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„Unheimliche Heimat“
Warum nach Ernst Bloch Heimat erst entsteht1
Beat Dietschy

Einleitung: Heimlich-Unheimliches an Heimat


Heimat muss von germanisch „Heim“ kommen, und das bedeutet so viel wie Welt, Erde,
Wesen, Boden, Wohnung, Siedlung, Sicherheit, aber auch Stammsitz und Erbsitz.2 In jedem
Fall klingt im Wort viel von „Daheim-Sein“, Zuhause sein an. Die emotionale Farbe ist
deutlich, - nicht nur, wenn auf dem Heimetli eingraviert ist: „Es kann im Leben nicht
Schöneres als die Heimat geben“.3
Das klingt alles recht „heimelig“. Doch kann Heimat auch un-heimlich werden. Dann vor
allem, wenn sie sich mit Volk und Vaterland verbindet, wie das in Deutschland seit dem
deutsch-französischen Krieg und dann im Ersten Weltkrieg der Fall war. Und dann im
Nationalsozialismus, wo „Nationalpathos aus Blut“ und Herrenrasse dazu kam. Auf diese
unheimliche Seite von Heimat im Politischen möchte ich im Folgenden als erstes eingehen.
(Das Unheimliche hat aber auch eine psychische Dimension4 Darauf können wir eventuell in
der Diskussion noch kommen.)
Es gibt also Gründe, dem Heimatlichen auch mit Misstrauen zu begegnen. Insbesondere für
die Linke war der Begriff tabu. Sie hat lange Zeit einen grossen Bogen darum gemacht. Nicht
so Ernst Bloch. Er hat sich damit intensiv auseinandergesetzt. Etwas weniger mit der
offenkundigen Erscheinung von Heimat, wenn man darunter versteht, wo einer oder eine
herkommt. Die Herkunftsheimat hat ihn weniger interessiert.
Heimat ist bei ihm etwas sehr anderes als das, was gemeinhin darunter verstanden wird. Sie
ist für ihn etwas, „worin noch niemand war“! Nicht nur privat, sondern überhaupt: Heimat gibt
es gar nicht. Noch nicht.
Wie es dazu kommt und was das bedeutet, das ist der zweite Punkt, auf den ich eingehen
möchte.
Wie Bloch dazu kommt, das lässt sich am besten in seinem Frühwerk erkennen. Es ist im
expressionistischen Jahrzehnt entstanden und davon erfüllt. Dazu nur ein paar Zitate:
„Die Zeit ist ein … unhaltbares Nebeneinander aus Leere und einsamen Funken“,
heisst es in einem Text aus dem Jahr 1911. „Deutschland hat seine Seele verloren,
die alte winklige, fromme, traumerfüllte“ (XI 15).
Dann im Vademecum für heutige Demokraten (1918):

1
Vortrag am 29.5.2017 im Rahmen der Reihe „Heimat?!“ im Kirchgemeindehaus Zürich-Aussersihl.
2
Vgl. Francesca Vidal: Heimat – Worin noch niemand war?, in: Bloch-Jahrbuch 2005, 123f. und dies.: Heimat
und Migration oder: Der Versuch Heimat als etwas zu sehen, worin noch niemand war, Fachtagung
28. April 2007, Ernst-Bloch-Zentrum, Ludwigshafen
3
Gesehen in der Nähe von Zweisimmen.
4
Vgl. Sigmund Freud, Das Unheimliche (1919), in: Studienausgabe, Bd. IV: Psychologische
Schriften, Frankfurt a.M. 1970, S. 241-274.
2

„Jetzt steht Deutschland da als eine verfaulte Ruine, in der Geld und Roheit ihren
Totentanz, ihren Bockskult feiern …Deutschland ist eine einzige finstere,
mitternächltiche, knarrende Todesmaschine, in der der Satan haust.“5
Und im Geist der Utopie (1918) heisst es lapidar: „Die Artillerie tötete die Mystik“ (GdU 1,
399). Dagegen begehrt dieses philosophische Manifest des Expressionismus, der Geist der
Utopie, auf: „Mit viel Beethoven außer Hegel im Kopf“6 hat Bloch es mitten im Krieg und
gegen den Krieg und seine Verursacher 1915-17 verfasst. Beethoven bedeutet, wie Bloch im
musikphilosophischen Teil des Werks emphatisch feststellt: „jener wahrhaft symphonisch
ausgeweitete Raum, in dem sich das Wir vernimmt, in dem der zur Brüderlichkeit aufgeteilte
Weltgrund wiederklingt“.7 Die Wortwahl kehrt in ähnlicher Weise in andern Teilen des Werks
wieder und zeigt an, dass ein Ethos, ja eine Mystik der Brüderlichkeit hier prominent wieder
auftreten, die auf dem Pariser Marsfeld und Schillers „Ode an die Freude“ - „Alle Menschen
werden Brüder“ - wie auch im urchchristlichen Gemeindekommunismus beheimatet waren.
In diesem messianisch-apokalyptisch gefärbten „Weltprozess der Wir-Expression“ spielt das
Subjekt eine Schlüsselrolle: „nur in uns selber brennt noch Licht, nicht in der Welt“. Blochs
Hoffnung auf ein anderes Deutschland, eine neue Welt – sie geht trotz Oktoberrevolution
nicht in Erfüllung. Im Gegenteil.

1. Unheimliche Heimat in der Nazizeit (Erbschaft dieser Zeit)


Bloch hat schon früh erkannt, was sich mit Hitler anbahnt: „Man unterschätze nicht den
Gegner, sondern stelle fest, was so vielen eine psychische Tatsache ist und sie begeistert“,
schreibt Bloch bereits 1924 in einem Artikel über Hitlers Gewalt.8 Dieser wird darin als Volks-
Tribun mit religiöser Aura und Suggestionskraft geschildert, der eine „Truppe mit Mythos
geschaffen“9 habe.
„Dem Land steigt alter Saft in längst vergessene Triebe, es nährt Nationalsozialisten und
völkische Mythologen“ (EdZ 55). „Dies geheime Deutschland ist ein riesiger, ein kochender
Behälter von Vergangenheit“ (ebd. 56).

