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Über die Kunst von David Lynch

Gespräch zwischen Boris Groys und Andrei Ujica


HfG Karlsruhe, 20. November 2006

AU: Die Filmemacher, deren Ursprung in der Malerei liegt,


gehören seit je her zu einer Minderheit. Wie gemeinhin
bekannt ist, kommen sie zum größten Teil von der Literatur,
und zwar vor allem von der Prosa, manche auch vom
Theater, einige wenige von der Lyrik, woraus ersichtlich
wird, dass der Film in der Hauptsache eine narrative Kunst
ist. Obgleich also Filmemacher, deren Schaffensquelle in
der Malerei liegt, die kleinste Gruppe bilden, sind sie aber
für die Kinogeschichte alles andere als unbedeutend. Die
bezeichnendsten Beweise hierfür liefern Murnau, der
Kunstgeschichte studiert hat und dessen wesentliche
Leistung darin bestand, einen Stil aus der bildenden Kunst,
nämlich den Expressionismus, auf den Film zu übertragen,
sowie Tarkowski, dessen tiefe Sehnsucht es immer gewesen
ist, Maler zu werden. Dass er sich nie getraut hat, seinem
Verlangen über die Grenzen eines Violon d’Ingres hinaus
nachzugehen und genauso wenig seinen anderen großen
Wunsch verfolgen konnte, Dichter zu sein, hängt zweifellos
mit seinem Vater zusammen, der diese beiden Positionen

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bereits besetzt hatte. Um seinem Drängen Raum zu
schaffen, musste er also ein Ersatzmedium finden, und so
entwarf er ein Kino, das von Grund auf malerisch und
poetisch ist. An dieser Stelle scheint mir der Verweis auf
eine weitere Eigenart des Films angebracht, dass nämlich
die Betonung des Plastischen zwangsläufig die Aktivierung
des Lyrischen mit sich bringt.
David Lynch reiht sich in diese Linie ein, aber auf eine
ihm ganz eigene Weise: Er ist weder ein übergelaufener
Theoretiker noch ein verhinderter Maler, sondern von
Beginn an im Bereich der bildenden Kunst schöpferisch
tätig und es auch bis heute ununterbrochen geblieben.
Allerdings gelangte er in seinen jungen Jahren irgendwann
an einen Scheideweg, der sein filmisches Werk ans Licht
der Weltöffentlichkeit führte und sein plastisches hingegen
auf verborgenen Pfaden hielt.
BG: Ich glaube, an dieser Stelle, ganz am Anfang schon, wäre
es wichtig, den Versuch einer Präzisierung zu wagen, sich
nämlich zu fragen, um welche Art von bildender Kunst es
sich handelt, in deren Tradition David Lynch steht. Ob man
nun das frühere oder spätere Werk von Lynch anschaut,
zeichnet sich meines Erachtens ganz deutlich der historische
Kunstkontext ab, in dem er sich bewegt. Es handelt sich um
die Kunst der europäischen Moderne des zwanzigsten

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Jahrhunderts, um die Künstler, die das Tragische und das
Gefährdete im Menschen gesehen haben und darstellen
wollten, das heißt in erster Linie um die Künstler des
Expressionismus und des Surrealismus. Sie alle sahen den
Menschen im Zustand der Gefährdung durch das Inhumane
– von außen wie auch von innen. Ihre Themen waren die
Auflösung der menschlichen Figur im Unpersönlichen, die
Attacke von außen oder die Explosion von innen, durch die
der menschliche Körper gesprengt wird. Es ist die Art von
Kunst, welche jene Künstler mit sich brachten, die aus dem
von den Nazis gefährdeten Europa in den 30er- bis 40er-
Jahren nach Amerika emigrierten. Sie brachten die Einsicht
in die Zerbrechlichkeit wie auch in das Gefährdetsein der
menschlichen Natur mit sich. Und diese Einsicht war etwas,
das dem gewissen Optimismus, der in Amerika damals
verbreitet war, einem bestimmten Urglauben an das
immanent Gute der intakten Natur, inklusive der
menschlichen Natur, und an die Möglichkeit, das Glück im
Irdischen zu finden, widersprach. Die expressionistisch-
surrealistische Tradition in der künstlerischen Moderne sah
den Menschen nämlich als ein Wesen, das sich im
Urkonflikt mit sich selbst und mit der Welt befindet.
Jackson Pollock oder Willem de Kooning haben noch
versucht, an diese europäische Tradition anzuknüpfen, aber

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dann kam die Pop-Art, die vielmehr daran interessiert war,
sich mit dem Optimismus der amerikanischen Massenkultur
zu versöhnen, oder eine Welle des Formalismus mit
Minimal und Conceptual Art.
In diesem Sinne scheint es interessant und zugleich
folgerichtig, dass David Lynch diese tragische Tradition der
europäischen Moderne, in der er bleiben wollte und
geblieben ist, auf den Film übertragen hat. Hierbei besteht,
denke ich, die wichtige Frage darin, wie diese Übertragung
stattfand: Ich glaube, sie geschah durch die Narrativisierung
des modernistischen Bildes. Obgleich das modernistische
Bild im Kampf gegen jede Form der Narrativität entstanden
war, begann Lynch ziemlich früh, seine modernistisch
aussehenden Bilder in eine Erzählung einzubinden. Diese
(Re-) Narrativisierung des modernistischen Bildes würde
ich als Hauptverfahren sehen, das Lynch in seinen
Gemälden und in seinen Zeichnungen, aber auch in seinen
Filmen angewandt hat. Ein hübsches Beispiel dessen ist das
Bild, in dem ein Zitat aus einer rein geometrischen,
abstrakten Malerei narrativisiert wird, indem das rote
Quadrat betont und visuell verbunden wird mit der
Telefonnummer, offensichtlich der einer Frau. Übrigens ist
mir, als ich dieses Bild gesehen habe, eingefallen, dass die
Assoziation zwischen dem roten Quadrat und der Frau eine

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relativ alte ist: Malewitsch versah sein erstes rotes Quadrat
mit der Zeile „Suprematismus einer Bäuerin in zwei
Dimensionen“. Aber in erster Linie denke ich hier an die
Animationssequenzen aus den früheren Filmen von Lynch
wie etwa „The Alphabet“ oder „The Grandmother“. Sie
erinnern mich an Disney-Animationen, die alle die
Geschichten einer Kindheit erzählen. Aber es handelt sich
hier zugleich um Animationen, in denen Bilder verwendet
werden, die in der radikalsten, tragischsten Tradition der
europäischen Moderne stehen. Ich würde sagen, es handelt
sich hierbei um so etwas wie eine Kombination zwischen
Disney-Animationen auf der einen Seite und, sagen wir,
späten Kandinsky-Bildern auf der anderen. Ich glaube
generell, dass Kandinsky besonders bedeutend für Lynch ist,
zunächst wegen der dunklen Gefahr, die aus seinen Bildern
strahlt – da spielt der grau-dunkle oder schwarze
Hintergrund der Werke aus der letzten Periode von
Kandinskys Schaffen eine große Rolle –, vor allem aber
deshalb, weil sie ein ziemlich vollständiges Inventar aller
möglichen Bildformen der künstlerischen Moderne
präsentieren. Zieht man insbesondere in Betracht, dass
Kandinsky doch lange Zeit dem Bauhaus angehörte, kann
man diese Bilder als eine Art „Werkkasten des modernen
Künstlers“ bezeichnen, in dem sowohl geometrische,

