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Technische Universität Dresden

Institut für Philosophie


Kurs: Stoische Ethik (Gruppe B)
Dozent: Dr. Martin Weichold
Wintersemester 2023/24

Der Steuermann und die Seelenfahrt:

Eine Analyse von Epiktets Enchiridion Kapitel 7

Vorgelegt von: Anne Richter

Matrikelnummer.: 4693017

E-Mail: anne.richter1@mailbox.tu-dresden.de

Datum der Abgabe: 14.03.2024

Prüfungsnummer: 45320 (Hisqis)

Prüfungsamt: Lehramt

Note:
Inhalt
1. Einleitung.............................................................................................................. 2

2. Interpretationsanalyse...........................................................................................2

3. Fazit...................................................................................................................... 4

4. Literaturverzeichnis...............................................................................................6

5. Selbstständigkeitserklärung..................................................................................7

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1. Einleitung
Das siebte Kapitel aus Epiktets Encheiridion mag für viele auf den ersten Blick
undurchsichtig scheinen. Der Autor spricht von einer Schiffsreise, dem Ruf eines
Steuermanns sowie dem Sammeln von Muscheln und Schalentieren. Was sich
jedoch hinter der Metapher der Seereise und des Steuermanns verbirgt, spiegelt die
Grundlage der stoische Philosophie profund wider.

Im vorliegenden Essay soll eine eingehende Diskussion darüber stattfinden, wie die
zentrale Textstelle, insbesondere die Metapher des Steuermanns, am besten
interpretiert werden kann. Dafür werde ich nachfolgend die Kernaussagen
verschiedener Interpretationsansätze vorstellen, welche aus den Jahren 1790-2022
stammen und somit den Verlauf der Forschung aufzeigen sollen. Anschließend soll
geprüft werden, ob die stoische These, die sich aus der vorgeschlagenen
Interpretation ableiten lässt, sachlich überzeugend ist.

Um den Text differenziert analysieren zu können, wurden folgende Übersetzungen


genutzt: Epictetus. (1984); Epiktet. (2021), sowie die in folgendem Text verwendete
Übersetzung (S. 112): Krämer, B. (2022).

Um das Thema der Analyse besser einzugrenzen, verzichte ich auf die Interpretation
des letzten Abschnitts des Kapitels, der vom Alter handelt. Dieser bedürfte
gesonderter Aufmerksamkeit und würden den vorgesehenen Rahmen des
vorliegenden Essays übersteigen. Vorrangig soll es um die Interpretation des Schiffs,
des Steuermanns und dessen Rufs gehen.

2. Interpretationsanalyse
Einen ersten Hinweis für die Interpretation des Kapitels findet man bereits im Titel
dessen, welcher in der Ausgabe des Alfred Körner Verlags lautet: "7. Halte dich
bereit!" (Epictetus, 1984, S.25) Es scheint hier also um die Forderung von
Aufmerksamkeit gegenüber einer noch unbekannten Instanz zu gehen, welche von
einem Steuermann verkörpert wird.

