 169

Giddens greift in seiner Kritik deshalb noch über Parsons hinaus und
zielt auf einen Klassike r, der ihm die grundsätzliche Erklärung für den
Zusammenhang von Ges ellschaft und indivi due llem Handeln geliefert
hatte. Giddens veröffentlichte im Jahre 1976 ein Buch mit dem Tite l
.jcew Rules of Socio logical Method''! veröffentlicht. Bei .neuen" Re-
geln denkt man natürli ch an Durkhe ims " Rege ln der soziolog ischen
Methode" aus dem Jahre 1895. Dort hatte er die sozialen Tatsachen als
" Institutionen" bezeic hnet, um ihre Fixieru ng und Nonn ativität zu be-
tonen. Sie existierten " losgelöst von den bewussten Subjekten, die sie
sich vorstellen" und seien deshalb wie "Dinge" zu behandeln. (Durk-
heim 1895, S. 125)
Gege n diese Rege ln stellt Giddens seine .neuen Regeln", von denen
ich zwe i, die "die Produktion und Reproduktion der Ges ellschaft" (Re-
geln A), und zwe i, die "die Grenzen des Handeins" (Regel n B) betref-
fen, nenne.a

Anthony Giddens: Neue Regeln der soziologischen Methode


A
EINS : .S oztotogie beschäft igt sich nicht mit einer »var-gegebenen«
Welt von Objekten, sondern mit einer, die durch das aktive Tun von
Subjekten konstituiert oder produziert wird." (...)
ZWE I: .Die Produktion und Reproduktion der Gesellschaft muss daher
als eine auf Fertigkeiten beruhende Leistung ihrer Mitglieder betrach-
tet werden, nicht bloß als eine mechan ische Reihe von Prozessen. Aus
dieser Auffas sung folgt aber sicher nicht, dass die Handelnden sich
gänzlich darüber im klaren sind, was diese Fertigkeiten sind, wie sie sie
auszuführen haben, oder dass die Formen des sozialen Lebens als die
beabsichtigten Ergebnisse des Handeins zu verstehen sind."

Der deutsche Titel lenkt m. E. von dem eigentlichen Ziel des Buches ab, das
Grundprobleme sozialwissenschaftl icher Theoriebildung behandeln will. Deshalb
nenne ich vorsichtshalber die Ausgangsthese. die Giddens im Vorwort zur deut-
schen Ausgabe so formuliert: ..Die Gesellschaftstheorie muss Handel n als rational
erklärbares Verhalten betrachten, das von den Handelnden reflexiv organisiert
wird; die Bedeutung der Sprache als Medium, wodurch dies erst möglich gemacht
wird. ist dabe i zu berücksichtigen." ( 1983, S. 8).
2 Die eigentliche Regel ist - wie auch im Original - jeweils kursiv gesetzt.
170 4 Soziales Handeln

B
EINS: ,,Menschliches Handeln hat Schra nken. Die Menschen produzie-
ren die Gesellschaft, aber sie tun es unter bestim mten historischen Be-
dingungen und nicht unter den Bedingungen ihrer eigenen Wahl." (...)
ZW EI: .S truauren üben auf menschliches Handeln nicht nur Zwang
aus, sondern ermöglichen es auch. Dieses Konzept nenne ich die Dua-
lität von Strukt ur. Strukturen können im Prinzip immer im Sinne ihrer
StrukJurierung untersucht werden. Die Untersuchu ng de r Strukturie-
rung sozialen HandeIns bede utet den Versuch einer Erklärung , wie
Strukturen durch Handeln konstituiert werden, und umgekehrt , wie
Handeln strukturell kon stituiert wird," (Giddens 1976: Interpretative
Soziologie, S. 197f.)

Gegen Durkheim - und natürlich auch gegen Parsons - gewendet stellt


Giddens fest: "Strukturen selbst existieren nicht als eigenständige Phä-
nomene räumlicher und zeitlicher Natur, sondern immer nur in der
Form von Handlungen oder Praktiken menschlicher Individuen." (Gid-
dens 1988, S. 290) Die Individuen strukturieren durch ihr Handeln eine
Situation, stellen also eine Struktur her. Deshalb hat Giddens seine
Theorie auch "Theorie der Strukturierung" genannt.
Doch wir dürfen den Doppe1charakter der Struktur nicht aus dem
Auge verlieren: Struktur muss verstanden werden "als Ermöglichurig
und als Restriktion des Handeins, als Medium und als Resultat der Pra-
xis," (Joas 1992, S. 14) Bleiben wir zunächst bei dem ersten Charakter.
Hinter der Theorie der Strukturierung steht ein bestimmter Begriff
des Handeins, den Giddens als Fähigkeit definiert, in die "natürliche
und soziale Ereigniswelt'' einzugreifen. (Giddens 1988, S. 289) Der
Handlungsbegriff schließt alle Formen von Handeln ein: von der offen-
sichtlichen Reaktion bis zur stummen Interpretation der Situation, vom
scheinbaren Nichthandeln bis zum bewusst intendierten Handeln. In
j edem Fall bedeutet Handeln, dass der Akteur Selektionen aus Hand-
lungsmög/ichkeiten vornimmt. Insofern verbindet sich in der Theorie
der Strukturierung der Begriff des Handeins auch mit dem der Macht:
"In der Lage zu sein, »anders zu handeln«, bedeutet, fähig zu sein, in
die Welt einzugreifen bzw. einen solchen Eingriff zu unterlassen mit
der Folge, einen spezifischen Prozess oder Zustand zu beeinflussen. Ein
Handelnder zu sein, setzt mithin die Fähigkeit voraus, eine Reihe von
Kausalkräften (dauerhaft im Strom des Alltagslebens) zu entfalten, ein-
4 Soziales Handeln 171

schließ lich derjenigen. die der Beeinflussung der von anderen entfalte-
ten Kräfte dienen. Hande ln hängt von der Fähi gkeit des Individuum s
ab, »einen Untersc hied herzustellen « zu einem vorher ex istierenden
Zustand oder Ereignisverlauf d. h. irgendeine Pe rm von Macht auszu-
üben ." (Gidde ns 1984. S. 65f.) Einen Unterschied herstellen heißt ja
nicht s anderes als sich gegen scheinbar Institutionalisiertes - sozia le
Tat sachen ode r eben Strukturvorgaben - zu entscheiden und dies durch
Handeln zu m Ausdruck zu bringen.
Die Er klärungen des Handeins, die nach dieser Theorie der Struktu-
rierung erfolgen, schließen des halb auch alle Folgen ein, denn jeder
Effekt ist de m Akteur zuzurech nen. und jeder Effekt trägt zur Struktu-
rierung der Handlungssituation bei. Deshalb noch einmal eine Erläu te-
rung zum Begriff der "Dualität der Struktur": "Menschliche Handlun-
gen sind - wie einige sich selbst reproduzieren de Phänomene in der
Natur - rekursivt . Das bedeutet. dass sie nicht nur durch die sozialen
Akteure hervorgeb racht werden. sondern von ihnen mit Hilfe eben je-
ner Mittel fortwährend reproduziert werden. durch die sie sich als Ak-
teure ausdrucken . In und durch ihre Handlungen reproduzieren die
Handelnden die Bedingungen. die ihr Handeln erm öglichen." (S. 52)
Der Akteur schafft mit seiner individuellen Selektion aus den Hand-
lungsmöglichkeiten sowohl individuelle Bedingungen seines weiteren
Handclns. als auch. da dieses Handeln auf das Hande ln der anderen
bezogen ist und es korrigierend ode r bestätigend beeinfluss t. soziale
Strukturen imm er wieder neu.
Das heißt natürlich nicht , dass der Akteur dabei von Null anfangt ,
sondern er bringt soziale Gewohnheiten mit , die ihm in seiner Gesell-
scha ft nahe gelegt wurden, und er handelt auch in einem objektiven
Rahmen, den sozial e Institutionen und materielle Bedin gungen defin ie-
ren. Des halb zur Erinnerung noch einmal, was Joas über den Doppel-
charakter der Stru ktur gesagt hat: Struktur muss verstanden werde n "a ls
Erm öglich ung und als Restriktion des Handeins, als Medium und als
Resultat der Praxis." (1oas 1992, S. 14) Jetzt also zum zwei ten Charak-
ter.

1 Luhmann hat diese rekursiven Prozesse in seiner Theorie der Autopoiesis in


Selbstreproduktion und Selbstorganisation differenziert. Vgl. Band I, Kap. 6.6
.Die autopoietische Wende der Systemtheorie", S. 234.
172 4 Soziales Hande ln

Nac h dem Konzept der Dualität der Struktur hat weder "das soziale
Objekt" noch "das handelnd e Subjekt" einen " kategorialen Vorr ang",
sondern bcide werden vielmehr "in rekursiven sozialen Handlungen
oder Praktiken kons tituiert und das heißt: produziert und reproduziert."
(Giddens 1988, S. 288f.) Konsequent rich tet sic h Giddcns des halb auch
nicht nur gegen den gerade scho n kritisierten " Imperialismus des ge-
sellschaftlichen Objekts", sondern auch gegen die interpretative Sozio-
logie. die "gleichsam auf einen Imperiali smus des Subjekts" gründe.
(1984. S. 52)
Er begründe t seine Kritik mit dem Argument, dass die sozia len Prak-
tiken, an denen sich der Handelnde selektiv orientiert. als "a lltagswelt-
liehe Wissensbestände" vorhanden sind. Deshalb sprich t Giddens auch
von einem "praktischen Bewusstsein" t, aus dem heraus wir handeln,
oder von einem " praktischen Wissen": Es ist "e in eher stillschweigend
hingenomme nes, implizit und unausgesprochen bleibendes Wissen dar-
über, wie in den vielfaltigen Zusammenhängen des sozia len Lebens zu
verfah ren sei ." (1988 , S. 29 1) Auch das trickreiche Individuum , das uns
später in der Theorie von ERVING GOFFMAN2 begegnen wird, und selbst
der aufmüpfige Narr, den HAROLD GARFINKEL3 in seine Krisenexperi-
mente schickt, erfindet die Strategien seines HandeIns nich t ganz aus
sich heraus. Im Gegenteil: Auch diese Störer der Normalität und Ge-
genstrategen bringe n ihre Sozialisation in dieser Gesellschaft mit , müs-
sen sich mit sozia len Institutionen und sozialen Erwartungen auseinen-
dersetzen, und Erfolg haben sie nur, wenn ihr abweic hendes Verhalten
anschlussfähig an das ist, was die Normalen zumindest für denkbar
halten !
Halten wir also zur Handlungsperspektive der »duality of structure«
fest: Handeln ist insofern strukturiert, als die Individuen um die sozia-
len Regeln wissen, nach denen in dieser Gesellschaft normalerweise
gehandelt wird. Das Handeln strukturiert insofern, als das Individuum
sich für ode r gegen diese Regel n entscheidet.

Giddens betont. dass hier das Konzept des Rezeptwissens nach Alfred Schütz Pate
gestanden habe (Gidde ns 1988, S. 29 1), und stellt an anderer Stelle heraus. dass
das Wesen des praktischen Bewusstseins ..nur in der Phänomenologie und Erhnc-
methodologie eine detaillierte und scharfsinnige Behandlung" (Giddens 1984. S.
57) erfahren habe.
2 Vgl. unten Kap. 8.4 "Wir alle spielen Theater".
3 Vgl. unten Kap. 5.7 .E thnomethodo jogie: Methodi sches im Alltagsleben".
4 Soziales Handeln 173

4.6 Rationale Wa hl trotz " ha bits" und "frames"


Einer der geistreichsten Weiterdenker einer Theorie der Strukturierung
ist der j etzt in Mannheim lehrende Soziologe HARTMuT ESSER (*1943).
Und er ist sicher auch einer der entschiedensten Vertreter der Erklärung
des HandeIns nach dem Prinzip des methodologischen Individualismus,
weshalb ich noch einmal wiederholen will, was Esser über dieses Prin-
zip der Erklärung von Handeln und Strukturen gesagt hat: Es nimmt
"das Tun der Akteure und die Wirksamkeit der Strukturen gleichenn a-
ßen ernst" und weiter: Der methodologische Individualismus "geht von
den Strukturen aus, denen das Handeln der Akteure in strukturierter
Weise folgt, und kehrt dorthin wieder zurück." (Esser 1999, S. 175)
Um diese "strukturierte Weise" des HandeIns geht es nun.
Esser spezifiziert seine Sicht des Zusammenhangs von Struktur und
Handeln mit ROBERT K. MERTONS strukturtheoretischer Erklärung!
sozialer Prozesse, deren drei Analyseschritte er so zusammenfasst:
I. "Dies ist erstens die Analyse der sozialen Strukturierung der ver-
fügbaren Alternativen, der Motive und des Wissens der Akteure
aufgrund der institutionellen Deflnitionz der Situation.
2. Auf diese Weise wird zweitens das Handeln der Akteure festge-
legt. Es ist keine gänzlich freie Wahl, sondern eine strukturierte
Selektion aus dem Satz der bereits strukturell vorsortierten Opti-
onen.
3. Und drittens sind dadurch die - oft verdeckten - Effekte des
Handeins ebenfalls strukturiert: die - meist uninte ndierten, laten-
ten - strukturierten Folgen der manifest oft ganz anderen Ab-
sichten der Menschen." (Esser 1999, S. 23)

Nach Essers Theorie erfolgt Handeln nicht zufällig, sondern als ratio-
nale Wahl. Das heißt aber nicht, dass ihnen bewusst sein muss, warum
und wie sie handeln. Die soziologische Analyse zeigt, dass eine be-
stimmte Logik auch hinter einem scheinbar irrationalen Verhalten steht,
und diese Logik gehorcht der Abwägung von Kosten und Nutzen bei

Ich habe sie angedeutet, wo Merton Anomie auch damit erklärt hat. dass die Indi-
viduen kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel nicht anerkennen können
oder wollen und deshalb eigene Wege gehen. (vgl. oben S. 111 Anm. 1.)
2 Eine Fonnulienmg dieses sozialen Mechanismus, des sog. Themas-Theorems,
findet sich gleich in Kap. 5.5 ,,Blumcr: Symbolische Interaktion", S. 209.
174 4 Soziales Handeln

der Definition und Realisierung von mögliche n Zielen des Handeins.


Die Akt eure strukturieren die Situation und ihr Handeln selbst, und sie
tun es, weil sie etwas Bestimmtes intendieren . Doch oft komm t es an-
ders als man denkt. und viele Handlungen haben unbeabsichtigte Fol-
gen, und manchmal sind die Folgen sogar das genaue Gegenteil von
dem, was die Akteure beabsichtigt hatten. Erklären kann man das mit
der »bounded rationality« (Esser 1990, S. 234) der Allt agshandelnden.
Begrenzt ist die Rationalität aus mehreren Gründen. Da die Wirk-
lichkeit zu komplex ist, die Interdependenzen zu den anderen zu viel-
falti g und zu diffus sind, wir die Logik unserer Sozial isation nicht ge-
nau durchschauen und die Relevanz unserer Er fahrunge n nicht sicher
einschätzen können, durchschauen wir auch nicht alle Bedingungen un-
seres Ha ndeins. Begrenzt ist die Rationalität zwei tens, weil wir im All-
tag auch gar nicht genauer Bescheid zu wissen brauchen und es auch
nicht wissen woll en. Was Ziele und Strateg ien unse res Handeins an-
geht, da sind wir ganz pragmatisch: Wir erfinden sie nicht völlig neu
und außerhalb der durchschnittlichen Muster der Norm alität. Drittens
schätzen wir, was wir kennen, und deshalb verfahren wir auch nach der
immer gleichen Routine. Und viertens ahnen wir, dass wir unsere Ge-
schichte, um mit Marx zu reden, nicht aus freien Stücken machen, son-
dem dass die da oben oder die Verhältnisse oder einfach die schlechten
Zeite n daran schuld sind, das es uns so geht, wie es uns geht.
Was ich bis jetzt referie rt habe, scheint Essers These von der ratio-
nal en Wahl als Erklärun g des Handeins direkt zu widersprechen. Und
landläufig wird den .jational-choice't-Brklärungen ja auch unterstellt,
sie setzten den perfekt informierten und genau kalkul ierenden Akteur
voraus. Das ist aber keineswegs der Fall, denn den kann es nach dem
oben Gesagten gar nicht geben. Doch das darf nicht zum Fehlschluss
verleiten, dass es dann auch keine rationale Wahl geben könne. Im Ge-
genteil: Selbst "die Orientierung des Handelns an Routinen (shabits«)
bzw. die situationelle Dominanz bestimmter Ziele und »Codes« (efra-
mes«)" können als "Spezialfalle der Theor ie der rationalen Wahl" gele-
sen werden. (Esser 1990, S. 231)
Die Theorie der rationalen Wahl nimmt an, dass der Akteur Hand-
lungsalternativen vergleicht und danach die auswählt, die einen mög-
lichst großen subjektiven Nutzen verspricht. Dagegen wird eingewandt,
so ,,zweckrational" verhalte sich nur der homo oeconom icus. Die Rati-
onalität des Alltagshand elnden sei aber begrenzt: Er ist nicht volls tän-
4 Soziales Handeln 175

dig über alle Hand lungsalternati ven informie rt und gar nicht in der La-
ge, Kosten und Nutzen des Handelns nach einer oder gar mehrerer Al-
ternativen bis zum Ende durchzuspielen. Deshalb stütz t sich das norma-
le Handeln des homo sociologicus unreflektiert auf Gewo hnhe iten
(shabits« ). Ein andere r Einwand lautet, die Theorie der rationalen Wahl
gelte nur für das von Weber so gen annte .zwec krationa le Handeln" und
könne als Erklärun g für .wertrenonales Handeln" kaum und für .fradi-
tionales Hand eln" schon gar nicht dienen.
Esser sieht die Theorie der rationa len Wahl noch mit einem and eren
Einwand kon frontiert, der aus der interpretativen Soziologie kommt.
Danach dürfe man beim Hand eln nicht von " fixen Präferenzen" oder
"stabilen Erwartungen" ausgeh en. Stattdesse n würden Präferenzen und
Erwartungen fortlaufend neu definiert, und Hand eln könne damit er-
klärt werd en, dass Bedeutungen generiert würden. " Hierbei werde unter
den Akteuren ein Relevanzrahm en (aframe«) darüber festgelegt, was
der »Sinn« der jeweiligen Situation sei. (..) Welcher »frame- in der
Situation dominant wird, bestimmt dan ach das Handeln." (Esser 1990,
S. 233 f.)
Was antwortet Esser au f diese Einwän de? Nun, er sagt, so ist es, a-
be r das sind überhaupt keine Einwän de. Und das erklärt er wie folgt.
Versteht man unter »habits« Bündel von unreflektierten Reaktionen auf
bestimmte Umgebungsreize, dann ka nn ma n mit Max Weber sagen,
dass " die Masse alles eingelebte n Alltagshandeins" sich diesem unre-
flektierten Handeln nähert. Webe r hat es deshalb - wie Sie sich erinne rn
- als traditionales Handeln bezeichnet, weil es "sehr oft nur ein dump-
fes, in der Richtung der einmal eingelebten Ein stellung ablaufendes
Reagieren auf gewohnte Reize" sei. Im strengen Sinn stünde das tradi-
tionale Handeln "ganz und gar an der Grenze und oft jensei ts dessen,
was man ein »sinnhaft« ori entiertes Handeln überhaupt nennen kann".
(Weber 1922, S. 673f.)
Genau das will Esser aber behaupten: Auch dieses habituelle Han-
deln ist sinnhaft orient iert und rational. Dazu stellt er zunächst einmal
fest, dass habits kognitiv als "Schemata" oder .Skripte" repräsentiert
werden. Darun ter kann ma n das typ ische Wissen für typische Situatio-
nen oder .Rezcptwisscn" verstehen, das Routine erlaubt. ALFRED
SCHOTz wird dieses Rezeptwissen mit den Idealisierungen des "u nd so
176 4 Soziales Handeln

we iter" und de s "ich kann immer wieder so handeln" (Schütz u. Luck-


mann 1975, S. 26) erklären . Ich komme gleich da rauf zurück.t
Essers Grundidee ist nun, "da ss es für die An wendung von »Rezep-
ten« (..) für die Ak teure eine Reihe »guter Gründe« gibt, vor deren Hin-
tergrund eine »rationale« Kalkulation von (sobjektiv» vielleicht soga r
»bess eren«) Alternativen unterbleiben kann. Aus minde stens drei
Gründen eignen sich Rezepte normalerweise ruf Alltagshandlungen
besonde rs: sie sind (meist) relativ unaufwendig, sie sind (meist) relativ
effizient, und sie finden (häufig) eine zusätzliche normative Stütze."
(Esser 1990, S. 235) Aus der Sicht einer Th eorie der rationalen Wahl
ist es also ein e vernü nft ige Entscheid ung, wenn man ohne viel nachz u-
denken Rezeptwissen verwendet und in typischer Weise handelt : Man
muss nicht nach neuen Lösungen suchen, also entfallen Informations-
kosten; man riskiert keine Fehli nvestition, da sich die Rezepte seit lan-
gern bewährt haben; schließlich, man irritiert seine Handlungspartner
nicht, sondern kommt ihren normalen Erwartunge n entgegen, und des-
halb riskiert man keine Mi ssbilligung (soziale Kosten), sondern kann
auf stille Zustimm ung (sozialer Nutzen) bauen.
Daraus zieht Esser den Sch luss, dass habits "ohne Probleme im
Rahm en de r Theorie der ration alen Wahl rekonstr uiert werden" können
und "dass jede Aufmerksamkeit für seltene oder die eige ne Kompetenz
überschreitend e Hand lungen »irrational« wä ren" ! (Esser 1990, S. 238)
Das wäre dann auch die Erklä rung, warum die Akteur e in der Regel gar
nicht erst nach einer optimalen Alternative Ausschau halten und auch
nicht den maximalen Erfolg suchen: In Abwägung von Aufwand und
Ertrag tun sie das, was sie können, und ihnen reicht eine Lösung, die
ihre durc hschnittlichen Erw artungen befried igt. Esser zitiert als knappe
Form el für die situationsang emess ene rat ionale Wah l: »satisficing«
statt »max imizing«. (S . 236)
Wenden wir uns nun den .Jtames" zu, die auf den erste n Blick eben-
falls die These von der rationalen Wahl in Frage zu stellen scheinen.
Dazu schreibt Esser: " Habits und Routinehandlungen sind Bestandteile
eines »rationalen« Umgangs mit dem Sachve rhalt der bounded rationa-
Iity in bezug auf die Auswahl der Mittel bei der Lösung von Allt ags-
probl ernen. Die bounded rationality des Menschen zwingt zu einer wei-
teren Ökonomisierung des Ent scheidungsprozesses: die Vereinfachung

1 Vgl. Kap. 5.7 .Ethnomethodologie: Methodisches im Alltagshandeln" , S. 225.


4 Soziales Handeln 177

der Struktur der Ziele, um die es in einer gegebenen Situation geht."


(Esser 1990, S. 238) Da der Akteur in einer Handlungssituation nicht
tausend Ziele zugleich verfolgen kann, da er selbst für etwas weniger
Ziele nicht alle Bedingungen kennen kann und da er auch nicht sicher
wissen kann, welche Ziele die anderen verfolgen, strukturiert er die
Situation, indem er ihr eine übergeordnete Bedeutung verleiht. Esser
nennt es .frarning'' . Aus der Sicht der Theorie des sozialen HandeIns
nach Weber kann man den so konstruierten .frame" mit .Smn", aus der
Sicht der gleich zu behandelnden Ethnomethodologie mit "Relevanz-
struktur" gleichsetzen. Framing ist die " Selektion des Bezugsrahmens"
des Handeins. (Esser 2001, S. 259)
Und aus der Sicht einer Theorie der Strukturierung lässt sich der Zu-
sammenhang von .Jrame" und Handlung so verstehen: "Die Vereinfa-
chung der Zielstruktur von Situationen erfolgt durch die Angabe eines
die Situation kennzeichnenden übergreifenden Ziels. Mit einem solchen
»framing« von Situationen ist die Strukturierung sozialer Handlungsbe-
reiche in sehr unterschiedliche »Logiken«, unterschiedlichen »Sinn«
und unterschiedliche »Codierungen« verbunden. Je nach »frame« geI-
ten andere Handlungen als angemessen, effizient oder denkbar. Das
eine Situation dominierende »Leitmotiv« ist der Bezug, auf den die
spezifische Auswahl der Handlungen (bzw. der Abruf einer Routine)
erfolgt." (Esser 1990, S. 238) Wer sich nach seiner erfolgreichen Trau-
ung an die Hochzeitstafel setzt, weiß, dass Friede, Freude, Völlerei an-
gesagt sind. Wer stattdessen seiner Schwiegennu ttcr endlich die Mei-
nung sagen will, seiner Schwiegertochter den Kopf voll jammert, dass
man den lieben Sohn verloren hat, oder erklärt, dass er überzeugter
Veganer ist und heute sowieso seinen monatlichen Fasttag habe, der/die
darf sich nicht wundem, dass die anderen sauer sind. Soziologisch: Das
»framing« war voll daneben!
»Framing« ist insofern eine rationale Entscheidung, als der Akteur
sich die Situation so strukturiert, dass er Handlungsmöglichkeiten mit
seinen Intentionen abstimmt, Strategien soweit verfolgt, wie sie nicht
scheitern, und Anschlüsse an die Erwartungen und das Handeln der
anderen herstellt.
Spätestens an dieser Stelle muss man zu bedenken geben, dass das
»framing« natürlich nicht vom Wollen oder Können des Akteurs allein
abhängt. Die anderen müssen mitmachen, und wer eine Situation völlig
falsch einschätzt, kommt überhaupt nicht ins Spiel. Also: Über den
178 4 Soziales Handeln

Rahmen der Sit uation muss Kon sens herrs chen, oder - wenn das nicht
der Fall - wenigs tens dürfen sich die unterschied lichen Rahmen, die die
Akt eure setze n, nicht gegenseitig ausschließen. Wer sich der still ver-
ehrte n Ko llegin auf dem Betriebsausflu g endlich offenbart und gleich
erhö rt wird, hat es gut. Das »framing« hat offenbar gestimmt. Wer nach
einem Flirt mit dem ne tten Kollegen am nächsten Morgen mit ansehen
mu ss, wie er mit einer anderen turt elt, hat Pech. Die »frames« stimmten
nicht.
Und wie löst eine Theorie der rationalen Wahl das Problem und wie-
so kann sie »frami ng« sogar als Beispiel ruf rationales Hand eln anfüh-
ren? Die Antwort hängt mit der gerade beschri ebenen Funkti on von
»habits « zusammen. Die Akteure kennen typi sche Zie le fiir typisch e
Sit uationen . Wer an den Traualtar tritt, weiß, wie er sich zu verha lten
hat, und er weiß, dass die anderen (Plural, weil Freu nde und Verwan dte
gerü hrt bis gelangweilt erwa rten, dass alles seinen gewo hnten Gang
geht !) das auch wisse n. »Frames« sind soz usagen soz ial codiert. Wer
sich an de n Code hält, fallt nicht aus dem Rahm en , hat also ke ine nega-
tiven sozialen Ko sten . Nur in Herz-Schm erzstück en macht die Fast-
braut, die im letzten Augen blick die Hand wegzieht, einen persönlichen
Gewinn. Alle anderen kriegen den übliche n Loh n, den man in dieser
Gesellschaft nach einem bestimmten konsensue llen »framing« be-
kommt.
Esse r zieht aus der Prü fung der Einwände gegen die Theori e der ra-
tionalen Wahl den Schluss: " Aus dem Modell geht hervor, dass »boun-
ded rationality« in keiner Weise bedeutet, dass Menschen »irrational«
handel n. Im Gegente il: die begrenzten Ressourcen des Menschen er-
lauben es nicht, aufjede Umgebungs änderung sofort »maximierend« zu
reagieren. Habits und Frames sind (bisl ang erfo lgre iche und begtilndba-
re) Vereinfachungen von Situat ionen, die der vernünftige Akteur nicht
mit der kleinsten Situationsschwank ung aufgibt. D ie Beibeh altun g von
Routinen und die Bewahrung einer deutlichen Relevanzstruktur wird
als eine sehr »ratio nale« Ange legenheit erke nnbar." (Esser 1990, S.
244)
Und wie steht es mit dem .wertrationa len" Han deln , von dem Weber
doch gesagt hat, es sei bestimm t "durch bewu ssten Glauben an den -
eth ischen, ästheti schen, religiösen oder wie immer sonst zu deutend en -
unbedin gten Eigenwert eines bestimmten Sic hverh altens rein als sol-
chen und unabhängig vo m Erfolg"? (Weber 192 0b, S. 673 ) Dieser Be-
4 Soziales Handeln 179

stimmungsgrund des Handeins scheint doch mit der Nutzenkalkulation


unverein bar zu sein, und Webe rs Erläuterungen , .jein wertrationa l"
handele, "wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen C..) im
Dienst seiner Überzeugung (..) nac h »Geboten« oder gemäß »Forde-
rungen« ' hand elt, "die der Handelnd e an sich geste llt glaubt" (Weber
1920b, S. 674), verstärken diesen Zwei fel noch.
Esser sieht es and ers . Er interp retiert die Formulierung " nach Gebo-
ten" zunächst einmal als normative Erwartung, der sich der Akteur
glaubt stellen zu müssen. Sieht man einmal davon ab, dass er solche
Erwa rtungen im Laufe der Sozi alisation verinnerlicht hat, also hab itua-
lisiert hat und deshalb im Grunde traditional handelt, dann muss man
doc h unterstellen, dass es für die Orientierung an bestimmt en Werten
gute Gründe gibt. Deshalb hebt Esser in Webers Erklärung auch das
Wort "Überzeugung" hervor: "Eine »Überzeugung« C.. ) ist C..) stets
eine Frage der im Prinzip durchdachten Überlegung: Der Akteu r müss-
te auf Befragen - mehr oder weniger: wohlüberlegte - »gute Gründe«
angeben können, »warum« er gerade diesem Grundsatz so bedingungs-
los folgt." (Esser 200 1, S. 3 13) Und fast triumphierend stellt er fest,
dass Weber gena u diese rationale Be gründung selbst schon im Auge
hatte, heißt es doch bei ihm , dass das wertrationale Handeln "durch die
bewusste Herausarbeitung der letzten Richtpunkte des Handeins und
konsequente planvolle Orientierung daran" (Weber 1922, S. 674) ge-
kennze ichnet sei. Na tür lich folgen Individuen letzten Werten aus glü-
hend er Begeisterung oder mit abgru ndtiefen Ängsten, sie geraten in
Ekstase und lassen alles Ird isch e (sprich manchmal: Berechn ende) hin-
ter sich und fühlen sich als Gu tmensch oder Ehrenmann, als gute Mut-
ter und Kre uzträger der Menschh eit. Doch würde man sie fragen, so
wü rden sie gute Gründe angeben, warum sie so handeln. Auc h was man
um Gottes Lohn tut, lohnt sich auf Erden, wenigstens in dem Sinne,
dass man für die Kosten des " Dienstes rein an der Sache" den Nutzen
des gute n Selb stge fühls hat!
Kommen wir noch zum Framing-Konzep t. Für Esser berü hren die
gerade genannten " gute n Gründe" auch ,,konstitutionelle Interessen".
" Das ist das Interesse der Akteure an der Geltu ng bestimmter Regeln
des Zusam men lebens insgesamt, Regel n, die erkennb ar dafür sorgen ,
dass es de n Menschen unter dem Dach der betreffenden Verfassung
ganz gut geht. Es geht dabei um die Erha ltung ganzer Lebensweisen
(..)". (Esser 200 1, S. 320) Das kons titutionelle Interesse betri fft die
180 4 Soz iales Handeln

Grü ndung oder den Erhalt einer besti mmte n Ord nung und die Erwar-
tungen und Handlungen der anderen Akteure in diese r Ordnun g. In dem
Maße, wie Werte sich fests tellen und sozi al vemetzt werden, verd ichten
sie sich zu "be lief systems". Die Akteu re orientieren sich des halb an
ihn en , weil sie ihnen als "e rtragbringend ersc he inen" und/oder weil
"ihre Änderung als zu teuer oder gar als unmöglich erscheint". (Esser
2001, S. 324) Wertrationales Handeln heißt aus der Sicht der Theorie
der rationalen Wahl, ein dominantes Ziel zu setzen, entsprechende
Handlun gsmöglichkeiten ausz uwählen und nach dem ..frame" dieses
bestimmten Wertes konsequent zu handeln.

4.7 Habermas: Vier Iland lungsbeg riffe


Wie scho n angede utet, kann man den Begriff des sozialen HandeIns
auch mit dem Begriff der Interaktion zusammen bringen. I Um d ie Gren-
zen zwischen diesen Begriffen und auch die Gem einsamkeiten deutli ch
zu machen, will ich die bisherige D arstellung der Theorien sozialen
HandeIns zusammenfasse n und d ie Theorien der Interaktion schon vor-
bereite n. indem ich JORGEN HABERMAS (* 1929) zitie re, der in seiner
"Theorie des kommunikat ive n HandeIns" , auf die ich im näc hsten Ka-
pitel zu sprechen komme, vier Handlu ngsbe griffe unterscheidet, die in
sozialwissenschaftliehen Th eorien meistens impli zit verwendet werden.
Wiewo hl sich konkretes Handeln immer als Mischform darstellt - und
Interaktion sowieso! -, unterscheidet Habennas analytisch zwischen
eine m teleologischen. ei nem normenregulierten. eine m dramaturgi-
sehen und einem kommunikativen Handl ungsbegriff

.l ür gen Haberm ast Teleologisches, normenorlemtcrtes,


dram aturglsches und kommunikatives Handeln
.Der Begriff des teleologischen Handeins steht seit Aristoteles im Mit-
telpunkt der philosophischen Handlungstheorie. Der Aktor verwirklicht
einen Zweck bzw. bewirkt das Eintreten eines erwünschten Zustandes.
indem er die in der gegebenen Situation erfolgversprechenden Mittel
wählt und in geeigneter Weise anwendet. Der zentrale Begriff ist die

So setzen z. B. die Übersetzer von Goffmans Ansprache über .D je Interaktions-


ordnung" (in: Goffman 1982. S. 57) die Begriffe ..Soziales Handeln" und .J r uer-
aktion" gleich. Vgl. auch meine oben (S. 143) angedeutete Verwandtschaft der
beiden Begriffe.
4 Soziales Handeln 18 1

auf die Reali sierung eines Zwecks gerichtete, von Maximen geleitete
und auf eine Situationsdeutung gestützte Entscheidung zwischen Hand-
lungsaltem ativen. Das teleologische wird zum strategischen Hand-
lung smodell erwe itert, wenn in das Erfolgskalkü l des Handelnden die
Erwartung von Entscheidun gen mindestens eines weiteren zielgerichtet
handelnden Aktors eingehen kann . Dieses HandlungsmodelI wird oft
utilitaristisch gedeutet ; dann wird unterstellt, dass der Aktor Mittel und
Zwecke unter Gesichtspunkten der Maxi mierung von Nutzen bzw. Nut-
zenerwartungen wählt und kalkuliert . Dieses Handlungsmodell liegt
den entscheidungs- und spieltheoretischen Ansätzen in Ökonomie, So-
ziologie und Sozialpsychologie zugrunde.
Der Begri ff des normenregulierten Handeins bezieht sich nicht auf
das Verhalten eines prinzipiell einsamen Aktors, der in seiner Umwelt
andere Aktoren vorfindet, sondern auf Mitglieder einer sozialen Grup-
pe, die ihr Handeln an gemeinsamen Werten orientieren. Der einzelne
Aktor befolgt eine Norm (oder verstößt gegen sie), sobald in einer ge-
gebenen Situation die Bedingungen vorlie gen, auf die die Norm An-
wendung findet. Nonnen drücken ein in einer sozialen Gruppe beste-
hendes Einverständnis aus. Alle Mitglieder einer Gruppe, für die eine
bestimmte Norm gilt, dürfen voneinander erwarten, dass sie in be-
stimmten Situationen die j eweils gebotenen Handlungen ausführen
bzw. unterlassen. Der zentrale Begriff der Normbefolgung bedeutet die
Erfüllung einer generalisierten Verha ltenserwartung. verhalte userwar-
tung hat nicht den kogn itiven Sinn der Erwartung eines prognostizierten
Ereignisses, sondern den norma tiven Sinn, dass die Angehörigen zur
Erwartung eines Verhalt ens berechtigt sind. Dieses nonnative Hand-
lungsmoment liegt der Rollentheorie zugrunde.
Der Begriff des dramaturgischen Handeins bez ieht sich primär we-
der au f den einsamen Aktor noch auf das Mitglied einer sozialen Grup-
pe , sondern auf Interaktionsteilnehmer, die füreina nder ein Publikum
bilden , vor dessen Augen sie sich darstellen. Der Aktor ruft in seinem
Publikum ein bestimmtes Bild , einen Eindruck von sich selbst hervor,
indem er seine Subjektivität mehr oder weniger gezielt enthüllt. Jeder
Handelnde kann den öffen tlichen Zugang zur Sphäre seiner eige nen
Absichten, Gedanken, Einstell ungen, Wünsche, Gefühle usw., zu der
nur er einen privilegierten Zugang hat, kontrollieren. Im dramaturgi-
sehen Handeln machen sich die Beteiligten diesen Umstand zunutze
und steuern ihre Interaktion über die Regulierung des gegense itigen
Zugangs zur jewei ls eigenen Subjekti vität. Der zentrale Begriff der
Selbstrepräsentatio n bedeutet deshalb nicht ein spontanes Ausdrucks-
182 4 Soz iales Handeln

ver halten , sondern die zuschauerbezogene Stilisierung des Ausdruck s


eigener Erlebnisse. (...)
Der Begriff des kommunikativen Handelns schließlich bezieht sich
auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen
Subjekten. die (sei es mit verbalen oder ex traverbalen Mitteln ) eine in-
terpe rsonale Beziehung eingehen. Die Akta ren suchen eine Verständi-
gu ng über die Handlungssituation. um ihre Handlungspläne und damit
ihre Handlungen einverne hmlich zu koordinieren. Der zentrale Begriff
der lnterpretatian bezieht sich in erster Linie auf das Aushandeln kon-
sensfähiger Situationsdefinitionen. In diesem Hand lungsmodell erhält
die Sprache (...) einen prominenten Stellenwert," (Habermas 1981b:
Theorie des kommunikativen HandeIns, Bd. I, S. 126-128)

Zusammen bilden die vier Handlungsbegriffe die Facetten der Erkl ä-


rung von Handeln ab.
)- Um das teleologische Handeln ging es in der Theorie von M AX
WEBER. Das ist am augenfälligsten beim zwec krationalen Han-
deln, dem Weber ja die größte Aufmerksamkeit geschenkt hat.
Dieser Handlungsbegriff scheint auch in den indivi dualistischen
Theorien des Verhalten s auf, und Austausch ist gar nicht anders
zu denken als zielgerichtete Handlung in Interaktion mit ande-
ren.
)- Der Begriff des nonnenregulierten HandeIns steht im Zentrum
der Gesellschaftstheorien von EMD...E DURKHEIM und TALCOTI
PARSONS. Sowohl die Theorie der Institutionen! wie die der So-
zialisation, wie sie Durk heim entwickelt hat, setzte dem Handeln
des Individuums de n verbindli chen Rahmen. In die gleiche Rich-
tung dachte auch Par sons mit seiner Theorie der Institutiona und
mit seiner oben skizzierten Rolle ntheorie . Die Theorie der alter-
nativen Wertorientierungen lockert die Verpfli chtu ng zu m norm -
reguliert en Handeln nur scheinbar, de nn selbstverständlich kann
(und muss!) sich der Handelnde für die Altern ative entscheiden,
die nach dem dom inanten kulturellen System in der konkreten
Situation geboten ist.

I VgL Band I, Kap. 4.1 ,,sozialeTatsachen", S. I42f..


2 Vgl. Band I, Kap. 4.5 .N ormauve Muster", S. I58!..
4 Soziales Handeln 183

)- Der prominenteste Ve rtreter einer Theorie des dramaturgischen


Handeins ist ERVING GOFFMAN . Darauf werde ich im Kapitel
über "Ide ntität" eingehen. Hier nur so viel vorweg: Handeln ist
ein Scha uspiel, das Individuen voreinander und miteinander auf-
führen . Dazu gehört die Inszenierung des Auftritts, die Präsenta-
tion in bestim mte n Fassaden, aber auch der bedachte Rückzug in
die Kul issen. Und ma nchmal ist es auch der verzweifelte Ver-
such, sich gegen den Druck der anderen über Wasser zu ha lten.
)- Der kom munikative Handlungsbegriff steht im Zentrum der
Theorie des Symbolischen Interaktion ismus nach GEORGE HER·
BERT MEAD und in der Ethnomethodologie nach HAROLD GAR.
F1NKEL. Habennas selbs t rückt die sen Handlungsbegriff in den
Mitt elpu nkt seiner Theor ie des kommunikativen Handeins, ver-
bindet ihn allerdings mit ein er kritischen Variante, die auf die
Reflexion und Siche rung des Handelns zielt . Diese Variante
nennt er Diskurs oder diskur sive Verständigung.

Um diesen kommunikativen Handlungsbegriff. der sich ganz eind eutig


ein er Th eorie der Interaktion verdank t, wird es im nächsten Kap ite l
gehen. Dort werde ich zunächst seine Fundierung bei Mea d, Blumer
und Garfinkel nachzeichnen.
5 Interaktion
5.1 Simmel: Wechselwirkung und Vergese llschaftung
5.2 Weber: Sozia le Beziehu ng
5.3 Mead: Interaktion - Verschränkung der Perspektiven
5.4 Parsons: Rolle, Austausch, Kontingenz
5.5 Blumer: Symbo lische Interaktion
5.6 Interaktionssysteme: Kommunikation unter Anwesenden
5.7 Ethnomethodologie: Methodisches im Alltagshandeln
5.8 Krappmann: Annahmen über das Gelingen von Interaktion
5.9 Habcnn as: Kommunikatives Handeln und Diskurs

Interaktion heißt, dass wenigstens zwei Individucn miteinander und


aufeinander bezogen handeln. Auf die Frage. wie das erfolgt und wa-
rum es gelingt, hat die Soziologie im Grunde zwei I große Antworten
parat.
Die eine findet sich in der Tradition Durkheims, für den soziale Tat-
sachen - die Institutionen im weitesten Sinn - vorgeben, wie wir uns
gegenüber anderen verhalten sollen. Auf dieser Grundannahme hat
T ALCOTT P ARSONS, wie gezeigt, eine Theorie der sozialen Rolle entwi-
ckelt, nach der wir normativen Vorgaben folgen, die sich aus sozialen
Strukturen ergeben . Da sich Parsans .sam Problem der sozialen Ord-
mmgz rieb" , betonte er zur "Lösung" des Problems besonders "die
normativen Aspekte des Handelns". (Joas u. Knöbl 2004, S. 185) Da
nicht sicher ist, ob jeder die nonnativen Vorgaben in derselben Weise
interpretiert, bleibt in der Interaktion immer ein Rest Ungewissheit.
Dass Interaktion in aller Regel aber dennoch gelingt, erklärt Parsons
mit der Anna hme, dass sich die Individuen in der Annahme an einander
orientieren, dass wir im Prozess der Sozialisation die gleichen Nonnen
und Werte der Gesellschaft internalisiert haben und motiviert sind, so

Man kann natürlich auch an eine drille Antwort denken, die Austauschtheorien
geben. Da sie mehr den Effekt des Handeins als die Interaktion zwischen Han-
delnden herausstellen, habe ich sie bei den Theorien .So zialen Handelns" in Kap.
4.4 .Rationale Wahl. gerechter Tausch, symbolische Tra nsaktion" vorgestellt.
2 Vgl. Band 1, Kap. 3.9 ..Normative Integration", S. 125.
5 Interaktion 185

zu handeln . wie wir han deln sollen . Die Gru ndorientieru ng dieser Th e-
orie kann man als normatives Paradigma: bezeichnen. (Wilson 1970,
S. 55f. ) Nach diesem Paradigma, ich wiederhole es , folgen die Interak-
lionsteilnehmer den Rollen. die durch das »soz iokulturelle Wertsys-
tcm« vorgegeben sind. und definieren kon krete Verhaltensweisen als
beispielhafte Fälle von erlebten Handlungsmustem .
Die zwe ite Antwort findet sich in Theorien. die zwischenmensch li-
ches Handeln da mit erklären. dass die Handelnden die Situation und ihr
Handeln wechselseitig interpretieren und sich fortlaufend anzeigen,
wie sie die Situation des Handeins definieren . Diese theoretische Aus-
richtung bezeichnet Wilson als interpretatives Paradigma. Die Theo-
rien , die soziale Interaktio n gewi ssermaßen als Inte rpretation verstehen,
bilden die Interaktionstheorien im engere n Sinn.
In diesen Th eorien der Interaktion , deren wichtigste Vertreter GE-
ORG HERBERT MEAD und HERBERT BLUMER sind, steht das Individuum
im Vo rdergrund . Interaktio n ist e in permane nter Prozess des Handeln s,
Beobachtens und Entwerfen s weiterer Handlungen. In diesem Prozess
übe rnehmen ego und alter wechselseitig ihre Rolle, vollziehen Reaktio-
nen nach und antizipieren so weiteres Handeln. Durch ihre wec hselsei-
tigen Interpretationen definieren die Handelnden sich, ihr Handeln und
die objektive n Bedingungen des Handeins. Dieser Gedanke der Defi ni-
tion der Situation ist grundlegend für die Th eorie des Symb olischen
Interaktionismus. Durch ihr Handeln bestätigen sie die Situa tion oder
suchen sie zu verändern . Men schliche Interaktion ist huerp rerationtz
Zwischen die An nahmen des Symbolischen Interaktionismus und
eine pfiffi ge Variante der Analyse alltäg licher Interaktion, die Ethno-
me thodologie, schiebe ich eine Skizze einer systemtheoretischen Be-
schreibung von Interaktion. Das mag überr aschen , aber wenn man sich
auf eine jüngere Th ese einläs st, Interaktionssysteme als " Kom munika-
tion unter Anwesenden", so der Ti tel der Arbeit von ANDRE KIESER·

I Vgl. Band 1. Kap. 2.7 .Zwei grundsätzliche soziologische Perspektiven", S. 78f..


2 An dieser Stelle muss ich eine Zwischenbemerkung machen: Es hätte auch nahe-
gelegen. eine Theorie. die die wechselseitige Definition der Situation und den
dramatischen Auftrin der Individuen auf der BUhne des Alltags in den Mittelpunkt
rückt, die Theorie von Erving Gc ffman, in diesem Kapitel über Interaktion zu be-
handeln. Da ich aber hinter seinen Beschreibungen eine ganz bestimmte Botschaft
vermute, werde ich die Theorie in Kap. 8.4 "Wir alle spielen Theater" vorstellen.
meine Vermutung im Kap. 7.5 .Stigma und soziale Identität" implizit (S. 3 17) an-
deuten und später explizit (S. 347 Anm. 2) nennen.
186 5 Interaktion

LlNG, zu verstehen, dann merkt man, wie viel die Systemtheorie inzwi-
schen den interpretativen Theorien verdankt und was sie umgekehrt
denen bieten kann!
Nach diesem sche inbare n Exkurs wende ich mich HAROLD GARFIN-
KEL zu. Er hat gezeigt, dass wir im Alltag methodisch vorgehen, auch
wenn uns das nicht bewusst ist, und dass Interaktion nur gelingt, wenn
wir bestimmte Unterstellungen machen. Eine weitere strukturelle Be-
dingung der Fortführung von Interaktion hat LoTHAR KRA pPMANN be-
nannt. Er sieht sie in bestimmten Fähigkeiten des Individuums, sich den
anderen in seiner Identität zu präsentieren. Schließlich setze ich mich
mit der Antwort von JüRGEN H ABERMAS auf die Frage auseinander,
was notwendige Voraussetzungen filr jegliche Interaktion sind. Er sagt
auch, was zu tun ist, wenn Interaktion - Habermas selbst zieht den
Begriff des "kommunikativen Handelns" vor - misslungen ist oder zu
misslingen droht.
Bevor ich auf diese Theorien eingehe, werde ich GEORG SIM MEL be-
handeln, der mit seinem Begriff der "Wechselwirkung" eigentlich die
Basis für eine Soziologie der "Inter-Aktion" gelegt hat. Mit der An-
nahme, dass sich Individuen im Prozess der Wechselwirkung fortlau-
fend vergesellschaften, hat er auch einer dynamischen Theorie der sozi-
alen Ordnung die Richtung gewiesen.
Der zweite Klassiker, der vor allen Interaktionstheorien behandelt
werden muss, ist MAXWEBER. Seine Definition, dass soziales Handeln
"se inem von den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten
anderer" (Weber 1920b, S. 653) bezogen ist, bildet einen wichtigen
Hintergrund für Parsons' normative Erklärung von Handeln und später
Interaktion, hilft aber auch, die eigentlichen interpretativen Theorien zu
verstehen. Webers Definition kann man nämlich durchaus in einem
interaktionistischen Sinn lesen, denn Handeln erfolgt in einer sozialen
Beziehung - und ist soziale Beziehung, und die versteht Weber als ein
fortlaufendes, "aufeinander gegenseitig eingestelltes und dad urch orien-
tiertes Sichverhalten mehret". (vgL S. 676) Weber muss auch deshalb
behandelt werden, damit nicht der Eindruck entsteht, in Theorien des
sozialen Handeins ginge es um etwas völlig anderes als in Theorien der
Interaktion. I

Eine Hilfestellung, dieses Thema mit dem Thema "Soziales Handeln" zu verbin-
den, habe ich ganz am Ende des Kap. 3 "Rolle", S. 133, angeboten.
5 Interaktion 187

S. I Simmel: Wechselwirkung und Vergese llschaftung


In seinem programmatischen Aufsatz ,,Das Problem der Sociologie"
( 1894), den er spä ter zur Einleitung seiner "Soziologie" (1908) umge-
arbeitet hat, hat GEORG SIMMEL als " das einzige Objekt einer Sociolo-
gie als besonde rer Wissenschaft (...) die Untersuchung der Kräfte, For-
men und Entwicklunge n der Vergesellschaftung, des Mi t-, Für- und
Nebeneinanderse ins der Individuen" bezeichn et. (Simmel 1894, S. 57,
Anm.) Erinnern wir uns, wie Simmel Vergesellschaftung erklärt hat: Es
ist der Pro zess, in dem Individuen zueinande r in Beziehun g treten oder
stehen und wod urch sie wechse lseitig au feinander einwirken. Diesen
Zusammenhang zwischen Individuen, Gruppen und Formen, in denen
diese Beziehun gen dauerhaft werden, hat er deshalb auch als Wechsel-
wirkung bezeichnet. Und "Gesellschaft im we itesten Sinne ist offenbar
da vorhanden, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung I treten."
(Simmel 1894, S. 54)
In der Einleitung zu seine r "Sozio logie" beschreibt Simm el genauer,
was er unter Wechselwirkung versteht, was sie aus löst und in welc hen
Formen sie uns begegnet. Er schreib t: "Diese Wech selw irkung entsteht
imm er aus bestimmten Triebe n heraus oder um bestimmter Zwecke
willen. Eroti sche, religiöse oder bloß gesellige Triebe, Zwe cke der Ver-
teidigung wie des Angriffs, des Spieles wie des Erwerbes, der Hil feleis-
tung wie de r Belehrun g und unzählige andere bewirken es, dass der
Mensch in ein Zus amme nsein, ein Fürein ander-, Miteinander-, Gegen-
einander-Hande ln, in eine Korrelation der Zustände mit ande ren tritt, d.
h. Wirkungen au f sie ausübt und Wirkungen von ihnen empfangt . Diese
Wech selwirkungen bed euten, dass aus den individuellen Trägem jener
veranla ssenden Triebe und Zwec ke eine Einheit, eben eine »Gesell-
schaft« wird. (...) Jene Einheit oder Vergesellschaftu ng kann, je nach
der Art und Enge der Wech selwirkung, sehr verschiedene Grade haben
- von der ephe meren Vereinigung zu einem Spaziergang bis zur Fami-
lie, von allen Ve rhältnissen »auf K ündigung« bis zu der Zusammenge-
hörigkeit zu einem Staat, von dem flüchtigen Zusammen einer Hotelge-
sellschaft bis zu der innigen Verbu ndenhe it einer mittelalterlichen Gil-
de." (Simm el 1908, S. 17f.)

Die englische Übersetzung des Begriffs "Wechselwirkung" durch .Jnreracn on''


triffi es m. E. ganz gut, denn .action'' heillt sowo hl ,,Handlung" wie "Wirkung".
188 5 Interaktion

Das Handeln des Individuums ist also d urch etwas motiviert und auf
etwas gerichtet. Zum gesellschaftlichen Ereignis wird die Verfolgung
seiner Ziele, we nn es sich dabei auf andere Individu en bezieht, sei es,
dass es sie braucht, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sei es, dass sie
als Konkurrenten auftreten oder dass sie einfach nur so - als Beobach-
ter, als Personen, auf die man sich bezieht, usw. - vorhanden sind. Weil
Individuen Interessen und Neigungen haben und bestimmte Zwecke
verfolgen, treten sie wechselseitig in Beziehung und "ve rgesellschaf-
ten" sich. Die Wechselwi rkung kan n in keinem Augenblick eine defini-
tive Form erreichen, da j edes Handeln jedes Individuums fortlaufend
wirkt und bewirkt wird. Wech selwirkun g ist Prozess.
Wegen der unterschiedl ichen Interessen und Zwe cke vergesellschaf-
ten sich die Individuen zu "spezifischen Konfi gurationen", doch trotz
aller Unterschiede kann man zwischen ihne n .Jormale Gleichheiten"
feststellen: " An gese llschaftlichen Gruppen, die ihren Zwecken und
ihrem sittlichen Charakter nach die denkbar versc hiedenst en sind, fin-
den wir z. B. die gleichen Formen der Über- und Unterordnung, der
Konkurrenz, der Nachahmung, der Opposition, der Arbeitsteilung, wir
finden die Bildung einer Hierarchie, die Verkörperu ng des gruppenbil-
den den Prin zips in Syrnbolent, die Scheidung in Parteien, wir finden
alle Stadien von Freiheit oder Bindung de s Individuums der Gruppe
gegenüber, D urchkreuzung und Schichtung der Grupp en selbst, be-
stimmte Reaktionsfermen derselben geg en äußere Einflüsse." (Simmel
1894, S. 54f. ) Die Wechselwirkungen nehmen also bestimm te Form en
an. In ihnen wirken " Krä fte (...), die sich bei der gegense itigen Berüh-
rung der Menschen in ihnen entwickeln". (5 . 58, Anm.)
Diese Berührungen und Fonnen des Zusamme nse ins ändern sich im
Laufe der Entwicklung de s Menschen. Sieht sich der Einzelne zunächst
.Jn einer Umgebung, die, gege n seine Individualität relativ gleic hgültig,
ihn an ihr Schicksa l fesselt und ihm ein enges Zus ammense in mit den-
jenigen auferlegt, neben die der Zu fall der Geburt ihn gestellt hat"
(Simmel 1890, S. 237) , nimmt er mit fortsc hreitender Entwicklung
Kontakt zu denen auf, die "durch sachliche Gleichheit der Anlagen,
Neigunge n und Tätigkeiten u. s. w. eine Beziehung zu ihm besitzen".
(5 . 238). Durch diese "Assoz iationen" ergeb en sich Konstellationen,

Dieses Prinzip spielt bei George Herbert Mead, der Simme1 ja in Deutschland
gehört hat, eine zentrale Rolle.
5 Interaktion 189

die Simmel "soziale Kreise" nennt.t Darunter muss man sich ein objek-
tives Gebilde vorstellen, das über Inhalte und nicht über individuelle
Einstellungen definiert ist. Von daher gibt es Erwartungen, die nicht
nur für ein bestimmtes Individuum, sondern grundsätzlich für alle Indi-
viduen gelten, die in einen solchen Kreis gestellt sind.
Wenden wir nun den Blick von den objektiven Formen der Wech-
selwirkung, der Gesellschaft, auf das Pendant, das Individuum. Das tut
Simmel in seinem Exkurs über die Frage "Wie ist Gesellschaft mög-
lich?" (1908). Dort beschreibt er gewissermaßen, was in den Individuen
vor sich geht, wenn sie in Wechselwirkung mit anderen stehen. Kon-
kret nimmt Simmel eine bestimmte Form des Bewusstseins als notwen-
diger Voraussetzung von Vergesellschaftung in den Blick. Er schreibt:
"Das Bewusstsein, Gesellschaft zu bilden, ist zwar nicht in abstracto
dem Einzelnen gegenwärtig, aber immerhin weiß jeder den andem als
mit ihm verbunden." (Simme1 1908, S. 46)
Das ist genau das Neue an diesem Exkurs, dass Simmel jetzt die
Möglichkeit von Gesellschaft an das Bewusstsein der Individuen von-
einander bindet. Deshalb lautet seine Frage auch: "Welche Vorausset-
zungen müssen wirksam sein, damit die einzelnen, konkreten Vorgänge
im individuellen Bewusstsein wirklich Sozialisierungsprozesse seien,
welche Elemente sind in ihnen enthalten, die es ermöglichen, dass ihre
Leistung, abstrakt ausgesprochen, die Herstellung einer gesellschaftli-
chen Einheit aus den Individuen ist?" (Simmel 1908, S. 46) Nicht nur
die eigentümliche Verwendung des Konjunktivs macht ein Verständnis
des Textes schwierig. Ich interpretiere ihn so: Bedingung der Verge-
sellschaftung ist "das Bewusstsein, sich zu vergesellschaften oder ver-
gesellschaftet zu sein." (S. 47) Es ist ein wie auch immer "bewusstes"
Wissen um die Prozesse der Wechselwirkung, in denen die Individuen
stehen.
Simmel fragt nun nach den "spezifischen Kategorien", die "der
Mensch gleichsam mitbringen muss, damit dieses Bewusstsein" entste-
hen kann. Dazu stellt er erstens fest, dass "das Bild, das ein Mensch
vom andem aus der persönlichen Berührung gewinnt", durch gewisse
" Verschiebungen" bedingt ist, die seine reale Beschaffenheit prinzipiell
ändern. Konkret ist damit gemeint, dass wir "den Andem in irgend ei-

Darauf komme ich ausführlich in Kap. 8.1 ,,Kreuzung sozialer Kreise und indivi-
duelles Gesetz", S. 327f., zu sprechen.
190 5 Interaktion

nem Maße verallgemei nert" sehen. (Simmel 1908, S. 47) Wir sehen ihn
als Typus. Zw eitens se hen w ir den and eren als d en typ ischen Repräsen-
tanten des sozialen Kreises, in dem wir mit ihm in Wechselwirkung
verb unden sind. Wir w issen: .Dieser ist ein Mitglied me ines Kr eises."
(S. 49) Er ist Mitbewohner meiner besonderen Welt.
Schließlich gibt es ein Bewusstsein, dass es wegen d er ind ividuellen
Interessen und Fähigkeiten un d der einmaligen Schn eid ung der soz ialen
Kreise in einem Punkt auch nur di esen einen Platz ruf das Individu um
in dieser Gesellschaft gibt. Für die Gesellschaft bedeutet das: Jeder
Punkt in der Gesellschaft konnte sich nur in einer bestimmten Weise
ergeben, und er kann sich auch nu r in einer bestimmten Weise entwi -
cke ln - "w enn nicht die Struktur des Ganzen geä ndert se in soll."
(Simm el 1908, S. 57) Und bezogen auf das Individ uum lautet die Be-
din gun g der Mö glichk eit, dass der Einz elne einer Gese llschaft zugehö-
ren kann, so; " Dass j edes Indi viduum durch sei ne Qualität von sich aus
auf eine bestim mte Stelle inn erhalb seines sozialen Milieus hin gewie-
sen ist: dass d iese ihm ideell zugehörige Stelle auch wirklich in dem
soz ialen Ganzen vorhande n ist - das ist di e Voraussetzung, von der aus
der Einzelne sein gese llschaftliches Leb en lebt." (S. 59) D ie pro zessua-
le Ordnun g lebt also von dem Bewusstsein der Indi vid uen, dass für
j edes von ihne n sich fortlaufend ein besonderer Pla tz ergibt, von dem
aus es in Wechselwirk ung zu vielen and eren steht, und dass von diese r
Wechselw irku ng di e Struktur des Ganzen abhän gt.
Ich will zum Schluss noch auf einen and eren Punkt hinweisen, der
zeigt, dass unabhängig vom Bewu sstsein der Individuen allein schon
di e Zahl der Beteiligten die Qual ität der Wechselwirku ng be einflusst.
Im Kapitel " Die quantitative Bestim mt heit der Gruppe" seiner .Soz io-
logie" beschreibt Simme l sehr fein di e untersch iedliche D ynamik, d ie
sich in Dyaden (z. B. Ehe, Freundschaften, Dopp elherrschaft), Tri aden
(z. B. Fami lie) oder Grupp en mit mehr als drei Mi tgliedern ergibt. Vor
allem die Dreizah l scheint ihm als Gru ppierungsform soz iolog isch
höchst interess ant. So entsteh en durch den Hinzu tritt eines Dritten Dif-
ferenzen der Solidarität, aber auch des Tr ennenden. Gegen einen M äch-
tigen könn en Koali tionen der Unterlegenen auft reten, aber der einzelne
Unte rlege ne kann jetzt auch die Verantwortung für seine Lage dem
Dritten anlasten. Umgekeh rt kann aber auch da s Gemeinsame zw ischen
zweien üb er di e wech selseiti ge Verb indung zu einem Dritten ind irekt
5 Interaktion 191

verstärkt werden. Der Dritte kann schließlich auch verbinden und ver-
söhnen zwischen Gegensätzen. (vgl. Simmel 1908, S. 124)
Insofern kann man den Dritten in der Tat als den "eigentlichen Trä-
ger sozialer Qualitäten" (Nedelmann 1999, S. 138) bezeichnen, denn
über ihn werden - in einer modemen soziologischen Terminologie -
soziale Beziehungen reflexiv. Da in der Dreiergruppe jeder zu jeder
Zeit Dritter und Erster zugleich ist, geht es immer um die Reflexion der
Darstellung von Individualität (i.Füreinandersein" ), um die Reflexion
der Individualität der anderen in der Konstellation zueinander (" Neben-
einandersein") und die Reflexion der Wechselwirkung, die sich zwi-
schen allen direkt und indirekt über den Dritten ("M iteinandersein")
ergibt. "Der Fremde", den Simmel in seinem berühmten Exkurs! be-
schrieben hat, ist der typische Dritte.

5.2 weben Sozia le Beziehu ng


Unter der eingangs zitierten Prämisse, dass soziales Handeln "seinem
von den Handelnden ge meinten Sinn nach auf das Verhalten anderer"
bezogen und .daran in seinem Ablauf orientiert" (Weber 192Gb, S.
653) ist, steht MAX WEBERS Theorie des sozialen Handeins ganz in der
Nähe zu Simmels These von der Wechselwirkung. Vollends seine Aus-
führungen zu den Formen sozialen Handelns, die er »soziale Beziehun-
gen« nennt, lassen sich mit Simmels Vorstellungen über dauerhafte
Konfigurationen parallelisieren.
Es gibt einen weiteren Grund, der erklärt, warum sich später die ei-
gentlichen Theorien der Interaktion implizit oder sogar explizit auf
Weber beziehen. Er liegt in der Formulierung "g emeinter" Sinn. Das
kann doch nur als Ordnungs versuch für das weitere - gemeinsame -
Handeln verstanden werden! Schließt man die Fälle aus, dass sich die
Handlungspartner über den gemeinten Sinn irren und nicht weiter ge-
meinsam handeln oder dass einer die alleinige Macht hat, dem anderen
den gemeinten Sinn zu diktieren, dann kann soziales Handeln eigent-
lich nicht anders gedacht werden als wechselseitige, fortlaufende Ein-
stellung aufeinander. Und genau so wird Weber "soziale Beziehung"
definieren. Ich komme sofort darauf zurück.

I Der kleine .E xkurs über den Fremden" ist Teil der "Soziologie" (SimmeI 1908).
192 5 Interaktion

Um den Begriff de s sozialen Handein s auf den - von Weber natür-


lich noch nicht benutzten - Begriff der Inter-Aktion hinzu ftihren, ru fe
ich noch einmal kurz in Erinnerung,
• was das "Soz iale" am soz ialen Handeln ausmacht, woran es also
orientiert ist,
• und was seine .Bestimmungsgründe" sind.
Zunäch st zum "Soz ialen". Das sozi ale H andeln, hab e ich oben Weber
re feriert, kann "orien tiert werd en am vergangenen, gegenwärtigen oder
für künfti g erwarteten Verhalten anderer" , wob ei die »anderen« " Ein-
zelne und Bekannte oder unbestimmte Viele und ganz Unbekannte
sein" können und auch abstrakte Symbole, wie z. B. Geld, umfassen ,
vo n denen wir erwarten, dass sie für die anderen das Gleiche wie ruf
uns bedeuten. (vg l. Weber 1920b, S. 670f.)
Um die wechselseitige Orientierung des sozi alen Handeins deutlich
zu machen, bemühe ich noch einmal Webers Beisp iel von den zwei
armen Rad fahr ern, die zusam menprallen, und schm ücke es mit meinen
Worten aus. Der Zusammenstoß ist, wie Weber sagt, "ein bloßes Ereig-
nis wie ein Naturgeschehen" . Auch die Tatsache, dass an diesem be-
dauerlichen Ereignis zwe i Individu en beteili gt sind, macht das Ereign is
nicht zum sozialen Handeln. Wenn aber, so malt Weber die Kolli sion
aus, beide sich ansch ließend prügeln, dann sprec hen wir von "sozialem
Handeln ", denn das Handeln des einen ist an dem Sinn des Handelns
des and eren orientiert. Selbst wenn wir den unwahrsc he inlichen Fall
nehm en, dass der eine dem anderen eine runt erhaut und der so Gezüch-
tigte nichts tut, wäre auch das soz iales Handeln, denn er reagiert j a,
wenn auch in ungewöhnlicher Form (z. B. sc huldbewusst und gerechter
Strafe ergeben).
Aber eigentlich kann man schon die sc heinbar ganz spontane Reak-
tion, den anderen zu ohrfeigen, als sozia les Handeln bezeichnen. Wenn
wir nämlich eine instinktive Erklärun g ausschließen, dann könn en wir
unterstellen, dass A im konkreten Fall den Sinn des Ereign isses sofort
verstanden hat : B ist ein rücksicht sloser Rowdy und verdient deshal b
eine Ohrfeige. Das wär 's dann von seiner Seite. Das Handeln von B ist
in seinem Ab lauf natürlich umgekehrt an dem geme inten Sinn des
HandeIns von A orientiert: Meint S , dass A im Recht ist, hält er still;
me int er, dass der andere sich unverhä ltnismä ßig aufplustert, schlägt er
zurüc k.
5 Interaktion 193

Wenn man auf den Prozess des sozia len Handeins und darauf ab-
hebt, dass auf das erste, am Sinn des Handeins eines anderen orientierte
Hand eln eine Reaktion dieses anderen erfolgt, woran sich wiederum
das Handeln des ersten orientiert, usw., dann liegen die Begriffe "sozia-
les Handeln" und "Interaktion" durchaus eng zusammen.t Wenn man
aber stärker auf die Form der fortdauernden Wechselseitigkeit des
Handeins abhebt, liegt ein anderer Begriff noch näher, der der sozialen
Beziehung . Darunter versteht Weber ein "a ufeinander gegenseitig ein-
gestelltes und dadurch orientiertes Sich-Verhalten" (Weber 192Gb, S.
676).
Bevor ich diese Form des gegenseitig eingestellten Handelns erläu-
tere, will ich kurz die vier Bestimmungsgründe des sozialen Handelns
in Erinnerung rufen : - -
);;> So kann das soziale Handeln zweckrational bestimmt sein, d. h.
es werden gezie lt bestimmte Mittel eingesetzt, um bestimmte
Zwecke zu erreichen.
);;> Zweitens kann sich jemand wertratio nal verhalte n, also ohne
Rücksicht auf Kosten und Erfolge seinen Werten folgen.
>- Drittens kann Handeln aus Affekten heraus erfolgen.
);;> Schließlich kann Hand eln einfach nur eingeleb ten Gewohnheiten
folgen. Weber nennt es traditionales Handeln. (vgl. Weber
1920b, S. 673)
Diese di fferenzierten Gründe des Handeins spielen auch in der gegen -
seitigen Einstellung der Handelnden aufeinander eine Rolle, denn sie
helfen ihnen, den gemeinten Sinn des Handeins des Anderen zu verste-
hen. So sind wir hellwach, wenn uns ein Verkäufer sagt, "Ich hab da
was für Sie!", denn der will doch nur "sei n Geschäft" machen; wir stel-
len die Ohren auf Durchzug, wenn Vater wiede r mal beklagt, welche
Werte bei der heutigen Jugend entschwunden sind; und wenn unsere
Nachbarn in die Kirche gehen, "weil sich das so gehört", wisse n wir,
was wir von ihnen zu halten haben. Diese Erklärungen und Einste llun-
gen sind selbstverständlich in den wenigsten Fällen bewusst.
Ich komme nun zu der schon angedeuteten Form des soz ialen Han-
delns. "Soziales Hand eln" meint einen Prozess. Und wir müssen aus
der Formul ierung, dass das Handeln sich dem "Sinn nach auf das Ver-
halten anderer" bezieht und .daran in seinem Ablauf orientiert ist",

1 Vgl. oben S. 143 und dort besonders die Anmerkung.


194 5 Interaktion

schließen, dass das soziale Handeln beiderseitig etwas bewirkt und so


Bedin gungen des weiteren Handeins schafft . Auf die so entstehende,
das aktuelle Handeln überdauernde Form des wechse lseitigen Handeins
zielt der Begriff der "sozialen Beziehung" . Weber definiert ihn so: "So-
ziale »Beziehung« soll ein seinem Sinngehait nach aufeinander gegen-
seitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sich-verhalten mehrer hei-
ßen. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließ-
lieh: in der Chance, dass in einer (sinnha ft) angebbaren Art sozial ge-
hande lt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance beru ht." (Weber
1920b, S. 676)
Soziale Beziehung ist also kein Zustand , sondern ein Prozess, näm-
lich Handeln , und ihre Charakterisierung als "gegenseitig aufeinander
eingestelltes Sich-Verhalten" rechtfertigt es, eine soz iale Beziehung in
moderner Terminologie als Interaktion zu bezeichnen.
So ist auch die Definition eines weiteren Kriteriums einer sozialen
Beziehung zu verstehen, das für Weber in einem " Mindestmaß von
Beziehung des beiderseitigen Handeins aufeinander" (Weber 1920b, S.
676) besteht. Diese Definition erinnert stark an Simmels Konzept der
Wechselwirkung. ' Der Inhalt dieser Beziehung kann ganz unterschied-
lich sein. Sowohl Freundschaft wie Feindschaft, Konkurrenz und
Kampfwie der erste Kuss im Park gehören dazu, aber auch der Tausch
oder der Bruch einer Vereinbarung. Es ist auch nicht gesagt, dass die
Handelnd en den gleichen Sinn in die soziale Bezi ehung legen. Selbst
bei einer so intime n Angelegenheit wie einem Kuss im Park mag die
eine sicher sein , dass der Märc henprinz gerade bei ihr angeklopft hat,
während der andere nachrechnet, die wievielte Eroberung er auf dem
Konto hat. Und bei der sozialen Beziehu ng zwischen dem Verkäufer,
der mir gerade versic hert, das - natürlich auch etwas teurere - lila Sofa
nur Leuten mit einem erlesenen Geschmack zu empfehlen, wird man
auch nicht von einer gegenseitigen, sondern von einer einseitigen Be-
ziehung sprechen können. Gleichwohl ist sie aufeinander bezogen, weil
jeder Beteiligte eine bestimm te Einstellung beim anderen ihm gegen-
über voraussetzt und "a n diesen Erwartungen sein eigenes Hand eln
orientiert." (S. 677)

Von dieser Definition lässt sich leicht eine Verbindung zu Meads These von der
Verschrä nkung der Perspektiven und zu seine m Begri ff der .sociat relaticns" her-
stellen. (Vg l. unten S. 196 Anm. 1 und Band I, Kap. 3.7 "Handeln unter der Vor-
stellung einer geltenden Ord nung", S. 112 Anm. 1.)
5 Interaktion 195

An dieser letzten Formulierung ist die Bewegungsrichtung des Han-


delns interessant: Der Handelnde setzt voraus, dass der andere ihm ge-
genüber bestimmte Einstellungen hat (sicher ist er natürlich nicht), tut
dann aber gleich schon so, als ob sie ganz sicher vorhanden sind, somit
tatsächliche Erwa rtungen sind, an denen er sich dann orientiert und auf
die er "entsprechend" reagiert! Weber selbst führt diesen Gedanken
nicht aus, sondern formuliert etwas zurückhaltend über diese »beider-
seitige« soziale Beziehung: "Objektiv »beiderseitig« ist sie natürlich
nur insoweit, als der Sinngehalt einander - nach den durchschnittlichen
Erwartungen jedes der Beteiligten - »entspricht«, also z. B. der Vater-
einsteIlung die Kindeseinstellung wenigstens annähernd so gegenüber-
steht, wie der Vater dies (im Einzelfall oder durchschnittlich oder ty-
pisch) erwartet." (Weber 1920b, S. 677)
An diesem Beispiel und der für Webers Argumentation typischen
(meist in Klammem stehenden) Erschöpfung aller denkbaren Fälle wird
auch deutlich, warum Weber davon ausgeht, dass wir den "gemeinten
Sinn" des Verhaltens anderer "verstehen" können: Sinn ist das, was in
einer bestimmten Kultur "im Einzelfall oder durchschnittlich oder ty-
pisch" gilt. Die Erwartungen des durchschnittlich typischen HandeIns
machen uns sicher im sozialen Handeln.'
Ich fasse Webers Au sführungen zum sozialen Handeln und zur sozi-
alen Beziehung zusammen:
>- Soziales Handeln ist die gegenseitige Orientierung von Individu-
en am gemeinten Sinn ihres Verhaltens. Sie können sich verste-
hen, weil sie sich an durchschnittlichen oder typischen Erwar-
tungen orientieren.
>- Eine soziale Beziehung heißt ein fortlaufendes, aufeinander ge-
genseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten
mehrerer.
Die gegenseitige Orientierung steht auch in der Theorie von GEORGE
HERBERT MEAD im Vordergrund, der Interaktion als Kommunikations-
prozess versteht und das Sinnverstehen zwischen handelnden Personen
als Verstehen von Symbolen bezeichnet. Insofern geht Mead auch über
Weber hinaus, indem er eine Bedingung des gemeinsamen HandeIns

Ich werde später zeigen. dass genau diese Annalune der sozusagen normalen Er-
wartungen und des entsprechend "selbstverständlichen" Handelns der Ethno-
methodologie zugrunde liegt - und wie böse Überraschungen man in dieser Hin-
sicht erleben kann.
196 5 Interaktion

themat isiert, die Webe r schl icht vorausgesetzt hat: den Sinn. Mead und
die auf ihn folgenden eigentlichen Interaktionisten untersuchen den
Prozess, in dem sich die Handelnden den Sinn ihres Hand elns gegensei-
tig anzeigen. Das tun sie Ober gemeinsam geteilte Symbole. Symbo le
sind nichts anderes als Manifestation von Sinn.

5.3 Mead: Interakt ion - Verschrä nk ung der Perspektiven


Der Begriff "Interaktion" taucht bei GEORGEHERBERT M EAD, der gerne
als Ahn herr des Interaktionismus bezeichnet wird, nur an einer Stelle
auf, wo er von "sodat relations and interactions" (1934, S. 273) spricht.
Ich meine aber, dass das englische Wort .Jn ter-acüon'' ganz gut zum
Ausdruck bringt, wie Mead das Verhalten zwischen Individuen erklärt:
als Kommunikation, in der sie sich wechselseitig wahrnehmen und be-
einflussen.t Jedes Verhalten des Individuums ist eingebunden in einen
.social act'' (Mead 1934, eng!. Fassung, S. 6f.), und deshalb spreche ich
dort von "Interaktion", wo es um fortlaufende Kommunikation und
wechselseitiges Handeln zwischen Individuen geht.
Mead ist geprägt durch den amerikanischen Pragmatismus, der das
Wesen des Menschen in seinem Handeln (griech. pragmein) sah, und
durch den Behaviorismus, dessen Erklärung des Verhaltens als Reiz-
Reaktion er übernahm, von dem er sich mit einer Theorie des »Sozial-
behaviorismus« aber auch deutlich absetzte. (Mead 1934, S. 44) Da-
nach ist Verhalten vor allem durch Verhalten beeinflusst. Verhalten ist
also reaktiv, aber der Mensch verhält sich auch prospektiv, indem er
sich vorstellt, wie sich der andere verhalten wird. Auf dieses nächste
Verhalten stellt er sich innerlich ein, verhält sich in einer bestimmten
Weise und beeinflusst so das Verhalten des anderen.
Anders als das Tier, das auf seine artspezifische Umwelt instinktiv
reagiert, verfügt der Mensch über die Welt und bewältigt sie durch sein
Handeln. Diesen Gedanken entwickelt Mead in der schon angesproche-
nenz anthropologischen Theorie der Kommunikation, die über Zeichen,
Gesten und Symbole abläuft. Ich füh re sie etwas aus.

So trifft auch Meads para llel verwendeter Begriff ,,social relations" ziemlich ge-
nau Webers Definition einer "sozialen Beziehung" : Sie ist ein "gegenseitig auf-
einander eingestelltes Sich-Verhallen" (Weber I920b, S. 676). (vgl. oben S. 194)
2 Vgl. oben S. 32, 83, 87f.
5 Interaktion 197

Die einfachsten natürlichen Zeichen sind Sinnesreize, die instinktive


Reaktionen auslösen. Man hört z. B. den Donner und zuckt unwillkür-
lich zusammen. Tiere und Menschen reagieren auf diese Zeichen in
ähnlicher Weise. Es sind Reaktionen, die von jeder sozialen Beziehung
unabhängig sind.
Zeichen in Fonn von Verhalten nennt Mead Gesten (»gesture«). Sie
bringen einen bestimmten Sinn (»meaning«) zum Ausdruck, bedeuten
also etwas ganz Bestimmtes. Gesten lösen nicht beliebiges Verhalten,
sondern eine ganz best immte Reaktion aus. Das erläutert Mead am Bei-
spiel zweier kämpfender Hunde. Der eine zeigt durch sein Knurren an,
zu welcher Aggression er gegebenenfalls bereit ist. Diese Geste wird
vom andem auch so verstanden und löst eine bestimmte Reaktion aus,
indem er z. B. den Schwanz einzieht. Jeder reagiert instinktiv auf das
Verhalten des anderen und zeigt das in einer neuen Geste an, was wie-
derum neue Reaktionen und Gesten auslöst. "Die Handlung jedes der
beiden Hunde wird zum Reiz, der die Reaktion des anderen beein-
flusst." (Mead 1934, S. 81) Immer aber reagiert das Tier instinktiv und
sofort, d. h. es kann nicht zwischen möglichen Reaktionen entscheiden,
und es kann seine Reaktionen auch nicht aufschieben. Gesten sichern
Kommunikation, indem sie passende Reaktionen auslösen.
Diese Funktion haben Gesten in der Kommunikation zwischen Men-
schen im Prinzip auch. Doch Mead zeigt, dass in der Reaktion auf Ges-
ten der entscheidende Unterschied zwischen Tier und Mensch liegt.
Der Mensch ist nämlich in der Lage, seine Reaktion zu verzögern . Die-
se Verzögerung erfolgt im Prozess des Denkens. Denken bedeutet zu-
nächst, dass der Mensch von der Geste abstrahiert und auf den darin
zum Ausdruck kommenden Sinn sieht. Wenn z. B. j emand in der Dis-
kothek vor unseren Augen die Faust ballt, kann das den Beginn eines
Streites bedeuten. Wenn jemand das in einem Hörsaal tut, verstehen
wir es als körperbetonte Didaktik, mit der uns der Dozent etwas ein-
dringlich nahe bringen will. Wir verstehen es so, weil wir unsere bishe-
rigen Erfahrungen heranziehen und sie mit der neuen Situation verglei-
chen. Dass ein Professor seine Studenten verprügelt, haben wir noch
nie gehört, und dass man sich in einer Diskothek manchmal prügelt,
weiß jed er.
An diesem Beispiel wird zweierlei deutlich: Sinn ist die Verbindung
einer Geste mit einer Handlung, die stattgefunden hat und die sie reprä-
sentiert, oder einer Handlung, die von ihr ausgelöst wird. (Mead 1934,
198 5 Interaktion

S. 120 u. 12 1 Anm . 15) Ges ten verweisen also auf etwas vor oder nach
der konkre ten Situation . Zwe itens ist der Mensch in der Lage, Gesten
zu interpretiere n. Er verallgemeinert die konkrete Sit uatio n, indem er
nach der Idee fragt, d ie mit der Geste zum Ausdruck geb racht werde n
soll. Das macht den Geist oder den Verstand des Menschen aus. (vgl.
Mead 1934, S. 86)
W ird der Sinn einer Situati on oder eines Handlungszusam menhangs
auf einen bestimmten Begriff gebracht oder kommt in einem äußeren
Zeichen zum Ausdru ck , dann spricht Mead von einem Sym bol: "Wir
verweisen auf den Sinn einer Sache, wenn wir ein Symbo l ve rwe nden.
Symbole stehe n fUr den Sinn j ener Dinge oder Objekte, die einen sol-
chen Sinn haben ; es hand elt sich bei ihnen um Teile der Erfahrung, di e
andere Te ile der Erfah rung au fzeig en od er repräsentieren, di e gegen-
wärt ig oder in der gegeb enen Situ ation nich t direkt vorhand en, aber alle
in der Si tuation p räsent sind." (Mead 1934 , S. 162f. Anm. 29 ) Symb ol e
bringen d en Sinn eines Handlungszusammenhangs zu m Ausdru ck, und
zugleich verweisen sie au f se ine Vorgeschic hte, seine Rand bedin gun -
gen und se ine mögli che Zukunft. Symbole repräsentieren imme r einen
komplexen Zusamme nhang. Deshalb lösen sie auch kein automatisches
Verhalten aus, sondern erfordern und erm öglichen Interpretat ion en.
Das Indi vidu um kann sich mehrere Deutung en üb erlegen und zwisch en
möglichen Reaktionen auswählen.
Damit ist aber auch da s Ri siko der Kom munikati on zwischen Men-
schen angespro chen. Währ end Gesten in der Kommunikation zwischen
Tieren richtige Reaktionen gara ntieren, sind beim M enschen Interpreta-
tionen nicht ausgeschlossen, d ie sich wider sprechen. Auf die Fra ge, wie
dann Kommunikation möglich ist, wo doch jeder di e Situation anders
verste hen kan n, antwortet Mead mit dem Hinweis, dass Men schen sig-
nifika nte Sym bole ausbi lden . Von einem signifikanten Symbol - ich
wiederhole es - kann man dann sprechen, wenn ein Ze ichen oder eine
symb olisc he Geste beim anderen Ind ividuum die gleiche Vorstellung
üb er die dahinter liegende Bed eutung hervorru ft wie im Erz euger und
somit die g leiche Re aktion aus löst. (vg l. Mead 1934, S. 188f.)
In der Kommun ikation zwischen Mensch en sind Symbo le Stell ver-
treter für Interpretation sweisen und Handlungsabsichten. Existieren
diese in der Erfahrung von Sender und Empfäng er gleichermaßen und
wird ihre Bedeutung von allen an der Interaktion Beteiligten geme in-
sam geteilt, löse n sie als signifika nte Symbole bei ego und alter nic ht
5 Interaktion 199

zufällige, sondern ganz bestimmte Reak tionen aus. Das heißt, ego kann
sich vorstell en, wie alter wahrscheinlich reagieren wird . Verhalten wird
also antizipierba r. Diese Reak tionen zieht es ins Kalkül und revidiert
ggf. seine Handlungsabsichten. t Alter tut das genauso. Solange ego und
alter die gleiche n Symbole verwenden, können sie sich in die Roll e des
anderen hinei nversetzen . Sie " wisse n", wie es weitergeht und dass auch
der andere das wei ß. In diesem Proze ss de r we chselseitigen Rollen-
übernahme (Mead 1934, S. 113) denk en wir aus der Position des ande-
ren, und so verschränken sich die Haltungen und Perspektiven der
Handlungsbeteili gten wec hselseitig. Indem sich die Handelnden durch
ihre Aktionen und Reakt ionen zu verstehen geben, was in dieser Situa-
tion gilt und welchen Sinn sie ihrem wechselseitigen Hand eln beimes-
sen, komm t es zu einer kommunikativen Verständigung über Grunde
und Ziele des Hand eins. Vers tändi gung bedeutet natü rlich nicht Einver-
ständnis, sondern nur das Anz eigen der weiteren Handlungsab sichten .
Das alles erfolgt natü rlich in den seltensten Fällen bewusst!
Die Vergewisserung aller Betei ligten, um welch en Sinn es sich in
einer bestimmten Situation handelt und welches Verhalten de shalb na-
he gelegt oder ausgeschlossen wird , erfolgt vor allem über die Sprache.
Sprache ist die höchstentwick elte Form der Kommunikation. Diese
Kommunikati on braucht nich t in hörbar er Sprach e zu erfolgen, und
Mead bezeichnet das Denken selbstverständlich auch als eine Form des
Sprechens. So malen wir uns genüsslich aus, wie die aufreizende Neue
auf ihren Hochhackigen in der Kantine stolpert und dab ei ihr Tablett
fallen lässt usw. usw . Wenn sie dann peinlich berührt zu uns rüber
blickt, malen wir uns au s, wie sie "M ist!" sagt und wir voll Mit gefühl
flöten: " Haben Sie sich weh getan?" Und im Stillen denken wir : "So,
Kollegin, jetzt hast Du Dein Fett weg." Natü rlich hoffen wir, da ss sie
sich in Zukunft uns gegenüber anders verhält, und vielleicht verhalten
wir uns nach dieser finsteren Phantasie ja auch anders ! Denken ist inne-
res Sprech en und Durch spielen einer Handlung. Im Denken kommen
die Ideen zum Ausdru ck, die wir durch unser Han deln auszuführen
beabsichtigen bzw. die im Handeln ausgeführt worden sind. Dieses
Denken muss aber nicht bewu sst erfol gen. So interpretieren wir z. B.
das arrogante Verhalten der Verkäuferin im Designerladen, ohne dass

Zu den schönsten Aussichten, die sich daraus für eine Manipulation des anderen
ergeben könnten, vgl. Band I, Kap. 3.8 "Ordnung - Gesellschaft als Diskurs", S.
120 Anm 1. Warum sie dann doch nicht so toll sind, steht im nächsten Satz.
200 5 Interaktion

die es merkt und dass wir es uns klar machen. Dass diese Interpretation
aber tatsächlich erfolgt ist und objek tive Spuren hinterlassen hat, mer-
ken wir vielleicht, wenn wir zu Hause den viel zu teuren Fummel aus-
packen. Verlassen wir die Niederungen de s Allz umen schlichen und
wenden uns wieder den lichten Höhen normaler Interaktion zu.
Ich habe gerade referiert, dass Denken das Durchspielen einer Hand-
Jung ist, und zwar einer gemeins amen Handlung, in der ich und der
andere vorkommen. Die Handlung ist deshalb Interaktion. und sie ge-
lingt nur, wenn ego und alter sich in die Lage des anderen hineinverset-
zen. Wie oben ! gezeigt, wird diese Fähigkeit, sich in einen anderen
hineinzuversetzen, über die Stufen des play und des game en twickelt.
Im Rollenspiel des play schlüpft das Kind in die Rolle signifikanter
Anderer und denkt und handelt von ihrem Standp unkt aus. Im organi-
sierten Regelspiel des game, in dem sich die Handlungen aller Beteilig-
ten gege nseitig beeinflussen , muss das Kind im Prinzip in die Rollen
aller Beteiligten schlüpfen und von ihrem Standpunkt aus denk en. Die
Summe der generellen Haltungen, die man in einer konkreten Situation
von allen Handelnden erwarten kann, nennt Mead, wie gesagt, den ge-
neralisierten Anderen. Er ist das Prinzip oder, wenn man so will: der
Sinn der Interaktion.
Nur weil es diesen ge neralisierten Andere n gibt, ist Kommunikation
im Wort sinn erst möglich. Kommunikation setzt nämlich Teilnahme
(..participation") an den anderen voraus. (Mead 1934, S. 299) Daru nter
versteht Mead kein e gefühlsmäßige Haltung, sondern die T atsache,
dass wir am anderen beteiligt sind, indem wir uns vor jeder Reaktion
auf ihn, wie gerade besch rieben, in seine Ro lle hineinversetzen. Dazu
sind wir in der Lage, weil wir unterstellen, dass auch er sich am genera -
lisierten Anderen orientiert.
Mcad gibt noch eine zweite Antwort . Äußere Erfahrun gen werden
sinnvoll zu "inneren Erfahrun gen" verarbeitet. Diese inneren Erfahrun-
gen bezeichnet er als "Ha ltungen" (s attitudes« ), und die wiederum sind
.Anfänge von Handlungen". (Mead 1934, S. 43)2 Dam it ist gemeint,
dass die Organisation unserer Erfahru ngen nicht nur das umfasst, "w as
unmittelbar abläuft, sondern auch die späteren Phasen." (S. 50) Geht
man auf eine Situation zu, dann denken wir - bewusst ode r unbewu sst

1 Vgl. Kap. 2.5 .jntcgration in einen organisierten Verhaltensprozess" , S. 84f.


2 Vgl. Band 1, Kap. 3.8 "Gesellschaft . Ordnung als Diskurs", S. 120.
5 Interaktion 20 1

- auch schon darüber nach, was wir dort tun wollen oder sollen. Auf
eine Beerdigung stelle ich mich innerlich und durch mein ganzes Ver-
halten anders ein, als wenn ich auf meine Hochzeit gehe - wenigstens
im Prinzip. Mead führt seinen Gedanken konsequent weiter und sagt,
dass in der aktuellen Handlung schon die späteren Phasen der Hand-
lung enthalten sind. Da also unsere Erfahrungen Teil sozialer Erfahrun-
gen und innere Erfahrungen Anfange von Handlungen sind und in ih-
nen wiederum weitere Handlungen beschlossen sind, wissen wir, was
im nächsten Augenblick mit hoher Wahrscheinlichkeit passieren wird.
Ego und alter werden gewissermaßen ftireinander berechenbar und ver-
lässlich. Die Ordnung der Interaktion bleibt möglich!
Ich schlage noch einmal den Bogen zurück zu Meads These, dass
sich in der Interaktion die Perspektiven der Handelnden wechselseitig
verschränken. Sie wird am Beispiel eines gelungenen game sofort evi-
dent. Zweitens zeigt das Beispiel, dass wir die Perspektive des anderen
nur dann verstehen, wenn wir das Prinzip der Handlungssituation ver-
stehen. Das meint der Begriff des generalisierten Anderen. Schließlich
zeigt das Beispiel des game, dass Interaktion gelingt, weil wir die glei-
che Vorstellung von den Symbolen haben, die in der Interaktion zum
Ausdruck kommen. Mit dem Konzept des generalisierten Anderen hat
Mead im Kern eine Sozialisationstheorie entworfen und zugleich er-
klärt, warum Interaktion normalerweise gelingt. Sprache, die darüber
mögliche Übernahme der Rolle des anderen und die daraus sich erge-
benden gemeinsamen Handlungen machen die eigentliche menschliche
Kommunikation aus.
Während Mead betont, dass die Rollen erst in der Interaktion Kontur
bekommen, betont TALCOIT PARSONS - ganz in der Tradition der The-
se von Durkheim über das Gewicht der sozialen Tatsachen - stärker
ihre gegebene Nonnativität.