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„kubistische“ als auch organizistische, „expressionistische“
Bildelemente vorhanden sind. Nicht nur gibt es ganz
offensichtliche ikonographische Parallelen zwischen dem
bildnerischen Werk Lynchs und dem Kandinskys, vielmehr
funktionieren fast alle Bilder und Zeichnungen von Lynch
ebenfalls als solche Werkkästen – sozusagen als Werkkästen
der Tragödie, als Inventar der Elemente, aus denen die
Tragödie gebaut wird.
AU: Um meinen nächsten Gedankengang einzuleiten, werde
ich ein Selbstzitat bemühen, auf das ich häufig zurückgreife:
„Jeder Künstler, wenn nicht gar im Grunde genommen jeder
Mensch, ist ein Gefangener seiner eigenen Biographie.“ Das
trifft selbstverständlich auch auf Lynch zu. Er wurde
nämlich – und damit möchte ich nun an die Eckdaten seiner
biographischen Anfänge erinnern – mitten in eine
amerikanische Idylle hineingeboren: Er kommt aus
Montana, einer Region nahe an der kanadischen Grenze, am
Fuße der Rocky Mountains, in der die Natur noch völlig
intakt war, und dieser geographische Ursprung prägte seine
Kindheit maßgeblich. Sein Vater, der auch schon aus dieser
Gegend stammte und auf einer Farm inmitten eines
gewaltigen Weizenfeldes aufgewachsen war, war
Agrarwissenschaftler geworden und heiratete eine
Sprachenlehrerin, die aus Brooklyn kam. David Lynch

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selbst erzählt oft die folgende Geschichte, die davon
handelt, wie seine Eltern zusammenkamen: Beide sind auf
dieselbe Universität gegangen, und bei einem
Studentenausflug ins Grüne geschah es eines Tages, dass
der naturverbundene Mann im gefahrumwitterten Zwielicht
eines dunklen Waldes der urbanen Frau näher kam, die das
instabile Alphabet in sich trug. Wenn man so will, sind dies
die psychologischen Grundbausteine, aus denen sich das
gesamte Werk von David Lynch zusammensetzt. Verfolgt
man nun seine biographische Linie weiter, gäbe es eine
Episode hervorzuheben, die sich während seines Studiums
der Malerei an der Pennsylvania Academy of the Fine Arts
in Philadelphia ereignet hat und von der er ebenfalls selbst
berichtet: Zum Ende eines Studienjahres wollte er sich an
einem Malerei- und Skulpturwettbewerb der Hochschule
beteiligen, für den er an einem Bild mit schwarzem
Hintergrund malte, aus dessen Mitte Pflanzen heraustraten,
die in dunklem, bedrohlichem Grün gehalten waren. Als er
wieder einmal in seiner Kabine im studentischen
Gemeinschaftsatelier arbeitete und gerade dabei war, vor
seinem Gemälde innezuhalten, hörte er einen Windstoß
hereinwehen und sah, wie sich das Bild ein klein wenig
bewegte. Verblüffenderweise war genau das der Anfang
seines Kinos. Ganz plötzlich ist ihm eingedämmert, dass er

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nichts anderes machen müsste, als ein Bild in Bewegung zu
versetzen und Ton hinzuzufügen. So hat er sich dann
entschieden, für den Wettbewerb nicht mehr dieses Gemälde
einzureichen, sondern ein anderes anzufertigen, das sich für
eine Animation eignete. Das Ergebnis war „Six Men Getting
Sick“, eine einminütige animierte Malerei, unterlegt mit
Sirenengeheul, die in Schleife lief. Dies war zugleich sein
erster Film, und damit sind wir an eben jenem Scheideweg
in Lynchs Leben angekommen, von dem ich vorhin
gesprochen habe.
Behandelt man diese Abspaltung nun aus
kunsthistorischer Sicht, so fällt auf, dass zu jener Zeit, in der
er – wie Du bereits bemerkt hast – im Begriff war, seinen
Werkkasten zusammenzustellen, sich also anschickte, sein
plastisches Vokabular in Form eines ständigen Kommentars
der klassischen europäischen Moderne und Avantgarde zu
artikulieren, die anderen amerikanischen Künstler seiner
Generation drauf und dran waren, sich von genau dieser
Tradition zu trennen. Sie handelten hierbei aus einem Drang
heraus, der sicherlich auch als eine Auflehnung gegen die
damals ausnahmslos auf Europa fixierte Lehre in den
amerikanischen Kunstakademien zu verstehen ist, und
propagierten damit eine amerikanische Richtung, die später
als die amerikanische Avantgarde in die Kunstgeschichte

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eingehen sollte. Lynch stand wahrscheinlich – wenn man
jetzt versucht, so eine Art „Psychology of the Artist as a
Young Man“ zu betreiben – vor einer wesentlichen
Entscheidung: Entweder in der bildenden Kunst zu bleiben
und sich dort an der Rebellion seiner Generation zu
beteiligen, was ihm jedoch einen gewissen Opportunismus
abverlangt hätte, da ein solcher anti-europäischer Protest
nicht der eigenen Suche nach ästhetischer Identität
entsprach – oder aber das Medium zu wechseln, so wie ihm
eines Tages schließlich durch jenen Windstoß eingegeben
wurde, der ins gemeinschaftliche studentische Atelier drang
und ausgerechnet an seinem Bild rüttelte. Doch gerade
indem er nun sein ganzes plastisches europäisches
Motivinventar in den Film hinübertrug, wurde er dort zum
Avantgardisten. Wie wir alle wissen, war Hollywood im
Unterschied zu den Verhältnissen in der Malerei schon
immer ein durch und durch amerikanisches System, in
welchem jede Bezugnahme auf die europäische Kunst die
reinste Rebellion bedeutete, und unter solchen Umständen
nahm Lynch ganz zwangsläufig die Position des radikalen
Einzelgängers ein.
Mir scheint diese Transposition der Avantgarde von
einem Medium ins andere außerordentlich bemerkenswert.

