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„Gespensteruntersuchung“

Sung-Uk Brad Hwang


Ich zog 1990 nach Berlin ohne Geld, ohne Sprache, ohne Bekannte. Aber mit Saxophon,
Arbeitsklamotten, zwei willigen Händen, und einem Hunger nach mehr Leben, mehr Fragen,
mehr Möglichkeiten, eben mehr Zusammenleben. Ich war schon immer damit beschäftigt, aus
dem Stoff um mich herum kurze Momente der Gemeinschaft zu bauen. Material, das seine
Funktion verloren hat, wird aktiviert. Alles was ich baue funktioniert, aber es liegt an den
Mitmachern/Betrachtern, durch ihre Partizipation und Eigenleistung dieser Funktion einen
Zweck zu geben, auch wenn dieser Zweck sinnlos, sogar unerfüllbar ist.

So entstanden aus Stahlfässern "Eine Singende, Suppenkochende Heizung" (1990) für das
Café Zapata im Tacheles, aus einem Rollwagen für Schweißgasflaschen eine
„Kartoffelpufferwurfmaschine“ (1991), aus tausenden abgelaufenen Verbandspäckchen ein
gewebtes Bett („Erste Hilfe“, 1992) und Seil für Schaukeln („Die Engelsschule, 1993), aus
ausgemustertem Katastrophenkellerbedarf eine Bettelküche mit schreienden Schüsseln („Wie
Hunger Funktioniert“, 1993), aus einem alten Traktor ein Verkaufsstand für Zeit („Größte
Traktor-Angetriebene Uhr der Welt“, 1994), usw.

Diese Aktivitäten und Transformationen fanden in einem größeren Kontext des Aufbruchs
und „sozialen Rauschens“ in Berlin statt, in den ersten Jahren nach dem Mauerfall, zu einer
Zeit in der alles möglich zu sein schien und eine Vielzahl an Stimmen sangen und gehört
wurden. Es gibt (zumindest für meine Arbeit) wenig an Dokumentation aus dieser Zeit: es gab
auch keinen Bedarf. Schließlich hat man morgens Essen und Schrott gesammelt, vormittags
Freunde besucht (wenn sie nicht da waren an die Tür gekritzelt), um den Tag und das Wetter
und den Rest des Lebens zu diskutieren, mittags musiziert kurz, nachmittags den
Warmwasseranschluss bei den Nachbarn angeschlossen, abends gekocht und gemeinsam
gegessen, nachts getanzt, geschlafen, am nächsten Tag Kohlenbriketts gesucht, draußen in der
Schlange gewartet mit gefundenem oder geborgtem Telefongerät in der Hand, um dies dann
an eine kurz zuvor entdeckte, funktionierende Leitung anzuschließen, ein Konzert veranstaltet
oder gespielt oder besucht (Novemberklub, Ornament und Verbrechen, Triplum, 1992 –
1998), Bilder gemalt oder angeschaut, weiter an Türen gekritzelt, Kunst, Politik, Essen,
Klospülungen, Bücher, Waschmaschinenreparatur diskutiert, jajaja, genau, oder doch nicht,
am übernächsten Tag etwas länger geschlafen, wieder musiziert oder aufgelegt (DJ Brad,
1996 – 1999), wieder Essen besorgt, wieder kochen, essen, Warmwasseranschluss
funktioniert doch nicht, nochmals versucht, wie das alles dokumentieren, wenn die
Kunstproduktion so sehr in einem unfassbaren Alltag integriert ist? Egal, morgen ist noch ein
Tag. Da ist dann Zeit, Zeit genug, um gegen den Golfkrieg I, II, und III zu protestieren, nach
Kosovo Dichterdelegationen zu schicken, die langsamen, unaufhaltbaren Wellen der
Spekulanten aufzuhalten, Stein um Stein Projektbeschreibungen einzureichen, die Kinder
großzuziehen, Freunde, Elternteile, Träume zu beerdigen, diesen nachzutrauern
(„Schulterklopfmaschine- Alles Wird Gut“, 2004), ein Zuhause für die wachsende Familie zu
bauen („Wohnschiff Odin“, 1997 bis ?), gut, dass man nicht mehr an Türen kritzeln muss,
schließlich hat man endlich ein Telefon, Internetanschluss, ist doch effizienter, und man hat
vielleicht doch nicht so viel Zeit, ich muss früh auf die Baustelle Geld verdienen gehen
(„Fremdarbeiter“, 1990 – 2010), warum kommt denn keiner mehr wenn ich koche, wir haben
doch immer noch alle Hunger, oder? („die Wiese: Site-specificity“, 2003 – 2004). Haben wir
uns nicht das um-die-Ecke-sichtbare-Schlaraffenland versprochen? Oder hatten wir es schon
erreicht und irgendwie verlegt? Da musste eine Zeitmaschine her („Time May Change Me/ I
Can’t Change Time“, 2007).

