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Neue Begegnung mit dem Alten Testament in

Karl Barths Theologie


Hans-Joachim Kraus

Wer sich mit den Werken Karl Barths befaßt, wird immer wieder feststel-
len können, welche herausragende Bedeutung dem Alten Testament im
theologischen Denken zukommt.1 Schon in den Anfängen wird fortge-
setzt auf die Tora, auf die Propheten und auf die Psalmen Bezug genom-
men. Diese Tatsache erklärt sch in erster Linie aus der reformatorischen
Tradition und dem Erbe Calvins. Doch im Kontext aktueller theologi-
scher Auseinandersetzungen und zeitgeschichtlich orientierter Fragestel-
lung bekommt die Arbeit am Alten Testament Gewicht, Tiefe und Kon-
tur. Dies kann in drei Phasen des Lebenswerkes Karl Barths festgestellt
und veranschaulicht werden.
Zuerst in der frühen „Theologie der Krisis", wie Barth selbst den Auf-
bruch und Anfang seiner theologischen Arbeit benennt. 2 Im beachtens-
werten Rückblick wird aber auch erklärt, daß „Theologie der Krisis"
nicht länger „als einen Augenblick" sachgerecht und angemessen sein
konnte, weil sie als Reaktion, die sie war, zu stark, zu willkürlich und zu
eigenmächtig sich geäußert hat. Denn sie gab der theologischen Aussage
nur eine einzige Spitze. Dazu Barth: „Die Lehre vom lebendigen Gott er-
trägt nun einmal keine solchen Zuspitzungen.. ,"3 Gleichwohl wird diese
erste Phase, wie sogleich zu zeigen sein wird, als von eminenter Bedeu-
tung auch und gerade für das Alte Testament und sein Verständnis sich
erweisen.
Die zweite Phase kann benennbar werden mit dem Hinweis auf die Er-
fahrungen in der Auseinandersetzimg mit den „Deutschen Christen",
damit aber auch mit jener neuprotestantischen Tradition, die - von
Schleiermacher bis Harnack - das Alte Testament aus der Theologie und
Kirche ausgeschaltet wissen wollte.
Die dritte Phase schließlich ist gekennzeichnet durch das umfangreiche
Werk der „Kirchlichen Dogmatik" und die in diesem Opus wachsende
Bemühimg um die „biblische Denkform" christlicher Lehre, die mehr
und mehr aus genuinem Verständnis des Alten Testaments hervorgeht.
Mit der Kennzeichnung dieser drei Phasen wird den fünf Kapiteln der
vorliegenden Studie eine Orientierungsskizze vorausgeschickt, ohne daß
damit der Anspruch erhoben wird, die Vielzahl und Mannigfaltigkeit der
Entdeckungen und Impulse erfassen zu können.

1
Zum Thema liegt das hervorragende Buch vor: O. Bächli, Das Alte Testament in
der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths, Neukirchen-Vluyn 1987; dort weitere Li-
teraturangaben.
2
KD 11/1,717
3
Ebd.

Evang. Theol. 49. Jg., Heft 5, S. 429-443


ISSN 0014-3502
© Chr. Kaiser, 1989 429

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I. Theologie der Krisis: Auseinandersetzung mit der religionsgeschichtli-
chen Betrachtungsweise
Am Anfang des 20. Jahrhunderts stand in der Bibelwissenschaft die reli-
gionsgeschichtliche Forschung in voller Blüte. So wurde im Alten Testa-
ment die Geschichte der israelitisch-jüdischen Religion erarbeitet und
gelehrt, meist mit einer deutlichen Apostrophierung des „unüberbrück-
baren Unterschiedes" zur christlichen Religion. Barth hatte diese For-
schungsrichtung gründlich kennengelernt - insbesondere in seinem Stu-
dium bei Hermann Gunkel in Berlin. „Religionsgeschichtliche Volksbü-
cher" popularisierten die Idee. Nicht anders denn als „Geschichte einer
Religion" sollte das Alte Testament verstanden werden. Diese beiden
Hauptbegriffe „Geschichte" und „Religion" dominierten aber auch in der
systematischen Theologie; sie bezog sich auf das geschichtliche und reli-
giöse Feld.
Barths „Theologie der Krisis", der Durchbruch zu neuem Fragen und
Forschen, manifestiert sich meiner Meinung nach zuerst und am deut-
lichsten in dem 1916 gehaltenen Vortrag „Die neue Welt in der Bibel" 4 .
Barth stellt eine Frage, die man - aufs erste Hören hin - als vermessen
bezeichnen könnte, die in dieser Zeit aber durchaus seinem eigensten Su-
chen und Fragen nach neuer Sachlichkeit entspricht: „Was steht in der
Bibel?" Womit hat es der Leser, womit hat es die Kirche in diesem Buch
eigentlich zu tun? Antwort: „... in der Bibel steht eine neue Welt, die Welt
Gottes." 5 Barth bemerkt ausdrücklich, daß wir mit dieser Antwort weit
über uns hinausgreifen, d. h. über unsere mitgebrachten Denkvorausset-
zungen, Kategorien und Orientierungsbegriffe hinaus. Dabei scheint die
nähere Nachfrage „Was steht in der Bibel?" zunächst die herkömmlichen
Auffassungen zu bestätigen, wenn es heißt: „Geschichte! Die Geschichte
eines merkwürdigen, ja einzigartigen Volkes! " 6 Und weiter: „Es ist ja so:
die Bibel ist voll von Geschichte: Religionsgeschichte, Literaturgeschich-
te, Weltgeschichte, dazu Menschengeschichten aller Art." 7 Im Gegensatz
allerdings zum religionsgeschichtlichen Aspekt, der alle diese Spielarten
von „Geschichte" forschend durchdringt und aufarbeitet, vertritt Barth
die Auffassung, bei näherem Zusehen sei diese Geschichte „unverständ-
lich und ungenießbar", „lauter Unsinn" 9 . Vielmehr sagt die Bibel uns -
und dieses ihr Sagen ist nun über alle Maßen bedeutsam - „Gott ist die
entscheidende Ursache. Weil Gott lebt, redet, handelt, darum ..." 9 . So
geht die Krisis aus vom Wort des lebendigen Gottes. Und da hört Ge-
schichte auf, in sich bedeutsam zu sein, da fängt etwas völlig Anderes,
Neues an - eine Geschichte mit ganz eigentümlichen Gründen und Mög-

4
K. Barth, Die neue Welt in der Bibel, in: Das Wort Gottes in die Theologie, Mün-
chen 1925,18-32.
5
A.a.O. 21.
6
A.a.O. 22.
7
Ebd.
8
A.a.O. 23.
9
A.a.O. 24.