5.4 Parsons: Rolle, Austausch, Kontingenz


Bei den Erklärungen sozialer Ordnung habe ich die Theorie von TAL-
COTT PARSONS so zusammengefasst: Ordnung ist das Ergebnis nonna-
tiver Integration, und sie ist nonnative Integration. Diese Nonn ativität
scheint auch in seiner Theorie der Interaktion durch, indem Parsons das
Konzept der Rolle zur Erklärung des Handeins in einem sozialen Sys-
202 5 Interaktion

lern heranzieht; auf der anderen Seite nähert sich Parsons mit seiner
Annah me. dass Interaktion Austausch ist, auch der Position von Mead.
Betrachten wir seine Argume ntation etwas genauer.
leh fange mit Parsons' Feststellung an, dass ein ..soziales System",
wo also konkrete Individuen handeln. ein ..Interaktionssystem" (Par-
sons 1968a, S. 432) ist - Inter-A ktion (nehmen Sie es zunächst einmal
so!) deshalb. weil es "durch Handlung erzeugt" (5. 430) wird, Inter-
Aktion, weil die Handlungen von ego und alter sich wechselseitig be-
wirken, wobei natürlich auch scheinbares Nicht-Handeln (das Kanin-
chen vor der Schlange oder das coole Übersehen ei nes Anderen) Han-
deln bedeutet. Und selbstverständlich wirken auch die soziale n Um-
stände (die Sc hlange vor dem Kaninchen) auf unser Hande ln ein. Auf
diese wechse lseitige Bezie hung zielt Parsa ns, wenn er fordert, ein sozi-
ales System unter dem Aspekt des " Austausc hs" ("i nterchange") seiner
einzelnen Elemente zu analysiere n. (vgl. S. 434)
Da ist zunächst die Situation . Sie ist definiert durch die Obje kte, an
denen sich die Handelnd en orien tieren . Solche Objekte könne n physi-
scher, kultureller oder soz ialer Natu r sein.
• Ein physisches Objekt ist z. B. die Straße, auf die ich mich ein-
stelle, wenn ich sie betrete . Physische Objekte "i nteragieren"
nich t mit uns. Dem Asph altplatz ist es zieml ich egal, ob wir ihn
mit nackte n FOßen oder Fußballs ch uhen trakt ieren , aber wir
selbst werden ganz sicher bei einem Fußballspiel auf der Straße
vorsichtiger zu Werke gehen als auf ei nem Rasenplatz.
• Kulturelle Obj ekte sind "symbolische Elemente der kulturellen
Tradition, es sind Ideen oder Überze ugungen, Symbole oder
Werte." (Parsans 1951, S. 4) Das hat Durkhei m "soziale Tatsa-
chen" genannt. Zu den kulturellen O bjekte n ge hören sowohl die
Ziele, die man in einer Gesellschaft ode r in einer konkreten In-
teraktion anstreben darf oder soll, als auch die Mittel, die dabei
angewandt werden dürfe n oder sollen . Wo z. B. in unserer Ge-
sellschaft die Maxime gilt, Reich tum zu erwerben, sind die Mit-
tel des Raubes ausgeschlossen. Jede Sit uation gemeinsamen
Handeins ist durc h Nonnen des richt igen Verhaltens gekenn-
zeichnet.
• Soziale Objekte sind ego und alter. Ihre Teilnahme an der Inter-
aktion kann unter zwei Aspek ten betrachtet werden: Da ist ein-
mal der positionale Aspekt, wo also die Handel nden im soz ialen
5 Interaktion 203

System und zueinander lokali siert sind. Wo diese Position in ir-


gende iner Weise bewertet wird , und das ist beim soz ialen Han-
deln immer der Fall, denn das mindeste ist, dass einer für so un-
wichtig gehalten wird, dass ma n ihn gar "nicht wahrnimmt", wo
eine Position also bewertet wird, sprechen wir von einem "Sta-
tus". Da ist zum anderen der p rozessuale Aspekt, unter dem ge-
fragt wird, was die Handelnden in ihren Beziehungen zueinander
tun, we lche " Rolle" sie also spielen. (vgl. Parsons 195 1, S. 25)
Rolle meint die soz ialen Erwartungen an das Handeln. Ich kom-
me darauf zurück.
In der " Inter -Aktion " geht es vor allem um diese soz ialen Objekte.
Deshalb bilden die Individuen das zwe ite Element des sozialen Sys-
tems. Wie kommen sie in der Inter akt ion vor?
• Zunäch st einmal, stellt Parsons fest, ist das Individuum als Han-
delnder zu sehen, der eine bestimmte Motivation hat. Konkret:
" Er hat Wünsche, Zi ele, interna lisierte Wertori entierungen und
natürl ich Affekte, »Geflihle«". (Parsons 1968, S. 73)
• Zwe itens ist der Handelnd e aber auch "ein Obj ekt von Orientie-
rungen. und zwar für and ere Handelnde wie auch für sich
selbst." (ebd .)
Und außerdem mu ss man sagen:
• ,,Jedes Individuum ist in vielfältigen Interaktionssystemen ein-
gebe ttet, so dass der Teil seines motivationa len Systems, der j e-
weils »engagiert« ist, von Situation zu Situation versc hieden sein
wird.
• Ebenso wird seine Bedeutung als Obj ekt von Kontext zu Kon text
variieren." (ebd ., Gliederung H. A.)
Unter dem Ge sichtspunkt, dass soz iales Hand eln "Inter-Akt ion" ist, ist
besonders der zweite Aspekt wichtig, dass die Individuen für einander
und für sich Objekte der Orient ierung sind. Mit and eren Worten: Sie
reflektieren durch ihr Hand eln das Handeln der anderen und nelunen
sich unter dieser Bed ingung auch selbst wahr. Dies haben wir schon bei
Mead gelesen , und ihn erwähnt Parsons auch ausdrücklich. Der Bezug
zu Mead kommt auch in der folgend en Beschreibung, was soz iale In-
teraktion ist und wie sie funktioniert, zum Ausdruck: "Der Handelnde
nimmt wahr und ist Objekt der Wahrnehm ung, er nutzt instrumentelle
Mitt el und ist selbst Mittel, cr ist den anderen ge fühlsmäßig verbunden
und ist selbst Objekt solcher Gefühle , er analysiert und ist Objekt der
204 5 Interaktion

Analyse, er interpretiert Symbole und ist selbst Symbo l." (Parsons


1968a, 5 . 436)
Das dritte Element ist die Handlun g. Parsons verwendet diesen Be-
griff sehr allgemein. inde m er ihn mit je der Form von Beziehungen
oder Orienticrun gen zwischen Personen gleichsetzt.t Dann gehören
selbstverständlich die individuellen Befind lichkeiten (z. B. Freude oder
Angst) da zu wie die kulture llen Symbole (rote Karte oder weiße Fahne)
und die soziale Situation (Streit oder Liebesgeflüster). Damit wird deut-
lich, dass Parsa ns das Handeln sowohl aus der Gesellscha ft wie aus der
Person erklärt. Das wird auch bei der folgenden Definition deutlich.
Dan ach kann man von Handeln sprechen,
• wen n es zielorientiert ist,
• sich in einer konkreten sozialen Situation abspielt,
• von bestimmten Normen geleitet ist und
• aus einer bestimmten Motivation heraus erfolgt. (vgI. Parsons et
al. 1951, 5 . 53)
Nach dem oben gesagten ist dieses Handeln im Prinzip immer "Interak-
tion", denn es spielt sich in einer sozialen Situation ab, ist deshalb sozi-
aler Austausch, und da es auf Ziele gerichtet ist, die innerhalb eines
konkreten sozialen Systems realisiert werden sollen, ist es auch bedingt
durch die dort geltenden Nonnen. Austausch ist das Handeln auch inso-
fern, als es wechselseitig ein bestimmtes Folgehandeln auslöst. Han-
deln hat wechselseitig motivationale Bedeutung. (parsons 1951, S. 4)
Das vierte Element des sozialen Systems ist das symbolische System,
das die Individuen teilen. (vgl. Parsons et al. 1951, S. 15 und 16) Es ist
die "Kultur", die sich in der Kommunikation zwischen den handelnden
Personen herausbildet. (vgl. Parsons 1951, S. 5) Natürlich wird sie, wie
ich bei der Analyse der Situation gezeigt habe, nicht frei erfunden , son-
dern ist geprägt von den Werten und Normen, nach denen die Gesell-
schaft insgesamt geregelt ist. "Der Prototyp einer solchen Ordnung ist
die Sprache." (Parsons 1968a, S. 437) Jedes soziale System bildet eine
typische "Sprache" aus. Sie beinhaltet einen Code von Normen, die
festlegen, wie man "richtig" spricht, wie Symbole zu verstehen sind
und wie man Informationen austauscht. (ebd.) Die Sprache ist ein gene-
ralisiertes Medium .

Bei seiner Definition dürften Max Webers Definitionen von "soz ialer Beziehung"
und auch vom ,,Handeln" eine wichtige Rolle gespielt haben.
5 Interaktion 205

Neben der Sprache gibt es noch andere "generalisierte Medien" der


Interaktion , die sozusagen spezialisiertere "Sprachen" sind und das
Verhalten in bestimm ten Bereichen großer sozialer Systeme "kontrol-
lieren". Solche Medien der Inter aktion sind Geld, Macht und Einfluss.
(vgl. Parsons 1968a, S. 440) Interaktionsmedien sind Mitt el, Hand-
lungsabsichten zum Ausdruck zu bringen und komplementäres Verhal-
ten zu erzeugen : Wer fünf € anbietet, kann mit der Herausgabe zumin-
dest einer kleinen Pizza rechnen , wer mit der dicken Keule droht, rech-
net mit Unterwerfung, und wer den Mädchen einredet, dass nur die
guten Mädchen in den Himmel kommen, hofft, dass sich die bösen, die
angeblich überall hin kommen, seinem Einfluss nicht entziehen .
Das fünfte Element des sozialen Systems sind die sozialen Rollen.
Rollen sind normati ve Erwartungen eines typisc hen Verhaltens in einer
bestimmten sozialen Position. Wer die Bank D. am Schalter vertritt,
soll aus deren Sicht zwar freundlich sein, aber die Kunden doch all-
mähl ich dazu bringen, ihre Geldgeschäfte am Automat en zu erledigen.
In dem anderen soz ialen System erwartet die alte Frau A. aber, dass die
Bankangestellte erst ma l ihrer Tagesgesc hichte zuhört, ehe sie die
Überwe isung ausfüllt . "Vom Standpunkt des Hand elnden her gesehen
definiert sich seine Rolle durch die normativen Erwartungen der Grup-
penmitglicder, die in den sozialen Trad itionen zum Ausdruck kom-
men." (Parsons 1945, S. 55)
Das soziale System we ist "verhältnismäßige stabile Beziehungsmus-
ter" zwischen den Beteiligten auf; Parsons bezeichnet das als Struktur.
(vgl. Parsans 1945 , S. 54) "Die Struktur von sozialen Handl ungssyste-
men" zeichnet sich nun dadurch aus, "d ass in den meisten Beziehun gen
der Hand elnde nicht als individuell e Ganzheit beteiligt ist, sondern le-
diglich mit einem bestimmt en, differenzierten »Ausschnitt« seines ge-
samten Handei ns. Ein derartiger Aussc hnitt, der die Gru ndeinheit eines
Systems soz ialer Beziehungen darstellt, wird heute überwiegend als
»Rolle« bezeichnet." (S. 54f.) Rolle meint die Erwartungen, die ein
soziales System - vom Gespräch am Schalter über das Fu ßballspiel bis
zum Gott esdienst und der Gese llschaft insgesamt - an seine Mitglieder
richtet. Rollen haben eine norm ative Funktion, indem sie das "rechte
Verhalten" definieren und "passende Verhaltensmöglichkeiten" aufzei-
gen. (vgl. S. 56)
206 5 Interaktion

Wie Interaktion nach der klassischen Rol lentheorie. wie sie Parsons
zunä chst entworfen hatte , idealerweise funktioniert , hat Krappmann an
anderer Ste lle I geze igt. Dort habe ich auch schon ange deutet, dass Par-
so ns nebe n seine Theorie der Ro lle, d ie den Idealfall erfolgreichen ge-
meinsamen Handel ns mit No nnkonfonnität und Konsens erk lärt , eine
Theori e der Interaktion ges tellt hat. d ie gewissermaßen den rea len Dif-
fe renzen und Dissensen - und auch Unge wiss heite n! - im nonnalen
Alltag Rechnung trägt.z Um das Problem , mit dem das Individuum in
der Interaktion fertigwerden mu ss, geh t es nun.
Ich habe oben Parsans mit den Worten zitiert, dass sich die Rolle
durc h norm ative Erwart ungen definiert, "die in den soz ialen Traditio-
nen zum Ausdruck kommen" . (vg l. Par sons 1945, S. 55) Dam it ist aber
auch sc hon das Problem der Interaktion angedeutet: Im Prinzip haben
alle Interaktionspartn er eine höchst spezifisc he Soz ialisation hinter
sich. Ihre Erfahrungen und Erw artungen verdanken sich also ganz un-
terschiedlichen Tra ditio nen. Wo z. B. die eine erwartet, dass sich jeder
in einer soz io logischen Disk ussion "vo ll einbringt", ist es der zwe iten
"voll peinlich" , was ihr da gebo ten wird, die dritte setzt alle mit Webers
Forderung nach to tale r Wertfreiheit unte r Dru ck, und der vierte mim t
den gelangweilten Beo bachter. Und man kann auc h unterstellen, dass
die Beteiligten nur einen Te il ihrer Persönlichkeit in der aktuellen Rolle
aktivieren , was natürlich nicht heißt, der Rest sei nicht wichti g. Wer
weiß schon, welchen Ste llvertreterkrieg jemand ausficht, der gegen
jede dezidierte Meinung o pponiert?
Ergo: Erwartungen an das "richtige" Handeln sind diffus, vielfaltig
und manchmal sogar widers prüc hlich. Wichtiger ist aber die Ta tsache ,
dass de r Handelnde in der Interaktion nicht sicher weiß, wie der andere
reagieren wird. Er kann nur mögliche Reaktionen annehmen. (vgl. Par-
so ns 195 1, S. 5) Die Erwartungen sind als o kontingent, und insofern ist
auch das nächste Han deln egos prinzipiell kontingent. Für die Erwar-
tungen und das Handeins alters gilt das genauso. Wegen dieser wech -
se lseitigen Abh ängigkeit des Handel ns von den mög lichen Erwartun-
gen und dem möglichen Handeln egos und alters ist jeder Interaktion
eine doppelte Kontingenz inh ärent. (vg l. Parson s u. Shils 1951 , S. 16)

I Vgl. oben S. 107


2 Vgl. dazu die erste Skizze auf S. 108
5 Interaktion 207

Dass wir trotz dieser Ungewissheit handeln können, erklärt Parsons


damit, dass es im Laufe einer "erfolgreichen" Sozialisation zu einer
"strukturellen Verallgemeinerung der Ziele" gekommen ist. (Parsons
1945, S. 60) I Diese Erklärung muss man allgemeiner verstehen: Nicht
nur die Ziele sind verallgemeinert worden, sondern auch die sozialen
Vorstellungen der angemessenen Mittel. Kurz: Im Prozess der Soziali-
sation werden generelle Muster des Handeins verinnerlicht. Um es an
einem konkreten Beispiel deutlich zu machen: Wer gelernt hat, mit dem
Auto auf der rechten Seite zu fahren, muss nicht eigens lernen, aueh
mit dem Fahrrad rechts zu fahren, denn er hat begriffen, dass der Stra-
ßenverkehr nach diesem Prinzip funktioniert. Und cr kann sich darauf
verlassen, dass die anderen das auch so kapiert haben. Wer wiederholt
leidvoll erfahren hat, dass totale Offenheit zum Schaden gereicht hat,
wird irgendwann unterstellen, dass auch andere in der Interaktion etwas
zurückhalten. Da strukturelle Verallgemeinerung also nicht nur für Zie-
le und Mittel, sie zu realisieren, sondern auch für Rollen gilt, kann in
einer konkreten Interaktion Möglichkeit zumindest auf Wahrschein-
lichkeit reduziert werden.
Der Gedanke der Verallgemeinerung ("generalization") entspricht
ziemlich genau der Erklärung von Mead, wie Kommunikation zwi-
schen den Individuen möglich ist: Interaktion ist ein System "ko mple-
mentärer Erwartungen", das funktioniert, weil sich ego und alter an
einem gemeinsamen symbolischen System orientieren. Auch Pursons'
Annahme, dass der Handelnde in einer konkreten Interaktion "ein Ob-
jekt von Oriesuierungen, und zwar für andere Handelnde wie auch für
sich selbst" (Parsons 1968, S. 73) ist und dass Interaktion funktioniert,
weil es ein generalisiertes symbolisches System (in der Sprache Meads
der "ge neralized other") gibt, liegt nicht weit von Meads Erklärung
weg. Während nach Mead aber Rollen erst in der Interaktion Kontur
bekommen, betont Parsa ns stärker die normativen Vorgaben, an denen
sich die Handelnden orientieren.
Wcnn nun HERBERT BLUMER zur gleichen Zeit, in der Parsans sein
Modell der Interaktion ausgearbeitet hat, seine Interaktionstheorie di-
rekt an Mead anschließt, dann hat er nicht die deutlichen Annäherungen
Parsons' an Mead vor Augen, sondern das normative Paradigma der
klassischen Rollentheorie!

I Vgl. obe n S. 109


208 5 Interaktion

5.S Blumer: Symbolische Interaktion


Als GEORGE HERBERT MEA D 1931 plötzlich starb, übernahm sein ehe-
maliger Schüler und junger Kollege HERBERT BLUMER (1900-1987)
seine Vorlesung zur Sozialpsychologie. Kongenial im assoziativen Stil
der Entw icklung und Darstellung einer Theorie der Interaktion hat
Blumer auf der Basis eigener und fremder M itschriften der Vorlesun-
gen Meads und in Weiterentwicklung dessen Gedanken erst einer The-
orie der Symbolischen Interaktion den Namen gegeben und sie rund
drei Jahrzehnte später in seinem Aufsatz " Der methodologische Stand-
ort des Symbol ischen Interaktionismus" ( 1969) systematisiert. Letzte-
res schien ihm überfällig zu sein, nachdem die Kritik an der Rollenthe-
ori e von Parsons sich ungeniert bei Mead bediente.
Auf die Frage, was das Neue an dieser Theorie ist, gibt Blumer die
folgende Antwort : Aus der Sicht des symbolischen Interaktionismus ist
"das menschliche Zusammen leben ein Prozess, in dem Objekte ge-
schaffen, bestät igt, umgeformt und verworfen werden. Das Leben und
das Handeln von Menschen wandeln sich notwendigerweise in Über~
einstimmung mit den Wandlungen, die in ihrer Obj ektwelt vor sich
gehen." (Blumer 1969, S. 9 1)
Mit diesem Satz will Blumer nicht so sehr an die triviale Tatsache
erinnern, dass die objektive Realität unser Handeln bestimmt, sondern
die Th ese vorbereiten, dass die Menschen diese "objektive" Realität
"definier en" und damit auch die Bedingungen ihres Handeins selbst
verändern. Diese These muss man auch in Beziehung setzen zu Max
Weber, den Blumer zwar nicht zitiert, dessen Definition sozialen Han-
delns aber Ende der 60er Jahre auch in der ameri kanisc hen Disk ussion
allgemei n akze ptiert war . Danach heißt soziales Handeln , sich am ge-
meinten Sinn des Handeins des ande ren zu orien tieren. Diese Erklärung
sozialen Handelns erweitert Blumer und sagt, dass sich die Handelnd en
wechselseitig den Sinn ihres HandeIns anzeigen und so über die ge-
meinsame Situatio n verständigen .
Diese These steht natürlich vor dem Hintergrund der Erklärungen,
die Mead gegeben hatte. Danach gelingt Komm unikation, weil die Be-
teiligten sich den Sinn ihres Handeins über gemeinsame, signifikante
Symbole erschließen. Das hebt Blumer besonders hervor, und insofern
wäre es auch klarer, wenn man seine Theorie des Handelns als »sym-
bolvermittelte« Interaktion bezeichnen würd e. (vgl. Joas u. Knöbl
5 Interaktion 209

2004, S. 193) Kommu nikation gelingt nac h der Theorie der Kom muni-
kation von Mead zweitens, weil sich die Handelnden in face-to-face-
Situationen wechselse itig in die Rolle des anderen versetzen und sich
selbst in ihrem Handeln beobachten und verstehen.
Blumer geht nun einen Schritt weiter und sagt, dass die Hand elnden
durch ihre Sprache und ihr Verhalten einander dauernd anzeigen, wie
sie die Situation verstehen und wie der andere sie verstehen sol l. Sie
produzieren in der Interaktio n fortlaufend gemeinsame Symbole, an
denen sie sich dann orientiere n, die sie durch ihr Handeln bestätigen,
revidieren und wieder neu definie ren. So wird der Sinn der Interaktion
fortlaufend ausge handelt, und es kommt zu einer gemeinsamen Defini-
tion der Situation . Diese Definition schafft objektive Handlungsbedin -
gungen und strukturiert die weiteren Interaktionen. WILLlAM I. THOMAS
(1863-1947), den Blumer übrigens als prominenten Vorläufer des
Symbol ischen Interaktioni smus erwähnt, hat die Kraft der Definitio nen
so ausgedruckt: "Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind
auch ihre Folgen real." (Thomas u. Thomas 1928, S. 114)
Auf diesem sog. Tho mas-Theorem t basieren Blumers "d rei einfache
Prämissen" über das Handeln der Menschen gegenüber Dingen, die
Bedeutung der Dinge und die Verwendung dieser Bedeut ung :

Herbert Blum er: Drei Prämissen über Bedeutungen,


Interaktion und Interpretation
"Die erste Prämisse besagt, dass Menschen »Dingen« gegenüber auf
der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besit-
zen. Unter »Dingen« wird hier alles gefasst, was der Mensch in seiner
Welt wahrzunehmen verm ag - physische Gegenstände, wie Bäume
oder Stühle; andere Menschen, wie eine Mutter oder einen Verkäufer;
Kategorien von Menschen, wie Freunde oder Feinde; Institutionen, wie
eine Schule oder eine Regierung; Leitideale wie individuelle Unabhän-
gigkeit oder Ehrlichkeit; Handlungen anderer Personen, wie ihre Befeh-
le oder Wünsche; und solche Situationen, wie sie dem Individuum in
seinem täglichen Leben begegnen. Die zweite Prämisse besagt, dass die
Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit sei-
nen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die dritte

Für Robe rt K. Mert on erklärt dieser Mechanismu s de r Strukturierung, den er "s el f-


fu lfillin g prophecy" nennt, n icht -intendierte Handlungs folgen, für den Symboli-
schen Intera ktionism us Normai ttiu. Vg l. dazu auch Kap. 4.6 "Rationale W ahl trotz
»habirs« und »frameae'', S. 173, und S. 111 Anm. 1.
210 5 Interaktion

Prämisse besagt, dass diese Bedeutungen in einem interpretativen Pro-


zess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnen-
den Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden." (Blumer
1969: Der methodo logische Stan dort des Symbolischen Interaktionis-
mus, S. 81)

Nach diesen Prämi ssen handeln Menschen nicht, indem sie nonnative
Roll en einfach ausführen, sondern indem sie ihnen und den übrigen
Bedingungen des Hand eins eine Bedeutung geben und damit die Be-
dingungen selbst schaffen. Die Zuschreibung einer Bedeutun g kann
man als "Definition" bezeichnen. Dieser Prozess der Bedeutun g erfolgt
aus der sozialen Interaktion heraus, deshalb bezeichnet Blumer Bedeu-
tungen auch als "soziale Produk te". Die Mensch en zeigen sich wech-
selseitig an, welche Bedeutung sie einer bestimmten Situation beimes-
sen, wie sie die Bedingungen des nächsten Handeins definieren und wie
sie die Effekte dieses Handelns interpretieren. Auch wenn es keinem
der Beteiligten bewusst ist: Sie stehen in einem fortlaufenden .formen-
den Prozess".
In diesem wechselseitigen Interpretationsprozess interagiert der
Handelnd e auch mit sich selbst. (vgl. Blume r 1969, S. 84) Er definiert
sich und strukturiert danach sein Hand eln. Daraus folgt: Die innere
Komm unikation eines jeden Beteiligten an der Interaktion ist Reaktion
auf die innere Komm unikation jedes anderen Beteiligten.
Vor diesem Hintergrund skizziert Blumer nun vier Kernvorst ellun-
gen des Symbolischen Interaktioni smus. Die erste heißt, "dass mensch-
liche Gruppen aus handelnden Personen bestehen", genauer: "dass
menschliche Gruppen und Gesellschaften im Grunde nur in der Hand-
lung bestehen." (Blumer 1969, S. 85)1 Gese llschaft ist Handlung; sie
besteht in einem fortlaufenden Prozess der wechse lseitigen Interpretati-
on und Abstimm ung der Aktivitäten ihrer Mitglieder. Gese llschaft ist
nicht allein aus den sozialen Tatsachen (Durkheim) oder aus dem kultu -
rellen System (Parsons) zu erklären, sondern muss aus den handelnden
Individuen selbst erklärt werden.

Bei Weber war zu lesen, dass ein soziales Gebilde nur solange besteht, wie in ihm
sinnvolle Handlungen stattfinden. Vgl. Band I, Kap. 3.7 .H andeln unter der vor-
stellung einer geltenden Ordnung", S. 112.
5 Interaktion 2ll

Die zweite Kemvorstellung lautet folgerichtig, dass eine Ge-


sellschaft aus Individuen besteht, "die miteinander interagieren." (Blu-
mer 1969, S. 86) Deshalb müssen sie "darauf achtgeben, was der je-
weils andere tut oder tun will" (S. 87), und das tun sie auch. Wie Mead
gezeigt hat, erfolgt diese Beachtung durch wechselseitige Rollenüber-
nahme und auf einer symbolischen Ebene. Die Handelnden interpretie-
ren sich und ihr wechselseitiges Handeln, ziehen daraus Schlüsse und
definieren so den Rahmen ihres HandeIns. Das Gewicht dieser wech-
selseitigen Definition hat RALPH H. T URNER in der These zum Aus-
druck gebracht, dass j eder Prozess des role-taking auch ein Prozess des
role-making ist. (Turner 1962)
Die dritte Kemvorstellung betrifft die Beschaffenheit von Objekten.
Für Blumer gibt es keine Welt an sich, sondern nur Welten, wie Men-
schen sie sich und flireinander konstruieren. Diese »Welten« sind aus
»Objekten« zusammengesetzt, die wiederum "das Produkt symboli-
scher Interaktion sind. Zu den Objekten ist alles zu zählen, was ange-
zeigt werden kann, alles, auf das man hinweisen oder auf das man sich
beziehen kann." (Blumer 1969, S. 90) Das reicht vom Wassertropfen
über konkrete Personen bis zu abstrakten moralischen Prinzipien. Die
Bedeutung der Obj ekte ist für verschiedene Personen höchst unter-
schiedlich. Für den einen ist das Wasser das Zeichen des Lebens, für
den anderen Bedrohung. Die Bedeutung der Objekte - ich wiederhole
es - liegt denn auch nicht in den Objekten selbst, sondern in der Defini-
tion, die die Handelnden sich gegenseitig anzeigen. Wenn kleine Mäd-
chen anfangen zu kreischen, wenn man mit dem Wasserschlauch an-
kommt, dann zeigen sie sich an, dass das kommende Vergnügen ohne
einen kleinen Schock nicht zu haben ist. Objekte sind Produkte des
Handeins von Menschen. In sie legen sie Sinn hinein. Will man das
Handeln der Menschen verstehen, muss man ihre Welt von Objekten
bestimmen. Fährt jemand im offenen Cabriolet mit hämmernden Bäs-
sen langsam durch die Straße, ist es sein Arrangement von Körper, Ob-
jekt und Raum, mit dem er sich oder anderen imponieren will, und be-
stimmte Zuschauer werden es auch so verstehen. Andere definieren das
natürlich ganz anders und empfinden es als lästig.
Viertens sagt der symbolische Interaktionismus, dass der Mensch
mit sich selbst in einer sozialen Interaktion steht. Er begegnet einem
ständigen Fluss von Situationen; in j eder muss er handeln, und in jeder
Situation muss er die Umstände seines Handelns - von seinen Bed ürf-
212 5 Interaktion

nissen bis zu den antizipiert en Erge bnissen des geme insame n HandeIns
- interpretieren und d efinieren . Er zeigt sich Obj ekte an und gibt ihn en
eine Bed eutung. Nach dieser Bedeutung o rganisiert er sein Handeln. So
schafft er sich sei ne eigene Welt. indem er interpretierend über sie ve r-
fügt.
Aus den vier Kernannahmen folgt, dass eine Interaktion mehr ist als
die Summe der einzelnen Handlungen. Sie ist etwas Eigenes, das sich
ständig verändert und jede einzelne Handlung bedingt. Dadurch, dass
die Handelnd en sich fortlaufend anzei gen, wi e sie die Situation de finie-
ren, verketten sich die einzelnen Handlungen. Dieser Begriff der Ver-
kettung {einterlinkage«) ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn eine
Handlung greift in die andere, ist Reaktion auf eine Handlung und Be-
dingung für eine nächste. Verkettung begründet gemeinsames Handeln.
Zu dieser Verkettung macht Blumer nun drei Anmerkungen, die sich
auf die scheinbare Wiederholung von Handeln, die Ausdehnung, die
eine solche Verkettung annehmen kann, und auf die Vorgeschichte der
Handlungen beziehen.
So stellt er zunächst einmal fest, dass der überwiegende Teil sozia-
len Handeins routinemäßig nach bestimmten Mustern erfolgt. " In den
meisten Situationen, in denen Menschen in Bezug aufeinander handeln,
haben sie im Voraus ein festes Verständnis, wie sie selbst handeln wol-
len und wie andere handeln werden. Sie haben gemeinsame und vorge-
fertigte Deutungen dessen, was von der Handlung des Teilnehmers er-
wartet wird, und dementsprechend ist jeder Teilnehmer in der Lage,
sein eigenes Verhalten durch solche Deutungen zu steuern." (Blumer
1969, S. 97f.) Während Parsons das gemeinsame Handeln damit erklä-
ren würde, dass die Beteiligten ihre Rollen kennen und sie routiniert
ausführen, müssen sie sich nach der These von Blumer zunächst einmal
zu verstehen geben, dass es ein Zusammenhang ist, dem man durch
Wiederholung von Handlungsmöglichkeiten begegnen kann.t Mit die-
ser ersten gemeinsamen Definition der Situation beginnt dann der Pro-
zess der Definition, wie weiter gehandelt werden soll.
Natürlich leugnet auch Blumer nicht, dass es Nonne n und Regeln
gibt, aber es sind die Menschen, die sie filr sich interpretieren und ge-
meinsam definieren: "Es ist der soziale Prozess des Zusammenlebens,

Lesen Sie vor diesem Hintergrund doch noch einmal nach, was Luhmann über die
erfolgreiche Überschätzung des Konsenses gesagt hat! Vgl. Band 1, Kap. 4.8 .D ie
Geltung von Institutionen und Rituale der Rebellion", S. 170.
5 Interaktion 213

der die Regeln schafft und aufrechterhält, und es sind nicht umgekehrt
die Regeln, die das Zusammenleben schaffen und erhalten." (Blumer
1969, S. 99)
In seiner zweiten Anmerkung zur Verkettung geht Blumer auf die
ausgedehnten Verbindungen von Handlungen ein. Sie machen einen
großen Teil menschlichen Zusammenlebens aus. Blumer nennt sie
Netzwerke von Handlungen (anetworks of action«) oder Institutionen.
Und auch diesem Thema wendet sich Blumer auf eine ganz neue Weise
zu. Während andere Theorien von der Regelmäßigkeit des Handeins
fasziniert waren I und die Gründe dafür in den Institutionen suchten
oder sogar davon sprachen, dass die Institutionen ihrer eigenen Dyna-
mik folgen, unterstreicht Blumer die Bedeutung des Handeins des Indi-
viduums: Institutionen funktionieren, weil die Beteiligten die Situation
in einer bestimmten Weise definieren.
Die dritte Anmerkung schließlich betrifft die Vorgeschichte des
Handeins. Jedes Handeln geht notwendig "aus dem Hintergrund frühe-
rer Handlungen der Teilnehmer" hervor. (Blumer 1969, S. 100) Jeder
Handelnde bringt in die Interaktion einen Satz von Bedeutungen und
Interpretationen mit, die er im Laufe seines Lebens kennengelernt hat.
Jeder ist zu jedem Zeitpunkt seines Handeins in seine Biographie ein-
gebunden. Deshalb ist in der Interaktion j eder Handelnde auch in die
Biographie aller anderen eingebunden. "Gemeinsames Handeln stellt
sozusagen nicht nur eine horizontale Verkettung der Aktivitäten der
Teilnehmer dar, sondern auch eine vertikale Verkettung mit vorange-
gangenem gemeinsamen Handeln." (S. 101) ANSELM STRAUSS, ein
Schüler von Blumer, hat diese Verkettung des Handeins mit der Bio-
graphie der anderen in folgendem Satz zum Ausdruck gebracht: "Ob-
wohl nur zwei Hauptdarsteller auf der Bühne stehen, sind auch andere,
nur dem Publikum oder einem der beiden Akteure sichtbare Spieler
anwesend. Somit kann sich j eder Darsteller, indem er sich auf den an-
deren einstellt, zugleich auf einen unsichtbaren Dritten einstellen, als
wäre dieser tatsächlich anwesend." (Strauss 1959, S. 58)
Nach der Theorie des Symbolischen Interaktionismus ist also Inter-
aktion im Kern Interpretation von Handeln. Und sie funktioniert auch,
wenn sich die sozialen Erwartungen nicht völlig decken. Während bei
Parsons die Interaktionsordnung letztlich durch die Orientierung an

1 Vermutlich hat Blumer hier an Max Webers Theorie der Bürokratie gedacht!
214 5 Interaktion

nonnativen Rollen zusammengehalten wird, ist es im interaktioni sti-


sehen Modell Blumers der prozessuale Konsens, der das bewirkt. Dass
das nicht so einfach funktioniert, sondern höchst riskant sein kann, hat
eine Variante des Symbolischen lnteraktionismus, die Ethnomethod o-
logie, gezeigt.
Bevor ich diese pfiffige Analyse des Alltagshandelns vors telle, wie
angekündigt, will ich skizzi eren, wie das Thema Interaktion aus der
Sicht der Systemtheo rie behandelt wird. Warum Sie nicht überrascht
sein sollten, dass das just an dieser Stelle erfolgt, steht in der Einleitung
zu diesem Kapitel.

5.6 In ter a kt ionssysteme: Kommunikation unter Anwesenden


In seinen "S tudien über Inter aktionssysteme" beklagt ANDRE KJESER·
UNO, dass es bis dato nicht zu einer "kontrollierten Anwendun g der
Systemtheorie auf Interakti onen" gekommen sei. (Kieserling 1999, S.
23)
Das kann man als hausinteme Selb stkritik der Systemtheoretiker le-
sen, denn die Erfahrung, dass Interaktionen eine .Eigenlogik'' haben
und dass aus emergenten Prozessen Strukturen sich immer wieder neu
schaffen, hätte eigentl ich die Systemtheorie auf den Plan rufen müssen.
Das kann man aber auch als nachgetragene Entschuldigung lesen, denn
"Interaktion war einer derjenigen Begriffe, mit dem man gegen die sei-
nerzeit domini erende Ver sion von Systemtheorie protestierte. Die Kri-
tik an Parsons wurde als mik rosoziologische Revolution inszeniert, und
noch heute leuchten daher Begriffe wie Interaktion oder Situation eher
als Gegenbegriff zum Systembegriff ein. Ebenso wie Konflikttheorie
gilt auch Interaktionstheorie als eigener Ansatz, den man nur gegen
oder nur neben Systemtheori e vertreten könne ." (Kieserling 1999, S.
23)
Kieserling hat in einer eindrucksvollen Arbeit gezeigt, was die Sys-
temtheorie bis dah in alles ausgeblendet hat und was umgekehrt die Sys-
temt heorie für die Analyse von Interaktion beitragen könnte. Aus dieser
Arbeit will ich nur einige zentrale Gedank en! skizz ieren und einiges,

Um die folgende Skizze zu verstehen, ist es hilfreic h, noch einmal nachz ulesen,
was ich in Band I, Kap. 6.5 übe r "Die Th ese von der Reduktion von Komplexität"
und in Kap. 6.6 über ,,Die autopoietische Wend e der Systemtheorie" gesa gt habe .
5 Interaktion 215

das ich über die Systemtheorie an anderer Stelle t referiert habe, wie-
derholen . NIKLAS LUHMANN hatte festgestellt, dass ,je nach dem, unter
welchen Voraussetzungen der Prozess der Selbstselektion und der
Grenzziehung abläuft", sich soziale Systeme auf verschiedene Weise
bilden, nämlich als Interaktionssysteme. als Organisationssysteme und
als Gesellschaftssys teme. (Luhmann 1975c, S. 10) .Jnt eraktionssysteme
kommen dadurch zustande, dass Anwesende sich wechselseitig wahr-
nehmen. Das schließt die Wahrnehmung des Sich-Wahmehmens ein.
Ihr Selektionsprinzip und zugleich ihr Grenzbildungsprinzip ist die
Anwesenheit. Wer nicht anwesend ist, gehört nicht zum System."
(ebd.) Die Systemgrenze zeigt sich darin, "dass man nur mit Anwesen-
den, aber nicht über Anwesende sprechen kann; und umgekehrt nur
über Abwesende, aber nicht mit ihnen." (ebd.) Es muss aber auch noch
eine andere - aus Sicht der Systemtheorie - eingeschränkte Leistungs-
fähigkeit von Interaktionssystemen bedacht werden: Sie sind strukturell
beschränkt, weil sich die Interaktionen auf j eweils ein Thema konzent-
rieren müssen (man kann nicht gleichzeitig über alles sprechen) und
weil die Beiträge zur Interaktion nacheinander erfolgen müssen (es
können nicht alle gleichzeitig reden.)
An Luhmann s Definition der Systemgrenze schließt Kieserling seine
These an, dass Interaktion ..Kommunikation unter Anwesenden" meint.
(Kieserling 1999) Unter dieser Einschränkung reicht Interaktion von
der Party bis zur gemeinsamen Autofahrt, von der ärztlichen Unters u-
chung bis zur therapeutischen Gruppensitzung. Kieserling nennt nun
einige Merkmale von Interaktionssystemen.
Für jede Interaktion gibt es ein ..Typenprogramm" , das der Verstän-
digung über den Sinn der Zusammenkunft dient. (vgl. Kieserling 1999,
S. 18) Wer z. B. zu seinem Kollegen ins Auto steigt, damit er ihn mit
zur Arbeit nimmt, sollte nicht das Typenprogramm Busfahren im Kop f
haben.
Typenprogramme dienen der Reduktion von Komplexität. Die glei-
che Funktion hat das Thema einer Interaktion. Wenn der Lehrer zwei
Streithähne ins Gebet nimmt, geht es um Streit und nicht um die Er-
mahnung, im Übrigen beim Diktat etwas sauberer zu schreiben. An
diesem Beispiel wird auch deutlich, dass das Thema von einem Interak-
tionsteilnehmer diktiert werden kann, aber dann kann man davon aus-

1 Vgl. Band I , Kap. 5.7 .Drganisanon als System" .


216 5 Interaktion

gehen, dass man an dieser Kommunikation nur solange teilnimmt, wie


es nicht zu umgehen ist. Für norm ale Interaktion gilt, dass ein Thema
um so eher alle Beteili gten integriert, je näher es an ihren Erwart ungen
in dieser "typischen" Interaktion liegt.
Typisch für Interaktionssystem e ist weiterhin, dass jeder Te ilnehme r
die ganze Zeit in die Kommunikation eingeschlossen ist, auch wenn er
sich abseits stellt, mit der Nachbarin flüstert oder schweigt. Interaktion
als Kommunikation unter Anwesenden bedeutet immer auch undiffe-
renzierte Inklusion. Wa s geschieht, geschieht immer unter de n Augen
aller Beteiligten: " In der Interaktion gibt es keine Geheim nisse. Es gibt
freilich auch keine Pri vatheit, nämlich keine Möglichkeit, dem »Kle ben
der Blicke« (Luhmann) auszuw eichen." (Kieser ling 1999, S. 48) Die
Interaktion ist deshal b auch erst dann zu Ende, wenn man sich nicht
mehr wech selseitig beobachten kann .
Ein weiteres Merkmal der gelingende n Kommunikation unter An -
wesenden sieht Kieserling darin, dass Reden und Schweigen synchroni-
siert werden müssen. (vgl. Kieserling 1999, S. 40) Wer redet, darf nicht
den Eindruck erwec ken, dass er nie mehr au fhört , we r schweigt, dar f
nicht den Eindruck vermitteln, ihn ginge das alles gar nichts an. Reden
erfolgt und wird zugelas sen unter den Bedingungen knapper Zeit und
des Rechtes, damit eine bestimmte Ordnung des Systems zu de finieren .
Also : Wer kurz und knapp ..Ruh e!" schreit, sagt, welches Programm
angesagt ist und wer als nächster reden darf (in diesem Fall wahr-
scheinlich ebendieser l), wer folgt, akzeptiert das Programm. Umge-
kehrt : Wer redet, mutet anderen währenddessen eine bestimmte Passi-
vität zu. Das ist auch notwendig, weil eben nicht alle gleichzeitig reden
könne n. Damit die anderen sich nicht innerlich absentieren, muss er
nicht nur seine Rede interessant machen, sondern auch signa lisieren,
dass sie ebe nfalls das Wort bekommen werden.
Etwas kom plizierter wird es, wenn plötzlich alle schweige n. Je län-
ger das anda uert, um so wahrscheinlicher ist es, dass die Teilnehme r
über ihre Inklusion in das Interaktionssystem reflektieren und auf ein
Th ema oder ein Ereign is hoffen, das an das gerade abgebrochene The-
ma angeschlo ssen werde n kann . Da alle in der strukturell diffu sen In-
teraktion immer potentielle Sprecher sind, hängt die Anschlussfähigkeit
der Kommunikation auch von j edem Einzelnen ab, Maßnahmen, die
Peinlichkeit zu überbrücken, reichen vom verlegenen Hüsteln bis zum
flücht igen Blickkontakt , und schließlich wird jedes Ereignis dankbar
5 Interaktion 217

begrüßt, das das Eis bricht. In solchen Situationen ist oft zu beobach-
ten, dass es zu einem Themenwechse l kommt. Dadurch wird eine neue
Ordnung definiert, und sie muss für möglichst alle anschlussfähig sein.
Ich habe von undifferenzierter Inklusion gesprochen, die dadurch er-
folgt, dass alle lnteraktionsteilnehmer sich wechselseitig als Teilneh-
mer wahrnehmen. Das heißt aber nicht, dass damit auch die ganze Per-
son beansprucht würde, damit das Interaktionssystem funktioniert. Und
umgekehrt heißt das auch nicht, dass das System es zulassen muss, dass
die Teilnehmer sich als ganze Person einbringen. Im ersten Fall funkti-
oniert ein Interaktionssystem, auch wenn die Teilnehmer von einander
annehmen (und annehmen müssen!), dass sie außerhalb dieses Interak-
tionssystems noch ein anderer sind. Die thematische Situationsdefiniti-
on verlangt aber Einschränkung individueller Besonderheiten . "Das
bedeutet nicht zuletzt, dass die mitunter erheblichen Unterschiede der
persönlichen Nähe oder Vertrautheit, die unter den Anwesenden beste-
hen, in der Interaktion nicht gut dargestellt oder gepflegt werden kön-
nen. (..) Vor allem Paare können die Intimität, in der sie sonst mitein-
ander verkehren, in Anwesenheit anderer nicht gut ausleben, ohne dass
der Eindruck einer Fusion von Hinterbühne und Vorderbühne entsteht,
der die Einheit von Situation und Stilvorgabe zerfallen lässt. Das mag
den noch Liebenden als Zumutung erscheinen, während die schon
Streitenden es als Unterbrechung ihres Streites genießen können."
(Kieserling 1999, S. 50)
Das Beispiel mit den Interaktionsteilnehmern, die etwas mit in die
Situation einbringen, was eigentlich nach Typenprogramm oder Thema
nicht dort hinein gehört, zeigt, dass das System eine Grenze hat. Aber
diese Grenze steht nicht fest, sondern kann durchlässig sein. So kann,
was eigentlich ausgeschlossen werden sollte, z. B. mit einem gewollten
Themenwechsel oder auch unter der Hand nach innen gelangen. Der
Streit zwischen H. und G., den die unter der Decke halten wollten, von
dem aber natürlich alle wussten, bricht plötzlich auf, und zum Schluss
kriegen sich alle an die Köpfe. Es kann aber auch der andere Fall ein-
treten, dass die Teilnehmer ganz bestimmte Reizthemen peinliehst
vermeiden. Die Interaktionsstruktur wird also von außen irritiert, und
das System, wenn es denn weiter bestehen soll, organisiert sich auto-
poietisch. Die Grenze, die auf diese Weise gezogen wird, ist nur auf
Zeit stabil.
218 5 Interaktion

Betrachten wir schließlich die eingangs angesprochene Bedingung,


dass Interaktion als Kommunikation unter Anwesenden verstanden
werden soll. So ganz stimmt das nicht, denn es gibt sowohl den Fall,
dass Anwesende nicht als solche ang ese hen werden, als auch den, dass
Abwesende als Anwesende behande lt werden: "Diener zum Beispiel
können dur ch ihre Herren und deren Besucher als abwesend behandelt
werden, auch wenn sie sich im selben Zimmer aufhalte n, Taxifahrer
durch die Interaktion unter den Fahrgästen auch dann , wenn sie unmit-
telbar vor einem sitzen. Es gibt also Ausgrenzung und Exklusion trotz
konti nuierlicher Präsenz. Aber auch der um gekehrt e Fall der Inklusion
trotz disko ntinuierlicher Präsenz ist weit verbreitet : Wer zwischen-
durch kurz mal austreten muss, der kann in der Interaktikon trotzdem
als anwesend beha ndel t werden. Man verzichtet dann darauf, Themen
zu behandeln, die bei ges icherter Abwesenheit der Person eige ntlich
nahelägen: zum Beispiel sie selbst ode r ihr merkwürdi ges Betragen
wenige Minuten zuvor." (Kieserling 1999, S. 65)
Ich breche die Skizze dieser höchst instrukt iven Studie übe r Interak -
tionssysteme hier ab, we il die weitere Differenzierung der systemtheo-
retischen Analyse zu wei t führe n wü rde, und weil sie gege n Ende an-
deutet, we lchen Theoretiker sie einer Systemtheo rie der Interaktion an
die Seite stellen möchte: ERVING GOFFMAN. (Kieserling 1999, S. 484)
Um ihn geht es später! unter der Annahme, dass wir im Allt ag vor ein-
ander ein Scha uspiel aufführen, dass wir das Thema des Stüc ks definie-
ren, Kulissen aufbauen und - so meine These - dam it zwar einen Teil
unserer Ident ität vor den ande ren zeige n, gleichzei tig aber auch alles
tun, um sie vor dem Zugr iff der and eren zu schützen!
Ich komme nun zu einer Theorie, die man im weiteren Sinne auch
dem interpretativen Paradigma zurechn en kann, die ihre Erklärung, wie
und warum Interaktion funktioniert, aber aus einem deutlich anderen
Th eoriehintergrund ableitet, zur Ethnomethodologie. Sie leidet unter
einem do ppelten Vorurte il: Gestrenge Theoretiker tun sie leicht als
.Jt appe ning'ü ab, und Student en, die sich an ihren Krisenexperim enten
erheitert haben, meinen oft , das sei es dann gewesen. M itnic hten!

Vgl. unten Kap. 7.5 ..Goffman: Stigma und soziale Identität" und Kap. 8.4 "Goff-
man: Wir alle spielen Theater" .
2 So war es bei dem tonangebenden Gouldner zu lesen, der die Ethnomethodologie
als "sich elegant gebärdenden Anarchismus" der unruhigen 60er Jahre qualifizier-
te. ( 1970, S. 466 u. 472)
5 Interaktion 2 19

5.7 Ethno methodologie: Met hod isches im Alltags handeln


Nach der Theo rie der Symbolischen Interaktion gehen die Handelnden
zwar mit bestimm ten Erwartungen in eine Situation hinein, und so de-
finieren sie auch die Situation für sich und für die anderen, aber welche
Bedeutung diese Erw artungen für das gemeinsame Handeln haben sol-
len, das wird - meist natürlich unbewusst - in der Situation ausge han-
delt. Diesen Gedanken hat HAROLDGARFINKEL (* 1917) zurückv erfolgt
bis zu den stillschweigenden Ann ahmen und praktischen Methoden,
mit denen die Handelnden ihren Alltag bewältigen.
Garfinkel war lange Zeit Assistent von Parsons, und wie dieser ist er
,.an den Vorb edingungen sozialer Ordnung interessiert. Aber im Ge-
gensatz zu Parsons misst er der Roll e der Wechselseit igkeit von Grati-
fikationen und der allgemein geteilten moralischen Werte keine Bedeu-
tung bei." (Gouldner 1970, S. 466f.) " Keine" ist vielleicht etwas über-
trieben, aber in der Tat hat Garfinkel die Handelnden, wie sie in der
Rollentheori e von Parsons vorkom men, als ..eultural dop es'' (Garfinkel
1967, S. 68) empfunden, die quasi .jremdgesteuert'' den internalisierten
" vorgegebenen Nonnen nur blind folgen". (Joa s u. Knöb12004, S. 225)
Außerdem stelle sich das Ordnungsproblem nicht erst, wo eine In-
teraktion nicht gelingt, sondern immer, wenn Handelnde im Alltag mit-
einander zu tun haben. Ordnung wird nämlich in jeder Interaktion von
Anfang an gestiftet, indem die Handelnden "sich stets - ohn e explizit
Bezug auf irgendwelche Nonnen zu nehmen - selbst die Sinnhaftigkeit
ihres Handeins und ihrer Welt wec hselseitig bestät igen" und "weil sie
sich sofort der Verständlichkeit ihrer sprachlichen Aussagen und dam it
der Anschlussfähigkeit ihrer Handlungen versichern." (Joas u. Knöbl
2004, S. 227f.)
Die entsche idenden Gründe, dass soziale Interakt ionen relativ gut
funktionieren, liegen für Garfinkel in dem stillschweigenden Einver-
ständnis, dass alle Beteiligten die Welt in dergleichen Weise sehen und
den Alltag mit den gleichen praktischen Methoden bewä ltigen.
Diese Ann ahme geht auf die Phänomenologie von ALFRED SCHÜTZ
zurück, auf die ich gleich noch zu sprechen komm e. In aller Kürze:
Schütz verstand die Aufgabe der Phänomenologie darin, herauszufin-
den, wie Phänom ene, also Objekte der Welt um uns herum, erfahren
werden. Dabei fand er eine "natürliche Einstellung" heraus, in der wir
die sozia le Welt sinnhaft aufb auen. Zu dieser natürlichen Einstellung
220 5 Interaktion

gehört auch die Annahme, wir alle teilten ein gemeinsames Alltagswie-
sen.
Garfinkel führt diesen Gedanken weiter und sagt, dass wir naiv un-
terstellen, alle würden es auch in gleicher Praxis verwenden. Seine
These ist, dass wir in unserem Alltagshandeln methodisch vorgehen.
Diese These mag überraschen, weil wir manches Handeln - meist na-
türlich bei den anderen - für verrückt und keineswegs rational halten.
Doch darum geht es in dieser Theorie gar nicht: Für sie "ist nicht inte-
ressant, warum die Menschen bestimmte Handlungen durchführen,
sondern wie sie sie durchführen." (Weingarten u. Sack 1976, S. 13) Es
geht also um praktische M ethoden des AlltagshandeIns. Diese Metho-
den wenden wir manchmal bewusst, meist aber unbewusst an, aber
immer tun wir es in einer für ein soziales Gebilde (Ethnos) typischen
Weise. Deshalb hat Garfinkel seine Theorie Ethnomethodologie ge-
nannt. Das soziale Gebilde, aus dem heraus das Alltagshandeln be-
stimmt ist, kann eine bestimmte Gruppe, ein Milieu oder die Gesell-
schaft als ganze sein. . -.
Um herauszukriegen, wie das Handeln im Alltag funktioniert, hat
Garfinkel in diesen Alltag experimentell eingegri ffen und die Routine
gestä rt. Es sind vor allem diese .Kriscnexpcrimcnte", weshalb die The-
orie der Ethnomethodologie rasch als zu wenig ernst abgetan wird. Da-
bei wird übersehen, dass mit diesen zum Teil grotesken Experimenten
gezeigt werden soll, mit welchen Methoden wir .normalerweise" Nor-
malität herstellen. Es geht um die Frage, wieso wir ganz selbstverständ-
lich annehmen, dass wir die anderen verstehen, und genau so selbstve r-
ständlich darauf vertrauen, dass die anderen auch uns verstehen, wieso
also Interaktion gelingt. Mehrere Erklärungen bieten sich an. leh nenne
vier, die jede für sich nur einen Aspekt einer einheitlichen sinnvollen
Konstruktion einer sozia len Wirklichkeit darstellen.
1. Die Ethnomethodologie sagt erstens: Es gibt .Dinge. die jeder
weiß" . Dieses Wissen bezeichnet Garfinkel als "common sense-
knowledge".
Dieses Alltagswissen, das uns im Prozess der Sozialisation vermittelt
wurde, verwenden und unterstellen wir ganz selbstverstä ndlich, und wir
gehen davon aus, dass die anderen es genau so machen. Solange es kei-
ne Missverständnisse gibt, verlassen wir uns auf dieses Wissen still-
schweigend. Bis auf Widerru f versichern wir uns durch unser Handeln
5 Interaktion 221

gegenseitig, dass der Alltag zweifelsfrei ist. Auf diese Weise konstitu-
iert sich die Wirklichkeit des Alltags immer wieder neu. Zum Prinzip
des Alltagswissens gehört, dass darin auch die Regeln des normalen
Denkens und Handeins aufgehoben sind. Nach ihnen leben wir ganz
selbstverständlich und erwarten ebenso selbstverständlich, dass auch
die anderen danach handeln.
Natürlich wissen wir, dass diese Regeln unterschiedliches Gewicht
haben. Manche Regeln sind unabdingbar, und ohne sie wäre gemein-
sames Handeln gar nicht möglich. Manche sind aber nur Konvention,
und im Prinzip ginge es auch anders. Und bei manchen Regeln merken
wir noch nicht einmal, dass sie Regeln sind. Wir halten uns ganz auto-
matisch daran. Garfinkel hat nun in einem Krisenexperiment demonst-
riert, was passiert, wenn wir gewohnte Regeln, die wir noch nicht ein-
mal als solche bemerken, durchbrechen. (Garfinkel 1967, S. 47f.) In
diesem Krisenexperiment forderte er seine Studenten auf, sich zuhause
bei ihren Eltern wie ein höflicher Gast zu verhalten. Dazu konnte bei-
spielsweise gehören, nur zu reden, wenn sie gefragt würden, höflich zu
fragen, ob sie mal zur Toilette gehen dürften, oder das Essen über-
schwänglich zu loben und sich zu erkundigen, wie es zubereitet worden
sei. Alle Studenten berichteten, ihr Verhalten habe zu Konfusion und
Unmut geführt. Man habe gefragt, was mit ihnen los sei und was das
ganze soll. Schließlich meinten die Eltern, wahrscheinlich seien ihre
Kinder überarbeitet oder in einer Krise. Damit hatten sie den Verstoß
gegen die Regeln des Alltags erklärt und den Alltag wieder in Ordnung
gebracht. I
An diesem Krisenexperiment wird deutlich, dass sich unser Alltag
über bestimmte Normalitätsannahmen konstituiert. Wir wissen, was
jeder weiß, und wir wissen, wie man normalerweise handelt. Aus dem
gemeinsamen Vorrat an Wissen heraus zeigen wir uns gegenseitig den
Sinn unseres gemeinsamen Handeins auf. Das erfolgt nicht zufällig,
sondern wir verwenden dabei im Alltag bewusst oder unbewusst be-
stimmte Methoden , mit denen wir diese Welt in Gemeinsamkeit mit
anderen fortlaufend konstruieren , Wir benutzen praktische Theorien,
mit denen wir uns den Alltag erklären und füre inander ordnen. Wäh-
rend nach der Rollentheorie von Parsons - ich wiederhole - Handeln in

Setzen Sie sich doch einmal in einer fast leeren Straßenbahn nicht auf irgendeinen
freien Platz, sondern direkt neben einen anderen Fahrgast.
222 5 Interaktion

Ausführung allgemeiner Normen erfolgt, sagt GarfinkeI, dass wir


wec hse lsei tig füreinander eine geme insame Wirklichkeit konstrui eren ,
in der die Verbindlichkeit von Normen erst festgelegt wird.
2. Doch so ganz frei sind wir dabei natürlich nicht, denn die gemein-
same Wirklichke it hat j a eine zweifache Vorgeschich te: unser Wis-
sen und das , was jeder weiß. Beid es dient uns als Schema, nach dem
wir die Wirklichkeit als eine typische Wirklichkeit ordnen. In der
Typisierung des Alltags liegt dann auch die zweite Erklärung, wa-
rum wir im Alltag keinen Augenblick daran zweifeln, dass wir die
anderen und sie un s verstehen.
Das Denken im Alltag ist ein "Denken in der natürlichen Eins te llung" .
Es speist sich aus einem Vorrat früherer Erfahrungen, eigener und von
anderen übernommene r. Diese Erfahrungen schließen sich zu einem
Wissensvorrat zusammen, der als Bezugsschema für die weitere Welt-
auslegung dient. Wie Berger und Luckmann t gezeigt haben, bringen
wir in die Fülle des Alltags Ordnung, indem wir sie auf ein Muster ty-
piseher Normalität reduzieren. Das Neue ordnen wir in unsere typi-
sehen Erfahrungen ein, und die Besonderheiten spielen wir herunter
oder nehmen sie gar nicht wahr. Wie erfinderisch wir sind, das, was wir
zunächst nicht einordnen können, doch noch zu "verstehen", hat Gar-
finkel in einem weiteren Krisenexperiment gezeigt. Studenten, die zu
einem "alternativen" Konzept psychotherapeutischer Beratung eingela-
den worden waren, sollten dem Therapeuten, der in einem anderen
Raum saß, ihr Problem schildern und dann dazu 10 Fragen stellen, die
nur mit ,j a" oder "nein" zu beantworten waren. Die Antworten des Be-
raters waren aber vorher nach dem Zufallsprinzip festgelegt worden,
und die Abfolge der Antworten war für alle Fälle die gleiche. Als die
Studenten später über die Beratung berichteten, stellte sich heraus, dass
j eder versuchte, selbst hinter unerwarteten oder gar widersprüchlichen
Antworten noch einen tieferen Sinn zu identifizieren. (Garfinkel 1967.
S. 79f.)
An diesem Experiment wird deutlich, dass wir es offensichtlich
nicht aushalten können. wenn die Welt in Unordnung ist. Die soziale
Wirklichkeit wird fortlaufend von uns so konstruiert, dass sie Sinn

Vgl. Band I, Kap. 3.10 "Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit", S.


137f..
5 Interaktion 223

macht. Wir ordnen neue Erfahrungen in ein vertrautes Muster ein, und
schon wissen wir Bescheid!
Konstruktion heißt natürlich, Entscheidungen zu treffen, was getan
und was nicht getan werden soll. Jede Handlung ist also eine Selektion
aus einer Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten. Für Garfinkel steht
der Handelnde permanent vor der praktischen Frage: What to do next?
Eine Methode, sich Voraussetzungen des Handeins angesichts einer
komplexen Wirklichkeit zu schaffen, besteht in der dokumentarischen
Methode der Interpretation. Interaktionen gelingen, weil alle Beteilig-
ten ihr Verhalten als typisches Beispiel (»Dokument«) fiir ein typi-
sches, in der Gesellschaft bekanntes Muster interpretieren. Mit der do-
kumentarischen Methode der Interpretation rekonstruieren wir den Ty-
pus, unter dem das Handeln und Sprechen der Anderen Sinn macht,
und zwar Sinn für beide Seiten. So bringen wir die Dinge des Alltags
immer in eine .norrnale" Ordnung.
Dabei stoßen wir aber auf ein Problem, das man als die Verweisung
des Handeins und Spreehens auf exklusive Besonderheiten bezeichnen
könnte. Diese Besonderheit, die sich nicht aus den Dingen selbst und
auch nicht aus einem gemeinsam geteilten Wissen ergibt, sondern nur
aus einem spezifischen, individuellen Kontext zu verstehen ist, wird in
der Ethnomethodologie als Index bezeichnet. Mit solchen Indizes zei-
gen sich die Handelnden - bewusst oder unbewusst - an, wer sie "au-
ßerdem noch" sind bzw. worum es in einer konkreten Interaktion "auch
noch" geht. Wenn sich z. B. ältere Deutsche daran erinnern, dass
,,Joschka" bei seinem Antrittsbesuch in Washington "dann doch" keine
Turnschuhe anhatte, dann wissen alle Zeitgenossen Bescheid, während
ihre Kinder und Amerikaner nur Bahnhof verstehen.
Indexikale Äußerungen setzen soziale Nähe und Vertrautheit voraus.
Typische indexikalische oder Kontextbegriffe sind z. B. Namen, spezi-
fische Bezeichnungen und Fachausdrücke. Wenn mir z. B. eine Be-
kannte ganz aufgeregt erzählt, "dass Klaus gestern bei der GP einen
Hänger hatte", erwartet sie selbstverständlich, dass ich mich an den
Schauspieler Klaus erinnere, von dem sie häufiger erzählt hat, dass GP
das Kürzel ist, mit dem insider von einer Generalprobe reden, und dass
ein Hänger der gefürchtete Aussetzer auf der Bühne ist. Indizes sind
aber auch Worte wie "dan n", "hier", "der", "die", "das" oder "natür-
lich". Machen Sie sich nur einmal klar, was es heißt, wenn jemand sagt:
"und dann kam natürlich auch ...". Die Sprache unseres Alltags ist voll
224 5 Interaktion

von solchen indexikalischen Äuße rungen. Sie vereinnahmen den ande-


ren und ver führen ihn dazu, einen Konte xt, den der Sprecher definiert
hat, zu bestätigen.
Indexikale Äußerungen sind für diejenigen, die sie kennen, Erleich-
terungen. Für die anderen sind sie ein Ärgernis, weil sie nicht wissen,
was gemeint ist, und somit von einer entscheidenden Voraussetzung
gemeinsamen Handelns abgeschnitten sind. Die Handelnden müssen
also immer auch entindexikalisieren. Der Hörer lässt sich Erklärungen
geben, der Sprecher bietet sie an, wenn er merkt, dass der andere nicht
ganz folgen konnte . Mit dieser Strategie der Erklärung stellen die Han-
delnden einen gemeinsamen Sinn wieder her, der kurzfristig in Frage
gestanden hat. Viel häufiger ist aber die Erwartung auf beiden Seiten,
dass das, was als indexik ale Besonderheit im Moment noch nicht ganz
verstanden wird, sich im Laufe der Kommunikation noch klären wird.
Diese Fähigkeit, mit Ungewissheit leben zu können, scheint eine gute
Vorau ssetz ung für gemeinsames Handeln zu sein. Ein zu großes Risiko
ist mit dieser Ungewissheit ohnehin nicht verbunden, weil uns die do-
kum entarische Methode der Interpretation hil ft, selbst über Lücken des
Verständnisses hinwegzukomm en.
Um das Handeln im Alltag zu erleichtern, setzen wir sogar gezielt
Strategien der Ungewissheit ein, indem wir uns vage ausdrucken. So
kann die kochende Hausfrau mit de r Ankündigung "Ich komm so ge-
gen sechs" leben, aber mit der, " um 17.42" da zu sein, auch der netteste
aller Ehemänner auf Dauer wohl nicht. Im Umkehrschluss. Wer es zu
genau wissen will oder zu genau sagt, gefährdet eine normale Kommu-
nikation . So hat Garlinkel in einem weit eren Krisenexperiment gezeigt,
was passiert, wenn man eine vage Sprache nich t akzep tiert. Er fordert e
seine Studenten auf, bei der Floskel " Wie steht' s?" nachz uhaken:

Opf er: " Wie steht'sT'


Nachfraget : "W ie steht es mit was? Meiner Gesundheit, meinen
Geldangelegenheiten, meinen Aufgab en für die Hochschule, mei-
nem See lenfried en, meinem ..."
Opf er (rot im Gesicht und plötzlich außer Kontroll e): " Hör zu.
lch unternahm gerade den Versuch, höfli ch zu sein. Offen ge-
sprochen kümm ert es mich einen Dreck, wie es mit dir steht."
(Garfinkel I961, S. 207)
5 Interaktion 225

Man kann das Experiment auch variieren, indem man das Gesagte
wörtlich nimmt und ausführlich seine körperlichen Wehwehchen be-
schreibt. Oder stellen Sie sich vor, jemand bietet nach der Trauung fol-
gende eindeutige Definition an: "Ich liebe Dich. Was ich darunter ver-
stehe, steht unter L im Brockhaus." Kurz: Im Alltag wollen wir es gar
nicht immer so genau haben. Dass die Sprache des Alltags vage ist, ist
keineswegs ein Nachteil. Im Gegenteil, es erleichtert die Kommunika-
tion, weil jeder sich die gemeinsame Wirklichkeit selbst zusammenrei-
men kann.
3. Bei dieser Methode des Handeins im Alltag und der ihr zugrunde
liegenden Typisierung zeichnet sich schon eine dritte Erkl ärung .ab,
weshalb wir im Alltag glauben, uns zu verstehen. Sie besteht inder
Idealisierung der Kontinuität und der Idealisierung der Wiederhol-
barkeit.
Nach dieser Erklärung sind mit der Typisierung des Alltags zwei kon-
stitutive Erwartungen verbunden. Die eine hat der österreichisch-
amerikanische Soziologe ALFRED SCHüTz (1899-1959), dessen Schüler
Garfinkel wie auch Petcr L. Berger und Thomas Luckmann an der New
Yorker New School for Social Research war, die Idealisierung des
»und so weiter«, die zweite die Idealisierung des »ich kann immer wie-
der« genannt.
• Die erste Idealisierung des »und so weiter« kann man so be-
schreiben: Solange es in der Welt des Alltags keine Überra-
schungen gibt, vertrauen wir darauf, dass die Situation, wie wir
sie jetzt erleben, in der typischen Weise weitergehen wird.
• Aus dieser Idealisierung der Kontinuität folgt die Idealisierung
des »icb kann immer wieder«. Diese Idealisierung der Wieder-
holbarkeit besteht in der "grundsätzlichen Annahme, dass ich
meine früheren erfolgreichen Handlungen wiederholen kann".
(Schütz u. Luckmann 1975, S. 26)
4. Ich komme zu einer vierten Erklärung, warum wir im Alltag keinen
Augenblick daran zweifeln, dass wir die anderen und sie uns verste-
hen. Schütz hat sie als Generalthese der wechselseitigen Persp ekti-
ven bezeichnet. (Schütz u. Luckmann 1975, S. 74)
226 5 Interaktion

Die Gene ralthese beinhaltet zwei weitere Idea lisierungen: die der Ver-
tauschbarkeit der Standpun kte und die der Kong ruenz der Relevanzsys-
terne.
• In der Idealisierung der Vertauschbarkeis der Standp unkte neh-
me ich an, wenn der andere an meiner Stelle stünde, würde er die
Dinge aus der gleichen Perspektive wie ich, und ich würde die
Dinge aus der gleichen Perspektive wie er sehen, wenn ich an
seiner Ste lle stünde.
• In der Idealisierung de r Kongru enz der Re/evanzsy steme nehmen
wir an, dass wir die Welt nach den gleichen Kriterien beurteilen.
Dazu fühlen wir uns auch berechtigt, weil wir in der gleichen
Gese llschaft soz ialisiert wo rden sind. Fo lglich gibt es Dinge, die
jeder weiß, wozu auch gehört, wie sie zu beurteilen sind. Im
Vertrauen auf die Erfüllung dieser beide n kon stitutiven Brwar-
tungen treten wir in Beziehung zueinande r.
Be ide Annahmen machen uns sicher, dass der andere so handeln wird,
wie wir es aus eigener Erfahrung kennen; und bis zum Beweis des Ge·
genteils stimmt das ja auch.
• Die Idealisierungen des »und so weiter« und des »ich kann immer
wied er« machen uns als Individuum sicher in den Erwartungen
an unser Hand eln.
• die Idealisierun gen der Austauschbarkeit der Standpunkte und der
Kongruenz der Relevan zsysteme mache n uns sicher im gemein-
samen Handeln mit anderen.
Mit den beiden letzten Idealisierungen, die in der Generalth ese der
wechse lseitigen Perspekti ven zusa mmengefasst sind, schließt sich ge-
wissennaßen der Kreis der Erklärungen, warum wir im Alltag nicht
daran zweifeln, dass wir die anderen und dass sie uns verstehen.
LoTHAR KRAPPMANNhat der seinerzeit in Deutschland aufkommen-
den soziologischen Disku ssion über Interaktionstheorien gleich eine
bestimmte Richtung vorgegeben, indem er gezeigt hat, dass wir und die
anderen in der Interaktion nur dann zurechtkommen, wenn wir unsere
identität in einer bestimmt en Weise ins Sp iel bringen.
5 Interaktion 227

5.8 Krappmann: Annahmen über das Gelingen von Interaktion


Gerade nach den warnenden Hinweisen der Ethnomethodoiogie stellt
sich die Frage, wann denn Interaktion gelingen sollte. Diese Frage hatte
der Berliner Bildungsforscher und Soziologe L OTHAR KRApPMANN
(*1 936) in einem Aufsatz, der die Diskussion über den damals in
Deutschland noch kaum bekannten Symbolischen Interaktionismus
maßgeblich beeinflusst hat, schon an die klassische Rollentheorie von
Parsons gestellt.t Für die interaktionistische Theorie nennt er die fol-
genden Bedingungen:

Lothar Krappmann: Bedingungen er folg re ic he n Roll enhandelns


nach d em interaktioni stis ch en Rollenmodell
"Das interaktionistische Rol1enmodell postuliert als Grundbed ingungen
erfolgreic hen Rolle nhandelns, dass
I . Rollennormen nicht rigide definiert sind, sondern einen gew issen
Spiel raum für subjektive In terpretation durch die Rollenpartner las-
sen; da ss
2. d ie Ro llenp artner im jeweiligen Interaktionsprozess nicht nur die ge-
rade aktu elle Rol1e überneh men, sondern zugleich verdeutlichen,
welc he weiteren Roll en sie noch inne hab en oder früh er innehatten ;
da ss
3. mehr als ein vorlä ufige r, tentat iver und kompromissha fter Konsens
der Partner übe r die Interpretation ihrer Rol1en im Regelfall nicht zu
errei chen und au ch nicht erforderlic h ist.
4. Dieses Mo dell geht ferner gerad e dav on aus, da ss die indiv iduellen
Bedür fnisdispositionen den institutionalisierten Wettvorste llungen
nicht voll entsprechen . Somit müssen nach d iesem Modell
5. d ie Rollenpartn er für die Sicherung de s Fo rtgangs von Interaktion
fähig sein, auf die von den eigenen verschieden en Bedürfn isdisposi-
tionen des an deren einzugehen und auch unter Bedingungen unvoll-
stän diger Komplementari tät, d. h. nur teil weiser Befriedigung eige-
ner Bedürfnisse, zu interagieren.
6. Nic ht Institutionen, deren Mitglieder Normen »automatisch« erfül-
len , werden als stabil betrachtet, sondern d iejenige n, d ie ihren M it-
gliedern ermöglichen, im Rahmen de s Interpretationsspielra ums,
den d ie vorgeg eben en Normen lassen, eigen e Bedürfnisse in der in-
teraktion zu be friedigen ." (Krappmann 197 1: Ne uere Rollenkonzep -
te als Erklärun gsmöglichkeit für Sozialisationskonzepte , S. 3 15)

Vgi. obe n Kap. 3.1 .Parsons: Rolle - norma tive Erwartung".


228 5 Interaktion

Diese Erklärungen sind natürlich als Einwand gegen die Annahmen der
kl assischen Ro llen theorie zu lesen, dass gem einsam es Hand eln erfolg-
reich ist, wenn Rollen klar defini ert sind und alle Beteiligten sic h in der
gleic he n Weise an die gleichen Nonnen ha lten . Der .Regelfall der täg-
lichen Interaktion in Rollen" ist denn auch dadurch gekennzeichnet,
"dass die Roll enspieler au f unklare und inkonsistente Erw artungen sto-
ßen, die zudem mit ihren Bed ürfnisdispositionen sich keineswegs de-
cken.' (Krappmann 1971, S. 314) Die Ethnomethodologie hat auch
gezeigt, dass das Eis sehr dünn ist, auf dem wir uns beim Alltagshan-
del n bewegen. Damit es übe rhau pt funk tioniert , m üssen di e Ha ndeln-
den so gar darauf verzichten, dass jeder eindeutig kl armacht, was er
meint. Und schließlich wi ssen wir, das s uns Situationen höchst unange-
nehm sin d, di e uns b is ins Letzte vorschreiben , was wir zu tun und zu
lassen haben . Ku rz : es scheint so zu sein, dass wi r eine mittlere Unbe-
stimm theit sogar brauch en, um uns se lbs t ins Spiel zu bri ngen und an-
dere zu " verstehen" . Im Übrige n hat der Symboli sche Int eraktionismus
gezeigt, dass Roll en ers t in der Interaktion Kontur bekommen. Diese
Chance des Ind ividuums m üssen wir auch als solche begrei fen!
Um im norm alen A lltag eine Interaktion, in der wechselseit ige In-
terpretation en der Situ atio n und des Handeins des j eweils anderen vo r-
genommen we rden, aushalten und bewält igen zu kön nen, sind einige
Fähigkeiten vonnöten. Krappmann hat als "s trukture lle Notwendigkeit
eines fort zuführenden Interakti onspro zesses" und zugleich zur Förde-
run g der Identität der H andelnden die fol genden ! vier genannt :
• Ro/lendistanz,
• Empathie als die Fähigk eit, sich in den anderen einz ufüh len,
• Ambiguitätstoleranz, worunter man die Fähigkeit verste ht, auch
mit un ent schiedenen oder gar w idersprüchlichen Situationen le-
ben zu können, und
• Identitätsdarstel/ung . (vg l. Krappmann 1969 , S. 132ff.)
Man kann Kr app m ann s Erklärung erfolgr eichen Handeins über die vier
identi tätsförd ernden Fähi gkeiten nach zwei Seiten lesen: Zum eine n
schafft und erhä lt sich j ed es Individuum mit genau diesen Fähigkeiten
di e Fre iheit seine s Hand eins. Mi t diesen Kompetenzen bri ngt sich das

Unter der Perspektive der Förderung der Identität komme ich noch einmal in Kap.
8.7 .Kra ppmann: Ich-Identität als Balance", S. 378 darauf zurück.
5 Interaktion 229

Individu um selbst ins Spiel. Mead hatte Interaktion über das wechsel-
seitige »role taking« erklärt. Hier nun zeichnet sich eine Chance ab,
dass das Individuum die Roll e auch gestaltet, unter Umständen sogar
selbst erst schafft. Deshalb hat Ralp h H. Turner, wie gesagt, auch von
einem komplementären Prozess des »role making« gesproc hen . (Turner
1962, S. 117) In der Interaktion erzeuge n ego und alter fortlaufend Er-
wartungen aneinander und entwerfen durch ihr Verhalten einen Rah-
men des nächsten Verhaltens. An den wechselseitigen Reaktionen wird
abgelesen, ob man bei seinem Handlun gsentwurf bleiben kann oder
nicht. Die Interpretationen in der aktuellen Interaktion sind also ein
ständiger Prozess des Konstatierens, Überprtifens und Korrigierens der
Definition der Situation. Natürlich kann nicht die »ganze« Situation
begriffe n werden, dazu reichte die Zeit nicht, und wir wären auch gar
nicht in der Lage, alle Grü nde des Handeln s herauszufinden. Interpreta-
tion ist also immer auch Selektio n.
In der Interaktion spielen somit die individ uellen Interessen, die re-
flexiven Fähigkeiten und die konkreten Handlungen zusammen. Sie
erklären, warum keine Rolle sozusagen deckungsg leich ausgeflihrt
wird, sondern immer modifiziert wird. "Eine derartige Modifikation
findet statt bei der fortwä hrenden Wechselwirkung zwischen den ein
wenig vagen und stets unvollständigen idealen Konzeptionen von Rolle
und der Erfahru ng, wie sie tatsäch lich dann von ego und alter gespie lt
werden. Da jede Interaktion in bestimmter Hinsicht einzigartig ist,
schließt jede Interaktion eine Improvisation über das durch ego- und
alter-Rolle geste llte Thema ein. Eben der Akt, in dem der Handelnde in
einem neu generie rten Akt von Rollenhandeln eine Rolle ausdrück t,
befähigt den Handelnden, die Rolle in einem etwas anderen Licht zu
sehen. Ähnlich dient die Einzigartigkeit von alters Verhalten und die
einzigartige Situation, in der alters Verhalten antizipiert oder interpre-
tiert werden muss, dazu, seine Rolle leicht verschieden zu gestalten."
(Turner 1962, S. 127)
Das leitet über zu der zweiten Lesart der Erklärung erfo lgreichen
Rollenhandelns: jedes Individuum schafft mit den genannten identit äts-
fordernden Fähigkeiten auch entscheide nde Vorausse tzungen für die
Freiheit des Handeins der anderen. Sie wissen - zumindest ungefähr! - ,
was der andere kann und aushält und vor allem; wer er ist. Im Prinzip
sind damit die individuellen Voraussetzungen für eine Interaktion zwi-
schen Gleichen geschaffen.
230 5 Interaktion

Um diese Symmetrie der Interaktion wird es im Modell des Kom-


munikativen Handelns von Jürgen Habermas gehen, das ich j etzt dar-
stellen will. Es stellt eine fundament ale Vo raussetz ung heraus, ohne die
Interaktion als gemeinsames Hand eln nic ht möglich ist.