So, dann zurück zu den unerfüllbaren Zwecken. Fest steht, ich nehme den Stoff um mich
herum, transformiere den, und dabei entsteht was Funktionierendes. Funktion, Funken fliegen,
We’ve Got the Funk. (Tragbare Blitzmaschine, 1993-2011). Aber der Zweck wird doch durch
den Kontext, durch Erfahrung und Erlebnis artikuliert, und zwar von den Mitmachern oder
Zuschauern, die ihre eigene Arbeit investieren („Karussell“, 1996-2003). Eine Funktion ohne
einen vordefinierten Zweck. Genau das verschenken, was man nicht hat, an die, die es nicht
bezahlen können. Ein Geschenk, eine Mitgift mit Gift im wahren Potlatch Stil, denn jetzt
bekommt man die Verantwortung, einen funktionsentsprechenden Zweck zu finden. Der
Junge, der bei der Kartoffelpufferwurfmaschine fragte, „Ist das bei euch Tradition?“, oder der
Obdachlose in Chicago der am (mit gewebten Verbandspäckchen) gedeckten Tisch Platz
nahm und beim Essen meinte, „You are the Michael Jordan of what you do.“

Dieser Zweck bleibt trotz eines Momentes der suspendierten Ungläubigkeit doch unerfüllt.
Man kann die Uhr nicht zurückdrehen. Es gab ein Tacheles Plenum bei dem ich in
gebrochenem deutsch erklären musste, wie man mit der Skulptur heizen konnte ohne die
Band und alle Zuschauer zu verrauchen, was trotzdem mehrmals passierte, und es blieb auch
arschkalt, bis die neue Zentralheizung installiert wurde. Die Verbandspäckchen, auch in ihrem
umfunktionierten Zustand, sind unzureichend, Wunden heilen zu lassen. Die Schüsseln
schreien, eine Suppe wird gegessen, und man kriegt immer wieder Hunger. Alle reichen sich
die Hände mitten im heftigen Streit, spüren den aus-der-Luft-gesammelten Funken, streiten
dann weiter und noch heftiger. Die Schulterklopfmaschine bietet angesichts echten Verlustes
keinen bleibenden Trost. Das Karussell hebt doch nicht ab. Und über die Zeit sind alle diese
funktionierenden Objekte auf der Suche nach einem Zweck selber wieder Schrott geworden,
haben auch ihre neu gewonnene Funktion verloren, genau wie der Kontext in dem sie
entstanden sind.

Aber dieses Gespenst des unerfüllten Zwecks wird einen heimsuchen beim Protestieren,
Dichterdelegationen losschicken, Spekulanten aufhalten, Projektbeschreibungen verfassen,
Kindergroßziehen, Nachtrauern, Zuhausesein. Das ist auch richtig so, denn Gespenster, wahre
Gespenster und nicht nur so eine nostalgische Sehnsucht nach der eigenen Jugend, haben
immer etwas Mahnendes, ja, die mahnen uns doch, einen Zweck zu erfüllen, den
unerfüllbaren Zweck, den wir in der Vergangenheit und gleichzeitig in dem Jetzt entdeckt und
uns in der unrealisierten Zukunft versprochen haben. Oder nicht uns, sondern kommenden
Generationen. Ein unerfüllbares Versprechen.