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lichkeiten: „Gott schuf", „Gott sprach". Wörtlich: „Eine neue Welt ragt
da in unsere gewöhnliche, alte Welt hinein"10. Man könnte demnach er-
klären: Die Eschatologie ist zum entscheidenden Kriterium der Krisis
von „Religion" und „Geschichte" geworden. Doch recht eigentlich ist es
die Begegnimg mit dem lebendigen Gott und seinem Wort und eben keine
„.. .logie". Dies allein ist der Beweggrund, warum weit über alle Maßstä-
be der Geschichtsbetrachtung hinausgegangen werden muß.
Diese Krisis der „Geschichte" ergreift auch die „Religion". Waren „Reli-
gion" und „Frömmigkeit" Gegenstand der Bibelforschung, so stößt Barth
hindurch: „Wir müssen nur aufrichtig suchen in der Bibel, dann finden
wir ganz sicher etwas Größeres in ihr als .Religion' und ,Frömmigkeit'.
Das ist wiederum nur so eine Kruste, in der wir nicht stecken bleiben wol-
len."11 Die neue Welt aber, die in der Bibel steht, ist die Welt Gottes. Da-
mit ist die in der „Theologie der Krisis" über alle Maßen wichtige Frage
nach Gott gestellt. Wie kann auf diese Frage geantwortet werden? Es ent-
spricht der Entdeckung der neuen Welt in der Bibel, wenn Karl Barth,
vor allem im Blick auf das Alte Testament, erklärt: Gott ist „Der heilige
Geist, der einen neuen Himmel und eine neue Erde schafft und darum
neue Menschen, neue Familien, neue Verhältnisse, eine neue Politik, - der
keinen Respekt hat vor alten Gewohnheiten, nur weil sie feierlich sind,
vor alten Mächten, nur weil sie mächtig sind! Der heilige Geist, der nur
vor der Wahrheit, nur vor sich selber Respekt hat! Der heilige Geist, der
mitten in der Ungerechtigkeit der Erde die Gerechtigkeit des Himmels
auflichtet und der nicht ruhen noch rasten wird, bis alles Tote lebendig
geworden, eine neue Welt ins Dasein getreten ist."12
Im Vortrag von 1916 ist also - eschatologisch - von der „neuen Welt Got-
tes" die Rede, in den folgenden Jahren, und insbesondere im Kommentar
zum Römerbrief von 1919, vom „Reich Gottes". Von diesem „Kriterium"
ausgehend vollzieht die „Theologie der Krisis" eine Umwertung aller
Werte: Depotenzierung des Geschichtsbegriffs, theologische Religi-
onskritik, Kennzeichnung aller „Krusten". Entscheidend wird der Satz:
„... die Erneuerung der Welt durch das kommende Reich Gottes vollzieht
sich durch dessen eigene Bewegimg"13. Die Kirche ist von dieser Krisis
und Veränderung aller Verhältnisse zutiefst mitbetroffen, denn sie er-
weist sich als „das Grab der biblischen Wahrheit". Sie ist eine Hochburg
der Religion. In ihr ist der Blitz göttlicher Offenbarung in einen irdischen
Dauerbrenner verwandelt worden. Der Mensch hat in der Kirche das
Göttliche in Besitz genommen und in Betrieb gesetzt. Die „rollende Ku-
gel" der Offenbarung Gottes aber, von der das Alte Testament redet, hat
die große Krisis heraufgeführt.
Noch eine Schicht tiefer grabend als 1916 geht Barth im Vortrag „Bibli-
sche Fragen, Einsichten und Ausblicke" (1920) vor. Da heißt es plötzlich:

Kbd.
" A.a.O. 27.
12
A.a.O. 32.
13
K. Barth, Der Römerbrief (1919), Zürich 1963, 348.

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„Es ist die Frage der Erwählung, mit der die Bibel antwortet auf unsere
Frage, was sie uns zu bieten habe" 14 . Damit ist der Hauptbegriff des Al-
ten Testaments, der in der neueren Theologiegeschichte völlig verschüttet
und gemieden wurde, wieder in den Mittelpunkt gerückt worden. Denn -
so sieht es Barth - Entscheidungen in dieser Frage der Erwählung und al-
so auch der Verwerfung, sind das eigentlich Lebendige, sie sind das Ge-
heimnis der Geschichte und des Lebens. Diese Entscheidungen dämpfen
auch alles hochgemute Reden über „Glauben" und „Unglauben". So ist
denn auch die biblische Geschichte im Alten und Neuen Testament ei-
gentlich keine Geschichte, sondern eine Reihe freier Taten und Setzungen
des Gottes Israels, denen nur in der „Furcht Gottes" begegnet werden
kann. „Vor ihm verhüllt man sein Angesicht und noch der Abglanz seines
Lichtes auf dem Angesicht des Mose wirkt unerträglich. Ihm zu dienen
weigern sich Mose, Jesaja, Jeremia, Jona, wahrhaftig nicht aus minder-
wertigen moralisch-psychologischen Gründen, sondern aus einer letzten
Gehemmtheit dem gegenüber, in dessen Hände zu fallen schrecklich
ist." 16 Es ist nicht „das Dämonische an Jahwe", wie religionsgeschichtli-
che Betrachtungsweise urteilte; es ist die Heiligkeit Gottes als des „ganz
Anderen", von dem hier die Rede ist, von der die Psalmen sprechen, wenn
es in Ps 39 heißt: „Herr, lehre mich doch, daß es ein Ende haben muß mit
mir, und daß mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß. Siehe, meine
Tage sind eine Handbreit vor dir, ja mein Leben ist wie nichts vor dir. Wie
gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben!" Da steht Hiob in
seinem Leiden; da hängt der Gekreuzigte. Barth stellt fest: „Das Neue
Testament erweist sich, wenn man gerade diesen Zusammenhang beach-
tet, wirklich einfach als die Quintessenz des Alten."17 Immer handelt es
sich um Vergehen und Abbruch dieser Weltzeit und um das Einstürmen
und Durchgreifen der neuen Welt Gottes.
Es ist deutlich geworden, daß das eschatologische Kriterium des kom-
menden Reiches Gottes und der anbrechenden neuen Welt das gesamte
Programm einer biblischen Religionsgeschichte kritisch destruiert hat. In
diese Krisis wird übrigens auch der geschichtsdogmatische, konservative
Entwurf einer biblischen „Heilsgeschichte" hineingerissen. Doch gleich-
wohl wird - unter neuen Voraussetzungen und in den angezeigten Zu-
sammenhängen - die Zusammengehörigkeit und Einheit von Altem und
Neuem Testament nachhaltig erwiesen.

II. Gottes Gebot


In den beiden Auflagen des Römerbriefkommen tars (1919; 1921) hat Karl
Barth sich eingehend mit den Fragen des alttestamentlichen „Gesetzes"
und „Gebotes" befaßt. Er wußte sich herausgefordert nicht nur durch den

14 K. Barth, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke, in: Das Wort Gottes und

die Theologie, München 1925, 7 0 - 9 8 .


