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Telefonbuch John Durharn Peters Das Telefon Als Theologisches Und Erotisches Problem
Telefonbuch John Durharn Peters Das Telefon Als Theologisches Und Erotisches Problem
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Hagen Fr, Apr 12th 2024, 02:26
r Leicht veränderter Auszug aus John Durharn Peters, Speaking into the Air, Chi
cago 1 999.
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steht die zugleich radikalere Behauptung, daß >>Kontiguität
nichts als ein Schein ist - und zwischen Körpern, die aufeinander
einwirken, immer ein Zwischenraum rückt [ . . . ], weswegen Di
stanzwirkungen, statt unmöglich zu sein, vielmehr die einzige
Form der Wirkung darstellen, die es überhaupt gibt<< . Um diese
Position zu demonstrieren, preßte Maxwell mit Hilfe von Ge
wichten und Rädern zwei Linsen aufeinander und projizierte mit
Hilfe eines beide Linsen durchdringenden Lichtstrahls ein Ring
muster auf eine Leinwand, das aus ihrer gegenseitigen Wechsel
wirkung resultierte. Aus der Farbe der Ringe ließ sich die Distanz
zwischen den Linsen errechnen. Auch bei zunehmendem Druck
blieb zwischen den Ringen ein Abstand. Und selbst als sie so eng
zusammengepreßt waren, daß die Linsen nicht länger als ge
trennt wahrgenommen werden konnten, zeigten die Ringe noch
immer, daß sie keinen - wie Maxwell es nannte - optischen oder
realen Kontakt hatten. Körper, so faßt Maxwell zusammen,
»sind, selbst wenn sie mit großer Kraft zusammengepreßt wer
den [ . . . ] , nicht in absolutem Kontakt<< .2
Maxwells zwei Betrachtungsweisen von Distanzwirkungen
spiegeln die zunehmend konträren Visionen der Kommunikation
im 1 9 . Jahrhundert wider. Auf der einen Seite gibt es den Traum
einer rein geistigen Beziehung, unbeeinflußt von Entfernungen
oder Verkörperlichung, ein Traum, stimuliert durch den animalen
Magnetismus, den elektrischen Telegrafen, den Spiritualismus,
die Telepathie und noch exotischere Vorstellungen über distanz
überschreitende mentale Wirkungen. Dem steht auf der anderen
Seite die quälende Vorstellung gegenüber, daß selbst Berührung
nichts als eine Illusion ist, die unserem sinnlich-organischen Un
vermögen entspringt, die mikroskopisch kleine und doch unend
liche Distanz wahrzunehmen, die unsere Körper trennt - ge
schweige denn die noch größere Kluft, die sich zwischen unseren
Seelen auftut. Zwischen der Verheißung des Unvermittelten und
dem Horror der Blockade, der Isolierung, bewegt sich die Rezep
tion des Telefons. Das Problem der Kommunikation besteht nicht
mehr nur darin, wie sich Botschaften über j ene riesigen Entfer
nungen übermitteln lassen, die von den Kabeln des Telegrafen
2 James Clerk Maxwell, »On Action at a Distance«, Scientific Papers, ed. W. D . Ni
ven, Cambridge r 8 90, Band 2, S . J I 4 - 3 ' 4· (Übersetzung SM; Hervorhebung im
Original.)
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Nach mehreren Anläufen und Anfängen hat sich das Telefon als
Medium etabliert, mit dem wir den persönlichen Kontakt zu ein
zelnen Individuen aufrechterhalten, die sich nicht in unserer
Nähe befinden, während die drahtlosen Technologien (Radio
und Fernsehen) sich weitgehend in die entgegengesetzte Rich-
8 Siehe hier: Herben N. Casson, » The Social Value of the Telephone«, in: The In
dependent vom 26. I o. I 9 I I, S. 899 - 906; ders., »How the Hotel Telephone Girl
Sizes You Up«, in: The Ameriean Magazine vom August I 9 2 3 , S. 23, 70 u . 72
sowie ders., »When the •Hello Girl• Tries Hand at Detective Work«, in: The Li
terary Digest vom 5· I 1 . I 927, S. j 2 - 5 4 ·
9 Zitiert nach: Martin, »Hello Central?«, S. 9 5 · Neben der allgemeinen Feststel
lung, daß Distanz erotisch wirken kann, mag die sexuelle Attraktivität der
weiblichen Stimme sich auch der technischen Tatsache verdanken, daß das Te
lefon - gebaut nach dem Modell der männlichen Stimme - Frequenzen oberhalb
von 4 Kilohertz unterdrückt, was weibliche Stimmen tendenziell in tempera
mentvollem Alt erklingen läßt.
IO Ein Beispiel einer Telefonhochzeit fi ndet sich bei Mary B . Mullett, »How We
Bebave When We Telephone«, in: The Ameriean Magazine, November I 9 I 8,
S. 4 5 . Ein jüngst erschienener Artikel im National Geographie beschreibt die er
ste Hochzeit in einer virtuellen Realität, wo ein physisch getrenntes Paar sich in
der virtuellen Umgebung »Umarmt « . Aber natürlich kann die körperliche Be
rührung nicht auf ewig verschoben werden: »Es bestand kein Zweifel über das
Ende: Ein realer Kuß mußte dem virtuellen folgen« (Joel L . Swerlow, Louis Psi
hoyos und Allen Carroll, » >nformation Revolution«, in: National Geographie
Magazine, Vol. I 8 , Nr. 4, Oktober I 99 5 , S. 3 5 ).
