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DEUTSCHLANDFUNK

Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel

Redaktion: Sabine Küchler

Feature

WEB 2.0

Leben als Netzwerk

Von Walter van Rossum

VO McLuhan :
1. Zitator :
2. Zit. :

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Sendung: Freitag, 22. Oktober 2010, 20.10 - 21.00 Uhr


2

Walter van Rossum


WEB 2.0 Leben als Netzwerk

O-Ton: 1 (Introducing Marshall McLuhan)


VO: McLuhan ist wahrscheinlich die entspannteste umstrittene Figur
in Amerika heute. Das mag mit seinem kanadischen
Hintergrund zu tun haben. Es ist mir eine Freude, Ihnen den
Autor der Gutenberg Galaxy und den Autor von Understanding
Media vorzustellen: Marshall McLuhan:
Musik:
O-Ton: 2 (McLuhan)
VO: Satelliten umkreisen die Erde in einer Geschwindigkeit, bei der
die Erde nicht mithalten kann, und sie haben nicht ein gobal
village, ein globales Dorf, produziert, sondern ein globales
Theater. (1968, 13:30)
Musik:
O-Ton: 3 (McLuhan)
VO: Wir leben heute im Echoland. In einer simultanen, unmittelbar
gleichzeitigen Welt – das ist Echoland. Und das ist der
Hörraum. Der hat eine ganz besondere Eigenschaft: Er bildet
eine perfekte Sphäre, deren Zentrum überall ist und deren
Grenzen nirgendwo sind. Er ist total unsichtbar und nicht
visualisierbar. (1968, 18:10)
Autor: Wahrscheinlich war der kanadische Medientheoretiker Marshall
McLuhan der wildeste Denker des 20. Jahrhunderts – und ist es
bis heute geblieben. In den 50er-Jahren entwickelt McLuhan
zunächst in verschiedenen Aufsätzen und Vorträgen seine
zentrale These:
O-Ton: 4 (McLuhan) [verfremden] The medium is the message.
VO: Das Medium ist die Botschaft
3

Autor: McLuhan versteht unter Medien aber nicht bloße


Übermittlungstechniken.
O-Ton: 5 (McLuhan, CD Massage)
VO: Alle Medien sind Ausdehnung menschlicher Fähigkeiten – seien
sie psychisch oder physisch. – Das Rad ist eine Ausdehnung
des Fußes. Das Buch ist eine Ausdehnung des Auges, Kleider
sind eine Ausdehnung der Haut, die Medien unserer Zeit sind
eine Ausdehnung des Zentralnervensystems. Indem Medien die
Umwelt verändern, schaffen sie in uns eine ganz bestimmte
Konstellation sinnlicher Wahrnehmung. Die Ausdehnung nur
eines Sinnes verändert die Art, wie wir denken und handeln, die
Art, wie wir unsere Körper wahrnehmen. Wenn diese
Verhältnisse sich wandeln, wandelt sich der Mensch.
O-Ton: 6 (McLuhan)
VO: Schriftlichkeit bedeutet die Trennung des Auges von den
anderen Sinnen, sie schafft den Euklidischen Raum und
produziert alle die Illusionen von Rationalität und Uniformität –
das Kontinuum des Existierenden. Das ist eine Illusion, die wir
der griechisch-römischen Welt verdanken, sonst kennt niemand
auf der Welt diesen visuellen Raum, den das phonetische
Alphabet bildet.
O-Ton: 7 (Hagen) In dem Moment, wo gesprochene Sprache einen
Speicher finden konnte, beginnt das abendländische Denken.
Autor: Das war eine große Abstraktionsleistung, die zugleich aber auch
mit sich brachte, dass Mensch und Ding getrennt wurden.
1. Zit.: Vor der Erfindung des Alphabets lebte der Mensch in einer
Welt, in der alle Sinne ausbalanciert und gleichzeitig präsent
waren, in einer Stammeswelt voller Tiefe und Resonanz, einer
oralen Kultur, in der das Leben vom Gehörsinn dominiert
wurde.
4

Autor: Das Auge schafft die Welt als rationalen Raum.


1. Zit.: Nur Alphabetkulturen haben es geschafft, logisch miteinander
verbundene, lineare Sequenzen als Mittel sozialer und
psychischer Organisationen einzusetzen. Das Geheimnis der
Macht des westlichen Menschen über andere und seine eigene
Umwelt war, dass er in der Lage war, alle Arten von
Erfahrungen in uniforme und kontinuierliche Einheiten zu
unterteilen, und dadurch schneller handeln sowie Zustände
verändern konnte – also mit andern Worten: über angewandtes
Wissen verfügte. (15)
Autor: Die These vom Medium als Botschaft beschreibt McLuhan zum
ersten Male systematisch in seinem Werk Die Gutenberg
Galaxie, das 1962 in den Vereinigten Staaten erscheint. Die
Erfindung des Buchdrucks verschärft den Prozess, den das
phonetische Alphabet Jahrhunderte zuvor angestoßen hatte,
noch einmal erheblich.
O-Ton: 8 (McLuhan, CD) Printing, printing, printing
O-Ton: 9 (Siegert) Der Buchdruck verändert die Handschrift-Kultur in der
Weise, dass sie das Lesen, das im Mittelalter eine Sache war,
die den ganzen Körper in Anspruch nahm, vom Körper trennt,
den Körper still stellt gegenüber dem gedruckten Buch, dessen
Seiten bedruckt sind mit gleichförmigen typographischen
Einheiten, die alle eine Standard-Größe haben und dann in
Standard-Einheiten zerlegt sind und Standard Seiten bilden, die
wiederum Standard-Kapitel bilden, und die Standard-Kapitel
bilden Standard-Bücher. Dieses Prinzip – das ist McLuhan These
- überträgt das Medium Buch auf seine Inhalte: The medium is
the message.
Autor: Der Medienwissenschaftler Bernhard Siegert.
5

