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„Unheimliche Heimat“
Warum nach Ernst Bloch Heimat erst entsteht1
Beat Dietschy
1
Vortrag am 29.5.2017 im Rahmen der Reihe „Heimat?!“ im Kirchgemeindehaus Zürich-Aussersihl.
2
Vgl. Francesca Vidal: Heimat – Worin noch niemand war?, in: Bloch-Jahrbuch 2005, 123f. und dies.: Heimat
und Migration oder: Der Versuch Heimat als etwas zu sehen, worin noch niemand war, Fachtagung
28. April 2007, Ernst-Bloch-Zentrum, Ludwigshafen
3
Gesehen in der Nähe von Zweisimmen.
4
Vgl. Sigmund Freud, Das Unheimliche (1919), in: Studienausgabe, Bd. IV: Psychologische
Schriften, Frankfurt a.M. 1970, S. 241-274.
2
„Jetzt steht Deutschland da als eine verfaulte Ruine, in der Geld und Roheit ihren
Totentanz, ihren Bockskult feiern …Deutschland ist eine einzige finstere,
mitternächltiche, knarrende Todesmaschine, in der der Satan haust.“5
Und im Geist der Utopie (1918) heisst es lapidar: „Die Artillerie tötete die Mystik“ (GdU 1,
399). Dagegen begehrt dieses philosophische Manifest des Expressionismus, der Geist der
Utopie, auf: „Mit viel Beethoven außer Hegel im Kopf“6 hat Bloch es mitten im Krieg und
gegen den Krieg und seine Verursacher 1915-17 verfasst. Beethoven bedeutet, wie Bloch im
musikphilosophischen Teil des Werks emphatisch feststellt: „jener wahrhaft symphonisch
ausgeweitete Raum, in dem sich das Wir vernimmt, in dem der zur Brüderlichkeit aufgeteilte
Weltgrund wiederklingt“.7 Die Wortwahl kehrt in ähnlicher Weise in andern Teilen des Werks
wieder und zeigt an, dass ein Ethos, ja eine Mystik der Brüderlichkeit hier prominent wieder
auftreten, die auf dem Pariser Marsfeld und Schillers „Ode an die Freude“ - „Alle Menschen
werden Brüder“ - wie auch im urchchristlichen Gemeindekommunismus beheimatet waren.
In diesem messianisch-apokalyptisch gefärbten „Weltprozess der Wir-Expression“ spielt das
Subjekt eine Schlüsselrolle: „nur in uns selber brennt noch Licht, nicht in der Welt“. Blochs
Hoffnung auf ein anderes Deutschland, eine neue Welt – sie geht trotz Oktoberrevolution
nicht in Erfüllung. Im Gegenteil.
10
Oskar Negt, Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M. 1981, S. 525.
11
Ebd., S. 505.
12
Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel Ungleichzeitigkeit der Geschichte und nationaler Traum, in: Beat Dietschy: Gebrochene
Gegenwart. Ernst Bloch, Ungleichzeitigkeit und das Geschichtsbild der Moderne, Frankfurt a.M. 1988, S. 241ff.
13
Mario Erdheim hat im Anschluss an Freud die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit, den damit verbundenen
Realitätsverlust und die Aufrichtung einer tyrannischen Instanz analysiert (vgl. Mario Erdheim: Die gesellschaftliche
Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess, Frankfurt a. M. 1984, S. 368ff):
Die Projektion des Wunschbildes auf den Herrscher ist dabei mit der Herstellung gesellschaftlich-geschichtlicher
Unbewusstheit eng verbunden: in den Phantasmen des „guten“, vergöttlichten Herrschers findet ein Unbewusstmachen
von Herrschaft statt, weil das Ich der Beherrschten sein anwachsendes Aggressionspotential gegen die Machtträger
abwehren muss.
4
ausführlich auseinandergesetzt. Dazu gehört etwa das Kapitel „Zur Originalgeschichte des
Dritten Reiches“, in dem er im Durchgang durch die Kirchen-, Ketzer- und Geistesgeschichte
der Neuzeit die sozialutopische Bedeutung dieser egalitären Idee einer herrschaftslosen
Zukunft nachzeichnet, die ursprünglich auf Abt Joachim von Fiore zurückgeht und schließlich
im Nationalsozialismus in ihr Gegenteil verkehrt worden ist.
