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Inhalt
Liebe Leserin, lieber Leser,
von Monat zu Monat wird deutlicher, dass der Klimawandel auch Deutschland massiv beein-
flusst. Angesichts der Unumkehrbarkeit der Veränderungen müssen Anpassungsstrategien
entwickelt werden. Im Heft werden Konzepte vorgestellt, die Städte in Deutschland klimaresili-
enter machen können. Die Beiträge beschäftigen sich etwa
mit Fragen des Stadtklimas, des Katastrophenschutzes, der
Foto: IMAGO/Joko
Reduktion von Risiken sowie der Gesundheit der Stadtbe-
wohnerinnen und Stadtbewohner. Die online zugängliche
Rubrik „GR aktuell“ bietet Daten und Informationen zu den
beiden bevölkerungsreichsten Ländern Indien und China.
Dietmar Falk
Moderation: Elke Hertig, Markus Keck Die Anpassungsstrategien an den Klimawandel sind viel-
fältig. Für Städte wesentlich ist zunehmende Begrünung
Deutschlands Städte im
Klimawandel Susanne Stoll-Kleemann, Carina N. Darmstadt
Elke Hertig, Markus Keck 52 Meereskompetenz für mehr Nachhaltigkeit im
4 Deutschlands Städte im Klimawandel Tauchsport
Foto 1:
Wasser-
flächen in
der Stadt
tragen zur
urbanen
Gesund-
heit bei
– hier die
Sieg in der
Innenstadt
von Siegen
Deutschlands Städte
im Klimawandel
Der jüngste Bericht des Weltklimarats von 2022 zeigt auf, dass sich durch den Klimawandel
die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Extremwetterereignissen weltweit weiter erhöhen
wird. Das Ausmaß dieser Ereignisse sowie deren Auswirkungen auf Ökosysteme, Wirtschaft
und Gesellschaft werden dabei stark von Eindämmungs- und Anpassungsmaßnahmen in
der nahen Zukunft abhängig sein. Städte nehmen in diesem Zusammenhang eine besondere
Rolle ein, da sie sowohl Hauptemittenten von Treibhausgasen als auch zentrale Akteure für
eine mögliche klimaresiliente Entwicklung sind. Städte können somit als potenzielle Schlüs-
selräume für eine sozialökologische Transformation angesehen werden.
Abb. 1: Klimaraumtypen in Deutschland und die jeweiligen absehbaren klimatischen Veränderungen bis zur Mitte des
Jahrhunderts Quelle: UBA 2022
Übergreifend ergeben sich für Deutschland den Herausforderungen: (1) Klimarisiken durch
durch den globalen Klimawandel laut der jüngs- Hitze und die Veränderung natürlicher Systeme
ten Klimawirkungs- und Risikoanalyse des Um- insbesondere für die menschliche Gesundheit; (2)
weltbundesamtes (UBA 2022) vor allem die folgen- Klimarisiken durch Trockenheit, Niedrigwasser in
Europäische Ebene
Europäisches Klimagesetz und EU-Anpassungsstrategie
Bundesebene
Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel und Aktionsplan Anpassung
Abb. 2: Klima-
Landesebene
anpassung im Klimagesetze, Anpassungsstrategien und Maßnahmenpläne unterschiedlicher Ausprägung
föderalen Mehr
ebenensystem Kommunale Ebene
Deutschlands Umsetzung der Anpassungsstrategien und Maßnahmenpläne auf kommunaler Ebene
Entwurf: Elke Hertig, Markus Keck
Unterschied zwischen
der oberflächennahen Lufttemperatur unterhalb der beispielsweise Strahlungseigenschaften der Oberflächen,
Dächer in der Stadt und der Temperatur im Umland und thermischen Eigenschaften der Bausubstanz, der Gebäu-
ist daher von besonderer Relevanz. Die Intensität dieser degeometrie sowie der Intensität der anthropogenen
Wärmeinsel kann bis zu 10 °C erreichen. Allerdings ist Wärmefreisetzung (Oke et al. 2017). Die Horizontüberhö-
ihre Intensität sowohl zwischen Städten unterschiedlich hung bezeichnet den vom Himmel eingenommen Anteil
stark ausgeprägt als auch innerstädtisch räumlich und des Halbraums an einer Stelle und steht in umgekehrtem
zeitlich differenziert. Die Wärmeinsel der städtischen Verhältnis zur nächtlichen Abkühlung – hohe und dichte
Hindernisschicht (vgl. Abb. 2) ist vor allem in den frühen Gebäude halten also die Wärme besonders gut.
Abendstunden und nachts ausgeprägt, während Städte Die Auswirkungen einer Wärmeinsel auf Menschen und
tagsüber kaum wärmer sind als das Umland. Dies liegt an andere Lebewesen sind vielfältig. Im Sommer vergrö-
den Veränderungen der Energiebilanz, durch die die Luft ßert sie das Risiko von Hitzestress, was für vulnerable
über städtischen Flächen langsamer abkühlt als die Luft Gruppe (insbesondere ältere Menschen und solche mit
über ländlichen Gebieten. Ihre Intensität ist zudem stark Vorerkrankungen) bei Hitzewellen zu einer großen Ge-
abhängig von den Wetterbedingungen, wobei eine starke sundheitsgefahr werden kann. Daneben erhöht sie den
Überwärmung von Städten insbesondere an Tagen mit Kühlbedarf und führt bei der Nutzung von Klimaanlagen
einer hohen Sonneneinstrahlungsintensität, wolkenfrei- zu höherem Energieverbrauch und Kosten. Gleichzeitig
em Himmel und windschwachen Bedingungen auftritt. hat eine Wärmeinsel aber auch positive Effekte: Sie führt
Die innerstädtische Verteilung der Lufttemperatur ist zu einer erhöhten Anzahl von Grillabenden und reduzier-
abhängig von vielen Aspekten der Stadtstruktur, wie tem Heizbedarf im Winter.
verstehen und einordnen zu können. Abbildung schiedliche Längenskalen von einzelnen Gebäu-
1 zeigt den Aufbau der Stadtatmosphäre in ver- den über Blocks und Nachbarschaften bis hin
schiedenen atmosphärischen Schichten. Von be- zur Gesamtstadt.
sonderer Bedeutung für den Menschen ist dabei Städte verändern das Wetter und Klima auf
die Stadthindernisschicht, also die Luftschicht sehr vielfältige Weise. Von besonderer Bedeu-
zwischen den Gebäuden, die vor allem von tung sind die Eingriffe in den Wasser- und Ener-
kleinräumigen Prozessen beeinflusst wird (Mi- giehaushalt, wovon sämtliche Strahlungs- und
kroskala). Daneben wird aber auch die gesamte Energief lüsse betroffen sind. Die kurz- und
planetare Grenzschicht beeinflusst, wobei sich langwelligen Strahlungsflüsse sind zum einen
hier die Auswirkungen von Nachbarschaften durch eine Trübung der Atmosphäre beein-
oder der Gesamtstadt integrieren (Mesoskala). trächtigt (vgl. Abschnitt „Luftverschmutzung“),
Daher überspannt die Stadtklimatologie unter- zum anderen spielen die 3D-Gestalt der Gebäu-
Luftverschmutzung
peratur und Luftfeuchte) bis zu kostengünstigen Anzahl und damit geringe räumliche Auflösung
Stationen, die auf Smart-Sensoren basieren. Dies resultiert. Auf der anderen Seite stehen große
gilt ebenso für die Messung von Luftschadstof- Messnetze von kostengünstigen Sensoren in der
fen, die nur sehr lückenhaft an ausgewählten Bevölkerung (Crowd Weather Stations, CWS),
Standorten erfolgt. Da Luftschadstoffe räumlich die aufgrund der niedrigeren Kosten das Po-
deutlich variabler sind als z. B. die Lufttempera- tenzial für eine hohe räumliche Auflösung mit
tur, bedarf es einer höheren Anzahl an Luftqua- sich bringen (vgl. Abb. 2). Diese haben aber in
litätsmessstationen im Stadtgebiet. der Regel einzeln eine fragwürdige und häufig
Die Nachteile hochqualitativer stationärer schlechte Datenqualität, sodass die Qualitäts-
Messungen sind insbesondere die hohen Kos- kontrolle ein entscheidender Faktor ist, um die-
ten für Anschaffung und Betrieb, die Betreu- se Daten auszuwerten.
ung durch ausgebildetes Fachpersonal und die Die rasante technische Entwicklung und Ver-
Wartung der Geräte, woraus meist eine kleine fügbarkeit von Sensoren, Kommunikationslö-
∎ Textbox 2
PALM-4U
Das Model PALM-4U kann die klimatischen Ver- gen und der atmosphärische Antrieb des Modells
hältnisse einer Stadt oder eines Quartiers auf der können mit Ergebnissen mesoskaliger Modelle
Mikroskala modellieren und Einflüsse der Meso- gesteuert werden.
skala berücksichtigen. Das Modellgebiet wird mit Das Modell berechnet für jede Oberfläche die
dreidimensionalen Gitterzellen abgebildet. Für Energie- und Strahlungsbilanz. Innerhalb städti-
jede Gitterzelle werden die Windkomponenten, scher Gebiete berücksichtigt das Modell die Re-
die potenzielle Temperatur, das Mischungsver- flexion der solaren Einstrahlung an verschiede-
hältnis des Wasserdampfes und die turbulente nen Oberflächen sowie den Schattenwurf durch
kinetische Energie berechnet. Bäume und Gebäude. Humanbioklimatische
Mithilfe von „Nesting“ können mehrere ge- Parameter wie die gefühlte Temperatur können
schachtelte Modellgebiete mit unterschiedlicher vom Modell direkt berechnet werden. Die Ergeb-
räumlicher Auflösung gleichzeitig modelliert nisse werden als 2D- und 3D-Daten ausgegeben
werden. Somit können klimatische Einflüsse und ermöglichen somit eine detaillierte Analyse
des Umlandes auf die Stadt in die Berechnung des Stadtklimas (Maronga et al. 2020).