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BG: Ja, das ist sie in der Tat, und ich möchte nun
zurückkommen auf Deine erste Aussage, dass nämlich der
Künstler immer ein Gefangener seiner persönlichen
Geschichte, das heißt letztendlich seines persönlichen
Konflikts mit der Welt ist. So kann man sich fragen, welche
Möglichkeiten es überhaupt gibt, sich aus dieser
Gefangenschaft zu befreien. Denn die Kunst reflektiert nicht
nur die Gefangenschaft, sondern ebenso die Strategien der
Selbstbefreiung, wobei es zwei grundlegende Möglichkeiten
einer solchen Befreiung gibt. Eine besteht darin, den
Konflikt mit der Welt zu überwinden und zur inneren
Genesung zu kommen, indem man sich mit der Welt
versöhnt. Das ist ein Weg, den viele Künstler gehen, und
das ist sicherlich auch ein sehr anständiger Weg. Ein anderer
besteht aber darin, die Welt selbst als Arena des universalen
Konflikts der kosmischen Kräfte zu sehen, eine tragische
Sicht der Welt zu entwickeln. In diesem Fall endet der
eigene Konflikt mit der Welt nicht deshalb, weil man sich
mit der Welt versöhnt hat, sondern weil die Welt selbst als
Ort der unversöhnlichen, inneren Zerrissenheit, des
Selbstwiderspruchs begriffen wird, an dem ein Individuum,
da es ja zu dieser Welt gehört, teilnimmt. Hier wird der
Konflikt mit der Welt dadurch gelöst, dass das eigene
Leiden als eine spezifische Manifestation des Weltleidens

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verstanden wird. Eine solche Weltsicht hat, wenn man über
die Moderne spricht, ihren Ursprung in erster Linie im
Denken Nietzsches. Und wenn man jetzt Bilder und
Zeichnungen, aber auch Filme von David Lynch Revue
passieren lässt, dann fällt auf, dass sie die Vision einer Welt
heraufbeschwören, die sich im inneren Konflikt befindet –
einer Welt, die Arena eines ständigen Kampfes der in sich
selbst gespaltenen, ambivalenten Kräfte ist, wie etwa Kräfte
der Sexualität oder der Gewalt. Hier liegt das Versprechen
einer Befreiung allein in der Universalisierung oder
Kosmologisierung des eigenen, persönlichen Dramas.
Um nun auf Deine zweite Bemerkung zurückzukommen,
die Lynchs Verhältnis zu der in jener Zeit aktuellen
amerikanischen Malerei betraf, möchte ich bemerken, dass
es einen Aspekt der europäischen künstlerischen Moderne
gibt, der in den USA durchaus übernommen und sogar
enorm radikalisiert wurde. Es handelte sich um eine neue
Bestimmung des Bildes, das nun völlig autonom wurde,
befreit wurde von jedem Kontext, von jeder Deutung, das
heißt von jeglichem Illustrativen, von jeder Art des
Angebundenseins an eine Erzählung. Ein solches Streben
nach der Autonomie des Kunstwerks führt aber direkt in den
Kunstmarkt. Letztendlich gibt es doch nur zwei
Möglichkeiten, das Kunstwerk in einen größeren Kontext

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einzubinden: entweder als Illustration einer Geschichte oder
als Ware auf dem Markt. Sobald ich mich als bildender
Künstler völlig von der Narrativität befreie, schaffe ich
Objekte, die im Grunde nur als Waren fungieren und auf
dem Markt zirkulieren können. Und das ist es, glaube ich,
was Lynch nicht mitmachen wollte.
AU: Er hat sich ja, den eigenen ästhetischen Bedürfnissen
entsprechend, für eine andere Variante der Studentenrevolte
entschieden, die einem einzelgängerischen „Marsch durch
die Institutionen“ gleichkommt, um hier jene Parole
einzubringen, die 1967 in der deutschen
Studentenbewegung aufkam, just in demselben Jahr, als
Lynch sich an besagtem Hochschulwettbewerb beteiligte.
Denn es ist schon auffällig – so banal eine solche
Feststellung auch erscheinen mag –, wie sehr seine frühe
künstlerische Entwicklung in geregelten institutionellen
Bahnen verlief. Nicht allein, dass „Six Men Getting Sick“
überhaupt nur entstand, weil er sich am jährlichen
Wettbewerb seiner Hochschule beteiligen wollte, auch
produzierte er diesen ersten Film als animierte Malerei, also
mit den gewohnten Materialien, die an einer Akademie der
Schönen Künste nun mal vorhanden sind. Dabei wurde ihm
allmählich bewusst, in welch hohem Maße das Kino vom
Geld abhängig ist.

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Und tatsächlich wäre sein nächster Schritt in die neue
Richtung überhaupt nicht möglich gewesen, wenn er mit
dieser Arbeit nicht das Interesse eines Zuschauers geweckt
hätte, dem sie 1000 Dollar wert war. Von der Hälfte der
Summe konnte er sich eine Filmkamera kaufen und sich so
mit dem kinematographischen Grundwerkzeug ausstatten,
während die andere Hälfte das Produktionsbudget für sein
folgendes Projekt darstellte. Es handelte sich hierbei um
einen Kurzfilm mit dem Titel „The Alphabet“, der als
Mischform aus animierter Malerei und Spielszenen angelegt
ist, bei dem aber der plastische Teil gegenüber dem
filmischen noch immer die Oberhand behält. In ihm greift
Lynch – und damit sei beiläufig auf die motivische
Kohärenz seines Kinos hingewiesen – eine Begebenheit aus
der eigenen Familie auf, nämlich den Alptraum einer Nichte
seiner damaligen Frau, in welchem sich unaufhörlich das
Alphabet wiederholte.
Wenn er nun im neuen Medium weiter Fuß fassen wollte,
war es an der Zeit, sich eine Institution zu suchen, die ihn
als angehenden Filmemacher fördern würde. Freunde
machten ihn auf ein Produktionsstipendium des American
Film Institutes aufmerksam, für das man sich mit einem
Drehbuch zu bewerben hatte und mindestens eine
vorhandene Arbeit im Bereich des bewegten Bildes

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vorweisen musste. Da Lynch das Script für „The
Grandmother“ gerade geschrieben hatte, kam ihm eine
solche Förderung recht gelegen, und weil er auch die andere
Bedingung erfüllte, konnte er an der Ausschreibung
teilnehmen. Er gewann das Stipendium und hatte also die
Mittel in der Hand, seinen neuen Film zu realisieren, bei
dem schließlich die Spielszenen mittlerweile so weit in die
Animation hineingewachsen waren, dass sie nach einem
selbständigen Leben verlangten. Wäre für Lynchs Kino
jemals eine Geburtsurkunde ausgestellt worden, dann wohl
an dem Tag, an dem er „The Grandmother“ abschloss, denn
genau dieser Moment markiert die Vervollständigung seines
filmischen Universums, das sich aus dem Geist und der
Materie der Malerei erschaffen hatte.
Versuchen wir, diese Fortpflanzung eines Universums
von einem Medium ins andere genauer zu beleuchten wie
auch das Spannungsfeld aufzuzeigen, das innerhalb eines
künstlerischen Schaffens zwischen Tätigkeiten in
verschiedenen Medien entsteht.
BG: Wenn man Lynchs Bilder und Zeichnungen anschaut, hat
man das Gefühl, dass überall eine Gefahr lauert und dass
eine Welt von Doppelgängern existiert, die mal mit „Bob“,
mal mit „Dog“ benannt werden, so eine Art Parallelwelt, die
auch in seinen Filmen zu finden ist. Es handelt sich um