15 A.a.O. 74.
16 A.a.O. 87.

" A.a.O. 88.

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markionitischen Dualismus von „Gesetz und Evangelium", sondern auch
und vor allem durch die existenzdialektische Neufassung des lutheri-
schen „usus elenchticus legis". Dabei ist grundsätzlich zu beachten und
zu bedenken, daß Barth Luthers am Begriff des „Gesetzes" orientierte
Kritik der „religio" aufnimmt. Unter dem „Gesetz" wird der „homo reli-
giosus" in seiner abgründigen Gottlosigkeit entlarvt. Ungleich problema-
tischer und andersartiger ist die existenzdialektische Auffassung des
„Gesetzes" orientiert. In seinen Tagebüchern schreibt Sören Kierke-
gaard: „Es kann nicht deutlich genug gemacht werden, kann nicht oft ge-
nug wiederholt werden, daß das Christentum wohl ein Verhältnis zum
Judentum hat, aber wohlgemerkt derart, daß das Judentum für das Chri-
stentum das ist, mit dessen Hilfe dies sich negativ kenntlich macht, daß er
der Gegenstoß des Ärgernisses ist. Aber so gehört das Judentum doch mit
dazu, gerade weil dieser Gegenstoß mit dazu gehört, denn sonst verliert
das Christentum seinen dialektischen Auftrieb." 18 Bekanntlich nannte
und nennt man Barths theologische Frühphase auch „dialektische Theo-
logie". Es ist dies eine Bezeichnung, die der Betroffene stets heftig abge-
wiesen hat. Vor allem in der Abweisimg des existenzdialektischen Ver-
ständnisses von „Gesetz und Evangelium" im Sinne Kierkegaards zeigt
es sich, wie weit Barth - im Unterschied zu Rudolf Bultmann - dem dia-
lektischen Zauber entrückt ist. Bultmann legte 1949 ein Resümee seiner
schon in den zwanziger Jahren verfochtenen Auffassimg des Alten Te-
staments im Aufsatz „Weissagung und Erfüllung" vor. Er fragt: „Inwie-
fern ist ... die alttestamentlich-jüdische Geschichte Weissagung, die in
der Geschichte der neutestamentlichen Gemeinde erfüllt ist?" Antwort:
„Sie ist es in ihrem Widerspruch, in ihrem Scheitern."19 Es folgt die cha-
rakteristische Existenzdialektik: „Das Scheitern erweist die Unmöglich-
keit, und deshalb ist das Scheitern die Verheißung. Für den Menschen
kann nichts Verheißung sein als das Scheitern seines Weges, als die Er-
kenntis der Unmöglichkeit, in seiner innerweltlichen Geschichte Gottes
direkt habhaft zu werden.. ."20 Das Fazit des Ganzen aber besteht darin,
daß Bultmann mit seiner existenzdialektischen Deutung der paulinischen
Interpretation des „Gesetzes" zu folgen meint: „Das Gesetz in seiner Be-
gegnisweise als Mosegesetz ist der Weg des Scheiterns in der Sünde... "21.
Völlig anders verläuft Karl Barths Befassung mit den Themen „Gesetz"
und „Gebot Gottes". Nun könnte man natürlich erklären, dieser völlig
andere Verlauf entspräche der Lehre vom „Gesetz" bei Calvin, in der be-
kanntlich nicht der „usus elenchticus", sondern der „usus legis in rena-
tis" als der entscheidende theologische „usus" herausgestellt wird. Eine
solche Erklärung trifft gewiß zu, aber sie entspräche letztlich nicht den
bedeutsamen Entdeckungen am Alten Testament, die Barth in seiner Re-
de von „Gottes Gebot" ans Licht gebracht hat. Dabei spannt sich ein Bo-
18
5. Kierkegaard, Papirer XI, J.
R. Bultmann, Weissagung und Erfüllung, in: Glauben und Verstehen II, Tübin-
gen 1952,183.
20
A.a.O. 185.
21
Ebd.

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gen von der Studie „Das Halten der Gebote" (1927) über „Das erste Ge-
bot als theologisches Axiom" (1933) und die Abhandlung „Evangelium
und Gesetz" (1935) hin zur Lehre von Gottes Gebot im 2. Teil des Bandes
II/2 der „Kirchlichen Dogmatik" (1942).
Beginnen wir mit einem Einblick in die Studie „Das Halten der Gebote"
(1927) und lassen wir dabei unbeachtet Barths Bemühungen, die Eigenart
und Eigenaussage biblisch-alttestamentlicher Gebote von ethischen Ma-
ximen wie dem kategorischen Imperativ, ja überhaupt von der ganzen
Welt der Moral, deutlich abzuheben! Biblische Gebote stehen im Zeichen
von Micha 6,8: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut i s t . . . " . Biblische Ge-
bote sind Gottes Willensäußerungen, darum konkret und unausweich-
lich. Begründen sie eine ethische Heteronomie, eine Fremdbestimmung
des Menschen? Nein, in der Entscheidung, in der wir angesichts des Ge-
botes Gottes stehen, sind wir geliebt. Dies erfahren wir aus dem Alten Te-
stament unter dem Ruf „Höre Israel!". Wir hören, daß Er unser Gott sein
will, und daß wir sein Volk sein sollen. „Der Ursprung des Gebotes ist
Liebe, Gnade, Erwählung." Am Anfang steht die Verheißung, das Evan-
gelium. Und erst durch das Evangelium bekommt das „Gesetz" und be-
kommen in ihm die Gebote Wahrheit und Kraft. Die Lehre von der Vor-
ordnung des Evangeliums vor dem „Gesetz" in dem Vortrag „Evangelium
und Gesetz" (1935) ist hier schon erkennbar. Aber der neutestamentliche
Begriff „Evangelium" soll die Konturen der alttestamentlichen Texte
nicht überlagern und unkenntlich machen. Darum wird in der Abhand-
lung „Das erste Gebot als theologisches Axiom" (1933) der Text Ex 20
eindringlich befragt. „Und Gott redete alle diese Worte: Ich bin der Herr
dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthaus herausge-
führt habe - du sollst keine anderen Götter neben mir haben!" Nicht von
einer zeitlosen Beziehung dieses Ich und dieses Du ist hier die Rede, son-
dern von einem in der Zeit sich abspielenden Ereignis. Dabei ist es „eine
wesentliche Eigentümlichkeit des ersten Gebotes, daß der, der dieses Ge-
bot gibt und der sich der Herr nennt, zu dem, dem er es gibt, in das Ver-
hältnis des Befreiers zum Befreiten, des Retters zum Erretteten steht" 22 .
Diese Sicht gibt dem Verständnis der Gebote einen völlig neuen Sinn im
Zeichen von Befreiung und Freiheit. Calvin hatte zum ersten Gebot er-
klärt, Gott führe uns mit seinen Geboten in das „regnum libertatis", in
das „Reich der Freiheit". Als der Erlöser Israels ist Gott der Erlöser jedes
einzelnen Israeliten. Aber inwiefern ist Er auch der Erlöser und Gebieter
jedes Menschen? Im Unterschied zu Luthers Aussage „Mich hat Er nicht
aus Ägypten herausgeführt" und im Kontrast zu jeder existenzdialekti-
schen Interpretation steht es für Barth außer jeder Frage: Dieses Ereignis
der Befreiung gilt der Kirche, es gilt uns, es gilt jedem Menschen. Ist dies
nicht eine christlich-universal Annektierung des Alten Testaments?
Barth erklärt: Der Gott des ersten Gebotes ist der Gott des Menschen, den
Er in diesem Gebot anredet. Die Kraft und Wahrheit der Anrede, des Wor-

