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Lebensbilder aus der Oberlausitz

„Nach Sachsen“, Werbung des Landesverkehrsverbandes Sachsen, Karten-


material in 7 Teilen, Umschlagsgestaltung Kurt Fiedler, Dresden, Limpert-
Verlag, 1934–1936: Dresden und Umgebung; Sächsische Schweiz und
Dresden; Dresden und das Ost-Erzgebirge; Sächsisches Erzgebirge (Mitte,
Westen), Chemnitz, Zwickau; Sächsisches Vogtland und seine Bäder, Plau-
en; Leipzig, Sächsisches Burgenland; Oberlausitz und Zittauer Gebirge

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Lebensbilder aus der
Oberlausitz

60 Biografien aus Bautzen, Bischofswerda und Umgebung

Frank Fiedler und Uwe Fiedler


Bischofswerda, 2017

ISBN: 978-3-7460-7179-4

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

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Impressum

© 2011–2017 Frank Fiedler und Dr. Uwe Fiedler, Bischofswerda; 7., überarbeitete Auflage
Die Autoren gewähren Open Access unter der Lizenz CC BY­NC­ND.
Redaktionsschluss: 22. September 2017

Abbildungen: 311, siehe Abbildungsverzeichnis Seite 414 f.

Das vorliegende Werk stellt eine Forschungsarbeit im Sinne gemeinnütziger Heimatforschung


dar. Die Autoren verfolgen kein Gewinnstreben.

Umschlagsgestaltung, Layout, Satz: Dr. Uwe Fiedler


Bilder Vorderseite: Porträts von Walther Hempel, Friedrich Hesse, Max Neumeister (Quellen lt.
Abbildungsverzeichnis für die Seiten 150, 158, 232)
Bild Rückseite: Südansicht von Bautzen um 1850 auf einem Gemälde von Johann Carl August
Richter (Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain)

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­
grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d­nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-7460-7179-4

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Vorwort

Mit den „Lebensbildern aus der Ober­ beiten zurück. Für alle Beiträge gilt,
lausitz“ soll an das Wirken bedeuten­ dass sie für diesen Druck nochmals
der Persönlichkeiten dieser ostsäch­ erheblich überarbeitet wurden. Neben
sischen Region erinnert werden. Dies notwendigen Anpassungen an die Ge­
schließt sowohl in der Oberlausitz gebenheiten eines Printmediums und
geborene Personen ein, die sich und einer reichen Ausstattung mit Bildern
damit ihrer Heimat in nah und fern konnten zusätzlich viele neue Details
einen Namen gemacht haben, aber recherchiert werden.
auch „Zugereiste“, denen die Oberlau­
sitz zu einer neuen Heimat geworden Nachdem die ersten Auflagen mit 34
war. Bei der Auswahl der Biografien Artikeln erschienen waren, konnten
ging es nicht um die oberflächliche zuletzt weitere Arbeiten ergänzt wer­
Vorstellung einer „Elite“, sondern vor­ den. Zudem wurden auch die Bio­
rangig um originäre Forschungsar­ grafien aus den ersten Auflagen stetig
beiten zu berühmten Personen, aber weiter erforscht. Die Themen reichen
auch zu Menschen, deren Lebenslauf jetzt von A wie Avenarius, einem
beispielhaft für ihre Zeit steht. Maler und Grafiker, bis Z wie Zeissig,
einem Dresdner Kunstprofessor.
Die Anregung zu diesem Buch er­
hielten die Autoren durch den Erfolg Aufgrund der örtlichen Bindung
ihrer Arbeiten zum Biographischen der Autoren stellen Biografien aus
Lexikon der Oberlausitz der Oberlau­ Bischofswerda und Großdrebnitz
sitzischen Gesellschaft der Wissen­ einen gewissen Schwerpunkt dar, es
schaften. Von 2007 bis zum Wiki­ finden sich aber auch viele Arbeiten
Update 2011 wurden die 25 auch hier zu Bautzen und Umgebung. Wissen­
vertretenen Biografien über 125.000 schaftler und Künstler verschiedener
Mal online aufgerufen. Die Grundla­ Profession werden ebenso vorgestellt
gen dafür schuf Frank Fiedler, der in wie Pfarrer, darunter auch sorbi­
den letzten 25 Jahren viele Beiträge sche Geistliche, Heimatforscher und
in verschiedenen heimatkundlichen Freimaurer. Besonders hervorgeho­
Heftreihen veröffentlichte. Seit meh­ ben seien die Arbeiten zu Bruno
reren Jahren ist zudem Uwe Fiedler Steglich, Gottlob Friedrich
unter Pseudonym Ghosttexter in der Thormeyer, Gottfried Unterdör­
deutsch­ und in der englischsprachi­ fer und zu mehreren Angehörigen
gen Wikipedia sowie im Stadtwiki der Familie Stöckhardt.
Dresden aktiv. Weitere Biografien in
diesem Buch gehen auf diese Vorar­ Frank Fiedler Dr. Uwe Fiedler

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Inhaltsverzeichnis
Seite
Avenarius, Johannes Maximilian (Maler und Grafiker) 8
Azémar, Francois Basile (Offizier der napoleonischen Armee) 12
Barthel, Bruno (Heimatforscher in Großdrebnitz) 16
Biram, Arthur (jüdischer Schulgründer aus Bischofswerda) 20
Biram, Else (jüdische Soziologin aus Bischofswerda) 34
Blochmann, Heinrich August (Landwirtschaftsreformer) 42
Bolesław I Chrobry (König von Polen) 48
Böttiger, Karl August (Altertumsforscher, Schuldirektor) 58
Creutz, Gerhard (Ornithologe in Neschwitz) 66
Cyž, Jan (sorbischer Schriftsteller, Landrat) 70
Derlitzki, Georg (Agrarwissenschaftler in Pommritz) 72
Derlitzki, Dorothea (Arbeitswissenschaftlerin in Pommritz) 76
Friedrich, Edmund (Balneologe aus Bischofswerda) 78
Garbe, Richard (sächsischer Landespfarrer) 84
Gedike, Ludwig (Schulreformer) 88
Giese, Ernst (Architekt aus Bautzen) 96
Gnauck, Ernst (Gemeindevorstand in Kleindrebnitz) 108
Goller, Josef (Professor an der Kunstgewerbeschule Dresden) 116
Groitzsch, Wiprecht von (Markgraf, Herrscher der Oberlausitz) 124
Heiden, Eduard (Agrarwissenschaftler in Pommritz) 134
Heller, Robert (Schriftsteller aus Großdrebnitz) 138
Heller, Woldemar (Pianist aus Großdrebnitz) 146
Hempel, Walther (Rektor der Technischen Hochschule Dresden) 150
Hermann, Paul (Rittergutsbesitzer auf Weidlitz und Pannewitz) 154
Hesse, Friedrich (Gründer der Universitätszahnklinik Leipzig) 158
Hesse, Walther (Bakteriologe bei Robert Koch, Bezirksarzt) 164
Kanig, Karl Traugott (Pfarrer, sorbischer Liederdichter in Klix) 174
Klotz, Christian Adolph (Philologe aus Bischofswerda) 180
Langner, Norbert (Karpfenteichwirt in Königswartha) 186
Lehmann, Julius (Agrarwissenschaftler in Weidlitz, Pommritz) 190
Lier, Adolf (Landschaftsmaler aus Herrnhut) 196
Lier, Hermann Arthur (Bibliothekar und Historiker) 200
Lier, Leonhard (Journalist aus Herrnhut) 202
Loges, Gustav (Agrarwissenschaftler in Pommritz) 206
Marloth, Carl Julius (Sorbe, Pfarrer, Schriftsteller) 210
Meißner, August Gottlieb (Schriftsteller aus Bautzen) 214
Mittag, Karl Wilhelm (Stadtchronist von Bischofswerda) 218

6
Nake, Johann Gottfried (Schafzüchter der Wettiner) 222
Neumeister, Max (Direktor der Forstakademie Tharandt) 232
Nostitz, Gottlob Adolf Ernst von (Präsident der OLGdW) 240
Nostitz, Eduard Gottlob von (sächsischer Innenminister) 248
Nostitz, Julius Gottlob von (sächsischer Gesandter) 256
Pache, Johannes (Komponist aus Bischofswerda) 260
Petermann, Georg (Prediger böhmischer Exulantengemeinden) 266
Richter, Siegmund Ehrenfried (Buchdrucker, Verleger) 272
Rietschel, Ernst (Professor an der Kunstakademie Dresden) 276
Schindler, Osmar (Professor an der Kunstakademie Dresden) 288
Schneider, Johann Gottlob (Hoforganist) 294
Siebelis, Karl Gottfried (Direktor des Gymnasiums Bautzen) 300
Steglich, Bruno (Agrarwissenschaftler in Dresden) 306
Steudner, Hermann (Botaniker und Afrikaforscher) 318
Stöckhardt, Johann Heinrich (Pfarrer in Putzkau) 328
Stöckhardt, Gerhard Heinrich Jacobjan (Pfarrer und Freimaurer) 330
Stöckhardt, Robert (Jura­Professor in St. Petersburg) 338
Stöckhardt, Ernst Theodor (Agrarwissenschaftler aus Bautzen) 344
Thormeyer, Gottlob Friedrich (Hofbaumeister in Dresden) 354
Unterdörfer, Gottfried (Förster und Schriftsteller in Uhyst/Spree) 368
Vetter, Hermann (Professor am Konservatorium Dresden) 378
Winckler, Georg (Märtyrer der Reformation) 382
Zeissig, Johann Eleazar (Direktor der Kunstakademie Dresden) 392

Autobiografische Retrospektive von Frank Fiedler 404


Weitere Quellen 412
Abbildungsverzeichnis 414
Kurzbiografien von Heimatforschern aus Bischofswerda und
Umgebung
Gnauck, Max Otto 415
Leppelt, August 416
Paeßler, Roland 417
Sorber, Willy 419
Steudtner, Hermann 420
Weber, Johannes 423
Winkler, Friedrich Wilhelm 424
Die Oberlausitzer Familie Baumeister 425

7
Johannes Maximilian Avenarius (1920, Otto Müller, Staatliche Museen zu
Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Lizenz: CC BY-NC-SA 3.0 DE).

8
Avenarius, Johannes Maximilian
Professor, Maler, Grafiker und Schriftsteller
07.01.1887 Greiffenberg/Gryfów Slaski (Schlesien) – 21.08.1954 Berlin

V: Ludwig (*5.2.1851 Leipzig, †19.3.1911 Hirschberg), Sohn des Buchhändlers und Verlegers
Eduard Avenarius, 1869 Abitur am Friedrichsgymnasium Berlin, Jurastudium in Berlin, Leipzig
und Halle, 1876 Promotion zum Dr. jur. in Jena, Appellationsgericht Breslau, Staatsanwaltschaft
Ratibor, ab 1885 Amtsrichter in Greiffenberg, ab 1893 Rechtsanwalt und später Notar und
Justizrat in Hirschberg, nationalliberaler Reichstagabgeordneter, ab 1893 Meister vom Stuhl der
Hirschberger Freimaurer­Loge „Zur heißen Quelle“, Mitglied der Provinzialsynode Schlesien
der evangelischen Kirche, führte im Namen der Erbengemeinschaft den väterlichen Verlag bis
1896 weiter; M: Helene Karoline Klara geb. Rühlmann (*5.9.1852 Halle, †1944 Hirschberg),
Bauerntochter aus Niedermöllern bei Kösen; G: Cäcilie Marie Julie Emilie (*27.5.1883 Ratibor,
†16.5.1952 Detmold), Eduard (*24.1.1886 Greiffenberg, †1949 Meißen, Medizinstudium in
München, Dr. med.); E: (1) 14.5.1918 Berlin, Elisabeth geb. Reuter (*18.10.1897 Erbach/Donau,
†1977, Tochter der Schriftstellerin Gabriele Reuter, Scheidung 1922), (2) 5.2.1926 Breslau, Anna
Maria geb. Ronge (1889–1974, Kunstgewerblerin, Schülerin von Max Wislicenus und Wanda
Bibrowicz in Breslau); K: Klaus Ludwig (*26.2.1919, † fünf Wochen nach der Geburt)

Avenarius entstammte einer künstle­ Bruder Ferdinand in enger Verbin­


risch und literarisch geprägten Fami­ dung und übte mit seinem politi­
lie. Ein Großvater, Eduard Avenarius, schen, christlichen und kulturellen
war ein bekannter Buchhändler in Engagement ein prägenden Einfluss
Leipzig und hatte eine Tochterfirma auf den Sohn aus.
des Brockhaus­Verlags gegründet, die
er in Paris vertrat. Zu seinem Freun­ Johannes Avenarius besuchte bis
deskreis zählten Heinrich Heine und 1902 das humanistische Gymnasi­
sein Schwager Richard Wagner. Seine um in Hirschberg, 1905 legte er in
Ehefrau, Johannes Avenarius‘ Groß­ Wittenberg das Abitur ab. Zu seinen
mutter Cäcilie, war eine Tochter des Verwandten in Dresden hatte er enge
Hofschauspielers Ludwig Geyer, des Beziehungen. Seine Großmutter Cäci­
Stiefvaters von Richard Wagner. Ein lie lebte dort bis 1897. Sein Onkel Fer­
Onkel, Richard Avenarius, war ein dinand förderte das künstlerische In­
Philosoph, ein anderer Onkel, Ferdi­ teresse des Neffen. Im Sommer 1905
nand Avenarius, gründete in Dresden nahm Johannes Avenarius zusammen
die Zeitschrift „Kunstwart“ und den mit dem Stiefsohn des Onkels, Wolf­
Dürerbund. Er gehörte zu den Initia­ gang Schumann, später ein bekannter
toren und Förderern von Deutschem Journalist und Schriftsteller, Pri­
Werkbund, Gartenstadt Hellerau und vatunterricht im Zeichnen bei Karl
Bund Heimatschutz. Johannes‘ Vater, Hanusch, einem Stipendiaten des Dü­
Ludwig Avenarius, stand mit seinem rerbundes. Ab 1905 studierte Johan­

9
nes Avenarius bei Robert Sterl, einem
Freund des Onkels, in der Unterklasse
der Dresdner Kunstakademie, in der
Mittelklasse waren Richard Müller
und sicher auch Osmar Schindler
seine Lehrer. 1907 kam er erstmals
mit Gerhart Hauptmann zusammen,
mit dem er zeitlebens befreundet
blieb. Im selben Jahr wechselte er
nach München, wo sein Bruder
Eduard Medizin studierte. 1907/1908
hörte Avenarius als Hospitant an der
Universität München Pathologie,
Psychologie bei Theodor Lipps und
Kunstgeschichte bei Fritz Burger. Mit
Johannes Avenarius hielt sich viel in Burger besuchte er im Oktober 1913
Blasewitz bei seinem Onkel Ferdi- den „Ersten Freideutschen Jugendtag“
nand auf. Jener hatte sich mit dem auf dem Hohen Meißner in Hessen,
Journalisten und Kunsthistoriker wo die fortschrittliche Jugend ein
Paul Schumann in der Wachwitzer Zeichen gegen hurra­patriotische
Straße 3 (spätere Avenariusstraße Tendenzen im Vorfeld des Ersten
4) von Schilling & Graebner eine Weltkriegs setzen wollte.
Villa errichten lassen. Ferdinand
Avenarius wohnte dort zusammen Nach seiner Rückkehr nach Schlesien
mit Schumanns erster Ehefrau im Jahre 1910 arbeitete Avenarius
Else, einer Tochter des deutsch- freischaffend. Er traf wieder auf Karl
amerikanischen Schriftstellers Hanusch, der an der „Akademie
Rudolf Doehn, sowie deren Sohn für Kunst und Kunstgewerbe“ Bres­
Wolfgang Schumann. Vermutlich lau lehrte. Als 1913 in Breslau dem
hier und möglicherweise im Haus hundertjährigen Jubiläum der Befrei­
Uhlenkamp in Kampen auf Sylt, wo ungskriege gegen Napoleon gedacht
Ferdinand Avenarius seine Sommer wurde, schuf Avenarius mehrere
verbrachte, erhielt Johannes Avena- Porträts bedeutender Schlesier, dar­
rius mit Wolfgang Schumann von unter von den Brüdern Hauptmann.
Karl Hanusch, einem Stipendiaten Im Ersten Weltkrieg wurde er an der
des Dürerbundes, 1905 einen ersten französischen Front verwundet. Nach
Zeichenunterricht. 1910 ließ Ferdi- Kriegsende setzte Avenarius seine
nand Avenarius in der benachbarten künstlerische Laufbahn fort. Er malte
Bahnhofstraße 24 das Dürerbund- Kirchen aus, schuf Buchillustrationen
haus errichten. und Porträtzeichnungen. Aufträge

10
für Raumausmalungen kamen bis
aus Wien und Göteborg. Avenarius
schrieb zudem Gedichte und Er­
zählungen in schlesischer Mundart.
Für Gerhart Hauptmann illustrierte
er Bücher. Hauptmann sammelte
Avenarius‘ Gemälde und ließ ihn sein
Haus in Agnetendorf bei Hirschberg
mit Fresken gestalten. Mit Görlitz, wo
er seine zweite Frau kennen lern­
te, war Avenarius eng verbunden.
Hanusch holte Avenarius 1924 an die
Kunstschule für Textilindustrie nach
Plauen, 1925 wurde er Professor an
der „Akademie für graphische Künste
und Buchgewerbe“ in Leipzig mit
Lehre in Plauen. 1933 entließen ihn
die Nazis wegen angeblich entar­
teter, kommunistischer Kunst und
nahmen ihn in Untersuchungshaft.
Durch Fürsprache einflussreicher Avenarius war mit seinen Fresken
Kräfte, darunter Gerhart Hauptmann, maßgeblich an der Gestaltung
konnte Avenarius aber zunächst der Eingangshalle zum Gerhart-
weiter künstlerisch arbeiten. 1943 fiel Hauptmann-Haus in Agnetendorf
er erneut in Ungnade und der Druck bei Hirschberg beteiligt. Foto: Irena
seines Romans „Schoepse­Christel” Goderska (Wikimedia Commons,
wurde verboten. Nach dem Zweiten Lizenz: CC BY-SA 3.0)
Weltkrieg musste Avenarius im Zu­ lungen 30.10.2007; Wojciech Kunicki: „Meister /
sammenhang mit der Vertreibung der du hast deine Hand gehalten. Johannes Maximilian
verbliebenen deutschen Bevölkerung Avenarius und seine Kreationen des „Schlesischen“
an der Schnittstelle zwischen Literatur und bilden­
Schlesien verlassen. Er ging 1946 der Kunst“; Gerhard Kratzsch: „Kunstwart und Dü­
nach Berlin, wo er wiederum kirchli­ rerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten
che Bilder schuf. Avenarius starb 1954 im Zeitalter des Imperialismus“. Vandenhoeck u.
Ruprecht, Göttingen 1969; Ludwig Avenarius: „Ave­
in Berlin, seine Urne wurde fünf Jahre narische Chronik“. O. R. Reisland 1912; Wolfgang
später nach Görlitz überführt. Das Liebehenschel: „Johannes Maximilian Avenarius
(1887–1954): Der bedeutende schlesische Künstler
Graphische Kabinett des Kulturhis­ und Philosoph erblickte vor 125 Jahren das Licht
torischen Museums Görlitz bewahrt der Welt“. Schlesischer Gottesfreund, 2012, H. 2;
seinen künstlerischen Nachlass auf. Wojciech Kunicki: „ ­ auf dem Weg in dieses Reich“:
NS­Kulturpolitik und Literatur in Schlesien 1933 bis
Quellen: Gerlinde und Klaus Schneider (Leun, aus 1945“. Leipziger Universitätsverlag, 2006; Matrikel­
der Familie von Professor Karl Hanusch), Mittei­ bücher Universität München

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Les Cabannes, ein kleines Dorf in den mittleren Pyrenäen nahe Toulouse,
hat heute etwa 350 Einwohner und liegt nur 2 Kilometer entfernt von
Cordes-sur-Ciel, einem mittelalterlichen Anziehungspunkt für Touristen.
Foto: Stephen Colebourne (Flickr, Lizenz CC BY-ND 2.0)

Insignum des 150. Linien-Infan-


terieregiments, das Azémar 1813
als Oberst u. a. in der Schlacht von
Bautzen befehligte.

Das Regiment bestand seit 1794 und


wurde 1990 aufgelöst. Seine erste
Auszeichnung erhielt es im August
1813 unter Azémar nach dem Sieg
in Goldberg (Niederschlesien).

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Azémar, Francois Basile
Offizier der napoleonischen Armee
01.01.1766 Les Cabannes (Tarn) – 13.09.1813 Großdrebnitz

V: Antoine (*1721 Les Cabannes), Gerber; M: Anne geb. Portes (*2.9.1719 Cordes­sur­Ciel);
G: Jacques François (*5.4.1750 Cordes­sur­Ciel), Marie (*8.5.1752 Cordes­sur­Ciel), Joseph
(*28.3.1754 Cordes­sur­Ciel)

Azemars Eltern wohnten zunächst in Bruges (bei Bordeaux). 1796 trat er


Cordes­sur­Ciel, bevor sie mit ihren in die Armee Côtes de l‘Océan ein.
drei ältesten Kindern in das benach­ Unter dem Kommando von General
barte Les Cabannes, die Heimat des Jean Joseph Amable Humbert war
Vaters, zogen. Hier wurde Francois er an der französischen Invasion zur
Basile geboren. Der Sohn eines Ger­ Unterstützung des Aufstands in Irland
bers entschied sich früh für die mili­ gegen die britische Vorherrschaft
tärische Laufbahn. Am 2. März 1783 beteiligt und nahm an der Schlacht
trat er als Soldat des Regiments von von Castlebar teil. Am 27. August
Vivarais in die königliche Armee von 1798 besiegten die irischen Auf­
Louis XVI. ein. Aus einfachen Ver­ ständischen mit ihren französischen
hältnissen stammend, fehlte es ihm Verbündeten die britische Übermacht
aber an Protektion. Er schloss sich (2000:6000 Mann). Nach der vernich­
den revolutionären Streitkräften an. tenden Niederlage von Ballinamuck
am 8. September geriet Azémar für
Am 18. September 1791 wurde Azé­ sechs Wochen in Kriegsgefangen­
mar zum Hauptmann des 3. Frei­ schaft, bevor er ausgetauscht wurde.
willigenbataillons de l‘Oise, ein Jahr Er quittierte den aktiven Militärdienst
später zum Bataillonskommandeur und übernahm bis 1803 in Tarn bzw.
befördert. Azémars Bataillon gehörte in Dünkirchen leitende Funktionen
zur Nordarmee des deutschstämmi­ in der Verwaltung und in der Militär­
gen Generals Nikolaus von Luckner. reserve und ­gerichtsbarkeit.
Am 26. April 1792 komponierte
Rouget de Lisle Luckner zu Ehren die Ab 1804 diente Azémar in der na­
Marseillaise als Kriegslied der Rhein­ poleonischen Armee, für die er 1805
armee, 1794 fiel jener der Guillotine in Italien kämpfte. Seit 1804 war er
zum Opfer. Azémar wurde am 21. Mitglied der Ehrenlegion. Am 7.
März 1794 zum Brigadekommandeur April 1809 wurde Azémar zum Major
des 50. Linien­Infanterieregiments des 64. Linienregiments unter Oberst
ernannt und war vom 28. Juli bis Baradin de Peschery befördert. Am 5.
1. Oktober Stadtkommandant von und 6. Juli nahm er an der Schlacht

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bei Wagram teil, als Napoleon mit
seinen Verbündeten aus Sachsen,
Bayern und Italien die Truppen von
Erzherzog Karl von Österreich schlug
und damit den 5. Koalitionskrieg für
sich entschied.

Am 16. Januar 1813 übernahm Azé­


mar als Oberst das Kommando über
das 150. Linienregiment, mit dem er Azémars Unterschrift.
im Mai in Leipzig stationiert war und
an den Schlachten in Lützen und bei fiel Azémar, von einer Kugel tödlich
Bautzen (20. Mai) teilnahm. Frank­ am Kopf getroffen. Insgesamt verlor
reich und seine Alliierten Sachsen sein „150e Regiment d‘ Infanterie de
und Bayern versäumten dabei einen Ligne“ im Zeitraum vom 27. August
entscheidenden Sieg gegen Preußen bis zum 14. September 1813 fünf
und Russland. Im August 1813 war gefallene und vierzehn verwundete
Azémars Regiment an den Kämpfen Offiziere, davon je zwei in Großdreb­
am Katzbach beteiligt und siegte in nitz. Die Entscheidung fiel, als am 14.
Goldberg (Złotoryja, Niederschlesi­ September Vicomte de Saint­Priest,
en). Die Kampagne stand unter dem ein Franzose in russischen Diensten,
Oberbefehl von Marschall Jacques mit seiner Kavallerie eintraf. Er nahm
MacDonald. Am 29. August beför­ mehr als hundert Gefangene. Am 20.
derte Napoleon Azémar zum Briga­ September besetzte der österreichi­
degeneral. Seine Brigade gehörte zur sche General Adam Albert von Neip­
16. Division des 5. Korps. Seit dem 1. perg das Dorf. Azémar gehörte zu den
August war er Offizier der Ehrenlegi­ 162 Generälen bzw. Admirälen, die
on. Am 13. und 14. September 1813 Frankreich von 1805 bis 1815 auf den
wurden das 149. und 150. Linienregi­ Schlachtfeldern Europas verlor. Sein
ment unter Eugène Charles Auguste Name wurde auf einer Bronzetafel in
de Mandeville bzw. Azémar in der der Schlachtengalerie („Galerie des
Nähe von Großdrebnitz in Kämp­ batailles“) des Schlosses Versailles
fe verwickelt. Schon am ersten Tag eingraviert.

Quellen: lesbataillonsdevolontaires.wifeo.com; www.lescabannes81.fr; lescabannestarn.free.fr;


www.napoleon­series.org; Georg Heinrich Pertz, Hans Delbrück: „Das Leben des Feldmarschalls
Grafen Neithardt von Gneisenau“. Reimer, 1864; Carl von Plotho: „Der Krieg in Deutschland
und Frankreich in den Jahren 1813 und 1814“. Amelang, 1817; Österreichische Militärische
Zeitschrift. Bd. 3, H. 7–9, Wien 1838, S. 138; Noel Charavay: „Les Generaux morts pour la patrie
(armées de terre et de mer, 1805–1815)“. 1908; „Galeries historiques du palais de Versailles“. Bd.
6, Ausg. 1, Imprimerie Royale, 1840; www.geneanet.org

14
Napoleon empfängt eine Nach-
richt: Bei der Schlacht von Bautzen
kämpften insgesamt 250.000 Solda-
ten mit rund 30.000 Pferden.
Geburtshaus von Bruno Steglich
„Gänse, deren es in dieser Gegend so viele in Kleindrebnitz, Franzosengräber
gibt, flatterten da in Scharen von mehreren im Südwesten des Grundstücks
Hunderten umher, und wie viele wurden des
(Ober-Steglichs Gut).
Abends im Biwak gebraten. Fast auf jedem
Tornister sah man eine Gans festgeschnallt.
Hier sei es mir erlaubt, in der Kürze zu sagen, „Beim Schlächter Steglich, am Putzkauer
wie wir sie brieten: Die Gans wurde, ohne ge­ Wege, hatte der Feldscher das Lazarett aufge­
rupft zu sein, aufgeschnitten und ausgeweidet, schlagen, von hier wurden den verwundeten
und, nachdem sie inwendig rein gewaschen, Soldaten abgeschnittene Arme und Beine
wurde sie mit einem Holze zugespengelt in Wagenladungen nach den benachbarten
[verschlossen], in den Federn und dick über Feldern gefahren und dort vergraben. Auf
dieselben mit angemachtem Lehm bestrichen Ober­Steglich‘s Mühlenwiese, am Hopfengar­
und so in die glühenden Kohlen verscharrt. ten, befanden sich mehrere Franzosengräber,
Hatte sie ihre Zeit gelegen, so wurde sie ebenso waren an der Dorfstraße bei Gottlieb
herausgenommen. Mit der nun gebrannten Steglich‘s Scheune einige Franzosen so flach
Lehmkruste gingen alle Federn und Haare mit eingescharrt, dass die Füße über den Erdbo­
aus, und der Braten war fertig. Schöpfen­ oder den herausragten und sich die Leute deshalb
Hammelbraten wickelten wir in Papier ein scheuten, vorüber zu gehen.“
und verscharrten ihn ebenfalls in die Kohlen.
Das Papier verbrannte nicht, sondern ver­ Bruno Steglich: „Erinnerungen aus mei-
kohlte nur, und es gab einen herrlichen und nem Leben“. Unveröffentlicht, Dresden 1927
wohlschmeckenden Braten.“

Johann Jakob Röhrig, 150. Linien-Infante-


rieregiment, zur Schlacht bei Bautzen am
20. Mai 1813; Röhrig, Karl (Hg.): „Unter der
Fahne des ersten Napoleon. Jugendgeschich-
te des Hunsrücker Dorfschullehrers Johann
Jakob Röhrig, von ihm selbst erzählt“. 2.,
verm. und verb. Aufl., Altenburg, 1908

15
Ehregott Bruno Barthel.

16
Barthel, Ehregott Bruno
Kirchschullehrer und Heimatforscher in Großdrebnitz
23.04.1856 Langhennersdorf b. Freiberg – 18.01.1933 Kleindrebnitz

V: Friedrich August (1829–1887), Gutsbesitzer in Langhennersdorf; M: Christiane Friederi­


cke geb. Scheinert (*1833 Reichenbach bei Hainichen, †1907 Langhennersdorf); G: Amalie
Auguste (1854–1907), Friedrich Louis (1857–1922), Friedrich Emil (1864–1950), Selma Alma
(1872–1935); E: 30.7.1879 Asta Clementine geb. Leipnitz (*6.6.1854 Schandau, †11.5.1947 Klein­
drebnitz); K: Gertrud (1881–1960, verh. mit dem Kleindrebnitzer Gemeindevorstand Oskar
Gnauck), Bruno Arthur (1882–1953, Drogeriebesitzer in Dresden, verh. mit Tochter Hedwig des
Kleindrebnitzer Gemeindevorstands Ernst Gnauck), Helene (1887–1961), Fritz (1892–1950)

Barthel wurde 1862 in die Kirchschu­ zuvor als Lehrer auf Probe eingestellt
le Langhennersdorf eingeführt. Zeitig worden war. Barthel hatte sich dafür
lernte der Junge Klavier spielen. gegen andere Kandidaten in einem
Schon mit 10 Jahren begann er, sich Wettbewerb durchsetzen müssen,
für landwirtschaftliche Probleme, der aus Orgelspiel, Singen, Kate­
Wetterbeobachtungen und ihre chisieren, Schreiben und Rechnen
Zusammenhänge zu interessieren. bestand. Zu seinen Aufgaben zählte
Am 15. April 1870 bestand Barthel das regelmäßige Vertreten des Pfar­
die Aufnahmeprüfung am Lehrer­ rers mit Lesegottesdiensten. Aus dem
seminar Nossen, das er bis 1876 wirtschaftlich prosperierenden Raum
besuchte. 1871 begann er Tagebuch Freiberg stammend, erkannte Barthel
zu führen, nachdem er sich zuvor das Entwicklungsdefizit seiner neuen
die Gabelsberger Kurzschrift ange­ Heimat und setzte sich mit Erfolg für
eignet hatte. Jahrzehnte vor ihrer den „Fortschritt auf dem Lande“ ein.
offiziellen Einführung in Deutschland In diesem Zusammenhang zu sehen
beherrschte er damals auch schon sind die Gründungen des örtlichen
die lateinische Schrift. Nach einer Landwirtschaftlichen Vereins (1900),
Kandidatenprüfung wurde Barthel der örtlichen Spar­ und Darlehens­
im April 1876 in Elstra als Vikar kasse (1903) und einer Schulbuchstif­
eingestellt, vier Wochen später als tung für Kinder aus finanzschwachen
Hilfslehrer. Am 11. März 1879 erhielt Familien (1905). Das Startkapital
er die Berufung zum dritten ständi­ erhielt die Schulbuchstiftung aus den
gen Lehrer in Elstra. Hier heiratete Erlösen eines Kinderkonzerts, das
Barthel die Tochter des Pächters vom am 3. April 1905 unter Leitung von
Gasthaus „Zum Stern“, Asta Leipnitz. Barthel im Erbgericht Großdrebnitz
Seine Berufung zum Kirchschullehrer stattfand. Barthel selbst stiftete den
in Großdrebnitz erfolgte zum Januar Reinertrag seines erfolgreichen Bu­
1881, nachdem er einige Wochen ches, der Chronik „Altes und Neues

17
aus Groß­ und Kleindrebnitz“. Er Echo. Hubert Maximilian Ermisch
schrieb in seiner Chronik von Groß­ bemängelte im „Neuen Archiv für
und Kleindrebnitz die Vorarbeiten sächsische Geschichte“ von 1910 vor
von Pfarrer Carl Julius Marloth allem die Quellenarbeit.
fort, ging jedoch weit darüber hinaus.
Neben ortsgeschichtlichen Vorkomm­ Barthel verfasste neben der Chronik
nissen schilderte Barthel Ereignisse weitere bemerkenswerte heimat­
von überregionaler Bedeutung mit kundliche Beiträge in der Beilage
ihren Auswirkungen auf das dörfliche „Unsere Heimat“ zum „Sächsischen
Leben, darunter die Einführung der Erzähler“: „Die Stolpener Amtstei­
Reformation, verschiedene Kriegs­ che und das Vorwerk Kleindrebnitz“,
handlungen seit dem Dreißigjährigen „Der Steinwall auf dem Rüdenberg
Krieg und die Zeit der Hexenpro­ bei Großdrebnitz“, „Die Jagdsäule
zesse. Eine regionalgeschichtliche auf der Rückersdorfer Straße“, „Die
Besonderheit stellte demnach die auf ersten Großdrebnitzer Feuerspritzen“,
Befehl von August dem Starken 1729 „Die Großdrebnitzer Wollspinnerei“
eingerichtete „Poststraßenumgehung“ sowie anonym u. a. zur Bahnhofsein­
von Schmiedefeld über Bühlau nach weihung Weickersdorf (1909) und
Kleindrebnitz dar. Wegen eines Strei­ zur Vereinstätigkeit. Darin wird auch
tes mit der Herrin auf Großharthau, eine große Sachkenntnis und Un­
der Gräfin von Flemming, hatte sich voreingenommenheit gegenüber der
der König für seine häufigen Reisen slawischen Besiedlungsgeschichte
nach Polen eine neue Straße unter der Oberlausitz deutlich. Bedeu­
Umgehung von Großharthau bauen tende Söhne des Ortes wie Bruno
lassen. Auffällig ist aber, wie kurz Bar­ Steglich und Hermann Vetter
thel die Geschichte der Großdrebnit­ werden jedoch gar nicht, bzw. wie Ro­
zer Orgel abhandelte, obwohl gerade bert Heller und Max Neumeister
die Orgel sein wichtigstes Arbeitsins­ nur sehr knapp behandelt. Das Ta­
trument war und Wilhelm Leberecht gebuch „Erlebtes und Gesammeltes“
Herbrig, dessen Vater zusammen mit enthält neben Tagesnachrichten, z.
dem Sohn die Orgel gebaut hatte, B. Zeitungsausschnitten, und Fami­
erst wenige Jahre vor Barthels An­ lieninformationen auch Auszüge aus
kunft das Dorf verlassen hatte. Es den Kirchenbüchern zu Geburts­ und
bleibt ungeklärt, inwiefern Barthel Sterbefällen. Sie dokumentieren die
bereits Kenntnis von problematischen hohe Kindersterblichkeit um 1900.
Details in der Biografie Herbrig jun. Zwischen dem 2. April 1922 und
hatte und durch deren Übergehen dem 23. November 1923 hat Barthel
das „Kulturgut Orgel“ vor Schaden systematisch den Verlauf der „Teue­
bewahren wollte. In der Wissenschaft rung“, d. h. der Inflation und deren
fand Barthels Chronik ein kritisches Folgen, beschrieben. Umfangreich

18
sind seine Aufzeichnungen zum Wet­ des Kirchenvorstands, Mitglied im
ter und dessen Auswirkungen auf die sächsischen Lehrerverein und ein ta­
Landwirtschaft. In der Diskussion um lentierter Zeichner. 1904 wurde Bar­
die strittige Lokalisierung des 1007 thel der Kantortitel und 1912 der Titel
urkundlich ersterwähnten Trebista „Oberlehrer“ verliehen. Am 23. Okto­
änderte Barthel seine Meinung von ber 1916 erhielt er von König Fried­
Großdrebnitz zu Doberschau. 1928 rich August III. das Verdienstkreuz
übereignete er der Dresdner Münz­ und am 19. März 1925 zeichnete ihn
sammlung Talermünzen aus der Professor Hermann Gräfe, Landwirt­
Zeit des Dreißigjährigen Krieges aus schafts­Ökonomierat aus Bautzen,
einem Fund auf Kleindrebnitzer Flur. mit der Bronzenen Medaille für den
Mit dem Kleindrebnitzer Gemeinde­ Dienst in der Landwirtschaft aus. Sein
vorstand Ernst Gnauck war Barthel Spätwerk „Kriegsleiden in der Heimat
freundschaftlich und durch die Heirat 1914–1918“, geschrieben, als der Na­
je zweier Kinder familiär verbunden. tionalsozialismus bereits Fuß gefasst
Gnauck hatte dem Wahlgremium hatte, widerspiegelte Barthels zutiefst
angehört, das Barthel 1881 zum humanistische Einstellung – nach der
Kirchschullehrer berief. Wenn später Machtergreifung Adolf Hitlers wurde
etwas vertraulich bleiben sollte, korre­ die Veröffentlichung verhindert. Sie
spondierten sie in Gabelsberger Kurz­ erfolgte 1994, mehr als 60 Jahre nach
schrift. Barthels Tagebuch endet am der Entstehung des Werkes. Wegen
1. Juni 1931, als sein Schwiegersohn seiner Leistungen, aber auch wegen
Oskar Gnauck den Freitod wählte. seiner Bindung an alle Schichten
der dörflichen Bevölkerung ist sein
Regional wirksam wurde Barthel Ansehen in Großdrebnitz bis heute
als Begründer des Bezirksvereins erhalten geblieben. Barthels Ehren­
Bischofswerda des Deutschen Leh­ grab wurde 1998 unter Denkmal­
rervereins für Naturkunde (10. Juli schutz gestellt.
1895). Hier arbeitete er eng mit
Hermann Steudtner zusammen. Im
Ergebnis von naturkundlichen Studi­
en in seiner Freizeit entstanden eine
beachtliche Mineraliensammlung, die
er später der Schule in Großharthau
überließ, und eine Schmetterlings­
sammlung als Anschauungsobjekte
für den Unterricht. Barthel war von
1896 bis 1902 Mitglied im Gemein­
derat von Großdrebnitz, er war Leiter
des Männergesangvereins, Mitglied

Quellen: S. 412 ff. 19
Arthur Biram, rechts sein Geburtshaus (nach 1900, mit Buchdruckerei Paul
Klepsch), links neben der Kirche von Gottlob Friedrich Thormeyer.

20
Biram, Arthur (Yitzhak)
Dr. phil., jüdischer Schulgründer
13.08.1878 Bischofswerda – 05.06.1967 Haifa/Israel

V: Adolph Rudolph (*30.3.1850 Liegnitz, †9.6.1915), Textilkaufmann in Bischofswerda, Dresden,


Berlin und Frankfurt/O.; M: Eva geb. Neufeld (* in Schrimm/Posen, †21.3.1921), Schwester
des Unternehmers Hermann Neufeld in Grimma; G: Gertrud (*11.7.1879 Bischofswerda),
Julius (*4.11.1881 Bischofswerda, †5.7.1916, Kaufmann in Frankfurt/O., im Ersten Weltkrieg
gefallen, Gedenkstein in Słubice), Else (Elsa Sara, *7.2.1883 Bischofswerda, †16.7.1966 Haifa,
Dr. phil., Kultursoziologin, lebte in der Gartenstadt Mannheim und ab 1933 in Haifa, gründe­
te mit ihrem Mann Dr. Wilhelm Bodenheimer und ihrem Bruder Max ein Sanatorium), Max
Moritz (*30.3.1884 Bischofswerda, †16.7.1945 Haifa, Manager eines Sanatoriums in Haifa),
Fritz (*1.10.1888 Dresden, Kaufmann in Frankfurt/O., nach den Olympischen Spielen 1936
nach Argentinien geflohen, Kaufmann in La Lucila); E: 1924 Hanna geb. Thomaschewsky (* in
Königsberg, †1968, Tochter von Haim Thomaschewsky, Mühlenbesitzer in Königsberg und nach
1895 Kaufmann in Berlin, und Minna geb. Jaruszlawski, 9 Geschwister und 5 Halbgeschwister
aus der ersten Ehe des Vaters mit einer Schwester ihrer Mutter, verschwägert mit Davis Trietsch
aus Dresden und Theodor Zlocisti, Turnlehrerin an der Jüdischen Mädchenschule Berlin, Wirt­
schaftsleiterin am Realgymnasium Haifa); K: Aaron (*22.4.1928 Haifa, †11.9.1951 während eines
Reservedienstes, 1944 Absolvent der Hebrew Reali School Haifa, kämpfte in einer jüdischen
Brigade der britischen Armee im Zweiten Weltkrieg, Maschinenbaustudium am Technion und
in London, Pilot im Unabhängigkeitskrieg, 1953 wurde ein Militärinternat der Reali School auf
dem Mount Carmel nach ihm benannt), Benjamin (*21.9.1930, †3.5.1968 auf dem Mount So­
dom durch einen Terroranschlag mit einer Mine, arbeitete als Ingenieur für die Dead Sea Works,
seine Söhne Roni und Amir arbeiten in leitenden Positionen im Investment­Bereich)

Arthur Biram wurde 1878 als Sohn ei­ in Preußen. Um 1850 zogen sie in das
nes Kaufmanns in Bischofswerda, Alt­ niederschlesische Liegnitz westlich
markt 8, geboren. Die Großeltern Bi­ von Breslau. Hintergrund war mögli­
ram stammten aus der Provinz Posen cherweise, dass Juden in der Provinz

21
Die frühen Lebensstationen von Arthur Biram sind in der preußisch-
sächsischen Landkarte blau markiert: Bischofswerda, Dresden, Hirschberg
und Berlin. Seine Vorfahren waren ansässig in Bomst, Grätz, Liegnitz sowie
die Eltern mit seinen jüngeren Geschwistern und zeitweise auch mit Biram
selbst in Frankfurt/O. Ebenfalls grün markiert sind Städte, die mit Ver-
wandten in Verbindung standen: Breslau, Görlitz, Löbau und Cottbus.

Posen von der rechtlichen Gleichstel­ ram in Görlitz als Soldat im Deutsch­
lung in Preußen lange ausgenommen Französischen Krieg nachgewiesen,
blieben. Zu den strittigen Fragen 1875 wurde in Löbau das erste Kind
gehörte auch das Recht, einem „hö­ von Rosalie verh. Wolff geboren und
herwertigen“ Gewerbe nachzugehen, 1878 in Bischofswerda das erste Kind
wie beispielsweise dem Textilhandel. von Adolph, Arthur Biram.
Nachdem die jüdische Bevölkerung
1868 in Sachsen ihre staatsbürgerli­ In Bischofswerda gab es keine eigene
chen Rechte erhalten hatte, kam es zu jüdische Gemeinde, auch im größeren
einer starken Zuwanderung und auch Bautzen nicht. Zum Religionsunter­
die Familie Biram ließ sich hier nie­ richt der Kinder musste ein Lehrer
der. Der Zuzug vollzog sich offenbar aus Dresden kommen. Vermutlich
entlang der schlesisch­sächsischen spielte dies eine wesentliche Rolle,
Eisenbahnlinie. Von den Liegnitzer dass die Familie Adolph Biram nach
Geschwistern ist 1870/71 Theodor Bi­ Dresden zog, als Arthur, der älteste

22
Sohn, sieben Jahre alt war. In Dresden
gründete Adolph Biram mit Salomon
Wolff, einem Schwager aus Löbau, ein
Handelsgeschäft. Nach dem Besuch
von Bürgerschule und des Kreuzgym­
nasiums unter Heinrich Stürenburg
bis 1893 wechselte Arthur Biram in
der 9. Klasse (Obertertia) auf das hu­
manistische Gymnasium Hirschberg
in Niederschlesien. Rabbiner und
Religionslehrer war hier sein Onkel
Max Biram, ein ehemaliger Zacharias
Frankel­Schüler aus Breslau. Etwa
zur selben Zeit zogen Birams Familie
sowie die Firma des Vaters, Wolff &
Biram, nach Berlin.

Das Jahr 1896 wurde zur Zäsur für


viele, auch die gut integrierten deut­
schen Juden. Theodor Herzl schrieb
nach antisemitischen Ausschreitun­ Arthur Biram in Berlin.
gen in Paris („Dreyfus­Affäre“) das
Buch „Der Judenstaat“ und initiierte Fischer, Georg Simmel und Friedrich
damit den politischen Zionismus mit Paulsen. Auch der Philologe Ulrich
dem Ziel, einen eigenen Staat Israel von Wilamowitz­Moellendorff und
zu errichten. Der Versuch, sich durch der Historiker Eduard Meyer gehör­
Assimilierung und Christianisierung ten zu seinen Lehrern. Außerdem
der Verfolgung zu entziehen, war besuchte Biram bei dem Gelehrten
gescheitert. Birams Vater hoffte, dass Moritz Steinschneider private Semi­
sein Sohn Arthur Rabbi in einem nare über mittelalterliche Religions­
solchen Staat werden möge. Vater und philosophie. Parallel zum Studium an
Sohn bekannten sich nach dem ersten der Universität ließ sich Biram an der
Weltkongress von 1897 in Basel zur Hochschule für die Wissenschaft des
zionistischen Bewegung. Judentums in Berlin zum Rabbiner
ausbilden. Sein Vater unterstützte die
Nach dem Abitur im Jahre 1897 stu­ Hochschule als förderndes Mitglied.
dierte Biram an der Universität Berlin Der Sohn wurde hier von Martin
orientalische Philologie, Philosophie Schreiner für die Beziehungen zwi­
und Nationalökonomie bei Eduard schen der jüdischen und arabischen
Sachau, Friedrich Delitzsch, August Kultur interessiert. Nachdem eine

23
Arthur Biram (hinter seiner Mutter) mit Eltern und Geschwistern (vermut-
lich nach 1910 in Frankfurt/O. mit erstem Kind von Julius Biram).
historische Abschrift eines Werkes Seine Eltern wohnten seit 1903 in
von Abu­Rasid al­Nisaburi gefunden Frankfurt/Oder, nachdem der Ge­
worden war, widmete Biram diesem schäftspartner des Vaters, Salomon
Thema seine Dissertation. Zu einigen Wolff, verstorben und die Berliner
Fragen konsultierte er den Orienta­ Firma verkauft war.
listen Ignaz Goldziher in Budapest.
In Leipzig, wo August Fischer in­ An den deutschen Universitäten orga­
zwischen einen Lehrstuhl für orien­ nisierten sich seit dem ausgehenden
talische Philologie inne hatte, pro­ 19. Jahrhundert jüdische Akademiker
movierte Biram mit der Arbeit „Die und Studenten in einer Vielzahl von
atomistische Substanzenlehre aus Vereinen. Dies war eine Reaktion auf
dem Buch der Streitfragen zwischen den erstarkenden Antisemitismus in
Basrensern und Bagdadensern“ zur Deutschland, aber auch ein Zeichen
Philosophie des Abu­Rasid al­Nisabu­ für ein erwachendes Nationalbe­
ri. Die Doktor­Prüfung bestand er am wusstsein der Juden, das über die
18. Juli 1900, die Dissertationsschrift bloße Zusammengehörigkeit in einer
wurde 1902 publiziert. 1904 schloss Religionsgemeinschaft hinausreichte.
Biram das Rabbi­Seminar ab, bis 1908 Biram gehörte schon 1898 dem „Ver­
blieb er an der Berliner Universität ein Jüdischer Studenten“ an und war
im Fach Altphilologie eingeschrieben. später maßgeblich an der zunehmen­

24
den „Zionisierung“ der Studenten­ Magnes, später Präsident der Hebrew
schaft beteiligt. Junge Vereinsmitglie­ University of Jerusalem. In den Kon­
der unterrichtete er beispielsweise in flikten um die jüdischen deutschen
jüdischer Geschichte. 1898 gründete Vereine widerspiegelten sich auch
er mit weiteren Studenten und Vertre­ Differenzen innerhalb der jüdischen
tern zionistischer Vereinigungen wie Bevölkerung, zwischen liberalen und
seinem späteren Schwager Theodor konservativen Strömungen, zwischen
Zlocisti einen Turnverein im Geden­ Zionisten und eher auf die Integrati­
ken an Shimon bar Kokhba, dessen on setzenden Gemeindemitgliedern.
niedergeschlagener Aufstand gegen 1901 war Biram maßgeblich an der
die römischen Besatzer nach dem Gründung des Dachverbandes „Bund
Jahre 135 die Diaspora des jüdischen Jüdischer Corporationen“ (BJC)
Volkes aus seiner Heimat in Palästina beteiligt. 1906 gründete er mit Felix
ausgelöst hatte. Unter der Leitung von Rosenblüth (Pinchas Rosen) und
Israel Auerbach entwickelte sich der Kurt Blumenfeld den Verein jüdischer
„Kochba­Club“ zu einer weltweiten Studenten „Makkabäa“. Mit Heinrich
jüdischen Bewegung mit mehre­ Loewe leitete er die „Organisation für
ren 10.000 Mitgliedern innerhalb hebräische Sprache“. Das Studium des
der Maccabi World Union. Wie in Hebräischen bildet ein Kernelement
der deutschen Turnbewegung nach des Zionismus.
Friedrich Ludwig Jahn ging es um die
Förderung eines nationalen Bewusst­ In den zionistischen Kreisen Berlins
seins, gestärkt werden sollte aber auch bewegten sich seinerzeit auch die
die Selbstverteidigung. Physische Thomaschewsky­Schwestern. Hanna
Ertüchtigung verband die nationale wurde später Arthur Birams Frau. Sie
Idee mit dem bürgerlichen Ideal einer war Mitglied des Kochba­Clubs und
allseits gebildeten Persönlichkeit. Ne­ gehörte 1910 zu den Gründerinnen
ben dem Sport spielte die Förderung des „Jüdischen Frauenbundes für
der jüdischen Kultur, v. a. der Musik, Turnen und Sport“. Emma Thoma­
eine große Rolle. Biram verfasste Ar­ schewsky heiratete Davis Trietsch aus
tikel für die „Jüdische Turnzeitung“, Dresden, einem der bedeutendsten
das offizielle Organ von Bar­Kochba. Zionisten überhaupt und Gegenspie­
1901 gehörte er an der Hochschule ler von Theodor Herzl. Hulda, später
für die Wissenschaft des Judentums mit dem Arzt und Schriftsteller Theo­
zu den Mitbegründern eines zionis­ dor Zlocisti verheiratet, war 1897 eine
tischen Studentenvereins, der sich von 14 weiblichen Delegierten zum
jedoch nach Androhung von Ex­ Ersten Zionistenkongress in Basel.
matrikulationen wieder auflöste. Zu
Birams Freundeskreis zählten dabei Biram arbeitete nach Abschluss des
Max Schloessinger und Judah Leon Rabbi­Seminars als Sekretär und

25
Grab von Arthur Birams Eltern (vermutlich Jüdischer Friedhof Frank-
furt /O. / Słubice – 1976 zerstört): Die Geburtsdaten sind nur unscharf zu
erkennen. Gegen ein Geburtsjahr 1830 des Vaters Adolph spricht, dass lt.
einer Mitteilung aus der Familie im Dresdner Gewerbeantrag von 1885
der 31.3.1850 als Geburtstag vermerkt ist, das Geburtsjahr der Mutter Eva
erscheint auf dem Grabstein als 1833. Die Familie Adolph Biram ist in den
Dresdner Adressbüchern von 1886 bis 1894 nachgewiesen (Rosmariengasse
4, Seidnitzer Straße 6). Die Firma Wolff & Biram war in der Frauenstra-
ße ansässig. Adolph Biram war demnach ein Sohn von Salomon Biram
(Händler, *20.11.1816 Grätz, †3.1.1887 Dresden) und dessen Frau Johanna
(*25.7.1816 Bomst, †27.10.1896 Löbau). Arthur Birams Großeltern sind auf
dem Neuen Jüdischen Friedhof Dresden begraben. Sie waren ein Jahr nach
der Familie Adolph Biram nach Dresden gekommen. Johanna Biram ist als
Witwe Bieram bis 1898 in den Dresdner Adressbüchern vermerkt, auf ih-
rem Totenschein steht aber als Wohnort Bischofswerda. Deren weitere Kin-
der, also Onkel und Tante von Arthur, waren: Theodor (*7.12.1846 Bomst,
†6.10.1898 Löbau, nahm am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 teil,
Kaufmann, um 1874 Cottbus, um 1885 Fa. Salomon Wolff Löbau, Jüdischer
Friedhof Görlitz), Julius (* in Liegnitz, am 6.8.1870 in der Schlacht bei
Wörth gefallen, Gedenkstein Liegnitz), Max (*1.1.1853 Liegnitz, †22.6.1916
Hirschberg, Elementarschule Liegnitz, bis 1879 Ausbildung in Breslau, Dr.,
ab 1887 Rabbiner in Hirschberg), Rosalie (*29.11.1854 Liegnitz, ab spätes-
tens 1875 Löbau, danach Dresden, verh. mit Salomon Wolff, †1931 Berlin).

26
Bibliothekar an der Hochschule für
die Wissenschaft des Judentums,
gab für Studienanfänger aber auch
Hebräisch­Kurse. Vor der Jüdischen
Gemeinde Potsdam hielt er den Vor­
trag „Jüdische Hochschulen“. Rabbi­
ner war hier seinerzeit der acht Jahre
ältere Paul Rieger. Der wissenschaft­
lich interessierte Rieger stammte aus
Die Gebäude der Hebrew Reali
Dresden und hatte seine Ausbildung
School im Technion-Komplex im
in Breslau sowie an der Hochschule
Stadtteil Hadar wurden von Alexan-
für die Wissenschaft des Judentums in
der Baerwald erbaut. 1923 begrüßte
Berlin erhalten. Seinem ehemaligen
man hier Albert Einstein anlässlich
Lehrer Moritz Steinschneider, der den
seines ersten Haifa-Besuchs.
Zionismus ablehnte und beispiels­
weise die jüdische Forschung und Vereinigungen. So gehörten Arthur
Lehre in allgemeine Universitäten Biram und sein Vater in Berlin und
integrieren wollte, widmete Biram Frankfurt/Oder dem „Verein zur
zum 90. Geburtstag im Jahre 1906 Unterstützung ackerbautreiben­
in „Ost und West“ eine ausführliche der Juden in Palästina und Syrien“
Würdigung: „Mit Steinschneider (ESRA) an. Sein Onkel Max Biram in
wollen wir der jüdischen Wissen­ Hirschberg war Mitglied im „Hilfs­
schaft die Anerkennung innerhalb verein der deutschen Juden“ (EZRA),
des gesamten Wissenschaftsbetriebs den Paul Nathan, Eugen Landau und
erkämpfen.“ Biram verfasste zudem der bedeutende Kunstmäzen James
Beiträge für die „Jewish encyclope­ Simon 1901 in Berlin zur Unterstüt­
dia“. Er entschied sich schließlich zung verfolgter Juden aus Osteuropa
gegen eine theologische und für eine gegründet hatten und der jenen bei
pädagogische Laufbahn. 1909 absol­ ihrer Emigration nach Amerika oder
vierte Biram die Lehramtsprüfung für Palästina half.
Lateinisch, Griechisch und Hebräisch
am Askanischen Gymnasium Berlin, Der „Hilfsverein der deutschen
einer altsprachlichen Eliteschule. Er Juden“ engagierte sich im seiner­
unterrichtete danach in Neuruppin zeit osmanischen Palästina für den
und am Berliner „Gymnasium zum Aufbau eines jüdischen Bildungswe­
Grauen Kloster“ klassische Sprachen sens nach deutschem Vorbild. Man
und Literatur. betreute bis zu 50 Einrichtungen
einschließlich Kindergärten, Rab­
Die Familie Biram engagierte sich in biner­ und Lehrer­Seminare, Bib­
verschiedenen jüdischen karitativen liotheken und Handwerkerschulen.

