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Herausgeber:
Heinz Abels, Werner Fuchs-Heinritz
Wieland Jäger, Uwe Schimank
Die Reihe „Hagener Studientexte zur Soziologie“ will eine größere Öffentlichkeit für The-
men, Theorien und Perspektiven der Soziologie interessieren. Die Reihe ist dem Anspruch
und der langen Erfahrung der Soziologie an der FernUniversität Hagen verpflichtet. Der
Anspruch ist, sowohl in soziologische Fragestellungen einzuführen als auch differenzierte
Diskussionen zusammenzufassen. In jedem Fall soll dabei die Breite des Spektrums der
soziologischen Diskussion in Deutschland und darüber hinaus repräsentiert werden. Die
meisten Studientexte sind über viele Jahre in der Lehre erprobt. Alle Studientexte sind so
konzipiert, dass sie mit einer verständlichen Sprache und mit einer unaufdringlichen, aber
lenkenden Didaktik zum eigenen Studium anregen und für eine wissenschaftliche Weiter-
bildung auch außerhalb einer Hochschule motivieren.
Heinz Abels
Einführung in
die Soziologie
Band 2: Die Individuen
in ihrer Gesellschaft
4. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
.
.
4. Auflage 2009
7 Status 285
7.1 Linton: Zuschreibung und Leistung 287
7.2 Statuskriterien, Statusinkonsistenz, Statussymbole 289
7.3 Veblen: Demonstrativer Müßiggang und Konsum der 297
feinen Leute
7.4 Bourdieu: Die feinen Unterschiede 303
7.5 Goffman: Stigma und soziale Identität 312
7.6 Strauss: Statuszwang und Transformation von Status- 3 18
arten
8 Identität 322
8. 1 Simmel: Kreuzung sozialer Kreise und individuelles 325
Gesetz
8.2 Mead: Identität - sich mit den Augen des anderen sehen 333
8.3 Riesman: Außenleitung 34 1
8.4 Goffman: Wir alle spielen Theater 348
8.5 Parsons: Individuelles Code-Erhaltungssystem 360
8.6 Erikson: Identität im Lebenszyklus 367
8.7 Krappmann: Ich-Identität als Balance 376
8.8 Berger, Berger, Kellner: Krise der modemen Identität 380
8.9 Identität - ein relativer Standpunkt 387
9 Unversöhnlich 392
Sa chregisler 4 18
Vorw or t
Für alle Fälle habe ich die Hauptthemen der Gliederung aus Band 1 hier in das
Register übernommen.
10 Vorwort
glauben. Das gelingt am besten, wenn man in Ruhe mitdenkt. Werm ich
also imm er wieder Beispiele bringe, dann sollten Sie nicht das Tempo
erhöhen und sagen "klar, kenn' ich!'', sondern nachdenken, welches
Beispiel Ihnen dazu einfällt. Wenn Ihnen eins einfallt, das meine ÜberM
legungen oder die der anderen Soziologen widerlegt, umso besser.
Dann beginnt soziologisches Denken zu wirken ! Soziologie hat etwas
mit Irritation zu tun - und vor allem: mit dem Mut, sich des eigenen
Verstandes zu bedienen. Beim ersten beginnt Theorie, beim zweiten -
so hoffe ich - Praxis.
Jetzt zum Thema dieses zweiten Bandes. Wie sich das Individuum
als Mitglied von Gesellschaft erfahrt, das interessiert hin und wieder
auch den Mann auf der Straße, vor allem immer dann, wenn es ihm
nicht gut geht. Dann lamentiert er über die Verhältnisse ("Was sind das
bloß für Zeiten"!"), vermisst Freundlichkeit und Zuwendung ("Die an-
deren denken nur noch an sich!") oder fühlt sich von den anderen nicht
verstanden. Doch anders als der Mann auf der Straße, der sich oft nur
dann, wenn ihm seine "Betroffenheit" auf die Seele fallt, zum Nach-
denken anschickt, wartet der Soziologe nicht, bis ihn etwas persönlich
berührt, sondern macht sich professionell in den Problemen und ganz
besonders in den Gewissheiten im Alltag von ganz normalen Menschen
zu schaffen. Warum das so ist und auch so sein sollte und womit man
dann rechnen muss, wenn man beginnt, den Dingen auf den Grund zu
gehen, und sich im soziologischen Misstrauen übt, das habe ich aus-
führlich im ersten Band diskutiert.
Obwohl ich hoffe, Ihnen für das, was nach den ersten Verunsiche-
rungen und Aussichten dann an soziologischen Überlegungen zu vielen
Aspekten der gesellschaftlichen Realität gebracht wurde, auch etwas
Mut gemacht zu haben, will ich in diesem Vorwort doch noch einmal
daran erinnern, was Ihnen passieren kann, wenn Sie Soziologie als
"Lehre vom zweiten Blick", wie es NIKLAS LUH MANN (1979, S. 170)
einmal gesagt hat, betreiben. Sie können leicht zum Störenfried wer-
den, weil Sie Dinge, die anderen ganz selbstverständlich sind, ganz
anders sehen. Manche genießen diese Rolle als professionelle Durch-
blicker, wundem sich aber, warum ihnen keiner so richtig zuhört oder
warum sich die Verhältnisse nicht ändern. Andere sind frustriert, weil
ihre soziologischen Fragen bei den allermeisten ins Leere laufen. Die
wissen nämlich immer schon Bescheid, und die großen Erklärungen
wie AGIL-Schema und Autopoiesis oder Individualisierung sagen ih-
Vorwort 11
schen einer Perspektive, die vom Ganzen und von Strukturen, und ei-
ner, die vom Individuum und Prozessen ausgeht, habe ich bei den
Themen, wo das sinn voll war, die Theorien von GEORG SIMMEL, M AX
W EBER, GE ORGE H ERBERT MEAD und TALCon PA RSONS n ach g etra -
gen. An anderen Stellen habe ich Positionen noch etwas profiliert. Das
gilt unter anderem für den Anspruch und die Erklärungskraft des .me-
thodol ogischen Individualismus" , die ich im Kapitel über die individua-
listischen Theo rien des Verhaltens behandele, und für den Zusammen-
hang von Sprache und Sozialisation. Warum ich das urspr ünglich nicht
intendierte didaktische Prinzip der imm er neuen Hinführungen zu
Themen und der entsprechenden Wiederholu ngen in der zweiten Auf-
lage noch verstärkt habe, habe ich am Ende des neuen Vorworts zum
ersten Band erklärt.
Nach einigen Überlegungen habe ich die The se von DAVID R IESMA N
über die ,,Außenleitung" in der Modeme unter die Theo rien zur Identi-
tät subsumiert, um auf die riskanten Bedingungen aufmerksam zu ma-
ehen, unter denen das Individuum vor den Anderen auftritt.
Um den Bogen von der Gesellschaft zum Individuum zu schlagen
und dan n wiederum dessen Gewicht gegenüber dieser herauszuarbei-
ten, habe ich das Kapitel über Identität an den Schlu ss gestellt.
Dass ich ein neues Schlu sskapitel unter eine Über schrift geste llt ha-
be, die scheinbar unsoziologisch ist, hat zwei Grunde: Zum einen haben
mir die erfreulichen Reaktionen auf die Einführun g gezeigt, dass viele
Soziologinnen und andere Interessierte sie als Aufk lärung über die
Wechselwi rkun g zwischen Individuum und Gesellschaft gelesen und
darau s Hinweise entnommen haben, was sie selbst und ganz konkre t
unter gegebenen sozialen Verhältnissen tun könn en. Zum anderen woll-
te ich noch einmal betonen, dass die Re flexion "gegebener soz ialer
Verhältnisse" von einem bestimmten Interesse geleitet sein muss: Es
steht in den letzten drei Sätzen des Vorwo rts zur ersten Fassung dieses
zweiten Bandes der Einführung in die Soziologie . Und um es ganz klar
z u machen, worum es mir geht, endet dieser zweite Band mit demsel-
ben Satz wie der erste Band.
also Lob und Strafe. Sie erreicht No rmkonformi tät aber viel wi r-
kungsvoller dadurch , dass uns Normen im Prozess der Sozialisa-
ti on als "normal" nahe gebrach t werden, dass wir sie als vernünf-
tige Regelungen internalisieren und sie im täglichen Handeln als
"s elbstverständlich" be stätigen.
Obwohl Werten und Nonnen oft natürliche, gar gött liche Dign ität zu-
geschrieben wird, dar f man nicht vergessen, dass es Me nsche n waren,
aus deren Denken und Handel n sie erwuchse n. All erdin gs, da s hat M AX
WEBER in seiner Studie über di e " Protestantische Ethik und den Geist
des Kapitalismus" gezeigtt , können die materiellen und ideellen Inte-
ressen, di e unser Handeln unmittelbar beherrschen, durc h "Weltbilder"
in bestim mte Bahnen gelenkt werden. Diese Weltbilder wurzeln oft in
rel ig iösen Überzeugungen, und deshalb gelten sie vielen auch als abso -
lut und "selbstverstän dli ch". Es besteht die Gefahr, dass die " höc hsten
und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem
Leben Sinn und Bede utung geben, (..) von uns als etwas »objektiv«
Wertvo lles empfunden" werden. (Weber 1904 , S. 8 1)
Doch sie sind nur inso fern " obj ektiv" , als sie in dieser Kultur oder
sogar nur in dieser Gruppe tatsächlich gelten. So hat Durkheim auch
von sozi alen Tatsachen gesprochen . Wenn wir also in der Soziologie
von Werten sprechen, dann sind immer kulturspezifi sche Wert e ge-
meint. Natürlic h versichern w ir uns gerne allgeme inm enschliche r Wer-
te in der Hoffnun g, damit im globa len Konsens mit allen Gutmeinenden
zu sem.
Doc h die Geschichte hat gezei gt, dass es selt en um die Durchsetzung
universaler Werte, sondern meis t um höchst einseitige Auslegungen
solc her Werte gegangen ist. Wo die Gefahr dieser naiven - oder inte-
ressierte n! - Annahme "selbstverständlicher" Werte liegt, kann man in
Zei ten dogmati schen Denkens sehen . Dann unterscheiden Wi ssen-
sch aftler zwischen entwic ke lten und prim itiven Kulturen, Mi ssionare
ziehen aus, um anderen Völkern das Hei l zu bringen, und Fanatiker
entscheiden, was wertvoll bis hin zu m Lebenswerten ist.
Vgl. Band J, Kap. 10.3 " Weber: Asketischer Prot estantismus und rationa le Le-
bensführung".
Werte und Normen 17
An dieser Grenze zum Ethnozentrism us, der Werte nur aus der eige-
nen Kultur heraus definiert und zulässt, befinden wir uns immer. Des-
halb kann man die folgende Mahn ung Max Webers nicht ernst genug
nehmen:
Georg Simmel: Die Weil der W erte fasst die Inh alte der
Wirklichkeit in eine völlig autonome Ordnung
"Ma n macht sich selten klar, dass unser ganzes Leben , seiner Bewusst-
seinsseite nach, in Wertgefühlen und Wertabwägungen verläuft und
überhaupt nur dadurch Sinn und Bedeutung bekommt, dass die mecha-
nisch abrollenden Elemente der Wirklichkeit über ihren Sachgehalt
hinaus unendlich mannigfaltige Maße und Arten von Wert für uns be-
sitze n. In dem Augenb lick, in dem unsere Seele kein bloßer interesselo-
ser Spiege l der Wirklichkeit ist - was sie vielleicht niemals ist, da selbst
das objektive Erkennen nur aus einer Wertung seiner! hervorgehen
kann - lebt sie in der Welt der Werte, die die Inhalte der Wirklichkeit in
eine völlig autonome Ordnung fasst." (Simme l 1900 : Philosophie des
Geldes, S. 25)
Die gerade zitierten Sätze muss man genau lesen, denn Simmel ver-
weist hier auf die subjektive Kompone nte des Interesses, mit dem den
Dingen Wert beigemessen wird. Deshalb kann " ein und derselbe Ge-
genstand in einer Seele den höchsten, in einer anderen den niedrigsten
Grad des Wertes besitzen" . (Simmel 1900, S. 28) Doch diese Subjekti-
vität vergessen wir leicht und meinen, die Dinge hätten einen Wert an
sich. Das ist aber nicht der Fall: "Dass Gegenstände, Gedanken, Ge-
schehnisse wertvoll sind, das ist aus ihrem bloß natürlichen Dasein und
Inhalt niemals abzulesen." (S. 23) Wertvoll sind sie nur insofern, als
wir ihnen eine bestimmte Bedeutung beimessen und sie begehren. Die-
se Bedeutung erhalten die Dinge auch erst in dem Augenblick, wo sie
dem Subjekt als Objekte gege nübertreten, über die es nicht mehr ohne
weiteres verfügen kann und die sich einer Erlangung widersetzen: "E rst
die Repulsionen, die wir von dem Objekt erfahren , die Schwierigkeiten
seiner Erlangung, die Warte- und Arbeitszeit, die sich zwischen
Wunsch und Erfüllung schieben, treiben das Ich und das Objekt ausein-
ander" (S. 43) - und wecken Begehren. Wir stellen uns vor, dass uns
Gemeint iSI das Erkennen, das durch den Prozess der Auswa hl und Gewichtu ng
dessen, was wahrgeno mmen wird, schon Wertung ist.
I Werte und Nonne n 19
etwas, was wir nicht haben, nützlich sein könnte oder dass es uns Lust
bereiten würde, wenn wir es besäßen. (vgl. S. 47)
Es gibt also ein Nebeneinander von Wert, der einem Obj ekt zuge-
schrieben wird, und Wirklichkeit. (vgl. Simmel 1900, S. 27) Diese Dif-
ferenz will der Mensch überwinden. Als ein Wesen, das Bedürfni sse -
materieller, sozialer oder geistiger Art - hat und diese Bedürfuisse be-
fried igen will, bewertet er in dem Augenblick, in dem er einem Objekt
eine Bedeutung zur Befriedigun g der Bedürfnisse beimisst. Bedeutung
beimessen heißt, dass wir nicht unmittelbar die Erftillung eines Wun-
sches durchsetzen, sondern von unserem Begehren zurücktreten und
nach Möglichkeiten der Befriedigung Ausschau halten. Wir legen also
eine Distanz zwischen unser Bedürfuis und die möglichen Objekte,
durch die wir es befriedigen wollen. Wo diese Distanz fehlt, ist es im
soziologischen Sinne kein Wert, der uns antreibt, sondern - unsoziolo-
gisch gewendet - Gier, wo diese Distanz allerdings zu groß ist, ver-
schwindet der Wert, weil er unrealistisch wird. Distanz ist also Voraus-
setzung für die Bewertung von Möglichkeiten des HandeIns. Distanz ist
darüber hinaus Antrieb zu handeln, denn " der Sinn jeder Distanzierung
ist, dass sie überwunden werde." (Simme1 1900, S. 49)
Damit muss man als weitere Konsequenz denken, dass Wert etwas
mit Balance zwischen zuviel und zuwenig zu tun hat. Wo kein e An-
strengung nöti g ist, Befriedigung zu erreichen, weil z. B. die Möglich-
keiten der Befriedigung im Übenn aß vorhanden sind, verliert jede ein-
zelne Möglichkeit an Wert; wo die Anstrengungen alles Maß überstei-
gen würden, löst sich der Wert im Abstrakten auf.
Bewertung heißt, von etwas, das man selbst nicht ist oder hat, eine
geringere oder höhere Befriedigung zu erwarten. Da wir nach einer
höheren Befriedigung streben, bevorzugen wir eben dieses gege nüber
einem anderen. Je häufi ger diese Befriedi gung eintritt, umso sicherer
wird sie erwartet. Je mehr Individ uen diese Erwartun g teilen, umso
genereller wird der Wert und leitet schließlich das Handeln vieler an.
20 I Werte und Normen
sind sie Normen. Es sind soziale Tatsachen, die vor jeder sozialen Be-
ziehung schon existieren und als Reg eln unser Verhalten bestimmen.
Wie kommen diese Regeln nun zustande? Durkheim sieht es so: " Es
gibt bestimmte Arten, aufeinander zu reagieren, die, weil sie der Natur
der Dinge gemäßer sind, sich öfter wiederholen und Gewohnheiten
werden. Diese Gewohnheiten verwandeln sich, je stärker sie werden,
sodann in Verhaltensregeln." (Durkheim 1893, S. 435) Sie werden ver-
bindliche Verkehrsform und soziale Norm. "Eine Regel ist nämlich
nicht nur eine gewohnhe itsmäßige Form des Handelns, sie ist vor allem
eine verpflichtende Fonn des HandeIns, d. h. sie ist in bestimmtem
Umfang der individuellen Willkür entzogen." (5 . 45)
Werte und Normen sind aufgehoben im Kol/ektivbewusstsein. Dar-
unter versteht Durkheim "die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen
Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder einer be-
stimmten Gesellschaft" . (Durkheim 1893, S. 128) Durkheim hat den
schwierigen Begriff des Kollektivbewusstseins häufig interpretiert. Am
ehesten kann man ihn so verstehen: Er meint das, was in der Gesell-
schaft als Vorstellung des Verbindenden und Verbindlichen existiert
und an dem jedes einzelne Bewusstsein teilhat. Die Betonun g der Bin-
dung in der Erklärung der Funktion des Kollektivbe wusstseins scheint
mir wichtig, denn religio heißt ursprün glich genau das! Luhmann inter-
pretiert Durkheim so, dass "das Kollektivbewusstsein (. . .) die Gesell-
schaft" ist, und deshalb könne man ihn auch mit dem Begriff der Moral
zusammenbringen. (Luhmann 1977, S. 24) Schließlich scheint Durk-
heim selbst das Kollektivbewusstsein mit Instit utionen gleichzusetzen,
denn die defin iert er an anderer Stelle gleichlautend als "a lle Glaubens-
vorstellungen" und - den Blick auf ihre Verbindlichkeit werfend - als
" durch die Gesellschaft festgesetzten Verhaltensweisen" (Durkheim
1895, S. 100)!
Werfen wir einen Blick darauf, wie die Individuen zu einem kollek-
tiven Bewusstsein des Verbindenden, den sozialen Gefühlen, und insti-
tutionalisierten moralischen Überzeugungen gebracht werden. Dazu
heißt es bei Durkheim : " Es ist unmöglich, dass Menschen zusammen-
leben und regelmäßig miteinander verkehren, ohne schließlich ein Ge-
fühl für das Ganze zu entwickeln, das sie mit ihrer Vereinigung bilden,
ohne sich an das Ganze zu binden, sich um dessen Interesse zu sorgen
und es in ihr Verhalten einzubeziehen. Nun ist aber diese Bindung an
etwas, was das Individuum überschreitet, diese Unterordnung der Ein-
22 I Werte und Normen
otismu s, den politi schen Glauben wie den nationa len beleben und, in-
dem alle Kräfte auf ein einziges Ziel konzentri ert werden und weni gs-
tens für eine Zeitlang, eine größere Integration des Ganz en zuw ege
bringen." (Durkheim 1897, S. 231)
Nach seinen empirischen Untersuchungen kommt Durkheim deshalb
zu folgend em Sch luss: "Der Selbstmord steht im umgekehrten Verhält -
nis zum Integrationsgrad der Kirche, der Fam ilie und des Staats."
(Durkheim 1897, S. 231)
• Mit dieser These von der Integrationskraft einer Geme inschaft kann
man nun eine spez ifisc he Form des Selbstmordes erkläre n, die
Durkh eim als "egoistischen Selbstmord" bezeichnet: " Wenn die in-
nere Verbundenheit eine r Gruppe aufhört, dann entfrem det sich in
gleichem Maße das Individuum dem Gemeinschaftsleben, und seine
Ziele gewinnen Vorrang vor der Gruppe; mit einem Wort, die Ein-
ze lpersönlichkeit stellt sich über das Kollekti v. Je we iter die Schwä-
chung in der Gruppe fortschreitet, der er angehört, um so we niger ist
er von ihr abhängig, und um so mehr steht es dem zufolge bei ihm,
ob er noch and ere Verhaltensregeln anerkennt als die, die in seinem
Privatinteresse liegen. Wenn man also einen Zustand, in dem das in-
dividuelle Ich sich mit Erfolg gegen übe r dem soz ialen Ich und auf
Kosten desselben behauptet, mit Egoismus bezeichnen will , dann
können wir diesem beso nderen Typ von Selbstmord, der au s einer
übermäß igen Indiv idua tion hervorgeht, als egoistisch bezeichnen."
(Durkh eim 1897, S. 232)
• Der Selbst mord ist also ein soziales Produkt, und so ist auch die
zwe ite Form, die Durkheim als "altruistischen Selbstmord" bezeich-
net, zu verst ehen. Dazu kommt es, wenn jemand gegen über einer
übennächtigen Gem einschaft keine Individualität ausbilden kann
und sich nur als ausfUhrendes Werkzeug dieser Gem einschaft be-
greift . Vers agt er in dieser zweiten Hinsicht, verlangt die Gemein-
schaft sein Selbstopfer oder er selbst sieht sich seiner Ehr e verlustig
gega ngen und zieht die Konsequenz.
• Eine dritte Form bezeichnet Durkheim als ,fatalistischen Selbst-
mord '. Er komm e nicht so häufig vor, müsse aber der Vollständig-
keit halber genannt werden. Dieser Se lbstmord erwächst "aus einem
Übennaß von Reglementi erung"; es ist "der Selbstmord derjenigen,
denen die Zukunft mitl eid los verma uert wird." (S. 3 18, Anm . 29)
Wene und Normen 25
1.3 Mead: E rfah r ung des Richtigen, Ge ner alisier ung des G ute n
Im soziologischen Sinne sind Werte nichts Absolutes, sondern sie ent-
stehen aus Erfahrungen in einer bestimmten Gemeinschaft, und sie än-
dern sich auch mit der Entwicklung dieser Gemeinscha ft. Deshalb inte-
ressieren unter einer soziologischen Perspektive auch zwei Fragen vor
allem: Wie entstehen Werte, und wie werden Individuen so an gemein-
same Werte gebunden, dass Gesellscha ft möglich bleibt? Das waren
auch die Fragen, die GEORGE H ERBERT MEAD (1863-1931) gestellt hat.
Er hat sie mit der Theset beantwortet, dass die Gesellschaft eine Ord-
nung im Diskurs und dass Kommunikation "das Grundprinzip der ge-
sellschaftlichen Organisation des 'Menschen" ist (Mead 1934, S. 299).
Diese Organisation zeigt sich in der Orientierung an generellen Erwar-
tungen. Erwartungen, die über konkrete Andere hinaus für alle in einer
Gruppe oder Gemeinschaft gelten, nennt Mead den "generalisierten
Anderen" (S. 196). Bei dieser Erklärung werde ich kurz aufM eads Er-
klärung vorgreife n, wie " Interaktion" möglich ist. In aller Kürze lautet
sie: Während wir handeln . versetzen wir uns fortlaufend in die Rolle
des anderen, denken von seiner Situation aus und reflektieren uns dabei
selbst. Auf diese Weise verschränke n sich unsere Perspektiven wech-
selseitig, und so verständigen wir uns in der Kommunikation über die
Rollen, die wir spielen wollen und spielen sollen. t
Im Geist des seinerzeit herrschenden Behaviorismus betrachtete
auch Mead den Menschen als ein Wesen, das auf Reize seiner Umwelt
reagiert und so lernt. Da Mead vor allem die soziale Umwelt in den
Blick nahm, bezeichnete er seine Theorie auch als Sot ialbehavio ris-
mus, (Mead 1934, S. 44 ) Die soziale Umwelt besteht in den wechselsei-
tigen Reaktionen der Individuen untereinander. Und das Lernen besteht
in der Sammlung von Erfahru ngen über Handlungen, die erfolgreich
ocIer weniger erfolgrei ch waren. Das kann man natürlich nach zwei
Seiten betrachten: erfolgreich nur im Sinne der totalen Erfüllung aller
Wünsche des Individuums und ohne Rücksicht auf die anderen, oder
erfolgreich im Sinne relativer Befriedigung, dafür aber mit sozialer
Anerkennung durch die anderen. Da man sich eine Gesellschaft, die nur
aus rücksichtslosen Egoisten besteht, nicht gut vorstellen kann, und da
es in diesem Kapite l um " Werte" geht und die Soziologie darin etwas
" Verbindendes" und letzt lich auch "Verpflichtendes" sieht, will ich die
soziale Genese von Werten und Nonnen auch in der Theorie von Mead
hervorheben. Sie lässt sich aus einem kleinen Beitrag über "Die soziale
Identität" aus dem Jahre 1913 herauslesen und dann aus der Theorie
des ..generali sierten Anderen " und den dort beschriebe nen sozialen
Entwick lungsphasen des Kindes.
Im Beitrag über ..Die soz iale Identität" fragt Mead. was dem Men-
schen eigentlich gegenübertritt, wenn er sich an sein früheres Handeln
erinnert. Seine Antwort lautet: Das Ich, wie es früher geha ndelt hat,
also ein Subjekt, und das Ich, auf das andere seinerzeit reagiert haben,
also ein Objekt . (vgI. Mead 1913, S. 241) Mit dem Erinnerungsbild der
persönlichen Identität taucht immer auch ein Erinnerungsbild der sozia-
len Identität auf. Das kann man sich am besten mit drei Fragen klarma-
chen : Wie haben mich andere gesehen, wie haben sie deshalb auf mich
reagiert , und welchen Schluss habe ich daraus gezogen, um mein weite-
res Verhalten so zu organisieren, dass ich weiter mit ihnen auskam?
Vgl. unten Kap. 5.3 " Interaktion - Verschränkun g der Perspektiv en", S. 198f. und
20 1.
Werte und Normen 29
Nur vernünftige Eltern erwarten, dass Kinder bei einem Konflikt "etwas einse-
hen". Die aber folgen leider dem Gesetz des Stärkeren oder strecken sich nach der
Decke der geringsten Sanktion!
32 I Werte und Nonnen
schränken und weil bei allen Beteiligten eine gene relle Wertbindung
unterstellt werden kann.
D ie se Erklärun g trifft natürlich nicht nur auf die kleine Gruppe zu,
in der sich alle Beteiligten an gemeinsame Nonnen halten. Mead geht
es ja um mehr. und er zeigt auf, wie auch größere Gemeinschaften und
die Gesellschaft als ganze letztlich über das Prinzip der Orientierung an
einem »generalisierten Anderen« funktionieren könnten. Ich sage
"könnten", denn an diesem Punkt ist Mead durchaus Idealist. Wie ge-
zeigt t, stellt er sich nämlich eine " ideale Gesellschaft" vor, die deshalb
- im wertenden Sinn - " idea l" ist, weil sie als "u niverseller Diskurs"
funktioniert. In ihr orientieren sich alle an dem, was für alle gilt, und
sie handeln so, dass die Interessen aller zur Ge ltung kommen. Es wäre
die so bezeic hnete " Demokratie der Gleichen" (Mead 1934 , S. 368 ).
Hinter dieser idealistischen Vision, die Mead durchaus als Anspruch
form uliert, wird zugleich das Prinzip der W ertbildung und der Wert-
bindung deutlich : Es besteht in der Kommunikation. Kommunikation
bedeutet, dass Indi viduen in Beziehung zueinander treten, auf ihr Ver-
halten wechse lseitig reagieren und aus dcr Erfahrung dieser wechselsei-
ligen Reaktionen gemein same Symbo le bilden, mit denen sie sich den
Sinn des HandeIns anzeigen. Da sie sich dabei auf einen " generalisier-
ten Anderen" beziehen , können sie erstens kooperieren und zweitens
auch Störungen der Kommunikation - konk ret Konflikte - bewälti gen .
In Meads Ethik, so hat es HANS lOAS formuliert, wird damit Kommuni-
kation selbst zum "substantiellen Ideal". (Joas 1997, S. 266)
Als Begründ ung von Werten oder Nonnen kann ma n des halb auch
anführen: Die erstere n haben sich aus dem wechselseitigen Verhalten in
einer Gemei nschaft so erg ebe n bzw. wurde n in Prozessen des Lern ens
oder der Sozialisation tradiert; für die letzteren kann nur angeführt
werden , dass sie sich im universellen Diskurs bewähren müssen . (vgl.
Joas 1997, S. 267) Nur was als Pri nzip des Handein s aller gelten könn-
te, darf den Anspruch erheben, Nonn zu sein, und nur was im Diskurs
auf beiden Se iten als "gut" vermittelt werden kann , darf als sozialer
Wert angese he n werden. D ie Ptiifun g darf sich also nicht aus einer
transzendentalen Setzun g und auch nicht aus dem wiederholt en Etfo lg
eines Akteurs begrü nden, sondern muss in der Komm unikation selbst
liegen .
Vgl. Band I, Kap. 3.9 .Ncrmauve Integration", S. 128 und 13lf.. und Kap. 6.2
•D as allgemeine Handlungssystem und seine Subsysteme", S. 210-213.
2 Vgl. Parsons' Kurzdefinition der Funktion dieser Komponenten unten S. 104.
34 Werte und Norme n
• Bei einer genaucren Anal yse wird man allerdings feststellen, dass
sich die ausdifferenzierten sozialen Subsysteme einer Gesellschaft
durch spezifische "Werturteile", die die Mitg lieder " auf die Eigen-
schaften und das Verhalten" anwe nden, voneinander unterscheiden.
Diese Urteile sind " Spezifikationen" des allgemeinen Wertesystem
auf einer konkreteren Ebene. Deshalb unterscheidet Parsons auch
zwischen allgeme inen Werten und ausdifferenzi erten Normen. Nor-
men sind das Ergebnis der Differenzierung des Verhaltens, das in
einem bestimmten sozialen System institutionalisiert ist. (vgl. Par-
sons 1958d,S.450)
• Eine Kollektivit ät stellt eine differenzierte Einheit innerhalb eines
sozialen Systems dar, woru nter im Gren zfall sogar ein Individuum
verstanden werden kann, das eine bestimmte Funkt ion erfüllt. Des-
halb betrifft die nonnative Kultur auch nur funktional spezifizierte
Teile eines sozialen Systems und bestimmt sich nach den "besonde-
ren Zielen, Situationen und Ressourcen" der spezifischen Einheit.
Deshalb steht die Kollektivität auch " auf einer noch niedrigeren E-
bene in der nonn ativen Kontrollhierarchie des Verhaltens" als die
differenzierten Nonnen. (S. 451)
• "Alle sozialen Systeme erwachsen aus der Interaktion von Individu-
en als Einheiten ." (ebd.) Umgekehrt müssen soziale Systeme und
Kollektivitäten sicherstellen, dass die Individuen effektiv handeln
können. .E ffektiv" heißt, so zu handeln , dass das umfassende Sys-
te m seine Ziele erreicht. Das wird gewährleistet, indem es ein Sys-
tcm nonn ativer Erwartun gen gibt, die sagen, was das Individuum in
eine r bestimmten Funktion zu tun hat. Solc he normativen Erwartu n-
gen bezeic hnet Parsons als Rollen . (ebd.)
Werte gehören neben Institution en und der politischen Organisation zu
den unabdingbaren Voraussetzungen eines sozialen Systems. Das sozi-
ale System als ein System des Handeins, von der Fami lie bis zur Ge-
sellschaft als ganzer, funktioniert, weil es verbindliche Werte gibt. an
denen sich die Handelnden orientieren. .Values in this sense are the
commitments of individual pcrsons to pursue and support certain direc-
tions or types of action for thc collcctivity as a system and hence de-
rivatively for their own roles in the collectivity." (Parsons 1958c, S.
172) Mit dem Bez ug auf Rollen macht Parsons klar, dass Werte Struk-
turkomponenten des sozialen Systems sind. (vgl. S. 171) Sie werden
I Werte und Normen 35
von den Mitgliedern des sozialen Systems geteilt, weil sie sie verinner-
licht haben. Werte sind in der individuellen Persönlichkeit verankert
und in der sozialen Strukt ur institutionalisiert. (vgl. Parsons 1958c, S.
170)
" Commitment" als Bindung wie als Bereitschaft ist das Ergebnis ei-
ner erfolgreichen Sozialisation . Deshalb misst Parsons auch den Agen -
turen der Sozialisation, vor allem der Familie und der Schule, eine sol-
che Bedeutung bei. Darauf werde ich im nächsten Kapitel zurückkom-
men. Hier nur soviel zur Funktion der Familie, die DIE1ER CLAESSENS
im Sinne von Parsons so beschrieben hat: Die Fami lie ist die wichtigste
Sozialisationsagentur, die Werthaltungen immer wieder und dauerhaft
herstellt. Ihre Funktion besteht in der Enkulturation, das heißt, dort
werden die für eine Gesellschaft typischen Werthaitungen ..gelehrt und
gelernt". (Claessens 1972, S. 38) In der Famili e kommt es zur " zweiten,
sozio-kulturellen Geburt" des Menschen. Dass es dabei in erster Linie
um eine Persönlichkeit geht, deren Wertorientierung auf die gese ll-
schaftlichen Anforderungen "passt", deutet Claessens mit diesem Un-
tertitel seines Buches schon an! In der Familie werden die Werte als
"Haltungen" im Kind verankert. Da die Familie auch grundlegende
emotionale Bedürfnisse des Kindes befriedigt und Identifikationen an-
bietet, über die das Kind sich selbst und als Teil einer sozialen Gruppe
erkennt, wirkt dieser Prozess der Enkulturation so nachhaltig, dass die
dort erfahrenen Gru ndorientierungen des Handeins lange Bestand ha-
ben.
Werte sind das Kriterium, nach dem zwischen Handlungsmöglich-
keiten entschieden wird. (vgl. Parsons 1951, S. 12) Dass die Entschei-
dung nicht aus dem Rahmen der allgemeinen Erwartungen innerhal b
einer Gesellschaft fallt, dafür sorgt die ordnende Kraft des kulturellen
Systems, das ja nicht nur abstrakt als Summe der typischen Werte der
Gesellschaft existiert, sondern uns in konkreten typischen Erwartungen
begegnet. Das kulturelle System bestimmt Ziele und Formen gemein-
samen Handeins (Sozialsystem) und gibt auch den Rahmen der indivi-
duellen Orientierung (Persönlichkeitssystem) vor.
Auf diese Orientierungsfunkt ion der Werte hebt Parsons mit folgen-
der Definition ab: .Values are modes of nonnative orientation of action
in a social system which define the main directions of action withou t
referen ce to speciflc goals or more detailed situations or structures.'
(Parsons 1958c, S. 17 1) Werte geben also die allgemeine Richtung des
36 I Werte und Nonnen
Handeins vor. Insofern sind sie auch allgemeiner als Ziele oder Interes-
sen, die in einer konkreten Situation des Handeins eine Rolle spielen.
Von Nonnen unterscheiden sich Werte insofern, als Werte einen all-
gemeinen Rahmen für mögliches Handeln abgeben , während Nonn en
als " spezifische, konkrete und mit äußeren Sanktionen verbundene
Verhaltensregeln gelten" . (Dreitzel 1968, S. 131) Werte sorgen - über
die Prozesse der Sozialisation und der Internalisierung - für die allge-
meine Verp flichtung ("commitment") der Mitglieder einer spezifischen
Gesellschaft, in einer bestimmten Weise zu handeln. (Parsons 1958c, S.
174) DANIEL BELL ha t diese Sicht so wiedergegeben: Parsons ver steht
Werte "als ein alle anderen Komponenten der Gesellschaftsstruktur
(Nonn en, Kollektive und Rollen) hierarchisch bestimmendes Ord-
nungsprinzip." (Bell 1975, S. 362)
Auf die Frage, woher die Werte, denen er ja zentrale Bedeutung für
den Erhalt sozialer Ordnung beimisst, kommen und was sie also letzt-
lich sind, gibt Parsons eine lapidare Antwort: Es sind "e xistential be-
liefs about the world", und insofern liegt die Begtiindung der Werte
jenseits des empirischen Wissens. (parsons 1958c, S. 174) Sie gründen
in religiösen Überzeugungen und philosophischen Annahmen. Es sind
die grundlegenden Antworten, die die Menschen in einer bestimmten
Kultur auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gegeben haben. Fest-
gehalten im kollektiven Wissen und festgestellt in entsprechenden In-
stitutionen sind es Urteile über richtig und falsch. Werte bilden den
Hintergrund für soziale Erwartungen. Folgt das Individuum ihnen, er-
fährt es Anerkennung, entspricht es ihnen durch sein Verhalten nicht,
muss es mit Sanktionen rechnen. " So gesehen liegt der wesentliche
Aspekt der sozialen Struktur in einem System von Erwartungsmustem,
die das rechte Verhalten für Personen in bestimmten Rollen definie-
ren." (Parsons 1945, S. 56)
Werte sind im Grunde Bewertungen, und aus diesen Bewertungen
ergeben sich Vorstellungen und schließlich Vorschriften des entspre-
chenden Handeins: "Werte sind (.:) »normative Muster«, die ein positiv
bewertetes soziales System beschreiben. Nonnen sind generalisierte
Muster von Erwartungen, die die ausdifferenzierten Erwartungsmuster
für die ausdifferenzierten (..) Einheiten innerhalb eines bestimmten
Systems definieren. Nonn en stehen in einem System immer auf einer
niedrigeren Stufe der kulturellen Allgemeingültigkeit als Werte. Mit
I Werte und Normen J7
Werte sind nach Klu ckhohn notw endig für da s .persc nality syst em",
also das Individuum, und ruf da s .soc ial systern'' , das System des Han-
deln s von Individuen :
Die ser letzte Blick auf die relativ e Sicherh eit der Orienti erun g de s In-
dividuum s darf nicht übersehen machen, dass die strukturfunktionalist i-
sche Theorie der Werte vo r allem die Erhaltung der sozialen Ordnung
im Blick hat. Deshalb kann man sie auch so zusamme nfasse n: Werte
stellen die entscheidende Verbindu ng zwisc hen dem Individ uum und
dem sozialen System her. Decken sich individuelle Ori entierungen und
kulturell e Werte , ist die Gesellscha ft in einem sicheren Gleichgewicht.
Wo Werte in Frage geraten, ist soz iale Ordnung in Ge fahr. Genau so
wurde dann auch in den 70er Jahr en R ONALD I NGLEHARTS The se vom
Wertewandel verstanden .
I Werte und Nonnen 39
Inglehart bezieht sich auf die Annahme des Psych ologen ABRAHAM
H . MASLOW, dass Wert e m it einer H ierar chi e von Bedürfnissen zu-
sammenhängen. (Maslow 19 54) Maslow nimmt eine feste Reihen fol ge
der Entw ick lung vo n Grund bedürfnissen an: ph ysiologische Bedürfnis-
se (Hunger, Durst, Schmerz), Bedürfnis nach Sicherheit, soziale Be-
dürfnisse nach Geborgenheit und Liebe, Bedürfnis nach Geltung und
Anerkennung und Bedür fnis nach Selbstverwi rklichung.
Bedürfn issen, die nur wenig befriedigt werden, kom mt eine beson-
dere Bedeutung zu. In diesem Sinne legte Inglehart seiner Untersu-
chung des Wertwandels eine Mangelhyp othese zugrunde: ..Die Prioritä-
ten eines Menschen reflektieren sein sozioökonomisches Umfeld: Den
größten subjektiven Wert misst ma n den Dingen zu, die relati v knapp
sind." (Inglehart 1989, S. 92) Ganz ohn e Iron ie ste llt Inglehart fest: ,,Je
reicher man wird, desto unw ichtiger wird Reichtum." (Inglehart 1980,
S. 146) Zweitens vermutete Inglehart, dass die Er fahrungen des soz io-
ökonomischen Umfeldes selbst einen entscheidenden Einfluss darst el-
len . Deshal b ergänzte er die Mangelhypothese du rch eine Sozialisati-
onshypot hese. Danach spiegeln die gru ndlegenden Wertvorstellungen
eines Men schen "weithin die Bedingungen wider, die in seiner Jugend-
zeit vorherrschend waren." (Inglehart 1989, S. 92) Wenn also j emand
in einer wirtschaftlichen Notsituati on aufgewachsen ist, wird er später
andere Wert e vertreten als j emand, der einen solchen Mangel nicht
kennen gelernt hat. Da in allen untersuchten Länd ern nach dem Zwei-
ten Weltkrieg ein massiver wirtscha ftlicher Aufschwung erfo lgte, sollte
sich ein Unterschied der Wertpräferenzen zwischen den Generatio nen
nachwe isen lassen. Inglehart fasst seine Ann ahm en so zusam men:
sen . Die einen hielten die These für übertrieben und bewerteten tatsäch-
liche Veränderungen nur als Randerscheinungen. Andere meinten,
Ingleha rt habe falsche Fragen gestellt, die nicht die wirkliche Mentali-
tät beträfen oder nichts mit dem tatsäc hlichen Handeln der Befragten zu
tun hätten. Wieder andere warfen ihm vor, mit seiner The se einer kon-
servativen Kritik an einer angeblich verderbten Welt Wasser auf die
M ühlen geleitet zu haben. Die Tatsache, das s Inglehart seine Forschun-
gen unter dem Titel "The Silent Revolution" (1971, 1977) veröffent-
licht hatte, zeigt, wie er den Wertewandel einschätzte, und erklärt, wa-
rum besorgte Politik er um die Zukunft des Westens fürchteten. Die
Sorge wurde nicht geringer, da Inglehart auch herausgefunden hatte,
dass postmaterialistische Werte gehäuft von jungen Leuten mit einem
höheren Bildungsniveau vertreten werden. Da sie die künftigen Eliten
sein würden, musste man davon ausgehen, dass ihre Wertorientierun-
gen über kurz oder lang die gesamte Bevölkerung ergreifen würden. In
der Tat haben dann vergleichende Studien in vielen Industriegesell-
schaften gezeigt, dass sich "E rscheinungsbild und politische Zielrich-
tung des Postmaterialismus" zwischen 1970 und 1988 signifikant ver-
ändert haben. Kennzeichnete diese Wertorientierung anfangs vor allem
die studentischen Protestbewegungen, sind es Ende der 80er Jahre die
jungen Eliten, bei denen postmaterialistische Werte eine entscheidende
Roll e sp ielen. (Ing lehart 1989, S. 92)
Anlass zur Sorge bot die These vom Wertewandel auch bei kriti-
schen Beobachtern der Gesellschaft, die hinter den postmaterialisti-
schen Werten fehlendes Engagement für die Gesellschaft und wach-
senden Egoismus vermuteten. Statt vieler anderer zitiere ich dazu den
amerikanischen Soziologen DANIEL BELL, der in seinem Buch "The
Coming of Post-Industrial Society" (1975) Ingleharts Thesen weiterge-
dacht und von einer tiefgreifenden Kulturkrise gesprochen hat.
Die Krise ergibt sich daduroh, dass durch die Prinzipien der Wirt-
schaft ..Effizienz und funktionale Rationalität betont und die Menschen
auf Rollen und ihre Eignung dafür festgenagelt werden sollen, während
die Kultur Selbstverwirklichung und Selbstgenuss fordert und sich da-
durch in direkten Widerspruch zur techno-ökonomischen Ordnung be-
gibt. Auf einer anderen Ebene manifestiert sich dieser Widerspruch in
der für die westeuropäischen Gesellschaften typischen Spaltung der
Generationen in die ältere, die in einer Zeit des Mangels und der Ar-
beitslosigkeit aufgewachsen ist, weshalb ihr Materialismus und Sicher-
1 Werte und Nonnen 43
heit als oberste Werte gelten, und die jüngere, die, in einer Zeit des Ü-
berflusses groß geworden, die »Notwendigkeit des Engagements« so-
wie die Wichtigkeit der geistigen und ästhetischen Belange, d. h. sog.
»nachbürgerliche Wertee betont. Aus eben diesem Grunde sollen sich
angeblich auch viele Kinder der früheren Mittelschicht zunehmend zur
»Neuen Linken« oder mehr »kommunalen« Werten hingezogen fühlen,
mit anderen Worten, radikale Sichten angenommen haben." (Bell 1975,
S. 16f.) Als theoretische und empirische Fundierung seines Argumentes
nennt Bell ausdrücklich die Arbeiten von Inglehart.
Die tiefgreifenden Änderungen der Gesellschaft kann ich hier nicht
wiedergeben. Ich möchte nur aus dem Schlusskapitel, in dem Bell "Die
Aufgaben der Zukunft" benennt, eine Passage zitieren, die eine tiefe
Krise der Gesellschaft, insonderheit von Kultur und Bewusstsein, be-
schreibt:
sicht war die bürgerliche Gesellsc haft auf de m Höhepunkt der kap italis -
tischen Zivil isation im 19. Jahrhundert tatsäc hlich ein integriertes Gan-
zes, in dem Kultur, Charakterstruktur und Wirtschaft aus ein und dem-
selben Wertsystem erwuchsen.
Die Ironie des Schicksals aber wollte es, dass all dies vom Kapita-
lismus selbst untenn iniert wurde, der durch Massenproduktion und
Massenkonsum die protestantische Ethik zerstörte und an ihrer Stelle
eifrig eine hedonistische Lebensweise forderte. Um die Mitte des 20.
Jahrhunderts suchte sich der Kapitalismus nicht länger durch Arbeit
oder Eigentum zu rechtfertigen, sondern begnügte sic h mit den Status-
symbolen materiellen Besitzes und der Ausweitung der Vergnügungen.
Ein höherer Lebensstandard und eine Lockerung der Sitten wurden nun
als Zeichen persön licher Freiheit gewertet und zum Selbstzweck erho-
ben.
Da s aber führte zu einer Spa ltung der Gesellscha ftsstruktur. Denn
während das System im Hinblick auf die Organisation von Produktion
und Arbeit nach wie vor Vorsorge, Fleiß und Selbstdiszi plin, Hingabe
an die Karriere und den Erfolg verlangte, forderte es im Konsumbereich
die Haltung des carpe diem, d. h. Versc hwendung, Angeberei und die
zwang ha fte Jagd nach Amüsement. Eine s fre ilich habe n beide Bereiche
bei aller Verschiedenartigkeit doc h gemein: eine absolute Profanität, da
da s System keinerlei tra nszendente Ethik meh r kennt.
W ie aber die auf Techn ik und Messung gegründete modeme Gesell-
schaftsstruktur eindeut ig eine historisch neue Art von sozia ler Organi-
sation darste llt, so verbindet die zeitgenössische Kultur in ihrer Be-
schä ftigung mit dem Selbst die tiefsten Antriebskräfte des Menschen
mit der modemen Abneigun g gegen die bürgerlic he Gesellschaft." (Ben
1975: Die nachindustrielle Ges ellschaft, S. 362-364)
stellen. Erleichtert wird das auch dadurch, dass sie durch die Familie
versorgt werden und somit noch keine Verantwortung für den Le-
bensunterhalt oder andere Pflichten zu übernehmen brauchen.
Mit diesen Überlegungen hat Klages die Erklärung geliefert, warum es
zu einem Wertewandel in Deutschland gekommen ist. Eine ganz andere
Frage ist nun, was dieser Wertewandel für die Gesellschaft bedeutet.
Wie ich oben gezeigt habe, haben ja viele besorgte Beobachter der Ge-
sellschaft die These vom Übergang zu postmaterialistischen Werten als
Beleg für eine Entwicklung gelesen, dass der Einzelne nur noch an sich
denkt. Als Klages in Deutschland eine Abnahme von Pflicht- und Ak-
zeptanzwerten und eine Zunahme von Selbstentfaltungswerten konsta-
tierte, konnte das auf den ersten Blick gcnau so gelesen werden. " In
einer solchen Formel", räumt Klages ein, "schien ein mit dem Werte-
wandel einhergehender Moralitätsverlust ja fast schon überdeutlich mit
bloßen Händen greifbar zu sein." (Klages 1998a, S. 109) Umso energi-
scher verteidigte er dann auch den Wertewande l. Das tat er mit zwei
Argumenten.
Zum einen erinnerte er daran, dass wir seit Spencer und Durkheim
wissen, dass die sozioökonomische Entwicklung Differen zierung bein-
haltet. Es entstehen mehr oder weniger autonome Subsysteme, die un-
tereinander zwar in einem strukturierten Zusammenhang verbunden
sind und einander bedingen, die selbst aber eigene Werte ausbilden.
Das heißt aber, dass die Gesellschaft insgesamt immer weniger über
universelle Werte integriert, sondern durch abstrakte Medien wie Geld,
Macht, Recht oder Wahlen "g esteuert" wird.
Das hat Konsequenzen für das Individuum und sein Wertebewusst-
sein. Da es in unterschiedlichste Teilsysteme eingebunden ist, die alle
einer eigenen Logik folgen, also je eigene Werte vertreten, kann es gar
nicht anders, als sich flexibel auf diese jeweils vertretenen einzulassen.
Es muss lernfähig sein, Entscheidungen selbst treffen und individuelle,
besondere Leistungen unter gewandelten Bedingungen erbringen kön-
nen. Von seiten der Teilsysteme sind " Kreativität, Beweglichkeit" und
Neugier gefragt, "d. h. Eigenschaften, die viel eher mit »individualisti-
schen« Selbstentfaltungswerte n Hand in Hand gehen." (vgl. Klages
1998a,S.I I I)
48 1 Werte und Normen
in der Öffentlichkeit das Th ema Wert ewandel fast durchweg mit der
Sorge verbunden wird , nun sei der Anfang vom Ende gekommen. Ich
vermut e, das haben die Alten schon im Jahre 1708 vor Chr. schon so
gesehen.
Nun zu dem Thema, das mit dem Begriff der Werte eng verbunde n
ist und schon mehrfach angesprochen wurde , dem Them a Normen.
Während Werte generelle Orientierungen des Handeins meinen, drückt
der Begriff der Norm die Verpflichtung aus, in einer bestimmten, von
der Gesellschaft erwarteten, oft auch vor geschri ebenen Weise handeln
zu sollen.
mehr oder weniger ausdrückl ich sein kann. Im Französischen hat sich
dafür der Ausdruck »rea lite mc rale« seit langem eingebürgert, der auch
zur Bestimmung der Sozialwissenscha ften als »Moralwissenschaften«
ge führt hat." (König 1969, S. 978)
Ganz im Sinne der Du rkheimschen Erklärung der Entstehung von
Institutionen beze ichnet Dahrendorf Institutionen als "G estalt gewo r-
dene Normen". (Dahrendorf 1989, S. 4) Nonnen stellen "eine eig ene
Dimension der Wirklichkeit dar" und begründen "die Wiederholunge n
und Regelmäßi gkeiten" des sozialen Lebens. (König 1969, S. 979)
Nonnen machen das Leben in der Gem einschaft bereche nbar und kon-
trolli eren es. Manche Nonnen ge lten für alle, manche nur für bestimm-
te Grup pen. H EINRICH POPITZ unterscheidet deshalb zwischen allge-
meinen Normen und partikularen Nonnen. (Popitz 1980, S. 40) Immer
abe r geben sie an, wie bei Strafe der Missbilligung in ein er soz ialen
Situation gehandelt werden muss. Anders als Werte lassen sie im Prin-
zip keine Entscheidung zw ischen Alternativen zu.
Zur Entstehung von Nonnen konkurrieren verschiedene theoretische
Grunda uffassungen. wie sie schon bei der Begründung von Werten
ank lange n. Einige berufen sich auf ein Naturrecht, andere leiten sie
direkt aus dem göttlichen Ratschluss oder aus Ideen ab, die am bestirn-
ten Himmel über uns ewig kreisen.
Auf der anderen Se ite stehen die Vert reter des positiven ! Rechts, die
zeigen, da ss jede Norm von Menschen geschaffen wurde. Das heißt
natürlich nicht, das s sie geplant sein müssen. So kenn en wir alle die
" normative Kraft des Faktischen". Damit ist gemeint, dass sich Rege-
lungen des Alltags allmäh lich so verfestigen, dass man an ihnen nicht
vorbeiko mmt. Diese Regelungen sind zwar keine Nonnen im rechtli -
chen Sinn, aber sie haben verpflichtenden Charakter für eine bestimmte
Gruppe . Manc hmal bew egt das Fakt ische dann auch den Gesetzgeber,
Nonnen neu zu definieren. Als z. B. veränderte moralische Vorstellun-
gen dazu führten, dass viele Männer ihre Zunei gung flireinandcr offen
zeigten, begann eine Disku ssion über den Sinn dem entgegen stehender
Nonnen.
Die " normative Kraft de s Fakt ischen" kom mt auch bei einem ande-
ren Normbegriff zum Ausdruc k, der eingangs schon angedeutet wurd e.
Dort hieß es, dass der Begriff auch im Sinne eines durchschnittlich er-
1.8 Nor mative Integration, Nor mverletzu ng und der Nutzen der
Dun kelziffer
Soziale Normen sagen , was in einer bestimmten Situation geboten oder
verboten ist. Ihre Funktion ist, das Leben in der Ge sellschaft zu rege ln,
es sicher und planba r zu machen.
Nun ist aber nicht zu übersehen, dass einze lne Nonnen in sich nicht
eindeut ig und die Nonnen insges amt keineswegs widers pruchs frei sind.
Das Spektrum der Interpretati onen ist groß. In einer Gesellschaft, die
sich plurali stisch versteht, verlieren auch die Nonnen eine klar e Orien-
tierungs funktion. Das ist eine Erklärung für abweichendes Verhalten.
Du rkheim hat in seiner Studie über den Se lbstmord gezeigt, wie die
Aufweichung von Nonnen zu individuellen und kollektiven Reaktionen
führt , die auf Dauer den gesellschaftli chen Zusammenhal t gefährden.
Den Zustand einer tiefgreifenden Erosion der Nonnen nennt er Ano -
mie. Auf der anderen Seite erö ffnet eine neue Interpretation der Nor-
men aber auch Freiräume. Mit der Frage nach dem Sinn bestimmt er
Die Zah len sind natürlich frei erfu nden, das Prinzip des Beispiels und die Macht
der Suggestion durch " Genauigkeit" dagegen nicht.
1 Werte und Nonnen 53
Nonne n beginnt der Prozess der Innovation. Diese Frage ist die Vor-
aussetzung dafür, dass sich Gesellschaft wandelt und dass die Norm
selbst ihren Sinn immer aufs Neue erweist.
Nonnen werden aus unterschiedlichen Gründen befolgt. Der hau-
figste Grund - wenn man von der Gedankenlosigkeit absieht, mit der
man durch seinen Alltag geht - ist sicher, dass einem die Nonne n als
vernünftig einleuchten. Sie regeln die Dinge des Lebens und erweisen
sich als zweckmäßig. Insofern erscheinen sie auch legitim. Zu diesem
Eindruck trägt auch die Tatsache bei, dass wir alle in dergleichen Ge-
sellschaft leben und die wichtigsten Nonne n von allen in dergleichen
Weise gelernt und verinnerlicht worden sind.
Ein sicher nicht unerheblicher Grund, weshalb wir sie befolgen, liegt
auch in den Sanktionen, die mit ihnen verbunden sind. Sie reichen von
ausdrücklichem Lob bis zu drakonischer Bestrafung, von der stummen
Bestätigung durch Nichtreaktion bis zur deutlichen Verurteilung nach
Recht und Gesetz. Es gibt Sanktionen, die unterschiedslos alle treffen
(z. B. der Starenkasten am Ortseingang), und solche, die typisch für
einen begrenzten sozialen Kreis sind (z. B. das schrille Lob der besten
Freundin).
Die soziale Integration der Gesellschaft würde aber auf Dauer nicht
funktionieren, wenn die Nonne n nur wegen äußerer Kontrolle befolgt
würden. Deshalb kennt jede Gesellschaft den Prozess der Sozialisation,
in dem die sozialen Nonnen so in den Individuen verankert werden,
dass sie gewissermaßen automatisch befolgt werden. Das ist die stärks-
te Verankerung sozialer Nonnen , dass sie gelernt und verinnerlicht
werden. Die innere Kontrolle ist die verlässlichste sowohl für das Indi-
viduum als auch für die Gesellschaft.
Mit dieser begründeten Annahme, dass soziale Normen Teil der Per-
sönlichkeit werden und werden müssen, kann man in der Theorie von
Parsons Normen als kulturelle Standards für Verhalten bezeichnen. Es
sind institutionalisierte Rollenerwartungen. Durch den Prozess der In-
ternalisierung, den schon Durkheim zur Erklärung sozialer Ordnung
beschrieben hatte, werden Nonne n "unserer persönlichen Willkür" rela-
tiv entzogen und "zu Maximen des eigenen Wollens gemacht." (König
1969, S. 982) Diese Verinnerlichung nonna tiv wirkender Rollen haben
auch PETER L. BERGER und THOMAS LUCKMANN vor Augen, wenn sie
schreiben: ,,Mittels der Rollen, die er spielt, wird der Einzelne in ein-
zelne Gebiete gesellschaftlich objektivierten Wissens eingewiesen,
5. 1 Werte und Nonne n
nicht allein im engeren kogn itiven Sinne, sondern auch in dem des
»Wissens« um Nonnen, Werte und sogar Gefühle." (Berger u. Luck-
mann 1966, S. 81) In dies em Sinne ist .normatlve Integration" ruf Par-
sons Bedingung der Stabilität. (N unne r-W inkler 1984, S. 406)
Nun könnte man annehmen, dass die Integration der sozialen Ord-
nung am ehesten gewährleistet ist, wenn niemand gegen sie verstößt,
wenn es also gar keiner strafenden Sanktionen bedarf. Dies scheint aber
nicht der Fall zu sein. So war schon EMILE DURKHEIMaufgefallen, dass
die Geltung von Nonnen aus dem kollektiven Bewu sstsein schwindet,
wenn sie nicht ab und an verletzt werden! " Das Verletzen einer sozia-
len Norm hat eine integrative Funktion für das Überleben des Gesamt-
systems der sozialen Nonn en, das bei kont inuierlichem Befolgen, also
bei totaler Kon formität schnellstens verdämme rn würde." (König 1969,
S. 980)
Deshalb haben vor allem die strafenden Sanktionen die Aufm erk-
samkeit der Soziolo gen auf sich gezogen. Sie interessierte weniger die
Frage, was Strafe für das Individuum bedeu tet, sondern wie diese Sank-
tion den Zusammenhalt einer Gese llschaft tangiert. Nach Durkheim
haben Strafen "die nützliche Funktion, (die Kollektivgefühle) auf dem
nämlichen Intensitätsgrad zu halten; denn jene Gefühle würden bald
erschlaffen, wenn die ihnen zugefügten Verletzungen nicht gesühnt
würd en." (Durkheim 1895, S. 181) Man kann es auch so sagen: Nor-
men, über die nicht geredet wird, verlieren ihre Wirkung . Deshalb gibt
es in bestimmten Ländern heute noch öffentliche Hinr ichtungen. Ob
diese Abschreckung letztlich jemanden von einem Verbrechen abhält,
ist umstritten, aber dass mit der öffentlichen Demonstration der Ent-
schlossenheit des Staates, Normverletzungen zu bestrafen, auch die
Normen selbs t ins Bewusstsein gerückt werden, ist unbestritten.
Durkh eim geht sog ar noch einen Sc hritt weiter: Auch das Verbre-
chen selbst, also die schwere Übertretung einer sozialen Norm, ist tor-
der lieh fiir den Erhalt und kann nützlich tur die Entwicklung einer Ge-
sellschaft sein. Förderlich für den Erhalt ist es, weil es moralische Emp-
findungen verletzt und sie somit im öffentl ichen Bewusstsein festigt.
(vg l. S. 160) Nützlich für die Entwicklung einer Gesellschaft kann es
sein, weil manche s Verbrechen "wirklich bloß eine Anti zipat ion der
zukünftigen Moral, der erste Schritt zu dem , was sein wird", ist. (ebd .)
Der Fall des Sokrates ist ein promin enter Bewei s.
Werte und Normen 55
Das erste Argument findet sich auch bei GEORGE HERBERT MEAD,
der im Vollzug der Strafe ein psychologisches Moment zur Stützung
des Rechtsbewusstseins sieht. Mead fragt aber weiter, waru m diese r
Effekt eintritt und welche Folgen er hat. Er tritt ein, weil sich jedes In-
dividuum mit eine r Gruppe identifiziert, der es angehört. Selbstver-
ständ lich nimmt es an, dass sie Teil der "gu ten Gesellschaft" ist, dass
also die allgemeinen Nonnen dort gelten . In dem Augenb lick, wo je-
mand diese Nonnen verle tzt, empfindet das Individuum das als Angriff
auf sich selbst und seine Gruppe . (vgl. Mead 19 18, S. 879) Instinktiv
rückt es näher an die ande ren in seiner Gruppe der Gesetzestreuen her-
an, um gemeinsam mit ihnen den äußeren Feind abzuwehren. Das kann
drastische Formen annehmen, wie wir es von der Lynchjustiz her ken-
nen, das kann aber auch in symbo lischen Gesten der Nonnkonfonnität
zum Ausdruck kommen .
Die öffentliche Entrüst ung über bestimmte Nonnverletzungen, die in
den Medie n insze niert wird , ist ein solcher symbol isch er Beweis. Wenn
dann auch noch eine öffe ntliche Bestrafung verm eldet wird, weiß sich
das gesunde Volksempfinden auf der richtigen Seite. Wenn die Skan-
dalpresse wieder einmal einen Ministerpräsidenten entdeckt, der sich
Frei flüge schen ken lässt, dann befriedigt das auf den ersten Blick Sen-
sationsgier, auf den zweiten Blick hat es aber eine ganz wichtige sczia-
le Funktion: Es zeigt, dass man nicht nur die Kleinen hängt, und das
wiederum hat zur Folge, dass sich der Glaube an die Gültigkeit der
Nonnen mit neuer Kraft auflädt.
Es muss aber auch gesehen werden, dass Sanktionen, die zu oft an-
gewandt werden, ihre Wirkung verlieren . Es kann sogar so sein, dass
die Verletzung der Nonnen dadurch, dass sie immer wieder sanktio-
niert wird, nun erst recht betrieben wird. Manches Verhältnis zwisc hen
den Vertretern der öffe ntlichen Ordnung und denen, die sie in mehr
ode r minder geistreicher Fonn störten, ist von so lchen gegen teiligen
Effekten geprägt. Eine exzessive Verme hrung der Nonnen, meint
HEINRICHPOPITZ (1925-2002), sanktioniert eine Norm zu Tode , eine zu
seltene Anwendung von Sankti onen schwächt die No rm ebenfalls:
verliert die Strafe ihr mora lisches Gewicht. Etwas, das beinahe jedem
reihum passiert, gilt nicht mehr als diskriminierend. Auch die Strafe
kann sich verbrauchen. Wenn die Norm nicht mehr ode r zu selten sank-
tioniert wird, verliert sie ihre Zähne , - muss sie dauernd zubeißen, we r-
den die Zähne stu mp f. (...)
Aber nicht nur die Sanktion verliert ihr Gewicht, wenn der Nachbar
zur Rechten und zur Linken bestraft wird. Es wird damit auch offenbar
- und zwa r in denkbar eindeu tiger Weise - , dass auch der Nachbar die
Norm nicht einhält.
Diese Demonstration des Ausmaßes der Nichtgeltung der Norm
wird sich aber ebenso wie der Gewichtsverlust der Sanktion auf die
Konformitätsbereitschaft auswirken. Werden allzu viele an den Pranger
gestellt, verliert nicht nur der Pranger seine Schrecken, sondern auch
der Normbruch seinen Ausnahmecharakter und damit den Charakter ei-
ner Tat, in der etwas »gebrochen«, zerbrochen wird." (Popitz 1968 :
Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, S. 17)
Po pitz deutet hier eine weitere Paradoxie in der Geltung von Nonnen
an: Wo z u häufig bekannt wird, dass Nonnen übertreten werde n, verlie-
ren sie ebenfalls ihre Wirkun g. Deshalb vert ritt Popitz die These, dass
kein Gesetzgeber daran interessiert se in dar f, alle No nnverletz ungen zu
kennen: " Ke in System sozialer Norme n könnte einer perfekten Verha l-
tenstransparen z ausgesetzt we rde n, ohne sich zu Tod e zu blamieren.
