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Hagen Fr, Apr 12th 2024, 02:26

John Durharn Peters


Das Telefon als theologisches
und erotisches Problem1

Das Telefon entstammt einer langen Tradition technischer Ge­


räte, deren Zweck es ist, Präsenz zu beschwören. Insofern ist es
vor allem ein theologisches Medium. Seine Aufgabe besteht darin,
abwesende Körper zu manifestieren - als Stimmen. Das ent­
spricht dem allgemeinen Anspruch modernen Medien: Erschei­
nungen zu liefern, die mit der realen Präsenz der Körper konkur­
rieren. Und obwohl Theophanie, hinter der sich der verläßlichste
aller Techniker verbirgt, gegen ihre Realisierung durch unlautere
Methoden immun ist, generiert das Telefon - wie andere materia­
lisierende Medien auch - nicht nur Präsenzeffekte; es vervielfäl­
tigt auch Seelen. Für mehr als ein halbes Jahrhundert, von I 8 76 bis
I 926, warf die Existenz des Telefons das Problem auf, wie sich die
Ausbreitung der Geister, die es rief, kontrollieren lasse. Es ist das
Mysterium des Telefons, daß es eigentlich eine Art Rundfunk dar­
stellt; daß es im Grunde kein One-to-one-Medium, sondern ein,
in dieser Funktion zeitweilig allerdings ignoriertes, Many-to­
many-Medium ist.

In einer Vorlesung, die er wahrscheinlich im Jahr I 873 hielt,


unterscheidet der große Physiker James Clerk Maxwell zwei
Weisen, über Distanzwirkungen nachzudenken. Der einen zu­
folge lassen sich über eine Distanz hinaus strenggenommen keine
Wirkungen erzielen. Aus dieser Perspektive erscheint bereits die
Vorstellung von Entfernung als leerem Raum schlicht falsch, da
es immer irgendeine (physikalisch verstandene) >>Kommunikati­
onslinie<< gibt, die - wie unsichtbar auch immer - die zwei inter­
agierenden Körper verbindet: der Äther zum B eispiel. Der Be­
griff >>Distanzwirkung<< verrät damit die fehlende Wahrnehmung
der unendlich kleinen Schritte, die etwa das Gravitationsfeld des
Mondes mit der Tide unserer Ozeane verbinden. Konträr dazu

r Leicht veränderter Auszug aus John Durharn Peters, Speaking into the Air, Chi­
cago 1 999.
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steht die zugleich radikalere Behauptung, daß >>Kontiguität
nichts als ein Schein ist - und zwischen Körpern, die aufeinander
einwirken, immer ein Zwischenraum rückt [ . . . ], weswegen Di­
stanzwirkungen, statt unmöglich zu sein, vielmehr die einzige
Form der Wirkung darstellen, die es überhaupt gibt<< . Um diese
Position zu demonstrieren, preßte Maxwell mit Hilfe von Ge­
wichten und Rädern zwei Linsen aufeinander und projizierte mit
Hilfe eines beide Linsen durchdringenden Lichtstrahls ein Ring­
muster auf eine Leinwand, das aus ihrer gegenseitigen Wechsel­
wirkung resultierte. Aus der Farbe der Ringe ließ sich die Distanz
zwischen den Linsen errechnen. Auch bei zunehmendem Druck
blieb zwischen den Ringen ein Abstand. Und selbst als sie so eng
zusammengepreßt waren, daß die Linsen nicht länger als ge­
trennt wahrgenommen werden konnten, zeigten die Ringe noch
immer, daß sie keinen - wie Maxwell es nannte - optischen oder
realen Kontakt hatten. Körper, so faßt Maxwell zusammen,
»sind, selbst wenn sie mit großer Kraft zusammengepreßt wer­
den [ . . . ] , nicht in absolutem Kontakt<< .2
Maxwells zwei Betrachtungsweisen von Distanzwirkungen
spiegeln die zunehmend konträren Visionen der Kommunikation
im 1 9 . Jahrhundert wider. Auf der einen Seite gibt es den Traum
einer rein geistigen Beziehung, unbeeinflußt von Entfernungen
oder Verkörperlichung, ein Traum, stimuliert durch den animalen
Magnetismus, den elektrischen Telegrafen, den Spiritualismus,
die Telepathie und noch exotischere Vorstellungen über distanz­
überschreitende mentale Wirkungen. Dem steht auf der anderen
Seite die quälende Vorstellung gegenüber, daß selbst Berührung
nichts als eine Illusion ist, die unserem sinnlich-organischen Un­
vermögen entspringt, die mikroskopisch kleine und doch unend­
liche Distanz wahrzunehmen, die unsere Körper trennt - ge­
schweige denn die noch größere Kluft, die sich zwischen unseren
Seelen auftut. Zwischen der Verheißung des Unvermittelten und
dem Horror der Blockade, der Isolierung, bewegt sich die Rezep­
tion des Telefons. Das Problem der Kommunikation besteht nicht
mehr nur darin, wie sich Botschaften über j ene riesigen Entfer­
nungen übermitteln lassen, die von den Kabeln des Telegrafen

2 James Clerk Maxwell, »On Action at a Distance«, Scientific Papers, ed. W. D . Ni­
ven, Cambridge r 8 90, Band 2, S . J I 4 - 3 ' 4· (Übersetzung SM; Hervorhebung im
Original.)
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bzw. des Telefons überspannt oder vom »Äther« des Radios


durchströmt sind; das Problem der Kommunikation lautet viel­
mehr: Wie realisiere ich einen Kontakt mit der Person, die neben
mir sitzt ? Maxwell hat nicht nur Einsteins Universum antizipiert,
in dem Entfernung ein Epiphänomen des Raum-Zeit-Kontinu­
ums darstellt - er hat ebenfalls eine neue, intellektuelle und kultu­
relle Sichtweise der sich verflüchtigenden, phantomhaften Natur
der Berührung vorweggenommen. Seine Behauptung entspricht
einem der Hauptthemen der modernen Kunst und Literatur: daß
Körper, selbst wenn sie mit großer Kraft zusammengeführt wer­
den, nie in absoluten Kontakt miteinander treten können.
In der Suche nach medial realisiertem Fern-Kontakt taucht die
ganze Bizarrheit des modernen Eros auf. Unter Eros verstehe ich
die Kräfte der Anziehungen und Zurückweisungen von Körpern,
von denen die sexuelle Anziehung nur ein kritischer Teil ist. Wie
Platon ausführt, ist Eros das Kraftfeld zwischen Körpern, die sich
gerade nicht berühren; Sex hingegen findet statt zwischen Kör­
pern, die sich auf eine spezifische Weise berühren. Die intellektu­
elle Geschichte der >>Kommunikation<< ist eine Geschichte der
erotischen Komplikationen des modernen Lebens. Die Vorstel­
lung, daß wir das B ewußtsein, die Seelen der anderen nicht errei­
chen können (der Zusammenbruch der Kommunikation), war in­
spiriert von Umständen, in denen Menschen die Körper der
anderen nicht berühren konnten (die Kommunikation der Ferne).
Wenn Kommunikation zuvor ein Problem entfernter Seelen war,
so stellt es sich am Ende des r 9· Jahrhunderts als Problem benach­
barter Körper dar. »Herr Watson, ich möchte, daß Sie kommen ! <<
sagte B ell zu Watson während des ersten Telefonats, und diese
Äußerung ist Symbol und Leitbild jeglicher Fernkommunikation
- Ausdruck des Wunsches nach Präsenz des abwesenden ande­
ren.3

Nach mehreren Anläufen und Anfängen hat sich das Telefon als
Medium etabliert, mit dem wir den persönlichen Kontakt zu ein­
zelnen Individuen aufrechterhalten, die sich nicht in unserer
Nähe befinden, während die drahtlosen Technologien (Radio
und Fernsehen) sich weitgehend in die entgegengesetzte Rich-

