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FAZ, 31. JANUAR 2008 • NR.

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Ein Jude hat


geschossen
Das genaue Ausmaß der Judenpogrome, die in der Ukraine nach
dem Ersten Weltkrieg verübt wurden, ist bis heute nicht bekannt.
Ungeklärt ist auch die Rolle, die Simon Petliura, die führende
Persönlichkeit der Ukrainischen Volksrepublik, bei diesen
Ereignissen gespielt hat. Petliura wurde im Mai 1926 im Pariser
Exil erschossen. Der Attentäter Sholom Schwartzbard gab seine
Tat als Selbstjustiz und Vergeltung für den Tod seiner
Glaubensgenossen aus.

Von Dr. Daniel Siemens

A
m frühen Nachmittag des 25. Mai 1926 herrschte auf der Rue Racine, einer Seitenstraße des Pariser Bou-
levards Saint-Michel, wie an jedem Wochentag reges Treiben. Kurz nach zwei Uhr verließ ein Mann eines
der Restaurants und entfernte sich gemächlichen Schrittes. Auf diesen Moment hatte ein anderer gewartet.
Er folgte ihm, zog nach einigen Metern einen Revolver und rief auf Ukrainisch: „Sind Sie Herr Petliura?"
Der Angesprochene drehte sich um und blickte direkt in die Mündung einer Waffe. Fünf Schüsse fielen. Tödlich
getroffen, brach Petliura zusammen. Der Schütze feuerte noch einige Male auf den Boden, bis sein Magazin leer war -
so verhinderte er, dass aufgebrachte Passanten die Waffe gegen ihn selbst richten konnten. Von der Polizei ließ er sich
widerstandslos festnehmen. „Ich habe einen Mörder umgebracht", sagte er, als ihm die Pistole abgenommen wurde.
Das Opfer ein Mörder? Kaum ein Pariser kannte Simon Wassiljewitsch Petliura. Doch in seiner ukrainischen Heimat
war er vielen ein Held. Petliura war 1879 in Poltawa geboren worden und hatte im Jahr 1905 die ukrainische
Arbeiterpartei mitbegründet. Während der Revolution von 1917/18 stieg er schnell zur dominierenden Figur der
Ukrainischen Volksrepublik auf. Von Dezember 1918 an war Petliura nicht nur Oberbefehlshaber der ukrainischen
Armee, sondern als Präsident des ukrainischen „Direktoriums" de facto der Führer eines neuen Staates, dessen Grenzen
und Institutionen noch unbestimmt waren.
Der Errichtung eines Nationalstaats nach westlichem Muster stand insbesondere die ethnische Vielfalt der Bevölkerung
entgegen: Auf dem von den Ukrainern beanspruchten Gebiet siedelten auch Polen, Russen, Rumänen, Juden und
Österreicher. Nach dem Abzug der deutschen Truppen aus der Ukraine arbeitete Petliura mit Polen zusammen, das sich
unter Führung von Józef Pilsudski anschickte, ein polnisches Großreich in Osteuropa zu errichten. Im März 1920
verständigten sich Ukrainer und Polen auf einen gemeinsamen Vorstoß gegen die Rote Armee, die aus dem russischen
Bürgerkrieg als stärkste Militärmacht der Region hervorgegangen war und im Jahr 1919 weite Teile der sowohl von
Polen als auch von den ukrainischen Nationalisten beanspruchten Gebiete kontrollierte. Am 7. Mai 1920 nahmer
polnisch-ukrainische Truppen Kiew ein Doch schon im Juni wurden sie von sowjetischen Einheiten zum Rückzug
gezwun gen.
Während sich die Polen daraufhin au der Ukraine zurückzogen, hielten die Kämpfe zwischen der Ukrainischen Natio
nal-Revolutiotiären Armee unter Petliura; und den Bolschewiken an. Im November 1920 musste Petliura mit den
ukraini schen Truppen vor der Roten Armee nach Polen flüchten, wo seine Armee entwaffnet wurde. Im März 1921
schlossen Rus sen und Polen den Frieden von Riga. Da war des Ende der Bestrebungen nach einem ukrainischen
Nationalstaat.
Das Opfer selbst ein Mörder?
Die Sowjetunion verlangte von Polen die Auslieferung Petliuras, der als potentielle Gefahr für die Einheit des Landes
galt. Petliura floh nach Budapest, später nach Wien und Genf und kam 1924 schließlich nach Paris, wo er die
ukrainischsprachige Wochenzeitung „Dreizahn" - benannt nach dem Staatswappen der Ukrainischen Volksrepublik -
herausgab und versuchte, eine ukrainische Exilregierung zu organisieren. Die ukrainische Bibliothek der Stadt trägt
heute seinen Namen.
Der Attentäter war kein von Moskau entsandter Geheimagent, sondern wohl ein jüdischer Einzeltäter mit französi-
schem Pass: Sholom Schwartzbard, geboren 1890 in Smolensk. Er hatte seine Heimat früh verlassen und ein unstetes
Leben geführt. In Wien und Budapest soll er jeweils wegen Diebstahls verurteilt worden sein. Im Ersten Weltkrieg hatte
Schwartzbard in der französischen Fremdenlegion gekämpft und war schwer verwundet worden. 1925 wurde er in
Frankreich eingebürgert. Bereits 1920 hatte er in der französischen Hauptstadt einen kleinen Uhrmacherladen eröffnet,
neben der Arbeit schrieb er Gedichte und ein Buch über die jüdischen Freiwilligen in der französischen Armee. Als
politischer Aktivist war Schwartzbard vor seiner Tat nicht aufgefallen. Er gehörte keiner Partei an, soll sich aber
intensiv mit dem Zionismus beschäftigt haben.
Über das Motiv seines Attentats sagte Schwartzbard schon bei seiner Festnahme, dass Petliura für zahlreiche
Massaker an Juden auf dem Gebiet der Ukrainischen Volksrepublik zwischen 1917 und 1920 verantwortlich gewesen
sei. Seinem Rechtsanwalt erzählte Schwartzbard, dass allein fünfzehn Mitglieder seiner Familie bei Pogromen in
Goloskow, Balta und Kodyma ermordet worden seien. Wie viele Menschen insgesamt bei den Pogromen ums Leben
kamen, ist bis heute nicht geklärt. Die meisten Massaker ereigneten sich in dem Gebiet westlich des Dnepr, in der
Umgebung von Kiew sowie in Podolien und Wol-hynien, der heutigen Westukraine.
Eine erste umfangreiche Dokumentation der Judenverfolgung in der Ukraine wurde 1921 von Elias Heifetz in New
York veröffentlicht. Heifetz schätzte die Gesamtzahl der Massaker, die in der Regel von marodierenden ukrainischen
Truppen, paramilitärischen Einheiten oder auch Nachbarn in einzelnen Dörfern oder Kleinstädten verübt worden waren,
auf mindestens 700. Dabei seien ungefähr 120000 Menschen getötet worden. Bernard Lecache, ein jüdischer Aktivist
und Sympathisant Schwartzbards, sprach 1926 von 300000 Toten. Das „Comité des Délégations Jui-ves" nannte ein
Jahr später die Zahl von 30500 Opfern. In einer 1999 erschienenen Untersuchung des Historikers Henry Ab-ramson ist
von mindestens 50000 bis 60000 ermordeten Juden die Rede.

