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T E ILDR UCK

ITE R T E R
ERWE K APITEL 1 (GK )
philo
Qualifikationsphase

herausgegeben von Bernd Rolf und Jörg Peters


erarbeitet von Klaus Draken, Matthias Gillissen,
Jörg Peters, Martina Peters und Bernd Rolf

C.  C.  BUCHNER
philo – NRW
Qualifikationsphase

Unterrichtswerk für Philosophie in der Sekundarstufe II

herausgegeben von Bernd Rolf und Jörg Peters


erarbeitet von Klaus Draken, Matthias Gillissen, Jörg Peters, Martina Peters und Bernd Rolf

TEILDRUCK
ERWEITERTER
EL 1 (GK )
K APIT

1. Auflage, 1. Druck 2015


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Dieses Werk folgt der reformierten Rechtschreibung und Zeichensetzung. Ausnahmen bilden Texte,
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ISBN des Gesamtbandes: 978-3-7661-6697-5


DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Menschen-Bilder 4

DER MENSCH ALS NATUR- DER MENSCH ALS FREIES UND


UND KULTURWESEN SELBSTBESTIMMTES WESEN
Der Mensch als Produkt der Evolution 6 Ist unser Wille frei? 52
Evolution durch natürliche Auslese 8 Vollständig determiniert 54
Recht des Stärkeren? – Der Sozialdarwinismus 10 Willensfreiheit auf dem Prüfstand 56
Unser evolutionäres Erbe 12 Freiheit = Unbedingtheit? 58
Mängelwesen Mensch 14 Freiheit als Selbstbestimmung 60
Der Mensch – ein Kulturwesen 16 Freiheit versus Determination 62
> >
M E THOD E N KO M PET ENZ : M E T H O D E N KO M P E T E N Z :
1

Eine philosophische Textanalyse und Philosophische Positionen miteinander vergleichen (I)


-interpretation verfassen
Zur Freiheit verurteilt 64
Braucht der Mensch Institutionen? 18 Der Mensch als Selbstentwurf 66
Der Mensch als Arbeiter 20 Freiheit in einer Welt voller Widerstand 68
Der handelnde Mensch 22 Determination durch Unbewusstes? 70
Symbolgebrauch und Sprache 24 Das bedrängte Ich 72
Kulturgut Spiel 26 Freiheit, Verantwortung, Strafe 74
Kultur – kritisch betrachtet 28
Wissen kompakt 76
Wissen kompakt 30

Gesamtübersicht 78
DAS VERHÄLTNIS Begriffsglossar 80
VON LEIB UND SEELE
Was macht mich zum Ich? 32
Ich – eine Illusion? 34
Ich-Gewissheit 36
Körper und Seele –
zwei unterschiedliche Substanzen 38
Die Seele als Teil des Körpers 40
Der Mensch – beseeltes Wesen
oder Körpermaschine? 42
>
M E THOD E N KO M PET ENZ :
1

Eine philosophische Position rekonstruieren

Bin ich mein Gehirn? 44


Das psychophysische Problem 46
Ein Dualismus von Eigenschaften 48
Wissen kompakt 50
Menschen-Bilder
A Betrachten Sie die beiden Abbildungen und besprechen Sie
Fragen, die Ihnen dazu in den Sinn kommen.
Diskutieren Sie anschließend die Aussagen in den Sprechbla-
sen in Gruppen und stellen Sie Ihre Ergebnisse im Plenum vor.

Sind Gedanken und


Gefühle eigentlich dasselbe
wie die Vorgänge in unserem Der Mensch hat
Körper bzw. im Gehirn? Persönlichkeit, Geist und Seele.
Das unterscheidet ihn vom Tier.
DAS MENSCHENBILD DER FORSCHUNGEN ZUR KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ (LK) 5

Wenn wir wie eine


Maschine funktionieren,
dann sind wir doch vollstän- Wer den Menschen ausschließlich
dig festgelegt. Wie kann es als Naturwesen betrachtet, der
da Freiheit und Selbstbe- übersieht, wie stark unser Leben durch
stimmung geben? kulturelle Faktoren bestimmt wird.

Ich bin fest davon über-


zeugt, dass die Frage der
Künstlichen Intelligenz ent-
scheidend für unsere Zukunft
ist. Vielleicht lösen Roboter
uns eines Tages sogar ab.

DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN

DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE

DAS MENSCHENBILD DER FORSCHUNGEN


ZUR KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ (LK)

DER MENSCH ALS FREIES UND SELBST-


BESTIMMTES WESEN

Philosophische Probleme, die in diesem Kapitel reflektiert werden:


Was bedeutet es, dass wir ein Produkt der Evolution sind?
Was zeichnet den Menschen als kulturelles Wesen aus?
Was macht das Ich zum Ich?
Haben wir eine immaterielle Seele oder ist der Mensch bloße Materie?
Ist die Willensfreiheit eine Illusion?
Wie weit sind wir in unseren Entscheidungen determiniert?
Lässt sich Intelligenz künstlich herstellen?
Ist es denkbar, dass Roboter eines Tages die Herrschaft über die Erde übernehmen?
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN

Der Mensch als Produkt der Evolution

M1 Schöpfung … … oder Evolution?

i
Zeitgenössische Karikatur der Evolutionstheorie
Charles Darwins (Zeichnung von 1882)

o Darstellung der Schöpfung in der Luther-Bibel


(Lucas Cranach, 1534)

M2 Eine Idee erschüttert die Welt


Als der Naturwissenschaftler Charles Darwin bei der traute – mit den Worten: „Es ist, als gestehe man einen
Auswertung seiner Forschungsreise um die Welt Mord.“ Erst 15 Jahre später fasste er den Mut, seine 10

(1831-1835) zu der Erkenntnis gelangte, dass die Ar- Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Charakte-
ten der Lebewesen nicht unveränderlich sind, son- ristisch für die Reaktion seiner Zeitgenossen ist eine
5 dern sich nach Gesetzen der Natur entwickeln, war Bemerkung der Frau des Bischofs von Worcester:
er gleichermaßen fasziniert wie erschrocken. Lange „Mein Gott, hoffen wir, dass es nicht wahr ist; sollte
hütete er seine Entdeckung als Geheimnis, bis er sich es aber doch wahr sein, so lasst uns dafür beten, dass 15

schließlich 1844 dem Botaniker Joseph Hooker anver- es nicht allgemein bekannt wird.“ Originalbeitrag
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 7

M3 Charles Darwin: Die Entstehung der Arten M4 Charles Darwin:


Mit der Schrift On the Origin of Species begründete Charles Die Abstammung des Menschen
Darwin (1809-1882) im Jahre 1859 die Evolutionstheorie. Bis zur Veröffentlichung der Forschungsergebnisse zur Abstam-
Als ich mich als Naturforscher an Bord des „Beagle“ mung des Menschen vergingen weitere 22 Jahre.
befand, war ich aufs höchste überrascht durch ge- Jeder, der nicht […] damit zufrieden ist, die Erschei-
wisse Merkwürdigkeiten in der Verbreitung der Tiere nungen der Natur als unverbunden anzusehen, kann
und Pflanzen Südamerikas sowie durch die geolo- nicht länger glauben, dass der Mensch das Werk eines
5 gischen Beziehungen der gegenwärtigen Bewohner besonderen Schöpfungsaktes ist. Er wird gezwungen
dieses Erdteils zu den früheren. […] [D]iese Tatsachen sein zuzugeben, dass die große Ähnlichkeit eines 5

[schienen mir] Licht zu werfen auf die Entstehung der Embryos des Menschen mit dem z. B. eines Hundes,
Arten, das Geheimnis aller Geheimnisse, wie einer – der Bau seines Schädels, seiner Glieder und seines
unserer größten Philosophen sie nannte. Nach mei- ganzen Körpers nach demselben Bauplan wie bei den
10 ner Heimkehr (1837) wurde mir immer klarer, dass anderen Säugetieren und zwar unabhängig von dem
sich vielleicht durch Sammeln und Vergleichen aller Gebrauch, welcher etwa von den Teilen gemacht wird, 10

damit zusammenhängenden Tatsachen etwas zur Lö- […] und eine Menge analoger Tatsachen, – dass alles
sung der Frage tun ließe. […] dies in der offenbarsten Art auf den Schluss hinweist,
Was die Entstehung der Arten betrifft, so muss ein Na- dass der Mensch mit anderen Säugetieren der ge-
15 turforscher, der die gegenseitige Verwandtschaft der meinsame Nachkomme eines gleichen Urerzeugers ist.
organischen Wesen, ihre embryonalen Beziehungen, Wir haben gesehen, dass der Mensch unaufhörlich 15

ihre geographische Verbreitung, ihre geologische Auf- individuelle Verschiedenheiten in allen Teilen seines
einanderfolge und ähnliche Tatsachen erwägt, zu dem Körpers und in seinen geistigen Eigenschaften dar-
Schlusse kommen, dass die Arten nicht unabhängig bietet. Diese Verschiedenheiten oder Abänderungen
20 voneinander erschaffen worden sind, sondern ähnlich scheinen durch dieselben allgemeinen Ursachen her-
den Varietäten von anderen Arten abstammen. […] beigeführt worden zu sein und denselben Gesetzen 20

Niemand wird überrascht sein, dass vieles über den zu gehorchen, wie bei den niederen Tieren.
Ursprung der Arten und Varietäten unerklärt bleibt, Die Abstammung des Menschen
und die geschlechtliche Zuchtwahl (1871)
wenn er bedenkt, wie gering unsere Kenntnis der ge-
25 genseitigen Beziehungen der uns umgebenden Lebe-
wesen ist. […] Mag aber auch vieles dunkel sein und 1 
Vergleichen Sie die beiden Darstellungen. Lei-
A
noch lange unaufgeklärt bleiben: auf Grund meiner ten Sie daraus jeweils Konsequenzen für das
sorgsamen Studien und des unbefangensten Urteils, Selbstverständnis des Menschen ab. > M1
dessen ich fähig bin, halte ich trotzdem die Meinung 2 
Stellen Sie Vermutungen an über die Gründe
30 für irrig, der bis vor kurzem die meisten Naturfor- für Darwins Gewissensqualen und die Reaktion
der Öffentlichkeit. > M2
scher zu-neigten (wie auch ich selber in früheren
3 
Stellen Sie Darwins Entdeckungen dar und er-
Jahren), dass nämlich jede Art selbständig erschaffen
läutern Sie, worin Darwin selbst ihr revolutio-
sein soll. Ich bin fest überzeugt, dass die Arten nicht näres Potential sah. > M3/M4
unveränderlich, sondern dass die zu einer Gattung 4 
Recherchieren Sie, wie die Religionsgemein-
35 gehörenden die Nachkommen anderer, meist schon schaften heute zur Evolutionstheorie stehen.
erloschener Arten, und dass die anerkannten Varie-
täten einer bestimmten Art Nachkommen dieser sind.
Medienhinweis:
Und ebenso fest bin ich überzeugt, dass die natürliche
Wer Wind sät … (USA 1960, Regie: Stanley Kramer)
Zuchtwahl [engl.: natural selection] das wichtigste, – Gerichtsdrama zum Thema Kreationismus versus
40 wenn auch nicht einzige Mittel der Abänderung war. Evolutionslehre
Die Entstehung der Arten (1859)
8 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Evolution durch natürliche Auslese

M1 Auf dem Weg zum Menschen


DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 9

M2 Ernst Mayr: Was ist natürliche Auslese? Auslese um zwei Spielarten von Qualität handelt. 40

Der deutsch-amerikanische Biologe Ernst Mayr (1904-2005) Was Darwin „natürliche Auslese“ nannte, bezieht
ist der Hauptvertreter der modernen synthetischen Evolutions- sich auf jede Eigenschaft, die dem Überleben zuträg-
theorie, die Darwins Erkenntnisse mit Ergebnissen der Genfor-
lich ist, etwa eine bessere Nutzung der Ressourcen,
schung verbindet.
eine bessere Anpassung an Wetter und Klima, eine
Darwins Wahl des Wortes selection, „Auslese“ (in höhere Widerstandskraft gegen Krankheiten und eine 45

älteren Übersetzungen: „Zuchtwahl“), war nicht be- größere Fähigkeit, Feinden zu entkommen.
sonders glücklich. Es lässt ein wirkendes Wesen oder Abgesehen von den überlegenen Eigenschaften zum
Prinzip in der Natur vermuten, das, da es die Zu- Überleben kann ein Individuum jedoch auch schlicht
5 kunft voraussagen kann, „die Besten“ auswählt. Die dadurch einen höheren genetischen Beitrag für die
natürliche Auslese tut selbstverständlich nichts der- nächste Generation leisten, dass es sich erfolgreicher 50

gleichen. Der Ausdruck steht einfach für die Tatsa- fortpflanzt. Diese Art von Selektion bezeichnete Dar-
che, dass nur ein paar (im Durchschnitt zwei) von win als „sexuelle Auslese“. Besonders beeindruckt war
allen Nachkommen eines Elternpaares lange genug er von den männlichen sekundären Geschlechtsmerk-
10 überleben, um sich fortzupflanzen. Es gibt weder malen, etwa von dem prachtvollen Gefieder männli-
eine spezielle Selektionskraft in der Natur noch einen cher Paradiesvögel, der riesenhaften Größe der Ele- 55

bestimmten Handelnden, der selektiert. Es gibt viele fantenrobben oder dem eindrucksvollen Geweih von
Gründe für den Erfolg der wenigen Überlebenden. Hirschen. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass
Einem Teil, vielleicht sogar einem Großteil des Über- Selektion die Evolution solcher Merkmale entweder
15 lebens liegt ein zufallsabhängiger Prozess zugrunde, begünstigt, weil sie im Konkurrenzkampf mit anderen
das heißt: Glück. Zum größten Teil hängt es vom Männchen um die Weibchen recht hilfreich sind oder 60

überlegenen Funktionieren der physiologischen Vor- weil Weibchen von Männchen mit diesen Eigenschaf-
gänge im Körper des überlebenden Individuums ab, ten angezogen werden. … und Darwin hat doch recht (1991)
kraft dessen es mit den Wechselfällen der Umwelt
20 besser fertig werden kann als andere Mitglieder der
1 
Erläutern Sie, was mit der Bildfolge zum Aus-
A
Population. […] Den Erfolg eines Individuums be- druck gebracht werden soll. > M1
stimmt genau die Fähigkeit der inneren Maschinerie 2 
Erklären Sie den Mechanismus der Evolution
des Körpers des Lebewesens (einschließlich des Im- nach Darwin bzw. Mayr. > M2
munsystems), mit den Herausforderungen der Um- 3 
Wenden Sie das Erklärungsmodell auf die Evo-
25 welt fertig zu werden. Nicht die Umwelt selektiert, lution des aufrechten Ganges an. > M1/M2
sondern der Organismus, der sich im Meistern der
Umwelt als mehr oder weniger erfolgreich erweist. Es Exkursionsvorschlag: Neanderthal-Museum
gibt keine äußere Selektionskraft. (Adresse: Talstraße 300, 40822 Mettmann)
Einige wenige Beispiele mögen dies verdeutlichen. Besuchen Sie die Ausstellung und tragen Sie weitere
30 Nehmen wir zum Beispiel die Widerstandskraft ge- Daten und Fakten zur Evolutionstheorie zusammen.
gen Krankheitserreger. Bakterien und andere Krank- Gehen Sie auch der Frage nach, wie weit der Mensch
heitsverursacher stellen die Umwelt dar; die Abwehr durch Bedingungen der Evolution geprägt ist und
welche weiteren Aspekte für die Entwicklung des
eines Tieres gegen sie besteht aus intrazellulären Se-
Menschen bestimmend sind.
lektionsprozessen. […] Der Erfolg eines Organismus
35 hängt in hohem Maße von seiner normalen Entwick-
Medienhinweis:
lung vom befruchteten Ei bis zum Erwachsensein ab.
Zeitreise erleben – Texte und Filme aus der Dauer-
Gegen fast alle Abweichungen von der Normalität im ausstellung des Neanderthal-Museums in Mettmann
Laufe der Entwicklung wird Selektion wirksam. […] auf CD-ROM
Schließlich ist hervorzuheben, dass es sich bei der
10 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Recht des Stärkeren? – Der Sozialdarwinismus

M1 Herbert Spencer: chen Materials. […] Der Kampf, an dem ein von Hau- 10

Überleben der Passendsten se aus schwaches Menschenmaterial zu Grunde geht,


Auch Darwins Kennzeichnung der natürlichen Selektion durch stählt das starke: außerdem stärkt der Kampf ums
die Metapher struggle for life („Kampf ums Dasein“) wurde viel- Überleben dieses Starke durch Ausscheidung schwä-
fach als unglücklich empfunden. Eine angemessenere Bezeich-
cherer Elemente. Die Kindheit großer Rassen sehen
nung prägte 1864 der englische Philosoph Herbert Spencer
(1820-1903) mit dem Ausdruck survival of the fittest („Überle- wir stets von Krieg umtobt […]. 15

ben der Passendsten bzw. Angepasstesten“), den Darwin später Houston Stewart Chamberlain, in:
übernahm. Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899)

Wenn […] Individuen einer Spezies […] notwendig in [Das Verbinden von Höher- und Minderwertigem] wi-
zahllosen Richtungen und Graden auseinander ge- derspricht dem Willen der Natur zur Höherzüchtung
hen müssen, […] dann müssen auch unter allen In- des Lebens überhaupt. Die Voraussetzung hierzu liegt
dividuen einige stets weniger als andere der Gefahr […] im restlosen Sieg des ersteren. Der Stärkere hat
5 ausgesetzt sein, dass ihr Gleichgewicht durch eine zu herrschen und sich nicht mit dem Schwächeren zu 20

besondere einwirkende Kraft […] vollständig zerstört verschmelzen. […].


werde. […] Die notwendige Folge wird sein, dass jene Der Kampf ums tägliche Brot lässt alles Schwache
Individuen, deren Funktionen am meisten von dem und Kränkliche, weniger Entschlossene unterliegen,
Gleichgewichte mit dem modifizierten Aggregate während der Kampf der Männchen um das Weibchen
10 äußerer Kräfte abweichen, zu Grunde gehen müs- nur dem Gesündesten das Zeugungsrecht oder doch 25

sen, während dagegen jene fortleben werden, deren die Möglichkeit hierzu gewährt. Immer aber ist der
Funktionen am ehesten dem Gleichgewicht mit dem Kampf ein Mittel zur Förderung der Gesundheit und
abgeänderten Aggregate äußerer Kräfte nahe kom- Widerstandskraft der Art und mithin eine Ursache
men. Dieses Überleben der Passendsten aber hat auch zur Höherentwicklung derselben. […]
15 die Vermehrung der Passendsten zur Folge. Was wir heute an menschlicher Kultur, an Ergebnis- 30

Die Prinzipien der Biologie (1864, dt. 1877) sen von Kunst, Wissenschaft und Technik vor uns
sehen, ist nahezu ausschließlich schöpferisches Pro-
M2 Ideologisierung eines Begriffs dukt des Ariers*. Gerade diese Tatsache aber lässt den
Rassisten und Nationalsozialisten – u. a. Ernst Haeckel (1834- nicht unbegründeten Rückschluss zu, dass er allein
1919), Houston Stewart Chamberlain (1855-1929), Adolf Hitler der Begründer höheren Menschentums überhaupt 35
(1889-1945) – missbrauchten die von Darwin verworfene For-
war, mithin der Urtyp dessen, was wir unter dem
mulierung struggle for life zur Stützung ihrer Ideologie.
Worte „Mensch“ verstehen. […] Den gewaltigsten Ge-
Es ist die natürliche Züchtung im Kampf ums Dasein, gensatz zum Arier bildet der Jude. […]
der die Mannigfaltigkeit des natürlichen Lebens her- Die völkische Weltanschauung […] glaubt somit
vorgebracht hat und der auch die Völkergeschichte keineswegs an eine Gleichheit der Rassen, sondern 40

bestimmt; hinzu käme jedoch die künstliche Züch- erkennt mit ihrer Verschiedenheit auch ihren höhe-
5 tung etwa der Spartaner, die bereits die neugebo- ren und minderen Wert und fühlt sich durch diese
renen Kinder einer Auslese unterwarfen und alle Erkenntnis verpflichtet, gemäß dem ewigen Wollen,
schwächlichen töteten. das dieses beherrscht, den Sieg des Besseren, Stärke-
Ernst Haeckel, in: Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868) ren zu befördern, die Unterordnung des Schlechteren 45

Die erste, grundlegende Bedingung [für die Entste- und Schwächeren zu verlangen.
hung edler Rassen] ist das Vorhandensein vortreffli- Adolf Hitler, in: Mein Kampf (1924)
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 11

M3 Hoimar von Ditfurth: Wer überlebt? M4 Christian Illies / Vittorio Hösle:


Die nationalsozialistische Propaganda [war] uner- Ein naturalistischer Fehlschluss
müdlich bestrebt […], uns davon zu überzeugen, dass Unter „Sozialdarwinismus“ werden die Ansätze zu-
die Mitglieder nichtgermanischer Völker und Rassen, sammengefasst, welche evolutionsbiologische Kate-
insbesondere Juden und Slawen, nicht in dem glei- gorien auf soziale und gesellschaftliche Prozesse
5 chen vollgültigen Sinne als „Menschen“ angesehen übertragen, um mit ihrer Hilfe zu Werturteilen über
werden könnten wie wir (sondern nur als „Untermen- solche Prozesse zu gelangen. Vereinfacht ist das Ar- 5

schen“, sozusagen als Mitglieder degenerierter Ne- gument solcher in der praktischen Ausprägung oft
benlinien unserer Art). […] Nicht wenige Menschen sehr verschiedener Richtungen, dass das Selektions-
unterliegen diesem Irrtum [, dass eine solchermaßen geschehen erstens nicht neutral sei, sondern einen
10 inhumane Betrachtungsweise sich aus der Beobach- evolutionären Fortschritt impliziere, und zweitens
tung der Verhältnisse in der Natur ableiten lasse,] bis auch für gesellschaftliche Prozesse Bedeutung habe. 10

auf den heutigen Tag […]. So spukt in den Köpfen Es gehe darum, auch den gesellschaftlichen Fortschritt
allzu vieler Menschen bis heute der Darwin‘sche Be- nicht zu behindern, sondern gerade zu befördern,
griff vom „Kampf ums Dasein“ herum als Bestäti- drohten doch sonst Rückschritt und Degeneration.
15 gung ihres Verdachts, dass in der belebten Natur ein Der beste Weg dahin sei in der Regel, den Kampf ums
unerbittlicher Kampf aller gegen alle stattfinde. […] Dasein zu intensivieren. Lasse man die Menschen 15

Gemeint aber ist mit dem zugegeben missverständ- diesen Kampf untereinander frei austragen, so werde
lich – martialischen – Terminus eine Form natür- es zu positiven sozialen Entwicklungen kommen.
licher Auslese, in welcher der „Tüchtigste“ in aller Der […] philosophisch wichtigste Einwurf ist erstmals
20 Regel keineswegs deshalb „überlebt“, weil er seine ausführlich von George Edward Moore in seinen
Konkurrenten umbringt. Entscheidend ist auch gar Principia […] entwickelt worden […]: Der Sozialdar- 20

nicht die Frage seines Überlebens als Individuum. winismus beruht auf einem fundamentalen Denkfeh-
Was die Artentwicklung vorantreibt, ist die Entschei- ler, den Moore einen „naturalistischen Fehlschluss“
dung darüber, wessen Erbanlagen mit der größeren nennt. Vereinfacht besteht dieser darin, dass man
25 Wahrscheinlichkeit an die nachfolgende Generation von der Art, wie eine Sache ist (oder sein wird), kei-
weitergegeben werden. Dabei kann ein Lebewesen ne Schlüsse darüber ziehen kann, wie sie sein soll. 25

den Kürzeren ziehen, das als Individuum womöglich Selbst wenn – so ließe sich etwa sagen – die Säu-
unbehelligt steinalt wird, das aber seine „Erbanla- getiere die Dinosaurier verdrängt haben, folgt doch
gen“ (in Gestalt einer entsprechenden Zahl direkter daraus nicht, dass dies „gut“ ist. Eine Tatsachenbe-
30 Nachkommen) nicht mit der gleichen Häufigkeit an schreibung – und auch zukünftige Ereignisse sind
die nächste Generation weitergeben kann wie seine Tatsachen – legitimiert nicht, Werturteile zu fällen. 30

Konkurrenten – vielleicht, weil es bei der Werbung Darwin (2005)


um einen Sexualpartner nicht geschickt genug vor-

35
geht oder nicht findig genug bei der Nahrungsbe-
schaffung für seinen Nachwuchs oder nicht wachsam 1 
Untersuchen Sie, inwiefern die Metapher
A
genug bei dessen Sicherung gegen natürliche Feinde „Kampf ums Dasein“ durch Haeckel, Cham-
oder aus einem Dutzend anderer denkbarer Gründe. berlain und Hitler (s. M2) gegenüber dem, was
Das […] Erbgut der Konkurrenten hat sich in unse- Spencer und Darwin damit meinen (s.  M1),
umgedeutet wird. > M1/M2
rem Fall als das der „Tüchtigeren“ im „Kampf ums
2 
Erläutern Sie die Annahmen des Sozialdarwinis-
40 Dasein“ durchgesetzt, ohne dass in diesem „Kampf“ mus und nehmen Sie dazu Stellung. > M2/M3
ein einziger Tropfen Blut geflossen zu sein braucht. 3 
Erklären Sie, warum die Position des Sozialdar-
Innenansichten eines Artgenossen (1990) winismus nach von Ditfurth sowie Illies und
Hösle nicht haltbar ist. > M3/M4
12 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Unser evolutionäres Erbe

M1 William F. Allman: Kooperation statt Kampf anderen Menschen auf, die ihnen beim ersten Tref-
William F. Allman arbeitet als Wissenschaftsjournalist für den fen völlig fremd sind. Daraus erwachsen langjährige
U.S. News and World Report. Freundschaften oder sogar intime Paarbeziehungen,
Die Zahl der […] Wissenschaftler wächst, die […] die für das Überleben der Art entscheidend sind.
den Evolutionsgedanken […] auf die Erforschung des Die lebenswichtige Fähigkeit des Menschen, Bezie- 5

menschlichen Geistes übertragen. Diese Wissen- hungen aufbauen zu können, hat auch heute nicht
schaftler sind nicht etwa Sozialdarwinisten alter an Bedeutung verloren – ob im Schlafzimmer oder
5 Schule, die überzeugt waren, das menschliche Ver- im Büro, ob in einem entlegenen Winkel der Erde
halten sei genetisch fixiert und durch den Grundsatz oder im Kiosk an der Ecke. Unser ganzes Leben lang
vom „Überleben des Stärkeren“ geprägt. […] Statt des- müssen wir komplexe soziale Beziehungen zu ande- 10

sen behaupten diese Forscher, die natürliche Selek- ren Menschen aufbauen, abbauen oder neu definie-
tion habe den Geist des Menschen im Laufe einer sehr ren. So entsteht ein großes soziales Netz aus Bezie-
10 langen Evolution auf die Lösung bestimmter Pro- hungen zwischen Geschwistern, Eltern und Kindern,
bleme programmiert, die für das Überleben unserer Ehepartnern, Arbeitskollegen, Nachbarn, Gemeinden,
Vorfahren unerlässlich waren, und — das urzeitliche Regierungen und Nationen. Da wir gerne alles im 15

Erbe sei in unseren Köpfen heute noch lebendig. […] Kontext sozialer Beziehungen sehen, neigen wir auch
Die Palette von Verhaltensweisen, die tief in unserer dazu, unser Verhältnis gegenüber nichtmenschlichen
15 Geschichte verwurzelt sind, ist recht beachtlich: die Wesen, leblosen Gegenständen und übernatürlichen
Art, wie wir unsere Partner wählen, die Fähigkeit, in Phänomenen zu vermenschlichen: Wir machen Kat-
großen Gruppen zusammenzuleben, unsere Liebe zur zen, Hunde, Pferde und andere Tiere zu Freunden, 20

Musik und unsere Vorstellungen von Schönheit, aber wir reden unseren Autos gut zu und streicheln liebe-
auch, dass wir über Treulosigkeit in Rage geraten voll unsere Segeljachten; wir verfluchen den Regen,
20 oder uns gelegentlich gegen Menschen von anderem wenn er uns das Picknick verdirbt, und vereinen uns
Aussehen feindselig verhalten […],fällt in diese Spar- im Gelübde mit unseren Göttern.
te. […] Die Tatsache, dass unser heutiges Verhalten diese 25

Während Evolution bisher gerne mit den Schlag- Altlast der Evolution mit sich herumschleppt, bedeu-
worten „jeder gegen jeden“ oder „das Überleben des tet aber nicht, dass dieses Vermächtnis im modernen
25 Stärkeren“ charakterisiert wurde, machen diese neu- Kontext auch zwangsläufig erwünscht, unvermeid-
en Forschungsergebnisse deutlich, dass nette Men- bar oder unveränderlich ist. Unser Heißhunger auf
schen oftmals schneller ans Ziel gelangen. Der kon- Süßes beispielsweise spiegelt die Situation wider, 30

tinuierliche Erfolg der Spezies Homo sapiens basiert dass süße, reife Früchte für die Frühmenschen eine
letztlich auf dem Faktum, dass er das Lebewesen mit energiereiche, wenn auch seltene Nahrungsquelle
30 der höchsten Kooperationsbereitschaft ist. Wir Men- darstellten. In der heutigen Zeit, in der es Süßigkei-
schen knüpfen nicht nur mit Mitgliedern der eigenen ten und Schokolade im Übermaß gibt, bringt unser
Familien enge, langanhaltende Bande (ein Merkmal, süßer Zahn jedoch nur Nachteile. Trotzdem können 35

das wir bei vielen Tierarten finden), sondern auch die meisten Menschen ihren Appetit auf Süßigkeiten
mit Menschen, die überhaupt nicht mit uns verwandt ganz gut bremsen, und darüber hinaus gibt es Mittel
35 sind. Genauso wie die Frühmenschen der afrikani- und Wege, mit Hilfe von künstlichen Süßstoffen die-
schen Savanne nehmen die Großstädter des ausge- se angeborene Verhaltensweise zu übertölpeln.
henden 20. Jahrhunderts noch immer Kontakt mit Mammutjäger in der Metro (1994/dt.1999) 40
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 13

M2 Wolfgang Welsch: Evolutionär gesehen, gehört die Inhärenz von Altem


Kontinuität und Neuerung schlicht zu den Existenzbedingungen alles Neuen.
Wolfgang Welsch (*1946) war bis 2012 Professor für Philoso- […] Man [muss] diese Gesetzlichkeit akzeptieren –
phie an der Universität Jena. und richtig bewerten. Sie bedeutet wohl, dass das
Manche meinen, die Herkunft des Menschen aus der Neue von den alten Potentialen zehrt, aber das heißt 45

kosmischen und biotischen* Evolution bedeute wenig auch, dass es von diesen alten Potentialen her seine
oder schier nichts für unsere Seinsweise. Die evolu- Kraft gewinnt. […] Man hat also keinen Grund, das
tionäre Vorgeschichte sei zwar zur Hervorbringung Alte, das in einem wirksam ist, despektierlich zu be-
5 unserer Spezies nötig gewesen, aber auf unsere jetzi- trachten oder sich seiner zu schämen, sondern man
ge Verfassung habe sie keinen Einfluss mehr, sie liege hat allen Anlass, sich an seiner Permanenz und Er- 50

hinter uns. […] Wie falsch das ist, möchte ich Ihnen möglichungsfunktion zu erfreuen. […]
im Folgenden nahebringen. Wenn Sie ihren Körper, Bei aller Kontinuität und Gradualität: Sind wir Men-
ihr Verhalten, ihre Kognition analysieren, stoßen Sie schen nicht dennoch vergleichsweise besondere We-
10 auf Ältestes, auf evolutionäre Errungenschaften, die sen? Wir tun doch Dinge, zu denen es im Tierreich
lange vor dem Menschen gemacht wurden und die kein Analogon* gibt. Kein anderes Lebewesen ist so 55

für uns alle noch immer essentiell sind. sehr über die ganze Erde verbreitet, errichtet Dome,
Von Zeit zu Zeit rate ich, sich eine evolutionäre Karte surft im Internet oder betreibt Weltraumfahrt. Al-
des Menschen vors Auge zu rufen. Auf ihr wäre ein- lein die Menschen haben dergleichen wie Dichtung,
15 getragen, wo in der Evolution Erfindungen gemacht Philosophie, Wissenschaft und Technik entwickelt.
wurden, die noch unsere Existenz bestimmen. Eine Insofern sind wir bei aller Kontinuität unseres evo- 60

solche Karte würde weit hinter die Prozesse der Ho- lutionären Erbes doch in unseren Hervorbringungen
minisation zurückreichen. Von einzelnen Teilen un- deutlich anders als die anderen Lebewesen. […]
seres Körpers ausgehend, hätte man lange und immer Wie ist der Mensch zu dieser Besonderheit gekom-
20 längere Linien in die Vergangenheit zu ziehen – bei- men? Evolutionär muss man davon ausgehen, dass
spielsweise zur Erfindung des beidäugig koordinier- unseren Vorfahren auf dem Weg zur Menschwerdung 65

ten Sehens (vor über 220 Mio. Jahren), der Lungen- gar kein anderes Startkapital zur Verfügung stand
atmung (vor ca. 380 Mio. Jahren), des zentralen Ner- als das Kapital, das unseren nächsten Verwandten,
vensystems (vor 590 Mio. Jahren), des Blutkreislaufs den Schimpansen, ebenfalls zur Verfügung stand.
25 (vor gut 600 Mio. Jahren), der Immunabwehr (vor ca. Die spannende Frage ist dann, wie dieses prähuma-
2 Mrd. Jahren), der Sexualität (vor 2,1 Mrd. Jahren), ne Startkapital im Verlauf der Hominisation* eine 70

des genetischen Codes (vor nahezu 4 Mrd. Jahren) – Ausrichtung annehmen konnte, die uns Menschen
also letztlich bis zum Anfang des Lebens. All diese schließlich zu den eindrucksvollen Leistungen […]
Dinge, die für unsere Existenz konstitutiv sind, besit- befähigte, die uns von unseren Verwandten so deut-
30 zen wir, weil sie in Urzeiten – längst vor dem Men- lich unterscheiden. Mensch und Welt. Die evolutionäre
Perspektive der Philosophie (2012)
schen – erfunden wurden und durch die Stammesge-
schichte an jeden Einzelnen von uns weitergegeben
worden sind. Ja, Ältestes ist uns inhärent. Unser Sein
1 Stellen Sie Beispiele dafür zusammen, wie un-
A
erstreckt sich bis in Urzeiten. […]
ser evolutionäres Erbe unsere Existenz prägt.
35 Manche empfinden den Hinweis auf solche Kontinu-
> M1/M2
itäten als bedrückend: Mit einer Auszeichnung, mit
2  Untersuchen Sie, wie Allman und Welsch die
der Sonderstellung des Menschen sei es nun leider evolutionäre Prägung des Menschen bewerten.
vorbei. Ich schlage eine andere Lesart vor – eine, > M1/M2
welche die positiven Aspekte dieses Kontinuitätsbe- 3  Diskutieren Sie mögliche Antworten auf die
40 fundes hervorhebt. Frage Welschs (Z. 64f.). > M2
14 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Mängelwesen Mensch

M1 Arnold Gehlen: Die organische


Unspezialisiertheit des Menschen
Arnold Gehlen (1904-1976) lehr- geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den
te Philosophie und Soziologie u. meisten Tieren an Schärfe der Sinne übertroffen,
a. an den Universitäten in Leipzig
er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel
und Wien. Er ist einer der Haupt-
vertreter der modernen philoso- an echten Instinkten und er unterliegt während der
phischen Anthropologie. ganzen Säuglings- und Kinderzeit einer ganz un- 5

