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Brasil por dentro

Brasilienreise

von Sil
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Inhalt Seite

Inhaltsverzeichnis 3

Vorwort 5

Teil 1 7

Anreise 7
Camburi 7
Florianópolis 8
Foz do Iguaço 11
Campo Grande 13
Pantanal 14
Bonito 16
Campo Grande 26
Brasília 28
Alto Paraíso 28
São Jorge 30
Alto Paraíso 32
Abadiania 33
Brasília 35
São Jorge 36
Alto Paraíso 36
São Jorge 40
Alto Paraíso 42
Brasília 51
Porto Alegre 52
Canela 52
Porto Alegre 54
São Paulo 59

Teil 2 60

Nachwort 83
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Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

Ihr haltet ein Exemplar in den Händen, das meine Reise durch Brasilien beschreibt,
die ich im Herbst/Winter des Jahres 2004/2005 unternommen habe.
Der Titel Brasil por dentro heißt so viel wie „Brasilien von innen“ oder „durch das
Landesinnere von Brasilien“, weil meine Reise diesmal nicht an der Küste entlang
ging, sondern mich erstmals durchs Landesinnere führte. Die Reise war ganz anders
geplant. Ich wollte zwei bis drei Monate oder gar länger in Florianópolis bleiben, um
meine Sachen zu erledigen und dann vielleicht zurückfliegen. Alleine Herumzureisen
habe ich mir eigentlich gar nicht zugetraut, aber dann ist es geschehen.
Das besondere an der Reise war, dass ich sie – wie schon einmal in Portugal –
praktisch ohne Reiseführer unternahm. Nur ein einziges Mal suchte ich mir eine
Pension aus dem Führer heraus, den ich mir wegen der Landkarten gekauft hatte,
denn ich hatte doch das Bedürfnis zu wissen, wo auf dem Planeten ich gerade war.
Ich danke allem, was mir auf der Reise begegnet ist, allen Menschen, Dingen und
Orten und denen, die dies ermöglicht haben.

Sil (zu deutsch Siu, mein brasilianischer Rufname)

P.S. Vor allem bei den portugiesischen Worten erhebe ich keinen Anspruch auf
Richtigkeit, was die Orthographie anbelangt und bei den deutschen Satzstellungen
auch nicht, die sich zum Teil mehr an der portugiesischen Satzstellung orientieren
als an der deutschen, weil ich in Brasilien Portugiesisch denke. Es sei mir verziehen.
Und was die deutsche Rechtschreibung betrifft finde ich, jeder soll so schreiben, wie
es ihm gefällt. Die Rechtschreibreform ist für mich Machtspiel und Geldmacherei. Ich
schreibe so, wie es meinem Gefühl nach stimmt, denn ich merke, um nur ein Beispiel
zu nennen, dass ein Mensch nicht trennen kann, was zusammengehört. Dem alleine
schon wird nach den neuen Regelungen keinerlei Sorge getragen, die ja jetzt
mittlerweile auch wieder überarbeitet werden sollen. Ja wo sind wir denn?
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Teil 1

Anreise

Nach Brasilien fuhr ich, weil ich noch ein paar Sachen zu erledigen hatte. Sechs
Jahre lang hatte ich dort gelebt und war ziemlich holter die polter weggegangen.
Jetzt hatte ich ein paar Altlasten zu bereinigen wie ich es gerne nenne.
In München hatte ich im Tauschring Andrea kennengelernt, die ein Grundstück mit
zwei Häusern auf einer Insel im Süden von Brasilien hatte. Da ich sowieso nicht
gerne alleine nach Brasilien fahren wollte, schloss ich mich ihr an.
Das Ticket buchten wir schon ein halbes Jahr vorher, was für mich eine Neuigkeit
darstellte, hatte ich mich bisher für meine Flüge meistens recht spontan entschieden.

Im Oktober war es dann soweit. Wir flogen mit der Iberia ab München und hatten
einen Zwischenstop in Madrid. Andrea und ich fuhren getrennt zum Flughafen. Ich
war viel eher dran und durfte lange auf sie warten. Sie kam so ziemlich in letzter
Minute.
Noch am Flughafen erzählte sie mir die Geschichte von einer Kreissäge, die
irgendjemand in ihrer Familie geschenkt haben wollte und obwohl sie einen Euro
dafür genommen hätte, hätten sie jetzt keinen Kontakt mehr. Ich hatte gerade vorher
gehört, dass mensch kein Messer oder sonst irgendein Schneidegerät einem
Menschen kostenlos überlassen sollte, denn das würde die Beziehung zerstören. Um
dies zu umgehen wäre die Alternative, einen geringen Betrag dafür zu nehmen, sei
es auch nur einen Cent.

Der Flug war o.k.. Bis Madrid saßen wir nebeneinander, von da ab getrennt und ich
konnte auch einigermaßen gut schlafen.
Als wir am Flughafen in São Paulo angekommen waren, war mir, als hätte ich
meinen Namen durch den Lautsprecher tönen hören. Ich befürchtete, es sei ein
früherer Freund, dem ich das Flugdatum mitgeteilt hatte, mir war jedoch gar nicht
nach Menschen zumute. So ignorierte ich die ganze Geschichte.
Wir fuhren gleich zur Rodoviária Tietê, dem paulistaner Busbahnhof, denn wir wollten
gleich weiter nach Camburi.

Camburi

Der Bus an die Nordküste von São Paulo fuhr in einer halben Stunde. Wir hatten
eine gute Fahrt und ich überlegte, wo wir zuerst hingingen. In der Jugendherberge
hatte ich von Deutschland aus versucht anzurufen, um uns anzumelden, aber
niemanden erreicht. Also entschloss ich, gleich zur Pousada das Praias zu gehen.
Das war früher meine Lieblingspension gewesen, für mich war sie die schönste
Pension der Welt. Sie war einfach die schönste, die ich kannte und ich hatte zu
besonderen Gelegenheiten mal ein paar Nächte hier verbracht.
Als wir in die Pousada hineingingen, saß dort mein (Noch)-Mann am Tresen. Was für
eine Überraschung! Ich hatte ihm eigentlich nicht gerne gleich in die Arme laufen
wollen. Ich begrüßte ihn ziemlich kühl und gab ihm einen Teil der
Hochzeitsgeschenke, die ich mitgebracht hatte - zur Scheidung teilt mensch sich ja
die Hochzeitsgeschenke - hatte ich gehört. Insgesamt kam ich mir ziemlich
unbeholfen vor.
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Andrea und ich schauten uns zwei Zimmer an, aber da es uns zu teuer war, hier zu
übernachten, fuhren wir mit João zur Jugendherberge, die etwa drei Kilometer
landeinwärts liegt.
Nachdem wir dort ein Zimmer in Beschlag genommen hatten, führte uns João zu
dem Grundstück, das ich einmal gekauft hatte, um den Urwald zu schützen. João
jedoch hatte den schönen Urwald und die Bananen rund um das Haus, das er dort
gebaut hatte abgeschlagen, die Steine aus dem ehemaligen Flussbett beiseite
geräumt und Rasen gepflanzt.
Ich war total entsetzt, denn für mich war der ganze Flair von früher weg. Ich ließ mir
jedoch nichts anmerken. Es hatte für mich keinen Sinn, jetzt etwas zu sagen.
João und ich diskutierten vor der Herberge, im Auto und am Strand über einige
Dinge und ich sprach zum ersten Mal über Dinge, die mich krank gemacht hatte. Er
hörte immerhin zu, ob er es wirklich aufnahm weiß ich nicht, denn im Nachhinein
wurde mir klar, dass er zwischendurch, als er mal verschwunden war, sicher etwas
gekifft hatte.
Er freute sich, dass es mir besser geht und willigte am Ende sogar in eine Scheidung
in Deutschland ein anstatt in Brasilien, aber nur ganz kurz.
Am Schluss umarmte er mich mit meinem Schirm dazwischen, denn auch hier
regnete es genauso wie die letzten Wochen in Deutschland. Andrea war die ganze
Zeit dabei und machte mal mehr und mal weniger konstruktive
Zwischenbemerkungen.

Die erste Nacht hörte ich einen Vogel ganz laut und wunderschön zwitschern und
wäre gerne aufgestanden, um ihn zu sehen, wenn mich nicht die Müdigkeit ans Bett
gefesselt hätte.
Andrea war durch ihre viele Arbeit in Deutschland sehr ruhebedürftig und ich sah
schon, dass sie diese Ruhe hier nicht finden würde. Erst überlegte sie, zu João de
Deus zu reisen, als sie jedoch eine Engelkarte von mir zog, ließ sie diese Idee fallen,
hatte die Karte genug Heilung in ihr bewirkt. Zuerst überlegte ich, alleine in Camburi
zu bleiben, schließlich entschied ich jedoch, mit Andrea zusammen nach
Florianópolis zu fahren.
Sie sprach immer sehr viel, erzählte jedoch höchst interessante Sachen. Einmal
berichtete sie von einer Energieheilschule, die sie besucht hatte. Sie hätten dort
Einweihungen gegeben. Die dritte Einweihung sei der Magier, die vierte wäre früher
Jesus und Buddha gewesen, was heute die fünfte sei und bis zur siebten Einweihung
könne man zurückfallen.

Was mir bei meinem Aufenthalt auffiel war, dass mich die Dinge im Außen gar nicht
mehr so berührten und ich keine solch große Freude mehr empfand, in Camburi zu
sein wie früher.
Ich sah bald, dass ich hier nichts mehr zu tun hatte, und so fuhren Andrea und ich
am dritten Tag zusammen nach Florianópolis.

Florianópolis

Kurz bevor wir auf der Insel im Süden Brasiliens ankamen, schien sogar die Sonne.
Nach den vielen Regentagen die letzte Zeit, war das eine Wonne. Andrea konnte die
Nacht im Bus nicht schlafen, weil sie auf Toilette musste, die Tür jedoch nicht
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aufbekam. Statt zu ziehen hatte sie gedrückt und geglaubt, die Toilette sei
verschlossen.
Die nächste Überraschung in Floripa, wie die Insel gerne genannt wird war, dass
Andrea kein Geld mit der EC-Karte abholen konnte, wie ihr jemand in Deutschland
hat weißmachen wollen. Am Busbahnhof befand sich ein Schalter, um Bargeld oder
Traveller-Cheques zu tauschen, auf den sie dann zurückgriff.
Ich informierte mich interessehalber über die Busse nach Foz do Iguaçu, wollte ich
schon immer mal zu den Wasserfällen. 13 – 16 Stunden Fahrtzeit kosteten etwa 80
Reais. Ein Real ist ungefähr ein drittel Euro. Ich wusste noch nicht, ob ich das alleine
mache.

Wir fuhren nach Riberão da Ilha zu Andreas Domizil. Uns erwartete eine
Überraschung besonderer Art: das Haus, in dem wir schlafen wollten, war total
verdreckt und wir durften erst einmal stundenlang putzen. Die neue Mieterin des
Haupthauses hatte mit Plastikplanen ihr Haus verbarrikadiert, als wäre es in einer
Favela, wie die Slums hier genannt werden. Sie arbeitete dahinter mit irgendwelchen
Kacheln, die zudem giftig waren, wie uns später erzählt wurde.
Ihr Sohn kam mit einem schwarzen T-Shirt mit einem furchterregenden dämonischen
Aufdruck auf beiden Seiten zu uns, als wir ihn baten, einen Schrank von der Tür im
Schuppen wegzuschieben, in dem Andrea ihre Sachen verstaut hatte.

Bei der Ankunft waren uns zehn kleine Welpen entgegengesprungen, die unter
unserem Haus hervorgekrochen kamen. Ihre Mutter war total abgemagert. Mir ging
bei ihrem Anblick und als sie um uns herumliefen das Lied von den zehn kleinen
Negerlein durch den Kopf.
Ich kümmerte mich um unser leibliches Wohl, um Essen und Getränke und spazierte
etwas durch die Gegend. Unter diesen Umständen mit den seltsamen Mietern in
unmittelbarer Nähe und einer Unmenge an Problemen, wollte ich gar nicht gerne
bleiben.

Am nächsten Morgen verscheuchte Andrea in der früh den Hund, der an ihrer Wand
gescharrt hatte und weckte mich auf. Wir liefen später zusammen bis zu einem
Felsen, auf dem wir uns niederließen, um den Blick auf eine herrliche Landschaft vor
uns zu genießen: türkisblaues Meer, Felsen, Austernbojen und die Berge und Hügel
des gegenüberliegenden Festlandes. Andrea pendelte neben mir irgendetwas aus
und ich bedeutete ihr, dass es mir hier nicht gefalle und ich eine heilsame Umgebung
um mich herum bräuchte, die ich bei ihr nicht vorfände. Sie schlug vor, doch noch ein
paar Tage zu bleiben, was ich dann auch machte.

Beim Einkaufen trafen wir einen brasilianischen Bekannten von ihr, der so nett war
zu uns zu kommen und uns mit dem Wasser zu helfen, das im Haus nicht laufen
wollte.
Im Stadtzentrum fand ich Internetcafés, um meine E-mails abzurufen und Bioläden
zum Einkaufen.
In der Nacht gab es eine Mondfinsternis, die sehr gespenstisch war, weil wir von ihr
nichts wussten und es plötzlich immer dunkler wurde.

Am nächsten Tag kam Andreas Makler vorbei, um über alles zu sprechen, was das
Grundstück betraf. Ich übersetzte eifrig. Am Ende kamen sie auf Gott und die Welt zu
sprechen. Senhor Alício zitierte seine Schwiegermutter, die immer sage: „Es wird
alles gut und wenn es noch nicht gut ist, so ist das ein Zeichen, dass es noch nicht
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zuende ist“. Für ihn hat jeder Gott in sich, nur manche verstecken ihn in einer Kiste
irgendwo in ihrem Inneren und funktionieren nur noch wie Materie. So sei es mit
Hitler oder Mussolini gewesen. Für Andrea sitzt umgekehrt der Teufel nur im Kopf, in
Form von Dämonen und Gefühlen wie Wut, Zorn, Neid und dergleichen.
„Wichtig“, meinte Senhor Alício, „ ist es, das Positive an jedem Menschen zu sehen
und nicht das Negative“.

Ich fuhr dann mit dem Bus bis zur Endstation und entdeckte einen Pfad mit Namen
„Trilha do Naufragado“, den ich entlanglief, bis ich das Gefühl hatte, es wäre besser
zurückzukehren, um nicht in die Dunkelheit zu geraten. Als ich am Gipfel angelangt
war, hörte ich von ein paar Leuten, dass unten ein Strand sein soll.
Auf dem Rückweg hörte ich plötzlich ein Getöse und wildes Vogelgeschrei, das
immer näher kam. Auf einmal stürzte ein Schwarzer mit einer Machete in der Hand
aus dem Dschungel heraus. In der anderen Hand trug er Stücke von einem
Schlauch.
Er versuchte mich zu beruhigen, er habe nur einen Schlauch repariert, mir war
jedoch das Herz in die Hose gerutscht. Mir war total mulmig mit ihm alleine in der
Wildnis und ich hatte dermaßen weiche Knie, dass ich ständig ausrutschte, während
ich so schnell ich konnte, vor ihm den Hang hinablief. Ich war froh, bald zurück zur
Straße zu kommen.
Als ich zurückkam, waren die zehn Welpen alle weg. Ich fürchte, sie wurden getötet,
denn Andrea hatte ihren Mietern bedeutet, dass sie die Welpen nicht dulde und dann
den ganzen Nachmittag schreckliche Laute von ihnen vernommen. Ich mochte gar
nicht daran denken.
Vom Übersetzen war ich dermaßen müde gewesen, dass ich schon um neun Uhr ins
Bett ging. Ich verstand auf einmal, warum Dolmetscher so viel Geld verdienen und
sah, wie wenig Energie mir zur Verfügung steht.
Andrea spielte mir alte Kassetten von vor sieben Jahren vor, auf denen sie unter
anderem von zehn verschiedenen Beziehungsmustern sprach. Im Gespräch meinte
sie, wir müssten für alles bezahlen. Alles habe seinen Preis. Ein andermal erzählte
sie von Kashmir, Varnassi, Dharamsala, dem Dalai Lama und Kathmandu, was sie
alles bereist hatte. Jetzt war sie bei Sai Baba.
Die folgende Nacht konnte sie nicht schlafen, weil ein Schlauch geplatzt war und das
Wasser rauschte. Die Vögel freuten sich sehr darüber und kamen in Scharen. Ein
braunes Pärchen küsste sich immer wieder und ein Kolibri hatte sich einen
Stammast auf der Terrasse ausgesucht, auf dem er lange verweilte und sich putzte.
An der Küchenwand hing ein Blatt mit chinesischen Sprichwörtern. Eines war:
„Ungeduld kann ein ganzes Leben zerstören“.

Das Gas war uns ausgegangen, so dass wir weder Tee noch Kaffee kochen
konnten. Mir war das alles zu viel. Ständig gab es ein anderes Problem von größerer
Tragweite, das wollte ich mir nicht länger antun. Ich kaufte mir ein Ticket für Foz do
Iguaçu.
Andrea meinte, ich wäre aggressiv. Wie ich mit meinem Mann gesprochen hätte...
Dabei war ich froh, endlich mal ein wenig aus mir herauszugehen und nicht alles in
mich hineinzufressen.
Ab und zu kam ein Deutscher zu Besuch, der vierzig Jahre lang gekifft, aber jetzt
aufgehört hatte. Früher habe sich Andrea gar nicht mit ihm abgegeben. Er zeigte mir
mal sein einfaches, aber sauberes Zuhause, das von einem Garten voller Pflanzen
umgeben war. Neben ihm wohnten ätzende Leute, von denen der Mann Crack
rauchte, die Frau herumschrie und der Sohn die Mutter mit schmutzigen Wörtern
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beschimpfte. Uwe hoffte darauf, dass sich das Ganze in zwei Jahren erledige. Er
meinte, alle Brasilianer würden nur noch kiffen.

Nachmittags fuhr ich gerne mit dem Fahrrad ein wenig durch die Gegend und legte
mich an irgendeinen Strand. In einer Zeitschrift las ich über das 4. Sozialforum in
Porto Alegre, das im Januar stattfinden würde und bekam Lust, dabei zu sein.
Byron Katie schrieb in einem Buch, das ich im Regal gefunden hatte, dass
„Loslassen“ ein veraltetes Konzept sei, das nicht funktioniere und von der
Umkehrung von allem.

Foz do Iguaçu

Ich war froh, wegzufahren und vor den ganzen Problemen zu flüchten, die ja nicht
meine gewesen waren. Mir fiel ein, dass es ein lange gehegter Wunsch von mir war,
die Wasserfälle zu sehen. In den sechs Jahren, die ich in Brasilien lebte, hatte ich es
nicht geschafft.
Ich hatte eine recht angenehme Fahrt die Nacht hindurch und kam am nächsten
Morgen an. Auf dem Busbahnhof informierte ich mich an einem Stand über die
Jugendherbergen, von denen es zwei Stück gab: eine im Zentrum und eine auf dem
Weg zu den Wasserfällen. Ich entschied mich fürs Zentrum, da dort Internet im Preis
inbegriffen war.

In der Herberge lernte ich eine Schweizerin kennen, die mir vom Pantanal erzählte,
in dem sie eine Tour von der dortigen Jugendherberge aus gemacht hatte. Auch ins
Pantanal wollte ich immer schon mal fahren.
Die Wasserfälle besuchte ich alleine, was für mich die angemessenste Form war, sie
zu sehen und zu genießen. Im Nationalpark fuhr ein Doppeldeckerbus zu dem 1200
Meter langen Weg auf der brasilianischen Seite, den ich hin und wieder zurücklief,
war ich total berührt von dem Ganzen. Man läuft durch den Dschungel und sieht die
tobenden Wassermassen die Felsen herunterstürzen. Ich konnte gar nicht glauben,
dass ich das in diesem Leben noch erleben durfte.

Im Anschluss besuchte ich den hochgelobten Vogelpark, der zwar recht viel Eintritt
kostete, aber dafür eine Menge an Vivarien mit frei fliegenden Vögeln bot. So viele
Tukane, Papageien und Kolibris hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Wie
laut Papageien schreien! Es war ein einzigartiges Erlebnis.
Leider sind manche Arten wegen der Haustierhaltung fast ausgestorben.

Da es am nächsten Tag in Strömen regnete, beschloss ich, anstatt zur


argentinischen Seite der Wasserfälle ins benachbarte Paraguay zu fahren. Irgendwo
hatte ich gelesen, welcher Bus dorthin fuhr und so setzte ich mich neben einen
Brasilianer aus Vitória in Espítiro Santo. Er war geschäftlich unterwegs und handelte
mit Computern. Durch ihn erfuhr ich, dass die Grenze für Brasilianer offen ist und so
riskierte ich es, einzureisen ohne am Zoll vorbeizugehen.
Er führte mich durch die vollkommen verdreckten und nassen Straßen vorbei an
unendlichen Ständen mit sinnlosem Tand und Geschäften mit zollfreier Ware bis hin
zu einer Wechselstube.
Hier war der Wechselkurs viel besser als in Brasilien – auch die Gebühr war viel
geringer -, aber ich hätte einen Eingangsstempel für Paraguay gebraucht, um Geld
zu tauschen und den hatte ich mir ja nicht geben lassen.
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Der Typ erzählte mir, dass er einmal 100.000 Dollar verloren hätte und öfters 5.000
Dollar, denn er bringe das Geld generell schwarz über die Grenze und einige Male
wurde er erwischt. Er meinte, ich wäre vollkommen falsch angezogen.
„In Paraguay tragen die Frauen keine Röcke, denn die Männer hier sind schamlos
und fassen sie an. Deine Schuhe sind auch ungeeignet, denn auf den schlechten
Straßen können sie durchlöchern.“
Ich war entsetzt von allem, was ich sah, es war schlimmer als das, was ich je erlebt
habe. Die schlimmsten Ecken von Bangkok und Kuala Lumpur und ich weiß nicht
was zusammengenommen.

Ich lief zurück zur Grenze, nachdem ich mich von dem Vitorianer verabschiedet
hatte, um mir einen Eingangsstempel zu holen. Der Zollbeamte schaute meinen
Pass lange an und machte mir dann klar, dass ich zuerst einen Ausgangsstempel
aus Brasilien bräuchte. Das ganze Paraguay ging mir dermaßen auf die Nerven,
dass ich mich gegen Ein- und Ausgangsstempel entschied und zusah, auf
schnellstem Wege wieder nach Brasilien zu kommen. Da zahlte ich gerne etwas
mehr, um an brasilianisches Geld zu kommen... Für mich war diese ausschließlich
dem Kommerz gewidmete Stadt die Hölle in Reinformat gewesen.

Am Abend fuhr ich dann mit der Schweizerin Gisela zu einer Abendveranstaltung des
Itaipú-Staudamms. Das größte Wasserkraftwerk der Erde wird auch als siebtes
Weltwunder bezeichnet. Es hat gigantische Ausmaße und ist mit einer dermaßen
großen Gewalt der Natur abgetrotzt, dass einem der Atem stockt. 95% des
Energiebedarfs Paraguays und 25% des Energieverbrauchs von Brasilien werden
damit gedeckt. Ich war ziemlich platt deswegen.

Der Besuch der argentinischen Seite der Wasserfälle am nächsten Tag war das
Schönste, was ich je in meinem Leben an Naturschauspiel gesehen habe. Ich fuhr
alleine mit dem öffentlichen Bus hin und lief erst den oberen Rundweg und dann den
unteren entlang unentwegt die Wassermassen bewundernd, die an allen Seiten um
mich herum hinabströmten. Hier war mensch viel näher an der Wasserfällen dran als
auf der brasilianischen Seite, lief knapp an ihnen vorbei, zwischen ihnen hindurch
oder über sie hinweg und hatte phantastische Aussichten.
Das war wieder Dualität: in Paraguay das Schrecklichste, was ich je gesehen habe
und hier das Schönste, das ich je zu Gesicht bekam und beides ganz nah
beieinander.
Dazwischen kaufte ich ein paar Sachen bei den Maká-Indios, die ihre Waren an ein
paar Ständen verkauften: einen bunten Rucksack, eine Tasche und ein Bändchen,
das ich mir an den Fuß knotete. Der Indio, der das schönste Bändchen hatte,
erzählte mir, er sei Künstler. Er schenkte mir zwei Münzen in Guaraní, der
paraguayanischen Währung. Guaraní ist auch die Hauptsprache in Paraguay.
Im argentinischen Bus gab es auf jedem Ticket einen Spruch.
„Un hombre no es otra cosa que lo hace de si mesmo“ – „Ein Mensch ist nichts
anderes als das, was er aus sich macht“ von J. P. Sartre stand auf meinem.
Am letzten Tag in Foz do Iguacu wollte ich erst noch mal zur argentinischen Seite
der Wasserfälle gehen, aber ich hatte nicht mehr so viel Zeit, weil ich mir schon für
den Nachmittag ein Busticket nach Campo Grande gekauft hatte. So entschied ich,
als ich mit einer Wächterin des Nationalparks über die Indios sprach, zu einem von
den Indiodörfern in der Nähe zu fahren. Die Wächterin erzählte mir auch, dass die
Maká-Indios in Paraguay lebten und die Gauraní in Argentinien. Die Maká fertigten
die Taschen an und die Gauraní Holzfiguren der Tiere der Region.
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Die Guaraní wären ziemlich gestört und viele würden nicht arbeiten. Die Maká
hingegen seien noch besser in ihrer Kultur verhaftet. Sie hätten ein Oberhaupt und
würden jeden Abend nach Hause in ihr Dorf fahren.
Sie erklärte mir den Weg zu einem nahen Guaranídorf. Der Busfahrer vergaß leider,
mich an der richtigen Stelle rauszulassen, so dass ich eine zeitlang zurücklaufen
durfte. Dann fragte ich in einem kleinen Lädchen nach dem Weg und ein Indiojunge,
der gerade fünf Zwei-Liter-Flaschen Softdrinks gekauft hatte, nahm mich mit in sein
Dorf. Dorf ist zu viel gesagt, es war einfach nur eine Ansammlung einiger weniger
Holzhütten, die in dermaßen desolatem Zustand waren, dass ich erschrocken war,
als ich sie sah.
Wir liefen zuerst an Maniokfeldern vorbei, dann kam ein junger Mann, um mit mir zu
sprechen. Eine seiner Haarsträhnen war blond gefärbt und an den Schneidezähnen
klaffte eine Lücke. Sie zeigten mir Holzfiguren, die sie geschnitzt hatten. Da ich
knapp in der Zeit war, ging ich gleich wieder. Es war auch wenig einladend und sehr
ernüchternd.
Ich erinnerte mich bloß, dass ich vor Jahren mal irgendwo in Brasilien einen ganzen
Zoo dieser Holzfiguren gekauft hatte und mir wünschte, einmal zu sehen, wo diese
Indios wohnten, denn derjenige, der sie mir verkaufte war so nett wie seine Figuren
und hatte es mir echt angetan. So traurig und trostlos hatte ich mir die Realität dann
doch nicht vorgestellt. Überhaupt war es das erste Mal, dass ich in einem Indiodorf
gewesen war.
Ich fuhr dann weiter nach Campo Grande, von wo aus ich ins Pantanal gelangen
wollte und kam nach der Fahrt die ganze Nacht hindurch am nächsten Morgen an.

Campo Grande

Auf dem Busbahnhof in Campo Grande wollten mir mehrere Jungs Flyer von der
Exkursion der Jugendherberge anbieten, mir war diese Möglichkeit jedoch nachdem,
was ich gehört hatte, zu stressig. Dort schliefen sie nämlich in Hängematten und ich
hatte das schon zu genüge ausprobiert und festgestellt, dass ich das lieber den
Indios überlasse.
Bei meinem neugierigen Rundgang über den Busbahnhof, sprachen mich dann zwei
weitere Typen an, die einen anderen Prospekt vorzuweisen hatten. Als ich Interesse
bekundete, ins Pantanal zu fahren, wurde ich in ein Büro geführt und ein Junge
namens Roberto erklärte mir die angebotene Exkursion mit einem angeblichen
Spezialpreis. Ich wäre in der Fazenda Natural untergebracht, die in einigen
Reiseführern verzeichnet sei.
Hier würde mensch in Betten schlafen und es wäre auch viel weiter von der Straße
entfernt wie bei der Exkursion von der Jugendherberge. Obwohl ich bisher immer
einen großen Bogen um Angebote von irgendwelchen Schleppern gemacht hatte,
nahm ich diesmal an, was auch daran gelegen haben könnte, dass eine Chilenin, die
mit mir im Bus gewesen war, ebenfalls mitfuhr. Mir wurde versprochen aufstehen zu
dürfen, wann ich wollte und einen Extraführer zu bekommen. Das hatte mich
überzeugt.
Ich holte noch Geld in einer HBSC-Bank, der einzigen Bank, in der mensch in
Brasilien mit EC-Karte Geld abholen kann und das zu einem verhältnismäßig
günstigen Kurs. Im Pantanal würde ich nicht an Geld gelangen. Roberto begleitete
mich zur Bank und ging noch mit Frühstücken. Er fragte mehrmals, ob er nicht als
mein Privatguide mitfahren solle, aber ich lehnte dankend ab. Er war gerade einmal
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22 Jahre alt, hatte jedoch schon ein vierjährige Tochter und 12 Jahre
Guideerfahrung.
Er sei im Pantanal aufgewachsen, habe aber schon in vielen Städten in Brasilien
gelebt und wolle 2006 zur Fussballweltmeisterschaft nach Deutschland fliegen. Er
hatte einen milchkaffeebraunen bodygestylten Körper. Im Büro durfte ich sogar noch
kostenlos im Internet surfen, bevor es mit einem regulären Bus zum Burraco das
Piranhas, dem Piranhaloch ging, an dem die Chilenin und ich von einem uralten
Pickup abgeholt wurden.

Pantanal

Von da ab ging es eine holprige Lehmstraße entlang bis zu einer Lanchonete, in der
wir Halt machten. Ich trank eine Dose Tonic Water, fand aber ziemlich dekadent, in
solch einer gottverlassenen Gegend Dosen zu verkonsumieren. Sie schienen mir ein
vollkommener Fremdkörper, denn wo sollen sie hier entsorgt werden? Etwa dem
Recycling zugeführt?
Es waren insgesamt etwa 30 Kilometer Lehmstraße, die wir entlangholperten bis wir
zur Pousada kamen. Auf der Strecke wechselten Weiten von Gras mit vereinzelten
Bäumen für Rinderherden ab mit Tümpeln und kleinen Waldstücken. Wir holten eine
Gruppe von Leuten ab, die Piranhas angeln waren.

Die Pousada war sehr einfach und äußerst schmutzig. Sie wäre schon fünfzig Jahre
alt. Ins Auge sprang sofort der schwarze Dieselgenerator, der täglich von 18:00 –
22:00 Uhr ratterte, um ein wenig Licht zu machen und die Ventilatoren in Bewegung
zu bringen. Das war ein ziemlich lautes Geschäft für diesen Zweck, wie ich
feststellen musste.
Ein Uruguayaner namens Miguel zeigte uns unsere Betten im Zwölf-Mann-
Schlafsaal. Ich ging die letzte Stunde vor Sonnenuntergang noch spazieren und mein
Herz schlug höher bei dem Geschrei der blauen Papageien und der durch die Lüfte
fliegenden Tukane. Diese Vögel einmal in ihrem natürlichen Lebensraum zu sehen,
war so lange mein Traum gewesen! Ich hatte ihn schon komplett vergessen.
Am ersten Tag bekam ich tatsächlich ein Extrafrühstück um eine andere Zeit wie die
anderen und eine Einzelführung. Auf dem Weg flogen vier Tukane an uns vorbei und
zwei Affen tönten dumpf in den Baumgipfeln. Ein Waschbär kletterte einen Ast
entlang und ein Rüsselschwein stürzte mit lautem Getöse ins Wasser, als wir näher
kamen. Auch gab es hier die selben Vögel wie in São Paulo, deren „Fitschibü“ mich
an die Zeit dort erinnerte.
Mein Führer Luiz lief barfuß, was ich ihm die meiste Zeit nachmachte. Es gäbe nur
ab und zu spitze Stacheln, da müsse mensch aufpassen.
Ich war sehr froh, dass der Generator am Abend ausgefallen war, denn so ließ sich
die nächtliche Geräuschkulisse in aller Ruhe genießen.

Am darauffolgenden Tag stand ich direkt mit den anderen auf und fuhr mit ihnen zum
Piranhaangeln. Luiz und Miguel bewegten unser Boot, in dem wir als Gruppe saßen,
mit Stöcken vorwärts und wenn es nicht weiterging, stiegen sie trotz der Piranhas ins
Wasser und schoben uns an. Wir waren alles Ausländer.
Die anderen angelten mit Bambusstöcken und einfachen Haken an Nylonfäden die
berühmten Piranhas, während ich mich mit der Chilenin abseilte und auf Robinson
Crusoe Entdeckungstour ging. Wir liefen flussaufwärts durch das auffallend stille
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Terrain und sahen an Tieren bloß ein Wasserschwein, das im Fluss Auf- und
Abtauchen spielte.
Wieder zurück bewunderten wir einen Kaiman, den Miguel mit Fischen an einem
Stock ans Ufer lockte, damit wir alle Fotos schießen konnten.

Nach dem Essen flaggte ich in der Hängematte. Der Hausherr ging am Nachmittag
mit mir alleine für fast zwei Stunden reiten. Er ritt ganz langsam vorneweg und mein
Pferd folgte ihm ohne zu Murren. Zum Teil ging es durch tiefes Wasser durch endlos
scheinendes Gebiet mit Weideflächen und kleinen Waldbeständen.
Ich erfuhr, dass er die Fazenda vor 20 Jahren gekauft hatte und einer der Pioniere
für den Tourismus im Pantanal war, denn er hat die Touristen damals schon
empfangen. Das ganze Pantanal gehöre Farmern, die das Gebiet – seiner Meinung
nach - erhalten würden. Sie leben von den Rindern, von denen es im gesamten
Pantanal 240 Millionen Stück gibt.
Am Abend tobte ein großes Unwetter mit viel Blitzen und Regen über uns hinweg
und setzte den kompletten Speisesaal unter Wasser - zum Glück waren wir schon
fertig mit dem Essen.
Am Abend kamen drei neue Leute im Regen an. Sie hätten vier Stunden am Burraco
das Piranhas gewartet, um abgeholt zu werden und waren ziemlich aufgebracht. Die
Reise hatten sie schon in Rio de Janeiro zu einem äußerst hohen Preis gebucht und
jetzt wäre alles anders als versprochen. Zum Beispiel gäbe es gar keinen
Dolmetscher. Es wäre auch nicht, wie es bei ihm im Let’s go-Reiseführer stand. Ich
versuchte sie etwas zu beruhigen, dass das Auto kaputt gewesen wäre und die
Reparatur länger gedauert hätte...
Eine Finnin fragte mich am Abend, ob ich ein wenig Übersetzen könnte und so erfuhr
ich vom Hausherrn, dass die größte Farm 300.000 Rinder hätte. Die Raubkatzen
seien die gefährlichsten Tiere hier. Der Jaguar greife auch Menschen an, vor allem,
wenn eine Mutter mit einem Jungen unterwegs sei. Renne man weg, sehe sie einen
als Jagdbeute oder als Opfer an und würde einen verfolgen. Die einzige Möglichkeit,
ihr zu entkommen sei, sie anzugreifen.
Die gefährlichsten Indios seien jene, welche kopfüber an Bäumen hängend schlafen.
Sie hätten blonde Haare und helle Augen, würden tagsüber nichts sehen und nachts
auf die Jagd gehen. Indios morcego, Fledermausindios würden sie genannt.
„Das ist kein Spaß, sondern ernst“, gab er zu verstehen, denn ich glaubte ihm kein
Wort. Die Finnin meinte, dass Deutschland 24 Mal in Brasilien hineinpasse und dass
alleine das Pantanal so groß sei wie ganz Deutschland.

Auf der sogenannten Foto-Safari sahen wir haufenweise Kaimane, aber auch
Wasserschweine, einen Tukan, Eisvögel und eine ganze Reihe von Geiern auf zwei
toten Kühen sitzen.
Als ich mich auf mein Tuch legte anstatt in die Hängematte, machte ich die
Entdeckung, dass es blutsaugende Ameisen gibt, formiga-suga. Sie hatten es auf
meine Wunden abgesehen. Der Koch meinte, in Campo Grande gäbe es die
schönsten Sonnenuntergänge von Brasilien und ehrlich gesagt konnte ich ihm recht
geben, sie waren wirklich spektakulär.