5.9 Hab ermas: Kommunikatives Han deln un d Diskurs


Im formalen Sinne sprechen wir dann von Inter-Aktion, wenn sich
mindestens zwei Handel nde in ihrem Hand eln wechse lseitig aufeinan-
der bezie hen. Der Fran kfurter Philosoph und Soziologe JÜRGEN HA-
BERMAS (*1929) hat nun noch eine inhaltl iche Bedingung genannt, die
so lautet: Wenn wir interagieren, dann wollen wir uns auch verständi-
gen. Nur unter dieser Voraussetzung, selbst wo sie nicht explizit ge-
macht wird, kann man erwarten, dass sich Handel nde dauerhaft auf
einen gemeinsame n Handlungszusammenhang einlassen. Natürlich
sehen wir, dass diese Chancen oft gar nicht oder nur in geringem Maße
gegeben sind. Dennoch kann man unterstellen, dass unser Handeln im
Kern genau von dieser Erwartung gleicher Chancen getragen wird -
solange wir ein Interesse an der Verständigung in der Interaktion ha-
ben. Um diese Voraussetzung der Interaktion geht es im Modell des
kommunikativen Handeins.
Der Begriff des kommu nikativen Handeins meint eine "In teraktion
von mind estens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die (sei
es mit verbalen oder extraverbalen Mitteln) eine interpersonale Bezie-
hung eingehen. Die Aktoren suchen eine Verständigung über die Hand-
lungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen
einvernehmlich zu koordinieren" (Habermas 198 1b, Bd. 1, S. 128) Im
Zentrum der Theorie steht der Begriff der Interpretation. Um Interpre-
tation als Form und Mittel der Interaktion ging es auch in der Theorie
des Symbolischen Interaktionismus nach GEORGE HERBERT MEAD und
HERBERT BLUMER und in der Ethnomethodologie nach HAROLD GAR-
FINKEL. Habermas überfuhrt diesen interpretativen Hand lungsbegrifT in
den Begriff des kommunikativen Hande/ns und verwendet ihn synonym
mit dem Begriff der Interaktion. Mit der klassischen Definition nach
Mead oder Blumer stimmt Habermas insofern übe rein, dass er Interpre-
tation als Mittel der Verständigung betrachtet, in der eine konsensfähi-
ge Definition der Situation ausgehandelt wird.
5 Interaktion 231

Die Frage ist, unter welchen Bedingungen das erfolgt, ob es gelingt


und was passiert, wenn es keinen Konsens mehr gibt. Diese Fragen
diskutiert Habermas in seinem monumentalen zweibändigen Werk
"Theorie des kommunikativen Handeins" aus dem Jahre 1981. Obwohl
der Titel anderes vermuten lässt, handelt es sich in erster Linie um eine
kritische Theorie der Gesellschaft, in die allerdings auch eine Hand-
lungstheorie eingewoben ist, auf die ich mich hier konzentrieren werde.
Während in anderen Theorien des Handelnst Individuen nur zweck-
rational kalkulierend miteinander umgehen, Rollenvorschriften exeku-
tieren oder sich voreinander darstellen, erfolgt die Koordinierung der
Handlungen nach der Theorie des kommunikativen Handeins als "Ver-
ständigung im Sinne eines kooperativen Deutungsprozesses". (Haber-
mas 1981b, Bd. I, S. 151) Wo ein grundsätzliches Interesse an Ver-
ständigung nicht unterstellt werden kann, ist kommunikatives Handeln
als Inter-Aktion nicht möglich.
Das klingt zunächst paradox, doch wenn Inter-Aktion mehr als ein
einmaliges Zusammentreffen mit abschließender Reaktion ist, dann ist
diese These nicht zu widerlegen. Eine Interaktion, die weitergeht, setzt
voraus, dass man vom anderen verstanden werden will und dass man
ihn selbst auch verstehen will. Statt einer komplizierten Erklärung ein
Beispiel: Stellen Sie sich nur folgende Situationen vor: A sagt zu B:
"Du kannst noch so viel argumentieren, ich werde trotzdem tun, was
ich will." Oder Ceröffnet 0 : "Ich werde versuchen, Dich zu betrügen."
Und die dritte Situation: E leitet seine Rede mit den Worten ein: "Alles,
was ich gleich sagen werde, ist gelogen." Und schließlich F zu G: "Du
kannst sagen, was Du willst, aber ich sage Dir schon jetzt, ich will Dich
nicht verstehenl" Es liegt auf der Hand, dass Kommunikation als Aus-
tausch vernünftiger Stellungnahmen nicht möglich und dass auch Ver-
ständigung prinzipiell ausgeschlossen wäre.
Dass Individuen sich tatsächlich oft genug gerade nicht verständi-
gen, sieht Habenn as natürlich auch, aber er findet dafür eine Erklärung,
die dem prinzipiellen Interesse an Verständigung nicht widerspricht.
Die Erklärung wird aus einer kritischen Theorie der Gesellschaft abge-
leitet. Habermas geht nämlich davon aus, dass alles Handeln in der Ge-
sellschaft untcr das Prinzip der Zweckratio nalität geraten ist und die

Vgl. zur Diffe renzierun g der Handlungsbegriffe oben Kap. 4.7 ,,Habenna s: Vier
Handlungsbegriffe".
232 5 Interaktion

Rationalität der Verständigung unterdrück t. Mit dieser Kritik knüpft er


an die These von Max Weber an, der von der Rationalisierung des mo-
demen Leb ens und einer damit verbundenen unaufhaltsam en Bürokra-
tisierung gesprochen hatte. Weber erklärt diesen strukturellen Wandel
mit dem Aufschwung einer analytischen Wissenscha ft und mit der For-
cierung von Technik und Wirtschaft. Vor allem in diesen beid en Berei-
chen ist Berech enbarkeit das Geheimnis des Erfolgs .
Das Optimum der Berechenbarkeit , d. h. der sachlichen Pla nun g und
rationalen Gesta ltung von Prozessen, sieht Weber in der bürokratischen
Organ isation. Rein techn isch ist sie jeder anderen Form der Erledigung
einer Au fgabe überlegen, da sie sachlich, ohne Ansehen der Person und
der Umstände, aber auch oh ne inneres Engagement, planmäßig und
kontrollierbar arbeitet. (vgl. Weber 1922 , S. 66 1) Bürokratisi erung ist
immer mit Standardisierung und Verrec htlich urig verbunden. Bürokra-
tie in ihrer reinsten Form ist Zwec krationalität in ihrer reinsten Form.
Dieses Pri nzip des Handelns findet seinen auffälligsten Ausdruck in der
kapitalisti schen Wirtschaft. In der ,,Protestantischen Ethik" hat Weber
die Konsequenz dieses Handlungsprinzips beschrieben: " Die heutige
kapitalistische Wirtsc haftsordnung ist ein ungehe urer Kosmos, in den
der Einze lne hineingeboren wird und der für ihn, we nigstens als Ein-
zelnen, als faktisch unabä nderliches Gehäuse gegeben ist, in dem er zu
leben hat. Er zwingt dem Einzel nen , sowei t er in den Zusa mme nhang
des Marktes ve rflochten ist, die Nonnen seines wirtsc haftlichen Han-
delns au f." (Weber 1904/05a, S. 165f.)
Zweckrationalität ist das Prinzip des Handeins in de r Wirtsc haft, auf
dem Mar kt, im Beruf. Inzwischen durchdrin gt sie allerdings auch das
Han deln auße rhalb dieser Bereiche. An die Stelle einer subjektiv ge-
ftihlten Verbundenh eit tritt in der Modeme ein rationales Handeln, das
aufInteressen basiert. (vgl. Weber 192Gb, S. 695)
Hie r nun schließt Habennas seine kritische Th eorie der Modeme an.
Er stellt fest, dass die Zweckrationalität heute alle Bereich e des Lebe ns
durchdringt. Die Gesellscha ft hat sich aufgespalten in Subsysteme, die
sich mehr und me hr verse lbständigen und alle ihrer eigenen zweckrati-
onalen Logik folgen. Wo wir mit ihnen in Berührung komme n, bean-
spruchen sie uns nach Maßgab e ihrer Logik und nur unter spezifischen
Rollenerwartun gen. Sie erzwi ngen jeweils eigene Fe rmen de s Denkens
und Handeins. Parall el und gegenei nande r dringen sie in das Bewusst-
sein ein und spalten es in abgetrennt e Bereiche auf. Nicht das falsche
5 Interaktion 233

Bewusstsein, das sich nach der These von Marx der Widersprüche einer
antagonistischen Gesellschaft nicht innewird, sondern das f ragmentier-
te Bewusstsein ist nach Habermas das Prob lem der Modeme. (Haber-
mas 1981b, Bd. 2, S. 522)
Die Imp erative der verselbständi gten Subsysteme und die aus ihnen
herrühr enden Diktate der Zweckrationalität, der Sachlichkeit und der
Standardisierung dringen in unsere Alltagswelt ein. Nehmen wir nur
das Beispiel des Ma rktes: Wir können gar nicht verhindern, dass wir zu
Konsument en gemacht werden, denen gesagt wird, wann sie was zu
kaufen haben und wie sie sich als Beschäft igte zu verhalten haben. (vgl.
S. 480) Grundsätzlicher muss man sogar sage n: Das Prinzip der Ratio-
nalisierung schlägt auf das gesamte private Leben durch. Wiederum
durchaus ernst gemeinte Beispi ele: Wir strukturieren den Tagesablauf
nach Termi nen (inklusive "Tagessc hau" und "Ve rbotene Liebe"), über -
antworten die Pflege kranker ode r alter Menschen spezialisierten
Dienstleistem und erledigen unsere Ernährung nach dem letzten Ge-
sundheitsplan.
Die nur an Zwecken ausgerichtete Rationalität, so fasst Habermas
seine Krit ik zusammen, zerstört die Lebenswelt . Darunter versteht er
mit Schütz und Luckmann die Welt, die uns fraglos gegeben, selbstver-
ständlich und vertraut ist. Wir nehmen an, dass wir sie mit anderen tei-
len, die sie in der gleichen Weise sehen wie wir. Sie bildet so etwas wie
den Horizont für unser Erleben und Wissen, in dem alles, was wir uns
vorstellen können, besch lossen ist. Deshalb merkt Habennas auch an,
dass er die Lebensweltanalyse als einen Ver such versteht, "das, was
Durkheim Kollektivbewusstsein genannt hat, aus der Innenperspektive
der Angehörigen rekonstruktiv zu beschreiben." (Bd. 2, S. 203)
Diese Lebenswelt gerät mehr und mehr unter die Imperative der
Zwec krationalit ät. die sich von allen Seiten fordernd bemerkbar ma-
chen. Es ist, als wenn Kolonialherren in die nat ürliche Ordnung einer
Stammesgesellschaft eindri ngen und dort bestimmen, wie die Men-
sehen von nun an zu denken und zu handeln haben. So spricht Haber-
mas auch von einer .Kolonial isierung der Lebenswelt". (Habennas
1981b, Bd. 2, S. 522)
Die Rationalisierung der Lebensweit hat Auswirkungen auf die Be-
gründungen und Formen unseres Handeins. Ein auffälliger Zug ist die
Verrechtlichung, die wir nicht nur als Kontro lle des "richtigen" Han-
deln s erfahren, sondern die wir selbst auch zur Absic herung unseres
234 5 Interaktion

Handeins vorsehen. So ist das Beispiel der Mutter, die sich vor dem
Kindergeburt stag von de n Eltern der anderen Kinder schriftlich bestäti-
gen lässt, dass sie sie abends im Auto zurückbringen darf, sicher nicht
zu weit hergeholt. Wir handeln nicht spontan, sondern sehen, dass wir
keine Fehler machen; wir handeln nicht emotion al engagiert oder ein-
fach aus einer Laune heraus, sondern vernünftig und zweckrational. Die
Lebenswelt als die Welt, in der wir uns eigentlich ganz selbstverständ-
lich und nach individuellem Anspruch bewegen können sollten, ist in
der Tat kolonialisiert worden.
Um diese strukturelle Veränderung geht es Habermas in seiner kriti-
schen Theorie der Gesellschaft. Vor ihrem Hintergrund entwirft er sei-
ne Theorie des kommunikativen Handelns. Dazu verbindet er Webers
kritische Theorie der Rationalisierung mit zwei Thesen: mit Meads
These, dass Interaktion in der wechselseitigen Rollenübernahm e be-
steht, und mit der These von Schütz, dass wir die Lebenswelt, in der
wir uns bewegen, für selbstverständlich halten. Nach Mead gelingt In-
teraktion, weil sich ego und alter auf gemeinsame Symbole beziehen
und sie identisch interpretieren. Dadurch dass sie sich wechselseitig in
ihre Rollen versetzen, blicken sie auch auf sich selbst und werden sich
der Gründe ihres HandeIns gewahr. Nach Schütz ist die Lebenswelt
über eine gemeinsame Sprache organisiert, durch deren Verwendung
uns laufend die Muster normalen Denkens und Handelns bestätigt wer-
den.
Habenn as geht nun über Meads kommunikationstheoretische
Grundlegung des Handeins hinaus, indem er eine weitere Vorausset-
zung macht: Die Interaktionspartner müssen ein Interesse an Verstän-
digung haben. Ziel einer Verständigung ist weder Überwältigung noch
resignative Unterwerfung, sondern Konsens . Medium der Verständi-
gu ng ist die Sprache, die uns durch die Lebenswelt natürlich gegeben
ist. Die Sprache ist deshalb auch Medium der Handlungskoordinierung.
(Habcnnas 1981b, Bd. 2, S. 41) Sie begründet das kommunikative
Handeln in einer konkreten Situation und hält es in Gang. Das muss
man sich so klannachen: Durch die Sprache wird immer etwas mitge-
teilt, auch, wie das Gesagte verstanden werden soll, und über sie wird
wiederum vermittel t, wie das Mitgetei lte verstanden worden ist. "Ver-
ständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne." (Haber-
mas 1981b, Bd. 1, S. 387) Deshalb setzt Habennas Sprache und Ver-
ständigung auch ineins.
5 Interaktion 235

Sprachliche Verständigu ng ist das Prinzip der Interaktion, weshalb


Habermas auch - ich sagte es schon - die Begriffe Interaktion und
kommunikatives Handeln synonym verwendet. Alle Interaktion ist
durch Kom munikat ion vermittelt, "in der sich die Interaktionspartner
die Bedeutungen ihres HandeIns wechselseitig zu überm itteln und sich
wechselseitig in ihren Handlungen und deren Bedeutungen zu beein-
flussen versuc hen." (Matthes u. a. 1981, KE 1, S. 65) Insofern ist Spra-
che auch ein Medium "der Vergesellschaftung von Individuen". (Ha-
bermas 1981b, Bd. 2, S. 41)
Im kommunikativen Handeln "wird die Geltung von Sinnzusam-
menhängen naiv vorausgesetzt, um Informationen (handlu ngsbezogene
Erfahrungen) auszutauschen." (Habermas 1971, S. 115) Die Geltung
kann deshalb naiv vorausgesetzt werden, weil wir ein gemeinsames
Alltagswissen besitzen. Es besteht aus "elementaren Wirklichkeitsdefi-
nitionen, die für alle Mitglieder einer gegebene n Gesellschaft, einer
Kultur, mit der Unterstellung versehen sind, dass auch jeder andere
über sie verfilgen oder zumindest mühelos Zugang zu ihnen gewinnen
kann." (Ma tthes u. a. 1981, KE 1, S. 92) Indem wir dieses gemeinsame
Alltagsw issen unters tellen, unterstellen wir auch, dass wir eine Situati-
on gleich definieren. Wie ich eben gezeigt habe, hat Schütz von dieser
Unterstellung her auch die Idealisierung der Vertauschbarkeit der
Standpunkte begründet.
Kommun ikatives Hand eln " vollzieht sich in eingelebten und norma-
tiv abgesicherten Sprachspielen.' [Habermas 1971, S. 115) Die Sprache
selbst ist eine Handlun g, deshalb spricht Habermas auch von Sprech-
handlungen oder Spre chakten. Die Gleichse tzung von Sprache und
Handlung kann man sich so klarmac hen: Sprechakte beziehen sich auf
eine Vergangenheit von individuellen oder gemeinsamen Erfahrungen;
sie aktivieren und generie ren Bedeutungen, die für das in Rede stehen-
de Handeln relevant sind, und definieren so den Rahmen des weiteren
Hand eins. Da dies in perm anentem Austausch zwischen Sprecher und
Hörer, ego und alter, erfolgt, werden durch die Sprache Fakten geschaf-
fen. Es wird also gehandelt.
Damit stellt sich nun die Frage, wie denn kommunikatives Handeln
funktioniert oder noch grundsätzlicher: wie es überhaupt möglich ist.
Denn nach dieser Defin ition der Sprechhandlung bringt doch j eder Be-
teiligte eine eigene Welt von Erfahrungen mit und wird wahrscheinlich
auch höchst individuelle Bedeutungen ins Spiel bringen, um seine Ziele
236 5 Interaktion

zu erreichen . So bescheiden oder gar unbewusst der Anspruch auch


sein mag : Jeder Hande lnde setzt durch sein Sprechen auch Bedingun-
gen für das Handeln des anderen, grenzt also dessen Handlungsmög-
lichkeiten ein. Dabei meine ich noch nicht einma l den Fall, dass einer
dem anderen über den Mund fahrt, sondern die ganz normalen Appelle
des stillen Einverständnisses und die unb efangenen Begriindungen aus
dem Bauch des gesunden Menschenverstandes. Dies alles stellt auch
Hab ermas in Rechnung, wenn er von kommunikativem Handeln
spricht, aber ihn interessiert noc h mehr, was eigentli ch die strukturelle
Bedingung dafür ist, dass dieses Hand eln zus tande kommt und fortl au-
fend funktioniert, kurz: dass Verständigung möglich ist. Eine struktu-
relle Bedingung sind für ihn sog. Geltungsansprüche, die wir unausge-
sproch en beim kommunikativen Hand eln aneinander richten. Es sind
drei:
1. Was wir über die objektive Welt sagen, muss wahr sein;
2. was wir in einer gemeinsam en, sozialen Welt sage n, muss richtig
sein, also den Normen entsprechen;
3. was wir über unsere subj ektive Welt sagen, muss wahrhaftig
sein. (vgl. Habennas 198 1b, Bd. 1, S. 26 und 35)
Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen:
>- Wenn Z behauptet, ihm habe man gerade das Hörnchen Eis aus
der Hand gerissen, bean sprucht er, einen obje ktiven Tatbestand
zu konstatieren, also die Wahrheit zu sagen.
>- Wenn Z sagt, dass dieses Verhalt en strafbar ist, dann bean-
sprucht er, dass diese Aussage in unserer Gesellschaft richtig ist.
};- Und wenn Z dabei lauthals seine Empörung über die Jugend von
heute zum Ausdruck bringt, beansprucht er, wahrhaftig zu sein.
Es liegt auf der Hand , dass diese Geltungsanspruche nicht nur von ego
an alter gerichtet sind, sondern dass umgekehrt alter eben diese auch
unterstellen muss. Ergo: Beansprucht der andere unausgesprochen die
Wahrheit zu sagen, unterstellen wir bis zum Beweis des Gegenteils
auch, dass er das tut. Hält er seine Aussage für richti g, sehen wir das so
lange auch so, wie wir nichts Gegenteiliges wisse n. Beansprucht er,
wahrhaftig zu sein, glauben wir ihm das, solange sich Form und Ziel
seine r Empörung im Rahm en des Üblichen bewegen .
5 Interaktion 237

Interaktion ist Wechselwirkung, und die drei Ansprüche oder Ratio-


nalitäten gelten ebenso wechselseitig. Nur indem beide Seiten auf diese
einander bedingenden Geltungen bauen, können sie kommunikativ
hand eln und sich wechselseitig ihr Handeln zurechnen: Als zurech-
nungsflihig kann denn auch nur gelten, " wer als Angehöriger einer
Kommunikationsgemein schaft sein Handeln an intersubjektiv aner-
kannten Geltungsansprüchen orientieren kann." (Habermas 1981b, Bd.
1, S. 34)
Habennas hatte schon früher gezeigt, dass noch andere implizite
Erwart ungen logisch zwingend sind, gleichwohl im bewussten Handeln
ausgeblendet sind. Im kommun ikativen Handeln hegen wir näm lich
unausgesprochen die Erwartung, dass die anderen wisse n, was sie tun
und warum sie das tun. Habennas unterscheidet deshalb nach einer
Intentionalitätserwartung und einer Legitim itätserwartung.
a) Intentionalitätserwartung : Subjek te folgen den Nonnen, nach
denen sie handeln, intentional;
b) Legiümitätserwartung: Subjekte folgen nur Nonnen, die ihnen
gerechtfertigt erscheinen. (vgl. Habennas 197 1, S. 118f.)
Wir unterstellen - und müssen unterstellen! - , dass der andere uns sa-
gen könn te, warum er sich so und nicht anders verhält. Um es an einem
drastischen Beispiel klar zu mache n: Würde jemand seine Rede mit den
Worten einleiten "Ich weiß nicht, waru m ich etwas sage" oder "Die
Moti ve meines Hand eins lehne ich ab" wäre eine Komm unikation im
Grunde nicht möglich. In Wirkl ichkeit sind diese Erwartungen der In-
tenti onalität und der Legitimität natürlich .jconrrafaktisch", aber wenn
wir nicht so täten, als ob sie sich auf ein Faktum bezögen, könnte man
im strengen Sinn nicht kommunizieren. Ähnliche Faktizität messen wir
auch einer gemeinsamen Sicht auf die Welt bei. Im komm unikativen
Handeln unterstellen wir stillschweigend, dass j eder die Dinge so sieht
wie wir. Das betrifft auch die Absichten und Ziele gemeinsamen Han-
deln s.
Wo dieses Einverständnis aus welchen Gründen auch immer nicht
mehr herrscht, das Intere sse am Fortgang der Interaktion aber bestehen
bleibt, muss eine neue Form der Kommu nikation gefunden werden, die
auf die Herstellung eines neuen Einverständnisses zielt. Um diese Stra-
tegie geht es im Diskurs.
2J8 5 Interaktion

Der Diskurs ist ein analytisches Sprechen übe r die Bedingun gen der
Kommunikation, also eine Metakommunikation . Den Unterschied zwi-
schen kommunikativem Handeln und Diskurs kann man sich mit fol-
gendem Beispiel klar machen: Herr J. behauptet gegenüber seiner
Tochter C., es gebe zwei unum stößliche Wahrheiten. Erstens, die Erde
sei eine Sche ibe, und zweitens, Frauen seien dümmer als Männ er. Zieht
Tochter C. nur die Brauen hoch, ansons ten geht das Gespräch aber wei-
ter, ist es kommunikatives Hand eln . Bestreitet Tochter C. aber wenigs-
tens eine der Behauptungen und verlangt eine rationale Begründung,
beginnt der Diskurs. ..In Diskursen suchen wir ein problematisiertes
Einverständnis, das im kommunikativen Hand eln bestanden hat, du rch
Begründung wiede rherzuste llen ." (Habennas 197 1, S. 115)
Der Diskurs ist ein "Abarbeiten der unterschi edlich en Perspektiven
mit rationalen M itte ln." (Matthes u. a. 1981, KE 1, S. 133) Aba rbei ten
hat das Zie l, einen Konsens über da s herzustellen , was hinfo rt an An -
sichten, Urteilen und Regeln des Disku rses ge lten soll. Deshalb spricht
Habennas auch "von (disku rsive r) Verständigung ." (Habennas 1971, S.
115)
Das klingt gut, die Frage ist aber , unter welchen Voraussetzunge n es
überha upt nur zu einem Diskurs kom me n kann . Die wichtigste ist, dass
die Interaktionsteil nehm er sich als gle ich e bet rachte n und sich gleiche
Rec hte einrä umen . Jeder Teilnehme r muss die gleiche Chance haben zu
handel n, sein Handeln zu erkläre n und vom anderen Erk lärungen für
de ssen Handeln einzufordern. Eine Interaktion, in der die se Bedingung
erfüllt ist, nennt Habennas eine symmetrische Interaktion .
Dass die Wahrnehmu ng dieser Chancen n ur im Medium der Sprache
erfolge n kann, liegt au f der Hand . Deshalb nennt Habennas als implizi-
te Bed ingung für diese symmetrische Interaktion des Diskur ses die Un-
terstellung einer idealen Sprechsituation:

Jürgen Habermast Die ideale Sprechsituation


"Ideal nennen wir im Hinblick auf die Unterscheidung des wahren vom
falschen Konsensus eine Sprechsituation, in der die Kommunikation
nicht nur nicht durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch
nicht durch Zwänge behindert wird. die aus der Struktur der Kommuni-
kation selbst sich ergeben. Die ideale Sprechsituation schließt systema-
tische Verzerrung der Kommunikation aus. Nur dann herrscht aus-
schließlich der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Argurnen-
5 Interaktion 239

tes, der die methodische Überprüfung von Behauptungen sachverstän-


dig zum Zuge kommen lässt und die Entscheidung praktischer Fragen
rational motivieren kann." (Habermas 1971: Vorbereitende Bemerkun-
gen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, S. 137)

Auf diese ideale Sprec hsituat ion greifen wir vor, obwohl sie de facta
nicht da ist. Was paradox klingt, kann man so auflösen: Unbewusst
unterstellen wir, wenn wir nur wollten, könnten wir den anderen fragen ,
warum er dies und das gesagt oder getan hat, und selbstverständlich
hätten wir das Recht, genau so frei die Grunde für unser Verhalten dar-
zulegen. "Der Vorgriff auf die ideale Sprechsituation ist Gewähr dafür,
dass wir mit einem faktisch erziehen Konsensus den Anspruch des
wahren Konsensus verbinden dürfen." (Habennas 1971, S. 136) Das
wiederum heißt: Wenn wir wollten, könnten wir nachfragen, ob das,
worauf wir uns zwisc henze itlich verständ igt haben, wirklich die ganze
Wahrheit ist. Deshalb muss auch eine ideale Sprechsituation jeg liche
Verzerrung der Kommunikation ausschließen.
Eine ideale Sprechsituation ist durch eine vierfache Symmetrie ge-
kennzeichnet: Jeder hat das gleiche Recht,
1. Kommunikation herbeizuführen,
2. Deutungen, Behauptungen, Erklärungen aufzus tellen und ihre
Geltungsanspruche zu begrunden und zu widerlegen,
3. auf ungekränkte Selbstdarstellung und
4. zu befehlen und sich zu widersetzen, Rechenschaft abzugehen
und zu verlangen.
Die ideale Sprechsituation ist also herrschaftsfrei, so dass jeder Interak-
tionspartner jederzeit die Möglichkeit hat, aus der Interaktion heraus-
und in Diskurse einzutrete n. Damit es nun zu einem wirklichen Diskurs
kommt , muss zusätzlich angenommen werden, "dass die Sprecher we-
der sich noch andere über ihre Intentionen täuschen dürfen." (Habennas
1971, S. 138) Dann - und nur dann! - ist der Diskurs das letzte und
entscheidende Mittel, die Freiheit aller beteiligten Individuen in der
Interak tion zu garantiere n. Nur durch den Diskurs kann so auch der
wahre von einem falschen Konsens unterschieden werden. (vgl. S. 134)
Der wahre Konsens ist das Ergebnis einer Kommunikation, in der die
vier genannten Bedingungen einer idealen Sprechsituation von Anfang
bis Ende erfüllt sind.
240 5 Interaktion

Die Verständ igungspro zesse, die in der Metakommunikation des


Diskurses ablaufen, zielen genau wie das kommunikative Handeln
selbst "au f ein Einverständnis, welches den Bedingungen einer rational
motivierten Zustimmung zum Inhalt einer Äußerung genügt. Ein kom-
munikativ erzieltes Einverständnis hat eine rationale Grundlage." (Ha-
bennas 1981b, Bd. 1, S. 387) Es muss also im Prinzip von allen Betei-
ligten in rationalen Worten form uliert werden können und auf einem
rationale n Konsens basieren. Damit ist sowohl der Fall, das s jemand es
aufgibt, den anderen zu überz eugen, als auch der Fall, dass jemand den
anderen überredet, ausgeschlossen. Der Diskurs ist anstren gend , aber
ohn e ihn ist die Wahrheit über die Bedingungen, unter denen wir kom-
munikativ handeln, woh l nicht zu haben . Dass manche diese Bedingun-
gen gar nicht so genau wissen wollen, steht auf einem anderen Blatt,
und dass gena u so das mei ste im Alltag auch prob lemlos funktioniert,
steht auf dem Blatt, das Garfinkel beschri eben hat.
Zum Schluss eine kritische Überlegung: Habennas unterstellt, dass
wir prinzipiell an Vers tändigung interessiert sind. Würd e man das nicht
sicher anneh men können, wäre Handeln überha upt nic ht möglich. Das
ist - als Axiom der Logik - zw ingend und insofern nicht zu widerlegen .
Allerd ings hat das Interesse in der konkreten Interaktion - und darum
geht es in der Sozi ologie - seine Grenzen: Wo eine Verständ igung ei-
nen zu schweren Kompromiss tatsächlich nach sich ziehen würde, sind
wir nicht an eine r Vers tändigung interessiert, und wo eine Verständi-
gung unseren Wunsch nach Bed ürfnisbefri edigung vollständig zunichte
zu machen droht, lassen wir es durchaus auf einen Bruch der Interakti-
on ankommen.
Aus sozio logischer Sicht muss man auch noch ein ande res, mit dem
ersten untrennbar verbundenes Axiom skep tisch betrachten . Haberm as
unter stellt näm lich, dass wir nach der Wahrheit brenn en. In einem abs-
trakten Sinn, nämlich insofern Inter-Aktion sonst nicht mögli ch wäre,
ist das sicher richtig. Nimmt man aber die konkrete Situa tion in der
ganz normalen Alltagsinteraktion, dann kann ma n seine Zweifel haben.
Zumindest die Figuren in Goffmans Schau spie l nehm en es, wie ich
gleich zeige n werde , mit der Wahrheit ja nicht ganz so genau. Und
auch die These der Ethnomethodologie, das s das Alltagshandeln davon
lebt, dass die Dinge gerade nich t präzise definiert werden, nimm t der
Wahrheitsbedingung von Interaktion etwas von ihrem Gewicht.
5 Interaktion 24 1

Warum hat Habenn as sie dennoch aufgestellt? Ich meine, dass er


damit die prinzipielle Voraussetzung und das prin zipielle letzte Ziel
jeglichen HandeIns benennen wollte. Um es etwas weniger abstrakt zu
formulieren: Im Alltag reicht uns, dass wir irgendwie miteinander aus-
kommen, und solange es klappt, fragen wir auch nicht, warum es
klappt. Genau solche Fragen muss aber der Soziologe stellen, denn er
will wissen, wie kommunikatives Handeln normalerweise gewährleistet
ist und was die Gründe sind, dass es zum Problem wird. In diesem letz-
ten Fall müssen wir Alltagshandelnden - und die Soziologin natürlich
auch - ein Kriterium haben, nach dem wir letztlich beurteilen können,
was die wirklichen Gründe des HandeIns sind und wie sie mit Blick auf
die Freiheit und die gleichen Rechte aller an der Interaktion Beteiligten
zu bewerten sind.
6 Gruppe
6.1 Durkheim: Die Herstellung moralischer Gefühle in der Gruppe
6.2 Simmel: Die Selbsterhaltung der socialen Gruppe
6.3 Primärgruppen - .nursery of human nature"
6.4 Peer group - Sozialisation auf der Schwelle zur Gesellschaft
6.5 Wir und andere: Ethnozentrismus und Außenseiter
6.6 Bezugsgruppe und soziale Beeinflussung in der Gruppe

In den Betrachtungen und Erklärungen des gesunden Menschenver-


standes wird das Phänomen der " Gruppe" erstaunlich selten themati-
siert. So leben wir 20 Jahre in einer Familie, und wenn wir darüber
nachdenken, was dort passiert, dann haben wir Personen und ihr Ver-
halten vor Augen. Wir treffen uns jeden Freitagabend zum Volleyball,
und wenn wir unserem Mann erzählen, was heute wieder los war, dann
,,hat Tilly das gesagt", und " Corinna hat das falsch gemacht", und .jvt ia
war sauer, weil ...". Selbst wenn wir unseren Sprösslingen beim Grop-
penturnen zusehen, sehen wir nur auf die konkreten Individuen. Das
liegt daran, dass wir uns die Welt in der Regel über das Handeln von
konkreten Personen erklären und deshalb auch nur auf konkretes Ver-
halten sehen. Nur die lärmgeplagte Lehrerin weiß, dass sich die Schüler
gegenseitig hochschaukeln, und der besorgte Vater befürchtet, dass die
sozialen Kreise, in denen sein Sohn rumhängt, immer mehr auf ihn ab-
färben. Aber wir kennen auch die Erfahrung, dass wir mit bestimmten
Leuten gern zusammen sind und dass andere uns unwahrscheinlich
aggressiv machen. Das alles bezieht sich implizit auf eine spezifische
Form der sozialen Beziehungen, die man in der Soziologie als "Grop-
pe" bezeichnet.
Wenn ich gerade gesagt habe, dass das Thema "Gruppe" im Alltag
erstaunlich selten expliziert wird, dann muss ich das in einer bestimm-
ten Hinsicht einschränken. Seit den späten 60er Jahren wurde das The-
ma "Gruppe" in Kreisen prominent, die sich des allgemeinen Leidens
der Vielen an der Gesellschaft im Allgemeinen annahmen oder die als
konkrete Individuen spezifisches Leid trugen. In der ersten Hinsicht
hoffte man, dass neu zu schaffende Gruppen etwas kompensieren, was
6 Gruppe 243

aus welchen Gründen auch immer in der Gesellschaft oder in formalen


Strukturen schief lief. Deshalb erwarteten die einen, durch die Solidari-
sierung in Gruppen die politischen Verhältnisse zu verändern. Andere
hofften, über die Erfahrung in der Gruppe sich selbst frei zu machen.
Diese Hoffnung wurde auch in der zweiten Hinsicht gehegt, doch
das wichtigste Ziel war, sich gegenseitig bei der Heilung von sozialem,
psychischem oder körperlichem Leid zu stützen. Für diese Hoffnung,
die bis heute zahlreiche Selbsthilfegruppen beflügelt, steht das überaus
populäre Buch "Die Gruppe" (1972) des Psychoanalytikers HORST
ESERHARD RICHTER, das den bezeichnenden Untertitel hatte: "Hoff-
nung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien. Psycho-
analyse in Kooperation mit Gruppeninitiativen" . Auf die helfende Kraft
der Gruppe setzen schließlich zahlreiche Resozialisationskonzepte und
Solidargemeinschaften.
Die Gruppe taucht im öffentlichen Bewusstsein offensichtlich dann
auf, wenn uns "d ie Gesellschaft" zu groß, zu weit weg oder zu anonym
ist. Aus diesem Unbehagen speist sich inzwischen sogar eine promi-
nente sozialwissenschaftliche Diskussion auf der Grenze von Politik-
wissenschaft und Soziologie, der Kommunitarismus. Er plädiert für
eine Restitutionalisierung gemeinschaftlicher Werte und für die Wie-
derbelebung solidarischer Gruppen. Aus diesen Gruppen, in denen das
Individuum soziale Nähe, Anerkennung und Heimat findet, in denen
ihm aber auch konkrete soziale Verantwortung und persönliches Enga-
gement abverlangt werden, soll dann ein Gemeinwesen erwachsen, das
frei und gerecht ist.
Die Gruppe taucht im öffentlichen Bewusstsein offensichtlich aber
auch dann auf, wenn sich "der Einzelne" überfordert fühlt. Dann sucht
er Trost und Rat bei anderen und lässt sich von der Dynamik tragen, die
sich in einer Gruppe entfaltet.
Die Gruppe scheint also eine Zwischenposition zwischen Gesell-
schaft und Individuum zu sein. Von daher kann es nicht überraschen,
dass die Soziologie der Gruppe auch immer wieder auf die Funktion
abgehoben hat, die dieses intermediäre Gebilde hat.
Nach diesen vorbereitenden Anmerkungen, die zum Teil ja schon in
die soziologische Aufmerksamkeit hineinfUhrten, nun zu Themen und
Theorien einer Soziologie der Gruppe.
244 6 Gruppe

Der Mensch ist ein z öon politik6n, und die Sozio logie fragt, wie er
mit anderen zusammen lebt und was er tut, dass das auf Dauer auch
klappt. Das habe ich unter der Frage "Wie ist Gesellschaft m öglich?"!
diskutiert, und die großen Antworten der Soziologie klangen (hoffent-
lich) auch überzeugend. Diese Antworten zielten auf die Erklärung der
Gese llschaft als Ganzes, aber interessanterweise ginge n viele von der
Frage aus, wie es übe rhaupt zu dauerhafte n Beziehungen in einem ü-
berschaubaren Kreis von Individuen kommt. Konzentriert man sich auf
diese Grundfrag e, dann öffnet sich der Blick auf eine Soziologie der
Gruppe. Das eigentliche Thema ist dann, wie das soziale Gebilde aus-
sieht, das du rch die Beziehungen von Individuen zueinande r zustande
gekommen ist, welche Strukturen sich ausbilden und welche Prozesse
sich darin abspielen. Und schließlich geht es um die Frage, an welcher
gemeinsame n Idee, so vage sie auch imm er sein mag, sich die Indivi-
duen orientieren und wie sie sozial handeln. Wenn Individ uen dauer-
haft untereinand er Kontakt haben, wec hselseitig voneinand er wisse n,
dass sie sich an eine r gemeinsamen Idee orientieren, und sich dadu rch
von anderen untersc heiden, dann kann man dieses sozi ale Gebilde als
Gruppe bezeichn en. So ist denn auch meine Definition der soz ialen
Gruppe zu lesen:
Eine Gruppe ist ein soziales Geb ilde, das überschaubar und von
Dauer ist und eine Grenze nach außen hat. Die Mitglieder fühle n
sich in irgendeiner Weise einande r verbunden und verfolgen ge-
meinsame Ziele. Intern weist die G ruppe eine Struktur auf, die das
gemeinsame Hand eln bestimmt.
Eine Definition, die stärker auf die Form der Beziehungen abhebt,
stammt von dem amerikan ischen Sozialpsychologen T HEODORE M.
N EWCOMB: Danach besteht eine Gruppe " aus zwei oder mehr Personen,
die bezüglich bes timmter Dinge und Fragen gemeinsa me Nonnen ha-
ben und deren soz iale Rollen eng miteinander verknüpft sind." (New-
co mb 1950, S. 426) Au f den Zweck dieses sozi alen Gebildes und den
Sinn, den die Mitgliede r mit ihm verbinden , hebt THEODORE W. MILLS
ab, wenn er schreibt, dass sie " sich zu einem bes timmten Zweck tref-
fen" und dass ihne n " bereits dieser Ko ntakt selbst sinnvoll ersche int" .
( 1967, S. 10)

I Vgl. Band 1, Kap. 3 "Soziale Ordnung oder: Wie ist Gesellschaft möglich?"
6 Gruppe 245

In einer Gruppe existieren bestimmte Vorstellunge n über soziales


Verhalten. Diffuse, nicht bewusste Vorstellungen vom richtigen Den-
ken und Handeln in der Gruppe kann man als latente Erwa rtungen be-
zeichnen . In älteren Theorien spricht man vom .esprit de corps", vom
" Gruppengeist" oder auch von der " Ehre" . Darauf komm e ich gleich
zurück. Die verbindlichen, gleichförmigen und dauerhaft en Vorstellun-
gen bezeichne t Pop itz als soziale Normierung, das ungleichartige Ver-
halten bestimm ter Individ uen innerhalb einer Gruppe als soziale Diffe-
renzierung. (Popitz 1968a, S. 8( und 13f.)
Je nach Beso nderheit ihrer Zusammensetzung oder Funktion kann
man versc hiedene Gruppentypen unterscheiden:
~ Primär-Grup pe und Sekundär- Grupp e,
);. peer group,
~ Eigengruppe und Fremdgruppe ,
~ formelle oder informe lle Grup pe,
)- oder Bezugsgruppe.
Daneben gibt es noch den eher statistischen Begriff der Merkmalsgrup-
pen , Darunter versteht man in de r Soziologie Gruppen, die zu statisti-
schen Zwe cken nach bestimmten Kriterien zusamme ngestellt werden.
Als man z. B. vor einigen Jahren untersuchte, welche Personen in
Deutschland in ihrer Bildun g besonders benachteiligt sind, stieß man
auf eine Kombination von bestimmt en Merkmalen, die offensic htlich
besond ers negativ wirken können: Religion, Gesc hlecht, Wohnort, Be -
ruf des Vaters. Das katholische Mädchen vom Lande, dessen Vater
Arbeiter war, besuchte sehr viel se ltener ein Gymnasi um als andere
Gleichaltrige. Merkm alsgrupp en werden also immer dann konstrui ert,
wenn es um verm utete Zusammenhänge von besti mmten Faktoren geht.
Deshalb kann es ja aus irgendwelchen Gründen auch sinnvo ll sein,
wenn man der Gruppe der link shändigen Legastheniker, die Brill e tra-
gen und bekennende Raucher sind, seine ganze soziologische Aufmerk-
samkeit widmet.
Per sönliche Bekann tschaft ist übrigens nicht unbedingt ein soziales
Kriterium für eine Gruppe . So sprechen wir auch dann von einer Grup-
pe, wenn die Mitglieder nur voneinander wisse n. So würde es den Mit-
gliedern der Gruppe BRY (" Bewegung zur Rettung Yetis") vollauf
genüge n zu wissen, dass irgendwo im Lande noch andere sind, die sich
mit diesem Gruppenziel identifizieren. Diese Gruppen, "de ren einzige
Gemeinsamkeit in einem gemeinsamen Interesse" bes teht, hat HART-
246 6 Grupp e

MUTESSER in Anlehnung an den Verfechter einer Theorie ökonomisch-


rati onalen HandeIns, M ANCUR L. ÜLSON 1, " latente Gruppen" genannt.
(Esser 200 1, S . 422)
Diese Interessengruppen wie auch die Merkrnalsgruppen werde ich
im Fo lgen den nicht behandeln, sond ern, unter de m Ge sichtspunkt, dass
Gruppen soziale Gebilde sind, n ur so lche Gruppen, in den en Interaktio-
nen zwischen sichtbaren Personen stattfinden.

6.1 Durkh eim: Die Herstellung moralisch er Gefühle in der


Gruppe
In seiner Studie über den " Selb stmord" war EMILE DURKHEIM zu dem
Ergebnis gekommen, das s eine wesentliche Ursache dies es freiwilligen
Abschieds au s dem Leben die schwi ndende Integrationskraft einer Ge-
meinschaft ist. Die entsprechende Diagnose der Gesellschaft lautete,
dass sich die Moral in einem .alarmierenden Zustand" (1897, S. 460)
befinde. Konkret meinte Durkheim damit, dass die Konkurrenz der
egoistischen Interessen das Gefühl der Solidarität mehr und mehr zer-
störe. Die Gesellschaft treibt in einen Zustand der Anomie, was zur
Folge hat, dass sich die Bindung des Individuums an die Gesellschaft
immer mehr lockert. Und genau auf diese Bindung an die Gesellschaft
kommt es Durkheim an, wenn er schreibt, dass das Individuum prak-
tisch keinem anderen Kollektiveinfluss mehr untersteht als dem Staat
mit seinen unpersönlichen, standardisierten Regelungen. "Nu r in ihm
spürt der einzelne die Gesellschaft und seine Abhängigkeit von ihr." (S.
463) Das erfahrt er in den Regelungen, die der Staat für alle tri fft und
bei allen durchzusetzen trachtet. Ein Gefüh l für die anderen, geschwei-
ge denn eine soziale Verantwortung für sie stellt sich nicht ein. Der
einzelne "hat während des größten Teils seines Lebens nichts um sich,
was ihn über sich selbst hinausheben oder ihm Zügel anlegen könnte.
Unter solchen Umständen muss es dazu kommen, dass er im Egoismus
und in der Regellosigkeit versinkt." (S. 463f.)
Am Ende dieser Diagnose stellt Durkheim nun die Frage, wie man
dem Übel steuern könnte, und kommt zu der Antwort, dass sich das
Individuum wieder in eine Gruppe integrieren müsse, in der es sich

Olson ( 1965): Die Logik des kollektiven HandeIns. Kollektivgüter und die Theo-
rie der Gruppen.
6 Gruppe 247

seiner sozialen Stellung in der Gesellschaft bewu sst werde, Solidarität


erfahre und selbst erwei sen müsse. Die Gruppe, die das leisten könne,
sei die Berufs gruppe. Durkheim kündi gt an, dass er dazu eine eigene
Stud ie vorlegen werde. Dazu ist es allerdi ngs nicht gekommen. Start-
dessen hat er seinen Vorschlag zur Restitution der innigen Verbindung
zwischen Individuum und Gesellschaft in einem langen Vorwort zur
zweiten Auflage seines Buches "Übe r soziale Arbeitsteilung" präzi-
siert.
Durkheim hebt mit der Diagnose an, dass sich "das ökonomi sche
Lebe n augenblicklich" in einem Zustand der rechtlichen und morali-
schen Anomie befinde. (vgl. Durkheim 1902, S. 42) Damit hat er nun
keineswegs einen Teilbereich der Gesellschaft im Blick, sondern das
Kennzeichen der Modeme benannt: Die ökonomischen Funktionen
stehen an erster Stelle, womit Dur kheim nicht nur den beherrschenden
Einflu ss der rasant wachsenden Wirtschaft seiner Zeit auf Politik und
Gesellschaft meint, sondern auch die überragende Bedeutun g, die die
..Tä tigkeitsform" in der Ökonomi e, sprich: der Beruf, im Leben des
Einzelnen hat. (vgl. S. 44) Von hier aus entwickelt er nun das Konzept
der Berufsgruppen , in denen sich gewissermaßen alle Angehörigen
eines gleichen Berufes zusammentun. Das klingt stark nach den Stän-
den und Zü nften des Mittelalters, und an denen hebt Durkh eim in der
Tat auch ihre Funkt ion hervor: Sie "bildeten für ihre Mitglieder ein
moralisches Milieu" . (S. 53)
Solche Korp orationen lassen sich aus vielerlei Grü nden nicht mehr
restituieren, unter anderem, weil sie lokal begrenzt waren und über Pri-
vilegien letztlich zu einer Segregation statt Integration der Gesellschaft
tendierten. Gleichwoh l hält Durkheim einige Prinzipien dieser Grup-
pell , denn das waren sie vor allem, für bedenkenswert. Sie sahen konti-
nuierlichen Kontakt vor, so dass sich gemeinsame Anschauungen, eine
Moral also, und wechselseitige, solidarische Gefü hle bilden konnten .
Es ist dieser moralische Einfluss, weshalb Durkheim eine Berufsgruppe
in der modemen Gesellschaft, die ansonsten auseinandertreibt. für un-
abdin gbar hält: Sie hat ..die moralische Kraft. die die ind ividuellen
Egoismen zügeln . im Herzen der Arbeiter ein lebhafteres Gefühl ihrer
Solidarität erhalten und das Gesetz des Stärkeren daran hindern kann ,
sich derart brutal auf die gewerblichen und kommerziellen Beziehun-
gen auszuwirken." (Durkheim 1902, S. 5 1)
248 6 Gruppe

Nehmen wir an dieser Forderung nur die moralische Funktion der


Gruppe für die Bindung der Individuen untereinander und an die Ge·
seilschaft in den Blick, die Durkheim so beschreibt und erklärt:

Em ile Durkheim: Die Gruppe als Qu elle de s moralisch en Leb ens


"S oba ld im Schoß e iner politischen Gese llscha ft eine bestimmte Anza hl
von Individuen Ideen, Interessen, Ge fühle und Beschäftigungen ge-
meinsam haben, die der Rest der Bevölkerung nicht mit ihnen teilt, ist
es unvermeidlich, dass sie sich unter dem Einfluss dieser Gleichartig-
keit wechselseitig angezogen fühlen, dass sie sich suchen, in Verbin-
dung treten, sich vereinen und auf diese Weise nach und nach eine en-
gere Gruppe bilden, die ihre eigene Physiognomie innerhalb der allge-
meinen Gesellschaft besitzt. Sobald aber die Gruppe gebildet ist, ent-
steht in ihr ein moralisches Leben, das auf natürliche Weise den Stem-
pel der besonderen Bedingungen trägt, in denen es entstanden ist. Denn
es ist unmöglich, dass Menschen zusammenleben und regelmäßig mit-
einander verkehren, ohne schließlich ein Gefühl für das Ganze zu ent-
wickeln, das sie mit ihrer Vereinigung bilden, ohne sich an dieses Gan-
ze zu binden, sich um dessen Interessen zu sorgen und es in ihr Verhal-
ten einzubeziehen.
Nun ist aber diese Bindung an etwas, was das Individuum über-
schreitet, diese Unterordnung der Einzelinteressen unter ein Gesamtin-
teresse, die eigentliche Quelle jeder moralischen Tätigkeit. Damit sich
nun dieses Gefühl präzisieren und bestimmen und auf die gewöhnlichs-
ten oder bedeutsamsten Umstände auswirken kann, überträgt es sich in
bestimmten Formeln; und infolgedessen entsteht ein Korpus morali-
scher Regeln." (Durkheim 1902: Vorwort zur zweiten Auflage "Über
soziale Arbeitsteilung" , S. 55f.)

Diese " sekundären Gruppen" solle n sich zwischen d en Staat und die
Bürger schieben, um individuelle Interessen zu sozialen zu organisie-
ren , denn " ein e Gesell schaft, d ie aus eine r Unm ass e von unorga nisier-
ten Individuen zusammengesetzt ist und die sich ein Überstaa t b emüht
zusamm enz uhalten, ist ein wahr es so ziologisc hes M onstrum." (Durk-
heim 1902, S. 71) W ie ein roter Faden zie ht sich d urch Du rkheim s ge-
samtes Werk da s " Problem der we ch selseitigen Kom patibilität vo n so-
zialer Ordn ung und indi vidue ller Freiheit, von stru ktureller Differenzie-
rung und Int egration , Gemeinschaft und Individuum " , und die Berufs-
gru ppen sind di e " interm ed iäre Eb ene" , au f der da s gelingen so ll. (Mül-
ler u. Schmid 1992, S. 511 )
6 Gruppe 249

Als Begründung, warum diese sekundären Gruppen das leisten kön-


nen, verweist Durkheim interessanterweise auf die Leistung der Pri-
märgrnppe der Familie. Sie sei " die eigentliche Heimstätte der Morali-
tät", das ist ganz unstrittig. Aber sie ist es nicht aufgrund der Blutsver-
wandtschaft, sondern wegen ihrer soziologischen Besonderheit: Sie ist
eine "Gruppe von Individuen, die einander (..) durch eine besonders
enge Verbindung von Ideen, Gefühlen und Interessen nähergeruckt
sind." (Durkheim 1902, S. 57) In moderner Terminologie würde man
sagen: Dauerhafte soziale Interaktion schafft gemeinsame Einstellun-
gen. Von der Primärgruppe Familie, die ja nicht auf Dauer angelegt ist,
sondern sich mit dem Auszug der Kinder auflöst, unterscheiden sich die
Berufsgruppen, dass sie "s tetig wie das Leben" sind. (S. 58)
Im Unterschied zur Primärgruppe Familie, in die man ungefragt hin-
eingeboren wird, sind Sekundärgruppen gestiftet, sei es durch ein ge-
meinsames Interesse, das die künftigen Mitglieder dieser Gruppe haben
und weswegen sie die Assoziation suchen, sei es durch soziale Rege-
lung, nach der Individuen zu einem bestimmten Zweck zusammenge-
filhrt werden. Beispiele für die erste Fonn der freiwilligen Assoziation
wären die Berufsgruppen. wie sie Durkheim beschrieben hat, aber auch
die Thekenmannschaft .Dröppelminna" in Solingen; Beispiele für die
zweite Form gesellschaftlich definierter Gruppen wären eine Schulklas-
se so gut wie die Gefangenen in Alcatraz oder das Team der Betriebs-
prüfer im Finanzamt Münster-Ost.
Beide Formen der Gruppe haben, wenn man der Theorie von Durk-
heim folgt, einen sozialen Effekt: Sie erzeugen durch dauerhafte Kon-
takte gemeinsame Einstellungen und Gefühle, aber sie üben auch genau
deswegen soziale Kontrolle aus. Einen Beleg für diese Annahme haben
zahlreiche Studien über die soziale Beeinflussung in der Gruppe gelie-
fert. Ich komme gleich darauf zurück.

6.2 Simmel: Die Selbsterh allung der socialen Gruppe


In einer Zeit, als man in Deutschland noch darum rang, Gegenstand und
Aufgabe einer neuen Wissenschaft, die man vorsichtig als »Sociologie«
bezeichnete, zu bestimmen, hoffte G EORG SIMMEL, "das Rätsel" zu
lösen, "was denn eigentlich »Gesellschaft« ist." (1898, S. 312) Dazu
lenkte er den Blick auf die Bindungen, die es offensichtlich dort gibt,
250 6 Gruppe

wo Menschen über eine bestimmt e Zeit zusammenleben. Von da aus


ergibt sich auch Simme ls Definition von Gesellschaft : Gesellschaft ist
überall dort, "wo eine Anzahl von Menschen in Wechselwirkun g treten
und eine vorilbergehende oder dauernde Einheit bilden ," (Simmel
1898, S. 313) Die Frage ist allerdings, wie sich ein solches Gebilde
erhält. Sirnmel beantwortet sie mit Blick auf die .scciale Gruppe", wo-
bei man anmerken muss, dass er nach dem genannten Prinzip auch die
Gesellschaft als eine Gruppe ansieht .
Das Problem der Selbsterhaltung einer Grupp e liegt schon in der
Tatsache begriindet, dass Mitglieder ausscheiden oder neue hinzukom-
men. Nehmen wir z. B. die Grupp e " Gegendruck68" . Gleich im Grün-
dungsjahr ist die Hälfte der Mitstreiterinnen, die das richtige Bewusst-
sein vermissten, wieder ausgetreten. Da waren's nur noch 4. Drei zogen
im Laufe der Zeit weg, aber vier neue kamen hinzu. Als sich die Letzte
aus der Gründerzeit einem Vertreter des Kapita ls in die Ehearme
schmiss, wurde sie wegen unüberbrückbarer geistiger Differenzen aus-
geschlossen. Der Rest nutzte diesen Schnitt für eine Standortbestim-
mung und brachte "Gegendruck68" mit Handzetteln wieder ins Ge-
spräch. Die Gruppe überdauerte also, obwohl es kein einziges identi-
sches Mitglied mehr gab. Ins Große gewendet: Im Wechsel der Genera-
tionen bleibt die einheitliche Grupp e der Gesellschaft bestehen. Die
erste Erklärung der Selbsterhaltu ng der Gruppe sieht Simmel denn auch
in der Allmählichkeit der Veränderungen. (Simmel 1898, S. 319)
Zweitens kann die Kontinuität einer Gruppe damit erklärt werden,
dass stets genügend Mitglieder vorhanden sein müssen, die den Nach-
wuchs schulen. Das kann man in dem engen Sinne verstehen, dass z. 8.
die alten Wächter des Grals die Eleven systematisch in die Geheimn is-
se einweihen, das kann man aber auch in dem weiteren Sinne verste-
hen, dass neue Mitglieder lange genug mit den Alten zusammen sind,
um sich " dem Geist, der Form , der Tendenz der Gruppe völlig zu assi-
milieren." (SimmeI1 898, S. 320)
Drittens wird die Gruppe zusammengehalten durch die Loyalität ge-
genüber führenden Personen oder einem herrschenden Prinzip . Der
fixe Fritz, der bei den Strandpiraten von Sandburg 9 das Sagen hat,
treibt die Grupp e jeden Tag zu neuen Abenteuern. Das ist beim großen
Fritz im Prinzip nicht anders. Er gibt seinem Volk das Gefühl der Ein-
heit, und über seine aufgeklärt en Prinzipien identifi ziert es sich. Doch
was passiert, wenn der fixe Fritz wieder nach Hause fährt oder der gro-
6 Gruppe 251

ße Fritz stirbt. Im ersten Fall findet der traurige Rest der Bande kei nen
rechten Schwu ng zu neuen Taten und verkrümelt sich schließlich. Die
Gru ppe löst sich auf. Im zwe iten Fall besteht die große Gruppe der
Preußen na türlich weiter, weil der große Fritz nicht kraft seiner Person,
sondern kraft eines Amtes herrschte. In diesem Fall gilt der Grun dsatz,
dass der König nicht stirbt. (vgl. Simmel 1898, S. 323 )
Das erste Beispiel rückt die Bede utung einer führenden Person in
den Vordergrund. Die Grup pe hat nur so lange Bestand, wie eine her-
ausragende Person sie zusammenhält. Simme l dtiickt es so aus: " So
lange der Bestand noch ein unsicherer und schwankender ist, kann jene
höchste, zusamme nhaltende Spi tze ihre Funktion nur verm öge ganz
bestimm ter persönlicher Eigenschaften erfüllen." (Simmel 189 8, S.
324) Wenn diese Persönlichkeit die Fähi gkeiten nicht mehr! hat oder
ausfällt, ist der Bestand der Gru ppe in Gefahr. An dem zweiten Beispiel
wi rd deutlich, dass das ,,Persona lmoment" zutiic ktreten kann, wenn die
Form, in der sich die Grup pe selbst erhält, prinzipi ell begtiindet ist, sich
soz usagen obj ektiviert hat. Simmel sieht deshalb auch im Erbschafts -
prinzip, gegen das ja eingewandt wird, dass damit nicht imme r die Bes-
ten in das Amt gelangen, einen tieferen Sinn : Es dok umentiert, " dass
die Form der Gru ppe, das Verhältnis zwischen Herrscher und Be-
herrschten ein rein sachliches und in sich ge festetes geworden ist."
(ebd.)
" Die Objektivierun g des Zusamme nhaltes der Gruppe kann auch die
persönli che Form so weit abstreifen, da ss sie sich an ein sachliches
Symbol kn üpft ." (Sim mel 1898, S. 325, Hervorhebung H. A.) Da s wäre
das vierte Prinz ip des Zusammenhaltes. Simmel bringt das Beispiel der
Fahne in einer kämpfenden Truppe. So lange sie vor ihnen weht, fühlen
sich alle als eine verschworene Gem einschaft, sinkt sie, gerät auch der
Geist der Truppe in Gefahr . Simmel vermutet aber , dass in einem sol-
chen Fall, wo sich die Gruppe für ihre Selbsterhaltung zu sehr auf ein
äußeres Zeichen stützt, der soziale Zusam menhang "schon vorher in-
nerlich stark gelitten haben muss" . (ebd.) Bemerkenswert sei dagegen
der umgekehrte Fall, dass nach dem Ve rlust eines Gruppensym bols die
Kohärenz umso stärker wird. Als Beispiel verwei st er auf die Zerstö-
rung de s jüdischen Tempels durch Tit us. Nachdem das Symbol als ma-

Dieses Problem erwähnt Weber im Zusammenhang mit dem Ausbleiben der au-
ßergewöhnlichen Fähigkeiten des charismatischen Herrschers. Vgl. Band I, Kap.
7.4 ,,Herrschaft: Die Legitimation von Macht", S. 257.
252 6 Grup pe

terielle Wirklichke it zerstört worden war, begann es " als bloßer Gedan-
ke, Sehnsucht, Ideal, sehr viel mächtiger, tiefer, unzerstörbarer" zu
wirken. (Simmel 1898, S. 325)
Ein fünftes, außerordentlich wirkungsvolles Mittel der sozialen
Selbsterhalt ung erblickt Simm el in der Ehre. Ursprünglich war Ehre
Standesehre, also eine "zweckmäßige Lebensform kleinerer Kreise" ,
durch die sie " ihren einheitlichen Charakt er" wahrten und sich gegen
die anderen Kreise abschlossen. (Simmel 1898, S. 331) In moderner
Terminologie würde man sagen: Ehre funktionierte zugleich als Inklu-
sion und als Exklusion, als Integration und Differenzierung. Die Ehre
steht zwischen sozialer Rechtsordnung und individueller Moral. Das
äußerliche Recht wacht über j ede s Individuum oh ne An sehen der Pe r-
son, die Mo ral ist an di e Herzen der Individuen geb unden. Wo eine
Gruppe eine gen erelle Zustimmung zu einem spezifischen, richtigen
Verhalten einfo rdert und das Indi viduum seine ind ivid uelle Moral aus
innerer Üb erzeugung in den Di enst einer koll ektiven stellt, funktioniert
Ehre als Prinzip sozialen Verh alten s und der Einheit der Gruppe . Auf
dieses doppelte Prinzip hebt auch Si mmeI ab:

Georg Simmel: Ehre a ls M itt el zu r E rha lt ung der Gr uppe


in ihrer Existenz und ihrer spezifischen Bedeutung
"Indem die gesellschaftliche Gruppe jedem ihrer Elemente ihre Ge-
samtehre p ro rata (anteilig, H. A.) anvertraut, gibt sie ihm ein außeror-
dentlich hohes Gut mit, und zwar ein solches, das es in der Mehrzahl
der Fälle gar nicht positiv zu erwerben, sondern das es nur nicht zu ver-
lieren braucht. Indem die Ehre des ganzen Kreises so gleichsam zum
Privatbesitz des Einzelnen und in dieser Individualisierung eben seine
Ehre wird, stellt sie eine ganz einzigartige, äußerst enge Verschmelzung
von Individual- und Sozialinteresse dar; das letztere hat hier für das
Bewusstsein des Einzelnen völlig personale Formen angenommen.
Damit ist der unermessliche Dienst klargestellt, den die Ehre der
Selbsterhaltung der Gruppe leistet: denn was ich die Ehre der letzteren
nannte, die von der Ehre des Einzelnen repräsentiert wird, das ist doch
genau angesehen nichts als der Bestand, die Einheit und der dauernde
Charakter der Gruppe. Die Ehre fordert vom Einzelnen diejenigen Ver-
haltensweisen (KoIT. H. A.), die diesen Zwecken seines Lebenskreises
dienen. Indem dies nun einerseits zu einem idealen Werte aufwächst, so
ideal und so kraftvoll zugleich, dass die Ehre mehr gilt als das Leben;
indem andererseits das Bewahren der Ehre sehr fühlbar angenehme, ihr
6 Gru ppe 25J

Verlust sehr fühlbar unangenehme Folgen in egoistischer Hinsicht hat -


bildet sie ein ganz außerordentlich festes Band zwischen dem Ganzen
der Gruppe und ihren Elementen. So ist die Ehre eines der durchgrei-
fendsten Mittel, die Gruppe in ihrer Existenz und ihrer spezifischen Be-
deutung zu erhalten." (Simmel 1898: Die Selbsterhaltung der socialen
Gruppe, S. 332f)

Ein sechstes Prinzip der Selbsterhaltung der Gruppe liegt darin, dass
sich " differenzierte Organe" (1898, S. 350) herausbilden. Sie bestehen
aus mehreren Personen, die so etwas wie eine ste llvertretenden Reprä-
sentanz sind. Simmel nennt als Beispiele den Vorstand eines Vereins,
die Priesterschaft einer religiösen Gemeinde oder das Komitee einer
flüchtigen Vereinigung. Diese Organe sind besondere Teilgruppen, die
"di e Idee" der ganzen Gruppe vertreten. Zur Selbsterhaltung der Grup-
pe tragen diese sozialen Gebilde insofern bei, als sie "beweg licher"
sind. Sie können rasch den Willen der Gruppe artikulieren und danach
auch schnell handeln. Ehe eine ganze Gruppe zu einer Entscheidung
gekommen ist, ist die Chance zu handeln vielleicht schon vertan. Hinzu
kommt, dass diese repräsentativen Organe die inneren Gegensätze, die
es in jeder Gruppe gibt, ausgleichen und den "Mangel an Sachlichkeit,
der so oft die Einheitlichkeit in den Aktionen der Masse verhindert"
(Simmel 1898, S. 339), ausgleichen. Damit ist eine weitere soziale
Funktion der repräsentativen Organe angesprochen, sie können auf ei-
nem intellektuell höheren Niveau als der Durchschnitt der Masse han-
deln. Simmel beschreibt das Problem so: " Die Gesamtaktion der Men-
ge wird in intellektueller Hinsicht immer auf einem relativ niedrigen
Niveau stehen; denn derjenige Punkt, auf den eine große Anzahl von
Individuen sich vereinigt, muss immer sehr nahe an dem Niveau des
Tiefststehenden unter ihnen liegen; und dies wiederum, weil jeder
Hochstehende hinabsteigen, aber nicht j eder Tiefstehende hinaufsteigen
kann, sodass dieser und nicht jener das Niveau angibt, das beiden ge-
meinsam sein kann." (S. 340f.)
Doch auf der anderen Seite der Medaille steht ein viel bedrohliche-
res Problem: "Wo Erregung und Äußerung von GefUhlen in Frage
steht, gilt diese Norm nicht, weil sich in einer aktuell zusammenbefind-
lichen Masse eine gewisse Kollektivnervosität erzeugt - ein Mitgeris-
sen-Werden des GefUhls, gegenseitig ausgeübte Stimulierungen - so
dass eine momentane Erhöhung der Individuen über die durchschnittli-
254 6 Gruppe

ehe Intensität ihrer Gefühle erfolgen mag." (Simmel 1898, S. 341) In


den Aktionen der Masse schrumpft das intellektuelle Potential, wäh-
rend sich die irrationalen Affekte potenz ieren.
Eine siebte Erklärung der Selbsterhaltung einer sozialen Gruppe
sieht Simmel in ihrer Form . " Hier begegnen uns zwei hauptsächliche
Möglichkeiten. Die Gruppe kann erhalten werden
1. durch möglichste Konservierung ihrer Form , durch Festigkeit
und Starrheit derselben, sodass sie andrängenden Gefahren sub-
stantiell Widerstand entgegensetzt und das Verhältnis ihrer Ele-
mente durch allen Wechsel der äußeren Umstände hindurch be-
wahrt;
2. durch möglichste Variabilität ihrer Form, sodass sie den Wechsel
der äußeren Bedingungen durch einen solchen ihrer selbst be-
antwortet und sich im Fluss erhält, sodass sie sich jeder Forde-
rung der Umstände anschmiegen kann." (Simmel 1898, S. 351)
Widerstand oder Anpassung, Abschottung oder Öffnung, Konservie-
rung oder Modernisierung, um diese Fragen geht es. Die Tendenzen in
die eine oder die andere Richtung hängen für Simmel von der Zusam-
mensetzung der Gruppe ab. Zum Beharren neigen einmal Gruppen, die
aus "d isparaten Elementen mit latenten oder offenen Gegnerschaften"
(SimmeI1898, S. 351) bestehen. Sie konservieren ihre Form, weil j ede
Irritation von außen die inneren Spannungen verstärken würde. " Des-
halb bemerken wir auch tatsächlich, dass bei ungeheuren und unver-
söhnlichen Klassengegensätzen eher Friede und Beharrlichkeit der so-
zialen Lebensformen herrscht, als bei vorhandener Annäherung, Ver-
mittlung und Mischung zwischen den Extremen der sozialen Leiter."
(5 . 353)
In dem Zusammenhang erwähnt Simmel allerdings eine zentrale äu-
ßere Erschütterung, die gerade die Tendenz zur Konservierung einer
Form verstärkt, den Krieg . Manchen Völkern dient er dazu, "die
auseinanderstrebenden und in ihrem Gleichgewicht bedrohten Ele-
mente des Staates wieder zusammenzubinden und seine Form zu er-
halten" . (Simmel 1898, S. 352 Anrn.) Simmel hat auch eine Erklä-
rung für diesen scheinbar paradoxen Effekt: " Der Krieg appelliert an
diejenigen Energien, welche den entgegengesetzten Elementen der
Gemeinschaft dennoch gemeinsam sind, und hebt diese, die vitaler
und fundamentaler Natur sind, so stark ins Bewusstsein, dass die Er-
6 Gruppe 255

schütterung hier gerade die Voraussetzung für ihre Schädlichkeit:


die Divergenz der Elemente - selbst annull iert." (Simmel 1898, S.
352 Anm.)
Zum Beharr en tendi eren aber auch Gruppen, die sich überleb t haben,
"d ie keine innere Daseinsberechtigung mehr haben". (Simmel 1898, S.
354) Der Traditionsverein, der noch immer den Sieg von anno dunne-
mai, über den die neue Völkerverständigung längst hinweggegangen
ist, feiert, wird sich ängstlic h an seine Rituale klammern. Als " das letz-
te Mittel ihrer Selbsterhaltung" gilt diesen soz ialen Foss ilien " ein äu-
ßerst strenger Absc hluss, die unbedingte Verhin derung des Zutritts
neuer Genossen." (ebd .)
Schließlich tendieren Gruppen, die sich einer Konkurrenz von außen
nicht gewachsen fühlen, zur Konservierung ihrer Form. (vgl. Simmel
1898, S. 355)
In welchen Gruppen ist die Selbsterhaltung durch die umgekehrte
Tendenz zur Geschmeidigke it, zur Anpassung und zur Öffn ung be-
dingt? Das sind sehr oft Gruppen, die innerhalb einer größeren Gesell -
schaft nur geduldet sind. Sie können ihren Bestand nur durch "vo ll-
kommenste Elastizität" wahren ; sie schlüpfen in jedes Loch und neh-
men jede Form an, die sich ihnen bietet. (vgl. Simme l 1898, S. 356)
Diese Fähigkeit, die wir heute Assi milation nennen würden, sieht Sim-
mel z. B. den Zigeunern und den Juden nachgesagt, aber im Grun de ist
es die später von ihm so beschrieben Figur des Fremdent , die uns hier
entgege ntritt : Er lässt sich auf die neue Gruppe ein, soweit das für das
eige ne Überleben notwendi g ist, aber er behält so viel Dis tanz zu ihr,
wie er für seine Integrität braucht.
Zur Flexibilität tendieren aber auch Gruppen, in denen Individualität
mög lich und sogar erwü nscht ist. Es sin d oft einzelne Individuen, die
sich durch eine Öffn ung für Neues auch neue Chancen für ihre Indivi-
dualität erhoffen. So tragen sie nach und nach neue Elemente in die
Gruppe hinein, die die Gruppe lebendig erhalten . Es sind gewissenna-
ßen dosierte Irritationen, die das Bewusstsein der Gruppe lebendig er-
halten. Mit jeder neuen Anregung gerät nämlich jede alte Selbstver-
ständlichkeit auf den Prüfstand, und mit j eder Entscheidu ng, die daraus
folgt, entsc heidet die Gruppe letztlich auch, was sie sich als Gruppe
zutraut und welchen Weg sie als Gruppe gehen will.

1 Vgl. Sinunels "Exkurs über den Fremden" in: Sinunel ( 190B): Soziologie.
256 6 Gruppe

Damit sind wir bei der letzten und achten Erklärung der Selb sterh al-
tung einer sozialen Gruppe angelangt. Die landläufige Meinung ist
leicht gene igt, " den Frieden, die Interessenharmonie , die Eintracht für
das Wesen der sozialen Selbsterhaltung anzu sehen". (Simmel 189 8, S.
36 6f.) Dieser Meinung ist Simmel nicht. Er atte stiert dem Prinzip der
"Gegensätzlichkeit" (S. 368) die grö ßere Kraft, den Bestand der Gruppe
zu gewährleisten. Ihm schei nt denn auch ein "gewisse r Rhythmus zwi-
schen Frieden und Kampf" eine bessere Erklärung der Selbsterhal-
tungstendenz zu sein. Die s deutet er nach zwei Dim ensionen : "sowohl
der Kamp f der Gruppe als ganzer gege n äußere Fe inde in seiner Alter-
nierung mit friedli chen Epochen, wie der Kampf der Konkurrenten, der
Parteien, der ent gegengesetzt en Tendenzen j eder Art neben den Tatsa-
chen der Gemeinsamkeit und der Eintracht." (S . 367)
In der einen Dim ension erinnert Simmel daran, dass " der Kampf ge-
gen eine Macht, die außerh alb der Gruppe steht, (..) dieser ihre Einheit
und die Notwendigkeit, sie unerschüttert zu bewahren, zu eindring-
lich stem Bewusstsein" bringt. (Simm el 1898, S. 36 7) Diese Ta tsach e
ist fiir Simmel von "der größte n soz iologische n Bedeutung", die für fast
jede Gruppenbildung gelte: " Die gemei nsame Ge gnerschaft gegen ei-
nen Drittel (wirkt) unter allen Umständen zusammenschließend". (ebd .)
Er fahrt fort : " Es gibt wohl kaum eine Gruppe - famili ärer, kirchli cher,
öko nomischer, polit ischer od er welcher Art immer - die dieses Kittes
ganz entbehren könnte. In reinster Wec hselwi rkung entfaltet sich hier
das Bew usstsein der vo rhandenen Einhe it und ihre praktische Stärkung
und Festigke it:' (ebd .) Das ganze geistige Wesen de s Menschen,
schreibt Simmel, sche int auf .Llnters chiedsemp findlichkeit gebaut" zu
sein. Der M ensch braucht die Erfahrung der Differenz, um sich seiner
Einheit bewusst zu werden.
Diese .Llnterschieds empfindlichkei t" gilt auch in der anderen Di-
mension: Auch innerhalb der Gruppe kann die Gegensätzlichkeit bel e-
bendes und erhaltendes Prinzip sein. Simmel denkt hier an die Konkur-
renz zw ischen Interessent en , die gerade wegen dieser Interessen in en-
ger Wechselwirkung stehen. Ne hme n wir z. B. Händl er und Käu fer. Sie
verfolgen gegensätzliche Interessen, und gerade desweg en sind sie
geha lten, eine Form der Bezi ehung z u finden und zu pflegen, die wohl
tariert ist. In der Konkurrenz der Ge gensätze werden sich be ide Seite
ihrer Individu alität inn erhalb einer als Einheit im Gegensatz defin ierten
Gruppe bewusst. Es ist das dialekti sche Prinzip von Einhe it und Diffe-
6 Gruppe 257

renz, individueller Eigenart und Alternative, Gleichheit und Gegensatz,


das die Gruppe zusammenhält. I
Für den gewalttätigen Kampf gegen einen äußeren Feind leuchtet
das unmittelbar ein. In dieser Hinsicht will ich nur nachtragen, dass der
Kampf schon beginnt, wenn eine Gruppe ihren freundlichen Spott über
"die da" ausgießt, und er ist keineswegs eingestellt, wenn man " die da"
nicht einmal einer Würdigung für Wert erachtet, und er ist leider oft
nicht zu Ende, wenn ein "Feind" liquidiert worden ist. Es ist also
höchste Vorsicht geboten, wenn dieser Mechanismus der Selbsterhal-
tung einer Gruppe wirkt! Und in der anderen Hinsicht muss beim Prin-
zip der Gegensätzlichkeit innerhalb einer Gruppe gefragt werden, ob
denn das Handeln, das aus der Gegensätzlichkeit folgt, gerecht und fair
ist. Eine wirtschaftliche Konkurrenz, in der immer nur eine Seite ge-
winnt, wird auf Dauer die Gruppe in ihrem Bestand zerstören; eine Fa-
milie, in der immer nur einer die Rolle des Guten spielen will (ersetze
ggf: "des Bösen spielen muss"), lebt am Rande des Chaos. Im Grunde
kann das Prinzip der Gegensätzlichkeit nur dann den Erhalt der Gruppe
fördern, wenn die Erfahrung der Differenz zugleich eine der sozialen
Nähe ist. Das meine ich im Sinne der wechselseitigen, funktionalen
Abhängigkeit, die sich aus dem Prinzip der Arbeitsteilung ergibt, und
in dem Sinne der wechselseitigen sozialen Achtung auf der gleichen
Ebene.
Neben diesen Erklärungen der Selbsterhaltung einer sozialen Gruppe
muss noch eine andere Frage angesprochen werden, nämlich die nach
der Rolle, die das Individuum in der Groppe spielt. Simmel hatte sie in
einem sehr frühen Aufsatz beantwortet, der den Titel "Die Ausdehnung
der Gruppe und die Ausbildung der Individualität" (1888) trägt. Dort
vertrat er die These, dass die Individua lität umso geringer ist, je enger
die Gruppe ist. Je kleiner die Gruppe ist und j e unausweichlicher die
Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern sind, umso mehr wird der
Einzelne mit seiner ganzen Person in die Gruppe eingespannt. Bei al-
lem, was er tut oder tun soll, wird das mitgedacht, was er in anderen
Rollen tut oder zu tun hat. Die kleine Käthe ist nicht nur das Kind, das

So hatte es auch schon Durkheim (vgl. Band I Kap. 3.6 ,.Mechanische und organi-
sche Solidarität", S. 106) gesagt: Wir suchen - und brauchen! - den, der uns ähn-
lich ist, aber auch den, der ganz anders ist. Letzteres hatte er so erklärt, dass uns
immer etwas fehlt, was der andere kann, und auf dem Wege der Arbeitsteilung
versichern wir uns wechselseitig unserer zuträglichen Leistungen.
258 6 Gruppe

zum dritten Mal vom Schwebebalken gefa llen ist, sondern auch das
Kind, das der Mama beim Abtrocknen zur Hand geht, den Papa mit
einer 2 im Schönschreiben erfreut und ansonsten ein pflegeleichtes
Herzchen ist Umgekehrt gilt ruf Simme l: Je größer der Kreis ist, umso
mehr Individualität ist möglich. Das hängt zum einen mit der zuneh-
menden Differenzierung zusammen; zum zweiten vervielfältigen sich
die sozialen Kreise l, und der Schnittpunkt, in dem das einzelne Indivi-
duum wegen seiner spezi fischen Biograph ie und Qualifikation steht,
deckt sich schließlich mit keinem anderen mehr; schließlich sinkt die
soziale Kontroll e in dem Maße, wie die Individuen von einem Zentrum
abrüc ken könn en .
Bei dieser Ausdehnung der Grupp e ist Simmel ein interessanter Ef~
fekt aufgefallen: " Die Individualisierung lockert das Band mit den
Nächste n, um dafür ein neues - reales und ideales - zu den Entfernte-
ren zu spinnen." (Simmel 1888, S, 55) Das sei schon in der Frühphase
der kulturellen Entwicklung der Völker zu beobachten: " In solchen
Zeiten sind die Individu en eines Stanunes so einheitlich und einander
so gleich als möglich, dagegen stehen die Stämme als Ganze einander
fremd und feindlich gegenüber ; je enger die Synthese innerhalb des
eignen Stanunes, desto strenger die Antith ese gegenüber dem fremden;
mit fortschreitender Kultur wächst die Differenzierung unter den Indi-
viduen und steigt die Annäherung an den fremden Stamm ," (ebd.)
Die Ausweitung der soz ialen Kreise, die sinkende soziale Kontrolle
und die Differenzierung der Tätigkeiten fordern eine geistige Beweg-
lichkeit, die Alternativen zum Denken und Handeln wie immer deshalb
prüft, weil damit Individu alität gesteigert werden kann. " Daher komm t
es, dass ein starke Ausbi ldung der Individualität und eine starke Wert-
schätzung derselben sich häufig mit kosmopolitischer Ges innung paart ;
dass umgekehrt die Hingabe an eine eng begrenzte soziale Gruppe bei-
des verhindert." (Sim mel 1888, S, 56) Dieser Blick über die eigene
Gruppe hinaus beweist auch den Mut, das Band zur sozialen Gruppe zu
lockern, sich auf eigene Füße zu stellen, Was das für die Verbindung
zwischen Individuum und Gruppe bedeutet, erhellt aus folgendem Satz :
" Um (..) weit sehen zu können, muss man über die Nächststehenden
hin wegblick en." (S. 57)

Auf die sich daraus ergebend en Chancen der Individualität komme ich noch ein-
mal in Kap. 8.1 "S immel: Kreuzung sozialer Kreise und individ uelles Gesetz", S.
327f., zurück.
6 Gruppe 259

Vergleichen wir, was bei GEORG SIMMEL und bei Emile Durkheim
im Vordergrund stand, dann kann man sagen: Simmel hat gezeigt, wie
die Gruppe funktioniert und wie sie sich selbst erhält. Durkheim hat
gezeigt, dass die Gruppe eine Quelle des moralischen Lebens ist und
dass von daher ein bestimmtes Gruppenprinzip fiir den Zusammenhalt
der Gesellschaft von hoher Bedeutung ist. Der Klassiker, der jetzt an-
gesprochen wird, CHARLES HORTONCOOLEY, hat ebenfalls die funktio-
nale Bedeutung der Gruppe rur die Gesellschaft vor Augen, aber er hat
eine ganz andere Gruppe vor Augen und er beschreibt sie auch nicht in
nonnativer Absicht.

6.3 Primärgruppen - ..nursery of human nature"


Der amerikanische Soziologe CHARLES H. COOLEY (1864- 1929) be-
trachtete Indidivuum und Gesellschaft als zwei Seiten einer Medaille.
Von besonderer Bedeutung für die Ausformung der sozialen Seite des
Individuums sind die sog. Primärgruppen. Darunter versteht Cooley
vor allem die Familie, dann aber auch die Gruppe der Gleichaltrigen
und die engere Gemeinde. Er bezeichnet diese Gruppen deshalb als
Primärgru ppen, weil sie "dem Individuum die früheste und komplettes-
te Erfahrun g vom sozialen Ganzen vermitteln." (Cooley 1909, S. 26f.)
Primärgruppen sind durch enge face-to-face-Beziehungen und kontinu-
ierliche Interaktion gekennzeichnet. Dadurch form en sie sowohl die
soziale Natur des Individuum s wie auch seine Ideale:

Char les Horton Cooley: Primary group


,,By primary groups I mean those characterized by intimate face-to-face
association and cooperation. They are primary in several senses, but
chiefly in that they are fundamental in forming the social nature and
ideals of the individual. The result of intimate association, psychologi-
cally, is a certarn fusion of individualities in a conunon whole, so that
one ' s very self, for many purposes at least, is the conunon and purpose
of the group. Perhaps thc simplest way of dcscribing this wholeness is
by saying that is a »we«: it involves the sort of sympathy end mutual
identification for which »wec is the natural expression. One Jives in the
feeling of the whole and finds the chief aims of his will in that feeling."
(Cooley 1909: Social organization, S. 23)
260 6 Gruppe

Im Hinbli ck auf die Gesellschaft ist die Funktion der Primärgrupp e, ein
Wir-Gefühl zu entwickeln , im Hinbl ick auf das Individu um, ihm Ideale
zu gebe n. Wenn Cool ey die Primärgruppe deshalb auch als »nursery of
hum an nature« (Cooley 1909, S. 24) bezeichn et, dann ist dieser Dop-
pelaspekt gemeint: menschli che Natur als soziale Natur.
Primärgruppen wie "die Familie, die Spielgruppe der Kinder, die
Nachbar schaft oder die Gemeinschaft der Alten sind praktisch univer-
sal. Man findet sie in allen Zeiten und auf allen Entwicklungss tufen
von Gesellschaft. Sie sind nach übereinstimmender Auffassung eine
wichtige Grund lage ruf das, was in der menschli chen Natu r und den
menschlichen Idealen als universal anzusehen ist." (Cooley 1909, S.
24) Gleichwohl fuhren die Primärgruppen in jeder Gesellschaft zu einer
besonderen Prägung. Dafür gibt Cooley als genaucr Beobachter seiner
Zeit ein Beispiel. In seinem Buch .Soclal Organization", das im Jahre
1909 erschien, schreibt er, dass die Primärgruppen natürlich " nicht un-
abhängig von der größeren Gesellschaft" sind, sondern " bis zu einem
gewissen Grade ihren Geist" reflektieren; "so wie die deutsche Familie
und die deutsche Schule in gewissem Sinne den Stempel des deutschen
Militarismus tragen." (S. 27) Insofern sind diese Primärgruppen nicht
nur die Quelle des Lebens des Individuums, sondern auch der sozialen
Institutionen.
Das kann man durchaus in einem weiteren Sinn verstehen, denn
Cooley sagt, dass unsere Vorstellungen von Liebe, Freiheit oder Ge-
rechtigkeit, die wir mit sozialen Institutionen verbinden, nicht von einer
abstrakten Philosophie her rühren, sondern im alltäglichen Leben in
den Primärgruppen entstehen. Dort sehen wir, wie "man" in dieser Ge-
sellschaft in dieser Hinsicht denkt und was " man" richtiger Weise des-
halb tun sollte. (vgl. Cooley 1909, S. 32) Es sind also Institutionen im
Sinne der sozialen Tatsachen, wie sie Durkheim beschrieben hat, die in
den Primärgruppen begründet werden. Dieser Gedanke findet sich spä-
ter auch in der Theorie des Symbolischen Interaktionismust wieder,
weshalb man auch Cooley durchaus auch als einen der geistigen Väter
dieser Theorie bezeichnen kann.
Die Beziehungen in der Primärgruppe sind nicht sachlich, sondern
intim und emotional; die einzelnen Mitglieder werden nicht in spezifi-
schen Rollen, sondern in ihrer Gesamtheit als vertraute Personen gese-

I Vgl. oben Kap. 5.5 ,,s ymbolische Interaktion", S. 210f. und 213.
6 Gruppe 26 1

hen. Deshalb haben sie auch eine ausgesprochen sozi ale Stützfunktion
für das Individuum . Dort findet es Anerkennung, auch wenn seine Leis-
tun gen nach objekti ven Kriteri en nicht ausreichend sind. Sie werden
relativ zu seinen persönli chen Fähi gkeiten gese hen. Aus der Sicht der
Gesellschaft, so hatte es ja Cooley schon betont, haben die Primärgrup-
pen die Aufgabe, die Ideale der Gesellschaft zu vermittel n, Die Primär-
gruppe kontrolliert die individuelle Entwi ck lung im Name n der Gesell-
schaft. (vgl. Thomas u. Znan iecki 1927a, S. 236 u. 242) Sie "de finiert
die Situation" d es richtigen Denk ens und Handelns durch das Verhalten
und durch die "e motionale Einmütigkeit ihrer Mitglieder." (Thomas
19 17, S. 298 u. 300) Die Primärgruppe ist durch gefühlsm äßige Solida-
rität gekennze ichnet. Deshalb ist sie auch zah lenmäßig klein und räum-
lieh eng begrenzt. Th omas gibt dazu ein schönes Beispiel: " Der polni-
sche Bauer verwendet das Wort »okol ica«, »die Nac hbarschaft rings-
um«, »soweit des Manne s Stimme reicht«, und man kann dies als die
natürl iche räumliche Grenze der Primärgrupp e betrachten, solange den
Menschen nur die Kommunikation smittel seiner Gruppe zur Ve rfüg ung
stehen." (S. 300)
Wei l die Interaktion in der Primärgruppe face- to-face erfolgt, wird
dort auch die erste Erfahrung eines Wir-Gefühls gemacht. Es ist das
Gefühl, Teil eines " moralischen Ganzen" zu sein und in Verbindung
mit dem Geist und den Gefühlen der and eren zu stehe n. (Coo ley 1909,
S. 33f.) Dieses Ge fühl wird auch dadu rch gestärkt, dass alle sich un-
au sgesproch en an gemeinsamen Zielen ori entieren, deren Gültigkeit
durch die tägliche Praxis bestätigt wird. In der Primärgruppe werden
auch die sozia len Maßstäbe entwickelt, nach dene n man wie selbstver-
ständ lich das Handeln anderer auße rhalb der eige nen Gruppe beurteilt.
Auch in dieser Hinsicht ist die Primärgruppe nicht nur eine Pflanzschu -
le der mensch lichen Na tur, sondern auch verlässliche Einrichtung der
gesel lschaftlichen Kontrolle.
Die Formuli erun g .Primärgruppe" wec kt das soziologische Interes-
se, was denn .Sekundärgruppen'' sind. Schäfers weis t darau f hin , dass
sich dieser Begriff erst in einem posthum erschi enenen Beitrag Coo leys
findet. (Sch äfers 1980a, S. 80) Dort werden sekundäre Grupp en allge-
mein mit gesellschaftlichen Systemen gleichgesetzt. Vielleicht kann
man sie so unterschei den : Primäre Gruppen umfassen den ganz en Men-
schen und sind geprägt d urch ein Ge fühl der engen persönlich en Ver-
bundenheit, wä hrend sekundäre Gruppen den Menschen nur unter ei-
262 6 Gruppe

nern spezi fischen Interesse beanspruch en . In der Pri märgruppe geht es


von Anfa ng an um die ganze Person, in der Seku ndärgru pp e zunächst
nur um di e Roll e, die sie spie lt. Dass sich di e erste Grup pe durcha us in
die Richtung einer sachlichen Bezi ehung bis zur Entfrem du ng entw i-
ekeln kann, ist ebenso wenig ausgeschlossen wie die Entwicklung der
zweiten Gruppe hin zu intimen, solidarischen Beziehungen .
D ie erste Entwicklung hat übrigens sc hon WILLIAM I. THOMAS
kommen sehen, als er befürchtete, dass in der ration alen Modeme die
solidarische Kraft der Primärgrup pen geschwächt werde und kei nen
Halt gegen die w idersprüchlic hen Werte und No rme n der ande ren Be-
zugsgruppen, in d ie das Individuum eingespannt ist, me hr biete. Die
zweite Entwic klung stellen wi r beispielsweise in Freundschaften oder
auch Liebesbeziehungen fest. Auc h die wenigen sozio logisc hen Unte r-
such ungen zu Krieg und Militär zeigen, dass Erfo lge von Kampfgru p-
pen umso größer sind, je mehr sie nach d er Art einer Primärgrupp e
strukturiert sind.