I I An dieser Stelle spielt Peters mit der lautlichen Ähnlichkeit des englischen Wor
tes für " pfeik arrows und eros [A. d. Ü.].
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dio-Sex-Industrie undenkbar gemacht; was offensichtlich fürs
Telefon nicht gilt.
Frühe Telefonnutzer realisierten schnell, daß es, auch wenn
eine Verbindung hergestellt war, immer noch Pausen im Gespräch
zu überwinden galt. Ohne die körperliche Anwesenheit des ande
ren ließen die ersten Sätze der fernmündlichen Kommunikation
schnell das Gefühl aufkommen, daß man gar nicht wußte, wen
man ansprach. In Face-to-face-Kommunikationen wissen wir ge
wöhnlich, mit wem wir reden - wenn wir nicht vorsätzlich ge
täuscht werden oder an den philosophischen Solipsismus glau
ben. In Telefongesprächen gehören Verständigungen über die
Identität zur Etikette. Nur Kinder rufen manchmal einen Freund
an und sprechen mit der ersten Person, die ihnen antwortet, so, als
sei die Verbindung bereits erfolgreich hergestellt; was nicht selten
zu verwirrenden Resultaten führt. Sie müssen die Notwendigkeit
des Verbindungsmanagements in einem Medium, das Präsenz
verhüllt, erst lernen. Die Frage des richtigen, sprich: gebotenen
Stils im Umgang mit der im Telefongespräch fehlenden Präsenz
des Anderen hat eine Vielzahl unterschiedlicher Verhaltenskodi
zes hervorgebracht. In den Niederlanden wie auch in Deutsch
land wird zumeist erwartet, daß die Teilnehmer eines Telefonats
sich zuerst vorstellen: Der Angerufene muß seinen Namen
ebenso nennen wie der Anrufer. In den Vereinigten Staaten wer
den die Regeln der Selbstidentifizierung viel entspannter gehand
habt, j a, einige Anrufer nennen ihren Namen überhaupt nicht - in
der Annahme, ihre Stimme werde sowieso erkannt. Im gewöhn
lichen Gespräch von Angesicht zu Angesicht verläuft die Verbin
dungsaufnahme stets implizit; dank des durch die Medien stimu
lierten Traums der >> Kommunikation<< haben wir uns im Verlauf
des 20. Jahrhunderts allerdings daran gewöhnt, ähnliche Pro
bleme in jeder Form der Kommunikation zu finden.
Nachdem ein Telefonat einmal glücklich zustande gekommen
war, mußten noch Interaktionsmodi gefunden werden, den im
mer wieder auftretenden Bedarf nach Zeichen der Präsenz des an
deren zu kompensierenY Das Telefon ließ sich sowohl (aufgrund
seiner Blindheit) als Handicap verstehen - als auch als eine Erwei-
r2 Lana Rakow, Gender on the Line: Women, the Telephone, and Community Life,
Urbana 1 99 2 , behandelt auf S. 43 die relative Ungeschicklichkeit von Männern
im Umgang mit Telefongesprächen.
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terung der Sinne (als Hörhilfe und Stimmverstärker) . Ein Text aus
dem Jahr 1 9 1 5 skizziert die Unzulänglichkeiten des Telefons in
bemerkenswerte Kürze: »Telefongespräche sind Gespräche, die
all der zufälligen Hilfestellungen beraubt sind, die sich physischer
und visueller Nähe verdanken. << Die undifferenzierte Totalität der
Situation, in der wir einander begegnen, wird hier im Blick auf die
junge audiovisuelle Ordnung des Stummfilms und des bilderlo
sen Telefons neu beschrieben: >>Es gibt - anders als für Filmschau
spieler - kein Aufflackern des Blicks, Wut zu erkennen; keine ge
kräuselt�n Lippen, die auf Verachtung deuten; nichts vom
Charme der persönlichen Präsenz, die einem dünnen Argument
Substanz oder einer schwachen Erwiderung Macht verleihen
kann. Alles bleibt der Stimme überlassen [ . . .] . << 1 3 Die Telefon
stimme, die Äußerungen des Körpers und der Sinne über die Ent
fernung vom Mund zum Ohr übermitteln soll, mag tatsächlich
merkwürdig erscheinen.14 Ihr Auftauchen erlaubt es, das direkte
Gespräch als eine Kommunikationssituation neu zu problemati
sieren, deren durch physische und visuelle Nähe bedingte >>Start
hilfen<< zuvor nie gesondert betrachtet wurden.
Die Historikerirr Catherine Covert hat darauf hingewiesen, daß
das Telefon in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg von Kulturkri
tikern als Maßstab angeführt wurde, um die Rätsel des Radios auf
zuzeigen. Der übernatürlichen Welt des Radios stand konträr die
>>Erfahrung der Amerikaner mit dem Telefon als unmittelbarer
Verbindung zwischen den Menschen<< gegenüber. 1 5 Tatsächlich
rief das Telefon zum Teil die gleichen Ängste hervor wie das Ra
dio: merkwürdige Stimmen dringen ins Haus, Begegnungen mit
anderen drängen sich auf, die eigene Stimme verschwindet in ei
nem leeren, schwarzen Loch - und das Gesicht des Zuhörers
bleibt abwesend. In einem Artikel der Zeitschrift Atlantic
Monthly aus dem Jahr 1 920 heißt es im Tonfall einer neurastheni-
I J »Ün Conversation by Telephone«, in: The Independent vom I o . Mai I 9 I 5 ,
S. 2 2 9 - 2 3 0 .
1 4 » c e t instrument abolit t o u s l e s sens, sauf l'oule: l'ordre d'ecoute qui inaugure
• • •
taute communication celephonique invite l'autre a rarnasser tout son corps dans
sa voix et annonce que j e me rarnasse moi-meme taut entier dans mon oreille.«
Roland Barthes, »Ecoute«, CEuvres completes, hrsg. von Eric Marty, Paris 1 99 5 ,
Bd. J , S· 73 t .