Die ukrainische Propaganda sprach dagegen in den zwanziger Jahren zumeist von Einzelfällen, die sich spontan ereig-
net hätten und keinesfalls den damals verantwortlichen Militärs und Politikern zuzuschreiben seien. Insbesondere
Petliura habe Sympathie für die jüdische Bevölkerung gehabt und versucht, sie zu schützen. Schon 1919 hatten die
„Freunde der Ukraine" in Washington D.C. eine erste Broschüre vorgelegt, die sich mit der Frage der
Verantwortlichkeit für die Übergriffe gegen Juden beschäftigte. Darin sprach man von „bedauerlichen Verlusten", aller-
dings sei die Regierung der Volksrepublik für die Ausschreitungen nicht verantwortlich zu machen.
Noch heute ist die Frage einer Schuld Petliuras nicht beantwortet. Heifetz' Dokumentation von 1921, die maßgeblich
auf Berichten von Mitarbeitern des Roten Kreuzes beruht, legt nahe, dass Petliura tiefer in die Organisation und
Lenkung der Massaker verstrickt war, als von seinen Verteidigern bis heute behauptet wird. Bernard Lecache wollte
von mehreren Augenzeugen erfahren haben, dass Petliura die Pogrome höchstpersönlich angeordnet habe. Als gesichert
gilt, dass ungefähr 40 Prozent der Pogrome von Truppen begangen wurden, die zumindest formell Petliura
unterstanden. Doch eine persönliche Schuld lässt sich daraus nicht ableiten. Entlastend können unter anderem
Direktiven interpretiert werden, die Petliura als oberster Militär ausgab und die Vergehen gegen Juden unter strenge
Strafen stellten. In einer Proklamation vom 26. August 1919 sprach er von „Aufwieglern", die Teile der ukrainischen
Armee zu einzelnen Pogromen angestachelt hätten. Wer sich von seinen Leuten eines solchen „beschämenden
Verbrechens" schuldig mache, solle „als Verräter gelten" und von Gerichten „mit den strengsten legalen Strafen" belegt
werden.
Aus ukrainischer Sicht, zumal der der Exilukrainer in Paris, war der Mord an Petliura ein Angriff auf die jüngere
ukrainische Geschichte insgesamt, der die Chancen auf die Erlangung staatlicher Souveränität weiter verminderte. Das
Attentat zog eine heftige Auseinandersetzung zwischen Juden und Ukrainern über den Umfang der Pogrome und die
eventuelle Schuld Petliuras nach sich, die im Prinzip bis heute andauert. Während Schwartz-bard in den Augen seiner
Verteidiger ein ..He'd" ist - so etwa Hannah Arendt in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem" -, bemühen sich Ukrainer
derzeit wieder verstärkt um eine Rehabilitation Petliuras und nehmen ihn als Vorkämpfer nationaler Unabhängigkeit in
Anspruch. In Frankreich hingegen ist der Fall beinahe vergessen, obwohl er nach dem Urteil zeitgenössischer
Beobachter eine „Sensation" war.
Schwartzbard zeigte in dem Mordprozess, der am 18. Oktober 1927 begann, keine Reue. Im Gegenteil,
Prozessbeobachter notierten sichtbare, unverhohlene Freude. Schwartzbard rechtfertigte seinen Mord, indem er ihn als
Akt legitimer Selbstjustiz ausgab. Er habe zwar unter den Pogromen nicht persönlich gelitten, da er die Region viele
Jahre zuvor verlassen habe, doch habe er sich berufen gefühlt, diese Tat stellvertretend für seine getöteten Glaubensge-
nossen auszuführen. Daher habe er sich in Paris auf die Suche nach Petliura begeben, ein Foto von ihm in einer
Bibliothek gefunden und so sein späteres Opfer in einem Restaurant wiedererkennen und erschießen können. Diese
Version eines „idealistischen" Einzeltäters wurde von der Anklage bestritten, konnte jedoch nicht widerlegt werden.
Bis heute ist nicht bekannt, ob Schwartzbard ein Einzeltäter war oder ob er im Auftrag von Hintermännern handelte.