Er erkennt im Nationalsozialismus die Travestie von Sozialismus, eine „windfängerische


Kopie“ allerdings, die als „patriarchalisch-reaktionärer Antikapitalismus“ (1924, 476) diesen
nicht wirklich bedrohe. Zugleich notiert er bereits das ungleichzeitige Material, das sich hier
manifestiert: spukhaft wirke die Bewegung „durch die mitgeführten feudalen Gespenster,
durch die Allianz von kräftig gegenwärtiger Begeisterung mit längst versunkenen
Ritterträumen oder altgermanischem Volkstum aus dem zehnten Jahrhundert“ (ebd., 477).
Im Buch Erbschaft dieser Zeit, das schliesslich 1934 in Zürich erscheinen kann, hat Bloch
seine Analysen und Beobachtungen zur „Mischzeit von Abend und Morgen“ (EdZ 17) in den
zwanziger Jahren zusammengeführt. „Die Zeit fault und kreißt zugleich“ (ebd. 15) lautet die
Diagnose.
Ein Hauptinteresse des Buchs ist es, die Antriebe zu klären, die den Nationalsozialismus
ermöglicht und zu einem „schiefen Statthalter der Revolution“ (EdZ 164) gemacht haben. Es
ist eine Kritik „im Handgemenge“, aber eine profunde, die Mythen und Motiven mit großer
Mobilisierungskraft nachgeht, aus denen die Naziideologen sich bedienen. Ein
Hauptadressat seiner Kritik ist die Linke, namentlich die kommunistische, welche es
5
Vademecum 78
6
Ernst Bloch, in: Philosophie in Selbstdarstellungen, hrsg. von Ludwig J. Pongratz, Bd. I, Hamburg 1975, 2.
7
Ernst Bloch: Geist der Utopie. Erste Fassung, München 1918, Gesamtausgabe Bd. 16, Frankfurt a.M. 1971,
121.
8
E. Bloch: Hitlers Gewalt, in Das Tage-Buch, Nr. 15, April 1924, S. 477.
9
Ebd., S. 475.
3

unterlassen habe, die ambivalenten, aber massenwirksamen antikapitalistischen und


antimechanistischen Gefühlslagen zu bearbeiten. Denn „der kapitalistische Betrieb staut
‚Seele‘, und sie will abfliessen, ja, gegen die Öde und Entmenschung explodieren“ (EdZ 58).
Bloch geht also insbesondere den Phänomenen nach, die von der abstrakten
kapitalistischen Rationalität, aber auch von einem ebenso verdinglichten und verengten
Marxismus ausgelassen werden. Um der „Unterernährung sozialistischer Phantasie“
entgegenzuwirken, fordert er deshalb eine „konkret-materialistische Vernunft“, die „dem
Ganzen der Wirklichkeit gerecht wird“ (ebd., 149). Sie hätte die Themen wie „Leben“,
„Ganzheit“, „Nation“ oder „Reich“, ja selbst „Führer“ oder „Volksgemeinschaft“ neu zu
besetzen und umzufunktionieren (vgl. ebd.,18).
Die Transformation dieser Symbolgebiete scheint ihm gerade deshalb zentral, weil in ihnen
alte unbearbeitete, abgebrochene Geschichte enthalten sei. Gerade das deutsche Heimat-
und Nationalbewusstsein war nicht nur spät entstanden, sondern „durchkreuzt von
mittelalterlichen und feudalen Restbeständen (die ja keine Revolution aus ihrer politischen
Macht entfernt hatte)“ (EdZ 79). Er schenkt also nicht nur den aktuellen ideologischen und
ästhetischen Praktiken zur Herstellung faschistischer Öffentlichkeit Beachtung, sondern
ebenso der Mentalitätsgeschichte und stößt schließlich auf tiefer liegendes „kulturelles
Grundwasser“, auf ältere „Hassbilder“ namentlich den Juden gegenüber oder uralte
Kaiserträume (EdZ 108f.).
Die messianische Hoffnung auf den wiederkehrenden Kaiser, die in der Kyffhäusersage zum
Ausdruck kommt, steht dafür. Dass sie sich auf den Führer übertrage, ist eine der Thesen,
die Bloch in seinem Buch vertrat. Eine andere ist, dass dieser Führerkult gestützt wurde
durch eine völkische Mythologie (EdZ 53) und den Herrenrassemythos: „Nationalpathos aus
Blut“ trat an die Stelle, die im Nachbarland das in der Egalité, LIberté und fraternité der
französischen Revolution begründete „Pathos des Nationalstaats“ einnahm (ebd., 96f).
Oskar Negt und Alexander Kluge haben später in ihrem Buch Geschichte und Eigensinn
ähnliche Überlegungen angestellt, indem sie auf den prekären Zusammenhang zwischen
individueller und kollektiver Identitätsfindung hinwiesen. Das Individuum ist insbesondere in
Krisenzeiten darauf angewiesen, seine eigene Lebensgeschichte einer voraufgehenden,
Sinn und Zusammenhalt stiftenden größeren, nationalen Geschichte einschreiben zu
können. Dies jedoch werde in Frage gestellt, wenn „die Produktionsschritte hierzu historisch
aus Lücken, Fiktionen, Störungen oder Kostümierungen bestehen“.10 Was nicht Realität
wurde - „auch der Prozess, wie Geschichte entsteht“ -, wird „unbewusst gemacht“11 und ruft
imaginäre Ersatzbildungen für die Geschichtslücken auf den Plan: „das vermisste nationale
‚Ich‘ verkörpert sich etwa in der mythischen Gestalt des verborgenen Kaisers oder eines
messianisch auftretenden Führers.12 Mit ihm identifiziert sich nach Freud insbesondere das
Individuum, wenn es in der Masse regrediert und die Fähigkeit der Objektwahl verliert.13
Mit diesen Vertauschungen und Pervertierungen – „Bauernkrieg als Kaiserparade,
Gegenrevolution als Ersatz einen echten“ (EdZ 100) - hat sich Bloch in Erbschaft dieser Zeit