22K. Barth, Das erste Gebot als theologisches Axiom, in: Theologische Fragen und
Antworten, Zollikon 1957,132.

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tes, kennt keine geschichtliche, keine raum-zeitliche Differenzierung. Ob
damit nicht das ganze Problem des Judentums souverän überspielt und
alle Fragen einer kritischen Rezeption und Aktualisierung alttestament-
licher Texte an den Rand gerückt sind, wird im ΠΙ. Kapitel zu untersu-
chen sein. Im Jahre 1933 jedenfalls kam es Barth darauf an, das erste Ge-
bot als theologisches Axiom in eine kirchengeschichtliche Situation hin-
ein zu verdeutlichen, in der fremde Götter und Mächte auf die nationalen
Altäre gehoben wurden. Die Auseinandersetzung mit den „Deutschen
Christen" und ihrer Rede vom „Volksnomos" beginnt. In dieser Ausein-
andersetzung geht es um die Geltung des Alten Testaments und seiner Ge-
bote in der Kirche.
Es ist bezeichnend und entspricht dem Gewicht der Sache, wenn Barths
weit und tief sich auswirkender Vorstoß im Bezug auf Gottes Gebot ge-
schah. Wie herausfordernd und folgenreich die Befassimg mit diesem
Thema zur Zeit des Nationalsozialismus war, kann man aus einer Predigt
Barths über das 2. Gebot ersehen; sie wurde am 26. März 1935, vor der
Ausreise aus Deutschland, zur Eröffnung der Π. Freien Reformierten
Synode in Siegen gehalten. Da wurde der Kampf gegen die Gottesbilder
deutsch-germanischer, aber auch theologischer Herkunft konkret. Kon-
kret mit dem Ziel der Befreiung Gefangener eines Götzendienstes, aber
auch eines Prinzips oder Systems, damit sie ganz frei werden für das
Wort Gottes selber.23 Gottes Gebot als Befreiung, das war der schärfste
Widerspruch gegen das existenzdialektische, aber auch gegen das morali-
sche Verständnis des alttestamentlichen „Gesetzes".

ΠΙ. Das Christuszeugnis des Alten Testaments


Man muß es sich heute klar vor Augen führen: In den Jahren 1933-1935,
in denen Barth in Bonn lehrte, ging es um die Frage der Geltung des Alten
Testaments in der Kirche, also um ein innerkirchliches Problem von
höchster Brisanz. Theologen wie ζ. B. der Neutestamentier Gerhard Kit-
tel vertraten die Auffassung, daß ein unüberbrückbarer Gegensatz zwi-
schen dem hebräisch-jüdischen und dem neutestamentlichen Teil der Bi-
bel bestehe. Die „Deutschen Christen" betrieben die völlige Ausstoßung
des „vom jüdischen Geist zersetzten" Alten Testaments. Diesen Bestre-
bungen traten vor allem Karl Barth und Wilhelm Vischer24 mit der Rede
vom „Christuszeugnis des Alten Testaments" entgegen. Dabei ging es
nicht um eine „christliche Okkupation" der hebräischen Bibel, sondern
um das Bekenntnis zum Zusammenhang von Altem Testament und Chri-
stusbotschaft. Barth und Vischer beriefen sich auf die christologische

23 Am Schluß der Predigt über Ex 2 0 , 4 - 6 heißt es: „Aber laßt mich euch das Eine
sagen: ihr werdet doch nur dann recht kämpfen und schließlich gekrönt werden,
wenn ihr gerade auch alle Gottesbilder, vor allem auch die der Theologie - auch
die der Theologie, die ihr bei mir gelernt habt - von euch tut, um ganz frei zu wer-
den für das Wort Gottes selber" (K. Barth, Fürchte dich nicht!, München 1949,
92f).
24 IV. Vischer, Das Christuszeugnis des Alten Testaments I: Das Gesetz, München

1936.

