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7/8-2023 Deutschlands Städte im Klimawandel

www.geographischerundschau.de | Juli/August 7/8-2023

GR Plus:
• Biber und
­Naturschutz
• Dem Meer Land
zurückgeben

Deutschlands Städte im Klimawandel


Das Stadtklima: Ursachen und Effekte Ökosystemleistungen der Stadtnatur
Wie passen wir unsere Städte in Zeiten des Deichrückverlegungsprojekte
Klimawandels an Hitze an? Citizen Science zur Wetter- und
Klimawandel und Katastrophenschutz Schadensbeobachtung
Das Geographische Seminar

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Jahrgang 75 | Juli/August 7/8-2023

Inhalt
Liebe Leserin, lieber Leser,
von Monat zu Monat wird deutlicher, dass der Klimawandel auch Deutschland massiv beein-
flusst. Angesichts der Unumkehrbarkeit der Veränderungen müssen Anpassungsstrategien
entwickelt werden. Im Heft werden Konzepte vorgestellt, die Städte in Deutschland klimaresili-
enter machen können. Die Beiträge beschäftigen sich etwa
mit Fragen des Stadtklimas, des Katastrophenschutzes, der

Foto: IMAGO/Joko
Reduktion von Risiken sowie der Gesundheit der Stadtbe-
wohnerinnen und Stadtbewohner. Die online zugängliche
Rubrik „GR aktuell“ bietet Daten und Informationen zu den
beiden bevölkerungsreichsten Ländern Indien und China.

Dietmar Falk

Moderation: Elke Hertig, Markus Keck Die Anpassungsstrategien an den Klimawandel sind viel-
fältig. Für Städte wesentlich ist zunehmende Begrünung

Deutschlands Städte im
Klimawandel Susanne Stoll-Kleemann, Carina N. Darmstadt
Elke Hertig, Markus Keck 52 Meereskompetenz für mehr Nachhaltigkeit im
4 Deutschlands Städte im Klimawandel Tauchsport

Benjamin Bechtel, Charlotte Hüser Anne Cristina de la Vega-Leinert


10 Das Stadtklima: Ursachen, Effekte und Erfassung 56 Dem Meer Land zurückgeben

Franziska Göttsche, Jörn Birkmann


16 Wie passen wir unsere Städte in Zeiten des Magazin
Klimawandels an Hitze an?
58 Bild und Wort: Abkommen zum Schutz der Hochsee
Alexander Fekete 59 Standpunkt: Eine Gesellschaft sollte ethische Grenzen
22 Der Klimawandel als Herausforderung für den von KI erkennen
städtischen Katastrophenschutz 60 Bibliothek
61 Bibliothek Spezial: Einwirkungen auf die Erdoberfläche
Nadja Kabisch 62 Report: Der Brennerbasistunnel
28 Ökosystemleistungen der Stadtnatur für 64 Karte kompakt: Wasserkraft am Mekong
Gesundheit und Wohlbefinden 65 Forschungslandschaft: Klimaphysik und Bildung für
nachhaltige Entwicklung
Sungju Han, Christian Kuhlicke 66 Vorschau, Impressum
34 Deichrückverlegungsprojekte in Sachsen-Anhalt

Matthias Garschagen, Thomas Kox


40 Citizen Science zur Wetter- und Schadensbeobachtung ∎ Erinnerungstage des Monats
3. Juli 1953 | Vor 70 Jahren gelingt dem Österreicher Hermann Buhl
die Erstbesteigung des Nanga Parbat.
GR Plus 12. Juli 1913 | Vor 110 Jahren wird nach fünf Jahren Bauzeit die
Möhnetalsperre eingeweiht.
Hannes Laermanns, Milan van Well, Kai-Steffen Frank 27. August 1883 | Vor 140 Jahren explodiert der Vulkan Krakatau in
der Sundastraße. Über 36 000 Menschen sterben.
46 Der Einfluss des Bibers im Naturschutzgebiet
Bruckried, Baden-Württemberg  etails zu den Erinnerungstagen und andere aktuelle Themen:
D
Ein Beispiel für Zielkonflikte im Naturschutz www.facebook.com/geographischerundschau

Geographische Rundschau 7/8-2023 3


Deutschlands Städte im Klimawandel urbane Gesundheit, Klimaresilienz, Stadtplanung

Foto 1:
Wasser-
flächen in
der Stadt
tragen zur
urbanen
Gesund-
heit bei
– hier die
Sieg in der
Innenstadt
von Siegen

Elke Hertig, Markus Keck

Deutschlands Städte
im Klimawandel
Der jüngste Bericht des Weltklimarats von 2022 zeigt auf, dass sich durch den Klimawandel
die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Extremwetterereignissen weltweit weiter erhöhen
wird. Das Ausmaß dieser Ereignisse sowie deren Auswirkungen auf Ökosysteme, Wirtschaft
und Gesellschaft werden dabei stark von Eindämmungs- und Anpassungsmaßnahmen in
der nahen Zukunft abhängig sein. Städte nehmen in diesem Zusammenhang eine besondere
Rolle ein, da sie sowohl Hauptemittenten von Treib­hausgasen als auch zentrale Akteure für
eine mögliche klimaresiliente Entwicklung sind. Städte können somit als potenzielle Schlüs-
selräume für eine sozialökologische Transformation angesehen werden.

4 Geographische Rundschau 7/8-2023


text des globalen Klimawandels. Entsprechend
der Neuen Urbanen Agenda (UN-Habitat 2016)
verlangt die Schaffung klimaresilienter Städte
eine inklusive Stadtplanung, die es allen Bewoh-
nerinnen und Bewohnern ermöglicht, heute und
in Zukunft, sichere, für die Gesundheit unbe-
denkliche und erschwingliche Städte zu bewoh-
nen. Die Verwirklichung klimaresilienter Städte
muss daher Anstrengungen zur Eindämmung
des Klima- und Umweltwandels, zur Anpassung
gegenüber seinen Folgewirkungen, sowie zur
Beseitigung sozioökonomischer Ungleichheiten
umfassen.
Bis heute hält sich der Eindruck, der anth-
ropogen erzeugte Klimawandel spiele sich in
erster Linie in großer räumlicher oder zeitli-
cher Ferne ab. Dabei sind die Folgen des Klima-
wandels bereits deutlich erfahrbar – auch in
Deutschland. Der Hitzesommer von 2018 und
die damit einhergehende Dürre in Branden-
burg und Niedersachsen oder die Starkregen­
ereignisse im Sommer 2021 und die dadurch
ausgelösten Flusshochwasser und Sturzfluten
in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz
sowie im südöstlichen Bayern sind nur einige
wenige Beispiele dafür. In Zukunft werden sich
die Folgen des Klimawandels noch verstärken,
denn die Treibhausgase, die sich bereits in der
Atmosphäre befinden und weiterhin durch den
Menschen in die Atmosphäre emittiert werden,
werden noch viele Jahrzehnte lang das Klima
beeinflussen. Vor diesem Hintergrund wollen
wir in diesem Heft den folgenden Fragen nach-
gehen: Inwiefern sind die Folgen des Klimawan-
Foto: IMAGO/Rene Traut

dels in Deutschlands Städten bereits heute mess-


bar und wie sehen entsprechende Projektionen
aus? Welche Auswirkungen ergeben sich aus der
aktuellen Entwicklung für die Bewohnerinnen
und Bewohner der Städte und wie sind diese im
Hinblick auf mögliche Zukunftsszenarien auf-

I m Kontext des globalen Klimawandels nehmen


Städte eine doppelte Rolle ein: Zum einen pro-
duzieren sie rund 70 % der weltweiten Treibh-
gestellt? Welche Maßnahmen werden von Städ-
ten und Gemeinden ergriffen, um sich für eine
klima­resiliente Zukunft zu wappnen?
ausgasemissionen, vor allem Kohlendioxid (CO2),
Methan (CH4), Lachgas (N2O) sowie fluorierte Klimawandel in Deutschlands Städten
Treibhausgase (UN-Habitat 2022). Gleichzei-
tig sind Städte aufgrund ihrer Dichte an Men- Seit Beginn der systematischen, flächendecken-
schen, öffentlicher Infrastruktur und privaten den Wetteraufzeichnungen hat sich die mittlere
Vermögenswerten besonders anfällig, sowohl Temperatur der bodennahen Luft in Deutschland
gegenüber schleichenden Ereignissen des Kli- bereits deutlich erwärmt. Laut Daten des Deut-
mawandels (z. B. Anstieg der Durchschnitts- schen Wetterdienstes ist das Jahresmittel der
temperatur, Meeresspiegelanstieg), als auch Lufttemperatur im Flächenmittel von Deutsch-
gegenüber rasch eintretenden (z. B Stark­regen, land von 1881 bis 2021 um 1,6 °C angestiegen. Die
Hitzewellen, Stürme). Dem jüngsten Bericht des Temperaturen in Deutschland sind damit stärker
Weltklimarats zufolge ist es daher unbedingt gestiegen als im weltweiten Durchschnitt (etwa
erforderlich, dass Klimaresilienz im Zentrum 1,2 °C), was nicht zuletzt darin begründet liegt,
zukünftiger Stadtentwicklungsbemühungen dass sich Landregionen generell schneller er-
steht (IPCC 2022, insbesondere Kap. 6). Klima- wärmen als die Meere. Die Geschwindigkeit des
resilienz bezeichnet hierbei die Reduzierung Temperaturanstiegs in Deutschland (wie auch
sozialer Verwundbarkeit sowie die Stärkung weltweit) hat dabei in den vergangenen 50 Jahren
gesellschaftlicher Widerstandsfähigkeit im Kon- deutlich zugenommen (DWD o. J.).

Geographische Rundschau 7/8-2023 5


Deutschlands Städte im Klimawandel urbane Gesundheit, Klimaresilienz, Stadtplanung

Abb. 1: Klimaraumtypen in Deutschland und die jeweiligen absehbaren klimatischen Veränderungen bis zur Mitte des
Jahrhunderts Quelle: UBA 2022

Übergreifend ergeben sich für Deutschland den Herausforderungen: (1) Klimarisiken durch
durch den globalen Klimawandel laut der jüngs- Hitze und die Veränderung natürlicher Systeme
ten Klimawirkungs- und Risikoanalyse des Um- insbesondere für die menschliche Gesundheit; (2)
weltbundesamtes (UBA 2022) vor allem die folgen- Klimarisiken durch Trockenheit, Niedrigwasser in

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Flüssen und Seen, sowie Dürren und Senkung des Luftreinhaltung deutlich verbessert. Als Folge des
Grundwasserspiegels mit Auswirkungen auf alle Klimawandels kommt es aber zu einer Zunahme
wassernutzenden und wasserabhängigen Systeme; der bodennahen Ozon- und Feinstaubkonzentra-
(3) Klimarisiken durch Starkregen, Hochwasser, tion. Heiße Temperaturen und direkte Sonnenein-
und Überschwemmungen, besonders für Böden, strahlung begünstigen generell die Bildung von
Infrastrukturen und Gebäude; und (4) Klimarisi- bodennahem Ozon. Bei stagnierender Luftzirku-
ken durch den graduellen Temperatur- und Mee- lation während ausgeprägter Hochdruckwetterla-
resspiegelanstieg besonders für natürliche und gen sammelt sich dieses dann im Stadtraum an,
naturnutzende Systeme, für Artenvielfalt, Was- sodass gesundheitsgefährdende Konzentrations-
serqualität und Küstenschutz. Die Risiken zeigen schwellenwerte teils über mehrere Tage hinweg
dabei räumlich unterschiedliche Schwerpunkte überschritten werden. Zudem erhöhen Dürren
(vgl. Abb. 1). So ist eine sehr starke Zunahme der durch das Austrocknen von Böden und das ver-
Durchschnittstemperatur vor allem im Südosten mehrte Auftreten von Vegetationsbränden die
Deutschlands und in den Alpen zu verzeichnen. Zu Bildung von Feinstaub. Erhöhte Ozon- und Fein-
einer Zunahme von Hitzetagen kommt es in ganz staubwerte stellen insbesondere für Personen mit
Deutschland, insbesondere aber in der oberrheini- chronischen Atemwegserkrankungen ein Gesund-
schen Tiefebene inklusive Rhein-Main-Region, im heitsrisiko dar (Hertig et al. 2023).
Ruhrgebiet, in Berlin und in der Lausitz. Mit einer Mit Blick auf die Gesundheit der Stadtbevölke-
extremen Zunahme von Trockenheit ist in allen rung ist in diesem Zusammenhang auch auf eine
deutschen Mittelgebirgen sowie im Alpenraum zu klimawandelinduzierte Erhöhung der Allergenex-
rechnen. Schließlich wird eine starke Zunahme position hinzuweisen. In Deutschland lässt sich im
von Starkregenereignissen an der Nord- und Ost- Zuge des Klimawandels eine vermehrte Pollenpro-
seeküste erwartet, aber auch in den Mittelgebirgen duktion bei gleichzeitig früher einsetzender Pollen-
sowie in den bereits heute trockensten Regionen, saison registrieren. Gleichzeitig zeigt sich, dass das
vor allem in Brandenburg, Thüringen und im süd- allergene Potenzial von Pollen bei heißem Wetter
lichen Mecklenburg-Vorpommern. und hohen Ozonwerten zunimmt. Schließlich ist
auch mit einer möglichen Zunahme an durch Vek-
Klimawandel und urbane Gesundheit toren übertragene Krankheiten wie Chikungunya
und West-Nil-Fieber durch Mücken oder Lyme-
Durch die Kombination aus Klimawandel, Urba- Borreliose und Frühsommer-Meningoenzephalitis
nisierung und demografischem Wandel kommt durch Zecken zu rechnen (Hertig et al. 2023).
es in den Städten Deutschlands zu einer zuneh- Bezugnehmend auf die urbane Hydrologie lässt
menden Belastung besonders verwundbarer sich schließlich festhalten, dass auch von Starkre-
Bewohnerinnen und Bewohner. So führt die gen, Sturzfluten, Flusshochwassern und Sturm-
zunehmende Flächenversiegelung zu einer Ver- fluten eine Gesundheitsgefährdung ausgeht. Pro-
stärkung des städtischen Wärmeinseleffekts (vgl. jektionen für das 21. Jahrhundert sind in dieser
Beitrag von Bechtel und Hüser in diesem Heft), Hinsicht jedoch mit großer Unsicherheit behaftet.
der im Zuge von Hitzewellen gerade für ältere So können Starkregenereignisse und Stürme zum
Menschen mit chronischer Vorerkrankung des Überlaufen der Kanalisation, zum Austreten in-
Herz-Kreislaufsystems lebensbedrohlich werden dustrieller Abwässer und zu einer Verbreitung
kann. Für viele Städte Deutschlands ist in diesem
Zusammenhang die Zunahme von „heißen Tagen“
(Tagesmaximum der Lufttemperatur ≥ 30 °C) rele-
vant. Bis Ende des Jahrhunderts könnten sich für
Deutschland bei einem pessimistischen Szenario
eines starken Klimawandels (RCP8.5-Szenario,
IPCC 2022) sehr deutliche Änderungen von ge-
genwärtig 17,3 auf durchschnittlich über 40 hei-
ße Tage pro Jahr ergeben (UBA 2022). Zusätzlich
wäre dann mit einer Zunahme von „Tropennäch-
ten“ (Minimum der Lufttemperatur ≥ 20°C) auf bis
zu 30 pro Jahr zu rechnen, was die thermische Be-
lastung für die städtische Bevölkerung aufgrund
des Fehlens nächtlicher Erholungsphasen noch
erhöhen würde.
Foto: IMAGO/A. Friedrichs

Neben den thermischen Belastungen gehen


Hitzewellen in städtischen Kontexten aber auch
mit einer zunehmenden Schadstoffbelastung
der Stadtbevölkerung einher. Zwar hat sich die
Luftqualität in Deutschland in den vergangenen Foto 2: Die zunehmende Hitze in Städten macht eine vermehrte Bewässerung
Jahrzehnten aufgrund gezielter Maßnahmen zur von Grünflächen nötig, wie hier im Berliner Görlitzer Park

Geographische Rundschau 7/8-2023 7


Deutschlands Städte im Klimawandel urbane Gesundheit, Klimaresilienz, Stadtplanung

Europäische Ebene
Europäisches Klimagesetz und EU-Anpassungsstrategie

Bundesebene
Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel und Aktionsplan Anpassung

Abb. 2: Klima-
Landesebene
anpassung im Klimagesetze, Anpassungsstrategien und Maßnahmenpläne unterschiedlicher Ausprägung
föderalen Mehr­
ebenensystem Kommunale Ebene
Deutschlands Umsetzung der Anpassungsstrategien und Maßnahmenpläne auf kommunaler Ebene
Entwurf: Elke Hertig, Markus Keck

gesundheitsgefährdender Stoffe führen – mit EU-Anpassungsstrategie ist Teil des Europäischen


verheerenden Folgen für Mensch und Natur. Green Deals und hilft bei der Umsetzung des 2021
Hierbei zeigt sich, dass die Risikoexposition der in Kraft getretenen Europäischen Klimagesetzes.
Bevölkerung sozialräumlich ungleich verteilt ist. Auf Bundesebene wurde die „Deutsche An-
Während für die USA gezeigt werden konnte, dass passungsstrategie an den Klimawandel“ (DAS)
Quartiere mit geringem Durchschnittseinkom- bereits 2008 beschlossen und seitdem stetig fort-
men überproportional gefährdet sind (Johnston geschrieben. Die Strategie stellt Anpassungsopti-
und Cushing 2020), steht eine ähnliche Untersu- onen in 13 Handlungsfeldern vor, die wiederum
chung für Stadtgebiete in Deutschland noch aus. in fünf Clustern zusammengefasst werden: Land
Insgesamt steht fest, dass Klimaresilienz und (biologische Vielfalt, Boden, Landwirtschaft,
Gesundheit eng miteinander verwoben sind Wald- und Forstwirtschaft), Wasser (Fischerei,
(WHO 2020). Vor diesem Hintergrund sollten Küsten- und Meeresschutz, Wasserwirtschaft),
Städte und Gemeinden in Zukunft für ausrei- Infrastruktur (Bauwesen, Energiewirtschaft,
chend grüne und blaue Infrastruktur sorgen, Verkehr), Wirtschaft (Industrie und Gewerbe,
denn Grünstreifen, Parks und Stadtwälder so- Tourismus) und Gesundheit. Konkrete Maßnah-
wie Teiche, Seen und Kanäle sorgen nicht nur men werden wiederum durch den „Aktionsplan
für die Speicherung von Regenwasser und das Anpassung“ definiert.
Abmildern des urbanen Wärmeinseleffekts Erwartungsgemäß divers wird die Sachlage
(Schwammstadtprinzip), sondern wirken sich auf Landesebene. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt
auch positiv auf die Gesundheit der Bevölkerung verfügen Baden-Württemberg (2013, 2020), Bay-
aus (vgl. Beitrag von Kabisch in diesem Heft so- ern (2021, 2023), Berlin (2016, 2021), Nordrhein-
wie Fotos 1 und 2). Gleichzeitig muss auch die Westfalen (2013, 2021), Thüringen (2018) und
graue Infrastruktur klimafest gemacht werden, Schleswig-Holstein (2021) über eigenständige
also Straßen, Schienen, Kanalisation und Ener- Klimagesetze, die den rechtlichen Rahmen für
gieversorgung. die Anpassung an den Klimawandel konkretisie-
ren. Darüber hinaus wurden in Baden-Württem-
Klimawandel und Stadtplanung berg (2015), Bayern (2021), Brandenburg (2008,
2019), Bremen (2018), Hamburg (2015), Hessen
Aufgrund der Dringlichkeit des Themas ist es (2017), Mecklenburg-Vorpommern (1997), Nie-
vonnöten, die Transformation der Städte in einer dersachsen (2013), Saarland (2008), Sachsen
Geschwindigkeit und einem Umfang voranzutrei- (2021), Sachsen-Anhalt (2010, 2019) und Thü-
ben, die bisher nicht erreicht wurden. Dies erfor- ringen (2009, 2013) Anpassungsstrategien oder
dert das Ineinandergreifen von Gesetzen, Hand- Maßnahmenpläne verabschiedet. In Rheinland-
lungsanweisungen und Förderprogrammen auf Pfalz wurde ein Kompetenzzentrum für Klima-
allen politischen Ebenen (vgl. Abb. 2). wandelfolgen eingerichtet (2010).
Auf Ebene der Europäischen Union wurde die Für die Umsetzung von Anpassungsstrategien
erste Strategie zur Anpassung an den Klimawan- vor Ort sind aber letztlich die Kommunen ver-
del 2013 verabschiedet und 2021 novelliert. Damit antwortlich, denn sie übernehmen die zentra-
die EU bis 2050 klimaresilient werden kann, sol- len Aufgaben der Daseinsvorsorge. Zudem liegt
Daten des
len Anpassungslösungen auf lokaler Ebene unter die Infrastruktur zumeist in kommunaler Hand.
Statistischen
Bundesamts Berücksichtigung sozioökonomischer Ungleich- Städte und Gemeinden können darüber hinaus
zum Euro­ heiten umgesetzt werden. Besonderes Augenmerk das Engagement von lokalen Akteuren und Initi-
päischen
wird auf naturbasierte Lösungen gelegt (vgl. Bei- ativen vor Ort einbinden und die Eigenvorsorge
Green Deal
trag von Han und Kuhlicke in diesem Heft). Die der Bürgerinnen und Bürger aktiv unterstützen.

8 Geographische Rundschau 7/8-2023


Damit sie aber die notwendige Transformation Ineinandergreifens von Gesetzen, Handlungs-
vorantreiben können, bedarf es eines zielgerich- anweisungen und Förderprogrammen auf allen
teten Ineinandergreifens von Steuerungsinstru- politischen Ebenen. Darüber hinaus braucht es
menten auf verschiedenen Regierungsebenen, ausreichend finanzielle Mittel, wofür verlässli-
wie es durch die Raumplanung vorgezeichnet ist. che Finanzierungszusagen vonseiten des Bundes
Klimaanpassung ist als allgemeiner Grund- und der jeweiligen Staatsregierungen vonnöten
satz im Raumordnungsgesetz verankert. An- sind. Vor diesem Hintergrund wurde auf dem
passung an den Klimawandel ist damit eine der Deutschen Städtetag wiederholt gefordert, Kli-
zentralen Aufgaben der Raumordnung, die im maschutz und Anpassung als kommunale Pflicht-
Rahmen der Regionalplanung und der Bauleit- aufgabe gesetzlich festzuschreiben. Dies würde
planung konkret ausgestaltet wird (UBA 2022). durch die sogenannte Konnexität eine dauerhafte
Vor 2011 waren Maßnahmen der Klimaanpas- Mitfinanzierung der Kommunen durch den Bund
sung im Baugesetzbuch lediglich angedeutet, ermöglichen. Die derzeitige Bundesregierung ar-
z. B in § 1, Absatz 5, Satz 2 BGB zur Sicherung beitet momentan an einem bundesweiten Klima-
einer menschenwürdigen Umwelt und Schutz anpassungsgesetz. Es bleibt abzuwarten, ob die
der natürlichen Lebensgrundlagen sowie Na- bekannten Zielsetzungen mit konkreten Zusagen
tur und Landschaft. 2011 wurden diese An- einhergehen oder nicht.  ∎
deutungen dann konkretisiert. Aufgabe der
Bauleitplanung ist es laut §1, Absatz 5, Satz 2 Literatur
BGB nun auch „den Klimaschutz und die Kli- DWD – Deutscher Wetterdienst (o. J.): Klimawandel – ein
Überblick (https://www.dwd.de/DE/klimaumwelt/klima-
maanpassung, insbesondere auch in der Stadt-
wandel/ueberblick/ueberblick_node.html)
entwicklung, zu fördern“. Dadurch kann Kli- Hertig, E., Hunger, I., Kaspar-Ott, I., Matzarakis, A., Niemann,
maanpassung heute als anderen kommunalen H., Schulte-Droesch, L. und M. Voss (2023): Klimawandel
Belangen ebenbürtig behandelt werden. Seit und Public Health in Deutschland – ein Überblick. Journal
2013 ist Klimaanpassung schließlich auch für of Health Monitoring (https://rki.de/jhealthmonit)
Huber, B. und L. Dunst (2021): Klimaanpassung in der Bau­
die Planung städtebaulicher Sanierungs- (§ 136
leitplanung. Zum Integrationsstand klimaanpassungsrele-
BGB) und Stadtumbaumaßnahmen (§ 171a BGB) vanter Maßnahmen in Flächennutzungs- und Bebauungs-
als relevant definiert worden. plänen mittelgroßer Städte Deutschlands. Raumforschung
Trotz dieser gesetzlichen Grundlagen weisen und Raumordnung/Spatial Research and Planning 79 (5),
Untersuchungen auf die begrenzte Berücksich- S. 501–517 (DOI: 10.14512/rur.34)
tigung von Belangen der Klimaanpassung in der IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change (2022):
Klimawandel 2022: Folgen, Anpassung und Verwundbar-
Bauleitplanung deutscher Städte hin (Huber und keit. Beitrag der Arbeitsgruppe II zum Sechsten Sachstands-
Dunst 2021). Als häufigste Gründe für die bisher bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaän-
zurückhaltende Berücksichtigung von Klima- derungen. Deutsche Übersetzung auf Basis der Version vom
anpassungserfordernissen werden vorhandene Juli 2022. Deutsche IPCC-Koordinierungsstelle, Bonn (DOI:
Unsicherheiten hinsichtlich der lokalen stadt- 10.48585/nx04-e135)
Johnston, J. und L. Cushing (2020): Chemical exposures,
klimatischen Datenlage sowie bestehende Ziel-
health, and environmental justice in communities living
konflikte zwischen verschiedenen Abwägungs- on the fenceline of industry. Current Environmental Health
belangen genannt. Deswegen bedarf es weiterer Reports 7 (1), S. 48–57 (DOI: 10.1007/s40572-020-00263-8)
geographischer Forschung für eine verbesserte UBA – Umweltbundesamt (2022): Klimawirkungs- und Risi-
kleinräumige Datengrundlage sowie für ein koanalyse für Deutschland 2021. Dessau-Roßlau (https://
www.umweltbundesamt.de/publikationen/die-risiken-des-
vertieftes Verständnis der Austragungs- und
klimawandels-fuer-deutschland-0)
Entscheidungsfindungsprozesse hinter den ge- UN-Habitat (2016): Neue urbane Agenda. Habitat III. United
nannten Zielkonflikten. Nations Conference on Housing and Sustainable Urban
Development. Quito 17–20 October 2016
UN-Habitat (2022): World Cities Report 2022. Envisaging the
Urbane Klimaresilienz als future of cities. Nairobi (https://unhabitat.org/wcr/)
Herausforderung WHO – World Health Organization (2020): Healthy cities. Effec-
tive approach to a rapidly changing world. Geneva
Der Klimawandel stellt Deutschlands Städte vor
vielfältige Herausforderungen, die es in Zukunft AUTORIN UND AUTOR
zu meistern gilt. Die Dringlichkeit einer klima- Prof. Dr. Elke Hertig, geb. 1974
resilienten Stadtentwicklung wird insbesondere Professur für Regionalen Klimawandel und Gesundheit,
Medizinische Fakultät, Universität Augsburg
durch den Blick auf die urbane Gesundheit ver-
elke.hertig@med.uni-augsburg.de
deutlicht, denn die Folgeerscheinungen der glo- Schwerpunkte: Klimavariabilität, Klimawandel, Umwelt und
balen Erwärmung betrifft nicht nur die urbane Gesundheit, urbane Räume
Infrastruktur, sondern in erster Linie die Bewoh-
nerinnen und Bewohner von Städten. Urbane Prof. Dr. Markus Keck, geb. 1978
Lehrstuhl für Urbane Klimaresilienz, Zentrum für
Klimaresilienz muss letztlich auf kommunaler
Klimaresilienz, Universität Augsburg
Ebene umgesetzt werden, jedoch kann diese An- markus.keck@uni-a.de
strengung von den Städten und Gemeinden nicht Schwerpunkte: Soziale Resilienz, städtische Governance,
alleine getragen werden. Hierfür bedarf es eines urbane Ernährung und Gesundheit, räumliche Konflikte

Geographische Rundschau 7/8-2023 9


Deutschlands Städte im Klimawandel Klimaanpassung, Luftverschmutzung, Urban Climate Informatics

Benjamin Bechtel, Charlotte Hüser

Das Stadtklima: Ursachen,


Effekte und Erfassung
Städte spielen im Klimawandel eine herausragende Rolle. Zum einen emittie-
ren sie über 80 % der anthropogenen Treibhausgase und sind daher für jegliche
Klimaschutz­anstrengungen zentral. Zum anderen sind sie in besonderer Weise
vom Klimawandel betroffen und stehen somit vor entsprechenden Herausfor-
derungen bei der Klima­anpassung. Dies liegt neben der hohen Konzentration
von vulnerablen Gruppen und kritischen Infrastrukturen vor allem an den
Charakteristika des Stadtklimas. Städte sind die am stärksten anthropogen
überformten Räume und stellen somit einen tiefgreifenden Eingriff in die
natürlichen Energie-, Wasser- sowie sonstigen Stoffflüsse dar, die das Klima
modifizieren.

I n diesem Beitrag wird eine Übersicht über die


wichtigsten Ursachen und Effekte des Stadtkli-
mas sowie Methoden zu seiner Erforschung gege-
Das Stadtklima

Stadtklima ist eine komplexe Überlagerung von


ben. Nach einer allgemeinen Einführung erfolgt Prozessen in der städtischen Atmosphäre und
dabei eine vertiefte Betrachtung der energeti- deren Interaktionen mit der Hydro-, Pedo- und
schen (städtische Wärmeinsel) und chemischen Biosphäre. Diese finden auf unterschiedlichen
Veränderungen (Luftverschmutzung) der städ- räumlichen und zeitlichen Skalen statt. Daher
tischen Atmosphäre sowie ihrer Wirkungen auf ist es zunächst wichtig, den Aufbau der Stadt-
den Menschen. Abschließend wird eine Übersicht atmosphäre zu kennen, um die Ursachen und
über Methoden zur Messung und Modellierung Phänomene des veränderten Stadtklimas wie
des Stadtklimas gegeben. die urbane Energie- und Wasserbilanz besser

Grafik: Oßenbrügge und Bechtel 2010

Abb. 1: Stadtklima als Überlagerung von vielen Prozessen

10 Geographische Rundschau 7/8-2023


∎ Textbox 1
Thermische Komponente – die städtische Wärmeinsel
Der bekannteste Effekt
des Stadt­klimas ist die
städtische Wärme­insel,
die generell eine
Überwärmung von
Städten gegenüber dem
Umland bezeichnet
(∆T = tStadt – tUmland).
Dabei werden unter-
schiedliche Wärmeinseln
unterschieden. Dazu
gehören neben der
Wärminsel des Unter-
grunds und der Oberflä-
che vor allem die
Wärmeinseln der
urbanen Grenzschicht
sowie der städtischen
Hindernisschicht.
Die Wärmeinsel der Abb. 2: Städtische Wärmeinsel der Hindernisschicht in der Region Köln vom 25. Juli 2019
städtischen Hindernis- zwischen 3 und 4 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit (CEST)
schicht beschreibt den Kartographie: Jonas Kittner, Daten aus privaten Wetterstationen von Netatmo, qualitätskontrolliert mit Fenner et al. (2021)

Unterschied zwischen
der oberflächennahen Lufttemperatur unterhalb der beispielsweise Strahlungseigenschaften der Oberflächen,
Dächer in der Stadt und der Temperatur im Umland und thermischen Eigenschaften der Bausubstanz, der Gebäu-
ist daher von besonderer Relevanz. Die Intensität dieser degeometrie sowie der Intensität der anthropogenen
Wärmeinsel kann bis zu 10 °C erreichen. Allerdings ist Wärmefreisetzung (Oke et al. 2017). Die Horizontüberhö-
ihre Intensität sowohl zwischen Städten unterschiedlich hung bezeichnet den vom Himmel eingenommen Anteil
stark ausgeprägt als auch innerstädtisch räumlich und des Halbraums an einer Stelle und steht in umgekehrtem
zeitlich differenziert. Die Wärmeinsel der städtischen Verhältnis zur nächtlichen Abkühlung – hohe und dichte
Hindernisschicht (vgl. Abb. 2) ist vor allem in den frühen Gebäude halten also die Wärme besonders gut.
Abendstunden und nachts ausgeprägt, während Städte Die Auswirkungen einer Wärmeinsel auf Menschen und
tagsüber kaum wärmer sind als das Umland. Dies liegt an andere Lebewesen sind vielfältig. Im Sommer vergrö-
den Veränderungen der Energiebilanz, durch die die Luft ßert sie das Risiko von Hitzestress, was für vulnerable
über städtischen Flächen langsamer abkühlt als die Luft Gruppe (insbesondere ältere Menschen und solche mit
über ländlichen Gebieten. Ihre Intensität ist zudem stark Vorerkrankungen) bei Hitzewellen zu einer großen Ge-
abhängig von den Wetterbedingungen, wobei eine starke sundheitsgefahr werden kann. Daneben erhöht sie den
Überwärmung von Städten insbesondere an Tagen mit Kühlbedarf und führt bei der Nutzung von Klimaanlagen
einer hohen Sonneneinstrahlungsintensität, wolkenfrei- zu höherem Energieverbrauch und Kosten. Gleichzeitig
em Himmel und windschwachen Bedingungen auftritt. hat eine Wärmeinsel aber auch positive Effekte: Sie führt
Die innerstädtische Verteilung der Lufttemperatur ist zu einer erhöhten Anzahl von Grillabenden und reduzier-
abhängig von vielen Aspekten der Stadtstruktur, wie tem Heizbedarf im Winter.

verstehen und einordnen zu können. Abbildung schiedliche Längenskalen von einzelnen Gebäu-
1 zeigt den Aufbau der Stadtatmosphäre in ver- den über Blocks und Nachbarschaften bis hin
schiedenen atmosphärischen Schichten. Von be- zur Gesamtstadt.
sonderer Bedeutung für den Menschen ist dabei Städte verändern das Wetter und Klima auf
die Stadthindernisschicht, also die Luftschicht sehr vielfältige Weise. Von besonderer Bedeu-
zwischen den Gebäuden, die vor allem von tung sind die Eingriffe in den Wasser- und Ener-
kleinräumigen Prozessen beeinflusst wird (Mi- giehaushalt, wovon sämtliche Strahlungs- und
kroskala). Daneben wird aber auch die gesamte Energief lüsse betroffen sind. Die kurz- und
planetare Grenzschicht beeinflusst, wobei sich langwelligen Strahlungsflüsse sind zum einen
hier die Auswirkungen von Nachbarschaften durch eine Trübung der Atmosphäre beein-
oder der Gesamtstadt integrieren (Mesoskala). trächtigt (vgl. Abschnitt „Luftverschmutzung“),
Daher überspannt die Stadtklimatologie unter- zum anderen spielen die 3D-Gestalt der Gebäu-

Geographische Rundschau 7/8-2023 11


Deutschlands Städte im Klimawandel Klimaanpassung, Luftverschmutzung, Urban Climate Informatics

die anthropogener Wärmestrom genannt wird.