Avital Ronell, The Telephone Book: Technology-Schizophrenia-Electric Speech,


Lincoln 1 9 89, S. 2 2 8 .
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tung als Medien entwickelt haben, die einen ebenso unpersönli­
chen wie allgemeinen Adressaten ansprechen. Im Prinzip eignen
sich das Telefon wie auch die drahtlosen Technologien sowohl
dazu, einen zentral gesteuerten Austausch vieler Stimmen zu er­
möglichen (in den sogenannten Partylines und bei Rundfunk­
übertragungen), als auch zur Realisierung individueller Kontakte
(via Handy oder C B -Funk) . Es sind weniger die inhärenten Ei­
genschaften des jeweiligen Mediums als vielmehr die soziale
Konstellation von Sprechern und Hörern, die sich als normativ
wirksam erwiesen hat. Aus dem Radio wurde ein Übermittler Han
von Botschaften mit unbestimmtem Empfänger, aus dem Telefon s al
Telé
ein Medium mit bestimmtem Adressaten. Das Radio wurde po­ fono
lygam, das Telefon monogam. ,
Mari
Zu Beginn der Telefonära war die persönliche Note omniprä­ e
sent. Jeder Anruf wurde von einem menschlichen Vermittler wei­ en
la
tergeleitet; j a, bis in die Soer Jahre des 1 9 . Jahrhunderts gab es gar TV

keine Telefonnummern: Das >>Fräulein vom Amt<< benötigte nur


den Namen der Teilnehmer, um Anrufe zu vermitteln. Tatsächlich
bedurfte es in den darauffolgenden Jahren einiger Überredungs­
kunst, alle Kunden für die Verwendung von Telefonnummern zu
gewinnen. Auch später noch wurden z. B. örtliche Vorwahlen in
Analogie zu Vorstellungen über die lokale Geographie gebildet.
(Man sieht, das Telefon läßt die kabbalistische Entsprechung zwi­
schen Buchstaben und Zahlen wiederaufleben.) Die Vorstellung
einer vertraulichen Konversation zwischen zwei Personen aller­
dings setzte sich, wie jüngst wieder bezüglich des Austauschs von
E-Mails, nur langsam durch. Das Telefon war wie alle Medien
der Vervielfältigung - und j edes Medium, das übermittelt oder
aufzeichnet, vervielfältigt seine Gegenstände - im wesentlichen
ein öffentliches Medium. Noch in den späten 2oer Jahren des
20. Jahrhundert stellten in den USA Gespräche in Partylines die
Mehrzahl aller Telefonate dar. Ein früh gelöstes technisches Pro­
blem bestand darin, wie man überhaupt innerhalb eines vernetz­
ten Systems ein einzelnes Telefon klingeln lassen konnte - denn
zunächst klingelten alle Geräte eines Netzes, wenn ein Apparat
angerufen wurde. Bemühten sich Juristen in den 90er Jahren des
1 9 . Jahrhunderts, das Recht auf Privatheit durchzusetzen, nach­
dem das Briefgeheimnis in den 5 oer Jahren des 19. Jahrhunderts
eingeführt wurde, so suchten die Manager der Telefonunterneh­
men in den Jahren um 1 900 nach einer Möglichkeit, die Privatheit
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der Leitungen zwischen einzelnen Teilnehmern abzusichern.4 Die
gemeinsame Aufgabe besteht darin, die intrinsische Pluralität
eines Mediums mittels der Singularität der >> Kommunikation<< zu
domestizieren.
In der Zeit vor der automatischen Verschaltung war das Rou­
tinemedium zur Vermittlung von Telefongesprächen die Tele­
fonistin. Diese Figur - passiv, von entweder neutralem oder weib­
lichem Geschlecht, die dem Gerät zur Beförderung von
Botschaften dient - hat Vorgänger im spiritistischen Medium
oder Bartleby, dem Schreiber. Eine Zeitung aus Omario berichtet
in den 90er Jahren des 1 9 . Jahrhunderts über die Telefonistinnen:
>>Die Mädchen sind Automaten. [ . . . ] Sie erscheinen so kalt und
gefühllos wie Eisberge<<; und ein frühes Anleitungsbuch schreibt
vor, daß j ede >>Telefonistin ein Muster an Perfektion darstellen
muß, eine Art menschlicher Maschine, ein Vorbild an Geschwin­
digkeit und Höflichkeit; ein Wesen, beseelt davon, sich wie ein
Blitz mit perfekter Genauigkeit zu bewegen, und zugleich sanft­
mütig genug, sich dem Privileg des letzten Wortes zu verwei­
gern<<.5 Diese Beschreibungen haben zumindest den Vorteil, deut­
lich zu sein: Der Körper der Telefonistin, ihre Stimme, Gesten
und Erschöpfung standen - wie bei Sekretärinnen - im Zentrum
der psychotechnischen Disziplin.6 Die Figur der Telefonistin, des
Operators nimmt den Cyborg vorweg, j enes geschlechtlich unbe­
stimmte und deswegen modeHierbare Geschöpf aus elektrischen
Kabeln, die in einen Körper eingeschlossen werden.7 Wie spiriti­
stische Medien operieren Telefonistinnen an der Schwelle eines
äußerst eingeschränkten Raums. Der weibliche Körper, der sich
im Herzen eines nationalen Kommunikationsnetzes verbirgt und
lediglich als unpersönliche Stimme erscheint (und die Telefoni­
stinnen wurden oft in einem intensiven soziolinguistischen Trai­
ning dafür geschult, mit einer neutralen, unauffälligen Stimme zu
reden), ist eine geradezu archetypische Figur. Innerhalb der
4 Siehe hierzu: Micheie Martin, »Hello Central?« Gender, Technology, and Cul­
ture in the Formation of Telephone Systems, Montrcial 1 99 1 .
5 Martin, »Hello Central?«, S . 70 u . 7 3 ·
6 Siehe hierzu: Helmut G o l d u n d Annette K o c h (Hg.), Fräulein v o m Amt, Mün­
chen 1 99 3 , sowie Friedrich A. Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, B erlin
! 9 86, s. 2 7 J - 2 8 9 .
7 Donna J. Haraway, Simians, Cyborgs, and Women: The R einvention of Nature,
New York 1 9 9 1 und Claudia Springer, Electronic Eros: Bodies and Desire in the
Post-!ndustrial Age, Austin 1 996.
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populären Kultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint
die Telefonistin häufig als Heidin, die dank ihrer Kenntnisse indi­
vidueller Gewohnheiten Menschen in Nöten miteinander verbin­
den konnte: die Telefonistin als Drahtzieher, als Lebensretter, als
Engel der Barmherzigkeit. Immer war sie dabei.8
Wie der Eros von Diotima oblag der Telefonistin die Aufgabe,
Abgründe zu überwinden und über Klüfte hinweg Botschaften
hin und her zu transportieren. Tatsächlich hatten die Telefonistin­
nen, deren Stimmen über die weiten Räume reisten, einen eigenen
erotischen Reiz. Wie es ein amerikanischer Manager im Jahr 1 90 5
formulierte: >>Da ist etwas am Klang der Stimme des Fräuleins
vom Amt, das einen jungen Mann in gewisse Stimmungen brin­
gen kann. <<9 Das Telefon selbst, klassischer Vermittler für Lie­
bende, wurde entsprechend gepriesen und verdammt als Agent
des romantischen Verkuppeins und Flirtens. Über das Telefon
wurden (wie übrigens auch via Radio) Hochzeiten durchgeführt
- ein obligatorisches Ereignis, daß bei neuen Medien der Tele­
kommunikation gewissermaßen ihre Vollj ährigkeit indiziert.10
Eros' Pfeile1 1 konvergieren hier mit dem Diagramm eines elektri­
schen Schaltkreises. Nebenbei bemerkt hat die Geschichte von
öffentlichem Radio und privatem Telefon den Begriff einer Ra-