Dieses Buch setzt sich [einer vergleichlich langfristigen Schutzbedürftigkeit. Mit


sehr verbreiteten] […] An- anderen Worten: innerhalb natürlicher, urwüchsi-
sicht entgegen. Das ist die […] ger Bedingungen würde er als bodenlebend inmitten
„naturalistische“ und sich der gewandtesten Fluchttiere und der gefährlichsten
5 „biologisch“ nennende Auffassung des Menschen vom Raubtiere schon längst ausgerottet sein. 10

Tiere aus […]. Sieht man den Menschen von außen Die Tendenz der Naturentwicklung geht nämlich da-
an, seinen Körperbau […], so drängt sich allerdings hin, organisch hochspezialisierte Formen in ihre je
eine bestimmte Theorie auf […], die Theorie von der ganz bestimmten Umwelten einzupassen, also die
geradlinigen Abstammung des Menschen von den unübersehbar mannigfaltigen in der Natur zustan-
10 Anthropoiden. Diese Theorie behauptet gerade des- de kommenden „Milieus“ als Lebensräume für dar- 15

wegen biologisch zu denken, weil sie vom Leiblichen, in eingepasste Lebewesen auszunutzen. Die flachen
vom Körperbau, von den Entwicklungsgesetzen or- Ränder tropischer Gewässer wie die ozeanische Tief-
ganischen Lebens aus denkt. Eben deswegen kommt see, die kahlen Abhänge nördlicher Alpengebirge
sie an die „Innenseite“ des Menschen nicht heran […]. wie das Unterholz lichter Mischwälder sind ebenso
15 Wenn es um den Menschen geht, darf also eine bio- spezifische Umwelten für spezialisierte, nur darin le- 20

logische Betrachtung nicht bloß auf das Somatische, bensfähige Tiere, wie die Haut der Warmblüter für
Körperliche gehen. Worin besteht dann die anthropo- die Parasiten, und so in unzähligen, je besonderen
biologische Fragestellung? Sie besteht allein in der Fällen. Der Mensch dagegen hat, morphologisch
Frage nach den Existenzbedingungen des Menschen. gesehen, so gut wie keine Spezialisierungen. Er be-
20 Man sehe sich dieses sonderbare und unvergleichli- steht aus einer Reihe von Unspezialisiertheiten, die 25

che Wesen an, dem alle tierischen Lebensbedingun- unter entwicklungsbiologischem Gesichtspunkt als
gen fehlen, und frage sich: vor welchen Aufgaben Primitivismen erscheinen: sein Gebiss z. B. hat eine
steht ein solches Wesen, wenn es sein Leben erhal- primitive Lückenlosigkeit und eine Unbestimmtheit
ten, sein Dasein fristen, wenn es seine bare Existenz der Struktur, die es weder zu einem Pflanzenfresser-
25 durchhalten will? […] noch zu einem Fleischfressergebiss, d. h. Raubtierge- 30

Morphologisch ist […] der Mensch im Gegensatz zu biss machen. Gegenüber den Großaffen, die hochspe-
allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel zialisierte Baumtiere mit überentwickelten Armen für
bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als Hangelkletterei sind, die Kletterfuß, Haarkleid und
Unangepasstheiten, Unspezialisiertheiten, als Primiti- gewaltigen Eckzahn haben, ist der Mensch als Natur-
30 vismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: wesen gesehen hoffnungslos unangepasst. Er ist von 35

also wesentlich negativ. Es fehlt das Haarkleid und einer einzigartigen […] biologischen Mittellosigkeit.
damit der natürliche Witterungsschutz; es fehlen na- Der Mensch (1940)
türliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 15

M2 Unzufriedenheit

Bill Watterson: Calvin und Hobbes

M3 Arnold Gehlen:
Die Weltoffenheit des Menschen
Die Resultate der neueren Biologie geben uns die sich hat, der Mensch sei „nicht festgestellt“ oder „sich
Möglichkeit, die exponierte und riskierte Konstituti- selbst noch Aufgabe“. […] Es muss die bloße Exis- 30

on des Menschen in einen weiteren Zusammenhang tenzfähigkeit eines solchen Wesens fraglich sein, und
zu stellen. Die „Umwelt“ der meisten Tiere, und gera- die bare Lebensfristung ein Problem, das zu lösen der
5 de der höheren Säuger ist das nicht auswechselbare Mensch allein auf sich selbst gestellt ist, und wozu er
Milieu, an das der spezialisierte Organbau des Tie- die Möglichkeiten aus sich selbst herauszuholen hat
res angepasst ist, innerhalb dessen wieder die eben- Das wäre also das handelnde Wesen. Der Mensch (1940) 35

so artspezifischen angeborenen Instinktbewegungen


arbeiten. Spezialisierter Organbau und Umwelt sind
10 also Begriffe die sich gegenseitig voraussetzen. Wenn
nun der Mensch Welt hat, […] so bedeutet auch dies
zunächst eine negative Tatsache. Der Mensch ist
weltoffen heißt: er entbehrt der tierischen Einpassung 1 
Erläutern Sie Gehlens Kritik an einer aus-
A
in ein Ausschnitt-Milieu. […] Die physische Unspezi- schließlich naturalistischen Betrachtung des
15 alisiertheit des Menschen, seine organische Mittello- Menschen. > M1
sigkeit sowie der erstaunliche Mangel an echten Ins- 2 
Untersuchen Sie Gehlens Bestimmung der Un-
spezialisiertheit des Menschen. > M1
tinkten bilden also unter sich einen Zusammenhang,
3 
Überlegen Sie, wie Calvin Hobbes davon über-
zu dem die „Weltoffenheit“ (M. Scheler) oder, was
zeugen könnte, dass er trotz der vom Tiger
dasselbe ist, die Umweltenthebung den Gegenbegriff aufgezählten Mängel mit seinen menschlichen
20 bilden. Umgekehrt entsprechen beim Tier die Organ- Fähigkeiten zufrieden sein kann. > M2
spezialisierung, das Instinktrepertoire und die Um- 4 Erklären Sie den Zusammenhang von Spezia-
weltfesselung einander. Es ist das anthropologisch lisierung und Umweltgebundenheit einerseits
entscheidend wichtig. Wir haben damit einen Struk- und Unspezialisiertheit und Weltoffenheit an-
turbegriff des Menschen […]. Wir haben jetzt […] den dererseits. Was würde Gehlen auf die Fest-
stellung des Tigers im Comic M2 antworten?
25 Entwurf eines organisch mangelhaften, deswegen
> M3/M2
weltoffenen, d. h. in keinem bestimmten Ausschnitt- 5 Interpretieren Sie die Bestimmungen, der
Milieu natürlich lebensfähigen Wesens, und verste- Mensch sei „nicht festgestellt“ oder „sich selbst
hen jetzt auch, was es mit den Bestimmungen auf noch Aufgabe“. > M3
16 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Der Mensch – ein Kulturwesen


>
MET H O D E NKO M P E TE N Z : Eine philosophische Textanalyse und -interpretation verfassen
1

Wie man den Gedankengang bzw. die Argumentationsstruktur eines philosophischen Textes analysiert
und darstellt, wurde bereits erläutert (s. philo Einführungsphase, S. 28f., 44f., 136f.). Philosophische
Texte sind jedoch nicht nur Gegenstand der Analyse; sie enthalten oft Aussagen, die nicht unmittelbar
verständlich sind und daher der Interpretation bedürfen.
Beim Verfassen einer philosophischen Textanalyse und -interpretation empfiehlt es sich,
in folgenden Schritten vorzugehen:
• Stellen Sie die dem Text zugrunde liegende philosophische Frage bzw. das Anliegen
sowie die zentrale These dar.
• Analysieren Sie den gedanklichen Aufbau bzw. die Argumentationsstruktur des Textes
und stellen Sie diese mit Hilfe sog. performativer Verben dar.
• Interpretieren Sie wesentliche und nicht unmittelbar verständliche Aussagen des Textes,
indem Sie erläutern, wie diese zu verstehen sind.
• Belegen Sie Ihre Aussagen und Interpretationen durch Zitate.

M1 „Ein Bild vom Menschen“ –


Analyse und Interpretation eines Textes von Arnold Gehlen
Aufgabenstellung:
Analysieren Sie den folgenden Text und interpretieren Sie die wesentlichen Aussagen.

Wir sehen […], wo wir auch hinblicken, den Menschen über die Erde verbreitet und trotz
seiner physischen Mittellosigkeit sich zunehmend die Natur unterwerfen. Es ist dabei
keine „Umwelt“, kein Inbegriff natürlicher und urwüchsiger Bedingungen angebbar,
der erfüllt sein muss, damit „der Mensch“ leben kann, sondern wir sehen ihn überall,
5 unter Pol und Äquator, auf dem Wasser und auf dem Lande, in Wald, Sumpf, Gebirge
und Steppe „sich halten“. Und zwar lebt er als „Kulturwesen“, d. h. von den Resul-
taten seiner voraussehenden, geplanten und gemeinsamen Tätigkeit, die ihm erlaubt,
aus sehr beliebigen Konstellationen von Naturbedingungen durch deren voraussehende
und tätige Veränderungen sich Techniken und Mittel seiner Existenz zurechtzumachen.
10 Man kann daher die „Kultursphäre“ jeweils den Inbegriff tätig veränderter urwüchsiger
Bedingungen nennen, innerhalb deren der Mensch allein lebt und leben kann. Irgend-
welche Techniken der Nahrungsbeschaffung und -zubereitung, irgendwelche Waffen,
Organisationsformen gemeinsamer Tätigkeit und Schutzmaßnahmen vor Feinden, vor
der Witterung usw. gehören daher zu den Beständen auch der primitivsten Kultur, und
15 „Naturmenschen“, d. h. kulturlose gibt es überhaupt nicht. […]
Der Mensch ist also organisch „Mängelwesen“ (Herder), er wäre in jeder natürlichen
Umwelt lebensunfähig, und so muss er sich eine zweite Natur, eine künstliche bearbei-
tete und passend gemachte Ersatzwelt, die seiner versagenden organischen Ausstattung
entgegenkommt, erst schaffen, und er tut dies überall, wo wir ihn sehen. Er lebt sozu-
20 sagen in einer künstlich entgifteten, handlich gemachten und von ihm ins Lebensdien-
liche veränderten Natur, die eben die Kultursphäre ist. Man kann auch sagen, dass er
biologisch zur Naturbeherrschung gezwungen ist. Ein Bild vom Menschen (1942)
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 17

Analyse und Interpretation:


Im vorliegenden Textausschnitt aus dem Aufsatz „Ein Bild vom Menschen“ (1942) befasst sich Fragestellung
Arnold Gehlen mit der Frage, wie sich der Mensch trotz seiner physischen Mittellosigkeit über und zentrale These
die Erde verbreiten und sich zunehmend die Natur unterwerfen konnte. Seine These lautet,
dass ihm dies als Kultur schaffendes Wesen möglich war.
5 Gehlen geht von der „physischen Mittellosigkeit des Menschen“ (Z. 2) aus. Damit greift er seine Darstellung
Bestimmung des Menschen als eines organisch unspezialisierten Wesens auf. Diese besagt, des gedanklichen
dass der Mensch im Unterschied zum Tier nicht über organische Spezialisierungen verfügt, Aufbaus
durch die er an eine bestimmte Umwelt angepasst ist. Ihm fehlt z. B. ein Haarkleid, das ihn
vor Kälte schützt, er besitzt keine natürlichen Angriffsorgane usw. Der Mensch lässt sich da-
10 her auch – mit einem Begriff von Herder, den Gehlen hier aufgreift – als organisches „Män-
gelwesen“ (Z. 16) bezeichnen. Aufgrund seiner mangelhaften organischen Ausstattung ist Interpretation
er jedem Tier in seiner spezifischen Umwelt unterlegen, so dass er – unter ausschließlich wesentlicher
Textstellen
natürlichen Bedingungen – schon längst ausgestorben sein müsste. Tatsächlich hat sich der
Mensch aber über die ganze Erde verbreitetet und ist in vielfältigen Umwelten lebensfä-
15 hig: „wir sehen ihn überall, unter Pol und Äquator, auf dem Wasser und auf dem Lande, in
Wald, Sumpf, Gebirge und Steppe ‚sich halten‘“ (Z. 4-6). Daher stellt sich die Frage, wodurch Beleg von
ihm dies möglich ist. Zur Erklärung führt Gehlen die Fähigkeit des Menschen an, „urwüch- Aussagen und
Interpretationen
sige Bedingungen“ so zu „veränder[n]“ und sich „zurechtzumachen“, dass er darin „leben durch Zitate
kann“ (Z. 10-11). Diese Veränderung der natürlichen Lebensbedingungen geschieht durch
20 „voraussehende, geplante und gemeinsame Tätigkeit“ (Z. 7). Zur Veranschaulichung dieser Tä-
tigkeit verweist Gehlen auf „Techniken der Nahrungsbeschaffung und -zubereitung“, „Schutz-
maßnahmen vor Feinden, vor der Witterung usw.“ (Z. 12-14). Der letzte Hinweis lässt sich so
verstehen, dass der Mensch, der in Ermangelung eines Haarkleides nur in gemäßigten Klima-
zonen überleben könnte, gelernt hat, Kleidung herzustellen und schützende Wohnstätten zu
25 errichten, so dass er es auch in Regionen mit lebensfeindlicher Kälte aushalten kann. Das
Fehlen natürlicher Angriffsorgane gleicht er durch Herstellung von Waffen zum Kampf gegen
Feinde aus usw.
Den „Inbegriff tätig veränderter urwüchsiger Bedingungen“ (Z. 10f.), die „ins Lebensdienliche
veränderte Natur“ (Z. 20f.) bezeichnet Gehlen als „Kultursphäre“ (Z. 10, 21). Die Kultur stellt
30 mithin „eine künstlich bearbeitete und passend gemachte Ersatzwelt“, die „zweite Natur“ (Z. 17)
des Menschen dar.
Die Konsequenz dieser Theorie ist, dass es „Naturmenschen, d. h. kulturlose“ Menschen (Z. 15)
überhaupt nicht geben kann. Seine organische Unspezialisiertheit zwingt den Menschen, seine
natürliche Umwelt zu bearbeiten, d. h. er muss Kultur schaffen, damit er überleben kann.

M2 „Mensch und Institutionen“ –


Analyse und Interpretation eines Textes von Arnold Gehlen ANWENDUNG
Aufgabenstellung:
Analysieren Sie den folgenden Text (S. 18, M1) und interpretieren Sie die wesentlichen Aussagen.

1 Vollziehen Sie nach, wie die Textanalyse und -interpretation angelegt ist. > M1
A
2 Verfassen Sie eine Analyse und Interpretation nach dem Muster in M1. > M2
18 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Braucht der Mensch Institutionen?

M1 Arnold Gehlen:
Institutionen als Formen der Kultur
[Im] Fischer-Lexikon „Anthropologie“ [steht]: „Die Verbände, denen man angehört, regeln uns nicht nur
Instinkte bestimmen beim Menschen nicht, wie beim in unserem Verhalten ein, sie greifen bis in unsere 40

Tier, einzelne Verhaltensabläufe. Stattdessen nimmt Wertgefühle und Willensentschlüsse durch, und diese
jede Kultur aus der Vielheit der möglichen mensch- verlaufen dann ohne Bremsung und Zweifel wie von
5 lichen Verhaltensweisen bestimmte Varianten heraus selbst, d. h. selbstverständlich, ohne dass eine andere
und erhebt sie zu gesellschaftlich sanktionierten Ver- Möglichkeit vorstellbar wäre, also schließlich mit der
haltensmustern […].“ Überzeugungskraft des Natürlichen. Vom Inneren der 45

Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen die Insti- Einzelperson her gesehen bedeutet das […] eine le-
tutionen einmal als die Formen der Bewältigung le- benswichtige Entlastung. Mensch und Institutionen (1960)
10 benswichtiger Aufgaben oder Umstände, so wie die
Fortpflanzung oder die Verteidigung oder die Ernäh- M2 Theodor W. Adorno / Arnold Gehlen:
rung ein geregeltes und dauerndes Zusammenwirken Freiheit und Institution
erfordern; sie erscheinen von der anderen Seite als 1965 kam es im Westdeutschen Rundfunk zu einem Streitge-
die stabilisierenden Gewalten: Sie sind die Formen, spräch zwischen Arnold Gehlen und Theodor W. Adorno (1903-
1969), einem Hauptvertreter der Kritischen Theorie, über die
15 die ein seiner Natur nach riskiertes und unstabiles,
Rolle von Institutionen.
affektüberlastetes Wesen findet, um sich gegenseitig
und um sich selbst zu ertragen, etwas worauf man Adorno: Wir sind uns darüber einig, dass die Men-
in sich und den anderen zählen und sich verlassen schen heute [...] von den Institutionen und das heißt
kann. hier in erster Linie von der ins Ungeheuerliche zu-
20 Der Einzelne erlebt […] eine Institution wie das Eigen- sammengeballten Wirtschaft und in zweiter von den
tum oder die Ehe als ein überpersönliches vorgefun- Verwaltungen in einem umfassenden Sinn, die aber 5

denes Muster, dem er sich einordnet; oder in anderen mit der Wirtschaft teils fusioniert und teils ihr nach-
Fällen tritt er in eine Institution seines Berufes, eine gebildet sind, dass die Menschen also davon abhän-
Behörde, eine Fabrik ein in dem Bewusstsein, dass sie gig sind. [...] Sie sind dazu geneigt, diese Institutionen
25 als dieselbe seit langem bestand und bestehen wird, als eine Notwendigkeit aufgrund der Mangelsituati-
im Wechsel der Menschen, die in sie ein- oder wieder on des Menschen [...] zu bejahen. […] Demgegenüber 10

austreten. […] würde ich sagen: Auf der einen Seite ist genau diese
Die Formen, in denen die Menschen miteinander le- Macht der Institutionen über die Menschen das, was
ben oder arbeiten, in denen sich die Herrschaft aus- man in der alten Sprache der Philosophie als hetero-
30 gestaltet oder der Kontakt mit dem Übersinnlichen nom bezeichnete. [...] Sie stehen den Menschen als
– sie alle gerinnen zu […] Institutionen, die schließ- eine fremde und bedrohliche Macht entgegen. [...] 15

lich den Individuen gegenüber etwas wie eine Selbst- Sie sind [...] geneigt, [...] diese Art Fatalität als et-
macht gewinnen, so dass man das Verhalten des was Schicksalhaftes und letztlich auf die Natur des
Einzelnen in der Regel ziemlich sicher voraussagen Menschen Zurückweisendes zu akzeptieren. [...] Dem
35 kann, wenn man seine Stellung in dem System der würde zunächst einmal entgegenzustellen sein die
Gesellschaft kennt, wenn man weiß, von welchen In- Analyse, die kritische Analyse dieser Institutionen 20

stitutionen er eingefasst ist. Die Forderungen des Be- und dann schließlich die Frage, [...] ob [...] diese In-
rufs oder der Familie, des Staates oder irgendwelcher stitutionen zu verändern wären und solche an ihre
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 19

Stelle zu setzen, die für die Menschen vielleicht [...] Subjekte. Ich will ja gar nichts anderes, als dass die
weniger entlastend sind als die Institutionen heute, Welt so eingerichtet wird, dass die Menschen nicht
25 aber auch dafür nicht diese entsetzlich drückende ihre überflüssigen Anhängsel sind, sondern [...] dass
Last sind, die jeden Einzelnen unter sich zu begraben die Dinge um der Menschen willen da sind und nicht 70

droht und die schließlich so etwas wie die Bildung ei- die Menschen um der Dinge willen, die sie noch dazu
nes freien Subjekts überhaupt nicht mehr zulässt. [...] selbst gemacht haben. Und dass die Institutionen
Ich meine [...] die Frage, ob die Institutionen wirk- schließlich auf die Menschen selbst zurückweisen,
30 lich eine Notwendigkeit der Menschennatur sind oder das ist für mich jedenfalls ein sehr geringer Trost. [...]
ob sie die Frucht einer geschichtlichen Entwicklung Ich meine, die Not, die die Menschen zu diesen Ent- 75

sind, deren Gründe durchsichtig sind und die sich lastungen treibt, ist gerade die Belastung, die von
unter Umständen auch verändern lässt [...]. den Institutionen, also von der ihnen fremden und
Gehlen: Herr Adorno, ich gebe Ihnen vollkommen zu, über sie übermächtigen Einrichtung der Welt ihnen
35 diese fundamentalen anthropologischen Einrichtun- angetan wird. [...] Und das scheint mir geradezu ein
gen wie Familie, Recht, Ehe, Eigentum usw., Wirt- Urphänomen der Anthropologie heute zu sein, dass 80

schaft, Zusammenwirtschaften bieten ein ungeheuer die Menschen sich flüchten zu genau der Macht, die
mannigfaches Bild in der Geschichte, und ich kann ihnen das Unheil [...] antut.
auch nicht absehen, dass sich diese Substanzen selbst Gehlen: Ich möchte [...] einen Gegenvorwurf anbrin-
40 einmal auflösen. Sie werden sich weiter transformie- gen. Obzwar ich das Gefühl habe, dass wir uns in tie-
ren. […] [Aber wir müssen] endlich den Streitpunkt fen Prämissen einig sind, habe ich den Eindruck, dass 85

finden. Er liegt vielleicht darin, dass ich geneigt bin, es gefährlich ist und dass Sie die Neigung haben, den
wie Aristoteles [...] dem Gesichtspunkt der Sicherheit Menschen mit dem bisschen unzufrieden zu machen,
eine große Rolle einzuräumen. Ich glaube, dass die was ihm aus dem ganzen katastrophalen Zustand
45 Institutionen Bändigungen der Verfallsbereitschaft noch in den Händen geblieben ist.
des Menschen sind. Ich glaube auch, dass die Ins- Adorno: Ja, dann möchte ich darauf wirklich den 90

titutionen den Menschen vor sich selbst schützen. Satz von Grabbe zitieren: „Denn nichts als nur Ver-
Gewiss auch Freiheit beschränken. Aber man sieht ja zweiflung kann uns retten.“ Freiheit und Institution (1965)
immer wieder, dass es Revolutionäre gibt. [...] Nicht
50 wahr, wir sind beide ungefähr gleich alt und wir ha-
ben nun alle erlebt: vier Regierungsformen, drei Re-
volutionen und zwei Weltkriege. […] In der Zeit ist
1 
Stellen Sie dar, was Institutionen nach Arnold
A
doch ungeheuer viel an Institutionen zerrieben und
abgebaut worden. Der Erfolg ist eine allgemeine in- Gehlen für den Menschen leisten. > M1
55 nere Unsicherheit […]. Da bin ich doch dafür, dass 2 
Untersuchen Sie, worin Adorno und Gehlen ge-
gensätzlicher Auffassungen sind und worin sie
man das, was an Institutionen da ist, nun auch [...]
sich im Laufe des Gesprächs annähern. > M2
konserviert. Und da kann ja dann wirklich jeder se-
3 
Erörtern Sie an einzelnen Beispielen, ob und
hen, an seiner Stelle, dass er da mal etwas verbessert, inwiefern Institutionen das Leben des Indivi-
aber damit kann man nicht anfangen. [...] Erst muss duums stabilisieren und entlasten oder seine
60 man hineingehen, muss ziemlich viel schlucken. [...] Freiheit einschränken. > M1/M2
Adorno: […] Ich mache eigentlich [...] die Beobach-
tung, dass die Menschen sich viel zu genau in den
ihnen vorgezeichneten Bahnen bewegen, dass sie viel Medienhinweis:
zu wenig Widerstand überhaupt noch aufbringen. Freiheit und Institution – Arnold Gehlen und Theo-
65 [...] Die Menschen sind heute wesentlich Anhängsel dor W. Adorno im Gespräch (YouTube-Video)
der Maschinerie und nicht die ihrer selbstmächtigen
20 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Der Mensch als Arbeiter

M1 Bernard Willms: Arbeit und Kultur


Bernhard Willms (1931-1991) war Politologe an der Ruhr-Uni- Zugriff auf die eigene, natürliche Selbstbezogen-
versität Bochum. heit die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die
Insofern der Mensch sich [zur Natur] verhalten muss, organisierte Daseinsbewältigung, d. h. dass sie eine 40

weil sie ihm nicht selbstverständlich gibt, was er politische Kultur schaffen. Politische Organisation
braucht, macht er sich zu ihrem Subjekt, sie wird ihm und gesellschaftliche Arbeitsteilung bedingen sich
ein notwendiger Gegenstand. gegenseitig, nur in ihrem Zusammenwirken lässt sich
5 Als Naturding hat Natur aber […] eine Eigenstän- menschliches Dasein ins Werk setzen.
digkeit, ein eigenes Schwergewicht, eine abweisen- […] Indem die Menschen arbeiten, um sich Natur 45

de Oberfläche. Als Gegenstand wird Natur zum Wi- anzueignen und damit ihr Dasein zu behaupten, er-
derstand und für das Naturverhältnis ist deshalb die fahren sie sich als Subjekte des Naturverhältnisses,
Überwindung von Widerstand notwendig, d. h. Ar- in dem „die Natur“ zum „Gegenstand“, zum Objekt
10 beit. „Von Natur her“ ist der Mensch ein Wesen, das wird. Indem aber die Menschen arbeiten, um „sich“
Natur überwinden muss, oder ein arbeitendes Wesen. zu erhalten […], so wird mit dieser Notwendigkeit 50

Indem das Naturverhältnis als Arbeit erkannt ist, er- der Arbeit auch das Prinzip der Freiheit bewusst: die
gibt sich, von der Notwendigkeit her bestimmt, ei- Menschen erfahren „sich selbst“ als das von der Not-
nes der wichtigsten Prinzipien für die Beziehung der wendigkeit Unterschiedene. Arbeit ist Naturverhält-
15 Menschen untereinander, also für das Gesellschafts- nis und notwendig, aber da die Menschen „sich“ auch
verhältnis. Wenn Arbeit über unmittelbare, „tieri- zu der Arbeit wiederum verhalten, wird ihnen mit der 55

sche“ Daseinserhaltung hinausgehen soll, dann muss Schwere der Arbeit, mit der Widerständigkeit der Na-
sie organisiert sein. Ein einzelner Mensch kommt turdinge ebenso wie mit den Notwendigkeiten und
nicht nur über die Unmittelbarkeit eines tierischen Zwängen der politischen Kultur, der Gedanke eines
20 Naturverhältnisses nicht hinaus, er kann sich nicht „Selbst“ bewusst, das von diesen Widerständen und
einmal das erhalten. Das Problem ihrer Daseinsbe- Härten des Daseins verschieden, das davon „frei“ ist. 60

wältigung können die Menschen nur gesellschaftlich Einführung in die Staatslehre (1979)
lösen, in gemeinsamer, organisierter Arbeit. […] Ge-
sellschaftliche Arbeitsteilung ist das unter dem Prin- M2 Arbeit in modernen Zeiten
25 zip der Notwendigkeit stehende Charakteristikum der Charlie Chaplin in seiner Rolle als Arbeiter im Film Modern
menschlichen Daseinsbewältigung. Gesellschaftlich- Times (1936)
keit des Menschen ist mit arbeitsteiliger Organisation
identisch. [….]
Die Organisation der Verschiedenheit der Arbeitstei-
30 lung setzt aber Unterschiede voraus, wie zwischen
Planung und Durchführung, sie verlangt Nachord-
nen und Unterordnen, jedenfalls Unterscheidung von
Ordnungspositionen. Solche Verschiedenheiten sind
nicht „von Natur“. Das Prinzip der Daseinsbewälti-
35 gung als Notwendigkeit, die Natur in organisierter
Arbeitsleistung zur Kultur umzuschaffen, setzt des-
halb voraus, dass die Menschen im organisierten
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 21

M3 Karl Marx: Die entfremdete Arbeit M4 Entfremdung vom Menschsein


Karl Marx (1818-1883) ist der einflussreichste Theoretiker des Phil: Marx behauptet, die Arbeit entfremdet den
Sozialismus und Kommunismus. In einem frühen, erst posthum Menschen als Gattungswesen. Das verstehe ich nicht.
veröffentlichten Manuskript analysiert er die Arbeit im Zeitalter
Was ist ein Gattungswesen?
des Kapitalismus.
Experte: Der Begriff Gattungswesen bezeichnet bei
[Die Entfremdung besteht darin,] dass die Arbeit dem Marx den Menschen, der der Gattung Mensch wirk- 5

Arbeiter äußerlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen lich zugehörig ist, der sich in seinem Menschsein
gehört, dass er sich daher in seiner Arbeit nicht be- verwirklichen, d. h. seine eigentlich menschlichen
jaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglück- Fähigkeiten entfalten kann. Für Marx zeichnet sich
5 lich fühlt, keine freie physische und geistige Energie der Mensch im Unterschied zum Tier dadurch aus,
entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen dass er die Fähigkeit besitzt, sich bewusst mit seiner 10

Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst au- Umwelt auseinander zu setzen und frei und schöpfe-
ßer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. risch zu handeln.
Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet und wenn er Phil: Und was bedeutet nun Entfremdung vom Gat-
10 arbeitet, ist er nicht zu Hause. Seine Arbeit ist daher tungswesen?
nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Experte: Ich möchte die Arbeit in der kapitalistischen 15

Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnis- Gesellschaft einmal mit der Tätigkeit eines Künstlers
ses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse vergleichen. Ein Künstler verwirklicht im Kunstwerk,
außer ihr zu befriedigen. […] das er herstellt, seine schöpferischen Fähigkeiten,
15 Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen […] sich und das Produkt dieser Tätigkeit gehört natürlich
selbst, seine eigne tätige Funktion, seine Lebenstätig- auch ihm. Das Produkt, das der Arbeiter in der kapi- 20

keit [entfremdet], so entfremdet sie dem Menschen talistischen Gesellschaft herstellt, gehört aber nicht
die Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben* […] ihm, sondern es ist ein ihm fremdes Produkt. Es ge-
zum Mittel des individuellen Lebens. […] hört nämlich einem anderen, dem Kapitalisten, der es
20 Das Tier ist unmittelbar eins mit seiner Lebenstätig- auf dem Markt verkauft und den Arbeiter für seine
keit. Es unterscheidet sich nicht von ihr. Es ist sie. Tätigkeit entlohnt. Und auch die Tätigkeit der Arbeit 25

Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst zum erlebt der Arbeiter nicht als Selbstverwirklichung,
Gegenstand seines Wollens und seines Bewusstseins. als Entfaltung seiner Fähigkeiten als Mensch, son-
Er hat bewusste Lebenstätigkeit. […] dern als Zwang, der nötig ist, um seine individuelle
25 Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Existenz zu erhalten. Dadurch wird er seinem Wesen
Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist als Mensch, das in bewusster und freier Tätigkeit be- 30

die Bewährung des Menschen als eines bewussten steht, entfremdet. Er kann sich in der Arbeit nicht als
Gattungswesens, d. h. eines Wesens, das sich zu der Mensch, als Gattungswesen, verwirklichen.
Gattung als seinem eignen Wesen oder zu sich als Originalbeitrag
30 Gattungswesen verhält. […] Diese Produktion ist sein
werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die
1 
Visualisieren Sie den Gedankengang des Textes
A
Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit. […]
von Bernhard Willms. > M1
Die entfremdete Arbeit macht […] das Gattungswesen
2 
Vergleichen Sie den von Willms beschriebenen
des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Begriff der Arbeit (M1) mit demjenigen, der in
35 Gattungsvermögen, zu einem ihm fremden Wesen, der Abbildung (M2) dargestellt wird. > M1/M2
zum Mittel seiner individuellen Existenz. Sie entfrem- 3 
Erarbeiten Sie die Merkmale der entfremdeten
det dem Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur Arbeit nach Marx. > M3/M4
außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschli- 4 
Erstellen Sie eine idealtypische Beschreibung
ches Wesen. Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844) Ihres zukünftigen Arbeitsplatzes.
22 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Der handelnde Mensch

M1 Das Zusammenleben gestalten

Der pensionierte Lehrer Wolfgang Herrmann erteilt Asylbewer- Europäische Regierungschefs bei Verhandlungen über einen
bern Deutschunterricht und hilft ihnen bei der Integration. Waffenstillstand in der Ukraine 2015

M2 Hannah Arendt:
Arbeiten, Herstellen, Handeln heimatlos ist; und die Welt bietet Menschen eine Hei-
Hannah Arendt (1906-1975) thematisiert in ihrem philosophischen mat in dem Maße, in dem sie menschliches Leben 25
Hauptwerk Vita activa (1958) den Menschen als tätiges Wesen. überdauert, ihm widersteht und als objektiv-gegen-
Mit dem Wort Vita activa sollen im Folgenden drei ständlich gegenübertritt. […]
menschliche Grundtätigkeiten zusammengefasst wer- Das Handeln ist die einzige Tätigkeit der Vita acti-
den: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Sie sind Grund- va, die sich ohne Vermittlung von Materie, Material
tätigkeiten, weil jede von ihnen einer der Grundbe- und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt. Die 30

5 dingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht Grundbedingung, die ihr entspricht, ist das Faktum
der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist. der Pluralität, nämlich die Tatsache, dass nicht ein
Die Tätigkeit der Arbeit entspricht dem biologischen Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben
Prozess des menschlichen Körpers, der in seinem und die Welt bevölkern […].
spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich Alle drei Grundtätigkeiten und die ihnen entspre- 35

10 von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt chenden Bedingungen sind nun nochmals in der
und zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten allgemeinsten Bedingtheit menschlichen Lebens
dem lebendigen Organismus zuzuführen. Die Grund- verankert, dass es nämlich durch Geburt zur Welt
bedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens kommt und durch Tod aus ihr wieder verschwindet.
steht, ist das Leben selbst. […] So sichert die Arbeit das Am-Leben-Bleiben des 40

15 Im Herstellen manifestiert sich das Widernatürliche Individuums und das Weiterleben der Gattung; das
eines von der Natur abhängigen Wesens […]. Das Her- Herstellen errichtet eine künstliche Welt, die von der
stellen produziert eine künstliche Welt von Dingen, Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße
die sich den Naturdingen nicht einfach zugesellen, unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so
sondern sich von ihnen dadurch unterscheiden, dass etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält; das Han- 45

20 sie der Natur bis zu einem gewissen Grade wider- deln schließlich, soweit es der Gründung und Erhal-
stehen und von den lebendigen Prozessen nicht ein- tung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Be-
fach zerrieben werden. In dieser Dingwelt ist mensch- dingungen für eine Kontinuität der Generationen, für
liches Leben zu Hause, das von Natur in der Natur Erinnerung und damit für Geschichte. Vita activa (1967)
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 23

M3 Hannah Arendt: Die Enthüllung dass jeder Mensch auch arbeiten müsste; er kann sehr
der Person im Sprechen und Handeln gut andere zwingen, für ihn zu arbeiten, ohne dass
[Offenbar vollzieht] alles politische Handeln, sofern seinem Menschsein darum Abbruch geschähe. Und
es sich nicht der Mittel der Gewalt bedient, sich durch genau das Gleiche gilt für das Herstellen, sofern man
Sprechen. […] Stumm ist nur die Gewalt […]. sehr wohl die Welt der Dinge benutzen und genießen 35