Schließlich speichern Städte aufgrund ihrer
Materialien und der vergrößerten Oberfläche
tags mehr Energie, die nachts wieder abgege-
ben wird (Henninger und Weber 2019, Kuttler
2008). Dies führt zusammen zu einer – zeitlich
und räumlich – differenzierten Überwärmung
von Städten, die städtische Wärmeinsel genannt
wird (vgl. Textbox 1).
Neben der Temperatur werden auch andere
meteorologische Größen durch Städte beein-
f lusst und verändert. Beispielsweise werden
die mittleren Windgeschwindigkeiten redu-
ziert, aber die Häufigkeit und Stärke von Böen

Foto: Rupert Oberhäuser/Alamy Stock Foto


erhöht, da die Gebäude zusätzlich Turbulenzen
erzeugen. Ebenso werden die Wolkenbildung
und der Niederschlag durch Städte beeinflusst,
wobei die Zusammenhänge hier besonders kom-
plex und daher schwerer nachzuweisen sind.
Dies liegt u. a. daran, dass hier viele Verände-
rungen auf sehr unterschiedlichen Skalen zu-
sammenwirken – neben den Veränderungen des
Windfeldes gehören dazu die Verfügbarkeit von
Kondensationskernen zur Wolkenbildung und
die Veränderungen der Oberflächenwasserbi-
lanz, also die Aufteilung der Wasserflüsse in-
nerhalb der Stadt. Ähnlich wie bei der Energie-
bilanz werden hier die relevanten Wasserflüsse
wie Niederschlag, Verdunstung und Tauwasser,
unterirdischer und Oberflächenabfluss sowie
Versickerung und Grundwasserneubildung er-
heblich durch die Stadt beeinflusst. Um sich dies
zu vergegenwärtigen, muss man sich vor Augen
führen, welcher große Anteil der städtischen
Infrastruktur der „Kontrolle“ von Wasser dient
(z. B. Leitungswasser, Abwassersystem und Ka-
Foto: Jochen Tack/Alamy Stock Foto

nalisation, Klärwerke, Deiche, Regenrückhalte-


becken, vgl. Oke et al. 2017).

Luftverschmutzung

Neben der physikalischen Veränderung wird


Fotos 1 und 2: Einige Städte des Ruhrgebiets haben deutschlandweit mit die die Stadtatmosphäre auch chemisch modifiziert.
höchsten Werte der Feinstaubbelastung. Ein besonderer Schwerpunkt ist die Von besonderer Relevanz für die menschliche
Autobahn A40 in Essen. Die Stadt reagiert u. a. mit Fassadenbegrünungen, wie Gesundheit sind dabei bodennahes Ozon, Stick-
hier in der Gladbecker Straße stoffdioxid und Feinstaub (particulate matter,
PM). Dabei beeinflussen Städte verschiedene re-
de und die resultierende mehrfache Reflexion, levante Prozesse zur Regulation der Schadstoff-
Absorption und Emission von Strahlung in- konzentration in der städtischen Atmosphäre.
nerhalb von Straßenschluchten eine wichtige Allen voran führen zusätzliche Emissionen aus
Rolle. Neben Strahlung sind auch die turbulen- fossilen Verbrennungsprozessen im Verkehr,
ten Wärmeflüsse, also die Abgabe von Wärme Hausbrand, der Stromerzeugung sowie in wei-
von der Oberf läche in die Atmosphäre stark teren industriellen Prozessen zu zusätzlichen
modifiziert. Da durch die hohe Versiegelung Partikeln und Gasen in der städtischen Atmo-
und die reduzierte Vegetation weniger Wasser sphäre. Daneben wird aber auch die Verteilung
Fein­staub­ zur Verfügung steht, wird weniger Energie (Dispersion) der Schadstoffe, ihre chemische
kon­zen­
tra­tion in
zur Verdunstung von Wasser (latenter Wär- Transformation sowie die Auswaschung (feuch-
Deutschland mestrom) aufgewendet und mehr als fühlbare te Deposition) durch das veränderte Stadtklima
(Karte des Wärme (sensibler Wärmestrom) abgegeben. und die trockene Deposition durch die Landnut-
Umweltbun-
desamtes) Hinzu kommt die direkte Emission von Wär- zung und vor allem das Vorkommen von Bäu-
me z. B. durch Gebäudeheizung und Verkehr, men beeinflusst (Oke et al. 2017).

12 Geographische Rundschau 7/8-2023


Umgekehrt haben die Schadstoffe auch viel- Messung und Modellierung des
fältige Wirkungen auf Städte und ihre Bevölke- Stadtklimas
rung. Sie führen z. B. zu Ablagerungen und Kor-
rosion von Oberflächen, trüben die Atmosphäre Zur wissenschaftlichen Untersuchung der stäti-
und verändern die Wolkenbildung. Am bedeu- schen Atmosphäre nutzt die Stadtklimatologie
tendsten ist aber ihre negative Auswirkung auf sowohl Messungen als auch Modelle, die jeweils
die menschliche Gesundheit. Dazu zählen u. a. Stärken und Schwächen haben. Messungen sind
die Schädigung der Lunge und Atemwege sowie ein Abbild der Realität, dafür aber stets lücken-
weiterer Organe, wie Leber und Milz und auch haft und von eingeschränkter Genauigkeit.
das vermehrte Auftreten von Herz-Kreislauf- Modelle sind immer vereinfachte Abbildungen
Erkrankungen, die u. a. mit der Exposition der Realität und von daher per se unvollstän-
gegenüber Feinstaub in Verbindung gebracht dig, erlauben dafür aber Experimente und Be-
werden. Je kleiner die Partikelgröße, desto tie- trachtung von verschiedenen Szenarien. Damit
fer können diese in das Atemsystem eindringen sind sie vor allem zur Anpassung von Städten
und Gesundheitsschäden verursachen. PM 2.5 an den Klimawandel unersetzlich, die mit viel
bezeichnet dabei Partikel mit einem aerodyna- zeitlichem Vorlauf und unter großer Unsicher-
mischen Durchmesser von weniger als 2,5 µm, heit (Unkenntnis der tatsächlichen regionalen
die aufgrund des geringen Durchmessers lun- Klimaänderung in 50 oder 100 Jahren) erfolgen
gengängig und daher besonders gefährlich sind. muss.
Der Partikeldurchmesser von Ultrafeinstaub
(UFP) ist noch kleiner als bei PM2.5 , sodass diese Messungen
bis in den Blutkreislauf gelangen können, was Das Grundproblem der Messung ist die bespro-
Ultrafeinstaub noch gefährlicher macht. Schät- chene hohe räumliche und zeitliche Variabilität
zungen der Europäischen Umweltagentur (EEA des Stadtklimas. Daher bräuchte man kontinu-
o. J.) zufolge verursachte die Exposition gegen- ierliche Messungen in hoher räumlicher Dich-
über PM 2.5 -Konzentrationen, die den Leitwert te und Genauigkeit. In der Realität muss man
der Weltgesundheitsorganisation (WHO) über- jedoch immer Kompromisse zwischen diesen
steigen, im Jahr 2020 in der EU-27 etwa 240 000 Zielen machen. Die Bandbreite der technischen
vorzeitige Todesfälle (EEA 2022). Nach Angaben Lösungen geht dabei von einzelnen, sehr teu-
der Europäische Umweltagentur EEA leben 96 % ren professionellen Klimamessstationen (für
der städtischen EU-Bevölkerung in Räumen, in diverse Klimaelemente einschließlich Lufttem-
denen die Feinstaubwerte die WHO-Luftquali-
tätsrichtlinien überschritten werden. Dies liegt
insbesondere daran, dass die Grenzwerte in der
EU für Feinstaub bislang weit höher liegen als
die Empfehlungen der WHO. Kürzlich wurden
die Luftqualitätsrichtwerte für Feinstaub von
der WHO verschärft, sodass empfohlen wird,
PM-Werte von 5 µg/m 3 im Jahresmittel und
­15 µg/m3 im Tagesmittel nicht zu überschreiten
(WHO 2021).
Strengere Grenzwerte für bodennahes Ozon,
Stickstoffdioxid und Feinstaub, insbesondere
in Städten und Ballungsräumen, sind daher er-
forderlich, um die Luftqualität zu verbessern
und das Gesundheitsrisiko erheblich zu redu-
zieren. Der Schwerpunkt des Luftqualitätsma-
nagements liegt in erster Linie auf der Reduk-
tion von Emissionen (z. B. Filteranlagen), sowie
der Vermischung und Verdünnung (z. B. hohe
Schornsteine). Die Emissionen stammen dabei
aus anthropogenen und natürlichen Quellen,
eine wichtige Rolle spielt die Verbrennung von
Kartographie: Benjamin Bechtel

fossilen Kraftstoffen im Verkehr. Daher gehö-


ren Maßnahmen wie Umweltzonen oder auto-
freie Innenstädte sowie Investitionen in den
Umweltverbund zu den gängigen Instrumenten
der Luftreinhaltung. Möglicherweise finden wir
es in 20 Jahren ähnlich befremdlich, mit Tausen- Abb. 3: Mobile Messungen mit kostengünstigen Sensoren in Bochum rund um
den Verbrennungsmotoren durch die Stadt zu den Stadtpark und die angrenzenden Wohnviertel im Sommer 2021. Tempera-
fahren, wie heute im Kinderzimmer zu rauchen. turdifferenzen zur Ludger-Mintrop-Station im Untersuchungsgebiet

Geographische Rundschau 7/8-2023 13


Deutschlands Städte im Klimawandel Klimaanpassung, Luftverschmutzung, Urban Climate Informatics

Foto 3: Stationäre Mess-


geräte, hier ein Beispiel

Foto: IMAGO/Arnulf Hettrich


aus Mannheim, sind teuer
und können die räumliche
Verteilung der Luftqualität
nur lückenhaft abbilden

peratur und Luftfeuchte) bis zu kostengünstigen Anzahl und damit geringe räumliche Auflösung
Stationen, die auf Smart-Sensoren basieren. Dies resultiert. Auf der anderen Seite stehen große
gilt ebenso für die Messung von Luftschadstof- Messnetze von kostengünstigen Sensoren in der
fen, die nur sehr lückenhaft an ausgewählten Bevölkerung (Crowd Weather Stations, CWS),
Standorten erfolgt. Da Luftschadstoffe räumlich die aufgrund der niedrigeren Kosten das Po-
deutlich variabler sind als z. B. die Lufttempera- tenzial für eine hohe räumliche Auflösung mit
tur, bedarf es einer höheren Anzahl an Luftqua- sich bringen (vgl. Abb. 2). Diese haben aber in
litätsmessstationen im Stadtgebiet. der Regel einzeln eine fragwürdige und häufig
Die Nachteile hochqualitativer stationärer schlechte Datenqualität, sodass die Qualitäts-
Messungen sind insbesondere die hohen Kos- kontrolle ein entscheidender Faktor ist, um die-
ten für Anschaffung und Betrieb, die Betreu- se Daten auszuwerten.
ung durch ausgebildetes Fachpersonal und die Die rasante technische Entwicklung und Ver-
Wartung der Geräte, woraus meist eine kleine fügbarkeit von Sensoren, Kommunikationslö-

∎ Textbox 2
PALM-4U
Das Model PALM-4U kann die klimatischen Ver- gen und der atmosphärische Antrieb des Modells
hältnisse einer Stadt oder eines Quartiers auf der können mit Ergebnissen mesoskaliger Modelle
Mikroskala modellieren und Einflüsse der Meso- gesteuert werden.
skala berücksichtigen. Das Modellgebiet wird mit Das Modell berechnet für jede Oberfläche die
dreidimensionalen Gitterzellen abgebildet. Für Energie- und Strahlungsbilanz. Innerhalb städti-
jede Gitterzelle werden die Windkomponenten, scher Gebiete berücksichtigt das Modell die Re-
die potenzielle Temperatur, das Mischungsver- flexion der solaren Einstrahlung an verschiede-
hältnis des Wasserdampfes und die turbulente nen Oberflächen sowie den Schattenwurf durch
kinetische Energie berechnet. Bäume und Gebäude. Humanbioklimatische
Mithilfe von „Nesting“ können mehrere ge- Parameter wie die gefühlte Temperatur können
schachtelte Modellgebiete mit unterschiedlicher vom Modell direkt berechnet werden. Die Ergeb-
räumlicher Auflösung gleichzeitig modelliert nisse werden als 2D- und 3D-Daten ausgegeben
werden. Somit können klimatische Einflüsse und ermöglichen somit eine detaillierte Analyse
des Umlandes auf die Stadt in die Berechnung des Stadtklimas (Maronga et al. 2020).
einbezogen werden. Die äußeren Randbedingun- Mitarbeit an Textbox 2: Lara van der Linden

14 Geographische Rundschau 7/8-2023


sungen, Plattformen und Algorithmen erlauben gen verstärken. Die Komplexität des Stadtklimas
ganz neue Ansätze für die Stadtklimaforschung erfordert ein besonderes Monitoring sowie eine
und führten jüngst zur Gründung der neuen Modellierung, um eine wissenschaftlich fun-
Forschungsrichtung Urban Climate Informatics dierte Basis als Grundlage für politische und
(UCI) (Middel et al. 2022). Zusätzlich setzen im- stadtplanerische Entscheidungen zu schaffen.
mer mehr Städte im Zuge der Klimaanpassung Viele Eigenschaften, wie beispielsweise Schad-
und Smart-City-Initiativen auf eigene Stadtkli- stoffkonzentrationen, sind dabei zeitlich und
mamessnetze, was sehr zu begrüßen ist. Diese räumlich sehr variabel und müssen mit ent-
Daten können eine wichtige Grundlage für po- sprechender Auflösung erfasst und modelliert
litische Entscheidungen sein, um Anpassungs- werden. Daher werden künftig genauere und
maßnahmen umzusetzen. Neben stationären dichter aufgelöste Umweltmessnetze nötig, um
Messungen sind zur vorübergehenden räumli- auf Stadtebene angemessen auf den Klimawan-
chen Verdichtung außerdem mobile Messungen del zu reagieren und Anpassungsstrategien um-
auf diversen Plattformen sinnvoll (Seidel et al. zusetzen. ∎
2016). Abbildung 3 zeigt mobile Messungen mit
AUTOR UND AUTORIN
kostengünstigen Sensoren auf Fahrrädern.
Prof. Dr. Benjamin Bechtel, geb. 1979
Modellierung benjamin.bechtel@rub.de
Schwerpunkte: Stadklimatologie, urbane Fernerkundung,
Über die Jahre wurde eine Vielzahl an Klima- Crowdsourcing, Low-cost-Sensoren, Klimaanpassung von
modellen, auch speziellen Stadtklimamodellen Städten, Local Climate Zones
entwickelt, die sich etabliert haben und für
Charlotte Hüser (M. Sc.), geb. 1994
verschiedene Skalen realistische Simulationen
charlotte.hueser@rub.de
liefern (vgl. Textbox 2). Dabei unterscheidet Schwerpunkte: Low-cost-Sensoren, Crowdsourcing, Luftver-
man drei methodische Ansätze zur Abbildung schmutzung, Feinstaub
des Stadtklimas: statistische, physikalische und
numerische Modellierung. In der statistischen Bochum Urban Climate Lab, Geographisches Institut, Ruhr-
Universität Bochum
Modellierung werden mikrometeorologische
Messdaten analysiert und mithilfe von statis-
Literatur
tischen Methoden auf die Fläche oder in die
Ching, J. et al. (2018): WUDAPT: An Urban Weather, Climate,
Zukunft projiziert. Physikalische Modellierung
and Environmental Modeling Infrastructure for the Anthro-
umfasst Experimente im Windkanal, in denen pocene. Bulletin of the American Meteorological Society 99
die reale Welt in Miniatur nachgebaut wird (9), S. 1907–1924
und vorwiegend Luftströmungen und die Aus- EEA – European Environment Agency (2022): Air quality in
breitung von Immissionen untersucht werden Europe 2022. Briefing (https://www.eea.europa.eu/publica-
tions/air-quality-in-europe-2022)
(Oke et al. 2017). Numerische Modelle basieren
EEA – European Environment Agency (o. J.): Air quality in
auf physikalischen und thermodynamischen Europe 2019 (https://www.eea.europa.eu/publications/air-
Grundgleichungen, die die physikalischen Pro- quality-in-europe-2019)
zesse in der Atmosphäre abbilden und zeitlich Fenner, D., Bechtel, B., Demuzere, M, Kittner, J. und F. Meier
und räumlich diskretisieren. Daher sind sie sehr (2021): CrowdQC+ – A Quality-Control for Crowdsourced
Air-Temperature Observations Enabling World-Wide
rechenintensiv und können dadurch nur eine
Urban Climate Applications. Frontiers in Environmental
bestimmte räumliche Ausdehnung bzw. Auflö- Science 9 (https://www.frontiersin.org/article/10.3389/
sung erreichen. Für die Stadtklimatologie sind fenvs.2021.720747)
vor allem meso- und mikroskalige Modelle von Henninger, S. und S. Weber (2019): Stadtklima. Paderborn
Bedeutung (Oke et al. 2017; vgl. Textbox 2). Kuttler, W. (2008): Klimatologie. Paderborn
Maronga, B. et al. (2020): Overview of the PALM model system
Eine Herausforderung ist häufig, dass die
6.0. Geoscientific Model Development 13 (3), S. 1335–1372
nach bestimmten Standards erfassten Eingangs- Middel, A., Nazarian, N., Demuzere, M. und B. Bechtel (2022):
daten fehlen. Neben einer guten Abbildung der Urban Climate Informatics: An Emerging Research Field.
relevanten Prozesse, benötigen Modelle auch ge- Frontiers in Environmental Science 10 (https://www.fron-
naue Eingangsdaten, um die Stadtstruktur und tiersin.org/article/10.3389/fenvs.2022.867434)
Oke, T. R., Mills, G., Christen, A. und J. A. Voogt (2017): Urban
ihre physikalischen Eigenschaften abzubilden
Climates. Cambridge
(Ching et al. 2018). Daneben werden wiederum Oßenbrügge, J. und B. Bechtel (2010): Klimawandel und
genaue Messdaten benötigt, um die Modelle zu Stadt. Der Faktor Klima als neue Determinante der Stadt-
validieren und zu evaluieren. entwicklung. Klimawandel und Klimawirkung, Hamburger
Symposium Geographie, Band 2, S. 97–118
Seidel, J. et al. (2016): Mobile measurement techniques for lo-
Fazit und Ausblick cal and micro-scale studies in urban and topo-climatology.
Die Erde 147 (1), S. 15–39
Städte modifizieren die chemischen und physi- WHO – World Health Organization (2021): WHO global air qua-
kalischen Eigenschaften der Atmosphäre, die lity guidelines: particulate matter (PM2.5 and PM10), ozone,
wiederum den Menschen beeinträchtigen. Diese nitrogen dioxide, sulfur dioxide and carbon monoxide
(https://apps.who.int/iris/handle/10665/345329)
Veränderungen kommen zum Klimawandel hin-
zu und können seine nachteiligen Auswirkun-

Geographische Rundschau 7/8-2023 15


Deutschlands Städte im Klimawandel Hitzestress, Stadtentwicklung, Ludwigsburg

Foto: Sina Ettmer/Alamy Stock Foto


Foto 1: Am Marktplatz von Ludwigsburg zeigt sich, dass bei unterschiedlichen Raumanforderungen (Denkmalschutz, Veranstaltungen,
Handel, Gastronomie) die Entwicklung von passgenauen, hitzeangepassten Lösungen komplex ist

Franziska Göttsche, Jörn Birkmann

Wie passen wir unsere Städte


in Zeiten des Klimawandels
an Hitze an?
Von Hitzestressrisiken, bedingt durch den fortschreitenden Klimawandel, sind Städte und
ihre Gesellschaften besonders betroffen. Die Stadtentwicklung von heute steht dabei auch
aufgrund von weiteren gesellschaftlichen Trends, wie z. B. Urbanisierung, Armut oder Alte-
rung, vor großen Herausforderungen. Dieser Beitrag zeigt Lösungsansätze für die Entwick-
lung passgenauer, bedarfsorientierter Anpassungsstrategien auf. Die Erkenntnisse basieren
auf dem in Ludwigsburg durchgeführten Forschungsprojekt ZURES II, das durch das Bundes­
ministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde.

16 Geographische Rundschau 7/8-2023


D er fortschreitende Klimawandel führt auch in
Deutschland zu immer heißeren Städten. Die
letzten deutschen Sommer zeigten bereits sehr
sätze zu entwickeln, greift jedoch zu kurz. Denn
neben dem fortschreitenden Klimawandel erfah-
ren unsere Städte weitere Veränderungsprozesse,
eindrücklich die zunehmende Hitzeproblema- wie z. B. Alterung, Armut, Wanderung oder Ur-
tik und ihre Wirkungsfolgen. Die Sommer 2003, banisierung. Demzufolge sind für die integrative
Projekt
2018, 2019 und 2022 waren die vier wärmsten seit Strategie zur Anpassung neben den Klima- auch „ZURES II“
Beginn der systematischen Wetteraufzeichnung Verwundbarkeitsinformationen erforderlich. Die
(DWD 2022). Solche Ereignisse gehen mit poten- im Rahmen des ZURES-Projekts für Ludwigsburg
ziell verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt entwickelten Verwundbarkeitsszenarien zeig-
und menschliche Gesundheit einher. Das Robert- ten, dass neben der Innenstadt, bei der die An-
Koch-Institut stellte für 2022 eine hitzebedingte passungsnotwendigkeit primär aus thermischen
Übersterblichkeit von rund 4500 Sterbefällen fest Gründen gegeben ist, auch Stadtviertel in der Ost-
(Winklmayr und an der Heiden 2022). Angesichts stadt einen höheren Handlungsbedarf aufzeigen.
der erwarteten Zunahme solcher Wetterlagen be- Trotz differenzierter Verwundbarkeitsszenarien
steht eine große Dringlichkeit, Städte an die Wir- weisen diese Stadtviertel persistente Strukturen
kungsfolgen des anthropogenen Klimawandels hinsichtlich der Alterungs- und Armutsverteilung
anzupassen (IPCC 2014). Im Rahmen des elften auf. In diesen Gebieten sind zum einen eine Über-
Nachhaltigkeitsziels der Vereinten Nationen wird hitzung des Stadtgebiets zu vermeiden und zum
das Vorhaben formuliert, Politiken und Pläne für anderen gezielt vulnerable Personen zu entlasten
Städte zu entwickeln, die die Anpassung an den (Birkmann et al. 2021; vgl. Abb. 1).
Klimawandel als integratives Element der urba- Die Anpassung an den Klimawandel ist nicht
nen Entwicklung gewährleisten (UNDP 2016). Die nur eine Frage der Entwicklung des Klimas,
deutsche Anpassungsstrategie des Bundes von sondern auch eng verknüpft mit den Aspek-
2008 betont ebenfalls die zentrale Rolle von Städ- ten der sozialen Stadtentwicklung. Informelle
ten bei der Entwicklung und Implementierung Planungsinstrumente, wie z. B. Stadtentwick-
von Anpassungsstrategien. Kommunen verfügen lungskonzepte, erlauben aufgrund ihres Auf-
zum einem über eine Planungshoheit und zum baus mit den vielfältigen Handlungsfeldern der
anderen werden die Auswirkungen des Klima- Stadtentwicklung und aufgrund ihrer zukunfts-
wandels sich auch lokal spezifisch differenzieren gewandten Richtung die Integration solch eines
(Die Bundesregierung 2008), sodass es ortsspezifi- umfassenderen Risikoverständnisses. Mithilfe
scher und passgenauer Lösungen im Umgang mit des Trialogs zwischen Stadtverwaltung, Stadtge-
dem Hitzestress bedarf. sellschaft und Politik lässt sich das zukünftige
Handlungskonzept einer Stadt entwickeln. Bei
Szenarien und informelle der Erarbeitung lassen sich Synergien nutzen so-
Planungsinstrumente wie Konfliktfelder auflösen. Zudem gibt es stets
Herausforderungen bei der Implementierung
Vielfach werden primär für die Anpassungsstrate- des Querschnittsthemas Klimaanpassung in den
gien gegenüber Hitzerisiken in Städten Gefahren- städtischen Verwaltungsstrukturen, insbeson-
karten, wie z. B. Klimaanalysekarten, verwendet. dere in Klein- und Mittelstädten. Dies begründet
Allein auf solche Planungsgrundlagen Lösungsan- sich durch fehlende personelle Kapazitäten oder

Abb. 1: Integriertes Klima- und Verwundbarkeits­szenario (Szenario: starker Klimawandel und hohe
­Verwundbarkeit) Quelle: Birkmann et al. 2021

Geographische Rundschau 7/8-2023 17


Deutschlands Städte im Klimawandel Hitzestress, Stadtentwicklung, Ludwigsburg

Grafik: Franziska Göttsche, Jörn Birkmann


Abb. 2: Ergebnisse zur Nutzung von grünen Erholungsorten, basierend auf einer Hitzeumfrage 2021 in Ludwigsburg

durch den reduzierteren Verwaltungsaufbau. (vgl. Foto 1). Zum einem weisen diese Plätze be-
Deswegen wird die Verknüpfung von Klimaan- sondere Stadtfunktionen auf – wie der Markt-
passungsstrategien mit informellen Planungs- platz oder der Rathaushof als Außenraum für
instrumenten als hilfreich bewertet, da bei Veranstaltungen –, zum anderen handelt es sich
solchen Prozessen umfangreiche Akteursbetei- um Parkplätze. Darüber hinaus wurden bedeut-
ligungen vorgesehen sind. same Querverbindungen von Wohnstandorten
in die Innenstadt als Hitzewegeverbindungen
Partizipative Kartierung von markiert. Über diese Form der Kartierung
heißen und kühlen Orten konnten zwar keine Orte identifiziert werden,
die nicht bereits über die Klimaanalysen er-
In einer in Ludwigsburg 2018 durchgeführten fassten worden waren (Stadt Ludwigsburg und
Haushaltsbefragung zeigte sich, dass das Hitze- GEO-NET 2022). Dennoch waren die subjektiven
empfinden innerhalb der Stadt sehr unterschied- Wahrnehmungen hilfreich, um prioritäre Hand-
lich ist. Neben einer lungsgebiete zu erkennen, in denen Maßnahmen
hohen Belastung an umgesetzt werden können. Hinsichtlich des
Über die Hälfte der Befrag- den Wohnorten wurde Nutzungsverhaltens in Grün- und Erholungsge-
ten gaben an, dass es nicht die Hitzebelastung vor bieten zeigte sich in Ludwigsburg, dass die Be-
genügend attraktive Erho- allem am Arbeitsplatz, fragten den Favoritenpark, die Bärenwiese und
den Märchengarten im Blühenden Barock aufsu-
lungsorte gebe. Es ist daher in öffentlichen Ver-
kehrsmitteln und in der chen. Zwei dieser Flächen liegen in der Innen-
essenziell, einerseites die Innenstadt als stark be- stadt. Die Bundestraße 27 trennt die Kernstadt
Hitzebelastung im öffentli- lastend beurteilt. Im Ge- jedoch von der Bärenwiese und dem Blühenden
chen Raum zu reduzieren, gensatz dazu nahm die Barock und ist somit eine Barriere.
andererseits auch grüne Er- Mehrzahl der Befragten Diese Flächen werden in der Regel von den Be-
holungsorte zu entwickeln. Hitze in Parks und Gär- fragten mehrmals in der Woche mit einer durch-
ten nicht oder nur ge- schnittlichen Aufenthaltsdauer von insgesamt bis
ring wahr. Der Umgang zu drei Stunden besucht. Selbst bei den von den
mit Hitze nimmt daher bereits in den städtischen Befragten als gut bewerteten Erholungsorten fehlt
Hauptfunktionen wie Arbeiten, Mobilität, Ver- in Teilen die Ausstattungsvielfalt für verschiede-
sorgung und Erholung eine wesentliche Rolle ein ne soziale Gruppen. Bei der Bärenwiese wurde
(Laranjeira et al. 2021). an Optimierungswünschen z. B. mehr Sitzgele-
Zur Konkretisierung dieser Befunde wurde genheiten, Hängematten, ein Volleyballfeld oder
eine weitere kartographische Umfrage mit Stadt- ein kleines Café-Rondell aufgeführt (vgl. Abb. 2).
nutzern durchgeführt, bei der von den Befrag- Zudem gaben über die Hälfte der Befragten an,
ten sowohl heiße als auch kühle Orte markiert dass es in Ludwigsburg nicht genügend attraktive
wurden. Die überwiegende Mehrheit der mar- Erholungsorte gebe. Vor diesem Hintergrund ist
kierten heißen Orte wurden in der Innenstadt es daher essenziell, einerseits die Hitzebelastung
lokalisiert. Die von Hitze belasteten Orte kon- im öffentlichen Raum zu reduzieren, aber ande-
zentrierten sich primär vom Bahnhofsplatz bis rerseits auch grüne Erholungsorte zu entwickeln
zum Marktplatz über weitere öffentliche Plätze und zu qualifizieren (vgl. Foto 2).