Doch auch uns wurde was Unerfüllbares versprochen. Dieses Gespenst kommt mir irgendwie
bekannt vor, obwohl es in einer etwas anderen Form erscheint. Wo bleibt denn Majakowskis
schönes Leben (her damit!), oder die sozialen Skulpturen Beuys, und hat Bas Jan Ader
tatsächlich ein Wunder entdeckt? Wo bleibt denn die klassenlose Gesellschaft? War da nicht
was - ? Vielleicht geht es darum, dieses (unerfüllte) Versprechen weiterzugeben, genügend
Hinweise zu hinterlassen, sich selbst dem (mahnenden) Chor von Gespenstern anzuschließen:
„ein Gespenst geht um in Europa“. Der selbst erfundene Zweck einer Funktion ist schließlich
die Artikulation einer möglichen Utopie. Wir haben diese Gespenster in der Dunkelheit, just
am Rande des Blickwinkels („Seesaw“, 2009), doch gespürt. Immer wieder, in Momenten des
Aufbruchs und der Unruhe, aber sie bleiben unfassbar. Die sind weder da noch nicht da,
weder lebendig noch tot, weder vergangen noch zukünftig. Und doch suchen sie uns heim.
Die sind schon immer bei uns (ver)gewesen. Was tun? Die gängige Strategie scheint die zu
sein, sie wegzurationalisieren. Diese verdammte Atemporalität soll endlich Geschichte
werden, es gibt letztendlich nur das, was man umfassen, archivieren, verkaufen, vergessen
kann. Das ist die rationale Realität, in der wir leben. Ein Gespensterkatalog wird
zusammengestellt, in dem alles seinen zugeordneten Platz findet, damit endlich mal Ruhe ist.

Dennoch.
Dennoch, Octavio Paz: „Jeder, der der Hoffnung ins Auge geschaut hat, wird es nie vergessen
können. Überall wo er hingeht wird er danach suchen“. („Gespensterbetrachtungsapparat“,
2011).

Also mahnen mich die Gespenster, Unterstützung zu suchen, um ihren Stimmen Freilauf zu
bescheren. Ich bin davon wortwörtlich besessen. Genau diese mahnende Gespensterschar ist
der Stoff um mich herum, den ich umfunktionieren möchte, damit ich andere einladen kann,
einen Zweck für sie zusammenzubasteln. Es ist eben eine fortfahrende
Gespensteruntersuchung, die ich betreibe. Gespenster im Sinne von (halb)Verkörperungen
eines Geistes, ein Revenant mit dem wir sowieso immer zu tun haben werden.

Machen wir Nägel mit Köpfen bei dieser Gespensterjagd. Jetzt ist nicht die Zeit, sentimental
zu werden. Ausstellen, Karten zeichnen, diskutieren. Bauen, finden und erfinden. Behaupten,
enthaupten. Essen bis alles abgegessen ist, Tisch neu decken, eindecken, entdecken. Heißen
wir die Gespenster willkommen, und setzen wir uns mit ihnen zusammen an einen Tisch, denn
sie würden uns nicht heimsuchen, wenn sie uns nichts Wichtiges zuzuflüstern hätten.

Berlin, 2011
„Suppenherd“, 1991

Multifunktionale Dampfmaschine.
„Erste Hilfe“, 1992

Webstuhl, um aus Verbandspäckchen eine Decke zu weben.


„Regenmaschine, oder Wie Suppe Funktioniert“, 1992
„Tragbare Blitzmaschine“, 1991 – 2011

Verschiedene Ausführungen eines statischen Elektrizitätsgenerators, um eine Ladung aus der


Luft zu sammeln und diese sicht- und spürbar zu machen. Die entstehenden Funken gehen
spürbar durch bis zu fünfzig Menschen wenn alle die Hände halten.
„Wie Hunger Funktioniert“, 1994

Bevor man Essen bekommt, dreht man an einer Kurbel, damit ein Schrei aus der Schüssel tönt
(Hurdy-gurdy Prinzip). Unten: eine automatische Bettelmaschine; in den Bechern sind
Münzen.
„Deck den Tisch“, 1995

Webstuhl, Verbandspäckchen, Suppe (in diesem Fall Gumbo), zufällige Gäste.


„Nimm die Klage aus dem Mund in die Hand“, 1996
„Zeitverkauf“, 1996

Die größte Traktorgetriebene Uhr der Welt. Vielleicht auch die einzige. Mit Schattenspiel und
Druckmaschine. Bei jeder Drehung des Minutenzeigers um das Ziffernblatt wurde ein
Stundenformular ausgedruckt, das man ausgefüllt für fünf Mark erwerben konnte.
„Karussell“, 2003

Man-powered flight.
„Arschtrittmaschine, ein Selbstmotivationsgerät“, 2004
„Schulterklopfmaschine- Alles Wird Gut“, 2005
„Wohnschiff Odin“, ab 1997 fortlaufend
„Time May Change Me / I Can’t Change Time“, 2007

Hornschlitten mit elektrostatischem Generator, aktiviert durch Rudern.