Das Faktum menschlicher Pluralität, die grundsätzli- kann, ohne je selbst auch nur ein einziges nützli-
5 che Bedingung des Handelns wie des Sprechens, ma- ches Ding hergestellt und ihrem vielfältigen Reich-
nifestiert sich auf zweierlei Art, als Gleichheit und als tum hinzugefügt zu haben. […] Ein Leben ohne alles
Verschiedenheit. Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Sprechen und Handeln andererseits […] wäre buch-
Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der stäblich kein Leben mehr, sondern ein in die Länge 40

Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr eines Menschenlebens gezogenes Sterben; es würde
10 von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen nicht mehr in der Welt unter Menschen erscheinen,
bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit, das abso- sondern nur als ein Dahinschwindendes sich über-
lute Unterschiedensein jeder Person von jeder ande- haupt bemerkbar machen; wir wüssten von ihm nicht
ren, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der mehr als wir, die Lebenden, von denen wissen, die in 45

Sprache noch des Handelns für eine Verständigung den Tod schwinden, den wir nicht kennen.
15 […]. Menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die Vita activa (1967)
paradoxe Eigenschaft hat, dass jedes ihrer Glieder in
seiner Art einzigartig ist.
1 
Überlegen Sie, ob die dargestellten Tätigkei-
A
Sprechen und Handeln sind die Tätigkeiten, in de-
ten als Arbeit im Sinne von Willms und Marx
nen die […] Einzigartigkeit sich darstellt. Sprechend (s. S. 20f., M1 und M3) bezeichnet werden
20 und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv können. Begründen Sie Ihre Auffassung. > M1
voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein 2 
Stellen Sie dar, wie sich Arbeiten, Herstellen
[…]. Dies aktive In-Erscheinung-Treten eines grund- und Handeln unterscheiden, indem Sie zu jeder
sätzlich einzigartigen Wesens beruht, im Unterschied Form des Tätigseins eine Definition erstellen
von dem Erscheinen des Menschen in der Welt durch und Beispiele finden. > M2
25 Geburt, auf einer Initiative, die er selbst ergreift […]. 3 
Untersuchen Sie, inwiefern nach Hannah
Arendt das Handeln und Sprechen die Tätig-
Kein Mensch kann des Sprechens und des Handelns
keiten sind, die den Menschen in besonderer
ganz und gar entraten, und dies wiederum trifft auf Weise auszeichnen. > M3
keine andere Tätigkeit der Vita activa zu. Die Arbeit 4 
Nehmen Sie Stellung zur Tragfähigkeit der be-
mag noch so charakteristisch für den menschlichen grifflichen Unterscheidungen Hannah Arendts.
30 Stoffwechsel mit der Natur sein, das besagt nicht, > M2/M3

Hilfestellung zu Aufgabe 2:
Tätigkeit
/ /
>
>

durch Materie vermittelt ausschließlich auf Menschen bezogen


/ / /
>

>

>

Zubereiten von Naturdingen Erschaffen einer künstlichen Welt, Gestalten des Zusammenlebens
zum Zweck des Lebenserhaltes in der der Mensch zu Hause ist unter der Bedingung der Pluralität
/ / /
>

>

>

Arbeiten Herstellen Handeln / Sprechen


24 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Symbolgebrauch und Sprache

M1 Symbole bestenfalls mimetisch durch Vor- und Nachmachen


weitergegeben und von anderen genutzt werden. Es 25

kann jedoch nichts weitergegeben werden, was diese


unmittelbare Kommunikationssituation überschrei-
tet, weil es keinen symbolischen Code gibt, in dem
dergleichen Wissen situationsabstrakt und situati-
onsüberschreitend für andere vergleichbare Fälle und 30

nachfolgende Generationen aufgezeichnet werden


kann. […]
Im Unterschied [dazu] […] ist der Mensch in der Lage,
das Wissen seiner Artgenossen durch generationen-
übergreifende Formen der Nachahmung, Übernahme 35

und Modifikation zu nutzen. […]


M2 Aleida Assmann: Die anthropologische Das Zeichen führt den, der sich seiner bedient, vom
Bedeutung von Symbolen Ich zum Du, vom Hier zum Dort, vom Jetzt zum Dann,
Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann von der wörtlichen zur übertragenen Bedeutung, von
(*1947) ist Professorin an der Universität Konstanz. der Materie zum Geist. Es ist diese konsequente Nut- 40

Die anthropologische Bedeutung von Symbolen wur- zung der im Zeichen angelegten Kräfte, die den Men-
de mir an einer Beschreibung klar, die ich vor Jahren schen aus den engen Grenzen seiner Lebensbezüge
bei dem amerikanischen Literaturtheoretiker Kenneth befreit und aus einem geschlossenen Milieu in eine
Burke gefunden habe. […] Er beobachtete […], dass offene, von ihm selbst geschaffene Umwelt heraus-
5 alle jungen Vögel flügge wurden und das Nest ver- führt. […] 45

ließen bis auf einen, der den unheimlichen Moment Erst mithilfe der Techniken des Speicherns und Über-
des ersten Flugs vor sich her schob und schließlich tragens von Zeichen kann ein gemeinsam geteiltes
als Einziger im Nest zurückblieb. Für diesen erfand Gedächtnis aufgebaut und im Radius von Raum und
die Amselmutter einen besonderen Trick: sie brach- im Horizont von Zeit über den individuellen Erfah-
10 te ihm einen Wurm und verweilte flatternd mit ih- rungskreis hinaus erweitert werden. Mit der Sprache 50

rer Beute so weit außerhalb des Nests, dass sich der ist es möglich, persönlich erworbenes Wissen und
junge Vogel weit hinauslehnen musste, um den Bis- habitualisierte Erfahrung vom Körper abzulösen und
sen zu erhaschen. In diesem Augenblick zuckte die auf andere Menschen zu übertragen. Dieser Prozess
Amsel zurück und der Vogel purzelte aus dem Nest, der Ablösung beginnt mit Techniken des Memorie-
15 worauf er spontan die Flügel öffnete und auf und rens und endet mit der Verlagerung von Information 55

davon flog. An diesem Punkt setzt Kenneth Burkes auf materielle Datenträger. Erst auf der Basis solcher
Reflexion ein. Er gratuliert der Amselmutter zu ih- mündlichen oder schriftlichen Speichertechniken
rer genialen Erfindung, bedauert aber zugleich, dass werden Übertragungen von Information über Distan-
eine solche Erfindung in der Vogelwelt nicht Schule zen in Raum und Zeit möglich. Die Sprache ist nicht
20 machen könne, weil die Amsel ja leider nicht in der nur der wichtigste Träger subjektiver Erinnerungen, 60

Lage sei, ein Handbuch über die „Entnestung jun- sie ist auch ein kollektives Gedächtnis, ein histori-
ger Vögel“ zu schreiben. Mit anderen Worten: In der sches Archiv menschlicher Erfahrungen und Weltan-
Vogelwelt können Erfahrungen und Erfindungen eignungen. Zeichen – Sprache – Erinnerung (2007)
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 25

M3 Ernst Cassirer: körperlichen Entwicklung bezeichnet: denn wie das 40

Sprache, Gegenstand und Welt laufende Kind nicht mehr zu warten braucht, bis die
Für den Kulturphilosophen Ernst Cassirer (1874-1945) ist die Fä- Dinge der Außenwelt zu ihm kommen, so besitze das
higkeit zur Symbolisierung – in Sprache, Mythos, Wissenschaft fragende ein ganz neues Mittel, selbstständig in die
usw. – das, was den Menschen in besonderer Weise auszeichnet.
Welt einzugreifen und sie sich selbstständig aufzu-
Die Sprache tritt nicht in eine Welt der fertigen ge- bauen. […] An der Hand des Namens tastet es sich 45

genständlichen Anschauung ein, um hier zu den ge- gleichsam zu der Vorstellung der Gegenstände hin.
gebenen und klar gegeneinander abgegrenzten Ein- Denn es ist ja nicht so, dass diese Vorstellung für das
zeldingen nur noch ihre „Namen“ als rein äußerliche Kind schon irgendwie feststeht; sie soll erst gewon-
5 und willkürliche Zeichen hinzuzufügen – sondern nen und gesichert werden. Und für diese Sicherung
sie ist selbst ein Mittel der Gegenstandbildung, ja sie ist der Name unentbehrlich. […] 50

ist im gewissen Sinne das Mittel, das wichtigste und Es scheint mir charakteristisch, dass die Form der Na-
vorzüglichste Instrument für die Gewinnung und den mensfrage beim Kinde, soviel ich sehe, nirgend da-
Aufbau einer reinen „Gegenstandswelt“. […] rin besteht, dass gefragt wird, wie ein Ding „heiße“,
10 Alle Beobachter und Darsteller der Kindersprache sondern vielmehr, was ein Ding „sei“. […] Selbst für
haben bei diesem Punkte verweilt, haben die ent- die Naturvölker ist es ja charakteristisch, dass eine 55

scheidende „Revolution der Denkart“ hervorgehoben, eigentliche Trennung von „Wort“ und „Sache“ für ihr
die für das Kind in dem Augenblick einsetzt, in dem Bewusstsein noch gar nicht besteht, dass das Wort
zuerst das sprachliche Symbolbewusstsein in ihm vielmehr ein objektiver Bestand des Dinges ist, ja
15 erwacht. „Das Kind“ – so beschreibt [der Philosoph sein eigentliches Wesen ausmacht. So fragt auch das
und Psychologe William] Stern dieses Erwachen – Kind nach dem Namen, um mit ihm den Gegenstand 60

„braucht nicht nur die Worte als Symbole, sondern selbst gewissermaßen in Besitz zu nehmen.
merkt, dass die Worte Symbole sind, und ist unaus- Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt (1932)
gesetzt auf der Suche nach ihnen. Es hat hier eine
20 der wichtigsten Entdeckungen seines ganzen Lebens M4 Ludwig Wittgenstein: Zweierlei Grenzen
gemacht: dass zu jedem Gegenstand dauernd ein ihn
symbolisierender, zur Bezeichnung und Mitteilung
dienender Lautkomplex gehöre, d. i., dass jedes Ding Die Grenzen meiner Sprache
einen Namen habe“. Jetzt erwacht im Kinde ein fast bedeuten die Grenzen meiner Welt.
25 unstillbarer Trieb, die Namen der Dinge zu wissen –
Tractatus logico-philosophicus (1918)
ein eigentlicher „Namenshunger“ –, der sich in stän-
digem Fragen ausdrückt. […] Aber dieser Drang wird,
wie mir scheint, psychologisch nicht ausreichend und

30
nicht ganz zutreffend beschrieben, wenn man in ihm
lediglich eine Art von intellektueller Neugier sieht. 1 
Deuten Sie die dargestellten Symbole und fin-
A
Die Wissbegier des Kindes ist nicht auf die Namen als den Sie weitere. Erläutern Sie die Funktion eines
solche, sondern sie ist auf das gerichtet, wozu es jetzt Symbols. > M1
den Namen braucht – und es braucht ihn zu nichts 2 
Erklären Sie die Speicherfunktion der Sprache
am Beispiel der Amsel. > M2
anderem als zur Gewinnung und Fixierung bestimm-
3 
Erklären Sie am Beispiel des kleinen Kindes,
35 ter gegenständlicher Vorstellungen. Einzelne Psycho-
wie Sprache zum Aufbau einer gegenständli-
logen haben darauf hingewiesen, dass das Sprach- chen Welt beiträgt. > M3
stadium, in dem wir uns hier befinden, in geistiger 4 Nehmen Sie auf der Grundlage der Ausführun-
Hinsicht einen ähnlichen gewaltigen Fortschritt be- gen Assmanns und Cassirers (s. M2 und M3)
deutet, wie ihn das Gehenlernen auf dem Gebiete der Stellung zur Aussage Wittgensteins. > M4
26 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Kulturgut Spiel

M1 Der spielende Mensch

M2 Johan Huizinga:
Das Spiel als Ursprung der Kultur
In seinem Buch Homo Ludens entwickelt der niederländische steckt ein Wortspiel. So schafft sich die Menschheit 20
Kulturhistoriker Johan Huizinga (1872–1945) eine Theorie, immer wieder ihren Ausdruck für das Dasein, eine
nach der die Kultur selbst aus dem Spielen entstanden ist.
zweite erdichtete Welt neben der Welt der Natur. […]
Wer den Blick auf die Funktion des Spiels richtet […], Alles Spiel ist zunächst und vor allem ein freies Han-
findet das Spiel in der Kultur als eine gegebene Grö- deln. Befohlenes Spiel ist kein Spiel mehr. Höchstens
ße vor, die vor der Kultur selbst da ist und sie von kann es aufgetragenes Wiedergeben eines Spiels sein. 25

Anbeginn an bis zu der Phase, die […] [der Mensch] Schon durch diesen Charakter der Freiheit sondert
5 selbst erlebt, begleitet und durchzieht. Überall tritt sich das Spiel aus dem Lauf eines Naturprozesses he-
ihm das Spiel als eine bestimmte Qualität des Han- raus. […]
delns entgegen, die sich vom „gewöhnlichen“ Leben Spiel ist nicht das „gewöhnliche“ oder das „eigentli-
unterscheidet. […] che“ Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm 30

Die großen ursprünglichen Betätigungen des mensch- in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer ei-
10 lichen Zusammenlebens sind alle bereits von Spiel genen Tendenz. Schon das kleine Kind weiß genau,
durchwoben. Man nehme die Sprache, dieses erste dass es „bloß so tut“, dass alles „bloß Spaß“ ist. […]
und höchste Werkzeug, das der Mensch sich formt, Dieses Etwas, das nicht das „gewöhnliche Leben“ ist,
um mitteilen, lehren, gebieten zu können, die Spra- steht außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Be- 35

che, mit der er unterscheidet, bestimmt, feststellt, friedigung von Notwendigkeiten und Begierden, ja es
15 kurzum nennt, d. h. die Dinge in das Gebiet des Geis- unterbricht diesen Prozess. Es schiebt sich zwischen
tes emporhebt. Spielend springt der sprachschöpfende ihn als eine zeitweilige Handlung ein. Diese läuft in
Geist immer wieder vom Stofflichen zum Gedachten sich selbst ab und wird um der Befriedigung willen
hinüber. Hinter einem jeden Ausdruck für etwas Ab- verrichtet, die in der Verrichtung selbst liegt. So we- 40

straktes steht eine Metapher, und in jeder Metapher nigstens stellt sich uns das Spiel an sich und in erster
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 27

Instanz betrachtet dar: als ein Intermezzo im alltägli- M4 Kontrolle durch Konsum
chen Leben, als Betätigung in der Erholungszeit und Der deutsch-amerikanische Philosoph Herbert Marcuse (1898-
zur Erholung. Aber bereits in seiner Eigenschaft als 1979) kritisiert in seinem Buch Der eindimensionale Mensch
(1964, dt. 1967) unter anderem das Konsumverhalten der Men-
45 eine regelmäßig wiederkehrende Abwechslung wird
schen in der industriellen Gesellschaft.
es Begleitung, Ergänzung, ja Teil des Lebens im All-
gemeinen. Es schmückt, es ergänzt es und ist insofern Sophie: Marcuse vertritt also die Auffassung, dass der
unentbehrlich, unentbehrlich für die Gemeinschaft Mensch in Konsumgesellschaften kontrolliert wird?
wegen des Sinnes, der in ihm enthalten ist, wegen Experte: Ja, genau, er ist nämlich nicht mehr in der
50 seiner Bedeutung, wegen seines Ausdruckwertes und Lage, selbst zu entscheiden, ob die Dinge, die er kauft,
wegen der geistigen und sozialen Verbindungen, die seinen wirklichen Bedürfnissen entsprechen. 5

es schafft: kurzum als Kulturfunktion. […] Sophie: Und was soll das heißen?
Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zu- Experte: Die Menschen unterliegen den Zwängen der
sammenfassend eine freie Handlung nennen, die als Wirtschaft, so dass sich keine Individualität mehr
55 „nicht so gemeint“ und außerhalb des gewöhnlichen entfalten kann. Ihre Unfreiheit zeigt sich darin, dass
Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den ihnen „falsche Bedürfnisse“ von außen oktroyiert 10

Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein werden.


materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Sophie: Auf die heutige Jugend bezogen würde Mar-
Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens cuse dann z. B. auch Computerspiele als ein falsches
60 bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums Bedürfnis bezeichnen?
vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsge- Experte: Ja natürlich, und zwar deshalb, weil durch 15

mäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben sie genauso wie durch die anderen Konsumgüter
ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis Kontrolle über die Menschen ausgeübt werden kann:
umgeben oder durch Verkleidung als anders von der Um sozial angesehen zu sein, musst du bei bestimm-
65 gewöhnlichen Welt abheben. Homo Ludens (1938) ten Dingen mitmachen, etwa beim Spielen bestimm-
ter Spiele am Computer. Durch dein Handeln gibst du 20

M3 Wenn das Spiel nicht Spiel bleibt zu verstehen, dass du mit dem gesellschaftlichen Sys-
• Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesund- tem, in dem du lebst, einverstanden bist, weil du es
heitliche Aufklärung (2013) zeigt der größte Teil nachahmst. Marcuse nennt eine solche Nachahmung
der Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Um- oder Anpassung eindimensionales Denken, weil der
gang mit Computerspielen keine Auffälligkeiten Mensch sich keine komplexeren Gedanken in Be- 25

5 oder Verhaltensprobleme. Allerdings sind 2,5% der zug auf die bestehende Gesellschaftsordnung mehr
12- bis 25-Jährigen – etwa 300.000 junge Men- macht, sondern sich einem angenehmen, aber durch
schen – als exzessive Computerspieler/innen ein- die Wirtschaft kontrollierten und damit manipulier-
zustufen, die ihren Umgang mit Computerspielen ten Lebensstil hingibt. Originalbeitrag
nicht mehr unter Kontrolle haben.
10 • Laut Casual Games Association (2009) stellen Games
1 
Erläutern Sie, welche Formen des Spielens in
A
und Mobile Games inzwischen ein Milliardenge-
schäft dar. Die Spiele werden zwar kostenfrei ange- den Abbildungen dargestellt werden. Finden
Sie weitere Beispiele. > M1
boten, doch die User geben für den Kauf virtueller
2 
Erarbeiten Sie Huizingas Auffassung des Zu-
Güter durchschnittlich 1-10 Cent pro Tag aus. Al-
sammenhangs von Kultur und Spiel. > M2
15 lein mit Social Games konnte so 2009 ein Umsatz
3 
Beurteilen Sie die Ergebnisse der beiden Stu-
von 1.84 Milliarden Dollar verzeichnet werden. Für dien zu Computerspielen und Mobile Games
2013 wurden 7.49 Mrd. Dollar prognostiziert. auf der Grundlage der Kritik Marcuses an der
Originalbeitrag Konsumgesellschaft. > M3/M4
28 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Kultur – kritisch betrachtet

M1 Wie wir leben (wollen) … Solange sich die Menschen mit ihren einfachen Hüt-
ten begnügten, solange sie sich darauf beschränkten,
ihre Kleider mit Dornen oder Gräten aus Tierhäuten zu 15

nähen […]; mit einem Wort: solange sie sich nur Ar-
beiten zuwandten, die einer allein ausführen konnte,
und nur solchen handwerklichen Künsten, die nicht
das Zusammenwirken mehrerer Hände nötig mach-
ten, lebten sie so frei, gesund, gut und glücklich, wie 20

sie es ihrer Natur nach nur sein konnten, und genos-


sen untereinander weiterhin die Wonnen eines un-
abhängigen Umgangs miteinander. Aber von dem
Augenblick an, da ein Mensch die Hilfe eines ande-
ren benötigte, und sobald man gewahr wurde, dass 25
Paul Gauguin: Woher kommen wir? Wer sind wir?
es einem Einzelnen nützlich ist, Vorräte für zwei zu
Wohin gehen wir? (1897)
haben, verschwand die Gleichheit, das Eigentum kam
Paul Gauguin (1848-1903) war einer von mehreren auf, die Arbeit wurde zur Notwendigkeit, und die
Malern, die sich um das Jahr 1900 herum für das ausgedehnten Wälder verwandelten sich in anmutige
Leben der Eingeborenen in der Südsee begeisterten. Felder, die mit dem Schweiß der Menschen begossen 30

1891/92 führte ihn eine Reise nach Tahiti, von 1895 werden mussten und auf denen man bald die Sklave-
bis zu seinem Tod lebte er auf der Südseeinsel La rei und das Elend keimen und wachsen sah. […]
Dominique. Die äußerste Ungleichheit in der Lebensweise, das
Übermaß an Müßiggang bei den einen, das Übermaß
M2 Jean-Jacques Rousseau: Zurück zur Natur!? an Arbeit bei den anderen; die Leichtigkeit, unsere 35

Dem französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712- Begierden und unsere Sinnlichkeit zu erregen und zu
1778) wird die Devise „Zurück zur Natur“ zugeschrieben. Sie befriedigen; die allzu gekünstelten Speisen der Rei-
geht zurück auf die Auffassung, die er in einer 1754 von der
chen, die sie mit erhitzenden Säften nähren und mit
Académie de Dijon ausgezeichneten Preisschrift über die Un-
gleichheit unter den Menschen entwickelte. Verdauungsstörungen belasten; die schlechte Nah-
rung der Armen, die ihnen sogar zumeist noch fehlt 40

Der Erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und und deren Mangel sie dazu verleitet, ihren Magen bei
auf den Gedanken kam zu sagen „Dies ist mein“ und entsprechender Gelegenheit gierig zu überladen; die
der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu durchwachten Nächte, die Ausschweifungen jeder Art,
glauben, war der wahre Begründer der zivilen Ge- die unmäßigen Ausbrüche aller Leidenschaften, die
5 sellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie Ermüdungen und Erschöpfungen des Geistes; […]: das 45

viele Leiden und Schrecken hätte nicht derjenige dem sind die unheilvollen Beweise dafür, dass die meisten
Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle heraus- unserer Leiden unser eigenes Werk sind und dass wir
gerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen sie fast alle hätten vermeiden können, wenn wir die
Mitmenschen zugerufen hätte: „Hütet euch davor, Lebensweise – einfach, gleichförmig und allein zu
10 auf diesen Betrüger zu hören. Ihr seid verloren, wenn leben beibehalten hätten, die uns von der Natur ver- 50

ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und dass ordnet wurde. Abhandlung über den Ursprung und die Grund-
lagen der Ungleichheit unter den Menschen (1754)
die Erde niemandem gehört!“ […]
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 29

M3 Sigmund Freud: walt“ verurteilt wird, entgegen. Diese Ersetzung der 40

Das Unbehagen in der Kultur Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist
Der österreichische Neurologe, Psychologe und Kulturkritiker der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen be-
Sigmund Freud (1856-1935) wurde weltweit bekannt als Be- steht darin, dass sich die Mitglieder der Gemeinschaft
gründer der Psychoanalyse.
in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken,
[Menschen] streben nach dem Glück, […] die Absicht, während der Einzelne keine solche Schranke kannte. 45

dass der Mensch „glücklich“ sei, ist [jedoch] im Plan […] Das Endergebnis soll ein Recht sein, zu dem alle
der „Schöpfung“ nicht enthalten. […] – wenigstens alle Gemeinschaftsfähigen – durch ihre
[Es wird behauptet,] einen großen Teil der Schuld an Triebopfer beigetragen haben und das keinen – wie-
5 unserem Elend trage unsere sogenannte Kultur; wir derum mit der gleichen Ausnahme – zum Opfer der
wären viel glücklicher, wenn wir sie aufgeben und rohen Gewalt werden lässt. 50

in primitive Verhältnisse zurückfinden würden. […] Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war
Auf welchem Weg sind wohl so viele Menschen zu am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist
diesem Standpunkt befremdlicher Kulturfeindlichkeit ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war,
10 gekommen? […] sie zu verteidigen. Durch die Kulturentwicklung er-
In den letzten Generationen haben die Menschen au- fährt sie Einschränkungen, und die Gerechtigkeit 55

ßerordentliche Fortschritte in den Naturwissenschaf- fordert, dass keinem diese Einschränkungen erspart
ten und in ihrer technischen Anwendung gemacht, werden. […]
ihre Herrschaft über die Natur in einer früher un- [Es ist] unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß
15 vorstellbaren Weise befestigt. Die Einzelheiten die- die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr
ser Fortschritte sind allgemein bekannt, es erübrigt sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, 60

sich, sie aufzuzählen. Die Menschen sind stolz auf Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trie-
diese Errungenschaften und haben ein Recht dazu. ben zur Voraussetzung hat. Diese „Kulturversagung“
Aber sie glauben bemerkt zu haben, dass diese neu beherrscht das große Gebiet der sozialen Beziehungen
20 gewonnene Verfügung über Raum und Zeit, diese der Menschen […]. Es ist nicht leicht zu verstehen,
Unterwerfung der Naturkräfte, die Erfüllung jahrtau- wie man es möglich macht, einem Trieb die Befriedi- 65

sendealter Sehnsucht, das Maß von Lustbefriedigung, gung zu entziehen. Es ist gar nicht so ungefährlich;
das sie vom Leben erwarten, nicht erhöht, sie nach wenn man es nicht ökonomisch kompensiert, kann
ihren Empfindungen nicht glücklicher gemacht hat. man sich auf ernste Störungen gefasst machen.
25 […] Abriss der Psychoanalyse – Das Unbehagen in der Kultur (1929)
Es ist Zeit, dass wir uns um das Wesen dieser Kultur
kümmern, deren Glückswert in Zweifel gezogen wird.
[…] Vielleicht beginnt man mit der Erklärung, das 1 
Stellen Sie auf der Grundlage des Bildes Ver-
A
kulturelle Element sei mit dem ersten Versuch, die […] mutungen darüber an, was Gauguin bewegt
30 sozialen Beziehungen zu regeln, gegeben. Unterblie- haben könnte, sich auf einer Südseeinsel nie-
be ein solcher Versuch, so wären diese Beziehungen derzulassen und zu malen. > M1
der Willkür des Einzelnen unterworfen, d. h. der phy- 2 
Analysieren Sie – arbeitsteilig – Rousseaus und
sisch Stärkere würde sie im Sinne seiner Interessen Freuds Kulturkritik und erläutern Sie ihre Posi-
tionen durch Beispiele. > M2/M3
und Triebregungen entscheiden. […] Das menschliche
3 
Finden Sie aktuelle Beispiele für eine kulturkri-
35 Zusammenleben wird erst ermöglicht, wenn sich eine
tische Haltung.
Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jeder
4 
Erörtern Sie – in Auseinandersetzung mit den
Einzelne und gegen jeden Einzelnen zusammenhält. Positionen Rousseaus und Freuds – abschlie-
Die Macht dieser Gemeinschaft stellt sich nun als ßend zu diesem Kapitel die Frage, ob Kultur
„Recht“ der Macht des Einzelnen, die als „rohe Ge- positiv oder negativ zu bewerten ist.
30 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Wissen kompakt

> Natur > Sozialdarwinismus


Natur (von lat. natura, nasci: geboren werden, Unter Sozialdarwinismus versteht man die Über-
entstehen) ist der Inbegriff der Dinge, die ihre tragung der Evolutionsgesetze auf die Gesellschaft
Herkunft nicht dem Menschen verdanken. Da- als Rechtfertigungsideologie für gesellschaftliche
bei wird zwischen unbelebter und belebter Natur Ungleichheit. Dabei wird das Prinzip der Selek-
(Pflanzen, Tiere) unterschieden. tion aufgrund von Angepasstheit an Umwelt-
bedingungen („survival of the fittest“) im Sinne
> Evolution eines Kampfes um das Dasein („struggle for life“)
Die Entwicklung der Arten von Lebewesen voll- umgedeutet, in dem nur die Stärksten überleben.
zieht sich durch natürliche Selektion. Diese beruht Kritiker werfen dem Sozialdarwinismus mit sei-
auf der erfolgreichen Fortpflanzung von Indivi- ner Ableitung einer gesellschaftlichen Norm aus
duen, die aufgrund ihrer genetischen Merkmale der Beobachtung eines Naturprozesses einen lo-
den jeweiligen Umweltbedingungen am besten gischen Fehler (naturalistischer Fehlschluss, Sein-
angepasst sind. Sollen-Fehlschluss) vor.

MENSCH ALS NATURWESEN

Entwicklung der Arten


durch natürliche Selektion
/ /
>

>

– erfolgreiche Fortpflanzung aufgrund nicht gemeint:


von Individuen, die den jeweiligen Umwelt- – gesellschaftliches Leben als Kampf ums Dasein,
bedingungen am besten angepasst sind – Überleben des Stärkeren (Sozialdarwinismus)

/
>

Evolutionäre Prägung des Menschen:

/
>

Mensch = organisches Mängelwesen:


Unspezialisiertheit, Unangepasstheit

/
>

Überleben durch Fähigkeit zur Bearbeitung der Natur /


Umarbeitung der Natur ins Lebensdienliche

/
>

KULTUR = ZWEITE NATUR DES MENSCHEN


DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 31

> Kultur > Institution


Der Begriff Kultur (von lat. cultura: Ackerbau, Als Institutionen (von lat. institutio: Einrich-
Pflege, Ausbildung) bezeichnet die Gesamtheit tung) werden unterschiedliche gesellschaftliche
der Leistungen, die der Mensch aus den ihm ge- Einrichtungen bezeichnet, die die menschlichen
gebenen Fähigkeiten in Auseinandersetzung mit Beziehungen dauerhaft regeln, etwa Recht und
der Umwelt hervorbringt und durch die er seine Verwaltung, aber auch Ehe und Familie usw.
Naturhaftigkeit überwindet. Von Natur aus stellt
er ein organisches Mängelwesen dar, das dar- > Symbol
auf angewiesen ist, die Natur ins Lebensdienli- Ein Symbol (gr. symbolon: Erkennungszeichen)
che zu verändern, d. h. er ist nur als Kulturwesen ist allgemein ein wahrnehmbares Zeichen, das
(über-)lebensfähig. Zur Kultur gehören z. B. Arbeit, für etwas nicht Wahrnehmbares steht. Im enge-
Herstellen, politisches Handeln, Sprache, Spiel, ren Sinne bezeichnet es jedes Bild-, Laut- und
Kunst, Wissenschaft, Religion usw. Schriftzeichen mit verabredeter Bedeutung.

MENSCH ALS KULTURWESEN

Handeln
(Gestaltung des Zusammenlebens
angesichts von Pluralität)
Herstellen Sprache
(von künstlichen Gegenstän- (Verständigung, Aufbau einer
den, die nützlich sind) gegenständlichen Welt und
einer Welt des Wissens)
zentrale Elemente
von Kultur
Arbeiten Spiel
(Zubereitung von Natur- (Tätigkeit, die ohne
dingen zur Erhaltung bewussten Zweck um ihrer
des Lebens) selbst willen erfolgt)
Institutionen
(Einrichtungen wie Ehe, Familie,
Recht, Verwaltung)
/ /
>

>

Entlastung: Belastung:
Stabilisierung des Verhaltens Einschränkung von Freiheit, Entfremdung …

/ /
>

>

Konservierung der Kulturkritik, Veränderung der


kulturellen Einrichtungen kulturellen Einrichtungen
DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE

Was macht mich zum Ich?

M1 Kopftransplantation: Wer ist wer? Anwalt: Das ist nicht Ihre Urkunde, und dieses Indi-
viduum ist nicht Ihr Bruder.
Johns: Wessen sonst? Ihrer vielleicht? […] Mein seli- 15

ger Vater Lexington Johns hatte eine Autowerkstätte


und impfte mir die Leidenschaft zu diesem Beruf ein.
Als Siebzehnjähriger nahm ich erstmals an einem
Autorennen teil. Seither startete ich berufsmäßig sie-
benundachtzigmal und habe bis heute sechzehn erste 20

Plätze errungen, einundzwanzig zweite ...