18 Geographische Rundschau 7/8-2023


Abb. 3: Akzeptanz von Maßnahmen basierend auf einer Umfrage 2021 in Ludwigsburg (n = 271) Grafik: Franziska Göttsche, Jörn Birkmann

Sektorenübergreifende Anpassungsziele nem umfassenden Beteiligungsprozess Stadt-


entwicklungsziele erarbeitet und diskutiert.
Es wird deutlich, welche Potenziale in der Stadt- Zudem fördert der integrative Aufbau solcher
entwicklung liegen, um Risiken der im Zuge des Konzepte den Querschnittsgedanken von Kli-
Klimawandels häufiger auftretenden Hitzewel- maanpassung. In einem Dialogprozess in der
len zu mindern. Der letzte IPCC-Bericht zeigte Kommune Ludwigsburg wurden im Rahmen
eindrücklich, dass bisherige Bestrebungen eine eines Stadtentwicklungskonzepts, bestehend
klimaresiliente Entwicklung nur bedingt voran- aus elf Handlungsfeldern, Stadtentwicklungs-
gebracht haben (IPCC 2022). In der deutschen ziele entwickelt, in denen Anpassungsziele for-
Anpassungsstrategie werden als langfristige Ziele muliert wurden. Unter anderem wurde fixiert,
genannt, die Verwundbarkeit von natürlichen, so- dass öffentliche Grün- und Freiflächen mit ei-
zialen und wirtschaftlichen Systemen zu reduzie- ner hohen Aufenthaltsqualität an heißen Tagen
ren und die Anpassungsfähigkeit zu stärken (Die für alle Menschen fußläufig und barrierearm
Bundesregierung 2008). Die gesetzliche Veranke- in maximal 300 Metern erreichbar sein sollen.
rung des Klimaschutzes und der Klimaanpassung Bei solchen Aushandlungsprozessen ist es her-
in das Baugesetzbuch verstärkt zusätzlich den Kli- ausfordernd, die Balance zwischen realistischen
maanpassungsbelang bei der Planung. Dies ge- und finanzierbaren Zielen zu finden. Zu ambiti-
winnt vor dem Hintergrund der dort definierten
Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeits-
verhältnisse zusätzlich an Bedeutung. Doch wie
viel Klimaanpassung ist genug?
Im Gegensatz zu den konkreten Klimaschutz-
zielen, die nach Sektoren gegliedert und quan-
titativ ausformuliert sind, werden aktuelle An-
passungsziele vielfach sehr weich (z. B. „mehr
grüne Infrastruktur“, „mehr Verschattung“)
formuliert, was den Monitoring-Prozess er-
schwert. Da es bislang keine allgemeingültigen,
standardisierten stadtklimatischen Vorgaben
gibt, braucht es konkrete kommunale Zielde-
finitionen. Um Handlungsfelder in konkrete
Anpassungsziele zu überführen, ist die SMART-
Methode aus der Zielsetzungstheorie (Locke und
Foto: Franziska Göttsche

Latham 1990) dienlich. Ihr zufolge müssen Ziele


spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch und
terminiert formuliert sein. Um solche Klima-
anpassungsziele auszuhandeln, sollten bereits
bestehende Prozesse, wie z. B. Stadtentwick- Foto 2: Die Bärenwiese ist die grüne Lunge im Zentrum Ludwigsburgs. Nach den
lungskonzepte, genutzt und verfeinert werden. Einschätzungen vieler Bürgerinnen und Bürger könnte ihre Gestaltung jedoch
In diesem Rahmen werden in der Regel in ei- optimiert werden

Geographische Rundschau 7/8-2023 19


Deutschlands Städte im Klimawandel Hitzestress, Stadtentwicklung, Ludwigsburg

Quelle: ReinventingSociety/Loom
Abb. 4: Zukunftsbild Ludwigsburg: Nicht Einzelmaßnahmen führen zum Ziel. Stattdessen muss ein Transformationsprozess initiiert
werden

onierte Ziele sind nicht finanzierbar oder über- nahmen als unterschiedlich geeignet bewerten
fordern die Verwaltung, während zu schwache (vgl. Abb. 3).
Ziele nicht die Dringlichkeit der Handlungser- Im Umgang mit der zunehmenden Hitze wur-
fordernis unterstreichen. den primär die Pflanzung von Bäumen als auch
die Entwicklung von mehr öffentlichen Park-
Akzeptanz von Maßnahmen und ihre und Grünflächen als wichtig erachtet. Begrü-
Wirksamkeiten nungsmaßnahmen am Objekt wie Fassadenbe-
grünung wurden von 59 % und Dachbegrünung
Um Hitzestressrisiken zu reduzieren, ist es essen- von 54 % der Befragten als sinnvoll beurteilt.
ziell, Klimaanpassungsmaßnahmen zu implemen- Während Maßnahmen zur natürlichen Beschat-
tieren. Das Problembewusstsein und die Notwen- tung in Form von Baumpflanzungen als sehr
digkeit der Hitzevorsorge sind bei kommunalen sinnig (mehr als 90 %) erachtet wurden, wurden
Akteuren ebenso wie in der Bevölkerung und künstliche Beschattungsmaßnahmen in Form
Politik meist nur gering ausgeprägt. Hierfür ur- von Sonnenschirmen oder Sonnensegeln nur
sächlich sind u. a. der begrenzte Zeitraum von von 31 % der Befragten als sinnvoll bewertet.
vier Monaten, in denen solche Hitzewellen in der Neben Maßnahmen, die die grüne Infrastruktur
Regel in Deutschland auftreten, das Phänomen betreffen, wurden auch Maßnahmen zur blauen
des Verdrängens und die stets noch positiven Infrastruktur bewertet. Diese hielten nur 45 %
Assoziierungen mit Hitze. Zusätzliche hemmen- der Befragten als sinnvolle Maßnahme im Um-
de Faktoren stellen die limitierten finanziellen, gang mit Hitze. Im Gegensatz dazu werden diese
personellen und zeitlichen Kapazitäten der Ver- trotz deren Aufwertungsfunktion des öffentli-
waltung dar. Die Akzeptanz solcher Maßnahmen chen Raums und auch deren Wirkung auf das
muss also gestärkt werden. soziale Zusammenleben von Verwaltungen auf-
Um die integrierten Ziele in eine Hitzevorsor- grund der hohen Finanzierungskosten eher nur
gestrategie zu übersetzen, sind Maßnahmenbün- als vereinzelt umsetzbare Handlungsoption ge-
del notwendig, die aus baulich-gestalterischen, sehen. Bei Maßnahmen nichtgestalterischer Art
strategischen und kommunikativen Maßnahmen wurden insbesondere kostenloses Trinkwasser
bestehen. In der Hitzeumfrage in Ludwigsburg mit 63 % und die finanzielle Unterstützung mit-
zeigte sich jedoch, dass die Befragten diese Maß- tels Fördergelder für private Maßnahmen mit

20 Geographische Rundschau 7/8-2023


64 % als sinnvoll bewertet. Weitere Maßnahmen setzung von Anpassungsmaßnahmen gegenüber
wie die Anpassung des Verhaltens an Hitzetagen Hitzestressrisiken, die sowohl die Temperatur als
hielten 52 % für sinnvoll. Ein Hitzewarnsystem auch besonders verwundbare Menschen und de-
zu etablieren und das bürgerschaftliche Engage- ren Mobilität in der Stadt in den Fokus rücken.
ment zu stärken, wurden von den Befragten mit Das Thema darf nicht allein auf das Management
32 % als weniger wichtig erachtet. Die Analysen von einzelnen Hitzewellen beschränkt sein. Viel-
zeigten den Bedarf neuer, qualitativ hochwer- mehr braucht es einen tiefergehenden Struktur-
tiger Erholungsorte im Innenstadtgebiet. Die wandel und umfassenden Transformationspro-
Potenzialanalyse ermittelte im Wesentlichen zess in den Städten Deutschlands.  ∎
vier Standorte, die gegenwärtig als Parkplätze
genutzt werden. Die Debatte um städtebauliche Literatur
Entwürfe des Arsenalplatzes verdeutlichte, dass Birkmann, J. et al. (2021): New methods for local vulnerability
scenarios to heat stress to inform urban planning – case
die Reduktion von Stellplätzen häufig ein emoti-
study City of Ludwigsburg/Germany. Climatic Change 165
onales Thema darstellt. Sowohl für den Einzel- (37) (doi: 10.1007/s10584-021-03005-3)
handel als auch für die Stadtgesellschaft ist die Die Bundesregierung (2008): Deutsche Anpassungsstrate-
Zugänglichkeit des Innenstadtgebiets mit dem gie an den Klimawandel (DAD), vom Bundeskabinett am
motorisieren Individualverkehr aktuell noch 17. Dezember 2008 beschlossen (https://www.bmuv.de/
fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Klimaanpassung/
ein wesentlicher Standortfaktor.
das_gesamt_bf.pdf)
Um die Akzeptanz gegenüber Hitzeanpas- DWD – Deutscher Wetterdienst (2022): Klimatologischer Rück-
sungsmaßnahmen zu stärken, wurde der Ansatz blick Sommer 2022. Offenbach (https://www.dwd.de/DE/
der Ex-ante-Wirkungsmodellierung genutzt. Im leistungen/besondereereignisse/temperatur/20220921_be-
Fall von Ludwigsburg wurden hierfür ein „zu- richt_sommer2022.pdf;jsessionid=A2C6260A7038C60C97F2
182740F1FF44.live21062?__blob=publicationFile&v=6)
rückhaltendes“ und ein „ambitioniertes“ Maß-
IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC)
nahmenszenario entwickelt. Obschon in dem (2014): Climate change 2014. Impacts, adaptation, and
Maßnahmenset des ambitionierten Szenarios vulnerability. Working Group II contribution to the fifth as-
auch visionärere Maßnahmen, wie die Umgestal- sessment report of the Intergovernmental Panel on Climate
tung der Bundesstraße im Innenstadtbereich zu Change. Cambridge
IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC)
einem grünen Band, entwickelt wurden, konnte
(2022): Climate Change 2022: Impacts, Adaptation and
das Ausgangsziel, die heutigen und zukünftigen Vulnerability. Contribution of Working Group II to the
Hitzehotspots aus der Planungshinweiskar- Sixth Assessment Report of the Intergovernmental
te aufzulösen, nicht erreicht werden. Für die Panel on Climate Change. Cambridge, New York (doi:
Planung bedeutet das, dass Klimaanpassungs- 10.1017/9781009325844)
Laranjeira, K., Göttsche, F., Birkmann, J. und M. Garschagen
maßnahmen nicht mehr, wie häufig üblich, als
(2021): Heat vulnerability and adaptive capacities: findings
Einzelmaßnahmen, sondern gemeinsam im of a household survey in Ludwigsburg, BW, Germany. Cli-
Verbund umgesetzt werden sollten. Insbeson- matic Change 166 (14) (doi: 10.1007/s10584-021-03103-2)
dere mit dem fortschreitenden Klimawandel Locke, E. und G. P. Latham (1990): A Theory of Goal-Setting
erzielen Einzellösungen nicht die gewünschten and Task Performance. Upper Saddle River, New Jersey
Stadt Ludwigsburg und GEO-NET (2022): PHK Stadtklima.
Abkühlungseffekte im Stadtraum. Daraus folgt,
Bewertungskarte Tag. Status quo. Hannover
dass die häufig als eher unwichtig erachteten UNDP – United Nations Development Programme (2016):
Sensibilisierungs- und Kommunikationsmaß- Goal 11: Sustainable cities and communities (https://www.
nahmen zur Befähigung der Stakeholder und un.org/sustainabledevelopment/cities/)
der Stadtgesellschaft, die eigene Betroffenheit Winklmayr, C. und M. an der Heiden (2022): Hitzebedingte
Mortalität in Deutschland 2022. Epidemiologisches Bulletin
zu erkennen und daher auch eigene Klimaana-
42 (doi: 10.25646/10695.2)
passungsmaßnahmen umzusetzen, eine höhere ZURES II (2022): Anwendung und Verstetigung der zu-
Priorität erfahren sollten. Wie in vielen anderen kunftsorientierten Klima- und Vulnerabilitätsszenarien in
politischen Feldern können Kommunen diese ausgewählten Instrumenten und Planungsprozessen und
Sensibilisierungsmaßnahmen mithilfe von An- Modellstadt Ludwigsburg. Ganz schön cool hier. Wie gelingt
hitzeangepasste Stadtentwicklung für alle? Stuttgart
reizen bestärken – z. B. durch Förderprogramme
oder mithilfe von Regularien, wie etwa durch AUTORIN UND AUTOR
die Verpflichtung von Fassadenbegrünung bei Franziska Göttsche, geb. 1993
Neubauten (ZURES II 2022). wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Raumordnung
und Entwicklungsplanung, Universität Stuttgart
franziska.goettsche@ireus.uni-stuttgart.de
Dialogorientierter Schwerpunkte: Klimaanpassung, Stadtentwicklung, Partizipa-
Transformationsprozess tion, Vulnerabilitäts- und Risikoabschätzung

In Summe wird in deutschen Städten auch be- Prof. Dr. Jörn Birkmann, geb. 1972
dingt durch die Hitzewellen in den letzten Som- Leiter des Instituts für Raumordnung und Entwicklungspla-
mern das Thema Hitzeanpassung präsenter und nung, Universität Stuttgart
jörn.birkmann@ireus.uni-stuttgart.de
wichtiger – auch im Sinne der Sicherung einer
Schwerpunkte: Vulnerabilitäts- und Risikoabschätzung,
hohen Lebensqualität (vgl. Abb. 4). In Zukunft be- Klimaanpassung, Klimaresilienz, kritische Infrastrukturen,
darf es einer kontinuierlichen Planung und Um- Stadt- und Raumplanung

Geographische Rundschau 7/8-2023 21


Deutschlands Städte im Klimawandel Kaskadeneffekt, urbane Resilienz, kritische Infrastruktur

Alexander Fekete

Der Klimawandel als Heraus-


forderung für den städtischen
Katastrophenschutz

Foto: Holger Burmeister/Alamy Stock Foto


Foto 1:
Hoch-
wasser
in Halle,
Sachsen-
Anhalt
(2011)

Das Thema Klimawandel ist inzwischen in der


öffentlichen Wahrnehmung präsent, sei es durch E insätze des Katastrophenschutzes bei grö-
ßeren Naturgefahrenereignissen gab es in
Deutschland in der Nachkriegszeit etwa 1962 bei
Starkregen oder Waldbrände der letzten Jahre. der Sturmflut in Hamburg und angrenzenden Re-
Die Akteure im Katastrophenschutz einer Stadt, gionen oder 1975 bei einem Flächenbrand in der
Lüneburger Heide (Dikau und Weichselgartner
wie Feuerwehren und Rettungsdienste, müssen 2005, Karutz et al 2017). Seit den 1990er-Jahren
sich auch um die Folgen des Klimawandels, jedoch rücken Hochwasserereignisse und zuletzt auch
­primär um Alltagseinsätze zu kümmern. Die Flut­ Waldbrände stärker ins Bewusstsein. Einige aus-
gewählte jüngere Beispiele zeigen auf, worauf
ereignisse im Juli 2021 in Nordrhein-Westfalen sich der Katastrophenschutz künftig im Zuge des
und Rheinland-Pfalz haben zwar die Schwach­ Klimawandels einstellen muss (vgl. Foto 1).
stellen aufgezeigt, doch haben das auch viele
Herausforderungen des Katastrophen-
vorherige Hochwasser bereits getan, und ent­ schutzes durch den Klimawandel
sprechende Lessons-Learned-Studien gab es eben-
Im Jahr 2005 waren mehrere ländliche Gemein-
so häufig. Fehlt es also an Ausstattung, Unterstüt- den und kleinere Städte im Münsterland von
zung oder gar Bewusstsein? einem wetterbedingten Stromausfall betroffen

22 Geographische Rundschau 7/8-2023


(Bundesnetzagentur 2006). Relativ milde Tempe- Ältere, Einkommensschwache, Mobilitätseinge-
raturen hatten im Winter des Jahres zum Aufkom- schränkte, Personen mit Vorerkrankungen) zu
men feuchter Schneemassen geführt, die sich auf schützen (vgl. Textbox).
Stromleitungen legten und durch starke Winde
zu Eiskernen verformten. Die Eiskerne wogen Eingeschränkte Handlungsfähigkeit des
schließlich so viel, dass in Folge 80 Strommasten Katastrophenschutzes
umstürzten. Die Konsequenz war ein Ausfall der
Stromversorgung für Zehntausende Personen, Die Stadt Paris trägt im Stadtwappen das Mot-
der in einigen Ortschaften bis zu sechs Tage lang to „fluctuat nec mergitur“ (sie mag schwanken,
andauerte. Im Zuge dessen wurden Einsatzkräfte aber nicht untergehen). Dieses Motto drückt den
aus dem ganzen Bundesgebiet zusammengezogen Grundgedanken des Resilienzbegriffs gut aus
mit einem Drittel aller deutschlandweit verfügba- und in einer Stadt gibt es viele Akteure, die zum
ren Notstromaggregate, um die Stromversorgung Aufbau von Resilienz im Umgang mit den Folgen
der Bevölkerung, aber auch von wirtschaftlichen des Klimawandels beitragen können (Fekete und
Betrieben (z. B. Viehbetriebe) sicherzustellen. Fiedrich 2018). Der Katastrophenschutz einer
Im Jahr 2014 gab es in Münster ein Starkre- Stadt in Deutschland ist häufig in einem Amt un-
genereignis, das bezüglich der Regenmenge die tergebracht, das sich mit der sogenannten nicht-
Ereignisse von 2021 noch übertraf. Eine stagnie- polizeilichen Gefahrenabwehr befasst. Häufig
rende Wetterlage hatte im Vorfeld des Ereignisses angegliedert an Feuerwehr und Rettungsdienst
dazu geführt, dass eine Regenzelle lange Zeit über hat der Katastrophenschutz die Aufgabe, sich um
der Stadt abregnete. Diese sogenannten Omega- sogenannte Großschadenslagen zu kümmern, die
Wetterlagen, die durch eine Abschnürung stark über die alltäglichen Notfalleinsätze hinausgehen.
mäandrierender Luftmassen der Westwindzone Mit dem Klimawandel verknüpfte Ereignisse sind
erfolgen, werden durch den Klimawandel ver- in diesem Zusammenhang etwa Hochwasser, Dür-
mutlich zunehmen. Die Stadt Münster hatte in re, Hitzewellen oder Waldbrände. Auf kommu-
Folge mit stärkeren Regenmengen als üblich bzw. naler Ebene und in Städten wird seit Jahren eine
mit einem längeren Verharren der Regenwolken Zunahme an Einsätzen von Feuerwehr und Kata-
am gleichen Ort zu kämpfen. strophenschutz und anderen Hilfsorganisationen
Schnee-
Die Überschwemmungen in Rheinland-Pfalz bezüglich solcher sogenannten Naturgefahren im chaos im
und Nordrhein-Westfalen 2021 (vgl. Fotos 2 Zuge des Klimawandels registriert und in Umfra- Münsterland
und 3) haben zu einer größeren Aufmerksam- gen auch dokumentiert (BBK 2011). 2005 (Video)
keit gegenüber dem Thema Hochwasser und
Klimawandel beigetragen. Wie so oft bei kata-
strophalen Überschwemmungen ist jedoch der ∎ Textbox
Druck hinsichtlich eines raschen Wiederaufbaus
sehr hoch und einer nachhaltigen Anpassung an Soziale Verwundbarkeit
zukünftige Risiken des Klimawandels wird da-
bei selten Rechnung getragen. Wissenschaftler In Deutschland wird das Thema soziale Verwundbarkeit zwar
fordern die Einhaltung mehrerer Prinzipien für in der Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel
einen klimaresilienten Umbau von Städten und (DAS) betont, im Katastrophenschutz überraschenderweise
Gemeinden, die von Frühwarnsystemen über die jedoch bislang kaum verwendet. In Frankreich hingegen wer-
Schwammstadt-Fähigkeit bis zur Klimaprüfung den besonders vulnerable Gruppen (ältere, vorerkrankte oder
kritischer Infrastrukturen reichen (Kuhlicke et al. immobile Personen) auch im Katastrophenschutz gegenüber
2021). Diese Prinzipien werden jedoch nicht ge- Hitzewellen besonders bedacht. In Deutschland ist im Zuge
nügen, wenn nicht auch der Katastrophenschutz der Covid-19-Pandemie der Begriff „vulnerable Gruppen“
als elementarer Teil einer klimaresilienten Stadt stärker ins Bewusstsein getreten. Bei einem Hochwasser
verstanden und mit entsprechenden Ressourcen oder auch bei anderen Katastrophen wie etwa einer Dürre
ausgestattet wird. oder einem Waldbrand sind für die Identifizierung verwund-
Der Katastrophenschutz erfährt in der öf- barer Personengruppen nicht nur Alter und Erkrankungen
fentlichen Wahrnehmung wie auch in der von Belang, sondern auch andere Faktoren wie Einkommen,
kommunalen Finanzierung noch zu wenig Auf- Vermögen, Versicherung oder die soziale Einbettung. Diese
merksamkeit. Feuerwehren, Rettungsdienst Faktoren können sich direkt auf die Betroffenheit von Perso-
und Gesundheitswesen werden auch häufig nen gegenüber Naturgefahren auswirken, zum Beispiel wenn
als alleinige Akteure im Katastrophenschutz wohlhabendere Haushalte mit eigenem Garten ganz anders
missverstanden. Sie gehören zwar dazu, sind unter Hitze zu leiden haben als einkommensschwache, die in
aber nur für den Alltagseinsatz vorbereitet und Wohnungen ohne Garten in dicht versiegelten Stadtvierteln
ausgestattet. Planende und handelnde Akteure leben. Aber auch bzgl. Bewältigungs- und Anpassungsstrate-
aus vielen Fachbereichen, aber auch die Zivil- gien gibt es Unterschiede, die auf die finanzielle Ausstattung
gesellschaft gehören ebenfalls dazu (Dikau und von Menschen zurückzuführen sind sowie auf ihr Sozialkapital
Weichselgartner 2005). Klimaresilienz bedeutet (u. a. Netzwerke, Sprachkenntnisse), um Hilfen zu erhalten.
dabei insbesondere vulnerable Gruppen (z. B.

Geographische Rundschau 7/8-2023 23


Deutschlands Städte im Klimawandel Kaskadeneffekt, urbane Resilienz, kritische Infrastruktur

Fotos: Alexander Fekete


Fotos 2 und 3: Infrastruktur im Ahrtal; Beschädigung durch das Hochwasser 2021 (links) und Notversorgung (rechts)

Eingeschränkte Handlungsfähigkeiten des Kata- wenn Gefahrenereignisse eintreten wie Fluss-


strophenschutzes im Umgang mit Naturgefahren hochwasser, in deren Verlauf Menschen gerettet
ergeben sich aus der Tatsache, dass die Einsatz- und Keller leer gepumpt werden müssen. Beim
kräfte erst dann einbezogen werden, wenn es Starkregen und Hochwasser 2021 gab es jedoch
bereits zur Katastrophe kommt. In der Vorpla- viel Unmut unter der betroffenen Bevölkerung,
nung sind sie jedoch häufig nicht mit eingebun- da Einsatzorganisationen nicht immer beim
den und haben auch keine eigenen Ressourcen, Leerpumpen des Kellers helfen konnten. Dies
um selbstständig Prognosen oder Risikoanalysen lag daran, dass Feuerwehren im Alltag zwar
durchzuführen. Für eine klimaresiliente Stadt ist viele auch kleinere und bürgernahe Hilfsein-
es notwendig, dass der Katastrophenschutz mit sätze durchführen und technisches Gerät bereit-
verschiedenen anderen Verwaltungseinheiten stellen. In einem wirklichen Katastrophenfall
der Stadt (z. B. Planung, Umwelt) zusammenar- jedoch müssen sie sich primär um die Rettung
beitet, und zwar bereits vor sowie nach einem von Menschenleben kümmern. Eine Lehre aus
möglichen Einsatz. dem Hochwasser im Jahr 2021 ist daher, dass der
Die klimaresiliente Stadt benötigt einen effek- Bevölkerung die Aufgaben des Katastrophen-
tiven Katastrophenschutz insbesondere dann, schutzes besser klar gemacht werden müssen.

Abb. 1: Potenzielle Natur-


gefahren im Kontext des
Klimawandels in Köln und
Standorte ausgewählter
kritischer Infrastruktur

24 Geographische Rundschau 7/8-2023


Abb. 2: Unterschiede der
Naturgefahren-Potenziale
in der Region Köln

Dabei muss auch deutlich werden, was die Prio- erfordert Schulungen der Einsatzkräfte, auch
ritäten der Einsatzkräfte sind und wann Selbst- im Hinblick auf mögliche Eigengefährdungen.
hilfe gefragt ist. Bei Hochwasser gibt es zum Ebenso erfordert sie eine deutliche Fokussie-
Beispiel eine gesetzlich festgeschriebene Pflicht rung möglicher Einsätze auf vulnerable Grup-
zur Selbsthilfe, soweit das in diesem begrenz- pen, wenn man sich etwa das Beispiel Frank-
ten Rahmen möglich ist (Wasserhaushaltsgesetz reichs aus dem Jahr 2003 vor Augen führt, als
§ 5 Allgemeine Sorgfaltspflichten). man im Zuge einer Hitzewelle für eine flächen-
Damit Katastrophenschutz effektiv ist, muss deckende Versorgung bzw. Evakuierung von al-
er sich an die durch den Klimawandel verän- ten, nicht mobilen Menschen und Menschen mit
dernden Häufigkeiten und Ausmaße von Natur- Vorerkrankungen zu sorgen hatte.
gefahren anpassen. Die Anpassung bezieht sich Klimaresilienz bedeutet auch, dass sich der
auf Fragen der Organisation, der technischen Katastrophenschutz mit dem Thema sozial-
Ausstattung und des allgemeinen Bewusst- ökologische Transformation beschäftigen muss
seins. Organisatorische Anpassungen sind zum (Gebhardt et al. 2007). Die Stadt Köln rechnet
Beispiel Bedarfsanalysen, die das Thema Na- jetzt schon damit, dass durch künftige For-
turgefahren und Klimawandel in die Planung men nachhaltiger Mobilität auch die Anzahl
und Ausstattung von Feuerwehren einbringen. von Fahrradstrecken in der Stadt zunehmen
Dazu sind auch thematische Karten hilfreich, wird. Das bedeutet für die Einsatzfahrzeuge
die räumliche Zusammenhänge in einer Stadt der Feuerwehr, dass sie ihre Hilfsfrist, also
oder einer Region zwischen bedrohten Siedlun- das Eintreffen am Notfalleinsatzort innerhalb
gen, Infrastrukturen und Gefahren wie Hoch- von acht Minuten, auf geschwindigkeitsredu-
wasser, Hitze oder Waldbrand herstellen (vgl. zierten Fahrradwegen unter Umständen nicht
Abb. 1 und 2). Technische Anpassungen umfas- mehr einhalten wird. Hier sind nicht nur beim
sen die zusätzliche Anschaffung von Pumpen, Thema Elektromobilität, sondern auch in den
Seilwinden für Hubschrauber zur Personen- klassischen Einsatzspektren von Feuerwehr und
rettung oder mobilen Kühlaggregaten für Hit- Rettungsdienst planerische Umstellungen zu
zewellen. Eine Anpassung bezüglich des allge- leisten. Wenn etwa die Fahrzeugflotte des Kata-
meinen Bewusstseins gegenüber Naturgefahren strophenschutzes auf Elektroantrieb umgerüs-
beinhaltet, dass solche Ereignisse nicht mehr als tet wird, muss die Frage beantwortet werden,
„Nebenschauplätze“ behandelt werden, die von wie die Einsatzfähigkeit der Flotte auch im Falle
ein paar wenigen Einsätzen an einzelnen Ta- flächendeckender Stromausfälle gewährleistet
gen im Jahresverlauf geprägt sind, sondern als werden kann. Die bisherige Ausstattung mit
neuer „Hauptschauplatz“, der zu den üblichen Verbrennermotoren unterliegt einer ähnlichen
Alltagseinsätzen hinzukommt. Die Anpassung Abhängigkeit aufgrund der Nachbetankung an
des Bewusstseins für zukünftige Naturgefahren Tankstellen, die ebenfalls von Strom für ihre

Geographische Rundschau 7/8-2023 25


Deutschlands Städte im Klimawandel Kaskadeneffekt, urbane Resilienz, kritische Infrastruktur

auch global vernetzte Infrastruktur ausfällt.


Eine stärkere Dezentralisierung und Inselver-
sorgung oder Selbsterzeugung von Strom durch
Blockheizkraftwerke oder auch die Bohrung
von Notbrunnen sind ebenso denkbare Lösun-
gen wie auch bestimmte Notfall-Ladesäulen, die
eine kommunenübergreifende Zusammenar-
beit am Rande des Stadtgebietes auch bei einem
Stromausfall in mehreren angrenzenden Krei-
sen ermöglichen. Wasserversorgung und Ab-
wasser sind ein ebenso wichtiges Thema, da bei

Foto: Artur Bogacki/Alamy Stock Foto


Hitzeereignissen im Sommer die Trinkwasser-
und damit auch Löschwasserreserven reduziert
werden. Auch muss bei der Stadtbegrünung dar-
auf geachtet werden, dass z. B. Miniwälder (Tiny
urban forests) so bewässert werden und Abstän-
de von Häusern haben, dass auch Waldbrände
Foto 4: Der Tiergarten im Zentrum Berlin ist das grüne Herz der Stadt in einer Stadt gut bewältigt werden können.
Einige Großstädte wie etwa Köln oder Berlin
Pumpen abhängig sind. Ein wichtiges Thema haben große Waldflächen und diese sind sehr
für die klimaresiliente Stadt ist daher die soge- wichtig für den Ausgleich bei Hitze (vgl. Foto 4).
nannte kritische Infrastruktur. Abschließend muss man bei der Transformation
zur nachhaltigen Nutzung von Energieträgern
Kritische Infrastruktur und Mobilität auch dafür sorgen, dass im Ka-
tastrophenfall bestimmte Kernressourcen der
Laut Bundesministerium des Inneren und für Gesellschaft wie etwa der Katastrophenschutz
Heimat (BMI) sind kritische Infrastrukturen weiterhin funktionieren können. ∎
„Organisationen und Einrichtungen mit wichti-
ger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, LITERATUR
bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nach- BBK – Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastro-
phenhilfe (2011): Klimawandel – Herausforderung für den
haltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebli-
Bevölkerungsschutz. Bonn
che Störungen der öffentlichen Sicherheit oder BMI – Bundesministerium des Inneren und für Heimat (2009):
andere dramatische Folgen eintreten würden.“ Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen
(BMI 2009). Zur kritischen Infrastruktur einer (KRITIS-Strategie). Berlin
Stadt zählen auch die Einrichtungen des Kata- Bundesnetzagentur (2006): Untersuchungsbericht über die
Versorgungsstörungen im Netzgebiet des RWE im Münster-
strophenschutzes, die auch dann noch funktio-
land vom 25.11.2005. Bonn
nieren müssen, wenn bei einer Krise oder Kata- Dikau, R. und J. Weichselgartner (2005): Der unruhige Planet.
strophe nicht mehr alles optimal funktioniert. Der Mensch und die Naturgewalten. Darmstadt
Auch dann muss eine Minimalversorgungsfä- Fekete, A. und F. Fiedrich (2018): Urban Disaster Resilience
higkeit aufrechterhalten bleiben, um beispiels- and Security – Addressing Risks in Societies (https://doi.
org/10.1007/978-3-319-68606-6_1)
weise Menschen überall im Stadtgebiet wei-
Gebhardt, H., Glaser, R., Radtke, U. und P. Reuber (Hrsg.)
terhin retten zu können. Das muss auch dann (2007): Geographie - Physische Geographie und Humangeo-
noch möglich sein, wenn weitere kritische Inf- graphie. Heidelberg
rastrukturen wie etwa die Strom-, Wasser- und Karutz, H., Geier, W. und T. Mitschke (Hrsg.) (2017): Bevölke-
Lebensmittelversorgung oder das Informati- rungsschutz. Notfallvorsorge und Krisenmanagement in
Theorie und Praxis. Berlin, Heidelberg
onssystem ausgefallen sind. Man spricht in die-
Kuhlicke, C., Albert, C., Bachmann, D., Birkmann, J.,
sem Zusammenhang von „Kaskadeneffekten“, Borchardt, D., Fekete, A., Greiving, S., Hartmann, T., Hans-
wenn der Ausfall einer kritischen Infrastruktur jürgens, B., Jüpner, R., Kabisch, S., Krellenberg, K., Merz, B.,
zum Ausfall anderer kritischer Infrastruktu- Müller, R., Rink, D., Rinke, K., Schüttrumpf, H., Schwarze, R.,
ren führt (Rinaldi et al 2001). Bei Stromausfall Teutsch, G., Thieken, A., Ueberham, M. und M. Voss (2021):
Fünf Prinzipien für klimasichere Kommunen und Städte
lassen sich möglicherweise die Rolltore einer
(https://www.ufz.de/index.php?de=48382)
Feuerwache nicht mehr elektrisch öffnen, oder Rinaldi, S. M., Peerenboom, J. P. und T. K. Kelly (2001): Iden-
Handymasten funktionieren nach ein paar Stun- tifying, Understanding, and Analyzing Critical Infrastructure
den nicht mehr, sobald der Reserveakku dieser Interdependencies. IEEE Control Systems Magazine 21, S. 11–25
Masten entleert ist.
AUTOR
Prof. Dr. Alexander Fekete, geb. 1976
Fazit
Institut für Rettungsingenieurwesen und Gefahrenabwehr,
Technische Hochschule Köln
In der klimaresilienten Stadt werden Notfall- alexander.fekete@th-koeln.de
konzepte für die Minimalversorgung auch für Schwerpunkte: Geographische Risikoforschung, Urbane Resi-
den Fall geplant, dass die inzwischen immer lienz, Kritische Infrastruktur, Soziale Verwundbarkeit

26 Geographische Rundschau 7/8-2023


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Geographische Rundschau 7/8-2023 27


Deutschlands Städte im Klimawandel urbane Ökosysteme, Hitzestress, Leipzig

Foto: Nadja Kabisch


Foto 1: Grüne und blaue Elemente der Stadtnatur wie am Karl-Heine-Kanal in Leipzig stellen urbane Ökosystemleistungen bereit

Nadja Kabisch

Ökosystemleistungen der
Stadtnatur für Gesundheit
und Wohlbefinden
Herausforderungen im Klimawandel

Urbane Ökosystemleistungen werden durch eine Vielzahl grüner und blauer Elemen-
te der Stadtnatur bereitgestellt. Beispielsweise liefern Stadtparks und Stadtbäume
wichtige Beiträge für Gesundheit und Wohlbefinden der Stadtbewohner. Auch während
langanhaltender Hitze und Trockenperioden, wie wir sie 2018 und 2019 in Deutschland
erlebten, kühlt Stadtnatur die Lufttemperatur und stellt wichtige Erholungsräume be-
reit, die von den Parkbesuchenden genutzt und wertgeschätzt werden.