6.4 Peer group - Sozialisation auf der Schwelle zur Gesellscbaft


»Peers« bed eutet im Eng lisc hen »Gleiche«, sei es von Geburt ode r von
Rang. In der Soz iologie werden dam it Altersgleiche, und zwar vor-
nehmlich Kinder und Jugendlich e, und Gleiche im Sta tus bezeichnet.
Ich werde sie nur im eingeschränkten ersten Sinne vors te llen. Die peer
gro ups haben einen wichtigen Einfluss auf die Sozialisation, in einer
bestimm ten Lebensphase sogar den entschei denden Einfluss. Wie ich
obe n im Kapitel über Sozialisation gezeigt habe , ist der Eintritt des in-
dividuums in die Gesellscha ft probl ematisch fü r das Individ uum und
für die Gesellsc haft zug leich. Jenes muss lern en, sich in der Gesell-
scha ft zurech t zu finden und sic h " richtig" z u verhalten; jene muss wis-
sen, woran sie mi t den ne uen Mitgli edern ist. Das Problem beginnt na-
türlic h mit der Geb urt jedes neuen Ind ividuum s, wes halb die Sozi alisa-
tio n in der Familie auch so entscheidend ist, und es wiederholt sich,
wenn das Kind d ie ersten Schritte aus der kleinen Familie tut. Auf der
Schwelle zur größeren Gesellschaft kommt den peer gro ups als A gen-
ten der Sozialisatio n, als Raum des Erlemens von Roll en und als Mittel,
seine Identität zu find en, eine herausragende Bedeut ung zu.
6 Gruppe 263

Wenn über peer groups gesprochen wird, denkt man meist an Ju-
gendliche. Doch selbstverständlich gibt es auch peer groups von Kin-
dern, und sie haben in den gerade genannten drei Hinsichten eine ähn-
liche Funktion wie die jugendlichen Gruppen, mit dem Unterschied
allerdings, dass hier die Eltern noch steuernd eingreifen (können) . Das
ist die These von DAVID RJ ESMAN. Nach seiner Meinung besteht die
wichtigste Funktion der kindlichen peer group in der Zeit der Außenlei-
tung, in der wir uns seiner Meinung nach heute befinden, darin, ,Jeden
aufs Normalmaß zurechtzustutzen". (Riesman 1950, S. 85) Das gelingt
ihr auch, weil die Eltern die Anpassung ihrer Sprösslinge an die Stan-
dards. selbst forcieren und
. .
die Gruppe über Mittel verfügt, dies auch zu
erzwingen.
Betrachten wir zuerst die Rolle der Eltern, die Riesman zwar fllr
Amerika, und zwar vor einem halben Jahrh undert, so beschrieben hat,
die Ihnen aber sicher ganz vertraut ist. Riesman stellt fest, dass die EI·
tern der Mitte lschicht (wo sich die Außenleitung besonders deutlich
zeigt) mit großer Ungeduld - wenn auch unbewu sst - Druck auf das
soziale Leben ihrer Kinder ausüben: "Bei den Zusammenkünften der
Drei- bis Vierj ährigen sind heute die Eltern die Regisseure, genau wie
die Erwachsenen in früheren Zeiten die Heiratsvermittler waren."
(Riesman 1950, S. 84) Mit dem Terminkal ender in der Hand transpor-
tieren die Mütter ihre Kinder zu Aktivitäten, die als wichtig und wert-
voll gelten. " Das Kind gerät so unter seine geradezu wissenschaftlich
einwandfrei sozial gleichrangigen und passendsten Altersgenossen."
(ebd.) Franz Josef Degenhardt, der soziologische Bänkelsänger, hatte es
so im Ohr: "S piel nicht mit den Schmuddelkindern, ... geh doch in die
Oberstadt ...". Von da an dikti ert die peer group, und die Eltern sind
"ängstlich darauf bedacht, dass sich das Kind mit seinen Altersgenos-
sen versteht, seine »Anpassung« ist deshalb ihre erste Sorge." (Riesman
1950, S. 84) Erst wenn ihr Kind von der Gruppe voll akzeptiert ist, sind
sie beruhig t. Die erste Standardisierung ist erfolgreich abgeschlosse n.
Da die sozialen Kontakte immer in die gleiche Richtu ng gehen, ist auch
zu erwart en, dass die Anpassung weitergeht.
An dieser Stelle bringt Riesman die Mittel ins Spiel, mit denen die
peer group schon bei den Kindern Standardisierung erzwingt. Sie be-
stehen in eindeutigen Beurteilungen und sozialem Ausschluss. Beson-
ders sensibel reagiert die peer group, wenn jemand sich etwas einbildet,
Gefü hlsregunge n zeigt oder durch außergewöhnliche Tugenden oder
264 6 Gruppe

Untugenden auffäll t. (Riesman 1950, S. 85) Sofort greift einer auf ei-
nen Standardsatz von Abwertungen (Heulsuse, Mammakind) zurück,
und alle anderen stimmen ein. Die Konsequenz ist klar: Der Abgestraf-
te läuft weg oder die Gruppe lässt ihn nich t mehr mitmachen. Da auch
von einem Kind nicht erwart et werden kann, sich in splendid isolation
groß zu fühlen, wird es dieses Risiko unter allen Umständen meiden. Es
passt sich an, vor allem an die Geschmacksurteile der Gruppe. Wenn
im Fernsehen cereals in weißer Schokolade angesagt sind, hat die Mut-
ter keine Chance, ihre gesunde Vollkomschnitte loszuwerden. Die Pri-
märgruppe der peers im Kindesalter übt die flexible Umstellung auf
den .Zeitgeist" (und den entsprechenden Konsum!) wirkungsvo ll ein.
Was Riesman beschr ieben hat, entspricht unserem Augenschein;
systematische Untersuchungen über die peer group von kleinen Kin-
dern gibt es nicht. Das beklagt auch L OTHAR KRAp PMANN, der die For-
schungslage Anfan g der 90er Jahre aufgearbeitet hat. Etw as weniger
schlecht sieht die empirische Fundienmg in der mittleren Kindheit, also
zwisc hen sechs und zwö lf, aus. Die Sozialisation in diesen peer groups
ist von Prozessen wechselseitigen Aush andeins geprägt. Zwar bringen
die Kinder Vorstellungen und Verhaltensformen mit, die sie in ihrer
Familie kennen gelernt haben, aber in der Grupp e sehen sie sich mit
Alternativen konfrontiert. Um miteinander auszukommen, müssen sie
in eine Verhand lung eintreten, was forta n gelten soll. Das setzt voraus,
dass sie sieh in die Perspektive des anderen hineinversetzen können.
Wie das erfolgt, hat GEORGE H ERBERT M EAD am Beispiel des game
gezeigt: Um erfolgreich zus ammen spielen zu können, muss man die
Rollen aller anderen verstehen und ihre Perspektiven mit der eigenen
verschränken können. I Das setzt zweitens voraus, dass sich die Kinder
im Prinzip als Gleiche betrachten. Nun fallt genervten Erwachsenen
nat ürlich zunächst einm al auf, dass sich die Kinder zanken und keines-
wegs auf der gleichen Ebene miteinander umgehen. Dennoch ist
Gleichheit das "regulative Prinzip" der Kindergrup pe:

Lother Krappmann: Regulation in der Kindergruppe


"Diese Sozialwelt der Kinder bringt ein neues Moment in den Aufbau
einer autonomen, sozial handlungsfähigen Persönlichkeitsstruktur. denn
der sozialisatorische Beitrag der Kinderinteraktion kann sich nicht auf
Erfahrung, Vorbild und Belehrung stützen, sondern in der Kinderwelt

Vgl. oben Kap . 5.3 ..Intera ktion - Verschränkung der Perspekti ven" , S. 200.
6 Gruppe 265

konfrontieren sich relativ Gleiche mit ihren Erwartungen und Absichten


und stehen vor der Aufgabe, ihre Sichtweisen und Vorhaben wechsel-
seitig zu koordinieren. (...) In ihren Bemühungen um eine gemeinsame
Handlungslinie erfahren die Kinder, welche Vorgehensweisen, Behaup-
tungen, Beweise, Regeln in diesem Prozess der Situationsdefinition und
Handlungskoordination taugen." (Krappmann 199 1: Sozialisation in der
Gruppe der Gleichaltrigen, S. 356)

Es ist also die strukturierte Situation, die den Kindern ganz neue Leis-
tungen abverlangt und neue Kompetenzen fördert . Erwachsene greifen
gerne helfend in diesen Prozess ein, weil sie meinen, sie würden ihrem
Kind dann schneller zur Kompetenz personaler Verständigung und Ko-
operation verhel fen. Doch im Grunde stören sie den Prozess der .Ko-
Konstruktion", wie es j emand einmal genannt hat. (zit. nach Krapp-
mann 1991, S. 357) Mead hat sich einmal gewundert, mit welchem
Eifer Kinder über Regeln streiten. (Mead 1934, S. 194) Hier liegt die
Begründung: In der Verhandlung von Gleichen erfinden alle gernein-
sam etwas und legen fest, woran sie sich schließlich auch alle halten
wollen. Deshalb akzepti ert die Kindergruppe auch keinen, der übertrie-
ben streitsüchtig ist oder die anderen beherrschen will. Nicht in diesem
Zusammenhang, sondern nur am Rande m öchte ich noch hinz ufügen,
dass die Kindergruppe auffällig oft gleichgeschlechtlich organisiert ist.
Wenden wir uns jetzt der peer group der Jugen dlichen zu.I Ich habe
einga ngs an die Theorie von TALCOTT PARSONS erinnert, der seine So-
zialisationstheorie vor dem Hintergrund einer Theorie der sozialen
Ordnung entwickelt hat. Was die Gesellschaft nach dieser Theorie vom
Individuum mit Fug und Recht erwarten kann, hat Parsons mit der
Formulierung der alternative n Wertorientierungen des Handeins (xpat-
tern variables«) definiert.z Vor allem die Orientierung an einem Kollek-
tiv (statt Selbstorientierung) und die Orientierung an universellen, ge-
sellschaftlichen Werten (statt an partikularen, nur für eine einzel ne
Gruppe geltenden) sind die Orientierungen, die dem Individuum beim
Übergang in die Gesellschaft abverlangt werden. Vor dem Hintergrund

Da dieses Thema in der Psychologie und Soziologie der Jugend eine zentrale
Rolle spielt, verweise ich auf Abels (1993): Jugend vor der Modeme. Dort werden
die wichtigsten psychologischen und soziologischen Theorien des 20. Jahrhun-
derts behandelt. Eiligen soziologischen Lesern empfehle ich als Kurzfassung
Abels (2000): Die »Jugendc der Soziologie.
2 Vgl. oben Kap. 4.3 •Alternative Wertorientierungen des Handelns", S. 153·157.
266 6 Gruppe

dieser Grundannahmen der strukturfunkt ionalistischen Gese llschafts -


theori e hat der israelische Soziologe SAMUEL N. E ISENSTADT ("'1923)
gefragt, welche Funktion der Gruppe der Gleichaltrigen in diesem Zu-
sammenhang zukommt. Diese Frage behandelt er in dem Buch .Prom
generation to generaüon'' (1956), das den bezeichnenden Untertitel
trägt: .Age groups and social structure".
Eisenstadt sieht wie Parsons den Übergang von der Familie zur Ge-
sellschaft als problematisch an: "Dieser Überga ng verlangt, dass das
Individuum nach unive rsalistische n Kriterien handeln lernt, das heißt
die Auswahl seiner Objekte, das Verhalten und Verhaltenserwartungen
ihnen gegenübe r nach generalisierten, universalistischen Standards aus-
zuric hten, ohne Bezug auf seine partikularistischen Eigenheiten." (Ei-
senstadt 1956, S. 39) Diese neue Art der Interaktion mit anderen Indi-
viduen erlernt und erprobt das Kind in der peer group. Aus der Sicht
der Gese llschaft erfilllt die peer group in allen Gesellschaften die Auf-
gabe der Sozialisation, indem sie auf die sozialen Rollen in der Gese ll-
schaft vorbereitet.
Die Sozialisation in der peer group ist allerdings durchaus wider-
sprüch lich, denn "teilwe ise versuchen diese Gruppen zur Abwehr ge-
gen die erwarteten zukün ftigen Rollen andere Formen von Beziehun-
gen aufrechtzue rhalten als die für die Zukunft erwarte ten. And ererseits
existiere n jedoch innerhalb dieser Gruppen bereits - latent oder mani-
fest - Orientie rungen auf diese zukün ftigen Roll en hin. (...) Diese bei-
den Attitüden - Abwehr gegen zukünftige Rollen und die Orientierung
an ihnen - finden sich in allen solchen Altersgruppen und bilden einige
ihrer Hauptkomponenten." (Eisenstadt 1956, S. 4 1)Aus dieser Perspek-
tive sind peer gro ups also funktional und funktional notw endig für die
Gese llschaft und tragen zur Kontinuität des sozialen Systems bei.
Das war die Perspektive der Gesellschaft. Wie sieht es aus der Sicht
des Individuums aus? Es liegt auf der Hand, dass der Übergang von
emotionalen Beziehun gsfonnen, die in der Fam ilie galten, zu sachli-
chen Formen des Rollenhandelns im Sozialsystem auch emotional be-
lastet. Das Kind, noch mehr aber der Heranwachsende, muss sich beim
Erlernen neuer Rollen, die in der größe ren Gesellschaft gelten, in ge-
wisser Weise von den Mustern, die in der Fami lie angemessen sind,
distanzieren. Der Übergang von partikularistischen zu universalisti-
sehen Beziehungen gefährdet die emotionale Sicherheit. Es müssen
neue Dispositionen entwickelt werden, die auch den emotionalen Be-
6 Gruppe 267

dürfnissen gerec ht werde n. Genau das leistet die peer group: " Unter
allen Arte n von Beziehungen genügen wahrscheinlic h nur die mit Al-
tersgenossen, mit Mitgliedern alters homo gener Grupp en, dies en Typen
von Bedürfnisdisposi tionen. Diese Beziehungen sind (...) zugesc hrie-
ben, während ihre Diffusität durch die Diffusität von Altersdefinitionen
»garantiert« wird. Sie haben auch eine inhärente Te ndenz zu r Solidari-
tät (a) wegen einer gemeinsamen Definition von Lebensra um und
Schick sal und (b) wegen gemeinsamer emotiona ler Span nungen und
Erfahrungen wäh rend der Zeit des Übergangs und emotionaler Belas-
tungen." (Eisenstadt 1956, S. 40)
>- Aus der Sic ht des Individuums hat die peer group die Funktion ,
den Übergang von emotionalen zu sachlichen Bezieh ungen zu
erleichtern. Weniger soz iologisc h kann man aus der Sicht der
Jugendlichen auch sagen: Geteiltes Leid ist halbes Leid .
>- Aus der Sicht der Gesell schaft ist die Funktion der peer group,
die Motiv ation zur Zustimmu ng zu den Rollen der Erwachse-
nengesellschaft herzustellen.
Dafür gew ährt sie einen Übergangsraum, in dem emotionale Bedürfnis-
se noch befriedigt werden und neue, sachliche Beziehu ngen ohne direk-
te negative Sanktion gelernt werden können . Diese Mischu ng aus emo-
tiona ler Zuneigung und sachlicher Distanz ist auch noch in einer ande-
ren Hinsicht förderli ch: Die peer group im Jugendalter ist praktisch der
erste soziale Raum, in dem der soziale Status des Individuums nicht
mehr zugesch rieben ist, sondern von der persönlichen Leistung ab-
hängt. Der Jugend liche bring t bei seiner Annähe rung an die Clique im
Grunde nur sein Alter mit; wie er letztlich angesehen wird und wo man
ihn in der Strukt ur der Gruppe plaziert, das hängt ganz wesentlich von
seinen Anstrengungen ab. Er muss sich seinen Stat us hart erarbeiten .
Zwar bringt die Gruppe de r Gleichaltrigen einiges Verständnis mit,
weil sich alle in der gleichen Phase e motionaler, sexueller und sozialer
Entwicklung befinden, auf der anderen Seite ist die Gruppe nicht zim-
perlich mit der Definition von gut und böse, richtig und falsch. Der
soziale Stat us verlan gt, sich ständig de r Zustimmu ng durch die andere n
zu versichern l
268 6 Gruppe

In diese Richtung zielt auch die Theorie von ERIK H. E RIKSON. der
die Funktio n der peer group im Juge ndalter darin sieht, die Identität des
Jugendlichen zu stützen. Das werde ich noch ausführlic h behandeln. I
Ich will nur kurz vorgrei fen. Der Jugendliche ist nicht Fisch und nicht
Fleisch und so empfindet er auch. Er will ständig herausfinden, wer er
ist und wer er nicht ist, wie er aussieht und wie ihn die anderen anse-
hen. (vgl. Erikso n 195Gb, S. 106) Unsicher in seinem Selbstgefühl
sucht er nach Anerkennung der ganze n Person . Da er dabei ist, sich neu
zu positionieren, löst er sich von den Eltern ab, deren Urteil von heute
auf morgen nichts mehr gilt. Das geschieht oft in großen Gesten und in
dramatischen Ause inandersetzungen, was aber nicht darüber hinwe g-
täuschen sollte, dass die Jugendlichen diese Ablösung selbst auch als
Risiko erleben.
In dieser Phase ist die Gruppe der Gleichaltrigen besonders wichtig.
Doch alle sind sie in der gleichen Situatio n, soda ss sich manches sub-
jektive Problem schon durch die Erfahrun g, dass alle anderen genau die
gleichen Problem e (meist mit den Elte rn) haben, aufschaukelt. Im
Zweifel, wer man wirklich ist und wie es weitergehe n soll, entscheidet
man sich für eine bestimmte Meinung oder Verhalt cnsfonn , die man
heute total vertritt und vielleicht morgen schon wieder vergessen hat.
Dahinter steckt der Vers uch, eine einmal entworfene Identität zusam-
menzuhalten. Die anderen in der Grup pe bilden dafür gewissermaßen
den Chor, der diesen Entwu rf absegnet und stützt. Das erfolgt in der
konunentierenden Form von Kritik ("F ind ich doofl" ) und Lob ("E cht
cool!" ). Die peer group ist in diesem Alter die bei weitem wichtigste
Bezugsgruppe. Gemeinsam versichern sich die Jugendlichen ihrer Iden-
titätsentwürfe und erwarten, dass sich alle an die Ideale halten, die da-
hinter stehen. Deshalb ist die Treue in dieser Phase auch so wichtig.
(vgl. Erikson 1961, S. 108) Es ist natürlich auch die Treue im emotio-
nalen Sinne oder gar romantischen Sinne .
Genauso wichtig ist aber die durch Reden und Handeln zu belegende
Treue, die fest zu gemeinsamen Weltentwü rfen steht. Das erklärt auch,
warum Jugend liche oft totalitären Ideen anhängen: Sie erklären alles,
grenzen richtig und falsch klar ab und sie geben gemeinsamem Han-
deln die Richtun g vor. Das hat zur Folge, das s mit dem erwachenden
.Wir-Gefühl'' in der Gruppe fast immer eine Abgrenzung zu "den ande-

1 Vgl. Kap. 8.6 ..Identität im Lebenszyklus" , S. 369ff..


6 Gruppe 269

ren" verbunden ist! Die Solidarität, die sie sich gegenseitig geben , hat
eine gefährliche Rückseite: die Verachtung aller ander en. Dabei ist die
harmlo seste Form der Trennung zwischen »in group« und »o ut group «
ein bestimmtes modisches Out fit.
Nach der Theorie von Erikson findet der Jugendlich e seine soziale
Identität ganz wesentlich in der peer group. Darüber besteht in der So-
ziologie Konsens. Strittig ist aber, ob es eine soziale Identität ist, die
auch der Gesellschaft nützt. Diese Frage hat in der Diskussion über die
Funktion der peer group von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt,
und man che Soziologen haben die peer group auch als Raum betrach-
tet, in den Jugendliche ausweichen oder in dem sie gar den Widerstand
gegen diese Gesellschaft proben. In vielen Jugenduntersuchungen
spielte diese Beflirchtun g eine zentrale Rolle und manchen Eltern ist
auch heute noch der Einnuss der Clique nicht ganz geheu er. Dass die
Gruppe der Gleichaltrigen abweich endes Verhalten fördern kann , ist
auch gar nicht zu leugnen. Doch auch hier mus s man wieder sagen,
dass Individuen und soziale Gebild e nicht im gesellschaftsfreien Raum
existieren. Wo die peer group einen anderen Zugang zu einer anderen
gesellschaftl ichen Ordnung vermittelt, gibt es dafür Gründe. Sie liegen
sicher oft genug auf der Seite der Individuen, aber genau so oft sicher
auch auf der Seite der Gesellschaft.
Von den vielen, höchst spannenden einschlägige n Studien zu diesem
Problem will ich kurz die klassische Studie "The gang" von FREDERIC
M. THRASHER (1927) ansprechen. Er hat in Chicago mehr als tausend
gangs, also Jugendbanden, besucht, befragt und auf andere Weise be-
obachtet und ist zu dem Schluss gekommen, dass die gang die Funkti on
hat, dem Jugend lichen einen soz ialen Status zu verschaffen, den er auf
andere Weise - z. B. mit legalen Mitteln - nicht erreichen kann. Da es
sich um Jugendl iche aus Einwandererfam ilien handelte, standen sie
zwischen den Werten, die ihre Fami lie noch verkörperte, und den Wer-
ten und Nonnen der amerikani schen Gesellschaft , die sich selbst in
heftigem Wand el befand. In diesem Widerspruch war die gang der Ort,
wo für alle Beteiligten die Dinge draußen richtig "definiert" wurden,
wo vor allem aber eine spezifische Moral der Gruppe selbst festgelegt
wurde. (vgl. Thrasher 1927a, S. 930)
In jeder gang gibt es eine große Übereinstimmung, was Geflihle,
Handlungsmuster und Einstellungen angeht. Es herrscht so etwas wie
ein »esprit de corps«, in dem sich alle eins fühlen und dem sie sich be-
270 6 Gruppe

dingungslos unterwerfen. Jede gang weist eine bestimmte Handlun gs-


struktur auf, in der jedes Mitglied die Nisc he besetzt, die die Gruppe
ihm bestimmt hat. (Thrasher 1927b, S. 40) Es ist wichtig, in der Hierar-
chie der Gruppe einen genau definierten Status zu erreichen. Thrasher
erklärt es mit der These von WILLIAM I. THOMAS, dass es zu den
Grundbedürfni ssen des Menschen gehört, wahrgenommen zu werden.
Deshalb ist ,jedes Anseh en in der Gruppe", auch wenn es gerin g ist,
"b esse r als gar keines, und es besteht imme r die Möglichk eit, seinen
Status zu verbessern. Für den Jungen bedeutet die Teilnahme an den
Aktivitäten der gang alles. Sie bestimmt nicht nur, wo er in der einzi-
gen Gesellsc haft, um die es ihm überhaupt geht, sozial steht, sondern
sie ist auch die Grundlage seiner Selbsteinschätzung." (5. 41f.)
Was Riesman später generell über die Bedeu tung der peer group ge-
sagt hat, trifft für die gang in besonderer Weise zu: "Die Gruppe der
Altersgenossen ist das Maß aller Dinge. Das Individuum hat weni g
Schutzw älle, die die Gruppe nicht niederreißen könnte." (Riesman
1950, S. 95) Thrasher erklärt diese Bedeutun g so: Der Junge lebt ganz
in der Gegenwart , und in der nimmt er sich als Teil der Bande wahr .
Die gang ist seine soz iale Welt, alles andere ist nachrangig bis völlig
unwichtig. Es gibt aber noch eine zwe ite Erklärung, die in der sozialen
Kontrolle in der Gruppe besteht. Wer sich falsch verhält, wird verprü-
gelt ode r mit Worten höhnisch fertig gemacht; wer im Ge ist der gang
handelt, kann mit Applaus rechn en. Interessant scheint mir aber ein
anderer, subtilerer Mecha nismus zu sein, den Thrasher Rapport nennt.
Darun ter versteht er die ständige symbolische Demonstration der Zu-
gehörigkei t z. 8. in Fonn der Kleidung, der Sprache ode r auch be-
stimmter Taten . (vgl. Thrasher 1927a, S. 933) Eine andere Fonn des
Rapp orts scheint mir aber genauso wichtig, die eher beiläufige Abfrage,
was man so getan und erlebt hat. So fangen die allermeisten Begrüßun -
gen zwisc hen Jugendliche n an. Es sind unb ewusste Priifun gen der Zu-
sammengehörigkeit.
Hier schließt sich dann der Kreis: Der Junge ist mit der Aufnahme in
die gang aus der Gesellschaft ausgetreten; mit der symbolischen De-
monstra tion, dass er ganz zu der gang steht, zeigt er auch, dass er in die
andere Gesellschaft nicht eintreten will . Die Kontrolle durch die Grup-
pe stellt sicher, dass das auch nicht passiert .
6 Gruppe 271

6.5 Wir und andere: Ethnozentrismus und Anßenseiter


Ein Bewusstsein von uns selbst bekommen wir nur, indem wir uns aus
der Sicht der anderen sehen . Mit Blick auf das Verhältnis zwischen uns
und den anderen will ich diese zutreffende These von GEORGE HER-
SERT MEADI schon vorab etwas einschränken: Selbstbewusstsein aus
der Sicht der anderen heißt keineswegs, dass man jedes Urteil eines
jeden anderen akzeptiert, im Gegenteil: Ganz vielen bestreitet man un-
bewusst oder bewusst, dass sie eine solche positive Funktion ftir unser
Selbstbewusstsein überhaupt haben können. Im Klartext: Wir unter-
scheiden genau zwischen denen, die "s o sind, wie wir", und solchen,
die "eben anders" sind. Mit den ersten identifizieren wir uns, die zwei-
ten lehnen wir ab oder halten sie zumindest nicht filr gleichwertig. Das
ist keine Frage der nat ürlichen Unterschiede, sondern Produkt der ge-
sellschaftlichen Einschätz ungen, die wir lernen und an denen wir stän-
dig mitwirken. Diese Einschätzungen entstehen vor allem in Gruppen ,
denen wir angehören oder denen wir uns verbunden fühle n, und dort
werden sie unmerklich auch bestärkt.
Der türkis ch-amerikanische Sozialpsychologe MUZAFER SHERIF hat
Anfang der 50er Jahre in den USA ein berühmtes Experiment- durch-
geführt , bei dem herau skam, dass Einstellungen in erheblichem Maße
mit der Zugehörigkei t zu einer Gruppe variieren. Sherif lud 24 Jungen
im Alter von 12 Jahren, die sich bis dahin nicht gekannt hatten und alle
einen ähnlichen sozialen und Bildungshintergrund aufwiesen, in ein
Ferien lager ein:
• In der ersten Phase kam es zu spontanen Zusamm enschlüssen,
Freundschaften und Abneigunge n. Diese Beziehungen wurden in
einem soziometrischen Tests festgestellt.
• In der zweiten Phase teilte der Versuchsleiter die Jungen in zwei
Gruppen auf, und zwar brachte er mög lichst Jungen zusammen,
die - nach dem soziometrischen Test - einander nicht besonders

1 VgJ. Kap. 8.2 "Identität - sich mit den Augen des anderen sehen", S. 335f..
2 Eine gute Darstellung des Experiments findet sich bei Hofstätter 1954, S. 309f.,
auf den ich mich auch beziehe.
3 In solchen Tests, die gerne in der Schule, aber auch in Arbeitsteams oder in Grup-
pentherapien durchgeführt werden, geht es z. B. um Fragen wie ,,Neben wem
möchtest Du gerne sitzen?", ,,M:it wem würdest Du gerne ein paar Tage zusam-
men Urlaub machen?", " Wer, glaubst Du, hätte Verständnis für dich, wenn du ihn
fragen würdest? oder " Wer trägt viel zu einem guten Arbeitsklima bei?".
272 6 Gruppe

gut leiden konnten. Das Sherif man unter der Annahme, dass
Abneigung eine schwierige Voraussetzung für eine Gruppenbil-
dung ist. Jede der beiden neugebildeten Gruppen lebte in den
nächsten fünf Tagen ruf sich. Schon in dieser kurzen Zeit entwi-
ckelte sich eine deutliche Struktur, d. h. es gab Führer und Mit-
läufer und andere Rollen. Jede Gruppe entwickelte einen esprit
de corps, d. h. ein Wir-Geruht. Der soziometrische Test ergab,
dass nunmehr 90% der positiven Wahlen auf Mitglieder der ei-
genen Gruppe entfielen.
• In der dritten Phase wurden die beiden Gruppen wiederholt in
Situationen gebracht, in denen sie als Konkurrenten gegeneinan-
der antraten. Dabei zeigten sich ein starker Gruppenzusammen-
halt und eine auffällige Feindseligkeit gegen die andere Gruppe.
• In der vierten Phase versuchten die Leiter des Experiments die
beiden Gruppen wieder zu reintegrieren, indem sie eine Notsi-
tuation konstruierten, die beide betraf. Die Wasserzufuhr zum
Ferienlager ging kaputt und konnte nur repariert werden, indem
alle anpackten. Außerdem setzten sie einen Wettkarnpf mit einer
Gruppe außerhalb des Lagers an. Nach beiden Aktionen zeigte
der soziometrische Test, dass die frühere Unterscheidung zwi-
schen Eigen- und Fremdgruppe fast völlig verschwunden war.
An diesem Experiment wird deutlich, dass unsere Einstellung zu ande-
ren ganz wesentlich von der Gruppe abhängt, der wir uns selbst zu-
rechnen. Dies war schon WILLIAM G. SUMNER aufgefallen, der in sei-
nem Buch über ,,Folkways" (1906) festgestellt hatte, dass "durch Ge-
wohnheit und Brauch (...) auf jedes Individuum ein starker Druck aus-
geübt" wird. (Sumner 1906, sec. 2)1 Diese "soziale Kraft" geht vor al-
lem von der Gruppe aus, in der wir leben. Auffällig ist, dass die Anpas-
sung an die Gruppe fast immer mit einer Ausgrenzung anderer Gruppen
einhergeht. Die Individuen unterscheiden genau zwischen " ihrer"
Gruppe und der der "anderen" . Sumner hat die eigene Gruppe als »in
group« und die Fremdgruppe als »out group« bezeichnet. (sec. I3 f.)
Die Eigengruppe wird aufgewertet, die Fremdgruppe abgewertet.
Diese meist unbewusste Einstellung hat er Ethnozen trismus genannt:
Die eigene Gruppe gilt als der Nabel der Welt und als Maßstab des
richtigen Verhaltens. Man " rühmt sich seiner Überlegenheit, übertreibt

1 Vgl. Band 1, Kap. 4.2 .Folkways, Mores, Institutions", S. 146.


6 Gruppe 273

die eigenen Vorzüge und blickt mit Verachtung auf Außenstehende


herab." (Sumner 1906, sec. 15)
Solche ethnozentrischen Vorstellungen finden wir in vielen drasti-
sehen Bezeichnungen, die die Völker füreinander haben. Das Mindeste
ist, sie als »Barbaren« zu bezeichnen, wie die Griechen den Rest der
Welt bezeichneten, der eben keine richtige Sprache hatte, sondern nur
»brabbelte«. Ethnozentrismus zeigt sich vor allem in archaischen
Schöpfungsmythen. Der Kulturanthropologe MELVILLE J. HERSKOVITS
hat von einem schönen Mythos gehört, mit dem sich angeblich! die
Cherokee-Indianer, die ursprünglich in Tennessee wohnten, ihre »na-
türliche« Überlegenheit erklären. Er geht so: Der Schöpfer der Welt
krönte sein Werk, indem er den Menschen schuf. Das tat er, indem er
einen Teig anrührte und einen Backofen anheizte. Dann formte er drei
menschliche Figuren und schob sie in den Ofen. Ungeduldig, wie er
war, schaute er nach kurzer Zeit nach, was aus den Figuren geworden
war. Als er die erste herauszog, war er ganz enttäuscht, denn sie war
noch nicht ganz gar und ziemlich bleich. Doch sie war nun einmal so,
wie sie war, und so entstanden die Bleichgesichter. Wieder nach einer
Weile zog er die zweite Figur heraus, und die war wunderschön. Sie
hatte eine kräftige braune Farbe, und der Schöpfer konnte sich gar nicht
satt genug sehen an ihr. Darüber vergaß er die dritte Figur. Als er sich
mit Schrecken daran erinnerte, war sie schon ganz verkohlt. (vgl.
Herskovits 1947, S. 68f.) Von wem die Cherokee sich selbst ableiten,
bedarf keiner Frage.
SJGMUND FREUD hat einige weniger krasse Differenzierungen vor
Augen : ,,Jedesmal, wenn sich zwei Familien dureh Ehesch ließung ver-
binden, hält sich jede von ihnen für die bessere oder vornehmere auf
Kosten der anderen. Von zwei benachbarten Städten wird jede zur

Ich formuliere diesmal bewusst vorsichtig, um vor einem typischen Anfängerfeh-


ler zu warnen, der mir passiert ist. Diesen Mythos habe ich schon am Anfang mei-
nes Studiums bei dem auch in der amerikanischen Kulturanthropologie bewander-
ten Nestor der deutschen Sozialpsychologie Peter R. Hofstätter (1959, S. 381f.)
gelesen und ohne Bedenken immer wieder referiert. Als dann nach Erscheinen der
Einführung eine freundliche Kollegin Zweifel anmeldete, habe ich das Buch von
Herskovits aufgetrieben und nachgeschaut. Und siehe da, es waren nicht die Iro-
kesen, sondern die Cherokee. Außerdem hatte Herskovits angemerkt, dass ein be1-
giseher Kulturanthropologe ihm diesen Mythos erzählt habe. Ich verlasse mich
j etzt auf lI erskovits, und wenn es diesen Mythos doch nicht geben sollte, ist er
zumindest gut erfunden.
274 6 Gruppe

missgünstigen Konkurrentin der anderen; jedes Kant önli sieht gering-


schätzig auf das andere herab. Nächstverwandte Völkerstämme stoßen
einander ab." (Freud 1921, S. 95) Später hat Freud diesem letzteren
Phänomen, "dass gerade benachbarte und einander auch sonst naheste-
hende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten, so
Spanier und Portugiesen, Nord- und Süddeutsche, Engländer und
Schotten", den Namen »Narzissmus der kleinen Differenzen« gegeben.
(Freud 1930, S. 104) Er sieht " darin eine bequeme und relativ harmlose
Befriedigung der Aggressionsne igung, durch die den Mitgliedern der
Gemei nschaft das Zusammenhalten erleichtert wird." Und er fügt sar-
kas tisch hinzu: "Das übera llhin verspreng te Volk der Jud en hat sich in
dieser Weise anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen seiner
Wirtsvölker erworben," (ebd .)
Das Bewusstsein "W ir" scheint immer mit dem Bewusstsein einher-
zugehen, dass es " Die" gibt, Fremde, die nicht dazugehören und anders
sind. "Wi r" und " Die" - darin schwingt immer das Ge fühl der natürli-
chen Über legenheit mit. In einer Studie über Nachbarschaftsbeziehun-
gen in einer .Winston Parva" genannten kleinen englischen Voro rtge-
meinde haben NORBERT EUAS und JOHN L. SCOTSON geze igt, dass die-
ser Mechanismus der Aufwertung der eige nen und Abwe rtung der an-
deren Gruppe sich in einem Prozess entwickelt. Sie untersuchten die
Beziehung en zwisc hen Ansässigen und neu Zugezogenen . Dabei stell-
ten sie fest, " dass die mächtigere Gruppe sich selbst als die »besseren«
Menschen ansi eht, ausgestattet mit einem Gruppencharisma, einem
spez ifischen Wert, an dem ihre sämtlichen Mitglieder teilhaben und der
den anderen abgeht. Und mehr noch: In all diesen Fällen können die
Machtstärkeren die Machtschwächeren selbst immer wieder zu der
Überz eugung bri ngen, dass ihnen die Begnadung fehle - dass sie
schimpfliche, minderwe rt ige Mensche n seien." (Elias u. Scotson 1965,
S. 8) Dazu muss man wisse n, "es gab zwisc hen ihnen keine Differen-
zen der Natio nalität, der ethnischen Herkunft, der »Hautfa rbe« oder
»Rasse«; ebenso wenig unterschiede n sie sich in Beru f, Einkommens-
höhe oder Bildung - mit einem Wort, in ihrer sozialen Klasse. Beide
Wohngeb iete waren Arb eiterviertel." (S. 10) Die einzige Differenz war
die Wohn dauer, in der Tat eine kleine Differenz, um es mit Freud zu
sagen.
6 Gruppe 275

Die Frage ist, warum dieser kleine Unterschied zu einem solchen


.Jvlachtdifferential'' zwischen den beiden Gruppe führen konnte. Elias
und Scotson erklären es so: Die Machtüberlegenheit "beruhte auf dem
starken Zusammenhalt zwischen Familien, die einander seit zwei oder
drei Generationen kannten - im Gegensatz zu den Zuwanderern, die
nicht nur für die Alteingesessenen, sondern auch füreinander Fremde
waren." (Elias u. Scotson 1965, S. 11 ) Die Einheimischen hatten ohne-
hin schon alle wichtigen sozialen Positionen besetzt, aber sie wussten
auch, was man gemeinsam tun musste, um die anderen erst gar nicht
zum Zuge kommen zu lassen! Eine Strategie, die Macht zu erhalten,
war die Stigmatisierung der Auß enseiter, was in einem latenten oder
offenen Sprachchauvinismus zum Ausdruck kam. An n äherungsversu-
che der " Außenseiter" wurden abgewehrt, was deren Aggressivität und
demonstrative Verletzung der Normen der Etablierten provozierte. Das
wiederum wurde von den Etablierten als Beweis für die Minderwertig-
keit gewertet.'
Am Beispiel Winston Parva wird deutlich, dass "Außenseiter" zu
sein, nicht etwas ist, was in der Natur der Sache, z. B. in den Genen der
Betroffenen, liegt, sondern was von einer Gruppe so bezeichnet wird.
Wenn die Etablierten von sich annehmen, dass sie sich richtig verhal-
ten, weil sie auch die richtigen Werte haben, dann kann man davon
ausgehen, dass die " Außenseiter" das von sich genauso annehmen. Nun
könnte man sagen "s o what?", mag doch jeder sich für das halten, was
er will. Doch Soziologen fragen nicht nur, wie etwas kommt, sondern
auch, was daraus folgt. Dann sieht man schnell, dass Gruppen unter-
schiedliche Macht haben, jemanden als Außenseiter zu definieren, dass
es bestimmte Gruppen gibt, die eher als Außenseiter etikettiert werden
als andere, und dass durch die Definition des " abweichenden Verhal-
tens" ein Prozess der self-fulfilling prophecy in Gang gesetzt wird, aus
dem die Betroffenen nur noch schwer herauskommen.

Wem Winston Parva zu weit weg liegt, beobachte nur einmal Kontakte zwischen
deutschen Mädchen und türkischen Jungen. Man kann aber auch Bourdieus Über-
legungen über die ,,feinen Unterschiede" (vgl. unten Kap. 7.4) weiterdenken, in-
dem man sich z. B. vorstellt, wie wohl jemand reagiert, der sich mühsam nach
oben gearbeitet hat und schon zum dritten Mal nicht zum Presseball eingeladen
wurde.
276 6 Gruppe

Was ich hier gerade angesprochen habe , ist die These, die der ame-
rikanische Soziologe HOWARD S. BECKER in seinem Buch .A ußensei-
ter' (I963) vertritt. Danach stellen alle gesellschaftlichen Gruppen
Verhaltensrege ln auf und versuchen sie durchzusetze n. Diese Regeln
"definieren Situationen und die ihnen angemessenen Verhaltensweisen,
indem sie einige Handlungen als »richtig« bezeichnen, andere als
»falsch« verbieten." (Becker 1963, S. 1) Gruppen, die sich im Einklan g
mit den herrschenden Werten wähnen , haben größ ere Macht, ihre Defi-
nitionen durchzusetzen. Das sind, so die Annahme Beck ers, in der Re-
gel die Grupp en, die sich zur breiten Mittelsc hicht rechne n. Umgekehrt
gibt es Person en und Grupp en, die eher als andere als abweichend und
somit Außenseiter etikettiert werden und darunter auch zu leiden ha-
ben. So zeigen Studien über jugendliche Delin quenz, dass schwarze
Jugendliche eher von der Polizei aufgegriffen werden als weiße, eher
zur Wache gebracht und häufiger verurteilt werden. Dahinter kann man
vermuten, dass eine in-group Abweichung eher bei der out-group
wahrn immt, sie dort weniger toleriert und am entschieden sten sanktio-
niert.
Diesen Mechani sm us der Definition eines "typi schen" , erwarteten
Verhaltens hat man als Etikettierung oder labeling approach bezeich-
net. Später hat Becker der »Btikettierungstheorie« einen neuen Namen
gegeben, indem er von einer .Jnteraktionstheorie abweichenden Ver-
haltens" (Becker 1971, S. 163) sprach. Damit wo llte er sagen, dass die
Defini tionen und Reaktionen wechselseitig erfo lgen und weitergehen.
Die höch st farbige Arb eit von Becker hat noch etwas gezeigt, näm-
lich, dass es soz usagen Karrieren abweichenden Verhaltens gibt und
dass das abweichende Verhalten entscheidend von der Kultur der ab-
weichenden Gruppe geprägt wird. Mit dem Ersteren ist gemeint, dass
oft eine Gruppe im Hintergrund steht, aus der heraus jemand sich von
der gese llschaftlichen Normalität entfernt. Sie stützt und ermutigt ihn.
Daraus folgt das Zweite: Die Gruppe liefert ihm auch die Ideologie zur
Begründung seines Hand eins. (Becker 1963, S. 35)
6 Gruppe 277

6.6 Bezugsgruppe und sozial e Beeinflussung in der Gruppe


Der Begriff der Bezugsgropp e (sreference group«) kam Anfang der
40er Jahre zuerst in der Psychologie! auf und meinte die Selbst-
verortung von Personen in einem sozialen Bez ugssystem . (Hyrna n
1942) In der Soziologie wurde er dann besonders von RORERT K. MER-
TON aufgegriffen. (Merto n 1957d) Wie ich obenz ausgeführt habe, ver-
steht er unter »reference groups« Gruppen, deren Zustimmung oder
Ablehnung dem Indi viduum sehr wichtig sind. Dabei denkt Merton
nicht nur an eine konkr ete Gruppe, an deren Erwartungen und Einstel-
lungen sich das Individuum in seinem Handeln und Denken orientiert,
sondern auch an die Schicht oder die Subkultur und auch einen Bet rieb
oder eine Organisat ion, mit denen es sich identifiziert. Ich will mich
hier aber auf eine konkrete Gruppe in sozialen Gebilden konzentrieren.
Bevor ich das tue, will ich kurz skizzieren, wo ich den theoret ischen
Hintergrund für die Theori e der Bezugsgruppe sehe.
Da ist sicher einmal das »law of fashion«, mit dem JOHN Lo c xs, der
englische Staatsphilosoph des 17. Jahrhunderts, unser Handeln erklärt
hat.ä Wir denken und handeln so, wie es Mode ist, weil wir so die größ-
te Achtung durch die anderen erfahren. Diesem .Jaw of opinion or re-
putation" bzw. .Jaw of fashion" gehorchen wir mehr als dem göttlichen
oder staatlichen Gesetz. (Locke 1690, 11, Kap. 28, §10 und §12) Was
die anderen von uns sagen, ist uns wichtig ! Und es sind nicht die Ob-
rigkeit oder ganz entfernte Andere, die wir vor Augen haben, sondern
die, mit denen wir tagtäglich umgehen.
Die Th eorie der Bezugsgruppe ist sicher auch von der These des
schottischen Moralphil osophen ADAM SMITH beeinflusst, dass " die
fort gesetzten Beobachtungen, die wir über das Verhalten anderer Me n-
schen machen, (...) uns unm erklich dazu (bringen), dass wir uns gewis-
se allgemeine Regeln darüber bilden, was zu tun oder zu meiden
schicklich und angemessen ist." (Smith 1759, S. 238) Wir lernen also
durch Beobachtung, wie wir uns richtig verha lten so llen. Auch hier
kann man da von ausgehen, dass wir gerade die beobachten, mit denen

I Z ur Gesc h ichte des nach wie vor rech t di ffuse n Begriffs vgl. Gu kenbiehl 1980.
2 Vgl. Kap. 3.2 ,,Der Rollen-Set", S. 114.
3 Vg l. Ba nd 1, Kap. 3.3 "Schottische M oralphilosop hie: Erfahrungen u nd Gewohn-
heiten " und unten. S. 34 5, wo ich das »[a w of fashione mi t Riesmaus Th ese von
der Auß en leitung zu samm enbringe .
278 6 Gruppe

wir konkret zu tun haben. Sie sind es, von denen wir unsere Ver-
gleichsmaßstäbe des "Sc hicklichen und Angem essene n" nehmen.
Schließlich denk e ich an die The se von EMILE DURKHEJM, dass es
feste Vergleichsmaß stäbe geben mu ss, damit das Individuum überhaupt
handeln und die Gesellschaft sich auf das Individuum verlassen kann.
Wo es diese Vergleichsmaßstäbe nicht gibt, kommt es zu einem Zu-
stand "gestörter Ordnung oder Anom ie". (Durkheim 1897, S. 289) Ver-
gleichsmaßstäbe ergeben sich zwar aus den Werten und Nonnen der
gan zen Gese llsch aft , abe r konkret werd en sie erst an dem Platz, den der
Einzelne in der sozialen Hierarchie einnimmt. (S. 283) Für diesen Aus-
schni tt! gibt d ie Gesellsch aft , ich würde jetzt in mod erner Term inol ogie
einschrä nkend sagen: geben die Bezugsgruppen, die Maßstäbe vor. Sie
existieren als Kollektivbewusstsein eines Teils der Gesellschaft . Durk-
heim drückt es so aus:

Emile Durkheim: Gefühl für ein mittleres Wohlbefind en


"U nd tatsäch lich gibt es in jedem Augen blick der Gesch ichte im sittli-
che n Bewusstsein der Gesellschaften ein vages Gefühl dafür, was die
verschiedenen soz ialen Dienste wert sind, und für ihre j ewe ilige ent-
sprechen de Belohnung und dam it für das Maß an Wohlbe finde n, das als
Mittelwert den Arbeitend en jed es Berufes zukommt.
In der öffentlichen Me inun g sind die verschieden en Funkt ionen in
ein e Art Hierarchie einget eilt, und jedem Einzelnen wird e in besti mm-
tes Maß an Wohler gehen zuer kannt , je nachdem, welchen Platz er in-
nerhalb der Hierarchie einnimm t. Nach den geltenden Vorstell ungen
gibt es zum Beispiel für den Arbeiter eine ganz best immte Lebensfüh-
rung , die als obere Grenze dessen angesehen wird, was er sich vorstel-
len darf, wenn er versucht, sich sein Leben besser einzurichten, und ei-
ne untere Gren ze, die er. ohne in der allgemeinen Achtung tief zu sin-
ken. schwerli ch unte rschre iten darf. Be ide Grenzen sind verschieden
für de n Arbeiter in der Stadt ode r auf dem Land, für den Hausangestell-
ten oder für den Tagelöhner. für den Büroangestellten oder für den Be-
amten, usw. Aus diesen Gründen wirft man es dem Reichen vor. wenn
er zu ärml ic h lebt, aber auch wenn er übennäßigen Luxus treibt."
(Durkhe im 1897; Der Selbs tmord. S. 283)

Lesen Sie doch noch einmal nach. was Darkheim eingangs (S. 247f.) über die
Herstellung moralischer Gefühle in der Gruppe und die Funktion der Berufsgrup-
pen gesagt hat.
6 Gru ppe 279

Natürlich kann sich der Mensch mit allen möglichen vergleichen und
seine Ziele ins Unendliche setzen, aber wirklich wohlfühlen karm er
sich nach der Ansicht Durkheims nur dann, " wenn seine Bedü rfnisse
(...) mit den ihm zur Verftigun g stehenden Mitteln einigermaßen in
Einklang stehen." (Durkheim 1897, S. 279)
Jetzt zurück zu der angekündigten Orienti erung des Individu ums an
konkreten Erwartu ngen einer konkreten Bezugsgru ppe bzw. zur unbe-
wussten Unterordnung un ter ihren »es prit de corps« . Dazu will ich zu -
erst auf eine der größten qual itati ven Studien, die j e du rchgeführt wor-
den sind, zu sprechen kom men , die sog. Hawthorne-Studie.t
Auf Bitten des Managem ents der Western Electric Co mpany in
Hawthorne bei Chicago, das mit der Produktivität nicht zufrieden war,
macht e sich der Industriepsychologe ELTON MAYO vo n der Harvard
Business School daran, die Sache wissenscha ftlich zu untersuchen. Un M

tcr seiner Leitung führten FRITZ J. ROETHLISBERGER und WILLIAM J .


D ICKSON zwischen 1927 und 1933 verschied ene Experimen te in dem
Betrie b durch . Aus den Forschungsergebnissen will ich nur eines he-
rausgreifen, das die Bedeutung der Gruppe belegt .
Das M anagement ging davon aus, dass vor allem ein höh erer Ak M

kordlohn die Produktivität steige rn würde. Dem wollten die Forscher


auch nachgehen , vennuteten aber, dass auch Verbesserungen der kc n-
kreten Arb eitsbedingungen eine Rolle spielen würden. In der ersten
Phase führten die Sozialforscher standardis ierte Be fragungen durch und
expe rime ntierten mit bestimmten Verände rungen der Arbcitsbcdingu n-
gen.z Da die Forsch ungsergebnisse widersprüchlich od er wenig ergie-
big waren , ging man da zu über, das Arbeitsverhalten genau zu beo-
bachten . Vo r allem aber führte ma n Intervi ews d urch, in denen keine
direkt en Fragen ges te llt wu rden und die Arbeiter einfach erzählten. Die
Intervi ews wurden möglichst genau protokolliert. ö Diese offenen Inter-
views brachten nun das ilberraschende Erge bnis, dass für die Arbeit szu-
friedenhe it und die Bereitschaft, mehr zu leisten, nicht das Geld, son-
dem die sozialen Beziehungen {ohuman relations«) die entscheidende
Rolle spielten.

Eine knappe methodologische Zusammenfassung findet sich bei von Rosenstiel


(199 1), eine ausführliche inhaltliche in Homans (1950).
2 Vgl. Band I, Kap. 5.6 " Human relations - der Hawthome-Effekr", S. 19 1f..
3 Interessanterweise war einer der beteiligten Forscher CARL ROGERS, der später in
der Psychologie die nondirektive Gesprächstherapie entwickelt hat.
280 6 Gruppe

So fanden die Sozialforscher heraus, dass es einen stillschwe igenden


Gruppenkonsens gab, was z. B. als angemessenes Arbeitstempo galt.
Wer zu schnell arbeitete, wurde mit Sticheleien zurückgepfiffen. und
wer zu langsam war, wurde angespornt oder unterstützt. Auch die Aus-
sicht auf einen höheren Akkordlohn änderte an diesem informellen
Konsens nichts. "Gruppensolidarität und Gru ppenzusammenha lt ware n
ihnen wichtiger als individ uelle Leistung." (Lindgren 1969, S. 422) Ein
zweites Ergebnis war ebenfalls überraschend. Die Arbeiter schienen
besonders motiviert, wenn sie das Gefühl hatten, beachtet zu werden.
So führte die Beobachtung du rch die Forscher zu einer deutlic hen Stei-
geru ng der Produktivität. Drittens fanden die Forscher heraus, dass die
Wege der Kommunikation, was Anleitung, Kontrolle oder Klagen an-
ging, andere als die offiziellen waren. Neben der formellen Organisati-
on des Betriebes gab es offensichtlich eine informelle, die wesentlich
effektiver funktionierte.
Alles in allem war nicht zu übersehen, dass sich die Arbeiter als In-
dividuen (die beachtet werden wollten), als Mit glieder einer Groppe (in
der sie sich an einem stillschweigenden Konsens des richtigen Verbal-
tens orientierten) und als Interaktionspartner (die auf informellen We-
gen miteinander umgingen) verstanden.
An dieser Studie wurde deutlich, dass die Bezugsgruppe normativ
ist. Sie setzt die Maßstäbe, wie wir uns verhalten sollen. Das gilt für
das aktuelle, manifeste Verhalten in der Gruppe selbst, aber natürlich
hat die Bezugsgruppe, an der wir uns vor allem orientieren, auch eine
symbolische, latente Funktion für uns in anderen Situationen. Wem die
Bezugsgruppe der Yuppies überaus wichtig ist, wird ein entsprechendes
Verhalten nicht nur an den Tag legen, wo er von ihnen gesehen wird,
sondern auch bei ganz anderen Gelegenheiten. Ich erinnere abkürzend
noch einmal an den Satz von ANSELM STRAUSS: Interaktion ist immer
Interaktion mit unsichtbaren Dritten! (Strauss 1959, S. 58) 1 Die Be-
zugsgruppe ist ein solcher »unsichtbarer Dritter«, auch wenn die Han-
delnden es gar nicht bemerken.
Diese Überlegungen zur norma tiven Funktion der Bezugsgruppe le-
gen es nahe, sich einem merkwürdigen Phänomen zuzuwenden, das
man als soziale Beeinfl ussung in der Grupp e bezeichnen kann. Ich be-
ginne mit drei allgemeinen Feststellungen:

I Vgl. oben Kap. 5.5 ,,Dlumer: Symbolische Interaktion", S. 213.


6 Gruppe 281

,. Der Mensch neigt dazu, sein Verhalten der Mehrheit anzupassen,


um nachher nicht als der Einzige dazustehen, der falsch gelegen
hat. So wundert man sich, wie viele Leute nach einem überra-
schenden Wahlausgang sagen, dass sie selbstverständlich die
Mehrheitspartei gewählt hätten. (Der andere Fall, dass man einen
falschen Sieger selbstverständlich nicht gewählt habe, bestätigt
diesen Wunsch, dazuzugehören: Es ist nur eine andere Bezugs-
gruppel)
);. Zweitens: Der Mensch hat das Bedürfnis, die Dinge unter Kon-
trolle zu wissen. Die Gefahr besteht darin, dass er die tatsächli-
che Kontrolle der anderen über- und seine eigene unterschätzt
und deshalb keine eigenen Entscheidungen trifft. Wenn er z. B.
sieht, dass anscheinend keiner in der Gruppe das Gefü hl hat, die
Dinge nicht mehr im GrifT zu haben, hält er sich mit "s törenden"
Entscheidungen zurück,
);. Drittens verlässt sieh der Mensch auf seinen gesunden Men-
schenverstand, reflektiert die Dinge also nicht unnötig. Auch
hier füh lt er sich durch das Nicht-Handeln der Gruppe beruhigt.
Alles in allem: Der Mensch möchte so sein, wie die anderen in seiner
Bezugsgruppe offensichtlich sind, zumindest möchte er nicht völlig
anders sein. Weil er ohne soziale Anerkennung und das Gefühl, dazu zu
gehören, nicht leben kann, lässt er sieh durch die Gruppe beeinflussen.
So belegt dann auch eine ganze Reihe von experimentellen Untersu-
chungen, dass die Gruppe einen starken Einfluss auf die Meinungen
und das Handeln der Mitglieder ausübt. In einem der bekanntesten Ex-
perimente dazu ging es um den sog. autokin etischen Effekt. Diesen Ef-
fekt der schei nbaren Selbstbewegung können wir wahrnehmen, wenn
wir einen einsamen Stern betrachten. Da unsere Augenachsen niemals
ganz ruhig stehen, scheint sich der Stern zu bewegen. Dieser Eindruck
entsteht vor allem dann, wenn es keinen festen Bezugspunkt gibt, an
dem wir uns orientieren könnten. Diesen Effekt hat der schon erwähnte
Psychologe MUZAFER SH ERIF (1935) für ein Gruppenexperiment ge-
nutzt. Er zeigte Versuchspersonen in einem dunklen Raum für kurze
Zeit einen kleinen intensitätsschwachen Lichtpunkt. Als sie einzeln
befragt wurden, ob und, wenn ja , wie weit sich der Lichtpunkt bewegt
habe, streuten die Schätzungen beträchtlich. Als in einem zweiten Ver-
such alle ihre Schätzungen laut in der Gruppe nennen sollten, konver-
282 6 Gruppe

gierten die Schätzungen. Die Versuchs perso nen beeinflussten sich also
gegenseit ig.
Ein anderes Experi ment hat SALOMON E. A SCH ( 1955) durc hgeführt.
Er zeigte einer Gruppe eine Karte mit einem senkrechten Strich und
eine zweite Karte mit drei senkrechten Strichen. Jeder sollte sagen,
welcher der dre i Striche der zweiten Karte gleich lang wie der Strich
auf der ersten Karte sei. Solange jeder für sich antwortete, waren die
Ergebni sse einheitlich. Als aber Asch in mehreren Experimenten je-
weils alle bis auf einen instruierte, ein objektiv falsches Urteil ab-
zugeben, wurden viele derjeni gen, die mit ihrem Urteil allein dastan-
den, unsicher und schloss en sich letztlich dem Urtei l der Gruppe an.I
Was wird an diesen Experimenten deutlich? Deutlich wird, dass eine
Gruppe ein dynamischer Prozess ist, in dem das Verhalten der Grup-
penm itglieder beeinflusst wird. So ist für GEORGE CASPAR HOMANS die
Gruppe auch "definiert durch die Interakt ion ihrer Teilnehmer" . (Ho-
mans 1950, S. 102) Das kann man wörtlic h im Sinne der Wechselwir-
kung verstehen .
Nun kann man sich ja auch Gruppensituationen vorstellen, in denen
ein Einfluss ganz gezielt ausgeübt wird , und beobachten, was dann pas-
siert. Das haben u. a. Sozialpsycho logen getan, die in Gruppenexperi-
menten den Zusa mme nhang von Führungsstil und Arbeitsleistung un-
tersucht haben. Ein besonders interessantes Experiment war das von
RONALD LIpPITT und RALPH K. WHITE, in dem Gruppen von 11-
jährigen Kindern untersucht wurden. (Lippitt u. White 1947) Die Grup-
pen trafen sich meh rere Wochen hintereinander, und jede Gruppe arbei-
tete unter drei verschiedenen Führung sstilen: autoritäre Führung, de-
mokratische Führung und neutrale " Führung" (alaissez faire«). Jeder
der Gruppenleiter war gehalten, in jeder Gruppe nacheinander jede
Führungsrolle zu spielen. Auf diese Weise sollte der Einflu ss der Per-
sönlichkei t ausgeschaltet werden.
>- Der Plan für die autoritäre Führungsrolle sah vor, dass praktisch
alle Maßnahmen, die die Aktivitäten der Gruppe betrafen, vom
Leiter bestimmt werden sollten. Die Anwei sung lautete deshalb :
"Wie und was zu machen ist, wird einzeln Schritt für Schritt von

Wem die exp erimentelle S ituation zu konstruiert erscheint, kann einma l beobach-
ten, was in der Kant ine passiert, wenn einer, der in der Runde etwas gilt, sagt, das
Fleisch habe einen leichten Beigeschma ck!
6 Gruppe 283

der Autorität mitgeteilt, sodass Ziele und weitere Schritte weit-


gehend im Dunkeln bleiben. Der Erwachsene übernimm t die
Verantwortung und teilt j edem Mitglied seine Tät igkeit und auch
seine Mitarbeiter zu. Bei der Bewertung der Tätigkeit, sei es
Einze lner, sei es der Gruppe, lässt der Führer nicht erkennen,
nach welchem Maßstab er wertet. Er demo nstriert die T ätigkei-
ten, enthält sich aber sonst der aktiven Beteiligung." (Lippitt u.
Whit e 1947, S. 327) Das Ergebnis dieses Experiments war: In
der autoritär geführten Gruppe konzentrierten sich die Kinder
zwar sehr auf die Arbeit, aber nur solange, wie der Leiter im
Rau m war. Sobald er den Raum verließ, wandten sie sich ande-
ren Dingen zu. Noch interessanter war allerdings die Tatsache,
dass die Gruppe praktisch keine eigenen Initiativen entwickelte,
wie was zu tun sei, sondern sie wartete auf Instrukt ion durch den
Führer. Die Gruppenmitglieder waren wenig kooperativ und
neigten zu Aggre ssivität gegenüber Schwäc heren. Klappte etwas
nicht sofort, ließen sie sich rasch entmutigen.
)0- Der Plan für eine demokratisc he Führungsro /le sah vor: " Soweit
wie mö glich sollen alle Unternehmungen Gegenstand von Grup -
pendiskussion und Gruppenentscheidung sein, mit aktiver Hil fe
und Ermutigung durch den erwachsenen Führer. Da bei soll der
Leiter zu erreichen versuchen, dass bei den Diskussionen die Tä-
tigkeit en und die einze lnen Schritte zum Ziel geklärt werden .
Wenn er um technische Ratschläge gebeten wird , sollte er mög-
lichst mehrere verschiedene Arten des Vor gehens vorschlagen,
aus denen die Mitglieder ausw ählen können. Jeder kann, mit
wem er will, zusammenarb eiten, und die Vertei lung der Verant-
wort ung bleibt der Gruppe überlassen. Falls der Führer Einzelne
oder Gru ppen lobt oder kritisiert, sollte er versuchen, die objek-
tiven Gründe dafür den Mitgliedern klarzumachen." (Lippit t u.
Whit e 1947, S. 327) Das Ergebnis in dieser demokratischen
Gruppe war, dass die Kinder zwar nicht so viel leisteten wie in
der autoritär geführten, aber sie blieben bei ihrer Arb eit, auch
wenn der Leiter den Raum verließ. Die Kinder komm unizierten
viel mi teinander, und das Klima war ausgesprochen kooperativ.
;;.. Der Plan für den laissez fa ire-Stil war natürlich kein Führungs-
plan, sonde rn jeder sollte praktisch machen können, was er woll-
te. Und so war auch das Ergebnis. Leistung und Arbeit smo ral
284 6 Gruppe

waren ziemlich gering. Keiner fühlte sich für irgendetwas ver-


antwo rtlich . Da die Kinder aber ihre Aufgabe selbst gewäh lt hat-
ten , b lieb die Gruppe m ehr bei ihrer Aufgabe als die autori tär ge-
führte Gruppe.
Die Experimente von Lippitt und White zeigen, dass das Verhalten der
Gruppenm itglied er auch durch di e Strukt ur der Kooperation beeinflusst
wird. Leistungen, die erbracht werden, werden auch für die Gruppe
erbracht; das Ausbleiben von Leistungen wird mit der Passivität der
Gruppe entschuldigt. Das klingt harmlos, kann aber unter Umständen
sch limme Fol gen hab en. So zeigen viele Unt ersuchungen über Jugend-
gewalt, das s der Einzelne eigentlich gar nicht gewaltbereit w ar. Dass er
dann aber doch zugeschlagen hat, erklärt er damit, ,,nur mitgemacht" zu
haben. Wenn man einmal den Rausch der Gewalt in der Gruppe beisei-
te lässt, dann scheint in solchen Erklärungen das unbewusste Einges-
tändnis durch, der Gruppe zu beweisen, dass man zu Recht zu ihr ge-
hört.
Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass keiner etwas tut, weil
die anderen auch nichts tun. Wir kennen diese Fälle bei Unfällen oder
Straftaten. Erst wenn einer beherzt die Initiative ergreift, werden auch
andere aktiv. Dass diese Trägheit einer nicht reagierenden Gruppe
schlimme Folgen haben kann, hat man erlebt, als unter dem National-
sozialismus selbst vertraute in groups nichts getan haben, die Ver-
schleppung und Ermordung der Juden zu verhindern. Nachbarn, die
sich bis gestern als "wir" verstanden hatten, blickten weg, als ,,man"
bestimmte Personen als "d ie" und "a nders" definierte.
Vom Thema "Grup pe" den Bogen zum Thema " Status" zu schlagen,
liegt nahe, denn ging es dort um die Strukturen und Prozesse, in denen
Individuen miteinander umgehen und aufeinander einwirken, so geht es
hier um die Verortung des Individuums in diesen Strukturen und Pro-
zessen, die es selbst - bewusst oder unbewusst - vornimmt oder die die
anderen mit ihm vornehmen.
7 Status
7.1 Linton: Zuschreibung und Leistung
7.2 Statuskriterien, Statusinkonsistenz, Statussymbo le
7.3 Veblen: Demonstrativer M üßiggang und Konsum
der feinen Leute
7.4 Bourdieu: Die feinen Unterschiede
7.5 Goffman: Stigma und soziale Identität
7.6 Strauss: Statuszwang und Transfonnation von Statusarten

.Hilfsarbeiterin, Dozent, Straßenkehrer, Ärztin, Manager, Verkäuferin,


Industriefacharbeiter ... - bei j eder dieser Bezeic hnungen entstehen
Bilder in unseren Köpfen. Wir stellen uns Mensc hen vor mit bestimm-
ter Kleidung, bestimm ten Utensilien und bestimmten Verha ltenswei-
sen. Befragt nach unseren weiteren Assoziationen, könnten wir dazu
bestimmte Lebensgewohnheiten. kulturelle Interessen oder Hobbys
nennen, und nicht zuletzt könnten wir unsere Einschätzung dazu abge-
ben, wieviel eine derartige Person ungefähr verdient bzw. welchen Ein-
fluss sie im gesellschaftlichen Leben hat oder nicht. Mit diesen implizi-
ten Personenschemata wird grundsätzlich ein bestimmtes gesellschaft-
liches Ansehen, ein Sozi alprestige assoziiert. Würden wir uns etwas
bemühen, könnten wir regelrecht eine soziale Landkarte erstellen, mit
der die Überordnung, Gleich- oder Unterordnung bestimmter gesell-
schaftlicher Gruppen nach ihrem sozia len Prestige sichtbar gemacht
würde. Unsere soziale Welt zeichnet sich aus durch eine Fülle von Ka-
tegorien und Klassifizierun gen. Die Vorstellunge n, die sich Me nschen
von der sozialen Welt machen, tragen zur Konstruktion einer re lativ
stabilen Sozialstruktur bei." (Pastner 1996, S. 323)
Was hier beschrieben wird, ist die Plazierung des Individu ums im
soz ialen Raum . Wir plazieren andere und auch uns selbs t in diesem
Raum und nehmen an, dass es für diese Plazierun g auch objek tive Kri-
terien gibt. So erklären sich typische Vorstellungen, die es in einer Ge-
sellschaft hinsichtl ich Prestige, Über- oder Untero rdnung und Einfluss
gibt. In diesem Sinne hat der Begriff etwas mit Bewertung und Ver-
gleich zu tun. Der Gedanke der Verortun g in einem sozialen Referenz-
286 7 Status

system kommt schon in einer frühen Verwendung des Wortes "status"


zum Ausdruck. So heißt es bei l OHN STUA RT MILL, dem englischen
Nationalökonomen, dass eine priv ilegierte Klasse, die einen Status über
den anderen hat (" having a status above the common level"}, diesen
nicht verlieren möchte. (M ill 1848, S. 370)
Wenn man über einen hohen oder niederen sozialen Status spricht,
müssen auc h die Werte benannt werden, auf denen diese Einordnung
bas iert. In der einen Gesellschaft gilt der Schreibkundige als Weiser, in
der anderen ran giert er knapp oberhalb der Analphabeten. Selbst inner-
halb ein und derselben Gesellschaft gibt es sehr unter schiedliche Vor-
stellungen davon, was wertvoll und bedeutend ist. Schließlich muss
man sehen, dass Stat uskriterien sich durchaus verändern können. In
dem Maße nämlich, wie sie von mehr Individuen erftillt werden, sinkt
ihre Bedeutung. Ist beispiel sweise Schu lbildung ein seltenes Gut, hat
dieses Kriteri um einen hohen Stellenwert; ha t aber fast jeder das Abi-
tur, die nt es als Kriterium der sozialen Differenzierung nur noch be-
dingt. Solange Autos ausgesprochene Luxusa rtikel waren, erfreuten
sich ihre Besitzer einer hohe n Beachtung. Auch das hat sich heute ge-
wand elt, abgesehe n davon, dass der materielle Besitz in bestimm ten
soz ialen Gruppen nie eine sonderliche Rolle bei der Einschätzung des
sozialen Rangs gespielt ha t.
Eine andere Annahm e über die Bedeutung des Status scheint dage-
gen unbestritten zu sein, dass es nämlich zu den Grundbedürfuissen des
Men schen gehört, sich einen soz ialen Platz zu suchen, den er allein
einnehme n kann und auf dem er auch anerkannt wird. W ILLIAM L THO·
MAS hat das Bedürfnis nach Anerkennung zu den grundl egend en Wün-
schen! gerechnet, die der Mensch hat. (Tho mas 1927, S. 159) Darunter
verst eht er das Bedürfn is nach soz ialer Wert schätzu ng. Es liegt au f der
Hand, dass dami t nicht ein passives Abwarten ge meint ist, sonde rn dass
das Individuum dafür etwas tun muss. Es mu ss bestimmte Erwartungen
erftillen, die mit seiner Plazierung in der Gesellscha ft verbunden sind .
Norma les Verhalten ist das Mindeste, was Wert schätzung erfahrt. In
der Regel wird das Individuum aber mehr tun, um beachtet zu we rden.
Der soziale Status hat also immer auch etwas mit einem entsprechen -
den Verhalten zu tun, das von anderen bewertet wird.

Die anderen d rei sind der Wunsch nach neuem Erleben, nach Sicherheit und nach
Er widerung. (Thomas 1925: The unadjusted girl, S. 16 1) Thomas hat die Theo rie
der vier Wünsche mehrmals umfo rmuliert.
7 Status 287

7.1 Lint on: Zuschreibung und Leistung


Eine grundlegende theoretische Auseinandersetzung mit dem Phäno-
men der sozialen Verortung in einem sozialen System findet sich bei
RALPH LINTON (1893-1953), der die Frage stellt, wie der kulturelle
Hintergrund die Persönlichkeit prägt. Seine Antwort leitet er unter der
Überschrift " Rolle und Status" so ein: " Die Teilnahme eines j eden In-
dividuums an der Kultur seiner Gesellschaft ist keine Sache des Zufalls.
Sie wird primär (...) durch seine Stellung in der Gesellschaft und die
Erziehung bestimmt, die ihm im Vorgriff auf seine Übernahme dieser
Position zuteil wurde. Daraus folgt, dass man das Verhalten des Ein-
zelnen nicht lediglich in bezug auf die Gesamtkultur seiner Gesellschaft
untersuchen darf, sondern bei dieser Betrachtung auch die speziellen
kulturellen Anforderungen berücksichtigen muss, die seine Gesellschaft
deswegen an das Individuum stellt, weil es einen bestimmten Platz ein-
nimmt." (Linton 1945, S.251)
Innerhalb einer Gesellschaft werden die Individuen nach Funktionen
klassifiziert. Diese Struktur von Funktionszusammenhängen nennt Lin-
ton System. Linton betont nun, dass "ein System fortbesteht, während
die Individuen, die Plätze in ihm einnehmen, kommen und gehen kön-
nen" ; den Platz, " den ein Individuum zu einer bestimmten Zeit in ei-
nem bestimmten System einnimmt", nennt er Status. (Linton 1945, S.
252) Das Funktionieren einer Gesellschaft hängt davon ab, dass es
Muster des wechselseitigen Verhaltens zwischen Individuen und Grup-
pen gibt. Die Muster gelten generell für jedes Individuum in einem be-
stimmten Status. Jeder Status ist mit einer bestimmten Rolle verbunden.
(vgl. Linton 193630 S. 97) Mit dem Begriff der Rolle bezeichnet Linton
- ich wiederhole es - " die Gesamtheit der kulturellen Muster (...), die
mit einem bestimmten Status verbunden sind." (Linton 1945, S. 252)
Der Einzelne muss also eine Rolle spielen, wie sie sich von der struktu-
rierenden Vorgabe eines Status aus ergibt. Linton fasst diese Annahme
in dem Satz zusammen: Die Rolle ist "der dynamische Aspekt eines
Status." (ebd.)
Linton fragt nun, wie man überhaupt zu einem sozialen Status
kommt. Seine Antwort kommt in der berühmten Unterscheidung zwi-
schen einem zuges chriebenen und einem erworbenen Status zum Aus-
druck. Der ascribed status resultiert aus konventionellen Annahmen
über Geburt, Alter, Geschlecht, Herkunft und ähnliches, der achieved
288 7 Status

status beruht dagegen auf eigener Leistung. Ein Beispiel für den Effekt
eines zugeschriebenen Status ist die Erwartung, dass ein Kind aus gu-
tem Haus auch bessere Leistungen in der Schule erbringt, oder die um-
gekehrte Erwartung, dass man von einem Kind aus der Obdachlosen-
siedlung solches von vornherein nicht erwart en kann. Wie das funktio-
niert, hat das schon erwähnte I Experiment .Pygmalion im Klassen-
zimmer" (Ros enthai u. Jacobson 1968) gezeigt. Ich rufe es kurz in Er-
innerung: Lehrern wurden zwei Gruppen von Kindern zugewiesen. Von
der ersten Gruppe hieß es, sie hätte bei einem Leistungstest besonders
gute Ergebnisse, von der zweiten, sie hätte nur unterdurchschnitt liche
Leistungen gezeigt. In Wahrhe it unterschieden sich die Leistungen die-
ser Kinder überhaupt nicht. Als man dann nach einem halben Jahr diese
beiden Gruppen testete, zeigte sich, dass ihre Leistungen tatsächlich
dem entsprachen, was man ihnen vorher " zugeschrieben" hatte. Die
Erklärung liegt auf der Hand : Positive Erwartungen führen zu wohlwol-
lender Unterstützung auf der Seite der Lehrer und spornen zu weiteren
Leistungen auf der Seite der besonders beachteten Schü ler an, negative
führen zu Unterforderung und demotivieren.
Der Begri ff des Status dient zur Differenzierung der Mitglieder einer
Gesellschaft. Die wichtigsten Merkmale, nach denen einem Individuum
ein sozialer Status zugeschrieben wird , scheinen Alter, Geschlecht,
Herkommen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fami lie zu sein.
(Linton 1936a, S. 99) Es sind soz usagen objektive Statuskriterien. über
die man eigentlich auch nicht zu diskuti eren braucht. Wer 80 Jahre alt
ist, ist älter als ein 20Jähriger, und wer nicht aus der Familie von It·
zenplitz kommt, kommt eben nicht aus dieser Familie. Doch selbst an
dieser einfachen Statuszuschreibung wird deutlich, dass Statuskriterien
bewertet werden. In einer statischen Gesellschaft hat der Alte einen
höheren Status, weil er auf eine größere Erfahrung zurückblicken kann,
aber in einer dynamischen Gese llschaft mit Jugendlichke itstouch sieht
das ganz anders aus. Interessant wird die Frage nach dem sozialen Sta-
tus denn auch, wenn in die Differenzierung Statuskriterien hineinspie-
len, die aus subj ektiven oder milieuspezifi schen Wertungen entsprin-
gen.

1 Vgl. oben Kap. 4.3 ,,Alternative Wertorientierungen des HandeIns", S. 154.


7 Status 289

7.2 Status kriterien, Statusinkonsistenz, Statussymbole


Die Ausftihrungen von Linton zu Rolle und Status haben einen großen
Einfluss aufTALCOIT PARSONS ausgeübt. Er betrachtet das Phänomen
des sozialen Status unter einem Strukturaspekt und unter einem Hand-
/ungsaspekt. Unter dem ersten Aspekt geht es um Über- und Unterord-
nung von Positionen, unter dem zweiten um die Institutionalisierung
von Handlungsmustern.
In seiner Theorie zur sozialen Schichtung stellt Parsons fest, "dass
sich das Handeln in einem sozialen System in großem Maße an einer
Schichtungsskala orientiert." (Parsons 1940a, S. 187) Diese Skala ist
natürlich in jedem sozialen System eine andere. Als grundlegende Kri-
terien, nach denen Wertungen erfolgen, nennt Parsons Mitgliedschaft in
einer Verwandtschaftsgruppe, persönliche Eigenschaften, Leistungen,
Eigentum, Autorität und Macht. " Der Status eines jeden Individuums
im Schichtungssystem einer Gesellschaft kann als Resultante der ge-
meinsamen Wertungen betrachtet werden, nach denen ihm sein Status
in diesen sechs Punkten zuerkannt wird." (parsons 1940a, S. 189)
Dieser Begriff des Status, der sich nach einem sozialen Konsens ü-
ber wichtige Kriterien der sozialen Verortung bestimmt, spielte in frü-
hen soziologischen Schichtungstheorien eine wichtige Rolle. Dort wur-
de der Begriff Status verwandt, um herauszufinden, wie Personen sich
oder andere sozial einordnen bzw. wie sie glauben, von anderen einge-
schätzt zu werden. Diese Methode wurde z. B. in klassischen amerika-
nischen Gemeindestudien benutzt. Sie identifizierten das Sozialsystem
einer Gemeinde als "status system" (Warner u. Lunt 1942, 11, S. 16), in
dem alle wissen, wer welche Reputation genießt. Bei der Messung der
sozialen Klassen benutzten die Forscher einen .Jnd ex of status charac-
teristics" (Warner u. a. 1949, S. 39f.), dessen wichtigste Faktoren Be-
ruf, Art und Höhe des Einkommens, Haustyp, Wohngegend und Bil-
dung sind. Man unterstellte gewissermaßen, dass alle im großen Gan-
zen einer Meinung sind, welcher Beruf angesehen ist und welcher
nicht, dass 100.000 $, die man bei der Bank verdient, etwas anderes
sind als 300.000 $ aus der Lotterie und der Abschluss in Harvard mehr
gilt als der in Wallawalla usw.
Obwohl man Zweifel an dieser Übereinstimmung haben kann, sollte
man den diffusen Konsens hinsichtlich solcher Statuskriterien doch
nicht unterschätzen. So weiß man in jeder Stadt z. 8. , wo die " einfa-
290 7 Status

ehen Leute" und wo die " besseren Leute" wohn en, und man weiß auch,
woran man den Status der Bewohner dieser Viertel erkennt. Dabei spie-
len die gerade genannten objektiven Statuskriterien wie Einkommen,
Besitz oder Bildungsabschluss eine Rolle - wie man sie verm utet oder
wie sie sich dem Augenschein präsentieren. Gleichzeitig beurteilen die
Bewohner sich und ihresgleichen aber auch selbst, und da spielen u. U.
ganz andere, subjektive oder milieuspezifische Statuskriterien eine Rol-
le. Bei den einen überstra hlt das Aut o mit 200 PS alles andere, bei den
anderen wird man nicht anerkannt, wenn einem ein bestimmter Bil-
dungsabschluss fehlt. Das zeigt, dass Statuskriterien je nach Sozial-
schicht und Milieu unterschiedlich sind. Die Kriterien, mit dene n ein
sozialer Status bestimmt werden so ll, sind immer nur Kriterien aus ei-
ner spezifischen soz ialen Lage und aus einer bestimmten Zeit heraus.
Diese KlarsteIlung wird in der Soziologie von PIERRE BOURDIEUgleich
eine zentra le Rolle spielen.
Kehren wir noch einmal zu dem Stru kturaspekt zurück, unter dem
Parsons einen sozialen Status betrachtet. Wenn man die Kriterien, nach
denen er sich bemisst, genau liest, sieht man, dass Parsons die von Lin-
ton vorgenommene Unterscheidung zwischen Zuschreibung und Leis-
tung in seine Th eorie gleich eingebaut hat. Das war erforde rlich, weil
sich sonst nach der strukturfunktionalen Theorie nicht erklären ließe,
warum die Menschen bere it sind, sich auf die Rollenerwartungen ein-
zulassen, die mit einer sozialen Position verbunden sind. Um diese Fra -
ge ging es z. B. in seinem nachgelassenen Essay zur Theorie sozialen
Handeins, wo Parsons den Begri ff Status auf den Standort des indivi-
duellen Aktors in der Sozialstruktur bezieht. Er differenziert ihn in ei-
nem funktionalen Sin ne nach drei Modalitäten: "n ach seinem Rang in
der Sc hichtu ngsskala und den versch iedenen Teilbewertungen, die die-
sen Rang ergeben , nach seinem Verhältnis zur Struktu r von Autorität
und Rechten und nach seiner Stellung in bezug auf definierte Rollen."
Diese Position soll dann Status heißen, " insofern sie durch eine ge-
meinsame Wertorientierung sanktioniert, insofern sie »institutionali-
siert« ist." (Parsons 1939, S. 188f.) Das ist die Voraussetzung für die
Akze ptanz soz ialer Schichtung, und es erklärt auch, warum Parsons z.
B. die Plazierung in der Gesellschaft im Große n und Ganzen für ge-
recht hält: Der soziale Status ist die gerec hte Bewertung individueller
Leistung.
7 Status 291

Kriterien der Bewertung nennt auch G EORGE CA SPAR H OMANS, der


dazu aber gewissermaßen eine neutrale Theorie des Status entwirft. Für
ihn hat Status etwas mit der Bewertung des Austauschs zwischen Indi-
viduen zu tun. Diese Sicht findet sich erst in der revidierten Fassung
seines grundlegenden Werkes über .Social Behavior" , das bisher nicht
ins Deutsche übersetzt worden ist. Man kann Homans so verstehen,
dass sich die Mitglieder einer Gruppe voneinander u. a. durch ihre
wechselseitige Wertschätzung unterscheiden, wobei er Wertschätzung
durchaus im Sinne eines Kosten-Nutzen-Kalküls meint.

Oeorge Caspar Homans: Dimensions of status


"The fundamental dimensions of starus are those along which men can
be ranked according to what they give to others and what they get from
them. The capaeines of persons that produce differences between them
in power and therefore in status vary in detail from group to group; but
of course some such capaeines have been very common hases for
power in a large number of groups and society. Some of them have
been: intelligence and education, if these imply the capecity to find so-
lution 10 problems; command of physical force; command of material
goods; the presumed ability to control physical phenomena, such as
rein; capacity to restore physical or spiritual health. Corresponding to
this variety in what men can give to others is the variety in what they
get from them. Same of the things that men get in many groups end so-
cieties are: money and other fonns of wealth; esteem (...); deference;
and obedience (...). Persons that have these things to give and get these
things in return bccome recognized as holding high status not only in
their immediate groups hut in society at large. Note how the two di-
mensions stand out even in the very generalized status systems of large
modem societies. What counts most here are a person' s occupation
(what he gives) and his income (what hc gcts)." (Homans 1974: Social
behavior. Its elementary forms, S. 198f.)