O-Ton: 10 (Siegert) Also gedruckte Bücher neigen dazu, das, was sie
beschreiben, in gleichförmige Einheiten zu zerlegen, die Welt zu
klassifizieren, die Welt zu analysieren, mit Zahlen zu versehen,
mit Indices zu versehen, mit Überschriften, Standard-
Überschriften wie ein Buch.
O-Ton: 11 (McLuhan, CD) Printing, printing, printing
Autor: Der Buchdruck schafft ein Weltbild, das direkt ins mechanische
Zeitalter führt:
Geräusch: Druckmaschinen
Autor: Und seitdem besteht der Terror unserer Tage im Verschwinden
der schriftlichen Welt der Gutenberg Galaxie durch die
Errungenschaften der elektronischen Medien. - Allerdings sieht
McLuhan in diesem Umbruch auch die Chance einer Befreiung,
denn die Welt des Buchdrucks hat zwar zu grandiosen
Fortschritten geführt, aber auch zu einer radikalen Verarmung
des Menschen. – Martin Baltes, McLuhan Experte.
O-Ton: 12 (Baltes) Die Befreiung, (...) die McLuhan den neuen Medien
unterstellt, die bezieht sich vor allem auf eine historische
Verengung, wie sie über die Schrift in die Kultur gekommen ist.
Da geht er von einer Prädominanz des Auges aus - bis dahin,
dass wir unsere Sozialsysteme in Subjekt und Objekte
aufteilen, nicht anders, als das die Grammatik tut.
O-Ton: 13 (McLuhan)
VO: Alles, was das phonetische Alphabet in seiner Dominanz
untergräbt, in seiner Macht, das Auge zum dominierenden
Organ zu machen, beendet diese Zivilisation."
O-Ton: 14 (Baltes) "Der Hörsinn ist aber ein Sinn, der verbindet und der
nicht trennt, er ist ein Nähesinn und kein Distanzsinn. Und wir
werden wieder in so etwas wie in einer Stammeskultur leben.
Wir werden keine Geschichte mehr haben, weil die Geschichte
6

nicht mehr aufgeschrieben, sondern erzählt wird, sich in einen


anderen Text transformiert durch das Erzählen selber. Und
damit werden wir zweifelsohne auch die Vorstellungen von
einem Subjekt, die wir uns im Laufe der Schrift angeeignet
haben, verlieren.
Autor: Dazu muss man zunächst einmal verstanden haben, in welcher
Weise die elektronischen Medien uns umprogrammieren.
O-Ton: 15 (Papagei) The medium is the massage (CD)
O-Ton: 16 (McLuhan)
VO: Fernsehen geht direkt durch ins Nervensystem. Es geht direkt
ins Zwerchfell. Es ist eine innere Reise. Der Fernsehzuschauer
ist high.
O-Ton: 17 (Papagei) The medium is the massage (CD)
O-Ton: 18 (Siegert) Medien sind nicht auf Distanz, und auch unsere Sinne
halten die Realitäten, die ja erst durch die Medien geschaffen
werden, nicht auf Distanz, sondern wir sind eingetaucht – im
Zeitalter der elektronischen Medien. Die elektronischen Medien
sind allesamt taktil, weil sie ja, wie wir wissen, eine
Erweiterung des Zentralnervensystems sind, und damit den
Körper selbst als Außenwelt betrachten, the inside is out and
the outside is in. Und in dieser Weise werden wir von den
Medien eben immer ständig von innen nach außen massiert.
O-Ton: 19 (Papagei) The medium is the massage (CD)
Autor: Und so wird aus der Botschaft: the medium is the message, die
elektronischen Medien sind Massage.
O-Ton: 20 (Breaking) Stimmschwellungen
Autor: Marshall McLuhan starb 1980. In den letzten Jahren seines
Lebens hat er zusammen mit Bruce R. Powers an einem Buch
gearbeitet, das erst 1989 erscheinen wird: The gobal village.
Der Weg der Mediengesellschaft ins 21. Jahrhundert.
7

Musik: (L. Anderson, Freefall)


VO –w.:
1. Zit.: In einer von Elektrik konfigurierten Gesellschaft würden jedem
Einzelnen alle benötigten Informationen zur gleichen Zeit zur
Verfügung stehen, die für alle Schritte von der Produktion bis
zum Vertrieb aller Dinge vom Auto bis zum Zentralrechner
notwendig sind. Kultur wird wie ein elektrisches Netz
organisiert: Ein jeder Punkt ist gleich wichtig.
Autor: Den Begriff "global village" hatte Marshall McLuhan bereits
1962 geprägt – zu einem Zeitpunkt also, wo die
Direktübertragung eines Fußballspiels aus Chile noch unmöglich
war.
1. Zit.: Der elektronische Mensch verliert seinen Bezug sowohl zu den
Vorstellungen eines regelsetzenden Zentrums als auch zu den
Zwängen einer Sozialordnung, die auf gegenseitiger
Verpflichtung aufbaut. Unablässig lösen sich Hierarchien auf
oder bilden sich neu.
Musik: (L.Anderson, Freefall)
VO-w.:
Autor: Das Internet, das Marshall McLuhan nicht kannte und doch auf
verblüffende Weise prognostiziert hat, hat die Weltverhältnisse
in kürzester Zeit umgeschrieben:
1. Zit.: Der Computer, der Satellit, die Datenbank und die gerade
heranwachsenden MultiDienstUnternehmen der
Telekommunikation werden alles zerbrechen, was von dem
alten, auf die Schrift gegründeten Ethos übrigbleibt, indem sie
die Anzahl der Mitarbeiter am Arbeitsplatz verringern, die übrig
gebliebene Privatsphäre zerstören und ganze Nationen durch
die allgemeine Übertragung von unzensierten Informationen
über Nationalgrenzen hinweg mittels unzähliger
8

Mikrowelleneinheiten und interaktiver Satelliten politisch


destabilisieren. 127
O-Ton: 21 (Hagen) Das Internet wird eine ähnliche Zäsur machen in
Bezug auf Nation und Gesellschaftsbildung wie es der
Buchdruck gegenüber den mittelalterlichen Gesellschaften
gemacht hat. Das kann jetzt schon gesagt werden.
Autor: Wolfgang Hagen, Medienhistoriker. –
Musik:
Autor: In den letzten dreißig Jahren wurde nicht nur die Weltkarte in
einem zuvor für unmöglich gehaltenen Maße umgeschrieben,
ebenso ist von dem einstmals halbwegs überschaubaren
Sozialraum namens Gesellschaft wenig mehr übrig geblieben
als ein kakophoner Auflösungsprozess ohne Orientierung.
McLuhan kannte die technologischen Entwicklungen natürlich
nicht im Detail – gleichwohl hat er die Richtung dieser
Entwicklung fast schon prophetisch beschrieben.
Musik: (Tribal)
1. Zit.: Die Implosion der elektronischen Technologie verwandelt den
alphabetisierten, fragmentierten Menschen in ein komplexes
und tiefgründiges menschliches Wesen mit einem tiefen
emotionalen Gespür dafür, dass er in allen Bereichen mit der
gesamten Menschheit verflochten ist. ( ... ) Die 'Freiheit' des
Individuums bedeutet in der alten 'individualistischen'
Buchdruckgesellschaft nichts anderes als Entfremdung und
Dissoziation für einen wurzellosen Außenseiter, dem man seine
tribalistischen Träume geraubt hatte. Unsere neue
elektronische Umgebung zwingt uns dazu, Bindungen
einzugehen und Beziehungen herzustellen. Der Stamm, nur
weil er alle Lebensbereiche umfasst, ist nicht unbedingt
konformistisch.
9