Am letzten Tag unternahm ich mit ein paar Franzosen eine Wanderung, diesmal
durch hüfttiefes Wasser. Wir sahen die gleichen Tiere wie sonst auch, bloß näher
und viel besser: einen Waschbären, einen Kaiman, aber auch seltene
Papageienarten.
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Im Ganzen war ich fünf Tage und vier Nächte dort, was mir auch reichte. Dann ging
es weiter nach Bonito. Die Schweizerin in Foz do Iguaçu hatte mir von Bonito erzählt
und ich erinnerte mich, dass ich vor Jahren schon im Bereich Ökotourismus davon
gehört hatte. Es solle so schön sein. Bonito heißt übrigens „schön“. Ich hatte nie
gewusst, wo es überhaupt war und jetzt war ich nur eine halbe Tagesreise entfernt,
Grund genug, es mitzunehmen.
Auf der Fahrt erwarteten mich wieder nur die üblichen Viehweiden, dann aber auch
mal ein paar Reisfelder und grüne bewachsene Hügel.

Bonito

Als ich nach meiner Ankunft in der Jugendherberge anrief, erfuhr ich, dass ein VW-
Bus von der Herberge am Busbahnhof wartete. Ich bekam das letzte Bett wegen
eines bevorstehenden Feiertages. Es war ein Traum zum Aushängen zu einem
guten Preis mit Swimmingpool und überdachten Hängematten.
Ich traf den Paraguayaner, der in der Fazenda Natural gearbeitet hatte und ein paar
Tage zum Entspannen hier war. Er wäre dort für seine Arbeit gar nicht bezahlt
worden. Und der Koch hoffte, Geld zu verdienen, um nach Bolivien fahren zu
können...
Wegen des Feiertages waren die Preise für die angebotenen Touren gut 25% höher
als normal, weshalb ich Schwierigkeiten hatte, mir etwas aus dem umfangreichen
Programm herauszusuchen. Ich entschied mich für die Estância Mimosa, eine Tour,
die sich ganz großartig angehört hatte, ein Rundgang für drei Stunden mit vielen
verschiedenen Wasserfällen. Zu viert fuhren wir mit einem Taxi los und wurden von
dem Führer Paulo in Empfang genommen. Er trug lange, zu einem Schwanz
zusammengebundene Haare und war in beige gekleidet. Die Tour war wunderbar,
schon alleine die Fazenda und der Garten. So viele blühende Sträucher wie hier,
hatte ich noch nie gesehen.
Das Ganze war wie ein Park, alles sehr grün, ein richtiger Dschungel. Früher hätte
der Besitzer Holz geschlagen, nun werde jedoch alles renaturiert. Wir badeten in
einem größeren Wasserfall und hatten große Freude daran. Bei uns werden solche
Naturschönheiten in Form von Thermalbädern nachgebaut.
Alles auf der Fazenda war schön angelegt, die Treppen und Brücken waren zum Teil
mit Holzbohlen und Geländer ausgestattet.
An einem Wasserfall durften wir uns etwas wünschen. Ich lief ein Stück abseits und
gelangte an ein Sprungbrett, auf dem ein kleiner Frosch saß oder war es eine Kröte?
Er erregte meine Aufmerksamkeit und ich hörte ihn plötzlich: „Ich möchte, dass Du
herkommst“ rufen. „Ich möchte, dass Du herkommst“ rief er wieder, drei Mal im
Ganzen. Als ich wissen wollte wie ich das tun solle, meinte er: „Das wirst Du schon
sehen. Du bekommst alles, was Du brauchst.“
Ich war ziemlich benommen. Ich erinnerte mich, dass ich früher Biologie studieren
wollte, um im Dschungel sein zu können. In meinen Gedanken sah ich mich schon
als Führerin hier durch den Park gehen, ja ich sah mich sogar schon auf der
Fazenda wohnen, so halluziniert war ich von der Schönheit...
Seltsam das alles.

Ich lernte dann René aus München kennen, einen halben Paraguayaner und halben
Deutschen, der mich zu einem Acerolasaft einlud und ohne Ende Geschichten
erzählte. So sei Paraguay von den Jesuiten missioniert worden. Sie ließen die Indios
in 25 Dörfern leben, bis sie eine viertel Million Menschen waren.
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„Sie hatten viel größere Ernten gehabt als die Spanier, 3000 Mal so viel und waren
zu mächtig geworden. Die Jesuiten wollten ein Gottesreich auf Erden errichten und
das war den Spaniern ein Dorn im Auge. In dem Film The Mission ist das alles
dokumentiert worden.“
Die Chilenin war in Paraguay bei den Ruinen der Jesuiten gewesen.
„Die Jesuiten haben genauso gearbeitet wie die Indios auch.“
Als wir am Abend nebeneinander in den Hängematten lagen, erzählte er weiter.
„Anfang des 19. Jahrhunderts hat ein Präsident 35 Jahre lang Paraguay sozialistisch
regiert. Er hat keine Zwei-Klassen-Gesellschaft geduldet und Privatgrundbesitz
abgeschafft. Die reichen Spanier wurden enteignet und gezwungen, Indiofrauen zu
nehmen, wenn nicht, hat er sie umgebracht. Er hieß Da Francia.“
Mir war das alles total neu.
„Er hatte jedoch keinen Nachfolger, der das Land in seinem Sinne weiterregierte. Der
nächste Präsident ließ einen Palast von dem Gold bauen, das da war und flog nach
England, um dort eine Eisenbahn zu ordern, die erste, die in Südamerika gebaut
wurde. Dadurch wurde England auf das autarke, sich selbst versorgende Land
aufmerksam und wollte Geschäfte machen, Präsident Lopes jedoch nicht.“
Und dann kam es.
„Die Engländer waren eigentlich Schuld am Massenmord von fast einer Million
vierhunderttausend Paraguayanern. Sie haben das Land vom Erdboden
verschwinden lassen wollen. In London ist eine geheimer Vertrag zwischen Brasilien,
Argentinien und Uruguay unterzeichnet worden. Das Gebiet, auf dem wir uns gerade
befinden, Bonito, weite Teile des Pantanal und Foz do Iguaçu war früher Paraguay
gewesen. Und Brasilien gehört schon voll den Amerikanern,“ schloss er, „sie können
sich einen weiteren Stern auf ihre Flagge machen.“
Wir philosophierten weiterhin über Motorsägen, die den ganzen Urwald vernichten.
Wir kamen überein, dass sie kein gottgewolltes Gerät sind und mehr Übel anrichten
als Nutzen bringen. Ich dachte auch an die ganzen Gewaltfilme mit Motorsägen, die
uns dies in pervertierter Form bestätigen.

Am Nachmittag fuhr ich, wie mir der Führer Paulo geraten hatte, zum Balneário
Municipal, einem zwar schönen natürlichen Schwimmbad etwas außerhalb der Stadt,
das mir aufgrund des Sonntages jedoch zu voll war, um es zu genießen.
Ich freundete mich ein wenig mit Juliano, dem Nachtwächter der Jugendherberge an,
der etwa halb so alt wie ich war. Er meinte, Indios wären diejenigen in Brasilien, die
am wenigsten arbeiten. Er würde gerne wie ein Indio leben erzählte er, als wir
gerade unter dem von Indios gefertigten Palmdach lagen. Ich fragte ihn beiläufig, wie
viel hier ein Zimmer im Monat kosten würde.
„Da fragst Du den Richtigen. Bei mir in der WG sind nämlich gerade zwei Zimmer frei
und eines davon möchten wir vermieten. Es kostet 100 Reais im Monat.“
Ich war baff. Eigentlich hätte ich ja am liebsten auf der Fazenda draußen gewohnt,
aber das war wohl etwas zu weit gesteckt.

Im Supermarkt stand ich entsetzt vor den langen Regalmetern mit


umweltschädlichen Waschpulvern, Spülmitteln und Giften gegen Ungeziefer, um nur
einiges zu nennen. Kein einziges biologisch abbaubares oder umweltschonendes
Produkt. Immerhin entdeckte ich dann noch zwei Regalmeter mit Bioprodukten, was
meine Stimmung etwas steigerte. Die Computerkasse streikte gerade, als ich zahlen
wollte.
In der Nähe verkauften Hippies ihre handgefertigten Schmuckstücke.
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Ich schaute mir das Zimmer bei Juliano an und wollte es nehmen. Das wäre mein
Zuhause für die nächsten Wochen.
Irgendwie fühlte ich mich sowieso in Bonito zu Hause und kreierte den Spruch „Das
größte Abenteuer ist es, sich zu Hause zu fühlen“.
Der Fahrer von der Jugendherberge sagte: „Warte ab, am Ende bleibst Du hier, weil
Du es so schön findest. Ich kam von Campo Grande und ging nur kurz zurück, um
hierher zu ziehen“.

Als ich jedoch am nächsten Tag nach einer Matratze schauen wollte, kam mir Juliano
entgegen. Er habe mich gesucht, weil am Morgen etwas passiert sei. Sein
Mitbewohner kam morgens um sieben mit zwei Jungs heim und machte einen
dermaßen großen Lärm, dass Juliano nicht schlafen konnte. Er wollte ein besseres
und billigeres Zimmer suchen, „für uns“. Er wisse schon in etwa, wo etwas frei sein
könnte. Das „uns“ klang mir irgendwie sehr intim und ich wusste nicht so recht, was
ich davon halten sollte, könnte er schließlich mein Sohn sein.
Am Abend hatte ich auf einmal den Impuls, im Taboa vorbeizuschauen, der
beliebtesten Kneipe der Stadt. Ich fuhr mit dem Fahrrad daran vorbei und hatte so
eine Ahnung, dass der blonde Typ, der mit einem dunkelhäutigen Brasilianer
zusammensaß, mir etwas zu sagen habe. Bloß wusste ich nicht so recht, wie ich an
ihn herankommen sollte.
Ich ging erst einmal hinein und traf jemanden, den ich von der Jugendherberge her
kannte, der mir einige Tips gab, was ich in der Gegend von Brasília besuchen
könnte.
„In der Nähe der Chapada dos Veadeiros gibt es die Gemeinschaft Vale do
Amanhecer - wo Du Dich doch für Esoterik interessierst... In Cristalina werden
Steine abgebaut und verarbeitet. Dort kann man genauso gut Steine einkaufen wie in
Minas Gerais, wenn nicht besser. Und zwanzig Autominuten vom Kongress entfernt
gibt es einen Nationalpark mit vielen Quellen, wo Du in Mineralwasser baden
kannst“.
Er zeichnete mir alles auf.
Die Leute, die hinter der esoterischen Kirche mit der Spirale auf dem Fußboden
stehen, in der ich mal war, wären allerdings nicht ganz vertrauenswürdig. Keiner
wisse, wie viel Geld von den Spenden, die sie für Arme eintreiben sie für sich
verwenden würden.

Ich fasste dann all meinen Mut zusammen und sprach den Blonden an. Er kam aus
Porto Alegre und wartete darauf, dass sein kaputter Jeep repariert werde. Er lud
mich sogar ein, während des Weltsozialforums bei ihm zu wohnen. Von hier bis
Porto Alegre seien es 1750 Kilometer.
Der Dunkelhäutige namens Hugo wollte wissen, ob mir die brasilianische Musik
gefalle. Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte.
„Vor Jahren mochte ich sie mal sehr, aber heute höre ich sie einfach nicht mehr“.
„Früher, vor zwanzig Jahren wurde über die Seele gesungen, aber heute drehen sich
die Texte nur um Sex“, informierte mich der Gaúcho.
Beide begleiteten mich noch bis zur Jugendherberge und zeigten mir das Hotel, in
dem Hugo arbeitet. Er stammte aus São Paulo.
Als ich an den deutschen Winter dachte, der auf den anderen Seite der Erdhalbkugel
langsam hereinbrach, kam mir die Ähnlichkeit der portugiesischen Worte Inverno /
Winter und Inferno / Hölle zu Bewusstsein.
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Der Weg zum Balneário Taruma, das ich als nächstes ansteuerte, war sehr
beschwerlich. Eine Schotterpiste führte durch für mich „totes“ Gelände, durch
Rinderweiden nämlich und die Sonne brannte unablässig auf mich und meinen
Drahtesel herab. Es war mühsam, hier zu fahren, schien endlos und ich fürchtete, nie
anzukommen. Zwischendurch machte ich die Bekanntschaft mit den
Verhaltensweisen der Kühe, die in Scharen zu mir gelaufen kamen, mich
anschauten, um sich dann plötzlich umzudrehen und auf einen Schlag wieder
wegzulaufen. Auch ein paar Papageien flogen über mich hinweg.
Dieser Balneário gefiel mir überhaupt nicht, alles schien mir irgendwie dreckig und
unschön, bloß das Eintauchen in den vollen Fluss machte Spaß und war bei der
Hitze eine Wohltat.
Von einem Mitarbeiter wurde mir empfohlen, auf dem Rückweg den linken Weg zu
nehmen. Dieser war wesentlich kürzer und auch schöner. Zwei kleine Schlangen
sonnten sich auf dem Weg.
Bloß führte der Weg hier mitten durch die Rinderweiden hindurch und auf einmal
rannten die Rinder, die vorher noch das übliche Schau-Lauf-Weg-Spiel trieben,
allesamt hinter mir her! Ich bekam einen gehörigen Schreck, kam aber gerade noch
davon.

Die schönen Orte, die es in Bonito zu sehen gibt, können leider zu meiner großen
Enttäuschung bis auf die Balneários nur mit einem Führer mittels organisierter
Touren besichtigt werden. Das war sehr ernüchternd. Und die Preise für die Touren
sind horrent. Das ist der vielgepriesene Ökotourismus, für den Bonito so bekannt ist.
Irgendwie fragte ich mich, ob es denn nicht einen Biobauernhof hier in der Gegend
gäbe und am Abend wurde ich in dieser Hinsicht auch fündig. Auf dem Guavira-
Festival, das der hiesigen gleichnamigen Frucht gewidmet ist, fand ich einen Stand
mit biologischen eingemachten Früchten, an dem zwei Frauen mir von einem Projekt
mit Bio-Anbau in der weiteren Umgebung erzählten.
Samstags würden sie Obst und Gemüse aus biologischem Anbau auf dem Markt am
Hauptplatz verkaufen. Sie wären an eine NGO, eine Nicht-Regierungsorganisation
angeschlossen, in der mehrere Biologinnen arbeiten würden. Ihr Büro wäre am
Ortsausgang gegenüber der Tankstelle. Das war genau das, was ich gesucht hatte!

In der Jugendherberge wurde es mir langsam zu turbulent. Die neu angekommenen


Gäste machten ein Halligalli, dass mir Hören und Sehen verging. So hielt ich
Ausschau nach einem Zimmer. Das erste, das ich sah, war für meine Begriffe zu
einfach, also schaute ich mir mal eines bei Hugo im Hotel an, den ich vorher schon
ab und an wiedergesehen hatte. Auch wenn es hier nicht im geringsten so schön war
wie in der Jugendherberge, es keinen Platz gab, um in der Hängematte zu flaggen,
keinen Swimmingpool und keine kostenlosen Fahrräder, nahm ich es, denn ich hatte
das dringende Bedürfnis, nach vier Wochen mal wieder ein Zimmer für mich alleine
zu haben.

Auf dem Festival lernte ich ein Pärchen aus São Luis do Maranhão, dem Norden
Brasiliens näher kennen, das selbstgemachten Schmuck verkaufte. Als ich ihnen von
meiner Zimmersuche erzählte, empfahlen sie mir eine Vermieterin ganz in ihrer
Nähe. Dort bekam ich tatsächlich ein schönes, großes und sauberes Zimmer mit
einem Doppelbett und zwei einzelnen Betten zu einem bezahlbaren Preis. Ich war
glücklich. Vor allen Dingen war es ein total gutes Gefühl, mal wieder in einem großen
Bett zu schlafen und nicht in einem Einzelbett, wie die ganze letzte Zeit. Noch dazu
war das Zimmer einigermaßen kühl.
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Auf dem Weg traf ich einen Griechen, der mit seiner Freundin im Pantanal in der
Pousada Natural hatte arbeiten wollen und der danach in die Jugendherberge in
Bonito gekommen war. Er hätte das Leitungswasser getrunken und jetzt fühlte er
sich schlapp und hatte Fieber.
„Zeit ist die beste Medizin“ laute ein Sprichwort in Griechenland.

Als ich am Abend bei Hugo im Hotel für uns Beide kochte, fragte er unvermittelt:
„Hast Du einen großen Traum?“
Und als ich nicht antwortete: „Oder ist das ein Geheimnis?“
Ich bejahte. Er wollte auch wissen, ob Brasilien für mich tatsächlich das Land der
Zukunft sei, wie dies Stefan Zweig gesehen hatte.
„Wenn Lula Brasilien nicht für die Gentechnik geöffnet hätte, dann hätte ich es als ein
Land der Zukunft gesehen“.
Wir gingen noch zusammen auf die Praça, den Platz, auf dem das Guavira-Festival
stattfand. Ich probierte eine dieser Palmfrüchte, die an jeder Palme im Pantanal
hingen. Sie schmeckte dermaßen scheußlich, dass ich sie mit total verzogenem
Gesicht in hohem Bogen wegwarf. Grund genug für Hugo und mich, uns den ganzen
Abend darüber halb totzulachen. Als nächstes bekam ich endlich das berühmte Açai
na Tingela zu probieren, eine Neuigkeit, die ich noch nicht kannte. Es war ein im
Mixer gemachtes Eis mit Bananen und Granola, das ganz lecker schmeckte.

Als ich in der Fundação Neotrópica vorbeischaute, der NGO, die sich auch um die
Biobauern kümmerte, wurde ich zu einer Veranstaltung am Nachmittag in einem
Hotel eingeladen, bei der verschiedene Fazendabesitzer für ihre Arbeit prämiert
wurden. Das Beste an dem Ganzen war, dass ich früher da war und im
Swimmingpool noch etwas schwimmen durfte, der Rest der Veranstaltung war für
mich eher langweilig, vor allem das nichtvegetarische Büffet. Zum Abschied sagte
einer meiner Gesprächspartner zu mir: „Pass auf, dass Du Dich nicht verlierst“.

Am nächsten Tag ging ich mit den Beiden aus Maranhão zum Balneário Municipal.
Nachdem wir ein Stück in der Mittagshitze gelaufen waren, nahm uns ein
Lastwagenfahrer mit. Welche Freude! Außerdem erzählte Regina dem Kassierer,
dass wir in Bonito wohnen und so kamen wir kostenlos rein. Wir gingen gleich zum
Fluss, in dem uns Schwärme von großen bunten Fischen erwarteten, die ich am
Sonntag gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Ein wahres Paradies. Gleich drei Mal
ließ ich mich durch die Strömung ein ganzes Stück den Fluss hinabtreiben.
Auf dem Guavira-Festival hatte mich jemand mit Guilherme, dem ältesten Führer von
Bonito bekanntgemacht. Nicht dass er alt war, aber er war einfach der erste, der hier
in Bonito die Besucher zu den Sehenswürdigkeiten führte. Er war vor 28 Jahren aus
dem Pantanal gekommen, als Bonito gerade einmal 7.000 Einwohner hatte. Damals
gab es noch keine Elektrizität, kein Abwassersystem und kein fließendes Wasser.
Nun habe die Stadt 20.000 Einwohner.

In einem Laden von einem paulistaner Pärchen kaufte ich mir einen Maya-Kalender.
Ich las ein wenig in ihm herum und war ziemlich beunruhigt, denn es hieß, in den
sieben Jahren zwischen 1993 und 2000 müsse die Menschheit erwachen. Aber
sogar im Jahre 2005 ist von erwachter Menschheit keine Spur. Einzelne Menschen
mögen erwacht sein, aber die ganze Menschheit?
Plötzlich fühlte ich mich etwas verloren und wusste gar nicht recht, warum und wieso.
Davor hatte mich doch gestern noch jemand gewarnt...
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Auf der Straße traf ich Juliano, der schon ein paar Mal bei mir gewesen war und mich
nicht angetroffen hatte. Er hatte ein Haus gemietet und wir erzählten uns
gegenseitig, wie alles passiert war. Sein Haus war zum Davonlaufen. Überall
Schimmel, die Wände grau, der Putz zum Teil abgebröckelt, die Holzdecke hing
stellenweise herunter und irgendwelche Tiere hatten ihre Spuren hinterlassen. Der
rote Boden war vollkommen zerstört, Küche und Klo waren ein Desaster. Einfacher
und Heruntergekommener hätte es kaum sein können. Unmöglich hätte ich hier
wohnen können. Ich sagte ihm dies auch.
„Das Wichtige ist, wo Du Dich wohlfühlst“, sagte er selbst.
Er hatte ein Fahrrad zu verkaufen, das mir ein ideales Gefährt erschien. Der Preis
war auch genauso hoch, wie ich gehört hatte. Also kaufte ich es ihm ab. Was mich
an Bonito in bezug auf das Fahrradfahren begeisterte war, dass mensch hier kein
Schloss benutzte und das in einer Stadt mit 20.000 Einwohnern in Brasilien. Das
wäre in Deutschland in einer Stadt undenkbar.
Wir gingen zusammen in die Jugendherberge, in der mir Juliano den Besitzer
vorstellte, den ich bis jetzt noch nicht kennengelernt hatte. Er hatte wohl schon ein
paar Bierchen getrunken, war jedoch sehr nett und erzählte, dass reiche Verwandte
von ihm das Schwimmbad bezahlt hätten.
Mensch muss wissen, dass hier in der Nähe die heißeste Gegend von ganz Brasilien
ist. Das mag etwas heißen. Er lud mich zu einem Saft ein und dazu, immer
herzukommen und den Swimmingpool zu benutzen. Welche Freude! Er war aus São
Paulo und ein Bauingenieur, der sich selbst - wie er meinte - schon verwirklicht hätte.
Sein Vater hätte immer gesagt, es gäbe zwei Leben: im ersten würden wir leiden und
lernen und im zweiten nur genießen.

Ich kaufte mir einen Hut, der wie ich erfuhr aus Karandá-Fasern war. Karandá ist
eine Palme, die im Pantanal wächst und die von den Indios von eh und je dazu
benutzt wurde, Hüte zum Schutz vor der Sonne zu machen.
Eine Bolivianerin, die Kunsthandwerk aus ihrer Heimat verkaufte erzählte mir, dass
es in Bolivien viele deutsche und japanische Siedlungen gäbe. Die Frauen der
Deutschen würden schwarze Kopftücher tragen, wenn sie verheiratet sind, rote,
wenn sie noch unverheiratet sind und als Kinder weiße, wenn ich das richtig
verstanden habe.
In dem Ringbuch, das ich gekauft hatte wird auf jeder Unterteilung für ein anderes
Schulfach vor Drogen gewarnt, auch vor Alkohol und Nikotin.
Wie Blasen in einem See blubbern Erinnerungen an die Oberfläche...

An einem Stand mit Holzfiguren sprach ich den Verkäufer an. Er verkaufte schön
gemachte Tiere zum Zusammenstecken auf der Straße. Nach einer Weile begann er,
mir seine ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Er ist in Pernambuco geboren und
begann mit neun Jahren, als Schreiner zu arbeiten. Er besuchte nur fünf Jahre die
Schule und ging zum Leidwesen seiner Mutter mit elf Jahren alleine nach São Paulo.
Mit vierzehn hat er „geheiratet“, d.h. er zog mit seiner Freundin zusammen und mit
fünfzehn wurde er zum ersten Mal Vater eines Sohnes, der inzwischen fünfzehn
Jahre alt ist. Außerdem hat er noch eine jüngere Tochter.
Bonito, meinte Luciano, würde sich erst in vier bis fünf Jahren bessern, deshalb ging
er mit seiner Freundin weg. Acht Monate wären sie hier geblieben.

Am Abend sah ich eine kleine Katze ganz verloren am Straßenrand sitzen, keine
Mutter weit und breit. Sie miaute ganz schrecklich.
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Genauso verloren hatte ich mich am Nachmittag gefühlt, als ich im Balneário Monte
Christo war, das mir ansonsten sehr gut gefiel, aber irgendwie war ich nicht bei mir.
Von den Angestellten wurde ich mit dem Auto mit zurückgenommen und war froh
darüber.
Ich musste feststellen, dass ich in einem Monat und fünf Tagen 850 Dollar
ausgegeben hatte, was ich als absurd empfand. 100 Dollar kostete das Pantanal,
100 Dollar die Jugendherberge, 80 Dollar die Miete in Bonito, aber wo war der Rest
geblieben? Ich war zu müde, alles, was ich sonst so ausgegeben hatte,
zusammenzurechnen, wollte jedoch in Zukunft etwas mehr auf meine Finanzen
achten.

Ich ging zu einem Tourismusbeirat, um zu fragen, wie ich hier das Ökosystem
kennenlernen könnte. Sie sagten mir, was ich auch schon selbst herausgefunden
hatte: die einzige Möglichkeit wäre, als Dolmetscher auf den Touren zu arbeiten,
aber auch in diesem Fall wäre es wichtig, sie vorher schon einmal mitgemacht zu
haben, aber das gerade war mir zu teuer. In der Hochsaison gäbe es schon Arbeit.
Auf der Banco do Brasil tauschte ich dann mal ein paar Traveller Cheques. Der
Kalender stand gerade überall auf esperança. Esperança heißt Hoffnung und mir fiel
bei der Gelegenheit auf, dass darin im Portugiesischen das Wort „Warten“ steckt.

Auf dem Guavira-Festival sprach ich das erste Mal mit brasilianischen Indios. Sie
luden mich, die Schmuckverkäuferin Regina und ihren Mann zu ihnen ins Dorf ein.
Früher gehörte das ganze Gebiet den Indios, erzählte mir jemand. Dann kam jedoch
irgendein Portugiese und teilte das Land auf. Nun haben die Indios gar nichts mehr.
In einem berühmten Buch über die Region, das ich mir in der Bibliothek ausgeliehen
hatte, las ich einen Absatz über Guilherme, den besagten ältesten Touristenführer.
Er habe sich ständig für die Natur eingesetzt und sei deshalb für verrückt gehalten
worden.

Als ich das nächste Mal zum Balneário Municipal fahren wollte, hielt ich am Hotel
Cabanas, in dem eine Flussfahrt mit kleinen runden Schlauchbooten angeboten wird.
Ein Schild wies auf einem Strand hin und ich folgte ihm. Dort wartete ein Wasserfall
mit einem Naturschwimmbecken auf mich, in dem ich badete. Als ein paar Leute
kamen, ging ich zum Hotel. Ein Angestellter zeigte mir im Computer eine Bilderserie
der Schlauchboottour und fragte mich, ob ich einen Rundgang durchs Hotel machen
wolle. Ich bejahte. „A casa é sua“ meinte er noch, „das Haus ist dein”.
Genau das Gleiche hatte mein Noch-Mann mal zu mir gesagt und mich nach drei
Tagen aus seiner Wohnung rausgeschmissen.
Der Flyer des Hotels hatte einen schwarzen Hintergrund, aus dem die Holzhütten bei
nächtlicher Beleuchtung hervorstachen. Ein wenig seltsam fand ich das.
Ich folgte der Beschilderung und gelangte auf einen Weg, der auf Holzbohlen durch
den Dschungel zu schönen Wasserfällen und Badegelegenheiten führte. Mir
begegneten Insekten, die ich in meinem Leben noch nicht gesehen hatte, unter
anderem ein riesiger schwarzen Falter, der Ähnlichkeit mit einer Fledermaus hatte.
Immer wieder hatte ich mit Spinnweben zu kämpfen. Ich lief und lief; der Weg schien
gar kein Ende zu nehmen. Irgendwann drehte ich um.
Auf dem Rückweg beobachtete ich einen einsamen weißen Affen in den
Baumwipfeln und andere seltsame Tierarten wie zum Beispiel einen
Albinoschmetterling. Komischerweise hatte ich auf dem Hinweg das Gefühl,
Ewigkeiten zu Laufen und auf dem Rückweg war ich ruckzuck wieder da.
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Als ich wieder an die Rezeption kam, fragte ein anderer Angestellter, ob ich den Pfad
entlanggelaufen wäre, so als hätte ich ein Verbrechen begangen. Er wollte mich
einschüchtern. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn abzulenken und auf die Plakate
über die Fauna des Pantanal anzusprechen und auf das Mini-Museum, das sie hier
mit Skeletten toter Tiere unterhielten.
Der Angestellte, der mich begrüßt hatte, lag auf der Couch und der Papagei Mel, der
Regina letzt so schmerzhaft gepickt hatte während wir im Balneário Municipal waren,
saß auf den Tresen. Er wäre hier zu Hause.
Ich sah zu, dass ich die Flatter machte. Mir war hier alles zu seltsam und unheimlich.
Der Besuch begleitete mich noch die ganze Nacht, denn ich konnte kaum schlafen.
Immer wieder kreisten die Ereignisse in dem Hotel in meinem Kopf herum wie ein
Karussell.

In einer e-mail erfuhr ich, dass der Volksentscheid gegen die Abholzung Bayrischer
Wälder knapp verloren ging, aber dass im nächsten Jahr wieder eine Chance wäre.
Ich war total empört. Dass Politiker überhaupt über so etwas entscheiden dürfen...
Ich war dann weiter in Sachen Dolmetschen unterwegs und sprach mit den ersten
Agenturen darüber. Mir wurde nicht nur ein Buch über die Tier- und Pflanzenwelt des
Pantanal empfohlen, sondern auch ein Treffen mit einem deutschen Übersetzer
organisiert. Langsam sah ich ein, dass es keinen anderen Weg gab, die
Naturschönheiten zu Gesicht zu bekommen ohne einen sündhaft teuren Preis dafür
zu zahlen.
Von dem Deutschen erfuhr ich dann, dass er die Leute rundum betreut, vom
Flughafen in Campo Grande oder Bonito bis zur Abfahrt, was mir eindeutig zu viel
gewesen wäre. Und dass Krokodile ihre Jungen auffressen, wenn es keinen Fisch
gibt und andere Geschichten.

Am Abend kaufte ich mir einen Maya-Kalender in einem Laden, von dem der
Besitzer mit dem Fahrrad ganze 150 Kilometer durchs Pantanal gefahren ist.
Einmal sprach ich mit sechs Papageien, die über mich hinwegflogen und sich auf
einem Baum in meiner Nähe niederließen. Sie meinten, sie bräuchten mehr Bäume,
hier gäbe es zu wenige.
Die Menschen, mit denen ich mich so langsam angefreundet hatte, fuhren zum
Großteil weg und ich war ganz traurig darüber.
In einem nächsten Gespräch mit Luciano erfuhr ich, dass das Geld, das die
Touristen hierherbringen in die Hände eines halben Dutzends von Leuten in Bonito
geht. Das war’s. Dafür schwärmte er von den Chapada dos Veadeiros, wo er
eineinhalb Jahre geblieben sei. Er erzählte allerdings eine weniger schöne
Geschichte von einer Deutschen, die dort einen Park gekauft und eine NGO, eine
Nichtregierungsorganisation gegründet hatte. Sie sei von einem Mitarbeiter, dem sie
zu sehr vertraut hatte, zusammen mit ihrer Tochter ermordet worden. Sie hätte ihm
sogar unterschriebene Blankoschecks überlassen, was er jedoch missbrauchte. Aus
Angst vor ihrer Reaktion als sie es entdeckte, brachte er sie um.

Bei einem Reitsportevent in einem der renommierten Hotels am Ort musste ich
feststellen, dass ich das Hürdenspringen als eine Tierquälerei empfand. Von den
Pferden einmal abgesehen konnte, ich daran nichts Großartiges entdecken.
Die Menschen, die in dem teuren Hotel abstiegen schienen mir alle viel Geld zu
haben, aber sie schienen mir nicht glücklich zu sein.
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Der Jugendherbergsbesitzer erzählte bei meinem nächsten Besuch, dass 90% der
Leute, die nach Bonito kämen und bleiben wollten, Probleme hätten. Er fände
besser, wenn sie erst ihre Probleme lösen würden und danach kämen.
Beim nächsten Treffen mit Luciano erfuhr ich, dass in Bonito mehr von der
drittgiftigsten Säure, die überhaupt existiert, verwendet wird wie sonst auf der Welt
und zwar, um die Straßen zu waschen. Weil das Wasser so kalkhaltig sei. Er erklärte
mir auch, warum Brasilien den Amerikanern gehört. Sie kaufen nämlich Land in
Brasilien, das zum Naturschutzgebiet erklärt wird. Dann gründen sie eine NGO und
kassieren von den Touristen Geld.
„Monatlich schicken sie Millionen Dollar, um das Ganze zu schützen, damit sie keine
Steuern zahlen brauchen und das Geld aus Drogengeschäften und Prostitution
waschen können. Das Geld, das sie einnehmen, geht zurück in die USA.“
Luciano schwärmte wieder unaufhörlich von den Chapada dos Veadeiros. Dort
würde es mir sicher gut gefallen und ich würde auch viel besser dort hinpassen.
Obwohl die Stadt viel kleiner als hier sei, gäbe es einen Bioladen und zweihundert
verschiedene Religionen.
Diesmal wurde ich hellhörig. Irgendwie klang das gut. Mehr wie das, was mir liegen
würde. Es ging mir plötzlich im Kopf herum und ich entschied kurzerhand, dorthin zu
fahren und zwar auf direktem Wege. Hier in Bonito hatte ich nichts mehr zu tun.

So wollte ich wenigstens noch eine Tour unternehmen, bevor ich weiterreiste und
schloss mich an eine Gruppe von der Jugendherberge an, die zum Rio da Prata fuhr.
Es war eine herrliche Tour, wenn mensch von den weiten Feldern leeren Landes
einmal absieht, dieser Dualität, die mir immer noch zu schaffen macht.
Ich wurde von der Gruppe abgeholt und wir fuhren zuerst zum Burraco das Araras,
dem Papageienloch. Der ältere, äußerst nette und liebenswerte Besitzer dieser
Sehenswürdigkeit machte mit mir und dem Franzosen Michel den Rundgang. Da
Michel kein Portugiesisch sprach und der Besitzer kein Englisch, durfte ich
übersetzen, was mir großen Spaß bereitete. Es war die zweitgrößte Doline der Welt
und heute ein stiller Platz, an dem nur Vögel zwitschern. Im Krieg jedoch seien in das
natürliche Loch viele Paraguayaner geworfen worden, erfuhr ich später von unserem
Führer Sergio.
Ursprünglich war eine Höhle mit zwei verschiedenen Schichten Gestein unter der
Erde gewesen. Ein unterirdischer See hat das halbe Gestein weggewaschen und so
stürzte irgendwann der Deckel ein und hinterließ das 120 Meter tiefe und 160 Meter
breite Loch. Jetzt liegt unten ein kleiner grüner See, der durch die Lentilhas d’agua,
die Wasserlinsen ganz grün ist.
Die Vögel können in den Gesteinswänden gut geschützt vor Wind und Wetter ihre
Nester bauen. Die Papageien waren gerade am Fliegen, weil es an dem Tag durch
die Wolken verhältnismäßig kühl war. Papageien müssen nämlich am Tag aufgrund
ihrer Größe 35 bis 40 Kilometer fliegen. Wenn es heiß ist, fliegen sie oft weniger und
holen das dann an kühleren Tagen nach.
Wir kamen an einem Marmelo-Strauch vorbei, von dem wahrscheinlich das Wort
Marmelade herstammt, an wilden Maracujasträuchern mit bedeutend schönen Blüten
und wilden Cashewnüssen, um nur die wichtigsten zu nennen. Über uns flogen ein
paar Papageien und Tukane hinweg.
„Tukane fressen die Eier anderer Vögel, deshalb sind sie bei anderen Vögeln
verhasst. Manchmal tun sich die Vögel zusammen, um die Tukane zu attackieren,“
erzählte der Besitzer.
25

„Papageien sind immer im Paar zu sehen. Sie trennen sich nicht einmal fünf Minuten
voneinander und bleiben das ganze Leben zusammen bis einer stirbt. Dann hört der
andere auf zu fressen, bis auch er stirbt. Eine Ausnahme sind ihre Jungen.“
Wir fuhren weiter zum Rio da Prata, wo wir Neoprenanzüge bekamen, mit denen wir
durch den Dschungel hindurch bis zur Quelle des Flusses liefen.
Zuerst schwammen wir eine Weile mit Schnorchel und Tauchermaske im Kreis in
dem natürlichen Swimmingpool herum, der sich um die Quelle gebildet hatte, vorbei
an vielen verschiedenen großen und kleinen Fischen. Es war traumhaft, ein
Paradies.
„Warum heißt der Fluss denn Rio da Prata?“ fragte ich unseren Führer neugierig, als
wir anhielten.
„Rio da Prata kommt vom Spanischen, denn früher gehörte das Gebiet zu Paraguay.
Im Krieg vergruben die Paraguayaner ihr Geld, das sie Plata nennen um den Fluss
herum, um es nach dem Krieg zu holen. Plata heißt auf Portugiesisch Prata und
deshalb heißt der Fluss Rio da Prata.“
Seine Version vom Krieg war etwas anders. Seiner Meinung nach wollte Paraguay
mit seinen Waren auf den internationalen Markt, um sie zu verkaufen.
„Der damalige Präsident Lopes suchte einen Anschluss ans Meer als Handelsweg
für seine Waren. Paraguay war damals reich an Bodenschätzen und Waren. Lopes
hatte in Frankreich studiert und war ein großer Fan von Napoleon Bonaparte. Da
England den neuen Konkurrenten auf dem Handelsmarkt fürchtete, versprach es den
Brasilianern alles, was sie bräuchten, wenn sie in den Krieg gegen Paraguay ziehen
würden. Die Brasilianer willigten ein“.
Der Krieg dauerte drei Jahre.
„Die Brasilianer töteten jeden Paraguayaner, der ihnen in die Finger kam, nicht nur
Soldaten, sondern auch Zivilisten. Die Brasilianer haben von den Engländern Waffen
gekauft. Damit haben sie zum ersten Mal Schulden gemacht. Damals hat die
Schuldenspirale angefangen.“

Wir ließen uns im Fluss treiben, was ein einmaliges Erlebnis war. Ich fand
unglaublich, wie schön die Natur sein kann. Unter Wasser war es ganz still und über
ihm zwitscherten die Vögel und zirpten die Grillen.
Am Ende gelangten wir in ein zweites Becken, an dem Wasser aus dem Sandboden
quoll. Der Franzose Michel hatte dunkle längere Locken, einen Kinnbart und trug
bunte Ketten aus Perlen um den Hals und am Arm. Er trug ein T-Shirt von Pink
Floyd. Beim Essen fragte er mich, was ich für einen Job hätte.
„Ich habe keinen Job.“
Er schaute.
„Bist Du auf dem spirituellen Weg?“
Ich nickte.
„Auf was für einem Weg?“
„Warum willst Du das wissen? Bist Du auch auf dem spirituellen Weg?“
„Ich denke schon.“
„Und was machst Du, wenn ich fragen darf?“
„Ich reise seit zwei Jahren.“
Er hatte in Kanada begonnen und war danach in den USA, Mexiko, Venezuela und
Peru.
„Hast Du außer Macchu Picchu viele interessante Orte gesehen?“
“Ja, viele.“
Auf irgendeinem Berg in Kalifornien in the middle of nowhere habe er gedacht, er
würde gerne meditieren und schon fand er eine Meditationsmatte.
26

Wir fuhren zurück.