28 Geographische Rundschau 7/8-2023


U nter Ökosystemleistungen versteht man aus
einer anthropozentrischen Perspektive he-
raus die direkten und indirekten Beiträge von
Gesundheit, Klimawandel und
Stadtnatur

Natur und Ökosystemen zum Wohlbefinden und Wenn wir von menschlicher Gesundheit und
für die Gesundheit von Menschen. Darunter fal- von Wohlbefinden sprechen, beziehen wir
len Güter, aber auch Leistungen, die uns einen uns auf die allgemeine Definition der Weltge-
materiellen bzw. wirtschaftlichen Wert, aber sundheitsorganisation (WHO), die bereits in
auch einen immateriellen, z. B. gesundheitsrele- der WHO-Präambel von 1948 festgeschrieben
vanten Nutzen erbringen (Naturkapital Deutsch- wurde: „Gesundheit ist der Zustand eines voll-
land – TEEB DE 2016). Die Ökosystemleistungen ständigen körperlichen, geistigen und sozialen
können in verschiedene Dimensionen unterglie- Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von
dert werden. Regulierende Ökosystemleistun- Krankheit und Gebrechen“ (WHO 2020). Zent-
gen beziehen sich auf Ökosystemfunktionen, ral ist diesem Ansatz nach eine ganzheitliche
die auf Elemente und Prozesse von Ökosystemen Betrachtung der Gesundheit des Menschen, die
wirken und somit einen wichtigen Nutzen für nicht nur auf Krankheiten fokussiert, sondern
den Menschen haben. Dazu gehört beispiels- gleichermaßen ein soziales und geistiges Wohl-
weise die regulierende, temperatursenkende befinden betont.
Wirkung von Bäumen durch Beschattungs- und Durch die Bereitstellung von Ökosystemleistun-
Verdunstungsprozesse. Die kulturellen Ökosys- gen kann Stadtnatur zu physischer, sozialer und
temleistungen beschreiben meist immateriel- mentaler Gesundheit beitragen. Unter Stadtnatur
le Nutzen wie z. B. Erholungsmöglichkeiten in verstehen wir alle grünen und blauen Naturstruk-
Stadtparks. Die Versorgungsleistungen bezeich- turen in einer Stadt. Dazu gehören Elemente einer
nen Ökosystembeiträge zur materiellen Versor- ursprünglichen Natur- und Kulturlandschaft, aber
gung der Menschen (z. B. Nahrung, Holz oder auch gestaltete Naturbereiche wie z. B. Parkanla-
Frischwasser). Schließlich bildet die Dimension gen, Kleingärten, Friedhöfe oder Sportanlagen-
der Basisleistungen oder auch unterstützenden grün (Breuste et al. 2016). Gleichermaßen ge-
Leistung die Grundlage für die Bereitstellung hören Naturelemente entlang von Straßen und
aller anderen Ökosystemleistungen. Darunter Bahnanlagen zur Stadtnatur, also Straßenbäume,
versteht man natürliche Prozesse, die Teil der Straßenbegleitgrün sowie Grün zwischen Straßen-
vorher genannten Dimensionen sind und diese bahngleisen. Wichtige Funktionen als Ökosystem
erst ermöglichen. Dazu zählen beispielsweise stellen zudem Naturstrukturen auf Brachflächen
Prozesse der Bodenbildung. Im Folgenden zeigt dar, beispielsweise auf ehemaligen Industrie-
der Artikel, wie vor allem regulierende und kul- oder Bahnflächen (Kowarik 2011). Neben diesen
turelle Ökosystemleistungen auch unter Hitze grünen Strukturen in Städten, die auch als grüne
und Trockenbedingungen durch Stadtparks be- Infrastruktur bezeichnet werden und durchaus
reitgestellt werden und auf die Gesundheit von auch Fassaden und Dachbegrünung als sogenann-
Stadtbewohnerinnen und -bewohnern wirken. te geplante grüne Elemente enthalten, gehören

Foto 2: Mit der Bevölke-


rungszunahme Leipzigs
geht ein steigender Bedarf
an Wohnflächen und Inf-
rastruktur einher. Gleich-
zeitig sollen Grün- und
Freiräume geschaffen bzw.
erhalten werden
Foto: querbeet/iStock by Getty Images

Geographische Rundschau 7/8-2023 29


Deutschlands Städte im Klimawandel urbane Ökosysteme, Hitzestress, Leipzig

auch blaue Strukturen, also Gewässer wie Seen, Nächten wird zukünftig zu mehr Hitzestress in
Teiche, Flüsse und Kanäle zu den Naturstrukturen Städten führen.
einer Stadt (Pauleit et al. 2019). Von einer Hitzeperiode spricht man, wenn
Städte sind aufgrund ihrer Struktur, der ver- heiße Tage an mehreren Tagen hintereinander
bauten Materialien und anthropogener Prozesse auftreten. Unter einem heißen Tag versteht man
meist um einige Grad wärmer im Vergleich zum einen Tag, der eine Maximaltemperatur von 30 °C
städtischen Umland. Diesen Effekt bezeichnet überschreitet (Krug und Mücke 2018). Die durch-
man als städtische Hitzeinsel (urban heat is- schnittliche Anzahl an Hitzetagen pro Jahr hat
land). Dieser städtische Wärmeinseleffekt kann sich in Deutschland in den letzten 70 Jahren von
in warmen Sommernächten oder bei tropischen durchschnittlich drei Tagen auf neun Tage pro
Nächten zu einem Tem- Jahr erhöht. Auch die Jahresmitteltemperatur ist
peraturunterschied zwi- in Deutschland im Zeitraum von 1881 bis 2021 um
Durch die Bereitstellung schen Stadt und Umland 1,6 °C angestiegen (DWD 2022). Zu diesem Anstieg
von Ökosystemleistungen von bis zu 10 K führen haben auch die ausgeprägten Hitzeperioden der
(Krug und Mücke 2018). Jahre 2018 und 2019 beigetragen. Neben den ho-
kann Stadtnatur zu
Tropische Nächte nennt hen und langanhaltenden Sommerlufttemperatu-
physischer, sozialer und man Nächte, unter de- ren fiel außerdem in diesem Zeitraum in einigen
mentaler Gesundheit nen die Nachttempera- Regionen Deutschlands sehr wenig Niederschlag
beitragen – auch unter turen nicht unter 20 °C – wir sprechen von Dürrejahren. Eine Dürre ist
Hitze und Trockenheit. fallen. Diese Temperatu- meteorologisch gesehen eine Phase, die über Mo-
ren sind für die Gesund- nate oder Jahre andauern kann und mit unter-
heit der Stadtbewohne- durchschnittlichen Niederschlägen einhergeht.
rinnen und Stadtbewohner sehr belastend. Unter Auch das war insbesondere in den Jahren 2018
hohen Nachttemperaturen kann sich der Körper und 2019 der Fall und reichte bis 2020 (Rakovec
weniger effizient regenerieren und so wird bei- et al. 2022).
spielsweise das Herz-Kreislaufsystem belastet. Die gesundheitlichen Auswirkungen dieser Hit-
Insbesondere vulnerable Gruppen wie Kinder, zeperioden spiegeln sich u. a. in einer erhöhten
ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkran- Mortalität. Schätzungen des Robert-Koch-Instituts
kungen leiden häufig besonders unter Hitzestress gehen von 8700 hitzebedingten Sterbefällen für
und gehören zu gefährdeten Gruppen (Kabisch das Jahr 2018 aus, im Vergleich zu 6900 Sterbe-
et al. 2017). Die Kombination von weiterem ur- fällen 2019 und 3700 im Jahr 2020 (vgl. Abb. 1;
banem Wachstum mit Verdichtungsprozessen Winklmayr et al. 2022). Auch das Jahr 2003 war
(siehe Prognosen des Umweltbundesamtes bis durch eine langanhaltende Hitzewelle in ganz
2045, Behmer 2021) und der Zunahme an Extrem­ Europa geprägt. In Deutschland führte diese zu
ereignissen wie Hitzeperioden mit tropischen geschätzt 9500 zusätzlich Gestorbenen und für

Foto 3: Urbane grüne


Infrastruktur mit Parks,
Straßenbäumen und
Gründächern helfen, das
städtische Mikroklima zu
regulieren Foto: Nadja Kabisch

30 Geographische Rundschau 7/8-2023


Abb. 1: Geschätzte Zahl
hitzebedingter Sterbefälle
und durchschnittliche
Sommertemperaturen in
Deutschland von 2000 bis
2021
Grafik: Nadja Kabisch
Datengrundlage: Daten zu den Sterbefällen: Win-
kelmayr et al. 2022; Temperaturdaten: Deutscher
Wetterdienst 2022

Europa gesamt geht man von ca. 70 000 hitzebe- stadt ist in den letzten 20 Jahren von ca. 479 000
dingten Sterbefällen aus (Robine et al. 2008). (im Jahr 2001) auf 610 000 (2021) angewachsen
Stadtnaturflächen, also urbane Grünflächen (Stadt Leipzig 2022). Dieses Bevölkerungswachs-
wie z. B. Parks, Gärten, aber auch Friedhöfe, tum geht mit einem erhöhten Wohnflächen- und
können zu einer Abmilderung dieser klimatisch Infrastrukturentwicklungsbedarf einher. Bau-
bedingten Gesundheitsherausforderungen beitra- flächen werden geschaffen, wobei gleichzeitig
gen. Temperaturregulierung durch Kühlung der das Konzept der doppelten Innenentwicklung –
Lufttemperatur über Beschattungs- und Transpi- also Flächen für Wohnungsbau im Innenbereich
rationsprozesse (Verdunstung über Vegetation) schaffen und gleichzeitig Grün- und Freiräume er-
stellt ein gesundheitsschützendes Potenzial dar. In halten und qualifizieren – das Leitbild der Stadt-
der Nacht begünstigen offene Strukturen wie aus- entwicklung mitbestimmt (Stadt Leipzig 2018).
geprägte Wiesenflächen den vertikalen Wärme- Daneben sind die benannten langanhaltenden
fluss. Zudem können Parkanlagen Kaltluftentste- Dürreperioden der Jahre 2018 bis 2020 sowie die
hungsgebiete sein, wodurch die vor allem nachts gleichzeitig auftretenden Sommerhitzeperioden
ausgeprägte städtische Wärmeinsel vermindert Herausforderungen für die Stadtnatur und die
wird. Neben den regulierenden Leistungen liefert Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner. Mithil-
Stadtnatur unter Hitzebedingungen auch wichti- fe eines interdisziplinären Multimethodenansat-
ge kulturelle Leistungen. Beispielsweise stellen zes wurden in den Hitze- und Trockenjahren 2018
Stadtparks tagsüber schattige, kühle Orte dar, in und 2019 im Rahmen des GreenEquityHEALTH-
denen man sich im Freien aufhalten, sich erholen, Projektes Ökosystemleistungen in zwei innerstäd-
und sich mit Freundinnen und Freunden treffen tischen Stadtparks – dem Friedenspark und dem
kann. Lene-Voigt-Park – erfasst. Der Friedenspark ist ein
17 ha großer, gewachsener Park auf einem ehema-
Stadtnatur unter Stress – das ligen Friedhofsgelände mit einem hohen Bestand
GreenEquityHEALTH-Projekt in Leipzig alter Bäume. Der kleinere, ca. 11 ha große Lene-
Voigt-Park ist im Gegensatz dazu ein gestalteter
Im Rahmen des interdisziplinären GreenEquity­ Park, der zu Beginn der 2000er-Jahre auf einem
HEALTH-Projekts wurden die regulierenden und ehemaligen Bahnbrachgelände – dem einstigen
kulturellen Ökosystemleistungen in zwei inner- Eilenburger Bahnhof – entstand. Langgezogene
städtischen Stadtparks in Leipzig während der Offenflächen und alte Bahngebäude erinnern
Hitzesommer 2018 und 2019 analysiert. Die Stadt heute noch an seine Vergangenheit. Der Park
Leipzig ist für eine solche interdisziplinäre Stu- wurde im Rahmen eines Partizipationsprozesses
die zum Thema Stadtnatur und Gesundheit unter gestaltet und enthält einige Spielplätze, Sportflä-
Hitze und Trockenheit sehr interessant. Verdich- chen und Urban-Gardening-Anlagen.
tungsprozesse durch anhaltendes Bevölkerungs- Zur Analyse der regulierenden Ökosystemleis-
wachstum sowie die Hitze- und Trockenperioden tung wurde in den Sommermonaten 2018 und
der letzten Jahre stellten gleichermaßen Heraus- 2019 jeweils eine Woche lang an 17 Messstandor- Leipzig
forderungen für die Stadtplanung und Stadtent- ten über die Parkflächen verteilt Lufttemperatur GreenEquity­
wicklung Leipzigs dar. Die Bevölkerung der Groß- und Luftfeuchte bodennah und in 2 Metern Höhe HEALTH

Geographische Rundschau 7/8-2023 31


Deutschlands Städte im Klimawandel urbane Ökosysteme, Hitzestress, Leipzig

ausgehend von der Oberfläche des Parks ausküh-


len und angrenzende Wohnbereiche von dieser
Kühlungsleistung profitieren. Insgesamt zeigte
sich über den gesamten Messzeitraum hinweg,
dass vor allem die zur Klimaregulationsfunkti-
on gehörende Kühlung in den baumbestandenen
Bereichen der Parks auch unter großer Hitze und
bei bereits eingetretener Schädigung der Vegetati-
on durch die Trockenheit noch immer gegeben ist.
Der große, stark baumbestandene Friedenspark
war durchschnittlich 1 °C kühler als der ihn um-
gebende Stadtraum (Kraemer und Kabisch 2022).
Zur Erfassung der Erholungsfunktion fanden
Abb. 2: Angaben zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch Hitze (N = 176). Frage­ 2018 eine Beobachtungskampagne und 2019
bogenumfrage im Juli 2019 im Friedenspark und Lene-Voigt-Park Grafik: Nadja Kabisch eine Umfrage im einwöchigen Messzeitraum
statt. Die Ergebnisse der Beobachtungskampa-
gemessen, parallel dazu erfolgten Vergleichs- gne verdeutlichen unterschiedliche aktive und
messungen im nahen Straßenraum. Die Tages- eher passive Aktivitäten unter Hitzebedingun-
lufttemperaturen erreichten mit 33,5 °C (in zwei gen in den beiden Parks und in unterschiedli-
Metern Höhe) und mit fast 40 °C (bodennah) im chen Parkbereichen (Kabisch et al. 2020). Für die
Lene-Voigt-Park im Jahr 2018 die höchsten Luft- eher sportlichen, körperlichen Aktivitäten wie
temperaturen. Diese waren hier durchschnittlich Fußball, Beach-Volleyball und Basketball nutzten
höher als im Friedenspark, was sich durch die die Parkbesuchenden vor allem die Sportanlagen
unterschiedliche Vegetations- und Oberflächen- im Lene-Voigt-Park, auch unter sehr warmen Ta-
struktur erklären lässt. Der Anteil großer, alter gestemperaturen von 25–29 °C. Joggerinnen und
Bäume sowie die Vegetationsbedeckung mit 96  % Jogger nutzten hingegen den schattigeren und
sind im größeren Friedenspark wesentlich höher größeren Friedenspark. Mit weiter ansteigenden
als im eher offen gestalteten Lene-Voigt-Park mit Tageshöchsttemperaturen wurden jedoch im-
seinen großen Wiesenbereichen. Bäume sind mer weniger Menschen beobachtet, welche die
im Friedenspark vor allem tagsüber wichtige Parks für körperliche Aktivitäten aufsuchten. So
Schattenspender und kühlen durch Transpira- wurden ab Temperaturen von über 29,5 °C keine
tionsprozesse. Die Bodenvegetation wurde im Joggerinnen und Jogger mehr beobachtet. Auch
Lene-Voigt-Park hingegen durch die extreme und waren Kinder und Jugendliche kaum noch zu se-
langanhaltende Trockenheit seit 2018 längerfris- hen. Passive Aktivitäten hingegen, also Sonnen-
tig geschädigt. Jedoch begünstigen hier die gro- baden, Entspannen oder Gruppenzusammentref-
ßen Freiflächen vor allem nachts den vertikalen fen registrierten wir auf den Freiflächen beider
Wärmefluss, der dazu führt, dass die Freiflächen Parks insbesondere am späteren Nachmittag und

Foto 4: Der
Friedenspark im
Juli 2019 unter­
extremer Hitze und
­Trockenheit
Foto: Felix zur Lage

32 Geographische Rundschau 7/8-2023


Abend. Die Fragebogenumfrage unter Parkbesu- Literatur
cherinnen und -besuchern im Sommer 2019 mit Behmer, J. (2021): Siedlungsflächenprojektion 2045. Teilbe-
176 Teilnehmenden ergab, dass diese teils durch richt der Klimawirkungs- und Vulnerabilitätsanalyse 2021.
In: Climate Change 08/2020
die Hitze gesundheitlich beeinträchtigt waren.
Breuste, J. et al. (2016): Stadtökosysteme. Berlin, Heidelberg
Starke Beeinträchtigungen äußerten sich vor al- Dodman, D. et al. (2022): Cities, Settlements and Key Infra-
lem in Konzentrationsproblemen und generellen structure. In: Pörtner, H.-O. et al. (Hrsg.): Climate Change
Erschöpfungssymptomen (vgl. Abb. 2). Auf die 2022: Impacts, Adaptation and Vulnerability. Contribution
Frage, welche Rolle ein Aufenthalt im Park spielt, of Working Group II to the Sixth Assessment Report of the
Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge,
um mit der Hitze gesundheitlich zurechtzukom-
New York, S. 907–1040
men, gab ein Großteil der Befragten Aussagen DWD –Deutscher Wetterdienst (2022): Klimawandel – ein
wie: „Hier ist es kühler“, „Der Park hilft mir zur Überblick. (https://www.dwd.de/DE/klimaumwelt/klima-
Erholung“ an. Diese Aussagen (insgesamt über wandel/klimawandel_node.html)
140) konnten wir der Erholungs- und Regulati- Kabisch, N. et al. (2021): Impact of summer heat on urban
park visitation, perceived health and ecosystem service ap-
onsfunktion der Ökosystemleistungen zuordnen. preciation. In: Urban Forestry & Urban Greening 60, 127058
Viele beschrieben die erholsame und kühlende Kabisch, N. et al. (2020): Physical activity patterns in two
Wirkung der Schattenbereiche der Parks, freu- differently characterised urban parks under conditions of
ten sich, andere Menschen treffen zu können und summer heat. In: Environmental Science & Policy 107,
eben nicht in der heißen Wohnung sein zu müs- S. 56–65
Kabisch, N. et al. (2017): The health benefits of nature-based
sen. Darüber hinaus ergab die Fragebogenumfra- solutions to urbanization challenges for children and the
ge, dass der Friedenspark aufgesucht wird, um elderly – A systematic review. Environmental Research 159,
Natur zu erleben, während der Lene-Voigt-Park S. 362–373
eher einen Ort für soziale Aktivitäten darstellt. Kowarik, I. (2011): Cities and Wilderness. Environmental Pollu-
Zur Frage nach Verbesserungswünschen antwor- tion 159 (3), S. 1974–1983
Kraemer, R. und N. Kabisch (2022): Parks Under Stress: Air
teten die Teilnehmenden mit dem Wunsch nach Temperature Regulation of Urban Green Spaces Under
erhöhter Verfügbarkeit von Trinkbrunnen und Conditions of Drought and Summer Heat. Frontiers in Envi-
öffentlichen Toiletten (Kabisch et al. 2021). Trink- ronmental Science 10
brunnen wurden mittlerweile im Lene-Voigt-Park Krug, A. und Mücke, H.G. (2018): Auswertung Hitze-bezogener
Indikatoren als Orientierung der gesundheitlichen Belas-
installiert.
tung. In: UMID – Umwelt + Mensch Informationsdienst,
2/2018, S. 67–79
Fazit Naturkapital Deutschland – TEEB DE (2016): Ökosystemleis-
tungen in der Stadt – Gesundheit schützen und Lebensqua-
Klimawandel und Urbanisierung werden auch zu- lität erhöhen. Berlin, Leipzig: Technische Universität Berlin,
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ
künftig Stadtnatur, die Gesundheit und das Wohl-
Pauleit, S. et al. (2019): Advancing urban green infrastruc-
befinden der Stadtbewohnerinnen und Stadtbe- ture in Europe: Outcomes and reflections from the GREEN
wohner beeinflussen. Projektionen sagen eine SURGE project. In: Urban Forestry and Urban Greening 40/
anhaltende, urbane Siedlungsflächenzunahme in May, S. 4–16
Deutschland voraus (Behmer 2021). Hinzu kommt Rakovec, O. et al. (2022): The 2018–2020 Multi-Year Drought
Sets a New Benchmark in Europe. In: Earth’s Future 10 (3),
eine projizierte Zunahme an Extremereignissen
S. 1–11
wie Hitze- und Dürreperioden, welche vor allem Robine, J.-M. et al. (2008): Death toll exceeded 70,000 in
Städte vor große gesellschaftliche Herausforde- Europe during the summer of 2003. Comptes Rendus
rung stellen werden (Dodman et al. 2022). Biologies 331 (2), S. 171–178
Wie die Ergebnisse des interdisziplinären Stadt Leipzig (2022): Einwohnerzahl und Bevölkerungsent-
wicklung in Leipzig (https://www.leipzig.de/buergerservice-
GreenEquityHEALTH-Projektes verdeutlichen,
und-verwaltung/unsere-stadt/statistik-und-zahlen/einwoh-
stellt Stadtnatur, auch unter Trockenheit und ner-und-bevoelkerungsentwicklung)
Hitze, wichtige regulierende und kulturelle Öko- Stadt Leipzig (2018): Integriertes Stadtentwicklungskonzept
systemleistungen bereit, die den Stadtbewoh- Leipzig 2030. Leipzig
nerinnen und Stadtbewohnern helfen, besser Winklmayr, C. et al. (2022): Heat-related mortality in Germany
from 1992 to 2021. Deutsches Ärzteblatt international
mit gesundheitlichen Herausforderungen zu-
WHO – World Health Organization (2020): Basic documents:
rechtzukommen. So ist die Kühlungsfunktion forty-ninth edition (including amendments adopted up to
durch Baumbeschattung auch bei Trockenstress 31 May 2019)
tagsüber gegeben. Zudem können weitläufige
Wiesenflächen, bei denen die Vegetation tro-
Autorin
ckenheitsbedingt möglicherweise schon stark
Prof. Nadja Kabisch
geschädigt ist, nachts durch die großen Offenflä-
nadja.kabisch@phygeo.uni-hannover.de
chen mögliche Kaltluftentstehungsgebiete sein. Institut für Physische Geographie und Landschaftsökologie,
Stadtparks werden auch in Hitzeperioden zu Er- Leibniz Universität Hannover
holungszwecken vor allem für soziale Interak- Schwerpunkte: Forschungen zu Global Change, naturbasier-
tion weiter genutzt. Stadtnaturflächen müssen ten Lösungen, Ökosystemleistungen Gesundheit, Umweltge-
rechtigkeit, Landnutzungwandel in urbanen und periurbanen
daher zukünftig, auch unter Flächendruck und
Gebieten
Flächenkonkurrenz, unbedingt erhalten und
weiter ausgebaut werden. ∎

Geographische Rundschau 7/8-2023 33


Deutschlands Städte im Klimawandel Aue, Renaturierung, Deicheffekt

Sungju Han, Christian Kuhlicke

Deichrückverlegungsprojekte
in Sachsen-Anhalt
Eine Fallstudie zur Wahrnehmung von naturbasierten Lösungen

In den letzten Jahrzehnten wurde Deutschland immer Klimawandel, Überschwemmungen und


wieder von verheerenden Überflutungen getroffen, so auch naturbasierte Lösungen
im Juli 2021 im Westen, insbesondere in Rheinland-Pfalz Der Klimawandel in Verbindung mit Urbanisie-
und Nordrhein-Westfalen. Klimastudien legen nahe, dass rung und Flächenversiegelung führt in vielen
solche Ereignisse häufiger und intensiver auftreten werden. Gemeinden und Städten zu einer erhöhten Häu-
figkeit von Überschwemmungen, wie Flusshoch-
Daher befasst sich die aktuelle Forschung verstärkt mit wasser oder Überschwemmungen nach starken
naturbasierten Lösungen. Sie werden als eine Alternative zu Regenfällen. Bei den dramatischen Überschwem-
herkömmlichen Hochwasserschutzeinrichtungen wie mungen vom 14. und 15. Juli 2021 kamen in Euro-
pa mehr als 220 Menschen ums Leben, davon 196
z. B. Deiche verstanden. in Deutschland. Westdeutschland war von den
Überschwemmungen am stärksten betroffen. Sie
verursachten insgesamt einen finanziellen Scha-

A uch wenn Projekte zu naturbasierten Lösun-


gen viele Vorteile aufweisen, die sowohl der
Gesellschaft als auch der Natur zugutekommen
den von über 30 Mrd. €, wobei viele der Betroffe-
nen nicht gegen Hochwasserschäden versichert
waren (Osberghaus 2022).
können, sehen sich diese immer wieder loka- Ein wirksames Hochwasserrisikomanage-
len Widerständen ausgesetzt. Am Beispiel einer ment ist entscheidend, um künftige Hochwas-
Deichrückverlegung an der Elbe zeigt dieser Bei- serschäden zu begrenzen sowie die Menschen
trag wichtige Faktoren auf, die die Einstellung von und ihre Lebensgrundlagen zu schützen. Bis
Menschen gegenüber naturbasierten Lösungen vor kurzem konzentrierte sich der Großteil des
beeinflussen. Hochwasserrisikomanagements auf ingenieur-

Foto 1: Beim Hochwasser


Foto: Mattis Kaminer/Alamy Stock Foto

von 2013 waren weite Teile


der Elbe betroffen. Hier
die Situation nach einem
Deichbruch bei Fischbeck
rund 50 km nördlich von
Roßlau

34 Geographische Rundschau 7/8-2023


technische Bauten (z. B. Dämme, Deiche, Hoch- dem soziale Belange berücksichtigt werden,
wasserrückhaltebecken und Kanäle) mit dem und zweitens unterstreichen, dass diese Ent-
Ziel, Überschwemmung in den zu schützenden wicklung mithilfe von naturbasierten Lösungen
Räumen zu vermeiden. Dieser Ansatz stößt je- und ihren vielfältigen Vorteilen verwirklicht
doch an Grenzen: Erstens sind die technischen werden sollte.
Maßnahmen teuer in Bau und Unterhaltung, Naturbasierte Lösungen können vielfältige
gerade wenn es gilt, bei steigender Häufigkeit Gestalt annehmen. Das Ziel ist es, natürliche
und Stärke zukünftiger Überschwemmungen Prozesse zur Bewältigung von Regenwasser
Sicherheit zu gewährleisten und gleichzeitig den oder zur Minderung von Überschwemmungen
DIN-Standard der Deiche aufrechtzuerhalten. zu nutzen und gleichzeitig andere ökologische
Zweitens gehen Deiche häufig mit dem „Deichef- und gesellschaftliche Vorteile zu generieren.
fekt“ einher. Dies bedeutet, dass hinter Deichen Von allen Beispielen für naturbasierte Lösun-
im Lauf der Zeit häufig die Schadenswerte an- gen haben Deichrückverlegungen und die Rena-
steigen, da der Deich ein trügerisches Gefühl der turierung von Flussauen in Deutschland große
Sicherheit vermittelt (di Baldassarre et al. 2013). Beachtung gefunden, da sie nicht nur das Hoch-
Daher gewinnen alternative Maßnahmen wie wasserrisiko verringern, sondern auch viel-
z.B. naturbasierte Lösungen an Bedeutung. Sie fältige Vorteile haben (z. B. Wiederherstellung
suchen nicht nur Risiken zu reduzieren, sondern des Lebensraums von bedrohten Tieren und
gleichzeitig die biologische Vielfalt in Flussau- Pf lanzen, Verbesserung der Wasserqualität).
en und die Lebensqualität der Menschen zu Im Vergleich zum baulichen Hochwasserschutz
steigern (Seddon et al. 2020). Naturbasierte Lö- schneiden solche Lösungen jedoch bei standar-
sungen werden daher als eine nachhaltige und disierten Kosten-Nutzen-Bewertungen, die nur
resiliente Möglichkeit gesehen, um zukünftige die hochwasserreduzierenden Effekte (also den
ökologische und gesellschaftliche Herausforde- vermiedenen finanziellen Schaden) berücksich-
rungen besser bewältigen zu können, da hier tigen, in der Regel schlechter ab. Um dieser Un-
sowohl Natur als auch Gesellschaft profitieren zulänglichkeit zu begegnen, haben Grossmann
können. et al. (2010) zusätzlich die Wirkung von Auen
Der Begriff „naturbasierte Lösungen“ wur- auf die Funktionen Lebensraum, Schadstoffent-
de erstmals 2008 von der Weltbank eingeführt fernung und Erholungsraum monetarisiert, um
und wird seitdem von Organisationen wie der verschiedene Varianten des Hochwasserschut-
Europäischen Kommission und der Internatio- zes an der Elbe zu analysieren. Die Studie zeigt,
nalen Union für die Erhaltung der Natur (IUCN) dass eine Deichrückverlegung einen Nettonut-
verwendet. Die Definitionen beider Institutio- zen von rund 1,2 Mrd. € haben kann. Dieser
nen sind in Tabelle 1 dargestellt. Beide haben Wert liegt deutlich höher als der von techni-
gemeinsam, dass sie erstens auf die Förderung schen Hochwasserschutzmaßnahmen, obwohl
einer nachhaltigen Entwicklung abzielen, in- die Kosteneffizienz für die Verringerung des

Tab. 1: Definitionen von


Europäische Kommission Internationale Union für die E
­ rhaltung der
naturbasierten Lösungen
(European Commission 2015) Natur (Cohen-Shacham et al. 2016)
durch die Europäi­sche
• „Naturbasierte Lösungen sollen der Gesell- • „Maßnahmen zum Schutz, zur nachhaltigen Kom­mission und die
schaft helfen, eine Vielzahl ökologischer, Bewirtschaftung und zur Wiederherstellung Interna­tionale Union für
sozialer und wirtschaftlicher Herausforde- natürlicher oder veränderter Ökosysteme, die die Erhaltung der Natur
rungen auf nachhaltige Weise zu bewältigen. gesellschaftliche Herausforderungen wirksam (eigene Übersetzung)
Es handelt sich um Maßnahmen, die von und anpassungsfähig angehen und gleichzei-
der Natur inspiriert sind, von ihr unterstützt tig dem menschlichen Wohlbefinden und der
werden oder ihr nachempfunden sind, wobei biologischen Vielfalt zugute kommen“
sowohl bestehende Lösungen für Herausfor- • „[…] soll die Verwirklichung der Entwick-
derungen genutzt und verbessert als auch lungsziele der Gesellschaft unterstützen
Definition

neuartige Lösungen erforscht werden.“ und das menschliche Wohlergehen in einer


• „[…] sind in der Regel energie- und ressour- Weise sichern, die die kulturellen und ge-
ceneffizient und widerstandsfähig gegenüber sellschaftlichen Werte widerspiegelt und die
Veränderungen, aber um erfolgreich zu sein, Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme, ihre
müssen sie an die lokalen Bedingungen Fähigkeit zur Erneuerung und die Bereitstel-
angepasst werden.“ lung von Dienstleistungen verbessert.“
• „[…] die Kraft und Raffinesse der Natur nut- • „[…] zur Bewältigung wichtiger gesellschaft-
zen, um ökologische, soziale und wirtschaft- licher Herausforderungen wie Ernährungs-
liche Herausforderungen in Innovations- sicherheit, Klimawandel, Wassersicherheit,
chancen zu verwandeln.“ menschliche Gesundheit, Katastrophenrisiko,
soziale und wirtschaftliche Entwicklung.“