Musik:
Autor: 30 Jahre nach McLuhans Tod hat sich die Medienwelt in einem
für ihn noch unvorstellbaren Ausmaß weiterentwickelt. Und
dennoch bietet er tiefere Beschreibungen der medialisierten
Realitäten als die meisten zeitgenössischen Medienbeobachter.
Was ist also heute in Zeiten von Web 2.0 die "Message" und
was die "Massage"? Inwieweit programmieren die neuen
Medien unsere Orientierung und unsere Weltwahrnehmung?
Was ist überhaupt Web 2.0? Stefan Münker.
Medienwissenschaftler.
O-Ton: 22 (Münker) Der Name stammt von einer amerikanischen
Konferenz, die der Verleger Tim O'Reilly im Jahre 2004
veranstaltet hat.
Autor : Doch eigentlich ist die Bezeichnung Web 2.0 irreführend ... .
O-Ton: 23 (Münker) ... ., weil sich nicht – wie das bei einem
Computerprogramm der Fall ist – grundsätzlich etwas in der
Architektur des Internets geändert hätte. Was sich geändert
hat, ist, dass Plattformen im Netz entstanden sind, die ihre
Inhalte fast ausschließlich von ihren Nutzern beziehen. Das ist
das Phänomen des Web 2.0. ( ... ) Dass Inhalte von ganzen
Seiten fast ausschließlich von Nutzern hergestellt werden, das
ist ein relativ neues Phänomen.
Autor: Als eines der beliebtesten Beispiele für die Leistungsfähigkeit
des Web 2.0 wird gerne auf die Online-Enzyklopädie Wikipedia
verwiesen. "Wiki" ist übrigens das hawaianische Wort für
schnell. Und über Wikis lesen wir in Wikipedia:
2. Zit.: Wikis ermöglichen es verschiedenen Autoren, gemeinschaftlich
an Texten zu arbeiten. Ziel eines Wikis ist es im Allgemeinen,
die Erfahrung und den Wissensschatz der Autoren kollaborativ
auszudrücken. Sie können sowohl auf einem einzelnen Rechner
10

als auch in lokalen Netzwerken oder im Internet eingesetzt


werden.
Autor: Wikis sind schnell, und Wikipedia ist sehr schnell. Gegründet
2001 von Jimmy Wales gibt es die Wikipedia in mehr als 230
Sprachen. 2004 überschritt die Zahl der Artikel die
Millionengrenze, mittlerweile sind es über 10 Millionen
Beiträge. Die deutschsprachige Wikipedia enthält aktuell mehr
als 900.000 Artikel, die englische über 3 Millionen. Zum
Vergleich der gedruckte Brockhaus enthält mal gerade 300.000
Lemmata. Stefan Münker:
O-Ton: 24 (Münker) Der Clou ist, dass die Inhalte in der Wikipedia nicht
von einer Elite von Autoren, wie das in herkömmlichen
Enzyklopädien der Fall ist, die mit ihrem Ruf, ihrer
wissenschaftlichen Reputation bürgen, hergestellt werden,
sondern dass es die Gemeinschaft der Nutzer ist, die an
diesem Artikel weiterschreibt, die korrigieren, was andere
falsch reinschreiben, die das ergänzen. Was sich zeigt ist, dass
der Effekt dieses sich gegenseitig Korrigierens für ein
Hervorbringen von Wissen sorgt, das nicht schlechter ist als die
traditionellen Wissenssysteme.
Musik:
Autor: Web 2.0 heißt: user generierter Content – zu deutsch: von den
Nutzern hergestellter Inhalt. Und es wird unglaublich viel
Content generiert.
O-Ton: 25 (Hagen) Das sogenannte Internet gibt es nämlich gar nicht,
das gibt es nur auf der Ebene dessen, was die Suchmaschinen
zeigen. Das sogenannte dark web, wie die Engländer sagen,
das dunkle Netz, das die Suchmaschinen gar nicht erreichen
können, ist viel viel größer.
11

Autor: Halten wir uns mal an das Sichtbare Netz. - Eines der
erfolgreichsten Internetportale ist youtube. Gegründet 2005
bietet es den Nutzern die Möglichkeit, ihre Videos ins Netz zu
stellen. Ende 2009 gab das Unternehmen bekannt, dass täglich
eine Milliarde Videos aufgerufen werden.
O-Ton: 26 (Youtube Ausschnitte aus verschiedenen Filmen unterlegen)
Autor: Bei youtube finden sich nicht nur zahllose Videos von
Familienurlauben an der Ostsee oder dem letzten Betriebsfest,
youtube ist mittlerweile auch zu einer medialen Quelle
geworden. Davon könnten beispielsweise marokkanische
Polizisten ein bitteres Lied singen, denn seitdem bei youtube
Videos zu sehen waren, wie sie bei Verkehrskontrollen
Bakschisch kassierten, hat sich einiges geändert. Ein anderes
Beispiel sind die Videos aus dem Iran während der
Demonstrationen gegen die Wahlfälschungen. Sie zeigten, was
der normale Journalismus nicht zeigen konnte.
O-Ton: 27 (Iran)
Autor: 2004 wurde Facebook gegründet - eine der größten Social
Communities im Netz. Nach eigenen Angaben umfasst sie
derzeit etwa 140 Millionen aktive Mitglieder.
O-Ton: 28 (Münker) Facebook ist eine Plattform, auf der Menschen
miteinander kommunizieren und tatsächlich auch interagieren
und zwar nicht nur Texte, Bilder, Musik, alles, Teile ihres
ganzen Soziallebens dort offenbaren und mit anderen
vernetzen, sich verabreden auch zu Treffen in der wirklichen
Welt.
Autor: An 50. Stelle der meistbesuchten Websides weltweit liegt
youporn.com, und die Seite hält, was der Name verspricht.
Youporn wird durch Midstream Media International mit Sitz auf
den niederländischen Antillen betrieben. Wer wirklich
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dahintersteckt weiß keiner. Entsprechend kursieren im Netz die