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Auslegung des Alten Testaments im Neuen Testament und in der Kirche,
vor allem bei Augustinus, Luther und Calvin. Aber diese Berufimg auf ei-
ne kirchliche Auslegungstradition konnte nicht ausreichen. Es mußte ei-
ne neue, die gegenwärtigen Auseinandersetzungen bedenkende dogmati-
sche Klärimg erstrebt werden. Karl Barth unternahm dies in KD 1/2, vor
allem im § 14 unter der Überschrift „Die Zeit der Offenbarung". Im Un-
terabschnitt „Die Zeit der Erwartung" kommt das Alte Testament, ge-
nauer „Das Christuszeugnis des Alten Testaments" zur Sprache. Wie in
den Anfängen ist zunächst wieder eine kritische Klärung des Geschichts-
begriffs erforderlich, insbesondere des Verhältnisses von „Offenbarung"
und „Geschichte". So steht die gesamte, für das Verständnis des Alten
Testaments so wichtige Problematik der sogenannten „Offenbarungsge-
schichte" zur Diskussion. Barth betont die Prädominanz der Offenba-
rung, wenn er erklärt: „Offenbarung ist nicht ein Prädikat der Geschich-
te, sondern Geschichte ein Prädikat der Offenbarung" („Die Offenbarung
wird Geschichte") 25 . So ist die „Geschichte" das, was sie ist, allein kraft
des Subjekts, das in ihr handelt. Aber es gilt - und jetzt bekommt „Ge-
schichte" eine andere Akzentuierung und Deutung als in der „Theologie
der Krisis" - Gott in der Zeit, Gott in der Geschichte, das ist das Skanda-
lon, das Anstößige der Offenbarung; das ist die Unscheinbarkeit und Un-
erkenntlichkeit der „Knechtsgestalt" des Alten Testaments. Und doch er-
eignet sich in dem allen das Wunder der Selbstvorstellung und Selbstmit-
teilung Gottes. An dieser Stelle befindet sich die historisch-kritische For-
schung in einer metakritischen Krisis: „Die sog. historisch-kritische Be-
trachtung der Heiligen Schrift hört in dem Augenblick auf, theologisch
möglich und beachtlich zu sein, wo sie ihre Aufgabe darin erblickt, aus
den Zeugnissen der Heiligen Schrift, die der Offenbarung durchlaufend
den Charakter des Wunders zuschreiben, eine solche Wirklichkeit her-
auszuarbeiten, die diesen Charakter gerade entbehren würde, die als
Wirklichkeit anders denn als aus Gottes freier, besonderer und direkter
Tat zu verstehen wäre" 26 . Alle Erklärungen stehen in christologischer
Perspektive. Denn für die Kirche ist das Wunder der freien und besonde-
ren Tat Gottes die Offenbarung in Christus; alle anderen in der Bibel be-
richteten Wunder sind Zeichen und Hinweise, die in dem einen Wunder
kulminieren. So steht Jesus Christus - und nun achte man auf die auf-
schlußreiche Metapher - in der „Mitte" der Schrift. Ihm sind Altes und
Neues Testament „wie zwei Halbchöre" zugeordnet; der eine dieser
Halbchöre in der „Zeit der Erwartung", der andere in der „Zeit der Erin-
nerung". Wir haben es also im Alten Testament mit der „Zeit der Erwar-
tung" zu tun. Die in Christus erfüllte Zeit hat eine ganz bestimmte ihr zu-
geordnete Vorzeit. Und diese Vorzeit - so lehrt Barth - gehört mit hinzu
zur Zeit der Erfüllung, denn de facto ereignet sich Offenbarung jenseits
des eigenen Bestandes und Gehaltes des Alten Testaments. Doch Verhei-
ßung, Hoffnung und Erwartung beziehen den gesamten Bund mit Israel -

25 KD 1/2, 64.
26 A.a.O. 71.

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als Christuszeugnis - auf die neutestamentliche Gemeinde. Bedenkt man,
daß Gottes Zukunft immer schon sein Zu-uns-Kommen und also inten-
sivste Gegenwart ist, dann wird zu erklären sein: Schon die Väter, die Is-
raeliten, hatten Christus, den ganzen Christus, „nicht eine Christusidee,
sondern das fleischgewordene Wort, den geschichtlichen Christus"27.
Hier aber sind nun unbedingt zwei kritische Fragen zu stellen: 1) Wird
mit dem Pathos: Ein Christus, eine Bibel nicht die Realität der Inkarna-
tion aufgelöst und mit der Einheitsforderung des Christuszeugnisses das
ganze Offenbarungsgeschehen nun eben doch in eine Christusidee kon-
trahiert und abstrahiert? Gewiß müßte man Barths Verständnis einer die
Kategorie von Zeit und Raum sprengenden Eschatologie bedenken, die
stark an Kierkegaards „Gleichzeitigkeit aller Menschen mit Christus" er-
innert. Doch bleibt die Frage, inwieweit die „Christusidee" diese Escha-
tologie bestimmt. 2) Wird mit der christologischen Annektierung des Al-
ten Testaments nicht in kirchlicher Selbstsicherheit am Judentum vor-
übergegangen? Was soll denn heute, nach Auschwitz, dazu gesagt wer-
den, daß Barth schreiben konnte: Das „Alte Testament als solches und für
sich genommen, ist gar keine Wirklichkeit, sondern eine jüdische Ab-
straktion"? Oder: „Die Synagoge ist sozusagen leibhaftig das in Erstar-
rung stehengebliebene Alte Testament an sich und in abstracto"? 28 Auch
wenn das innerkirchliche Ereignis des Kampfes um das Alte Testament
gewürdigt wird, bleibt doch die Frage bestehen: Wie konnte es möglich
sein, daß ausgerechnet angesichts des hebräischen Alten Testaments das
Judentum vergessen und verleugnet wird? Daß mit dem Christuszeugnis
des Alten Testaments der Weg der Synagoge in die Abstraktion und Un-
wirklichkeit verwiesen wird? Ist diese Weise, innerkirchliche Konflikte
auszutragen, nicht ebenso verwerflich wie die exklusiv innerkirchlichen
Prioritäten, mit denen die Bekennende Kirche befaßt war und den Weg
der Juden in die Vernichtung nicht begleitete? Wir müssen heute diese
Fragen stellen; wir können ihnen nicht mehr ausweichen.
Doch wenn dies alles gesagt und kritisch apostrophiert ist, dann wird
doch auch zu erklären sein, daß Barth keinen Antijudaismus im Sinn hat-
te und eben auch keinen „unüberbrückbaren Gegensatz" konstatierte. Im
Gegenteil: Altes und Neues Testament gehören zusammen und sind unab-
lösbar aufeinander bezogen. Diese innerhalb der Kirche relevante und in
Christus verbürgte Einheit führt in den dreißiger Jahren ein überaus
wichtiges Wort für das Judentum mit sich. Es wird keine Stimme aus der
Zeit des Nationalsozialismus nachgewiesen werden können, in der so
stark und so vorbehaltlos das Jüdische im Alten Testament hervorgeho-
ben und fundamental bedacht worden wäre. Karl Barth schreibt: „Es ist
nun einmal so, daß der Inhalt dieser Schriften die Geschichte der göttli-
chen Erwählung, Berufung und Regierung Israels, die Geschichte und
Botschaft des Messias Israels . . . ist. Und es sind die Israeli ten ..., die uns
m diesen Schriften das alles bezeugen . . . hier wird uns, hier wird den

27 A.a.O. 102.
28 A.a.O. 98; 102.
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Menschen aller Völker durch Juden zugemutet, nicht nur sich auf jüdi-
sche Dinge einzulassen, sondern in einem gewissen, aber letztlich gerade-
zu entscheidenden Sinn selbst ein Jude zu werden." 29 Sicher wünschte
man sich eine genauere Erklärung dieser provozierenden Sätze, die letzt-
lich von primär kirchlichen Interessen einer „Kirchlichen Dogmatik"
überlagert sind. Doch das Skandalon ist von Barth deutlich aufgerichtet:
„Das jüdische Blut und die jüdische Rasse, um die es wenigstens dem
deutschen Antisemitismus heute geht, sind bestenfalls Zeichen des Rea-
len, das hier der Menschheit unerkannt und unverstanden genug in den
Weg tritt. Das Reale selbst ist aber der in der Existenz des jüdischen Vol-
kes in der Mitte aller anderen Völker von Gott geführte einzige natürliche
Gottesbeweis. Hier zeugt tatsächlich ein Stück Weltgeschichte auf das
direkteste für das biblische Offenbarungszeugnis." 30 Barths machtvoller
Widerspruch gegen jede Art von „natürlicher Offenbarung" geht hier ein
in eine verhemente Behauptung des „einzigen natürlichen Gottesbewei-
ses", der in Israel sich ereignet.