I 5 Catherine L . Covert, " >We May Hear Too Much<: American Sensibility and the
Response to Radio, I 9 I 9 - I 92 4 « , in: Mass Media Between the Wars. 1 9 1 8-1941,
h g . v o n Catherine L . Covert und J ohn D. Stevens, Syracuse I 984, S. 2 0 2 .
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sehen Frau: >>Es ist schlimm, mich bei j eder Gelegenheit reden zu
hören. Es ist schlimmer, in ein leeres, schwarzes Loch zu sprechen,
ohne die Annehmlichkeit und den Zuspruch eines antwortenden
Gesichts vor mir zu sehen.« Auch der fehlende B enimm des Tele
fons verdrießt sie: >>Es meldet sich nicht an und respektiert keine
Privatsphäre«, klingelt, ohne darauf zu achten, wie sehr man be
reits durch andere Aktivitäten in Beschlag genommen ist, und ver
wickelt uns in >>unerklärte Begegnungen<< mit Fremden.16 Was der
Autor hier anführt, sind die klassischen Charakteristika der Zer
streuung; bereits Sokrates beklagt im Phaidros zufällige Begeg
nungen ob ihrer Gleichgültigkeit der eigenen Situation gegenüber.
Die Vagheit der persönlichen Identifizierung liegt im Zentrum
der Unheimlichkeit des Telefons . Auch heute noch gibt es kaum
etwas Entnervenderes als einen Anrufer, der wiederholt anruft
und schlicht aufhängt oder schweigend in den Hörer atmet, ohne
sich (und meist ist er ein Er) zu erkennen zu geben. Solch ein
Bruch mit der Etikette beschwört die ursprüngliche Unheimlich
keit des Mediums herauf. Wenn man »obszÖn<< [im Englischen: Die
neue
>>obscene<<; A. d. Ü.] wörtlich versteht als das Erscheinen von et
was, das verborgen sein sollte [>>off-scene<<], so ist der Begriff Bezi
ehun
eines obszönes Anrufs redundant. Auf eine Weise, die jüngste g
Bedenken bezüglich der im Cyberspace durch mangelhafte von
Mari
Identitätszuschreibungen möglich gewordenen Verletzungen e ist
off-s
diskursiver Regeln - etwa die unter dem Begriff des >>Flamings << cenn
bekannte Unart, elektronische Briefkästen zu verstopfen - vor e.
Obs
wegnehmen, konstatierten zeitgenössische Kommentatoren die eno
Ursache für den rüden Ton des Telefonierens im Verlust des un
mittelbaren Erkennens von Angesicht zu Angesicht. In den Wor
ten eines Autors aus dem Jahr I 9 I 8 : >>Es gibt Menschen, die sich
ihrer - wie es heißt - >niedrigen Sichtbarkeit< während eines Tele
fonats bedienen, um Dinge zu sagen, die sie dir niemals ins Ge
sicht sagen würden.<< 1 7 Die relative Anonymität im Internet, so
lautet das analoge Argument, ermöglicht einigen einen verun
glimpfenden Sprachgebrauch, den sie im persönlichen Diskurs
niemals verwenden würden. Losgelöst vom Körper tendieren
Stimmen und Gedanken zu psychotischem Verhalten.
Seinen Beitrag zu j ener für die Moderne spezifischen Verschie-
»Pause.
So heißt es im fünften Buch Moses, Vers 64 bis 97· Ich denke, das sollten
wir immer mal wieder lesen.
Pause.
Ja vielleicht; ich nehme normalerweise Haarnadeln.<<19
1 8 Siehe hierzu: Ronell, The Telephone Book und Frank Kessler, »Bei Anruf Ret
tung ! « , in: Telefon und Kultur: Das Telefon im Spielfilm, hrsg. von B . Debatin
und H . J. Wulff, Berlin 1 99 1 , S. 1 67- 1 73 .
1 9 Mark Twain, »A Telephonic Conversation«, in: The $3 o,ooo Bequest and Other
Stories, New York 1 9 1 7, S. 204 - 208 (Übersetzung SM).