Der Status einer Person wird also zunächst über den Austausch von
Gütern zwischen Personen definiert. Neben diese Dimension des Ge-
bens und Bekommens tritt allerdings noch eine andere Statusdimensi-
on. Homans beschreibt sie als "accretion" (Homans 1974, S. 199), was
man vielleicht am ehesten mit .Z uwachs" übersetzen kann. Was damit
gemeint ist, erläutert er an einem Beispiel: In einer Gruppe von ein-
flussreichen Personen wird der Person in der Regel ein höherer Status
292 7 Status

beigemessen, die älter ist oder schon länger in einer bestimmten Positi-
on ist. Es wird angenommen, dass mit Alter oder Dienstzeit auch ein
Zuwachs an Wissen, Macht u. ä. erfolgt ist, der wiederum von Vorteil
im Hinblick auf das Geben ist. Das scheint Homans die Erklärung dafür
zu sein, warum das Alter in vielen Gesellschafte n ein wichtiges Status-
kriterium ist. Neben diese "more fundamental dimensions of status"
treten aber noch andere: "se x, race, ethnicity, education, ancient line-
age". (Homans 1974, S. 199) Auch Homans misst also den von Linton
und Parsons genannten "z ugeschriebenen" Statuskriterien eine große
Bedeutung bei. Sie funktionieren als Reize für bestimmte Reaktionen:
"Thc crucial stimuli to social behavior are those presented by persons,
and a person ' s status is a set of such stimuli." (S. 200)
Wo in den Köpfen die Einstellung vorherrscht, dass Erfahrung vom
Alter abhängt, wird man bestimmte Leistungen eben nicht von jü ngeren
Leuten anfordern. Der Friedensrichter in Wyoming hat immer weiße
Haare, und für schwierige politische Missionen wählt man geme eider
statesmen. Im Austausch verstärkt also die Statusdimension Alter die
Chance des Gebens und damit der Macht. Genau in diesem Sinne sind
auch die anderen "z ugeschriebenen" Statuskriterien wie Geschlecht
oder Rasse zu verstehen: Für sich sagen sie gar nichts aus, aber in der
fllr eine Gesellschaft typischen Einschätzung verstärken oder schwä-
chen sie die Position im Austausch.
Neben den objektiven Statusdimensionen wie Alter und Geschlecht
gibt es natürlich noch andere Statusanzeichen, mit denen die Mitglieder
einer Gesellschaft sich und andere identifizieren und plazieren. Dabei
spielt der sog. Halo-Effekt eine wichtige Rolle, wonach ein Merkmal
das Gesamtbild eines Menschen überstrahlt und unterstellt wird, dass
mit einem bestimmt en Merkmal (z. B. Beruf) auch andere Merkmale
[z. B. Bildungsinteressen) verbunden sind. (vgl. Hofstätter 1954, S.
370) Wo diese Erwartungen erfLillt werden, scheint für die Außenste-
henden der soziale Status konsistent zu sein. In Wirklichkei t nehmen
sie nur Merkmale wahr, die ihrem Vorurteil entgegenkommen. Dass
dies sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf den anderen
haben kann, liegt auf der Hand. Auf der anderen Seite kann man aller-
dings durchaus feststellen, dass sich "zwischen den verschiedenen Sta-
tusanz eichen ziemlich hohe Korre lationen einz ustellen" pflegen. (S.
407) Diese Korrelation kann man dadurch erklären, dass die Angehöri-
gen einer Rangklasse mehr und engere Binnenkontakte aufweisen als
7 Status 293

Kontakte zu anderen Gruppe n. Das führt zu einer "Uniformierung des


Verhaltens der Angehörigen derselben sozialen Rangklasse". (Hof-
stätter 1954, S. 412)
Wie schon gezeigt wurdet, gehört zu jedem sozialen Status nicht nur
eine einzige zugeordnete Rolle, sondern eine Reihe von Rollen. (Mer-
ton 1957b, S. 260) Die Konstellation dieser Rollenbeziehungen kann in
sich wider sprüchlich sein. Das wurde als Rolle nkonflikt bezeichnet.
Nun nimmt das Individuum nicht nur einen sozialen Status, sondern
mehrere Status ein. Das hat R OBERT K. M ERTON in Anlehnu ng an den
Rollenset als Statusset bezeichnet. Diese verschiedenen Status, von
denen jeder wiederum einen eigenen Rollen-Set besitzt, können eben-
falls in Widerspruch zueinander stehen, weil die Erwartungen, die an
sie gerichtet sind, nicht zueinander passen. Dieser Widerspruch wird als
Statusinkonsistenz bezeichnet. "Nimmt ein Individuum diskrepante
Status ein, so sieht es sich widersprechenden Erwartungen und Erfah-
rungen im lnteraktionsprozess ausgesetzt. Seine inkonsistente Status-
konfiguration wird also im Interaktionsprozess bewertet und sanktio-
niert." (Bornschier u. Heintz 1977, S. 34) Wenn z. B. jemand zu Geld
gekommen ist und sich eine Bibliothek zulegt, weil er meint, das gehö-
re zu einem höheren Status, bei der Auswahl der Bücher aber nur auf
die farbliehe Abstimmung mit dem übrigen Interieur geachtet hat, wird
es sicher einige geben, die das hinter vorgehaltener Hand und mit Hä-
me kolportieren. Soziologisch verweist das Beispiel darauf, dass das
Individuum und seine Bezugspersonen den sozialen Status ganz anders
einschätzen und von unterschiedlichen Statuskriterien ausgehen. Diese
Di fferenz bekommt jeder Aufsteiger zu spüren, dem man noch lange
den kleinsten Fehler als Beweis ankreidet, dass er nicht wirk lich dazu-
gehört. Darauf werde ich gleich noch einmal zurückkommen, wenn ich
über " Die feinen Unterschiede" spreche.
Neben dieser Statusinkonsistenz, die im Wesentlichen dadurch zu-
stande kommt, dass man eine Plazierung im sozialen Raum und die
entsprechenden Kriterien des Verhaltens unterschiedlich bewertet, gibt
es aber auch eine objektive Statusinkonsistenz. Dafür gibt eine interes-
sante Untersuchung über den Zusammenhang von Bildung und Status-
inkonsistenz bei bestimmten Alterskohorten ein gutes Beispiel. Dort
wird festgestellt, dass die Bildungsexpansion den Zugang zu weiterfüh-

I Vgl. oben Kap. 3.2 .Merton. Der Rollen-Set".


294 7 Status

render Bildung verbess ert hat. Davo n haben vor all em Frauen profitiert.
Doch obwohl sie gleiche Bildungsabschlüsse wie Männer haben oder
sogar höhere Quali fikationen aufweisen, konnten sie sie nicht in Ein-
kommens- oder Statusgewinne im Beruf umsetzen: " Offensichtlich
kumuliert bei Frauen die Diskr epanz zwischen Investitions- und Beloh-
nungsdimensionen und damit Statusinkonsistenz. Sie verschärft sich
insofern, als Frauen trotz häufigerer A rbeitsp latzwechse l länger in sta-
tusinkosistenten Positionen verwei len, während Männer relativ schnel-
ler und mit geringerem Ressourcenaufwand unvorteilhafte Statuslagen
verlassen können," (Becker u. Zimmerma nn 1995, S. 360)
Kehren wir nach diesem Blick auf objektive Statusinkonsistenz wie-
der zurück zu den Bewertungen, die in der Annahme einer solchen In-
konsistenz und bei der Bewertung eines sozialen Status überhaupt im-
mer mitschwingen. Wie viele Untersuchungen zur Fremd- und Selbst-
einschätzung gezeigt haben, werden Statusränge nach Bildung, Ein-
kommen, Herkunft, Konfession, Beruf usw. höchst unterschiedlich be-
wertet. Doch auch das sind keine objektiven Kriterien, sondern sie
werden subjektiv oder milieuspezifisch gewichtet. Mittels dieser Be-
wertungen schätzen Individuen ihren Status und den der anderen ein.
Dieser Gedanke leitet Ober zu der Diskussion über den Zusammenhang
von Sozialprestige und Statussymbolen.
Wird einem sozialen Status eine hohe Wertschätzung entgegenge-
bracht, spricht man von Sozialprestige. Auch diese Wertschätz ung ist
natürlich nicht objektiv und einheitlich, sondern variiert von Schicht zu
Schicht. So lässt sich empirisch belegen, dass "un terschiedliche Syrn-
bolsysteme für die Zurechnung von Prestige verwandt werden - dass
etwa in den unteren Schichten das Einkommen, in den Mittelschichten
der Beruf und in den oberen Schichten die Schulbildung stärker betont
werden." (Scheuch u. Daheim 1961, S. 72) Soz iales Prestige variiert
aber auch z. B. nach den Generationen. Bei jungen Leuten zählt viel-
leicht die sportliche Leistung oder das modische outfit, während die
mittlere Generation es mehr mit dem richtigen Kurort und der hypothe-
kenfreien Eigentumswoh nung hält.t
Mit dem sozialen Status sind Erwartungen nonnativer Art verbun-
den, die in einer bestimmt en Bezugsgruppe gelten. Das Konzept des
Stat us hätte ohne Gruppen auch keinen Sinn, " da er sich auf Vergleich

1 Klischees haben auch ihr Gutes: Man erntet rascher Zustimmung und Protest.
7 Status 295

und Hierarchien aufbaut und sich auf den relativen Standort eines Indi-
viduums bezieht." (Hartley u. Hartley 1952, S. 403) Einen sozialen
Status hat man nicht für sich, sondern vor anderen, und diese definieren
ihn auch.
Um einen bestimmten sozialen Status zu unterstreichen (oder vor-
zutäuschen), verwenden Menschen Statussymbole. Es spricht viel für
die These, dass Statussymbole eine Folge der Urbanisierung (Form u.
Stone 1957) oder besse r der sozialen Verdichtung sind. Wo jeder j eden
kennt , spielen Statussymbole nur eine geringe Rolle. Je weniger man
aber über eine Person weiß, umso mehr versuc ht man sie über Stat us-
symbo le zu identifizieren, und umgekehrt versuch t man seinen Status
auch dem flüchtigsten anonymen Zuschauer über sofort verständliche
Statuss ymbole zu demonstrieren. Hier liegt aber ein Prob lem, das man
die kontinuierliche Inflation und Deflation von Statussymbo len genannt
hat. (Zelditch 1968, S. 256)
Tempo und Funktionalität der Symbol e bestimmt die Mode. Deshalb
müssen diejenigen, die es nötig haben, ständig neue Symbole für ihren
Status erfinden. Doch Vorsicht, sobald alle z. B. ein Handy haben, ver-
liert dieses Statussymbol seine n Wert als Unterscheidungsmerkm al.
Noch etwas anderes macht das Spie l um soziale Abstände heikel: Sta-
tussymbole müssen auch von den anderen verstanden werden ! Es ge-
nügt keineswegs, sich symbolisch unterscheiden zu wollen, sondern
man muss auch jemand en finden, der diese Symbole auch so interpre-
tiert. Die Wahl der Symbole wird nicht nur von einer Seite diktiert:
" Die Symbole dürfen nicht so beschaffen sein, dass sie keine Resonanz
in der Umwe lt, in der sie wirken sollen, hervorrufen. Sie müssen auch
(...) das Interesse der Umwe lt an den Trägem der Symbole wecken und
aufrechterhalten." (Kl uth 1957, S. 41) Etwas plastischer: Was keiner
versteht (rote Ziege lsteine in jeder Zimme recke), macht keinen nei-
disch; was jeder kennt oder hat (grüne Brokatdeckehen unter j edem
Blumentopf), taugt auch nicht als Stat ussymbol. Die richtige Misc hung
aus Fremdheit und Vertrautheit, das macht den Wert der Statussym bo le
und des Prestiges aus.
Viele Statussymbole der Modeme bestehen in mat eriellen Gütern,
die jedermann erwerben kann , wenn er "nu r" das entsprechende Klein-
geld hat. Ich betone "nur" , weil es keine andere regulierende Kontrolle
des Zugangs zu solchen Prestigesymbo len mehr gibt. Das war vor eini-
gen hundert Jahr en noch ganz anders, wo z. B. fest gerege lt war, wer
296 7 Status

welche Stoffe für welche Kleider erwerben durftet! Gerade die Klei-
dung unterliegt der von Zelditch angesprochenen Deflation von Status-
symbolen. Selbst wo sich Hersteller durch den Auswe is einer exklusi-
ven Mark e und entsprechende Preise und Kunden durch die Treue zu
diesem "ex klusiven" Produkt vor der symbolischen Entwertung zu
schützen versuchen, ist der soziale Gewinn nur von kurzer Dauer. Die
Tricks, die ein globaler Markt inzwischen anwendet, um den Kunden
immer wieder einen besonderen Status einzureden, sind bekann t.
Die Entwe rtung von bestimmten Statussymbolen über ihre allgemei-
ne Zugänglichkeit hat dazu geführt, dass sich Eliten über " feine Unter-
schiede" abgre nzen. Au f eine Konsequenz der Entwertung kultureller
Statussymbole, konkret Leistungszert ifikate und Bildungstitel. komme
ich unter dem Stichwort " Habitus" gleich noch einm al zurück.
Eine weitere Konsequenz dieser Demokratisierung der sichtbaren
Statussymbole liegt dan n, dass Statussymbole immer unsichtbarer wer-
den. Das ist die These von VANCE PACKARD, der behauptet, die ameri-
kanische Gesellschaft weise " eine sich offenbar immer mehr verfei-
nernde Klassenstruktur" auf. (Packard 1959, S. 14) Das sei auf den ers-
ten Blick nicht zu erkennen, weil .,unsichtbare Schranken" die einzel-
nen Ränge trennten und verhinderten, dass die falschen Leute Zugang
zu den besseren Rängen bekommen. Gleichwohl seien viele ständig auf
der Suche nach einem besonderen Status. Packard hat sie Statuss ucher
genannt. Sie hoffen, wenigstens den Schein eines besonderen Status zu
erwecken. Deshalb umgeben sie sich mit den äußeren Zeichen - den
Statussymbol en - des Rangs, den sie anstreben. Das erklärt, warum
Au fsteigerz typischen Statusmerkmalen der angestrebten Sozialschicht
viel mehr Bedeutung beimessen als diese selbst und warum Konformi-
tät als die mindeste Fonn der Demonstration eines neuen Status gilt.
Das wiederum erklärt, warum der Aufsteiger peinlich auf Abstand zu
denen hält, die er hinter sich gelassen hat.

VgJ. z. B. zu den Stra fen, die bei Übertretung zu zahlen ware n, Band I, Kap. 8.1
..Über das dreigeteilte Haus Gottes und den Beruf des Menschen", S. 269 ff..
2 Bourdieu wird das als fehlendes .xpielerlsches Verhältn is" der Kleinbürger zu
bestimmten Statussymbolen geißeln. Vgl. unte n Kap . 7.4 .Die feinen Unterschie-
de", S. 3 10.
7 Status 297

7.3 Veblen: Demonstrativer Müßiggang und Konsum der feinen


Leute
Mit dem sozialen Status ist oft nicht nur die Erwartung bestimmter
konkreter Verhaltensweisen, sondern auch einer bestimmten Lebens-
führung verbunden. Diesen Zusammenhang hat MAx WEBER in seiner
Abhandlung über " Klasse, Stände und Parteien" dargestellt. Weber
benutzt zwar nicht den Begriff Status, aber seine Beschreibung des
Standes I trifft ziemlich genau eine kollektive Lage, die als sozialer Sta-
tus einer bestimmten Gruppe bezeichnet werden kann. Weber spricht
von der ständischen Lebensführung und der damit verbundenen Stili-
sierung des Lebens. (Weber 1922, S. 637)
Dieser Gedanke einer bestimmten Lebensführung steht im Mittel-
punkt der "Theory of the Leisure Class", die der norwegisch-ameri-
kanische Nationalökonom und Soziologe THORSTEIN VEB LEN (1857-
1929) im Jahre 1899 veröffentlicht hat. Veblen stellte die These auf,
dass Besitz und Konsumgüter vor allem als Zeichen von Wert
("wort h") und Tüchtigkeit ("p rowess") gelten. Dabei machte er die
merkwürdige Erfahrung, dass bestimmte Leute dazu neigen, ihren sozi-
alen Rang durch demonstrativen Müßiggang ("conspicious leisure")
oder demonstrativen Konsum ("conspicious consumption") zu un-
terstreichen oder auch nur vorzutäuschen. Veblen blickt in die Ge-
schichte des Eigentums zurück:

Thorstein Veblen : Trophäen und Reichtum


als Zeichen des Erfolgs
" Das erste Eigentum bestand in der Beute, den Trophäen eines siegrei-
chen Raubzugs. Solange die Gruppe wenig von der ursprünglichen ge-
sellschaftlichen Ordnung abwich und solange sie in Berührung mit
feindlichen Gruppen stand, lag der Nutzen von Sachen oder Personen,
die der Gruppe zu Eigentum gehörten, hauptsächlich in dem neiderfüll-
ten Vergleich zwischen der besitzenden Gruppe und dem Feind, dem
sie abgenommen worden waren. Die Unterscheidung zwischen indivi-
duellen und Gruppeninteressen ist offenbar erst später entstanden. Der
neidische Vergleich zwischen dem Besitzer der Ehre verleihenden Beu-
te und seinen weniger glücklichen Gruppengefahrten wurde aber zwei-

Deshalb haben die amerikanischen Übersetzer von "Wirtschaft und Gesellschaft"


diesen Begriff zu Recht mit »status« übersetzt.
298 7 Status

fellos schon früh gezogen und stellte einen Teil des Nutzens dar, den
Eigentu m brachte. (...)
Auf das primäre Stadium des Eigentums, nämlich auf den Erwerb
durch einfachen Raub, folgt eine weitere Phase, nämlich die beginnen-
de Organisation der Arbeit auf der Grund lage des Privateigentums (das
heißt hier: der Sklaven); die Horde wird zu einer mehr oder weniger au-
tarken Arbeitsgesellschaft. Besitz gilt nun nicht mehr in erster Linie als
Zeugn is eines geglückten Raubzuges, sondern vor allem als Zeichen
der Überlegenheit des Besitzenden über andere Gruppenmitglieder.
Damit wird der neiderfüllte Vergleich zu einem Vergleich zwischen
den besitzenden und den besitzlosen Ange hörigen der Grup pe. (...)
Mit der Entwicklung geregelter Arbeitsverhältnisse wächst deshalb
auch die Bedeutung des Reichtums als Grundlage von Ruf und Anse-
hen. (...) Bedeutsamer ist dabei noch, dass es nun das Eigentum - im
Gegensatz zur heroischen Tat - ist, welches zum leicht erkennbaren
Beweis des Erfolgs und damit zur gesellschaftlich anerkannten Grund-
lage des Prestiges wird. Besitz wird notwendig für eine angesehene
Stellung in der Gesellschaft. (...) Reichtum, der einst nur als Beweis der
Tüchtigkeit galt, wird nun in der öffentlichen Meinung zum Verdienst
an sich; er ist seinem Wesen nach ehrenhaft und verleiht deshalb sei-
nem Besitzer Ehre. Und im Laufe einer sich immer weiter verfeinern-
den Entwicklung wird der von den Vorfahren ererbte Reichtum bald für
ehrenhafter gehalten als vom Besitzer selbst erworbene Güter." (Veblen
1899: Theorie der feinen Leute, S. 36f.)

Im Üb ergang von der " räuberi sch en Kultur" zur "scheinbar friedlichen"
(Veblen 1899, S. 60) Epoc he der Industriegese llschaft kommt es zu
einer doppelten pr estigeverheißenden Strategie: Man zeigt demonstra-
tiv seinen Re ich tum und dem on strativ Nichtarbeitl " Um Ansehen zu
erwerben und zu erhalten, ge nügt es nicht, Rei chtum oder Mach t zu
besitz en. Heid e müssen sie auch in Erscheinung treten." (S. 42) Dazu
zeigen d ie e inen durch verschwende rischen Kon sum (sconspicious
consumption«), wie erfolg reich sie nach ihrer eigen en Einschätz ung
sind, während die anderen ihr Prestige dadurch herausstre ichen, dass
sie entweder selbs t nicht arbeiten (econspicious lei sure«), od er sich
Personen leisten, die stellvertretend ni cht arb eiten . Wa s die letzte Form
des stellvertretende n demonstrativen Mü ßi ggangs angeht , erinnert
Veblen wortreich an d ie Eh efrau, die in bestimmten Kreisen nicht ar-
be iten darf und sich Beschäft igun gen hin gibt, die nicht im entferntesten
7 Status 299

an ernsthafte oder gar mühselige Arbeit erinnern.t Aber auch der Hin-
weis auf Personal oder Handwerker, die für einen auch die einfachsten
Arbeiten erledigen, dient der Demonstration, dass man diese Form pro-
duktiver Arbeit nicht nötig hat. Und hinter mancher liebevollen Pflege
völlig nutzloser und teurer Hobbys oder absichtslosen Versenkung in
ästhetische und künstlerische Interessen mag auch der stille Wunsch
stehen, dass andere das auch als weiteste Entfernung von banaler Lohn-
arbeit verstehen.
Eine letzte Form, Zeit nichtproduktiv zu verwenden, sieht Veblen in
den feinen Manieren: .Die Kenntnis und Beherrschung feiner Lebens-
formen ist eine Frage langer Gewöhnung. Guter Geschmack, Manieren
und kultivierte Lebensgewohnheiten sind wertvolle Beweise der Vor-
nehmheit, denn eine gute Erziehung verlangt Zeit, Hingabe und Geld
und kann deshalb nicht von jenen Leuten bewerkstelligt werden, die
ihre Zeit und Energie für die Arbeit brauchen." (Veblen 1899, S. 50)
Um sich beim Austemschlürfen nicht die Finger abzusäbeln braucht
man a) Zeit zum Üben, b) viel Geld für das Grundmaterial und c) Zeit,
weil es sie hier leider nicht in jed er Dorfkneipe gibt. Wer all das aber
hat, kann sich seinem Publikum stellen.
Ich komme zu der anderen Strategie, einen besonderen Status he-
rauszustreichen, dem demonstrativen Konsum. Diese Strategie klang
gerade in dem Beispiel mit den Austern (ersatzweise kann man natür-
lich auch bestimmte Weine aus der Toscana oder Zigarren aus der Ka-
ribik nehmen!) schon an. Wichtig ist nun, demonstrativen Konsum
nicht mit dem Protz des Neureichen zu verwechseln. Solche plumpen
Geschmacklosigkeiten, die Veblcn um die Jahrhundertwende in den
USA vielleicht besonders auffielen, gehen heute selbst "kleinen Leu-
ten" auf die Nerven. Veblen interessierte sich denn auch mehr für die
verfeinerten Formen demonstrativen Konsums, mit denen wir in der
scheinbar friedlichen Industriegesellschaft Prestige erwerben und be-
weisen wollen. Veblen beginnt wieder mit einem Blick in die frühe,
" räuberische" Kulturepoche. Dort hatte der das größte Ansehen, der der
Kräftigste war, den Feinden die meisten Trophäen abgenommen hatte
und seinen Reichtum dann auch hemmungslos genießen konnte. Der
erfolgreichste Jäger nahm selbstverständlich das beste Stück Fleisch,

Ich enthalte mich an dieser Stelle jeglicher Süffisanz. Ihnen fallen sicher selbst
gute Beispiele ein! Wem partout nichts einfallt, kann hilfsweise eine Woche Vor-
abendprogramme aus der feinen Gesellschaft gucken.
300 7 Status

und wer sich bei der Erob erung eines Dorfe s hervorgetan hatte, du rfte
auch den größten Humpen Met leere n. Aus dieser Zeit rilhrt die Diffe-
renzierung der Nahrungs mittel, die wir bis heute kennen.
Heute stellt man sein Prestige aber nicht mehr unter Beweis, indem
man viel isst, sondern indem man Ausgefallenes, Teures und Se ltenes
in kleinen Port ionen zu sich nimmt. Wenn der westfälische Bauer seine
Kne chte betrachtete, dan n sah er sie .fdäten", sich selbs t hielt er zugu te
zu .J äten", und wenn er sich den Luxus leistete, auszugehen, dann ging
er .spiesen'', Der sozialen Differenzierung über das Essverhalten kom-
men bestimmte Restaurants inzwischen dadurch entgegen, dass sie aus-
gefallene Zutaten komb inieren und ihre Kreationen in kleinsten Portio-
nen servie ren. M it dieser kultursoziologischen Einsc hränkung ist die
fo lgende Beschreibu ng des demonstrativen Kon sums zu lesen:

Thorstein Veblen: Demonstrativer Konsum


" Der müßige Herr der scheinbar friedlichen Epoche konsumiert somit
nicht nur viel mehr, als zur Erhaltung seines Lebens und seiner physi-
schen Kräfte notwendig wäre, sondern er spezialisiert seinen Verbrauch
auch im Hinblick auf die Qualität der konsumierten Güter. Frei und un-
gehemmt genießt er das Beste, was an Esswaren, Getränken, Narkoti-
kat , Häusern, Bedienung, Schmuck, Bekleidung, Waffen, Vergnügen,
Amuletten, Idolen und Gottheiten zu haben ist. Den wesentlichsten
Grund für die allmähliche Verbesserung der Verbrauchsartikel und das
nächstliegende Ziel einer jeden Neuerung bildet ohne Zweifel das er-
höhte persönliche Wohlbehagen. Doch stellt dieses nicht den einzigen
Zweck des Konsums dar. Das Prestige bemächtigt sich nämlich alsbald
der Neuerungen und bestimmt nach seinem Ermessen, welche überle-
ben sollen. Da der Konsum von besseren Gütern ein Beweis des Reich-
tums ist, wird er ehrenvoll." (Veblen 1899: Theorie der feinen Leute, S.
66)

Deshalb darf man auch nicht zu wenig von den feinen Dingen kon su-
mieren, denn wer nu r einma l im Jahr einen Jahrgangschampagner
trinkt, kann sich vie lleicht nicht mehr leisten; wer sich aber jeden Frei-
tag das Gl äschen im Ede lbistro leistet, ist schon wer.

Darunter versteht Veblen auch Alkohol. Es ist inunerhin die Zeit, in der sich die
Prohibition in den Vereinigten Staaten formierte. Die Prohibition Party wurde
schon 1869 gegründet, 1893 folgte die Anti-Saloon League.
7 Status 301

Es liegt auf der Hand, dass die Ausbildung eines feineren Ge-
schmacks Zeit und intellektuelle Anstrengung erfordert. Deshalb gehört
zum Prestige auch, "ge nau zwischen edlen und gemeinen Konsumgü-
tern zu unterscheiden" . (Veblen 1899, S. 66) Prestige, so könnte man
die später zu referierenden Thesen von PIERRE BOURDIEU schon vorbe-
reiten, ist anstrengend: Man muss ständig wissen, welcher Prestigewert
einem bestimmten Verhalten oder einem bestimmten Attribut zu-
kommt! Riesmans These von der Außenleitung meint im Grunde nichts
anderes.
Veblen leitet nun zu einem merkwürdigen Mechanismus des de-
monstrativen Konsums über, der darin besteht, durch exzessiven
Verbrauch von Reichtum einem Rivalen zu imponieren. Kulturge-
schichtlich haben die prunkvollen Feste auch diese Funktion seit je ge-
habt, und die Geschenke, die Herrscher einander machten, dienten auch
dazu, das eigene Prestige nach Möglichkeit Ober das des anderen zu
stellen. Eine Variante des exzessiven Zurschaustellens von Reichtum
hat die kulturanthropologische Forschung im sog. Potlatch der Kwaki-
utl-Indianer an der NW-Küste der USA identifiziert. Weil dieser
Stamm vom Fischfang lebt, haben Kanoes eine wichtige Bedeutung.
Nun kommt es vor, dass bei einem Stammestreffen die Häuptlinge ih-
ren besonderen Rang nicht nur dadurch herausstellen, dass sie mit der
Anzahl ihrer Kanoes prahlen, sondern sie sogar vor den Augen der an-
deren zerstören, um so ihren überlegenen Status zu belegen. Hans
Christian Andersen hat in seinem Märchen vorn fliegenden Koffer ähn-
liches beschrieben, wo der Sohn des Kaufmanns so reich ist, dass er
Wasserhüpfen mit Goldstücken statt mit Steinen spielt. Demonstrativer
Konsum heißt also, die Funktion eines Gutes zu zerstören. Auf diese
Weise zeigt man, dass man jeglicher Notwendigkeit (z. B. in Form dar-
aufzu verwendender Arbeit) enthoben ist.
Es dürfte klar geworden sein, dass die Theorie von Veblen unter der
Hand die These von der Außenleitung in der Modeme vorweggenom-
men hat. Deshalb will ich abschließend zitieren, was Veblen für unsere
fortgeschrittene, schnel11ebige Modeme vor hundert Jahren prophezeit
hat, ob also sich demonstrativer Müßiggang oder demonstrativer Kon-
sum durchsetzen wird:
302 7 Status

Thorst ein Vcbl cn : Der hohe Wert der flüchtigen


guten M einung
"Solange die Gesellschaft oder die Gruppe so klein und so übers ichtlich
ist, dass die Sichtbarkei t, die bloße Offenkundigkeit einer Tatsache ge-
nügt, um sie bekannt zu machen, das heißt , solange die menschliche
Umwelt, an die sich der Einzelne mit Rücksicht auf das Prestige anpas-
sen muss, aus persönlichen Bekanntschaften und nachbarlichem
Klatsch besteht, solange ist die eine so gut wie die andere, was für die
frühen Stadien der gesellschaftlichen Entwicklungen zutrifft. Doch mit
zunehmender sozialer Differenzierung wird es nötig, eine gr ößere
menschliche Umwelt zu berück sichtigen, weshalb allmählich der Kon-
sum als Beweis von (Schicklichkeit) (decency) der Mu ße vorgezoge n
wird. Dies gilt besonders für das spätere friedliche Stadium. Hier ru-
cken die Kommunikationsmittel und die Mobilität der Bevölkerung den
Einzel nen ins Blickfeld vieler Menschen, die über sein Ansehen gar
nicht anders urteilen können als gemäß den Gütern (und vielleicht der
Erziehung) , die er vorzeigen kann.
Die moderne industrie lle Organisation wirkt sich auch noch in ande-
rer Weise aus. Oft erfordert sie nämlich, dass Individuen und Haushal-
tungen nebeneinander leben, zwischen denen sonst keiner lei Kontakt
besteht. Die Nachbarn sind gesellschaftlich gesehen oft keine Nach-
barn, j a nicht einmal Bekannte, und trotzdem besitzt ihre flüchtige gute
Meinung einen hohen Wert. Die einzige Möglichkeit, diesen (teil-
nahmslosen Beobachtern unseres Alltagslebens) (unsympathetic obser -
vers of one ' s everyday Iife) die eigene finanzielle Stärke vor Augen zu
führen, besteht darin, diese Stärke unermüdlich zu beweisen. In der
modernen Gesellschaft begegnen wir außerdem einer Unzahl von Per-
sonen, die nichts von unserem privaten Dasein wissen - in der Kirche,
im Theater, im Ballsaal, in Hotels, Parks, Läden usw. Um diese flüchti-
gen (Beobachter) gebührend zu beeindrucken und um unsere (Selbstzu-
friedenheit) (self-eomplacency) unter ihren kritischen Blicken nicht zu
verlieren, muss uns unsere finanzielle Stärke auf der Stirn geschrieb en
stehen, und zwar in Lettern, die auch der flüchtigste Passant entziffern
kann.
Deshalb wird wohl in der künftigen Entwicklung der Wert des de-
monstrativen Konsums jenen der demonstrativen Muße weit überflü-
geln ." (veblen 1899: Theorie der feinen Leute, S. 75) 1

I Meine Korrekturen an der deutschen Übersetzung stehen in Klammem.


7 Status 303

Ich habe eben referiert, dass Statu ssymbole erst in einer Gesellschaft
wichtig werden, wo nicht mehr jeder jeden kennt. Veblen hat richtig
vorausgesagt, wie wir unter das Diktat bestimmter Statuss ymbole, die
alle etwas mit demonstrativem Konsum zu tun haben, geraten. Ich sehe
aber auch Anzeichen dafür, dass der demonstrative Müßiggang als Sta-
tussymbol nicht aus der Mode gekommen ist. Galt es näm lich früher als
vornehm, blass zu sein, um sich von denen zu unterscheiden, die offen-
sichtlich drau ßen arbeiten mu ssten und von der Sonne verbrannt wur-
den, so hebt die braune Gesichtsfarbe heute das Ansehen, denn offen-
sichtlich kann man sich reichlich Freizeit in sonnige n Gefilden (oder
zumindest den regelm äßigen Besuch im Sonnen studio) leisten.

7.4 Bourdieu: Die feinen Unterschiede


Der französische Soziologe PI ERRE B OURDI EU (1930-2002) untersuch-
tel in seinem Buch .Die feinen Unterschiede" (1979) die französische
Gesellschaft unter der Annahme , dass es eine Klassengesellschaft ist, in
der sich die Angehöri gen der Klassen durch die Verfügung über Kap i-
tal und durch Unterschiede in Geschmack und Lebensstil untersc hei-
den. Sowohl zwischen den Klassen als auch innerhalb der Klassen sind
Indivi duen in dieser Hinsicht abgegrenzt und grenzen sich voneinande r
ab. Obwohl Bourdieu den soziologisc hen Begriff des Status nicht sys-
tem atisch verwendet, kann man sein Buch auch als Schil derung eines
Klassenkampfe s um den sozialen Statusa lesen. Ich beschränke mich
hier auf die Aussagen, die die Diskussion über den soz ialen Status in
eine neue Richtun g lenken.
Bourdi eu untersche idet zwischen drei Kapital sorten . Die erste nennt
er ökonomisches Kapital, und damit sind vor allem Geld und Eigentum
gemeint, die zweite soziales Kap ital. Es besteht im Wesentlichen in den
sozi alen Beziehun gen, über die man verfügt. Im Zusammenhang mit
dem sozialen Status ist vor allem das dritte, das kulturelle Kap ital inte-
ressant. Es besteht in Wissen und Qualifikationen, aber auch in Hand-

Ich knüpfe an einigen Stellen an das an, was ich in Band 1, Kap. 9.3 "So zialer
Raum, Kapital und Gescluna ck" über seine Erklärung sozialer Ungleichheit gesagt
habe.
1 Man kann es auch als Vertiefung der "Theorie der feinen Leute" von VebJen le-
sen, den Bourdieu allerding s in seinem Buch mit keinem Wort erwä hnt!
304 7 Status

lungsformen und Einstellungen, die in der Familie und im Ausbil-


dungssystem erworben wurden.
Alle drei Kapitalsorten zusammen bestimm en die Plazierung des In-
dividuums im sozialen Raum . Der soziale Raum besteht aus objektiven
sozialen Positionen und aus einer Struktur objektiver Relationen , die
aus klassenspezifischen Handlungsweisen und Einstellungen resultieren
und sie wieder determinieren. (vgl. Bourdieu 1979, S. 378f.) Durch das
tägliche Handeln wird das einem sozialen Raum angemessene Prinzip
des Denkens und Handeins immer wieder verstärkt. Das Individuum
veri nne rlicht die " typischen Gedanken, Wahrn ehm ungen und Handlun-
gen einer Kultur", d. h. seiner Kultur, und entwickelt daraus eine typi-
sehe .Disposition gegenüber der Welt" . (Bourdieu 1967 S. 143 und
1983a, S. 132) Diese Disposition bezeichnet Bourdi eu als Habitus.
Der Habitus bewirkt als generatives Prinzip die Praxisforrnen, die
für den sozialen Raum angemessen sind. Und ebenso generiert er den
Rahmen, in dem sich die Individuen auch selbst zu sehen haben. Indem
sie ihn total verinnerlicht haben, funktioniert er automatisch als immer
neue Zuweis ung des Individuums an den richtigen Ort. Man kann es so
zusammenfassen: Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital defi-
nieren zusammen den Status, wo also jemand im sozialen Raum pla-
ziert wird. Der Habitus fixiert den sozialen Status.
Bei der sozialen Plazierung in der Klassengesellschaft generell und
dem spezifischen sozialen Raum kommt dem kulturellen Kapital, und
zwar durch seine Objektivation, also die Art, wie es zum Ausdruck ge-
bracht wird, eine besondere Bedeutung zu. Die Obj ektivation, die die
soziale Differenzierung ganz eindeutig macht, ist fllr Bourdieu der Ge-
schmack.
Bourdieu unterscheidet drei Gesclunacksarten , die das Ergebnis der
Unterschiede der Sozialisation, sprich hier: der Verinn erlichung eines
klassenspezifischen Habitus, des kulturellen Kapitals und der objekti-
ven Stellung in der Sozialstruktur sind : den " legitimen oder herrschen-
den" Geschmack der Bourgeoisie, den "mi ttleren" Ge schmack in den
Mittelklassen bzw. den "prätentiösen" Geschmack des Kleinbürger-
tums, das Bourdieu ebenfalls zu den Mittelklassen zählt, und schließ-
lich den " volkstümlichen oder barbarischen" Geschmack der "c lasse
populai re", der Unterschicht, zu der die Arbeiter und Bauern gehören.
Man kann sich denken, wie schwer sich manche kritischen Soziologen
mit dieser Wortwahl eines ansonsten doch geistesverwa ndten Kollegen
7 Status 305

getan haben, zumal er keinen Zweifel daran ließ, was er als »legitimen
Geschmack« ansah!
Bourdieu lenkt nun den Blick auf zwei Prozesse, die man als Kampf
um den sozialen Status ansehen kann. Da ist einmal die obere Klasse,
die einen raffinierten internen kulturellen Klassenkampf austrägt, und
zum anderen die Mittelkl asse, in der sich ebenfa lls ein permanenter
Kampf um Anerkennung und Unterscheidung abspielt.
Betrachten wir zunächst den internen Klassenkamp f der Bourgeoi-
sie. Es ist ein Kampf, der mit den Mitt eln des kulturellen Kapitals aus-
getragen wird und die Schließung sozialer Kreise zum Ziel hat. In die -
sem Kampf um Distinktion, also der bewussten Abgre nzung gegenüber
anderen, spielt die Art der Ane ignung von und des Umgangs mit kultu-
rellem Kapital eine entscheidende Rolle. In der oberen Klasse machen
sich daran die feinen Unterschied e fest. Zur internen Differenzierung
dient nämlich das Prinzip der Anciennität: Wer sein Bildungskapit al
schon im Elternhaus erworben hat, blickt verächtlich auf den Aufstel-
ger hinab. Es komm t noch etwas andere s hinzu : Wer sein kulturelles
Kapital von Kind auf akku muliert hat, konnte es in Muße in vielerlei
Hinsicht differenzi eren. Es war ihm und seinesgleichen selbstverständ-
lieh, und es zu erwerben bedeutete keine übermäßige Anstrengung.
Man konnte gelassen damit umgehen und musste es anderen in der
gleichen Lage nicht beweisen. Diese Gelassenheit wird der Aufsteiger ,
wie Bourdieu feststellt, nicht erreichen, weil man ihm die Plackerei des
Aufstiegs immer ansehen wird. (vgl. Bourdieu 1983a, S. 136) In der
Sprache Lintons fehlt dem achieved status die Zuschreibung der richti-
gen Vorgeschichte! I
Distinktion lebt von einem zeitlichen Vorsprung symbolischer
Kompetenz und von der Ablehnun g nachträglicher Qualifikation . Sie
ist gepaart mit einer "äs thetischen Einstellung" zu kultur ellen Symbo-
len. Damit ist gemeint, sie nicht auf ihre prakti sche Funktion oder rea-

Ich habe im Zusanunenhang mit der Entwertung von kulturellen Statussymbolen


angedeutet, dass sich Eliten über feine Unterschiede definieren. Ein Beispiel für
einen besonders feinen Unterschied liefert MICHAEL HARTMANN, der in einer ein-
drucksvollen empirischen Studie herausgefunden hat, dass bei der Rekrutierung
des Nachwuchses in Leitungsfunktionen der Wirtschaft die Würdigung der objek-
tiven Leistung durch die Wiedererkennung eines bestinunten Habitus überlagert
wird. Wer einen bestinun ten sozialen und kulturellen Hintergrund mitbrachte, hat-
te signifkant größere Chancen, eingestellt zu werden, als der, der .n ur' über gute
Leistungszertifikate verfügte . (vgl. Hartmann 2002)
306 7 Status

listische Wiedergabe zu prü fen, sondern den Stil, die Fonn und ihren
hintergründigen Sinn zu schätzen. Etwas näher am Alltag: Man kauft
nicht die Kaffeekanne, mit der man am besten einschenken kann, son-
dern die ein bestimmtes Design hat. Die ästhetische Einstellung ist
durc h ,,Distanz zur Notwendigke it" gekennzeichn et:

Pferre ßourdieu : Die Distanz zur Notwendigkeit


"Die ästhetische Einstellung, die zur Auskfam mernng von Natur wie
Funktion des Dargestellten tendiert, zur Ausschaltung wie aller rein e-
thischen so auch jeder »naiven« Reakt ion - Grauen vor dem Grauen-
haften, Begehren nach dem Begehrenswerten, gläubiger Kniefall vor
dem Heiligen - , um ausschließlich die Darstellungsweise. den Stil, er-
fasst und bewertet im Vergleich zu anderen Stilen, in Betracht zu zie-
hen, ist integraler Bestandteil eines umfassenden Verhältnisses zur Welt
und zu den Menschen. Sie bildet eine Dimension eines Lebensstils,
worin, wenn auch in verstellter Form, spezifische Existenzbedingungen
zur Wirkung kommen; Voraussetzung für je de Form des Lemens von
legitimer Kultur, sei es implizit und diffus wie gemeinhin innerhalb der
Familie, oder explizit und spezifisch ausgerichtet wie im Rahmen der
Schule, zeichnen sich diese Existenzbedingungen aus durch den Auf-
schub und die Suspendierung des ökonomischen Zwangs und zugleich
durch objektive wie subje ktive Distanz zum Drängenden der Praxis,
dem Fundame nt der objektiven wie subjektiven Distanz zu den diesen
Detenninismen unterworfenen Gruppen. (...)
Gerade dadurch wird die ästhetisc he Einstellung auch objektiv wie
subjektiv in Bezug auf andere Einstellungen definiert: Zur obj ektiven
Distanz gegenüber der Sphäre des Notwendigen und gegenüber denen,
die darin eingebunden sind, kommt j ene beabsichtigte Distanzierung
hinzu, mit der Freiheit sich verdoppelt, indem sie sich zur Schau stellt.
Je mehr die obj ektive Distanz wächst, umso stärker wird der Lebensstil
auch Ausfluss dessen, was Weber eine »Stilisierung« des Lebens nann-
te, d. h. eine systematische Konzeption, die die vielfaltigsten Praktiken
leitet und organisiert, die Wahl eines bestimmten Weins oder einer Kä·
sesarte nicht minder als die Ausstattung eines Landhauses, Als Bekräf-
tigung der Macht über den domestizierten Zwang beinhaltet der Le-
bensstil stets den Anspruch auf die legitime Überlegenheit denen ge-
genüber, die (...) von den Interessen und Nöten des Alltags beherrscht
bleiben," (Bourdieu 1979: Die feinen Unterschiede, S. 100f. und 103f.)
7 Status 307

Was Bourdieu hier als Distanz zur Notwendigkeit beschreibt, liest sich
wie eine modeme Umschreibung des Prinzips demonstrativen Müßig-
gangs bei Veblen: Ein überlegener Status wird urnso mehr zum Aus-
druck gebracht, je weniger die Tätigkeiten an profane Arbeit erinnern!
Wenden wir uns nun dem zweiten Kampf, der sich in der breiten
Mittelklasse abspielt, zu. Die Mittelklasse, in der sich die deutlichsten
Auf- und Abstiege abspielen und wo der Kampf um den sozialen Status
besonders verbissen ausgetragen wird, folgt dem kulturellen Kanon,
wie sie ihn in der Schule gelernt hat. Danach definiert sie, was gut und
schön ist und was sieht schickt. Im Grunde ist es keine selbstbewusste
Überzeugung, die dahinter steht, sondern das ängstliche Bemühen,
nichts falsch zu machen. Und im Übrigen hoffen die Individuen da-
durch in die Nähe der "besseren Kreise" ihrer Klasse zu kommen und
ihnen zu imponieren. Auf der anderen Seite beziehen sie aus dem ge-
glaubten kulturellen Kanon auch das Recht, über den schlechten Ge-
schmack der "wirklichen" kleinen Leute zu spotten. Die Schließung
dieser Kreise erfolgt ebenfalls über eine klare, kulturelle Grenzziehung
nach unten.
Interessant ist eine Parallelbewegung, indem bestimmte Gruppen in
der Mittelklasse auch über die Grenzen der Klasse hinausgreifen und
damit eine scheinbar widersprüchliche Haltung einnehmen. In keiner
Klasse werden so viele bunte Blätter gelesen und Sendungen über die
feine Welt der Royals und die aparte des Jetsets verfolgt wie in der Mit-
telklasse. Sie ist auch der eifrigste Konsument der feinen Küche im
Fernsehen. Was steckt dahinter? Ich meine, es ist der widersprüchliche
Wunsch, der eigenen Individualität die kleine Flucht nach ganz weit
draußen zu erhalten, sich also von der Masse, die solche Bilder des fei-
nen Lebens noch nicht eimnal kennt, zu differenzieren und gleichzeitig
sich symbolisch bei allen vernünftigen Menschen der eigenen Kreise zu
halten, indem man sich über die Skandale " der da oben" entrüstet, ihre
menschlichen Schwächen genau registriert und sie letztlich auf das ei-
gene Maß stutzt oder sogar noch darunterdrückt.
Die Mittelklasse ist eine mobile Klasse. Hier gibt es die häufigsten
Auf- und Abstiege und die feinsten Abstufungen sozialer Differenzie-
rungen. Ein entscheidendes Vehikel, einen besseren Status zu erreichen
oder zu halten, ist die formale Bildung. Wer die richtigen Abschlüsse
nachweisen kann, ist gut dran, zumindest fürs Erste. Mit der Höhe des
Bildungsabschlusses wird auch ein bestimmter Kanon der "ri chtigen"
308 7 Status

und " wichtigen" Kulturinhalte assoziiert, und deshalb defin ieren sich
die Angehöri gen der Mittelklasse auch über diese Regeln des guten
Geschmacks und den Kanon des Wissenswerten.
Bourdieu wendet sich nun zwei Gruppen zu, die um den sozialen
Wert dieses Kanon s wissen, ihn in dem einen Fall aber nicht auf dem
üblichen Weg erworben haben und in dem anderen Fall ersetzen. Die
ersten hoffen , im Kamp fum den soz ialen Status aufzuholen, indem sie
sich an eine kulturelle Norm anpassen, die zweiten lehnen diese No nn
ab und lernen etwas Neues, um so ihren sozialen Status aufzuwerten.
Bourd ieu nennt sie alte und neue Autodidakten.
Der Begriff des Autodidakten wird gewö hnlich mit einem Menschen
assoziiert, dem eine Kunst nicht in die Wiege gelegt wurde oder der
etwas nicht von Grund auf und nach einem gültigen Plan gelernt hat,
sondem der sich irgendwie zu Leistungen hochhangelt, die fast an die
wirk lichen Meister ihres Metiers herankommen. Die Charakterisierun-
gen, die Bo urdieu aus seinen emp irischen Untersuchungen der Mittel-
klasse herausgelesen hat, kann man so verstehen, dass das Selbstbe-
wusstsein der Autodidakten nicht stab il ist.
Der alte Autodidakt, stellt Bourdi eu fest, entwickelt gege nüber der
legitimen Kun st "e ine ziellos schwänncrischc Andacht" und zeigt Ehr-
furcht vor "klassisc her" Bildung. Da von gibt er, auch ohn e dass er dar-
um gebeten worden wäre, ständig Proben ab. Gena u dadurch schließt er
sich von denen aus »besserem Hause« ab, " die ihre Ignor anz durch Ig-
norierun g der Fragen oder Situationen, die sie an den Tag bringen
könnten, tarnen." (Bourdieu 1979, S. l 48f.) Der ästhetisc he Geschmack
ist nich t aus sich begrü ndet und hat sein Ziel nicht in sich selbst.
Die neuen Autodid akten unterscheiden sich von den alten, dass sie
anderen Göttern folgen. Sie haben sich bis zu einer relativ hohen Stufe
durch die Sch ule durchgeb issen und zeigen ein " fast blasiertes,
zugleich vertrautes und ernüchtertes Verhältnis zur legitimen Kultur
(...), das mit der ehrfürchtigen Haltung des älteren Autodidakten nichts
gemein hat, obwohl es zu gleich intensivem und passioniertem Einsatz
führt." (Bourdieu 1979, S. 149) Sie erheben modeme Zeitströmungen
zum Kanon und machen ihr Bild von sich selbst an dem fest, was in
irgendeiner intellektuellen Avantgarde, aktuellen »Gege nku ltur« (vg l.
S. 167) oder etablierten Nische als Rahmen des richtigen Denkens defi-
niert worden ist.
7 Status 309

Die dritte, bei weitem größte Gruppe der Mittelklasse stellen die auf
strebenden Kleinbürger dar. Ihren Geschmack bezeichnet Bourdieu als
"prätentiös". 1m Deutschen hat das Wort einen leicht negativen Klang
und wird mit "Anmaßung" assoziiert. Im Französischen ist die Konno-
tation etwas anders und meint eher "behaupten, vorgeben", aber auch
"s treben nach". Ich will es in diesem Sinn interpret ieren. Es ist ein Ge-
schmack, der vorgibt, etwas selbstverständlich zu sein, das er in Wirk-
lichke it nicht ist: er hat sich nicht aus dem Habitus distanzierter Gelas-
senheit ergeben. Zweitens ist es ein Geschmack, der nach ezwcs strebt,
nämlich nach Aneignung dessen, was den aufstrebenden Kleinbürgern
als gesellschaftlicher Kanon des Wissens, der Bildung und der Kultur-
güter erscheint.
Das Kleinbürgertum strengt sich an, um daz uzugehören. Das zeigt
sich in typischen Verhaltensweisen, die einen höheren Status beanspru-
chen und eine andere Identität suggerieren. Bourdieu beschreibt sie
drastisch so: 1m Verhältnis des Kleinbürgertums zur Kultur manifestiert
sich .Bildungseifer als Prinzip, das je nach Vertrautheit mit der legiti-
men Kultur, d. h. je nach sozialer Herkunft und entsprechendem Bil-
dungserwerb , unterschiedliche Formen annimmt: So investiert das auf-
steigende Kleinbür gertum seinen hilflosen Eifer in Aneignungswissen
und Gegenständen, die unter den legitimen die trivialeren darstellen -
Besuch historischer Stätten und Schlösser (statt z. B. von Museen und
Kunstsammlun gen), Lektüre populärwi ssenschaftli cher und ge-
schichtskundlicher Zeitschriften, Photographi eren, Sammeln von
Kenntnissen über Filme und Jazz - mit demselben bewundernswerten
Einsatz und Erfindungsreichturn, die es dafür aufwendet, »über seine
Verhältnisse« zu leben, zum Beispiel mit der Einrichtung von »Ni-
schen« (»)Koch-«, »Ess-«, und »Schlafnische«) die Räume in der Woh-
nung kunstreich zu multip lizieren oder sie durch »kleine Tricks« zu
vergröße rn (»Ablagen«, »Raumaufteiler«, »Sch lafco uch«) , wobei wir
von all den Imitaten schweigen wollen und dem, was sonst noch dazu
dient, »mebr« (wie man so sagt) aus etwas »ZU rnachen« - ganz wie ein
Kind , das »groß sein« spielt. Der Bildungseifer zeigt sich unter ande-
rem in einer besonderen Häufung von Zeugnissen bedingungsloser kul-
tureller Beflissenheit (Vorliebe fü r »wohlerzoge ne« Freunde und für
»bildende« oder »lehrreiche« Aufführungen), oft von einem Gefühl
eigenen Unwe rts begleitet (»Malerei ist schön, aber schwierig«, usw.),
das genau so groß ist wie der Respekt, den man der Sache entgegen-
310 7 Status

bringt. Der Kleinbürger ist ganz Ergebenheit gegenüber der Kultur."


(Bou rd ieu 1979, S. 503 f.)
Gerade in dieser Hinsicht leben die Kleinbürger in latenter Angst,
etwas falsch zu machen und einen Status, den sie sich vormachen, zu
verlieren. Bourd ieu d rückt es so aus: " Die Kleinbü rger haben kein spie-
leri sches Verhä ltni s zum Bi ldungsspi el: sie nehmen di e Kult ur zu ernst,
um sich einen Bluff oder Schwindel zu erlauben oder auch nur die H15-
sige Distanz, die von wirklicher Vertrautheit zeugt; zu ernst, um nicht
ständig besorgt zu sein, ob sie nicht bei Unkenntnissen oder Schnitzern
ertappt werden ." S ie haben nicht " die Ge lassenh eit derjenigen, die sich
erm ächtigt fühl en, ihr e Bildungslücken zu ges tehen und sogar auf ihne n
zu bestehen. (...) Die Kleinbürger machen aus der Bildung ein e Frage
von wahr und falsch , eine Frage auf Lebe n oder Tod." (Bourdieu 1979,
S. 5 18) Die Rekl amation eines Status, dessen m an sic h nicht sicher ist,
erlaubt keine halben Sac hen.
Wo hlgemerkt, es geht nicht um den Sp ießer, der selbstgefä llig und
bo rniert seine Pri nzipien für die einzig richti gen hält und sich der An-
erkennung durch sei nesgleichen siche r weiß, sondern um d en K lein-
bürger, der ,j enen Hang zum Höheren" (D egenh ardt) verspü rt und sich
in eine r M ischung aus Neid und Bewun derun g nach oben and ient und
nach unten abgrenzt. Er hat einen Status inne, der n icht w irklich Ident i-
tät garantiert. Hans Magn us Enze nsberger hat es einm al so ges agt: " Der
Kleinbürger wi ll alles, nur nicht Kleinbürger se in. Se ine Identität ver-
sucht er nicht dadurch zu gewinnen, das s er sich zu seiner Klasse be-
kennt, sondern dad urch, dass er sich von ihr abgrenzt, das s er sie ver-
leu gnet. Was ihn m it seinesg leichen verb indet, gerade das streitet er ab.
Ge lten so ll n ur, was ihn unte rsc heidet: der K leinbürger ist imm er der
and ere." (Enzensber ger 1976, S. 4)
De r Kleinbürger ist " der beste Kunde von Massenk ultur" (M üller
1992 , S. 333 ), weil er mein t, es se ien Statuss ymbole der legiti men Kul-
tur. Aber es sind eben nur äuß er e Zeiche n, d ie den sozialen Ab stand
nach oben nicht veningern und nach unt en nicht vergrö ßern . Bourdieu
beschre ibt das Di lem m a de r prä tentiösen Klasse lapidar so: .Per Defi-
nition sind die unteren Klassen nicht distingui ert ; sobald sie etwas ihr
eigen nenn en, verl iert es auch schon diesen Charakter. Die herr sch ende
Kultur ze ichnet sich imm er d urch einen Abstand aus." Ka um wu rde
Ski fahren populär, begann die herrschende Kultur außerhalb der Piste
7 Status 3 11

zu fahren: " Kultur, da s ist im Grunde auch immer etwas »außerhalb der
Piste«," (B ourd ieu 1983a, S. 138)
Um ein letztes Mal den Bogen zu einer Theori e des sozi alen Status
zu schlagen, möcht e ich ein Kind aus einem großbürgerlichen Ha us zu
Wort komme n lassen . HANS-PETER M ÜLLER hat es in sein em Buch
über "S ozi alstruktur und Lebensstil e" zitiert. Es hand elt sich um Nico-
laus Sombart, der im Rückbl ick auf sein Leben kriti siert, dass es keine
tonang eben den, bildungsbürgerlichen Häuser mehr gibt, und be -
schrei bt, was dar aus folgt: " Wenn es sie nicht mehr gibt, herrschen die
Boutiquenbesitzer, Schneider, Photographen , Coi ffeure und Kun st-
hä ndler, die schließlich zum wichti gsten Um gan g der reichen Leute
we rde n, und die Öffent lichkeit bekommt als Vorbild höherer Lebens-
formen nichts anderes geliefert als die Kaufgewohnheiten der Kon sum -
gesellscha ft auf der höch sten Einkommensstufe, die die Medien , mehr
durch Werbung als durch eine Berichterstattung - denn was sollten sie
bericht en - vermitteln. Die Leut e führen dann auch auf ihren Kleidern
und Accessoires, ihre m Gepäck und ihre m Gesc hirr nicht mehr ihre
Wappen oder Initi alen, sondern die Initialen und Warenz eichen der
Geschäfte, in den en sie kaufen. (...) Sie schm ücke n sich mit den teuers-
ten Statussymbolen, abe r sie hab en darauf ve rzichtet, selber zu bestim-
men, was Status ist." (So mbart 1984: Jugend in Berlin, S. 80; zit. nach
Müller 1992, S. 330)
Bourdieu spric ht von einem " naiven Exhibitionismu s des »ostentati-
ven Konsums«, der Distinktion in der primitiven Zursc haus te llung ei-
nes Luxus sucht, über den er nur man gelhaft gebietet." (Bourdieu 1979,
S. 61) Das klin gt wie eine Para phrase von THORSTEIN VEBLEN, der da -
von spricht, dass das Prestige sich der Zeichen des Wohlstands be-
mä chti gt und bestimmt, welche überleben sollen. Demon strativer Kon-
sum ist letztl ich ein entfremdeter Konsum, weil seine symbolische n
Formen immer von außen diktiert werd en und permanent der Inflation
unterliegen.
Bleibt ganz zu m Schluss die Frage, warum dieser doppelte Klassen-
kampf - Distink tion oben und Prätention unten - immer weiter geht.
Bourdieu gibt dafür eine plausibl e Erklärung, die mit der eingangs be-
schriebenen These des generativen Prinzips des Habitus zusammen-
hängt . Er schreibt: .Die Erfahrung von soz ialer Welt und die darin ste-
ckende Kon struktion sarbeit vollziehen sich wesentli ch in der Pr axis,
j en seit s expliziter Vorstellung und verbalen Au sdrucks. Einem Klas-
312 7 Status

sen-Unbewuss ten näher als einem »Klassenbewusstsein« im marxisti-


schen Sinn, stellt der Sinn für die eigene Stellung im sozialen Raum -
Goffmans »sense of one ' s place« - die praktische Beherrschung der
sozialen Struktur in ihrer Gesamtheit dar - vermittels des Sinns für den
eingenommenen Platz in dieser." (Bourdieu 1984, S. 17)
Etwas weniger abstrakt: Durch das tägliche Handeln wird das einem
sozialen Raum angemessene Prinzip des HandeIns immer wieder ver-
stärkt. Unmerklich werden die Akteure dazu gebracht, die Welt wie sie
ist hinzunehmen. Durch Distinktion und mittels " feiner Unterschiede"
hoffen sich die einen von den anderen abzugrenzen, während die ande-
ren durch Prätention und immer neue Kopien von Statussymbolen die
Illusion eines höheren Status nähren. So lange diese Illusion trägt, sei es
dass man in Maßen "mithalten" kann oder dass einem die geträumte
symbolische Nähe reicht, befiiedigt das Leben. Problematisch wird es
für die, deren untere Stellung strukturell in ein prestigereiches Umfeld
eingebunden ist, die den großen sozialen Abstand auch spüren, aber ihn
mit allen Mitteln , z. B. mit den Symbolen eines höheren Status, aus
ihrem Bewusstsein ausklammern. Hinter dem symbolischen Verhalten
nagt die "schmerzhafte Erfahrung", di e Bourdieu .positionsbedingtes
Elend" nennt. (1993, S. 19) In der Dok umentation " Das Elend der
Welt" (Bourdieu u. a. 1993) sind Zeugnisse dieses gar nicht so selte-
nen, " alltäglichen Leidens an der Gesellsch aft" zuhauf aufgelistet. Man
kann sie auch als Zeugnisse des verlorenen Kampfes um einen höheren
Status bzw. des Leidens an der Exklusion lesen, die in die von Bour-
dieu beschriebene Klassengesellschaft eingeschrieben ist!

7.5 Goffman: Stigma und soziale Identität


In der interpretativen Soziologie hat der Status auch etwas mit der De-
finition der Situation zu tun, die Individuen für sich und wechselseitig
mit anderen vornehmen . "Jeder Handelnde lässt durch sein Handeln
erkennen, wie er die Situation defin iert, und gibt ihnen damit auch An-
haltspunkte für die Definition ihres eigenen Status in der Situation."
(Zelditch 1968, S. 252, Übersetzung H. A.) Die Definition der Situation
und der Handelnden hat Folgen, denn - so wurde das sog. Thomas-
Theorem schon zitiert - " wenn Menschen Situationen als real definie-
ren, sind auch ihre Folgen real" . (Thomas u. Thom as 1928, S. 114)
7 Status 313

Erwart ungen haben eine strukturierende Kraft. Liegen die Definitio-


nen auseinander und haben die Handelnden ein Interesse am Fortgang
der Interaktion, kommt es zu Korrekturen und Anpassungen. Diese
Anstrengungen gehen in Richtung wechselseitig angemessener Defini-
tion, was bedeutet, füreinander reziproke Status zu bestimmen. (vgl.
Zelditch 1968, S. 252) Der Status des Herrn ist nur zu denken, wenn
ein anderer den Status als Knecht einnimmt, und dieses Verhältnis hat
nur solange Bestand, wie die beiden Definitionen der Situation aufein-
ander bezogen sind. Dass die Chancen, die Situation anders zu definie-
ren, in diesem Beispiel nicht gleich sind, liegt auf der Hand. Das ändert
aber nichts an der Tatsache, dass die eine Definition ohne die andere
nicht denkbar ist, dass sich in der einen auch die andere wiederfindet.
Die Selbsteinschätzung, die durch die wechselseitige Spiegelung des
Verhaltens zustande kommt, hat CHA RLES HORTON COOLEY .Jooki ng-
glass self" genannt. (1902, S. 184) I
Der Status einer Person hat insofern strukturierende Funktion, als
mit ihm bewusst oder unbewusst Erwartungen eines typischen Verhal-
tens verbunden werden. Handelnde klassifizieren eine Situation und
sich selbst nach den Mustern, die ihnen vertraut sind, und erwarten
wechselseitig Verhalten, das ihnen als typisch und normal gilt.a
Einen Sonderfall der strukturierenden Wirkung der Definition eines
sozialen Status hat ERVING GOFFMAN in seinem Buch " Stigma" (1963)
beschrieben. Unter einem Stigma verstanden die Griechen ein Zeichen,
das in den Körper geschnitten oder gebrannt wurde, um etwas Unge-
wöhnliches oder Schlechtes im Charakter des Zeichenträgers öffentlich
kundzutu n. Goffman interpretiert den Begriff des Stigm as weiter und
versteht darunter Attrib ute, die in irgendeiner Form das Individuum
diskreditieren. Solche Stigmata können körperliche Behinderungen,
aber auch Hautfarbe, fehlende Bildung oder ein bestimmter " unehren-
hafter" Beruf, oder auch Herkunft, missbilligte Neigungen und ähnli-
ches sein. Wie Statussymbole haben auch die Stigmata eine symboli-
sche Funktion. Während j ene aber die Funktion haben, ein Individuum
öffentlich aufzuwerten, werte n Stigmata seinen Status ab. Sie lösen
Erwartungen aus, die seine Identität diskreditieren.

Vgl. zum Begriff ,,5piegelse1bst" auch Kap. 8.2 " Identität - sich mit den Augen
des anderen sehen", S. 338 Anm. 2.
2 Vgl. zur Erklärung die Idealisierungen nach Schütz oben S. 225f. und unten S. 3 14
Anm. I.
3 14 7 Status

Dass Erwartungen den Status definieren und ein bestimmtes Verhal -


ten pro vozieren, gilt für j ede Interakti on . Um deutlich zu m achen, das s
diese Erwartungen das Indi viduum in se iner Gesamth eit beeinträchti-
gen, zieht Go ffman den Begri ff de r ,,sozialen Identität" dem des "s oz ia-
len Status" vor. (Goffman 1963, S. 10) Gerade aber die Beispiele der
nonnativen Strukturierung von Verhalten, die er in seinem Buch be-
schre ibt, mach en deutli ch, das s die Definition der sozialen Identität den
Platz festschreib t, von dem aus nur noch ein begrenztes Reperto ire von
Verhaltensformen möglich ist. Deshalb sagt das Buch "Stigma" auch
etwas über die Definition eines Status und das Gesetz des Handeins,
d as d ie Gese llsch aft dam it dik tiert .
Goffman beschreibt beschreibt den Vor gang der Definition so: " Die
Gese llscha ft gibt uns vor, nac h w elch en Kriteri en wir Personen eine rd-
nen , und nennt un s auc h gleic h di e Attribute, d ie wir bei ihn en als na-
türli ch und norm al erwarte n können. Soziale Situ atio nen definieren den
Typ von Me nschen, dem man aller Wahrscheinlichkeit nach dort be-
gegn et. Die Hand lungsroutin en in defi nierten Situationen erlauben uns,
erwart eten Anderen zu bege gnen , ohne das s wir ihnen besondere Au f-
m erksamkeit schenken m üssten. Se lbs t we nn uns ein Fremder begeg-
net, dann ste llen w ir un s nach den ersten Eindrii cken eine »soziale
Identi tät« vor, die mit den Kate gori en und Att ribute n konstruiert wird,
die wi r kennen." (Goffman 1963, S. 2)
Der And ere, dem wir begegnen, ist uns im Gru nd e also nicht vö llig
neu, sondern wir greife n auf "ähnl iche" Sit uation en zuriick und ordnen
ihn gleic h in ein Schem a ein. Er wird charakterisiert und verortet nach
unseren Vor erfahru ngen m it Menschen dieser Art in solchen Situatio-
nen. Damit meine ich, das s wi r im A lltag no rmalerweise in einer " na-
türlichen Einstellung" denken : D ie Wir klichk eit ist so, wie wir sie ken-
nen; die ande ren sehen sie genauso, wie w ir, weil wi r in einer gemein-
samen Welt leben, deren Bedeutungen un s vertraut sind und in der sic h
di e Erfahrungen gleic hen.t Deshalb er folgen auch die Definiti onen des
Anderen nach uns eren Typ isieru ngen im Gestu s d es " das weiß jeder"
oder " der ist so" . Unse r Handeln dem Anderen gegenüber erfo lgt auf
der Basis des " w ie gewohnt" und des " und so weiterv.z A us unseren

Vgl. noch einmal S. 225f. oder auch bei Abels (19 98), Kap. 3.5 " Die Lebenswelt
der natürlichen Einstellung".
2 Auch das kann man bei Schütz, hilfsweise auch oben im Kap. 5.7 .Ethnomet hodo-
logie: Methodisches im Alltagsha ndeln", S. 225, nachlesen.
7 Status 315

individuellen Erfahrungen erwachsen generelle Erwartungen. Die Kon-


sequenze n für die Definition des And eren und seines Verhaltens liegen
auf der Hand: Die "siche ren" Erwartungen wande ln sich unmerkli ch in
.normati ve Erwartungen, in zu Recht erhoben e Ansprüche" um. (Goff-
man 1963, S. 2) Erinnern wir uns an die These von WILLIAM I. THO-
MAS, dann ist auch die Relevanz dieser nonnativen Erwart unge n klar:
Sie bewirken eine bestimmte soziale Identität des Anderen . Sie wird
durch unsere " berechtigten Ansprüche" konstrui ert !
Goffman fahrt fort : .Jo ormalerweise denken wir natürlich nicht dar-
übe r nach, dass wir solche Ansprü che erheben und was sie bedeuten.
Erst wenn die Frage auftaucht, ob sie erfüllt werden oder nicht, werden
sie uns bewusst. Erst dann machen wir uns wahrsc heinl ich klar, dass
wir die ganze Zeit bestimm te Annahmen gemach t haben , was und wie
unser Gegenübe r sein sollte." (Goffman 1963, S. 2, Hervorhebung H.
A.) Wenn man genau hinsieht, bilden unsere ersten Annahm en von den
And eren in der Regel nicht ihre objektive Wirklichkei t ab, sondern sind
Forderungen, die aus einer konstruierten Wirklichkeit resultieren. We-
gen dieser Differenz nennt GofTman sie auch "abgeleitete" ( ein ef-
fectc t) Forderun gen. Und auch wenn wir einem Individuum eine n be-
stimmten "Charakter" zuschreibe n, dann sollten wir nicht vergessen,
dass es sich um eine "abge leitete" C harakteri sierung handelt, die im
latenten Rückgriff auf unsere Vorannahmen erfolg t.
Unter dieser Perspektive de r Konstruktion, die dann tatsächlich auch
etwas beim Anderen bewirkt, lese ich auch Goffmans Unterscheidung
de r sozialen Identität:
• Die aus unseren Annahme n, wie jema nd nach unsere n Erfahrun-
gen eige ntlich sein sollte, resultierende Identit ät nennt Goffman
virtuelle (»virtua [«) soziale Identität. Es ist das Bild, wie er nach
unseren ungeprü ften Vorerfahru ngen mit Menschen dieser Art
eigentlich sein müsste.z

Über diese (ironisierenden?) Anführungszeichen habe ich lange mit Kollegen und
besonders mit Frank Brockmeier, dem ich herzlich danke, gegrübelt. Ich interpre-
tiere die Aussage j etzt im Sinne des lateinischen Begriffs "efficere" - ,.hervor-
bringen, bewirken". Danach meint "in effecr'' die Ableitung aus unseren Voran-
nahmen, die etwas bewirkt, also das Konstrukt, das dann de facto etwas bewirkt,
wie es in der zitierten These von William I. Thoma s mitgedacht wird.
2 Im Sinne Durkheims ist es eine soziale Tatsache, und - noch einmal - nach Tho-
mas hat es tatsächlich Folgen!
316 7 Status

• Di e Eino rdnung nach überprütbaren soz ialen Kategori en und tat-


sächlich vorhandenen Eigensc haften bezeichnet Goffman als tat-
sächliche {nactual«} soziale Identität.!
Goffinans Buch handelt von der Definition sma ch t hinter der Zuschrci-
bung der virtuellen sozialen Identität und davon, wie Menschen mit
einer be schädigten Identität umgehen und w elche tatsächliche soz iale
Identität sie als Gegendefinition ins Spiel bringen. Er beschreibt die
Ausgangslage so: "Wenn uns ein Fremder gegenübe rsteht, kann es se in,
dass er eine Eigensch aft besitzt, die ihn von anderen seiner Kategor ie
un terscheidet ; und dass di ese Eigenschaft wenig wünschenswert ist. Im
Extremfall kann es sich um eine Person handeln, die uns durch und
durch schlecht oder ge fährlich ode r schwach zu sei n scheint. In unserer
Vorstellung wird sie so von einer vo llständigen und normalen Perso n
zu einer, d ie einen Makel hat und minderwertig ist . Ein solche s Merk -
ma l ist ein Stigma, besond ers dann, wenn sei ne di skreditierende Wir -
kun g sehr extensiv ist. Ein so lches Merkmal wird manchmal auch als
Defekt (xfail ing «), Mangel od er Handikap bezeichnet. Es schafft eine
beso nder e Diskrepanz zwischen virtueller (evi rtual«) und tatsächlicher
(aact ual«) sozialer Identität." (Goffman 1963a, S. 2f.)2
Auf diese Diskreditierung rea gieren die einen, indem sie peinlich ihr
" Stigm a" kaschieren od er sich symbo lisc h unsichtbar machen , and ere
stellen ihr " Stigm a" besonders heraus oder kompensieren es d urch be-
sondere Leistun gen auf anderen Gebieten. Die einen wählen eine Kl ei-
dung, di e körperliche Verseh rtheiten verd eckt, d ie anderen zeigen
sportliche Leistun gen, die .jcormale' ' staunen ma chen. Wi eder andere
pro vozieren ihre Umgebung du rch gezi elte A ggressivität, machen also
symbo lisch die anderen für ihren als geringer erachteten sozialen Status
veran twortlich. In allen drei Fällen ist es ein Rin gen um einen sozialen
St atus auf dem gleichen Niveau wi e di e anderen .
Das bedeutet auch, dass der zugeschriebe ne soziale Status, die sozia-
le Identität, wie man also "eigentlich" nach den Erwartungen der ande-
ren sei n sollte, außer Kraft ges etzt wi rd. In vielen Fällen sehen sich

Nach dem, was ich in der letzten Anmerkung gesagt habe, könnte man hier das
Wort "tatsächlich" auch durch das Wort " wirklich" ersetzen, vorausgesetzt, man
versteht es als Gegensatz zu Spekulationen und anderen Voreingenommenheiten.
2 Ich habe den Text selbst übertragen, weil die vorliegende deutsche Übersetzung an
entscheidenden Stellen m. E. unverständlich ist.
7 Status 317

denn auch die Stigmat isierten gezwungen, den .jcormalen'' zu helfen,


so zu tun, als ob sie sich so nonnal wie gege nüber ihresgleichen ver-
hielten. Da poltert ein Beinamputierter im Aufzug fröhlich los, man
solle ihm nicht auf seinen Holzfuß treten, und alle sind froh, dass er die
Situation entsp annt. Wenn dann sogar noch jemand sagt, er würde sich
aber auch immer vordrängen, dann haben alle anderen das Ge fühl, sich
ganz normal wie gege nübe r einem Ihresgleichen verhalten zu haben.
Möglicherweise wertet auch der Stigmatisierte das als Zeichen, dass er
keinen Sonderstat us hat. Die Diskrediti erten leisten also eine doppelte
Konstruktion von Normalität - für sich, inde m sie sich der Illusion ei-
ner Schein-Akzepta nz hingeben , und für die anderen, denen sie taktvoll
die Illusion der Schein-Normal ität ! erleich tern. (vgl. Goffinan 1963, S.
145-153)
Es gibt aber auch die genau umgekehrte Situation, dass die Stigmati-
sierten in ihrem Sond erstatus gefangen bleiben, weil die .Joorma len' '
nur so mit der Situatio n fertig werden. So lassen sich Rollstuhlfahrer an
der Kasse wo hl oder übel nach vorne schieben, weil die anderen so
unbewusst ihre Verlegenheit überspie len. Die meisten Mensc hen er-
warten eben, dass Stigmatisie rte ihren Stat us nach de n Krite rien der
anderen definieren. Goffm an zitiert einige Erfahrungen, die Stigma ti-
sierte machen mussten , als sie sich nicht an das hielten, was man von
ihnen erwartete. So berichtet ein Blinder, wie schock iert die Leute wa-
ren, als sie hörten, dass er zum Tanz tee gega ngen war.z
Die nonnativen Erw artu ngen sind manchm al so fest, dass der Dis-
krediti erte die Rolle spielen muss, die mit seinem Status verbunde n ist.
De shalb ist ihr Han deln auch immer eine Gratwa nde rung: Sie dü rfen
nicht so ganz anders sein, dass die Ande ren sich nicht daran ansc hlie-
ßen können, es darf aber auch nicht zu nah an die Grenze des Normalen
zu kommen, oder sie gar überschreiten wollen, weil sich dann die An-
deren in ihrer Andersheit irritie rt fühlen. Goffman sagt es so : Vo n den
Stigmatisierten wird erwartet, dass sie ihr Glück nicht erzwi ngen und
die ihnen gezeigte Akze ptanz nicht auf die Probe stellen. (vg l. Gaffman
1963, S. 150)

Das Problem der Schein-Norma lität triffi auch die Identität von Nicht-D iskredi-
tierten; ich komme in Kap. 8.4 "Wir alle spielen Theater", S. 358f. darauf zurück.
2 Sehen Sie sich unter diesem Aspekt der " norma len Erw artungen" doch einma l den
Film " Der Duft der Frauen" (Regie : Martin Brest, 1992) an, in dem der blinde
Held (AI Pacino) noch ein letztes Mal das Leben in vollen Zügen genießen will!
318 7 Status

Die Stigmatisierten sollen ihren sozialen Stat us - oder in den Wor-


ten Go ffmans: ihre soziale Identität - akzeptieren und ihn durch das
entsprechende Verhalten konfinn iercn !
Fasst man das Anliegen des Buches " Stigma" unter dem Aspekt von
Status und Identität zusammen, so kann man sagen : "Techniken der
Bewältigung beschädigter Identität", so lautet der Untertite l des Buches
"Stigma" , sind Techniken, um mit einer abträglichen Definition! eines
sozialen Status, den die Gesellsc haft diktiert hat, fertig zu werden.

7.6 St rauss : Statuszw ang und Transformation von Statusarten


Um den Zusammenhang von Identität, Interaktion und Status geht es
auch in einer Arbeit von ANSELM STRAUSS (1916-1996), die den be-
zeichnenden Titel " Spiegel und Masken" (1959) trägt. Auf der "S uche
nach Identität" be trachten wir die anderen als Spiegel , die das Bild, was
wir gerne von uns vermitteln möchten, reflektieren. Um dieses Bild von
uns auch gebührend zum Ausdruck zu bringen, treten wir in Masken
auf. Es sind Symbole unserer Identität. Strauss nimmt nun an, "dass der
Modus dcr Interaktion sich zu jeder Zeit oder in jeder Phase der Inter-
aktion ändert und nicht CUr ihre gesamte Dauer der gleiche bleibt."
(Strauss 1959, S. 76f.) Wir ändern dauernd unseren Status und handeln
in unterschiedlichen Statusarten. Deshalb müssen auch unterschiedliche
Statusmerkma le je nach Situation kontrolliert werden .
Strauss versteht unter einem Status die vorläufig zugewiesene Iden-
tität in einer Gruppe. Status ist also ein temporäres Konzept. In freien
Interaktionsformen gehen Personen von einem Status zum anderen ü-
ber, und sie wissen auch, wie sie sich der Sit uation entsprechend zu
verhalten haben: "In bestimmten Interaktionsarten kennen die Teilneh-
mer vorher die verschiedenen Stat ustypen, die vertrete n sein werden,
und, wie in religiösen Ritualen, sogar die genaue zeitliche Anordnung
der Hand lung." (Stra uss 1959, S. 80) Wenn ich mich zum Traualtar
begebe, weiß ich, wer welchen Status innehat und wie er sich dement-
sprechend wohl auch ver halten wird. Doch die allermeisten Interaktio-

Das ist die These, die ich oben (S. 218), wo es um die .•Kommunikation unter
Anwesenden" ging, aufgestellt habe: Auch die ,,Normalen" schützen sich vor fal-
schen Definitionen ihrer sozialen Identität! Auch deshalb ..spielen sie Theater"
und tun so, "als ob" . (VgJ. dazu unten S. 324)
7 Status 319

nen sind nicht so streng geregelt, und .jür die meisten Zwecke braucht
die Gesellschaft den Personen ihren Status nicht so streng zuzuweisen
oder formale Mechanismen anzuwenden, damit sie sich anständig und
angemessen benehmen." (Strauss 1959, S. 80) Wieso funktioniert es
trotzdem?
Es gibt zwei Erklärungen: Erstens wissen wir um unseren Status und
wissen, wie "man" sich darin verhält, und zweitens, sagt Strauss, rea-
gieren wir höchst sensibel auf Regieanweisungen. die uns sagen, was
wir im Augenblick tun oder nicht tun sollen. (vgl. Strauss 1959, S. 80)
Im Klartext: In jeder Interaktion wird die Situation fortlaufend von al-
len Beteiligten definiert, und das bedeutet auch, dass der Status defi-
niert wird, den jeder haben soll und der bestimmtes Handeln festlegt.
Mit dem Status wird eine soziale Identität zugewiesen
Was sich in jeder Interaktion nachweisen lässt, fällt in einer Gruppe
besonders auf. Da ihre Mitglieder sich in der Regel über einen längeren
Zeitraum kennen und in einer dauerhaften Interaktion zueinander ste-
hen, bleibt es gar nicht aus, dass Gruppen "ihre Mitglieder in alle Arten
vorläufiger Identitäten hinein- und aus ihnen herauszwingen" können,
und sie tun es auch. (Strauss 1959, S. 81) Das nennt Strauss Stat us-
zwang.
Dieser Statuszwang wirkt nach oben und nach unten, hinein und
hinaus. So gibt es Mechanismen, jemanden zu beschämen, ihn zu de-
gradieren oder ihn zum Helden zu machen. Auf der horizontalen Ebene
reicht der Statuszwang von Vertreibung oder Exkommunizierung bis
zur Zulassung zum innersten Kreis einer religiösen Gemeinschaft oder
der Aufnahme in den exklusiven Club der Trüffelschweine. Tadel und
Lob, Anerkennung und Strafe sind im Grunde Mechanismen der Sta-
tuszuweisung in der Absicht, von da an ein bestimmtes Verhalten her-
beizuführe n.
Die Zuschreibung wirkt nicht nur von der Gruppe aus, sondern auch
von der Person selbst: " Interaktion trägt das Potential unwissentlicher
ebenso wie wissentlicher Zuschreibung von unzähligen Motiven und
Charakterzügen (in sich, Ergänzung H. A.) - gegenüber anderen und
sich selbst. Man kann daher sagen, dass Interaktion von Natur aus den
Statuszwang impliziert." (Strauss 1959, S. 87) Wenn ich einem Polizis-
ten klar zu machen versuche, dass ich eigentlich nicht falsch geparkt
habe, versuche ich natürlich, ihn in den Status des ein Auge zudrücken-
den Freundes zu zwingen, während ich selbst mich im Status des armen
320 7 Status

Sünders präsentiere, der völlig ahnungslos in der Feuerwehreinfahrt


gelandet ist. Natürlich spielen dabei auch Annahmen über die Motive
des Handeins eine Rolle, ob ich also z. B. annehme, dass Polizisten von
Haus aus etwas gegen BMW-Fahrer haben, oder der Polizist mir unter-
stellt, einer von diesen Typen zu sein, die rücksichtslos parken, wo sie
wollen. Ergo: Die Interaktion ist ein kompliziertes Wechselspiel von
Zuschreibung und Zurückweisung von Statusarten, Ansprüchen und
Bewilligungen, Kontrolle und Strategien. (vgl. Strauss 1959, S. 92f.)
Der Status steht also nicht fest, sondern ist ein Prozess. Er wird in ei-
nem Wechselspiel von Zuweisung und Reaktion, Präsentation und
Spiegelung ausgehan delt.
Diesen dynamischen Statusbegriff benutzt Strauss auch in einem
Biographiekonzcpt, das er gegen die beiden traditionellen Biographie-
konzepte " Laufbahn" bzw. " Variation eines Grundthemas" stellt.
"Laufbahn" meint, dass die Biographi e in Phasen abläuft, durch institu-
tionelle Vorgaben geregelt und der Status im Wesentlichen über das
jeweilige Alter und die damit verbundenen Nonnen definiert ist. Das
zweite Konzept, die "Variation eines Grundthemas", unterstellt, dass
die Biograp hie z. B. durch frühkindliche Erfahrungen festgelegt ist und
j eder Status, der später eingenommen wird, im Grunde eine Ausfor-
mung eines prägenden Grund musters ist.
Gegen beide Erklärungen setzt Strauss sein Konzept der Transfor-
mation von Statusarten. Es impliziert, dass sich die Person an wichti -
gen Kreuzungspunk ten des Lebens entscheidet, welchen Status es ein-
nehmen will oder einnehm en muss. Der Lebenslauf besteht insofern in
einer " Serie von Statusübergängen'' . (Strauss 1959, S. 116) Die subjek-
tiv empfundene Kontinuität über alle Statusübergänge hinweg nennt
Strauss Identität. In Anlehnung an ERIKH. ERIKSON unterstellt Strauss,
dass hinter dem Bedürfnis nach biographischer Identität ein unbewuss-
tes Streben steht, sein Leben im Nachhinein auf die Reihe zu bringen.
Identität ist eine Ordnung vom Ende her. Es ist, als ob man jeder Epo-
che seines Lebens " im Zeichen des Endprodukts einen Sinn gäbe." (S.
158)
7 Status 321

Biographi sche Identität ist also ein Konstrukt - nicht Lüge, aber
auch nicht die Wahrheit. I Diese Konstruktionen (ausdrücklich Plura!!)
erfolgen laufend und unbewusst. Besonders intensiv sind sie an den
"Wendepunkten" der Biographie, an denen ein Stat us neu definiert
werden muss. Solche Wendepunkte können freiwillige Übergänge zu
einem neuen Status sein, z. B. beim beru flichen Aufstieg, sie können
aber auch durch das Schicksal oder andere Me nschen erzwu ngen wer-
den. Beispiele sind der Verlust eines Partners oder die Einweisung in
eine totale Institution . Nach solc hen Wendepunkten erfolgt unmerklich
oder auch sehr bewusst eine Bewertung des bisherigen Lebens.
Ein besonders drastisches Beispiel für eine Rekonstruktion der Bio-
graphie zum Zwecke einer aktuellen Identität sieht Strauss in der Ge-
hirnwäsche. (vgL Strauss 1959, S. 127ff.) Das Opfer emp findet sie als
Statuszwang, der einen alten Status auslöscht; aus der Sicht der Täter
ist sie Resozialisation für eine neue Identität. Mit der Zuweisung eines
Status als jemand, der bis dahin falsch gedacht und gehandelt hat, wird
der Prozess der radikalen Ent-Identifizierung mit alten Werten in Gang
gesetz t. Er geht über in die Kritik an diesen Werten und alten Identitä-
ten und die allmähliche "Einsicht" in die "wahren" Werte. Mit dem
Bekenntnis zu diesen neuen Werten und der Bestätigung durch neues
Handeln ist der Prozess der Identitätstransfo rmation abgeschlossen.
Das umgedrehte Individu um gehorcht von da an den Verpflichtungen,
die mit dem neuen Status verbunden sind, freiwillig.
Was Strauss für die Gehirnwäsc he sagt, gilt natürlich auch für reli-
giöse Konversionen und für die Strategien mancher Sekten, in denen
der neue Stat us oft auch durch einen Name n zum Ausdruck gebracht
wird. Das bekannteste Beispiel ist der Wandel vom Saulus zum Paulus.
Immer aber gilt, dass mit dem neuen Status die frühere Identit ät neu
definiert wird. Entweder gilt sie als Vorgeschichte, in der sich das Spä-
tere schon abzeichnete, oder als Ze it des Irrtums, die nun endlich über-
wunden wurde.