Eine Gesellsc haft, die jede Verhaltensabweichung au fdeck te, würde
zugleich die Ge ltung ihrer Normen ruinieren." (Popitz 1968, S. 9)
Wenn zu oft über Ste uerhinterziehu ng berichtet wird, bleibt nicht aus,
dass die allgemein e Steuermo ral sinkt. Die Dunkelziffer hat also eine n
Entlastungseffekt. Popitz sprich t sog ar vom "Nutzen der Dunk elzi ffer" .
(S . 14)
An mehreren Stellen wurde di e Frage angedeutet, wa rum Wert e und
Nonnen so se lbstverständlich gelten. Auf die se Frage haben die Th eo-
rien der Sozialisation eine Antwort gegeben. Um dieses Them a geht es
nun.
2 Sozialisation
2.1 Durkheim: Socialisation methodique
2.2 Freud: Über-Ich und Einschränkung der Triebbedürfnisse
2.3 Kulturanthropologie: Kulturelle Differenzen
2.4 Lernen unter den Bedingungen der Umwelt
2.5 Mead: Integration in einen organisierten Verhaltensprozess
2.6 Parsans: Herstellung funktional notwendiger Motivation
2.7 Hurrelmann: produktive Verarbeitung der Realität
Die Frage, wie wir werden, was wir sind, ist keine neue Frage. Seit je
hat man darüber nachgedacht, wie das Verhältnis zwischen Individuum
und Gesellschaft zustande kommt. Interessanterweise spielt in allen
Erklärungen dieses Verhältnisses der Gedanke eine Rolle, dass der
Mensch nicht von selbst mit der Gesellschaft zurechtkommt und umge-
kehrt dass auch die Gesellschaft sich ihrer Mitglieder nicht von vorn-
herein sicher sein kann. Vor allem dieser Aspekt scheint auch schon bei
der ersten Verwendung des Begriffes Sozialisation im Vordergrund
gestanden zu haben. Im Oxford Dictionary of the English Language aus
dem Jahre 1828 wird "to socialize" nämlich im Sinne von "to make fit
for living in society " verwendet. (Clausen 1968, S. 21)
In Gesellschaft leben zu können, ergibt sich offensichtlich nicht von
selbst, sondern man muss es irgendwie lernen. Damit stellt sich die
Frage, warum man es lernen muss, wie man es lernt und was die Be-
dingungen sind, unter denen man es lernt. Die Nachdenker haben dar-
auf ganz unterschiedliche Antworten gegeben, die bis heute in die Dis-
kussion über den Prozess und das Ziel von Sozialisation hineinspielen.
Man kann sie grob nach ihren Grundannahmen über das Verhältnis
zwischen Mensch und Gesellschaft unterscheiden. (vgl. Geulen 1991,
S. 21) Einige wurden schon unter dem Stichwort "Wie ist Gesellschaft
möglich?" angedeutet.
Eine Annahme lautet, dass der Mensch von Natur aus egoistisch sei.
Das war z. B. die Ansicht von Thomas Hobbes. Damit nicht einer des
anderen Feind werde, müsse man den Menschen durch Furcht im Zaum
halten. Dieser Gedanke der nachdrücklichen Anleitung zum " richtigen"
2 Sozialisation
dann verstärkt wieder bei TALCOTI PARSONS, für den Sozialisation die
Herstell ung funk tiona l - d. h. konkre t: aus der Forderung der Gesell-
schaft! - not wendiger Motivation bedeutet.
A ll diese Theori en m üssen aber imme r vor dem Hintergrund gedac ht
werden, dass gese llschaftliche Bedingun gen, unter denen wir aufwac h-
sen und "Gesellsc haft lernen" , nicht von Natur aus so sind, wie sie sind,
sondern vo n Menschen gesc haffen wurden. Aus dieser Perspektive
stell t sich also immer die kritische Frage nach der Legitim ität der Be-
ding unge n und der Ziele von Sozialisation in einer konkreten Gesel l-
sc haft. Einen Versuch, das Individu um als Kritiker und Konstru kteur
gese llschaftlicher Realität ins Spie l zu bringen , untern immt KLAUS
HURRELMANN.
Doch wie ist es mit dem Individuum? Ich hatte oben die Frage ge-
steilt, wieso die sozialen Tatsachen, die ja immerhin eine Einschrän -
kung seiner egoistischen Triebe bedeut en und einen moralischen
Zwang (contrainte) ausüben, so zwingend sind, dass sie internalisiert
werden. Durkheims Antwort lautet: Wenn man sich an die sozialen
Tat sachen hält, brin gt das Prestige. Was alle seit je für selbstverständ-
lich halten, was also im kollektiven Bewusstsein richtig ist, ist auch die
Norm, nach der wir Denken und Handeln beu rteilen. Deshalb kann man
sagen, dass die Sozialisationstheorie von Durkheim normativ ist.
So wie Durkh eim Sozialisation diskutiert, könnte man meinen, sie
führe notwendig zu einer Unterdrückung von Individualität. Das ist
aber seines Erachtens nicht der Fall: " Daraus, das s sich uns die sozialen
Glau bensvorstellungen und Verhaltenswei sen von außen aufdrängen,
folgt nicht, dass wir sie passiv aufnehmen und sie etwa keiner Mo difi-
kation unterzögen. Indem wir die kollektiven Instit utionen erfassen, sie
uns ass imilieren, individ ualisieren wir sie und verleihen ihnen mehr
oder minder unsere persönliche Marke." (Durkhe im 1895, S. 100
Anm .) Dass diese Erkläru ng am Vorrang der Gesellschaft gege nüber
dem Individuum keinen Zwe ifel lässt, braucht man nicht eige ns zu be-
tonen!
Eine ähn liche Ansicht vom Verhältnis zwischen Gesellschaft und
Individu um findet sich in einer zweiten großen Theorie, die sich zwar
nicht expli zit mit dem Th ema "S oz ialisation" befasst hat, aber ein en
außero rden tlichen Einfluss auf die Theorie der Sozialisation und die
öffentliche Diskussion über de n Prozess selbst gehabt hat, in der Psy-
choanalyse.
an, dass das Seelenl eben ein Apparat ist, der sich aus mehreren Teilen
oder Instanz en zusam mensetz t, die wiederum bestim mte Funktionen
erfü llen :
In einer Anme rkung sagt Freud, dass dieser älteste Teil des psychischen Apparates
durchs ganze Leben der wichtigste bleibt.
64 2 Sozialisation
Für eine Sozialisationstheorie ist vor allem die Funktion des Über-Ichs
interessant, denn Freud sagt, dass sich in ihm nicht nur die Einflüsse
der Eltern niederschlagen, sondern auch die der Gesellschaft. Den Pro-
zess seiner Ausbildung, den Freud am Ende seines Lebens so lapidar
beschreibt, muss man sich in Wirklichkeit als dramatische Auseinan-
dersetzung des Kindes mit dem Vater vorstellen. Freud unterstellt, dass
das Kleinkind in einer engen affektiven Bindung an die Mutter lebt und
den Vater als Rivalen um die emotionale Zuneigung der Mutter emp-
findet. Freud hat das in Anlehnung an den griechischen Mythos, nach
dem Ödipus unwissentlich seinen Vater Laos erschlagen und seine
Mutter lokaste geheiratet hat, den Ödipuskonflikt genannt: Das Kind
will sich unbewusst der Mutter sexuell bemächtigen und sie für sich
allein besitzen. Gleichzeitig hat es - ebenso unbewusst - Angst, dass
der Vater diesen Wunsch bemerkt und es bestraft. Um diesen Konflikt
abzuwehren oder zu dämpfen, identifiziert es sich mit dem Vater. Es
nimmt ihn gewissermaßen als Teil in das eigene Ich hinein, indem es
seine Gebote übernimmt.
Mit der Identifikation mit dem Vater übernimmt das Kind auch die
durch ihn vertretenen gesellschaftlichen Werte und Nonnen. Die psy-
chische Entwicklung ist nach dieser Theorie also " die Geschichte eines
Konflikts zwischen konstitutioneller Triebstruktur und Realität." (Geu-
len 1991, S. 25) Deshalb ließ sich die Theorie auch als Sozialisations-
theorie nutzen, weil sie erklärte, wie die Gesellschaft in das Individuum
eindringt, ohne dass es sich dessen bewusst wird und ohne dass es eine
2 Sozialisation 65
Chance hätte, sich dagegen zu wehren. Vor allem dieser letzte Aspekt
spielte in der frohgemut-dogmatischen " antiautoritären" Dis kussion
eine zentrale Rolle, indem man diesen Prozess des Eindringens der Ge-
seilschaft in die Köpfe und Herzen der Kinder zieml ich undifferenziert
mit der Unterdtiickung durch die Eltern gleichsetzte. Die kamen noch
gut dabei weg, wenn man auch ihnen zugestand, selbst Opfer der Ver-
hältnisse zu sein. Ganz grundsätzlich ging man aber davon aus, dass die
lustvolle Entfaltung der Triebe - zur Not auch noch nachträglich - das
Individuum frei mac ht.
Die Konzentration der populären Diskussion auf den ödipalen Kon-
flikt blendete die andere Seite des Beitrags der Psychoanalyse für eine
Sozialisationstheorie, die pessimistische Ku/turtheorie, aus. Sie liegt
nahe bei Durkheims Erklärung der Sozialisation des homo duplex. Was
waren die Kemannahm en dieser Kulturtheorie? Freud geht davon aus,
dass die Gesellschaft nur bestehen kann , wenn sie die Triebbedürfnisse
des Individuums weitgehend reguliert. Der Mensch ist nämlich "sp o n~
tan nicht arbeitslustig"; deshalb muss die zur Arbeit erforderliche psy-
chische Energie durch Sublimierung sein er Triebe gewonnen werden.
Das aber heißt ihre ursprü ngliche, wilde Gestalt zu zügeln und in eine
neue, gese llschaftlich erwünschte Fonn zu bringen. Oder anders: Kul-
tur ist ohne Triebverzicht nicht zu haben.
Hinter dieser The se steht nun eine Anthro po logie, die überha upt
nichts mit der opti mistischen Hoffnung auf die Befreiung durch Trieb-
enthemmung zu tun hat, im Gegenteil. In sein em betiihmten Beitrag
über "Das Unbehagen in der Kultur" (1930), in dem der alte Freud auf
die Erfahrung des ersten Weltkri eges zutiickblickte, schreibt er:
nen , die als »rohe Gewalt« verurteilt wird, entgegen. Diese Ersetzung
der Macht des einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entschei-
dende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, dass sich die Mitglie-
der der Gemei nscha ft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschrä n-
ken, während der einzelne keine solche Schranke kannte . (..) Die indi-
vidue lle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kul-
tur, allerdings dama ls meist ohne Wert, weil das Individuum kaum im-
stande war, sie zu verteidigen. Durch die Kulturentwicklung erfahrt sie
Einschränkunge n, und die Gerec htigkeit fordert, dass keinem diese Ein-
schränkungen erspart werden." (Freud 1930: Das Unbehagen in der
Ku ltur, S. 90)
VgJ. Band 1, Kap. 3.1 .Hobbes: Die Furcht vor dem Leviathan" .
2 Sozialisation 67
Die Existenz dieser Aggressionsneigung, die wir bei uns seihst ver-
spüren können, heim andere n mit Recht voraussetzen, ist das Moment,
das unser Verhältni s zum Nächsten stört und die Kultur zu ihrem Au f-
wand nötigt. Infolge dieser pr imären Feindseligke it der Me nsche n ge-
geneinander ist die Kulturgesellschaft bestä ndig vom Zerfa ll bedroht.
Das Intere sse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhal-
ten, triebha fte Leidenschaften sind stärker als vernü nftige Interessen .
Die Kultur muss alles au fbieten, um den Aggressionstrieben der Men-
schen Schranken zu setzen , ihre Äußerungen durc h psyc hische Reakti-
onsbildungen niederzuhalten." (Freud 1930: Das Unbehagen in der
Ku ltur, S. 102)
Den typischen Vertreter dieses Vaterbildes hat Heinrich Mann in seinem satiri-
schen Roman .D er Untertan" (1918) beschrieben.
70 2 Sozialisation
"Anders ist das Bild, wenn auch die Ergebni sse nicht unähn lich sind,
in den Einzimmer- und Einbetthaushalten der armen Bauemb evölke-
rung in Mittel- und Osteuropat , oder der niederen Arbeiterk lassen. Der
Vater gelangt in einen engen Kontakt zum Kind, was nur unter seltenen
Umständen eine größere Zuneigung zulässt, vielmehr in der Regel zu
heftigen und chronischen Reibungen fuhrt. Wenn der Vater müde von
seiner Arbeit heimkehrt oder betrunken aus dem Wirtshaus, lässt er
seinen Verdruss an der eingeschüchterten Familie, an Frau und Kindern
aus." (Malinowski 1924, S. 244f.) Die Gefühle zwischen dem Kind und
der Mutter sind durch die Erfahrung , Leidensgenossen zu sein, geprägt.
Die Sozialisation, die über diese Erfahrung vermittelt wird, ist be-
stimmt von einem Gefühl der Ohnmacht gegen soziale Verhältnisse.
Neben diese - aus dem Geist der zwanziger Jahre sicher überzeich-
nete - Beschreibung der klassenspezifischen Rolle des Vaters setzt Ma-
linowski nun eine zweite sozio logische Erklärung für die Konfrontat ion
zwischen Vater und Sohn, die der Konkurrenz im Wechsel der Genera-
tionen. Er schreibt: " Der Vater sieht in seinem Sohn seinen Nachfolger,
seinen Stammhalter, der ihn einmal ersetzen wird. Er wird daher umso
kritischer, und dies beeinflusst seine Empfindungen nach zwei Rich-
tungen. Wenn der Knabe gewisse geistige oder physische Defekte ver-
rät, das Ideal des Vaters nicht erfüllt, wird dies zur Quelle bitterer Ent-
täuschungen und Feindseligkeiten. Anderseits führt gerade auf dieser
Stufe ein bestimmtes Maß an Rivalität , der Groll wegen der zukünfti-
gen Absetzung, die Melancholie der verfallenden Generation, zu einer
gewissen Feindseligkeit. In beiden Fällen unterdriickt, verleiht diese
Feindseligkeit dem Vater eine gewisse Härte gegenüber dem Sohn, und
dies provoziert auf dem Reaktionswege eine Erwiderung der feindli-
chen Gefühle." (Malinowski 1924, S. 249) Da dieser Zusammenhang
zwischen Vatcr und Tochter nicht besteht, sind ihre Beziehungen zärt-
lichcr, wie das auch zwischen Mutter und Sohn ist. Fast überliest man,
was Malinow ski hier gegen Freuds Kemannahmen eingewandt hat,
wenn er zusammenfassend bemerkt, " dass die Neigung zum Kinde des
anderen Geschlechtes, weil es vom anderen Geschlechte ist, noch nicht
unbedingt eine geschlechtliche Neigung sein muss." (S. 250)
Die erste Studie, die Malinowski zwischen 1915 und 1918 auf dieser melanesi-
schen Insel durchführte, trug den bezeichnenden Titel "Das Geschlechtsleben der
Wilden in Nw -Melanesien'' ( 1929).
72 2 Sozialisation
ganz wesentlich bestimmt von den Geboten, unter denen sich die för-
dernden und strafenden Eltern selbs t sehen.
Zusammenfassend kann man sagen: Malinowskis Vergleiche legen
die Annahme nahe, dass es einen Kemkompl ex in jeder kindlichen
Entwi cklung und in j eder Gesellschaft gibt. Dieser Kemkompl ex hat
imm er etwas mit der Auseinandersetzung mit einer Autoritä t und Ge-
fühlen zu nahen Bezugspersonen zu tun. Er stellt ein System von Ge-
fühlen dar, das typisch für eine bestimmte Gesellschaftsfonn ist. (Mali-
nowski 1924, S. 272) Wie sich der Kemkomplex entwickelt und wie er
sich äußert, hängt von kulturellen und sozialen Bedingungen ab. Damit
sind einmal die spezifischen Werte und Moralvorstellungen gemeint,
damit ist aber auch die Familienstruktur gemeint. Gegen die orthodox e
Psychoanalyse, die nur eine Form des Ödipuskomplexes annahm,
scheint es Malinowski "n otwendig, die Wech selbeziehung biologischer
und sozialer Einflüsse systematischer zu untersuchen, nicht überall die
Existenz des Ödipus-Komplexes zu behaupten, sondern jeden Kultur-
typus zu studieren und den besonderen Komp lex festzustellen, der zu
ihm gehört." (S. 276) Es war der freundliche Rat an Freud, der damals
j a auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit stand, seine Axiome "dehn-
barer zu gestalten", vor allem aber die Dinge konkreter zu analysieren.
Ich sagte es schon eingangs, dass sich die frühe Sozialisationsfor-
schung und die Kulturanthropologie fast ausschließlich mit der Phase
der Kindheit und Jugend befasst haben. Danach ist Sozialisa tion der
Prozess, in dem die Heranwachsenden in die Rolle eines vollgültigen
Mitgliedes der Gesellscha ft hineinwachsen. Das bedeutete in aller Re-
gel, sich auf den Übergang zum Status des Erwachsenen zu konzentrie-
ren. In modem en Gesellschaften erfo lgt das in einem längeren Über-
gang, der im Wesentlichen durch schulisches Lernen und abrupte For-
derung (von seiten der Heranwachsenden) und allmähliche Zuges te-
hung (von Seiten der meist überraschten Eitern) von Rechten gekenn-
ze ichnet ist. Die kuit uranthrop ologische Forschung hat nun geze igt,
dass dieser Prozess in bestimmten Gesellschaften außerordentlich kurz
ist und z. T. dramatisch gestaltet wird. Der Übergang vom Status des
Kindes oder Jugendlichen zum Status des Erwachsenen erfolgt in ei-
nem Akt der Initiation. Auch diese Erfahrung stellte die Selbstverständ-
lichkeit unserer Annahmen über den Prozess des Hineinwachsens in die
Gesellscha ft in Frage.
2 Sozialisation 73
Da manchmal gefragt wird: Sie ist weder verwandt noch verschwägert mit George
Herbert Mead.
74 2 Sozialisation
Aus " basic needs" haben j a Sumner, aber auch Malinowski Institutionen erklärt!
(Vgl. Band I, Kap. 4.2 .Sumner: Folkways, Mores, Insntunons' und 4.3 ,,Mali-
nowski: Abgeleitete Bedürfnisse und die soziale Organisation des Verhaltens".)
2 Sozialisation 75
deli über das gesamte Leben. Breiten Raum nimmt außerdem die Be-
schreibung der Kindheit in zwei amerikanischen Indianerstämmen ein.
Erikson, der vor allem von Margaret Mead zu solchen Studien angeregt
worden war, wollte mit diesen Bildern von " Fremden im eigenen Land"
zeigen, dass es nicht nur ein Bild der Persönlichkeit ! gibt, sondern dass
Entwicklung und Struktur der Persönlichkeit von konkreten sozialen
und kulturellen Bedingungen abhängen.
So schilderte er, wie die Prärie-Indianer vom Stamme der Sioux in
Süddakota ihre Kinder aufzogen. Auf der einen Seite fiel Erikson, der
einige Zeit in diesem Stamm lebte, auf, dass das Kleinkind immer und
überall gestillt wurde, sobald es den Wunsch danach zum Ausdruck
brachte. Die Stillperiode dauerte manchmal drei bis fünf Jahre, und
eine systematische Entwöhnung gab es nicht. Die fehlende Frustration
schien soziale Sicherheit und eine große Freigebigkeit zu bewirken.
Auf der anderen Seite stellte Erikson fest, dass die Mütter ausgespro-
chen grausam mit ihren Kindern umgingen, wenn sie beim Saugen
Beißversuche machten. Dann stießen sie sie mit dem Kopf auf, was zu
einem Wutgeheul beim Säugling führte. Das kleine Siouxkind wurde
dann auf ein Wickelbrett gebunden und musste so seine Wut nach in-
nen richten. Erikson fragt, ob die auffällige Gewalttätigkeit der Sioux-
Indianer, aber auch ihre Fähigkeit, extreme Folter zu ertragen, nicht
damit zusammenhängen. (vgl. Erikson 1950a, S. 131-133)
Die Vorstellungen über den Zusammenhang von Kultur und Persön-
lichkeit bringt Erikson mit folgenden Worten zum Ausdruck:
Das wurde z. B. der Sozialisationstheorie von Taleort Parsons, auf die ich gleich
zu spreche n komme, immer wieder nachgesagt.
76 2 Sozialisation
gefühls geworden sind, welches das Individuum als Kem seiner inneren
Gesundheit und Leistungsfähigkeit bewahren muss. Aber Werte leben
nur dann weiter, wenn sie wirtschaftlich, psychologisch und geistig
wirksam bleiben . Und ich behaupte, dass sie dazu fortlaufend, Genera-
tion um Generation, in der frühen Erziehung des Kindes verankert wer-
den müssen, während die Erziehung ihrerseits, um ihre Konsistenz zu
bewahren, in ein System fortlaufender ökonomischer und kultureller
Synthese eingebette t sein muss. Denn es ist die Synthese, die in einer
Kultur wirksam wird, die immer zunehmend thematische Beziehungen
und wechse lseitige Verstärkung von Dingen , wie Klima und Körper-
bau, Wirtschaft und Psychologie, Gesellschaft und Erziehung , mitein-
ander zu verweben strebt." (Erikson 1950a: Kindheit und Gesellschaft.
S. 134)
Diese Studien wie auch die anderen Arbeiten Eriksons wurden rasch zu
einer optimistischen Instrumentalisierung der Psychoanalyse herange-
zogen. Abgesehen davon, dass er ohnehin eine Theorie sexueller und
sozialer Entwicklung vorlegte, in der lebenslang Korrekturen möglich
und Hoffnungen begrundet sind, war es Eriksons implizite Kritik am
fragwürdigen Umgang mit Sexualität in der westlichen Zivilisation,
was eine kritische Sozialisationsforschung beflügelte. Der folgende
Text venn ittelt etwas von der Faszination des kontrastiven Vergleichs:
tet wur de. Andere Heb el spendeten kein Futter. Nach und nach " lernte"
die Katze nun, welcher Hebel der richtige war. Es handelt sich also um
ein Lerne n am Erfolg. Dieses Lernen durch Versuch und Irrtum dauerte
zwar ein ige Zeit, aber dafür klappte es schließlich auch umso besser.
Später kamen noch Theorien hinzu, in denen Lernen durch die Imi-
tation von Modellen erklärt wird. Aus diesen psychologischen Theorien
hat sich für die Soz ialisationsfo rschung die Annah me ergeben, dass die
konk rete Umwelt einen entscheidenden Ein fluss au f das soz iale Verhal-
ten hat.
Damit lag der Schluss nahe, dass man bei entsprechender Verände-
rung des Lemmilieus auch das Verhalten steuern könnte. Genau dies
hat dann der amerikanische Psycho loge lOHN B. WATSON (1878- 1958)
auch verspro chen. Er vertrat die The se, dass Verhalten durch äußere
Reize ausgelöst wird. Dieses Verhalten nannt e er Reaktion. Der
Mensch lernt , welche Reaktionen zu welchem Erfolg führen. Auf diese
Weise generalisiert er die Reakti onen und bildet ein zw eckmäßiges
Verhalten aus. Verhalten ist also kondit ionierte Reaktion. Nur dieses
beobachtbare Verhalten interessierte Watso n. Was andere übe r das sag-
ten, was in der »black box« - Seele oder Kop f oder irgendetwas Ähnli-
ches - passiert , hielt er für reine Spekulation. Den G lauben an die Exis-
tenz eines Bewu sstseins verwies er in die "alten Zeiten des Aberglau-
bens und der Ma gie." (Watson 1930, S. 36) Wegen dieser Konzentrati-
on auf objek tives Verhalten wird die Theorie auch »Behaviorismus«
genann t.
Watson lehnte auch Annah men über " Begab ung, Neigung und die
Vererbung aller soge nannten »seelischen« Eigenschafte n" ab: " Das was
nach der Geburt geschieht, mac ht den einen zum Holzfäller und zum
Wasserträger, den anderen zum Diplomaten, Dieb, zum erfolgreichen
Geschäftsmann oder we ltberühmt en Wissen schaftl er." (Watson 1930,
S. 114) Gegen die Annahme, dass die gene tische Ausstattung über die
kognit ive und soz iale Entwicklung eines Menschen entscheide, setzt
die lerntheoretische Sozialisationsth eorie auf den Einfluss des Mil ieus.
Lapidar konstatierte Watson: " Im allgemeinen sind wir das, was die
Situation von uns fordert." (S. 272) Der Mensch, das ist die zentrale
These des Behaviorismu s, ist ein Produkt seiner Umwelt.
So hatte es schon im [ruhen 19. Jahrhundert der eng lische Utopist
und Sozialreformer ROBERT OWEN gesehen . Mit dem Motto ,,man is
2 Sozialisation 79
Vgl. Band I, Kap. 3.8 "Ordnung als Diskurs" , Kap. 4.4 " Institution als organisier-
te Form des Handeins" und in diesem Band S. 27.
2 Sozialisatio n 83
gegeben, und deshalb legt er auch so viel Wert auf die Beobachtung des
Verhaltens. Der Unterschied zum Behaviorismus Watsons besteht nun
darin: Für Watson war Verhalten konsequente Reaktion auf äußere
Reize und insofern ja auch regulierbar, wenn man eben die äußeren
Bedingungen veränderte. Was in der .jilack box" - von anderen Seele
oder Verstand genannt - passierte, interessierte ihn nicht, Spekulatio-
nen darüber waren für ihn keine Wissenschaft. Mead hielt aber gerade
die geistigen Aktivitäten, das Denken, als Erklärung für Verhalten für
wichtig. Während im strengen Behaviorismus ein passives Individuum
unter dem Diktat seiner Umwelt steht, rückte Mead das aktiv handelnde
und vernunftbegabte Subjekt in den Vordergrund.
Mead erklärt die tätige Auseinandersetzung des Menschen mit sei-
ner Welt mit einer spezifisch menschlichen Fähigkeit, die er Geist
nennt. Sie besteht darin, signifikante Symbole zu schaffen und zu ver-
wenden. Diese Fähigkeit, die das Verhalten steuert, ist in einer spezi-
fisch menschlichen Beziehungsform. die Mead Kommun ikation I nennt,
entstanden. In der Kommunikation nehmen sich die Individuen konkret
wahr, geben einander zu verstehen, welche Bedeutung sie ihrem Han-
deln beimessen und interpretieren so wechselseitig ihr Verhalten. In-
dem sie sich wechselseitigz in ihrem Handeln und in ihren Reaktionen
beobachten, beobachten sie sich auch selbst.
Mit dem Begriff Sozialbehaviorismus wollte sich Mead aber noch
von der zweiten großen psychologischen Theorie seiner Zeit abgrenzen,
von der "mehr oder weniger phantastischen Psychologie der Schule
Freuds" (Mead 1934, S. 255). Sein Vorbehalt gegen eine " Philosophie
der Bewusstseinsebenen" (S. 43 Anm. 3) hängt sicher auch damit zu-
sammen, dem Individuum ein Stück Freiheit zu erhalten: Mead sah das
Individuum eben nicht determiniert durch unbewusste seelische Vor-
gänge, die in der frühesten Kindheit abliefen und dann nur noch Varia-
tionen eines festliegenden Grundthemas zuließen. Die Freiheit des
Menschen besteht in einer spezifischen Fähigkeit zu handeln: Er kann
sich nämlich in die Rolle des Anderen hineinversetzen, sich und die
Situation des Handeins aus dessen Perspektive betrachten und dadurch
Ich weiß, dass die heute ganz anders heißen, aber da ich ihre Namen manchmal
schon gar nicht mehr richtig verstehe, sehen Sie mir bitte meinen Kenntnisstand
vergangener Zeiten nach!
2 Sozialisation 85
Den Un terschied zw ischen dem signi fika nten And eren und dem gene-
ralisierten And eren kann man an einem Beisp iel ve rdeutlichen: Die
Mutter 8., die das Mädchen C. täglich erlebt, ist d ie sign ifika nte An de-
ce, die das Mädchen im play nachahmt. Wenn das Mädchen C. sich
sei ne Gedanken über die .neuen Mütter" macht, die sich von ihren
Kindern emanzipieren, dann orientiert es sich an der generalisierten
An deren. Der generalisierte And ere ist das Bild, das " man" in einer
Gesellschaft vo n einer bestimmten Roll e oder einem bestimmten sozia-
len Zusammenhang hat. Der generalisie rte An dere ist also d ie Summe
der generellen Haltungen, die man in einer konkreten Situation von
all en Handelnd en erwartet. Er ist das Prinzip oder, we nn man so wi ll:
der Sinn der Inter-Akti on.t
Im pla y geht das Kind in der Roll e eines signifikanten Anderen ganz
auf, im game muss es sich genau davon entfernen und das generelle
Prinzip des Hand eins aller Beteiligten erfassen. Letztli ch wächst das
Ki nd in immer größe re symbo lische We lten hinein und lernt ihre Re-
geln zu begrei fen. Es spielt nicht mehr nur seine Rolle und versteht
nicht nur die RoUe seiner unmittelbaren Partn er in der konkreten Inter-
aktion, sonde rn es erfahrt, dass es in der Fam ilie, in einer Org anisation,
in der Ge sellschaft allgemeine Vo rstellungen gib t, w ie zu handeln ist.
Insofern kann man den generalisierten An deren auch als die Summe
der Erw artunge n aller, und letztl ich als die No nnen und Werte der Ge-
sellschaft, die in einer bestimmten Sit uation relevant sind, bezeichnen.
Sozi alisation ist nach der Theorie Meads fortlau fende Interaktion zwi-
schen konkre ten Indi viduen mit bestimmten Erwartungen und ganz
allgeme in Kommunikation zwisc hen dem Indi viduum und dem genera-
lisierten Anderen.
In den Interakti onen spie lt natürlich auc h das Bild, das jeman d von
sich selbs t a ls Partn er der anderen hat, eine wichtige Roll e. Auc h das ist
ein Produkt der Kom munikation, denn imm er wird sich das Indi viduum
frage n: Wie sehen mic h die anderen? Welches Bil d habe ich mir von
mir selbst auf der Basis dieser verm uteten Einschätzung gemac ht? Nun
kann man unterstellen, dass das kein einhe itlic hes Bil d sein wird, son-
dern je nach Situat ion wechselt. In der Ro lle des ve rliebten Fre undes
wird mich mein e Angebetete - hoffentl ich - an ders sehen und ich mich
Das werde ich noch einmal in Kap. 5.3 .jnteraktion - Verschrä nkung der Perspek-
tiven", S. 200, ansprechen.
2 Sozialisation 87
selbst sicher auch, als wenn ich als Automechaniker gefordert bin. Die-
ses Ich, das die Erwartungen und Einschät zungen der anderen spi egelt,
nennt Mead das »me«. Ich m öchte es als "reflektiertes Ich" bezeichnen.
Darauf werde ich noch einmal zurückkommen. t Hier nur soviel. Das
reflektie rte Ich enthält die Summ e der Reaktionen konkreter anderer
und natürlich auch die generellen Reaktionen, die es "s eitens aller Mit-
glieder der Gemeinschaft auf eine bestimmte Sit uation" (Mead 1934, S.
308) gibt. Mead hat diese gemeinsamen, überindividuellen Reaktionen
organisierte Haltungen oder Institutionen genannt.2 Es sind die gene-
rellen Haltungen des generali sierten Anderen. Auch sie werden im Pro-
zess der Sozial isation erworben und in wech selseitigem, fortlaufendem
Handeln bestätigt. Sozi alisat ion besteht in der spezifisch menschlichen
Kommun ikation zwischen dem Individuum und konkreten Anderen und
dem generalisierten Anderen . Der generalisierte Andere definiert den
Rahmen, in dem diese Kommunikation sinnvoll möglich wird.
Damit ist eine weitere Erklärun g, wie Sozialisation nach der Theorie
von Mead abläuft, angesprochen. Ich beginne mit der Frage, was ei-
gentlich Interaktion en zwischen ego und alter, wie wir die beiden Part-
ner einmal nennen wo llen, auslöst und warum die Interaktionen über-
haupt weitergehen. Mead beantwort et die Frage mit einer Theorie der
Kommunikations, nach der die Individuen wechs elseitig und in gleicher
Weise auf "Zeichen" , "Gesten" und "S ymbole" reagieren. Ich will die-
se Erklärung kurz in Erinnerung rufen .
Zeichen ist alles, was unsere Sinne reizt, vom Donner, bei dem wir
unwillkürlich zusamme nzucken, bis zur prächti gen Sahnetorte, die uns
das Wasser im Munde zusammen laufen lässt. Unter Gesten versteht
Mead ein bestimmtes Verhalten. Sie drücken den Sinn (emeaning«)
einer Interaktion aus und bergen insofern auch die weiteren Reaktionen
in sich. Gesten setzen "passende Reaktionen" in Gang. (Mead 1934, S.
52 Anm. 9) Das trifft auf den Hund Benno, der durch Gesten wie z. B.
Schwanzwedeln zum Ausdruck bringt, wie Fiffi von Hohenstein bitte
reagieren möge, ebenso zu wie auf Menschen, die sich auf leisen Soh-
len und in Demutshaltung einander nähern. Tiere reagieren automati sch
auf eine Geste, doch der Mensch denkt nach, was sie in einem konkre-
ten Kontex t bedeuten könnte. Wenn j emand vor unseren Augen einen
1 Vgl. unten Kap. 8.2 .Jdennu t • sich mit den Augen des andere n sehen", S. 338.
2 Vgl. Band I, Kap. 4.4 "Institution als organisierte Form des Handelns", S. 152["
3 Vgl. oben S. 82 Anm. I und unten S. 196ff..
88 2 Sozialisation
Stock schwingt, kann das in der einen Situati on bed euten, dass jema nd
uns droht, und in der anderen, dass sich jemand als lustiger Laiendiri-
gent aufführt .
Symbole sind Zeichen oder Begriffe, die Erfahrungen bündeln, die
über die konkrete Situation hinaus auf einen weiteren Sinnhorizont
verweisen. Wenn uns jemand ein Kreuz vorhält, dann nehmen wir nicht
nur zwei Stäbe wahr, die quer zueinander befestigt sind, son dern die
einen assoziieren eine Erlösungsgeschichte und andere vielleicht eine
Unterdrückungsgeschichte. Symbole bringen einen Sinn einer Situation
oder eines sozial en Phänomens zum Ausdruck.
Symbole, die ego und alter gleich interpretieren und zu denen sie
sich in gleicher Weise verhalten, nennt Me ad signifikante Symbole.
(vgl. Mead 1934, S. 188f.) Wenn wir nun handeln, dann orientieren wir
uns an diesen Symbolen und stellen uns vor, welcher Sinn aktuell in
Rede steht. Das alles erfo lgt natürlich in den seltensten Fällen bewuss t,
da wir die mei sten Situationen schon kennen und uns an das halten, was
sich bislan g als richtig, d. h. erfolgreich erwiesen hat. Wenn die Ampel
Rot zeigt, bleiben wir stehen, in Cottbus und in Wanne-Eiekel und
manchmal sog ar nachts, wenn die Straßen leer sind. Verbind et man nun
die Vorstellung, dass ego und alter in einer konkreten Interaktion wech-
selseitig die Rolle des Anderen übernehmen, mit der begründeten An-
nahm e, dass sie Zeichen, Gesten und Symbole in dergleichen Weise
interpretieren und sich damit auf das beziehen, was als organisiertes
Verhalten typisc h für eine soziale Gruppe oder Gemeinschaft ist, dann
wird klar, warum die Übernahme der Rolle des anderen immer auch
eine Form der sozialen Integration ist! Indem ego und alter nämlich
ihre möglichen Reaktionen ins Kalkül ziehen, unterziehen sie ihr Ver-
halten einer sozialen Kontrolle. Sie revidi eren vielleic ht ihre Hand-
lungsabsichten oder bestärken sie und lösen ein bestimmtes Handeln in
sich aus, das dann wieder das Handeln des anderen beeinflusst. Auf
diese Weise verschränken sich in der wechselseitigen RolIenüb emahme
auch die Perspektiven wechselseitig . Der Mechani smus der Übernahme
der Rolle des And eren dient dazu, "den Einzelnen und seine Handlun-
gen im Hinblick auf den organisierten gese llschaftlichen Erfahrungs-
und Verhaltensprozess zu integrieren." (S. 30 1)
Damit ist nun auch das Ziel des Sozialisat ionsprozesses benannt In-
tegration in einen organisierten Verhaltensprozess. Das darf aber nicht
als Zurichtung des Individuu ms durch die geregelte Gesellschaft, die
2 Soz ialisation 89
Den Gedankenhat Hege! später fortgeführt. Danach entsteht Freiheit aus der Ein-
sicht in die No twendigke it.
2 Sozialisation 91
voluntas - lat. Wille. Bei meiner Interpretation des " voluntaristischen" Aspektes
der Handlungstheorie stütze ich mich auf Parsons (1945, S. 55 und 56f.). Miebach
sieht es ähnlich: ,.Die Werte und Nonnen verwirklichen sich im Handeln nicht von
selbst, sondern müssen durch die Anstrengung des Individuums im Handeln zur
Geltung gebracht werden (Parsons 1935, S. 287). Der Begriff »Voluntarismus«
betont genau diese Willensanstrengung der Handelnden zur Verwirklichung von
Normen und Werten." (Miebach 2006, S. 70) Münch, einer der profundesten Par-
sons-Kermer, versteht den Voluntarismus allgemeiner, indem er das Handeln als
willentliche Entscheidung für bestimmte Mittel unter gegebenen normativen Be-
dingungen beschreibt. (Vgl. Münch 1982, S. 239 und S. 38; vgl. auch Band I,
Kap. 3.9 .Parsons: Nonna tive Integration", S. 126.)
92 2 Sozialisation
Auf Parsons' Rollentheorie gehe ich gleich in Kap. 3.1 ,,Rolle normative Erwar-
4
Der primäre Ort der Sozialisation ist die Kemfamilie. In der Interaktion
zwischen allen Beteiligten lernt das Kind, dass Interaktionen in Erwar-
tungen bestehen, die erfüllt werden müssen. Die Bedeutung komple-
mentärer Erwartungen wird ihm durch positive und negative Sanktio-
nen auf sein Verhalten nahegebracht. Da die Eltern von außen soziale
Erwartungen in die Familie mit hinein bringen und bestimmte Rollen
spielen, durchdringen sich im familialen Sozialisationsprozess Persön-
lichkeitsentwicklung des Kindes und Sozialstruktur. Anders als Freud,
dessen Theorie der Entwicklung des Über-Ich er im übrigen über-
nimmt, lenkt Parsons den Blick auf die Integration des Kindes in das
Gesellschaftssystem, von dem die Familie ein Teil ist. Er unterscheidet
fünf Phasen der Sozialisation:
1. In der ersten Phase ist das Kind völlig abhängig von der Mutter,
mit der es eine solidarische " Dyade" bildet. Diese Paarbeziehung
ist durch enge und dauerhafte Wechselwirkung gekennzeichnet.
Natürlich befindet sich die Mutter " in der Überwältigend domi-
nierenden Machtposition", indem sie z. B. die Stillzeiten be-
stimmt, aber schon auf dieser Stufe handelt der Säugling aktiv,
indem er z. B. durch Schreien die Mutter veranlasst, sich ihm
zuzuwenden. (Parsons 1958b, S. 107)
2. In der zweiten Phase wird vom Kleinkind schon erwartet, dass es
bewusst bestimmte Leistungen erbringt, die in dieser Gesell-
schaft von allen Kindern dieses Alters verlangt werden. Ich nen-
ne nur das leidige Thema " Schon trocken"!" . In dieser Phase
lernt das Kind auch zu sprechen und übernimmt damit auch die
sozialen Bezeichnungen der Dinge. Gleichzeitig nimmt es über
diese neue Form der Kommunikation Kontakt zu den anderen
Mitgliedern der Familie auf.
3. In der dritten Phase, die der ödipalen bei Freud entspricht, lernt
das Kind, dass es jünger ist als seine Eltern und dass es Unter-
schiede zwischen Vater und Mutter gibt. Es lernt die entschei-
denden sozialen Differenzierungen nach Alter und Geschlecht
und damit auch die Rollen, die damit verbunden sind. Bezogen
auf das Merkmal Alter lernt es den Zusammenhang von Hierar-
chie und Macht. Mit der Erfahrung des eigenen Geschlechts wird
zugleich der gesellschaftliche Anspruch virulent, erotisch-
emotionale Beziehungen zu Vater und Mutter zu neutralisieren.
Das ist auch die Funktion des lnzesttabus, mit dem sich Parsons
94 2 Sozialisation
Sozialisation heißt für Parsons also - ich wiederhole - das Erlernen von
sozialen Rollen. Jede Rolle in der Gesellschaft verlangt eine bestimmte
Motivation vom Handelnden. Parsons fragt also nicht, wie sich in ei-
nem Subjekt eine individuelle Motivation ausbilden kann, sondern ge-
nau umgeke hrt, "welche Motive durch gesellschaftliche Institutionen
jeweils als zulässig festgelegt werden", und deshalb steht für ihn das
Thema soziale Kontrolle im Vordergrund. (SprondeI 1977, S. 18)
In diesem Sinne ist auch der berühmte Aufsatz über .Die Schulklas-
se als soziales System" aus dem Jahre 1959 zu lesen, in dem Parsons
der Schule zwei Aufgaben attestiert: die Aufgabe der Sozialisation und
die Aufgabe der Allokation . Danach sollen in der Schule die Persön-
lichkeiten ausgebildet werden, die "der Erfüllung von Erwachsenenrol-
len motivationsmäßig und technisch gewachsen" sind. (Parsons 1959,
S. 349) Die Schule hat gleichzeitig die Funktion der Allokation. Das
bedeutet, dass sie Arbeitskraft herstellt und verteilt. Da es immer weni-
ger attraktive gesellschaftliche Positionen als individuelle Erwartungen
und vor allem Fähigkeiten gibt, setzt dieser Prozess der Allokation im-
mer auch Selekt ion voraus. Selegiert wird, indem Schüler nach dem
Kriterium der Leistung differenziert und in entsprechende Karrieren
eingewiesen werden. Woh lgemerkt: " Entsprechend" heißt, Art und
Wege der Karrieren werde n durch die Gesellschaft und nicht durch das
Individuum definiert!
Ziel der Sozialisation ist die Herstellung von Bedürfnisdispo sitio-
nen, die den vorgegebenen Rollen entsprechen. Das ist die Erklärung
für die Annahme Parsons', dass die Individuen den gesellschaftlichen
Werten und Normen letztlich freiwillig zustimmen. Sozialisation heißt
nämlich, die individuelle Motivation auf die funktionalen Anforderun-
gen der Gesellschaft auszurichten. Damit ist - ähnlich wie bei Durk-
heim - die Dominanz der Gesellschaft gegenüber dem Individuum be-
tont.
Der kritische Einwand, den man gegen diese Sozialisationstheorie
und die damit implizierte Erklärung der Entstehung und des Erhalts
sozialer Ordnung erheben kann, liegt auf der Hand : Nach der Intemali-
sierungstheorie erscheinen die "Akteure schließlich nur noch als Dupli-
kat der Nonnen und Werte der Gesellschaft" . (Hauck 1984, S. 153)
Deshalb hat DENNIS WRONG auch von einem .nbersoaiafisierten Men-
schenbild" (1961) gesprochen, in dem es keine Reste von Widerstand
oder Andersheit mehr gibt - oder geben sollte. Seine Warnung lautet:
96 2 Sozialisation
" Wenn unsere soziologische Theorie die Stabi lität und Integration der
Gesellschaft überbetont, werden wir in der Vorstellung landen, dass der
Mensch das körperlose, vom Gewissen getriebene und statussuchende
Phantom der modem en Theorie sei." (Wrang 1961, S. 238)
Die Krit ik las Parsons' Sozialisation stheorie als Theorie der Anpas-
sung an die gesellschaftlichen Verhältnisse. Da eine kritische Sozialisa-
tionsforschung diese Verhältnisse aber als zutiefst widersprüchlich
verstand, konnte eine kritische Sozialisation nur gedacht werden als
Teil oder gar als Voraussetzung zur Veränderung dieser Verhältnisse.
Zweitens wur de Parsons vorgeworfen, seine Sozial isationstheorie sei
auf die amerikani sche Mittelschichtge sellschaft zugeschnitten. Damit
favorisiere sie, was dort gilt, und bena chteilige die Ange hörigen der
Unterschichten. Von dieser Kritik aus entwickelte sich in den 70er Jah-
ren die Diskussion um Chancengleichheit. Dritt ens sah man in der Ein-
bindung dieser Sozial isation stheorie in eine Th eorie der sozialen Rolle
die Ge fahr, dass Individualität unterd rückt wird.
Der erste Einwand hat der Soz ialisations forschung übe r viele Jahre
zwa r viel Au fmerksamkeit beschert, sie letz tlich aber überfordert . Der
zwe ite Einwand ist nich t ganz richtig, aber auch nic ht ganz falsch.
Richtig ist, dass Parsons bei der Erklärung, wie Gesellschaft funktio-
niert, we lche Rolle die Familie in ihr spielt und was die Funktion von
Soz ialisation ist, natürlich die Gesellschaft seiner Zeit vor Augen hatte.
Falsch ist aber die Annahme, er sähe den Zusammenhang zwischen
Gesellschaftsst ruktur, Famili e, Schule und Sozialisation nur in diese r
ame rika nischen Gesellscha ftsstruktur gew ährle istet. Dieser Zusam-
menhan g gilt immer und überall. Von daher ist dann allerdings der drit-
te Einwand nicht von der Hand zu weisen. Natürlich konn te Parsons
aus seiner strukturfunktionalistischen Theo rie heraus und mit der Ori-
entierun g am Konzept der soz ialen Rolle der Individualität nur einen
nachgeordn eten Stellenwert einräumen. Merkwürdigerwe ise übersah er
dabei aber auch die konstrukti ve Leistun g, die das Individuum im Pro-
zess der Sozialisation selbst nach diese r Th eorie erbrachte.
Es dauerte einige Zeit, ehe diese konstruktive Se ite in der Soz ialisa-
tionsforschun g thematisiert wurd e. Angespro chen hatten sie schon PE·
TER L. BERGER und THOMAS LUCKMANN in ihrem Buch übe r "Die ge-
sellschaftliche Konstruktion der Wirklichk eit" ( 1966). Dort war die
These vertreten worde n, dass sich das Individuum seine Wirk lichkeit
du rchaus auch selbs t zurech tlegt - allerdings auch mit den Mitteln, die
2 Sozialisation 97
ihm die Gesellschaft über Wissen und Sprache an die Hand gibt. Sozia-
lisation ist insofern eine Form der Selbstsozialisation. als das Indivi-
duum durch sein Denken und Handeln seine Wirklichkeit immer wie-
der neu definiert.
Eine Sozialisationstheorie, die diese konstruktive Leistung des Indi-
viduums im Proz ess der Sozialisation ausdrücklich herausstellte, kam
erst in den 80er Jahr en heraus. Ein Vertreter dieser Diskussion ist
KLAUS HURRELMANN, der mit seinem "Handbuch der Sozialisations-
forschung" ( 1980), das er zusammen mit Dieter Ulich herausgegeben
hat, eine Syste matisierung der Diskussion in Deutschland vorgenom-
men hatte.
Wie ich eben schon angedeutet habe, ist diese neuere Sozialisations-
theorie von Berger und Luckmann geprägt, die das Indiv iduum als
Konstrukteur seiner Lebenswelt verstehen. Vor dem Hintergrund dieser
These entwirft Hurrelmann die Skizze seines Modells und zeigt, wo die
Vorteile. aber auch die Grenze n der so begründe ten Soziali sationstheo-
rie liegen:
Hurre1mann nennt zwar als Bezug Berger und Luckmann, aber die dann referier-
ten Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus stammen wesentlich von
Herbert Dlumer. (Vgl.unten Kap. 5.5 .Bl urner: Symbolische Interaktion".)
2 Sozialisation 99
Das Modell der »prod uktiven Realit ätsverarbeitung« drü ckt nach Hur-
relm ann s eigener Einsc hätzung " den ge meinsamen Nenner der neueren
Sozialisationstheorie n aus, näm lich d ie Vorste llung vom Ind ividuum,
das sich einerseits suchend und sondierend , ande rersei ts konstru ktiv
100 2 Sozialisation
Genau dieses Bild des Auftretens und wieder Abtretens findet sich auch
bei dem amerikanischen Kulturanthropologen RALPH LiNTON, der in
einem Aufsatz über den kulturellen Hintergrund der Persönlichkeit
feststellt, dass "ein System fortbesteht, während die Individuen. die
Plätze in ihm einnehme n, kommen und gehen kö nnen" , (Linto n 1945.
S. 252) Im soz iologischen Sinne sind die Plätze Positi onen. Die " Ge-
sam theit der ku lturellen Muster", die mit einer Position verb unde n sind
und die unab hä ngig von eine m konkreten Einzelnen gelten, ha t L inton
»Rolle « genannt. (ebd .) Vo n dieser Defin ition nimmt die soziologische
Rollentheori e ihren Ausg ang . Danach sind Positionen "e tw as prinzi-
piell unabhängig vom Einze lnen Denkbares" , und der Begriff der soz ia-
len Rolle bezeich net ein Bündel von Erwart ungen. (Dahrendorf 1958,
S.33)
Die Rollentheorie sc hlechthin stammt von TALCOTI PARSONS, der
darin seine Antwort auf Frage, wie Gesellschaft überhaupt möglich istt,
spezifiziert hat. Im Prozess der So zialisation werden die Ind ividuen
dazu gebracht, die vorgegebenen Rollen zu spielen und sich so in die
Gesellschaft zu integrieren , Das Verh ältnis zwischen Indi viduum und
Gesellschaft ist nach diese r Theorie eindeutig geregelt: normativ von
ihrer Seite und "freiwillig" zustimmend von jenem .
1 Seine Antwort habe ich in Band 1, Kap. 3.9 ,,Nonna tive Integration". referiert.
102 3 Rolle
Sehen Sie mir nach. wenn es immer mal wieder auftaucht. Ich halte es für eine
treffende Beschreibun g dessen, welche Rolle Parsens dem Individuum zugedacht
hat. Und außerdem kann man sich sofort klar machen, warum nach der funktiona-
listischen Theorie Gesellschaft im Großen und Ganzen funktioniert.
2 Deshalb auch der Titel in Band I, Kap. 3.9 ,,Parsons: Normative Integration".
104 3 Rolle
which we shall call his rote." (Parsons 1951, S. 25) In seinem Status ist
der Handelnde Gegens tand der Orientierungen der anderen. indem er
seine Rolle spielt. orientiert er sich an den anderen. Rolle meint die
sozialen Erwartungen an das Handeln.
Rollen wie auch das soziale System, in dem sie zum Ausdruck kom-
men, werden von "N ormen reguliert" und sind "durch Festlegung auf
Wertmuster chara kterisiert" (Parso ns 1966a, S. 140). Die Normativit ät
ergibt sich aus dem kulturellen System, in dem die Werte ] der Gesell-
schaft aufgehoben sind. Werte versteht Parsans im Sinne des
" Mustergültigen" (ebd.). Unter dieser Perspektive und bezogen auf die
sozialen Rollen kann man sich das Wertesystem als latenten gesell-
schaftlichen Konsens vorstellen, wie in einer kon kreten Situation ideal-
erweise gehandelt werde n soll. Normen " haben regulative Bed eutung
für soz iale Prozesse und Beziehungen" (ebd.) , schreiben also konkret
vor, wie zu hand eln ist.
Parsons versteht Werte, Norm en , Soz ialsystem (Kollekti v) und Rol -
len als Strukturkomponente n der Gesellschaft, die jeweils eine spezifi-
sche Funktion für die Erhalt ung einer bestimmten Struktur haben:
Jetzt stellt sich die Frage, wie Individuen dazu gebracht werden, dem
nonn ativen kulturellen System zu folgen, im sozialen System also ihre
Rollen zu spielen, und ihre Bedürfnisse auf die gesellschaftlichen Be-
dingungen abzustimmen oder genauer: wie das kulturelle System so im
Persönlichkeitssystem verankert wird, dass die Individuen so handeln
wollen, wie ... (ich sagte es schon). Auf diese Frage antwortet Parsons
mit seiner Rollentheorie. Danach bildet die Rolle den Schnittpunkt von
kulturellem System, sozialem System und Persönlichkeitssystem.
Wie schon gesagt, ist Parsans an der Frage interessiert, wie gesell-
schaftliche Ordnung zustande kommt und wie sie erhalten wird. Des-
halb fragt er in seiner Rollentheorie auch nach den funktionalen Erfor-
dernissen der Integration eines sozialen Systems. Sie hängt davon ab,
dass die Bedürfnisse des Individuums und seine Motivation zu handeln,
auf die soziale Struktur ausgerichtet werden:
deren Ablehnung und Bestra fung. Und was noch mehr ist: sie bilden
einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit. Im Ver lauf des Soziallsie-
rung sprozesses nimmt er - in mehr oder wen iger starkem Maße - die
Verhaltensmaßstäbe und Ideale der Gruppe in sich auf. Auf diese Weise
werden sie, unabhängig von äußeren Sanktionen, zu wirksame n Moti-
vierungskr äften für sein eigenes Verhalten. (...)
Vom funkti onalen Standpunkt aus stellen die ins titutionalisierten
Rollen Mechanismen dar, mit Hilfe derer die außerordentlich vielfälti-
gen Möglichkeiten der »mensc hlichen Natur« in ein einziges, inte-
griertes System eingefügt werden, das mit allen Situationserfordem is-
sen fertig werden kann, denen sich die Gesellschaft und ihre Mitglieder
gegenübetsehen (Korr. H. A.). In Bezug auf diese Möglichkeiten erfül-
len die Rollen zwei Hauptfunktionen: die erste ist selektiver Art und
besteht darin, dass sie die für die Bed ürfn isse und Toleranzen des j e-
weiligen Strukturmu sters »passenden« Verhaltensmöglichkeiten he-
rausbr ingen und alle anderen beiseite lassen oder verdrängen; die zwei-
te beste ht dar in, dass sie mit Hilfe bestimmter Interaktionsmechan ismen
die maximale monvierungsmäßige Stütze für ein den Rollenerwartun-
gen ent sprechendes Han deln sicherstellen. Wichtig ist vor allem, dass
die mit »Gewissen« und »Idealen, verbundene n, uneigennütz igen Mo-
tive und die eigennützigen Motive im Interesse gleicher verhaltenerich-
tungen wirken ." (Parsons 1945: Systematische Theorie in der Soziolo-
gie, S. 54-56)
Ich fas se z usam m en : " Soziales S ystem" m eint die jeweilige Ordnung in
den sozi a len Beziehungen. Die Ordnun g is t vo ra b gegeben und in der
Form vo n Institutionen, w orunter Parsons alle Rege lungen un d Fest set-
zungen des kulture llen Systems verste ht , unabhängi g vo n konkreten
Handlungen der Individuen. Aus dieser Sicht ist die Rolle ein sozial es
Muster, das un abhängi g von den Individuen ex istiert und ihnen un te r-
sch ied slos vorgib t, w ie sie handel n sollen . Parsons spricht von "stabili-
zoo patterns of inte raction" . H andeln ist du rc h W ert e, in stitutionelle
Vorgaben und d urch " no rmativ e M ust er" b estimmt, " die die w ün -
sche ns w erte R ichtung des Handelns in der Form vo n Z ie len und Ver-
ha lten smaßst äb en" an geben . (Parsons 194 5, S . 53 ) " W ünschenswert"
he ißt natürlich im Sinn e des Erhalt s eines bestimmten Systems, und
in sofern kommen der Rolle als S tru kturkom po nente des sozi al en S ys-
tems " in der Hauptsa che Anpassun gsfunktionen" zu. (P arsons 197 1, S .
16 und Parsons 1966a, S. 141)
3 Rolle 107
Bei diesen Annahmen fallt auf, dass zwischen den Erwartungen der
Handeln den Übereinstim mung unterstellt und als erstrebenswert ange-
sehen wird. In ihrer klassischen Fonn erklärt diese Ro llentheorie er-
folgreiches Handeln denn auch über Nonncnkonfonnität und Konsens
der Handelnden. Wenn ich sage ..klassische Form" , dann ist sc hon an-
gede utet, dass es noch eine andere Fo rm gibt. D as ist in der Tat so, aber
sie stellt das ideale Mode ll einer harmonischen Ord nun g nicht in Frage.
sondern trägt den reale n D ifferenzen und Dissensen Rechnung. Das
werde ich im Kapitel .Jnteraktion'' ! ausfü hrlich behand eln . Hier nur
einige And eutunge n.
Parsan s konstatiert zwar, dass jeder Handelnde sich an den kulturel-
len, no rmati ven Mustern orientiert. Das sollte den Einze lnen in seinem
Handeln eigentlich sicher machen. Doch ego wei ß, dass sei n Handeln
auch von den Erw artungen und Handlungen alters abhän gt, und wie
diese Erwartungen tatsächlich sind und welche H andlungen fol gen , das
kann ego nicht sicher wissen. Im Grunde kann ego nur von möglichen
Erwa rtungen alters ausgehen und dessen mögliches Handeln einkalku-
lieren . Da ein Teil der Erwartungen egos in möglichen Reaktionen al-
ters besteh t (Parsons 195 1, S. 5), sind egos Er wartungen nicht gewiss,
sondern kontin gent.
Das ganze gilt natUrIich auch für alter und seine Erw artungen . Die
Komplementarität der Erwartungen ist doppelt ungewiss. Deshalb ha-
ben Parsa ns und Shils die wech se lseitige Ab hängigkeit des Handeins
des einen von den möglichen Erwartungen und dem möglichen Handeln
als doppelte Kontingenz bezeichnet. (vgl. Parsons u. Sh ils 195 1, S. 16)
Warum und unter welcher Vora ussetzung kann den noch gehandelt
werden ? Ego kann alters Reaktion nur vorauss ehen und beeinflussen,
wenn ego und alter sich an de n gleichen kulturellen S tandar ds orientie-
ren. Gemeinsames Handeln setzt also voraus, dass die Intera ktionspart-
ner motiviert sind, nach den gleichen Nonnen und Werten zu hande ln,
und dass sie das auch voneinander annehmen ! Nur dann kann Möglich-
keit zumindest auf Wahrscheinlichkeit reduziert werd en .
Die Orientierung an gleichen Standards kann erwartet werden, weil
alle Handelnden in der gleichen Gesellschaft soz ialisiert wo rden sind.
Sie haben die Werte und No nnen mehr ode r weniger gleich intern ali-
siert. NatUrlich haben die Individu en höchst unterschied liche Situatio-
Diese zwe ite Vermutung hängt mit einem anderen Einwand gegen Parse ns zu-
sammen, den man als "struktu rtheoretische Erklärung sozi aler Prozesse" bez eich-
nen kann. Danach heißt Handeln nicht. dass Individuen nur unre flektiert soziale
Vorschriften exekutieren, sondern sie definieren sie als Handlungsmöglichkeiten,
treffen ihre Wahl und strukturieren dadurch die Situation und die Bedingungen ih-
res (Rollen-)Handelns. (Vgl. unten Kap. 4.6 "Rationale Wahl trotz »habits« und
»framesc", S. 173 Anm. L)
112 3 Rolle
ferenzen über kulturelle Ziele (cu ltu ral goa ls) und die legitimen Mittel
(instit ution al means), sie zu erreichen, gibt. Gegen Parson s gewendet
hieß das : O ffensichtlich gibt es höchst verschiedene Ziele in einer Ge-
sellschaft und viele Individuen haben nicht die Mittel, die offiziellen
Ziele zu erreichen, oder sie setzen andere Mittel ein. Je nachdem ob
Ziele und Mittel anerkann t oder nicht anerkannt werden, erge ben sich
die folgenden Verhaltensfonnen:
instit utionalisierte
Kulturelle Ziele Verhaltensformen
Mittel
+ + Ko nformität
+ - Innovation
- + Ritualismu s
- - Eskapismus, Apathie
+/- +/- Rebellion
ehen und dabei gleich noch die verklemmte Einstellung des Sparens
geißeln. Merton nennt das Apathie oder Eskapismus. In diesem Fall
steigt man aus dieser Gesellschaft mit ihren Werten und Nonnen
aus, und in jenem resigniert man.
• Und schließlich kann man sich noch den Fall denken, dass jemand
bestimmte Ziele und Mittel anerkennt, andere dagegen nicht, oder
die kulturellen Ziele und die institutionalisierten Mittel überhaupt
ablehnt, aber nicht aus der Gesellschaft aussteigen, sondern alles
umkrempeln will. Das nennt Merton Reb ellion . (vgl. Merton 1938,
S.293)
Diese Beispiele wurden nicht zufällig gewählt, um den Konflikt zwi-
schen Individuum und Gesellschaft zu beschreiben, denn Merton maß
die Stabilität der Gesellschaft an der Übereinstimmung von kulturellen
Zielen und institutionalisierten Mitteln, und dabei hatte er die amerika-
nische Gesellschaft vor Augen, die Reichtum und Erfolg als überragen-
de Ziele propagierte, aber nicht sah, dass vielen die Mittel fehlten, sie
zu erreichen. Bezogen auf die Rollentheorie lautet das Problem dann
so: Die Funktion der Ro lle ist, kulturelle Ziele zu definieren und Ver-
halten zu vereinheitlichen; wenn aber einem beträchtlichen Teil der
Gesellschaft die Mittel fehlen, diese Ziele auf sozial gebilligtem Wege
zu erreichen, verlieren sie ihre nonn ative Kraft.
Damit liegt der wichtigste Einwand gegen Parsons auf der Hand:
Die Werte einer Gesellschaft bedeuten nicht für alle Mitglieder der Ge-
sellschaft das gleiche, und die Möglichkeiten, sie erreichen zu können,
bzw. die Bereitschaft, sie erreichen zu wollen, sind verschieden. Das
heißt: Wenn es Gruppen gibt, in denen bestimmte Werte mit den insti-
tutionalisierten Mitteln nicht realisiert werden (können), kann man
sinnvoll auch nicht mehr von universellen Rollen sprechen. Merton
verdeutlicht seinen Einspruch gegen die Theorie seines Lehrers am
Widerspruch zwischen einer " amerikanischen Haupttugend" und einem
" amerikanischen Grundübel":
An diesen Konfliktlösungen fällt auf, dass nur die Trennun g der Hand-
lungsbereiche eine aktive Rolle des Individuums vorsieht. Die Erklä-
rung hän gt mit dem oben genannten Anspruch von Merton zusammen,
keine Theorie des Verhaltens, sondern eine Rollentheorie mit Blick auf
Strukt ur und Funktion sozialer Gebilde zu entwerfen. Diesen Blick
nimmt auch Dreitze1 bei seiner Darstellung der Lösungen von Interrol-
lenkonflikten ein.