„Uralte Gebiete der Utopie werden so von Veitstänzern besetzt“ (EdZ 65), stellt Bloch fest,
erkennt darin aber nicht bloß Unsinn und „zurückgebliebene Dummheit“, sondern eine
„‘ungleichzeitige Verwilderung‘, dämonische Mythisierung“ (ebd., 69) von Volksaufständen
und Freiheitsbewegungen revolutionärer Abkunft. In der Tat hat Alfred Rosenberg im
Völkischen Beobachter eine Art nationalsozialistischen Messianismus propagiert: zu Beginn
des Jahres 1931 beschrieb er ihn durchaus in religiösen Termini als „gefestigt im Glauben an
seine Sendung, zusammengeschweisst durch das Blut seiner Märtyrer, vor sich die uns alle
beherrschende Traumgestalt des kommenden Reiches“.14
Auf Blochs „rettende Kritik des Mythos“ kann ich jetzt nicht weiter eingehen. Nur so viel dazu:
Dem Zustand irrationaler Berauschung ist nach Bloch nur beizukommen, wenn diese Irratio
nicht ausgegrenzt, sondern zurückgeholt wird. Er fordert dafür einen „Rationalismus des
Irrationalen“, d.h. eine Vernunft, wie sie namentlich in der Kunst zu Hause ist. Damit befasst
sich ein Grossteil des Buchs wie auch des ganzen Oeuvres von Bloch.
Zugleich formiert sich eine „nationalistische Internationale“. Nach innen versprechen ihre
Mitglieder – von Marine Le Pen bis Frauke Petry, Trump bis Erdogan – dem Volk: „wir
werden Euch die Macht zurückgeben“. Dieser Rechtspopulismus erweist sich aber – so
könnte man mit Bloch sagen - als schiefer Statthalter von realer Demokratie. Er ist ein
autoritäres Surrogat, das verhindert, dass sich das Volk demokratisch artikuliert.
Es ist kein Zufall, dass an der Spitze dieser Parteien und Bewegungen Figuren mit
autokratischen Zügen wie Erdoğan, Trump, Orbán oder Blocher zu finden sind. Gerade mit
ihrer von Regel- und Tabubrüchen gekennzeichneten Anti-Politik bieten sie sich gleichzeitig
als die Retter im Chaos an. Die (berechtigte) Verlust-Angst von Mittelschichten verstärken
und beantworten sie mit Verteidigung des „Eigenen“, mit autoritärer „Herr im eigenen Haus“-
14
Alfred Rosenberg: Verfall, zitiert in: Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und
Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933, München 2008, S. 347.
15
Das Folgende wird ausführlicher behandelt in: B. Dietschy: Was macht nationalistische Bewegungen
attraktiv? In: Georg Wenz und Klaus Kufeld (Hg.), Die neuen Wirren des Nationalismus, Ludwigshafen 2017.
5
Politik und einer Volksgemeinschaft: „Die Franzosen wollen sich wieder als Besitzer von
Frankreich fühlen“ (Le Pen).
Mit Žižek könnte man sagen: „Klassenkampf“ wird heute umgedeutet in einen Kulturkampf
unveränderbarer Identitäten. Diese Neu-Rahmung macht der nationalistische
Rechtspopulismus, indem er die soziale Frage besetzt und in ein Verteilungsproblem
zwischen „Innen und Aussen“, zwischen der eigenen und den fremden Kulturen umwandelt
und mit kultureller Differenz rechtfertigt. Nebenbei ermöglicht das einen als Kulturkampf
getarnten „Rassismus ohne Rassenbegriff“. Die Selektion nach Herkunft und essentialistisch
gedachter „Volkszugehörigkeit“ geht aber weiter.
Heimatdiskurse
Die Rede von Heimat bewegt sich teilweise auf demselben Feld, das sich heute wieder als
ein Minenfeld erweist. Allerdings kann sehr unterschiedlich von Heimat gesprochen werden.
Burghart Schmidt hat an einer Bloch-Tagung 1989 darauf hingewiesen. Gewissermassen „im
standesamtlichen Sinn“ von seiner Heimatstadt zu sprechen sei unbedenklich. Schmidt
warnte aber vor der gängigen Verwechslung der Heimat mit Identität und Zugehörigkeit.16
Dann sei Identifizieren angelangt und höre auf, die erlangte Identität „wieder wegzureissen,
so wie das Tidenmeer Land aufspült und Land überschwemmt, zurücknimmt“.17 Solche
Identität ist meist verbunden mit dem Versuch, das Fremde und die Fremdheit
auszuschliessen, ja auszurotten. Wie das heute wieder in den rechtspopulistischen
Identitätspolitiken propagiert wird, die rigide zwischen „Wir“ und „Sie“ trennen. Sie arbeiten
mit Identifikationen mit dem Eigenen, dem Boden, der Nation, dem Volk, - die stets andere
davon ausschliessen.