einbezogen werden. Die äußeren Randbedingun- Mitarbeit an Textbox 2: Lara van der Linden
Abb. 1: Integriertes Klima- und Verwundbarkeitsszenario (Szenario: starker Klimawandel und hohe
Verwundbarkeit) Quelle: Birkmann et al. 2021
durch den reduzierteren Verwaltungsaufbau. (vgl. Foto 1). Zum einem weisen diese Plätze be-
Deswegen wird die Verknüpfung von Klimaan- sondere Stadtfunktionen auf – wie der Markt-
passungsstrategien mit informellen Planungs- platz oder der Rathaushof als Außenraum für
instrumenten als hilfreich bewertet, da bei Veranstaltungen –, zum anderen handelt es sich
solchen Prozessen umfangreiche Akteursbetei- um Parkplätze. Darüber hinaus wurden bedeut-
ligungen vorgesehen sind. same Querverbindungen von Wohnstandorten
in die Innenstadt als Hitzewegeverbindungen
Partizipative Kartierung von markiert. Über diese Form der Kartierung
heißen und kühlen Orten konnten zwar keine Orte identifiziert werden,
die nicht bereits über die Klimaanalysen er-
In einer in Ludwigsburg 2018 durchgeführten fassten worden waren (Stadt Ludwigsburg und
Haushaltsbefragung zeigte sich, dass das Hitze- GEO-NET 2022). Dennoch waren die subjektiven
empfinden innerhalb der Stadt sehr unterschied- Wahrnehmungen hilfreich, um prioritäre Hand-
lich ist. Neben einer lungsgebiete zu erkennen, in denen Maßnahmen
hohen Belastung an umgesetzt werden können. Hinsichtlich des
Über die Hälfte der Befrag- den Wohnorten wurde Nutzungsverhaltens in Grün- und Erholungsge-
ten gaben an, dass es nicht die Hitzebelastung vor bieten zeigte sich in Ludwigsburg, dass die Be-
genügend attraktive Erho- allem am Arbeitsplatz, fragten den Favoritenpark, die Bärenwiese und
den Märchengarten im Blühenden Barock aufsu-
lungsorte gebe. Es ist daher in öffentlichen Ver-
kehrsmitteln und in der chen. Zwei dieser Flächen liegen in der Innen-
essenziell, einerseites die Innenstadt als stark be- stadt. Die Bundestraße 27 trennt die Kernstadt
Hitzebelastung im öffentli- lastend beurteilt. Im Ge- jedoch von der Bärenwiese und dem Blühenden
chen Raum zu reduzieren, gensatz dazu nahm die Barock und ist somit eine Barriere.
andererseits auch grüne Er- Mehrzahl der Befragten Diese Flächen werden in der Regel von den Be-
holungsorte zu entwickeln. Hitze in Parks und Gär- fragten mehrmals in der Woche mit einer durch-
ten nicht oder nur ge- schnittlichen Aufenthaltsdauer von insgesamt bis
ring wahr. Der Umgang zu drei Stunden besucht. Selbst bei den von den
mit Hitze nimmt daher bereits in den städtischen Befragten als gut bewerteten Erholungsorten fehlt
Hauptfunktionen wie Arbeiten, Mobilität, Ver- in Teilen die Ausstattungsvielfalt für verschiede-
sorgung und Erholung eine wesentliche Rolle ein ne soziale Gruppen. Bei der Bärenwiese wurde
(Laranjeira et al. 2021). an Optimierungswünschen z. B. mehr Sitzgele-
Zur Konkretisierung dieser Befunde wurde genheiten, Hängematten, ein Volleyballfeld oder
eine weitere kartographische Umfrage mit Stadt- ein kleines Café-Rondell aufgeführt (vgl. Abb. 2).
nutzern durchgeführt, bei der von den Befrag- Zudem gaben über die Hälfte der Befragten an,
ten sowohl heiße als auch kühle Orte markiert dass es in Ludwigsburg nicht genügend attraktive
wurden. Die überwiegende Mehrheit der mar- Erholungsorte gebe. Vor diesem Hintergrund ist
kierten heißen Orte wurden in der Innenstadt es daher essenziell, einerseits die Hitzebelastung
lokalisiert. Die von Hitze belasteten Orte kon- im öffentlichen Raum zu reduzieren, aber ande-
zentrierten sich primär vom Bahnhofsplatz bis rerseits auch grüne Erholungsorte zu entwickeln
zum Marktplatz über weitere öffentliche Plätze und zu qualifizieren (vgl. Foto 2).
Quelle: ReinventingSociety/Loom
Abb. 4: Zukunftsbild Ludwigsburg: Nicht Einzelmaßnahmen führen zum Ziel. Stattdessen muss ein Transformationsprozess initiiert
werden
onierte Ziele sind nicht finanzierbar oder über- nahmen als unterschiedlich geeignet bewerten
fordern die Verwaltung, während zu schwache (vgl. Abb. 3).
Ziele nicht die Dringlichkeit der Handlungser- Im Umgang mit der zunehmenden Hitze wur-
fordernis unterstreichen. den primär die Pflanzung von Bäumen als auch
die Entwicklung von mehr öffentlichen Park-
Akzeptanz von Maßnahmen und ihre und Grünflächen als wichtig erachtet. Begrü-
Wirksamkeiten nungsmaßnahmen am Objekt wie Fassadenbe-
grünung wurden von 59 % und Dachbegrünung
Um Hitzestressrisiken zu reduzieren, ist es essen- von 54 % der Befragten als sinnvoll beurteilt.
ziell, Klimaanpassungsmaßnahmen zu implemen- Während Maßnahmen zur natürlichen Beschat-
tieren. Das Problembewusstsein und die Notwen- tung in Form von Baumpflanzungen als sehr
digkeit der Hitzevorsorge sind bei kommunalen sinnig (mehr als 90 %) erachtet wurden, wurden
Akteuren ebenso wie in der Bevölkerung und künstliche Beschattungsmaßnahmen in Form
Politik meist nur gering ausgeprägt. Hierfür ur- von Sonnenschirmen oder Sonnensegeln nur
sächlich sind u. a. der begrenzte Zeitraum von von 31 % der Befragten als sinnvoll bewertet.
vier Monaten, in denen solche Hitzewellen in der Neben Maßnahmen, die die grüne Infrastruktur
Regel in Deutschland auftreten, das Phänomen betreffen, wurden auch Maßnahmen zur blauen
des Verdrängens und die stets noch positiven Infrastruktur bewertet. Diese hielten nur 45 %
Assoziierungen mit Hitze. Zusätzliche hemmen- der Befragten als sinnvolle Maßnahme im Um-
de Faktoren stellen die limitierten finanziellen, gang mit Hitze. Im Gegensatz dazu werden diese
personellen und zeitlichen Kapazitäten der Ver- trotz deren Aufwertungsfunktion des öffentli-
waltung dar. Die Akzeptanz solcher Maßnahmen chen Raums und auch deren Wirkung auf das
muss also gestärkt werden. soziale Zusammenleben von Verwaltungen auf-
Um die integrierten Ziele in eine Hitzevorsor- grund der hohen Finanzierungskosten eher nur
gestrategie zu übersetzen, sind Maßnahmenbün- als vereinzelt umsetzbare Handlungsoption ge-
del notwendig, die aus baulich-gestalterischen, sehen. Bei Maßnahmen nichtgestalterischer Art
strategischen und kommunikativen Maßnahmen wurden insbesondere kostenloses Trinkwasser
bestehen. In der Hitzeumfrage in Ludwigsburg mit 63 % und die finanzielle Unterstützung mit-
zeigte sich jedoch, dass die Befragten diese Maß- tels Fördergelder für private Maßnahmen mit
In Summe wird in deutschen Städten auch be- Prof. Dr. Jörn Birkmann, geb. 1972
dingt durch die Hitzewellen in den letzten Som- Leiter des Instituts für Raumordnung und Entwicklungspla-
mern das Thema Hitzeanpassung präsenter und nung, Universität Stuttgart
jörn.birkmann@ireus.uni-stuttgart.de
wichtiger – auch im Sinne der Sicherung einer
Schwerpunkte: Vulnerabilitäts- und Risikoabschätzung,
hohen Lebensqualität (vgl. Abb. 4). In Zukunft be- Klimaanpassung, Klimaresilienz, kritische Infrastrukturen,
darf es einer kontinuierlichen Planung und Um- Stadt- und Raumplanung
Alexander Fekete
Dabei muss auch deutlich werden, was die Prio- erfordert Schulungen der Einsatzkräfte, auch
ritäten der Einsatzkräfte sind und wann Selbst- im Hinblick auf mögliche Eigengefährdungen.
hilfe gefragt ist. Bei Hochwasser gibt es zum Ebenso erfordert sie eine deutliche Fokussie-
Beispiel eine gesetzlich festgeschriebene Pflicht rung möglicher Einsätze auf vulnerable Grup-
zur Selbsthilfe, soweit das in diesem begrenz- pen, wenn man sich etwa das Beispiel Frank-
ten Rahmen möglich ist (Wasserhaushaltsgesetz reichs aus dem Jahr 2003 vor Augen führt, als
§ 5 Allgemeine Sorgfaltspflichten). man im Zuge einer Hitzewelle für eine flächen-
Damit Katastrophenschutz effektiv ist, muss deckende Versorgung bzw. Evakuierung von al-
er sich an die durch den Klimawandel verän- ten, nicht mobilen Menschen und Menschen mit
dernden Häufigkeiten und Ausmaße von Natur- Vorerkrankungen zu sorgen hatte.
gefahren anpassen. Die Anpassung bezieht sich Klimaresilienz bedeutet auch, dass sich der
auf Fragen der Organisation, der technischen Katastrophenschutz mit dem Thema sozial-
Ausstattung und des allgemeinen Bewusst- ökologische Transformation beschäftigen muss
seins. Organisatorische Anpassungen sind zum (Gebhardt et al. 2007). Die Stadt Köln rechnet
Beispiel Bedarfsanalysen, die das Thema Na- jetzt schon damit, dass durch künftige For-
turgefahren und Klimawandel in die Planung men nachhaltiger Mobilität auch die Anzahl
und Ausstattung von Feuerwehren einbringen. von Fahrradstrecken in der Stadt zunehmen
Dazu sind auch thematische Karten hilfreich, wird. Das bedeutet für die Einsatzfahrzeuge
die räumliche Zusammenhänge in einer Stadt der Feuerwehr, dass sie ihre Hilfsfrist, also
oder einer Region zwischen bedrohten Siedlun- das Eintreffen am Notfalleinsatzort innerhalb
gen, Infrastrukturen und Gefahren wie Hoch- von acht Minuten, auf geschwindigkeitsredu-
wasser, Hitze oder Waldbrand herstellen (vgl. zierten Fahrradwegen unter Umständen nicht
Abb. 1 und 2). Technische Anpassungen umfas- mehr einhalten wird. Hier sind nicht nur beim
sen die zusätzliche Anschaffung von Pumpen, Thema Elektromobilität, sondern auch in den
Seilwinden für Hubschrauber zur Personen- klassischen Einsatzspektren von Feuerwehr und
rettung oder mobilen Kühlaggregaten für Hit- Rettungsdienst planerische Umstellungen zu
zewellen. Eine Anpassung bezüglich des allge- leisten. Wenn etwa die Fahrzeugflotte des Kata-
meinen Bewusstseins gegenüber Naturgefahren strophenschutzes auf Elektroantrieb umgerüs-
beinhaltet, dass solche Ereignisse nicht mehr als tet wird, muss die Frage beantwortet werden,
„Nebenschauplätze“ behandelt werden, die von wie die Einsatzfähigkeit der Flotte auch im Falle
ein paar wenigen Einsätzen an einzelnen Ta- flächendeckender Stromausfälle gewährleistet
gen im Jahresverlauf geprägt sind, sondern als werden kann. Die bisherige Ausstattung mit
neuer „Hauptschauplatz“, der zu den üblichen Verbrennermotoren unterliegt einer ähnlichen
Alltagseinsätzen hinzukommt. Die Anpassung Abhängigkeit aufgrund der Nachbetankung an
des Bewusstseins für zukünftige Naturgefahren Tankstellen, die ebenfalls von Strom für ihre
Wasserstoff
NEU
Energieträger der Zukunft
Nadja Kabisch
Ökosystemleistungen der
Stadtnatur für Gesundheit
und Wohlbefinden
Herausforderungen im Klimawandel
Urbane Ökosystemleistungen werden durch eine Vielzahl grüner und blauer Elemen-
te der Stadtnatur bereitgestellt. Beispielsweise liefern Stadtparks und Stadtbäume
wichtige Beiträge für Gesundheit und Wohlbefinden der Stadtbewohner. Auch während
langanhaltender Hitze und Trockenperioden, wie wir sie 2018 und 2019 in Deutschland
erlebten, kühlt Stadtnatur die Lufttemperatur und stellt wichtige Erholungsräume be-
reit, die von den Parkbesuchenden genutzt und wertgeschätzt werden.