27
Die Bestrebungen des „Hilfsvereins“ wollen. Die jüdische Bevölkerung
befanden sich in Übereinstimmung Palästinas stammte nach den ersten
mit der damaligen Außenpolitik des Einwanderungswellen vorwiegend
deutschen Kaiserreichs, das seinen aus Osteuropa und war konservati­
Einfluss im Nahen Osten ausweiten ver, von Pogromen in ihrer Heimat
wollte. Im Rahmen der Planungen geprägt, als die eher liberalen, oft aus
für die erste jüdische Hochschule in idealistischen Gründen gekommenen
Palästina, das „Technion“ in Haifa, Einwanderer aus Deutschland. Es
wurde 1909 vom „Hilfsverein“ eine kam zu Demonstrationen und Schul­
Mittelschule gegründet. Hier sollten boykotten, die bisherige Mittelschule
die Schüler die Zugangsvoraussetzun­ des Vereins musste schließen.
gen für die Hochschule erwerben. Mit
der Fertigstellung des Technions war Der Sprachenstreit wurde mit dem
geplant, diese Schule in den Hoch­ Konzept einer „Hebrew Reali School“
schulkomplex zu integrieren. 1913 beigelegt und Arthur Biram wurde
eskalierte aber ein heftiger Sprachen­ anlässlich des Chanukka­Fests im De­
streit. Der „Hilfsverein“ legte die zember 1913 in sein Amt als Direktor
Lehrsprachen pragmatisch fest. Die
Schüler und Studenten, die aus den
verschiedensten Kulturen stammten,
sollten sich untereinander, aber auch
mit ihren türkischen und arabischen
Nachbarn unterhalten können und
mit Fremdsprachen auf ihre spätere
Karriere vorbereitet werden. Weil
man fortschrittliche, liberale Lehrme­
thodiken aus Deutschland einführen
wollte, sollten von dort auch Lehrer
kommen; jene bevorzugten aber ihre
Muttersprache. Zudem war Deutsch
seinerzeit die führende Wissen­
schaftssprache, und der „Hilfsverein“
war dem deutschen Kaiserreich auch
politisch verpflichtet. Aus Sicht des
„Zionistischen Komitees“ lief dies den
nationalen Ambitionen der Juden in
Palästina zuwider. Man unterstellte
dem „Hilfsverein“, deutschnationale
Interessen durchsetzen und Hebräisch
zum Unterrichtsfach degradieren zu Arthur Biram beim Militär.

28
der Reali eingeführt. Das „Technion“
nahm erst 1924 seinen Betrieb auf.
Biram publizierte seine „Leitsätze für
die hebräische Realschule in Haifa“
am 3. Juli 1914 in „Die Welt“: „Wie
alle Kinder sollen auch unsere Kinder
etwas wissen und was sie wissen, als
stets gegenwärtigen Besitz haben.
Aber sie sollen es lebend ergreifen
lernen, nichts Fertiges von uns hin­
nehmen, sondern bei der Aufnahme Arthur Biram (1928) führte eine
und Aneignung lebendig mitwirken. umfangreiche Korrespondenz, bei-
Wie wir das Gewordene nie ohne das spielsweise mit Albert Einstein und
Werden zeigen, so sollen unsere Kin­ dem aus Dresden stammenden Ban-
der unter ihrer Hand und aus ihrem kier Hans Arnhold (Albert Einstein
Mund die Dinge werden lassen, sollen Archives, The Hebrew University of
Begriffe und Kenntnisse entstehen, Jerusalem; Einstein Papers Project,
aus ihrer geistigen und körperlichen California Institute of Technology).
Arbeit herauswachsen lassen.“ Die
Schüler sollten ganzheitlich gebil­ Eisenbahnfahrdienst. Im September
det werden. Neben der Vermittlung und Anfang Oktober 1918 schlugen
naturwissenschaftlich­technischer alliierte Truppen, an deren Seite auch
Kenntnisse, die zunächst im Mittel­ Zionisten aus Palästina wie Jaakow
punkt standen als Zugangsvorausset­ Dori kämpften, die Türken in diesem
zung für das Technion, legte Biram Gebiet.
Wert auf eine humanistische Bildung
einschließlich jüdischer und arabi­ Nach dem Krieg vertrat Biram zu­
scher Geschichte und Kultur und auf nächst David Yellin am Hebräischen
die Entwicklung sozialer Kompeten­ Lehrer­Kolleg in Jerusalem. Groß­
zen. Biram selbst lehrte Bibelkunde britannien und Frankreich teilten die
und antike Geschichte. vormals osmanischen Provinzen im
Nahen Osten unter sich auf. Palästina
Nach Ausbruch des Ersten Welt­ wurde britisches Mandatsgebiet, der
kriegs trat Biram wie seine Brüder Einfluss der deutschen Juden nahm
der deutschen Armee bei; er war zum ab. Die Verantwortung für die He­
Fronteinsatz in Russland und dien­ brew Reali School ging vom „Hilfs­
te im deutsch­türkischen Korps in verein der deutschen Juden“ auf das
Palästina. In Afula, einem wichtigen „Zionistische Komitee“ über.
Verkehrsknoten an der Damaskus­ 1920 kehrte Biram nach Haifa zurück,
Haifa­Strecke, befehligte er den wo er wieder die Leitung der Reali

29
übernahm. Die Briten bauten Haifa
zur wichtigsten Stadt Palästinas aus.
Gleichzeitig eskalierten die Konflikte
mit den arabischen Palästinensern,
weil die Briten jenen im Krieg ge­
Ankündigung eines Vortrags von machte Versprechungen nicht einhiel­
Arthur Biram in München vor ten. Biram war Mitglied der Palestine
der Jesaia-Loge, Bayerische isra- Oriental Society, in der sich von
elitische Gemeindezeitung, 1931, 1920 bis 1948 jüdische und arabische
Heft 10. Arthur Biram gehörte wie Intellektuelle trafen, und gehörte
seine Geschwister Julius und Else dem Jewish National Council („Va‘ad
Biram der jüdischen, Freimaurer- Leumi“) an. 1924 heiratete er seine
ähnlichen Organisation „B‘nai Frau Hanna. 1920 war sie nach Haifa
B‘rith“ an. Der Orden war 1843 in ausgewandert, wo sie an der Reali
New York gegründet worden, um Sport lehrte.
die Interessen der jüdischen Bürger
zu vertreten und die jüdische Kultur Biram setzte trotz des elitären An­
zu fördern. B‘nai B‘rith ist mit spruchs sein Konzept einer „Arbeits­
seiner Logenstruktur ähnlich wie schule“ durch, in der auch manuelle
die Freimaurer organisiert und der Arbeit und Landwirtschaft unterrich­
Förderung von Toleranz, Humanität tet wurden. Dies war wesentlich für
und Wohlfahrt verpflichtet. Darü- die Akzeptanz der Schule, denn viele
ber hinausgehende Beziehungen zur der früh in Palästina eingewanderten
Freimaurerei bestehen jedoch nicht. Juden wollten hier Landwirtschaft
Entgegen aller Verschwörungstheo- betreiben. Als Schule mit Internat
rien handelt es sich nicht um einen bot die Reali gute Möglichkeiten
Geheimorden. Besonders mit der für Aktivitäten außerhalb des Un­
Zunahme antisemitischer Tenden- terrichts. Biram war schon damals
zen in den deutschen Freimaurer- ein Anhänger der Ganztagsschule.
Logen im späten 19. Jahrhundert Seine Versuche, den Schülern größere
verzeichneten die jüdischen Logen Mitbestimmungsrechte einzuräumen,
einen großen Zulauf. Sie öffneten scheiterten am konservativ gepräg­
sich zudem auch weiblichen Mitglie- ten Lehrerkollegium. Ab 1924 wurde
dern. B‘nai B‘rith ist vor allem auch Unterricht bis zur 12. Klasse gegeben.
für seine karitativen Leistungen Eine von Biram favorisierte noch
bekannt. Die „B‘nai B‘rith Youth engere Zusammenarbeit mit dem
Organization“ stellte Arthur Biram Technion, ggf. sogar eine Verschmel­
finanzielle Mittel für die israelische zung, kam auch wegen akademischer
Tzofim-Jugendbewegung („Scouts“) Vorbehalte gegen Birams praxisorien­
zur Verfügung. tierte Lehrkonzepte zulasten theore­

30
tischer Grundlagenvermittlung nicht
zustande. Zudem bestanden gegen
ihn persönliche Vorbehalte: Er galt
bei der Mehrzahl russischer Einwan­
derer, die außerdem von der Oktober­
revolution geprägt worden waren, als
zu „preußisch“.

Biram gehörte dem „Eretz Israel“­


Direktorium des Technions an, als Dem Schulsport galt Birams beson-
Albert Einstein dort dem akademi­ dere Aufmerksamkeit. Damit wurde
schen Rat vorstand. Als Kuratori­ das im Zionismus propagierte
umsmitglied am Technion konnte „Muskeljudentum“ Realität. Foto:
Biram die Zusammenarbeit mit der Gymnastikübung auf dem Gelände
Reali maßgeblich beeinflussen. In den der Hebrew Reali School im Jahre
1930er Jahren wuchs die Schülerzahl 1938, Wikimedia Commons, Uni-
der Reali im Zuge der verstärkten versity of Haifa, Younes & Soraya
Einwanderung von deutschen Juden Nazarian Library, OpenGLAM.
in Palästina auf 1147 Schüler in 34
Klassen. Die Stadt und mir ihr die einem Reali­Absolventen und später
Hebrew Reali School dehnten sich erstem israelischen Generalstabschef,
immer mehr bis in das Gebiet des integriert.
Mount Carmel aus.
1936 bezog Biram sein Haus Eder
Besonderen Wert legte Biram auf Street 17 im Stadtteil Ahuza im
die Erziehung zu moralischen Wer­ Carmel­Gebiet. Shlomo Dostrovs­
ten und zum Patriotismus, auf den ky und Yaakov Green hatten es im
Schulsport und die Selbstverteidi­ Bauhaus­Stil errichtet. Es lag unweit
gung. Hinzu kam die vormilitärische des Bodenheimer­Sanatoriums, das
Ausbildung. Nach antijüdischen seine Schwester Else Biram zusam­
Ausschreitungen in Hebron initiierte men mit ihrem Mann führte und zu
Biram 1937 an der Reali das „Hagam­ dessen Leitungsgremium auch Arthur
Programm“ zur physischen Ertüchti­ Biram gehörte.
gung und machte die vormilitärische
Ausbildung nun auch für Mädchen Zu Birams bekanntesten Schülern
obligatorisch. Das Programm war zählten Ezer Weizmann, Verteidi­
Vorbild für die zionistische Schulaus­ gungsminister und langjähriger isra­
bildung im ganzen Land. Die Schüler elischer Präsident, und der Archäo­
wurden in die paramilitärische Orga­ loge Avraham Biran. Ein großer Teil
nisation „Hagana“ unter Jaakow Dori, der Lehrerschaft der Reali und auch

31
Schüler beteiligten sich im Zweiten Alten Orients“. Insgesamt verfasste er
Weltkrieg in einer jüdischen Brigade etwa 50 Publikationen in Hebräisch,
der britischen Armee am Kampf ge­ Englisch, Deutsch und Arabisch.
gen die faschistischen Achsenmäch­ Seine Verdienste um die neue Hei­
te und nahmen an den folgenden mat, insbesondere beim Aufbau des
gewaltsamen Auseinandersetzungen Bildungswesens, wurden 1954 mit
um die Unabhängigkeit eines Staa­ dem Israel­Preis, der höchsten Aus­
tes Israel teil. Unter ihnen war auch zeichnung seines Landes, und 1964
Birams älterer Sohn, Aaron. 1948, im mit dem Ehrendoktor der Hebrew
Jahr der Gründung des Staates Israel, University of Jerusalem sowie zusam­
emeritierte Biram. Joseph Bentwich men mit Martin Luther King einem
folgte ihm als Direktor. Ehrengrad des „Jewish Theological
Seminary“ in den USA gewürdigt.
Seine Funktion als Kuratoriumsvor­
sitzender des Technions behielt Biram Arthur Biram verstarb am ersten Tag
bis 1956. Als Direktor des „Teachers’ des „Sechstagekriegs“ von 1967. Die
Training Seminary of the Reali von ihm gegründete Hebrew Reali
School“ widmete er sich weiterhin School mit über 20.000 Absolventen
der Lehrerausbildung. 1953 gründete in den ersten hundert Jahren ihres
Biram auf dem Mount Carmel zu­ Bestehens erwarb sich den Ruf einer
sammen mit Premierminister David Kaderschmiede der israelischen
Ben­Gurion ein Militärinternat, Armee. Sie wird heute von etwa 4000
das damals nach seinem zwei Jahre Schülern unterschiedlicher ethnischer
zuvor ums Leben gekommenen Sohn Gruppen einschließlich arabischer
„Aaron Biram Military Academy“ Schüler besucht und ist auf mehre­
genannt wurde und heute als „IDF Ju­ re Standorte im Stadtgebiet (Hadar,
nior Command Preparatory School“ Ahuza, Carmel) verteilt. Stipendien
geführt wird. 1955 ernannte ihn der ermöglichen den Besuch der semi­
IDF­Offiziersclub zum Ehrenmit­ privaten Schule auch für Kinder aus
glied. Mit Ben­Gurion stand Biram in einfachen Verhältnissen. Der High
wiederholtem Kontakt. So besuchte School­Zweig der Hebrew Reali
er mit ihm 1963 die Hebrew Reali School „Beit Biram“ in Ahuza und
School anlässlich der Feier zu deren eine Hauptstraße zwischen dem Tech­
50­jährigen Bestehen. nion­Israel Institute of Technology
und der Universität Haifa im Carmel­
Biram schrieb mehrere Bücher zur Gebiet tragen Birams Namen. Die
Geschichte des Judentums und der israelische Post würdigte das hundert­
Bibel, darunter die mehrbändige jährige Jubiläum der Schulgründung
„Geschichte Israels in der Zeit der im Jahre 2013 mit einer Sonderbrief­
Bibel, im Rahmen der Geschichte des marke.

32
An die Familie Biram erinnern heute in Sachsen die Gräber der Großeltern
von Arthur und Else auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Dresden-Jo-
hannstadt (links: Salomon, †1887; rechts: Johanna, †1896).

Quellen: S. 412 ff. 33
Die Biram-Geschwister, Dresden oder Berlin in den 1890er Jahren.
Quellen: Mitteilungen von Juan Moser und Renate Biram; Else Biram: Dissertation, 1917; Stadtarchiv Bi­
schofswerda; Adressbücher von Dresden, Berlin; Marie­Luise Zürcher: „Der erste Arzt der Gartenstadt“.
Gartenstadt­Genossenschaft Mannheim eG, Mitgliederzeitung, 5/2005; digi.ub.uni­heidelberg.de; Report
of the Executive Committee of the Constitution Grand Lodge Independent Order of B‘nai B‘rith, 1916;
Yotam Hotam, Joachim Jacob: „Populäre Konstruktionen von Erinnerung im deutschen Judentum und
nach der Emigration“. Vandenhoeck & Ruprecht, 2004; Gilbert Herbert, Silvina Sosnovsky: „Bauhaus on
the Carmel and the crossroads of empire: architecture and planning in Haifa during the British mandate“.
Yad Izhak Ben­Zvi, 1993; World Zionist Organization: „Report on Activities“. 1937; „La Mujer judía:
publicación dedicada a la memoria de la Sra. Adele Eshel (Q.E.P.D.)“. Instituto Stephen Wise, Congreso
Judío Mundial, 1959; Luise Hirsch: „From the Shtetl to the Lecture Hall: Jewish Woman and Culture Ex­
change“. University Press of America, 2013; Volker Kirchberg: „Visitor Studies in Germany. Past, Present,
and Potential“; Amira Kahat, University of Haifa; David Tidhar: „Encyclopedia of Founders and Builders
of Israel“. 1963

34
Biram, Else (Elsa Sara)
Dr. phil., jüdische Kultursoziologin
07.02.1883 Bischofswerda – 16.07.1966 Haifa

V: Adolph Rudolph (*30.3.1850 Liegnitz, †9.6.1915), Textilkaufmann in Bischofswerda, Dresden,


Berlin und Frankfurt/O.; M: Eva geb. Neufeld (* in Schrimm/Posen, †21.3.1921), Schwester des
Unternehmers Hermann Neufeld in Grimma; Grab der Eltern vermutlich Jüdischer Friedhof
Frankfurt/O. / Słubice – 1976 zerstört; G: Arthur (*13.8.1878 Bischofswerda, †5.6.1967 Haifa,
Dr. phil., Gründer der Hebrew Reali School in Haifa, Träger des Israel­Preises, Ehe mit Hanna
geb. Thomaschewsky aus Königsberg), Gertrud (*11.7.1879 Bischofswerda, früh verstorben),
Julius (*4.11.1881 Bischofswerda, †5.7.1916, Ehe mit Emmy geb. Hartwig/Samuel aus Aachen, 3
Kinder, Hardenberg­Loge Frankfurt/O., im Ersten Weltkrieg gefallen, Gedenkstein in Słubice),
Max Moritz (*30.3.1884 Bischofswerda, †16.7.1945 Haifa, Ehe mit Margarethe geb. Neufeld aus
Grimma, Manager im Bodenheimer­Sanatorium Haifa), Fritz (*1.10.1888 Dresden, Ehe mit
Alice geb. Beer aus Naugard/Pommern, nach den Olympischen Spielen 1936 über Belgien und
Uruguay nach Argentinien geflohen, Kaufmann in La Lucila/Buenos Aires); E: 24.2.1914 Berlin,
Wilhelm Lion Bodenheimer (*27.1.1890 Darmstadt, † Juli 1980 Haifa, Großcousin von Lion
Feuchtwanger, studierte 1909 in Zürich und bis 1913 in Heidelberg Medizin, Dr. med., erster
Arzt der Gartenstadt Mannheim, leitete ein Sanatorium in Haifa, 1957 wieder in Deutschland
eingebürgert, 1965 wohnhaft in Tel Aviv); K: Ricka (*1915 Mannheim, Krankenschwester, Ehe
mit Arieh Levavi, als israelischer Botschafter nach der Entführung von Adolf Eichmann 1960
aus Argentinien ausgewiesen, während des Sechstagekriegs Außenminister), Adolf Rudolf/
Rudi (*1917 Mannheim, Hotelschule in der Schweiz, 1941–1945 englischer Militärdienst, lebte
20 Jahre in Rom und leitete das Excelsior in der Via Veneto, Manager des King David Hotels
von Yekutiel Federmann in Jerusalem und des Jerusalem Plaza Hotels, 1975 Gründung des CP
Plaza Frankfurt/M., nach 1980 Pächter des Hotels Primus in Frankfurt­Sachsenhausen), Peter
Josef/Gad (*1920 Mannheim, †2006 Haifa, Angestellter im Bodenheimer­Sanatorium, Leiter des
Dagon­Lagerhauses im Hafen von Haifa, spielte und unterrichtete Musik)

Else Biram zog mit ihren Eltern und verkaufte der Vater das Geschäft in
Geschwistern um 1885 von ihrer Berlin und ging als Kaufmann nach
Geburtsstadt Bischofswerda nach Frankfurt/Oder. 1904 setzte Else
Dresden, wo der Vater mit Salomon Biram gegen den Willen ihrer Eltern
Wolff, einem Schwager aus Löbau, in Berlin die Ausbildung fort und be­
ein Geschäft betrieb. Sie besuchte in legte bei der Frauenrechtlerin Helene
Dresden und nach dem Umzug der Lange „Gymnasialkurse für Frau­
Familie von 1895 bis 1898 in Berlin en“, in denen sie sich auf das Abitur
die Schule. Anschließend erwarb sie
hier drei Jahre lang kaufmännische
Praxis im Bekleidungsgeschäft ihres
Vaters in der Neuen Friedrichstraße
78. Um 1903, nachdem sein Ge­
schäftspartner Wolff gestorben war, Briefkopf der väterlichen Firma.

35
Frankfurt/Oder war seit dem Umzug aus Berlin im Jahre 1903 Lebensmit-
telpunkt der Familie Biram. Der Vater ist im Adressbuch von 1906 als Kauf-
mann im Geschäft Kayser & A. Sickler, Große Scharrnstraße 47, angegeben.
Die Familie war damit in einer der wichtigsten Geschäftsstraßen Frank-
furts ansässig. Auch der Sohn Fritz (Salomon Friedrich) arbeitete hier. Im
Zusammenhang mit den Ausbürgerungen und Enteignungen zur Nazizeit
werden aus der Familie Biram aufgeführt: Emmy verw. Biram (*6.2.1885)
mit Hanna (*8.2.1910 Sulzbach) und Hans (*25.3.1913 Frankfurt), die Brü-
der Max und Fritz mit Frau Alice (*30.5.1899) sowie Ingeborg (*25.9.1922
Frankfurt) und Marianne (*17.6.1927 Frankfurt). In „The Conference on
Jewish Claims against Germany“ wird Emmy Biram geb. Samuel mit Bezug
auf die Große Scharrnstraße 61 und 44 (Fa. Paul Loewenthal) genannt.
vorbereitete. Ihren Lebensunterhalt Biram war schon im Elternhaus im
verdiente sie selbst als Büroangestell­ Sinne des Zionismus erzogen worden.
te. 1909 legte Biram am Realgymna­ So gehörten ihr Vater und ihr Bruder
sium Charlottenburg das Abitur als Arthur Biram in Berlin und später
externer Prüfling ab. Anschließend in Frankfurt/Oder dem „Verein zur
studierte sie in Freiburg, Berlin, Unterstützung ackerbautreibender
München und von 1911 bis 1913 in Juden in Palästina und Syrien“ an.
Heidelberg Nationalökonomie sowie Else Biram selbst besuchte 1909 den
Jura, Kunstgeschichte und Sozial­ 9. Zionistenkongress in Hamburg
wissenschaften. Auch ihren späteren und engagierte sich in zionistischen
Mann, den Mediziner Wilhelm Lion Studentenkreisen.
Bodenheimer, lernte sie in Heidelberg
kennen. Am 15. Dezember 1913 bestand
Biram in Heidelberg ihre mündliche

36
Doktor­Prüfung. Zuvor hatte sie in 1917 verteidigte Else ihre Dissertati­
Mannheim umfangreiche Datenerhe­ on „Kunstpflege im 19. Jahrhundert“
bungen zur Kulturrezeption der Be­ in Heidelberg bei Alfred Weber. Die
völkerung durchgeführt. Mithilfe von Arbeit bestand aus zwei Teilen. Im
etwa 12000 Fragebögen sowie vielen Teil „Öffentliche Kunstpflege“ stellte
Interviews und der Unterstützung des die Autorin die Epochen „Höfisch“
Mannheimer Museumsdirektors Fritz (großherzogliche Kunstsammlun­
Wichert erfasste sie die verschiedenen gen), „Bürgerlich“ (Kunstvereine) und
kulturellen Aktivitäten. „Kommunal“ (Kunsthallen, Ausstel­
lungen, Popularisierung) gegenüber.
Nach dem Studium folgte Biram Wil­ Im Teil „Erlebniszentren der Bevöl­
helm Bodenheimer nach Mannheim. kerungsschichten“ thematisierte sie
Jener arbeitete als Assistenzarzt am Führungen, Lesen, Schaulust, Besitz
städtischen Krankenhaus, übernahm und Dilettantismus. Ihre Arbeit
aber gleichzeitig aus ideeller Verbun­ erschien 1919 auch bei Eugen Diede­
denheit auch die ärztliche Betreuung richs in Jena als Teil der Abhandlung
der 1910 gegründeten Gartenstadt. „Die Industriestadt als Boden neuer
1914 publizierte Bodenheimer­ Kunstentwicklung: bildende Kunst
Biram „Die jugendliche Arbeiterin“ und modernes Leben, öffentliche
in der „Zeitschrift für Kinderpflege“. Kunstpflege, Erlebniszentren der
1915 zogen sie und ihr Mann in die Bevölkerungsschichten, Entfaltung
Gartenstadt. 1916 übernahm Biram produktiver Kräfte auf dem Boden
die Leitung des städtischen Wohl­ des organisierten Industriezentrums“
fahrtsamtes für straffällige Mädchen in den „Schriften zur Soziologie der
in Frankfurt/Main. In dieser Zeit Kultur“. Biram hatte mit ihrer em­
stand sie auch in Verbindung mit Sa­ pirischen Soziologie in Deutschland
lomon Altmann, inwischen Professor Neuland betreten, ohne für ihre Pi­
an der Handelshochschule Mann­
heim, den sie als Privatdozenten für
Nationalökonomie aus ihrer Heidel­
berger Zeit kannte.

Während des Ersten Weltkriegs hatte


Elses Mann Dienst im Mannheimer
Lazarett. Ihre Brüder dienten in der
deutschen Armee. Einer von ihnen,
der ein reichliches Jahr ältere Julius,
fiel 1916, Fritz geriet 1915 in franzö­
sische Kriegsgefangenschaft und Max Familie Bodenheimer (vermutlich
wurde verwundet. in Mannheim mit ihrem Sohn Gad).

37
onierleistung angemessen gewürdigt einen neuen Individualismus. Sie
worden zu sein. sah die Zukunft im gemeinschaftli­
chen Handeln. Das Kunsthandwerk
1918 ließ sich Birams Mann, der im sollte aus der in Gemeinschaften neu
Jahr zuvor in Heidelberg „Ueber die erblühenden Werkarbeit erwachsen.
Beziehungen zwischen Sauerstoff­ In der Gartenstadt Hellerau sah sie
verbrauch und Tätigkeit des Frosch­ ein Vorbild für die Gründung von
herzens“ promoviert hatte, mit einer Handwerkergemeinden in Palästina
eigenen Arztpraxis in der Gartenstadt und für die Qualitätsarbeit.
Mannheim nieder, Else führte die
Geschäfte. Biram gehörte in Mannheim mit ih­
rem Mann zu den aktiven Mitgliedern
Vor dem Hintergrund der wach­ der jüdischen Gemeinde. Zusammen
senden Einwanderung in Palästina mit dem Rabbiner Max Grünewald
schrieb Biram zu „Kunsterziehungs­ gründete sie ein jüdisches Lehrhaus,
fragen“ in „Der Jude“ (1921/22). Sie wo Erwachsene zum jüdischen Leben
erhoffte sich aus Palästina neue Im­ in Europa und Palästina, zu sozialen
pulse für die Kunstbetrachtung und Themen, zum Chassidismus und zu
sah die Kunst als wichtigen Bestand­ Siedlungsfragen unterrichtet wurden.
teil der zionistischen Erziehung der 1930 unternahm Biram mit anderen
Kinder an: „Die Erziehung zur Kunst Wissenschaftlern im Rahmen des
hat schon in der Schule einzusetzen, Kartells Jüdischer Verbindungen eine
sie muß sich zur Aufgabe machen, Reise nach Palästina. 1931/32 verfass­
Kinder zu gestaltenden Menschen zu te sie in der Zeitschrift „Die lebendige
bilden, sie schaffen zu lehren, nicht Stadt“ den Artikel „Der Waldhof “.
ihnen von Kunst zu sprechen“. Biram Auch in der „Israelitischen Gemein­
argumentierte in diesem Artikel auch dezeitung“ von Mannheim erschienen
gegen Paul Zucker, dessen Hoff­ Beiträge von ihr. Dr. Bodenheimer
nungen auf Palästina sie zwar teilte, war in der Gartenstadt vor allem in
dessen vor allem auf Erwachsenenbil­ der Arbeiterschaft hoch angesehen.
dung orientiertem Konzept sie aber Wenn nötig, behandelte er die Pati­
widersprach. Ihr Unterrichtsprinzip enten kostenlos. Nach der Machter­
einer „Arbeitsschule“, des Lernens greifung durch die Nationalsozialisten
durch selbstständiges und praktisches verlor er seine Zulassung, auch ihr
Aneignen statt durch bloße Rezepti­ Zuhause, seit 1925 „Am Grünen Hag
on, gehörte ebenso zu den Leitlinien 2“, musste die Familie aufgeben. In
der Hebrew Reali School unter Elses der Gartenstadt­Genossenschaft hat­
Bruder Arthur Biram. Deutlich ten linientreue Nazis das Sagen. Ein
wurde im Artikel „Kunsterziehungs­ Selbstmordversuch von Elses Mann
fragen“ auch Else Birams Absage an schlug fehl.

38
Haifa 1935. Bedingt durch wirtschaftliche Großprojekte wie den Hafen und
durch die massenhafte Flucht aus Deutschland nach 1933 wuchs die Ein-
wohnerzahl rasch an. Allein zwischen 1931 und 1936 verdoppelte sie sich
auf 100.000, gleichzeitig erhöhte sich der Anteil der jüdischen Bevölkerung.

Im Frühjahr 1933 verließ die Familie fallengelassen. Jener war in Berlin


Deutschland in Richtung Haifa, wo einer der engsten Mitstreiter von
Elses Bruder Arthur Biram die He­ Arthur Biram in der zionistischen
brew Reali School leitete. Else wirkte Bewegung gewesen, später über seine
zwei Jahre als Sozialarbeiterin. 1935 Frau Hulda mit ihm verschwägert
gründete sie mit ihrem Mann und und als Mediziner und Schriftsteller
ihrem Bruder Max ein Sanatorium in Palästina vor allem in der Klimato­
in Haifa­Ahuza im Carmel­Gebiet. logie bekannt.
Es wurde von Richard Kaufmann
im Stil des Bauhauses errichtet. Zur Das Bodenheimer­Sanatorium ver­
Einweihung am 30. August kamen band Meeresnähe mit Höhenlage, war
der britische Administrator Edward mit moderner Medizintechnik aus­
Keith­Roach und der arabische Bür­ gestattet und bot den Privatpatienten
germeister Hassan Bey Shukri. Die eine Vielzahl physiotherapeutischer
Familie Bodenheimer wohnte auch Leistungen. An Tuberkulose erkrank­
im Sanatorium. Den ursprünglichen te Kinder konnten sich hier erholen.
Plan, eine Klinik zu gründen, hat­ Dem Direktorium gehörten neben
ten sie auf Rat von Theodor Zlocisti den geschäftsführenden Wilhelm

39
Anstrengungen um seine Anfang
des Zweiten Weltkriegs in Palästina
geschriebene „Dialektik der Alpen;
Emigrationsbericht oder Warum wir
nach Palästina gingen“ erholte, und
Leonard Bernstein. Ab 1944 war Else
Biram alleinige Geschäftspartnerin
ihres Mannes. Mit dem Religions­
philosophen Martin Buber waren
Das Bodenheimer-Sanatorium sie befreundet. 1949 wurde die Ehe
(Foto: Fritz Biram, 1936/37) befand geschieden. Das Sanatorium schloss
sich auf dem Mount Carmel in einer 1955 aus wirtschaftlichen Gründen.
Höhe von 330 Metern. Es war umge-
ben von einem Naturpark mit einem Else Biram war Mitglied der Or­
Pinienwald. Man rühmte seinerzeit ganisation B‘nai B‘rith. Sie gehörte
den Blick über die Ausläufer des dem allgemeinen Komitee an, leitete
Carmel bis zum Meer. 15 Jahre den Tourismusausschuss
und sammelte in Israel, Europa und
Bodenheimer und Max Biram auch Südamerika, wo sie sich von 1947 bis
Arthur Biram, Benno Lewy, Albert 1949 aufhielt, Spenden für ein von
Goldberg und Theodor Zlocisti an. B‘nai B‘rith gegründetes Altersheim
1937 wurden die Bodenheimers
eingebürgert. Else sammelte für den
Jüdischen Nationalfonds, in dessen
Auftrag sie 1936/37 Frankreich, die
Schweiz und mehrere Balkanstaaten
bereiste, Spenden für Umwelt­ und
Wasserprojekte und leitete „Irgun
Olei Merkaz Europa“, eine Organi­
sation der aus Mitteleuropa einge­
wanderten Juden. Sie war Mitglied
der Liberalen Partei, in der Zionisten
versuchten, sich unabhängig von den
politischen Strömungen zu engagie­
ren. Biram unterstützte auch dort vor
allem die Einwanderer in Palästina.

Zu den bekanntesten Patienten in


Bodenheimers Sanatorium gehörten
Arnold Zweig, der sich hier von den Else Bodenheimer-Biram.

40
Blick über Ahuza zum Carmel Medical Center. Rechts unterhalb des Hoch-
hauses von Mishan liegt das inzwischen um eine Etage aufgestockte, ehema-
lige Bodenheimer-Sanatorium. Foto: Yaakov Schatz (Wikimedia Commons,
Lizenz CC BY-SA 3.0)

in Haifa. An der Organisation der Ge­ Seit 2005 sind Mannheim und Haifa,
neral Convention vom 25. bis 29. Mai die beiden wichtigsten Lebenssta­
1959 in Jerusalem war sie maßgeblich tionen Birams, Partnerstädte. Das
beteiligt. ehemalige Sanatoriumsgebäude, Eder
Street 12, wurde erweitert und im Stil
Biram blieb auch in Israel publizis­ der 1930er Jahre saniert. Es ist heute
tisch tätig. So verfasste sie beispiels­ Teil einer Residenzanlage, deren
weise Beiträge zum Verhältnis von Betreiber Mishan zu Hevrat HaOv­
Liberalismus und Sozialismus. 1959 dim gehört, einem Unternehmen des
publizierte sie beim Jüdischen Welt­ 1920 von David Ben­Gurion in Haifa
kongress zur Gleichberechtigung der gegründeten Gewerkschafts­Dachver­
Frauen in Israel. bandes Histadrut.

41
Heinrich August Blochmann begann seine Berufslaufbahn im Rittergut
Großseitschen bei Bautzen, das er 1807 vermutlich im Zusammenhang mit
seiner Heirat pachtete.

Quellen: William Löbe: „Blochmann, Heinrich August“ und Artikel zu 2 Brüdern, Allgemeine
Deutsche Biographie, Bd. 2, 1875, S. 708–712; Friedrich August Schmidt, Bernhard Friedrich
Voigt: „Neuer Nekrolog der Deutschen“. 29. Jg., Teil 2, 1851, S. 948–951; Herbert Zeißig: „Eine
Deutsche Zeitung. 200 Jahre Dresdner Anzeiger“. 1930; Johann Christian Crell: „Curiosa Saxo­
nica“. 1750; Adolf Schulz: „Gottlieb Sigismund Blochmann. Pfarrer in Reichstädt 1784 bis 1798“.
Reichstädter Nachrichten, April 2001, S. 4–5; Herbert Schönebaum: „Blochmann, Karl Justus“.
Neue deutsche Biographie, Bd. 2, 1955, S. 307–308; Julius Kühn: „Das Studium der Landwirth­
schaft an der Universität Halle“. Plötz‘sche Buchdruckerei Halle, 1888; Heinrich Gerd Dade: „Die
deutsche Landwirtschaft unter Kaiser Wilhelm II.“ C. Marhold Halle, 1913; Münchener politi­
sche Zeitung, 1836; Deutsche Vierteljahrs­Schrift, Cotta, 1853; Ludwig Friedrich Gottlob Ernst
Gedike: „Lectionsplan des Bauzner Gymnasiums“. Monse Bautzen, 1802; gedbas.genealogy.net;
germanyroots.com; myheritage.de; Kirchenbücher Hochkirch; Adressbücher der Stadt Dresden;
Amtlicher Bericht Versammlung deutscher Land­ und Forstwirthe in Dresden, 1838; Holger
Starke: „Vom Brauerhandwerk zur Brauindustrie: die Geschichte der Bierbrauerei in Dresden
und Sachsen 1800–1914“. Böhlau Verlag, 2005

42
Blochmann, Heinrich August
Landwirtschaftsreformer
12.02.1787 Reichstädt – 08.12.1851 Friedrichstal

V: Gottlieb Sigismund (*5.9.1750 Lauban, †12.8.1798 Reichstädt), Sohn des Bürgermeisters


Johann Ehrenfried Blochmann, Hauslehrer bei der Familie Bucher in Dresden, Pfarrer in
Podrosche und Reichstädt; M: Henriette Juliane geb. Bucher (Tochter eines Dresdner Advo­
katen, *22.5.1759 Dresden, † November 1813 Dresden während einer Epidemie im Kriegs­
jahr); G: 3 Schwestern, 7 Brüder, darunter 3 früh verstorbene Geschwister, Rudolf Sigismund
(*13.12.1784 Reichstädt, †21.5.1871 Dresden, Vorstand der mechanischen Werkstätten von
Joseph von Fraunhofer in Benediktbeuren, Inspektor des mathematisch­physikalischen Salons
Dresden, Pionier der Kanalisation in Dresden und der Gasbeleuchtung in Deutschland, plante
für die Ökonomische Gesellschaft im Königreiche Sachsen den Vorläufer der TH Dresden, sein
Sohn Georg Moritz errichtete Stadtgasanstalten in Bautzen und Zittau), Karl Justus (*19.2.1786
Reichstädt, †31.5.1855 Genf, Pädagoge bei Johann Heinrich Pestalozzi, gründete in Dresden
mit Unterstützung von Detlev von Einsiedel und König Friedrich August dem Gerechten eine
Privatschule, stellte 1838 Julius Adolph Stöckhardt als Lehrer ein, verheiratet mit einer Schwester
des Malers Julius Schnorr von Carolsfeld), Friederike Juliane Elise (*22.3.1788), Ernst Ehrenfried
(*27.6.1789 Reichstädt, †15.1.1862, gründete in Dresden die Blochmann‘sche Druckerei, die den
Dresdner Anzeiger produzierte, sein Sohn Heinrich Wilhelm Clemens stiftete die Buchdruckerei
ergänzend zur Dr. Güntz‘schen Stiftung, der Sohn Heinrich Ferdinand war Orientalist in Kalkut­
ta, die Tochter Clementine heiratete den Fotografen Hermann Krone), Ferdinand (*1.7.1791),
Wilhelm (29.3.1793–1.4.1793), Adolph (*2.4.1794), Juliane Friederike Caroline (*18.7.1795),
Moritz (*18.9.1796), Wilhelmine Juliane (24.2.1798–1829, verheiratet mit Alexandre Philippe
Lavit aus Genf, Theologe und französischer Sprachlehrer, besuchte bei ihrem Bruder Karl Justus
in Yverdon das Töchterinstitut und arbeitete an dessen Dresdner Schule als Lehrerin); E: 1807,
Christiane Dorothea geb. Frommelt (1788–1864); K: Emilie Agnes (* vor 1819; †1822 Laus­
ke), Juliane Auguste Ottilie (1819–1881, verh. mit Pastor Karl Jentzsch in Audenhain), Bertha
(*28.8.1820 Lauske, †24.2.1901 Zelazne, verh. mit Eduard Friedrich von Rechenberg), Carl Emil
(*1822 Lauske, Gutsbesitzer in Naundorf bei Torgau), 2 weitere Töchter

Blochmann entstammte einer pro­ wenberg geboren und 1756 in Lauban


testantischen böhmischen Familie. gestorben, war Stadtrichter und wie
Ein Heinrich Blochmann hatte 1556 sein Sohn, Heinrich Augusts Groß­
die Heimat aus religiösen Gründen vater Johann Ehrenfried Blochmann,
verlassen und war ins Riesengebirge Bürgermeister. Der 1777 in Lauban
geflohen. Dessen Nachkommen in geborene Cousin Johann Christian
Löwenberg und Hirschberg mussten Ehrenfried Leberecht Blochmann
das zwischenzeitliche Zuhause wieder erwarb sich in Danzig einen Namen
aufgeben und siedelten sich im kur­ als Dichter. Blochmanns Vater war
sächsischen Lauban an. Hier konnten Pfarrer im erzgebirgischen Reich­
sie sich erfolgreich etablieren. Johann städt bei Dippoldiswalde und wegen
Siegmund Blochmann, 1674 in Lö­ seiner Wohltätigkeit hoch angesehen.

43
Julius Schnorr von Carolsfeld hat ihn Althergebrachte Besitz­ und Abhän­
später gezeichnet, wie er die Strümp­ gigkeitsverhältnisse auf dem Land
fe von seinen Füßen streifte, um sie wie Fron­ und Abgabelasten sowie
einem Bedürftigen zu schenken. Nach herrschaftliche Nutzungsrechte von
dem frühen Tod ihres Mannes zog Grund und Boden behinderten die
Blochmanns Mutter mit den Kindern Entwicklung der sächsischen Land­
zu Verwandten nach Dresden, wo wirtschaft. Unter Anton dem Gütigen,
sie Französisch und Handarbeiten seit 1827 König, wurden Reform­
unterrichtete und künstliche Blumen versuche unternommen. Ab 1829
herstellte. Heinrich August wurde gehörte Blochmann einer Kommissi­
zusammen mit seinem Bruder Karl on zur Entwicklung eines Verfahrens
Justus Blochmann auf das Gymnasi­ für die gleichmäßige Besteuerung von
um in Bautzen geschickt. Ermöglicht Grundeigentum an. In der Schrift
hatte dies Johann Wilhelm Prentzel, „Geschäftsanweisung für die behufs
ein Verwandter. Rektor in Bautzen einer Besteuerung versuchsweise aus­
war Ludwig Gedike. zuführende Abschätzung des Grund­
eigenthums im Königreiche Sachsen“
Da er sich besonders für die Natur in­ legte er in 12 Abschnitten die Ab­
teressierte, entschied sich Blochmann, schätzungsgrundsätze bei Ackerbau,
ohne das Gymnasium abzuschließen, den Wiesen, Weiden, Grasländereien,
1802 für eine landwirtschaftliche Gärten, Obst­ und Holzpflanzungen,
Ausbildung in Friedersdorf am Queis. Waldungen, Weinbergen, Teichen,
1807 pachtete er das Rittergut Groß­ der Fischerei, Jagd, den Berg­ und
seitschen. Nach einer zwischenzeitli­ Hüttenwerken, Stein­ und anderen
chen Tätigkeit als Inspektor des Gutes Brüchen, Gruben, Zinsen, Lehngel­
Kleinförstchen übernahm Blochmann dern, Deputaten, Frondiensten und
1815 die Inspektion der gräflich Gebäuden sowie Vorschriften für
Breßler‘schen Güter in der Oberlau­ die Dokumentation dar. Die Schrift
sitz und in Schlesien. Dabei han­ erschien bei Meinhold in Dresden, wo
delte es sich um einen bedeutenden seinerzeit Blochmanns Bruder Ernst
Komplex von 23 Höfen einschließlich Ehrenfried eine leitende Stellung inne
zweier Herrschaften und eines Vor­ hatte. 1830 wurde Heinrich August
werks. Während dieser Zeit wohnte er Blochmann zum Kommissionsrat
in Lauske. 1825 übernahm er die Ver­ ernannt. Er wohnte zu jener Zeit in
waltung des Rittergutes Zschocha am Dresden in der Großen Plauenschen
Queis. Sein erfolgreiches Wirken trotz Gasse unweit der von seinem Bruder
der Schwierigkeiten der Nachkriegs­ Karl Justus gegründeten Schule.
jahre verhalf Blochmann zu einem
ausgezeichneten Ruf bis weit über die Die Verfassung von 1831 und das
Grenzen der Oberlausitz hinaus. Gesetz über die Ablösung der feuda­

44
len Rechtsverhältnisse gegen Entschä­
Ablösungen und digung vom 17. März 1832 bildeten
Gemeinheitsteilungen Meilensteine für eine Modernisierung
Sachsens. Blochmann war an der
Bruno Barthel schrieb 1907 in Ausarbeitung eines Teils des Gesetzes
„Altes und Neues aus Groß­ und beteiligt und wurde zudem als Sach­
Kleindrebnitz“ mit Bezug auf die verständiger konsultiert. Zur Planung
Wirkungen des von Blochmann mit­ und Durchführung der Gesetzesre­
verfassten Gesetzes über „Ablösun­ form wurde eine „Generalkommissi­
gen und Gemeinheitsteilungen“, das on für Ablösungen und Gemeinheits­
Sachsens Bauern bis 1852 schrittwei­ teilungen“ eingesetzt, bestehend aus je
se von vielen Frondiensten und Ab­ zwei ökonomischen und juristischen
gaben befreite: „Nachdem alle diese Räten unter Leitung eines Direktors.
Ablösungen geordnet waren, wur­ Anfangs war dies Carl Gottlieb von
den die Grundstücksbesitzer hier Hartmann. Das zuständige Innen­
und andernwärts eigentlich erst freie ministerium stand unter der Leitung
Herren ihres Eigentums und hatten von Bernhard August von Lindenau.
nun ein ganz anderes Interesse an Ab 1836 leitete Julius Gottlob
der Verbesserung desselben wie von Nostitz und Jänkendorf die
früher. Deshalb wurde dadurch auch Generalkommission, dessen Bruder
ein gewaltiger Fortschritt in der Eduard Gottlob von Nostitz
sächsischen Landwirtschaft einge­
und Jänkendorf war Innenminister.
leitet und damit in der Hauptsache
Blochmann gehörte diesem Gremium
auch ein erfreulicher Aufschwung
ab 1832 als „Wirklicher Kommissions­
der ganzen wirtschaftlichen Lage
unseres Vaterlandes hervorgerufen.“ rat“ an und war zuständig für ökono­
Zum Teil auf Kosten der „Kleinen mische Fragen. Sein zuvor verfasstes
Leute“ auf dem Lande kam es zu Werk bildete eine Grundlage für die
einer beträchtlichen Intensivierung Arbeit der Spezialkommission für
der landwirtschaftlichen Produkti­ die Bewertung des Grundeigentums.
on in sächsischen Großbetrieben, Vor der Verabschiedung eines neuen
denen als Ablöse wahlweise jährlich Grundsteuergesetzes wurden jedoch
Zinsen oder einmalige Kapitalab­ Änderungen am Blochmann‘schen
findungen zuflossen. Innerhalb System vorgenommen. Kraft seines
von wenigen Jahrzehnten stieg die Amtes beriet Blochmann das Lan­
landwirtschaftliche Nutzfläche in desjustizkollegium und später das
Sachsen um 30000 ha, die Getreide­ königliche Oberappellationsgericht.
produktion verdreifachte sich und
auch der Viehbestand wuchs erheb­ 1830 hatte Blochmann das Rittergut
lich (amuellner.gmxhome.de). Neustruppen bei Pirna gekauft, 1831
wurde er Vorsteher des königlichen

45
Von 1841 bis 1849 besaß Blochmann Schloss und Rittergut Wachau.

Soldatenknabeninstituts in Klein­ Veranstaltung zählten Julius Gott­


struppen. 1835 ging Blochmann nach lob von Nostitz und Jänkendorf,
Dresden, um sich auf seine Amts­ Johann Gottfried Nake und Hein­
geschäfte zu konzentrieren. Schon rich Cotta. Die 1840 von Blochmann
ein Jahr später übernahm er aber herausgegebenen „Mittheilungen aus
die Administration des Rittergutes dem Gebiete der Landwirthschaft für
Potschappel, wo er sich wieder prak­ bäuerliche Wirthe und angehende
tisch betätigen wollte und sich um Oekonomen“ verbreiteten Wissen zur
den Hopfenanbau in Sachsen verdient Steigerung der landwirtschaftlichen
machte. Blochmann veröffentlichte Erträge. Dem ersten Heft zum Thema
weiterhin landwirtschaftliche Schrif­ Ackerbau sollte eigentlich noch
ten, z. B. die „Praktische Anleitung eine Abhandlung über Wiesen und
zur ökonomischen Buchführung Viehzucht folgen, auf die Blochmann
nach einem einfachen und übersicht­ jedoch aus Zeitgründen verzichten
lichen Plane“, mit der Landwirte zur musste.
Rechnungsführung befähigt werden
sollten. 1837 nahm er an der ersten Von 1839 bis 1842 war Blochmann als
Versammlung deutscher Landwirte in Lehnsträger des Rittergutes und Zivil­
Dresden teil. Zu den sächsischen Teil­ besitzer am schließlich gescheiterten
nehmern der von August Gottfried Projekt eine Aktienbierbrauerei in
Schweitzer von der Forstakademie Medingen beteiligt. 1837 hatte Hein­
Tharandt maßgeblich organisierten rich Ficinus ermutigende Wasserana­

46
lysen durchgeführt, 1839 wurde die
Brauerei gegründet. Zum Direktori­
um gehörten Vertreter der Banken
Bondi und Kaskel. Eine Schadenser­
satzklage des Mitgründers Ferdinand
von Reiboldt gegen Blochmann und
die Direktoren im Jahre 1842 leitete
das Ende des Unternehmens ein.

1841 gab Blochmann seine Verwal­


tungstätigkeit auf und kaufte Rittergut Seinen Lebensabend verbrachte
und Schloss Wachau bei Radeberg. Blochmann auf dem Gut Fried-
Hier gründete er einen „ökonomi­ richstal bei Radeberg. Es ging nach
schen Verein“, der sich nach Bloch­ seinem Tod in den Besitz seines
mann dem Landbau als „reinste und Schwiegersohns Eduard Friedrich
ergiebigste Quelle für den National­ von Rechenberg und später in den
reichtum“ verschrieben hatte, und des Dresdner Sanatoriumsbetreibers
eine Knechteschule. Ebenso wie sein Heinrich Lahmann über.
Bruder, der Pädagoge Karl Justus
Blochmann, orientierte er sich dabei mann, der mit großer Energie Wa­
an Johann Heinrich Pestalozzi. In chau instand gesetzt, mit Rodungen
der landwirtschaftlichen Ausbildung zusätzliche Flächen gewonnen und
sah man eine Chance, Kindern aus Kühn in die Melioration, d. h. die
einfachen Verhältnissen eine besse­ Trockenlegung der an stauender Näs­
re Zukunft zu ermöglichen. Neben se leidenden Felder, eingeführt hatte.
der praktischen Ausbildung wurde Als berühmter Agrarwissenschaftler
Grundlagenwissen einschließlich in Halle erinnerte sich Kühn später
Schreiben und Rechnen vermittelt. an Blochmann als einen der hervorra­
1845 verfasste Blochmann „Das Rit­ gendsten Praktiker.
tergut und Dorf Wachau bei Radeberg
in geschichtlicher, statistischer und Heinrich August Blochmann fand
landwirthschaftlicher Beziehung“. auf dem Dresdner Trinitatisfriedhof
Im selben Jahr erwarb er das nahe die letzte Ruhe. 20 Jahre später wurde
Gut Friedrichstal. 1849 verkaufte neben ihm sein Bruder Rudolf Sigis­
Blochmann Wachau, behielt aber das mund, der Gasbeleuchtungspionier,
um 155 Acker Holzland von Wach­ beigesetzt.
au erweiterte Friedrichstal, wo er
seinen Lebensabend verbrachte. In
Wachau und Friedrichstal arbeitete
Julius Kühn aus Pulsnitz für Bloch­

47
Bolesław I Chrobry war ab 1024 erster König Polens und herrschte von 1002
bis 1004 sowie von 1007 bis 1025 auch in der Oberlausitz.

48
Bolesław I Chrobry
König von Polen
966 – 17.06.1025

V: Mieszko I. (*922 od. später, †25.5.992), ab 960 Herrscher in der großpolnischen Region mit
dem Hauptort Gniezno/Gnesen bei Poznan, 963 erster polnischer Herzog, mit seiner Taufe im
Jahre 966 legitimierte Mieszko seinen kurz zuvor ausgerufenen Staat Polen bei den Nachbarn;
M: Dobrawa (†977), Tochter des böhmischen Herzogs Boleslav I., brachte der Überlieferung
nach Mieszko I. und damit Polen zum christlichen Glauben, möglicherweise in erster Ehe mit
Günther von Merseburg verheiratet und Mutter der Meißner Markgrafen Ekkehard I. und Gun­
zelin; G: Sigrid die Stolze (* um 965, 980 Königin von Schweden, 995 Königin von Dänemark
und dadurch Herrscherin auch in Britannien), ? Vladivoj (* vor 977, †1003, 1002 Herzog von
Böhmen), ? Adelheid (*955, Herzogin und Großfürstin von Ungarn, ältere Halbschwester aus
einer früheren Ehe des Vaters oder dessen jüngere Schwester), die jüngeren Halbbrüder Mieszko
(* um 979, † nach 992), Świętopełk (* um 980, † vor 991), Lambert (* um 981, † nach 992);
E: (1) 984 Henilda (Tochter des Meißner Markgrafen Rikdag), (2) 985 Judith (Tochter des
Großfürsten von Ungarn), (3) 987 Emnilda (*973, † um 1017, Tochter des slawischen Fürsten
Dobromir aus der Lausitz), (4) 3.2.1018 ?Großseitschen, Oda († nach 1025?, Tochter des Meiß­
ner Markgrafen Ekkehard I.); K: N.N. (*984/985, Fürstin von Pommern), Bezprym (986–1032,
1031 Fürst von Polen), N.N. (*988, Äbtissin), Reglindis (989–1016, ab 1002 mit dem späteren
Meißner Markgrafen Hermann I. verheiratet, Mitstifterin des Naumburger Doms), Mieszko II.
(990–10.5.1034, Bolesławs Nachfolger als polnischer König, verheiratet mit Richeza, Nichte von
Otto III., wurde 1031 von Kaiser Konrad II. zur Abtretung der Oberlausitz gezwungen, die als
Zubehör der Mark Meißen an Hermann I. gelangte), Mathilde (* um 995, † nach 1018, ab 1013
verheiratet mit Svjatopolk, Sohn des Großfürsten der Kiewer Rus, Fürst von Turow), Otto (1000–
1033, anlässlich der Zeremonie von Gniezno auf den Namen von Otto III. getauft, ab 1031
Herzog und Mitregent von Polen), Mathilde (* nach 1018, verheiratet mit Otto von Schweinfurt)

Bolesław entstammte der Adelsfamilie eine Blüte erlebte. Bolesław wird in


der Piasten und war einer der ein­ Polen als Nationalheld verehrt.
flussreichsten Herrscher seiner Zeit.
Er wollte ein emanzipiertes Reich der Bolesław war ein Sohn des polnischen
Westslawen schaffen und gleichzeitig Herzogs Mieszko und der böhmi­
zur Verbreitung des Christentums schen Herzogstochter Dobrawa, die
beitragen. Insbesondere auch das ihm den Vornamen ihres Vaters,
Geschehen in der Mark Meißen und Boleslav I., gab. Die Ehe der Eltern
den Nachbarregionen Schlesien und diente dem Interessensausgleich zwi­
Böhmen wurde maßgeblich durch schen Polen, das vor allem nordwärts
ihn geprägt. Sein Einfluss reichte bis expandierte, den Deutschen, die unter
in die Kiewer Rus, den ersten, von Markgraf Gero von der Ostmark und
Wikingern gegründeten Staat der Kaiser Otto I. ihre Ostexpansion for­
Ostslawen (Russen, Weißrussen und cierten, und den Böhmen unter Bo­
Ukrainer), der zu seinen Lebzeiten leslav I., die wenige Jahre zuvor von

49
den Deutschen unterworfen worden praktische Vorteile. Mit dem Übertritt
waren und ihrerseits das kleinpolni­ zum Christentum einher ging die
sche Territorium um Krakau besetzt Einführung der lateinischen Sprache
hielten. Herzog Mieszko musste nach und damit erstmals der Gebrauch
Geros Invasion östlich der Oder einer Schriftsprache in Polen. Sie war
im Jahre 963 ebenfalls die deutsche Voraussetzung, den kulturellen Rück­
Oberhoheit anerkennen und Tribut stand zum westlichen Teil Europas
leisten. Die Eheschließung von Miesz­ aufzuholen. Mieszko baute Burgen
ko und Dobrawa zwei Jahre später fiel und erweiterte das polnische Herr­
in eine Zeit bedeutender machtpoli­ schaftsgebiet bis an die Ostsee. Dabei
tischer Änderungen. Nach Geros Tod geriet er 972 mit Hodo, dem Mark­
wurde seine große Ostmark aufgeteilt. grafen der Lausitz, in Konflikt, den er
Die Mark Meißen im Südosten, mit in der Schlacht bei Zehden besiegte.
den Gauen Daleminzi um Meißen, Kaiser Otto I. zwang Mieszko darauf,
Nisan im Elbtal und Milska im Gebiet seinen siebenjährigen Sohn Bolesław
der heutigen Oberlausitz, sollte zum in Geiselhaft nach Quedlinburg bzw.
Schauplatz wiederholter Auseinander­ Magdeburg zu geben. Nach dem
setzungen mit den benachbarten Böh­ frühen Tod der Mutter im Jahre 977
men und Polen werden. In Merseburg kühlte sich das Verhältnis zwischen
erhielt Günther die Markgrafschaft. Polen und Böhmen ab. Der Vater
Es ist überliefert, dass er bis 965 mit heiratete Oda von Haldensleben,
Dobrawa verheiratet gewesen sein eine Tochter des Markgrafen von der
soll. Wie seine Söhne Ekkehard I. und Nordmark, und knüpfte dadurch erste
Gunzelin, in diesem Fall Halbbrüder Verbindungen zum sächsischen Adel.
von Bolesław, war er später Markgraf Bolesław begleitete seinen Vater oft
von Meißen. Mit Dobrawa fasste das auf dessen Reisen durch das Land.
Christentum in Polen Fuß. Es ist zu
vermuten, dass Bolesław kurz vor Bolesław wurde von seinem Vater
der Taufe des Vaters im Jahre 966 zur im Jahre 984 mit einer Tochter des
Welt kam, da frühe Quellen auf eine Markgrafen Rikdag von Meißen ver­
Eheschließung der Eltern im Jahre heiratet. Die Böhmen unter Boleslav
965 und die Geburt als Sohn eines II., Dobrawas Bruder, besetzten aber
heidnischen Vaters und einer gläubi­ die Markgrafschaft und damit wa­
gen Mutter verweisen. Die Christia­ ren die Pläne der Polen, nach dem
nisierung Polens war aber nicht allein Tod von Kaiser Otto II. im Jahre 983
dem missionarischen Eifer der Herzo­ in der Mark Meißen Fuß zu fassen,
gin zu danken. Das Bekenntnis zum zunächst gescheitert. Bolesław löste
Christentum brachte dem polnischen die Ehe wieder auf. Mithilfe der Ehe­
Herrscher einen großen Reputations­ schließung mit Judith von Ungarn
gewinn bei den Nachbarn und auch im Jahr darauf wurde versucht, eine

50
Allianz gegen Böhmen zu schmie­
den. Bolesławs dritte Ehe, im Jahre
987, sollte wiederum die Allianz mit
Meißen festigen und war ebenfalls
gegen Böhmen und dessen Vormacht­
streben in Schlesien gerichtet. Im
Rahmen einer Doppelhochzeit hei­
ratete Bolesław eine Schwägerin von
Gunzelin, eines Bruders des damali­ Die Burg Bautzen befindet sich auf
gen Meißner Markgrafen Ekkehard I. einem Felssporn oberhalb der Spree.
Auch dank der guten Beziehung nach Im Zusammenhang mit einer Be-
Deutschland und mit der Unterstüt­ lagerung durch König Heinrich II.,
zung seines Sohns Bolesław war es der dabei fast gefallen wäre, wurde
Mieszko möglich, 990 Krakau und Bautzen 1002 erstmals urkundlich
992 Schlesien mit Breslau zu er­ erwähnt. Es gab dem Land Budissin
obern. Im Auftrag des Vaters regierte den Namen.
Bolesław das kleinpolnische Territo­
rium um Krakau. Zu den Unterstüt­ sollte das Land unter seinen Söhnen
zern der Polen gehörten Familienan­ aufgeteilt werden. Das polnische
gehörige des für Krakau zuständigen Kernland unterstellte er dem Papst,
Prager Bischofs Adalbert, dessen was praktisch aber nur eine Verpflich­
Reformorientierung im eigenen tung zum Tribut bedeutete.
Land von einflussreichen Gegnern
angefeindet wurde und der deswegen Bolesław wurde im Jahre 992, als sein
Prag auch zeitweise verlassen musste. Vater starb, Herzog von Polen. Sein
Mieszko hinterließ ein Herzogtum erstes Bemühen galt, die verbrieften
Polen, das von der Oder bis an die Ansprüche seiner Stiefgeschwister
Warthe reichte. Nach seinem Tod abzuwehren. Mit diplomatischem
und kriegerischem Geschick konnte
er danach das polnische Territorium
rasch erweitern. Er verbündete sich
995 mit den Deutschen unter König
Otto III. gegen die Sorben an Elbe
und Ostsee und unterwarf Mähren
und die Slowakei in seinem Bestre­
ben, ein vereinigtes Reich der West­
slawen zu schaffen. Während seiner
Der heutige Breslauer Dom geht auf Regentschaft genoss die jüdische
einen Vorgängerbau unter Bolesław Bevölkerung Polens einige Privilegi­
zurück. en, allerdings befahl Bolesław, deren

51
Schriftgut zu verbrennen. Um 995 eigenständigen polnischen National­
führte er die ersten polnischen Mün­ kirche, die unabhängig von Deutsch­
zen ein. land direkt dem Papst unterstellt war.