Doch was hat das Bild der Schiffsreise zu bedeuten? Und wer ist der ominöse
Steuermann? Bereits 1790 versuchte sich Johann Motz an einer Analyse des
Kapitels und interpretierte das Schiff als die Philosophie oder die Lebensregeln. Den
Steuermann selbst beschreibt er als das Schicksal oder Gottheit.
(Motz & Epictetus, 1790, S.24)
Bei der Interpretation der Person, welche im Text als „du“
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angesprochen wird ging er dagegen eher pragmatisch vor und schrieb: "Epiktet redet
hier von einem Matrosen, denn nur Matrosen können bestraft werden, wenn sie nicht
auf den Ruf des Steuermanns herbeikommen." (Motz & Epictetus, 1790, S.23) Den
Teil des Textes in welchem Epiktet schreibt, dass es durchaus erlaubt ist, Dinge (wie
Muscheln) aufzulesen, solange man nicht gerufen wird, interpretiert Motz so, dass
die äußeren Dinge, welche an sinnliche Vergnügungen geknüpft sind, mit Mäßigung
genossen werden dürfen. Vergnügungen können als der Inhalt eines Fasses
gesehen werden, welches einem von Gott gegeben wurde. Diesen Inhalt gilt es sich
einzuteilen, sodass es ein Leben lang nicht daran fehlt.
(Motz & Epictetus, 1790, S.23)
Die Deutung des Steuermanns als Schicksal oder Gott bestätigte auch
Kamlah. (Kamlah, 1954, S.71) Allerdings ergänzte dieser die Auslegung der Figur
des Steuermanns noch um eine neue Interpretation und schrieb: "Ohne Zweifel ist er
der Tod." (Kamlah, 1954, S.71) Die Botschaft des Steuermanns, unabhängig ob
Tod, Gott oder Schicksal, sei die Bereitschaft zum Loslassen im gegebenen
Augenblick. (Kamlah, 1954, S.70) Diese Information hält Kamlah für zentral denn,
"die Erfahrung, die jener Reisende macht, ist doch gar nicht die Entdeckung des
Steuermanns, sondern das Hören seines Rufes. Er kann nur hören, weil und solange
er im Horchen, im reinen Vernehmen sich verhält, [...] ohne jegliche Einmischung von
überlegener Spontanität." (Kamlah, 1954, S.77) Eine Interpretation übergeordneter
Ebene präsentiert Ulrike Brandt, welche sich auf die bereits bestehenden Deutungen
bezieht. Sie erfasst die Seereise im Ganzen als den Verlauf eines Lebens
(Brandt, 2015, S.91)
. Mit Motz und Kamlah stimmt sie in dem Punkt überein, als dass auch
sie den Steuermann als etwas Göttliches interpretiert. Möglicherweise, so schreibt
sie, werden mit den Befehlen des Göttlichen in Form des Steuermanns
unverständliche Naturgesetze veranschaulicht, welche laut stoischer Überzeugungen
den Kosmos lenken. In diesem Zusammenhang kann der Befehl des Steuermanns
laut Brandt auch als die Stimme der Vernunft interpretiert werden.
(Brandt, 2015, S.95–96)
Brandt widerlegt allerdings auch Theorien, die besagen, dass das Schiff
die einzelne menschliche Seele, oder die See eine Art Jenseits repräsentiere.
Darüber hinaus weist Sie die Theorie zurück, dass das Anlanden und Ablegen des
Schiffes als Geburt und Tod zu deuten seien. (Brandt, 2015, S.93) Auch Krämer
verneint die Theorie, die den Steuermann mit dem Tod identifiziert, da dieser „den
Passagier Epiktets Vergleich zufolge nicht nur abholt, sondern auch an Land bringt.
Es wäre allenfalls möglich, den Tod als eine Funktion Gottes zu verstehen.“ (Krämer, 2022, S.113)

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Allerdings schreibt auch Krämer, dass „die Annahme, dass der
Steuermann mit Gott bzw. dem göttlichen Prinzip identifiziert werden sollte"
weitgehend konsensfähig ist und bestätigt somit die Vermutung, welche bereits Motz
1790 hervorbrachte. Schiff und Gott sind demnach in Epiktets Vergleich nicht zu
trennen (Krämer, 2022, S.113)

Der/die Schiffsreisend geht zu Beginn des Kapitels von Bord, um frisches Wasser zu
holen – eine Tätigkeit, die allgemein als Lebensnotwenig angesehen wird. Der
Umstand, dass der Schiffsreisende zum Wasserschöpfen an Land geht, deutet
darauf hin, dass der Aufenthalt an Land als Zwischenstation einer Reise mit
mehreren Etappen vorzustellen ist. (Krämer, 2022, S.114) Dies würde die These
untermauern, nach welcher die Schiffsreise den Verlauf eines Lebens abbilden soll.

3. Fazit
Führt man die vorgebrachten Interpretationen zusammen, lässt sich aus dem 7.
Kapitel des Encheiridion folgende These ableiten: Das Leben wird von einer
göttlichen Macht gesteuert, welche dafür sorgen soll, dass der Mensch nicht von der
Vernunft abkommt und seinem Logos folgt.

Diese Interpretation überzeugt mehr als beispielsweise die Deutung des


Steuermanns als Tod oder Philosophie, da der Gottesbegriff unter den Stoikern
allgemein eine große Bedeutung innehält. Stoiker verstanden den Gottesbegriff nicht
im heutigen theologischen Sinne. Jedoch kann nicht bestritten werden, dass
Philosophen wie Epiktet und Sokrates mit dem Konzept eines Anruf Gottes auch
außerhalb des Christentums bereits vertraut waren. (Kamlah, 1954, S.86) Das
Konzept Gottes wurde eher folgendermaßen beschrieben: "Gott ist: die
schöpferische Keimkraft, die erste Ursache allen Seins - [...] das Fatum und
Naturgesetz, das alles in einem ewig sich wiederholenden Prozeß in einen
notwendigen, unauflösbaren Zusammenhang fügt." (Leretz, 1975, S.38) Eine
Erklärung dafür, warum der Mensch auf die Lenkung seiner selbst durch einer
göttlichen Kraft angewiesen ist, lässt sich aus Werken der stoischen Philosophie
auch schließen. Diese besagen, dass der Durchschnittsmensch Gebote, Verbote und
allgemeine Hinweise auf das, was er tun soll benötigt, da sein Logos getrübt oder
gefälscht ist. (Leretz, 1975, S.70) Diese Gebote und Verbote schließen jedoch nicht
die Fähigkeit der freien Entscheidung des Menschen aus. Da der Mensch selbst