Natur und Ökosystemen zum Wohlbefinden und Wenn wir von menschlicher Gesundheit und
für die Gesundheit von Menschen. Darunter fal- von Wohlbefinden sprechen, beziehen wir
len Güter, aber auch Leistungen, die uns einen uns auf die allgemeine Definition der Weltge-
materiellen bzw. wirtschaftlichen Wert, aber sundheitsorganisation (WHO), die bereits in
auch einen immateriellen, z. B. gesundheitsrele- der WHO-Präambel von 1948 festgeschrieben
vanten Nutzen erbringen (Naturkapital Deutsch- wurde: „Gesundheit ist der Zustand eines voll-
land – TEEB DE 2016). Die Ökosystemleistungen ständigen körperlichen, geistigen und sozialen
können in verschiedene Dimensionen unterglie- Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von
dert werden. Regulierende Ökosystemleistun- Krankheit und Gebrechen“ (WHO 2020). Zent-
gen beziehen sich auf Ökosystemfunktionen, ral ist diesem Ansatz nach eine ganzheitliche
die auf Elemente und Prozesse von Ökosystemen Betrachtung der Gesundheit des Menschen, die
wirken und somit einen wichtigen Nutzen für nicht nur auf Krankheiten fokussiert, sondern
den Menschen haben. Dazu gehört beispiels- gleichermaßen ein soziales und geistiges Wohl-
weise die regulierende, temperatursenkende befinden betont.
Wirkung von Bäumen durch Beschattungs- und Durch die Bereitstellung von Ökosystemleistun-
Verdunstungsprozesse. Die kulturellen Ökosys- gen kann Stadtnatur zu physischer, sozialer und
temleistungen beschreiben meist immateriel- mentaler Gesundheit beitragen. Unter Stadtnatur
le Nutzen wie z. B. Erholungsmöglichkeiten in verstehen wir alle grünen und blauen Naturstruk-
Stadtparks. Die Versorgungsleistungen bezeich- turen in einer Stadt. Dazu gehören Elemente einer
nen Ökosystembeiträge zur materiellen Versor- ursprünglichen Natur- und Kulturlandschaft, aber
gung der Menschen (z. B. Nahrung, Holz oder auch gestaltete Naturbereiche wie z. B. Parkanla-
Frischwasser). Schließlich bildet die Dimension gen, Kleingärten, Friedhöfe oder Sportanlagen-
der Basisleistungen oder auch unterstützenden grün (Breuste et al. 2016). Gleichermaßen ge-
Leistung die Grundlage für die Bereitstellung hören Naturelemente entlang von Straßen und
aller anderen Ökosystemleistungen. Darunter Bahnanlagen zur Stadtnatur, also Straßenbäume,
versteht man natürliche Prozesse, die Teil der Straßenbegleitgrün sowie Grün zwischen Straßen-
vorher genannten Dimensionen sind und diese bahngleisen. Wichtige Funktionen als Ökosystem
erst ermöglichen. Dazu zählen beispielsweise stellen zudem Naturstrukturen auf Brachflächen
Prozesse der Bodenbildung. Im Folgenden zeigt dar, beispielsweise auf ehemaligen Industrie-
der Artikel, wie vor allem regulierende und kul- oder Bahnflächen (Kowarik 2011). Neben diesen
turelle Ökosystemleistungen auch unter Hitze grünen Strukturen in Städten, die auch als grüne
und Trockenbedingungen durch Stadtparks be- Infrastruktur bezeichnet werden und durchaus
reitgestellt werden und auf die Gesundheit von auch Fassaden und Dachbegrünung als sogenann-
Stadtbewohnerinnen und -bewohnern wirken. te geplante grüne Elemente enthalten, gehören
auch blaue Strukturen, also Gewässer wie Seen, Nächten wird zukünftig zu mehr Hitzestress in
Teiche, Flüsse und Kanäle zu den Naturstrukturen Städten führen.
einer Stadt (Pauleit et al. 2019). Von einer Hitzeperiode spricht man, wenn
Städte sind aufgrund ihrer Struktur, der ver- heiße Tage an mehreren Tagen hintereinander
bauten Materialien und anthropogener Prozesse auftreten. Unter einem heißen Tag versteht man
meist um einige Grad wärmer im Vergleich zum einen Tag, der eine Maximaltemperatur von 30 °C
städtischen Umland. Diesen Effekt bezeichnet überschreitet (Krug und Mücke 2018). Die durch-
man als städtische Hitzeinsel (urban heat is- schnittliche Anzahl an Hitzetagen pro Jahr hat
land). Dieser städtische Wärmeinseleffekt kann sich in Deutschland in den letzten 70 Jahren von
in warmen Sommernächten oder bei tropischen durchschnittlich drei Tagen auf neun Tage pro
Nächten zu einem Tem- Jahr erhöht. Auch die Jahresmitteltemperatur ist
peraturunterschied zwi- in Deutschland im Zeitraum von 1881 bis 2021 um
Durch die Bereitstellung schen Stadt und Umland 1,6 °C angestiegen (DWD 2022). Zu diesem Anstieg
von Ökosystemleistungen von bis zu 10 K führen haben auch die ausgeprägten Hitzeperioden der
(Krug und Mücke 2018). Jahre 2018 und 2019 beigetragen. Neben den ho-
kann Stadtnatur zu
Tropische Nächte nennt hen und langanhaltenden Sommerlufttemperatu-
physischer, sozialer und man Nächte, unter de- ren fiel außerdem in diesem Zeitraum in einigen
mentaler Gesundheit nen die Nachttempera- Regionen Deutschlands sehr wenig Niederschlag
beitragen – auch unter turen nicht unter 20 °C – wir sprechen von Dürrejahren. Eine Dürre ist
Hitze und Trockenheit. fallen. Diese Temperatu- meteorologisch gesehen eine Phase, die über Mo-
ren sind für die Gesund- nate oder Jahre andauern kann und mit unter-
heit der Stadtbewohne- durchschnittlichen Niederschlägen einhergeht.
rinnen und Stadtbewohner sehr belastend. Unter Auch das war insbesondere in den Jahren 2018
hohen Nachttemperaturen kann sich der Körper und 2019 der Fall und reichte bis 2020 (Rakovec
weniger effizient regenerieren und so wird bei- et al. 2022).
spielsweise das Herz-Kreislaufsystem belastet. Die gesundheitlichen Auswirkungen dieser Hit-
Insbesondere vulnerable Gruppen wie Kinder, zeperioden spiegeln sich u. a. in einer erhöhten
ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkran- Mortalität. Schätzungen des Robert-Koch-Instituts
kungen leiden häufig besonders unter Hitzestress gehen von 8700 hitzebedingten Sterbefällen für
und gehören zu gefährdeten Gruppen (Kabisch das Jahr 2018 aus, im Vergleich zu 6900 Sterbe-
et al. 2017). Die Kombination von weiterem ur- fällen 2019 und 3700 im Jahr 2020 (vgl. Abb. 1;
banem Wachstum mit Verdichtungsprozessen Winklmayr et al. 2022). Auch das Jahr 2003 war
(siehe Prognosen des Umweltbundesamtes bis durch eine langanhaltende Hitzewelle in ganz
2045, Behmer 2021) und der Zunahme an Extrem Europa geprägt. In Deutschland führte diese zu
ereignissen wie Hitzeperioden mit tropischen geschätzt 9500 zusätzlich Gestorbenen und für
Europa gesamt geht man von ca. 70 000 hitzebe- stadt ist in den letzten 20 Jahren von ca. 479 000
dingten Sterbefällen aus (Robine et al. 2008). (im Jahr 2001) auf 610 000 (2021) angewachsen
Stadtnaturflächen, also urbane Grünflächen (Stadt Leipzig 2022). Dieses Bevölkerungswachs-
wie z. B. Parks, Gärten, aber auch Friedhöfe, tum geht mit einem erhöhten Wohnflächen- und
können zu einer Abmilderung dieser klimatisch Infrastrukturentwicklungsbedarf einher. Bau-
bedingten Gesundheitsherausforderungen beitra- flächen werden geschaffen, wobei gleichzeitig
gen. Temperaturregulierung durch Kühlung der das Konzept der doppelten Innenentwicklung –
Lufttemperatur über Beschattungs- und Transpi- also Flächen für Wohnungsbau im Innenbereich
rationsprozesse (Verdunstung über Vegetation) schaffen und gleichzeitig Grün- und Freiräume er-
stellt ein gesundheitsschützendes Potenzial dar. In halten und qualifizieren – das Leitbild der Stadt-
der Nacht begünstigen offene Strukturen wie aus- entwicklung mitbestimmt (Stadt Leipzig 2018).