IV. Erwählung und Bund


In allen Bänden der „Kirchlichen Dogmatik" findet man bekanntlich in
den kleingedruckten Stücken zahlreiche biblische Exegesen; darunter
viele Beiträge aus dem Alten Testament. Man kann beobachten, daß diese
alttestamentlichen Interpretationsbeiträge an Umfang immer mehr zu-
nehmen; man denke nur an die Exegese des Kapitels lKön 13 in KD II/2
und an die Hiob-Auslegungen in KD IV/3. Auf die Auslegung von Gen 1
und 2 in KD II/l wird sogleich einzugehen sein. Alle diese Exegesen zei-
gen das herausragende Interesse Barths an den alttestamentlichen Texten
an; sie müßten eingehend analysiert, untersucht und auf die hermeneuti-
schen Prämissen und Prozesse hin erklärt werden. Diese Arbeit kann hier
nicht geleistet werden. 31 Was aber unbedingt beachtet und bedacht wer-
den muß, das ist die aus den alttestamentlichen Exegesen in die systema-
tische Darstellung hinaufgehobene „biblische Denkform", die sich, be-
ginnend mit KD II/l, mehr und mehr als eine alttestamentliche erweist. 32
Die eminente kategoriale Bedeutung des Alten Testaments für die Dog-
matik zeigt sich nicht nur darin, daß Barth - wie er selbst erklärt - in
„Bewegungsbegriffen" denkt und vorträgt (die Form der Erzählung, des
Berichtes gewinnt eine zunehmende Bedeutung), - sie erweist sich vor al-
lem in der Einführung alttestamentlicher Schlüsselbegriffe in das dog-
matische Werk. Hier sind insbesondere die Begriffe „Erwählung" und
„Bund" zu nennen.
Die Erwählungslehre in KD II/2 setzt zwar christologisch, christozen-

29
A.a.O. 566.
30
A.a.O. 566f.
31
Vgl. Bächli, § 19ff.
32
Zur „biblischen Denkform": W. Schlichting, Biblische D e n k f o r m in der Dog-
matik. D i e Vorbildlichkeit biblischen Denkens für die Methode der Kirchlichen
Dogmatik Karl Barths, Zürich 1971.

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trisch an, doch dann w i r d mehr und mehr den alttestamentlichen E r w ä h -
lungsaussagen Recht und Raum gegeben. Die Erwählung Israels kommt
unter dem Thema „Israel und die Kirche" zur Sprache. In diesem Z u -
sammenhang ist daran zu erinnern, daß der Begriff der „Erwählung" in
seiner fundamentalen Bedeutung schon sehr früh von Barth entdeckt
worden ist. Das Alte Testament berichtet von dem W e g des erwählten
Volkes und fordert eine ganz neue Befassimg mit diesem entscheidenden
Thema. Die in der Theologiegeschichte oft in die Schablone von „Partiku-
larismus" und „Universalismus" abgeschobene Problematik sprengt das
gesamte dogmatische G e f ü g e und w i r d von Barth an den A n f a n g gesetzt.
In dem allen wird das Alte Testament für die Lehre der Kirche neu ent-
deckt und eine Ausgangsbasis f ü r die gesamte Dogmatik geschaffen, die
nicht - wie herkömmlich - auf einen Allgemeinbegriff von „Religion" re-
kurriert, sondern das besondere Erwählungsgeschehen betrifft. In der
Befassung mit der Theologie Karl Barths kann es deutlich werden, daß,
w o immer in der Dogmatik der Frage nach der „Religion" eine prinzipiel-
le Vorrangstellung eingeräumt wird, der Versuch unternommen wird,
dem Ereignis der Erwählung auszuweichen und zu entkommen, und zwar
zugunsten eines anthropologisch-universalen Verstehenshorizontes, u n -
ter dem dann in der Welt der Religionen nach der „wahren Religion" ge-
fragt werden muß. Barth hat diesen W e g nie betreten. Dies erweist nun
die überragende Bedeutung, die dem Ereignis der Erwählung zugemessen
wird.
Erwähnt wurde der christologische Eintritt in die Erwählungsthematik.
W a s dann freilich im ekklesiologischen Teil der Erwählungslehre ausge-
führt wird, stößt wieder hart an die Grenze einer negativen Bestimmung
des Judentums, die nachhaltiger Überprüfung und Kritik bedarf. In einer
eigenartigen korrespondierenden Polarität werden Israel und die Kirche,
beide durch Erwählung begründet und aufeinander bezogen, dogmatisch
kontrastiert: „Israel ist das seiner Erwählung sich widersetzende Volk
der Juden, die Kirche ist die auf Grund ihrer Erwählung berufene V e r -
sammlung aus Juden und Heiden" 3 3 . Diese Erklärung wird dualistisch
typisiert, wenn es heißt: Die eine Gemeinde Gottes hat in ihrer „Gestalt
als Israel" der Darstellung des göttlichen Gerichtes, in der „Gestalt als
Kirche" der Darstellung des göttlichen Erbarmens zu dienen.34 Hier ist
ernstlich zu fragen: Mit welchem Recht werden „Gericht" und „ E r b a r -
men" in dieser Weise gestalttypisch proportioniert und gegenüberge-
stellt? Gewiß, die Polarisierung, die vorgenommen worden ist, enthält ein
merkwürdiges Geflecht von dialektischen und teleologischen Bezie-
hungssetzungen, die beachtet werden wollen, aber es fragt sich eben
doch, ob „Israel und die Juden" sich derart dogmatisch und gestaltty-
pisch festlegen und in die Schablone von „Darstellungstypen" einordnen
lassen. Das Alte Testament mit dem in ihm bezeugten Erwählungsge-
schehen iäßt sich nicht auf eine systematische „Israel-Formel" bringen.