Ich kaufte mir eine Fahrkarte für den Bus nach Campo Grande für den nächsten Tag
und verabschiedete mich von den Leuten, die ich so kannte. Luciano freute sich
sehr, dass ich mich dazu entschlossen hatte, nach Alto Paraiso zu fahren, wo er
schon so viel davon erzählt hatte.
Ich verabschiedete mich auch von dem Franzosen, der in einer kleinen Pousada in
meiner Nähe wohnte, die ich noch nicht kannte. Irgendwie mochte ich ihn so sehr,
dass ich die halbe Nacht mit ihm verbrachte. Noch vor Kurzem hatte ich mir
gewünscht, mit einem Mann auf eine schöne Art und Weise zusammen zu sein, den
ich danach nie wiedersehe. Und genau so war es dann auch gewesen.

Campo Grande

In Campo Grande besuchte ich das Museu Dom Bosco, in dem unendlich viele
Schmetterlinge, aber auch Muscheln und Steine sowie Federschmuck der Indios
ausgestellt waren. Als mir jedoch klar wurde, dass die meisten Museumsstücke wohl
aus Tieren bestanden, die zu diesem Zweck getötet wurden, verging mir die Lust, mir
das Ganze weiter anzuschauen.

Es gab dann einen Zwischenfall mit dem Bus, mit dem ich nach Brasília fahren
wollte. Nachdem ich das Ticket gekauft hatte, traf ich Roberto von der Reiseagentur,
mit der ich im Pantanal gewesen war. Er fragte, mit welchem Bus ich fahre und als
ich ihm die Abfahrtzeit nannte, meinte er: „Welcher Bus ist das? Diesen Bus gibt´s
doch gar nicht.“
Die Frage ging mir im Kopf herum und ich erfuhr von einem seiner Kollegen, der
diesen Bus schon zwei Mal genommen hatte, dass ich leiden würde, wenn ich ihn
nähme.
„Der Bus kommt aus Asunción, es stinkt darin, er kommt oft mit großer Verspätung
und nimmt einen schlechten Weg über Riberão Preto.“
Riberão Preto war, wenn ich mich nicht täuschte, ein Drogenumschlagplatz ersten
Ranges.
Er schickte Roberto los, um mein Ticket umzutauschen. Doch so einfach war es
nicht. Der Chef war da und weigerte sich, das Ticket zurückzunehmen.
Ein Angestellter einer anderen Busgesellschaft rief mich zu sich, als er mich verloren
herumstehen sah und ließ mich wissen, dass seine Busgesellschaft die Tickets bis
drei Stunden vor Abfahrt zurücknimmt. Die Busgesellschaft São Luis, mit der ich
lieber fahren wollte, klärte mich dann auf, dass es ein Gesetz gibt, dass man bis drei
Stunden vor Abfahrt das Ticket zurückgeben kann.
Der recht unfreundliche Herr wollte jedoch wissen, warum ich das Ticket
zurückgeben wollte.
„Weil ich heute nicht nach Brasília fahren möchte.“
„Dann lassen Sie das Datum offen.“
„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt nach Brasília fahren möchte.“
Mir fiel nichts anderes ein als zu lügen, auch wenn ich gerade vom Dalai Lama
gelesen hatte, dass mensch nicht lügen soll. Aber es hatte gewirkt. Ohne weitere
Probleme bekam ich mein Geld zurück. Unangenehm war mir noch, dass sie meine
Passdaten hatten. Es war die einzige Busgesellschaft, die meine Passnummer schon
beim Kauf des Tickets und nicht erst bei der Abreise vermerkte.
27

Im Internet fand ich eine mail mit folgendem Zitat:

Erkenn das Ganze und seine Teile


Nach ihrer Bedeutung bestimme
ihren Platz in der Wirklichkeit.
Was ist, war nicht immer so
Und wird auch Morgen verändert sein
Erkennst Du die Bestimmung?
Dann lehre sie und verändere die Welt durch Veränderung ihres Bewusstseins.
Mit jeder Wahrheit, die du aussprichst,
erkennst du zwei neue.

Aus dem Buch der Wirklichkeit von Norbert A. Eichler

Ich spazierte noch zum Kunsthandwerkermarkt in Campo Grande und fand das
schönste Geschirrhandtuch, das ich je gesehen hatte mit zwei bunten handgemalten
Papageien darauf.

Im Bus auf der Strecke von über 1500 Kilometern kam mir nochmal die Geschichte
des Krieges zu Bewusstsein. Den Brasilianern wurde versprochen, alles zu
bekommen, was sie bräuchten, wenn sie Krieg gegen Paraguay führen würden.
Ganz ähnliches hatte ich mitgemacht. Mir wurde – von dem Frosch – alles
versprochen, was ich bräuchte, wenn ich nur herkäme.
Irgendwie bekam ich auch alles, aber irgendwie auch nicht. Gleichgesinnte und
Zugang zur Natur fand ich beispielsweise nicht.
Der Führer vom Rio da Prata hatte mir auch erzählt, dass von den 78 Reais für den
Ausflug 10 Reais für die Reiseagentur wären und 8 Reais für den Führer. Die
restlichen 60 Reais gehen an die Fazenda, unter anderem um Neoprenanzüge zu
kaufen...
Der Besitzer der Estância Mimosa und des Rio da Prata scheint noch andere
Ländereien von insgesamt über tausend Hektar zu besitzen, wenn ich das richtig
verstanden habe.

Im Bus kam ich ins Gespräch mit einer Silvana aus Campo Grande. Sie war mir
schon vorher wegen ihres Kleides aufgefallen, das ähnlich wie eines meiner Kleider
war und wegen ihrer Decke, die ganz ähnlich war wie mein Schal.
Sie hatte Umwelttechnik studiert, postgraduiert und für ihre Arbeit über Recycling
einen Preis gewonnen. Jetzt war sie mit ihrem Mann, der Biologe war und den
gleichen Preis ein Jahr zuvor gewonnen hatte unterwegs nach Brasília, um dort an
einem Wettbewerb für Studienplätze in Umwelttechnologie teilzunehmen. 14.000
Leute hätten sich für 100 Plätze beworben. Auch sie wollten im Januar zum
Weltsozialforum nach Porto Alegre fahren.
Im Februar gäbe es einen Permakulturkurs in Campo Grande und in der Nähe von
Brasília fände in Kürze eine Zusammenkunft in Agroökologie statt. Sie war bestens
informiert.
Djago erzählte von einer Gemeinschaft mit Yoga in Pirenópolis, nicht sehr weit von
Brasília entfernt, in der sie vor zehn Jahren mal gelebt hätten. Ich würde ihn sehr
daran erinnern.
Silvana war auch diejenige gewesen, bei der die Chilenin Maria versuchte anzurufen,
als wir in Campo Grande waren, weil sie eventuell bei ihr übernachten wollte, denn
sie war beim Tauschring, der hier Intercâmbio Solidário hieß. Silvana erzählte von
28

einer Gruppe, die ein weltweites virtuelles Lets-System aufbauen wolle und lud mich
ein, an einer entsprechenden Newsgroup teilzunehmen.

Brasília

Da ich in Brasília noch etwas Zeit hatte, bis der Bus nach Alto Paraíso fuhr, kam ich
noch mit ihnen mit zu den Bekannten, bei denen sie übernachten wollten. Als wir im
privaten Sammeltaxi saßen, fragte mich Silvana, ob ich schon von der União do
Vegetal gehört habe. Sie hätten nämlich eine NGO gegründet, bei der ihr Mann
Djago mitarbeite.
Ich gestand, dass ich in Portugal schon mal davon gehört hatte, aber nichts
Genaueres wisse.
Die Bekannte fragte mich zu Tisch das Gleiche. Das Einzige, was ich wusste war,
dass diese Glaubensgemeinschaft eher verschlossen sein soll. Sie stimmten mir zu.
Jemand könne nur von einem anderen mitgenommen werden. Irgendetwas hörte ich
noch von „Vegetal zu sich nehmen“.
Zurück zum Busbahnhof ging ich zu Fuß, denn es waren nur 15 Minuten.
Jetzt kam das einzige Mal der Brasilienführer zum Einsatz, den ich mir eigentlich ja
nur wegen der Landkarten gekauft hatte. Da ich nämlich nachts in Alto Paraíso
ankommen würde, fand ich besser, jemanden vorher anzurufen und ein Zimmer zu
reservieren. Meine Wahl fiel auf die Pousada Maya, die allerdings ihren Namen
inzwischen geändert hatte in Pousada Rubí. Dort wurde ich sehr freundlich
empfangen und aufgenommen.

Alto Paraíso

Was mir am nächsten Tag passierte, war unglaublich: Peter aus dem Schloss
Glarisegg lief mir über den Weg! Mitten in Alto Paraíso.
Wir teilten uns eine Pizza im Taj Mahal und tauschten uns darüber aus, wie jeder
hierhergekommen war. Er habe drei Orte auf der Welt zur Auswahl gehabt und sich
für Brasilien entschieden, eigentlich um zu João de Deus zu fahren. Dort habe es
ihm jedoch nicht so gut gefallen und so sei er hierhergefahren. Hier ginge es ihm viel
besser.
Er fragte sich, warum wohl so viele Häuser zu verkaufen wären...
Vera, die Verantwortliche meiner Pousada, meinte, das käme vom Wetter: hier gäbe
es acht Regen- und vier Trockenmonate und viele Menschen hielten das nicht aus.
Oder ein Erleuchteter käme vorbei und ändere das Leben der Leute, woraufhin sie
sich berufen fühlten, woandershin zu gehen.
Als wir uns über den Maya-Kalender unterhielten, der aufgeschlagen auf dem Tisch
lag, meinte Vera, nach ihm würde 2006 das Geld auf der Erde verschwinden. Sie
zeigte mir die zwanzig sogenannten Siglen, von denen jede eine bestimmte Energie
repräsentiere. Die Zeit jetzt wäre zum Zentrieren da.
Als ich die Schweizerin Meera kennenlernte, erfuhr ich noch weitaus mehr über den
Maya-Kalender. Sie rechnete mir nämlich gleich nachdem ich bei ihr ankam, mein
Kin aus. Ich empfand als hochinteressant, was sie erzählte und so einige Dinge
wurden mir weitaus klarer.
Meera hatte dreizehn Jahre in Südamerika gelebt und zwar in fast allen Ländern: fünf
Jahre in Chile, drei Jahre in Brasilien sowie in Bolivien, Peru und ich weiß nicht wo
sonst noch. Sie sei dann für vier Jahre zurück in die Schweiz gegangen.
29

„Wie in einen Käfig, wie unter eine Stahlhaube“.


Sie sei das hauptverantwortliche Kin für die Schweiz gewesen. Jetzt hatte sie hier in
Alto Paraíso ihren Bruder wiedergetroffen, der ein Boddhisattva-Training
veranstaltete. Ihn hatte sie vierzehn Jahre nicht mehr gesehen. Fünfzehn Jahre lang
war sie mit Osho gewesen und trug den Sannyasnamen Meera, jetzt nenne sie sich
auch wieder Christa.
„Hier passiert so viel“, kommentierte sie das Geschehen in Alto Paraíso.

Bei der Touristeninformation fragte ich nach, was ich unternehmen könnte und lernte
dabei einen Führer kennen, der mir ein paar sieben Kilometer entfernte Wasserfälle
empfahl. Er hätte mich mit seinem Auto hinbringen können, aber ich wollte nicht so
viel für ein Taxi ausgeben. Dann gab es noch etwas günstigere Motorradtaxen, aber
auch darauf hatte ich keine Lust.
„Kann ich denn nicht irgendwo ein Fahrrad leihen?“ fragte ich ihn und die nette Frau
vom Laden, die ebenfalls Auskünfte erteilte. Der Führer hatte anscheinend eine Idee
und lud mich ein, mit ihm zu kommen wegen eines Fahrrades und wegen einem
Chalet, das er zu vermieten hatte. Wir fuhren zu einer befreundeten Familie von ihm,
von denen ich ein Fahrrad geliehen bekam mit der einzigen Auflage, einen neuen
Sattel zu kaufen. Wie wunderbar.
Der Führer hieß Pedro Paulo und zeigte mir dann das Chalet, das er mir zu einem
supergünstigen Preis anbot und neben dem er wohnte. Es war sechseckig, unten
aus Backsteinen und oben aus Eukalyptusholz mit einem Palmdach, richtig süß und
wie in Thailand. Es kam mir wie gerufen.
Christa hatte mir ihr Flat angeboten für die Zeit, in der sie verreisen wollte, aber das
war um einiges teurer. So entschied ich mich für dieses Chalet. Mit einem Kocher,
Besteck und Geschirr könne Pedro Paulo mir helfen.
Der Stadtteil hieß Novo Horizonte, neuer Horizont und war etwas vom Geschehen
entfernt. Hier wohnten vor allem Brasilianer und kaum Ausländer wie in anderen
Stadtteilen.

Am Abend ging ich in die Pousada do Renascer zur Meditation, die an diesem Tag
aus Reiki bestand. Als ich mich mit der Meditationsleiterin am Schluss noch
unterhielt, erfuhr ich, dass die Pousada verkauft wird und dass jeden Tag eine
andere Meditation angeboten wird.
Im Internet las ich von einem „alternativen“ Bus, den ein paar Leute für 20.000 Reais
kaufen wollten, um damit von São Paulo nach Alto Paraíso zu fahren und von hier
aus zum Weltsozialforum nach Porto Alegre. Wer sich mit 100 Reais beteilige,
bekäme 1500 Kilometer gutgeschrieben. Wenn das investierte Geld wieder drin
wäre, bekäme mensch es zurück. Klang verlockend, aber wer garantierte mir, dass
ich mit diesen Leuten fahren wollte?

Einen Abend fuhr ich mit Vera und einer Freundin von ihr mit dem Taxi zum Vale do
Amanhecer, von dem mir der Typ aus Brasília in Bonito erzählt hatte. Es hatte zuvor
in Strömen geregnet und auf der abschüssigen Lehmstraße drehten die Reifen der
Taxifahrerin permanent durch, als sie zurückfahren wollte. Wir halfen ihr anschieben
so gut wir konnten und kamen zu spät. Schon von draußen hörte ich immer wieder
das Wort „Deus“, was Gott heißt. Auch als wir in den kerzenbeleuchteten Raum
eintraten, hörte ich wieder nur „im Namen Gottes“ und sah weiße und schwarze
Bänder irgendwo herunterhängen und Menschen in schwarz-weißen Westen über
einer Robe in Bänken sitzen.
30

Vera ging vor mir weiter, ich jedoch blieb stehen. Dort wollte ich nicht hinein. Veras
Freundin zischte zwar hinter mir, ich könne hier nicht stehen bleiben, ich müsse
weitergehen, für mich war jedoch klar, da ginge ich lieber zurück und nach Hause.
Alles war mir lieber, als hier zu bleiben und so tat ich es dann auch. Wie ein Wunder
war der Weg auch recht hell, obwohl es keine Straßenbeleuchtung gab.
Außerdem hatte ich meine Taschenlampe dabei. Ich war glücklich, dem entronnen
zu sein und unter den Sternen gehen zu dürfen im schwachen Schein des hinter
Wolken versteckten Mondes. Später erfuhr ich von Leuten, dass sie mit niederen
Wesenheiten arbeiten, um diese zu erlösen.
Da ich sonst nichts zu tun hatte, las ich im Maya-Kalender-Supplement von der
biblischen Apokalypse.

Zum Thema Auto stellte ich fest, dass ich nur noch selten mit einem solchen Gefährt
fahre und dass ich darüber froh war. Schon alleine einzusteigen, fühlte sich für mich
unangenehm an.
An meinem Chalet hatte ich große Freude, denn es war einfach phantastisch und
riesig im Verhältnis zu allem, was ich bisher so an Unterkünften hatte. Sehr praktisch
fand ich auch die eine Glühbirne, die alles beleuchtete. Außerdem gab es rundherum
einen kleinen Garten mit Blumen und am Fenster hing mein Kin, der weiße Wind.
So nach und nach brachte mir Pedro Paulo auch Besteck und Geschirr, so dass ich
etwas zu Hause essen konnte.

Meera erzählte mir beim nächsten Treffen, dass es für sie heute nicht mehr die Zeit
sei, alleine nach Erleuchtung zu trachten, sondern dass angebrachter sei, in der
Gruppe zur Erleuchtung zu gelangen.
Sie veranstaltete ein Treffen zum Maya-Kalender, zu dem etwas mehr als zehn
Leute kamen. Nach einer kleinen Meditation zum Tageskin stellte sich jeder mit
seinem Kin vor und Meera gab noch einige Erläuterungen zu diesem komplexen
Kalender. Für mich war das Ganze sehr erfüllend.

Beim nächsten Check meiner e-mails erwartete mich eine Überraschung. Ich hatte
keine mails mehr bekommen, weil ich meine Web.de-Clubmitgliedschaft gekündigt
hatte. So hatte ich nur noch 500 mails frei, aber im Postfach waren mehr als tausend
mails. Ich löschte eine ganze Menge.
Von Pedro Paulo erfuhr ich bei einem Lemongrasstee, dass es derzeit noch kein
Recycling gibt, aber vielleicht beim nächsten Bürgermeister. Entsprechende
Räumlichkeiten sind schon da. Von Findhorn war sogar schon jemand dagewesen,
um in Alto Paraíso ein Ökodorf zu gründen. Hier wäre jedoch äußerst schwierig, die
Leute zu einer Gruppe zusammenzubringen.

São Jorge

Irgendwann packte es mich und ich fuhr mit dem Bus nach São Jorge, um Peter zu
besuchen.
Ich lief intuitiv eine Straße entlang und siehe da, ich sah Peters Kappe aus einem
Swimmingpool herausleuchten.
„Da ist er ja“, gab ich mich zu erkennen.
„Komm rein, da vorne ist die Rezeption“.
31

Zu meiner großen Freude durfte ich den Swimmingpool ebenfalls benutzen. Als wir
uns in der Sonne trockneten, beschlossen wir zum Sonnenuntergang zu einem Berg
zu spazieren, der nicht allzu weit entfernt war.
Ich war fasziniert von den Steinen, auf denen wir liefen, denn sie waren sehr hell, oft
weiß und manche kristallklar. Es waren Kristalle!
Ich hob einen von ihnen hoch, er war ganz klein und wie geschliffen.
Wir kamen zu einem eingezäunten Turm, kletterten durch den Zaun hindurch und
den Turm hinauf bis ich stehen blieb, weil mir schwindelig wurde. Von hier aus hatten
wir eine Sicht auf die Hügel in alle Himmelrichtungen. Abgesehen von São Jorge war
von Menschen keine Spur zu entdecken.
Die Sonne ging glutrot unter.
Zurück gingen wir schweigend. Ich hob noch ein paar Kristalle auf, die mir gefielen
bevor wir zum Dorf zurückkehrten und essen gingen.

Peter war mit ein paar Musikern in einem Restaurant verabredet gewesen, aber von
den Musikern war keine Spur. Dafür kam eine Heilerin, von der er mir schon erzählt
hatte, eine Polin mit Namen Prathiba. Irgendwie kamen wir uns bekannt vor, wir
konnten uns aber nicht tatsächlich kennen. Sie war mir von ihrer Ausstrahlung her
äußerst sympathisch. Wir kamen auf João de Deus zu sprechen.
„João de Deus mag es hier nicht. Er ist zu katholisch und hier gibt es zu viele Drogen
für seinen Geschmack.“
Sie erzählte, dass Ayahuasca viele Menschen heile. Es werde hier zu
therapeutischen Zwecken eingesetzt und Menschen würden sogar vor schweren
Süchten heilen. Eine Bekannte von ihr war zwanzig Jahre Heroin- und Kokainsüchtig
und wurde durch Ayahuasca geheilt. Nun heilt sie selbst Drogenabhängige.
Ich wollte wissen, ob es gut sei, Ayahuasca bei Santo Daime zu nehmen. Sie
verneinte.
„Bei Santo Daime wird sehr viel von dem, was möglich ist durch die Gesänge und
das Ganze zurückgehalten.“
Dann sprach sie über den Tschechen Stanislav Grof, der mit LSD heilte. LSD wäre
zur selben Zeit wie die Atombombe erfunden worden.
„Die Atombombe war der Schatten. LSD war das Licht, das sie versucht haben zu
unterdrücken. Grof hat Schizophrene und Menschen mit Psychosen geheilt. Er gab
immer die doppelte Dosis. Es sah aus, als ginge es den Leuten schlechter, aber in
Wirklichkeit wurden sie geheilt. Aber es ist so wie wenn Du an einem Seil den Baum
hochkletterst. Es geht ganz schnell.“
„Und da ist die Gefahr größer abzustürzen“, warf ihr Bekannter ein.
„Ja, aber wenn Du von einem erfahrenen Therapeuten begleitet wirst, stürzt Du nicht
ab.“
Wir gingen zu Peter, der mich eingeladen hatte, bei ihm zu übernachten.
Als wir uns übers Aufstehen unterhielten, meinte Peter: „Der Dalai Lama steht um
vier Uhr auf“.
Mir kam jedoch in der Hängematte, dass irgendjemand auch Nachtwache halten
muss... Als wir im Restaurant gesessen hatten war ein Mann mit Laterne
vorbeigelaufen. Peter fragte, wer das sei.
„Der Nachtwächter“.

Ich konnte die Nacht kaum schlafen. Trotzdem erwischte ich mich dabei, als Peter
am nächsten Morgen fragte, ob ich gut geschlafen hätte, dass ich bejahte.
Er hatte schon morgens früh eine Wanderung unternommen. Ich lief dann zum
Nationalpark, um dort auf eine Gruppe von Leuten zu warten, denen ich mich
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anschließen konnte, um die Kosten für den Führer zu teilen. Das hatte mir jemand
empfohlen. Da erst niemand kam, unterhielt ich mich mit dem Kassierer von der
IBAMA, der Naturschutzbehörde.
Der Park war 1961 von dem Präsidenten Juscelino Kubitschek gegründet worden.
Da sich damals zum Teil bis zu 2000 Leute auf einmal im Park aufhielten, campten,
Abfälle hinterließen und Unfälle oder Brände verursachten, wurde 1991 das System
eingeführt, dass der Park ohne Führer nicht mehr zu betreten ist. Pro Tag gibt es ein
Limit von 300 Leuten, was an Feiertagen schon gegen zehn Uhr morgens erreicht ist.
Dann kam eine Gruppe von zwei deutschen Frauen in Begleitung zweier Brasilianer.
Ich schloss mich ihnen an und wir liefen zusammen die insgesamt 13 Kilometer
lange Strecke zu den beiden höchsten Wasserfällen des Parks. Einer war 120 Meter,
der andere 80 Meter hoch.
Bei einem der beiden Wasserfälle durften wir in dem ziemlich dunklen, stark
eisenhaltigen Wasser schwimmen. Es war eine herrliche und unvergessliche
Wanderung durch den Cerrado, die hiesige Buschsteppe.

Alto Paraíso

Am Abend fuhr ich mit der Heilerin und ein paar anderen Leuten zurück nach Alto
Paraíso, wo es eine riesige Party von einigen Sannyasins gab, zu der ich zwar
mitfuhr, aber nicht blieb, weil dort noch nichts los war und ich müde war von der
Wanderung.
Am nächsten Morgen klopfte Prathiba an meine Tür, kurz nachdem ich gefrühstückt
hatte. Sie hatte die ganze Nacht durchgetanzt.
„Tanzen ist für mich die beste Therapie“, schwärmte sie.
Sie wäre schon einmal hier gewesen, bei meinem Vorgänger.
„Er war ein Dealer und hatte sich auf Kokain eingelassen. Dann nahmen sie ihn hoch
und jetzt sitzt er schon zwei Jahre im Knast“. Einer Frau wäre es ähnlich ergangen.

Am Abend ging ich mal in die Pizzeria 2000 zum Rodizio. Beim Rodizio wird mit
verschiedenen Pizzasorten von Tisch zu Tisch gegangen und an jeden, der will
verteilt.
Vera warnte mich allerdings schon vorher, dass es sehr lange dauern würde bis
mensch etwas bekäme, das sei Charakteristikum des Ortes.
Ein Typ mit einer Mala von Osho um den Hals, der meinen Weg tagsüber ein paar
Mal gekreuzt hatte, saß alleine an einem der Tische im Freien. Ich fragte ihn, ob ich
mich zu ihm setzen dürfe. Er bejahte.
Er hieß Vishnu und hatte fünf Jahre hier gelebt, von 1994 bis 1999. Jetzt lebte er in
der Serra da Canastra, in der ich auch schon mal gewesen war und arbeitet mit
Reiki, Schamanismus, Tantra und ich weiß nicht, was noch alles. Er war nach dem
Maya-Kalender ein kosmischer Drache, seine Farbe wäre rot und meine weiß, die
Farben der anderen Zeichen seien gelb und blau.
Wir unterhielten uns stundenlang und aßen immer wieder ein Stück Pizza.
Zwischendurch kam ein Chor mit weißgekleideten Frauen mit rot-weißen
Zipfelmützen vorbei und sang Weihnachtslieder.
Vishnu erzählte von den Indios, dass sie von sieben Elementen ausgehen und nicht
wie wir von vieren.
„Wenn jemand bei ihnen krank ist, kommen alle zusammen und singen für den
Kranken. Das ist äußerst heilend.“
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Ich entschied dann, in den ruhigen Tagen vor Weihnachten wegzufahren und zwar
zu João de Deus nach Abadiania. Das hatte ich eigentlich von Anfang an vorgehabt,
aber schon wieder vergessen. Ich fuhr mit Meera im Bus nach Brasília.
Wieder erfuhr ich eine Menge über den Maya-Kalender, was ich mir jedoch alles
kaum merken konnte. So zum Beispiel, dass die Schweiz Kin 20 ist, wenn ich mich
recht erinnere und dass sie im Unterbewusstsein bedingungslose Liebe hat.
Als ich ihr von meiner Fahrt nach Abadiania erzählte, meinte sie, morgen wäre ein
großer Heilungstag – „Synchronizität“.
Synchronizität war überhaupt das Wort, das ich in Alto Paraíso am meisten zu hören
bekam. Als ich sie fragte, ob die Schweiz je Krieg geführt hatte, verneinte sie.
„Die Schweiz war immer neutral. Sie hat sich immer aus allem herausgehalten“.

Abadiania

Von Brasília aus fuhr ich am gleichen Abend noch weiter nach Abadiania, was
allerdings nicht nur eine halbe Stunde dauerte wie ich irgendwo gelesen hatte,
sondern zweieinhalb Stunden.
Diesmal wurde ich gebeten, mein Gepäck mit in den Bus hineinzunehmen, was
außergewöhnlich ist, aber in diesem Fall seine Richtigkeit hatte, da er nur kurz an
der Straße anhielt, um mich rauszulassen. Ich fragte zwei Leute wo ich eine Pousada
finden könne und sie wiesen mich eine Straße entlang, wo es auch zur Casa Dom
Ignacio ginge.
Von einer Frau, die hinter mir herlief wurde mir ein Hotel für 50 Reais angeboten,
was mir jedoch zu teuer war. Lieber schaute ich weiter. Ich fand dann auch eine
angenehme Bleibe bei einer ganz netten Brasilianerin, die auch in der „Casa“ als
Krankenschwester mithalf. Sie hatte ein angeschlossenes Internetcafé, das die
Gäste noch länger als Auswärtige benutzen durften.
Ich nahm erst nur das Zimmer mit Frühstück. Als ich jedoch auswärts essen wollte,
merkte ich, dass es gar keinen Spaß machte, alleine zu essen, weil die meisten eben
in ihren Pousadas speisen und so aß ich ab dem zweiten Tag dort. Hier hatte ich
auch endlich mal wieder eine warme Dusche, denn die in meinem Chalet in Alto
Paraíso war bloß kalt.
Am nächsten Morgen erlebte ich eine große und starke Heilung in meinem Herzen,
ohne bei João de Deus selbst gewesen zu sein. Anscheinend hatte er auch hier den
Heilkreis, in dem seine Wesenheiten wirken aufgebaut.
Bei einem Rundgang durch die Stadt schaute ich in einen Kleiderladen, in dem mir
die indischen weißen Klamotten aufgefallen waren. Die Besitzerin zeigte mir freudig
die Kleider und zog plötzlich ihre Bluse aus, so dass ihre nackten Brüste zu sehen
waren. Sie zog einige Oberteile an, um sie mir zu zeigen. Ihre erwachsene Tochter
rief bloß ständig „Mãe!“ und schaute auf die Straße, auf der gerade zwei Männer
vorbeikamen, einer davon im Rollstuhl.
„Ich habe das erste Geschäft hier eröffnet. Früher waren nur Brasilianer gekommen,
aber seit einigen Jahren kommen immer mehr Ausländer aus der ganzen Welt. Vor
allem im Januar ist es sehr voll“, begann sie zu erzählen.
In der Straße, in der wir waren würden mehr Ausländer wohnen als Brasilianer. Vor
allem Iren hätten Häuser hier und zu Besuch kämen vor allem Amerikaner.

Dadurch, dass ich um zwanzig nach sechs aufwachte, schaffte ich es, bequem zur
Casa Dom Ignacio zu gehen. Durch Nachfragen erfuhr ich, dass ich eine Nummer im
Laden zu ziehen hatte. Für acht Uhr war ein Vortrag auf Portugiesisch angesetzt, der
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jedoch erst um neun Uhr anfing. Zwischendrin wurde das Vater unser auf
Portugiesisch und Englisch gebetet und das Ave Maria auf Portugiesisch. Dann ging
es durch die verschiedenen Räume zu João, bei dem ich mich für die Heilung
bedankte, die mir durch ihn in Deutschland zuteil wurde und setzte mich noch ein
wenig zum Meditieren auf einen der Stühle im Nebenraum. Als ich herausging,
erklärte der Führer der brasilianischen Gruppe, dass es wichtig wäre, nicht zu sagen,
wenn wir etwas Gutes getan hätten, da wir sonst wieder bei Null anfangen müssten.
Auch müssten wir lernen, „nein“ zu sagen.
In der Schlange für die heilige Suppe stand Christas Bruder mit zwei Frauen hinter
mir, aber mir fiel kein Grund ein, ihn anzusprechen. Mir war überhaupt nicht nach
Reden zumute.
Danach war ich müde und legte mich bis zum Mittagessen erst einmal hin. Am Mittag
unternahm ich einen Spaziergang mit wunderbarem Blick auf die umliegende grüne
Hügellandschaft, bevor ich in der Hängematte des Lokals namens „Moitará“ flaggte,
in dem zu meiner großen Freude gerade Miten und Premal lief, als ich ankam.
Bei der schönen Musik gelang es mir mit Leichtigkeit, den Text von José Arguelles
„Ein Überlebensfaden für den Weg bis zum Jahre 2012“ zu lesen, den ich mir von
Christa kopiert hatte. Es war eine gute Anleitung für das Leben in den nächsten
Jahren. Irgendwann wurde die Musik wieder profaner und der Hund im Zwinger (!)
begann zu bellen, Grund genug, nach Hause zu gehen.
Ich dachte dann wieder an den karamelfarbenen indischen Zweiteiler, den ich in dem
Geschäft mit der netten Verkäuferin gesehen hatte. Er war allerdings für meine
Verhältnisse viel zu teuer. Mehr aus Spaß probierte ich die Teile an. Währenddessen
begann die Verkäuferin, zu erzählen.
Die Brasilianer wären so dumm.
„Brasilien ist eines der reichsten Länder der Welt, doch die Brasilianer verkaufen
alles nach draußen, um es dann teuer wieder zurückzukaufen“.
Die Baumwolle des Schales zum Beispiel, den sie mir umhängte, ginge von Brasilien
nach China, um dort zu Stoff verarbeitet und genäht zu werden und käme dann viel
teurer zurück.
„Das gleiche geschieht mit dem Öl. Das Öl aus Brasilien geht nach Amerika, um dort
raffiniert zu werden und kommt dann wesentlich teurer zurück. Außerdem gehört
bald ganz Brasilien Ausländern. Bald müssen sich die Brasilianer einen anderen Ort
zum Leben suchen. Halb Pantanal gehört schon Ausländern“.
Viele Firmen seien inzwischen multinational, Petrobrás zum Beispiel oder – sie
zeigte mir einen Chimarrão der größten Fabrik von Chimarrões (das ist ein spezielles
Trinkgefäß, um Mate-Tee zu trinken). Sie hätten diese exportiert, woraufhin
ausländische Firmen ein Auge darauf warfen. Nun seien sie multinational.
„Ich selbst ging nie zur Schule. Ich bin Analphabetin. Ich habe nicht einmal 400
Reais, um meine 90 Jahre alte Mutter in Rondonia zu besuchen. Drei Kinder habe
ich alleine großgezogen und unter einer Plastikplane gelebt“.
Sie begann zu weinen.
Ich war sehr betroffen, aber wie sollte ich ihr helfen?

Nach drei Tagen fuhr ich wieder zurück nach Alto Paraíso, wie ich das ursprünglich
vorgesehen hatte.
Ich wollte mit dem Bus fahren, aber als dieser nicht anhielt, nahm mich ein
Autofahrer mit, der gesehen hatte, dass ich nach dem Bus gewunken hatte. Just in
dem Augenblick als ich einsteigen wollte, kam die Besitzerin der Pousada
angefahren. Sie stieg aus und umarmte mich zum Abschied. Das war großartig, nicht
nur, weil ich mich so noch von ihr verabschieden konnte, sondern auch, weil sie auf
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diese Weise den Fahrer und das Auto gesehen hatte, mit dem ich mitfuhr. Er
erzählte, dass in Fortaleza eine Touristin spurlos verschwunden sei, die auf einem
esoterischen Trip war. Mich jedoch setzte er ganz ordnungsgemäß am Busbahnhof
ab.

Brasília

Da es kein Ticket mehr nach Alto Paraíso für den gleichen Abend gab, war ich
gezwungen, in Brasília zu übernachten. Eine Frau in der Schlange am Ticketschalter
erklärte mir, wo die Jugendherberge war und so ging ich dorthin.
Es war zwar die teuerste Jugendherberge, die ich in Brasilien bisher besucht hatte,
aber ich war froh, überhaupt so schnell etwas gefunden zu haben. Einen Tag vor
Heilig Abend waren wir bloß drei Gäste: ein Amerikaner, ein Brasilianer, der
anscheinend mit ihm unterwegs war und ich. Der Amerikaner gab mir den Tip, im
zweiten Stock des Shoppingcenters Conjunto Nacional essen zu gehen, denn in der
Nähe der Jugendherberge gäbe es nichts.
Also ging ich nochmal los zum Conjunto Nacional, vorbei an dem Gewusel im
dreckigen und stinkenden Busbahnhof. Das erste Mal in meinem Leben lernte ich ein
Shoppingcenter zu schätzen, weil hier alles beisammen war, was ich gerade
brauchte: ein Internetcafé, ein Supermarkt und ein Schreibwarenladen. Und alle
hatten bis zehn Uhr geöffnet.
Auf dem Rückweg lief ich sogar vom JK-Denkmal zurück, obwohl es schon dunkel
war. Auf dem gesamten Weg ist mir außer drei Vögeln und dem Wachpersonal der
umliegenden Gebäude keine Seele begegnet.