8 Siehe hier: Herben N. Casson, » The Social Value of the Telephone«, in: The In­
dependent vom 26. I o. I 9 I I, S. 899 - 906; ders., »How the Hotel Telephone Girl
Sizes You Up«, in: The Ameriean Magazine vom August I 9 2 3 , S. 23, 70 u . 72
sowie ders., »When the •Hello Girl• Tries Hand at Detective Work«, in: The Li­
terary Digest vom 5· I 1 . I 927, S. j 2 - 5 4 ·
9 Zitiert nach: Martin, »Hello Central?«, S. 9 5 · Neben der allgemeinen Feststel­
lung, daß Distanz erotisch wirken kann, mag die sexuelle Attraktivität der
weiblichen Stimme sich auch der technischen Tatsache verdanken, daß das Te­
lefon - gebaut nach dem Modell der männlichen Stimme - Frequenzen oberhalb
von 4 Kilohertz unterdrückt, was weibliche Stimmen tendenziell in tempera­
mentvollem Alt erklingen läßt.
IO Ein Beispiel einer Telefonhochzeit fi ndet sich bei Mary B . Mullett, »How We
Bebave When We Telephone«, in: The Ameriean Magazine, November I 9 I 8,
S. 4 5 . Ein jüngst erschienener Artikel im National Geographie beschreibt die er­
ste Hochzeit in einer virtuellen Realität, wo ein physisch getrenntes Paar sich in
der virtuellen Umgebung »Umarmt « . Aber natürlich kann die körperliche Be­
rührung nicht auf ewig verschoben werden: »Es bestand kein Zweifel über das
Ende: Ein realer Kuß mußte dem virtuellen folgen« (Joel L . Swerlow, Louis Psi­
hoyos und Allen Carroll, » >nformation Revolution«, in: National Geographie
Magazine, Vol. I 8 , Nr. 4, Oktober I 99 5 , S. 3 5 ).
I I An dieser Stelle spielt Peters mit der lautlichen Ähnlichkeit des englischen Wor­
tes für " pfeik arrows und eros [A. d. Ü.].

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dio-Sex-Industrie undenkbar gemacht; was offensichtlich fürs
Telefon nicht gilt.
Frühe Telefonnutzer realisierten schnell, daß es, auch wenn
eine Verbindung hergestellt war, immer noch Pausen im Gespräch
zu überwinden galt. Ohne die körperliche Anwesenheit des ande­
ren ließen die ersten Sätze der fernmündlichen Kommunikation
schnell das Gefühl aufkommen, daß man gar nicht wußte, wen
man ansprach. In Face-to-face-Kommunikationen wissen wir ge­
wöhnlich, mit wem wir reden - wenn wir nicht vorsätzlich ge­
täuscht werden oder an den philosophischen Solipsismus glau­
ben. In Telefongesprächen gehören Verständigungen über die
Identität zur Etikette. Nur Kinder rufen manchmal einen Freund
an und sprechen mit der ersten Person, die ihnen antwortet, so, als
sei die Verbindung bereits erfolgreich hergestellt; was nicht selten
zu verwirrenden Resultaten führt. Sie müssen die Notwendigkeit
des Verbindungsmanagements in einem Medium, das Präsenz
verhüllt, erst lernen. Die Frage des richtigen, sprich: gebotenen
Stils im Umgang mit der im Telefongespräch fehlenden Präsenz
des Anderen hat eine Vielzahl unterschiedlicher Verhaltenskodi­
zes hervorgebracht. In den Niederlanden wie auch in Deutsch­
land wird zumeist erwartet, daß die Teilnehmer eines Telefonats
sich zuerst vorstellen: Der Angerufene muß seinen Namen
ebenso nennen wie der Anrufer. In den Vereinigten Staaten wer­
den die Regeln der Selbstidentifizierung viel entspannter gehand­
habt, j a, einige Anrufer nennen ihren Namen überhaupt nicht - in
der Annahme, ihre Stimme werde sowieso erkannt. Im gewöhn­
lichen Gespräch von Angesicht zu Angesicht verläuft die Verbin­
dungsaufnahme stets implizit; dank des durch die Medien stimu­
lierten Traums der >> Kommunikation<< haben wir uns im Verlauf
des 20. Jahrhunderts allerdings daran gewöhnt, ähnliche Pro­
bleme in jeder Form der Kommunikation zu finden.
Nachdem ein Telefonat einmal glücklich zustande gekommen
war, mußten noch Interaktionsmodi gefunden werden, den im­
mer wieder auftretenden Bedarf nach Zeichen der Präsenz des an­
deren zu kompensierenY Das Telefon ließ sich sowohl (aufgrund
seiner Blindheit) als Handicap verstehen - als auch als eine Erwei-

r2 Lana Rakow, Gender on the Line: Women, the Telephone, and Community Life,
Urbana 1 99 2 , behandelt auf S. 43 die relative Ungeschicklichkeit von Männern
im Umgang mit Telefongesprächen.
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terung der Sinne (als Hörhilfe und Stimmverstärker) . Ein Text aus
dem Jahr 1 9 1 5 skizziert die Unzulänglichkeiten des Telefons in
bemerkenswerte Kürze: »Telefongespräche sind Gespräche, die
all der zufälligen Hilfestellungen beraubt sind, die sich physischer
und visueller Nähe verdanken. << Die undifferenzierte Totalität der
Situation, in der wir einander begegnen, wird hier im Blick auf die
junge audiovisuelle Ordnung des Stummfilms und des bilderlo­
sen Telefons neu beschrieben: >>Es gibt - anders als für Filmschau­
spieler - kein Aufflackern des Blicks, Wut zu erkennen; keine ge­
kräuselt�n Lippen, die auf Verachtung deuten; nichts vom
Charme der persönlichen Präsenz, die einem dünnen Argument
Substanz oder einer schwachen Erwiderung Macht verleihen
kann. Alles bleibt der Stimme überlassen [ . . .] . << 1 3 Die Telefon­
stimme, die Äußerungen des Körpers und der Sinne über die Ent­
fernung vom Mund zum Ohr übermitteln soll, mag tatsächlich
merkwürdig erscheinen.14 Ihr Auftauchen erlaubt es, das direkte
Gespräch als eine Kommunikationssituation neu zu problemati­
sieren, deren durch physische und visuelle Nähe bedingte >>Start­
hilfen<< zuvor nie gesondert betrachtet wurden.
Die Historikerirr Catherine Covert hat darauf hingewiesen, daß
das Telefon in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg von Kulturkri­
tikern als Maßstab angeführt wurde, um die Rätsel des Radios auf­
zuzeigen. Der übernatürlichen Welt des Radios stand konträr die
>>Erfahrung der Amerikaner mit dem Telefon als unmittelbarer
Verbindung zwischen den Menschen<< gegenüber. 1 5 Tatsächlich
rief das Telefon zum Teil die gleichen Ängste hervor wie das Ra­
dio: merkwürdige Stimmen dringen ins Haus, Begegnungen mit
anderen drängen sich auf, die eigene Stimme verschwindet in ei­
nem leeren, schwarzen Loch - und das Gesicht des Zuhörers
bleibt abwesend. In einem Artikel der Zeitschrift Atlantic
Monthly aus dem Jahr 1 920 heißt es im Tonfall einer neurastheni-
I J »Ün Conversation by Telephone«, in: The Independent vom I o . Mai I 9 I 5 ,
S. 2 2 9 - 2 3 0 .
1 4 » c e t instrument abolit t o u s l e s sens, sauf l'oule: l'ordre d'ecoute qui inaugure
• • •

taute communication celephonique invite l'autre a rarnasser tout son corps dans
sa voix et annonce que j e me rarnasse moi-meme taut entier dans mon oreille.«
Roland Barthes, »Ecoute«, CEuvres completes, hrsg. von Eric Marty, Paris 1 99 5 ,
Bd. J , S· 73 t .
I 5 Catherine L . Covert, " >We May Hear Too Much<: American Sensibility and the
Response to Radio, I 9 I 9 - I 92 4 « , in: Mass Media Between the Wars. 1 9 1 8-1941,
h g . v o n Catherine L . Covert und J ohn D. Stevens, Syracuse I 984, S. 2 0 2 .