33 KD II/2, 217.
34 KD II/2, These § 34.

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Hier wird die Grenze der Dogmatik hinsichtlich ihrer „biblischen Denk-
form" überschritten.
Als tragfähig und klärend erweist sich vor allem der Begriff des Bundes.
Es ist hier nicht der Ort, auf die neuere Kritik am Verständnis des „Bun-
des" (E. Kutsch) einzugehen. Auch kann die Förderaitheologie des 17.
und 18. Jh. nicht in die Überlegungen einbezogen werden. Es ist davon
auszugehen, daß Barth in der Lehre von der Schöpfung (KD ΙΠ/1) den
Begriff „Bund" einführt, an ihm permanent festhält und endlich die Ver-
söhnungslehre im Kontext der Bundestheologie ausführt. In der Schöp-
fungslehre aber kann die Exegese zu Gen 1 und 2 gleichsam als Substruk-
tion des gesamten dogmatischen Gefüges gelten. Mit bemerkenswerter
Hingabe wird der Genesis-Kommentar von Hermann Gunkel, aber auch
der jüdische Kommentar von Benno Jacob durchforscht und ausgewertet.
Barth stellt das alttestamentliche Thema „Schöpfung" in ein völlig neues
Licht, wenn er erklärt: In Gen 1, dem Bericht der Priesterschrift, ist die
Schöpfung als äußerer Grund des Bundes, in Gen 2, beim Jahwisten, ist
der Bund als innerer Grund der Schöpfung dargestellt. 35 In jedem Fall ist
die Korrelation von Bund und Schöpfung der bestimmende Aspekt. Es
entspricht übrigens dieser systematische Entwurf frappant dem traditi-
onsgeschichtlichen und exegetischen Entwurf, den Gerhard von Rad
entwickelt hat. 36 - Was aber beinhaltet der Begriff „Bund"? Barth er-
klärt: „Gott liebt das Wesen, das ohne ihn nicht wäre, das nur durch ihn
ist. Gott liebt sein eigenes Geschöpf. Das ist das schlechthin Einzigartige
des Bundes, in welchem es zu Betätigung und Erfüllung seines Liebens
kommt" 37 . Auch die Vorsehungslehre (de Providentia Dei) entwickelt
Barth unter dem Vorzeichen des Bundes. Vom Alten Testament her auf-
gerissen bedeutet dies: Der Verkehr Gottes mit dem Menschen ist die Ge-
schichte seines Gnadenbundes. Hier taucht nun der Begriff der „Bundes-
geschichte" auf, denn es handelt sich im Alten Testament in Konsequenz
des dort bezeugten Geschehens um eine von Gott wirklich vollzogene
Bewegung. „Der Gott, der diese Bewegung nicht wirklich vollzöge, wäre
nicht der lebendige G o t t . . . "
Nachdem in der „Theologie der Krisis" der herkömmliche Geschichtsbe-
griff, vor allem in der Gestalt der Religionsgeschichte, zerschlagen wor-
den war, ist nun - unter völlig neuen Voraussetzungen - von der Bundes-
geschichte Gottes die Rede, allerdings nicht im exklusiven Sinn in dem
von einer „besonderen Heilsveranstaltung Gottes" in der „heilsgeschicht-
lichen Schule" die Rede war, sondern in einer dem Scopus des Alten Te-
staments entsprechenden inklusiven Bedeutung: Die Bundesgeschichte
ist die Geschichte, in der alle andere Geschichte beschlossen ist (KD III/l,
64). Diese universale Sicht entspricht dem Verhältnis von Bund und
Schöpfung. Doch die eschatologische Komponente tritt aus diesen inne-

35
KD ΙΠ/1, §41.
36
G. v. Rad, Das erste Buch Mose: Das Alte Testament Deutsch 2, Göttingen 1949,
34ff.
37
KDIII/1,105.

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ren Zusammenhängen noch nicht heraus. In der Bundesgeschichte geht es
in der Folge der Ereignisse um den „sich ereignenden Anbrach der End-
zeit, die unsere Zeit ist". Dabei ist der Bund der Gnade das Thema der
Geschichte, das in der Versöhnung sich erfüllt. Denn die Versöhnung in
Christus ist die Erfüllung des Bundes zwischen Gott und Mensch (KD
IV/1,22).

V. Die Prophetie der alttestamentlichen Geschichte


Die bei weitem stärksten Impulse zu einem neuen Verständnis des Alten
Testaments gehen aus von den Ausführungen in KD IV/3,57ff. Dort ist
(im Zusammenhang mit der Prophetie Jesu Christi) von der Prophetie der
alttestamentlichen Geschichte die Rede. - Ausgegangen wird von der
Feststellung, daß die Geschichte Israels die Vorgeschichte Jesu Christi
und ihr Wort das Vorwort des seinigen ist; und zwar eine solche Vorge-
schichte, in der schon er selbst handelt, und ein solches Vorwort, in dem
er selbst schon redet. Das Christuszeugnis des Alten Testaments wird neu
konzipiert, doch in der Weise, daß nun die Eigenaussagen der alttesta-
mentlichen Texte stärker hervortreten. Immer wird ausgegangen von
dem Faktum: Die Geschichte Israels geschieht, und indem sie geschieht,
redet sie auch, und zwar nicht nur zusätzlich und nachträglich, sondern
darin und damit, daß sie in ihrer Ganzheit und Eigenart, in ihrem Zu-
sammenhang geschieht. Es wird also, nachdem der Begriff der „Bundes-
geschichte" eingeführt worden war, zum Verständnis des Alten Testa-
ments ein solcher Geschichtsbegriff eingeführt, in dem nicht nur die Ini-
tiative des Wortes Gottes bestimmend ist („Denn er sprach, und es ge-
schah; er gebot, und es stand da"; Ps 33,9), sondern in dem auch - kraft
des göttlichen Wortes - Initiative und Wort-Erschließung - die Ereignis-
reihe selbst zu reden beginnt. Es ist diese Geschichte, wie Barth erklärt,
eine solche Geschichte, die „indem sie geschieht, redende, rufende, pro-
phetische Geschichte: Geschichte des Wortes Gottes im Fleisch ist"38.
Auf jeden Fall also ist das Alte Testament ein Geschichtsbuch; mit allen
seinen Erzählungen und Berichten ein Buch der Zeugnisse, der Bezeu-
gungen dessen, was zwischen Jahwe und Israel geschah, noch im Gesche-
hen begriffen ist und weiterhin geschehen wird. Ein Buch von höchster
Aktualität kraft der Prophetie der Geschichte, von der es handelt. Noch
einmal heißt es - wie in der „Theologie der Krisis" - „kein Buch von Ge-
schichte der früheren, mittleren und späteren Frömmigkeit und Religion
dieses Volkes... - und erst recht kein Buch von der Geschichte der in die-
sem Volk früher oder später erkannten Wahrheiten, der in seinem Schoß
früher oder später erkannten Lehren ... Das alles würde man dem Alten
Testament immer nur gegen seine eigene Intention und darum nur mit
zweifelhafter Sicherheit und mit geringerem Gewicht entnehmen kön-
nen. Was die alttestamentlichen Zeugen beschäftigt und womit sie ihre
Hörer und Leser beschäftigen wollen, sind die Tatsachen, in denen das