„Seesaw“, 2009

Die wippenden Personen können sich nur in waagerechter Position sehen.


Ein Denkmal zum 20. Jahrestag des Mauerfalls.
„Gespensterbetrachtungsapparat“, 2011

Schaukeln, umfunktioniertes Schützengrabenrohr


Tucholskystr. 34 IIer HH, 1992

„Heckmannsche Höfe“, Tucholskystr. 34 IIer HH, 2011


Sung-Uk Bradden Hwang

Tiergarten Schleuse
Hausboot 2
10623 Berlin
Germany
Tel. (30) 313 3935
e-mail: bradhwang@web.de
Website: www.bradhwang.com

Born January 13, 1966 in Seoul Korea

Bachelor of Arts, Summa Cum Laude at University of California, Los Angeles, 1988 under Charles Ray,
Chris Burden, Paul McCarthy

Master of Fine Arts at Rinehart School of Sculpture in Baltimore, 1990


under Sal Scarpitta

Ford Foundation Fellow, 1989

Selected Solo and Group Exhibitions:

2011
Prozessgalerie, Berlin

2010
Deutsche Arbeitsschutzausstellung, Dortmund

2009
Radialsystem V, Berlin
Dead Chickens Warehouse, Berlin

2008
Familientage, Radialsystem V, Berlin

2007
Dialoge, Bangalore
Familientage, Radialsystem V, Berlin
Festival du Theatre, Avignon
„Vom Funken zum Pixel“, Martin Gropius- Bau, Berlin

2006
Winterprogramme Oberschöneweide, Berlin
Dialoge und Eröffnung, Radialsystem V, Berlin

2005
Inventeurs , Maubeuge
EXIT, Paris

2004
re: Machine, Neurotitan, Berlin
Dialoge, Elisabethkirche, Berlin
Dialoge, Volkspalast, Palast der Republik, Berlin

2000
Roubaix, France

1999
"via 99", Maubeuge, France
"EXIT", Paris, France
1998
"TSCHIKAGO", Gary Marks Gallery, Chicago

1997
Haus Schwarzenberg, Berlin
The River Show, M.S. Odin, Berlin

1996
Galerie Weisser Elefant, Berlin
"The Missing Limb on the Family Tree", Galerie Wohnmaschine, Berlin

1995
"Engelschule", Synlabor Loop Gallery, Berlin
"How Many Angels Dance on the Head of a Pin“, Tucholsky 34, Berlin

1994
Raab Gallery, Berlin
"X-Position", Akademie der Künste, Berlin
M.S. Stübnitz, Hamburger Hafen, Hamburg
"Tagediebetage", Milchhof, Berlin
Festival of Arts", Maubeuge

1993
Kunstwerke, Berlin
"Incredibly Strange Machines", V2, Eindhooven
"The Wurst Show Ever", Galerie Mutzek, Berin
"Absolute Threshold", Amsterdam
"Wie Hunger Funktioniert", Milchhof, Berlin

1992
Tacheles, Berlin
"Erste Hilfe", Tucholsky 34, Berlin
"Nachtbogen", Berlin

1991
Tacheles, Berlin
"Hinter den Museen", Museumsinsel, Berlin

1990
disPLACE, Baltimore
Cleveland Public Theater, Cleveland
"Earth Day", New York

1989
Gertrude Stein House, Baltimore
disPLACE, Baltimore

1988
"Steam Show", Los Angeles Street Festival, Los Angeles
"Home Work", Charles Strangman Sheet Metal Shop, Los Angeles

1987
"Steam Show", Los Angeles Boiler Works, Los Angeles
"New Forms", M.A.G. Gallery, Los Angeles
Top Art, Los Angleles

1986
"Steam Show", Los Angeles Boiler Works, Los Angeles
Performances and recordings with various bands including Triplum, Ornament und Verbrechen, Universal
Congress of, and All Mighty Senators (discography available)

Member of Scarpitta and Castelli Sprint Car Racing Team

Founder of disPLACE, an alternative space in Baltimore

Organizer of various group exhibitions in Los Angeles, Baltimore, and Berlin

Lives and works in Berlin, Germany, on the M.S. Odin, a riverboat docked in the Tiergarten.

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