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dafür verantwortlich ist seinen Logos auszubilden, sind auch Fehlentscheidungen
möglich, für welche die Person selbst die Verantwortung trägt. (Leretz, 1975, S.77)

Auch bei Epiktet, lässt sich eine klare Neigung zum Göttlichen erkennen. Seine
Lehre betont wiederholt die zentrale Bedeutung der Beziehung zu Gott. Seiner
Auffassung nach bildet die Welt einen geordneten Kosmos, der vom göttlichen Geist
durchdrungen ist. Alle Teile dieses Kosmos stehen in harmonischer Verbindung
zueinander, insbesondere die Menschenseele ist so eng mit der Allgottheit verwoben,
dass sie deren Wesen und Wirken verstehen kann. Epiktet erklärt die Erschaffung
der gesamten Welt durch Gott aus Güte und sieht die Aufgabe des Menschen darin,
seinen Willen dem göttlichen Willen anzupassen. (Epiktet, 2021, S.103–104)

In Anbetracht der diskutierten Interpretationen und der historischen Entwicklung des


Verständnisses des 7. Kapitels des Encheiridion wird deutlich, dass die Vorstellung
des Steuermanns als göttliche Macht im Einklang mit den zentralen Prinzipien der
stoischen Philosophie steht. Die Betonung der Beziehung zu Gott und die Einbettung
dieser Vorstellung in die stoische Lehre von einem geordneten Kosmos
unterstreichen zusätzlich die Plausibilität dieser Interpretation. Epiktets Aufforderung
zur Bereitschaft und zum Loslassen kann somit als Appell an die Vernunft verstanden
werden, der von einer übergeordneten göttlichen Macht gelenkt wird. Diese Deutung
eröffnet einen tiefen Einblick in die stoische Sichtweise des Lebens als einer Reise,
bei der der Mensch dazu aufgefordert ist, dem göttlichen Willen zu folgen, um in
Einklang mit seinem eigenen Logos und dem universellen Logos zu leben.

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4. ADDIN CitaviBibliographyLiteraturverzeichnis
Brandt, U. (2015). Kommentar zu Epiktets "Encheiridion". Universitätsverlag Winter.
Epictetus. (1984). Kröners Taschenausgabe: Bd. 2. Handbüchlein der Moral und
Unterredungen (H. Schmidt, Hg.). Alfred Kröner Verlag Stuttgart.
Epiktet. (2021). Reclams Universal-Bibliothek: Nr. 8788. Handbüchlein der Moral:
Griechisch/deutsch (K. Steinmann, Hg.). Reclam; Kösel GmbH & Co. KG.
Kamlah, W. (1954). Der Ruf des Steuermanns: die religiöse Verlegenheit dieser Zeit
und die Philosophie. W. Kohlhammer Verlag.
Krämer, B. (2022). „Wenn der Steuermann ruft…“ (Epiktet, Encheiridion 7). In D.
Panchenko (Hrsg.), Hyperboreus. https://doi.org/10.25990/hyperboreus.g42v-
th02
Leretz, H. (1975). Die Philosophie der Stoa: Aus den Schriften Ciceros und Senecas.
Schöningh.
Motz, J. F. W. & Epictetus. (1790). Epiktet's moralisches Handbuch: aus dem
Griechischen übersetzt, und mit erklärenden Anmerkungen begleitet. Curts
Wittwe. https://opendata.uni-halle.de//handle/1981185920/76545
https://doi.org/10.25673/74593

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5. Selbstständigkeitserklärung

Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig verfasst und keine
anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel (inkl. ChatGPT) benutzt habe.
Ich reiche sie erstmals als Prüfungsleistung ein. Mir ist bekannt, dass ein
Betrugsversuch mit der Note "nicht ausreichend" (5,0) geahndet wird und im
Wiederholungsfall zum Ausschluss von der Erbringung weiterer Prüfungsleistungen
führen kann.

Name: Richter
Vorname: Anne
Matrikelnummer: 4693017

Bautzen, den 14.03.2024

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