Geographische Rundschau 7/8-2023 35


Deutschlands Städte im Klimawandel Aue, Renaturierung, Deicheffekt

Milliarden Euro geschätzt (vgl. Foto 1). In dieser


Zeit wurden in der Region Sachsen-Anhalt mehr
als 36 000 Menschen evakuiert.
Als Reaktion auf das Hochwasser initiierte das
Land Sachsen-Anhalt die Sanierung des Haupt-
deichs am linken Elbufer zum Hochwasser-
schutz (Aken bis Anschluss Deichrückverlegung
Lödderitz). Gleichzeitig wurde damit der Politik-
wechsel im Hochwasserrisikomanagement vom
traditionellen technischen Schutz hin zu natur-
näheren und nachhaltigeren Lösungen durch
Deichrückverlegung eingeleitet. Die Deichrück-
verlegung wurde vom Landesbetrieb für Hoch-
wasserschutz und Wasserwirtschaft Sachsen-
Anhalt (LHW) als Maßnahme ausgewählt und
priorisiert (Reymann und Eichhorn 2019). Die
Deichrückverlegungsprojekte sind Teil des Na-
tionalen Hochwasserschutzprogramms der Bun-
desrepublik Deutschland und des Programms
Foto 2: Gebiet des LIFE+ Nature-Projekts „Elbauen bei Vockerode“  Foto: Sungju Han „Mehr Raum für unsere Flüsse“ in Sachsen-
Anhalt.
Hochwasserrisikos geringer ist als bei konven-
tionellen Ansätzen. Drei Deichverlegungsprojekte
im Fokus
Deichrückverlegung und
Auenrenaturierung in Sachsen-Anhalt Die vorliegende Studie stützt sich auf Befra-
gungsdaten, die in den fünf Orten Lödderitz,
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands Kühren, Aken, Roßlau und Vockerode bei
wurde die Flusslandschaft Elbe zum Biosphä- Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt gesammelt
renreservat erklärt (Monstadt 2008). Sachsen- wurden. In den Orten wurden insgesamt drei
Anhalt forcierte die Auenrenaturierung an der Deichrückverlegungsprojekte durchgeführt.
Elbe und führte Machbarkeitsstudien zu 32 Diese drei von insgesamt 15 Deichrückverle-
Deichrückverlegungsprojekten durch (Puhl- gungsprojekten entlang der Elbe zielen auf den
mann und Jährling 2003). Gleichzeitig war das Schutz und die Renaturierung von Auenwäldern
Land Sachsen-Anhalt immer wieder von starken von der Mulde bis zur Mündung in die Saale mit
Hochwassern betroffen. So wurde 2002 die Mul- einer Vielzahl von auentypischen Tieren und
de, ein Nebenfluss der Elbe, durch die starken Arten. Durch die Wiederanbindung ehemaliger
Regenfälle im Erzgebirge zu einem reißenden Überschwemmungsgebiete an die direkte Über-
Strom. Der Landkreis Dessau-Waldersee wurde f lutung des Flusses wird eine Auendynamik
aufgrund eines Deichbruchs überflutet. Auch erwartet, die Lebensraum und andere Funkti-
2013 trat die Elbe über die Ufer und der Was- onen von Auen wie Retention, Sedimentation
Programm
„Mehr Raum serstand stieg auf den Rekordwert von 7,48 m, und Hydrodynamik einschließt (Scholten et al.
für unsere etwa 5 m über dem Normalwert. Viele Deiche 2005). Die erste Pilotstudie im Oberluch Roßlau
Flüsse“ brachen und der Schaden wurde auf mehrere wurde 2005 abgeschlossen. Das anschließende

Standort Lödderitz Kühren Aken Roßlau Vockerode

geographischer • Ortsteil der • Ortstteil der • Stadt im Landkreis • Ortsteil der Stadt • Ortsteil der Stadt
­Kontext Stadt Barby Stadt Aken Anhalt-Bitterfeld in Dessau-Roßlau Oranienbaum-
• ca. 3,8 km • ca. 3 km von Sachsen-Anhalt • am rechten Ufer Wörlitz
von der Elbe der Elbe ent- • am linken Ufer der der Elbe gelegen • ca. 800 m von der
entfernt fernt Elbe • ca. 1 km von der Elbe entfernt
• ca. 700 m von der Elbe entfernt
Elbe entfernt
geschätzte B­evölkerung 230 612 7363 11 958 1694
Projekt Naturschutzgroßprojekt Deichrückverlegung Life+Nature „Elbauen bei Vockerode“
(Baujahr) „Mittlere Elbe“ und Auenrenaturierung (2010–2018)
(2006–2018) im Roßlauer Oberluch
(1996–2005)
Tab. 2: Merkmale der untersuchten Städte

36 Geographische Rundschau 7/8-2023


groß angelegte natürliche Auenprojekt im Löd- Anzahl
© Westermann
30560EX

deritzer Forst wurde 2006 im Rahmen eines Na- 60 57 56


turschutzprojektes umgesetzt (Monstadt 2008). 50
50
Ein weiteres Projekt, das die Öffnung des alten 46

Deiches (Vasenwall) und die Rückverlegungen 40


35
eines Deiches beinhaltete, wurde in der Nähe
30
der Stadt Vockerode ab 2010 umgesetzt und 2018 25
abgeschlossen (vgl. Foto 2). 20
15
Die Deichrückverlegungsprojekte trafen auf
10
Widerstand aufseiten der Bevölkerung; die öko-
logischen Argumente, die für eine Rückverle- 0
gung der Deiche sprechen, stießen nicht überall Ich stimme gar nicht zu Ich stimme vollkommen zu
auf Zustimmung. So befürchteten Landwirte 1 2 3 4 5 6 7

Ernteverluste oder den Verlust von Ackerland Abb. 1: Umfrageergebnis zur Aussage „Ich unterstütze die Deichverlegung“
und Zugang zu Bewässerungswasser und es gab  Entwurf: Sungju Han, Christian Kuhlicke

auch Bedenken wegen eines unkontrollierten


Grundwasseranstiegs. Daher ist es für die er- Anzahl der erlebten Überschwemmungen
folgreiche Umsetzung der Projekte von entschei-
dender Bedeutung zu verstehen, wie die betrof- Vockerode 25 14 23 36
fenen Anwohner diese Projekte wahrnehmen
(Han und Kuhlicke 2019).
Roßlau 63 11 4 5
Die Daten der Umfrage wurden im Juli 2021
erhoben. Insgesamt wurden 650 Fragebögen
verteilt. 304 Fragebögen wurden beantwortet, Lödderitz 4 11 2 8

mit einer Rücklaufquote zwischen 41,5 % und


56 % an den verschiedenen Befragungsorten. Kühren 1 8 1 17
Um eine hohe Rücklaufquote sicherzustellen,
wurde die Befragung vorab in Lokalzeitungen, Aken 10 8 20 26
Amtsblättern und per Briefkastenwurfsendun-
gen angekündigt. Die Fragebögen wurden per- 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 % 100
sönlich an Haustüren verteilt und eine Woche
keine eine zwei drei oder mehr
später wieder persönlich abgeholt. Tabelle 2
30561EX
© Westermann

enthält die Merkmale der Standorte, einschließ- Abb. 2: Überschwemmungserfahrungen pro Standort in Prozent und in absolu-
lich Projektdetails und Antwortstatistiken. ten Zahlen Entwurf: Sungju Han, Christian Kuhlicke

Die Einstellung der Öffentlichkeit


Gesamtwert 4,98
Die öffentliche Meinung zum Projekt der naturba-
sierten Lösungen, die sich aus der Umfrage ergab, 4,60
Vockerode
war entweder gemischt (45 %) oder befürwortend
(41 %). Ablehnend stand dem Vorhaben zum Zeit-
Roßlau 2,78
punkt der Befragung eine Minderheit gegenüber.
Die gemischten Gefühle zeigten sich beispielhaft
bei der Frage, inwieweit die Befragten der Aussa- Lödderitz 6,52
ge „Ich unterstütze die Deichrückverlegung“ zu-
stimmten, mit einem Mittelwert von 4,2 auf der Kühren 6,38
Sieben-Punkte-Skala (vgl. Abb. 1).
Warum haben die Menschen so unterschiedli- 5,66
Aken
che Einstellungen zu den Projekten? Im Rahmen
der Studie wurde zunächst der Zusammenhang 0 1,00 2,00 3,00 4,00 5,00 6,00 7,00
zwischen Hochwassererfahrungen und der
30562EX
© Westermann

Einstellung der Bevölkerung zu naturbasierten Abb. 3: Mittelwerte für die Frage „Wie machtlos haben Sie sich bei dieser Über-
Lösungen untersucht. Abbildung 2 zeigt die un- schwemmung gefühlt?“ pro Stadt bzw. Ort Entwurf: Sungju Han, Christian Kuhlicke

terschiedlichen Hochwassererfahrungen in den


einzelnen Städten. Sie zeigt insbesondere, dass Neben der Anzahl von Hochwassern interessierte
mehr als 70 % der Einwohner in Roßlau persön- uns auch, wie machtlos sich die Befragten bei den je-
lich gar nicht von einem Hochwasser betroffen weiligen Überschwemmungen gefühlt haben. Nach-
waren. Die Situation ist in Vockerode, Kühren und dem wir die Umfrageteilnehmer gebeten hatten, den
Aken anders: Hier antwortete die Mehrheit, dass Monat und das Jahr des letzten Hochwassererlebnis-
sie mindestens zweimal und häufiger von einem ses aufzuschreiben, fragten wir: „Wie machtlos ha-
Hochwasser betroffen waren. ben Sie sich bei dieser Überschwemmung gefühlt?“.

Geographische Rundschau 7/8-2023 37


Deutschlands Städte im Klimawandel Aue, Renaturierung, Deicheffekt

Einstellung gegenüber dem jeweiligen Deichrückverlegungsprojekt


Einschätzung und Selbst- Ablehnung gemischte gleichgültig unterstützend
einschätzung Gefühle
„Wie machtlos haben Sie sich 6,2 (n = 14) 5,4 (n = 99) 3,2 (n = 18) 4,8 (n = 83)
bei dieser Überschwemmung
gefühlt?“
„Ich kann mich vollstän- 3,1 (n = 13) 4,1 (n = 123) 4,6 (n = 24) 4,9 (n = 112)
dig auf den öffentlichen
Hochwasserschutz in meiner
Gemeinde verlassen.“
„Ich bin über das aktuelle 2,8 (n = 12) 3,8 (n = 123) 3,7 (n = 25) 4,5 (n = 112)
lokale Hochwasserrisikoma-
nagement gut informiert.“
„Ich bin über das Deich- 2,4 (n = 13) 2,8 (n = 120) 2,4 (n = 24) 4,2 (n = 110)
rückverlegungsprojekt gut
informiert.“
„Wegen der Deichrückverle- 2,1 (n = 14) 3,8 (n = 121) 4,8 (n = 25) 5,7 (n = 114)
gung ist die Stadt besser vor
Hochwasser geschützt.“
Tab. 3. Durchschnittliche Zustimmung bzw. Ablehnung verschiedener Statements zu Deichrückverlegungs-
projekten (Sieben-Punkte-Skala) Quelle: eigene Erhebung

Interessanterweise zeigte das Ergebnis, dass sammenhang bereits mithilfe einer Strukturglei-
sich die Bewohner in einigen Städten machtloser chungsmodellierung bestätigt (Han et al. 2023).
fühlten als in anderen; die Menschen in Lödde- Darüber hinaus zeigt sich in denjenigen Städ-
ritz, Kühren und Aken bewerteten das Ausmaß ten eine höhere Unterstützung für das jeweilige
der vergangenen Hochwassererfahrungen höher Deichrückverlegungsprojekt, in denen ein hohes
als der Durchschnitt von 5,0 (vgl. Abb. 3). Darüber Vertrauen in das lokale Hochwasserrisikoma-
hinaus hat das Gefühl der Machtlosigkeit einen nagement vorherrscht. Im Allgemeinen liegt das
moderaten Einfluss auf die Zustimmung oder Ab- Vertrauensniveau im mittleren Bereich (durch-
lehnung der Deichrückverlegungen. Wir fanden schnittlich 4,4 auf einer Sieben-Punkte-Skala, vgl.
eine schwach signifikante Korrelation zwischen Abb. 4, Tab. 3). Die Aussagen „Ich kann mich voll-
der Aussage „Wie machtlos haben Sie sich bei ständig auf den öffentlichen Hochwasserschutz in
dieser [der letzten] Überschwemmung gefühlt?“ meiner Gemeinde verlassen“ und „Ich unterstütze
und „Wie ist Ihre Einstellung zu dem Deichrück- die Deichrückverlegung“ korrelieren moderat (si-
verlegungsprojekt?“ (signifikant auf 0,05-Niveau gnifikant auf 0,01-Niveau mit einem Koeffizienten
mit dem Koeffizienten von -0,2 Spearman-Rho- von 0,3). Anders ausgedrückt: Mehr Vertrauen in
Korrelation). Es zeigt sich also, dass die Wahr- das lokale Hochwasserrisikomanagement bedeu-
scheinlichkeit, dass eine Person Deichrückver- tet eine positivere Einstellung gegenüber dem je-
legungsprojekte unterstützt, geringer ist, wenn weiligen Projekt.
sie sich machtlos gegenüber vorhergehenden Der Grad an Informiertheit über das lokale
Überschwemmungen fühlt. Eine andere Studie Hochwasserrisikomanagement und das Deich-
der Autoren zum gleichen Fall hat diesen Zu- rückverlegungsprojekt korreliert ebenfalls positiv

© Westermann
80 Ich stimme gar nicht zu Ich stimme vollkommen zu 30563EX
1 2 3 4 5 6 7
70
60
50
40
30
20
10
0
Ich kann mich vollständig auf den Ich bin über das aktuelle lokale Ich fühle mich gut über das Wegen der Deichrückverlegung ist
öffentlichen Hochwasserschutz in meiner Hochwasserschutzprogramm Deichrückverlegungsprojekt die Stadt besser vor Hochwasser
Gemeinde verlassen (Mittelwert: 4,4). gut informiert (Mittelwert: 4,0). informiert (Mittelwert: 3,3). geschützt (Mittelwert: 4,6).
Abb. 4: Zustimmung bzw. Ablehnung verschiedener Statements im Kontext der Deichrückverlegungsprojekte Entwurf: Sungju Han, Christian Kuhlicke

38 Geographische Rundschau 7/8-2023


mit der Unterstützung des Projekts. Insbesondere formieren und sie frühzeitig in Planungsprozesse
der wahrgenommene Informationsstand über das einzubinden, um zu vermeiden, dass zukünftige
Deichrückverlegungsprojekt ist hier von Bedeu- Projekte durch Widerstände behindert werden.∎
tung. Im Allgemeinen liegt der Mittelwert für das
örtliche Hochwassermanagement bei 4,0 und für Literatur
das Deichrückverlegungsprojekt bei 3,3, was auf Cohen-Shacham, E., Walters, G., Janzen, C. und S. Maginnis
einer Sieben-Punkte-Skala einen niedrigen bis (2016): Nature-based solutions to address global societal
challenges. Gland, S. xiii, 97
mittleren Wert bedeutet (vgl. Abb. 4).
di Baldassarre, G., Kooy, M., Kemerink, J. und L. Brandimarte
Schließlich spielt auch die wahrgenommene (2013): Towards understanding the dynamic behaviour of
Wirksamkeit der jeweils geplanten Deichrück- floodplains as human-water systems. Hydrology and Earth
verlegung eine wichtige Rolle für die Einstellung System Sciences 17 (8), S. 3235–3244
der Öffentlichkeit ihr gegenüber. Im Allgemeinen European Commission, Directorate-General for Research
Innovation (2015): Towards an EU research and innovation
halten die Befragten die jeweilige Deichrückverle-
policy agenda for nature-based solutions & re-naturing
gung für mäßig wirksam für das lokale Hochwas- cities. Final report of the Horizon 2020 expert group on
sermanagement (Mittelwert: 4,6). Im Einzelnen „Nature-based solutions and re-naturing cities“. Brüssel
war die Korrelation zwischen den Aussagen „Ich Grossmann, M., Hartje, V. und J. Meyerhoff (2010): Ökonomi-
unterstütze die Deichrückverlegung“ und „Wegen sche Bewertung naturverträglicher Hochwasservorsorge
an der Elbe: Abschlussbericht des F + E-Vorhabens (FKZ:
der Deichrückverlegung ist die Stadt besser vor
803 82 210) „Naturverträgliche Hochwasservorsorge an
Hochwasser geschützt“ stark korreliert (signi- der Elbe und Nebenflüssen und ihr volkswirtschaftlicher
fikant auf 0,01-Niveau mit einem Koeffizienten Nutzen; Teil: Ökonomische Bewertung naturverträglicher
von 0,4). Anders ausgedrückt: Je mehr Personen Hochwasservorsorge an der Elbe und ihren Nebenflüssen“
von der risikomindernden Wirkung des jeweili- des Bundesamtes für Naturschutz. Bonn
Han, S. und C. Kuhlicke (2019): Reducing Hydro-Meteorolo-
gen Deichrückverlegungsprojekts überzeugt sind,
gical Risk by Nature-Based Solutions: What Do We Know
desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer be- about People’s Perceptions? Water 11 (12), 2599
fürwortenden Haltung. Han, S., Bubeck, P., Thieken, A. und C. Kuhlicke (2023): A
place-based risk appraisal model for exploring residents’
attitudes toward nature-based solutions to flood risks. Risk
Fazit Analysis, S. 1–19 (https://doi.org/10.1111/risa.14118)
Monstadt, J. (2008): The relocation of a dyke on the River Elbe:
Um Deichrückverlegungspläne oder andere na- floodplain management as a challenge for intersectoral and
turbasierte Lösungen zur Verringerung des Hoch- multilevel coordination. In: Monstadt, T. M. J. (Hrsg.): Resto-
wasserrisikos erfolgreich zu verwirklichen, ist es ring Floodplains in Europe: Policy contexts and project
wichtig, ein Verständnis davon zu entwickeln, was experiences. London, S. 229–260
Osberghaus, D. (2022): Versicherung von Hochwasserschäden
die davon mittelbar oder unmittelbar betroffenen klimasicher und sozial verträglich gestalten. ZEW policy
Menschen denken. Ohne die Unterstützung der brief 22-02
Öffentlichkeit können solche Vorhaben nur ge- Puhlmann, G. und K. Jährling (2003): Erfahrungen mit
gen sehr große Widerstände realisiert werden. „nachhaltigem Auenmanagement“ im Biosphärenreservat
Obwohl unsere Ergebnisse auf eine spezifische „Flusslandschaft Mittlere Elbe“. Natur und Landschaft 78,
S. 143–149
Fallstudie beschränkt sind, zeigen sie, dass eine Reymann, H. und A. Eichhorn (2019): Deichrückverlegung im
hohe Bedrohungseinschätzung oder negative Er- Bereich Lödderitzer Forst im Rahmen des Naturschutzgroß-
fahrungen mit Überschwemmungen in der Ver- projektes Mittlere Elbe. Komplexe Planungsaufgaben im
gangenheit wesentliche Faktoren sind, welche Wasserbau und ihre Lösungen 62, S. 473–482
die öffentliche Unterstützung für Deichrückver- Scholten, M. et al. (2005): The River Elbe in Germany-present
state, conflicting goals, and perspectives of rehabilitation.
legungen negativ beeinflusst, da die Menschen Large Rivers 15 (1–4), S. 579–602
naturbasierte Lösungen für weniger wirksam in Seddon, N. et al. (2020): Understanding the value and limits of
der Verringerung von Hochwasserrisiken halten nature-based solutions to climate change and other global
als herkömmliche Maßnahmen. Zusätzlich zeigen challenges. Philosophical Transactions oft he Royal Society
die Ergebnisse, dass Vertrauen und der Grad der B, Biological Sciences 375 (1794) (https://doi.org/10.1098/
rstb.2019.0120)
Informiertheit ebenfalls wichtige Einflussgrößen
sind. Menschen, die davon überzeugt sind, dass AUTORIN UND AUTOR
sie sich auf den lokalen Hochwasserschutz ver- Dr. Sungju Han, geb. 1988
lassen können, sind den Projekten eher gewogen. Department Stadt- und Umweltsoziologie, Helmholtz Zent-
Ebenso sind Menschen, die sich gut informiert rum für Umweltforschung GmbH – UFZ, Leipzig
fühlen, über die Projekte positiver eingestellt als sungju.han@ufz.de
Schwerpunkte: Risikowahrnehmung, Ortsverbundenheit,
Menschen, die sich weniger gut informiert fühlen. naturbasierte Lösungen, Klimaanpassung
Sowohl das Schaffen von Vertrauen als auch die
umfassende Wissensvermittlung zu den Projekten Prof. Dr. Christian Kuhlicke, geb. 1975,
sind Aufgaben, die in die Zuständigkeit der ver- Department Stadt- und Umweltsoziologie, Helmholtz Zent-
antwortlichen staatlichen Akteure fallen. Diesen rum für Umweltforschung GmbH – UFZ, Leipzig, Institut für
Umweltwissenschaften und Geographie, Universität Potsdam
kommt also diesbezüglich besondere Verantwor- christian.kuhlicke@ufz.de
tung zu. Es ist daher wichtig, die Öffentlichkeit auf Schwerpunkte: Risikowahrnehmung, Resilienz, Verwundbar-
wirksame Art über naturbasierte Lösungen zu in- keit und Klimaanpassung

Geographische Rundschau 7/8-2023 39


Deutschlands Städte im Klimawandel Wetterdaten, Risikoforschung, Klimawandelanpassung

Matthias Garschagen, Thomas Kox

Citizen Science zur Wetter-


und Schadensbeobachtung
Ein Beitrag zur Verbesserung der Frühwarnung und Klimabildung in
Klein- und Mittelstädten

Städte sind einem zunehmenden Risiko von Starkniederschlägen ausgesetzt. Besonders


Klein- und Mittelstädte im Umland von Metropolen verzeichnen zudem einen hohen Wachs-
tumsdruck und eine rasche Flächenversiegelung, die Sturzflutrisiken weiter ansteigen lässt.
Bestehende Systeme zur Wetterwarnung lassen aber nur bedingt Vorhersagen zu Stärke und
Verteilung von Starkniederschlägen zu. Citizen-Science-Ansätze, wie der hier aus dem Bayeri-
schen Oberland vorgestellte, bieten vielseitige Möglichkeiten, die Genauigkeit und das Ver-
ständnis von Warnungen sowie das Starkniederschlagsmanagement insgesamt zu verbessern.

S tädte im Bayerischen Oberland (vgl. Textbox 1)


wie Garmisch Patenkirchen, Weilheim oder
Geretsried sind aus mehreren Gründen einem er-
zu länger anhaltenden Niederschlägen in der
Region. Stauregen führten in der Vergangenheit
öfter zu schweren Überflutungen (z. B. Juli 1954,
höhten Risiko von Starniederschlägen ausgesetzt. August 2002, August 2005, Juni 2013). Lokal be-
Aufgrund ihrer Lage im Voralpenraum haben sie grenzte, ortsfeste Gewitterzellen lösten zudem bei-
eine besonders hohe Anzahl an Ereignissen zu spielsweise im Juni 2016 in Südbayern zahlreiche
verzeichnen (vgl. Abb. 1), die im Sommerhalbjahr Sturzfluten aus. Letzteres führte gerade in kleinen
Sturzfluten und im Winter extreme Schneelasten Einzugsgebieten zu Hochwasserwellen ohne aus-
mit hohem Schadenspotenzial bewirken können. reichende Vorwarnzeit mit hohen Sachschäden
Je nach Wetterlage kommt es durch die erzwun- (BayLfU 2017). Mit dem Klimawandel ist eine wei-
gene Aufwärtsbewegung von Luftmassen vor den tere Zunahme der Intensität und Häufigkeit von
Alpen zur Bildung von Wolken (Staueffekte) und Starkniederschlägen zu erwarten (KLIWA 2019).

Foto 1:
Schweres
Unwet-
ter mit
Gewitter,
Starkre-
gen und
Hagel im
Landkreis
Miesbach
(2021)
Foto: IMAGO/Bernd März

40 Geographische Rundschau 7/8-2023


Abb. 1: Gesamtzahl der
Niederschlagsstunden,
die die Warnschwellen des
Deutschen Wetterdienstes
für Starkregen und Dauer-
regen im Zeitraum 2001 bis
2022 überschritten haben

Gleichzeitig sind die Städte im Bayerischen Herausforderung für die Vorhersage und
Oberland durch ihre Nähe zu München und Warnung
die dynamische Wirtschaftsentwicklung
s owie den hohen Freizeitwert mit einem
­ Eine wesentliche Herausforderung für das städ-
enormen Wachstumsdruck konfrontiert. Die tische Risikomanagement besteht darin, dass
Bevölkerung hat durch Zuzug in den letzten Vorhersagen zu möglichen Starkniederschlags-
20 Jahren kontinuierlich zugenommen. Bis
2031 wird der Re­g ion ein überdurchschnitt-
liches Be­ v öl­
k erungswachstum von 7 % bis ∎ Textbox 1
10 % ge­­gen­ü ber dem Jahr 2015 prognostiziert
(LfStat 2017). ­Damit gehen ein umfassender Die Region Oberland in Bayern
Flächen­nutzungswandel und eine steigende ■■ Landkreise Bad Tölz-Wolfratshausen, Garmisch-Parten­kirchen, Miesbach
­Bo­denversiegelung und somit letztlich ein und Weilheim-Schongau mit zahlreichen Klein- bzw. Mittelstädten und
wachsender Ziel­konf likt zwischen den Er- insgesamt rund 450 000 Einwohnerinnen und Einwohner
fordernissen der Risikovorsorge, vor allem
■■ grenzt im Norden an den Verdichtungsraum München und im Süden an
dem Erhalt von Freif lächen, und der Sied­
die bayerischen Alpen
lungsentwicklung einher (Bausch und Hör-
mann 2013, Bothe und von Streit 2018). Aus ■■ Bruttoinlandsprodukt von knapp 10 Mrd. €
dieser Kombination ergibt sich zumeist für ■■ Klimaraumtypen: Gebirgs- und Gebirgsvorlandklima mit hohem
­k leinere Städte und Kom­munen in der Region Niederschlag
ein besonders hoher A ­ npassungsbedarf.

Geographische Rundschau 7/8-2023 41


Deutschlands Städte im Klimawandel Wetterdaten, Risikoforschung, Klimawandelanpassung

Quelle: verändert nach Koc 2021


Abb. 2: Feuerwehreinsätze
im Zusammenhang mit
Starkniederschlägen im
Bayerischen Oberland von
2011 bis 2020

ereignissen räumlich und zeitlich ungenau sind. teorologischen Bedingungen konzentrieren, son-
Extremwetterwarnungen lassen zudem nur dern gleichzeitig Informationen über die damit
bedingt Rückschlüsse auf mögliche Auswirkun- verbundenen Auswirkungen (etwa Verkehr, Ge-
gen und Schäden zu. Die Auswertung von Feu- sundheit, Freizeitverhalten) enthalten. Für deren
erwehreinsatzdaten im Bayerischen Oberland Erstellung sind grundlegende Informationen über
beispielsweise zeigt, dass Ereignisse mit sehr un- die tatsächlichen Auswirkungen über bisherige
terschiedlichen Niederschlagsmengen zu Einsät- Messnetze bislang aber nicht oder nicht ausrei-
zen geführt haben (vgl. Abb. 2), je nach lokalen chend verfügbar (Kox et al. 2021, Krennert et al.
Gegebenheiten wie Topographie, anthropogenen 2018). Citizen-Science-Projekte (vgl. Textbox 2)
Eingriffen in Fließgewässer, Bebauung und Flä- bieten alternative Lösungen, um diese Datenlü-
chennutzung sowie dem hydrologischen Kontext cken zu schließen und Aussagen über Wetterer-
des jeweiligen Ereignisses hinsichtlich z. B. der eignisse und deren Folgen mit hoher räumlicher
vorangegangenen Bodenfeuchte. Die Datenlage und zeitlicher Auflösung und Zuverlässigkeit zu
zur Verknüpfung von Starkniederschlagsereig- treffen (Fehri et al. 2020). Gleichzeitig bietet Ci-
nissen und deren Auswirkungen und Schäden tizen Science eine Möglichkeit, einen angemes-
ist bislang aber unzureichend. In den letzten senen Umgang mit Warnungen zu vermitteln.
Jahren hat die Entwicklung von sogenannten Bislang schätzen Menschen Wetterwarnungen
KARE-Citizen
Science impact-basierten Vorhersagen begonnen (WMO oftmals falsch ein und reagieren nicht angemes-
2021), die sich nicht ausschließlich auf die me- sen, um sich oder ihr Hab und Gut zu schützen.
Durch die Zusammenarbeit mit den Zielgruppen
von Warnungen können Informationsbedarfe er-
mittelt und Warnungen verbessert werden (Kox
et al. 2018).