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sehen Frau: >>Es ist schlimm, mich bei j eder Gelegenheit reden zu
hören. Es ist schlimmer, in ein leeres, schwarzes Loch zu sprechen,
ohne die Annehmlichkeit und den Zuspruch eines antwortenden
Gesichts vor mir zu sehen.« Auch der fehlende B enimm des Tele­
fons verdrießt sie: >>Es meldet sich nicht an und respektiert keine
Privatsphäre«, klingelt, ohne darauf zu achten, wie sehr man be­
reits durch andere Aktivitäten in Beschlag genommen ist, und ver­
wickelt uns in >>unerklärte Begegnungen<< mit Fremden.16 Was der
Autor hier anführt, sind die klassischen Charakteristika der Zer­
streuung; bereits Sokrates beklagt im Phaidros zufällige Begeg­
nungen ob ihrer Gleichgültigkeit der eigenen Situation gegenüber.
Die Vagheit der persönlichen Identifizierung liegt im Zentrum
der Unheimlichkeit des Telefons . Auch heute noch gibt es kaum
etwas Entnervenderes als einen Anrufer, der wiederholt anruft
und schlicht aufhängt oder schweigend in den Hörer atmet, ohne
sich (und meist ist er ein Er) zu erkennen zu geben. Solch ein
Bruch mit der Etikette beschwört die ursprüngliche Unheimlich­
keit des Mediums herauf. Wenn man »obszÖn<< [im Englischen: Die
neue
>>obscene<<; A. d. Ü.] wörtlich versteht als das Erscheinen von et­
was, das verborgen sein sollte [>>off-scene<<], so ist der Begriff Bezi
ehun
eines obszönes Anrufs redundant. Auf eine Weise, die jüngste g
Bedenken bezüglich der im Cyberspace durch mangelhafte von
Mari
Identitätszuschreibungen möglich gewordenen Verletzungen e ist
off-s
diskursiver Regeln - etwa die unter dem Begriff des >>Flamings << cenn
bekannte Unart, elektronische Briefkästen zu verstopfen - vor­ e.
Obs
wegnehmen, konstatierten zeitgenössische Kommentatoren die eno
Ursache für den rüden Ton des Telefonierens im Verlust des un­
mittelbaren Erkennens von Angesicht zu Angesicht. In den Wor­
ten eines Autors aus dem Jahr I 9 I 8 : >>Es gibt Menschen, die sich
ihrer - wie es heißt - >niedrigen Sichtbarkeit< während eines Tele­
fonats bedienen, um Dinge zu sagen, die sie dir niemals ins Ge­
sicht sagen würden.<< 1 7 Die relative Anonymität im Internet, so
lautet das analoge Argument, ermöglicht einigen einen verun­
glimpfenden Sprachgebrauch, den sie im persönlichen Diskurs
niemals verwenden würden. Losgelöst vom Körper tendieren
Stimmen und Gedanken zu psychotischem Verhalten.
Seinen Beitrag zu j ener für die Moderne spezifischen Verschie-

r6 »Telephone Terror«, in: The Atlantic Monthly, Februar 1 920, S . 2 79 - 2 8 1 .


1 7 Mullett, » H ow We Bebave When We Telephone«, S . 4 5 ·
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bung des Dialogs hat das Telefon auch dadurch geleistet, daß es
die Konversation in zwei Zentren aufgelöst hat, die sich erst und
nur im Cyberspace der Kabel treffen. Vermittelt durch das Tele­
fon erscheint ein Dialog, seinem ungerechtfertigten Ruf von
Nähe und Unmittelbarkeit entgegen, in einem Niemandsland,
ähnlich schwer zu fassen wie das Schreiben. Die Resultate eines
solcherart zerschnittenen Diskurses sind mit dem Phänomen der
Schizophrenie ebenso verglichen worden wie mit bestimmten
Methoden des Gegenschnitts der FilmbearbeitungY In seiner Sa­
tire >>Ein Telefongespräch« aus dem Jahr 1 8 8o erfaßt Mark Twain
zugleich die schizoide und komische Dimension:
»Dann kam es zu dem Merkwürdigsten aller merkwürdigen Dinge in der
Welt - einem Gespräch, das nur ein Ende hatte. Du hörst eine Frage, aber
nicht die Antwort. Du hörst, wie eine Einladung ausgesprochen wird, doch
niemand bedankt sich. Dann gibt es Hörpausen von einer toten Stille, ge­
folgt von ungerechtfertigten Ausbrüchen der freudigen Überraschung, der
Trauer oder der Bestürzung. Du kannst Dir keinen Reim auf das Gespräch
machen, weil Du nie hörst, was derjenige am anderen Ende des Kabels sagt.<<
Der Text fährt fort mit der Beschreibung eines solchen Gesprächs,
die für Twain den Auftakt einer Reihe von komischen Non-se­
quitur-Sätze bildet - wie:

»Pause.
So heißt es im fünften Buch Moses, Vers 64 bis 97· Ich denke, das sollten
wir immer mal wieder lesen.
Pause.
Ja vielleicht; ich nehme normalerweise Haarnadeln.<<19

Den Subtext dieser Geschichte, der andere zeitgenössische Kom­


mentare über geschlechtsspezifische Verwendungen des Telefons
bekräftigt, bildet der Gegensatz zwischen der abrupten und
schroffen Art der Männer und der weiblichen Redseligkeit. So ist
es zum Beispiel der männliche Erzähler, der für ein weibliches
Mitglied seines Haushaltes die Zentrale anruft, als geleitete er
seine Frau in die Ungeschütztheit der Öffentlichkeit.

1 8 Siehe hierzu: Ronell, The Telephone Book und Frank Kessler, »Bei Anruf Ret­
tung ! « , in: Telefon und Kultur: Das Telefon im Spielfilm, hrsg. von B . Debatin
und H . J. Wulff, Berlin 1 99 1 , S. 1 67- 1 73 .
1 9 Mark Twain, »A Telephonic Conversation«, in: The $3 o,ooo Bequest and Other
Stories, New York 1 9 1 7, S. 204 - 208 (Übersetzung SM).
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Zwei einseitige Gespräche, die sich nur im virtuellen Raum tref­
fen: darin besteht die Natur der Rede im Telefon. Und natürlich
stellt sich die Frage, ob sie sich treffen oder nicht. In Dorothy
Parkers frühem Monolog >>Ein Telefonanruf<< aus dem Jahr 1 9 3 0
betet eine Frau fieberhaft z u Gott, ihr Freund möge anrufen -
was er im Laufe des Monologs j edoch nicht tut. Der Titel der Ge­
schichte sagt, was nicht stattfindet; mehr noch, er gibt dem unbe­
antworteten Gebet der Frau einen Namen - ein göttlicher Anruf,
der durch einen menschlichen beantwortet werden soll. Auf ei­
nen Anruf zu warten, der niemals kommt, ist nicht nur beispiel­
haft für die Einsamkeit einer vernachlässigten Geliebten. Viel­
mehr besteht das ganze Problem darin, wie man erkennen kann,
das eine Verbindung überhaupt zustande kam; kein Zufall, das
der Monolog zu theologischen Überlegungen einlädt. In Aldous
Huxleys zeitgleich verfaßtem Text >>Durch das Telefon<< ist das
Geschlecht der B eteiligten umgedreht: Ein junger Dichter probt
zunächst im Geist die eloquente Einladung seiner Freundin in die
Oper, wobei er imaginär bereits den ganzen Abend bis zu seinem
glücklichen Ende, dem Kuß der Liebenden in seiner Wohnung,
vorwegnimmt; als der Vermittler die Verbindung mit der Frau
schließlich herstellt, stammelt er hoffnungslos - und sie gibt ihm
aufgrund einer früheren Verabredung einen Korb: >>Verzweifelt
nahm Walter den Hörer vom Ohr. Seine Stimme hatte nur frucht­
los in den Äther gehaucht [ . . . ] . << D as Scheitern der Verständigung
am Telefon ist wie das Platzen einer geplanten Verabredung als
erotisches Versagen gekennzeichnet - als fruchtloser Hauch in
den Äther.20 Solch ein >> Kommunikations<< -Versuch ist im besten
Fall noch als hermeneutischer B ruch zu verstehen, in dem beide
Seiten durch eine tiefe Distanz getrennt sind.
Die unheimlichsten Forschungsberichte über das Telefon und
über >> Kommunikation<< als die zweier Monologe, die sich - selbst
im imaginären Raum - niemals treffen, stammen von Franz
Kafka. Hermeneutik ist nichts als die Kunst der Lektüre von Tex­
ten durch eine bloß zufällige Öffentlichkeit; eine Art des heimli­
chen Lauschens. Im Angesicht des Todes wie auch eines Partners,
der nicht antworten kann, will oder wird, können wir unvermit-
20 Dorothy Parker, »A Telephone Call«, in: 50 Best American Short Stories, 1 9 1 5 -
193 8, hg. von Edward Joseph Barrington O'Brien, Boston 1 9 39, S. 3 3 3 - 3 3 9;
Aldous Huxley, » Üver the Telephone«, in: The Smart Set Anthology, hg. von
Burton Rascoe, New York 1 9 34, S. 1 2 2 - 1 2 8 (Übersetzung SM).