Den Übergang zwischen dem strukturellen Aspekt und dem Hand-
lungsaspekt in einem Interrollenkonflikt kann man übrigens sehr schön
anhand einer alten schottischen Erzählung demonstrieren, an die RALPH
LINTON erinnert. Sie berichtet von einem Mann, der entdeckt , dass er
Dreitzel merkt an, dass Merton hier von sequences ofstatus (vgl. Merton 1957d,
S. 357) spricht. was eigentlich auch richtiger wäre.
118 3 Rolle
de n Mörder seines Bruders zu Gast hat. In der Rolle des Bruders ist der
M ann zu r Blu trach e berec htigt und sogar verpflichtet, in der Roll e des
Gastgebers hat er die Heiligkeit des Gastes zu respektieren. Der Mann
löst - im soziologischen Sinne - den Konfli kt über eine Statussequenz:
Er geleitet den Gast sicher übe r die Grenzen des Stammesgebietes und
verwickelt dann den Mörder in einen tödlichen Zweikampf. (Linton
1945, S. 254)
Das Thema »Rolle«, das dürfte nach den bisherigen Ausführungen
klar sein, steht für die Beziehung von Individuum und Gesellschaft.
Nach der Th eo rie von Parsons ist die Beziehung durch die Nonnativität
des kulturellen Systems und der damit gegebenen Rollen bestimmt.
Nach der Th eorie von Merton ist die Beziehung keineswegs einde utig,
sondern lässt Raum für abweichendes Verhalten oder erzwingt es so-
gar. Die Nonnativität der Rollen ergibt sich aus der jeweiligen Bezu gs-
gruppe, an der sich das Individuum orient iert. Für RALF DAHRENDORF
ist die Beziehun g zwischen Gesellschaft und Individuum eine "ärgerli-
che Tatsache", die nur dadurch gemildert wird, dass Rollen unter-
schiedliches Gew icht haben.
Jetzt aber zunächst einmal zum Begriff der Rolle, der damals in
Deutschland noch gar nicht so recht einge führt war. Dahrendorf
schreibt: " Der Punkt, an dem solche Vermittlung von Einze lnen und
Gesellschaft sich vollzieht und mit dem Menschen als gesellschaftli-
chem Wesen auch Homo Sociclogicus geboren wird, ist jener »Auftritt
als ...« auf der Bühne des Lebens, den Cicero in dem Begriff der »Per-
son«, Marx in dem der »Charektermaske« und Shakespeare - und mit
ihm die meisten neueren Sozio logen - in dem der »Rolle. zu fassen
sucht." (Dahre ndorf 1958, S. 27) Wenn in der Soziologie vom Men-
sehen gesprochen werde, dann nur vom Menschen als Rollenträger.
Deshalb der Titel " Homo Sociologicus".
Was wollte Dahrendorf? Nach eigenen Angaben suchte er " nach ei-
ner Elementarkatego rie für die eigenständige soziologische Analyse der
Probleme des sozialen Handeins." (Dahrendorf 1958, S. 5) Diese Kate-
gorie sieht er in der sozialen Rolle. Auf einen wichtigen theoretischen
Ausgangspunkt der The orie des homo sociologicus stößt man erst im
zweiten Teil, wo Dahrendor f sagt, dass er seine Elementarkategorie
»Rolle« und eine damit im Zusammenhang stehende Kategorie »Sta-
tus« bei dem schon erwähnten amerikanischen Kulturanthropologen
RALPH LINTON ge funden hat. Auf dessen Definition von Rolle hatte
sich auch schon Metto n bezogen. Bei Linton hieß es, die Rolle reprä-
sentiere den dynamischen Aspekt eines Status. Der Status ist definiert
über Rechte und Verpflichtungen, und wenn das Individuum ihnen in
seinem Verhalten nachkomme, spiele es eine Rolle. (vg l. Linton 1936,
S. 114)
Doch Dahrendorf wählt einen anderen theoretischen Hintergrund fü r
sein Konzept der Rolle. Ziemlich zum Schluss seines Essays gibt es
eine interessante Anmerkung zur strukturfunktionalen Theorie von
TALcolT PARSONS. Dahrendorf verweist zunächst auf sein Buch über
" Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft"
(1957) und fährt dann fort: " Bei der Skizzierung von Beispielen empi-
rischer Anwendungsmöglichkeiten der Kategorie der Rolle habe ich
hier bewusst Problemen des sozialen Konfliktes den Vorzug gegeben.
Im Kategorienschema des sog. strukturell-funktionalen Ansatzes zur
soz iologischen Theorie sind, wie sich zeigen lässt, die Elementarbegrif-
Ce »Positi on« und »Rolle« auf eine höchst unglück liche Weise mit einer
analytischen Position verquickt, deren Einseitigkeit sich nachwe isen
lässt. Es ist dies die Integrationstheor ie der Gesellschaft, nach der sozi-
3 Rolle 121
aus, die in einer Gesellschaft exrstteren: "Zu jeder Stellung, die ein
Mensch einnimmt, gehören gewisse Verhaltensweisen, die man von
dem Träger dieser Position erwartet; zu allem, was er ist, gehören Din-
ge, die er tut und hat; zu j eder sozialen Position gehört eine soziale Rol-
le. Indem der Einz elne soziale Positionen einnimm t, w ird er zur Person
des Dramas, das die Gesellschaft, in der er lebt, geschrieben hat. Mit
jeder Position gibt die Gesellschaft ihm ein e Rolle in die Hand, die er
zu spielen hat. Durch Positionen und Rollen werden die beiden Tatsa-
ehen des Einzelnen und der Gesellschaft vermittelt; dieses Begriffspaar
bezeichnet Homo Sociologicus, den Menschen der Soziologie," (Dah-
rendorf 1958, S. 32)
Der Homo Sociologicus steht " arn Schnittpunkt des Einzelnen und
der Gesellschaft", es ist "d er Mensch als Träger sozial vorgeformter
Rollen. Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind
ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft." (S. 20) Mit der
Rolle ist vorgeschrieben, was der Einzelne zu tun hat: " Während Posi-
tionen nur ürte in Bezugsfeldern bezeichnen, gibt die Rolle uns die Art
der Beziehungen zwischen den Trägern von Positionen und denen an-
derer Positionen desselben Feldes an. Soziale Rollen bezeichnen An-
spruche der Gesellscha ft an die Träger von Positionen. (...) Soziale Rol-
len sind Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesell-
scha ft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen." (Dahren-
dorfl 958. S. 33)
Dahrendorf stellt nun die Frage, wer eigentlich soziale Rollen defi-
niert und über ihre Einhaltung wacht. Seine Antwort bezieht wieder die
Situation des schon bekannten Studienrats Sclunidt ein:
men und Sanktionen, die sich auf das Verhalten des Lehrers beziehen.
Allgemein lassen sich für jede menschliche Gruppe gewisse Regeln und
Sanktionen angeben, mit denen diese Gruppe auf das Verhalten ihrer
Mitglieder und auf das von Nichtmitgliedern, zu denen die Gruppe in
Beziehung tritt , einwirkt und die sich prinzipiell von den Meinungen
der Einzelnen innerhalb oder außerhalb der Gruppe ablösen lassen. In
diesen Regeln und Sanktionen liegt der Ursprung von Rollenerwartun-
gen und ihrer Verbindlichkeit. Die Artikulierung solcher Erwartungen
stellt uns also in j edem einzelnen Fall vor die Aufgabe, zunächst die
Bezugsgruppen einer Position zu identifizieren und sodann die Normen
ausfindig zu machen, die j ede Gruppe im Hinblick auf die in Frage ste-
hende Position kennt." (Dahrendorf 1958: Homo Sociologicus, S. 48)
Die se einschränkende Definition des Begriffs der Roll e auf die Geltung
in einer Bezugsgruppe wird leicht überlesen. Sie ist aber wichti g, denn
Dahrendorf löst den Begriff gleichsam unter der Hand aus der all ge-
meinen kulturellen Nonnativität, die Parsans postul iert hatte. Jetzt er-
hält der Begriff der sozialen Rolle eine viel konkretere Bed eutung,
denn er meint keineswe gs "Verha ltensweisen, über deren Wün schbar-
keit ein mehr oder minder eindruc ksvo ller Consensus der Meinungen"
in der Gesellschaft besteht, sondern n ur solche, "die für den Einze lnen
verbindlich sind und deren Verbindlichkeit institution ali siert ist, also
unabhängig von seiner oder irgendeines anderen Meinung gilt." (Dah-
rendorf 1958, S. 47)
Dahrendorf betont, dass Ge sellschaft eine " ärge rliche" Ta tsache ist.
Das ist sie, weil sie übe r ihre Roll en normativ ist, Entsch eidungen zu
handeln also einschränk t, und weil sie Sanktionen zur Verfügun g hat,
individue lles Handeln also kontroll iert : "Soziale Roll en sind ein
Zwang, der auf den Einzelnen ausg eübt wird - mag dieser als eine Fes-
sel seiner privaten Wün sche od er als ein Ha lt, der ihm Sich erheit gibt,
erlebt werden. Dieser Charakte r vo n Rollenerwartungen be ruht darauf,
dass die Gesell scha ft Sanktionen zur Verfügung hat, mit deren Hilfe sie
die Vors chriften zu erzwin gen verm ag. Wer seine Rolle nicht spielt,
wird bestraft ; wer sie spielt, wird be lohn t, zumindes t aber nicht be-
straft," (Dahrendorf 1958, S. 36) Roll enhandeln erfolgt somit, weil das
Individ uum negative Sanktionen befürchtet ode r positive erhofft.
Die Bedeutung einer Rolle miss t Dahr endorf an der St renge der ge-
sellschatllichen Erwartunge n und dem Gewi cht der gesellschaftlichen
Sanktionen , die dam it verbunden sind. Er un terscheidet zwischen
124 3 Rolle
Damit ist Plessners These angesprochen, dass der Mensch das einzige Lebewesen
ist, das sich mit Hilfe des Denkens aus dem Zentrum seines unmittelbaren Milieus
hinausbegeben kann und sich von außen, aus einer "exzentrischen Positionalität"
( t 928, Kap. 7, I) betrachten kann und muss, um sich seiner selbst bewusst zu wer-
den.
126 3 Rolle
sagt: " Wer seine Rolle nicht spielt, wird bestraft; wer sie spielt, wird
belohnt, zumindest aber nicht bestraft ." (Dahrendorf 1958, S. 36) Das
Verhältnis von Individuum und Gesellschaft war für ihn klar geregelt:
Der ärgerl ichen Tatsache konnte jenes leidlich ent gehen, wenn es sich
dieser gegenüber nichts zuschulden kommen ließ! Rollenhand eln war
Sanktionsvenneidungsve rhalten.
Eben diesen Ausgangsp unkt bestritt Tenbruck, indem er behauptete,
dass rein logisch Sanktionen gar nicht der auslösende Faktor sein kön-
nen. Das demonstriert er an einigen Beispielen, die zugleich belegen
sollen, dass Dahrendorf zu Unrecht aus dem Gewicht von Erwartungen
und Sa nktionen auf die Bedeutung von Rollen schließt. Ich zitiere zwei,
in denen es um vitale Interessen der Gesellschaft geht, wo aber Sankti-
onen nicht erfolgen, wenn die gesellschaftlichen Erwartungen nicht
erfüllt werden: " Wer nicht heiratet, setzt sich allenfalls sehr geringen
Sanktionen aus, obschon das Heiraten für die Gesellschaft vital ist.
Man verlässt sich also darauf, dass zum Heiraten nicht genötigt zu wer-
den braucht." (Tenbruck 1961, S. 19) Und das andere Beispiel: "F ür die
modem e Industriegesellschaft vital ist jene Mischung aus rationeller
Lebenseinstellung und Konsumanspruch, die dem wirtschaftlichen Ge-
triebe als Basis dient. Dennoch sind auch hier die Sanktionen relativ
minim al, weil man sich darauf verlassen kann, dass diese Haltungen
normalerweise erzeugt werden." (ebd.)
Wieder andere Kritiker fragten geradezu empört, welches Men-
schenbild Dahrendorf mit dem Homo Sociologicus vertrete. Was sie
vor allem aufbrachte, war wohl Dahrendorfs unbekümmerte Feststel-
lung, dass das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellscha ft so ist,
wie es ist. Es gibt Rollen, und nach ihnen richtet sich das Individuum.
Und nur um diesen Menschen - den homo socio logicus eben - gehe es
in der Soz iologie. Die einen in der Zunft sahen das Individuum in sei-
ner Würde und Einzigartigkeit aufgegeben, die anderen sahen ihre Wis-
senschaft zum Instrument des Konformism us degradiert, und wieder
andere hielten den Gedanken, das Verhältnis zwischen Individuum und
Gesellschaft könnte entfremdet sein, für übertrieben bis falsch.
Genau diese Annahme aber war es, die JÜRGEN H ABERMAS zu einer
grundsätzl ichen Kritik an der Rollentheorie veranlasste. Grundsätzlich
deshalb , wei l er behauptete, dass in der Kategorie der Rolle die Ent-
fremdung des Menschen zum Ausdruck komm e. Habenn as vollzieht
mit seiner Kritik der Rollentheorie den Schritt von einer ordnungstheo-
3 Rolle 127
rien vorzieht, die dem Recht und der Fülle des Einzelnen Rechnung
trage n. Es ist metho disch durchaus unverdäc htig, bei der wissenschaft-
lich en Beschäftigun g mit der Ges ellscha ft den Gedanken an die mögli-
che Anwendung von Resultaten zum Nutzen und Woh l des freien Ein-
ze Inen nicht aus den Aug en zu verlier en." (Dahrendor f 1958, S. 94)
Dieses Bekenntnis reicht Habennas nicht, denn man müsse doch
fragen, wie sich solche Ziele " in der konkreten Situation rational aus-
weisen" ließen und ob diese "erkenntnisleitenden Interessen" nicht
möglicherweise durc h die Wah l so grundlegender Kategorien wie " Ro l-
le" in Frage geste llt würden. Um seine Kritik zu vers tehen, ist ein B lick
auf "die" Rollentheorie vo nnö ten, wie er sie An fang der 60er Jahre sah:
Rollenth eorie " überspringt" nach der Kritik vo n Habennas die konkre-
ten gesellschaftlichen Verh ältni sse und tut so, als ob es " immer gleiche
Grundve rhäl tnisse" gebe . Diese Soziologie ist blind "gegenübe r dem
histori schen Charakter der Gesellschaft" . (Habermas 1963, S. 239) Man
muss die Krit ik ab er noch we iter lesen, denn implizit wirft Habennas
der Rollentheorie nach Pa rsons vor, dass sie die " gesellschaftliche Ab -
wan dlung immer gleicher Grundve rhä ltnisse" in die spezifischen ge-
sellschaftlichen Verh ältnisse gutheißt.
Später hat Hab ennas seiner Kritik an der Rollentheorie eine etwas
andere Wendung gegebe n. Sie bezog sich nicht mehr in erster Linie auf
die Ges ellschaft, sondern auf die Annahmen über das Gelingen vo n
Hand eln , die seines Eracht ens der Rollentheorie zugrunde liegen. Diese
Kritik erhob er in einer Vorlesung im Jahre 1968, deren Mitschri ft ku rz
darauf als Raubdru ck unter dem Titel "S tichworte zur Theorie der So-
zialisation" bundesweit kursierte und erheblich zu der neuen Sicht auf
130 3 Rolle
Was ist also der zentrale Vorwurf an die Rollentheorie? Habennas sagt
es ganz deutlich : Sie vernachlässigt "drei Dimensionen möglicher Frei-
heitsgrade des Handelns." (Habennas 1968, S. 126) So schließt das
Integrationstheorem aus, dass wir das Ausmaß der Repressivität in ei-
ner Interaktion durchschauen; das Identitätstheorem sieht nicht vor,
dass wir die Rigidität der Rollendefinitionen durchschauen; und das
Konformitätstheorem sieht nicht vor, dass die Handelnden ihre mögli-
che Autonomie erkennen. (vgl. S. 127) Damit verschiebt Habennas die
Kritik an der Rollentheorie auf die Ebene des Bewusstseins und der
Qualifikation des handelnden Subjekts in und gegenüber den gesell-
schaftlichen Strukturen. Das lag natürlich nahe, da es Haberrnas ja in
seiner Vorlesung um eine Theorie der Sozialisation ging. Wenn er So-
zialisation nicht als bloße Zurichtung des Individuums auf die beste-
henden Verhältnisse verstehen wollte - und das verbot sich aus der von
ihm vertretenen Kritischen Theorie und aus dem Geist der Zeit sowieso
- , dann musste er Rollenhandeln eben als reflektiertes Handeln gegen
herrschende, in sich widersprüchliche Verhältnisse definieren.
So bemisst Habenn as denn auch "die im Sozialisationsprozess er-
worbenen Grundqualifikationen eines handelnden Subjekts in einem
gegebenen Rollensystem" erstens danach, ob der Handelnde der Rol-
lenambivalenz gewachsen ist, also Frustrationstoleranz hat, oder ob er
umgekehrt "die Komp lementarität der Erwartungen in offenem Rollen-
konflikt" bewusst abwehrt und verletzt oder sogar sich und anderen
vorspiegelt, seine Bedürfnisse würden in Wahrheit befriedigt, und so
die Komplementarität zwanghaft aufrechterhält. Er bewertet sie zwei-
tens danach, ob der Handelnde die Zweideutigkeit einer Rolle (Rollen-
ambi guität) zu einer kontrollierten Selbstdarstellung nutzt oder sich
selbst diffus präsentiert oder sich gar restriktiven Rollendefinitionen
ohne Widerstand unterwirft. Schließlich bewertet Habermas die
Grundqua lifikationen daran, ob der Handelnde "s ich relativ autonom
verhält und gut verinnerlichte Nonnen reflexiv anwendet" - das nennt
er fl exible Über-fch-Formation - oder ob er dazu neigt, auf auferlegte
Normen gehorsam zu reagieren oder sie gar zwanghaft anzuwenden.
(vgl. Habenn as 1968, S. 128f.)
Mit diesem Maßstab der Beurteilung des Handelns gegenüber Rol-
lenerwart ungen hat Habermas nicht nur die Nonn ativität der Rollen-
theorie nach Parsons in Frage gestellt, sondern gleichzeitig einen Maß-
stab zur Bewertung des Handeins vorgelegt. Der oben angefiihrte Be-
3 Rolle 133
Das Spektrum der Diskussion über soziales Handeln ist breit.t Zur
Vorgeschicht e einer höchst aktuellen Diskussion gehört eine Theorie,
die im strengen Sinn nicht in die Soziologie, sondern in die Psycholo-
gie, und zwar in eine ziemlich frühe Ausrichtung der Psycholo gie ge-
hört. Ich meine die Theorie des Behaviorismus, nach der Verhalten
durch äußere Bedingungen konditi oniert ist. An sie schloss eine Lern-
theorie an, die den Menschen zu den intelligenten Tieren zählt, die sich
die Bedingungen ihres Verhaltens selbst schaffen. Um die Frage, was
dem Menschen sein Tun bedeuten könnte , an welchem Sinn er es orien-
tiert, geht es in der psychologischen Lemtheorie nicht. Aber genau an
dieser Frage, welchen Sinn die Handelnden mit ihrem Handeln verbin-
den, wird in der Soziologie die Unterscheidung zwischen Verhalten
und Handeln fest gemacht.
Diese Differenzierung steht gleich in der klassischen soziologischen
Theorie des Handeins, der von MAX WEBER, im Vordergrund. Er er-
klärt Handeln aus dem Sinn, den die Handelnden mit ihrem Tun oder
Unterlassen verbinden, wobei dieser Sinn natürlich nicht aus ihnen
selbst geschöpft wird, sondern sich aus den kulturellen Vorgaben er-
gibt, unter denen sie handeln. Konkret sind es Tradition und Sitte, kul-
turelle Muster der Affekte und spezifische Wertorientienmgen, aber
auch die Ziele, die in dieser Gesellschaft als typisch erstrebenswert
Eine Hilfestellung zur Orientierung im weiten Feld habe ich in den letzten Sätzen
des letzten Kapitels angeboten.
4 Soziales Ilandein 135
gelten. Diese Vorgaben leiten unser Handeln, und sie garantieren, dass
wir uns in unserem Handeln in aller Regel auch verstehen.
TALCOlT PARSONS fragt, in welchen Strukturen die Individuen han -
dein und was ihr Handeln fur sie und für die Gesellschaft bedeutet.
Damit verbindet er die Theorie von Weber mit der von Durkheim . Par-
sons versteht unter Gesellschaft die "soziale Struktur" von Handlungen.
Handeln erfolgt wie bei Durkheim unter Befolgung institutioneller
Vorgaben und hat die Funktion, die gesellschaftliche Ord nung zu erhal-
ten. Deshalb komm t in der strukturfunktionalistischen Handlungstheo-
rie der Handelnde nur in Bezug zu sozialen Rollen vor. Im Zusammen-
spiel von kulturellen Werten, sozialen Nonnen und persönl icher Moti-
vation werden zwar individuelle Entscheidungen getroffen, aber sie
sind durch alternative Wertorientierungen sozial begrenzt.
Eine andere Sicht auf das Handeln kommt mit den Theorien auf, die
systematisch vorn individ uellen Akteur und seinen Entscheidungen
ausgehen. Wissenschaftstheoretisch sind die Akteurtheorien dem Erklä-
rungsprinzip des ,,methodologischen Individualismus" verp flichtet.
Nach diesen Theorien sind soziale Strukturen nicht als zwingende
Hand lungsbedingungen, sondern als Handlungsmöglichkeiten zu ver-
stehen. Ocr Akteur verfo lgt selbstgewählt e Ziele, verfolgt Strategien,
sie zu verwirklichen, und setzt die Mitt el ein, die den größten Erfolg
versprechen oder wenigstens den geringsten Aufwand erfordern. Durch
ihr Handeln, zumal es im Zusammenwirken mit dem der anderen Ak-
teure erfolgt, schaffen die Akteu re die Bedingungen weiteren HandeIns,
also Strukturen.
Ein klassisches Beispiel einer Akteurtheorie ist die Austauschtheorie
von GEORGE CASPAR HOMANS, die an die eben erwähnte Lerntheorie
anknüpft. Für Hornans ist Handeln im Prinzip die rationale Wahl von
Strategien in Abw ägung von Kosten und Nutzen. Das soll im ersten
Teil der Überschrift mit dem Begriff der "rationalen Wahl" angedeutet
werden. Dam it ist aber nicht gesagt, dass die Handlungsfolgen auch
rational oder intendiert sind. Die Entscheidungen des Akteurs werden -
bewusst oder unbewusst - in Konk urrenz oder auch in Kooperation mit
anderen Akteuren getroffen. Die Akt eure sind also interdependent, und
sie handeln unter der stillen Ann ahme eines "gerechten Tauschs" . Des-
halb kommen auch spez ifische Konstellationen oder Strukturen des
HandeIns zustande. Auf der Seite der Akteure selbst spielen dann natür-
lich auch die Erwartungen, die sie aneinander haben, und die Deutun-
136 4 Soziales Handeln
gen, die sie über ihr Handeln und das der ande ren vornehmen, eine ent-
scheidende Rolle. Erwartungen und Deutungen verbinden sich eben-
falls zu Strukturen.
Um die Annahm e, dass das "Sozial e" in einer fort laufend en wech-
selseitigen Konstitution von Handeln und Strukturen besteht, geht es
unter der Überschrift "Dualität der Struktur" . Dort wird die These von
ANTHONY GIDDENS vorgestellt, nach der gesellschaftliche Strukturen
nicht an sich, sondern nur in Fenn von Handlungen existieren. Struktu-
ren bedingen Handeln nur insofern, als sie es ermöglichen, umgekehrt
bedingen die Individuen die Strukturen insofern, als sie sich für be-
stimmte Handlungen entscheiden. Handeln ist also strukturiert und es
strukturiert seinerse its Handlungsbedi ngungen. Giddens spricht des-
halb von einer .jfuafity of struct ure".
Die Krei sbew egung Hand eln, Struktur, Hand eln nimmt auch HART·
MUT ESSER an, aber er lenkt den Blick auf einige Rahmenbedingungen
des Hande lns. Er nennt sie .Ji abits" und .Jrames". Sie scheinen auf den
ersten Blick der The se von der rationalen Wahl, die Esser vertritt, zu
widersprechen. Doch weder die Tatsache, dass sich die Hand elnde n an
Routinen ("habits") orientieren, noch die, dass sie Situation en durch die
Angabe eines übergreife nden Ziel s vereinfachen und strukturieren
("framing"), widersprechen dieser These.
Zum Sch luss werde ich als Zusammenfassung der Theorien des
Hand eins und z ur Vorb ereit ung der Theorien der Interakt ion die vier
Handlungsbegri ffe nennen, zwisc hen den en JüRGEN HABERMAS unte r-
schiede n hat.
4.1 Verha lten unt er gegebenen Umstä nden oder sinnvolles Han-
d eln ?
Wir kennen den Fall, dass der Mensch "aus sich heraus", "spon tan"
etwas tut. Hand elt cr dann oder verhält er sich "nur"? Nehmen wir z. B.
die Situation, in der der erste Mensch vor Urze iten durch die Sav anne
lief, plötzlich von einem brüll end en Löwen überrascht wurde und spon-
tan das Richti ge tat, indem er ihn mit der Ese lsbacke erschlug.t Jedes
Tier hätte - natürl ich hätte es keiner Eselsbacke bedu rft! - in einer ähn-
liche n Situation "richtig" reagiert , nämlich instinkti v. Reste des richti-
I Ich weiß, ich missbrauche dieses schöne Bild einer alten Erzählung!
4 Soziales Handeln 137
Von Verha lten sprechen wir immer da nn, wenn die ge lernte Reakti-
on auf äußere Bedin gungen gemeint ist. Der Psych ologe FREDERICK B.
SKINNER entw ickelte, wie gesagt , das Reiz-Reaktions-Schema weiter,
indem er nachwies, dass Tiere durch Le rne n am Erfolg ihr Verha lten so
organisieren. dass sie ohne die langen Umwege durch Versuch und
Intum direkt zum Erfolg komme n. Die Tauben, die nach vie len vergeb-
lichen Versuc hen. die Fu Uerklappe zu öffnen, endlich auf den Trichter
gekommen sind. dass da s Drücken der grü nen Taste zu m Erfolg führt .
drUcken schließ lich von vornhere in auf die grüne Taste. S ie schaffen
sich die Bedingungen des weiteren Verhaltens selbst. Der Soziologe
GEORGE CASPAR HO:MANS, der mit Skinner befreundet war, meint . dass
es zwi schen den Tau ben in der Psych ologie und dem Menschen in der
Soziolog ie im Prinzip kei nen Unterschied! gebe. Lerne n hei ßt, aus Re-
akt ionen auf eigenes Verh alte n Sc hlüsse zu ziehen. Das wiederum setzt
den Menschen in die La ge , die Bedi ngungen sei nes weiteren Verhal-
tens auch zu manipu lieren . Er tut, was nützlich ist, und vermei det. was
keinen Erfolg bringt.
T heori en. die von die se m Erklärun gsp rinz ip der Psyc hologie ihren
Au sgang ne hmen . ist vorgeworfen worden. sie seien redu kt ionistisch,
weil sie soziale Prozesse und Strukturen auf psyc hisc he Prozesse zu-
rUckführten und soziologisc he Aussagen d urch psyc hologisc he Hypo -
thesen ersetzten. (vgl. Hillm ann 1994. S. 90 1) Wie ich gleich zeigen
werde, betrachten d ie pro minentesten soziologi sc hen Theorien des
Ver haltens, die sich auf die Psyc hologie bezi ehen , das nicht als Vor-
wurf, so ndern zeigen. wie frucht bar dieser Ansatz ist. Wenn sie den-
noch von Handeln statt von Verhalten sprec hen, da nn hängt das d amit
zusammen, dass sie auf die konstrukti ve Leistun g der Individuen hin -
wei se n. Sie wählen unter Handlun gsmöglichk eiten, ziehen die Selekti-
onen der andere n in Betracht, tausc hen sich mit ihnen über d ie Bedeu-
tu ng der Sit uation und die Ziele ihres Handeins aus, kurz sie verle ihen
der Hand lungssituation Sinn.
Sinn ist in der Tat, wie es der Bielefelder Soziologe NIKLAS LUH-
MANN ( 1927- 1998) einmal gesagt hat, ein - oder vie lleic ht sogar der? -
Gru ndbegriff der Soziologie . Die spezi fisc he Funktio n des Sinn s sieht
Luhm ann in der Reduktion VOll Komplexität. Er ste llt fest. dass "der
Ich verweise vorsichtshalber noch einmal auf meine Anmerk ung über Tauben und
Falken auf S. 80 !
4 Soziales Handeln 139
Sinnbegri ff (...) die Ord nungsfonn mensc hlichen Erlebe ns" ist. (Luh-
mann 1971. S. 3 1) Wenn wir etwas erleben, dan n wissen wir, dass es in
diesem Augenb lick auch noch etwas anderes außerhalb dieser Sit uation
gib t, un d wir ahnen auch, dass die Situation selbst auc h ganz anders
erlebt we rden kann. Erleben we ist immer über sich hinaus. " Unaus-
weichlich bleibt daher das Problem, die Aktualität des Erlebe ns mit der
Transzend enz sei ner anderen Möglichkeiten zu integrieren, un d unaus-
we ichlich auch die Fo rm der Erlebn isve rarbeitu ng, die di es leistet. Sie
nennen wir Sinn." (Luhmann 1971, S. 3 1)
in immer anderer Weise reduziert und bleibt dabei bewahrt als allge-
mein konstit uierter Selektionsbereich. als »woraus. immer neuer und
immer anderer Wahlen - als Welt . Mit diesen Überlegungen haben wir
das Bezugsproblem abgeta stet, im Hinblick auf welches der Sinnbegri ff
sich funktiona l definieren lässt. Sinn fungiert als Prämisse der Erleb-
nisverarbe itung in einer Weise, die die Auswahl von Bewusstseinszu-
ständen erm öglicht, dabei das jeweils nicht Gewählte aber nicht ver-
nichtet, sonde rn es in der Fonn von Welt erhält und zugänglich bleiben
lässt." (Luhmann 1971: Sinn als Grundbe griff der Soziologie , S. 32-34)
Sinn ist ein Prozess, in dem Komplexität reduziert und die Handlungs-
möglichkeit selegiert wird, die den subjektiven und objektiven Bedin-
gungen am besten zu entsprechen scheint.
Was Luhmann hier ausgefü hrt hat, darf aber nicht so verstanden
werden, als ob es nur um das individuelle Erleben und Handeln ginge.
Im Gegenteil, das Individuum in der soziologischen Betrachtung steht
immer in Beziehung zu anderen Individuen, und sein Handeln hat im-
mer etwas mit dem Handeln der anderen zu tun. Natürlich kann ich
auch mit der sorgfaltigen Drapierung meines Kopfkissens einen Sinn
verbinden (dass ich mir z. B. jeden Morgen ein schönes Beispiel meiner
Ordentlichkeit liefern will) oder den Nachrichtensprecher lauthals be-
schimpfen, weil er m. E. bestimmte politische Meinungen immer mit
einem ironischen Lächeln vorträgt, doch das ist eher ein Fall für den
Psychologen als für den Soziologen. Sobald sich das Ganze aber vor
den Augen anderer abspielt, indem ich z. B. meiner Frau demonstriere,
wie man Betten "richtig" macht, ist die Soziologie gefragt. Denn dann
geht es um soziales Handeln und die Frage, welchen Sinn Handelnde
mit ihrem Handeln und dem der anderen - die uns z. B. beobachten -
verbinden.
Von dieser Frage, welcher Sinn gemeint ist, wenn Handelnde sich in
ihrem Handeln aufeinander beziehen, geht die bekannteste Definition
von Soziologie und knappste Gegenposition zu den psychologischen
Theorien des Verhaltens aus, die Definition von MAx WEBER. Um sei-
nen Begri ff des sozialen HandeIns geht es in der ersten soziolog ischen
Theorie des Handeins.
4 Soziales Handeln 141
Nur wenn wir mit unserem Verhalten irgende inen Sinn verbinde n,
sprechen wir von " Han deln", und nur we nn Menschen irgendeinen
Sinn mit dem Verhalten untereinander verbinden, sprechen wir von
Ich werde auch noch andere Aussagen von Weher wiederholen müssen. Bena ch-
ten Sie das als Chance der Verfestigung Ihrer Gedanken beim Lesen.
2 Weber selbst warnt in einer Vorbemerkung, er werde "unvermeidlich abstrakt und
wirklichkeitsfremd wirkende Begriffsdefinitionen" vorstellen. Wohl wahr! Lassen
Sie sich aber nicht davon abhalten, sie wieder und wieder zu lesen. Es nützt.
142 4 Soziales Handeln
"sozialem Handeln". Wenn ich vor Müdigkeit vom Fahrrad falle, ist es
kein Handeln, aber wenn ich vom Fahrrad springe, weil sich plötzlich
die Straße vor mir auftut, ist es Handeln. Es macht Sinn filr mich.
Wenn ich in die Hände klatsche, weil ich mich freue, ist es Handeln,
aber kein soziales Hand eln, aber wenn ich in die Hände klatsche, um
mit den Fans unsere Mann scha ft anzufeuern , dann ist es soziales Han-
deln. Es macht Sinn, und zwar ruf uns. Sinn heißt, dass es eine rationa-
le Erklärung für das Handeln gibt, dass wir also mit unserem Handeln
etwas Bestimmtes meinen und das dem anderen gegenüber zum Aus-
druck bringen und dass wir meinen, auch der andere habe mit seinem
Handeln etwas ganz Bestimmtes gemeint. An diesem wechselseitig
"gemeinten Sinn" ist soziales Handeln orientiert.
Weber betont, dass es beim so definierten sozialen Handeln nicht um
irgendeinen objektiv "richtigen" oder einen metaphysisch begründeten
"wahren" Sinn (Weber 1920b, S 654), sondern um den subjektiv "ge-
meinten" Sinn! geht. Nach dieser wichtigen KlarsteIlung bestimmt
Weber den Begriff des sozialen HandeIns genauer:
Alfred Schütz (1932) hat kritisiert, dass auch diese Einschränkung nicht erkläre,
wie der Sinn denn überhaupt zustande kommt. Wer nachlesen will, wie Schütz die
Konstitution von Sinn bis zu den passiven Prozessen nachzeichnet, in denen sich
Erlebnisse in uns ablagern und über Bewusstseinsleistungen in Erfahrungen ver-
wandelt werden, mit denen wir dann uns die Wirklichkeit konstruieren, kann das
nachlesen in Abels 1998, Kap. 3.
4 Soziales Handeln 143
Ich will einige Erläut erungen geben. Die zeitliche Dimension des sozia-
len Handeins ist ev iden t. Die zweite Differenzierung kann man sich an
einem Beispiel klar mach en. Wenn ich beim Mikadospiel au f die Tücke
der wackligen Stäbchen reagiere, dann ist das kein soz iales Hand eln.
We nn ich aber einen Zusammenbruch des Haufens herbeiführe in der
Hoffnung, dass dann einige Stäbchen zur Se ite rollen und meine Toch-
ter endlich auch mal einen Punkt bekomm t, dann ist es soz iales Han-
deln.
Die dritt e Differenzi erung hat Weber selbst wiede r erläutert. Ich will
sie noch weiter komm entieren, weil daran deutlich wird, warum ich
später Webe rs Begriff des sozialen Handeins unter der Präm isse, dass
die Handl ungssituation das erste am Sinn des HandeIns eines anderen
orientierte Handeln überdauert und eine Reaktion eines zweiten erfolgt,
auf den - von ihm nat ürlich noch nicht benutzten! - Begriff der Inter-
aktion zu führe. t Ich schmücke Webers Beispiel mit dem Zusamme n-
stoß zweier Rad fahrer aus. Wenn die zwe i Radfahr er ineinander knal-
len, dann ist das im soz iologischen Sinn ein Ereignis, das nichts mit
Hand eln zu tun hat. Auch die Tatsache, dass an diesem beda uerlichen
Ereignis zw ei Individuen beteiligt sind, macht das Ereignis nicht zum
sozialen Handeln. Wenn aber, so malt Weber die Koll ision aus, beid e
I Vgl. unten S. 180 Anm. I und Kap. 5.2 Weber: Soziale Beziehung", S. 193.
144 4 Soziales Handeln
Gehen wir die Bestimm ungsgründe des sozialen Hande Ins einze ln
du rch .
)- Das soziale Handeln kann erstens zweckrational bestimm t sein,
d. h. es werden gezielt bestimmte Mittel eingesetzt, um bestimm-
te Zwecke zu erreichen. .Zweckrational hand elt, wer sein Han-
deln nach Zweck, Mitt el und Nebenfolgen orientiert und dabei
sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die
Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen
Zwecke gegeneinan der ration al abwägt." (1920b, S. 675)
)- Zweitens kan n soz iales Handeln wertrational bestim mt sein .
" Rein wertra tiona l hande lt, wer ohne Rücks icht auf die vora us-
zusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung." Es
ist ein " Handeln nac h »Geboten« oder gemäß »Forderungen«,
die der Hand elnd e an sich ges te llt glaubt." (S. 67 4) D ieses Han-
146 4 Soziales Handeln
dein ist häufi g mit unb edingtem Geho rsam verb und en . Beispiele
finden wir in religiösem Verhalten und im Verhalten unter be-
stimmten Vorstellungen von Disziplin und verbindlichen Aufga-
ben. Das Handeln fundamentalistischer Bewegungen ist so be-
grü ndet , aber auch das Hand eln von Offizieren, die sich einem
bestimmten Ehrencodex verpflichtet fühlen. Die ökologische
Bewegung handelt nach bestimmten Werten, und eine konse-
quent e christliche Nächstenliebe fühlt sich bestimm ten Werten
verpflichtet. Ab er auch ganz andere Überzeugungsgemeinschaf-
ten könne n nach bestimmten Werten handel n. Für alle gilt, dass
für die Ziele des Handelns erst in zwe iter Linie Zustimmung
nach Logik und Ration alität, sondern in erste r Linie Zustimmung
nach Gefühl und Überzeug ung gesucht wird. Se lbst wo die Ziele
des Handelns obj ektiv von irrational gese tzten Wertungen be -
stimmt sein mögen, ist das Handeln , in diesem Fa ll die Verfo l-
gung der Ziele, in der Regel rational, d. h. kon sequ ent. Beispiele
für dies e Vermischung wertrationalen und zwec kra tion alen Han -
delns ist das Opfer der christlichen M ärtyrer ebe nso wie das OpM
fer ma ncher politisch entschiedener Üb erzeu gungstäter der Ne u-
ze it.
>- Die dritte Orientierung nennt Web er affektuell. insbesondere
emotional. Das Handeln kann ein e hemmungslose Reaktion au f
einen äußeren Reiz od er ein Ausbruch mä chti ger Gefü hle sein.
Im strenge n Sinn, wo dieses Handeln also ohne Refle xion, also
Rat ion alisierung, erfo lgt, steht das affektuelle Han deln "an der
Grenz e und oft jenseits dessen, was bew usst »sinnha ft« orien tiert
ist" . (Weber I920b, S. 674)
>- Viertens kann das soziale Hand eln traditional bestimmt sein. In-
sofern es "se hr oft nur ein dumpfes in der Richtung der einmal
eingelebt en Einstellung ablaufe ndes Reagieren au f gewohnte
Reize" ist, steht auch dieses Handeln im strengen Sinn "ganz und
gar an der Grenze und oft j enseits dessen, was man ein »sinn-
haft« ori entiertes Hand eln Oberhaupt nennen kann". Und Weber
fuhrt fort : " Die Masse alles eingeleb ten All tagshandelns nähert
sich diesem Typus." (vgl. S. 673f.) Beim traditiona len Handeln
result ieren Zie le und Verlauf des Handelns aus der Gewohn heit,
ohne dass viel darüber nachgedacht wird.
4 Soziales Handeln 147
Vgl. Band 1, Kap. 3.9 .,Normative Integration", S. 133f. und in diesem Band Kap.
1.4 .werte bestimmen die Richtung des Hande1ns", S. 33f,.
2 Vgl. oben Kap. 2.6 .Herstellung funktional notwendiger Motivation", S. 9 1.
148 4 Soziales Handeln
Vgl. Band 1, Kap. 3.9 .Normauve Integration", S. 128f., und Kap. 6.1 ,,s ystem-
theorie der Strukturerhaltun g".
2 Vgl. Band I, Kap. 6.2 .D as allgemei ne Handlungssystem und seine Subsysteme".
4 Soziales Handeln 149
Jede Fonn sozialer Ordnung und jedes Handeln stellen nach dieser
Theorie des allgemeinen Handlungssystems das Ergebnis des Zusam-
menspiels von kulturellen, sozialen und persönlichen Faktoren dar.
So weit zum makrosoziologischen Aspekt. Bevor wir nun einen
Blick auf die konkrete Handlung werfen, will ich noch einmal an die
gerade referierte Antwort Parsans' auf die Frage der sozialen Integrati-
on, d. h. der Erklärung und des Erhalts sozialer Ordnung erinnern: Im
Prozess der Sozialisation internalisiert das Individuum allgemein ver-
bindliche Werte und Nonnen. Parsons stellt dieser Antwort nun eine
zweite an die Seite: Die Gesellschaft funktioniert als ein System gegen-
seitiger Erwartungen und wechselseitiger Wertorientierungen der Han-
delnden. Diese Annahme steht im Zentrum der Handlungstheorie.
Parsans geht von der Interaktion zwischen ego und alter aus. Unter-
stellt man - und das tut Parsons - , dass beide ein Interesse daran haben,
ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und unterstellt man, dass die Ziele und
die Mittel dazu von beiden ähnlich gewichtet werden, dann sind ego
und alter im Prinzip füreinand er Konkurrenten. Das ist die Situation,
die THOMAS HOSSES vor Augen hau e. Während Hobbes annahm, dass
diese kritische Situation nur dadurch verhindert werden kann, dass je-
der Einzelne seine Macht auf eine zentrale Gewalt delegiert und sich
damit dem Zwang einer geregelten Ordnung unterwirft, nimmt Parsans
einen anderen Mechanismus der Ordnung an. Er geht davon aus, dass
sich Individuen zweckrational verhalten, sich dabei aber von kulturel-
len Geboten leiten lassen und sich deshalb in ihren Handlungen aufein-
ander einstellen.
Hintergrund dieser Annahme ist die Auseinandersetzung mit dem
Utilitarismus, einer sozialphilosophischen Strömung in England Ende
des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts, die unterstellte, dass jeder
Mensch »von Natur aus« nach größtmöglichem Nutzen in allen Berei-
chen des Lebens strebt. Parsons teilt die Grundannahme, dass das Indi-
viduum Bedürfnisse (eneed-dispositions«) befriedigen und Frustratio-
nen vermeiden will. Er nimmt auch ein Interesse an Gratifikation, also
Belohnung für Leistung, an, aber er bestreitet, dass es ein unbedingtes
Nutzenkalkül in allen Bereichen gibt. So gebe es neben vielen Berei-
chen, in denen dieses Streben nach Maximierung des Profits gelte (z. B.
in der Wirtschaft), andere Bereiche, in denen es keineswegs gelte (z. B.
in der Familie oder in einer Freundschaft).
150 4 Soziales Handeln
)- Daraus zieht Parsons den Schluss, dass dem Handeln eine nor-
mative Orientierung zugrundeliegt.
)- Zweitens nimmt Parsons an, dass der Hand eln de ein besti mmtes
Ziel vor Augen hat und dieses Ziel durch die Anwendung be-
stimmter M ittel zu erreichen sucht. Han deln ist also zweckorien-
tiert. Doch Parsons schränkt ein: Sow ohl bei der Definition der
Ziele seines Handeins, als auch bei der Abw ägurig der erforder-
lichen Mittel, sie zu erreichen, orientiert sich das Individuum an
dem, was in der Gesellschaft insgesamt oder in einem Teilsys-
tem kulturell geboten ist.
:» Schließl ich konst atiert Parsons, dass Handlun gen durch symboli-
sehe Prozesse angeleitet werden. Der Handelnde verbindet mit
seinem Handeln einen bestimmten Sinn, der über Symbole mit
dem Handeln anderer vermittelt ist.
Diese dritte Annahme wird verständlich, wenn wir wieder auf die Aus-
gangssituation, den Handlungszusammenhang von ego und alter zu-
rückgehen. Ego und alter sind im Prinzip Konkurrenten füreinander, sie
sind prinzipiell aber auch Partner füreinander. In jedem Fall gilt, dass
die Handlungen des einen nicht ohne Folgen für das Handeln des ande-
ren sind. Auf Handlungen alters, die ego für seine Zwecke für förder-
lich hält, wird ego wohlwollend, auf hinderliche Handlungen eher ab-
lehnend reagieren. Das gleiche gilt natürlich auch fü r alter. Beide wer-
den also ein Interesse daran haben, das Handeln des anderen zu antizi-
pieren, und ihr Wissen über das Handeln des anderen nutzen, um posi-
tive Handlungen des anderen he rbeizu führen oder negative zumindest
zu verhindern. Es entsteht eine »Komplementarität der Erwartungen«,
durch die "die Handlung eines jeden (...) an den Erwartungen des ande-
ren orientiert" ist. (Parsons 195 1, S. 205 u. 204)
Allmählich entsteht so ein System gegenseitiger Erwartungen, das
festlegt, wie ego und alter sich verhalten sollten. Es erhält eine norma-
tive Funktion. Diese normativen Muster bezeichnet Parsons als Werte,
die Orientierung der Handelnden nennt er Wertorientierung. Werte
reichen über konkrete Interaktionen hinaus. In dem Maße, wie der
Konsens über diese Werte wächst und ego und alter den Sinn ihres ge-
genseitigen Handeins nach diesen überindividuellen Werten beurteilen,
verfestigt sich eine symbolische Ordnung. Dieses "shared symbolic
system" stellt dann das kulturelle System dar. Die Struktur sozialer
4 Soz iales Handeln 151
Die Situation des Handeins muss also vorab bestimmt werden: Das
Individu um muss sich klar machen, was erwartet wird, was seine Inte-
ressen sind und wie seine Handlungsmöglichkeiten wohl sind. l ede
Entscheidung strukturiert die nächste Handlungssituation. Das gilt für
das Individuum wie für die anderen Handelnden gleichermaße n. Das ist
die Ausgangssituation, in der sich das Individuum nach den Orientie-
rungsalternativen entscheidet, die in seiner Gesellschaft als kulturell
angemessen gelten. Parsons unterscheidet nun zwischen den folgenden
Orientierungsmustem :
4 Soziales Handeln 153
möglich oder gar gefordert sind. Ein Beispiel für die Orientie-
rung an der Handlungsalternative Zuschreibung wäre der Dienst
nach Vorschrift, ein Beispiel für die andere Alternative das Han-
deln eines freien Unternehmers.
Später hat Parsons diese Alternative neu benannt, indem er
zwischen Eigenschaft (equality«) und Leistung (»performance«)
unterschied. (vgl. Brandenburg 1971, S. 64) Damit kam ein neu-
er Aspekt hinein, nämlich die Einschätzung des Handeins der
anderen Beteiligten. Ein Beispiel für die Orientierung »Eigen-
scha ft« ist "das Kind aus schlechtem Haus, von dem man be-
stimmte Dinge gar nicht erst erwarten kann", eines für die Orien-
tierung »Leistung« ist die sachliche Konstatierung der individu-
ellen Leistung.
Dass die Orientierung »Eigenschaft« nicht nur zu einer ganz
bestimmten Erwartung, sondern auch zu einer anderen Wahr-
nehmung gegen über den Betroffenen und sogar einem bestimm-
ten Verhalten bei diesen selbst führen kann, haben Experimente
in der Schule geze igt. So berichten Rosenthai und Jacobson
(1968), dass Lehrern zwei Gruppen von Kindern zugewiesen
wurden, die sie in ihre Klassen aufn ehmen sollten. Von der ers-
ten Gruppe hieß es, es seien Kinder, bei denen der Leistungstest
besond ers gute Ergebnisse gezeigt habe, von der zweiten, die
Leistungen seien unterdurchschnittlich. In Wahr heit unterschie-
den sich die Leistungen der Kinder überhaupt nicht. Als man
dann nach einem halben Jahr diese beiden Gruppen testete, zeig-
te sich, dass ihre Leistungen tatsächlich dem entsprachen, was
man ihnen vorher "zugeschri eben" hatte. Die Erklärung liegt auf
der Hand: Positive Erwartungen fuhren zu wohlwollender Unter-
stützung und spornen zu besonderen Leistungen an, negative
führen zu Unterforderung und demotivieren.
quenzen auch für jeden anderen Beteiligten hat. Das Modell der Orien-
tierungsalternativen verbindet die Kategorisierung der Situation durch
die Individuen mit den Motiven ihres HandeIns.
Die pattern variables markieren j eweils Pole von individuellen
Handlungsmöglichkeiten und individuellen Bewertungen des Handeins.
Dadurch dass es aber ein nonnatives System gibt, das Erwartungen an
Rollenhandeln definiert, markieren sie auch Pole von sozialen Hand-
lungsverpflichtungen und sozialen Bewertungen.
Diese doppelte Bedeutung kommt auch in den Fragen zum Aus-
druck, in denen UWE SCHIMANK die pattern variables umschreibt. Ich
zitiere sie als Zusammenfassung der nonnativen Orientierungen, wobei
ich die letzte Frage allerdings umfonnuliert habe:
). "Erlaubt eine Rolle das Ausleben affektiver Impulse, oder hat
das Rollenhandeln affektiv neutral zu sein?
,. Fordert eine Rolle dem Handelnden die Ausrichtung an den Be-
langen der jeweiligen Kollekü vitdt ab, oder kann er vorrangig
sein Eigeninteresse verfolgen?
>- Verpflichtet die Rolle den Handelnden zur Berücksichtigung
partikularistischer Standards der Situationsbeurteilung, oder hat
er universalistische Standards zu beachten?
)0 Ist die Rolle au ffu nktio nal spezifisch e Erwartungen hin angelegt,
oder sieht sich der Handelnde diffusen Erwartungen gegenüber?
)0 (Wird das Handeln in einer Rolle nach objektiver Leistung beur-
teilt, oder ist ihm die Rolle) aufgrund leistungsunabhängiger At-
tribute - z. B. sozialer Herkunft oder Geschlechtszugehörigkeit -
zugeschrieben?" (Schimank 1996, S. 85)
Die letzte Frage habe ich deshalb umfonnu liert, weil ich die Alternative
"achievement" anders als Schimank in Richtung der Beurteilung des
Handeins durch andere interpretiere. So hat es auch Linton, an dem
sich Parsons ja bei dieser Unterscheidung ursprünglich orientierte, ge-
sehen. Diese Interpretation sehe ich auch dadurch gestützt, dass Parsons
diese Alternative später in »performance« umbenannt hat Diese Um-
benennung ist Teil einer deutlichen Revision des Modells der pattern
variables, indem Parsons den Gedanken der typischen Motivation
fallengelassen und stattdessen in den pattern variables Muster der Klas-
sifikation von Objekten gesehen hat. (vgl. Parsons 1960) Als solche
158 4 Soziales Handeln
dienen sie dem Beobac hter zur Differenzierung der physischen , sozia-
Jen und kulturellen Obje kte seiner Handlungssituation .
So weit zum Konzept der pattem vari ables sel bst. Ich will noch kurz
andeuten, wie sie zur Strukt urerhaltung sozialer Systeme, die man als
..stabile Muster" von Interaktionen handelnder Personen (vgl. Parsons
1971. S. 15) bezeichnen kann, beitragen. Damit ein soziales System, als
System der Handlungen von Rollentr ägem. nicht in grundsätzliche
Unordnung gerät, müssen die Handlungsori entierun gen vorab und für
alle Beteiligten in gleicher Weise geregelt sein - zumindest muss das
Spektrum, innerhalb dessen individuelle Entscheidungen getroffen
werden. bekannt sein. Deshalb kann ma n auch eine Tendenz ausma-
chen, nach der Orientierung saltemativen letztlich entsc hieden werden
sollen: Damit das soziale System funktioniert, mü ssen part ik ulare in
universelle, zuschreibende in leis tun gsbezogene, spezifisc he in diffus-
allgemeine, affektive in neutrale und selbstbezog ene in kollektive Ori-
enti erun gen umgewandelt werden! Darin sieht Parson s auch kein Pro b-
lem, den n er geht von einem gemeinsamen kulture llen System aus, auf
da s sich die Handelnden bezie hen, und er hat mit seiner Theori e der
Internalisierung kulturelle r Werte auc h erklärt , warum man diesen ge-
meinsamen Bez ug zurec ht unterstellen kann. Die Werte bilden die kul -
turellen St and ards, die für das Handel n in einer bestimmten Gesell-
sc haft gehen. Handeln ist für Parsons also Handeln, das durc h kulturel-
le Werte und Nonnen gesteuert wird.
Di ese Sicht auf den Zusam menhang von Individuum und Gesell-
scha ft hat THOMAS P. WILSON als »normatives Paradigma« bezei chnet.
(Wilson 1970, S. 55ft.) Der Mensch , um den es in dieser Th eorie geht,
ist de r hamo sociotogtcus. Er defi niert H andlungssituationen als "m us-
tergülti ge" Beispiele normativer Erwartungen. Das war die Grundlage
der Rollentheori e von Par son s, und so kann man auch seine The orie des
Handeins lesen .
Münch (2003) spricht von ,,Handlungstheorie" und rechnet dazu auch Phänome-
nologie, Ethnomethodologie und Interaktlonismus, die ich unter dem Blick "Inter-
aktion" (Kap. 5) behandele. Den Begriff Akteurtheorien bevorzugt Schimank
(2000), der allerdings auch die Rollentheorie in diese Perspektive einbezieht.
160 4 Soziales Handeln
Für eine individ ualistische Theorie des HandeIns ist auch die These
von ADAM FERGUSON (1723- 1816) wichtig, won ach die "Kunst" zur
Natur des Menschen gehört. Ferguson meint es in dem ganz radikalen
Sinn der Veränderung der Natur und des Schaffens von Bedingungen:
Der Mensch "ist gewissermaße n sowohl der Künstler seiner eigenen
Ges talt als seines Schicksals." (1767, S. 103) Er ist das Wesen, das in
seiner "vorwärtsdrängenden Aktivität" seine sozialen Verhältnisse
selbst! schafft. In moderner Terminologie würden wir sagen : Die Ge-
sellschaft ist die Summe der Handlungen der Akteu re.
An den Gedanke n des ursprünglichen Selbstinteresses der Individu-
en und der allmäh lichen Herausbildung zweckmäßiger sozialer Rege-
lungen schloss sich eine »utilitaristischeeä Philosophie an. Danach ist
das, was allen nützt, auch das Gute. Da j eder sein individuelles Glück
mehren will, handeln alle nach dem Prinzip der Nützlichkeit. Doch der
Nutzen kann nicht maximal, sondern immer nur relativ sein, da die in-
dividuellen Interessen in Konk urrenz zueinander stehen können und da
die Mittel, sie zu verfolgen, nicht gleich verte ilt sind. Dennoch gilt: Um
ihre Bedürfnisse zu befriedigen, entscheiden sich die Individu en filr die
Handlungsmöglichkeiten, die den relativ größten Nutzen versprechen
und die geringsten Kosten verursachen. Ende des 18. Jahrh underts for-
mulierte der englische Sozialphilosoph und Volkswirt JEREMY
BENTHAM (1748-1832) die gri ffige Parol e des Utilitarismus, wonach
das Prinzip der Sittlichkeit im "größten Glück der größten Zahl" liegt.
Wenden wir uns nach der sozio logiehistorischen Einbettung der
Th eorien, die systematisch vom Handeln eines Individuums ihren Aus-
gang nehm en, nun einigen Grundannahmen der soziologischen Diskus-
sion zu, die im letzten Dri ttel des 20. Jahrhunderts bega nn. Ich will sie
so formulieren:
};> Erstens, Aussa gen über soziale Strukt uren und Prozesse können
auf Auss agen über das Handeln von Individuen zurückgeführt
werd en.
Hier dürfte KA RLMARX, den Esser ebenfalls in die Ahnenreihe des methodologi-
sehen Individualismus rechnet, seine Zweifel gehabt haben. Gerade deshalb zieht
Esser ihn aber als Kronzeugen für die Erklärung des Zusammenhangs von Struk-
tur , Handeln und Struktur heran. Ich komme darauf in Kap. 4.5 ,,Dualität der
Struktur" gleich zurück.
2 utilis, lat. "brauchbar, nützlich"
162 4 Soziales Handeln
Den deutlich sten Impuls, den Zusammenhang von Gese llscha ft und
Individ uum von dessen Handeln aus zu denken, gab im Jahr 1964 der
damalige Präsid ent der Am erik anischen Soziologischen Ges ellschaft
GEORGE CASPAR HOM ANS ( 1910 - 1989) , der seine »Presidentia l
Adress« unter den sprechenden Titel .Bringing Men Back In" stellte. In
diesem Vortrag, in dem Hom ans nach eigener Aussage bewu sst "giftig"
sein woll te, bezeichnete er die bis dahin herrschende Schule des Funk-
tion alism us als "Hindernis" für da s " Verständnis sozialer Phänomene"
(1964 , S. 44) und begründete das damit, er hab e nur kon statiert, dass
etwas vorha nden sei, z. B. No nnen, Rollen oder Institut ionen, und dann
behauptet, dass sie ein bestimmtes Verhalten nach sich zögen od er eine
bestimmte Wirkun g hätten. D ie Frage aber, wie es überhaupt zu Nor-
men , Rolle n oder Instituti onen kom me, sei überh aupt nicht ges tellt
worden. Und auf die Frage, wa rum sich Menschen an Nonnen halten.
sei höch st allgemein geantwortet worde n, sie hätt en eben bestimm te
Werte intern alisiert. Eine Erklärung sei das nic ht, und Hom ans mokiert
sich über den Funktionalismus, dass man eine solche doch eigentlich
schon bei einem seiner Gründungsv äter. BRONISLAW MALlNOWSKl,
hätte lesen könn en . Der hatte nämli ch den Gehorsam gegenüber den
No nnen damit erklärt, dass er nach dem Maß ihre r Erfüllung "gewöhn-
4 Soziales Handeln 163
nen sie Grat ifikationen erhalte n, wo also ihr Verhalten bestätigt wird .
Diese Elementarform sozialen Verhaltens nennt Homans »Tausch«.
Get auscht werden nicht nur sichtbares Verhalten, sondern auch Ge-
fühle. (vgl. Homans 1961, S. 29) Das Geruht, das den Soziologen am
meisten interessiert, ist die soziale Anerkennung . Es ist der soziologi-
sche Begriff für die Belohnung im Skinnerschen Lernprogramm. Ho-
mans erläutert das Prinzip de s Tau schs an dem Beispiel, dass eine Sek-
retärin an einer bestimmten Stelle nicht weiter weiß und abwägt, ob sie
ihren Vorgesetzten fragt, was u. U. eine schlechte Beurteilung nach
sich ziehen würde , oder ob sie sich an eine Kollegin wend et. Sie tut
letzteres, bekommt Hilfe und bedankt sich. In den Worten der Tausch-
theorie des sozialen Verhaltens: Hilfe wurd e gegen Anerkenn ung ge-
tauscht. (vgl. S. 27)
Personen tau schen Leistun gen aus und be kommen dafür Gratifikati-
onen. Wer mitreiße nd reden kann , wird in den Bun destag gewählt, und
wer eine Oma über den Zebras treifen winkt, erntet ein freundli ches
Lächeln. In diesem Fall wird er sich den Genuss, belohnt zu werden,
durch wiederholt es freundliche s Verhalten verschaffen, injenem seinen
Wählern imm er wieder schöne ex empla seines rhetori schen Talents
liefern. Wer zw eimal ausg elach t wurde, we il er vor sich hinstammelte,
wird es sich dreimal überlegen, ob er Redner werden soll t, und wem
die vierte Oma noch immer nicht zugelächelt hat, wird in Zukunft auf
alte Mensch en im Verkehr nur noch im Notfall Rücksicht nehm en.
Kurz: Durch das Erbringen oder Unterlassen vo n Leistungen und das
Gewähren oder Vorenthalten von Gratifikationen verstärken die Akteu-
re wechselseitig ihr Verhalten. Im Sinne einer ökonomischen Theorie
kann man sagen, das Verhalten reguli ert sich nach Kosten und Nutzen.
"Soziales Verhalten ist als Gilteraustausch anzuse hen", der sich auf
Dau er bei einem " Gleichgewicht von Tauschgütem'' (Ho mans 1958, S.
184f.) einp endelt und auch nur so lange funktioni ert, wie alle Beteilig-
ten den Eindruck haben, dass der Tau sch gerecht ist, dass also der Wert
der Guter stimmt.
Homan s betont ausdrücklich, dass der Wert der Güter und die Ratio-
nalität des Verhaltens nicht von einem Beobachter und schon gar nicht
von einer "objektiven" Warte au s definiert werden können, sondern es
Den Fall des Demostheues lasse ich beiseite, da ich nicht weiß, ob man ihn nach
einer kognitiv gewendeten Lerntheorie oder nach der Theorie der paradoxen Inten-
tion behandeln soll.
4 Soziales Handeln 165
geht immer und ausschließlich um die Rationalität, die sich aus indivi-
duellen, erlernten Werten ergibt. Rational verhält sich der kleine Junge,
der raucht, weil er gelernt hat, dass ihm das soziale Anerkennung in
seiner Gruppe gebracht hat. Wir, die vernünftigen Nicht-mehr-Raucher,
wissen, dass das "eigentlich" irrational ist - nach unseren Maßstäben!
Das Verhalten einer Person ist rational, "wenn es (...) so berechnet ist,
dass sie daraus auf lange Sicht die größtmögliche Versorgung mit die-
sen Werten erhält." (Homans 1961, S. 68)
1. Der Austausch funktioniert auf Dauer nur, wenn alle beteiligten
Akteure auf ihre Kosten kommen, das heißt, möglichst viele Beloh-
nungen erhalten bzw. möglichst geringe Kosten haben. Unter dieser
Prämisse treffen sie eine rationale Wahl .
2. Zweitens muss der Austausch gerecht! sein, d. h. die Chancen des
Erfolgs und die Zumutungen der Einschränkungen müssen gleich
verteilt sein.
3. Das lässt sich nur feststellen und einfordern, wenn die Akteure sich
auf ein gemeinsames Wertsystem beziehen. Dieser Anspruch auf
einen gerechten Austausch führt drittens dazu, dass sich die
Tauschgtiter einpendeln.
4. Aus dauerhaften Austauschprozessen entsteht viertens eine be-
stimmte soziale Struktur. Sie verfestigt sich aber nicht, sondern
bleibt Prozess, in dem Individuen durch ihr Verhalten ständig
wechselseitig die Bedingungen für ihr Verhalten schaffen.
5. Und schließlich folgt aus diesen Überlegungen, dass Verhalten in
spezifischen sozialen Konstellationen erlernt wird und auch verän-
dert werden kann.
Dieses Prinzip des »conrinual bartering of one thing for another« hatte schon der
zynische Beobachter der englischen Gesellschaft, Bernard Mandeville, in seiner
Bienenfabel als Erklärung dafür abgegeben, warum Menschen einander Dienste
leisten. (vgJ. Mandeville 1723, S. 349)
166 4 Soziales Handeln
Auc h der Chicagocr Soz iologe JAM ES S. COLEMAN ( 1926- 1995) geht
davon aus, dass die Akteure die Handlungen auswählen, die die größte
Befriedigung ihrer Interessen versprechen. t Sie folgen nicht einfach
Nonne n, sondern verfolgen Intentionen, und deshalb treffen sie auch
bei der Entscheidung, welche Handlungsmöglichkeiten in Frage kom-
men, eine rationale Wahl (» rational choice«). Auf seine Grundhypothe-
se über die Intentionen und die Selektion der Handlun gsmöglichkeiten
hatte seinerzeit schon Homans hingewiesen. Sie lautete: "Jeder Han-
delnde wird versuchen, seine Macht auf solche Handlungen auszudeh-
nen, an denen er das größte Interesse hat." (Coleman 1964, zit. nach
Homans 1964, S. 50) Macht heißt ruf Coleman die Kontrolle über Res-
sourcen (Coleman 1990, Bd. 3, S. 146f.), aus denen das Handeln der
Akteure in einer konkreten Situation seinen Wert bezieht. Geht es z. B.
um den ökonomischen Erfolg, ist es in der Regel die Ressource Geld,
geht es um die Konkurrenz in einer Fakultät, ist es die Ressource Repu-
tation, und wenn Tom Sawyer vor den schönen Augen des fremden
Mädchens den penetranten Streber in den Staub zwingt, dann geht es
um die Ressource Aufmerksamkeit.