Richter: Danke. Diese Einzelheiten sind für den Fall
unwesentlich. […] Herr Bevollmächtigter Jenkins,
würden Sie dem Gericht den Gegenstand der Klage
Der italienische Arzt Sergio Cannavero kündigte darlegen? 25

2015 an, in absehbarer Zukunft in der Lage zu sein, Anwalt: Sehr wohl, Herr Richter. Vor zwei Jahren er-
den Kopf eines Menschen zu verpflanzen. Angenom- litt der Beklagte bei einem Autorennen in der Nähe
men, das Vorhaben gelingt und die Kopftransplanta- von Chicago einen Unfall und verlor ein Bein. Damals
5 tion wäre eines Tages gesetzlich erlaubt: Nun finden wandte er sich an unsere Firma. Die Cybernetics
sich zwei Personen, die – aus welchen Gründen auch Company erzeugt bekanntlich Arm- und Beinpro- 30

immer – ihre Körper und Köpfe tauschen möchten. thesen, Kunstnieren, Kunstherzen und andere Ersatz-
Cannavero kommt ihrem Ansinnen nach. Aber wer organe. Der Beklagte bezog gegen Teilzahlung eine
ist nach der Transplantation wer? Ist die Person A linke Beinprothese und erledigte die erste Rate. Vier
10 jetzt die Person mit dem Kopf der ehemaligen Person Monate später wandte er sich neuerlich an uns, dies-
A oder die mit dem Körper der ehemaligen Person A? mal bestellte er Prothesen zweier Arme, eines Brust- 35

Und wer ist jetzt die Person B? Originalbeitrag korbs und eines Genicks. […] Nach dieser zweiten
Transaktion belief sich die Verschuldung des Beklag-
M2 Stanislaw Lem: Gibt es Sie, Mister Johns? ten an die Firma auf 2 967 Dollar. Nach weiteren
Die folgende Science-Fiction-Erzählung stammt von dem pol- fünf Monaten wandte sich namens des Beklagten
nischen Schriftsteller Stanislaw Lem (1921-2006). dessen Bruder an uns. Der Beklagte weilte damals im 40

Richter: Das Gericht erörtert nunmehr den Streitfall Monte-Rosa-Krankenhaus bei New York. Der neuen
Cybernetics Company contra Harry Johns. Sind die Bestellung gemäß lieferte die Firma nach Erhalt einer
Parteien anwesend? Anzahlung eine Reihe von Prothesen, deren Einzel-
Anwalt: Ja, Herr Richter. […] Ich bin der juristische aufzählung bei den Akten liegt. Dort figuriert unter
5 Bevollmächtigte der Firma Cybernetics Comp. […] anderem als Ersatz für eine Großhirnhalbkugel ein 45

Richter: Und wo ist der Beklagte? Elektronengehirn Marke Geniox zum Preis von 26
Johns: Hier bin ich, Herr Richter. […] Ich heiße Harry 500 Dollar. […] Der Beklagte [hat sich] bei uns die Lu-
Johns, geboren am 6. April 1917 in New York. xusausführung des Geniox bestellt, mit Stahlröhren,
Anwalt: […] Herr Richter. Der Beklagte spricht die Un- farbentreuer Traumbildanlage, Stimmungsentstörer
10 wahrheit, er ist durchaus nicht geboren ... und Sorgendämpfer, obwohl dies die finanziellen 50

Johns: Bitte, hier meine Geburtsurkunde. Und im Saal Möglichkeiten des Beklagten klar überstieg. […] Als
ist mein Bruder, er ... die Schuld des Beklagten auf 29 863 Dollar angestie-
DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE 33

gen war, klagten wir auf Rückgabe aller bezogenen im Grunde genommen gar kein Beklagter ist, sondern
Prothesen. Jedoch das Staatsgericht wies unsere Kla- ein materieller Gegenstand, der behauptet, sich selbst
55 ge mit der Begründung ab, dass ihn der Entzug der zu gehören. Da er jedoch in Wirklichkeit nicht lebt ...
Prothesen um das weitere Dasein gebracht hätte. Zu Johns: Sie, kommen Sie mal rüber zu mir, dann zeig 100

jener Zeit war nämlich von dem ehemaligen Mister ich Ihnen, ob ich lebe oder nicht!
Johns nur noch die eine Gehirnhälfte übrig. […] In Richter: Tja ... Hm, das ist wirklich ein sehr, sehr
diesem Zustand, das heißt, verschuldet und prothe- merkwürdiger Fall. Hm ... […]
60 senbestückt bis über beide Ohren bei der Cybernetics [Johns: Ich] bitte zu erwägen, hohes Gericht, was sind
Company, die ihm so viel Güte bezeigt und im Nu die Argumente der Firma denn wert? Die sagen, sie 105

alle seine Wünsche erfüllt hat, begann der Beklagte hätten ein Recht auf meine Person. Worauf soll das
öffentlich nach allen Seiten unsere Erzeugnisse an- beruhen? Gesetzt, dass jemand auf Kredit bei einem
zuschwärzen und über ihre Qualität zu meckern. Dies Gemischtwarenhändler Nahrungsmittel einkauft,
65 hielt ihn jedoch nicht davon ab, nach drei weiteren Mehl, Zucker, Fleisch und so weiter; und nach einiger
Monaten bei uns vorzusprechen. Er klagte über eine Zeit geht dieser Gemischtwarenhändler vor Gericht 110

Reihe von Beschwerden und Gebrechen, die sich, wie und fordert, man solle ihm den Schuldner als Eigen-
unsere Experten feststellten, daraus ergaben, dass tum übergeben. Denn wie wir aus der Medizin wissen,
sich seine alte Hirnhalbkugel in der neuen, sozu- werden im Zuge des Stoffwechsels die Körpersubs-
70 sagen zur Gesamtprothese gewordenen Umgebung tanzen fortwährend durch Nahrungsmittel ersetzt,
nicht wohl fühlte. Aus Menschenfreundlichkeit ließ so dass nach einigen Monaten der ganze Schuldner 115

sich die Firma nochmals herbei, die Bitte des Beklag- samt Kopf, Leber, Armen und Beinen aus dem Fett,
ten zu erfüllen und ihn ganz zu genialisieren, das dem Eiweiß, den Eiern und Kohlenhydraten besteht,
heißt, seinen eigenen alten Gehirnteil durch einen die ihm dieser Gemischtwarenhändler auf Kredit ver-
75 genauen Zwilling des bereits eingebauten Apparats kauft hat. Nun, würde irgendein Gericht auf der Welt
Marke Geniox zu ersetzen. Für diese neue Forderung die Ansprüche dieses Gemischtwarenhändlers aner- 120

stellte uns der Beklagte Wechsel auf die Summe von kennen? […] Hier haben wir eine analoge Situation!
140 26 950 Dollar aus, wovon er bis heute ledig- Ich bin der Rennchampion namens Harry Johns und
lich 232 Dollar und 18 Cents bezahlt hat. […] Dem keine Maschine! Gibt es Sie, Mister Johns? (1976)
80 geschilderten Sachverhalt entsprechend ersucht die
Firma das Gericht, ihrer Forderung stattzugeben und
ihr die vollen Eigentumsrechte an dem von ihr her-
gestellten, hier im Gerichtssaal befindlichen, eigen- 1 Beantworten Sie die Fragen des Gedankenex-
A
mächtig aufmuckenden Prothesengefüge zuzuerken- periments und begründen Sie Ihre Auffassung.
85 nen, das sich unrechtmäßig für Harry Johns ausgibt. > M1

Johns: So eine Frechheit! Und wo ist Johns, Ihrer An- 2  Wie würden Sie als Richter entscheiden? Ent-
werfen Sie eine Urteilsbegründung. > M2
sicht nach, wenn nicht hier?
3  Was macht die Identität einer Person aus? Er-
Anwalt: Hier im Saal ist Johns nicht, denn die irdi-
örtern Sie die Frage auf der Grundlage der Ma-
schen Überreste dieses bekannten Rennchampions terialien dieser Doppelseite. > M1/M2
90 ruhen verstreut an verschiedenen Autobahnen in
ganz Amerika. Durch ein Gerichtsurteil zu unseren
Gunsten wird demnach keine physische Person ge-
Medienhinweis:
schädigt, da die Firma nur das in Besitz nehmen wird,
Existieren Sie, Mr. Jones?
was von der Nylonhülle bis zum letzten Schräubchen Hörspiel nach der Kurzgeschichte von Stanislaw Lem,
95 rechtens ihr gehört! […] Herr Richter, zu der Haupt- Radio DDR (1976)
sache möchte ich noch bemerken, dass der Beklagte
34 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Ich – eine Illusion?

M1 René Descartes: Der methodische Zweifel M2 René Descartes: Woran man zweifeln kann
Alles […], was ich bis heute als ganz wahr gelten ließ,
In seiner Schulzeit in einem
Jesuitenstift und während empfing ich unmittelbar oder mittelbar von den Sin-
seines Studiums wurden dem nen; diese aber habe ich bisweilen auf Täuschungen
französischen Philosophen ertappt, und es ist eine Klugheitsregel, niemals denen
René Descartes (1596–1650)
ein mittelalterlich-christli-
volles Vertrauen zu schenken, die uns auch nur ein 5

ches Menschen- und Weltbild einziges Mal getäuscht haben.


vermittelt, an dem er schon Indessen, wenn uns auch die Sinne zuweilen über
früh zweifelte. Diese Zweifel
kleine und ferner liegende Gegenstände täuschen, so
griff er 1641 in seinen Medi-
tationen über die Erste Philo- ist doch an den meisten andern zu zweifeln gar nicht
sophie wieder auf. möglich, ungeachtet ihres sinnlichen Ursprungs; so 10

z. B., dass ich hier bin, am Ofen sitze, meinen Win-


Schon vor Jahren bemerkte ich, wieviel Falsches ich terrock anhabe, dieses Papier hier mit den Händen
von Jugend auf als wahr hingenommen habe und berühre und dergleichen. Mit welchem Recht könnte
wie zweifelhaft alles sei, was ich später darauf grün- ich leugnen, dass diese Hände, dieser ganze Körper
dete; darum war ich der Meinung, ich müsse einmal mein sind? – Ich müsste mich denn mit gewissenVer- 15

5 im Leben von Grund auf alles umstürzen und von rückten vergleichen, deren Gehirn ein hartnäckiger
den ersten Grundlagen an ganz neu anfangen, wenn melancholischer Dunst so schwächt, dass sie unbe-
ich später einmal etwas Festes und Bleibendes in den irrt versichern, sie seien Könige, während sie ganz
Wissenschaften errichten wollte. […] Ich ziehe mich arm sind, oder sie trügen Purpur, während sie nackt
also in die Einsamkeit zurück und will ernst und frei sind […]. Allein das sind Wahnsinnige, und ich würde 20

10 diesen allgemeinen Umsturz aller meiner Meinungen ebenso verrückt erscheinen, wenn ich auf mich an-
vornehmen. wenden wollte, was von ihnen gilt.
Dazu wird es indessen nicht nötig sein, dass ich allen Gut so! Aber bin ich denn nicht ein Mensch, der
die Falschheit nachweise; dies könnte ich vielleicht nachts zu schlafen pflegt und dann alles das, und
niemals erreichen. Da ja schon die Vernunft anrät, manchmal noch viel Unglaublicheres, im Traum er- 25

15 bei nicht ganz gewissen und zweifelsfreien Ansich- lebt wie jene im Wachen? Wie oft erst glaube ich gar
ten uns ebenso sorgfältig der Zustimmung zu enthal- nachts im Traume ganz Gewöhnliches zu erleben; ich
ten wie bei solchen, die ganz sicher falsch sind, so glaube hier zu sein, den Rock anzuhaben und am
reicht es für ihre Verwerfung insgesamt aus, wenn Ofen zu sitzen – und dabei liege ich entkleidet im
ich in einer jeden irgendeinen Anlass zum Zweifeln Bett! Jetzt aber schaue ich sicherlich mit ganz wa- 30

20 finde. Auch braucht man sie darum nicht einzeln chen Augen auf dieses Papier. Dieser Kopf, den ich
durchzugehen; das wäre eine endlose Arbeit. Da ja bewege, ist nicht vom Schlaf umfangen. Mit Über-
bei der Untergrabung der Fundamente alles, was dar- legung und Bewusstsein strecke ich diese Hand aus
auf gebaut ist, von selbst zusammenstürzt, werde ich und empfinde dies auch. So deutlich würde ich nichts
unmittelbar die Prinzipien selbst angreifen, auf die im Schlaf erleben. 35

25 alles sich stützte, was ich früher für wahr hielt. Ja, aber erinnere ich mich denn nicht, dass ich auch
Meditationen über die Erste Philosophie (1641) von ähnlichen Gedanken in Träumen getäuscht wor-
den bin? Während ich aufmerksamer hierüber nach-
denke, wird mir ganz klar, dass nie durch sichere
DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE 35

40 Merkmale der Schlaf vom Wachen unterschieden die in unserem Bewusstsein


werden kann, und dies macht mich so stutzig, dass vorhanden sind. 85

ich gerade dadurch fast in der Meinung zu träumen Dazu gehört anschei-
bestärkt werde. nend die Natur
Wohlan denn, wir träumen, und unwahr sollen alle des Körpers
45 jene Einzelheiten sein: dass wir die Augen öffnen, im Allgemei-
den Kopf bewegen, die Hände ausstrecken, ja sogar, nen und sei- 90

dass wir solche Hände, überhaupt solch einen Körper ne Ausdeh-


haben! Gleichwohl aber müssen wir eingestehen, dass nung, des-
uns im Schlaf gleichsam gewisse Malereien erschie- gleichen die Gestalt der ausgedehnten Dinge, ferner
50 nen sind, die nur nach dem Vorbilde wirklicher Dinge die Quantität, d. h., ihre Größe und Anzahl; ebenso
gebildet werden konnten, und dass darum wenigstens der Ort, an dem sie sind, die Zeit, während deren sie 95
im Allgemeinen Augen, Kopf, Hände und der ganze dauern, und ähnliches.
Körper nicht als eingebildete, sondern als wirkliche Meditationen über die Erste Philosophie (1641)
Dinge existieren. Denn es können ja selbst die Maler
nicht einmal dann, wenn sie Sirenen und Satyrisken
A
55

[Misch-/Fabelwesen der griechischen Mytho-


1 
Erläutern Sie Descartes’ Vorhaben und die Rol-
logie] in den unge- le, die der Zweifel dabei spielt. > M1
wöhnlichsten Gestalten 2 
Analysieren Sie, was bezweifelt werden kann
zu schaffen suchen, die- und was jeweils dem Zweifel standhält. Ferti-
60 sen in jeder Beziehung gen Sie dazu eine Strukturskizze an. > M2
neue Eigentümlichkeiten
beilegen; sie vermischen
vielmehr lediglich Glieder Hilfestellung zu Aufgabe 2:
verschiedener Geschöpfe
Zweifel als Weg zur Wahrheit
65 miteinander. Ja, selbst
wenn sie sich vielleicht etwas so Neues ausdenken, /
>

dass man überhaupt nie Ähnliches gesehen hat, also Die Verlässlichkeit der
etwas völlig Erdichtetes und Unwahres, so müssen sinnlichen Wahrnehmung
doch sicherlich mindestens die Farben wirklich sein, kann bezweifelt werden,
denn …
70 mit denen sie es darstellen. Wenngleich daher auch
/
>

Augen, Kopf, Hände und ähnliches im Allgemeinen


Aber die Sinne
bloße Einbildungen sein könnten, so muss man doch täuschen mich nur in
aus ebendemselben Grunde wie oben anerkennen, Bezug auf kleine und weit
dass notwendiger- entfernte Gegenstände.
75 weise wenigstens Daher ist es gewiss,
dass …
irgendetwas anderes
/
>

noch Einfacheres und Alles, was ich für


Allgemeineres wirklich wirklich halte, könnte
sein müsse, aus dem – bloß geträumt sein,
gleich wie aus wirklichen denn …
/
80
>

Farben – all jene wahren


Aber selbst im Traum
oder unwahren Bilder von ist es gewiss, dass …
Dingen gestaltet werden,
36 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Ich-Gewissheit

M1 René Descartes: Ein täuschender Gott? muss ich mich bezüglich dieser Meinungen künftig 40

Nun ist aber meinem Geist eine gewisse altherge- ebenso sorgfältig der Zustimmung enthalten, als hät-
brachte Meinung eingeprägt, es gebe nämlich einen ten wir es mit offenbar Falschem zu tun. […]
Gott, der alles vermag; von ihm sei ich, so wie ich da Ich will also annehmen, dass nicht der allgütige Gott,
bin, geschaffen worden. Warum aber soll dieser es der die Quelle der Wahrheit ist, sondern ein ebenso
5 nicht etwa so eingerichtet haben, dass es überhaupt böser wie mächtiger und listiger Geist all sein Bestre- 45

gar keine Erde, keinen Himmel, nichts Ausgedehntes, ben darauf richtet, mich zu täuschen; ich will glau-
keine Gestalt, keine Größe, keinen Ort gibt und dass ben, dass der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben,
trotzdem alles dies mir genauso wie jetzt da zu sein die Gestalten, die Töne und alles außerhalb von uns
scheint? Wäre es nicht sogar möglich, dass ich mich nur das Spiel von Träumen sei, durch die er mei-
10 irre, sooft ich zwei und drei addiere oder die Seiten ner Leichtgläubigkeit nachstellt. Mich selbst will ich 50

des Quadrats zähle oder bei irgendetwas anderem, so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen,
womöglich noch Leichterem; ganz wie meiner Mei- kein Fleisch, kein Blut noch irgendeinen Sinn, son-
nung nach die Leute bisweilen in Sachen irren, die dern dass ich mir dies bloß einbildete. Ich will hart-
sie aufs allergenaueste zu kennen meinen? näckig in dieser Meditation verharren, und wenn es
15 Vielleicht hat Gott gar nicht gewollt, dass ich solcher dann auch nicht in meiner Macht steht, etwas Wah- 55

Täuschung anheimfalle, heißt er doch der Allgütige. res zu erkennen, will ich wenigstens, soweit es an
Allein wenn es seiner Güte widersprochen hätte, mich mir ist, mit festem Geist mich hüten, etwas Falschem
so zu schaffen, dass ich immer getäuscht werde, so zuzustimmen, damit nicht jener Betrüger, sei er noch
würde es auch mit seiner Güte unvereinbar scheinen, so mächtig, noch so listig, irgendwelchen Einfluss
20 dass ich in Einzelfällen getäuscht würde; und doch auf mich bekomme. 60

ist dies gerade der Fall. Meditationen über die Erste Philosophie (1641)
Vielleicht aber gibt es Menschen, die lieber einen so
mächtigen Gott leugnen, als zu glauben, dass alle an- M2 René Descartes: Ich denke, ich bin
deren Dinge ungewiss seien. Wir wollen ihnen nicht Die gestrige Meditation hat mich in so mächtige
25 entgegentreten und einmal zugeben, alles über Gott Zweifel gestürzt, dass ich sie nicht mehr loswerden
Gesagte sei erdichtet. Sie mögen doch wenigstens kann; und doch sehe ich keinen Weg zu ihrer Lö-
annehmen, ich sei durch das Schicksal, den Zufall, sung. Mir ist, als wäre ich unversehens in einen tie-
die natürliche Folge der Dinge oder sonstwie das fen Strudel geraten und würde so herumgewirbelt, 5

geworden, was ich bin: da Täuschung und Irrtum dass ich auf dem Grund nicht Fuß fassen, aber auch
30 Unvollkommenheiten zu sein scheinen, wird es um nicht zur Oberfläche emporschwimmen kann. Doch
so wahrscheinlicher sein, dass ich aus Unvollkom- ich will den Mut nicht sinken lassen und noch einmal
menheit immer irre, je weniger Macht jene dem Ur- denselben Weg versuchen, den ich gestern gegangen
heber meiner Entstehung zuschreiben. Gegen diese war; ich will also alles beseitigen, was auch nur den 10

Gründe habe ich in der Tat nichts einzuwenden und Schein eines Zweifels zulässt, genauso, als hätte ich
35 bin schließlich zu dem Geständnis gezwungen, dass es für gänzlich falsch erkannt; ich will vorwärts drin-
man an allem, was ich einst für wahr hielt, zweifeln gen, bis ich etwas Gewisses erkenne, sollte es auch nur
könne, und zwar nicht aus Unbedachtsamkeit und die Gewissheit sein, dass es nichts Gewisses gibt. […]
Leichtsinn, sondern aus triftigen, wohlüberlegten Ich nehme also an, alles, was ich sehe, sei falsch; ich 15

Gründen. Will ich daher etwas Sicheres finden, so glaube, dass nichts von alledem jemals existiert habe,
DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE 37

was mir mein trügerisches Gedächtnis vorführt. Ich sie sein könnte? Aber ich habe in mir die Annahme
habe überhaupt keine Sinne; Körper, Gestalt, Aus- gefestigt, es gebe gar nichts in der Welt, keinen Him-
dehnung, Bewegung und Ort sind Chimären. […] mel, keine Erde, keine Geister, keinen Körper: also
20 Aber woher weiß ich, dass es nicht noch etwas von bin doch auch ich nicht da? Nein, ganz gewiss war 35

allem bereits Angezweifelten Verschiedenes gibt, das Ich da, wenn ich mich von etwas überzeugt habe.
auch nicht den geringsten Anlass zu einem Zwei- Aber es gibt irgendeinen sehr mächtigen, sehr schlau-
fel bietet? Gibt es nicht vielleicht einen Gott, oder en Betrüger, der mit Absicht mich immer täuscht.
wie ich denjenigen sonst nennen soll, der mir diese Zweifellos bin also auch Ich, wenn er mich täuscht;
25 Gedanken einflößt? Doch wozu soll ich dergleichen mag er mich nun täuschen, soviel er kann, so wird er 40

annehmen, da ich wohl auch selbst ihr Urheber sein doch nie bewirken können, dass ich nicht sei, solange
könnte? So wäre aber doch wenigstens Ich etwas? Al- ich denke, ich sei etwas. Nachdem ich so alles genug
lein ich habe ja bereits geleugnet, dass ich irgendwel- und übergenug erwogen habe, muss ich schließlich
che Sinne und irgendeinen Körper habe. Doch halt, festhalten, dass der Satz „Ich bin, Ich existiere“, sooft
30 was folgt denn hieraus? Bin ich denn so sehr an den ich ihn ausspreche oder im Geiste auffasse, notwen- 45

Körper und die Sinne gebunden, dass ich nicht ohne dig wahr sei. Meditationen über die Erste Philosophie (1641)

M3 Kennys Problem

1 
Analysieren Sie Descartes‘ Argument des täu- 3 
Verfassen Sie eine Argumentation, mit der Sie
A
schenden Gottes. > M1 Kenny davon überzeugen können, dass er tat-
2 
Begründen Sie, warum der Satz „Ich denke, ich sächlich existiert. > M3
bin“ nicht angezweifelt werden kann. > M2
38 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Körper und Seele – zwei unterschiedliche Substanzen

M1 René Descartes: Körper, aber gar oft erschien es mir im Traume, als
Das Ich – ein denkendes Ding empfände ich, während ich nachher merkte, dass
Ich bin mir aber noch nicht hinreichend klar darüber, es nicht wahr sei. Und das Denken? Hier werde ich
wer denn Ich bin – jener Ich, der notwendigerweise fündig: das Denken (= Bewusstsein) ist es; es allein
ist. […] Darum will ich mir einmal vergegenwärtigen, kann von mir nicht abgetrennt werden; Ich bin, Ich
wofür ich mich früher hielt, ehe ich auf diese Gedan- existiere, das ist gewiss. […] Demnach bin ich genau-
5 ken gekommen war. […] genommen lediglich ein denkendes Ding, d. h. Geist
Zuerst bemerkte ich natürlich, dass ich ein Gesicht, bzw. Seele bzw. Verstand bzw. Vernunft […].
Hände, Arme und diese ganze Gliedermaschine habe, Meditationen über die Erste Philosophie (1641)
wie man sie auch an einem Leichnam wahrnimmt;
ich nannte sie Körper. Dann bemerkte ich, dass ich M2 René Descartes:
10 mich nähre, gehe, fühle und denke, und schrieb diese Mein Körper – ein ausgedehntes Ding
Tätigkeiten der Seele zu. Was aber diese Seele sei, Nachdem Descartes im weiteren Verlauf der Meditationen aus-
ließ ich entweder auf sich beruhen, oder ich stellte geschlossen hat, dass Gott ein Betrüger ist, und eine Methode
entdeckt hat, wie er sich der Existenz der Dinge der Außenwelt
sie mir als irgendeinen feinen Stoff vor, als etwas
vergewissern kann, wendet er sich gegen Ende seiner Meditati-
dem Wind, dem Feuer oder Äther Vergleichbares, das onen noch einmal den körperlichen Dingen zu.
15 in meinen gröberen Bestandteilen verbreitet ist. Be-
züglich meines Körpers hingegen hatte ich keinerlei Es bleibt mir noch zu untersuchen übrig, ob es mate-
Zweifel; ich glaubte seine Natur genau zu kennen, rielle Dinge gibt. […] Zuerst will ich mir darum hier
und hätte ich einmal zu beschreiben versucht, wie er wieder ins Gedächtnis rufen, welche Sinneswahrneh-
sich meinem Geiste darstellt, so hätte ich erklärt: Un- mungen ich früher für wahr hielt und warum ich sie
20 ter Körper verstehe ich alles, was durch eine Gestalt für wahr hielt. Dann will ich auch die Gründe erwä- 5

begrenzt und durch seinen Ort umschrieben werden gen, warum ich sie später anzweifelte. Endlich will
kann; was seinen Raum so erfüllt, dass es von ihm ich zusehen, was ich nun davon zu halten habe.
jeden andern Körper ausschließt; was durch Gefühl, Erstens also vermeldeten mir die Sinne, ich hätte ei-
Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch wahrgenommen nen Kopf, Hände, Füße und die übrigen Glieder, die
25 […] werden kann. […] jenen Körper bilden, den ich als zu mir gehörig, ja als 10

Nun aber nehme ich an, irgendein sehr mächtiger mich im Ganzen ausmachend ansah.
und, wenn ich so sagen darf, bösartiger Betrüger Dieser Körper befand sich, meiner sinnlichen Emp-
habe mich in allem, soweit es ihm nur irgend mög- findung zufolge, unter vielen andern Körpern, die
lich war, absichtlich irregeführt. Kann ich mir dann ihn verschiedentlich angenehm oder unangenehm
30 noch das Geringste von alledem zuschreiben, was beeinflussen können. […] 15

ich zur Natur des Körpers rechnete? Ich stutze, denke Nicht ohne Grund war ich auch der Meinung, dass
nach und überlege hin und her, aber nichts will sich jener Körper, den ich mit besonderem Recht als mein
mir zeigen […]. bezeichnete, viel enger zu mir gehörte als irgendein
Wie steht es aber mit dem, was ich der Seele zu- anderer. Von ihm konnte ich mich nicht trennen wie
35 schrieb, mit der Ernährung und dem Gehen? Offenbar von den andern; in ihm und für ihn fühlte ich alle 20

bestehen auch diese Tätigkeiten bloß in der Einbil- Triebe und Gemütsbewegungen; den Schmerz und
dung, da ich nun einmal keinen Körper habe. Aber den Kitzel der Lust empfand ich in Teilen des Kör-
das Empfinden? Auch dieses geschieht nicht ohne pers, nicht in etwas außerhalb seiner Liegendem. […]
DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE 39

Später haben aber allmählich vielerlei Erfahrungen M3 Pierre Gassendi:


25 das ungeteilte Zutrauen zu den Sinnesempfindungen Ein Einwand gegen Descartes
erschüttert. […] Hierzu kommen nun noch jene bei- Zu den schärfsten Kritikern von Descartes‘ Auffassung gehörte
den ganz allgemeinen Zweifelsgründe, die ich neu- der französische Theologe, Philosoph und Naturwissenschaftler
Pierre Gassendi (1592-1655).
lich anführte. […]
Nun aber beginne ich mich […] besser zu erkennen. Wenn du nämlich nicht ausgedehnter als ein Punkt
30 Ich darf zwar jetzt nicht alles, was ich offenbar von bist, wie kannst du mit dem ganzen Körper verbun-
den Sinnen übernommen habe, aufs Geratewohl hin- den werden, […] wie auch nur mit dem Gehirn oder
nehmen, ebenso wenig aber darf ich es durchweg in einem kleinen Teil desselben, der […] doch Größe oder
Zweifel ziehen. […] Wenn ich daher ein Ding klar und Ausdehnung besitzt? [...] Und wenn du überhaupt 5

deutlich ohne ein anderes zu erkennen vermag, so keine Teile hast, wie kannst du dich vermischen mit
35 genügt dies, um mich zu vergewissern, dass die bei- den Teilchen eines Teiles von ihm? [...] Wie soll, was
den wirklich verschieden sind. […] körperlich ist, das, was unkörperlich, erfassen, um es
Denn einerseits habe ich doch eine klare und deut- in Verbindung mit sich zu halten, oder wie soll das
liche Vorstellung meiner selbst, sofern ich lediglich Unkörperliche das Körperliche erfassen [...]? Daher, 10

denkendes, nicht ausgedehntes Ding bin; anderseits da du ja zugibst, den Schmerz zu empfinden, frage
40 habe ich eine deutliche Vorstellung vom Körper, so- ich dich, wie glaubst du, der Schmerzempfindung fä-
fern er lediglich ausgedehntes, nicht denkendes Ding hig zu sein, wenn du doch unkörperlich und unaus-
ist. Somit ist sicher, dass ich wirklich vom Körper gedehnt bist? Meditationen – Einwände
und Erwiderungen (1641)
verschieden bin und ohne ihn existieren kann. […]
Da bemerke ich nun in erster Linie einen großen Un-
45 terschied zwischen Körper und Geist, insofern näm- M4 Die Zirbeldrüse
lich der Körper seiner Natur nach stets teilbar, der Descartes war durch
Geist aber durchaus unteilbar ist. In der Tat, betrach- anatomische Studien
zu der Überzeugung ge-
te ich meinen Geist, d. h. mich selbst, lediglich als
langt, dass ein kleines
denkendes Ding, so kann ich keine Teile in mir unter- zapfenförmiges Organ
50 scheiden, vielmehr erkenne ich, dass ich ein einheitli- am Mittelhirn, die Zir-
ches und vollständiges Ding bin. beldrüse, der Sitz der
Seele ist: Er nahm an,
Zwar scheint der ganze Geist mit dem ganzen Körper das Gehirn bündele die
vereint zu sein; verliere ich aber einen Fuß, einen Reize der Sinnesorgane
Arm oder einen andern Körperteil, so merke ich doch aus beiden Körperhälf-
ten und gebe sie über die
55 nicht, dass etwas dem Geist weggenommen worden
Zirbeldrüse an die Seele
wäre. Auch die Vermögen des Wollens, Empfindens, weiter, die von dort aus
Erkennens usw. können nicht als Teile des Geistes die Bewegungen des Illustration aus Descartes’ Traktat
Körpers lenke. Der Mensch (1648)
aufgefasst werden, denn ein und derselbe Geist will,
empfindet, erkennt.
60 Hingegen kann ich mir kein körperliches oder ausge-
dehntes Ding denken, das ich mir nicht mit Leichtig-
keit in Teile zerlegt denken könnte, und so erkenne
1 Analysieren Sie die Eigenschaften von Körper
A
ich dessen Teilbarkeit. Dies allein würde genügen, und Seele und definieren Sie beide Begriffe im
mir die gänzliche Verschiedenheit des Geistes vom Sinne von Descartes. > M1/M2
65 Körper klarzumachen, wenn ich es nicht schon aus 2 Erläutern Sie Gassendis Einwand. > M3
andern Gründen zur Genüge wüsste. 3 Beurteilen Sie die Plausibilität der von Descar-
Meditationen über die Erste Philosophie (1641) tes vorgeschlagenen Lösung. > M4
40 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Die Seele als Teil des Körpers

M1 Automaten Bei Krankheiten verdüstert sich zuweilen die Seele


und gibt kein Lebenszeichen mehr von sich; ein an- 15

dermal könnte man behaupten, sie verdopple sich, so


sehr wird sie vom Jähzorn hingerissen […].
Seele und Körper schlafen zusammen ein. In dem
Maße, wie die Bewegung des Blutes ruhiger wird,
verbreitet sich ein wohltuendes Gefühl des Friedens 20

und der Ruhe in der ganzen Maschine. Es ist der See-


le, als werde sie immer schwerer wie die Augenlider
und immer schlaffer wie die Gehirnfasern: sie wird
allmählich mit allen Muskeln des Körpers gleichsam
gelähmt. […] 25

Das Opium steht zum Schlaf, den es verschafft, in


einer allzu engen Beziehung, um hier nicht erwähnt
Automaten von Pierre Jaquet-Droz (um 1770) zu werden. […] Dieses Mittel betäubt wie Wein […]
Die Fortschritte der Mechanik ermöglichten im 17./18. Jahr- und dergleichen jeden auf seine Weise und je nach
hundert die Konstruktion von Automaten, die menschliche Be- der Dosis. Welch süße Betäubung! Die Seele möchte 30
wegungen – Schreiben, Zeichnen, Orgelspielen - nachvollzie-
nie wieder aus ihr erwachen. Vorher war sie den hef-
hen konnten.
tigsten Schmerzen ausgesetzt, jetzt fühlt sie nur noch
die Wonne, nicht mehr zu leiden und die köstlichste
M2 Julien Offray de La Mettrie: Ruhe zu genießen. Das Opium verändert sogar den
Was die Erfahrung über die Seele lehrt Willen; es zwingt die Seele, die wach bleiben und 35

Der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie sich zerstreuen wollte, gegen ihren Willen zur Ruhe
(1709-1751) wurde wegen seiner materialistischen und athe- zu gehen. Mit Stillschweigen übergehe ich die Ge-
istischen Ansichten in Frankreich und Holland verfolgt. 1748
schichte der Gifte. […]
berief ihn Friedrich II. in die Königlich-Preußische Akademie der
Wissenschaften. Ohne Nahrung siecht die Seele dahin, verfällt in
Raserei und stirbt an Entkräftung. Sie gleicht einer 40

Der Mensch ist eine so komplizierte Maschine, dass es Kerze, deren Licht noch einmal aufflackert, ehe es er-
unmöglich ist, sich zunächst eine klare Idee von ihr lischt. Ernähren Sie aber den Körper, füllen Sie seine
zu bilden und sie dann entsprechend zu definieren. Gefäße mit kräftigen Säften, stärkenden Flüssigkei-
Vergeblich waren deshalb alle Forschungen, welche ten, so wappnet sich die Seele, ebenso edel wie diese
5 die größten Philosophen a priori* unternahmen, das Säfte, mit stolzem Mut […]. Wie wirksam ist doch ein 45

heißt in der Absicht, sich hierbei gewissermaßen der gutes Mahl! Die Freude lebt in einem betrübten Her-
Schwingen des Geistes zu bedienen. zen wieder auf und überträgt sich auf die Seele der
So kann man nur a posteriori*, indem man nämlich anderen Gäste […].
die Seele gleichsam in den Organen des Körpers zu Die verschiedenen Zustände der Seele stehen also
10 erkennen sucht, die Natur des Menschen selbst ent- immer in einem Wechselverhältnis zu denen des Kör- 50

decken […]. Greifen wir also zum Stab der Erfahrung pers. Der Mensch eine Maschine (1748)
und lassen wir die Geschichte aller unnützen An-
schauungen der Philosophen beiseite. […]
DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE 41

M3 Julien Offray de La Mettrie: gang verfolge? Warum geht das Fieber meines Geis-
Der Mensch – eine vortreffliche Maschine tes auf meine Blutgefäße über? […] Warum sollte man
[Beim Menschen haben wir es] mit einer vortrefflich dann zweierlei dort vermuten, wo augenscheinlich 45

eingerichteten Maschine zu tun. […] Einige Räder nur eins ist? […]
und Triebfedern mehr als bei den vollkommensten Bedarf es noch weiterer Argumente […], um zu be-
Tieren […] [bringen] den ganzen Unterschied hervor weisen, dass der Mensch […] eine Gesamtheit von
5 […], den man hier annimmt. Würde der organische Triebfedern ist, die sich alle gegenseitig aufziehen,
Bau also für alles ausreichen? Ich sage […]: ja. Das ohne dass man sagen könnte, an welchem Punkt des 50

Denken entwickelt sich offenbar mit den Organen; menschlichen Bereichs die Natur damit angefangen
warum sollte also die Materie, aus der sie geschaffen hat? Wenn diese Triebfedern sich voneinander unter-
sind, nicht auch zu Gewissensbissen fähig sein, wenn scheiden, so nur durch ihre Lage und durch den Grad
10 sie im Laufe der Zeit das Empfindungsvermögen er- der Kraft, niemals aber durch ihre Natur. Deshalb ist
worben hat [das auch Tieren gegeben ist]? […] die Seele nur ein Bewegungsprinzip oder ein emp- 55

Gehen wir nun ausführlicher auf diese Triebfedern findlicher materieller Teil des Gehirns, den man, ohne
der menschlichen Maschine ein. […] Ist es nicht ein einen Irrtum befürchten zu müssen, als eine Haupt-
mechanischer Vorgang, wenn sich der menschliche triebfeder der ganzen Maschine ansehen kann: denn
15 Körper angesichts eines unerwarteten Abgrunds er- sie übt einen sichtbaren Einfluss auf alle anderen aus
schrocken zurückzieht; wenn sich die Augenlider, […]. 60

wie man behauptet hat, bei einem ihnen drohenden Eine Maschine sein, empfinden, denken, Gut von
Schlag senken; wenn die Pupille sich im hellen Ta- Böse ebenso unterscheiden können wie Blau von
geslicht verengert, um die Netzhaut zu schonen, und Gelb, kurz mit Intelligenz und einem sicheren mora-
20 nachts erweitert, um die Gegenstände im Dunkeln zu lischen Instinkt geboren sein und trotz alledem nur
sehen? Geschieht es nicht auf mechanische Weise, ein Tier sein, sind also Dinge, die sich ebenso wenig 65

wenn sich im Winter die Poren der Haut schließen, widersprechen wie ein Affe oder ein Papagei sein und
damit die Kälte nicht in das Innere der Gefäße ein- dennoch verstehen, sich Vergnügen zu verschaffen.
dringe […]; wenn die Lunge denselben Dienst ver- […] Ich halte das Denken für so vereinbar mit der
25 richtet wie ein Blasbalg, der unaufhörlich bedient organisch aufgebauten Materie, dass es ebenso gut
wird? […] eine Eigenschaft derselben zu sein scheint wie die 70

Es gibt aber eine besonders feine und wunderbare Elektrizität, das Bewegungsvermögen, die Undurch-
Triebfeder, die sie alle bewegt; sie ist die Quelle al- dringlichkeit, die Ausdehnung usw. […]
ler unserer Gefühle, aller unserer Freuden, aller un- Ziehen wir also den kühnen Schluss, dass der Mensch
30 serer Leidenschaften, aller unserer Gedanken; denn eine Maschine ist und dass es im ganzen Weltall nur
das Gehirn hat seine Muskeln, um zu denken, wie die eine Substanz gibt, die freilich verschieden modifi- 75

Beine ihre Muskeln haben, um zu gehen. Ich meine ziert [ausgeprägt] ist. Der Mensch eine Maschine (1748)
jenes anregende und ungestüme Prinzip, das Hippo-
krates enhormon* (die Seele) nennt. Dieses Prinzip
35 existiert, und es hat seinen Sitz im Gehirn, am An-
1 
Zeigen Sie anhand der Abbildung Gemeinsam-
A
fang der Nerven, durch die es seine Macht auf den
keiten und Unterschiede zwischen Mensch und
ganzen übrigen Körper ausübt. […]
Automat auf. > M1
Wenn das, was in meinem Gehirn denkt, kein Teil
2 
Analysieren Sie La Mettries Auffassung der
dieses inneren Organs und folglich des ganzen Kör- Seele. > M2
40 pers ist, warum erhitzt sich dann mein Blut, während 3 
Untersuchen Sie La Mettries Begründung da-
ich ruhig in meinem Bett liege und den Plan eines für, dass der Mensch nur aus einer einzigen
Werkes entwerfe oder einen abstrakten Gedanken- Substanz besteht. > M3
42 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Der Mensch – beseeltes Wesen oder Körpermaschine?