10
Oskar Negt, Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M. 1981, S. 525.
11
Ebd., S. 505.
12
Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel Ungleichzeitigkeit der Geschichte und nationaler Traum, in: Beat Dietschy: Gebrochene
Gegenwart. Ernst Bloch, Ungleichzeitigkeit und das Geschichtsbild der Moderne, Frankfurt a.M. 1988, S. 241ff.
13
Mario Erdheim hat im Anschluss an Freud die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit, den damit verbundenen
Realitätsverlust und die Aufrichtung einer tyrannischen Instanz analysiert (vgl. Mario Erdheim: Die gesellschaftliche
Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess, Frankfurt a. M. 1984, S. 368ff):
Die Projektion des Wunschbildes auf den Herrscher ist dabei mit der Herstellung gesellschaftlich-geschichtlicher
Unbewusstheit eng verbunden: in den Phantasmen des „guten“, vergöttlichten Herrschers findet ein Unbewusstmachen
von Herrschaft statt, weil das Ich der Beherrschten sein anwachsendes Aggressionspotential gegen die Machtträger
abwehren muss.
4

ausführlich auseinandergesetzt. Dazu gehört etwa das Kapitel „Zur Originalgeschichte des
Dritten Reiches“, in dem er im Durchgang durch die Kirchen-, Ketzer- und Geistesgeschichte
der Neuzeit die sozialutopische Bedeutung dieser egalitären Idee einer herrschaftslosen
Zukunft nachzeichnet, die ursprünglich auf Abt Joachim von Fiore zurückgeht und schließlich
im Nationalsozialismus in ihr Gegenteil verkehrt worden ist.
„Uralte Gebiete der Utopie werden so von Veitstänzern besetzt“ (EdZ 65), stellt Bloch fest,
erkennt darin aber nicht bloß Unsinn und „zurückgebliebene Dummheit“, sondern eine
„‘ungleichzeitige Verwilderung‘, dämonische Mythisierung“ (ebd., 69) von Volksaufständen
und Freiheitsbewegungen revolutionärer Abkunft. In der Tat hat Alfred Rosenberg im
Völkischen Beobachter eine Art nationalsozialistischen Messianismus propagiert: zu Beginn
des Jahres 1931 beschrieb er ihn durchaus in religiösen Termini als „gefestigt im Glauben an
seine Sendung, zusammengeschweisst durch das Blut seiner Märtyrer, vor sich die uns alle
beherrschende Traumgestalt des kommenden Reiches“.14
Auf Blochs „rettende Kritik des Mythos“ kann ich jetzt nicht weiter eingehen. Nur so viel dazu:
Dem Zustand irrationaler Berauschung ist nach Bloch nur beizukommen, wenn diese Irratio
nicht ausgegrenzt, sondern zurückgeholt wird. Er fordert dafür einen „Rationalismus des
Irrationalen“, d.h. eine Vernunft, wie sie namentlich in der Kunst zu Hause ist. Damit befasst
sich ein Grossteil des Buchs wie auch des ganzen Oeuvres von Bloch.

Kurzer Exkurs zum heutigen Rechtspopulismus15


Kritischer und ganzheitlicher Vernunftgebrauch ist heute wieder gefragt angesichts von neu
entfachtem Nationalismus und Rechtspopulismus. Vordergründig gibt sich dieser nicht
antikapitalistisch, aber antiglobalistisch.

Mit dem scheinbarem Frontalangriff auf Freihandelspolitiken und transnationale Konzerne


sucht die neue Rechte globalisierungskritische und sozialpolitische Rollen zu besetzen,
welche die Linke in Regierungspositionen vernachlässigt hat. Donald Trump z.B. tritt als
Volkstribun auf, der sich für den kleinen Mann stark macht und ihm mit dem Schlachtruf „Wir
zuerst“ Abhilfe verspricht. Er schwächt die internationale Zusammenarbeit, was die Macht
von Konzernen und Finanzakteuren weiter vermehrt. Die so entstehenden
Demokratiedefizite beklagen die neuen Nationalisten und versprechen, ihren Nationen
wieder volle Souveränität zu verschaffen.

Zugleich formiert sich eine „nationalistische Internationale“. Nach innen versprechen ihre
Mitglieder – von Marine Le Pen bis Frauke Petry, Trump bis Erdogan – dem Volk: „wir
werden Euch die Macht zurückgeben“. Dieser Rechtspopulismus erweist sich aber – so
könnte man mit Bloch sagen - als schiefer Statthalter von realer Demokratie. Er ist ein
autoritäres Surrogat, das verhindert, dass sich das Volk demokratisch artikuliert.

Es ist kein Zufall, dass an der Spitze dieser Parteien und Bewegungen Figuren mit
autokratischen Zügen wie Erdoğan, Trump, Orbán oder Blocher zu finden sind. Gerade mit
ihrer von Regel- und Tabubrüchen gekennzeichneten Anti-Politik bieten sie sich gleichzeitig
als die Retter im Chaos an. Die (berechtigte) Verlust-Angst von Mittelschichten verstärken
und beantworten sie mit Verteidigung des „Eigenen“, mit autoritärer „Herr im eigenen Haus“-

14
Alfred Rosenberg: Verfall, zitiert in: Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und
Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933, München 2008, S. 347.
15
Das Folgende wird ausführlicher behandelt in: B. Dietschy: Was macht nationalistische Bewegungen
attraktiv? In: Georg Wenz und Klaus Kufeld (Hg.), Die neuen Wirren des Nationalismus, Ludwigshafen 2017.
5

Politik und einer Volksgemeinschaft: „Die Franzosen wollen sich wieder als Besitzer von
Frankreich fühlen“ (Le Pen).