Das polnische Territorium war kir­ 1002 unterstützte Bolesław den Meiß­
chenpolitisch umstritten. Das unter ner Ekkehard I. beim Versuch, die
Boleslav II. entstandene Bistum Prag Nachfolge des verstorbenen Kaisers
umfasste auch Breslau und Kra­ Otto III. anzutreten. Er wurde durch
kau. Ein Vorschlag aus dem Bistum die Furcht angetrieben, dass sich die
Meißen, für Teile von Böhmen und Deutschen erneut mit den Böhmen
Schlesien eine eigene Diözese einzu­ gegen Polen verbünden und jene
richten, scheiterte. Gegen die deut­ Schlesien und Krakau zurückfordern
schen Kirchenfürsten entschied Otto könnten. Nach Ekkehards Ermordung
III., die zu Deutschland benachbarten eroberte Bolesław mit Unterstützung
Gebiete nicht zu integrieren, son­ von dessen Gefolgsleuten Meißen und
dern zu Verbündeten aufzubauen, als die Lausitz. Die offizielle Markgra­
Vorposten zum Schutz des Reiches. fenwürde in Meißen erhielt jedoch
Bolesław erkannte die sich daraus Ekkehards Bruder Gunzelin. Um die
für ihn ergebenden Möglichkeiten. bereits bestehenden, engen familiären
Er löste die Reliquien des Prager Beziehungen mit Meißen zu festigen,
Bischofs Adalbert von den baltischen verheiratete Bolesław im Jahre 1002
Prußen aus, die jener mit Unterstüt­ seine Tochter Reglindis mit Hermann
zung Bolesławs hatte missionieren I., einem Sohn von Ekkehard I.
wollen, und begrub sie in Gniezno.
Anlässlich der Wallfahrt von Otto III., Um Bolesław zu besänftigen, be­
der zu den Anhängern des inzwischen lehnte ihn der neue deutsche König,
heiliggesprochenen Adalberts gehör­ Heinrich II., mit der Markgrafschaft
te, im März 1000 erkannte der Kaiser Lausitz (Niederlausitz) und dem Gau
Bolesław als souveränen Herrscher Milska, der dadurch praktisch von der
Polens an. Bei dieser Gelegenheit Mark Meißen abgetrennt wurde. Ein
wurde vermutlich auch die spätere Attentat gegen den Polen anlässlich
Eheschließung von Bolesławs Thron­ der Huldigung des Königs in Merse­
folger Mieszko II. mit einer Nichte burg im Jahre 1002 hatte Zwietracht
von Otto beschlossen, und Bolesław zwischen Heinrich II. und Bolesław
taufte seinen jüngsten Sohn auf den gesät. Mit der Brandschatzung der
Namen Otto. Papst Sylvester II. ge­ Burg Strehla eröffnete Bolesław offi­
währte Polen eine eigene Erzdiözese ziell den Streit. Der Konflikt spitzte
mit Sitz in Gniezno, wobei Breslau ei­ sich zu, als Bolesław 1002 und 1003
nen Bischofssitz erhielt. Damit wurde in die böhmische Thronfolge eingriff,
Bolesław zum Gründungsvater einer zunächst seinen vermutlichen Bruder

52
Das polnische Territorium erweiterte sich zur Zeit der Herrschaft von
Bolesław deutlich. Es bestand 992 aus der dunkleren rosa Fläche und um-
fasste 1025 die mit der dicken roten Linie umrahmten Gebiete inkl. Lau-
sitz, Milska, Mähren und Slowakei. Einige Länder konnten nur kurzfristig
gehalten werden (Meißen, Böhmen). Grafik: Poznaniak, aus: „Ilustrowany
Atlas Historii Polski“ (Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)

Vladivoj installierte und sich schließ­ hang mit seiner Absicht, die in Gniez­
lich selbst zum Herzog proklamieren no vereinbarte relative polnische
ließ. Bereits 1004 musste er Böhmen Eigenständigkeit, in kirchlichen wie
aber wieder aufgeben. Heinrich II. politischen Angelegenheiten, zu revi­
erneuerte die deutsche Vorherrschaft. dieren. Dies war für ihn wichtig, denn
Sein Vorgehen stand im Zusammen­ er musste seine Autorität als König

53
Bolesław I Chrobry befestigt Grenzpfähle an Elbe und Saale.

wahren und hinter Bolesław stand die unterwarf. Zu Bolesławs Verbündeten


sächsische Fürstenopposition. Dabei gegen Heinrich zählte der mit ihm
schreckte Heinrich auch nicht davor verschwägerte dänische König.
zurück, sich mit den heidnischen
Lutizen zu verbünden, die Deutsche König Heinrich II. schenkte 1007 die
und Polen zuvor gemeinsam bekriegt Kastelle Trebista, Godobi und Os­
hatten. Milska wurde 1004 von den trusna dem Hochstift Meißen unter
Deutschen zurückerobert. König Bischof Eido I. Sie befanden sich im
Heinrich II. und Hermann I., obwohl Gau Milska, der im Verlauf des Jahres
ein Schwiegersohn von Bolesław I wieder an Bolesław fiel. Für diese
Chrobry, besetzten Bautzen. Heinrich Schenkung des Königs, unter dem das
II. konnte bis zum Friedensschluss Reichskirchensystem ein Blüte erleb­
1005 in Poznan im ersten von ins­ te, gab es eine politische Motivation.
gesamt drei Kriegen mit Bolesław des­ Die Bischöfe stellten in Deutschland
sen Einfluss zunächst zurückdrängen, ein bedeutendes Gegengewicht zum
ohne dass sich dieser ihm tatsächlich immer selbstbewusster auftretenden

54
weltlichen Adel dar. Diese Funktion König 1010 absetzte. 1013 erkannte
und ihre missionarische Tätigkeit in Bolesław im Frieden von Merseburg
von Sorben besiedeltem Gebiet konn­ die Lehnshoheit von Heinrich II.
ten die Bischöfe am besten verbinden, zwar formal an, faktisch musste der
wenn ihr Besitz bis in die Nähe von deutsche König aber die lausitzischen
Bautzen, dem Hauptort von Milska, Eroberungen zuzüglich Milska der
reichte. Es ist zu vermuten, dass dieser Polen akzeptieren. Ihr Verhältnis
bischöfliche Besitz während der pol­ blieb konfliktträchtig. Ein Feldzug
nischen Besatzung von Milska zumin­ Bolesławs nach Kiew zur Befreiung
dest infrage stand. Die Lokalisierung seines Schwiegersohns Svyatopolk,
des Kastells und späteren Burgwards eines Stiefsohns des Kiewer Großfürs­
Trebista innerhalb von Milska ist für ten, scheiterte. Dem König verwei­
das Verständnis der Ostsiedlung in gerte er die Gefolgschaft auf dem Zug
Sachsen von großer Bedeutung. Lange nach Rom, seinen Lehnsverpflichtun­
vermutete man Großdrebnitz bei gen kam er nicht nach und auch die
Bischofswerda wegen der scheinbaren geforderte Unterwerfung blieb aus.
sprachlichen Ähnlichkeit als heutige Heinrich, inzwischen Kaiser, hielt
Ortschaft. Seit etwa 100 Jahren wird Mieszko II., Bolesławs Sohn, zeitweise
nach einer Untersuchung des 1241 gefangen. Der deutsche Feldzug 1015
beurkundeten Grenzverlaufs zwi­ bis zur Oder wurde durch die Polen
schen der damals böhmischen Ober­ abgewehrt, die ihrerseits unter Miesz­
lausitz und den Gebieten der Meißner ko II. Meißen angriffen und die von
Bischöfe Doberschau favorisiert und Hermann I. verteidigte Burg teilweise
heute gilt Bischofswerda als ein mög­ zerstörten. Den Brand löschten die
licher Kandidat. Verteidiger mit Bier (Ersterwähnung
von Bier in Sachsen). Bischof Eido I.
Die meißnische Verwandtschaft von von Meißen, dem Bolesław die Ber­
Bolesław spielte in jener Zeit eine gung und Bestattung der Leichen der
zwiespältige Rolle. Schwiegersohn vorangegangenen Schlacht gestattet
Hermann I. regierte im Auftrag des hatte, wollte Heinrich II. Bericht
deutschen Königs bis zur polnischen erstatten, starb jedoch auf der Reise
Rückeroberung 1007 die Oberlausitz, in Leipzig (Ersterwähnung der Stadt
versuchte aber häufig zu vermitteln. Leipzig). Zu jener Zeit war in Meißen
Hermann I. Markgraf, bis zum Tod
In den folgenden kriegerischen seiner Frau Reglindis im Jahre 1016
Auseinandersetzungen mit Hein­ Bolesławs Schwiegersohn. Neuer
rich II. besetzte Bolesław erneut die Bischof wurde mit Eilward ein Bruder
verlorenen Gebiete. Markgraf Gun­ Hermann I.
zelin wurde nachgesagt, mit Bolesław
zu paktieren, weswegen ihn der

55
seine Beziehungen zum meißnischen
Adel durch Heirat mit Oda, einer
Tochter des ehemaligen Markgrafen
Ekkehard I. Die Hochzeit, die der Fes­
tigung des Friedens diente, fand ver­
mutlich auf der Burg Großseitschen
bei Bautzen statt.

Auch wenn Bolesław nicht die Herr­


schaft über die Mark Meißen erobern
konnte, war sein Einfluss groß und
er insgesamt der Sieger im Konflikt
mit Heinrich II. Sein Status entsprach
wieder dem nach dem Akt von Gniez­
no im Jahre 1000 unter Otto III. In
der Folgezeit agierten Bolesław und
Bericht über die Eheschließung von Heinrich II. als Verbündete. Eine
Bolesław I. Chrobry mit Oda von wichtige Rolle hatten dabei die engen
Meißen im Jahre 1018 in der Chro- Bande der Polen zu den Meißner
nik Thietmars von Merseburg. Mit Markgrafen gespielt. Gunzelin wurde
der Hochzeit wurden die traditio- vom deutschen König deswegen sogar
nell guten Beziehungen des polni- abgesetzt. Auch dessen Nachfolger,
schen Herrschers mit der Meißner Gunzelins Neffe Hermann I., unter­
Markgrafenfamilie gefestigt. Oda stützte die Kriege Heinrich II. gegen
war eine Schwester von Boleslaws Bolesław eher halbherzig, war er doch
vormaligem Schwiegersohn, Mark- mit dessen Tochter Reglindis verhei­
graf Hermann I. ratet; zwei Jahre nach ihrem Tod ver­
mählte er mit Oda eine Schwester mit
Mithilfe seines Schwiegervaters seinem bisherigen Schwiegervater.
Bolesław gelangte Svyatopolk 1015
zwischenzeitlich an die Macht in der 1018 besiegte Bolesław den von
Kiewer Rus. Während des letzten der Heinrich II. zunächst unterstützten
drei Kriege mit Bolesław belagerte Yaroslav I. von Kiew und installierte
1017 Heinrich II. erfolglos die Burg seinen Schwiegersohn und Yaroslavs
Nimptsch vor Breslau. Am 30. Januar Halbbruder Svyatopolk, der jedoch
1018 im Frieden von Bautzen errang im Folgejahr starb und wieder von
Bolesław die erneute Anerkennung Yaroslav abgelöst wurde, auf dem
seiner Herrschaft über die Lausitz Thron. Gemeinsam zogen Bolesław
und den Gau Milska durch den Kai­ und Heinrich II. nach Italien. Solan­
ser. Bei dieser Gelegenheit vertiefte er ge der Kaiser lebte, zügelte Bolesław

56
Denkmal für Bolesław in Breslau an der Schweidnitzer Straße.

seine Ambitionen. Erst am 25. De­ ausstellung mit dem „Muzeum Miejs­
zember 1024, nach dessen Tod, ließ kie Wroclawia“ an „Milceni et Silensi:
er sich zum ersten polnischen König Die Oberlausitz und Schlesien um
krönen. Gleichzeitig wurde die Meiß­ das Jahr 1000 in der Zeit des Bolesław
nerin Oda damit möglicherweise zur Chrobry“.
ersten polnischen Königin, allerdings
ist ihr Sterbejahr ungesichert und ihre
Ehe galt wegen ihres vorehelichen Quellen: Henry Lang: „The Origins of the
Lebenswandels und einer Nebenfrau Polish State. Mieszko I and Boleslaw Chrobry.“
Bolesławs als problematisch. University of Buffalo, 1995; Heinz Schuster­
Šewc: „Zur Lokalisierung der in der Schen­
kungsurkunde Heinrichs II. (1006) genannten
Bolesław war am Ende seines Lebens drei Kastelle: Ostrusna, Trebista, Godobi.“ In:
als Herrscher von der Elbe bis zum Letopis, Bd. 53, H. 2, 2006, S. 67–72; Herbert
Bug, von der Ostsee bis zur Donau Ludat: „Boleslaw I. Chrobry“. In: Lexikon des
Mittelalters, Bd. 2, München–Zürich 1983,
anerkannt. Im Dom zu Poznan fand
Sp. 359–364; Rezensiert von: Piotr Gotówko,
er seine letzte Ruhe. Sein Sohn und Rochala Paweł, Nimptsch im Jahre 1017, Ori­
Nachfolger, Mieszko II., verlor in den ginaltitel: „Niemcza 1017“. 30.6.2016, in forum
Folgejahren nicht nur viele der vom historiae iuris; „Dithmars, Bischofs zu Merse­
Vater eroberten Gebiete, sondern burg, Chronik in Acht Büchern, nebst dessen
Lebensbeschreibung, aus der lateinischen in
auch die polnische Königskrone. Im die deutsche Sprache übersezt und mit An­
Jahre 2001 erinnerte das Stadtmuse­ merkungen erläutert von M. Johann Friedrich
um Bautzen in einer Gemeinschafts­ Ursinus, Pfarrern in Boritz“. Dresden 1790

57
Karl August Böttiger, von Carl Christian Vogel von Vogelstein porträtiert.
David d‘Angers und Reinhard Krüger schufen Porträtmedaillons. Auch die
Maler Gerhard von Kügelgen und Johann Friedrich August Tischbein por-
trätierten Böttiger.

58
Böttiger, Karl August
Magister, Altertumsforscher, Schriftsteller, Journalist und Pädagoge
08.06.1760 Reichenbach – 17.11.1835 Dresden

V: Karl (1730–1776), Conrektor in Reichenbach, Archidiakon in Elsterberg; M: Johanna geb.


Pietzsch (*1734, †2.5.1812 Dresden, 2. Ehe mit dem Kaufmann Oberländer aus Gera);
E: 8.9.1786 Loschwitz, Eleonore geb. Adler (†18.2.1832 Dresden, Tochter eines Geheimen
Finanzsekretärs); K: August (†1791 Weimar nach Postkutschenunfall in Jena bei der Anreise
von Bautzen nach Weimar), Karl Wilhelm (*15.8.1790 Bautzen, †26.11.1862 Erlangen, Professor
für Geschichte in Leipzig und Erlangen, korresp. Mitglied der OLGdW), Moritz (1797–1798),
Gustav (*9.6.1799, †12.9.1857 Dresden, Amtsaktuar), ab 1809 mehrere Pflegetöchter

Böttiger erhielt in Elsterberg Pri­ rer verdienen. 1781 kam er erstmals


vatunterricht bei seinem Vater. Zu nach Dresden, wo er in Diensten
seinem Mitschüler Friedrich Wilhelm beim Kommandanten der Neustadt
Döring, Sohn des hiesigen Ober­ von Pfeilitzer, dem Geheimen Finanz­
pfarrers, entwickelte sich eine enge direktor von Ferber und der Gräfin
Freundschaft. Sie besuchten ab 1772 von Zinzendorf stand. Zu seinen
das Landesgymnasium Pforta. Dort Förderern zählte Hofmarschall Joseph
wurde Böttigers Begeisterung für Friedrich von Racknitz, der ihn auch
das Altertum geweckt. Erst wenige in die Freimaurerei einführte. Das
Jahre zuvor hatte der Begründer Interesse daran vertiefte sich während
der wissenschaftlichen Archäologie, Böttigers Anstellung bei Friedrich
Johann Joachim Winckelmann, sein Magnus I. zu Solms­Wildenfels, als er
Hauptwerk zur Geschichte der Kunst auch den Maler Christian Leberecht
des Altertums veröffentlicht. 1778 be­ Vogel kennen lernte. 1784 erlangte
gann Böttiger mit Unterstützung des Böttiger in Wittenberg den Abschluss
Stiefvaters ein Studium der Philologie als Magister.
bei Johann August Ernesti in Leip­
zig. Auch bei den Professoren Ernst Die Berufslaufbahn begann Bötti­
Platner, Samuel Friedrich Nathanael ger in Guben als Gymnasialdirektor
Morus und Friedrich Wolfgang Reiz in der Nachfolge seines Freundes
hörten er und Döring Vorlesungen. Döring. Hier gründete er zudem ein
Die finanzielle Unterstützung durch Privatinstitut. Als er in Löbau die
die Eltern versiegte, als jene nach Leitung eines neuen Mustergymna­
dem großen Brand von Gera 1780 siums übernehmen sollte, entschied
in wirtschaftliche Schwierigkeiten er sich jedoch für Bautzen. Böttiger
gerieten. Böttiger musste das Studium leitete das dortige Gymnasium von
unterbrechen und seinen Lebensun­ 1790 bis 1791. Gerhard Heinrich
terhalt als Hofmeister und Privatleh­ Jacobjan Stöckhardt gehörte zu

59
Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänkendorf bestätigte Böt-
tiger am 16. Juli 1802 dessen Mitgliedschaft seit 1790 in der Oberlausitzi-
schen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz (Deutsche Fotothek, CC
BY-SA 4.0).
seinen Schülern. Der langjährige schaft mit Gottlob Adolf Ernst
Conrektor Johann Gottlieb Cober, ein von Nostitz und Jänkendorf.
ehemaliger Mitarbeiter von Hein­
rich von Brühl, machte ihm aber das Johann Gottfried Herder empfahl
Leben schwer. Ab 1790 war Bötti­ Böttiger 1791 als Gymnasialdirektor
ger Mitglied der Oberlausitzischen und Oberkonsistorialrat in Weimar.
Gesellschaft der Wissenschaften, in Er führte dort eigene archäologi­
deren „Lausizischer Monatsschrift“ er sche Untersuchungen durch, die in
„Über das Bauzner Bakwerk“ schrieb. seine Schulprogramme einflossen.
Im „Lausizischen Magazin“ erschie­ Böttigers profunde Kenntnisse zum
nen mehrere pädagogische Abhand­ Altertum verhalfen ihn zum Eintritt
lungen. Vermutlich aus der Zeit in in die gesellschaftlichen Kreise des
Bautzen rührte seine enge Bekannt­ klassischen Weimar, so bei Herzogin

60
Anna Amalia. Auch für Literatur und
Theater entwickelte er eine große
Leidenschaft. Böttiger zählte bekannte
Gelehrte, darunter Gottlob Adolf
Ernst von Nostitz und Jänken­
dorf, zu seinen Gästen. Zunächst
bestand auch ein gutes Verhältnis zu
Johann Wolfgang von Goethe, den
er in Fragen des Altertums beriet.
Dank seines umfangreichen Brief­
wechsels und der Publikationen in
einer Vielzahl von Zeitschriften,
wie in dem von ihm von 1795 bis
1803 herausgegebenen „Journal des
Luxus und der Moden“, gilt Böttiger
heute als Chronist des Weimar von
Goethe und Schiller („Literarische Szene aus Böttigers wichtigstem
Zustände und Zeitgenossen“, Dresden Werk aus seiner Weimarer Zeit:
1838). Er schrieb alles auf, was ihm „Sabina oder Morgenszenen im
an menschlichen Schwächen und Putzzimmer einer reichen Römerin.
sozialen Ungerechtigkeiten begegne­ Ein Beytrag zur richtigen Beurthei-
te – ohne Ansehen der Person und lung des Privatlebens der Römer
ohne Rücksicht auf Vertraulichkeiten. und zum bessern Verständniß der
Teilweise verbarg er die Kritiken in römischen Schriftsteller“ (1803).
einem historischen Gewand. So kam Mit seinen vielen Schriften zum Al-
es zum Streit mit Goethe, der in ihm tertum erlangte Böttiger seinerzeit
nun den „Böttiger‘schen Kobold“ sah, große Bekanntheit. Er trug damit
und mit Friedrich Schiller, der ihn wesentlich zur Popularisierung der
„Magister Ubique“ nannte. Schiller Altertumswissenschaften bei. Schon
warf Böttiger vor allem die unautori­ zeitgenössische Kritiken beklagten
sierte Weitergabe des Manuskripts zu jedoch, dass seinen vorrangig der
„Wallenstein“ vor. Böttigers Gegen­ mythologischen Auslegung anti-
spieler Ludwig Tieck karikierte ihn in ker Kunstwerke und dem antiken
„Der gestiefelte Kater“ (1797) in der Alltagsleben gewidmeten Schriften
Figur des Literaturkritikers Bötticher. die wissenschaftliche Tiefe fehle. Be-
Befreundet war Böttiger mit Chris­ kannte Werke aus Böttigers Dresd-
toph Martin Wieland, dessen „Teut­ ner Zeit zu dieser Thematik waren
schen Merkur“ er von 1797 bis 1809 „Ideen zur Archäologie der Malerei“
herausbrachte. (1811) und „Ideen zur Kunst-My-
thologie“ (1826/1836).

61
Coselpalais, ehemals „Hinter der Frauenkirche“ 5. Bis 1815 wohnte hier
auch Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänkendorf.

Nachdem die Konflikte in Weimar akademie die Hintergründe. Er regte


eskalierten, wechselte Böttiger 1804 an, Nachbildungen der Antiken anfer­
nach Dresden, wo er einflussreiche tigen zu lassen, und machte Vorschlä­
Freunde wie Hofmarschall Joseph ge, wie man die Schätze einem breiten
Friedrich von Racknitz und Ober­ Publikum zugänglich machen kön­
hofprediger Franz Volkmar Reinhard ne. Die Arnoldische Buchhandlung
besaß. Er arbeitete als Studiendirektor verlegte seine „Andeutungen zu 24
am Pageninstitut, einer Bildungsan­ Vorlesungen über Archäologie“. Böt­
stalt für adlige Schüler, und an der aus tiger nahm alles auf, was er an Wissen
der Vereinigung mit dem Kadetten­ erwerben konnte. Seine Privatbiblio­
haus hervorgegangenen Ritterakade­ thek war legendär. Wissen vermittelte
mie sowie ab 1814 auch als Leiter des er aus Passion und beschränkte dies
Antikenmuseums. Nach 1822 verblieb nicht auf seine dienstlichen Aufgaben.
ihm die Tätigkeit im Museum. Die Böttigers Vorträge in seiner Wohnung
Skulpturen, Vasen, Bronzen und die im Coselpalais waren ihrer Unter­
von Anton Raphael Mengs gesam­ haltsamkeit wegen gerühmt. Sogar
melten Gipsabdrücke dienten Kunst­ der spätere König Johann ließ sich
studenten als Anschauungsmaterial. von ihm in die Klassiker der Römer
Böttiger erklärte in seinen Vorlesun­ und Griechen einführen und die
gen vor der „Gipsklasse“ der Kunst­ griechische Sprache lehren. Böttiger

62
knüpfte eine Vielzahl von Kontakten
zu einflussreichen, literarisch und
künstlerisch interessierten Persön­
lichkeiten. Wie der Kunstsammler
Johann Gottlob von Quandt zählte
er zum Freundeskreis von Arthur
Schopenhauer. Historisch bedeutsa­
me Zeitdokumente sind seine Artikel
zu Literatur und Theater. Politische
Bedeutung besaß Böttigers journalis­
tisches Schaffen während der Befrei­
ungskriege. Die von ihm redigierte
Zeitschrift „London und Paris“ war Böttiger, links im Vordergrund
durch die französische Revolution an­ sitzend, beobachtet im Gemälde von
geregt worden, sich mit den europäi­ Carl Christian von Vogel und Vogel-
schen Antipolen England und Frank­ stein, wie Pierre Jean David d‘Angers
reich auseinanderzusetzen. Böttigers im Jahre 1834 eine Büste von Lud-
Karikaturen auf Napoleon ermutigten wig Tieck modellierte. Weiterhin im
auch andere Autoren, die französische Bild zu sehen sind der Maler selbst
Besatzungsherrschaft zu kritisieren. (neben Böttiger stehend), dahinter
Nach Theodor Körners Tod im Jahre Wolf Graf Baudissin, hinter der Büs-
1813 bemühte er sich um die Grün­ te Carl August Förster, Otto Magnus
dung eines Gedenkvereins. Ab 1820 Freiherr von Stackelberg, Moritz
gab Böttiger die Zeitschrift „Amal­ Steinla und Alexander Freiherr von
thea oder Museum der Kunstmytho­ Ungern-Sternberg, alles bedeutende
logie und bildlichen Alterthumskun­ Künstler, Schriftsteller und Alter-
de“ und als deren Fortsetzung ab 1828 tumsgelehrte, vor Tieck dessen Sohn
„Archäologie und Kunst“ heraus. Sein Johannes, hinter ihm seine Tochter
Credo für die Altertumswissenschaft Dorothea (Deutsche Fotothek, CC
bestand darin, dass sie Vergangenheit BY-SA 4.0). Die Anwesenheit Böt-
und Gegenwart verbinden müsse: tigers, der in der ersten Fassung für
„Des Alterthums Erforscher sey ein den Verleger Brockhaus noch fehlte,
Janus­Kopf.“ in diesem Bild ist insofern bemer-
kenswert, weil sein Verhältnis zu
Böttiger war maßgeblich am Ent­ Tieck zerrüttet war.
stehen eines elitären Vereinslebens
in Dresden beteiligt. Mit Elisa von Nostitz und Jänkendorf, Lud­
der Recke und Christoph August wig Tieck und aus Leipzig Robert
Tiedge, deren literarischen Zirkel Stöckhardt besuchte, bestanden
er wie Gottlob Adolf Ernst von freundschaftliche Verbindungen. Böt­

63
tiger gehörte dem spätromantischen wurde er offiziell Mitglied. In Weimar
Dresdner Liederkreis und dessen hatte er zu den Freimaurern Fried­
Nachfolger Albina an. Neben Nos­ rich Justin Bertuch, Johann Joachim
titz zählten Theodor Hell (Winkler) Christoph Bode und Johann Wolf­
und Johann Gottlob von Quandt zu gang von Goethe enge Verbindungen.
den aktivsten Mitstreitern in diesen Von 1814 bis 1820 wirkte er in der
geselligen Vereinen literarisch Inter­ Dresdner Apfelloge als deputierter
essierter. Der Albina gehörten später Meister vom Stuhl bzw. erster Auf­
auch Carl Gustav Carus, Gottfried seher. Zu ihren Mitgliedern zählte
Semper und Ernst Rietschel an. Gottlob Friedrich Thormeyer.
Selbst der berühmte Dichter Ludwig Als Gottlob Adolf Ernst von
Tieck suchte zunächst den Kontakt Nostitz und Jänkendorf 1830
zum Liederkreis, aber schon länger Landesgroßmeister der Großen Lan­
existierende Spannungen zwischen desloge Sachsen wurde, war Böttiger
Böttiger und Tieck eskalierten im dessen Stellvertreter. Wiederum mit
Zusammenhang mit dessen Zerwürf­ Nostitz, Carus, Quandt und Hell
nis mit Hell. Böttiger initiierte den engagierte er sich im sozialen Unter­
Sächsischen Altertumsverein, später stützungsverein „Rath und That“, der
ein äußerst angesehener Verein unter den Freimaurern nahe stand.
Schirmherrschaft des Königshauses,
mit einem Artikel in der Dresdner Neben seinen vielfältigen künstleri­
Abendzeitung vom 25. Oktober 1819. schen und literarischen Interessen
Unterstützung fand er dafür u. a. sowie gesellschaftlichen Aktivitäten
bei Quandt und Nostitz. Nach dem engagierte sich Böttiger auch für
Zerwürfnis zwischen Tieck und Hell die Naturwissenschaften. Mit dem
übernahm Böttiger die Redaktion der weltberühmten Mineralogen Abra­
von Hell herausgegebenen Abend­ ham Gottlob Werner stand Böttiger
zeitung. 1828 gründete Böttiger den in regem brieflichen Kontakt, und er
Sächsischen Kunstverein, der von gehörte wie Carus und Racknitz der
Quandt geleitet wurde und dem auch 1817 von Werner wenige Monate vor
Carus, Nostitz und Hell angehörten. dessen Tod gegründeten Dresdner
In der Sächsischen Bibelgesellschaft Mineralogischen Gesellschaft an.
wirkte er als Sekretär. Dem in seinem Beisein verschiedenen
Freunde widmete Böttiger die „Worte
Böttiger wurde am 8. November 1781 auf der Anhöhe der Landstraße nach
durch Johann Samuel Petermann, Gorbitz gesprochen an Werners Sarge
einen Sohn von Georg Petermann, in der 11ten Stunde der Nacht zwi­
formal in die Dresdner Freimaurer­ schen dem 2ten und 3ten July 1817“
Loge „Zum Goldenen Apfel“ auf­ und „Ueber Werner‘s Umgang mit
genommen, am 3. Dezember 1783 seinen Schülern, vorgelesen am Er­

64
innerungstage von Werner‘s Tod den
30. Juny 1819“. Böttiger war Mitglied
der Naturwissenschaftlichen Gesell­
schaft ISIS in Dresden, der Leipziger
Societät, der Senckenbergischen
Naturforschenden Gesellschaft in
Frankfurt, der Gesellschaft deutscher
Naturforscher und Ärzte und der
Sächsischen Gesellschaft für Botanik
und Gartenbau FLORA. Mit dem
Mediziner Burkhard Wilhelm Seiler
verfasste er 1825 „Erklärungen der
Muskeln und der Basreliefs an Ernst
Matthaei‘s Pferde­Modellen“.

Böttiger trug den Titel Hofrat und


war Mitglied der Sächsischen Aka­
demie der Künste und von vielen Porträt nach einer Büste von Ernst
weiteren Akademien der Wissen­ Rietschel (1833). Rietschel hatte
schaften und Künste, so in Paris, St. bei Böttiger Archäologie und Kunst-
Petersburg, Wien, München, Breslau, theorie studiert und war von diesem
Neapel, Korfu und Göttingen. Er hat sehr gefördert worden. Gottlob
dazu beigetragen, breiteren Bevöl­ Adolf Ernst von Nostitz und
kerungsschichten eine Teilhabe an Jänkendorf verfasste den Nachruf
Kultur und Bildung zu ermöglichen. „Carl August Böttiger: sein Bild;
Kontroverse Meinungen über ihn sein Denkmal“.
widerspiegeln den Konflikt zwischen 1955; „Nekrolog Karl August Böttiger“. Allgemeine
Böttigers Anspruch eines Univer­ Literaturzeitung, 1/1836; Dirk Hempel: „Litera­
salgelehrten, Kritiken am wissen­ rische Vereine in Dresden. Kulturelle Praxis und
politische Orientierung des Bürgertums im 19.
schaftlichen Wert konkreter Arbeiten Jahrhundert“. Walter de Gruyter – Max Niemeyer
und der Wertschätzung von Wissen­ Verlag, 2008; „Neues Gemählde von Dresden:
schafts­Publizistik. Böttiger fand auf in Hinsicht auf Geschichte, Oertlichkeit, Kultur,
Kunst und Gewerbe“. Arnoldische Buchhandlung,
dem Dresdner Eliasfriedhof die letzte 1817; Walter Steiner, Uta Kühn­Stillmark: „Fried­
Ruhe. rich Justin Bertuch: Ein Leben im klassischen
Weimar zwischen Kultur und Kommerz“. Böhlau,
2001; Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter
Quellen: Karl Ludwig Urlichs: „Böttiger, Karl Au­ Goethe­Museum: „Katalog der Gemälde“. Walter
gust“. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 3, S. de Gruyter, 1982; Stefani Freyer, Katrin Horn, Ni­
205–207, 1876; Karl Wilhelm Böttiger: „Karl Au­ cole Grochowina: „FrauenGestalten Weimar–Jena
gust Böttiger: Eine biographische Skizze“. Brock­ um 1800“. Winter 2009; Dresdner Adressbücher;
haus, 1837; Ludwig Sickmann: „Böttiger, Karl „Die Freimaurerloge zum goldenen Apfel im Ori­
August“. Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, S. 414, ent Dresden 1776–1876“. Heinrich Dresden, 1876

65
Das Alte Schloss Neschwitz – ehemalige Wohn- und Arbeitsstätte.

Eine persönliche Erinnerung von Frank Fiedler.

66
Creutz, Gerhard
Dr., Ornithologe in Neschwitz
16.03.1911 Copitz b. Pirna – 18.09.1993 Berchtesgaden

V: Georg, ab 1901 Inhaber eines Schreibwarengeschäfts mit Buchbinderei, ab 1910 mit einer
Buchdruckerei in Pirna; G: 2 ältere Brüder, 1 jüngere Schwester (Annemarie, *err. 1921); E: 1938
Lisette geb. Brünn (27.6.1913–15.6.1986); K: 3 Söhne, darunter Konrad (*1943 Dresden, Pfarrer
in Hinterhermsdorf, Saupsdorf und Sebnitz, Vorsitzender des Arbeitskreises Sächsische Schweiz
des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, Mitglied im Gesamtvorstand für Naturschutz,
Heimatgeschichte und Denkmalpflege), Christian (8.3.1946–11.2.2006)

Creutz besuchte in Copitz und Pirna Pillnitz zu betreuen, nachdem er im


Volksschule und Realgymnasium. Jahr zuvor dem Verein Sächsischer
Frühzeitig erwachte sein Interesse Ornithologen beigetreten war. Creutz
an der Natur der nahen Sächsischen leitete in Dresden die Ortsgruppe des
Schweiz. Er beringte Bussardjunge Deutschen Bundes für Vogelschutz.
und interessierte sich für die geolo­ Wegen seiner nazikritischen Haltung
gische Sammlung des Museums in wurde ihm die dauerhafte Übernah­
Pirna. 1928 begann die enge Freund­ me in den Schuldienst verwehrt und
schaft mit Martin Zieschang. Der er musste sich als Aushilfslehrer ver­
Sohn des Pfarrers in Dohna und dingen, zeitweise sogar in Dänemark.
später Klix machte den Freund mit Den Zweiten Weltkrieg überlebte er
den Schönheiten der Oberlausitzer als Soldat in Frankreich und Italien
Heide­ und Teichlandschaft bekannt unversehrt.
und erweckte damit in diesem eine
tiefe Verbundenheit, die ein Leben Von 1945 bis 1952 arbeitete Creutz in
lang hielt. Im Jahre 1931 beschrieb Pillnitz, zunächst als Lehrer und ab
Creutz in seiner ersten ornithologi­ 1946 als Schulleiter. Gemeinsam mit
schen Publikation Beobachtungen des seinem langjährigen Freund Hein­
Flussregenpfeifers an den Elbufern rich Dathe bemühte er sich ab 1949
von Pirna. um die Neugründung einer vogel­
kundlichen Arbeitsgemeinschaft im
Nach einem Studium am Pädago­ Kulturbund in Dresden. Die offizielle
gischen Institut der TH Dresden Gründung der Fachgruppe „Orni­
erlangte Creutz 1933 die Lehr­ thologie und Vogelschutz“ erfolgte
befähigung an den Volksschulen am 8. Juni 1951 und Creutz leitete sie
Sachsens. Im gleichen Jahr begann bis 1953. 1952 wurde er für ein Jahr
er, ehrenamtlich die Vogelschutzan­ von der Schultätigkeit freigestellt, um
lagen der Staatlichen Versuchs­ und seine Promotion an der TH Dresden
Forschungsanstalt für Gartenbau in bei Professor Karl Jordan (Institut

67
für Zoologie) zu Populationsstudien untersuchte er die Säugetierfauna der
am Trauerschnäpper zu bearbeiten. Oberlausitz (z. B. Elch, Nerz, Muffel­
1953 erhielt Creutz eine Anstellung wild). Es entstand eine umfassende
als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Dokumentation zum Niedergang
Vogelschutzwarte Seebach. Die Deut­ der Fischotterpopulation und Creutz
sche Akademie der Landwirtschafts­ erwarb sich entscheidende Verdienste
wissenschaften erteilte ihm im selben um erfolgreiche Schutzmaßnahmen
Jahr den Auftrag, die Vogelschutz­ und Wiederbesiedelung. Außerdem
station Neschwitz im dortigen Alten konnte er zum Erhalt von Schloss und
Schloss zu gründen und zu leiten. Park Neschwitz beitragen. Von der
staatlich verfügten Schließung der
Als langjähriger Leiter führte Creutz Vogelschutzwarte 1971 war Creutz
die Vogelschutzstation Neschwitz zu tief getroffen. Sie brachte ihn um sein
hohem Ansehen. Deren Vorläufer war Lebenswerk – die gesammelten Ma­
1930 vom Landesverein Sächsischer terialien wurden DDR­weit verteilt.
Heimatschutz auf Initiative von Ru­ Vermutlich hatte eine Rolle gespielt,
dolf Zimmermann ins Leben gerufen dass Creutz als politisch unzuverläs­
und 1936 als Vogelschutzwarte staat­ sig galt. Fragen von Vogelforschung
lich anerkannt worden. Sie ist eng mit und Vogelschutz hatten für ihn nie
dem Namen des Forstwissenschaftlers an Staatsgrenzen halt gemacht. In
Dr. Freiherr Arnold Vietinghoff­ den letzten Arbeitsjahren bearbeitete
Riesch, ihrem ehemaligen Leiter, ver­ er Forschungsprojekte im Auftrag
bunden. Zu ihren Aufgaben gehörten des Instituts für Forstwissenschaf­
unter Creutz die Vogelberingung, die ten Eberswalde – man befasste sich
Betreuung von Nistkästen, Nahrungs­ staatlicherseits z. B. mit der Ansiede­
untersuchungen und die Bestimmung lung von Rebhühnern und Fasanen
von Siedlungsdichten. In Lehrgängen für privilegierte Jäger. Auch nach dem
wurde das Wissen an Generationen Ausscheiden aus dem Berufsleben
von Beringern weitergegeben. Die 1976 widmete er sich mit nimmermü­
Oberlausitzer Fischwirtschaft nutzte dem Engagement dem Naturschutz
Untersuchungsergebnisse zur Vogel­ und führte Exkursionen durch.
abwehr zur Steigerung der Erträge.
Creutz war Autor bedeutender wis­
1964 wurde die Vogelschutzstation senschaftlicher Bücher zur Vogelkun­
wieder in den Rang einer Vogel­ de, z. B. zu Graureiher, Wasseramsel,
schutzwarte erhoben. Der Leiter der Weißstorch und zum Vogelzug.
Biologischen Zentralanstalt, Professor Besonders mit den in vielen Auflagen
Stubbe, ernannte Creutz zum Leiter erschienenen „Taschenbüchern zur
des Wildforschungsgebiets Milkwitz. heimischen Vogelfauna“ („Singvögel“,
Neben der Tätigkeit als Ornithologe „Raub­ und Rabenvögel“, „Sumpf­

68
und Wasservögel“, „Durchzügler und Botaniker Max Militzer und Theodor
Wintergäste“), aber auch mit Kinder­ Schütze. Dem Arbeitskreis Sächsische
büchern und Lehrmaterial hat er sich Schweiz trat Creutz 1959 bei, ab 1962
große Verdienste um die Verbreitung leitete er eine avifaunistische Sam­
populärwissenschaftlicher Kenntnisse melstelle und 1968 gründete er den
erworben. In den Fachzeitschriften Avifaunistischen Arbeitskreis Ober­
„Der Falke“ und „Journal of Orni­ lausitz. Dessen „Beiträge zur Ornis
thology“ publizierte er regelmäßig. der Oberlausitz“ waren gleichzeitig als
Creutz war Mitherausgeber der politisch einzig mögliche Form einer
Reihe „Beiträge zur Vogelkunde“ Zuarbeit für ein „Handbuch der Vögel
und Mitglied im Redaktionsbeirat Mitteleuropas“ gedacht. Creutz wurde
der Zeitschrift „Der Falke“ und der zum Ehrenmitglied der Naturfor­
„Sächsischen Heimatblätter“. Insge­ schenden Gesellschaft der Oberlausitz
samt schrieb Creutz 600 Titel, darun­ ernannt und er war Ehrenmitglied des
ter 8 Bücher. Ein Teil der Publikatio­ Vereins Sächsischer Ornithologen.
nen entstand aus Sicherheitsgründen
unter Pseudonymen wie „C. Gerhard“, Seinen Lebensabend verbrachte
„C. Hartmut“ oder „C. Galle“. Creutz in Haidholzen bei Rosen­
heim zusammen mit einer ebenfalls
Creutz arbeitete in vielen renom­ verwitweten Jugendfreundin. Profes­
mierten ornithologischen Gremien sor Wolfram Dunger widmete dem
mit, beispielsweise in der Deutschen großen Naturfreund den Nachruf
Ornithologen­Gesellschaft und im „Leben und Werk eines Oberlausitzer
Zentralvorstand der Gesellschaft für Ornithologen – in memoriam Dr.
Natur und Umwelt des Kulturbundes Gerhard Creutz (1911 ­ 1993)“. Auf
der DDR, und er wirkte als Vorsit­ dem Grabstein in Neschwitz steigt ein
zender des Bezirksfachausschusses singender Vogel unter dem Kreuz gen
Dresden. Schon 1958 hatte er sich Himmel – ein Symbol auch für den
– im Widerspruch zu den zentralisti­ tiefen Glauben der Ehefrau.
schen Bestrebungen in der DDR – um
die Gründung des Naturwissenschaft­
lichen Arbeitskreises Oberlausitz im
Kulturbund verdient gemacht. Dieser
stand unter der Schirmherrschaft
seines ehemaligen Professors Karl
Jordan von der TH Dresden. Creutz
leitete den Arbeitskreis bis zu dessen
Verbot durch die staatlichen Organe
im Jahre 1988; zu seinen Mitstrei­
tern gehörten u. a. die bekannten

Quellen: S. 412 ff. 69
Porträt von Jan Cyž am Schloss Milkel.

70
Cyž, Jan
Dr., sorbischer Schriftsteller, Verleger und Landrat in Bautzen
auch: Ziesche, Johann
13.01.1898 Säuritz – 21.11.1985 Bautzen
Cyž stammte aus kleinbäuerlichen Urania und Mitbegründer des Kul­
Verhältnissen. Er besuchte in Bautzen turbundes der DDR im Kreis Bautzen
die Domschule und in Prag das Deut­ sowie erster Vorsitzender des Baut­
sche Gymnasium. 1920 begann Cyž zener Klubs der Intelligenz. Neben
ein Studium der Rechtswissenschaften seinen vielen Schriften in sorbischer
an der Karls­Universität Prag. Im sel­ Sprache verfasste Cyž das Buch „Die
ben Jahr übernahm er den Vorsitz der Kämpfe um die Befreiung der Lausitz
sorbischen Studentenbewegung. 1926 während der großen Schlacht um
beendete er sein Studium mit der Berlin 1945“, und er widmete mehrere
Promotion und übernahm in Cottbus Arbeiten der Biografie von Jan Arnošt
die Leitung der Wendischen Buch­ Smoler, eines bedeutenden Repräsen­
handlung. Nach der Machtergreifung tanten der nationalen Wiedergeburt
der Nationalsozialisten wurde Cyž der Sorben im 19. Jahrhundert und
wegen seines Engagements in der Mitbegründer des sorbischen Kul­
nationalsorbischen Bewegung verhaf­ tur­ und Wissenschaftsvereins Macica
tet. Nach seiner Freilassung leitete er Serbska. In Milkel wurde die Sorbi­
von 1934 bis 1937 die Schmaler‘sche sche Sprachschule nach Cyž benannt,
Druckerei im Wendischen Haus in die sich von 1953 bis zum Ende der
Bautzen und gab die sorbische Ta­ DDR im dortigen Schloss befand. Das
geszeitung „Serbske Nowiny“ heraus. Sorbische Institut in Bautzen bewahrt
Im selben Jahr wurde die Domowina seinen Nachlass auf.
verboten. Cyž kam erneut in Haft,
Literatur: Peter Kunze: „Bibliographie der
im Februar 1945 floh er während Veröffentlichungen von Jan Cyž“. Institut für
der Luftangriffe auf Dresden. Nach Sorbische Volksforschung, Domowina­Verlag,
dem Krieg wurde mit Cyž erstmals 1977, H. 2, S. 239–256; Walter Starke: „In memo­
riam Dr. Jan Cyž­Ziesche: 13.1.1898–20.9.1985“.
ein Sorbe Landrat in Bautzen. Er war Bautzener Kulturschau, 1985, H. 11, S. 3–4; M.J.
maßgeblich an der Neugründung der Dypman­Budyski: „Nekrolog: Landrat Dr. Jan
Domowina beteiligt, deren Bundes­ Cyž: 1898–1985“. Minoritas, 1986, H. 1, S. 51–52;
Manfred Ladusch: „Cyž, Jan“. Sorben. Ein Kleines
vorstand er angehörte. Cyž leitete
Lexikon, Domowina­Verlag, 1989, S. 78–79;
die Nowa­Doba­Druckerei und gab Manfred Ladusch: „Zum 100. Geburtstag von Dr.
die sorbische Tageszeitung „Nowa Johannes Ziesche, Sorbischer Verleger, Bautzens
doba“ heraus. Er war Vorsitzender Landrat und Schriftsteller“. Oberlausitzer Kultur­
schau, 1998, H. 2, S. 28–29; Helge Tietze: „Dr. jur.
des Kreisausschusses der Nationalen Jan Cyž: Johann Ziesche (1898–1985)“. Lausitzer
Front, Mitglied des Vorstands der Almanach, 2009, S. 16–21

71
Georg Derlitzki.

72
Derlitzki, Georg Max Ludwig
Professor, Begründer der Landarbeitsforschung in Pommritz
30.04.1889 Bergfriede/Ostpreußen – 02.05.1958 Kindisch

V: Ludwig (*10.2.1853 Thyrau, †7.5.1902 Bergfriede), Volksschullehrer; M: Alma Rosalie geb.


Kaul (*22.1.1857 Löbau, †24.2.1934 Göttingen); G: Erich Rudolph (*11.7.1885 Bergfriede,
†20.2.1947 Brandis); E: Dorothea geb. Ebert (*2.10.1888 Niewerle, †15.10.1967, Tochter eines
Pfarrers, promovierte Sprachwissenschaftlerin in Marburg, Arbeitslehre im Haushalt); K: Jürgen
(18.7.1916–12.5.1942), Rotraut (*7.6.1918, Dipl.­Landwirtin)

Derlitzki besuchte die Volksschu­ eng verknüpfen. Danach übernahm


le Bergfriede, ging ab 1900 auf das Derlitzki in der Nachfolge von Gus­
humanistische Gymnasium Osterode tav Loges die Leitung der Versuchs­
und legte 1908 das Abitur ab. Nach station Pommritz.
einer landwirtschaftlichen Lehre in
Brödinen studierte er 6 Semester In den Jahren 1919/20 erfolgte in
Rechts­ und Staatswissenschaften Sachsen eine Umstrukturierung des
in Berlin und 3 Semester Land­ und landwirtschaftlichen Versuchswesens
Forstwissenschaft in Gießen. 1913 mit dem Ziel, die Landwirtschaft wie­
promovierte Derlitzki bei Paul Gi­ der rentabel und damit konkurrenz­
sevius zum Thema „Systematik des fähig zu machen. Aus den ehemaligen
Roggens durch Untersuchungen über Versuchsstationen gingen drei spezi­
den Ährenbau“, anschließend arbeite­ alisierte Versuchsanstalten hervor: in
te er als Assistent am Landwirtschaft­ Leipzig­Möckern unter Leitung von
lichen Institut der Universität. 1914 Gustav Fingerling, in Dresden unter
legte Derlitzki das landwirtschaftliche Leitung von Bruno Steglich und
Staatsexamen ab. Mit „Untersuchun­ in Pommritz mit Derlitzki als erstem
gen über Keimkraft und Triebkraft Direktor, der außerdem zum Profes­
und über den Einfluss von Fusarium sor ernannt wurde. Die Versuchssta­
nivale“ habilitierte er sich 1917. Ein tion wurde dafür mit dem Rittergut
Jahr später berief ihn das Land­ Pommritz unter eine einheitliche
wirtschaftliche Institut Gießen zum Leitung gestellt (141 ha). Seit der
Abteilungsvorstand. Derlitzki lehrte Gründung 1864 durch Julius Leh­
bis 1919 als Privatdozent Acker­ und mann bestand in Pommritz eine For­
Pflanzenbau, publizierte zur Düngung schungstradition auf dem Gebiet der
und Streckung des Kartoffelsaatgutes Agrikulturchemie. Mit der Umstruk­
und leitete die Samenkontroll­ und turierung erfolgte gleichzeitig eine
Maschinenprüfstation der Landwirt­ thematische Umorientierung auf die
schaftskammer Wiesbaden. Damit landwirtschaftliche Betriebslehre un­
konnte er Wissenschaft und Praxis ter besonderer Berücksichtigung der

73
Landarbeitslehre einschließlich des verschiedenen Heubergungsverfahren
landwirtschaftlichen Maschinenwe­ und erstmals in der Landwirtschaft
sens. Es ging dabei um die Schaffung arbeitsphysiologische Studien mit
günstiger Arbeitsbedingungen durch Hilfe von Respirationsapparaten.
Mechanisierung und Organisation Ausgangspunkt der Überlegungen
und um Untersuchungen zur Arbeits­ war, dass schlechte Arbeitsorganisa­
ausführung (Arbeitstechniken und tion und ­hygiene verantwortlich für
­motivation). Die Versuchsanstalt in körperliche Überforderung seien, z.
Pommritz war die erste Einrichtung B. durch anhaltendes Arbeiten im
der Welt mit einem solchen Profil. Stehen. Derlitzki führte deswegen den
„Pommritzer Kartoffelauslesetisch“
Die Entwicklung der Landarbeitsleh­ ein, der die Arbeit im Sitzen ermög­
re zu einer selbstständigen Disziplin lichte. Die Arbeit Derlitzkis war
ist das große, bleibende Verdienst international anerkannt. Er fungierte
Derlitzkis. Sein Ziel bestand in der ab 1927 als wissenschaftlicher Beirat
Gesundung der Landwirtschaft durch und Vorsitzender des Ausschusses für
Senkung der Gestehungskosten pro Landarbeitsforschung des Interna­
Produktionseinheit bei voller Berück­ tionalen Agrarinstituts in Rom und
sichtigung der Arbeitsqualität. Er pro­ übernahm 1932 die Leitung eines Re­
pagierte zwar eine Rationalisierung ferates in der Sektion für Arbeitshy­
nach den Lehren des „Taylorismus“, giene des Völkerbundes. Unter seiner
wies aber stets auf Besonderheiten der Leitung besaß die Versuchsanstalt
Landwirtschaft gegenüber der Groß­ Pommritz Weltgeltung. Studiengäste
industrie hin. Derlitzki sah Mecha­ kamen, um im Ausland Einrichtun­
nisierung immer auch als Schutz der gen nach dem Pommritzer Vorbild
Menschen vor Überanstrengung und aufzubauen. Um die internationa­
gesundheitlichen Schädigungen an. le Bekanntheit zu erhöhen, nutzte
Das 1922 erstmals erprobte, arbeits­ Derlitzki u. a. auch das neue Medi­
sparende Ernteverfahren für Zucker­ um Film. Gleichzeitig verlor er aber
rüben – das „Pommritzen“ – ist noch nie die Arbeit in Pommritz aus den
heute Grundlage der Rüben­Vollern­ Augen. Bis 1928 wurde die Versuchs­
temaschine. Weitere bekannte Ver­ anstalt erheblich erweitert. Neben
fahrensentwicklungen unter seiner dem gepachteten Rittergut Drehsa
Leitung betrafen die „Rübensamen­ (352 ha) kam auch ein 30 ha großes
mühle“ (zur Trennung der Samen), Versuchsgut in Steindörfel (nach Der­
den „Pommritzer Walzenwagen“ für litzki „Georgenhof “ genannt) hinzu,
einen effizienten Felddrusch und den wo neue Technologien demonstriert
„Pommritzer Bauernkran“ (zur Hand­ werden konnten. In Sornßig wurden
habung der Dungkarre). Darüber zudem seit 1926 Waldbauversuche
hinaus erfolgten Untersuchungen zu durchgeführt. Seine Arbeitsergebnis­

74
se publizierte Derlitzki u. a. in den mit dem Pommritzer Helmut Nauck.
Schriften der Ökonomischen Gesell­ Nach einem Betriebsunfall verlor
schaft im Freistaat Sachsen und der Derlitzki ein Bein.
Deutschen Landwirtschafts­Gesell­
schaft. 1931 hatte die Versuchsanstalt Nach 1945 beteiligte sich Derlitzki
Pommritz ca. 130 Mitarbeiter. am Wiederaufbau der Landwirtschaft,
so in der „Arbeitsgemeinschaft für
Derlitzki durchschaute frühzeitig die Landarbeitsforschung“. Zudem leitete
Ideologie der Nazis und lehnte es ab, er die „Vereinigung der gegenseiti­
NSDAP­Mitglied zu werden. Weil er gen Bauernhilfe“ in Kindisch und ab
sich gegen die Außerbetriebsetzung 1948 den Ausschuss für Landarbeit
von Landmaschinen zur „Schaffung“ der Deutschen Landwirtschafts­
von Arbeitsplätzen wehrte, erhielt er Gesellschaft. Aufgrund einer politisch
am 28. März 1934 die Kündigung. motivierten Verleumdung wegen
Sie wurde auch nicht zurückge­ angeblich schlechter Behandlung von
nommen, als die Pommritzer Beleg­ Zwangsarbeitern während des Krieges
schaft, einschließlich von NSDAP­ musste er mehrfach für mehrere
Mitgliedern, dagegen protestierte. Monate in Untersuchungshaft. Tat­
Derlitzki übernahm ein 35 ha großes sächlich hatte er aber abgelehnt, in die
Bauerngut in Kindisch bei Kamenz SED einzutreten; die französischen
(„Luisenhof “) und bewirtschaftete Zwangsarbeiter waren nach der Be­
es nach seinen Erkenntnissen der freiung zunächst sogar noch freiwillig
Landarbeitsforschung. Das Gut in Kindisch geblieben, um das Gut
hatte eine große Ausstrahlung auf die zu schützen. 1949 wurde er endgültig
Umgebung. Auch hier blieb Derlitz­ freigesprochen. Derlitzki übernahm
ki wissenschaftlich tätig. Zwischen eine beratende Tätigkeit beim Aus­
1935 und 1942 führte er im Auftrag bau der arbeitswissenschaftlichen
des „Reichskuratoriums für Technik Forschung in Halle­Etzdorf. Ab 1950
in der Landwirtschaft“ arbeits­ und unterstützte er die Gründung der
wärmewirtschaftliche Versuche in 34 Staatlichen Lehr­ und Versuchsanstalt
Orten Deutschlands und 2 Dörfern Gundorf, wo die Pommritzer Traditi­
Österreichs durch, um die Verbrei­ on fortgeführt wurde. 1952 erhielt er
tung der Elektrizität im ländlichen einen vollen Lehrauftrag für Land­
Raum zu befördern. Die Untersu­ arbeitslehre an der Landwirtschaft­
chungen galten v. a. der Nutzung von lichen Fakultät der Martin­Luther­
Elektrowärmegeräten, um den Ver­ Universität Halle­Wittenberg, wo er
brauch fester Brennstoffe zu reduzie­ bis zur Emeritierung 1955 erfolgreich
ren und durch erhöhte Nachfrage den eine fundierte Landarbeitsforschung
Strompreis zu senken. Die Ergebnisse aufbaute.
publizierte er wiederholt zusammen

Quellen: S. 412 ff. 75
Grabstätte der Familie Derlitzki auf dem Friedhof Elstra. Das Foto wurde
von Uwe Fiedler der Wikipedia zur Verfügung gestellt.