Selbst in den neuesten Varianten, die durchaus einen „Ethnopluralismus“ anerkennen, ist
dies der Fall. Doch wird der Pluralismus von Kulturen dabei nur scheinbar bejaht, dienen
doch die Fremdkulturen nicht als Argument für interkulturelle Beziehungen. Ethnopluralismus
meint vielmehr: jeder und jede soll seine Kultur da (und nur da) leben können, wo er oder sie
herkommt.
Blochs Heimatbegriff ist da ziemlich anders. Er spricht von Heimat als etwas, „worin noch
niemand war“. Was hat es damit auf sich, wie kommt er darauf? Das will ich nun im zweiten
16
Burghart Schmidt: Zur gängigen Verwechslung der Heimat mit Identität und Zugehörigkeit, in: Ernst Bloch
und die Heimat. Vorträge des interdisziplinären Kolloquiums, Jahresheft der Ernst-Bloch-Gesellschaft,
Ludwigshafen 1989, S. 3-11.
17
Ebd., S. 3.
6
Teil erläutern. Ich beziehe mich dabei auf die berühmten Schlusssätze des Prinzip Hoffnung
und will daran fünf Punkte hervorheben. Die Sätze lauten:
„Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten
umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne
Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt
etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (PH 1628)
Geschrieben hat Bloch am PH in den Jahren des amerikanischen Exils (1938-1949),
insbesondere 1947. In diesem Jahr erschien im Exilverlag Aurora in New York Freiheit und
Ordnung, das bereits mit diesen erwähnten Sätzen endet.[In seiner Zeit in der DDR hat
Bloch einiges überarbeitet. Publiziert wurden im Ostberliner Aufbau-Verlag 1954 und 1955
Band 1 und 2, 1959 dann Band 3. 1959 das ganze Werk auch bei Suhrkamp.
Das dreibändige Werk endet damit, was bedeutet, dass hier die Zuspitzung in einer Coda
erfolgt, die zeigt, worauf alles hinausläuft. Wenn auf den letzten Seiten von Heimat die Rede
ist, ja das letzte Wort - nach einem Doppelpunkt – „Heimat“ ist, so unterstreicht das noch
einmal, welche zentrale Bedeutung ihr zukommt. Auch im Vorwort heisst es schon: „das
Grundthema der Philosophie, die bleibt und ist, indem sie wird, ist die noch ungewordene,
noch ungelungene Heimat“ (PH 8).
Heimat, die erst kommt. Das ist doch sehr ungewohnt. Die allermeisten – das zeigen
Befragungen - verbinden „Heimat“ mit etwas Gegebenem oder Vergangenem, nicht mit
Zukunft. Haben wir es mit einer romantischen Idee zu tun? Im Sinne von Novalis, der auf die
Frage: „Wohin gehen wir?” bekanntlich die Antwort gab: „Immer nach Hause”. Doch genau
diese Rückkehrsehnsucht lehnt Bloch kategorisch ab: Seine Heimatkunde bezieht sich
radikal auf noch nicht Vorhandenes. Nicht auf eine gewesene oder noch bestehende
Verwurzelung.
Nimmt Bloch ein religiöses Narrativ auf? Dafür spricht einiges. „Heinrich Böll soll einmal
gesagt haben, ein religiöser Mensch sei daran zu erkennen, dass er sich in dieser Welt nie
ganz daheim fühlt – er hat das Bewusstsein, dass alles Positive, was er mit dem
Beheimatsein verbindet, noch nicht gegeben ist, aber kommen wird.“18
Das messianische, auf das Kommen des Messias bezogene Hoffen ist Bloch tatsächlich
nicht fremd. Wir haben es bereits im frühen Geist der Utopie angetroffen. Auch in den
Spuren treffen wir das Motiv in einer nacherzählten persischen Legende an: »Ich wollte dich
nach Hause führen, wo du noch niemals warst“ sagt darin der fremde Musiker zum
Mädchen, das aus dem Gefängnis des väterlichen Hauses ausbrechen will. Die Sehnsucht
nach dem Niegewesenen und einer „urvertrauten“ Fremde ist in ihm erwacht.19
Doch Bloch transformiert alles, was er als beerbbar ansieht. Er verwandelt Mythos, Religion
und Kunst. Zu achten ist daher eher darauf, was er daraus macht. Selbst wenn es sich in
den Augen einiger um Missverständnisse handeln sollte. Es gibt, wie er gern betonnte, auch
„produktive Missverständnisse“. Lesen wir also genau, was Bloch in diesen sehr
komprimierten Schlusssätzen des Prinzip Hoffnung sagt.