Beim Frühstück regte ich mich über die Plastikbecher und das Plastikbesteck auf.
Was für eine Verschwendung von Ressourcen!
Zur Rodoferroviária, dem Busbahnhof wollte ich Laufen. Ich kam vorbei an
militärischem Gebiet zu meiner Linken, zur Rechten war grüne Landschaft.
Überhaupt schätzte ich diesmal die vielen Grünflächen in Brasília sehr.
Die ganze Zeit kam kein Bus vorbei und langsam wurde die Zeit knapp. Am Ende
hatte ich nur noch zehn Minuten und es waren noch 1,5 Kilometer. Glücklicherweise
kam in dem Moment ein Taxi angefahren und brachte mich zum Ziel. Drei Minuten
vor Abfahrt kam ich an.
Ein Amerikaner saß im gleichen Bus wie ich und stieg mit mir in Alto Paraíso aus. Er
stellte sich Ewigkeiten ans Telefon und sprach mit irgendjemandem. Schließlich kam
er zu mir und fragte mich, ob ich nach São Jorge fahren würde. Ich bejahte. Ich
wollte Peter Heilig Abend besuchen. Der Amerikaner hatte in Alto Paraíso eine
Pousada für eine Nacht reserviert, aber ich merkte, dass er eigentlich lieber gleich
nach São Jorge fahren wollte. Schließlich wurde er von einem großen schwarzen
Pickup abgeholt.
Ich ging kurz zu Vera in die Pousada, um Hallo zu sagen. Als ich wiederkam, stand
der Amerikaner wieder am Telefon. Er wollte in São Jorge ein Zimmer reservieren,
hatte jedoch kein Glück. Keine Pousada nahm das Telefon ab.
Ich überredete ihm, ohne Reservierung hinzufahren, jetzt gäbe es genug freie
Zimmer.
„Die Brasilianer feiern Weihnachten in der Familie. Erst ab dem 28. Dezember wird
es voll werden“, beruhigte ich ihn. Er fuhr tatsächlich mit. Meine Kekse lehnte er ab,
weil er keinen Zucker aß.
36

São Jorge

Als wir in São Jorge ankamen, sah ich Peter durch die Straßen laufen und rief ihm
zu. Wir gingen erstmal zusammen einen Saft trinken und der Amerikaner suchte
sich eine Bleibe.
Am Abend waren wir von Prathiba auf ein Fest eingeladen worden und gingen dort
hin. Heilig Abend hatte ich in Brasilien immer gemocht, weil es nicht groß gefeiert
wurde. Es war alles einfacher und bescheidener und wie ich fand angemessener als
in Deutschland, wo mir der große Tamtam mit Geschenken und Familie immer auf
die Nerven ging. Bloß waren bei der Feier so viele Leute da, dass ich mich unwohl
fühlte und gar nicht lange blieb. Peter lud mich ein, bei ihm zu übernachten.

Alto Paraíso

Am nächsten Morgen durfte ich lange warten, bis ein Auto kam und mich nach Alto
Paraíso mitnahm.
Ich ging dann noch in die Gota, in der Musik gemacht wurde. Gota heißt Tropfen und
wie ein großer weißer Tropfen sah das Gebäude aus, in dem zwei Sannyasins
regelmäßig ganz feine Meditationsmusik machten. Diesmal war einer der Musiker
von Prem Joshua dabei, der gerade mit seiner brasilianischen Frau angekommen
war. Er erzählte mir, er wäre im Solarion im Vale do Moinho gewesen. Das wäre
etwa 14 Kilometer von hier entfernt. Hin ginge es fast nur bergab, aber auf dem
Rückweg stetig bergauf.
Als ich am nächsten Morgen früh aufwachte, entschied ich, dort hinzufahren und
zwar mit dem Fahrrad. Es ging durch eine schöne grüne Landschaft mit Blicken auf
die umliegenden Berge und ich genoss die Fahrt sehr.
Als ich im Solarion ankam war ich ganz alleine. Ein Schild, das ich allerdings erst
beim Rausgehen las, wies darauf hin, dass es sich um einen ökologischen Park und
ein esoterisches Sanktuarium handelte. Der Weg führte an verlassenen Häusern und
einem Campingplatz vorbei, an dem eine Palmdachkonstruktion
zusammengebrochen war. Schon einige Zeit schien sich keiner mehr um diesen
Platz zu kümmern.
Zuerst lief ich den Schildern nach zum Cherubim-Wasserfall, der mich jedoch
weniger ansprach wie der Engel-Wasserfall, an dem ich nackt badete und mich in
der Sonne auf einem Felsen trocknete. Der Platz war eigentlich phantastisch, wenn
nicht die Moskitos ohne Ende gestochen hätten. Dies war außergewöhnlich, denn
normalerweise ließen mich die Viecher aufgrund des Mückenschutzmittels von Lage
& Roy vollkommen in Ruhe.
Als letztes lief ich noch zum Erzengel-Wasserfall, bevor ich den Heimweg antrat.
Als ich zum Ausgang kam, saß eine Frau auf dem Boden mit einem riesigen Messer
in der Hand. Sie jagte mir einen gehörigen Schreck ein. Eine Machete wäre ja o.k.
gewesen, aber ein Messer dieser Größe!
Sie fragte, ob ich schon bezahlt hätte. Ich gab ihr das Geld und sah zu, dass ich
wegkam. Gerne hätte ich mehr über diesen Ort gewusst, aber ich traute mich nicht,
sie zu fragen.
In einer Bar in der Nähe trank ich ein kaltes Guaraná, in der ich außer ein paar
Kindern der einzige weibliche Gast war. Die Jungs spielten Billard.
Eigentlich wollte ich zurück trampen, aber es kamen nur drei Autos vorbei, die voll
waren. Erst als ich kurz vor Alto Paraíso war, kamen größere Autos vorbei, die Platz
37

gehabt hätten und die all die Tramper mitnahmen, die mir auf der Strecke begegnet
waren.
Als ich Pedro Paulo erzählte, dass ich dort war, hörte ich nochmals die Geschichte,
die ich von Luciano her kannte.
„Es war ein Deutsche, die mit ihrer Tochter dort gelebt hat. Sie hatte einen
Angestellten, dem sie zu viel vertraute. Sie hat ihm einen Jeep gekauft und
unterschriebene Blankoschecks gegeben. Er wusste jedoch nicht damit umzugehen
und hat sich ins Spiel involviert. Als sie herausbekam, dass er Schecks veruntreut
hatte, bekam er Angst vor ihrer Reaktion. Er engagierte einen Pistoleiro, der sie und
ihre Tochter umbrachte“.
Sie hätten die Beiden mit einer Matratze verbrannt, um einen Unfall vorzutäuschen,
aber es kam heraus.
„Der Urheber des Verbrechens sitzt jetzt im Gefängnis“.
Sie wäre sehr hart im Umgang mit Geld gewesen.
„Ich bin selbst wegen ihr hierhergekommen. Sie war Therapeutin und es kamen
große Gruppen mit 20 bis 30 Leuten zu ihr. Einmal wollte ein Frau im Wasserfall
Baden, doch sie hatte kein Geld dabei“.
Die Deutsche habe sie drei Stunden im Garten arbeiten lassen, um im Wasserfall
Baden zu Baden.
„Das hat mir nicht gefallen und deshalb bin ich gegangen. Eigentlich hätte ich den
Campingplatz übernehmen sollen, aber wenn keine Leute gekommen wären, hätte
ich nichts verdient. Nach der Arbeit durfte ich die vierzehn Kilometer nach Alto
Paraíso zurücklaufen, sie hat mich nicht gefahren“.
Die Deutsche hätte noch zwei Kinder in Uruguay, denen das Anwesen gehöre, aber
sie kümmern sich nicht darum.

Pedro Paulo brachte mir auch einen kleinen portablen Gasherd, so dass ich endlich
wieder kochen konnte und nicht mehr im Restaurant zu essen brauchte.
Zweimal pro Woche gab es einen Marktstand mit allerhand biologischen Produkten,
wo ich gerne einkaufte.
Im Internet las ich von einer großen Flutwelle, die über die Küste von halb Asien
hinweggerollt war; bis dato waren es 55.000 Tote. Als ich Peter traf, war ich die
erste, die ihm davon berichtete. Er wiederum erzählte mir von einer Zeremonie mit
Ayahuasca, zu der er nächsten Freitag gehen wolle. Warum ich nicht mitkomme...
Als nächstes besuchte ich Francisco, den ich vom Maya-Kalender-Treffen her
kannte. Er kam auf das Gleiche wie Peter zu sprechen und erzählte mir folgende
Geschichte: „Ayahuasca war einer der beiden Inkakönige, die zur Zeit regierten, als
die Spanier in Südamerika einfielen. Ayahuasca warnte seinen Bruder, dass die
Spanier seiner Meinung nach nichts Gutes im Sinn hätten und flüchtete“.
Die Spanier haben das Inkareich tatsächlich zerstört, aber Ayahuasca habe die
Zubereitung des Getränkes in fast ganz Südamerika verbreitet.
„Es sind zwei verschiedene Pflanzen, die zusammengemischt werden. Maíra ist die
weibliche Pflanze, das Ying sozuzsagen und eine Schlingpflanze bildet den
männlichen Teil, das Yang. Beide zusammen lassen den Geist aufsteigen und öffnen
das Herz.“
Francisco brachte mir eine Flasche zum Riechen und zeigte mir einen Ableger einer
Maíra-Pflanze. Er führte mich auch in seinen Garten, in dem ich die vielen
Nutzpflanzen, die hier wuchsen bestaunte: Melisse, Brunnenkresse, Pfefferminze,
Mangos, Avocados und und und. Er gab mir einige Kräuter zum Teekochen mit. Als
eine Freundin von ihm zu Besuch kam, legte ich mich in die Hängematte und
entspannte mich bei tibetisch-buddhistischen Mantren.
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Francisco meinte, ich müsse unbedingt zum Nationalpark von Ipitipoca, nach
Aiuruoca und zum nahegelegenen Vale do Matutu fahren. Dort gäbe es eine
Gemeinschaft von Santo Daime.

Die Meditation in der Pousada do Renascer, die ich besuchte, war diesen Abend
Mutter Erde geweiht, speziell der Region in Asien, in der der Tsunami weite Teile der
Küste zerstört hatte. Jetzt waren es schon 100.000 Tote. Francisco hatte mir erklärt,
dass sich die Erde um sechs Grad zurückverschoben hatte und nun wieder aufrecht
steht. Er nahm seinen Globus und kippte ihn nach oben. Das habe die Flutwelle
ausgelöst.
Ich fühlte mich auf jeden Fall richtig wohl bei ihm und wie zu Hause.
Im Supermarkt hörte ich, wie jemand sagte: „Es ist alles nur geborgt.“
Das finde ich eine gesunde Einstellung. Schon lange ist mir Eigentum ein Dorn im
Auge. Ich würde Grundeigentum schon einmal grundsätzlich abschaffen. Das
System hat für mich versagt. Die Eigentümer beuten ihr Land aus, sowohl was die für
sie arbeitenden Menschen als auch was Mutter Erde betrifft.

Als ich Peter das nächste Mal traf, machten wir aus, dass er ein paar Tage zu mir
kommt und ich dafür bei ihm in São Jorge bleibe. Er wollte Alto Paraíso näher
kennenlernen.
Endlich besuchte ich auch mal den Usina Park, der so heißt, weil dort früher mit
einem kleinen Wasserkraftwerk der Strom für die ganze Stadt gewonnen wurde. Ein
Pfad führt durch das Gelände am Fluss vorbei, der zum Baden einläd.
Ein Schild erregte meine Aufmerksamkeit. Auf ihm stand die Geschichte von einem
Waschbär, der einen Kolibri dabei beobachtet, wie er aus seinem Mund einzelne
Tropfen Wasser auf das Feuer eines Waldbrandes tropfen lässt.
„Damit wirst du aber nie den Waldbrand löschen“, kommentierte der Waschbär. Der
Kolibri gab zurück: „Das nicht, aber ich tue meinen Teil.“
Und darum ging es. Seinen Teil beizutragen und seinen Müll mitzunehmen.
In vielen Parks las ich interessante Schilder wie zum Beispiel eines, auf dem stand
wie lange unser Müll braucht, um zu verrotten.
Leider stachen auch hier die Moskitos unbarmherzig zu, die sonst durch meinen
Mückenschutz immer abgehalten wurden. Später erfuhr ich, dass auch hier eine Frau
tot aufgefunden wurde.
Im Internet fand ich bei amazonlink Informationen, wie ausländische Firmen Patente
auf alles anmelden, was sie gerade Lust haben. So zum Beispiel auch auf Cupuaçu,
eine brasilianische Frucht. Es bestand die Möglichkeit, zu unterschreiben, dass
mensch gegen derartige Machenschaften ist.
Patente, die Pest unserer Zeit.

Am Abend wurde ich terrorisiert von der lauten Musik eines Festes, das der alte
Bürgermeister, der abgewählt wurde zu seinem Abschied veranstaltete. Ich bekam
davon sogar Kopfschmerzen und die ganze Stadt konnte nicht schlafen.

Anlässlich des letzten Tages des Jahres 2004 verfasste ich eine Mail für meine
Freunde:
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Hallo Ihr Lieben,

2004 soll das Jahr sein, in dem der Maya-Kalender ausgerufen wird. Da der
Friedenskalender in Deutschland weniger bekannt ist als hier in Brasilien, möchte ich
den letzten Tag des Jahres 2004 nutzen, auch den Friedenskalender auszurufen.
Die Nutzung des Maya-Kalenders geht mit einer Änderung der Frequenz einher von
12:60 (12 Monate und 60 Minuten pro Stunde) des gregorianischen Kalenders zu
13:20 (13 Monde und 20 Finger/Zehen an Händen und Füßen), die als die richtige
Frequenz für den Menschen erachtet wird, um in Harmonie und Frieden auf das Jahr
2012 zuzuschreiten.
Der Zyklus besteht aus 13 Monden à 28 Tagen, mit 52 Wochen à 7 Tagen und
einem Tag außerhalb der Zeit, dem 25. Juli des gregorianischen Kalenders.
Jedem Tag ist ein bestimmtes Energiemuster zugeordnet, dem der gregorianische
Kalender, der aus der Zeit Babylons stammt, keine Sorge trägt.
Ganze Bücher beschäftigen sich mit dem Kalender der Neuen Zeit, mehr zu
schreiben würde diese e-mail sprengen.
Ich wollte dies nur mitteilen und einladen, den Abschied vom gregorianischen
Kalender zu feiern und den Eintritt eines neuen Kalenders mit 13 Monden zu 28
Tagen willkommen zu heißen.

In diesem Sinne guten Rutsch und

Alles Liebe aus dem Herzen Brasiliens

Ich schaffte es, die Mail in der letzten Stunde bevor das Internetcafé über Sylvester
schloss, zu verschicken. Danach hatte ich den Impuls, beim Centro de Atendimento
ao Turista, dem Touristenbüro, kurz CAT vorbeizuschauen. Ein Israeli mit langen
mittelblonden Haaren war gerade angekommen. Er hatte eine unangenehme
Odyssee hinter sich, denn er war im Bus auf dem Weg nach Fortaleza von drei
bewaffneten Männern ausgeraubt worden. Sie stahlen ihm unter anderem auch den
Pass, so dass er nach Brasília fahren musste, um sich einen neuen zu besorgen.
„Ich habe vier Stunden vor der Botschaft im Regen gesessen und bin sehr schlecht
behandelt worden, so etwa wie die Palästinenser tagtäglich in Israel behandelt
werden.“
Er war im Nordosten unterwegs gewesen und jetzt wollte er eigentlich wieder zurück
nach Israel. Später erfuhr ich, dass im Nordosten viele Gefängnisinsassen
ausbüchsen und dann Busse überfallen.
Ich unterhielt mich noch mit Neusa, die im CAT einen schönen Laden unterhielt und
an der Touristeninformation aushalf, wenn sonst keiner da war. Sie wohne schon seit
acht Jahren in Alto Paraíso und habe vorher an verschiedenen Orten in Brasilien
gelebt.
„Als ich hierherkam, hatte ich das Gefühl, dass hier der Himmel näher an der Erde ist
wie sonstwo. Für mich ist es der beste Ort in Brasilien, um spirituell zu wachsen“.
Sie erzählte von einem Mann, der unbedingt den Reiki-Meister machen wollte. Die
Reiki-Lehrerin fragte ihre Meister, ob das in Ordnung sei, aber sie sagten immer
nein. Als er das zehnte Mal fragte, bekam sie ein ja und der Mann machte den
Meister, aber Neusa habe schon einige Reklamationen von Leuten gehört, die bei
ihm waren.
In bezug auf Massagen am Ort meinte sie, die besten Masseure würden keine
Reklame machen.
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Am Abend war Meditationsmusik in der Gota, was ich als ein wahres Geschenk
betrachtete. So wollte ich gerne Sylvester feiern.

Da mein Chalet oben offen war, machte ich immer wieder die Bekanntschaft mit
verschiedenen Tieren. Einmal saß eine Gottesanbeterin auf meinem Toilettenpapier,
ein anderes Mal klemmte ein winziger Frosch an meiner Badezimmerfalttür. Ich
fragte den Frosch, ob er seine Augen nicht zu schließen brauche. Er meinte, sie
würden ständig befeuchtet werden, aber zum Schlafen würde er sie schließen.
Wir kamen aufs Leben zu sprechen.
„Du hast gewählt, so zu sein wie Du bist. Ich habe gewählt, zu sein wie ich bin. Alle
haben bewusst gewählt, zu sein, was sie sind“, meinte er.
Plötzlich war er verschwunden. Er hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Er war in
Richtung auf das Glas gesprungen, das ich ihm hinhielt, aber er war dann weder im
Glas noch sonstwo zu finden. Keine Ahnung, was da wieder passiert ist.

Als ich spazieren ging, traf ich eine Frau, die ich von Prathiba her kannte. Sie
erzählte mir, dass sie Teile für eine Solaranlage aus den USA hierher geschmuggelt
hätten, weil die brasilianische Regierung versuche, den Einsatz von Solarenergie zu
verhindern.

Am 1. Januar kam Peter mit einem Luis das Hervas, einem Kräutermann zu mir. Luis
setzte sich auf einen Holzscheid an der Feuerstelle vor meiner Tür und spielte auf
seiner Querflöte, bevor er sich einen Joint baute, den er ganz alleine rauchte.
Er hatte interessante Dinge zu erzählen, so zum Beispiel, dass es Mangos gibt, auf
die hin es einem schlecht wird, wie es mir schon passierte. Er erklärte mir auch, das
Açai im Norden ganz ohne Zucker getrunken wird, weil es in Verbindung mit Zucker
und Zitrusfrüchten ein Oxidant wird. Er habe schon längere Zeit im Norden gelebt.
Auch vertrage es sich überhaupt nicht mit Alkohol. Açai enthalte viel Eisen und
Mineralstoffe und sei ein Stärkungsmittel.
„Im Norden Brasiliens leben viele Menschen auf der Basis von Açai. Seit Kurzem
wird es auch in anderen Gegenden Brasiliens verkonsumiert, aber die
Gepflogenheiten, die damit zusammenhängen, sind noch gar nicht bekannt“.
Genauso entwickle sich eine Wassermelone zu Gift, wenn sie zusammen mit Zucker
gegessen werde.

São Jorge

Ich ging am Nachmittag los, um nach São Jorge zu Trampen. Am Straßenrand hinter
dem Ortsausgang stand ein silberfarbenes Auto mit geöffneter Heckscheibe und drei
bunt gekleideten Leuten.
Der Bunteste von ihnen fragte unvermittelt: „Wohin des Weges so fröhlich und
beglückt?“
„Nach São Jorge“.
„Da fahren wir auch hin. Willst Du mitfahren?“
„Ich will. Aber ist denn Euer Auto nicht kaputt?“
„Nein, wir telefonieren nur. Weil man in São Jorge nicht mit dem Handy telefonieren
kann“.
Julio war letztes Jahr in Deutschland gewesen, in München und in Hanau.
„In Hanau wohnt meine Mutter und in München habe ich gewohnt“.
„Was für ein Zufall! Dafür hat sich das Warten gelohnt“.
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Das Pärchen war aus Baurú.


„Baurú, da ist Christa, eine Schweizerin, die hier lebt gerade ein paar Sachen holen
gefahren. Sie wollte ursprünglich dort in eine Gemeinschaft ziehen, aber es ist nichts
daraus geworden. Sie arbeitet viel mit dem Maya-Kalender“.
„Das gibt’s ja gar nicht! Das ist ja wieder Synchronizität!“
Adriana berichtete ganz aufgeregt von einem unbekannten Flugobjekt, das sie die
letzten beiden Abende gesehen hatten. Sie glaube ja nicht an so etwas, aber es war
da.
„Oben hatte es ein grünes Dreieck, unten ein rotes Licht und in der Mitte war es
gelb“.
Julio war aus Brasília und hatte schon die halbe Welt bereist. Er lebte an den
verschiedensten Orten wie zum Beispiel in London oder im buddhistischen Kloster in
Tres Corações bei Porto Alegre und im Zen-Kloster Morro da Vargem, in dem ich vor
Jahren auch schon gewesen bin.
Die beiden Männer hatten sich 1999 auf dem Jakobsweg in Spanien kennengelernt.
Julio fotografierte und hatte eine Methode entwickelt, bei der mensch spiralförmig
fotografiert. Ich habe es zwar nicht so recht verstanden, aber für ihn wäre es wie eine
Therapie, wie eine Wiedergeburt.
Als er seinen Hut absetzte, kam seine Glatze mit einem kurzen Schwanz am
Hinterkopf zum Vorschein.
„Hare Krishna“, kommentierte Fabio.
Wir machten an einer Ranch auf halber Strecke halt, wo der Asphalt aufhörte und die
Schotterpiste begann. In einer Hütte unter einem Palmdach gab es nicht nur zu
Essen, sondern auch Likör und Zuckerrohrschnaps zum Probieren. Die drei hielten
sich ziemlich ran. Der Besitzer erzählte uns dann, dass er noch nie Alkohol
getrunken habe. Als er neun Jahre alt war, sei sein Vater gestorben. Er habe seiner
Mutter geholfen, die ihn als fleißiges Kind lobte, das nicht trinkt. Dadurch habe er Zeit
seines Lebens keinen Alkohol getrunken.
Fabio war Rechtsanwalt und arbeitete mit Patenten und der Adoption von
brasilianischen Kindern. Er hatte ein Büro in Alicante. Die Japaner hätten Patente auf
brasilianische Früchte durchbringen wollen, aber er meinte, Brasilien habe
gewonnen. Die Japaner würden auch die Meere leerfischen. Sie wären mit einem
Boot unterwegs, mit dem sie alles abfischen, sogar Delphine und sofort zu
Dosenfisch verarbeiten. Dass es so etwas Trauriges überhaupt gibt...
Er war gerade auf der Suche nach Leuten, die sich an einem Bio-Bauernhof
beteiligen und dehydrierte Früchte in Europa verkaufen wollten. Er drückte mir ein
Päckchen wohlschmeckender gemischter tropischer Trockenfrüchte in die Hand –
ein exotischer Genuss mit Ananas, Kokosnuss, Papaya, Mango, Rosinen und
Paranüssen.
Wieder im Auto hörten wir keltische Musik.
„Erinnert Dich das an etwas?“ fragte Fabio.
Als nächstes hielten wir am Maitreya Garten. Auf einem Felsen genossen wir einen
herrlichen Blick auf eine Landschaft mit Palmen.
Julio trank immer wieder von seinem Zuckerrohrschnaps, den er von der Ranch
mitgenommen hatte. An einer Bergformation sah er den Teufel und Adriana Jesus
Christus.
„Heute ist weißer lunarer Spiegel nach dem Maya-Kalender, heute spiegelt sich alles.
Heute ist überhaupt eine kosmische Öffnung und noch dazu der erste erste“,
kommentierte Julio das Geschehen. Und: „Ich bin verrückt, aber ich stehe dazu“.
Sie fuhren mich zum Haus von Prathiba und Julio gefiel es dermaßen gut, dass er
am liebsten im Garten gecampt hätte.
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„Das ist ein richtiges Hexenhäuschen“, meinte er immer wieder.


„Schau doch nur die Blumen. Die blühen nur nachts!“
Es kam jedoch ganz anders, denn sie fuhren doch erst zu dem Ort, an dem sie
ursprünglich vorhatten zu campen und als es dort nicht ansprechend war und sie
wieder zurückkamen, war es dunkel. Außerdem hatte Julio für meinen Geschmack
schon zu viel getrunken und sowohl ich als auch die anderen versuchten erfolglos,
ihn von weiterem Trinken abzuhalten. So kam es zum Streit zwischen den beiden
Jungs und wir trennten uns.
Dass so etwas passiere wie der Streit, habe Julio geahnt, sagte er noch.

Beim abendlichen Rundgang durchs Dorf fiel mir ein neuer Steinstand ins Auge.
Beim Anschauen schenkte mir der Verkäufer einen Stein nach dem anderen. Ein
paar Leute hatten mich gebeten, ihnen Steine mitzubringen und so nahm ich ein paar
Kristalle für sie mit.
Am 2. Januar kehrte wieder Ruhe im Dorf ein. Ich fand ein Buch über Kristalle neben
dem Bett mit dem Titel „Love is in the Earth“, das ich mir zu Gemüte führte.
Ungemein interessante Dinge las ich darin, nicht nur wie Steine zu Heilzwecken
eingesetzt werden können, sondern zum Beispiel auch, dass man den
Benzinverbrauch bis zur Hälfte verringern kann, indem man einen Kristall in den
Vergaser oder in die fuel line einbaue, was immer die fuel line ist (ich fand leider in
keinem Wörterbuch eine Übersetzung dafür, nehme aber mal an, es handelt sich um
die Benzinzufuhr).
Als ich am Abend wieder beim Steinstand vorbeischaute, begann der Verkäufer, mir
von seinen Problemen zu erzählen. Dass er Schulden habe und Aufhören wolle mit
dem Schleifen, weil er nicht mehr so gut sehe. Dass alle Reichen Steine kaufen
würden und Juden ihre Habe in Form von Steinen am Leib tragen würden, weil sie
glauben, dass nur das wirklich ihnen gehöre, was sie am Körper tragen.
„Schon zwei Mal war jemand bei mir, der mir viel Geld angeboten hat, wenn ich mir
einen Chip einpflanzen lasse. Mit diesem hätten sie mich jederzeit per Satellit
ausfindig machen können. Ich lehnte jedoch ab, ich habe mein Leben lieber wie es
ist.“
Es wurde immer dunkler und die Geschichten immer unangenehmer. Als ich gehen
wollte, rief er mir hinterher: „Du wirst die ganze Nacht nicht schlafen!“
„Warum?“
„Weil Du Alpträume haben wirst“.

Ich besuchte diesmal das Raizama, eine ökologisches Sanktuarium, das sechs
Kilometer vom Dorf entfernt war. Ein schmaler Pfad führte durch die Landschaft an
die verschiedensten Stellen des Baches, der Gestein zu interessanten
Felsformationen ausgewaschen hatte. Als es anfing zu regnen, nahmen mich zwei
Typen mit zurück, von denen einer einen Drachen ins Bein tätowiert hatte und der
andere eine Brasilienkarte.
São Jorge war mir jedoch etwas zu klein und ich war froh wieder zurück nach Alto
Paraíso zu fahren. Peter hatte es auch gut gefallen in Alto und er zog es vor, nun
dort zu bleiben anstatt in São Jorge.

Alto Paraíso

Im CAT lernte ich Celio kennen, der im Radio arbeitete und mich ansprach, als ich
mich gerade mit Neusa unterhielt. Er war mir mit seiner freundlichen Ausstrahlung
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auf Anhieb sympathisch und so nahm ich seine Einladung in die Pizzeria 2000 an.
Dort hatte er ein Essen gut, weil er im Tauschsystem arbeitet: Werbung im Radio
gegen ein Abendessen in der Pizzeria.
Wir schauten uns einen langen Augenblick schweigend an und ich tauchte in einen
Raum des Nichts und der Unendlichkeit ein.
„Vor eineinhalb Jahren war ich noch ganz anders. Damals begann ich mit der Arbeit
mit Doktor Fritz und seitdem kann ich meine Aufgabe im Leben realisieren.“
Als ich ihm erzählte, wie ich hierher gekommen war, meinte er: „Komm doch hierher
zum Leben. Du hast sicher etwas hier zu tun“.
Ich erfuhr, dass es mehrere Doktor Fritz gibt und dass es viel Missbrauch gab, weil
bei Operationen Geld geflossen wäre, was nicht hätte sein dürfen. Deshalb führte
Doktor Fritz jetzt keine Operationen mehr durch und hatte vor, zu einem anderen Ort
zu gehen.
Ein anderes Medium bleibe jedoch und gerade würden sie einen neues Krankenhaus
bauen, in dem sie Leute in Zukunft ambulant behandeln könnten. Im Januar sei es
jedoch geschlossen.
Wir gingen noch etwas spazieren und ich machte ihn auf die Sternkreuzung
aufmerksam, die ich so mochte, weil hier fünf Straßen aufeinandertrafen. Ihm war
das in den zehn Jahren, die er hier lebte noch gar nicht aufgefallen.

Peter hatte mir von einer Frau erzählt, die verschiedene Behandlungen durchführt
und die er so nett fand. Als ich Lust hatte, sie kennenzulernen und schaute wo sie
wohnt, lächelte mir eine Nachbarin von ihr zu und kam zu mir, als würde sie mich
kennen. Sie dachte, ich wäre Prathiba und obwohl ich es nicht war, lud sie mich
spontan ein, bei ihr auf der Terrasse einen Tee zu trinken. Außerdem lud sie mich
unter anderem zur Abschiedsfeier der Gruppe aus São Paulo im Flor de Ouro ein.
Flor de Ouro gäbe sich gerne als Gemeinschaft aus, wäre jedoch nur ein Sítio von
zwei Personen. Der Besitzer sei ein Meister von Santo Daime.
Plötzlich kam ein Typ vorbei, der schon verschiedene Gemeinschaften besucht hatte,
aber momentan lieber alleine wohnte.
„Die Leute von Santo Daime altern schnell“, gab er zum Besten. „Ich war mal in einer
Gruppe in Acre, die früher ganz arm und einfach anfing. Jetzt gibt es schon ein Hotel,
in dem Leute aus Deiner Heimat, die mit dem Flugzeug kommen, übernachten
können“.
Als nächstes kam er auf die Hare Krishnas zu sprechen.
„Bei den Hare Krishna, bei denen ich mal war, wurden die Frauen sehr schlecht
behandelt. Die Männer lebten in Saus und Braus, die Frauen mit den Kindern jedoch
ganz einfach. Sie haben viel gelesen und verkauften tagsüber Räucherstäbchen. Im
Tempel stellten sie Acid her und nachts gingen sie Autoradios klauen. Keiner durfte
ohne Schere aus dem Haus gehen, denn wenn sie jemand erwischt hätte, hätten sie
ihr Schwänzchen Haare abschneiden sollen.“
Paula war auf jeden Fall eine nette und interessante Frau mit drei Kindern und
arbeitete im Waldorfkindergarten.

Im Internet war ich auf eine neue Liste gestoßen, in der ich mich eingetragen hatte
und bekam einen Aufruf zum Boykott mehrerer Firmen wegen ihrer unökologischen
und unsozialen Handlungsweisen. Neben Shell und Wal-Mart war auch die Firma
Nestlé genannt. Nestlé verführe Mütter in Südamerika mit aggressiven
Marketingmethoden zum frühzeitigen Abstillen und zum Kauf ihrer Produkte, was
gravierende gesundheitliche, soziale und ökonomische Folgen habe.
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In Bolivien sei Nestlé angeklagt, indirekt zum Tod von 28.000 Babys beigetragen zu
haben. In Brasilien warteten sie ebenfalls mit einer Reihe von „Unregelmäßigkeiten“
auf. So gewinnen sie zum Beispiel ohne Erlaubnis Wasser aus dem Parque das
Águas in São Lourenço und entmineralisieren es, was in Brasilien verboten ist, um
es danach mit ihren eigenen Mineralsalzen zu versehen. Sie stellen also künstliches
Wasser her, deklarieren es jedoch nicht entsprechend.
Generell wird das Wasser in Brasilien fluoriert, was ein anderes Thema ist, sowohl
das Leitungs- als auch das Mineralwasser, das zu Kaufen ist. Angeblich, weil früher
viele Kinder Zahnprobleme hatten. Tatsächlich gibt es Untersuchungen aus den
USA, dass die Krebsrate dort nach Einführung von fluoriertem Wasser gestiegen ist.

Als ich Peter wiedertraf, hatte er ein Häuschen mitten im Grünen am Stadtrand von
Alto Paraíso gemietet. Er habe in der Gota und im OCA lila gespielt. Er spielte
nämlich Gitarre. Seiner Meinung nach würde ich viel besser hierher passen, als in
den deutschsprachigen Raum.
In einem Indianerbuch, das in der Pousada Rubí lag, las ich, das es Weiße gibt, die
innerlich eigentlich rot wären.

Beim Vorbeischauen im CAT lernte ich einen Brasilianer kennen, der in das Projekt
Beija Flor involviert war. Er lud mich ebenfalls zur Abschiedsfeier ins Flor de Ouro
ein, er meinte, es würde mir sicher gefallen. Vom 16.9.05 – 31.9.05 würden sich
Menschen aus der ganzen Welt zur Chamada do Beija Flor treffen, das sie gerade
vorbereiteten.
So trampte ich mit Peter zusammen dorthin und wurde vom ersten Auto, das
vorbeikam mitgenommen. Einen der drei Jungs im Auto kannte ich schon vom Sehen
aus dem Internetcafé. Er hatte ein riesiges selbstgebautes Xylophon mitgebracht. Sie
wollten auch zum Flor de Ouro.
Peter und ich stürzten uns gleich in den Fluss, nachdem wir auf dem grünen Gelände
ankamen und schmierten uns mit dem Lehm ein, mit dem in Brasilien eine
besondere Art von Therapie gemacht wird: Argilotherapie. Wir ließen den Lehm in
der Sonne trocknen, wuschen ihn im Fluss ab und gingen in die Sauna, einem
einfachen Häuschen direkt am Fluss.
Irgendwie hatte ich Lust, das Gelände näher kennenzulernen, da kam eine
rothaarige Frau aus Cuiabá auf mich zu und bot mir an, mich herumzuführen. Sie
zeigte mir den Tempel, die Zeltplätze und schließlich die Quelle des Flusses im
Dschungel, zu der wir hinaufkletterten. Sie sei auch zufällig dazugestoßen, als sie
auf dem Weg nach Alto Paraíso war und sei geblieben.
Ein anderer wollte in São Paulo eine Friedensfahne kaufen und hatte sich spontan
entschlossen, mitzufahren.
Zum Essen gab es Teigtaschen, die mit Gemüse gefüllt waren. Sie waren zwar
lecker, aber irgendwie sättigten sie mich nicht. Da es langsam dunkel wurde, wollte
ich gehen und just in dem Augenblick kamen drei illustre Gestalten an mir
vorbeigelaufen, die ebenfalls zurückfahren wollten. Sie nahmen mich mit.
Einer von ihnen war ein dünner ägyptischer Stripper, der Fahrer war ein großer
kräftiger Kerl mit schwarzen langen Haaren und die Frau eine amerikanische
Sannyasin, die schon lange mit ihren Kindern hier lebte. Sie meinte, wir wären hier in
Alto Paraliso.

Bei einem Besuch bei Christa lernte ich Monica kennen, eine Astrologin und
Numerologin, von der mir Neusa schon erzählt hatte. Von ihr erfuhr ich, dass der
Name, den einem die Eltern gegeben haben stärker ist, als der Name von einem
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Meister, und zwar deshalb, weil er von einem männlichen und einem weiblichen Teil
stammt und der Name von einem Meister nur von einem männlichen Teil.
Als wir auf die Anzahl von spirituellen Suchern zu sprechen kamen, malte sie mir ein
Diagramm auf: „50% der Menschen lernen reden, 45% arbeiten als Angestellte,
Arbeiter etcetera und von dem restlichen 5% sind 4% Künstler und 1% spirituelle
Sucher“.
Zum Abschluss sagte sie noch: „Wir beginnen zu sehen, was wir wollen, wenn wir
wissen, was wir nicht mehr wollen.“

Bei einem Spaziergang Richtung Flughafen traf ich Celio, der mit seinem Motorrad
auf und ab fuhr. Ich konnte nicht anders, als ihm von den zwei Portionen Nudeln
erzählen, die ich gegessen hatte, nachdem ich aus dem Flor de Ouro
zurückgekommen war.
„Viele Menschen gehen nicht dort hin, weil gekifft wird. Irgendwelche Wesenheiten
haften sich dann an einen, von denen wir uns wieder reinigen müssen. Seit ich mit
Doktor Fritz arbeite, kann ich mir so etwas nicht mehr leisten."
Er gab mir einen Tip, wie ich mich reinigen könne.
Beim Weitergehen fiel mir eine Menge kleiner Papageien auf, die sich im Baum
neben mir niederließen. Ich fragte sie, wie es ihnen ginge. Es gehe ihnen gut, es
wäre alles in bester Ordnung, ich könne beruhigt sein. Sie leben in Gruppen und sind
gerne bei Menschen zu Gast, aber wenn, dann mindestens zu zweit und um die
Menschen für die Natur zu sensibilisieren.
Als es anfing zu donnern, lief ich runter zu Meera, die gerade Monica den Maya-
Kalender erklärte. Monica ist ein gelber Mensch, mein Antipode und repräsentiert
den freien Willen.
Als wir über die Internetseite mit dem Maya-Kalender sprachen, meinte Meera, dass
das Internet total kontrolliert sei. Sie wollte mal eine Seite 13:20 machen, aber sie
wäre nie zustande gekommen.
Dann erzählte sie Monica von einer Gemeinschaft im Süden von Minas Gerais von
einem gewissen Triguerinho, in der sie längere Zeit gelebt hat. Ich fühlte mich sofort
angesprochen.

