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Medientheorie VL

Prof. Holger H. Ebert / Fachhochschule Nürnberg / FB Gestaltung

MedienTheorie
Jens Jessen
DIE ZEIT Nr. 1 / 31.12.2004 Feuilleton

Als die Fantasie


rechnen lernte
Hat der Computer eine neue Ästhetik hervorgebracht? Eine vorsichtige
Bilanz nach zehn Jahren hysterischer Zukunftserwartung

Es war vor fünf oder sechs Jahren, noch auf dem Höhepunkt der New Eco-
nomy, da wurde ein Kongress der werbetreibenden Wirtschaft mit einem fei-
erlichen Konzert eröffnet. Vier Musiker nahmen im Halbkreis auf dem Podium
Platz. Es war aber kein Streichquartett. Sie nahmen nicht Violine, Viola und
Cello zur Hand, sondern vier kleine schwarze Notebooks auf den Schoß, mit
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denen sie zu musizieren begannen, derweil auf einer Leinwand über ihnen
anmutige Grafiken im Takt die Farben und Formen wechselten. Es war ein
sehr nettes, ein sehr konventionelles Konzert. Stilistisch changierte es zwi-
schen Lounge und Minimal Music. Das Publikum raste.

Medienmanager träumten von einer Ware namens »Content«

So stellte man sich damals, auf dem Höhepunkt der New Economy, die digi-
talisierte Zukunft vor. Alles sollte neu werden und gleichzeitig das Alte blei-
ben. Das Publikum durfte sich wundern, aber nicht erschrecken. Es war so
ziemlich das Gegenteil von dem, was weitere zwanzig oder dreißig Jahre zu-
vor die avancierten Komponisten mit dem Einsatz elektronischer Datenverar-
beitung erreichen wollten. Die Computer waren seinerzeit zwar weit davon
entfernt, anmutig auf den Knien balanciert zu werden, sie füllten vielmehr
ganze Schränke, erzeugten aber nie gehörte, borstige, haar- und ohrensträu-
bende Klänge.

Mit einem gewissen Willen zur boshaften Verallgemeinerung könnte man den
Weg, den die computergestützte Kunstproduktion in den letzten Jahr-
zehnten zurückgelegt hat, als Weg von der avantgardistischen Provoka-
tion zur kommerziell gezähmten Standardanwendung beschreiben.
Nirgendwo lässt sich das besser beobachten als im Kino, wo die ersten Vi-
deo- und Bildbearbeitungstechniken noch zu kalkulierten Verfremdungseffek-
ten genutzt wurden, während die fast perfekte Computeranimation heute nur
mehr zur Ausschmückung altbekannter Plots zu dienen scheint.

Die virtuelle Realitität, die der Rechner täuschend echt auf die Leinwand zau-
bern kann, wurde sogar noch im ersten Matrix-Film als bedrohlicher Kern der
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Handlung reflektiert. Das Medium der Computersimulation war so aufregend,
verstörend und neu, dass es danach schrie, im Film selbst zum Thema ge-
macht zu werden. Matrix II und III dagegen steigerten zwar die Effekte noch
einmal gewaltig, bedienten sich ihrer aber schon mit einer gewissen blasier-
ten Müdigkeit; die Handlung sank erschöpft zurück in die alten Muster des
Agenten- und Weltverschwörungsfilms.

Ähnliches lässt sich überall in den Künsten beobachten, die sich seit den spä-
ten sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts für die elektronischen Medien
begeisterten. Heute gibt es schon bildende Künstler, die Computerinstal-
lationen und Videoperformances für ästhetisch verbraucht und kom-
merziell diskrediert halten und das Tafelbild als Medium gesellschaftli-
cher Subversion wiederentdecken. Installationen, wenn sie von Jüngeren
noch gemacht werden, bekommen einen Zug ins Gebastelte, Laubgesägte,
jedenfalls deutlich Dilettantische, das sich möglichst weit von den perfekten
Oberflächen entfernt halten will, die das elektronische Equipment möglich
macht.