>
MET H O D E NKO M P E TE N Z : Eine philosophische Position rekonstruieren
1

Bei einer Rekonstruktion geht es nicht darum, einen philosophischen Sachzusammenhang so wieder-
zugeben, wie er in einem vorliegenden Text dargestellt wird; vielmehr soll eine philosophische Position,
die zuvor anhand von Texten erschlossen wurde, in ihren wesentlichen gedanklichen bzw. argumen-
tativen Schritten dargestellt werden. Wie beim Bau eines Hauses die Baumaterialien nicht irgendwie
zusammengefügt werden, sondern so, dass ihre Anordnung den Zweck erfüllt, den der Bauherr damit
verbindet, so ist auch die Rekonstruktion einer philosophischen Position in Hinblick auf ein bestimmtes
Ziel vorzunehmen. Und wie es zum Bau eines Hauses eines tragfähigen Fundamentes bedarf, so ist
auch bei der philosophischen Rekonstruktion die Wahl eines geeigneten Ansatzes wichtig.
Gehen Sie bei der Rekonstruktion einer philosophischen Position in folgenden Schritten vor:
• Machen Sie sich das Ziel der Rekonstruktion klar: Was soll dadurch erklärt werden?
• Wählen Sie einen geeigneten Ansatz: Wovon kann bei der Rekonstruktion ausgegangen werden?
• Stellen Sie die gedanklichen Schritte dar, die nötig sind, um vom Ansatz zum Ziel zu kommen, und
erläutern Sie sie.
• Fassen Sie das Ergebnis der Rekonstruktion abschließend kurz zusammen.

M1 Rekonstruktion der anthropologischen Position La Mettries


Aufgabenstellung:
Rekonstruieren Sie La Mettries Position zum Verhältnis von Körper und Seele.

Der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie vertritt eine
Ziel der
materialistische Auffassung des Menschen. Für ihn ist die Seele keine immate-
Rekonstruktion
rielle Substanz, die unabhängig vom Körper existiert, sondern Teil des Körpers,
metaphorisch gesprochen eine Triebfeder in der Maschinerie des Körpers.
5 Zur Erklärung des Menschen geht La Mettrie von der Erfahrung aus, die er und
Ansatz der
andere Ärzte mit Körper und Seele gemacht haben. Alle Versuche von Philoso- Rekonstruktion
phen, den Menschen allein durch Spekulationen des Verstandes zu erklären,
hält er für fruchtlos.
Die Erfahrung lehrt, dass die Zustände der Seele jeweils abhängig sind von
10 körperlichen Zuständen. So verdüstert sich die Stimmung der Seele durch
Krankheit und Hunger, sie hellt sich auf bei Gesundung und durch ein gutes Rekonstruktion der
Mahl, sie ist beeinflussbar durch Rauschmittel wie Alkohol und Opium usw. Gedankenschritte
Die Auffassung, dass die Seele etwas unabhängig vom Körper Existierendes
darstellt, ist mithin falsch. Vielmehr muss die Seele als Teil des Körpers, also
15 als etwas Materielles aufgefasst werden.
Der Körper kann nach La Metrie als Maschine verstanden werden. Damit will
La Mettrie nicht sagen, dass der Mensch nicht mehr ist als ein Mechanismus,
den man aufzieht, etwa ein Automat, der bestimmte Bewegungen ausführt.
Gemeint ist vielmehr, dass der menschliche Organismus nach den gleichen
20 Prinzipien funktioniert wie eine Maschine, d. h. durch Gesetzmäßigkeiten der
Mechanik bestimmt wird. So beruht unsere Atmung darauf, dass die Lunge wie
ein Blasebalg funktioniert, und der Blutkreislauf darauf, dass das Herz wie eine
DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE 43

Pumpe arbeitet. Der menschliche Organismus ist demnach wie eine Maschine
durch die Wechselwirkung materieller Teile erklärbar.
Schon vor La Mettrie war die Auffassung verbreitet, dass Tiere eine Art von
Maschinen darstellen. Wenn aber die Empfindungsfähigkeit, die man traditi-
5 onell Tieren zuschreibt, durch den organischen Aufbau der Materie hervor-
gebracht wurde, so liegt es nahe, dass auch das Denken und das moralische
Empfinden der Menschen darauf zurückgeführt werden können. Das, was den
Unterschied zwischen Mensch und Tier ausmacht, ist für La Mettrie ebenfalls
durch mechanische Prinzipien erklärbar. Der Mensch unterscheidet sich vom
10 Tier lediglich dadurch, dass er eine „vortreffliche Maschine“ darstellt. Sei-
ne Vortrefflichkeit beruht darauf, dass er mit der Seele eine ganz besondere
Triebfeder besitzt. Sie ist für La Mettrie etwas Materielles, das seinen Sitz am
Anfang der Nerven, im Gehirn, hat und von dort aus einen sichtbaren Einfluss
auf andere Körperteile ausübt, indem es beispielsweise die Lippen veranlasst,
15 Laute zu formen oder die Hand, Buchstaben zu Papier zu bringen.
Wenn sich unser Verhalten in dieser Weise durch die Wechselwirkung zwischen
materiellen Teilen erklären lässt, dann ist es nicht nötig, zwei Substanzen an- Ergebnis der
zunehmen, aus denen der Mensch zusammengesetzt ist. Es kann vielmehr da- Rekonstruktion
von ausgegangen werden, dass es eine einzige Substanz gibt, die Materie, die
20 sich in unterschiedlicher Weise ausprägt: als Körper und (materielle) Seele.

M2 Rekonstruktion der anthropologischen Position von Descartes A


Aufgabenstellung
Rekonstruieren Sie Descartes‘ Position zum Verhältnis von Körper und Seele. N
........................................................................................................ Ziel der Rekonstruktion
W
........................................................................................................ E
........................................................................................................ Ansatz der Rekonstruktion
N
........................................................................................................

........................................................................................................ Rekonstruktion der Gedankenschritte


D
........................................................................................................ U
........................................................................................................ Ergebnis der Rekonstruktion
N
........................................................................................................
G

1 Vollziehen Sie nach, wie die Rekonstruktion der anthropologischen Position


A
La Mettries vorgenommen wird. > M1
2 Rekonstruieren Sie die anthropologische Position Descartes‘ nach dem Muster
von M1. > M2
44 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Bin ich mein Gehirn?

M1 Der Fall Phineas Gage Darin liegt Descartes‘ Irrtum: in der abgrundtiefen
Am 13. September 1848 kam es bei der amerikanischen Trennung von Körper und Geist, von greifbarem,
Eisenbahngesellschaft in Vermont zu einem schwe- ausgedehntem, mechanisch arbeitendem, unendlich 10

ren Unfall. Dem Vorarbeiter Phineas Gage schoss teilbarem Körperstoff auf der einen Seite und dem
bei einer von ihm durchgeführten Sprengung eine ungreifbaren, ausdehnungslosen, nicht zu stoßenden
5 etwa 1,10 m lange und 3 cm dicke Eisenstange durch und zu ziehenden, unteilbaren Geiststoff auf der an-
den Schädel. Sie trat unterhalb des linken Wangen- deren; in der Behauptung, dass Denken, moralisches
knochens in den Kopf ein und oben am Kopf wieder Urteil, das Leiden, das aus körperlichem Schmerz 15

aus. Während des Unfalls blieb Gage bei Bewusstsein oder seelischer Pein entsteht, unabhängig vom Kör-
und war auch später in der Lage, über den gesam- per existieren. Vor allem: in der Trennung der höchs-
10 ten Hergang des Unfalls zu berichten. Nach Anga- ten geistigen Tätigkeiten vom Aufbau und der Ar-
ben seines Arztes war er – abgesehen vom Verlust beitsweise des biologischen Organismus. […] Zum
des linken Auges – nach wenigen Wochen körperlich umfassenden Verständnis des menschlichen Geistes 20

wiederhergestellt und auch seine intellektuellen Fä- [ist] eine organische Perspektive erforderlich […].
higkeiten einschließlich Wahrnehmung, Gedächtnis, Descartes’ Irrtum (1994)
15 Intelligenz, Sprachfähigkeit waren völlig intakt.
In der Zeit nach dem Unfall kam es jedoch bei Gage M3 Das Gehirn in Aktion
zu auffälligen Persönlichkeitsveränderungen. Aus
dem besonnenen, freundlichen und ausgeglichenen
Vorarbeiter wurde ein kindischer, impulsiver und un-
20 zuverlässiger Mensch. Da der Fall für die Hirnfor-
schung von Interesse war, wurde Gages Körper sieben
Jahre nach seinem Tod exhumiert und der Schädel
im Museum der Harvard Medical School aufbewahrt.
1994 gelang es Hannah Damasio von der Universität
25 Iowa mittels einer Computersimulation aufzuzeigen,
welche Hirnareale durch die Stange beschädigt wor-
den waren. Ihr Mann, Antonio R. Damasio, führte
den Nachweis, dass zwischen dem geschädigten Hir-
nareal und Gages Persönlichkeitsveränderungen ein
30 Zusammenhang besteht. Originalbeitrag

M2 Antonio R. Damasio: Descartes‘ Irrtum


Infolge einer Hirnschädigung [können] soziale Kon-
ventionen und moralische Regeln ihre Verbindlich-
keit verlieren. […] Gages Beispiel zeigte, dass Teile
des Gehirns für spezifisch menschliche Eigenschaften
5 zuständig sind, unter anderem für die Fähigkeit, die
Durch bildgebende Verfahren gelingt es der Neurowissenschaft
Zukunft vorwegzunehmen und sie in einem komple- heute zu zeigen, welche Hirnregionen bei geistigen Vorgängen
xen sozialen Umfeld angemessen zu planen. […] aktiv sind.
DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE 45

M4 Christian Elger u. a.: Das Manifest


2004 veröffentlichten elf führende deutsche Neurowissenschaft- erarbeiten, die für Antworten auf diese übergeordne-
ler, unter ihnen Prof. Gerhard Roth von der Universität Bremen ten Fragen entscheidend sein werden. […] 40
und Prof. Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für
Am Ende der Bemühungen werden die Neurowissen-
Hirnforschung in Frankfurt, in der Zeitschrift Gehirn & Geist ein
Manifest über die Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. schaften sozusagen das kleine Ein-Mal-Eins des Ge-
hirns verstehen. […]
Auch wenn viele Geheimnisse noch darauf warten Die Hirnforschung wird in absehbarer Zeit, also in
gelüftet zu werden, hat die Hirnforschung bereits den nächsten 20 bis 30 Jahren, den Zusammenhang 45

heute einige ganz erstaunliche Erkenntnisse gewon- zwischen neuroelektrischen und neurochemischen
nen. […] Wir haben herausgefunden, dass im mensch- Prozessen einerseits und perzeptiven, kognitiven,
5 lichen Gehirn neuronale Prozesse und bewusst erlebte psychischen und motorischen Leistungen anderer-
geistig-psychische Zustände aufs Engste miteinander seits soweit erklären können, dass Voraussagen über
zusammenhängen und unbewusste Prozesse bewuss- diese Zusammenhänge in beiden Richtungen mit ei- 50

ten in bestimmter Weise vorausgehen. Die Daten, die nem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad möglich sind.
mit modernen bildgebenden Verfahren gewonnen Dies bedeutet, dass man widerspruchsfrei Geist, Be-
10 wurden, weisen darauf hin, dass sämtliche inner- wusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfrei-
psychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen in heit als natürliche Vorgänge ansehen wird, denn sie
bestimmten Hirnarealen einhergehen – zum Beispiel beruhen auf biologischen Prozessen. […] 55

Imagination, Empathie, das Erleben von Empfin- In diesem zukünftigen Moment schickt sich un-
dungen und das Treffen von Entscheidungen bezie- ser Gehirn ernsthaft an, sich selbst zu erkennen.
15 hungsweise die absichtsvolle Planung von Handlun- Dann werden die Ergebnisse der Hirnforschung, in
gen. Auch wenn wir die genauen Details noch nicht dem Maße, in dem sie einer breiteren Bevölkerung
kennen, können wir davon ausgehen, dass all diese bewusst werden, auch zu einer Veränderung unse- 60

Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vor- res Menschenbildes führen. Sie werden dualistische
gänge beschreibbar sind. Diese näher zu erforschen, Erklärungsmodelle – die Trennung von Körper und
20 ist die Aufgabe der Hirnforschung in den kommen- Geist – zunehmend verwischen. […]
den Jahren und Jahrzehnten. Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns
Geist und Bewusstsein – wie einzigartig sie von uns also in sehr absehbarer Zeit beträchtliche Erschüt- 65

auch empfunden werden – fügen sich also in das terungen ins Haus. Geisteswissenschaften und Neu-
Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht. Und: rowissenschaften werden in einen intensiven Dialog
25 Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel gefal- treten müssen, um gemeinsam ein neues Menschen-
len, sondern haben sich in der Evolution der Nerven- bild zu entwerfen. Gehirn und Geist (2004)
systeme allmählich herausgebildet. Das ist vielleicht
die wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowis-
senschaften. […] 1 
Stellen Sie den Fall Phineas Gage dar. Recher-
A
30 Wie entstehen Bewusstsein und Ich-Erleben, wie wer- chieren Sie dazu auch Dokumentationsmateri-
den rationales und emotionales Handeln miteinander al im Internet. > M1
verknüpft, was hat es mit der Vorstellung des „freien 2 
Erklären Sie, was sich aus dem Fall Gage für
das Menschenbild ableiten lässt. > M1/M2
Willens“ auf sich? Die großen Fragen der Neurowis-
3 
Erwägen Sie, welche Schlussfolgerungen man
senschaften zu stellen ist heute schon erlaubt – dass
aus den Abbildungen ziehen kann. > M3
35 sie sich bereits in den nächsten zehn Jahren beant-
4 
Analysieren Sie das Manifest im Hinblick auf
worten lassen, ist allerdings eher unrealistisch. die ihm zugrundeliegende Auffassung von Ge-
[…] Sehr wohl aber kann es der Hirnforschung inner hirn und Geist und nehmen Sie dazu Stellung.
halb der nächsten Dekade gelingen, Erkenntnisse zu > M4
46 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Das psychophysische Problem

M1 „Hmmh … lecker!“ Fände er jedoch den Geschmack von Schokolade? Es


sieht so aus, als könnte er ihn in unserem Gehirn
nicht finden, da unsere Empfindung des Geschmacks
von Schokolade in unserem Geist auf eine Weise ein- 25

geschlossen ist, die sie für jeden anderen unzugäng-


lich macht – auch wenn er unseren Schädel öffnet
und in unser Gehirn hineinblickt. Unsere Erlebnis-
se sind im Innern unseres Geistes in einem anderen
Sinn von „innen“ als jenem, in dem unser Gehirn sich 30

im Innern unseres Kopfes befindet. Ein anderer kann


unseren Schädel öffnen und sich sein Innenleben
ansehen, er kann jedoch nicht unseren Geist öffnen
und in ihn hineinblicken – zumindest nicht auf die
M2 Thomas Nagel: gleiche Weise. Es handelt sich nicht bloß darum, dass 35

Der Geschmack von Schokolade der Geschmack von Schokolade ein Geschmack ist
Thomas Nagel (*1937) ist Professor für Philosophie an der New und daher nicht gesehen werden kann. Angenommen
York University School of Law. Als Verfasser einer allgemein ein Wissenschaftler wäre verrückt genug, den Ver-
verständlichen Einführung in die Philosophie wurde er einer
such zu wagen, meine Empfindung des Geschmacks
breiteren Öffentlichkeit bekannt.
von Schokolade zu beobachten, indem er an meinem 40

Was geschieht beispielsweise, wenn man in einen Gehirn leckte, während ich von einem Schokoladen-
Schokoladenriegel beißt? riegel koste. Zunächst einmal würde mein Gehirn für
Die Schokolade schmilzt auf unserer Zunge und ihn vermutlich nicht nach Schokolade schmecken.
verursacht chemische Reaktionen in unseren Ge- Doch selbst wenn dies der Fall wäre, es wäre ihm
5 schmackszellen; die Geschmackszellen senden elek- nicht gelungen, in mein Bewusstsein einzudringen 45

trische Impulse durch die Nerven hindurch, die von und meine Empfindung des Geschmacks von Scho-
unserer Zunge zu unserem Gehirn führen, und wenn kolade zu beobachten. Er hätte lediglich herausge-
diese Impulse das Gehirn erreichen, so erzeugen sie funden, dass sich kurioserweise mein Gehirn immer
dort weitere physikalische Reaktionen; und schließ- dann, wenn ich Schokolade esse, so verändert, dass
10 lich empfinden wir den Geschmack von Schokola- es für andere Leute nach Schokolade schmeckt. Er 50

de. Was ist jedoch er? Kann er schlicht mit einem hätte seinen Geschmack von Schokolade, und ich
physikalischen Ereignis in einigen unserer Hirnzellen den meinen.
identisch sein, oder muss es sich bei ihm um etwas Wenn unsere Erlebnisvorgänge auf eine andere Wei-
Grundverschiedenes handeln? se in unserem Bewusstsein sind, als sich die entspre-
15 Würde ein Wissenschaftler unsere Schädeldecke ent- chenden Gehirnprozesse in unserem Hirn befinden, 55

fernen und in unser Gehirn hineinsehen, während so sieht es so aus, als könnten unsere Erlebnisse und
wir den Schokoladenriegel essen, so würde er nichts andere psychische Zustände nicht einfach bloß phy-
weiter sehen als eine graue Masse von Nervenzellen. sikalische Zustände unseres Gehirns sein. Wir müs-
Würde er mit Messinstrumenten bestimmen, was dort sen demnach mehr sein als bloß ein Körper mit sei-
20 vor sich geht, so würde er komplizierte physikalische nem brausenden Nervensystem. 60

Vorgänge der unterschiedlichsten Art entdecken. Was bedeutet das alles? (1987)
DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE 47

M3 Thomas Nagel: Dualismus und stände und Vorgänge herausgefunden hat […] – es ist
Materialismus – pro und contra bloß eine Frage der Zeit, bis […] [Wissenschaftler] die
Eine mögliche Schlussfolgerung [aus der vorherge- biologische Natur des Geistes ermitteln. […] 45

henden Analyse] lautet, dass es eine Seele geben muss, Ein Dualist würde erwidern, dass es sich hierbei
die so an unseren Körper gebunden ist, dass beide um völlig verschiedenartige Entdeckungen handelt.
aufeinander einwirken können. Trifft dies zu, so be- Wenn wir etwa die chemische Zusammensetzung des
5 stehen wir aus zwei sehr verschiedenartigen Dingen: Wassers entdecken, so haben wir es mit etwas zu tun,
einem komplexen physischen Organismus und einer das offensichtlich draußen, in der physikalischen 50

rein psychischen Seele. (Diese Auffassung bezeichnet Welt, vorhanden ist – etwas, das wir alle sehen und
man aus offensichtlichen Gründen als Dualismus.) fühlen können. Wenn wir herausfinden, dass es aus
Viele halten jedoch den Glauben an eine Seele für Wasserstoffatomen und Sauerstoffatomen besteht, so
10 altmodisch und unwissenschaftlich. Alles andere auf zerlegen wir lediglich eine äußere physikalische Sub-
der Welt besteht aus körperlicher Materie – aus un- stanz in kleinere physikalische Bestandteile. Es ist 55

terschiedlichen Verbindungen der gleichen chemi- für diese Art der Analyse wesentlich, dass wir keine
schen Elemente. Warum also nicht auch wir? […] chemische Zerlegung der Art und Weise vornehmen,
Die Auffassung, dass Personen aus nichts als phy- auf die Wasser für uns aussieht, schmeckt oder sich
15 sikalischer Materie bestehen und dass ihre psychi- anfühlt. Diese Dinge ereignen sich in unserer inneren
schen Zustände physikalische Zustände des Gehirns Erfahrung und nicht im Wasser, das wir in seine Ato- 60

sind, nennt man Physikalimus* (oder manchmal Ma- me zerlegt haben. Die physikalische oder chemische
terialismus). Die Physikalisten haben keine spezielle Analyse des Wassers lässt diese Dinge beiseite.
Theorie darüber, welcher Gehirnvorgang sich bei- Wollten wir jedoch entdecken, dass unsere Wahrneh-
20 spielsweise als die Empfindung des Geschmacks von mung des Geschmacks von Schokolade in Wirklich-
Schokolade identifizieren lässt, und dennoch glauben keit lediglich ein Gehirnvorgang ist, so hätten wir 65

sie, dass psychische Zustände schlicht Zustände des in unserer Analyse etwas Psychisches – also gerade
Gehirns sind […]. Die Einzelheiten hat eine künftige keine äußerlich beobachtete physikalische Substanz,
Naturwissenschaft herauszufinden. Man stellt sich sondern eine innere Geschmacksempfindung – in
25 vor, wir könnten ebenso entdecken, dass Erlebnisse physikalische Bestandteile zu zerlegen. Und auf keine
in Wirklichkeit Hirnprozesse sind, wie wir heraus- Weise kann eine Vielzahl physikalischer Ereignisse 70

gefunden haben, dass andere alltägliche Dinge ein im Gehirn, wie kompliziert sie auch immer sein mö-
wirkliches Wesen haben, das sich vor seiner Entde- gen, die Bestandteile ausmachen, aus denen sich eine
ckung durch die wissenschaftliche Forschung nicht Geschmacksempfindung zusammensetzt.
30 vermuten ließ. Es hat sich etwa herausgestellt, dass Was bedeutet das alles? (1987)
Diamanten aus Kohlenstoff bestehen, der gleichen
Materie, aus der die Kohle besteht: die Atome sind 1  Erläutern Sie, wie der Geschmack von Schoko-
A
lediglich anders angeordnet. Und Wasser besteht, lade zustande kommt. > M1
wie wir alle wissen, aus Sauerstoff und Wasserstoff, 2  Erklären Sie, warum psychische Erlebnisse
35 obgleich diese beiden Elemente für sich genommen nach Nagel nicht einfach als physikalische Zu-
nichts Wässriges an sich haben. stände des Gehirns aufgefasst werden können.
> M2
Wenn es uns auch erstaunlich vorkommen mag, dass
3  Grenzen Sie die Positionen des Dualismus und
die Empfindung des Geschmacks von Schokolade am
Materialismus (Physikalismus) voneinander ab.
Ende nichts anderes als ein komplizierter physika- > M3
40 lischer Vorgang in unserem Hirn ist, so wäre dies 4 Analysieren Sie, welche Argumente jeweils für
dennoch nicht verwunderlicher als vieles andere, das und gegen den Dualismus und den Materialis-
man über das wirkliche Wesen alltäglicher Gegen- mus sprechen. > M3
48 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Ein Dualismus von Eigenschaften

M1 Thomas Nagel: Die Doppelaspekt-Theorie per sind, dass jedoch unser Körper, oder zumindest
von Körper und Seele unser Gehirn, kein bloß physikalisches System ist. Er 40

Es gibt eine andere mögliche Position, die sich so- ist ein Objekt mit sowohl physikalischen, als auch
wohl vom Dualismus als auch vom Physikalismus psychischen Aspekten: er lässt sich zwar anatomisch
unterscheidet. Der Dualismus ist der Auffassung, zerlegen, er besitzt jedoch in gewissem Sinne einen
dass Sie aus einem Körper plus einer Seele bestehen, inneren Raum, der durch eine solche Vivisektion
5 und dass Ihr psychisches Leben sich in Ihrer See- [Eingriff am lebenden Körper] nicht aufgedeckt zu 45

le abspielt. Der Physikalismus vertritt die Position, werden vermag. […]


dass sich Ihr psychisches Leben aus physikalischen Es scheint in der Welt zwei sehr verschiedene Arten
Prozessen zusammensetzt, die in Ihrem Gehirn ab- von Vorgängen zu geben: Vorgänge, die zur physi-
laufen. Es gibt jedoch die weitere Möglichkeit, dass kalischen Wirklichkeit gehören, die also von vielen
10 sich Ihr psychisches Leben in Ihrem Gehirn abspielt, unterschiedlichen Personen von außen beobachtet 50

und doch all diese Erlebnisse, Gefühle, Gedanken und werden können, sowie jene anderen Vorgänge, die
Wünsche keine physikalischen Prozesse in Ihrem Ge- zur psychischen Wirklichkeit gehören, und die ein
hirn sind. Dies würde bedeuten, dass die graue Masse jeder von uns in seinem eigenen Fall aus der Innen-
der Milliarden von Nervenzellen in Ihrem Schädel perspektive erlebt. Dies gilt nicht nur für den Men-
15 kein bloß physikalischer Gegenstand wäre. Sie hat schen; Hunde, Katzen, Pferde und Vögel sind offen- 55

eine Vielzahl physikalischer Eigenschaften – Unmen- bar bewusste Wesen, und Fische, Ameisen und Käfer
gen chemischer und elektrischer Reaktionen ereignen vermutlich ebenfalls. Wer will sagen, wo dies endet?
sich in ihr –, zusätzlich laufen in ihr jedoch auch Was bedeutet das alles? (1987)
psychische Vorgänge ab.
20 Die Auffassung, dass das Gehirn der Ort des Be- M2 Thomas Nagel:
wusstseins ist, dass jedoch seine bewussten Zustände Die Unzulänglichkeit des Reduktionismus
keine bloß physikalischen Zustände sind, bezeichnet Im folgenden Text befasst sich Nagel mit den Konsequenzen
man als Doppelaspekt-Theorie. Man nennt sie so, seiner Doppelaspekt-Theorie für die Frage einer einheitlichen
Erklärung der Welt
da sie besagt, dass mein Hineinbeißen in eine Tafel
25 Schokolade in meinem Gehirn einen Zustand oder Wir Menschen sind Bestandteil der Welt, und der
Vorgang mit zwei Aspekten hervorruft: einem phy- Wunsch nach einem einheitlichen Weltbild lässt sich
sikalischen Aspekt, der die vielfältigen chemischen nicht unterdrücken. Im Licht großer Erfolge mag
und elektrischen Reaktionen einschließt, und einem es zunächst naheliegen, diese Einheit des Weltbilds
psychischen Aspekt – der Geschmacksempfindung durch eine vergrößerte Reichweite von Physik und 5

30 von Schokolade. Läuft dieser Vorgang ab, so ist ein Chemie anzustreben, die so vieles an der Naturord-
Wissenschaftler, der mein Gehirn inspiziert, in der nung erklären konnten. Diese Erfolge haben bislang
Lage, seinen physikalischen Aspekt zu beobachten, die Form einer Reduzierung […] angenommen: Es
während man selbst aus der Innenperspektive seinen gilt, die Grundelemente zu entdecken, aus denen al-
psychischen Aspekt erlebt: man hat die Empfindung les zusammengesetzt ist […]. 10

35 des Geschmacks von Schokolade. […] Die Molekularbiologie vergrößert ständig unser Wis-
Wir könnten diese Position so formulieren, dass wir sen von unserer eigenen physikalischen Zusammen-
uns ihr zufolge nicht aus einem Körper plus einer setzung, Wirkungsweise und Entwicklung. Soweit
Seele zusammensetzen – sondern lediglich ein Kör- wir das sagen können, ist unser geistiges Leben mit-
DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE 49

15 samt unseren subjektiven Erfahrungen und das geis- M3 Thomas Metzinger: Was ist Bewusstsein?
tige Leben anderer Lebewesen letztlich stark mit den Nehmen wir einmal an, auf unserem Planeten wür-
physikalischen Ereignissen im Gehirn verknüpft […]. den außerirdische Wesen landen, die uns freundlich
Vielleicht sind es diese Entwicklungen in der Neuro- gesinnt sind und sogar ein Interesse an der Kommu-
physiologie und Molekularbiologie, die zu der Hoff- nikation mit uns Menschen hätten. Natürlich müssten
20 nung ermuntert haben, den Geist in eine einzige phy- wir, da diese Wesen das Problem des überlichtschnel- 5

sikalische Konzeption der Welt einfügen zu können len Reisens gelöst hätten, davon ausgehen, dass sie
[…]. Der Materialismus ist die Auffassung, dass nur uns in wissenschaftlicher und möglicherweise auch
die physikalische Welt irreduzibel real ist und dass in philosophischer Hinsicht extrem überlegen sind.
in ihr ein Platz für den Geist gefunden werden muss, Der Sprecher der Außerirdischen aber berichtet uns
25 falls es denn so etwas gibt. […] von einem Problem: „Es gibt etwas, das wir nicht 10

Als Analysen des Mentalen sind alle […] [reduktio- verstehen. Wir können Eure Körper und Eure Gehirne
nistischen] Theorien jedoch unzureichend, weil sie auf jeder beliebigen Beschreibungsebene erschöpfend
etwas Entscheidendes unberücksichtigt lassen, was erfassen“, sagt der extraterrestrische Besucher. „Wir
jenseits der von außen beobachtbaren Gründe da- wissen, wie Eure Gehirne aus der Evolution auf die-
30 für liegt, anderen mentale Zustände zuzuschreiben, sem Planeten entstanden sind, […] die Inhalte Eurer 15

nämlich den Aspekt mentaler Phänomene, der vom kognitiven Prozesse und Eures Selbstmodells geben
Standpunkt der ersten Person, aus der Binnenpers- uns keinerlei Rätsel mehr auf […].
pektive des bewussten Subjekts, evident ist: wie ei- Ihr jedoch habt Ausdrücke in Eurer Sprache, die wir
nem zum Beispiel Zucker schmeckt oder wie Rot aus- nicht besitzen: Worte wie „Bewusstsein“, „Erleben“
35 sieht oder wie Zorn empfunden wird. […] oder „subjektives Empfinden“. Wir selbst haben all 20

Das Bewusstsein ist das hervorstechendste Hindernis das nicht, und wir können auch nicht verstehen, wo-
für einen umfassenden Naturalismus, der einzig auf rauf ihr Euch damit bezieht. […] Für uns ist es des-
den Ressourcen der physikalischen Wissenschaften halb vollkommen unverständlich, was Ihr mit dem
beruht. Die Existenz des Bewusstseins impliziert of- Ausdruck „Bewusstsein“ eigentlich meint, denn wir
40 fenbar, dass die physikalische Beschreibung des Uni- benötigen diesen Begriff weder um unser eigenes, 25

versums trotz ihres Detailreichtums und ihrer Erklä- noch um Euer Verhalten vorherzusagen. Wir wären
rungskraft nur ein Teil der Wahrheit ist und dass die Euch deshalb sehr dankbar, wenn Ihr eine Delegati-
Naturordnung bei weitem weniger schlicht ist, als sie on Eurer besten Philosophen zu unserem Raumschiff
es wäre, wenn Physik und Chemie alles erklärten. schicken könntet, damit sie mit unseren Philosophen
Geist und Kosmos (2012) das Problem genauer erörtern können.“ 30

Was ist das Bewusstsein? (2007)

Hilfestellung zu Aufgabe 1: 1 
Rekonstruieren Sie die Doppelaspekt-Theorie
A
Nagels. > M1
Vorgänge im Gehirn 2 
Vergleichen Sie Nagels Theorie mit dem Dua-
/ / lismus Descartes‘ und der Position des materi-
>

>

alistischen Monismus. > M1


physikalische Aspekte: psychische Aspekte: 3 
Erklären Sie, was in den Wissenschaften unter
- von außen beobachtbar -… Reduktion verstanden wird, und nehmen Sie
- objektive Wirklichkeit -… Stellung zu Nagels Reduktionismuskritik. > M2
-… -… 4 
Verfassen Sie eine Erklärung für die Außerirdi-
schen. > M3
50 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Wissen kompakt

> Seele > Dualismus


Unter Seele – in der Antike als lebensbringendes Als Dualismus (von lat. duo: zwei) wird die Lehre
Prinzip aufgefasst – versteht man seit Descartes bezeichnet, dass der Mensch ein aus zwei Teilen
das Ich-denke (cogito sum), das psychische Erle- – Körper und Seele – zusammengesetztes Wesen
ben bzw. den Geist. Ein Mensch ist nicht nur ein ist. Beide Teile sind durch gegensätzliche Eigen-
körperlich-ausgedehntes Wesen, sondern verfügt schaften bestimmt: Der Körper wird als materielle,
über eine Innenperspektive, in der er sich selbst ausgedehnte Substanz betrachtet, die Seele (das
als eines empfindenden und denkenden Wesens Ich) als immaterielle, nicht ausgedehnte Substanz.
bewusst ist.

D A S V E R H Ä LT N I S V O N
/
DUALISMUS >
Mensch = Zusammengesetztes aus zwei Substanzen

/ /
>

>

Körper Seele
(ausgedehnte Substanz (denkende Substanz)

Problem der Wechselwirkung von materiellem


Körper und immaterieller Seele

/
>

EIGENSCHAFTSDUALISMUS /

Mensch = eine einzige Substanz mit

Körper
/
>

chemische und elektrische Prozesse


(Außenperspektive)
DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE 51

> Monismus > Reduktionismus


Der Monismus (von gr. monos: allein) geht davon Unter Reduktionismus (von lat. reducere: zurück-
aus, dass der Mensch aus einer einzigen Substanz führen) versteht man das Bestreben, eine ein-
besteht. Für die materialistische Ausprägung des heitliche Wissenschaft zu etablieren, indem man
Monismus ist dies die Materie bzw. der Körper. komplexe Phänomene auf einfache zurückführt.
Die Seele wird dabei als ein mechanischer Antrieb So geht der ontologische Reduktionismus davon
des Körpers verstanden (klassischer Materialis- aus, dass alle Phänomene materieller Natur sind
mus) oder mit neuronalen Prozessen im Gehirn und dass sich auch Psychisches, Geistiges auf Ma-
gleichgesetzt (Neurophysiologie). terielles zurückführen lässt.

KÖRPER UND SEELE


/
>

MONISMUS / MATERIALISMUS
Mensch = eine einzige Substanz (Materie)

/
>

Seele: Teil der Körpermaschine bzw.


identisch mit neuronalen Prozessen im Gehirn

Problem der Nicht-Reduzierbarkeit


psychischer Erlebnisse

/
>

ZWEI-ASPEKTE THEORIE

unterschiedlichen Eigenschaften

bzw. Gehirn

/
HINWEIS
>

psychische Erlebnisse / Bewusstsein


(Innenperspektive) Im Gesamtband wird an dieser
Stelle das Leistungskurskapitel „Das
Menschenbild der Forschungen zur
Künstlichen Intelligenz“ folgen.
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN

Ist unser Wille frei?