38 KDIV/3, 57.
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Ganze, der Zusammenhang des Zusammenlebens im Bunde Jahves mit
Israel, Israles mit Jahve, seine Struktur und seine Konturen hat." 39 Will
Barth eine „Theologie der sprechenden Tatsachen" im Sinne der Konzep-
tionen Wolihart Pannenbergs entwickeln oder gar eine fundamentali-
stisch interessierte Auffassimg von den „Heilstatsachen"? Keineswegs.
Es geht ihm um die Prophetie der alttestamentlichen Geschichte. Das
Wort Gottes ist die schöpferische, begleitende und ausstrahlende Kraft
des Geschehens. In keinem Fall sprechen die „Tatsachen" aus sich selbst.
In dem allen bleibt zu bedenken: Die Herrlichkeit der Prophetie der Ge-
schichte Israels war verhüllte Herrlichkeit; nicht ohne weiteres zugängli-
che, aufdeckbare und einsichtige Geschichte. Barth meint dies sowohl in
einem prinzipiellen wie auch in einem teleologischen Sinn. „Teleolo-
gisch", weil erst im Telos Christus die Decke fortgenommen wird, die auf
dem Alten Testament liegt. Gleichwohl kann das Alte Testament nicht als
„Dokument der Vergangenheit" veralten: „Wie sollte (die Geschichte Is-
raels) veralten können, da ja der eine in der ewigen Erwählung Jesu Chri-
sti gestiftete Bund schon ihr Grund, Inhalt und Ziel, in jener ersten Ge-
stalt als Volksgeschichte schon in ihr verwirklicht, weil Jesus Christus
schon in ihr als seinem Typus, seiner Vorgeschichte, seinem Vorwort
handelte und redete"40. Also: Christuszeugnis des Alten Testaments oder
besser: Integration der Prophetie der Geschichte Israels in die eschatolo-
gische Prophetie Jesu Christi. Wieder meldet sich an dieser Stelle die
nicht überhörbare Frage der Juden zu Wort.
Barth entfaltet die Prophetie der Geschichte Israels in dreifacher Bedeu-
tung. Da ist zuerst und vor allem von der Relevanz dieser Geschichte für
die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus die Rede. Vorge-
schichte und Vorwort des einen Wortes, das „Fleisch wurde" (Joh 1,14),
ist das Alte Testament. - Dann aber, und dies ist die Eröffnung der zwei-
ten Bedeutung der Prophetie der alttestamentlichen Geschichte, wäre die
ekklesiologische Komponente zu bedenken, - nicht ohne ständige Beach-
tung der zuerst genannten christologischen Relation. Was aber die Ekkle-
siologie betrifft, so veranschaulicht man sich die Intention der Erklärun-
gen Barths am besten an 2Petr 1,14, wo in dem sprechenden „Wir" die
christliche Gemeinde das Wort ergreift: „Wir haben desto fester das pro-
phetische Wort, und ihr tut gut daran, daß ihr darauf achtet als auf ein
Licht, das da scheint an einem dunklen Ort - bis der Tag anbricht und der
Morgenstern aufgeht in euren Herzen". Die christliche Gemeinde befin-
det sich in der Situation des „noch nicht". Sie ist noch nicht am eschato-
logischen Ziel angelangt. Noch befindet sie sich als wanderndes Gottes-
volk auf dem Weg, der von Gefahren und Versuchungen, mit einem Wort:
von „Dunkelheit" umgeben ist. Auf diesem Weg leuchtet die Prophetie
der Geschichte Israels, des wandernden Gottesvolkes des Alten Testa-
ments wie ein Licht, das „desto fester", also mit wachsender, größter
Aufmerksamkeit und Hingabe zu suchen und zu erkennen ist. Das pro-

39 A.a.O. 58.
40 A.a.O. 76.

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phetische Wort des Alten Testaments als Licht auf dem Weg der Kirche -
darum handelt es sich. Und in dieser Hinsicht hat Karl Barth nicht nur im
besonderen Zusammenhang von KD IV/3, sondern auch in zahlreichen
Auslegungen und Predigten einem neuen Verständnis des Alten Testa-
ments die Bahn gebrochen.
Aber nun ist noch eine dritte Relation zu beachten: Die Bedeutimg der
Prophetie des Alten Testaments für das Verständnis der Weltgeschichte.
Damit stehen wir vor einem riesigen Problem, das noch keine zureichen-
de Beachtung in Theologie und Kirche gefunden hat. Den eigentlichen
Anstoß zu neuer Befassimg bilden die folgenden Sätze: Die Geschichte Is-
raels „ist unentbehrliches Zwischenglied zwischen Gott und der irdi-
schen Geschichte überhaupt. Sie hat nämlich in ihrer ganzen Partikulari-
tät mikrokosmischen Charakter, will sagen: was der eine Gott mit der
Menschenwelt im Großen will und plant, getan hat, tut und noch tun
wird, das läßt er im Kleinen, aber das Ganze rekapitulierend und präfor-
mierend in seiner Geschichte mit diesem einzigartigen Menschenvolk Is-
rael Ereignis werden." „In dem allen ist die Geschichte Israels Paradigma
und Modell für die Geschichte aller Menschenvölker und sofern sie Pro-
phetie und als solche erkannt ist, der Schlüssel zum Verständnis der
Weltgeschichte. Sie ist also mittlerische Geschichte nun auch in dem Sinn
von: exemplarische und insofern stellvertretende Geschichte. Sie spielt
sich inmitten aller anderen Geschichte ab - so aber, daß sie deren Ur-
sprung, Inhalt, Ziel und Konsequenz vorwegnimmt."41
Dies ist die stärkste Provokation, die vom Alten Testament ausgeht. Sie
könnte zu einem neuen Verständnis des Judentums Anlaß und Anstoß ge-
ben. Denn was Barth zur „exemplarischen" und „stellvertretenden" Ge-
schichte schreibt, reißt jedes theologisch und kirchlich introvertierte
Verhältnis zur Bibel aus den Angeln.
41
A.a.O. 69.

Der Pfarrer - ein Bürger Manfred Josuttis

Hans-Georg Geyer hat zur Zeit der Studentenbewegung in theologischer


Nüchternheit drei „historische Erscheinungsweisen der abstrakten Dif-
ferenz von christlicher Glaubenswahrheit und bürgerlicher Gesell-
schaftswirklichkeit" 1 ausgemacht. „Auf der einen Seite herrscht die ver-
breitete Indifferenz - als Faktum wie als Forderung - des persönlichen
Glaubens gegenüber dem öffentlichen Betrieb und Leben. Das Prinzip
dieser Abstraktheit des Unterschieds zwischen der subjektiven Wahr-
1
H.-G. Geyer, Das Recht der Subjektivität im Prozeß der Vergesellschaftung, in:
H.-G. Geyer/Ή.-N. Janowski/A. Schmidt, Theologie und Soziologie, Stuttgart
1970,47. "
Evang. Theol. 49. Jg., Heft 5, S. 443-459
ISSN 0014-3502
© Chr. Kaiser, 1989 443

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