Die sonderbarste Dialektik zeigt sich in der Architektur. Die Gebäude, die von
der berühmten Irakerin Zaha Hadid oder von manchen schrillen Japanern un-
ter Einsatz avanciertester Software entworfen werden, sehen aus wie
einsturzgefährdete Baracken oder gefährlich in die Höhe geschichtete
Sperrmülltürme, sie stehen nach Möglichkeit schief oder wirken unfest und
weich, als seien sie aus Knete. Die rechnergestützte Konstruktion dient
hier der Dekonstruktion, der gesuchte ästhetische Effekt ist die Instabi-
lität, die existenzielle Gefährdung. Die Botschaft, die das Medium der Zukunft
herzustellen hilft, ist die Angst vor der Zukunft, zumindest Misstrauen in jene

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mathematische Ordnung der Dinge, auf der doch die eingesetzten Compu-
terprogramme beruhen.

Die Ernüchterung, die in alldem steckt, ob sie nun offensiv formuliert


wird oder sich hinter dem Rücken der Künstler herstellt, hat etwas mit
dem Zusammenbruch der gewaltigen Theoriegebäude zu tun, die mit
der neuen Technik aufkamen. Was wurde da nicht alles gefabelt! Vom Un-
tergang der Wirklichkeit und dem Aufstieg künstlicher Welten, die bald von
der Realität nicht mehr zu unterscheiden sein würden. Vom Ende des Sub-
jekts, das seit Nietzsche zwar immer wieder prophezeit worden war, nun aber
in sein definitives Stadium treten sollte. Von der Auflösung aller hierarchi-
schen Ordnung in ein organisch wucherndes, moralisch und logisch befreites
Chaos. Von der Verflüssigung alles ehemals materiell Gebundenen in einen
einzigen Datenstrom, ob Musik oder Malerei oder Literatur, ob ursprünglich
von einer Geige, einem Pinsel oder einem Bleistift stammend.

Mehr als alles andere beflügelte dies die Renditefantasie der New Economy:
dass alles, was sich früher auf eine unübersichtliche Vielfalt von Medien ver-
teilte, nun in einem einzigen Medium zusammengeführt und auf den Markt
geworfen werden konnte. Von den sperrigen Einzelkünsten sollte nur noch
eine, beliebig form- und handelbare Substanz übrig bleiben, die man »Con-
tent« nannte, Inhalt, und wie dieses Wort von den neuen Medienmanagern
ausgesprochen wurde, mit einem aasigen Frohlocken, daran konnte der
Künstler erkennen, dass es sich um etwas handelte, was bei ihm billig einge-
kauft und von den Managern teuer weitervertickt werden sollte.

Das Computer- und Internet-Zeitalter versprach also für den Künstler


von Anbeginn nicht nur revolutionär neue Möglichkeiten, sondern eine
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ebenso revolutionäre Abwertung seiner Person. Wenn kein Subjekt
mehr ist, gibt es auch keine Künstlerautorität mehr. Wenn Form und In-
halt nicht mehr untrennbar verbunden sind, sondern Content in alle
möglichen Vermarktungsformen gegossen werden kann, ist auch das
Unterscheidungsmerkmal von Kunst dahin. Kleider lassen sich in einem
Schrank ebenso wie in einer Kommode unterbringen, aber eine Romanhand-
lung lässt sich nicht genauso gut in einen Fernsehsketch oder ein Musical
verwandeln, es sei denn – es sei denn, es ist eben nicht Kunst, sondern Con-
tent.