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Zwei einseitige Gespräche, die sich nur im virtuellen Raum tref
fen: darin besteht die Natur der Rede im Telefon. Und natürlich
stellt sich die Frage, ob sie sich treffen oder nicht. In Dorothy
Parkers frühem Monolog >>Ein Telefonanruf<< aus dem Jahr 1 9 3 0
betet eine Frau fieberhaft z u Gott, ihr Freund möge anrufen -
was er im Laufe des Monologs j edoch nicht tut. Der Titel der Ge
schichte sagt, was nicht stattfindet; mehr noch, er gibt dem unbe
antworteten Gebet der Frau einen Namen - ein göttlicher Anruf,
der durch einen menschlichen beantwortet werden soll. Auf ei
nen Anruf zu warten, der niemals kommt, ist nicht nur beispiel
haft für die Einsamkeit einer vernachlässigten Geliebten. Viel
mehr besteht das ganze Problem darin, wie man erkennen kann,
das eine Verbindung überhaupt zustande kam; kein Zufall, das
der Monolog zu theologischen Überlegungen einlädt. In Aldous
Huxleys zeitgleich verfaßtem Text >>Durch das Telefon<< ist das
Geschlecht der B eteiligten umgedreht: Ein junger Dichter probt
zunächst im Geist die eloquente Einladung seiner Freundin in die
Oper, wobei er imaginär bereits den ganzen Abend bis zu seinem
glücklichen Ende, dem Kuß der Liebenden in seiner Wohnung,
vorwegnimmt; als der Vermittler die Verbindung mit der Frau
schließlich herstellt, stammelt er hoffnungslos - und sie gibt ihm
aufgrund einer früheren Verabredung einen Korb: >>Verzweifelt
nahm Walter den Hörer vom Ohr. Seine Stimme hatte nur frucht
los in den Äther gehaucht [ . . . ] . << D as Scheitern der Verständigung
am Telefon ist wie das Platzen einer geplanten Verabredung als
erotisches Versagen gekennzeichnet - als fruchtloser Hauch in
den Äther.20 Solch ein >> Kommunikations<< -Versuch ist im besten
Fall noch als hermeneutischer B ruch zu verstehen, in dem beide
Seiten durch eine tiefe Distanz getrennt sind.
Die unheimlichsten Forschungsberichte über das Telefon und
über >> Kommunikation<< als die zweier Monologe, die sich - selbst
im imaginären Raum - niemals treffen, stammen von Franz
Kafka. Hermeneutik ist nichts als die Kunst der Lektüre von Tex
ten durch eine bloß zufällige Öffentlichkeit; eine Art des heimli
chen Lauschens. Im Angesicht des Todes wie auch eines Partners,
der nicht antworten kann, will oder wird, können wir unvermit-
20 Dorothy Parker, »A Telephone Call«, in: 50 Best American Short Stories, 1 9 1 5 -
193 8, hg. von Edward Joseph Barrington O'Brien, Boston 1 9 39, S. 3 3 3 - 3 3 9;
Aldous Huxley, » Üver the Telephone«, in: The Smart Set Anthology, hg. von
Burton Rascoe, New York 1 9 34, S. 1 2 2 - 1 2 8 (Übersetzung SM).
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telt in interpretative Aufregung geraten. Vermittelte Kommuni
kation, wie die durchs Telefon, lehrt uns, daß wir immer lauschen
müssen. Woran soll die Stimme in Parkers Monolog erkennen,
was der ausbleibende Anruf bedeutet - Zurückweisung? Num
mer verloren? oder nichts dergleichen ? Euphorie und Trostlosig
keit trennt nichts als ein Anruf. Die Explosion des Dialogs in zwei
entfernt verbundene Hälften läßt die Gültigkeit einer Interpreta
tion obskur erscheinen. Die Unfähigkeit, innere Proj ektionen
von externen Botschaften zu unterscheiden, führt zu B edingun
gen, in denen eine Seite das Gewicht des gesamten Kommunika
tionsflusses tragen muß. Aus psychologischer Sicht stellt sich
diese Unfähigkeit als Paranoia dar; aus sozialer Perspektive heißt
sie Massenkommunikation.
In seiner kurzen Erzählung Der Nachbar erweitert Kafka die
idealistische Architektur des Homo clausus, eingeschlossen in
sein herzförmiges Gehäuse, indem er die Wände eher zu dünn als
zu dick gestaltet.21 Der Erzähler, ein junger Geschäftsmann, schil
dert, wie die neben seinem eigenen Büro liegende, nahezu iden
tisch geschnittene Nachbarwohnung von einem anderen jungen
Geschäftsmann namens Harras gemietet wird, dessen Geschäft
zwar mysteriös ist, jedoch demjenigen des Erzählers ähnlich zu
sein scheint. Die beiden begegnen sich fast nie, außer wenn Harras
am Erzähler vorbei die Treppen entlanghuscht. Ihre Beziehung
bleibt vermittelt und imaginiert; niemals reden sie miteinander.
Die Wände allerdings sind so elend dünn, daß alles im Nachbar
büro gehört werden kann. Schlimmer noch: Auf der Verbin
dungswand der beiden Büros hängt das Telefon des Erzählers;
und selbst wenn es auf der gegenüberliegenden Wand angebracht
wäre, könnte Harras noch j edes Wort verstehen. In der U ngewiß
heit darüber, ob sein Nachbar zuhört, entwickelt der Erzähler ei
nen unverbindlichen Gesprächsstil, wenn er Geschäfte über das
Telefon abwickelt, und vermeidet es, Namen seiner Kunden zu
erwähnen. Gleichwohl ist er sich sicher, daß er immer noch Ge
heimnisse verrät. »Wollte ich sehr übertreiben - aber das muß
man oft, um sich Klarheit zu verschaffen -, so könnte ich sagen:
Harras braucht kein Telephon, er benutzt meines [ . . . ] . <<
Harras ist kein Spitzel. Die Geschichte handelt von einem Dop-
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einerseits günstig sei (weil es ihm den Repräsentanten vom Nak
ken schafft, der vorhatte, ihn des Landes zu verweisen), anderseits
aber ungünstig, weil das Schloß auf ihn aufmerksam geworden ist
und ihm die Möglichkeit gibt, den nächsten Zug zu tun. K. weiß
nicht und kann auch nicht wissen, ob er tatsächlich anerkannt
wurde oder nur Teil einer Fälschung ist.