Rechtspopulismus ist Volksidolatrie. Er verherrlicht ein imaginäres Volk, das durch


Führerfiguren repräsentiert und autorisiert wird. Kennzeichnend für dieses Volksverständnis
sind ein als homogen gedachter Volkskörper und ein absolutistischer Wahrheitsanspruch
(„das Volk hat immer recht“, wie Blocher zu sagen pflegt). Die Einheit dieses Körpers wird
durch den Ausschluss „kulturell“ Anderer, von „Fremdkörpern im Volkskörper“ hergestellt.
Das geschieht entlang von kulturellen und ethnischen Grenzen im Falle von Immigration
oder religiösen, wenn eine Religion wie der Islam unter Pauschalverdacht gestellt wird.
Dabei sind auch Geschlechterkonstruktionen dienlich (Jüngstes Beispiel: Thomas de
Maizière‘s Leitkulturslogan „Wir sind nicht Burka“).

Mit Žižek könnte man sagen: „Klassenkampf“ wird heute umgedeutet in einen Kulturkampf
unveränderbarer Identitäten. Diese Neu-Rahmung macht der nationalistische
Rechtspopulismus, indem er die soziale Frage besetzt und in ein Verteilungsproblem
zwischen „Innen und Aussen“, zwischen der eigenen und den fremden Kulturen umwandelt
und mit kultureller Differenz rechtfertigt. Nebenbei ermöglicht das einen als Kulturkampf
getarnten „Rassismus ohne Rassenbegriff“. Die Selektion nach Herkunft und essentialistisch
gedachter „Volkszugehörigkeit“ geht aber weiter.

Heimatdiskurse
Die Rede von Heimat bewegt sich teilweise auf demselben Feld, das sich heute wieder als
ein Minenfeld erweist. Allerdings kann sehr unterschiedlich von Heimat gesprochen werden.
Burghart Schmidt hat an einer Bloch-Tagung 1989 darauf hingewiesen. Gewissermassen „im
standesamtlichen Sinn“ von seiner Heimatstadt zu sprechen sei unbedenklich. Schmidt
warnte aber vor der gängigen Verwechslung der Heimat mit Identität und Zugehörigkeit.16
Dann sei Identifizieren angelangt und höre auf, die erlangte Identität „wieder wegzureissen,
so wie das Tidenmeer Land aufspült und Land überschwemmt, zurücknimmt“.17 Solche
Identität ist meist verbunden mit dem Versuch, das Fremde und die Fremdheit
auszuschliessen, ja auszurotten. Wie das heute wieder in den rechtspopulistischen
Identitätspolitiken propagiert wird, die rigide zwischen „Wir“ und „Sie“ trennen. Sie arbeiten
mit Identifikationen mit dem Eigenen, dem Boden, der Nation, dem Volk, - die stets andere
davon ausschliessen.
Selbst in den neuesten Varianten, die durchaus einen „Ethnopluralismus“ anerkennen, ist
dies der Fall. Doch wird der Pluralismus von Kulturen dabei nur scheinbar bejaht, dienen
doch die Fremdkulturen nicht als Argument für interkulturelle Beziehungen. Ethnopluralismus
meint vielmehr: jeder und jede soll seine Kultur da (und nur da) leben können, wo er oder sie
herkommt.

2. Was bedeutet Heimat, „worin noch niemand war“?

Blochs Heimatbegriff ist da ziemlich anders. Er spricht von Heimat als etwas, „worin noch
niemand war“. Was hat es damit auf sich, wie kommt er darauf? Das will ich nun im zweiten

16
Burghart Schmidt: Zur gängigen Verwechslung der Heimat mit Identität und Zugehörigkeit, in: Ernst Bloch
und die Heimat. Vorträge des interdisziplinären Kolloquiums, Jahresheft der Ernst-Bloch-Gesellschaft,
Ludwigshafen 1989, S. 3-11.
17
Ebd., S. 3.
6