geprägte Wiesenflächen den vertikalen Wärme- Daneben sind die benannten langanhaltenden
fluss. Zudem können Parkanlagen Kaltluftentste- Dürreperioden der Jahre 2018 bis 2020 sowie die
hungsgebiete sein, wodurch die vor allem nachts gleichzeitig auftretenden Sommerhitzeperioden
ausgeprägte städtische Wärmeinsel vermindert Herausforderungen für die Stadtnatur und die
wird. Neben den regulierenden Leistungen liefert Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner. Mithil-
Stadtnatur unter Hitzebedingungen auch wichti- fe eines interdisziplinären Multimethodenansat-
ge kulturelle Leistungen. Beispielsweise stellen zes wurden in den Hitze- und Trockenjahren 2018
Stadtparks tagsüber schattige, kühle Orte dar, in und 2019 im Rahmen des GreenEquityHEALTH-
denen man sich im Freien aufhalten, sich erholen, Projektes Ökosystemleistungen in zwei innerstäd-
und sich mit Freundinnen und Freunden treffen tischen Stadtparks – dem Friedenspark und dem
kann. Lene-Voigt-Park – erfasst. Der Friedenspark ist ein
17 ha großer, gewachsener Park auf einem ehema-
Stadtnatur unter Stress – das ligen Friedhofsgelände mit einem hohen Bestand
GreenEquityHEALTH-Projekt in Leipzig alter Bäume. Der kleinere, ca. 11 ha große Lene-
Voigt-Park ist im Gegensatz dazu ein gestalteter
Im Rahmen des interdisziplinären GreenEquity Park, der zu Beginn der 2000er-Jahre auf einem
HEALTH-Projekts wurden die regulierenden und ehemaligen Bahnbrachgelände – dem einstigen
kulturellen Ökosystemleistungen in zwei inner- Eilenburger Bahnhof – entstand. Langgezogene
städtischen Stadtparks in Leipzig während der Offenflächen und alte Bahngebäude erinnern
Hitzesommer 2018 und 2019 analysiert. Die Stadt heute noch an seine Vergangenheit. Der Park
Leipzig ist für eine solche interdisziplinäre Stu- wurde im Rahmen eines Partizipationsprozesses
die zum Thema Stadtnatur und Gesundheit unter gestaltet und enthält einige Spielplätze, Sportflä-
Hitze und Trockenheit sehr interessant. Verdich- chen und Urban-Gardening-Anlagen.
tungsprozesse durch anhaltendes Bevölkerungs- Zur Analyse der regulierenden Ökosystemleis-
wachstum sowie die Hitze- und Trockenperioden tung wurde in den Sommermonaten 2018 und
der letzten Jahre stellten gleichermaßen Heraus- 2019 jeweils eine Woche lang an 17 Messstandor- Leipzig
forderungen für die Stadtplanung und Stadtent- ten über die Parkflächen verteilt Lufttemperatur GreenEquity
wicklung Leipzigs dar. Die Bevölkerung der Groß- und Luftfeuchte bodennah und in 2 Metern Höhe HEALTH
Foto 4: Der
Friedenspark im
Juli 2019 unter
extremer Hitze und
Trockenheit
Foto: Felix zur Lage
Deichrückverlegungsprojekte
in Sachsen-Anhalt
Eine Fallstudie zur Wahrnehmung von naturbasierten Lösungen
geographischer • Ortsteil der • Ortstteil der • Stadt im Landkreis • Ortsteil der Stadt • Ortsteil der Stadt
Kontext Stadt Barby Stadt Aken Anhalt-Bitterfeld in Dessau-Roßlau Oranienbaum-
• ca. 3,8 km • ca. 3 km von Sachsen-Anhalt • am rechten Ufer Wörlitz
von der Elbe der Elbe ent- • am linken Ufer der der Elbe gelegen • ca. 800 m von der
entfernt fernt Elbe • ca. 1 km von der Elbe entfernt
• ca. 700 m von der Elbe entfernt
Elbe entfernt
geschätzte Bevölkerung 230 612 7363 11 958 1694
Projekt Naturschutzgroßprojekt Deichrückverlegung Life+Nature „Elbauen bei Vockerode“
(Baujahr) „Mittlere Elbe“ und Auenrenaturierung (2010–2018)
(2006–2018) im Roßlauer Oberluch
(1996–2005)
Tab. 2: Merkmale der untersuchten Städte
Ernteverluste oder den Verlust von Ackerland Abb. 1: Umfrageergebnis zur Aussage „Ich unterstütze die Deichverlegung“
und Zugang zu Bewässerungswasser und es gab Entwurf: Sungju Han, Christian Kuhlicke
enthält die Merkmale der Standorte, einschließ- Abb. 2: Überschwemmungserfahrungen pro Standort in Prozent und in absolu-
lich Projektdetails und Antwortstatistiken. ten Zahlen Entwurf: Sungju Han, Christian Kuhlicke
Einstellung der Bevölkerung zu naturbasierten Abb. 3: Mittelwerte für die Frage „Wie machtlos haben Sie sich bei dieser Über-
Lösungen untersucht. Abbildung 2 zeigt die un- schwemmung gefühlt?“ pro Stadt bzw. Ort Entwurf: Sungju Han, Christian Kuhlicke
Interessanterweise zeigte das Ergebnis, dass sammenhang bereits mithilfe einer Strukturglei-
sich die Bewohner in einigen Städten machtloser chungsmodellierung bestätigt (Han et al. 2023).
fühlten als in anderen; die Menschen in Lödde- Darüber hinaus zeigt sich in denjenigen Städ-
ritz, Kühren und Aken bewerteten das Ausmaß ten eine höhere Unterstützung für das jeweilige
der vergangenen Hochwassererfahrungen höher Deichrückverlegungsprojekt, in denen ein hohes
als der Durchschnitt von 5,0 (vgl. Abb. 3). Darüber Vertrauen in das lokale Hochwasserrisikoma-
hinaus hat das Gefühl der Machtlosigkeit einen nagement vorherrscht. Im Allgemeinen liegt das
moderaten Einfluss auf die Zustimmung oder Ab- Vertrauensniveau im mittleren Bereich (durch-
lehnung der Deichrückverlegungen. Wir fanden schnittlich 4,4 auf einer Sieben-Punkte-Skala, vgl.
eine schwach signifikante Korrelation zwischen Abb. 4, Tab. 3). Die Aussagen „Ich kann mich voll-
der Aussage „Wie machtlos haben Sie sich bei ständig auf den öffentlichen Hochwasserschutz in
dieser [der letzten] Überschwemmung gefühlt?“ meiner Gemeinde verlassen“ und „Ich unterstütze
und „Wie ist Ihre Einstellung zu dem Deichrück- die Deichrückverlegung“ korrelieren moderat (si-
verlegungsprojekt?“ (signifikant auf 0,05-Niveau gnifikant auf 0,01-Niveau mit einem Koeffizienten
mit dem Koeffizienten von -0,2 Spearman-Rho- von 0,3). Anders ausgedrückt: Mehr Vertrauen in
Korrelation). Es zeigt sich also, dass die Wahr- das lokale Hochwasserrisikomanagement bedeu-
scheinlichkeit, dass eine Person Deichrückver- tet eine positivere Einstellung gegenüber dem je-
legungsprojekte unterstützt, geringer ist, wenn weiligen Projekt.
sie sich machtlos gegenüber vorhergehenden Der Grad an Informiertheit über das lokale
Überschwemmungen fühlt. Eine andere Studie Hochwasserrisikomanagement und das Deich-
der Autoren zum gleichen Fall hat diesen Zu- rückverlegungsprojekt korreliert ebenfalls positiv
© Westermann
80 Ich stimme gar nicht zu Ich stimme vollkommen zu 30563EX
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70
60
50
40
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10
0
Ich kann mich vollständig auf den Ich bin über das aktuelle lokale Ich fühle mich gut über das Wegen der Deichrückverlegung ist
öffentlichen Hochwasserschutz in meiner Hochwasserschutzprogramm Deichrückverlegungsprojekt die Stadt besser vor Hochwasser
Gemeinde verlassen (Mittelwert: 4,4). gut informiert (Mittelwert: 4,0). informiert (Mittelwert: 3,3). geschützt (Mittelwert: 4,6).
Abb. 4: Zustimmung bzw. Ablehnung verschiedener Statements im Kontext der Deichrückverlegungsprojekte Entwurf: Sungju Han, Christian Kuhlicke
Foto 1:
Schweres
Unwet-
ter mit
Gewitter,
Starkre-
gen und
Hagel im
Landkreis
Miesbach
(2021)
Foto: IMAGO/Bernd März
Gleichzeitig sind die Städte im Bayerischen Herausforderung für die Vorhersage und
Oberland durch ihre Nähe zu München und Warnung
die dynamische Wirtschaftsentwicklung
s owie den hohen Freizeitwert mit einem
Eine wesentliche Herausforderung für das städ-
enormen Wachstumsdruck konfrontiert. Die tische Risikomanagement besteht darin, dass
Bevölkerung hat durch Zuzug in den letzten Vorhersagen zu möglichen Starkniederschlags-
20 Jahren kontinuierlich zugenommen. Bis
2031 wird der Reg ion ein überdurchschnitt-
liches Be v öl
k erungswachstum von 7 % bis ∎ Textbox 1
10 % gegenü ber dem Jahr 2015 prognostiziert
(LfStat 2017). Damit gehen ein umfassender Die Region Oberland in Bayern
Flächennutzungswandel und eine steigende ■■ Landkreise Bad Tölz-Wolfratshausen, Garmisch-Partenkirchen, Miesbach
Bodenversiegelung und somit letztlich ein und Weilheim-Schongau mit zahlreichen Klein- bzw. Mittelstädten und
wachsender Zielkonf likt zwischen den Er- insgesamt rund 450 000 Einwohnerinnen und Einwohner
fordernissen der Risikovorsorge, vor allem
■■ grenzt im Norden an den Verdichtungsraum München und im Süden an
dem Erhalt von Freif lächen, und der Sied
die bayerischen Alpen
lungsentwicklung einher (Bausch und Hör-
mann 2013, Bothe und von Streit 2018). Aus ■■ Bruttoinlandsprodukt von knapp 10 Mrd. €
dieser Kombination ergibt sich zumeist für ■■ Klimaraumtypen: Gebirgs- und Gebirgsvorlandklima mit hohem
k leinere Städte und Kommunen in der Region Niederschlag
ein besonders hoher A npassungsbedarf.
ereignissen räumlich und zeitlich ungenau sind. teorologischen Bedingungen konzentrieren, son-
Extremwetterwarnungen lassen zudem nur dern gleichzeitig Informationen über die damit
bedingt Rückschlüsse auf mögliche Auswirkun- verbundenen Auswirkungen (etwa Verkehr, Ge-
gen und Schäden zu. Die Auswertung von Feu- sundheit, Freizeitverhalten) enthalten. Für deren
erwehreinsatzdaten im Bayerischen Oberland Erstellung sind grundlegende Informationen über
beispielsweise zeigt, dass Ereignisse mit sehr un- die tatsächlichen Auswirkungen über bisherige
terschiedlichen Niederschlagsmengen zu Einsät- Messnetze bislang aber nicht oder nicht ausrei-
zen geführt haben (vgl. Abb. 2), je nach lokalen chend verfügbar (Kox et al. 2021, Krennert et al.