Ein Argentinier, der beim Maya-Kalendertreffen dabeigewesen war, lief mir am


nächsten Tag über den Weg. Er gab mir einen Text von einem Kommandanten
Ashtar über die Geschehnisse der Zeit zu lesen und wartete mit Geschichten auf, bei
denen mir ganz anders wurde.
Die Besitzerin der Pousada do Renascer habe auf einem Berg meditiert und wäre
dabei zum Nordpol geholt worden. Dort würde eine 30 Kilometer tiefe Spalte klaffen,
die einen Kilometer breit sei und ich weiß nicht wie lang. Dem englischen
Ministerpräsidenten Tony Blair wäre diese Spalte auch gezeigt worden. Außerdem
drehe sich die Erde immer langsamer und würde irgendwann zum Stillstand
kommen. Dann drehe sie sich andersherum. Indios und viele andere hätten das
geweissagt. Auf der Schattenseite wäre es dann für drei Tage 270 Grad Celsius heiß
und auf der anderen Seite 270 Grad Celsius kalt.
„In Deutschland nehmen sechs Millionen Menschen ein Medikament, um das Gehirn
zu energetisieren. Viele Menschen werden unwiderruflich verrückt und keiner klärt
sie auf. Und das kommt jetzt hierher. Außerdem verringert sich das Erdmagnetfeld.“

Ich rief tatsächlich mal bei der Gemeinschaft von Triguerinho an, um zu fragen, was
ich machen müsse, um vorbeizukommen. Sie wollten zuerst einen Brief von mir
haben, aus welchem Grund ich kommen wolle, welche Bücher ich von Triguerinho
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gelesen habe und zu welchem Zeitpunkt ich den Besuch beabsichtige. Dann würden
sie mich anrufen und ein Gespräch mit mir führen. Da ich kein Telefon hatte, schied
diese Variante für mich aus.
Als ich Meera davon erzählte, erfuhr ich, dass sie nie auf legalem oder besser gesagt
offiziellem Wege dorthin gekommen war. Sie erzählte noch etwas Interessantes:
„Die Leute haben keinen Sex in der Gemeinschaft. Mit dieser Energie wollen sie
nichts zu tun haben. Nur tantrischer Sex ist o.k.“
Wir kamen darauf zu sprechen wie ich nach Alto Paraíso gelangte und dabei äußerte
ich, dass ich in Bonito im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Holzweg gewesen
war.
„Die Dämonen sagten einer Freundin, Wege aus Holz seien das Problem“.
Außerdem hörte ich, dass der Graben in Kalifornien aufging und einer Stadt mit
200.000 Einwohnern großen Schaden zufügte.
Im Anschluss schaute ich noch bei Vera vorbei. Sie ließ mich wissen, dass hier ein
großes Wasserkraftwerk gebaut werden soll. Sie hätten vor Jahren schon so sehr
dagegen gekämpft, dass sie alle sehr krank wurden, als der Fluss gefüllt wurde. Sie
brauchten lange, um sich davon zu erholen. Jetzt lag wieder so eine Geschichte auf
dem Tisch.
Auch wollten sie schon einmal neben dem Flughafen eine Sojaplantage einrichten
und einen großen Kristall abtransportieren. Vera habe niemals so viel vor einem
Richter gestanden wie hier.
Als sie vor 18 Jahren herkam, gab es noch nicht einmal ein Geschäft, um Essen für
die Touristen zu kaufen. Sie holten alles in Brasília. Jetzt setzen sie sich für eine
nachhaltige Lebensweise in der gesamten Region ein.

Ich hatte ein Schild von einem Haus gesehen, das zu vermieten war und schaute es
mir an. Der Vermieter war ein Amerikaner namens Michael und hatte gerade vor,
nach Brasília zu fahren und da ich Geld holen wollte, das hier in Alto Paraíso nicht zu
bekommen war, fuhr ich kurzerhand mit.
Er raste wie der Wind, so dass ich die Fahrt gar nicht genießen konnte, aber dafür
waren wir in zwei Stunden dort. Michael erwähnte etwas Aufschlussreiches: „Es gibt
zwei Sorten von Menschen, die hierher kommen: diejenigen, die suchen und
diejenigen, die flüchten. Vor sich selbst kann man jedoch nicht flüchten; deshalb sind
die meisten davon wieder gegangen.“
Auf der Suche nach einer natürlichen Zahncreme, gelangte ich zu Weleda in die
Straße der Apotheken ganz in der Nähe einer HBSC-Bank. Diesmal besuchte ich
den Park, von dem ich schon gehört hatte, aber ich war ziemlich entsetzt, weil er nur
aus Gras und ein paar wenigen Bäumen bestand, nichts von irgendwelcher
Schönheit. Als ich auf den Busbahnhof ging, um mir ein Ticket für die Rückfahrt zu
kaufen, waren schon beide Busse für heute voll.
Da ich jedoch insistierte, noch am selben Tag fahren zu wollen, gab mir ein Helfer
der Busgesellschaft den Tip, bei der Abfahrt des Busses zu schauen, ob jemand
wegen fehlender Dokumente nicht fahren könne. Das käme öfters bei Kindern vor.
Ob nicht manchmal jemand ein Ticket zurückgäbe, wollte ich wissen.
Doch, das käme schon vor. Ich wartete eine Weile und beim nächsten Nachfragen
hatte tatsächlich jemand zwei Tickets zurückgegeben. Ich war heilfroh.
Inzwischen hatte ich mich auch informiert, was ein Ticket nach Porto Alegre kosten
würde: 239 Reais für 36 Stunden Fahrt. Sie hatten noch Plätze für Freitag in einer
Woche frei und so kaufte ich mir kurzerhand ein Ticket.
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Wieder in Alto Paraíso packte ich meine Sachen, um für eine Woche zu Michael in
das Haus zu ziehen, das mir gefallen hatte, aber als ich um halb neun am Abend
vorbeischaute, war er noch nicht zurückgekommen. Ich traf einen Nachbarn vor der
Tür, der schreinerte und meinte: „Mein einziges Problem ist das Denken. Aber meine
große Chance ist, dass ich aufhöre zu denken.“
Ich schaute immer wieder bei Michael vorbei, der nicht sehr weit entfernt wohnte,
aber vergeblich. Als ich mir einen Tee kochen wollte, sah ich plötzlich in meinem
Zimmer eine Cobra Coral, eine schwarz-weiß-rote Giftschlage.
Sie lag zusammengerollt neben meinem Bett und war mindestens einen Meter lang.
Sie faszinierte mich am Anfang, aber als sie begann, sich zu bewegen wurde mir
mulmig. Ich hatte nicht die geringste Ahnung wie ich mit ihr umgehen sollte und so
entschloss ich, Hilfe zu holen. Bei Pedro Paulo brannte wohl Licht, aber seine
Vertretung war nicht da und bei seinem Bruder übertönte ein bellender Hund mein
Geklatsche. Also ging ich zum Schreiner nach Hause.
Er hatte schon etwas getrunken, kam aber mit und lief direkt neben die Schlange.
Dabei fiel mir ein, dass er nicht gut sieht. Er sah sie wahrscheinlich gar nicht.
Die Schlange kringelte sich und ich ging zur Tür, um sie zu öffnen und die Schlange
dort rauszulassen. Als ich zurück in mein Zimmer kam, war sie weg. Sie war einfach
verschwunden und ich wusste nicht wohin.
Der Schreiner versuchte, mich zu beruhigen und wir setzten uns auf die Bank vor der
Tür.
„Das einzige, was wir brauchen ist Liebe“, war sein Kommentar. Er lud mich ein, mir
seine Arbeit anzusehen.
Ich willigte ein und ging mit ihm. Es wäre eine große Ehre, mich bei sich begrüßen zu
dürfen, meinte er und schloss hinter uns das Tor mit Kette und Schloss ab. Auch
Licht machte er erst, als ich ihn darum bat, obwohl es stockdunkel war. Schließlich
holte er einen total verschmutzten Stuhl und lud mich ein, darauf Platz zu nehmen.
Als ich ihm bedeutete, er sei schmutzig, zog er sein T-Shirt aus und wischte den
Stuhl damit ab.
Als erstes zeigte er mir eine große Tafel mit dem Hare Krishna Mantra, das umrahmt
war von Tieren und Pflanzen. Dann brachte er ein Album mit Fotos und zeigte mir
zuerst diejenigen unter der Rubrik Erotismo: schön geschnitzte Figuren bei der
Vereinigung.
Er meinte, die Amerikaner wollten einen Kometen abschießen, was man jedoch nicht
tun dürfe und fragte mich etwas, woraufhin ich ihm klarmachte, dass ich mich kein
bisschen wohlfühle so eingesperrt wie ich war. Sofort schloss er das Tor wieder auf,
nicht ohne mich auf meine Paranoia hinzuweisen.
Ich schaute mir noch seine Möbel an, während er mich einlud, bei ihm zu
übernachten. Aber sein eintätowierter Stier auf seinem Oberarm flößte mir kein
Vertrauen ein, auch wenn sein Haus schön eingerichtet und sauber war.

Lieber versuchte ich, Vera zu erreichen, aber auch das gestaltete sich schwierig. Erst
war besetzt, dann suchte ich nach einer anderen Telefonzelle, weil bei der Zelle in
meiner Nähe so laute Musik aus der Lanchonete dröhnte. Aber überall liefen
Menschen herum, denen ich im Dunkeln nicht zu nahe kommen wollte. Schließlich
erreichte ich sie doch und wurde von ihr eingeladen, in die Pousada zu kommen. Sie
hatte sogar gerade einen Führer da, der mich abholen konnte. Was für ein Service!
Ich nahm in aller Aufregung erst einmal nur meinen Rucksack mit und ließ alles
andere da.
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Auf der Fahrt gab mir der Führer den Tip, großkörniges Salz auszulegen und mir
eine Katze anzuschaffen, die halte Schlangen fern. Sonst könne mensch Schlangen
mit einem Stock woandershin locken.
Ich war bloß froh, dem Ganzen entronnen zu sein.
Angesichts der Tatsache, dass die Schlange bei mir gewesen war und Michael nicht
weit entfernt wohnte, suchte ich nach einem neuen Domizil, denn in der Pousada
wollte ich nicht die ganze Zeit über bleiben. Nach diversen anderen Möglichkeiten
hatte ich mich für ein kleines Häuschen im Garten von Silene entschieden, von der
mir Peter damals erzählt hatte. Sie bot mir sogar an, mir meine restlichen Sachen
gegen ein kleines Entgeld abzuholen, was mir sehr zupass kam.

Als ich nochmal bei Vera in der Pousada vorbeischaute, war ein gebürtiger Peruaner
zu Besuch. Er hieß mich herzlich in Alto Paraíso willkommen und meinte: „Bleibe
doch ein Jahr hier!“
„Das würde ich lieber vorher planen. Ich habe ja noch eine Wohnung in Deutschland,
die ich bezahlen muss“, gab ich zurück, aber im Grunde sagte er genau das, was ich
am liebsten tun würde.
„Sie denkt noch mal darüber nach“, meinte Vera abschließend.
Tatsächlich hatte er einen alten Traum von mir angesprochen, ein Jahr ohne feste
Arbeit in Brasilien zu Bleiben. Die Möglichkeit, diesen Traum jetzt hier zu
verwirklichen gefiel mir sehr. Bloß wusste ich nicht, wie ich das finanziell machen
würde.
Prompt lernte ich im Anschluss eine Frau kennen, die vor über einem Jahr in einer
Gruppe als Touristin hierhergekommen und einfach dageblieben war...

Als ich Rosa, die Tierärztin auf der Straße traf, lud sie mich ein, mit ihr in die Pizzeria
2000 zu kommen. Sie traf sich dort mit ihrer Schwester und einer Freundin. Außer
Tierärztin war sie noch schamanische Therapeutin und Führerin.
Sie therapiere mit Hopi-Ohrkerzen.
„Diese reinigen mit Feuer. Außer dass sie den Ohrschmalz herausziehen, beleuchten
sie den Kern in der Mitte des Kopfes und bringen den Fluss der Meridiane in
Bewegung. Auch wenn jemand keine Krankheit hat, ist es gut, einmal im halben Jahr
eine Ohr-Reinigung mit Hopi-Ohrkerzen durchzuführen. Durch sie verbrennen auch
alle negativen Gedanken, die wir in uns hegen und zu denen wir erzogen wurden.“
Als nächstes ging es um Reinigung: „Mit allen vier Elementen ist es möglich, sich zu
reinigen. So können wir auch auf einen Berg gehen, um uns zu reinigen, unsere
Kleider ausziehen, uns dem Wind aussetzen und wieder anziehen.“
Sie erzählte eine Unmenge interessanter Dinge. Wie zum Beispiel, dass die Leber
das Energieorgan unseres Körpers ist. Und dass schwarzer Pfeffer unsere Zellen
dermaßen aktiviert, dass es sogar zu Tumoren führen kann.
„Was Arbeit anbelangt, bin ich der Meinung, dass jeder das machen soll, was ihm
Spaß macht und was er als eine Freude ansieht.“
Die Besitzerin der Pizzeria setzte sich zu uns an den Tisch. Sie berichtete wie sie
Marimbondos, Insekten, die fürchterlich stechen können, auf der Hand oder auf einer
Serviette nach draußen befördere. Sogar Kakerlaken ließen sich ganz leicht aus dem
Haus bringen, wenn sie wüssten, dass frau sie nicht töten wolle.
Früher hätte es in Alto Paraíso einen Tauschmarkt gegeben. Auf ihm hätten sich alle
Leute getroffen.
Rosa wartete noch mit der Geschichte von einem britischen Koronel auf, der die
Nordgrenze von Brasilien mit Venezuela vermessen hat und dann in den 50er Jahren
nach dem Zugang zu unterirdischen Wegen zum Mittelpunkt der Erde suchte. Sie
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erwähnte auch Shambala und andere Namen, jedenfalls wäre er in Mato Grosso
zusammen mit seinem Sohn verschwunden.
Vorher hatte sie mit ihrer Familie in São Thomé das Letras gewohnt. Allerdings sei
dort sehr viel mit schwarzer Magie gearbeitet worden.
Es gäbe dort viele mystische Dinge. Zum Beispiel mit Magnetismus.
„Stellt einer an einer bestimmten Stelle sein Auto ab, ohne die Handbremse
anzuziehen, so rollt es den Berg hinauf und nicht hinab. Es heißt, dass es von dort
eine unterirdische Verbindung zu Macchu Picchu gibt. Tatsächlich sind schon
Gruppen aufgebrochen und in einen Tunnel gegangen, in dem sie sechs Tage
unterwegs waren und in dem sich alle Taschenlampen entladen haben. Sie haben
kein Ende entdeckt.“
Bloß würden viele Menschen in São Thomé das Letras Drogen nehmen und nachts
randalieren. Das bewog Rosas Familie auch dazu, zu gehen. Und bis auf eine
Schwester war für alle Familienmitglieder Alto Paraíso der richtige Ort, hinzuziehen.
„Es gab bis hin zu Menschenopfern in São Thomé das Letras.“

Nachdem ich meine Wäsche die ganze Zeit mit der Hand gewaschen habe, fiel mir
auf, dass es mir damit viel besser geht, als wenn ich sie in der Maschine wasche. Mir
kam es so vor, als hätte ich dadurch mehr Zeit, Ruhe und Harmonie.
Silene hatte das Haus, in dem sie lebte an ein deutsches Ehepaar vermietet. Die
deutsche Frau arbeitete bei irgendeiner Organisation in Brasília.
Bei einem Rundgang traf ich Pedro Paulo, der gerade ein paar Leute durch die Stadt
kutschierte.
„Du hast gar nicht auf mich gewartet, als Du ausgezogen bist. Und was war das für
eine Schlange?“ rief er aus dem Auto heraus.
„Das war eine Cobra Coral“.
„Wie, hast Du sie gesehen?“
„Sie war einen Meter lang.“
„Eine Cobra Coral, die dient doch der Dekoration!“
Er erwähnte noch, dass der Schreiner an dem Abend angetrunken war und das war
´s. Ich ärgerte mich ziemlich über seine Ignoranz.

Die nächsten Abende gab es einen Kurs zur Verwaltung von Pousadas und da ich
dazu eingeladen wurde, nahm ich daran teil. Die Referentin wollte die Leute gerade
davon überzeugen, dass sie den Flughafen gut gebrauchen könnten, um den
Tourismus zu intensivieren, als ich intervenierte.
„An allen Plätzen, die ich besucht habe, haben Flughäfen die Natur in großem
Rahmen zerstört“, gab ich zu Bedenken, woraufhin eine richtige Diskussion unter
den TeilnehmerInnen in Gang kam und die Referentin gar nicht mehr weitermachen
konnte.

Endlich schaffte ich auch, den höchsten Berg am Ort in einem eineinviertelstündigen
Aufstieg zu erklimmen. Von hier hatte ich eine wundervolle Aussicht auf die gesamte
Gegend.
In der Stadt terrorisierte mich einer dieser Rasenmäher. Das Geräusch war
dermaßen nervig, dass ich mich allen Ernstes fragte, wie solche Maschinen erlaubt
sein können, wo sie so viele Menschen terrorisieren. Für mich ist ein Mangel an
Bewusstsein Schuld daran, denn jeder weiß heutzutage, dass Bewegungsmangel in
der zivilisierten Gesellschaft ein großes Problem ist. Ein mechanischer Rasenmäher
wie mein Großvater ihn vor Jahren noch benutzt hat, war wunderbar und kostete
wirklich nicht sehr viel Kraft. Er kostet auch keinen Strom wegen dem Atom-,
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Wasser- oder sonstige Kraftwerke gebaut werden müssen. Noch dazu fördert er die
Bewegung von Menschen, für die Menschen im Fitness-Studio heutzutage teuer
bezahlen.
Generell kosten Maschinen Arbeitsplätze. Das ist jedem, der in einer halbwegs
modernen Firma gearbeitet hat, bekannt.
Maschinen entstanden, um mit Fritjof Capra zu reden nach der cartesianischen
Revolution. Sie reichten, dem Verstand nach zu urteilen, zum Fortschritt der
Menschheit, Fort-Schritt wie einige Menschen sagen, fort – von sich selbst und einer
gesunden (und ganzheitlichen) Lebensweise.
Maschinen helfen auf der einen Seite und zerstören auf der anderen. Das
Schlimmste, was ich in dieser Hinsicht gesehen habe, war ein Traktor so groß wie
ein Haus, um den Amazonas abzuholzen.
Unsere Gesellschaft ist in dieser Hinsicht hochgradig pervers. Kein Wunder, dass die
Perversitäten des Einzelnen zunehmen.
Die Gesellschaft opfert ihre Lebensgrundlage einem Fortschritt, der sie in einem
Teufelskreis gefangen hält. Ein wunderbar durchgeklügeltes System und keiner, der
sich nicht ernsthaft auf die Suche macht, wird es bemerken. Wird nur merken, dass
irgendetwas nicht stimmt, etwas faul ist, aber er/sie weiß nicht was.
Es beginnt bei der Kaffeemaschine, dem Rasenmäher und dem Eierkocher.
Und wer entsorgt die ganzen Geräte, wenn sie kaputt sind?
Ein Rückfall ist ein Vorfall, sagte mal jemand zu mir und der Fortschritt ist ein
Rückschritt sage ich, denn er belässt uns in der selbstgeschaffenen Hölle und
verhindert den Blick auf das Paradies.
Das Paradies ist schon da, ist um uns, in der Natur, wenn es denn Natur ist und wir
sind durch unseren sogenannten Fort-Schritt nicht gewillt, es zu sehen. Aber es
wartet auf jeden von uns, aufzuwachen in diesem Leben, hier und jetzt, (und nicht
wieder einzuschlafen), um es zu sehen und zu erkennen, dass wir Menschen
diejenigen sind, die unentwegt das Paradies zerstören, um mit unserem Verstand
einen künstlichen Ort zu schaffen und zu klagen, dass das Paradies nirgends zu
finden ist. Der Mensch selbst hat es zerstört.
Und zerstört es so lange, wie er mit Gewalt statt mit Liebe etwas erreichen will und
sei es auch nur, einen Kaffee zu kochen.
Alleine das Baumwoll-T-Shirt, dass der Mensch trägt, ist voll mit Pestiziden, die
Mutter Erde vergiften, nur damit einige Menschen billige Baumwoll-T-Shirts kaufen
und andere daran verdienen.

Als ich mal wieder bei Meera vorbeischaute, erfuhr ich, dass das Touristenvisum nur
90 Tage gültig ist und nicht, wie ich fälschlicherweise angenommen hatte, drei
Monate. Sie war nämlich bei der Polícia Federal in Brasília gewesen, um ihr Visum
zu verlängern. So lief mein Visum in drei Tagen aus.
„Sie hatten alle meine Vergehen gespeichert. Hierbleiben kann ich nur, wenn ich
heirate oder ein Kind bekomme“.
Ein Kind zu bekommen wäre etwas schwierig in ihrem Alter, aber vielleicht eines
adoptieren...
Ich erzählte ihr, dass ich aufs Weltsozialforum gehen wollte.
„Wenn ich das Wort sozial schon höre. Das ist alles Politik, wovon ich nichts halte“.
Obwohl ihr jemand gesagt hatte, dass es für sie interessant sein könnte.

Ich traf Peter einen Kaffee trinkend in der Lanchonete am Eck. Als ich ihm die
Neuigkeiten mit der Schlange und dem Umzug erzählte, hörte ich von ihm eine
Geschichte, die ihm in Costa Rica passiert ist. Als er dort in einem Bungalow war,
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tauchte plötzlich ein großer Skorpion mit einem entsprechenden Stachel nur wenige
Meter von seinem Bett entfernt auf. Er rang ein paar Stunden mit sich und tötete ihn
schließlich. Die Leute erzählten ihm daraufhin, die anderen Familienmitglieder des
Skorpions kämen, um ihn zu suchen und weitere solcher Geschichten.
„Tatsächlich war es für mich an der Zeit, das Chalet zu verlassen.“
Wir spazierten zusammen zu Meera, die Peter eine persönliche Einführung in den
Maya-Kalender gab.
Er wäre zwar schon in Mexiko gewesen, jedoch nicht in Palenque wo das Grab von
Pacal Votan ist. Er hatte dort erzählt bekommen, dass die Maya-Kultur ausgestorben
ist.
„Klar“, klärte Meera auf, „an offizieller Stelle sind alle daran interessiert, dies zu
vertuschen. Es ist zu gefährlich.“
Außerdem sprach sie über die Zahl dreizehn.
„Die Zahl dreizehn wie auch die Zahl sieben ist eine besondere Zahl, weil sie eine
Mitte besitzt. Der Maya-Kalender hat dreizehn Monate, der gregorianische nur zwölf.
Die Zahl zwölf kann jedoch mit keiner Mitte aufwarten“.

Im Seminar am Abend führten wir eine äußerst interessante Übung durch, die einen
bleibenden Eindruck auf mich machte. In jeder Vierergruppe waren zwei Menschen
stumm und zwei Menschen blind; sie hatten verbundene Augen. Wir waren alle vier
mit Seilen aneinander geknotet und sollten einen Stift, der in der Mitte hing in eine
Coca-Cola-Flasche bringen. Ich war blind, durfte jedoch sprechen. Am Anfang schien
es aussichtslos und in der Tat hatten einige Gruppen auch schon aufgegeben. Als
jedoch die Stumme, die sehen konnte zu mir kam und mir Zeichen gab wie ich mich
zu bewegen habe, wurde es bedeutend besser und wir schafften es, den Stift in die
Flasche zu bekommen.
Die Übung machte uns deutlich, dass wir, die wir alle in irgendeiner Art und Weise
behindert sind, nur dann ans Ziel kommen, wenn wir zusammenarbeiten, weil der
Blinde den Sehenden führt und der Blinde umgekehrt den Stummen braucht, um
zum Ziel zu gelangen.
Da Meera mich eindringlich gebeten hatte, mich um mein Visum zu kümmern,
entschied ich, schon vor der Reise nach Porto Alegre nach Brasília zu fahren.
Eine große Reisetasche ließ ich bei Paula, das geliehene Fahrrad beim Peruaner
Chico, der in der Nähe wohnte und mich mit seinem VW-Käfer zum Busbahnhof fuhr.

Brasília

In Brasília stieg ich wieder in der Jugendherberge ab, wo mir eine Mitarbeiterin
verriet, wie ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Polícia Federal komme. Es war
wieder typisch Brasília: kein Gehweg, der auf direktem Weg hinführte, sondern nur
ein Riesenumweg über eine Ampel, die ich jedoch erst entdeckte, nachdem ich die
Straße durch einen Strom von Autos hindurch rennend überquert hatte.
Es gab extra Nummern für Ausländer und ich brauchte nur kurz zu Warten. Ich
bekam ein Formular zum Ausfüllen und eine Liste mit Dingen, die ich vorzuzeigen
hatte: mein Ticket, irgendeine Garantie darüber, dass ich mich selbst unterhalten
kann, nach der mich jedoch glücklicherweise niemand fragte, meinen Pass und den
Zahlungsbeleg.
Eine Frau war mir beim Ausfüllen des Formulars im Internet für ein paar Reais
behilflich. Sie fragte nicht nur nach meiner Steuernummer, sondern auch nach einer
Adresse. Auf dem Formular wurde auch nach einer Referenzperson mit Adresse und
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Telefonnummer gefragt und ich war bloß froh, dass ich alles mehr oder weniger
zufällig mithatte. Mein Ticket war verschwunden, aber glücklicherweise hatte ich eine
Kopie, die dem Polizeibeamten ausreichte.
Dann ging es auf die Reise. Erst fuhren wir in Richtung São Paulo und dann nach
Süden. Auch hier fast nur Rinderwirtschaft. Wie traurig. Wie der Mensch durch seine
Unsitte, Fleisch zu essen fast ein ganzes Land zerstört.
In Paraná dann mehr Landwirtschaft als sonstwo: Zuckerrohr, Mais,
Eukalyptusbäume, Soja... Auch nichts Gescheites, was der Mensch zum Leben
wirklich bräuchte.
In Ponto Grosso fuhren wir an der Firma Bayer vorbei. Neben dem Firmengebäude
sah ich lauter Villen in einem geschlossenen Condominio umgeben von einer hohen
Mauer und einem elektrischen Zaun. Irgendjemand hatte mir erzählt, dass in der
konventionellen Landwirtschaft zweimal pro Woche Gift gespritzt werde.

Porto Alegre

Die Großstadt Porto Alegre empfing mich mit Favelas, Dreck am Straßenrand,
Industrie- und Hafengebäuden, Hochhäusern und Frachtschiffen. Ich lief erstmal
dahin, wo das Weltsozialforum in ein paar Tagen stattfinden sollte, zum Gasômetro
und dann die anliegende Bucht entlang. Dabei kam ich an der Aldeia da Paz, dem
Friedensdorf vorbei, das die Leute des Maya-Kalenders gerade am Aufbauen waren.
Ein paar Hippies standen mit gefassten Händen im Kreis und von einem hörte ich ein
Kommando. Da ich keinerlei Impuls verspürte, zu ihnen zu gehen, lief ich weiter. An
einer Brücke traf ich auf einen Kugelschreiberverkäufer, der mir erzählte, der Fluss
wäre früher sauber gewesen. Es seien sogar Fische darin geschwommen. Heute ist
er eine schwarze, mit Abwassern gefüllte, stinkende Kloake.
Mir reichte die Hitze in der Großstadt und ich entschied kurzerhand, die zwei Tage
bis zum Beginn des Forums nach Canela zu fahren. Interessanterweise war es für
mich überhaupt kein Problem, mich nach meiner 36-stündigen Fahrt hierher schon
wieder in einen Bus zu setzen, um ins Grüne zu fahren.

In Web.de las ich irgendetwas über einen Satansgruß von Präsident Bush. In einer
anderen Mail hieß es, er würde es demnächst auf den Amazonas absehen, um einen
Park aus ihm zu machen.
Als ich geneigt war, in Panik zu geraten, kam mir ein Spruch zu Hilfe, der am
Schalter im Busbahnhof klebte: „Geduld ist die Mutter jeder Verwirklichung“. Er kam
mir wie gerufen.
Bei Silene hatte ich nämlich ein Papier angelesen, das die Deutsche weggeworfen
hatte. In ihm war die Rede davon, dass entgegen offiziellen Berichten der Amazonas
schon zu 50% abgeholzt wurde.

Canela

Am nächsten Tag regnete es als ich aufstand, so dass ich mich dazu entschloss,
zum buddhistischen Tempel zu fahren, von dem ich auf einem Flyer gelesen hatte.
Mit einigem Fragen fand ich heraus, wo er war und stellte mich am Schalter an, um
ein Busticket zu kaufen, sagte jedoch Tres Corações statt Tres Coroas. Tres
Corações gäbe es nicht.
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In einem Ökotourismusbüro half mir jemand weiter und beschrieb mir genau, wie ich
dorthin kommen würde. Im Grunde war es bloß zwei Orte weiter und dann fünf
Kilometer den Berg hinauf. Das war schon zu schaffen.
Allerdings brauchte ich fast zwei Stunden, denn als ich oben ankam, war es schon
vier Uhr und der Tempel schloss um fünf. An einem hohen Tor hatte ich mich mit
Namen anzumelden und wurde gefilmt bevor ich Einlass erhielt. Es kamen Leute aus
einem der Tempelgebäude heraus, die mich nicht sonderlich freundlich anschauten,
auch der junge Mann an der Rezeption, an der ich mich meldete, war äußerst
abweisend. Erst als ich ihm zu verstehen gab, dass ich den Tempel besuchen wolle
und fragen wollte wie man sich auf diesem Stück Erde bewegt, wurde er freundlicher
und gab mir eine Visitenkarte mit einer Homepage, auf der ich das Programm
nachschauen könnte. In der Pause könne ich in den Tempel hinein, draußen dürfe
ich mich frei bewegen. Er wies mich auch auf einen Kiosk und ein Geschäft weiter
unten hin.
Am Tempel hätte ich fast an einer Schnur mit einer Glocke gezogen, auf der „nicht
läuten“ stand bis ich genauer hinschaute. Eine Führerin zeigte mir ganz kurz zwei
Räume mit verschiedenen Buddhas, dann war die Pause schon wieder zuende und
ich musste gehen.
Doch ich durfte noch um die Stupas und die Gebetsmühlen gehen. Im Shop gab es
alles, was ein Buddhistenherz höher schlagen lässt: Thankas, Bücher, T-Shirts und
vieles mehr.
In der Lancharia fand ich eine Tüte mit Bio-Plätzchen, die ich mitnahm. Mich
bediente ein Mönch mit langen dunklen Haaren, die er zu einem Schwanz
zusammengebunden hatte. Er gefiel mir von allen Anwesenden am Besten. Als ich
ging, weil das Kloster gleich schloss, kam er zu mir gelaufen.
Ich fragte ihn wie lange er schon am Kloster sei.
„Drei Jahre“.
„Und wie gefällt es Dir?“
„Gut, aber im März gehe ich weg. Weit weg.“
Ich getraute mich nicht zu fragen, wohin er geht. Nur, ob es außerhalb von Brasilien
ist. Er bejahte.
Als ich beim Tor angelangt war, kam gerade ein anderer Besucher und ein Auto
vorbeigefahren, mit denen ich hinausging, denn nach fünf Uhr käme man nicht
unbedingt wieder heraus.
Wieder unten im Dorf angekommen sah ich einen Mini-Mercado, ein kleines
Geschäft in einer Garage. Fand ich eine gute Idee.

Bei einem abendlichen Rundgang in Canela fand ich einen schönen Buchladen mit
einigen guten Titeln, in denen ich herumstöberte.
Deepak Chopra hatte ein Buch über Magier geschrieben. Die Welt bräuchte Magier.
Dann sah ich ein Kinderbuch über König Salomon. Da er als eine Wesenheit bei
João de Deus vertreten ist, interessierte mich seine Geschichte genauer. Ich las das
ganze Buch von vorne bis hinten durch.
Salomon war wohl ganz phantastisch und weit und breit beliebt. In sieben Jahren
hatte er einen wunderschönen Tempel erbauen lassen, unter anderem mit Hilfe der
Dämonen, pflegte mit Tieren zu reden und und und.
Sein Fehler war jedoch, eine Pharaonentochter am selben Tag zu heiraten wie die
Tempeleröffnung sein sollte. Er hatte nämlich an jenem Morgen verschlafen und die
Leute gingen wegen des Schlüssels zu seiner Mutter. Diese war ihm dann ganz
böse, weil er Schande über sie brachte, denn die Leute dachten, sie wäre daran
Schuld.
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Der Tempel wurde zerstört und Salomon 20.000 Kilometer weit weg in die
Immigration geschickt. Derweil wurde sein Land von einem Dämon regiert, der ihn
dermaßen perfekt kopierte, dass keiner merkte, dass er weg war.
Als er nach drei Jahren zurückkam, und von Haus zu Haus lief und sagte, er sei
König Salomon, hielten ihn alle für verrückt, so dass er als Koch im Königshaus zu
arbeiten begann.
Auf einmal schmeckte der Königin das Essen so gut, dass er zum Oberkoch
avancierte, von ihr erkannt wurde, wieder auf den Thron kam und sogar seinen
magischen Ring, den er verloren hatte, in einem Fisch, den er aß, wiederfand.
Der magische Ring war ihm von Erzengel Michael gegeben worden.
Am anderen Tag war es total verregnet und so kalt, dass der Thermometer am Platz
nur zehn Grad anzeigte.

Porto Alegre

Als ich meinen Rucksack bei der Gepäckaufbewahrung abgab, fragte mich der
Mitarbeiter, ob ich aufs Forum ginge. Ich bejahte.
„Forum haben wir das ganze Jahr mit unseren Kindern“. Erst verstand ich nicht so
recht, was er meinte, doch dann kam mir, dass er wohl meinte, dass die Menschen
auf dem Forum wären wie Kinder.
Ich lief einfach drauflos und kam zu einem großen schönen Park, den ich zu einem
ausgiebigen Spaziergang nutzte. Ich schlenderte zwischen Bambushainen hindurch
und an einem See vorbei bis ich Lust verspürte, mich um einen Schlafplatz zu
kümmern. Mit dem Gaúcho aus Bonito hatte es nicht geklappt, weil seine Eltern zu
Besuch waren. Es zog mich zu einer Straße, an deren Ende ich einen Bioladen mit
Restauration erblickte.
Im Gespräch mit dem Besitzer kam heraus, dass er eine Therapeutin kannte, die in
der Nähe ein Zimmer für einen Gast vom Forum anbot. Sie arbeite mit Shiatsu und
Massage. Er fragte sie am Telefon, ob das Zimmer noch frei sei und sie lud mich ein,
vorbeizukommen.
Ich lief die paar Straßen zu ihr hoch und entschied mich, zu Bleiben.
Ganz in der Nähe war auch das Goethe-Institut, wo ich mich mit einem Herrn aus
Deutschland verabredet hatte, um mir mein Laptop und meine Post zu übergeben,
was er mir aus Deutschland mitgebracht hatte. João, der Mitbewohner von Ana
begleitete mich dorthin.

Viele Menschen stürmten die Treppen hinauf in die Eingangshalle und in den
Veranstaltungssaal. Keiner schien mich zu beachten, was mir auch ganz recht war.
Ich verkrümelte mich erst einmal in der Bibliothek. Als ich zurückkam, sprach gerade
der Institutsleiter ein paar Worte zur Begrüßung. Danach kamen die restlichen
Männer auf dem Podium an die Reihe.
Wie sollte ich in dieser Menschenmenge die richtige Person ausfindig machen?
Ich blickte unter einen Stuhl von einem Herrn neben mir und entdeckte zwei
Computertaschen. Eine war meine! Ich sprach ihn an und er überreichte mir die
schwere, mit Post und Laptop beladene Tasche.
Inzwischen waren die Leute im Saal reihum dabei, sich vorzustellen: mit Namen und
dem Grund ihres Hierseins, ihrer Funktion.
Mir schien das alles nur ein Theater und ich machte mich auf und davon.
Zum Glück hatte ich Ohrstöpsel dabei, denn fast die gesamte Nacht war irgendeine
Alarmanlage am Heulen.
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Ana klärte mich darüber auf, dass nicht gesund wäre, Mineralwasser im Exzess zu
trinken. Es hätte zu viele Mineralsalze. Doch das gefilterte Wasser aus der Leitung
schmeckte dermaßen scheußlich, dass es mir unmöglich war, es zu trinken.