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unpersönliche Kräfte, die das menschliche Wesen in Besitz
nehmen und die man als Subjekt nicht bewusst kontrollieren
oder zähmen kann. Es scheint, als würde den Helden in
Lynchs Filmen jeden Augenblick die Selbstkontrolle
abhanden kommen, als wäre aber die „metaphysische
Selbstkontrolle“ – wenn man es so nennen mag –, die die
Welt zusammenhält, auch kurz vor dem Entgleiten, so dass
die Dämonen jederzeit befreit werden könnten, um ans
Werk zu gehen. Mit solchen frei gewordenen Dämonen wird
man auch immer wieder in Lynchs Gemälden und
Zeichnungen konfrontiert. Aber wenn man diese Letzteren
mit seinen kinematographischen Arbeiten vergleicht,
bemerkt man auch die Unterschiede. Auf der einen Seite
sind es gleiche Denkfiguren, gleiche Themen, ist es die
gleiche Art, mit bestimmten Bildern umzugehen, aus ihnen
Narrative zu konstruieren. Auf der anderen Seite aber fällt
auf, dass der Deformation, die die menschliche Figur und
die sonstige sichtbare Welt erfährt, im Film bestimmte
Grenzen gesetzt sind, von denen Lynch vermutlich irritiert
ist, denn in seinen Zeichnungen und Gemälden werden diese
deutlich aufgehoben. Und tatsächlich scheint Lynchs
Malerei zu der Zeit, in der er auch Filme macht, in gewisser
Weise radikaler zu sein als seine Filmbilder, da die Malerei
im Vergleich zum Film einfach ganz andere Möglichkeiten

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bietet, mit der menschlichen Figur umzugehen. In diesem
Sinne kann man sagen, dass Lynch die Malerei und die
Zeichnung durchaus als spezifische Medien thematisiert –
wenn auch nicht in der Art, die wir etwa mit der
Greenbergschen Analyse des Mediums Malerei verbinden.
Viele Gemälde und Zeichnungen Lynchs erinnern mich an
Bilder von Anselm Kiefer oder Gerhard Richter, an
Zeichnungen von Joseph Beuys, aber auch an die Bilder von
Künstlern der italienischen Transavantgardia oder der
deutschen Neuen Wilden, die die
Deformationsmöglichkeiten der Malerei thematisierten. In
jener Zeit wollten sich viele Künstler von den zu glatten
Bildern der Fotografie und des Films distanzieren, um an
die Tradition der von den Nazis verfemten „entarteten
Kunst“ anzuknüpfen, die solche Bilder verzerrt, verunstaltet,
verschmutzt hatte. Man kann diese Rückkehr zu der
„wilden“ Malerei somit als ikonoklastischen Gestus deuten,
der gegen die durch die Kamera erzeugten, „maschinellen“
Bilder der Massenkultur, also auch gegen jene des Films,
gerichtet war. Dass sich Lynch in seinen gemalten Bildern
und Zeichnungen an diesen Gestus anschließt, ist umso
verblüffender, wenn man bedenkt, dass er selbst ja zugleich
als Filmemacher agiert. Hier wird der Konflikt deutlich, in
dem Lynch als Künstler steht: Er will filmische Bilder

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schaffen, die Faszination erzeugen, aber er reagiert in
seinem bildnerischen Werk ikonoklastisch gegen diese
Faszination, der er offensichtlich zugleich misstraut. So
befindet er sich als Künstler wohl in einem
Selbstwiderspruch, der seine Kunst innerlich antreibt und
ihr eine Dynamik verleiht, die vielen anderen Künstlern
fehlt. Immerhin bietet ihm der Film eine Chance, auf die er
keineswegs verzichten will, nämlich diejenige, ein
Gesamtkunstwerk zu schaffen. Schließlich ist der Film bis
zu einem gewissen Grad immer ein Gesamtkunstwerk. So
kann man sagen, dass sich Lynch in einem Spannungsfeld
bewegt zwischen einerseits den Einzelmedien wie Malerei,
Zeichnung, Fotografie oder auch Architektur und
andererseits dem Gesamtkunstwerk Film. Das erinnert mich
an Wagner, der auch im Spannungsfeld zwischen den
Einzelmedien und dem Gesamtkunstwerk Oper agierte, aber
auch wiederum an Kandinsky, der ebenfalls vom
Gesamtkunstwerk träumte. Und weiter scheint mir, dass bei
Lynch dieser Hang zum Gesamtkunstwerk mit der Zeit
deutlicher wird.
AU: Gewiss ist der Film – um erneut einen berühmten
deutschen Ausdruck zu paraphrasieren – die Fortsetzung des
wagnerianischen Gesamtkunstwerks mit anderen Mitteln.
Mehr noch: Wagner selbst kann ohne weiteres als der

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Vorvater des Kinos bezeichnet werden, was spätestens dann
deutlich wird, wenn man sich Hollywood vor Augen hält.
Schließlich wurden durch ihn mit der Errichtung des
Bayreuther Festspielhauses zwei wegweisende
Entscheidungen getroffen. Zum einen verdeckte er den
Orchestergraben: So brachte er die Musiker zum
Verschwinden und die Klänge der einzelnen Instrumente
konnten sich im Bühnenraum zu einem ganzheitlichen
Strom verbinden, der dann gleichsam ursprungslos das
staunende Publikum erreichte. Zum anderen, und das ist hier
das Hauptsächliche, ließ er im Saal das Licht ausmachen,
womit der dunkle Zuschauerraum erfunden war, ohne den
übrigens das Kino schon allein aus technischen Gründen gar
nicht denkbar gewesen wäre. Und da ja nun die Juwelen der
Damen aus der höheren Gesellschaft zu funkeln aufhörten
und all die prunkvollen Dekolletes plötzlich gleich wurden
mit den ungeschmückten Hälsen gewöhnlicher Frauen, trat
eine Demokratisierung des Publikums in Kraft, dessen
gesellschaftliche Unterschiede buchstäblich im Dunkeln
versanken. Indem Wagner aber gleichzeitig für mehr
Bühnenbeleuchtung sorgte und dadurch das Schauspiel
umso heller erstrahlte, gelang es ihm, zum ersten Mal den
Künstler über den Zuschauer zu heben. So waren die
Voraussetzungen für eine Kunst geschaffen, die den Zauber

