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SpezIal: Kopftuch
Überzeugung zu bekunden, verstößt, so HRW. Da- allgemeines Kopftuchverbot sei kein angemessenes
mit hält sich Deutschland nach HRW nicht an inter- Mittel, so HRW, da ein solches auf „der Annahme
nationale Menschenrechtstandards. der abstrakten Gefahr ne-
gativer Auswirkungen“ Bisher führen die Kopftuchverbote
beruhe. Denn konkrete
„Solange wir in den Schulen nur geputzt Beweise, dass das Tragen nach HRW zu einereindeu-
haben, hatte niemand ein Problem mit dem eines Kopftuchs durch
Kopftuch.“ eine Lehrerin tatsächlich tigen Diskriminierung
einen zwanghaften Ein-
aufgrund von Geschlecht und
B esonders problematisch erscheint die fehlende
ausreichende Begründung für solch ein weit-
reichendes Verbot, dass „das individuelle Recht auf
fluss auf die Kinder hat,
der sie etwa dazu bewege,
den Islam anzunehmen
Religion, sie sind, so HRW „un-
Autonomie, Selbstbestimmung, Entscheidungsfrei- oder bei muslimischen gerecht, rechtswidrig und in einer
heit und Privatsphäre“ in ähnlicher Weise verletzt, Mädchen dazu führe, dass demokratischen Gesellschaft nicht
wie ein Kopftuchzwang. HRW lässt in diesem Zu- sie anfingen, ein Kopftuch
sammenhang muslimische Frauen, die von dem Ver- zu tragen, existieren nicht. hinnehmbar“
bot betroffen sind, zu Wort kommen und zeigt, wie Den betroffenen Frau-
einschneidend die Gesetze das Leben dieser Frauen en wird damit ohne Rücksicht auf ihr tatsächliches
beeinflussen. „Solange wir in den Schulen nur ge- Verhalten fundamentalistische Indoktrinierung vor-
putzt haben, hatte niemand ein Problem mit dem geworfen. „Menschen sollten nach ihrem Verhalten
Kopftuch“, erklärt eine befragte Lehrerin pointiert beurteilt werden, nicht auf der Grundlage von An-
die Lage. Empört zeigen sich die Frauen auch ob sichten, die man ihnen unterstellt, weil sie ein religiö-
der Unterstellung, die dem Gesetz zugrunde liegen. ses Symbol tragen“, so Chahrokh.
Denn argumentiert wird, dass kopftuchtragende
Frauen ihre Schüler indoktrinieren könnten. Eine
befragte Frau erklärte dazu: „Das Kopftuch wird
überbewertet. Man braucht kein Kopftuch, um zu
manipulieren und es gibt auch andere Mechanismen
um [gegen Indoktrinierung] vorzugehen.”
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An der Realität vorbei HRW plädiert für Aufhebung der Gesetze
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Quelle: Pixelio
SpezIal: Kopftuch
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W ir erleben dieses Jahr einen traurigen
Höhepunkt der Kopftuchdebatte. Einen
Höhepunkt, der traurig ist, weil er gar
nicht als Höhepunkt erkannt wird, denn sonst wäre
er eher ein Wendepunkt und eine Genugtuung für
Eigentlich ein Skandal
1
Noelle, E./ Petersen, T. (2006): „Eine fremde, bedrohliche Welt. Die Einstellungen der Deutschen zum Islam“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Mai
2006.