Das Projekt KARE-CS

Ziel des gemeinsam mit Praxispartnern durch-


geführten Projektes KARE-CS war es, mit Schü-
Quelle: verändert nach Kox et al. 2021, S. 82

lerinnen und Schülern Methoden für die Samm-


lung von Wetterdaten und deren Auswirkungen
einzustudieren, ein erweitertes Mess- bzw. Beob-
achtungsnetz aufzubauen und die Klimabildung
voranzutreiben. In der Region wurden 2020 und
2021 in Zusammenarbeit mit drei Schulen Mikro-
Wetterstationen (genannt MESSI) aufgestellt (vgl.
Abb. 3: Skizzierter Ablauf und Inhalt einer Wettermeldung Foto 2). Die Stationen, bestehend aus Sensoren und

42 Geographische Rundschau 7/8-2023


einem 3D-gedruckten Gehäuse, wurden von den
Schülerinnen und Schülern nach Anleitung selbst
zusammengebaut und zu Hause oder an der Schule
aufgestellt. Folgenden Parameter wurden mit den
Wetterstationen erhoben: Lufttemperatur (inner-
halb und außerhalb des Gehäuses), relative Luft-
feuchtigkeit, Luftdruck, (sichtbare und infrarote)
Strahlung und Niederschlag (vgl. Kox et al. 2021).
Parallel zur automatischen Sammlung von Wet-
terdaten über die Wetterstationen, konnten die Foto 2: MESSI

Foto: Andreas Trojand


Schülerinnen und Schüler Onlinemeldungen (vgl. Wetterstation
Abb. 3) über beobachtete Wetterereignisse und mit Regen-
lokale Auswirkungen des Wetters abgeben. Nach wippe
Angabe von ID, Ort, Datum und Uhrzeit schätzen
die Teilnehmenden die Schwere oder Intensität Maßnahmen wie beispielswiese die Verwirk-
der beobachteten Wetterereignisse, einschließlich lichung von Schwammstadtkonzepten voran-
geschätzter Niederschlagsmenge, Windgeschwin- treiben und hierbei eine räumliche Priorisie-
digkeit, Hagelgröße und Berichte über Blitze. Ne- rung unterstützen. Dies trifft besonders für
ben der Einschätzung der Schwere oder Intensität dynamisch wachsende Klein- und Mittelstädte
der Ereignisse wurden auch Aussagen über be- zu, die oftmals keine Starkniederschlagskon-
obachtete Schäden, sowohl auf einer selbst ein- zepte haben und aufgrund der raschen Verän-
geschätzten numerischen Skala (1–10) als auch derungen nicht auf Erfahrungswerte aus der
als verbale Aussagen getroffen, z. B. umgestürzte Vergangenheit zurückgreifen können. Die Er-
Gartenmöbel, umgestürzte Bäume, überflutete kenntnisse aus dem Projekt KARE-CS zeigen,
Unterführungen. Zudem waren Angaben zu wei- dass Citizen Science vielfältige Potenziale zur
teren negativen Auswirkungen des Wetters auf Unterstützung des Starkniederschlagsmanage-
das tägliche Leben möglich, z. B. Aufenthalt im ments bereithält. Die Beobachtungen und Erhe-
Haus, Umsteigen auf ein anderes Verkehrsmittel bungen erlauben eine verbesserte Einschätzung
(vgl. Kox et al. 2021). zu lokalen Risiko-Hotspots und die Korrelation
Die Projektevaluation ergab, dass die Haupt- von Niederschlagsereignissen und deren Aus-
motivation der Schülerinnen und Schüler für die
Teilnahme an dem Projekt der Wunsch war, ei-
nen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung zu ∎ Textbox 2
leisten, sowie das Interesse an Wissenschaft im
Allgemeinen und an Wetter- und Geowissenschaf- Citizen Science in Wetter- und Klimawissenschaft
ten im Besonderen. Das aktuelle Wetter sowie die
aktuelle Freizeitgestaltung wurden als Hauptein- Bürgerwissenschaftliche Ansätze oder Citizen Science haben in den Feldern
flussfaktor für die Abgabe einer Meldung ange- Umweltmonitoring, Wetter- und Klimabeobachtung eine lange Tradition
geben. Dabei wurden nicht nur Starkregenereig- (Krennert et al. 2018). Dies beinhaltet beispielsweise die Phänologie, also
nisse, sondern auch Ereignisse niedriger oder die Auseinandersetzung mit im Jahresablauf periodisch wiederkehrenden
mittlerer Intensität gemeldet. Wachstums- und Entwicklungserscheinungen in der Natur. So werden
Die Ergebnisse zeigen, dass visuelle Beob- in Japan seit dem 17. Jahrhundert anhand phänologischer Daten für
achtungen von Wetterphänomenen wie Star- die Kirschblüte Veränderungen der Durchschnittstemperaturen im März
kregen gut mit den Messungen der Mikro- abgeleitet (Aono 2015). In Deutschland ist insbesondere das Auftreten
Wetterstationen übereinstimmen. Abbildung der Apfelblüte ein häufiger Untersuchungsgegenstand phänologischer
4 zeigt exemplarisch den Vergleich zwischen Untersuchung, die sich Citizen-Science-Ansätzen bedient. Auch bilden
der Niederschlagsmessung an einer Mikro- Laien-Wetter-Netzwerke aus freiwilligen Wetterbeobachtern und sogenann-
Wetterstation mit den gemeldeten Intensitäten ten Sturmjägern eine nicht zu unterschätzende Community of Practice
von Niederschlagsereignissen im gleichen Post- (praxisbezogene Gemeinschaft). Darüber hinaus sind vor allem bürger-
leitzahlengebiet. wissenschaftliche Projekte zu nennen, die sich mit dem Monitoring von
Luftqualität oder allgemein umwelt- und meteorologischen Parametern
Der Beitrag von Citizen beschäftigen (Bartoschek et al. 2018).
Science zum städtischen Teilnehmende an Citizen-Sciene-Projekten können zentrale wissenschaftli-
Starkniederschlagsmanagement che Erkenntnisse gewinnen und das Thema, an dem sie beteiligt sind, besser
verstehen (Bonney et al. 2016). Das Verständnis der Teilnehmenden über
Ein verbessertes Verständnis von Starknieder- Vorhersagen und eine Sensibilisierung über Wetterrisiken wird unterstützt.
schlagsauswirkungen und schadensmustern Ein besseres öffentliches Verständnis ist besonders interessant, um ent-
wird für die erfolgreiche Klimawandelanpas- scheidungsrelevantes Wissen zum Klimawandel in Städten und Kommunen
sung von Städten von wachsender Bedeutung aufzubauen. Citizen-Science-Projekte sind daher für die Bildung und den
sein. Es kann die Umsetzung von aufwendigen Wissensaustausch vor Ort besonders wertvoll (Hicks et al. 2019).
aber in zunehmendem Maße erforderlichen

Geographische Rundschau 7/8-2023 43


Deutschlands Städte im Klimawandel Wetterdaten, Risikoforschung, Klimawandelanpassung

Niederschlag in mm /10 Minuten gemeldete Niederschlagsintensität


4 10

8
3

1
2

0 0
August September Oktober November 2020
30571EX © Westermann

Abb. 4: Vergleich von Niederschlagsmessungen und gemeldeten Intensitäten. Blau: 10-Minuten-Nieder-


schlagsakkumulation, gemessen an einem MESSI. Rot: Gemeldete Intensität auf einer 10-Punkte-Skala von
„sehr leicht“ bis „sehr stark“ in demselben Postleitzahlengebiet Quelle: Kox et al. 2021, S. 83

wirkungen. Durch weiterführende Forschung tal Science & Policy 104, S. 67–72 (https://doi.org/10.1016/j.
und breitere Anwendung können derartige An- envsci.2019.11.009)
Hicks, A., Barclay, J., Chilvers, J., Armijos, M. T., Oven, K.,
sätze zunehmend für die Risikovorhersage und
Simmons, P. und M. Haklay (2019): Global Mapping of Citi-
Anpassungsplanung genutzt werden. Zudem zen Science Projects for Disaster Risk Reduction. Frontiers
zeigen die Ergebnisse eine hohe Beteiligung in Earth Science 7, Artikel 226 (https://doi.org/10.3389/
der Schülerinnen und Schüler und lassen eine feart.2019.00226)
verbesserte Sensibilisierung für Starknieder- Koc, G. (2021): Starkregenereignisse der letzten 10 Jahre im
Oberland: Aktueller Stand. KARE Transferveranstaltung
schlagsrisiken und deren Bewältigung vermu- 13.12.2020 (https://energiewende-oberland.de/download/
ten. Sicherlich bedarf es jedoch weiterer For- a33nfb4rrr6ntdkj8anrfqcqcee/KARE_Starkregen%20im%20
schung in diesem Bereich, um die Wirksamkeit Oberland_KocGamze.pdf)
von Citizen-Science-Ansätzen zum städtischen KLIWA – Klimaveränderung und Wasserwirtschaft (2019):
Starkniederschläge. Entwicklungen in Vergangenheit und
Starniederschlagsmanagement langfristiger
Zukunft. Kurzbericht (https://www.kliwa.de/_download/
und großflächiger zu untersuchen. ∎ KLIWA-Kurzbericht_Starkregen.pdf)
Kox, T., Kempf, H., Lüder, C., Hagedorn, R. und L. Gerhold
LITERATUR (2018): Towards user-orientated weather warnings. Interna-
Aono, Y. (2015): Cherry blossom phenological data since the tional Journal of Disaster Risk Reduction 30 (Part A),
seventeenth century for Edo (Tokyo), Japan, and their S. 74–80 (https://doi.org/10.1016/j.ijdrr.2018.02.033)
application to estimation of March temperatures. Interna- Kox, T., Rust, H. W., Wentzel, B., Göber, M., Böttcher, C., Lehm-
tional journal of biometeorology 59 (4), S. 427–434 (https:// ke, J., Freundl, E. und M. Garschagen (2021): Build and Mea-
doi.org/10.1007/s00484-014-0854-0) sure: Students report weather impacts and collect weather
Bartoschek, T., Wirwahn, J. und M. Pesch (2018): senseBox data using self-built weather stations. Australasian Journal
und openSenseMap: Umweltmonitoring für Jedermann. of Disaster and Trauma Studies 25 (3), S. 79–86 (https://
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und A. Reineke (Hrsg.): Umweltinformationssysteme 2018 – Krennert, T., Pistotnik, G., Kaltenberger, R. und C. Csekits
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Practice (WMO-No. 1150). Genf (https://library.wmo.int/
ten und Hochwasserereignisse Mai/Juni 2016. Wasserwirt-
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Bonney, R., Phillips, T. B., Ballard, H. L. und L. W. Enck (2016):
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Netzwerke, Potenziale (INOLA-Arbeitsbericht 5), München städtische Entwicklung
LfStat – Bayerisches Landesamt für Statistik (2017): Statistik-
bayern. Indikator: 12421-001 Regionale Bevökerungsvor- Dr. Thomas Kox, geb. 1984
ausberechnung, 2015-2031. München Weizenbaum-Institut, Berlin
Fehri, R., Khlifi, S. und M. Vanclooster (2020): Testing a citizen thomas.kox@weizenbaum-institut.de
science water monitoring approach in Tunisia. Environmen- Schwerpunkte: Risiko und Unsicherheit, Naturgefahren/-risiken

44 Geographische Rundschau 7/8-2023


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GR Plus Naturschutz, Biotopschutz, Prozessschutz

Hannes Laermanns, Milan van Well, Kai-Steffen Frank

Der Einfluss des Bibers im


Naturschutzgebiet Bruckried,
Baden-Württemberg
Ein Beispiel für Zielkonflikte im Naturschutz

Nach Jahrzehnten der Gefährdung breitet sich der Biber in Deutschland wieder aus.
Durch seine Tätigkeit verändert er den Wasserhaushalt der Gewässer und der angren-
zenden Flächen. Dies kann zu Zielkonflikten im Naturschutz führen, wenn sich, wie
im vorliegenden Fall im Naturschutzgebiet Bruckried (Landkreis Konstanz), der Arten-
schutz für den Biber und der Pflegenaturschutz für den Erhalt von Lebensräumen mit
seltenen und zum Teil stark gefährdeten Pflanzenarten gegenüberstehen.

D er Europäische Biber (Castor fiber) ist mit


einer Länge bis zu 1,30 m und einem Ge-
wicht bis zu 30 kg Europas größtes Nagetier. Bis
zeichnet. Für ausreichend tiefe Wasserstände
und Verringerungen der Fließgeschwindigkeit
legt er Dämme aus Zweigmaterial und Schlick
Mitte des 19. Jahrhunderts wurde er im Bereich an und baut sogenannte Biberburgen, in denen
des heutigen Baden-Württembergs ausgerottet er seine Jungen aufzieht (Simon 2020). Diese
(Schulte 2005) und breitet sich seit den 1960er- Änderungen an Gewässern erzeugen nicht nur
Jahren von den wenigen Restbeständen Europas potenzielle Konf likte mit den Menschen, die
auf natürlichem Wege und über Wiederansied- dort leben und wirtschaften, sondern haben
lungsprojekte in anderen Bundesländern wieder auch Auswirkungen auf die Biotope entlang der
aus (Allgöwer 2003, Sereda-Weidner 2022). Dabei betroffenen Flussläufe (Schulte 2005). Die Wie-
verändert der Biber durch seine Tätigkeit die deransiedlung des Bibers wird vonseiten des
Struktur der Gewässer und Gewässerrandberei- Naturschutzes ausdrücklich begrüßt (Schwab
che und somit auch die angrenzenden Lebens- und Schmidbauer 2003). Allerdings führt seine
räume und mitunter die umgebende Landschaft. landschaftliche Gestaltungsfähigkeit gegenüber
Daher wird er auch als Landschaftsgestalter be- anderen Naturschutzzielen, wie dem Erhalt der

Abb. 1: Lage des Naturschutzgebiets Bruckried im Süden von Baden-Württemberg Grafik: Hannes Laermanns, Milan van Well, Kai-Steffen Frank

46 Geographische Rundschau 7/8-2023


regionalen, standortspezifischen Vielfalt an
Tier- und Pflanzenarten, zu Konflikten (Bun-
desamt für Naturschutz 2015, Simon 2020).

Naturschutz in Deutschland

In Deutschland ist der Naturschutz durch das Ge-


setz über Naturschutz und Landschaftspflege, das
Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG von 1976,
zuletzt geändert im Dezember 2022) geregelt.
Es formuliert fünf Schutzziele, die sich zum Teil
überschneiden (Hupke 2020, Jedicke 2022).
■■ Der Artenschutz stellt die Basis des Naturschut-
zes dar und ist auf den Erhalt bestehender Arten
mit ihrer genetischen Vielfalt in überlebensfähi-
gen Beständen ausgerichtet (Jedicke 2022). Die
Grundlage zur Bewertung der Gefährdung der zu
Foto: Milan van Well

schützenden Arten sind die bundesweiten Roten


Listen gefährdeter Tier-, Pflanzen- und Pilzarten
(Landesanstalt für Umweltschutz Baden-Würt-
temberg 2004, Bundesamt für Naturschutz 2020). Foto 1: Biber-Fraßspuren im Bruckried (2022)
■■ Die in den Roten Listen aufgeführten Arten die-
nen dazu, Naturschutzmaßnahmen festzusetzen
und zu kontrollieren. Ein Beispiel hierfür ist der
Biber, der in Deutschland streng geschützt ist.
■■ Der Biotopschutz knüpft an den Artenschutz
an, da hier das Schutzziel über die Umweltansprü-
che der Zielarten definiert wird und Erhalt und
Neuschaffung von Lebensräumen im Fokus stehen
(Hupke 2020). Die Ausgestaltung des Biotopschut-
zes richtet sich nach den Standortansprüchen der
Zielarten verschiedener Lebensgemeinschaften.
■■ Der Ressourcenschutz konzentriert sich auf
die Bewahrung von Boden, Wasser und Klima vor
Foto: Milan van Well

nachteiligen Veränderungen.
■■ Der Prozessschutz stellt eine Ergänzung zum
statischen, konservierenden Naturschutz dar. Ziel
dabei ist es, die natürlichen Prozesse in Ökosys- Foto 2: Vernässter Bereich im östlichen Teil des Naturschutzgebiets Bruckried
temen zuzulassen. Dabei spielen, ihren Lebens- (März 2022)
raum selbst gestaltende Schlüsselarten wie der
Biber eine entscheidende Rolle (Jedicke 2022). breiten Rinne, dem sogenannten Schwefelgraben,
Welche Prozesse natürlich sind und welche nicht, einem ehemaligen Eisrandtal der Endmoränen-
darüber gilt es zu diskutieren. landschaft des Würm-Glazials (Jehle und Genser
■■ Dem gegenüber steht abschließend der ästhe- 2004). Ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende
tische Landschaftsschutz, der Landschaftsbild des Zweiten Weltkriegs wurde hier vereinzelt Torf
und Erholungsfunktionen sowie ganze regions- von der lokalen Bevölkerung abgebaut, wozu Tei-
typische Kulturlandschaften bewahren möchte. le des Moores trockengelegt wurden. 1978 wur-
Aus der Überschneidung der Schutzziele re- de das Bruckried aufgrund seiner herausragen-
sultieren Zielkonflikte wie im Naturschutzgebiet den floristischen Bedeutung unter Naturschutz
Bruckried, wo nach dem Auftauchen des Bibers gestellt. Seit 1979 betreut der Bund für Umwelt
der Artenschutz (Schutz des Bibers) dem Biotop- und Naturschutz (BUND) Landesverband Baden-
schutz (Erhalt der geschützten Kalk-Flachmoor- Württemberg, Naturschutzzentrum Möggingen,
Vegetation) und dem Schutz der zum Teil stark das Naturschutzgebiet offiziell im Auftrag des zu-
gefährdeten Pflanzenarten gegenübersteht. ständigen Regierungspräsidiums Freiburg (Frank
et al. 2020). Gemäß den Leitlinien des Biotop-
Das Naturschutzgebiet Bruckried schutzes werden seit 1980 Pflegemaßnahmen wie
Entbuschungen und Mäharbeiten durchgeführt
Das Naturschutzgebiet Bruckried hat eine Aus- (Kersting und Jehle 1990), um Gehölze zurückzu-
dehnung von ca. 18,7 ha und liegt im Hegau im drängen und den Anteil der offenen Flächen zu
Landkreis Konstanz (Kersting und Jehle 1990, vgl. erhöhen. So konnten der Charakter des Schutz-
Abb. 1). Das Schutzgebiet ist Teil einer etwa 200 m gebietes erhalten und die gefährdeten Kalk-Flach-

Geographische Rundschau 7/8-2023 47


GR Plus Naturschutz, Biotopschutz, Prozessschutz

Art Standort­indikatoren Anzahl Raster­ Anzahl Raster


nach Ellenberg 2015 2015 2022 2022
Mehl-Primel 9756 21 345
F8, R9 8 8
(Primula farinosa) (gesamt) (gesamt)

Gewöhnliches Fettkraut 1223 5721


F8, R7 5 8
(Pinguicula vulgaris) (gesamt) (gesamt)

Fieberklee 210 954 248 977


F9, RX 10 13
(Menyanthes trifoliata) (Blätter) (Blätter)

Fleischfarbenes ­Knabenkraut 663 940


F8, R7 11 26
(Dactylorhiza incarnata) (blühend) (blühend)

Kleiner Wasserschlauch 7603


F10, R7 nicht erfasst – 18
(Utricularia minor) (Blüten)

Sumpf-Glanzkraut 161 2
F9, R9 3 1
(Liparis loeselii) (blühend) (blühend)

Sumpf-Ständelwurz 2904 879


F8, R8 15 14
(Epipactis palustris) (blühend) (blühend)
Ergebnisse
der Kar­ Knollen-Kratzdistel 381
tierung F6, R8 nicht erfasst – 6
(Cirsium tuberosum) (blühend)
von 2022

moor-Gesellschaften geschützt werden (Holthaus also jeweils vor dem Auftauchen des Bibers im
2015), die außerhalb der Alpen nur im südlichen Bruckried, verglichen (vgl. Fotos 3–5 und Abb.
Mitteleuropa zu finden sind (Ellenberg 1982, Jeh- 2). Sechs Arten sind typische Standortvertreter
le und Genser 2004). Hier finden sich Standorte von Kalk-Flachmooren und wurden bereits von
für seltene Pflanzenarten wie z. B. Mehl-Primel Holthaus 2015 erfasst: Fieberklee (Menyanthes
(Primula farinosa), Spatelblättriges Greiskraut trifoliata), Gewöhnliches Fettkraut (Pinguicula
(Tephroseris helenitis), Sumpf-Glanzkraut (Liparis vulgaris), Fleischfarbenes Knabenkraut (Dacty-
loeselii), Fieberklee (Menyanthes trifoliata) oder lorhiza incarnata), Sumpf-Ständelwurz (Epipac-
Sumpf-Ständelwurz (Epipactis palustris). tis palustris), Sumpf-Glanzkraut (Liparis loeselii)
2018 wurden erstmals Biberaktivitäten im Na- und Mehl-Primel (Primula farinosa). Die zwei
turschutzgebiet Bruckried festgestellt (vgl. Foto 1). weiteren, nun erstmals kartierten Arten Kleiner
Im Winter 2018/19 legten die Tiere einen großen Wasserschlauch (Utricularia minor) und Knollen-
Damm westlich des Naturschutzgebiets an, der Kratzdistel (Cirsium tuberosum) sind nicht typisch
bis weit in das Naturschutzgebiet rückstaut (vgl. für die oben genannten Gesellschaften. Sie sol-
Abb. 1). Weitere Dämme im zentralen Bereich des len als mögliche Profiteure von nass-quelligen
Gebiets folgten in den darauffolgenden Jahren. (Kleiner Wasserschlauch) und wechselfeuchten
Dies führt aktuell dazu, dass Teile der wertvollen Standorten (Knollen-Kratzdistel) Aufschluss über
Kalk-Flachmoor-Gesellschaften überstaut werden Veränderungen der Flächen geben. Bei allen acht
und auch die jährlichen Pflegemaßnahmen er- Arten handelt es sich um gefährdete und stark ge-
schwert und diese stellenweise nur eingeschränkt fährdete Arten der Roten Liste Deutschlands und
oder nicht durchführbar sind (vgl. Foto. 2). Dank Baden-Württembergs. Das Sumpf-Glanzkraut ist
moderner Mähtechnik konnte dieses Problem in- zusätzlich durch die Fauna-Flora-Habitat-Richt-
zwischen weitgehend gelöst werden. Sollten sich linie geschützt. Die jeweiligen Standortindikato-
die Überflutungen jedoch weiter verstärken, stößt ren werden in der Tabelle nach Ellenberg mit der
auch diese Technik an ihre Grenzen. Feuchtezahl als Indikator für Toleranz gegenüber
Nässe (F5 = Frischezeiger bis F10 = Wechselwas-
Auswirkungen des Bibers auf die Flora serzeiger) und der Reaktionszahl als Indikator für
das Milieu (R7 = Schwachsäuren- bis Schwachba-
Um den Einfluss des Bibers auf die Kalk-Flach- senzeiger bis R9 = Basen- und Kalkzeiger, x = in-
moor-Gesellschaften des Naturschutzgebiets differentes Verhalten) kategorisiert.
Bruckried zu untersuchen, wurde 2022 das Mittels GPS wurde ein Rasternetz von 50 x 50 m
Vorkommen von acht Pflanzenarten kartiert. über die Naturschutzgebietsfläche gelegt, sodass
Die Fauna-
Flora-­ Die Ergebnisse wurden mit einer Kartierung dies möglichst deckungsgleich zu jenem von Holt-
Habitat- aus dem Jahr 2015 (Holthaus 2015) sowie einer haus aus dem Jahr 2015 war. Darin wurden flä-
Richtlinie weiteren Kartierung von 1986 (Neumann 1986), chenhaft, je nach Art und Phänotyp, die Anzahl der

48 Geographische Rundschau 7/8-2023


Individuen, blühenden Individuen, Blüten oder notiert wurde. Auch die Mehl-Primel und das Ge-
Blätter erfasst. Wo es aufgrund der Bestandsdich- wöhnliche Fettkraut verzeichnen steigende Zah-
te nötig war, wurden mit Schnüren gelegte Bahnen len (vgl. Abb. 2 und Tab.). Auffällig dabei ist, dass
zuhilfe genommen. vor allem beim Fleischfarbenden Knabenkraut
Aufgrund der unterschiedlichen Blühzeitpunk- in den zentralen Bereichen der Vernässung die
te der Arten wurde in drei Zeitfenstern kartiert: Population zurückgegangen ist, in den Übergangs-
Anfang Mai wurden Mehl-Primel, Gewöhnliches bereichen dieser Areale die Pflanzen sich jedoch
Fettkraut und Fieberklee, Ende Mai Kleiner Was- weiter ausgebreitet haben. Darüber hinaus wurde
serschlauch und Fleischfarbenes Knabenkraut in den vernässten Arealen nun erstmals der Klei-
und Ende Juni Sumpf-Glanzkraut, Sumpf-Stän- ne Wasserschlauch in großer Zahl kartiert, der in
delwurz und Knollen- Kratzdistel gezählt. früheren Jahren dort zwar festgestellt, aber nie
Zur Datenauswertung wurden mit der Geoinfor- kartiert wurde. Die in Baden-Württemberg stark
mationssystems-Software QGIS Karten angefertigt gefährdete Art hat 2022 sehr von den gut mit
und die gezählten Individuen wie bei Holthaus Wasser gefüllten Mulden, sogenannten Schlen-
(2015) in fünf Kohorten (1–10 Exemplare, 11–100 ken, profitiert, die in zurückliegenden Jahren oft
Exemplare, 101–500 Exemplare, 501–1000 Exem- trockengefallen waren.
plare, >1000 Exemplare) eingeteilt. Für die Erstel-
lung des Höhenmodells wurde das Gelände mit
einem differenziellen GPS vermessen. Mit QGIS
wurde mittels „IDW-Interpolation“-Tool ein Ras-
termodell mit einem Abstandskoeffizienten (P) von
3 und in der Auflösung von 0,1 m interpoliert. Aus
den Rasterdaten wurden mit dem „Kontur“-Tool
Höhenlinien im Vektorformat mit dem Intervall 20
(entspricht 2 cm) berechnet. Um die Auswirkungen
einer Absenkung des Damms zu prognostizieren,
wurden Wasserstände durch eine entsprechende
Veränderung der Visualisierung dargestellt. Dies
wurde jedoch nur für den östlichen Teil ausgear-
beitet, da zum einen aufgrund der Geländebeschaf-
fenheit im westlichen und zentralen Teil die Mo-
dellierung zu fehlerhaft ist und zum anderen nur
eine Absenkung des Pegels oberhalb der Biberburg
zur Diskussion steht (vgl. Abb. 1).
Das Ergebnis der Kartierung zeigt eine deutliche
Veränderung der Vegetationszusammensetzung
im Naturschutzgebiet. Bei der Sumpf-Ständelwurz
z. B. hat sich der Gesamtbestand von 2904 blühen-
den Individuen im Jahr 2015 auf 879 im Jahr 2022
verringert (vgl. Abb. 2). Lediglich in drei Quadra-
ten der Kartierung, die etwas höher und weiter
entfernt vom nun aufgestauten Bachlauf liegen,
nahmen die Bestände leicht zu. Die Sumpf-Stän-
delwurz verträgt Überstauungen auf Dauer nicht,
was die Rasterkartierung deutlich zeigt. Eine ex-
treme Abnahme der Bestände betrifft das stark
gefährdete Sumpf-Glanzkraut, das einen europa-
weiten Schutz genießt. Diese Art reagiert auf Ver-
änderungen im Wasserhaushalt sehr empfindlich,
sowohl auf Überflutungen als auch auf Trocken-
phasen. In Bezug auf die Pflegemaßnahmen im
Naturschutzgebiet Bruckried ist das von beson-
derer Brisanz, da das Sumpf-Glanzkraut eine der
wenigen Arten der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie
ist, auf der landesweit der Schutzfokus liegt.
Andererseits gibt es auch Arten, die von der
Vernässung direkt oder indirekt profitieren. So Abb. 2: Ergebnisse der Kartierung am Beispiel der drei Arten Mehl-Primel
hat sich der Gesamtbestand des Fleischfarbenen (Primula farinosa), Fleischfarbendes Knabenkraut (Dactylorhiza incarnata) und
Knabenkrauts von 663 (2015) auf 940 (2022) blü- Sumpf-Ständelwurz (Epipactis palustris). Die Farbe und Größe der Kreise stellen
hende Individuen erhöht und es kommt in vielen die Veränderungen im Vergleich zu der Kartierung von 2015, vor dem Auftau-
Rastern vor, in denen es von Holthaus 2015 nicht chen des Bibers dar Grafik: Hannes Laermanns, Milan van Well, Kai-Steffen Frank

Geographische Rundschau 7/8-2023 49


GR Plus Naturschutz, Biotopschutz, Prozessschutz

Fotos 3–5: Beispiele der kartierten Pflanzenarten, links: Mehl-Primel (Primula farinosa), Mitte: Fleischfarbendes Knaben-
kraut (Dactylorhiza incarnata), rechts: Sumpf-Ständelwurz (Epipactis palustris)  Foto links: Finn Klessmann, Fotos Mitte, rechts: Milan van Well

Widersprechen sich Artenschutz, oder ihn zu erhöhen. Durch die ausbleibenden


Biotopschutz und Prozessschutz? Ausbesserungsmaßnahmen verfällt der Damm
langsam. An den westlichen Dämmen dagegen ist
Die Kartierung der geschützten Arten im Bruck- ein Absenken des Wasserspiegels nur in geringem
ried zeigt, dass der Biber einen großen Einfluss Maße möglich, da der unter Wasser liegende Ein-
auf die Flora hat, aber auch, dass insgesamt kein gang zur Biberburg nicht beeinträchtigt werden
negativer Trend der Gesamtbestände der meisten darf (Simon 2020).
untersuchten Arten zu erkennen ist. Lediglich der Durch den hohen Betreuungs- und Wartungs-
Bestand des Sumpf-Glanzkrauts ist dramatisch zu- aufwand sind stromführende Zäune jedoch nicht
rückgegangen. Allerdings darf nicht außer Acht als langfristige Lösung einzustufen, sodass der Bi-
gelassen werden, dass die erfasste Populations- ber die Entwicklung im Naturschutzgebiet Bruck-
größe der einzelnen Pflanzenarten ebenfalls di- ried weiterhin maßgeblich prägen wird, sollte er
versen abiotischen und biotischen Faktoren wie auch zukünftig im Gebiet aktiv sein. Für die Be-
z. B. der Witterung in der Vegetationsperiode der treuung des Naturschutzgebiets wird die durch
Zählung, klimatischen Veränderungen, Verschie- den Biber erzeugte Gewässerdynamik in Zukunft
bungen der Artenzusammensetzungen oder auch einen flexibleren Umgang mit standorterhalten-
der Pflege der Flächen unterliegt. Die Auswirkun- den Pflegemaßnahmen wie Entbuschungen und
gen dieser Faktoren sind allerdings nicht Gegen- regelmäßigen Mäharbeiten erfordern, die für den
stand der vorliegenden Untersuchungen. Erhalt und die Entwicklung der Kalk-Flachmoor-
Unter den Gesichtspunkten des Biotopschutzes Gesellschaften notwendig sind. Inwieweit die zum
sind die durch den Biber verursachten Verände- Teil nur eingeschränkt oder nicht durchführbaren
rungen nicht unproblematisch, da sich einige der Pflegemaßnahmen Auswirkungen auf die zukünf-
wertgebenden Pflanzenarten, die für das Natur- tige Entwicklung der untersuchten Pflanzenbe-
schutzgebiet wichtig sind, auf Rückzugsareale stände im Schutzgebiet haben, bleibt abzuwarten.
verlagert haben. Bei einer weiteren Erhöhung der Betrachtet man das Vorkommen des Bibers aus
Dämme und einer damit einhergehenden Flutung der Perspektive des Prozessschutzes, sind die Ver-
weiterer Flächen könnten einzelne Arten aus dem änderungen durchaus auch als Chance für das Na-
Naturschutzgebiet verschwinden oder sich ihre turschutzgebiet zu verstehen (Weixlbaumer et al.
Populationen verkleinern. 2015, Weber und Weber 2019). Durch seine aus-
Da der Biber auf der Roten Liste Deutschlands geprägten Stau-, Fäll- und Grabaktivitäten gestal-
steht, nach dem Bundesnaturschutzgesetz streng tet der Biber seine Umwelt aktiv um, erhöht die
geschützt ist und nach der Fauna-Flora-Habitat- Dynamik von Gewässern und schafft dabei auch
Richtlinie europaweiten Schutz genießt, sind nur neue Lebensräume (Harthun 2000, Rutishauser
begrenzt Maßnahmen möglich, um seine Aktivitä- et al. 2013). Diese Veränderungen der Gewässer
ten einzuschränken. Um die flächenhafte Überflu- und ihrer Umgebung können kleinräumig durch-
tung zu reduzieren, wurde der östlichste Damm aus zum Verschwinden einzelner Arten führen
abgesenkt und seit dem Frühjahr 2022 durch ei- (Simon 2020). Wird jedoch ein größerer Gewäs-
nen stromführenden Zaun für den Biber unzu- serabschnitt betrachtet, deuten wissenschaftliche
gänglich gemacht. Hiermit ist es den Tieren nicht Untersuchungen eher auf eine Diversifizierung
möglich gewesen, den Damm instand zu setzen der Landschaft und Steigerung der Artenvielfalt

50 Geographische Rundschau 7/8-2023


hin (Sommer et al. 2018). Dies spiegelt sich auch rameter von Mittelgebirgs-Bächen (Hessen, Deutschland).
in den Ergebnissen der Kartierungen im Bruck- Limnologica – Ecology and Management of Inland Waters
30 (1), S. 21–35
ried wider. Das Höhenmodell belegt, dass die Holthaus, L. (2015): Populationsentwicklung ausgewählter
Überflutung der Flächen von der Höhe des Biber- Pflanzenarten dreier Naturschutzgebiete im westlichen
damms abhängig ist. Es zeigt aber auch deutlich, Bodenseegebiet zwischen 1986 und 2015. Bachelorarbeit
dass Schlenken auf höhergelegenen Flächen nicht (unveröffentlicht), Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Hupke, K.-D. (2020): Naturschutz. Eine kritische Einführung.
betroffen sind. Zudem lässt sich erkennen, dass,
Berlin, Heidelberg
bezogen auf das gesamte Schutzgebiet, nur ein Jedicke, E. (2022): Naturschutz (https://www.spektrum.de/
Teil der Fläche vom Biber beeinflusst ist. lexikon/geographie/naturschutz/5392)
Jehle, P. und J. Genser (2004): Bruckried. In: Regierungsbezirk
Freiburg (Hrsg.): Die Naturschutzgebiete im Regierungsbe-
Fazit zirk Freiburg. Ostfildern, S. 315–317
Kersting, G und P. Jehle (1990): Pflegekonzeption Natur-
Die Schutzziele, die im Bundesnaturschutzge- schutzgebiet „Bruckried“ (unveröffentlicht). Bezirksstelle
setz verankert sind, legen den Fokus auf unter- für Naturschutz und Landschaftspflege
schiedliche Aspekte, die teilweise gegenläufig Landesanstalt für Umweltschutz Baden-Württemberg (2004):
sind und zu Zielkonflikten im Naturschutz füh- Rote Listen Baden-Württemberg (bis 2005) (https://www.lubw.
baden-wuerttemberg.de/natur-und-landschaft/rote-listen)
ren können. Ein solcher Konflikt ergibt sich im Neumann, E. (1986): Floristische Bestandsaufnahmen in den
Naturschutzgebiet Bruckried. Der Biotop- und Naturschutzgebieten „Stehlwiesen“, „Bruckried“ und „Grau-
Artenschutz in Form von Pflegenaturschutz setzt es Ried“ (Landkreis Konstanz) (unveröffentlicht), im Auftrag
sich für den Erhalt der gefährdeten und unter des BUND Landesverband BW e. V., Radolfzell-Möggingen
Rutishauser, M., Lakerveld, P. und C. Angst (2013): Der Biber
Schutz stehenden Kalk-Flachmoor-Gesellschaf-
– ein Landschaftsgestalter für die Artenvielfalt. Hallo Biber!
ten mit ihren seltenen Pflanzenarten ein. In Mittelland und Biberfachstelle (BAFU)
Teilen konträr dazu steht der Schutz des Bibers Schulte, T. (2005): Der Biber in Baden-Württemberg. Handrei-
mit seiner dynamischen Landschaftsgestaltung. chung zum Umgang mit dem Biber. Fachdienst Naturschutz
Die vergleichende floristische Kartierung und – Artenschutz Merkblatt 3 (1/05), S. 1–4
Schwab, G. und M. Schmidbauer (2003): Beaver (Castor fiber
die Höhenmodellierung zeigen Veränderungen L., Castoridae) management in Bavaria. Denisia 9 (Kataloge
in den Pflanzenbeständen und hydrologischen der OÖ. Landesmuseen) (2), S. 99–106
Verhältnissen. Dies betrifft jedoch nur einen Teil Sereda-Weidner, J. (2022): Artenschutzrechtliche Konflikte
der unter Schutz stehenden Fläche. Insgesamt beim Bibermanagement, Teil 1. Recht der Natur. Schnell-
brief 233, S. 38–43
bringt der Biber bislang eine landschaftsgestal-
Simon, E. (2020): Der Biber. Biologie, Schutz und Management
tende Dynamik in das Naturschutzgebiet, die zu eines Ökosystemingenieurs. Praxisbibliothek Naturschutz
einer Verschiebung der Bestandsvorkommen und Landschaftsplanung. Stuttgart
der untersuchten Pflanzenarten führt. Ob dies Sommer, R., Ziarnetzky, V., Messlinger, U. und V. Zahner
auf lange Sicht zu einem Rückgang oder gar (2018): Der Einfluss des Bibers auf die Artenvielfalt semi-
aquatischer Lebensräume. Naturschutz und Landschafts-
dem Erlöschen der Populationen von seltenen
planung 51 (3), S. 108–115
Pflanzenarten führt, bleibt abzuwarten. Aus Weber, F. und F. Weber (2019): Naturparke – Biosphärenre-
der Perspektive des Prozessschutzes kann das servate – Nationalparke: Schlaglichter auf ‚Großschutzge-
durchaus als Chance für die Artenvielfalt des Na- bietskonfliktlandschaften‘ zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
In: Berr, K. und C. Jenal (Hrsg.): Landschaftskonflikte, Raum
turschutzgebiets Bruckried gesehen werden. So
Fragen: Stadt – Region –Landschaft. Berlin, Heidelberg,
können die dynamische Landschaftsentwicklung S. 247–268
und darauf abgestimmte, flexible Pflegemaßnah- Weixlbaumer, N., Siegrist, D., Mose, I. und T. Hammer (2015):
men sowohl dem Schutz des Bibers als auch dem Großschutzgebiete als Instrument für zukunftsorientierte
Arten- und Biotopschutz der Kalk-Flachmoore Regionalentwicklung in Europa. Die Sicht der Schutzge-
bietsverantwortlichen und Forscher am Beispiel von Parti-
gerecht werden. ∎
zipationen und Regional Governance. In: Erdmann, K.-H.,
Bork, H.-R. und H. Job (Hrsg.): Naturschutz in geographi-
Literatur
scher Perspektive (BfN-Skripten 400, S. 81–88). Bonn-Bad
Allgöwer, R. (2003): Die Rückkehr des Bibers Castor fiber L. Godesberg
(Castoridae, Rodentia) nach Baden- Württemberg (Süd-
westdeutschland) – nur eine Bereicherung der Artenvielfalt? AUTOREN
Denisia 9, S. 107–119
Dr. Hannes Laermanns, geb. 1985
Ellenberg, H. (1982): Vegetation Mitteleuropas mit den Alpen
Geographisches Institut der Universität zu Köln,
in ökologischer Sicht. Stuttgart
Arbeitsgruppe Ökosystemforschung
Bundesamt für Naturschutz (2015): Artenschutz-Report 2015.
h.laermanns@uni-koeln.de
Tiere und Pflanzen in Deutschland. Bonn
Schwerpunkte: Naturschutz, Mikroplastik in Böden
Bundesamt für Naturschutz (2020): Rote Liste und Gesamtar-
tenliste der Säugetiere (Mammalia) Deutschlands (https:// Milan van Well, geb. 1998
www.rote-liste-zentrum.de/files/NaBiV_170_2_1_RL_Saeu- Geographisches Institut der Universität zu Köln,
getiere_2020_20210421-0804.pdf) Arbeitsgruppe Ökosystemforschung
Frank, K.-S., Medinger, V. und M. Fiebrich (2020): 22. Jahresbe- Schwerpunkte: Naturschutz, Geoökologie, Alpenraum
richt über das Naturschutzgebiet Bruckried 2020 (unveröffent-
licht). Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland Lan- Kai-Steffen Frank, geb. 1960
desverband Baden- Württemberg e. V., Radolfzell-Möggingen BUND Landesverband Baden-Württemberg e. V., Radolfzell
Harthun, M. (2000): Einflüsse der Stauaktivität des Bibers kai-steffen.frank@bund.net
(Castor fiber albicus) auf physikalische und chemische Pa- Schwerpunkte: Naturschutz, Schutzgebietsbetreuung

Geographische Rundschau 7/8-2023 51


GR Plus Ägypten, Korallenriff, Ocean Literacy

Foto 1: Rund um
Hurghada werden
u. a. das Berühren
von Korallen und
Bootslärm als Kritik-
punkte am Tauchtou-
rismus genannt

Foto: IMAGO/imagebroker/ Norbert Probst


Susanne Stoll-Kleemann, Carina N. Darmstadt

Meereskompetenz für mehr


Nachhaltigkeit im Tauchsport
Wie die marine Artenvielfalt von einer Transformation des Tauchsports
profitieren könnte

Die marinen Schutzgebiete dieser Welt stellen für viele Menschen Orte der Er-
holung dar. Eine besondere Form diese Orte zu erleben ist der Tauchsport, der
eine Beobachtung der Unterwasserwelt aus nächster Nähe ermöglicht. Die ne-
gativen ökologischen Folgen des Tauchens führten in den letzten Jahren aller-
dings immer wieder zu Kritik, während die positiven Aspekte des Naturerlebens
zu wenig beachtet wurden. Es ist stark anzunehmen, dass das Tauchen zu einer
höheren Kompetenz im Bereich der Ozeane und damit zu mehr Meeresschutz
beitragen kann. Dieser Perspektive wird in diesem Beitrag nachgegangen.