Gegebenheiten wie Topographie, anthropogenen 2018). Citizen-Science-Projekte (vgl. Textbox 2)
Eingriffen in Fließgewässer, Bebauung und Flä- bieten alternative Lösungen, um diese Datenlü-
chennutzung sowie dem hydrologischen Kontext cken zu schließen und Aussagen über Wetterer-
des jeweiligen Ereignisses hinsichtlich z. B. der eignisse und deren Folgen mit hoher räumlicher
vorangegangenen Bodenfeuchte. Die Datenlage und zeitlicher Auflösung und Zuverlässigkeit zu
zur Verknüpfung von Starkniederschlagsereig- treffen (Fehri et al. 2020). Gleichzeitig bietet Ci-
nissen und deren Auswirkungen und Schäden tizen Science eine Möglichkeit, einen angemes-
ist bislang aber unzureichend. In den letzten senen Umgang mit Warnungen zu vermitteln.
Jahren hat die Entwicklung von sogenannten Bislang schätzen Menschen Wetterwarnungen
KARE-Citizen
Science impact-basierten Vorhersagen begonnen (WMO oftmals falsch ein und reagieren nicht angemes-
2021), die sich nicht ausschließlich auf die me- sen, um sich oder ihr Hab und Gut zu schützen.
Durch die Zusammenarbeit mit den Zielgruppen
von Warnungen können Informationsbedarfe er-
mittelt und Warnungen verbessert werden (Kox
et al. 2018).
8
3
1
2
0 0
August September Oktober November 2020
30571EX © Westermann
wirkungen. Durch weiterführende Forschung tal Science & Policy 104, S. 67–72 (https://doi.org/10.1016/j.
und breitere Anwendung können derartige An- envsci.2019.11.009)
Hicks, A., Barclay, J., Chilvers, J., Armijos, M. T., Oven, K.,
sätze zunehmend für die Risikovorhersage und
Simmons, P. und M. Haklay (2019): Global Mapping of Citi-
Anpassungsplanung genutzt werden. Zudem zen Science Projects for Disaster Risk Reduction. Frontiers
zeigen die Ergebnisse eine hohe Beteiligung in Earth Science 7, Artikel 226 (https://doi.org/10.3389/
der Schülerinnen und Schüler und lassen eine feart.2019.00226)
verbesserte Sensibilisierung für Starknieder- Koc, G. (2021): Starkregenereignisse der letzten 10 Jahre im
Oberland: Aktueller Stand. KARE Transferveranstaltung
schlagsrisiken und deren Bewältigung vermu- 13.12.2020 (https://energiewende-oberland.de/download/
ten. Sicherlich bedarf es jedoch weiterer For- a33nfb4rrr6ntdkj8anrfqcqcee/KARE_Starkregen%20im%20
schung in diesem Bereich, um die Wirksamkeit Oberland_KocGamze.pdf)
von Citizen-Science-Ansätzen zum städtischen KLIWA – Klimaveränderung und Wasserwirtschaft (2019):
Starkniederschläge. Entwicklungen in Vergangenheit und
Starniederschlagsmanagement langfristiger
Zukunft. Kurzbericht (https://www.kliwa.de/_download/
und großflächiger zu untersuchen. ∎ KLIWA-Kurzbericht_Starkregen.pdf)
Kox, T., Kempf, H., Lüder, C., Hagedorn, R. und L. Gerhold
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Fehri, R., Khlifi, S. und M. Vanclooster (2020): Testing a citizen thomas.kox@weizenbaum-institut.de
science water monitoring approach in Tunisia. Environmen- Schwerpunkte: Risiko und Unsicherheit, Naturgefahren/-risiken
Nach Jahrzehnten der Gefährdung breitet sich der Biber in Deutschland wieder aus.
Durch seine Tätigkeit verändert er den Wasserhaushalt der Gewässer und der angren-
zenden Flächen. Dies kann zu Zielkonflikten im Naturschutz führen, wenn sich, wie
im vorliegenden Fall im Naturschutzgebiet Bruckried (Landkreis Konstanz), der Arten-
schutz für den Biber und der Pflegenaturschutz für den Erhalt von Lebensräumen mit
seltenen und zum Teil stark gefährdeten Pflanzenarten gegenüberstehen.
Abb. 1: Lage des Naturschutzgebiets Bruckried im Süden von Baden-Württemberg Grafik: Hannes Laermanns, Milan van Well, Kai-Steffen Frank
Naturschutz in Deutschland
nachteiligen Veränderungen.
■■ Der Prozessschutz stellt eine Ergänzung zum
statischen, konservierenden Naturschutz dar. Ziel
dabei ist es, die natürlichen Prozesse in Ökosys- Foto 2: Vernässter Bereich im östlichen Teil des Naturschutzgebiets Bruckried
temen zuzulassen. Dabei spielen, ihren Lebens- (März 2022)
raum selbst gestaltende Schlüsselarten wie der
Biber eine entscheidende Rolle (Jedicke 2022). breiten Rinne, dem sogenannten Schwefelgraben,
Welche Prozesse natürlich sind und welche nicht, einem ehemaligen Eisrandtal der Endmoränen-
darüber gilt es zu diskutieren. landschaft des Würm-Glazials (Jehle und Genser
■■ Dem gegenüber steht abschließend der ästhe- 2004). Ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende
tische Landschaftsschutz, der Landschaftsbild des Zweiten Weltkriegs wurde hier vereinzelt Torf
und Erholungsfunktionen sowie ganze regions- von der lokalen Bevölkerung abgebaut, wozu Tei-
typische Kulturlandschaften bewahren möchte. le des Moores trockengelegt wurden. 1978 wur-
Aus der Überschneidung der Schutzziele re- de das Bruckried aufgrund seiner herausragen-
sultieren Zielkonflikte wie im Naturschutzgebiet den floristischen Bedeutung unter Naturschutz
Bruckried, wo nach dem Auftauchen des Bibers gestellt. Seit 1979 betreut der Bund für Umwelt
der Artenschutz (Schutz des Bibers) dem Biotop- und Naturschutz (BUND) Landesverband Baden-
schutz (Erhalt der geschützten Kalk-Flachmoor- Württemberg, Naturschutzzentrum Möggingen,
Vegetation) und dem Schutz der zum Teil stark das Naturschutzgebiet offiziell im Auftrag des zu-
gefährdeten Pflanzenarten gegenübersteht. ständigen Regierungspräsidiums Freiburg (Frank
et al. 2020). Gemäß den Leitlinien des Biotop-
Das Naturschutzgebiet Bruckried schutzes werden seit 1980 Pflegemaßnahmen wie
Entbuschungen und Mäharbeiten durchgeführt
Das Naturschutzgebiet Bruckried hat eine Aus- (Kersting und Jehle 1990), um Gehölze zurückzu-
dehnung von ca. 18,7 ha und liegt im Hegau im drängen und den Anteil der offenen Flächen zu
Landkreis Konstanz (Kersting und Jehle 1990, vgl. erhöhen. So konnten der Charakter des Schutz-
Abb. 1). Das Schutzgebiet ist Teil einer etwa 200 m gebietes erhalten und die gefährdeten Kalk-Flach-
Sumpf-Glanzkraut 161 2
F9, R9 3 1
(Liparis loeselii) (blühend) (blühend)
moor-Gesellschaften geschützt werden (Holthaus also jeweils vor dem Auftauchen des Bibers im
2015), die außerhalb der Alpen nur im südlichen Bruckried, verglichen (vgl. Fotos 3–5 und Abb.
Mitteleuropa zu finden sind (Ellenberg 1982, Jeh- 2). Sechs Arten sind typische Standortvertreter
le und Genser 2004). Hier finden sich Standorte von Kalk-Flachmooren und wurden bereits von
für seltene Pflanzenarten wie z. B. Mehl-Primel Holthaus 2015 erfasst: Fieberklee (Menyanthes
(Primula farinosa), Spatelblättriges Greiskraut trifoliata), Gewöhnliches Fettkraut (Pinguicula
(Tephroseris helenitis), Sumpf-Glanzkraut (Liparis vulgaris), Fleischfarbenes Knabenkraut (Dacty-
loeselii), Fieberklee (Menyanthes trifoliata) oder lorhiza incarnata), Sumpf-Ständelwurz (Epipac-
Sumpf-Ständelwurz (Epipactis palustris). tis palustris), Sumpf-Glanzkraut (Liparis loeselii)
2018 wurden erstmals Biberaktivitäten im Na- und Mehl-Primel (Primula farinosa). Die zwei
turschutzgebiet Bruckried festgestellt (vgl. Foto 1). weiteren, nun erstmals kartierten Arten Kleiner
Im Winter 2018/19 legten die Tiere einen großen Wasserschlauch (Utricularia minor) und Knollen-
Damm westlich des Naturschutzgebiets an, der Kratzdistel (Cirsium tuberosum) sind nicht typisch
bis weit in das Naturschutzgebiet rückstaut (vgl. für die oben genannten Gesellschaften. Sie sol-
Abb. 1). Weitere Dämme im zentralen Bereich des len als mögliche Profiteure von nass-quelligen
Gebiets folgten in den darauffolgenden Jahren. (Kleiner Wasserschlauch) und wechselfeuchten
Dies führt aktuell dazu, dass Teile der wertvollen Standorten (Knollen-Kratzdistel) Aufschluss über
Kalk-Flachmoor-Gesellschaften überstaut werden Veränderungen der Flächen geben. Bei allen acht
und auch die jährlichen Pflegemaßnahmen er- Arten handelt es sich um gefährdete und stark ge-
schwert und diese stellenweise nur eingeschränkt fährdete Arten der Roten Liste Deutschlands und
oder nicht durchführbar sind (vgl. Foto. 2). Dank Baden-Württembergs. Das Sumpf-Glanzkraut ist
moderner Mähtechnik konnte dieses Problem in- zusätzlich durch die Fauna-Flora-Habitat-Richt-
zwischen weitgehend gelöst werden. Sollten sich linie geschützt. Die jeweiligen Standortindikato-
die Überflutungen jedoch weiter verstärken, stößt ren werden in der Tabelle nach Ellenberg mit der
auch diese Technik an ihre Grenzen. Feuchtezahl als Indikator für Toleranz gegenüber
Nässe (F5 = Frischezeiger bis F10 = Wechselwas-
Auswirkungen des Bibers auf die Flora serzeiger) und der Reaktionszahl als Indikator für
das Milieu (R7 = Schwachsäuren- bis Schwachba-
Um den Einfluss des Bibers auf die Kalk-Flach- senzeiger bis R9 = Basen- und Kalkzeiger, x = in-
moor-Gesellschaften des Naturschutzgebiets differentes Verhalten) kategorisiert.