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Spezial: Kopftuch
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© pixelio.de: tommyS
Gebetsmühlenartig wurde in den Medien gepredigt, das Kopftuch sei ein Symbol der Unterdrückung - Studien ergeben etwas anderes
einher gehen vielmehr auch weitreichende Konsequen- Symbol für den Islamismus und die Unterdrückung der
zen für die Integration der muslimischen Einwanderer. Frau darstellt. Die Begründung Schavans wurde, seit-
Denn die hitzigen Debatten in den Zeitungen und die dem sie 1998 dafür plädierte, der muslimischen Lehre-
zunehmend einseitige Darstellung der Muslimin in den rin Fereshta Ludin das Unterrichten mit Kopftuch zu
Medien prägte auch das Verhalten der Politiker: Kon- untersagen, gebetsmühlenartig von sämtlichen Medien
krete politische Entscheidungen, wie etwa verschärfte und Politikern immer und immer wieder reproduziert
Einwanderungsregeln, um die Zwangsheirat zu unter- und damit zum Faktum erklärt. Man schien hier gemäß
binden, oder das Kopftuchverbot für Beamtinnen, wa- des Prinzips, Wahrheit durch konstante Wiederholung
ren die Folge. Gerade Gesetze, die ein Kopftuchverbot zu etablieren, vorzugehen. Nach dem berühmten Tho-
durchsetzten, waren dabei besonders schwerwiegend für mas-Theorem sind zumindest die Konsequenzen einer
die Betroffenen. Interessant ist nun vor allem aus heuti- für wahr erklärten Situation tatsächlich real. Indem also
ger Sicht und mit heutigem Kenntnisstand zu beobach- hier seitens bestimmter Politiker und Leitmedien sugge-
ten, wie solche restriktive Maßnahmen begründet wur- riert wurde, es sei eine eindeutig belegte Tatsache, dass
den, und ob sie auch damals überhaupt wissenschaftlich das Kopftuch vor allem von politisch motivierten oder
haltbar waren. religiös unterdrückten Frauen getragen werde und da-
bei als Symbol für Intoleranz und die Ungleichheit von
Das Hauptmotiv für ein Kopftuchverbot war nach Mann und Frau stehe, wurde der Eindruck erweckt, es
Bundesbildungsmininsterin Annette Schavan (CDU) gäbe eine legitime Grundlage für politisch restriktiven
die erklärte Tatsache, dass das Kopftuch ein politisches Handlungsbedarf.
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Spezial: Kopftuch
Jenseits der medialen Realität explizit mit den Beweggründen angehender Lehre-
rinnen, das Kopftuch zu tragen. Die befragten Lehr-
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diejenigen Frauen erlebt, bei deren Eltern ein nied- Natürlich spielten auch traditionelle, soziale oder
riges Bildungsniveau ausgemacht werden konnte. gesellschaftliche Gründe eine Rolle. Z.B. schöpfen
Die Mehrheit der befragten Frauen stammt zwar aus viele Frauen Selbstbewusstsein durch das Tragen des
bildungsfernen Familien, gleichzeitig zeigten diese Kopftuches oder kritisieren den sexistisch aufgela-
Frauen jedoch eine starke denen öffentlichen Raum, dem sie sich zu entziehen
„Kopftuch, Küche, Koran“ passt Bildungs- und Aufstiegs- versuchen, indem sie durch das Tuch ihre Persön-
orientierung. „Kopftuch, lichkeit in den Vordergrund rücken. In diesem Zu-
daher nicht als Leitmotiv für diese Küche, Koran“ passt daher sammenhang wurde die Schutzfunktion des Kopftu-
da müsste man
Musliminnen,
nicht als Leitmotiv für die-
se Musliminnen, da müsste
ches betont. Alle kopftuchtragenden Frauen hatten
jedoch eines gemeinsam: Sie empfanden die Unter-
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Spezial: Kopftuch
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– was nicht zwangsläufig heißt, dass alle Kopftuch-
trägerin Allahs Wohlgefallen auch tatsächlich erlan- Bürger zweiter Klasse
gen. Schließlich ist das Kopftuch nur ein Gebot von
mehr als 600 anderen. Das Gebot, sich zu bedecken,
wird im Koran nur in zwei von über 6000 Versen
erwähnt– im Gegensatz dazu fallen andere Auffor-
A bgesehen davon können allerdings auch psy-
chologische Motive eine Rolle für eventuell vor-
handene Überlegenheitsgefühle spielen. Denn die
derungen des Korans viel schwerer ins Gewicht, Studie offenbarte auch, dass vier von fünf Befragten
man denke etwa an die immer wiederkehrende Auf- sich in Deutschland als Bürgerinnen zweiter Klasse
forderung, gerecht, barmherzig und gnädig zu sein. behandelt fühlen. Vor diesem Hintergrund könnten
Oder an die Tatsache, dass der Koran mit strengem möglicherweise vorhandene Überlegenheitsgefühle
Nachdruck ermahnt, von seiner Vernunft Gebrauch auch als Kompensation dienen für Erfahrungen der
zu machen (z.B. Sure 10: Vers 101). Das Kopftuch- Demütigung, die aus der Diskriminierung des Kopf-
gebot erscheint dabei nur als ein i-Tüpfelchen, das tuches resultieren. Natürlich legitimiert diese Deu-
der eigenen Überzeugung Ausdruck verleiht und das tung eine solche Einstellung nicht – auch wenn sie
man nicht einfach ignorieren kann, wenn man an Al- damit erklärbar wird, so ist sie vor allem islamisch
lah als Urheber des Koran glaubt. gesehen völlig unvereinbar mit moralischen Grund-
werten des Islams, wie oben gezeigt wurde.
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Zeit Nr. 38, 14.09.2006
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