M1 Gefangen – und dennoch frei? chen Leben teilzunehmen, sich um öffentliche Ämter
zu bewerben –, wer nicht durch diskriminierende Ge-
setze an den Rand gedrängt oder ausgeschlossen ist, 15

wer nicht in furchtbarem Elend oder völliger Unwis-


senheit lebt und so weiter. Meiner Auffassung nach
umfasst diese Definition von Freiheit nicht nur die
Möglichkeit, das Gewollte anzustreben, sondern auch
eine gewisse Chance, es zu erreichen. Wenn es über- 20

haupt keine Erfolgsaussicht gibt, würden wir auch


nicht sagen, dass es Freiheit gibt: Vor dem Unmögli-
chen ist niemand wirklich frei.
Wegen seiner Aktivitäten gegen die Apartheidspoli- b) Die Freiheit zu wollen, was ich will – noch vor jeg-
tik in seiner Heimat wurde der spätere südafrikani- lichem Versuch, das Gewollte wirklich zu erreichen. 25

sche Präsident Nelson Mandela 1963 inhaftiert und […] So stramm gefesselt oder sicher eingesperrt ich
verbrachte 27 Jahre in Gefangenschaft. Sein Wille auch sein mag, niemand kann mich daran hindern,
5 wurde dadurch nicht gebrochen und sein Traum der eine Reise machen zu wollen – man kann mich ledig-
Gleichberechtigung nicht zerstört: lich daran hindern, sie tatsächlich anzutreten. Wenn
„Nur mein Fleisch und meine Gebeine sind hinter ich nicht will, kann mich niemand zwingen, meinen 30

hohen Mauern eingeschlossen. […] In meinen Gedan- Folterer zu hassen oder die verordneten Meinungen
ken bin ich frei wie ein Falke.“ „Es gibt nur wenige zu glauben, die er mir mit Gewalt aufnötigen will.
10 Unglücksfälle auf dieser Welt, die sich nicht in einen Mein Wollen ist frei, auch wenn die Umstände die
persönlichen Triumph verwandeln lassen, wenn [S]ie Möglichkeit seiner Ausführung vereiteln. Die Stoiker
den nötigen eisernen Willen […] besitzen.“ (Anhänger einer philosophischen Richtung, die bis in 35

Meine Waffe ist das Wort (2011) die Spätantike sehr einflussreich war) bestanden stolz
auf dieser unverletzlichen Freiheit des menschlichen
M2 Fernando Savater: Zwei Arten von Freiheit Willens.
Fernando Savater (*1947) ist Professor für Philosophie an der Der Verlauf der Ereignisse liegt nicht in meiner Hand
Universität Madrid. Er unterscheidet u. a. zwei Arten von Freiheit. – ein einfacher Stein im Schuh kann meinen Weg un- 40

a) Die Freiheit als Fähigkeit, gemäß den eigenen terbrechen –, doch die Redlichkeit – oder Perversion
Wünschen und Plänen zu handeln. Dies ist die ge- – meines Willens trotzt den Gesetzen der Physik und
bräuchlichste Bedeutung des Wortes, auf die wir uns des Staates. Ein Beispiel dafür unter Tausenden bot
am häufigsten beziehen, wenn das Thema im Ge- der Stoiker Cato der Jüngere im alten Rom, als er die
5 spräch auftaucht. Es bezieht sich auf Situationen, Rebellion der Republikaner gegen Cäsar unterstützte. 45

in denen physische, psychologische oder rechtliche Nachdem die Rebellen besiegt waren, sagte Cato […],
Hindernisse fehlen, die unseren Willen beschränken die Sache der Besiegten habe zwar den Göttern miss-
könnten. Nach diesem Verständnis ist derjenige frei fallen, ihm selbst jedoch gefallen. Die Götter – die
– sich zu bewegen, zu gehen oder zu kommen –, der Notwendigkeit, die Geschichte, das Unvermeidliche
10 nicht gefesselt oder eingesperrt ist, bedroht oder ge- – können die Pläne des Menschen vereiteln. Doch sie 50

foltert wird oder unter Drogeneinfluss steht. können nicht verhindern, dass er diese Pläne hat und
Darüber hinaus ist in diesem Sinne frei – am öffentli- keine anderen. Die Fragen des Lebens (1999)
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 53

M3 Fernando Savater: Handlung und Wille M4 Gerhard Roth: Warum sich Herr Müller
[Gehen wir von einer höchst einfachen Geste aus]: für Frau Müller entscheidet
den Arm zu bewegen. Ich bewege ihn willentlich, Gerhard Roth (*1942) ist Direktor des Instituts für Hirnfor-
das heißt nicht unbewusst im Traum oder reflexar- schung der Universität Bremen.
tig, um mich zu schützen, wenn ein Stein auf mich
… so antworten Sie
5 zufliegt. Nein, ich kündige sogar an, dass ich mei-
mit „Ja“!
nen Arm in fünf Sekunden heben werde – und fünf Ja, ich will!
Sekunden später tue ich dies tatsächlich. Doch was
habe ich getan, um ihn zu heben? […] Die Wahrheit
ist, dass ich, wenn ich genauer darüber nachdenke,
10 nicht weiß, was ich getan habe, damit sich mein
Arm bewegt: Ich habe ihn einfach gehoben und
schon war er oben. Ich sage, dass ich ihn bewegen
„wollte“ und er sich dann bewegt hat, so dass es den
Anschein erweckt, als hätte ich zwei Dinge getan:
15 einmal, den Arm heben zu wollen, und zweitens,
ihn zu bewegen. Die Natur gibt einem nicht die Freiheit mit, sich für
Doch worin unterscheidet sich, den Arm „bewegen Frau Meier und gegen Frau Müller zu entscheiden.
zu wollen“, davon, ihn „zu bewegen“? […] Experimente zeigen, dass jeder Entscheidung, und
Wenn ich feststelle, dass sich mein Arm willentlich halten wir sie noch so sehr für unseren eigenen Wil-
20 bewegt, […] will ich damit sagen, dass ich ihn ge- len, zuvor wichtige Vorentscheidungen vorausge- 5

nauso gut auch nicht bewegt haben könnte. Ich weiß gangen sind – und zwar unbewusst. Wir bekommen
nicht, wie ich den Arm bewege, wenn ich es will, davon überhaupt nichts mit. Warum sich Herr Mül-
ich weiß nicht, ob es einen Unterschied zwischen be- ler für Frau Müller entscheidet, ist für Forscher im
wegen wollen und dem tatsächlichen Bewegen des Prinzip Schritt für Schritt nachvollziehbar: Da wä-
25 Arms gibt. Aber ich weiß, dass er sich nicht bewegt ren zunächst einmal die Gene, die das Temperament 10

hätte, wenn ich ihn nicht hätte bewegen wollen. eines Menschen weitgehend festlegen; dann prägen
Die Fachleute, die sich mit der Beziehung zwischen frühkindliche Einflüsse spätere Entscheidungsmuster
Nervensystem und Muskeln auskennen, können er- und schließlich die Erfahrungen aller Lebensjahre. In
klären, wie es geschieht, dass ich den Arm bewege, einer Hochzeitszeremonie spiegelt sich kein Wille,
30 wenn ich ihn bewegen will. Aber was für mich von der bedingungslos frei wäre. 15

grundlegender Bedeutung ist – und was diese banale Das Hirn trickst das Ich aus, in: Der Spiegel (2004)
Geste in eine wirkliche Handlung verwandelt – ist die
Tatsache, dass ich ebenso fähig bin, ihn zu bewegen
wie ihn nicht zu bewegen. 1 
Stellen Sie dar, inwiefern man in Gefangen-
A
35 Dieses oder jenes willentlich getan zu haben bedeutet schaft unfrei ist und welche Freiheiten einem
also: Ohne meine Erlaubnis wäre dieses oder jenes bleiben. > M1
nicht geschehen. Alles, was nicht geschehen wäre, 2 
Erklären Sie den Unterschied zwischen Hand-
lungs- und Willensfreiheit. > M2
wenn ich es nicht gewollt hätte, ist meine Handlung.
3 
Erläutern Sie, was Savater unter freiem Willen
Diese Möglichkeit, etwas zu tun oder nicht zu tun,
versteht. > M3
40 sein Ja oder Nein im Hinblick auf bestimmte Hand-
4 
Beurteilen Sie, ob bzw. inwiefern das Ja-Wort
lungen auszusprechen, die von einem selbst abhän- auf einer freien Entscheidung beruht und dis-
gen, ist das, was wir Freiheit nennen können. kutieren Sie Wolfgang Roths Auffassung dazu.
Die Fragen des Lebens (1999) > M4
54 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Vollständig determiniert

M1 Wolfgang Prinz: Ein freier Wille wäre […] ein solcher, der nicht durch
Wir tun nicht, was wir wollen Gründe […] bestimmt würde; dessen einzelne Äuße-
Wolfgang Prinz (*1942) war bis 2010 Direktor des Max-Planck- rungen (Willensakte) also schlechthin und ganz ur-
Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. sprünglich aus ihm selbst hervorgingen, ohne durch
Im folgenden Interview erklärt er die in der Hirnforschung vor-
vorhergängige Bedingungen notwendig herbeige- 5
herrschende Auffassung zur Frage der Willensfreiheit.
führt […] zu sein. […] [Bei der Auffassung, dass der
Frage: Sie gehen von Ihrem Forschungsbereich der Wille] ein ohne zureichende Gründe sich Entschei-
Handlungssteuerung immer wieder auch in philoso- dendes sei, dessen Entschlüsse unter gegebenen Um-
phische Bereiche, beschäftigen sich mit […] der Frage ständen bei ein und demselben Menschen so oder
nach der Willensfreiheit. In diesem Zusammenhang auch entgegengesetzt ausfallen könnten [handelt es 10

5 haben Sie den Satz geprägt: „Wir tun nicht, was wir sich um einen Irrtum].
wollen, sondern wir wollen, was wir tun.“ Was mei- Um die Entstehung dieses für unser Thema so wichti-
nen Sie damit? […] gen Irrtums speziell und aufs Deutlichste zu erläutern
Wolfgang Prinz: Wir glauben, dass wir, wenn wir […] wollen wir uns einen Menschen denken, der, etwa
handeln, uns erst entscheiden und dann tätig wer- auf der Gasse stehend, zu sich sagte: „Es ist 6 Uhr 15

10 den. Ich als mentaler Akteur kommandiere meinen abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich kann jetzt
physischen Körper: Ich tue, was ich will. Die Wis- einen Spaziergang machen; oder ich kann in den
senschaft erklärt unser Handeln aber anders. [Einige Klub gehn; ich kann auch auf den Turm steigen, die
Experimente der Hirnforschung deuten darauf hin, Sonne untergehn zu sehn; ich kann auch ins Theater
dass] eine Entscheidung früher im Gehirn als im Be- gehn; ich kann auch diesen oder aber jenen Freund 20

15 wusstsein einer Person statt[findet]. Das kann nur be- besuchen; ja ich kann auch zum Tor hinauslaufen,
deuten, dass unser bewusster Willensimpuls so etwas in die weite Welt, und nie wiederkommen. Das alles
wie ein Ratifizieren einer Entscheidung ist, die das steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; tue
Gehirn schon getroffen hat: Ich will, was ich tue. […] jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe ebenso frei-
[Darüber hinaus ist] die Idee eines freien menschli- willig nach Hause, zu meiner Frau.“ Das ist geradeso, 25

20 chen Willens […] mit wissenschaftlichen Überlegun- als wenn das Wasser spräche: „Ich kann hohe Wellen
gen prinzipiell nicht zu vereinbaren. Wissenschaft schlagen (ja! nämlich im Meer und Sturm), ich kann
geht davon aus, dass alles, was geschieht, seine Ursa- reißend hinabeilen (ja! nämlich im Bette des Stroms),
chen hat und dass man diese Ursachen finden kann. ich kann schäumend und sprudelnd hinunterstürzen
Für mich ist unverständlich, dass jemand, der empiri- (ja! nämlich im Wasserfall), ich kann frei als Strahl 30

25 sche Wissenschaft betreibt, glauben kann, dass freies, in die Luft steigen (ja! nämlich im Springbrunnen),
also nichtdeterminiertes Handeln denkbar ist. ich kann endlich gar verkochen und verschwinden
Hirnforschung und Willensfreiheit (2004) (ja! bei 80° Wärme); tue jedoch von dem allen jetzt
nichts, sondern bleibe freiwillig, ruhig und klar im
M2 Arthur Schopenhauer: spiegelnden Teiche.“ Wie das Wasser jenes alles nur 35

Wirkungen ohne Ursache? dann kann, wann die bestimmenden Ursachen zum
Der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) ge- einen oder zum andern eintreten; ebenso kann jener
wann mit seiner Schrift Über die Freiheit des menschlichen Wil- Mensch, was er zu können wähnt, nicht anders als
lens 1840 den Preis der Königlich Norwegischen Societät der
unter der selben Bedingung. Bis die Ursachen eintre-
Wissenschaften.
ten, ist es ihm unmöglich: dann aber muss er es sogar 40
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 55

wie das Wasser, sobald es in die entsprechenden Um- Fels spalte trifft, ob die glatte Seite des Steins beim
stände versetzt ist. […] Herabrollen vom Berg auf den glatten Teil des Bo- 25

Ich kann tun, wenn ich will, alles, was ich habe, den dens stößt, während dieses bestimmten Teils seiner
Armen geben und dadurch selbst einer werden – Reise abwärts und so weiter. Wir kennen die Gesetze,
45 wenn ich will! – Aber ich vermag nicht, es zu wollen; aber nicht alle Ausgangsbedingungen. Aber niemand
weil die entgegengesetzten Motive zu viel Gewalt – zumindest niemand, der auch nur etwas von Wis-
über mich haben, als dass ich es könnte. Hingegen, senschaft versteht – glaubt, dass der Weg des Steins 30

wenn ich einen anderen Charakter hätte, und zwar nicht berechnet werden könnte, wenn wir die tau-
in dem Maße, dass ich ein Heiliger wäre, dann würde sendundeinen Faktoren, die betrachtet werden müs-
50 ich es wollen können; dann aber würde ich es auch sen, wenn der Weg des Steins bergabwärts berechnet
nicht umhinkönnen, es zu wollen, würde es also tun wird, kennen würden oder uns darum bemühten, sie
müssen. […] kennenzulernen. 35

Unter der Voraussetzung der Willensfreiheit wäre Nun hat niemals irgendjemand behauptet, dass Steine
jede menschliche Handlung ein unerklärliches Wun- frei sind oder einen freien Willen haben. Es ist aber
55 der – eine Wirkung ohne Ursache. wohl behauptet worden, dass Menschen dies haben,
Die beiden Grundprobleme der Ethik (1840) und die Wissenschaft zeigt schrittweise, was diese
Behauptung ist – ein bloßer Aberglaube. Wir wissen 40

M3 John Hospers: heute viel mehr als je zuvor über die Erbanlage und
Der freie Wille – ein bloßer Aberglaube Umweltbedingungen, die Gesetze des menschlichen
John Hospers (1908-2011) war Professor für Philosophie an der Verhaltens, all die Faktoren, die bewirken, dass die
University of Southern California. Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten.
Mit jedem Tag, der vergeht, kann die Wissenschaft Der Mensch wird mehr und mehr dem Stein ähnlich. 45

uns mehr sagen über die Gründe von Dingen – über Er mag denken, er sei frei, aber dies ist ein Irrtum: Er
die determinierenden Faktoren, die bewirken, dass ist nicht eine Spur freier als der Stein. Die Kräfte, die
etwas so geschieht, wie es geschieht. Dies schließt auf ihn wirken, sind komplexer und daher schwieri-
5 menschliche Handlungen ebenso ein wie Vorgänge ger zu entdecken als die, die auf den Stein wirken;
in der physikalischen Welt: Wir wissen mehr als je aber es ist hier wie dort ähnlich. Ob er weiß, was sie 50

zuvor über die Gründe dafür, dass sich die Leute so sind oder nicht, es gibt sie, und sie machen ihn un-
verhalten, wie sie sich verhalten. ausweichlich zu dem, was er ist, und bestimmen das,
Zukünftige Ereignisse werden mehr und mehr vor- was er tut. Jeder, der die Gesetze und alle seine Um-
10 hersagbar. Früher waren Sonnenfinsternisse nicht vor- stände zu jeder Zeit kennt, könnte alles vorhersagen,
hersagbar, jetzt können wir ihr Auftreten 10000 Jah- was er in jeder zukünftigen Situation tun würde; er 55

re im Voraus und bis auf die Zehntelsekunde vorher- könnte, kurz gesagt, zeigen, wie jeder Moment des
sagen. Früher konnte der Weg eines Projektils nicht menschlichen Lebens determiniert ist.
vorhergesagt werden; jetzt kann er mit einer solchen An Introduction to Philosophical Analysis (1970)
15 Genauigkeit geplant werden, dass wir wissen, wie wir
es anfangen müssen, damit es ein Ziel in bestimmter
1  Diskutieren Sie die Auffassung von Wolfgang
A
Entfernung gerade im richtigen Moment trifft.
Prinz zur Frage der Willensfreiheit. > M1
Selbst wenn wir nicht genau wissen, was geschehen
2 Rekonstruieren Sie Schopenhauers Begrün-
wird, z. B. wie ein Stein den Berg hinab rollen wird,
dung dafür, dass unser Wille nicht frei ist. Er-
20 so ist dies nicht deswegen so, weil der Weg des Steins läutern Sie seine Auffassung an Beispielen. >
nicht vollständig bestimmt wäre durch die Kräfte, M2
die auf ihn wirken, sondern deswegen, weil wir nicht 3  Rekonstruieren Sie Hospers Begründung dafür,
jede dieser Kräfte kennen: wo genau der Stein diese dass Willensfreiheit eine Illusion ist. > M3
56 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Willensfreiheit auf dem Prüfstand

M1 Ansgar Beckermann:
Die Experimente Benjamin Libets

Bereitschafts- Bewusstsein Bewegung


potential der Absicht
1 1 1

- 550 ms - 200 ms 0

Zu den empirischen Befunden, die in den Augen vie- Roth kommt in seinem Buch Fühlen, Denken, Handeln
ler Neurobiologen gegen die Möglichkeit von Wil- zu einem klaren Schluss: Die Experimente von Libet
lensfreiheit sprechen, gehören insbesondere die Re- […] zeigen, dass es keine Willensfreiheit gibt. War-
sultate der Experimente von Benjamin Libet […]. Der um? […] Die zeitliche Reihenfolge ist das entschei-
5 Versuchsaufbau sieht so aus: Eine Person sitzt vor dende Argument für Roth. Der Willensakt kommt zu 35

einem Tisch, auf dem eine sehr schnell laufende Uhr spät; er tritt erst auf, wenn die Entscheidung längst
steht. Die Person erhält folgende Instruktion: 1. Führe gefallen ist, wenn das Gehirn bereits entschieden hat.
innerhalb eines bestimmten Zeitraums, wann immer Also wird das, was geschieht, nicht durch den Wil-
du möchtest, eine Handbewegung aus. (Die Person lensakt, sondern durch Gehirnprozesse bestimmt.
10 kann also den Zeitpunkt der Ausführung der Bewe- Gehirn, Ich, Freiheit (2008)
gung frei bestimmen.) 2. Merke dir den Zeitpunkt,
an dem dir bewusst wird, dass du die Hand bewegen M2 Brigitte Falkenburg:
willst. (Dafür muss sich die Person die Stellung des Kritische Betrachtung der Versuche Libets
Zeigerpunktes der Uhr merken.) Während der ganzen Brigitte Falkenburg (*1953) ist Professorin für Philosophie an
15 Zeit wird über am Schädel der Person angebrachte der Technischen Universität Dortmund.
Elektroden ihr EEG abgeleitet. Den Zeitpunkt der Handlungsabsicht im Vergleich
Die Ergebnisse des Experiments waren auf den ersten zum Bereitschaftspotential zu messen, stellt das ex-
Blick tatsächlich verblüffend. Der bewusste Wille, die perimentelle Verhältnis von Reiz und Reaktion auf
Bewegung auszuführen, wird von den Versuchsper- den Kopf. Ein mentaler Reiz – die Absicht, die Hand
20 sonen im Mittel 200 ms vor Ausführung der Bewe- zu bewegen, die im Bewusstsein auftaucht – wird mit 5

gung registriert. Jedoch bereits 550 ms bevor sich der Messung einer physischen Reaktion – dem Be-
die Hand bewegt, baut sich ein Bereitschaftspotential reitschaftspotential – verknüpft. Da sich der mentale
auf, das anzeigt, dass im Gehirn der Versuchsperson „Reiz“ nicht experimentell überprüfbar im Bewusst-
eine Bewegung vorbereitet wird. Schon 350 ms, d. sein der Versuchsperson isolieren lässt, ist ein wich-
25 h. eine Drittelsekunde bevor den Versuchspersonen tiges Kriterium dafür verletzt, das experimentelle Er- 10

bewusst wird, dass sie die Bewegung ausführen wol- gebnis verlässlich zu deuten.
len, beginnt ihr Gehirn also mit der Vorbereitung der […] Libets Vorstellung von einem Handlungswillen,
Ausführung dieser Bewegung. der sich als isoliertes mentales Ereignis vom Rest des
Das ist sicher verblüffend. Aber was folgt daraus […] Bewusstseins abhebt, ist eine Idealisierung. Dabei
30 für die Frage nach der Willensfreiheit? kann er überhaupt nicht kontrollieren, welche kausal 15
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 57

relevanten Faktoren er vernachlässigt. Nach den Kri- Person und Gehirn gibt: Wenn die Person etwas ent- 10

terien der experimentellen Methode […] ist schlicht scheidet, wird es nicht vom Gehirn entschieden, und
und einfach völlig unklar, was Libet eigentlich genau umgekehrt. Dieser Gegensatz scheint mir auf einem
gemessen hat. […] cartesischen […] Menschenbild zu beruhen, demzu-
20 Nach Henrik Walter und anderen Kritikern war die folge Personen etwas sind, das außerhalb des natür-
entscheidende Absicht beim Libet-Experiment nicht, lichen Ereigniszusammenhangs steht und das in der 15

die Hand zu bewegen, sondern vielmehr die Absicht, Lage ist, von außen in diesen Zusammenhang einzu-
den Instruktionen des Experimentators gerecht zu greifen. Und dieses Menschenbild ist […] unhaltbar.
werden. Libets Anweisung an die Versuchsperson Menschen sind biologische Wesen mit besonderen
25 war, „nicht im Voraus zu planen, wann sie handeln kognitiven Fähigkeiten – nicht mehr, aber auch nicht
würde; sie sollte vielmehr die Handlung ‚von sich weniger. Wenn das so ist, spricht aber sehr viel für 20

aus‘ erscheinen lassen“. […] Was sie dann spürten, die Annahme, dass mentale Eigenschaften und Pro-
war aber nicht ihre Handlungsabsicht, sondern […] zesse neuronal realisiert sind. Mit anderen Worten:
eine periphere Muskelspannung, die sie dazu brach- Wenn wir vor einer Entscheidung überlegen, was
30 te, anweisungsgemäß einen Bewegungsdrang zu wir tun sollen (und diese Überlegungen laufen sicher
verspüren. „Wenn dies stimmt, dann zeigt sich, dass zum Teil unbewusst ab), dann ist auch dieser Über- 25

eine bewusste Absicht unmittelbar vor der Bewegung legensprozess neuronal realisiert, d. h., dann gibt es
selbst keine Rolle mehr spielt, allenfalls die bewusste einen neuronalen Prozess, der in einem bestimmten
Empfindung des Überschreitens einer Schwelle. Die Sinne dieser Überlegensprozess ist. So gesehen ist
35 Personen warteten auf ein Startsignal, mit der schon es also erstens gar kein Wunder, wenn unseren Ent-
längst gefassten Absicht, einen Finger zu bewegen.“ scheidungen neuronale Prozesse vorhergehen. Und 30

Zur Deutung des Experiments akzeptierten sie nur zweitens folgt daraus keinesfalls, dass nicht wir diese
das blanke empirische Resultat: Neuronale Prozesse Entscheidungen treffen. Dass ich eine Entscheidung
leiten die (freiwillige? oder von Libet gewollte? oder treffe, kann doch nichts anderes heißen, als dass die-
40 durch eine Empfindung verursachte?) Handbewe- se Entscheidung auf meinen Wünschen, meinen Prä-
gung ein, bevor die Versuchsperson konstatiert, dass ferenzen und meinen Überlegungen beruht. Und dass 35

sie einen Bewegungsimpuls spürt. Darüber hinaus diese Wünsche, Präferenzen und Überlegungen neu-
heben sie hervor, dass absichtliche Handlungen oft ronal realisiert sind, ändert überhaupt nichts daran,
auf einer längeren Zeitskala geplant werden – auf dass es sich dabei um meine Wünsche, meine Präfe-
45 Tage, Wochen, Monate oder Jahre im Voraus. renzen und meine Überlegungen handelt. Kurz: Aus
Mythos Determinismus (2012) naturalistischer Sicht ist das, was Libet festgestellt 40

hat, genau das, was man sowieso hätte erwarten sol-


M3 Ansgar Beckermann: Mein Gehirn oder ich? len. Greifen die Argumente der Hirnforscher zu kurz? (2005)

Ansgar Beckermann (*1945) war von 1995 bis 2012 Professor


für Philosophie an der Universität Bielefeld.
Bestenfalls […] zeigen [die Forschungen Libets], dass
1 
Erläutern Sie Libets Experiment anhand der Ab-
A
im Gehirn einer Person zu einem Zeitpunkt neuro-
bildungen. > M1
nale Prozesse stattfinden, die an der Verursachung
2 
Diskutieren Sie Roths Schlussfolgerung aus
bestimmter Handlungen beteiligt sind, der vor dem
dem Libet-Experiment. > M1
5 Zeitpunkt liegt, an dem sich die Person bewusst wird,
3 
Stellen Sie die Argumente gegen eine deter-
eine entsprechende Entscheidung getroffen zu haben. ministische Deutung des Libet-Experiments
Bedeutet dies, dass das Gehirn Entscheidungen trifft, zusammen. > M2/M3
bevor die Person sie treffen kann? Nur, wenn man 4 Nehmen Sie Stellung im Streit um die Deutung
voraussetzt, dass es einen klaren Gegensatz zwischen des Libet-Experiments. > M1-M3
58 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Freiheit = Unbedingtheit?

M1 Peter Bieri: Die Erfahrung von Freiheit nämlich würde bedeuten, dass er unabhängig wäre
Der Schweizer Philosoph und von Ihrem Körper, Ihrem Charakter, Ihren Gedan-
Schriftsteller Peter Bieri (*1944) ken und Empfindungen, Ihren Phantasien und Erin-
lehrte bis zu seiner Emeritierung
nerungen. Es wäre, mit anderen Worten, ein Wille
im Jahr 2007 Philosophie an der
Freien Universität Berlin. ohne Zusammenhang mit all dem, was Sie zu einer 10

bestimmten Person macht. In einem substantiellen


Wir können überlegen, be- Sinne des Worts wäre er deshalb gar nicht Ihr Wil-
vor wir etwas tun, und in le. Statt zum Ausdruck zu bringen, was Sie – dieses
diesem Überlegen zeigt sich ein Spielraum verschie- bestimmte Individuum – aus der Logik Ihrer Lebens-
dener Möglichkeiten, zwischen denen wir wählen geschichte heraus wollen, bräche ein solcher Wille, 15

5 können. Ich kann überlegen, ob ich jetzt an diesem aus einem kausalen Vakuum kommend, einfach über
Buch weiterschreibe oder lieber ins Kino oder essen Sie herein, und Sie müssten ihn als einen vollständig
gehe. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass mir entfremdeten Willen erleben […].
all diese Handlungen offenstehen. Wenn schon zum Das ist das Ergebnis, zu dem wir gelangen werden,
Voraus feststünde, was ich tun werde: Was hätte es wenn wir die Idee der Unbedingtheit beim Wort neh- 20

10 dann für einen Sinn, darüber nachzudenken, was ich men und nun auf die vielen Facetten anwenden, die
tun will? Es ist aus dieser Perspektive unmöglich, mir ein Wille gewöhnlich hat. Beginnen wir mit dem Ein-
vorzustellen, ich hätte keine Wahl. [Zur Erfahrung fluss, den das Überlegen […] auf den Willen ausübt.
der Freiheit gehört nämlich,] dass ich der Urheber Dieser Einfluss stellt eine Bedingtheit dar, und des-
meines Tuns bin und nicht ein Wesen, das als bloßer halb könnten wir auf einen unbedingt freien Willen 25

15 Spielball des Weltgeschehens eine zuvor gezogene keinen solchen Einfluss ausüben. Das heißt nichts
Weltlinie entlanggeführt wird. weniger als dieses: Es könnte das Phänomen des Ent-
Das gilt auch, wenn ich aus dieser Perspektive erneut scheidens nicht geben. […] Wir können nicht beides
auf mein vergangenes Tun zurückblicke. Es gehört zu haben: die Beeinflussbarkeit und die Unbeeinfluss-
meinem Selbstverständnis als freie Person, dass ich barkeit des Willens. […] Ein unbedingter Wille ist, wie 30

20 damals auch etwas anderes hätte tun können, als ich er ist, man kann ihn nicht lenken. Besäßen wir einen
tatsächlich tat. Jeder vergangene Moment war auch solchen Willen, so hätten wir über seine Richtung
eine vergangene Gegenwart mit einer vergangenen nicht die geringste Macht und nicht die geringste
Zukunft, und in jedem dieser Momente galt dasselbe, Kontrolle. Da es der Einfluss des Überlegens auf den
was jetzt gilt: Ich hätte auch anders handeln können. Willen ist, der […] die Urheberschaft des Wollens aus- 35

25 Ich hatte die Wahl und die Freiheit der Entscheidung. macht, könnten wir uns nicht als Urheber eines un-
Das Handwerk der Freiheit (2001) bedingten Willens erfahren. Das Verhältnis zu einem
solchen Willen müsste vollkommen passiv bleiben:
M2 Peter Bieri: Wir könnten ihn nur als etwas erleben, das uns zu-
Der losgelöste Wille: ein Alptraum stößt. Und damit wäre noch eine weitere Erfahrung 40

Nehmen wir an, Sie hätten einen unbedingt freien verbunden: Da dieser Wille an der Gesamtheit unse-
Willen. Es wäre ein Wille, der von nichts abhinge: ein res Nachdenkens, Überlegens und Urteilens vorbeilie-
vollständig losgelöster, von allen ursächlichen Zu- fe, müsste er uns als vollkommen fremd erscheinen.
sammenhängen freier Wille. Ein solcher Wille wäre Diese Konsequenz ist überraschend, denn sie bedeu-
5 ein aberwitziger, abstruser Wille. Seine Losgelöstheit tet, dass ein unbedingt freier Wille exakt diejenigen 45
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 59

Merkmale besäße, die […] die Unfreiheit eines Willens M3 Ansgar Beckermann: Freiheit,
ausmachen: Unbeeinflussbarkeit, fehlende Urheber- Inkompatibilismus und Kompatibilismus
schaft, Fremdheit. […] Inkompatibilisten vertreten die These, dass Determi-
Wenn wir annehmen, dass Sie einen unbedingten nismus und Freiheit unvereinbar sind. Warum? Ers-
50 Willen besitzen, so kommt das der Annahme gleich, tens, weil Freiheit voraussetzt, dass ich eine Wahl
dass Sie keinen Willen besitzen. […] habe. Und, so fragen Inkompatibilisten, wie kann ich
Jetzt gilt es, sich Klarheit über die gedankliche Situ- eine Wahl zwischen verschiedenen Alternativen ha- 5

ation zu verschaffen, die durch dieses Ergebnis ent- ben, wenn zu jedem Zeitpunkt durch den jeweiligen
standen ist. Zunächst können wir folgende Einsicht Zustand der Welt und durch die Naturgesetze festge-
55 festhalten: Es ist ein fundamentaler Fehler, den Un- legt ist, wie es zu diesem Zeitpunkt weitergeht? Frei-
terschied zwischen Freiheit und Unfreiheit des Wil- heit, so der Inkompatibilist, setzt voraus, dass die Zu-
lens mit dem Kontrast zwischen Unbedingtheit und kunft offen ist, d. h. dass es im Weltverlauf Zeitpunk- 10

Bedingtheit in Verbindung zu bringen. […] Die Idee te gibt, an denen es so oder so weiter gehen kann, an
der Bedingtheit ist gegenüber den Ideen der Freiheit denen der weitere Weltverlauf nicht durch vorange-
60 und Unfreiheit vorgeordnet, und deshalb begeht man gangene Ereignisse determiniert ist. […]
einen schwerwiegenden und folgenreichen Fehler, Kompatibilisten haben seit vielen Jahrhunderten für
wenn man den Gedanken der Bedingtheit benutzt, die These gestritten, dass es eine Alternative zu die- 15

um den Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit sem Freiheitsbild gibt. […] [Sie gehen davon aus],
zu erklären, denn das bedeutet, die wahre begriffliche dass es unserer Freiheit keinen Abbruch tut, wenn
65 Ordnung auf den Kopf zu stellen. unsere Entscheidungen – unser Wille – mit kausaler
Im Lichte dieser Beobachtung wird ein zweiter Fehler Notwendigkeit durch das Ergebnis unserer Überle-
sichtbar, den es zu vermeiden gilt: Man versteht die gungen bestimmt werden. Für [sie] hängt die Freiheit 20

Frage nach der Freiheit des Willens gänzlich falsch, einer Entscheidung nicht davon ab, dass ein außer-
wenn man sie mit der anderen Frage in Verbindung halb des Naturzusammenhangs stehendes Ich kausal
70 bringt, ob es in der Welt Ereignisse gibt, die durch bestimmt, wie es an einer bestimmten Stelle im Welt-
keinerlei Vorbedingungen eindeutig bestimmt und verlauf weitergeht. […] Eine Entscheidung ist für [den
festgelegt werden. Es ist eine mikrophysikalische Ent- Kompatibilisten] meine Entscheidung, wenn sie […] 25

deckung, das es solche Ereignisse gibt [gemeint ist, auf meine Wünsche, meine Präferenzen und meine-
dass in der Quantenphysik keine exakten Vorhersa- Überlegungen zurückgeht. […] [Diese] Bedingungen
75 gen möglich sind]. Doch diese Entdeckung kann für können auch dann erfüllt sein, wenn es im Weltver-
die Frage nach der Willensfreiheit keinerlei Bedeu- lauf keine Lücken der Indeterminiertheit gibt.
tung haben. Nicht nur, weil das Phänomen des Wil- Neuronale Determiniertheit und Freiheit (2005)
lens einer anderen, viel grobkörnigeren Ebene der Be-
schreibung und Analyse angehört und weil es unklar
80 ist, ob sich mikrophysikalische Unbestimmtheit von
1 
Analysieren Sie, was nach Bieri die Erfahrung
A
der feinkörnigen auf die grobkörnige Ebene überträgt.
Der wahre Grund liegt tiefer und ist wiederum be- eines freien Willens ausmacht. > M1
grifflicher Natur: Man sucht die Freiheit am falschen 2 
Vollziehen Sie Bieris Gedankenexperiment
nach. > M2
Ort, wenn man sie in der Lockerung oder Abwesenheit
3 
Erklären Sie, warum Unbedingtheit ein falscher
85 von Bedingtheit und Bestimmtheit sucht. […]
Ausgangspunkt für die Bestimmung der Wil-
Was wir tun müssen, ist zu verstehen, wie sich lensfreiheit ist. > M2
Freiheit und Unfreiheit im Rahmen universeller Be- 4 
Unterscheiden Sie die unterschiedlichen Posi-
dingtheit unterscheiden. tionen in der Kontroverse um die Willensfrei-
 Das Handwerk der Freiheit (2001) heit. > M3
60 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Freiheit als Selbstbestimmung

M1 Peter Bieri: Der Entschluss des Emigranten wollen, was Sie für richtig halten. […] 40