Zum Mittagessen ging ich wieder in das Restaurant vom Vortag, in dem mir der
Besitzer so nett geholfen hatte. Ich saß unter einem bunt gemischten Völkchen aus
aller Herren Länder, um mein vorzügliches Essen zu genießen.
Um mit dem Bus zum Forum zu fahren, hatte ich so meine Schwierigkeiten. Erst
nachdem ich mich durchgefragt und die Haltestelle gewechselt hatte, kam ich zum
Ziel. Ich hatte mir aus dem Programm eine Veranstaltung herausgesucht, die ich
besuchen wollte, diese fand jedoch erst am nächsten Tag statt. Ich hatte die Daten
verwechselt. Dafür gab es eine große Friedensdemonstration und danach Konzerte.
Bei meiner Post waren unbezahlte Rechnungen dabeigewesen, die schon beim
Rechtsanwalt gelandet waren und bei Gericht landen würden, würde ich nicht zahlen.
Darum hatte ich mich zu kümmern. Ich fand im Internet ein paar Seiten, dass es gar
keine Mahnung mehr zu geben bräuchte laut neuestem Gesetz. Der Verkäufer darf
sofort den Rechtsanwalt einschalten. Für mich ist dieses Gesetz unmenschlich,
schlichtweg inhuman. Für mich ist es eine Grenzüberschreitung zum Negativen.
Dass Rechtsanwälte unendgeldlich Rechtsauskünfte geben, ist auch verboten.

Ich ging dann in Richtung Konzert an unzähligen Ständen und einer Unmenge von
Menschen vorbei und kam zu einem Terrain mit Bio-Essen, das mich verlockte.
Es spielte gerade Gilberto Gil, als ich meinen Teller Nudeln mit Gemüse verputzte.
Mir war es etwas zu voll und ich entschied mich, heimzufahren.
Als ich einen nett aussehenden Mann nach einer Bushaltestelle fragte, begleitete er
mich ein Stück, bis mir plötzlich Anas Mitbewohner entgegenkam. Er wollte gerade
ein Taxi nach Hause nehmen. Und das in einer Stadt mit mehreren Millionen
Einwohnern. „Synchronizität“.
Die einzig offizielle Veranstaltung vom Forum, die mich interessiert hatte und an der
ich teilnahm hieß „Vom Widerstand zur Transformation“. Sie fand in einem kleinen
Zelt statt und wurde von einem Deutschen und einer in Deutschland lebenden
Engländerin geleitet. Ihrem Workshop lag ein Modell zugrunde, das der Gewinner
des Alternativen Nobelpreises von 2003, Nicolas Perlas entwickelt hat. Sowohl C.G.
Jung als auch Albert Einstein hätten auf die Unmöglichkeit hingewiesen, ein Problem
auf der Ebene zu lösen, auf der es entstanden ist. Das Modell von Perlas sieht vor,
dass der Mensch einen „Ruf“ von der Welt erfährt, durch eine „innere Krise“ zur
„wachsenden Einsicht“ (oder der sogenannten Erleuchtung) gelangt, um schließlich
zur Welt zurückzukehren.
Ein Teil der Menschen bewege sich alleine im Kreis „Ruf – Rückkehr“, während
andere sich ausschließlich im zweiten Kreis der „Suche und inneren Einsicht“
befänden. Nach Ansicht von Perlas hätte jedoch die gesamte Menschheit durch
diesen Zyklus zu gehen, der in einer liegenden Achterform, Symbol der Unendlichkeit
dargestellt wurde.
In verschiedensprachigen Arbeitsgruppen widmeten wir etwa vierzig
TeilnehmerInnen vor allem aus Europa, Nord- und Südamerika uns erst den Fragen,
was uns dazu bringe, sozial aktiv zu werden und welche Hindernisse wir derzeit
empfänden und als Zweites, was für uns der nächste Schritt wäre. Interessant in
meiner Arbeitsgruppe war, dass ein Engländer den nächsten Schritt in einer
stärkeren Beachtung der Frauen sah. Andere betonten die Notwendigkeit einer
Verbreitung der Parallelbewegung in den Medien, eine neue Art der Vermittlung und
die Ausarbeitung positiver Bilder.
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Am Seeufer traf ich Silvana und Djago aus Campo Grande, was für eine Freude! Sie
zelteten in der Aldeia da Paz. Silvana und ich schauten einer Gruppe tanzender und
musizierender Menschen zu, die zu den zwölf Stämmen gehörten. Sie würden in
Gemeinschaft leben, als Juden Christus anerkennen und alles selber machen, sogar
ihre Kleidung.
Wir spazierten weiter zu den Ständen mit biologischem Essen. Ein Musiker namens
Daniel wollte in Kürze auf einer Bühne in der Nähe ein Konzert geben und wir
warteten darauf.
Zwischen den Ständen scharwenzelte ein Typ herum, der mir gleich aufgefallen war.
Nach kurzer Zeit kamen wir ins Gespräch. Er hatte vor Kurzem eine über 4000
Kilometer lange Fahrradreise zusammen mit einem Freund unternommen, eine
spirituelle Reise. Ganz ohne Geld. Es wäre nicht einfach gewesen, hätte aber
funktioniert. Klang äußerst spannend.
Bei Triguerinho sei er auch schon ein paar Mal gewesen, er wohne nämlich ganz in
der Nähe. Er bestätigte mir, dass frau ohne vorherige Anmeldung nicht reinkommt.
Er war also ein Mineiro, Bewohner von Minas Gerais.
Zusammen genossen wir das meditative Konzert von Daniel auf einer kleinen Bühne
am Ufer des Sees, richtig idyllisch.
Ich ließ mich dann von ihm dazu verleiten, das Zelt anzuschauen, in dem er schlief.
Ein Freund von ihm war gleich nach Beginn des Weltsozialforums abgereist, weil es
ihm schon reichte und hatte Manuel das Zelt überlassen. 35.000 Leute schliefen auf
dem Jugendcampingplatz zwischen den tausend Bühnen, die hier alle paar Meter
aufgebaut waren und auf der Bands für laute Beschallung sorgten. Und das um ein
Uhr nachts. Ich fragte mich, wie die Leute hier schlafen konnten, aber Manuel
meinte, manche würden sogar direkt hinter der Bühne schlafen.
Auf jeden Fall lud ich ihn ein, mit zu mir zu kommen.
So verbrachten wir die Nacht miteinander, was mich jedoch nicht so recht glücklich
machte. Da er Mineiro war wie mein Mann, sprach er auch genauso und benutzte
genau die gleichen Kosenamen. Es war für mich total abtörnend.

Am Morgen unterhielt er sich mit Ana über die allermöglichsten Dinge, unter
anderem über seine Augen mit 19 Dioptrin. Ana empfahl ihm Yoga für die Augen und
eine mit einem Netz aus Plastik überzogene Brille.
Von Ana hörte ich immer wieder, dass Porto Alegre auf dem 30. Breitengrad liegt
und dass es deshalb so „densa“ wäre, was frau am ehesten mit dicht übersetzen
könnte. Beide betonten, dass es wichtig sei, um Erlaubnis zu bitten, wenn mensch in
die Natur gehe und dass gut wäre, etwas dazulassen, wenn mensch geht.

Wir fuhren zusammen zum Friedensdorf und aßen zu Mittag. Zuerst hatte ich
ziemliche Schwierigkeiten mit den Leuten, aber nach und nach gewöhnte ich mich an
die Hippies. Sogar ein kleines Baby durfte ich im Arm halten. Als wir mitten beim
Essen waren, klatschten plötzlich alle und einige erhoben ihre Hände zum Himmel.
Über uns war ein bunter Regenbogen in einer feinen weißen Wolke mitten im
strahlendblauen Himmel zu sehen, eine Regenbogenwolke! Dergleichen hatte ich
noch nie gesehen.
Dazu ist zu sagen, dass in der Prophezeihung des Maya-Kalenders der Regenbogen
als Zeichen für den Bund zwischen Gott und den Menschen steht. Ein deutlicheres
Zeichen hätte es kaum geben können.
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Ich wollte ins Internet gehen und mich mit Manuel später bei einer Veranstaltung von
der Waldorfschule aus São Paulo über Eurythmie wiedertreffen. Da es jedoch ein
Vortrag war und keine Aufführung wie ich dachte und Manuel nicht in Sicht war, ging
ich weiter und schaute mir die Hallen des Hafens an, in denen viele brasilianische
Veranstaltungen über alles Mögliche stattfanden: Prostitution, Gesundheit,
Psychoanalyse... Es war ein bunte Mixtur an Themen und daneben waren
Ausstellungen zu sehen mit Kunstwerken, Fotos oder Plakaten, jedenfalls alles viel
zu viel und unglaublich anstrengend.
Nach einer einzigen Stunde war ich dermaßen ausgelaugt, dass mich nach nichts
anderem mehr verlangte, als auf schnellstem Wege nach Hause zu fahren. Vom
Maya-Kalender aus war rote elektrische Schlange gewesen, die für das Überleben
steht und genau so fühlte ich mich auch.
Irgendwo las ich, wer sein Leben für Gott opfere, wird leben und wer sein Leben
retten will, wird es verlieren. Und dass wir alle Samen pflanzen.
Manuel hatte eine interessante Idee geäußert, nämlich dass eine ganze Stadt nach
dem Maya-Kalender leben könnte, damit andere Menschen sie besuchen, um zu
sehen wie es sich damit lebt.

Eine Freundin von Ana hatte mich zu einer Heilungszeremonie im Botanischen


Garten eingeladen und so fuhr ich am nächsten Tag dorthin. Ich kam direkt neben
der Organisatorin zu stehen, die mir beim zweiten Lied ihre Trommel in die Hand
drückte, um Mitzutrommeln während sie die etwa vierzig Menschen im Heilkreis
beräucherte. Nachdem wir verschiedene Lieder gesungen und mehrere Tänze
getanzt hatten, schlug ein Schamane einer Gruppe aus São Paulo eine
Heilmeditation vor, die den krönenden Abschluss bildete.
Viele Anwesende hatten bei Indios gelernt und zwei Frauen rauchten nach der
Zeremonie eine Pfeife, die von den Indios dazu benutzt wird, um mit Spirits in
Kontakt zu treten.
Bei der Rückfahrt machte ich an der Bushaltestelle Bekanntschaft mit einem
ehemaligen Journalisten, der jetzt im Export arbeitet.
Morgen wäre eine Abschlussveranstaltung bei den Indios. Alias: Indios werden sie
nicht gerne genannt, weil das Wort von den Amerikanern stammt.

Ich fuhr nochmal zum Gelände des Forums und erlebte einen dieser herrlichen
Sonnenuntergänge, die jeden Abend beklatscht wurden. In der Aldeia da Paz traf ich
Djago und Silvana und verbrachte den Abend mit ihr dort. Ein paar Argentinier
führten in der Dorfmitte eine Form von Energiearbeit ähnlich dem Reiki durch.
Irgendwie kamen wir auf das Thema Sklaverei zu sprechen. Wir kamen überein,
dass Herren und Sklaven eine Symbiose eingehen und dass nur das Opfer sich und
den Täter befreien kann.
Als ich am letzten Forumstag tatsächlich das erste Mal zu dem Platz mit den Indios
gehen wollte, um die Abschiedsveranstaltung zu sehen, lief mir der Journalist vom
Botanischen Garten über den Weg. So suchten wir zusammen das im Gegensatz zu
anderen Orten nicht ausgeschilderte Puxirum und bis wir etwas gegessen und es
nach mehrmaligem Fragen und Verlaufen gefunden hatten, war es zu spät: die
Veranstaltung war vorbei.
Dafür trafen wir einen der paulistaner Schamanen vom Vortag und er erzählte, dass
er als nächstes in Aiuruoca eine Visionssuche durchführe. Er überreichte mir seine
Visitenkarte. Zwei Leute neben ihm versuchten, mich davon zu überzeugen, nach
São Thomé das Letras zu fahren. Das Negative von dem ich sprach spielten sie
herunter.
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In einem Zelt beim Puxirum boten verschiedene Indiostämme ihr Kunsthandwerk an.
Die Stimmung war für mich jedoch äußerst traurig und kaum auszuhalten. Ich konnte
regelrecht die Missachtung spüren, die den Indios von vielen Seiten und vor allem
von den Regierungen entgegenschlägt.
In der Nähe war auch ein Stand einer neuen ganzheitlichen Zeitschrift namens
COMCIÊNCIA. Ein Redakteur schenkte mir eine Ausgabe, von der mich allerdings
das extrem gute Hochglanzpapier und der aufwendige Druck aufstieß.
„Eine Coca Cola-Werbung wirst Du bei uns nicht finden“, meinte er stolz, aber auf
den letzten beiden Seiten fand sich eine Peugeot-Werbung wieder.
Er erzählte eine traurige Geschichte von einem Ort in Santa Catarina im Süden
Brasiliens, in dem es deshalb die höchste Krebsrate gäbe, weil dort so viele Hühner
mit Hormonen und sonst was gezüchtet werden. Dies werde jedoch totgeschwiegen.
Er behauptete sogar, dass bei der Erzeugung von Fleisch hundert Mal so viel
Energie aufgewendet wird wie bei der Herstellung von pflanzlichen Nahrungsmitteln,
für mich war es immer zehn Mal so viel gewesen.
Der Journalist und ich warteten an drei verschiedenen Haltestellen insgesamt eine
ganze Stunde auf den Bus, um nach Hause zu fahren.

Ich ging noch ins Goethe-Institut zur Abschlussveranstaltung in der Hoffnung,


jemanden zu finden, der meine Steine mit nach Deutschland nehmen könnte. Ein
älterer Herr stand vor dem Eingang und erzählte mir, dass seine Großmutter
Deutsche gewesen war und dass er allerhand Kontakt zu Prinzen und Königsfamilien
auch in Deutschland hatte, weil seine Vorfahren höhergestellte Militärposten
innehatten. Von Hitler wusste er zu berichten, dass dieser selbst jüdisches Blut in
sich hatte und es bekämpfte.
„Außer den sechs Millionen Juden sind im zweiten Weltkrieg zehn Millionen
Deutsche gestorben.“ Und auf die heutige Zeit bezogen meinte er: „Die Deutschen
müssen ganz schön aufpassen, was sie in der Welt tun“.
Von einem Typen, der auf der Terrasse des Instituts einen Joint rauchte erfuhr ich,
dass das Jugendcamp früher eine Gegenbewegung zum Weltsozialforum war. Und
von einem Teilnehmer vom Workshop „Vom Widerstand zur Transformation“, den ich
wiedertraf hörte ich, dass in Mumbai auf dem Weltsozialforum noch zehn Mal so viel
Musik gemacht wurde wie hier. Die Teilnehmer hätten sich kaum untereinander
verständigen können. Der Fernsehsender TV Globo hatte am Abend zuvor einen
Saal mit acht Leuten vom Forum gezeigt und eine Rockshow mit einem Schwenk auf
sich betrinkende Menschen. Typische Negativdarstellung.

Am Abschlusstag des Forums kaufte ich mir ein Ticket nach São Paulo und stellte
fest, als Ana mir vorschlug, beim Busbahnhof anzurufen, dass Telefonieren gar nicht
mehr mein Ding ist. Lieber fuhr ich zum Busbahnhof, stellte mich in die Schlange und
schaute, welchen Bus ich nehme.
Als ich zum Forum kam, gab es gerade eine Demonstration gegen ALCA, den freien
Warenverkehr in Südamerika. Ich ging weiter zur Aldeia da Paz, um zu sehen, ob
Silvana und Djago noch da waren. In einer Versammlung wurde darüber
gesprochen, dass das Essen im Friedensdorf immer vegan und biologisch war, dass
es keinen Alkohol und keine Filterzigaretten auf ihrem Gelände gegeben hatte und
dass sie gerne Einladungen zu anderen Plätzen der Welt entgegennehmen.
Meine Freunde schienen schon abgereist zu sein.
Dafür traf ich an den Essensständen die Verantwortlichen von der Veranstaltung
„Vom Widerstand zur Transformation“. Ich setzte mich zu derjenigen, die mir am
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sympathischsten war. Sie waren gerade dabei, das nächste Treffen der G 8 in
Hongkong zu besprechen.
In Indien würden sich die Bauern umbringen, weil sie Saatgut von Monsanto gekauft
haben. Da es nur ein Jahr keimt, müssen die Bauern jedes Jahr neues Saatgut
kaufen. Da die Ernte jedoch nicht gewinnbringend ausfalle und sich die Bauern bei
Monsanto verschuldet haben, begingen viele Selbstmord.
„Ihnen ist sonstwas versprochen worden. Gewinnen tun jedoch immer nur einige
wenige und die anderen werden immer ärmer“.
Zu mir sagte sie, es wäre wichtig, zurückzukommen, sonst würde die Menschheit
noch ein paar Jahre warten müssen. Ich verstand jedoch nicht so recht, was sie mit
dem Zurückkommen meinte und wollte davon auch nichts so recht wissen.

São Paulo

Als ich nach etlichen Stunden im Bus in São Paulo ankam, suchte ich nach einer
Jugendherberge und fragte in einer Buchhandlung nach. Nach einem kurzen
Telefonat bekam ich zwei Adressen ausgehändigt, von denen eine relativ in der
Nähe war. Ich lief hin und bekam ein Bett in einem Acht-Bett-Zimmer. Es war ein
Hostel relativ nahe an der Avenida Paulista und keine allzu düstere Gegend. Von
meinem Bett aus sah ich einen Turm, der in Regenbogenfarben leuchtete.
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Teil 2

So, meine lieben LeserInnen, im Nachhinein habe ich festgestellt, dass ab da alles
nicht mehr so recht stimmte, was ich darauf zurückführe, dass die Frau auf dem
Sozialforum damals recht gehabt hatte: ich hätte zurückkommen sollen und zwar
nach Deutschland. Zurück auf den Boden, was ich damals jedoch nicht wahrhaben
wollte.
„Wer nicht hören will, muss fühlen“.
Die Einzelheiten möchte ich Euch lieber ersparen und deshalb mehr im Groben
berichten, was passiert ist, denn eigentlich habe ich mich damals in den nächsten
Flieger gesetzt und bin nach Hause geflogen...

Und uneigentlich?

Uneigentlich kaufte ich mir ein Ticket nach Tres Pontas in Minas Gerais, um dort
mein Glück bei Triguerinho zu versuchen und ging dann im Parque Ibirapuera
spazieren. In einer Touristeninformation fragte ich nach einem Bio-Restaurant. Sie
schauten in verschiedenen Büchern und Zeitschriften nach und so fand ich zum
Sattva, dessen Besitzer ich von vor Jahren her kannte. Ein Freund hatte mich mal zu
ihm geführt. Und jetzt war das Restaurant innerhalb von Jardims, einem der
besseren Viertel von São Paulo umgezogen und befand sich ein paar Straßen weiter
oben. Ich bediente mich am Buffet und der Besitzer setzte sich zu mir. Silvio hatte
mich gleich wiedererkannt.
„Ich gebe Kurse in biologischer Küche und suche einen Mitstreiter, der das
Restaurant mit mir teilt. Früher war Sattva eine Gemeinschaft mit Triguerinho“,
erzählte er nach und nach, „eine Yoga-Schule“.
Geblieben sei dann nur das Restaurant, das 1976 mit einem der Mitglieder der
Gemeinschaft gegründet wurde. 1980 war Silvio als Teilhaber dazugekommen. Der
andere stieg irgendwann aus, ließ alles hinter sich und ging nach Europa, wo er sich
durchjobbte.
„Er ist Sikh geworden und für drei Jahre nach Indien gegangen“.
Silvio selbst führt das Restaurant nun seit zehn Jahren alleine. Er werde oft
eingeladen, um Vorträge über Vegetarismus zu halten; er studiere dies seit Langem.
„Früher, in der Wiege der Menschheit in Afrika, haben die Menschen kein Fleisch
gegessen. Lucy, die 33.000 Jahre alte Mumie aus Afrika ist Vegetarierin gewesen“.
Wie er es verstanden hatte, begannen die Menschen Fleisch zu essen, als sie in den
Norden wanderten.
„Die Maya haben sich vegetarisch ernährt, ebenso die Ägypter in früher Zeit, nicht
mehr zur Zeit Kleopatras. Nicht nur Hitler, sondern viele Mitglieder der Gestapo sind
Vegetarier gewesen. In der Baghavat Gita steht, wenn es keine vegetarischen
Nahrungsmittel gibt, soll man zuerst Fisch mit Schuppen essen, dann Geflügel und
erst dann Fleisch.“
Reis mit Bohnen als Grundnahrungsmittel (das Nationalgericht der Brasilianer) habe
eine englische Ernährungswissenschaftlerin zur Zeit des Eisenbahnbaus in Brasilien
eingeführt. Es diente den Arbeitern der Schwerarbeit als Kost und sah nur zwei Mal
pro Woche Fleisch vor.
„Die Restaurantbesitzer haben gemerkt, dass mit Fleischgerichten mehr Geld zu
verdienen ist und haben deshalb nur noch Fleischgerichte angeboten. So ist es
gekommen, dass heute jeden Tag Fleisch gegessen wird“.
Inzwischen gäbe es etwa 35 Bio-Restaurants in São Paulo. Wie viele Bio-
Restaurants es in München gäbe, wollte er wissen.
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„Ich kenne kein einziges“.


„Der Naturalismus kommt aus Deutschland. Das erste Bio-Restaurant gab es 1897 in
Zürich.“ 1920 (oder 30?) begann die Bewegung des Naturalismus, von denen eben
auch Hitler ein Anhänger war.“
Mich hatte also eine Fülle von Informationen erwartet, noch dazu bekam ich das
Mittagessen geschenkt. Sowieso fühlte ich mich bei ihm wie zu Hause.

In einem Newsletter im Internet las ich, dass wir weltweit 20% mehr Energie
verbrauchen, als nachwachsen. Und dass Haiti von verheerenden Tropenstürmen
heimgesucht wurde, die viele Menschenleben kosteten. Die Auswirkungen seien
deshalb so schlimm, weil die letzten Wälder abgeholzt wurden und nun
Schlammlawinen für immer neue Katastrophen sorgen.

Als ich in Tres Corações ankam, erinnerte ich mich, wie ich in Canela auf dem
Busbahnhof nach Tres Corações (drei Herzen) gefragt hatte, wo es dort doch Tres
Coroas (drei Kronen) hieß, wo ich hinwollte. Und ein paar Tage später stehe ich
tatsächlich in dem ein paar tausend Kilometer entfernten Tres Corações. Auf dem
Busbahnhof sah ich, dass es auch Busse nach São Thomé das Letras gab und zwar
mit eineinhalbstündiger Fahrt. Es war also um die Ecke.
Auf dem Weg sah ich überall Schilder von Bayer an riesigen Maisfeldern. Die
deutsche Chemie treibt hier ihr Unwesen weiter. Dass die Fremdländer ihnen
erlauben, ihre Felder zu vergiften, ist schon außerordentlich.

Ich fragte nach meiner Ankunft, wo ich Leute von der Figueira, so hieß die
Gemeinschaft von Triguerinho finden würde und mir wurde der Weg beschrieben. Ich
fand das Haus, in dem die BesucherInnen empfangen werden und wurde von einer
Argentinierin am Empfang ganz lieb begrüßt. Als ich beichtete, keine Anmeldung zu
haben, benachrichtigte sie eine Kollegin, die dermaßen lange auf sich warten ließ,
dass ich fast alle Titel der Bücher von Triguerinho, die zum Verkauf auslagen
gelesen hatte und dann noch im Garten den Raupen beim Fraß zuschauen konnte.
Wie ich von Triguerinho erfahren habe, wollte sie wissen.
Ich erzählte von Meera, an die sie sich zuerst nicht erinnern wollte. Erst als ich von
den Bungalows erzählte, die sie damals gebaut hatte, erinnerte sie sich mit den
Worten: „das ist schon lange her“.
Es gab keine Möglichkeit für mich, am selben Tag in der Gemeinschaft zu
übernachten, es sei alles ausgebucht. Sie lud mich ein, am nächsten Morgen in der
früh zu kommen, was ich dankend ablehnte, weil es mir zu früh war. Dann möge ich
um zwei Uhr nachmittags wiederkommen, um das Aufnahmegespräch zu führen. Sie
würde dann schauen.
„Und am Samstag um 17:00 Uhr gibt Triguerinho einen Vortrag. Es gibt ein Hotel und
eine Pousada weiter unten...“
Als ich eine neue Frau an der Rezeption nach dem Weg zur Pousada fragte, bekam
ich ein „da kann ich dir nicht mehr weiterhelfen“ zur Antwort. Eine Besucherin erklärte
mir dann den Weg.

Da mir das Hotel nicht gerade den besten Eindruck machte, stieg ich in der Pousada
ab, in der mir ein rauchender Mann das Zimmer zeigte. Irgendwie kam ich mir
ausgestoßen vor, schlecht behandelt dadurch, dass ich an die Pousada verwiesen
wurde. Ich kam mir vor wie ein Jesus, der offenen Herzens an eine Tür klopft, die vor
ihm verschlossen wird.
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So hatte ich am nächsten Tag auch gar keine Lust mehr, zum Aufnahmegespräch zu
gehen ebensowenig wie zum Vortrag. Ich wollte einfach nur noch weg.
Im Internet las ich darüber, dass die Industrienationen festgestellt haben, dass die
Armut immer mehr zunimmt und dass sie zu glauben meinen, mehr Entwicklungshilfe
leisten zu müssen. Das ist an Ignoranz nicht mehr zu überbieten. Da haben die
Industrienationen die Dritte Welt kaputt gemacht, in dem sie sie ausbeuteten und
ihnen alles nahmen, was sie hatten und jetzt tun sie so als bräuchten diese ihre Hilfe.
Die Entwicklungshilfe Deutschlands in Nepal zum Beispiel bestand darin, eine
Bierfabrik zu bauen, auf dass die Nepalesen noch eine weitere Droge präsentiert
bekommen, um ihr zu verfallen. Ein Verbrechen.
Wie hatte letzt Luciano zu mir gesagt? „Wohltätigkeit setzt dann ein, wenn sie einem
alles genommen haben“.

Auf jeden Fall fuhr ich weiter nach São Thomé das Letras, wo ich am
Karnevalssonntag ankam. An Karneval gibt es in Brasilien normalerweise nur
pacotes, sogenannte Pakete für fünf Tage für Hotels und Pensionen, die das
Vielfache von einem Aufenthalt während des Jahres kosten, ist Karneval der Feiertag
Nummer eins im Lande, an dem nahezu jeder frei hat und wegfährt. Ich hatte zum
Glück mit etwas Herumfragen ein Zimmer für 50 Reais für drei Nächte bekommen
und durfte noch dazu in der Küche kochen.
Ein Pousadabesitzer hatte mich gleich gewarnt, nicht alleine auf die Straße zu
gehen, auch tagsüber in der Stadt nicht. Es wäre besser, mich Familien
anzuschließen, vor allem mit Kindern.
Es regnete unglaublich viel. Ich war schon von Weitem entsetzt, als ich mich der
Stadt, die auf einem Hügel liegt näherte: sie hatten einen Großteil der hellen Steine,
auf der die Stadt steht abgebaut und damit ein Schlachtfeld hinterlassen. Als ich das
von Weitem sah, dachte ich nur immer: „Was haben sie getan?“
In einem Faltblatt, das ich ergatterte erfuhr ich, dass Mystiker bestätigen, dass São
Thomé das Letras eine der sieben Städte sei, die beim Jüngsten Gericht eine Rolle
spielen. Sie sei ein Portal, durch das eine neue Zivilisation in diesem neuen
Millenium ankäme, weshalb sich viele esoterische Gruppierungen hier angesiedelt
hätten.
Es gäbe viele Geschichten über Lichtpunkte und –objekte und Berichte über UFO’s
von Einwohnern und Besuchern. Die Lichterscheinungen hatte ich selbst erlebt, als
ich in das gar nicht weit entfernte Tres Pontas fuhr.
Als ich meine Vermieterin nach der Gefährlichkeit der Stadt fragte, sagte sie: „Es
kommt darauf an, auf welchem Boden Du trittst.“ Und an anderer Stelle
kommentierte sie, dass sie arbeiten müsse, „se não o bicho pega“, was ich
übersetzen würde mit „wenn nicht, erwischt Dich das Tier“.

Ihre vierzehnjährige Tochter und eine ihrer Freundinnen begleiteten mich zu einem
der Wasserfälle. Schon bald hielt ein Bekannter von ihnen an und nahm uns in
seinem Auto mit. Es war jedoch dermaßen voll an der Cachoeira do Eusebio, dass
mir die Lust verging, ins Wasser zu gehen, außerdem war das Wasser durch die
vielen Regenfälle ganz braun.
Die Menschen am Wasserfall waren fast alle tätowiert mit Drachen, Skeletten und
Totenköpfen und flößten mir nicht gerade Vertrauen ein. Ich wollte gerne wissen,
was Eusebio für eine Bedeutung hat, aber die beiden Mädchen mussten passen.
Es ging dann noch zu den Corredores, einem oberen Teil des Wasserfalles wo sich
nur wenige Leute aufhielten, große hellblaue Schmetterlinge umherflatterten und
kleine Affen auf einem Baum herumsprangen. Alleine diese Affen waren das
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Kommen wert gewesen, denn die Natur kam mir ansonsten schon sehr in
Mitleidenschaft gekommen vor.
Ich wollte alleine noch einen weiteren Wasserfall besuchen und wurde von zwei
ebenfalls aufwendig tätowierten Typen und einer Frau mitgenommen, die erstmal
einen Joint rauchten.
Der Wasserfall riss mich jedoch nicht vom Hocker nach den vielen Wasserfällen, die
ich schon gesehen hatte. Es fing heftig an zu regnen, so dass ich mich eine ganze
Weile zusammen mit drei Männern unter einem Dach unterstellte und wartete bis ich
von einem Paulista, diesmal ohne erkennbare Tätowierung mit zurückgenommen
wurde.
Als es aufgehört hatte zu regnen, suchte ich den Park am Stadtrand auf, von dem in
dem Faltblatt die Rede gewesen war und kam so auch zur sogenannten Pyramide,
die eigentlich ein Steinhaus mit pyramidenförmigem Dach war, das die Besucher
besteigen konnten, um den Sonnenuntergang anzuschauen. Ich blieb lieber am
Kreuz ein Stück entfernt, weil mir dort die Leute angenehmer erschienen. Überall
fanden sich Unmengen an Glasscherben, die zu einem Gesetz geführt haben, dass
ein Mensch keine Flaschen mehr zu touristischen Orten nehmen darf. Die Anzahl der
Glassplitter lässt wirklich an Sodom und Gomorrha denken.
Es gab einen schönen Sonnenuntergang nachdem sich der Regen verzogen hatte.
Am Abend fand ich eine Möglichkeit, ins Internet zu gehen in so etwas ähnlichem wie
einem Touristenbüro. Dort sah ich eine Reihe von Videos u. a. über die Maya,
Ägypten und São Thomé das Letras im Regal stehen und schließlich auch ein
ganzes Buch über die Stadt. Ich schlug es auf und fand einen Artikel über einen
gewissen Henrique, der hier eine Theosophische Gesellschaft mit gleichem Namen
gegründet hatte wie Madame Blavatsky, (von der es übrigens viele Bücher in der
Figuera zu kaufen gab).
Aufgrund der Verwechslungsgefahr wurde die Gesellschaft dann umgetauft in
Eusebio. In einem anderen kleinen Führer über die Stadt fand ich ebenfalls beim
Aufschlagen, dass „Eu“ für den Menschen stehe und „sebio“ für das Wissen vom
Leben.
Ein Stück weiter fand ich auch die Namen der sieben mystischen Städte, die mich
interessiert hatten, Aiuruoca war eine davon, wo mir Francisco empfohlen hatte
hinzufahren, die anderen kannte ich nicht vom Namen her.
Es habe auch eine Prophezeihung gegeben, dass Jesus Christus in Brasilien
wiedergeboren werde und zwar am 24. Februar 1949.

Ich hatte auch von einer Gemeinschaft namens Harmonia in der Nähe gehört, die
aber nur auf Einladung zu besuchen sei. Die Einladung könne man in ihrem Geschäft
in der Stadt erhalten.
Ich schaute mir das Geschäft an, das ich am Platz an der Kirche fand, es waren mir
jedoch zu viele Pentagramme in verschiedenen Ausführungen ausgestellt, die mich
eher an schwarze Magie als an lichtvolle Wege erinnerten.
Am nächsten Tag wartete ich auf dem Platz bis ich Leute fand, die mit mir ein Taxi
zur Höhle do Sobradinho und zum Wasserfall da Lua teilten, was 25 Reais kostete
und sich kaum lohnte, wäre ich auch so irgendwie hingekommen.
Die Höhle war 400 Meter lang und wir gingen an einer Seite hinein und kamen an der
anderen wieder heraus, was schon Spaß machte, aber der Wasserfall, den wir
danach besuchten war nicht der Rede wert. Ich hatte eigentlich „die mysteriöse Tour“
machen wollen und als diese hatte sie mir der Taxifahrer auch verkauft. Von
„Mysteriösem“ war jedoch keine Spur.
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Als ich dann wieder im Touristenbüro ins Internet ging, unterhielten sich zwei Männer
genau darüber, dass die Menschen, die sich für die esoterische Seite des Ortes
interessieren verloren fühlten, weil die Taxifahrer nichts erklärten und die Touristen
an die Höhlen verwiesen. Das Esoterische würde die Gemeinschaft Harmonia
vermitteln; sie hätten das voll in der Hand.
Sie sprachen dann noch über Demokratie, die keine sei und dass sich die Menschen
in den Stadtteilen zusammenschließen müssten, um gemeinsam politisch zu
handeln, dann würden so einige Dinge ans Licht kommen.
In São Thomé das Letras gäbe es eine starke Energie und eigentlich bedürften die
Leute der Vorbereitung.

Es war am Abend so kalt wie im Winter und die Leute liefen zum Teil mit Mützen und
Decken umhüllt umher.
Von São Thomé fuhr ich weiter nach Aiuruoca, das wie ich entdeckte auch nicht allzu
weit entfernt war. Die Landschaft auf dem Weg war spektakulär: grüne Hügel überall,
ich genoss die Fahrt in vollen Zügen.
Im Internet las ich über Enthusiasmus. Das Wort käme von siasmus, was Gott
bedeute und was mit Enthusiasmus getan werde, würde gelingen.
Als Sprichwort fand ich: „Was eine menschliche Kreatur säht, wird sie tausend Mal
ernten.“
Ich landete in Aiuruoca in einem Hotel, weil die beiden Pousadas anlässlich des
Karnevals voll waren. Es war ein altes Kolonialhaus mit dicken Wänden und großen
hölzernen Fenstern und Türen. Sie hatten sogar eine eigene Quelle und ich durfte in
der Küche kochen.
Hier wurde der Karneval zwei Wochen vorher gefeiert und ich war glücklich, diesem
Treiben entkommen zu sein. In São Thomé das Letras war ich ja ebenso um den
Karneval herumgekommen. Airuoca ist ein kleines beschauliches Städtchen, in der
es jedoch eine Touristeninformation mit ganz neu eingerichtetem Cybercafé mit zwei
Internetcomputern gab. Dort las ich in einem Flyer vom Vale do Matutu, von dem ich
schon gehört hatte. Dort gäbe es eine Gemeinschaft von Santo Daime, sie sei aber
eher verschlossen - außer ich habe Verbindungen... Es wäre zehn Kilometer
entfernt.