wildesten Vermutungen. Wer will, kann hier jedenfalls sein
Sexualleben veröffentlichen.
O-Ton: 29 (youporn)
Autor: Der ungeheure Reichtum des Web 2.0 besteht in den schier
unerschöpflichen Inhalten, mit denen die Nutzer es füttern. Ein
anderes Beispiel für die Produktivität des Netzes ist die
Entwicklung von open-source-software. Kostenlose Software,
die von Tausenden von Nutzern im Netz ständig weiter
entwickelt wird. Etwa das Betriebssystem Linux ist so als
ernsthafte Konkurrenz zu Microsoft entstanden. Die Mozilla-
Foundation hat den Browser Firefox und das Mailprogramm
Thunderbird als open-source-software entwickelt.
Musik:
Autor: Web 2.0 ist die Chiffre für ein außerordentlich lebendiges
Netzwerk als Kommunikations- und Lebensraum. - Peter Kruse
ist Professor für Netzwerktheorie. Ursprünglich kommt er aus
der Hirnforschung – und von da ist es nicht weit zum Netzwerk,
denn ... .
O-Ton: 30 (Kruse) Das Gehirn ist einfach mit großem Abstand das
vernetzteste System auf der Welt. Sie können mit einer
gewissen Vereinfachung sagen: Es gibt drei Grundsysteme, die
man hat: Das ist auf der einen Seite das System der
Aktivierung der Aufmerksamkeit, das ist das vertikuläre
System. Sie müssen also, wenn Sie etwas mit dem Gehirn
machen, es in Aufmerksamkeit versetzen. Das Zweite ist dann
der Kortex, der ist dann massiv miteinander vernetzt. Das ist
das System, bei dem Verbindung, Vernetzung die Hauptrolle
spielt.
13

1. Zit.: (McLuhan, entrückt) Kultur wird wie ein elektrisches Netz


organisiert: Ein jeder Punkt ist gleich wichtig.
O-Ton: 31 (Kruse) Und dann haben wir noch ein drittes System, was sehr
wichtig ist, das ist das System der Bewertung, der Bedeutung,
das limbische System. Es ist eigentlich der Dreiklang zwischen
den Systemen Aktivierung, Vernetzung, Bewertung, der
Intelligenz ausmacht. Und wenn Sie jetzt die Grundmetapher
des Gehirns auf das Internet übertragen, dann können Sie
sagen: Aktivierung und Aufmerksamkeit, das funktioniert im
Internet wie verrückt, das schaukelt sich auf. Bei dem Thema
Verbindung, Vernetzung, das ist technisch gegeben, aber auch
mit den sozialen Netzen zwischen den Netzen immer mehr der
Fall. Die Dichte in diesen Netzwerken ist sehr hoch. Das
Grundproblem ist das Problem der Bewertung und der
Bedeutung.
Autor: Netzwerke ähneln im Aufbau dem menschlichen Gehirn. Und
Web 2.0 wird so zu einer Art Hyperhirn, das viele, sogar sehr
viele Hirne verschaltet.
O-Ton: 32 (Siegert, aus einer gewissen Entfernung) Die elektronischen
Medien sind allesamt taktil, weil sie ja, wie wir wissen, eine
Erweiterung des Zentralnervensystems sind, und damit den
Körper selbst als Außenwelt betrachten, the inside is out and
the outside is in. Und in dieser Weise werden wir von den
Medien eben immer ständig von innen nach außen massiert.
Autor: Allerdings laboriert auch das neue Hyperhirn an den alten
Menschheitsproblemen: Was macht Sinn und was nicht? Was
ist was? Und was ist wichtig für mich? Neu ist, dass jeder
Zugang zu fast allen Informationen hat, dass jeder Stimme
sein kann und neu ist die riesige Menge der Teilnehmer.
14

O-Ton: 33 (Kruse) Sie müssen sich mal vorstellen, welche permanente


Suchbewegung das Netz in sich selbst darstellt. Das ist
sozusagen ein riesiger Rauschapparat, der permanent screent
aus Millionen und Abermillionen Menschen.
1. Zit.: (McLuhan, entrückt) Der elektronische Mensch verliert seinen
Bezug sowohl zu den Vorstellungen eines regelsetzenden
Zentrums als auch zu den Zwängen einer Sozialordnung, die
auf gegenseitiger Verpflichtung aufbaut. Unablässig lösen sich
Hierarchien auf oder bilden sich neu.
Autor: Das große Problem besteht darin, Komplexität zu reduzieren:
die Komplexität der Masse an Teilnehmern, der Masse an
Informationen und der Bewertung. Und so finden sich im Netz
eine Fülle von Subwelten, von Kleingruppen, von
Gemeinschaften.
O-Ton: 34 (Kruse) Dadurch, dass wir inzwischen sehr viele Mechanismen
kreisender Erregung eingebaut haben, wo sozusagen etwas in
die Selbstverstärkung gehen kann. Wenn ich tweete und
retweete, wenn ich etwas zurückspeise, macht man sich
wahrscheinlicher in der Auffindung.
Autor: Wer sich auf facebook angemeldet hat, kommuniziert ja nicht
mit 100 Millionen anderen Mitgliedern, sondern mit einem
Freundeskreis, den er selbst ausgewählt hat. Und das können
ein paar wenige, aber auch viele sein. Peter Kruse sieht in den
sozialen Netzwerken eine Art Übungsraum:
O-Ton: 35 (Kruse) Wenn Sie sich anschauen, was mit den sozialen Netzen
im Netz geschieht, dann ist das ein sinnvoller Zwischenschritt,
um das Grundproblem des Netzes etwas zu reduzieren, und das
ist die Bewertung der Information. Wir haben einen ungeheuren
Reichtum an Information, einen enormen Realtime-Strom und
15

ich bin darauf angewiesen, Musterbildungen darin


vorzunehmen, Komplexität zu reduzieren.
Autor: In gewisser Weise schafft das Netz selbst eine solche
Bewertung durch seine Teilnehmer, denn wenn ich etwas
Interessantes anzubieten habe, dann verweisen viele Links auf
mich, die wiederum Aufmerksamkeit verstärken.
O-Ton: 36 (Kruse) Das läuft schon so, dass wir sozusagen
Bewertungskreise bauen, das heißt dass einzelne Leute zu
Ankerfiguren der Bewertung werden. Wenn Sie dann so eine
Art Netzwerkknoten geworden sind, dann ist die Bewertung,
die Sie geben, bedeutungsvoller als die, die jemand anderer
gibt.
Autor: Klingt so als seien wir wieder in der guten alten Realität
gelandet. Frank Schirrmacher schreibt ein Buch, und alle lesen
es. Das letzte Buch des Mitherausgebers der FAZ heißt:
Payback. Warum wir im Informationszeialter gezwungen sind zu
tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über
unser Denken zurückgewinnen. Nicht mehr und nicht weniger.
Doch leider verrät er uns nicht, wie die Kontrolle über unser
Denken denn mal ausgesehen hat und wie sie in Zukunft
aussehen könnte. McLuhan hatte stets betont, welche
zivilisatorischen Verwerfungen die neuen Technologien
bedeuten:
O-Ton: 36a (McLuhan)
VO: Ich weiß nicht, wie man die westliche Welt beschreiben will, die
dabei ist sich selbst zu zerstören durch ihre neuen
Technologien, ebenso wie die orientalische Welt, die wir
verwestlichen und dadurch zerstören. Ich weiß nicht, ob das
gut oder schlecht ist, weil ich nicht weiß, wie ein Urteil auf
dieser Skala aussieht.
16