76
Derlitzki, Dorothea
Dr. phil., Arbeitswissenschaftlerin in Pommritz
02.10.1888 Niewerle – 15.10.1967

V: Wilhelm Ebert, Pfarrer in Niewerle; M: Luise geb. Gose; E: Georg Derlitzki (*30.4.1889
Bergfriede/Ostpreußen, †2.5.1958 Kindisch, Professor, Begründer der Landarbeitsforschung in
Pommritz); K: Jürgen (18.7.1916–12.5.1942), Rotraut (*7.6.1918, Dipl.­Landwirtin)

Dorothea Ebert besuchte von 1894 Konzept 1926 in „Arbeitsersparnis­


bis 1899 die Höhere Mädchenschule se im Landhaushalt“. Die Derlitzkis
in Luckenwalde, bis 1900 die Höhere wollten Misstrauen der Bäuerinnen
Mädchenschule in Stendal und bis gegenüber neuen Arbeitsmethoden
1904 die Höheren Mädchenschulen II abbauen, machten die „Pommritzer
und I in Hannover. 1908 schloss sie in Wanderkurse“ populär und trugen
Hannover das Lehrerinnen­Seminar so dazu bei, die traditionelle Überbe­
mit einem Examen für mittlere und lastung der Bauersfrauen zu über­
höhere Mädchenschulen ab. 1909 winden. Dorothea Derlitzki stellte
bestand sie am Realgymnasium die körperliche und psychologische
Kassel das Abitur. Von 1909 bis 1910 Überforderung der Landfrauen als
studierte Ebert Deutsch, Geschich­ Krise dar, für welche die Weimarer
te und Französisch in Marburg, bis Staatsregierung schnellstens Abhilfe
1911 in Berlin und danach wieder in zu schaffen hätte, weil auch davon
Marburg. Am 27. Mai 1914 bestand das Wohlergehen ganz Deutschlands
sie das Doktorexamen. Danach hielt abhängen würde. Nach der Kündi­
sie sich in Frankfurt/Main auf. Ihre gung ihres Mannes durch die Nazis
Promotion „Die Sprache des Trie­ bewirtschafteten die Derlitzkis ab
rer Psalters“ verteidigte sie 1915 in 1934 einen Bauernhof in Kindisch.
Marburg. Betreut wurde diese Arbeit Nach dem Tod ihres Mannes führte
von Friedrich Vogt und Edmund Dorothea Derlitzki mit ihrer Tochter
Ernst Stengel. 1919 kam sie mit ihrem den Hof bis 1960 weiter.
Ehemann, Georg Derlitzki, von
Quellen: Dorothea Ebert: „Die Sprache des
Gießen nach Pommritz, als dieser
Trierer Psalters“. Dissertation, Marburg 1915;
zum Leiter der dortigen Versuchs­ Rotraut Derlitzki, Eberhard Schulze: „Georg
anstalt berufen wurde. Zusammen Max Ludwig Derlitzki (1889–1958)“. IAMO,
richteten sie 1926 eine eigenständige Discussion Paper No. 58, 2004; Elizabeth
hauswirtschaftliche Abteilung zur Bright Jones: „Landwirtschaftliche Arbeit und
weibliche Körper in Deutschland, 1918–1933“.
Rationalisierung der Arbeit der Land­ 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für
frauen in Hof, Haus, Stall und Garten Volkskunde, Berlin, 2003; Christa Ladusch:
ein. Dorothea Derlitzki beschrieb das Hochkircher Kulturnachrichten, August 2001

77
Dr. Edmund Friedrich war maßgeblich beteiligt, der Balneologie, der Lehre
von den Heilbädern, ihren Arten und Anwendungen, im 19. Jahrhundert in
Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen (Foto: Wilhelm Höffert).

78
Friedrich, Edmund
Dr. med., Balneologe
15.04.1826 Bischofswerda – 11.02.1912 Dresden

V: Paul Karl Gottlieb (*1770 Schneeberg, †9.11.1830 Wendishain), Theologiestudium in Leipzig,


1806 Diakon in Finsterwalde, 1814 Dissertation „Symbolae philologico­criticae ad interpreta­
tionem Psalmi centesimi decimi“ in Leipzig, 1816 Archidiakon in Bischofswerda und Prediger
in Goldbach, 1828 „Andeutungen und Materialien zu Trau­ und Leichenreden für Prediger
auf dem Lande“ (3 Bände), 1830 Pfarrer in Wendishain, Unterlagen zur Nachlassverwaltung
im Sächsischen Staatsarchiv; M: Amalia Charlotte geb. Sperrfarth aus Dresden, dritte Ehe ihres
Mannes, ? jene „Madame Friedrich“, die 1818 zur Kirchweihe in Bischofswerda unter Fran­
cesco Morlacchi gesungen hat; G: 3 ältere, die ersten beiden in Finsterwalde geboren, darunter
Carl (? * in Fürstenwalde, 1829–1834 Fürstenschule Grimma, Finanzbeamter in Leipzig und
Braunschweig); Paten: Johann August Sachse (königl.­sächs. Steuerbuchhalter), Sophia Klengel
(Bischofswerda), August Friedrich Künzel (königl.­sächs. Obersteuerkassierer, Dresden)

Friedrich verlor früh seine Eltern. Er der der Dresdner Kinderheilanstalt,


wuchs bei Verwandten in Dresden begonnene deutsche Fassung „Prak­
auf, wo er ab 1836 die Kreuzschule tisches Handbuch über die Krankhei­
besuchte. 1845 begann er, in Leipzig ten des weiblichen Geschlechts“ aus
Jura zu studieren, wechselte aber dem Englischen nach Samuel Ashwell
bereits nach einem halben Jahr zur fertig. In seiner Schrift „Der Abdomi­
Medizin. Sein Professor, Johann von naltyphus der Kinder“ fasste Friedrich
Oppolzer, war ein Verfechter einer die Krankheitsbilder von 275 Typhus­
ganzheitlichen Therapie und zählte Patienten der Kinderheilanstalt aus 21
zu den Begründern der wissenschaft­ Jahren seit ihrer Gründung zusam­
lichen Balneologie. Nach einem men. Emil Noeggerath lobte diese Ar­
Aufenthalt in Heidelberg bei Karl von beit im New York Journal of Medicine
Pfeufer, einem Professor für Arznei­ als „excellent in every respect“. Von
mittellehre, promovierte Friedrich 1855 bis 1887 beteiligte sich Friedrich
1850 in Leipzig mit „De pleuritide“. an den von Carl Christian Schmidt
Anschließend unternahm er Studien­ gegründeten „Jahrbüchern der ge­
reisen nach Prag zu dem Internisten sammten Medizin“.
Anton von Jaksch und nach Wien,
wohin Oppolzer berufen worden war. Edmund Friedrich war ein Verfechter
des Turnens, dem er nicht nur eine
Von 1852 bis 1855 arbeitete Friedrich gesundheitliche, sondern auch eine
als Hilfsarzt an der Kinderheilanstalt ethische und nationale Bedeutung
in Dresden, danach ließ er sich mit ei­ beimaß. Er studierte in Schweden und
ner eigenen Praxis nieder. 1854 stellte Norwegen die Praxis der Heilgymnas­
er die von Otto Kohlschütter, Grün­ tik und beschrieb seine Erfahrungen

79
in „Die Heilgymnastik in Schweden Karl Gutzkow dem Vorstand eines
und Norwegen nach eigener An­ Komitees für den Aufbau deutscher
schauung für Aerzte und Turnlehrer“ Seestreitkräfte angehört. Während
(1855). Aus der Sicht eines deutsch­ der Kriege 1866 und 1870/71 diente
nationalen Turners fand er einige er als Arzt bzw. Oberarzt in Dresd­
Kritikpunkte. Zum Turnen publizierte ner Kriegslazaretten. 1871 leitete er
Friedrich auch in der Tagespresse, den Sanitätszug des 12. Armeekorps.
und er war von 1855 bis 1871 Mithe­ Friedrich schrieb: „Die Deutschen
rausgeber der „Neuen Jahrbücher für Sanitätszüge im Feldzuge gegen
die Turnkunst“. Frankreich“ (1871/72, Gesellschaft für
Natur­ und Heilkunde Dresden).
Mit seinem Buch „Gesundheitspflege
für das Volk“ gewann Friedrich einen Das Reisen war Friedrichs Leiden­
1862 in Breslau ausgelobten Preis­ schaft. Er besuchte Russland, Belgien,
wettbewerb zum Thema „Rathschläge England, Holland, Frankreich, die
an das Volk zur Erhaltung der Ge­ Schweiz und Italien. Seinen Lebens­
sundheit“. Die Wettbewerbsbeiträge unterhalt bestritt er dabei teilweise
sollten allgemeinverständlich sein „in als Reisearzt. Besonders die See
Fürsorge namentlich derjeniger seiner hatte es ihm angetan. Die Ergebnisse
Mitmenschen, welche ausschließlich seiner balneologischen und klima­
sich durch Arbeit das tägliche Brod tologischen Studien veröffentlichte
erwerben müssen.“ Ausführlich be­ Friedrich in zahlreichen Aufsätzen
handelte Friedrich auf insgesamt 248 und Monographien. Albert Eulenburg
Seiten Ernährung, Luft, Arbeit, Sexu­ berief ihn als Mitarbeiter für Balneo­
alkunde und Krankheitspflege, wobei logie an der „Real­Encyklopädie der
er als einer der Ersten darlegte, dass gesamten Heilkunde“ (nach 1880).
Nahrungsmittel besser als Lebensmit­ Friedrich schrieb: „Herbstaufenthalt
tel zu bezeichnen seien. Der Patholo­ und Überwinterung Kranker auf den
ge Hermann Lebert hielt das Referat. Deutschen Nordseeinseln“, „Über
Friedrich schrieb zudem 1867 die Seeluftkuren bei Asthma und in den
„Uebersicht der wichtigeren Beiträge Anfängen der Phthise“ (1886, Ge­
in der englischen und amerikanischen sellschaft für Natur­ und Heilkunde
Literatur der Jahre 1855 bis 63 zur Dresden), „Die deutschen Insel­ und
Pathologie und Therapie der Lungen­ Küstenbäder der Nordsee“ (1888),
tuberkulose“ und „Die Paracentese „Die holländischen und belgischen
des Unterleibs bei Darmperforation Seebäder und Seehospize“ (1889),
im Abdominaltyphus“. „Über den Salzgehalt der Seeluft und
die therapeutische Verwertung der
1861 hatte Friedrich in Dresden u. wirksamen Faktoren der Nordseeluft“
a. mit Friedrich von Boetticher und (1890), „Die deutschen Kurorte der

80
1898 veranschaulichte Max Liebermann, wie Seebäder innerhalb von 100
Jahren in Deutschland in Mode gekommen waren. „Die Wirkung des Auf-
enthalts in einem Seebadeort ist nur zum Teil auf das Baden im Seewasser
zu beziehen; eine mindestens gleichwichtige Rolle spielen dabei die klima-
tischen Verhältnisse. Die Seeluft ist sehr rein, .... Die meist starke Luftbe-
wegung steigert die Wärmeabgabe durch die Haut sehr bedeutend, damit
werden auch die wärmebildenden Prozesse stark angeregt... Bad im Seewas-
ser, dessen Wirkung auf der Temperatur, dem Salzgehalt und der Bewegung
des Wassers beruht.“ (Meyers Großes Konversations-Lexikon, 1909).
Nordsee“ (1891), „Mitteilungen aus zu Heil­ und Erholungszwecken, ihre
einigen Kurorten der Nordsee und Geschichte und Literatur“ (1906)
einigen Ostseebädern“ (1895), „See­ stellte Friedrich dar, wie sich die An­
reisen in Prophylaxe und Therapie der schauungen über die Indikation von
Lungenschwindsucht“ (1899, Berli­ Seereisen im Laufe der Zeit gewandelt
ner Klinische Wochenschrift) und hatten. Zudem erschienen von ihm
„Mitteilungen aus dem Küstenhos­ Beiträge in der Münchner Monats­
pital zu Refsnaes 1875–1900“ (1901, schrift für praktische Balneologie,
Zeitschrift für Tuberkulose und von 1895 bis 1898 Organ des Allge­
Heilstättenwesen). In „Die Seereisen meinen Deutschen Bäderverbandes,

81
und in der „Zeitschrift für diätische zu ihren Mitgliedern. Des Weiteren
und physikalische Therapien“ (1898 gehörten ihr zur Zeit von Edmund
in Berlin von Ernst von Leyden und Friedrich der Mediziner Carl Gus­
Alfred Goldscheider gegründet). Dort tav Carus, Walther Hesse, Johann
beschrieb er am Beispiel der Dresdner Friedrich Judeich aus Tharandt, Franz
Heide den Nutzen von Sandbädern Ledien vom Botanischen Garten,
im Binnenland für die Behandlung Julius Lehmann, Bruno Steglich
tuberkulöser Kinder, ein Bad in der und Julius Adolph Stöckhardt an.
kalten Prießnitz zum Abschluss Von Anfang an stand die ISIS allen
inklusive. 1895 nahm Friedrich am II. naturwissenschaftlich Interessierten,
Internationalen Kongress für Thalas­ Akademikern und Laien, gleicher­
sotherapie in Ostende teil, 1899 am maßen offen. Die Mitglieder waren
Kongress zur Bekämpfung der Tuber­ verpflichtet, sich aktiv mit Vorträ­
kulose als Volkskrankheit in Berlin, gen am wissenschaftlichen Leben
wo Walther Hesse einen Vortrag zu beteiligen. Ludwig Reichenbach,
hielt. 1897 referierte Friedrich vor Gründer des Botanischen Gartens
der Naturforschenden Gesellschaft in in Dresden, prägte die ISIS über 30
Görlitz „Über vulkanische Schlacken Jahre als deren Leiter. Als 1866 nach
als Treibprodukte der Nordsee“. einer Statutenänderung die Wahlperi­
oden auf zwei Jahre begrenzt wurden,
Friedrich war ab 1854 für mehr als verließ er aus Protest die Gesellschaft.
50 Jahre Mitglied der Gesellschaft Im Zeitraum von 1868 bis 1886 leitete
für Natur­ und Heilkunde, die sich der Geologe und Mineraloge Hanns
in Dresden dem Informationsaus­ Bruno Geinitz die ISIS für insgesamt
tausch zwischen Ärzten und Na­ sieben Jahre. Geinitz gehörte zudem
turforschern widmete und der auch wie Friedrich der Gesellschaft für
Walther Hempel und Walther Natur­ und Heilkunde an. Jener war
Hesse angehörten. Der Gesellschaft noch zur Zeit von Reichenbach Mit­
Deutscher Naturforscher und Ärzte glied der ISIS geworden, aber offenbar
gehörte Friedrich ebenfalls an. Ab blieb ihr Verhältnis ungetrübt. Als
1865 war er für fast 50 Jahre Mitglied Reichenbach 1879 starb, war es an
in der Naturwissenschaftlichen Ge­ Friedrich, den langjährigen Vorsit­
sellschaft ISIS. Die ISIS galt seit ihrer zenden in den „Sitzungsberichten
offiziellen Anerkennung 1835 als die und Abhandlungen der ISIS“ zu wür­
führende Wissenschaftlerorganisa­ digen. Friedrich ging ausführlich auf
tion Dresdens, so zählten die Rek­ die Verdienste Reichenbachs ein. Die
toren des Polytechnikums bzw. der Streitigkeiten, die zu Reichenbachs
Technischen Hochschule Walther Austritt aus der ISIS geführt hatten,
Hempel, Gustav Anton Zeuner, Oscar und den erbitterten Nachfolgestreit
Drude und Bernhard Pattenhausen um die Präsidentschaft der seinerzeit

82
in Dresden ansässigen Leopoldina Friedrich wohnte und praktizierte
nach dem Tod von Carl Gustav Carus in Dresden Wallstraße 5a (1862),
im Jahre 1869 erwähnte er nur kurz. Dohnaplatz 13 (1868), Wiener Straße
Die Leopoldina entschloss sich, statt 11 (1892) und Lindengasse 20 (1904).
einen eigenen Nachruf für Reichen­ Für seine Verdienste wurde er mit
bach zu verfassen, den Beitrag Fried­ dem Titel Sanitätsrat und dem Rit­
richs im Wesentlichen nachzudru­ terkreuz zum Albrechtsorden geehrt.
cken. Die positive Gesamtwürdigung In Meyers Großem Konversations­
ersetzte man jedoch durch Kritik. Lexikon von 1909 gehörte er zu den
wenigen zitierten Literaturnachweisen
In den Dresdner Vereinen beschäftig­ zum Thema Seebäder. Edmund Fried­
te sich Friedrich neben der Balneolo­ rich fand auf dem Trinitatisfriedhof
gie auch mit botanischen und geolo­ die letzte Ruhe. Dem Dresdner Bür­
gischen Fragen. So war er Mitglied gerhospital vererbte er 6000 Mark.
im Verein für Erdkunde unter Sophus
Ruge, schrieb „Nochmals die Heimat Quellen: Julius Leopold Pagel: „Biographisches
des Borsdorfer Apfels“ und sprach Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten
in der ISIS über die Verbreitung der Jahrhunderts“. 1901; Neuer Nekrolog der Deut­
schen, 1832; Karl Wilhelm Mittag: „Chronik
Esskastanie sowie auch hier über der königlich sächsischen Stadt Bischofswerda“.
„Vulkanische Schlacken als Treib­ May Bischofswerda, 1861; Neue Jahrbücher für
produkte der Nordsee“. Von 1870 bis die Turnkunst, Schönfeld, 1860; Manfred Stürz­
1875 führte Friedrich die Geschäfte becher: „Beiträge zur Berliner Medizingeschich­
te“. Bd. 18; Max Erich Richard Matthes: „Lehr­
des Geselligkeitsvereins „Montags­ buch der klinischen Hydrotherapie“. Fischer
gesellschaft“. Unter Leitung des Jena, 1900; Sitzungsberichte und Abhandlungen
Konrektors der Kreuzschule Gustav der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft Isis;
Helbig und maßgeblicher Beteiligung Jahresbericht des Vereins für Erdkunde zu Dres­
den, 1896; Gotthold Pannwitz: „Bericht über
liberaler Kräfte wie Ernst Riet­ den Kongress zur Bekämpfung der Tuberkulose
schel und Karl Gutzkow hatte sich als Volkskrankheit“. 1899; Hubertus Averbeck:
in der nachrevolutionären Zeit das „Von der Kaltwasserkur bis zur physikalischen
inhaltliche Profil des vormals hoch­ Therapie“. Books on Demand, 2013; Dirk Hem­
pel: „Literarische Vereine in Dresden. Kulturelle
politischen, literarisch­künstlerischen Praxis und politische Orientierung des Bürger­
Vereins um Gottfried Semper und tums im 19. Jahrhundert“. Walter de Gruyter,
Richard Wagner wesentlich verändert, 2008; Kirchenarchiv Bischofswerda; Dresdner
Adressbücher 1852–1912; Dresdner Anzeiger,
der elitäre Charakter war jedoch im
3. September 1912; Dresdner Geschichtsblät­
Unterschied zu anderen Gesellschaf­ ter, 1909–1912, Bd. 5, S. 237; Werner Wilhelm
ten erhalten geblieben. Bekannte Schnabel: „Repertorium Alborum Amicorum“.
Wissenschaftler wie Oskar Schlömilch Friedrich­Alexander­Universität Erlangen­
Nürnberg; Webseite des Sächsischen Staats­
und der Botaniker Matthias Schleiden archivs; Christian Gottlob Immanuel Lorenz:
traten neu ein. „Grimmenser­Album“. 1850; Zeitschrift für
Rechtspflege und Verwaltung, Bd. 37, 1872

83
Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, ewig still steht die Vergangenheit.
(Eintrag von Richard Garbe in einem Kleindrebnitzer Gästebuch)

84
Garbe, Richard Erich Christian
Pfarrer in Großdrebnitz, sächsischer Landespfarrer für Frauenarbeit
29.07.1910 Hohndorf b. Freiberg – 02.08.1992 Hannover

V: Friedrich (*1876), Bergmann; M: Helene geb. Neumann (*1887); G: Käthe (*1920); E: 1937
in Oelsnitz, Erika Frieda geb. Grunert (*1915, †1.2.2008 Hannover); K: Frieda Christel Helena
(*1938)

Garbe studierte in Leipzig Theologie Dienstentlassung am 1. Dezember


und legte am 20. Juli 1934 das erste 1937. In der offiziellen Begründung
Theologische Staatsexamen ab. Am 1. des Landeskirchenamtes wurde ange­
Januar 1935 erhielt er seine erste An­ führt, dass er sich gegen die Beurlau­
stellung im Dienst der Evangelisch­ bung des Bautzener Superintendenten
Lutherischen Landeskirche Sachsen Walter Theodor Berg ausgesprochen
als Pfarrvikar von Großdrebnitz und und das landeskirchliche Gemein­
Goldbach und am 16. Februar 1936 deblatt abbestellt hätte. Die gesamte
wurde er ordiniert. Bereits während Aktion der Nazis war aber ein Fehl­
des Studiums hatte Garbe die Werbe­ schlag, denn es gelang nicht, die
aktionen der Nazis erlebt. Seine ersten Großdrebnitzer Bevölkerung gegen
Dienstjahre fielen in eine Zeit heftiger ihren Pfarrer aufzubringen. Auf Ein­
Auseinandersetzungen zwischen dem spruch beim Landeskirchenamt durch
deutschchristlichen Kirchenregi­ mehrere Kirchenvorsteher wurde die
ment der Landeskirche unter Bischof Entlassung für Großdrebnitz zurück­
Friedrich Coch und Anhängern der genommen und die Wahl Garbes als
„Bekennenden Kirche“. Im Herbst ständiger Pfarrer von Großdrebnitz
1937 eskalierte der Streit sachsenweit. ungeachtet der Anfeindungen durch
Viele regimekritische Pfarrer wurden die Nationalsozialisten nach Verord­
entlassen. Auch in Goldbach besaßen nung des Evangelisch­Lutherischen
die Deutschen Christen um Kantor Landeskirchenamtes vom 28. Februar
Max Gelbke großen Einfluss. Der 1939 bestätigt. In Goldbach durfte
erreichte beim Landeskirchenamt, er keinen Dienst mehr tun. Auch in
dessen Leiter Erich Kotte kurz zuvor Großdrebnitz stand Garbe jedoch
auf Betreiben von Oberkirchenrat während seiner sonntäglichen Predig­
Johannes Klotsche abgesetzt worden ten unter der Beaufsichtigung durch
war, dass er gegen Garbes Willen die Polizeibehörde. Das blieb gültig
jeden vierten Sonntag im Monat bis zum 26. August 1939, jenem Tag,
und jeden ersten Feiertag an hohen an dem Richard Garbe zum Wehr­
Festen Lesegottesdienst halten sollte. dienst eingezogen wurde.
Eine Denunziation führte zu Garbes

85
In dieser schweren Zeit entstand eine zia durch Russen, die Heimkehrern
Publikation Garbes, die heute für aus den westlichen Besatzungszonen
die Ortsgeschichtsschreibung von galt. Für diese war der Abtransport in
großem Wert ist und die damals wohl nunmehr russische Kriegsgefangen­
seiner Protesthaltung entsprang. Sie schaft vorgesehen. Fremde Menschen
erschien in der ehemaligen Tagungs­ halfen spontan, den Gefährdeten
zeitung „Sächsischer Erzähler“, Sonn­ zu verbergen. Glücklich zur Familie
tagsbeilage „Unsere Heimat“ vom 11. heimgekehrt, teilte er am 25. Oktober
und 18. April 1938. Der dort mit einer 1945 der Superintendentur mit, dass
Fortsetzung abgedruckte Beitrag von er seine Amtstätigkeit in Großdreb­
Garbe, P. (P. vermutlich für „Pfarrer“): nitz wieder aufgenommen habe. Am
„Vorarbeiten für eine Dorfchronik“ 9. November 1945 konnte ihm die
ging im Inhalt nicht auf NS­ideologi­ Superintendentur seinen neuen Per­
sche Aspekte ein. Stattdessen wurden sonalausweis (mit russischer Überset­
der nationalsozialistischen Ideologie zung und Abstempelung) zustellen.
fremde Autoren wie Bruno Barthel Erst jetzt war Garbe in Sicherheit.
und Kirchschullehrer Willy Sorber, Im Jahr 1947 kam der einst aus der
1937 in Großdrebnitz suspendiert, als Schule entfernte Oberlehrer Willy
bedeutende lokale Geschichtsquellen Sorber zurück in das Dorf. Garbe hat­
genannt. te diese Heimkehr ermöglicht durch
die Einstellung Sorbers als Kantor
Während Garbe seinen Wehrdienst und dessen Aufnahme in eine Woh­
leistete, musste sich die Ehefrau im nung auf dem Pfarrgrundstück. Der
Dorf kleinlicher Gehässigkeiten damalige Theologiestudent Reinhard
führender NS­Mitglieder erwehren. Leue erhielt bei Garbe zeitweise Kost
In dieser Zeit war für sie die Unter­ und Logis.
stützung des Bürgermeisters Otto
Heinrich von großer Bedeutung. Garbe musste bald erkennen, dass der
Zum Kriegsende kam Garbe an der sozialistische Nachfolgestaat nicht nur
Westfront in amerikanische Ge­ kirchen­, sondern auch menschen­
fangenschaft und wurde frühzeitig feindliche Züge annahm. Allerdings
entlassen – aber nicht nach Hause in waren im Großdrebnitz der Nach­
die sowjetische Besatzungszone. Das kriegszeit die Bemühungen, eine
Überschreiten der Zonengrenze war „Klassenkampfstimmung“ zu erzeu­
äußerst gefahrvoll und gelang nur gen, vergeblich geblieben. Das hatte
mit Unterstützung durch ihm zuge­ seine Ursache in der Kirchenfreund­
tane Menschen auf dem Tender einer lichkeit der Einwohner, aber auch in
Dampflokomotive. Auf dem weiten einer der Kirche gegenüber toleranten
Weg nach Hause geriet er noch ein Haltung des (Neu­)Lehrerkollegiums.
weiteres Mal in Gefahr bei einer Raz­ Das lieb gewordene Großdrebnitz

86
Emmauskirche Dresden-Kaditz.
Foto: X-Weinzar 2007 (Wikimedia
Commons), Lizenzen: CC BY-SA
3.0, GFDL

Er initiierte die Herausgabe einer


Diaserie und erarbeitete die ersten
beiden Teile selbst. 1970 bestand
die Serie aus 135 Aufnahmen. Die
Jakobikirche Freiberg. Foto: Unu– Diaserie wurde bis 1990 fortgeführt.
korno 2008 (Wikimedia Commons), Zum 31. Juli 1977 schied Garbe aus
Lizenz: CC BY-SA 3.0 dem Dienst aus. Seine vorausgegange­
verließ Garbe im Jahr 1951, um in nen Bemühungen um eine Wohnung
Freiberg an der Jakobikirche die waren von den staatlichen Stellen
Pfarrstelle zu übernehmen. Hier blockiert worden, seinem Antrag auf
geriet er erneut in Konfrontation mit Ausreise in die Bundesrepublik wurde
den Machthabern. Dieses Mal schien dagegen ohne weiteres stattgegeben.
kein weiterer Ausweg möglich als die Das unterstreicht, welches Misstrauen
Republikflucht. Dem Einsatz des da­ die Behörden der DDR diesem Pfar­
maligen Landesbischofs Dr. Gottfried rer entgegenbrachten. Er hatte zwei
Noth war es zu verdanken, dass Garbe Diktaturen standgehalten.
in die DDR zurückkehren konnte.
Am 26. Oktober 1960 wurde Garbe Quellen: Pfarrarchiv Großdrebnitz; Mitteilungen
Pfarrer Sebastian Führer (Martinskirche Großdreb­
als Landespfarrer für sächsische Frau­ nitz), Erika Garbe, Klaus Giesemann und Christa
enarbeit berufen. Gleichzeitig wirkte Freundenberg; Auskunft Evangelisch­Lutherisches
Landeskirchenamt Sachsen; www.frauenarbeit­
er bis zum 31. Dezember 1966 als sachsen.de, Geschichte der Kirchlichen Frauenar­
Gemeindepfarrer in Dresden­Kaditz. beit; Hans Meiser, Hannelore Braun, Nora Andrea
Ende der 1960er Jahre beteiligte sich Schulze, Carsten Nicolaisen: „Verantwortung für
die Kirche“. Bd. 3, Vandenhoeck & Ruprecht, 1985;
Garbe an der DDR­weiten Vorberei­ Reinhard Leue: „1947 – Unterwegs durch die Ober­
tung des Weltgebetstages in Berlin. lausitz“. Oberlausitzer Hausbuch 2006

87
Ludwig Gedike.

Quellen: Heinrich Kämmel: „Gedike, Ludwig Friedrich Gottlob Ernst“, Hermann Schulze: „Gaupp, Ernst
Theodor“. Allgemeine Deutsche Biographie, 1878; Fritz Borinski: „Gedike, Friedrich“. Neue Deutsche
Biographie, 1964, S. 125–126; Dr. Schubart: „Zur Geschichte des Gymnasiums in Budissin“. Gedr. bei E.M.
Monse, 1863; „Zur festlichen Feier des fünfzigjährigen Jubiläums der ersten Bürgerschule zu Leipzig.“ Carl
Gustav Naumann Leipzig, 1853; Friedrich August Schmidt, Bernhard Friedrich Voigt: „Neuer Nekrolog der
Deutschen“. Verlag B.F. Voigt, 1840; Johann Samuel Ersch, Johann Gottfried Gruber: Allgemeine Encyclo­
pädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge, Bd. 55, Gleditsch, 1852; Gottlieb Friedrich
Otto: „Lexikon der seit dem fünfzehenden Jahrhunderte verstorbenen und jetztlebenden Oberlausizischen
Schriftsteller und Künstler‘‘. Bd. 2, 1801; Herbert E. Brekle, Edeltraud Dobnig­Jülch: „Bio­bibliographisches
Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts“. Bd. 3, De Gruyter 1994; Sanct Johannis Freimaurer­
Loge zur goldnen Mauer, Mitgliederverzeichnis 1805; http://freimaurer­wiki.de; http://www.leipzig­lexikon.
de; Heinrich Heinlein: „Der Friedhof zu Leipzig in seiner jetzigen Gestalt oder Vollständige Sammlung
aller Inschriften auf den ältesten und neuesten Denkmälern daselbst“. 1844; Jens Häseler, Rolf Geissler: „La
Correspondance de Jean Henri Samuel Formey (1711–1797): Inventaire alphabétique Vol. 29, Série „Vie des
Huguenots“. Honoré Champion, 2003; Lausizische Monatsschrift, 1793, 1796, 1797, 1800, 1802; Leipziger
Adressbuch, 1830; Britta L. Behm, Uta Lohmann, Ingrid Lohmann: „Jüdische Erziehung und aufklärerische
Schulreform“. Waxmann Verlag, 2002; Topographische Chronik von Breslau, 1806; Ernst Gustav Vogel,
Johann Carl Christoph Vogel: „Zur Erinnerung an L.F.G.E. Gedike, ersten Director der Bürgerschule zu
Leipzig“. Leipzig, 1839

88
Gedike, Ludwig Friedrich Gottlob Ernst
Professor, Schulreformer
22.10.1761 Boberow – 09.07.1838 Breslau

V: Friedrich (*16.11.1718 Berlin, †30.4.1762 Boberow), Magister, Pfarrer, Besitzer einer großen
Briefsammlung an Philipp Spener; M: Catharina Eleonore geb. Seger, Pfarrerstochter aus
Bechlin; G: Friedrich (*15.1.1754 Boberow bei Lenzen, †2.5.1803 Berlin, Gymnasialdirek­
tor, Oberkonsistorialrat, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Akademie der
Künste Preußens, wichtiger Modernisierer des preußischen Bildungswesens, verband in seinen
Schulprogrammen die klassische humanistische Bildung mit Ideen der Aufklärung, stärkte
die öffentlichen Realschulen, 1788 an der Einführung des Abiturs beteiligt, Freimaurer­Loge
„Zu den drei Weltkugeln“); E: Breslau, Johanna Christine Charlotte geb. Kruttge (Tochter eines
Arztes, † nach 1838); K: Ernst Friedrich Gustav (1791–18.1.1797), Eduard Ludwig (*30.9.1793
Bautzen, †13.5.1821 Leipzig, Studium in Leipzig, königlich­preußischer Regierungs­Assessor in
Magdeburg), Luise Karoline (*29.3.1796 Bautzen, verheiratet in Berlin), Luise Auguste (*7.2.1800
Bautzen, † nach 1859, ab 1823 in Leipzig und später in Breslau mit dem Juraprofessor Ernst
Theodor Gaupp verheiratet, Vorstandsmitglied der Breslauer Singakademie)

Gedike entstammte einer märkischen Lebensunterhalt verdiente er sich teil­


Pfarrerfamilie. Sein Großvater Lam­ weise selbst mit Privatunterricht. In
bert Gedicke war in Halle von August Halle wurde er am 1. September 1780
Hermann Francke im Sinne des Pie­ auch in die Freimaurer­Loge „Zu den
tismus geprägt worden. Als Kleinkind drei Degen“ aufgenommen. Der Di­
verlor Ludwig den Vater. Seine frühe rektor des Gymnasiums „Zum grauen
Kindheit verbrachte er in Perleberg. Kloster“, Anton Friedrich Büsching,
Mit 10 Jahren fand Gedike Aufnahme holte Gedike 1782 als Lehrer zurück
im Schindler‘schen Waisenhaus in nach Berlin. Dessen Bruder Friedrich
Berlin, später besuchte er das dortige arbeitete inzwischen an der selben
Gymnasium “Zum grauen Kloster“. Schule. Minister Karl Abraham von
Besonders sein sieben Jahre älterer Zedlitz, ein Anhänger der Kant‘schen
Bruder, Friedrich Gedike, bemühte Philosophie und Förderer des Volks­
sich sehr um Ludwigs Ausbildung. schulwesens, veranlasste noch im
Friedrich erhielt 1775 eine Anstellung selben Jahr Gedikes Berufung an das
als Hauslehrer in der Familie des Elisabeth­Gymnasium in Breslau
Aufklärers Johann Joachim Spalding als dritter Professor, weil die dortige
und nahm Ludwig als Schüler mit. Ausbildung in den alten Sprachen in
Mit finanzieller Unterstützung des der Kritik stand.
Schindler‘schen Waisenhauses konnte
Gedike 1780 die Universität Halle Gedike unterrichtete ab Januar 1783
beziehen, wo er Theologie, Philolo­ neun Jahre am Elisabeth­Gymnasium
gie und Pädagogik studierte. Seinen in Breslau die lateinische, griechische

89
Johann Ephraim Scheibel sowie dem
damaligen Pro­Rektor des Maria­
Magdalenen­Gymnasiums in Breslau,
Johann Kaspar Friedrich Manso,
stand Gedike in enger Verbindung.

Unter der Regentschaft des preußi­


schen Königs Friedrich II. („der Gro­
ße“) und dem Einfluss des führenden
preußischen Pädagogen Friedrich
Gedike, Ludwigs Bruder, waren in
Breslau frühzeitig fortschrittliche
Schulreformen eingeleitet worden. Zu
Ludwig Gedikes Aufgaben gehörten
die Prüfung von Schulamtskandida­
ten, die Aufsicht über das königliche
Seminar für Landschullehrer und die
Mitarbeit bei der Organisation der
israelitischen Wilhelmsschule. Diese
am 15. März 1791 mit anfangs 125
Schülern eingeweihte Schule entstand
im Zuge der vom preußischen König
Friedrich Wilhelm II. befohlenen
Neuordnung des „Judenwesens“ in
Das Elisabeth-Gymnasium ging
Breslau ab 1790. Die jüdische Bevöl­
auf eine 1293 bei der St.-Elisabeth-
kerung erhielt erweiterte Bürgerrech­
Kirche Breslau gegründete Elemen-
te, gleichzeitig musste sie sich feste
tarschule zurück, die als Pfarrschule
Familiennamen zulegen. Der König
eng mit der Kirche verbunden war.
wies die Schulgründung für jüdische
Nach der Reformation wurde die
Kinder an, um „die künftige Genera­
Schule städtisches Gymnasium und
tion zu nützlichen Bürgern des Staats
am alten Standort mehrfach umge-
zu bilden“. Aufgeklärte preußische
baut. Anfang des 20. Jahrhunderts
Beamte und Pädagogen unterstützten
bezog sie einen Neubau an einem
die Integration der jüdischen Mitbür­
anderen Platz.
ger, auch auf jüdischer Seite fassten
und hebräische Sprache. Das Gymna­ aufklärerische Ideen Fuß. Die Zeit
sium wurde in jener Zeit von Johann der Aufklärung war insgesamt durch
Kaspar Arletius geleitet. Besonders einen verstärkten interkulturellen,
auch mit dessen Nachfolgern als christlich­jüdischen Dialog gekenn­
Rektor Philipp Julius Lieberkühn und zeichnet. Das Schulkollegium als Auf­

90
sichtsgremium der Wilhelmsschule teinische Übersetzung des „Robinson“
stand unter der Leitung von Friedrich (1789) und dessen „Kleine Schriften“
Albert Zimmermann. Neben Gedike mit einer Lebensbeschreibung heraus
als christlichem Pädagogen gehörten (1791). Zudem arbeitete er an den
dem Gremium Vertreter der jüdi­ „Schlesischen Provinzblättern“ mit.
schen Gemeinde an, darunter als
Oberlehrer der Reformer Joel Loewe. Im Oktober 1791 bekam Gedike
Vorbehalte gegenüber der säkularen, in der Nachfolge des nach Weimar
vom preußischen Staat geförderten gewechselten Karl August Bötti­
Einrichtung gab es vor allem aber ger die Leitung des Gymnasiums in
auch seitens traditioneller jüdischer Bautzen übertragen. Seine in Breslau
Kreise. Anlässlich der Eröffnung der erworbenen Erfahrungen ließen ihn
Schule sagte Gedike dazu: „nicht schnell erkennen, dass das Schul­
leichtsinnige Spötter und Verächter wesen in der Oberlausitz dringend
eures Glaubens, nicht schadenfrohe reformbedürftig war. Gedike erwarb
und seichte Verächter der durch reli­ sich besonders mit seinen struktu­
giöse Ueberzeugungen gegründeten rierten, planvollen Schulprogrammen
Gemüthsruhe ihrer Brüder, sondern große Verdienste um die Lehran­
aufgeklärte und redliche Verehrer der stalt. Er nutzte diese deutsch oder
Religion, gute, zufriedene und mit lateinisch verfassten Jahresberichte
dem Geiste ächter Duldung und Liebe aber auch, um seine grundsätzlichen
erfüllte Menschen, geschickte und Überlegungen zur Pädagogik und
patriotische Bürger solle sie erziehen“. zum Schulwesen in der Oberlausitz
darzulegen. Gedike schrieb u. a. „Vor­
Gedike schrieb in Breslau „Einige stellung an Ältern, die ihre Kinder
Gedanken über den jetzigen Zustand unserer Schule anvertrauen“ (1793),
der alten Litteratur in unsern gelehr­ „Erinnerung an einige in unserm
ten Schulen, und dessen Ursachen“ Jahrzehend leicht zu verkennende
(1787), worin er sich für eine mehr und zu vergessende Wahrheiten,
inhaltliche Rezeption der klassischen mit Rücksicht auf die Oberlausitz“
Literatur statt reiner Sprachaneignung (1794) und „Gedanken eines Schul­
aussprach, und ein „Hebräisches manns über eine dem Schulwesen in
Lesebuch für Schulen, mit einem Chursachsen bevorstehende Verände­
vollständigen hebräisch ­ deutschen rung, mit besonderer Beziehung auf
Wörterverzeichniß“ (1790). Beim die Oberlausitz“ (1795). Im Mittel­
Aufbau des Lesebuchs, darunter den punkt der gymnasialen Ausbildung
nach Schwierigkeitsgraden geordne­ in Bautzen standen seinerzeit zur
ten Beiträgen, orientierte er sich am Vorbereitung auf ein Universitätsstu­
Vorbild seines Bruders. Von seinem dium die alten Sprachen. Gedike legte
Lehrer Lieberkühn gab Gedike die la­ jedoch auch Wert auf die Vermittlung

91
Verbesserung fähig und bedürftig“.
So führte er im Latein­Unterricht
das Experiment ein, dass sich die
Schüler zunächst gegenseitig zensier­
ten, ehe er die Arbeiten bewertete.
Die Einführung von Abiturprüfun­
gen als Gymnasialabschluss, wie sie
unter maßgeblicher Mitwirkung von
Gedikes Bruder Friedrich 1788 in
Preußen schon erfolgt war und von
Ludwig Gedike auch für Bautzen vor­
geschlagen wurde, erfolgte erst nach
dessen Weggang aus Bautzen mit
Gedikes Vorgänger als Direktor des Ratsbeschluss vom 19. Juli 1821 unter
Bautzener Gymnasiums war Karl seinem Nachfolger Karl Gottfried
August Böttiger. Auf Gedike Siebelis.
folgte Karl Gottfried Siebelis.
Gedike war in seiner Bautzener
naturwissenschaftlicher Kenntnisse, Zeit Mitglied der Oberlausitzischen
und auch Abgänger in die berufliche Gesellschaft der Wissenschaften. Er
Praxis, zum Beispiel in die Landwirt­ wird in der „Lausizischen Monats­
schaft, sollten gute Voraussetzungen schrift“ von 1793 u. a. gemeinsam mit
erwerben. Ein weiteres Ziel Gedi­ Karl August Böttiger, August
kes bestand darin, an seiner Schule Gottlieb Meissner und Gottlob
geeignete Schüler für eine Tätigkeit Adolf Ernst von Nostitz und
als Volksschullehrer vorzubereiten. Jänkendorf genannt. Gedike schrieb
Er richtete in Bautzen vorbildhaft für auch Aufsätze für diese Zeitschrift,
Sachsen ein Lehrerseminar ein, um so „Vorlesungen gehalten am letzten
die Qualität der Schulausbildung zu Dez. 1801 in einem gesellschaftlichen
erhöhen. Zu Gedikes bekanntesten Kreise“ (1802).
Schülern in Bautzen gehörte neben
dem späteren Landwirtschaftsrefor­ Der Förderung der Bildung des
mer Heinrich August Blochmann aufstrebenden Bautzener Bürgertums
auch dessen Bruder Karl Justus Bloch­ galt 1802 auch die Gründung der
mann, Pädagoge bei Johann Heinrich Freimaurer­Loge „Zur goldenen Mau­
Pestalozzi und 1824 Begründer des er“. Gedike als Stifter war gleichzeitig
Blochmann‘schen Instituts in Dres­ ihr erster Meister vom Stuhl. Die
den. Sein Credo beschrieb Gedike Loge gehörte der National­Mutterloge
1797: „Das Schul­ und Erziehungs­ „Zu den drei Weltkugeln“ an, bei der
wesen ist einer immer fortgehenden Ludwigs Bruder Friedrich Gedike

92
Jacobjan Stöckhardt, Robert
Stöckhardt, Ernst Theodor Stö­
ckhardt, Gottlob Adolf Ernst
von Nostitz und Jänkendorf und
Gedikes Nachfolger am Gymnasium,
Karl Gottfried Siebelis.

Seit dem späten 18. Jahrhundert


entstanden in Deutschland Bürger­
schulen als städtische Mittelschulen
(zweiten Ranges) bzw. höhere Bürger­
schulen (ersten Ranges), aus denen
sich später Realschulen entwickelten.
Die Loge „Zur goldenen Mauer“ Sie ermöglichten dem Bürgertum
wurde 1802 von Gedike in Bautzen eine über das Niveau der einfachen
als Bildungsstätte für das aufstre- Volksschulen hinausgehende Bildung
bende Bürgertum gegründet. und dabei im Unterschied zu den
lateinischen Schulen einen Unterricht
Mitglied war. Nach seinem Weggang in deutscher Sprache. Die öffentliche
aus Bautzen blieb Ludwig Gedike Trägerschaft sollte helfen, die Quali­
Ehrenmitglied der Loge. Meister von tät des Unterrichts zu heben und die
Stuhl wurde Landsteuersekretär Au­ Kosten für die Eltern zu senken. We­
gust Gotthold Taube. Zu den frühen sentlichen Anteil an dieser Entwick­
Logenmitgliedern gehörten Johann lung hatten zuvor die pietistischen
Christian Göritz (Premierleutnant der Strömungen der protestantischen
sächsischen Infanterie), Maximilian Kirche wie unter Philipp Spener in
Carl August Petschke (Oberamts­ Dresden und Berlin und August Her­
advokat), Johann Wilhelm Prentzel mann Francke in Halle mit seinem
(Kaufmann), Friedrich Gottlieb Waisenhaus. Bereits sie erkannten,
Schierz (Oberamtsadvokat), Heinrich dass Bildung Voraussetzung für den
Gottlob Gräve (Oberamtsadvokat), zukünftigen Erfolg im Leben ist, und
Gottlob Heinrich Ohle (Regiments­ dass das Gemeinwohl und der Reich­
Chirurg), Christian Holtsch (Kauf­ tum eines Landes entscheidend davon
mann), Johann George Domsch abhängen, dass große Teile der Bevöl­
(Stadt­Zolleinnehmer), Johann Chris­ kerung an Bildung teilhaben können.
tian Gottlieb Thomaschke (Kauf­ In seiner Schrift „Das Schulwesen
mann) und Christian Heinrich Schul­ in der Oberlausitz im Jahre 1850“
ze (Buchhändler). Mitglieder der (1799) formulierte Gedike als Ziel die
Loge „Zur goldenen Mauer“ waren Neuausrichtung der Schulbildung auf
später zudem Gerhard Heinrich die Bedürfnisse von Handwerk und

93
Die Leipziger Bürgerschule auf den Mauern der Moritzbastei in einem ko-
lorierten Kupferstich von Carl Benjamin Schwarz aus dem Jahre 1804. Vor
allem Bürgermeister Carl Wilhelm Müller (1728–1801) hatte sich für einen
prachtvollen Neubau als Symbol des Wohlstands der Stadt eingesetzt.
Gewerbe, auf eine praktische Ausbil­ Am 15. April 1803 erhielt Gedike
dung und die besondere Förderung vom Magistrat der Stadt Leipzig den
von Schülern aus einfachen Verhält­ Auftrag zur Einrichtung und Leitung
nissen. Demgemäß schlug er in den einer großen Bürgerschule. Dem
drei größeren Städten des Oberlau­ waren jahrelange Planungen voraus­
sitzer Sechsstädtebundes (Görlitz, gegangen. 1795 stellten die Innungen
Bautzen, Zittau) die Einrichtung von den offiziellen Antrag auf Einrichtung
Bürgerschulen ersten und zweiten einer Bürgerschule bei der Stadt.
Ranges neben den Gymnasien vor, in Nachdem man 3156 schulpflichtige
den drei kleineren Städten (Kamenz, Jungen und 3142 Mädchen gezählt
Löbau, Lauban) die Umwandlung der hatte und mit dem erwarteten hohen
lateinischen Schulen in höhere Bür­ Zuspruch auf bedeutende Mittelrück­
gerschulen, und in weiteren Städten flüsse als Schulgeld hoffte, erfolgte
die Einrichtung von Bürgerschulen am 3. Mai 1796 der Beschluss zum
zweiten Ranges. Bau einer allgemeinen Bürgerschule.

94
Planungsmängel verursachten jedoch an notwendigen Ausstattungen. Im
Verzögerungen und steigende Kosten. Bildungsbürgertum der Universitäts­
1802 stand das Projekt kurz vor dem und Kaufmannstadt Leipzig fand
Scheitern. 1803 veröffentlichte Gedike Gedike jedoch viel Unterstützung.
seine „Grundlinien des Planes der Zeitweise besuchten über 900 Schü­
neuen Bürgerschule zu Leipzig“, die ler die Bürgerschule. Ein Resümee
von der Stadt positiv aufgenommen des Geleisteten publizierte Gedike
wurden. Die Schüler sollten praxisori­ in „Neue Nachricht von der jetzigen
entiert gebildet werden, ohne „Hang Beschaffenheit der Leipziger Bürger­
zu müßigen, unfruchtbaren Grübe­ schule“ (1826). Mit den politischen
leien“. Der Lehrplan umfasste Kennt­ Veränderungen des Jahres 1830, die
nis des Menschen (einschließlich schließlich in der ersten sächsischen
Gesundheitslehre), deutsche Spra­ Verfassung und der Einführung
che, Schreiben, Zeichnen, Rechnen, einer konstitutionellen Monarchie
Mathematik (für die Knabenschule), mündeten, kam auch das öffentliche
Naturgeschichte, Physik, Erdbeschrei­ Schulwesen auf den Prüfstand. Die
bung, Geschichte, Verfassungskunde, Staatsbürger erhielten größere Ver­
Singen, französische und griechische antwortung. Die Naturwissenschaf­
Sprache, Gewerbskunde, Gedächt­ ten und Fremdsprachen gewannen
nis­ und Urteilfähigkeit sowie als immer mehr an Bedeutung, während
wichtigen Schwerpunkt die Religi­ an der Gedik‘schen Schule die Religi­
ons­ und Sittenlehre. Mit Beginn des on noch stärker im Mittelpunkt stand.
Jahres 1804 öffnete die Schule für Nach 50 Jahren Arbeit als Pädagoge
265 Schülerinnen und Schüler in drei legte Gedike 1832 sein Amt nieder.
Knaben­ und zwei Mädchenklassen.
Zur Lehrerschaft gehörten Johann Gedikes Verdienste wurden vielfältig
Friedrich Adolf Krug, ein Absolvent gewürdigt. Die „Lausitzer Prediger­
des Bautzener Gymnasiums unter Gesellschaft“, der mehrere seiner
Böttiger und zuletzt Privatlehrer in ehemaligen Schüler aus Bautzen
Meffersdorf, Johann David Goldhorn angehörten, wählte ihn in Leipzig
von der Peterskirche Leipzig und der zum Ehrenmitglied. Die Stadt Leip­
Privatschullehrer Johann Gottfried zig gewährte ihm eine großzügige
Köhler. Die endgültige Fertigstellung Pension. Gedike zog sich danach in
der Bürgerschule verzögerte sich mit seine frühere Heimat Breslau zurück,
dem napoleonischen Krieg und der wo die Familie seiner jüngeren Toch­
Völkerschlacht zu Leipzig 1813. Das ter wohnte. Hier engagierte er sich
Schulgebäude diente zeitweise als auch für Kleinkinderschulen. Im Jahr
Lazarett. Der Unterricht fand über 1910 ehrte ihn die Stadt Leipzig mit
die gesamte Stadt verstreut statt. der Benennung der Gedikestraße im
Zudem mangelte es der Schule lange Stadtteil Eutritzsch.

95
Professor Ernst Giese war ein führender Architekt des Historismus. Die
sächsische und die österreichische Kunstakademie ernannten ihn zum
Ehrenmitglied. Der preußischen Akademie gehörte er als ordentliches
Mitglied an. Giese führte die Titel Baurat und Geheimer Hofrat. Er war
Mitglied der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft.