Das interpretative Schwanken einer enigmatischen Antwort
gegenüber ist eine fundamentale Erfahrung innerhalb der moder
nen Welt: Wortgefechte mit Gesprächspartnern, die entweder
zwar zu antworten scheinen, deren Motive j edoch unergründlich
bleiben oder aber deren Antworten nie als wahrhafte Antworten
verifiziert werden können. Moderne Männer und Frauen stehen
Bürokratien oder ihren Repräsentanten gegenüber und warten
am Telefon auf die gleiche Art, in der einst die Sünder vor einem
Gott standen, der sein Gesicht verhüllt: Ängstlich suchen sie das
Chaos nach Zeichen und Botschaften ab. Der deus absconditus
der Theologie versteckt sich nicht länger in den entferntesten
Winkeln des Universums; sein Nachfolger ist umgezogen in die
infernalen Maschinen der Verwaltung. Dantes Vision eines Ortes
j enseits der Himmel war eine kaleidoskopartige Reflexion von
Sphären, eine vielblättrige Rose unendlich gebrochenen Lichts.
K., wie der Rest von uns, blickt auf einen Ort, in dem die Refle
xionen nicht länger optisch sind, sondern informationeiL (Die
Spieltheorie, die einzig der organisatorischen Kultur des zwan
zigsten Jahrhunderts angemessen ist, stellt die wissenschaftliche
Form dieser Erfahrung dar.) K. weiß nicht, ob die Erlaubnis, im
Dorf zu bleiben, vom Schloß selber ausgesprochen wurde, ob sie
von einem schläfrigen Bürokraten am anderen Ende der Leitung
stammt, der damit seinen möglichen Fehler, K. s Ankunft nicht
bemerkt zu haben, verbergen möchte, oder ob sie vom Repräsen
tanten kommt, der von K. s hochmütiger Sicherheit fasziniert ist.
K. muß die Geste vom Schloß (so sie denn überhaupt vom Schloß
ist) mit der gleichen Aufmerksamkeit deuten, mit der Augur einst
am Himmel über dem Tempel den Flug der Vögel oder den Sturz
der Sterne beobachtet hat; er muß den Gesten nachspüren mit der
falsifikatarischen Rationalität des modernen Wissenschaftlers,
der sorgsam alternative Hypothesen aussondert, die Daten auf
Flüchtigkeitsfehler hin untersucht, emsig versucht zu vermeiden,
daß Tatsachen sich mit seinen eigenen unbewußten Visionen ver
mischen, und sich immer wieder fragt, ob sein Instrument fehler-
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haft arbeitet oder die richtige Information aufnimmt. Um in der
modernen Welt zu überleben, müssen wir uns mit geradezu hell
seherischen Fähigkeiten in unergründliche Andere hineindenken:
Launen von Sekretärinnen, Äußerungen von Abteilungsleitern
und Entscheidungen von Direktoren und Geschäftsführern müs
sen wir ebenso wie plötzliche Umstrukturierungen im Weißen
Haus, Kreml oder Vatikan deuten wie Worte eines verborgenen,
finsteren und fernen Gottes, auszusprechen nur in Dunkelheit
und Traum.
Walter Benj amin meinte einmal, es gebe zwei Weisen, Kafka
falsch zu lesen: die der natürlichen und der übernatürlichen Aus
legung. Der Grund dafür ist Kafkas erstaunliche Fähigkeit, zwi
schen beiden Perspektiven hin und her zu wechseln, und j ede
Entscheidung damit ins Unendliche hinauszuschieben. Kafka ist
der größte Theoretiker der organisierten Kommunikation des
zwanzigsten Jahrhundert. Wie Benjamin sagt: >>Die Welt der
Kanzleien und Registraturen, der muffigen verwohnten kleinen
Zimmer ist Kafkas Welt.<<23 Er hätte allerdings die Welt der Tele
fone hinzufügen sollen. Kafka betreibt die ersten existentiellen
Studien der Bürokratie, besser als Weber deutet er das dunkle Ge
wicht der offiziellen Strategien. Kafkas Welt ist keine der konspi
rativen Entscheidungen und teuflischen Lügen, die im Prinzip
aufgedeckt werden könnten; es ist eine Welt, in der die letzte
Quelle aller Botschaften verborgen ist. Er weiß, worum es bei der
Frage geht, was eine Botschaft ist und was Proj ektion - und er
kennt die merkwürdige, unentschiedene Scharade von einver
nehmlich vereinten Menschen, die dies nicht wissen oder nie zu
geben würden. Woran sollte man in den Labyrinthen der Büro
kratie erkennen, ob ein Memo eine Mitteilung darstellt oder eine
List, eine Botschaft ist oder nur Lärm ? K., der Landvermesser, der
die Markierungen des Besitztums lesen soll, ist sich nie sicher, ob
diese Markierungen eine kohärente Karte darstellen - oder ob die
Karte nur die paranoide Proj ektion eines übereifrigen Interpreten
wiedergibt.