Damit ist auch schon das Problem benannt: Der Akteur kennt die
richtigen Mittel und Wege, um seine Ziele zu erreichen, aber er muss
feststellen, dass er diese Mittel und Wege nicht allein kontrolliert. Eini-
ge Bedingungen zur Befriedigung seiner Interessen werden von ande-
ren kontrolliert. Wenn ich z. B. überzeugt bin, dass die große Politik
ohne mich nicht erfolgreich sein kann, dann muss ich die Ochsentour
machen, um irgendwann ins Rampenlicht treten zu können. Es gibt
Konkurrenten, die das gleiche wollen, und lästige Mitläufer, die man
nicht abschütteln kann. Da jeder die Kontrolle über wichtige Ressour-
cen erlangen will, kann es passieren, dass man seine Ziele nur erreichen
kann, indem man die Kontrolle der anderen schwächt. Dazu bedarf es
weiterer symbolischer Austauschforrnen oder »Transaktionen«, die
man mit anderen Akteuren eingeht. Zu solchen Transaktionen gehören
z. B. "Bestechungen, Drohungen, Versprechen und Investitionen an
Ressourcen" . (Coleman 1990, Bd. I , S. 36) Es sind gewissermaßen
soziale Investitionen, von denen man hofft, dass sie sich rechnen. Da
die Handlungen der Akteure in der Regel voneinander abhängig und
Hier hat mich Rainer Schützeichel um eine schwierige Klippe der Formulierung
herumgelotst.
4 Soziales Handeln 167
Giddens greift in seiner Kritik deshalb noch über Parsons hinaus und
zielt auf einen Klassike r, der ihm die grundsätzliche Erklärung für den
Zusammenhang von Ges ellschaft und indivi due llem Handeln geliefert
hatte. Giddens veröffentlichte im Jahre 1976 ein Buch mit dem Tite l
.jcew Rules of Socio logical Method''! veröffentlicht. Bei .neuen" Re-
geln denkt man natürli ch an Durkhe ims " Rege ln der soziolog ischen
Methode" aus dem Jahre 1895. Dort hatte er die sozialen Tatsachen als
" Institutionen" bezeic hnet, um ihre Fixieru ng und Nonn ativität zu be-
tonen. Sie existierten " losgelöst von den bewussten Subjekten, die sie
sich vorstellen" und seien deshalb wie "Dinge" zu behandeln. (Durk-
heim 1895, S. 125)
Gege n diese Rege ln stellt Giddens seine .neuen Regeln", von denen
ich zwe i, die "die Produktion und Reproduktion der Ges ellschaft" (Re-
geln A), und zwe i, die "die Grenzen des Handeins" (Regel n B) betref-
fen, nenne.a
Der deutsche Titel lenkt m. E. von dem eigentlichen Ziel des Buches ab, das
Grundprobleme sozialwissenschaftl icher Theoriebildung behandeln will. Deshalb
nenne ich vorsichtshalber die Ausgangsthese. die Giddens im Vorwort zur deut-
schen Ausgabe so formuliert: ..Die Gesellschaftstheorie muss Handel n als rational
erklärbares Verhalten betrachten, das von den Handelnden reflexiv organisiert
wird; die Bedeutung der Sprache als Medium, wodurch dies erst möglich gemacht
wird. ist dabe i zu berücksichtigen." ( 1983, S. 8).
2 Die eigentliche Regel ist - wie auch im Original - jeweils kursiv gesetzt.
170 4 Soziales Handeln
B
EINS: ,,Menschliches Handeln hat Schra nken. Die Menschen produzie-
ren die Gesellschaft, aber sie tun es unter bestim mten historischen Be-
dingungen und nicht unter den Bedingungen ihrer eigenen Wahl." (...)
ZW EI: .S truauren üben auf menschliches Handeln nicht nur Zwang
aus, sondern ermöglichen es auch. Dieses Konzept nenne ich die Dua-
lität von Strukt ur. Strukturen können im Prinzip immer im Sinne ihrer
StrukJurierung untersucht werden. Die Untersuchu ng de r Strukturie-
rung sozialen HandeIns bede utet den Versuch einer Erklärung , wie
Strukturen durch Handeln konstituiert werden, und umgekehrt , wie
Handeln strukturell kon stituiert wird," (Giddens 1976: Interpretative
Soziologie, S. 197f.)
schließ lich derjenigen. die der Beeinflussung der von anderen entfalte-
ten Kräfte dienen. Hande ln hängt von der Fähi gkeit des Individuum s
ab, »einen Untersc hied herzustellen « zu einem vorher ex istierenden
Zustand oder Ereignisverlauf d. h. irgendeine Pe rm von Macht auszu-
üben ." (Gidde ns 1984. S. 65f.) Einen Unterschied herstellen heißt ja
nicht s anderes als sich gegen scheinbar Institutionalisiertes - sozia le
Tat sachen ode r eben Strukturvorgaben - zu entscheiden und dies durch
Handeln zu m Ausdruck zu bringen.
Die Er klärungen des Handeins, die nach dieser Theorie der Struktu-
rierung erfolgen, schließen des halb auch alle Folgen ein, denn jeder
Effekt ist de m Akteur zuzurech nen. und jeder Effekt trägt zur Struktu-
rierung der Handlungssituation bei. Deshalb noch einmal eine Erläu te-
rung zum Begriff der "Dualität der Struktur": "Menschliche Handlun-
gen sind - wie einige sich selbst reproduzieren de Phänomene in der
Natur - rekursivt . Das bedeutet. dass sie nicht nur durch die sozialen
Akteure hervorgeb racht werden. sondern von ihnen mit Hilfe eben je-
ner Mittel fortwährend reproduziert werden. durch die sie sich als Ak-
teure ausdrucken . In und durch ihre Handlungen reproduzieren die
Handelnden die Bedingungen. die ihr Handeln erm öglichen." (S. 52)
Der Akteur schafft mit seiner individuellen Selektion aus den Hand-
lungsmöglichkeiten sowohl individuelle Bedingungen seines weiteren
Handclns. als auch. da dieses Handeln auf das Hande ln der anderen
bezogen ist und es korrigierend ode r bestätigend beeinfluss t. soziale
Strukturen imm er wieder neu.
Das heißt natürlich nicht , dass der Akteur dabei von Null anfangt ,
sondern er bringt soziale Gewohnheiten mit , die ihm in seiner Gesell-
scha ft nahe gelegt wurden, und er handelt auch in einem objektiven
Rahmen, den sozial e Institutionen und materielle Bedin gungen defin ie-
ren. Des halb zur Erinnerung noch einmal, was Joas über den Doppel-
charakter der Stru ktur gesagt hat: Struktur muss verstanden werde n "a ls
Erm öglich ung und als Restriktion des Handeins, als Medium und als
Resultat der Praxis." (1oas 1992, S. 14) Jetzt also zum zwei ten Charak-
ter.
Nac h dem Konzept der Dualität der Struktur hat weder "das soziale
Objekt" noch "das handelnd e Subjekt" einen " kategorialen Vorr ang",
sondern bcide werden vielmehr "in rekursiven sozialen Handlungen
oder Praktiken kons tituiert und das heißt: produziert und reproduziert."
(Giddens 1988, S. 288f.) Konsequent rich tet sic h Giddcns des halb auch
nicht nur gegen den gerade scho n kritisierten " Imperialismus des ge-
sellschaftlichen Objekts", sondern auch gegen die interpretative Sozio-
logie. die "gleichsam auf einen Imperiali smus des Subjekts" gründe.
(1984. S. 52)
Er begründe t seine Kritik mit dem Argument, dass die sozia len Prak-
tiken, an denen sich der Handelnde selektiv orientiert. als "a lltagswelt-
liehe Wissensbestände" vorhanden sind. Deshalb sprich t Giddens auch
von einem "praktischen Bewusstsein" t, aus dem heraus wir handeln,
oder von einem " praktischen Wissen": Es ist "e in eher stillschweigend
hingenomme nes, implizit und unausgesprochen bleibendes Wissen dar-
über, wie in den vielfaltigen Zusammenhängen des sozia len Lebens zu
verfah ren sei ." (1988 , S. 29 1) Auch das trickreiche Individuum , das uns
später in der Theorie von ERVING GOFFMAN2 begegnen wird, und selbst
der aufmüpfige Narr, den HAROLD GARFINKEL3 in seine Krisenexperi-
mente schickt, erfindet die Strategien seines HandeIns nich t ganz aus
sich heraus. Im Gegenteil: Auch diese Störer der Normalität und Ge-
genstrategen bringe n ihre Sozialisation in dieser Gesellschaft mit , müs-
sen sich mit sozia len Institutionen und sozialen Erwartungen auseinen-
dersetzen, und Erfolg haben sie nur, wenn ihr abweic hendes Verhalten
anschlussfähig an das ist, was die Normalen zumindest für denkbar
halten !
Halten wir also zur Handlungsperspektive der »duality of structure«
fest: Handeln ist insofern strukturiert, als die Individuen um die sozia-
len Regeln wissen, nach denen in dieser Gesellschaft normalerweise
gehandelt wird. Das Handeln strukturiert insofern, als das Individuum
sich für ode r gegen diese Regel n entscheidet.
Giddens betont. dass hier das Konzept des Rezeptwissens nach Alfred Schütz Pate
gestanden habe (Gidde ns 1988, S. 29 1), und stellt an anderer Stelle heraus. dass
das Wesen des praktischen Bewusstseins ..nur in der Phänomenologie und Erhnc-
methodologie eine detaillierte und scharfsinnige Behandlung" (Giddens 1984. S.
57) erfahren habe.
2 Vgl. unten Kap. 8.4 "Wir alle spielen Theater".
3 Vgl. unten Kap. 5.7 .E thnomethodo jogie: Methodi sches im Alltagsleben".
4 Soziales Handeln 173
Nach Essers Theorie erfolgt Handeln nicht zufällig, sondern als ratio-
nale Wahl. Das heißt aber nicht, dass ihnen bewusst sein muss, warum
und wie sie handeln. Die soziologische Analyse zeigt, dass eine be-
stimmte Logik auch hinter einem scheinbar irrationalen Verhalten steht,
und diese Logik gehorcht der Abwägung von Kosten und Nutzen bei
Ich habe sie angedeutet, wo Merton Anomie auch damit erklärt hat. dass die Indi-
viduen kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel nicht anerkennen können
oder wollen und deshalb eigene Wege gehen. (vgl. oben S. 111 Anm. 1.)
2 Eine Fonnulienmg dieses sozialen Mechanismus, des sog. Themas-Theorems,
findet sich gleich in Kap. 5.5 ,,Blumcr: Symbolische Interaktion", S. 209.
174 4 Soziales Handeln
dig über alle Hand lungsalternati ven informie rt und gar nicht in der La-
ge, Kosten und Nutzen des Handelns nach einer oder gar mehrerer Al-
ternativen bis zum Ende durchzuspielen. Deshalb stütz t sich das norma-
le Handeln des homo sociologicus unreflektiert auf Gewo hnhe iten
(shabits« ). Ein andere r Einwand lautet, die Theorie der rationalen Wahl
gelte nur für das von Weber so gen annte .zwec krationa le Handeln" und
könne als Erklärun g für .wertrenonales Handeln" kaum und für .fradi-
tionales Hand eln" schon gar nicht dienen.
Esser sieht die Theorie der rationa len Wahl noch mit einem and eren
Einwand kon frontiert, der aus der interpretativen Soziologie kommt.
Danach dürfe man beim Hand eln nicht von " fixen Präferenzen" oder
"stabilen Erwartungen" ausgeh en. Stattdesse n würden Präferenzen und
Erwartungen fortlaufend neu definiert, und Hand eln könne damit er-
klärt werd en, dass Bedeutungen generiert würden. " Hierbei werde unter
den Akteuren ein Relevanzrahm en (aframe«) darüber festgelegt, was
der »Sinn« der jeweiligen Situation sei. (..) Welcher »frame- in der
Situation dominant wird, bestimmt dan ach das Handeln." (Esser 1990,
S. 233 f.)
Was antwortet Esser au f diese Einwän de? Nun, er sagt, so ist es, a-
be r das sind überhaupt keine Einwän de. Und das erklärt er wie folgt.
Versteht man unter »habits« Bündel von unreflektierten Reaktionen auf
bestimmte Umgebungsreize, dann ka nn ma n mit Max Weber sagen,
dass " die Masse alles eingelebte n Alltagshandeins" sich diesem unre-
flektierten Handeln nähert. Webe r hat es deshalb - wie Sie sich erinne rn
- als traditionales Handeln bezeichnet, weil es "sehr oft nur ein dump-
fes, in der Richtung der einmal eingelebten Ein stellung ablaufendes
Reagieren auf gewohnte Reize" sei. Im strengen Sinn stünde das tradi-
tionale Handeln "ganz und gar an der Grenze und oft jensei ts dessen,
was man ein »sinnhaft« ori entiertes Handeln überhaupt nennen kann".
(Weber 1922, S. 673f.)
Genau das will Esser aber behaupten: Auch dieses habituelle Han-
deln ist sinnhaft orient iert und rational. Dazu stellt er zunächst einmal
fest, dass habits kognitiv als "Schemata" oder .Skripte" repräsentiert
werden. Darun ter kann ma n das typ ische Wissen für typische Situatio-
nen oder .Rezcptwisscn" verstehen, das Routine erlaubt. ALFRED
SCHOTz wird dieses Rezeptwissen mit den Idealisierungen des "u nd so
176 4 Soziales Handeln
Rahmen der Sit uation muss Kon sens herrs chen, oder - wenn das nicht
der Fall - wenigs tens dürfen sich die unterschied lichen Rahmen, die die
Akt eure setze n, nicht gegenseitig ausschließen. Wer sich der still ver-
ehrte n Ko llegin auf dem Betriebsausflu g endlich offenbart und gleich
erhö rt wird, hat es gut. Das »framing« hat offenbar gestimmt. Wer nach
einem Flirt mit dem ne tten Kollegen am nächsten Morgen mit ansehen
mu ss, wie er mit einer anderen turt elt, hat Pech. Die »frames« stimmten
nicht.
Und wie löst eine Theorie der rationalen Wahl das Problem und wie-
so kann sie »frami ng« sogar als Beispiel ruf rationales Hand eln anfüh-
ren? Die Antwort hängt mit der gerade beschri ebenen Funkti on von
»habits « zusammen. Die Akteure kennen typi sche Zie le fiir typisch e
Sit uationen . Wer an den Traualtar tritt, weiß, wie er sich zu verha lten
hat, und er weiß, dass die anderen (Plural, weil Freu nde und Verwan dte
gerü hrt bis gelangweilt erwa rten, dass alles seinen gewo hnten Gang
geht !) das auch wisse n. »Frames« sind soz usagen soz ial codiert. Wer
sich an de n Code hält, fallt nicht aus dem Rahm en , hat also ke ine nega-
tiven sozialen Ko sten . Nur in Herz-Schm erzstück en macht die Fast-
braut, die im letzten Augen blick die Hand wegzieht, einen persönlichen
Gewinn. Alle anderen kriegen den übliche n Loh n, den man in dieser
Gesellschaft nach einem bestimmten konsensue llen »framing« be-
kommt.
Esse r zieht aus der Prü fung der Einwände gegen die Theori e der ra-
tionalen Wahl den Schluss: " Aus dem Modell geht hervor, dass »boun-
ded rationality« in keiner Weise bedeutet, dass Menschen »irrational«
handel n. Im Gegente il: die begrenzten Ressourcen des Menschen er-
lauben es nicht, aufjede Umgebungs änderung sofort »maximierend« zu
reagieren. Habits und Frames sind (bisl ang erfo lgre iche und begtilndba-
re) Vereinfachungen von Situat ionen, die der vernünftige Akteur nicht
mit der kleinsten Situationsschwank ung aufgibt. D ie Beibeh altun g von
Routinen und die Bewahrung einer deutlichen Relevanzstruktur wird
als eine sehr »ratio nale« Ange legenheit erke nnbar." (Esser 1990, S.
244)
Und wie steht es mit dem .wertrationa len" Han deln , von dem Weber
doch gesagt hat, es sei bestimm t "durch bewu ssten Glauben an den -
eth ischen, ästheti schen, religiösen oder wie immer sonst zu deutend en -
unbedin gten Eigenwert eines bestimmten Sic hverh altens rein als sol-
chen und unabhängig vo m Erfolg"? (Weber 192 0b, S. 673 ) Dieser Be-
4 Soziales Handeln 179
Grü ndung oder den Erhalt einer besti mmte n Ord nung und die Erwar-
tungen und Handlungen der anderen Akteure in diese r Ordnun g. In dem
Maße, wie Werte sich fests tellen und sozi al vemetzt werden, verd ichten
sie sich zu "be lief systems". Die Akteu re orientieren sich des halb an
ihn en , weil sie ihnen als "e rtragbringend ersc he inen" und/oder weil
"ihre Änderung als zu teuer oder gar als unmöglich erscheint". (Esser
2001, S. 324) Wertrationales Handeln heißt aus der Sicht der Theorie
der rationalen Wahl, ein dominantes Ziel zu setzen, entsprechende
Handlun gsmöglichkeiten ausz uwählen und nach dem ..frame" dieses
bestimmten Wertes konsequent zu handeln.
auf die Reali sierung eines Zwecks gerichtete, von Maximen geleitete
und auf eine Situationsdeutung gestützte Entscheidung zwischen Hand-
lungsaltem ativen. Das teleologische wird zum strategischen Hand-
lung smodell erwe itert, wenn in das Erfolgskalkü l des Handelnden die
Erwartung von Entscheidun gen mindestens eines weiteren zielgerichtet
handelnden Aktors eingehen kann . Dieses HandlungsmodelI wird oft
utilitaristisch gedeutet ; dann wird unterstellt, dass der Aktor Mittel und
Zwecke unter Gesichtspunkten der Maxi mierung von Nutzen bzw. Nut-
zenerwartungen wählt und kalkuliert . Dieses Handlungsmodell liegt
den entscheidungs- und spieltheoretischen Ansätzen in Ökonomie, So-
ziologie und Sozialpsychologie zugrunde.
Der Begri ff des normenregulierten Handeins bezieht sich nicht auf
das Verhalten eines prinzipiell einsamen Aktors, der in seiner Umwelt
andere Aktoren vorfindet, sondern auf Mitglieder einer sozialen Grup-
pe, die ihr Handeln an gemeinsamen Werten orientieren. Der einzelne
Aktor befolgt eine Norm (oder verstößt gegen sie), sobald in einer ge-
gebenen Situation die Bedingungen vorlie gen, auf die die Norm An-
wendung findet. Nonnen drücken ein in einer sozialen Gruppe beste-
hendes Einverständnis aus. Alle Mitglieder einer Gruppe, für die eine
bestimmte Norm gilt, dürfen voneinander erwarten, dass sie in be-
stimmten Situationen die j eweils gebotenen Handlungen ausführen
bzw. unterlassen. Der zentrale Begriff der Normbefolgung bedeutet die
Erfüllung einer generalisierten Verha ltenserwartung. verhalte userwar-
tung hat nicht den kogn itiven Sinn der Erwartung eines prognostizierten
Ereignisses, sondern den norma tiven Sinn, dass die Angehörigen zur
Erwartung eines Verhalt ens berechtigt sind. Dieses nonnative Hand-
lungsmoment liegt der Rollentheorie zugrunde.
Der Begriff des dramaturgischen Handeins bez ieht sich primär we-
der au f den einsamen Aktor noch auf das Mitglied einer sozialen Grup-
pe , sondern auf Interaktionsteilnehmer, die füreina nder ein Publikum
bilden , vor dessen Augen sie sich darstellen. Der Aktor ruft in seinem
Publikum ein bestimmtes Bild , einen Eindruck von sich selbst hervor,
indem er seine Subjektivität mehr oder weniger gezielt enthüllt. Jeder
Handelnde kann den öffen tlichen Zugang zur Sphäre seiner eige nen
Absichten, Gedanken, Einstell ungen, Wünsche, Gefühle usw., zu der
nur er einen privilegierten Zugang hat, kontrollieren. Im dramaturgi-
sehen Handeln machen sich die Beteiligten diesen Umstand zunutze
und steuern ihre Interaktion über die Regulierung des gegense itigen
Zugangs zur jewei ls eigenen Subjekti vität. Der zentrale Begriff der
Selbstrepräsentatio n bedeutet deshalb nicht ein spontanes Ausdrucks-
182 4 Soz iales Handeln
Man kann natürlich auch an eine drille Antwort denken, die Austauschtheorien
geben. Da sie mehr den Effekt des Handeins als die Interaktion zwischen Han-
delnden herausstellen, habe ich sie bei den Theorien .So zialen Handelns" in Kap.
4.4 .Rationale Wahl. gerechter Tausch, symbolische Tra nsaktion" vorgestellt.
2 Vgl. Band 1, Kap. 3.9 ..Normative Integration", S. 125.
5 Interaktion 185
zu handeln . wie wir han deln sollen . Die Gru ndorientieru ng dieser Th e-
orie kann man als normatives Paradigma: bezeichnen. (Wilson 1970,
S. 55f. ) Nach diesem Paradigma, ich wiederhole es , folgen die Interak-
lionsteilnehmer den Rollen. die durch das »soz iokulturelle Wertsys-
tcm« vorgegeben sind. und definieren kon krete Verhaltensweisen als
beispielhafte Fälle von erlebten Handlungsmustem .
Die zwe ite Antwort findet sich in Theorien. die zwischenmensch li-
ches Handeln da mit erklären. dass die Handelnden die Situation und ihr
Handeln wechselseitig interpretieren und sich fortlaufend anzeigen,
wie sie die Situation des Handeins definieren . Diese theoretische Aus-
richtung bezeichnet Wilson als interpretatives Paradigma. Die Theo-
rien , die soziale Interaktio n gewi ssermaßen als Inte rpretation verstehen,
bilden die Interaktionstheorien im engere n Sinn.
In diesen Th eorien der Interaktion , deren wichtigste Vertreter GE-
ORG HERBERT MEAD und HERBERT BLUMER sind, steht das Individuum
im Vo rdergrund . Interaktio n ist e in permane nter Prozess des Handeln s,
Beobachtens und Entwerfen s weiterer Handlungen. In diesem Prozess
übe rnehmen ego und alter wechselseitig ihre Rolle, vollziehen Reaktio-
nen nach und antizipieren so weiteres Handeln. Durch ihre wec hselsei-
tigen Interpretationen definieren die Handelnden sich, ihr Handeln und
die objektive n Bedingungen des Handeins. Dieser Gedanke der Defi ni-
tion der Situation ist grundlegend für die Th eorie des Symb olischen
Interaktionismus. Durch ihr Handeln bestätigen sie die Situa tion oder
suchen sie zu verändern . Men schliche Interaktion ist huerp rerationtz
Zwischen die An nahmen des Symbolischen Interaktionismus und
eine pfiffi ge Variante der Analyse alltäg licher Interaktion, die Ethno-
me thodologie, schiebe ich eine Skizze einer systemtheoretischen Be-
schreibung von Interaktion. Das mag überr aschen , aber wenn man sich
auf eine jüngere Th ese einläs st, Interaktionssysteme als " Kom munika-
tion unter Anwesenden", so der Ti tel der Arbeit von ANDRE KIESER·
LlNG, zu verstehen, dann merkt man, wie viel die Systemtheorie inzwi-
schen den interpretativen Theorien verdankt und was sie umgekehrt
denen bieten kann!
Nach diesem sche inbare n Exkurs wende ich mich HAROLD GARFIN-
KEL zu. Er hat gezeigt, dass wir im Alltag methodisch vorgehen, auch
wenn uns das nicht bewusst ist, und dass Interaktion nur gelingt, wenn
wir bestimmte Unterstellungen machen. Eine weitere strukturelle Be-
dingung der Fortführung von Interaktion hat LoTHAR KRA pPMANN be-
nannt. Er sieht sie in bestimmten Fähigkeiten des Individuums, sich den
anderen in seiner Identität zu präsentieren. Schließlich setze ich mich
mit der Antwort von JüRGEN H ABERMAS auf die Frage auseinander,
was notwendige Voraussetzungen filr jegliche Interaktion sind. Er sagt
auch, was zu tun ist, wenn Interaktion - Habermas selbst zieht den
Begriff des "kommunikativen Handelns" vor - misslungen ist oder zu
misslingen droht.
Bevor ich auf diese Theorien eingehe, werde ich GEORG SIM MEL be-
handeln, der mit seinem Begriff der "Wechselwirkung" eigentlich die
Basis für eine Soziologie der "Inter-Aktion" gelegt hat. Mit der An-
nahme, dass sich Individuen im Prozess der Wechselwirkung fortlau-
fend vergesellschaften, hat er auch einer dynamischen Theorie der sozi-
alen Ordnung die Richtung gewiesen.
Der zweite Klassiker, der vor allen Interaktionstheorien behandelt
werden muss, ist MAXWEBER. Seine Definition, dass soziales Handeln
"se inem von den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten
anderer" (Weber 1920b, S. 653) bezogen ist, bildet einen wichtigen
Hintergrund für Parsons' normative Erklärung von Handeln und später
Interaktion, hilft aber auch, die eigentlichen interpretativen Theorien zu
verstehen. Webers Definition kann man nämlich durchaus in einem
interaktionistischen Sinn lesen, denn Handeln erfolgt in einer sozialen
Beziehung - und ist soziale Beziehung, und die versteht Weber als ein
fortlaufendes, "aufeinander gegenseitig eingestelltes und dad urch orien-
tiertes Sichverhalten mehret". (vgL S. 676) Weber muss auch deshalb
behandelt werden, damit nicht der Eindruck entsteht, in Theorien des
sozialen Handeins ginge es um etwas völlig anderes als in Theorien der
Interaktion. I
Eine Hilfestellung, dieses Thema mit dem Thema "Soziales Handeln" zu verbin-
den, habe ich ganz am Ende des Kap. 3 "Rolle", S. 133, angeboten.
5 Interaktion 187
Das Handeln des Individuums ist also d urch etwas motiviert und auf
etwas gerichtet. Zum gesellschaftlichen Ereignis wird die Verfolgung
seiner Ziele, we nn es sich dabei auf andere Individu en bezieht, sei es,
dass es sie braucht, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sei es, dass sie
als Konkurrenten auftreten oder dass sie einfach nur so - als Beobach-
ter, als Personen, auf die man sich bezieht, usw. - vorhanden sind. Weil
Individuen Interessen und Neigungen haben und bestimmte Zwecke
verfolgen, treten sie wechselseitig in Beziehung und "ve rgesellschaf-
ten" sich. Die Wechselwi rkung kan n in keinem Augenblick eine defini-
tive Form erreichen, da j edes Handeln jedes Individuums fortlaufend
wirkt und bewirkt wird. Wech selwirkun g ist Prozess.
Wegen der unterschiedl ichen Interessen und Zwe cke vergesellschaf-
ten sich die Individuen zu "spezifischen Konfi gurationen", doch trotz
aller Unterschiede kann man zwischen ihne n .Jormale Gleichheiten"
feststellen: " An gese llschaftlichen Gruppen, die ihren Zwecken und
ihrem sittlichen Charakter nach die denkbar versc hiedenst en sind, fin-
den wir z. B. die gleichen Formen der Über- und Unterordnung, der
Konkurrenz, der Nachahmung, der Opposition, der Arbeitsteilung, wir
finden die Bildung einer Hierarchie, die Verkörperu ng des gruppenbil-
den den Prin zips in Syrnbolent, die Scheidung in Parteien, wir finden
alle Stadien von Freiheit oder Bindung de s Individuums der Gruppe
gegenüber, D urchkreuzung und Schichtung der Grupp en selbst, be-
stimmte Reaktionsfermen derselben geg en äußere Einflüsse." (Simmel
1894, S. 54f. ) Die Wechselwirkungen nehmen also bestimm te Form en
an. In ihnen wirken " Krä fte (...), die sich bei der gegense itigen Berüh-
rung der Menschen in ihnen entwickeln". (5 . 58, Anm.)
Diese Berührungen und Fonnen des Zusamme nse ins ändern sich im
Laufe der Entwicklung de s Menschen. Sieht sich der Einzelne zunächst
.Jn einer Umgebung, die, gege n seine Individualität relativ gleic hgültig,
ihn an ihr Schicksa l fesselt und ihm ein enges Zus ammense in mit den-
jenigen auferlegt, neben die der Zu fall der Geburt ihn gestellt hat"
(Simmel 1890, S. 237) , nimmt er mit fortsc hreitender Entwicklung
Kontakt zu denen auf, die "durch sachliche Gleichheit der Anlagen,
Neigunge n und Tätigkeiten u. s. w. eine Beziehung zu ihm besitzen".
(5 . 238). Durch diese "Assoz iationen" ergeb en sich Konstellationen,
Dieses Prinzip spielt bei George Herbert Mead, der Simme1 ja in Deutschland
gehört hat, eine zentrale Rolle.
5 Interaktion 189
die Simmel "soziale Kreise" nennt.t Darunter muss man sich ein objek-
tives Gebilde vorstellen, das über Inhalte und nicht über individuelle
Einstellungen definiert ist. Von daher gibt es Erwartungen, die nicht
nur für ein bestimmtes Individuum, sondern grundsätzlich für alle Indi-
viduen gelten, die in einen solchen Kreis gestellt sind.
Wenden wir nun den Blick von den objektiven Formen der Wech-
selwirkung, der Gesellschaft, auf das Pendant, das Individuum. Das tut
Simmel in seinem Exkurs über die Frage "Wie ist Gesellschaft mög-
lich?" (1908). Dort beschreibt er gewissermaßen, was in den Individuen
vor sich geht, wenn sie in Wechselwirkung mit anderen stehen. Kon-
kret nimmt Simmel eine bestimmte Form des Bewusstseins als notwen-
diger Voraussetzung von Vergesellschaftung in den Blick. Er schreibt:
"Das Bewusstsein, Gesellschaft zu bilden, ist zwar nicht in abstracto
dem Einzelnen gegenwärtig, aber immerhin weiß jeder den andem als
mit ihm verbunden." (Simme1 1908, S. 46)
Das ist genau das Neue an diesem Exkurs, dass Simmel jetzt die
Möglichkeit von Gesellschaft an das Bewusstsein der Individuen von-
einander bindet. Deshalb lautet seine Frage auch: "Welche Vorausset-
zungen müssen wirksam sein, damit die einzelnen, konkreten Vorgänge
im individuellen Bewusstsein wirklich Sozialisierungsprozesse seien,
welche Elemente sind in ihnen enthalten, die es ermöglichen, dass ihre
Leistung, abstrakt ausgesprochen, die Herstellung einer gesellschaftli-
chen Einheit aus den Individuen ist?" (Simmel 1908, S. 46) Nicht nur
die eigentümliche Verwendung des Konjunktivs macht ein Verständnis
des Textes schwierig. Ich interpretiere ihn so: Bedingung der Verge-
sellschaftung ist "das Bewusstsein, sich zu vergesellschaften oder ver-
gesellschaftet zu sein." (S. 47) Es ist ein wie auch immer "bewusstes"
Wissen um die Prozesse der Wechselwirkung, in denen die Individuen
stehen.
Simmel fragt nun nach den "spezifischen Kategorien", die "der
Mensch gleichsam mitbringen muss, damit dieses Bewusstsein" entste-
hen kann. Dazu stellt er erstens fest, dass "das Bild, das ein Mensch
vom andem aus der persönlichen Berührung gewinnt", durch gewisse
" Verschiebungen" bedingt ist, die seine reale Beschaffenheit prinzipiell
ändern. Konkret ist damit gemeint, dass wir "den Andem in irgend ei-
Darauf komme ich ausführlich in Kap. 8.1 ,,Kreuzung sozialer Kreise und indivi-
duelles Gesetz", S. 327f., zu sprechen.
190 5 Interaktion
nem Maße verallgemei nert" sehen. (Simmel 1908, S. 47) Wir sehen ihn
als Typus. Zw eitens se hen w ir den and eren als d en typ ischen Repräsen-
tanten des sozialen Kreises, in dem wir mit ihm in Wechselwirkung
verb unden sind. Wir w issen: .Dieser ist ein Mitglied me ines Kr eises."
(S. 49) Er ist Mitbewohner meiner besonderen Welt.
Schließlich gibt es ein Bewusstsein, dass es wegen d er ind ividuellen
Interessen und Fähigkeiten un d der einmaligen Schn eid ung der soz ialen
Kreise in einem Punkt auch nur di esen einen Platz ruf das Individu um
in dieser Gesellschaft gibt. Für die Gesellschaft bedeutet das: Jeder
Punkt in der Gesellschaft konnte sich nur in einer bestimmten Weise
ergeben, und er kann sich auch nu r in einer bestimmten Weise entwi -
cke ln - "w enn nicht die Struktur des Ganzen geä ndert se in soll."
(Simm el 1908, S. 57) Und bezogen auf das Individ uum lautet die Be-
din gun g der Mö glichk eit, dass der Einz elne einer Gese llschaft zugehö-
ren kann, so; " Dass j edes Indi viduum durch sei ne Qualität von sich aus
auf eine bestim mte Stelle inn erhalb seines sozialen Milieus hin gewie-
sen ist: dass d iese ihm ideell zugehörige Stelle auch wirklich in dem
soz ialen Ganzen vorhande n ist - das ist di e Voraussetzung, von der aus
der Einzelne sein gese llschaftliches Leb en lebt." (S. 59) D ie pro zessua-
le Ordnun g lebt also von dem Bewusstsein der Indi vid uen, dass für
j edes von ihne n sich fortlaufend ein besonderer Pla tz ergibt, von dem
aus es in Wechselwirk ung zu vielen and eren steht, und dass von diese r
Wechselw irku ng di e Struktur des Ganzen abhän gt.
Ich will zum Schluss noch auf einen and eren Punkt hinweisen, der
zeigt, dass unabhängig vom Bewu sstsein der Individuen allein schon
di e Zahl der Beteiligten die Qual ität der Wechselwirku ng be einflusst.
Im Kapitel " Die quantitative Bestim mt heit der Gruppe" seiner .Soz io-
logie" beschreibt Simme l sehr fein di e untersch iedliche D ynamik, d ie
sich in Dyaden (z. B. Ehe, Freundschaften, Dopp elherrschaft), Tri aden
(z. B. Fami lie) oder Grupp en mit mehr als drei Mi tgliedern ergibt. Vor
allem die Dreizah l scheint ihm als Gru ppierungsform soz iolog isch
höchst interess ant. So entsteh en durch den Hinzu tritt eines Dritten Dif-
ferenzen der Solidarität, aber auch des Tr ennenden. Gegen einen M äch-
tigen könn en Koali tionen der Unterlegenen auft reten, aber der einzelne
Unte rlege ne kann jetzt auch die Verantwortung für seine Lage dem
Dritten anlasten. Umgekeh rt kann aber auch da s Gemeinsame zw ischen
zweien üb er di e wech selseiti ge Verb indung zu einem Dritten ind irekt
5 Interaktion 191
verstärkt werden. Der Dritte kann schließlich auch verbinden und ver-
söhnen zwischen Gegensätzen. (vgl. Simmel 1908, S. 124)
Insofern kann man den Dritten in der Tat als den "eigentlichen Trä-
ger sozialer Qualitäten" (Nedelmann 1999, S. 138) bezeichnen, denn
über ihn werden - in einer modemen soziologischen Terminologie -
soziale Beziehungen reflexiv. Da in der Dreiergruppe jeder zu jeder
Zeit Dritter und Erster zugleich ist, geht es immer um die Reflexion der
Darstellung von Individualität (i.Füreinandersein" ), um die Reflexion
der Individualität der anderen in der Konstellation zueinander (" Neben-
einandersein") und die Reflexion der Wechselwirkung, die sich zwi-
schen allen direkt und indirekt über den Dritten ("M iteinandersein")
ergibt. "Der Fremde", den Simmel in seinem berühmten Exkurs! be-
schrieben hat, ist der typische Dritte.
I Der kleine .E xkurs über den Fremden" ist Teil der "Soziologie" (SimmeI 1908).
192 5 Interaktion
Wenn man auf den Prozess des sozia len Handeins und darauf ab-
hebt, dass auf das erste, am Sinn des Handeins eines anderen orientierte
Hand eln eine Reaktion dieses anderen erfolgt, woran sich wiederum
das Handeln des ersten orientiert, usw., dann liegen die Begriffe "sozia-
les Handeln" und "Interaktion" durchaus eng zusammen.t Wenn man
aber stärker auf die Form der fortdauernden Wechselseitigkeit des
Handeins abhebt, liegt ein anderer Begriff noch näher, der der sozialen
Beziehung . Darunter versteht Weber ein "a ufeinander gegenseitig ein-
gestelltes und dadurch orientiertes Sich-Verhalten" (Weber 192Gb, S.
676).
Bevor ich diese Form des gegenseitig eingestellten Handelns erläu-
tere, will ich kurz die vier Bestimmungsgründe des sozialen Handelns
in Erinnerung rufen : - -
);;> So kann das soziale Handeln zweckrational bestimmt sein, d. h.
es werden gezie lt bestimmte Mittel eingesetzt, um bestimmte
Zwecke zu erreichen.
);;> Zweitens kann sich jemand wertratio nal verhalte n, also ohne
Rücksicht auf Kosten und Erfolge seinen Werten folgen.
>- Drittens kann Handeln aus Affekten heraus erfolgen.
);;> Schließlich kann Hand eln einfach nur eingeleb ten Gewohnheiten
folgen. Weber nennt es traditionales Handeln. (vgl. Weber
1920b, S. 673)
Diese di fferenzierten Gründe des Handeins spielen auch in der gegen -
seitigen Einstellung der Handelnden aufeinander eine Rolle, denn sie
helfen ihnen, den gemeinten Sinn des Handeins des Anderen zu verste-
hen. So sind wir hellwach, wenn uns ein Verkäufer sagt, "Ich hab da
was für Sie!", denn der will doch nur "sei n Geschäft" machen; wir stel-
len die Ohren auf Durchzug, wenn Vater wiede r mal beklagt, welche
Werte bei der heutigen Jugend entschwunden sind; und wenn unsere
Nachbarn in die Kirche gehen, "weil sich das so gehört", wisse n wir,
was wir von ihnen zu halten haben. Diese Erklärungen und Einste llun-
gen sind selbstverständlich in den wenigsten Fällen bewusst.
Ich komme nun zu der schon angedeuteten Form des soz ialen Han-
delns. "Soziales Hand eln" meint einen Prozess. Und wir müssen aus
der Formul ierung, dass das Handeln sich dem "Sinn nach auf das Ver-
halten anderer" bezieht und .daran in seinem Ablauf orientiert ist",
Von dieser Definition lässt sich leicht eine Verbindung zu Meads These von der
Verschrä nkung der Perspektiven und zu seine m Begri ff der .sociat relaticns" her-
stellen. (Vg l. unten S. 196 Anm. 1 und Band I, Kap. 3.7 "Handeln unter der Vor-
stellung einer geltenden Ord nung", S. 112 Anm. 1.)
5 Interaktion 195
Ich werde später zeigen. dass genau diese Annalune der sozusagen normalen Er-
wartungen und des entsprechend "selbstverständlichen" Handelns der Ethno-
methodologie zugrunde liegt - und wie böse Überraschungen man in dieser Hin-
sicht erleben kann.
196 5 Interaktion
themat isiert, die Webe r schl icht vorausgesetzt hat: den Sinn. Mead und
die auf ihn folgenden eigentlichen Interaktionisten untersuchen den
Prozess, in dem sich die Handelnden den Sinn ihres Hand elns gegensei-
tig anzeigen. Das tun sie Ober gemeinsam geteilte Symbole. Symbo le
sind nichts anderes als Manifestation von Sinn.
So trifft auch Meads para llel verwendeter Begriff ,,social relations" ziemlich ge-
nau Webers Definition einer "sozialen Beziehung" : Sie ist ein "gegenseitig auf-
einander eingestelltes Sich-Verhallen" (Weber I920b, S. 676). (vgl. oben S. 194)
2 Vgl. oben S. 32, 83, 87f.
5 Interaktion 197
S. 120 u. 12 1 Anm . 15) Ges ten verweisen also auf etwas vor oder nach
der konkre ten Situation . Zwe itens ist der Mensch in der Lage, Gesten
zu interpretiere n. Er verallgemeinert die konkrete Sit uatio n, indem er
nach der Idee fragt, d ie mit der Geste zum Ausdruck geb racht werde n
soll. Das macht den Geist oder den Verstand des Menschen aus. (vgl.
Mead 1934, S. 86)
W ird der Sinn einer Situati on oder eines Handlungszusam menhangs
auf einen bestimmten Begriff gebracht oder kommt in einem äußeren
Zeichen zum Ausdru ck , dann spricht Mead von einem Sym bol: "Wir
verweisen auf den Sinn einer Sache, wenn wir ein Symbo l ve rwe nden.
Symbole stehe n fUr den Sinn j ener Dinge oder Objekte, die einen sol-
chen Sinn haben ; es hand elt sich bei ihnen um Teile der Erfahrung, di e
andere Te ile der Erfah rung au fzeig en od er repräsentieren, di e gegen-
wärt ig oder in der gegeb enen Situ ation nich t direkt vorhand en, aber alle
in der Si tuation p räsent sind." (Mead 1934 , S. 162f. Anm. 29 ) Symb ol e
bringen d en Sinn eines Handlungszusammenhangs zu m Ausdru ck, und
zugleich verweisen sie au f se ine Vorgeschic hte, seine Rand bedin gun -
gen und se ine mögli che Zukunft. Symbole repräsentieren imme r einen
komplexen Zusamme nhang. Deshalb lösen sie auch kein automatisches
Verhalten aus, sondern erfordern und erm öglichen Interpretat ion en.
Das Indi vidu um kann sich mehrere Deutung en üb erlegen und zwisch en
möglichen Reaktionen auswählen.
Damit ist aber auch da s Ri siko der Kom munikati on zwischen Men-
schen angespro chen. Währ end Gesten in der Kommunikation zwischen
Tieren richtige Reaktionen gara ntieren, sind beim M enschen Interpreta-
tionen nicht ausgeschlossen, d ie sich wider sprechen. Auf die Fra ge, wie
dann Kommunikation möglich ist, wo doch jeder di e Situation anders
verste hen kan n, antwortet Mead mit dem Hinweis, dass Men schen sig-
nifika nte Sym bole ausbi lden . Von einem signifikanten Symbol - ich
wiederhole es - kann man dann sprechen, wenn ein Ze ichen oder eine
symb olisc he Geste beim anderen Ind ividuum die gleiche Vorstellung
üb er die dahinter liegende Bed eutung hervorru ft wie im Erz euger und
somit die g leiche Re aktion aus löst. (vg l. Mead 1934, S. 188f.)
In der Kommun ikation zwischen Mensch en sind Symbo le Stell ver-
treter für Interpretation sweisen und Handlungsabsichten. Existieren
diese in der Erfahrung von Sender und Empfäng er gleichermaßen und
wird ihre Bedeutung von allen an der Interaktion Beteiligten geme in-
sam geteilt, löse n sie als signifika nte Symbole bei ego und alter nic ht
5 Interaktion 199
zufällige, sondern ganz bestimmte Reak tionen aus. Das heißt, ego kann
sich vorstell en, wie alter wahrscheinlich reagieren wird . Verhalten wird
also antizipierba r. Diese Reak tionen zieht es ins Kalkül und revidiert
ggf. seine Handlungsabsichten. t Alter tut das genauso. Solange ego und
alter die gleiche n Symbole verwenden, können sie sich in die Roll e des
anderen hinei nversetzen . Sie " wisse n", wie es weitergeht und dass auch
der andere das wei ß. In diesem Proze ss de r we chselseitigen Rollen-
übernahme (Mead 1934, S. 113) denk en wir aus der Position des ande-
ren, und so verschränken sich die Haltungen und Perspektiven der
Handlungsbeteili gten wec hselseitig. Indem sich die Handelnden durch
ihre Aktionen und Reakt ionen zu verstehen geben, was in dieser Situa-
tion gilt und welchen Sinn sie ihrem wechselseitigen Hand eln beimes-
sen, komm t es zu einer kommunikativen Verständigung über Grunde
und Ziele des Hand eins. Vers tändi gung bedeutet natü rlich nicht Einver-
ständnis, sondern nur das Anz eigen der weiteren Handlungsab sichten .
Das alles erfolgt natü rlich in den seltensten Fällen bewusst!
Die Vergewisserung aller Betei ligten, um welch en Sinn es sich in
einer bestimmten Situation handelt und welches Verhalten de shalb na-
he gelegt oder ausgeschlossen wird , erfolgt vor allem über die Sprache.
Sprache ist die höchstentwick elte Form der Kommunikation. Diese
Kommunikati on braucht nich t in hörbar er Sprach e zu erfolgen, und
Mead bezeichnet das Denken selbstverständlich auch als eine Form des
Sprechens. So malen wir uns genüsslich aus, wie die aufreizende Neue
auf ihren Hochhackigen in der Kantine stolpert und dab ei ihr Tablett
fallen lässt usw. usw . Wenn sie dann peinlich berührt zu uns rüber
blickt, malen wir uns au s, wie sie "M ist!" sagt und wir voll Mit gefühl
flöten: " Haben Sie sich weh getan?" Und im Stillen denken wir : "So,
Kollegin, jetzt hast Du Dein Fett weg." Natü rlich hoffen wir, da ss sie
sich in Zukunft uns gegenüber anders verhält, und vielleicht verhalten
wir uns nach dieser finsteren Phantasie ja auch anders ! Denken ist inne-
res Sprech en und Durch spielen einer Handlung. Im Denken kommen
die Ideen zum Ausdru ck, die wir durch unser Han deln auszuführen
beabsichtigen bzw. die im Handeln ausgeführt worden sind. Dieses
Denken muss aber nicht bewu sst erfol gen. So interpretieren wir z. B.
das arrogante Verhalten der Verkäuferin im Designerladen, ohne dass
Zu den schönsten Aussichten, die sich daraus für eine Manipulation des anderen
ergeben könnten, vgl. Band I, Kap. 3.8 "Ordnung - Gesellschaft als Diskurs", S.
120 Anm 1. Warum sie dann doch nicht so toll sind, steht im nächsten Satz.
200 5 Interaktion
die es merkt und dass wir es uns klar machen. Dass diese Interpretation
aber tatsächlich erfolgt ist und objek tive Spuren hinterlassen hat, mer-
ken wir vielleicht, wenn wir zu Hause den viel zu teuren Fummel aus-
packen. Verlassen wir die Niederungen de s Allz umen schlichen und
wenden uns wieder den lichten Höhen normaler Interaktion zu.
Ich habe gerade referiert, dass Denken das Durchspielen einer Hand-
Jung ist, und zwar einer gemeins amen Handlung, in der ich und der
andere vorkommen. Die Handlung ist deshalb Interaktion. und sie ge-
lingt nur, wenn ego und alter sich in die Lage des anderen hineinverset-
zen. Wie oben ! gezeigt, wird diese Fähigkeit, sich in einen anderen
hineinzuversetzen, über die Stufen des play und des game en twickelt.
Im Rollenspiel des play schlüpft das Kind in die Rolle signifikanter
Anderer und denkt und handelt von ihrem Standp unkt aus. Im organi-
sierten Regelspiel des game, in dem sich die Handlungen aller Beteilig-
ten gege nseitig beeinflussen , muss das Kind im Prinzip in die Rollen
aller Beteiligten schlüpfen und von ihrem Standpunkt aus denk en. Die
Summe der generellen Haltungen, die man in einer konkreten Situation
von allen Handelnden erwarten kann, nennt Mead, wie gesagt, den ge-
neralisierten Anderen. Er ist das Prinzip oder, wenn man so will: der
Sinn der Interaktion.
Nur weil es diesen ge neralisierten Andere n gibt, ist Kommunikation
im Wort sinn erst möglich. Kommunikation setzt nämlich Teilnahme
(..participation") an den anderen voraus. (Mead 1934, S. 299) Daru nter
versteht Mead kein e gefühlsmäßige Haltung, sondern die T atsache,
dass wir am anderen beteiligt sind, indem wir uns vor jeder Reaktion
auf ihn, wie gerade besch rieben, in seine Ro lle hineinversetzen. Dazu
sind wir in der Lage, weil wir unterstellen, dass auch er sich am genera -
lisierten Anderen orientiert.
Mcad gibt noch eine zweite Antwort . Äußere Erfahrun gen werden
sinnvoll zu "inneren Erfahrun gen" verarbeitet. Diese inneren Erfahrun-
gen bezeichnet er als "Ha ltungen" (s attitudes« ), und die wiederum sind
.Anfänge von Handlungen". (Mead 1934, S. 43)2 Dam it ist gemeint,
dass die Organisation unserer Erfahru ngen nicht nur das umfasst, "w as
unmittelbar abläuft, sondern auch die späteren Phasen." (S. 50) Geht
man auf eine Situation zu, dann denken wir - bewusst ode r unbewu sst
- auch schon darüber nach, was wir dort tun wollen oder sollen. Auf
eine Beerdigung stelle ich mich innerlich und durch mein ganzes Ver-
halten anders ein, als wenn ich auf meine Hochzeit gehe - wenigstens
im Prinzip. Mead führt seinen Gedanken konsequent weiter und sagt,
dass in der aktuellen Handlung schon die späteren Phasen der Hand-
lung enthalten sind. Da also unsere Erfahrungen Teil sozialer Erfahrun-
gen und innere Erfahrungen Anfange von Handlungen sind und in ih-
nen wiederum weitere Handlungen beschlossen sind, wissen wir, was
im nächsten Augenblick mit hoher Wahrscheinlichkeit passieren wird.
Ego und alter werden gewissermaßen ftireinander berechenbar und ver-
lässlich. Die Ordnung der Interaktion bleibt möglich!
Ich schlage noch einmal den Bogen zurück zu Meads These, dass
sich in der Interaktion die Perspektiven der Handelnden wechselseitig
verschränken. Sie wird am Beispiel eines gelungenen game sofort evi-
dent. Zweitens zeigt das Beispiel, dass wir die Perspektive des anderen
nur dann verstehen, wenn wir das Prinzip der Handlungssituation ver-
stehen. Das meint der Begriff des generalisierten Anderen. Schließlich
zeigt das Beispiel des game, dass Interaktion gelingt, weil wir die glei-
che Vorstellung von den Symbolen haben, die in der Interaktion zum
Ausdruck kommen. Mit dem Konzept des generalisierten Anderen hat
Mead im Kern eine Sozialisationstheorie entworfen und zugleich er-
klärt, warum Interaktion normalerweise gelingt. Sprache, die darüber
mögliche Übernahme der Rolle des anderen und die daraus sich erge-
benden gemeinsamen Handlungen machen die eigentliche menschliche
Kommunikation aus.
Während Mead betont, dass die Rollen erst in der Interaktion Kontur
bekommen, betont TALCOIT PARSONS - ganz in der Tradition der The-
se von Durkheim über das Gewicht der sozialen Tatsachen - stärker
ihre gegebene Nonnativität.
lern heranzieht; auf der anderen Seite nähert sich Parsons mit seiner
Annah me. dass Interaktion Austausch ist, auch der Position von Mead.
Betrachten wir seine Argume ntation etwas genauer.
leh fange mit Parsons' Feststellung an, dass ein ..soziales System",
wo also konkrete Individuen handeln. ein ..Interaktionssystem" (Par-
sons 1968a, S. 432) ist - Inter-A ktion (nehmen Sie es zunächst einmal
so!) deshalb. weil es "durch Handlung erzeugt" (5. 430) wird, Inter-
Aktion, weil die Handlungen von ego und alter sich wechselseitig be-
wirken, wobei natürlich auch scheinbares Nicht-Handeln (das Kanin-
chen vor der Schlange oder das coole Übersehen ei nes Anderen) Han-
deln bedeutet. Und selbstverständlich wirken auch die soziale n Um-
stände (die Sc hlange vor dem Kaninchen) auf unser Hande ln ein. Auf
diese wechse lseitige Bezie hung zielt Parsa ns, wenn er fordert, ein sozi-
ales System unter dem Aspekt des " Austausc hs" ("i nterchange") seiner
einzelnen Elemente zu analysiere n. (vgl. S. 434)
Da ist zunächst die Situation . Sie ist definiert durch die Obje kte, an
denen sich die Handelnd en orien tieren . Solche Objekte könne n physi-
scher, kultureller oder soz ialer Natu r sein.
• Ein physisches Objekt ist z. B. die Straße, auf die ich mich ein-
stelle, wenn ich sie betrete . Physische Objekte "i nteragieren"
nich t mit uns. Dem Asph altplatz ist es zieml ich egal, ob wir ihn
mit nackte n FOßen oder Fußballs ch uhen trakt ieren , aber wir
selbst werden ganz sicher bei einem Fußballspiel auf der Straße
vorsichtiger zu Werke gehen als auf ei nem Rasenplatz.
• Kulturelle Obj ekte sind "symbolische Elemente der kulturellen
Tradition, es sind Ideen oder Überze ugungen, Symbole oder
Werte." (Parsans 1951, S. 4) Das hat Durkhei m "soziale Tatsa-
chen" genannt. Zu den kulturellen O bjekte n ge hören sowohl die
Ziele, die man in einer Gesellschaft ode r in einer konkreten In-
teraktion anstreben darf oder soll, als auch die Mittel, die dabei
angewandt werden dürfe n oder sollen . Wo z. B. in unserer Ge-
sellschaft die Maxime gilt, Reich tum zu erwerben, sind die Mit-
tel des Raubes ausgeschlossen. Jede Sit uation gemeinsamen
Handeins ist durc h Nonnen des richt igen Verhaltens gekenn-
zeichnet.
• Soziale Objekte sind ego und alter. Ihre Teilnahme an der Inter-
aktion kann unter zwei Aspek ten betrachtet werden: Da ist ein-
mal der positionale Aspekt, wo also die Handel nden im soz ialen
5 Interaktion 203
Bei seiner Definition dürften Max Webers Definitionen von "soz ialer Beziehung"
und auch vom ,,Handeln" eine wichtige Rolle gespielt haben.
5 Interaktion 205
Wie Interaktion nach der klassischen Rol lentheorie. wie sie Parsons
zunä chst entworfen hatte , idealerweise funktioniert , hat Krappmann an
anderer Ste lle I geze igt. Dort habe ich auch schon ange deutet, dass Par-
so ns nebe n seine Theorie der Ro lle, d ie den Idealfall erfolgreichen ge-
meinsamen Handel ns mit No nnkonfonnität und Konsens erk lärt , eine
Theori e der Interaktion ges tellt hat. d ie gewissermaßen den rea len Dif-
fe renzen und Dissensen - und auch Unge wiss heite n! - im nonnalen
Alltag Rechnung trägt.z Um das Problem , mit dem das Individuum in
der Interaktion fertigwerden mu ss, geh t es nun.
Ich habe oben Parsans mit den Worten zitiert, dass sich die Rolle
durc h norm ative Erwart ungen definiert, "die in den soz ialen Traditio-
nen zum Ausdruck kommen" . (vg l. Par sons 1945, S. 55) Dam it ist aber
auch sc hon das Problem der Interaktion angedeutet: Im Prinzip haben
alle Interaktionspartn er eine höchst spezifisc he Soz ialisation hinter
sich. Ihre Erfahrungen und Erw artungen verdanken sich also ganz un-
terschiedlichen Tra ditio nen. Wo z. B. die eine erwartet, dass sich jeder
in einer soz io logischen Disk ussion "vo ll einbringt", ist es der zwe iten
"voll peinlich" , was ihr da gebo ten wird, die dritte setzt alle mit Webers
Forderung nach to tale r Wertfreiheit unte r Dru ck, und der vierte mim t
den gelangweilten Beo bachter. Und man kann auc h unterstellen, dass
die Beteiligten nur einen Te il ihrer Persönlichkeit in der aktuellen Rolle
aktivieren , was natürlich nicht heißt, der Rest sei nicht wichti g. Wer
weiß schon, welchen Ste llvertreterkrieg jemand ausficht, der gegen
jede dezidierte Meinung o pponiert?
Ergo: Erwartungen an das "richtige" Handeln sind diffus, vielfaltig
und manchmal sogar widers prüc hlich. Wichtiger ist aber die Ta tsache ,
dass de r Handelnde in der Interaktion nicht sicher weiß, wie der andere
reagieren wird. Er kann nur mögliche Reaktionen annehmen. (vgl. Par-
so ns 195 1, S. 5) Die Erwartungen sind als o kontingent, und insofern ist
auch das nächste Han deln egos prinzipiell kontingent. Für die Erwar-
tungen und das Handeins alters gilt das genauso. Wegen dieser wech -
se lseitigen Abh ängigkeit des Handel ns von den mög lichen Erwartun-
gen und dem möglichen Handeln egos und alters ist jeder Interaktion
eine doppelte Kontingenz inh ärent. (vg l. Parson s u. Shils 1951 , S. 16)
2004, S. 193) Kommu nikation gelingt nac h der Theorie der Kom muni-
kation von Mead zweitens, weil sich die Handelnden in face-to-face-
Situationen wechselse itig in die Rolle des anderen versetzen und sich
selbst in ihrem Handeln beobachten und verstehen.
Blumer geht nun einen Schritt weiter und sagt, dass die Hand elnden
durch ihre Sprache und ihr Verhalten einander dauernd anzeigen, wie
sie die Situation verstehen und wie der andere sie verstehen sol l. Sie
produzieren in der Interaktio n fortlaufend gemeinsame Symbole, an
denen sie sich dann orientiere n, die sie durch ihr Handeln bestätigen,
revidieren und wieder neu definie ren. So wird der Sinn der Interaktion
fortlaufend ausge handelt, und es kommt zu einer gemeinsamen Defini-
tion der Situation . Diese Definition schafft objektive Handlungsbedin -
gungen und strukturiert die weiteren Interaktionen. WILLlAM I. THOMAS
(1863-1947), den Blumer übrigens als prominenten Vorläufer des
Symbol ischen Interaktioni smus erwähnt, hat die Kraft der Definitio nen
so ausgedruckt: "Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind
auch ihre Folgen real." (Thomas u. Thomas 1928, S. 114)
Auf diesem sog. Tho mas-Theorem t basieren Blumers "d rei einfache
Prämissen" über das Handeln der Menschen gegenüber Dingen, die
Bedeutung der Dinge und die Verwendung dieser Bedeut ung :
Nach diesen Prämi ssen handeln Menschen nicht, indem sie nonnative
Roll en einfach ausführen, sondern indem sie ihnen und den übrigen
Bedingungen des Hand eins eine Bedeutung geben und damit die Be-
dingungen selbst schaffen. Die Zuschreibung einer Bedeutun g kann
man als "Definition" bezeichnen. Dieser Prozess der Bedeutun g erfolgt
aus der sozialen Interaktion heraus, deshalb bezeichnet Blumer Bedeu-
tungen auch als "soziale Produk te". Die Mensch en zeigen sich wech-
selseitig an, welche Bedeutung sie einer bestimmten Situation beimes-
sen, wie sie die Bedingungen des nächsten Handeins definieren und wie
sie die Effekte dieses Handelns interpretieren. Auch wenn es keinem
der Beteiligten bewusst ist: Sie stehen in einem fortlaufenden .formen-
den Prozess".
In diesem wechselseitigen Interpretationsprozess interagiert der
Handelnd e auch mit sich selbst. (vgl. Blume r 1969, S. 84) Er definiert
sich und strukturiert danach sein Hand eln. Daraus folgt: Die innere
Komm unikation eines jeden Beteiligten an der Interaktion ist Reaktion
auf die innere Komm unikation jedes anderen Beteiligten.
Vor diesem Hintergrund skizziert Blumer nun vier Kernvorst ellun-
gen des Symbolischen Interaktioni smus. Die erste heißt, "dass mensch-
liche Gruppen aus handelnden Personen bestehen", genauer: "dass
menschliche Gruppen und Gesellschaften im Grunde nur in der Hand-
lung bestehen." (Blumer 1969, S. 85)1 Gese llschaft ist Handlung; sie
besteht in einem fortlaufenden Prozess der wechse lseitigen Interpretati-
on und Abstimm ung der Aktivitäten ihrer Mitglieder. Gese llschaft ist
nicht allein aus den sozialen Tatsachen (Durkheim) oder aus dem kultu -
rellen System (Parsons) zu erklären, sondern muss aus den handelnden
Individuen selbst erklärt werden.
Bei Weber war zu lesen, dass ein soziales Gebilde nur solange besteht, wie in ihm
sinnvolle Handlungen stattfinden. Vgl. Band I, Kap. 3.7 .H andeln unter der vor-
stellung einer geltenden Ordnung", S. 112.
5 Interaktion 2ll
nissen bis zu den antizipiert en Erge bnissen des geme insame n HandeIns
- interpretieren und d efinieren . Er zeigt sich Obj ekte an und gibt ihn en
eine Bed eutung. Nach dieser Bedeutung o rganisiert er sein Handeln. So
schafft er sich sei ne eigene Welt. indem er interpretierend über sie ve r-
fügt.
Aus den vier Kernannahmen folgt, dass eine Interaktion mehr ist als
die Summe der einzelnen Handlungen. Sie ist etwas Eigenes, das sich
ständig verändert und jede einzelne Handlung bedingt. Dadurch, dass
die Handelnd en sich fortlaufend anzei gen, wi e sie die Situation de finie-
ren, verketten sich die einzelnen Handlungen. Dieser Begriff der Ver-
kettung {einterlinkage«) ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn eine
Handlung greift in die andere, ist Reaktion auf eine Handlung und Be-
dingung für eine nächste. Verkettung begründet gemeinsames Handeln.
Zu dieser Verkettung macht Blumer nun drei Anmerkungen, die sich
auf die scheinbare Wiederholung von Handeln, die Ausdehnung, die
eine solche Verkettung annehmen kann, und auf die Vorgeschichte der
Handlungen beziehen.
So stellt er zunächst einmal fest, dass der überwiegende Teil sozia-
len Handeins routinemäßig nach bestimmten Mustern erfolgt. " In den
meisten Situationen, in denen Menschen in Bezug aufeinander handeln,
haben sie im Voraus ein festes Verständnis, wie sie selbst handeln wol-
len und wie andere handeln werden. Sie haben gemeinsame und vorge-
fertigte Deutungen dessen, was von der Handlung des Teilnehmers er-
wartet wird, und dementsprechend ist jeder Teilnehmer in der Lage,
sein eigenes Verhalten durch solche Deutungen zu steuern." (Blumer
1969, S. 97f.) Während Parsons das gemeinsame Handeln damit erklä-
ren würde, dass die Beteiligten ihre Rollen kennen und sie routiniert
ausführen, müssen sie sich nach der These von Blumer zunächst einmal
zu verstehen geben, dass es ein Zusammenhang ist, dem man durch
Wiederholung von Handlungsmöglichkeiten begegnen kann.t Mit die-
ser ersten gemeinsamen Definition der Situation beginnt dann der Pro-
zess der Definition, wie weiter gehandelt werden soll.