Computerspiele haben vorgemacht,


was die Künstler erst lernen müssen

Auf diese Abwertung reagierten manche Künstler, mehr aber noch die Kunst-
theoretiker mit einer geradezu hysterischen Affirmation. Ja sagten sie zum
Verlust der Autorschaft, ja zur Auflösung des Werkbegriffs, ja zum Kontroll-
verlust über die Rezeption. Nirgendwo zeigte sich das haltloser als in der
neu ausgerufenen Gattung der Internet-Literatur. Aus der Möglichkeit, Leser
im Netz an einem Text mitschreiben zu lassen, Bilder und Töne einzufügen
oder über Links beliebig viele Fußnoten und Querverweise unterzubringen,
wurde auf eine völlig neue Poetik geschlossen. Diese Poetik ist dann auch,
mit staunenswertem theoretischem Aufwand und kühnen Anleihen bei den
französischen Poststrukturalisten, bis ins Detail hinein formuliert worden –
nur die Werke sind ausgeblieben, die dieser Poetik standgehalten hätten.

Es zeigte sich vielmehr, dass die Internet-Literatur, wenn sie nicht zu barem
Unfug oder kindisch entspannter Feierabenddichtung führte (Letzteres vor
allem bei Beteiligung des Lesers und/oder befreundeter Autoren), eine
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höchst vertraute und traditionelle Form annahm. Sie wurde zum Bilder-
kommentar oder zum dadaistischen Scherz, zum romantischen Labyrinth o-
der surrealistischen Experiment. Sie erinnerte an Lichtenbergs Erläuterung
der Hogarthschen Kupferstiche oder, wenn sie mit Interpunktion und bewuss-
ter Unfertigkeit spielte, an Zettels Traum von Arno Schmidt. Die Simulation
von Zufall und Unordnung hatte schon E.T.A. Hoffmanns Kater Murr vorweg-
genommen (mit der fingierten Verwechslung von Druckbogen), und den Link
zur Fußnote, zur Abschweifung oder Anekdote hat niemand virtuoser, katzi-
ger und kapriziöser gehandhabt als Stendhal. In seinen großen Essays Über
die Liebe, Rossinis Leben oder in seinen Jugenderinnerungen Leben des
Henry Brulard ist schon die Hierarchie von Haupt- und Nebentext aufs Un-
durchsichtigste verwischt.

Sogar die interessanteste Möglichkeit, die der so genannte Hypertext im


Computer bietet, nämlich Handlungsstränge sich verzweigen zu lassen, ist
von einem Spätsurrealisten wie Julio Cortázar in seinem Buch Modellbaukas-
ten meisterhaft vorgeführt worden. Der Roman als Bastelmaterial, zur belie-
bigen Verwendung des Lesers, das ließ sich auch ohne Computer denken
und verwirklichen, im traditionellen Medium Buch. Max Frisch hat etwas Ähn-
liches mit seinem Stück Biografie auf die Bühne gebracht, Alain Resnais mit
dem Film Smoking/No Smoking ins Kino.

Kurzum, was die Internet-Literatur wollte oder im besten Falle wollen


konnte, war schon vorhanden, zumindest vorhergeträumt. Die Technik
hinkte der schöpferischen Fantasie hinterher. Mehr noch: Die Technik
fand ihre Grenze dort, wo auch bisher alle literarischen Experimente ih-
re Grenze gefunden hatten bei dem Versuch, einen Roman sich selbst
schreiben zu lassen, die Trennung von Kunst und Wirklichkeit aufzuhe-
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ben, den Autor zum Verschwinden zu bringen oder den Leser zum Autor
zu machen. Es zeigte sich: Das Subjekt war nur in der Theorie gestorben;
als Autor und Leser lebte es fort. Auch die wirkliche Wirklichkeit ging nicht un-
ter, und die künstlichen Welten blieben als künstliche erkennbar. Der Autor
schreibt, und der Leser liest. Alles Übrige ist Fiktion. Wessen Fiktion? Des
Autors natürlich; und der Leser kann sich entscheiden, ob er ihm auf den
Leim gehen will.