Die Zeichen umzingeln uns; sie weigern sich bloß, uns zu sa
gen, wie wir sie lesen sollen. Wir zögern, gefangen zwischen der
Angst, paranoid zu sein (weil wir unterstellen: >>alles ist eine Bot-
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schaft«), und der Angst, eine Offenbarung zu verpassen (wenn
wir so tun, als wäre nichts eine Botschaft). Mit dieser Unfähigkeit,
sich sicher zu sein, ob ein Zeichen eine Proj ektion des Selbst dar
stellt oder eine Äußerung des anderen, ein interpretatives Arte
fakt oder eine obj ektive Aussage über die Welt, werden die unter
schiedlichsten gesellschaftlichen Figuren konfrontiert: Zauberer,
die Teeblätter deuten oder Eingeweide lesen; Gläubige, deren Ge
bete beantwortet werden; diejenigen, die einen Turing Test durch
führen und abwägen sollen, ob ihr Konversationspartner ein
Mensch ist oder eine intelligente Maschine; die K. s, Studenten der
Kultur und Gesellschaft, die Strukturen am Horizont ebenso le
sen wie Texte in ihrer Hand (oder in Texten in ihrer Hand lesen);
und schließlich j eder, der mit einem anderen ein leidenschaftli
ches, schmerzhaftes oder delikates Thema bespricht.
Die Frage, wem Bedeutung gehört, ist in der Literaturtheorie
während des letzten Viertelj ahrhunderts aufgekommen: Ist Be
deutung ein Resultat der Kreativität des Lesers, der Absicht des
Autors, des Textes selbst, der Interpretationsgemeinschaft, des
Kanon oder einer Transaktion zwischen Leser und Text ? Oder ist
Bedeutung immer nur geliehen ? Die Frage allerdings geht weit
über die Theorie hinaus; in einer mediatisierten Welt ist sie eine
Frage von Leben und Tod. Spricht die Natur, spricht Gott, spricht
das Schicksal, sprechen Bürokratien - oder bilde ich mir das alles
nur ein ? Wo enden meine Proj ektionen, und wo beginnen die au
thentischen Signale von anderen ? Ist Bedeutung nichts anderes als
das Gespinst meines eigenen fruchtbaren Nachdenkens ? Kann
der Gegenstand selbst j emals durch den Schleier brechen ? Ist all
das Geflüster der Geister, die Zeichen der Eingeweide, die Ant
worten auf Gebete nichts anderes als verfremdete, menschliche
Energie? Ist Kommunikation überhaupt mehr als ein Überlappen
der Monologe ? Hat sie mich gebeten, zu kommen, oder bilde ich
mir das nur ein ? Hat er wirklich gesagt, er ruft an ?
Kafka benutzt die merkwürdig zirkuläre Struktur der Kom
munikation am Telefon, um Potentiale des Scheiterns von Face
to-face-Kommunikationen aufzudecken, die oft wissentlich au
ßer Sicht bleiben. Er erforscht j ene Dämmerungszone, in der das
Verhältnis Signal - Lärm sich null oder unendlich nähert. Sowohl
in Der Nachbar als auch in Das Schloß stellt das Telefon Poten
tiale von Schizophrenie, Paranoia, Verwirrung und krankhafter
Neugierde heraus, die in der Alltagssprache lauern. Unsere tägli-
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ehe Welt mag gewohnt sein und verläßlich, doch j eder Zusam
menbruch läßt die ursprünglichen Schrecken wiederkehren.
Wenn der Strom ausfällt, das Telefon auf einmal tot ist oder die
Verbindung zwischen einzelnen Übermittlungsstationen unter
brochen, entdecken wir Abgründe, keine Brücken.
24 Sir Arthur Conan Doyle, The Adventure of the Red Circle«, in: The Campfete
»
Sherlock Holmes, Garden City, New York 1 9 30, Bd. 2, S. 904 (Übersetzung
SM).
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men von Radiostimmen, Musik, Soundeffekten und Notsigna
len. Wo auch immer du bist: dieser Text findet dich, Nachrichten
umkreisen dich und fliegen dir nach, unendlich unauffällig, wie
die Zikaden im Phaidros, die von Dingen singen, die wir mit blo
ßen Ohren nicht hören können. Die bemerkenswerte Eigen
schaft des Radiosignals, entdeckt im selben Jahrzehnt, in dem
Warren und Brandeis zuerst über das Recht auf die Unverletzt
heit der Privatsphäre nachdachten, ist die ihm inhärente Publizi
tät. Elektromagnetische Signale senden >>to whom it may con
cern<< : sie kennen keine Achtung vor der Person und regnen auf
die Gerechten und die Ungerechten.
Die frühen Entwickler hielten die omnipräsente Qualität des
Radiosignals für einen Defekt, weil sie lediglich den Dialog als le
gitime Form der Kommunikation gelten lassen wollten. Wie die
Fotografie wurde die Radiotechnologie zunächst als Mittel einer
Kommunikation von Punkt zu Punkt betrachtet - als Telegraf
oder Telefon. Marconi war charakteristisch für seine Generation
insofern, als er sich die neue Technologie als einen kabellosen Te
legrafen dachte. Doch der Telegraf hat ein singuläres Ziel, Radio
wellen nicht. Das sich abzeichnende Hindernis war - wie bei
Briefen ohne Umschlag oder den Partylines der frühen Jahre des
Telefons - der Mangel an Vertraulichkeit. Jeder Besitzer eines ent
sprechenden Empfängers hatte potentiell, wie es im biblischen
Gleichnis vom Sämann heißt, >> Ohren zu hören<< . Die Rezeption
des Signals hatte auf inhärente Weise ein offenes Ende. Wie der
Werbefachmann Bruce Barton r 922 schrieb: >> Radiotelefonnach
richten können nicht geheim bleiben. Sie strahlen in alle Richtun
gen, und j eder mit einer Maschine, die auf die richtige Wellenlänge
eingestellt ist, kann hören, was Sie Ihrem Geschäftspartner in
New Orleans oder Ihrer Geliebten in Kenosha erzählen.<<25 (Ge
schäftsgespräche und Liebesdialoge stellen die zwei klassischen
Prätexte für Telekommunikationen dar.) Die Unmöglichkeit, un
willkommene Hörer auszugrenzen, verhinderte den wirtschaftli
chen Erfolg der kabellosen (Funk-)Telegrafie wie auch - nach In
betriebnahme der von Lee de Forest erfundenen Kathodenröhre
»Audion<< 1 907 - des kabellosen Telefons. Die Suche nach einem
25 Bruce Barton, »This Magie Called Radio: What Will lt Mean in Your Horne in
the Next Ten Years ? « , in: The American Magazine, Juni 1 92 2 , S. 1 1 - 1 3 u . 70 - 7 1 ,
hier: S . 70.