Bruckried zu untersuchen, wurde 2022 das Mittels GPS wurde ein Rasternetz von 50 x 50 m
Vorkommen von acht Pflanzenarten kartiert. über die Naturschutzgebietsfläche gelegt, sodass
Die Fauna-
Flora- Die Ergebnisse wurden mit einer Kartierung dies möglichst deckungsgleich zu jenem von Holt-
Habitat- aus dem Jahr 2015 (Holthaus 2015) sowie einer haus aus dem Jahr 2015 war. Darin wurden flä-
Richtlinie weiteren Kartierung von 1986 (Neumann 1986), chenhaft, je nach Art und Phänotyp, die Anzahl der
Fotos 3–5: Beispiele der kartierten Pflanzenarten, links: Mehl-Primel (Primula farinosa), Mitte: Fleischfarbendes Knaben-
kraut (Dactylorhiza incarnata), rechts: Sumpf-Ständelwurz (Epipactis palustris) Foto links: Finn Klessmann, Fotos Mitte, rechts: Milan van Well
Foto 1: Rund um
Hurghada werden
u. a. das Berühren
von Korallen und
Bootslärm als Kritik-
punkte am Tauchtou-
rismus genannt
Die marinen Schutzgebiete dieser Welt stellen für viele Menschen Orte der Er-
holung dar. Eine besondere Form diese Orte zu erleben ist der Tauchsport, der
eine Beobachtung der Unterwasserwelt aus nächster Nähe ermöglicht. Die ne-
gativen ökologischen Folgen des Tauchens führten in den letzten Jahren aller-
dings immer wieder zu Kritik, während die positiven Aspekte des Naturerlebens
zu wenig beachtet wurden. Es ist stark anzunehmen, dass das Tauchen zu einer
höheren Kompetenz im Bereich der Ozeane und damit zu mehr Meeresschutz
beitragen kann. Dieser Perspektive wird in diesem Beitrag nachgegangen.
erreichbarer Hotspot ist die ägyptische Küstenre- scherei, Schifffahrt und Tourismus bedroht (Fine
gion um Hurghada mit dem 50 km südlich liegen- et al. 2019, S. 2). Auch der Tauchtourismus steht
den Safaga. Die hohe Attraktivität der Regionen hier in der Kritik, sich negativ auf den Zustand
geht vor allem von den weißen Sandstränden, der Korallenriffe auszuwirken. Neben dem Ver-
klaren Gewässern und küstennahen Korallenrif- halten individueller Tauchender, die beabsichtigt
fen aus. Knapp ein Drittel der Hotelkapazitäten oder unbeabsichtigt Korallen berühren, können
Ägyptens konzentriert sich auf diesen Bereich des auch Bootslärm und Ankerwürfe für die Störun-
Roten Meeres (Hilmi et al. 2018, S. 31f.). Neben gen der Tierwelt verantwortlich gemacht werden
der klassischen Tourismusinfrastruktur wie Ho- (Gladstone 2013, S. 381; Giglio et al. 2017, S. 313).
telkomplexen siedelte sich hier auch eine spezi-
elle Tauchinfrastruktur an. Eine besondere Rolle Chancen des Tauchens für Meeresschutz
spielen die Tauchzentren (vgl. Karte), die neben und Meereskompetenz
Ausbildungsprogrammen auch die Möglichkeit
zu begleiteten Tauchausflügen, z. B. auf großen Die Wechselwirkungen zwischen Schutzgebieten,
Tauchbooten bieten (Dimmock und Musa 2015, Tauchenden und der Tauch-Community als Netz-
S. 54, vgl. Foto 1). werk bieten viele Vorteile für den Meeresschutz
HEPCA –
Die Küstengebiete um Hurghada sind jedoch und die Erhöhung einer Meereskompetenz, die Caring for
durch Umweltrisiken wie der Versauerung der in der englischsprachigen Wissenschaftsliteratur the Red Sea
Ozeane, steigende Meerestemperaturen sowie Fi- als Ocean Literacy bekannt ist (vgl. Textbox). Als
∎ Textbox
Ocean Literacy
Das Konzept der Ocean Literacy beschreibt das einem ausgeprägten Verständnis der Meere
Wissen, Einstellungen und Verhaltensweisen von kann als „ocean literate“ bezeichnet werden.
Menschen in Bezug auf die Ozeane. Hierzu zählen Diese Personen sind in der Lage, auf Basis ihres
nicht nur Fakten über die Weltmeere, sondern Wissens fundierte und verantwortungsvolle
auch das Wissen über den alltäglichen Einfluss Entscheidungen im Sinne des Meeresschutzes
der Meere auf die Menschen und umgekehrt. Au- zu treffen (Kelly et al. 2021, S. 124f.). Das Wissen
ßerdem umfasst das Konzept auch die meeres- allein reicht jedoch nicht aus. An vielen Stellen
bezogenen Einstellungen und Verhaltensweisen ist es notwendig, das eigene Verhalten (z. B. den
eines Menschen und verbindet somit ökologische individuellen Konsum von Fischereiprodukten)
mit anthropogenen Faktoren. Eine Person mit anzupassen (Stoll-Kleemann 2019, S. 11f.).
direkter Effekt ist hierbei der finanzielle Gewinn barer Nähe deutlich werden. Die Beobachtung
für marine Naturschutzgebiete zu nennen. Viele eben dieser Umweltproblematiken können bei
Schutzgebiete erheben Gebühren von Tauchen- Tauchenden starke Emotionen hervorrufen (Stoll-
den, die einen wichtigen Bestandteil für deren Kleemann und Darmstadt 2023). Entsprechend
Verwaltungsbudget darstellen, sodass gezielte der persönlichen Einstellungen der Tauchenden
Schutzmaßnahmen effektiver umgesetzt werden und der individuellen Verbundenheit mit der
können (Wielgus et al. 2010). Vor allem für das Natur können diese neues Engagement im Um-
nördlich von Hurghada liegende Schutzgebiet weltschutz allgemein oder im marinen Umwelt-
Northern Red Sea Islands ist dieser Aspekt von ho- schutz im Besonderen auslösen (Siekiera 2023, S.
hem Wert (Darmstadt 2023, S. 16). Hinzu kommt 56f.; vgl. Foto 2). Beispiele für aktives Engagement
der Beitrag des Tauchens für die Forschung im in der Tauch-Community sind Programme gro-
Rahmen von Citizen-Science-Projekten. Tauchen- ßer Tauchverbände wie PADI, die sich mit dem
de können Teil der Datenerhebung im Bereich des Programm „Green Finn“ für standardisierte und
Biodiversität-Monitorings und des Umweltschut- nachhaltige Praktiken in der internationalen
zes werden und Forschungsprojekte gezielt unter- Tauchbranche einsetzen (PADI 2023). Gleichzeitig
stützen (Hermoso et al. 2021, S. 441, 449). entstehen aus der Tauch-Community auch klei-
Die Aspekte der Meereskompetenz im Kontext nere Nichtregierungsorganisationen, die sich im
des Tauchens wurden aus wissenschaftlicher Per- lokalen Umweltschutz engagieren. In Hurghada
spektive bisher wenig beachtet. Dabei können ist hier die Hurghada Environmental Protection
Tauchende durch das Naturerleben konkretes and Conservation Association (HEPCA) zu nen-
Wissen über Artenkenntnisse und Umweltproble- nen. HEPCA arbeitet u. a. an einer Erweiterung
me erlangen. Vor allem die Plastikverschmutzung eines von ihnen initiierten Ankerbojensystems,
der Ozeane, Korallenbleichen und Überfischung um Korallenriffe vor Ankerschäden durch Tauch-
sind Probleme, die unter Wasser aus unmittel- boote zu bewahren (Darmstadt 2023, S. 16).
Foto: IMAGO/imagebroker
ten, den negativen Einfluss des Tauchens zu mi-
nimieren und gleichzeitig den Sporttreibenden
Taucherfahrungen zu ermöglichen. Beispiels-
weise kann vor Beginn eines Tauchganges im
Rahmen eines Briefings ein stärkerer Fokus Foto 3: Neben seiner Lage hat auch der boomende Tauchtourismus dazu ge-
auf das Berührungsverbot von Korallen und führt, dass rund um Hurghada uniformierte Hotelkomplexe entstanden sind
Tieren gelegt werden. Diese Maßnahme kann
durch erweitere Umweltbildung sowie durch Hammerton, Z. und D. Bucher (2015): Levels of intervention
eine direkte Intervention bei Kontakten unter – reducing SCUBA-diver impact within subtropical marine
protected areas. Journal of Ecotourism 14 (1), S. 3–20
Wasser erweitert werden. Ein zusätzliches Trai-
Hermoso, M., Narváez, S. und M. Thiel (2021): Engaging
ning von umweltverträglichen Tauchtechniken, recreational scuba divers in marine citizen science: Diffe-
wie einer stabilen Tarierung (die Körperlage rences according to popularity of the diving area. Aquatic
im Wasser) oder einem ruhigen Flossenschlag, Conservation: Marine Freshwater Ecosystem 31, S. 441–445
kann ebenfalls unbeabsichtigten Kontakt zwi- Hilmi, N., Safa, A.; Reynaud, S. und D. Allemand (2018):
Coral-based tourism in Egypt’s Red Sea. In: Prideaux, B. und
schen Tauchenden und Riffen reduzieren. Die
A. Pabel (Hrsg.): Coral Reefs: Tourism, Conservation and
verschiedenen Strategien können dabei helfen, Management. London, S. 29–43
die Tauchbranche in eine umweltverträglichere Kelly, R., Evans, K., Alexander, K. et al. (2022): Connecting to
Sportart zu transformieren (Hammerton und the oceans: supporting ocean literacy and public engage-
Bucher 2015, S. 15f.). Gleichzeitig kann auch ment. Reviews in Fish Biology and Fisheries 32, S. 123–143
PADI (2023): Green Finns, Umweltschädigung durch die
strukturell durch Nichtregierungsorganisatio-
Tauchbranche reduzieren und ihre Nachhaltigkeit fördern
nen wie HEPCA dabei geholfen werden, diese (https://www.padi.com/de/conservation/green-fins)
Transformation voranzutreiben. Somit kann Siekiera, C. (2023): A matter of affection? The role of SCUBA di-
die Ausbildung oder Erweiterung einer Meeres- vers’ emotions and nature affiliation in divers’ site-specific
kompetenz durch das Tauchen auf eine umwelt- and everyday behaviour concerning coral reef conservation
In: Stoll-Kleemann, S. und C. N. Darmstadt (Hrsg.): Pers-
verträgliche Art ermöglicht werden und einen
pektiven einer nachhaltigen Meeresnutzung. Tauchen als
Beitrag zum lokalen und globalen Meeresschutz Mensch-Natur(raum) Interaktion. Greifswalder Geographi-
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ägyptischen Northern Red Sea Islands. In: Stoll-Klemann, S. einer nachhaltigen Meeresnutzung. Tauchen als Mensch-
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Meeresnutzung. Tauchen als Mensch-Natur(raum) Interakti- Arbeiten, Band 58, S. 64–94
on. Greifswalder Geographische Arbeiten, Band 58, S. 5–36 Wielgus, J., Balmford, A., Lewis, T. B., Mora, C. und L. R. Gerber
Dimmock, K. und G. Musa (2015): Scuba Diving Tourism (2010): Coral reef quality and recreation fees in marine
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Gladstone, W., Curley, B. und M. R. Shokri (2017): Environmen- Schwerpunkte: Medien, Tourismus, Deutschland, Frankreich
tal impacts of tourism in the Gulf and the Red Sea. Marine
pollution bulletin 72 (2), S. 375–388 Institut für Geographie und Geologie, Universität Greifswald
An der deutschen Ostsee ist die niedrig liegende Küs- bol der schöpferischen Kraft des Menschen im Kampf
te die attraktivste für Siedlungen und ökonomische gegen die Naturgewalt des Meeres. Deiche abzubauen
Aktivitäten. Der Erhalt ist nur möglich durch Küsten- beeinträchtigt das Sicherheitsgefühl der Menschen an
schutz, der Leib, Leben, Land und Vermögen schützt. der Küste. Die landwirtschaftliche Nutzung auf ent-
Harte Infrastrukturen (z. B. Deiche) wie weiche Küsten- deichten Flächen muss angepasst, sogar eingestellt
schutzmaßnahmen (z. B. Sandaufspülungen) werden werden. Zudem führen Wiedervernässung, periodische
jedoch durch den steigenden Meeresspiegel immer Überflutungen und Versalzung zu starken Änderungen
komplexer und kostspieliger. des Landschaftsbilds und der Biodiversität.