Diese Vermutung drängt sich auf, wenn man die Tat mit anderen politischen Morden der zwanziger Jahre vergleicht.
Schwartzbards Attentat wies besonders auffällige Paralle-- len zu der Ermordung Talat Paschas in Berlin einige Jahre
zuvor auf. Pascha, ehemaliger Großwesir des Osmanischen Reichs und einer der Führer der Jungtürken, galt als einer
der Verantwortlichen des Völkermords an den Armeniern zwischen 1914 und 1916. Er wurde im März 1921 von dem
Armenier Salomon Teilirian in Berlin-Charlottenburg auf offener Straße erschossen. Der Mörder war, wie erst später
bekannt wurde, Mitglied der armenischen Terrorgruppe „Nemesis", die es sich zum Ziel gesetzt hatte, Selbstjustiz zu
üben und die Verantwortlichen des Völkermordes an den Armeniern zu liquidieren. Einzig zu diesem Zweck war
Teilirian nach Berlin gekommen, hatte sich als Student eingeschrieben und auf eine Gelegenheit gewartet, den mit Hilfe
deutscher Behörden nach Deutschland geflohenen und 1919 in Istanbul in Abwesenheit zum Tode verurteilten
Jungtürken umzubringen. Teilirian gab sich in dem anschließenden Prozess vor dem Berliner Landgericht als Epi-
leptiker aus, dem die Tat von seiner ermordeten Mutter im Traum befohlen worden sei und der sie in einer Art
Fieberwahn ausgeführt habe.
Eine Traumatisierung Teilirians schien zeitgenössischen Beobachtern glaubhaft, denn im Gerichtssaal hatten viele
Augenzeugen eindringlich von den Greueltaten an den Armeniern berichtet. Die deutsche Öffentlichkeit war schockiert
- auch weil die Taten von einem Kriegsverbündeten begangen worden waren und sich die Frage nach einer deutschen
Mitschuld stellte. Der Verteidigung gelang es, die Frage nach der Verantwortlichkeit Paschas in den Mittelpunkt des
Prozesses zu rücken -von der Schuld des Angeklagten war hingegen wenig die Rede.
Der Prozess endete nach nur zweitägiger Verhandlung mit einem Freispruch Teilirians, der umgehend Deutschland
verließ.
Anders als Teilirian verteidigte sich Schwartzbard offensiv. Zahlreiche Juden engagierten sich in Frankreich und in den
Vereinigten Staaten für seine Verteidigung, dazu Persönlichkeiten der französischen Linken. Aus Anlass des Prozesses
wurde in ihren Kreisen die „Ligue internationale contre les pogromes" gegründet. Ihr international bekanntestes
Mitglied wurde Albert Einstein. Die Unterstützer machten es möglich, dass Schwartzbard von Henry Torrès, einem der
namhaftesten französischen Strafverteidiger, vertreten wurde. In seiner Verteidigungsstrategie verband Torrès zwei
Argumentationslinien: Trotz der minutiösen Vorbereitung ordnete er Schwartzbards Tat in die Reihe der „politischen
Verbrechen aus Leidenschaft" ein und machte zudem - so wie es im Fall Teilirian gelungen war -aus dem Opfer eines
politischen Attentats den eigentlichen Angeklagten. Um dessen „Schuld" zu beweisen, bot die Verteidigung annähernd
hundert Zeugen auf, die über die Pogrome und Petliuras Verstrickung Auskunft geben sollten. Sie hatte auch eine
umfangreiche Dokumentation der Massaker an den Juden zusammengestellt, die 1927 unter dem Titel „Les Pogromes
en Ukraine sous les gouvernements ukrainiens, 1917-1920" veröffentlicht wurde.
Sowohl bei Gericht als auch bei der Presse verfing diese Taktik. Während der gut eine Woche dauernden Verhandlung
stritten sich Anklage und Verteidigung nahezu ausschließlich über Ablauf und Ausmaß der Pogrome sowie über
Petliura und seine politisch-militärische Verantwortung. Ausgetragen wurde dabei nicht nur eine Auseinandersetzung
zwischen osteuropäischen Juden und ukrainischen Nationalisten, sondern auch ein innerfranzösischer Konflikt, in dem
auch antisemitische Parolen laut wurden.