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vertraulichen Kanal wurde - unter Stichworten wie »Frequenz
abstimmung<< oder >>Trennschärfe<< - zu einer Hauptbeschäfti
gung der frühen Radioingenieure. Erwünscht waren Verbindun
gen zwischen einzelnen Person - keine Partylines; Treue statt
Promiskuität. »Private Dienstleistungen über eine Partyline<<26
lautete zu j ener Zeit das gemeinsame Ziel von Telefon und Radio.
Gesucht wurde die elektromagnetische Entsprechung des Brief
umschlags. Der Terminus des »listening in<<, der das Verhalten der
Hörer des kommerziellen Radios beschreiben soll, überträgt den
Begriff des Lauschens von den Partylines ins Radio - als ob die
Hörer zufällig Botschaften mithörten, die ursprünglich nicht für
ihre Ohren gedacht waren.V
Schließlich verschaffte sich der Begriff des »broadcasting<<, des
Rundfunks als eines zielfreien Senders in bezug auf das Radio
Geltung. Im Wechsel von interaktiver Kommunikation zu Mas
senkommunikation scheint das gleiche heutzutage mit dem Inter
net zu geschehen, nachdem Wirtschaft und Staat die Radioama
teur-Visionen des Äthers als eines kakophonischen öffentlichen
Forums, an dem j eder sich beteiligen kann, verdrängt haben. Her
bert Hoover, der als Wirtschaftsminister vielleicht entscheidend
dazu beigetragen hat, daß aus dem amerikanischen Radio eine fö
deral-regulierte Körperschaft wurde, sprach sich im Jahr 1 9 2 2 ge
gen den Äther als Medium des interpersonalen Kontakts aus :
>>Die Verwendung d e s Radiotelefons für ein Gespräch zwischen
einzelnen Individuen, wie dies im Fall der normalen Telefone ge
schieht, ist eine aussichtslose Idee. Es ist offensichtlich, daß von
zehn Millionen Beteiligten, die über den Äther nach ihren Ge
fährten rufen, keiner eine erfolgreiche Verbindung zustande be
kommen wird [ . . ] . <<28 Ähnlich den B edenken, die Sokrates der
.
26 Ein Zitat aus dem Artikel »To Stop Telephone-Eavesdropping« aus dem Liter
ary Digest vom 1 7. Oktober 1 9 1 4 , S. 73 3 ·
2 7 Covert, »We May Hear Too Much«, a . a . 0 . , S. 203 .
28 Zitiert bei Richard A. Schwarzlose, »Technology and the I ndividual: The Im
pact of Innovation on Communication«, in: Catherine L . Covert und John D .
Stevens ( H g . ) , Mass Media Between the Wars, 1 9 1 8 - 194 1 , a. a. 0., S. 1 00.
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den von Telefonstimmen vor, die nach ihren Geliebten rufen,
während der damit unvollständigen Übertragung j edoch verlo
rengehen, und den Äther nun mit unzugestelltem Verlangen fül
len. Paulus' Warnung an die Korinther ob ihrer Praxis des unver
ständlichen Zungenredens könnte das Motto eines j eden
Rundfunkbetreibenden sein: » Ihr werdet in den Wind reden«
( r . Kor. 1 4,9).
Das Radio stellte die alten Fragen danach, wie die Treue zwi
schen entfernten Liebenden sich bewähren könnte; das Telefon
scheint die Antwort zu sein. In der Zeit zwischen den Weltkriegen
erkannten Theoretiker und Praktiker die Fähigkeit von Radio
und Telefon, Sprecher und Hörer miteinander ohne physische
Präsenz in Kontakt zu bringen. Das Radio brachte, wie Rudolf
Arnheim 1 9 3 6 es nannte, >>Stimmen ohne Körper<< hervor und
durchbrach die Begrenztheiteil von Raum, Zeit und der Ver
nehmbarkeit, die einstmals als natürlich erschienen. Die Verbin
dung des Radios mit den Körpern der Kommunizierenden zu
organisieren war eine wesentliche Voraussetzung seiner Veranke
rung im täglichen Leben.