96
Giese, Ernst Friedrich
Professor, Architekt
16.04.1832 Bautzen – 12.10.1903 Berlin­Charlottenburg

V: Carl Christian (*13.8.1786 Görlitz, †9.12.1861 Dresden), Enkel des Görlitzer Archidiakons
Gottlieb Christian Giese (1721–1788) und ältester Sohn des Advokaten, Senators, Stadtrichters
und Bürgermeisters Christian Matthäus Friedrich Giese (1748–1806), Gymnasium Görlitz, 1805
Jurastudium Leipzig, Landsteuerregistrator und Brandkassenbuchhalter in Bautzen, landständi­
scher Sekretär der Oberlausitz, 1849 Sekretär der Brandversicherungs­Kommission in Dresden;
M: Johanne Charlotte geb. Fiebiger (*1792 Bautzen, †2.1.1856 Dresden); G: Charlotte (Juni
1822–23.10.1826), Ida (*23.4.1823 Bautzen, †7.11.1887 Dresden), Carl Friedrich (*1824 Bautzen,
†9.1.1847 Bautzen, Jurastudium in Leipzig), Johann Wilhelm (1830–1902, Jurastudium in
Leipzig, königl.­sächs. Zollrat in Leipzig und Hamburg, zuletzt wohnhaft in Charlottenburg); E:
13.5.1865 Dresden, Gertrud geb. Barteldes (*27.4.1846 Dresden, †1933, Tochter des Kaufmanns
Eduard Friedrich Barteldes, 1848 Vermieter von Robert und Clara Schumann, führendes Mit­
glied in Singakademie, Liedertafel und Wagner­Verein, ältere Halbschwester der Sängerin Elli
Jürgensen/*30.11.1866 Dresden); K: Ernst Johannes (*12.4.1866 Dresden, †14.1.1929 Dresden,
Notar und Rechtsanwalt in Dresden, vertrat die erste Ehefrau Emma von Karl May im Schei­
dungsprozess), Max Eduard (*5.7.1867 Düsseldorf, †9.7.1916 München­Pasing, Kunststudium
in Düsseldorf und München, Landschaftsmaler in Dresden und München, verschwägert mit der
Malerin Elisabeth Schmook), Gertrud Elisabeth (*28.12.1868 Düsseldorf, verh. Ausfeld, wohn­
haft in Charlottenburg), Karl Friedrich (*14.8.1871 Düsseldorf, †1939, Büro für Architektur und
Bauausführung Giese & Sohn 1891–1901 in Dresden, auch tätig in Köln und Düsseldorf, Vater
des Korvettenkapitäns und Autors Fritz E. Giese), Gertrud Dorothea (*10.10.1873 Dresden, verh.
mit dem Dresdner Museumsdirektor Jean Louis Sponsel), Wilhelm Georg (*2.4.1877 Dresden),
Katharina Elisabeth (*9.11.1880 Dresden), Martha Johanna (*18.3.1882 Dresden, verh. Kühl),
Karl Rudolf (*16.11.1883 Dresden), Emmy Elisabeth (*14.8.1887 Dresden, verh. Hüllsburg)

Nach dem Besuch des Gymnasiums gleichzeitig entstand der Bedarf, die
in Bautzen studierte Giese im Un­ bislang eher praktisch­mechanische
terschied zu seinen beiden älteren Ausbildung besser theoretisch,
Brüdern, die entsprechend einer ingenieurmäßig zu fundieren. Unter
Familientradition in Leipzig Jura dem 1850 berufenen Direktor Julius
belegten, ab 1846 an der Technischen Ambrosius Hülße wurde die Lehran­
Bildungsanstalt in Dresden. Johann stalt 1851 zur Polytechnischen Schule
Andreas Schubert gehörte hier zu erhoben. 1852 wechselte Giese in das
seinen Lehrern. Gieses Studium fiel Atelier von Hermann Nicolai, der
in eine Zeit tiefgreifender Änderun­ als Nachfolger des geflohenen Gott­
gen an der Vorläufereinrichtung der fried Semper die Architektur an der
heutigen TU. Viele Lehrkräfte und Kunstakademie im Sinne der Dresd­
Studenten engagierten sich in der ner Neorenaissance prägte. 1853 trat
Revolution von 1848/49. Das Lehr­ Giese mit einem Entwurf für die neue
angebot der Anstalt verbreiterte sich, Dresdner Kreuzschule hervor. Zwei

97
ard Müller beauftragt, die Festhalle
für das Deutsche Sängerbundesfest
in Dresden zu errichten. Die Halle
entstand auf den Waldschlösschen­
Wiesen und war für 20000 Sänger
ausgelegt. Beim Wettbewerb zum Bau
der Wiener Hofoper erhielten Giese
Das Schloss Gauernitz wurde von & Schreiber wie auch bei der Kreuz­
Giese & Schreiber im Stil der Neo- schule Dresden den zweiten Preis.
renaissance umgebaut (Ansicht um Der Nicolai­Schüler Oswald Haenel
1900). (Brückner‘sche Villa in Löbau) be­
gann bei ihnen seine Berufslaufbahn.
Jahre später wurde er mit einem zwei­ Für ihre Verdienste um die Archi­
jährigen Reisestipendium für Italien tektur in Sachsen wurden Giese und
ausgezeichnet. Die Reise führte ihn Schreiber 1864 anlässlich des 100.
nach Venedig, Verona, Florenz, Rom Jahrestags der Gründung der Kunst­
und Pompeji. Hier vertiefte Giese
sein kunsthistorisches Wissen und
er fertigte Zeichnungen bedeutender
Gebäude an. In der „Zeitschrift für
Bauwesen“ publizierte er Skizzen zum
Palazzo Pubblico in Siena. Eine An­
sicht des Palazzo Vecchio in Florenz
befindet sich im Dresdner Kupfer­
stich­Kabinett.

1857 machte sich Giese in Dresden


mit Bernhard Schreiber, ebenfalls ein Das Stadttheater Düsseldorf (An-
Nicolai­Schüler, selbstständig. 1859 sicht um 1900) wurde von Giese im
erhielten Giese und der Mediziner Stil der Neorenaissance errichtet.
Wilhelm Gustav Seifert bei einem Die Architektur des bereits 1867
Preisausschreiben der Leopoldina entworfenen Bauwerks lehnte sich
zur zeitgemäßen Organisation von an jene des ersten Semper‘schen
Irrenheilanstalten für ihren Entwurf Hoftheaters in Dresden an. Zur
„Suaviter in mode, fortiter in re“ Eröffnung am 29. November 1875
den ersten Preis. Von 1862 bis 1865 war das Haus noch unfertig und die
errichteten Giese & Schreiber die Kosten hatten sich verdoppelt. Das
Landesbank Altenburg und bis 1866 Gebäude wurde seitdem mehrfach
bauten sie das Schloss Gauernitz um. umgebaut und erhielt 1925 den
1865 wurden sie gemeinsam mit Edu­ Namen „Opernhaus“.

98
akademie mit der Ehrenmitglied­
schaft geehrt, 1867 mit der silbernen
Medaille des Dresdner Gewerbe­Ver­
eins. Eine ihre letzten gemeinsamen
Arbeiten war 1866 der Entwurf des
Nymphenbrunnens von Gustav Broß­
mann auf dem Räcknitzplatz.

1866 wurde in Dresden der erste


Sohn von Ernst Giese und seiner
Frau Gertrud geb. Barteldes geboren.
1863 hatte Giese mit seinem späte­
ren Schwiegervater einem Komitee
zur Erinnerung an den 50. Todestag
von Theodor Körner angehört. Aus
diesem Anlass erhielt die Dresdner
Körnerstraße ihren Namen.

Die Zusammenarbeit mit Schrei­


ber endete, als Giese 1866 den Ruf
als Professor für Baukunst an die Die Oberlausitzer Bank Zittau.
Akademie nach Düsseldorf erhielt.
Rektor war hier der Maler Eduard Friedhof mit Feierhalle. Nach dem
Bendemann, zu Gieses Studienzeiten Deutsch­Französischen Krieg von
Professor an der Dresdner Kunstaka­ 1870/71 lösten französische Repara­
demie, der ihn noch im selben Jahr tionszahlungen einen Gründerboom
mit einem Atelieranbau betraute. und damit einen Aufschwung der
Nach Bendemanns Rücktritt im Jahre Bautätigkeit im Deutschen Reich aus.
1867 gehörte Giese dem Direktorium In Zittau errichtete Giese 1871 die
der Düsseldorfer Kunstakademie an. Oberlausitzer Bank.
Im selben Jahr wurde sein Entwurf
für das Düsseldorfer Stadttheater 1872 verließ Giese Düsseldorf, wo im
ausgewählt, der jedoch lange umstrit­ März des Jahres ein großer Teil des
ten blieb. In Rheinberg baute er ein Schlosses mit der darin untergebrach­
Palais für die Unternehmerfamilie ten Kunstakademie abgebrannt war,
Underberg, in Düsseldorf war er am und kehrte nach Dresden zurück.
Entwurf eines Denkmals für Fried­ Einen Ruf nach Wien hatte er abge­
rich Wilhelm von Schadow beteiligt. lehnt. Giese verband sich zunächst
In Dresden­Johannstadt plante und mit Friedrich Hartmann. Den späte­
baute Giese den Neuen Israelitischen ren Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt

99
Gieses Theaterbau. Das von Giese &
Weidner 1875 gebaute neoklassizis­
tische „König­Albert­Bad“ in Löbau
erhielt seinen Namen nach einem
Kuraufenthalt des sächsischen Königs.

Blasewitz, wohin Giese über seine


Ehefrau auch verwandtschaftliche
Beziehungen besaß, entwickelte sich
in den 1870er Jahren rasch zu einem
vornehmen Villenvorort Dresdens.
Wegen der gestiegenen Schülerzahl
wurde ein neues Lehrgebäude benö­
Die Düsseldorfer Kunsthalle wur- tigt. Giese & Weidner errichteten bis
de von Giese & Weidner in einem 1876 die spätere 63. Volksschule, die
Stilgemisch gebaut. Von Anfang an seinerzeit als Musterbau gemäß der
stand sie in der Kritik wegen pom- sächsischen Schulreform galt und die
pöser Gestaltung und zu großer auch von Frank Fiedler besucht wur­
Treppenhäuser zulasten der Ausstel- de. Bis 1879 bauten Giese & Weidner
lungsräume. Sie wurde nach schwe- das naturhistorische Museum „Lud­
ren Beschädigungen im Zweiten wig Salvator“ für Ludwig Wilhelm
Weltkrieg 1959 abgerissen. Schaufuß. In einem am Lothringer
Weg, Ecke Goetheallee, errichteten
holten sie im August 1873 zu sich.
Gurlitt, der praktische Erfahrungen
als Architekt erwerben konnte, ohne
zuvor ein Examen absolviert zu ha­
ben, kündigte aber bereits nach einem
halben Jahr, weil ihn Giese nur mit
nachgeordneten Arbeiten betraute.
Giese hatte inzwischen den verbind­
lichen Auftrag für das Düsseldorfer
Stadttheater erhalten, womit eine Die ehemalige 63. Volksschule in
Ära monumentaler Neubauten in der Dresden ist heute nach dem Kom-
Stadt begann. ponisten Johann Gottlieb Naumann
benannt. Sie ist eng mit dem Dresd-
1874 gründete Giese mit Paul Weid­ ner Kreuzchor verbunden. Die
ner ein neues Architekturbüro. Bis Jungen besuchen die Schule in der
1881 errichteten sie die Düsseldorfer Vorbereitungsklasse 3 und als Kru-
Kunsthalle in unmittelbarer Nähe von zianer in der Klassenstufe 4.

100
aus dem hochwertig gebauten Haus
noch viel Baumaterial gewinnen ließ.

Bei mehreren bedeutenden Aus­


schreibungen erhielten Giese & Weid­
ner Preise für ihre Entwürfe, so für
das Hamburger Rathaus, den Berliner
Reichstag, das Groote Schouwburg­
Das Landhaus von Karl Louis Bar- Theater in Rotterdam, das Leipziger
teldes, Stifter und Gemeinderatsmit- Reichsgericht und den Dresdner
glied in Blasewitz, wurde von Giese Ausstellungspalast. Teilweise gehörten
bis 1875 errichtet. Der Entwurf sie danach Konsortien an, welche die
stammte wohl noch aus der Zeit siegreichen Entwürfe realisierten bzw.
mit Hartmann. Barteldes war ein wie beim Städtischen Ausstellungspa­
Onkel von Gieses Frau: Er wurde am last in Dresden Umplanungsarbeiten
9.4.1821 als Sohn eines Kaufmanns vornahmen. In mehreren Quellen
in Dresden geboren und besaß das werden diese Bauten deshalb in Gie­
Rittergut Böhrigen. In Blasewitz ses Werkeliste aufgeführt, wie bei­
setzte er sich zur Ruhe. Das Haus spielsweise in „175 Jahre TU Dresden:
wurde unter der Adresse Naumann- Die Professoren der TU Dresden,
straße 4 errichtet. Nach Barteldes‘ 1828–2003, Band 3“.
Tod 1880 ging es zunächst in den
Besitz seiner Witwe Amalie Rosalie Zusammen mit dem Bildhauer Robert
über. Später wurde im mittleren Teil Diez gewannen Giese & Weidner zwei
der Naumannstraße der Barteldes- bedeutende Preisausschreiben der
platz eingerichtet. Das Haus erhielt Stadt Dresden für Brunnenanlagen
die Nr. 1.

Gebäude wohnte der jüdische Hofju­


welier Julius Jacoby. Victor Klemperer
erhielt im September 1942 seine Ein­
weisung in das von den Nazis als „Ju­
denhaus“ missbrauchte Gebäude und
beschrieb eine „riesige viereckige bis
zum Dach reichende Mittelhalle“. Die
Villa wurde 1945 bei den Bomben­
angriffen auf Dresden zerstört. Frank Ernst Giese entwarf die zwei Brun-
Fiedler, als Schüler der Schillerschule nenanlagen auf dem Albertplatz
Blasewitz an den Beräumungsarbeiten in Dresden (Abbildung: „Stilles
beteiligt, kann sich erinnern, dass sich Wasser“).

101
Das Gewandhaus am Hauptmarkt in Bautzen wurde von Giese & Weidner
von 1882 bis 1883 im Stil der Neorenaissance anstelle eines abgebrannten
historischen Kaufhauses errichtet. Der Neubau beherbergte das städtische
Stiebermuseum. Nach einem Brand im Jahre 1976 erhielt das Gebäude ei-
nen neuen Giebel. Es dient heute der Stadtverwaltung u. a. als Standesamt.

aus Mitteln der Güntz­Stiftung zur folgter Restaurierung wieder an ihren


Verschönerung der Stadt. Der Gän­ angestammten Platz zurückgekehrt.
sediebbrunnen für den Ferdinand­ Nach Gieses Plänen entstanden zu­
platz, heute in der Weißen Gasse, dem einige Fabrikanlagen der aufstre­
wurde 1879 in München preisgekrönt. benden Dresdner Zigarettenindustrie.
1880 erhielten ihre Entwürfe „Klar 1885 war Giese Kommissionsmitglied
Wasser“ und „Trüb Wasser“ für den für die Planung des Durchbruchs der
Albertplatz den Zuschlag. Deren König­Johann­Straße vom Altmarkt
Fertigstellung verzögerte sich und die zum Pirnaischen Platz.
Einweihung konnte erst 1894 erfol­
gen. Die inzwischen „Stilles Wasser“ Giese, der auch Mitglied des Kir­
und „Stürmische Wogen“ genannten chenbau­Vereins war, hat sich gro­
Monumentalbrunnen galten seiner­ ße Verdienste um den sächsischen
zeit als Meilenstein der Dresdner Kirchenbau erworben. Bei der mit
Kunstentwicklung. Obwohl im Krieg Weidner von 1883 bis 1887 errichte­
nahezu unbeschädigt geblieben, wur­ ten Martin­Luther­Kirche wird die
den die „Stürmischen Wogen“ 1945 Verpflichtung auf das Eisenacher
zugunsten eines sowjetischen Ehren­ Regulativ deutlich, das seit 1861 u. a.
mals demontiert. Sie sind nach er­ die Neogotik als verbindlichen Baustil

102
Der Turm der Lutherkirche in
Dresden-Neustadt ist 81 Meter
hoch. Giese & Weidner entwarfen
nicht nur die äußere Architektur,
sondern waren auch für den In-
nenraum zuständig. Die Bleiglas-
fenster (Abb. unten) wurden u.
a. von Bruno Urban aus Pulsnitz
realisiert.

103
für neue Kirchenbauten vorgab. Die
Gemeinde der Dresdner Neustadt war
seinerzeit auf über 50000 Mitglieder
angewachsen und benötigte ein eige­
nes Kirchengebäude. Es sollte über
1200 Gläubigen Platz bieten. Giese &
Weidner belegten beim Wettbewerb
nur den 2. Platz hinter Tony Eul aus
Belgien, erhielten aber trotzdem den
Zuschlag. Die Kirche entstand als
gotische Basilika mit neoromanischen
Ergänzungen, wobei auch Elemente
von Eul einflossen. Der Bau wurde
pünktlich zum 404. Geburtstag von
Luther fertig, hatte aber das Doppelte
der veranschlagten Summe gekostet.

Ab 1891 führte Giese ein gemeinsa­


mes Büro mit seinem Sohn. Mit dem
Bildhauer Johannes Schilling schuf
er 1892 das Denkmal für Gottfried Bei Sempers Denkmal auf der
Semper auf der Brühlschen Terrasse. Brühlschen Terrasse vor der Kunst-
Bis 1898 stellten Giese & Sohn den akademie und der Frauenkirche ar-
Hauptbahnhof Dresden fertig. Der beitete Giese mit Johannes Schilling
Entwurf – um Elemente von Arwed zusammen. Giese war wie Schilling
Rossbach ergänzt – stammte noch aus ein Verehrer Sempers und gehörte
der Zeit mit Weidner. Dieser Bau war dem Komitee der Gottfried-Semper-
ein wesentlicher Bestandteil der Neu­ Stiftung an, die jungen Architekten
organisation des Schienenverkehrs in Reisen nach Italien finanzierte.
Dresden. Die Einwohnerzahl und das Gieses Entwurf für den Unterbau
Verkehrsaufkommen waren seit der wurde von Kessel & Röhl in Berlin
Eröffnung des ehemaligen Böhmi­ aus poliertem schwedischen Gra-
schen Bahnhofs im Jahre 1848 stark nit realisiert, die bronzene Statue
angestiegen. Claus Koepcke und Otto wurde in Lauchhammer gegossen.
Klette entwickelten das funktionale Das Denkmal blieb während der
Grundkonzept des neuen Bahnhofs Zerstörung Dresdens 1945 erhal-
mit einer großen, tiefergelegten Kopf­ ten. Verschiedentlich wird für den
bahnhalle und zwei höhergelegten Sockel der Architekt Constantin
Durchgangshallen. Damit sollte dem Lipsius angegeben, der die Einwei-
täglichen Verkehrschaos in der Stadt hungsrede hielt.

104
Der Dresdner Hauptbahnhof wurde in einem Stilgemisch aus Neorenais-
sance und Neobarock mit einem Tragwerk aus Stahl für das Glasdach
errichtet. Er bildet einen Verkehrsknoten für Züge in alle Richtungen.

wegen der Schranken an den ebener­ Giese war 1878 unter dem Rektor
digen Gleisanlagen des Böhmischen Gustav Anton Zeuner als Profes­
Bahnhofs begegnet werden. Das Emp­ sor an das Polytechnikum berufen
fangsgebäude von Giese & Weidner worden. Nach der Abtrennung der
entstand nach dem Vorbild des Gare Baugewerkenschule im Jahre 1873
du Nord in Paris und wurde von einer wurde hier eine eigenständige Ar­
Kuppel gekrönt. chitekturausbildung neben jener an
der Kunstakademie aufgebaut. Die
Als Vorsitzender des Dresdner Archi­ 1875 gegründete Hochbauabteilung
tektenvereins gehörte Giese zu den ging auf Bemühungen der Rektoren
Opponenten von Constantin Lipsius, Julius Ambrosius Hülße (bis 1873)
ebenfalls ein ehemaliger Nicolai­ und Gustav Anton Zeuner sowie der
Schüler, und seines Neubaus der ehemaligen Nicolai­Schüler Rudolph
Kunstakademie an der Brühlschen Heyn und Carl Weißbach zurück,
Terrasse bis 1894. Einige Jahre zuvor die der Hochbauabteilung in der
in Leipzig hatte Lipsius zusammen Folgezeit vorstanden. Hier wirkten
mit August Hartel beim Bau der St. seinerzeit mehrere ehemalige Schüler
Petri­Kirche den Vorzug erhalten, ob­ von Johann Andreas Schubert, so
wohl Gieses Entwurf im Wettbewerb auch Giese. Er vertrat in den fol­
siegreich geblieben war. genden mehr als 20 Jahren das Fach

105
Rosenkranzkirche Radibor, Hei- Mit dem Bau der Kirche, geleitet
matgemeinde von Alojs Andritzki. durch den Baumeister Simon aus
Die Gestaltung des Innenraums Herrnhut, wurde Quatitz zur Paro-
leitete von Mayenburg. Die sakralen chie. Am 16. Oktober 1899 fanden je
Statuen kamen aus der Mayer‘schen ein deutsch- und ein sorbischspra-
Hofkunstanstalt München. chiger Weihgottesdienst statt.

„Entwerfen von Hochbauten“, hielt me (Neues Krankenhaus Radeberg).


Vorlesungen über Städtebau und Das Polytechnikum erhielt 1890 den
stand dem Atelier für Baukunst vor. Rang einer Technischen Hochschule.
Bei Weißbach und Giese studierten 1891/92 stand die TH Dresden unter
Rudolf Schilling und Julius Graebner, der Leitung von Walther Hempel.
die später als Schilling & Graebner die 1904, im Jahr nach Gieses Tod, über­
protestantische Kirchenarchitektur nahm dessen ehemaliger Mitarbeiter
in Sachsen zu hoher Blüte führten Cornelius Gurlitt, seit 1893 Professor
und ihren Lehrer Giese beim Wettbe­ an der TH, das Rektorenamt.
werb um die Lutherkirche Radebeul
besiegten. Ein weiterer bekannter Von 1895 bis 1896 bauten Giese &
Schüler Gieses war Hermann Thü­ Sohn zusammen mit dem Benedikti­

106
ner­Pater Pirmin Campani und Georg
Heinsius von Mayenburg, einem
Dresdner Giese­Schüler, die katholi­
sche Rosenkranzkirche Radibor. Sie
entstand in Form einer neoromani­
schen Pfeilerbasilika mit einem 52
Meter hohen Turm. 1898/99 leiteten
sie den Bau der protestantischen Kir­
che in Quatitz, wiederum mit einem
52 Meter hohen Turm. Theodor Gro­
ße (*1874 Bischofswerda, †1950 Pots­
dam) war bei ihnen angestellt. Beim
Bau des 1901 eingeweihten Bautzener
Schiller­Gymnasiums gehörte Giese
dem Preiskomitee an. Als letzter Bau
Gieses entstand von 1899 bis 1901
in Chemnitz die St. Lukaskirche in
einer Mischung von Neoromanik und
Neorenaissance. Die St. Lukaskirche am Josephi-
nenplatz in Chemnitz (Ansicht um
Nach geschäftlichen Verlusten als 1904) wurde im Zweiten Weltkrieg
Aufsichtsrat von Bau­ und Immobi­ beschädigt, die Reste in den 1950er
lienbanken musste Giese Bankrott Jahren gesprengt.
anmelden. Gesundheitlich gezeichnet
emeritierte Giese daraufhin und ging in Dresden“. Verl. f. das Bauwesen, 1991; „Im neuen
Reich“. Wochenschrift für das Leben des deutschen
nach Berlin­Charlottenburg, wo er Volkes, 1880; Hans Müller: „Dome – Kirchen –
Baugutachten erstellte und wenig Klöster, Kunstwerke aus zehn Jahrhunderten“. VEB
Tourist Verlag, 2. Aufl., 1986; www.radibor.de;
später starb. www.kirchgemeinde­guttau­malschwitz­quatitz.de;
Dietrich Buschbeck: „Dem Architekten Ernst Giese
Quellen: Anton Bettelheim: „Biographisches Jahr­ auf der Spur. Zu seinem Todestag am 12. Oktober“.
buch und deutscher Nekrolog“. Bd. 8, G. Reimer, Elbhang­Kurier, H. 10/2003, S. 12; Michael Laschet,
1905; Herrmann A. L. Degener: „Wer ist‘s?“ Berlin, Berlin, Mitteilungen 2014; Evangelisch­Lutherisches
1908; Reiner Pommerin, Thomas Hänseroth, Dorit Kirchspiel Dresden­Neustadt: „Martin­Luther­
Petschel: „175 Jahre TU Dresden: Die Professoren Kirche Dresden­Neustadt“; Immatrikulationen
der TU Dresden, 1828–2003“; Schülerverzeichnisse 1778–2012, archivierte Matrikelbücher der heutigen
der Technischen Bildungsanstalt und der Polytech­ Hochschule für Bildende Künste Dresden; Carl
nischen Schule zu Dresden, 1846–1853; www.tu­ Gottlieb Anton: „Verzeichniss der Schüler des
dresden.de (einschl. DFG­Projekt „Nachlass Corne­ Gymnasiums zu Görlitz, welche in den Jahren von
lius Gurlitt“); www.rheinoper.de; www.duesseldorf. 1803, bis 1854, die Prima oder auch nur die Sekunda
de; Adressbücher der Stadt Dresden, 1849, 1863, besucht haben“. 1856; Lausitzisches Magazin, 1789;
1880, 1892, 1900; Adressbücher von Blasewitz 1879, Neue lausizische Monatsschrift, 1806; Günther
1880, 1883; Leipziger Zeitung, 1856, 1866; Deutsche Giese, Mitteilungen 2017; Adressbuch Berlin 1902;
Bauzeitung, Verl. E. Toeche, 1892, 1899; www.blase­ Matrikelverzeichnisse Universität Leipzig; Sächsi­
witz.de; Manfred Zumpe: „Die Brühlsche Terrasse sche Constitutionelle Zeitung, 18.8.1863

107
Ernst Gnauck.

108
Gnauck, Friedrich Ernst
Gemeindevorstand und Erbgerichtsbesitzer in Kleindrebnitz
22.09.1852 Kleindrebnitz – 01.12.1927 Kleindrebnitz

V: Carl Gottfried (15.10.1802–30.3.1882), Erbrichter und Gemeindevorstand in Kleindrebnitz;


M: Eleonora Carolina geb. Richter (11.9.1818–18.1.1894), aus Weickersdorf; G: 11 Geschwister;
E: Emma Pauline geb. Friebel (3.11.1855–18.10.1932), aus Altstadt (Stolpen); K: 6 Söhne, darun­
ter Oskar (1.6.1877–1.6.1931, Gemeindevorstand in Kleindrebnitz), Bruno (2.11.1888–
16.9.1969, letzter Erbgerichtsbesitzer aus der Familie Gnauck), 3 Töchter, 1 Pflegekind

Ernst Gnauck stammte aus einer alt­


eingesessenen Bauernfamilie, die sich
im benachbarten Goldbach schon im
16. Jahrhundert nachweisen lässt. We­
nig später ließen sich Nachkommen
im nahen Weickersdorf nieder. Nach
der Ableitung des Namens „Gnauck“
vom unterfränkischen „gnauken“
(bejahend nicken) ist anzunehmen,
dass frühere Vorfahren mit der Ost­
besiedelung nach Sachsen gekommen
waren. Der Kleindrebnitzer Zweig
ging im 18. Jahrhundert aus dem
Weickersdorfer hervor, dem auch
der Leisniger Altertumsforscher Max
Otto Gnauck angehörte.

Der Vater, Carl Gottfried Gnauck,


war nach der sächsischen Landge­
meindereform der erste gewählte
Gemeindevorstand (1839–1851) in Siegel des Erbgerichts Kleindrebnitz
Kleindrebnitz. Er kaufte 1849 zusätz­
lich zum Stammgut das Erbgericht Weil in Großdrebnitz der Lehrer für
Kleindrebnitz vom Rennersdorfer 136 Schüler zuständig war, schickten
Kammergutsverwalter Johann sie ihren Sohn Ernst nach Bühlau
Gottfried Nake. Es verblieb für zur Schule, um ihm einen optimalen
drei Generationen im Familienbesitz. Unterricht angedeihen zu lassen. Er
Die Eltern legten großen Wert auf wohnte in dieser Zeit bei einer älteren
eine gute Schulbildung ihrer Kinder. Schwester. Aufgrund der familiären

109
Erbgericht Kleindrebnitz, im Hintergrund das „Auszugshaus“.

Situation – es hatten außer ihm nur Steglich berichtete vor der „Ökono­
noch Schwestern überlebt – kaufte mischen Gesellschaft im Königreiche
Gnauck 1875 beide Güter von seinem Sachsen“ von Gnaucks Beteiligung
Vater. Er wurde als Gemeindeältester an der IX. Braugerstenausstellung in
und Stellvertreter des Gemeindevor­ Dresden. Am 15. Januar 1903 war
stands in den Gemeinderat und am 5. Gnauck zudem Mitbegründer der
März 1887 zum Gemeindevorstand örtlichen Spar­ und Darlehenskasse,
von Kleindrebnitz gewählt. Dieses die sich der Förderung der dörfli­
Amt hatte er für die außergewöhnlich chen Wirtschaft verschrieben hatte.
lange Zeit von 32 Jahren inne. Zu den Selbstverständlichkeiten im
Gemeinderat unter Gnauck gehörte
Gnauck arbeitete im Kirchen­ und es, Bedürftige zu unterstützen. Die
Schulvorstand für Groß­ und Klein­ „Armenkasse“ wurde mit ausreichen­
drebnitz mit und bemühte sich als den Mitteln ausgestattet. In Notfällen,
Mitglied bzw. Leiter der landwirt­ z. B. nach Bränden, bei Erwerbslosig­
schaftlichen Vereine von Bischofs­ keit oder nach der Geburt uneheli­
werda und Großdrebnitz um die cher Kinder, erhielten die Betroffenen
Einführung moderner Produkti­ unbürokratische Hilfe.
onsmethoden. Professor Bruno

110
Wichtige Errungenschaften seiner Weickersdorfer Gemeindevorstand
Amtszeit waren die Einrichtung einer Hartmann hatte Gnauck sich lange
Eisenbahnhaltestelle in Weickersdorf, um die Errichtung eines Bahnhofs
der Bau des Kirchturms Großdrebnitz für Weickersdorf, Kleindrebnitz und
(beides mit aktiver Beteiligung von die benachbarten Dörfer bemüht. Mit
Kleindrebnitz) sowie die Einführung Unterstützung des aus Kleindrebnitz
der Telegrafie im Dorf. Das heraus­ stammenden Max Neumeister,
ragende Ereignis stellte 1909 die seinerzeit Mitglied der sächsischen
Eröffnung des Bahnhofs Weickers­ Eisenbahnkommission, gelang dieses
dorf dar. Im 19. Jahrhundert war es wirtschaftlich bedeutsame Vorhaben
den Oberlausitzer Bauern gelungen, schließlich. Am 1. Oktober 1909 be­
zunehmend die Produktion von Roh­ ging man im Beisein des Prinzen Siz­
milch zu steigern, und 1903 wurde zo von Schwarzburg auf Großharthau,
die Eisenbahnstrecke Görlitz­Dresden inzwischen Eigentümer des ehema­
für den Milchtransport zu den Dresd­ ligen Vorwerks von Johann Gott­
ner Molkereien und Großmärkten fried Nake unweit des Bahnhofs, die
freigegeben. Gemeinsam mit dem feierliche Einweihung. Kleindrebnitz

Familie des Erbgerichtsbauern Ernst Gnauck (vorn rechts, um 1896).

111
beteiligte sich mit erheblichen finan­
ziellen Mitteln am Bahnhof, der nahe
der Ortsgrenze zwischen Weickers­
dorf und Kleindrebnitz gelegen ist.
Den örtlichen Bauern wurde es da­
durch möglich, die leicht verderbliche
Rohmilch schneller an die Kunden bis
nach Dresden auszuliefern.

Für seine Verdienste um das Dorf


und seine Bewohner wurde Gnauck
am 14. Mai 1912 von König Friedrich
August III. das Ehrenkreuz verliehen.
In dem bekannten Kirchschullehrer
und Heimatforscher Bruno Barthel
wusste er stets einen guten Freund an
seiner Seite. Zudem waren sein Sohn
Oskar und seine Tochter Hedwig je­
weils mit Kindern von Barthel verhei­
ratet. Gnauck leitete den von Barthel
gegründeten landwirtschaftlichen Urkunde zum Ehrenkreuz 1912.
Verein von Großdrebnitz und vertrat
den Kantor Barthel beim sonntäg­ unehelichen Kind in Not geriet, nahm
lichen Orgelspiel. Auch die örtliche Gnauck es zu sich und ermöglich­
Spar­ und Darlehenskasse hatten sie te ihm eine Berufsausbildung zum
gemeinsam gegründet. Wenn etwas Drogisten.
vertraulich bleiben sollte, korrespon­
dierten sie in Gabelsberger Kurz­ Das Erbgericht Kleindrebnitz wurde
schrift. So wie es Gnauck von seinen 1911 von seinem Sohn Bruno über­
Eltern kennengelernt hatte, handelte nommen. Als Gastgeber für verschie­
er verantwortungsbewusst bei der dene Vereine (Königlich sächsischer
Erziehung seiner Kinder. Gnauck be­ Militärverein, Landwirtschaftsverein,
griff Ausbildung als Investition in die Gesangverein; unter dem Sohn Bruno
Zukunft und ermöglichte auch jenen auch der neugegründete Schach­
Kindern einen guten Start ins Leben, verein) war es zusammen mit dem
die nicht als Hoferben infrage kamen. Erbgericht Großdrebnitz zum Zent­
Bildung beschränkte er aber nicht rum des dörflichen Lebens geworden.
auf die Landwirtschaft – die meisten Der älteste Sohn Oskar folgte Gnauck
seiner Kinder lernten z. B. Klavier am 1. März 1919 im Amt des Ge­
spielen. Als eine Schwester mit einem meindevorstands. Ernst Gnauck blieb

112
Aufsatz von Bruno Barthel in der Beilage „Unsere Heimat“ zum „Sächsi-
schen Erzähler“ (anonym, Oktober 1909).

aber Orts­ und Friedensrichter. Der Die folgende Stammtafel wurde


jüngste Sohn Kurt pachtete nach 1945 sowohl in Breite als auch Tiefe auf
aus dem Besitz eines Schwiegerenkels historisch bedeutende Familienzweige
von Gnauck in Pulsnitz das Hotel begrenzt. Weitere Angehörige besa­
„Stadt Dresden“, das Geburtshaus des ßen ebenfalls Bauerngüter in Wei­
berühmten Agrarwissenschaftlers ckersdorf, Groß­ und Kleindrebnitz.
Julius Kühn.

Quellen: S. 412 ff. 113


Martin Gnauck
nach Richard Garbe Bauer sowie Salz­ und Landfuhrmann (bis nach Leipzig und Breslau)

Thomas Gnauck (1618 – 1679)


Gerichtsschöppe, Bauer sowie Salz­ und Land­
fuhrmann auf dem Stammgut

Hanss Johann Gnauck (1655 – 1729)

Hans George Gnauck (1695 – 1725)


Gerichtsschöppe und Landfuhrmann auf dem
Stammgut

Anna Elisabeth Gnauck (1725 – 1796) Friedrich Martin Gnauck (1709 – 1774)
der ursprüngliche Kleindrebnitzer Zweig der Gnaucks ging Bauer und Landfuhrmann, ging von Weickersdorf nach Bühlau
durch Heirat 1745 in der Großdrebnitzer Erbrichterfamilie
Klahre auf

Johann Gottfried Martin Gnauck (1753 – 1798)


in Bühlau geboren, kaufte das Kleindrebnitzer Stammgut der Familie

Johann Gottfried Gnauck (1774 – 1836)


Bauer und Landfuhrmann auf dem Stammgut

Carl Gottfried Gnauck (1802 – 1882)


Erbrichter, erster gewählter Gemeindevorstand nach der sächsischen
Landgemeindereform (1838), kaufte zusätzlich zum Stammgut das Erb­
gericht von Johann Gottfried Nake (1849)

Friedrich Ernst Gnauck (1852 – 1927)


langjähriger Gemeindevorstand und Erbgerichtsbesitzer

Bruno Gnauck Paul Gnauck Oskar Gnauck


(1888–1969), Friedens­ (1880–1945) (1887–1931), Ge­
richter, verkaufte Erbge­ meindevorstand,
richt an Fam. Szczekalla Schwiegersohn v.
nach Tod beider Söhne Bruno Barthel

Luise Gnauck Willy Gnauck


(1913–2006), aufge­ (1906–1980), verkaufte
wachsen im Erbgericht, im Zusammenhang mit
Schwiegermutter von Kollektivierung Stamm­
Frank Fiedler gut an Fam. Brendler

Die Spalten repräsentieren einzelne Ahnenlinien, wobei Spaltengruppen unter einem


übergreifenden Tabelleneintrag für Geschwister stehen. Die Zeilen stellen den Bezug
zwischen korrespondierenden Generationen über verschiedene Linien hinweg her.
114
(* 1586)
auf einem der ältesten und größten Bauerngüter von Kleindrebnitz (Stammgut)

Christoph Gnauck (1610 – 1671)


Bauer und Gerichtsschöppe, in Weickersdorf „am Drebnitzer Weg über‘n Haufen geritten“
(Heckel: Chronik der Stadt Bischofswerda)

Martin Gnauck (1634 – 1705)


Bauer und Salzfuhrmann

Martin Gnauck (1681 – 1758)


Bauer und Salzfuhrmann

Andreas Gnauck († 1772) Christoph Gnauck (?1725 – 1763)


Freirichter auf dem Erbgericht Amts­, Land­ und Gerichtsschöppe, Bauer auf Gut Nr. 2, einem der größten
Bauerngüter von Weickersdorf (nahe dem heutigen Bahnhof)

Rosina Gnauck Johann Christoph Gnauck (1756 – 1813)


heiratete 1734 Christoph Näther a. Polenz, Bauer auf Gut Nr. 14, Gerichtsschöppe, Salzfuhrmann, sein Bruder Adam
Dokument zum bäuerlichen Hochzeits­ Gottlieb (auch Gerichtsschöppe, Besitzer von Gut 2) vermutlich durch
brauchtum im Sächsischen Staatsarchiv napoleonische Truppen ermordet

Carl Christoph Gnauck (1791 – 1865)


Bauer auf Gut Nr. 2, Gerichtsschöppe, vermutlich auch Salzfuhrmann; seine
Frau, Christiane Caroline geb. Beyer, entstammte dem in Weickersdorf ver­
bliebenen Zweig der Familie Beyer/Bayer (Bayer AG; nach Namenswechsel)

Karl Julius Gnauck (1826 – 1905) Friedrich August


zwischenzeitlich in Bühlau, wo sein erstes Kind gebo­ Heinrich Gnauck
ren wurde, Besitzer von Gut Nr. 2, kaufte 1868 von (1820–1905) Gutsbe­
den Leunerschen Erben auch Gut Nr. 8 besitzer Großdrebnitz

Karl Hermann G. Max Otto Gnauck Meta Flora G.


(* 1872), besaß Gut (1858–1904), Lehrer (1860–1908)
Nr. 2 und Altertumsforscher
in Leisnig

Richard G. Carl Ernst Paeßler


(1878–1944) (1890–1963), Freiguts­
besitzer in Belmsdorf,
Enkel von Bernhard
Paeßler

Curt Gnauck Roland Paeßler


(1905–1945) (1928–2016), Landwirt
Bürgermeister und Heimatforscher
in Rammenau

Vielfältige Beziehungen bestanden zur Erbrichterfamilie Klahre. Die farbliche Hinter­


legung der Tabelleneinträge bezieht sich auf den jeweiligen Lebensmittelpunkt:
Kleindrebnitz, Weickersdorf bzw. weiß bei abweichenden Orten. Siehe auch S. 415 ff.
115
Mosaikbild am Hauptportal der Christuskirche Bischofswerda, 1907 von
Josef Goller zusammen mit Villeroy & Boch geschaffen. Das Foto wurde
von Uwe Fiedler der Wikipedia zur Verfügung gestellt.

116
Goller, Josef
Professor, Glasmaler und Grafiker
25.01.1868 Dachau – 29.05.1947 Obermenzing bei München

V: Adam, Tischler und Instrumentenbauer; E: Clara Fanny geb. Kunze (*27.9.1865 Zittau,
†29.5.1927 Dresden, Tischlerstochter aus Zittau); K: Clara Elise (*1.10.1888 vermutl. in Zittau,
†1970 vermutl. in Braunschweig, ab 1911 verheiratet mit dem Maler Arno Drescher, Tanzunter­
richt bei Mary Wigman), Josefa Anna (*10.10.1889 Dresden), Clara Gertrud (*2.6.1891 Dres­
den), Martha Helene (*15.5.1892 Dresden), Johanne Margarethe (*5.11.1893 Dresden), Charlotte
Erna (*6.12.1894 Dresden), Elsa Maria (*5.12.1895 Dresden), Josef Friedrich (*30.11.1896
Dresden), Johann Otto (*2.10.1898 Dresden, 1928 ausgewandert in die USA)

Josef Goller absolvierte in München im Barock und Rokoko beklagte und


an der Mayer’schen Hofkunstanstalt auf einen erneuten Aufschwung,
eine sechsjährige Lehre als Glasmaler. ausgehend von München, seit dem
Gleichzeitig bildete er sich autodi­ Beginn des 19. Jahrhunderts ver­
daktisch und mit dem Besuch von wies. Entscheidend war laut Goller,
Abendkursen an der Kunstgewerbe­ von der Imitation der Ölmalerei auf
schule auf grafischem Gebiet weiter. Glas abzugehen: „Heute arbeitet der
1887 erhielt Goller in Zittau bei der Glasmaler wieder, wie im Mittelal­
Hofglasmalerei Türcke & Schlein sei­ ter, in flotter, breiter und dem Glase
ne erste Anstellung. In Zittau heirate­ entsprechenden einfachen Manier,
te er auch die Tochter eines Tischlers. und meidet möglichst unnütze Unter­
malungen; Hauptsache muß das Glas
1890 übernahm Goller die künstle­ selbst sein, denn die Malerei soll nur
rische Leitung der Dresdner Anstalt darin bestehen, Licht und Schatten zu
für Glasmalerei von Bruno Urban. Er schaffen...“ Die Kunstglasanstalt von
orientierte sich als Glasmaler zu­ Bruno Urban, von 1899 bis 1901 Ur­
nächst am Historismus, entwickelte ban & Goller, realisierte Entwürfe be­
sich jedoch zunehmend zu einem kannter Maler, aber auch Glasgemäl­
führenden Vertreter des Jugendstils. de nach Vorlagen von Goller selbst
Zu seinen Spezialgebieten gehörten für Kirchen, Rathäuser, Schulen und
die Bemalung von amerikanischen andere öffentliche Gebäude sowie für
Opaleszenz­Gläsern und die Mosaik­ Privathäuser. Eine der ersten gemein­
Verglasung. 1892 verfasste Goller samen Arbeiten betraf das Rathaus
einen Artikel, in dem er zunächst in Pirna. In Radebeul entwarf Goller
auf die historische Entwicklung der die Chorfenster der Lutherkirche
Glasmalerei vom Mittelalter bis zu sowie Treppenfenster und Fenster im
ihrem Höhepunkt im 17. Jahrhundert Ratssaal des Rathauses. Die Fenster
einging, eine geringere Bedeutung der Nikolaikirche in Pulsnitz entstan­

117
gestaltungen. Karl Schmidt gewann
ihn 1898 als künstlerischen Mitarbei­
ter seiner damaligen Firma „Dresdner
Werkstätten für Handwerkskunst
Schmidt und Engelbrecht“ in Laube­
gast. Goller stand in enger Beziehung
zu Grafikern wie Johann Vincenz
Cissarz, der ebenfalls auftragsbezogen
„Der pflügende Bauer“ im Rathaus für Schmidt arbeitete. Mit dem Auf­
Radebeul. Foto: Der Naundorfer schwung des Plakatwesens in Dresden
(Wikimedia Commons, CC BY-SA für Reklame und Information wa­
4.0, Ausschnitt) ren Plakatgestalter gesucht. Sowohl
Cissarz als auch Goller arbeiteten
den unter Federführung von Bruno für die Lithographische Anstalt von
Urban, der aus dieser Stadt stammte. Theodor Beyer. 1902 gehörte Goller
Auch vier Fenster im Standesamts­ zu den Gründern der Gruppe „Die
saal des Nürnberger Rathauses sowie Elbier“ um Gotthardt Kuehl, Leiter
Kirchenfenster in Johanngeorgenstadt des Ateliers für Genremalerei an der
entstanden in jener Zeit. In Zusam­ Kunstakademie und ein Wegbereiter
menarbeit mit den Architekten Schil­ des Impressionismus in Dresden. Von
ling & Graebner schufen Urban & Goller stammte das Wahrzeichen der
Goller das Kolossalfenster im Vestibül „Elbier“, ein Schiff auf bewegten Wo­
und weitere Fenster des Kaiserpalas­ gen. Die „Elbier“ standen im Unter­
tes in Dresden sowie das Glasgemälde schied zum aufkommenden Expres­
für den Altar der protestantischen sionismus jener Zeit („Die Brücke“)
Kirche in Dux. Für die wegweisende nicht für experimentelle Malerei. Sie
I. Internationale Kunstausstellung verbanden solide Technik mit hei­
im Ausstellungspalast, die 1897 den matlichen Motiven aus der Natur und
Jugendstil nach Dresden brachte (vgl. zeigten Menschen im Alltag.
Osmar Schindler), entwarf Gol­
ler das Glasgemälde „Tänzerin“, für Für die 3. Deutsche Kunstgewer­
die Deutsche Kunstausstellung 1899 beausstellung 1906 in Dresden schuf
Fenster für ein Treppenhaus von Max Goller für mehrere Ausstellungsräu­
Rose. Ab 1901 arbeitete Goller als me farbige Glasfenster mit Bezügen
Glasmaler unabhängig. zu den Exponaten, beispielsweise für
das Wohnzimmer von Fritz Schu­
Goller galt schon früh als genialer macher im Sächsischen Haus, für
Zeichner. Er machte sich einen Na­ die Friedhofskapelle von Max Hans
men mit karikaturistischen Plakaten Kühne und die Bibliothek von Wil­
und entwarf dekorative Innenraum­ helm Kreis. Diese Ausstellung gab den

118
unter Führung von Stadtbaurat Hans
Erlwein der Dresdner Künstlerverein
„Die Zunft“ gegründet. Die Bildhauer,
Architekten, Maler und Kunstge­
werbler entwickelten einen speziellen,
an der Zweckmäßigkeit orientierten
Dresdner Stil im Zusammenwirken
der verschiedenen Kunstformen. Eine
Arbeitsgemeinschaft innerhalb der
„Zunft“, der auch Goller angehörte,
gab die „Dresdner Künstlerhefte“ he­
raus. Goller illustrierte zudem für das
„Kunstgewerbeblatt“, die Zeitschrift
des Vereins Kunstgewerbe­Museum
zu Leipzig.

Offenbar war es zwischen Hans


Erlwein und Goller zum Bruch ge­
Plakat für eine Ausstellung der „El- kommen. Jener trat aus der „Zunft“
bier“ mit dem von Goller geschaffe- aus und gehörte 1908/1909 zu den
nen Signet. Beschwerdeführern gegen Erlwein
wegen vermeintlicher Bevorzugung
Anstoß zur Gründung des Deutschen von „Zunft“­Mitgliedern bei öffentli­
Werkbundes 1907 in München, dem chen Aufträgen. Als 1909 die Grup­
sowohl Karl Schmidt, Goller als auch pen „Zunft“ und „Elbier“ sowie weite­
dessen Druckhaus Theodor Beyer an­ re Künstler die „Künstlervereinigung
gehörten. Mit der Ansiedlung seiner Dresden“ gründeten, beteiligte sich
Deutschen Werkstätten begründete Goller nicht.
Schmidt 1909 die Gartenstadt Hel­
lerau. Der Deutsche Werkbund, von Mit vielen Vertretern der damaligen
1910 bis 1912 mit seiner Zentrale in Reformbewegungen arbeitete Gol­
der Gartenstadt Hellerau ansässig, ler als Glasmaler an gemeinsamen
verstand sich als Vereinigung von Bauvorhaben, so mit den Architekten
Künstlern, Architekten, Unterneh­ William Lossow (Kunstgewerbemu­
mern und Sachverständigen zur seum und Garnisonkirche Dresden),
„Veredelung der gewerblichen Arbeit Hans Erlwein (Sparkasse Schulgasse
im Zusammenwirken von Kunst, Dresden) und Schilling & Graebner
Industrie und Handwerk“. Ebenfalls (Lutherkirche Radebeul und Kaiser­
von der 3. Deutschen Kunstgewer­ palast, Handelsbank Dresden, Kirche
beausstellung beeinflusst, hatte sich Dux).

119
Zu Gollers wichtigsten Glasmalar­
beiten zählten die Verglasungen im
Empfangsraum für Staatsoberhäup­
ter im Leipziger Hauptbahnhof (mit
Lossow), Arbeiten für die Neuen
Rathäuser in Dresden, Gera und
Chemnitz sowie das Ständehaus in
Dresden. Während viele seiner Werke
in der Dresdner Innenstadt bei den
Bombenangriffen 1945 verloren gin­
gen, wurden die Fenster der früheren
Garnisonkirche, heute St. Martin an
der Stauffenbergallee, wieder rekon­
struiert. Zusammen mit der vollstän­
digen Ausmalung der Kirche durch
Paul Mohn bilden sie ein beeindru­
ckendes Ensemble. Im Chemnitzer
Rathaus wurden im Jahre 2005 zwölf
historische Bilder in Wappenform mit
floralen und kulinarischen Motiven
wieder eingesetzt.

Goller übernahm neben der Glas­


gestaltung dekorative und grafische
Arbeiten, von denen sich mehrere im
Kupferstich­Kabinett Dresden, aber
auch im Kunstgewerbemuseum Prag
befinden. Beispielsweise entwarf er
die farbliche Neugestaltung des Foy­
ers der Semperoper im Stil des Neo­
klassizismus. Für das „Central­The­
ater“ in Chemnitz malte Goller den
Hauptvorhang. Zu seinen bekanntes­
ten Auftraggebern für Werbegrafiken
Die Buntglasfenster in der Pfarr- gehörte die „Heinrich Ernemann AG
kirche St. Martin in Dresden aus für Camerafabrikation“ in Dresden.
der Zeit mit Urban, darunter „St. Für die Große Kunstausstellung Dres­
Viktor“, heben sich vor dem dunk- den 1904 entwarf Goller ein Plakat,
len Hintergrund mit strahlenden für die Internationale Photographi­
Farben hervor. sche Ausstellung in Dresden 1909

120
Reklamemarken und Postkarten. Auf
der Dresdner Jahresausstellung „Das
Papier“ 1927 führte er ein Schat­
tenspiel vor. Sein „Volkstümliches
Schattenspiel­Theater“ präsentierte
Goller regelmäßig im Kunstsalon
„Kühl und Kühn“. In seinen späten
Dresdner Jahren ist er mehrfach mit
Ölgemälden auf akademischen Kunst­
ausstellungen hervorgetreten.

In der Oberlausitz entwarf Goller


Kirchenfenster in Königswartha und
Seitendorf, das Mosaik über dem
Eingangsportal der Christuskirche
Bischofswerda und Glasfenster für
die Synagoge Görlitz (mit William In den Königswarthaer Kirchen-
Lossow). Die Fenster der Kirche fenstern mit Petrus und Paulus und
Schmeckwitz wurden nach Entwürfen den vier Evangelisten wird Gollers
von Woldemar Kandler durch Urban dekoratives Talent deutlich. Dabei
& Goller realisiert. Goller illustrierte ergänzten sich sein feines stilisti-
zudem in Alfred Moschkau: „Ritter­ sches Gefühl und eine sichere Farb-
burg und Kloster Oybin im Zittauer gebung. Goller war nicht nur ein
Gebirge. Deren Beschreibung, Ge­ gesuchter Glasmaler bei repräsenta-
schichte und Sagen“ (1905). tiven Neubauten wie der Lutherkir-
che Radebeul (1892), dem Kaiserpa-
An der Dresdner Kunstgewerbe­ last Dresden (1897) und dem Neuen
schule unter dem Direktor Carl Rathaus Chemnitz (1911), sondern
Ludwig Theodor Graff unterrichtete auch dort, wo es darum ging, die
Goller von 1900 bis 1901 zunächst Fenster in ein bestehendes histori-
Abendklassen. Das Angebot dieser sches Ensemble stilgerecht einzufü-
Abendklassen richtete sich vorrangig gen wie in den Kirchen Johanngeor-
an junge Handwerker und umfasste genstadt und Königswartha.
Architektur, Modellieren, Zeichnen
und Malen. Nach dem Neubau der klassen Glasmalerei (Schüler waren
Kunstgewerbeschule an der Elias­ Otto Griebel, Oskar Fritz Beier) sowie
straße (heutige Güntzstraße) lehrte Plakatentwurf (Otto Dix, Georg Karl
Goller unter William Lossow ab 1906 Heinicke aus Bautzen, Kurt Fiedler).
(ab 1908 als Professor) in der Nach­ Die Kunstgewerbeschule Dresden
folge von Otto Rennert in den Tages­ begleitete seit 1875 die Industrialisie­

121
im Deutschen Werkbund. Zur Lehrer­
schaft gehörten neben bekannten
Künstlern, so der Maler und Bildhau­
er Richard Guhr (Goldener Rathaus­
mann Dresden, Richard­Wagner­
Denkmal Graupa) und der Maler Carl
Rade (später Lehrer von Gottfried
Zawadzki), auch externe Lehrkräf­
te wie Wilhelm Ellenberger, an der
Tierärztlichen Hochschule Dresden
Direktor von Bruno Steglich. Mit
der Kunstgewerbeschule war das
Kunstgewerbemuseum verbunden,
für welches Goller ein Glasmosaik mit
Adler geschaffen hatte. Es ist heute im
Besitz der Staatlichen Kunstsammlun­
gen Dresden. 1928, ein Jahr nach dem
Tod seiner Frau, kehrte Goller nach
Die „Deutsche Bauzeitung“ schrieb München zurück.
1919 zu der von Lossow & Kühne
im Jugendstil errichteten Synagoge Der wohl bekannteste Oberlausitzer
Görlitz: „Die von Prof. Goller in Absolvent der Kunstgewerbeschule zu
Dresden entworfenen Glasfenster Gollers Zeit war nach dem Ersten
lassen in ihrer großen Fläche reiches Weltkrieg Paul Sinkwitz. Sinkwitz stu­
Tageslicht in das Innere fluten.“ dierte u. a. bei Gollers Schwiegersohn
Arno Drescher. Ab 1931 lehrte er
rung Sachsens mit Ausbildungsange­ selbst an der nunmehrigen Kunstge­
boten in neuen Kunstzweigen und im werbeakademie. Mehrere von Gol­
Kunsthandwerk. Mit William Lossow lers Schülern machten sich ebenfalls
wurde 1906 ein Vertreter der jungen einen Namen in der Oberlausitz.
Reformarchitektur zum Direktor Oskar Fritz Beier schuf Bleiglasfenster
bestellt. Die Ideen des Deutschen für die Kirche Wilthen, Max Merbt
Werkbundes fassten in der Dresdner restaurierte die Schlösser Rammenau
Kunstausbildung Fuß. Lossow holte und Neschwitz und entwarf Bildta­
nicht nur Josef Goller in den Lehr­ peten für das Rittergut Schirgiswalde
körper, auch Oskar Seyffert, 1908 und Kurt Fiedler schuf Werbegrafiken
Mitbegründer des Landesvereins für Christoph & Unmack in Niesky
Sächsischer Heimatschutz, Adolf Son­ und den Görlitzer Waaren­Einkaufs­
nenschein und Lossows Nachfolger Verein. Karl Heinicke stellte wieder­
ab 1914, Karl Groß, waren Mitglieder holt beim Bautzener Kunstverein aus.

122
14. Bd., 1921, S. 345–346; Saur, Künstlerlexi­
kon, 2008; Wer ist‘s?, 1905 und 1909; Herold
Hofmeister, Harald Adler: „Leipzig Haupt­
bahnhof: Geschichte und Geschichten“. Verlag
Forum, 1994; Heinrich Magirius: „Gottfried
Sempers zweites Dresdner Hoftheater“. Verlag
H. Böhlau, 1985; Ulrike Lorenz: „Dix avant
Dix“. Glaux 2000; Willy Doenges: „Ausstel­
lungen – Dresden“. In: Cicerone, 2. Jahrgang,
Nr. 17, 1910, S. 592; Maria Mirtschin: „Garten,
Ota (Otto)“. In: Sächsische Biografie, hrsg.
vom Institut für Sächsische Geschichte und
Die Kunstgewerbeschule von Los- Volkskunde e.V., bearb. von Martina Schatt­
sow & Vieweger wurde während des kowsky; www.christusbote.de; „Katholische
Zweiten Weltkriegs zerstört und da- Pfarrkiche St. Marien in Dresden“. Kunstverlag
nach unter Leitung von Mart Stam Josef Fink, 2007
vereinfacht wieder aufgebaut.

Das Stadtmuseum Bautzen bewahrt


eine größere Anzahl seiner Werke auf.
Otto Garten aus Elstra war von Goller
entdeckt worden und studierte ab
1917 an der Kunstgewerbeschule. Sein
Nachlass befindet sich im Sorbischen
Museum Bautzen.