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einer Synthese aus Text, Bild und Musik transportieren
sollte, und die bereits jene wahre Volkskunst ankündigte,
die bald darauf in Form des Kinos in Erscheinung trat. Denn
das Kino ist im Wesentlichen nichts anderes als eine weiße
Leinwand, die sich über den Bühnenrahmen von Bayreuth
spannte und die dank einer technischen Neuerrungenschaft,
des Projektors, nach Belieben bespielt werden konnte. Mit
dieser unverhofften Möglichkeit, Illusion rein maschinell zu
erzeugen, ging – wenn man so will – das Gesamtkunstwerk
in die Massenproduktion und wurde das
kinematographische Zeitalter eingeläutet.
Da wir nun in der Lage sind, auch Lynchs plastisches
Werk zu betrachten, also die bisher im Großen und Ganzen
unsichtbare Seite seines Schaffens, fällt auf, dass er einem
Künstlertypus zuzuschreiben ist, der in der Kulturgeschichte
weit vor Wagner beheimatet ist, nämlich in der Renaissance.
Die Rede ist von jenem Universalkünstler, der, von einem
unstillbaren inneren Drang zu ununterbrochener
Produktivität getrieben, die Fragen seines kosmologischen
Projekts in möglichst vielen verschiedenen Medien
formuliert, und zwar in jedem einzelnen unabhängig und mit
dessen spezifischen Mitteln und Werkzeugen. All das trifft
auf Lynch uneingeschränkt zu: Er hat eine enorme Menge
an Zeichnungen und zahlreiche Gemälde hervorgebracht,

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dazu noch Skizzen für utopische Architekturen angefertigt,
Möbel und Designobjekte gebaut und kann nebenbei auf ein
bedeutendes kinematographisches Werk zurückblicken. Und
im Gegensatz zu den Künstlern, die über eine andere Art der
Mehrfachbegabung verfügen, die nämlich typisch für
jüngere Kulturepochen ist, in deren Schaffen ein
Hauptmedium existiert, das immer durchscheint,
identifiziert sich Lynch, wie der Renaissancekünstler,
vollständig mit genau der Tätigkeit, die er gerade ausübt,
indem er die Grammatik des jeweiligen Mediums in dessen
Eigenständigkeit beherrscht: Im Akt des Zeichnens ist er
Zeichner, beim Malen Maler, im Moment des
Fotografierens Fotograf und in den Augenblicken, in denen
er einen Film dreht, eben nichts anderes als ein
Filmemacher.
Insofern glaube ich, dass im Falle Lynchs – da er ein
vollständiges kosmologisches Projekt schon in sich trägt
und ihm der Mikrokosmos eines jeden Mediums
ganzheitlicher Ausdrucksträger sein kann – das
Gesamtkunstwerk nicht dem Zwecke dienen muss, sein
Universum zusammenzufügen.
BG: Der Renaissancekünstler sieht die Welt als ein großes
Panorama, als eine harmonische Zusammenfügung
verschiedener Elemente. Dadurch wird er zum

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metaphysischen Spaziergänger, der von einem Objekt zum
anderen übergeht im Vertrauen, dass dieser Übergang
immer möglich ist, dass sich niemals ein Abgrund auftut,
den man nicht überspringen oder überbrücken könnte. Er
vollzieht eine unendliche horizontale Bewegung, stets im
Vertrauen auf die Möglichkeit zu einem weiteren Schritt.
Ich denke nicht, dass Lynch ein Renaissancekünstler ist
in dem Sinne, dass er dieses monistische Weltbild teilt. Sein
Weltbild ist vielmehr ein dualistisches. Da kämpfen die
Kräfte der Rettung und der Gnade gegen die Kräfte des
Bösen, wobei der Mensch zum Teil Spielball, zum Teil
Verkörperung dieser Kräfte ist. Man kann in gewisser
Hinsicht durchaus sagen, dass Lynch immer das gleiche
Bild malt, immer die gleiche Zeichnung anfertigt, immer das
gleiche Foto macht, immer den gleichen Film dreht. Und
darin liegt jener Unterschied zu Wagner begründet, auf den
Du zuvor ganz richtig hingewiesen hast. Wagner strebt in
der Tat das ultimative Werk an, und zwar, weil er glaubt,
dass das künstlerische Schaffen doch in einer Versöhnung
der zwei gegeneinander kämpfenden Kräfte gipfeln soll, so
dass die Zeit dann endlich zum Raum wird. Lynch dagegen
glaubt nicht an die Möglichkeit einer solchen Versöhnung
und einer finalen Harmonie. Deshalb findet in seinem Werk
eine Wiederholung statt, die so obsessiv und insistent ist wie

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etwa bei Kierkegaard. Kierkegaard war, glaube ich, der
erste, der gezeigt hat, dass man sich im radikalen Konflikt
für alle Ewigkeit einrichten kann, gerade indem man diesen
Konflikt ständig wiederholt. Ich denke, dass es genau das
ist, was Lynch macht. Er dreht zwar unterschiedliche Filme
und malt unterschiedliche Bilder, aber er wiederholt immer
den gleichen Konflikt – und es herrscht immer die gleiche
Gefährdung, auf die auch immer die gleiche Chance der
Rettung angeboten wird. Es ist in erster Linie dieses
Insistente und Repetitive, das Lynchs Werk auszeichnet.
Dieses Werk entspringt nämlich einem tiefen und sehr
modernen Misstrauen gegenüber jeder Geste der
Versöhnung.
AU: Aus psychologischer Sicht weist die Moderne in der
Tat diesen neurotischen Bruch auf, der die harmonische
Wiederkehr ganzheitlicher Motive zu einer obsessiven
Wiederholung einzelner Fragen mutieren lässt, die nun nicht
mehr Teil eines kosmologischen Projekts sind, sondern
ihren Halt verloren haben, um fortan in einem rein
biologischen Weltbild einsame Kreise zu ziehen. Aber
typologisch gesprochen, macht Lynch hier meiner Meinung
nach eine Ausnahme, weil er zwischen dem Universalismus
der Renaissance und dessen heutigem Pendant, dem
Recyclingzeitalter, durch seine Arbeitsweise eine direkte

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Verbindung herstellt. Dies wird vor allem ersichtlich, wenn
man sich seinen unzähligen Zeichnungen zuwendet, die – in
ihrer Gesamtheit betrachtet – den zu Beginn unseres
Gesprächs bereits behandelten Versuch darstellen, ein
Motivinventar der europäischen Kunst der Moderne
anzulegen. Denn es ist, als ob Lynchs universalistischer
Produktionsdrang in ihm eine Recyclingmaschine in Gang
gesetzt hätte, die, indem sie Werke aus dieser Zeit
verarbeitet – vorzugsweise den späten Kandinsky oder
Dada, wobei es hier aber auch weitere Beispiele zu nennen
gäbe –, zunächst Zeichnungen entstehen lässt, welche dann
in andere Medien transportiert werden – in die Malerei, die
Fotografie, den Film. So stellt Lynch tatsächlich aus
bestehendem Material immer wieder neues her. Es ist dieser
unaufhörliche Verarbeitungsprozess, der zugleich als
Kommentar und Interpretation fungiert, durch den er in
einem ständigen Kontakt mit der Kunst der klassischen
Moderne und der klassischen Avantgarde steht. Wenn wir
nun aber etwas genauer hinschauen, so wird ein besonders
interessanter Aspekt sichtbar, dass sich nämlich der größte
Teil seiner Aufmerksamkeit auf eine enge Zeitspanne am
Ende dieser Epoche richtet, genauer gesagt auf den
Übergang von den 20ern in die 30er-Jahre, als während des
umfassenden formalen Befreiungsaktes der europäischen