Teil erläutern. Ich beziehe mich dabei auf die berühmten Schlusssätze des Prinzip Hoffnung
und will daran fünf Punkte hervorheben. Die Sätze lauten:
„Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten
umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne
Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt
etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (PH 1628)
Geschrieben hat Bloch am PH in den Jahren des amerikanischen Exils (1938-1949),
insbesondere 1947. In diesem Jahr erschien im Exilverlag Aurora in New York Freiheit und
Ordnung, das bereits mit diesen erwähnten Sätzen endet.[In seiner Zeit in der DDR hat
Bloch einiges überarbeitet. Publiziert wurden im Ostberliner Aufbau-Verlag 1954 und 1955
Band 1 und 2, 1959 dann Band 3. 1959 das ganze Werk auch bei Suhrkamp.
Das dreibändige Werk endet damit, was bedeutet, dass hier die Zuspitzung in einer Coda
erfolgt, die zeigt, worauf alles hinausläuft. Wenn auf den letzten Seiten von Heimat die Rede
ist, ja das letzte Wort - nach einem Doppelpunkt – „Heimat“ ist, so unterstreicht das noch
einmal, welche zentrale Bedeutung ihr zukommt. Auch im Vorwort heisst es schon: „das
Grundthema der Philosophie, die bleibt und ist, indem sie wird, ist die noch ungewordene,
noch ungelungene Heimat“ (PH 8).
Heimat, die erst kommt. Das ist doch sehr ungewohnt. Die allermeisten – das zeigen
Befragungen - verbinden „Heimat“ mit etwas Gegebenem oder Vergangenem, nicht mit
Zukunft. Haben wir es mit einer romantischen Idee zu tun? Im Sinne von Novalis, der auf die
Frage: „Wohin gehen wir?” bekanntlich die Antwort gab: „Immer nach Hause”. Doch genau
diese Rückkehrsehnsucht lehnt Bloch kategorisch ab: Seine Heimatkunde bezieht sich
radikal auf noch nicht Vorhandenes. Nicht auf eine gewesene oder noch bestehende
Verwurzelung.
Nimmt Bloch ein religiöses Narrativ auf? Dafür spricht einiges. „Heinrich Böll soll einmal
gesagt haben, ein religiöser Mensch sei daran zu erkennen, dass er sich in dieser Welt nie
ganz daheim fühlt – er hat das Bewusstsein, dass alles Positive, was er mit dem
Beheimatsein verbindet, noch nicht gegeben ist, aber kommen wird.“18
Das messianische, auf das Kommen des Messias bezogene Hoffen ist Bloch tatsächlich
nicht fremd. Wir haben es bereits im frühen Geist der Utopie angetroffen. Auch in den
Spuren treffen wir das Motiv in einer nacherzählten persischen Legende an: »Ich wollte dich
nach Hause führen, wo du noch niemals warst“ sagt darin der fremde Musiker zum
Mädchen, das aus dem Gefängnis des väterlichen Hauses ausbrechen will. Die Sehnsucht
nach dem Niegewesenen und einer „urvertrauten“ Fremde ist in ihm erwacht.19
Doch Bloch transformiert alles, was er als beerbbar ansieht. Er verwandelt Mythos, Religion
und Kunst. Zu achten ist daher eher darauf, was er daraus macht. Selbst wenn es sich in
den Augen einiger um Missverständnisse handeln sollte. Es gibt, wie er gern betonnte, auch
„produktive Missverständnisse“. Lesen wir also genau, was Bloch in diesen sehr
komprimierten Schlusssätzen des Prinzip Hoffnung sagt.

1) Arbeit an Heimat
Zunächst fällt auf, dass hier von Schaffen und Arbeit die Rede ist. „Die Wurzel der
Geschichte ist der arbeitende Mensch“. Man könnte das als Hommage an die

18
Vgl. F. Vidal: Fachtagung.
19
„Fremdes Zuhause, urvertraute Fremde“ , Spuren, 81.
7

Arbeiterbewegung verstehen. Oder gar an den Proletkult des Sowjetmarxismus? Doch


stammt diese Formulierung aus der in den USA publizierten Broschüre Freiheit und Ordnung
(1947).20 In der DDR, im „real-existierenden“ Sozialismus, ergänzt er dann, nicht ohne Spitze
gegen die Herrschenden:
„Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten
umbildende und überholende Mensch.“ (PH 1628, Kursives von BD).
Das Transformieren, Transzendieren und Überschreiten wird also betont. Interessant ist
auch die „Wurzel“. Er spricht gerade nicht von Heimat als Verwurzeltsein. Sondern von
radikal sein: „wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel
fassen“, sagt er im Satz davor. Damit spielt er auf den bekannten Marxsatz an: „Radikal sein
ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch
selbst.“21
Wenn Bloch vom schaffenden, das Gegebene umbildenden Menschen spricht, dann meint er
menschliche Produktivität, Arbeitsvermögen, kollektive geschichtsbildende Kreativität im
gesellschaftlichen Produktionsprozess. Den Menschen, der sich selbst - statt eines
(göttlichen) Schöpfers/Kreators – hervorzubringen sucht und heraussetzt. Der Mensch ist für
Bloch „ein heimatstiftendes Wesen, ein sich selbst stiftendes performatives Wesen“.22

2) „Warum aber ist Heimat nicht da, warum ist sie ein „Utopikum“?
Renate Künast von den deutschen Grünen hat einmal in einer Rede gesagt: „Heimat ist dort,
wo ich selber Ursache bin und nicht Wirkungen ferner, anonymer Gewalten ausgesetzt
bin“23. Das ist vielleicht etwas sehr in der Ich-Form ausgedrückt, verweist aber darauf,
wogegen sich der philosophische Heimatbegriff wendet: gegen die Entfremdung.

Das meint Entfremdung von der natürlichen, von der gebauten technischen Umwelt,
Entfremdung von den Mitmenschen, vom Arbeitsprozess und dem Arbeitsprodukt, und
schließlich Entfremdung von sich selbst. Letztlich geht es um die „Unbewusstheit der
gesellschaftlichen Produktion“, die Marx im Kapital (im Kapitel über den Fetischcharakter der
Ware) als Verdinglichung von gesellschaftlichen Beziehungen analysiert hat: ihre eigenen
Verhältnisse treten den Menschen in der Form fremder, übermächtiger Mächte entgegen.
Hartmut Rosa hat dies in seinem jüngsten Buch24 als das Verlorengehen der Resonanz
zwischen Ich und Welt beschrieben. Die Romantik dichtete gegen diesen Verlust an :
„Manchmal haben wir das Gefühl, die Dinge und Menschen, die uns umgeben, seien uns
vertraut, sie antworten in bejahender Weise auf unsere Empfindungen und Bedürfnisse …
‚die Welt hebt an zu singen, triffst Du nur das Zauberwort‘, dichtet dementsprechend
Eichendorff.“ 25
Aber die Modernisierung ändert laut Rosa viel: „Der vormoderne Mensch, soweit er in einer
vorgegebenen, als Teil einer kosmologischen Ordnung erfahrenen Gesellschaftsform lebte,