Als ich nochmal in der Touristeninformation vorbeischaute, erzählte mir ein Junge,
der mir einen Plan von der Umgebung gab, dass er selbst gerne zum Vale do Matutu
fährt, weil er dort seinen inneren Frieden fände. Ein anderer stimmte ihm zu.
Außerdem gäbe es vier Kilometer entfernt einen Wasserfall zu besichtigen, das wäre
zu Fuß möglich.
Da am Karnevalsdienstag noch mehr Leute unterwegs waren wie an den
darauffolgenden Tagen, machte ich mich gleich auf den Weg zum Vale do Matutu.
Ich wurde von einem Pickup mitgenommen, auf dem noch zwei weitere Frauen auf
der Ladefläche saßen. Es war äußerst hart und die Straße sehr holprig, aber zu
schaffen. Tatsächlich ist das Tal 18 Kilometer entfernt.
Dort angekommen ging ich erst einmal in ein Haus, in dem ein Kaffeebetrieb lief und
dann nebenan in ein Geschäft mit Kunsthandwerk, wo ich mir ein Brot aus Bio-
Vollkornmehl kaufte. Ich ließ mir den Weg zur Cachoeira das Fadas erklären, der nur
300 Meter entfernt und recht gut besucht war und lief dann noch ein Stück weiter und
ließ mich an einem kleinen Wasserfall, an dem nur zwei Jungs waren nieder. Die
Natur mit Dschungel war wirklich traumhaft schön.
Ich unterhielt mich mit einer Brasilianerin, die mit einem Walky-Talky unterwegs war
und die Touristen über die Sehenswürdigkeiten im Tal informierte. Sie gab mir zwei
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Telefonnummern, eine vom früheren Präsidenten der Fundação Matutu und eine von
der heutigen Stiftung.
Ich wusste nicht recht, ob ich ihr sagen sollte, dass ich nicht telefoniere, aber ich ließ
es bleiben.
Bloß klappte es später wirklich nicht, zu Telefonieren: vier Telefonzellen waren kaputt
und bei einer wartete ich noch dazu ewig. Also Telefonieren war passé. Zumindest
zur Zeit.
Dass es trotzdem gut war, es probiert zu haben, stellte sich am nächsten Tag
heraus. Als ich über den Platz lief, rief jemand aus einem Auto heraus meinen
Namen. Es war Pedro, der Typ, der mit mir zum Platz zurückgegangen war,
nachdem das Telefon nicht funktioniert hatte.
“Fahren wir zum Wasserfall!” rief er zu mir rüber.
Ich holte meinen Badeanzug und fuhr mit ihm, noch einem weiteren Jungen und
einer Frau mit. Wir hielten zuerst am Restaurant am Fluss an und liefen an seinem
Zelt vorbei zu einer äußerst wilden „Cachoeira do Tombo“, in der das Baden
verboten war. Sie erzählten, dass einer hier ein Wasserkraftwerk hinbauen wolle und
sie viele Unterschriften gesammelt hätten, um dies zu verhindern.
Es ist einfach absurd, dass immer noch an Wasserkraftwerke gedacht wird, statt in
erneuerbare Energien wie Solarenergie zu investieren ohne die Umwelt zu zerstören.
Wir fuhren ein Stück weiter und liefen dann zum Papageienbach, um zur Cachoeira
deus-me-livre zu kommen. Deus me livre heißt so viel wie Gott behüte mich.
Es war kein einfacher Weg die Steine und Felsen entlang und durch Wasser
hindurch, aber wunderschön und lohnenswert, denn wir kamen bald an einen
ebenfalls sehr wilden Wasserfall und ein Stück weiter oben an einen etwas
ruhigeren. Fabio half mir auf dem ganzen Weg wo immer ich Hilfe brauchte, denn die
Tour war bisher das Anspruchsvollste, was ich an Touren gemacht hatte.
Zum dritten Wasserfall führte eine Felswand hinauf, an der ich fast aufgegeben hätte,
wenn Pedro nicht die Idee gehabt hätte mich zu bitten, nur nach vorne zu schauen.
Es gab auch genug Wurzeln und Bäume, um sich fest zu halten. Am Ende
überquerten wir den Fluss auf einem Baumstamm, den Pedro zwischen den Steinen
und Felsen gefunden hatte.
Oben wurde der Blick auf einige Häuser und ein Tipi frei, das von Schamanen
benutzt wurde. Es gäbe noch kleinere Tipis über das Terrain verteilt, die jedoch nicht
zu sehen waren.
„Alle Wege führen zum gleichen Ort“, meinte Pedro und Fabio hatte, obwohl er noch
so jung war schon die Einsicht: „man darf sich nicht an materielle Güter hängen“.
Am nächsten Tag fuhr Helena nach São Paulo zurück, die anderen blieben noch. Ich
ging mit Fabio zu einem verbreiterten Flussbett in der Nähe und wir legten uns unter
einen Baum, unter dem er auch manchmal campen würde. Er könne hier in Aiuruoca
nachts kaum schlafen und würde viel Zeit am Fluss verbringen.
„Es sieht hier jeden Tag anders aus“.
Ob ich eine Naturalista bin, wollte er wissen und ich fragte, was er denn als
Naturalista bezeichne.
„Jemand, der nichts isst, was Augen hat und ihn anschaut.“
„Dann bin ich eine Naturalista.“
Er erzählte, dass er mit 16 Jahren für ein Jahr verreist sei. Er wäre an ganz
verschiedenen Orten in Brasilien gewesen, habe gearbeitet und sei dann
weitergereist. Er hatte einen Kurs als Hotelfachmann besucht, aber die Leute in
seiner Stadt würden sich wenig dafür interessieren. Seine Mutter sei Chemikerin und
habe eine Maschine zur Wasserreinigung erfunden, die dort unbenutzt herumstehe.
Und sein Vater züchte Vögel.
66

Am nächsten Tag wollte ich zum Vale do Matutu fahren. Meinen großen Rucksack
ließ ich gepackt im Hotel stehen und nahm nur einen Daypack mit, um zwei Tage
damit zu verbringen. Am Platz traf ich Pedro und Fabio und fuhr mit ihnen zusammen
zu einem Restaurant, aß mit ihnen zu Mittag, um danach mit zum Poçinho zu gehen.
Am Mittagstisch erzählte Pedro von einem spanischsprachigen Schriftsteller, der ein
Buch mit dem Namen „Die Revolte des Luzifer“ geschrieben hatte, in dem
irgendetwas mit einem trojanischen Pferd und dem Johannes-Evangelium
vorgekommen wäre. Es ging um eine Theorie, dass die verschiedenen Rassen
geschaffen wurden, um sich zu vermischen und dadurch zu evolutionieren.
Fabio legte sich unten an einem natürlichen Swimmingpool auf einen großen Felsen,
um ein wenig zu schlafen während mich Pedro weiter hoch auf einen Felsen inmitten
der Wasserfälle führte.
Es war wieder extrem schön inmitten der Natur und wieder einmal wäre ich alleine
nirgends davon hingekommen, waren die Felsen zu groß und steil, um ohne eine
helfende Hand hinaufzugelangen.
Ich nutzte das kristallklare Wasser für eine Shower und legte mich auf den Felsen
zum Trocknen während Pedro hinter einem Wasserfall verschwand, um ihn von
hinten zu sehen. Als er aus der Höhle hinter dem Wasserfall herauskam, stürzte er
und wurde etwa einen Meter mit dem Wasser auf den nächsten Stein
heruntergetragen, er hatte jedoch nur eine kleine rote Stelle an der Backe und am
Kinn vorzuweisen.
„Wichtig war, sich dem Sturz nicht zu wiedersetzen und mit ihm mitzugehen“.
Als er wieder bei mir war, erzählte er ein wenig von Kung Fu, das eine Kriegskunst
war, genau wie ursprünglich Gi Gong. Im Kung Fu gäbe es 1600 verschiedene
Bewegungsabläufe, aber nur 1200 wären aufgezeichnet worden.
„Heute werden die Abfolgen eher benutzt, um innere Feinde zu bekämpfen. Jeder
hat einen inneren Drachen in sich. Ich habe nur noch nicht herausgefunden, was das
Geheimnis ist, um diesen Drachen zu besiegen.“
Auch er sprach davon, dass es wichtig sei, um Erlaubnis zu bitten, bevor jemand in
den Dschungel gehe. Was die Moskitos betreffe, so sage er ihnen, dass er ihnen
nichts tue und dass sie ihm auch nichts tun sollen.
Er erzählte mir von seiner fünfjährigen Tochter, die sein größter Lehrmeister sei.
Bloß ihre Mutter habe es beschnitten, dass er sie öfter sähe, weil sie am liebsten bei
ihm geblieben wäre.

Ich beschloss zu gehen und keine drei Meter weiter kam ein weißer Jeep mit einer
Frau am Steuer und ihrem Sohn vorbei, die gleich anhielt und mich mitnahm. Sie
fragte sofort, wo im Vale do Matutu ich hinwolle und ob ich schon eine Pousada
gebucht hätte – ich verneinte. Sie fand sehr komisch, dass ich um diese Zeit dorthin
fahre ohne zu wissen, wo ich übernachte. Und die Straße sei in sehr schlechtem
Zustand...
Tatsächlich hüpfte ich von der Sitzbank oft dermaßen hoch, dass ich den Kopf
vorsorglich einziehen musste, um nicht ans Dach zu stoßen. Als wir angekommen
waren, rief sie ein paar Leute an, um zu fragen, wo ich übernachten könne, bis die
Frau vom letzten Mal kam und mir weiterhalf. Sie funkte mit ihrem Walky Talky einen
Sol an und erzählte ihm von mir und erklärte mir den Weg zum Parkplatz an der
Kunstwerkstatt, wo er auf mich warten würde. Es war ein kleiner Fußmarsch hinauf
und schon kam er mit einem Strohhut mit blauem Klebeband auf dem Motorrad
angefahren.
67

Er hatte honigfarbene Augen, die mich herzlich willkommen hießen. Ich erklärte ihm
meine Situation, er fragte, ob ich ein Zelt habe und als ich verneinte, bot er mir eine
Übernachtung für 25 oder 35 Reais an. Ich nahm die Möglichkeit für 25 Reais an und
er zeigte mir den Weg zum Haus.
Als ich ankam, saßen zwei Frauen beim Tee vor dem Haus und eine davon rief
Pierre, den Sohn des Hausherrn, der mir ein Zimmer zeigte, über das ich sehr
glücklich war. Sol hatte mir das Speisehaus gezeigt, in dem er mich anschließend
erwartete. Von dort war der Blick frei übers ganze Tal hinweg, einfach phantastisch.
Er zeigte mir einen Weg, der zur Kirche hinaufführte, den ich dann
entlangschlenderte und auch mal verließ, um andere Pfade zu nehmen, denn im
Gegensatz zu unten, wo überall Schilder standen, dass der Weg nur für Anwohner
wäre, waren hier keine Schilder mehr zu finden. Weiter oben kam mir der Sohn des
Begründers der Gemeinschaft auf dem Motorrad entgegen und hieß mich ebenfalls
herzlich willkommen.
Bei meiner Rückkehr zur Speiseterrasse war der zweite Besucher schon am Essen,
der ebenfalls zum ersten Mal da war. Er war aus Florianópolis.
Sol wohnte schon 15 Jahre hier und kümmerte sich um die Gäste. Mehr habe ich
nicht erfahren. Wir unterhielten uns über Lichtnahrung, weil es wohl eine
Gemeinschaft in der Nähe gibt, die damit arbeitet.
Es gab einen Meditationsraum, in dem drei Citars standen. Sie waren von Pierres
Vater, aber Pierre würde auch spielen.
Am nächsten Tag ging ich zu Fernando, dem ehemaligen Präsidenten der Stiftung,
der jetzt eine schöne Pousada in der Nähe der Gemeinschaft aufgebaut hat. Letzt
hätte sogar Bundespräsident Rau in Brasília ein Treffen mit der Fundação Matutu
gehabt, weil er sich für ihre Arbeit interessierte. Deutschland sei bisher das einzige
Land der G 8 gewesen, das Gelder gegeben hätte, um sie zu unterstützen.
Es kam dann eine Freundin von ihm aus Penedo, eine Künstlerin, mit der ich mich
kurz unterhielt bevor ich zurückging, um mein Mittagessen zu mir zu nehmen.

Beim Frühstück am nächsten Morgen gesellte sich Pierres Vater, ein Argentinier zu
mir und begann zu erzählen: „Ich bin vor fünfzehn Jahren hergekommen und habe
ein Jahr lang in einer Höhle gelebt mit Plastikplanen zum Schutz vor Wind und
Wetter und vor Tieren. Dann habe ich ein Haus aus Plastikplanen am Rande eines
Wasserfalles bewohnt. Wir sind zehn Kilometer bis hierher gelaufen. Eine Straße wie
heute gab es nicht. Das war die glücklichste Zeit in meinem Leben“.
Dann wäre die Straße gekommen, Elektrizität, Telefon, Fernseher, Computer, Autos,
die Zivilisation eben.
Schließlich kam er zu einem anderen Thema: „Ganz Lateinamerika gehört im Grunde
dem Militär. Das Militär herrscht noch heute hinter dem Rücken der Politiker und dies
in Funktion der Vereinigten Staaten von Amerika“.
So habe sich der argentinische Präsident geweigert, die Zinsen von 18 ich-weiß-
nicht-wieviel Dollar an die Weltbank zu zahlen. Er wäre vom Militär bedroht worden:
wenn er nicht zahle, würden sie die Macht übernehmen. In Brasilien wäre es
genauso.
„Die Leute, die keine Ampel haben, zielen alles darauf ab, eine asphaltierte Straße
zu bauen, um eine Ampel zu bekommen. Schon in Aiuruoca hätten die meisten
Menschen am liebsten eine Großstadt“.
Und fast alles, was Brasilien produzieren würde, Fleisch, Soja, Zucker oder Orangen
ginge in die Vereinigten Staaten.
68

„Die Politiker, die gewählt werden, geraten alle in die Fänge der Interessen der
Industrie. Wusstest Du, dass es den Argentiniern verboten ist, Dosenfleisch zu
verkaufen? Das ist den Amerikanern vorbehalten.“
Zu ihnen selbst meinte er: „Die Fundação Matutu hat schon diverse Preise für die
beste Stiftung in Minas Gerais bekommen“.
Ich fragte, wie ich mehr über die Stiftung herausfinden könnte. Er schlug mir vor, zum
Begründer namens Sebastião zu gehen und erklärte mir wo er wohnte.

So kam ich in den Genuss, kurz ein Wort mit Sebastião zu wechseln, denn er hatte
gerade Besuch und wenig Zeit. Er war ein jung gebliebener grauhaariger Mann mit
Bart. Er erzählte mir, wie es kam, dass sie Freunde von Johannes Rau wurden, mit
dem sie zwei Tage in Brasília verbrachten:
„Eines Tages tauchte ein ziemlich fertiger Typ auf, der getrunken hat, ein Deutscher.
Ich habe ihn aufgenommen, weil ich merkte, dass der Mann ein gutes Herz hatte und
er ist wieder gesund geworden. Dieser Mann war aus der Deutschen
Demokratischen Republik und hatte zusammen mit Johannes Rau flüchten wollen.
Bloß dass er gesprungen ist und Johannes Rau nicht“.
Eines Tages habe sich Rau an seinen Freund erinnert und ihn in Brasilien ausfindig
gemacht, im Vale do Matutu. So habe er begonnen, sich für die Arbeit zu
interessieren, die hier geleistet wird und habe sie zu dem Treffen in Brasília
eingeladen.
Mehr über die Fundação könne mir sein Sohn erzählen, den er gleich anrief und mit
dem er ein Treffen am See ausmachte, um gemeinsam zu einem Wasserfall zu
gehen, den ich noch nicht kannte. So erfuhr ich noch allerhand über die
Tätigkeitsbereiche dieser die Umwelt schützenden Einrichtung bevor ich aufbrach,
um wieder zurückzufahren, obwohl mich Sebastião eingeladen hatte, an der
sonntäglichen Zeremonie teilzunehmen.

Bevor mich jemand mitnahm, sprach ich noch mit der Künstlerin aus Penedo, die ich
am Eingang des Vale traf. Die Betreiberin des Ladens, in dem ich noch
vorbeischaute, erzählte mir, dass die KunsthandwerkerInnen, die hier verkauften in
einem Verein organisiert sind und ihre Preise selbst bestimmen. Es gab hier
Glasprismen in allen Formen und Ausführungen, die das Regenbogenspektrum in
den Raum warfen, Textilien, Seifen und diverse andere Sachen.

Ich kam gut zurück nach Aiuruoca und nahm den Bus, der bald in Richtung Bom
Jardim fuhr.
Mir erzählte eine Frau, die in meinem Hotel arbeitete, dass es dort sehr schön sei. Es
würde jedem gefallen und viele Leute aus Aiuruoca würden dort wohnen.
Mir hat der Ort jedoch überhaupt nicht gefallen. Es gab unglaublich viele streunende
Hunde in der Stadt, die ungeniert und wild umeinanderkopulierten. Ich übernachtete
in einer Pension in der Nähe des Busbahnhofes und war froh, als ich am nächsten
Tag nach Lima Duarte weiterfahren durfte.
Dort stieg ich allerdings leider falsch aus, hatte ich dem Busfahrer vergessen zu
sagen, dass ich an der Tankstelle aussteigen wollte und so hielt der Bus dort nicht an
und fuhr noch drei Kilometer weiter.
Ich fragte einen Käseverkäufer, der gerade auf einer Pferdekutsche vorbeigefahren
kam, wie ich nun am besten weiterkäme. Er meinte, das Beste wäre, mit dem Taxi
zum Ortausgang zu fahren, wo die Straße nach Ipitipoca anfängt und dort zu
Trampen. Dann kamen andere Männer anspaziert, um Käse zu kaufen und mir zu
helfen. Einer schlug vor, mit dem Circular-Bus dorthin zu fahren und der nächste
69

meinte, ich könne Laufen. Schließlich lief ich tatsächlich mit einem von ihnen zum
Busbahnhof, der mir sogar meinen kleinen Rucksack trug.
Er würde lieber in die Natur gehen anstatt fernzusehen: „Fernsehen ist die Hölle. Ich
schaue lieber, was Gott geschaffen hat und erfreue mich daran.“
Er begleitete mich zum Busbahnhof im Zentrum, wo ich las, dass es einen Bus am
Morgen um halb sieben und einen am Nachmittag um 15:00 Uhr gibt.

Es war ein Uhr, also Essenszeit. Ich fand ein Self-Service-Restaurant à kilo, wo das
Essen gewogen wird und einen Geschäft mit Internet. Es waren wieder nur web.de-
Mails mit der Nachricht, dass die maximale Nachrichtenzahl erreicht war, diesmal
etwa vierzig dieser mails – eine Unverschämtheit! Seitdem ich die Web.de-
Clubmitgliedschaft gekündigt hatte, wurde ich mit diesen Mails bombardiert, obwohl
ich inzwischen schon an die tausend mails gelöscht hatte. Aber es waren scheinbar
immer noch zu viele.

Der Bus fuhr mit Verspätung und war der vollste Bus, den ich bisher in Brasilien
erlebt hatte. Immer mehr mit Namen beschriftete Kartons und Säcke wurden
eingeladen, alle offensichtlich voll mit Lebensmitteln. Es nahm gar kein Ende. Erst
kurz vor Ankunft bekam ich einen Sitzplatz und fragte den Ticketverkäufer, wo ich
eine günstige Pousada finden könne.
Er erklärte mir, wo ich Aussteigen und in welches Haus ich gehen solle, um zu
fragen. Es war eine ältere Dame, die aufmachte und mir drei Zimmer für 30 Reais mit
Frühstück und einem Essen zeigte.
Die Zimmer waren o.k., aber ich war nicht so begeistert, dass ich gleich bleiben
wollte. Sie fragte mich netterweise, ob ich meinen Rucksack dalassen wolle und ich
bejahte. In einem Geschäft bekam ich eine Zeitschrift über das Dorf mit einem
Stadtplan. Sogar Reiki und Shiatsu wurde angeboten.
Es regnete immer wieder, so dass ich mich immer wieder unterstellte bis ich ein
Geschäft sah, in dem etwas von Ecoturismo und Hospedagem, Ökotourismus und
Unterkünften stand. Ein Mann öffnete die halb geschlossene Tür, nachdem ich
angeklopft hatte.
Er war aus Rio de Janeiro, wohnte aber schon lange hier.
„Wir haben den Nationalpark mit verschiedenen Wasserfällen, Höhlen, einzigartigen
Blumen und Tierarten, die vom Aussterben bedroht sind und hier einen Unterschlupf
finden. Auf 800 Leute pro Tag ist der Besuch limitiert, weil das Ökosystem sehr fragil
ist“.
Die Touren könne frau alleine machen, wenngleich es mit einem Führer ergiebiger
sei. Es gäbe noch weitere private Öko-Reservate, die besucht werden könnten. Er
selbst habe eines davon anzubieten.
Er gab mir einen Flyer. Ansonsten würden sie Häuser vermieten. Seine Frau habe
dreißig Häuser im Angebot. Er rief sie an und kündigte mich bei ihr an. Er erklärte
mir, wo sie wohnte und sie begrüßte mich mit Küsschen, als wenn sie mich schon
Jahre lang kennen würde.
Sie zeigte mir gleich das Haus nebenan, zwei Zimmer mit Küche, Bad, Terrasse und
Kamin. Sie machte mir einen sehr guten Preis und ich nahm an.
Sie hätten vor zwölf Jahren einen Verein gegründet, damit nicht das passiert, was in
São Thomé das Letras passierte, das ja nun eine einzige Favela wäre. Und sie
erzählte mir dann, dass sie die kleinen Steine, mit denen die Straßen gepflastert
seien herausnehmen und gegen große Steine austauschen wollten, wo es doch
früher schon einmal mit großen Steinen gepflastert gewesen wäre, die sie
herausgerissen hätten, um kleine Steine zu benutzen...
70

Erst waren im Haus seltsame Geräusche. In der Küche klapperte sowohl die
Balkontür als auch die Fenster durch den Wind, bis ich einen Putzlappen zwischen
die Tür und den Rahmen schob.
In der Küche waren seltsame Löcher in die Decke gebohrt worden und nach dem
Duschen hörte ich für kurze Zeit von oben ein komisches Geräusch und entdeckte,
dass die Decke in der Küche und in den Zimmern im Gegensatz zum Wohnzimmer
abgesenkt war. Vor den Fenstern in den Schlafzimmern hingen Decken als
Windschutz. Ich hatte also ganz schön meine Zweifel, ob es ein guter Platz war,
hatte aber gut geschlafen und das war schon einmal wichtig.

Am nächsten Tag machte ich mich auf zum Nationalpark. Auf dem Weg ging ich in
ein Geschäft, in dem mir ein Junge empfahl, heute zur Cachoeira dos Macacos zu
gehen. Er beschrieb mir auch den Weg. In der Touristeninformation im Park selbst
waren sie gerade am Mittagessen, ich fand bloß im Gästebuch eine Deutsche aus
Stuttgart, die vor zwei Tagen dagewesen war.
Überhaupt würden viele Deutsche herkommen, erfuhr ich später in der Lanchonete.
Der Weg zum Park war sehr schön, zum Teil noch unberührte Natur, aber schon an
die drei Kilometer bis zum Eingang. Der Eintritt kostete fünf Reais an Wochentagen,
zehn Reais an Wochenenden und 15 Reais an Feiertagen. Dies, um die Leute etwas
zurückzuhalten. An Wochentagen werden sogar nur 300 Besucher eingelassen.
Erst kam ich am Besucherzentrum vorbei und dann zur Lanchonete, wo mir der
Verkäufer noch einmal den Weg zur Cachoeira dos Macacos beschrieb, aber ich
schaffte es trotzdem, falsch zu gehen, weil ich den Schildern folgte und nicht den
Beschreibungen. Ich lief in umgekehrter Richtung, was wesentlich anstrengender
war, wie mir jeder anschließend versicherte. Mir schien der Weg sowohl beim
Herunter- als auch beim Heraufgehen sehr beschwerlich.
Es ging den rotbraunen, weil stark eisenhaltigen Fluss entlang bergab, vorwiegend
über Felsen an einer kargen Bewachsung vorbei, bis zu einem Wasserfall, an dem
es einige Felsen zum Hinlegen gab. Der Rückweg verlief auf der anderen Seite des
Flusses in der Höhe.

Mich nahmen zwei Männer aus Juiz de Fora mit zurück ins Dorf. Sie würden oft hier
herkommen und meinten, es würde ihnen sehr gut tun, hier zu sein.
Ich ging dann auf die Suche nach Bekannten von Francisco und fragte in einer
Pousada in der Nähe nach ihm. Die Frau dort wusste sofort bescheid. Sie sei mit
seiner Ex-Freundin befreundet und gerade vor zwei Tagen hätten sie über Francisco
gesprochen. Sie lud mich ein, am nächsten Morgen zu ihr zu kommen, um mir den
Tempel zu zeigen, den Francisco damals mitgebaut hatte.
Der Tempel war rund wie einige Häuser in Alto Paraíso, helllila angestrichen und mit
OM- und anderen Zeichen und Symbolen versehen. In der Mitte war ein Kreis mit
Pflanzen. Rundherum bröckelte die Farbe herab. Es war offensichtlich permanent
Wasser eingedrungen.
In dem Moment kam Beatrice, Franciscos Ex-Freundin mit einem kleinen süßen
Hund an der Leine heraufspaziert, dessen Fell am Körper silbern und am Kopf
golden schimmerte. Monica lud uns zum Kaffee ein und wir quatschten eine ganze
Weile. Nachdem Beatrice sich verabschiedet hatte, gingen Monica und ich noch ein
wenig spazieren. Sie erzählte mir, dass auf dem Weg viele Eukalyptusbäume
gestanden hätten, die sie sehr mochte. Sie sei früher immer dort spazieren
gegangen. Doch irgendjemand hätte dem Besitzer Geld für die Bäume gegeben und
sie seien alle abgesägt worden. Monica sei so traurig darüber gewesen, dass sie den
71

Weg gar nicht mehr entlanggehen wollte. Einige Baumstämme lagen jetzt noch
herum.

Am nächsten Tag ging ich noch einmal in den Park und schaute mir den Spiegelsee
und die steinerne Brücke an, die ich vorher nicht zu Gesicht bekommen hatte. Sie
war wirklich spektakulär, weil sich der Fluss durch den Felsen gefressen hat und eine
gigantische Öffnung bildete, die aussah wie eine Höhle, nur dass sie am anderen
Ende geöffnet war. Oben jedoch merkt man davon gar nichts; es ist einfach eine
natürliche Brücke entstanden.
Am Spiegelsee, an dem ein Wasserfall in ein großes rotes Wasserbecken mündete
gab es sogar einen kleinen Sandstrand, an den ich mich legte, um mich etwas
auszuruhen. Erst war ich ganz alleine, dann kam noch ein Pärchen, von denen die
Frau schneller ins Wasser ging, als ich schauen konnte.
Zum Abschluss fand ich auch die Hasenhöhle, an der mir gleich drei kleine
Papageien entgegengeflogen kamen, die offensichtlich ihr Nest hier hatten.

Noch am gleichen Tag fuhr ich weiter nach Juiz de Fora. Ich wollte noch zu Alba
Maria und ihrer Gemeinschaft in Bahia. Juiz de Fora war sehr heruntergekommen
und hatte für mich eine Ähnlichkeit mit dem Zentrum von São Paulo. Es war äußerst
unangenehm, die Nacht hier zu verbringen. Ich fand bloß ein Stundenhotel im
Stadtkern, wollte aber nicht länger suchen mit meinem schweren Gepäck auf dem
Rücken. Ich schickte auch eine e-mail an die Fundação Terra Mirim, die
Gemeinschaft von Alba Maria, um zu fragen, ob ich kommen dürfe.
Von Juiz de Fora fuhren Busse nach Ilheus, wo ich noch nicht gewesen war und
immer mal hin wollte wegen der Kakaoplantagen. Es liegt etwa 500 Kilometer südlich
von Salvador da Bahia, so dass es ein willkommener Zwischenstop auf dem Weg
war, wollte ich sowieso erst einmal eine Antwort von der Fundação Terra Mirim
abwarten.
Am nächsten Tag fuhr ich mit Sack und Pack zur Rodoviária und kaufte mir ein
Ticket.
In Südbahia waren auch nur Rinderweiden. Ich glaubte, ich liefe amok. Fast ganz
Brasilien besteht nur noch aus Rinderweiden. Zwischendrin Eukalytuswälder in Reih
und Glied.
„Die Armut kommt durch die Zerstörung, die Missachtung von Mutter Natur“, ging mir
durch den Kopf.
Mich begleitete lange eine Regenbogenwolke und erinnerte mich an den riesigen
Regenbogen in Lima Duarte, den ich bei meiner Ankunft bewundern durfte.

Die Fahrt wurde später doch noch schöner durch dschungelbewachsene Hügel und
Anpflanzungen von Bananen, bei denen sie die Bäume belassen haben, so dass
man die Plantagen von Ferne gar nicht sieht, ein positiver Ansatz.
In der Nähe von Ilheus gab es eine Jugendherberge, wie ich in meinem
Jugendherbergsführer gesehen hatte und dort wollte ich hin. Es war ein schöner Ort,
der früher mal eine Fazenda gewesen war.
Doch als ich am Strand entlanglief und nach einem noch belebteren Stück in der
letzten Stunde fast keine Menschenseele mehr traf, war es echt unheimlich. Ein
Mann, den ich fragte, wo die Bushaltestelle sei, um zurückzufahren nannte mir ein
paar Plätze, an denen ich stehen könnte, wo es weniger gefährlich sei. Dreimal wies
er mich darauf hin, dass es dort weniger gefährlich sei, also musste es etwas auf
sich haben.
72

Einer Salvadorianerin, mit der ich am Frühstückstisch geredet hatte war aufgefallen,
dass hier erstaunlich viele Häuser zu verkaufen waren. Und mir gelang es auch gar
nicht, den Spaziergang wirklich zu genießen. Es war so, als wäre hier etwas passiert.
Auch die Jugendherberge stand zum Verkauf, der Besitzer hätte eine zweite
Jugendherberge in Itacaré aufgemacht, wo er sich jetzt fast ausschließlich aufhalte.
Früher hätten sie in der Herberge viel mit Kindern im Bereich der Umwelterziehung
gearbeitet, aber es wäre eingeschlafen, weil der Besitzer der Fazenda verreist wäre
und ein Nachfolger zu viel Geld ausgegeben hatte.
Es kämen jetzt weniger Leute hierher, weil ein Industrieller fünf Kioske am Strand
aufgekauft und den Platz für sich beansprucht hätte. Seitdem gingen die Leute nicht
mehr an seinen Strand. Ich selbst machte einen Bogen um diesen Strand, konnte ich
den teuren Kokosdächern nichts abgewinnen.
Und dann der Dreck, der laut der Salvadorianerin durch den vielen Regen vom Fluss
angespült worden war. Es war Plastikmüll gemischt mit Pflanzen. Auch am
Straßenrand nur Müll, stetiger Zivilisationsabfall.
Ich dachte an Schulen, die einmal pro Woche Umwelterziehung lehren könnten, statt
dem ganzen anderen Kram, den sie zu 99% in ihrem Leben nicht wieder brauchen.
Immer wieder sah ich hier Menschen ihren Müll aus dem Busfenster werfen, Kinder
wie Erwachsene.

Der Mitarbeiter der Jugendherberge zeigte mir ein Stück von der Fazenda: einen
künstlichen Wasserfall, der durch ein Rohr brauste und den See der
Nachbarfazenda. Wir liefen dabei durch eine Plantage von Kautschukbäumen, die
rundum eingeritzt und mit einem Auffangbecher versehen waren, um Gummi zu
sammeln. Der Gummi würde an Pirelli verkauft werden, um Autoreifen oder
Strandlatschen herzustellen. Die Bäume kämen eigentlich aus dem Norden
Brasiliens, hätten sich jedoch so wie der Kakao hier akklimatisiert.
Ich fuhr noch nach Ilheus, unter anderem um ins Internet zu gehen. Dort fand ich
eine Nachricht, dass Kanada Samen mit dem Namen Terminator freigegeben hätte,
wo es einem nun wirklich kalt den Rücken herunterläuft, wenn man nur den Namen
hört.
Ich lernte einen Herrn kennen, der sich als „Professor“ vorstellte. Professor heißt in
Brasilien Professor oder Lehrer. Er habe 35 Jahre lang mit Export gearbeitet,
Portugiesisch und Englisch unterrichtet und sei nun pensioniert und schreibe. Er
begleitete mich zu einer Bushaltestelle, um zurückzufahren, die weniger gefährlich
war wie der Busbahnhof, zu dem man, wenn es dunkel ist, lieber nicht gehen sollte.
Er lud mich ein, am nächsten Tag zum Künstlerhaus zu kommen. Dort seien immer
Künstler aus der ganzen Welt.
Am nächsten Tag fuhr ich tatsächlich wieder nach Ilheus, um Mittag zu essen und
wurde sozusagen in ein Restaurant mit Namen Equilibrio geführt, zu deutsch
Gleichgewicht, das mir jemand empfohlen hatte. Dort gab es sogar Vollkornreis und
Sojafleisch. Das Restaurant war für brasilianische Verhältnisse sehr gemütlich.
Grundsätzlich musste ich immer, egal wann, unglaublich lange auf einen Bus warten.
Früher wäre das alles besser gewesen.

An jenem Tag ging ein lange gehegter Wunsch von mir in Erfüllung: ein Faultier zu
sehen. Ich fuhr mit dem Bus zum sogenannten CEPLAC, wo ich mich eigentlich hätte
ausweisen müssen, aber da ich kein Dokument bei mir trug, ließen sie mich auch
unter Angabe meiner Passnummer, die ich inzwischen auswendig gelernt hatte,
hinein.
73

Nachdem ich einen Zettel ausgefüllt hatte, in dem u.a. nach dem Beruf und der
Adresse des Arbeitgebers gefragt wurde, bekam ich einen zehnminütigen Film über
Kakao zu sehen. In ihm wurde gezeigt wie die Früchte aufgeschnitten, der weiße
Saft von den Kernen getrennt und die Kerne aufgespalten werden, in denen sich der
dunkelbraune Kakao befindet, der dann weiterverarbeitet wird zu etwas, das sie
Liquor und Kakaobutter nennen, beides teure Produkte.
1989 brach eine Krankheit aus, die den Kakao in der gesamten Region befallen hat
und die im Volksmund Hexenbesen genannt wird. Es handelt sich um einen Pilz, der
sich über die Luft verbreitet und praktisch zu einem Rückgang der Ernte von 70%
geführt hat. Der Kakao kommt ursprünglich aus dem Amazonas, er werde jetzt
jedoch in sechs Bundesstaaten in Brasilien angebaut.
CEPLAC hätte etwa 700 Hektar Land für Forschungszwecke zur Verfügung. Früher
seien 15% der Einnahmen vom Kakao an sie gegangen, um zu forschen, nun seien
sie jedoch eine föderative Einrichtung.
Sie suchten in der Folge Bäume, die gegen den Pilz resistent waren, auch aus den
Nachbarländern Bolivien und Peru und pfropften diese auf die hiesigen Pflanzen,
was sie hier klonen nennen. In dieser Form haben sie schon 200.000 Pflanzen
verbreitet.
Es kam dann ein Auto, um uns abzuholen und wir fuhren zu den Faultieren. Faultiere
trinken kein Wasser und ernähren sich nur von Blättern. Die Art, die wir dort sahen,
war vom atlantischen Regenwald. Sie sei vom Aussterben bedroht wegen der immer
geringer werdenden Lebensräume. Ich hörte jedoch auch, dass Menschen sie viel
gegessen haben.
Dabei sind es so liebe Tiere. Sie strahlen eine Ruhe und einen Frieden aus, von dem
wir Menschen nur lernen können. Jede Bewegung ist langsam und mit Bedacht
gewählt.
Faultiere haben keine Zähne und gehören zur Familie der Ameisenbären, obwohl sie
von der Gliederung ihres Körpers her aussehen wie Affen, außer, dass sie ein paar
ganz lange Krallen haben. Ich sah eine Mutter mit ihrem Jungen.
Als nächstes besuchten wir die Kakaofabrik, eine Forschungseinrichtung mit kleiner
Produktion. Die Ernte wäre erst wieder im März und dann im September, deshalb
waren die Maschinen im Augenblick außer Betrieb.
Heutzutage würde Brasilien sogar aus Afrika Kakao einführen, um es an Firmen wie
Nestlé zu verkaufen. Die Führerin zeigte mir die Kakaoblüten und am Nachbarbaum
die Früchte.
Wir gingen weiter zu den Schlangen, die in kleinen Käfigen auf Zeitungspapier
lebten. Kaum eine von ihnen hatte einen Stamm zum Klettern, die meisten hatten nur
Papier und Wasser zum Trinken. Die Mehrzahl der Schlangen war giftig. Ich sah eine
Cascavel und dann eine Jiboia, die enorm groß war und unheimliche Augen in
Dreiecksform hatte, die irgendwie durchsichtig waren. Die Cascavel klapperte
gerade, als wir zur Tür hineinkamen, wegen einer Frau, die mit ihrem Kind direkt vor
ihrem Habitat stand.
Damit war die Rundfahrt beendet.

Ich fuhr weiter nach Itacaré, wo es erst einmal durch Favelas zum Busbahnhof ging,
auf dem gleich mehrere Jungen warteten, um eine Pousada zu vermitteln und mein
Gepäck in der Schubkarre zu transportieren, was mir sehr zupass kam. In der
Jugendherberge war kein Platz im dormitory frei und ein Doppelzimmer war mir zu
teuer. So kam ich in das viel günstigere Hostel O Farol, wo ich ein Zimmer mit einer
Deutschen und einer jungen Israelin teilte.
74

Beim Gang durch die Straßen unterhielt ich mich lange mit einem Chilenen und
seiner Frau. Er hatte einen Stand mit Schmuck, an dem auch seine Kinder
versammelt waren.
Er erzählte mir von einem Wasserfilter, den er erfunden hatte, weil zwei Kinder in
einem Stadtteil gestorben sind, nachdem sie kontaminiertes Wasser getrunken
haben.
„Das Wasser aus meinem Filter ist astrein, es ist schon untersucht worden“.
Mit Kindern machte er auch diverse Sachen aus dem Müll. Jetzt hatte er allerdings
Ferien diesbezüglich.
Später kam mir irgendwie in den Sinn, dass alles, was des Geldes wegen gemacht
wird, um Profit zu machen, zerstörerisch ist und einen negativen Beigeschmack hat.
Was ich hier am Strand sah, wo in den Lokalen alles überteuert angeboten wurde,
war für mich Ausbeutung.
In einem Bio-Restaurant fand ich an einer Wand einen Text mit der Überschrift
„Caminho da Felicidade“ – „Weg der Glückseligkeit“. Was ich mir davon notierte war:
„Wenn du aufstehst, mach es wie die Vögel und singe.
Nimm die Probleme nicht so schwer, sondern leicht und mit Humor“.