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telt in interpretative Aufregung geraten. Vermittelte Kommuni­
kation, wie die durchs Telefon, lehrt uns, daß wir immer lauschen
müssen. Woran soll die Stimme in Parkers Monolog erkennen,
was der ausbleibende Anruf bedeutet - Zurückweisung? Num­
mer verloren? oder nichts dergleichen ? Euphorie und Trostlosig­
keit trennt nichts als ein Anruf. Die Explosion des Dialogs in zwei
entfernt verbundene Hälften läßt die Gültigkeit einer Interpreta­
tion obskur erscheinen. Die Unfähigkeit, innere Proj ektionen
von externen Botschaften zu unterscheiden, führt zu B edingun­
gen, in denen eine Seite das Gewicht des gesamten Kommunika­
tionsflusses tragen muß. Aus psychologischer Sicht stellt sich
diese Unfähigkeit als Paranoia dar; aus sozialer Perspektive heißt
sie Massenkommunikation.
In seiner kurzen Erzählung Der Nachbar erweitert Kafka die
idealistische Architektur des Homo clausus, eingeschlossen in
sein herzförmiges Gehäuse, indem er die Wände eher zu dünn als
zu dick gestaltet.21 Der Erzähler, ein junger Geschäftsmann, schil­
dert, wie die neben seinem eigenen Büro liegende, nahezu iden­
tisch geschnittene Nachbarwohnung von einem anderen jungen
Geschäftsmann namens Harras gemietet wird, dessen Geschäft
zwar mysteriös ist, jedoch demjenigen des Erzählers ähnlich zu
sein scheint. Die beiden begegnen sich fast nie, außer wenn Harras
am Erzähler vorbei die Treppen entlanghuscht. Ihre Beziehung
bleibt vermittelt und imaginiert; niemals reden sie miteinander.
Die Wände allerdings sind so elend dünn, daß alles im Nachbar­
büro gehört werden kann. Schlimmer noch: Auf der Verbin­
dungswand der beiden Büros hängt das Telefon des Erzählers;
und selbst wenn es auf der gegenüberliegenden Wand angebracht
wäre, könnte Harras noch j edes Wort verstehen. In der U ngewiß­
heit darüber, ob sein Nachbar zuhört, entwickelt der Erzähler ei­
nen unverbindlichen Gesprächsstil, wenn er Geschäfte über das
Telefon abwickelt, und vermeidet es, Namen seiner Kunden zu
erwähnen. Gleichwohl ist er sich sicher, daß er immer noch Ge­
heimnisse verrät. »Wollte ich sehr übertreiben - aber das muß
man oft, um sich Klarheit zu verschaffen -, so könnte ich sagen:
Harras braucht kein Telephon, er benutzt meines [ . . . ] . <<
Harras ist kein Spitzel. Die Geschichte handelt von einem Dop-

2 1 Franz Kafka, »Der Nachbar«, in: ders., Sämtliche Erzählungen, Frankfurt/


Main 1 970, S. 3 00 - 3 0 1 .
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pelgänger (im Original dt.) und einem Telefon, wobei beide enig­
matische Spaltungen der Identität und der Konversation involvie­
ren. Harras, unterstellt der Erzähler, belauscht die Geister, die
sich im Raum zwischen den beiden Endstationen des Telefonge­
sprächs ausbreiten. Auf diese Weise ist er in der Lage, den Erzäh­
ler auszutricksen: Nachdem er herausgefunden hat, wer und wo
die Person am anderen Ende der Leitung ist, rast Harras durch die
Stadt und trifft den Kunden, bevor der Erzähler noch den Hörer
aufgelegt hat, und arbeitet derart gegen ihn (phantasiert der Er­
zähler). In einer neuen Form des Telefonterrors22 dient Harras der
Apparat dazu, nicht durch bloßes Atmen oder verbale Belästi­
gungen den anderen zu erschrecken, sondern sich selbst mit der
Schnelligkeit eines elektrischen Signals zu verschicken. Kafkas
Parabel ist nicht nur ein Gleichnis über die Frage der Überwa­
chung und des Sinns kodierter Sprachen zur Absicherung von
Geheimnissen, sondern auch eine Phantasie über den verhältnis­
mäßigen Vorteil körperlicher Präsenz. Kafka fängt den Schrecken
ein, der denj enigen überfallen würde, der am Telefon spräche,
während sein Doppelgänger - der Stellvertreter der Stimme - ge­
radewegs durchs Kabel schlüpfte, um in Gegenwart des Ge­
sprächspartners wieder aufzutauchen. Und wer j emals am Tele­
fon ein sensibles Thema diskutiert hat, weiß, daß der eigene
Doppelgänger am anderen Ende ankommen und den eigenen In­
teressen entgegenarbeiten kann. Die Paranoia des Erzählers -
wörtlich verstanden als das Gefühl für das Denken anderer - ist
einem System mechanisch vervielfältigter persönlicher Zeichen
durchaus angemessen.
Eine weitere Telefonszene taucht zu Beginn von Kafkas post­
hum publiziertem Roman Das Schloß ( 1 926) auf. »K.<< betritt eine
dörfliche Wirtsstube und wird recht unfreundlich von einem Re­
präsentanten des Schlosses angesprochen, einer nebulösen Ge­
stalt, deren Identität das Buch hindurch verschleiert bleibt und
die so als Allegorie der Unendlichkeit und Bürokratie fungieren
kann. Hochmütig behauptet K., der vom Schloß bestellte » Land­
vermesser<< zu sein, woraufhin der Repräsentant zur Bestätigung
zweimal mit dem Schloß telefoniert. Nachdem er beim zweiten
Mal vom Schloß anerkannt wird, reflektiert K. darüber, daß dies

2 2 Peters verwendet hier das unübersetzbare Wortspiel vom »telephone harras­


ment« (nach » harrassment«, zu dt.: Belästigung); A . d . Ü.