20
E. Bloch: Freiheit und Ordnung. Abriss der Sozial-Utopien, New York 1947, S. 190.
21
Karl Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. MEW Band 1, S. 385.
22
Vgl. Heimat, in: Beat Dietschy, Doris Zeilinger u. Rainer E. Zimmermann (Hrsg.): Bloch-Wörterbuch.
Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs, De Gruyter, Berlin/Boston, 168 u. 178.
23
Nach G. Koch, 171.
24
Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016
25
Hartmut Rosa: Heimat im Zeitalter der Globalisierung, in: Giel, Klaus / Obermeier,
Otto-Peter / Reusch, Siegfried (Hrsg.): Heimat. In: der blaue reiter – Journal für Philosophie. Ausgabe 23.
www.derblauereiter.de
8

besetzte gleichsam einen apriorisch, d. h. mit der Geburt definierten festen Platz in einer
„großen Ordnung des Daseins”, zumindest in einer als gegeben erlebten Sozialordnung. Mit
der Moderne löst sich diese unverrückbare Bindung des Subjekts an Raum, Dinge und
Menschen: Finde Deinen eigenen Platz in der Welt! wird zur Grundaufgabe des modernen
(bürgerlichen) Subjekts.“ Die moderne Weltbeziehung kann daher nach Rosa „als Verlust
von Heimat im Sinne einer sicheren Weltverankerung, aber natürlich auch als Chance, den
richtigen, „responsiven” Ort zu finden, erfahren werden.“26
Die Spätmoderne aber beschleunige rasant: „Wohnorte, Berufsstellen,
Lebensabschnittspartner, religiöse und politische Überzeugungen“: nichts mehr ist
lebenslang, ja die Verfallsdauer ist oft sehr kurz. „Der Soziologe Zygmunt Bauman
beobachtet daher die Rückkehr und „Rache” des Nomadischen: Waren die Nicht-Sesshaften
in der „klassischen Moderne” als Obdachlose stigmatisiert, sind heute umgekehrt diejenigen
im Nachteil, die an einer Heimat im Sinne eines festen Wohnorts festhalten.“ Rosa
konstatiert eine Beziehungsentwertung auch gegenüber Artefakten: „Das erste Handy
beispielsweise kannten wir noch sehr genau, seine Farbe, seine Töne, vielleicht seinen
Geruch, alle Funktionen und alle Mängel waren uns bekannt“ – ab dem vierten bleibt es „uns
fremd, wir haben ihm gegenüber womöglich sogar ein schlechtes Gewissen, weil wir uns nie
die Zeit genommen haben, es uns ‚anzuverwandeln‘.“
„Das hohe Tempo des sozialen Lebens der Spätmoderne, so lässt sich daraus
schlussfolgern, führt also tendenziell zu Entfremdung – zum Fremdwerden des Raumes, der
Dinge und Orte, der Menschen und Verhältnisse. Dies birgt aber die Gefahr, dass sich die
Welt in eine kalte, starre, indifferente Oberfläche verwandelt, dass sie uns dauerhaft zu
„tausend Wüsten, stumm und kalt” [Nietzsche: Herbstgedicht „Vereinsamt”] wird, weil nichts
mehr zur Heimat in dem Sinne gerinnt, dass es identitätsstiftende Bedeutung erlangt.“27
Dagegen versuchen wir, uns „stabil zu verankern“, im Beruf, in Lebensgewohnheiten. Auch
Religion soll Halt geben, fundamentalistisch, identitär.

Auf diesem Hintergrund von Verdinglichung und Entfremdung wird verständlich, weshalb
Bloch auf der Ortlosigkeit von Heimat so sehr insistiert: Heimat durch Identifikation mit
bestehenden Verhältnissen suchen zu wollen, verortet, territorialisiert sie. Sie „landet“ dann
in einer Apotheose des Gegebenen, sei es im realen Sozialismus oder in der Identifikation
mit dem je eigenen Vaterland, Führer oder Volk. Das führt zu „identitärer Politik“.
Darum heisst es im PH unmittelbar vor unseren Sätzen:
„Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor
Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang,
sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein
radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen.“28
Das bedeutet aber alles andere als Abwarten. Das Utopische wird bei Bloch konkret – in real
werdender Demokratie:
„Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer
Demokratie begründet, so entsteht in der Welt … Heimat“.
Michael Daxner folgert daraus: „Wenn Demokratie das Verhältnis von Menschen zueinander
und von Menschen zu Dingen darstellt, und wenn Heimat in ihrer Entstehung eine Funktion
von Demokratie ist … , dann trägt sie konstituierend die Strukturen der Demokratie, aber
26
Ebd.
27
Ebd.da
28
Auch damit rekurriert Bloch auf Marx. Vgl. MEW Bd. 13, S. 9.
9