1) Arbeit an Heimat
Zunächst fällt auf, dass hier von Schaffen und Arbeit die Rede ist. „Die Wurzel der
Geschichte ist der arbeitende Mensch“. Man könnte das als Hommage an die
18
Vgl. F. Vidal: Fachtagung.
19
„Fremdes Zuhause, urvertraute Fremde“ , Spuren, 81.
7
2) „Warum aber ist Heimat nicht da, warum ist sie ein „Utopikum“?
Renate Künast von den deutschen Grünen hat einmal in einer Rede gesagt: „Heimat ist dort,
wo ich selber Ursache bin und nicht Wirkungen ferner, anonymer Gewalten ausgesetzt
bin“23. Das ist vielleicht etwas sehr in der Ich-Form ausgedrückt, verweist aber darauf,
wogegen sich der philosophische Heimatbegriff wendet: gegen die Entfremdung.
Das meint Entfremdung von der natürlichen, von der gebauten technischen Umwelt,
Entfremdung von den Mitmenschen, vom Arbeitsprozess und dem Arbeitsprodukt, und
schließlich Entfremdung von sich selbst. Letztlich geht es um die „Unbewusstheit der
gesellschaftlichen Produktion“, die Marx im Kapital (im Kapitel über den Fetischcharakter der
Ware) als Verdinglichung von gesellschaftlichen Beziehungen analysiert hat: ihre eigenen
Verhältnisse treten den Menschen in der Form fremder, übermächtiger Mächte entgegen.
Hartmut Rosa hat dies in seinem jüngsten Buch24 als das Verlorengehen der Resonanz
zwischen Ich und Welt beschrieben. Die Romantik dichtete gegen diesen Verlust an :
„Manchmal haben wir das Gefühl, die Dinge und Menschen, die uns umgeben, seien uns
vertraut, sie antworten in bejahender Weise auf unsere Empfindungen und Bedürfnisse …
‚die Welt hebt an zu singen, triffst Du nur das Zauberwort‘, dichtet dementsprechend
Eichendorff.“ 25
Aber die Modernisierung ändert laut Rosa viel: „Der vormoderne Mensch, soweit er in einer
vorgegebenen, als Teil einer kosmologischen Ordnung erfahrenen Gesellschaftsform lebte,
20
E. Bloch: Freiheit und Ordnung. Abriss der Sozial-Utopien, New York 1947, S. 190.
21
Karl Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. MEW Band 1, S. 385.
22
Vgl. Heimat, in: Beat Dietschy, Doris Zeilinger u. Rainer E. Zimmermann (Hrsg.): Bloch-Wörterbuch.
Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs, De Gruyter, Berlin/Boston, 168 u. 178.
23
Nach G. Koch, 171.
24
Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016
25
Hartmut Rosa: Heimat im Zeitalter der Globalisierung, in: Giel, Klaus / Obermeier,
Otto-Peter / Reusch, Siegfried (Hrsg.): Heimat. In: der blaue reiter – Journal für Philosophie. Ausgabe 23.