Autor: Irgendwie scheint Schirrmacher die Zerrüttung des Abendlands


im eigenen Nervenkostüm zu spüren, aber er sieht vor allem
wohl die Bedrohung seiner Spezies und stürzt sich in die
Abwehrschlacht.
O-Ton: 37 (Kruse) Man hat Journalisten gebraucht, um aus der Menge der
Informationen Dinge herauszufiltern, sich zusammenzustellen,
das dahinterliegende Muster zu verstehen. ( ... ) Das Einzige,
was den Unterschied macht, dass die Gatekeeper Funktion, die
die Medien hatten, wegfällt. Das heißt, Sie haben plötzlich ein
System, wo jeder solche Bewertungsfunktion bekommen kann,
wenn das Netz ihn entdeckt. Wenn sie etwas anbieten, was
den Menschen sinnvoll erscheint, dann konzentrieren sich
plötzlich viele Links auf Sie. Und Sie brauchen dann nicht mehr
eine Zeitung zu besitzen. ( ... ) Und das ist das Irre am Netz,
Sie sind sozusagen nicht mehr mächtig, weil Sie der
gatekeeper zu einer Information sind, Sie sind nicht mehr
derjenige, der die Tür auf und zu macht. Die Tür steht immer
auf. Aber Sie müssen etwas hinter der Tür haben, was attraktiv
ist.
Musik:
Autor: Kürzlich ist ein Buch erschienen, das allein davon handelt, wie
man mit den Mitteln des Web 2.0 Wissens- und
Informationsprozesse organisieren könnte, also ein
intelligentes Netzwerk. Es heißt Infotopia und trägt den
Untertitel: "Wie viele Köpfe Wissen produzieren". Autor ist der
amerikanische Jurist und Politikwissenschaftler Cass R.
Sunstein, Professor an der Harvard Law-School. Inzwischen ist
er auch Leiter des Amts für Information und Regulation in der
US-Administration des Präsidenten Barack Obama. Sunstein
schreibt:
17

2. Zit.: Informationen sind über die gesamte Gesellschaft verstreut.


Die meisten Menschen auf dieser Erde verfügen über
Informationen, von denen andere profitieren könnten. Gruppen
und Institutionen scheitern jedoch oft darin, die den einzelnen
zur Verfügung stehenden Informationen zu sammeln. Im
Ergebnis begehen sie vermeidbare und manchmal
verhängnisvolle Irrtümer.
Autor: Sunstein beschreibt ausführlich, warum herkömmliche Prozesse
der Entscheidungsfindung und Informationsgewinnung oft
scheitern: nämlich wegen bestimmter gruppendynamischer
Prozesse, Hierarchien, Voreingenommenheiten oder wegen der
Geschlossenheit von Expertengruppen. Mit einem Wort,
bestimmte Routinen und sekundäre Einflüsse verhindern
Kreativität. Es fehlen externe Blicke, überraschende
Beobachtungen, sperrige Meinungen. Und Sunstein findet
Abhilfe im Netz:
2. Zit.: Das Internet eröffnet in dieser Hinsicht zahllose neue
Möglichkeiten ( ... ). Hierzu gehören groß angelegte
Befragungen, Diskussionsforen, Prognosemärkte, Bücher und
Ressourcen, die von allen bearbeitet werden können, sowie
offene Partizipationsmöglichkeiten in Kombination mit
verschiedenen Verfahren des Filterns und Sortierens.
Autor: Sunstein möchte Wissen in Netzwerken erzeugen. Man staunt
ein wenig. Entsteht Wissen nicht längst in Netzwerken, an
denen viele Menschen mitarbeiten - ein Gebäude, an dem
durch Kritik, Diskussion und Innovation Stockwerk um
Stockwerk fortgebaut wird? Mit Sicherheit lassen sich mit den
Möglichkeiten des Web 2.0 da noch einige Fortschritte erzielen.
Doch alles in allem: ist das so umwerfend neu? - Man versteht
vielleicht besser, worum es Sunstein geht, wenn man eines
18

seiner Zentralbeispiele für misslungene


Informationsauswertung betrachtet.
2. Zit.: Sehen wir uns als ein Beispiel für ein schwerwiegendes
Versagen der ( ... .) [beratschlagenden Diskussionen] in der
wirklichen Welt den Bericht des Senats ( ... ) aus dem Jahre
2004 an. Dieser Bericht beschuldigt die Central Intelligence
Agency (CIA) ausdrücklich des Gruppendenkens, durch das
deren Prädisposition, im Irak eine ernstzunehmende Bedrohung
zu erkennen, dazu führte, dass weder alternative Möglichkeiten
weiterverfolgt noch die Informationen der Beschäftigten zur
Kenntnis genommen und genutzt wurden.
Autor: Dieser Bericht wirft der CIA nichts anderes als Konformismus
und Voreingenommenheit vor. Anders gesagt: die CIA hat sich
dem politischen Druck gebeugt und schlicht und einfach ihren
Amtsauftrag nicht erfüllt. Glaubt Sunstein nun im Ernst, die CIA
hätte sich via Internet externe Kritiker oder Experten
zuschalten müssen, um der Falle des Gehorsams zu entgehen.
Denkt Sunstein wirklich, das wäre eine Frage von unbekannten
oder unerwünschten Informationen gewesen? Man möchte den
Kopf schütteln über soviel Naivität.
Musik:
Autor: Doch nehmen wir das mal einen Moment Ernst, dann zeigt sich
etwa ganz anderes, dann beschreibt Sunstein eine Welt, die an
ihrem Konformismus, an ihren Zwängen, an ihrer Einseitigkeit
erstickt, desorientiert taumelt. Wie das Beispiel der
systematischen Kriegsvorbereitungen gegen den Irak schön
zeigt: Jeder hat wissen können, dass es keine Beweise für
Massenvernichtungswaffen im Irak gab, jeder hat sehen
können, dass die angeblichen Beweise entweder nichts
bewiesen oder auf geradezu plumpe Weise gefälscht waren.
19

O-Ton: 37a (Bush)