Diesen Gedanken, der natürl ich manche n guten Glaube n ersc hüttert, habe ich in
Kap. 27.2 " über »die« Wahr heit der Biographie und andere Glättu ngen" im Buch
" Identität" (AbeIs 2006) weiter ausgeführt. Dort spreche ich noch andere Zwe ifel
an, zeige aber auch die guten Perspektiven auf, die sich daraus für eine Identität
ergeben , wie wir sie wollen - und können.
8 Id entität
8.1 Simm el: Kreuzung sozialer Kreise und individuelles Gesetz
8.2 Mead : Identität - sich mit den Augen des anderen sehen
8.3 Riesman: Außenleitung
8.4 Goffman: Wir alle spielen Theater
8.5 Parson s: Individuelles Code-Erhaltungssys tem
8.6 Erikson: Identität im Lebenszyklus
8.7 Krappmann: Ich-Identität als Balance
8.8 Berger, Berger, Kellner: Krise der modem en Identität
8.9 Identität - ein relativer Standpunkt

Manche soziologischen Begriffe erfreuen sich großer Beliebtheit in der


Allt agssprache, weil man sie als Kürzel ruf Zusammenhänge benutzen
kann, die einem nicht so ganz klar sind, über die sich deswegen aber
umso rascher stilles Einverständn is erzielen lässt. Identität ist ein sol-
cher Begriff. Ich will ihn so skizzieren, wie er im Allgemeinen in der
Soziologie gebraucht wird: Identität ist das Bewusstsein, ein unver-
wechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein.
in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Aus-
einandersetzung mit anderen eine Balance zwischen individuellen An-
sprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu hab en. s

Inzwischen habe ich dem Thema ein ganzes Buch gewidmet (AbeIs 2006). Dort
habe ich unter dem Titel " Vom Individuum zur Individualisierung" auch die lange
Vorgeschichte dieser modernen Vorstellung von Identität geschildert. Auf der an-
deren Seite wird die hier in der Einführung in die Soziologie vorges telfte soziolo-
gische Diskussion über Identität dort fortgeführt. Stichworte sind: .A nsprüche auf
Anerkennung und auf Nichtaufmerksarnkeit" und " Behauptungen, Revisionen und
Verwandlungen", Ich beschreibe aber aueh ,,Die Krise der Lebenswelt" unter den
soziologischen Stichworten .Bntaauberung" (Weber), .Kolcnialisierung der Le-
benswelt" (Habermas), .Bntbettung" (Giddens), " Ende der großen Erzählungen"
(Lyotard) und ,,Ende der Eindeutigkeit" (Bauman). Das abschließende Kapitel
sieht ausdrücklich unter der Überschrift " Kompetenzen". Hier ziehe ich einen
praktischen Schluss aus der theoretischen Diskussion. Er komml in zwei durchaus
ermunternd gemeinten Überschriften zum Ausdruck: " Dem Leben einen Sinn ge-
ben und sich in seinem Zentrum wissen" und ,,Bewegliches Denken",
8 Identität 323

• In Hinsicht auf die Entwicklung des Individuums heißt Identität,


die Vergangenheit mit der Gegenwart in einer sinnvollen Ord-
nung zu halten und die Zukunft planvoll anzuge hen. Insofern
kann man Identit ät gleichsetzen mit dem Wisse n um eine eigene
Biograph ie.
• In Hinsicht auf die Interaktion mit anderen heißt Identität, dass
sich das Individuum seiner Einz igartigke it und seiner Norma lität
zug leich bewusst sein muss und dass es beides zeigen muss. Nur
dann ist Interaktion für beid e Sei ten verläss lich.
Neben der An nahme, was Identität ist - oder oft sogar: sein sollte - ,
scheint das Wort im Alltag oft auch mit einer latenten Unsic herheit
assoz iiert zu werden. So schreibt Reck, das Wort Ident ität "scheint in
den westlichen Ländern für eine wachsende Zahl von Menschen zu
einem Alltagsbegri ff zu werden; und zwar nicht im Sinne des Sprac h-
gebrauchs der Polizei, sondern in dem der Soz ialpsychologe n. Diskri -
minierungen von Minde rheiten werden als »Ide ntitätsprobleme« cha-
rakterisiert; Wandlungen in der Berufsstruktur oder Arbeitslosigkeit
führen zu »Idcntitätskrisc n«; Veränderungen in den Geschlechterrollen
bedrohen mit »Identitätsv erlust«; Drogenabh ängigkeit, Selbstmo rd,
Krimi nalität werden auf »ldentitätsschw äche« oder auf unerträgliche
»Identit ätsbedroh ung« zurUckgeftlhrt. (...) So liegt es nahe, »Identi tät«
für einen Krisenbegriff zu halten, der etwas bezei chne t, das heute viel-
faltig bed roht ist." (Reck 1981, S. 154)
Auf die Krise der Identität in der Moderne wird die soziologische
Diskussion über Identität in der Tat hinauslaufen. Vorher will ich aber
nachzeichne n, wie das Thema in der Soziologie behand elt worden ist.
Am Anfang steht die These von GEORG SIMMEL, dass Individualität
allein schon dadurch zustande kom mt, dass jeder Mensch in einem ein-
zigartigen Schnittp unkt sozialer Kreise steht und jedes Leben einem
" individuellen Ge setz" folgt. Doch dieses " individ uelle Gesetz" bedeu-
tet nicht zu gleich Freiheit und Chance der Einzigartigkeit, denn dem
Individuum droht, von der objektiven Kultur überwuch ert zu we rden .
Dieser pessi mistische Gedanke zieht sich durch viele Theorien der
Identität.
GEORGE HER8ERT MEAD konzentriert seine Erklärungen der Identi-
tät auf die Kommunikation, in der sie gewonnen wird . Seine zentrale
These ist, dass sich das Individuum seiner selbst bewu sst wird , indem
324 8 Identität

es sich mit den Augen des Anderen betrachtet. Identität hat also etwas
mit den Anderen zu tun.
Das nimmt auch DAVID RIESMAN an, aber genau das brin gt ihn zu
der kritischen These, dass das Individuum der Moderne außengeleitet
ist. Es tut das, was alle tun, und ist bereit, sich immer wieder neu auf
den Zeitgeist einzustellen. Das Individuum legt sich die Haltung eines
flexiblen ROllenspielers zu. Zum Schluss weiß der Außengelei tete nicht
me hr, wer er ist und was mit ihm geschieht.
ERVING GOFfMAN hat die soziologische Diskussion über Identität
mit der These verunsichert, dass wir im ganz normalen Alltag alle The -
ater spielen. Dabei steht die Strategie im Vordergrund, uns von unsere r
besten Seite zu ze igen. Und man wird auch den Verdacht nicht los, dass
jemand seine "wahre Identität" nicht preisgibt. Aber wenn man genauer
hinsieht, dann sind es auch Strategien, unser bedroht es Selbst zu schüt-
zen. Dazu greifen wir manchmal auch zu Tricks. Wir tun so, als ob,
und schaffen uns damit einen Freiraum für unsere Identität und erlau-
ben den anderen, so zu tun, als ob sie genau dieses Schauspiel für die
Wahrheit hielten.
Für TALCOTI PARSONS heißt Identität, dem Rollenpluralism us, der
durch die soziale Differenzierung entstanden ist, eine angemessene
indi viduelle Integration entgegenzusetzen. Das Individuum muss beides
können: sich an gese llschaftliche Werte dauerhaft binden und zugleich
ein einzigartiges Orientierungsmuster gegenüber diesen Werten finden.
ERIK H. ERIKSON entwickelt aus einer psychoanalytischen Entwic k-
lungsth eori e den Gedanken der Versc hränku ng von psychosexueller
und psychosozialer Entwic klung des Ind ividuum s. Er versteht Identität
als eine n lebenslangen Prozess. Erikson spric ht ganz offen von einer
"gesunden Persönlichkeit", die sich in einer "g elungenen Identität"
äuße rt. Erikson nennt sie " Ich-Identität" . Sie lebt von dem ständigen
Ans pruch, soziale Erwartungen und eigene Überzeugungen, die Blicke
der anderen auf uns und unser Selbstbi ld, das Bild der anderen von uns
und unsere Biographi e selbstbewusst zu verbinde n.
Ähn lich wie Erikson vertritt auch LoTHAR KRApPMANN die These,
dass Identität Balance ist. Allerdings sieht er die gesellscha ftlichen Be-
dingun gen, unter denen sie überhaupt möglich sein könnte, de utlich
kritischer als Erikson, und deshalb ist das Ziel der Identitätsentwick-
lung auch mehr als Abwehr denn als Gelingen zu verstehen. Identität
setzt u. U. auch die Negierung gesellschaftlicher Normen voraus.
8 Identität 325

Der Gedanke des Gegenentwurfs findet sich auch bei PETER L. BER·
GER, BRJGITIE BERGER und HANSFRTED KELLNER, die von einem Un-
behagen in der Modernität sprechen. Für sie ist Identität ein Krisenbe-
griff. Identität ist offen, was sie im Sinne der Riesmanschen These von
der Außenleitung verstehen, und bleibt deshalb diffus. Identität ist dif-
ferenziert, weil wir zu vielen und unterschiedlichen Erwartungen nach-
einander oder gleichzeitig gerecht werden wollen oder müssen. Da
bleibt es nicht aus, dass Identität zum Gegenstand angstvollen For-
schens wird. Die Tatsache, dass Individualität als unbedingter An -
spruch vertreten wird, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die
gesellschaftlichen Verhältnisse immer komplexer werden und dem In-
dividuum so viele Optionen eröffnen, aber auch so viele Entscheidun-
gen abverlangen, dass dieser Anspruch letztlich ins Leere läuft.
An das Ende der in der Mehrzah l skeptischen Analysen der Identität
stelle ich die These, dass Identität ein relativer Standpunkt ist. Genau
deshalb muss ihn das Individuum für sich und für die anderen auch
immer wieder neu entscheiden! Diese Forderung lebt von der Hoff-
nung, der von ZYGMUNT BAUMAN beschworenen "ontologischen Bo-
denlosigkeit der Postmoderne" immer wieder neuen Sinn entgegenzu-
setzen.

8. 1 Sim mel: Kreuz ung sozialer Kre ise und individuelles Gesetz
Gesellschaft, so habe ich GEORG SJMMEL schon einige Male zitiert, ist
die Summe der Wechselwirkungen, in der Individuen zueinander ste-
hen. Sie wirken aufeinander und werden also gleichzeitig bewirkt Die
Wechselwirkungen nehmen bestimmte Fonnen (z. B. Solidarität oder
Konkurrenz, Sympathie oder Antipathie, Streit oder Zuneigung) an und
verdichten sich zu bestimmten sozialen Gebilden (z. B. Familie, Geld,
Staat). Sie bilden den Rahmen, in dem Individuen in Beziehung zu ein-
ander treten. Damit ist der grundsätzliche Dualismus zwischen Indivi-
duum und Gesellschaft angesprochen, um den sich Simmels Soziologie
dreht. In diesem Dualismus steht auch die "I ndividualität" des Einzel-
nen, und hier entscheidet sie sich auch.
Was damit gemeint ist, erhellt aus der Einleitung zu einem Aufsatz
mit dem sprechenden Titel " Der Begriff und die Tragödie der Kultur"
aus dem Jahre 1911:
326 8 Identität

Georg Sirnmel: Geronnener Geist gegen


die Lebendigk eit der Seele
" Dass der Mensch sich in die natürliche Begebenheit der Welt nicht
fraglos einordnet wie das Tier. sondern sich von ihr losreißt, sich ihr
gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt -
mit die sem er sten gro ßen Dualismu s entspinn t sich der endlose Prozess
zwischen dem Subjekt und dem Objekt. Innerhalb des Geistes selbst
findet er seine zweite Instanz. Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die
in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren. unabhängig von
der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie auf-
nimmt oder ablehnt. So sieht sich das Subjekt der Kunst wie dem Recht
gegenüber, der Religion wie der Technik, der Wissenschaft wie der Sit-
te - nicht nur von ihre m Inhalt bald angezogen, bald abges toßen, jetzt
mit ihnen verschmolzen wie mit e inem Stück des Ich, bald in Frem dheit
und Un berührbarkeif gegen sie; sondern es ist die Form der Festigkeit,
des Geronnenseins. der beharrenden Existenz, mit de r der Geist, so zu m
Obj ekt geworde n, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren
Selbstverantwortung, den wechselnd en Spannungen der subjektiven
See le entgegenstellt." (Si mme l 19 11: Der Begri ff und die Tr agödie der
Kultur, S. 11 6)

Die Formen, in denen sich der menschliche Geist verwirklicht, "objek-


tiv" wird, nennt Simmel Kultur . Die Formen tendieren dazu, sich fest-
zustellen; der Geist dagegen gehorcht dem Prinzip des Lebens und will
immer Neues schaffen.1 Die Tragödie der Kultur ist deshalb, dass sie
permanent in ihren Formen destruiert wird, und - so müsste man den
Gedanken Simmels verlängern - die Tragöd ie des Individuums ist, dass
es sich an diesen Formen stößt und in diesen Formen seine Individuali-
tät finden muss: ,,Jene objektiv geistigen Gebilde (...): Kunst und Sitte,
Wissenschaft und zweckgeformte Gegenstände, Religion und Recht,
Technik und gesellschaftliche Nonn en - sind Stationen, über die das
Subjekt gehen muss, um den besonderen Eigenwert, der seine Kultur
heißt, zu gewinnen." (Simmel 1911, S. 120, Hervorhebung H. A.) Um
diese "se ine" Kultur geht es hier. Sie druckt seine Individualität aus.
Simmel begründet Individualität nun mit zwei Konzepten: mit dem
Konzept der .Schneldung sozialer Kreise" und mit dem Konzept des
" individuellen Gesetzes" . Neben diese im engeren Sinn soziologischen

Vgl. Band 1, Kap. 3.5 "Verdichtung von Wechselwirkungen zu einer Form", S.


104f.
8 Identität 327

Begründungen stellt er dann einen Blick auf .,die psychologische


Grundlage", auf der sich eine typisch modeme Individualität erhebt,
"der Typus großstädtischer Individualitäten" . (Simmel 1903, S. 116)
Wenden wir uns zunächst dem Konzept der " sozialen Kreise" zu.
Wie an anderer Stellet gezeigt, ändern sich die " Berührungen" der In-
dividuen und die Formen ihres Zusammenseins im Laufe ihres Lebens.
Ist der Einzelne zunächst in Gruppen eingebunden, die mit seiner Ge-
burt gegeben sind, nimmt er mit fortschreitender Entwicklung zu ande-
ren Kontakt auf, die " durch sachliche Gleichheit der Anlagen, Neigun-
gen und Tätigkeiten u. s. w. eine Beziehung zu ihm besitzen." (SimmeI
1890, S. 238) Dadurch ergeben sich Konstellationen, die Simmel " sozi-
ale Kreise" nennt. Das sind objektive Gebilde, die über Inhalte und
nicht über individuelle Einstellungen definiert sind. Von daher gibt es
Erwartungen, die nicht nur für ein bestimmtes Individuum, sondern
grundsätzlich für alle Individuen gelten, die in einen solchen Kreis ge-
steIlt sind. Sie sehen sich mit einem je Allgemeinen konfrontiert, dem
sie sich nicht entziehen können.
Die Differenzierung der Gesellschaft und die Spezialisierung der Tä-
tigkeiten, die dadurch gegeben sind, führen dazu, dass das Individuum
in zahlreiche soziale Kreise gleichzeitig eingebunden ist und deshalb
unterschiedlichen Erwartungen gerecht werden muss. Von außen be-
trachtet, ist das Individuum "ei ne Einheit von differenten Erwartungen,
also ein Dividuum, ein geteiltes Individuum." (Junge 2002, S. 77)
Zu einem " Individuum" im Sinn einer nicht mit anderen geteilten
Einzigkeit wird der Einzelne dadurch, dass er im Schnittpunkt vieler
sozialer Kreise steht. Je mehr Kreise sich nämlich in einer Person über-
schneiden, umso einzigartiger ist diese Konstellation. Simmel schreibt:
" Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Ko-
ordinatensystem, derart, dass jed e neu hinzukommende ihn genauer
und unzweideutiger bestimmt. Die Zugehörigkeit zu je einer derselben
lässt der Individualität noch einen weiten Spielraum; aber j e mehr es
werden, desto unwahrscheinlicher ist es, dass noch andere Personen die
gleiche Gruppenkombination aufweisen werden, dass diese vielen
Kreise sich noch einmal in einem Punkt schneiden." (Simmel 1890, S.
240) So kann man denn auch unter Persönlichkeit die individuelle
Kombination der Elemente der Kultur verstehen. (vgl. S. 241) Insofern

1 Vgl. oben Kap. 5.1 " Wechselwirkung und Vergesellschaftung", S. 188.


328 8 Identität

stellt sich der Einze lne als Einheit dar und kann deshalb auch zu Recht
als " Individuum" bezeichnet werden. Individu alität ist die einzig artige
Plazierung in der Gesellschaft.
Neben dieser strukturellen Erklärung von Individualität gibt es eine,
die aus der Person selbst kommt . Je zahlreicher näm lich die sozialen
Kreise sind, in denen eine Person vorkommt, umsa geringer ist das
Gewicht jedes einzelnen Kreises für ihre Per sönlichkeit; der Einzelne
wird von keinem Kreis ganz bestimmt. Und weiter: Je komplexer ein
sozialer Kreis ist, umsc diffuser sind die allgemeinen Erwartungen, und
umso größer ist der Spielraum des Einzelnen.
Ich komme zu Simmels zweitem Konzept zur Individu alität, das er
unter die Übersc hri ft " Das indiv iduelle Gesetz" stellt. Dieses " indivi-
duelle Gesetz" wird häu fig m. E. falschlieh so verstanden, als ob das
Individuum sich selbst gestalten müsse, um seine Persönlichkeit als
einheitlich in der Vielfalt der soz ialen Kre ise zu retten . Tatsächlich aber
hat Simmel dieses individuelle Gesetz gegen die Allgemeinheit des
Sollens, die Immanuel Kant postuli ert hatte, gesetzt. Die kompli zierte
ph ilosophi sche Argumentation kann man vielleicht so auf den Punkt
bringen: Jede s Individuum reprä senti ert in unv erwechselbarer Weise
das Prinzip des Lebens! mit seinem " ewigen Stirb und Werde", und es
repräsentiert es in unverwechselbarer Weise in jeder seiner Handlungen
- unverwechselbar wege n seiner einmaligen Lebensgeschichte und
seiner einzigartigen Konstellationen in der Schneidun g sozialer Kreise.
Aus dem individuellen " Lauf des Lebens" mit seinen typischen
"Maßstäben" und besond eren " Inhalten" ergibt sich ,j ener unbeschreib-
liche Stil und Rhythm us einer Persönlichkeit, ihre Grundgeste, die jed e
ihrer, durch die Gegebenheitsfaktoren hervorgeru fenen Äußerun gen zu
etwas unverwechselbar ihr Zugehörigem macht." (SimmeI1 913, S. 228
und 229) Oder anders : " Wie jeder Pulsschlag eines leben digen Wesens
durch alle seine vergangenen Pulsschläge bedingt ist, so kann auch in
diesem Prozess nichts verlorengehen, der nicht nur die Tat, sondern
auch das Sollen jedes Augenblicks zum Erben und Verantwortun gsträ-
ger alles dessen macht, was wir j e waren, taten und sollten." (S. 230)
Das Indi viduum ist Produkt und Produzent seiner Vergesellscha ftung .
Hier liegt seine Freih eit, und hier liegt auch seine Begrenzung. Das
individuelle Gesetz ist die spezifische Form, in dem sich "die Verbin-

1 Vgl. zum •Prinzip des Lebens" die auf S. 326, Anm. 1 genannten Stellen.
8 Identität 329

dung von Individualität und (sozialer, Ergänzung H. A.) Gesetzlich-


keit" vollzieht. (Simmel 1913, S. 230) leh will diese Beziehung zwi-
schen Individuum und Gesellschaft in den paradoxen Satz fassen: Indi-
vidualität vollzieht sich hinter dem Rücken des Individuums und wird
vor seinen Augen von ihm durch sein Handeln zum Ausdruck gebracht.
Dieser halbwegs versöhnliche Ausblick auf Individualität wird aller-
dings getrübt, wenn man Simmels pessimistische Analyse der Kultur
seiner Zeit liest. Er hat sie in einem Vortrag unter dem Titel " Der Kon-
flikt der modemen Kultur" (1918) dargelegt. Simmel sieht die Kultur
seiner Zeit in eine kritische Phase eingetreten, die er als "Gesamtnot
der Kultur" (Simmel 1918, S. 150) bezeichnet. Es geht nämlich nicht
mehr um den Widerspruch zwischen alten Formen und zeitgemäßeren,
sondern dass "auf allen möglichen Gebieten das Leben sich dagegen
empört, in irgendwie festen Formen verlaufen zu sollen." (Simmel
1918, S. 151) Simmel erklärt das so: Wurden frühere Epochen über
.,Zentralbegriffe" wie "Go u" oder "Natur" zusammengehalten, so
scheint man um die Wende des 20. Jahrhunderts als neues "Gru ndmotiv
für den Aufbau einer Weltanschauung" den Begriff des Leb ens gefun-
den zu haben. (vgl. S. 153) Gegen diesen Zentralbegriff, der sich der
Philosophie Schopenhauers und Nietzsches verdankt, wäre nichts ein-
zuwenden, würde man ihn nicht " ins Unendliche" erhöhen. (5 . 154)
In dieser Übersteigerung tritt das Leben nun in einen fundamentalen
Gegensatz zu allem Festen. Es " empört" sich, wie gehört, über seine
Formen.
Damit wird ein Kulturwandel ausgelöst, wie es ihn bisher noch nicht
gegeben hat. Die letzte Triebfeder des Wandels ist nämlich "die Geg-
nerschaft gegen das Prinzip der Form überhaupt". (Simmel 1918, S.
155) Die Gründe dieser Gegnerschaft hatte Simme1 schon in seinem
Aufsatz " Der Begriff und die Tragödie der Kultur" (1911) angespro-
chen. Dort hieß es: Die Produkte des menschlichen Geistes, auch .Kul-
turinhalte" oder "objektiver Geist" (Simmel 1911. S. 140) genannt,
verselbständigen sich, folgen ihrer eigenen Sachlogik, und der Mensch
wird zum "bloßen Träger des Zwanges, mit dem diese Logik die Ent-
wicklungen beherrscht." (S. 142) Und es kommt etwas anderes hinzu:
Sie wachsen und wachsen mit einer "verhängnisvollen Selbständigkeit
(... ), oft fast beziehungslos zu dem Willen und der Persönlichkeit und
der Produzenten und wie unberührt von der Frage, von wie vielen Sub-
330 8 Identität

j ekten überhaupt" und in welchem Maße sie aufgenommen werden.


(SimmeI1911 , S. 142)
Um diese Seite der " Tragödie der Kultur" zu markier en, bemüht er
ein berühmtes Bild: "D er »Fetischcharakter«, den Marx den wirtsc haft-
lichen Objekt en in der Epoche der Warenproduktion zuspricht, ist nur
ein besonders modifizierter Fall dieses allgemeinen Schicksals unserer
Kulturinhalte. Diese Inhalte stehen - und mit steigender »Kultur« im-
mer mehr - unter der Paradoxie, dass sie zwar von Subjekten geschaf-
fen und für Subjekte bestimmt sind, aber ( ...) einer immanenten Ent-
wicklungslogik folgen und sich damit ihrem Ursprung wie ihrem
Zwec k entfremden." (Simmel 1911. S. 140f.) Und die Konsequenz liegt
auf der Hand: Sie wecken "künstliche und, von der Kultur der Subjekte
her gesehen, sinnlose Bedürfuisse" , und "d er ins Unabsehbare wach-
sende Vorrat des objektivierten Geistes (... ) schlägt (das Individuum,
H. A.) mit Gefühlen eigener Unz ulänglichke it und Hilflosigkeit." (S .
141 und 143) Seine individuelle Entwicklung bleibt hinter der Entwick-
lung der objektiven Kultur zurück.
Das ist das Problem des modemen Menschen, und das ist Teil der
.,Tragödie der Kultur" . Diese liegt darin, dass sie schon in ihrer ersten
Form , in der sich " ihr inneres Wesen", der menschliche Geist - die un-
vo llendete Seele - äußert, die Vollendung "a bzulenken, zu belasten,
ratlos und zwiespältig zu machen, bestimmt ist." (SimmeII 9l1 , S. 147)
Und jenes besteht darin, dass noch die Empörung des modemen Indivi-
duums gegen j ede Form, von der eben die Rede war, letztlich Formen
folgen muss, die im Prozess seiner Vergesellschaftung permanent pro-
duziert werden .
Ich habe eingangs gesagt, dass Simmel neben die im engeren Sinne
soziologischen Erklärungen von Individualität einen Blick auf die psy-
chologische Grundlage einer typisch modernen Individualität, der groß-
städtischen, stellt. Sie scheint mir in vieler Hinsicht zu zeigen, in wel-
che Richt ung sich Identität in der fortgeschrittenen Modem e entwi-
ckelt. Ich will sie kurz skizzieren. Simmel beginnt seinen Vortrag "Die
Großstädte und das Geistesleben" (1903) mit dem Hinweis auf den
schon mehrfach angesprochenen Dualismus von Individuum und Ge-
sellschaft: "D ie tiefsten Probleme des modemen Lebens quellen aus
dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart sei-
nes Daseins gegen die Übennächte der Gesellschaft , des geschichtlich
8 Identität 331

Ererbten, der äußerlic hen Kultur und Technik des Lebens zu bewah-
ren." (Simrnel I903, S. 116)
Diesen Anspruch des Individuums bzw. die - wie sich zeigen wird -
.Anpassungen", durch die sich die Persönlichkeit "mit den ihr äußeren
Mächten abfindet" (Simmel 1903, S. 116), verdeutlicht Simmel nun an
der großstädtischen Individualit ät, Deren psychologische Grundlage
" ist die Steigerung des Nervenleb ens. die aus dem raschen und unun-
terbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrucke hervorgeht".
(ebd.) Würde man auf diese ununterbrochenen Eindrucke und Beruh-
rungen mit unzähligen Menschen mit so vielen inneren Reaktionen
antworten "wie in der kleinen Stadt, in der man fast jeden Begegnenden
kennt und zu jedem ein positives Verhältnis hat, so würde man sich
innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische
Verfassung geraten." (S. 122f.) Deshalb hat sich in der Großstadt eine
Reaktion herausgebildet, die Simmel " Blasiertheit" nennt. (S. 121)
Simmel assoziiert mit diesem Begriff nicht die heutige Vorstellung
von Hochn äsigkeit oder Herablassung, sondern gewissermaßen eine
Schutzreaktion des Individuums gegen höchst differenzierte Reize:
" Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unter-
schiede der Dinge, nicht in dem Sinne, dass sie nicht wahrgenommen
würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, dass die Bedeutung
und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst
als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer
gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen vor-
gezogen zu werden." (SimmeI 1903, S. 12 1)
Diese Blasiertheit ist mit einer gewissen .Rescrve't.j a " leisen Aver-
sion" gepaart, mit der wir auf flüchtige Begegnungen ebenso wie z. B.
auf jahrelange Hausnachbarn reagieren. (vgl. Simmel 1903, S. 123)
Doch gerade diese innere Reserve gewährt dem Individuum der Groß-
stadt "eine Art und ein Maß persönlicher Freiheit" (S. 124), wie es sie
in einem kleineren sozialen Kreis nicht geben kann. In der Kleinstadt
kennt jeder jeden, und der Kreis wacht ängstlich " über die Leistungen,
die Lebensführung, die Gesinnungen des Individuums". (S. 125) Dieser
Kontrolle ist der Großstadtmensch nicht ausgesetzt, aber ist er deshalb
wirklich frei? Ist die Fonn seiner Individualität nicht ebenfalls von au-
ßen bestimmt? Simmel gibt darauf zwei Antworten.
Da ist einmal der Versuch des Individuums, "die eigene Persönlich-
keit" dadurch zur Geltung zu bringen, dass es sich als anders, unter-
332 8 Identität

schiedlich und besonders darstellt und dadurch "das Bewusstsein des


sozialen Kreises irgend wie für sich zu gewinnen" sucht. (Simmel 1903,
S. 128) Das verfuhrt "s chließlich zu den tendenziösesten Wunderlich-
keiten", wie Simmel es nennt, "z u den spezifisch großstädtischen Ext-
ravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums, deren Sinn
gar nicht mehr in den Inhalten solchen Benehmens, sondern nur in sei-
ner Fonn des Andersseins, des Sich-Heraushebens und dadurch Be-
merklichwerdens liegt." Es ist für viele "das einzige Mittel, auf dem
Umweg über das Bewusstsein der anderen irgend eine Se1bstschätzung
und das Bewusstsein, einen Platz auszufüllen, für sich zu retten." (S.
128f.)
Die zweite Antwort hängt mit der ersten aufs Engste zusammen und
lautet so: " Der tiefste Grund indes, aus dem gerade die Großstadt den
Trieb zum individuellsten persönlichen Dasein nahelegt - gleichviel ob
immer mit Recht und immer mit Erfolg - scheint mir dieser. Die Ent-
wicklung der modem en Kultur charakterisiert sich durch das Überge-
wicht dessen, was man den objektiven Geist nennen kann, über den
subj ektiven. (...) Diese Diskrepan z ist im wesentlichen der Erfolg
wachsender Arbeitsteilung; denn eine solche verlangt vom Einzelnen
eine immer einseitigere Leistung, deren höchste Steigerung seine Per-
sönlichkeit als ganze oft genug verkümmern lässt. Jedenfalls, dem
Überwuchern der objektiven Kultur ist das Individuum weniger und
weniger gewachsen." (Simmel 1903, S. 129) Das Individuum ist "z u
einer quantite negligeable herabgedrückt, zu einem Staubkorn gegen-
über einer ungeheuren Organisation von Dingen und Mächten, die ihm
alle Fortschritt e, Geistigkeiten, Werte allmählich aus der Hand spielen
und sie aus der Form des subje ktiven in die eines rein obj ektiven Le-
bens überführen." (S. 129f.)
Die Großstadt mit ihren Bauten und Wundem der Techn ik, mit ihren
Formen des Lebens und Institutionen des Staates bietet eine "so über-
wältigende Fülle kristallisierten, unpersönl ich gewordenen Geistes,
dass die Persönlichkeit sich sozusagen dagegen nicht halten kann. Das
Leben wird ihr einerseits unendlich leicht gemacht, indem Anregungen,
Interessen, Ausfüll ungen von Zeit und Bewusstsein sich ihr von allen
Seiten anbieten und sie wie in einem Strome tragen, in dem es kaum
noch eigener Schwimmbewegungen bedarf. And ererseits aber setzt sich
das Leben doch mehr und mehr aus diesen unpersönlichen Inhalten und
Darbietungen zusammen, die die eigentlich persönlichen Färbungen
8 Identität 333

und Unvergleichlichkeiten verdrängen wollen; so dass nun gerade, da-


mit dieses Persönlichste sich rette, es ein Äußerstes an Eigenart und
Besonderung aufbieten muss; es muss dieses übertreiben, um nur über-
haupt noch hörbar, auch für sich selbst, zu werden." (S immel 1903, S.
130) Dieses Bild der Individualität in der Modeme hat die soziologi-
sche Diskussion nach SimmeI entscheidend geprägt.
Darauf werde ich zurückkommen, wenn ich z. B. die kritischen Be-
trachtungen von David Riesman oder Erving Goffman, aber auch von
Peter L. und Brigitte Berger und Hansfried Kellner betrachte. Vorher
will ich aber noch eine Theorie vorstellen, die gewissenn aßen unter
Absehung von realen gesellschaftlichen Verhältnissen und deshalb
auch ohne Wertung den sozialen Prozess der Gewinnung von Identität
beschrieben hat. Das ist die Theorie von GEORGE HERBERT MEAD, der
kurze Zeit Simme1s Vorlesungen gehört hat.

8.2 Mead: Identität - sich mit den Auge n des ande re n sehe n
Kommun ikation ist "das Grundprinzip der gesellschaftlichen Organisa-
tion des Menschen" . (Mead 1934, S. 299) Diese These! gilt auch für
die Organisation von Identität. Unser Bewusstsein von uns selbst ent-
steht aus der permanenten Kommunikation zwischen uns und den ande-
ren. Das erklärt Mead so: Indem wir uns in die Rolle des anderen hin-
einversetzen und uns vorstellen, wie er auf uns reagieren wird, betrach-
ten wir uns auch selbst, wie wir reagieren. Wir werden auf uns selbst
aufmerksam, ja mehr noch: Wir sehen uns mit den Augen des anderen,
und erst auf diesem Umweg über den anderen werden wir uns unserer
seIbst bewusst! Das ist in Kürze Meads Erklärung der Entstehung von
Identität.
Mead entwickelt das Konzept der Identität aus der spezifisch
menschlichen Kommunikation. Ich will diese Theorie der Kommunika-
tion kurz wiederholen. Wie das Tier reagiert auch der Mensch auf ob-
jektive Zeichen (Donner, Blitz oder die Glocke im psychologischen
Labor) wie auch auf Gesten, die durch Verhalten (Knurren, hochgezo-
gene Augenbrauen oder hängende Schultern) zum Ausdruck gebracht
werden. Anders als das Tier ist der Mensch aber in der Lage, mit Zei-

Vgl. Band 1, Kap. 3.8 "Ordnung als Diskurs", S. 118 u. 120, und in diesem Band
Kap. 2.5 " Integration in einen organisierten Verhaltensprozes s", S. 87.
334 8 Identität

chen und Gesten ganze Handl ungszusammenhänge zu verbinden. Wo


Zeichen und Gesten für einen komplex en Sinnzusamm enhan g stehen,
spricht Mead von Symbolen . Wenn sie von allen Beteiligten in der
gleichen Weise verstanden werden, bezeichnet er sie als signifikante
Symbole.
Ein zweit er Unterschied im Verhalten besteht darin, dass das Tier
auf Zeichen wie auf das Verhalten eines anderen Tieres instinktiv und
automatisch reagiert, der Mensch aber seine Reaktion verzögern kann.
Er überlegt, was der Sinn des Verhaltens des anderen ist. Er denkt.
Mead beschre ibt diese Auszeichnun g des Menschen so: " Nur durch
Gesten qua signifikante Symbole wird Geist oder Intelli genz möglich,
denn nur durch Gesten, die signifikante Symbole sind, kann Denken
stattfinden, das einfach ein nach innen verlegtes oder implizites Ge-
spräch des Einzelnen mit sich selbst mit Hilfe solcher Gesten ist. Die-
ses Hereinnehmen-in-unsere-Erfahrung dieser äußerlichen Über-
mittlung von Gesten, die wir mit anderen in den gesellschaftlichen Pro-
zess eingeschalteten Men schen ausfü hren, macht das Wesen des Den-
kens aus." (Me ad 1934, S. 86)
Da signifikante Symbole fü r alle Mit glieder einer gese llschaftlichen
Gruppe den gleichen Sinn haben, lösen sie auch bei allen Beteili gten
die gleichen Haltun gen aus. Nur deshalb können wir die Symbole auch
nach innen herein nehmen und uns ihrer Bedeutun gen bewusst werden.
Und aus dem gleichen Grund können wir uns auch in die Roll e des an-
deren hineinversetzen und ihn verstehen. Im Denken des Menschen
kommt sein Geist (amind«) zum Ausdruck. Geist heißt, "eine Situation
in einen ideellen Rahm en" bringen . (Mead 1934, S. 224) Die Idee ist
der Sinn, der einer Situat ion beigelegt wird . Geist hat das Individuum
in dem Augenblick, wo es Symbole verwendet und sich der möglich en
Bedingungen und Konsequenzen seines eigenen und des Verhaltens des
anderen bewu sst wird . Bezogen auf die Interaktion bedeutet Geist die
Fähigkeit, sich Verhalten der anderen vorzustellen, erwartba res Verhal-
ten zu antizipieren und das eigene Handeln daran auszurichten. Geist
setzt Roll enübemahme vorau s. Durch wechselseitige Rollenübemahme
wird eine komm unikative Verständigung über Perspektive n und Rollen
möglich. Die Handelnden interpretieren ihr Handeln wech selseitig. Das
ist die Voraussetzung für gemeinsames Hand eln.
Die se Verständigung über Perspektiv en und Rollen spielt sich aber
nicht nur zwischen Personen, sondern auch innerhalb des Individuums
8 Identität 335

ab, denn " sagt eine Person etwas, so sagt sie zu sich selbst, was sie zu
den anderen sagt". (Mead 1934, S. 189) Nur so kann das Individuum
den Sinn von etwas verstehen. Ausgehend von dem Grundgedanken der
wechselseitigen Verschränkung der Perspektiven zwischen den Perso-
nen in einer Interaktion entwickelt Mead eine zweite These über die
spezifische Kommunikation zwischen Menschen: Im Prozess der
Kommunikation teilt die Person etwas mit. Indem sie aber etwas mit-
teilt, befindet sie " sich selbst in der Rolle der anderen Person, die sie
auf diese Weise anregt und beeinflusst. Indem sie diese Rolle der ande-
ren übernimmt, kann sie sich auf sich selbst besinnen und so ihren ei-
genen Kommunikationsprozess lenken." (S. 300)
In der Interaktion handelt die Person, und bevor sie handelt, denkt
sie. In der Interaktion handelt aber auch der andere, und über dessen
Handeln denkt sie ebenfalls nach. Denken zielt also immer in zwei
Richtungen: Ich mache mir klar, was ich mit meinem Handeln bezwe-
cke, was ich also dem anderen mitteilen will, und ich mache mir sein
Handeln klar. Wenn ich mir dann noch die möglichen Reaktionen des
anderen auf mein beabsichtigtes Handeln vorstelle, dann werde ich mir
meines Handeins bewusst. Das ist für Mead " der Ursprung des Selbst-
bewusstseins." (Brumlik 1973, S. 23) Selbstbewusstsein (eself-ccn-
sciousness«) ist Voraussetzung von Identität.
Im Prozess der Rollenübernahme geht es also nicht nur um Interak-
tion, sondern auch um Identität, denn indem ich mir Standpunkte und
Haltungen des anderen mir gegenüber klar mache, löse ich diese Stand-
punkte und Haltungen auch in mir selbst aus. Ich prüfe, wie es wohl
wäre, wenn ich an seiner Stelle stünde. Dabei werde ich mir bewusst,
was die Auslöser des eigenen Handeins sind, warum es ggf. dem
gleicht, was der andere tut, oder ganz anders ist.
Mead betont nun, dass ohne diesen "Umweg" über den anderen
Identität nicht zu gewinnen ist. Paradox kann man es so sagen: Das
Individuum wird sich seiner Identität erst bewusst, wenn es sich mit
den Augen der anderen sieht. Das Individuum gewinnt "Erfahrung von
sich als einem Ich nicht unmittelbar, sondern nur im Kontrast zu einem
entfremdeten Teil des eigenen Selbst, der sich ihm eben in der Hinein-
nahme von Verhaltensweisen anderer entfremdet." (Gehlen 1956, S.
147) Durch die Übernahme der Rolle des anderen kontrolliert der Ein-
zelne seine eigenen Reaktionen. (Mead 1934, S. 300f.) Er löst mit sei-
nem Sprechen zu anderen die Haltungen bei sich selbst aus, die er bei
336 8 Identität

den ander en mit der Verwendung gemeinsamer, signifikanter Symbole


identifiziert oder auslösen will. Insofern ist Kommunikation grundsätz-
lieh nicht nur an andere , sondern auch an das Subje kt selbst gerichtet:

George Herbert Mead: Identität - sich selbst Objekt sein


..Für die Identität ist es notwendig, dass die Person auf sich selbst rea-
giert. Dieses soziale Verhalten (»social conduct«) schafft die Bedin-
gung für ein Verhalten (»provide s behavi or«), in dem Identität auftritt .
Außer dem sprachlichen kenne ich kein Verhalten, in dem der Einzelne
sich selbst Objekt ist, und so weit ich sehen kann, ist der Einzelne so-
lange keine Identität im reflexiven Sinn (sreflexive sense«), als er nicht
sich selbst Objekt ist. Diese Tatsache gibt der Kommunikation ent-
scheide nde Bedeutung, da sie ein Verhalten ist, bei dem der Einzelne in
diese r Weise auf sich selbst reagiert." (Mead 1934: Geis t. Identität und
Gesellschaft. S. 184, Korrektur H. A.)

Erst durch den Bezug auf andere vermag ich eine Vorstellung von mir
selbst, ein Selbstbewuss tsein zu gewinnen. Identität und Interaktion
spielen also ständig ineinander. Selbstbewuss tsein ist ein Prozess, in
dem sich das Individuum selbst zum Objekt seiner Wahrnehmung
macht. Denk en, hieß es eben, ist ein nach innen verlegtes Gespräch.
Durch innere Kommunik ation thematisiert sich das Individuum gleich-
sam selbst. Es schaut sich selbst zu. Das Individuum ist also gleichzei-
tig Subje kt des HandeIns wie auch sein eigenes Obje kt. Es beobachtet
sich aus der Sicht der anderen und in Reaktion auf diese Sicht der ande-
ren. Es steht gewisse rmaßen im Mittelpunkt wie außerhalb dieses Krei-
ses. Das ist eine wesentliche Fähigkeit, durch die sich der Mensch vom
Tier unterscheidet. Das Tier kann sich nicht zuschauen, wie es handelt.
Diese Fähigkeit ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Identi-
tät.
In der Entwicklung der Identität lassen sich zwei soziale Phasen un-
terscheiden, in denen das Kind lernt, sich an einem größe ren System zu
orientieren, und es sich gleichzeitig seiner Identität mehr und mehr be-
wusst wird. (Mead 1934, S. 200) Das sind die Phasen des play und des
game, die oben im Kapitel " Sozialisation" unter dem Titel " Integration
in einen organisierten Verhaltensprozess" dargestellt wurdcn. Mit der
Fähigkeit, sich auf die Perspektive eines generalisierten Anderen ein-
zustellen, ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Identität ge-
geben. Die Verinnerlichung des generalisierten Anderen bildet zusam-
8 Identität 337

men mit der Rollenübernahme die anthropologisc he Prämisse der Iden-


tität.
Nun beobachten wir aber, dass Menschen völlig verschieden sind,
obwohl sie die gleichen Werte und die gleichen signifikanten Symbo le
teilen. Jede Identität weist einzigartige Merkmale auf Das könnte man
damit erklären, dass die Erfahrun gen eben doch nicht gleich sind. Das
sieht auch Mead so, aber er fragt grundsätzlicher, was denn die Voraus-
setzungen dafür sind, dass jedes Individuum unterschiedliche Erfah-
rungen macht. Die Erklärung hängt wieder mit der aktiven Rolle des
Individuums zusammen. Diese Aktivität kommt einmal aus dem Inne-
ren des Menschen, und zum anderen entwickelt sie sich in der Ausei-
nandersetzun g zwischen Individuum und Gesellschaft.
Mead sieht diese Akti vität auf zwei Seiten des Ichs verteilt. Die eine
Seite nennt er das »I«, die andere das »me«; ' Das darf man sich nicht
so vorstellen, als seien hier zwei getrennte Instanzen gemeint. Es sind
vielmehr "z wei korrespondierende Seiten des Ich einand er gegenüber-
gestellt." (Strauss 1964, S. 30)
Das »1« ist vorsozia l und unbewusst. Seine biologische Basis ist ein
konstitutionell er Antriebsübe rschuss. In ihm kommen sinnliche und
körperliche Bedürfnisse spontan zum Ausdruck. Deshalb möchte ich
das >}I« auch als imp ulsives Ich bezeichn en. Es ist nie vollständig sozia-
lisierbar und tendiert - in Traum, Phantasie oder spontaner Aktion -
dazu, die soz iale Selbstdisziplinierung des Individ uums, die ja mit der
Orientierung am generalisierten Anderen erfolgt, aufzuheben. Da ist es
dem Frcudschen " Es" du rchaus vergleichbar. Doch anders als Freud,
der im Es einen brodelnden Kessel chaotischer Energie sah, sieht Mead
die konstruktive Funktion dieses biologischen Impul ses. Weil das im-
pulsive Ich nicht voll sozialisiert werden kann, bringt es immer wied er
"Neues und Schöpferisches in die Situat ion". (Strau ss 1964, S. 30) Es
kommt den Zumutungen der anderen in die Quere, die sich im Laufe

Die v ielen Versuche, die Begriffe »1\( und »me« zu übersetzen, befriedigen alle-
samt nicht, weshalb wohl die meisten Soziologen es bei den englischen Begriffen
belassen. Auch der Vorschlag von Anselm Strauss, zwischen .Jch an sich" und
,,Mich" zu unterscheiden, ist unbefriedigend. (Strauss 1964, S, 30) Ein ganz un-
sinniger Versuch, das Problem der Übersetzung zu lösen, findet sich in der deut-
schen Übersetzung von ,,Mind, Self, and Society", wo das Wort Ich in unter-
schiedlichen Anführungszeichen steht. (vgl. Mead 1934, S. 216, Anm) Man stelle
sich vor, man müsste diesen Text laut lesen! Ich werde deshalb die beiden Begrif-
fe gleich inhaltlich umschreiben.
338 8 Identität

der Zeit ein bestimmtes Bild von unserer Identität gemacht haben, aber
es du rchbricht auch unsere eigenen Strategi en, un sere Identität glatt zu
schleifen. Das »I« komm t nur in der Einzah l vor.
Die ande re Seite des Ichs, die gewisse rmaß en die Bilder spiegelt, die
andere mit uns verbinden, nennt Mead das »me«.t Da das »me« die
Identifikation des Ind ividuum s durch andere w ide rspiege lt, mö chte ich
es als reflektiertes lch2 beze ichnen. Wohlge me rkt : Ich spreche vo n ei-
nem reflektierten, nicht von einem reflexiven Ich!
Das »me« ist die Summ e der sozialen Bilder vo n uns, d ie wir im
Laufe der vielen Beziehun gen zu anderen und unter d em sanften Druck
der Sozialisation verinnerlicht haben und mit denen wir un s in konkre-
ten Interak tion en konfrontie rt sehen. In dem Maße, wie w ir u ns die
sozialen Bilder, di e die anderen von uns haben, auch als typi sche Bilder
von uns in typ ischen Situationen se lbst zurechnen, kann man das »me«
auch als soziale Identität bezeichn en. Be i der Erklärung der Entste hun g
von Werten nach der Theorie von Mead habe ich von " Gedäc htnisbil-
dem von Reakt ionen der Mensch en unsere r Umgebung" gesprochen ,
auf die w ir in unserem Handeln zurüc kgre ifen. (Mead 191 3, S. 246)
Das »me « ist ein Gedächtnisbild des eigenen Ich .
Unter der Perspektive von Identität meint das reflektierte Ich deshalb
die Se ite zugewiese ner Identität und d ie internal isie rte Vor stellung von
dem Bil d, das sich der andere wahrsch einlich von mir gemac ht hat. Ich
beton e " wahrscheinlich", weil man es natürlich nicht genau we iß. Aus
ein er spä teren Theoriediskussion müsste man sagen: Es ist eine Kon-
struktion. Das reflektiert e Ich enthält die organisierten Werthalt ungen,
die im Verlau f der Sozialisation erworbe n werd en. Das re flektierte Ich
repräsentiert die gesellsc haftliche Dimension der Identität. Das »me«
ist das, was das Subjekt über sich selbst im Prozess der Rollen über-
nahme erfahren hat. Es beze ichnet " meine Vorstellung von dem Bild,
das der andere von mir hat, bzw. auf pri mi tiver Stufe meine Verinnerli-
chung sei ner Erwa rtunge n an mich ." (Joas 1991 , S. 139)

Diese soziale Seite des Ichs habe ich in Kap. 2.5 unter dem Aspekt der .Jntegrati-
on in einen organisierten Verhaltensprozess", S. 87, schon kurz angesprochen.
2 Hier denke ich natürlich an das von Charles H. Cooley so genannte "S piegel-
selbst" . [Cooley 1902, S. 184 ; vgl. auch oben Kap. 7.5 Goffman: Stigma und sozi-
ale Identität", S. 3 13) Obwohl Mead sich kritisch mit Cooleys Identitätskonzept
auseinandersetzt (Mead 1934, S. 269, Anm. 26), scheint er den Gedanken der
Spiegelung stillschweigend fiir seine Theorie genutzt zu haben.
8 Identität 339

Erst im Prozess der Rollenübernahme, habe ich gerade referiert, er-


fahrt das Individuum etwas über sich selbst. Indem es sich nämlich in
die Position des anderen versetzt, betrachtet es sich aus dessen Perspek-
tive. Der Einzelne wird sich selbst zum Objekt. (Mead 1934, S. 180)
Dabei hat das me in jedem einzelnen Falle eine ganz bestimmte Funkti-
on: ,,Das »me. als Niederschlag einer Bezugsperson in mir ist sowohl
Bewertungsinstanz für die Strukturierung der spontanen Impulse wie
Element eines entstehenden Selbstbildes. Trete ich mehreren für mich
bedeutsamen Bezugspersonen gegenüber, so gewinne ich mehrere un-
terschiedliche »me's«." (Joas 1991, S. 139)
Mead vergleicht das reflektierte Ich mit Freuds "Über-Ich" , der Zen-
sur-Instanz der Triebimpulse. Das System der reflektierten Ichs reprä-
sentiert die diversen internalisierten Haltungen anderer dem Indivi-
duum gegenüber. Insofern kann man auch sagen, im reflektierten Ich
kommt die Kontrolle des generalisierten Anderen zum Ausdruck. Auf
diesen Aspekt hebt ANSELM STRAUSS ab, wenn er schreibt: "Der gene-
ralisierte Andere ist der Repräsentant der Gesellschaft im Individuum.
Selbst bei Abwesenheit anderer ist das Individuum imstande, sein Ver-
halten so zu organisieren, dass es dabei beriicksichtigt, welche diesbe-
züglichen Haltungen es von ihrer Seite zu gewärtigen hätte. Daher
hängt der generalisierte Andere bei Mead sowohl mit Selbstkontrolle
wie mit sozialer Kontrolle eng zusammen." (Strauss 1964, S. 30) Das
Verhältnis beider Instanzen kann man so verstehen: Das spontane Ich
reagiert auf die vielen reflektierten Ichs widerständig und verändernd;
die reflektierten Ichs sind eine permanente soziale Kontrolle des spon-
tanen Ichs.
Im Laufe der Sozialisation macht das Individuum immer neue so-
ziale Erfahrungen, was auch bedeutet, dass es neue Identifikationen
durch andere erfahrt und selbst neue Identifikationen vornimmt. Es
nimmt zahllose Standpunkte vieler anderer ein, was auch Standpunkte
zu sich selbst einschließt. Die reflektierten Ichs werden aber nicht nur
zahlreicher, sondern sie differenzieren sich auch immer mehr, manche
widersprechen sich sogar. Die Klassenkameraden sehen einen anders
als die Eltern, der Freund erwartet anderes von mir als mein Chef, die
Nachbarn behandeln mich auf ihre Weise, und mit meinen Enkeln gehe
ich auf meine Weise um. All das zeigt, dass das System der reflektier-
ten Ichs keineswegs festgefügt und homogen, sondern ständig in Be-
wegung ist.
340 8 Identität

Aus der Differenz zwischen dem spontanen, unre flektierten Hand eln
des impulsiven Ich und der Pers pektive, die sich aus der Sicht der ande-
ren auf das Individuum ergibt, dem reflektierten Ich, entwickelt sich ein
reflexives Bew ussts ein. Die Vielheit der Perspektiven setzt Reflexivität
imm er aufs Ne ue in Gang. Die verschiedenen reflekt ierten Ichs " müs-
sen, wenn konsistentes Verhalten übe rhaupt möglich sein soll, zu einem
einheitlichen Selbstbild synthetisiert werden. Gelingt diese Synthetisie-
rung, dann entsteht das sel f." (Joas 1991, S. 139)
Dieses se/f kann man mit dem Wort Identität übersetzen. Identität
entsteht da nn, wenn das spon tane Ich und die reflektierten Ichs in einer
typischen Weise relativ dauerhaft vermittelt werden. Ich betone "rela-
tiv" , denn ego steht in einem ständigen Dialog mit alter. Das sind nicht
nur die konkreten anderen, sondern auch die unbewusst mitspielenden
signifikanten Bezugspersonen und die vielen diffusen anderen. Ihre
Erwartu ngen reflektiert ego, ihre Reaktionen antizipiert es. Insofern
steht Identität nicht fest, sondern wird immer wieder neu entworfen.
Das permanent mitlaufende Selbstbewusstsein egos kann man als lch-
Identität bezeic hnen.
Bleibt die letzte Frage, wieso angesic hts einer organisierten Verhal-
tensstruktur, in die das Individuum ja integriert wird, ,J ede einzelne
Identität ihre eigene spezifische Individualität, ihre einzigartigen
Merkmale hat." (Mead 1934, S. 245) Mead beantwortet es so: Jedes
Individuum bildet - wegen seiner einzigartigen Kombination zwischen
I und me - eine einzigartige Position aus, nimmt deshalb einen anders-
artigen Aspekt auf die organisierte Struktur ein und verhält sich dem-
entsprechend anders und einzigartig .
Der These von der einzigartigen Position kann man sicher zustim-
men. An der Annalune, dass sich das Individuum deshalb auch einzig-
artig verhält, kann man allerdings zweifeln, wenn man DAVID RIES-
MANs Schilderung des modemen Sozialcharakters in der west lichen
Industriegesellschaft liest. Seine Analyse erinnert in manchem an die
skeptische Sicht Georg Simmels. In einer Hinsicht übersteigt sie sie
allerdings noch: Von einem Zwang, krampfh aft aufzufallen, ist nichts
mehr zu spüren, im Gegenteil: Dem Individuum reicht es, wenn die
anderen es anerkennen, weil es nicht anders ist als sie selbst!
8 Identität 341

8.3 Riesman: Auß enleitung


Im Jahre 1950 veröffentlichte DAVID RIESMAN (1909-2002) mit ande-
ren eine berühmte Studie über den amerikanischen Sozialcharakter, die
den bezeichnenden Titel .The lonely crowd' trug. Dieser Titel wurde
zum geflügelten Wort und traf den Nerv von Intellektuellen und Sozio-
logen gleichermaßen. In dieser Studie kommt Riesman zu dem Ergeb-
nis, dass der Mensch der Modeme sich in seinem Denken und Handeln
von den anderen leiten lässt. Im Klartext: Das Individuum tut das, was
alle, die ihm wichtig sind - von den engsten Freunden und nächsten
Nachbarn bis zu den entferntesten Fans der gleichen Musik und den
anonymen Trendsettern weltweit - , auch tun. Der Mensch der Modeme
ist "a ußengeleitet" . Das ist die zentrale These dieses Buches, das inso-
fern indirekt etwas über Bedingungen der Identität aussagt, als es eine
typische Verhaltenssteuerung beschreibt, wie sie sich in Europa und in
den Vereinigten Staaten ergeben hat. -
Riesman sieht einen Zusammenhang zwischen Bevölkerungsbewe-
gungen und Sozialcharakter, worunter er die typische Verhaltenssteue-
rung in einer Zeit versteht. Über Jahrtausende waren die meisten Ge-
sellschaften demographisch durch geringe Siedlungsdichte und einen
relativ hohen Bevölkerungsumsatz gekennzeichnet, was bedeutet, dass
es kaum zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen gekommen ist. Die
Bevölkerung war im Durchschnitt recht jung, und eine Generation löste
die andere ab, ohne tiefe Spuren zu hinterlassen. (vgl. Riesman 1950, S.
27) Jeder bewältigte sein Leben so, wie es alle anderen seit je getan
hatten.
);> Riesman nennt diese Verhaltenssteuerung Traditio nsleitung:
" Der traditionsgeleitete Mensch steht der Kultur wie einer ein-
heitlichen Macht gegenüber, auch wenn ihm diese durch jene
spezifische kleine Gruppe von Menschen, mit denen er in tägli-
chem Kontakt steht, nahegebracht wird. Diese erwartet von ihm
nicht, dass er sich zu einer bestimmten Persönlichkeit entwickelt,
sondern lediglich, dass er sich in der allgemein anerkannten Art
und Weise verhalte." (Riesman 1950, S. 40) Der Traditionsgelei-
tete wird von abweichendem Verhalten durch die Furcht vor
Schande abgehalten.
342 8 Identität

In Europa nahm ungefähr seit dem Mittela lter die Bevölkerung rasch
zu. Das hing mit verbesserten hygienischen Bedingungen zusammen,
wodu rch die Sterblichkeit reduziert wurde. Das hing zwe itens mit ver-
besserten landwirtschaftl ichen Methoden und einer deutlichen Steige-
rung der Erträge zusammen, was zu mehr Geburten führte. Und
schließlich wurden Verkehrswege ausgebaut, auf denen z. B. Lebens-
mittel aus Überfluss- in Mangelgebiete transportiert werden konnten .
M it einer Bevölkerungszunahme, das haben die Theorien von Spencer
und Durkheim gezeigt,
• beginnt nicht nur eine verdichtete Siedlung, was Intensivierung
der Komm unikation bedeutet,
• sondern auch - bedingt durch die Arbeitsteilung - eine Differen-
zierung der Funkt ionen der Mitglieder der Gese llschaft.
• Soziale Mobilität und Femh andel nehmen zu. Mobilität bedeutet
Verlassen von vertrauten Kontexten,
• und Fernhandel bedeutet auch Vermittlung von fremden Erfah-
rungen. Das Traditionsgeftige lockert sich, unterschiedliche Ver-
haltensmuster bilden sich heraus, die jedes für sich funktional
sinnvoll sind, in der Summe aber konkurrie rend wirken. 1
Die alte Verhaltenssteueru ng passt nicht mehr. " Die größten Chancen,
die diese Gesellschaft zu vergeben hat - und die größte Initiative, die
sie denen abve rlangt, die mit den neuen Problemen fertig werd en wol-
len - , werden von Charaktertypen verwirklicht, denen es gelingt, ihr
Leben in der Gesellschaft ohne stre nge und selbstverständliche Traditi-
ons-Lenkun g zu führen." (Riesman 1950, S. 3 1) Traditionslenkung ist
von Natur aus schwerfällig. Jeder neue Einze lfall wird als Bedroh ung
der Routine im konkreten Fall gesehen. Die gese llschaftliche und öko-
nomische Entwicklung wird aber schne ller und bringt neue Möglich-
keiten und Forderungen in immer rascherer Folge. Gefordert ist deshalb
eine Orientieru ng an Prinzipien, die grundsätzlich, also auch in sich
wandelnden Situationen gelten. Solche Prinzipien bildeten sich in Eu-
ropa in der Renaissance im 15.116. Jahrhundert und der Reformation
heraus. Währ end die Renaissance die Individualität des Menschen be-

Die ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklungen, die eine neue


Verhaltenssteuerung nach sich zogen, habe ich ausführlic h im ersten Teil von
.Jdentität" (AbeIs 2006) dargestellt. Sie stehen unter der Generalüberschrift "Vom
Individuum zur Individualisierung" .
8 Identität 343

tonte und die Persönlichkeit als das Ergebnis allseitiger Bildung ideali-
sierte, betonte die Protestantische Ethik, wie sie vor allem Max Weber I
bescluieben hat, auf der einen Seite eine religiös fundierte, prinzipien-
geleitete Hinwendung zur diesseitigen Welt und die rationale Verfü-
gung über sie und auf der anderen Seite die Verantwortung des einzel-
nen Individuums für sein eigenes Leben.
)i> Diese neue Verhaltenssteuerung nennt Riesman InnenJeitung.
Der innengeleitete Mensch nimmt sozusagen einen "seelischen
Kreiselkompass" in sich auf, der ihn auf Kurs hält. Diesem nach
innen verlegten Steuerungsorgan gehorcht er aus Überzeugung,
und wenn er von ihm abweicht, " so wird ihn dies mit Schuldge-
jUhJ erfüllen." (Riesman 1950, S. 40)
Dieser Typus wird im 20. Jahrhundert allmählich abgelöst durch einen
Charaktertyp, der für Riesman "seit kurzem in dem gehobenen Mit-
telstand unserer Städte in Erscheinung" tritt. (Riesman 1950, S. 35)
Wie ist es zu diesem neuen Typus gekommen? Riesman erklärt es so:
Technik, Wirtschaft und Handel brachten im 19. Jahrhundert einen re-
lativen Wohlstand für alte. Das führte zu einem Rückgang der Gebur-
ten. Die Bevölkerung stagnierte zunächst und schrumpfte im 20. Jahr-
hundert in den meisten Industrienationen. Wichtiger für die Änderung
im sozialen Charakter sind aber die sozialen Konsequenzen des öko-
nomischen und gesellschaftlichen Wandels, der sich mit der Industriali-
sierung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beschleunigt hatte.
Mit der zunehmenden Arbeitsteilung begann sich auch die Gesell-
schaft immer mehr zu differenzieren. Auch die Rollen, die sich damit
ergaben, wurden zahlreicher und differenzierter. Politische Entwick-
lungen garantierten größere individuelle Freiheiten, diese Rollen wahr-
zunehmen und zu gestalten. Mit der Anerkennung unterschiedlicher
Interessen ließen sich auch für die verschiedensten Verhaltensformen
gute Gründe anfUhren. Die geschlossenen Weltbilder wurden entzau-
bert oder lösten sich auf, und es kam zu einer Vielfalt von Überzeugun-
gen und Einstellungen. Für die gleichen Situationen stehen heute kon-
kurrierende Muster des Verhaltens zur Verfügung. Die Menschen gera-
ten mit immer mehr fremden Kulturen in Kontakt, was bedeutet, dass
sie permanent mit Neuem und Anderem konfrontiert werden. Und sie

Vgl. Band 1, Kap. 10.3 ,,Asketischer Protestantismus und rationale Lebensfüh-


rung" , S. 347ff..
344 8 Identität

sehen, dass das Neue und das Andere auch Sinn macht und insofern
sogar eine realistische Alternative zum eingelebten Verhalten sein
könnte. Die Massenmedien tun ein Übriges, die Alternativen bekannt
zu machen, und sie zeigen, dass die Alternativ en auch gelebt werden
können .
Es kommt noch etwas hinzu : Aufgrund eines allmählich ansteigen-
den breiten Wohlstands und wachsender Freizeit trat an die Stelle des
dauernden .Knappheitsbewusstseins" des innengeleiteten Menschen
ein .Dberüussbewu sstsem", das in ein .Verbrauchsbedürfnis'' mü ndet.
Die Konsequenz des Übergangs in das Zeitalter des Konsums liegt auf
der Hand: Ein steigender Konsum orientiert sich an den Angeboten
eines Marktes und wird sichtbar. Das Ver halten der anderen Kon su-
menten wird zum Maßstab des eigenen.
Und schließ lich: Die Gesellschaft wird auf der einen Se ite bürokrati-
siert, was bedeutet, dass das Verhalten der Menschen untereinander von
außen geregelt wird; auf der anderen Seite ist da s Indi viduum in zah l-
reiche soziale Bezüge gleichzeitig einge bettet und muss mit höchst un-
terschiedl ichen soz ialen Erwartungen zurecht kommen. Da ein verbind-
liches, inneres Prinzip der Verha ltenssteue rung nicht mehr vorhanden
ist oder anges ichts der Füll e von Möglichkeiten und Erwartungen nur
noch schwach funk tioniert, beginnt der modeme Mensch sich an dem
zu orientieren, was ihm die wichtigsten Bezugspersonen vorleben -
oder wovon er denkt, dass sie so leben.
~ Diese Orientierun g nennt Riesman Auß enleitung .

Davtd Riesman: Außenleitung


" Das gemeinsame Merkmal der außengeleiteten Menschen besteht dar-
in, dass das Verhalten des Einzelnen durch die Zeitgenossen gesteuert
wird; entweder von denjenigen, die er persönlich kennt, oder von jenen
anderen, mit denen er indirekt durch Freunde oder durch die Massenun-
terhaltungsmittel bekannt ist. Diese Steuerungsquelle ist selbstverständ-
lich auch hier »verinnerlicht«, und zwar insofern, als das Abhängig-
keitsgefühl von dieser dem Kind frühzeitig eingepflanzt wird. Die von
den außengeleiteten Menschen angestrebten Ziele verändern sich je-
weils mit der sich verändernden Steuerung durch die von außen emp-
fangenen Signale. Unverändert bleibt lediglich diese Einstellung selbst
und die genaue Beobachtung, die den von den anderen abgegebenen
Signalen gezollt wird." (Riesman 1950: Die einsame Masse, S. 38)
8 Identität 345

Diese Erklärung des Handelns hat der schottische Moralphilosoph John


Locke als .Jaw of reputation" bez eichnet.t Der außengeleitete Mensch
lernt "S ignale von einem sehr viel weiteren als dem durch seine Eltern
abgesteckten Kreis aufzunehmen. Die Familie stellt nicht mehr j ene
eng miteinander verbundene Einheit dar, mit der er sich identifiziert,
sondern lediglich einen Teil einer weiterreichenden sozialen Umge-
bung, an die er sich frühzeitig gebunden fühlt. In dieser Hinsicht ähnelt
der außengeleitete Mensch dem traditionsgeleiteten Menschen, denn
beide leben in einem Gruppenmilieu, und beiden fehlt die Fähigkeit des
innengeleiteten Menschen, seinen Weg allein zu gehen. Doch ist dieses
Gruppenmilieu in beiden Fällen grundversc hieden. Der außengeleitete
Mensch ist »Weltbürger«.' Er ist " in gewissem Sinne überall und nir-
gends zu Hause; schnell verschafft er sich vertraulichen, wenn auch oft
nur oberflächlichen Umgang und kann mit jedermann leicht verkeh-
ren." (Riesman 1950, S. 41)
Das Problem des außengeleiteten Menschen besteht darin, dass er
sich auf viele Sender und häufigen Programmwechsel einstellen muss.
Um die Signale von überallher zu empfangen, ist "nicht erforderlich,
einen Kodex von Verhaltensregeln, sondern jenes hochempfi ndliche
Gerät, womit er diese Nachrichten empfangen und gelegentlich an ihrer
Verbreitung teilnehmen kann, zu verinnerlichen. Gegenüber Kontrollen
durch Schuld oder Furcht vor Schande, wenngleich diese selbstver-
ständlich weiterexistieren, besteht ein wesentlicher Beweggrund für
den außengeleiteten Menschen in einer diffusen Angst. Der Kontroll-
mechanismus wirkt j etzt nicht in der Art des Kreiselkompasses, son-
dern wie eine Radaranlage.' (Riesman 1950, S. 40)
Währe nd der innenge1 eitete Mensch sich an Prinzipien oder vorbild-
lichen Gestalten orientierte, um einen festen, eigenen Weg zu gehen,
" sieht der außengeleitete Mensch sein Leben häufig gar nicht als eine
individuelle Karriere an. Ihn verlangt nicht nach Ruhm, der ihn bis zu
einem gewissen Grade seiner Gruppe von Kollegen (peer-group ) ent-
fremden oder aus einem bestimmten Lebensstil herausreißen würde. Er
sucht vielmehr die Achtung, vor allem aber die affektive Zuneigung
einer strukturlosen und sich ständig in ihrer Zusammensetzung wan-
delnden Gruppe von Kollegen und Zeitgenossen." (Riesman 1950, S.

Vgl. oben S. 277, wo ich dieses Gesetz der Reputation mit dem Einfluss einer
Bezugsgruppe zusammengebracht habe.
346 8 Identität

150) Es ist eine paradoxe Situati on, denn genau mit diesen Kollegen
und Zeitgenossen, denen er "Aufmerksamke it widmet , um sich nach
ihren Verhaltensweisen und Werturteilen zu richten ", steht er in Kon-
kurre nz, da sie die gleichen Zie le wie er verfo lgen. (Riesman 1950, S.
150)
Der außengeleitete Mensch bewegt sich "auf einer Milchstraße von
fast, wenn auch nicht gänzlich ununterscheidba ren Zeitgenossen."
(Riesma n 1950, S. 150) Die Milchstraße besteht bekanntlich aus schier
unendlich vielen Sternen, und dem unbewaffneten Auge sehen alle
gleich aus und scheinen an ihrem Ort fixiert. Auf de r "s ozialen M ilch-
straße" ist es nicht ganz so voll, aber dort ist alles in Bewegung, und
man weiß nicht, wem man im nächsten Augenblick begegnet. "U nter
dem Zwang, mit einer Vielzahl von Menschen zu verkehren, sie für
sich zu gew innen und beeinflussen zu müssen, behandelt der außenge-
leitete Mensch alle anderen Menschen wie Kunden , die immer recht
haben." (5. 152) Um mit allen irgendwie zurecht zu kommen , ist er
flexibel und spielt die Rolle, die ihm im Augenblick den größten Erfolg
oder wenigsten s den geringsten Ärger verspricht. So spielt der außen-
geleitete Mensch eine Rolle nach der anderen, manchmal sogar mehrere
Rollen zugleich. Das hat Folgen für die eigene Identität, weil er
" schließlich nicht mehr weiß, wer er eigentlich wirklich ist und was mit
ihm geschieht." (ebd .)
Um ein Sprichwort abzuwa ndeln, kann man es so sagen: Wer es al-
len recht machen will, macht es keinem recht, am wenigsten sich selbst.
Es kann sich kein Prinzip ausbilden, nach dem das Individuum struktu-
riert handelt und nach dem es als Individualität identifiziert werden
könnte. Der Außengeleitete gibt "di e feste Charakterrolle des innenge-
leiteten Menschen auf und übernimmt dafür eine Vielfalt von Rollen,
die er im geheimen festlegt und entsprechend den verschiedenen Bege-
benheiten und Begegnungen variiert." (Riesman 1950, S. 152)1 Es gibt
eine Identität für diese Situation und eine andere für eine andere und
eine dritte für eine dritte.
Das Individuum zeigt nicht, wer es ist, sondern was es kann. Unbe-
wusst misst es sein Können an dem, was die anderen sagen, und ebenso
unbewusst bleibt, dass die Kunst nur funktioni ert, wenn das Individuum

Lesen Sie doch noch einmal nach, was Simmel oben (S. 33 1) über die Blasiertheit
in der Großstadt gesagt hat!
8 Identität 347

immer wieder vergisst, was es gestern gedacht und getan hat. Wer sich
imm er wieder an Prinzipien erinnert, die gestern gegolten haben, gilt
als zwanghaft, wer mit der Zeit geht, als dynamisch.
Die bewegliche Umstellung - ich wiederhole, was ich bei der impli-
ziten Kritik Riesmans an Parsons' Rollentheorie schon gesagt habet -
ist nicht nur möglich, sondern, so muss man Riesman interpretieren,
auch geboten, weil die verschiedenen Rollen, die der außengeleitete
Mensch den vie len anderen gegenüber spielen muss, "weder institutio-
nalisiert noch klar voneinander abgesetzt sind". (Riesman 1950, S. 152)
Sie sind keineswegs eindeutig, sondern diffus, und sie sind auch nicht
zwingend, sondern Optionen. In der ersten Hinsicht lebt der Außenge-
leitete in der latenten Angst, etwas falsch zu machen, solange er nicht
weiß, was "man" heute so richtig macht. In der zweiten Hinsicht ist er
allerdings freier als der innengeleitete Mensch, denn er kann jede Opti-
on für sich und die anderen legitimieren, wenn er nur die entsprechende
Bezugsgruppe wählt.
Bei Jugendlichen schütteln wir den Kopf, wenn sie heute das und
morgen das für walmsinnig wichtig halten, und den anderen Erwachse-
nen kreiden wir es als Charakterschwäche an, wenn sie " ihr Fähnchen
nach dem Wind hängen" . Doch Außenleitung macht sich nicht nur vor
unserer Haustür breit, sondern ist in die Bedingungen der Moderne ein-
gewoben. Zwar meinen viele, die überhaupt zu dieser Diagnose durch-
stoßen, sie seien die einzigen, die "nicht alles mitmachen" und " authen-
tisch" sind, aber im Grunde ist das bei vielen nur Illusion, um den Ge-
danken der Entfremdung von der eigenen Identität, der ja mit der Au-
ßenleitung verbunden ist, nicht an sich herankommen zu lassen.
Etwas von dieser Skepsis schwingt auch in der Theorie der Pr äsenta-
tion mit, mit der ERVING GOFFMAN die Strategie des außengeleiteten
Menschen, mit einem flexiblen Rollenspiel über die Runden zu kom-
men, beschreibt. Doch bei der Selbstdarstellung in den sozialen Rollen
geht es nicht nur darum, es mit allen zu können und nicht aus dem
Rahmen zu fallen, sondern auch darum, seine Identität vor den anderen
zu schützen.2

I Vgi. oben S. 110.


2 Diese These ist mir so wichtig, dass ich sie an vielen Stellen (z. B. S. 218, 324,
350, 358 oder 377) aufstelle. Vielleiehr gelingt es ja doch, beim deutschen Titel
"Wir alle spielen Theater" die Assoziation des Verlogenen zu vermeiden!
348 8 Identität

We nn man Go ffmans An alyse, dass "wir alle Theater spielen", folgt,


dann wird rasch klar: Es ist kein Spie l, sonde rn di e aktuelle Wahrheit,
die dem Publikum allerdings nicht auf die Nase geb unde n wird und von
der auch die Schauspie ler se lbst manchmal nichts ahne n!

8.4 Goffman: Wir alle spielen Theater


Das im Jahr 1959 erschienene Buch "Thc presentation of self in every-
day life" von ERVING GOFFMAN (1922 - 1982) geht von der Hypothese
aus, .,dass ein Einzelner, wenn er vor and eren erscheint, zah lreiche Mo-
tive dafür hat, den Eindruck, den sie von der Situation empfange n, un-
ter Kontrolle zu bringe n." (Go ffma n 1959, S. 17) Wie sie das tun, er-
hellt aus dem deutsch en Titel des Bu ches: "Wi r all e spie len Theater" .
Goffman hat es in einer kleinen Gemeinde auf den Shetland-lnseln ge-
schrieben, fernab vom anstrengenden Leb en eine r Großs tadt, w ie sie
Georg Simmel vor Auge n hatte, aber ganz nah an alltäg lichen face -to-
face Begegnungen, di e unau sweichlich waren.
Das Anliegen dieses Buches formul iert Go ffma n so : " D iese Unter-
suchu ng befasst sich mit einigen der üb lichen Techn iken , di e ange-
wand t werden, um herv orgeru fene Eindrüc ke aufrech tzuerhalten, und
mit einigen häufi gen Folgeersch einun gen, die mit der Anwendung der-
arti ger Techniken verbunden sind." (Goffman 195 9, S. 17) Um dieses
.dra maturgische Problem" der D arstellung vor ande ren geht es in fast
allen seinen Schriften. Goffman interessierte, " w ie Menschen in sozi a-
len Situationen sich dars tellen, sich w ahrnehmen und ihre Handl ungen
koordini eren ." (O sw ald 1984, S. 211 ) Wegen seiner höchst differen-
zierte n, oft witzigen, Beschre ibung der Technike n der Darstellung vor
anderen ha t man Go ffman auch als " die Autori tät für impressi on ma na-
geme nt" b ezei chn et. (Scott u. Lym an 1968, S. 86) Manche lesen ihn
auch, wei l sie di e Tricks kennenlern en wo llen, mit den en man sic h im
Allt ag über Wasser halt en oder ganz groß ra uskom men kann . Ich mei-
ne, dass da s weder dem eigentlichen Them a Goffmans noch se iner the-
oretischen Leistun g gerec ht wird. Do ch beid es ist nicht so leicht he-
ra usz ufinde n.
8 Identität 349

Zunächst zum Thema: Es geht erstens um »Interaktion«. Dieses


Thema behande lt Goffman aus zwei theoretischen Richtungen.
• Er behandelt es aus der Richtung von Max Weber , den er zwar
nur ganz vereinzelt zitiert, dessen Annahme von der Orientie-
rung des Handelns am gemei nten Sinn ihn aber unverkennba r
faszinie rt haben muss.
• Und er beha ndelt es aus der Richtung von George Herben
Mead, dessen Anna hme von der Rollenübemahme ihn ebenfalls
ungemein interessierte.
Mit seiner These, dass soz iales Handeln Schauspiel ist, entwickelt
Goffman Webers Annahme in die Richtung der Manipulation des zu
meinenden Sinns weiter und führt Meads These von der Rollenüber-
nahme in der Richtung der kalkulierten Wirkung fort. Das interaktionis-
tische "Paradigma ist auch insofern weitergekommen, als Goffman,
verglichen mit Mead, viel genauer Bescheid weiß über die Tricks im
Handwerk des täglichen Lebens. Er schaut immer noch zu, aber er
staunt nicht mehr. Er we iß, wie es gemacht wird, und das beschrei bt er
kühl und distanz iert." (Steinert 1977, S. 84)
Und noch einmal zum Thema: Das lautet zweitens »Identität«. Goff-
man behandelt es unter der Perspektive der Präsentation. Und ich will
gleich warnend hinzufügen: Er lässt keinen Zweifel daran, dass die
Individuen so tun - ich meine sogar: "s o tun müssen" - , als ob es bei
der Darstellung vor anderen um die wirkliche Identität geht.
Es geht denn auch um mehr als die Darstellung. Das ständig wieder-
kehrende Thema in fast allen seinen Schriften waren die "Gefahren,
denen das Selbst in der Interakt ion ausgesetzt ist." (Oswal d 1984, S.
211) Als RA LF D AHRENDORF im Jahre 1969 sein Vorwort zu der deut-
schen Veröffe ntlichung von Goffm ans Buch schrieb, fühlte er sich an
den totalen Ideologieverdacht bei Karl Mannh eim erinnert. Bei Goff-
man sah er den "to talen Rollenverdacht". Wie.nach Mannhe im Denken
gar nicht ander s möglich ist als Denken von einem bestimmten Stand-
punkt aus, so sei Handeln nicht anders möglich als Handeln in Rollen.
Nach der Lektüre falle es schwer, noch Möglichkeiten zu sehen, " aus
der totalen Institution Gesellschaft" auszubrechen. (Dahrendorf 1969,
S. VIllj
Extreme Gefährdunge n beschreibt Goffman in seinem Buch " Asyle"
(196 1a), in dem es um die Vereinnahmu ng durch totale Institutionen
wie Gefän gnisse, psychiatrische Kliniken oder Gefangenenlager geht,
350 8 Identität

und in seinem Buch "S tigm a" ( 1963 ), das den bezeichne nden Untertitel
" Über Techn ik en der Bew ältigung beschädigter Ident ität" trägt. Dort
wird z. B. gezeigt, welche Anstrengungen Behinderte unternehmen
müssen, damit Nicht-Behinderte so tun können, als ob sie sie wie
"Normale" behandelten. I Um weniger dramatische, gleichwohl immer
riskante Ve rsuche , die eigene Identität vor den Vereinna hm ungen durch
die anderen zu schützen, geht es in allen übrigen Schriften.
Das ist auch der Grund, weshalb man Goffmans Soziologie als die
typische Soziologie des Menschen in der Masse ngesellschaft bezeich-
net hat. (Willi ams 1986, S. 349) So hatte es schon ALVIN W. GOULD-
NER in seiner Ge neralabrechnung mit der westlichen Soziologie ( 1970)
gesehen . Danach beschre ibe Goffman die Über lebensstrategien der
Angehörigen der Mittelklasse, die " eifrig an einer llIusion des Selbst"
baste ln, obwohl sie wissen, dass sie den gesellschaftlichen Verhältnis-
sen unterlegen sind. Diese bürgerliche Welt des impression manage-
ment "wird von ängstlichen, außengeleiteten Menschen mit feuchten
Händen bewohnt, die in der permanenten Angst leben, von anderen
bloßgestellt zu werden oder sich unabsichtlich selbst zu verraten."
(Gouldner 1970, S. 457)
Mit diesem Urteil wurde Goffman direkt in das Erbe von D A VID
RJ ESMAN eingesetzt, der Anfang der 50er Jahre mit seiner These von
der Außenleitung dem Individuum der Modeme jegliche I1Iusion von
Freiheit und Einzigartigkeit geraubt hatte. Doch schärfer als bei Ries-
man entlarvt sich fiir Gouldner in den Beschreibungen Goffmans die
moralische Seite dieses Verhaltens: Während Riesman den Übergang
von einer religiös motivierten Innenleitung zu einer Anpassung um der
soziale n Anerkennung willen beschrieb, beschreibt Goffman nach der
Meinung Gouldners den Übergang von " Menschen mit einem in sich
ruhenden calvinistischen Gewissen zu Spielern, die nicht gemäß innerer
Einsicht, sondern in schlauer Antizipation der Reaktion anderer auf
eine raffini erte Methode »einsteigen«." (Goul dner 1970, S. 463)
Einsteigen, so muss man wohl ergänzen, in das Schauspie l auf der
Bühne des Lebens, bei dem es m. E. aber nicht um die Unterhaltung
des Publikums, sondern um die Präsentation einer Identität geht, der
man sich nicht immer sicher ist.

1 Vgl. oben Kap. 7.5 " Stigma und soziale Identität" , S. 3 17.
8 Identität 351

Unter dieser Perspektive will ich nun einige Kemaussagen von


Goffmans berühmtestem Buch " Wir alle spielen Theater" referieren.
Die Grundannahme des Buches erschließt sich einem mit der ein-
gangs zitierten lakonischen Hypothese und einem bemerkenswerten
Zitat. Das Zitat, dessen Überschrift man wenigstens einmal laut lesen
sollte (tun Sie es, bitte!), stammt von einem der Gründerväter der ame-
rikanischen Soziologie, ROBERT EZRA PARK (1864· 1944) :

Robert Ezra Park : Th e mask is our tru er self


.Jt is probably no mere historical accident that the ward person, in its
first meaning, is a mask. It is rather a recognition of the fact that every-
one is always and everywhere, more or less consciously, playing a role.
We are parents and children, masters and servants, teachers and stu-
dents, clients and professional men, Gentiles and Jews. It is in these
roles that we know each other; it is in these roles that we know our-
selves. Dur very faces are living masks, which reflect, to be sure, the
changing emotions of our inner Jives, but tend more end more to con-
form to the type we are seeking to impersonate. Not only every race,
but every nationality, has its characteristic »face«, its conventional
mask. (..) In a sense, and in so far as this mask represents the concep-
tion we have formed of ourselves - the role we are striving to live up to
- this mask is our truer self, the self we would like to be. In the end. our
conception of our role becomes second nature and an integral part of
our personality. We come into the world as individuals, achicve charac-
ter, and become persons." (Park 1926: Behind our masks, S. 249f.)

Bevor ich auf das Thema Maske eingehe, kurz ein Wort zu Goffmans
Art, Soziologie zu betreiben. Er arbeitet mit der Methode der Perspek-
tivenverschiebung, indem er scheinbar vertraute Situationen aus einem
ungewöhnlichen Blickwinkel betrachtet. Meist ist es der Blick hinter
die Kulissen. Und dort versetzt er sich in die Rolle des anderen und
folgt seinen Definitionen der Situation.
Jetzt zurück zum Thema »Maske«. Das Zitat von Park muss man so
verstehen, dass wir unsere Masken nicht zufällig ! wählen, sondern wir
wählen solche, die uns so präse ntieren, wie wir sein wollen. Das ist
wohl auch der Grund, weshalb Goffman von .presemation" spricht.
Den Gedan ken kann man fortspinnen : Nicht wie wir erscheinen, son-

1 So heisst es auch in Luigi Pirandellos Stück »Die Riesen vom Berge«.


352 8 Identität

dem wi e wir ersch einen wo llen , das sagt etwa s über uns. Deshalb inte-
ressiert Go ffinan di e Botschaft, die die Schauspieler mit der Au ffüh-
rung bewusst verm ittel n wollen oder unbewu sst vermi tteln. Gerade
diese D ifferenz fasziniert ihn , wesha lb er auch den Pannen auf der
Bühne be so nd ere Aufmerksamkeit schenk t. Es ist das gleiche Interesse,
mi t dem Sigmund Freud an den Brüchen im Sprechen ansetzte, um Tie-
fenstruktu ren zu erkunden. Go ffma n ist neugierig auf das, was sich
hinter der Maske tut und was vor und nach der Aufführung passiert.
Wäh rend Nietzse he mahnte, "es gehöre zur feineren Me nschlichkeit,
Ehrfurcht vo r der Maske zu haben und nicht an falscher Stelle Psycho-
logie und Ne ugi erde zu betreib en" (Ni etzsc he 1886, 270), treib t Goff-
man genau diese Neugierde an. Ehrfurcht vor de n Mask en hat er nur
insofern, als er keine Mask e besser od er sc hlechter bew ertet als eine
andere. Er stellt keinen bloß , und er verurteilt kein H andeln. Das mo ra-
lische Urte il ist nicht seine Sache , sonde rn nu r " die formale soz iologi-
sehe Analyse". (Go ffman 1959, S. 18)
Goffmans zentrale Begriffe der Analyse des Schauspiels sind int er-
aktion (ai nteracti on« ode r »encounter«), Darst ellung (c performance«)
und Rolle (xpart« or »ro utine«).

Erving Goffman: Interacnon, performance, part


"The perspective employed in this report is that of the theatrical per-
formance; the principles deri ved are dramaturgical ones. I shall con-
sider the way in wh ich the individua l in ordinary wo rk situations pre-
sents hirnself and his activity to others, the ways in which he gui des and
controls the impression they form of rum, end the kinds of th ings he
may and not do while sustaining his performances before thcm. (...)
For the purpose of this report, Interaction (that is, face-to -face-
interaction) may be ro ughly defined as the rec iproca l influence of indi-
viduals upon one anothe r's actions when in one anoth er 's immediate
physical presence. An inleraction may be defin ed as all the interac tion
which occurs throughout any one occasion whcn a given set of indi-
viduals are in one another ' s cont inuous presence; the term »an encoun-
ter« would do as weil. A »performance« may be defined as all the ac-
tivity of a give n participant on a given occasion which serves to influ-
ence in any way any of the other participa nts. Taking a particular par-
ticipant and his performa nce as a basic point of reference, we may refer
10 those who contribute the other performances as the audience, observ-
ers , or co-participants. The pre-es tablished pattcrn of action which is
8 Identitä t 353

unfolded during a performance and which may be presented or played


through on other occasions may be called a »part« or »routine«."
(Goffman 1959: The presentation of self in everyday life, S. XI und
15f.)