Natürlich leugnet auch Blumer nicht, dass es Nonne n und Regeln
gibt, aber es sind die Menschen, die sie filr sich interpretieren und ge-
meinsam definieren: "Es ist der soziale Prozess des Zusammenlebens,
Lesen Sie vor diesem Hintergrund doch noch einmal nach, was Luhmann über die
erfolgreiche Überschätzung des Konsenses gesagt hat! Vgl. Band 1, Kap. 4.8 .D ie
Geltung von Institutionen und Rituale der Rebellion", S. 170.
5 Interaktion 213
der die Regeln schafft und aufrechterhält, und es sind nicht umgekehrt
die Regeln, die das Zusammenleben schaffen und erhalten." (Blumer
1969, S. 99)
In seiner zweiten Anmerkung zur Verkettung geht Blumer auf die
ausgedehnten Verbindungen von Handlungen ein. Sie machen einen
großen Teil menschlichen Zusammenlebens aus. Blumer nennt sie
Netzwerke von Handlungen (anetworks of action«) oder Institutionen.
Und auch diesem Thema wendet sich Blumer auf eine ganz neue Weise
zu. Während andere Theorien von der Regelmäßigkeit des Handeins
fasziniert waren I und die Gründe dafür in den Institutionen suchten
oder sogar davon sprachen, dass die Institutionen ihrer eigenen Dyna-
mik folgen, unterstreicht Blumer die Bedeutung des Handeins des Indi-
viduums: Institutionen funktionieren, weil die Beteiligten die Situation
in einer bestimmten Weise definieren.
Die dritte Anmerkung schließlich betrifft die Vorgeschichte des
Handeins. Jedes Handeln geht notwendig "aus dem Hintergrund frühe-
rer Handlungen der Teilnehmer" hervor. (Blumer 1969, S. 100) Jeder
Handelnde bringt in die Interaktion einen Satz von Bedeutungen und
Interpretationen mit, die er im Laufe seines Lebens kennengelernt hat.
Jeder ist zu jedem Zeitpunkt seines Handeins in seine Biographie ein-
gebunden. Deshalb ist in der Interaktion j eder Handelnde auch in die
Biographie aller anderen eingebunden. "Gemeinsames Handeln stellt
sozusagen nicht nur eine horizontale Verkettung der Aktivitäten der
Teilnehmer dar, sondern auch eine vertikale Verkettung mit vorange-
gangenem gemeinsamen Handeln." (S. 101) ANSELM STRAUSS, ein
Schüler von Blumer, hat diese Verkettung des Handeins mit der Bio-
graphie der anderen in folgendem Satz zum Ausdruck gebracht: "Ob-
wohl nur zwei Hauptdarsteller auf der Bühne stehen, sind auch andere,
nur dem Publikum oder einem der beiden Akteure sichtbare Spieler
anwesend. Somit kann sich j eder Darsteller, indem er sich auf den an-
deren einstellt, zugleich auf einen unsichtbaren Dritten einstellen, als
wäre dieser tatsächlich anwesend." (Strauss 1959, S. 58)
Nach der Theorie des Symbolischen Interaktionismus ist also Inter-
aktion im Kern Interpretation von Handeln. Und sie funktioniert auch,
wenn sich die sozialen Erwartungen nicht völlig decken. Während bei
Parsons die Interaktionsordnung letztlich durch die Orientierung an
1 Vermutlich hat Blumer hier an Max Webers Theorie der Bürokratie gedacht!
214 5 Interaktion
Um die folgende Skizze zu verstehen, ist es hilfreic h, noch einmal nachz ulesen,
was ich in Band I, Kap. 6.5 übe r "Die Th ese von der Reduktion von Komplexität"
und in Kap. 6.6 über ,,Die autopoietische Wend e der Systemtheorie" gesa gt habe .
5 Interaktion 215
das ich über die Systemtheorie an anderer Stelle t referiert habe, wie-
derholen . NIKLAS LUHMANN hatte festgestellt, dass ,je nach dem, unter
welchen Voraussetzungen der Prozess der Selbstselektion und der
Grenzziehung abläuft", sich soziale Systeme auf verschiedene Weise
bilden, nämlich als Interaktionssysteme. als Organisationssysteme und
als Gesellschaftssys teme. (Luhmann 1975c, S. 10) .Jnt eraktionssysteme
kommen dadurch zustande, dass Anwesende sich wechselseitig wahr-
nehmen. Das schließt die Wahrnehmung des Sich-Wahmehmens ein.
Ihr Selektionsprinzip und zugleich ihr Grenzbildungsprinzip ist die
Anwesenheit. Wer nicht anwesend ist, gehört nicht zum System."
(ebd.) Die Systemgrenze zeigt sich darin, "dass man nur mit Anwesen-
den, aber nicht über Anwesende sprechen kann; und umgekehrt nur
über Abwesende, aber nicht mit ihnen." (ebd.) Es muss aber auch noch
eine andere - aus Sicht der Systemtheorie - eingeschränkte Leistungs-
fähigkeit von Interaktionssystemen bedacht werden: Sie sind strukturell
beschränkt, weil sich die Interaktionen auf j eweils ein Thema konzent-
rieren müssen (man kann nicht gleichzeitig über alles sprechen) und
weil die Beiträge zur Interaktion nacheinander erfolgen müssen (es
können nicht alle gleichzeitig reden.)
An Luhmann s Definition der Systemgrenze schließt Kieserling seine
These an, dass Interaktion ..Kommunikation unter Anwesenden" meint.
(Kieserling 1999) Unter dieser Einschränkung reicht Interaktion von
der Party bis zur gemeinsamen Autofahrt, von der ärztlichen Unters u-
chung bis zur therapeutischen Gruppensitzung. Kieserling nennt nun
einige Merkmale von Interaktionssystemen.
Für jede Interaktion gibt es ein ..Typenprogramm" , das der Verstän-
digung über den Sinn der Zusammenkunft dient. (vgl. Kieserling 1999,
S. 18) Wer z. B. zu seinem Kollegen ins Auto steigt, damit er ihn mit
zur Arbeit nimmt, sollte nicht das Typenprogramm Busfahren im Kop f
haben.
Typenprogramme dienen der Reduktion von Komplexität. Die glei-
che Funktion hat das Thema einer Interaktion. Wenn der Lehrer zwei
Streithähne ins Gebet nimmt, geht es um Streit und nicht um die Er-
mahnung, im Übrigen beim Diktat etwas sauberer zu schreiben. An
diesem Beispiel wird auch deutlich, dass das Thema von einem Interak-
tionsteilnehmer diktiert werden kann, aber dann kann man davon aus-
begrüßt, das das Eis bricht. In solchen Situationen ist oft zu beobach-
ten, dass es zu einem Themenwechse l kommt. Dadurch wird eine neue
Ordnung definiert, und sie muss für möglichst alle anschlussfähig sein.
Ich habe von undifferenzierter Inklusion gesprochen, die dadurch er-
folgt, dass alle lnteraktionsteilnehmer sich wechselseitig als Teilneh-
mer wahrnehmen. Das heißt aber nicht, dass damit auch die ganze Per-
son beansprucht würde, damit das Interaktionssystem funktioniert. Und
umgekehrt heißt das auch nicht, dass das System es zulassen muss, dass
die Teilnehmer sich als ganze Person einbringen. Im ersten Fall funkti-
oniert ein Interaktionssystem, auch wenn die Teilnehmer von einander
annehmen (und annehmen müssen!), dass sie außerhalb dieses Interak-
tionssystems noch ein anderer sind. Die thematische Situationsdefiniti-
on verlangt aber Einschränkung individueller Besonderheiten . "Das
bedeutet nicht zuletzt, dass die mitunter erheblichen Unterschiede der
persönlichen Nähe oder Vertrautheit, die unter den Anwesenden beste-
hen, in der Interaktion nicht gut dargestellt oder gepflegt werden kön-
nen. (..) Vor allem Paare können die Intimität, in der sie sonst mitein-
ander verkehren, in Anwesenheit anderer nicht gut ausleben, ohne dass
der Eindruck einer Fusion von Hinterbühne und Vorderbühne entsteht,
der die Einheit von Situation und Stilvorgabe zerfallen lässt. Das mag
den noch Liebenden als Zumutung erscheinen, während die schon
Streitenden es als Unterbrechung ihres Streites genießen können."
(Kieserling 1999, S. 50)
Das Beispiel mit den Interaktionsteilnehmern, die etwas mit in die
Situation einbringen, was eigentlich nach Typenprogramm oder Thema
nicht dort hinein gehört, zeigt, dass das System eine Grenze hat. Aber
diese Grenze steht nicht fest, sondern kann durchlässig sein. So kann,
was eigentlich ausgeschlossen werden sollte, z. B. mit einem gewollten
Themenwechsel oder auch unter der Hand nach innen gelangen. Der
Streit zwischen H. und G., den die unter der Decke halten wollten, von
dem aber natürlich alle wussten, bricht plötzlich auf, und zum Schluss
kriegen sich alle an die Köpfe. Es kann aber auch der andere Fall ein-
treten, dass die Teilnehmer ganz bestimmte Reizthemen peinliehst
vermeiden. Die Interaktionsstruktur wird also von außen irritiert, und
das System, wenn es denn weiter bestehen soll, organisiert sich auto-
poietisch. Die Grenze, die auf diese Weise gezogen wird, ist nur auf
Zeit stabil.
218 5 Interaktion
Vgl. unten Kap. 7.5 ..Goffman: Stigma und soziale Identität" und Kap. 8.4 "Goff-
man: Wir alle spielen Theater" .
2 So war es bei dem tonangebenden Gouldner zu lesen, der die Ethnomethodologie
als "sich elegant gebärdenden Anarchismus" der unruhigen 60er Jahre qualifizier-
te. ( 1970, S. 466 u. 472)
5 Interaktion 2 19
gehört auch die Annahme, wir alle teilten ein gemeinsames Alltagswie-
sen.
Garfinkel führt diesen Gedanken weiter und sagt, dass wir naiv un-
terstellen, alle würden es auch in gleicher Praxis verwenden. Seine
These ist, dass wir in unserem Alltagshandeln methodisch vorgehen.
Diese These mag überraschen, weil wir manches Handeln - meist na-
türlich bei den anderen - für verrückt und keineswegs rational halten.
Doch darum geht es in dieser Theorie gar nicht: Für sie "ist nicht inte-
ressant, warum die Menschen bestimmte Handlungen durchführen,
sondern wie sie sie durchführen." (Weingarten u. Sack 1976, S. 13) Es
geht also um praktische M ethoden des AlltagshandeIns. Diese Metho-
den wenden wir manchmal bewusst, meist aber unbewusst an, aber
immer tun wir es in einer für ein soziales Gebilde (Ethnos) typischen
Weise. Deshalb hat Garfinkel seine Theorie Ethnomethodologie ge-
nannt. Das soziale Gebilde, aus dem heraus das Alltagshandeln be-
stimmt ist, kann eine bestimmte Gruppe, ein Milieu oder die Gesell-
schaft als ganze sein. . -.
Um herauszukriegen, wie das Handeln im Alltag funktioniert, hat
Garfinkel in diesen Alltag experimentell eingegri ffen und die Routine
gestä rt. Es sind vor allem diese .Kriscnexpcrimcnte", weshalb die The-
orie der Ethnomethodologie rasch als zu wenig ernst abgetan wird. Da-
bei wird übersehen, dass mit diesen zum Teil grotesken Experimenten
gezeigt werden soll, mit welchen Methoden wir .normalerweise" Nor-
malität herstellen. Es geht um die Frage, wieso wir ganz selbstverständ-
lich annehmen, dass wir die anderen verstehen, und genau so selbstve r-
ständlich darauf vertrauen, dass die anderen auch uns verstehen, wieso
also Interaktion gelingt. Mehrere Erklärungen bieten sich an. leh nenne
vier, die jede für sich nur einen Aspekt einer einheitlichen sinnvollen
Konstruktion einer sozia len Wirklichkeit darstellen.
1. Die Ethnomethodologie sagt erstens: Es gibt .Dinge. die jeder
weiß" . Dieses Wissen bezeichnet Garfinkel als "common sense-
knowledge".
Dieses Alltagswissen, das uns im Prozess der Sozialisation vermittelt
wurde, verwenden und unterstellen wir ganz selbstverstä ndlich, und wir
gehen davon aus, dass die anderen es genau so machen. Solange es kei-
ne Missverständnisse gibt, verlassen wir uns auf dieses Wissen still-
schweigend. Bis auf Widerru f versichern wir uns durch unser Handeln
5 Interaktion 221
gegenseitig, dass der Alltag zweifelsfrei ist. Auf diese Weise konstitu-
iert sich die Wirklichkeit des Alltags immer wieder neu. Zum Prinzip
des Alltagswissens gehört, dass darin auch die Regeln des normalen
Denkens und Handeins aufgehoben sind. Nach ihnen leben wir ganz
selbstverständlich und erwarten ebenso selbstverständlich, dass auch
die anderen danach handeln.
Natürlich wissen wir, dass diese Regeln unterschiedliches Gewicht
haben. Manche Regeln sind unabdingbar, und ohne sie wäre gemein-
sames Handeln gar nicht möglich. Manche sind aber nur Konvention,
und im Prinzip ginge es auch anders. Und bei manchen Regeln merken
wir noch nicht einmal, dass sie Regeln sind. Wir halten uns ganz auto-
matisch daran. Garfinkel hat nun in einem Krisenexperiment demonst-
riert, was passiert, wenn wir gewohnte Regeln, die wir noch nicht ein-
mal als solche bemerken, durchbrechen. (Garfinkel 1967, S. 47f.) In
diesem Krisenexperiment forderte er seine Studenten auf, sich zuhause
bei ihren Eltern wie ein höflicher Gast zu verhalten. Dazu konnte bei-
spielsweise gehören, nur zu reden, wenn sie gefragt würden, höflich zu
fragen, ob sie mal zur Toilette gehen dürften, oder das Essen über-
schwänglich zu loben und sich zu erkundigen, wie es zubereitet worden
sei. Alle Studenten berichteten, ihr Verhalten habe zu Konfusion und
Unmut geführt. Man habe gefragt, was mit ihnen los sei und was das
ganze soll. Schließlich meinten die Eltern, wahrscheinlich seien ihre
Kinder überarbeitet oder in einer Krise. Damit hatten sie den Verstoß
gegen die Regeln des Alltags erklärt und den Alltag wieder in Ordnung
gebracht. I
An diesem Krisenexperiment wird deutlich, dass sich unser Alltag
über bestimmte Normalitätsannahmen konstituiert. Wir wissen, was
jeder weiß, und wir wissen, wie man normalerweise handelt. Aus dem
gemeinsamen Vorrat an Wissen heraus zeigen wir uns gegenseitig den
Sinn unseres gemeinsamen Handeins auf. Das erfolgt nicht zufällig,
sondern wir verwenden dabei im Alltag bewusst oder unbewusst be-
stimmte Methoden , mit denen wir diese Welt in Gemeinsamkeit mit
anderen fortlaufend konstruieren , Wir benutzen praktische Theorien,
mit denen wir uns den Alltag erklären und füre inander ordnen. Wäh-
rend nach der Rollentheorie von Parsons - ich wiederhole - Handeln in
Setzen Sie sich doch einmal in einer fast leeren Straßenbahn nicht auf irgendeinen
freien Platz, sondern direkt neben einen anderen Fahrgast.
222 5 Interaktion
macht. Wir ordnen neue Erfahrungen in ein vertrautes Muster ein, und
schon wissen wir Bescheid!
Konstruktion heißt natürlich, Entscheidungen zu treffen, was getan
und was nicht getan werden soll. Jede Handlung ist also eine Selektion
aus einer Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten. Für Garfinkel steht
der Handelnde permanent vor der praktischen Frage: What to do next?
Eine Methode, sich Voraussetzungen des Handeins angesichts einer
komplexen Wirklichkeit zu schaffen, besteht in der dokumentarischen
Methode der Interpretation. Interaktionen gelingen, weil alle Beteilig-
ten ihr Verhalten als typisches Beispiel (»Dokument«) fiir ein typi-
sches, in der Gesellschaft bekanntes Muster interpretieren. Mit der do-
kumentarischen Methode der Interpretation rekonstruieren wir den Ty-
pus, unter dem das Handeln und Sprechen der Anderen Sinn macht,
und zwar Sinn für beide Seiten. So bringen wir die Dinge des Alltags
immer in eine .norrnale" Ordnung.
Dabei stoßen wir aber auf ein Problem, das man als die Verweisung
des Handeins und Spreehens auf exklusive Besonderheiten bezeichnen
könnte. Diese Besonderheit, die sich nicht aus den Dingen selbst und
auch nicht aus einem gemeinsam geteilten Wissen ergibt, sondern nur
aus einem spezifischen, individuellen Kontext zu verstehen ist, wird in
der Ethnomethodologie als Index bezeichnet. Mit solchen Indizes zei-
gen sich die Handelnden - bewusst oder unbewusst - an, wer sie "au-
ßerdem noch" sind bzw. worum es in einer konkreten Interaktion "auch
noch" geht. Wenn sich z. B. ältere Deutsche daran erinnern, dass
,,Joschka" bei seinem Antrittsbesuch in Washington "dann doch" keine
Turnschuhe anhatte, dann wissen alle Zeitgenossen Bescheid, während
ihre Kinder und Amerikaner nur Bahnhof verstehen.
Indexikale Äußerungen setzen soziale Nähe und Vertrautheit voraus.
Typische indexikalische oder Kontextbegriffe sind z. B. Namen, spezi-
fische Bezeichnungen und Fachausdrücke. Wenn mir z. B. eine Be-
kannte ganz aufgeregt erzählt, "dass Klaus gestern bei der GP einen
Hänger hatte", erwartet sie selbstverständlich, dass ich mich an den
Schauspieler Klaus erinnere, von dem sie häufiger erzählt hat, dass GP
das Kürzel ist, mit dem insider von einer Generalprobe reden, und dass
ein Hänger der gefürchtete Aussetzer auf der Bühne ist. Indizes sind
aber auch Worte wie "dan n", "hier", "der", "die", "das" oder "natür-
lich". Machen Sie sich nur einmal klar, was es heißt, wenn jemand sagt:
"und dann kam natürlich auch ...". Die Sprache unseres Alltags ist voll
224 5 Interaktion
Man kann das Experiment auch variieren, indem man das Gesagte
wörtlich nimmt und ausführlich seine körperlichen Wehwehchen be-
schreibt. Oder stellen Sie sich vor, jemand bietet nach der Trauung fol-
gende eindeutige Definition an: "Ich liebe Dich. Was ich darunter ver-
stehe, steht unter L im Brockhaus." Kurz: Im Alltag wollen wir es gar
nicht immer so genau haben. Dass die Sprache des Alltags vage ist, ist
keineswegs ein Nachteil. Im Gegenteil, es erleichtert die Kommunika-
tion, weil jeder sich die gemeinsame Wirklichkeit selbst zusammenrei-
men kann.
3. Bei dieser Methode des Handeins im Alltag und der ihr zugrunde
liegenden Typisierung zeichnet sich schon eine dritte Erkl ärung .ab,
weshalb wir im Alltag glauben, uns zu verstehen. Sie besteht inder
Idealisierung der Kontinuität und der Idealisierung der Wiederhol-
barkeit.
Nach dieser Erklärung sind mit der Typisierung des Alltags zwei kon-
stitutive Erwartungen verbunden. Die eine hat der österreichisch-
amerikanische Soziologe ALFRED SCHüTz (1899-1959), dessen Schüler
Garfinkel wie auch Petcr L. Berger und Thomas Luckmann an der New
Yorker New School for Social Research war, die Idealisierung des
»und so weiter«, die zweite die Idealisierung des »ich kann immer wie-
der« genannt.
• Die erste Idealisierung des »und so weiter« kann man so be-
schreiben: Solange es in der Welt des Alltags keine Überra-
schungen gibt, vertrauen wir darauf, dass die Situation, wie wir
sie jetzt erleben, in der typischen Weise weitergehen wird.
• Aus dieser Idealisierung der Kontinuität folgt die Idealisierung
des »icb kann immer wieder«. Diese Idealisierung der Wieder-
holbarkeit besteht in der "grundsätzlichen Annahme, dass ich
meine früheren erfolgreichen Handlungen wiederholen kann".
(Schütz u. Luckmann 1975, S. 26)
4. Ich komme zu einer vierten Erklärung, warum wir im Alltag keinen
Augenblick daran zweifeln, dass wir die anderen und sie uns verste-
hen. Schütz hat sie als Generalthese der wechselseitigen Persp ekti-
ven bezeichnet. (Schütz u. Luckmann 1975, S. 74)
226 5 Interaktion
Die Gene ralthese beinhaltet zwei weitere Idea lisierungen: die der Ver-
tauschbarkeit der Standpun kte und die der Kong ruenz der Relevanzsys-
terne.
• In der Idealisierung der Vertauschbarkeis der Standp unkte neh-
me ich an, wenn der andere an meiner Stelle stünde, würde er die
Dinge aus der gleichen Perspektive wie ich, und ich würde die
Dinge aus der gleichen Perspektive wie er sehen, wenn ich an
seiner Ste lle stünde.
• In der Idealisierung de r Kongru enz der Re/evanzsy steme nehmen
wir an, dass wir die Welt nach den gleichen Kriterien beurteilen.
Dazu fühlen wir uns auch berechtigt, weil wir in der gleichen
Gese llschaft soz ialisiert wo rden sind. Fo lglich gibt es Dinge, die
jeder weiß, wozu auch gehört, wie sie zu beurteilen sind. Im
Vertrauen auf die Erfüllung dieser beide n kon stitutiven Brwar-
tungen treten wir in Beziehung zueinande r.
Be ide Annahmen machen uns sicher, dass der andere so handeln wird,
wie wir es aus eigener Erfahrung kennen; und bis zum Beweis des Ge·
genteils stimmt das ja auch.
• Die Idealisierungen des »und so weiter« und des »ich kann immer
wied er« machen uns als Individuum sicher in den Erwartungen
an unser Hand eln.
• die Idealisierun gen der Austauschbarkeit der Standpunkte und der
Kongruenz der Relevan zsysteme mache n uns sicher im gemein-
samen Handeln mit anderen.
Mit den beiden letzten Idealisierungen, die in der Generalth ese der
wechse lseitigen Perspekti ven zusa mmengefasst sind, schließt sich ge-
wissennaßen der Kreis der Erklärungen, warum wir im Alltag nicht
daran zweifeln, dass wir die anderen und dass sie uns verstehen.
LoTHAR KRAPPMANNhat der seinerzeit in Deutschland aufkommen-
den soziologischen Disku ssion über Interaktionstheorien gleich eine
bestimmte Richtung vorgegeben, indem er gezeigt hat, dass wir und die
anderen in der Interaktion nur dann zurechtkommen, wenn wir unsere
identität in einer bestimmt en Weise ins Sp iel bringen.
5 Interaktion 227
Diese Erklärungen sind natürlich als Einwand gegen die Annahmen der
kl assischen Ro llen theorie zu lesen, dass gem einsam es Hand eln erfolg-
reich ist, wenn Rollen klar defini ert sind und alle Beteiligten sic h in der
gleic he n Weise an die gleichen Nonnen ha lten . Der .Regelfall der täg-
lichen Interaktion in Rollen" ist denn auch dadurch gekennzeichnet,
"dass die Roll enspieler au f unklare und inkonsistente Erw artungen sto-
ßen, die zudem mit ihren Bed ürfnisdispositionen sich keineswegs de-
cken.' (Krappmann 1971, S. 314) Die Ethnomethodologie hat auch
gezeigt, dass das Eis sehr dünn ist, auf dem wir uns beim Alltagshan-
del n bewegen. Damit es übe rhau pt funk tioniert , m üssen di e Ha ndeln-
den so gar darauf verzichten, dass jeder eindeutig kl armacht, was er
meint. Und schließlich wi ssen wir, das s uns Situationen höchst unange-
nehm sin d, di e uns b is ins Letzte vorschreiben , was wir zu tun und zu
lassen haben . Ku rz : es scheint so zu sein, dass wi r eine mittlere Unbe-
stimm theit sogar brauch en, um uns se lbs t ins Spiel zu bri ngen und an-
dere zu " verstehen" . Im Übrige n hat der Symboli sche Int eraktionismus
gezeigt, dass Roll en ers t in der Interaktion Kontur bekommen. Diese
Chance des Ind ividuums m üssen wir auch als solche begrei fen!
Um im norm alen A lltag eine Interaktion, in der wechselseit ige In-
terpretation en der Situ atio n und des Handeins des j eweils anderen vo r-
genommen we rden, aushalten und bewält igen zu kön nen, sind einige
Fähigkeiten vonnöten. Krappmann hat als "s trukture lle Notwendigkeit
eines fort zuführenden Interakti onspro zesses" und zugleich zur Förde-
run g der Identität der H andelnden die fol genden ! vier genannt :
• Ro/lendistanz,
• Empathie als die Fähigk eit, sich in den anderen einz ufüh len,
• Ambiguitätstoleranz, worunter man die Fähigkeit verste ht, auch
mit un ent schiedenen oder gar w idersprüchlichen Situationen le-
ben zu können, und
• Identitätsdarstel/ung . (vg l. Krappmann 1969 , S. 132ff.)
Man kann Kr app m ann s Erklärung erfolgr eichen Handeins über die vier
identi tätsförd ernden Fähi gkeiten nach zwei Seiten lesen: Zum eine n
schafft und erhä lt sich j ed es Individuum mit genau diesen Fähigkeiten
di e Fre iheit seine s Hand eins. Mi t diesen Kompetenzen bri ngt sich das
Unter der Perspektive der Förderung der Identität komme ich noch einmal in Kap.
8.7 .Kra ppmann: Ich-Identität als Balance", S. 378 darauf zurück.
5 Interaktion 229
Individu um selbst ins Spiel. Mead hatte Interaktion über das wechsel-
seitige »role taking« erklärt. Hier nun zeichnet sich eine Chance ab,
dass das Individuum die Roll e auch gestaltet, unter Umständen sogar
selbst erst schafft. Deshalb hat Ralp h H. Turner, wie gesagt, auch von
einem komplementären Prozess des »role making« gesproc hen . (Turner
1962, S. 117) In der Interaktion erzeuge n ego und alter fortlaufend Er-
wartungen aneinander und entwerfen durch ihr Verhalten einen Rah-
men des nächsten Verhaltens. An den wechselseitigen Reaktionen wird
abgelesen, ob man bei seinem Handlun gsentwurf bleiben kann oder
nicht. Die Interpretationen in der aktuellen Interaktion sind also ein
ständiger Prozess des Konstatierens, Überprtifens und Korrigierens der
Definition der Situation. Natürlich kann nicht die »ganze« Situation
begriffe n werden, dazu reichte die Zeit nicht, und wir wären auch gar
nicht in der Lage, alle Grü nde des Handeln s herauszufinden. Interpreta-
tion ist also immer auch Selektio n.
In der Interaktion spielen somit die individ uellen Interessen, die re-
flexiven Fähigkeiten und die konkreten Handlungen zusammen. Sie
erklären, warum keine Rolle sozusagen deckungsg leich ausgeflihrt
wird, sondern immer modifiziert wird. "Eine derartige Modifikation
findet statt bei der fortwä hrenden Wechselwirkung zwischen den ein
wenig vagen und stets unvollständigen idealen Konzeptionen von Rolle
und der Erfahru ng, wie sie tatsäch lich dann von ego und alter gespie lt
werden. Da jede Interaktion in bestimmter Hinsicht einzigartig ist,
schließt jede Interaktion eine Improvisation über das durch ego- und
alter-Rolle geste llte Thema ein. Eben der Akt, in dem der Handelnde in
einem neu generie rten Akt von Rollenhandeln eine Rolle ausdrück t,
befähigt den Handelnden, die Rolle in einem etwas anderen Licht zu
sehen. Ähnlich dient die Einzigartigkeit von alters Verhalten und die
einzigartige Situation, in der alters Verhalten antizipiert oder interpre-
tiert werden muss, dazu, seine Rolle leicht verschieden zu gestalten."
(Turner 1962, S. 127)
Das leitet über zu der zweiten Lesart der Erklärung erfo lgreichen
Rollenhandelns: jedes Individuum schafft mit den genannten identit äts-
fordernden Fähigkeiten auch entscheide nde Vorausse tzungen für die
Freiheit des Handeins der anderen. Sie wissen - zumindest ungefähr! - ,
was der andere kann und aushält und vor allem; wer er ist. Im Prinzip
sind damit die individuellen Voraussetzungen für eine Interaktion zwi-
schen Gleichen geschaffen.
230 5 Interaktion
Vgl. zur Diffe renzierun g der Handlungsbegriffe oben Kap. 4.7 ,,Habenna s: Vier
Handlungsbegriffe".
232 5 Interaktion
Bewusstsein, das sich nach der These von Marx der Widersprüche einer
antagonistischen Gesellschaft nicht innewird, sondern das f ragmentier-
te Bewusstsein ist nach Habermas das Prob lem der Modeme. (Haber-
mas 1981b, Bd. 2, S. 522)
Die Imp erative der verselbständi gten Subsysteme und die aus ihnen
herrühr enden Diktate der Zweckrationalität, der Sachlichkeit und der
Standardisierung dringen in unsere Alltagswelt ein. Nehmen wir nur
das Beispiel des Ma rktes: Wir können gar nicht verhindern, dass wir zu
Konsument en gemacht werden, denen gesagt wird, wann sie was zu
kaufen haben und wie sie sich als Beschäft igte zu verhalten haben. (vgl.
S. 480) Grundsätzlicher muss man sogar sage n: Das Prinzip der Ratio-
nalisierung schlägt auf das gesamte private Leben durch. Wiederum
durchaus ernst gemeinte Beispi ele: Wir strukturieren den Tagesablauf
nach Termi nen (inklusive "Tagessc hau" und "Ve rbotene Liebe"), über -
antworten die Pflege kranker ode r alter Menschen spezialisierten
Dienstleistem und erledigen unsere Ernährung nach dem letzten Ge-
sundheitsplan.
Die nur an Zwecken ausgerichtete Rationalität, so fasst Habermas
seine Krit ik zusammen, zerstört die Lebenswelt . Darunter versteht er
mit Schütz und Luckmann die Welt, die uns fraglos gegeben, selbstver-
ständlich und vertraut ist. Wir nehmen an, dass wir sie mit anderen tei-
len, die sie in der gleichen Weise sehen wie wir. Sie bildet so etwas wie
den Horizont für unser Erleben und Wissen, in dem alles, was wir uns
vorstellen können, besch lossen ist. Deshalb merkt Habennas auch an,
dass er die Lebensweltanalyse als einen Ver such versteht, "das, was
Durkheim Kollektivbewusstsein genannt hat, aus der Innenperspektive
der Angehörigen rekonstruktiv zu beschreiben." (Bd. 2, S. 203)
Diese Lebenswelt gerät mehr und mehr unter die Imperative der
Zwec krationalit ät. die sich von allen Seiten fordernd bemerkbar ma-
chen. Es ist, als wenn Kolonialherren in die nat ürliche Ordnung einer
Stammesgesellschaft eindri ngen und dort bestimmen, wie die Men-
sehen von nun an zu denken und zu handeln haben. So spricht Haber-
mas auch von einer .Kolonial isierung der Lebenswelt". (Habennas
1981b, Bd. 2, S. 522)
Die Rationalisierung der Lebensweit hat Auswirkungen auf die Be-
gründungen und Formen unseres Handeins. Ein auffälliger Zug ist die
Verrechtlichung, die wir nicht nur als Kontro lle des "richtigen" Han-
deln s erfahren, sondern die wir selbst auch zur Absic herung unseres
234 5 Interaktion
Handeins vorsehen. So ist das Beispiel der Mutter, die sich vor dem
Kindergeburt stag von de n Eltern der anderen Kinder schriftlich bestäti-
gen lässt, dass sie sie abends im Auto zurückbringen darf, sicher nicht
zu weit hergeholt. Wir handeln nicht spontan, sondern sehen, dass wir
keine Fehler machen; wir handeln nicht emotion al engagiert oder ein-
fach aus einer Laune heraus, sondern vernünftig und zweckrational. Die
Lebenswelt als die Welt, in der wir uns eigentlich ganz selbstverständ-
lich und nach individuellem Anspruch bewegen können sollten, ist in
der Tat kolonialisiert worden.
Um diese strukturelle Veränderung geht es Habermas in seiner kriti-
schen Theorie der Gesellschaft. Vor ihrem Hintergrund entwirft er sei-
ne Theorie des kommunikativen Handelns. Dazu verbindet er Webers
kritische Theorie der Rationalisierung mit zwei Thesen: mit Meads
These, dass Interaktion in der wechselseitigen Rollenübernahm e be-
steht, und mit der These von Schütz, dass wir die Lebenswelt, in der
wir uns bewegen, für selbstverständlich halten. Nach Mead gelingt In-
teraktion, weil sich ego und alter auf gemeinsame Symbole beziehen
und sie identisch interpretieren. Dadurch dass sie sich wechselseitig in
ihre Rollen versetzen, blicken sie auch auf sich selbst und werden sich
der Gründe ihres HandeIns gewahr. Nach Schütz ist die Lebenswelt
über eine gemeinsame Sprache organisiert, durch deren Verwendung
uns laufend die Muster normalen Denkens und Handelns bestätigt wer-
den.
Habenn as geht nun über Meads kommunikationstheoretische
Grundlegung des Handeins hinaus, indem er eine weitere Vorausset-
zung macht: Die Interaktionspartner müssen ein Interesse an Verstän-
digung haben. Ziel einer Verständigung ist weder Überwältigung noch
resignative Unterwerfung, sondern Konsens . Medium der Verständi-
gu ng ist die Sprache, die uns durch die Lebenswelt natürlich gegeben
ist. Die Sprache ist deshalb auch Medium der Handlungskoordinierung.
(Habcnnas 1981b, Bd. 2, S. 41) Sie begründet das kommunikative
Handeln in einer konkreten Situation und hält es in Gang. Das muss
man sich so klannachen: Durch die Sprache wird immer etwas mitge-
teilt, auch, wie das Gesagte verstanden werden soll, und über sie wird
wiederum vermittel t, wie das Mitgetei lte verstanden worden ist. "Ver-
ständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne." (Haber-
mas 1981b, Bd. 1, S. 387) Deshalb setzt Habennas Sprache und Ver-
ständigung auch ineins.
5 Interaktion 235
Der Diskurs ist ein analytisches Sprechen übe r die Bedingun gen der
Kommunikation, also eine Metakommunikation . Den Unterschied zwi-
schen kommunikativem Handeln und Diskurs kann man sich mit fol-
gendem Beispiel klar machen: Herr J. behauptet gegenüber seiner
Tochter C., es gebe zwei unum stößliche Wahrheiten. Erstens, die Erde
sei eine Sche ibe, und zweitens, Frauen seien dümmer als Männ er. Zieht
Tochter C. nur die Brauen hoch, ansons ten geht das Gespräch aber wei-
ter, ist es kommunikatives Hand eln . Bestreitet Tochter C. aber wenigs-
tens eine der Behauptungen und verlangt eine rationale Begründung,
beginnt der Diskurs. ..In Diskursen suchen wir ein problematisiertes
Einverständnis, das im kommunikativen Hand eln bestanden hat, du rch
Begründung wiede rherzuste llen ." (Habennas 197 1, S. 115)
Der Diskurs ist ein "Abarbeiten der unterschi edlich en Perspektiven
mit rationalen M itte ln." (Matthes u. a. 1981, KE 1, S. 133) Aba rbei ten
hat das Zie l, einen Konsens über da s herzustellen , was hinfo rt an An -
sichten, Urteilen und Regeln des Disku rses ge lten soll. Deshalb spricht
Habennas auch "von (disku rsive r) Verständigung ." (Habennas 1971, S.
115)
Das klingt gut, die Frage ist aber , unter welchen Voraussetzunge n es
überha upt nur zu einem Diskurs kom me n kann . Die wichtigste ist, dass
die Interaktionsteil nehm er sich als gle ich e bet rachte n und sich gleiche
Rec hte einrä umen . Jeder Teilnehme r muss die gleiche Chance haben zu
handel n, sein Handeln zu erkläre n und vom anderen Erk lärungen für
de ssen Handeln einzufordern. Eine Interaktion, in der die se Bedingung
erfüllt ist, nennt Habennas eine symmetrische Interaktion .
Dass die Wahrnehmu ng dieser Chancen n ur im Medium der Sprache
erfolge n kann, liegt au f der Hand . Deshalb nennt Habennas als implizi-
te Bed ingung für diese symmetrische Interaktion des Diskur ses die Un-
terstellung einer idealen Sprechsituation:
Auf diese ideale Sprec hsituat ion greifen wir vor, obwohl sie de facta
nicht da ist. Was paradox klingt, kann man so auflösen: Unbewusst
unterstellen wir, wenn wir nur wollten, könnten wir den anderen fragen ,
warum er dies und das gesagt oder getan hat, und selbstverständlich
hätten wir das Recht, genau so frei die Grunde für unser Verhalten dar-
zulegen. "Der Vorgriff auf die ideale Sprechsituation ist Gewähr dafür,
dass wir mit einem faktisch erziehen Konsensus den Anspruch des
wahren Konsensus verbinden dürfen." (Habennas 1971, S. 136) Das
wiederum heißt: Wenn wir wollten, könnten wir nachfragen, ob das,
worauf wir uns zwisc henze itlich verständ igt haben, wirklich die ganze
Wahrheit ist. Deshalb muss auch eine ideale Sprechsituation jeg liche
Verzerrung der Kommunikation ausschließen.
Eine ideale Sprechsituation ist durch eine vierfache Symmetrie ge-
kennzeichnet: Jeder hat das gleiche Recht,
1. Kommunikation herbeizuführen,
2. Deutungen, Behauptungen, Erklärungen aufzus tellen und ihre
Geltungsanspruche zu begrunden und zu widerlegen,
3. auf ungekränkte Selbstdarstellung und
4. zu befehlen und sich zu widersetzen, Rechenschaft abzugehen
und zu verlangen.
Die ideale Sprechsituation ist also herrschaftsfrei, so dass jeder Interak-
tionspartner jederzeit die Möglichkeit hat, aus der Interaktion heraus-
und in Diskurse einzutrete n. Damit es nun zu einem wirklichen Diskurs
kommt , muss zusätzlich angenommen werden, "dass die Sprecher we-
der sich noch andere über ihre Intentionen täuschen dürfen." (Habennas
1971, S. 138) Dann - und nur dann! - ist der Diskurs das letzte und
entscheidende Mittel, die Freiheit aller beteiligten Individuen in der
Interak tion zu garantiere n. Nur durch den Diskurs kann so auch der
wahre von einem falschen Konsens unterschieden werden. (vgl. S. 134)
Der wahre Konsens ist das Ergebnis einer Kommunikation, in der die
vier genannten Bedingungen einer idealen Sprechsituation von Anfang
bis Ende erfüllt sind.
240 5 Interaktion
Der Mensch ist ein z öon politik6n, und die Sozio logie fragt, wie er
mit anderen zusammen lebt und was er tut, dass das auf Dauer auch
klappt. Das habe ich unter der Frage "Wie ist Gesellschaft m öglich?"!
diskutiert, und die großen Antworten der Soziologie klangen (hoffent-
lich) auch überzeugend. Diese Antworten zielten auf die Erklärung der
Gese llschaft als Ganzes, aber interessanterweise ginge n viele von der
Frage aus, wie es übe rhaupt zu dauerhafte n Beziehungen in einem ü-
berschaubaren Kreis von Individuen kommt. Konzentriert man sich auf
diese Grundfrag e, dann öffnet sich der Blick auf eine Soziologie der
Gruppe. Das eigentliche Thema ist dann, wie das soziale Gebilde aus-
sieht, das du rch die Beziehungen von Individuen zueinande r zustande
gekommen ist, welche Strukturen sich ausbilden und welche Prozesse
sich darin abspielen. Und schließlich geht es um die Frage, an welcher
gemeinsame n Idee, so vage sie auch imm er sein mag, sich die Indivi-
duen orientieren und wie sie sozial handeln. Wenn Individ uen dauer-
haft untereinand er Kontakt haben, wec hselseitig voneinand er wisse n,
dass sie sich an eine r gemeinsamen Idee orientieren, und sich dadu rch
von anderen untersc heiden, dann kann man dieses sozi ale Gebilde als
Gruppe bezeichn en. So ist denn auch meine Definition der soz ialen
Gruppe zu lesen:
Eine Gruppe ist ein soziales Geb ilde, das überschaubar und von
Dauer ist und eine Grenze nach außen hat. Die Mitglieder fühle n
sich in irgendeiner Weise einande r verbunden und verfolgen ge-
meinsame Ziele. Intern weist die G ruppe eine Struktur auf, die das
gemeinsame Hand eln bestimmt.
Eine Definition, die stärker auf die Form der Beziehungen abhebt,
stammt von dem amerikan ischen Sozialpsychologen T HEODORE M.
N EWCOMB: Danach besteht eine Gruppe " aus zwei oder mehr Personen,
die bezüglich bes timmter Dinge und Fragen gemeinsa me Nonnen ha-
ben und deren soz iale Rollen eng miteinander verknüpft sind." (New-
co mb 1950, S. 426) Au f den Zweck dieses sozi alen Gebildes und den
Sinn, den die Mitgliede r mit ihm verbinden , hebt THEODORE W. MILLS
ab, wenn er schreibt, dass sie " sich zu einem bes timmten Zweck tref-
fen" und dass ihne n " bereits dieser Ko ntakt selbst sinnvoll ersche int" .
( 1967, S. 10)
I Vgl. Band 1, Kap. 3 "Soziale Ordnung oder: Wie ist Gesellschaft möglich?"
6 Gruppe 245
Olson ( 1965): Die Logik des kollektiven HandeIns. Kollektivgüter und die Theo-
rie der Gruppen.
6 Gruppe 247
Diese " sekundären Gruppen" solle n sich zwischen d en Staat und die
Bürger schieben, um individuelle Interessen zu sozialen zu organisie-
ren , denn " ein e Gesell schaft, d ie aus eine r Unm ass e von unorga nisier-
ten Individuen zusammengesetzt ist und die sich ein Überstaa t b emüht
zusamm enz uhalten, ist ein wahr es so ziologisc hes M onstrum." (Durk-
heim 1902, S. 71) W ie ein roter Faden zie ht sich d urch Du rkheim s ge-
samtes Werk da s " Problem der we ch selseitigen Kom patibilität vo n so-
zialer Ordn ung und indi vidue ller Freiheit, von stru ktureller Differenzie-
rung und Int egration , Gemeinschaft und Individuum " , und die Berufs-
gru ppen sind di e " interm ed iäre Eb ene" , au f der da s gelingen so ll. (Mül-
ler u. Schmid 1992, S. 511 )
6 Gruppe 249
ße Fritz stirbt. Im ersten Fall findet der traurige Rest der Bande kei nen
rechten Schwu ng zu neuen Taten und verkrümelt sich schließlich. Die
Gru ppe löst sich auf. Im zwe iten Fall besteht die große Gruppe der
Preußen na türlich weiter, weil der große Fritz nicht kraft seiner Person,
sondern kraft eines Amtes herrschte. In diesem Fall gilt der Grun dsatz,
dass der König nicht stirbt. (vgl. Simmel 1898, S. 323 )
Das erste Beispiel rückt die Bede utung einer führenden Person in
den Vordergrund. Die Grup pe hat nur so lange Bestand, wie eine her-
ausragende Person sie zusammenhält. Simme l dtiickt es so aus: " So
lange der Bestand noch ein unsicherer und schwankender ist, kann jene
höchste, zusamme nhaltende Spi tze ihre Funktion nur verm öge ganz
bestimm ter persönlicher Eigenschaften erfüllen." (Simmel 189 8, S.
324) Wenn diese Persönlichkeit die Fähi gkeiten nicht mehr! hat oder
ausfällt, ist der Bestand der Gru ppe in Gefahr. An dem zweiten Beispiel
wi rd deutlich, dass das ,,Persona lmoment" zutiic ktreten kann, wenn die
Form, in der sich die Grup pe selbst erhält, prinzipi ell begtiindet ist, sich
soz usagen obj ektiviert hat. Simmel sieht deshalb auch im Erbschafts -
prinzip, gegen das ja eingewandt wird, dass damit nicht imme r die Bes-
ten in das Amt gelangen, einen tieferen Sinn : Es dok umentiert, " dass
die Form der Gru ppe, das Verhältnis zwischen Herrscher und Be-
herrschten ein rein sachliches und in sich ge festetes geworden ist."
(ebd.)
" Die Objektivierun g des Zusamme nhaltes der Gruppe kann auch die
persönli che Form so weit abstreifen, da ss sie sich an ein sachliches
Symbol kn üpft ." (Sim mel 1898, S. 325, Hervorhebung H. A.) Da s wäre
das vierte Prinz ip des Zusammenhaltes. Simmel bringt das Beispiel der
Fahne in einer kämpfenden Truppe. So lange sie vor ihnen weht, fühlen
sich alle als eine verschworene Gem einschaft, sinkt sie, gerät auch der
Geist der Truppe in Gefahr . Simmel vermutet aber , dass in einem sol-
chen Fall, wo sich die Gruppe für ihre Selbsterhaltung zu sehr auf ein
äußeres Zeichen stützt, der soziale Zusam menhang "schon vorher in-
nerlich stark gelitten haben muss" . (ebd.) Bemerkenswert sei dagegen
der umgekehrte Fall, dass nach dem Ve rlust eines Gruppensym bols die
Kohärenz umso stärker wird. Als Beispiel verwei st er auf die Zerstö-
rung de s jüdischen Tempels durch Tit us. Nachdem das Symbol als ma-
Dieses Problem erwähnt Weber im Zusammenhang mit dem Ausbleiben der au-
ßergewöhnlichen Fähigkeiten des charismatischen Herrschers. Vgl. Band I, Kap.
7.4 ,,Herrschaft: Die Legitimation von Macht", S. 257.
252 6 Grup pe
terielle Wirklichke it zerstört worden war, begann es " als bloßer Gedan-
ke, Sehnsucht, Ideal, sehr viel mächtiger, tiefer, unzerstörbarer" zu
wirken. (Simmel 1898, S. 325)
Ein fünftes, außerordentlich wirkungsvolles Mittel der sozialen
Selbsterhalt ung erblickt Simm el in der Ehre. Ursprünglich war Ehre
Standesehre, also eine "zweckmäßige Lebensform kleinerer Kreise" ,
durch die sie " ihren einheitlichen Charakt er" wahrten und sich gegen
die anderen Kreise abschlossen. (Simmel 1898, S. 331) In moderner
Terminologie würde man sagen: Ehre funktionierte zugleich als Inklu-
sion und als Exklusion, als Integration und Differenzierung. Die Ehre
steht zwischen sozialer Rechtsordnung und individueller Moral. Das
äußerliche Recht wacht über j ede s Individuum oh ne An sehen der Pe r-
son, die Mo ral ist an di e Herzen der Individuen geb unden. Wo eine
Gruppe eine gen erelle Zustimmung zu einem spezifischen, richtigen
Verhalten einfo rdert und das Indi viduum seine ind ivid uelle Moral aus
innerer Üb erzeugung in den Di enst einer koll ektiven stellt, funktioniert
Ehre als Prinzip sozialen Verh alten s und der Einheit der Gruppe . Auf
dieses doppelte Prinzip hebt auch Si mmeI ab:
Ein sechstes Prinzip der Selbsterhaltung der Gruppe liegt darin, dass
sich " differenzierte Organe" (1898, S. 350) herausbilden. Sie bestehen
aus mehreren Personen, die so etwas wie eine ste llvertretenden Reprä-
sentanz sind. Simmel nennt als Beispiele den Vorstand eines Vereins,
die Priesterschaft einer religiösen Gemeinde oder das Komitee einer
flüchtigen Vereinigung. Diese Organe sind besondere Teilgruppen, die
"di e Idee" der ganzen Gruppe vertreten. Zur Selbsterhaltung der Grup-
pe tragen diese sozialen Gebilde insofern bei, als sie "beweg licher"
sind. Sie können rasch den Willen der Gruppe artikulieren und danach
auch schnell handeln. Ehe eine ganze Gruppe zu einer Entscheidung
gekommen ist, ist die Chance zu handeln vielleicht schon vertan. Hinzu
kommt, dass diese repräsentativen Organe die inneren Gegensätze, die
es in jeder Gruppe gibt, ausgleichen und den "Mangel an Sachlichkeit,
der so oft die Einheitlichkeit in den Aktionen der Masse verhindert"
(Simmel 1898, S. 339), ausgleichen. Damit ist eine weitere soziale
Funktion der repräsentativen Organe angesprochen, sie können auf ei-
nem intellektuell höheren Niveau als der Durchschnitt der Masse han-
deln. Simmel beschreibt das Problem so: " Die Gesamtaktion der Men-
ge wird in intellektueller Hinsicht immer auf einem relativ niedrigen
Niveau stehen; denn derjenige Punkt, auf den eine große Anzahl von
Individuen sich vereinigt, muss immer sehr nahe an dem Niveau des
Tiefststehenden unter ihnen liegen; und dies wiederum, weil jeder
Hochstehende hinabsteigen, aber nicht j eder Tiefstehende hinaufsteigen
kann, sodass dieser und nicht jener das Niveau angibt, das beiden ge-
meinsam sein kann." (S. 340f.)
Doch auf der anderen Seite der Medaille steht ein viel bedrohliche-
res Problem: "Wo Erregung und Äußerung von GefUhlen in Frage
steht, gilt diese Norm nicht, weil sich in einer aktuell zusammenbefind-
lichen Masse eine gewisse Kollektivnervosität erzeugt - ein Mitgeris-
sen-Werden des GefUhls, gegenseitig ausgeübte Stimulierungen - so
dass eine momentane Erhöhung der Individuen über die durchschnittli-
254 6 Gruppe
1 Vgl. Sinunels "Exkurs über den Fremden" in: Sinunel ( 190B): Soziologie.
256 6 Gruppe
Damit sind wir bei der letzten und achten Erklärung der Selb sterh al-
tung einer sozialen Gruppe angelangt. Die landläufige Meinung ist
leicht gene igt, " den Frieden, die Interessenharmonie , die Eintracht für
das Wesen der sozialen Selbsterhaltung anzu sehen". (Simmel 189 8, S.
36 6f.) Dieser Meinung ist Simmel nicht. Er atte stiert dem Prinzip der
"Gegensätzlichkeit" (S. 368) die grö ßere Kraft, den Bestand der Gruppe
zu gewährleisten. Ihm schei nt denn auch ein "gewisse r Rhythmus zwi-
schen Frieden und Kampf" eine bessere Erklärung der Selbsterhal-
tungstendenz zu sein. Die s deutet er nach zwei Dim ensionen : "sowohl
der Kamp f der Gruppe als ganzer gege n äußere Fe inde in seiner Alter-
nierung mit friedli chen Epochen, wie der Kampf der Konkurrenten, der
Parteien, der ent gegengesetzt en Tendenzen j eder Art neben den Tatsa-
chen der Gemeinsamkeit und der Eintracht." (S . 367)
In der einen Dim ension erinnert Simmel daran, dass " der Kampf ge-
gen eine Macht, die außerh alb der Gruppe steht, (..) dieser ihre Einheit
und die Notwendigkeit, sie unerschüttert zu bewahren, zu eindring-
lich stem Bewusstsein" bringt. (Simm el 1898, S. 36 7) Diese Ta tsach e
ist fiir Simmel von "der größte n soz iologische n Bedeutung", die für fast
jede Gruppenbildung gelte: " Die gemei nsame Ge gnerschaft gegen ei-
nen Drittel (wirkt) unter allen Umständen zusammenschließend". (ebd .)
Er fahrt fort : " Es gibt wohl kaum eine Gruppe - famili ärer, kirchli cher,
öko nomischer, polit ischer od er welcher Art immer - die dieses Kittes
ganz entbehren könnte. In reinster Wec hselwi rkung entfaltet sich hier
das Bew usstsein der vo rhandenen Einhe it und ihre praktische Stärkung
und Festigke it:' (ebd .) Das ganze geistige Wesen de s Menschen,
schreibt Simmel, sche int auf .Llnters chiedsemp findlichkeit gebaut" zu
sein. Der M ensch braucht die Erfahrung der Differenz, um sich seiner
Einheit bewusst zu werden.
Diese .Llnterschieds empfindlichkei t" gilt auch in der anderen Di-
mension: Auch innerhalb der Gruppe kann die Gegensätzlichkeit bel e-
bendes und erhaltendes Prinzip sein. Simmel denkt hier an die Konkur-
renz zw ischen Interessent en , die gerade wegen dieser Interessen in en-
ger Wechselwirkung stehen. Ne hme n wir z. B. Händl er und Käu fer. Sie
verfolgen gegensätzliche Interessen, und gerade desweg en sind sie
geha lten, eine Form der Bezi ehung z u finden und zu pflegen, die wohl
tariert ist. In der Konkurrenz der Ge gensätze werden sich be ide Seite
ihrer Individu alität inn erhalb einer als Einheit im Gegensatz defin ierten
Gruppe bewusst. Es ist das dialekti sche Prinzip von Einhe it und Diffe-
6 Gruppe 257
So hatte es auch schon Durkheim (vgl. Band I Kap. 3.6 ,.Mechanische und organi-
sche Solidarität", S. 106) gesagt: Wir suchen - und brauchen! - den, der uns ähn-
lich ist, aber auch den, der ganz anders ist. Letzteres hatte er so erklärt, dass uns
immer etwas fehlt, was der andere kann, und auf dem Wege der Arbeitsteilung
versichern wir uns wechselseitig unserer zuträglichen Leistungen.
258 6 Gruppe
zum dritten Mal vom Schwebebalken gefa llen ist, sondern auch das
Kind, das der Mama beim Abtrocknen zur Hand geht, den Papa mit
einer 2 im Schönschreiben erfreut und ansonsten ein pflegeleichtes
Herzchen ist Umgekehrt gilt ruf Simme l: Je größer der Kreis ist, umso
mehr Individualität ist möglich. Das hängt zum einen mit der zuneh-
menden Differenzierung zusammen; zum zweiten vervielfältigen sich
die sozialen Kreise l, und der Schnittpunkt, in dem das einzelne Indivi-
duum wegen seiner spezi fischen Biograph ie und Qualifikation steht,
deckt sich schließlich mit keinem anderen mehr; schließlich sinkt die
soziale Kontroll e in dem Maße, wie die Individuen von einem Zentrum
abrüc ken könn en .
Bei dieser Ausdehnung der Grupp e ist Simmel ein interessanter Ef~
fekt aufgefallen: " Die Individualisierung lockert das Band mit den
Nächste n, um dafür ein neues - reales und ideales - zu den Entfernte-
ren zu spinnen." (Simmel 1888, S, 55) Das sei schon in der Frühphase
der kulturellen Entwicklung der Völker zu beobachten: " In solchen
Zeiten sind die Individu en eines Stanunes so einheitlich und einander
so gleich als möglich, dagegen stehen die Stämme als Ganze einander
fremd und feindlich gegenüber ; je enger die Synthese innerhalb des
eignen Stanunes, desto strenger die Antith ese gegenüber dem fremden;
mit fortschreitender Kultur wächst die Differenzierung unter den Indi-
viduen und steigt die Annäherung an den fremden Stamm ," (ebd.)
Die Ausweitung der soz ialen Kreise, die sinkende soziale Kontrolle
und die Differenzierung der Tätigkeiten fordern eine geistige Beweg-
lichkeit, die Alternativen zum Denken und Handeln wie immer deshalb
prüft, weil damit Individu alität gesteigert werden kann. " Daher komm t
es, dass ein starke Ausbi ldung der Individualität und eine starke Wert-
schätzung derselben sich häufig mit kosmopolitischer Ges innung paart ;
dass umgekehrt die Hingabe an eine eng begrenzte soziale Gruppe bei-
des verhindert." (Sim mel 1888, S, 56) Dieser Blick über die eigene
Gruppe hinaus beweist auch den Mut, das Band zur sozialen Gruppe zu
lockern, sich auf eigene Füße zu stellen, Was das für die Verbindung
zwischen Individuum und Gruppe bedeutet, erhellt aus folgendem Satz :
" Um (..) weit sehen zu können, muss man über die Nächststehenden
hin wegblick en." (S. 57)
Auf die sich daraus ergebend en Chancen der Individualität komme ich noch ein-
mal in Kap. 8.1 "S immel: Kreuzung sozialer Kreise und individ uelles Gesetz", S.
327f., zurück.
6 Gruppe 259
Vergleichen wir, was bei GEORG SIMMEL und bei Emile Durkheim
im Vordergrund stand, dann kann man sagen: Simmel hat gezeigt, wie
die Gruppe funktioniert und wie sie sich selbst erhält. Durkheim hat
gezeigt, dass die Gruppe eine Quelle des moralischen Lebens ist und
dass von daher ein bestimmtes Gruppenprinzip fiir den Zusammenhalt
der Gesellschaft von hoher Bedeutung ist. Der Klassiker, der jetzt an-
gesprochen wird, CHARLES HORTONCOOLEY, hat ebenfalls die funktio-
nale Bedeutung der Gruppe rur die Gesellschaft vor Augen, aber er hat
eine ganz andere Gruppe vor Augen und er beschreibt sie auch nicht in
nonnativer Absicht.
Im Hinbli ck auf die Gesellschaft ist die Funktion der Primärgrupp e, ein
Wir-Gefühl zu entwickeln , im Hinbl ick auf das Individu um, ihm Ideale
zu gebe n. Wenn Cool ey die Primärgruppe deshalb auch als »nursery of
hum an nature« (Cooley 1909, S. 24) bezeichn et, dann ist dieser Dop-
pelaspekt gemeint: menschli che Natur als soziale Natur.
Primärgruppen wie "die Familie, die Spielgruppe der Kinder, die
Nachbar schaft oder die Gemeinschaft der Alten sind praktisch univer-
sal. Man findet sie in allen Zeiten und auf allen Entwicklungss tufen
von Gesellschaft. Sie sind nach übereinstimmender Auffassung eine
wichtige Grund lage ruf das, was in der menschli chen Natu r und den
menschlichen Idealen als universal anzusehen ist." (Cooley 1909, S.
24) Gleichwohl fuhren die Primärgruppen in jeder Gesellschaft zu einer
besonderen Prägung. Dafür gibt Cooley als genaucr Beobachter seiner
Zeit ein Beispiel. In seinem Buch .Soclal Organization", das im Jahre
1909 erschien, schreibt er, dass die Primärgruppen natürlich " nicht un-
abhängig von der größeren Gesellschaft" sind, sondern " bis zu einem
gewissen Grade ihren Geist" reflektieren; "so wie die deutsche Familie
und die deutsche Schule in gewissem Sinne den Stempel des deutschen
Militarismus tragen." (S. 27) Insofern sind diese Primärgruppen nicht
nur die Quelle des Lebens des Individuums, sondern auch der sozialen
Institutionen.
Das kann man durchaus in einem weiteren Sinn verstehen, denn
Cooley sagt, dass unsere Vorstellungen von Liebe, Freiheit oder Ge-
rechtigkeit, die wir mit sozialen Institutionen verbinden, nicht von einer
abstrakten Philosophie her rühren, sondern im alltäglichen Leben in
den Primärgruppen entstehen. Dort sehen wir, wie "man" in dieser Ge-
sellschaft in dieser Hinsicht denkt und was " man" richtiger Weise des-
halb tun sollte. (vgl. Cooley 1909, S. 32) Es sind also Institutionen im
Sinne der sozialen Tatsachen, wie sie Durkheim beschrieben hat, die in
den Primärgruppen begründet werden. Dieser Gedanke findet sich spä-
ter auch in der Theorie des Symbolischen Interaktionismust wieder,
weshalb man auch Cooley durchaus auch als einen der geistigen Väter
dieser Theorie bezeichnen kann.
Die Beziehungen in der Primärgruppe sind nicht sachlich, sondern
intim und emotional; die einzelnen Mitglieder werden nicht in spezifi-
schen Rollen, sondern in ihrer Gesamtheit als vertraute Personen gese-
I Vgl. oben Kap. 5.5 ,,s ymbolische Interaktion", S. 210f. und 213.
6 Gruppe 26 1
hen. Deshalb haben sie auch eine ausgesprochen sozi ale Stützfunktion
für das Individuum . Dort findet es Anerkennung, auch wenn seine Leis-
tun gen nach objekti ven Kriteri en nicht ausreichend sind. Sie werden
relativ zu seinen persönli chen Fähi gkeiten gese hen. Aus der Sicht der
Gesellschaft, so hatte es ja Cooley schon betont, haben die Primärgrup-
pen die Aufgabe, die Ideale der Gesellschaft zu vermittel n, Die Primär-
gruppe kontrolliert die individuelle Entwi ck lung im Name n der Gesell-
schaft. (vgl. Thomas u. Znan iecki 1927a, S. 236 u. 242) Sie "de finiert
die Situation" d es richtigen Denk ens und Handelns durch das Verhalten
und durch die "e motionale Einmütigkeit ihrer Mitglieder." (Thomas
19 17, S. 298 u. 300) Die Primärgruppe ist durch gefühlsm äßige Solida-
rität gekennze ichnet. Deshalb ist sie auch zah lenmäßig klein und räum-
lieh eng begrenzt. Th omas gibt dazu ein schönes Beispiel: " Der polni-
sche Bauer verwendet das Wort »okol ica«, »die Nac hbarschaft rings-
um«, »soweit des Manne s Stimme reicht«, und man kann dies als die
natürl iche räumliche Grenze der Primärgrupp e betrachten, solange den
Menschen nur die Kommunikation smittel seiner Gruppe zur Ve rfüg ung
stehen." (S. 300)
Wei l die Interaktion in der Primärgruppe face- to-face erfolgt, wird
dort auch die erste Erfahrung eines Wir-Gefühls gemacht. Es ist das
Gefühl, Teil eines " moralischen Ganzen" zu sein und in Verbindung
mit dem Geist und den Gefühlen der and eren zu stehe n. (Coo ley 1909,
S. 33f.) Dieses Ge fühl wird auch dadu rch gestärkt, dass alle sich un-
au sgesproch en an gemeinsamen Zielen ori entieren, deren Gültigkeit
durch die tägliche Praxis bestätigt wird. In der Primärgruppe werden
auch die sozia len Maßstäbe entwickelt, nach dene n man wie selbstver-
ständ lich das Handeln anderer auße rhalb der eige nen Gruppe beurteilt.
Auch in dieser Hinsicht ist die Primärgruppe nicht nur eine Pflanzschu -
le der mensch lichen Na tur, sondern auch verlässliche Einrichtung der
gesel lschaftlichen Kontrolle.
Die Formuli erun g .Primärgruppe" wec kt das soziologische Interes-
se, was denn .Sekundärgruppen'' sind. Schäfers weis t darau f hin , dass
sich dieser Begriff erst in einem posthum erschi enenen Beitrag Coo leys
findet. (Sch äfers 1980a, S. 80) Dort werden sekundäre Grupp en allge-
mein mit gesellschaftlichen Systemen gleichgesetzt. Vielleicht kann
man sie so unterschei den : Primäre Gruppen umfassen den ganz en Men-
schen und sind geprägt d urch ein Ge fühl der engen persönlich en Ver-
bundenheit, wä hrend sekundäre Gruppen den Menschen nur unter ei-
262 6 Gruppe
Wenn über peer groups gesprochen wird, denkt man meist an Ju-
gendliche. Doch selbstverständlich gibt es auch peer groups von Kin-
dern, und sie haben in den gerade genannten drei Hinsichten eine ähn-
liche Funktion wie die jugendlichen Gruppen, mit dem Unterschied
allerdings, dass hier die Eltern noch steuernd eingreifen (können) . Das
ist die These von DAVID RJ ESMAN. Nach seiner Meinung besteht die
wichtigste Funktion der kindlichen peer group in der Zeit der Außenlei-
tung, in der wir uns seiner Meinung nach heute befinden, darin, ,Jeden
aufs Normalmaß zurechtzustutzen". (Riesman 1950, S. 85) Das gelingt
ihr auch, weil die Eltern die Anpassung ihrer Sprösslinge an die Stan-
dards. selbst forcieren und
. .
die Gruppe über Mittel verfügt, dies auch zu
erzwingen.