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einerseits günstig sei (weil es ihm den Repräsentanten vom Nak­
ken schafft, der vorhatte, ihn des Landes zu verweisen), anderseits
aber ungünstig, weil das Schloß auf ihn aufmerksam geworden ist
und ihm die Möglichkeit gibt, den nächsten Zug zu tun. K. weiß
nicht und kann auch nicht wissen, ob er tatsächlich anerkannt
wurde oder nur Teil einer Fälschung ist.
Das interpretative Schwanken einer enigmatischen Antwort
gegenüber ist eine fundamentale Erfahrung innerhalb der moder­
nen Welt: Wortgefechte mit Gesprächspartnern, die entweder
zwar zu antworten scheinen, deren Motive j edoch unergründlich
bleiben oder aber deren Antworten nie als wahrhafte Antworten
verifiziert werden können. Moderne Männer und Frauen stehen
Bürokratien oder ihren Repräsentanten gegenüber und warten
am Telefon auf die gleiche Art, in der einst die Sünder vor einem
Gott standen, der sein Gesicht verhüllt: Ängstlich suchen sie das
Chaos nach Zeichen und Botschaften ab. Der deus absconditus
der Theologie versteckt sich nicht länger in den entferntesten
Winkeln des Universums; sein Nachfolger ist umgezogen in die
infernalen Maschinen der Verwaltung. Dantes Vision eines Ortes
j enseits der Himmel war eine kaleidoskopartige Reflexion von
Sphären, eine vielblättrige Rose unendlich gebrochenen Lichts.
K., wie der Rest von uns, blickt auf einen Ort, in dem die Refle­
xionen nicht länger optisch sind, sondern informationeiL (Die
Spieltheorie, die einzig der organisatorischen Kultur des zwan­
zigsten Jahrhunderts angemessen ist, stellt die wissenschaftliche
Form dieser Erfahrung dar.) K. weiß nicht, ob die Erlaubnis, im
Dorf zu bleiben, vom Schloß selber ausgesprochen wurde, ob sie
von einem schläfrigen Bürokraten am anderen Ende der Leitung
stammt, der damit seinen möglichen Fehler, K. s Ankunft nicht
bemerkt zu haben, verbergen möchte, oder ob sie vom Repräsen­
tanten kommt, der von K. s hochmütiger Sicherheit fasziniert ist.
K. muß die Geste vom Schloß (so sie denn überhaupt vom Schloß
ist) mit der gleichen Aufmerksamkeit deuten, mit der Augur einst
am Himmel über dem Tempel den Flug der Vögel oder den Sturz
der Sterne beobachtet hat; er muß den Gesten nachspüren mit der
falsifikatarischen Rationalität des modernen Wissenschaftlers,
der sorgsam alternative Hypothesen aussondert, die Daten auf
Flüchtigkeitsfehler hin untersucht, emsig versucht zu vermeiden,
daß Tatsachen sich mit seinen eigenen unbewußten Visionen ver­
mischen, und sich immer wieder fragt, ob sein Instrument fehler-
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haft arbeitet oder die richtige Information aufnimmt. Um in der
modernen Welt zu überleben, müssen wir uns mit geradezu hell­
seherischen Fähigkeiten in unergründliche Andere hineindenken:
Launen von Sekretärinnen, Äußerungen von Abteilungsleitern
und Entscheidungen von Direktoren und Geschäftsführern müs­
sen wir ebenso wie plötzliche Umstrukturierungen im Weißen
Haus, Kreml oder Vatikan deuten wie Worte eines verborgenen,
finsteren und fernen Gottes, auszusprechen nur in Dunkelheit
und Traum.
Walter Benj amin meinte einmal, es gebe zwei Weisen, Kafka
falsch zu lesen: die der natürlichen und der übernatürlichen Aus­
legung. Der Grund dafür ist Kafkas erstaunliche Fähigkeit, zwi­
schen beiden Perspektiven hin und her zu wechseln, und j ede
Entscheidung damit ins Unendliche hinauszuschieben. Kafka ist
der größte Theoretiker der organisierten Kommunikation des
zwanzigsten Jahrhundert. Wie Benjamin sagt: >>Die Welt der
Kanzleien und Registraturen, der muffigen verwohnten kleinen
Zimmer ist Kafkas Welt.<<23 Er hätte allerdings die Welt der Tele­
fone hinzufügen sollen. Kafka betreibt die ersten existentiellen
Studien der Bürokratie, besser als Weber deutet er das dunkle Ge­
wicht der offiziellen Strategien. Kafkas Welt ist keine der konspi­
rativen Entscheidungen und teuflischen Lügen, die im Prinzip
aufgedeckt werden könnten; es ist eine Welt, in der die letzte
Quelle aller Botschaften verborgen ist. Er weiß, worum es bei der
Frage geht, was eine Botschaft ist und was Proj ektion - und er
kennt die merkwürdige, unentschiedene Scharade von einver­
nehmlich vereinten Menschen, die dies nicht wissen oder nie zu­
geben würden. Woran sollte man in den Labyrinthen der Büro­
kratie erkennen, ob ein Memo eine Mitteilung darstellt oder eine
List, eine Botschaft ist oder nur Lärm ? K., der Landvermesser, der
die Markierungen des Besitztums lesen soll, ist sich nie sicher, ob
diese Markierungen eine kohärente Karte darstellen - oder ob die
Karte nur die paranoide Proj ektion eines übereifrigen Interpreten
wiedergibt.
Die Zeichen umzingeln uns; sie weigern sich bloß, uns zu sa­
gen, wie wir sie lesen sollen. Wir zögern, gefangen zwischen der
Angst, paranoid zu sein (weil wir unterstellen: >>alles ist eine Bot-

2 3 Walter Benjamin, »Franz Kafka«, in: ders ., Angelus Novus, Frankfurt/Main


1 9 8 8, S. 248 - 2 6 3 , hier: S. 249·

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schaft«), und der Angst, eine Offenbarung zu verpassen (wenn
wir so tun, als wäre nichts eine Botschaft). Mit dieser Unfähigkeit,
sich sicher zu sein, ob ein Zeichen eine Proj ektion des Selbst dar­
stellt oder eine Äußerung des anderen, ein interpretatives Arte­
fakt oder eine obj ektive Aussage über die Welt, werden die unter­
schiedlichsten gesellschaftlichen Figuren konfrontiert: Zauberer,
die Teeblätter deuten oder Eingeweide lesen; Gläubige, deren Ge­
bete beantwortet werden; diejenigen, die einen Turing Test durch­
führen und abwägen sollen, ob ihr Konversationspartner ein
Mensch ist oder eine intelligente Maschine; die K. s, Studenten der
Kultur und Gesellschaft, die Strukturen am Horizont ebenso le­
sen wie Texte in ihrer Hand (oder in Texten in ihrer Hand lesen);
und schließlich j eder, der mit einem anderen ein leidenschaftli­
ches, schmerzhaftes oder delikates Thema bespricht.
Die Frage, wem Bedeutung gehört, ist in der Literaturtheorie
während des letzten Viertelj ahrhunderts aufgekommen: Ist Be­
deutung ein Resultat der Kreativität des Lesers, der Absicht des
Autors, des Textes selbst, der Interpretationsgemeinschaft, des
Kanon oder einer Transaktion zwischen Leser und Text ? Oder ist
Bedeutung immer nur geliehen ? Die Frage allerdings geht weit
über die Theorie hinaus; in einer mediatisierten Welt ist sie eine
Frage von Leben und Tod. Spricht die Natur, spricht Gott, spricht
das Schicksal, sprechen Bürokratien - oder bilde ich mir das alles
nur ein ? Wo enden meine Proj ektionen, und wo beginnen die au­
thentischen Signale von anderen ? Ist Bedeutung nichts anderes als
das Gespinst meines eigenen fruchtbaren Nachdenkens ? Kann
der Gegenstand selbst j emals durch den Schleier brechen ? Ist all
das Geflüster der Geister, die Zeichen der Eingeweide, die Ant­
worten auf Gebete nichts anderes als verfremdete, menschliche
Energie? Ist Kommunikation überhaupt mehr als ein Überlappen
der Monologe ? Hat sie mich gebeten, zu kommen, oder bilde ich
mir das nur ein ? Hat er wirklich gesagt, er ruft an ?
Kafka benutzt die merkwürdig zirkuläre Struktur der Kom­
munikation am Telefon, um Potentiale des Scheiterns von Face­
to-face-Kommunikationen aufzudecken, die oft wissentlich au­
ßer Sicht bleiben. Er erforscht j ene Dämmerungszone, in der das
Verhältnis Signal - Lärm sich null oder unendlich nähert. Sowohl
in Der Nachbar als auch in Das Schloß stellt das Telefon Poten­
tiale von Schizophrenie, Paranoia, Verwirrung und krankhafter
Neugierde heraus, die in der Alltagssprache lauern. Unsere tägli-
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ehe Welt mag gewohnt sein und verläßlich, doch j eder Zusam­
menbruch läßt die ursprünglichen Schrecken wiederkehren.
Wenn der Strom ausfällt, das Telefon auf einmal tot ist oder die
Verbindung zwischen einzelnen Übermittlungsstationen unter­
brochen, entdecken wir Abgründe, keine Brücken.