Autor: Jeder an seiner Stelle, ob in der Politik, im Journalismus oder
im Heer der militärischen und außenpolitischen Experten hat
das gesehen und eben nicht sehen wollen. Man braucht keine
Wikis und keine komplizierten Ausflüge ins Web, um zu
versehen, dass selbst wenn es im Irak Anzeichen für
Massenvernichtungswaffen gegeben hätte, die USA keinen
Recht auf diesen militärischen Überfall gehabt hätten.
O-Ton: 37b (Blair)
Autor : Es gab nie ein Informations- oder Wissensproblem. Es gab und
gibt etwas anderes: eine Welt, die in konformistischen Routinen
erstarrt ist.
O-Ton 37c (Bush)
Autor: In Wahrheit sucht Cass Sunstein also fast verzweifelt, nach
einer modernisierten Öffentlichkeit, die der Realität gewachsen
ist. 280 Seiten lang grübelt er darüber, wie man wieder
unerlaubte oder unerwünschte Informationen ins System
schmuggeln könnte. Das Buch handelt davon, dass in unserer
Realität keine Realitäten mehr ausgehandelt werden. Und Peter
Kruse erklärt, warum Netzwerke da besser sind:
O-Ton: 38 (Kruse) Wenn Sie ein System haben, das mit einem hohen
Grundrauschen arbeitet, wo also viel Aktivität aus ganz
verschiedenen Kanälen kommt, dann ist die Wahrscheinlichkeit,
dass sich ein real nicht resonanzfähiger, sondern ein künstlich
gepuschtest Resonanzmuster durchsetzt sehr gering. Im Prinzip
ist es durch die extremen Rückkoppelungseffekte, die in
Netzwerken stattfinden, unwahrscheinlich, dass man die
künstlichen Muster aufrecht erhalten kann. Wenn Sie
demagogisch vorgehen wollen in einem frei interagierenden,
also selbstorganisiertem Netz, dann ist das nahezu unmöglich.
20

Musik:
Autor: Was Kruse und Sunstein im Web suchen, sind nicht einfach
Fortschritte des spezialistischen Wissens, sind nicht bloß
bessere Zugänge zu Informationen, sondern neue Prozesse der
Vernetzung, Prozesse der Kommunikation, Prozesse einer
neuen Öffentlichkeit, die Orientierung herstellen sollen. Wie
kommunizieren wir, damit wir eine Welt hervorbringen, in der
wir uns und die Welt verstehen? Das führt aber dann sehr viel
weiter als ein bisschen mehr Demokratie, ein bisschen mehr
Partizipation, das sind grundlegende Umbauten im Gerüst des
abendländischen Denkens, das sind epochale Zäsuren der
Vergesellschaftung. Es geht auch darum, wie wir uns in der
Welt bewegen und anderen begegnen. Dieses Surfen bewegt
sich weder in Raum noch Zeit, sondern es ist eine Bewegung
auf einer fließenden Benutzeroberfläche.
Musik:
1. Zit.: (McLuhan) Der elektronische Mensch verliert seinen Bezug
sowohl zu den Vorstellungen eines regelsetzenden Zentrums als
auch zu den Zwängen einer Sozialordnung, die auf
gegenseitiger Verpflichtung aufbaut. Unablässig lösen sich
Hierarchien auf oder bilden sich neu.
Autor: Damit sind wir wieder bei Marshall McLuhan. Wie steht es also
mit der Ausdehnung unseres Zentralnervensystems? Was
geschieht mit uns?
O-Ton: 39 (Kruse) Ich glaube, wir sind in einer Situation, wo wir eine
Komplexität und Dynamik der Welt erzeugen, die wir nicht
mehr als Individuen bewältigen können. Das heißt es geht jetzt
ein bisschen darum: Wie können wir die Lernprozesse, die wir
haben vom Individuum zur Gruppe, zum Netzwerk entwickeln.
Wie schaffen wir es real, kollektive Intelligenz zu
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implementieren. Wie schaffen wir das, dass das Ganze mehr ist
als die Summe der Teile.
Autor: Das Leben in Netzwerken ist vielleicht das, was McLuhan als
Prozess der Tribalisierung prophezeit hat:
O-Ton: 40 (McLuhan) CD, S. 20
VO: Wir haben wieder damit begonnen, das ursprüngliche Fühlen zu
errichten, die Stammesemotionen, von denen wir während
einiger Jahrhunderte der Schriftlichkeit getrennt waren. Der
Prozess der Tribalisierung, der innere Trip, die tiefe Beteiligung
bei der Erfahrung einer vereinigten Menschenfamilie – das ist
etwas, wovon wir Jahrhunderte lang keine Erfahrungen hatten.
Autor: Das klingt magisch, und es ist magisch. Es geht aber nicht um
das Trommeln im Urwald, sondern um die Art und Weise von
Orientierung. Der Stamm, so liest man bei Wikipedia, ... .
2. Zit.: ... ist eine Gruppe von Menschen, die sich zusammengehörig
fühlt, jedoch nicht unbedingt einen geschlossenen
Siedlungsraum einnimmt.
O-Ton: 41 (Kruse) Wenn das ein Kulturraum ist, und ich glaube, es ist ein
Kulturraum, dann finden dort Diskurse in einer großen
Geschwindigkeit statt, in einem ganz anderen Scaling statt. Die
Menschen haben erst für sich entdeckt, dass man dort
Informationen bekommt, ( ... ) dann haben sie festgestellt,
dass das Netz einfach phantastisch ist, wenn man dort Spuren
hinterlässt, weil man sich als Mensch wiederfindet, in dem, was
man da getan hat.
O-Ton:41a Wenn wir uns zehn Jahre in die Zukunft denken, dann wird die
Gegenwart ganz anders aussehen. In zehn Jahren werden wir
relativ genau angeben können, was wir vor fünf Jahren
gemacht haben, wen wir getroffen haben usw. Es kommen
relativ viele Daten zusammen und die Daten werden
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abgeglichen und man wird darüber irgendwie Verfügungsgewalt