Betrachten wir zuerst die Rolle der Eltern, die Riesman zwar fllr
Amerika, und zwar vor einem halben Jahrh undert, so beschrieben hat,
die Ihnen aber sicher ganz vertraut ist. Riesman stellt fest, dass die EI·
tern der Mitte lschicht (wo sich die Außenleitung besonders deutlich
zeigt) mit großer Ungeduld - wenn auch unbewu sst - Druck auf das
soziale Leben ihrer Kinder ausüben: "Bei den Zusammenkünften der
Drei- bis Vierj ährigen sind heute die Eltern die Regisseure, genau wie
die Erwachsenen in früheren Zeiten die Heiratsvermittler waren."
(Riesman 1950, S. 84) Mit dem Terminkal ender in der Hand transpor-
tieren die Mütter ihre Kinder zu Aktivitäten, die als wichtig und wert-
voll gelten. " Das Kind gerät so unter seine geradezu wissenschaftlich
einwandfrei sozial gleichrangigen und passendsten Altersgenossen."
(ebd.) Franz Josef Degenhardt, der soziologische Bänkelsänger, hatte es
so im Ohr: "S piel nicht mit den Schmuddelkindern, ... geh doch in die
Oberstadt ...". Von da an dikti ert die peer group, und die Eltern sind
"ängstlich darauf bedacht, dass sich das Kind mit seinen Altersgenos-
sen versteht, seine »Anpassung« ist deshalb ihre erste Sorge." (Riesman
1950, S. 84) Erst wenn ihr Kind von der Gruppe voll akzeptiert ist, sind
sie beruhig t. Die erste Standardisierung ist erfolgreich abgeschlosse n.
Da die sozialen Kontakte immer in die gleiche Richtu ng gehen, ist auch
zu erwart en, dass die Anpassung weitergeht.
An dieser Stelle bringt Riesman die Mittel ins Spiel, mit denen die
peer group schon bei den Kindern Standardisierung erzwingt. Sie be-
stehen in eindeutigen Beurteilungen und sozialem Ausschluss. Beson-
ders sensibel reagiert die peer group, wenn jemand sich etwas einbildet,
Gefü hlsregunge n zeigt oder durch außergewöhnliche Tugenden oder
264 6 Gruppe
Untugenden auffäll t. (Riesman 1950, S. 85) Sofort greift einer auf ei-
nen Standardsatz von Abwertungen (Heulsuse, Mammakind) zurück,
und alle anderen stimmen ein. Die Konsequenz ist klar: Der Abgestraf-
te läuft weg oder die Gruppe lässt ihn nich t mehr mitmachen. Da auch
von einem Kind nicht erwart et werden kann, sich in splendid isolation
groß zu fühlen, wird es dieses Risiko unter allen Umständen meiden. Es
passt sich an, vor allem an die Geschmacksurteile der Gruppe. Wenn
im Fernsehen cereals in weißer Schokolade angesagt sind, hat die Mut-
ter keine Chance, ihre gesunde Vollkomschnitte loszuwerden. Die Pri-
märgruppe der peers im Kindesalter übt die flexible Umstellung auf
den .Zeitgeist" (und den entsprechenden Konsum!) wirkungsvo ll ein.
Was Riesman beschr ieben hat, entspricht unserem Augenschein;
systematische Untersuchungen über die peer group von kleinen Kin-
dern gibt es nicht. Das beklagt auch L OTHAR KRAp PMANN, der die For-
schungslage Anfan g der 90er Jahre aufgearbeitet hat. Etw as weniger
schlecht sieht die empirische Fundienmg in der mittleren Kindheit, also
zwisc hen sechs und zwö lf, aus. Die Sozialisation in diesen peer groups
ist von Prozessen wechselseitigen Aush andeins geprägt. Zwar bringen
die Kinder Vorstellungen und Verhaltensformen mit, die sie in ihrer
Familie kennen gelernt haben, aber in der Grupp e sehen sie sich mit
Alternativen konfrontiert. Um miteinander auszukommen, müssen sie
in eine Verhand lung eintreten, was forta n gelten soll. Das setzt voraus,
dass sie sieh in die Perspektive des anderen hineinversetzen können.
Wie das erfolgt, hat GEORGE H ERBERT M EAD am Beispiel des game
gezeigt: Um erfolgreich zus ammen spielen zu können, muss man die
Rollen aller anderen verstehen und ihre Perspektiven mit der eigenen
verschränken können. I Das setzt zweitens voraus, dass sich die Kinder
im Prinzip als Gleiche betrachten. Nun fallt genervten Erwachsenen
nat ürlich zunächst einm al auf, dass sich die Kinder zanken und keines-
wegs auf der gleichen Ebene miteinander umgehen. Dennoch ist
Gleichheit das "regulative Prinzip" der Kindergrup pe:
Vgl. oben Kap . 5.3 ..Intera ktion - Verschränkung der Perspekti ven" , S. 200.
6 Gruppe 265
Es ist also die strukturierte Situation, die den Kindern ganz neue Leis-
tungen abverlangt und neue Kompetenzen fördert . Erwachsene greifen
gerne helfend in diesen Prozess ein, weil sie meinen, sie würden ihrem
Kind dann schneller zur Kompetenz personaler Verständigung und Ko-
operation verhel fen. Doch im Grunde stören sie den Prozess der .Ko-
Konstruktion", wie es j emand einmal genannt hat. (zit. nach Krapp-
mann 1991, S. 357) Mead hat sich einmal gewundert, mit welchem
Eifer Kinder über Regeln streiten. (Mead 1934, S. 194) Hier liegt die
Begründung: In der Verhandlung von Gleichen erfinden alle gernein-
sam etwas und legen fest, woran sie sich schließlich auch alle halten
wollen. Deshalb akzepti ert die Kindergruppe auch keinen, der übertrie-
ben streitsüchtig ist oder die anderen beherrschen will. Nicht in diesem
Zusammenhang, sondern nur am Rande m öchte ich noch hinz ufügen,
dass die Kindergruppe auffällig oft gleichgeschlechtlich organisiert ist.
Wenden wir uns jetzt der peer group der Jugen dlichen zu.I Ich habe
einga ngs an die Theorie von TALCOTT PARSONS erinnert, der seine So-
zialisationstheorie vor dem Hintergrund einer Theorie der sozialen
Ordnung entwickelt hat. Was die Gesellschaft nach dieser Theorie vom
Individuum mit Fug und Recht erwarten kann, hat Parsons mit der
Formulierung der alternative n Wertorientierungen des Handeins (xpat-
tern variables«) definiert.z Vor allem die Orientierung an einem Kollek-
tiv (statt Selbstorientierung) und die Orientierung an universellen, ge-
sellschaftlichen Werten (statt an partikularen, nur für eine einzel ne
Gruppe geltenden) sind die Orientierungen, die dem Individuum beim
Übergang in die Gesellschaft abverlangt werden. Vor dem Hintergrund
Da dieses Thema in der Psychologie und Soziologie der Jugend eine zentrale
Rolle spielt, verweise ich auf Abels (1993): Jugend vor der Modeme. Dort werden
die wichtigsten psychologischen und soziologischen Theorien des 20. Jahrhun-
derts behandelt. Eiligen soziologischen Lesern empfehle ich als Kurzfassung
Abels (2000): Die »Jugendc der Soziologie.
2 Vgl. oben Kap. 4.3 •Alternative Wertorientierungen des Handelns", S. 153·157.
266 6 Gruppe
dürfnissen gerec ht werde n. Genau das leistet die peer group: " Unter
allen Arte n von Beziehungen genügen wahrscheinlic h nur die mit Al-
tersgenossen, mit Mitgliedern alters homo gener Grupp en, dies en Typen
von Bedürfnisdisposi tionen. Diese Beziehungen sind (...) zugesc hrie-
ben, während ihre Diffusität durch die Diffusität von Altersdefinitionen
»garantiert« wird. Sie haben auch eine inhärente Te ndenz zu r Solidari-
tät (a) wegen einer gemeinsamen Definition von Lebensra um und
Schick sal und (b) wegen gemeinsamer emotiona ler Span nungen und
Erfahrungen wäh rend der Zeit des Übergangs und emotionaler Belas-
tungen." (Eisenstadt 1956, S. 40)
>- Aus der Sic ht des Individuums hat die peer group die Funktion ,
den Übergang von emotionalen zu sachlichen Bezieh ungen zu
erleichtern. Weniger soz iologisc h kann man aus der Sicht der
Jugendlichen auch sagen: Geteiltes Leid ist halbes Leid .
>- Aus der Sicht der Gesell schaft ist die Funktion der peer group,
die Motiv ation zur Zustimmu ng zu den Rollen der Erwachse-
nengesellschaft herzustellen.
Dafür gew ährt sie einen Übergangsraum, in dem emotionale Bedürfnis-
se noch befriedigt werden und neue, sachliche Beziehu ngen ohne direk-
te negative Sanktion gelernt werden können . Diese Mischu ng aus emo-
tiona ler Zuneigung und sachlicher Distanz ist auch noch in einer ande-
ren Hinsicht förderli ch: Die peer group im Jugendalter ist praktisch der
erste soziale Raum, in dem der soziale Status des Individuums nicht
mehr zugesch rieben ist, sondern von der persönlichen Leistung ab-
hängt. Der Jugend liche bring t bei seiner Annähe rung an die Clique im
Grunde nur sein Alter mit; wie er letztlich angesehen wird und wo man
ihn in der Strukt ur der Gruppe plaziert, das hängt ganz wesentlich von
seinen Anstrengungen ab. Er muss sich seinen Stat us hart erarbeiten .
Zwar bringt die Gruppe de r Gleichaltrigen einiges Verständnis mit,
weil sich alle in der gleichen Phase e motionaler, sexueller und sozialer
Entwicklung befinden, auf der anderen Seite ist die Gruppe nicht zim-
perlich mit der Definition von gut und böse, richtig und falsch. Der
soziale Stat us verlan gt, sich ständig de r Zustimmu ng durch die andere n
zu versichern l
268 6 Gruppe
In diese Richtung zielt auch die Theorie von ERIK H. E RIKSON. der
die Funktio n der peer group im Juge ndalter darin sieht, die Identität des
Jugendlichen zu stützen. Das werde ich noch ausführlic h behandeln. I
Ich will nur kurz vorgrei fen. Der Jugendliche ist nicht Fisch und nicht
Fleisch und so empfindet er auch. Er will ständig herausfinden, wer er
ist und wer er nicht ist, wie er aussieht und wie ihn die anderen anse-
hen. (vgl. Erikso n 195Gb, S. 106) Unsicher in seinem Selbstgefühl
sucht er nach Anerkennung der ganze n Person . Da er dabei ist, sich neu
zu positionieren, löst er sich von den Eltern ab, deren Urteil von heute
auf morgen nichts mehr gilt. Das geschieht oft in großen Gesten und in
dramatischen Ause inandersetzungen, was aber nicht darüber hinwe g-
täuschen sollte, dass die Jugendlichen diese Ablösung selbst auch als
Risiko erleben.
In dieser Phase ist die Gruppe der Gleichaltrigen besonders wichtig.
Doch alle sind sie in der gleichen Situatio n, soda ss sich manches sub-
jektive Problem schon durch die Erfahrun g, dass alle anderen genau die
gleichen Problem e (meist mit den Elte rn) haben, aufschaukelt. Im
Zweifel, wer man wirklich ist und wie es weitergehe n soll, entscheidet
man sich für eine bestimmte Meinung oder Verhalt cnsfonn , die man
heute total vertritt und vielleicht morgen schon wieder vergessen hat.
Dahinter steckt der Vers uch, eine einmal entworfene Identität zusam-
menzuhalten. Die anderen in der Grup pe bilden dafür gewissermaßen
den Chor, der diesen Entwu rf absegnet und stützt. Das erfolgt in der
konunentierenden Form von Kritik ("F ind ich doofl" ) und Lob ("E cht
cool!" ). Die peer group ist in diesem Alter die bei weitem wichtigste
Bezugsgruppe. Gemeinsam versichern sich die Jugendlichen ihrer Iden-
titätsentwürfe und erwarten, dass sich alle an die Ideale halten, die da-
hinter stehen. Deshalb ist die Treue in dieser Phase auch so wichtig.
(vgl. Erikson 1961, S. 108) Es ist natürlich auch die Treue im emotio-
nalen Sinne oder gar romantischen Sinne .
Genauso wichtig ist aber die durch Reden und Handeln zu belegende
Treue, die fest zu gemeinsamen Weltentwü rfen steht. Das erklärt auch,
warum Jugend liche oft totalitären Ideen anhängen: Sie erklären alles,
grenzen richtig und falsch klar ab und sie geben gemeinsamem Han-
deln die Richtun g vor. Das hat zur Folge, das s mit dem erwachenden
.Wir-Gefühl'' in der Gruppe fast immer eine Abgrenzung zu "den ande-
ren" verbunden ist! Die Solidarität, die sie sich gegenseitig geben , hat
eine gefährliche Rückseite: die Verachtung aller ander en. Dabei ist die
harmlo seste Form der Trennung zwischen »in group« und »o ut group «
ein bestimmtes modisches Out fit.
Nach der Theorie von Erikson findet der Jugendlich e seine soziale
Identität ganz wesentlich in der peer group. Darüber besteht in der So-
ziologie Konsens. Strittig ist aber, ob es eine soziale Identität ist, die
auch der Gesellschaft nützt. Diese Frage hat in der Diskussion über die
Funktion der peer group von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt,
und man che Soziologen haben die peer group auch als Raum betrach-
tet, in den Jugendliche ausweichen oder in dem sie gar den Widerstand
gegen diese Gesellschaft proben. In vielen Jugenduntersuchungen
spielte diese Beflirchtun g eine zentrale Rolle und manchen Eltern ist
auch heute noch der Einnuss der Clique nicht ganz geheu er. Dass die
Gruppe der Gleichaltrigen abweich endes Verhalten fördern kann , ist
auch gar nicht zu leugnen. Doch auch hier mus s man wieder sagen,
dass Individuen und soziale Gebild e nicht im gesellschaftsfreien Raum
existieren. Wo die peer group einen anderen Zugang zu einer anderen
gesellschaftl ichen Ordnung vermittelt, gibt es dafür Gründe. Sie liegen
sicher oft genug auf der Seite der Individuen, aber genau so oft sicher
auch auf der Seite der Gesellschaft.
Von den vielen, höchst spannenden einschlägige n Studien zu diesem
Problem will ich kurz die klassische Studie "The gang" von FREDERIC
M. THRASHER (1927) ansprechen. Er hat in Chicago mehr als tausend
gangs, also Jugendbanden, besucht, befragt und auf andere Weise be-
obachtet und ist zu dem Schluss gekommen, dass die gang die Funkti on
hat, dem Jugend lichen einen soz ialen Status zu verschaffen, den er auf
andere Weise - z. B. mit legalen Mitteln - nicht erreichen kann. Da es
sich um Jugendl iche aus Einwandererfam ilien handelte, standen sie
zwischen den Werten, die ihre Fami lie noch verkörperte, und den Wer-
ten und Nonnen der amerikani schen Gesellschaft , die sich selbst in
heftigem Wand el befand. In diesem Widerspruch war die gang der Ort,
wo für alle Beteiligten die Dinge draußen richtig "definiert" wurden,
wo vor allem aber eine spezifische Moral der Gruppe selbst festgelegt
wurde. (vgl. Thrasher 1927a, S. 930)
In jeder gang gibt es eine große Übereinstimmung, was Geflihle,
Handlungsmuster und Einstellungen angeht. Es herrscht so etwas wie
ein »esprit de corps«, in dem sich alle eins fühlen und dem sie sich be-
270 6 Gruppe
1 VgJ. Kap. 8.2 "Identität - sich mit den Augen des anderen sehen", S. 335f..
2 Eine gute Darstellung des Experiments findet sich bei Hofstätter 1954, S. 309f.,
auf den ich mich auch beziehe.
3 In solchen Tests, die gerne in der Schule, aber auch in Arbeitsteams oder in Grup-
pentherapien durchgeführt werden, geht es z. B. um Fragen wie ,,Neben wem
möchtest Du gerne sitzen?", ,,M:it wem würdest Du gerne ein paar Tage zusam-
men Urlaub machen?", " Wer, glaubst Du, hätte Verständnis für dich, wenn du ihn
fragen würdest? oder " Wer trägt viel zu einem guten Arbeitsklima bei?".
272 6 Gruppe
gut leiden konnten. Das Sherif man unter der Annahme, dass
Abneigung eine schwierige Voraussetzung für eine Gruppenbil-
dung ist. Jede der beiden neugebildeten Gruppen lebte in den
nächsten fünf Tagen ruf sich. Schon in dieser kurzen Zeit entwi-
ckelte sich eine deutliche Struktur, d. h. es gab Führer und Mit-
läufer und andere Rollen. Jede Gruppe entwickelte einen esprit
de corps, d. h. ein Wir-Geruht. Der soziometrische Test ergab,
dass nunmehr 90% der positiven Wahlen auf Mitglieder der ei-
genen Gruppe entfielen.
• In der dritten Phase wurden die beiden Gruppen wiederholt in
Situationen gebracht, in denen sie als Konkurrenten gegeneinan-
der antraten. Dabei zeigten sich ein starker Gruppenzusammen-
halt und eine auffällige Feindseligkeit gegen die andere Gruppe.
• In der vierten Phase versuchten die Leiter des Experiments die
beiden Gruppen wieder zu reintegrieren, indem sie eine Notsi-
tuation konstruierten, die beide betraf. Die Wasserzufuhr zum
Ferienlager ging kaputt und konnte nur repariert werden, indem
alle anpackten. Außerdem setzten sie einen Wettkarnpf mit einer
Gruppe außerhalb des Lagers an. Nach beiden Aktionen zeigte
der soziometrische Test, dass die frühere Unterscheidung zwi-
schen Eigen- und Fremdgruppe fast völlig verschwunden war.
An diesem Experiment wird deutlich, dass unsere Einstellung zu ande-
ren ganz wesentlich von der Gruppe abhängt, der wir uns selbst zu-
rechnen. Dies war schon WILLIAM G. SUMNER aufgefallen, der in sei-
nem Buch über ,,Folkways" (1906) festgestellt hatte, dass "durch Ge-
wohnheit und Brauch (...) auf jedes Individuum ein starker Druck aus-
geübt" wird. (Sumner 1906, sec. 2)1 Diese "soziale Kraft" geht vor al-
lem von der Gruppe aus, in der wir leben. Auffällig ist, dass die Anpas-
sung an die Gruppe fast immer mit einer Ausgrenzung anderer Gruppen
einhergeht. Die Individuen unterscheiden genau zwischen " ihrer"
Gruppe und der der "anderen" . Sumner hat die eigene Gruppe als »in
group« und die Fremdgruppe als »out group« bezeichnet. (sec. I3 f.)
Die Eigengruppe wird aufgewertet, die Fremdgruppe abgewertet.
Diese meist unbewusste Einstellung hat er Ethnozen trismus genannt:
Die eigene Gruppe gilt als der Nabel der Welt und als Maßstab des
richtigen Verhaltens. Man " rühmt sich seiner Überlegenheit, übertreibt
Wem Winston Parva zu weit weg liegt, beobachte nur einmal Kontakte zwischen
deutschen Mädchen und türkischen Jungen. Man kann aber auch Bourdieus Über-
legungen über die ,,feinen Unterschiede" (vgl. unten Kap. 7.4) weiterdenken, in-
dem man sich z. B. vorstellt, wie wohl jemand reagiert, der sich mühsam nach
oben gearbeitet hat und schon zum dritten Mal nicht zum Presseball eingeladen
wurde.
276 6 Gruppe
Was ich hier gerade angesprochen habe , ist die These, die der ame-
rikanische Soziologe HOWARD S. BECKER in seinem Buch .A ußensei-
ter' (I963) vertritt. Danach stellen alle gesellschaftlichen Gruppen
Verhaltensrege ln auf und versuchen sie durchzusetze n. Diese Regeln
"definieren Situationen und die ihnen angemessenen Verhaltensweisen,
indem sie einige Handlungen als »richtig« bezeichnen, andere als
»falsch« verbieten." (Becker 1963, S. 1) Gruppen, die sich im Einklan g
mit den herrschenden Werten wähnen , haben größ ere Macht, ihre Defi-
nitionen durchzusetzen. Das sind, so die Annahme Beck ers, in der Re-
gel die Grupp en, die sich zur breiten Mittelsc hicht rechne n. Umgekehrt
gibt es Person en und Grupp en, die eher als andere als abweichend und
somit Außenseiter etikettiert werden und darunter auch zu leiden ha-
ben. So zeigen Studien über jugendliche Delin quenz, dass schwarze
Jugendliche eher von der Polizei aufgegriffen werden als weiße, eher
zur Wache gebracht und häufiger verurteilt werden. Dahinter kann man
vermuten, dass eine in-group Abweichung eher bei der out-group
wahrn immt, sie dort weniger toleriert und am entschieden sten sanktio-
niert.
Diesen Mechani sm us der Definition eines "typi schen" , erwarteten
Verhaltens hat man als Etikettierung oder labeling approach bezeich-
net. Später hat Becker der »Btikettierungstheorie« einen neuen Namen
gegeben, indem er von einer .Jnteraktionstheorie abweichenden Ver-
haltens" (Becker 1971, S. 163) sprach. Damit wo llte er sagen, dass die
Defini tionen und Reaktionen wechselseitig erfo lgen und weitergehen.
Die höch st farbige Arb eit von Becker hat noch etwas gezeigt, näm-
lich, dass es soz usagen Karrieren abweichenden Verhaltens gibt und
dass das abweichende Verhalten entscheidend von der Kultur der ab-
weichenden Gruppe geprägt wird. Mit dem Ersteren ist gemeint, dass
oft eine Gruppe im Hintergrund steht, aus der heraus jemand sich von
der gese llschaftlichen Normalität entfernt. Sie stützt und ermutigt ihn.
Daraus folgt das Zweite: Die Gruppe liefert ihm auch die Ideologie zur
Begründung seines Hand eins. (Becker 1963, S. 35)
6 Gruppe 277
I Z ur Gesc h ichte des nach wie vor rech t di ffuse n Begriffs vgl. Gu kenbiehl 1980.
2 Vgl. Kap. 3.2 ,,Der Rollen-Set", S. 114.
3 Vg l. Ba nd 1, Kap. 3.3 "Schottische M oralphilosop hie: Erfahrungen u nd Gewohn-
heiten " und unten. S. 34 5, wo ich das »[a w of fashione mi t Riesmaus Th ese von
der Auß en leitung zu samm enbringe .
278 6 Gruppe
wir konkret zu tun haben. Sie sind es, von denen wir unsere Ver-
gleichsmaßstäbe des "Sc hicklichen und Angem essene n" nehmen.
Schließlich denk e ich an die The se von EMILE DURKHEJM, dass es
feste Vergleichsmaß stäbe geben mu ss, damit das Individuum überhaupt
handeln und die Gesellschaft sich auf das Individuum verlassen kann.
Wo es diese Vergleichsmaßstäbe nicht gibt, kommt es zu einem Zu-
stand "gestörter Ordnung oder Anom ie". (Durkheim 1897, S. 289) Ver-
gleichsmaßstäbe ergeben sich zwar aus den Werten und Nonnen der
gan zen Gese llsch aft , abe r konkret werd en sie erst an dem Platz, den der
Einzelne in der sozialen Hierarchie einnimmt. (S. 283) Für diesen Aus-
schni tt! gibt d ie Gesellsch aft , ich würde jetzt in mod erner Term inol ogie
einschrä nkend sagen: geben die Bezugsgruppen, die Maßstäbe vor. Sie
existieren als Kollektivbewusstsein eines Teils der Gesellschaft . Durk-
heim drückt es so aus:
Lesen Sie doch noch einmal nach. was Darkheim eingangs (S. 247f.) über die
Herstellung moralischer Gefühle in der Gruppe und die Funktion der Berufsgrup-
pen gesagt hat.
6 Gru ppe 279
Natürlich kann sich der Mensch mit allen möglichen vergleichen und
seine Ziele ins Unendliche setzen, aber wirklich wohlfühlen karm er
sich nach der Ansicht Durkheims nur dann, " wenn seine Bedü rfnisse
(...) mit den ihm zur Verftigun g stehenden Mitteln einigermaßen in
Einklang stehen." (Durkheim 1897, S. 279)
Jetzt zurück zu der angekündigten Orienti erung des Individu ums an
konkreten Erwartu ngen einer konkreten Bezugsgru ppe bzw. zur unbe-
wussten Unterordnung un ter ihren »es prit de corps« . Dazu will ich zu -
erst auf eine der größten qual itati ven Studien, die j e du rchgeführt wor-
den sind, zu sprechen kom men , die sog. Hawthorne-Studie.t
Auf Bitten des Managem ents der Western Electric Co mpany in
Hawthorne bei Chicago, das mit der Produktivität nicht zufrieden war,
macht e sich der Industriepsychologe ELTON MAYO vo n der Harvard
Business School daran, die Sache wissenscha ftlich zu untersuchen. Un M
gierten die Schätzungen. Die Versuchs perso nen beeinflussten sich also
gegenseit ig.
Ein anderes Experi ment hat SALOMON E. A SCH ( 1955) durc hgeführt.
Er zeigte einer Gruppe eine Karte mit einem senkrechten Strich und
eine zweite Karte mit drei senkrechten Strichen. Jeder sollte sagen,
welcher der dre i Striche der zweiten Karte gleich lang wie der Strich
auf der ersten Karte sei. Solange jeder für sich antwortete, waren die
Ergebni sse einheitlich. Als aber Asch in mehreren Experimenten je-
weils alle bis auf einen instruierte, ein objektiv falsches Urteil ab-
zugeben, wurden viele derjeni gen, die mit ihrem Urteil allein dastan-
den, unsicher und schloss en sich letztlich dem Urtei l der Gruppe an.I
Was wird an diesen Experimenten deutlich? Deutlich wird, dass eine
Gruppe ein dynamischer Prozess ist, in dem das Verhalten der Grup-
penm itglieder beeinflusst wird. So ist für GEORGE CASPAR HOMANS die
Gruppe auch "definiert durch die Interakt ion ihrer Teilnehmer" . (Ho-
mans 1950, S. 102) Das kann man wörtlic h im Sinne der Wechselwir-
kung verstehen .
Nun kann man sich ja auch Gruppensituationen vorstellen, in denen
ein Einfluss ganz gezielt ausgeübt wird , und beobachten, was dann pas-
siert. Das haben u. a. Sozialpsycho logen getan, die in Gruppenexperi-
menten den Zusa mme nhang von Führungsstil und Arbeitsleistung un-
tersucht haben. Ein besonders interessantes Experiment war das von
RONALD LIpPITT und RALPH K. WHITE, in dem Gruppen von 11-
jährigen Kindern untersucht wurden. (Lippitt u. White 1947) Die Grup-
pen trafen sich meh rere Wochen hintereinander, und jede Gruppe arbei-
tete unter drei verschiedenen Führung sstilen: autoritäre Führung, de-
mokratische Führung und neutrale " Führung" (alaissez faire«). Jeder
der Gruppenleiter war gehalten, in jeder Gruppe nacheinander jede
Führungsrolle zu spielen. Auf diese Weise sollte der Einflu ss der Per-
sönlichkei t ausgeschaltet werden.
>- Der Plan für die autoritäre Führungsrolle sah vor, dass praktisch
alle Maßnahmen, die die Aktivitäten der Gruppe betrafen, vom
Leiter bestimmt werden sollten. Die Anwei sung lautete deshalb :
"Wie und was zu machen ist, wird einzeln Schritt für Schritt von
Wem die exp erimentelle S ituation zu konstruiert erscheint, kann einma l beobach-
ten, was in der Kant ine passiert, wenn einer, der in der Runde etwas gilt, sagt, das
Fleisch habe einen leichten Beigeschma ck!
6 Gruppe 283
Die anderen d rei sind der Wunsch nach neuem Erleben, nach Sicherheit und nach
Er widerung. (Thomas 1925: The unadjusted girl, S. 16 1) Thomas hat die Theo rie
der vier Wünsche mehrmals umfo rmuliert.
7 Status 287
status beruht dagegen auf eigener Leistung. Ein Beispiel für den Effekt
eines zugeschriebenen Status ist die Erwartung, dass ein Kind aus gu-
tem Haus auch bessere Leistungen in der Schule erbringt, oder die um-
gekehrte Erwartung, dass man von einem Kind aus der Obdachlosen-
siedlung solches von vornherein nicht erwart en kann. Wie das funktio-
niert, hat das schon erwähnte I Experiment .Pygmalion im Klassen-
zimmer" (Ros enthai u. Jacobson 1968) gezeigt. Ich rufe es kurz in Er-
innerung: Lehrern wurden zwei Gruppen von Kindern zugewiesen. Von
der ersten Gruppe hieß es, sie hätte bei einem Leistungstest besonders
gute Ergebnisse, von der zweiten, sie hätte nur unterdurchschnitt liche
Leistungen gezeigt. In Wahrhe it unterschieden sich die Leistungen die-
ser Kinder überhaupt nicht. Als man dann nach einem halben Jahr diese
beiden Gruppen testete, zeigte sich, dass ihre Leistungen tatsächlich
dem entsprachen, was man ihnen vorher " zugeschrieben" hatte. Die
Erklärung liegt auf der Hand : Positive Erwartungen führen zu wohlwol-
lender Unterstützung auf der Seite der Lehrer und spornen zu weiteren
Leistungen auf der Seite der besonders beachteten Schü ler an, negative
führen zu Unterforderung und demotivieren.
Der Begri ff des Status dient zur Differenzierung der Mitglieder einer
Gesellschaft. Die wichtigsten Merkmale, nach denen einem Individuum
ein sozialer Status zugeschrieben wird , scheinen Alter, Geschlecht,
Herkommen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fami lie zu sein.
(Linton 1936a, S. 99) Es sind soz usagen objektive Statuskriterien. über
die man eigentlich auch nicht zu diskuti eren braucht. Wer 80 Jahre alt
ist, ist älter als ein 20Jähriger, und wer nicht aus der Familie von It·
zenplitz kommt, kommt eben nicht aus dieser Familie. Doch selbst an
dieser einfachen Statuszuschreibung wird deutlich, dass Statuskriterien
bewertet werden. In einer statischen Gesellschaft hat der Alte einen
höheren Status, weil er auf eine größere Erfahrung zurückblicken kann,
aber in einer dynamischen Gese llschaft mit Jugendlichke itstouch sieht
das ganz anders aus. Interessant wird die Frage nach dem sozialen Sta-
tus denn auch, wenn in die Differenzierung Statuskriterien hineinspie-
len, die aus subj ektiven oder milieuspezifi schen Wertungen entsprin-
gen.
ehen Leute" und wo die " besseren Leute" wohn en, und man weiß auch,
woran man den Status der Bewohner dieser Viertel erkennt. Dabei spie-
len die gerade genannten objektiven Statuskriterien wie Einkommen,
Besitz oder Bildungsabschluss eine Rolle - wie man sie verm utet oder
wie sie sich dem Augenschein präsentieren. Gleichzeitig beurteilen die
Bewohner sich und ihresgleichen aber auch selbst, und da spielen u. U.
ganz andere, subjektive oder milieuspezifische Statuskriterien eine Rol-
le. Bei den einen überstra hlt das Aut o mit 200 PS alles andere, bei den
anderen wird man nicht anerkannt, wenn einem ein bestimmter Bil-
dungsabschluss fehlt. Das zeigt, dass Statuskriterien je nach Sozial-
schicht und Milieu unterschiedlich sind. Die Kriterien, mit dene n ein
sozialer Status bestimmt werden so ll, sind immer nur Kriterien aus ei-
ner spezifischen soz ialen Lage und aus einer bestimmten Zeit heraus.
Diese KlarsteIlung wird in der Soziologie von PIERRE BOURDIEUgleich
eine zentra le Rolle spielen.
Kehren wir noch einmal zu dem Stru kturaspekt zurück, unter dem
Parsons einen sozialen Status betrachtet. Wenn man die Kriterien, nach
denen er sich bemisst, genau liest, sieht man, dass Parsons die von Lin-
ton vorgenommene Unterscheidung zwischen Zuschreibung und Leis-
tung in seine Th eorie gleich eingebaut hat. Das war erforde rlich, weil
sich sonst nach der strukturfunktionalen Theorie nicht erklären ließe,
warum die Menschen bere it sind, sich auf die Rollenerwartungen ein-
zulassen, die mit einer sozialen Position verbunden sind. Um diese Fra -
ge ging es z. B. in seinem nachgelassenen Essay zur Theorie sozialen
Handeins, wo Parsons den Begri ff Status auf den Standort des indivi-
duellen Aktors in der Sozialstruktur bezieht. Er differenziert ihn in ei-
nem funktionalen Sin ne nach drei Modalitäten: "n ach seinem Rang in
der Sc hichtu ngsskala und den versch iedenen Teilbewertungen, die die-
sen Rang ergeben , nach seinem Verhältnis zur Struktu r von Autorität
und Rechten und nach seiner Stellung in bezug auf definierte Rollen."
Diese Position soll dann Status heißen, " insofern sie durch eine ge-
meinsame Wertorientierung sanktioniert, insofern sie »institutionali-
siert« ist." (Parsons 1939, S. 188f.) Das ist die Voraussetzung für die
Akze ptanz soz ialer Schichtung, und es erklärt auch, warum Parsons z.
B. die Plazierung in der Gesellschaft im Große n und Ganzen für ge-
recht hält: Der soziale Status ist die gerec hte Bewertung individueller
Leistung.
7 Status 291
Der Status einer Person wird also zunächst über den Austausch von
Gütern zwischen Personen definiert. Neben diese Dimension des Ge-
bens und Bekommens tritt allerdings noch eine andere Statusdimensi-
on. Homans beschreibt sie als "accretion" (Homans 1974, S. 199), was
man vielleicht am ehesten mit .Z uwachs" übersetzen kann. Was damit
gemeint ist, erläutert er an einem Beispiel: In einer Gruppe von ein-
flussreichen Personen wird der Person in der Regel ein höherer Status
292 7 Status
beigemessen, die älter ist oder schon länger in einer bestimmten Positi-
on ist. Es wird angenommen, dass mit Alter oder Dienstzeit auch ein
Zuwachs an Wissen, Macht u. ä. erfolgt ist, der wiederum von Vorteil
im Hinblick auf das Geben ist. Das scheint Homans die Erklärung dafür
zu sein, warum das Alter in vielen Gesellschafte n ein wichtiges Status-
kriterium ist. Neben diese "more fundamental dimensions of status"
treten aber noch andere: "se x, race, ethnicity, education, ancient line-
age". (Homans 1974, S. 199) Auch Homans misst also den von Linton
und Parsons genannten "z ugeschriebenen" Statuskriterien eine große
Bedeutung bei. Sie funktionieren als Reize für bestimmte Reaktionen:
"Thc crucial stimuli to social behavior are those presented by persons,
and a person ' s status is a set of such stimuli." (S. 200)
Wo in den Köpfen die Einstellung vorherrscht, dass Erfahrung vom
Alter abhängt, wird man bestimmte Leistungen eben nicht von jü ngeren
Leuten anfordern. Der Friedensrichter in Wyoming hat immer weiße
Haare, und für schwierige politische Missionen wählt man geme eider
statesmen. Im Austausch verstärkt also die Statusdimension Alter die
Chance des Gebens und damit der Macht. Genau in diesem Sinne sind
auch die anderen "z ugeschriebenen" Statuskriterien wie Geschlecht
oder Rasse zu verstehen: Für sich sagen sie gar nichts aus, aber in der
fllr eine Gesellschaft typischen Einschätzung verstärken oder schwä-
chen sie die Position im Austausch.
Neben den objektiven Statusdimensionen wie Alter und Geschlecht
gibt es natürlich noch andere Statusanzeichen, mit denen die Mitglieder
einer Gesellschaft sich und andere identifizieren und plazieren. Dabei
spielt der sog. Halo-Effekt eine wichtige Rolle, wonach ein Merkmal
das Gesamtbild eines Menschen überstrahlt und unterstellt wird, dass
mit einem bestimmt en Merkmal (z. B. Beruf) auch andere Merkmale
[z. B. Bildungsinteressen) verbunden sind. (vgl. Hofstätter 1954, S.
370) Wo diese Erwartungen erfLillt werden, scheint für die Außenste-
henden der soziale Status konsistent zu sein. In Wirklichkei t nehmen
sie nur Merkmale wahr, die ihrem Vorurteil entgegenkommen. Dass
dies sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf den anderen
haben kann, liegt auf der Hand. Auf der anderen Seite kann man aller-
dings durchaus feststellen, dass sich "zwischen den verschiedenen Sta-
tusanz eichen ziemlich hohe Korre lationen einz ustellen" pflegen. (S.
407) Diese Korrelation kann man dadurch erklären, dass die Angehöri-
gen einer Rangklasse mehr und engere Binnenkontakte aufweisen als
7 Status 293
render Bildung verbess ert hat. Davo n haben vor all em Frauen profitiert.
Doch obwohl sie gleiche Bildungsabschlüsse wie Männer haben oder
sogar höhere Quali fikationen aufweisen, konnten sie sie nicht in Ein-
kommens- oder Statusgewinne im Beruf umsetzen: " Offensichtlich
kumuliert bei Frauen die Diskr epanz zwischen Investitions- und Beloh-
nungsdimensionen und damit Statusinkonsistenz. Sie verschärft sich
insofern, als Frauen trotz häufigerer A rbeitsp latzwechse l länger in sta-
tusinkosistenten Positionen verwei len, während Männer relativ schnel-
ler und mit geringerem Ressourcenaufwand unvorteilhafte Statuslagen
verlassen können," (Becker u. Zimmerma nn 1995, S. 360)
Kehren wir nach diesem Blick auf objektive Statusinkonsistenz wie-
der zurück zu den Bewertungen, die in der Annahme einer solchen In-
konsistenz und bei der Bewertung eines sozialen Status überhaupt im-
mer mitschwingen. Wie viele Untersuchungen zur Fremd- und Selbst-
einschätzung gezeigt haben, werden Statusränge nach Bildung, Ein-
kommen, Herkunft, Konfession, Beruf usw. höchst unterschiedlich be-
wertet. Doch auch das sind keine objektiven Kriterien, sondern sie
werden subjektiv oder milieuspezifisch gewichtet. Mittels dieser Be-
wertungen schätzen Individuen ihren Status und den der anderen ein.
Dieser Gedanke leitet Ober zu der Diskussion über den Zusammenhang
von Sozialprestige und Statussymbolen.
Wird einem sozialen Status eine hohe Wertschätzung entgegenge-
bracht, spricht man von Sozialprestige. Auch diese Wertschätz ung ist
natürlich nicht objektiv und einheitlich, sondern variiert von Schicht zu
Schicht. So lässt sich empirisch belegen, dass "un terschiedliche Syrn-
bolsysteme für die Zurechnung von Prestige verwandt werden - dass
etwa in den unteren Schichten das Einkommen, in den Mittelschichten
der Beruf und in den oberen Schichten die Schulbildung stärker betont
werden." (Scheuch u. Daheim 1961, S. 72) Soz iales Prestige variiert
aber auch z. B. nach den Generationen. Bei jungen Leuten zählt viel-
leicht die sportliche Leistung oder das modische outfit, während die
mittlere Generation es mehr mit dem richtigen Kurort und der hypothe-
kenfreien Eigentumswoh nung hält.t
Mit dem sozialen Status sind Erwartungen nonnativer Art verbun-
den, die in einer bestimmt en Bezugsgruppe gelten. Das Konzept des
Stat us hätte ohne Gruppen auch keinen Sinn, " da er sich auf Vergleich
1 Klischees haben auch ihr Gutes: Man erntet rascher Zustimmung und Protest.
7 Status 295
und Hierarchien aufbaut und sich auf den relativen Standort eines Indi-
viduums bezieht." (Hartley u. Hartley 1952, S. 403) Einen sozialen
Status hat man nicht für sich, sondern vor anderen, und diese definieren
ihn auch.
Um einen bestimmten sozialen Status zu unterstreichen (oder vor-
zutäuschen), verwenden Menschen Statussymbole. Es spricht viel für
die These, dass Statussymbole eine Folge der Urbanisierung (Form u.
Stone 1957) oder besse r der sozialen Verdichtung sind. Wo jeder j eden
kennt , spielen Statussymbole nur eine geringe Rolle. Je weniger man
aber über eine Person weiß, umso mehr versuc ht man sie über Stat us-
symbo le zu identifizieren, und umgekehrt versuch t man seinen Status
auch dem flüchtigsten anonymen Zuschauer über sofort verständliche
Statuss ymbole zu demonstrieren. Hier liegt aber ein Prob lem, das man
die kontinuierliche Inflation und Deflation von Statussymbo len genannt
hat. (Zelditch 1968, S. 256)
Tempo und Funktionalität der Symbol e bestimmt die Mode. Deshalb
müssen diejenigen, die es nötig haben, ständig neue Symbole für ihren
Status erfinden. Doch Vorsicht, sobald alle z. B. ein Handy haben, ver-
liert dieses Statussymbol seine n Wert als Unterscheidungsmerkm al.
Noch etwas anderes macht das Spie l um soziale Abstände heikel: Sta-
tussymbole müssen auch von den anderen verstanden werden ! Es ge-
nügt keineswegs, sich symbolisch unterscheiden zu wollen, sondern
man muss auch jemand en finden, der diese Symbole auch so interpre-
tiert. Die Wahl der Symbole wird nicht nur von einer Seite diktiert:
" Die Symbole dürfen nicht so beschaffen sein, dass sie keine Resonanz
in der Umwe lt, in der sie wirken sollen, hervorrufen. Sie müssen auch
(...) das Interesse der Umwe lt an den Trägem der Symbole wecken und
aufrechterhalten." (Kl uth 1957, S. 41) Etwas plastischer: Was keiner
versteht (rote Ziege lsteine in jeder Zimme recke), macht keinen nei-
disch; was jeder kennt oder hat (grüne Brokatdeckehen unter j edem
Blumentopf), taugt auch nicht als Stat ussymbol. Die richtige Misc hung
aus Fremdheit und Vertrautheit, das macht den Wert der Statussym bo le
und des Prestiges aus.
Viele Statussymbole der Modeme bestehen in mat eriellen Gütern,
die jedermann erwerben kann , wenn er "nu r" das entsprechende Klein-
geld hat. Ich betone "nur" , weil es keine andere regulierende Kontrolle
des Zugangs zu solchen Prestigesymbo len mehr gibt. Das war vor eini-
gen hundert Jahr en noch ganz anders, wo z. B. fest gerege lt war, wer
296 7 Status
welche Stoffe für welche Kleider erwerben durftet! Gerade die Klei-
dung unterliegt der von Zelditch angesprochenen Deflation von Status-
symbolen. Selbst wo sich Hersteller durch den Auswe is einer exklusi-
ven Mark e und entsprechende Preise und Kunden durch die Treue zu
diesem "ex klusiven" Produkt vor der symbolischen Entwertung zu
schützen versuchen, ist der soziale Gewinn nur von kurzer Dauer. Die
Tricks, die ein globaler Markt inzwischen anwendet, um den Kunden
immer wieder einen besonderen Status einzureden, sind bekann t.
Die Entwe rtung von bestimmten Statussymbolen über ihre allgemei-
ne Zugänglichkeit hat dazu geführt, dass sich Eliten über " feine Unter-
schiede" abgre nzen. Au f eine Konsequenz der Entwertung kultureller
Statussymbole, konkret Leistungszert ifikate und Bildungstitel. komme
ich unter dem Stichwort " Habitus" gleich noch einm al zurück.
Eine weitere Konsequenz dieser Demokratisierung der sichtbaren
Statussymbole liegt dan n, dass Statussymbole immer unsichtbarer wer-
den. Das ist die These von VANCE PACKARD, der behauptet, die ameri-
kanische Gesellschaft weise " eine sich offenbar immer mehr verfei-
nernde Klassenstruktur" auf. (Packard 1959, S. 14) Das sei auf den ers-
ten Blick nicht zu erkennen, weil .,unsichtbare Schranken" die einzel-
nen Ränge trennten und verhinderten, dass die falschen Leute Zugang
zu den besseren Rängen bekommen. Gleichwohl seien viele ständig auf
der Suche nach einem besonderen Status. Packard hat sie Statuss ucher
genannt. Sie hoffen, wenigstens den Schein eines besonderen Status zu
erwecken. Deshalb umgeben sie sich mit den äußeren Zeichen - den
Statussymbol en - des Rangs, den sie anstreben. Das erklärt, warum
Au fsteigerz typischen Statusmerkmalen der angestrebten Sozialschicht
viel mehr Bedeutung beimessen als diese selbst und warum Konformi-
tät als die mindeste Fonn der Demonstration eines neuen Status gilt.
Das wiederum erklärt, warum der Aufsteiger peinlich auf Abstand zu
denen hält, die er hinter sich gelassen hat.
VgJ. z. B. zu den Stra fen, die bei Übertretung zu zahlen ware n, Band I, Kap. 8.1
..Über das dreigeteilte Haus Gottes und den Beruf des Menschen", S. 269 ff..
2 Bourdieu wird das als fehlendes .xpielerlsches Verhältn is" der Kleinbürger zu
bestimmten Statussymbolen geißeln. Vgl. unte n Kap . 7.4 .Die feinen Unterschie-
de", S. 3 10.
7 Status 297
fellos schon früh gezogen und stellte einen Teil des Nutzens dar, den
Eigentu m brachte. (...)
Auf das primäre Stadium des Eigentums, nämlich auf den Erwerb
durch einfachen Raub, folgt eine weitere Phase, nämlich die beginnen-
de Organisation der Arbeit auf der Grund lage des Privateigentums (das
heißt hier: der Sklaven); die Horde wird zu einer mehr oder weniger au-
tarken Arbeitsgesellschaft. Besitz gilt nun nicht mehr in erster Linie als
Zeugn is eines geglückten Raubzuges, sondern vor allem als Zeichen
der Überlegenheit des Besitzenden über andere Gruppenmitglieder.
Damit wird der neiderfüllte Vergleich zu einem Vergleich zwischen
den besitzenden und den besitzlosen Ange hörigen der Grup pe. (...)
Mit der Entwicklung geregelter Arbeitsverhältnisse wächst deshalb
auch die Bedeutung des Reichtums als Grundlage von Ruf und Anse-
hen. (...) Bedeutsamer ist dabei noch, dass es nun das Eigentum - im
Gegensatz zur heroischen Tat - ist, welches zum leicht erkennbaren
Beweis des Erfolgs und damit zur gesellschaftlich anerkannten Grund-
lage des Prestiges wird. Besitz wird notwendig für eine angesehene
Stellung in der Gesellschaft. (...) Reichtum, der einst nur als Beweis der
Tüchtigkeit galt, wird nun in der öffentlichen Meinung zum Verdienst
an sich; er ist seinem Wesen nach ehrenhaft und verleiht deshalb sei-
nem Besitzer Ehre. Und im Laufe einer sich immer weiter verfeinern-
den Entwicklung wird der von den Vorfahren ererbte Reichtum bald für
ehrenhafter gehalten als vom Besitzer selbst erworbene Güter." (Veblen
1899: Theorie der feinen Leute, S. 36f.)
Im Üb ergang von der " räuberi sch en Kultur" zur "scheinbar friedlichen"
(Veblen 1899, S. 60) Epoc he der Industriegese llschaft kommt es zu
einer doppelten pr estigeverheißenden Strategie: Man zeigt demonstra-
tiv seinen Re ich tum und dem on strativ Nichtarbeitl " Um Ansehen zu
erwerben und zu erhalten, ge nügt es nicht, Rei chtum oder Mach t zu
besitz en. Heid e müssen sie auch in Erscheinung treten." (S. 42) Dazu
zeigen d ie e inen durch verschwende rischen Kon sum (sconspicious
consumption«), wie erfolg reich sie nach ihrer eigen en Einschätz ung
sind, während die anderen ihr Prestige dadurch herausstre ichen, dass
sie entweder selbs t nicht arbeiten (econspicious lei sure«), od er sich
Personen leisten, die stellvertretend ni cht arb eiten . Wa s die letzte Form
des stellvertretende n demonstrativen Mü ßi ggangs angeht , erinnert
Veblen wortreich an d ie Eh efrau, die in bestimmten Kreisen nicht ar-
be iten darf und sich Beschäft igun gen hin gibt, die nicht im entferntesten
7 Status 299
an ernsthafte oder gar mühselige Arbeit erinnern.t Aber auch der Hin-
weis auf Personal oder Handwerker, die für einen auch die einfachsten
Arbeiten erledigen, dient der Demonstration, dass man diese Form pro-
duktiver Arbeit nicht nötig hat. Und hinter mancher liebevollen Pflege
völlig nutzloser und teurer Hobbys oder absichtslosen Versenkung in
ästhetische und künstlerische Interessen mag auch der stille Wunsch
stehen, dass andere das auch als weiteste Entfernung von banaler Lohn-
arbeit verstehen.
Eine letzte Form, Zeit nichtproduktiv zu verwenden, sieht Veblen in
den feinen Manieren: .Die Kenntnis und Beherrschung feiner Lebens-
formen ist eine Frage langer Gewöhnung. Guter Geschmack, Manieren
und kultivierte Lebensgewohnheiten sind wertvolle Beweise der Vor-
nehmheit, denn eine gute Erziehung verlangt Zeit, Hingabe und Geld
und kann deshalb nicht von jenen Leuten bewerkstelligt werden, die
ihre Zeit und Energie für die Arbeit brauchen." (Veblen 1899, S. 50)
Um sich beim Austemschlürfen nicht die Finger abzusäbeln braucht
man a) Zeit zum Üben, b) viel Geld für das Grundmaterial und c) Zeit,
weil es sie hier leider nicht in jed er Dorfkneipe gibt. Wer all das aber
hat, kann sich seinem Publikum stellen.
Ich komme zu der anderen Strategie, einen besonderen Status he-
rauszustreichen, dem demonstrativen Konsum. Diese Strategie klang
gerade in dem Beispiel mit den Austern (ersatzweise kann man natür-
lich auch bestimmte Weine aus der Toscana oder Zigarren aus der Ka-
ribik nehmen!) schon an. Wichtig ist nun, demonstrativen Konsum
nicht mit dem Protz des Neureichen zu verwechseln. Solche plumpen
Geschmacklosigkeiten, die Veblcn um die Jahrhundertwende in den
USA vielleicht besonders auffielen, gehen heute selbst "kleinen Leu-
ten" auf die Nerven. Veblen interessierte sich denn auch mehr für die
verfeinerten Formen demonstrativen Konsums, mit denen wir in der
scheinbar friedlichen Industriegesellschaft Prestige erwerben und be-
weisen wollen. Veblen beginnt wieder mit einem Blick in die frühe,
" räuberische" Kulturepoche. Dort hatte der das größte Ansehen, der der
Kräftigste war, den Feinden die meisten Trophäen abgenommen hatte
und seinen Reichtum dann auch hemmungslos genießen konnte. Der
erfolgreichste Jäger nahm selbstverständlich das beste Stück Fleisch,
Ich enthalte mich an dieser Stelle jeglicher Süffisanz. Ihnen fallen sicher selbst
gute Beispiele ein! Wem partout nichts einfallt, kann hilfsweise eine Woche Vor-
abendprogramme aus der feinen Gesellschaft gucken.
300 7 Status
und wer sich bei der Erob erung eines Dorfe s hervorgetan hatte, du rfte
auch den größten Humpen Met leere n. Aus dieser Zeit rilhrt die Diffe-
renzierung der Nahrungs mittel, die wir bis heute kennen.
Heute stellt man sein Prestige aber nicht mehr unter Beweis, indem
man viel isst, sondern indem man Ausgefallenes, Teures und Se ltenes
in kleinen Port ionen zu sich nimmt. Wenn der westfälische Bauer seine
Kne chte betrachtete, dan n sah er sie .fdäten", sich selbs t hielt er zugu te
zu .J äten", und wenn er sich den Luxus leistete, auszugehen, dann ging
er .spiesen'', Der sozialen Differenzierung über das Essverhalten kom-
men bestimmte Restaurants inzwischen dadurch entgegen, dass sie aus-
gefallene Zutaten komb inieren und ihre Kreationen in kleinsten Portio-
nen servie ren. M it dieser kultursoziologischen Einsc hränkung ist die
fo lgende Beschreibu ng des demonstrativen Kon sums zu lesen:
Deshalb darf man auch nicht zu wenig von den feinen Dingen kon su-
mieren, denn wer nu r einma l im Jahr einen Jahrgangschampagner
trinkt, kann sich vie lleicht nicht mehr leisten; wer sich aber jeden Frei-
tag das Gl äschen im Ede lbistro leistet, ist schon wer.
Darunter versteht Veblen auch Alkohol. Es ist inunerhin die Zeit, in der sich die
Prohibition in den Vereinigten Staaten formierte. Die Prohibition Party wurde
schon 1869 gegründet, 1893 folgte die Anti-Saloon League.
7 Status 301
Es liegt auf der Hand, dass die Ausbildung eines feineren Ge-
schmacks Zeit und intellektuelle Anstrengung erfordert. Deshalb gehört
zum Prestige auch, "ge nau zwischen edlen und gemeinen Konsumgü-
tern zu unterscheiden" . (Veblen 1899, S. 66) Prestige, so könnte man
die später zu referierenden Thesen von PIERRE BOURDIEU schon vorbe-
reiten, ist anstrengend: Man muss ständig wissen, welcher Prestigewert
einem bestimmten Verhalten oder einem bestimmten Attribut zu-
kommt! Riesmans These von der Außenleitung meint im Grunde nichts
anderes.
Veblen leitet nun zu einem merkwürdigen Mechanismus des de-
monstrativen Konsums über, der darin besteht, durch exzessiven
Verbrauch von Reichtum einem Rivalen zu imponieren. Kulturge-
schichtlich haben die prunkvollen Feste auch diese Funktion seit je ge-
habt, und die Geschenke, die Herrscher einander machten, dienten auch
dazu, das eigene Prestige nach Möglichkeit Ober das des anderen zu
stellen. Eine Variante des exzessiven Zurschaustellens von Reichtum
hat die kulturanthropologische Forschung im sog. Potlatch der Kwaki-
utl-Indianer an der NW-Küste der USA identifiziert. Weil dieser
Stamm vom Fischfang lebt, haben Kanoes eine wichtige Bedeutung.
Nun kommt es vor, dass bei einem Stammestreffen die Häuptlinge ih-
ren besonderen Rang nicht nur dadurch herausstellen, dass sie mit der
Anzahl ihrer Kanoes prahlen, sondern sie sogar vor den Augen der an-
deren zerstören, um so ihren überlegenen Status zu belegen. Hans
Christian Andersen hat in seinem Märchen vorn fliegenden Koffer ähn-
liches beschrieben, wo der Sohn des Kaufmanns so reich ist, dass er
Wasserhüpfen mit Goldstücken statt mit Steinen spielt. Demonstrativer
Konsum heißt also, die Funktion eines Gutes zu zerstören. Auf diese
Weise zeigt man, dass man jeglicher Notwendigkeit (z. B. in Form dar-
aufzu verwendender Arbeit) enthoben ist.
Es dürfte klar geworden sein, dass die Theorie von Veblen unter der
Hand die These von der Außenleitung in der Modeme vorweggenom-
men hat. Deshalb will ich abschließend zitieren, was Veblen für unsere
fortgeschrittene, schnel11ebige Modeme vor hundert Jahren prophezeit
hat, ob also sich demonstrativer Müßiggang oder demonstrativer Kon-
sum durchsetzen wird:
302 7 Status
Ich habe eben referiert, dass Statu ssymbole erst in einer Gesellschaft
wichtig werden, wo nicht mehr jeder jeden kennt. Veblen hat richtig
vorausgesagt, wie wir unter das Diktat bestimmter Statuss ymbole, die
alle etwas mit demonstrativem Konsum zu tun haben, geraten. Ich sehe
aber auch Anzeichen dafür, dass der demonstrative Müßiggang als Sta-
tussymbol nicht aus der Mode gekommen ist. Galt es näm lich früher als
vornehm, blass zu sein, um sich von denen zu unterscheiden, die offen-
sichtlich drau ßen arbeiten mu ssten und von der Sonne verbrannt wur-
den, so hebt die braune Gesichtsfarbe heute das Ansehen, denn offen-
sichtlich kann man sich reichlich Freizeit in sonnige n Gefilden (oder
zumindest den regelm äßigen Besuch im Sonnen studio) leisten.
Ich knüpfe an einigen Stellen an das an, was ich in Band 1, Kap. 9.3 "So zialer
Raum, Kapital und Gescluna ck" über seine Erklärung sozialer Ungleichheit gesagt
habe.
1 Man kann es auch als Vertiefung der "Theorie der feinen Leute" von VebJen le-
sen, den Bourdieu allerding s in seinem Buch mit keinem Wort erwä hnt!
304 7 Status
getan haben, zumal er keinen Zweifel daran ließ, was er als »legitimen
Geschmack« ansah!
Bourdieu lenkt nun den Blick auf zwei Prozesse, die man als Kampf
um den sozialen Status ansehen kann. Da ist einmal die obere Klasse,
die einen raffinierten internen kulturellen Klassenkampf austrägt, und
zum anderen die Mittelkl asse, in der sich ebenfa lls ein permanenter
Kampf um Anerkennung und Unterscheidung abspielt.
Betrachten wir zunächst den internen Klassenkamp f der Bourgeoi-
sie. Es ist ein Kampf, der mit den Mitt eln des kulturellen Kapitals aus-
getragen wird und die Schließung sozialer Kreise zum Ziel hat. In die -
sem Kampf um Distinktion, also der bewussten Abgre nzung gegenüber
anderen, spielt die Art der Ane ignung von und des Umgangs mit kultu-
rellem Kapital eine entscheidende Rolle. In der oberen Klasse machen
sich daran die feinen Unterschied e fest. Zur internen Differenzierung
dient nämlich das Prinzip der Anciennität: Wer sein Bildungskapit al
schon im Elternhaus erworben hat, blickt verächtlich auf den Aufstel-
ger hinab. Es komm t noch etwas andere s hinzu : Wer sein kulturelles
Kapital von Kind auf akku muliert hat, konnte es in Muße in vielerlei
Hinsicht differenzi eren. Es war ihm und seinesgleichen selbstverständ-
lieh, und es zu erwerben bedeutete keine übermäßige Anstrengung.
Man konnte gelassen damit umgehen und musste es anderen in der
gleichen Lage nicht beweisen. Diese Gelassenheit wird der Aufsteiger ,
wie Bourdieu feststellt, nicht erreichen, weil man ihm die Plackerei des
Aufstiegs immer ansehen wird. (vgl. Bourdieu 1983a, S. 136) In der
Sprache Lintons fehlt dem achieved status die Zuschreibung der richti-
gen Vorgeschichte! I
Distinktion lebt von einem zeitlichen Vorsprung symbolischer
Kompetenz und von der Ablehnun g nachträglicher Qualifikation . Sie
ist gepaart mit einer "äs thetischen Einstellung" zu kultur ellen Symbo-
len. Damit ist gemeint, sie nicht auf ihre prakti sche Funktion oder rea-
listische Wiedergabe zu prü fen, sondern den Stil, die Fonn und ihren
hintergründigen Sinn zu schätzen. Etwas näher am Alltag: Man kauft
nicht die Kaffeekanne, mit der man am besten einschenken kann, son-
dern die ein bestimmtes Design hat. Die ästhetische Einstellung ist
durc h ,,Distanz zur Notwendigke it" gekennzeichn et:
Was Bourdieu hier als Distanz zur Notwendigkeit beschreibt, liest sich
wie eine modeme Umschreibung des Prinzips demonstrativen Müßig-
gangs bei Veblen: Ein überlegener Status wird urnso mehr zum Aus-
druck gebracht, je weniger die Tätigkeiten an profane Arbeit erinnern!
Wenden wir uns nun dem zweiten Kampf, der sich in der breiten
Mittelklasse abspielt, zu. Die Mittelklasse, in der sich die deutlichsten
Auf- und Abstiege abspielen und wo der Kampf um den sozialen Status
besonders verbissen ausgetragen wird, folgt dem kulturellen Kanon,
wie sie ihn in der Schule gelernt hat. Danach definiert sie, was gut und
schön ist und was sieht schickt. Im Grunde ist es keine selbstbewusste
Überzeugung, die dahinter steht, sondern das ängstliche Bemühen,
nichts falsch zu machen. Und im Übrigen hoffen die Individuen da-
durch in die Nähe der "besseren Kreise" ihrer Klasse zu kommen und
ihnen zu imponieren. Auf der anderen Seite beziehen sie aus dem ge-
glaubten kulturellen Kanon auch das Recht, über den schlechten Ge-
schmack der "wirklichen" kleinen Leute zu spotten. Die Schließung
dieser Kreise erfolgt ebenfalls über eine klare, kulturelle Grenzziehung
nach unten.
Interessant ist eine Parallelbewegung, indem bestimmte Gruppen in
der Mittelklasse auch über die Grenzen der Klasse hinausgreifen und
damit eine scheinbar widersprüchliche Haltung einnehmen. In keiner
Klasse werden so viele bunte Blätter gelesen und Sendungen über die
feine Welt der Royals und die aparte des Jetsets verfolgt wie in der Mit-
telklasse. Sie ist auch der eifrigste Konsument der feinen Küche im
Fernsehen. Was steckt dahinter? Ich meine, es ist der widersprüchliche
Wunsch, der eigenen Individualität die kleine Flucht nach ganz weit
draußen zu erhalten, sich also von der Masse, die solche Bilder des fei-
nen Lebens noch nicht eimnal kennt, zu differenzieren und gleichzeitig
sich symbolisch bei allen vernünftigen Menschen der eigenen Kreise zu
halten, indem man sich über die Skandale " der da oben" entrüstet, ihre
menschlichen Schwächen genau registriert und sie letztlich auf das ei-
gene Maß stutzt oder sogar noch darunterdrückt.
Die Mittelklasse ist eine mobile Klasse. Hier gibt es die häufigsten
Auf- und Abstiege und die feinsten Abstufungen sozialer Differenzie-
rungen. Ein entscheidendes Vehikel, einen besseren Status zu erreichen
oder zu halten, ist die formale Bildung. Wer die richtigen Abschlüsse
nachweisen kann, ist gut dran, zumindest fürs Erste. Mit der Höhe des
Bildungsabschlusses wird auch ein bestimmter Kanon der "ri chtigen"
308 7 Status
und " wichtigen" Kulturinhalte assoziiert, und deshalb defin ieren sich
die Angehöri gen der Mittelklasse auch über diese Regeln des guten
Geschmacks und den Kanon des Wissenswerten.
Bourdieu wendet sich nun zwei Gruppen zu, die um den sozialen
Wert dieses Kanon s wissen, ihn in dem einen Fall aber nicht auf dem
üblichen Weg erworben haben und in dem anderen Fall ersetzen. Die
ersten hoffen , im Kamp fum den soz ialen Status aufzuholen, indem sie
sich an eine kulturelle Norm anpassen, die zweiten lehnen diese No nn
ab und lernen etwas Neues, um so ihren sozialen Status aufzuwerten.