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Kunst die Bedrohung der zwei Totalitarismen in der Luft
lag. Hier taucht jene lauernde Gefahr, von der Lynch – wie
wir wissen – zutiefst angezogen ist und die zu seinem
thematischen Grundrepertoire gehört, in einer historischen
Verkörperung auf. Indem ihn aber diese Zeit so sehr
beschäftigt, nimmt er implizit auch Stellung zu den beiden
diktatorialen Gespenstern des zwanzigsten Jahrhunderts,
wodurch sein Werk – wenn auch subliminal – eine
unerwartete politische Komponente erhält.
BG: Ja, ganz bestimmt. Mir scheint, als ob die Künstler der
Nachkriegszeit, von denen ich Beuys und Kiefer neben
einigen anderen schon erwähnt habe und in deren Reihen
auch Lynch gehört, ihre persönlichen, individuellen Dramen
zum Ausdruck bringen, indem sie auf das Vokabular großer
historischer Erschütterungen zurückgreifen, nämlich jener,
die sowohl von den künstlerischen als auch von den
politischen Revolutionen und Umwälzungen der Moderne
verursacht waren. Das Vokabular der künstlerischen
Moderne wird dabei modifiziert, um es zu subjektivieren,
psychologisieren, narrativisieren und personalisieren. Aber
die Spuren der kollektiven Erinnerung an die moderne
Gefährdung des Menschen werden nicht ganz getilgt. Die
Präsenz dieser beiden Schichten im Bild – derjenigen der
persönlichen und der kollektiven Traumata der Moderne –

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ist sehr charakteristisch für viele Künstler der letzten
Jahrzehnte. Sie lassen sich auch im Werk Lynchs erkennen.
Besonders deutlich werden sie in den Fotos, die er in Polen
gemacht hat. Obwohl es wahrscheinlich Bilder von
gewöhnlichen Industrieanlagen sind, wird man – auch
aufgrund der Inschriften in deutscher Sprache, die in diesen
Fotos immer wieder zu finden sind, und wegen einer
gewissen Atmosphäre, die sie subtil durchzieht – in erster
Linie an Auschwitz erinnert, aber auch an die Vertreibung
der Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg, an die
untergegangene deutsche Welt im Osten. In diesem
Zusammenhang scheint mir auch ein Bild von New York
interessant zu sein, das die Stadt hinter einem Gitterzaun
zeigt, der wie ein KZ-Gitter anmutet. Das Gefühl der
historischen Gefährdung wird auch an dem Bild eines
Hauses deutlich, eines amerikanischen Hauses, das in Grau
eingetaucht ist und von Flugzeugen, Raketen, fliegenden
Untertassen und sonstigen unidentifizierten Flugobjekten
umkreist und offensichtlich bedroht wird.
AU: Das ist die Gefahr des anderen Totalitarismus.
BG: Ja, das ist die Atmosphäre des Kalten Krieges; da entsteht
dieses Gefühl, dass die Gefahr von oben, vom Himmel
kommt. Ich glaube, das ist eine sehr interessante – für das
zwanzigste Jahrhundert übrigens fatale – Umkehrung der

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üblichen Konstellation von Gut und Böse. In der Regel
kommt das Gute von oben, vom Himmel, und das Böse
steigt aus der Erde auf. Aber seit den ersten
Bombardierungen haben wir gelernt, dass das Böse
vorrangig den Himmel bevölkert und aus dem Himmel auf
die Erde niederprasselt; daraus entsteht – nicht nur in der
individuellen Subjektivität des Künstlers, sondern auch im
Massenbewusstsein – eine gewisse Ambiguität in Bezug auf
das Himmlische. Aus dieser Ambiguität sind übrigens die
Figuren der „Aliens“ entstanden, die später das Kino
bevölkert haben.
AU: Andererseits dürfen wir keinesfalls vergessen, dass der
politische Aspekt in Lynchs Bildern möglicherweise gar
nicht von ihm selbst hineingelegt wurde, sondern eher wir
es sind, die ihn herauslesen. Wahr ist aber gewiss, dass sein
plastisches Werk an einem bestimmten Punkt auf das
Problem der Zeit stößt, dessen ganze Komplexität sich erst
entfaltet, wenn man es in Bezug zu seinen Filmen setzt. Da
diese, wovon wir ja ausgehen, nichts anderes sind als in
Bewegung versetzte Malereien, solche also, in denen die
Zeit zu fließen beginnt und dadurch automatisch Narration
entsteht, können wir feststellen, dass Lynchs Erzähltechnik
nur aus der elementaren Frage hervorgeht, welche
Möglichkeiten es gibt, von einem Gemälde zum anderen zu

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gelangen. Und genau das verleiht ihm in der Filmgeschichte
diese singuläre Position, dass er nämlich bei der Suche nach
eigenen Erzählstrukturen nicht – wie die meisten anderen
Filmemacher – der narrativen Revolution in der modernen
Literatur mit all ihren Brechungen der Erzählperspektive
und Vermischungen von Zeitebenen folgte, sondern einen
neuen kinematographischen Diskurs entwickelte, indem er
die statische plastische Zeit ins filmische Bild hinübertrug,
wo sie ganz von selbst in Bewegung geriet. Eine Zeichnung,
ein Gemälde oder ein Foto in Bewegung zu bringen, ist
nämlich die einzige Möglichkeit, die absolute Kongruenz
aller drei Zeiten – der Vergangenheit, der Gegenwart und
der Zukunft – zu erreichen, und diese substantielle
Verschränkung der Zeiteinteilung, die sich mit den üblichen
Analyseinstrumenten gar nicht erklären lässt, ist es wohl,
die Lynchs Kino diese geheimnisvolle Aura verleiht.
Beim Betrachten seiner Filme können wir bemerken, dass
sie sich auf besondere Art und Weise in der Zeit vollziehen,
und indem wir dieser Merkwürdigkeit nachspüren, kann es
geschehen, dass uns Lynch selbst erscheint, den wir dabei
ertappen, wie er seinen eigenen Blick über die Bilder
streifen lässt, bis uns langsam deutlich wird, dass wir
eigentlich durch eine große Kunstsammlung geführt werden.
Unweigerlich kehren unsere Gedanken dann zu seinem