Das Prestige der französischen Nation


Die extreme Linke in Frankreich unterstützte die Version Schwartzbards vorbehaltlos, während sich die gemäßigten
Linken und Linksliberalen mit einer eindeutigen Parteinahme schwertaten. Bezeichnend ist die Einschätzung des
zeitgenössischen liberalen Historikers François-Alphonse Aulard: „Es handelt sich hier weniger um einen Prozess
gegen einen einzelnen als vielmehr um einen Prozess gegen die Barbarei des Antisemitismus. Der Mörder hat seinen
Gefühlen des Mitleids, des Schreckens und der Rache gehorcht. Die Barbarei hat ihn barbarisch gemacht. Aber es ist
sicher, dass man eine Barbarei nicht mit einer anderen Barbarei korrigieren kann. Seine Tat ist deshalb zu bedauern,
aber mutig."
Die französische Rechte sah hingegen in Schwartzbard einen sich seiner Bluttat brüstenden Mörder, dessen Tat und
dessen Motive abzulehnen seien. In einer ersten ausführlichen Erörterung des Prozesses vermutete der Gerichtsreporter
der großbürgerlich-aristokratischen Zeitung „Le Figaro" im Hintergrund der Tat ein sowjetisch-jüdisches Komplott.
Schwartzbard könne nicht als Einzeltäter mit „idealistischen" Motiven gelten, dagegen sprächen schon seine Vorstrafen,
die gründli-

che Vorbereitung der Tat und schließlich der relativ lange Zeitraum, der zwischen den Massakern in der Ukraine und
dem Racheakt liege. Petliura wurde als ehrenwerter Politiker und Gentleman bezeichnet, der sich nach Kräften bemüht
habe, den Pogromen Einhalt zu gebieten. Die Zeitung nahm den Prozess gegen Schwartzbard auch zum Anlass, die
französische Einwanderungspolitik zu kritisieren: „Man muss es laut aussprechen: Wir haben genug von diesen
merkwürdigen Fremden, die bei uns viel zu leicht Aufnahme finden und dann ihre Auseinandersetzungen mit
Pistolenkugeln austragen. Mit Überraschung nehmen wir zur Kenntnis, dass Schwartzbard ein Franzose ist, per
Verordnung eingebürgert im Jahr 1925. Er ist einer dieser neuen Mitbürger, auf die man nicht stolz sein kann: Er ist ein
neuer Franzose, der der fehlerfreien Aussprache des Französischen nicht mächtig ist. Und dann auch noch ein
Vorbestrafter, ein Anarchist!"
Simon Petliura (1879- 1926)
Als Vorkämpfer der Unabhängigkeit der Ukraine von Russland und als Präsident des ukrainischen „Direktoriums" der
Jahre 1918/1919 steht der vormalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee heute wieder in hohem Ansehen. In
seiner Geburtsstadt Poltawa wurde am 25. Mai 2007 der Grundstein eines Denkmals gelegt.
Foto Juri Nesterow