Bourd ieu nennt sie alte und neue Autodidakten.
Der Begriff des Autodidakten wird gewö hnlich mit einem Menschen
assoziiert, dem eine Kunst nicht in die Wiege gelegt wurde oder der
etwas nicht von Grund auf und nach einem gültigen Plan gelernt hat,
sondem der sich irgendwie zu Leistungen hochhangelt, die fast an die
wirk lichen Meister ihres Metiers herankommen. Die Charakterisierun-
gen, die Bo urdieu aus seinen emp irischen Untersuchungen der Mittel-
klasse herausgelesen hat, kann man so verstehen, dass das Selbstbe-
wusstsein der Autodidakten nicht stab il ist.
Der alte Autodidakt, stellt Bourdi eu fest, entwickelt gege nüber der
legitimen Kun st "e ine ziellos schwänncrischc Andacht" und zeigt Ehr-
furcht vor "klassisc her" Bildung. Da von gibt er, auch ohn e dass er dar-
um gebeten worden wäre, ständig Proben ab. Gena u dadurch schließt er
sich von denen aus »besserem Hause« ab, " die ihre Ignor anz durch Ig-
norierun g der Fragen oder Situationen, die sie an den Tag bringen
könnten, tarnen." (Bourdieu 1979, S. l 48f.) Der ästhetisc he Geschmack
ist nich t aus sich begrü ndet und hat sein Ziel nicht in sich selbst.
Die neuen Autodid akten unterscheiden sich von den alten, dass sie
anderen Göttern folgen. Sie haben sich bis zu einer relativ hohen Stufe
durch die Sch ule durchgeb issen und zeigen ein " fast blasiertes,
zugleich vertrautes und ernüchtertes Verhältnis zur legitimen Kultur
(...), das mit der ehrfürchtigen Haltung des älteren Autodidakten nichts
gemein hat, obwohl es zu gleich intensivem und passioniertem Einsatz
führt." (Bourdieu 1979, S. 149) Sie erheben modeme Zeitströmungen
zum Kanon und machen ihr Bild von sich selbst an dem fest, was in
irgendeiner intellektuellen Avantgarde, aktuellen »Gege nku ltur« (vg l.
S. 167) oder etablierten Nische als Rahmen des richtigen Denkens defi-
niert worden ist.
7 Status 309
Die dritte, bei weitem größte Gruppe der Mittelklasse stellen die auf
strebenden Kleinbürger dar. Ihren Geschmack bezeichnet Bourdieu als
"prätentiös". 1m Deutschen hat das Wort einen leicht negativen Klang
und wird mit "Anmaßung" assoziiert. Im Französischen ist die Konno-
tation etwas anders und meint eher "behaupten, vorgeben", aber auch
"s treben nach". Ich will es in diesem Sinn interpret ieren. Es ist ein Ge-
schmack, der vorgibt, etwas selbstverständlich zu sein, das er in Wirk-
lichke it nicht ist: er hat sich nicht aus dem Habitus distanzierter Gelas-
senheit ergeben. Zweitens ist es ein Geschmack, der nach ezwcs strebt,
nämlich nach Aneignung dessen, was den aufstrebenden Kleinbürgern
als gesellschaftlicher Kanon des Wissens, der Bildung und der Kultur-
güter erscheint.
Das Kleinbürgertum strengt sich an, um daz uzugehören. Das zeigt
sich in typischen Verhaltensweisen, die einen höheren Status beanspru-
chen und eine andere Identität suggerieren. Bourdieu beschreibt sie
drastisch so: 1m Verhältnis des Kleinbürgertums zur Kultur manifestiert
sich .Bildungseifer als Prinzip, das je nach Vertrautheit mit der legiti-
men Kultur, d. h. je nach sozialer Herkunft und entsprechendem Bil-
dungserwerb , unterschiedliche Formen annimmt: So investiert das auf-
steigende Kleinbür gertum seinen hilflosen Eifer in Aneignungswissen
und Gegenständen, die unter den legitimen die trivialeren darstellen -
Besuch historischer Stätten und Schlösser (statt z. B. von Museen und
Kunstsammlun gen), Lektüre populärwi ssenschaftli cher und ge-
schichtskundlicher Zeitschriften, Photographi eren, Sammeln von
Kenntnissen über Filme und Jazz - mit demselben bewundernswerten
Einsatz und Erfindungsreichturn, die es dafür aufwendet, »über seine
Verhältnisse« zu leben, zum Beispiel mit der Einrichtung von »Ni-
schen« (»)Koch-«, »Ess-«, und »Schlafnische«) die Räume in der Woh-
nung kunstreich zu multip lizieren oder sie durch »kleine Tricks« zu
vergröße rn (»Ablagen«, »Raumaufteiler«, »Sch lafco uch«) , wobei wir
von all den Imitaten schweigen wollen und dem, was sonst noch dazu
dient, »mebr« (wie man so sagt) aus etwas »ZU rnachen« - ganz wie ein
Kind , das »groß sein« spielt. Der Bildungseifer zeigt sich unter ande-
rem in einer besonderen Häufung von Zeugnissen bedingungsloser kul-
tureller Beflissenheit (Vorliebe fü r »wohlerzoge ne« Freunde und für
»bildende« oder »lehrreiche« Aufführungen), oft von einem Gefühl
eigenen Unwe rts begleitet (»Malerei ist schön, aber schwierig«, usw.),
das genau so groß ist wie der Respekt, den man der Sache entgegen-
310 7 Status
zu fahren: " Kultur, da s ist im Grunde auch immer etwas »außerhalb der
Piste«," (B ourd ieu 1983a, S. 138)
Um ein letztes Mal den Bogen zu einer Theori e des sozi alen Status
zu schlagen, möcht e ich ein Kind aus einem großbürgerlichen Ha us zu
Wort komme n lassen . HANS-PETER M ÜLLER hat es in sein em Buch
über "S ozi alstruktur und Lebensstil e" zitiert. Es hand elt sich um Nico-
laus Sombart, der im Rückbl ick auf sein Leben kriti siert, dass es keine
tonang eben den, bildungsbürgerlichen Häuser mehr gibt, und be -
schrei bt, was dar aus folgt: " Wenn es sie nicht mehr gibt, herrschen die
Boutiquenbesitzer, Schneider, Photographen , Coi ffeure und Kun st-
hä ndler, die schließlich zum wichti gsten Um gan g der reichen Leute
we rde n, und die Öffent lichkeit bekommt als Vorbild höherer Lebens-
formen nichts anderes geliefert als die Kaufgewohnheiten der Kon sum -
gesellscha ft auf der höch sten Einkommensstufe, die die Medien , mehr
durch Werbung als durch eine Berichterstattung - denn was sollten sie
bericht en - vermitteln. Die Leut e führen dann auch auf ihren Kleidern
und Accessoires, ihre m Gepäck und ihre m Gesc hirr nicht mehr ihre
Wappen oder Initi alen, sondern die Initialen und Warenz eichen der
Geschäfte, in den en sie kaufen. (...) Sie schm ücke n sich mit den teuers-
ten Statussymbolen, abe r sie hab en darauf ve rzichtet, selber zu bestim-
men, was Status ist." (So mbart 1984: Jugend in Berlin, S. 80; zit. nach
Müller 1992, S. 330)
Bourdieu spric ht von einem " naiven Exhibitionismu s des »ostentati-
ven Konsums«, der Distinktion in der primitiven Zursc haus te llung ei-
nes Luxus sucht, über den er nur man gelhaft gebietet." (Bourdieu 1979,
S. 61) Das klin gt wie eine Para phrase von THORSTEIN VEBLEN, der da -
von spricht, dass das Prestige sich der Zeichen des Wohlstands be-
mä chti gt und bestimmt, welche überleben sollen. Demon strativer Kon-
sum ist letztl ich ein entfremdeter Konsum, weil seine symbolische n
Formen immer von außen diktiert werd en und permanent der Inflation
unterliegen.
Bleibt ganz zu m Schluss die Frage, warum dieser doppelte Klassen-
kampf - Distink tion oben und Prätention unten - immer weiter geht.
Bourdieu gibt dafür eine plausibl e Erklärung, die mit der eingangs be-
schriebenen These des generativen Prinzips des Habitus zusammen-
hängt . Er schreibt: .Die Erfahrung von soz ialer Welt und die darin ste-
ckende Kon struktion sarbeit vollziehen sich wesentli ch in der Pr axis,
j en seit s expliziter Vorstellung und verbalen Au sdrucks. Einem Klas-
312 7 Status
Vgl. zum Begriff ,,5piegelse1bst" auch Kap. 8.2 " Identität - sich mit den Augen
des anderen sehen", S. 338 Anm. 2.
2 Vgl. zur Erklärung die Idealisierungen nach Schütz oben S. 225f. und unten S. 3 14
Anm. I.
3 14 7 Status
Vgl. noch einmal S. 225f. oder auch bei Abels (19 98), Kap. 3.5 " Die Lebenswelt
der natürlichen Einstellung".
2 Auch das kann man bei Schütz, hilfsweise auch oben im Kap. 5.7 .Ethnomet hodo-
logie: Methodisches im Alltagsha ndeln", S. 225, nachlesen.
7 Status 315
Über diese (ironisierenden?) Anführungszeichen habe ich lange mit Kollegen und
besonders mit Frank Brockmeier, dem ich herzlich danke, gegrübelt. Ich interpre-
tiere die Aussage j etzt im Sinne des lateinischen Begriffs "efficere" - ,.hervor-
bringen, bewirken". Danach meint "in effecr'' die Ableitung aus unseren Voran-
nahmen, die etwas bewirkt, also das Konstrukt, das dann de facto etwas bewirkt,
wie es in der zitierten These von William I. Thoma s mitgedacht wird.
2 Im Sinne Durkheims ist es eine soziale Tatsache, und - noch einmal - nach Tho-
mas hat es tatsächlich Folgen!
316 7 Status
Nach dem, was ich in der letzten Anmerkung gesagt habe, könnte man hier das
Wort "tatsächlich" auch durch das Wort " wirklich" ersetzen, vorausgesetzt, man
versteht es als Gegensatz zu Spekulationen und anderen Voreingenommenheiten.
2 Ich habe den Text selbst übertragen, weil die vorliegende deutsche Übersetzung an
entscheidenden Stellen m. E. unverständlich ist.
7 Status 317
Das Problem der Schein-Norma lität triffi auch die Identität von Nicht-D iskredi-
tierten; ich komme in Kap. 8.4 "Wir alle spielen Theater", S. 358f. darauf zurück.
2 Sehen Sie sich unter diesem Aspekt der " norma len Erw artungen" doch einma l den
Film " Der Duft der Frauen" (Regie : Martin Brest, 1992) an, in dem der blinde
Held (AI Pacino) noch ein letztes Mal das Leben in vollen Zügen genießen will!
318 7 Status
Das ist die These, die ich oben (S. 218), wo es um die .•Kommunikation unter
Anwesenden" ging, aufgestellt habe: Auch die ,,Normalen" schützen sich vor fal-
schen Definitionen ihrer sozialen Identität! Auch deshalb ..spielen sie Theater"
und tun so, "als ob" . (VgJ. dazu unten S. 324)
7 Status 319
nen sind nicht so streng geregelt, und .jür die meisten Zwecke braucht
die Gesellschaft den Personen ihren Status nicht so streng zuzuweisen
oder formale Mechanismen anzuwenden, damit sie sich anständig und
angemessen benehmen." (Strauss 1959, S. 80) Wieso funktioniert es
trotzdem?
Es gibt zwei Erklärungen: Erstens wissen wir um unseren Status und
wissen, wie "man" sich darin verhält, und zweitens, sagt Strauss, rea-
gieren wir höchst sensibel auf Regieanweisungen. die uns sagen, was
wir im Augenblick tun oder nicht tun sollen. (vgl. Strauss 1959, S. 80)
Im Klartext: In jeder Interaktion wird die Situation fortlaufend von al-
len Beteiligten definiert, und das bedeutet auch, dass der Status defi-
niert wird, den jeder haben soll und der bestimmtes Handeln festlegt.
Mit dem Status wird eine soziale Identität zugewiesen
Was sich in jeder Interaktion nachweisen lässt, fällt in einer Gruppe
besonders auf. Da ihre Mitglieder sich in der Regel über einen längeren
Zeitraum kennen und in einer dauerhaften Interaktion zueinander ste-
hen, bleibt es gar nicht aus, dass Gruppen "ihre Mitglieder in alle Arten
vorläufiger Identitäten hinein- und aus ihnen herauszwingen" können,
und sie tun es auch. (Strauss 1959, S. 81) Das nennt Strauss Stat us-
zwang.
Dieser Statuszwang wirkt nach oben und nach unten, hinein und
hinaus. So gibt es Mechanismen, jemanden zu beschämen, ihn zu de-
gradieren oder ihn zum Helden zu machen. Auf der horizontalen Ebene
reicht der Statuszwang von Vertreibung oder Exkommunizierung bis
zur Zulassung zum innersten Kreis einer religiösen Gemeinschaft oder
der Aufnahme in den exklusiven Club der Trüffelschweine. Tadel und
Lob, Anerkennung und Strafe sind im Grunde Mechanismen der Sta-
tuszuweisung in der Absicht, von da an ein bestimmtes Verhalten her-
beizuführe n.
Die Zuschreibung wirkt nicht nur von der Gruppe aus, sondern auch
von der Person selbst: " Interaktion trägt das Potential unwissentlicher
ebenso wie wissentlicher Zuschreibung von unzähligen Motiven und
Charakterzügen (in sich, Ergänzung H. A.) - gegenüber anderen und
sich selbst. Man kann daher sagen, dass Interaktion von Natur aus den
Statuszwang impliziert." (Strauss 1959, S. 87) Wenn ich einem Polizis-
ten klar zu machen versuche, dass ich eigentlich nicht falsch geparkt
habe, versuche ich natürlich, ihn in den Status des ein Auge zudrücken-
den Freundes zu zwingen, während ich selbst mich im Status des armen
320 7 Status
Biographi sche Identität ist also ein Konstrukt - nicht Lüge, aber
auch nicht die Wahrheit. I Diese Konstruktionen (ausdrücklich Plura!!)
erfolgen laufend und unbewusst. Besonders intensiv sind sie an den
"Wendepunkten" der Biographie, an denen ein Stat us neu definiert
werden muss. Solche Wendepunkte können freiwillige Übergänge zu
einem neuen Status sein, z. B. beim beru flichen Aufstieg, sie können
aber auch durch das Schicksal oder andere Me nschen erzwu ngen wer-
den. Beispiele sind der Verlust eines Partners oder die Einweisung in
eine totale Institution . Nach solc hen Wendepunkten erfolgt unmerklich
oder auch sehr bewusst eine Bewertung des bisherigen Lebens.
Ein besonders drastisches Beispiel für eine Rekonstruktion der Bio-
graphie zum Zwecke einer aktuellen Identität sieht Strauss in der Ge-
hirnwäsche. (vgL Strauss 1959, S. 127ff.) Das Opfer emp findet sie als
Statuszwang, der einen alten Status auslöscht; aus der Sicht der Täter
ist sie Resozialisation für eine neue Identität. Mit der Zuweisung eines
Status als jemand, der bis dahin falsch gedacht und gehandelt hat, wird
der Prozess der radikalen Ent-Identifizierung mit alten Werten in Gang
gesetz t. Er geht über in die Kritik an diesen Werten und alten Identitä-
ten und die allmähliche "Einsicht" in die "wahren" Werte. Mit dem
Bekenntnis zu diesen neuen Werten und der Bestätigung durch neues
Handeln ist der Prozess der Identitätstransfo rmation abgeschlossen.
Das umgedrehte Individu um gehorcht von da an den Verpflichtungen,
die mit dem neuen Status verbunden sind, freiwillig.
Was Strauss für die Gehirnwäsc he sagt, gilt natürlich auch für reli-
giöse Konversionen und für die Strategien mancher Sekten, in denen
der neue Stat us oft auch durch einen Name n zum Ausdruck gebracht
wird. Das bekannteste Beispiel ist der Wandel vom Saulus zum Paulus.
Immer aber gilt, dass mit dem neuen Status die frühere Identit ät neu
definiert wird. Entweder gilt sie als Vorgeschichte, in der sich das Spä-
tere schon abzeichnete, oder als Ze it des Irrtums, die nun endlich über-
wunden wurde.
Diesen Gedanken, der natürl ich manche n guten Glaube n ersc hüttert, habe ich in
Kap. 27.2 " über »die« Wahr heit der Biographie und andere Glättu ngen" im Buch
" Identität" (AbeIs 2006) weiter ausgeführt. Dort spreche ich noch andere Zwe ifel
an, zeige aber auch die guten Perspektiven auf, die sich daraus für eine Identität
ergeben , wie wir sie wollen - und können.
8 Id entität
8.1 Simm el: Kreuzung sozialer Kreise und individuelles Gesetz
8.2 Mead : Identität - sich mit den Augen des anderen sehen
8.3 Riesman: Außenleitung
8.4 Goffman: Wir alle spielen Theater
8.5 Parson s: Individuelles Code-Erhaltungssys tem
8.6 Erikson: Identität im Lebenszyklus
8.7 Krappmann: Ich-Identität als Balance
8.8 Berger, Berger, Kellner: Krise der modem en Identität
8.9 Identität - ein relativer Standpunkt
Inzwischen habe ich dem Thema ein ganzes Buch gewidmet (AbeIs 2006). Dort
habe ich unter dem Titel " Vom Individuum zur Individualisierung" auch die lange
Vorgeschichte dieser modernen Vorstellung von Identität geschildert. Auf der an-
deren Seite wird die hier in der Einführung in die Soziologie vorges telfte soziolo-
gische Diskussion über Identität dort fortgeführt. Stichworte sind: .A nsprüche auf
Anerkennung und auf Nichtaufmerksarnkeit" und " Behauptungen, Revisionen und
Verwandlungen", Ich beschreibe aber aueh ,,Die Krise der Lebenswelt" unter den
soziologischen Stichworten .Bntaauberung" (Weber), .Kolcnialisierung der Le-
benswelt" (Habermas), .Bntbettung" (Giddens), " Ende der großen Erzählungen"
(Lyotard) und ,,Ende der Eindeutigkeit" (Bauman). Das abschließende Kapitel
sieht ausdrücklich unter der Überschrift " Kompetenzen". Hier ziehe ich einen
praktischen Schluss aus der theoretischen Diskussion. Er komml in zwei durchaus
ermunternd gemeinten Überschriften zum Ausdruck: " Dem Leben einen Sinn ge-
ben und sich in seinem Zentrum wissen" und ,,Bewegliches Denken",
8 Identität 323
es sich mit den Augen des Anderen betrachtet. Identität hat also etwas
mit den Anderen zu tun.
Das nimmt auch DAVID RIESMAN an, aber genau das brin gt ihn zu
der kritischen These, dass das Individuum der Moderne außengeleitet
ist. Es tut das, was alle tun, und ist bereit, sich immer wieder neu auf
den Zeitgeist einzustellen. Das Individuum legt sich die Haltung eines
flexiblen ROllenspielers zu. Zum Schluss weiß der Außengelei tete nicht
me hr, wer er ist und was mit ihm geschieht.
ERVING GOFfMAN hat die soziologische Diskussion über Identität
mit der These verunsichert, dass wir im ganz normalen Alltag alle The -
ater spielen. Dabei steht die Strategie im Vordergrund, uns von unsere r
besten Seite zu ze igen. Und man wird auch den Verdacht nicht los, dass
jemand seine "wahre Identität" nicht preisgibt. Aber wenn man genauer
hinsieht, dann sind es auch Strategien, unser bedroht es Selbst zu schüt-
zen. Dazu greifen wir manchmal auch zu Tricks. Wir tun so, als ob,
und schaffen uns damit einen Freiraum für unsere Identität und erlau-
ben den anderen, so zu tun, als ob sie genau dieses Schauspiel für die
Wahrheit hielten.
Für TALCOTI PARSONS heißt Identität, dem Rollenpluralism us, der
durch die soziale Differenzierung entstanden ist, eine angemessene
indi viduelle Integration entgegenzusetzen. Das Individuum muss beides
können: sich an gese llschaftliche Werte dauerhaft binden und zugleich
ein einzigartiges Orientierungsmuster gegenüber diesen Werten finden.
ERIK H. ERIKSON entwickelt aus einer psychoanalytischen Entwic k-
lungsth eori e den Gedanken der Versc hränku ng von psychosexueller
und psychosozialer Entwic klung des Ind ividuum s. Er versteht Identität
als eine n lebenslangen Prozess. Erikson spric ht ganz offen von einer
"gesunden Persönlichkeit", die sich in einer "g elungenen Identität"
äuße rt. Erikson nennt sie " Ich-Identität" . Sie lebt von dem ständigen
Ans pruch, soziale Erwartungen und eigene Überzeugungen, die Blicke
der anderen auf uns und unser Selbstbi ld, das Bild der anderen von uns
und unsere Biographi e selbstbewusst zu verbinde n.
Ähn lich wie Erikson vertritt auch LoTHAR KRApPMANN die These,
dass Identität Balance ist. Allerdings sieht er die gesellscha ftlichen Be-
dingun gen, unter denen sie überhaupt möglich sein könnte, de utlich
kritischer als Erikson, und deshalb ist das Ziel der Identitätsentwick-
lung auch mehr als Abwehr denn als Gelingen zu verstehen. Identität
setzt u. U. auch die Negierung gesellschaftlicher Normen voraus.
8 Identität 325
Der Gedanke des Gegenentwurfs findet sich auch bei PETER L. BER·
GER, BRJGITIE BERGER und HANSFRTED KELLNER, die von einem Un-
behagen in der Modernität sprechen. Für sie ist Identität ein Krisenbe-
griff. Identität ist offen, was sie im Sinne der Riesmanschen These von
der Außenleitung verstehen, und bleibt deshalb diffus. Identität ist dif-
ferenziert, weil wir zu vielen und unterschiedlichen Erwartungen nach-
einander oder gleichzeitig gerecht werden wollen oder müssen. Da
bleibt es nicht aus, dass Identität zum Gegenstand angstvollen For-
schens wird. Die Tatsache, dass Individualität als unbedingter An -
spruch vertreten wird, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die
gesellschaftlichen Verhältnisse immer komplexer werden und dem In-
dividuum so viele Optionen eröffnen, aber auch so viele Entscheidun-
gen abverlangen, dass dieser Anspruch letztlich ins Leere läuft.
An das Ende der in der Mehrzah l skeptischen Analysen der Identität
stelle ich die These, dass Identität ein relativer Standpunkt ist. Genau
deshalb muss ihn das Individuum für sich und für die anderen auch
immer wieder neu entscheiden! Diese Forderung lebt von der Hoff-
nung, der von ZYGMUNT BAUMAN beschworenen "ontologischen Bo-
denlosigkeit der Postmoderne" immer wieder neuen Sinn entgegenzu-
setzen.
8. 1 Sim mel: Kreuz ung sozialer Kre ise und individuelles Gesetz
Gesellschaft, so habe ich GEORG SJMMEL schon einige Male zitiert, ist
die Summe der Wechselwirkungen, in der Individuen zueinander ste-
hen. Sie wirken aufeinander und werden also gleichzeitig bewirkt Die
Wechselwirkungen nehmen bestimmte Fonnen (z. B. Solidarität oder
Konkurrenz, Sympathie oder Antipathie, Streit oder Zuneigung) an und
verdichten sich zu bestimmten sozialen Gebilden (z. B. Familie, Geld,
Staat). Sie bilden den Rahmen, in dem Individuen in Beziehung zu ein-
ander treten. Damit ist der grundsätzliche Dualismus zwischen Indivi-
duum und Gesellschaft angesprochen, um den sich Simmels Soziologie
dreht. In diesem Dualismus steht auch die "I ndividualität" des Einzel-
nen, und hier entscheidet sie sich auch.
Was damit gemeint ist, erhellt aus der Einleitung zu einem Aufsatz
mit dem sprechenden Titel " Der Begriff und die Tragödie der Kultur"
aus dem Jahre 1911:
326 8 Identität
stellt sich der Einze lne als Einheit dar und kann deshalb auch zu Recht
als " Individuum" bezeichnet werden. Individu alität ist die einzig artige
Plazierung in der Gesellschaft.
Neben dieser strukturellen Erklärung von Individualität gibt es eine,
die aus der Person selbst kommt . Je zahlreicher näm lich die sozialen
Kreise sind, in denen eine Person vorkommt, umsa geringer ist das
Gewicht jedes einzelnen Kreises für ihre Per sönlichkeit; der Einzelne
wird von keinem Kreis ganz bestimmt. Und weiter: Je komplexer ein
sozialer Kreis ist, umsc diffuser sind die allgemeinen Erwartungen, und
umso größer ist der Spielraum des Einzelnen.
Ich komme zu Simmels zweitem Konzept zur Individu alität, das er
unter die Übersc hri ft " Das indiv iduelle Gesetz" stellt. Dieses " indivi-
duelle Gesetz" wird häu fig m. E. falschlieh so verstanden, als ob das
Individuum sich selbst gestalten müsse, um seine Persönlichkeit als
einheitlich in der Vielfalt der soz ialen Kre ise zu retten . Tatsächlich aber
hat Simmel dieses individuelle Gesetz gegen die Allgemeinheit des
Sollens, die Immanuel Kant postuli ert hatte, gesetzt. Die kompli zierte
ph ilosophi sche Argumentation kann man vielleicht so auf den Punkt
bringen: Jede s Individuum reprä senti ert in unv erwechselbarer Weise
das Prinzip des Lebens! mit seinem " ewigen Stirb und Werde", und es
repräsentiert es in unverwechselbarer Weise in jeder seiner Handlungen
- unverwechselbar wege n seiner einmaligen Lebensgeschichte und
seiner einzigartigen Konstellationen in der Schneidun g sozialer Kreise.
Aus dem individuellen " Lauf des Lebens" mit seinen typischen
"Maßstäben" und besond eren " Inhalten" ergibt sich ,j ener unbeschreib-
liche Stil und Rhythm us einer Persönlichkeit, ihre Grundgeste, die jed e
ihrer, durch die Gegebenheitsfaktoren hervorgeru fenen Äußerun gen zu
etwas unverwechselbar ihr Zugehörigem macht." (SimmeI1 913, S. 228
und 229) Oder anders : " Wie jeder Pulsschlag eines leben digen Wesens
durch alle seine vergangenen Pulsschläge bedingt ist, so kann auch in
diesem Prozess nichts verlorengehen, der nicht nur die Tat, sondern
auch das Sollen jedes Augenblicks zum Erben und Verantwortun gsträ-
ger alles dessen macht, was wir j e waren, taten und sollten." (S. 230)
Das Indi viduum ist Produkt und Produzent seiner Vergesellscha ftung .
Hier liegt seine Freih eit, und hier liegt auch seine Begrenzung. Das
individuelle Gesetz ist die spezifische Form, in dem sich "die Verbin-
1 Vgl. zum •Prinzip des Lebens" die auf S. 326, Anm. 1 genannten Stellen.
8 Identität 329
Ererbten, der äußerlic hen Kultur und Technik des Lebens zu bewah-
ren." (Simrnel I903, S. 116)
Diesen Anspruch des Individuums bzw. die - wie sich zeigen wird -
.Anpassungen", durch die sich die Persönlichkeit "mit den ihr äußeren
Mächten abfindet" (Simmel 1903, S. 116), verdeutlicht Simmel nun an
der großstädtischen Individualit ät, Deren psychologische Grundlage
" ist die Steigerung des Nervenleb ens. die aus dem raschen und unun-
terbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrucke hervorgeht".
(ebd.) Würde man auf diese ununterbrochenen Eindrucke und Beruh-
rungen mit unzähligen Menschen mit so vielen inneren Reaktionen
antworten "wie in der kleinen Stadt, in der man fast jeden Begegnenden
kennt und zu jedem ein positives Verhältnis hat, so würde man sich
innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische
Verfassung geraten." (S. 122f.) Deshalb hat sich in der Großstadt eine
Reaktion herausgebildet, die Simmel " Blasiertheit" nennt. (S. 121)
Simmel assoziiert mit diesem Begriff nicht die heutige Vorstellung
von Hochn äsigkeit oder Herablassung, sondern gewissermaßen eine
Schutzreaktion des Individuums gegen höchst differenzierte Reize:
" Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unter-
schiede der Dinge, nicht in dem Sinne, dass sie nicht wahrgenommen
würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, dass die Bedeutung
und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst
als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer
gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen vor-
gezogen zu werden." (SimmeI 1903, S. 12 1)
Diese Blasiertheit ist mit einer gewissen .Rescrve't.j a " leisen Aver-
sion" gepaart, mit der wir auf flüchtige Begegnungen ebenso wie z. B.
auf jahrelange Hausnachbarn reagieren. (vgl. Simmel 1903, S. 123)
Doch gerade diese innere Reserve gewährt dem Individuum der Groß-
stadt "eine Art und ein Maß persönlicher Freiheit" (S. 124), wie es sie
in einem kleineren sozialen Kreis nicht geben kann. In der Kleinstadt
kennt jeder jeden, und der Kreis wacht ängstlich " über die Leistungen,
die Lebensführung, die Gesinnungen des Individuums". (S. 125) Dieser
Kontrolle ist der Großstadtmensch nicht ausgesetzt, aber ist er deshalb
wirklich frei? Ist die Fonn seiner Individualität nicht ebenfalls von au-
ßen bestimmt? Simmel gibt darauf zwei Antworten.
Da ist einmal der Versuch des Individuums, "die eigene Persönlich-
keit" dadurch zur Geltung zu bringen, dass es sich als anders, unter-
332 8 Identität
8.2 Mead: Identität - sich mit den Auge n des ande re n sehe n
Kommun ikation ist "das Grundprinzip der gesellschaftlichen Organisa-
tion des Menschen" . (Mead 1934, S. 299) Diese These! gilt auch für
die Organisation von Identität. Unser Bewusstsein von uns selbst ent-
steht aus der permanenten Kommunikation zwischen uns und den ande-
ren. Das erklärt Mead so: Indem wir uns in die Rolle des anderen hin-
einversetzen und uns vorstellen, wie er auf uns reagieren wird, betrach-
ten wir uns auch selbst, wie wir reagieren. Wir werden auf uns selbst
aufmerksam, ja mehr noch: Wir sehen uns mit den Augen des anderen,
und erst auf diesem Umweg über den anderen werden wir uns unserer
seIbst bewusst! Das ist in Kürze Meads Erklärung der Entstehung von
Identität.
Mead entwickelt das Konzept der Identität aus der spezifisch
menschlichen Kommunikation. Ich will diese Theorie der Kommunika-
tion kurz wiederholen. Wie das Tier reagiert auch der Mensch auf ob-
jektive Zeichen (Donner, Blitz oder die Glocke im psychologischen
Labor) wie auch auf Gesten, die durch Verhalten (Knurren, hochgezo-
gene Augenbrauen oder hängende Schultern) zum Ausdruck gebracht
werden. Anders als das Tier ist der Mensch aber in der Lage, mit Zei-
Vgl. Band 1, Kap. 3.8 "Ordnung als Diskurs", S. 118 u. 120, und in diesem Band
Kap. 2.5 " Integration in einen organisierten Verhaltensprozes s", S. 87.
334 8 Identität
ab, denn " sagt eine Person etwas, so sagt sie zu sich selbst, was sie zu
den anderen sagt". (Mead 1934, S. 189) Nur so kann das Individuum
den Sinn von etwas verstehen. Ausgehend von dem Grundgedanken der
wechselseitigen Verschränkung der Perspektiven zwischen den Perso-
nen in einer Interaktion entwickelt Mead eine zweite These über die
spezifische Kommunikation zwischen Menschen: Im Prozess der
Kommunikation teilt die Person etwas mit. Indem sie aber etwas mit-
teilt, befindet sie " sich selbst in der Rolle der anderen Person, die sie
auf diese Weise anregt und beeinflusst. Indem sie diese Rolle der ande-
ren übernimmt, kann sie sich auf sich selbst besinnen und so ihren ei-
genen Kommunikationsprozess lenken." (S. 300)
In der Interaktion handelt die Person, und bevor sie handelt, denkt
sie. In der Interaktion handelt aber auch der andere, und über dessen
Handeln denkt sie ebenfalls nach. Denken zielt also immer in zwei
Richtungen: Ich mache mir klar, was ich mit meinem Handeln bezwe-
cke, was ich also dem anderen mitteilen will, und ich mache mir sein
Handeln klar. Wenn ich mir dann noch die möglichen Reaktionen des
anderen auf mein beabsichtigtes Handeln vorstelle, dann werde ich mir
meines Handeins bewusst. Das ist für Mead " der Ursprung des Selbst-
bewusstseins." (Brumlik 1973, S. 23) Selbstbewusstsein (eself-ccn-
sciousness«) ist Voraussetzung von Identität.
Im Prozess der Rollenübernahme geht es also nicht nur um Interak-
tion, sondern auch um Identität, denn indem ich mir Standpunkte und
Haltungen des anderen mir gegenüber klar mache, löse ich diese Stand-
punkte und Haltungen auch in mir selbst aus. Ich prüfe, wie es wohl
wäre, wenn ich an seiner Stelle stünde. Dabei werde ich mir bewusst,
was die Auslöser des eigenen Handeins sind, warum es ggf. dem
gleicht, was der andere tut, oder ganz anders ist.
Mead betont nun, dass ohne diesen "Umweg" über den anderen
Identität nicht zu gewinnen ist. Paradox kann man es so sagen: Das
Individuum wird sich seiner Identität erst bewusst, wenn es sich mit
den Augen der anderen sieht. Das Individuum gewinnt "Erfahrung von
sich als einem Ich nicht unmittelbar, sondern nur im Kontrast zu einem
entfremdeten Teil des eigenen Selbst, der sich ihm eben in der Hinein-
nahme von Verhaltensweisen anderer entfremdet." (Gehlen 1956, S.
147) Durch die Übernahme der Rolle des anderen kontrolliert der Ein-
zelne seine eigenen Reaktionen. (Mead 1934, S. 300f.) Er löst mit sei-
nem Sprechen zu anderen die Haltungen bei sich selbst aus, die er bei
336 8 Identität
Erst durch den Bezug auf andere vermag ich eine Vorstellung von mir
selbst, ein Selbstbewuss tsein zu gewinnen. Identität und Interaktion
spielen also ständig ineinander. Selbstbewuss tsein ist ein Prozess, in
dem sich das Individuum selbst zum Objekt seiner Wahrnehmung
macht. Denk en, hieß es eben, ist ein nach innen verlegtes Gespräch.
Durch innere Kommunik ation thematisiert sich das Individuum gleich-
sam selbst. Es schaut sich selbst zu. Das Individuum ist also gleichzei-
tig Subje kt des HandeIns wie auch sein eigenes Obje kt. Es beobachtet
sich aus der Sicht der anderen und in Reaktion auf diese Sicht der ande-
ren. Es steht gewisse rmaßen im Mittelpunkt wie außerhalb dieses Krei-
ses. Das ist eine wesentliche Fähigkeit, durch die sich der Mensch vom
Tier unterscheidet. Das Tier kann sich nicht zuschauen, wie es handelt.
Diese Fähigkeit ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Identi-
tät.
In der Entwicklung der Identität lassen sich zwei soziale Phasen un-
terscheiden, in denen das Kind lernt, sich an einem größe ren System zu
orientieren, und es sich gleichzeitig seiner Identität mehr und mehr be-
wusst wird. (Mead 1934, S. 200) Das sind die Phasen des play und des
game, die oben im Kapitel " Sozialisation" unter dem Titel " Integration
in einen organisierten Verhaltensprozess" dargestellt wurdcn. Mit der
Fähigkeit, sich auf die Perspektive eines generalisierten Anderen ein-
zustellen, ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Identität ge-
geben. Die Verinnerlichung des generalisierten Anderen bildet zusam-
8 Identität 337
Die v ielen Versuche, die Begriffe »1\( und »me« zu übersetzen, befriedigen alle-
samt nicht, weshalb wohl die meisten Soziologen es bei den englischen Begriffen
belassen. Auch der Vorschlag von Anselm Strauss, zwischen .Jch an sich" und
,,Mich" zu unterscheiden, ist unbefriedigend. (Strauss 1964, S, 30) Ein ganz un-
sinniger Versuch, das Problem der Übersetzung zu lösen, findet sich in der deut-
schen Übersetzung von ,,Mind, Self, and Society", wo das Wort Ich in unter-
schiedlichen Anführungszeichen steht. (vgl. Mead 1934, S. 216, Anm) Man stelle
sich vor, man müsste diesen Text laut lesen! Ich werde deshalb die beiden Begrif-
fe gleich inhaltlich umschreiben.
338 8 Identität
der Zeit ein bestimmtes Bild von unserer Identität gemacht haben, aber
es du rchbricht auch unsere eigenen Strategi en, un sere Identität glatt zu
schleifen. Das »I« komm t nur in der Einzah l vor.
Die ande re Seite des Ichs, die gewisse rmaß en die Bilder spiegelt, die
andere mit uns verbinden, nennt Mead das »me«.t Da das »me« die
Identifikation des Ind ividuum s durch andere w ide rspiege lt, mö chte ich
es als reflektiertes lch2 beze ichnen. Wohlge me rkt : Ich spreche vo n ei-
nem reflektierten, nicht von einem reflexiven Ich!
Das »me« ist die Summ e der sozialen Bilder vo n uns, d ie wir im
Laufe der vielen Beziehun gen zu anderen und unter d em sanften Druck
der Sozialisation verinnerlicht haben und mit denen wir un s in konkre-
ten Interak tion en konfrontie rt sehen. In dem Maße, wie w ir u ns die
sozialen Bilder, di e die anderen von uns haben, auch als typi sche Bilder
von uns in typ ischen Situationen se lbst zurechnen, kann man das »me«
auch als soziale Identität bezeichn en. Be i der Erklärung der Entste hun g
von Werten nach der Theorie von Mead habe ich von " Gedäc htnisbil-
dem von Reakt ionen der Mensch en unsere r Umgebung" gesprochen ,
auf die w ir in unserem Handeln zurüc kgre ifen. (Mead 191 3, S. 246)
Das »me « ist ein Gedächtnisbild des eigenen Ich .
Unter der Perspektive von Identität meint das reflektierte Ich deshalb
die Se ite zugewiese ner Identität und d ie internal isie rte Vor stellung von
dem Bil d, das sich der andere wahrsch einlich von mir gemac ht hat. Ich
beton e " wahrscheinlich", weil man es natürlich nicht genau we iß. Aus
ein er spä teren Theoriediskussion müsste man sagen: Es ist eine Kon-
struktion. Das reflektiert e Ich enthält die organisierten Werthalt ungen,
die im Verlau f der Sozialisation erworbe n werd en. Das re flektierte Ich
repräsentiert die gesellsc haftliche Dimension der Identität. Das »me«
ist das, was das Subjekt über sich selbst im Prozess der Rollen über-
nahme erfahren hat. Es beze ichnet " meine Vorstellung von dem Bild,
das der andere von mir hat, bzw. auf pri mi tiver Stufe meine Verinnerli-
chung sei ner Erwa rtunge n an mich ." (Joas 1991 , S. 139)
Diese soziale Seite des Ichs habe ich in Kap. 2.5 unter dem Aspekt der .Jntegrati-
on in einen organisierten Verhaltensprozess", S. 87, schon kurz angesprochen.
2 Hier denke ich natürlich an das von Charles H. Cooley so genannte "S piegel-
selbst" . [Cooley 1902, S. 184 ; vgl. auch oben Kap. 7.5 Goffman: Stigma und sozi-
ale Identität", S. 3 13) Obwohl Mead sich kritisch mit Cooleys Identitätskonzept
auseinandersetzt (Mead 1934, S. 269, Anm. 26), scheint er den Gedanken der
Spiegelung stillschweigend fiir seine Theorie genutzt zu haben.
8 Identität 339
Aus der Differenz zwischen dem spontanen, unre flektierten Hand eln
des impulsiven Ich und der Pers pektive, die sich aus der Sicht der ande-
ren auf das Individuum ergibt, dem reflektierten Ich, entwickelt sich ein
reflexives Bew ussts ein. Die Vielheit der Perspektiven setzt Reflexivität
imm er aufs Ne ue in Gang. Die verschiedenen reflekt ierten Ichs " müs-
sen, wenn konsistentes Verhalten übe rhaupt möglich sein soll, zu einem
einheitlichen Selbstbild synthetisiert werden. Gelingt diese Synthetisie-
rung, dann entsteht das sel f." (Joas 1991, S. 139)
Dieses se/f kann man mit dem Wort Identität übersetzen. Identität
entsteht da nn, wenn das spon tane Ich und die reflektierten Ichs in einer
typischen Weise relativ dauerhaft vermittelt werden. Ich betone "rela-
tiv" , denn ego steht in einem ständigen Dialog mit alter. Das sind nicht
nur die konkreten anderen, sondern auch die unbewusst mitspielenden
signifikanten Bezugspersonen und die vielen diffusen anderen. Ihre
Erwartu ngen reflektiert ego, ihre Reaktionen antizipiert es. Insofern
steht Identität nicht fest, sondern wird immer wieder neu entworfen.
Das permanent mitlaufende Selbstbewusstsein egos kann man als lch-
Identität bezeic hnen.
Bleibt die letzte Frage, wieso angesic hts einer organisierten Verhal-
tensstruktur, in die das Individuum ja integriert wird, ,J ede einzelne
Identität ihre eigene spezifische Individualität, ihre einzigartigen
Merkmale hat." (Mead 1934, S. 245) Mead beantwortet es so: Jedes
Individuum bildet - wegen seiner einzigartigen Kombination zwischen
I und me - eine einzigartige Position aus, nimmt deshalb einen anders-
artigen Aspekt auf die organisierte Struktur ein und verhält sich dem-
entsprechend anders und einzigartig .
Der These von der einzigartigen Position kann man sicher zustim-
men. An der Annalune, dass sich das Individuum deshalb auch einzig-
artig verhält, kann man allerdings zweifeln, wenn man DAVID RIES-
MANs Schilderung des modemen Sozialcharakters in der west lichen
Industriegesellschaft liest. Seine Analyse erinnert in manchem an die
skeptische Sicht Georg Simmels. In einer Hinsicht übersteigt sie sie
allerdings noch: Von einem Zwang, krampfh aft aufzufallen, ist nichts
mehr zu spüren, im Gegenteil: Dem Individuum reicht es, wenn die
anderen es anerkennen, weil es nicht anders ist als sie selbst!
8 Identität 341
In Europa nahm ungefähr seit dem Mittela lter die Bevölkerung rasch
zu. Das hing mit verbesserten hygienischen Bedingungen zusammen,
wodu rch die Sterblichkeit reduziert wurde. Das hing zwe itens mit ver-
besserten landwirtschaftl ichen Methoden und einer deutlichen Steige-
rung der Erträge zusammen, was zu mehr Geburten führte. Und
schließlich wurden Verkehrswege ausgebaut, auf denen z. B. Lebens-
mittel aus Überfluss- in Mangelgebiete transportiert werden konnten .
M it einer Bevölkerungszunahme, das haben die Theorien von Spencer
und Durkheim gezeigt,
• beginnt nicht nur eine verdichtete Siedlung, was Intensivierung
der Komm unikation bedeutet,
• sondern auch - bedingt durch die Arbeitsteilung - eine Differen-
zierung der Funkt ionen der Mitglieder der Gese llschaft.
• Soziale Mobilität und Femh andel nehmen zu. Mobilität bedeutet
Verlassen von vertrauten Kontexten,
• und Fernhandel bedeutet auch Vermittlung von fremden Erfah-
rungen. Das Traditionsgeftige lockert sich, unterschiedliche Ver-
haltensmuster bilden sich heraus, die jedes für sich funktional
sinnvoll sind, in der Summe aber konkurrie rend wirken. 1
Die alte Verhaltenssteueru ng passt nicht mehr. " Die größten Chancen,
die diese Gesellschaft zu vergeben hat - und die größte Initiative, die
sie denen abve rlangt, die mit den neuen Problemen fertig werd en wol-
len - , werden von Charaktertypen verwirklicht, denen es gelingt, ihr
Leben in der Gesellschaft ohne stre nge und selbstverständliche Traditi-
ons-Lenkun g zu führen." (Riesman 1950, S. 3 1) Traditionslenkung ist
von Natur aus schwerfällig. Jeder neue Einze lfall wird als Bedroh ung
der Routine im konkreten Fall gesehen. Die gese llschaftliche und öko-
nomische Entwicklung wird aber schne ller und bringt neue Möglich-
keiten und Forderungen in immer rascherer Folge. Gefordert ist deshalb
eine Orientieru ng an Prinzipien, die grundsätzlich, also auch in sich
wandelnden Situationen gelten. Solche Prinzipien bildeten sich in Eu-
ropa in der Renaissance im 15.116. Jahrhundert und der Reformation
heraus. Währ end die Renaissance die Individualität des Menschen be-
tonte und die Persönlichkeit als das Ergebnis allseitiger Bildung ideali-
sierte, betonte die Protestantische Ethik, wie sie vor allem Max Weber I
bescluieben hat, auf der einen Seite eine religiös fundierte, prinzipien-
geleitete Hinwendung zur diesseitigen Welt und die rationale Verfü-
gung über sie und auf der anderen Seite die Verantwortung des einzel-
nen Individuums für sein eigenes Leben.
)i> Diese neue Verhaltenssteuerung nennt Riesman InnenJeitung.
Der innengeleitete Mensch nimmt sozusagen einen "seelischen
Kreiselkompass" in sich auf, der ihn auf Kurs hält. Diesem nach
innen verlegten Steuerungsorgan gehorcht er aus Überzeugung,
und wenn er von ihm abweicht, " so wird ihn dies mit Schuldge-
jUhJ erfüllen." (Riesman 1950, S. 40)
Dieser Typus wird im 20. Jahrhundert allmählich abgelöst durch einen
Charaktertyp, der für Riesman "seit kurzem in dem gehobenen Mit-
telstand unserer Städte in Erscheinung" tritt. (Riesman 1950, S. 35)
Wie ist es zu diesem neuen Typus gekommen? Riesman erklärt es so:
Technik, Wirtschaft und Handel brachten im 19. Jahrhundert einen re-
lativen Wohlstand für alte. Das führte zu einem Rückgang der Gebur-
ten. Die Bevölkerung stagnierte zunächst und schrumpfte im 20. Jahr-
hundert in den meisten Industrienationen. Wichtiger für die Änderung
im sozialen Charakter sind aber die sozialen Konsequenzen des öko-
nomischen und gesellschaftlichen Wandels, der sich mit der Industriali-
sierung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beschleunigt hatte.
Mit der zunehmenden Arbeitsteilung begann sich auch die Gesell-
schaft immer mehr zu differenzieren. Auch die Rollen, die sich damit
ergaben, wurden zahlreicher und differenzierter. Politische Entwick-
lungen garantierten größere individuelle Freiheiten, diese Rollen wahr-
zunehmen und zu gestalten. Mit der Anerkennung unterschiedlicher
Interessen ließen sich auch für die verschiedensten Verhaltensformen
gute Gründe anfUhren. Die geschlossenen Weltbilder wurden entzau-
bert oder lösten sich auf, und es kam zu einer Vielfalt von Überzeugun-
gen und Einstellungen. Für die gleichen Situationen stehen heute kon-
kurrierende Muster des Verhaltens zur Verfügung. Die Menschen gera-
ten mit immer mehr fremden Kulturen in Kontakt, was bedeutet, dass
sie permanent mit Neuem und Anderem konfrontiert werden. Und sie
sehen, dass das Neue und das Andere auch Sinn macht und insofern
sogar eine realistische Alternative zum eingelebten Verhalten sein
könnte. Die Massenmedien tun ein Übriges, die Alternativen bekannt
zu machen, und sie zeigen, dass die Alternativ en auch gelebt werden
können .
Es kommt noch etwas hinzu : Aufgrund eines allmählich ansteigen-
den breiten Wohlstands und wachsender Freizeit trat an die Stelle des
dauernden .Knappheitsbewusstseins" des innengeleiteten Menschen
ein .Dberüussbewu sstsem", das in ein .Verbrauchsbedürfnis'' mü ndet.
Die Konsequenz des Übergangs in das Zeitalter des Konsums liegt auf
der Hand: Ein steigender Konsum orientiert sich an den Angeboten
eines Marktes und wird sichtbar. Das Ver halten der anderen Kon su-
menten wird zum Maßstab des eigenen.
Und schließ lich: Die Gesellschaft wird auf der einen Se ite bürokrati-
siert, was bedeutet, dass das Verhalten der Menschen untereinander von
außen geregelt wird; auf der anderen Seite ist da s Indi viduum in zah l-
reiche soziale Bezüge gleichzeitig einge bettet und muss mit höchst un-
terschiedl ichen soz ialen Erwartungen zurecht kommen. Da ein verbind-
liches, inneres Prinzip der Verha ltenssteue rung nicht mehr vorhanden
ist oder anges ichts der Füll e von Möglichkeiten und Erwartungen nur
noch schwach funk tioniert, beginnt der modeme Mensch sich an dem
zu orientieren, was ihm die wichtigsten Bezugspersonen vorleben -
oder wovon er denkt, dass sie so leben.
~ Diese Orientierun g nennt Riesman Auß enleitung .
Vgl. oben S. 277, wo ich dieses Gesetz der Reputation mit dem Einfluss einer
Bezugsgruppe zusammengebracht habe.
346 8 Identität
150) Es ist eine paradoxe Situati on, denn genau mit diesen Kollegen
und Zeitgenossen, denen er "Aufmerksamke it widmet , um sich nach
ihren Verhaltensweisen und Werturteilen zu richten ", steht er in Kon-
kurre nz, da sie die gleichen Zie le wie er verfo lgen. (Riesman 1950, S.
150)
Der außengeleitete Mensch bewegt sich "auf einer Milchstraße von
fast, wenn auch nicht gänzlich ununterscheidba ren Zeitgenossen."
(Riesma n 1950, S. 150) Die Milchstraße besteht bekanntlich aus schier
unendlich vielen Sternen, und dem unbewaffneten Auge sehen alle
gleich aus und scheinen an ihrem Ort fixiert. Auf de r "s ozialen M ilch-
straße" ist es nicht ganz so voll, aber dort ist alles in Bewegung, und
man weiß nicht, wem man im nächsten Augenblick begegnet. "U nter
dem Zwang, mit einer Vielzahl von Menschen zu verkehren, sie für
sich zu gew innen und beeinflussen zu müssen, behandelt der außenge-
leitete Mensch alle anderen Menschen wie Kunden , die immer recht
haben." (5. 152) Um mit allen irgendwie zurecht zu kommen , ist er
flexibel und spielt die Rolle, die ihm im Augenblick den größten Erfolg
oder wenigsten s den geringsten Ärger verspricht. So spielt der außen-
geleitete Mensch eine Rolle nach der anderen, manchmal sogar mehrere
Rollen zugleich. Das hat Folgen für die eigene Identität, weil er
" schließlich nicht mehr weiß, wer er eigentlich wirklich ist und was mit
ihm geschieht." (ebd .)
Um ein Sprichwort abzuwa ndeln, kann man es so sagen: Wer es al-
len recht machen will, macht es keinem recht, am wenigsten sich selbst.
Es kann sich kein Prinzip ausbilden, nach dem das Individuum struktu-
riert handelt und nach dem es als Individualität identifiziert werden
könnte. Der Außengeleitete gibt "di e feste Charakterrolle des innenge-
leiteten Menschen auf und übernimmt dafür eine Vielfalt von Rollen,
die er im geheimen festlegt und entsprechend den verschiedenen Bege-
benheiten und Begegnungen variiert." (Riesman 1950, S. 152)1 Es gibt
eine Identität für diese Situation und eine andere für eine andere und
eine dritte für eine dritte.
Das Individuum zeigt nicht, wer es ist, sondern was es kann. Unbe-
wusst misst es sein Können an dem, was die anderen sagen, und ebenso
unbewusst bleibt, dass die Kunst nur funktioni ert, wenn das Individuum
Lesen Sie doch noch einmal nach, was Simmel oben (S. 33 1) über die Blasiertheit
in der Großstadt gesagt hat!
8 Identität 347
immer wieder vergisst, was es gestern gedacht und getan hat. Wer sich
imm er wieder an Prinzipien erinnert, die gestern gegolten haben, gilt
als zwanghaft, wer mit der Zeit geht, als dynamisch.
Die bewegliche Umstellung - ich wiederhole, was ich bei der impli-
ziten Kritik Riesmans an Parsons' Rollentheorie schon gesagt habet -
ist nicht nur möglich, sondern, so muss man Riesman interpretieren,
auch geboten, weil die verschiedenen Rollen, die der außengeleitete
Mensch den vie len anderen gegenüber spielen muss, "weder institutio-
nalisiert noch klar voneinander abgesetzt sind". (Riesman 1950, S. 152)
Sie sind keineswegs eindeutig, sondern diffus, und sie sind auch nicht
zwingend, sondern Optionen. In der ersten Hinsicht lebt der Außenge-
leitete in der latenten Angst, etwas falsch zu machen, solange er nicht
weiß, was "man" heute so richtig macht. In der zweiten Hinsicht ist er
allerdings freier als der innengeleitete Mensch, denn er kann jede Opti-
on für sich und die anderen legitimieren, wenn er nur die entsprechende
Bezugsgruppe wählt.
Bei Jugendlichen schütteln wir den Kopf, wenn sie heute das und
morgen das für walmsinnig wichtig halten, und den anderen Erwachse-
nen kreiden wir es als Charakterschwäche an, wenn sie " ihr Fähnchen
nach dem Wind hängen" . Doch Außenleitung macht sich nicht nur vor
unserer Haustür breit, sondern ist in die Bedingungen der Moderne ein-
gewoben. Zwar meinen viele, die überhaupt zu dieser Diagnose durch-
stoßen, sie seien die einzigen, die "nicht alles mitmachen" und " authen-
tisch" sind, aber im Grunde ist das bei vielen nur Illusion, um den Ge-
danken der Entfremdung von der eigenen Identität, der ja mit der Au-
ßenleitung verbunden ist, nicht an sich herankommen zu lassen.
Etwas von dieser Skepsis schwingt auch in der Theorie der Pr äsenta-
tion mit, mit der ERVING GOFFMAN die Strategie des außengeleiteten
Menschen, mit einem flexiblen Rollenspiel über die Runden zu kom-
men, beschreibt. Doch bei der Selbstdarstellung in den sozialen Rollen
geht es nicht nur darum, es mit allen zu können und nicht aus dem
Rahmen zu fallen, sondern auch darum, seine Identität vor den anderen
zu schützen.2
und in seinem Buch "S tigm a" ( 1963 ), das den bezeichne nden Untertitel
" Über Techn ik en der Bew ältigung beschädigter Ident ität" trägt. Dort
wird z. B. gezeigt, welche Anstrengungen Behinderte unternehmen
müssen, damit Nicht-Behinderte so tun können, als ob sie sie wie
"Normale" behandelten. I Um weniger dramatische, gleichwohl immer
riskante Ve rsuche , die eigene Identität vor den Vereinna hm ungen durch
die anderen zu schützen, geht es in allen übrigen Schriften.
Das ist auch der Grund, weshalb man Goffmans Soziologie als die
typische Soziologie des Menschen in der Masse ngesellschaft bezeich-
net hat. (Willi ams 1986, S. 349) So hatte es schon ALVIN W. GOULD-
NER in seiner Ge neralabrechnung mit der westlichen Soziologie ( 1970)
gesehen . Danach beschre ibe Goffman die Über lebensstrategien der
Angehörigen der Mittelklasse, die " eifrig an einer llIusion des Selbst"
baste ln, obwohl sie wissen, dass sie den gesellschaftlichen Verhältnis-
sen unterlegen sind. Diese bürgerliche Welt des impression manage-
ment "wird von ängstlichen, außengeleiteten Menschen mit feuchten
Händen bewohnt, die in der permanenten Angst leben, von anderen
bloßgestellt zu werden oder sich unabsichtlich selbst zu verraten."
(Gouldner 1970, S. 457)
Mit diesem Urteil wurde Goffman direkt in das Erbe von D A VID
RJ ESMAN eingesetzt, der Anfang der 50er Jahre mit seiner These von
der Außenleitung dem Individuum der Modeme jegliche I1Iusion von
Freiheit und Einzigartigkeit geraubt hatte. Doch schärfer als bei Ries-
man entlarvt sich fiir Gouldner in den Beschreibungen Goffmans die
moralische Seite dieses Verhaltens: Während Riesman den Übergang
von einer religiös motivierten Innenleitung zu einer Anpassung um der
soziale n Anerkennung willen beschrieb, beschreibt Goffman nach der
Meinung Gouldners den Übergang von " Menschen mit einem in sich
ruhenden calvinistischen Gewissen zu Spielern, die nicht gemäß innerer
Einsicht, sondern in schlauer Antizipation der Reaktion anderer auf
eine raffini erte Methode »einsteigen«." (Goul dner 1970, S. 463)
Einsteigen, so muss man wohl ergänzen, in das Schauspie l auf der
Bühne des Lebens, bei dem es m. E. aber nicht um die Unterhaltung
des Publikums, sondern um die Präsentation einer Identität geht, der
man sich nicht immer sicher ist.
1 Vgl. oben Kap. 7.5 " Stigma und soziale Identität" , S. 3 17.
8 Identität 351
Bevor ich auf das Thema Maske eingehe, kurz ein Wort zu Goffmans
Art, Soziologie zu betreiben. Er arbeitet mit der Methode der Perspek-
tivenverschiebung, indem er scheinbar vertraute Situationen aus einem
ungewöhnlichen Blickwinkel betrachtet. Meist ist es der Blick hinter
die Kulissen. Und dort versetzt er sich in die Rolle des anderen und
folgt seinen Definitionen der Situation.
Jetzt zurück zum Thema »Maske«. Das Zitat von Park muss man so
verstehen, dass wir unsere Masken nicht zufällig ! wählen, sondern wir
wählen solche, die uns so präse ntieren, wie wir sein wollen. Das ist
wohl auch der Grund, weshalb Goffman von .presemation" spricht.
Den Gedan ken kann man fortspinnen : Nicht wie wir erscheinen, son-
dem wi e wir ersch einen wo llen , das sagt etwa s über uns. Deshalb inte-
ressiert Go ffinan di e Botschaft, die die Schauspieler mit der Au ffüh-
rung bewusst verm ittel n wollen oder unbewu sst vermi tteln. Gerade
diese D ifferenz fasziniert ihn , wesha lb er auch den Pannen auf der
Bühne be so nd ere Aufmerksamkeit schenk t. Es ist das gleiche Interesse,
mi t dem Sigmund Freud an den Brüchen im Sprechen ansetzte, um Tie-
fenstruktu ren zu erkunden. Go ffma n ist neugierig auf das, was sich
hinter der Maske tut und was vor und nach der Aufführung passiert.
Wäh rend Nietzse he mahnte, "es gehöre zur feineren Me nschlichkeit,
Ehrfurcht vo r der Maske zu haben und nicht an falscher Stelle Psycho-
logie und Ne ugi erde zu betreib en" (Ni etzsc he 1886, 270), treib t Goff-
man genau diese Neugierde an. Ehrfurcht vor de n Mask en hat er nur
insofern, als er keine Mask e besser od er sc hlechter bew ertet als eine
andere. Er stellt keinen bloß , und er verurteilt kein H andeln. Das mo ra-
lische Urte il ist nicht seine Sache , sonde rn nu r " die formale soz iologi-
sehe Analyse". (Go ffman 1959, S. 18)
Goffmans zentrale Begriffe der Analyse des Schauspiels sind int er-
aktion (ai nteracti on« ode r »encounter«), Darst ellung (c performance«)
und Rolle (xpart« or »ro utine«).
Wer sich für eine n Überbli ck über andere Themen GofTmans und seine Methode
interessiert, kann das nachlesen in Kap. 6 meiner Einführung in interpretat ive
Theorien der Soziologie .j ntcraktion, Identität, Präsentation" (Abels 1998).
354 8 Identität
Preedy am Strand
"Auf alle Fälle aber war er darauf bedacht, niemandem aufzufallen. Als
erstes musste er allen, die möglicherweise seine Gefährten während der
Ferien sein würden, klann achen, dass sie ihn überhaupt nichts angin-
gen. Er starrte durch sie hindurch, um sie herum, über sie hinweg - den
Blick im Raum verloren. Der Strand hätte menschenleer sein können.
Wurde zufällig ein Ball in seine Nähe geworfen, schien er überrascht;
dann ließ er ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht huschen (Preedy,
der Freundliche), sah sich um, verblü fft darüber, dass tatsächlich Leute
am Strand waren, und warf den Ball mit einem nach innen gerichteten
Lächeln - nicht etwa mit einem, das den Leuten zugedacht wäre - zu-
rück und nahm heiter seine absichtslose Betrachtung des leeren Raums
wieder auf.
Aber jetzt war es an der Zeit, eine kleine Schaustellung zu inszenie-
ren, die Schaustellung Preedys, des Geistmenschen. Durch geschickte
Manöver gab er jed em, der hinschauen wollte, Gelegenheit, den Titel
seines Buches zu bemerken - einer spanischen Homer-Übersetzung, al-
so klassisch, aber nicht gewagt und zudem kosmopolitisch - , baute
dann aus seinem Bademantel und seiner Tasche einen sauberen, sandsi-
chercn Schutzwall (Preedy, der Methodische und Vernünftige), erhob
8 Identität 355
sich langsam und räkelte sich (Preedy, die Raubkatze ") und schleuderte
die Sandalen von sich (trotz allem: Preedy, der Sorglose!).
Preedys Hochzeit mit dem Meer! Es gab verschiedene Rituale. Ein-
mal jenes Schlendern, das zum Laufen und schließlich zum Kopfsprung
ins Wasser wird, danach ruhiges, sicheres Schwimmen auf den Hori-
zont zu. Aber natürlich nicht wirklich bis zum Horizont! Ganz plötzlich
drehte er sich auf den Rücken und schlug mit den Beinen große weiße
Schaumwogen auf; so zeigte er, dass er weiter hinaus hätte schwimmen
können, wenn er nur gewollt hätte, dann reckte er den Oberkörper aus
dem Wasser, damit jeder sehen konnte, wer er war.
Die andere Methode war einfacher. Sie schloss den Schock des kal-
ten Wassers ebenso aus wie die Gefahr, übermütig zu erscheinen. Es
ging darum, so vertraut mit dem Meer, dem Mittelmeer und gerade die-
sem Strand, zu erscheinen, dass es keinen Unterschied machte, ob er im
Wasser oder draußen war. Langsames Schlendern hinunter an den
Saum des Wassers - er bemerkt nicht einmal, dass seine Zehen nass
werden: Land und Wasser sind für ihn eins! - die Augen zum Himmel
gerichtet, ernst nach den für andere unsichtbaren Vorzeichen des Wet-
ters ausspähend (Preedy, der alteingesessene Fischer)." (Sansom 1956:
A contest of ladies, wohl in einer Bearbeitung von Erving Goffman
1959: Wir alle spielen Theater, S. 8f.)