Ansonsten war Itacaré nicht mein Platz. Es war ein typischer Backpackerort mit einer
Reihe schöner Geschäfte und Lokale, einem Stadtstrand, an dem die Leute nicht
baden, weil er zu schmutzig ist, schöneren Stränden in Laufnähe und einer Menge
von Pensionen aller Preisklassen. Eigentlich hatte ich hier überhaupt nichts zu
suchen und so fuhr ich auch bald wieder weg.
Am letzten Tag besuchte ich noch die Prainha, das Strändchen, das mir als der
schönste Strand in ganz Brasilien empfohlen worden war, bloß der Weg dorthin wäre
gefährlich. Es seien schon mehrere Leute überfallen worden. Frau bräuchte einen
Führer, zum einen, um den Weg zu finden, zum anderen, um die Räuber
abzuhalten...
Ich ließ mir den Weg von einem Rettungsschwimmer erklären und lief hinter einem
anderen Typen hinterher, den ich am Tag zuvor schon mit einem orangefarbenen
Strandtuch um die Hüften gesehen hatte. Die ganzen Führer fragten, ob ich zur
Prainha wollte. Ich verneinte und lief dem anderen mit leicht flauem Gefühl im Magen
hinterher. Es ging alles gut. Der Strand war tatsächlich schön, aber nicht so
spektakulär wie ich erzählt bekommen hatte.
Ich badete im recht sauberen Wasser am gereinigten Strand, an dem ein Bagger
zum Aufsammeln des Naturmülls herumfuhr. Er machte Lärm, für den ich auch noch
gezahlt hatte. Dabei ist Arbeitskraft in diesem Land so billig und Menschen, die Geld
brauchen und gerne arbeiten, gibt es wohl genug. Fünf Reais hat der Strand Eintritt
gekostet, ein Getränk war im Preis inbegriffen. Der teuerste Strand, den ich bisher in
Brasilien besucht habe, weil es der einzige war, an dem Eintritt verlangt wurde. In
Brasilien gehörten die Strände nämlich bisher der Marine, weshalb es normal keine
Privatstrände gab und alle frei zugänglich waren. Eine hervorragende Sache, wenn
man mit Europa vergleicht... Hier hatte eine Vereinigung wohl den Strand gekauft,
angeblich um die Natur zu schützen – mit Maschinen wohlgemerkt.
Der Chilene hatte mir erzählt, dass die Pflanze namens Baronesa, die hier in Massen
am Strand liegt, einen natürlichen Schutz darstelle. Dass der Fluss so viele Pflanzen
anschwemme, käme übrigens auch von der Abholzung der Wälder.
So empfand ich die Reinigung des Strandes hier so, als würden sich die Menschen
ihre Scham rasieren. Ganz hinten wurden die Abfälle dann verbrannt, anstatt sie
durch Kompostierung der Erde wieder zuzuführen.
Das Baden in den Wellen machte jedoch Spaß.
75

Von der Deutschen in meinem Zimmer hörte ich, dass in Morro de São Paulo, das
früher mal ein Geheimtip war, jetzt lauter italienische Pauschaltouristen waren, als
sie es besuchte, was noch nicht mal das Schlimme gewesen sei. Was sie viel mehr
störte, waren die jungen Burschen in den Dreißigern aus aller Herren Ländern mit
brasilianischen Frauen im Arm, was nur eine andere Art von Prostitution darstelle.
Itacaré erinnerte mich auch eher an Thailand als an Brasilien. Viele Ausländer lebten
hier. Sie haben wohl auch zum Großteil die Geschäfte und Pousadas aufgebaut.
Außer dem Chilenen gab es jedoch nichts, was mich wirklich interessierte.

Ich fuhr deshalb weiter nach Salvador da Bahia und gleich mit dem nächsten Bus zur
Fundação Terra Mirim, wo mich eine nette Bahianerin empfing. Ich bekam eine
ganzes DIN A 4-Blatt zum Ausfüllen inklusive der Nennung von Krankheiten,
Medikamenteneinnahme, Interessen- und Einsatzgebiete. Hier zu bleiben koste pro
Tag 90 Reais inklusive dreier Mahlzeiten. Ich lehnte ab, da ginge ich lieber, halte ich
den Preis für weitab vom üblichen Preis für Gemeinschaften. Wenn Alba Maria da
wäre, koste es noch mehr, jetzt sei sie gerade verreist.
Ich machte mich bereit zu gehen und nahm das DIN A 4-Blatt wieder an mich, als die
Mitarbeiterin mit der Nachricht kam, dass sie 70 Reais pro Tag habe aushandeln
können. Sie selbst arbeite nur hier und lebe nicht in der Gemeinschaft, die Preise
mache jemand anders. 70 Reais wäre das Maximum gewesen, was die
Verantwortliche heruntergegangen wäre. Ich hatte sogar darum gebeten, mit dieser
Person zu sprechen, aber umsonst.
Ich willigte dann doch ein, drei Tage zu bleiben, obwohl es immer noch weit von
meinem Tagesbudget entfernt war, aber da ich schon so viele Stunden
hierhergefahren war...
Ich wurde von einer Marcia auf dem nicht allzu großen Gelände herumgeführt, auf
dem es ganz viele Tempel gab, teils überdacht und teils im Freien: einen Tempel, in
dem die täglichen drei Meditationen stattfanden, einen Tempel für die Meister und
einen für jedes Element: Feuer, Wasser, Erde und Luft.
Ich hatte ein wenig Zeit zum Ausruhen, dann gab es nach einer 15-minütigen
Meditation Mittagessen. Am Abend wurde eine Kassette mit Satsang von Alba Maria
abgespielt.
In der Zeitschrift Veja las ich in einem Artikel, wie normale Touristen Pilgerstätten
überschwemmen und dass es jede Menge Rockkonzerte in Orten auf dem
Jakobsweg gegeben habe. Außerdem würden japanische Hoteliers jetzt an
Pilgerstätten investieren. Da fiel mir ein, wie Jesus die Händler aus dem Tempel
vertrieben hat. Eigentlich gehört das alles verboten.
Ich durfte am nächsten Tag meditativ den Tempel Erde reinigen, was schön war,
bloß dass die Moskitos erbarmungslos stachen. Am Nachmittag nahmen wir alle ein
Kräuterbad und trockneten uns am Feuer, das den ganzen Tag gebrannt hatte. Das
Kräuterbad käme von den Afrikanern und den Indios her. In der Tat fühlte ich mich
viel besser und gereinigter danach.

Am Sonntag fuhr ich mit Mariestela, die ebenfalls zu Gast war, zum früheren
Hippiestrand Arembepe. Allerdings war dort Karneval mit Trio elétrico, einem
Karnevalswagen mit laut tönender Musik und allem was dazu gehört, so dass wir mit
dem Bus weit vom Strand entfernt anhielten und eine halbe Stunde brauchten bis wir
schließlich am Strand gelandet waren. Bahia ist dafür bekannt, dass es das ganze
Jahr über Karneval feiert und es machte hier seinem Ruf alle Ehre.
Der Strand war ein Stück von der Stadt entfernt von außerordentlicher Schönheit.
Wir gingen beide kurz ins Wasser und kehrten dann zurück, denn uns war empfohlen
76

worden, vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück zu sein. Im Dunkeln wäre die
Straße von Terra Mirim sehr verlassen.
Auf dem Rückweg zum Bus kamen wir nur schwer durch die Menge am Trio elétrico
durch und hatten enorme Schwierigkeiten, einen Bus zu erwischen, der zurückfuhr.
Zweimal standen wir an der falschen Haltestelle und warteten vergeblich Ewigkeiten,
dann waren die Busse an der richtigen Haltestelle gerammelt voll, so dass wir nicht
mehr reinpassten, bis wir auf den Trick kamen, den Bus abzufangen, bevor er in den
Ort hineinfuhr. So kamen wir noch mit dem letzten Bus, der überhaupt fuhr, zur
Gemeinschaft zurück. Es war jedoch so spät, dass sie das Tor schon abgeschlossen
hatten und wir drüberklettern mussten.

Nach drei Tagen machte ich mich auf den Weg nach Brasília. An der Bushaltestelle
traf ich eine junge Frau, die in der Stiftung Terra Mirim arbeitete und die sehr
glücklich darüber war. Die Stiftung zeichnet sich vor allem durch ihre
Umwelterziehung für Kinder in der Region aus, bietet aber auch Kurse für
Erwachsene beispielsweise über die Renaturierung von zerstörter Landschaft.
Terra Mirim liegt zwischen verschiedenen Orten der Schwerindustrie und sieht ihre
Aufgabe darin, einen Gegenpol zu bilden.

Ein ruhiger Schlaf war in der Nacht im Bus nicht zu finden, da die Straße - wie mir
schon vorher erzählt wurde - mit Schlaglöchern durchsäht war. Die Strecke wäre
gefährlich, habe ich immer wieder gehört, es seien schon Busse überfallen worden.
Wir kamen aber ohne Zwischenfälle durch. Ich unterhielt mich am Ende mit einem
Journalisten, der über Umweltthemen schrieb, aus Belém kam und sehr viel
unterwegs war. Er bezeichnete die Indios als fabelhaft. Wenn ein Indio eines
Stammes eine Frau aus einem anderen Stamm zu sich nehme und sie dann nicht
mehr haben wolle, würde er zum Tode verurteilt.
Er schimpfte auch auf die katholische Kirche, die so viele Indios umgebracht hätte
und sowohl die Pille als auch Kondome verbiete, was dazu führe, dass schon
Zwölfjährige schwanger werden.
Die Missionare der Kirche würden die Indios beobachten, wie sie die Pflanzen zur
Heilung der Krankheiten nutzen, denn im Amazonas gäbe es für jede Krankheit eine
Medizin aus dem Urwald. Dann würden sie selbst in den großen Firmen mitarbeiten,
um die Arznei zu vermarkten und zu patentieren.
Patente, die Pest unserer Zeit.
Dann erzählte er, dass ein ehemaliger Präsident 10% von allen Gewinnen für die
Wasserkraft bekommt, die bei der Aluminiumherstellung verbraucht wird. Der
Verbrauch von Dosen hat in Brasilien die letzten Jahre sprunghaft zugenommen. Wo
es früher noch Flaschen gab, gibt es jetzt zumeist keine Alternative zu den Dosen.
Er warnte mich vor drei Busgesellschaften, von denen mir nur Transbrasiliania und
Marajó in Erinnerung geblieben sind.

Am Busbahnhof in Brasília angekommen, sprach mich ein älterer Herr an, der auf
den Bus nach Curitiba wartete. Er sei Enkel von deutschen Großeltern aus München
und anthroposophischer Lehrer für bio-dynamische Landwirtschaft. Er war sehr nett
und berichtete von einer anthroposophischen Fakultät in Brasília.
Die Freundin des Journalisten holte ihn am Busbahnhof ab und nahm mich ein Stück
mit. Sie setzte mich an der Straße mit den Pousadas ab, die ich noch nicht kannte.
Sie hätte eine Internetseite mit einer 20.000 Kilometer langen Reise durch Brasilien.
Zuerst schaute ich eine Pousada an, in der ein ganzer Pulk von Leuten im
Aufenthaltsraum saß und in der die Zimmer so einfach waren, wie mir der Israeli
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beschrieben hatte (graue schmutzige Pappwände, keine Fenster und klitzekleine


Räume). Zwei Häuser weiter fand ich jedoch eine ganz formidable Pension mit lauter
netten Leuten, wo ich ein sauberes und schönes Zimmer mit Fenster mit Blick zum
Garten, Schrank und Stuhl bekam.
In meinem Zimmer hing der Spruch: „Vom Traum zur Realität: nur die Wirklichkeit
verändernd“.

Zurück in Alto Paraíso schaute ich mir zuerst in der Oficina de Ciêncas e Artes, kurz
OCA ein Zimmer an, weil ich gehört hatte, dass frau dort wohnen könne. Es war
jedoch unter aller Kanone, denn es war bloß eine ranzige Matratze darin, sonst gar
nichts. Ich sagte trotzdem erst einmal zu, denn der Garten war traumhaft und es
sollte biologisches Essen geben. Als ich jedoch Vera davon erzählte, rümpfte sie die
Nase. „Viel Rock’n Roll“, war ihr Kommentar und: „Das ist alles nur Fassade“. Das
gab mir zu Denken.
Auf dem Rückweg hatte ich Peter getroffen, der mir mit einem Fahrrad entgegenkam.
Er wohne jetzt im Osho Center, aber es sei der Hammer, was ihm passiert ist.
Er lud mich zu einem Tee ein und erzählte mir die Geschichte von einer Frau, die bei
ihm übernachtet hatte. Er wurde gebeten zu gehen, weil sie schizophren sei und die
Leiterin des Zentrums sie kenne und nicht einschätzen könne.
Er war also auch auf der Suche nach etwas Neuem. Wir gingen zusammen
Mittagessen und trafen auf dem Weg Paula, die umgezogen war und nun neben dem
Osho Center wohnte. Sie lud mich ein, ein Zimmer bei ihr anzuschauen. Das Haus
sah von außen sehr einfach aus, war innen aber durch einen neuen Anstrich in
verschiedenen Farben sehr gemütlich. Das schien mir dann doch besser zu sein, als
in der OCA und so zog ich zu ihr.

Als ich bei Francisco vorbeischaute und ihm von meiner Reise zu all den Orten, die
er mir empfohlen hatte erzählte, erfuhr ich, dass er vorhatte, nach São Jorge
umzuziehen. Er habe genug von Alto Paraíso. Zweimal hätten Leute versucht, bei
ihm einzubrechen, als er für zwei Wochen im Haus einer Freundin im Vale azul
wohnte. Alto Paraíso sei die Hölle, hier gäbe es alles wie in anderen Städten auch.
Die Einbrecher gingen auf Jagd und verkauften Diebesgut, um sich Drogen zu
beschaffen. Es sei bekannt, wer die Einbrecher seien, aber es gäbe das Gesetz in
Brasilien, dass wenn die Diebe nicht innerhalb von 24 Stunden in flagranti erwischt
werden, sie nicht ins Gefängnis kommen, sondern auf freiem Fuß bleiben und einen
normalen Prozess erhalten. Und dass sie innerhalb von 24 Stunden erwischt werden,
sei selten.
„Gestern nacht haben sie in der Pizzeria 2000 eingebrochen. Sie waren maskiert und
schlugen eine Videokamera ein“.
Die Polizei wisse wer es sei, tue aber nichts.
„In São Jorge gibt es keine Polizei, aber dort sorgen die Einwohner, die wissen, wer
es wa, selbst für Ordnung“.
Ich erfuhr auch von seinem krebserregenden Wellblechdach. Er schütze sich in
seinem Schlaf- und Behandlungszimmer mit Plastikplanen, die verhindern, dass die
karzinogenen Stoffe in seine Nase fallen.
„Die Wasserbehälter auf den Dächern, aus denen die Leute trinken, sind aus dem
gleichen Material“. Mir sträubten sich die Haare.
Am nächsten Tag kam er mit einem Freund, der in Trancoso wohnt, das jetzt auch
unerträglich geworden sei. Vor fünf bis zehn Jahren sei es noch schön gewesen.
Eigentlich komme er aus Mallorca, aber dort hätten sie alles kaputtgemacht und nun
zahlen sie den Preis. Francisco meinte, es würde immer darüber geredet, dass man
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den Preis für seine Taten im nächsten Leben bezahle, er jedoch sei der Meinung, wir
zahlen ihn noch in diesem Leben.
Der Freund wollte etwas über São Thomé das Letras wissen und ich sagte, für mich
sei es eine Favela auf einem Schlachtfeld, was ihn überzeugte, es aus seiner
Reiseplanung zu streichen.
Ab und zu schaute ich auch mal bei der Familie vorbei, die mir das Fahrrad
überlassen hatte. Die Mutter zweier kleiner Kinder erzählte mir, dass ihre Nachbarn
alle neidisch auf sie wären wegen ihres schönen Gartens. Dabei könnten die
anderen es genauso machen wie sie, denn sie haben ihren Biomüll in den Garten
geworfen und so gab er guter Humus für die Pflanzen, die jetzt so schön aussehen.

Es ging dann plötzlich alles ganz schnell. Paula hatte immer wieder mal einen Joint
geraucht und ohne selbst mitgeraucht zu haben, ging es mir dadurch schlecht. Ich
war auf einmal wie aus dem Häuschen und ging nur noch stundenlang spazieren,
sonst konnte ich kaum etwas tun. Als es zu schlimm wurde, packte ich meine
Sachen und zog bei strömendem Regen in die Pousada Rubí.
Ich wollte fort, fort nach Hause. Ich fühlte, dass nach vier Monaten der Reise alles
komisch geworden war.
Das Nach-Hause-Wollen hatte ich schon länger gespürt, die ganze Zeit in Bahia und
auch schon im Süden von Minas Gerais. Bloß dass ich glaubte, dass Alto Paraíso
mein Zuhause sei. Ich merkte, dass ich zu lange gereist war und eine Grenze
überschritten hatte. Ich fühlte mich schlecht. So schlecht, dass ich entschied, am
nächsten Tag abzureisen und zu versuchen, in São Paulo mein Ticket
umzutauschen, um sobald wie möglich zurückzufliegen. Obwohl Vera meinte, sie an
meiner Stelle würde langsam machen und abwarten bis sich der Staub etwas gelegt
hat. Ihre Tochter hätte das Tier auch erwischt. „O bicho pegou“.
Zwei Leute, die dieselbe Art von Unterstützung beziehen wie ich, hatten ja gesagt,
sie dürften nicht länger als vier Monate wegbleiben. Aber davon hatte ich ja nichts
wissen wollen... Oder anders ausgedrückt: ich wollte wissen, warum sie nicht länger
als vier Monate wegbleiben dürfen und das wurde mir zum Verhängnis.

Schweren Herzens fuhr ich fort. Diesmal stieg ich in São Paulo in der
Jugendherberge in der Innenstadt ab, da es von hier aus näher zum Büro von der
Iberia war. Dort erfuhr ich, dass ich ohne Originalticket den Flug nicht tauschen
könne, machte jedoch ein neues Datum in zwölf Tagen fest. Mein Ticket war ja mit
Andrea in Deutschland gelandet, wie mir ein Freund gemailt hatte. Ich schaffte es,
Andrea anzurufen und sie zu bitten, mir mein Ticket zu schicken, obwohl ich in
starkem Zweifel war, ob das Klappen würde, da telefonisch ja schon lange nichts
mehr funktionierte.
Hier trockneten auch endlich meine Kleider, die seit sechs Tagen(!) nass gewesen
waren, hatte es in Alto Paraíso nur geregnet. In der Küche im obersten Stockwerk
traf ich einen Dänen mit einem Hitlerbärtchen, der lange in Paraguay gewesen war
und den ich zwei Mal im Dunkeln in einem Raum in der Nähe der Küche habe sitzen
sehen. Er war mir äußerst unheimlich.
Die nächste unerfreuliche Begebenheit passierte, als ich mit dem Bus durch den
langen Tunnel im Vale do Anhangabaú fuhr. Er blieb im Feierabendverkehr mitten im
Tunnel stecken, während sich zwei Wagen mit Blaulicht und Sirenengeheul langsam
vorwärts arbeiteten. Es war die Hölle in Reinformat.

Ich entschied kurzerhand, nach Resende zu fahren, wo ich immer gerne noch einmal
hinwollte. Ein Horror. Fast auf der gesamten Strecke zwischen São Paulo und Rio de
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Janeiro abgeholzte Hügel und vereinzelte Eukalyptusanpflanzungen. Wo ist der


Regenwald geblieben, der einst hier stand? Irgendwo auf der Strecke haben sie auch
wieder einen halben Berg abgetragen.
Eine Nacht blieb ich in der Nähe des Itatiaia-Nationalparkes, dann fuhr ich jedoch
nach Penedo und wie durch ein Wunder landete ich in der Ausstellung einer
Künstlerin.
„Du bist nicht zufällig hier gelandet, tritt ein“, stand auf einem Schild am Eingang und
ich ging hinein. Es war eine große Ausstellung mit Engel-, aber auch anderen Bildern
und angenehm beruhigender Musik. Als niemand bei der Künstlerin war, die an
einem Tisch saß, ging ich zu ihr. Ich erzählte ihr, dass ich mich verloren fühlte und
warum und sie lud mich ein, bei ihr in einem einfachen Zimmer für einen fairen Preis
zu übernachten. Ich freute mich sehr, denn sie war mir äußerst sympathisch.
Sie erzählte mir die Geschichte wie sie in Rio de Janeiro den Rattenkindern helfen
wollte, die in den Abwasserschächten der Stadt leben. Einmal hätten sie alle gesagt,
sie möge jetzt gehen, aber sie blieb. Daraufhin erlebte sie eine Episode, in der ein
Junge mit einer zwölfjährigen Schwangeren etwas zu Essen haben, aber zugleich
Klebstoff schniefen wollte. Sie sagte zu ihm: „Essen gibt es nur, wenn du den
Klebstoff wegwirfst“, woraufhin sie ein Messer zwischen den Rippen hatte. Derjenige
habe dann doch den Klebstoff weggeworfen, aber sie zitterte am ganzen Leib und
weinte drei Tage lang. Dann fing sie an zu Malen und sah ein, dass diese Art des
Helfens nicht ihres ist.

Später auf der Straße traf ich Miriam, die Künstlerin aus dem Vale do Matutu, die mir
mit ihrem Motorrad entgegenkam. Sie sah mich, drehte und hielt an. Sie war für alle
meine Sorgen und Nöte da. Jeder hätte im Moment emotionale Schwierigkeiten, wir
wären alle gleich in dieser Hinsicht. Alle Sucher würden in irgendeiner Form
durchmachen, was ich durchmache, das wäre ganz normal.
Ich entschied, die nächsten Tage zu Fasten, so kurz vor Ostern schien mir ein guter
Zeitpunkt, noch dazu wo ich bei Ana so abgelegen wohnte, dass ich gar nichts hätte
Einkaufen können. Ihre Tochter arbeitete in einer Nicht-Regierungsorganisation, in
der sie Leute mit Bienenstichen behandelt, um dadurch Medikamente wie Cortison
absetzen zu können.
Einmal unterhielt ich mich mit Ana in ihrem Atelier. Sie erzählte mir, dass sie ganz
viele Bücher geschrieben habe, von denen die meisten jedoch nicht veröffentlicht
wurden. Sie zeigte mir ein ganzes Regal mit Manuskripten, die in Plastikschubern
verpackt waren. Eines gab sie mir zu lesen, den Vorgänger von dem, das ich am
Sonntag in der Ausstellung gelesen hatte und von dem ich so berührt gewesen war.
Es war ein religiöses Kinderbuch gewesen und handelte von der Liebe der
Menschen zu Gott und von Gottes Liebe zu den Menschen.
Das Kinderbuch, das sie mir jetzt gab, beeindruckte mich nachhaltig. Es handelte
von zwei Menschen, die heirateten. Sie waren in einem Zustand, in dem sie alles
hatten, was sie brauchten: Wohnung, Essen, Kleidung, Menschen. Doch was sie
hatten war ihnen nicht genug. Sie wollten mehr. So zogen sie aus in einen Zustand,
in dem sie nichts mehr hatten und in dem das Leben die Hölle war – in die
Großstadt. Doch dann wurde ein Kind geboren...
Außerdem erzählte sie mir ihre recht dramatische Lebensgeschichte.

Ein andermal ging ich zu dem großen sonoren Stein, einem alten Kultplatz der
Indios, dem Kräfte des Schutzes nachgesagt werden. Ich klopfte ihn ein paar Mal an
und lauschte dem Klang, den er machte, bis er mich aufforderte, auf ihm Platz zu
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nehmen. Er beruhigte mich, mit dem was er sagte. Es sei alles in Ordnung und
werde alles gut.
Nach einer schönen und ruhigen Woche fuhr ich dann zurück nach São Paulo, um
meinen Flug anzutreten. Auf dem Busbahnhof in Resende ging ich direkt mal in das
Graal heißende Lokal hinein und trank einen Orangensaft im Plastikbecher (!), ging
dann jedoch gleich wieder, war es in der künstlichen Luft und bei künstlichem Licht
nicht auszuhalten.
Dann setzte ich mich raus, aber auch dort war es unangenehm, da eine Menge von
Bussen ankam und mit laufendem Motor dastand.
Noch ein Stück abseits hörte ich die Musik, mit der jede/r hier berieselt wird. Auch
eine Art von Terror. Musikterror. Ob ich will oder nicht, ich habe die Musik zu
konsumieren.
Endlich kam der Bus nach São Paulo. Ich ging wieder in meine Pousada dos
Franceses, aber mein Ticket war noch nicht angekommen. Es war einen Tag vor
Abflug. Morgen wäre die letzte Chance. Ohne dieses Ticket - das hatte mir der Herr
von Iberia IN GROSSBUCHSTABEN gemailt -, GÄBE ES KEINEN VORZEITIGEN
RÜCKFLUG und ich müsste noch einen Monat warten bis zu meinem regulären Flug.
Es wurde eine unruhige Nacht. Würde das Ticket morgen kommen und ich fliegen
oder würde es nicht kommen und ich noch bleiben?
Ich hatte Pech: der Brief kam nicht. Er kam einen Tag zu spät. Das heißt, wie ich auf
dem Brief lesen konnte, war jemand am Nachmittag dagewesen, um den Brief als
Einschreiben zuzustellen, aber es hatte ihn niemand in Empfang genommen.
So war ich mitsamt Gepäck auf den Flughafen gefahren und versuchte, ohne Ticket
zu fliegen – ohne Erfolg. Ratlos stand ich in der Wartehalle als ein Junge auf mich
zukam. Er reichte mir ein Blatt Papier und ein paar Aufkleber. Er sei taubstumm und
bitte um eine Spende für die Aufkleber. Das war für mich der Hinweis auf meine
Rettung: zu Schweigen.
Ich war so entsetzt von allem, was passiert ist und mir ging es dermaßen schlecht
damit, dass mir dies wirklich zu helfen versprach. Ab da schrieb ich nur noch auf
Zettel, was ich wollte und wohin ich wollte.

Ich fühlte mich absolut verloren in São Paulo, das für mich energetisch schwärzeste
Nacht bedeutete, ein Mo-loch, in dem ich feststeckte in einem Zustand, in dem ich
keine Möglichkeit sah, herauszukommen.
Ich ging zum Restaurant Sattva und „sprach“ per Zettel und Stift mit dem Besitzer,
der mir empfahl, erstmal in der Pousada dos Franceses zu bleiben, dort wäre es am
Sichersten. Und ich solle ihnen sagen, dass ich eine Arbeit von einem Meister
mache, weshalb ich nicht rede. Er lud mich ein, in sein Zimmer zu kommen, das er
über dem Restaurant hatte und machte Anstalten, mit mir zu schlafen. Es klappte
jedoch nicht, was mir sehr recht war, hatte ich diesbezüglich gerade keinerlei
Ambitionen.

Plötzlich erinnerte ich mich an die Schamanen, die ich in Porto Alegre kennengelernt
hatte. Ihren Flyer hatte ich noch und ich ging einfach hin. Es war in Brooklyn, einem
etwas entfernteren Stadtteil. Auf dem Weg kam ich wieder an einer der unzähligen
Reklamen für den Film „Lost“ vorbei. Genau so lost fühlte ich mich auch. Total
verloren.
Ich hatte keinen Boden mehr unter den Füßen und war nahezu handlungsunfähig.
Die Projizierung der Werbung auf mich nahm psychotische Züge an. Dazu traf noch
eine Mail von meinem Noch-Mann João ein, in der er mir drohte, wenn ich mich nicht
in drei Tagen melde, reiche er in Brasilien die Scheidung ein. Er war sauer, dass ich
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im Dezember noch in Brasilien gewesen war, was er wusste, weil ich ihm von Bonito
aus einen Brief geschickt hatte. Dann hätten wir uns auch in Brasilien scheiden
lassen können!
Ich hatte Angst, ihm auf der Straße zu begegnen. Denn in den wenigen Tagen, die
ich in São Paulo war, hatte ich drei Leute getroffen, die ich kannte: eine frühere
Kollegin, eine frühere gute Freundin (mit der ich allerdings nicht reden konnte, da ich
ja in Silence war, außerdem hatte ich mich innerlich schon von ihr verabschiedet, da
ein Telefongespräch von Bonito aus für meine Begriffe negativ verlaufen war) und
die Frau, die ich in Aiuruoca kennengelernt hatte. Auch in einer 16-Millionen-Stadt ist
nichts unmöglich. Warum ich mir bei den beiden Frauen keine Hilfe holte, weiß ich
bis heute nicht.

Die Schamanen halfen mir in zwei Sitzungen. Bei der ersten behandelte mich eine
Frau fürs Erste, um das Schlimmste zu verhindern, bei der zweiten führte ein Indio
aus dem Nordosten ein Ritual als Wegöffner durch. Ich sah eindeutig die Indios bei
Foz do Iguaçu, bei denen ich damals im Dorf gewesen war. Ich wollte zurück zu
ihnen und mit ihnen fairen Handel betreiben.
So schaffte ich es mit vereinten Kräften, aus São Paulo zu entkommen, indem ich ein
Ticket nach Foz do Iguaçu kaufte. Ich quartierte mich diesmal in der Jugendherberge
an der Landstraße ein, wo es mir jedoch weniger gut gefiel wie in der Stadt. Es
passierte dann etwas sehr Erschreckendes, das mir bedeutete, dass der faire Handel
mit den Indios doch nicht das Richtige war und so griff ich den Vorschlag vom
Besitzer des Sattva auf, wieder nach Alto Paraíso zu fahren, wo ich immerhin ein
paar Leute kannte.

Ich ging wieder in die Pousada Rubí, wo mich Vera herzlich aufnahm, aber reden
wollte ich immer noch nichts. Vera meinte, es sei gut, was passiert sei und das hielt
mich die ganze Zeit aufrecht.
Peter sah ich nicht und erfuhr später, dass er auch so krank gewesen war, dass er
Hilfe brauchte. Der Peruaner Chico hatte ihn bei sich wohnen lassen und ihn
versorgt.
Nach 19 Tagen des Schweigens begann ich, wieder zu reden und sprach mit den
Frauen, die ich kannte darüber, was geschehen war. Neusa meinte, sie habe hier
schon alles erlebt.
„Ich sah Menschen, die heulend auf der Straße saßen und kein Geld mehr hatten,
um wegzufahren. Sie glaubten, sie könnten nie mehr fort“.
Und dann war immer noch der Wunsch in mir dazubleiben, trotz allem. Der uralte
Traum, ein Jahr in Brasilien zu bleiben ohne zu arbeiten, den ich mir früher nicht
erfüllt hatte, woraufhin ich krank geworden bin. Jetzt könnte ich ihn wahr machen...
Aber ohne Geld? Ohne Krankenversicherung und ohne Visum? Denn beides würde
auslaufen.
Einmal unterhielt ich mich mit Vera über das Gesundheitssystem. In Brasilien würden
die Krankenkassen auch keine Naturheilmittel bezahlen. Ich fragte sie, wie sie das
generell machen würden mit ihrer Gesundheit, denn viele Menschen haben
bekanntlich gar keine Krankenkasse. „Wir versuchen, nicht krank zu werden. Und
nach Möglichkeit gehen wir nicht in das Krankenhaus, denn dort kommen kränker
heraus als wir hineingekommen sind“.

Als sich mein reguläres Abflugdatum näherte, fuhr ich nach São Paulo zurück, noch
immer unentschlossen, was ich tun würde. Ich ging dort in eine berühmte
anthroposophische Ambulanz und der Arzt empfahl mir, nach Deutschland zu
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fliegen. Dort hätte ich eine bessere Versorgung. In Brasilien könnten sie mich nicht
internieren.
In der anthroposophischen Buchhandlung in der Nähe, in der es viele deutsche
Bücher gab, nahm ich ein Buch von Eileen Caddy in die Hand. Der Text zum
damaligen Tag, den ich las, besagte, dass nach einer Veränderung nun wieder eine
Veränderung anstehen würde. Auf mich bezogen brachte er mir die Botschaft, dass
es besser wäre, nach Hause zu fliegen.
So hoffte ich bloß, dass sie mich mitnehmen würden, nachdem ich schon so viele
Probleme damit hatte, zurückzukommen. Auf meinem Ticket standen immerhin drei
Sechsen hintereinander.
So bangte ich noch am Ticketschalter, dass irgendetwas passieren würde, aber es
ging alles glatt.
Ich hatte ein Zwischenlandung in Madrid und Barcelona und
am Ende war ich froh, dass ich überhaupt wieder deutschen Boden unter die Füße
bekam - nach all den lichten und finsteren Abenteuern.
83

Nachwort

Oft werde ich gefragt, was ich an Brasilien so liebe, dass es mich immer wieder
dorthin zieht. Zum einen waren es die Menschen, die aus dem Herzen heraus leben
(was in unseren Breitengeraden schlichtweg als ver-rückt angesehen wird), ihre
Lebensfreude trotz Armut (obwohl diese aufgrund der politischen Ereignisse der
letzten Jahre abgenommen hat) und die ursprüngliche Natur, wo denn etwas von ihr
übriggeblieben ist (allzu viel ist es nicht).
„Die Liebe führt vom Himmel in die Hölle“, schreibt C. G. Jung sinngemäß und so
ging es mir dort. Zuerst blieb ich sechs Jahre, zuletzt sechs Monate. Beides Mal war
ich gewarnt. Und mir war, als hätte ich in den sechs Monaten noch einmal ähnliches
durchgemacht wie in den sechs Jahren zuvor. Rückblickend könnte ich dazu sagen:
„drei Jahre (oder Monate) waren eigentlich genug“.
Und dennoch: so schlimm die Krise war, in die ich diesmal wieder geschlittert bin, so
sind auch positive Dinge passiert.
So kam in São Paulo in den letzten Tagen, in denen ich dort war, mein Verstand zu
mir zurück, den ich dort aufgrund der Ereignisse vor x Jahren verloren hatte. Ich saß
im Bus und fuhr an einer der schicksalsträchtigen Orte vorbei, da sprang er zu mir.
Ohne Verstand lässt sich leben, aber der Mensch, der den Verstand verloren hat, ist
in vielen Dingen von anderen abhängig, die er selbst nicht angehen kann. Also fühle
ich mich jetzt wieder ein Stück mehr „ganz“, denn ein Teil von mir hat einfach gefehlt.

Ich war all die Jahre auf der Suche nach mir selbst und kann sagen, in all den Wirren
habe ich mich selbst gefunden. Dadurch, dass dieses Finden für mich unter
negativen Vorzeichen stattfand, ist die Freude darüber jedoch nicht so groß, wie sie
sein könnte.
Stanislav Grof beschreibt in seinem Buch „Die stürmische Suche nach dem Selbst“
ziemlich genau, was da passiert ist.
Auch war ganz im Sinne des Advaita Vedanta ein Einheitsbewusstsein da, ganz
kurz, aber es war da. Durch die Frage nach dem „Warum“, durch das
Verstehenwollen von allem habe ich es verloren, aber auch deshalb, weil ich die
Dualität nicht akzeptieren konnte, aus ihr gewissermaßen in die Einheit flüchten
wollte. Und wie heißt es so schön: wir kommen so lange wieder auf die Erde bis wir
die Dualität bejahen können. Nun denn.
Mit dem Projekt, dieses Buch zu veröffentlichen – zumindest im kleinen Kreis – fühle
ich mich allerdings wieder gescheitert. Es war für mich wieder „das Falsche“, auch
wenn es das Falsche und das Richtige eigentlich gar nicht gibt, „aber eigentlich“,
denkt mein Mind, „hätte meine Wenigkeit etwas ganz anderes machen sollen...“
So wie auf einem Schild in einem Kopierbetrieb geschrieben steht: „Teamgeist: jeder
macht, was er will, keiner was er soll und alle machen mit“.
Auch Thomas Bernard spricht immer nur vom Scheitern, so scheint auch diese
Erfahrung zum Leben zu gehören.
Wäre schön, wenn dieses Konglomerat von Worten Euch dennoch irgendwas
gebracht hat, sei es nur Freude, Unterhaltung, Einsichten, Wiedererkennen von sich
selbst, was auch immer...

In Liebe und mit Dankbarkeit für alle und alles, die dieses Schriftstück ermöglicht
haben
Eure
Sil

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