nicht den Ort, wo diese statt hat, in sich“.29


In diesem Sinn kann dann auch gesagt werden: „Heimat ist herstellbar, sie ist das Ergebnis
eines Prozesses, in dem sich Demokratie realisiert“30. Sie liegt in der Perspektive einer
neuen gesellschaftlichen Organisationsform von Arbeit und gesellschaftlichen Beziehungen,
von „Frieden“.
Bloch liefert bewusst kein Heimatbild, an das wir uns halten könnten. Er pinselt keine Utopie
aus. Umgekehrt jedoch erhellt ein Stück weit, was Heimat sein könnte, in jedem Kampf um
reale Demokratie, auch dem gescheiterten. Mit Blochs Worten aus Erbschaft dieser Zeit
gesagt: „Das Vaterland wird erst geboren durch Entfernung seiner Nutzniesser, durch reale
Aufhebung der Klassen“ (EdZ 99).
Beendet werden muss dazu die „Vorgeschichte“, müssen Herrschaftsverhältnisse und
Ausbeutungsverhältnisse, auch gegenüber der Erde. Bloch hat das einmal in den Satz
zusammengefasst: „Aufrechter Gang auf bewohnbarer Erde heisst, - ohne Tyrannei der
Fabrik, ohne Fabrik der Tyrannei“ (NmW 257).
3) Dann „entsteht in der Welt etwas ...: Heimat“
Das bedeutet, dass erst die Voraussetzungen zu schaffen sind für das Ende der
Vorgeschichte, oder positiv: für Geschichte und „Erschaffung der Welt, als einer rechten“.
„Die vergesellschaftete Menschheit im Bund mit einer ihr vermittelten Natur ist der Umbau
der Welt zur Heimat“ (PH 334): das klingt heute beinahe nach Geoengineering und einem
Masterplan für das Weltganze.
Doch was Bloch hier sagt, ist etwas anderes, das gerade im Zeitalter des Anthropozän
höchst relevant ist. Und es richtet sich nicht zuletzt an die Adresse jener Linken, welche
faktisch die soziale Befreiung zum Preis der Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt
ansteuern (Postextraktivismus nennt man diese „Entfesselung der Produktivkräfte“ heute).
Dieses Schmalspurdenken vergisst das „Zukunftsproblem im tragenden, umfassenden Raum
der Heimat: der Natur“31. Es geht also um Umgestaltung der gesellschaftlichen wie auch der
Naturverhältnisse: „menschliche Freiheit und Natur als ihre konkrete Umgebung (Heimat)
bedingen sich wechselseitig“ (PH 1080).
Indem Bloch den Blick aufs Weltganze weitet, rückt freilich auch das Ende der Vorgeschichte
in weitere Ferne und übersteigt bei weitem den Horizont des damals propagierten „Aufbaus
des Sozialismus“. „Die wirkliche Genesis und die Entstehung der Heimat verspricht erst der
Tag, an dem die Entfremdung von Mensch und Natur aufgehoben sein wird.“32
Dagegen könnte man nun einwenden, dass Bloch doch sagt, es entstehe in der Welt etwas,
das bereits allen in die Kindheit scheint. Diesen Satzteil hatte ich bisher ausgelassen. Was
bedeutet er?
4) Was scheint allen in die Kindheit?
Wie das zu verstehen ist, darüber können wir uns gleich austauschen. Nur ein paar erste
Hinweise dazu. Vermutlich sind da nicht einfach private Erinnerungsfetzen an Orte der

29
Michael Daxner: Frieden hat einen Ort, Heimat ist eine Struktur, in: Ernst Bloch und die Heimat, a.a.O., S. 20
30
M. Daxner, a.a.O., S. 21.
31
PH 16. Darum beruft er sich auf der Schlussseite des PH noch einmal auf Marx, indem er gegenüber der
früheren Fassung dieser Schlussätze (vgl. 1947) den Satz einfügt: „Marx bezeichnet als sein letztes Anliegen ‚die
Entwicklung der menschlichen Natur‘; dieser menschliche Reichtum wie der von Natur insgesamt liegt einzig in
der Tendenz-Latenz, worin die Welt sich befindet – vis-à-vis de tout.“ (PH 1628)
32
Ulrich Müller-Schöll und Francesca Vidal: Sein wie Hoffnung. Näherungen an Gelungenheit, in: Rainer E.
Zimmermann: Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Berlin/Boston 2017, S. 381f.
10

frühen Kindheit gemeint. Jedenfalls nicht die räumlich-empirisch verifizierbare Erinnerung:


dieser Gartenhag, jene Türschwelle, eine ganze Kindheitslandschaft. Wenn, dann geht es
eher um Spuren eigener Geschichte und nicht um Orte, wo sie sich abgespielt hat, sagt
Michael Daxner: eine „sozialstrukturelle Anamnese“33also.
Es heisst ja nicht: „was einigen in die Kindheit schien“ (und anderen nicht oder anders). Es
heisst da: „was allen in die Kindheit scheint“. Etwas, was alle kennen und was nicht vorbei
ist, es scheint weiter. Es ist, so denke ich, diese Fähigkeit, die sich bei jedem Kind regt, sich
in die Welt hinein zu begeben, sie für sich zu entdecken und sich anzuverwandeln. „Von früh
auf sucht man. Ist ganz und gar begehrlich.“(PH 21) So beginnt das Prinzip Hoffnung. „Ein
Kind greift nach allem, um zu finden, was es meint. Wirft alles wieder weg, ist ruhelos
neugierig und weiss nicht worauf“ (PH 21). Es beginnt das Hoffen zu lernen.
Diese Art Heimatkunde ist kein Schulfach. Sie ist aber, damit sie gelingen kann, angewiesen
auf Gegenüber, auf Sozialstruktur, oder direkter ausgedrückt: auf den liebevollen Umgang
mit uns, „das Angesprochenwerden, das Angeschautwerden, das Berührtwerden und die
Möglichkeit oder Unmöglichkeit zur aktiven Antwort, zum Widerspruch und zum Wider-
stand“34. Es ist die Suche nach Resonanz, von der Hartmut Rosa spricht.35 Sie scheint uns
zumindest als Sehnsucht in die Kindheit und erwacht in uns als Erinnerung an etwas wie
Heimat.
Diesen Erfahrungsraum gilt es zu kultivieren, nicht die Identifikationen mit imaginären
Ersatzobjekten wie Volk, Vaterland oder Führerfiguren, oder eigene Grössenphantasien.
Erfahrungsraum bedeutet die soziale Interaktion unter Verschiedenen, aber
Gleichberechtigten, bedeutet Demokratie als interkulturelles, herrschafts- und gewaltfreies
Gestaltungsprinzip von Lebenswelt, Gesellschaft und Naturbeziehungen und umfasst die
vielfältigen Suchbewegungen, die mit dem Hervorbringen des Neuen verbunden sind.
Diese Kulturleistungen speisen sich aus dem Vor-Schein von Heimat, der allen in die
Kindheit scheint.
5) Heimat als Vor-Schein
Das Prinzip Hoffnung lässt sich in diesem Sinne als Hebelsches Schatzkästlein verstehen
oder „als ein Vademecum … für den Heimat-Gewinnungs-Weg. Es ist ein Itinerar, d.h. eine
Zusammenstellung von Reiserouten, Zielen, Wegbeschreibungen, Umwegen, Haltepunkten,
Herbergen, Markierungen und navigatorischen Varianten, Berichten von früheren
Reisen(den), in denen der ‚Reisende selbst [...] seine Zurüstung und Ausrüstung, je nach
dem Gelände und Objekt, das er zu bestehen hat‘ (PH 1197), ändert.“36
Es ist eine Heimatkunde des Unterwegs, die kritisch reflektiert, was jeweils historisch
möglich ist, was an Früherem bedenkenswert ist und wo sich unheilvolle Irrwege auftun.
Immer verbunden ist sie mit Veränderung der Gesellschaft, wie sie ist, mit
Selbstveränderung, aber auch mit Antizipation des Noch nicht Seienden.
Ein Beispiel aus der Veränderung der Arbeitswelt: Es ist interessant zu sehen, wie Bloch die
Utopien von „Achtstundentag“ (die Forderung der Arbeiterbewegung), „Welt im Frieden“ (die
Utopie der Friedensbewegungen) und „Freizeit und Musse“ im gleichen Kapitel (Kap. 42)
behandelt. Sie sind für ihn interdependent, denn eine „in sich selbst auf Kampf gestellte,