Die Historizität der Einsichten Kafkas steht außer Zweifel. Kafka


reflektiert eine Welt, in der das Ausmaß der Verbreitung von
Nachrichten unerträglich ist, obwohl er - im Jahr 1 9 24 - starb,
bevor der Rundfunkmarkt in seiner ganzen Pracht erkannt wer­
den konnte. Heutzutage ist ein Großteil der Kommunikation
nichts als ein Ruf in die Wildnis . Wer das Radio oder Fernsehen
anstellt, wird sogleich eine zusammenhangslose Zwischenwelt
entdecken: Verkaufsstrategen geraten in B egeisterung über
Schnäppchenangebote oder Verlobungsringe, Nachrichtenspre­
cher b erichten über die jüngsten Katastrophen für Leib und Le­
ben, Sänger lamentieren im Tonfall der Oper oder des Volkslieds
über verlorene Liebe. Es gibt so viele verschiedene Stimmen in
der Welt, sagte Paulus. Oder, wie Sherlock Holmes naserümp­
fend im Blick auf die »Kummerkästen« in Londoner Zeitungen
um die Jahrhundertwende meinte: >»Meine Güte<, sagte er, als er
die Seite umblätterte, >was für ein gemeinsames Gestöhne, Ge­
schreie und Geblöke ! Was für ein Sammelsurium einzelner Ereig­
nisse! [ . ] Geblöke, Watson, absolutes Geblöke ! < <<24 Hätte er j ene
. .

Bereiche des Telemarketings gekannt, die in der jüngsten Zeit das


Telefon in ein Werbegeschäft verwandelt haben, hätte er gestöhnt.
Absolutes Geblöke vermischt mit vereinzelten Stimmen der
Wahrheit, die in die Wildnis rufen: D as ist die Formel des großen
Teils moderner Kommunikation, des Spiritualismus, des Äthers
des Rundfunks und vieles dessen, was wir einander sagen.

Das Radiosignal ist eines der merkwürdigsten Dinge, die wir


kennen; kein Wunder, daß seine Fähigkeit, Informationen durch
den Raum zu zaubern, unmittelbar Vergleiche mit Telepathie, Se­
ancen und Engelsbesuchen hervorgerufen hat. Heutzutage ist der
Globus bis in den letzten Winkel erfüllt mit den stummen Strö-

24 Sir Arthur Conan Doyle, The Adventure of the Red Circle«, in: The Campfete
»

Sherlock Holmes, Garden City, New York 1 9 30, Bd. 2, S. 904 (Übersetzung
SM).

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men von Radiostimmen, Musik, Soundeffekten und Notsigna­
len. Wo auch immer du bist: dieser Text findet dich, Nachrichten
umkreisen dich und fliegen dir nach, unendlich unauffällig, wie
die Zikaden im Phaidros, die von Dingen singen, die wir mit blo­
ßen Ohren nicht hören können. Die bemerkenswerte Eigen­
schaft des Radiosignals, entdeckt im selben Jahrzehnt, in dem
Warren und Brandeis zuerst über das Recht auf die Unverletzt­
heit der Privatsphäre nachdachten, ist die ihm inhärente Publizi­
tät. Elektromagnetische Signale senden >>to whom it may con­
cern<< : sie kennen keine Achtung vor der Person und regnen auf
die Gerechten und die Ungerechten.
Die frühen Entwickler hielten die omnipräsente Qualität des
Radiosignals für einen Defekt, weil sie lediglich den Dialog als le­
gitime Form der Kommunikation gelten lassen wollten. Wie die
Fotografie wurde die Radiotechnologie zunächst als Mittel einer
Kommunikation von Punkt zu Punkt betrachtet - als Telegraf
oder Telefon. Marconi war charakteristisch für seine Generation
insofern, als er sich die neue Technologie als einen kabellosen Te­
legrafen dachte. Doch der Telegraf hat ein singuläres Ziel, Radio­
wellen nicht. Das sich abzeichnende Hindernis war - wie bei
Briefen ohne Umschlag oder den Partylines der frühen Jahre des
Telefons - der Mangel an Vertraulichkeit. Jeder Besitzer eines ent­
sprechenden Empfängers hatte potentiell, wie es im biblischen
Gleichnis vom Sämann heißt, >> Ohren zu hören<< . Die Rezeption
des Signals hatte auf inhärente Weise ein offenes Ende. Wie der
Werbefachmann Bruce Barton r 922 schrieb: >> Radiotelefonnach­
richten können nicht geheim bleiben. Sie strahlen in alle Richtun­
gen, und j eder mit einer Maschine, die auf die richtige Wellenlänge
eingestellt ist, kann hören, was Sie Ihrem Geschäftspartner in
New Orleans oder Ihrer Geliebten in Kenosha erzählen.<<25 (Ge­
schäftsgespräche und Liebesdialoge stellen die zwei klassischen
Prätexte für Telekommunikationen dar.) Die Unmöglichkeit, un­
willkommene Hörer auszugrenzen, verhinderte den wirtschaftli­
chen Erfolg der kabellosen (Funk-)Telegrafie wie auch - nach In­
betriebnahme der von Lee de Forest erfundenen Kathodenröhre
»Audion<< 1 907 - des kabellosen Telefons. Die Suche nach einem

25 Bruce Barton, »This Magie Called Radio: What Will lt Mean in Your Horne in
the Next Ten Years ? « , in: The American Magazine, Juni 1 92 2 , S. 1 1 - 1 3 u . 70 - 7 1 ,
hier: S . 70.
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vertraulichen Kanal wurde - unter Stichworten wie »Frequenz­
abstimmung<< oder >>Trennschärfe<< - zu einer Hauptbeschäfti­
gung der frühen Radioingenieure. Erwünscht waren Verbindun­
gen zwischen einzelnen Person - keine Partylines; Treue statt
Promiskuität. »Private Dienstleistungen über eine Partyline<<26
lautete zu j ener Zeit das gemeinsame Ziel von Telefon und Radio.
Gesucht wurde die elektromagnetische Entsprechung des Brief­
umschlags. Der Terminus des »listening in<<, der das Verhalten der
Hörer des kommerziellen Radios beschreiben soll, überträgt den
Begriff des Lauschens von den Partylines ins Radio - als ob die
Hörer zufällig Botschaften mithörten, die ursprünglich nicht für
ihre Ohren gedacht waren.V
Schließlich verschaffte sich der Begriff des »broadcasting<<, des
Rundfunks als eines zielfreien Senders in bezug auf das Radio
Geltung. Im Wechsel von interaktiver Kommunikation zu Mas­
senkommunikation scheint das gleiche heutzutage mit dem Inter­
net zu geschehen, nachdem Wirtschaft und Staat die Radioama­
teur-Visionen des Äthers als eines kakophonischen öffentlichen
Forums, an dem j eder sich beteiligen kann, verdrängt haben. Her­
bert Hoover, der als Wirtschaftsminister vielleicht entscheidend
dazu beigetragen hat, daß aus dem amerikanischen Radio eine fö­
deral-regulierte Körperschaft wurde, sprach sich im Jahr 1 9 2 2 ge­
gen den Äther als Medium des interpersonalen Kontakts aus :
>>Die Verwendung d e s Radiotelefons für ein Gespräch zwischen
einzelnen Individuen, wie dies im Fall der normalen Telefone ge­
schieht, ist eine aussichtslose Idee. Es ist offensichtlich, daß von
zehn Millionen Beteiligten, die über den Äther nach ihren Ge­
fährten rufen, keiner eine erfolgreiche Verbindung zustande be­
kommen wird [ . . ] . <<28 Ähnlich den B edenken, die Sokrates der
.

Schrift gegenüber hegte, war Hoover beunruhigt über die Unfä­


higkeit des Rundfunks, wirkliche Beziehungen herzustellen. Man
kennt Hoover nicht als einen besonders erotischen Denker, hier
j edoch bricht der Eros durch im gewohnten Versuch, einen Ab­
grund zu überbrücken. Man stelle sich nur das Gewirr aus Myria-

26 Ein Zitat aus dem Artikel »To Stop Telephone-Eavesdropping« aus dem Liter­
ary Digest vom 1 7. Oktober 1 9 1 4 , S. 73 3 ·
2 7 Covert, »We May Hear Too Much«, a . a . 0 . , S. 203 .
28 Zitiert bei Richard A. Schwarzlose, »Technology and the I ndividual: The Im­
pact of Innovation on Communication«, in: Catherine L . Covert und John D .
Stevens ( H g . ) , Mass Media Between the Wars, 1 9 1 8 - 194 1 , a. a. 0., S. 1 00.