Quellen: Benny Waszk: „Prof. Josef Goller


– sein Leben und Wirken in Chemnitz und
Umgebung“. In: Chemnitzer Roland: Vereins­
spiegel für Heimat, Brauchtum, Geschich­
te, Kunst, Chemnitz, Bd. 11 (2004), 2, S.
7–10; Ortsverein Loschwitz­Wachwitz e. V.,
Ortsverein Pillnitz e.V. (Hrsg.): „Künstler am
Dresdner Elbhang“. Teil 1, Dresden, Elbhang­
Kurier­Verlag, 1999; Illustrirte kunstgewerb­
liche Zeitschrift für Innendekoration, H. 1,
1892, S. 7; Deutsche Kunst und Dekoration.
Bd. 1. Verlagsanstalt Alexander Koch, Darm­
stadt, Oktober 1897–März 1898, S. 116 und
5/1899; Matthias Erfurth (Stadtwiki Dresden, Plakat zur Unterstützung der Not-
Informationen zu den Kindern); Pfarrer leidenden nach dem Ersten Welt-
Andreas Kecke (Königswartha); Allgemeines krieg. Viele von Gollers Schülern
Lexikon der bildenden Künstler von der Anti­
ke bis zur Gegenwart: Unter Mitwirkung von
lernten die Schrecken des Krieges
etwa 400 Fachgelehrten. Von Ulrich Thieme, kennen, so Otto Dix, der für seine
Hans Vollmer, Felix Becker. Seemann Leipzig, Kriegsgemälde berühmt wurde.

123
Tumba-Deckplatte des Gra-
fen Wiprecht von Groitzsch.
Gipsabguss nach dem Ori-
ginal aus Sandstein in der
Laurentiuskirche zu Pegau.
Die farbige Erscheinung des
Abgusses gibt die Bemalung
und Belegung mit Edelstei-
nen im Rahmen der Restau-
rierung unter Oskar Mothes
(aus der Familie von Bruno
Steglich) und Chr. Zucchi
im Jahre 1871 wieder. Die
Bemalung wurde dort um
1934/35 entfernt. Foto: Ka-
terBegemot (Germanisches
Nationalmuseum, Wikime-
dia Commons), Lizenzen:
CC BY-SA 3.0, GFDL

124
Groitzsch, Wiprecht von
Markgraf von Meißen und der Niederlausitz, Herrscher der Oberlausitz
* um 1050 in der Altmark – 22.05.1124 Pegau

V: Gaugraf Wiprecht I. vom Balsamgau (* um 990, †29.4.1050); M: Sigena von Leinungen (* um


1025, †1110, in zweiter Ehe mit Friedrich I. von Pettendorf verheiratet, zuletzt dritte Äbtissin des
Klosters Vitzenburg); G: 2 Schwestern, u. a. Gisela (* um 1045); E: (1) 1084 Juditha von Böhmen
(*1066, †9.12.1108 Bautzen), (2) 1110 Kunigunde, Tochter des ehemaligen Markgrafen Otto I.
von Meißen und Witwe des Grafen Kuno von Beichlingen; K: Bertha (†16.5.1144, verheiratet
mit Graf Dedo von Wettin, 1136 Erbin der Herrschaft Groitzsch), Wiprecht der Jüngere (*1087,
†27.1.1116, verheiratet mit einer Stiefschwester), Heinrich (* um 1090, †31.12.1135 Mainz, ab
1124 Herrscher der Oberlausitz, ab 1131 als Heinrich III. Markgraf der Niederlausitz)

Wiprecht von Groitzsch war eine Wiprechts Großvater Wulf, ein sor­
vielgestaltige Persönlichkeit des bischer Adliger aus Pommern, hatte
Mittelalters. Er spielte in den politisch nach dem zwischenzeitlichen erneu­
bedeutsamen Auseinandersetzungen ten Vordringen der Slawen nach Wes­
zwischen Kaisertum und Papsttum ten nach dem Tod Kaiser Otto II. 983
eine wichtige Rolle. Während der in Rom Grundbesitz in der Altmark
deutschen Expansionsbewegung nach erlangt. Mit der Wiederherstellung
Osten bis in die Oberlausitz organi­ der deutschen Vorherrschaft entlang
sierte er die Ansiedelung von Bauern der Elbe assimilierte sich die Familie
und Handwerkern, einhergehend mit und erhielt die Grafschaft des Balsam­
einer Christianisierung und Assimi­ gaus. Nach dem Tod des Vaters wurde
lierung der Sorben. Die neuen Mark­ Wiprecht von seinem Vormund Udo
grafschaften waren heftig umkämpft. von Stade, Markgraf der Nordmark,
Gleichzeitig versuchten die regionalen in Stade und Tangermünde erzogen.
Herrscher, sich gegenüber der deut­ Udo, der eine Operationsbasis für
schen Zentralgewalt zu emanzipieren. geplante Eroberungen in Ostelbien
Gewalt, wechselnde Allianzen und benötigte, überzeugte ihn um 1070,
gezielte Heiraten trugen dazu bei, den die altmärkische Gaugrafschaft gegen
jeweiligen Herrschaftsanspruch aus­ Güter im Süden von Leipzig einzu­
zudehnen. Dank guter Beziehungen tauschen. Sie befanden sich in einem
nach Böhmen erlangte Wiprecht für unruhigen, gleichzeitig aber chancen­
mehr als drei Jahrzehnte die Herr­ reichen Gebiet in den Marken Zeitz
schaft über die Oberlausitz. Ausein­ und Merseburg.
andersetzungen mit den Wettinern
endeten mit dem Niedergang seiner Wiprecht ließ auf seinem Besitz
Familie und dem Aufstieg der Wetti­ Groitzsch eine neue Burg, erstmals als
ner zum Herrscherhaus Sachsens. mörtelgebundenen Steinbau, errich­

125
nisse bei der Berufung von Geistli­
chen und damit ein Kampf um die
Neuordnung zwischen weltlicher und
geistlicher Macht. Der Papst wollte
die Dominanz der deutschen Reichs­
kirche seit Karl dem Großen nicht
mehr hinnehmen und stellte auch den
Herrschaftsanspruch des deutschen
Königs über Italien infrage. Unter­
stützung erhielt er vom Hochadel, der
Freigelegte Reste der Wiprechtsburg sich vom König emanzipieren wollte.
Groitzsch bei Leipzig. Foto: Rolo-l Papst Gregor VII. konterte den Ab­
(Wikimedia Commons), Lizenzen: dankungsbefehl von Heinrich IV. mit
CC BY-SA 3.0, GFDL dessen Bannung. Heinrich, dessen
ten, deren Rundkapelle der älteste Regentschaft infrage stand, muss­
Kirchenbau Sachsens ist. Er wurde te sich beugen und 1077 den Gang
von lokalen Adligen angefeindet, die nach Canossa antreten. Nachdem der
selbst die Grafschaft beanspruchten, zum Gegenkönig ausgerufene Rudolf
und musste deshalb seinen Besitz von von Rheinfelden getötet war, betei­
1073 bis 1075 verlassen. Wiprecht ligten sich Vratislav und Wiprecht
schloss sich mit seinen Kriegern am Rachefeldzug gegen den Papst.
Böhmenherzog Vratislav an. Die Wiprecht unterwarf 1081 an der
Böhmen unterstützten König Hein­ Spitze eines 1000­köpfigen Ritterhee­
rich IV. im Kampf für die Stärkung res die Lombardei. Drei Jahre wurde
der Zentralgewalt in Deutschland Rom belagert, ehe Wiprecht nach der
gegen abtrünnige Fürstenhäuser, zu Überlieferung als Erster mit 24 Mann
denen insbesondere auch die Sachsen die Mauer erklommen haben soll.
(„Altsachsen“ zwischen Niederrhein Als Dank für seine Hilfe im Kampf
und Unterelbe) gehörten. Am 13. Juni gegen Papst und deutschen Hochadel
1075 besiegte die königliche Allianz belehnte ihn der 1084 im Beisein Wi­
in einer Schlacht an der Unstrut die prechts zum Kaiser gekrönte Heinrich
Sachsen. Zum Dank belehnte der IV. mit Colditz, Grimma und Leisnig.
König im Jahre 1076 Vratislav – gegen Auch Geistliche der kaiserlichen Par­
den abtrünnigen Egbert II. – mit der tei wie die Bischöfe von Köln, Mainz,
Mark Meißen. Wiprecht vermittelte Halberstadt, Münster und Zeitz sowie
wiederholt zwischen Heinrich IV. und die Äbte von Fulda und Hersfeld
Vratislav. belohnten ihn. Mit Wiprecht wurde
dadurch ein Vertreter des niederen
Im Jahre 1076 begann der Investitur­ Adels zu einem der mächtigsten Män­
streit von König und Papst um Befug­ ner im östlichen Deutschland.

126
Nach der Heirat mit Prinzessin Judi­
tha, Vratislavs Tochter, im Jahre 1084
erhielt Wiprecht die Gaue Budissin
(die spätere Oberlausitz entlang der
Spree um Bautzen) und Nisan (Elbtal
um Dresden) in der Markgrafschaft
Meißen. Die Grenze zwischen Nisan
und Budissin verlief westlich von Stol­
pen. Die Oberlausitz wurde dadurch
zu einem von Meißen weitgehend
unabhängigen Territorium im Drei­
ländereck mit Polen und Böhmen.

Mit der Unterstützung Wiprechts


erlangte Vratislav 1086 den böhmi­
schen Königsthron. Dies geschah
vor dem Hintergrund eines weiter
schwelenden Konflikts um die Mark
Meißen, wo sich Egbert II. im Bunde
mit den Sachsen erneut festgesetzt
hatte und drohte, ein gefährlicher
Feind des Kaisers zu werden. Vra­
tislav holte sich das ihm verliehene
Der heilige Benno missioniert die Land zunächst zurück. Auch Bischof
Sorben, Stefano Torelli, Hofkirche Benno von Meißen, der sich nach
Dresden; zu dem zwischen 1066 und seiner zwischenzeitlichen Absetzung
1106 amtierenden Bischof Benno durch Heinrich IV. dem vom Kaiser
pflegte Wiprecht ein gutes Verhält- eingesetzten Gegenpapst Clemens III.
nis, obwohl sie während des Inves- unterworfen hatte, wurde in den Kon­
titurstreits auf unterschiedlichen flikt hineingezogen. Benno gewährte
Seiten standen und Benno zeitweise dem heiligen Beneda aus Böhmen
seines Amtes enthoben war. So Zuflucht, nachdem Wiprecht dessen
beteiligte sich jener an der Exkom- Bitte um Fürsprache bei Vratislav ab­
munikation von König Heinrich IV. gelehnt hatte. Im Jahre 1088 ließ Vra­
und der Einsetzung des Gegenkö- tislav Beneda in Meißen ermorden.
nigs. Als Bischof von Meißen war Weil Egbert von Meißen nicht aufgab,
Benno auch für Wiprechts Besitz in verlor Vratislav 1089 nach Entscheid
Nisan und Budissin zuständig, Teile des Fürstengerichts Regensburg die
des Landes dazwischen besaß das Mark Meißen endgültig. Egbert selbst
Hochstift Meißen unter Benno. wurden alle Besitzungen entzogen,

127
Durch Heirat mit Juditha von Böhmen wurde Wiprecht von Groitzsch für
insgesamt fast vier Jahrzehnte zum Herrscher der Oberlausitz.

die Mark Meißen ging an seinen Erschließung eines großen Teils des
Schwager Heinrich I. (von Eilenburg) heutigen Sachsens ist sein größter,
aus dem Hause Wettin, der jedoch die bleibender Verdienst. So konnte er
Herrschaft Wiprechts über Budissin auch die unter Vratislav anfangs nur
und Nisan anerkennen musste. formal bestehende Herrschaft über
Nisan und Budissin festigen. Wi­
Wiprecht lud während seiner Herr­ precht residierte in Bautzen auf der
schaft fränkische und thüringische Ortenburg, in unmittelbarer Nähe
Bauern und Handwerker ein und siedelten sich Handwerker, aber auch
beförderte damit die Besiedlung der Ritter und Edelleute an (Burglehn).
östlichen Gebiete, so zunächst in der In dieser Zeit wurde die Böhmisch­
Pegauer Gegend, später auch in der Oberlausitzer Kaiserstraße angelegt
Oberlausitz. Unter Wiprecht sollte bzw. ausgebaut. Wegen der ständi­
sich die 150 Jahre zuvor erlahmte gen Auseinandersetzungen um den
Ostexpansion Deutschlands relativ Territorialbesitz war für Vratislav,
friedlich vollenden. Verkehrswege er­ Wiprecht und dessen Sohn die enge
schlossen das Land, gerodete Wälder Anbindung der Oberlausitz an Böh­
machten Platz für Dörfer und Acker­ men besonders wichtig. Es entstan­
land. Sein Beitrag zur systematischen den seinerzeit Waldhufendörfer, die

128
vermutlich heutigen Ortschaften wie Lossprechung vom Bann zu erlangen.
Oppach, Taubenheim, Spremberg Wegen der Zeitzer Kirchenschändung
und Ebersbach entsprachen, auch veranlasste ihn Papst Urban II., nach
wenn diese erst später urkundlich Santiago de Compostella an das Grab
ersterwähnt wurden. Eine massenhaf­ des Apostels Jakobus, des Namens­
te Zuwanderung in die Oberlausitz patrons der zerstörten Kirche, zu
erfolgte aber erst nach Wiprechts wallfahren. Auf Verlangen des Papstes
Tod und dauerte bis in das folgende stiftete Wiprecht auch das 1096
Jahrhundert an. geweihte Kloster Pegau. Das Kloster
und die Burg Groitzsch entwickelten
In zahlreichen Fehden festigte Wi­ sich zu Zentren der Christianisierung
precht seine Herrschaft. Er ging dabei der Sorben. Als erstes Kloster östlich
äußerst brutal vor. In Zeitz verfolgte der Saale besaß Pegau zudem eine
er 1089 seine Feinde Vicelin von erhebliche Bedeutung als kulturelle
Profen und Hageno von Tubichin, die Institution mit Schule und Bibliothek.
ihn seinerzeit aus Groitzsch vertrie­
ben hatten. Sie standen inzwischen in Der Kriegsheld Wiprecht von
Verbindung mit den Bischöfen von Groitzsch erwies sich als Berater des
Merseburg und Naumburg­Zeitz, um böhmischen Herrscherhauses zu­
ihren Machtanspruch durchzusetzen. nehmend auch als vorausdenkender
Wiprecht tötete Videlin und 17 Mann. Staatsmann. Nach Vratislavs Tod 1092
Weil Hageno in der Jakobskirche folgte diesem zunächst ein Bruder,
Zeitz Zuflucht gefunden hatte, ließ dann sein Sohn Břetislav II., ohne je­
er die Kirche abbrennen und dem doch den Königstitel wieder erlangen
Gegner beide Augen ausstechen. zu können. Wiprecht war an Kultur
Gegen solch barbarisches Tun, aber und der Verbreitung des Christen­
auch gegen Verschwendungssucht tums viel gelegen. Er ließ Kirchen und
und Machtgier, wie sie Heinrich IV. weitere Klöster wie in Lausigk, das er
nachgesagt wurden, richtete sich die dem päpstlichen Stuhl unmittelbar
Propagierung sittlicher Werte durch unterstellte, und Reinersdorf errich­
die Papstkirche, die zunehmende ten. Mit seiner wachsenden Religio­
Wirkung erzielte. Frömmigkeit und sität entfremdete sich Wiprecht von
Buße als Voraussetzung des ewigen Heinrich IV. Er schloss sich dessen
Seelenheils bestimmten das Denken Sohn Heinrich V. im Kampf gegen
auch vieler weltlicher Herrscher zur­ den erneut gebannten Vater an. Der
zeit der 1096 beginnenden Kreuzzüge. Sohn hatte erkannt, dass im Reich ein
Bischöfen der päpstlichen Partei in weitverbreiteter Wunsch nach Aus­
Magdeburg und Merseburg gelang söhnung mit dem Papst im Investitur­
es, Wiprecht 1090 zu einer Pilger­ streit bestand. Zudem fürchtete er um
fahrt nach Rom zu bewegen, um die seine Thronfolge, zu der es sowieso

129
nach Böhmen wieder an den Rhein
in die Hände des Sohnes führte. Als
Gesandter der Mainzer Fürsten­
versammlung und von Heinrich V.
erpresste Wiprecht vom gefangenen
Heinrich IV. zu Böckelheim 1105 die
Herausgabe der Reichsinsignien. Er
gehörte zu den Gesandten um den Bi­
schof von Konstanz, die Papst Pascha­
lis zur Kaiserkrönung von Heinrich V.
einladen sollten, wobei Wiprecht aber
unterwegs durch Kaisertreue festge­
setzt und erst nach Fürsprache des
Bischofs von Bamberg freigelassen
wurde. Mit dem Tod des Markgra­
fen der Nordmark, Lothar Udo III.,
erledigten sich die Markgrafschaften
Zeitz und Merseburg und Wiprecht
wurde zu einem bedeutenden Gegen­
gewicht gegen die dortigen Bischöfe.

Aber auch mit Heinrich V. kam es


zum Konflikt, als jener in böhmische
Mit seinem Verrat unterstützte Erbfolgestreitigkeiten gegen Wi–
Wiprecht von Groitzsch die Macht- prechts Verwandtschaft eingriff, um
übernahme durch Heinrich V. (im den deutschen Einfluss zu stärken. Es
Bild rechts bei der Übergabe der war ursprünglich vorgesehen, dass die
Reichsinsignien von seinem Vater, böhmische Regentschaft jeweils an
Heinrich IV.). Das Ereignis stellte den Ältesten aus der Familie um Vra­
einen Meilenstein beim Niedergang tislav und seine Brüder gehen sollte.
von Macht und Ansehen des mittel- Břetislav II., Sohn Vratislavs, gelang
alterlichen deutschen Kaiserreichs es dagegen, seinen Bruder Bořivoj II.
dar. als seinen Nachfolger durchzusetzen.
nur kommen konnte, weil sein Vater Dessen Macht wurde mehrfach durch
den ältesten Sohn wegen Parteinahme Nachfahren der Brüder Vratislavs in­
für den Papst abgesetzt hatte. Auch frage gestellt, die sich dafür mit Hein­
Heinrich V., seit 1099 König, verbün­ rich V. verbündeten. Wiprecht, der
dete sich mit der päpstlichen Partei mit Bořivoj schon in Italien gekämpft
gegen den Vater. Wiprecht war es, der hatte, sandte seinen Sohn Wiprecht
Heinrich IV. aus dem sicheren Geleit den Jüngeren zu Hilfe. Der kam aber

130
zusammen mit Bořivoj 1110 in Hein­
richs Gefangenschaft und konnte erst
1112 gegen Abtretung von Budissin
und Nisan und weiterer Besitztümer
befreit werden, mit denen Heinrich V.
seinen engen Gefolgsmann Hoyer von
Mansfeld, den er als Gegenkraft zu
den aufrührerischen Sachsen aufbau­
en wollte, belehnte. Der Vater Wi­
precht trat nun offen gegen Heinrich
V., seit 1111 Kaiser, auf. Der konnte
aber Wiprecht den Jüngeren auf seine
Seite ziehen, der sogar half, 1113
seinen Vater in Groitzsch zu belagern.
Nachdem dies fehlgeschlagen war
und der Kaiser daraufhin ihm die ver­ Wiprechts Herrschaft Groitzsch lag
sprochene Belehnung mit Naumburg an der Grenze der Marken Zeitz und
verweigerte, stellte er sich wieder an Merseburg. Die Mark Meißen grenz-
die Seite des Vaters. te im Süden an Böhmen, im Osten
an Polen und im Norden an die
Im Zusammenhang mit Erfolgestrei­ Niederlausitz (oben: F. W. Putzger‘s
tigkeiten brachen neue Konflikte der historischer Schul-Atlas, 1877). Zu
sächsischen Fürsten mit dem Kaiser­ Beginn von Wiprechts Herrschaft
haus aus, zudem war der Kaiser vom war dieses Territorium vorwiegend
Papst gebannt, weil auch Heinrich V. von Sorben, z. B. um Bautzen und
auf seinem Investiturrecht bestand. entlang der Elbe, besiedelt (s. un-
Während eines Gefechts in Warnstädt ten). Bis 1300 verzehnfachte sich die
im Jahre 1113 fiel Wiprecht, auf säch­ Bevölkerung. Wiprecht beherrschte
sischer Seite kämpfend, verwundet nicht das ganze Gebiet um Bautzen.
in die Gewalt des Grafen Hoyer von Teile davon gehörten dem Bischof
Mansfeld. Die Reichsstände in Würz­ von Meißen (Benno).
Schulatlas von
Lange u. Diercke.

131
Durch Heirat war Wiprecht von Groitzsch mit den Wettinern verwandt, die
ihrerseits aber den mächtigen (alt)-sächsischen Fürsten aus der antikaiserli-
chen Opposition näherstanden.

burg verurteilten ihn zum Tode. Der des Vaters. Der musste aber Groitzsch
Sohn rettete den Vater durch Überga­ und Leisnig erneut erobern, nachdem
be von Groitzsch und anderer Besit­ 1116 sein Sohn Wiprecht d.J. gestor­
zungen an den Kaiser. Danach muss­ ben war. Mit dem Kaiser söhnte er
ten sich Wiprechts Söhne einige Zeit sich danach wieder aus, Budissin und
als Raubritter durchs Leben schlagen. Nisan erhielt er um 1118 zurück. In
Wiprecht wurde auf der Reichsfeste den Besitz der ihm zugesprochenen
Trifels in Haft genommen. Der Kaiser Mark Niederlausitz gelangte er gegen
hatte gegen die sächsischen und thü­ Markgraf Heinrich II. jedoch nicht.
ringischen Fürsten gesiegt. Als er aber Rückhalt gewährten ihm Erzbischof
anlässlich seiner Vermählung 1114 Adelgot von Magdeburg, ein Sohn
Ludwig von Thüringen festnehmen von Wiprechts Schwester Gisela, des­
ließ, bildete sich ein neues Bündnis, sen Einsetzung Wiprecht seinerzeit
dem sich auch Wiprechts Söhne erfolgreich betrieben hatte, und auch
anschlossen. Wiprecht der Jüngere Adelgots Nachfolger ab 1119, Rüdiger
erschlug Hoyer am 11. Februar 1115 von Veltheim. So erhielt Wiprecht die
in der Schlacht am Welfsholz. Hein­ Burggrafschaft Magdeburg und die
rich V. verlor mit dieser Niederlage Vogtei über das Kloster zum Neuen
erheblich an Einfluss. Im weiteren Werke in Halle. 1121 war es vermut­
Verlauf eroberten Wiprechts Söhne lich Heinrich V., der an der Grenze
Groitzsch und erzwangen mit der Be­ zwischen Nisan und Budissin in
lagerung Naumburgs die Freilassung Stolpen eine Burg bauen ließ.

132
Mit der Aussöhnung von Kaisertum Während eines Aufenthalts in seinem
und Papst 1122 im Wormser Konkor­ Kloster in Halle fing das Stroh von
dat erledigte sich ein lang anhaltender Wiprechts Lager Feuer. Er trat es mit
Loyalitätskonflikt für Wiprecht. Seine bloßen Füßen aus, verletzte sich aber
Tochter Bertha war mit einem Bruder so schwer, dass er kurz danach an den
von Konrad dem Großen verheira­ Folgen im Kloster Pegau verstarb. Die
tet. Auch Wiprechts zweite Ehefrau unrechtmäßige Aneignung der Mark
entstammte dem Hause Wettin. Die Meißen durch Konrad den Großen
verwandtschaftlichen Bindungen wurde 1127 durch den inzwischen
führten zu Erbfolgestreitigkeiten mit zum König gekrönten Lothar endgül­
den Wettinern. Als Markgraf Hein­ tig anerkannt, die Niederlausitz konn­
rich II. 1123 starb, verlieh Kaiser te erst Wiprechts Sohn Heinrich 1131
Heinrich V. Wiprecht die Markgraf­ von Albrecht zurückerlangen. Konrad
schaft Meißen und erneut die Nie­ wurde so zum Stammvater des sächsi­
derlausitz. Konrad der Große, ein schen Kurfürsten­ und Königshauses.
Cousin Heinrich II., der schon dessen Nach dem Tod des kinderlosen Hein­
Rechtmäßigkeit angezweifelt und sich rich kamen Wiprechts Besitzungen
selbst als legitimen Nachfolger von zumeist an die Wettiner. Sie vollende­
Heinrich I. angesehen hatte, besetzte ten, was Wiprecht von Groitzsch von
die Mark Meißen, bevor Wiprecht Thüringen bis zur Oberlausitz begon­
sein Amt antreten konnte. Für Kon­ nen hatte, und schufen ein großes,
rad ergriff Stammherzog Lothar von einheitliches Herrschaftsgebiet.
Sachsen Partei. Einerseits war er mit
diesem verschwägert und es lag damit Quellen: Meyers Großes Konversations­
in Lothars eigenem Interesse, ein Lexikon, Bd. 20, Leipzig 1909, S. 681–682;
Erbrecht der Wettiner durchzusetzen. Brockhaus Bilder­Conversations­Lexikon, Bd. 4,
Leipzig 1841, S. 741; Ernst Bernheim: „Groitsch,
Außerdem entzündete sich bei dieser Wiprecht von, der Aeltere“. Allgemeine Deut­
Gelegenheit erneut der Streit mit sche Biographie, Bd. 9, 1879, S. 711–713; Ro­
Kaiser Heinrich V., zu dessen wich­ land Paeßler: „Die Erbrichter in der Umgebung
tigsten Opponenten er gehörte. Im von Bischofswerda“. In: Mathias Hüsni (Hrsg.):
Schiebocker Landstreicher, H. 3, Burkau 2008,
Bunde mit Albrecht von Ballenstädt S. 8–16; www.genealogie­mittelalter.de; T. Fla­
(„der Bär“) vertrieben sie Wiprecht, the: „Wiprecht von Groitzsch“. In: Archiv für die
ohne dass die vom Kaiser zu dessen sächsische Geschichte, Bd. 3, H. 1, Leipzig 1864,
S. 82–127; www.genealogie­93­generationen.eu;
Schutz aufgebotenen Herzöge Vladis­
Alexander Dinter: „Wer war eigentlich Wiprecht
lav I. von Böhmen, ein Sohn Vratis­ von Groitzsch?“, 2011; www.bautzenweb.de;
lavs, und Otto von Mähren ernsthaft Johann Gottfried Theodor Sintenis: „Die Ober­
in den Kampf eingegriffen hätten. lausitz: ein belehrendes und unterhaltendes Le­
sebuch“. 1812; Joachim Bahlcke: „Geschichte der
Wiprecht zog sich in seinen letzten Oberlausitz: Herrschaft, Gesellschaft und Kultur
Jahren aus der Politik zurück und vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhun­
widmete sich verstärkt der Religion. derts“. Leipziger Universitätsverlag, 2001

133
Eduard Heiden, Deutsches Museum München, Archiv (PT Krause-Album
3698), Fotograf: Friedrich Robert Süss, Bautzen.

134
Heiden, Joachim Christian Eduard
Professor, Agrarwissenschaftler in Pommritz
08.02.1835 Greifswald – 20.12.1888 Pommritz

G: Maria (?, bei der Taufe von Heidens Sohn 1871 unverheiratete Zeugin aus Greifswald); E:
1868 Hochkirch, Alma geb. Michels, aus Weitenhagen bei Greifswald, bis ca. 1927 als Witwe in
Greifswald ansässig; K: Alma Louise Emma Johanne (*11.6.1869 Pommritz, um 1930 unver­
heiratet in Greifswald ansässig), Eduard Rudolf Erwin Alfred Ludwig (31.10.1871–13.12.1871),
Martha Louise Olga Bertha (3.7.1875–18.8.1875), Albert Eduard Rudolf Prosper (25.6.1877–
22.7.1877)

Heiden wurde in Greifswald zunächst re in ihren Beziehungen zur Land­


privat unterrichtet, besuchte die wirtschaft“ seine erste bedeutende
Bürgerschule und ab 1846 das Gym­ Schrift. Die Studenten in Eldena und
nasium. Ab 1854 studierte er Staats­ Waldau baten ihn, die Vorlesungen
wissenschaften und Naturwissen­ zur Düngerlehre als Lehrbuch zu pub­
schaft. Botanik lehrte in Greifswald lizieren, dessen Erscheinen sich durch
Carl Jessen. Besonders interessierte private Probleme und politische
sich Heiden für die Agrikulturchemie. Wirrnisse jedoch verzögerte. Um das
1855 nahm er eine Tätigkeit an der Buch fertigzustellen, nahm Heiden
angegliederten Landwirtschaftlichen 1867 Urlaub, statt nach der Auflö­
Akademie Eldena auf und ab 1857 sung von Waldau eine Anstellung
arbeitete er als Assistent am chemi­ in Berlin anzunehmen. Die Bände 1
schen Laboratorium der Akademie und 2 erschienen in der 1. Auflage
unter Eduard Baumstark. In der Tra­ 1866/1868 in Stuttgart, in der 2. Auf­
dition des ersten Akademiedirektors, lage 1879/1887 in Hannover. Heiden
Friedrich Gottlob Schulze, bildeten baute sie wie seine zweisemestrige
Lehre und Praxis eine Einheit. Eldena Vorlesung auf: Der erste, theoretische
genoss in der Fachwelt einen ausge­ Teil behandelte das „Bedürfnis der
zeichneten Ruf. 1858 erhielt Heiden Pflanze“, der zweite, praktische Teil
die Lehrberechtigung als Privatdozent die „Befriedigung desselben“.
im Fach Agrikulturchemie. Mit der
Dissertation „Über das Keimen der Am 25. Januar 1868 trat Heiden sein
Gerste“ erwarb er 1859 den Titel Dr. Amt als Vorstand der landwirtschaft­
phil. Auch während seiner Assis­ lichen Versuchsstation in Pommritz
tenzzeit am Laboratorium der Land­ an. Nach dem Weggang von Julius
wirtschaftlichen Akademie Waldau/ Lehmann im Jahr zuvor hatte zu­
Ostpreußen ab 1862 hielt Heiden nächst Cuno Frisch die Leitung über­
Vorlesungen über Agrikulturchemie. nommen, der jedoch nach wenigen
1864 erschien mit „Die Phosphorsäu­ Monaten verstarb. Pommritz bildete

135
unter den deutschen Versuchsstati­ te auch die Eignung verschiedener
onen insofern eine Ausnahme, dass Guano­Dünger. Anbauversuche für
neben angewandter Forschung auch Getreide­ und Gemüsesorten wurden
Grundlagenuntersuchungen durch­ im Hinblick auf deren Eignung für
geführt wurden. Heiden setzte unter die Oberlausitz durchgeführt. Zudem
Lehmann begonnene Arbeiten fort. wurde die Kontrolle von Dünge­ und
Er verglich wasserlösliche und ­unlös­ Futtermitteln ausgebaut. Heiden zähl­
liche Phosphorsäure hinsichtlich der te zu den führenden Vertretern der
Fruchtbarkeit der Böden sowie die deutschen Agrikulturchemie, die bis
Wirkung des Zusatzes stickstoffhalti­ zur Umstrukturierung unter Georg
ger Verbindungen bzw. humusbilden­ Derlitzki Leitthema in Pommritz
der Substanzen und widerlegte dabei blieb.
Justus von Liebig, indem er den Wert
des Humus für die landwirtschaftliche Heiden setzte die grundlegenden
Pflanzenproduktion nachwies. Schon Untersuchungen seines Vorgängers
früh entwickelte Heiden in Pommritz Julius Lehmann zur Ernährung von
ein neues Arbeitskonzept. Zunächst Schweinen fort und veröffentlichte
erfolgte die strikte Trennung vom Rit­ 1879 die Ergebnisse langjähriger
tergut, das gewinnorientiert arbeiten Versuche in „Untersuchungen über
sollte. Die Versuchsstation erhielt 2,5 die zweckmäßigste Ernährung des
Hektar Land pachtfrei und konnte im Schweins“. Er analysierte die Wir­
Stall acht Schweine unterbringen. Die kung verschiedener Futtersorten (u.
Räumlichkeiten und technische Aus­ a. mehrerer Getreidearten, Kartoffeln
stattung der Station wurden erweitert und saurer Milch) für unterschiedli­
und Heiden bekam einen zweiten che Altersklassen und bewertete die
Assistenten. Sein Hauptaugenmerk Wirtschaftlichkeit des Futters. Daraus
galt der Verbesserung der landwirt­ wurden Schlussfolgerungen für die
schaftlichen Erträge. Er untersuchte Rasseauswahl und die Zusammenset­
langjährig Größe und Zusammenset­ zung von Futtermischungen gezogen.
zung der Wurzeln und des Oberteils Ähnliche Untersuchungen führte er
verschiedener Kulturpflanzen (Getrei­ auch für andere Haustierarten durch.
de, Kartoffeln, Klee) in unterschied­ Heiden war der Erste, der im Rahmen
lichen Entwicklungsstadien, um von Fütterungsversuchen die Mine­
Rückschlüsse auf die Nährstoffbilanz ralstoffbilanz (Kalzium, Phosphor)
zu ziehen. Heiden führte Düngungs­ wissenschaftlich untersuchte, und
und Fruchtfolgeversuche durch, um wird international auch heute noch
„rohen Boden“ fruchtbar zu machen. zu jenen Wissenschaftlern gezählt, die
Er propagierte die Verwertung städ­ sich besonders um die Grundlagen­
tischer Fäkalien zur Erhöhung der forschung zur Ernährung von Schwei­
Bodenfruchtbarkeit und untersuch­ nen verdient gemacht haben.

136
1871 wurde Heiden zum Professor Quellen: Bruno Steglich: „Erinnerungen aus
ernannt, 1873 konnte er sein Lehr­ meinem Leben“. Dresden, unveröffentlicht,
1927; Jens Klemme: „Entwicklung der Er­
buch mit dem 3. Band, „Leitfaden nährungsforschung bei Wiederkäuern im 19.
der gesamten Düngerlehre und Statik Jahrhundert – Fütterungsversuche, Energie­
des Landbaues“, vervollständigen. haushalt und Eiweißstoffwechsel“. Dissertation
Sein besonderes Anliegen bestand Tierärztliche Hochschule Hannover, 2003;
Tina König: „Entwicklung der Ernährungs­
darin, den Landwirten wissenschaft­
forschung beim Schwein (bis 1930)“. Disser­
liche Erkenntnisse in verständlicher tation Tierärztliche Hochschule Hannover,
Form nahe zu bringen. 1875 erschien 2004; Theophil Gerber: „Persönlichkeiten aus
Heidens Volksbuch „Die Düngerlehre Land­ und Forstwirtschaft, Gartenbau und
in populärwissenschaftlicher Dar­ Veterinärmedizin“. Bd. 1, NORA Verlags­
gemeinschaft Dyck & Westerheide, 2004,
stellung“. Viele seiner Bücher, so zur S. 276; Wolfgang Böhm: „Biographisches
Ernährung von Schweinen und zur Handbuch zur Geschichte des Pflanzenbaus“.
Fruchtbarmachung von Boden, wur­ K.G. Saur München, 1997, S. 105–106; Gisela
den von Cohen & Risch in Hannover Stressmann: „Zur Entwicklung der Auffas­
sungen über die Bedeutung des Humus für
verlegt. Zu Heidens Hospitanten bzw.
die Steigerung der Bodenfruchtbarkeit in
Assistenten an der Landwirtschafts­ der deutschen landwirtschaftlichen Literatur
schule Bautzen gehörte 1877 Bruno des 19. Jahrhundert“. Tagungsbericht Akad.
Steglich, dem er erste Grundlagen Landwirt.­Wiss. DDR, 173, Bd. 5, 1979, S.
im agrikulturchemischen und pflan­ 41– 45; Register der Bestattungen und Taufen,
Kirchgemeinde Hochkirch; Friedrich Nobbe:
zenphysiologischen Versuchswesen „Eduard Heiden“. Die landwirthschaftlichen
vermittelte. Heidens Pommritzer Versuchs­Stationen, Bd. 36, 1889, S. 74–79;
Assistent Ernst Güntz aus Malschwitz Jana Fietz: „Nordische Studenten an der
leitete später die Versuchsstation Universität Greifswald in der Zeit von 1815 bis
1933“. Beiträge zur Geschichte der Universität
Danzig. Seine Ergebnisse publizier­
Greifswald, Bd. 5, Franz Steiner Verlag, 2004;
te Heiden in den „Mittheilungen Eduard Heiden: „Denkschrift zur Feier des
der Versuchsstation Pommritz“, in fünfundzwanzigjährigen Bestehens der agri­
den Jahresschriften „Die landwirth­ cultur­chemischen Versuchsstation Pomm­
schaftlichen Versuchs­Stationen“, im ritz“; Friedrich Nobbe: „Statistische Revue
über den Bestand des land­ und forstwirth­
„Chemischen Zentralblatt“, in den schaftlichen Versuchswesens nach 25­jähriger
„Jahresberichten über die Fortschritte Entwicklung“. Die landwirthschaftlichen Ver­
der Chemie der Pflanze“, in „Fühling‘s suchsstationen, Schönfeld, 1877, S. 176–195;
landwirthschaftlicher Zeitung“ und Brockhaus‘ Konversationslexikon, Leipzig,
Berlin und Wien, 14. Aufl., 1894–1896; Bruno
im „Sächsischen Amtsblatt“. Zum 25­
Schöne (Bearb.): „Die Sächsische Land­
jährigen Jubiläum des landwirtschaft­ wirtschaft: ihre Entwickelung bis zum Jahre
lichen Versuchswesens in der Ober­ 1925, sowie Einrichtungen und Tätigkeit des
lausitz im Jahre 1882 wurde Heiden Landeskulturrats Sachsen zu Dresden“. Verlag
mit dem Ritterkreuz des Sächsischen des Landeskulturrates Sachsen, 1925, 517 S.;
Adressbücher Greifswald
Albrechts­Ordens erster Klasse ausge­
zeichnet.

137
Robert Heller: Stahlstich von Lazarus Sichling (um 1850, Stadtgeschicht-
liches Museum Leipzig). Die Universitätsbibliothek Hamburg bewahrt elf
Briefe und ein Gedicht für die Mutter auf, die Nationalbibliothek Wien
neben dem Stich von Sichling eine Lithografie von Otto Speckter und Karl
Niedorf sowie zwei Theaterstücke.

138
Heller, Wilhelm Robert
Dr. phil., Schriftsteller und Journalist in Leipzig, Frankfurt und Hamburg
24.11.1812 Großdrebnitz – 07.05.1871 Hamburg

V: August Wilhelm (*1786 in Roßwein als Sohn des Lehrers an der Mädchenschule Johann
Christoph Heller, †1.8.1838 Wilschdorf), Lehrer in Großdrebnitz und Wilschdorf bei Stolpen;
M: Johanne Christiane Friederike geb. Schmidt (* in Dresden, Tochter des Händlers Carl
Schmidt, † Februar 1856 Dresden); G: Woldemar (*24.11.1814 Großdrebnitz, †18.2.1856
Dresden, Schüler von Friedrich Wieck, Musiklehrer, Pianist und Komponist), Julius (*14.7.1816
Großdrebnitz), Minna (*17.11.1822 Großdrebnitz, verh. Fiala); E: (1) mit einer Pfarrerstochter
in Leipzig, Scheidung; (2) Ida geb. von Destinon (*17.8.1848 Grönwohld, †1892, ihr Vater Carl
von Destinon Besitzer von Gut Horst in Stolpe am See, 2. Ehe mit Paul Frey)

Heller wuchs in Großdrebnitz auf, wo das Gymnasium. Über die Zeit am


sein Vater von 1811 bis 1823 Lehrer Gymnasium bei Karl Gottfried
war und sich große Verdienste um das Siebelis berichtete er 1844 in „Rosen,
Schulwesen erwarb (Einführung einer eine Zeitschrift für die gebildete Welt“
zweiten Schulklasse, Teilnahmepflicht unter dem Titel „Erinnerungen eines
am Rechen­ und Schreibunterricht). Bautzner Schülers“. Heller selbst galt
Die Familie stand in Verbindung mit nach den Erinnerungen von Ernst
den lokalen Erbrichterfamilien Klahre Theodor Stöckhardt als extra­
und Gottlöber, die zu den Taufpaten vaganter, zu Späßen aufgelegter und
von Robert Hellers Geschwistern ge­ durchaus beliebter Schüler.
hörten. Prägend für seine frühe Kind­
heit war der Befreiungskrieg gegen Nach dem Abschluss eines Jurastu­
Napoleon, in dessen Verlauf es auch diums seit 1832 in Leipzig trat Heller
zu Gefechten zwischen französischen 1835 eine Stelle als Accessist beim
und russischen Truppen in Großdreb­ dortigen Kriminalgericht an. Der
nitz kam. Viele Einwohner des Dorfes große Erfolg seiner ersten Novelle,
flohen, während der Einquartierung „Die Eroberung von Jerusalem“, in
von Soldaten kam es zu Zerstörungen der von Theodor Hell herausgegebe­
und Plünderungen. Der Franzose nen Dresdner Abendzeitung im Jahre
Francois Basile Azémar fiel am 13. 1836 ermutigte ihn, den Staatsdienst
September 1813 in Großdrebnitz. Das zu quittieren. Es entstand das geflü­
nahe Bischofswerda war abgebrannt gelte Wort von „Hell und Heller“ für
und wurde von Gottlob Friedrich die Abendzeitung, die unter Hell, der
Thormeyer wieder aufgebaut. Seine führende Funktionen in Hofthea­
Jugendzeit verlebte Heller in Wilsch­ ter, Hofkapelle und Kunstakademie
dorf bei Stolpen. In Dresden besuchte inne hatte, eher höfisch­konservativ
er die Kreuzschule und in Bautzen ausgerichtet war. Heller blieb zwar in

139
Leipzig als Notar gemeldet, er wid­ Blum gründete er 1842 in Leipzig den
mete sich aber bald ausschließlich der Literatenverein. Bei Innenminister
Schriftstellerei. Seit dem Studium war Eduard Gottlob von Nostitz
er mit Robert Schmieder befreundet, und Jänkendorf intervenierten sie
der die Abendzeitung ab 1843 heraus­ vergeblich für Erleichterungen bei der
gab. In Leipzig hatte er vermutlich mit Zensur. Gemeinsam mit Blum schloss
seinem Bruder Woldemar Heller sich Heller dem Freundeskreis um
Kontakt zu dem musikalischen Kreis Johann Peter Lyser an, von dem er
um Friedrich Wieck. In den 1830er sich jedoch später entfremdete. Der
Jahren promovierte Robert Heller 1848 bei Wien hingerichtete Blum sah
zum Dr. phil. Heller immer skeptisch – er war ihm
zu konservativ. Noch 1843 beklagte
Der eigentlich eher unpolitische sich jener bei Schmieder über die
Heller kam um 1840 in Leipzig mit „Tyrannis der Gesinnungsmenschen“
Heinrich Laube zusammen, dem und ihren Liberalismus.
er zeitlebens freundschaftlich ver­
bunden blieb. So fand er Anschluss In Leipzig nahm Heller als Autor und
an die literarische Bewegung libe­ Herausgeber mehrerer Zeitungen,
raler Dichter des Vormärz „Junges Zeitschriften und Taschenbücher
Deutschland“. 1840 beteiligte sich führend am literarischen Leben teil.
Dr. Robert Heller an „Gutenbergs­ Er schrieb für die von Karl Her­
Album“ von Johann Heinrich Meyer loßsohn herausgegebene Zeitschrift
aus Braunschweig zur 400­Jahr­Feier „Der Komet“, die zu den einfluss­
der Erfindung des Buchdrucks. Heller reichsten Blättern des Vormärz zählte,
verglich den Buchdruck mit der 1835 einen kritischen Beitrag über
seinerzeit aufstrebenden Eisenbahn Heinrich Heine. 1838 gründete er
und schrieb: „So hoch wir den Geist als Ergänzung zum gleichnamigen
über den Leib stellen, so hoch müssen Taschenbuch die Zeitschrift „Rosen“,
wir den deutschen Gutenberg über die bei Friedrich August Leo sechs
den Schotten Watt stellen: denn die mal wöchentlich erschien und in der
Buchdruckerkunst ist die Eisenbahn Neuigkeiten aus Literatur und Kunst
des Gedankens.“ Ab 1840 bereite­ besprochen wurden. Diese Zeitschrift
te er mit Robert Blum und Gustav spielte vermutlich eine wesentliche
Kühne die Gründung des Leipzi­ Rolle, dass sich Heller als Schriftstel­
ger „Schiller­Vereins“ vor, die 1842 ler etablieren konnte, da er durch sie
erfolgte. Später hielt er hier mehrfach regelmäßige Einnahmen erzielte. Als
Vorträge. Mit Laube hatte Heller Herausgeber der „Rosen“ hatte er
Kontakt zu deutschen Schriftstellern, einen entscheidenden Anteil am Be­
die sich zwischen 1833 und 1845 im ginn der schriftstellerischen Laufbahn
Schweizer Exil aufhielten. Mit Robert von Friedrich Gerstäcker, indem er

140
die von dessen Mutter eingereichten Heller war Mitglied der „Deutschen
Tagebuchaufzeichnungen aus Ame­ Gesellschaft zur Erforschung Vater­
rika publizierte. 1845 übergab Heller ländischer Sprache und Altertümer
seine Zeitschrift an George Hesekiel. in Leipzig“. Schon in Leipzig rühmte
In dem von ihm 1842 gegründeten man seine exzellenten Kontakte in
Almanach „Perlen“, der von Reclam der Kulturszene. Viele seiner Kollegen
in Leipzig und später der Friedrich besuchten ihn und schlossen dabei
Korn‘schen Buchhandlung Nürnberg wiederum neue Bekanntschaften. Er
verlegt wurde, publizierte Heller vor­ engagierte sich 1842 für die in Leipzig
rangig eigene Novellen. Hier erschie­ erschienenen „Leipziger Tage und
nen auch Werke, die sich vermutlich Nächte“ des in Not geratenen Gus­
auf seinen Erlebnissen in Kindheit tav Theodor Drobisch und hatte mit
und Jugend gründeten, so 1845 „Un­ seiner ersten Frau Kontakt zu dem
ter Bauern“ und 1847 „Die Erbtochter in jenem Jahr nach Leipzig gekom­
von Lauterbach“. Heller leitete die menen Eduard Maria Oettinger.
„Perlen“ bis 1848, danach übernahm Heller galt als Lebemann, vor allem
Ludwig Bechstein. Ab 1846 gab Heller dem Essen und Trinken zugeneigt,
die „Illustrierte Jugendzeitung“ bei der sehr gerne ganze Gesellschaften
Brockhaus & Avenarius heraus. Nach­ geistreich unterhielt, wie sich Otto
dem er sich erfolgreich einen Namen von Corvin erinnerte. Er trennte sich
als Belletrist erworben hatte, wagte von seiner Frau, weil sie ihm untreu
Heller 1845 den Versuch, ein Stück war. Statt ihr die juristische Schuld
auf die Theaterbühne zu bringen. am Zerbrechen der Ehe zuzuweisen,
„Der letzte Wille“ erwies sich aber als was für sie erhebliche Folgen gehabt
großer Misserfolg, wobei das Pfeif­ hätte, verließ er sie und nahm dafür
konzert von Gegnern schon vorher vier Wochen Gefängnis in Kauf, als
verabredet worden war. Allerdings sie ihn verklagte.
gab Heller auch selbst zu, dass sein
Werk technisch nicht den Anforde­ Im Zusammenhang mit der Deut­
rungen eines Bühnenstücks entspro­ schen Revolution 1848/49 folgte
chen hatte, sondern eher romanhaft Heller als Berichterstatter aus der
aufgebaut war. Paulskirche dem Abgeordneten Laube
nach Frankfurt. Er arbeitete dort in
Hellers Patriotismus trug teilweise na­ der Nachfolge von Georg Gottfried
tionalistische Züge. Um 1848 gehörte Gervinus bis 1850 als Redakteur bei
er in Leipzig zu den Mitbegründern der „Deutschen Zeitung“. Robert Hel­
eines antislawischen Vereins, der das ler war der Autor der zunächst ano­
„deutsche Element“ in Polen, Böh­ nym erschienenen „Brustbilder aus
men und Mähren stärken wollte, und der Paulskirche“. Dieses Werk wurde
er teilte auch antijüdische Vorurteile. vom Publikum mit großem Interesse

141
aufgenommen und stellt heute ein Album“ von Hermann Josef Landau,
bedeutendes Zeitdokument dar. Es Prag 1872). 1860 beurteilte Heller als
enthält biografische Umrisse der Mit­ erster Kritiker wohlwollend Johan­
glieder der deutschen konstituieren­ nes Brahms in dessen Heimatstadt
den Nationalversammlung. Das Buch Hamburg. Bekannt geworden ist er
schließt mit den Worten: „Der große in dieser Zeit aber auch wegen sehr
einige Gott verleihe uns seinen Segen harscher Kritiken, beispielsweise an
zu einem einigen Vaterlande.“ Aus den Schauspielern Emil Devrient und
der Sicht Hellers und seiner liberalen Bogumil Dawison. 1861 wurde Heller
Gesinnungsgenossen war damit die nach einer solchen Kritik von Dawi­
Einführung einer konstitutionellen son beleidigt, den er daraufhin zum
Monarchie gemeint. Mit der fehlge­ Duell forderte, worauf sich Dawison
schlagenen Revolution verschwanden aber nicht einließ. Diese Vorkomm­
auch viele der politisch­literarischen nisse belasteten das Verhältnis zu
Magazine, für die Heller so lange Karl Gutzkow zusätzlich, der ehemals
erfolgreich gearbeitet hatte. ebenfalls zum Umfeld von Heinrich
Laube gehört hatte und mit beiden
Nach einer Reise in die Schweiz und Schauspielern befreundet war. Heller
das Rhein­ und Moseltal sowie einer fand in Hamburg guten Kontakt zur
kurzen Zwischenstation in Berlin als Bürgerschaft, war wegen seines Esp­
Kammerreferent bei der „Constitutio­ rits ein gern gesehener Gesellschafter
nellen Club­Zeitung“ wechselte Heller und mit den niederdeutschen Dich­
1851 nach Hamburg. Er arbeitete für tern und Schriftstellern Fritz Reuter
die „Hamburger Nachrichten“ und und Klaus Groth freundschaftlich
galt als der führende Literatur­, Thea­ verbunden. Sein Anliegen, Reuter ins
ter­ und Musikkritiker der Stadt, sein Hochdeutsche zu übersetzen, lehnte
Urteil als „letztes Wort“. Zu Hellers der Autor 1862 jedoch ab. 1865 wurde
weniger bekannten Projekten jener Heller für seine Verdienste um die
Zeit zählt ein Almanach mit Georg „Deutsche Schiller­Stiftung“ mit dem
Gottfried Gervinus, Carl Welcker u. a. Ritterkreuz 1. Klasse des weimari­
über „alle weisen Herrscher der Welt“ schen Falkenordens ausgezeichnet.
(1854). Heller gehörte 1855 zu den
Gründern des Hamburger Zweig­ Heller gehörte zu den beliebtesten
vereins der „Deutschen Schiller­Stif­ Romanschriftstellern des 19. Jahrhun­
tung“. 1859 bearbeitete er ein melo­ derts. Seine Werke, die mehrheitlich
dramatisches Festspiel nach Ludwig während der Leipziger Jahre ent­
van Beethoven, op. 114, „Die Ruinen standen sind, als die Schriftstellerei
von Athen“, für den „Philharmoni­ entscheidend zu seinem Lebensun­
schen Verein Hamburg“ (abgedruckt terhalt beitragen musste, zeugen von
im „Ersten poetischen Beethoven­ einem umfangreichen historischen

142
Wissen. Sie waren angesehen wegen Amerika thematisierte. Internatio­
ihres Spannungs­ und Erfindungs­ nal bekannt wurde „Der Prinz von
reichtums sowie ihrer erzählerischen Oranien“ von 1843 über Wilhelm I.
Ästhetik und erreichten Leser, die von Oranien, den die zeitgenössische
sich von Literatur gleichermaßen Un­ Kritik als „lebensvolles Gemälde aus
terhaltung und Bildung erwarteten. dem niederländischen Freiheitskrieg“
Vielfach erschienen sie in mehreren gegen Spanien bezeichnete. Es betraf
Bänden bzw. als Buchserie. In sei­ jene Zeit im 16. Jahrhundert, als
nem ersten bekannten Roman, „Der die Familie Stöckhardt Flandern
Wende“ von 1837, erzählte Heller verließ und nach Sachsen kam. Der
aus der Zeit der deutschen Ostsied­ Roman „Die Kaiserlichen in Sach­
lung die fiktive Liebesgeschichte vom sen“ von 1845 befasste sich mit dem
Sohn eines sächsischen Markgrafen, Siebenjährigen Krieg von 1756 bis
der in der Gefangenschaft des Wen­ 1763. Hervorhebenswert ist, dass erst
denherzogs Boguslav in der Nähe mit Hellers gleichnamigen Roman
von Bautzen dessen Tochter kennen­ von 1848 das öffentliche Interesse am
lernte. Im selben Jahr erschien der Bauernführer Florian Geyer erwachte.
erste Teil einer dreibändigen Novel­ 1859 schrieb Heller während seiner
lensammlung. Wiederum stand eine Hamburger Zeit „Das Geheimnis
Liebesgeschichte vor einem histori­ der Mutter“, entstanden anlässlich
schen Hintergrund im Mittelpunkt; eines Besuchs bei Heinrich Laube,
sie handelte von einem Römer und inzwischen künstlerischer Leiter
einer Jüdin während der „Eroberung des Burgtheaters in Wien, und der
von Jerusalem“ durch Kaiser Titus. österreichischen Aristokratie gewid­
„Der Schleichhändler“ von 1838 met. In „Hohe Freunde“ (1862), einer
behandelte auch Elektoralschafe. In Novelle aus dem klassischen Weimar,
Rennersdorf bei Stolpen, zwischen schilderte der Autor den positiven
Großdrebnitz und Wilschdorf gele­ Einfluss Goethes auf Herzog Carl Au­
gen, befand sich zu jener Zeit die von gust. Auch dieses Werk beurteilte die
Johann Gottfried Nake geleitete Kritik seinerzeit sehr wohlwollend. In
sächsische Stammzuchtstelle. In „Das „Primadonna“ (1871) wurde die Zeit
schwarze Bret“ erinnerte sich Heller von Kurfürst Johann Georg III. von
an sein Studium in Leipzig und die Sachsen lebendig. Hellers Novellen
Funktion der schwarzen Bretter als und Erzählungen fanden wiederholt
Informations­ und Kommunikati­ Aufnahme in Sammelwerke beliebter
onsmittelpunkt. In den „Novellen aus Autoren.
dem Süden“ von 1841 verarbeitete
er seine Italienreise. Es folgte „Eine In Erinnerung geblieben ist auch
neue Welt“, worin der Autor das manche Eigenwilligkeit Hellers. Er
seinerzeit immer populärer werdende hatte in Hamburg in zweiter Ehe die