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plastischen Werk zurück, und es fällt plötzlich nicht mehr
ganz so schwer zu begreifen, weshalb er dieses bis jetzt im
Verborgenen hielt: In Bezug auf seine Zeichnungen,
Gemälde und Fotografien ist Lynch gewissermaßen längst
zum Selbstsammler geworden, und wie man weiß, macht
ein wahrer Sammler seine Kollektion nun mal nicht gerne
anderen zugänglich.
BG: Die Zeit in Lynchs Filmen ist zirkulär. Man dreht sich im
Kreise, im Kreise der Leidenschaften, der Gefährdungen,
der Chancen, man kehrt zu Grundfiguren, zu
Grundsituationen immer wieder zurück. Hier handelt es sich
um die ewige Wiederkehr des Gleichen. Das ist auch das
Prinzip der Sammlung, denn man kehrt zu seiner Sammlung
immer wieder zurück. Man betrachtet sie neu, man
interpretiert sie neu, und doch bleibt sie immer die gleiche
Sammlung. Nun kann man aber über die Zeit erneut aus der
anderen Perspektive sprechen – sie nämlich als historische
Zeit betrachten, in der ein Kunstwerk situiert wird. Lynchs
Filme spielen, soweit ich erkennen kann, immer in einer
amerikanischen Gegenwart. Es handelt sich um private
Schicksale, Erfahrungen und Traumata, wobei jedoch das
große historische Narrativ über die kollektiven Traumata
nicht mehr auftaucht, einfach weil der historische
Zeithorizont der Filme eingegrenzt ist. Wenn man Lynchs

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Zeichnungen, Fotografien und Malereien nicht kennt, weiß
man also nicht, dass dieses große Narrativ der Moderne
auch in seinen Filmen ständig irgendwo im Hintergrund
lauert, aber spüren kann man es doch. Man hat nämlich das
Gefühl, dass die Figuren in den Filmen zwar in der
amerikanischen Wirklichkeit situiert sind, aber zugleich
„auch nicht ganz dabei“ sind. Sie sind vielmehr „haunted“,
besessen von irgendwelchen Geistern, die nicht individuelle,
sondern, wenn man so will, welthistorische Geister sind.
Betrachtet man aber das bildnerische Werk von Lynch,
beginnt man den Charakter dieser Geister besser zu erahnen:
Es handelt sich hier um die Geister, die die Menschheit
nicht bloß hier und jetzt, sondern überall und immer wieder
in ihren Bann geschlagen haben. Darin besteht meines
Erachtens ein wesentlicher Unterschied zwischen Lynchs
Kino und dem Gros der amerikanischen Filme der letzten
Jahrzehnte, in denen die geschichtliche Dimension meistens
verdrängt ist. Sie beziehen sich allein auf die eigene
Gegenwart, und wenn sie überhaupt andere Zeiten
beschwören, dann meistens als touristische Ziele, die mittels
einer Zeitmaschine bereist werden können. Die Reisenden
als solche bleiben aber in jeder historischen Zeit unverändert
amerikanisch-gegenwärtig. Diese verdrängte historische
Zeit manifestiert sich hingegen in Lynchs Filmen geradezu

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als Besessenheit, als Trauma, als obsessive Wiederholung
einer Vergangenheit – und zwar einer Vergangenheit, die
sich nicht eindeutig datieren und diagnostizieren und somit
auch nicht domestizieren lässt. Die Vergangenheit erweist
sich hier als eine Krankheit, von der man auch kraft der
Psychoanalyse nicht geheilt werden kann – diese Krankheit
lässt sich gar nicht kurieren, sondern nur wiederholen. Oder
anders ausgedrückt: Es handelt sich um eine Krankheit, die
nur dadurch geheilt werden kann, dass man sie mittels der
Kunst zur einzig wahren Gesundheit erklärt.
So ist der Raum in Lynchs Filmen eine Heterotopie, um
den Begriff von Foucault zu benutzen. Es ist zwar ein
Raum, der äußerlich demjenigen der amerikanischen
Wirklichkeit gleicht, der also mit allen uns recht vertrauten
Bezügen, Verhaltensweisen und Bildern versehen ist, der
aber trotzdem beim Betrachter das Gefühl entstehen lässt, in
einen anderen Raum, in einen Parallelraum versetzt zu
werden. In dieser Hinsicht ist es nicht uninteressant, dass
Foucault darüber spricht, dass die Heterotopie der Ort ist, an
dem sich die Zeiten akkumulieren, an dem sich die
Geschichte akkumuliert, wie zum Beispiel das Museum, die
Bibliothek oder der Friedhof. Aber man kann auch sagen,
dass die Heterotopie ein Raum ist, in dem die Geister der
Vergangenheit walten und von der Gegenwart Besitz

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ergreifen. Und so klärt sich das Gefühl des Heterotopischen
in Lynchs Filmen – das Gefühl, dass es zwar ein
amerikanischer Ort ist, aber eben „nicht ganz“. Denn auch
wenn sie sich vielleicht nicht zeigen, sind da vergangene
Zeiten akkumuliert, die eine andere, parallele Räumlichkeit
brauchen und bilden – und somit einen fast unsichtbaren,
aber spürbaren Unterschied zum „unhaunted“ Raum des
zeitgenössischen aufgeklärten geschäftsmäßigen Alltags
schaffen.
AU: Was meinen Teil betrifft, so werde ich nun versuchen,
den Begriff der Parallelität von Orten in einen
kulturhistorischen Kontext zu rücken. Im Grunde
genommen bestand seit Joyce das Hauptanliegen des
modernen Romans darin, dem großen historischen Narrativ
zu entkommen, also aus der Linearität der Chronologie
auszubrechen. Meines Erachtens handelte es sich bei diesem
Verlangen eigentlich nur um eine notwendige Reaktion auf
Entwicklungen in der bildenden Kunst, die es nämlich schon
geschafft hatte, die naturalistische Abbildung zu
überwinden, das heißt den historischen Zeitbezug hinter sich
zu lassen, und sich mit dem Impressionismus der flüchtigen
Zufälligkeit eines erlebten Augenblicks, der inneren,
subjektiven Zeit, zuwandte. So markiert der Übergang vom
neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert die erste Epoche

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seit der Renaissance, in der die Literatur in der Erneuerung
der eigenen Mittel hinter die Malerei zurückgefallen war.
Und der gesamte Umwälzungsprozess in der Literatur, der
sich dann von Joyce bis – sagen wir – Robbe-Grillet in
Gang setzte, war nichts anderes als die enorme
Anstrengung, mit dem eigenen Instrumentarium, also durch
narrative Techniken, ebendiese Aufhebung klassischer
Zeitlinearität zu erreichen, die sich im großen Stilwechsel
der Malerei bereits vollzogen hatte. Das Kino folgte, seiner
Natur gemäß, der Literatur auf dem Fuße – so gut es eben
konnte.
In David Lynchs filmischem Werk findet dieser
Befreiungsakt ebenfalls statt, setzt aber direkt an dem
Medium an, der Auslöser dieser Erneuerung war, nämlich
an der Malerei. Auf diese Weise gelingt es ihm, seinem
Kino eine narrative Struktur zu verleihen, die nicht im
Literarischen gründet. Diese Strategie gipfelt in
„Mulholland Drive“, wo die Erzählung in das perfekte
Rätsel mündet und ein Stadium erreicht, in dem alle
Zeitstränge Kreise beschreiben, die sich derart ineinander
fügen, dass keine Auflösung möglich ist. In seinem neuesten
Film setzt Lynch diese Zirkularität nicht nur fort, sondern
legt die Verschachtelung so an, dass es zu einer
Selbstwiderspiegelung des Werks kommt – denn „Inland