Nehmen wir […] an, Sie sind [ein] Emigrant, der zwi- [Aus der Sicht eines unbedingten Freiheitsverständ-
schen Fliehen und Bleiben hin- und hergerissen ist. nisses müsste eine solche Einengung der Möglichkei-
Es könnte sein, dass Sie nicht allein sind, während ten …] eine Beschneidung der Freiheit bedeuten, und
Sie am Bahnhof auf den Zug warten. Frau und Kin- die Einschränkung auf eine einzige Möglichkeit schien
5 der sind bei Ihnen, Sie haben sich entschieden, mit einer Vernichtung der Freiheit gleichzukommen. Nun 45

der ganzen Familie auszuwandern. Wiederum war es sehen wir, dass es, wenn wir nur genau genug hinse-
eine Qual, sich zu einem Entschluss durchzuringen. hen, keineswegs so ist. […] Die Freiheit des Willens,
Den Ausschlag gegeben hat die Frage der Sicherheit, das zeigt unser Beispiel, bedeutet nicht seine voll-
die jetzt nicht nur Sie selbst, sondern auch die An- ständige Ungebundenheit. Es macht die Freiheit eines
10 gehörigen betrifft. Wenn Sie keine Familie hätten, Willens aus, dass er auf bestimmte Weise gebunden 50

denken Sie, wäre alles klar: Sie wären längst in den ist. Es liegt in der Natur von Entscheidungen, dass sie
Widerstand gegangen, Sicherheit hin oder her. Doch den Willen binden. Das Handwerk der Freiheit (2001)
so einfach ist es jetzt nicht: Wie wägt man ab zwi-
schen der Verpflichtung dem Land und der Verpflich- M2 Michael Pauen:
15 tung der Familie gegenüber? Nacht für Nacht haben Freiheit und personale Präferenzen
Sie damit verbracht, sich das eine, dann das andere Michael Pauen (*1956) ist Professor für Philosophie an der Uni-
und dann wieder das eine auszumalen. Sie sind den versität Magdeburg.
verschlungenen Pfaden Ihrer Phantasie gefolgt, und Freie Handlungen müssen […] erstens von Ereignis-
das, was Sie von den Phantasien Ihrer Frau und der sen unterschieden werden, die unter Zwang oder
20 Kinder wussten, war Teil Ihres Gedankenspiels. Die vollständig unter dem Diktat externer Notwendigkei-
Frage, die schließlich am meisten Schwerkraft entwi- ten zustande gekommen sind. […] Ich bezeichne als
ckelte, war: Könnten Sie damit leben, dass Frau und Zwang solche externen Einflussfaktoren, die das Zu- 5

Kinder eines Tages abgeholt würden, während Sie für standekommen einer Handlung gegen den Willen des
den Widerstand unterwegs wären? Wann immer Sie Handelnden bewirken oder bewirken können. Sollte
25 das fordernde Gesicht Ihres ledigen, kompromisslo- sich herausstellen, dass der vermeintliche Mörder nur
sen Freundes vor sich sahen, schoben sich – und Sie durch einen für ihn nicht zu überwindenden äußeren
erlebten es als ein Sichstemmen gegen seinen An- Zwang zu seiner Tat gebracht werden konnte, dann 10

spruch – Bilder von Deportationen darüber, Bilder, könnte man ihn nicht mehr für die Tat verantwortlich
die schließlich den Sieg über die Angst vor der Feig- machen. […] In jedem Falle dürfen freie Handlungen
30 heit davontrugen. nicht ausschließlich auf äußere Umstände zurückzu-
Was Sie als Ihre Freiheit erleben, ist, dass Sie am Ende führen sein. Diese Forderung werde ich im Folgenden
dasjenige wollen, was in Ihrem Urteil überwiegt – als das „Autonomieprinzip“ bezeichnen. […] 15

dass Ihr Wille Ihrem Urteil gehorcht. „Ich hätte auch Freie Handlungen müssen zweitens auch von zu-
etwas anderes wollen können“, mögen Sie sich später fälligen Ereignissen abgegrenzt werden. Sollten wir
35 im Zug sagen. Und nun ist es entscheidend nicht zu erfahren, dass eine zufällige neuronale Aktivität im
übersehen, dass es einen verschwiegenen Zusatz gibt: Motorcortex [der für Bewegung zuständigen Hirnre-
„wenn ich anders geurteilt hätte“. Die Freiheit, derer gion] einer Person dafür verantwortlich war, dass die 20

Sie sich durch Ihre inneren Worte versichern, ist die Person einen Schuss abgegeben hat, dann könnten
Tatsache, dass Sie die Macht besitzen, dasjenige zu wir ebenfalls nicht mehr von einer freien Handlung
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 61

sprechen. Der Grund besteht offenbar darin, dass sich Bedingung für Autonomie und für Urheberschaft
die fragliche Aktivität unter diesen Umständen völlig dar. […] [Sie] ist unverträglich mit Fremdbestimmung
25 unabhängig von dem Handelnden ereignet hat. Der und daher auch mit Zwang und externer Determina-
entscheidende Unterschied zwischen einem zufälli- tion – selbstbestimmte Handlungen erfüllen also das 70

gen Ereignis und einer freien Handlung scheint mit- Autonomieprinzip. Gleichzeitig entsprechen selbst-
hin darin zu bestehen, dass die freie Handlung eine bestimmte Handlungen auch der Forderung nach Ur-
Person zum Urheber hat und folglich dieser Person heberschaft: Von Selbstbestimmung kann schließlich
30 auch zugeschrieben werden kann. Freie Handlungen nur dann die Rede sein, wenn die handelnde Person
müssen also dem „Urheberprinzip“ entsprechen. […] selbst bestimmt, was sie tut. Dies schließt aus, dass 75

Doch was heißt es, einer Person eine Handlung zuzu- die fragliche Aktivität zufällig zustande gekommen
schreiben? Der hier gemeinte Sinn von Zuschreibbar- ist, vielmehr muss es möglich sein, die Handlung der
keit lässt sich am einfachsten erläutern, wenn man be- Person zuzuschreiben. Selbstbestimmte Handlungen
35 rücksichtigt, dass Freiheit, wie anfangs begründet, erfüllen damit auch das Urheberprinzip. […]
einen Handlungsspielraum zwischen einer Option x Ich werde im Folgenden diejenigen Merkmale, die das 80

und einer Option y impliziert. Zuschreibbar ist eine „Selbst“ ausmachen, allgemein als personale Merk-
Handlung unter diesen Bedingungen dann, wenn der male bezeichnen. […] Bei personalen Präferenzen […]
Bezug auf die Person eine kritische Rolle in der Er- handelt es sich um spezifische Überzeugungen, Wün-
40 klärung dafür spielt, dass die Handlung x statt der sche und Dispositionen, die eine Person als ein ganz
Handlung y vollzogen worden ist, d. h. wenn erst der bestimmtes Individuum gegenüber anderen Individu- 85

Bezug auf die Person selbst verständlich machen kann, en auszeichnen. Diese Präferenzen dürften also eine
warum in der gegebenen Situation die Handlung x zentrale Rolle in der Erklärung dafür spielen, dass
und nicht die Handlung y vollzogen worden ist. […] eine Person eine bestimmte Handlungsoption einer
45 Nehmen wir einmal an, ich hätte die feste Über- anderen Option vorgezogen hat. […]
zeugung, dass finanzielle Hilfen für die Dritte Welt Akzeptiert man die bisher angestellten Überlegungen 90

angesichts der dort herrschenden Armut zwingend und Vorschläge, dann ergeben sich vergleichsweise
geboten seien, während der Konsum von Gebrauchs- klare Kriterien für personale Freiheit. Frei im Sinne
artikeln wegen des damit verbundenen Verbrauchs dieser Konzeption handelt eine Person, die in einer
50 von Umweltressourcen eingeschränkt werden müs- bestimmten Situation eine Option x statt einer Opti-
se. Unter diesen Voraussetzungen sieht es zumindest on y wählt, genau dann, wenn sich die Entscheidung 95

auf den ersten Blick so aus, als könnte man es mir für x und gegen y auf die personalen Präferenzen der
zuschreiben, wenn ich mein Weihnachtsgeld für die Person zurückführen lässt. Illusion Freiheit? (2004)
Dritte Welt spende, statt es für die Anschaffung ei-
55 nes neuen CD-Spielers auszugeben. Diese Handlung
scheint also dem Urheberprinzip zu entsprechen. […] 1 
Erarbeiten Sie Bieris Position zur Willensfrei-
A
[Freiheit in diesem Sinne lässt sich] als „Selbstbe- heit und vergleichen Sie sie mit der von Scho-
stimmung“ verstehen, sofern man eine Handlung x penhauer. > M1 und M2 auf S. 54
dann und nur dann als selbstbestimmt bezeichnet, 2 
Erarbeiten Sie Pauens Position zur Willensfrei-
60 wenn der Bezug auf die handelnde Person eine kriti- heit und vergleichen Sie sie mit der von Hos-
sche Rolle in der Erklärung dafür spielt, dass x und pers. > M2 und M3 auf S. 55
nicht eine alternative Handlung y ausgeführt wurde.
Damit ist wie gesagt gemeint, dass erst der Bezug auf Hinweis:
die Person selbst verständlich macht, warum in der Eine Anleitung zum Vergleich philosophischer Positi-
65 fraglichen Situation x und nicht y ausgeführt wurde. onen findet sich auf der nächsten Doppelseite.
Selbstbestimmung stellt erstens eine hinreichende
62 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Freiheit versus Determination


MET H O D E NKO M P E TE N Z : Philosophische Positionen miteinander vergleichen (I)
Zum Philosophieren gehört es, unterschiedliche Positionen miteinander zu vergleichen zu können.
In der Regel gilt es, eine neue Position, die in Form eines Textes vorliegt, mit einer bereits bekannten
Position zu vergleichen. Dazu bedarf es als Vorarbeit der Erschließung der neuen Position aus dem
Text sowie einer Rekonstruktion der bekannten Position im Hinblick auf die Fragestellung.
Gehen Sie beim Vergleich philosophischer Positionen in folgenden Schritten vor:
• Ordnen Sie die zu vergleichenden Positionen kurz in einen umfassenderen fachlichen Kontext ein:
Welches übergreifende philosophische Problem ist hier angesprochen?
• Stellen Sie gedankliche Bezüge zwischen beiden Positionen her: Was haben sie gemeinsam?
• Grenzen Sie beide Positionen voneinander ab: Worin unterscheiden sie sich?
• Fassen Sie das Ergebnis ihres Vergleichs zum Schluss zusammen.

M1 Ist unser Wille frei? – Vergleich der Positionen von Bieri und Schopenhauer
Aufgabenstellung:
Vergleichen Sie die Positionen von Peter Bieri (S. 60, M1) und Arthur Schopenhauer (S. 54,
M2) im Hinblick auf die Frage nach der Freiheit des Willens.

Vorarbeit: Rekonstruktion der beiden Positionen zur Willensfreiheit (hier in Stichworten):

Position von Bieri (S. 60, M1) Position von Schopenhauer (S. 54, M2)
• Entscheidungssituation eines Mannes, der erwägt, aus politi- • Situation eines Mannes, der meint, er könne frei
schen Gründen auszuwandern entscheiden, ob er einen Spaziergang macht, einen
• Optionen: Verpflichtung gegenüber dem Land (Widerstand) – Freund besucht usw.
Verpflichtung gegenüber der Familie (Emigration) • Die Erscheinungsform des Wassers (Wellenschlagen im
• Urteil zugunsten der Option der Emigration Meer, Hinabstürzen im Wasserfall usw.) wird durch die
• Die Entscheidung, dem eigenen Urteil zu folgen, wird als freie jeweils herrschenden Ursachen bestimmt.
Entscheidung erlebt. • Analog dazu ist die Entscheidung des Mannes davon
• Freiheit besteht in der Bindung an das, was man für richtig hält. abhängig, welches Motiv die stärkste Macht über den
• Die Auffassung, Freiheit bestehe in völliger Ungebundenheit, Willen entfaltet.
ist falsch. • Die Annahme, der Wille sei unabhängig von voraus-
gehenden Ursachen, ist ein Irrtum.

Vergleich:
Peter Bieri stellt im vorliegenden Textausschnitt aus dem Buch Das Handwerk der Frei- Einordnung in einen
heit von 2001 seine Auffassung zu der Frage dar, ob unser Wille frei ist. Auch Arthur umfassenderen fach-
Schopenhauer befasst sich in seiner Preisschrift aus dem Jahre 1840 mit der Frage der lichen Kontext und
Darstellung der
Freiheit des Willens. Beide Beiträge lassen sich in den philosophischen Diskurs um die Gemeinsamkeiten
5 Willensfreiheit einordnen. Darüber hinaus ist beiden Philosophen gemeinsam, dass sie
ihre Auffassungen durch die Analyse von konkreten Entscheidungssituationen begrün-
den: Schopenhauer anhand der Situation eines Mannes, der überlegt, wie er nach der
Arbeit des Tages seinen Abend gestalten, und Bieri mit Blick auf die Situation eines
Mannes, der erwägt, aus politischen Gründen sein Land zu verlassen.
10 Beide Philosophen kommen bei ihren Analysen jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen:
Schopenhauer vergleicht die Optionen, die der Mannes nach getaner Arbeit zu haben
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 63

glaubt, mit den Erscheinungsformen von Wasser. Wasser kann hohe Wellen schlagen,
kann hinabstürzen, kann aufsteigen usw. Es wäre jedoch absurd anzunehmen, die Ver- Darstellung der
wirklichung dieser Möglichkeiten liege beim Wasser selbst. Sie ist vielmehr davon ab- Unterschiede
15 hängig, ob die entsprechenden Bedingungen gegeben sind: Sturm und Meer, Wasserfall
oder Springbrunnen usw. Anlog dazu geht Schopenhauer davon aus, dass der Mann
nicht unabhängig von vorausgehenden Bedingungen entscheiden kann, einen Spazier-
gang zu machen, einen Freund zu besuchen, ins Theater zu gehen usw. Wofür der Mann
sich entscheidet, hängt davon ab, welches Motiv in ihm das stärkste ist und Macht über
20 seinen Willen gewinnt. Es gibt demnach keinen Willen, der frei, d. h. unabhängig von
bestimmenden Ursachen, entscheidet.
Im Unterschied zu Schopenhauer benutzt Bieri sein Bespiel, um die Freiheit des Willens
aufzuzeigen. Der Mann, der vor der Frage steht, ob er sein Land aus politischen Gründen
verlassen soll (man denke an eine Situation, wie sie in Deutschland unter der Herrschaft
25 der Nationalsozialisten gegeben war), hat immer wieder seine Handlungsoptionen abge-
wogen: entweder in den Widerstand zu gehen, aber damit zu riskieren, dass seine Familie
deportiert wird, oder für die Sicherheit der Familie zu sorgen und mit ihr auszuwandern.
Wenn bei diesen Erwägungen schließlich die Verpflichtung gegenüber der Familie den
Ausschlag gibt, so wird die Entscheidung für die Emigration als freie Entscheidung er-
30 lebt. Die Bindung an diese Option ist nicht die Vernichtung von Freiheit; vielmehr be-
steht Freiheit gerade darin, dem eigenen Urteil zu folgen.
Während Schopenhauer die Annahme der Freiheit des Willens für einen Irrtum erklärt,
plädiert Bieri für die Freiheit des Willens. Dabei gehen beide von unterschiedlichen Frei-
heitsbegriffen aus. Schopenhauer versteht unter Freiheit die völlige Unabhängigkeit des Zusammenfassung
35 Willens von vorhergehenden Ursachen, die es seiner Ansicht nach nicht geben kann. Für
Bieri besteht der Wille dagegen nicht in absoluter Unabhängigkeit und Ungebundenheit,
sondern gerade in der Bindung an das, was man für richtig hält.

M2 Ist unser Wille frei? - Vergleich der Positionen von Pauen und Hospers
Aufgabenstellung:
Vergleichen Sie die Positionen von Michael Pauen (S. 60, M2) und John Hospers
A
(S. 55, M3) im Hinblick auf die Frage nach der Freiheit des Willens.
N
Vorarbeit: Rekonstruktion der beiden Positionen zur Willensfreiheit
W
Vergleich:
E
... Einordnung in einen umfassenderen fachlichen Kontext und Darstellung der Gemeinsamkeiten

... Darstellung der Unterschiede


N
... Zusammenfassung D
1 
Vollziehen Sie nach, wie der Vergleich der Positionen von Bieri und Schopen-
A U
hauer vorgenommen wird. > M1
2 
Erarbeiten Sie die Positionen von Pauen und Hospers und vergleichen Sie sie
nach dem Muster von M1. > M2
N
G
64 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Zur Freiheit verurteilt

M1 Marc-Antoine Mathieu: Richtung nem Begriff hat anregen lassen; er hat sich auf den
Begriff Brieföffner bezogen und auch auf ein bereits
bestehendes Herstellungsverfahren, das Teil des Be-
griffs ist – im Grunde ein Rezept. So ist der Brief- 10

öffner zugleich ein Gegenstand, der auf eine be-


stimmte Weise hergestellt wird und der andererseits
einen bestimmten Nutzen hat; man kann sich keinen
Menschen vorstellen, der einen Brieföffner herstellte,
ohne zu wissen, wozu der Gegenstand dienen wird. 15

Wir sagen also, dass beim Brieföffner die Essenz, das


Wesen – das heißt die Gesamtheit der Rezepte und der
Eigenschaften, die es gestatten, ihn zu produzieren
und zu definieren – der Existenz vorausgeht; in die-
ser Weise ist die Gegenwart dieses Brieföffners oder 20

jenes Buches hier vor mir determiniert. Wir haben es


hier mit einer technischen Betrachtung der Welt zu
tun, bei der die Produktion der Existenz vorausgeht.
Wenn wir einen Schöpfer-Gott annehmen, ist die-
ser Gott meistens einem höheren Handwerker ver- 25

gleichbar; und welche Doktrin wir auch betrachten,


BU […] wir nehmen immer an, dass der Wille mehr oder
weniger dem Verstand folgt, oder ihn wenigstens be-
gleitet, und dass Gott, wenn er schöpft, genau weiß,
was er schöpft. So ist der Begriff des Menschen im 30

Geiste Gottes dem Begriff des Brieföffners im Geiste


M2 Jean-Paul Sartre: des Produzenten vergleichbar; und Gott schafft den
Der Mensch ist nicht definierbar Menschen entsprechend bestimmter Verfahren und
gemäß einem Begriff, genauso wie der Handwerker
einen Brieföffner gemäß einer Definition und einem 35

Verfahren herstellt. So verwirklicht der individuelle


Mensch einen bestimmten Begriff, der im göttlichen
Jean-Paul Sartre (1905-1980) gilt Verstand enthalten ist. Im 18. Jahrhundert wird in-
als der bedeutendste Vertreter des nerhalb des Atheismus der Philosophen die Vorstel-
französischen Existentialismus.
lung Gottes beseitigt, nicht jedoch der Gedanke, dass 40

[Existentialisten sind der Überzeugung, dass] die das Wesen der Existenz vorausgeht. […] Der Mensch
Existenz dem Wesen vorausgeht […]. Was ist eigent- ist Besitzer einer menschlichen Natur; diese mensch-
lich darunter zu verstehen? Wenn man einen produ- liche Natur, die den Begriff vom Menschen ausmacht,
zierten Gegenstand betrachtet, zum Beispiel ein Buch findet sich bei allen Menschen wieder. Das bedeutet,
5 oder einen Brieföffner, so wurde dieser Gegenstand jeder Mensch ist ein besonderes Beispiel eines allge- 45

von einem Handwerker hergestellt, der sich von ei- meinen Begriffs […].
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 65

Der atheistische Existentialismus, den ich vertrete, ist Existentialismus. In der Tat ist alles erlaubt, wenn
kohärenter. Er erklärt: wenn Gott nicht existiert, so Gott nicht existiert, und folglich ist der Mensch ver-
gibt es zumindest ein Wesen, bei dem die Existenz lassen, denn er findet weder in sich noch außer sich
50 der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor einen Halt. Zunächst einmal findet er keine Entschul-
es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, digungen. Wenn tatsächlich die Existenz dem Wesen 30

und dieses Wesen ist der Mensch oder, wie Heidegger vorausgeht, ist nichts durch Verweis auf eine gege-
sagt, das Dasein. Was bedeutet hier, dass bene und unwandelbare menschliche Natur erklär-
die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, dass bar; anders gesagt, es gibt keinen Determinismus, der
55 der Mensch erst existiert, auf sich trifft, in die Welt Mensch ist frei, der Mensch ist die Freiheit. Wenn
eintritt, und sich erst dann definiert. Der Mensch, wie zum anderen Gott nicht existiert, haben wir keine 35

ihn der Existentialist versteht, ist nicht definierbar, Werte oder Anweisungen vor uns, die unser Verhal-
weil er zunächst nichts ist. Er wird erst dann, und er ten rechtfertigen könnten. So finden wir weder hinter
wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Folg- noch vor uns im Lichtschein der Werte Rechtferti-
60 lich gibt es keine menschliche Natur, da es keinen gungen oder Entschuldigungen. Wir sind allein, ohne
Gott gibt, sie zu ersinnen. Entschuldigungen. Das möchte ich mit den Worten 40

Der Existentialismus ist ein Humanismus (1946) ausdrücken: der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu
sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen
M3 Jean Paul Sartre: hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt
Der Mensch ist, wozu er sich macht geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut.
Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich Der Existentialist […] wird nie meinen, eine schöne 45

macht. Das ist das erste Prinzip des Existentialismus. Leidenschaft sei eine alles mitreißende Flut, die den
[…] Das ist es auch, was man Subjektivität nennt Menschen schicksalhaft zu bestimmten Taten zwingt
und was man uns unter eben diesem Namen vor- und daher eine Entschuldigung ist. Er meint, der
5 wirft. Aber was wollen wir damit anderes sagen, als Mensch ist für seine Leidenschaft verantwortlich. Der
dass der Mensch eine größere Würde hat als der Stein Existentialist meint genauso wenig, der Mensch kön- 50

oder der Tisch? Wir wollen sagen, dass der Mensch ne Hilfe finden in einem auf Erden gegebenen Zei-
erst existiert, das heißt, dass der Mensch erst das ist, chen, das ihm einer Richtung weist; denn er denkt,
was sich in eine Zukunft wirft und was sich bewusst der Mensch entziffert das Zeichen, wie es ihm gefällt.
10 ist, sich in der Zukunft zu entwerfen. Der Mensch ist Er meint also, der Mensch ist in jedem Augenblick,
zunächst ein sich subjektiv erlebender Entwurf, an- ohne Halt und ohne Hilfe, dazu verurteilt, den Men- 55

statt Schaum, Fäulnis oder ein Blumenkohl zu sein; schen zu erfinden.


nichts existiert vor diesem Entwurf, nichts ist am in- Der Existentialismus ist ein Humanismus (1946)
telligiblen Himmel, und der Mensch wird zuerst das
15 sein, was er zu sein entworfen haben wird. Nicht, was
er sein will. Denn was wir gewöhnlich unter Wollen 1 Beschreiben Sie das Bild und deuten Sie die
A
verstehen ist eine bewusste Entscheidung, die bei den Lage, in der der Mann sich befindet. > M1
meisten von uns erst später gefällt wird, von dem- 2  Stellen Sie das Verhältnis von Schöpfergott
jenigen, zu dem sie sich selbst gemacht haben. Ich und Mensch einerseits und den entsprechen-
20 kann Mitglied einer Partei werden, ein Buch schrei- den existentialistischen Zusammenhang ande-
rerseits in einem Schaubild dar. > M2
ben, heiraten wollen, das alles ist nur Ausdruck einer
3  Erklären Sie Sartres Aussagen: „Der Mensch ist,
ursprünglicheren, spontaneren Wahl als einer, die
wozu er sich macht.“ und „Der Mensch ist zur
man willentlich nennt. […] Freiheit verurteilt.“ > M3
Dostojewskij schrieb: „Wenn Gott nicht existierte, so 4  Deuten Sie das Bild erneut vor dem Hinter-
25 wäre alles erlaubt.“ Das ist der Ausgangspunkt des grund des Existentialismus. > M1-M3
66 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Der Mensch als Selbstentwurf

M1 Unerreichbar? dem Wecker seinen Sinn gibt, der es sich wegen eines
Schildes versagt, ein Beet oder eine Wiese zu betre-
ten, der der Anordnung des Chefs ihre Dringlichkeit
verleiht, der über das Interesse des Buchs entscheidet, 25

das er schreibt, kurz, als den, der macht, dass Werte


existieren, um sein Handeln durch ihre Forderungen
bestimmen zu können. Allein und in der Angst tau-
che ich gegenüber dem einzigen und ersten Entwurf
auf, der mein Sein konstituiert, alle Barrieren, alle 30

Geländer zerbrechen, genichtet durch das Bewusst-


sein von meiner Freiheit: bei keinem Wert finde ich
und kann ich Zuflucht finden vor der Tatsache, dass
ich es bin, der die Werte am Sein erhält; nichts kann
mich gegen mich selbst sichern, abgeschnitten von 35

der Welt und meinem Wesen durch dieses Nichts,


das ich bin, habe ich den Sinn der Welt und meines
Wesens zu realisieren: ich entscheide darüber, allein,
M2 Jean-Paul Sartre: unlegitimierbar und ohne Entschuldigung. […]
Auf dem Weg zu sich selbst Wenn es erlaubt ist, eine banales Bild zu gebrauchen, 40

Wir entdecken uns also in einer von Forderungen be- das jedoch meinen Gedanken besser erfassen lässt, so
völkerten Welt, mitten in Entwürfen „auf dem Weg erinnere man sich an den Esel, der einen Karren hin-
zur Realisierung“: ich schreibe, ich werde rauchen, ter sich herzieht und eine Mohrrübe erreichen will,
ich treffe mich heute Abend mit Pierre, ich darf nicht die man ans Ende eines an der Deichsel befestigten
5 vergessen, Simon zu antworten, ich habe nicht das Stockes gebunden hat. Jeder Versuch des Esels, die 45

Recht, Claude länger die Wahrheit zu verbergen. Alle Mohrrübe zu schnappen bewirkt, dass sich das gan-
diese winzigen passiven Erwartungen des Realen, ze Gespann vorwärts bewegt mitsamt der Mohrrü-
alle diese banalen, alltäglichen Werte leiten ihren be, die stets im selben Abstand vom Esel bleibt. So
Sinn in Wahrheit von einem ersten Entwurf meiner laufen wir einem Möglichen nach, das durch eben
10 selbst her, der wie die Wahl meiner selbst in der Welt unser Laufen erscheint, das nichts als unser Laufen 50

ist. Aber gerade dieser Entwurf meiner selbst auf eine ist und sich eben dadurch als unerreichbar definiert.
erste Möglichkeit hin, durch den es Werte, Appelle, Wir laufen auf uns selbst zu, und wir sind deshalb
Erwartungen und ganz allgemein eine Welt gibt, er- das Sein, das sich nicht einholen kann. Einerseits
scheint mir nur jenseits der Welt als der abstrakte, ist dieses Laufen bar jeder Bedeutung, da das Ziel
15 logische Sinn und die abstrakte, logische Bedeutung nie gegeben, sondern erfunden und projiziert ist in 55

meiner Unternehmungen. Für das Übrige gibt es kon- dem Maß, wie wir auf es zulaufen. Und andererseits
kret Wecker, Schilder, Steuererklärungen, Polizisten, können wir ihm diese Bedeutung, die es zurückweist,
lauter Geländer gegen die Angst. Aber sobald sich die nicht absprechen, da trotz allem das Mögliche der
Unternehmung von mir entfernt, sobald ich auf mich Sinn des Für-sich ist, sondern vielmehr gibt es und
20 selbst verwiesen bin, weil ich mich in der Zukunft er- gibt es nicht einen Sinn der Flucht. 60

warten muss, entdecke ich mich plötzlich als den, der Das Sein und das Nichts (1943)
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 67

M3 Jean Paul Sartre: Der individuelle Akt


bindet die ganze Menschheit
Wenn […] die Existenz wirklich dem Wesen voraus- Schlechte wählen; was wir wählen, ist immer das
geht, ist der Mensch für das, was er ist, verantwort- Gute, und nichts kann gut für uns sein, ohne es für 20

lich. So besteht die erste Absicht des Existentialismus alle zu sein. Wenn andererseits die Existenz dem We-
darin, jeden Menschen in den Besitz seiner selbst zu sen vorausgeht und wir zugleich existieren und das
5 bringen und ihm die totale Verantwortung für sei- Bild von uns gestalten wollen, so gilt dieses Bild für
ne Existenz aufzubürden. Und wenn wir sagen, der alle und für unsere gesamte Epoche. So ist unsere
Mensch ist für sich selbst verantwortlich, wollen wir Verantwortung viel größer, als wir vermuten können, 25

nicht sagen, er sei verantwortlich für seine strikte In- denn sie betrifft die gesamte Menschheit. […] Wenn
dividualität, sondern für alle Menschen. […] Wenn ich […] mich verheiraten und Kinder haben will,
10 wir sagen, der Mensch wählt sich, verstehen wir da- ziehe ich dadurch, selbst wenn diese Heirat einzig
runter, jeder von uns wählt sich, doch damit wollen von meiner Situation oder meiner Leidenschaft oder
wir auch sagen, sich wählend wählt er alle Menschen. meinem Begehren abhängt, nicht nur mich selbst, 30

In der Tat gibt es für uns keine Handlung, die, den sondern die gesamte Menschheit auf den Weg zur
Menschen schaffend, der wir sein wollen, nicht auch Monogamie. So bin ich für mich selbst und für alle
15 zugleich ein Bild des Menschen hervorbringt, wie er verantwortlich, und ich schaffe ein bestimmtes Bild
unserer Ansicht nach sein soll. Wählen, dies oder das vom Menschen, den ich wähle; mich wählend wähle
zu sein, heißt gleichzeitig, den Wert dessen, was wir ich den Menschen. 35

wählen, zu bejahen, denn wir können niemals das Der Existentialismus ist ein Humanismus (1946)

M4 Die Existentialisten

1 Beschreiben Sie die Situation des Esels. > M1 4 


Erläutern Sie an weiteren Beispielen, inwiefern
A
2 Erörtern Sie den Zusammenhang vom „ersten der Selbstentwurf auch die Menschheit bindet.
Entwurf“ und der Freiheit des Menschen. > M2 > M3

3 Deuten Sie das Bild M1 vor dem Hintergrund 5 


Wählen Sie eine der Aussagen aus der dar-
von Sartres Verständnis des Erstentwurfs. gestellten Szene, erörtern Sie ihre Bedeutung
> M1/M2 und nehmen Sie Stellung dazu. > M4
68 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Freiheit in einer Welt voller Widerstand

M1 Ein Hindernis? unsere Freiheit sein, denn durch uns, das heißt durch
die vorherige Setzung eines Zwecks, taucht dieser 25

Widrigkeitskoeffizient auf. Ein Felsblock, der einen


erheblichen Widerstand darstellt, wenn ich ihn weg-
rücken will, ist dagegen eine wertvolle Hilfe, wenn
ich ihn besteigen will, um die Landschaft zu betrach-
ten. An ihm selbst – falls es überhaupt möglich ist, 30

zu sehen, was er an ihm selbst sein kann – ist er


neutral, das heißt, er erwartet, durch einen Zweck er-
hellt zu werden, um sich als widrig oder als hilfreich
zu erweisen. Obwohl die […] [Naturdinge] von An-
fang an unsere Handlungsfreiheit begrenzen können, 35

muss doch unsere Freiheit selbst vorher den Rahmen,


das Verfahren und die Ziele schaffen, in Bezug auf
welche sie sich als Begrenzungen kundgeben. Wenn
M2 Jean-Paul Sartre: der Fels selbst sich als „zu schwierig zu besteigen“
Die Freiheit des Menschen enthüllt und wenn wir auf die Besteigung verzichten 40

Das entscheidende Argument des gesunden Mensch- müssen, so hat er sich ja nur deshalb als ein solcher
verstands gegen die Freiheit besteht darin, uns an enthüllt, weil er ursprünglich als „besteigbar“ aufge-
unsere Ohnmacht zu erinnern. Weit entfernt, dass wir fasst worden war; es ist also unsere Freiheit, die die
unsere Situation nach Belieben modifizieren könn- Grenzen konstituiert, denen sie in der Folge begeg-
5 ten, scheinen wir uns nicht einmal selbst ändern nen wird. […] 45

zu können. Ich bin weder „frei“, dem Los meiner [Das bedeutet,] dass die Widerstände, die die Freiheit
Klasse, meiner Nation, meiner Familie zu entgehen, im Existierenden enthüllt, keineswegs eine Gefahr
noch, meine Macht oder mein Vermögen zu erwer- für die Freiheit sind, sondern ihr erst ermöglichen,
ben, noch, meine geringsten Gelüste oder meine Ge- als Freiheit aufzutauchen. Ein freies Für-sich kann es
10 wohnheiten zu besiegen. Ich werde als Arbeiter, als nur als engagiert in eine Widerstand leistende Welt 50

Franzose, mit Erbsyphilis oder Tuberkulose geboren. geben. Außerhalb dieser Engagiertheit verlieren die
[…] Anstatt „sich zu machen“, scheint der Mensch Begriffe Freiheit, Determinismus, Notwendigkeit so-
„gemacht zu werden“ durch das Klima und das Land, gar ihren Sinn.
die Rasse und die Klasse, die Sprache, die Geschichte Außerdem muss man gegen den gesunden Men-
15 der Kollektivität, der er angehört, die Vererbung, die schenverstand präzisieren, dass die Formel „frei sein“ 55

individuellen Umstände seiner Kindheit, die ange- nicht bedeutet „erreichen, was man gewollt hat“,
nommenen Gewohnheiten, die großen und kleinen sondern „sich dazu bestimmen, durch sich selbst zu
Ereignisse seines Lebens. wollen“ (im umfassenden Sein von wählen). Anders
Dieses Argument hat die Anhänger der menschlichen gesagt, der Erfolg ist für die Freiheit in keiner Weise
20 Freiheit nie tief verwirrt […]. [Viele] der von den De- wichtig. […] Der […] philosophische Freiheitsbegriff, 60

terministen vorgebrachten Tatsachen können nicht den wir hier allein meinten, bedeutet nur: Autonomie
in Betracht gezogen werden. Besonders der Widrig- der Wahl. […] Wir sagen also nicht, dass ein Gefange-
keitskoeffizient der Dinge kann kein Argument gegen ner immer frei ist, das Gefängnis zu verlassen, was
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 69

absurd wäre, und auch nicht, dass er immer frei ist, tung der Götter, sein Hass auf den Tod und sein lei-
65 die Entlassung zu wünschen, was eine belanglose denschaftlicher Lebenswille haben ihm die unsagbare 10

Binsenwahrheit wäre, sondern dass er immer frei ist, Marter eingebracht, bei der sein ganzes Sein sich ab-
auszubrechen zu versuchen (oder sich befreien zu müht, ohne etwas zu vollenden. Das ist der Preis für
lassen) – das heißt, was auch seine Lage sein mag, er die Leidenschaften dieser Welt. […]
kann seinen Ausbruch entwerfen und sich selbst über Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interes-
70 den Wert seines Entwurfs durch einen Handlungsbe- siert mich Sisyphos. Ein Gesicht, das sich so nahe am 15

ginn unterrichten. […] Dieser wesentliche Unterschied Stein abmüht, ist selbst bereits Stein! Ich sehe, wie die-
zwischen der Freiheit der Wahl und der Freiheit, et- ser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes
was zu erreichen, […] macht allen Diskussionen über zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt.
„wollen“ und „können“, die noch heute Anhänger Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und
75 und Gegner der Freiheit in Widerstreit bringen, ein ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist 20

Ende. Das Sein und das Nichts (1943) die Stunde des Bewusstseins. In diesen Augenblicken,
in denen er den Gipfel verlässt und allmählich in die
M3 Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos Schlupfwinkel der Götter entschwindet, ist er seinem
Der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels.
(1913-1960) wurde für sein publizistisches Gesamtwerk mit Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewusst 25
dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
ist. Worin bestünde tatsächlich seine Strafe, wenn
ihm bei jedem Schritt die Hoffnung auf Erfolg neue
Kraft gäbe? Der Arbeiter von heute arbeitet sein Le-
ben lang an den gleichen Aufgaben, und sein Schick-
sal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in 30

den wenigen Augenblicken, in denen er sich dessen


bewusst wird. Sisyphos, der ohnmächtige und rebel-
lische Proletarier der Götter, kennt das ganze Aus-
maß seiner unseligen conditio: über sie denkt er nach
während des Abstiegs. Die Klarsichtigkeit, die Ursa- 35

che seiner Qual sein sollte, vollendet zugleich seinen


Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung
nicht überwunden werden kann.
Der Mythos des Sisyphos (1942)

1  Diskutieren Sie, was der Fels im Hinblick auf


A
die Freiheit des Bergsteigers bedeutet. > M1
2  Analysieren Sie das im Text entfaltete Ver-
ständnis von Freiheit und Widerstand. > M2
Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, einen 3  Erläutern Sie Camus‘ Verständnis von Freiheit
Felsblock unablässig den Berg hinaufzuwälzen, von am Beispiel des Mythos von Sisyphos. > M3
dessen Gipfel der Stein kraft seines Gewichts wieder 4 Vergleichen Sie Sartres und Camus’ Verständ-
nis von Freiheit und nehmen Sie dazu Stellung.
hinunterrollte. Sie meinten nicht ganz ohne Grund,
> M2/M3
5 es gäbe keine grausamere Strafe, als unnütze und
5 Mit dem Schicksal des Sisyphos stellt Camus
aussichtslose Arbeit. [...] einen Extremfall der Einschränkung des Frei-
Sisyphos ist der absurde Held. Ebenso sehr aufgrund heitsspielraumes dar. Finden Sie weitere Bei-
seiner Leidenschaften wie seiner Qual. Seine Verach- spiele für Freiheitseinschränkungen. > M3

70 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Determination durch Unbewusstes?