haben, hoffe ich.
Autor: Stefan Heidenreich,
O-Ton: 41a (Heidenreich, Forts.)Das Problem heute ist ja nicht, dass zu
viele Daten ins Netz kommen, sondern dass man nicht weiß, wo
die Daten sind und keiner verpflichtet ist, einem einen Report
zu schicken. ( ... ) Wir treten eigentlich, was die Daten
anbelangt, aus einer Art Dunkelheit heraus und zwar gerade
jetzt in diesen Jahren. Die Datendichte wird immer weiter
zunehmen und in zehn Jahren wird man in einer relativen
Helligkeit operieren. ( ... ) Die Verfügbarkeit über die eigene
Vergangenheit und dieser Eindruck aus einer dunklen Zeit
aufzusteigen, der wird relativ mächtig sein.
O-Ton: 41 (Kruse, Forts.) Und das, was Sie dort im Moment entdecken,
ist schlicht Macht. Sie merken, dass sie sich über die Netze
mächtig organisieren können – und damit sind wir natürlich
beim Thema Gesellschaft. Gesellschaft ist immer ein
Aushandeln von Machtverhältnissen, wer hat Zugang zu
Ressourcen usw.? Und das findet im Netz auf eine neue Art
statt. Das heißt die Menschen organisieren sich machtvoll in
diesen Netzen und greifen in gesellschaftliche Kontexte ein.
O-Ton: 42 (Hagen) Mich wundert es nicht, dass moderne
Religionswissenschaftler mir sagen, die Menschen waren noch
nie so spirituell orientiert, wie in dieser Moderne. Jeder zweite
hat einen praktizierten oder nicht praktizierten Aberglaube.
Autor: Wolfgang Hagen, Medienhistoriker
O-Ton: 43 (Hagen) D. h, die Fixierung auf die Oberflächen und die
Oberflächen der Oberflächen ist eine durchaus schwierige
Diagnose, weil sie ja zur Weltbewältigung nicht unbedingt
beiträgt.
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Autor: Das mag man als problematisch empfinden, aber hat es nicht
vielleicht mit dem Orientierungsangebot der Moderne zu tun?
O-Ton: 44 (Hagen) Grundfragen werden nicht mehr gestellt. Sie können
heute niemanden mehr an den Universitäten mit einem
Seminar über die transzendentale Konstitutionsbedingungen
des Denkens fesseln. Das ist den Leuten völlig wurscht, auch
welche Geschichte irgendetwas hat ( ... ) gibt's das überhaupt
Geschichte? Interessiert doch kaum jemanden. Die neuen
Oberflächen, mit denen die digital natives aufwachsen, sind
permanente Angebote und Reorganisationen von Vernetzung.
Also auch das Denken bewegt sich in einem permanent sich
verschiebenden Gewebe von sich verändernden Netzwerken,
des Interesses und der analytischen Tiefe.
Autor: Die spezifische Intelligenz von intelligenten Netzwerken
besteht auch nicht im Spezialistentum, sondern in den
komplexen Prozessen der Bewertung. Insofern wäre es nicht
besonders interessant, Kants Theorie im Netz so zu
diskutieren, wie sie seit 200 Jahren an den Universitäten rauf
und runter diskutiert werden. Im Netz würde es wahrscheinlich
eher darum gehen: Welche Anschlussfähigkeiten bieten Kants
in radikalem Fachjargon verschlüsselten Theorien? Welche
existentiellen Orientierungen erlauben Sie. Ein
Philosophieprofessor weiß in der Regel so viel oder so wenig
wie jeder andere, was ihn umtreibt. Er vertritt universelle
Theorien, die auf so etwas wie Wahrheit hinauflaufen, auf eine
Natur der Dinge. Die Intelligenz in intelligenten Netzwerken
sucht etwas anderes.
O-Ton: 45 (Kruse) Früher hieß es: Handlungsmotiv sucht Netzwerk, heute
heißt es: Netzwerk sucht Handlungsmotiv. Da ist etwas, das
ständig wartet.
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Autor: Und da ist etwas, das antwortet.


Musik:
1. Zit.: (McLuhan, entrückt) Die Implosion der elektronischen
Technologie verwandelt den alphabetisierten, fragmentierten
Menschen in ein komplexes und tiefgründiges menschliches
Wesen mit einem tiefen emotionalen Gespür dafür, dass er in
allen Bereichen mit der gesamten Menschheit verflochten ist.
Autor: Tiefgründig im Sinne McLuhans ist wahrscheinlich nicht die
Transzendentalphilosophie von Immanuel Kant, sondern das,
was sie als Aufgabe hinterlassen hat: komplexe Bewertung,
Sinnentwürfe. Bewertung lässt sich nicht deduzieren, ableiten.
ewertung hat mit komplexen Intuitionen zu tun und dem
Vermitteln und Verhandeln von komplexen Intuitionen. Was die
Geschichte taugt, die ich hier erzähle, darüber entscheidet
keine Theoriekommission, sondern die Rezeption und die Kritik
derer, die sie hören, aber im Radio eben nicht diskutieren
können. Insofern knüpft die avancierteste Netzwerkintelligenz
an eine alte Bildungsvorstellung an:
O-Ton: 46 (Kruse) Wenn wir im Internet nur statistisch bewerten können,
dann müssen wir sicher stellen, dass die Menschen, die sich im
Internet bewegen, möglichst viel Allgemeinbildung haben, dh,
das Thema Bildung kommt notgedrungen mit dem Netz auf uns
zu. Und zwar keine Bildung, die spezialisiert ist, sondern
Breitenbildung, ganz breit, altes humanistisches Bildungsideal,
je breiter, je unspezifischer um so besser. Weil diese Netze
bieten mir eine Menge spezifischer Informationen, die ich
einordnen muss, und wenn ich diese Einordnung nicht mehr
leisten kann, dann ist diese Information nichts Wert.
usik:
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Autor: Netzwerke sind durchpulst von einer ungeheuren Suche. Alle