33
Daxner, a.a.O., S. 15.
34
Daxner, a.a.O. 15.
35
Ernst Blochs Assoziierung von Heimat und Kindheit leuchte „insofern durchaus ein, als Kinder … per se
Resonanzwesen sind, die gar nicht umhin können, die Welt als antwortend zu erfahren“ (H. Rosa: Resonanz,
a.a.O. 605).
36
G. Koch, a.a.O. 187.
11

wesenhaft antagonistische Gesellschaft“ (PH 1048) könne keinen dauerhaften Frieden


hervorbringen. „Die Lanzen werden erst zu Pflugscharen, sobald der Boden, worüber der
Pflug geht, allen gehört“ (PH 1053). Auch die im Kampf um den Achtstundentag intendierte
Befreiung der Arbeit ist keine, wenn sie nicht in die „immer reichere und tiefere Gestaltung
der menschlichen Beziehungen mündet“. Befreite Arbeit, die Bloch „tätige Muße“ der Freizeit
nennt, kann zwar unter den Bedingungen der Vorgeschichte deren Ende vorwegnehmen,
das Freisein von Erwerbszwang und die freiere Ausgestaltung der menschlichen
Beziehungen erlauben. Doch gibt es „gerade in der Muße noch eine mächtige Karriere der
Solidarität“37, die sich erst dann - unter klassenlosen Bedingungen - voll entfalten könne.
Das ist jedoch nicht als Aufschub und Vertagung zu verstehen. Bloch entdeckt Vorschein
oder Vorklang nicht selten unter den herrschenden gleichzeitigen Bedingungen, nämlich in
dem, was zum Kapitalismus sich ungleichzeitig verhält. Solche Einsprengsel anderer Zeiten
findet er etwa in dem, was er „bäurisches Tao“ nennt. Es taucht in den Spuren als
Erinnerung an einen Tag mit einem Freund auf dem Land auf:
„draußen das weite bayrische Land mit Kuppelwolken am unbewegten Himmel, eine
Fliege summte in der Stube, die Bauerntochter klapperte mit dem kräftigen Geschirr.
‚Hören Sie‘, sagte da mein Freund, ‚wie gut das Haus in Gang ist.‘ Und man hörte die
Ruhe, das richtig Eingehängte, wie es läuft, die wohlbekannte Kameradschaft mit den
Dingen … und die taohafte Welt“.38
Ein Bild fernab von heutigen agroindustriellen Betrieben. Johann Peter Hebel brauchte dafür
das Wort „Wäge“. In dem alemannischen Ausdruck ist spürbar: es ist alles „im Lot“: „[…] das
Haus gut im Gang“.39 Ein anderes Haushalten, eine andere Ökonomie klingt darin an. Aber
eben nicht nur als eine Art „heimatbildende Ordnung“ draußen in der Gesellschaft.
Jan Robert Bloch hat darauf hingewiesen: „Im altbäurisch taohaften Haus ist das Haus
selber Ausdruck des inneren Lebens, aus diesem Leben gebaut – sein Stoff ist das
gelungene, gelingende Diesseits der Hausdinge, die in ihm ihren freundlichen,
menschenfreundlichen Platz haben. Drinnen und Draußen stehen im Einklang, Leben und
Welt entsprechen einander wie im chinesischen Vorbild, das Tao genannt wird.“40
Heimat, wie sie in solchen Momenten anklingt, steht für das, was eine menschliche
Verfasstheit der Welt wäre. Man kann daran ablesen, wie Gerd Koch in unserm Bloch-
Wörterbuch sagt, dass „die Stärkung von Menschenwürde und Menschenrechten … ein
Prozess in Richtung auf Heimat und … in ein ‚rebellisch-humanes Heil‘ (PH 1432) ist, der
von ungleichzeitigen existentiellen und historischen Bedingungen einer unfertigen Welt
ausgeht.“41
Siglen:
Die römischen Ziffern beziehen sich auf den Band der Gesamtausgabe der Werke Ernst
Blochs im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.:
GdU 1 = Geist der Utopie, 1. Ausgabe 1918, Bd. XVI
EdZ = Erbschaft dieser Zeit, Bd. IV
NmW = Naturrecht und menschliche Würde, Bd. VI
PH = Das Prinzip Hoffnung, Bd. V

37
PH 1083.
38
Sp 163.
39
Hebel, Gotthelf und bäurisches Tao (1926), in: LA 372.
40
Jan Robert Bloch: Der Faktor Arbeit in der Philosophie Ernst Blochs, in: Francesca Vidal (Hg.): Philosophie und
ArbeitsWelt, Bloch-Jahrbuch 2003, 17.
41
G. Koch, 187f.

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