Preedyt fällt nicht mit der Tür ins Haus und gibt auch nicht plum p an,
sondern wäh lt eine Inszenierung der kleinen An deutun gen in der Hoff-
n ung: " We r vieles bri ngt, wird manchem etwas b ringe n". Kein Zu-
schauer so1l 1cer ausge hen, alle sollen sich mit einer Seite ihrer eigenen
Identität dem Schauspieler verbu nden fühlen. Deshal b darf er auc h
nicht zu dick auftragen , aber auch nicht so zurückh altend se in, dass
keiner merkt, was er zum Ausdruc k bringen wo llte. Das berüchtigte
"n ame dro ppi ng" ist so ein Fa ll einer komplizi erten Darste llung. Wer
einen Namen fallen lässt, m uss sic her sein, dass di e Zuhörer damit auch
etwas anfangen können . Manch em wird es gar nichts sag en, wenn ihm
j emand beiläufig erzählt, er habe mit To m eine ganze Nac ht über d ie
Welträtsel gesprochen . Und ma nche feine Ironi e wi rd gar nich t be-
merkt, oder das Gesagte wird fü r bare Münze genom men . De shalb ist
ein w ichtiger Bestand teil der dra matischen Gestalt ung di e Ausdrucks-
kontrolle.
Wer übrigens gerade gemeint hat, Preedy selbst erlebt zu haben, dem sei hiermit
bescheinigt, er hat schon vor allem Studium soziologisch beobachtet!
356 g Identität
Wenn das Publikum die Darste llung falsch interpretiert oder viel-
leicht einem Missgeschick des Darstellers zu große Aufine rksamkeit
schenkt, besteht die Gefahr, dass es eine ganz andere Definition der
Situatio n vornimmt, die die geplan te Darstellung nicht mehr zulässt.
Deshalb muss der Darsteller jeden störenden Eindruck vermeiden, denn
er weiß: Ein falscher Ton zerstört den Klang eines ganzen Orchesters.
Wenn ich nicht mitkriege, dass mein künftiger Schwiegervater meinen
Zukunftsplänen mit versteinerter Miene zuhört, rede ich mich um Kopf
und Kragen. Das Eis, auf dem wir voreinander auftreten, scheint also
sehr dünn zu sein. Goffman erwähnt nun eine Strategie, die auf den
ersten Blick das Ende eines gemeinsamen Schau spiels zu signalisieren
scheint: die Strategie der Rollendistanz. Doch gerade diese Strategie
eröffuet dem Individuum die Chance, die Situat ion und die Fassaden,
das Bühnenb ild und sogar die Zuschauer neu zu definieren. Es ist eine
Strategie, Identität zu behaup ten!
Rollendistanz heißt nicht Verwe igerung oder Unfähigkeit, sondern
im Gegenteil die hohe Kompetenz, souverän mit einer Rolle umzuge-
hen. Ihr Zweck ist, soziale Zumutungen, die die Darstellung der Identi-
tät stören, zurückzuweisen. Ma n will zeigen (oder wenigstens bean-
spruchen), dass man noch anderes und mehr ist als in der Rolle erwartet
und ermöglicht wird.
Goffman geht davon aus, dass das Individuum immer " an einem Ge-
füge von Rollen teilnimmt" und es gleichzeitig die Fähigkeit besitzt,
" sein Engagement für andere Schemata in der Schwebe zu halten; es
erhält so eine oder mehrere ruhende Rollen aufrecht, die bei anderen
Gelegenheiten ausgeübt werden ." (Goffman 1961b , S. 101) Das ist die
eine Seite, weshalb dramatische Darstellungen nur ein Ausschnitt aus
einer größeren Wirklichkeit sind. Es bleiben immer Bereich e außen
vor, die unter anderen Umständen relevant werden . Der Blick auf diese
anderen Bereiche - sprich: Rollen - kann nie ganz vermieden werden.
ANSELM STRAUSS hat - wie oben ! schon zitiert wurde - sogar davon
gesprochen, dass jede Interaktion eine Interaktion mit abwesenden Zu-
schauern ist. (Strauss 1959, S. 58) Rollendistanz ist die unbewu sste (oft
natürlich auch bewusste!) symbolische Reaktion auf Erwart ungen aus
einem anderen Relevanz system.
Konsequenzen hat, ist jede Darstellung insofern wahr . Dass sich das
Indi viduum se iner D efinitionen und St rateg ien n icht imm er bewusst ist
und dass die anderen möglicherweise ganz andere Definitionen wahr-
nehm en, steht auf einem anderen Blatt. So kann man auch nur festhal-
ten, dass Ro llendi stanz eine Strategi e ist, mit der wir un sere Identit ät
schützen und präsentieren. Selbstverständlich bleibe ich auch bei mei-
ner Lesart, dass Goffman um die Gefahrdung des Individuums weiß,
und desha lb wollte er niemanden bloßstellen, sondern nur vor Illusio-
neo warnen.
Das gilt auch für die Aufdeckung der unbewu ssten Strategien des
Individuums, sich gleichzeitig als anders als alle anderen und als so
normal wie alle anderen zu präsentieren. Im Anschluss an Meads The-
se, dass das Individuum in der Interaktion mit anderen Objekt für die
anderen und für sich ist, möchte ich die These vertreten, dass es zumin-
dest das Erstere auch will: Es will auch bemerkt werden. Daraus ergibt
sich aber ein Balanceprob lem: Es möchte nicht, dass andere ihm zu
nahe treten, deshalb möchte es nicht zu sehr bemerkt werden; es will
aber auch nicht in der Masse unterge hen, deshalb macht es sich auffäl-
lig. Das Individuum hat das Bedürfnis, so normal wie alle anderen und
so einzigartig wie keiner zu sein. Oder anders: So ganz unauffällig will
doch eigentlich niemand sein, aber so ganz anders zu sein als alle ande-
ren, traut sich auch kaum einer zu.
Die Spannung zwischen gespielter Norm alität und angeblicher Ein-
zigartigkeit wird in der kritischen Interaktionstheorie als Balance zwi-
schen phantom normalcy und phant om uniqueness bezeichnet. Dieses
Bild wird zwar meist Goffman zugesc hrieben, doch diese Gegenüb er-
stellung ist nur zum Teil ein Zitat aus seinen Arbeiten und dann auch
noch aus einem spezifischen Kontext. Goffinan verwendet nur den
Begriff phantom normalcy und meint damit ein strategisches Kalkül,
das Menschen anwenden, deren sozia le Identität aufgrund eines auffäl-
ligen Stigmas gefährdet ist. (Goffman 1963, S. 152) Es handelt sich
also um Personen, die Aufmerksamkeit nicht entgehen können. Sie
müssen so tun, als ob sie normal wie alle anderen sind, damit diese so
tun können, als ob sie sie als Normale betrachten. (vgL S. 122)
Aus dieser doppelt gebrochenen Strategie, Annahmen von Normali-
tät im Spiel zu halten, lässt sich dann der Schluss ziehen, den JÜRGEN
H ABERMAS aus Goffmans Beschreibungen der Auftritte des Indivi-
duums auf der gesellschaftlichen Bühne gezogen hat. Er unterstellt dem
8 Identität 359
Sie können ihn rekapitulieren, wenn Sie in diesem Band die Kapitel 2.6 .Herstel-
lung funktional notwendiger Motivation" und 3.1 ..Rolle - normative Erwartung"
nachlesen. Zum grundsätzlichen theoretischen Ralunen und zur Frage, wie nach
Parsens gesellschaftliche Ordnung überhaup t möglich ist, vgl. Band I, Kap. 3.9
"Normative Integration".
360 8 Identität
ausgedehnt - bis zu einem Punkt, wo eigentlich die ganze Welt für je-
des einzelne einigermaßen aufgeklärte Individuum zum Handlungsfeld
wird. Daher ist das Individuum entschieden stärker und bewusster da-
mit beschäftigt, herauszu finden, was und wer es in dem ganzen Univer-
sum von Identitäten aller möglichen Menschen auf der Erde ist.
Diese Entwicklungsprozesse sind m. E. dafür verantwortlich, dass
das Problem der Identität (und das damit zusammenhängende, aber von
diesem zu unterscheidende der Entfremdung) innerhalb der westlichen
Kultur - vor allem der Vereinigten Staaten - in den Vordergrund ge-
rückt ist. Es ist natürlich verständlich, dass die Identitätsprobleme vor
allem in den sensiblen (KoIT. H. A.) Gruppen der j üngeren Generation
akut sind, da diese Individuen in ein Interaktionssystem einzutreten ha-
ben, das erheblich komplexer und verzweigter ist als das, dem ihre El-
tern zum entsprechenden Zeitpunkt ihres Lebenszyklus gegenüberstan-
den." (Parsons 1968: Der Stellenwert des Identitätsbegriffs in der all-
gemeinen Handlungstheorie, S. 68 und 71)
Vgl. Kap. 2.6 .H erstellung funktional notwend iger Motiva tion", S. 92, und Kap.
3, 1 "Rolle - normative Erwartung" ,
8 Identität 363
AusfiihrIich habe ich sie in Band 1, Kap. 6.3 "Grundfunktionen der Strukturerhal-
tung (AGIL-Schema)" behandelt.
2 Vgl. oben Kap. 5.4 .R olle, Austausch, Kontingenz" , S. 204.
366 8 Identität
Identität ist zum einen ein Strukturprinzip des Handelns des Pers ön-
lichkeitssystems, ein spezifisches .Drientieru ngsmuster". Von indivi -
dueller Identität spric ht Parsons, weil sie das Produkt einer einzigarti-
gen Sozial isation ist.
Zum anderen ist Identität eine objektive Tatsache, die sich aus der
individue llen Kombination von Erfahrungen im Sozialisationsprozess
und von Rollenverpflichtungen, aber auch Positionen in sozialen Sys-
temen ergibt. Letzteres erinnert stark an Geo rg Simm els These vom
einzigartigen Schnitt punkt der sozialen Kreise, in dem nur ein Indivi-
duum vorkommen kann.
Parsons' Theorie der Identitä t ist in der soziologischen Diskussion
nicht mehr so recht zum Tragen gekommen. Das lag einmal daran, dass
man sie ohne viel Federlesens der Rollentheori e zuordnete, und über
die war das Urteil schon gesproc hen. Vor allem abe r lag es an einer
optimist ischen Theorie der Identität , die damals schon in aller M unde
war . Ge meint ist die Theorie von Erik H. Erikso n.
8 Identität 367
nenn t Erikson Ich-Identit ät. (vg l. Erik son 1946, S. 17) Sie ist
.,eine subjektive Erfahrung und eine dynamische Tatsache" inso-
fern, als der Mensch erstens selbst eine "e igene Gleichheit und
Kontinuit ät in der Zeit" wahrnimmt und erfahrt, dass auch ande-
re ihn so sehen, und zweitens, dass er mit seiner Ich-Qualität
beides auch in den Augen der andere n gewährleistet. (S. 18)
Erikson unterscheidet acht Phasen im Lebenszyklus, in denen jeweils
eine spezifische Antwort auf die Frage " Wer bin ich?" gegeben wird.
1. " Ich bin, was man mir gibt."
Die erste Phase, das Säuglingsalter, überschrei bt Erikson mit der
Aussage: .Jch bin, was man mir gibt." (Erikson 195Gb, S. 98) Damit
will er zum Ausdruck bringen, dass der Säugling total von der Mutter
abhängig ist. Die psychosoziale Krise, die der Säugling erlebt, ist die
Erfahrung, dass die Befriedigung seiner Bedürfnisse nicht ständig oder
nicht immer in ausreichendem Maße erfolgt. Die Ungewissheit, ob und
wann und wie diese Befriedigung erfolgt, kann sich verdichten zu ei-
nem Gefühl des Misstrauens und der Resignation . Umgekehrt führt die
Erfahru ng der regelmäßigen und liebevollen Zuwendung zu einem Ge-
fühl grundsätzlichen Vertrauens. Erikson nennt diese Grundhaltung
Urvertrauen , die Tugend dieser ersten Phase, die den ersten Ansatz
künftiger Ich-St ärke bildet, nennt er Hoffn ung .
2. .Jch bin, was ich will."
In der zweiten Phase, dem Kleinkindalter, entwickelt sich im Kind
auf die Frage, wer es ist, die Antwort : " Ich bin, was ich will." (Erikson
195Gb, S. 98) Die psychosoziale Krise dieser analen Phase sieht Erik-
son in dem Missverhältnis zwischen den Ford erungen, die an das Kind
gestellt werden - vor allem von seinen Erziehern, zunehmend aber auch
von ihm selbst - , und dem, was es tatsächlich schon kann. In dieser
Phase entscheidet sich, ob die Grundhaltu ng zur Autonomie oder zu
einem Gefühl von Scham und Zweifel ausschlägt. Die Tugend dieser
Phase ist der Wille.
3. " Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann."
Das Spielalter ist die dri tte Phase. Freud nannte sie die infantil-
genitale Phase. In ihr kom mt es zu einer libidinösen Beziehung zu den
Eltern, die aber mit dem Gefühl einhergeht, dass eine solche Beziehung
nicht statthaft ist. Es kommt also zu einem Konfl ikt zwischen Bedürf-
8 Identität 369
und dem, wovon er bemerkt, dass andere es in ihm sehen und von ihm
erwarten. Individuell gesprochen, schließt die Identität all die aufeinan-
derfolgenden Identifikationen jener früheren Jahre in sich, wo das Kind
wie die Menschen zu werden wünschte, von denen es abhing, und oft
gezwungen war, so zu werden - aber sie ist mehr als die Summe all
dieser Identifikationen.
Die Identität ist ein einzigartiges Produkt, das jetzt in eine Krise
tritt, die nur durch neue Identifikationen mit Gleichaltrigen und Führer-
figuren außerhalb der Familie gelöst werden kann. Die jugendliche Su-
che nach einer neuen und doch zuverlässigen Identität lässt sich viel-
leicht am besten in dem beständigen Bemühen beobachten, sich selbst
und andere in oft unbarmherzigem Vergleich zu definieren, zu überde-
finieren und neu zu definieren; während sich die Suche nach zuverläs-
sigen Ausrichtungen in der ruhelosen Erprobung neuester Möglichkei-
ten und ältester Werte verrät. Wo die sich ergebende Selbstdefinition
aus persönlichen oder kollektiven Gründen zu schwierig wird, entsteht
ein Gefühl der Rollenkonfusion.' (Erikson 1959b: Identität und Ent-
wurzelung in unserer Zeit, S. 77 und 78f.)
warum Jugendliche sich scheinbar aus heiterem Himmel " total" ruf
eine Meinung, für ein Ziel oder für ein Outfit entscheiden und alles
andere " total" ablehnen. Dieser Rigorismus macht Eltern ratlos, zumal
er von heute auf morgen einer völlig anderen Sache gelten kann. Auch
diese unbedingte Hingabe ist der Versuch, eine gerade entworfene
Identität zusammenzuha lten.
Abgrenzung und Abwehr sind Mechanismen, eine drohende Diffu-
sion der Identität zu verhindern . Nach dem Prinzip absoluter Exkl usion
und absolu ter Inklusion bestimmt der Jugendliche scheinbar für die
Ewigkeit, worau s sich seine Identität zusammensetzen soll: " Ist eine
bestimmte willkürliche Abgrenzung angenommen, so darf nichts, was
hineingeh ört, draußen gelassen, so kann nichts, was draußen sein soll,
innen geduldet werden. Eine Totalität ist absolut inklusiv, oder sie ist
vollständig exklusiv, ob die absolut zu machende Kategorie eine logi-
sche ist oder nicht und ob die Teile wirklich sozusagen ein Verlangen
nacheinander haben oder nicht." (Erikson 1959b, S. 79)
Mit dem Bedürfnis nach Totalität ist die Tugend schon angespro-
chen, die in dieser Lebensphase ausgebildet wird, die Treue. Es ist die
feste Verpflichtung auf Ideale und idealisierte Personen. Die Tugend
der Treue ruht auf dem unbedingten Glauben an etwas Wahres auf,
mag dies nun in Werten und Ideologien oder in konkreten oder erdach-
ten Personen gesucht werden. Treue ist eine außerordentlich dichte Be-
ziehungsform. Mit ihr wird die Identität an etwas gebunden, das selbst
Tei l dieser Identität wird. Treue ist " der Eckstein der Identität." (Erik-
son 1961, S. 108)
6. " Ich bin, was ich dem anderen gebe und was ich in ihm finde."
In der sechsten Phase, dem frühen ErwaehsenenaIter, ist die weitere
Entwicklung der Identität von der Partnerschaft bestimmt. Die Antwort,
die in dieser Phase auf die Frage, wer man ist, gegeben werden kann,
könnte man in Fortführung Eriksons so formuli eren: .Jch bin, was ich
dem anderen gebe und was ich in ihm finde." (vgl. auch Erikson 1961 ,
S. 111) Es geht also um die Wechselwirkung zwischen Partnern, die
sich lieben und fUreinander da sind. Gelingt diese Beziehung, entsteht
ein wechselseitiges Gefühl der Intimität, gelingt sie nicht, kommt es zur
Isolierung. Die Tugend dieser Phase ist die Liebe.
8 Identität 37J
7. .Jch bin, was ich mit emem anderen zusammen aufbaue und
erhalte."
Der Kernkonflikt der siebten Phase, des eigentlichen Erwachsenen-
alters, besteht in der Spannung zwischen Generativit öt und Selbstab -
sorption. Der Identität wird Kraft durch die Erfahrun g zugeführt, etwas
mit einem anderen zusammen aufzubau en und zu erhalten. So könnte
man auch die Antwort auf die Frage "Wer bin ich?" formulieren . Mit
Gener ativität ist die Grundhaltung gemeint, sich gemeinsam durch ein
Kind in den Zyklus der Generationen zu stellen und Verantwortung für
das Weiterleben der Gesellschaft zu übernehmen. Selbstabsorption be-
deutet, dass der Erwachsene vor dieser Verantwortung zurück schreckt
und "zu seinem eigenen Kind und Schoßtier wird" (Erikson 1961, S.
114). Die Tugend dieser Phase ist die Fürsorge.
8. " Ich bin, was ich geworden bin."
In der achten und letzten Phase des Lebens, dem reifen Erwachse-
nenalter, geht es darum , das zu sein, was man geworden ist (vgl. Brik-
son 1956, S. 215), was heißt, seine bisherige Entwicklung zu akzeptie-
ren, und zu wissen, dass man einmal nicht mehr sein wird. Der Kern-
konflikt der Identit ät in diese r Phase heißt deshalb Integrität vs. Le-
bensekel. Das Wachstum der Persönlichkeit vollendet sich in der Tu-
gend der Weisheit.
von den wechselseitigen Bildern eine große Rolle. Deshalb ist Ich-
Identität auch nichts Starres, im Gegentei l: Sie muss immer wieder neu
hergestellt werden, da wir sie in wechselnden Situationen und vor im-
mer neuen Mitspielern präsentieren müssen. Konkret heißt das, die ei-
gene Lebensgeschichte mit der Gegenwart , in der wir handeln und uns
mit Erwartungen der anderen auseinandersetzen, und mit der Zukunft,
so wie wir sie angehen, abzustimmen. "Das Gefühl der Identität setzt
stets ein Gleichgewicht zwischen dem Wunsch, an dem festzuhalten,
was man geworden ist, und der Hoffnung, sich zu erneuern, voraus,"
(Erikson 1974, S. 113) Identität ist also permanente Aufgabe und Ent-
scheidung. Dass diese Entscheidung allerdings nicht nur eine Entschei-
dung über die Biographie, wie sie gewesen ist oder hätte sein sollen
und wie sie nun weitergehen soll, ist, hat Erikson mit seiner These von
der psychosozialen Struktur der Identität betont.
LOTHAR KRApPMANN hat bei der Würdigung dieses Identitätskon-
zeptes die Frage aufgeworfen, ob Eriksons Beschreibungen "nicht
wahrhaft nostalgisch" anmuten und ob "die »postmodemen« Lebens-
verhältnisse die Bemühungen um Identität nicht längst als aussichtslos,
sogar als dysfunktional erwiesen" hätten. (Krappmann 1997, S. 66) Auf
diese Frage gibt er zwei Antworten. Die erste argumentiert historisch
und wendet sich an die Adresse derer, die Erikson vorgeworfen haben,
sein harmonisierendes Modell spiegele die idealisierende Erfahrung
einer hannonisehen Gesellschaft der amerikanischen Mittelschicht wi-
der. Krappmann hält dagegen: " Keineswegs geht er in seiner Ausei-
nandersetzung mit dem Identitätsproblem von gesicherten Verhältnis-
sen aus, denn Eriksons Sicht der Problematik entsprang seinen Studien
in den vierziger Jahren, in denen er Entwicklungsprozesse von Kindern
in gegensätzlichen Kulturen, den verflihrerischen Einfluss politischer
Bilderwelten auf die Heranwachsenden und die Auswirkungen des
Kriegserlebnisses auf heimkehrende Soldaten untersucht hatte. Er frag-
te folglich nach dem Platz des Individuums in einer sich umstürzenden
Welt, in der zunehmend zweifelhaft wurde, wie sich persönliche Le-
benspläne mit massiven gesellschaftlichen Veränderungen verbinden
lassen. (Krappmann 1997, S. 66[.) Die strukturellen Bedingungen, un-
ter denen Identität zu suchen war, scheinen also durchaus vergleichbar
denen zu sein, die heute mit warnenden Begriffen wie "Ze rfall traditio-
naler Sicherheiten", ,,Auflösung des Sozialen" oder .Zerfascrung des
Selbst" belegt werden.
8 Identität 375
den, zusammenge fügt we rden." (Kr appm ann 1997, S. 67) Diese Mu s-
ter, das hatt e auch Erikson schon so gesehen, sind unklar und wider-
sprüchlich gew orden.
Und wie sieht es auf der Seite des Individuums aus? Übe rspitzt
könnte man sage n: Die Ju gendlichen stehen vor dem Problem, dass sie
keinen sicheren Rahmen kenn en, in dem sie richtige Entscheidungen
treffen könnten, und die Bezu gsgruppen, aus denen heraus sie Legiti -
mationen für eigene Ent scheidungen erhalten könnten und auf die hin
sie sie legitim ieren müssten, sind diffu s und widersprü chlich gewo rden.
Krappmann hatte "das Resultat der Anstrengungen, Unklarheiten, Un-
stimmigke iten und Widersprüche zu bearbeiten" (Krappmann 1997, S.
8 1) in seinem Buch von 1969 als " balancierende Identität" bezeichnet.
Darun ter soll keineswegs eine "fest etablierte Identität, sondern eine
Identität, die aus ständiger Anstrengung um neue Verm ittlung entsteht"
(ebd .) verstanden werden. Krappmann fahrt fort: "Der Identitätssu-
chende versuc ht, zusätzliche Inform ationen und Erfahrunge n, ab er auch
Enttäuschunge n und Verletzu ngen zu integrieren und sich gegen Stig-
matisierungen und Ste reotyp isieru nge n zu wehren. Nicht Inhalte ma-
chen diese Identität aus, sondern bestimmt wird sie durch die Art, das
Versch ieden arti ge, Widersprüchliche und Sich-Verände rnde wahrzu-
nehmen, es mit Sinn zu füllen und zusammenzuhalten." (ebd.)
Krappmann erinn ert an Ga ffman, der " farbig geschildert" hab e, "w ie
Men schen daran arbeiten, ihre Identität zu entwerfen, sie and eren ver-
ständlich zu machen, sie zu verteidigen und immer wiede r umzukon-
struieren." (Krappmann 1997, S. 8 1) Warum tun sie das? Ich habe es
oben' schon als Versuch erklärt, Identi tät zu schützen . Krappmann in-
terpretiert es ähnlich : Die Individuen arbeiten an ihrer Identität, vertei-
digen sie und konstruieren sie ständig neu, " um aus sozialen Erwartun-
gen nicht hera uszufall en und doc h eigenen Wünschen Anerkennung zu
versc haffen. Dieses mühevoll e Balan cieren zwisc hen Erwartungen,
Zuschreibungen und eigenen Interessen und Sehn süchten ist kein Jon g-
lieren aus Übermut, sondern entspringt der Not, seinen Platz in einer
widersprü chlichen, sich wandelnden Ge sellschaft zu bes timme n. Er-
reichbar ist trotz dieses Aufwands kein e ein für allemal gesicherte Iden-
tität, son dern lediglich, sich trotz einer imm er problematischen Ident ität
die weitere Beteiligung an Interaktionen zu sichern ." (ebd.)
Vgl. oben Kap. 5.8, S. 228 wo ich die Fähigkeiten auch unter die Bedingungen
einer gelingenden Interaktion gerechnet habe .
2 Siehe oben Kapitel 8.4 "GofTman: Wir alle spielen Theater", S. 358f..
8 Identität 379
Identität heißt nicht nur, sich der Differenz zwischen Individuum und
Gesellschaft bewusst zu bleiben, sondern die Form dieses Verhältnisses
grundsätzlich unter der Perspektive des Möglichen zu bedenken ! Identi-
tät impliziert die Anstrengung der wiederholten Definition, wer man
sein könnte, wenn man wollte.
Dass die " Bemühungen um Identität" heute problematisch sind, ist
die These von PETER L. BERGER, BRIGITIE BERGER und HANSFRIED
KELLNER. Sie behandeln das Thema Identität unter dem Blickwinkel
des "U nbehagens in der Modernität" .
sehe n privatem und öffentlichem Bereich auf, aber auch innerhalb die-
ser beiden Bereiche findet eine Pluralisieru ng statt. Für den öffentli-
chen Bereich leuchtet das unm ittelba r ein. Die Arbeit steilung vervi el-
fältigt die sozialen Ro llen, und die Lib eralis ierung der We ltanschau un-
gen und Rationalitäten gibt Raum für eine Fülle von Handlungsoptio-
nen. Doch auch die Privatsphäre ist " nicht immun gegen Pluralisierung.
In der Tat ist es so, dass der modeme Men sch versucht, diese Sphäre so
zu gestalten, da ss diese private im Gegensatz zu seiner verwi rrenden
Verwi cklung in die Welten öffentlicher Institutionen ihm eine Ordnung
integ rieren der und stützender Sinn gehalte liefert. Mi t anderen Worten,
der Mensch versucht, eine »Heimatwelt« zu konstruieren und zu be-
wahren, die ihm als sinnvoller Mittelpunkt seines Lebens in der Gesell-
schaft dient." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 6 1)
Dieser Mittelpunkt wird pluralisiert. Berger u. a. führen dafür zwe i
spez ifische Grunde an : die Erfahrung des Stad tlebens, was schon Georg
Simmel als Erklärung für das modeme Geisteslebens angeführt hatte,
und die Erfahru ng der modem en Massenk ommunikation. " Seit ihrer
Ent stehung in alten Zeiten war die Stadt ein Treffpunkt sehr versch ie-
dener Men schen und Gruppen und damit gege nsä tzlicher Welten."
(Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 61) Ihre Bewo hner sahen sich im-
mer wieder mit " unterschied lichen Einstellungen zur Wirklichkeit"
konfrontiert und konnten auch dam it umgehen . Der Lebensstil und die
Art zu denk en und zu handeln, die sich zuers t in den Städten au sbilde-
ten, haben heute alle Teile der Gesellschaft erfasst, weshalb Berger,
Berger und Kell ner auch von einer .Llrbanisie rung des Bewusstseins"
sprechen.
Sie wurde hauptsächlich d urch die Massenm edien bewirkt, begann
aber wa hrsch einlich schon früher mit der Verbreitung der Schulbil-
dung. " In diesem Sinn ist der Lehrer schon seit ein paar Jahrhunderten
ein Träger der »Urbanität«. Dieser Prozess wurde jedoch durch die
technologischen Kommunikationsmedi en ganz erheblich beschleunigt",
die " die in der Stadt erfundenen kognitiven und nonnativen Definitio-
nen der Wirklichkeit sehr schnell in der gesamten Gesellschaft"
ve rbreiten. (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 62) Richtig ist, "dass
dieser Prozess der Information »den Horizont erweitert«. Zugleich je-
doch schwächt er die Unvcrsehrth eit und Überzeugungskra ft der »Hei-
ma twelt«." (ebd .)
382 8 Identität
Die Pluralisieru ng der Lebe nswelt äußert sich ganz konkret im All-
tagsleben. Das verde utlichen Berger, Berger und Kellner am Fall der
langfristigen Lebensplanu ng. Leben splanung heißt, sich vorzustellen,
wie die persönl iche Zukunft aussieht oder ausse hen 5011, und sich dar-
auf vorzubereiten. Diese Vorstellungen fallen natürlich nicht vom
Himmel, sondern orientieren sich an typischen Lebensabläufen, wie
man sie vom Hörensagen kennt, wie man es bei Verwandten und Be-
kannten sieht und wie man es in Sozialisationsagenturen wie Familie
und Sch ule gelernt hat. Bei der Planung muss bedacht werden, dass die
Laufbahn , auf die man sich begeben will, nicht klar definiert ist, dass es
u. U. sogar mehrere »Fahrpläne- gibt und dass man es mit eine r ganzen
Reihe von Bezugspersonen zu tun haben wird , mit denen man sich ir·
gendwie arrangieren mu ss. Nehmen Sie nur die schlichte Entscheidung
" berufstätig". Welcher Beruf würde mir Spaß machen? Welche zeitli-
chen Anforderungen bringt er mit sich? Was mache ich, wenn wir Kin-
der kriegen und meine Frau darau f besteht, dass sie ihren Beruf weiter
aus übt? Was tue ich, wenn mein Arbeitsplatz in eine andere Stadt ver-
lagert wird ? Welc he Qualifizierungschancen habe ich in meinem Be-
ruf? Und so weiter. Die " Werkstatt" , in der solche Lebensplanu ngen
manchmal explizit, meistens eher beiläufig ers tellt und modifiziert
werden , ist der private Bereich von Ehe und Fami lie.
Wie ta ngiert das die Identität? Berger u. a. sehen es so, dass bei den
Entwürfen des Lebens nicht geplant wird, was man tun wird (will),
sonde rn auch, wer man sein wird (will). " Im Falle von Menschen, die
flireinander von großer persönlicher Wichtigkeit sind, überlagern sich
diese Projekte, sowohl hinsichtlich der geplante n Karrieren, als auch
hinsichtlich der geplante n Identitäten. Der eine ist ein Teil der Projekte
des anderen und umgekehrt ." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 68)
Bedenkt man dann noch, dass sich mit jeder Entscheidung des einen
nich t nur neue soz iale Konstellat ionen für diesen, sondern auc h für den
and eren ergeben, dann kann man sich die Komplexität vors tellen, in der
Identität behauptet und in Frage gestellt wird oder gar neu erfunden
werden muss.
Vo r diesem Hintergrun d, dass der Mensch seine Zukunft mit einem
Plan in den Griff zu bekomm en sucht, was natürl ich nicht heißt , dass er
das immer bew usst und strategisch anlegt, stellen sich Berger, Berger
und Kellner die Frage, welche Implikationen das für die Identität in der
modem en Gese llschaft hat. Dabei meinen sie mit Identität "die tatsäch-
8 Identität 383
liehe Erfahrung des Ich in einer besti mmten sozialen Situation. Mit
anderen Worten, wir meinen mit »Identität« die Art und Weise, in der
der Einze lne sieh selber definiert." (Berger, Berger, Kellner 1973, S.
69) Der Lebensplan ist " eine Quelle der Identität", und umgekehrt kann
man auch "d ie Identität in der modem en Gesellschaft als einen Plan
definieren." (S. 70) Damit ist klar, dass Identität nicht Identität an sich
oder eine abstrakte Idee ist, sondern eine Konstruktion, die das Indivi-
duum vornimmt.
Diese individuelle Konstruktion ist allerdings davon abhängig, wie
in der modernen Gesellschaft Identität typischerweise konstruiert wird.
Da jeder Teil einer sozialen Wirklichkeit ist, die ihn sozialisiert , ist auch
die Art und Weise, in der er sich seine Identität vorstellt und wie er sie
präsentiert, durch " Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklich-
keit" - so der Titel des bekannten Buches von PETER L. BERGER und
THOMAS LUCKMANN (1966) - bestimmt. Unter dieser Prämisse heben
Berger, Berger und Kellner vier Aspekte der modernen Identität hervor.
1. Die moderne Identität ist besonders offen.
Erstens bezeichnen sie die moderne Identität als besonders offen, wobei
Offenheit im Sinne der von DAVID RIESMAN beschriebenen Außenlei-
tung zu verstehen ist. (vgl. Berger, Berger, Kellner 1973, S. 70) Identi-
tät impli ziert, sich offen zu halten für das, was der Zeitgeist bietet und
gebietet. Der modeme Mensch ist ständig auf Empfang für die Signale ,
von denen es heißt, dass sie wichtig sind. Berger, Berger und Kellner
fahren fort: "W enn es auch zweifellos gewisse Züge des Individuums
gibt, die beim Abschluss der primären Sozialisation mehr oder weniger
dauerhaft stabilisiert sind, ist der modem e Mensch trotzdem »unfertig«,
wenn er in das Erwachsenenleben eintritt. Nicht nur ist offenbar eine
große objektiv e Fähigkeit zu Transfonnationen der Identität im späte-
ren Leben vorhanden, es ist auch eine subjektive Kenntni s und sogar
Bereitschaft für solche Transformati onen da . Der modem e Mensch ist
nicht nur besonders »bekehrungsanfällig«; er weiß das auch und ist oft
darauf stolz." (ebd.)
Der modeme Mensch hält seine Identität auf der Höhe der Zeit.
Wirklich ist die Identität, die gerade geboten oder möglich ist; zurück
wird die biographische Wirklichkeit schwächer, nach vorne hält man
ganz neue Facetten für möglich. " Der Lebenslauf wird begriffen als
eine Wanderu ng durch verschiedene soziale Welten und als stufenwei-
384 8 Identität
Hier liegt eine Erklärung, warum das Wort von der .Betroffenheit" zum Kürzel
für Befindlichkeit und unüberbietbare Legitimation geworden ist!
2 Lat., wörtlich "das allerwirklichste Sein"; in der aristotelischen Lehre von der
Vollkommenhei t gleichbedeutend mi t dem absoluten, dem reinen Sein.
3 Dieser englische Staatsmann stand seit 1789 in einer besorgten Korrespondenz mit
einem "very young gentleman in Paris" . Er legte seine Befürchtungen zur Aufstö-
rung der Welt in .Reflections on Ihe Revolution in France" ( 1790) nieder.
386 8 Identität
anders, ganz autonom zu verhalten. Auch die Tatsache, dass dem Indi-
viduum in der Moderne immer mehr Optionen zugesp ielt wer den,
schafft nicht wirklich Freiheit: Das Individu um hat zu viele Bälle
gleichzeitig in der Luft. (vgl. Berger, Berger u. Kelln er 1973, S. 158)
In dieser Situation versuc hen die einen, ein alternatives Leben gegen
die Gese llschaft zu führen (das Buch erschien in der hohen Zeit der
Diskussion Ober Gegenkultur in den USA!) und sich ganz selbst zu
verwi rklichen. And ere arrangie ren sich mit den Verhältnisse n, indem
sie das Öffentliche und das Private trennen und hoffen, in diesem das
"eigentliche" Leben zu führen. Die Dritten schließlich führen ihr Leben
so weiter, wie es die sich wandelnden Verhältnisse jeweils verlangen .
Sie erheben nicht "w irklich" den Anspruch, unter diesen Verhältnissen
ganz anders und einzigartig zu sein. Ich relativiere bewusst: nicht
"w irklich" - aber als gelegentliche gute Meinung von sich schon.
würde eine rigide Identität nicht gerecht, diese würden von einer sol-
chen nicht wahrgenommen.
Zurück zur soziologischen Diskussion . Sie hat - hoffentli ch - ge-
zeigt, dass Identität das Ergebni s spezifischer sozialer Erfahrungen ist,
die ja nie aufhören. Aufgrund dieser Erfahrungen, wie bewusst oder
unbewusst sie auch sein mögen, konstruiert das Individuum ein Bild
von sich und von den anderen, die ihm dieses Bild in der Interaktion
face to face spiegeln. Und es konstrui ert auch ein Bild von der Gesell-
schaft, wie sie ihm durch allgemeine Erwartungen und konkrete Institu-
tionen begegnet.
Konstruktionen erfolgen natürlich nicht zufällig, sondern hängen mit
der spezifischen Sozialisation des Individuums und seinen Erfahrungen
in Interaktionen zusammen. Zweitens muss man bedenken, dass Kon-
struktionen im soziologischen Sinne nie für die Ewigkeit gelten. Man-
che Menschen nehmen sich das zwar gelegentlich so vor, und Instituti-
onen beanspruchen das fast immer von sich, doch die Tatsache des so-
zialen Wandels widerlegt beides.
Das sollte nun nicht zu der Annahme verleiten, dann brauche man
überhaupt nichts zu konstruieren, wo doch sowieso alles im Fluss ist.
Falsch. Auch Identität muss entschieden werden, aber immer wieder.
Deshalb möchte ich Identität als relativen Standp unkt bezeichnen. Tat-
sächlich halten wir ja immer wieder in unserem Denken und Handeln
ein, wenn die Umstände plötzlich ganz anders sind, oder wenn wir aus
welchen Gründen auch immer zurückblicken auf unser Leben und fest-
stellen, dass wir nicht nur gerade Wege gegangen sind und manches
aus den Augen verloren haben, was uns einmal ganz wichtig gewesen
ist. Wenn wir einigermaßen vernünftige Antworten geben können, ist
das Identität als Bewusstsein von unserer Rationalität. Und die Antwort
wird sicher immer etwas anders ausfallen, wenn wir sie mit 20, 30 oder
85 geben.
Die Frage, wie wir zu den Dingen, zu den anderen und vor allem zu
uns stehen, stellt sich sicher bei kritischen Leben sereignissen und an
den dramatischen Wendepunkten des Lebens. Doch auch in den weni-
ger dramatischen Situationen stellt sich diese Frage. Manchmal ganz
bewusst, wenn wir z. B. einen Lebenslauf schreiben, einem anderen
unser Herz öffnen oder Erklärungen abgeben, manchmal und in der
Regel aber unbewusst, indem wir so denken und handeln wie immer
und dadurch uns und den anderen signalisieren: Das ist wieder die typi-
8 Identität 389
sehe Situat ion, in der ich so denken und handeln kann, wie ich immer
gedacht und gehalten habe.
All das gehört zur Identitätsarbeit, die eben auch nie aufhört. Des-
halb möchte ich auch von einem relativen Standpunkt sprechen. Relativ
ist er aber auch aus einem anderen Grund : Wir stehen im Schnittpunkt
vieler sozialer Kreise, und das macht unseren Standpunkt einzigartig.
Aber wir gehören eben auch all diesen Kreisen an, und da gibt es die
unterschiedlichsten Erwartungen, mit denen wir uns auseinandersetzen
müssen. Die Art und Weise, wie wir uns auf die Erwartu ngen in dem
einen Kreis einstellen, ist vielleicht in einem anderen Kreis nicht oppor-
tun oder sogar strukturell unmöglich. Also wird die Präsentation der
Identität immer relativ zu den konkreten gesellschaftlichen Bedingun-
gen sein.
Bisher habe ich den Standpunkt vor allem aus dem Blickwinkel des
Individuums betrachtet. Ein Standpunkt muss aber auch bezogen wer-
den im Interesse der Gesellschaft. Die anderen, mit denen wir interagie-
ren, müssen auch wissen, woran sie mit uns sind. Natürlich werden sie
uns routinemäßig als Typen behandeln, doch auch dieses typische Ver-
halten muss j a immer unter Beweis gestellt werden, und ganz sicher
müssen wir verlässlich sein, wenn Routine durcheinander gerät. An
diesem kritischen Punkt und natürlich an jedem Anfang einer neuen
Interaktion müssen wir einen Standpunkt einnehmen und uns fragen,
wer wir sind und wer wir gleich sein wollen. Die Antwort können wir
nicht für uns behalten, denn es soll ja um ein gemeinsames Handeln
gehen. Also müssen wir begründen, warum wir etwas tun und was wir
wollen. So schaffen wir die Voraussetzung dafür, dass die anderen uns
als rational handelnden Partner der Interaktion erkennen.
Die Formulierung " relativer Standpunkt" soll schließlich auch deut-
lich machen, dass es ein Standpunkt unter gegebenen Umständen ist.
Die beiden Betonungen meine ich so: Es ist ein Standpunkt neben vie-
len anderen möglichen, die andere einnehmen können. Und es ist ein
Standpunkt, wie er sich in einer konkreten Situation ergeben hat.
Einen Standpunkt nimmt man in seinem Leben nicht ein für alle Mal
ein, sondern immer dann, wo die Routine des " weiter so" du rchbrochen
wird. Das bedeutet, dass wir Identität immer neu entwerfen müssen -
für uns und vor den anderen.
390 8 Identität
Diese Ford erun g ste lle ich bewusst gegen die "o ntologische Boden-
losigkeit der Postmoderne" , die der poln isch e Soziologe ZYGMUNT
BAUMAN (*1925) unter de r sprechenden Überschrift "Wir sind wie
Landstreicher" beschworen hat:
Ich habe am An fang des Kapi tels gesagt, dass die Forderung an das
Individuum, Identität als relativen Sta ndpunkt immer wieder neu für
sich und für die anderen zu entscheiden, von der Hoffnung lebt, der
gerade be schriebenen " ontologischen Bodenlosigkeit" imm er wied er
neuen Sinn entgegensetzen zu können. Deshalb nach der langen Dis-
kussion zentraler Themen der Soziologie als letztes Wo rt zum Verhält-
nis vo n Individ uum und Gesellschaft: Ident ität ist der Standpu nkt , in
dem Individuum und Gesells cha ft fortlaufe nd ve rmittelt werden. Auf
ihn wi rken die gesellschaftlichen Verhältnisse, wie indirekt auch im-
8 Identität 39 1
mer, ein, und aus ihm heraus wirkt das Individuum auf sie, wie indirekt
auch immer, ein. Worum es bei dieser Wechselwirkung von Indivi-
duum und Gesellschaft gehen muss und was das mit der Aufgabe der
Soziologie zu tun hat, erhellt aus dem Schlusskapitel, das ich ausdrück-
lich unter den Titel "Unversöhnlich" gestellt habe.
9 Unversöhnlich
Soziologie bef asst sich mit gesellschaftlichen Verhältnissen und dem
Handeln zwischen Individuen in diesen Verhältnissen. Diese Definition
stand am Anfan g der Einführu ng in die Sozio logie. An der Auswahl der
Themen und Theorien, die ich in dem so gesetzten Rahm en für wichtig
halte, und an der Art und Weise, wie ich sie behandelt habe, sollte deut-
lich geworden sein, dass sich Soziologie nicht nur mit abstrakten Strak-
turen und Prozessen befasst, sondern die Individuen in ihrer Gesell-
schaft sehr konkret in den Blick nimmt. Dabei kommen zwangsläufig
Situationen zur Sprache, in denen wir tagtäglich leben, und es geht im-
mer auch um die Frage, wie wir uns selbst und die anderen sehen und
wie wir miteinander umgehen.
Auch für diese Situati onen gilt, was ich von den gesellschaftlichen
Prozessen und Strukturen gesagt habe: Wir müssen hinter den Schein
der Phänomene auf die wirkenden Strukturen, auf die Handlun gen der
Individuen wie auf die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
blicken. Deshalb ist mir auch wichtig, zum Schlu ss noch einmal zu
sagen, wann Soziologie beginnt: hier und j etzt und immer wieder. Sie
beginnt, habe ich gesagt, mit dem Zwe ifel an der Natürlichkeit der ge-
sellschaftlichen Verhältnisse. Soziologie ist Aufklärung! In dem Zu-
sammenhang will ich Ihnen auch noch einmal die Worte von DEs-
CARTES in Erinnerung ru fen, in denen Bourdieu das Programm der auf-
klärenden, entmystifizierenden Wissenschaft liest:
" Ich bi llige es nicht, dass man sich zu täuschen versucht, indem man
sich falschen Einbildungen hingibt. Weil ich sehe, dass es vollkom-
mener ist, die Wahrheit zu kennen, als sie nicht zu kennen, und
selbst wenn sie uns zum Nachteil gereichte, geste he ich offen, dass
es besser ist, etwas weniger fröhlich zu sein, dafür aber mehr zu wis·
sen.' (Descartes, zit. nach Bourdieu 1984, S. 65)
Was Bourdieu in diesem Zusammenhang der Soz iologie weiter abver-
langt, können sie an anderer! Stelle lesen. Hier möchte ich lediglich
seinen Anspruch an die Intellektuellen herausstellen, den ich dort in
einer Fußnote versteckt habe: Bourdieu betrachtete die Soz iologie als
Kamp f, und von den Intellektuellen forderte er, sich als ..Militanten der
Vernunft.. zu verhalten. Wem das zu anstrengend ist, sollte wenigstens
1 Vgl. Band I, Kap. 2.4 ..Soziologie wozu? Eine modeme Debatte", S. 6 1 Anm. 1.
9 Unversöhnlich 393
ab und an einhalten in seinem Denken des " Und so weiter" und sich
vorstellen, wie es gekommen wäre und wie es weitergehen würde,
wenn man sich auf den zweiten Blick a la Luhmann (Luhmann 1979, S.
170) einließe oder sich von Webers Ermunterung anstecken ließe, " sich
gegenüber den jeweilig herrschenden Idealen, auch den majestätischs-
ten, einen kühlen Kopf im Sinn der persönlichen Fähigkeit zu bewah-
ren, nötigenfalls »gegen den Strom zu schwimrnenc" (Webe r 1917, S.
394).
Wenn Sie j etzt noch einmal nachlesen, was ich im ersten Band in
Kap. 2.6 über eine mögliche fünfte Aufgabe der Soziologie geschrieben
habe, dann sollte deutlich geworden sein, was ich mir von dieser Ein-
führung in die Soziologie verspreche. Soziologie hat etwas mit Ver-
antwortung zu tun - für uns, für die Gesellschaft und auch für ganz
konkrete Andere. Und wenn Sie das hier und jetzt auch so sehen, sozio-
logisches Wissen also nicht nur für irgendeine Prüfung aufhäufen, son-
dern auch in die Humanisierung der Welt investieren zu wollen, dann
will ich gerne noch einmal erklären, warum ich Ihnen zugemutet habe,
die Dinge immer wieder von einer neuen Seite aus zu betrachten und
von keiner Theorie die endgültige Erklärung zu erwarten: Ich wollte
einem beweglichen Denken eine Richtung weisen. Der schon am Ende
des ersten Bandes zitierte kluge Beobachter der kleinen und großen
Dinge der Welt hat sie so bestimmt: " Wir dürfen die Dinge nicht so
sehen, wie sie sind, sondern wie sie sein sollen."!
Sogar ganz am Schluss, wo doch alles gerundet sein sollte, muss ich wieder mal
um Hilfe bitten: Wo steht das bei Bemard Shaw? Frank Brockmeier hat inzwi-
schen herausgefunden, dass es genau umgekehrt in "The Devil's Dicticnary'
(1906) des amerikanischen Zynikers und Satirikers Ambrose G. Bierce heißt:
.Endeavor to see things as they are, not as they ought to be." Vielleichi bezog sich
Shaw ja gerade auf diesen Satz. Jedenfalls gefällt mir Shaws Kritik, wenn sie denn
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Gliederung Band I: Der Bliek auf die Gesellschaft
1 Soziologisches Denken
1.1 Die Kunst des Misstrauens und die Lehre vom zweiten Blick
1.2 I-lintergrundannahmen und Wertfreiheit
1.3 Weber: Die Konstruktion des Idealtypus
1.4 Weber: Was Wissenscha ft leisten kann und was nicht
1.5 Reflektierte Gewi ssheit
2 W as ist Soziolo gie und was ist ihre Aufgabe?
2.1 Zugänge zur Soziologie
2.2 Was ist eigentlich nicht Gegenstand der Soziologie?
2.3 Soziologie wozu? Drei klassische Antworten
2.4 Soziologie wozu? Eine modem e Debatte
2.5 Wann Soziologie beginnt und warum sie nicht endet
2.6 Was tut ein Soziologe und was ist se ine Aufgabe?
2.7 Zwei grundsätzliche soziologische Perspektiven
3 Soziale Ordnung oder: Wie ist Gesellschaft möglich ?
3.1 Hobbes: Die Furcht vor dem Lev iathan
3.2 Rousseau: Gesellschaftsvertrag und moralische Freiheit
3.3 Schottische Moralphilosophie: Erfahrungen und Gewohn heiten
3.4 Spencer: Fortlaufende Differenzi erung und Integra tion
3.5 Simmel: Verdichtung von Wechselwirkungen zu einer Form
3.6 Durkhcim: Mechanische und organ ische Solidarität
3.7 Weber: Handeln unter der Vorstellun g einer geltenden Ordnung
3.8 Mead: Gesellschaft - Ordnung als Diskurs
3.9 Parsons: Nonnative Integration
3.10 Berger u. Luckmann: Gese llschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
4 Institution
4.1 Durkheim: Soziale Ta tsachen
4.2 Sumner: Folkways, Mores, Institutions
4.3 Malinow ski: Abgele itete Bedürfnisse und die soziale Organisation
des Verhaltens
4.4 Mead: Institution als organisierte Fonn des Handeins
4.5 Parsons: Nonna tive Muster
4.6 Gehlen: Institutionen - sich feststellende Gewohnheiten
4.7 Berger u. Luckmann: Habitualisierung und Institutionalisierung
4.8 Die Geltung von Institutionen und Rituale der Rebellion
5 Organisation
5.1 Wurz eln des organisationssoziologischen Dcnkens
5.2 Bewusstes Zusamm enwirken zu einem bestimmten Zweck
414 Gliederung Band 1: Der Blick auf die Gesellschaft
Personenregister
Sac hregister
Definition der S ituation (s. auch T ho- ideale Form der Verständigung
mas-T heorem) (Kap.5 .9) 183
in der Interaktion 185.209, 212, Distanz
229 f., 312, 356f., des Fremden 255
institutionelle Definitio n der S ituati- zur No twendigke it, ästhetische E in-
on 173 stellung 306f.
kulturelle Definition der Situation Rollend istanz (s. d.)
360 Distinktion 305, 3 11f.
Defizith ypothese (s. Sprac he) dokume ntarische Methode der Inter-
demonstrativer Konsum. Müßiggang preta tion 223f.
(Kap. 7.3) 307,3 11 Dualität der Struktur (Kap. 4.5) 136,
Denken 22,2 6,33 4[ ,336 159, 167
im Alltag 110, 22 lf.• 314, 393 Dunkel ziffer, Nutzen der 56
bewe gliches Denken 393 dysfunktional 12 1
Erklärung des Verhaltens 83, 197,
199f., 334f. Egoism us 24f., 28, 246f.
G ruppe prägt das Denken 26 1, 277, - Natur des Mensche n 20, 57f., 6 1f.
304 • egoistischer Selbstmord 24f., 27
Muster des norm alen Denk ens 22 1, E hre
234 Mittel zur Erhalt ung de r Gruppe
Denken in natürlicher Einstellung 252 f.
2 19, 222, 314 Anm. I Geist ei ner Gruppe 245 ,252f.
selbst denken 23 Reichtum und Konsum verleihen
sozio logisches 1Of., 393 Eh re 298, 300
standortgebunden 349 Ver lust 24
w erte als Rahme n des Den kens Eigentu m
15f. Geschichte des Eigentums 297f.
Deutungen. Struktur der D. 167 • ökonomisches Kapital 303
Differenzhypothese (s. Sprache) • Statuskriterium 289
Differenzierung Eindi me nsionierung 362
der Fun ktione n 20, 342, 36 1 Einkomm en, Statuskriterium 289f.,
der Gese llschaft 47, 324 , 327, 361 294
der Identität (s. d.) 366 Einstellun g
Ind ivid ualität, Indiv iduali sierung ästhetische 305f., 308
258,364,366 Habitus, kulturelles Kapital 304
soz iale 93, 286, 28 8, 302, 304, 307 wec hselseitige 191,193ff.
stru kturelle 248, 360 Denke n in natürlicher Einstellung
des Verhaltens 34,245 219, 222,3 14
Diskrepanztheorem. Ide ntitätstheore m gemeinsa me 269, 27 1f.
130f. Wertewandel 46 , 49
Diskurs elabo rierter Code (s. Sprac he)
Demokratie als universeller Diskurs Elite, poslm aterialistisc he Werte 42
27, 32,89 Emergenz 99 ,2 14
Sac hregis ter 421
Struktur funktionalismus 33, 103, impulsives 337 f., 340 (s. auch I)
lOS, 148ff., 202 , 204 re flektiertes 87, 338 ff (s. auch me)
symbolischer Interaktionism us 185, Ich-Identität (Kap. 8.7) 324,340,
209· 213 368,373
Handlungsa lternativen 191, 198 (s. Ich-Qualit ät ode r Grundhaltung 367
auch pattern variables) Ich-Stärke 368
Handlungsbegriffe, vier (Kap. 4.7) ideale Sprechsituation 238f.
Handlungsfolgen. intendierte, nich t- Idealisierungen
intend ierte 135, 167, 174,209 "ich kann imme r wieder", ..und so
Anm . I weiter" 175f., 225f. , 313 Anm.
Handlungsorientierungen (s. pattem Kongru enz der Rele vanzsys teme.
variab les) Vertau schba rkeit der Standpunkte
Handlun gssituation 226, 235,313 Arun. [s. auch Per-
besti mmen 151f., 158 spektiven, Generahh ese]
Deutung, Verständi gu ng 182,230 Konti nuität, Wiederholbarkeit 225
frami ng (s. d.] 177 Idealtypus 147
Prinzip , generalisierter Anderer 201 Identifikation, Identifizieru ng
Sinn verleihen 138 Bedü rfnis des Jugendlichen 375f.
Strukturierung 171, 177 des Individuums durch andere 338 f.
Il andl ungssystem mit der Grupp e 35,55, 114, 259,
allgemeines 148 27 1,277,37 1 (s. auch Bezugsgrup-
• Struktur [s. Struktur, sozial e) pe)
- Subsysteme (s. d.) Identität, sich mit anderen identifi-
Hand lungstheorie (Kap . 4.4 ) (s. auch zieren und sich ident ifizieren lassen
Hand1ungsbegriffe, vier) 37Of.
Akteurt heorien [s. d.) mit der Mutter 94
interaktionisrische 98, 199 mit de m Vater 64,94
kommunikati ves Handeln [s. d.) Entide ntifiaienmg 32 1
231 Identität (Kap. 8)
stru kturfunktionalistisc he 135, 149, biographische Ident ität, fort laufende
151, 198 Konstrukt ion 321
Hawthome-Studie 279 Definition en 320,322, 382f.
Hedonismus 44 einzigartig und norma l 317 Anm.,
herrsc hafts freie Sprechsituation 239 323,358
homo dupl ex 61, 65, 92 Arun. ide ntitätsfördernde Fähigkeiten 228,
homo homini lupus 66 407f.
homo oeconomicus 174 Funktionsbegriff, Struktur begriff
homo sociologicus (Kap. 3.3) 102, 365
120ff., 126, 158, 175 gelun gene 324
human relation s 279 Ich-Identität (s. d.)
im Lebenszyklus (Ka p. 8.6)
I 337f., 340, 378 (s. auch Ich, impul- mode m e Identität: offen, d ifferen-
sives) z iert, reflexiv, ind ividuiert (Ka p.
Ich 8.8)
·2. Sachregister
sich selbst Obj ekt sein 336 Innovation und Anc mie 53, 112
persönliche 28, 373, 376, 378 Instinkte
rigide 48, 387 erlerntes Verhalten 79
soziale (Kap. 7.5) 28, 319, 338, Kultur ist Instinktrepression 74
358 f. Kultur als Kompensation für In-
Kontinuität über Statusü bergänge stinkte 125
hinweg 320 Institutionen
virtuelle 315f. Gestalt gewordcne Norme n 5 1
funktionale r Wandel 48 Netzwerke von Handlungen 213
Identitätskr ise (Kap. 8.8) 323 organisierte Haltungen 87, 89
• permanente Krise 385 soziale Tatsachen 20ff., 169, 184
Identitätstheorem. Diskrepanztheorem kulturelles System 106, 360
13üff. totale 32 1, 349
impression man ageme nt 348,350,352 überformen die Natur des Menschen
Index, Indexikalität, Indiz es 223 7.
indexi kale Äußerungen 223f. Integration
- entindexikahs iere n 224 einer Gemeinschaft 24f., 246ff.
- Sta tusindex (5. d.} gese llscha ftliche 54, 147
Individualisierung 13 normative (s. d.)
als Ausdru ck der Individualität 62, Grundfunktion des Systems 104
252, 258,364,366 Anm., 365 (s. auch AGIL-Schema)
als Vereinzelung 13,375 Integrationstheorem, Repressionstheo-
Individualismus, methodelogischer (5. rem 130fT.
d.) Integrationstheorie 120f. (s. auch
individualistische Theorien des Han- Integrationstheorem)
delns 16Of. intendierte, nicht-intendierte Hand-
Individualität lungsfolgen [s. d.)
Anspruch 325,386 Intentionalitätserwartung 237
in der arbeitsteilige n Gesellschaft Interaktion (Kap. 5)
62 Definition 184
Auße nle itung 346 encounter 352
gegenüber sozialen Erwartungen gelingende (Kap. 5.8) 107,1 84,
und Ro llen 96,100,11 9, 131 186,200[, 2 19-226, 234
großstädtische Individualität 327, bei Go ffman 352[
330-333 als Interpretation 98, 182,1 85, 209,
in der Gruppe 19 1, 255-258 213
individuelles Gesetz , Tragödie der fortlaufende Kommunikation, wech-
Kultur 326, 328f. selse itiges Handeln 196, 2 10
im Schnittpunkt sozialer Kreise kommunikatives Handeln (s. d.)
258, 323 ,326ff. 230,235
individuelles Gesetz (Kap . 8.1) 323 Rollenübernalune 27 f., 88
Initiation 72ff. soziale Beziehung 194
Inklusion 216ff., 252, 372 soziales Handeln (s. d.) 133, 143,
Innenleitung 110f., 343, 345ff., 350 180,1 86, 192[ , 203
Sachregister 425
soziale Systeme als stabile Muster der Systeme und Rollen erschwert
von Interaktionen 158 Identität 36 1f., 365, 382
symbolische (s. d.) Konflikt
symmetrische 230, 238 Individuum und Gesellschaft 121
Thema, Typenprogramm (s. d.) Kemkonflikte nach Erikson 367·
mit unsichtbaren Dritten 213,280, 313
356 der modernen Kultur 329
Interesse an Verständigung 230f., Ödipus-Konflikt (s. d.)
240 Prinzip des Sozialen 121
Interaktionsmedien 205 Rollenkonflikt (5. d.)
Interaktionssysteme (Kap. 5.6) 185, Vater, Sohn 64, 68, 70f., 94
202f., 36 1, 363 Konflikttheorie 121, 214
Interdependenz Konformität
• der Akteure 135, 167, 174 Demonstration eines neuen Status
- der Institutionen 128 296
Internalisierung 53, 6 If., 9 1f., 95, 109, Verhaltensform 112
13 1, 147 Konformitätstheorem 13 1r;
Interpretation Konkurrenz
- dokumentarische Methode (s. d.) der Interessen und Ziele 149f., 16 1,
- als Interaktion (s. Interaktion) 166, 188, 246, 256f., 346
interpretatives Paradigma 11, 185, 218 zwischen Gruppen 255f., 272, 274
Inzesttabu 93f. äußere K., Tendenz der Gruppe zur
Konservierung ihrer Form 255f.
Kapitalsorten: Bildungskapital, kultu- Konfiguration, Form sozialer Bezie-
relles, ökonomisches, soziales 303f. hung 188, 194, 325
Klassenbewusstsein , Klassen- im Wechsel der Generationen 69f.
Unbewusstsein 3 12 Natur des Menschen
Klassengesellschaft 303f., 3 12 Konsens
Klassenkampf, kultureller 303, 305, • ÜberschälZUng des 2 12Anm.
3 11 • wahrer und falscher 239
Kollektivbewusstsein 21, 50, 54, 62, Konsum 44, 126, 233, 311, 344
233, 278 - demonstrativer (Kap. 7.3) 307,3 1I
Kolonialisierung der Lebensweit 233f. Kontingenz (Kap. 5.4) 108, 139, 238
Kommunikation [s. auch Erwartungen)
unter Anwesenden (Kap. 5.6) • doppelte Kontingenz 108, 206
• bei Mead 27, 32, 83, 87fT.,.I 96-200, Kontrolle
333 Ausdruckskontrolle 355
kommunikatives Handeln (Kap. 5.9) äußere, innere 53
180, 182f., 186 in der Gruppe 249,258,26 1, 270
• Geltungsansprüche (s. d.) des Handeins 90, 123, 131, 205,
Komplexität 320,339,365
Kontingenz 139 Kontrollhierarchie der Systeme 33,
Reduktion 138fT.,215 (5. auch 364
Sinn, Reduktion) Macht als K. der Ressourcen 166
426 Sachregister
Machtdifferen tial 274 ff. Gruppe als Quelle der Moral 248f.•
Macht ver hält nisse 12 1. 127 259 . 261
Erk lärung gese llsc haftlicher O rd- moralische Ge fühle (Kap. 6 . 1), 26 1
nung 149 moralische Se ite des Menschen 6 1f.
Status 289. 29 1f.. 298 Kollekti vbe wusstsein 2 1.51
Cha nce der Strukturierung 170 f. mora lisc he Regel n 22. 51 . 124
Mangel hypothese (s. Wenewa ndel) Moralphilosophie. schott ische l 60 f.•
Ma ske 120 . 318. 35 1f. 277 . 345
Massen med ien 344. 38 1 Moralw issen schaften 5 1
me 87.337-3 40.378 (s. auc h Ich. Motivation
reflekti ertes) und Handel n 89 .95. 105. 157.
- Ged äch tnisbild des Ich 338 203f.• 363
Med ien Soz ialisat ion. Herstellung fu nkt io na-
abs trakte. generalis ierte 47. 204 f.• ler M . (Kap. 2.6) 59. 109 . 360
364 T heor ie der Motivatio nsprozesse
Interaktio nsmed ien 205 9 1f.. 109f.
Methoden. pr aktische im Alltag 220 f. Motive des H andel ns (s. Handel n.
me thodelogischer Individualismus 12 . Be stimm ungsgründe)
135. 159 . 168. 173 M üßiggang. de monstra ti ver (Kap . 7.3 )
M ilieu 307.3 11
Lern e n. Sozi alisation 78ff.
Beru fsgruppe n als moralische s 247 Narz issmus der kle inen D ifferenzen
Verwiesensein au f ei n soziales Mi- 274
lieu 190 normal, No rmalität
mind 334 d urchsc hnittlic hes Ver halte n 22
M ittel . institutionalisierte 112f.• 173 Normale und Diskred itierte 3 16f.•
Anm. 350
Mode Einzigart igke it und Normalität 323 .
• law o ffas hio n 277 358
- Statussymbo le 295 norm ale Erwartu ngen. typ ische
Mod erne No rma lität 222f.. 3 13ft.. 378
Identität in der Mod erne (Kap . 8.8) Gewohn heit 175
323.330 .359.364.390 Identität (s . d .)
Individualität 327.330. 332 f. Normalitäts annahmen im Alltag
krit isch e T heori e 232 f. 220f.
Ko nflikt de r modernen Ku ltur (s. Schei nnorma lität 317 Anm.• 358 f.•
Kultur. Konflikt) 378 (s. auch phanto m normaley)
Po stmoderne (s. d.) normative Erw artungen (s. Erwart un-
Rationalisierung. Versachlichung, gen)
Öko no mie 232.247. 262.30 2 nor mative Integrat ion (Ka p. 1.8) 101.
Sozi alc harakter. Außen leitun g 110. 147. 201
30 1,324 . 340f.. 344. 347 . 350 normative Muster 36. 106 . 108. 150 f.
Mora l nor matives Parad igma 11. 158.1 85 .
• Arbeits mora l 2 83f. 207
428 Sachregister