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4 I.6 Aneignung von ,Religion‘ – postkoloniale
5 Konstruktionen des Hinduismus
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7 Andreas Nehring
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Der Erlanger Soziologe Joachim Matthes erinnerte die Religionswis-
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senschaft bereits vor beinahe 20 Jahren daran, dass es „an der Zeit [ist],
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wieder der Einsicht Raum zu geben, dass wir es bei einem Begriff wie
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dem der ,Religion‘ vorab mit einem kulturellen Konzept zu tun haben“
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(Matthes 1993: 26), das „unser Konzept“ ist, d. h. ein europäisches,
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dessen Übertragung auf andere Kulturen problematisch ist. Mehr noch,
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indem wir unser europäisches kulturelles Konzept und die ihm „inne-
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wohnende gesellschaftliche Normativität in eine Art von logischer
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Geltung“ setzen und zur „Plattform“ religionswissenschaftlicher For-
19 schung und Vergleichung machen, konstruieren wir Phänomene fremder
20 Kulturen als „Religionen“:
21 In etwa eineinhalb Jahrhunderten religionswissenschaftlicher Forschung
22 haben wir die religiösen Welten außerhalb unserer eigenen nach unseren
23 Maßen stilisiert und zu erforschen versucht. Was wir heute als ,Weltreli-
24 gionen‘ bezeichnen, ist in diesem Vorgang als Gegenstand des Forschens erst
so entstanden, und dies hat dann alle weitere Forschung über ihn angeleitet;
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man könnte zum Beispiel, leicht pointiert, von der Geburt des ,Hinduismus‘
26 aus dem Geist der Forschung über ihn sprechen. (Matthes 1993: 27)
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28 Dieses Urteil gilt gerade auch für den vermeintlich universalen, kultur-
29 übergreifenden Charakter des Begriffes ,Religion‘, der eine kulturell
30 neutrale bzw. übergeschichtliche Bedeutung des Wortes suggeriert.
31 Dementsprechend konnte ,Religion‘ als eine Kategorie sui generis ver-
32 standen werden, die auf ganz unterschiedliche Phänomene in verschie-
33 denen kulturellen Kontexten angewandt werden konnte. Der Religi-
34 onswissenschaft stellen sich hier also zwei Fragen, die aber miteinander in
35 einer Beziehung stehen: 1. ist Religion etwas, was in allen Kulturen
36 gleichermaßen zu finden ist, und 2. ist das so, weil ,Religion‘ als eine
37 Kategorie grundsätzlich in alle Kulturen übertragen werden kann
38 (Mandair 2009: 6)? Indem Religionswissenschaft reflektiert, inwieweit
39 das Religionskonzept, das sie verwendet, einerseits geschichtlich und
40 kulturell geprägt ist, andererseits aber im Zuge der europäischen Ex-
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1 ständliche nicht nur Religion (sg.) und hebe sie als einen besonderen
2 Bereich menschlichen Denkens und Handelns von anderen Bereichen ab,
3 sondern er vergegenständliche auch die Religionen (pl.), wie den Hin-
4 duismus oder das Christentum. Dadurch wird Hinduismus als etwas
5 konstruiert, was über das Menschsein an einem bestimmten räumlichen,
6 kulturellen, sprachlichen und zeitlich geprägten Kontext hinausgeht. Der
7 Begriff ,Hinduismus‘ verwische die Unterschiede zwischen den Rich-
8 tungen, Schulen, Gemeinschaften und Individuen innerhalb der als
9 ,Hinduismus‘ klassifizierten Traditionen.
10 In den letzten Jahren ist die Kritik von Cantwell Smith weiterge-
11 führt und in vielerlei Hinsicht konkretisiert worden. Insbesondere
12 Heinrich von Stietencron (1988; 2001) hat im deutschsprachigen
13 Raum darauf hingewiesen, dass ,Hinduismus‘ ein von außen herange-
14 tragener Sammelbegriff sei, aber auch Robert Frykenberg (1989), Ro-
15 mila Thapar (1989) und Timothy Fitzgerald (1990) haben neben
16 anderen ,Hinduismus‘ als ein modernes Konstrukt identifiziert. Dabei
17 wurde aber auch betont, dass der Begriff innerhalb kolonialer Macht-
18 strukturen entwickelt worden ist, d. h., dass nicht nur westliche Religi-
19 onswissenschaftler an der Ausbildung und Bedeutungsfestlegung des
20 ,Hinduismus‘ beteiligt waren, sondern auch einheimische Eliten. Fitz-
21 gerald (2000: 134 – 158) allerdings sieht den Begriff, analog zum Ter-
22 minus ,Religion‘, in erster Linie als Teil der westlichen Ideologie kolo-
23 nialer Kontrolle.
24 Dass die Geschichte religionswissenschaftlicher Begriffsbildung eine
25 Geschichte komplexer Beziehungen zwischen der Terminologie der
26 Europäischen Aufklärung über das Wesen von Religion und der ge-
27 walttätigen Wirklichkeit kolonialer Eroberung und Ausbeutung ist, die
28 die von Europäern Kolonisierten erfahren mussten, hat bereits der Re-
29 ligionswissenschaftler Charles Long (1986) hervorgehoben. Die Litera-
30 turwissenschaftlerin Mary Pratt (1985: 39), die europäische Reisebe-
31 richte erforscht hat, bezeichnet die Praxis der Darstellung des ,Anderen‘
32 und der De-finition im Sinne einer Festlegung und Ab-grenzung des
33 anderen vom eigenen als „Othering“ bezeichnet. In Reiseberichten, aber
34 auch in Darstellungen der Ethnologie, der Indologie und der Religi-
35 onswissenschaft könne man einem normierenden Diskurs feststellen,
36 durch den die Menschen, die als andere dargestellt werden, in ein kol-
37 lektives „They“ verbannt würden.
38 Die Geschichte der Religionswissenschaft zeigt also, dass die Ten-
39 denz, das Wesen von Religion zu bestimmen, einherging mit der Defi-
40 nition von Religionen wie dem Hinduismus oder dem Christentum und
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