143
Patriziertochter Ida von Destinon stellerlexikons für Hamburg im Jahre
geheiratet. Später lebte er von ihr 1857.
getrennt in einem Hotel zusammen
mit seinem Kanarienvogel, den er wie Quellen: Tauf­ und Traubücher der Martinskirche
einen Freund behandelte und des­ Großdrebnitz; Kneschke: „Robert Heller“. Allge­
sen Tod durch einen Unfall er kaum meine Deutsche Biographie, Bd. 11, S. 695–697;
Universität Innsbruck, Institut für Germanistik,
verwinden konnte. Heinrich Laube „Projekt Historischer Roman“, 1991–1997; Bruno
gab im Gedenken an Robert Heller Barthel: „Altes und Neues aus Groß­ und Klein­
dessen „Nachgelassene Erzählun­ drebnitz“. Friedrich May Bischofswerda, 1907;
Richard Garbe: „Vorarbeiten für eine Dorfchronik
gen“ heraus. Hellers Aufzeichnungen von Großdrebnitz“. Unsere Heimat, Beilage zum
fanden auch Eingang in Vorarbeiten Sächsischen Erzähler, 11.4./18.4.1938; Universi­
für eine Großdrebnitzer Dorfchronik, tätsbibliothek Hamburg, Schriftensammlung; J.P.
Jordan, J.E. Schmaler: „Jahrbücher für slawische
über die Richard Garbe berichtete. Literatur, Kunst, Wissenschaft“. Leipzig und
Seine sterblichen Überreste wurden Bautzen, 1848; Antje Gerlach: „Deutsche Literatur
nach 1900 auf den neuen Friedhof im Schweizer Exil“. Arnold Hückstädt: „Fritz
Reuter im Urteil der Literaturkritik seiner Zeit“.
in Hamburg­Ohlsdorf überführt. Hinstorff, 1983; Margrit Arnscheidt: „Wandlungen
Heller fand auf dem Althamburgi­ in der Auffassung des deutschen Bauernkriegs“.
schen Gedächtnisfriedhof, Sammel­ 1976; Friedrich Hirth: „Johann Peter Lyser: Der
Dichter, Maler, Musiker“. G. Müller, 1911; Julius
grab 44 (Dichter und Schriftsteller), Elias, u. a.: „Jahresberichte für neuere deutsche
Stelle 6 die letzte Ruhe. Auf dem Literaturgeschichte“. G.J. Göschen‘sche Verlags­
handlung, B. Behr‘s Verlag, 1893; Percy Ernst
nachträglich angebrachten Gedenk­
Schramm: „Hamburg, Deutschland und die Welt:
stein ist wie in vielen Biografien das Leistung und Grenzen“. Callwey, 1943; Ernst
falsche Geburtsjahr 1814 vermerkt, Gotthelf Gersdorf: „Repertorium der gesammten
Deutschen Literatur“. F.A. Brockhaus, 1837; Julius
in manchen Quellen wird sogar 1813 Stettenheim: „Heitere Erinnerungen“. S. Fischer,
angegeben. Nach den Eintragungen Berlin, 1896; Max Kalbeck: „Johannes Brahms“. Bd.
im Großdrebnitzer Taufbuch trifft 2, 3. Aufl., Deutsche Brahms­Gesellschaft Berlin,
1912; Berliner Revue, Bd. 16, Verlag R. Heini­
aber 1812 zu, 1814 wurde sein Bruder cke, 1859; Feodor Wehl: „Zeit und Menschen“.
Woldemar Heller geboren. Damit Tagebuch 1863–1884; Alfred Meissner: „Geschichte
korrespondieren auch ein Eintrag meines Lebens“. Prochaska, 1884; „Die Inspekti­
onen Großenhain, Bischofswerda und Radeberg“.
im Immatrikulationsverzeichnis der Sachsens Kirchen­Galerie, Bd. 7; www.geni.com;
Universität Leipzig und ein Eintrag zu Neue Berliner Musikzeitung, 19.3.1856; Dresdner
Woldemar Heller in einem Schulbuch Adressbücher; Helmut Schoenfeld, Mitteilungen
2013; Leipziger Adressbücher; Hamburger Adress­
des Lehrerseminars zu Dresden­ bücher; stolpe­am­see.de; Otto von Corvin: „Ein
Friedrichstadt, welcher für jenen das Leben voller Abenteuer“. Frankfurter Societaets­
Geburtsjahr 1814 ausweist. Die Ursa­ Druckerei, 1924; Mittheilungen der Deutschen Ge­
sellschaft zur Erforschung vaterländischer Sprache
che der Verwechslung von 1812 und und Alterthümer in Leipzig, 1844; Franz Brümmer:
1814 ist nicht geklärt. Die Angabe „Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten
1814 findet sich auch bei Autoren, die vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegen­
wart“. Bd. 3. 6. Aufl. Leipzig, 1913; Lexikon der
in Kontakt mit Robert Heller standen, hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart.
wie die Herausgeber eines Schrift­ Perthes, 1857; Matrikelbücher Universität Leipzig

144
Bibliografie (Auswahl)
„Gedanken über H. Heines romantische Schule“, in: „Der Komet“, Beilage, Nr. 48,
1835
„Bruchstücke aus den Papieren eines wandernden Schneidergesellen“, 1836, Dro­
bisch Leipzig
„Der Wende“, Erzählung, 1837, 226 S., Drobisch Leipzig
„Novellen“, 1837–1840, 3 Bände, u. a. „Die Eroberung von Jerusalem“, „Der Treu­
lose“, „Der Bettler“, „Der Finkensteller“, Arnold Leipzig und Dresden
„Alhambra“, spanische Novellen, 1838, Altenburg, Verl. H.A. Pierer
„Der Schleichhändler“, Roman, 1838, 2 Bände, Altenburg, Verl. H.A. Pierer
„Das Schwarze Bret“, 1838, 2 Bände, S. 268+242, Altenburg, Verl. H.A. Pierer
„Eine Sommerreise“, 1840, Reclam Leipzig
„Novellen aus dem Süden“, 1841–1843, 3 Bände, Altenburg, Verl. H.A. Pierer
„Eine neue Welt“, 1843, 2 Bände, Altenburg, Verl. H.A. Pierer
„Der Prinz von Oranien“, historischer Roman, 1843, 3 Bände, S. 298+321+340,
Reichenbach Leipzig, Meyer Amsterdam 1846
„Das Erdbeben von Caracas“, Novelle, 1844
„Der Schwarze Peter“, Roman, 1844, 2 Bände
„Der letzte Wille“, Lustspiel in 5 Aufzügen, Leipzig, Tauchnitz, 1845, 56 S.
„Die Kaiserlichen in Sachsen“, historischer Roman, 1845, 2 Bände, S. 297+348,
Reichenbach Leipzig
„Der Albanese“, um 1845, 2 Bände, Reclam Leipzig, in: Wohlfeile
Unterhaltungsbibliothek für die gebildete Lesewelt
„Eine Steppenreise“, romantische Erzählung, 1846, Reclam Leipzig, in: Wohlfeile
Unterhaltungsbibliothek für die gebildete Lesewelt
„Sieben Winterabende“, Novellen und Erzählungen, 1846, 2 Bände, Wigand Leip­
zig
„Schillers Mutter“, Vortrag im Schillerhaus Leipzig, 1846
„Kyselak. Eine Unsterblichkeit des 19. Jahrhunderts“, in: Sächsischer Volkskalen­
der auf das Jahr 1847
„Florian Geyer“, Roman, 1848, 3 Bände, S. 398+340+376, Wigand Leipzig
„Brustbilder aus der Paulskirche“, 1849, 2 Bände, Mayer Leipzig
„Der Reichspostreiter in Ludwigsburg“, historische Novelle, 1857, Meidinger
Frankfurt/M., Band 1 von Ausgewählte Erzählungen
„Das Geheimnis der Mutter“, 1859, Meidinger Frankfurt/M., Band 2 von Ausge­
wählte Erzählungen
„Hohe Freunde“, Novelle, 1862, 304 S., Thomas Leipzig, Band 3 von Ausgewählte
Erzählungen
„Posenschrapers Thilde“, historischer Roman, 1863, Thomas Leipzig
„Primadonna“, historischer Roman, 1871, 2 Bände, S. 304+284, Janke Berlin

145
Schule und Kirche Großdrebnitz nach einer Zeichnung von Johann Fried-
rich Wilhelm Wegener aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wolde-
mar Hellers Vater lehrte an der Großdrebnitzer Schule von 1811 bis 1823.
Die Taufpaten des Sohnes waren Friedrich Leberecht Fritsche (Pfarrer),
Clara Maria Jacobi (Witwe des Waldheimer (?) Stadtrichters Johann Gott-
helf Jacobi) und Traugott Chrysostomus Stäber (Kantor in Neustadt).
Lizenz: Deutsche Fotothek, CC BY-SA 4.0
Quellen: Marie Wieck: „Aus dem Kreise Wieck­Schumann“. Zahn & Jaensch Dresden, 1914;
Cathleen Köckritz: „Friedrich Wieck: Studien zur Biographie und zur Klavierpädagogik“.
Studien und Materialien zur Musikwissenschaft, Bd. 44, Olms 2007; Robert Schumann, Erich
Valentin: Zeitschrift für Musik, G. Bosse, 1840, 1853; Louis Kindscher: Niederrheinische Musik­
Zeitung für Kunstfreunde und Künstler, 1855, 1856; Rheinische Musik­Zeitung für Kunstfreun­
de und Künstler, 1855; Allgemeine Schulzeitung, Diehl 1836; Neue Berliner Musikzeitung, 19.
März 1856; Kirchenarchiv Großdrebnitz; Didaskalia: Blätter für Geist, Gemüth und Publizität,
Bd. 16, 1856; Allgemeine musikalische Zeitung, Bd. 42, 1840; Neue Zeitschrift für Musik, Bd.
10–11, 1839; Adressbücher der Stadt Dresden; Karl Otto Meyer: „Entwickelung einiger ellip­
tischen Funktionen“. Blochmann 1847; Friedrich Wieck: „Klavier und Gesang: Didaktisches
und Polemisches“. Alamire 1853; Ute Bär: „Eine Pianistin im Schatten Clara Schumanns?“ Die
Tonkunst, 2007, Nr. 1, S. 52–54; Christian Traugott Otto: „Die Schule und das Schullehrer­Se­
minar zu Dresden­Friedrichstadt 1785–1835“. Adolf Kohut: „Friedrich Wieck: ein Lebens­ und
Künstlerbild“. C. Piersson, 1888

146
Heller, Woldemar
Musiklehrer, Pianist und Komponist
24.11.1814 Großdrebnitz – 18.02.1856 Dresden

V: August Wilhelm (*1786 in Roßwein als Sohn des Lehrers an der Mädchenschule Johann
Christoph Heller, †1838 Wilschdorf), 1808 Absolvent des Lehrerseminars in Dresden­Fried­
richstadt, Lehrer in Großdrebnitz und Wilschdorf; M: Johanne Christiane Friederike geb.
Schmidt (* in Dresden, Tochter des Händlers Carl Schmidt, † Februar 1856 Dresden); G: Robert
(*24.11.1812 Großdrebnitz, †7.5.1871 Hamburg, Dr., Schriftsteller und Journalist in Leipzig,
Frankfurt/M. und Hamburg), Julius (*14.7.1816 Großdrebnitz), Minna (*17.11.1822 Großdreb­
nitz, verh. Fiala)

Die Familie Heller war bis 1823 jedoch nicht ohne Talent sein und
in Großdrebnitz ansässig und zog schon ziemlich viel Geschick in Be­
danach in das nahe Wilschdorf. handlung und Ausführung des Stoffs
Woldemar Heller absolvierte von zeigen“, und die Zeitschrift für Musik
1832 bis 1836 das Lehrerseminar in unter dem Chefredakteur Robert
Dresden­Friedrichstadt unter Christi­ Schumann lobte in Hellers Kompo­
an Traugott Otto. Der spätere Hofor­ sitionen „gesunde Natürlichkeit und
ganist und Johannes Pache­Lehrer freundlichen Sinn“. Zwischenzeitlich
Theodor Berthold gehörte zu seinen war Heller vermutlich Lehrer am
Mitschülern. Ein von Heller kompo­ Großherzoglichen Fräulein­Institut
nierter Wechselgesang wurde von den der Amalie Jung in Mannheim.
Schülern anlässlich der Abgangsfeier
vorgetragen. In Leipzig nahm Hel­ Seit seinem Zuzug um 1840 gehörte
ler danach Unterricht bei Friedrich Heller zu den führenden Klavierleh­
Wieck. Der führte ein Leihinstitut für rern Dresdens. Er unterrichtete von
Musikalien und Pianofortes und lehr­ 1841 bis 1848 als freier Mitarbeiter
te Klavierspiel. Seine Tochter Clara an der Schule von Karl Justus Bloch­
war Wiecks berühmteste Schülerin. mann, wo der Maler Ernst Ferdinand
Woldemars Bruder Robert Heller Oehme zu seinen Kollegen gehörte,
begann seinerzeit in Leipzig eine sowie als Privatlehrer unter anderem
Karriere als Schriftsteller. Woldemar von Marie Wieck, einer Halbschwes­
Hellers frühe Kompositionen wur­ ter der berühmten Clara Wieck­Schu­
den im Winterhalbjahr 1839/1840 in mann, die ebenfalls Pianistin wurde.
Leipzig im Musikverein Euterpe auf­ 1843 debütierte Marie bei einem Kon­
geführt. Die Allgemeine musikalische zert von Clara in Dresden, 1844 gab
Zeitung schrieb darüber: „der Kom­ sie ihr Solodebüt in Bischofswerda.
ponist der Ouverture ist uns gänzlich Auch Bernhard Rollfuß, später Besit­
unbekannt, seine Komposizion soll zer einer Dresdner Musikschule, und

147
ten, besonderen Unterricht bei Wieck
gehabt. Zu nennen wären: Woldemar
Heller, einer der ersten Klavierleh­
rer Dresdens...“ Ebenfalls zu diesem
Kreis gehörten der Oderwitzer Gustav
Merkel (Organist der Dresdner
Hofkirche), Isidor Seiss (Professor am
Konservatorium Köln), Hans von Bü­
low (Hofkapellmeister in München),
der Musikdirektor Friedrich Reichel,
der Friedrich Schneider­Schüler Fritz
Spindler und Karl Riccius (Chordi­
Das Friedrich-Wieck-Haus in rektor vom Hoftheater).
Loschwitz war nach dem Zuzug der
Familie Wieck ab 1840 ein Zentrum Ab 1853 veröffentlichte Heller einige
des gesellschaftlichen Lebens in Kompositionen bei renommierten
Dresden. Auch Woldemar Heller ge- Musikverlagen. Die Zeitschrift für
hörte zu den regelmäßigen Gästen. Musik schrieb 1853 über „Deux
Nocturnes pour Piano“: „Die beiden
die Gesangspädagogin Emma Seiler­ Nocturno‘s sind ansprechende Salon­
Diruf gehörten zu Hellers Schülern. stücke, die für die tüchtige Technik
Woldemar Heller stand seinem Lehrer des Componisten sprechen, der mit
Friedrich Wieck sehr nahe und zählte diesem ersten Werke in anständiger
in Dresden zu dessen Freundeskreis. Weise vor die Öffentlichkeit tritt und
Aktuelle und ehemalige Schüler für weitere derartige Arbeiten zu er­
kamen im Hause Wieck zusammen, freulichen Hoffnungen berechtigt.“
um Musik zu hören und darüber zu 1855 erschienen bei Breitkopf & Här­
diskutieren. Marie Wieck erinnerte tel in Leipzig „Walzer, quasi Mazurka,
sich: „Da wir jedoch zu Hause ein für Pianoforte“ (op. 4), „Tarantelle
echtes Kunstleben führten, war ein in A­Moll“ (op. 5), „Jagdszene, ein
fortwährendes Reisen nicht nach Clavierstück“ (op. 6) und „Tarantelle
meinem Sinn. Schüler gingen ein in D­Moll“ (op. 7). In der Rheini­
und aus. Abends saß gewöhnlich in schen Musik­Zeitung hieß es dazu:
jeder Ecke irgendein spitzbübischer „Diese Compositionen sind sämmt­
junger Mann, der die Urteile und lich hübsch, klar, mitunter sogar ganz
Belehrungen von Wiecks Munde originell und zeichnen sich vor so
ablas. Wieck ließ vorspielen, machte vielen neuen Erscheinungen auch
dabei Bemerkungen über Anschlag durch ihre leicht in die Finger fal­
und Ausdruck... Natürlich hatten lende Schreibart sehr vorteilhaft aus.
diejenigen, die sich später hervorta­ Wir dürfen dieselben allen Pianisten

148
als recht dankbar empfehlen.“ Hellers
Lehrer Friedrich Wieck hatte zu­
nächst nach dem System von Johann
Bernhard Logier unterrichtet, das er
jedoch schließlich mit einer eigenen
Methode ersetzte. Sie bestand in einer
natürlichen Haltung der Hand, in der
Ausbildung des Handgelenks und in
von Wieck erfundenen, sehr einfa­
chen Fingerübungen sowie einer nach
und nach sich an Kraft steigernden
Fingergelenkigkeit. Wieck schrieb
dazu: „Auch der erfahrenste Künst­
ler bleibt immer ein Schüler und das
Lehren der Kunst insbesondere ist ein Louis Kindscher, Niederrheinische
tägliches Lernen.“ Seine Grundsätze Musik-Zeitung für Kunstfreunde
gab er an seine Schüler weiter. Neben und Künstler, 29.3.1856, S. 103–104,
seinen beiden Töchtern Clara und zu op. 7, „Tarantelle in D-Moll“:
Marie hob er Woldemar Heller und „dass es noth thut, mit der Ein-
Ernst Ferdinand Wenzel hervor, die fachheit und gesunden Natur der
seine Lehren mit Leben erfüllten. Mit Outrirt- und Blasirtheit, der allge-
Heller plante er das Buch „Kleine, meinen Unnatur und dem grossen
rhythmisch abgeschlossene Übungen“. Nichts der modernen Salon-Roman-
Es sollte den Lesern „einen guten, tik entweder den Rücken zuzukeh-
technischen Anschlag, ohne Noten­ ren oder – wie der oben erwähnte
gebrauch“ lehren. Vermutlich ist es zu D-Moll-Accord – kühn und trotzig
diesem Buch wegen des frühen Todes die Spitze zu bieten.“ (s. Abb.) Zu
Hellers nicht mehr gekommen. op. 4 hieß es: „Die Melodien sind im
Ganzen ansprechend und zugleich
Heller wohnte bis 1856 mit seiner in ihrer Verbindung wohl geordnet,
Mutter, die kurz vor ihm starb, in so dass dadurch das Interesse immer
der Dresdner Amalienstraße 2. Die rege erhalten wird.“, und zu op. 5:
Berliner Musikzeitung erinnerte an „Die Melodie hat eigenthümlichen
ihn: „Ein talentvoller Tonkünstler Reiz durch unerwartete pikante
und Komponist hübscher Salonstü­ Wendungen, die aber doch zugleich
cke.“ Die Didaskalia: Blätter für Geist, so im Fluss, so natürlich erscheinen,
Gemüth und Publizität in Frankfurt/ dass man fast vermuthen möchte,
Main lobten an Hellers Kompositio­ der Componist habe sie wirklich auf
nen die „Frische ihrer Melodie und italischem Boden abgelauscht.“
Vornehmheit des Styles“.

149
Walther Hempel: Ein weiteres Porträt, von Carl Bantzer gemalt, befindet
sich in der Gemäldegalerie Neue Meister Dresden.

150
Hempel, Walther Matthias
Professor, Chemiker, Rektor der Technischen Hochschule Dresden
05.05.1851 Pulsnitz – 01.12.1916 Dresden
V: Eduard (1810, †4.12.1872 Dresden), Kaufmann; M: Marie Wilhelmine geb. Jauch (1826–1888),
Dresdner Kaufmannstochter aus einer Pulsnitzer Bandhändlerfamilie; G: Georg Eduard (*17.4.1847
Pulsnitz, †11.10.1904 Ohorn, Stadtverordnetenvorsteher in Pulsnitz, Landtags­ und Reichstagsabge­
ordneter der Deutschkonservativen Partei, bedeutender Kakteensammler, Vizepräsident der Handels­
kammer Zittau), Johannes Wilhelm (1849–1865), Carl Constantin (1853–1911); E: 1883 Louisa Delia
geb. Monks (*5.11.1848 Boston, †9.12.1939), Tochter eines irischstämmigen Geschäftsmanns und
der Malerin Delia Smith Hatton (zuletzt in Dresden), Schwester von George Howard Monks (1883
Erfinder von Halma, Medizinprofessor in Harvard) und des Malers Robert Hatton Monks (beide
in den 1880er Jahren in Europa, darunter in Dresden bzw. Paris); K: Robert (1883–1959), Eberhard
(*30.7.1886 Dresden, †16.9.1967 Dresden, Kunsthistoriker, Professor in Graz und Dresden), Elisabeth
Susanne (1888–1969, Übersetzerin), Georg Arthur (1893–1914)

Hempel lebte mit seinen Eltern ab


1853 in Dresden, wo die Familie
die Grundstücke Ammonstraße 3/4
besaß. Im Haus Nr. 4 wohnte bis zu
seinem Tod 1861 Ernst Rietschel.
Hempel besuchte in Dresden die
Annenschule und legte 1867 das
Abitur ab. Danach studierte er bis
1870 Chemie am Dresdner Polytech­ Die erste Bandweberei in Pulsnitz
nikum bei Hugo Fleck. Am Deutsch­ wurde 1767 von Walthers Urgroß-
Französischen Krieg nahm Hempel vater Christoph Hempel gegründet.
als Freiwilliger in einem Artillerie­ Dessen Witwe und ihr Sohn Fried-
regiment teil, mit dem er sich an der rich August Hempel sen. führten die
Belagerung von Paris beteiligte. Nach Fabrik unter dem Namen „Chris-
dem Krieg setzte er sein Studium in toph Hempels Witwe und Sohn“
Berlin fort. Hempel zog abweichend weiter. Walthers Vater Eduard zog
vom damaligen Trend die anorga­ sich früh aus dem Familiengeschäft
nische Chemie der organischen vor. zurück und baute in der Dresd-
Von 1872 bis 1873 studierte er in ner Ammonstraße drei Häuser.
Heidelberg bei Robert Bunsen, bei Die Pulsnitzer Fabrik wurde von
dem er auch promovierte. Walthers Onkel Friedrich August
Hempel jun., später von Walthers
1873 kehrte Hempel nach Dresden Bruder Georg geführt. Sie war im
zurück, wo er an der chemischen 19. Jahrhundert das erfolgreichste
Zentralstelle für öffentliche Gesund­ Unternehmen der Stadt. Die Fabrik-
heitspflege bei Hugo Fleck als Assis­ gebäude wurden 1997 abgerissen.

151
tent arbeitete und 1874 der Naturwis­ spätere Ehefrau kennen lernte. Auch
senschaftlichen Gesellschaft ISIS und dank Hempel genoss die Chemie an
1875 der Gesellschaft für Natur­ und der 1890 zur Hochschule erhobenen
Heilkunde beitrat. Ab 1876 arbeitete TH Dresden einen ausgezeichneten
er als Assistent von Rudolf Schmitt Ruf. Als Schmitt 1891 die Wahl zum
am Polytechnikum. Zwei Jahre später Rektor nicht annahm, übernahm
habilitierte Hempel sich mit einer Hempel dieses Amt. 1892 und 1902
Arbeit „Über technische Gasanaly­ wurde er für zwei weitere Amtsperi­
se“. Schon hier wurde deutlich, dass oden gewählt. Unter seiner Leitung
er die wissenschaftlichen Untersu­ erfuhr die chemische Ausbildung eine
chungen eng am praktischen Bedarf große Aufwertung, indem einzel­
ausrichtete. In der rasch wachsenden ne Teilbereiche eigene Professuren
chemischen Industrie seiner Zeit erhielten. Fritz Foerster war sein
wurden große Mengen Gase erzeugt bekanntester Schüler. Hempel gilt
bzw. verbraucht, ohne dass geeignete heute als ein Pionier der technischen
Analysemöglichkeiten zur Verfügung Gasanalyse. Er hat die Grundlagen
standen. Mit konstruktivem Geschick technisch­chemischer Prozesse aufge­
und ausgezeichneten Fertigkeiten im klärt. Die von Hempel gelebte Einheit
Glasblasen ausgestattet, entwickelte von Wissenschaft und Praxis vermit­
Hempel eine Gasbürette und eine telte er auch an seine Studenten, mit
Gaspipette, mit deren Hilfe Gasgemi­ denen er regelmäßig Exkursionen in
sche schnell, einfach und sehr präzise Industriebetriebe unternahm. Bei der
analysiert werden konnten. Diese Chemischen Fabrik v. Heyden gehörte
Technologie begründete Hempels er dem Aufsichtsrat an. Hempel
weltweiten Ruf und wurde von ihm bereitete das chemische Wissen für
in den Folgejahren kontinuierlich Probleme des Alltags auf. So arbeitete
weiterentwickelt. 1879 erhielt er in er schon damals an der Erhöhung
der Nachfolge von Wilhelm Stein die der Energieeffizienz von Heizungen
Berufung zum außerordentlichen und und an der Verminderung der dabei
1880 zum ordentlichen Professor für entstehenden Rauchbelastung. Zu­
„Technische Chemie“ am Polytech­ dem untersuchte er Nahrungsmittel.
nikum. Der damalige Rektor, Gustav In seinem Laboratorium erforschten
Anton Zeuner, erfüllte zudem seine Julius Lehmann und Walther Hes­
Forderung nach einer Trennung se die Haltbarmachung von Milch.
von organischer und anorganischer Hempel nutzte die Ergebnisse, um auf
Chemie und berief ihn zum Leiter dem Familienbesitz in Ohorn keim­
des „Laboratoriums für Anorganische freie „Ohornmilch“ zu produzieren.
und Analytische Chemie“. Hempel Auch nach seiner Pensionierung im
unternahm erste Reisen nach England Jahre 1912 hielt er noch Vorlesungen
und die USA, wo er in Boston seine über „Metallurgie“ und über „che­

152
Die Besitzer des Rittergutes Ohorn waren einstmals die „Herren von Puls-
nitz“. 1828 kaufte Walthers Großvater Friedrich August Hempel sen. das
Anwesen. Anschließend befand es sich im Besitz von Walthers Onkel Guido
und von 1895 bis 1904 im Besitz seines Bruders Georg. Von 1939 bis 1945
war Walther Hempels Sohn Eberhard der Besitzer. Jener erlebte hier den
Bombenangriff auf Dresden. Sein Institut an der TH Dresden und das vom
Vater geerbte Haus Altenzeller Straße 44 wurden in dieser Nacht zerstört.
mische Großindustrie“. 1913 unter­ Karlsruhe und Leipzig ernannten ihn
nahm er mit seinem Sohn Eberhard zum Ehrendoktor und er trug den
Hempel eine Reise zum Stromboli, Titel „Geheimer Hofrat“. In Dresden,
um die Geologie und vulkanische Leverkusen und Pulsnitz sind Straßen
Gase zu untersuchen. Während des nach Hempel benannt.
Ersten Weltkriegs vertrat Hempel
Quellen: F. Foerster: „Walther Hempel †“. Zt. für
zum Militärdienst einberufene Kol­ Angewandte Chemie, Nr. 1, 1917, S. 1–12; Johannes
legen. Zuletzt widmete er sich der Deichmüller: Sitzungsberichte und Abhandlungen
Isis, 1917; Walther Fischer: „Hempel, Walther Mat­
Luftschifffahrt. Für seine Verdienste thias“. Neue Deutsche Biographie, 1969, S. 513–514;
wurde Hempel vielfach geehrt. Die „Walther Hempel, Geheimer Rat und Professor in
Leopoldina berief ihn 1888 zum Dresden, zum Gedächtnis“. Zahn & Jaensch, Dres­
den, 1916; Heiner Hegewald: „Zur Entwicklung der
Mitglied und er war Mitglied der Technischen Chemie im 19. Jahrhundert unter be­
Königlich Sächsischen Gesellschaft sonderer Berücksichtigung der Chemikerausbildung
der Wissenschaften und ab 1912 an der Technischen Hochschule Dresden und ihren
Vorgängereinrichtungen“. Dissertation, Halle, 2005;
Vizepräsident der Deutschen Chemi­ ohorn.info; ma.findacase.com; americanancestors.
schen Gesellschaft. Die Universitäten org; wiki.olgdw.de; pulsnitz.de; Portal biorab

153
Paul Hermann als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung
(1848, Foto von Hermann Biow).

154
Hermann, Paul
Dr. jur., Rittergutsbesitzer, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung
17.04.1809 Dresden – 17.08.1862 Weidlitz

V: Friedrich Wilhelm (*1774, †11.4.1822 Dresden), Ratssyndikus und Bürgermeister (1816–


1822, während der Stadtentfestigung durch Gottlob Friedrich Thormeyer) in Dresden,
Sohn des Dresdner Kammerassistenzrats Johann Zacharias Hermann, Nachfahre von Hans
Hermann, Handelsherr und Mitglied des großen Rats in Nürnberg, sowie der Bürgermeister von
Torgau Paul Hermann (†27.4.1704) und Johann Zacharias Hermann (†1735); M: Charlotte Wil­
helmine geb. Kuhn aus Freiberg; E: 14.10.1839, Julie geb. von Weidenbach (*20.9.1811 Augsburg,
†23.5.1888 Weidlitz); K: Paul Friedrich (19.7.1847–1917, Dr., Erbe von Weidlitz und Pannewitz,
verh. mit Therese geb. Roscher)

Hermann absolvierte trotz des frühen Nach großen Gebietsverlusten infolge


Todes des Vaters die Kreuzschule in der napoleonischen Kriege musste
Dresden und legte 1827 das Abitur Sachsen im 19. Jahrhundert dringend
ab. Danach studierte er Rechts­ seine landwirtschaftliche Produkti­
wissenschaften an der Universität on steigern. Ab 1836 beteiligte sich
Leipzig und Kameral­ und Staatswis­ Hermann unter Leitung von Julius
senschaften in Berlin. 1830, im Jahr Gottlob von Nostitz und Jänken­
seiner Volljährigkeit, erhielt er die dorf an der Umgestaltung der sächsi­
Rittergüter Weidlitz und Pannewitz, schen Landwirtschaft. Er war bis 1837
die Hermann zunächst verpachtete. Assessor bei der Generalkommission
1832 kehrte er als Rechtspraktikant für Ablösungen und Gemeinheits­
nach Dresden zurück und arbeitete teilungen, der auch Heinrich Au­
im Zentralkomitee des Vereins für gust Blochmann als ökonomischer
Statistik des Königreichs Sachsen. Die Rat angehörte, danach juristischer
Aufgabe des Vereins bestand darin, Spezialablösungskommissar.
mit statistischen Erhebungen zur Be­
völkerung und Wirtschaft die Regie­ 1841 übernahm Hermann die Be­
rung zu unterstützen. Unter Leitung wirtschaftung seiner Rittergüter. Er
von Finanzminister Heinrich Anton ließ in Weidlitz das neue Herrenhaus
von Zeschau arbeitete Hermann hier errichten und den umgebenden Park
beispielsweise mit Johann Gott­ erweitern. In Pannewitz wurde der
fried Nake zusammen. Nach seiner Wirtschaftshof ausgebaut.
Promotion 1835 in Leipzig über das
sächsische „Gesetz über Zusammen­ Auch in der Oberlausitz setzte sich
legung der Grundstücke“ (vom 14. Hermann für Fortschritte in der
Juni 1834) ließ er sich in Dresden als Landwirtschaft ein. Er leitete ab 1843
Anwalt nieder. den landwirtschaftlichen Bezirks­

155
Vom 18. Mai bis 22. September 1848
vertrat Hermann den Wahlkreis
Bautzen in der Frankfurter National­
versammlung. Er gehörte der einfluss­
reichen, nationalliberalen Fraktion
„Casino“ vom rechten Zentrum an,
die sich für eine konstitutionelle
Monarchie einsetzte, eine Einheit
Deutschlands mit föderalen Befugnis­
sen befürwortete und gegen „Anar­
Das Rittergut Weidlitz befand sich chie“ auftrat.
von 1816 bis 1945 im Besitz der
Familie Hermann. Der bekannteste Um die verfügbaren Fördermittel ef­
Vorbesitzer war ab 1746 Kabinetts- fektiv einzusetzen, wurden in Sachsen
minister Heinrich von Brühl. 1749 neue Organisationsstrukturen in der
verkaufte er Weidlitz an den Kur- Landwirtschaft benötigt. Ansprech­
fürstlich Sächsischen Hof- und Justi- partner der Regierung war ab 1850
zienkanzlei-Sekretär Friedrich Phi- der neu gegründete Landeskulturrat.
lipp Lingke (*1713 Dresden), einen Das Gründungsmitglied Hermann
Urgroßvater von Paul Hermann. hatte hier bis 1856 den stellvertreten­
Nach Lingkes Tod 1783 blieben den Vorsitz unter Wilhelm Crusius
Weidlitz und Pannewitz im Besitz von der Leipziger Oekonomischen
seiner Kinder. Als letztes starb am Societät inne. Zuständiger Regie­
20.5.1816 seine Tochter Christiane rungskommissar war Theodor Reun­
Friederike (*16.8.1741 Dresden), ing, vortragender Rat im Innenminis­
verheiratet mit dem Kurfürstlich terium. Als ordentliches Mitglied und
Sächsischen Kammerassistenzrat zuständig für Wissenschaft gehörte
und Obersalzinspektor Johann Za- auch Julius Adolph Stöckhardt dem
charias Hermann (†1802), die ihre Landeskulturrat an.
Besitzungen ihrem Sohn vererbte,
dem Vater von Paul Hermann. Im Um Wissenschaft und Praxis enger zu
Zusammenhang mit der Schlacht verzahnen, wurden landwirtschaft­
von Bautzen 1813 kam es in Weid- liche Versuchsstationen gegründet.
litz zu erheblichen Verwüstungen. Sachsen spielte dabei eine führende
Rolle. Die 1852 in Leipzig­Möckern
verein Bautzen und den Zweigverein unter Mitwirkung des Landeskultur­
„Am Schwarzwasser“. Ab 1849 stand rates gegründete Versuchsstation war
Hermann dem Oberlausitzer Kreis­ deutschlandweit die erste Einrichtung
verein vor, sein Stellvertreter war ihrer Art. Nach den Erkenntnis­
Ernst Theodor Stöckhardt. sen von Justus von Liebig stand die

156
Agrikulturchemie im Mittelpunkt. des „Aktienvereins zur Veredlung der
Hermann beteiligte sich im Landes­ Viehzucht“ an. Der auf sechs Jahre
kulturrat an der Koordinierung der befristete Vertrag mit der Versuchs­
regionalen Landwirtschaftsvereine station Weidlitz sollte um weitere
und organisierte über die Kreisverei­ sechs Jahre verlängert werden, als
ne den Wissenstransfer in die land­ Hermann 1862 starb. Er wurde in der
wirtschaftliche Produktion. König Familiengrabstätte auf dem Friedens­
Friedrich August II. verlieh ihm am berg nahe der Verbindungsstraße von
7. Juni 1852 für Verdienste um die Weidlitz nach Pannewitz beigesetzt.
Landwirtschaft das Ritterkreuz des
Albrechtsordens. Im Herrenhaus Weidlitz befand sich
eine größere Zahl wertvoller Gemäl­
Dem sächsischen Landtag gehörte de, darunter Porträts von Hermanns
Hermann, seit 1842 Stellvertreter, ab Urgroßvater Friedrich Philipp Lingke,
1853 an. Einer seiner Abgeordneten­ seiner Großmutter Christiane Frie­
kollegen war Eduard Gottlob von derike Hermann und seinem Vater
Nostitz und Jänkendorf. Friedrich Wilhelm Hermann. Die
Bilder kamen nach 1945 in den Besitz
1854 schlug Theodor Reuning dem der Staatlichen Kunstsammlungen
hiesigen Kreisverein vor, auch in der Dresden und des Museums Bautzen
Oberlausitz eine landwirtschaftliche und wurden 2010 restituiert.
Versuchsstation einzurichten. Nach­
dem das Innenministerium Bautzen Quellen: Gustav Adolf Poenicke: „Album
der Rittergüter und Schlösser im Königreiche
als Standort abgelehnt hatte, stellte
Sachsen“. 1859; Robert Heller: „Brustbilder
Hermann 1857 sein Rittergut Weidlitz aus der Paulskirche“. Mayer Leipzig, 1849;
zur Verfügung. Als wissenschaftli­ www.zhsf.uni­koeln.de; Heinrich Gerd Dade:
cher Leiter wurde Julius Lehmann „Die deutsche Landwirtschaft unter Kaiser
gewonnen. Hermann stand dem Ku­ Wilhelm II.“ Bd. 2, C. Marhold, 1913; Die
Landwirtschaftlichen Versuchs­Stationen,
ratorium vor. Mit dem Ziel, Landwirt­ Schönfeld, 1859; Annalen der Landwirtschaft
schaft und Naturwissenschaften zu in den Königlich Preußischen Staaten, Bd.
verbinden, gründeten die Weidlitzer 33–34, Wiegandt u. Hempel, 1859; Dresdner
Hermann und Lehmann zusammen Adreß­Kalender, 1837; Schöne: „Die Sächsi­
sche Landwirtschaft“. 1925; Mittheilungen des
mit Wissenschaftlern aus Möckern,
Statistischen Vereins für das Königreich Sach­
Tharandt und Chemnitz, darunter sen, 1833; Cornelius Gurlitt: „Weidlitz“. Be­
Ernst Theodor Stöckhardt, 1858 schreibende Darstellung der älteren Bau­ und
die renommierte Zeitschrift „Die Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, Bd.
Landwirtschaftlichen Versuchs­ 32, 1908; Heinz Kurz: „Roscher, Wilhelm Ge­
org Friedrich“. In: Neue Deutsche Biographie,
Stationen“. Bis 1860 gehörte Hermann Bd. 22, Duncker & Humblot, Berlin 2005, S.
mit Theodor Reuning und Julius 39–41; Georg Müller: „Paul Hermann“. In:
Adolph Stöckhardt dem Direktorium Sächsische Lebensbilder, Bd. 1, 1930

157
Friedrich Hesse: Erstes deutsches Zahnärztliches Institut vor 125 Jahren in
Leipzig begründet. Pressemitteilung der Universität Leipzig, 22.04.2009,
erschienen beim Informationsdienst Wissenschaft, http://idw-online.de

158
Hesse, Friedrich Ludwig (Louis)
Professor, Zahnmediziner in Leipzig
07.12.1849 Bischofswerda – 22.10.1906 Leipzig

V: Friedrich Wilhelm (*15.6.1817 Großröhrsdorf, †1.12.1897 Oberlößnitz), Dr. med., prak­


tizierte in Bischofswerda, Bezirksarzt in Zittau; M: Auguste Louise geb. Großmann (*1824,
†23.1.1885), Tochter des Tuchfabrikbesitzers Christian Gottlob Großmann; G: 5 Brüder und 6
Schwestern, darunter Hermann (*1844 Bischofswerda, nach Amerika ausgewandert), Richard
(*13.9.1845 Bischofswerda, †23.1.1913 Radebeul, Dr. med., Arzt in Brooklyn, Kurarzt in Schwei­
zermühle, Badearzt in Rosenthal, um 1900 leitender Arzt am Genesungsheim Fiedler­ und
Augustushaus Oberlößnitz), Walther (*27.12.1846 Bischofswerda, †19.7.1911 Dresden, Dr. med.,
Hygieniker und Bakteriologe), Marie (2.12.1852–15.10.1934, verh. mit Wilhelm August Schra­
der), Georg (*1865 Bischofswerda, †1931 Dresden, Direktor einer privaten chirurgischen Klinik
in Dresden), zwei Geschwister verstarben früh; E: Mai 1883, Agnes geb. Thiersch (1863–1954,
Tochter des Leipziger Universitätsrektors Carl Thiersch und Enkelin des Justus von Liebig); K:
Johanna verh. Long (*28.2.1885 Leipzig, †11.3.1976 Leipzig, Mutter des Silbermedaillengewin­
ners im Weitsprung Berlin 1936, Luz Long), Richard (*12.3.1886 Leipzig, †21.5.1958 Friedrichs­
hafen, Dr. med. dent.), Agnes verh. Leclercq (*18.10.1888 Leipzig, †30.1.1973 Dresden), Karl
(*16.1.1890 Leipzig, †10.9.1967 Löbau, Dr. med.), Kurt (*13.9.1894 Leipzig, †4.9.1914 Straß­
burg), Fritz (*19.7.1897 Leipzig, †26.12.1980 Mainz, Professor der Chirurgie Saarbrücken)

Hesses Vater praktizierte fast drei Friedrich Hesse besuchte zunächst die
Jahrzehnte als Arzt in Bischofswerda. Stadtschule Bischofswerda, wurde zu­
Ab 1859 betrieb er am Stadtrand ein hause unterrichtet und wechselte mit
Heim, in dem schwächliche Kinder 13 Jahren auf die Kreuzschule Dres­
Gesundheitsbetreuung und Schul­ den. 1868 begann er – wie schon seine
unterricht erhielten. Das Ehepaar Brüder Richard und Walther zuvor –
Hesse hatte auch viele eigene Kinder. ein Medizinstudium an der Universi­
Zusammen mit seiner Frau, einer tät Leipzig. Er unterbrach es, um 1870
Tochter aus der bekannten Tuchma­ als Einjährig­Freiwilliger während
cherdynastie Großmann, legte der Va­ des Deutsch­Französischen Krie­
ter großen Wert auf eine gründliche ges in die Armee einzutreten. Nach
Schulausbildung – mit bemerkens­ dem Krieg setzte Hesse bei Christian
wertem Erfolg. Vier Söhne wurden Wilhelm Braune das Studium fort
Mediziner, drei Töchter erhielten eine und erhielt nach seiner Approbation
Lehrerinnenausbildung am Freimau­ 1873 bei Wilhelm His eine Anstel­
rerinstitut für Töchter in Dresden. lung als Assistent am Anatomischen
Es war von der Loge zum „Goldenen Institut. 1874 promovierte Hesse bei
Apfel“ gegründet worden. Vater Hesse Professor His mit Untersuchungen
war ab 1857 Mitglied der Dresdner „Ueber die Muskeln der menschlichen
Loge „Zu den drei Schwertern und Zunge“. 1875 wurde er zum Prosek­
Asträa zu grünenden Raute“. tor ernannt. Hesse erhoffte sich von

159
der anatomischen Ausbildung, breit einen zweijährigen Studienurlaub
anwendbares Grundlagenwissen zu am New Yorker Dental College, wo
erwerben, v. a. im Hinblick auf eine er 1881 das Examen ablegte. Um
angestrebte Chirurgenlaufbahn. den Aufenthalt zu finanzieren und
Neben Braune und His gehörte auch Mittel für seine berufliche Zukunft zu
der berühmte Physiologe Carl Ludwig erwerben, betrieb er im Hause seines
zu seinen Förderern. Mit ihm führte Bruders eine Zahnarztpraxis. Die
er u. a. Experimente zur Mechanik Kombination von in Leipzig erworbe­
der Herzbewegung durch. In einem nen naturwissenschaftlichen Grund­
Brief an den Bruder Walther Hesse lagen und Ausbildung an neuesten
schrieb Ludwig später, dass Friedrich technischen Einrichtungen und Ma­
Hesse unzweifelhaft die Befähigung terialien in den USA sollte sich später
zu einem Professor der Anatomie als entscheidende Voraussetzung für
habe, er ihn aber trotzdem unter­ seine Karriere als Zahnmediziner
stützt, diese Laufbahn zugunsten der erweisen. Hesse eröffnete im Februar
eines Zahnarztes aufzugeben. Das 1882 eine erfolgreiche Zahnarztpraxis
Jahr 1877 markierte den Höhepunkt in Leipzig. Bei Dr. Klare bestand er im
der anatomischen Laufbahn Hesses. selben Jahr die deutsche zahnärztliche
Er habilitierte sich zum Privatdozen­ Prüfung.
ten und unternahm eine Studienreise
nach Paris zu Louis­Antoin Ranvier, Im Mai des Jahres 1883 heiratete
bei dem er ein Vierteljahr am College Hesse Agnes Thiersch. Sein Schwie­
de France arbeitete, und nach Straß­ gervater war der bekannte Leipziger
burg zu Heinrich Wilhelm Waldeyer. Chirurg Carl Thiersch (seit 1876
1879 erhielt Hesse eine Studienreise Universitätsrektor), dessen Vater
in die USA. Mit Hilfe seines Bruders wiederum, Friedrich Thiersch, ein
Richard, Arzt in Brooklyn, knüpfte er bekannter Philologe. Die Schwie­
Kontakte zu amerikanischen Zahn­ germutter, Johanna Thiersch, war
medizinern. Besonders beeindruckte die zweitälteste Tochter des Justus
ihn das seinerzeit unvergleichlich von Liebig, eines der bedeutendsten
reichhaltig ausgestattete Medical deutschen Chemiker überhaupt.
Department der Pennsylvanischen Zu Hesses Schwägern gehörten der
Universität. Er beschloss, sich der protestantische Theologe und Kir­
Zahnheilkunde zuzuwenden. In chenhistoriker Adolf von Harnack
Abstimmung mit His und Ludwig und der Historiker und Politiker Hans
entwickelte er Pläne für einen wis­ Delbrück. Carl Thiersch zählte neben
senschaftlichen Zahnheilkundeun­ Braune, His und Ludwig zu den
terricht in Deutschland. 1880/1881 wichtigsten Befürwortern der Ein­
nahm Hesse mit Förderung durch die richtung einer Lehrstätte für Zahn­
Albrechtstiftung unter Carl Thiersch ärzte in Leipzig. Im Jahre 1883 erhielt

160
Hesse den Auftrag des Königlichen Zahnuntersuchungen für Volksschü­
Ministeriums zur Konzeption von ler eingeführt. Dieses soziale Engage­
Status und Etat eines Zahnärztlichen ment führte zu Auseinandersetzun­
Instituts an der Universität Leipzig. gen mit den Krankenkassen um die
Es sollte sich – nach amerikanischem Übernahme der Kosten und belastete
Vorbild – finanziell teilweise selbst die Wirtschaftlichkeit seiner Zahn­
tragen. Am 16. Oktober 1884 wurde klinik. Hesse legte den Schwerpunkt
es in Leipzig, Goethestraße 5, als ers­ auf Ausbildung (universitäre Anbin­
tes derartiges Institut in Deutschland dung) sowie auf praktische Tätigkeit.
eröffnet. Die Gründung war auch Für eigene wissenschaftliche Arbeit
dank Pfarrer Friedrich Adolph Huth blieb wenig Raum. Er vertrat das
möglich geworden, der dafür in sei­ (damals bereits unübliche) Prin­
nem Testament 15000 Mark gestiftet zip eines einheitlichen Unterrichts,
hatte. Hesse, seit dem 28. April 1884 wonach der gesamte Unterricht der
außerordentlicher Professor, wurde Person des Direktors unterstand. 1898
zum Leiter des Instituts berufen. Das erfolgte die vollständige Übernahme
Institut hatte anfänglich nur 7 Stu­ durch die Universität. Hesse wurde
denten. Es erhielt zwar Fördermittel, als erster Lehrstuhlinhaber berufen.
befand sich aber nicht in direkter Steigende Studentenzahlen und die
staatlicher Trägerschaft. Zu seinen Notwendigkeit wissenschaftlicher
Patienten zählten vorwiegend Arbei­ Fundierung, aber auch zu geringe
ter und Gewerbetreibende, die durch Eigenfinanzierung hatten diesen
Studierende für geringes Entgelt bzw. Schritt erforderlich gemacht. Hesse
kostenfrei behandelt wurden. Trotz war von 1890 bis 1906 Vorsitzender
vieler Probleme im Vorfeld war Hesse des „Zahnärztlichen Vereins für das
Leipzig treu geblieben, obwohl ihm Königreich Sachsen“, von 1891 bis
inzwischen ein ehrenvolles Angebot 1900 erster Vorsitzender des „Zen­
als Gründungsdirektor eines Berliner tralvereins Deutscher Zahnärzte“ und
Zahnärztlichen Instituts vorgelegen Mitglied des Exekutivkomitees der
hatte. Hesse orientierte auf Zahner­ „Féderation Dentaire Internationale“.
haltung und Kariesprophylaxe anstel­ Die Konkurrenzsituation zwischen
le einer reinen Extraktionstherapie. verschiedenen die Zähne behandeln­
Erstmals in Deutschland erhielten ab den Berufsgruppen führte zu hefti­
1886 Mitglieder einer Ortskranken­ gen Standesauseinandersetzungen,
kasse konservierende Behandlungen. in denen sich Hesse besonders aktiv
Hesse bemühte sich sachsenweit um engagierte. Jahrelang vergebliche,
die Kariesprophylaxe an Schulen und leidenschaftliche Bemühungen um
den Schutz der Patienten vor über­ die Gleichstellung der Zahnheilkunde
höhten Honorarforderungen. Schon mit der übrigen Medizin sowie ein
1891 wurden in Chemnitz kostenlose Gerichtsstreit mit „Spezialärzten für

161
Zahn­ und Mundkrankheiten“ ohne tituts in der Tradition seines Onkels
zahnärztliche Approbation zehrten an und konnte 1921 die Anerkennung
seiner Gesundheit. Die universitären als Universitätsinstitut erreichen.
und staatlichen Stellen gewährten Seit 1994 erinnert ein zweijährliches
ihm dabei nur wenig Unterstützung. wissenschaftliches Friedrich­Hesse­
Hesse wurde depressiv und gab seine Symposium für Studenten und junge
Privatpraxis auf. Am 22. Oktober Wissenschaftler an der Poliklinik für
1906 wählte er den Freitod. Konservierende Zahnheilkunde der
Universität Leipzig an seine bedeu­
Hesse erwarb sich große Verdienste tenden Leistungen. Aus Anlass des
um eine optimale theoretische und 125. Jahrestages der Gründung der
praktische Ausbildung und um die Universitäts­Zahnklinik wurde im
zahnärztliche Versorgung der Be­ Jahre 2009 beschlossen, das „Zent­
völkerung. 1906 hatte das Leipziger rum für Orale Medizin“ nach Fried­
Institut bereits 44 Studierende. Zu rich Louis Hesse zu benennen. Die
Lebzeiten wurde er mit Ehrenmit­ Arbeiten der Autoren zu den Brüdern
gliedschaften des Zentralvereins Hesse im Biographischen Lexikon der
Deutscher Zahnärzte, der Leipziger Oberlausitz seit 2007, zu Walther
Zahnärztlichen Gesellschaft, des Ver­ Hesse auch in der Wikipedia und im
eins für Mitteldeutschland und des Stadtwiki Dresden, wurden seither
Vereins Österreichischer Zahnärzte viele 1000 Mal gelesen und haben so
gewürdigt. Nach seinem Tod setzte die Erinnerung an die vergessenen
die Verwirklichung seiner Ziele ein: Söhne Bischofswerdas geweckt. Im
1909 erfolgte die Einführung einer Jahre 2012 widmete ihnen der lokale
neuen Prüfungsordnung mit dem Geschichtsverein an ihrem ehemali­
Abitur als Vorbedingung für die Auf­ gen Wohnhaus eine Erinnerungstafel.
nahme des Zahnheilkundestudiums,
1910 die Einrichtung eines großzü­ Hesses Geburtshaus in Bischofswer-
gigen Zahnärztlichen Instituts in der da (2. v. l. , Abb. rechts) mit Gondel-
Nürnberger Straße und 1919 erhiel­ teich und Fronfeste.
ten die Zahnmediziner ein eigenes Quellen: Hannelore Schwann: „Friedrich Louis
Promotionsrecht. Das Vermächtnis Hesse (1849–1906)“. J. A. Barth, Leipzig, 1984; Klaus
Hesses wurde in Leipzig von Theo­ Kroszewsky: „Friedrich Louis Hesse: zum 100. To­
destag am 22. Oktober 2006“. In: Jubiläen, Leipzig,
dor Dependorf und Wilhelm Pfaff 2006, S. 143–148; Paul Schwarze: „Ein Gedenkblatt
fortgeschrieben. Drei seiner Söhne für Friedrich Louis Hesse“. Deutsche Monatsschrift
für Zahnheilkunde, H. 12, 1906, S. 695–700; Marie
schlugen eine medizinische Laufbahn Agnes Möbius (Kleinröhrsdorf, Enkelin von Hesse)
ein, einer davon als Zahnarzt. In Jena und Dr. Dieter Möbius, Mitteilungen; Universität
wirkte Gustav Hesse, ein Sohn von Leipzig, Pressemitteilungen; Gerold Rüdiger He­
ckert: „Odontologie im numismatischen Spiegel. Ein
Walther Hesse, von 1907 bis 1945 Beitrag zur Geschichte der Zahnheilkunde“. Inaug.­
als Direktor des Zahnärztlichen Ins­ Diss., Justus­Liebig­Universität Gießen, 2006

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Hesse, Walther
Dr. med., Bakteriologe und Hygieniker
27.12.1846 Bischofswerda – 19.07.1911 Dresden

V: Friedrich Wilhelm (*15.6.1817 Großröhrsdorf, †1.12.1897 Oberlößnitz), Dr. med., praktischer


Arzt in Bischofswerda und Bezirksarzt in Zittau; M: Auguste Louise geb. Großmann (*1824,
†23.1.1885), Tochter des Bischofswerdaer Tuchfabrikbesitzers Christian Gottlob Großmann; G: 5
Brüder und 6 Schwestern, Hermann (*1844 Bischofswerda, Kaufmann, nach Amerika ausgewan­
dert), Richard (*13.9.1845 Bischofswerda, †23.1.1913 Radebeul, Dr. med. 1869 in Leipzig, Arzt
in Brooklyn, Long Island College Hospital, St. Mary‘s Hospital für Frauen, Kurarzt in Schweizer­
mühle, ab 1885 Badearzt in Rosenthal, um 1900 leitender Arzt am Genesungsheim Fiedler­ und
Augustushaus Oberlößnitz, verh. mit Ida geb. Cassebeer aus Hastings­On­The­Hudson, New
York), Elise, Friedrich Louis (*7.12.1849 Bischofswerda, †22.10.1906 Leipzig, Professor und
Gründer der Universitätszahnklinik Leipzig), Anna, Marie (2.12.1852–15.10.1934, verh. mit Wil­
helm August Schrader), Hulda, Ida, Emma († mit sechs Monaten), Georg († mit zwei Wochen),
Georg (*1865 Bischofswerda, †1931 Dresden, Direktor einer privaten chirurgischen Klinik in
Dresden); E: 16.5.1874 Genf, Fanny Angelina geb. Eilshemius (*22.6.1850 New York, †1.12.1934
Dresden); K: Friedrich Henry (9.2.1875–3.8.1960, Dr. med., Orthopäde und Chirurg, Chefarzt
des Waldsanatoriums Blasewitz), Gustav (*24.12.1876 Schwarzenberg, †1.4.1945, Professor,
Direktor der Universitätszahnklinik Jena), Walter (*25.3.1879 Schwarzenberg)

Die medizinische Berufslaufbahn hat­ Walther Hesses Eltern hatten 1843


te bei den Hesses Tradition. Der Va­ geheiratet. Die Praxis des Vaters war
ter, Friedrich Wilhelm Hesse, ließ sich aber zunächst wirtschaftlich nicht
1842 als praktischer Arzt in Bischofs­ sehr erfolgreich und auch die Eltern
werda nieder, wo er von 1845 bis 1846 der Mutter konnten aus den Erträgen
die Arbeiter am Bau der Sächsisch­ ihrer Tuchfabrik kaum Hilfe leisten.
Schlesischen Eisenbahntrasse be­ Erst mit der Betreuung des Eisen­
treute. Von 1871 bis 1892 amtierte er bahnbaus besserte sich die Lage. Die
als Bezirksarzt in Zittau. Hesse sen. Familie wohnte Ende der 1840er Jahre
stammte ursprünglich aus Großröhrs­ mit drei Söhnen und einer Tochter
dorf, wo wiederum sein Vater „kleine mietfrei in einem Haus der Schwie­
Chirurgie“ praktiziert und ein Groß­ gereltern. 1849 kaufte der Vater ein
vater als Wundarzt gearbeitet hatten. Haus mit Garten am damaligen Stadt­
Friedrich Wilhelm Hesse war der ers­ rand, weil er hoffte, dass seine Kinder
te akademisch ausgebildete Mediziner hier gesünder aufwachsen würden.
seiner Familie. Er stand am Anfang Ein Angebot des Schwiegervaters, den
einer bedeutenden Ärztedynastie, so jüngsten Sohn, Walther, in Pflege zu
gründete Friedrich Louis Hesse, nehmen, wurde abgelehnt. Zusam­
ein Bruder Walthers, die Universitäts­ men mit den Söhnen des Superinten­
zahnklinik Leipzig. denten Heinrich August Lehmann
erhielten die Jungen Privatunterricht.

165
Blick entlang der historischen Stadtgrenze von Bischofswerda zum heuti-
gen Stadtbad: Links zu sehen ist die Silhouette der Fronfeste am ehemali-
gen Dresdner Tor. Rechts im Bild befindet sich das Wohnhaus der Familie
Hesse. Es wurde von Hesses Vater 1849 einschließlich Garten erworben und
1859 als Heim für schwächliche Kinder eingerichtet.