Die Polemik des „Figaro" muss vor dem Hintergrund des französischen Gesetzes vom 10. August 1927 gesehen
werden, das die Einbürgerung erleichterte. Diese gesetzliche Neuregelung war Folge einer jahrelangen Debatte über
sinkende Geburtenzahlen, das Fehlen der im Krieg gefallenen jungen Männer und die für den Wiederaufbau des Landes
dringend benötigte, aber zu geringe Zahl von Arbeitern. Bei der politischen Rechten war das Gesetz auf erbitterten
Widerstand gestoßen. Für den „Figaro" war der Fall Schwartzbard eine Gelegenheit, auf die mutmaßlich dramatischen
Folgen einer vermehrten Einwanderung hinzuweisen.
Die Verteidigung versuchte unermüdlich, diesem Desinteresse entgegenzuarbeiten. Sie wollte den Geschworenen
deutlich machen, dass nicht über eine für sie fremde Sache verhandelt werde, sondern Frankreich als Nation und Träger
von Zivilisation und Fortschritt unmittelbar betroffen sei. Daher legte der Verteidiger Henry Torrés großen Wert auf die
Feststellung, dass Schwartzbard nicht in erster Linie Jude, sondern ein im Ersten Weltkrieg wegen besonderer
Leistungen ausgezeichneter Franzose sei. Auch die letzten Worte seines Plädoyers verdeutlichen den unentwegten
Appell an den französischen Patriotismus: Im Namen der Zivilisation müssten die Franzosen insbesondere gegen
zukünftige Pogrome agieren und den Opfern vergangener Greueltaten wenigstens rückwirkend Gerechtigkeit widerfah-
ren lassen: „Meine Herren Geschworenen, Sie sind heute verantwortlich für das Prestige unserer Nation sowie für
Tausende von Menschenleben, die vom Urteil Frankreichs abhängen."
Die Geschworenen sprachen Schwartzbard nach einer nur 24 Minuten dauernden Beratung frei. Als das Urteil verkün-
det wurde, brandete im Gerichtssaal Beifall auf. Nur der „Figaro" hielt drastisch und mit zivilisationskritischem
Unterton an seinen Einwänden fest: „Früher tötete man in den Salons oder Privatgemächern, heute tötet man straflos auf
der Straße. So ist der Lauf der Welt. Das individuelle Pogrom wird Teil der Sitten; man muss beginnen, seine Partei zu
wählen."
Auch gemäßigtere Beobachter fanden den Freispruch problematisch, vor allem vor dem Hintergrund einer Reihe
ähnlich umstrittener Entscheidungen aus Anlass einiger „Verbrechen aus Leidenschaft". Diese Fälle hatten in der
zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts große Aufmerksamkeit in der französischen Öffentlichkeit gefunden. Als
„Verbrechen aus Leidenschaft" galten Tötungshandlungen, die aus Liebe, Eifersucht oder ähnlichen emotionalen
Gründen begangen wurden. Es handelte sich dabei allerdings nicht um eine juristisch fassbare Kategorie, sondern um
eine Zuschrei-bung der Öffentlichkeit, die vor allem bei weiblichen Täterinnen verwandt wurde. So wurden im Jahr
1890 annähernd 45 Prozent aller des Mordes angeklagten Frauen freigesprochen, aber nur 26 Prozent der Männer.