Die Abneigung, dem Meer Land zurückzugeben,
Zeit für eine Kehrtwende im Küstenschutz? weist auf Zielkonflikte und Widersprüche, die auf Ge-
An dünn besiedelten Küsten, die mit viel Aufwand sellschaftsebene debattiert werden sollten. Einerseits
landwirtschaftlich genutzt werden, könnte gewonne- haben die Menschen sich an eine künstlich gestaltete
nes Land wieder dem Meer zurückgegeben werden. Küste gewöhnt, die einer natürlichen Entwicklung
Durch gezielte Deichrückverlegung werden natürli- wenig Raum lässt. Anderseits werden Hochwasser,
che Küstendynamiken wieder hergestellt und, so die Überschwemmungen oder Küstenrückgang als Be-
Theorie, Synergien zwischen Küsten- und Naturschutz drohungen wahrgenommen, statt als natürliche Er-
freigesetzt, Kosten reduziert und naturnahe Land- eignisse und Prozesse einer lebendigen Küste. Der
schaften gefördert (de la Vega-Leinert et al. 2018). klassische Küstenschutz in Form von harter Infrastruk-
Konkret bedeutet dies, tur vermittelt aber ein falsches Sicherheitsgefühl und
■■ die Deichlinie zu kürzen und deren Baugröße zu führt dazu, dass Küsten immer mehr Menschen und
verringern; Kapital anziehen. Dies erhöht die soziale Betroffenheit
■■ ausgewählte landwirtschaftliche Deiche und Ent- im Angesicht des Klimawandels und trägt zu einer
wässerungssysteme abzubauen; steigenden Abhängigkeit vom Küstenschutz bei.
■■ Siedlungen durch den Bau neuer Ringdeiche vor
Hochwasser zu schützen, oder Den Weg zur Deichrückverlegung
■■ kontrollierte Überflutung durch ein Schleusensys- vorbereiten
tem zuzulassen. In den letzten Jahren wird die staatliche Verantwor-
Dieser relativ neue Küstenschutzansatz wird kontro- tung für den Küstenschutz neu definiert. So schränkte
vers diskutiert. Küstenschutzinfrastruktur gilt als Sym- das Land Mecklenburg-Vorpommern sein Mandat für
Gegenwärti-
ger Stand von
Deichrückver-
legungen in
Mecklenburg-
Vorpommern
Karte: Anne Cristina de la Vega-Leinert auf Basis von Google Earth
Ute Kleinelümern
Magazin
Grenzen von KI erkennen
Für die einen gilt sie als Segen, für an- kann mittels maschinellem Lernen
dere ist sie ein Fluch: Künstliche Intelli- und Verarbeitung natürlicher Sprache
genz (KI). Was kann sie und was nicht? (Natural Language Processing) helfen,
Das hängt vom Anwendungsfall und relevante Fachbeiträge zu finden und
der spezifischen Nutzenbewertung effizienter Vergleiche zu erstellen. Wis-
ab. Viele haben Erfahrungen mit Emp- sen kann so besser verfügbar gemacht
fehlungssystemen auf Video-Portalen, und qualitativ erhalten werden.
maschineller Textübersetzung oder dy-
namischer Routenführung gesammelt. Der Chatbot ChatGPT hat einen Um-
Auch die Anomalie-Erkennung zur Kre- bruch eingeläutet. Werden Urhebe-
ditkarten-Betrugsprävention ist ohne rinnen und Urheber von Hausarbeiten
KI undenkbar. Nicht minder wichtig ist und Forschungsartikeln bald nicht
Forschung zur Wirkstoffentwicklung für mehr selbst denken müssen?
Impfstoffe. In der öffentlichen Debatte Das halte ich vorerst für unwahr-
gerät oft zu kurz, dass die Entwicklung scheinlich. Generative KI-Systeme wie
Foto: privat
neuer Medikamente immer länger und ChatGPT werden anhand großer Text-
teurer wird, wodurch Forschung in die- datensätze aus dem Internet trainiert.
sem Feld unattraktiver wird. KI kann Verzerrungen in Trainingsdaten sind
helfen, das sogenannte Eroom’s Law Dr. Johannes Winter, häufig. Rassistische Antworten können
zu brechen, indem datenbasierte Vor- geb. 1977 erzeugt oder Kontexte wie Sarkasmus
hersagen zu toxischen Reaktionen oder missinterpretiert werden. Auch mangelt
Chief Strategy Officer und Direktoriumsmitglied
fehlender Wirksamkeit dazu führen, am KI-Forschungszentrum L3S. Studium der es an Nachvollziehbarkeit und Quel-
dass Projekte gestoppt oder verändert Geographie, Volkswirtschaftslehre und Politik. lennachweisen. Die Systeme neigen
werden. KI erweitert hier analytische Promotion mit einer wirtschaftsgeographi- dazu, unterschiedliche Antworten auf
Fähigkeiten des Menschen und ergänzt schen Arbeit zur Kompetenzentwicklung in der dieselbe Frage zu geben. Wir werden in
Automobilindustrie
Trial-and-Error-Ansätze der Medizin. Hochschule, Schule und Verlag auf Fälle
Forschenden des Massachusetts Ins- stoßen, in denen „stochastische Papa-
titute of Technology (MIT) und Broad tert. Das offenbart, dass sich die Nutzen- geien“ am Werk waren. Ich halte aber
Institute gelang es mit Machine Lear- und Risikobewertung einer KI-Anwen- nichts davon, den ChatGPT-Zugang zu
ning, aus Arzneimittelkandidaten ein dung regional unterscheiden kann. sperren, so wie es Staaten tun.
leistungsfähiges Antibiotikum zu iden- Die Technologiereife verläuft im Soft-
tifizieren, das pathogene Bakterien und Welche neuen Perspektiven eröffnet warebereich rasch, es wird qualitative
Stämme, die gegen Antibiotika resistent KI der Geographie schon heute? Und Fortschritte geben. Generative KI kann
sind, abtötet. Das ist ein Durchbruch. welche sind noch zu erwarten? bei der Aufbereitung gut dokumentier-
Hingegen zeigt die Debatte um Angesichts von jährlich 2,5 Mio. pub- ten Wissens helfen und bei monotonen
Sprachmodelle wie ChatGPT, dass wir lizierten wissenschaftlichen Artikeln, Analysen großer Textmengen entlas-
es mit „stochastischen Papageien“ zu darunter eine niedrige sechsstellige ten. Wir sollten die Anstrengungen viel-
tun haben, wie es die Forscherin Emily Anzahl in der Geographie, wird es im- mehr auf das Ziel eines aufgeklärten
Bender ausdrückt. ChatBots haben kein mer schwieriger, relevante Forschungs- Umgangs mit KI fokussieren, so wie es
tiefes Verständnis für Sprache, weshalb ergebnisse und Peer-Reviewer zu Volkshochschulen, Universitäten und
sie bisweilen Inhalte erfinden. Neben identifizieren. Forschende haben nun das Bundesministerium für Bildung
technischen sind es ethische Grenzen einen Open Research Knowledge Graph und Forschung unter dem Stichwort
des KI-Einsatzes, die eine Gesellschaft entwickelt. Ein Wissensgraph ist ein se- „AI Literacy“ bereits tun. Denn Chan-
erkennen sollte. Ein Beispiel ist die an- mantisches Netzwerk, das Datenquellen cen und Risiken von KI kontextbasiert
gestrebte globale Ächtung autonomer wie Publikationsinhalte zu einem kohä- einschätzen zu können, hilft uns, Tech-
tödlicher Waffensysteme, an der sich renten Wissensspeicher zusammenfügt nologie dort einzusetzen, wo sie Men-
Deutschland beteiligt. Sie ist bisher am und Beziehungen zwischen Entitäten schen tatsächlich unterstützt.
Veto von Russland und den USA geschei- wie Forschungsfragen visualisiert. Er Fragen: Dietmar Falk
Magazin
Siebo Heinken (Hrsg.): Franziska Tannenberger, Oliver Lenzen
Vulkane. Die phantastische Vera Schroeder Das große Buch vom Sand.
Welt der Feuerberge Das Moor Die Vielfalt im Kleinen
wbg Theiss 2023 | 272 Seiten | 40 € dtv 2023 | 237 Seiten | 24 € Haupt Verlag 2022 | 368 Seiten | 39,90 €
Ein Team um Siebo Heinken fasst eine Moore wurden lange als nutzlose Die Faszination liegt oft im Detail. Da-
Ausstellung in Rosenheim über Vulkane Räume angesehen, die es durch Ent- von zeugt das überaus anschauliche
in einem umfangreichen Werk gekonnt wässerung erst in nutzbares Land um- und informative Sachbuch mit mehr als
zusammen. Das Buch ist aber auch zuwandeln galt. Heute wissen wir um 500 Fotografien, 30 Illustrationen und
ohne die Ausstellung empfehlenswert. die vielfältigen Funktionen und Dienst- 15 Tabellen von Oliver Lenzen.