Unter Interaktion versteht Goffman also den "wechselseitigen Einfluss


von Indi viduen untereinander auf ihre Handlungen"; Darstellung meint
alle Tätigkeiten , mit denen ein Ind ividuum die anderen Beteiligten in
einer Situation beeinflusst; Rolle schl ießlich meint das Handlungsmu s-
ter, das sich wäh rend einer Darstell ung entfaltet und auch bei anderen
Gelegenheiten vorgeführt oder gespie lt werden kann. (vgl. Goffman
1959, S. 18) Da es hier um das Thema Identität geht, werde ich mich
im wes entliche n auf das Kap itel »Darstellungen« konzentrierent , in
dem Goffman das anstrengende Spielen unserer »parts« vor Publikum
und zusammen mit anderen Spie lern beschreibt.
Darstellung bezeichnet das aktue lle Gesamtverhalten vor anderen -
und nur das . Es geht nicht um die Frage, ob die Darstellung wahr oder
falsch, gut oder schlecht ist, sondern nur darum, was passiert und wie
es gemac ht wird. Um einen Titel aus einem ande ren Kontext zu bemü-
hen, kann man sage n: Goffman sieht im Medium die Botschaft . Doch
das Medium hat schon eine Geschi chte, denn natürlich erfindet das
Individuum nicht in jeder Situation ein kom plett neues Scha uspiel ,
sondern verwendet mehr oder weniger bew usst ein "s tandardis iertes
A usdrucksrepertcire", mit dem es " die Situation für das Publik um der
Vorstellung zu bestimmen" sucht. Gaffman nennt dieses Repertoi re
Fassade (»fro nt«). (S . 23) Da zu gehört zum eine n das Bühnen bild, der
gestaltete Raum, in dem wir auftreten. Ein solcher Raum ist z. B. unse-
re Wohn ung, das Auto, das Lokal, das wir am liebsten besuch en, oder
auch - wie wir gleich lesen werden - der Schutzwall am Meeresstrand.
Dazu gehört zwe itens die "persönliche Fassade". Dazu zäh len Status-
sym bole, Kleidung, Geschlecht, Körperhaltung oder die Art zu spre-
chen. Sch ließlich gibt es noch "s oz iale Fassaden", worunter man die
sozialen Erwa rtungsm uster vers teht, die mit einer bestimmten Rolle
verbunde n sind, z. B. die festen Vorstellungen, wie " man" sich als Arzt
oder als gute Mutter zu verhalten hat. In der Entwicklung der Gesell-

Wer sich für eine n Überbli ck über andere Themen GofTmans und seine Methode
interessiert, kann das nachlesen in Kap. 6 meiner Einführung in interpretat ive
Theorien der Soziologie .j ntcraktion, Identität, Präsentation" (Abels 1998).
354 8 Identität

schaft ist es dazu gekommen, " eine große Anzahl verschiedenartiger


Handlungen durch eine kleine Anzahl von Fassaden darzustellen."
(Goffman 1959, S. 27) Diese Reduzierung auf typische Verhaltenswei-
sen und entsprechende Fassaden, die alle kennen, die in dieser Gesell-
schaft groß geworden sind, macht die Erwartung der Zuschauer siche-
rer: Sie brauchen nur ein kleines Vokabular von Fassaden zu kennen,
um zu wissen, was vor sich geht und was als nächst es passiert. Und der
Schauspieler weiß das zu nutzen! Fassaden gehören zur dramatischen
Gestaltung.
Dramatische Gestaltung bedeutet, sich in einer Rolle als etwas Be-
sonderes darzustellen. So sagt der eine, wie wahnsinnig anstrengend
das ist, was er tut, und der andere gibt zu verstehen, er mache das alles
mit links. Goffman interessiert noch ein weiterer Kunstgriff zur Dar-
stellung der Identität, den man so beschreiben kann: Wer auf der wirk-
lichen Bühne des Lebens auftritt, möchte gerne auch zeigen, wer er
eigentlich noch ist. Dazu deutet er Facetten seiner Identität an, die man
auf den ersten Blick nicht vermuten würde. Preedy, ein Engländer, der
zum ersten Mal am Strand in Spanien auftritt, zeigt uns, wie das geht:

Preedy am Strand
"Auf alle Fälle aber war er darauf bedacht, niemandem aufzufallen. Als
erstes musste er allen, die möglicherweise seine Gefährten während der
Ferien sein würden, klann achen, dass sie ihn überhaupt nichts angin-
gen. Er starrte durch sie hindurch, um sie herum, über sie hinweg - den
Blick im Raum verloren. Der Strand hätte menschenleer sein können.
Wurde zufällig ein Ball in seine Nähe geworfen, schien er überrascht;
dann ließ er ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht huschen (Preedy,
der Freundliche), sah sich um, verblü fft darüber, dass tatsächlich Leute
am Strand waren, und warf den Ball mit einem nach innen gerichteten
Lächeln - nicht etwa mit einem, das den Leuten zugedacht wäre - zu-
rück und nahm heiter seine absichtslose Betrachtung des leeren Raums
wieder auf.
Aber jetzt war es an der Zeit, eine kleine Schaustellung zu inszenie-
ren, die Schaustellung Preedys, des Geistmenschen. Durch geschickte
Manöver gab er jed em, der hinschauen wollte, Gelegenheit, den Titel
seines Buches zu bemerken - einer spanischen Homer-Übersetzung, al-
so klassisch, aber nicht gewagt und zudem kosmopolitisch - , baute
dann aus seinem Bademantel und seiner Tasche einen sauberen, sandsi-
chercn Schutzwall (Preedy, der Methodische und Vernünftige), erhob
8 Identität 355

sich langsam und räkelte sich (Preedy, die Raubkatze ") und schleuderte
die Sandalen von sich (trotz allem: Preedy, der Sorglose!).
Preedys Hochzeit mit dem Meer! Es gab verschiedene Rituale. Ein-
mal jenes Schlendern, das zum Laufen und schließlich zum Kopfsprung
ins Wasser wird, danach ruhiges, sicheres Schwimmen auf den Hori-
zont zu. Aber natürlich nicht wirklich bis zum Horizont! Ganz plötzlich
drehte er sich auf den Rücken und schlug mit den Beinen große weiße
Schaumwogen auf; so zeigte er, dass er weiter hinaus hätte schwimmen
können, wenn er nur gewollt hätte, dann reckte er den Oberkörper aus
dem Wasser, damit jeder sehen konnte, wer er war.
Die andere Methode war einfacher. Sie schloss den Schock des kal-
ten Wassers ebenso aus wie die Gefahr, übermütig zu erscheinen. Es
ging darum, so vertraut mit dem Meer, dem Mittelmeer und gerade die-
sem Strand, zu erscheinen, dass es keinen Unterschied machte, ob er im
Wasser oder draußen war. Langsames Schlendern hinunter an den
Saum des Wassers - er bemerkt nicht einmal, dass seine Zehen nass
werden: Land und Wasser sind für ihn eins! - die Augen zum Himmel
gerichtet, ernst nach den für andere unsichtbaren Vorzeichen des Wet-
ters ausspähend (Preedy, der alteingesessene Fischer)." (Sansom 1956:
A contest of ladies, wohl in einer Bearbeitung von Erving Goffman
1959: Wir alle spielen Theater, S. 8f.)

Preedyt fällt nicht mit der Tür ins Haus und gibt auch nicht plum p an,
sondern wäh lt eine Inszenierung der kleinen An deutun gen in der Hoff-
n ung: " We r vieles bri ngt, wird manchem etwas b ringe n". Kein Zu-
schauer so1l 1cer ausge hen, alle sollen sich mit einer Seite ihrer eigenen
Identität dem Schauspieler verbu nden fühlen. Deshal b darf er auc h
nicht zu dick auftragen , aber auch nicht so zurückh altend se in, dass
keiner merkt, was er zum Ausdruc k bringen wo llte. Das berüchtigte
"n ame dro ppi ng" ist so ein Fa ll einer komplizi erten Darste llung. Wer
einen Namen fallen lässt, m uss sic her sein, dass di e Zuhörer damit auch
etwas anfangen können . Manch em wird es gar nichts sag en, wenn ihm
j emand beiläufig erzählt, er habe mit To m eine ganze Nac ht über d ie
Welträtsel gesprochen . Und ma nche feine Ironi e wi rd gar nich t be-
merkt, oder das Gesagte wird fü r bare Münze genom men . De shalb ist
ein w ichtiger Bestand teil der dra matischen Gestalt ung di e Ausdrucks-
kontrolle.

Wer übrigens gerade gemeint hat, Preedy selbst erlebt zu haben, dem sei hiermit
bescheinigt, er hat schon vor allem Studium soziologisch beobachtet!
356 g Identität

Wenn das Publikum die Darste llung falsch interpretiert oder viel-
leicht einem Missgeschick des Darstellers zu große Aufine rksamkeit
schenkt, besteht die Gefahr, dass es eine ganz andere Definition der
Situatio n vornimmt, die die geplan te Darstellung nicht mehr zulässt.
Deshalb muss der Darsteller jeden störenden Eindruck vermeiden, denn
er weiß: Ein falscher Ton zerstört den Klang eines ganzen Orchesters.
Wenn ich nicht mitkriege, dass mein künftiger Schwiegervater meinen
Zukunftsplänen mit versteinerter Miene zuhört, rede ich mich um Kopf
und Kragen. Das Eis, auf dem wir voreinander auftreten, scheint also
sehr dünn zu sein. Goffman erwähnt nun eine Strategie, die auf den
ersten Blick das Ende eines gemeinsamen Schau spiels zu signalisieren
scheint: die Strategie der Rollendistanz. Doch gerade diese Strategie
eröffuet dem Individuum die Chance, die Situat ion und die Fassaden,
das Bühnenb ild und sogar die Zuschauer neu zu definieren. Es ist eine
Strategie, Identität zu behaup ten!
Rollendistanz heißt nicht Verwe igerung oder Unfähigkeit, sondern
im Gegenteil die hohe Kompetenz, souverän mit einer Rolle umzuge-
hen. Ihr Zweck ist, soziale Zumutungen, die die Darstellung der Identi-
tät stören, zurückzuweisen. Ma n will zeigen (oder wenigstens bean-
spruchen), dass man noch anderes und mehr ist als in der Rolle erwartet
und ermöglicht wird.
Goffman geht davon aus, dass das Individuum immer " an einem Ge-
füge von Rollen teilnimmt" und es gleichzeitig die Fähigkeit besitzt,
" sein Engagement für andere Schemata in der Schwebe zu halten; es
erhält so eine oder mehrere ruhende Rollen aufrecht, die bei anderen
Gelegenheiten ausgeübt werden ." (Goffman 1961b , S. 101) Das ist die
eine Seite, weshalb dramatische Darstellungen nur ein Ausschnitt aus
einer größeren Wirklichkeit sind. Es bleiben immer Bereich e außen
vor, die unter anderen Umständen relevant werden . Der Blick auf diese
anderen Bereiche - sprich: Rollen - kann nie ganz vermieden werden.
ANSELM STRAUSS hat - wie oben ! schon zitiert wurde - sogar davon
gesprochen, dass jede Interaktion eine Interaktion mit abwesenden Zu-
schauern ist. (Strauss 1959, S. 58) Rollendistanz ist die unbewu sste (oft
natürlich auch bewusste!) symbolische Reaktion auf Erwart ungen aus
einem anderen Relevanz system.

I Vgl. Kap. 5.5 ,,s ymbolische Interaktion", S. 2 13.


8 Identität 357

Zur Rollendistanz gehört deshalb auch, die Erwartungen der anwe-


senden Zuschauer zu beeinflussen. Einige Attribute, die sie ihm zu-
schreiben, mag das Individuum akzeptieren, andere nicht. Da in einer
Interaktion jeder Darsteller auch Zuschauer und jeder Zuschauer auch
Darsteller ist, beeinflusst j ede Definition der Situation jeden anderen in
dieser Situation. Jeder versucht, den anderen zu einem Verhalten zu
bewegen, das in das eigene Handlungskonzept passt. Das bedeutet not-
wendig, den anderen in seinem Handeln einzuschränken.
Da im Prinzip alle in der gleichen Situation sind, werden alle auch
die gleichen Versuche unternehmen, sich nicht in ihrem Handeln fest-
legen zu lassen. Rollendistanz ist eine Strategie, sich Optionen zu er-
öffnen. Das ist nicht immer leicht, und grundsätzlich ist die Vorausset-
zung, dass es eine Interaktion von Gleichen ist. Wo Macht die Situation
dominiert, ist nur für eine Seite Rollendistanz möglich. Normalerweise
aber stehen uns distanzierende Methoden zur Verfügung, mit denen wir
uns als eine Person im Spiel halten und Vereinnahmungen zurückwei-
sen. Solche Methoden sind Erklärungen, Entschuldigungen und Scher-
ze, unbewusst auch Albernheit usw. Es sind alles Methoden, durch die
das Individuum bittet, bestimmte Definitionen seiner Person zu strei-
chen. (Goffman 1961b, S. 118) Und umgekehrt beeinflusst das Indivi-
duum aktiv das Bild, das andere von ihm haben oder haben k önnten.
Ein Beispiel für diese Strategie ist der von Goffman aufmerksam be-
schriebene kleine Junge, der auf dem Karussell wild herumhampelt, um
den anderen Kindern und vor allem seinen ängstlichen Eltern zu signa-
lisieren, dass er kein Baby mehr ist. Rollendistanz kann aber auch der
freiwillige Verzicht auf ein bestimmtes Recht sein, das man in einer
bestimmten Rolle ausüben könnte. Goffman bringt dazu das Beispiel
des Chirurgen, der bei einer komplizierten Operation auf ein Missge-
schick seines Assistenten nicht mit einem strengen Verweis reagiert,
der ihn womöglich noch unsicherer machen würde, sondern mit einem
jovialen " Das ist mir bei meiner ersten Operation genau so passiert!".
In diesem Beispiel hat Rollendistanz etwas mit der Abwägung der Vor-
und Nachteile eines bestimmten Handelns für die Fortführung eines
gemeinsamen Handeins zu tun.
Damit komme ich noch einmal auf die eben angeschnittene Frage
zurück, ob eine Darstellung wahr oder falsch ist. Gerade nach der Be-
schreibung der Strategie der Rollendistanz kann man das nicht mehr als
eine moralische Frage betrachten. Da jede Definition der Situation
358 8 Ident ität

Konsequenzen hat, ist jede Darstellung insofern wahr . Dass sich das
Indi viduum se iner D efinitionen und St rateg ien n icht imm er bewusst ist
und dass die anderen möglicherweise ganz andere Definitionen wahr-
nehm en, steht auf einem anderen Blatt. So kann man auch nur festhal-
ten, dass Ro llendi stanz eine Strategi e ist, mit der wir un sere Identit ät
schützen und präsentieren. Selbstverständlich bleibe ich auch bei mei-
ner Lesart, dass Goffman um die Gefahrdung des Individuums weiß,
und desha lb wollte er niemanden bloßstellen, sondern nur vor Illusio-
neo warnen.
Das gilt auch für die Aufdeckung der unbewu ssten Strategien des
Individuums, sich gleichzeitig als anders als alle anderen und als so
normal wie alle anderen zu präsentieren. Im Anschluss an Meads The-
se, dass das Individuum in der Interaktion mit anderen Objekt für die
anderen und für sich ist, möchte ich die These vertreten, dass es zumin-
dest das Erstere auch will: Es will auch bemerkt werden. Daraus ergibt
sich aber ein Balanceprob lem: Es möchte nicht, dass andere ihm zu
nahe treten, deshalb möchte es nicht zu sehr bemerkt werden; es will
aber auch nicht in der Masse unterge hen, deshalb macht es sich auffäl-
lig. Das Individuum hat das Bedürfnis, so normal wie alle anderen und
so einzigartig wie keiner zu sein. Oder anders: So ganz unauffällig will
doch eigentlich niemand sein, aber so ganz anders zu sein als alle ande-
ren, traut sich auch kaum einer zu.
Die Spannung zwischen gespielter Norm alität und angeblicher Ein-
zigartigkeit wird in der kritischen Interaktionstheorie als Balance zwi-
schen phantom normalcy und phant om uniqueness bezeichnet. Dieses
Bild wird zwar meist Goffman zugesc hrieben, doch diese Gegenüb er-
stellung ist nur zum Teil ein Zitat aus seinen Arbeiten und dann auch
noch aus einem spezifischen Kontext. Goffinan verwendet nur den
Begriff phantom normalcy und meint damit ein strategisches Kalkül,
das Menschen anwenden, deren sozia le Identität aufgrund eines auffäl-
ligen Stigmas gefährdet ist. (Goffman 1963, S. 152) Es handelt sich
also um Personen, die Aufmerksamkeit nicht entgehen können. Sie
müssen so tun, als ob sie normal wie alle anderen sind, damit diese so
tun können, als ob sie sie als Normale betrachten. (vgL S. 122)
Aus dieser doppelt gebrochenen Strategie, Annahmen von Normali-
tät im Spiel zu halten, lässt sich dann der Schluss ziehen, den JÜRGEN
H ABERMAS aus Goffmans Beschreibungen der Auftritte des Indivi-
duums auf der gesellschaftlichen Bühne gezogen hat. Er unterstellt dem
8 Identität 359

Individuum nämli ch das Bedürfuis, sich als einzigart ig darzustellen . Da


es aber vielleicht gar nicht so anders ist als die anderen, ma cht es sich
und den anderen vo r, dass es einzigartig sei. Habennas nennt die se vor-
gespielte Identität phantom uniqueness. (Habermas 1968, S. 132) Der
Einze lne tut so, als ob er ganz einz igartig ist, und lenkt dadu rch be-
wusst Aufmerksamkeit auf sich. Vermutlic h wäre Go ffman mit dem
Komplementärbegriff der phantom uniqueness durchaus einve rstanden
gewesen, denn er fügt sich genau in die Erklärung ftir die von ihm be-
schriebene Strategie der Rollendistanz ein .
Doch wie diese Strategie der Rolle selbst nicht entfliehen kann, so
geben auch die Strategien ge spie lter Normalität und gespielter Einzi g-
artigk eit nicht wirklich Freiheit. Phantom nonnalcy und phantom uni-
queness sind ein strategisches Kalkül, hinter dem aber die Gefahrdung
von sozialer Identität au fschei nt. Und es ist nicht nur der soziale Au-
ßenseiter, der es anw enden muss, sondern dieses Kalkül wird auch von
denjenigen in ihr Hand eln einbezogen, die sich mitte n im Zentrum der
Gese llschaft wähnen. Die Balance von Nicht-Wirklichem zeigt, da ss
Identität in der Tat zum Kri senbegriff in der Modeme geworden ist.
Außerdem gebe ich zu bedenken : So eindringlich GofTman be-
schrieben hat, wie Individuen in der Interaktion mit anderen eine sozia-
le Identität vor anderen präsentie ren, so wenig dürfen wir übersehen ,
dass sie ja nur behauptet wird. Ob sie stimmt, wissen wir nicht. Auch
bleibt die Frage, wa s Identität als Vorau ssetzung für das Schauspiel
wär e od er welch e sich daraus ergeben könnte, außen vor.
Eine mögliche Antwort findet sich be i TAl COTI PARSONS, der an-
nimmt, dass das Indi viduu m auch und gerad e unter der Fülle von Ro l-
len und Interaktio nen so etwas wie ein grundlegendes Muster in der
Organisation seiner sozialen Beziehungen entw ickel t. Parson s' Theorie
der Identität ist in ihrer letzten Fonn einige Jahre nach Goffmans Buch
über das tägliche Sc hauspie l der Präsentation und Verhüllung von Iden-
tität ersc hienen, wesha lb ich sie auch erst hier vorstelle; aber der Rah-
men, in dem sie ursprünglich entwickelt wu rde, ist wesen tlich älter.1

Sie können ihn rekapitulieren, wenn Sie in diesem Band die Kapitel 2.6 .Herstel-
lung funktional notwendiger Motivation" und 3.1 ..Rolle - normative Erwartung"
nachlesen. Zum grundsätzlichen theoretischen Ralunen und zur Frage, wie nach
Parsens gesellschaftliche Ordnung überhaup t möglich ist, vgl. Band I, Kap. 3.9
"Normative Integration".
360 8 Identität

8.5 Parsons: Individuelles Code-E r haltungssyste m


Um sich klarzumachen, wo TALCOTT PARSONS das Them a Identitä t
lokalisiert, muss man sich einige seiner Grundannahmen in Erinnerung
rufen: In seiner Theorie der Institution hatte er gezeigt, wie Wertorien-
tierungen in einer Gesellschaft so verbindlich werden, dass wir an ih-
nen, wie das j a auch Durkheim gesagt hatte, nicht vorbeikommen. Dass
sie uns letztlich nicht als Zwang und Einschränkung erscheinen, erklär-
te Parsons mit der Erzeugung einer konformen M otivation im Prozess
der Sozialisation. Letztlich wollen wir uns so verhalten, wie wir uns
verhalten so llen. Wir spielen die Rollen, die als soziale Erwartungen
nach den nonnativen Vorgaben des kulturellen Systems ruf alle Mit-
glieder der Gesellschaft gelten und in konkreten sozialen Systemen zum
Ausdruck kommen. Und hier siedelt Parsons auch das Problem der I-
dentität an, denn es ist nach seiner Ansicht ein Problem, und es hängt
mit der zunehmenden Komplexität und DifTerenzierung der Gesell-
schaft zusammen:

Talcott Parsons: Str ukture lle Differ enzierung, Pluralisierung der


Roüenverpütchtun gen, Wahlmöglichkeiten
und die Frag e " W er bin ich?"
"Der Begriff »Identität« ist zu einem Modewort geworden, das zwar
primär als terminus technicus dem Bereich der Sozialpsychologie an-
gehört, das jedoch auch - besonders in den Vereinigten Staaten - brei-
tere Kreise von Intellektuellen anzieht. Die Verbreitung derartiger Beg-
riffe - man denke auch an den eng verwandten der Entfremdung - ist in
der Regel symptomatisch für die Spannungen, die durch Veränderun-
gen der Struktur einer Gesellschaft und der kulturellen »Deflnition der
Situation" erzeugt werden. Für die beiden genannten Begriffe möchte
ich hier lediglich behaupten, dass ihre Verbreitung - vom sozialen Sys-
tem her gesehen - teilweise als Konsequenz einer zunehmenden struk-
turellen Differenzierung der Gesellschaft zu interpretieren ist, durch die
eine zunehmende Pluralisierung der Rollenverpflichtungen des typi-
schen Individuums produziert wird. Dadurch wird nämlich ein häufig
verwirrender Bereich von Wahlmöglichkeiten und - nachdem man sich
einmal festgelegt hat - von sich vielfaltig überlappenden Zwängen frei-
gesetzt.
(. ..) Das System der primären Rollenbindungen von Individuen
wurde außerordentlich differenziert; aber gleichzeitig haben sich auch
die Sozialsysteme, die unmittelbar Interesse auf sich ziehen, ungeheuer
8 Identität 361

ausgedehnt - bis zu einem Punkt, wo eigentlich die ganze Welt für je-
des einzelne einigermaßen aufgeklärte Individuum zum Handlungsfeld
wird. Daher ist das Individuum entschieden stärker und bewusster da-
mit beschäftigt, herauszu finden, was und wer es in dem ganzen Univer-
sum von Identitäten aller möglichen Menschen auf der Erde ist.
Diese Entwicklungsprozesse sind m. E. dafür verantwortlich, dass
das Problem der Identität (und das damit zusammenhängende, aber von
diesem zu unterscheidende der Entfremdung) innerhalb der westlichen
Kultur - vor allem der Vereinigten Staaten - in den Vordergrund ge-
rückt ist. Es ist natürlich verständlich, dass die Identitätsprobleme vor
allem in den sensiblen (KoIT. H. A.) Gruppen der j üngeren Generation
akut sind, da diese Individuen in ein Interaktionssystem einzutreten ha-
ben, das erheblich komplexer und verzweigter ist als das, dem ihre El-
tern zum entsprechenden Zeitpunkt ihres Lebenszyklus gegenüberstan-
den." (Parsons 1968: Der Stellenwert des Identitätsbegriffs in der all-
gemeinen Handlungstheorie, S. 68 und 71)

Es kommt sicher nicht vo n ungefähr, dass Parsans den Begriff der


Identität zweimal m it dem " dami t zusam menhängenden" d er Entfrem-
dung zusammenbri ngt und ihn als " Mo dewort" bezeichn et, das attraktiv
für Intellektuelle ge worden sei. Es war di e histori sch e Er fah rung der
Studen tenbewegung in den US A und ihrer Kritik an entfremdende n
gesellschaftl ichen Ve rhältn issen , di e den Th eor etik er der Ordnun g über
de n Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft in zwei Rich tun-
ge n nachdenken ließ .
In der einen Richtung stellte sich die Fr age, was die Voraussetzu ng
für di e freiwillige Z us timm ung zu einer Gesellschaft ist. Das m ind este
war nach seiner T heo rie, dass di e Ordn ung als legitim und die sozialen
Ro llen als einde utig erschienen . Die ein e Bedingung war gerade durch
d ie aufkom mende Kritik an den " Ve rhältnissen" öffentlich ins Ge red e
geko mmen, die zweite Bedingung hielt Pars ans se lbs t für fragl ich.
Fraglic h d esh alb , w eil di e Differenzierung - nicht nur de r Arb eit , son-
dern des ga nzen Lebens - zu ein er Pl uralisierung von Ro llen ge führt
hatt e, d ie w iederum zu eine r Üb erlappung von Zwäng en - und man
kann h inzu ftlgen: auch zu Widersprüchen - führten. Fraglich au ch des-
halb, wei l di e Sozialsystem e sich ausd ehnten und komplex er wurden.
Dadurch ergaben sich ganz neue funktionale Differen zierun gen , aus
denen heraus Roll en höchst untersch iedl ich bestimmt werden konnten .
362 8 Identität

Die Komplexität der sozialen Systeme schwächte die Norrnativität ei-


nes generellen kulturellen Konsenses.
In der anderen Richtung, mit Blick auf das Individu um, stellte sich
die Frage, was diese Entwicklung für das Individuum selbst bedeutete,
von dessen freiwilliger Bindung ja Gesellschaft abhing. Da stand zu
befürchten, dass das Individuum durch die Komplexität der Rollen
geistig und sozial überfordert wird, durch ihre Widersprüche in Kon-
flikte gerät und deshalb immer häufiger mit der Frage konfrontiert
wird, wer es eigentlich ist. Der kritische Beobachter der amerikani-
sehen Gesellschaft, DAVID RIESMAN, hatte diese Frage mit der These
beantwortet, das Individuum orientiere sich nicht mehr an sich selbst,
sondern an den anderen und tue das, was " man" so tut. Diese .Außen-
leitung" überlagere jede Frage nach der Identität. Eine andere kritische
Diskussion, die Anfan g der 1960er Jahre die akademische Jugend in
den USA und dann weltwei t mobilisierte, sah Identität grundsätzlich
gefährdet, weil die technische Rationalität des Kapitalismus selbst die
Widersprüche und Alternativen des Lebens eindimensionierte. Das war
die These von HERBERT MARCUSE, In seinem Buch " Der eindimensio-
nale Mensch" ( 1964) beklagte er, dass eine Gesellschaft , die vorgaukel-
te, dass alles machbar und alles erlaubt ist - vorausgesetzt , cs fügt sieh
in die herrschende Ideologie - , Alternativen eines nicht entfremdeten
Lebens schon gar nicht mehr denken ließ. Auf einer "fortgeschrittene-
ren Stufe der Entfremdung" identifizieren " sich die Individuen mit dem
Dasein ( . . .), das ihnen auferlegt wird" , und haben " an ihm ihre eigene
Entwicklung und Befriedigung (. . .); das Subjekt, das entfremdet ist,
wird seinem entfremdeten Dasein einverleibt". (Marcuse 1964, S. 31)
Auch das war der Hintergrund, vor dem Parsons " Identität" mit dem
,,Modewort" der "Entfremdung" (wohlgemerkt der Intellektuellen!)
zusammenbrachte. Dieser maß er schon deshalb eine geringere Bedeu-
tung bei, we il er in seiner Theorie der Sozial isation und der damit un-
trennbar verbundenen Rollentheorie t erklärt hatte, warum es normal
und durchaus erträglich ist, dass wir der Gesellschaft zustimmen. Seine
These hieß, dass wir gese llscha ftlichen Erwartungen letztlich freiwillig
nachkommen. Die sozial-kulturelle Persönlichkeit zeichnet sich durch
eine feste Wertbindung (ecommitment«) an das kulturelle System aus.

Vgl. Kap. 2.6 .H erstellung funktional notwend iger Motiva tion", S. 92, und Kap.
3, 1 "Rolle - normative Erwartung" ,
8 Identität 363

Und dennoch kommt neben dieser Erwartung normalen, d. h. kon-


formen, Verhaltens auch ein Gedanke von Andersheit ins Spiel, denn
Parsons nimmt die Rollenvielfalt und die unterschiedlichen Erfahrun-
gen, die Individuen im Laufe ihres Lebens machen, in den Blick. Da-
nach kann man Identität als individuelle Variation der Kombination von
kultureller Bindung, sozialer Erfahrung und spezifischer Rollenkonstel-
lationen verstehen. Das habe ich schon angedeutet, als ich oben be-
schrieben habe, wie das Individuum in Inter-Aktionen vorkommt: Ne-
ben der Tatsache, dass es "Objekt der Orientierung" filr andere Han-
delnde ist und dass "s eine Bedeutung als Obj ekt von Kontext zu Kon-
text" variiert, sind vor allem zwei andere wichtig, die ich noch einmal
in Erinnerung rufen möchte: Das Individuum wird sich in der Interakti-
on auch selbst zum Objekt, und zweitens ist j edes Individuum " in viel-
fiiltigen Interaktionssystemen eingebettet, so dass der Teil seines moti-
vationalen Systems, der jeweils »engagiert« ist, von Situation zu Situa-
tion verschieden sein wird" . (Parsons 1968, S. 73) In jeder Interaktion
stellen sich Fragen wie: Was ist das Besondere an dieser Situation,
welche Rolle wird mir angetragen, was sind meine Erwartungen, und
was kann und will ich hier tun? 1m Grunde geht es darum, wie mich die
anderen in der konkreten Situation sehen und wie ich mich selbst sehe.
Diese beiden Gesichtspunkte ,,Motivation des Handelns" und "Ob-
jekt von Orientierungen" haben Implikationen für Parsons' Konzeption
der individuellen Identität:
• " Erstens: Um angemessen in psychischen und sozialen Berei-
chen und in deren beständigem Zusammenspiel zu fungieren,
muss die Persönlichkeit des Individuums als ein hinreichend
deutlich konstituiertes und fest umrissenes Obj ekt definierbar
sein - und zwar, damit Fragen wie » Wer oder was bin ich bzw.
ist er?« beantwortet werden können, sowohl fllr das Individuum
selbst wie für seine Interaktionspartner. In diesem Zusammen-
hang muss man sich daran erinnern, dass die Persönlichkeit als
Objekt das Produkt eines sozialen Prozesses innerhalb eines kul-
turellen Rahmens ist; Identität konstituiert sich nicht auf der bio-
logischen Ebene.
• Zweitens: Die Tatsache, dass Rollenpluralismus an Bedeutung
gewinnt, bedeutet, dass die Individuen mehr zentrifugalen Kräf-
ten ausgesetzt sind, weil an jede Rollenverpflichtung je eigene
Erwartungen, Belohnungen und Verpflichtungen geknüpft sind.
364 8 Identität

Für die Persönlichkeit wird es unerlässlich, ein angemessenes


Niveau der Integration dieser einzelnen Komponenten herzustel-
len. Das internalisierte Selbstbild ist der natür liche Bezugspunkt
rur diese Integrationsleist ung. Es ist wichtig, sich hier noch ein-
mal vor Augen zu halten, dass die Individ ualisierung ein Pro dukt
des von uns genannten Differenzierungsprozesses ist," (Parsons
1968, S. 73)
Wie sich das Individuum in einer konkreten Interaktion selbst sieht,
woran es sich orientiert und in welchen Kontexten es sich wie verhält,
das ist natürlich nicht zufällig oder willk ürlich, sondern Ergebnis seiner
spezifischen Sozialisation. Auf diesen Zusammenhang kommt Parsons
nun zu sprechen und ruft dazu noch einmal einige Annahmen seiner
Theorie zum Zusammen hang von kulturellem, sozia lem und Persön-
lichkei tssystem in Erinnerung: Danach ist der Mensc h ein Persönlich-
keitssystem, das in sozialen System in Interaktion mit anderen handelt;
Handeln wiederum ist ein " System des Verhaltens" , das durch .Syste-
me von kulturellen Bedeutungen organisiert und somit kontrolliert
wird" . (Parsons 1968, S. 74) Blicken wir genaue r auf die Struktur des
Persönlichkeitssystems. Es baut sieh auf aus "Objekten", " die durch
Erfahrung im Verla uf des Lebens gelernt wurden - wobei diese Erfah-
rung mittels kultureller, symbolisch generalisierter Medien »kodifi-
ziert« wurde." (ebd .) Wie Freud, auf den sich Parsons nun ausdrücklich
bezieht, gezeigt hat, sind diese Objekte zunächst und grundlegend sozi-
ale Objekte. Indem es ihre Erwartungen internalisiert, entwickelt das
Kind ein Bewusstsein seiner selbst, aber nicht nur seiner selbst, sondern
auch des Syste ms von Erwartungen, die im sozialen System Familie
herrschen. Es ist der Geist seiner Bezugsgrupp e, von dem aus das Kind
seine Rolle und die komplementären Rollen der anderen interpretiert.
Im Laufe der Entwick lung werden die sozialen Systeme der Sozialisa-
tionsagenturen immer komplexer, und das Rollenrepertoire wird diffe-
renzierte r.
Und zweitens muss man sagen, dass der kulturelle Konsens ubcr
Rollen brüchig geworden ist. Genau hier sieht Parsons denn auch das
Problem der Identität in der Modeme: " Das häufig als Rollenpluralis-
mus bezeichnete Phänomen ist ein einzigart ig charakteristisches
Mer kmal moderner Gese llschaften. Das erwac hsene Individuum ist der
Brennpunkt eines komplexen Rollensystems. (..) Wenn diese mannig-
8 Identität 365

faltigen Rollenverp flichtungen, die mit zunehmendem Status des Indi-


viduums und mit wachsender Komplexität der Gese llschaft komplexer
werden, von ein und demselben Individuum gehandhabt werden sollen,
müssen sie systematisch miteinander verknüpft werden." (Parson s
1968, S. 78) Das Ergebnis dieser systematischen Verknüpfung kann
man als "i ndividuelle Identität" bezeichnen. Identität ist also ein Struk-
turbegriff.
Identität ist aber auch ein Funktionsbegriff. Was damit gemeint ist,
wird klar, wenn man sich die vier Funktionen in Erinnerung ruft, die
Systeme erfüllen müssen, um sich selbst zu erhalten.' Neben .adaptati-
on" , "goal attainment" und .jntegration'' war das die Funktion der "la-
tent pattern maintenance", also der Erhaltung des latenten Struktunnus-
ters oder - wie ich es im Kapitel über Interaktion gezeigt habe - des
typischen Codes, in dem sich das System ve rständigt.ä
Diese Funktion hat Identität! Identität ist "das Code-Erhaltungs-
System (pattern maintenance) der individuellen Persönlichkeit", sie ist
"C ode-Struktur" . (S. 83) Identität als Code-Stru ktur meint dabe i nicht
Ansammlun g von symbolischen Objekten und Bedeutungselementen,
sondern die "Organisationsprinzipien und Regeln für die Interpretation
und Verbindung von einzelnen Bedeutungselementen" . (ebd.) Erst
wenn man sich dieses Organisationsprinzip klar macht, wird auch Mo-
tivation .verstehbar", wie Parsons es mit dem deutschen Wort aus-
drückt.
Halten wir also fest: Das Identitätssystem der Persönlichkeit übt .Jr-
gendwie die »Funktion der Kontrolle « von Handlungsprozessen" aus.
Parsons fahrt fort: "Die betreffende Art der Kontrolle entspricht der,
auf die man anspielt, wenn man sagt, eine Person handle »ihrem Cha-
rakter entsprechcnd«." Und da er vom Normalfall erfolgreiche r Soziali-
sation und Internalisierung ausgeht, kann Parsons auch den nächsten
Schluss ziehen: " Die meisten normal integrierten Personen verfügen
über relativ stabile Orientierungsmuster im Umgang mit Situationen
und anderen Menschen." (S. 84)
Ich fasse Parsons' Konzept der Identität mit seinen eigenen Worten
zusammen, möchte Sie aber ausdrücklich auf die "Botschaft" aufmerk-
sam machen, wen es vor allem betrifft (oder besser: "trim "? ):

AusfiihrIich habe ich sie in Band 1, Kap. 6.3 "Grundfunktionen der Strukturerhal-
tung (AGIL-Schema)" behandelt.
2 Vgl. oben Kap. 5.4 .R olle, Austausch, Kontingenz" , S. 204.
366 8 Identität

Ta lcott Parsons: Ge neralisierte Bindungen und


indiv id uelle Kombinationen
" Die individuelle Identität als Kern des Persönlichkeitssystems würde
in diesem begri fflichen Rahmen als komplexer Mechanismus gedacht
werden müssen, der für eine angemessene Balance zwisc hen verallge -
meinerten und individualisierten Momenten verantwortl ich ist. Jedes
Individuum ist - überfl üssig das zu sagen - ein »Kind« seiner Kultur
und Gesellschaft und natürlich der besonderen Erfahrungen, die es in-
nerhalb der beiden Systeme gemacht hat. (...)
Die hochgeneralisierten und allgemein akz eptierten kulturellen Bin-
dungen und Gruppe nmitgliedschaften sind somit unvermeidlich Be-
standteil der Identität - um so mehr, j e »lntellektueller« das Individuum
ist. Gleichzeitig variiert die Kombination von Momenten, die in eine
Identität eingegangen sind, von Fall zu Fall: in irgendeiner Hinsicht ist
sie einzigartig. Das umso mehr, je differenzierter die sozialen und kul-
turellen Systeme, mit denen das Individuum in enge Berührung ge-
kommen ist, sind. Es dürfte von daher evident sein, dass nach unserer
Auffassung die Wahrscheinlichkeit außerordentlich gering ist, dass in
irgendeiner Gesellschaft die individuellen Identitäten völlig gleich sind;
um so geringer, je weiter der Differenzierungsprozess der Gesellschaft
und der Kultur fortgeschritten ist." (Parsons 1968: Der Stellenwert des
Identitätsbegriffs in der allgemeinen Handlungstheorie, S. 84f.)

Identität ist zum einen ein Strukturprinzip des Handelns des Pers ön-
lichkeitssystems, ein spezifisches .Drientieru ngsmuster". Von indivi -
dueller Identität spric ht Parsons, weil sie das Produkt einer einzigarti-
gen Sozial isation ist.
Zum anderen ist Identität eine objektive Tatsache, die sich aus der
individue llen Kombination von Erfahrungen im Sozialisationsprozess
und von Rollenverpflichtungen, aber auch Positionen in sozialen Sys-
temen ergibt. Letzteres erinnert stark an Geo rg Simm els These vom
einzigartigen Schnitt punkt der sozialen Kreise, in dem nur ein Indivi-
duum vorkommen kann.
Parsons' Theorie der Identitä t ist in der soziologischen Diskussion
nicht mehr so recht zum Tragen gekommen. Das lag einmal daran, dass
man sie ohne viel Federlesens der Rollentheori e zuordnete, und über
die war das Urteil schon gesproc hen. Vor allem abe r lag es an einer
optimist ischen Theorie der Identität , die damals schon in aller M unde
war . Ge meint ist die Theorie von Erik H. Erikso n.
8 Identität 367

8.6 E r ikso n: Identitä t im Lebenszyklus


Der dänisch-deutsch-amerikanische Psychoanalytiker ERIKH. ERI Kso N
(1902-1994), der nach seiner Ausbildung bei Anna Freud in die USA
ging und dort einer der bedeutendsten sozialwissenschaftlich ausgerich-
teten Psychoanalytiker wurde und auf die öffentliche Diskussion gro-
ßen Einfluss hatte, verbindet die psychosexue/le Theorie Freuds mit
einer psychosozialen Entwicklungstheorie. Von den Grundannahmen
der klassischen Psychoanalyse unterscheidet er sich dadurch, dass er
nicht von einer Festlegung der Persönlichkeit in der frühen Kindheit
ausgeht, sondern eine lebenslange Entwicklung der Identität annimmt.
Identität ist etwas, das nicht aus dem Individuum allein erklärt werden
könnte, sondern was auch kulturell und sozial konstituiert wird. Erikson
verbindet also eine Identitätstheorie mit einer Sozialisationstheorie.
• Die Entwicklung selbst ist eine Abfolge von phasenspezifischen
Krisen. Sie resultieren aus der Erfahrung der Differenz zwischen
innerer Entwicklung und Anforderungen der sozialen Umwelt.
In jeder Phase kommt es zu einem spezifischen Konflikt der Hal-
tung des Menschen zu sich selbst und zur äußeren Welt. Jede
Phase "kommt zu ihrem Höhepunkt, tritt in ihre kritische Phase
und erfahrt ihre bleibende Lösung." (Erikson 1950b, S. 60) Die-
se bleibende Lösung besteht in einer bestimmten Grnndhaltung
(S. 62). Sie ist teils bewusst, teils unbewusst, weshalb Erikson
sie auch mit den Ausdruck »ein Gefühl von« umschreibt. Sie
meint einen unbewussten inneren Zustand wie die Weise des Er-
lebens und Verhaltens. (vgl. ebd.)
• Diese Grundhaltung bezeichnet Erikson auch als .Grundnarke
oder Ich-Qualität" (Erikson 1982, S. 106). Manchmal spricht er
auch von Grundtugenden (abasic virtues«) (1961, S. 96). Die
Unklarheit hat etwas mit der Frage des Psychoanalytikers, was
an der Ich-Erfahru ng bewusst ist, und der des Sozialpsycholo-
gen, welche Tendenz zum Handeln existiert, zu tun. Heuristisch
unterscheide ich zwischen Grundhaltung als dem unbewussten
Gefühl aus der Lösungstendenz des Kemkonfliktes und Tugend
als der Qualität der Stärke, mit der sich der Mensch aktiv durch
sein Leben " steuert" (vgl. Erikson 1961, S. 98).
• In jeder Phase kommt es zu einem spezifischen Gefühl, ein Ich
in einer bestimmten sozialen Realität zu sein. Dieses Gefühl
368 8 Identität

nenn t Erikson Ich-Identit ät. (vg l. Erik son 1946, S. 17) Sie ist
.,eine subjektive Erfahrung und eine dynamische Tatsache" inso-
fern, als der Mensch erstens selbst eine "e igene Gleichheit und
Kontinuit ät in der Zeit" wahrnimmt und erfahrt, dass auch ande-
re ihn so sehen, und zweitens, dass er mit seiner Ich-Qualität
beides auch in den Augen der andere n gewährleistet. (S. 18)
Erikson unterscheidet acht Phasen im Lebenszyklus, in denen jeweils
eine spezifische Antwort auf die Frage " Wer bin ich?" gegeben wird.
1. " Ich bin, was man mir gibt."
Die erste Phase, das Säuglingsalter, überschrei bt Erikson mit der
Aussage: .Jch bin, was man mir gibt." (Erikson 195Gb, S. 98) Damit
will er zum Ausdruck bringen, dass der Säugling total von der Mutter
abhängig ist. Die psychosoziale Krise, die der Säugling erlebt, ist die
Erfahrung, dass die Befriedigung seiner Bedürfnisse nicht ständig oder
nicht immer in ausreichendem Maße erfolgt. Die Ungewissheit, ob und
wann und wie diese Befriedigung erfolgt, kann sich verdichten zu ei-
nem Gefühl des Misstrauens und der Resignation . Umgekehrt führt die
Erfahru ng der regelmäßigen und liebevollen Zuwendung zu einem Ge-
fühl grundsätzlichen Vertrauens. Erikson nennt diese Grundhaltung
Urvertrauen , die Tugend dieser ersten Phase, die den ersten Ansatz
künftiger Ich-St ärke bildet, nennt er Hoffn ung .
2. .Jch bin, was ich will."
In der zweiten Phase, dem Kleinkindalter, entwickelt sich im Kind
auf die Frage, wer es ist, die Antwort : " Ich bin, was ich will." (Erikson
195Gb, S. 98) Die psychosoziale Krise dieser analen Phase sieht Erik-
son in dem Missverhältnis zwischen den Ford erungen, die an das Kind
gestellt werden - vor allem von seinen Erziehern, zunehmend aber auch
von ihm selbst - , und dem, was es tatsächlich schon kann. In dieser
Phase entscheidet sich, ob die Grundhaltu ng zur Autonomie oder zu
einem Gefühl von Scham und Zweifel ausschlägt. Die Tugend dieser
Phase ist der Wille.
3. " Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann."
Das Spielalter ist die dri tte Phase. Freud nannte sie die infantil-
genitale Phase. In ihr kom mt es zu einer libidinösen Beziehung zu den
Eltern, die aber mit dem Gefühl einhergeht, dass eine solche Beziehung
nicht statthaft ist. Es kommt also zu einem Konfl ikt zwischen Bedürf-
8 Identität 369

nissen und kulturell zuge lassenen Befriedigungen. Der Kemkon flikt


heißt Initiative vs. Schuld. Es geht also darum, sich das sozial Zulässige
vorzunehmen und das Falsche nicht zu denken. Deshalb kann man die-
se Phase auch mit der Antwo rt überschreiben: " Ich bin, was ich mir zu
werden vorstellen kann." (Erikson 195Gb, S. 98) Die Grundstärke. die
sich in dieser Phase ausb ildet, ist die Zielstrebigkeit.
4. " Ich bin, was ich lerne:'
Um das 6. Lebensjahr tritt eine Pause in der sexuellen Entwick lung
ein. Freud spricht von Latenz, Erikson nennt diese vierte Phase Sch ul-
alter. Jetzt lernt das Kind Dinge, die für das Leben nützlich sind, und
erfreut sich daran , etwas zu können und sich mit anderen zu messen.
Die Antwort auf die Frage "Wer bin ich?" lautet denn auch: " Ich bin,
was ich lerne." (Erikson 19S0b, S. 98) Der Kernkonflikt dieser Phase
besteht in der Erfahrung, den Anforderungen, die das Kind an sich
selbst oder die wichtige Bezugspersonen stellen, gerecht zu werden
oder an ihnen zu scheitern. Mit der Erfahrung des Könnens entwickelt
sich die " Lust an der Vollendung eines Werkes durch Stetigkeit und
ausdauernden Fleiß", mit der Erfahrung des Versagens sinkt das
Selbstvertrauen . (Erikson 1950b, S. 103) Im ersten Fal1 bildet sich ein
Gefühl von Werksinn, im zweiten ein Mindenvertigkeitsgefiih/ aus. Die
entsprechende Tugend, mit der sich das Kind durchs Leben steuert, ist
die Tüchtigkeit.
5. "We r bin ich, wer bin ich nicht?"
Anders als Freud, der die Grundstruktur der Persönlichkeit in der
frühesten Kindhei t im Wesentlichen ausgebildet sieht, geht Erikson
davon aus, dass sich die Identität in der Adoleszenz entscheidet. In die-
ser fünften Lebensphase kommt es zu einem raschen Körperwachstum,
die Geschlechtsreife wird erreicht. und der Jugendliche orientiert sich
nach drauß en, d. h. er sucht sich neue Bezugspersonen, was zu einer
Neubewertung der alten Orientierungen führt. Gerade was diese psy-
chische Struktur angeht, ist die Übergangsphase zwischen Kindheit und
Erwachsenenalter eine Phase des Zweifels, des Experimentierens, Ent-
werfens und Revidierens. Erikson fasst diese ,,natürliche Periode der
Wurzellosigke it" in ein schönes Bild: "Wie der Trapezk ünstler muss
der junge Mensch in der Mitte heftiger Bewegtheit seinen sicheren
Griff an der Kindheit aufgeben und nach einem festen Halt am Erwac h-
senen suchen. Ein atemloses Intervall lang hängt er von einem Zusam-
370 8 Identität

menhan g zwischen Vergangenheit und Zukunft und von der Verläss-


lichkeit derer ab, die er loslassen muss, und derer, die ihn aufnehmen
werden." (Erikson 1959b, S. 77) Deshalb überschreibt Erikson die Pha-
se des Zweife ls und des Übergangs auch nicht mit einer Antwort, son-
dern mit einer Frage: " Wer bin ich, wer bin ich nicht?" (Erikson 1956,
S. 215) Der Kemkonflikt ist der zwischen Identität und Identitätsdiffu-
sion. In der Adoleszenz entscheidet sich, ob es zu einer stabilen Identi-
tät kommt oder ob sie ohne Kontur und Kraft bleibt.

Er ik H. Eri kson: Id entifizierung und das Gefühl der Id entität


" Was für eine Kombination von Trieben und Abwehren, von Sublimie-
rungen und Fähigkeiten auch immer sich aus der Kindheit des j ungen
Menschen ergeben haben, nun müssen sie in Hinblick auf seine konkre-
ten Möglichkeiten in der Arbeit und in der Liebe Sinn haben; was das
Individuum in sich selbst zu sehen gelernt hat, muss jetzt mit den Er-
wartunge n und Anerkennungen, die andere ihm entgegenbringen, über-
einstimmen; was immer an Werten für ihn bedeutungsvoll geworden
ist, muss j etzt irgendeiner universellen Bedeutsamkcit entsprechen.
Die Identitätsbildung geht also über den Prozess des Sich -Identifi-
zierens mit anderen in nur einer Richtung hinaus, wie er in der früheren
Psychoanalyse beschrieben wurde. Sie ist ein Prozess, der auf einer er-
höhten kognitiven und emotionalen Fähigkeit beruht, sich selbst als ein
umschriebenes Individuum in Beziehung zu einem voraussagbaren U-
niversum, das die Kindheitsumstände übersteigt, identifizieren zu las-
sen. Identität ist also nicht die Summe der Kindheitsidentifikationen.
sondern viel eher eine neue Kombination alter und neuer Identifikati-
onsfragmente. Aus eben diesem Grunde konfirmiert die Gesellschaft -
in allen Arten ideologischer Strukturierungen - zu diesem Zeitpunkt
das Individuum und weist ihm Rollen und Aufgaben zu, in denen es
sich erkennen und sich anerkannt fühlen kann. (...)
Junge Menschen müssen zu ganzen Menschen aus ihrem eigenen
Wesen heraus werden, und das in einem Entwicklungsstadium. das sich
durch eine Vielfalt von Veränderungen im körperlichen Wachstum, in
der genitalen Reifung und in der gesellschaftlichen Bewusstwerdung
auszeichnet. Die Ganzheit, die in diesem Stadium erreicht werden
muss, habe ich als Gefühl der inneren Identität bezeichnet. Um das Ge-
fühl der Ganzheit zu erfahren, muss der j unge Mensch eine fortschrei-
tende Kontinuität zwischen dem empfinden, was er während der langen
Jahre der Kindheit geworden ist, und dem, was er in der vorgeahnten
Zukunft zu werden verspricht; zwischen dem, wofür er sich selbst hält,
8 Identität 371

und dem, wovon er bemerkt, dass andere es in ihm sehen und von ihm
erwarten. Individuell gesprochen, schließt die Identität all die aufeinan-
derfolgenden Identifikationen jener früheren Jahre in sich, wo das Kind
wie die Menschen zu werden wünschte, von denen es abhing, und oft
gezwungen war, so zu werden - aber sie ist mehr als die Summe all
dieser Identifikationen.
Die Identität ist ein einzigartiges Produkt, das jetzt in eine Krise
tritt, die nur durch neue Identifikationen mit Gleichaltrigen und Führer-
figuren außerhalb der Familie gelöst werden kann. Die jugendliche Su-
che nach einer neuen und doch zuverlässigen Identität lässt sich viel-
leicht am besten in dem beständigen Bemühen beobachten, sich selbst
und andere in oft unbarmherzigem Vergleich zu definieren, zu überde-
finieren und neu zu definieren; während sich die Suche nach zuverläs-
sigen Ausrichtungen in der ruhelosen Erprobung neuester Möglichkei-
ten und ältester Werte verrät. Wo die sich ergebende Selbstdefinition
aus persönlichen oder kollektiven Gründen zu schwierig wird, entsteht
ein Gefühl der Rollenkonfusion.' (Erikson 1959b: Identität und Ent-
wurzelung in unserer Zeit, S. 77 und 78f.)

An dieser Beschreibung wird deutlich, warum Erikson der Jugendphase


die entsc heidende Bedeutung für die Ausbildung der Identität beimisst.
Wenn der Jugendliche sich " in manchmal krankhafter, oft absonderli-
che r Weise darauf konzentriert herauszufinden, wie er, im Ve rgleich zu
seinem eigenen Selbstge fühl, in den Augen and erer erscheint" (E rikson
1950b, S. 106), vo r allem nat ürlich in den Augen seiner peer group !,
dann ist das ein Ringen um Selbstbewusstheit und Anerkennung. Mit
dieser Suche nach Anerkennung durc h neu e Bezugspe rsonen läss t er oft
auch die alten Bezugspe rsonen völlig hinter sich. Eltern wu ndem sich
dann, dass nichts mehr von dem zählt, was ihm früher wichtig war,
oder erfahre n schmerzhaft, dass der Jugendliche die Konfrontation mit
ihnen geradezu sucht, um ihnen dann zu sagen, dass sie ihm überhaupt
nichts mehr bedeut en.
Die mal mit spektaku läre n Worten behauptete, mal mit aufreizender
Selbstve rständlichkeit dem onstrierte Ablösung darf aber nicht dariibe r
hinweg täuschen, dass der Jugendli che selbst sie durchaus als Risiko
erlebt. Hinter gespielte r Selbstsicherheit verbirgt sich der Zwe ifel, wo-
hin man sich wenden soll. Da sind die peers, vor allem abe r die Freun-
de, außerordentlich wichtig, aber da sie alle auf der gleich en Suche
ihrer Identität sind, verstärken sich manch e Zweifel noch. Das erklärt,
J72 8 Identität

warum Jugendliche sich scheinbar aus heiterem Himmel " total" ruf
eine Meinung, für ein Ziel oder für ein Outfit entscheiden und alles
andere " total" ablehnen. Dieser Rigorismus macht Eltern ratlos, zumal
er von heute auf morgen einer völlig anderen Sache gelten kann. Auch
diese unbedingte Hingabe ist der Versuch, eine gerade entworfene
Identität zusammenzuha lten.
Abgrenzung und Abwehr sind Mechanismen, eine drohende Diffu-
sion der Identität zu verhindern . Nach dem Prinzip absoluter Exkl usion
und absolu ter Inklusion bestimmt der Jugendliche scheinbar für die
Ewigkeit, worau s sich seine Identität zusammensetzen soll: " Ist eine
bestimmte willkürliche Abgrenzung angenommen, so darf nichts, was
hineingeh ört, draußen gelassen, so kann nichts, was draußen sein soll,
innen geduldet werden. Eine Totalität ist absolut inklusiv, oder sie ist
vollständig exklusiv, ob die absolut zu machende Kategorie eine logi-
sche ist oder nicht und ob die Teile wirklich sozusagen ein Verlangen
nacheinander haben oder nicht." (Erikson 1959b, S. 79)
Mit dem Bedürfnis nach Totalität ist die Tugend schon angespro-
chen, die in dieser Lebensphase ausgebildet wird, die Treue. Es ist die
feste Verpflichtung auf Ideale und idealisierte Personen. Die Tugend
der Treue ruht auf dem unbedingten Glauben an etwas Wahres auf,
mag dies nun in Werten und Ideologien oder in konkreten oder erdach-
ten Personen gesucht werden. Treue ist eine außerordentlich dichte Be-
ziehungsform. Mit ihr wird die Identität an etwas gebunden, das selbst
Tei l dieser Identität wird. Treue ist " der Eckstein der Identität." (Erik-
son 1961, S. 108)
6. " Ich bin, was ich dem anderen gebe und was ich in ihm finde."
In der sechsten Phase, dem frühen ErwaehsenenaIter, ist die weitere
Entwicklung der Identität von der Partnerschaft bestimmt. Die Antwort,
die in dieser Phase auf die Frage, wer man ist, gegeben werden kann,
könnte man in Fortführung Eriksons so formuli eren: .Jch bin, was ich
dem anderen gebe und was ich in ihm finde." (vgl. auch Erikson 1961 ,
S. 111) Es geht also um die Wechselwirkung zwischen Partnern, die
sich lieben und fUreinander da sind. Gelingt diese Beziehung, entsteht
ein wechselseitiges Gefühl der Intimität, gelingt sie nicht, kommt es zur
Isolierung. Die Tugend dieser Phase ist die Liebe.
8 Identität 37J

7. .Jch bin, was ich mit emem anderen zusammen aufbaue und
erhalte."
Der Kernkonflikt der siebten Phase, des eigentlichen Erwachsenen-
alters, besteht in der Spannung zwischen Generativit öt und Selbstab -
sorption. Der Identität wird Kraft durch die Erfahrun g zugeführt, etwas
mit einem anderen zusammen aufzubau en und zu erhalten. So könnte
man auch die Antwort auf die Frage "Wer bin ich?" formulieren . Mit
Gener ativität ist die Grundhaltung gemeint, sich gemeinsam durch ein
Kind in den Zyklus der Generationen zu stellen und Verantwortung für
das Weiterleben der Gesellschaft zu übernehmen. Selbstabsorption be-
deutet, dass der Erwachsene vor dieser Verantwortung zurück schreckt
und "zu seinem eigenen Kind und Schoßtier wird" (Erikson 1961, S.
114). Die Tugend dieser Phase ist die Fürsorge.
8. " Ich bin, was ich geworden bin."
In der achten und letzten Phase des Lebens, dem reifen Erwachse-
nenalter, geht es darum , das zu sein, was man geworden ist (vgl. Brik-
son 1956, S. 215), was heißt, seine bisherige Entwicklung zu akzeptie-
ren, und zu wissen, dass man einmal nicht mehr sein wird. Der Kern-
konflikt der Identit ät in diese r Phase heißt deshalb Integrität vs. Le-
bensekel. Das Wachstum der Persönlichkeit vollendet sich in der Tu-
gend der Weisheit.

Die wichtigste Botschaft des Identitätskonzeptes von ERlK H. ERIKSON


ist die, dass sich Identität über das ganze Leben hin entwickelt, und
" das Kemproblem der Identität", so kann man die Theorie zusammen-
fassen, besteht "i n der Fähigkeit des Ichs, angesichts des wechsel nden
Schicksals Gleichheit und Kontinu ität aufrechtz uerhalten." (Erikson
1959b, S. 82) Das bewusste Gefühl des Ichs, "dass auch andere diese
Gleichheit und Kontinuit ät erkennen" , nennt Erikson p ersön/iche Iden-
tität; das Bewusstsein, dass es beides auch in seinem Handeln zum
Ausdruck bringt, Ich-Identität. (Erikson 1946, S. 18)
Diese Differenzierung, die ja nur künstlich ist und die beiden Seiten
der Medaille Identität beschreibt, lässt sich durchaus mit dem Konzept
von GEORGE HERBERT MEAD verbinden, der ja gesagt hat, dass das
Individuum in der Interakti on Objekt für die Anderen wird, das auch
weiß, und dass es Objekt für sich selbst wird. Obwohl Erikson das nicht
explizit sagt, spielt doch dieser Gedanke der Abhängigkeit der Identität
374 8 Identität

von den wechselseitigen Bildern eine große Rolle. Deshalb ist Ich-
Identität auch nichts Starres, im Gegentei l: Sie muss immer wieder neu
hergestellt werden, da wir sie in wechselnden Situationen und vor im-
mer neuen Mitspielern präsentieren müssen. Konkret heißt das, die ei-
gene Lebensgeschichte mit der Gegenwart , in der wir handeln und uns
mit Erwartungen der anderen auseinandersetzen, und mit der Zukunft,
so wie wir sie angehen, abzustimmen. "Das Gefühl der Identität setzt
stets ein Gleichgewicht zwischen dem Wunsch, an dem festzuhalten,
was man geworden ist, und der Hoffnung, sich zu erneuern, voraus,"
(Erikson 1974, S. 113) Identität ist also permanente Aufgabe und Ent-
scheidung. Dass diese Entscheidung allerdings nicht nur eine Entschei-
dung über die Biographie, wie sie gewesen ist oder hätte sein sollen
und wie sie nun weitergehen soll, ist, hat Erikson mit seiner These von
der psychosozialen Struktur der Identität betont.
LOTHAR KRApPMANN hat bei der Würdigung dieses Identitätskon-
zeptes die Frage aufgeworfen, ob Eriksons Beschreibungen "nicht
wahrhaft nostalgisch" anmuten und ob "die »postmodemen« Lebens-
verhältnisse die Bemühungen um Identität nicht längst als aussichtslos,
sogar als dysfunktional erwiesen" hätten. (Krappmann 1997, S. 66) Auf
diese Frage gibt er zwei Antworten. Die erste argumentiert historisch
und wendet sich an die Adresse derer, die Erikson vorgeworfen haben,
sein harmonisierendes Modell spiegele die idealisierende Erfahrung
einer hannonisehen Gesellschaft der amerikanischen Mittelschicht wi-
der. Krappmann hält dagegen: " Keineswegs geht er in seiner Ausei-
nandersetzung mit dem Identitätsproblem von gesicherten Verhältnis-
sen aus, denn Eriksons Sicht der Problematik entsprang seinen Studien
in den vierziger Jahren, in denen er Entwicklungsprozesse von Kindern
in gegensätzlichen Kulturen, den verflihrerischen Einfluss politischer
Bilderwelten auf die Heranwachsenden und die Auswirkungen des
Kriegserlebnisses auf heimkehrende Soldaten untersucht hatte. Er frag-
te folglich nach dem Platz des Individuums in einer sich umstürzenden
Welt, in der zunehmend zweifelhaft wurde, wie sich persönliche Le-
benspläne mit massiven gesellschaftlichen Veränderungen verbinden
lassen. (Krappmann 1997, S. 66[.) Die strukturellen Bedingungen, un-
ter denen Identität zu suchen war, scheinen also durchaus vergleichbar
denen zu sein, die heute mit warnenden Begriffen wie "Ze rfall traditio-
naler Sicherheiten", ,,Auflösung des Sozialen" oder .Zerfascrung des
Selbst" belegt werden.
8 Identität 375

Gleichwohl deutet Krappmann in einer zweiten Antwort an, dass


Identität, die nach dem Konzept von Erikson " an den Schnittstellen von
persönlichen Entwürfen und sozialen Zuschreibungen" entsteht und
insofern immer »problematisch« sei, "w eil die vom einzelnen zu leis-
tende Integration von der sozialen Gruppe, der er angehört, anerkannt
werden muss" (S.67), heute schwieriger zu gewinnen ist. Er schreibt:
" Diese Anerkennung ist leichter zu erhalten, wenn die Synthese, die
Menschen sich erarbeiten, zu den akzeptierten Bildern von Persönlich-
keit, zu vorstellbaren Lebenswegen und üblichen sozialen Rollen
passt." (ebd.) Was die Anerkennung angeht, sollte das, was DAVID
RIE SMAN über den außengeleiteten Charakter (übrigens zur gleichen
Zeit!) geschrieben hat, zu denken geben!
Und was die "akzeptierten Bilder" und "üblichen Rollen" angeht,
gibt Krappmann zu bedenken, dass "die Gesellschaft (...) in ihren Er-
wartungen nicht konsistent" ist, dass es "den geteilten Sinn (...) nur sehr
begrenzt" gibt und dass "auch die »sozialen Rollen« und »Laufbah-
nen«, von denen Erikson spricht, (...) keineswegs eindeutig" sind.
(Krappmann 1997, S. 79). Die Beschreibungen der gegenwärtigen Ge-
sellschaft durch die Soziologen lauteten ganz anders: ,,Auflösung tradi-
tionaler Rollen, Entnorrnativierung, Wertewandel, Unübersichtlichkeit,
Pluralisierung, Individualisierung" . (Krappmann 1997, S. 80) Ange-
sichts dieser Zeitdiagnose mute Eriksons " Rede von angebotenen Rol-
len und Laufbahnen und von der Einfügung der Heranwachsenden in
eine kollektive Zukunft, in deren Rahmen sie auf Einheit und Kontinui-
tät vertrauen k önnen", denn doch "nostalgisch" an. (ebd.)
Ich möchte noch eine letzte kritische Verrnutung anschließen: Die
Optionen in der Moderne sind so zahlreich geworden und suggerieren
jede für sich Sinn, dass das Individuum sich letztlich nur noch danach
entscheiden kann, was kurzfristig Erfolg verspricht und längerfristig
alternative Entscheidungen nicht unmöglich macht.
Vor diesem Hintergrund ist die Theorie von LoTHAR KRAp PMANN
zu lesen, der inhaltlich an die Arbeiten von George Herbert Mead an-
knüpft und Eriksons Konzept der Identität auf Kompetenzen z uführt,
die man haben muss, um Identität zu gewinnen und zu demonstrieren.
376 8 Identität

8.7 Krappmann : Ich-I dentit ät als Bala nce


Der deutsche Soziologe LOTHAR KRAPPMANN ('" 1936) hat in seinem
Buch " Soz iologis che Dim ensionen der Identität" (1969) die Frage nach
"st rukturellen Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozes-
sen" - so der Untertit el - aufgeworfen. Krappmann setzt sich in diesem
Buch, das rasch zum Klassiker der deutschen Diskussion avancierte,
kritisch mit der Rollentheorie von T ALCOn P ARSONS auseinander, die
von vielen als Theori e der Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse
und ergo Nicht-Beanspruchung von Identität gelesen wurde. Zweitens
stellte Krappmann GEORGE HERBERTM EADs These heraus, dass Identi-
tät nur auf dem Umweg über den Anderen gewon ne n werden kann , und
verband sie mit ERIK H. ERIKSONS These, dass Identität eine personale
Seite, die über die unverwechselbare Biographie und ihre typischen
Krisenlösungen definiert ist, und eine soziale Seite hat, die über die
Anerke nnung des Sc1bstbildes durch die Anderen gewonnen wird. An
der schon von Erikson so bezeichneten Ich-Identität stellt Krappmann
deshalb das Problem der Balance zwischen Individuum und Gesell-
schaft heraus. Da Identität für Krappmann eine strukturelle Bedingung
für die Teilnahme an Interaktionsprozessen ist, fragt er schließlich drit-
tens, ich deutete es schon an, welche Komp etenzen man eigentlich
braucht, um Identität zu gewinnen und zu demonstrieren. Hier lehnt
sich Krappmann an die Arbeiten von ERVING GOFFMAN an.
Um gleich zu zeigen, wo Krappmann an Erikson anknüpft und wo er
mit einer eigenen Theorie über ihn hinausgeht, greife ich auf den bei
der kritischen Würdigung Eriksons schon zitierten Aufsatz zurück, der
in der ersten Fassung den Titel "Die Suche nach Identität und die Ade-
leszenzkrise" getragen hatte. Krappmann lenkt also gleich den Blick
auf die Phase, in der sich nach der Theorie von Erikson Identität ent-
scheidet. Und er unterstreicht auch dessen These, "dass weder der ein-
zelne seine Identität allein, sozusagen privat, definieren, noch dass die
Umwe lt sie ihm zudiktieren kann." (Krappmann 1997, S. 67) Deshalb
referiert Krappmann Erikson auch so weiter: ,,Jedes Individuum ent-
wirft seine Identität, indem es auf Erwartungen der anderen , der Men-
schen in engeren und weiteren Bezugskreisen, antwortet. Diese Be-
zugskreise müssen den Identitätsentwurf akzeptieren, in dem aufgebau-
te Identifikationen und Bedür fnisse des Heranwa chsenden mit den
Mustern der Lebensführun g, die in einer Gesellschaft angeboten wer-
8 Identität 377

den, zusammenge fügt we rden." (Kr appm ann 1997, S. 67) Diese Mu s-
ter, das hatt e auch Erikson schon so gesehen, sind unklar und wider-
sprüchlich gew orden.
Und wie sieht es auf der Seite des Individuums aus? Übe rspitzt
könnte man sage n: Die Ju gendlichen stehen vor dem Problem, dass sie
keinen sicheren Rahmen kenn en, in dem sie richtige Entscheidungen
treffen könnten, und die Bezu gsgruppen, aus denen heraus sie Legiti -
mationen für eigene Ent scheidungen erhalten könnten und auf die hin
sie sie legitim ieren müssten, sind diffu s und widersprü chlich gewo rden.
Krappmann hatte "das Resultat der Anstrengungen, Unklarheiten, Un-
stimmigke iten und Widersprüche zu bearbeiten" (Krappmann 1997, S.
8 1) in seinem Buch von 1969 als " balancierende Identität" bezeichnet.
Darun ter soll keineswegs eine "fest etablierte Identität, sondern eine
Identität, die aus ständiger Anstrengung um neue Verm ittlung entsteht"
(ebd .) verstanden werden. Krappmann fahrt fort: "Der Identitätssu-
chende versuc ht, zusätzliche Inform ationen und Erfahrunge n, ab er auch
Enttäuschunge n und Verletzu ngen zu integrieren und sich gegen Stig-
matisierungen und Ste reotyp isieru nge n zu wehren. Nicht Inhalte ma-
chen diese Identität aus, sondern bestimmt wird sie durch die Art, das
Versch ieden arti ge, Widersprüchliche und Sich-Verände rnde wahrzu-
nehmen, es mit Sinn zu füllen und zusammenzuhalten." (ebd.)
Krappmann erinn ert an Ga ffman, der " farbig geschildert" hab e, "w ie
Men schen daran arbeiten, ihre Identität zu entwerfen, sie and eren ver-
ständlich zu machen, sie zu verteidigen und immer wiede r umzukon-
struieren." (Krappmann 1997, S. 8 1) Warum tun sie das? Ich habe es
oben' schon als Versuch erklärt, Identi tät zu schützen . Krappmann in-
terpretiert es ähnlich : Die Individuen arbeiten an ihrer Identität, vertei-
digen sie und konstruieren sie ständig neu, " um aus sozialen Erwartun-
gen nicht hera uszufall en und doc h eigenen Wünschen Anerkennung zu
versc haffen. Dieses mühevoll e Balan cieren zwisc hen Erwartungen,
Zuschreibungen und eigenen Interessen und Sehn süchten ist kein Jon g-
lieren aus Übermut, sondern entspringt der Not, seinen Platz in einer
widersprü chlichen, sich wandelnden Ge sellschaft zu bes timme n. Er-
reichbar ist trotz dieses Aufwands kein e ein für allemal gesicherte Iden-
tität, son dern lediglich, sich trotz einer imm er problematischen Ident ität
die weitere Beteiligung an Interaktionen zu sichern ." (ebd.)

1 Vgl. oben S. 347 Anm. 2.


378 8 Identität

Das zu können, sind bestimmte .jdentltätsfördem de Fähigkeiten"


(Krap pmann 1969, S. 132) vonnöten. Krappmann , ich wiederhole! es,
nennt vier:
)- Da ist zunächst die Fähigkeit, Rollenerwartungen bis zu einem
gewissen Maße in Frage zu stellen. Krap pmann nennt diese Fä-
higkeit mit Erving Goffma n Rollendistanz.
);> D ie zweite Fähigkeit besteht darin , sich in die Situation des Part-
ners hineinzuverse tzen, ihn von seinem Standpunkt aus zu ver-
stehen. Das wird als Empathie bezeichnet. Das war das Th ema
bei Gcorge Herbert Mcad.
);> Drittens muss man auch aushalten könn en, dass Rollen zweideu-
tig (Iat . ambiguus) sind und die Motivationsstrukturen einander
wid erstre ben, weshalb auc h nicht alle Bedü rfnisse in einer Situa-
tion befriedigt werden können. Krappmann bezeichnet diese Fä-
higkeit als Am biguit ätstoleranz.
);0 Schließlich muss man auch zeigen, wer man ist, was impliziert,
dass man ein persönliches Profil sowohl gegenüber den Normali-
tätserwartungen der anderen als auch in der Kontinuität der eige-
nen Biographie zeigt. Diese Fähigkeit wird als Identitätsdarstel-
lung bezeichnet.
Krappmann definiert nach der gründlichen Diskussion der Theorien
von Erikson und Goffman und vor allem in der Abw ägurig der von
J ORGEN H ABERMAS (1968) so skizzierten Spannung von phantom uni-
queness und phantom normalcya Identität als Balance zwischen p ersön-
licher Identität, worunter er die biografische Einzigartigkeit des Indivi-
duums, vergleichbar dem »1« bei Mead, versteht, und sozialer Identität,
was man mit der Reaktion auf tatsächliche oder unterstellte Erwartun-
gen, vergleichbar dem »me« be i Mead, gleichsetzen kann .
Diese balancierende Identität nennt Krappm ann mit Erikson Ich-
Identität. (Vgl. Krappmann 1969, S. 79) Ich-Identität ist die Fähigkeit,
zu zeigen, wer man ist, was impliziert, dass man ein persönliches Profil
sowohl gegenüber den Normalitätserwartungen der anderen zeigt als
auch in der Kontinu ität der eigenen Biographie rekonstru iert.

Vgl. oben Kap. 5.8, S. 228 wo ich die Fähigkeiten auch unter die Bedingungen
einer gelingenden Interaktion gerechnet habe .
2 Siehe oben Kapitel 8.4 "GofTman: Wir alle spielen Theater", S. 358f..
8 Identität 379

In das Konzept von Krappmann spielen Meads These - ich wiederhole


es -', dass das Individuum in der Interaktion Objekt für die Anderen
wird, das auch weiß, und dass es Objekt filr sich selbst wird, und
Goffmans These, dass es sich deshalb vor anderen darstellt, hinein. So
ist auch seine Definition von Ich-Identität zu verstehen: " Ich-Identität
erreicht das Individuum in dem Ausmaß, als es, die Erwartungen der
anderen zugleich akzeptierend und sich von ihnen abstoßend, seine
besondere Individualität festhalten und im Medium gemeinsamer Spra-
ehe darstellen kann. Diese Ich-Identität ist kein fester Besitz des Indivi-
duums. Da sie ein Bestandteil des Interaktionsprozesses selber ist, muss
sie in jedem Interaktionsprozess angesichts anderer Erwartungen und
einer ständig sich verändernden Lebensgeschichte des Individuums neu
formu liert werden." (Krappmann 1969, S. 208)
Das Identitätskonzept von Krappmann unterscheidet sich von den
Theorien Eriksons und Goffmans durch den kritischeren Blick auf die
gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese Kritik hat er seinerzeit eher vor-
sichtig angedeutet, doch sollte man sie genau lesen, um auch von dieser
Seite die soziologische Diskussion über Identität offen zu halten.
Krappmann schreibt zum Ende seines Buches:

Lothar Krappmann: Identität - nicht üb er einstimmende Nonnen


negierend überschreiten
"Dieses Identitätskonzept will das Individuum nicht an vorgegebene
Verhältnisse anpassen, obwohl in die Identitätsbalance Nonnen und
Bedürfnisse der anderen eingehen. Dem Individuum wird nicht die fal-
sche Sicherheit einer festen Position - sei es im Versuch vollständiger
Übernahme angesonnener Erwartungen, sei es durch die Bemühung um
völligen Rückzug aus Handlungssystemen, in denen divergierende Er-
wartungen auftreten - empfohlen. Vor den widersprüchlichen Anforde-
rungen einer in sich zerstrittenen Gesellschaft kann es sich nicht schüt-
zen. Der hier entwickelte IdentitätsbegrifT versucht vielmehr dem Er-
fordernis Raum zu geben, kreativ die Nonnen , unter denen Interaktie-
nen stattfinden, zu verändern. Dieses kritische Potential des Indivi-
duums zieht seine Kraft aus der strukturellen Notwendigkeit, nicht ü-
bereinstimmende Nonn en negierend zu überschreiten.
Tatsächlich kann das Individuum nicht jede ihm erwünschte Neuin-
terpretation vorgegebener Nonnen bei seinen Interaktionspartnern
durchsetzen, denn es stößt auf widerstrebende Interessen der anderen.
Auch sind die Chancen, einer Identitätsbehauptung Anerkennung zu si-
380 8 Identität

ehern , ungleich, we il von den verschiedenen Positionen e ines sozialen


Systems aus unterschiedliche Eintlussmöglichkeiten bestehen . Nur eine
Analyse der jeweiligen sozialen Verhältnisse kann zeigen, welche In-
tcrprctationsm öglichke iten dem Individuum offenstehen und welche
Grenzen seiner Bemühung um Identität in einem gegebenen System so-
zialer Ungleichheit gesetzt sind," (Krappmann 1969: Soziologische
Dimen sione n der Identität, S. 208f.)

Identität heißt nicht nur, sich der Differenz zwischen Individuum und
Gesellschaft bewusst zu bleiben, sondern die Form dieses Verhältnisses
grundsätzlich unter der Perspektive des Möglichen zu bedenken ! Identi-
tät impliziert die Anstrengung der wiederholten Definition, wer man
sein könnte, wenn man wollte.
Dass die " Bemühungen um Identität" heute problematisch sind, ist
die These von PETER L. BERGER, BRIGITIE BERGER und HANSFRIED
KELLNER. Sie behandeln das Thema Identität unter dem Blickwinkel
des "U nbehagens in der Modernität" .

8.8 Berger, Berger, Kellner: Krise der modernen Identität


Das Buch " Das Unbehage n in der Modernität", das PETER L. und BRI-
GIlTE BERGER zusammen mit HANSFRIED KELLNER im Jahre 1973 ver-
öffentlicht haben, enthält vieles, was dem Individuum heute "Unbeha-
gen" b ereitet, aber genau so viel, was der Gesellschaft, wenn sie denn
fühlen könnte, Unbehagen bereitet. Es ist ein Buch über das moderne
Bewusstsein, das aus der Perspektive der Wissenssoziologie behandelt
werden soll. (vgl. Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 7) Ich möchte IhM
nen nur die Passagen zum Thema Identität vortragen . Berger, Berger
und Kellner behandeln es unter der Überschrift der .Pluralisierung der
soziale n Lebenswelten" .
Während die Menschen in früheren Gesellschaften alle in der glei-
chen »Wclt« lebten, solange sie nicht in fem e Länder reisten, ist " die
typische Situation der Menschen in einer modemen Gesellschaft" v öl-
lig anders: "Die verschiedenen Bereiche ihres Alltagslebens bringen sie
in Beziehung zu außerordentlich verschiedenenartigen und oft sehr ge-
gensätzlichen Bedeutungs- und Erfahrungswelten. Das modeme Leben
ist typischerweise in sehr hohem Grade segmentiert." (Berger, Berger
u. Kellner 1973, S. 60) Da fällt zunächst einmal eine Trennung zwi-
8 Identität 381

sehe n privatem und öffentlichem Bereich auf, aber auch innerhalb die-
ser beiden Bereiche findet eine Pluralisieru ng statt. Für den öffentli-
chen Bereich leuchtet das unm ittelba r ein. Die Arbeit steilung vervi el-
fältigt die sozialen Ro llen, und die Lib eralis ierung der We ltanschau un-
gen und Rationalitäten gibt Raum für eine Fülle von Handlungsoptio-
nen. Doch auch die Privatsphäre ist " nicht immun gegen Pluralisierung.
In der Tat ist es so, dass der modeme Men sch versucht, diese Sphäre so
zu gestalten, da ss diese private im Gegensatz zu seiner verwi rrenden
Verwi cklung in die Welten öffentlicher Institutionen ihm eine Ordnung
integ rieren der und stützender Sinn gehalte liefert. Mi t anderen Worten,
der Mensch versucht, eine »Heimatwelt« zu konstruieren und zu be-
wahren, die ihm als sinnvoller Mittelpunkt seines Lebens in der Gesell-
schaft dient." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 6 1)
Dieser Mittelpunkt wird pluralisiert. Berger u. a. führen dafür zwe i
spez ifische Grunde an : die Erfahrung des Stad tlebens, was schon Georg
Simmel als Erklärung für das modeme Geisteslebens angeführt hatte,
und die Erfahru ng der modem en Massenk ommunikation. " Seit ihrer
Ent stehung in alten Zeiten war die Stadt ein Treffpunkt sehr versch ie-
dener Men schen und Gruppen und damit gege nsä tzlicher Welten."
(Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 61) Ihre Bewo hner sahen sich im-
mer wieder mit " unterschied lichen Einstellungen zur Wirklichkeit"
konfrontiert und konnten auch dam it umgehen . Der Lebensstil und die
Art zu denk en und zu handeln, die sich zuers t in den Städten au sbilde-
ten, haben heute alle Teile der Gesellschaft erfasst, weshalb Berger,
Berger und Kell ner auch von einer .Llrbanisie rung des Bewusstseins"
sprechen.
Sie wurde hauptsächlich d urch die Massenm edien bewirkt, begann
aber wa hrsch einlich schon früher mit der Verbreitung der Schulbil-
dung. " In diesem Sinn ist der Lehrer schon seit ein paar Jahrhunderten
ein Träger der »Urbanität«. Dieser Prozess wurde jedoch durch die
technologischen Kommunikationsmedi en ganz erheblich beschleunigt",
die " die in der Stadt erfundenen kognitiven und nonnativen Definitio-
nen der Wirklichkeit sehr schnell in der gesamten Gesellschaft"
ve rbreiten. (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 62) Richtig ist, "dass
dieser Prozess der Information »den Horizont erweitert«. Zugleich je-
doch schwächt er die Unvcrsehrth eit und Überzeugungskra ft der »Hei-
ma twelt«." (ebd .)
382 8 Identität

Die Pluralisieru ng der Lebe nswelt äußert sich ganz konkret im All-
tagsleben. Das verde utlichen Berger, Berger und Kellner am Fall der
langfristigen Lebensplanu ng. Leben splanung heißt, sich vorzustellen,
wie die persönl iche Zukunft aussieht oder ausse hen 5011, und sich dar-
auf vorzubereiten. Diese Vorstellungen fallen natürlich nicht vom
Himmel, sondern orientieren sich an typischen Lebensabläufen, wie
man sie vom Hörensagen kennt, wie man es bei Verwandten und Be-
kannten sieht und wie man es in Sozialisationsagenturen wie Familie
und Sch ule gelernt hat. Bei der Planung muss bedacht werden, dass die
Laufbahn , auf die man sich begeben will, nicht klar definiert ist, dass es
u. U. sogar mehrere »Fahrpläne- gibt und dass man es mit eine r ganzen
Reihe von Bezugspersonen zu tun haben wird , mit denen man sich ir·
gendwie arrangieren mu ss. Nehmen Sie nur die schlichte Entscheidung
" berufstätig". Welcher Beruf würde mir Spaß machen? Welche zeitli-
chen Anforderungen bringt er mit sich? Was mache ich, wenn wir Kin-
der kriegen und meine Frau darau f besteht, dass sie ihren Beruf weiter
aus übt? Was tue ich, wenn mein Arbeitsplatz in eine andere Stadt ver-
lagert wird ? Welc he Qualifizierungschancen habe ich in meinem Be-
ruf? Und so weiter. Die " Werkstatt" , in der solche Lebensplanu ngen
manchmal explizit, meistens eher beiläufig ers tellt und modifiziert
werden , ist der private Bereich von Ehe und Fami lie.
Wie ta ngiert das die Identität? Berger u. a. sehen es so, dass bei den
Entwürfen des Lebens nicht geplant wird, was man tun wird (will),
sonde rn auch, wer man sein wird (will). " Im Falle von Menschen, die
flireinander von großer persönlicher Wichtigkeit sind, überlagern sich
diese Projekte, sowohl hinsichtlich der geplante n Karrieren, als auch
hinsichtlich der geplante n Identitäten. Der eine ist ein Teil der Projekte
des anderen und umgekehrt ." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 68)
Bedenkt man dann noch, dass sich mit jeder Entscheidung des einen
nich t nur neue soz iale Konstellat ionen für diesen, sondern auc h für den
and eren ergeben, dann kann man sich die Komplexität vors tellen, in der
Identität behauptet und in Frage gestellt wird oder gar neu erfunden
werden muss.
Vo r diesem Hintergrun d, dass der Mensch seine Zukunft mit einem
Plan in den Griff zu bekomm en sucht, was natürl ich nicht heißt , dass er
das immer bew usst und strategisch anlegt, stellen sich Berger, Berger
und Kellner die Frage, welche Implikationen das für die Identität in der
modem en Gese llschaft hat. Dabei meinen sie mit Identität "die tatsäch-
8 Identität 383

liehe Erfahrung des Ich in einer besti mmten sozialen Situation. Mit
anderen Worten, wir meinen mit »Identität« die Art und Weise, in der
der Einze lne sieh selber definiert." (Berger, Berger, Kellner 1973, S.
69) Der Lebensplan ist " eine Quelle der Identität", und umgekehrt kann
man auch "d ie Identität in der modem en Gesellschaft als einen Plan
definieren." (S. 70) Damit ist klar, dass Identität nicht Identität an sich
oder eine abstrakte Idee ist, sondern eine Konstruktion, die das Indivi-
duum vornimmt.
Diese individuelle Konstruktion ist allerdings davon abhängig, wie
in der modernen Gesellschaft Identität typischerweise konstruiert wird.
Da jeder Teil einer sozialen Wirklichkeit ist, die ihn sozialisiert , ist auch
die Art und Weise, in der er sich seine Identität vorstellt und wie er sie
präsentiert, durch " Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklich-
keit" - so der Titel des bekannten Buches von PETER L. BERGER und
THOMAS LUCKMANN (1966) - bestimmt. Unter dieser Prämisse heben
Berger, Berger und Kellner vier Aspekte der modernen Identität hervor.
1. Die moderne Identität ist besonders offen.
Erstens bezeichnen sie die moderne Identität als besonders offen, wobei
Offenheit im Sinne der von DAVID RIESMAN beschriebenen Außenlei-
tung zu verstehen ist. (vgl. Berger, Berger, Kellner 1973, S. 70) Identi-
tät impli ziert, sich offen zu halten für das, was der Zeitgeist bietet und
gebietet. Der modeme Mensch ist ständig auf Empfang für die Signale ,
von denen es heißt, dass sie wichtig sind. Berger, Berger und Kellner
fahren fort: "W enn es auch zweifellos gewisse Züge des Individuums
gibt, die beim Abschluss der primären Sozialisation mehr oder weniger
dauerhaft stabilisiert sind, ist der modem e Mensch trotzdem »unfertig«,
wenn er in das Erwachsenenleben eintritt. Nicht nur ist offenbar eine
große objektiv e Fähigkeit zu Transfonnationen der Identität im späte-
ren Leben vorhanden, es ist auch eine subjektive Kenntni s und sogar
Bereitschaft für solche Transformati onen da . Der modem e Mensch ist
nicht nur besonders »bekehrungsanfällig«; er weiß das auch und ist oft
darauf stolz." (ebd.)
Der modeme Mensch hält seine Identität auf der Höhe der Zeit.
Wirklich ist die Identität, die gerade geboten oder möglich ist; zurück
wird die biographische Wirklichkeit schwächer, nach vorne hält man
ganz neue Facetten für möglich. " Der Lebenslauf wird begriffen als
eine Wanderu ng durch verschiedene soziale Welten und als stufenwei-
384 8 Identität

se Verw irklichung einer Reihe von möglichen Identitäten . Der Einzelne


denkt nicht nur »gewitzt« über die Welten und Identitäten anderer, son-
dem auch über sich selbst. Diese Eigenscha ft der Unabgesc hlossenheit
der modernen Identität erzeugt psychische Belastungen und macht den
Einzelnen besond ers verwu ndbar dafür, dass andere ihn imm er wieder
anders definieren." (Berger, Berger, Kellner 1973, S. 70) Für die These
der immer anderen Definiti on durch andere verwe isen Berger, Berger
und Kellner ausdrücklich auf die Identitätstheorie von George Herbert
Mead, die sie so verstehen, "dass in einer sehr grundsätzlichen Weise
die Menschen in allen Gesellschaften stets »außengeleitet« und deshalb
»unentschieden« (sopen-ended«) gewesen sind." (ebd. Fußnote 34) Ich
denke, dass sie hier den Prozess der fortlaufenden Komm unikation, der
wechselseitigen Interpretation und Reaktion und der immer neuen ge-
genseitigen Rollenübernahme, in der erst sich das Individuum seiner
selbst gewiss wird, vor Augen haben. Jedenfalls meinen sie, das Be-
sondere an der modernen Identität sei der Grad, in dem das erfolgt. Ge-
dacht ist hier wohl an die eingangs behauptete Pluralisierun g der sozia-
len Lebenswelt und die Vielfalt der Rollen, die gleichzeitig zu spielen
sind.
2. Die moderne Identität ist besonders differenziert.
Die Plu ralisierung der Lebensweit und die Vielfalt der Rollen, mit de-
nen der moderne Mensch konfrontiert ist, haben Folgen für seine Iden-
tität. " Wegen der Pluralität der sozialen Welten in der modernen Ge~
sellschaft werden die Strukturen jeder einzelnen Welt als relativ labil
und unverlässlich erlebt." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 70) Wäh-
rend in der vormodernen Gesellschaft das Individuum in einer einheit-
lichen Welt lebte, die feste Orientierungen bot, sieht es sich heute mit
einer Pluralität von Welten konfrontiert, die j ede für sich Sinn haben.
Dadur ch wird aber jede einzelne von ihnen relativiert. Die institutionel-
le Ordnung erfahrt gewissermaßen einen Wirklichkeitsverlust. " Der
»Wirklichkeitsakzent« verlagert sich von der objektiven Ordnung der
Instituti onen in das Reich der Subjektivität. Anders ausgedruckt: Für
das Individuum wird die Selbsterfahrung realer als seine Erfahrung der
obj ektiven sozialen Welt. Er sucht deshalb seinen »Halt« in der Wirk-
lichkeit mehr in sich selbst als außerhalb seiner selbst. Das hat unter
anderem zur Folge, dass die subjektive Wirklichkeit des Einzelnen (...)
fUT ihn zunehmend differenzierter, komplexer und »interessanter« wird.
8 Identität 385

Die Subjektivität erlangt bislang ungeahnte »Tiefen«." (Berger, Berger


u. Kellner 1973, S. 71)1
Nimmt man die Offenheit und Dijferenziertheit der modernen Identi-
tät zusammen, so ist die " Krise der modemen Identität offenkundig.
Auf der einen Seite ist (sie) unabgeschlossen, transitorisch, fortlaufen-
dem Wandel ausgesetzt. Auf der anderen Seite ist ein subjektives Reich
der Identität der hauptsächliche Halt des Individuums in der Wirklich-
keit. Etwas sich fortwährend Wandelndes soll das ens realissimuma
sein." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 71) Von daher ist es nicht
überraschend, "dass der modeme Mensch an einer permanenten Identi-
tätskrise leidet, ein Zustand, der zu starker Nervosität führt.' (ebd.) So
hat es schon Georg Simmel in seinem Aufsatz über die Großstädte und
das Geistesleben gesagt!
3. Die moderne Identität ist besonders reflexiv.
Aus der Tatsache, dass die modeme Identität angesichts der Relativität
der vielen sozialen Welten immer differenzierter wird, folgt ein drittes
Kennzeichen der modemen Identität: Sie ist besonders reflexiv. "Wenn
man in einer integrierten und intakten Welt lebt, kann man mit einem
Minimum an Reflexionen auskommen. In solchen Fällen werden die
Grundvoraussetzungen der sozialen Welt für selbstverständlich ge-
nommen und bleiben das in der Regel auch innerhalb des Lebenslaufes
des einzelnen, jedenfalls der »normalen« Individuen. Dieser Zustand
des unreflektierten »Zuhauseseins« in der sozialen Welt ist in Edmund
Burkesä berühmtem Bild vom friedlich weidenden englischen Vieh in
klassischer Weise eingefangen - von Burke in geschickter Weise als
Gegenbild benützt zu der ruhelos fragenden und frenetisch nach Neue-
rung jagenden Aktivität der französischen Revolutionäre. Die modeme
Gesellschaft ist solch ländlicher Geruhsamkeit besonders feindlich. Sie
konfrontiert den einzelnen mit einem fortwährend wechselnden Kalei-
doskop sozialer Erfahrungen und Bedeutungen, sie zwingt ihn, Ent-

Hier liegt eine Erklärung, warum das Wort von der .Betroffenheit" zum Kürzel
für Befindlichkeit und unüberbietbare Legitimation geworden ist!
2 Lat., wörtlich "das allerwirklichste Sein"; in der aristotelischen Lehre von der
Vollkommenhei t gleichbedeutend mi t dem absoluten, dem reinen Sein.
3 Dieser englische Staatsmann stand seit 1789 in einer besorgten Korrespondenz mit
einem "very young gentleman in Paris" . Er legte seine Befürchtungen zur Aufstö-
rung der Welt in .Reflections on Ihe Revolution in France" ( 1790) nieder.
386 8 Identität

schei dungen zu treffen und Pläne zu schm ieden," (Berget, Berger u.