Permanente Gefahr für das Vaterland


Aus vielen Orten der Welt schickten jüdische Organisationen und Einzelpersonen Glückwünsche für Schwartzbard und
seine Verteidigung. Der deutsche Journalist Friedrich Sieburg, seit 1926 Korrespondent der „Frankfurter Zeitung" in
Paris, berichtete, dass der Appell der Verteidigung an das zivilisatorische Sendungsbewusstsein der Franzosen eine
große Wirkung auf die Geschworenen gehabt habe. Sieburg spannte einen weiten historischen Bogen und verlagerte den
Fall ins Grundsätzliche, indem er mit Blick auf das antisemitische Stereotyp des „feigen Juden" schrieb: „Zwanzig
Jahrhunderte haben die Petliuras aller Länder und Zeiten nach den Juden geschlagen. Und siehe, endlich schlägt einer
wider. Ein Jude hat geschossen, die Welt steht mit offenem Munde da, und wie sie endlich zu Atem kommt, spricht sie
ihn frei und ruft: ,Es lebe die Republik!'" Schwartzbard habe, so Sieburg weiter, moralischen Mut bewiesen, wie man
ihn in der Geschichte der politischen Morde in Deutschland vergeblich suchen werde. Der Schütze sei „ein Rächer
seines Stammes, kein blondes Verschwörer-bürschchen, das plötzlich von nichts weiß, kein Fememörder, der es nicht
gewesen sein will, kein feiger Hochverräter."
Sieburg stilisierte den Mörder zum legitimen Rächer des jüdischen Volkes, das endlich zur wehrhaften Selbstverteidi-
gung geschritten sei. Entscheidend seien die Motive der Tat, nicht jedoch formalistische Rechtsanwendung. Gewalt und
Gerechtigkeit waren keine sich ausschließenden Gegensätze: Gewalt konnte zumindest dann als legitim erscheinen,
wenn Gerechtigkeit angestrebt wurde. Aber warum? Für Sieburg lag die Antwort auf der Hand: „Wer legt ihnen allen,
den feigen Mördern und den mutigen Mördern, so leicht den Revolver in die Hand?"
Wenige Jahre später zeigte ein weiterer spektakulärer Mordprozess, dass nicht mehr jeder Mörder aus politischer
Leidenschaft mit Milde rechnen konnte. Der Russe Paul Gorguloff hatte am 6. Mai 1932 den französischen
Staatspräsidenten Paul Doumer auf einer Veranstaltung von Kriegsveteranen in Paris erschossen. Gorguloff, 1895 in
Russland geboren, hatte sich nach dem Medizinstudium in verschiedenen osteuropäischen Ländern aufgehalten, wo er
zumeist als Arzt gearbeitet hatte. Nachdem die französischen Behörden seinen Asylantrag abgelehnt hatten, zog
Gorguloff einige Monate vor dem Attentat mit seiner fünften Frau, einer vermögenden Schweizerin, nach Monaco. Dort
gründete er die „Faschistische Partei Russlands", die er als „Grüne Partei" bezeichnete und deren einzige Mitglieder er
selbst, seine Frau und ein oder zwei weitere im Exil lebende Russen waren.
Auf den ersten Blick schien es sich bei der Ermordung Doumers um ein politisches Attentat zu handeln, doch weder
Gorguloff noch die französische Justiz konnten ein plausibles Motiv für die Tat benennen. Die Zeitungen sprachen von
einem „absurden Verbrechen" und einer „Dummheit des Schicksals". Psychiater bezeichneten den Täter als
geisteskrank, ihre Diagnose spielte in der französischen Öffentlichkeit jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Die
mildernden Umstände des „Verbrechens aus Leidenschaft" kamen bei Gorguloff nicht in Frage. Er hatte die höchste
staatliche Autorität erschossen und damit - so die öffentliche Meinung -den französischen Staat herausgefordert. Die
Zeitungen plädierten für eine harte Bestrafung. Ihre Berichterstattung hob den vermeintlich „monströsen Charakter" des
Täters hervor, auch Vergleiche mit einem Raubtier wurden gezogen. Schon Gorguloffs äußere Erscheinung sei durch
„Schandmale" und große Hässlichkeit geprägt. Aus dieser Physiognomie schlossen die Journalisten auf Gorguloffs
Charaktereigenschaften und machten bei ihm einen „stumpfen Hochmut" und „törichten Hass" aus. Der „Petit Parisien",
die damals auflagenstärkste französische Tageszeitung, erklärte das Verbrechen mit der vermeintlichen „slawischen
Mentalität" des Täters. „Le Figaro" erinnerte in diesem Zusammenhang an den Fall Schwartz-bard und sprach von einer
„permanenten Gefahr für das Vaterland", die von kriminellen Ausländern ausginge. Ein Schwurgericht in Versailles
verurteilte Gorguloff zum Tode. Das Urteil wurde am 14. September 1932 vollstreckt.

FAZ, 31. JANUAR 2008 • NR. 26 • SEITE 12

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