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Empire“ handelt von einem Film im Film. Meiner Meinung
nach findet damit vorerst jene Suche nach der eigenen
kinematographischen Form ein Ende, die vor vierzig Jahren
in einem studentischen Maleratelier an einer amerikanischen
Kunstakademie begann. Dies sind Vorzeichen, die auf den
Eintritt in eine neue Phase verweisen, und möglicherweise
geht mit ihnen Lynchs Entscheidung einher, jetzt sein
plastisches Werk in einem größeren Umfang sichtbar zu
machen. Dass er darüber hinaus auch als Maler in ein
anderes Stadium eingetreten ist, das nach Betrachtung und
Publikum verlangt, lässt sich auf eine zunächst nicht genau
identifizierbare Weise an seinen letzten Gemälden ablesen,
die in dieser Ausstellung zu sehen sind.
BG: Ich würde schon sagen, dass man bei einigen literarischen
Texten der letzten Jahrzehnte gewisse Parallelitäten zu
Lynchs Filmen finden kann. Gerade Robbe-Grillet könnte
man in diesem Zusammenhang zitieren, denn viele seiner
Romane sind so aufgebaut, dass sich der Leser im Kreise zu
drehen scheint und seine Aufmerksamkeit, die dem Blick
des Helden folgt, immer wieder zu den gleichen wenigen
Bildern zurückkommt. Es handelt sich in der Regel um die
Bilder des Verdachts, von denen wir annehmen, dass sie
mehr verbergen als offenbaren – und der Held kehrt gerade
deswegen obsessiv zu diesen Bildern zurück, weil er hofft,

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ihre verborgene Bedeutung zu dechiffrieren. Vor allem nach
der Lektüre meines Lieblingsromans von Robbe-Grillet,
nämlich „La Jalousie“, verbleiben im Gedächtnis des Lesers
vielleicht nur drei, vier Bilder. Man kann sagen, dass hier
das Narrativ zum Bild wird. So lässt sich in der Tat auch in
Bezug auf Lynchs Filme sagen, dass er damit beginnt, die
Bilder zu narrativisieren, um das Narrativ dann ins Bild zu
fassen.
Ich kann es mir an dieser Stelle nicht verkneifen, wieder
auf Wagner zu verweisen, nämlich auf die berühmte Zeile
aus „Parsifal“: „Hier wird zum Raum die Zeit.“ Bei Lynch
wird die Zeit vielleicht nicht zum Raum, sondern eher zum
Bild – aber was für ein Bild ist das? Ich glaube, da müssen
wir an einem früheren Punkt unseres Gesprächs anknüpfen:
Es ist das Bild des Konflikts oder – man kann es mit den
Worten Heideggers sagen – ein Riss. Heidegger spricht in
seinem „Ursprung des Kunstwerks“ davon, dass sich das
Kunstwerk um einen fundamentalen Riss bildet, der dadurch
entsteht, dass sich Welt und Erde, Götter und Menschen in
einem Widerstreit befinden – und der Riss ist eben das leere
Zentrum dieses Widerstreits. Es handelt sich hier nicht bloß
um den „blinden Fleck“, wie man so oft sagt – denn ein
blinder Fleck ist etwas Passives, das strukturell übersehen
werden kann und wird –, sondern eben um einen Riss als

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Ort der größten Anspannung, des größten Konflikts, des
größten Widerstreits. Dieser Riss ist atemporal, und um ihn
herum entsteht die Zeit als historische Zeit des Kampfes. Ich
denke, dass wir bei allen Autoren der Moderne den Verweis
auf diese Atemporalität des grundlegenden Konflikts finden,
der benutzt wird, um die Linearität der Zeit zu relativieren
und sogar aufzubrechen. Man kann schwer sagen, ob Lynch
tatsächlich am Ende seines filmischen Werks ist, aber was
auf jeden Fall auffällt, ist, dass das Moment der
Wiederholung in seinem Werk immer deutlicher spürbar
wird. Und sicherlich tritt diese Wiederholung noch mehr
hervor, wenn man sich Lynchs bildnerischem Werk nähert,
denn auch dort trifft man auf die Figuren, die Themen, die
Konstellationen, die erstens repetitiv sind und zweitens auf
jene Figuren und Themen verweisen, die uns aus seinen
Filmen immer schon vertraut sind. Allerdings wird gerade
dadurch deutlich, dass wir es hier nicht mit einer
Wiederholung auf einer rein formalen Ebene zu tun haben.
Es ist keineswegs so, dass Lynch bloß bestimmte
künstlerische Verfahren wiederholt, und dazu noch in allen
Medien gleichermaßen. Ganz im Gegenteil: Die formalen
Verfahren, die er benutzt, sind – wie Du vorhin bereits
bemerkt hast – immer an die jeweiligen Anforderungen des
entsprechenden Mediums angepasst und lassen sich auf die

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anderen Medien nicht ohne weiteres übertragen. In diesem
Sinne ist Lynchs Werk so heterogen wie es die Medien sind,
die er benutzt. Was sich aber durch alle diese Medien
hindurch wiederholt, ist eben der Riss, von dem ich
gesprochen habe. Lynchs Bilder bieten die Vision einer
dualistischen Welt, der Welt im inneren Widerstreit, in der
die Linie, die die streitenden Kräfte trennt, diese zugleich
vereint. Es handelt sich hier um die transmediale
Wiederholung einer bestimmten, für ihn grundsätzlichen
Bildstruktur.
AU: Dabei fällt mir auf, dass sowohl Robbe-Grillets erster
Roman „Les Gommes“ als auch Lynchs erster Spielfilm
„Eraserhead“ beide die Idee des Ausradierens im Titel
tragen und damit auch auf den Vorgang des Überschreibens
verweisen, der sich bei Lynch ja ständig vollzieht.
BG: Man kann sagen, dass Lynch in der Tat sein früheres
Werk immer erneut in einen größeren Zusammenhang
einschreibt. Er bewegt sich immer weiter aus dem Bild
heraus, hin zum Kontext, dann aus diesem Kontext heraus
zum größeren Kontext usw. Seine jüngere Malerei ist
narrativer als die früheren Bilder es sind, sie ist szenischer,
sie lässt sich noch mehr erzählen; sie sieht wie
zusammengefasste Szenen seiner Filme aus. Vielleicht
kündigt sie auch in seinem filmischen Schaffen eine neue

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Etappe an, eine neue Möglichkeit, sie in den Zeitlauf zu
bringen.
AU: Eigentlich bedarf es jetzt nichts weiter als eines Zitats aus
Nietzsches „Zur ‚Kur des Einzelnen’“: „Er soll vom
Nächsten und Kleinsten ausgehen und die ganze
Abhängigkeit sich feststellen, in die hinein er geboren und
erzogen ist. […] Dann kommt das Höhere: der Versuch, ein
Ideal zu dichten. Dies geht dem noch Höheren voraus –
eben dies Ideal zu leben. […] Er muss durch eine Reihe von
Idealen hindurch.“

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