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den von Telefonstimmen vor, die nach ihren Geliebten rufen,
während der damit unvollständigen Übertragung j edoch verlo­
rengehen, und den Äther nun mit unzugestelltem Verlangen fül­
len. Paulus' Warnung an die Korinther ob ihrer Praxis des unver­
ständlichen Zungenredens könnte das Motto eines j eden
Rundfunkbetreibenden sein: » Ihr werdet in den Wind reden«
( r . Kor. 1 4,9).
Das Radio stellte die alten Fragen danach, wie die Treue zwi­
schen entfernten Liebenden sich bewähren könnte; das Telefon
scheint die Antwort zu sein. In der Zeit zwischen den Weltkriegen
erkannten Theoretiker und Praktiker die Fähigkeit von Radio
und Telefon, Sprecher und Hörer miteinander ohne physische
Präsenz in Kontakt zu bringen. Das Radio brachte, wie Rudolf
Arnheim 1 9 3 6 es nannte, >>Stimmen ohne Körper<< hervor und
durchbrach die Begrenztheiteil von Raum, Zeit und der Ver­
nehmbarkeit, die einstmals als natürlich erschienen. Die Verbin­
dung des Radios mit den Körpern der Kommunizierenden zu
organisieren war eine wesentliche Voraussetzung seiner Veranke­
rung im täglichen Leben.
Der Wunsch danach, die Technologie des Funks für die Telefo­
nie zu nutzen, blieb bestehen. »DX-ing<< nennt man auch im
Deutschen die Suche nach Signalen entfernter Stationen - und es
stellt immer noch einen verbreiteten Sport der Radioamateure
dar. Der Schlüsselruf im D X-ing ist das >> CQ<<, nach >> seek you<<
(>> ich suche dich<<). Dieses D X-ing mit dem Ziel, die Signale weit
entfernter Stationen zu hören, war so etwas wie die Suche nach
extraterristischem Leben avant la lettre: die Suche nach fernen
Übertragungen innerhalb des Kreischens und Knallens des
Raums . >>Hinter der Musik hört man weiterhin ein Heulen der
Winde, unglücklich verloren irgendwo im Universum.<<29 In den
frühen Jahren des Radios wurde das atmosphärische Rauschen oft
als Zeichen fremder Welten verstanden; als, so Bruce Bliven,
»himmlisches Jaulen<< .30 Wie Dorothy Parkers Anruf bei Gott ist
das DX-ing eine zeitgemäße Allegorie des Glaubens .

29 Bruce B liven, »The Ether Will Now Oblige«, in: The New Republic vom
I 5. Februar I 922, S . 3 2 8 .
3 0 A. a. 0. Eine wunderbare B etrachtung der literarischen u n d metaphysischen
Aspekte des atmosphärischen Rauschens i m Radio ist der Text »Radio Free
Joyce: Wake, Language and the Experience of Radio« von James A. Connor in:
]ames ]oyce Quarterly, Bd. 30/3 I, Sommer/Herbst I 99 3 , S. 8 2 5 - 84 3 .

So
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Nicht nur die Empfänger hegten Befürchtungen bezüglich der
Verbindungen; auch die Sender rechneten mit Kommunikations­
barrieren. In den zwanziger und dreißiger Jahren unterhielten
Entertainer ihr Livepublikum mit der seinerzeit verbreiteten
Klage darüber, in ein seelenloses Mikrofon sprechen zu müssen.
Das Mikrofon ersetzte die Gesichter und Seelen der Zuhörer. In
einer Radioansprache von I 924 sorgte sich Herbert Hoover zum
wiederholten Mal über den Mangel an Verbindlichkeit und klagte
darüber, in »das tödlich ausdruckslose Mikrofon<< reden zu müs­
sen. »Uns fehlt eine Methode, mit der ein Sprecher im Radio die
Gefühle seiner Radiohörer spüren kann. Wer vor einem öffentli­
chen Publikum redet, weiß, was Buhrufe und B eifall bedeuten; er
kürzt gegebenenfalls sein Rede oder paßt sich dem Publikum
an.«31 Was Hoover wollte, war ein öffentlicher Telefonanruf. Der
Kritiker Gilbert Seides beschrieb die Gefühle eines Radiospre­
chers vor seiner unsichtbaren Zuhörerschaft in noch plastische­
rer Worten.

»Das Mikrofon, das zu Anfang so lebendig scheint in seinem fremden, vi­


talen Fluß, stirbt plötzlich; du denkst, der Techniker irgendwo im Neben­
raum hätte auf einmal den Strom abgestellt, so daß alle überall abgeschaltet
wären. Du fragst dich, wer diese Menschen sind, die - in welcher Finster­
nis, mit welcher Feindschaft ? - zuhören mögen. Und wenn du selber Ra­
dio hörst, wirst du auch nicht schlauer.«3 2

Seides war, wie alle Kritiker der Zerstreuung seit Platon, über den
Verlust des »fremden, vitalen Flusses« besorgt. Er sah sich selber
in der Position eines Redners zu den Toten, der bei abgestelltem
Strom ein abwesendes Publikum suchte.
Der vielleicht größte Kritiker der Polygamie des Radios war
Theodor W. Adorno. Sein Gruselkabinett »regressiver Hörer«,
die sich verzückt in Ekstase tanzen, ist der Inbegriff einer götzen­
haften Interaktion mit fernen Obj ekten. (Götzen sind schlicht ge­
scheiterte theologische Sendungen.) Den Radioamateur zum Bei­
spiel >>interessiert nur noch, daß er hört und daß es ihm gelingt,
mit seinen privaten Geräten in den öffentlichen Mechanismen

3 I Radioansprache von Minister Hoover vom 26. März I 924, Box 4 8 der Herbert
Hoover Präsidentenbibliothek, zitiert in Wessely, Culture, History and the Pu­
blic lnterest, a. a. 0., S. 44 - 4 5 .
3 2 Gilbert Seldes, » Listening In«, in: The New Republic vom 2 3 . März I 927,
s. I 40 - I 4 1 .

8!
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sich einzuschalten, ohne daß er auf diesen auch nur den geringsten
Einfluß ausübte« .33 Diese ungewöhnliche Beschreibung ist eine
Kritik der Perversion einer ebenso authentischen wie fruchtbaren
erotischen Paarbeziehung. Wie in der Beschreibung von Seides
und in Platons Phaidros taucht das Schreckgespenst des ver­
schwendeten Samens wieder auf. Wie Freud, mit dem er sich im­
mer wieder kritisch auseinandergesetzt hat, sah Adorno in der
Struktur des Paars eine unüberwindliche Eigenschaft des genui­
nen Eros. Die libidinale Struktur des Radios hingegen kann nur
entweder solitär oder plural sein. Als hegelianischer Marxist ging
Adorno davon aus, daß authentische Interaktion nur möglich sei,
wenn ein Subjekt einem anderen in seiner Obj ektivität gegen­
übertritt. Radiosendungen mußten schon aufgrund der Allge­
meinheit ihrer Ausrichtung strukturell unaufrichtig sein. Wie
Marx im Geld sah Adorno im Radio eine Art Zuhälterei am Werk;
und wie Sokrates war er beunruhigt über die Kommunikations­
verwirrung als das unvermeidliche Resultat eines plural geworde­
nen Eros. Er wünschte, das Radio wäre dem Telefon ähnlicher.
Doch er hat dabei für einen Augenblick Maxwells schwierige
Lehre vergessen: daß selbst im engsten Kontakt noch Abgründe
klaffen.

Deutsch von Stefan Münker

3 3 Theodor W. Adorno, "Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regres­
sion des Hörens «, in: ders . , Gesammelte Werke 1 4, Frankfurt/Main 1 997, S. I 4 -
jO, hier: S . 4 3 ·

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