Kellner 1973, S. 71)
Um es platt auszudrücken : Die Zukunft kom mt nicht mehr so, wie
sie früher imme r gekommen ist, sondern ist in jeder Hinsicht möglich,
im günstigsten Fall nur wahrscheinlich. Deshalb schmiedet man am
besten nicht nur einen Plan, sondern mehrere Pläne ftir den Fall der
Fälle. Pläne müssen auch nicht zu Ende gedac ht sein, da man nicht
weiß, wie die Umstände sein werden. Auf keinen Fall dürfen sie starr
sein. Manche tun auch gar nichts und meinen, man könne den Lauf der
Dinge ohneh in nicht aufhalten .
Berger, Berger und Kellner meinen, dass sich die Reflexion der
"wachen" Me nschen angesichts der Pluralität und Relativität der Wirk-
lichkeit draußen gleichermaßen auf die Außenwelt und "auf die Subje k-
tivität des Individuums, besonders auf seine Identität" richtet: " Nicht
nur die Außenwelt, sondern auch das Ich wird zum Gegenstand be-
wusster Aufmerksamkeit und manchmal angstvollen Forschens." (S.
72) Identität, so könnte man diesen Gedanken fortführen, besteht in der
perman enten Beobachtung des Ichs in der permanenten Umstellung auf
die Außenwelt.
4. Die mod erne Identität ist besonders individuiert,
Berger, Berger und Kelln er kommen zu einem vierten Aspekt der mo-
dernen Identität: Sie ist "besonders individuiert", (Berger, Berger u.
Kellner 1973, S. 72) " Das Individuum , Träger der Identität als des ens
reatissimum, erlangt logischerweise einen sehr wichtigen Platz in der
Hierarch ie der Werte. Individuelle Freiheit, individuelle Autonomie
und individuelle Rechte werden als morali sche Imperative von funda-
mentaler Bedeutu ng für selbstverständlich genommen, und das oberste
dieser individuellen Rechte ist das Recht, sein Leben so frei wie mög-
lich zu planen und zu gestalten. Dieses Grundrecht wird von einer
Vielzahl moderner Ideolo gien ausführlich legitimi ert." (S. 7 1)
Die Tatsache, dass Individualität als unbedingter Anspruch vertreten
wird, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die gesellschaftlichen
Verhältnisse immer kompl exer werden und dem Individuum so viele
Optionen eröffnen, aber auc h so viele Entscheidungen abverlangen,
dass dieser Anspruch letztlich ins Leere läuft. Die soz ialen Beziehun-
gen werden immer mehr rationalisiert und standardisiert, immer unbe-
greiflicher und anonymer, und damit sinken die Chancen, sich ganz
8 Identität 387

anders, ganz autonom zu verhalten. Auch die Tatsache, dass dem Indi-
viduum in der Moderne immer mehr Optionen zugesp ielt wer den,
schafft nicht wirklich Freiheit: Das Individu um hat zu viele Bälle
gleichzeitig in der Luft. (vgl. Berger, Berger u. Kelln er 1973, S. 158)
In dieser Situation versuc hen die einen, ein alternatives Leben gegen
die Gese llschaft zu führen (das Buch erschien in der hohen Zeit der
Diskussion Ober Gegenkultur in den USA!) und sich ganz selbst zu
verwi rklichen. And ere arrangie ren sich mit den Verhältnisse n, indem
sie das Öffentliche und das Private trennen und hoffen, in diesem das
"eigentliche" Leben zu führen. Die Dritten schließlich führen ihr Leben
so weiter, wie es die sich wandelnden Verhältnisse jeweils verlangen .
Sie erheben nicht "w irklich" den Anspruch, unter diesen Verhältnissen
ganz anders und einzigartig zu sein. Ich relativiere bewusst: nicht
"w irklich" - aber als gelegentliche gute Meinung von sich schon.

8.9 Id en tität - ein re lativer Standpunkt


Das Wort " Identität" ko mmt vom lateinische n .Jdem ens", d . h. " der-
selbe seiend" . Vennutlich stellen sich auch die meisten unter Identität
so etwas wie eine in sich ruhende Persönlichkeit oder ein unverwec h-
selbares, dauerhaftes Pro fil, das sich immer gleich bleibt, vor. Lassen
wir uns einen Augenblick auf diese - nach der langen soziologischen
Diskussion natürlich nicht zu haltende - Vorstellun g ein und fragen,
wem eine solc he feste Identität nützen würde. Dem Individuum könn te
sie wom öglich mehr und mehr zum Problem werden, weil es wider alle
Vernunft und wider alle Cha ncen sich so verhalten müsste, wie es sich
immer verhalten hat und wie angeblich alle es von ihm erwarten. Der
Gese llschaft könnte das auch nicht nützen. denn starres Denken und
Handeln ihrer Mitg lieder würden unterhalb neuer Herausforderungen
und Möglichkeiten bleiben.
Zur Funktion von Identität in der Spannung von Individu um und
Gese llschaft möchte ich eine Weisheit Shakespea res in Erinnerung ru-
fen, wonach niemand eine Insel ist. Das bedeutet im soziologischen
Sinne, dass das Indi viduum in der Gese llschaft lebt und durch ihren
Wandel berührt wird. Wie sich die Strukturen der Gese llschaft ändern,
so ergeben sich auch neue Herausford erungen und Chancen. Jenen
388 8 Identität

würde eine rigide Identität nicht gerecht, diese würden von einer sol-
chen nicht wahrgenommen.
Zurück zur soziologischen Diskussion . Sie hat - hoffentli ch - ge-
zeigt, dass Identität das Ergebni s spezifischer sozialer Erfahrungen ist,
die ja nie aufhören. Aufgrund dieser Erfahrungen, wie bewusst oder
unbewusst sie auch sein mögen, konstruiert das Individuum ein Bild
von sich und von den anderen, die ihm dieses Bild in der Interaktion
face to face spiegeln. Und es konstrui ert auch ein Bild von der Gesell-
schaft, wie sie ihm durch allgemeine Erwartungen und konkrete Institu-
tionen begegnet.
Konstruktionen erfolgen natürlich nicht zufällig, sondern hängen mit
der spezifischen Sozialisation des Individuums und seinen Erfahrungen
in Interaktionen zusammen. Zweitens muss man bedenken, dass Kon-
struktionen im soziologischen Sinne nie für die Ewigkeit gelten. Man-
che Menschen nehmen sich das zwar gelegentlich so vor, und Instituti-
onen beanspruchen das fast immer von sich, doch die Tatsache des so-
zialen Wandels widerlegt beides.
Das sollte nun nicht zu der Annahme verleiten, dann brauche man
überhaupt nichts zu konstruieren, wo doch sowieso alles im Fluss ist.
Falsch. Auch Identität muss entschieden werden, aber immer wieder.
Deshalb möchte ich Identität als relativen Standp unkt bezeichnen. Tat-
sächlich halten wir ja immer wieder in unserem Denken und Handeln
ein, wenn die Umstände plötzlich ganz anders sind, oder wenn wir aus
welchen Gründen auch immer zurückblicken auf unser Leben und fest-
stellen, dass wir nicht nur gerade Wege gegangen sind und manches
aus den Augen verloren haben, was uns einmal ganz wichtig gewesen
ist. Wenn wir einigermaßen vernünftige Antworten geben können, ist
das Identität als Bewusstsein von unserer Rationalität. Und die Antwort
wird sicher immer etwas anders ausfallen, wenn wir sie mit 20, 30 oder
85 geben.
Die Frage, wie wir zu den Dingen, zu den anderen und vor allem zu
uns stehen, stellt sich sicher bei kritischen Leben sereignissen und an
den dramatischen Wendepunkten des Lebens. Doch auch in den weni-
ger dramatischen Situationen stellt sich diese Frage. Manchmal ganz
bewusst, wenn wir z. B. einen Lebenslauf schreiben, einem anderen
unser Herz öffnen oder Erklärungen abgeben, manchmal und in der
Regel aber unbewusst, indem wir so denken und handeln wie immer
und dadurch uns und den anderen signalisieren: Das ist wieder die typi-
8 Identität 389

sehe Situat ion, in der ich so denken und handeln kann, wie ich immer
gedacht und gehalten habe.
All das gehört zur Identitätsarbeit, die eben auch nie aufhört. Des-
halb möchte ich auch von einem relativen Standpunkt sprechen. Relativ
ist er aber auch aus einem anderen Grund : Wir stehen im Schnittpunkt
vieler sozialer Kreise, und das macht unseren Standpunkt einzigartig.
Aber wir gehören eben auch all diesen Kreisen an, und da gibt es die
unterschiedlichsten Erwartungen, mit denen wir uns auseinandersetzen
müssen. Die Art und Weise, wie wir uns auf die Erwartu ngen in dem
einen Kreis einstellen, ist vielleicht in einem anderen Kreis nicht oppor-
tun oder sogar strukturell unmöglich. Also wird die Präsentation der
Identität immer relativ zu den konkreten gesellschaftlichen Bedingun-
gen sein.
Bisher habe ich den Standpunkt vor allem aus dem Blickwinkel des
Individuums betrachtet. Ein Standpunkt muss aber auch bezogen wer-
den im Interesse der Gesellschaft. Die anderen, mit denen wir interagie-
ren, müssen auch wissen, woran sie mit uns sind. Natürlich werden sie
uns routinemäßig als Typen behandeln, doch auch dieses typische Ver-
halten muss j a immer unter Beweis gestellt werden, und ganz sicher
müssen wir verlässlich sein, wenn Routine durcheinander gerät. An
diesem kritischen Punkt und natürlich an jedem Anfang einer neuen
Interaktion müssen wir einen Standpunkt einnehmen und uns fragen,
wer wir sind und wer wir gleich sein wollen. Die Antwort können wir
nicht für uns behalten, denn es soll ja um ein gemeinsames Handeln
gehen. Also müssen wir begründen, warum wir etwas tun und was wir
wollen. So schaffen wir die Voraussetzung dafür, dass die anderen uns
als rational handelnden Partner der Interaktion erkennen.
Die Formulierung " relativer Standpunkt" soll schließlich auch deut-
lich machen, dass es ein Standpunkt unter gegebenen Umständen ist.
Die beiden Betonungen meine ich so: Es ist ein Standpunkt neben vie-
len anderen möglichen, die andere einnehmen können. Und es ist ein
Standpunkt, wie er sich in einer konkreten Situation ergeben hat.
Einen Standpunkt nimmt man in seinem Leben nicht ein für alle Mal
ein, sondern immer dann, wo die Routine des " weiter so" du rchbrochen
wird. Das bedeutet, dass wir Identität immer neu entwerfen müssen -
für uns und vor den anderen.
390 8 Identität

Diese Ford erun g ste lle ich bewusst gegen die "o ntologische Boden-
losigkeit der Postmoderne" , die der poln isch e Soziologe ZYGMUNT
BAUMAN (*1925) unter de r sprechenden Überschrift "Wir sind wie
Landstreicher" beschworen hat:

Zygmunt Bauman: Die ontologische Bodenlosigkeit


der Pestmodern e
"Die Postmoderne ist der Punkt, wo das modeme Freisetzen aller ge-
bundenen Identität zum Abschluss kommt. Es ist jetzt nicht nur leicht,
Identität zu wählen, aber nicht mehr möglich, sie festzuhalten. Im Au-
genblick des höchsten Triumphs muss Befreiung erleben, dass sie den
Gegenstan d de r Befreiung vernichtet hat. Je freie r die Entscheidung ist,
desto weniger wird sie als Entscheidung empfunden. Je derze it wider-
rufbar, mangelt es ihr an Gewicht und Festigkeit - sie bindet nieman-
den, auch nicht den Entscheider selbst; sie hinterlässt keine bleibende
Spur, da sie weder Rechte verleiht noch Verantwortung fordert und ihre
Folgen, als unangenehm empfunden und unbefriedigend geworden,
nach Belieben kündbar sind. Freiheit gerät zu Beliebigkeit; das berühm-
te Zu-allem-Befähigen, für das sie hochgelobt wird, hat den postmoder-
nen Ident itätssuchern alle Gewalt eines Sisyphos verliehen. Die Post-
moderne ist jener Zustand der Beliebigkeit, von dem sich nun zeigt,
dass er unheilbar ist. Nichts ist unmöglich, geschweige denn unvor-
stellbar. Alles, was ist, ist bis auf weiteres. Nichts, was war, ist für die
Gegenwart verbindlich, während die Gegenwart nur wenig über die
Zukunft vennag.
Heutzutage scheint alles sich gegen feme Ziele, lebenslange Ent-
würfe, dauerhafte Bindungen, ewige Bündnisse, unwandelbare Identitä-
ten zu verschwören." (Bauman 1993: Wir sind wie Landstreicher. Süd-
deutsche Zeitung vom 16.117. November 1993; zit. nach Keupp 1997,
S.24f)

Ich habe am An fang des Kapi tels gesagt, dass die Forderung an das
Individuum, Identität als relativen Sta ndpunkt immer wieder neu für
sich und für die anderen zu entscheiden, von der Hoffnung lebt, der
gerade be schriebenen " ontologischen Bodenlosigkeit" imm er wied er
neuen Sinn entgegensetzen zu können. Deshalb nach der langen Dis-
kussion zentraler Themen der Soziologie als letztes Wo rt zum Verhält-
nis vo n Individ uum und Gesellschaft: Ident ität ist der Standpu nkt , in
dem Individuum und Gesells cha ft fortlaufe nd ve rmittelt werden. Auf
ihn wi rken die gesellschaftlichen Verhältnisse, wie indirekt auch im-
8 Identität 39 1

mer, ein, und aus ihm heraus wirkt das Individuum auf sie, wie indirekt
auch immer, ein. Worum es bei dieser Wechselwirkung von Indivi-
duum und Gesellschaft gehen muss und was das mit der Aufgabe der
Soziologie zu tun hat, erhellt aus dem Schlusskapitel, das ich ausdrück-
lich unter den Titel "Unversöhnlich" gestellt habe.
9 Unversöhnlich
Soziologie bef asst sich mit gesellschaftlichen Verhältnissen und dem
Handeln zwischen Individuen in diesen Verhältnissen. Diese Definition
stand am Anfan g der Einführu ng in die Sozio logie. An der Auswahl der
Themen und Theorien, die ich in dem so gesetzten Rahm en für wichtig
halte, und an der Art und Weise, wie ich sie behandelt habe, sollte deut-
lich geworden sein, dass sich Soziologie nicht nur mit abstrakten Strak-
turen und Prozessen befasst, sondern die Individuen in ihrer Gesell-
schaft sehr konkret in den Blick nimmt. Dabei kommen zwangsläufig
Situationen zur Sprache, in denen wir tagtäglich leben, und es geht im-
mer auch um die Frage, wie wir uns selbst und die anderen sehen und
wie wir miteinander umgehen.
Auch für diese Situati onen gilt, was ich von den gesellschaftlichen
Prozessen und Strukturen gesagt habe: Wir müssen hinter den Schein
der Phänomene auf die wirkenden Strukturen, auf die Handlun gen der
Individuen wie auf die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
blicken. Deshalb ist mir auch wichtig, zum Schlu ss noch einmal zu
sagen, wann Soziologie beginnt: hier und j etzt und immer wieder. Sie
beginnt, habe ich gesagt, mit dem Zwe ifel an der Natürlichkeit der ge-
sellschaftlichen Verhältnisse. Soziologie ist Aufklärung! In dem Zu-
sammenhang will ich Ihnen auch noch einmal die Worte von DEs-
CARTES in Erinnerung ru fen, in denen Bourdieu das Programm der auf-
klärenden, entmystifizierenden Wissenschaft liest:
" Ich bi llige es nicht, dass man sich zu täuschen versucht, indem man
sich falschen Einbildungen hingibt. Weil ich sehe, dass es vollkom-
mener ist, die Wahrheit zu kennen, als sie nicht zu kennen, und
selbst wenn sie uns zum Nachteil gereichte, geste he ich offen, dass
es besser ist, etwas weniger fröhlich zu sein, dafür aber mehr zu wis·
sen.' (Descartes, zit. nach Bourdieu 1984, S. 65)
Was Bourdieu in diesem Zusammenhang der Soz iologie weiter abver-
langt, können sie an anderer! Stelle lesen. Hier möchte ich lediglich
seinen Anspruch an die Intellektuellen herausstellen, den ich dort in
einer Fußnote versteckt habe: Bourdieu betrachtete die Soz iologie als
Kamp f, und von den Intellektuellen forderte er, sich als ..Militanten der
Vernunft.. zu verhalten. Wem das zu anstrengend ist, sollte wenigstens

1 Vgl. Band I, Kap. 2.4 ..Soziologie wozu? Eine modeme Debatte", S. 6 1 Anm. 1.
9 Unversöhnlich 393

ab und an einhalten in seinem Denken des " Und so weiter" und sich
vorstellen, wie es gekommen wäre und wie es weitergehen würde,
wenn man sich auf den zweiten Blick a la Luhmann (Luhmann 1979, S.
170) einließe oder sich von Webers Ermunterung anstecken ließe, " sich
gegenüber den jeweilig herrschenden Idealen, auch den majestätischs-
ten, einen kühlen Kopf im Sinn der persönlichen Fähigkeit zu bewah-
ren, nötigenfalls »gegen den Strom zu schwimrnenc" (Webe r 1917, S.
394).
Wenn Sie j etzt noch einmal nachlesen, was ich im ersten Band in
Kap. 2.6 über eine mögliche fünfte Aufgabe der Soziologie geschrieben
habe, dann sollte deutlich geworden sein, was ich mir von dieser Ein-
führung in die Soziologie verspreche. Soziologie hat etwas mit Ver-
antwortung zu tun - für uns, für die Gesellschaft und auch für ganz
konkrete Andere. Und wenn Sie das hier und jetzt auch so sehen, sozio-
logisches Wissen also nicht nur für irgendeine Prüfung aufhäufen, son-
dern auch in die Humanisierung der Welt investieren zu wollen, dann
will ich gerne noch einmal erklären, warum ich Ihnen zugemutet habe,
die Dinge immer wieder von einer neuen Seite aus zu betrachten und
von keiner Theorie die endgültige Erklärung zu erwarten: Ich wollte
einem beweglichen Denken eine Richtung weisen. Der schon am Ende
des ersten Bandes zitierte kluge Beobachter der kleinen und großen
Dinge der Welt hat sie so bestimmt: " Wir dürfen die Dinge nicht so
sehen, wie sie sind, sondern wie sie sein sollen."!

Sogar ganz am Schluss, wo doch alles gerundet sein sollte, muss ich wieder mal
um Hilfe bitten: Wo steht das bei Bemard Shaw? Frank Brockmeier hat inzwi-
schen herausgefunden, dass es genau umgekehrt in "The Devil's Dicticnary'
(1906) des amerikanischen Zynikers und Satirikers Ambrose G. Bierce heißt:
.Endeavor to see things as they are, not as they ought to be." Vielleichi bezog sich
Shaw ja gerade auf diesen Satz. Jedenfalls gefällt mir Shaws Kritik, wenn sie denn
von ihm stammt, besser!
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Gliederung Band I: Der Bliek auf die Gesellschaft

1 Soziologisches Denken
1.1 Die Kunst des Misstrauens und die Lehre vom zweiten Blick
1.2 I-lintergrundannahmen und Wertfreiheit
1.3 Weber: Die Konstruktion des Idealtypus
1.4 Weber: Was Wissenscha ft leisten kann und was nicht
1.5 Reflektierte Gewi ssheit
2 W as ist Soziolo gie und was ist ihre Aufgabe?
2.1 Zugänge zur Soziologie
2.2 Was ist eigentlich nicht Gegenstand der Soziologie?
2.3 Soziologie wozu? Drei klassische Antworten
2.4 Soziologie wozu? Eine modem e Debatte
2.5 Wann Soziologie beginnt und warum sie nicht endet
2.6 Was tut ein Soziologe und was ist se ine Aufgabe?
2.7 Zwei grundsätzliche soziologische Perspektiven
3 Soziale Ordnung oder: Wie ist Gesellschaft möglich ?
3.1 Hobbes: Die Furcht vor dem Lev iathan
3.2 Rousseau: Gesellschaftsvertrag und moralische Freiheit
3.3 Schottische Moralphilosophie: Erfahrungen und Gewohn heiten
3.4 Spencer: Fortlaufende Differenzi erung und Integra tion
3.5 Simmel: Verdichtung von Wechselwirkungen zu einer Form
3.6 Durkhcim: Mechanische und organ ische Solidarität
3.7 Weber: Handeln unter der Vorstellun g einer geltenden Ordnung
3.8 Mead: Gesellschaft - Ordnung als Diskurs
3.9 Parsons: Nonnative Integration
3.10 Berger u. Luckmann: Gese llschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
4 Institution
4.1 Durkheim: Soziale Ta tsachen
4.2 Sumner: Folkways, Mores, Institutions
4.3 Malinow ski: Abgele itete Bedürfnisse und die soziale Organisation
des Verhaltens
4.4 Mead: Institution als organisierte Fonn des Handeins
4.5 Parsons: Nonna tive Muster
4.6 Gehlen: Institutionen - sich feststellende Gewohnheiten
4.7 Berger u. Luckmann: Habitualisierung und Institutionalisierung
4.8 Die Geltung von Institutionen und Rituale der Rebellion
5 Organisation
5.1 Wurz eln des organisationssoziologischen Dcnkens
5.2 Bewusstes Zusamm enwirken zu einem bestimmten Zweck
414 Gliederung Band 1: Der Blick auf die Gesellschaft

5.3 Die doppelte Realität der Sozialstruktur einer Organisation


5.4 Motivation der Mitglieder
5.5 Tay lor: Scientific management
5.6 Human relations - der Hawthome-Effekt
5.7 Organisation als Syste m
5.8 Weber: Bürokratische Organisation
6 System
6. 1 Parsons: Syste mtheorie der Strukturerhaltung
6.2 Das allgemeine Handlun gssystem und seine Subsysteme
6.3 Grundfunktionen der Strukturerhaltung (AGI L-Schema)
6.4 Luhmann: Systemtheorie der Strukturerzeugung
6.5 Die These von der Reduktion von Komplexität
6.6 Die autop oietische Wende der Syste mtheorie
7 M a cht und Herrschaft
7.1 Die Macht des HandeIns und die Macht der anderen
7.2 Gründe und Formen der Macht
7.3 Popitz: Prozesse der Machtbi ldung
7.4 Weber: Herrschaft - die Legitimation von Macht
7.5 Webe r: Bürokratie - reine Herrschaft und ihre Gefahr
7.6 Gegen Macht
8 Soziale Schichtung
8.1 Über das dreigeteilte Haus Gottes und den Beruf des Menschen
8.2 Klassen und Stände - Marx und Weber
8.3 Geiger: Sozia llagen und Mentalitäte n
8.4 Differentielle Wertu ngen, funktionale Leistungen
8.5 Die emp irische Ermittl ung von Schichten
8.6 Kri tik an der These und am Begriff der Schichtung
9 Soziale Ungleich heit
9.1 Natürliche Ungleich heit?
9.2 Besitz und Einkommen als Begrundungen für Ungleichheit
9.3 Bourdieu: Sozialer Raum, Kap ital und Geschmac k
9.4 Neue Formen sozialer Ungleichheit und ihre Ursachen
10 Sozialer Wandel
10.1 Comte: Dreistadiengesetz - der Wandel des Denkens
10.2 Marx: Der Klassenwiderspruch als Triebkraft der Entwicklu ng
10.3 Weber: Asketischer Protestantismus und rationale Lebensführung
10.4 Beck: Individuali sierung und reflexive Modemisierung
Personenregister 4 15

Personenregister

Aristoteles 180 Freud (Kap. 2.2) 58, 7H., 74, 89,93,


Asch 282 273f.,33 7,352,364,367f.
Bauman 322, 325, 390 F ricd richs 153
Becker, H . 276 Fromm 90
Bcckcr, R. 294 Garfinkel (Kap. 5.7) 172, 183, 186,
BeU 36, 42ff. 230, 240
Bcntham 161 Ge hlen 335
Berger, B. (Kap. 8.8) 325,333 Geulen 57,64, 89
Berget, P. L (Kap. 8.8) 53, 96, 98, 222, Gidde ns (Kap. 4.5) 136, 159,322
225,325, 333 Go ffman (Kap. 7.5, 8.4) 131, 172,180,
Be rns tein 80 183,1 85, 218, 324, 333
Blumer (Kap. 5.5) 98, 183, 185, 207, Go uldner 11, 130, 218f., 350
230,260, 280,356 G ukenbiehl 277
Borns c hie r 293 H abcrmas (Kap. 3.4, 4.7, 5.9) 97,102,
Bourdieu (Kap. 7.4) 290,294, 296, 301 136,1 80, 186, 322, 358, 378
Brandenburg 154 H artlcy 295
Brumlik 335 Han mann, '\1. 305 Anm.
Claes sen s 35, 50 H auck 95
Claudius 90 Hegel 90
Clause n 57 Heint z 293
Coleman 166 Hersko vits 273
Cooley 259ff., 313, 338 Hobbes 44, 57, 66, 149
Daheim 294 Ho fstärtee 271,273, 292
D ah ren d o rf (Kap. 3.3) 51,90, lOH., H orn an s 79, 135, 138, 162ff., 166, 168,
110, 349 279,282, 291
D e scart e s 392 Huber 74
Dickse n 279 Hurrclmann (Kap. 2.7) 59
D reitzel 36,1 15ff. H yma n 277
D urkheim (Kap. 1.2,2.1 ,6.1) 16, 47, Illich 81
50, 52ff., 58, 89, 92 , 95, 124, 135, Inglehart (Kap. 1.5) 45, 48
169f., 182, 20H., 210, 233, 257, jacobson 154,288
259f., 278f.,342, 360 Jensen 151f.,156
Eisenstadt 26M. Jo as 31f., 170f., 184, 208, 219, 338ff.
Enzensbe rger 310 Junge 327
E rikson (Kap. 8.6) 74-77, 268f., 320, Ka n t 90,328
324,378 Kardiner 74
Esser (Kap. 4.6) 136, 159, 161, 163, Kellner (Kap. 8.8) 325,333
168, 246 Keupp 390
F e rgu so n 161, 168 Kicserling 186, 214-218
Fo rm 313 Kieß Ling 159
Kl agcs (Kap. 1.6)
Personenregister 416

Kluckhohn 37f. Moralphilosophen, schottische 160,


Klurn 295 277
Knobl auch 180 Morris 29
Knöh1 184, 208, 219 Müller 248,310,311
König (Kap. 1.7) 53f., 251 Miinch 91, 159
Korte 110 Newcc mb 244
Krappmann {Kap. 5.8, 8.7) 107,1 86, N ietzache 352
206,264( , 324, 374f Nwme r-Winkler 54
Lindgren 280 Oevennann 81
Linton (Kap. 7.1) 74, 101, 114, 117, Olson 246
120f,1 57, 289( , 292 Oswald 348f.
Lippirr 282ff. Owen 78
Locke 277, 345 Packard 296
Luckrnann 53, 96, 98, 176, 222, 225, Park 194, 351
233, 383 Parsens (Kap. 1.4, 2.6, 3.1, 4.3, 5.4,
Lütkens 81 8.4) 12, 53, 58(, 67, 75, 82, lOH.,
Luhmann 10, 21, 138ff, 171, 212, 111f., 118, 120f., 123f., 127, 129ff.,
215f 135, 168, 170, 182, 184, 186, 210,
L un t 289 212ff., 219, 221, 227, 265f., 288ff.,
Lyman 348 292, 324, 347, 359, 376
Lyo tard 322 Pastner 285
Malinowski 68-72, 74, 162 Paulus 321
Mandeville 165 Pawlow 77
Mann, H. 69 Plessner 125
Mannheim 173,349 Popitz 51, 55f., 245
Marcuse 362 Reck 323
Marx 119f, 128, 161, 168, 174, 233, Reimer 81
330 Richtet 79, 155,243
Mas low 4{) Riesman {Kap. 8.3) 12, 110f., 263f.,
Manhes 235, 238 270, 324f.,333, 350, 362,375, 383
Mayo 279 Roethlisberge r 279
Mead, G. I r. (Kap. 1.3, 2.5, 5.3, 8.2) Rogers 279
12, 32, 55, 58, 73, 75, 89, 183, 185, Rolff 80
188, 202f., 207f., 211, 228ff., 234, Rosenstiel 279
264f., 271, 323, 349, 373, 375, 378, Ros enthal 154, 288
384 Ross 89
Mead, :-'l57f Rousseau 58
Merto n {Kap. 3.2) 102, 120, 173, 209, Sack 220
277,293 Schäfers 26
Miebach 91 Scheuch 294
l'> lill 286 Schllnank 157, 159, 167
.....Iiller 15 Schmid 248
l'>IiUs 244 Sehneidee 30,31,311
41 7 Personenregister

Schütz 142, 172, 175, 219, 225, 233ff., T enbruck 12Sff.


31' Thomas 53, 57, 96, 149, 209, 225,
Schützeichel 166 261 [,270,286, 312, 315, 383
Scorson 274, 275 Thorndik e 77
Scon 348 TIuasher 269,270
Shakespeare 101, 120 Turner 131,211 ,229
Shaw 393 Veblen (Ka p. 7.3) 297-303, 307, 3 11
She rif 271, 272, 281 Warnet 289
Shils 204,403 Walson 78r., 82
Simmel (Kap. 1.1, 5.1, 6.2, 8.1) 12, Weber (Kap. 4.2, 5.2) 12, 16f., 128,
323, 346, 348, 381, 385 134f., 175, 177ff., 182, 186, 208, 210,
Skinner 79,138, 163 232, 251, 297, 306, 322, 343, 349,
5mith 160, 277 303
Sembart 311 Weingarten 220
Spcnccr 47, 342 White 282ff.
Spro ndel 95 Williams 350
Steinert 349 Wilson 158,1 85
Steinkamp 80 Wrong 95
Srone 295 Zelditch 295f., 312f.
$tI'aUSS (Kap.7.6) 131, 213, 280, 337, Zimme rma nn 294
339, 356 Znaniecki 261
Sumner 74,272f.
418 Sachregister

Sac hregister

achieved status 286 f., 305 - anomischer Selbstmord 25ff.


achiev ement 153, 157 (s. auch Leis- Apathie und Anomie 112f.
tung) Arbeit. sponta n nicht arbeitslustig 65
action frame of refcrence 151 Arbeitsteilung 20, 38 1
adaptarion 104 Anm., 365 (s. auch und sozia le Gefühle 21
AGIL-Schem a) Ste igerung der Individualität 332
affektuelles Handeln (s. Handeln, wechselseitige Abhä ngigkeit 257,
Bestimmungsgründe) 145f., 193 342
affektive Orientierun g (5. pattern ascribed sratus 287
variables) 94,1 55- 158 ascription, partcrn variable 153
AGIL-Schema 104 Anm., 365 asketische r Protestantismus (s. protes-
Aggression tanti sche Ethik )
gegen fremde 274f. amtudes 85
- Kultur ge gen Aggressio nstrieb 66f., - Haltungen als Anfange von Hand-
92 Anm. lungen 200
Akteure , individuelle 135.,1 59, 16lf., Außenlcitung (Kap .8.3) 12, 11Of. ,
164-167, 170f., 173-180 263, 301 , 324f.. 350. 362, 375, 383f.
Akteurtheorien (Kap. 4.4, 4.5, 4.6) Außenseiter (Kap. 6.5)
135 Austausc h 164-168. 182 (s. auch
allgemeines Handlungssystem (5. Tau sch)
Handlungssystcm) gerechter Tau sch (Kap . 4.4) 135
Allokat io n 95 GUterau stausc h 164, 29 1f.
Alltag, Alltagswelt 10, 222-226, 233, guter Dienste 160
240, 314 Interaktion als Austausc h (Kap. 5.4)
- Pluralisierung 382 von Leistungen 20, 164-167
- Typisierung des Alltags 222f., 225 f. Status. Austausc h von Gütern 29 1f.
Allta gshandeln (Kap.5 .7) 146, Austauschtheorie (Kap. 4.4) 135f.,
174ff.. 186, 193. 2 18, 240f., 324 165. 184 Anm.
Allta gswissen 172, 174, 220ff., 225f., autoki netischer Effe kt 281
235, 240 Autopoiesis 171 Anm., 214 Anm.•
Alter, soziales Kriterium 93, 119, 217
287f., 292 , 320 autor itäre Führung 282ff.
alternative Werturientierung en (so Auto rität als Statusk riterium 289f.
pattern variables)
Amb iguität barterin g 165 Anm.
• Ambiguitätstoleranz 228 , 378 beste perscn ality struct ure, Basisper-
- der Rollen 132, 378 sö nlichkeit 74
Anerkennung 28,36, 40, 105, 164f., Bedürfnisse 19,21 , 26,61 ,1 63
243,261 .268,281 ,286. 305, 319 , Befriedig ung 19. 37,107, 160,
350. 370f.,375 f., 379 227 f., 368(., 378
Anomie 26, 52, 246f., 278 Dispositione n 95 , 101, 106f., 130.
• abweic hendes Verha lten 111 149, 227f.
Sach register 419

emotionale 240, 267 face-to-face 259·262


Grund bedürfnisse 2 1, 40, 270, 28 1, Formen (patte rn variables) 93f. ,
286, 358f. 265ft.
Anlass des Handc1ns 37, 160f.• 16 3 so ziales Kapital 303
Hierarchie der Bedürfnisse 39t. als Kommunikation 83 Anm. 2, 196
künstliche, sinnlose 330 Anm . l
soziale 40 Muster, Struktur 103, 105,205 ,359
T riebbed ürfnisse, kulturelle Ein- bei Weber (Kap. 5.2) 186, 196
schrän kung (Kap. 2.2) 6 1 Anm. 1, 204 Anm.
Werte und Bed ürfnisse 26,37, 107. Wechselw irkung, Vergese llsc haf-
130,227,279 tung 187f., 325
Beeinflussung Bezugsgruppe (Kap. 6.6)
B. du rch die ander en 277, 346 Außenleitung 111, 347
soz iale B. in der Grup pe (Kap. 6.6) jugend liche 268
wec hse lseitige B. in der Interaktion Ro llenerwartu ngen 102, 114, 118,
30,85 ,88, 108,167, 196f. 122f., 128,294,364
Behav io rismus (Kap. 2.4) 28,77 ,83, Bienenfabel 165
134, 196 Bildung
- Soz ialbehavioris mus (s. d.) und sozialer Status 289 ff., 293-296,
beobachten 304-309
wec hselseitig 160,185,209,2 16, und Werte wandel 45ft.
277 ,302,344 Bildu ngsk apital 305
sic h selbst 83, 160,277,336,386 Bildungsspiel 310
als Methode 11, 83. 279f. . 355 Blick, Le hre vom zweiten 10,393
Anm. l bound ed ratio nality 174, 176,1 78
des e igenen Ich 386 Bürokratisierung, unaufhaltsame 232
Beruf und Status 289
Berufsgruppen. Herstel lung morali- calvi nistisches Gewissen 350
scher Gefühle 27 , 247ff. C hancengleich heit 87t., 104
Bewu sstse in beim Austausc h 165
fragme ntiertes 233 beim Handeln 230, 238, 3 13, 379
kollektives (s. d.) schichtspezifische Sozialisation
modernes 380 8Off.,96
Stärkung des Normbewusstseins 54 Charaktermaske 120
reflexives 340 C har isma 251 Anm .
Se lbs tbewusstsein (s. d.) Chero kee 273
sitt liches (Kap . 1.2) Code
Urbanisierung des B. 38 1 Cod es, fra mes 174, 178
Be wusstsei n der Verbu ndenheit 189 Identität als Code -Erhaltungssys tem
(s. auc h Vergese llschaftung, Bed in- (Kap. 8.5)
gung) Spracheode , elaborierter und
Beziehung, soziale 23, 160 restringierter 80f., 395
nach auße n 268t., 272t., 274t. Sprache e ines Systems 204 , 365
- im Betrieb 279 commitment 34ft., 92, 109 , 362
420 Sachregister

Definition der S ituation (s. auch T ho- ideale Form der Verständigung
mas-T heorem) (Kap.5 .9) 183
in der Interaktion 185.209, 212, Distanz
229 f., 312, 356f., des Fremden 255
institutionelle Definitio n der S ituati- zur No twendigke it, ästhetische E in-
on 173 stellung 306f.
kulturelle Definition der Situation Rollend istanz (s. d.)
360 Distinktion 305, 3 11f.
Defizith ypothese (s. Sprac he) dokume ntarische Methode der Inter-
demonstrativer Konsum. Müßiggang preta tion 223f.
(Kap. 7.3) 307,3 11 Dualität der Struktur (Kap. 4.5) 136,
Denken 22,2 6,33 4[ ,336 159, 167
im Alltag 110, 22 lf.• 314, 393 Dunkel ziffer, Nutzen der 56
bewe gliches Denken 393 dysfunktional 12 1
Erklärung des Verhaltens 83, 197,
199f., 334f. Egoism us 24f., 28, 246f.
G ruppe prägt das Denken 26 1, 277, - Natur des Mensche n 20, 57f., 6 1f.
304 • egoistischer Selbstmord 24f., 27
Muster des norm alen Denk ens 22 1, E hre
234 Mittel zur Erhalt ung de r Gruppe
Denken in natürlicher Einstellung 252 f.
2 19, 222, 314 Anm. I Geist ei ner Gruppe 245 ,252f.
selbst denken 23 Reichtum und Konsum verleihen
sozio logisches 1Of., 393 Eh re 298, 300
standortgebunden 349 Ver lust 24
w erte als Rahme n des Den kens Eigentu m
15f. Geschichte des Eigentums 297f.
Deutungen. Struktur der D. 167 • ökonomisches Kapital 303
Differenzhypothese (s. Sprache) • Statuskriterium 289
Differenzierung Eindi me nsionierung 362
der Fun ktione n 20, 342, 36 1 Einkomm en, Statuskriterium 289f.,
der Gese llschaft 47, 324 , 327, 361 294
der Identität (s. d.) 366 Einstellun g
Ind ivid ualität, Indiv iduali sierung ästhetische 305f., 308
258,364,366 Habitus, kulturelles Kapital 304
soz iale 93, 286, 28 8, 302, 304, 307 wec hselseitige 191,193ff.
stru kturelle 248, 360 Denke n in natürlicher Einstellung
des Verhaltens 34,245 219, 222,3 14
Diskrepanztheorem. Ide ntitätstheore m gemeinsa me 269, 27 1f.
130f. Wertewandel 46 , 49
Diskurs elabo rierter Code (s. Sprac he)
Demokratie als universeller Diskurs Elite, poslm aterialistisc he Werte 42
27, 32,89 Emergenz 99 ,2 14
Sac hregis ter 421

E mpathie 228, 378 Ethik, protestantisc he (s. d.)


encounter, interactio n 352 Ethnom ethodo logie (Ka p.5 .7) 159
En kulturation 35,92 Anm., 177, 183, 185, 19 3,2 14,
Entfrem du ng 227f., 230, 240
Außenleitung, Entfremd ung der Kritik 218
Iden tität 347 Ethnoze ntrismus (Kap. 6.5) 17
Identi tät und Ent fremdung 36Off. EtikeUierung 275f. (s. auch labeling
entfre mdeter Ko nsum 3 11 approach)
Kulturinhalte e ntfre mde n sic h 330 Exkl usion 218,252, 312,372
Begriff der Rolle , Entfrem dun g e xzentrische Po sitio nalitä t 125 An m.
102 , 119, I25ff.
Entzauberung 343 Fassa de, soz iale 183, 353f. , 354, 356
E rfahru nge n, typische 222 feine Unterschiede (Kap. 7.4) 293,
Erkläre n 296
Erkläre n als Bed ingun g eine r ide a- frame, framing (Kap. 4.6) 136 , 160
len Sprcchsituatio n 238 - acti on frame of refere nce 15 1
Aufgabe der So ziologie: verstehe n Freihei t
und erklä ren 14 1, 163 Belie bigkelt 390
Erwartunge n Bewährun g im sittlichen Gebot 90
Erwartun gen der Bezugsgruppe. innere Reser ve 33 1
Rollenkonfli kt 114ff., 123,228, Kultur, Einschrän kung 65 ff.
279 , 29 3f. Ordnung und Freiheit 248
generelle Erwartu ngen, der generali- Verdoppelung der Freiheit durc h
sierte A ndere 27, 30 f., 86 ästhetisch e Einstellung 306
Ide ntität als Balance sozialer Erwar- Frustratio n, Verme id ung 91, 109, 149
tungen 322, 324, 327, 340, 376f. Frustrat io nsto leranz 132
Inte ntionalitäts-, Legi tim itätserwa r- Füh ru ngsstil 282 f.
tung 237
Kompleme ntarität , Widerspruche ga me, play 29ff., 84ff., 200f., 264 ,
108, 130, 132, 150,207,2 13, 228, 336
293f. ,375 Geb urt, soziokulturelle 35
konstitu tive im Alltag 225ff, Gefu hle
Kontingenz 108, 206 sozi ale, ge meinsa me 2 1,23,54, 60,
laten te Erwartungen in e iner Gruppe 26 1,269
245,279 Grup pe, Masse 253f.. 26 1, 269
Muss-, So ll-, Kann erwartun gen 124 Herste llung moralischer Gefühle in
normati ve (K ap. 3.1) 31, 33f.,53, der Gru ppe (K ap. 6.1)
179,3 15,3 17 Interaktion 203
Roll e, normative Er wartung (Kap. Sozialisat ion 54 , 60 , 89
3.1) 10 1,121-1 24,1 28, 152 , 15 8, We rtgefühle 18
203, 205f. , 360 Gehirn wäsche 32 1
Stru ktur der Er wartunge n 167 Gehorsam
Es 63 f., 337 als Wert 45f.
Es kapism us und Anom ie 112f. - gege nübe r Normen 132, 162 f.
422 Sachregis ter

- gegenüber Werten 146, 321, 343 Grati fikationen


Geist (m ind) 83, 198, 334 Interesse a n G. als Antrieb des Han-
Geltungsansprüche beim kommunika- delns 9 1,109,1 49, 219
tiven Handel n: wahr, richtig, wahr- in T auschbezie hungen 16 3ff.
haftig 236 f., 239 Gru ndquali fikationen des Hande Ins
Gemeinschaft 132
- Bindung, Integration 23f., 246 Gruppe (Ka p. 6)
ge neralisierte Medi en [s. Med ien) Bez ugsgruppe (s. d.)
ge neralisierter Anderer 27f., 30fL, 82, Eigengruppe, Fre mdgrupp e 272
85IT.,200 f., 207, 336f., 339 Gr uppenb ewusstsein 256
Generalisierung, Verallgemeinerung peer group (s. d.)
ge neralisierte kulturelle Bi ndunge n Primärgruppe (Ka p. 6.3 ) 249
366 So lida rität (s. d.)
Lernen als G. von Reak tionen 78
ge neralisierte Ver halte nserwartun- habits (Kap.4.6) 136, 160
gen 181 ,207,2 66. 366 Habitualisierung 179
Werte als Generalisierun g des Guten Habitus 14 1, 304, 3 11
(Ka p. 1.3) Halo-Effek t 292
Generationen, Wechsel 70, 250, 341 Handeln
Geschlech t. soziales Kriteriu m 9 3. Allta gshandeln (s. d.)
118, 157, 245, 287f., 292, 353 alter native Wertorientierunge n (s.
Geschmack paue rn variables)
der feinen Leute 299, 30 1 Bestimmungsgr iinde: affektuell,
als Kriterium einer Klasse 303, trad itional, wertrationa l, zweckr ati-
307ff. onal (Kap. 4.2) 19 3
barbarischer. legitimer, mittler er, Grund qualifikatio nen (s. d.)
popul ärer, prätentiöser, reiner 304f. kommunikati ve s (s. d.)
gese llschaftliche Konstruktion der soziales (s. d.)
Wirklichkeit (s. Wirklichke it) Handeln und Strukturen 159, 202
Geste 87f., 19 6ft., 333t. Handlung, Handlungen
• Grund geste, Stil 328 action frame of reference 151
Gewohnheit (Kap. 1.2) Akteurtheo rie (s. Hand lung, ratio-
soziale, .jrabits'' 160, 175 nale Wah l) 166, 177
trad itionales Handel n 145f., 175, Defin itio n (s. Handlungsbeg riffe )
193 Folgen 174
Verhalte n, kond itio nierte G. 79 Gesellschaft besteht in Handlungen
Gleichgewicht 147f., 161,210
einer Gesellschaft 27, 38,121, 254 Haltungen als Anfän ge von Hand-
- im GUte rtausch 164 lungen 2oo f., 335
- als Kennzeichen der Identität 374 Kontingen z 206
goal attainme nt 104 A nm., 365 (s. rationale Wah l l65ff., 173-180
auch AGIL-Schem a) Strukture n bestehen in Hand lungen
136, 159, 170ff.
Sachregister 423

Struktur funktionalismus 33, 103, impulsives 337 f., 340 (s. auch I)
lOS, 148ff., 202 , 204 re flektiertes 87, 338 ff (s. auch me)
symbolischer Interaktionism us 185, Ich-Identität (Kap. 8.7) 324,340,
209· 213 368,373
Handlungsa lternativen 191, 198 (s. Ich-Qualit ät ode r Grundhaltung 367
auch pattern variables) Ich-Stärke 368
Handlungsbegriffe, vier (Kap. 4.7) ideale Sprechsituation 238f.
Handlungsfolgen. intendierte, nich t- Idealisierungen
intend ierte 135, 167, 174,209 "ich kann imme r wieder", ..und so
Anm . I weiter" 175f., 225f. , 313 Anm.
Handlungsorientierungen (s. pattem Kongru enz der Rele vanzsys teme.
variab les) Vertau schba rkeit der Standpunkte
Handlun gssituation 226, 235,313 Arun. [s. auch Per-
besti mmen 151f., 158 spektiven, Generahh ese]
Deutung, Verständi gu ng 182,230 Konti nuität, Wiederholbarkeit 225
frami ng (s. d.] 177 Idealtypus 147
Prinzip , generalisierter Anderer 201 Identifikation, Identifizieru ng
Sinn verleihen 138 Bedü rfnis des Jugendlichen 375f.
Strukturierung 171, 177 des Individuums durch andere 338 f.
Il andl ungssystem mit der Grupp e 35,55, 114, 259,
allgemeines 148 27 1,277,37 1 (s. auch Bezugsgrup-
• Struktur [s. Struktur, sozial e) pe)
- Subsysteme (s. d.) Identität, sich mit anderen identifi-
Hand lungstheorie (Kap . 4.4 ) (s. auch zieren und sich ident ifizieren lassen
Hand1ungsbegriffe, vier) 37Of.
Akteurt heorien [s. d.) mit der Mutter 94
interaktionisrische 98, 199 mit de m Vater 64,94
kommunikati ves Handeln [s. d.) Entide ntifiaienmg 32 1
231 Identität (Kap. 8)
stru kturfunktionalistisc he 135, 149, biographische Ident ität, fort laufende
151, 198 Konstrukt ion 321
Hawthome-Studie 279 Definition en 320,322, 382f.
Hedonismus 44 einzigartig und norma l 317 Anm.,
herrsc hafts freie Sprechsituation 239 323,358
homo dupl ex 61, 65, 92 Arun. ide ntitätsfördernde Fähigkeiten 228,
homo homini lupus 66 407f.
homo oeconomicus 174 Funktionsbegriff, Struktur begriff
homo sociologicus (Kap. 3.3) 102, 365
120ff., 126, 158, 175 gelun gene 324
human relation s 279 Ich-Identität (s. d.)
im Lebenszyklus (Ka p. 8.6)
I 337f., 340, 378 (s. auch Ich, impul- mode m e Identität: offen, d ifferen-
sives) z iert, reflexiv, ind ividuiert (Ka p.
Ich 8.8)
·2. Sachregister

sich selbst Obj ekt sein 336 Innovation und Anc mie 53, 112
persönliche 28, 373, 376, 378 Instinkte
rigide 48, 387 erlerntes Verhalten 79
soziale (Kap. 7.5) 28, 319, 338, Kultur ist Instinktrepression 74
358 f. Kultur als Kompensation für In-
Kontinuität über Statusü bergänge stinkte 125
hinweg 320 Institutionen
virtuelle 315f. Gestalt gewordcne Norme n 5 1
funktionale r Wandel 48 Netzwerke von Handlungen 213
Identitätskr ise (Kap. 8.8) 323 organisierte Haltungen 87, 89
• permanente Krise 385 soziale Tatsachen 20ff., 169, 184
Identitätstheorem. Diskrepanztheorem kulturelles System 106, 360
13üff. totale 32 1, 349
impression man ageme nt 348,350,352 überformen die Natur des Menschen
Index, Indexikalität, Indiz es 223 7.
indexi kale Äußerungen 223f. Integration
- entindexikahs iere n 224 einer Gemeinschaft 24f., 246ff.
- Sta tusindex (5. d.} gese llscha ftliche 54, 147
Individualisierung 13 normative (s. d.)
als Ausdru ck der Individualität 62, Grundfunktion des Systems 104
252, 258,364,366 Anm., 365 (s. auch AGIL-Schema)
als Vereinzelung 13,375 Integrationstheorem, Repressionstheo-
Individualismus, methodelogischer (5. rem 130fT.
d.) Integrationstheorie 120f. (s. auch
individualistische Theorien des Han- Integrationstheorem)
delns 16Of. intendierte, nicht-intendierte Hand-
Individualität lungsfolgen [s. d.)
Anspruch 325,386 Intentionalitätserwartung 237
in der arbeitsteilige n Gesellschaft Interaktion (Kap. 5)
62 Definition 184
Auße nle itung 346 encounter 352
gegenüber sozialen Erwartungen gelingende (Kap. 5.8) 107,1 84,
und Ro llen 96,100,11 9, 131 186,200[, 2 19-226, 234
großstädtische Individualität 327, bei Go ffman 352[
330-333 als Interpretation 98, 182,1 85, 209,
in der Gruppe 19 1, 255-258 213
individuelles Gesetz , Tragödie der fortlaufende Kommunikation, wech-
Kultur 326, 328f. selse itiges Handeln 196, 2 10
im Schnittpunkt sozialer Kreise kommunikatives Handeln (s. d.)
258, 323 ,326ff. 230,235
individuelles Gesetz (Kap . 8.1) 323 Rollenübernalune 27 f., 88
Initiation 72ff. soziale Beziehung 194
Inklusion 216ff., 252, 372 soziales Handeln (s. d.) 133, 143,
Innenleitung 110f., 343, 345ff., 350 180,1 86, 192[ , 203
Sachregister 425

soziale Systeme als stabile Muster der Systeme und Rollen erschwert
von Interaktionen 158 Identität 36 1f., 365, 382
symbolische (s. d.) Konflikt
symmetrische 230, 238 Individuum und Gesellschaft 121
Thema, Typenprogramm (s. d.) Kemkonflikte nach Erikson 367·
mit unsichtbaren Dritten 213,280, 313
356 der modernen Kultur 329
Interesse an Verständigung 230f., Ödipus-Konflikt (s. d.)
240 Prinzip des Sozialen 121
Interaktionsmedien 205 Rollenkonflikt (5. d.)
Interaktionssysteme (Kap. 5.6) 185, Vater, Sohn 64, 68, 70f., 94
202f., 36 1, 363 Konflikttheorie 121, 214
Interdependenz Konformität
• der Akteure 135, 167, 174 Demonstration eines neuen Status
- der Institutionen 128 296
Internalisierung 53, 6 If., 9 1f., 95, 109, Verhaltensform 112
13 1, 147 Konformitätstheorem 13 1r;
Interpretation Konkurrenz
- dokumentarische Methode (s. d.) der Interessen und Ziele 149f., 16 1,
- als Interaktion (s. Interaktion) 166, 188, 246, 256f., 346
interpretatives Paradigma 11, 185, 218 zwischen Gruppen 255f., 272, 274
Inzesttabu 93f. äußere K., Tendenz der Gruppe zur
Konservierung ihrer Form 255f.
Kapitalsorten: Bildungskapital, kultu- Konfiguration, Form sozialer Bezie-
relles, ökonomisches, soziales 303f. hung 188, 194, 325
Klassenbewusstsein , Klassen- im Wechsel der Generationen 69f.
Unbewusstsein 3 12 Natur des Menschen
Klassengesellschaft 303f., 3 12 Konsens
Klassenkampf, kultureller 303, 305, • ÜberschälZUng des 2 12Anm.
3 11 • wahrer und falscher 239
Kollektivbewusstsein 21, 50, 54, 62, Konsum 44, 126, 233, 311, 344
233, 278 - demonstrativer (Kap. 7.3) 307,3 1I
Kolonialisierung der Lebensweit 233f. Kontingenz (Kap. 5.4) 108, 139, 238
Kommunikation [s. auch Erwartungen)
unter Anwesenden (Kap. 5.6) • doppelte Kontingenz 108, 206
• bei Mead 27, 32, 83, 87fT.,.I 96-200, Kontrolle
333 Ausdruckskontrolle 355
kommunikatives Handeln (Kap. 5.9) äußere, innere 53
180, 182f., 186 in der Gruppe 249,258,26 1, 270
• Geltungsansprüche (s. d.) des Handeins 90, 123, 131, 205,
Komplexität 320,339,365
Kontingenz 139 Kontrollhierarchie der Systeme 33,
Reduktion 138fT.,215 (5. auch 364
Sinn, Reduktion) Macht als K. der Ressourcen 166
426 Sachregister

Selbstkontrolle 335,339 latent patte rn rnaintenance 104 Anm.,


soziale 89,95, 148, 318 365 [s. auch AGIL-Schema; Struk-
sinkende soziale K. 23, 26, 258, turerhaltung)
JJ I Laufbahn, soziale 320
wechselseitige in der Interaktion 88, law offashion, law of opinion or repu-
335,339 tauen 277,345
Konversion 32 1 Lebensführung
Kreise, soziale (Kap.8.1) 189f., 258 , angemessene 278,33 1,376
323,366, 389 rationale 16, 370
Krisenexperimente (Ga rfinkeI) 172, ständische 297
21S, 220-224 und Status 297
Kultur Lebensstil 303,306 (s. auch Stilisie-
Abstand, außerhalb der Piste 310f. rung des Lebens)
Auslegung nach einem gemeinsa- Lebenswe lt
men S inn 151 Kolcmalisierung (s. d.)
zu ernst nehme n 3 10 Mensch als Konstrukteur seiner L
individuelle 326f.,330f. 98
Instinkte (s. d.) Pluralisierung 380ff., 384
Krise, Wertewandel 42f. Rationalität zerstört die L 233f.
Konflikt, Ges amtnot 329 Legitimität serwartung 237
legitime 306, 308ff. Leistung
objektive 323, 326, 329f., 332 Orientierun gsalternat ive 153f.,
und Persönlichkeit 74f.• 101. 105. 157f.
109,287, 362, 364 Statuskriterium (Kap. 7. 1)
räuberische 299 Status, Zuschreibung ode r Leistung
System von Symbolen 37, 43, 148, (Kap. 7.1) 153f.,1 57f.
150, 204 Lernen
Tragödie der Kultur 325f.,329f. - in der Umwelt (Kap. 2.4)
bede utet Triebverzicht, Einschrä n- Lerntheorie 134
kung individue ller Freiheit 65ff. rationa l choice 135,163,165
Kulturanthropologie. Sozialisation - Sozialbehaviorismus 82
(Kap. 2.3) - Sozialisation (Kap. 2.4) 58, 89
kulture lles Kapital (5. Kapitalsorten) looking-glass self 313
kulturelles System 33, 35, 103fT., 109,
118, 148,1 5 1, 158, 360 Macht
Institutionen 106 die Macht der anderen 110, 34 1
Zweifel an der Norma nvit ät 111, Definitionsmacht 3 16
162, 2 10, 364 Erfahrung der Macht in der Fam ilie
kulturelle Ziele (5. Ziele) 93
Kulturinhalte, obje ktiver Geist 329f. Macht der Gemeinschaft gegen dic
des Einzelnen 65f.
labeling app roach 276 (5. auch Etiket- der Institutionen 58
tierung) Interaktionsmcdium 47,205
Kontrolle der Ressourcen 166
Sac hreg ister 427

Machtdifferen tial 274 ff. Gruppe als Quelle der Moral 248f.•
Macht ver hält nisse 12 1. 127 259 . 261
Erk lärung gese llsc haftlicher O rd- moralische Ge fühle (Kap. 6 . 1), 26 1
nung 149 moralische Se ite des Menschen 6 1f.
Status 289. 29 1f.. 298 Kollekti vbe wusstsein 2 1.51
Cha nce der Strukturierung 170 f. mora lisc he Regel n 22. 51 . 124
Mangel hypothese (s. Wenewa ndel) Moralphilosophie. schott ische l 60 f.•
Ma ske 120 . 318. 35 1f. 277 . 345
Massen med ien 344. 38 1 Moralw issen schaften 5 1
me 87.337-3 40.378 (s. auc h Ich. Motivation
reflekti ertes) und Handel n 89 .95. 105. 157.
- Ged äch tnisbild des Ich 338 203f.• 363
Med ien Soz ialisat ion. Herstellung fu nkt io na-
abs trakte. generalis ierte 47. 204 f.• ler M . (Kap. 2.6) 59. 109 . 360
364 T heor ie der Motivatio nsprozesse
Interaktio nsmed ien 205 9 1f.. 109f.
Methoden. pr aktische im Alltag 220 f. Motive des H andel ns (s. Handel n.
me thodelogischer Individualismus 12 . Be stimm ungsgründe)
135. 159 . 168. 173 M üßiggang. de monstra ti ver (Kap . 7.3 )
M ilieu 307.3 11
Lern e n. Sozi alisation 78ff.
Beru fsgruppe n als moralische s 247 Narz issmus der kle inen D ifferenzen
Verwiesensein au f ei n soziales Mi- 274
lieu 190 normal, No rmalität
mind 334 d urchsc hnittlic hes Ver halte n 22
M ittel . institutionalisierte 112f.• 173 Normale und Diskred itierte 3 16f.•
Anm. 350
Mode Einzigart igke it und Normalität 323 .
• law o ffas hio n 277 358
- Statussymbo le 295 norm ale Erwartu ngen. typ ische
Mod erne No rma lität 222f.. 3 13ft.. 378
Identität in der Mod erne (Kap . 8.8) Gewohn heit 175
323.330 .359.364.390 Identität (s . d .)
Individualität 327.330. 332 f. Normalitäts annahmen im Alltag
krit isch e T heori e 232 f. 220f.
Ko nflikt de r modernen Ku ltur (s. Schei nnorma lität 317 Anm.• 358 f.•
Kultur. Konflikt) 378 (s. auch phanto m normaley)
Po stmoderne (s. d.) normative Erw artungen (s. Erwart un-
Rationalisierung. Versachlichung, gen)
Öko no mie 232.247. 262.30 2 nor mative Integrat ion (Ka p. 1.8) 101.
Sozi alc harakter. Außen leitun g 110. 147. 201
30 1,324 . 340f.. 344. 347 . 350 normative Muster 36. 106 . 108. 150 f.
Mora l nor matives Parad igma 11. 158.1 85 .
• Arbeits mora l 2 83f. 207
428 Sachregister

Normen (Kap. I, 1.7) Persön lichke it


- partikulare. allgemeine 51 Basispersönli chk eit (s. basic per so-
- regulative Funktion 104 nality)
No rmie rung, soz iale 12 1,245 Charakter , Person 35 1
Nonnkonformität 16 , 55 , 206 [s. auch homo dup lex (s. d .)
Konfor m ität) pe rso nale Identität 373
nursery of human nature 259f. Persönlichkei tsstru ktur
• Primärgruppen (Kap. 6. 3) Formun g durch die Kultur 74
Nutzen, Hand lungsinteresse (Ka p. 4.4 , • Sozialisation, Intern alis ierung,
4.6) 181,291 We rtsystem 90f.
ratio nale Wahl 135, 164, 173-176 , Persö nlichkeitssyste m 33,35,38. 90,
179, 291 103, 105 , 109, 148 ,1 51 , 364 , 366
rela tiver 161 Perspektive n
Utilitarism us 149, 16 1 Gen eralth ese der wec hse lseitigen
Perspe ktiven 22 5f.. 3 13 Anm. 2
objektive Kultur Ver schr änku ng (s. d.)
Individuum bleibt zurüc k 330 Phänom enologie 97 , 159 Anm. , 193.
- Überwuchern der objektiven Ku ltur 2 19
323,332 pha ntom normalcy , umqueness 358 f.,
ödipale Beziehun g, Öd ipuskonfli kt 378
64f. , 71 , 93 play, game 29 ff., 84 ff., 200f., 264 ,
Öd ipuskomplex 68r., 72 33.
Z weifel an der Uni ver sali tät 68 , P lazierun g 290
71f. in de r Gru ppe 267
Op timum , soz iales 167 im soz ialen Raum 285 f., 293, 304
Optionen 386f. Status. Position 2 86,290,292, 304 ,
Pluralisierung 325.375,38 1, 386f. 328
• strukturell vorsortiert 173 P luralisierung, P luralität 375
• Rollen 111,347, 357, 381 Rollenplurali smus 324, 360f., 363 f.,
Ordnung 384
symbolisc he 150 (s. auch kultu rel- der sozialen Welte n 380-3 84
les Syste m) der Werte 4 8, 52,375
Theorie der Ordnung 103 der W irkl ichkeit 386
Unord nung 111, 15 8. 222 Position
or ganismi sches System (s. Sys te m) Allok ation und Sele ktion 95
Or ientieru ngsaltem at ive n (s. pattern ..positionsbedingtes E lend" 312
variables) Erwart unge n 119
Position und Rolle 10 1, 103, 114,
P aradigm a, interp retatives , normati ves 117 , 119. 123, 290
(s. d.) im sozialen Raum 304
panem variables 15 1, 157f., 265 (s . Status, be wertete Position 203, 290
a uch Wertorien tierun gen) po stmaterialistische Werte (s. Werte)
peer group (Kap. 6 .4) 46 , 94,345 Po stmode rne 325 . 374 . 390
Sac hreg ister 429

Potlaich 30 1 Rollenhandeln , erfol greiches 107


Pragmatismus 196 Rollenkompeten z 131
Prestige Rollenkonflikt 102,107, 115ff. , 132,
R ücksicht auf das Prestige 62 , 302 293
- sozialer Stat us 285 , 294f., 298-30 1, - Interrollenkonflikt U5ff.
311f. • Intrarollcnkonflikt 115f.
Primärgruppe (Ka p. 6.3) 249 Rolle n-Set (Kap. 3.2) 293
protestant ische Ethik 16, 4 1, 44 , 232 , Ro llentheor ie (Kap. 3) 181f.,206
343 Annahmen über d as Ge linge n von
Roll enhandeln und Interaktion 107,
ratio nal choice, ratio na le Wahl (Kap. 129ff.
4.4 ,4.6) 135f., 165f., 174 Kritik (K ap. 3.4) 110, 158f., 207 ,
R ational ität 227f.. 376
beg renzte (s . bounded rationali ty) Roll enUbern ahm e 84,88, 129, 199 ,
als Prinzip des Handelns 145. 164f.• 2 11.234
17 3ff. {s. auch ratio na le Wahl) Bed ingung der Identität 334f.,
der Verständ igung 232 338f.,384
Z wec kratio nali tät zerstört die Le- kalkul ierte Wirk ung 349
benswelt 23 1ff.
Raum, so zia ler 304,3 12 Sanktione n
Rebelli on und Anomie 112f. Arte n vo n San ktione n 124
Recht Einh a ltun g der Nor men 15, 22, 3 1,
ge neralisiertes Medi um 47 36,53, 55 f., 122
individue lle Rech te 386 Erklärun g des Ro llen verhaltens
obj ektives Gebi lde 326 102 , 106. 119 , 122-126 , 147f.
positives Rech t 5 1 strafende Normen notwen dig für das
Relevanzsysteme. Kongr uenz (s. Idea - Nor mbe wuss tse in 54f.
lisierung) Schic ht, Sc hichtung
Repression stheo re m, Integratio nstheo - De finitio nsma ch t der Schich ten 27 6
rem 130f. Indizes, Kriterien, Ska la 289 f.
Resoz ialisation, neue Identi tät 32 1 Kernk omp lex und soz iale Sch icht
Ressou rcen , Ko ntrolle (s. Macht) 68t.
rest r ingierter Code (s. Sprac he) schlchtspezi fische Soz ialisat io n
R itualism us und Anom ie 112 f. 80t., 96 , 263
role-making, role-takin g 131 , 21 1, Bildung, Wertew andel . Soz ial-
229 (s. auch Rolle nübernah me) schicht 46
Rolle (Kap. 3) schichtspezifisc he Ziele und Mittel
Defi nition 104f., 122 114
expressive, instrumentelle 94 Stat us, Prest ige, Sch ichtungssystem
norm ati ve Erw artung (K ap. 3 .1) 289t., 294 , 296
Repr ession. Zw ang 125.1 30 schott ische Mora lphi losophie 16Of.,
Rollend istanz 131, 133.228, 356-359 , 277 , 34 5
378
430 Sach register

Sel bst Sitte


Bewusstsein des Se lbst, sich mit den - Lockerung der Sitten 44
Auge n des anderen sehen 335f.,340 - objektives Gebilde 326
(s. auc h se it) Situation, Definition de r (s. Definiti-
Ich-Identität 324,340 0 0)
Ste ige rung und Überhöhung 43 socialisatio n merhodiq ue (Kap. 2.1)
Sel bstbew usstsei n So lidarität
Ringe n um Se lbstbe wuss the it und Form der Wechse lwirkungen 325
Anerkennung 37 1 Gffuppe 190, 26 1, 267, 269. 280
der Autodid akte n 308 or ganische 20
Ansehen in de r Gruppe 27 1 Gef uh1 der Verbundenheit 20,
Se lbstdarstellung, Anspruch 132 , 239 246f.• 26 1
Sel bstentfalt ung (Kap . 1.6) Sozialbehaviorismus 28. 82 f., 89. 196
Sel bstmord 22 ff., 52, 246 Sozi alchara kter. moder ner 110, 340f.
- altruistischer, anom ischer, ego isti- soziale Str uktur
scher, fatalistischer 24-27 dre i Arten; Deutungen, Erwa rtun-
Selbstsozialisation 80, 97 gen, Ko nstellation 167
Se lektion Beziehungsmuster zwisc hen Han-
Allokatio n und Sele ktion 95 delnden 105, 135
und Handel n 138ff., 177, 229 System vo n Erwartungsmustern 36
von Hand lungsmöglichkeite n 166 , Ergebnis und Bedingung des Han-
170f., 173, 177. 223, 229 delns 98. 16lf., 165, 167f., 171
Reduktion von Kom ple xität 139 f. Handlungsmöglichkeiten 135, 159
in der Schule 95 Institutionalis ien mg e iner sozialen
Selbstselekt io n und Grenzziehung Struktur 99
des Systems 2 15 Prozess 98,165.1 7 1
self soz iales Handel n (Kap . 4) 186. 192-
Identität 340 (s. auch Selbs t, Be- 195,208,349
wusstsein) - Interaktio n 143. 180. 193
loo king-glass sel f 3 13 so ziales System 103
self-conscious ness 335 Elemente des soziale n Syste ms: Si-
the mask is our truer sel f 35 1 tuaticn. Jndividuen. Hand lung, sym-
self-fulfilling prophecy 209 Anm. I, bolisc hes System, soziale Ro llen
275 202-205
signifi kante Andere 29f.• 84, 86. 200 , Ausbildun g als Ir ueraktions-, Orga-
340 nisations- und Gesellschaftssysteme
sig nifikante Symbole (s. Symbole) 2 15
Sinn Orientierungs alternativen 15 3, 158
Orien tierun g am ge meinten 140 ff., Stru ktur, Rolle n. Ordn ung der Be-
144, 186. 19 1ff., 195 , 349 ziehung en 33. 105ff. . 109 . 205, 360
sich den S inn des Handeins wech- typische Sp rache, Code von Nor men
selse itig anze igen 208 204
als Reduktion von Ko mplexität Sys tem der Hand lunge n 33f. ,
138f. 103ff.. 148. 151. 158,202, 364
Sac hreg ister 431

- Werte 34f..3 8 Status (Kap. 7)


Soziali sation (Ka p. 2) Definition 103
Definition 57 Differen zierung nach Alter, Ge-
Enkulturation (s. d.) schlecht, Herkunft 288, 292
freiwill ige Bi ndun g und Zustim- Initiatio n als Übergang 72f.
mung 58.9 1, 95, llOf., 147, 360 bewertete Positio n 203. 286,290,
(s. auch voluntaristische T heo rie) 294
Herstellung von Mot ivation 59, Rolle, d ynamischer Aspek t des
89 ff., 95, 109 Status 114, 120, 287
Internalisierun g von Werte n und soziale Identität 314,3 16,3 18
Normen (s. Intern alisierun g) Inkonsistenz (Ka p. 7.2)
Kommunikat io n zwisc hen de m Ind i- Index, Kriterien (Kap . 7.2) 288
viduum und dem gene ralisierte n An- Kampf um de n Stat us 303, 305-30 8
dere n 86f. Stand, stä nd ische Le bensführ ung
Kulturanthropologie (Kap. 2.3) 58 297
Le rntheorie (Kap. 2.4 ) 58 Statusset 293
methodische, sociafisation methodi- T ransformation der Statusarten
que (Kap. 2. 1) 58 (Kap. 7.6)
Verankerung der Norme n 53,56 zugeschrieben oder erworbe n auf-
in de r peer group (Kap. 6.4) 46 grund von Leistung 94, 267, 287f.,
Phasen 93f. 3 16
primäre 93 Statussymbo le, Saniszeic hen (Kap.
Psychoana lyse (Kap . 2.2) 7.2) 44,297-30 1. 303. 310-3 13. 35 3
Lerne n von Rollen 89, 92, 95f., Statuszwan g (Ka p. 7.6)
101,107, 100ff., 360. 362 Stigma (Ka p. 7.5) 350,358
schichtens pez ifisc he 80f. - Stigmatisie rung der Außense iter
Schule: Soz ialisation und Allokation 275
95 Stilisierung des Lebens 297 ,306
Se1bstsozial isat ion , produktive Ver- Strafe, soziale Funkti on 54ff.
arbe itung der Reali tät (Ka p. 2.7) 97 Struktur
Strukturfu nktionalismus (Kap. 2.6) der Deutungen , Er wartun gen, Kon-
59 ste llation 167
Soz ialisationshypothese (s. Werte- Dualität der Stru ktur (s. d.)
wandel) 40f. Persönlich keitsstruktur [s. d.)
Soz io logie, Definition 9, 392 soz iale (s. d.)
soziologisc hes Denken 1Of., 392f. Stru kturerhaltung
Sprache Grund funktionen der S. 365 (s.
Deflzit-. Differen zhypoth e se 81 auch AGIL-Sche ma)
- elaborierter. restringierter Code 80 f. Persönlichkeitssystem. Identität 365
- generalisiertes Medium 204f. Sozialsystem , Werte. pattern variab-
Sprechakte, Sprec hhandlungen 235 les 104. 158
St andardisierung des Lebens 232f., Stru kturf unktiona lismus. strukturfunk-
386 tionalistisch 33, 38, 96. 135, 266
4 32 Sac hreg ister

Strukturierung Sympa thie


durch Definition der Situatio n - positive Sa nktio n 124
209f., 313 - Bed ingu ng e ines Wir-Ge füh ls 259
du atity of str ucture (Kap. 4.5) 136 System
des Handeins durch Normen, panern allgemeines Hand lungssystem 148
variables 148, 152, 3 14 kulturelles (s. d.)
de s Handeins dur ch Strukturen 136, organi sm ische s 148
159,I 72f. Per sönli chkeitssystem (05. d.)
durch Handeln 136, 17()'174, 177 soz iales (05. d .)
(s. auch framin g) symbo lisches (05. kulturell es
Theorie der S. 159, 168, 170f., 177 System ; System, symbo lic syste m)
Strukturkompone nte n des so zialen S ystem funk tione n (05. AGIL-Schema;
Systems 34, 104, 106 Strukturerh altun g)
S ubjek tivitä t Sys temtheo rie 162,1 73, 187 ,20 3,
- Dar ste llun g 18 1 233·235, 238
- Er fahrun g 384 ff.
Sublimierung 65, 370 T atsachen, soz iale
Subsysteme 34, 47, 232f. Normen , Vor ste llun gen des Richti-
- des allgemeinen Handlungssystems ge n 20ff., 6 1, 201
148 Institu tion en 20,22, 169, 184 , 260
Sy mbole Z wang 6 1f.
Definition 88, 198, 334 Tau sch 20 , 142, 164 (05. auch Aus-
grup penbi lde ndes Prinzip 188, 25 1 tausc h)
Komm unikation, wechselseitiges als soziale Bezi ehu ng 194
Verstehen 195f., 199, 201,209,234 gerechter Tausch (Kap.4.4) 135
entstehen aus wechselseit igen Reak - T auschverhä ltnisse 128
tionen 32 , 83, 209 T hema ein er Inter akti on 2 15f.
signifikante 83,88, 198, 208, 334, Tho mas-T heorem 209 , 312 (05. auch
336f. Defi nition der Situation)
Statussymbole (s. d.) tota le Institution 32 1, 349
symbolic sys tem, Ku ltur, We rte 37, Tradi tion sleitun g 34 1f.
43, 103, 148, 150f., 202, 204 T ransaktionen , sy mbo lische (Kap .
symbo lisc h ge neralisierte Med ien 4.4 )
364 Triebe
symbolisc he Interaktion 183f., (Kap. Ausl ösu ng ei ner Wech selwirkung
5.5) , 2 19, 227f., 230 187
Symbolisc her Interakt ioni smu s 159 eg oistisc he 5 8. 62 (05. auch homo
An m., 183, 185 , 196, 20 8-2 14, 227, d uplex)
230 .260 Ei nsc hränkung der T riebbedürfnisse
Einfluss auf Soz ialisa tionstheo rie (Kap. 2.2) (62-6 8)
97-100 T ugend . Gr undstärke des Ich 367 ff.,
Kritik 99 372 f.
symbolische T ransaktion (Ka p. 4.4) Type nprogramm ei ner Interaktion
2 15ff.
Sac hregister 433

Typisierun g des Alltags 222f., 225f., Versch ränkun g der Perspektiven


314 (Kap. 5.3) 28, 3 lf., 88, 194 Anm .,
264,335
Ober-Ich (Ka p. 2.2) 93 Verstehen
re flektiertes Ich, me 339 im Alltag 220, 222 f., 225 f.. 228
- fle xibles Über-Ich 132 als wechselse itige Interpretation
- feste Wertbindu ng 109, 362 195, 198f., 20 1, 209, 21 1f.. 334f.,
übersozialisiertes Mensche nbild 95 378
Umwelt de utend vers tehen, ursächlich erklä-
Behaviorism us, Lemtheorie (Kap . re n 14 1, 163
2.4) 58 Sinn vers tehen 134f., 193,195, 335
prod uktive Verarbeitung 98ff. Verh alten verstehen 195
Sozialbeha viorismus 28, 82f. Vers uch und Irr tum 78,13 8
U ntersc hiede, feine (Kap. 7.4) 296, voluntaristische Theorie 9 1
305 Anm.
Ur banisie rurig des Bewusstseins 38 1 Wahl
Urvertraue n 368 ratio nale (s. ratio nale Wahl , rational
Utilitarismus 149, 161 c hoice)
T heorie der Wahl (Kap. 4.4 , 4.6)
Vater Wahrheit wisse n, wenige r fröhlich sein
- So hn, Konfli kt 70 392
Verallgeme ineru ng w echselwirkeng 186,191,1 94,237,
des anderen 190 250
- der Situatio n 198 Formen 256, 325
- der Ziele des HandeIns 109,207 und Vergesell schaft ung (Kap. 5. 1)
Verbundenhe it (s. Bewu sstse in de r V.) 325
Verd inglich ung der Verh altensweisen Weltanschauun gen kein Produk t des
128, 130 Erfahrungswisse ns 17
Verge sellscha ftung Wertbi ndun g 32, 104, 109 , 362 (s.
Individuum P rodukt und Prod uzent auch co mmitment)
de r V. 328, 330 - Wert bildung 32
Sprac he als Med ium de r V. 235 Werte (Kap. 1)
Bed ingun g: Be wusstsein de r Ver- Definitio n 15, 35f., 37f.
bunde nheit 189 kulturell e 38, 92, 135, 151,1 58
Wechse lwirkun g und V. (Kap. 5.1) materialistische, postmaterialistische
186 (Kap. 1.5) 45,47
Verhalte n St rukturkomponente ei ner Gese ll-
Lern en von Ver hal ten (Kap. 4.1) schaft 33
indi vid ualistisc he T heo rien des Vorstellu ngen einer erstreben swer-
Verhaltens (Ka p. 4.4 ) ten Ges ellschaft 33
soz iale Organisation des Ver haltens wertvoll: Bedeutung beimessen und
(Kap. 2.5) bege hren 18
Verkettu ng 2 12f. Wertesynthe se (Kap. 1.6)
434 Sac hregis ter

Wertesystem (s. kulturelles Sys te m) Ziele


Wertew andel (Kap . 1.5. 1.6) Differenz zwischen kulturellen Zie-
- Mangelhypothese , Soz ialisations- len und instit utionali sierten Mitt eln
hypothese 40f. 11l · 1l 4
Wertfreiheit 127f. kulturelle 112f., 17 3 Anm .
Wert orie ntierun gen, alternative (Kap. strukture lle Verall gem einerun g der
4.3) 135, 182 (5. auch pattern van- Z ie le 109, 207
ables) Zuschreibung
wertrationa les Handeln (5. Hand eln , e iner Iden tität 315f., 319, 357, 375,
Bestimmungsgründe) 377
Wirklichkeit, gese llschaftliche Kon- und Leistu ng (Kap. 7 .1) 157 , 267,
struktion 96, 383 , 392 290
W issen Orientierungsaltern ative 153f., 158,
im Alilag 174f., I77, 2 19-222, 235 29 1
(5. auch Allta gswi ssen) ein es Status {Kap. 7.1 ) 290 ,292,
kulturelles Kapital 303 , 308f. 305, 316,3 19 f.
objekt iviertes 53f. Z wang
praktisches 172 des besse ren Argume nts 2 38
Rezeplwissen 175f. Gesell schaft als Z wang 12 1,149 ,
soz iologische s Wissen investieren 170, 360
393 Kultur als Zwang 329
mehr wissen, etwas weniger fröhlich öko no mischer 306
392 Zwa ngsc hara kter der Rolle (s. Rol-
WUnsche, vier 286 le) 123, 125 , 130
Statuszwa ng (s. d .)
Ze ichen 87f., 196ff., 333f. der sozialen Tatsachen 6 1f.
- soziale Ze iche n (5. St igma) z weckrational es Handeln (s. Hand eln,
Bestimmungsgründe) 149, 174f.,
182,193,23 1-234

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