Und damit basta? Ende der Computerträume? Man könnte auch sagen: Die
Fantasie der Internet-Literaten wie aller übrigen Künstler hat sich der
Technik nicht gewachsen gezeigt und ist deshalb in die alten Träume
zurückgefallen. Es gibt nämlich durchaus Möglichkeiten, die noch nicht
genutzt wurden. Sie liegen allerdings nicht in der Erfindung, sondern in
der Umsetzung des bereits Erfundenen. Hinter dem Rücken der Hypertext-
Theoretiker haben die Programmierer von Computerspielen schon heimlich
gezeigt, was sich mit der Technik von Handlungsverzweigung so alles ma-
chen lässt: nämlich den Spieler als Figur in das Innere des Spiels eintreten zu
lassen. Das Computerspiel suggeriert ein Abenteuer, in dem es dem Spieler
die Übersicht über die Ordnung verweigert, in der er sich bewegen muss.

Nur freilich haben die Spieleprogrammierer nie vergessen, dass diese Un-
übersichtlichkeit eine Fiktion ist und die Zahl der Handlungsalternativen be-
grenzt. Es blieb das zweifelhafte Privileg der Netzphilosophen, auf die digitale
Simulation hereinzufallen und die fingierte Möglichkeit für etwas zu nehmen,
was sich mit der Wirklichkeit verwechseln lässt. Das war es, was man damals
virtuelle Realität nannte: ein Gespenst, das eigens konstruiert wurde, damit
sich der Kulturkritiker vor ihm gruseln konnte.

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Auch im Film haben nicht die Theoretiker, sondern die Handwerker und Soft-
ware-Ingenieure als Erste erkannt, was sich mit dem Computer machen lässt:
Figuren ins Bild zu setzen, die sich bisher nur literarisch beschreiben ließen.
Der Zeichentrickfilm blieb der Zweidimensionalität verhaftet, und die plasti-
sche Kosmetik der Maskenbildner, so virtuos auch immer sie gehandhabt
wurde, musste noch immer einem lebenden Schauspieler appliziert werden.
Aber eine Figur wie der kolibrigleich fliegende Schrotthändler in Star Wars
Episode I, das ging erst mit den Mitteln der Computeranimation.

Es ist früh festgestellt worden, dass der Film mit dem Theater zwar den
Schauspieler und die Kulisse gemein hat, aber wegen seiner Freiheit in der
Organisation von Zeit, im Raffen, Dehnen und Innehalten, eher der Literatur
verwandt ist. Jetzt gewinnt er mit der Figurenanimation einen weiteren Frei-
heitsgrad der Literatur hinzu: Er kann als Person auftreten lassen, was
immer sich die Fantasie ausdenkt. Das Fantastische bleibt nicht, wie im
Trickfilm, auf eine fantastische Welt beschränkt, es kann sich unter realisti-
sche Menschen in eine realistische Welt mischen – so etwa, wie sich Klein
Zaches genannt Zinnober bei E.T.A. Hoffmann unter die Menschen mischt.

Das alles ist im Kino auch schon geschehen; nur leider blieb es oft genug im
Konventionellen einer konventionellen Handlung stecken. Es lohnte sich, ei-
nen Blick zurückzuwerfen auf die berühmte Verfilmung von Alice in Wonder-
land (1933), wo Cary Grant die Mock Turtle und W.C. Fields den Humpty
Dumpty spielt. Was damals nur als Kabarett gelang, heute könnte es ein
Pandämonium werden, das Lewis Carrolls Imagination kongenial wäre.

Für den Film gilt wie für alle Künste: Die Zukunft der ästhetischen Mög-
lichkeiten liegt in der Vergangenheit. Aber was man heute kann, ist, die
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menschliche Fantasie aus den Büchern, den Bildern und den Orches-
terpartituren zu befreien. Es ist möglich. Jedoch die Technik und die
Theorie allein vermögen es nicht. Etwas anderes, mag man es nun Krea-
tivität, schöpferische Einbildungskraft oder den berühmten zweckfreien
Spieltrieb Schillers nennen, muss sich den Computer untertan machen,
damit aus dem schönen Strom der Daten am Ende nicht nur eine armse-
lige Handelsware namens Content tröpfelt.

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