Untermalt von spektakulären Bil- leistungen der wassergesättigten Öko- Von Haus aus Ingenieur begeis-
dern verschmelzen Wissenswertes systeme viel besser Bescheid, Wissen, tert sich der Rektor der Hochschule
und Schönheit. Die Vulkane zeigen ihre das auch aus dem von Franziska Tan- Heilbronn seit vielen Jahren für das
gegensätzlichen Gesichter: Bedrohung nenberger geleiteten Greifswald Moor Phänomen Sand, nimmt mit Lupe
und Nutzungsmöglichkeiten stellen für Centrum kommt. und Mikroskop einzelne Körner – per
ein Zehntel der Weltbevölkerung, die Zusammen mit der Wissenschafts- Definition mit Größen von 0,063 mm
in einem 100-km-Radius von aktiven journalistin Vera Schroeder hat die bis 2 mm – ins Visier und macht so
Vulkanen leben, eine Gratwanderung Moorexpertin ein höchst lesenswertes sichtbar, was dem normalen Blick ver-
dar. Rotglühende Ikonen der Gegen- Buch über die „faszinierende Welt zwi- borgen bleibt. Doch der Autor verharrt
wart und Vergangenheit beeinflussen schen Wasser und Land“ verfasst. In nicht im Detail, sondern betrachtet das
den Lauf der Geschichte, geben unlös- sieben Kapiteln werden Ökologie, Ver- Thema von vielen Seiten. So spannt er
bare Rätsel auf und formen einzigartige breitung und Entwicklung, die Bedeu- einen facettenreichen Bogen von den
Landschaften, deren Magie Forschende tung von Mooren für den Klimaschutz, unterschiedlichen Bestandteilen und
zu lebensbedrohlichen Expeditionen Möglichkeiten der Renaturierung von verschiedenen Eigenschaften des San-
antreibt. Diese führen unter scheinbar Mooren und deren nachhaltige Nut- des, über sein Werden und Vergehen,
schwebende Kraterseen und tief in die zung – Stichwort Paludikultur – sowie den Kreislauf der Gesteine bis hin zum
vulkanischen Eishöhlen der Antarktis. ein Fahrplan, wie eine „Moorwende“ Sand als Lebensraum, wichtiger Roh-
Doch nicht nur in der Erdgeschichte aussehen kann, behandelt. Zahlen und stoff und inzwischen knappe Ressour-
kommt Vulkanen eine Schlüsselrolle zu, Fakten, ein Glossar und ein Quellen- ce. Natürlich bleibt auch die Frage nach
auch auf anderen Planeten hatte ihre verzeichnis unterstreichen den wissen- der Anzahl der Sandkörner auf der Erde
gewaltige Kraft schöpferische Ausmaße. schaftlichen Anspruch, zugleich geben nicht unbeantwortet.
Der Stil der Autoren ist dabei durch- die Form der Icherzählung und Inter- „Obwohl Sand nahezu allgegenwärtig
weg nüchtern und sachlich. Reißeri- views mit „Moormenschen“ dem Buch ist, bleibt er seinem Wesen nach aber
sche Mythen wie etwa ein unmittelbar eine persönliche, emotionale Note. recht anonym und verborgen.“ Ein Zu-
bevorstehender Ausbruch des Yel- Wer ohne trockene wissenschaftliche stand, dem die Lektüre dieses hoch-
lowstone oder gar das drohende Ende Lektüre etwas über Moore und deren Be- wertig gestalteten, großformatigen
der Menschheit werden mit wissen- deutung für den Klimaschutz lernen will, Bildbandes ebenso unterhaltsam wie
schaftlichen Fakten konfrontiert. ist mit diesem Buch bestens beraten. erfolgreich entgegenwirkt.
Tim Hüttinger Thomas Fickert Ute Kleinelümern
Julia Bihar
Der Brennerbasistunnel
Neuer Verbindungsweg durch die Alpen
Tunnelstrecke
Der Bau des Tunnels ist im Rahmen
des transeuropäischen Verkehrs-
netzes von zentraler Bedeutung. Er
bildet ein wichtiges Verbindungs-
glied des multimodalen skandina-
visch-mediterranen Korridors von
Helsinki nach Valletta.
Am Fuß des Brennermassivs
wird zwischen Innsbruck und
Franzensfeste seit dem symboli-
schen Spatenstich 2006 ein Sys-
tem aus mehreren Tunnelröhren
Foto: BBT SE
vorgetrieben.
Der Brennerbasistunnel besteht
aus zwei jeweils 8,1 m breiten
Baustelle Unterplattner: Die Route über den Brennerpass abgewickelt, der Großteil davon Haupttunnelröhren, die rund 40–
Südportal des Erkun- ist seit jeher eine der wichtigsten (73 %) über die Straße, der Rest 70 m voneinander entfernt liegen
dungsstollens und Was- Verbindungen von Nord nach Süd per Bahn. und eingleisig bestückt werden,
seraufbereitungsanlage über den Alpenhauptkamm. Mit Durch eine Verlagerung des einem dritten Tunnel, dem Erkun-
1370 m Seehöhe ist er der nied- Schwerverkehrs von der Straße dungsstollen, sowie vier seitlichen
rigste Alpenpass und ganzjährig auf die Schiene erhoffen sich die Zufahrtstunneln. Ein Querschlag
befahrbar. Der Transitverkehr über politisch Verantwortlichen eine verbindet alle 333 m die beiden
den Brenner und Maßnahmen ge- Entlastung der Anrainer und der Röhren und dient im Notfall als
gen die starke Verkehrsbelastung Natur. Der Brennerbasistunnel Fluchtweg. Im Gegensatz zur 150
wie Fahrverbote, Blockabfertigung soll einen schnellen, günstigen Jahre alten Bestandsstrecke der
oder ein mögliches Slot-System
sorgen immer wieder für Konflik-
te zwischen den Verantwortlichen
aus Tirol, Südtirol und Bayern.
2022 passierten laut dem öster-
reichischen Autobahnbetreiber
Asfinag 2,48 Mio. Lkw der Kate-
gorie 4 (Fahrzeuge mit über 3,5 t
höchstzulässigem Gesamtgewicht
und vier oder mehr Achsen) sowie
11,2 Mio. Pkw die Hauptmautstelle
Schönberg. In der Summe werden
Brenner
basistunnel gegenwärtig rund ein Drittel des
Grafik: BBT SE
Christoph Zwißler
Wasserkraft am Mekong
Der Mekong ist rund 5000 km lang. ein rasch wachsender Wirtschafts- projekte und Kraftwerke realisiert
Sein 800 000 km² umfassendes raum. Im engen, stark zerklüfteten (z. B. Nuozhadu: 5900 MW, Xiao-
Einzugsgebiet ist Lebensraum für oberen Flussgebiet in China wur- wan: 4200 MW), die zusammen mit
ca. 80 Mio. Menschen und zugleich den seit 2000 viele Staudamm- neuen Verkehrswegen eine rasante
Industrialisierung und Urbanisie-
100°
Landschaft und Gewässer
rung auslösten. Auch in Laos sind
Hanzhong
4075 Huang He 5000
Einzugsgebiet des Mekong im letzten Vierteljahrhundert etwa
C 7089 Berghöhe (in Meter) 25 Kraftwerke mit der Gesamtka-
Me
ko ng h i n a 230 sonstige Landhöhe (in Meter) pazität von 4200 MW entstanden,
Fluss, Zufluss
Jal angtsekiang
ia Rotes
J
Stausee, Staudamm
Nu Jian 3230
Chengdu Becken Bau- oder Planungsphase. Nur
ng
g
Tibet Geplante Wasserumleitung
wenige Projekte (z. B. Xayaburi)
30° umstrittene Projektvorschläge
2865
7556
Neijiang für den Wassertransport nach befinden sich direkt am Mekong,
Nord-China
6882
Chongqing die meisten liegen an Nebenflüs-
Jinping Zigong Wasserkraftwerke (Leistung)
Indien 5881 sen im Osten des Landes.
Xiloudu über 3000 Megawatt
Xiangjiabe 500‒3000 Megawatt
Das Potenzial der laotischen
Dibrugarh
Dibrugarh Ertan Zhaotong geplanter Mekong-Staudamm
Wasserkraft ist enorm: Im gebirgi-
4500
Baihetan gen Osten des Landes fallen bis zu
Ländlicher Wasserverbrauch 2000 mm Niederschlag im Jahr, die
Guiyang
3824 Bewässerungsland
Wudonghe (überwiegend Nassreis-Anbau) großflächig in den Mekong entwäs-
Myitkyina Dali
1670 Kunming sern. Da der Strombedarf aufgrund
Städtischer Wasserverbrauch
Baoshan Orte (Einwohnerzahl) der überwiegend landwirtschaftli-
Xiaowan
über 5 000 000 chen Lebensweise gering ist, ent-
3500
1 000 000 ‒ 5 000 000
Nördlicher Wendekreis wickelt sich Laos zu einem wich-
i
Irawad
(im Bau)
Haiphong
Me
20° Tasang
Ökologie und Wirtschaft des Me-
Haikou
Naypyidaw Laos G o l f vo n kongbeckens. In den Stauseen wird
Saluen
Hainan
2595 Chiang Mai 2820 To nki n Wasser zurückgehalten, um die
ehemals starken Pegelschwankun-
150 Sanya
Bago
60 Vientiane gen zwischen Trocken- und Regen-
Me
(Paigu) ko
Nan (Viangchan) n g zeit auszugleichen. Dabei setzen
Thailand Da Nang
sich nährstoffreiche Schwemm-
Rangun 2080
(Yangon) sedimente ab, die nun auf den
Ira w a d i t
d e l a 100 2598 zuvor periodisch überschwemm-
A
Nakhon
Ratchasima ten Nassreisfeldern der unteren
Vietnam Mekong-Anrainer fehlen und durch
Bangkok
nd
er
Me
Battambang
Kambodscha den Einsatz chemischer Düngemit-
anis
2420
Tonle Sap tel und neue Anbaukulturen ersetzt
es
10
werden müssen. Zudem kommt im
ch
Golf
unteren Mekongbecken weniger
ches
Phnom Penh
von Thailand
is
Ho-Chi-Minh-Stadt
Wasser an. Insbesondere China
es
dc
lta
ko
ng Sü lichen politischen Druck auf die
Me
r
7014KX
© Westermann 100° Ost 110° unteren Anrainer ausüben. ∎
Magazin
Nicole Aeschbach, Werner Aeschbach
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westermann druck GmbH, Braunschweig
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Gleichzeitig erscheint Jeweils zum Monatsanfang, die Doppelaus-
gaben 1/2 und 7/8 jeweils zur Monatsmitte.
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Beihefter 967259 SEK (Voll-Beilage)
Titelbild:
∎ Leserservice Fassadenbegrünung in Stuttgart
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