B eim Gerätetauchen wird es Menschen ermög-


licht, mithilfe eines Sauerstofftanks, einer Ta-
rierweste, Flossen und einer Schnorchelmaske
rinen Ökosystemen. Beliebt sind vor allem Koral-
lenriffe und marine Schutzgebiete, da diese eine
Vielzahl von Tier- und Pflanzenarten beherber-
längere Zeit unter Wasser zu verbringen (Siekiera gen (Dimmock und Musa 2015, S. 53ff.).
2023, S. 38; Darmstadt 2023, S. 6). Durch die Hilfs- Aus dem ursprünglichen Nischenmarkt hat
mittel können Tauchende die Unterwasserwelt sich in den letzten Jahrzehnten ein massentou-
und deren Flora und Fauna erkunden (Dimmock ristisches Phänomen mit weltweit über 27 Mio.
und Musa 2015, S. 54f.). Zu diesem Zweck reisen zertifizierten Tauchenden entwickelt (Albayrak
die Sporttreibenden zu Orten mit besonderen ma- et al. 2019, S. 2) Ein aus europäischer Sicht gut

52 Geographische Rundschau 7/8-2023


Foto 2: Ein positives
Naturerlebnis beim
Tauchen kann dazu
beitragen, die eigene
Meereskompetenz,
die sogenannte Ocean
Literacy, zu erhöhen
Foto: IMAGO/Nature Picture Library

erreichbarer Hotspot ist die ägyptische Küstenre- scherei, Schifffahrt und Tourismus bedroht (Fine
gion um Hurghada mit dem 50 km südlich liegen- et al. 2019, S. 2). Auch der Tauchtourismus steht
den Safaga. Die hohe Attraktivität der Regionen hier in der Kritik, sich negativ auf den Zustand
geht vor allem von den weißen Sandstränden, der Korallenriffe auszuwirken. Neben dem Ver-
klaren Gewässern und küstennahen Korallenrif- halten individueller Tauchender, die beabsichtigt
fen aus. Knapp ein Drittel der Hotelkapazitäten oder unbeabsichtigt Korallen berühren, können
Ägyptens konzentriert sich auf diesen Bereich des auch Bootslärm und Ankerwürfe für die Störun-
Roten Meeres (Hilmi et al. 2018, S. 31f.). Neben gen der Tierwelt verantwortlich gemacht werden
der klassischen Tourismusinfrastruktur wie Ho- (Gladstone 2013, S. 381; Giglio et al. 2017, S. 313).
telkomplexen siedelte sich hier auch eine spezi-
elle Tauchinfrastruktur an. Eine besondere Rolle Chancen des Tauchens für Meeresschutz
spielen die Tauchzentren (vgl. Karte), die neben und Meereskompetenz
Ausbildungsprogrammen auch die Möglichkeit
zu begleiteten Tauchausflügen, z. B. auf großen Die Wechselwirkungen zwischen Schutzgebieten,
Tauchbooten bieten (Dimmock und Musa 2015, Tauchenden und der Tauch-Community als Netz-
S. 54, vgl. Foto 1). werk bieten viele Vorteile für den Meeresschutz
HEPCA –
Die Küstengebiete um Hurghada sind jedoch und die Erhöhung einer Meereskompetenz, die Caring for
durch Umweltrisiken wie der Versauerung der in der englischsprachigen Wissenschaftsliteratur the Red Sea
Ozeane, steigende Meerestemperaturen sowie Fi- als Ocean Literacy bekannt ist (vgl. Textbox). Als

∎ Textbox
Ocean Literacy
Das Konzept der Ocean Literacy beschreibt das einem ausgeprägten Verständnis der Meere
Wissen, Einstellungen und Verhaltensweisen von kann als „ocean literate“ bezeichnet werden.
Menschen in Bezug auf die Ozeane. Hierzu zählen Diese Personen sind in der Lage, auf Basis ihres
nicht nur Fakten über die Weltmeere, sondern Wissens fundierte und verantwortungsvolle
auch das Wissen über den alltäglichen Einfluss Entscheidungen im Sinne des Meeresschutzes
der Meere auf die Menschen und umgekehrt. Au- zu treffen (Kelly et al. 2021, S. 124f.). Das Wissen
ßerdem umfasst das Konzept auch die meeres- allein reicht jedoch nicht aus. An vielen Stellen
bezogenen Einstellungen und Verhaltensweisen ist es notwendig, das eigene Verhalten (z. B. den
eines Menschen und verbindet somit ökologische individuellen Konsum von Fischereiprodukten)
mit anthropogenen Faktoren. Eine Person mit anzupassen (Stoll-Kleemann 2019, S. 11f.).

Geographische Rundschau 7/8-2023 53


GR Plus Ägypten, Korallenriff, Ocean Literacy

Kartographie: Carina N. Darmstadt


Tauchreviere
vor der Küste
von Hurghada
und Safaga

direkter Effekt ist hierbei der finanzielle Gewinn barer Nähe deutlich werden. Die Beobachtung
für marine Naturschutzgebiete zu nennen. Viele eben dieser Umweltproblematiken können bei
Schutzgebiete erheben Gebühren von Tauchen- Tauchenden starke Emotionen hervorrufen (Stoll-
den, die einen wichtigen Bestandteil für deren Kleemann und Darmstadt 2023). Entsprechend
Verwaltungsbudget darstellen, sodass gezielte der persönlichen Einstellungen der Tauchenden
Schutzmaßnahmen effektiver umgesetzt werden und der individuellen Verbundenheit mit der
können (Wielgus et al. 2010). Vor allem für das Natur können diese neues Engagement im Um-
nördlich von Hurghada liegende Schutzgebiet weltschutz allgemein oder im marinen Umwelt-
Northern Red Sea Islands ist dieser Aspekt von ho- schutz im Besonderen auslösen (Siekiera 2023, S.
hem Wert (Darmstadt 2023, S. 16). Hinzu kommt 56f.; vgl. Foto 2). Beispiele für aktives Engagement
der Beitrag des Tauchens für die Forschung im in der Tauch-Community sind Programme gro-
Rahmen von Citizen-Science-Projekten. Tauchen- ßer Tauchverbände wie PADI, die sich mit dem
de können Teil der Datenerhebung im Bereich des Programm „Green Finn“ für standardisierte und
Biodiversität-Monitorings und des Umweltschut- nachhaltige Praktiken in der internationalen
zes werden und Forschungsprojekte gezielt unter- Tauchbranche einsetzen (PADI 2023). Gleichzeitig
stützen (Hermoso et al. 2021, S. 441, 449). entstehen aus der Tauch-Community auch klei-
Die Aspekte der Meereskompetenz im Kontext nere Nichtregierungsorganisationen, die sich im
des Tauchens wurden aus wissenschaftlicher Per- lokalen Umweltschutz engagieren. In Hurghada
spektive bisher wenig beachtet. Dabei können ist hier die Hurghada Environmental Protection
Tauchende durch das Naturerleben konkretes and Conservation Association (HEPCA) zu nen-
Wissen über Artenkenntnisse und Umweltproble- nen. HEPCA arbeitet u. a. an einer Erweiterung
me erlangen. Vor allem die Plastikverschmutzung eines von ihnen initiierten Ankerbojensystems,
der Ozeane, Korallenbleichen und Überfischung um Korallenriffe vor Ankerschäden durch Tauch-
sind Probleme, die unter Wasser aus unmittel- boote zu bewahren (Darmstadt 2023, S. 16).

54 Geographische Rundschau 7/8-2023


Abtauchen für den Meeresschutz?

In Anbetracht des Wachstums der Tauchbran-


che und der damit einhergehenden Bedrohung
der Ökosysteme (Siekiera 2023, S. 38) stellt sich
die Frage, wie die aufgezeigten positiven und
negativen Aspekte zu bewerten sind. Ziel sollte
es sein, die negativen Faktoren so abzumildern,
dass die positiven Aspekte des Tauchens über-
wiegen. Hierzu muss das jeweilige Management
verschiedener Tauchorte angepasst werden.
Neben Maßnahmen wie einer Obergrenze für
Besuchende gibt es einige andere Möglichkei-

Foto: IMAGO/imagebroker
ten, den negativen Einfluss des Tauchens zu mi-
nimieren und gleichzeitig den Sporttreibenden
Taucherfahrungen zu ermöglichen. Beispiels-
weise kann vor Beginn eines Tauchganges im
Rahmen eines Briefings ein stärkerer Fokus Foto 3: Neben seiner Lage hat auch der boomende Tauchtourismus dazu ge-
auf das Berührungsverbot von Korallen und führt, dass rund um Hurghada uniformierte Hotelkomplexe entstanden sind
Tieren gelegt werden. Diese Maßnahme kann
durch erweitere Umweltbildung sowie durch Hammerton, Z. und D. Bucher (2015): Levels of intervention
eine direkte Intervention bei Kontakten unter – reducing SCUBA-diver impact within subtropical marine
protected areas. Journal of Ecotourism 14 (1), S. 3–20
Wasser erweitert werden. Ein zusätzliches Trai-
Hermoso, M., Narváez, S. und M. Thiel (2021): Engaging
ning von umweltverträglichen Tauchtechniken, recreational scuba divers in marine citizen science: Diffe-
wie einer stabilen Tarierung (die Körperlage rences according to popularity of the diving area. Aquatic
im Wasser) oder einem ruhigen Flossenschlag, Conservation: Marine Freshwater Ecosystem 31, S. 441–445
kann ebenfalls unbeabsichtigten Kontakt zwi- Hilmi, N., Safa, A.; Reynaud, S. und D. Allemand (2018):
Coral-based tourism in Egypt’s Red Sea. In: Prideaux, B. und
schen Tauchenden und Riffen reduzieren. Die
A. Pabel (Hrsg.): Coral Reefs: Tourism, Conservation and
verschiedenen Strategien können dabei helfen, Management. London, S. 29–43
die Tauchbranche in eine umweltverträglichere Kelly, R., Evans, K., Alexander, K. et al. (2022): Connecting to
Sportart zu transformieren (Hammerton und the oceans: supporting ocean literacy and public engage-
Bucher 2015, S. 15f.). Gleichzeitig kann auch ment. Reviews in Fish Biology and Fisheries 32, S. 123–143
PADI (2023): Green Finns, Umweltschädigung durch die
strukturell durch Nichtregierungsorganisatio-
Tauchbranche reduzieren und ihre Nachhaltigkeit fördern
nen wie HEPCA dabei geholfen werden, diese (https://www.padi.com/de/conservation/green-fins)
Transformation voranzutreiben. Somit kann Siekiera, C. (2023): A matter of affection? The role of SCUBA di-
die Ausbildung oder Erweiterung einer Meeres- vers’ emotions and nature affiliation in divers’ site-specific
kompetenz durch das Tauchen auf eine umwelt- and everyday behaviour concerning coral reef conservation
In: Stoll-Kleemann, S. und C. N. Darmstadt (Hrsg.): Pers-
verträgliche Art ermöglicht werden und einen
pektiven einer nachhaltigen Meeresnutzung. Tauchen als
Beitrag zum lokalen und globalen Meeresschutz Mensch-Natur(raum) Interaktion. Greifswalder Geographi-
leisten.  ∎ sche Arbeiten, Band 58, S. 37–63
Stoll-Kleemann, S. (2019): Feasible Options for Behavior
Literatur Change Toward More Effective Ocean Literacy: A Systematic
Albayrak, T., Caber, M. und C. Cater (2019): Mass tourism Review. Frontiers of Marine Science 6, 273
underwater: a segmentation approach to motivations of Stoll-Kleemann, S. und C. N. Darmstadt (2023): Perspektiven
scuba diving holiday tourists. Tourism Geographies, S. 1–15 des Tauchens als Beitrag zu einer Ocean Literacy – Ergebnis-
Darmstadt, C. N. (2023): Tauchtourismus in marinen Schutzge- se einer Fallstudie am Roten Meer (Soma Bay, Ägypten). In:
bieten als nachhaltige Meeresnutzung. Eine Fallstudie in den Stoll-Klemann, S. und C. N. Darmstadt (Hrsg.): Perspektiven
ägyptischen Northern Red Sea Islands. In: Stoll-Klemann, S. einer nachhaltigen Meeresnutzung. Tauchen als Mensch-
und C. N. Darmstadt (Hrsg.): Perspektiven einer nachhaltigen Natur(raum) Interaktion. Greifswalder Geographische
Meeresnutzung. Tauchen als Mensch-Natur(raum) Interakti- Arbeiten, Band 58, S. 64–94
on. Greifswalder Geographische Arbeiten, Band 58, S. 5–36 Wielgus, J., Balmford, A., Lewis, T. B., Mora, C. und L. R. Gerber
Dimmock, K. und G. Musa (2015): Scuba Diving Tourism (2010): Coral reef quality and recreation fees in marine
System: A framework for collaborative management and protected areas. Conservation Letters 3 (1), S. 38–44
sustainability. Marine Policy 54, S. 52–58
Fine, M., Cinar, M., Voolstra, C. R., Safa, A., Rinkevich, B., AUTORINNEN
Laffoley, D., Hilmi, N. und D. Allemand (2019): Coral reefs of Prof. Dr. Susanne Stoll-Kleemann, geb. 1969
the Red Sea. Challenges and Potential solutions. Regional stollkle@uni-greifswald.de
Studies in Marine Science 25, 100498 Schwerpunkte: Meeresschutz, Ernährung, Ostseeraum,
Giglio, V. J., Ternes, M. L. F., Mendes, T. C., Cordeiro, C. A. M. M. Frankreich
und C. E. L. Ferreira (2017): Anchoring damages to benthic
organisms in a subtropical scuba dive hotspot. Journal of Carina N. Darmstadt, M. Sc., geb. 1996
Coastal Conservation 21 (2), S. 311–316 darmstadt.carina@posteo.de
Gladstone, W., Curley, B. und M. R. Shokri (2017): Environmen- Schwerpunkte: Medien, Tourismus, Deutschland, Frankreich
tal impacts of tourism in the Gulf and the Red Sea. Marine
pollution bulletin 72 (2), S. 375–388 Institut für Geographie und Geologie, Universität Greifswald

Geographische Rundschau 7/8-2023 55


GR Plus Mecklenburg-Vorpommern, Küstenschutz, Deichrückverlegung

Anne Cristina de la Vega-Leinert

Dem Meer Land zurückgeben

Foto: iStock by Getty Images/Frank Fichtmüller


Weißwan-
gengänse zu
Gast auf der
Halbinsel
Fischland-
Darß-Zingst

An der deutschen Ostsee ist die niedrig liegende Küs- bol der schöpferischen Kraft des Menschen im Kampf
te die attraktivste für Siedlungen und ökonomische gegen die Naturgewalt des Meeres. Deiche abzubauen
Aktivitäten. Der Erhalt ist nur möglich durch Küsten- beeinträchtigt das Sicherheitsgefühl der Menschen an
schutz, der Leib, Leben, Land und Vermögen schützt. der Küste. Die landwirtschaftliche Nutzung auf ent-
Harte Infrastrukturen (z. B. Deiche) wie weiche Küsten- deichten Flächen muss angepasst, sogar eingestellt
schutzmaßnahmen (z. B. Sandaufspülungen) werden werden. Zudem führen Wiedervernässung, periodische
jedoch durch den steigenden Meeresspiegel immer Überflutungen und Versalzung zu starken Änderungen
komplexer und kostspieliger. des Landschaftsbilds und der Biodiversität.
Die Abneigung, dem Meer Land zurückzugeben,
Zeit für eine Kehrtwende im Küstenschutz? weist auf Zielkonflikte und Widersprüche, die auf Ge-
An dünn besiedelten Küsten, die mit viel Aufwand sellschaftsebene debattiert werden sollten. Einerseits
landwirtschaftlich genutzt werden, könnte gewonne- haben die Menschen sich an eine künstlich gestaltete
nes Land wieder dem Meer zurückgegeben werden. Küste gewöhnt, die einer natürlichen Entwicklung
Durch gezielte Deichrückverlegung werden natürli- wenig Raum lässt. Anderseits werden Hochwasser,
che Küstendynamiken wieder hergestellt und, so die Überschwemmungen oder Küstenrückgang als Be-
Theorie, Synergien zwischen Küsten- und Naturschutz drohungen wahrgenommen, statt als natürliche Er-
freigesetzt, Kosten reduziert und naturnahe Land- eignisse und Prozesse einer lebendigen Küste. Der
schaften gefördert (de la Vega-Leinert et al. 2018). klassische Küstenschutz in Form von harter Infrastruk-
Konkret bedeutet dies, tur vermittelt aber ein falsches Sicherheitsgefühl und
■■ die Deichlinie zu kürzen und deren Baugröße zu führt dazu, dass Küsten immer mehr Menschen und
verringern; Kapital anziehen. Dies erhöht die soziale Betroffenheit
■■ ausgewählte landwirtschaftliche Deiche und Ent- im Angesicht des Klimawandels und trägt zu einer
wässerungssysteme abzubauen; steigenden Abhängigkeit vom Küstenschutz bei.
■■ Siedlungen durch den Bau neuer Ringdeiche vor
Hochwasser zu schützen, oder Den Weg zur Deichrückverlegung
■■ kontrollierte Überflutung durch ein Schleusensys- vorbereiten
tem zuzulassen. In den letzten Jahren wird die staatliche Verantwor-
Dieser relativ neue Küstenschutzansatz wird kontro- tung für den Küstenschutz neu definiert. So schränkte
vers diskutiert. Küstenschutzinfrastruktur gilt als Sym- das Land Mecklenburg-Vorpommern sein Mandat für

56 Geographische Rundschau 7/8-2023


Dokumentation
den Schutz von besiedelten Flächen ein (MLUV 2009a). finanziert wird, erweitern wir Inventare von Deich-
Zudem ist der Unterhalt von landwirtschaftlichen Pol- rückverlegungsprojekten (van den Hoven et al.
dern so kostspielig geworden, dass sie von den dafür 2021). Vorläufige Ergebnisse zeigen klare räumliche
verantwortlichen Gemeinden progressiv aufgegeben Tendenzen und die Wichtigkeit der Boddenküste im
werden, wenn Deiche durch Hochwasser beschädigt, Land Mecklenburg-Vorpommern für ökologische Re-
Entwässerungssysteme veraltet oder Flächen durch naturierungsprojekte (de la Vega-Leinert et. al. 2023;
intensive Melioration abgesunken sind. Außerdem vgl. Karte). Landwirtschaftliche Polder werden zur
fördern neue Naturschutzrichtlinien eine naturnahe Freude von Zugvogelpopulationen neu gestaltet, die
Küste, wie z. B. Nationalparkverordnungen, nationa- sich rasch diese neuen Gebiete aneignen, was aber
le Klimaschutzziele (Moorschutz-Programm, MLUV nicht nur Begeisterung unter der lokalen Bevölke-
2009b) oder internationale Konventionen (RAMSAR rung mit sich bringt.  ∎
und Helsinki-Konventionen, MLUV 2009a).
Literatur
Ökologische Renaturierungsprojekte, die mit Deich-
de la Vega-Leinert, A. C. et al. (2023). Managed realignment in
rückverlegung assoziiert werden, können synergeti-
Mecklenburg-Western Pomerania, German Baltic Coast – An
sche Ziele fördern, ohne explizit als Küstenanpassung Inventory (Version 1) (Data set) (https://doi.org/10.5281/
wahrgenommen zu werden. In Mecklenburg-Vor- zenodo.7736794)
pommern ist die Wiedervernässung von meliorier- de la Vega-Leinert, A. C., Stoll-Kleemann, S. und E. Wegener
ten Feuchtgebieten eine wichtige Komponente des (2018): Managed Realignment (MR) along the Eastern
German Baltic Sea: A Catalyst for Conflict or for a Coastal
Moorschutzes, während die Wiederherstellung von
Zone Management Consensus. Journal of Coastal Research
Überflutungsflächen den Erhalt der Kulturlandschaft 34 (3), S. 586–601
Salzwiese ermöglicht. Beide ­Renaturierungsvorhaben Diederichsen, L. (2010): Rechtsfragen der Ökokontierung und
werden oft als ökologische Kompensation für den Bau des Ökopunktehandels. Natur und Recht 32 (12), S. 843–847
oder die Erweiterung von Transportachsen (z. B. Brü- MLUV MV – Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und
Verbraucherschutz Mecklenburg-Vorpommern (2009a): Re-
cken, Wasserstraßen) und Energie-Infrastrukturen
gelwerk Küstenschutz Mecklenburg-Vorpommern. Schwerin
(z. B. Windparks, Gasleitungen) ausgewählt. Diese MLUV MV – Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und
Maßnahmen sind durch die Eingriffsregelung (Na- Verbraucherschutz Mecklenburg-Vorpommern (2009b):
tSchAG M-V 2010) gesetzlich verankert und werden Konzept zum Schutz und zur Nutzung der Moore. Schwerin
in der Regionalplanung zunehmend im Rahmen der van den Hoven, K., Kroeze, C. und J. M. van Loon-Steensma
(2022): Characteristics of realigned dikes in coastal Europe:
Ökokontierung durchgeführt. Dies ist ein Instrument
Overview and opportunities for nature-based flood protec-
des Naturschutzes, das die räumliche und zeitliche tion. Ocean and Coastal Management 222, 106116
Entkopplung von Eingriff und Kompensation erlaubt
(Diederichsen 2010, S. 843).
AUTORIN
Dr. Anne Cristina de la Vega-Leinert, geb. 1972
Deichrückverlegung sichtbar machen Institut für Geographie und Geologie, Universität Greifswald
Im ECAS-Baltic-Projekt (https://deutsche-kues- ac.delavega@uni-greifswald.de
tenforschung.de/ecas-baltic.html), das vom Bun- Schwerpunkte: Küstenanpassung, nachhaltige Landnutzung,
desministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Fischland-Darß-Zingst, deutsche Ostseeküste

Gegenwärti-
ger Stand von
Deichrückver-
legungen in
Mecklenburg-
Vorpommern
Karte: Anne Cristina de la Vega-Leinert auf Basis von Google Earth

Geographische Rundschau 7/8-2023 57


MAGAZIN Bild und Wort

Foto: Nature Picture Library/Alamy Stock Foto


Plastikmüll auf Hoher
See: Zum Schutz der
Biodiversität sollen
30 % der Weltmeere
bis 2030 unter Schutz
gestellt werden

Ute Kleinelümern

Das UN-Abkommen zum


Schutz der Hochsee
Etwa 71 % der Erdoberfläche sind zonen (200-Seemeilen-Zone) an- Ausweisung neuer Schutzgebiete
von Wasser bedeckt. Der weitaus schließen. Insgesamt umfasst die ist künftig durch Mehrheitsent-
größere Anteil entfällt auf das Hochsee 64 % der Weltmeere und scheidung möglich. Damit kön-
Salzwasser in den Weltmeeren. Als 95 % ihres Volumens. Doch gelten nen Beschlüsse, anders als beim
Hochsee oder Hohe See gelten ge- die Gewässer jenseits nationaler Konsensprinzip, nicht durch ein-
mäß dem Seerechtsübereinkom- Zuständigkeiten bisher nahezu zelne Staaten blockiert werden.
men der Vereinten Nationen (UN) als rechtsfreier Raum und nur 1 % Beschlossen wurde u. a. auch,
jene Meeresgebiete, die sich see- wird derzeit durch internationale dass alle Aktivitäten, z. B. der Ab-
wärts an die nationalen Küsten- Abkommen geschützt. Dabei wer- bau mineralischer Rohstoffe vom
meere (12-Seemeilen-Zone) und den die Weltmeere u. a. durch Ver- Meeresgrund, vor der Genehmi-
die ausschließlichen Wirtschafts- schmutzung, Vermüllung, Überfi- gung auf ihre Umweltverträg-
schung und Versauerung mehr und lichkeit geprüft werden müssen.
mehr belastet. Mögliche Gewinne aus der Nut-
∎ Online-Service Im März 2023 legte die inter- zung biologischer und genetischer
nationale Staatengemeinschaft Ressourcen, z. B. zur Herstellung
GR aktuell 6/2023 nach jahrelangen Verhandlungen medizinischer Wirkstoffe, sollen
die rechtsverbindliche Grundla- zwischen den Ländern des Glo-
Die bevölkerungsreichsten ge für einen besseren Schutz der balen Nordens und des Globalen
Länder: Indien und China „Biodiversität jenseits nationaler Südens fair aufgeteilt werden.
Gesetzgebung“ (BBNJ). Sie gilt als Damit das Hochseeabkommen
Für private Abonnentinnen und Abonnen- wichtige Voraussetzung, um bis der UN in Kraft treten kann, müs-
ten kostenlos: www.geographie-aktuell.de 2030 mindestens 30 % der Welt- sen es mindestens 60 Mitgliedstaa-
meere unter Schutz zu stellen. Die ten ratifizieren. ∎

58 Geographische Rundschau 7/8-2023


MAGAZIN Standpunkt

Eine Gesellschaft sollte ethische

Magazin
Grenzen von KI erkennen
Für die einen gilt sie als Segen, für an- kann mittels maschinellem Lernen
dere ist sie ein Fluch: Künstliche Intelli- und Verarbeitung natürlicher Sprache
genz (KI). Was kann sie und was nicht? (Natural Language Processing) helfen,
Das hängt vom Anwendungsfall und relevante Fachbeiträge zu finden und
der spezifischen Nutzenbewertung effizienter Vergleiche zu erstellen. Wis-
ab. Viele haben Erfahrungen mit Emp- sen kann so besser verfügbar gemacht
fehlungssystemen auf Video-Portalen, und qualitativ erhalten werden.
maschineller Textübersetzung oder dy-
namischer Routenführung gesammelt. Der Chatbot ChatGPT hat einen Um-
Auch die Anomalie-Erkennung zur Kre- bruch eingeläutet. Werden Urhebe-
ditkarten-Betrugsprävention ist ohne rinnen und Urheber von Hausarbeiten
KI undenkbar. Nicht minder wichtig ist und Forschungsartikeln bald nicht
Forschung zur Wirkstoffentwicklung für mehr selbst denken müssen?
Impfstoffe. In der öffentlichen Debatte Das halte ich vorerst für unwahr-
gerät oft zu kurz, dass die Entwicklung scheinlich. Generative KI-Systeme wie
Foto: privat

neuer Medikamente immer länger und ChatGPT werden anhand großer Text-
teurer wird, wodurch Forschung in die- datensätze aus dem Internet trainiert.
sem Feld unattraktiver wird. KI kann Verzerrungen in Trainingsdaten sind
helfen, das sogenannte Eroom’s Law Dr. Johannes Winter, häufig. Rassistische Antworten können
zu brechen, indem datenbasierte Vor- geb. 1977 erzeugt oder Kontexte wie Sarkasmus
hersagen zu toxischen Reaktionen oder missinterpretiert werden. Auch mangelt
Chief Strategy Officer und Direktoriumsmitglied
fehlender Wirksamkeit dazu führen, am KI-Forschungszentrum L3S. Studium der es an Nachvollziehbarkeit und Quel-
dass Projekte gestoppt oder verändert Geographie, Volkswirtschaftslehre und Politik. lennachweisen. Die Systeme neigen
werden. KI erweitert hier analytische Promotion mit einer wirtschaftsgeographi- dazu, unterschiedliche Antworten auf
Fähigkeiten des Menschen und ergänzt schen Arbeit zur Kompetenzentwicklung in der dieselbe Frage zu geben. Wir werden in
Automobilindustrie
Trial-and-Error-Ansätze der Medizin. Hochschule, Schule und Verlag auf Fälle
Forschenden des Massachusetts Ins- stoßen, in denen „stochastische Papa-
titute of Technology (MIT) und Broad tert. Das offenbart, dass sich die Nutzen- geien“ am Werk waren. Ich halte aber
Institute gelang es mit Machine Lear- und Risikobewertung einer KI-Anwen- nichts davon, den ChatGPT-Zugang zu
ning, aus Arzneimittelkandidaten ein dung regional unterscheiden kann. sperren, so wie es Staaten tun.
leistungsfähiges Antibiotikum zu iden- Die Technologiereife verläuft im Soft-
tifizieren, das pathogene Bakterien und Welche neuen Perspektiven eröffnet warebereich rasch, es wird qualitative
Stämme, die gegen Antibiotika resistent KI der Geographie schon heute? Und Fortschritte geben. Generative KI kann
sind, abtötet. Das ist ein Durchbruch. welche sind noch zu erwarten? bei der Aufbereitung gut dokumentier-
Hingegen zeigt die Debatte um Angesichts von jährlich 2,5 Mio. pub- ten Wissens helfen und bei monotonen
Sprachmodelle wie ChatGPT, dass wir lizierten wissenschaftlichen Artikeln, Analysen großer Textmengen entlas-
es mit „stochastischen Papageien“ zu darunter eine niedrige sechsstellige ten. Wir sollten die Anstrengungen viel-
tun haben, wie es die Forscherin Emily Anzahl in der Geographie, wird es im- mehr auf das Ziel eines aufgeklärten
Bender ausdrückt. ChatBots haben kein mer schwieriger, relevante Forschungs- Umgangs mit KI fokussieren, so wie es
tiefes Verständnis für Sprache, weshalb ergebnisse und Peer-Reviewer zu Volkshochschulen, Universitäten und
sie bisweilen Inhalte erfinden. Neben identifizieren. Forschende haben nun das Bundesministerium für Bildung
technischen sind es ethische Grenzen einen Open Research Knowledge Graph und Forschung unter dem Stichwort
des KI-Einsatzes, die eine Gesellschaft entwickelt. Ein Wissensgraph ist ein se- „AI Literacy“ bereits tun. Denn Chan-
erkennen sollte. Ein Beispiel ist die an- mantisches Netzwerk, das Datenquellen cen und Risiken von KI kontextbasiert
gestrebte globale Ächtung autonomer wie Publikationsinhalte zu einem kohä- einschätzen zu können, hilft uns, Tech-
tödlicher Waffensysteme, an der sich renten Wissensspeicher zusammenfügt nologie dort einzusetzen, wo sie Men-
Deutschland beteiligt. Sie ist bisher am und Beziehungen zwischen Entitäten schen tatsächlich unterstützt.
Veto von Russland und den USA geschei- wie Forschungsfragen visualisiert. Er Fragen: Dietmar Falk