M1 Richard David Precht: M2 Sigmund Freud: Der psychische Apparat


Was uns alles nicht bewusst ist Der österreichische Arzt
Unsere Wahrnehmung ist voll von Eindrücken, derer Sigmund Freud (1856-
1939) erlangte als Be-
wir uns gar nicht bewusst sind. Denn unsere Auf-
gründer der Psychoanaly-
merksamkeit kann sich nur auf einen Bruchteil des- se weltweite Bekanntheit.
sen richten, was wir tatsächlich sehen, hören oder
5 fühlen. Der Rest wandert ins Unterbewusstsein. Man- Zur Kenntnis dieses
ches davon wird quasi heimlich gespeichert, anderes psychischen Appara-
nicht, ohne dass wir dies kontrollieren können. Wir tes sind wir durch das
nehmen gezielt das wahr, was unserer aktuellen Auf- Studium der indivi-
gabe, unserem Ziel oder unseren Bedürfnissen ent- duellen Entwicklung 5

10 spricht. Wer Hunger hat, wird eher alles bemerken, des menschlichen Wesens gekommen. Die älteste
was mit Essen oder Restaurants zu tun hat, und wer dieser psychischen Provinzen oder Instanzen nennen
sich als Tourist für Sehenswürdigkeiten interessiert, wir das Es, sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei Geburt
nimmt eine Stadt ganz anders wahr, als wenn er ge- mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem
rade einen Job sucht. Je stärker man sich dabei auf aber die aus der Körperorganisation stammenden 10

15 eine bestimmte Sache konzentriert, umso weniger Triebe, die hier einen ersten uns in seinen Formen
bekommt man von anderen Dingen mit; ein Problem, unbekannten psychischen Ausdruck finden.
das man zum Beispiel von Unfällen kennt. Ist man Unter dem Einfluss der uns umgebenden realen Au-
auf der Straße gegen ein Verkehrsschild gerannt, hat ßenwelt hat ein Teil des Es eine besondere Entwick-
man es augenscheinlich nicht gesehen. Und wie vie- lung erfahren. Ursprünglich als Rindenschicht mit 15

20 le Menschen, die in einen Verkehrsunfall verwickelt den Organen zur Reizaufnahme und den Einrich-
sind, geben an, dass sie das andere Auto gar nicht tungen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine
bemerkt haben. […] besondere Organisation hergestellt, die von nun an
Wie oft habe ich mich schon darüber gewundert, wie zwischen Es und Außenwelt vermittelt. Diesem Be-
ich im volltrunkenen Zustand einen kilometerlangen zirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des 20

25 Heimweg nach Hause gehen konnte und sicher an- Ichs.


langte, obwohl ich mich an keinen Moment dieses […] Infolge der vorgebildeten Beziehung zwischen
Nachhausegehens mehr erinnern kann. Und wie finden Sinneswahrnehmung und Muskelaktion hat das Ich
meine Finger in ebendiesem Moment, wo ich diesen die Verfügung über die willkürlichen Bewegungen. Es
Satz schreibe, in Zehntelsekundenschnelle die Tasten hat die Aufgabe der Selbstbehauptungen, erfüllt sie, 25

30 der Tastatur? Fragte mich jemand, die Tastatur ver- indem es nach außen die Reize kennenlernt, Erfah-
deckt zu zeichnen, würde ich wahrscheinlich kaum rungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), über-
eine Taste richtig beschriften. Meine Finger wissen starke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Rei-
ganz augenscheinlich mehr als ich! Nicht zu vergessen zen begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt,
sind auch all die Dinge, die ich erlebt habe und an- die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem 30

35 schließend vergessen, die mir aber durch irgendeinen Vorteil zu verändern (Aktivität); nach innen gegen
Auslöser nach sehr langer Zeit wieder einfallen kön- das Es, indem es die Herrschaft über die Triebansprü-
nen […]. che gewinnt, entscheidet, ob sie zur Befriedigung zu-
Wer bin ich – und wenn ja wie viele? (2007) gelassen werden sollen, diese Befriedigung auf die in
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 71

35 der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstände ver- werden wir geführt, in diesem Unbewussten eine 15

schiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt. wichtige Scheidung anzunehmen. Manche Vorgänge
In seiner Tätigkeit wird es durch die Beachtungen der werden leicht bewusst, sind es dann nicht mehr, kön-
in ihm vorhandenen oder in dasselbe eingetragenen nen es aber ohne Mühe wieder werden, wie man sagt,
Reizspannungen geleitet. Deren Erhöhung wird all- können reproduziert oder erinnert werden. […] Alles
40 gemein als Unlust, deren Herabsetzung als Lust emp- Unbewusste, das sich so verhält, so leicht den un- 20

funden. […] bewussten Zustand mit dem bewussten vertauschen


Als Niederschlag der langen Kindheitsperiode, wäh- kann, heißen wir darum lieber bewusstseinsfähig
rend der der werdende Mensch in Abhängigkeit von oder vorbewusst. […]
seinen Eltern lebt, bildet sich in seinem Ich eine be- Andere psychische Vorgänge, Inhalte haben keinen
45 sondere Instanz heraus, in der sich dieser elterliche so leichten Zugang zum Bewusstwerden, sondern 25

Einsatz fortsetzt. Sie hat den Namen des Über-Ichs müssen auf die beschriebene Weise erschlossen, er-
erhalten. Insoweit dieses Über-Ich sich vom Ich son- raten und in bewussten Ausdruck übersetzt werden.
dert und sich ihm entgegenstellt, ist es eine dritte Für diese reservieren wir den Namen des eigentlich
Macht, der das Ich Rechnung tragen muss. […] Die Unbewussten. Wir haben also den psychischen Vor-
50 Einzelheiten der Beziehung zwischen Ich und Über- gängen drei Qualitäten zugeschrieben, sie sind ent- 30

Ich werden durchwegs aus der Zurückführung auf das weder bewusst, vorbewusst oder unbewusst. […] Das,
Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern verständlich. was vorbewusst ist, wird, wie wir sehen, ohne unser
Im Elterneinfluss wirkt natürlich nicht nur das per- Zutun bewusst, das Unbewusste kann durch unsere
sönliche Wesen der Eltern, sondern auch der durch sie Bemühung bewusst gemacht werden, wobei wir die
55 fortgepflanzte Einfluss von Familien-, Rassen- und Empfindung haben dürfen, dass wir oft sehr starke 35

Volkstradition sowie die von ihnen vertretenen An- Widerstände überwinden. […]
forderungen des jeweiligen sozialen Milieus. Ebenso Das Bewusstwerden ist vor allem geknüpft an die
nimmt das Über-Ich im Laufe der individuellen Ent- Wahrnehmungen, die unsere Sinnesorgane von der
wicklung Beiträge von Seiten späterer Fortsetzer und Außenwelt gewinnen. […] Wir erhalten allerdings
60 Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher, öffent- auch bewusste Nachrichten aus dem Körperinneren, 40

licher Vorbilder, in der Gesellschaft verehrter Ideale. die Gefühle, die sogar unser Seelenleben gebieteri-
Abriss der Psychoanalyse (1938) scher beeinflussen als die äußeren Wahrnehmungen
[…]. […] Das Innere des Ichs, das vor allem die Denk-
M3 Sigmund Freud: Die psychischen Qualitäten vorgänge umfasst, hat die Qualität des Vorbewuss-
Vielen innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft ge- ten. […] Dem [Über-Ich kann] man den Charakter des 45

nügt es, anzunehmen, das Bewusstsein sei allein das Vorbewussten nicht bestreiten […]. Das Unbewusste
Psychische […]. Die andere Auffassung, das Psychi- ist die allein herrschende Qualität im Es.
sche sei an sich unbewusst, gestattet, die Psychologie Abriss der Psychoanalyse (1938)
5 zu einer Naturwissenschaft wie jede andere auszuge-
stalten. – Die Vorgänge, mit denen sie sich beschäf-
tigt, sind an sich ebenso unerkennbar wie die anderer
Wissenschaften, der chemischen oder physikalischen;
1 
Finden Sie weitere Beispiele für den Einfluss
A
aber es ist möglich, die Gesetze festzustellen, denen
des Unbewussten auf unser Verhalten. > M1
10 sie gehorchen […].
2 
Analysieren Sie den Text und halten Sie die
Was wir bewusst heißen, brauchen wir nicht zu cha- Merkmale der drei psychischen Instanzen in
rakterisieren, es ist das Nämliche wie das Bewusst- einer Tabelle fest. > M2
sein der Philosophen und der Volksmeinung. Alles 3 
Erläutern Sie die drei psychischen Qualitäten
andere Psychische ist für uns das Unbewusste. Bald und ordnen Sie sie den drei Instanzen zu. > M3
72 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Das bedrängte Ich

M1 Sigmund Freud:
Das Verhältnis von Ich, Es und Über-Ich
Es, wofür es große Aufwände an Ge-
genbesetzungen zu unterhalten hat.
ÜBER-ICH Außenwelt Es kann aber auch der Anspruch 25
vorbewusst Gebote,
des Über-Ichs so stark und so un-
Verbote
erbittlich werden, dass das Ich sei-
Elterl. Einfluss
nen anderen Aufgaben wie gelähmt
ICH gegenübersteht. Wir ahnen, in den
bewusst / Vermittlung ökonomischen Konflikten, die sich 30
vorbewusst mit der Außenwelt,
Reaktionen
hier ergeben, machen Es und Über-
Triebkontrolle
Ich oft gemeinsame Sache gegen
Reize das bedrängte Ich, das sich zur Er-
haltung seiner Norm an die Realität
ES anklammern will. Werden die beiden 35
unbewusst Bedürfnisse,
Triebe Ersteren zu stark, so gelingt es ih-
nen, die Organisation des Ichs auf-
zulockern und zu verändern, so dass
Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie seine richtige Beziehung zur Realität gestört oder
gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ichs selbst aufgehoben wird. […] Wenn sich das Ich von 40

und der Realität genügt, also deren Ansprüche mitei- der Realität der Außenwelt ablöst, verfällt es unter
nander zu versöhnen weiß. […] dem Einfluss der Innenwelt in die Psychose*.
5 […] Die Macht des Es drückt die eigentliche Lebens- Abriss der Psychoanalyse (1938)
absicht des Einzelwesens aus. Sie besteht darin, seine
mitgebrachten Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Ab- M2 Sigmund Freud:
sicht, sich am Leben zu erhalten und sich durch die Die psychoanalytische Technik
Angst vor Gefahren zu schützen, kann dem Es nicht Auf diese Einsichten gründen wir unseren Heilungs-
10 zugeschrieben werden. Dies ist die Aufgabe des Ichs, plan. Das Ich ist durch den inneren Konflikt ge-
das auch die günstigste und gefahrloseste Art der schwächt, wir müssen ihm zu Hilfe kommen. Es ist
Befriedigung mit Rücksicht auf die Außenwelt her- wie in einem Bürgerkrieg, der durch den Beistand
auszufinden hat. Das Über-Ich mag neue Bedürfnisse eines Bundesgenossen von außen entschieden wer- 5

geltend machen, seine Hauptleistung bleibt aber die den soll. Der analytische Arzt und das geschwächte
15 Einschränkung der Befriedigungen. […] Ich des Kranken sollen, an die reale Außenwelt ange-
Nach unserer Voraussetzung hat das Ich die Aufgabe, lehnt, eine Partei bilden gegen die Feinde, die Trieb-
den Ansprüchen seiner drei Abhängigkeiten von der ansprüche des Es und die Gewissensansprüche des
Realität, dem Es und dem Über-Ich zu genügen und Über-Ichs. Wir schließen einen Vertrag miteinander. 10

dabei doch seine Organisation aufrechtzuhalten, sei- Das kranke Ich verspricht uns vollste Aufrichtigkeit,
20 ne Selbständigkeit zu behaupten. […] d. h. die Verfügung über allen Stoff, den ihm seine
Die schwerste Anforderung an das Ich ist wahr- Selbstwahrnehmung liefert, wir sichern ihm strengs-
scheinlich die Niederhaltung der Triebansprüche des te Diskretion zu und stellen unsere Erfahrung in der
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 73

Deutung des vom Unbewussten beeinflussten Materi- mächtiger zu sein als die dem Ich unterworfenen; sie
als in seinen Dienst. Unser Wissen soll sein Unwissen widerstehen allen sonst so erprobten Machtmitteln
gutmachen, soll seinem Ich die Herrschaft über ver- des Willens, bleiben unbeirrt durch die logische Wi- 15

lorene Bezirke des Seelenlebens wiedergeben. derlegung, unangetastet durch die Gegenaussage der
Abriss der Psychoanalyse (1938) Realität. Oder es kommen Impulse, die wie die eines
Fremden sind, so dass das Ich sie verleugnet, aber
M3 Sigmund Freud: es muss sich doch vor ihnen fürchten und Vorsich-
Kränkungen der menschlichen Eigenliebe ten gegen sie treffen. Das Ich sagt sich, das ist eine 20

Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat Krankheit, eine fremde Invasion, es verschärft seine
die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissen- Wachsamkeit, aber es kann nicht verstehen, warum
schaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, dass es sich in so seltsamer Weise gelähmt fühlt. […]
unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, Die Psychoanalyse unternimmt es, diese unheimli-
5 sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Grö- chen Krankheitsfälle aufzuklären […] und kann dem 25

ße kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich Ich endlich sagen: „Es ist nichts Fremdes in dich ge-
für uns an den Namen Kopernikus […]. Die zweite fahren; ein Teil von deinem eigenen Seelenleben hat
dann, als die biologische Forschung das angebliche sich deiner Kenntnis und der Herrschaft deines Wil-
Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, lens entzogen. Darum bist du auch so schwach in der
10 ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Abwehr; du kämpfst mit einem Teil deiner Kraft ge- 30

Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. gen den anderen. […] Das Seelische in dir fällt nicht
Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter mit dem dir Bewussten zusammen; es ist etwas ande-
dem Einfluss von Ch. Darwin […] nicht ohne das hef- res, ob etwas in deiner Seele vorgeht und ob du es auch
tigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte erfährst.“ […] Dass die seelischen Vorgänge an sich
15 und empfindlichste Kränkung aber soll die mensch- unbewusst sind und nur durch eine unvollständige 35

liche Größensucht durch die heutige psychologische und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugäng-
Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen lich und ihm unterworfen werden, komm[t] der Be-
will, dass es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, hauptung gleich, dass das Ich nicht Herr sei in seinem
sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt eigenen Haus. Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917)
20 von dem, was unbewusst in seinem Seelenleben vor-
geht. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1917)

M4 Sigmund Freud:
1 
Stellen Sie die Wechselwirkungen zwischen Es,
A
Nicht Herr im eigenen Haus Ich und Über-Ich anhand des Schaubildes dar.
Der Mensch […] fühlt sich souverän in seiner eigenen > M1
Seele. Irgendwo im Kern seines Ichs hat er sich ein 2 
Erörtern Sie verschiedene Beispiele eines Un-
Aufsichtsorgan geschaffen, welches seine eigenen gleichgewichts der Einflüsse von Ich, Es und
Regungen und Handlungen überwacht, ob sie mit Über-Ich, indem sie dazu ein Gespräch zwi-
5 seinen Anforderungen zusammenstimmen. […] In schen den drei Instanzen inszenieren. > M1
gewissen Krankheiten, allerdings gerade bei den von 3 
Erläutern Sie die psychoanalytische Technik an
einem Beispiel. > M2
uns studierten Neurosen, ist es anders. Das Ich fühlt
4 
Interpretieren Sie Freuds Aussage, dass das Ich
sich unbehaglich, es stößt auf Grenzen seiner Macht
nicht Herr im eigenen Haus ist. > M3/M4
in seinem eigenen Haus, der Seele. Es tauchen plötz-
5 
Ordnen Sie Freuds Modell der drei psychischen
10 lich Gedanken auf, von denen man nicht weiß, woher Instanzen in die Determinismus-Indeterminis-
sie kommen; man kann auch nichts dazu tun, sie mus-Debatte ein und nehmen Sie dazu Stel-
zu vertreiben. Diese fremden Gäste scheinen selbst lung. > M1-M4

74 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Freiheit, Verantwortung, Strafe

M1 Nicht schuldig? M3 Reinhard Merkel:


Schuldzuweisung im Strafrecht
Herr Richter, ich bin nicht schuldig. Der folgende Text ist ein Auszug aus einem Gespräch mit Rein-
Fragen Sie doch meinen Psychologen. hard Merkel (*1950), Professor für Strafrecht und Rechtsphilo-
Ich konnte gar nicht anders. sophie an der Universität Hamburg.
Und ich kann Im Strafgesetzbuch regelt Paragraf 20 das Problem
nicht anders der Schuldfähigkeit und des Schuldausschlusses. Da-
als Sie schuldig
nach handelte ohne Schuld, wer entweder unfähig
zu sprechen.
Ich habe keine war, das verletzte Verhaltensgebot überhaupt zu ken-
freie Wahl, fragen nen, oder wer beim Begehen der Tat sein Handeln 5

Sie doch die nicht entsprechend steuern konnte. Einfacher gesagt:


Hirnforscher. Wer nicht wissen kann, dass man nicht töten darf,
weil er etwa schwer geisteskrank ist, den können wir
nicht zur Verantwortung ziehen. Und wer die Norm
zwar kennt, aber in der konkreten Situation unfähig 10

M2 Gerhard Roth: Aufgabe des Schuldprinzips? war, ihr Folge zu leisten, der wird auch noch ent-
Im bekannten Strafrechts-Lehrbuch von Wessels und schuldigt. Alle anderen nicht – wenn wir einmal von
Beulke […] [heißt es]: „In Übereinstimmung mit dem Ausnahmelagen wie dem entschuldigenden Notstand
Menschenbild des Grundgesetzes beruht das deutsche absehen, wo jemand in einer Zwangssituation bei-
Strafrecht auf dem Schuld- und Verantwortungsprin- spielsweise den Tod eines anderen herbeiführt, um 15

5 zip: Strafe setzt Schuld voraus (...). Grundlage des dadurch sein eigenes Leben zu schützen. […] Wir ver-
Schuld- und Verantwortungsprinzips ist die Fähig- urteilen jemanden, weil wir davon ausgehen, dass er
keit des Menschen, sich frei und richtig zwischen sein Verhalten hätte anders steuern können. […]
Recht und Unrecht zu entscheiden. Nur wenn diese Ich halte es auch für eine unausweichliche Voraus-
Entscheidungsfreiheit existiert, hat es Sinn, einen setzung für die Schuldzuschreibung, dass das Indi- 20

10 Schuldvorwurf gegen den Täter zu erheben.“ […] viduum die Zukunft als offen erlebt und nicht weiß,
Ein solcher „moralischer“ Schuldbegriff ist auf einem wie es entscheiden wird, bevor es entschieden hat.
starken Begriff von Willensfreiheit aufgebaut. Dies Aber das allein reicht nicht. Das zeigt zum Beispiel
steht nicht nur den […] Erkenntnissen [der Hirnfor- der Fall eines Lehrers, der 2003 die Fachwelt beschäf-
schung] entgegen. […] tigt hat: Der Mann, 40 Jahre alt, mit ganz norma- 25

15 Sofern sich die Erkenntnisse der Hirnforschung und ler Biografie, ertappte sich eines Tages quasi selbst
der Persönlichkeitspsychologie weiter erhärten, muss dabei, wie er aus dem Internet kinderpornografische
im Strafrecht das Prinzip der moralischen Schuld Bilder herunterlud und kleinen Mädchen nachzustel-
aufgegeben werden. Es rückt damit der Gedanke der len begann. Er tat das nicht im Gefühl einer Zwang-
Normenverletzung in den Vordergrund, bei der die haftigkeit, sondern aus vermeintlich freien Stücken. 30

20 Gesellschaft das Recht hat, sie zu ahnden. Erziehung, Später wurde er wegen Belästigung von Schülerin-
Therapie und Schutz der Gesellschaft vor unerzieh- nen verurteilt – unter anderem zu einer Psychothe-
baren bzw. nicht therapierbaren Straftätern treten rapie. Die pädophile Neigung verschwand aber nicht.
dann anstelle des strafrechtlichen Sühnegedankens. Dann kam er eines Tages wegen akuter Kopfschmer-
Das Problem der Willensfreiheit (2004) zen ins Krankenhaus, wo man einen taubeneigroßen 35
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 75

Tumor in seinem rechten Frontalhirn entdeckte. Die- Denken wir uns nun denselben Mann, wie er vor einen
se Großhirnregion ist unter anderem zuständig für Tyrannen gerufen und vor eine Wahl gestellt wird. Der
die normative Kontrolle unserer Handlungen. Nach Herrscher möchte einen unschuldigen Untertanen, der
der Entfernung des Tumors war der Mann von seinen gegen sein Regime die Stimme erhoben hat, hinrich- 25

40 pädophilen Neigungen zunächst befreit […]. ten lassen. Aber noch gibt es im Land den Anschein
Ich bezweifle jedoch, dass wir auf die Schuldzu- von Recht, und das verlangt, den Schein eines ge-
schreibung ganz verzichten können. Es genügt nicht, rechten Verfahrens zu wahren. Jemand muss einen
nach einer Straftat den Leuten zu sagen: „Wir sor- Brief schreiben und den Unschuldigen denunzieren,
gen schon dafür, dass dieser Mensch das nie wieder ihn fälschlich eines Schwerverbrechens beschuldigen. 30

45 macht – entweder er ist hinreichend abgeschreckt Unserem Lüstling ist diese Aufgabe zugedacht. Sollte
oder therapiert, oder wir halten ihn in Sicherheitsver- er sich weigern, würde der Herrscher dafür sorgen,
wahrung.“ […] Es muss also etwas hinzukommen, da- dass er seinerseits hingerichtet wird.
mit die vom Täter gebrochene Norm in ihrer Geltung Wie im ersten Fall meint Kant, es sei leicht, sich in
wiederhergestellt werden kann. Die Justiz gleicht in diesen Burschen hineinzuversetzen. Doch anders als 35

50 dieser Hinsicht einer Reparaturanstalt für die symbo- im ersten Fall zögern wir plötzlich: Wir wissen nicht,
lische Wiederherstellung verletzter Normen. Wer eine was wir tun würden. Kant betont immer die Grenzen
Norm bricht, muss für ihre „Reparatur“ bezahlen. des Wissens, und zu dem, was wir nie mit Gewissheit
Reparaturanstalt für verletzte Normen (2008) kennen können, gehört das Innerste unserer Seele.
Niemand von uns ist moralisch so gefestigt, dass er 40

M4 Susan Neiman: Unter dem Galgen sich sicher ist, angesichts von Tod und Folter nicht
Die amerikanische Philosophin Susan Neiman (*1955) war Pro- einzuknicken. Die meisten von uns würden es ver-
fessorin an der Yale Universität und in Tel Aviv. Heute ist sie mutlich. Dennoch wissen wir alle, was wir tun soll-
Direktorin am Einstein Forum in Potsdam.
ten: uns weigern, den Brief zu schreiben, auch wenn
Ein Mann meint, immer wenn er an einem „gewissen es uns das Leben kostet. Und wir alle wissen, dass 45

Haus“ – so nennt es Kant – vorbeikäme, überwältige wir genau das tun könnten – ob wir nun am Ende
ihn die Versuchung. (Im Gegensatz zu dem unseren schwanken oder nicht. In diesem Augenblick, sagt
war das 18. Jahrhundert dezent.) Gleichgültig was er Kant, erkennen wir mit Ehrfurcht und Staunen unsere
5 sich vorher eingeredet hat, sobald er das Bordell er- Freiheit. Nicht Lust, wohl aber Gerechtigkeit vermag
reicht, muss er es betreten. Er wäre gern klug, er wäre Menschen zu Taten zu bewegen, die das stärkste ani- 50

gern treu, vielleicht glaubt er, Sex sollte nicht käuf- malische Verlangen, die Liebe zum Leben selbst, über-
lich sein. Doch weder die Bande der Liebe noch die winden. Das zu betrachten ist so schwindelerregend,
Furcht vor Krankheit oder Schande sind stärker als die wie in den Himmel über uns zu schauen: Mit die-
10 Forderungen des Fleisches. Können wir diesen Mann ser Macht ausgestattet, sind wir so unendlich wie er.
verstehen? Kein Problem, meint Kant. Was aber wäre, Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten (2010)
wenn er, unmittelbar nachdem er aus dem Sünden-
pfuhl auftaucht, gehängt würde – und vor dem Bordell
ein Galgen errichtet ist, um ihn daran zu erinnern?
15 Plötzlich entdeckt er, dass er der Versuchung sehr gut
1 
Diskutieren Sie die Aussagen in der Abbildung.
A
widerstehen kann. Gewöhnliche Wünsche – nach Sex,
> M1
Reichtum oder anderen Formen vergänglicher Lust –
2 
Untersuchen Sie die Gründe, die für und gegen
können uns noch so strahlend erscheinen, sie alle ver-
die Aufrechterhaltung des Schuldprinzips im
blassen vor dem Wunsch zu leben. Das ist geradezu Strafrecht und in moralischen Fragen ange-
20 eine Sache der Logik: Ohne Leben kein Genuss. Alle führt werden, und nehmen Sie dazu Stellung.
Freuden der Welt zusammen wiegen das nicht auf. > M2-M4
76 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Wissen kompakt

> Handlungs- und > Determinismus > Indeterminismus


Willensfreiheit Unter Determinismus (von lat. Der Indeterminismus hält die Frei-
Bei der Handlungsfreiheit geht determinare: abgrenzen, bestim- heit des Willens mit der Annahme
es um die Frage, ob ich das, was men) versteht man die Auffas- kausaler Verursachung für verein-
ich will, ungehindert ausführen sung, dass die Ereignisse in der bar (Kompatibilismus). Willens-
kann. Die Frage der Willensfrei- Natur dem Kausalprinzip unter- freiheit besteht demnach in der
heit bezieht sich dagegen dar- stehen und auch der Wille nicht Verursachung durch sich selbst
auf, ob der Wille selbst frei ist: frei von Verursachung ist. (Selbstbestimmung).
Kann ich wollen, was ich will?

HABEN WIR EINEN


/
>
DETERMINISMUS (INKOMPATIBILISMUS)
Die Annahme eines freien Willens ist unvereinbar mit der
Annahme, dass alles in der Natur durch Ursachen bestimmt ist.

/
>

Willensfreiheit (verstanden als unbedingte Freiheit,


Nicht-Verursachtsein) ist eine Illusion.

PSYCHOANALYSE
Seelisches Geschehen ist die Wechselwirkung zwischen Es, Ich und Über-Ich.
Es gibt eine Determination durch Unbewusstes.
Wir sind nicht Herr im eigenen Haus.

/
>

AUSWIRKUNGEN AUF
Der Mensch ist für sein Handeln
DER MENSCH ALS FREIES UND SELBSTBESTIMMTES WESEN 77

> Selbstentwurf > Psychischer Apparat > Unbewusstes


Dem Existentialismus zufolge Die Psychoanalyse geht davon Der Einfluss von Unbewusstem
ist das Wesen eines Menschen aus, dass sich psychische Er- kann den Willen determinieren
nicht festgelegt, vielmehr be- krankungen durch Wechselwir- (im Falle von Psychosen usw.),
steht die existentielle Grund- kungen in einem psychischen steht aber nicht immer im Wider-
situation in der Freiheit, sich Apparat erklären lassen, in dem spruch zur Freiheit des Willens
selbst zu entwerfen. Der Mensch das Ich durch Es, Über-Ich und (z. B. bei eingeübten Bewegungs-
ist demnach dazu verurteilt, frei Außenwelt determiniert ist. abläufen im Sport usw.).
zu sein.

FREIEN WILLEN?
/
>

INDETERMINISMUS (KOMPATIBILISMUS)
Die Annahme eines freien Willens ist mit der Annahme eines
Bestimmtseins durch Ursachen vereinbar.

/
>

Freiheit besteht in der Verursachung durch sich selbst


(Selbstbestimmung)

EXISTENTIALISMUS
Der Existenz des Menschen geht dem Wesen voraus.
Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein.
Der Mensch ist das, wozu er sich macht.

ETHIK / STRAFRECHT
(teilweise / nicht) verantwortlich.
78 GESAMTÜBERSICHT

DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Der Mensch als Natur- und Kulturwesen


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METHODENKO MPET ENZ : Eine philosophische Textanalyse und -interpretation verfassen
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Das Verhältnis von Leib und Seele


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METHODE NKO MPET ENZ : Eine philosophische Position rekonstruieren
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Das Menschenbild der Forschung zur Künstlichen Intelligenz (LK)


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METHODE NKO MPET ENZ : Einen philosophischen Sachzusammenhang in Form eines Leserbriefs
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darstellen

Der Mensch als freies und selbstbestimmtes Wesen


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METHODE NKO MPET ENZ : Philosophische Positionen miteinander vergleichen (I)
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WERTE UND NORMEN DES HANDELNS

Grundsätze eines gelingenden Lebens


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METHODENKO MPET ENZ : Einen philosophischen Sachzusammenhang in Form eines (fiktiven) Briefes
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darstellen und beurteilen

Nützlichkeit und Pflicht als ethische Prinzipien


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METHODENKO MPET ENZ : Zu unterschiedlichen philosophischen Positionen Stellung nehmen
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Verantwortung in der technologischen Zivilisation


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METHODENKO MPET ENZ : Eine philosophische Position an Beispielen / in Anwendungskontexten
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erläutern

Ethische Probleme am Anfang und Ende des Lebens


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METHODENKO MPET ENZ : Eine philosophische Erörterung auf der Grundlage eines (fiktiven)
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Fallbeispiels verfassen

Gefühl und Vernunft als Grundlage moralischer Orientierungen (LK)


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METHODENKO MPET ENZ : Ein Sokratisches Gespräch führen
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GESAMTÜBERSICHT 79

ZUSAMMENLEBEN IN STAAT UND GESELLSCHAFT

Der Staat als Form der Gemeinschaft


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METHODEN KO MPET ENZ : Einen philosophischen Essay verfassen
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Vertragstheoretische Modelle der Staatslegitimation


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METHODEN KO MPET ENZ : Philosophische Positionen miteinander vergleichen (II)
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Konzepte von Demokratie und Mitbestimmung


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METHODEN KO MPET ENZ : Philosophische Begriffe bestimmen und explizieren
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Theorien sozialer Gerechtigkeit


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METHODEN KO MPET ENZ : Eine philosophische Erörterung auf der Grundlage eines philosophischen
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Textes verfassen

Prinzipien einer dauerhaften Friedensordnung (LK)


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METHODEN KO MPET ENZ : Einen philosophischen Sachzusammenhang in Form eines Interviews
1

darstellen

WISSENSCHAFT UND ERKENNTNIS

Erkenntnistheoretische Grundlagen der Wissenschaften


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METHODEN KO MPET ENZ : Eine Rollendiskussion führen
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Der Anspruch der Naturwissenschaften auf Objektivität


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A U FGA BEN A RT 1 D ER SC H RIFT LIC HE N A B I TU R P R Ü F U N G : Erschließung eines
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philosophischen Textes mit Vergleich und Beurteilung

Erkenntnis in den Geisteswissenschaften (LK)


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A U FGA BEN A RT 2 D ER SC H RIFT LIC HE N A B I TU R P R Ü F U N G : Erörterung eines
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philosophischen Problems

Kritische Reflexion der Wissenschaften


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VORB EREITU NG A U F DIE MÜ NDLIC HE ABI T U RP RÜ F U N G
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80 BEGRIFFSGLOSSAR

Begriffsglossar

ANALO G O N P H Y S I K A LI S M U S (von gr. physis: Natur):


(von altgr. analogia: Verhältnis): die Auffassung, dass alles, was existiert, aus Materie
ähnlicher oder entsprechender Gegenstand oder Sach- besteht und durch die Naturwissenschaften erklärbar
verhält, gleichartiger Fall ist

A PO ST ER IO R I P SYC H O S E :
(lat.: vom Späteren her): Bezeichnung für eine schwere psychische Störung,
aufgrund von Erfahrung, aus der Erfahrung abgeleitet die mit einem weitgehenden Verlust des Realitätsbe-
zuges einhergeht
A PRI O R I (lat.: vom Früheren her):
vor der Erfahrung, der Erfahrung vorausgehend

ARIER :
ursprünglich eine Bezeichnung für Sprecher indo-
iranischer Sprachen; von Rassenideologen zur Be-
zeichnung einer angeblich überlegenen Menschen-
gruppe („Herrenrasse“) missbraucht

BIOTISCH (von altgr. bíos: Leben):


bezeichnet Vorgänge und Zustände, an denen Lebe-
wesen beteiligt sind; biotische Evolution: Evolution
der Lebewesen

ENHO R M O N:
Bezeichnung des griechischen Arztes Hippokrates
(ca. 460-370 v. Chr.) für die Seele; wörtlich ein dem
Körper innewohnender Drang (hermé), d. h. ein Prin-
zip, das jedes Organ dazu bringt, seine Funktion zu
erfüllen

GATT UNG SL E B EN:


in der Logik bezeichnet Gattung die allgemeinen
Merkmale mehrerer Gegenstände; bei Marx ist damit
das Wesen des Menschen gemeint; als Gattungsle-
ben wird die Tätigkeit bezeichnet, in denen sich der
Mensch in seinem Menschsein verwirklicht

HO M I NISAT I O N:
evolutive Herausbildung des Merkmalgefüges, das für
den modernen Menschen charakteristisch ist; Evolu-
tion des modernen Menschen
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