www.derblauereiter.de
8
besetzte gleichsam einen apriorisch, d. h. mit der Geburt definierten festen Platz in einer
„großen Ordnung des Daseins”, zumindest in einer als gegeben erlebten Sozialordnung. Mit
der Moderne löst sich diese unverrückbare Bindung des Subjekts an Raum, Dinge und
Menschen: Finde Deinen eigenen Platz in der Welt! wird zur Grundaufgabe des modernen
(bürgerlichen) Subjekts.“ Die moderne Weltbeziehung kann daher nach Rosa „als Verlust
von Heimat im Sinne einer sicheren Weltverankerung, aber natürlich auch als Chance, den
richtigen, „responsiven” Ort zu finden, erfahren werden.“26
Die Spätmoderne aber beschleunige rasant: „Wohnorte, Berufsstellen,
Lebensabschnittspartner, religiöse und politische Überzeugungen“: nichts mehr ist
lebenslang, ja die Verfallsdauer ist oft sehr kurz. „Der Soziologe Zygmunt Bauman
beobachtet daher die Rückkehr und „Rache” des Nomadischen: Waren die Nicht-Sesshaften
in der „klassischen Moderne” als Obdachlose stigmatisiert, sind heute umgekehrt diejenigen
im Nachteil, die an einer Heimat im Sinne eines festen Wohnorts festhalten.“ Rosa
konstatiert eine Beziehungsentwertung auch gegenüber Artefakten: „Das erste Handy
beispielsweise kannten wir noch sehr genau, seine Farbe, seine Töne, vielleicht seinen
Geruch, alle Funktionen und alle Mängel waren uns bekannt“ – ab dem vierten bleibt es „uns
fremd, wir haben ihm gegenüber womöglich sogar ein schlechtes Gewissen, weil wir uns nie
die Zeit genommen haben, es uns ‚anzuverwandeln‘.“
„Das hohe Tempo des sozialen Lebens der Spätmoderne, so lässt sich daraus
schlussfolgern, führt also tendenziell zu Entfremdung – zum Fremdwerden des Raumes, der
Dinge und Orte, der Menschen und Verhältnisse. Dies birgt aber die Gefahr, dass sich die
Welt in eine kalte, starre, indifferente Oberfläche verwandelt, dass sie uns dauerhaft zu
„tausend Wüsten, stumm und kalt” [Nietzsche: Herbstgedicht „Vereinsamt”] wird, weil nichts
mehr zur Heimat in dem Sinne gerinnt, dass es identitätsstiftende Bedeutung erlangt.“27
Dagegen versuchen wir, uns „stabil zu verankern“, im Beruf, in Lebensgewohnheiten. Auch
Religion soll Halt geben, fundamentalistisch, identitär.
Auf diesem Hintergrund von Verdinglichung und Entfremdung wird verständlich, weshalb
Bloch auf der Ortlosigkeit von Heimat so sehr insistiert: Heimat durch Identifikation mit
bestehenden Verhältnissen suchen zu wollen, verortet, territorialisiert sie. Sie „landet“ dann
in einer Apotheose des Gegebenen, sei es im realen Sozialismus oder in der Identifikation
mit dem je eigenen Vaterland, Führer oder Volk. Das führt zu „identitärer Politik“.
Darum heisst es im PH unmittelbar vor unseren Sätzen:
„Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor
Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang,
sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein
radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen.“28
Das bedeutet aber alles andere als Abwarten. Das Utopische wird bei Bloch konkret – in real
werdender Demokratie:
„Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer
Demokratie begründet, so entsteht in der Welt … Heimat“.
Michael Daxner folgert daraus: „Wenn Demokratie das Verhältnis von Menschen zueinander
und von Menschen zu Dingen darstellt, und wenn Heimat in ihrer Entstehung eine Funktion
von Demokratie ist … , dann trägt sie konstituierend die Strukturen der Demokratie, aber
26
Ebd.
27
Ebd.da
28
Auch damit rekurriert Bloch auf Marx. Vgl. MEW Bd. 13, S. 9.
9
29
Michael Daxner: Frieden hat einen Ort, Heimat ist eine Struktur, in: Ernst Bloch und die Heimat, a.a.O., S. 20
30
M. Daxner, a.a.O., S. 21.
31
PH 16. Darum beruft er sich auf der Schlussseite des PH noch einmal auf Marx, indem er gegenüber der
früheren Fassung dieser Schlussätze (vgl. 1947) den Satz einfügt: „Marx bezeichnet als sein letztes Anliegen ‚die
Entwicklung der menschlichen Natur‘; dieser menschliche Reichtum wie der von Natur insgesamt liegt einzig in
der Tendenz-Latenz, worin die Welt sich befindet – vis-à-vis de tout.“ (PH 1628)
32
Ulrich Müller-Schöll und Francesca Vidal: Sein wie Hoffnung. Näherungen an Gelungenheit, in: Rainer E.
Zimmermann: Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Berlin/Boston 2017, S. 381f.
10
33
Daxner, a.a.O., S. 15.
34
Daxner, a.a.O. 15.
35
Ernst Blochs Assoziierung von Heimat und Kindheit leuchte „insofern durchaus ein, als Kinder … per se
Resonanzwesen sind, die gar nicht umhin können, die Welt als antwortend zu erfahren“ (H. Rosa: Resonanz,
a.a.O. 605).
36
G. Koch, a.a.O. 187.
11
37
PH 1083.
38
Sp 163.
39
Hebel, Gotthelf und bäurisches Tao (1926), in: LA 372.
40
Jan Robert Bloch: Der Faktor Arbeit in der Philosophie Ernst Blochs, in: Francesca Vidal (Hg.): Philosophie und
ArbeitsWelt, Bloch-Jahrbuch 2003, 17.
41
G. Koch, 187f.