Geographische Rundschau 7/8-2023 59


MAGAZIN Bibliothek

Verena Blechinger-Talcott, Martin Pabst Frank Vorpahl


David ­Chiavacci, Wolfgang Saudi-Arabien verstehen Aufbruch im Licht der Sterne
­Schwentker (Hrsg.) Klett-Cotta 2022 | 509 Seiten | 14 € Galiani 2023 | 256 Seiten | 26 €
Japan. Ein Land im Umbruch
BeBra Verlag 2022 | 320 Seiten | 26 € Der Autor und Politikwissenschaftler gibt Am 18. Juni 1767 erreichte der Brite Sa-
der Leserschaft das Versprechen des Ver- muel Wallis als erster Europäer Tahiti,
In 17 Abhandlungen diskutieren die stehens. Ein großes Wagnis. Und doch am 6. April 1768 folgte als zweiter der
Autorin und Autoren im Rahmen einer kommt er diesem Anliegen in einigen Franzose Antoine de Bougainville. Am
interdisziplinären deutsch-japanischen Bereichen nah. Besonders die Geschich- 13. April 1769 komplettierte die späte-
Studie Veränderungen und Wandel in te und die Politik sowie die Ökonomie re britische Legende James Cook das
den Bereichen Kultur, Politik und Ge- Saudi-Arabiens werden kenntnisreich Trio vom fernen Kontinent. Dieser kurze
sellschaft in Japan seit dem Zweiten dargelegt. Anhand der Saud-Dynastie, Zeitraum gilt als einer der Höhepunkte
Weltkrieg. Japanologen, Sozial- und an der die großen Linien und Verwerfun- in der Erzählung dessen, was in Euro-
Rechtswissenschaftler sowie Rechts- gen aufgezeigt werden, bietet das Buch pa seit nunmehr über 500 Jahren als
experten suchen nach eigenen Worten auch ohne großes Vorwissen spannende „Entdeckungsgeschichte“ gepflegt wird.
in den Essays Antworten auf die großen Einsichten. Die Ausführungen zur Ge- Längst ist klar, dass damals nichts
Fragen unserer Zeit. schichte mitsamt allen politischen Int- und niemand „entdeckt“ wurde. Spä-
Differenziert werden die Ausführun- rigen und Porträts der Herrscher sowie testens mit Frank Vorpahls Buch sollte
gen hinsichtlich „nostalgischer“ Rück- der vom Ölboom angetriebenen Wirt- dieser eurozentrische Blick auf die Epo-
blicke, bereits erfolgter Umstrukturie- schaft vermitteln einen guten Überblick. che auserzählt sein. Es ist erfrischend,
rungen und der Darstellung laufender Die Textboxen sind bisweilen irritierend, wie der Autor die tradierte Perspektive
Veränderungsprozesse. Die Studien bieten aber insgesamt einen Mehrwert. wechselt und die Begebenheiten größ-
zeigen das ambivalente Verhältnis Der Autor legt großen Wert auf die tenteils aus der Sicht des „Priester-
zwischen Tradition und Erinnerung ei- internationalen Verflechtungen, wobei Navigators“ Tupaia schildert. Ohne ihn
nerseits und dem fortwährenden Willen er auch das Verhältnis Saudi-Arabiens als Begleiter hätte Cook viele Ziele der
zur Erneuerung andererseits auf. zu den USA aufzeigt – eine durchaus Region kaum erreichen können. Den im
Das umfangreiche Buch gibt tiefe konfliktgeladene Partnerschaft. Auch Untertitel erwähnten Maheine und Mai
Einsichten in die japanische Gesell- die Feindschaft zum Iran und die Be- werden dagegen eher untergeordnete
schaft und stellt für den anspruchs- ziehungen zu den weiteren Staaten der Rollen zugewiesen. Tupaia wird jedoch
vollen akademischen Leser einen Arabischen Halbinsel und Nordafrikas nicht als „edler Wilder“ stilisiert. Er ver-
Gewinn dar. Zahlreiche Schwarz-weiß- werden detailliert analysiert. stand es, die Europäer auch für seine ei-
Fotografien illustrieren den Einblick in Pabst reißt zudem Zukunftsszenari- genen Interessen zu instrumentalisieren.
Land und Leute, doch leichte Lektüre en an und beleuchtet diese vor dem Der Text ist von Begriffen wie „ari’i“,
für den neugierigen Neueinsteiger in Hintergrund der „Saudi Vision 2030“, „fenua“ oder „pahi“ durchzogen. Was die
das Themenfeld ist die Abhandlung einem von McKinsey erstelltem Report, Authentizität unterstreichen soll, stört
nicht. Literaturhinweise ermöglichen zu den Themen Politik, Wirtschaft und immer wieder. Statt sich in 474 Anmer-
jedoch ein weitergehendes Studium Gesellschaft. Wer aktuelle Zahlen und kungen zu verlieren, hätte der Autor ger-
der Thematik. Daten sucht, wird dies vergeblich tun. ne ein Glossar ergänzen können.
Britta Hartkopf-Herget Stefan Zimmermann Dietmar Falk

60 Geographische Rundschau 7/8-2023


MAGAZIN Bibliothek Spezial | Einwirkungen auf die Erdoberfläche

Magazin
Siebo Heinken (Hrsg.): Franziska Tannenberger, Oliver Lenzen
Vulkane. Die phantastische Vera Schroeder Das große Buch vom Sand.
Welt der Feuerberge Das Moor Die Vielfalt im Kleinen
wbg Theiss 2023 | 272 Seiten | 40 € dtv 2023 | 237 Seiten | 24 € Haupt Verlag 2022 | 368 Seiten | 39,90 €

Ein Team um Siebo Heinken fasst eine Moore wurden lange als nutzlose Die Faszination liegt oft im Detail. Da-
Ausstellung in Rosenheim über Vulkane Räume angesehen, die es durch Ent- von zeugt das überaus anschauliche
in einem umfangreichen Werk gekonnt wässerung erst in nutzbares Land um- und informative Sachbuch mit mehr als
zusammen. Das Buch ist aber auch zuwandeln galt. Heute wissen wir um 500 Fotografien, 30 Illustrationen und
ohne die Ausstellung empfehlenswert. die vielfältigen Funktionen und Dienst- 15 Tabellen von Oliver Lenzen.
Untermalt von spektakulären Bil- leistungen der wassergesättigten Öko- Von Haus aus Ingenieur begeis-
dern verschmelzen Wissenswertes systeme viel besser Bescheid, Wissen, tert sich der Rektor der Hochschule
und Schönheit. Die Vulkane zeigen ihre das auch aus dem von Franziska Tan- Heilbronn seit vielen Jahren für das
gegensätzlichen Gesichter: Bedrohung nenberger geleiteten Greifswald Moor Phänomen Sand, nimmt mit Lupe
und Nutzungsmöglichkeiten stellen für Centrum kommt. und Mikroskop einzelne Körner – per
ein Zehntel der Weltbevölkerung, die Zusammen mit der Wissenschafts- Definition mit Größen von 0,063 mm
in einem 100-km-Radius von aktiven journalistin Vera Schroeder hat die bis 2 mm – ins Visier und macht so
Vulkanen leben, eine Gratwanderung Moorexpertin ein höchst lesenswertes sichtbar, was dem normalen Blick ver-
dar. Rotglühende Ikonen der Gegen- Buch über die „faszinierende Welt zwi- borgen bleibt. Doch der Autor verharrt
wart und Vergangenheit beeinflussen schen Wasser und Land“ verfasst. In nicht im Detail, sondern betrachtet das
den Lauf der Geschichte, geben unlös- sieben Kapiteln werden Ökologie, Ver- Thema von vielen Seiten. So spannt er
bare Rätsel auf und formen einzigartige breitung und Entwicklung, die Bedeu- einen facettenreichen Bogen von den
Landschaften, deren Magie Forschende tung von Mooren für den Klimaschutz, unterschiedlichen Bestandteilen und
zu lebensbedrohlichen Expeditionen Möglichkeiten der Renaturierung von verschiedenen Eigenschaften des San-
antreibt. Diese führen unter scheinbar Mooren und deren nachhaltige Nut- des, über sein Werden und Vergehen,
schwebende Kraterseen und tief in die zung – Stichwort Paludikultur – sowie den Kreislauf der Gesteine bis hin zum
vulkanischen Eishöhlen der Antarktis. ein Fahrplan, wie eine „Moorwende“ Sand als Lebensraum, wichtiger Roh-
Doch nicht nur in der Erdgeschichte aussehen kann, behandelt. Zahlen und stoff und inzwischen knappe Ressour-
kommt Vulkanen eine Schlüsselrolle zu, Fakten, ein Glossar und ein Quellen- ce. Natürlich bleibt auch die Frage nach
auch auf anderen Planeten hatte ihre verzeichnis unterstreichen den wissen- der Anzahl der Sandkörner auf der Erde
gewaltige Kraft schöpferische Ausmaße. schaftlichen Anspruch, zugleich geben nicht unbeantwortet.
Der Stil der Autoren ist dabei durch- die Form der Icherzählung und Inter- „Obwohl Sand nahezu allgegenwärtig
weg nüchtern und sachlich. Reißeri- views mit „Moormenschen“ dem Buch ist, bleibt er seinem Wesen nach aber
sche Mythen wie etwa ein unmittelbar eine persönliche, emotionale Note. recht anonym und verborgen.“ Ein Zu-
bevorstehender Ausbruch des Yel- Wer ohne trockene wissenschaftliche stand, dem die Lektüre dieses hoch-
lowstone oder gar das drohende Ende Lektüre etwas über Moore und deren Be- wertig gestalteten, großformatigen
der Menschheit werden mit wissen- deutung für den Klimaschutz lernen will, Bildbandes ebenso unterhaltsam wie
schaftlichen Fakten konfrontiert. ist mit diesem Buch bestens beraten. erfolgreich entgegenwirkt.
Tim Hüttinger Thomas Fickert Ute Kleinelümern

Geographische Rundschau 7/8-2023 61


MAGAZIN Report

Julia Bihar

Der Brennerbasistunnel
Neuer Verbindungsweg durch die Alpen

und umweltschonenden Waren-


transport gewährleisten. Auch im
Personenverkehr verspricht man
sich durch das Projekt deutliche
Verbesserungen für Reisende.

Tunnelstrecke
Der Bau des Tunnels ist im Rahmen
des transeuropäischen Verkehrs-
netzes von zentraler Bedeutung. Er
bildet ein wichtiges Verbindungs-
glied des multimodalen skandina-
visch-mediterranen Korridors von
Helsinki nach Valletta.
Am Fuß des Brennermassivs
wird zwischen Innsbruck und
Franzensfeste seit dem symboli-
schen Spatenstich 2006 ein Sys-
tem aus mehreren Tunnelröhren
Foto: BBT SE

vorgetrieben.
Der Brennerbasistunnel besteht
aus zwei jeweils 8,1 m breiten
Baustelle Unterplattner: Die Route über den Brennerpass abgewickelt, der Großteil davon Haupttunnelröhren, die rund 40–
Südportal des Erkun- ist seit jeher eine der wichtigsten (73 %) über die Straße, der Rest 70 m voneinander entfernt liegen
dungsstollens und Was- Verbindungen von Nord nach Süd per Bahn. und eingleisig bestückt werden,
seraufbereitungsanlage über den Alpenhauptkamm. Mit Durch eine Verlagerung des einem dritten Tunnel, dem Erkun-
1370 m Seehöhe ist er der nied- Schwerverkehrs von der Straße dungsstollen, sowie vier seitlichen
rigste Alpenpass und ganzjährig auf die Schiene erhoffen sich die Zufahrtstunneln. Ein Querschlag
befahrbar. Der Transitverkehr über politisch Verantwortlichen eine verbindet alle 333 m die beiden
den Brenner und Maßnahmen ge- Entlastung der Anrainer und der Röhren und dient im Notfall als
gen die starke Verkehrsbelastung Natur. Der Brennerbasistunnel Fluchtweg. Im Gegensatz zur 150
wie Fahrverbote, Blockabfertigung soll einen schnellen, günstigen Jahre alten Bestandsstrecke der
oder ein mögliches Slot-System
sorgen immer wieder für Konflik-
te zwischen den Verantwortlichen
aus Tirol, Südtirol und Bayern.
2022 passierten laut dem öster-
reichischen Autobahnbetreiber
Asfinag 2,48 Mio. Lkw der Kate-
gorie 4 (Fahrzeuge mit über 3,5 t
höchstzulässigem Gesamtgewicht
und vier oder mehr Achsen) sowie
11,2 Mio. Pkw die Hauptmautstelle
Schönberg. In der Summe werden
Brenner­
basistunnel gegenwärtig rund ein Drittel des
Grafik: BBT SE

(Video, gesamten alpenquerenden Gü-


3:01 min) terverkehrs über den Brennerpass

62 Geographische Rundschau 7/8-2023


Magazin
Brenner-Eisenbahn mit ihrer ma- des Tunnelbaus im Projektgebiet Deponierung beendet ist, wird
ximalen Längsneigung von 26 ‰ entnommen und untersucht. Da aus dem bisherigen Kerbtal ein
beträgt die Steigung des Brenner- eine exakte Prognose der Gege- Trogtal gebildet. Der neue Talbo-
basistunnels maximal 4–7 ‰. Und benheiten dennoch nicht möglich den wird renaturiert und für den,
auch die Scheitelhöhe liegt im Ver- ist, wird ein Erkundungsstollen während der Baumaßnahmen um-
gleich zur Brenner-Eisenbahn, die ausgebrochen. Er liefert Informa- geleiteten Padasterbach wird ein
über den Brennerpass führt, um tionen dazu, wie der Vortrieb tech- naturnaher Bachlauf geschaffen.
580 m tiefer, und zwar auf 790 m nisch und wirtschaftlich bestmög- Ebenso sollen Weideflächen, öko-
Seehöhe. lich umgesetzt werden kann. Der logische Ausgleichsflächen und ein
Die Länge der Flachbahn beträgt Tunnel führt von Österreich nach Forstweg angelegt werden. Nach
vom Portal Tulfes bei Innsbruck Italien grob durch vier markante Projektende soll das Padastertal
bis zum Südtiroler Franzensfeste Gesteinsarten: Quarzphyllit, Schie- als neues Erholungsgebiet nahe
55 km, inklusive der Umfahrung fer, Gneis und Granit (vgl. Abb.). dem Brennerpass dienen.
Innsbruck 64 km. Damit entsteht Darüber hinaus quert der Tun-
unter dem Brennerpass die längs- nel bei Mauls die periadriatische Fertigstellung
te unterirdische Eisenbahnverbin- Naht – die bedeutendste tektoni- Nach einer aktualisierten Schät-
dung der Welt. Vom 230 km langen sche Störungslinie der Alpen. Aus zung belaufen sich die Kosten für
Tunnelsystem wurden bislang 158 diesem Grund ist es besonders den Bau des Brennerbasistunnels
Tunnelkilometer vorgetrieben. In- bedeutend, Erdbebensicherheit auf 10,5 Mrd. €. Die Zahlen wurden
nerhalb von 24 Stunden wächst der zu gewähren. aufgrund gestiegener Energieko-
Tunnel um bis zu 35 m. sten und verteuerter Baustoffe
Personenzüge sollen künftig Materialbewirtschaftung Anfang 2023 nach oben korrigiert.
mit bis zu 250 km/h durch den Rund 21,5 Mio. m3 Ausbruchsma- Finanziert wird das Projekt von
Brennerbasistunnel verkehren, terial fällt beim Bau des Brenner- Österreich und Italien, die Euro-
Güterzüge mit bis zu 160 km/h. basistunnels an. Ein Drittel davon päische Union hat eine Kofinanzie-
Dadurch verkürzt sich die Fahrtzeit wird für die Betonproduktion rung in Höhe von 50 % für Planung
zwischen Innsbruck und Franzens­ wiederverwendet und als Tun- und Erkundung sowie von 40 % für
feste für Passagiere deutlich von nelrohstoff u. a. für Innenschalen, die Umsetzung zugesagt.
derzeit 80 Minuten auf 25 Minuten. Sohl- und Spritzbeton im Tunnel Der Termin für die Fertigstellung
Eine Zugreise von München nach genutzt. Das nicht wiederverwert- des Brennerbasistunnels wurde in
Verona verkürzt sich dadurch vo- bare Material wird zwischenzeit- den vergangenen Jahren mehrfach
raussichtlich auf knapp über vier, lich in einer von fünf Deponien in nach hinten verschoben. Aktuell
anstatt wie bislang fünfeinhalb der Nähe der Zufahrtstunnel zwi- wird das Jahr 2032 für die Eröff-
Stunden. schengelagert. Die größte dieser nung anvisiert. Wohl erst dann
Deponien entsteht im Padaster- wird Beruhigung in die emotio-
Geologie des tal, einem Seitental des Wipptals. nal geführte Diskussion um den
Brennermassivs Rund 7,7 Mio. m3 Ausbruchsmate- Brennertransit einkehren.  ∎
Die geologischen und hydrolo- rial, etwa die Hälfte der Gesamt-
AUTORIN
gischen Gegebenheiten sind das menge aus dem österreichischen Geologischer
Dr. Julia Bihar
Fundament für die Streckenfüh- Tunnelsystem, werden hier depo- ­Längsschnitt
freie Autorin und Lektorin
rung des Tunnels. Über 30 000 m niert. Der Talboden wird um bis info@geocontext.at ­zwischen Innsbruck
an Bohrungen wurden im Vorfeld zu 80 m angehoben. Sobald die www.geocontext.at und ­Franzensfeste

Geographische Rundschau 7/8-2023 63


MAGAZIN Karte kompakt

Christoph Zwißler

Wasserkraft am Mekong
Der Mekong ist rund 5000 km lang. ein rasch wachsender Wirtschafts- projekte und Kraftwerke realisiert
Sein 800 000 km² umfassendes raum. Im engen, stark zerklüfteten (z. B. Nuozhadu: 5900 MW, Xiao-
Einzugsgebiet ist Lebensraum für oberen Flussgebiet in China wur- wan: 4200 MW), die zusammen mit
ca. 80 Mio. Menschen und zugleich den seit 2000 viele Staudamm- neuen Verkehrswegen eine rasante
Industrialisierung und Urbanisie-
100°
Landschaft und Gewässer
rung auslösten. Auch in Laos sind
Hanzhong
4075 Huang He 5000
Einzugsgebiet des Mekong im letzten Vierteljahrhundert etwa
C 7089 Berghöhe (in Meter) 25 Kraftwerke mit der Gesamtka-
Me
ko ng h i n a 230 sonstige Landhöhe (in Meter) pazität von 4200 MW entstanden,
Fluss, Zufluss
Jal angtsekiang

gk weitere 20 befinden sich in der


un

ia Rotes
J

Stausee, Staudamm
Nu Jian 3230
Chengdu Becken Bau- oder Planungsphase. Nur
ng

g
Tibet Geplante Wasserumleitung
wenige Projekte (z. B. Xayaburi)
30° umstrittene Projektvorschläge
2865
7556
Neijiang für den Wassertransport nach befinden sich direkt am Mekong,
Nord-China
6882
Chongqing die meisten liegen an Nebenflüs-
Jinping Zigong Wasserkraftwerke (Leistung)
Indien 5881 sen im Osten des Landes.
Xiloudu über 3000 Megawatt
Xiangjiabe 500‒3000 Megawatt
Das Potenzial der laotischen
Dibrugarh
Dibrugarh Ertan Zhaotong geplanter Mekong-Staudamm
Wasserkraft ist enorm: Im gebirgi-
4500
Baihetan gen Osten des Landes fallen bis zu
Ländlicher Wasserverbrauch 2000 mm Niederschlag im Jahr, die
Guiyang
3824 Bewässerungsland
Wudonghe (überwiegend Nassreis-Anbau) großflächig in den Mekong entwäs-
Myitkyina Dali
1670 Kunming sern. Da der Strombedarf aufgrund
Städtischer Wasserverbrauch
Baoshan Orte (Einwohnerzahl) der überwiegend landwirtschaftli-
Xiaowan
über 5 000 000 chen Lebensweise gering ist, ent-
3500
1 000 000 ‒ 5 000 000
Nördlicher Wendekreis wickelt sich Laos zu einem wich-
i
Irawad

Lashio 500 000 ‒ 1 000 000


Pu’er
100 000 ‒ 500 000
tigen Energieexporteur, was dem
Ro
56
Nuozhadu 3143 ter
Grenzen
Land den Beinamen „die Batterie
Mandalay 530 Sch Flu
wa
rze
ss
Staatsgrenze Südostasiens“ eingebracht hat. Der
rF
Myanmar lus
s
Hanoi Bau von Staudämmen hat weit-
0 100 200 300
km
g

reichende Auswirkungen auf die


kon

(im Bau)
Haiphong
Me

20° Tasang
Ökologie und Wirtschaft des Me-
Haikou
Naypyidaw Laos G o l f vo n kongbeckens. In den Stauseen wird
Saluen

Hainan
2595 Chiang Mai 2820 To nki n Wasser zurückgehalten, um die
ehemals starken Pegelschwankun-
150 Sanya
Bago
60 Vientiane gen zwischen Trocken- und Regen-
Me

(Paigu) ko
Nan (Viangchan) n g zeit auszugleichen. Dabei setzen
Thailand Da Nang
sich nährstoffreiche Schwemm-
Rangun 2080
(Yangon) sedimente ab, die nun auf den
Ira w a d i t
d e l a 100 2598 zuvor periodisch überschwemm-
A
Nakhon
Ratchasima ten Nassreisfeldern der unteren
Vietnam Mekong-Anrainer fehlen und durch
Bangkok
nd

er

2073 (Krung Thep) angepasste Bewässerungsformen,


am

Me

Battambang
Kambodscha den Einsatz chemischer Düngemit-
anis

2420
Tonle Sap tel und neue Anbaukulturen ersetzt
es

10
werden müssen. Zudem kommt im
ch

Golf
unteren Mekongbecken weniger
ches

Phnom Penh
von Thailand
is

Ho-Chi-Minh-Stadt
Wasser an. Insbesondere China
es

10° Sihanoukville 10°


kann durch die „Ein-Dämmung“
in

Nord (Kampong Som) h


Mee

dc
lta

Can Tho des oberen Mekong somit erheb-


de

ko
ng Sü lichen politischen Druck auf die
Me
r

7014KX
© Westermann 100° Ost 110° unteren Anrainer ausüben. ∎

64 Geographische Rundschau 7/8-2023


MAGAZIN Forschungslandschaft In Zusammenarbeit mit

Magazin
Nicole Aeschbach, Werner Aeschbach

Klimaphysik und Bildung für


nachhaltige Entwicklung
Wie können angehende Lehrkräfte
künftig die Klimawandelforschung
fächerübergreifend im Unterricht
vermitteln? Das Projekt „Klima-
physik meets BNE“ gibt Lehramts-
studierenden der sogenannten
MINT-Fächer – also Mathematik,
Informatik, Naturwissenschaft und
Technik – dafür digitale Methoden
an die Hand und verknüpft den
aktuellen naturwissenschaftlichen
Sachstand zur Klimakrise mit Lehr-
und Lernansätzen aus der Bildung
Foto: Werner Aeschbach

für nachhaltige Entwicklung (BNE).


Zum einen erhalten die zukünfti-
gen Lehrkräfte durch das vom
Stifterverband und dem Ministe-
rium für Wissenschaft, Forschung Gletscherforscher auf dem Weg zur Probennahme auf dem Jamtalferner in Tirol
und Kunst Baden-Württemberg
geförderte und an der Heidelberg wandel und Nachhaltigkeit er- den Grundlagen zu Nachhaltigkeit
School of Education angesiedelte arbeitet. Damit greift das Modul und BNE sowie zur Klimaphysik
Projekt die Möglichkeit, sich inten- wissenschaftlich wie gesellschaft- vertraut machen. Begriffe wie
siv mit klimaphysikalischen Fragen lich relevante Fragestellungen zur Strahlungsantrieb und Klimasen-
zu beschäftigen. Zum anderen wer- Klimakrise auf und stellt gleichzei- sitivität vermitteln ein quantitati-
den konkrete anwendbare Kom- tig enge Bezüge zu den Bildungs- ves Verständnis des anthropoge-
petenzen für den Einsatz digitaler plänen der MINT-Fächer her. Die nen Klimawandels. In der zweiten
Methoden im Unterricht erlernt. konzeptionellen Ansätze aus der Phase findet dann ein mehrteiliges
BNE erweitern den Horizont der Präsenzseminar statt, in dem das
Relevante MINT-Studierenden, u. a. im Hin- Lehr-Tandem mit den Teilnehmen-
Fragestellungen zur blick auf Perspektivübernahme, den an forschungsorientierten
Klimakrise Kollaboration, das Abwägen von Aufgabenstellungen zu den Ur-
Ein enger Forschungsbezug ist Risiken und Unsicherheiten sowie sachen und Folgen der globalen
die Grundlage des Projekts, was die Thematisierung von Zielkon- Erwärmung sowie zu Mitigations-
durch die Einbettung in die Ar- flikten im Klimaschutz. Durch den und Adaptionsmaßnahmen arbei-
beitsgruppen der beiden Projekt- Umgang mit aktuellen Klimadaten tet. Die dritte Phase ist der selbst-
leiter an der Universität Heidel- und digitalen Tools wird die Kom- ständigen Arbeit der Studierenden
berg ermöglicht wird: Einerseits petenz der Teilnehmenden mit an eigenen Projekten gewidmet, in
wird am Institut für Umweltphysik solchen Daten gestärkt. denen sie digitale Unterrichtsma-
unter Einsatz von Feld-, Labor- In dem hybrid konzipierten Mo- terialien erstellen. Dadurch erhält
und Modellierungsmethoden dul wechseln sich Online-Phasen das Projekt einen konkreten An-
das Klima- und Umweltsystem und digital erweiterte Präsenzpha- wendungsbezug.  ∎
erforscht. Andererseits werden sen ab. Für die erste Phase wur-
KONTAKT
im Transdisziplinaritätslabor der den Online-Selbstlernelemente
Dr. Nicole Aeschbach
Geographie mit Praxisakteuren gestaltet, die mithilfe von Lernvi- aeschbach@heiedu.uni-heidelberg.de Projekt
wissenschaftsbasierte Lösungs- deos und interaktiven Aufgaben- Prof. Dr. Werner Aeschbach ­„Klimaphysik
ansätze im Kontext von Klima- stellungen die Studierenden mit aeschbach@iup.uni-heidelberg.de meets BNE“

Geographische Rundschau 7/8-2023 65


Impressum
Vorschau Herausgeber und Verlag:
Westermann Bildungsmedien Verlag GmbH,
Georg-Westermann-Allee 66,
Heft 9-2023: 38104 Braunschweig

Konfliktregionen Geschäftsführung:
Thomas Michael

Redaktion Geographische Rundschau:


Unter anderem mit folgenden Themen: Dietmar Falk (V.i.S.d.P.), Tel.: 0 30 – 32 51 32 81,
dietmar.falk@edu-group.de; Ute Kleinelümern,
■■ Geopolitische Risikodiskurse und ute.kleineluemern@edu-group.de, Redaktions-
adresse siehe Verlagsadresse
Raumlogiken in Zeiten multipler Krisen
Beirat Geographische Rundschau:
■■ Die Geopolitik der Impfstoffverteilung PD Dr. Carsten Butsch (Bonn),
Prof. Dr. Veronika Cummings (Mainz),
■■ Der russische Krieg gegen die Ukraine Prof. Dr. Christoph Dittrich (Göttingen),
Prof. Dr. Jürgen Herget (Bonn),
■■ Bewaffnete Konflikte in westafrikanischen Prof. Dr. Elke Hertig (Augsburg),

Foto: Dietmar Falk


Prof. Dr. Matthias Schmidt (Augsburg)
Grenzräumen
Redaktionsleitung:
■■ Illegale Naturnutzungen in Lateinamerika Ute Pietzsch

und ihre geschlechtsspezifischen Auswirkungen Marketing:


Linda Fechner
linda.fechner@westermanngruppe.de
■■ Afghanistan – die Rückkehr der Taliban
Leserservice/Abonnement:
aus konfliktgeographischer Sicht E-Mail: leserservice@westermann.de
Tel.: 05 31 – 12 325–288, Fax: 05 31 – 708 617
■■ Die humanitäre Katastrophe im Jemen www.geographischerundschau.de

Anzeigen und Vertrieb:


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Was bringen die nächsten Hefte? Preisliste Nr. 60 vom 1. Januar 2023
Vertrieb:
Karin Pusz, Tel.: 05 31 – 708 8306
■■ Heft 10-2023: Afrikanische Zukünfte: Akteure – Trends – Visionen karin.pusz@westermanngruppe.de

■■ Heft 11-2023: Feuerlandschaften Anzeigen- und Vertriebsleitung:


Nicole Bornemann
■■ Heft 12-2023: Bahnverkehr Layout und Herstellung:
Gregor Giesecke, Sigert GmbH, Druck- und
Medienhaus, Braunschweig

Gesamtherstellung:
westermann druck GmbH, Braunschweig
Erscheinungsweise und Bezugsbedingungen:
Gleichzeitig erscheint Jeweils zum Monatsanfang, die Doppelaus-
gaben 1/2 und 7/8 jeweils zur Monatsmitte.
Jahres-Abo digital und print+digital 112,50 €/

Praxis Geographie 7/8-2023:


129,40 CHF, ermäßigt (Studium/Referendariat
– mit entsprechendem Nachweis) 78,80 €/
90,60 CHF. Jahres-Abo print für Schulen und
Klausuren und Tests Institutionen (ohne Online-Zugang): 168,50 €/
193,80 CHF. Jahres-Abo print+digital bzw. digi-
tal für Schulen und Institutionen (mit Online-
Unter anderem mit folgenden Themen: Zugang): 337,00 €/387,60 CHF. Versandkosten
je in den Abos enthaltener Printausgabe: 2,50 €
Basisbeitrag: Die schriftliche Lernkontrolle (Deutschland)/5,20 CHF/2,60 € (sonstiges Aus-
land). Einzelheftpreis 19,00 €/21,90 CHF zzgl.
Versand. In den Bezugspreisen ist der jeweils
gültige Mehrwertsteuersatz enthalten. Der
Klausuren: Tourismus in Oberhof (Thüringen); Gletscherrückgang in den Alpen. Das Beispiel Jahresabonnementpreis wird mit Lieferung
des Vernagtferners; Skitourismus in den Schweizer Alpen; Ölwirtschaft in Nigeria; Fischfang der ersten Heftausgabe in Rechnung gestellt
(Preisänderungen und Irrtümer vorbehalten).
vor Kameruns Küsten; Migrationsland Ägypten; Hamina (Finnland). Wandel eines Hafenstand- Informationen zur Laufzeit und Kündigung bei
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ortes; Stadtteilentwicklung in Duisburg-Hochfeld unseren AGB: www.westermann.de/agb Bestel-
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Afrika nur mit vorheriger Einwilligung des Verlages
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Beihefter 967259 SEK (Voll-Beilage)

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