Der Wunsch danach, die Technologie des Funks für die Telefo
nie zu nutzen, blieb bestehen. »DX-ing<< nennt man auch im
Deutschen die Suche nach Signalen entfernter Stationen - und es
stellt immer noch einen verbreiteten Sport der Radioamateure
dar. Der Schlüsselruf im D X-ing ist das >> CQ<<, nach >> seek you<<
(>> ich suche dich<<). Dieses D X-ing mit dem Ziel, die Signale weit
entfernter Stationen zu hören, war so etwas wie die Suche nach
extraterristischem Leben avant la lettre: die Suche nach fernen
Übertragungen innerhalb des Kreischens und Knallens des
Raums . >>Hinter der Musik hört man weiterhin ein Heulen der
Winde, unglücklich verloren irgendwo im Universum.<<29 In den
frühen Jahren des Radios wurde das atmosphärische Rauschen oft
als Zeichen fremder Welten verstanden; als, so Bruce Bliven,
»himmlisches Jaulen<< .30 Wie Dorothy Parkers Anruf bei Gott ist
das DX-ing eine zeitgemäße Allegorie des Glaubens .
29 Bruce B liven, »The Ether Will Now Oblige«, in: The New Republic vom
I 5. Februar I 922, S . 3 2 8 .
3 0 A. a. 0. Eine wunderbare B etrachtung der literarischen u n d metaphysischen
Aspekte des atmosphärischen Rauschens i m Radio ist der Text »Radio Free
Joyce: Wake, Language and the Experience of Radio« von James A. Connor in:
]ames ]oyce Quarterly, Bd. 30/3 I, Sommer/Herbst I 99 3 , S. 8 2 5 - 84 3 .
So
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Nicht nur die Empfänger hegten Befürchtungen bezüglich der
Verbindungen; auch die Sender rechneten mit Kommunikations
barrieren. In den zwanziger und dreißiger Jahren unterhielten
Entertainer ihr Livepublikum mit der seinerzeit verbreiteten
Klage darüber, in ein seelenloses Mikrofon sprechen zu müssen.
Das Mikrofon ersetzte die Gesichter und Seelen der Zuhörer. In
einer Radioansprache von I 924 sorgte sich Herbert Hoover zum
wiederholten Mal über den Mangel an Verbindlichkeit und klagte
darüber, in »das tödlich ausdruckslose Mikrofon<< reden zu müs
sen. »Uns fehlt eine Methode, mit der ein Sprecher im Radio die
Gefühle seiner Radiohörer spüren kann. Wer vor einem öffentli
chen Publikum redet, weiß, was Buhrufe und B eifall bedeuten; er
kürzt gegebenenfalls sein Rede oder paßt sich dem Publikum
an.«31 Was Hoover wollte, war ein öffentlicher Telefonanruf. Der
Kritiker Gilbert Seides beschrieb die Gefühle eines Radiospre
chers vor seiner unsichtbaren Zuhörerschaft in noch plastische
rer Worten.
Seides war, wie alle Kritiker der Zerstreuung seit Platon, über den
Verlust des »fremden, vitalen Flusses« besorgt. Er sah sich selber
in der Position eines Redners zu den Toten, der bei abgestelltem
Strom ein abwesendes Publikum suchte.
Der vielleicht größte Kritiker der Polygamie des Radios war
Theodor W. Adorno. Sein Gruselkabinett »regressiver Hörer«,
die sich verzückt in Ekstase tanzen, ist der Inbegriff einer götzen
haften Interaktion mit fernen Obj ekten. (Götzen sind schlicht ge
scheiterte theologische Sendungen.) Den Radioamateur zum Bei
spiel >>interessiert nur noch, daß er hört und daß es ihm gelingt,
mit seinen privaten Geräten in den öffentlichen Mechanismen
3 I Radioansprache von Minister Hoover vom 26. März I 924, Box 4 8 der Herbert
Hoover Präsidentenbibliothek, zitiert in Wessely, Culture, History and the Pu
blic lnterest, a. a. 0., S. 44 - 4 5 .
3 2 Gilbert Seldes, » Listening In«, in: The New Republic vom 2 3 . März I 927,
s. I 40 - I 4 1 .
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sich einzuschalten, ohne daß er auf diesen auch nur den geringsten
Einfluß ausübte« .33 Diese ungewöhnliche Beschreibung ist eine
Kritik der Perversion einer ebenso authentischen wie fruchtbaren
erotischen Paarbeziehung. Wie in der Beschreibung von Seides
und in Platons Phaidros taucht das Schreckgespenst des ver
schwendeten Samens wieder auf. Wie Freud, mit dem er sich im
mer wieder kritisch auseinandergesetzt hat, sah Adorno in der
Struktur des Paars eine unüberwindliche Eigenschaft des genui
nen Eros. Die libidinale Struktur des Radios hingegen kann nur
entweder solitär oder plural sein. Als hegelianischer Marxist ging
Adorno davon aus, daß authentische Interaktion nur möglich sei,
wenn ein Subjekt einem anderen in seiner Obj ektivität gegen
übertritt. Radiosendungen mußten schon aufgrund der Allge
meinheit ihrer Ausrichtung strukturell unaufrichtig sein. Wie
Marx im Geld sah Adorno im Radio eine Art Zuhälterei am Werk;
und wie Sokrates war er beunruhigt über die Kommunikations
verwirrung als das unvermeidliche Resultat eines plural geworde
nen Eros. Er wünschte, das Radio wäre dem Telefon ähnlicher.
Doch er hat dabei für einen Augenblick Maxwells schwierige
Lehre vergessen: daß selbst im engsten Kontakt noch Abgründe
klaffen.
3 3 Theodor W. Adorno, "Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regres
sion des Hörens «, in: ders . , Gesammelte Werke 1 4, Frankfurt/Main 1 997, S. I 4 -
jO, hier: S . 4 3 ·