können auf alle reagieren und alle können sich an allen
orientieren. Und es werden keine universellen Wahrheiten
ermittelt, sondern nur "gewordene Wahrheiten", keine
abgeleiteten Wahrheiten, sondern aus was für Gründen auch
immer attraktive Wahrheiten. Der französische
Netzwerktheoretiker BrUNO Latour schlägt vor von "gut oder
schlecht komponiert" zu sprechen.
Musik: Van Morrison, No guru, no method, ...
O-Ton: 47 (Kruse) Wenn Sie sich das Web 2.0 ansehen, dann haben Sie
eine Entwicklung vor sich, die deshalb problematisch ist, weil
sie so erfolgreich war. Wir haben mit Web 2.0 eine
Beteiligungsmetapher nach vorne getrieben, das heißt wir
haben weltweit HundertTausende und AberhundertTausende
zur Beteiligung eingeladen. Was funktioniert hat in diesem
Netzwerk, ist Vernetzung, was auch noch funktioniert hat – das
kriegt man mit, wenn man sich youtube anschaut – ist
Erregung. Es finden Hypes statt. Es schaukeln sich Dinge
innerhalb kurzer Zeit hoch. Aber was überhaupt nicht
funktioniert hat, ist Bewertung. Und Sie bekommen ein System
nicht intelligent ohne Bewertung. Das heißt, wenn sich
HundertTausende Menschen beteiligen, stellt sich automatisch
die Frage: Was von dem, was wir da machen, ist überhaupt
bedeutungsvoll? Was von dem, was da gemacht wird, ist Wert
wahrgenommen zu werden? Ein System, das Masse erzeugt
ohne qualifizierte Bewertung, erstickt an sich selbst.
Autor: Mit andern Worten, das Web 2.0 ist einstweilen noch eine
riesige Baustelle, ebenso komplex und desorientiert wie die
komplexe und dynamische Welt, deren Wunden sie heilen soll.
Das Leben im Netzwerk lebt noch lange nicht:
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O-Ton: 48 (Hagen) Die 90:9:1 Regel heißt im Falle von Web 2.0: 90
Prozent gucken trotzdem immer noch nur und tun gar nichts,
9 Prozent tun ganz gelegentlich mal ein bisschen was rein und
nur ein Prozent der Netzuser sind wirklich ein aktiver Teil, die
etwa genauso viel rezipieren wie sie produzieren. Eigentlich
nur ein verschwindender Teil, der allerdings eine ganze Reihe
von Veränderungen schon, vor allem im journalistischen
Bereich, gebracht hat. Und dieses eine Prozent gemessen an
der riesigen Masse, ist eine sehr große Menge von Menschen.
Autor: Als Tim O'Reilly 2004 den Begriff Web 2.0 geprägt hat, hat er
sich ihn sogleich als Geschäftsmodell gesichert. Mit anderen
Worten: Web 2.0 ist nicht erfunden worden, um die Menschheit
zu beglücken, sondern als riesige Gewinnmaschine. Und wie
man weiß, hat das Netz einigen wenigen innerhalb kürzester
Zeit immensen Reichtum beschert. Wenn man die Sache so
betrachtet, kann man vielleicht die Skepsis der
Medienwissenschaftlerin Martina Leeker gut verstehen:
O-Ton: 49 (Leeker) Was das Web 2.0 mit uns macht, ist, dass es uns
ganz schön verulkt. Oder: Nicht das Web 2.0, sondern die
Entwicklungen, die darin passieren oder bestimmte Leute, die
ein Interesse an Web 2.0 haben, vor allem an den Daten, und
die mit den Daten Geschäfte machen.
O-Ton: 50 (McLuhan, entrückt) Alle Medien sind Ausdehnung
menschlicher Fähigkeiten – seien sie psychisch oder physisch.
– Das Rad ist eine Ausdehnung des Fußes ... ... (ausblenden)
O-Ton: 51 (Leeker) Dieses anthropomorphe oder anthropozentrische
Denken, was McLuhan hat, wo der Mensch zur Prothese der
Maschine wird und die Maschine irgendwie in Kontakt mit dem
Menschen steht. Das ist höchst angezweifelt. Und aus meiner
Sicht völlig zurecht. Man kommt zu anderen Denkweisen, wenn
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man die Medien, die Technik eine Welt für sich sein lässt, die
durchaus von Menschen erfunden wurde, aber dann ist es
etwas Fremdes, was den Menschen zwar Dinge ermöglicht,
aber..
O-Ton: 52 (Hagen) Neu ist, dass die Struktur dieser medialen Umgebung
durchweg programmiert ist. Das bedeutet, wir sehen immer
nur die Oberflächen. Wenn Sie nicht programmieren können,
verstehen Sie überhaupt nicht, wie dieses Netz funktioniert,
sind geblendet von Oberflächen und den Oberflächen von
Oberflächen.
O-Ton: 53 (Heidenreich)
O-Ton: 54 (Leeker) Man schickt mir nette Filmchen zu, guck mal dieses
guck mal jenes ( ... ) ich bin so gefesselt und so gebannt, das
ist ein Effekt der Blendung, Faszination, der Bannung, sodass
ich gar nicht mehr darüber nachdenken kann.
O-Ton: 55 (Hagen) Web 2. 0 ist auch eine Kette von neuen Software
Entwicklungen. ( ... ) Dahinter stecken auch neue
Servertechnologien. Also, wenn Sie sich mal überlegen, wie
mache ich das eigentlich, dass ich 300 Millionen Youtube-
Nutzern eine Performance zur Verfügung stelle, (..) das auf
300 Millionen Computern gleichzeitig jeder Film in
Millisekunden verfügbar ist.
Autor: Genauso hatte Tim O'Reilly das Geheimnis von Web 2.0
definiert:
O-Ton: 55a (O'Reilly)
VO: Unter Web 2.0 ist zu verstehen, dass ein Netzwerk eine
Plattform ist. Und beim Netzwerk als Plattform gelten andere
Regeln, um Geschäfte zu machen. Und die zentrale Regel ist:
Benutzer fügen Werte hinzu. Und herauszufinden, wie man
Datenbanken bauen kann, die besser werden, je mehr Leute
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sie benutzen, ist im Grunde das Geheimnis jeden Web 2.0-


Unternehmens.
O-Ton 55b (Hagen, Forts.) Dahinter stecken extreme
Ingenieursleistungen an vernetzten und miteinander in
sogenannten clouds – Wolken – verbundene Server-Farmen.
Wir reden hier nicht über 1000 oder 5000 Server, sondern von
Größenordnungen im sechsstelligen Bereich, die so
miteinander verbunden sind, dass Sie weltweit eine
Performance für das Internet haben, in Neu Delhi wie Los
Angeles oder in Zürich. Und das ist natürlich ein
technologischer Sprung, den man nicht verachten darf, ( ... )
der jedenfalls für das, was kommen wird, ziemlich
ausschlaggebend sein wird.
O-Ton: 56 (Leeker) Wenn das Web 2.0 so viel besprochen wird, wo die
Macherinnen so toll vorkommen, das verdeckt eigentlich diese
Vorgänge, dass wir als Macher längst abgeschafft sind, dass
also die, die wir meinen, dass wir das alles in der Hand haben,
dahinter ist eine Welt, in der nur noch Daten zählen, auch ich
als Käufer von Daten noch eine Rolle spiele, aber wo es um
den Menschen schon lange nicht mehr geht, wo die Dinge sich
selbst organisieren können.
Autor: Das ist der Stand der Dinge: Es gibt zwei ganz unterschiedliche
Perspektiven auf das Web 2.0: Auf der einen Seite bietet es
verheißungsvolle und aufregende Möglichkeiten einer neuen
Verständigung und Selbstverständigung in intelligenten
Netzwerken, auf der anderen Seite verstehen wir die
Programme nicht, die uns diese Verständigung so scheinbar
freundlich absichtslos ermöglichen. Mit einiger
Wahrscheinlichkeiten wird sich unsere Zukunft auf diesem
Schlachtfeld entscheiden.
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Musik:
Absage: Web 2.0. Leben als Netzwerk. Feature von Walter van Rossum.
Es sprachen: Volker Risch, Simon Roden, Thomas Pelzer und
der Autor. Ton und Technik: Anna D'Hein und Hendrik Manook.
Regie: Walter van Rossum. Eine Produktion des
Deutschlandfunks 2010. Redaktion: Sabine Küchler.
Musik:
1. Zit.: Statt sich in eine Ecke zu verkriechen und darüber zu jammern,
was die Medien mit uns anstellen, sollte man zur Attacke blasen
und ihnen in die Elektroden treten.
O-Ton: (Papagei) Marshall McLuhan

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