Später besuchte Walther die Kreuz­ Ernst L. Wagner. Hesse nahm 1870/71
schule in Dresden. Die drei Schwes­ als Feldassistenzarzt am Deutsch­
tern Elise, Marie und Ida wurden am Französischen Krieg teil, darunter an
Freimaurer­Institut für Töchter in den Schlachten um Gravelotte und
Dresden zu Lehrerinnen ausgebildet. St. Privat. Hier begann sein soziales
Es war von der Loge „Zum goldenen Engagement. Hesse kritisierte die me­
Apfel“ gegründet worden. Der Vater dizinische Versorgung der Truppen,
Hesse gehörte seit 1857 der Freimau­ die hygienischen Bedingungen und
rer­Loge „Zu den drei Schwertern machte Verbesserungsvorschläge. Das
und Asträa zu grünenden Raute“ in aktive Eintreten für soziale Fragen
Dresden als Mitglied an, später in blieb charakteristisch für sein weiteres
Zittau der Loge „Friedrich August zu Berufsleben. Die erste international
den 3 Zirkeln“. bekannte Arbeit war ein Ergebnis
seiner Tätigkeit als Schiffsarzt auf der
Walther Hesse ging 1866 wie sein New York ­ Linie. Professor Gavingel
älterer Bruder Richard und zwei Jahre aus Le Havre bezeichnete Hesses Er­
später der jüngere Bruder Friedrich kenntnisse zur Seekrankheit als erste
Louis zum Medizinstudium an die wissenschaftliche Arbeit zu dieser
Universität Leipzig. Er meldete sich Thematik überhaupt, die „Zittauer
1867 freiwillig zum einjährigen Mi­ Medizinische Gesellschaft“ zeichnete
litärdienst und promovierte 1870 am ihn dafür aus. Nach einer Assistenz
Pathologischen Institut bei Professor an der Heil­ und Pflegeanstalt Pirna

166
arbeitete Hesse von 1874 bis 1877 als
praktischer Arzt in Zittau. Zusam­
men mit seinem Vater, dem dortigen
Bezirksarzt, bemühte er sich um die
Schaffung gesunder Lernbedingungen
für Schüler, z. B. durch systematisches
Lüften von Schulräumen. 1874 trat
Hesse der Dresdner Freimaurer­Loge
„Zum goldenen Apfel“ bei.

Hesse hatte seine spätere Ehefrau,


Angelina Eilshemius, 1872 in New
York kennen gelernt, als er seinen
Bruder Richard besuchte und dieser
ihn in die Eilshemius­Familie ein­
führte. Sein späterer Schwiegervater,
Henry Gottfried Eilshemius, war ein
wohlhabender Kaufmann holländi­
scher Abstammung und 1842 von
Emden in die USA eingewandert.
Dessen Ehefrau, Cecile Elise (*1824) Hesse arbeitete eng mit seiner Frau
aus Lugano, war schweizerisch­ Fanny Angelina zusammen. Das Au-
französischer Abstammung aus der genmerk galt vorrangig den Infek-
Familie des Malers Leopold Robert tionskrankheiten. Rasch wachsende
(vermutlich dessen Cousine, ande­ Bevölkerungszahlen in den Städten
re Quellen sprechen von Tochter und eine unzureichende Wasserver-
und Vater). Im Alter von 15 Jahren und Abwasserentsorgung waren im
wurde Angelina auf eine Schule in die 19. Jahrhundert mitverantwortlich
Schweiz geschickt. Als sie mit ihren für die bedrohliche Zunahme von
Eltern erneut Europa besuchte, kam Infektionen. Die Hesses haben we-
sie nicht nur in die Schweiz, sondern sentliche Beiträge zum Verständnis
auch nach Dresden, wo sie Walther ihrer mikrobiologischen Grundla-
wiedertraf. Die Hochzeit fand 1874 in gen und mit Arbeiten zur Hygiene
der Schweiz statt. Gleichzeitig heira­ zu ihrer Bekämpfung geleistet.
tete ihre Schwester Cecilie Eugenie
einen Neffen des schweizerisch­ame­ Mutter, sondern stand Walther z. B.
rikanischen Zoologen und Paläon­ auch mit äußerst präzisen Zeichnun­
tologen Louis Agassiz. Die künstle­ gen zur Seite. Neben Angelina wurde
risch talentierte Angelina war in den v. a. ihr Bruder Louis Eilshemius als
Folgejahren nicht nur Hausfrau und Maler bekannt. Mehrere Familienmit­

167
Anzeige des Verlags Friedrich Vieweg und Sohn in der Jenaer Literaturzei-
tung Nr. 34, 1879.

glieder waren zeitweise in Dresden schnittlich 650 beschäftigten Bergleu­


ansässig. Louis besuchte die Realschu­ ten waren 150 an dieser Krankheit im
le, sein Bruder Fritz Emil studierte Zeitraum von 1869 bis 1877 gestor­
bis 1879 an der TH und ihr Vater war ben. Chronische Lungenerkrankun­
wie Edmund Friedrich Mitglied im gen bei Bergleuten kannte man schon
Dresdner Verein für Erdkunde unter seit dem späten 15. Jahrhundert, 1567
dem Vorsitz von Sophus Ruge. wurden sie erstmals von Paracelsus
beschrieben, der zunächst unter dem
Als Bezirksarzt in Schwarzenberg Begriff „Bergsucht“ unterschiedli­
von 1877 bis 1890 war Hesse für che Krankheiten zusammenfasste.
83 Gemeinden verantwortlich. Um Im Schneeberger Revier erkrank­
seine Kenntnisse in der Arbeits­ und ten sehr häufig junge Bergleute, die
Umwelthygiene zu vertiefen, nahm nach wenigen Monaten oder Jahren
er sich 1878/79 einen Studienurlaub starben. Für dieses Krankheitsbild
bei Max von Pettenkofer in München. wurde der Begriff „Schneeberger
Hesses Weiterentwicklung von Pet­ Bergkrankheit“ geprägt. Mithilfe von
tenkofers Methode zur quantitativen Sektionen erkannten Hesse, selbst
Bestimmung des Kohlendioxidge­ ausgebildeter Pathologe, und Härting
halts der Luft fand später Aufnahme die Bergkrankheit als Lungenkrebs.
im Übersichtswerk „Gasanalytische Es war das erste Mal, dass eine innere
Methoden“ von Walther Hempel. Krebserkrankung auf berufsbeding­
In Schwarzenberg lernte Hesse die te äußere Einflüsse zurückgeführt
Schattenseiten des Bergbaus kennen. wurde. Aufgrund fehlender Kennt­
Er untersuchte mit dem Bergarzt nisse zur Radioaktivität nahm man
Friedrich Hugo Härting die „Schnee­ damals an, dass Arsen die wesentliche
berger Bergkrankheit“. Bei durch­ Krankheitsursache sei. Hesse war im

168
Rahmen der Zusammenarbeit mit
Härting für die Untersuchung der Ar­
beitsbedingungen in den Bergwerken
zuständig. Während seiner Tätigkeit
im Erzgebirge wandte er sich aktiv
gegen die miserablen Arbeits­ und
Lebensbedingungen der einfachen
Leute. Sein besonderes Augenmerk
galt der Luftqualität, insbesondere
der Belastung mit Kohlendioxid und Rote Blutkörperchen auf Agar-Agar,
Staub. In den Steinkohlebergwerken links mit Staphylokokken infiziert,
des Zwickauer Reviers analysierte rechts mit Streptokokken. Blutagar
Hesse die klimatischen Verhältnisse. ist als Nährboden von Bedeutung
Er unterbreitete Verbesserungsvor­ für die Diagnostik von Bakterien,
schläge, um die damals noch zur die rote Blutkörperchen durch Hä-
Arbeit herangezogenen Kinder besser molyse zersetzen, wie z. B. Mala-
zu schützen. riaerreger. Quelle: National Cancer
Institute der USA, Bill Branson, Wi-
In seiner ärztlichen Berufspraxis war kimedia Commons, Public Domain.
bei Hesse die Überzeugung gewach­
sen, dass Bakterien die Ursache vieler licherweise schon bei Temperaturen
Erkrankungen sein könnten. Bald über 28° – viele Bakterienstämme be­
wurde die Bakteriologie zu seinem nötigen aber ca. 37° für ein optimales
Arbeitsschwerpunkt. International Wachstum. Außerdem können viele
zählen Hesse und seine Ehefrau heute Bakterien Gelatine verwerten. Hesse
zu den Wegbereitern der modernen informierte Koch über eine bahnbre­
Mikrobiologie. 1881/82 nahm er sich chende Idee seiner Ehefrau. Angelina
während der Schwarzenberger Zeit kannte für ihre Puddings und Gelees
einen Forschungsurlaub am „Kaiser­ Rezepte, bei denen die für Gelatine
lichen Gesundheitsamt“ bei Robert bekannten Probleme nicht auftraten
Koch. Die Einführung fester Nährbö­ – sie hatte sie noch in New York von
den für Bakterienkulturen in Kochs einem holländischen Immigranten
Labor gilt als Geburtsstunde der mo­ aus Java erhalten. Das aus Meeralgen
dernen Mikrobiologie. In Flüssigkul­ gewonnene Agar­Agar geliert nach
turen lassen sich Bakterienarten nicht einmaligem Aufkochen beim Ab­
zuverlässig genug trennen. Die von kühlen unter 44° und wird auch bei
Koch zunächst als Nährbodenverfes­ erneuter Erwärmung nicht wieder
tiger verwendete Gelatine wies jedoch flüssig. Zudem sind die meisten Bak­
prinzipielle Nachteile auf: Nährböden terien nicht in der Lage, die Polysac­
auf Gelatinebasis verflüssigen sich üb­ charide des Agar zu verwerten. Die

169
Substrate konnten damit sterilisiert zur quantitativen Bestimmung der
und Bakterienkulturen auch über bakteriellen Belastung von Luft und
lange Zeit reproduzierbar untersucht Wasser, aber auch zu Infektionskrank­
werden. Robert Koch zitierte in heiten wie Typhus und Cholera als
seiner berühmten und später seinen bedeutsam. 1885 verfasste er gemein­
Nobelpreis mitbegründenden Rede sam mit seinem Bruder Richard,
„Die Ätiologie der Tuberkulose“ von inzwischen Kur­ und Badearzt in
1882 zur erstmaligen Identifikation Schweizermühle bzw. Rosenthal, die
des Tuberkulosebakteriums gelierte Schrift „Über Züchtung der Bacillen
und speziell präparierte Blutseren des malignen Oedems“.
als Nährböden und erwähnte Agar
nur am Rande, die Hesses gar nicht. 1890 wurde Hesse als Bezirksarzt
Agar­Agar erwies sich aber seitdem nach Dresden­Strehlen berufen. Zu
als so erfolgreich, dass es aus der seinem Verantwortungsgebiet ge­
Bakteriologie nicht mehr wegzuden­ hörten in den Folgejahren mehrere
ken ist. Die Ideengeberin blieb lange Amtsgerichtsbezirke bis Tharandt und
unbekannt. Radeberg. Ihre Söhne schickten die
Hesses auf das Vitzthum­Gymnasium
Es ist das Hauptverdienst der Hesses, (vgl. Artikel zu Julius Lehmann).
Agar in die bakteriologische Praxis Hesse erwarb sich auch in Dresden
eingeführt zu haben. Von seiner Frau große Verdienste um die moder­
unterstützt, setzte Walther Hesse die ne Hygiene und hat weiter zu den
Forschungen auf diesem Gebiet auch Grundlagen der Bakteriologie beige­
in den Folgejahren in Schwarzenberg tragen. Er führte Desinfektionsver­
fort. Dabei gelten v. a. seine Beiträge fahren ein und förderte das Impfwe­
sen. Seine Erfahrungen aus der Praxis
publizierte er vielfach in angesehenen
wissenschaftlichen Zeitschriften und
er hielt Vorträge vor der „Gesellschaft
für Natur­ und Heilkunde zu Dres­
den“. Hesse blieb gegenüber Neuerun­
gen stets aufgeschlossen und über­
nahm rasch die Petrischale, um die
Bakterien nicht in, sondern auf Agar
zu ziehen. Besonders den Kindern
und ihren Krankheiten galt seine Auf­
merksamkeit. Er schrieb: „Unter den
Krankheiten, die Leben und Gesund­
Hesses Villa in Dresden-Strehlen, heit der Säuglinge bedrohen, nehmen
Julius-Otto-Straße 11. die Erkrankungen des Verdauungsap­

170
Bibliografie
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„Anleitung zur Bestimmung der Kohlensäure in der Luft, nebst einer Beschreibung des hierzu nöthi­
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„Zur quantitativen Bestimmung der Keime in Flüssigkeiten“, MM&I, 1888, Springer
„Unsere Nahrungsmittel als Nährböden für Typhus und Cholera“, MM&I, 1889, Springer
„Ueber Sterilisirung von Kindermilch“, MM&I, 1890, Springer
„Ueber die gasförmigen Stoffwechselproducte beim Wachsthum der Bakterien“, MM&I, 1890, Sprin­
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„Ein neues Verfahren zur Züchtung anaërober Bacterien“, MM&I, 1892, Springer
„Ueber Aetiologie der Cholera“, MM&I, 1893, Springer
„Ueber den Einfluss der Alkalescenz des Nährbodens auf das Wachsthum der Bakterien“, MM&I,
1893, Springer
„Zur Diagnose der Diphtherie“, MM&I, 1894, Springer
„Die Petri‘sche Doppelschale als feuchte Kammer“, MM&I, 1894, Springer
„Ueber die Beziehungen zwischen Kuhmilch und Cholerabacillen“, MM&I, 1894, Springer
„Ueber Gasaufnahme und ­abgabe von Culturen des Pestbacillus“, MM&I, 1897, Springer
„Ueber den Bakteriengehalt im Schwimmbassin des Albertbades zu Dresden“, MM&I, 1897, Springer
„Die Typhusepidemie in Löbtau im Jahre 1899“, MM&I, 1899, Springer
„Ein neues Verfahren zur Züchtung des Tuberkel­Bacillus“, MM&I, 1899, Springer
„Ueber einen neuen Muttermilchersatz: Pfund‘s Säuglingsnahrung“, MM&I, 1900, Springer
„Ist der Nährstoff heyden bakterienhaltig?“, European Food Research and Technology, 1901, Springer
„Zur quantitativen Bestimmung der Wasserkeime“, Centralblatt für Bakteriologie, 1902
& Niedner, „Zur Methodik der bakteriologischen Wasseruntersuchung“, MM&I, 1902, Springer
„Ueber die Abtödtung der Tuberkelbacillen in 60° C. warmer Milch“, MM&I, 1903, Springer

MM&I: Medical Microbiology and Immunology, zu Hesses Zeit: „Zeitschrift für Hygiene
und Infektionskrankheiten, medizinische Mikrobiologie, Immunologie und Virologie“,
gegründet von Robert Koch

171
parates die hervorragendste Stellung Anwendungen, z. B. zur Bestimmung
ein. Die Bedrohung ist um so grösser, der Keimzahl in Trinkwasser und
je jünger die Säuglinge sind.“ Seine Milch. 1901 wurde Hesse Mitglied der
Arbeit „Ueber Sterilisirung von Kin­ „Naturwissenschaftlichen Gesellschaft
dermilch“ (1890) schuf die Grundlage ISIS“ unter Hempels ehemaligem
zur Einführung der Pasteurisierung Schüler Fritz Foerster. Gustav Hes­
von Kindermilch in Pfunds Molkerei. se untersuchte auf Anregung seines
1893 berichtete er in der Festschrift Vaters in Dresden vor der Berufung
anlässlich des 50­jährigen Doktorju­ nach Jena die Herstellung von Nähr­
biläums seines Vaters in Zittau „Ueber böden zur Bakterienzüchtung. Hesses
Milchsterilisirung im Grossbetriebe“. Laboratorium an der TH wurde nach
Der Ausbruch von Typhus­, Diph­ seinem Tod aus Angst vor einer bak­
therie­ und Cholera­Epidemien in teriellen Verunreinigung abgebrannt.
der Region Dresden ließ Hesse die Die Erben verkauften das Haus in
mikrobiologischen Grundlagen dieser Strehlen um 1918 und Angelina zog
Krankheiten im Labor untersuchen, in die Winckelmannstraße. In der
er analysierte den Bakteriengehalt im nahe gelegenen Lüttichaustraße und
Dresdner Albertbad und verfasste später im privaten „Südsanatorium“
Hygienevorschriften. Zur Thematik in der Schnorrstraße 82 praktizierte
öffentliche Gesundheit unternahm ihr Sohn Friedrich Henry.
Hesse 1899 eine Studienreise nach
Norddeutschland, England und Hesses Leistungen sind mit der
den USA. Dabei galt sein Hauptin­ Ernennung zum „Geheimen Me­
teresse den dortigen Wasser­ und dizinalrat“ gewürdigt worden. Sein
Abwasseranlagen. Hesse führte seine Vermächtnis wurde durch seine
wissenschaftlichen Untersuchungen Kinder und Enkelkinder fortgeführt,
in seinem Zuhause in der Strehlener von denen viele die ärztliche Berufs­
Julius­Otto­Straße sowie in einem laufbahn eingeschlagen haben.
ihm zur Verfügung gestellten Labo­
ratorium an der Technischen Hoch­ Das Wandgrabmal der Familie Hes-
schule Dresden durch. Hier und im se (rechts) von Arnold Kramer auf
„Laboratorium für Anorganische und dem Friedhof Radebeul-Ost zeigt
Analytische Chemie“ der TH arbeite­ die Eltern mit Walther und seinen
te Hesse eng mit Professor Walther 9 erwachsenen Geschwistern. Drei
Hempel zusammen. Er bemühte Grabtafeln, davon eine seitlich an-
sich außerdem gemeinsam mit der gebrachte, erinnern an 14 Familien-
Chemischen Fabrik Heyden Radebeul angehörige, darunter Walther, sein
um eine industrielle Herstellung von Bruder Richard und seine Schwester
Agar­Agar, und er entwickelte ver­ Marie, seine Frau Angelina und die
schiedene Variationen für spezielle beiden Söhne Friedrich und Gustav.

172
Quellen: S. 412 ff. 173
Karl Traugott Kanig (Quelle: Gabriele Hollborn, Ururenkelin von Kanig).

174
Kanig, Karl Traugott
Pfarrer und sorbischer Liederdichter in Klix
auch: Konik, Korla Bohuwjer
29.07.1804 Hochkirch – 24.10.1878 Klix

V: George Gotthelf (*8.11.1782 Hochkirch, †11.4.1848 Hochkirch); M: Margarethe geb. Schuster


(aus Kubschütz, †1859 Hochkirch); G: Johanna Carolina (*31.12.1805 Hochkirch), George
Gotthelf (*12.8.1807 Hochkirch, †1807 Hochkirch), Anna Maria (*28.11.1809 Hochkirch, †1811
Hochkirch), Johann August (*29.11.1811 Hochkirch, †18.12.1834 Leipzig, Gymnasium Bautzen,
Theologiestudium in Leipzig), Maria Christiana (*30.11.1813 Hochkirch, †1813 Hochkirch),
Maria Christiana (*30.9.1815 Hochkirch), Johann Ernst (*13.5.1818 Hochkirch, Gymnasium
Bautzen, Sprachübungen bei Jan Arnost Smoler, Theologie­ und Medizinstudium in Leipzig, Dr.
med., Gerichtsarzt in Weißenberg), George Gotthelf (*5.12.1824 Hochkirch); E: (1) 21.9.1830
Kleinwelka, Juliane Charlotte geb. Wannack (*8.6.1809 Kleinwelka, †10.4.1851 Klix, Tochter des
Gutsverwalters Georg Wannack aus der Brüdergemeine Kleinwelka), (2) 20.7.1855 Klix, Mathil­
de Caroline verw. Hallensleben geb. Kanig (*24.7.1812 Löbau, †6.1.1889 Radebeul, Tochter von
Carl Benjamin Kanig, Apotheker in Löbau, erste Ehe mit Ernst Wilhelm Gottfried Hallensleben,
Kaufmann in Sondershausen); K: Alwin Theodor (*28.9.1834 Klix, †18.4.1876 Gablenz, Pfarrer),
Karl Otto Georg (*23.1.1845 Klix, †1910 Kleinzschachwitz, Oberpfarrer in Pulsnitz)

Kanig wurde als erstes Kind einer Pfarrhaus, während die Bauerngü­
alteingesessenen Krämerfamilie in ter in der Umgebung brannten. Um
Hochkirch geboren. Er wuchs im vom später Theologie studieren zu können,
Vater gebauten Haus „GGK 1807“ in ging Kanig nach Bautzen auf das
der Blutgasse auf. Als kleines Kind Gymnasium. Wegen finanzieller Pro­
wäre er fast im brennenden Zuhause bleme der Eltern musste er die Schule
ums Leben gekommen, später noch­ zwischenzeitlich unterbrechen und
mals bei einem Unfall in der Scheu­ eine kaufmännische Lehre aufneh­
ne. Die streng altlutherischen Eltern men. Auf dem Gymnasium begeis­
sahen in der knappen Rettung ein terte ihn Rektor Karl Gottfried
Zeichen Gottes, dass er mit dem Kind Siebelis derart für alles Lateinische,
noch Großes plant, was später den dass sich Kanig auch später noch die­
Lebensweg des Sohnes entscheidend ser Sprache wiederholt bediente. Von
beeinflussen sollte. Zu den einschnei­ 1824 bis 1827 studierte er Theologie
denden Ereignissen in jungen Jahren in Leipzig, wo er der Lausitzer Predi­
zählte auch der Befreiungskrieg gegen gergesellschaft angehörte.
Napoleon. Wiederholt zogen unter­
schiedliche Truppenverbände durch Nach dem Studium begann Kanig
den Ort. So weilte der Kaiser selbst in als Hilfsprediger in seiner Heimatge­
der Nacht vom 4. zum 5. September meinde Hochkirch. Hier erwarb sich
1813 in Hochkirch und schlief im zu jener Zeit Pfarrer Michael Möhn

175
väterlichen Freund und Berater.
Kanig wird den „erweckten sorbi­
schen Pastoren“ zugerechnet. Die
Erweckungsbewegung, auch Neupie­
tismus genannt, der sorbischen
Lutheraner stellte eine spezielle Va­
riante des Spätpietismus dar. Kanigs
Heimat, die Gegend um Hochkirch,
war seinerzeit ein Zentrum dieser
sorbischen pietistischen Bewegung,
die sich auch um die Verbreitung
religiöser Schriften im Volke bemüh­
te. Als Pfarrer von Uhyst hielt Kanig
sonntagsabends Missionsstunden im
Sinne der Herrnhuter Brüdergemeine
und Gläubige kamen von weit her, um
daran teilzunehmen.

Nachdem Heinrich LXIII. Prinz Reuß


zu Köstritz, Herr auf Spreewiese,

Vom Fuß des Turms der Kirche


in Hochkirch führt die Blutgasse
ins Tal in Richtung Pommritz. Sie
erinnert an die Schlacht zwischen
Preußen und Österreich, die im Jah-
re 1758 17000 Tote forderte.

große Verdienste um die Gleichbe­


rechtigung der sorbischen Sprache an
Schulen und die Verbreitung sorbi­
schen Liedguts. 1829 wurde Kanig
als Pfarrer nach Uhyst/Spree berufen.
Das Pfarramt Uhyst stand seinerzeit
unter dem Patronat der Herrnhuter
Brüdergemeine und Kanig fand in
dem Grafen Dohna auf Mönau einen Kirche in Uhyst.

176
Klipphausen und Klix, eine Predigt
von Kanig in Uhyst gehört hatte, bot
er diesem 1834 die vakante Stelle in
Klix an. Diakon war hier der liberale
Handrij Zejler, der Wunschkandidat
der Gemeinde. Kanig ging sein pie­
tistischer Ruf voraus und die Klixer
Gemeinde stellte sich zunächst vehe­
ment gegen ihn. Nach Kanigs Beru­
fung wechselte Zejler als Pfarrer nach
Lohsa. Das Diakonat wurde von Ka­ Innenaufnahme der Kirche in Klix
nig bis 1840 mit übernommen, weil im 19. Jahrhundert.
nach dem Großbrand von 1830 Geld
gespart werden musste. Dank der Un­ Missionsfest in Baruth, 1853 vereinig­
terstützung der Familie Reuß konnte te er die sorbischen Missionsvereine
Kanig, der mehr als vier Jahrzehnte und 1854 gründete er zusammen mit
in Klix wirken sollte, mit der Zeit das dem Klixer Diakon Johann Rudolf
Vertrauen seiner Gemeinde gewin­ Richter, später Pfarrer in Kotitz, die
nen. Im August 1834 gehörte er zu Zeitschrift „Missionski Posoł“. Der in
jenen 18 evangelischen Geistlichen, einer monatlichen Auflage von 900
die im Namen von 50000 Sorben bei Stück herausgegebene Missionsbote
der sächsischen Regierung gegen die widmete sich Missionsberichten, Pre­
Benachteiligung ihrer Muttersprache digten und Liedern. Kanig übersetzte
protestierten, im Jahr darauf geneh­ dafür deutsche Choräle in das Sor­
migte der Landtag per Gesetz den bische. 1855 verfasste er eine Schrift
Gebrauch der sorbischen Sprache in zu Martin Luther: „Nebo Dr. Merten
einigen Schulfächern. Die tiefgläubige Lutherowe Žiwenje“. Seine Bemühun­
Prinzessin Reuß zu Köstritz, spätere gen um die sorbische Sprache gingen
Großherzogin Auguste von Mecklen­ so weit, dass er die Verordnung zum
burg, erhielt bei Kanig am 6. Oktober stärkeren Gebrauch der deutschen
1838 ihre Konfirmation. Sprache im Schulunterricht von 1860
nicht an die Lehrer seines Aufsichts­
Kanig zählte zu den bedeutendsten bezirks weitergab, wofür er von der
sorbischen Liederdichtern und zu Kreisdirektion gerügt wurde. Für den
den aktivsten Vertretern der Inne­ 1862 von Jaroměr Hendrich Imiš ge­
ren Mission unter den Sorben. 1842 gründeten „Wendischen evangelisch­
wurde sein „Jesu, Dobry Ljekar­ lutherischen Buchverein“ mit seinen
jo“ in das „evangelisch­wendische etwa 1000 Mitgliedern verfasste er für
Gesangbuch“ aufgenommen. 1848 die Jahre 1862–1868 sowie 1870 einen
organisierte Kanig das erste sorbische biblischen Wegweiser: „Bibliski pucz­

177
Ein Grabmal an der Außenwand der Kirche zu Klix erinnert noch heute an
Kanig: „Er war vor vielen wie ein Wunder, aber der Herr war seine starke
Zuversicht.“

178
nik wudoty wot serbskejo lutzerdkose Kittlitz). Ein Urenkel, Ernst Kanig,
knihowarso towarstewa“. 1862 betrug erwarb sich große Verdienste als Vi­
die Auflage 3000 Stück. Kanig war kar in Ober­ und Niedercunnersdorf
Mitglied im „Erweiterten Ausschuss“ sowie Löbau und Vorsitzender der
des Buchvereins. Seine 38 Lieder in Sächsischen Missionskonferenz.
„Zionsky Hlosy“ (Zionsstimmen,
Quellen: Siegfried Störzner: „Welche Hei­
1868) wurden von Michal Domaska matgedenktage bringt das Jahr 1938 der
als „vom Heiligen Geist getragen“ Bischofswerdaer Pflege und ihrer Umgebung?“
geschätzt. Im neuen evangelischen Unsere Heimat, Beilage zum Sächs. Erzähler,
Gesangbuch ist er mit mehreren Nr. 1, 3.1.1938; Wilhelm Haan: „Sächsisches
Schriftsteller­Lexicon“. Robert Schaefer‘s Verlag
Übersetzungen und einem Original­ Leipzig, 1875, S. 153–154; Reinhold Grünberg:
werk vertreten. „Sächsisches Pfarrerbuch. Die Parochien und
Pfarrer der Ev.­luth. Landeskirche Sachsens
Neben seiner Arbeit als Pfarrer und (1539–1939)“. Ernst Mauckisch Freiberg, 1940,
S. 410; Gabriele Hollborn (Weimar, Ururenke­
seinen Bemühungen um die Eman­ lin); Franz Lau: „Herbergen der Christenheit“.
zipation der Sorben nahm Kanig Evangelische Verlagsanstalt, 1980; Zeitschrift
auch am gesellschaftlichen Leben teil. für slavische Literatur, Kunst und Wissenschaft,
1852 spendete er für das von Edu­ 1862, S. 233; Jakub Wjacslawk: „Wendische
(sorbische) Bibliographie“. 1929; Walter J.
ard Gottlob von Nostitz und Rauch: „Presse und Volkstum der Lausitzer
Jänkendorf in Oppach gegründete Sorben“. Holzner, 1959; K. Jahn: „Auguste,
Rettungshaus. Mit Ernst Theodor Großherzogin von Mecklenburg­Schwerin:
Stöckhardt von der Landwirt­ ein Lebensbild“. Ausg. 4, A. Hildebrand, 1865;
Erhard Hartstock: „Die sorbische nationale
schaftsschule im benachbarten Brösa Bewegung in der sächsischen Oberlausitz
stand er in regelmäßigem Kontakt. 1830–1848/49“. Domowina­Verlag, 1977; Neues
lausitzisches Magazin, Bd. 8, 1844, S. 127, Bd.
Karl Traugott Kanig begründete eine 39, 1862, S. 391; Peter Kunze: „Sorbisches
Schulwesen: Dokumentation zum sorbischen
Familientradition, nach der inner­ Elementarschulwesen in der sächsischen Ober­
halb der folgenden 100 Jahre fünf lausitz des 18./19. Jahrhunderts“. Domowina­
Nachfahren gleichen Familienna­ Verlag, 2002; Theodor Birnich: „Die Parochie
mens wiederum Pfarrer in Sachsen Klix“. Neue Sächsische Kirchengalerie, 1904;
Siegmund Musiat: „Sorbische/wendische Ver­
wurden. Die bekanntesten darunter eine 1716–1937“. Domowina­Verlag, 2001; Jan
waren Otto Kanig (Lehrer an der Malink (Maćica Serbska), Mitteilungen 2013;
Thomasschule Leipzig, 1874 Diako­ Ernst Theodor Stöckhardt: „Stammtafel der
Familie Stoeckhardt, Putzkauer und Lauterba­
nus und 1875 Gymnasialprofessor in
cher Zweig“. Wagner Weimar, 1883; Leipziger
Bautzen, 1891 Oberpfarrer in Puls­ Zeitung, 4.7.1852; Deutsches Geschlechterbuch,
nitz) und dessen Sohn Karl Moritz Bd. 143, C.A. Starke, 1967; Amts­Blatt der Re­
Gerhard Kanig (*25.11.1875 Bautzen, gierung in Breslau, Bd. 54, 1863; Peter Kunze:
„Jan Arnošt Smoler“. Bd. 10 von Schriften des
†6.7.1958 Klittlitz, 1899–1906 Missi­
Sorbischen Instituts, Domowina­Verlag, 1995;
onar in Ukamba/Kenia, später Pfarrer gedbas.genealogy.net; Kirchenarchiv Hoch­
in Glauchau, Großolbersdorf und kirch; Matrikelverzeichnisse Universität Leipzig

179
Christian Adolph Klotz, Kupferstich von Johannes Michael Stock, Deutsche
Fotothek, Lizenz: CC BY-SA.

180
Klotz, Christian Adolph
Professor in Göttingen und Halle
13.11.1738 Bischofswerda – 31.12.1771 Halle

V: Johann Christian (*5.3.1701 Höngeda bei Mühlhausen, †2.9.1776 Bischofswerda), 1725 Ma­
gister der Philologie, 1727 Habilitation und Adjunkt der philosophischen Fakultät in Wittenberg,
1729 Archidiakonus, 1730 Heirat, 1738 Superintendent in Bischofswerda; M: Christiane Friede­
rike geb. Auenmüller (*17.7.1709 Bischofswerda, †3.4.1774 Bischofswerda), Tochter von Gottlob
Auenmüller (Rechtskonsulent, †31.5.1735 als Bürgermeister von Bischofswerda) und Schwester
von Friedrich Gottlob Auenmüller (*1.11.1711 Bischofswerda, †13.7.1776 Braunsdorf, Inspektor
der Porzellanmanufaktur Meißen von 1740 bis 1764 zur Zeit von Heinrich von Brühl und Jo­
hann Joachim Kändler, von Prinz Xaver entlassen); G: Christian August (besuchte das Gymna­
sium Görlitz, studierte Jura), Christiana Carolina (heiratete am 11.10.1763 den Mittagsprediger
von St. Petri und Paul und Katecheten der Johanniskirche Christian Gottlob Bürger/†13.7.1767
in Zittau), 1 Bruder und 2 Schwestern früh verstorben; E: 1763 Göttingen, Johanna Maria geb.
Sachse (* um 1740, Tochter eines Ratsapothekers); K: 1 Tochter († früh in Göttingen)

Klotz kam schon als Kind von drei Studium nach Wittenberg, wo Johann
Jahren mit dem seinerzeit jugend­ Christian Klotz von 1727 bis 1729 als
lichen Gotthold Ephraim Lessing Adjunkt der philosophischen Fakultät
zusammen, als sich dieser bei einem wirkte. In der Religion sympathisier­
Verwandten, dem Putzkauer Pfarrer te Christian Adolph Klotz mit dem
Johann Gotthelf Lindner, aufhielt Pietismus der Herrnhuter Brüderge­
und mit jenem den befreundeten meine. 1757 verfasste er ein Gedicht
Vater Klotz in der Superintendentur auf die Belagerung von Zittau („Thre­
in Bischofswerda besuchte. Der Sohn nodia cineri Zittav“).
erhielt zuhause Privatunterricht und
besuchte kurzzeitig die Fürstenschule 1758 bezog Klotz die Universität
St. Afra in Meißen. Leipzig. Zu seinen Förderern zählten
der Strafrechtsreformer Karl Ferdi­
1756 wechselte Klotz auf das nand Hommel und der Rektor und
Görlitzer Gymnasium, wo ihn der Professor für Dichtkunst Carl Andre­
langjährige Rektor Friedrich as Bel. Auch bei dem Philologen und
Christian Baumeister für die alten Theologen Johann August Ernesti
Sprachen begeisterte. Bei diesem nahm er Unterricht. Klotz verfasste
Wechsel hatte wohl eine Rolle ge­ 1758 seine philologische Dissertati­
spielt, dass sich Klotz‘ Vater und der onen „Pro M. Tullio Cicerone adver­
Görlitzer Rektor aus ihrer Witten­ sus Dionem Cassium et Plutarchum
berger Zeit vermutlich gut kannten. dissertatio“ (in Görlitz mit Baumeister
Friedrich Christian Baumeister bei Fickelscherer) und „Ad virum
wechselte 1729 zum Philosophie­ doct. I. C. Reichelium epistola, qua

181
Bischofswerda im 18. Jahrhundert: Vor der Kirche (A) befand sich die Su-
perintendentur (N). Möglicherweise war dieses Gebäude sogar das Geburts-
haus von Klotz. Später wirkte hier Gottlob Ernst Ottomar Baumeister, ein
Sohn des Görlitzer Rektors, den Klotz‘ Vater 1767/1768 nach Bischofswerda
zu seiner Unterstützung geholt hatte.

de quibusdam ad Homerum perti­ 1761 hielt Klotz Vorlesungen an der


nentibus disputatur“. Er publizierte Universität Jena über den römischen
Spottschriften auf die gelehrten Kreise Dichter Horaz, dem 1762 auch seine
Leipzigs („Mores eruditorum“, „Geni­ Habilitation „De felici Horatii au­
us seculi“), um dagegen selbst ano­ dacia“ (gedruckt bei Fickelscherer
nym zu polemisieren („Somnium in in Görlitz) galt. In Jena wirkte er
quo, praeter cetera, genius seculi cum zudem als Sekretär der lateinischen
moribus eruditorum vapulat“). Klotz Gesellschaft. 1762 wurde er unter
erlangte die gewünschte Aufmerk­ Georg III., König von Großbritanni­
samkeit. Mit streitbaren Rezensionen en und Kurfürst von Hannover, zum
sollte er sich in der Folgezeit viele außerordentlichen und 1763 zum
Gegner machen. Bekannt wurden vor ordentlichen Professor an der phi­
allem seine Streitschriften gegen den losophischen Fakultät in Göttingen
niederländischen Philologen Pieter berufen. Hier geriet er zunehmend
Burmann den Jüngeren („Antibur­ in Konkurrenz zu Christian Gottlob
mannus“, „Funus Petri Burmanni Heyne, der statt Klotz die Professur
Secundi“). Das Kriegsjahr 1760 ver­ der Beredsamkeit und die Direktion
brachte Klotz in Bischofswerda. des philologischen Seminars erhielt.

182
1765 wechselte Klotz als Hofrat und Bischofswerda geborenen Karl Fried­
Professor für Philosophie und Be­ rich Bahrdt (1769).
redsamkeit nach Halle. Sein Schüler
Johann Georg Meusel folgte ihm. Klotz war Mitglied der Kaiserlichen
Im selben Jahr kam der Historiker Königlichen Kupferstecher­Gesell­
Carl Renatus Hausen nach Halle, den schaft zu Wien, der Kaiserlichen
Klotz schon seit seiner Leipziger Zeit Akademie zu Roveredo, der Kurfürst­
kannte. In Halle förderte er Friedrich lichen Mainzischen Akademie der
Justus Riedel und freundete sich mit Wissenschaften, des historischen In­
dem Laubaner Gottlob Benedikt von stituts zu Göttingen, der lateinischen
Schirach an. Zu seinen eifrigsten An­ Gesellschaften zu Jena und Baden, der
hängern zählten auch Johann Georg Physikalisch­Ökonomischen Bienen­
Jacobi, später erster protestantischer gesellschaft in der Oberlausitz und
Professor in Freiburg, und der Dich­ der deutschen Gesellschaft in Altdorf
ter Gottfried August Bürger. Fried­ sowie Kanonikus des Stifts Wurzen.
rich der Große ernannte ihn zum Er war vielseitig belesen und schrieb
jüngsten preußischen Geheimrat, zu den unterschiedlichsten Themen in
als Klotz einen Ruf von Stanislaus II. Literatur, Geschichte, Religion, Kunst
August Poniatowski nach Warschau und Philologie. Klotz zählte zu den
ablehnte. Die von ihm geforderte Mit­ bekanntesten Autoren der Epoche
Berufung von Carl Renatus Hausen von „Aufklärung“ und „Sturm und
war zunächst bestätigt worden, doch Drang“. Er war rhetorisch begabt
schließlich verzichtete Klotz selbst. und scharte mit seiner Eloquenz eine
Später entzweiten sie sich, weil Klotz breite Anhängerschaft um sich. Klotz
Hausen zunehmend misstraute. Ab gab die seinerzeit bedeutenden litera­
1768 leitete Klotz auch die Universi­ rischen Zeitschriften „Acta litteraria“,
tätsbibliothek. „Deutsche Bibliothek der schönen
Wissenschaften“ und „Neue hallische
Klotz war seit 1763 Mitglied der gelehrte Zeitungen“ heraus. Er gilt
„Akademie der gemeinnützigen Wis­ zudem als der bedeutendste Dichter
senschaften“ in Erfurt. Als der zustän­ in lateinischer Sprache seines Jahr­
dige (katholische) Mainzer Erzbischof hunderts. In der posthum gedruckten
Emmerich Joseph von Breidbach zu Sammlung „Briefe deutscher Gelehr­
Bürresheim Ende der 1760er Jahre die ten an den Herrn Geheimen Rath
in die Krise geratene Erfurter Univer­ Klotz“ wird deutlich, welch große
sität reformieren wollte, beauftragte Anerkennung Klotz zeitweise genoss.
er damit den Protestanten Klotz. Der
holte neben Christoph Martin Wie­ Mit seinem Ruhm wuchsen jedoch
land und Friedrich Justus Riedel auch auch der Anspruch von Klotz, sich zu
den skandalumwitterten, ebenfalls in allen Themen seiner Zeit zu äußern,

183
Bibliothek“ wurden zur Zielscheibe
Auszug aus dem Streit von Klotz‘ Kritik. Dessen Schrift
„Über das Studium des Alterthums“
mit Gotthold Ephraim erschien 1766, zwei Jahre nach dem
Lessing Grundlagenwerk der Altertums­
wissenschaft „Geschichte der Kunst
Lessing schrieb in „Briefe antiqua­ des Altertums“ von Johann Joachim
rischen Inhalts“ Bezug nehmend Winckelmann. Es folgten kontrover­
darauf, dass Klotz Lessing in seinen se Dispute zwischen Winckelmann,
Rezensionen etwas ironisch immer Klotz, Lessing und Herder, was auch
mit seinem Magistertitel nannte, bei Karl August Böttiger („Kleine
den Lessing nie verwandte: „Was Schriften archäologischen und anti­
kann Herr Klotz damit, daß er quarischen Inhalts“) sichtbar wird.
mich, der ich mich nie so nenne, Auf die Erarbeitung eines Buchs zur
stets Herr Magister Lessing nennt, Weltgeschichte verzichtete Klotz auf
anders wollen, als mir den Abstand, Rat von Gotthold Ephraim Lessing
der zwischen ihm als geheimen und schrieb dafür 1767/68 „Beytrag
Rath und mir als Magister Statt fin­ zur Geschichte des Geschmacks
det, recht fühlbar machen? Allein und der Kunst aus Münzen“ und
ziemt es wohl dem Schmetterling, „Ueber den Nutzen und Gebrauch
so verächtlich auf die Raupe herab­ der alten geschnittenen Steine und
zublicken, aus der er sich bildete? ihrer Abdrücke“. Klotz widmete sich
Denn ich wüßte in der That nicht, verstärkt der bildenden Kunst und
aus welcher andern Ursache ihn hielt Kontakt zur 1764 gegründeten
sein König zum geheimen Rath Dresdner Kunstakademie, insbeson­
gemacht habe, als weil er ihn für dere zu Christian Ludwig von Hage­
einen guten Magister gehalten. dorn und Giovanni Battista Casanova.
Auch ist es bloß der Magister, Der Dichter Johann Wilhelm Ludwig
mit dem ich es hier zu thun habe: Gleim war ihm wohlgesonnen.
denn wenn Herr Klotz nicht auch
Magister wäre, so wüßte ich nicht, Von Berühmtheiten wie Lessing und
was ich mit dem geheimen Rath Johann Gottfried Herder wurde Klotz
anfangen sollte; und wehe dem in den letzten Jahren wegen man­
Herrn geheimen Rath, wenn ihn cher Oberflächlichkeiten in seinen
sein Magister im Stiche läßt!“ Schriften vernichtend diskreditiert.
Sie reagierten damit auch auf dessen
und seine Neigung, auch berühmte kritische Rezensionen. In „Laokoon
Zeitgenossen kritisch zu hinterfra­ oder über die Grenzen der Mahle­
gen. Vor allem Friedrich Nicolai rey und Poesie“ (1766) hatte Lessing
und dessen „Allgemeine deutsche versucht, bildende Kunst und Litera­

184
tur als grundsätzlich verschieden, als Streitlust ebneten den Weg zu einer
die Behandlung von Gegenständen weitgehenden Isolierung von Klotz
versus Handlungen darzustellen. am Ende seines kurzen Lebens. Dies
Dies stand im Gegensatz zu Johann verstellte lange den Blick auf seine
Joachim Winckelmann und Horaz Leistungen. Klotz hatte das Denken
(„ut pictura poesis“, „ein Gedicht ist seiner Zeit mitbestimmt und Interesse
wie ein Gemälde“). Als Klotz ihn in an Literatur und Geschichte geweckt.
„Ueber den Nutzen und Gebrauch der
alten geschnittenen Steine und ihrer Quellen: Conrad Bursian: „Klotz, Christian
Abdrücke“ (1768) kritisierte, erzürn­ Adolph“. Allgemeine Deutsche Biographie,
te dies Lessing derart, dass er Klotz Bd. 16, Duncker & Humblot, Leipzig 1882, S.
in der Folgezeit wiederholt angriff. 228–231; Carl Renatus Hausen: „Leben und
Charakter Herrn Christian Adolph Klotzens“.
Neben inhaltlichen Aspekten spielten Hemmerde Halle, 1772; „Gotth. Ephr. Lessings
allerdings auch subjektive Faktoren sämmtliche Werke“. Karlsruhe, 1825; Karl
eine Rolle. Lessings Freund Friedrich Wilhelm Mittag: „Chronik der königlich säch­
sischen Stadt Bischofswerda“. Friedrich May,
Nicolai stand mit der „Allgemeinen Bischofswerda, 1861; Herbert Jaumann: „Hand­
deutschen Bibliothek“ in direkter buch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit“. Bd.
Konkurrenz zu Klotz, und Lessing 1, Walter de Gruyter, 2004, S. 370–371; Johann
selbst war nach dem Scheitern seines Gottfried Herder: „Kritische Wälder oder
Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst
Projekts „Hamburger Dramaturgie“ des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer
unter Druck. Klotz sah in Lessings Schriften“. Herders Sämmtliche Werke, Bd. 3,
Argumenten sophistisches Diskutie­ Berlin 1878; Manfred Beetz, Hans­Joachim
ren über Kleinigkeiten – und nannte Kertscher: „Anakreontische Aufklärung“. Bd. 28
von Hallesche Beiträge zur Europäischen Auf­
ihn betont „Magister Lessing“. Der klärung, Walter de Gruyter, 2005; „Fortsetzung
Streit zwischen Lessing und Klotz und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Joechers
nahm teils skurrile Züge an. Wenn allgemeinem Gelehrten­Lexicon“. 1810; Christi­
an Adolph Pescheck: „Handbuch der Geschichte
sich jemand Lessing als Verbünde­
von Zittau“. Bd. 2, 1837; Friedrich Christian
ten sichern wollte, so der ehemalige Baumeister: „Verzeichniß aller derjenigen Studi­
Günstling von Heinrich von Brühl renden, so unter meiner Rectorats­Verwaltung
und Leiter des Kupferstichkabinetts von Ao. 1736 bis 1785 in Prima Classe des
Görlitzischen Gymnasii sich als Zuhörer befun­
Carl Heinrich von Heinecken in den haben“. Fickelscherer Görlitz; Lausitzisches
seinem Streit mit Christian Ludwig Magazin, 1774; Jan Philipp Reemtsma: „Lessing
von Hagedorn, musste er nur seinen in Hamburg: 1766–1770“. C.H.Beck, 2007; Le­
eigenen Gegner als Freund von Klotz ben und Wirken der vorzüglichsten lateinischen
Dichter des XV. – XVIII. Jahrhunderts, sammt
darstellen. Johann Eleazar Zeissig metrischer Uebersetzung ihrer besten Gedichte,
stellte den Streit zwischen Lessing beigefügtem Originaltexte, und den nöthigen
und Klotz bildlich dar (S. 396). Erläuterungen“. J. B. Wallishausser, 1828; Rainer
Rückert: „Biographische Daten der Meissener
Manufakturisten des 18. Jahrhunderts“. Baye­
Missgunst und verletzte Eitelkeiten risches Nationalmuseum, 1990; „Historisches
seiner Konkurrenten sowie eigene Taschenbuch“. Brockhaus 1850

185
Norbert Langner erklärt den Teilnehmern eines Frühlingsspazier-
gangs am 2. Mai 2004 die Funktionsweise des Wurfnetzes.

186
Langner, Norbert
Diplomfischwirt
08.05.1940 Attendorf / Schlesien – 30.09.2010 Königswartha

Norbert Langner besuchte von 1954 von Karpfen konnte er beitragen,


bis 1958 die Erweiterte Oberschu­ indem er eine große Menge von
le in Schulpforte und studierte von Rohdaten statistisch auswertete
1960 bis 1964 an der Humboldt­ und dadurch Tendenzen der Futter­
Universität Berlin Fischwirtschaft. aufnahme in der Wachstumsphase
Bei Wilhelm Schäperclaus hörte er sichtbar machte. Seine langjährigen
Vorlesungen zu Fischkrankheiten und praktischen Kenntnisse publizierte
Karpfenteichwirtschaft. Nach dem er in vielen Arbeiten und verbreitete
Abschluss des Studiums war er bis sie zudem im Rahmen von Fortbil­
1967 im VEB Binnenfischerei Dres­ dungstagen für Haupterwerbsbetriebe
den tätig. Danach kam Langner in die der Karpfen­ und Forellenprodukti­
Oberlausitz und wirkte bis 1990 als on. Für die Sächsische Landesanstalt
Produktionsleiter im VEB Binnenfi­ für Landwirtschaft entstand eine
scherei Königswartha und bis 1991 über 100­seitige Dokumentation zu
als Mitarbeiter der Geschäftsführung den biologischen, rechtlichen und
im Treuhandbetrieb. Ab 1992 bis zu wirtschaftlichen Grundlagen der
seinem Eintritt in den Ruhestand im Teichwirtschaft. Diese Arbeit stellt
Jahre 2005 war er als Fischereireferent Aufzuchtverfahren, Bewirtschaftungs­
bei der Sächsischen Landesanstalt für maßnahmen und Fischbesatz im Zu­
Landwirtschaft maßgeblich an der sammenhang mit einer ganzheitlichen
Weiterentwicklung der Oberlausitzer Betrachtung des Lebensraums „Teich“
Teichwirtschaft beteiligt. In dieser vor. Auch zu anderen Themengebie­
Funktion lehrte Langner auch an der ten konnte er wesentliche Beiträge
Fischereischule Königswartha. Er hat liefern, so zum „Atlas der Farn­ und
wesentlich dazu beigetragen, dass in Samenpflanzen Sachsens“ (2000) und
Königswartha, einmalig in Deutsch­ für „Die Libellenfauna Sachsens“
land, Lehre, Forschung und Praxis der (2005). Eine von Langner erstellte
Teichwirtschaft eine Einheit bilden. Übersicht über die sächsischen Teiche
in Haupterwerbsbetrieben und ihre
Norbert Langner hat sich große Größen diente 2008/2009 als Kartie­
Verdienste um die naturverträgliche rungsgrundlage des Monitoringpro­
Entwicklung der Karpfenteichwirt­ gramms für den Fischotter in Sach­
schaft im Umfeld des Oberlausitzer sen. Zudem hat er sich mit eigenen
Biosphärenreservats erworben. Zur Beobachtungen zu Fischottervorkom­
Optimierung des Fütterungsregimes men an diesem Programm beteiligt.

187
Norbert Langner hat die Schönheit
und Schutzwürdigkeit der Oberlausit­ Bibliografie
zer Heide­ und Teichlandschaft einer
& P. Dyhrenfurth: „Analyse der Satz­
breiten Öffentlichkeit zugänglich ge­
karpfenproduktion im VEB Binnenfi­
macht. Er leitete eine Vielzahl von Ex­ scherei Dresden“. Deutsche Fischerei­
kursionen, z. B. im Rahmen jährlicher Zeitung, Neumann Radebeul, H. 12,
Frühlingsspaziergänge unter Schirm­ 1965
herrschaft des sächsischen Ministeri­ „Intensivierung in den Lausitzer
ums für Umwelt und Landwirtschaft Teichen und die Vogelwelt“. Abhand­
und für den Landesverein Sächsi­ lungen Ber. des Naturkundemuseums
scher Heimatschutz. Auch nach dem Görlitz, 1977, S. 21–22
Eintritt in den Ruhestand unterstützte „Triops und Limnadia – zwei seltene
er mit seinen Erfahrungen seinen Arten niederer Krebse in den Teichen
der Oberlausitz“. Natura lusatica, 1985
Sohn Frank, der seit 1992 die Teich­
„Die Fische des Kreises Bautzen“. Na­
wirtschaft Langner, bestehend aus tura lusatica, H. 10, 1988, S. 29–41 (mit
den Teichgruppen Entenschenke und Zitaten von Gerhard Creutz, Bruno
Commerau, führt. Über viele Jahre Steglich und Frank Fiedler)
engagierte sich Norbert Langner als „Betrachtungen zum Oberlausitzer
Kirchenvorstand. Die Kirchgemeinde Teichgebiet vom Standpunkt des Teich­
Königswartha war in die Christliche wirts“. Ber. der Naturforschenden Ges.
Friedenskonferenz korporiert und der Oberlausitz, Bd. 2, 1993, S. 29–33
Langner gehörte zu den Mitarbeitern & G. Füllner: „War 1992 der „Jahrhun­
des Ökumenischen Basisseminars um dertsommer“ für die Teichwirtschaft?“
Fischer & Teichwirt, Bd. 44, H. 1, 1993,
Jan Laser. Er war zudem im Königs­
S. 11–13
warthaer Geschichtsverein aktiv und & G. Füllner: „Zahlen zur Binnenfi­
er hielt die Schönheit der umliegen­ scherei im Freistaat Sachsen“. Info­
den Oberlausitzer Kulturlandschaft dienst für Beratung und Schule der
in Bildern fest. Zwei Tage vor der Sächsischen Agrarverwaltung, 1995,
Eröffnung seiner Foto­Ausstellung 1997, 1998, 2004
„Königswarthaer Teichgesichter“ ist & G. Füllner, M. Pfeifer: „Karpfen­
Norbert Langner verstorben. Er hin­ teichwirtschaft. Bewirtschaftung von
terließ seine Ehefrau Annemarie, eine Karpfenteichen. Gute fachliche Praxis“.
Tochter und zwei Söhne. Sächsische Landesanstalt für Landwirt­
schaft, 2007

Quellen: http://www.sz­trauer.de/; Nachruf Königswarthaer Geschichtsverein RAK e.V.; M.


Pfeifer & G. Füllner: „Möglichkeiten der Futtereinsparung bei der Karpfenproduktion“. Fischer
& Angler in Sachsen, 2010, S. 69 ff.; http://www.smul.sachsen.de/; http://www.teichwirtschaft­
langner.de/; Mitteilungen von Frank Langner, 25.10.2012, und Annemarie Langner, 24.11.2012;
Kareen Seiche: „Monitoringprogramm für den Fischotter im Freistaat Sachsen im Winter
2008/2009“. Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie, Referat Fischerei Königswar­
tha; Gert Füllner: „Norbert Langner verstorben“. Fischer & Teichwirt 11/2010

188
Impressionen vom Frühlingsspaziergang in
Königswartha mit Norbert Langner am 2. Mai 2004

Die Fischteiche bei Regenwetter. Der Dichter Gottfried Unterdörfer


beschrieb in seinem Tagebuch gefühlvoll die Teichlandschaft, die auch bei
Regen schön ist, wenn man es sehen will, den Glanz auf den Kiefernstäm-
men und die leisen, tröstlichen Töne (9.1.1992).

Links: Schon mit geringer Vergrößerung wird deutlich, wie viel Leben und
damit welch großes Nahrungsangebot für die Fische im Teichwasser zu fin-
den ist. Rechts: Das Raseneisenerz war als Grundstoff für die Eisenverhüt-
tung einstmals ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in der Oberlausitz. Sein
Abbau hat wesentlich zur heutigen Gestalt des Teichgebiets beigetragen.

189
Gedenkstein mit Porträtrelief unweit der Riedelmühle in Waldbärenburg.

190
Lehmann, Julius Alexander
Professor, Nestor des landwirtschaftlichen Versuchswesens in der Oberlausitz
04.07.1825 Dresden – 12.01.1894 Dresden

V: Johann Gottlob (*28.10.1786 Kötzschenbroda, † um 1866), 1839–1852 Freimaurer­Loge


„Zum goldenen Apfel“, Feuerlöschdirektor in Dresden; M: Christiane Frederike geb. Einenkel
(*29.6.1790 Dresden, †1868); G: Heinrich Edmund (Landbauinspektor und Baumeister, bis 1864
in Dresden, danach Leitung der Restaurierung der Albrechtsburg Meißen); E: 1866 Hochkirch,
Marie Emilie geb. Richter (*28.11.1843 Elstra); K: Amalie Johanna verh. Herrmann

Lehmann studierte ab 1848 in Jena Naturgeschichte in Gymnasial­,


und ab 1849 in Gießen bei Justus Progymnasial­ und Realklassen. Im
von Liebig. In seiner Dissertation Schulprogramm von 1855 publizierte
von 1851 zum Dr. phil. behandelte er er „Allgemeine Betrachtungen über
Kaffee aus chemisch­physiologischer die Pilze, und chemische Beiträge
Sicht. In „Virchows Archiv für patho­ zur näheren Kenntniss derselben“.
logische Anatomie und Physiologie Die Schulschriften wurden bei einem
und für klinische Medizin“ von 1857 weiteren Bruder von Blochmann,
wurden die Umsicht und Ausdau­ Ernst Ehrenfried, und später bei des­
er seiner Untersuchungen gelobt. sen Sohn Heinrich Wilhelm Clemens
Anschließend arbeitete Lehmann in Blochmann gedruckt. Direktor war
Freiberger und Pariser Laboratorien. inzwischen Georg Bezzenberger,
ein Schwiegersohn von Karl Justus
1854 wechselte Lehmann als Oberleh­ Blochmann, der selbst noch Religion
rer nach Dresden an das Vitzthum­ unterrichtete. Zur Durchführung
Blochmann‘sche­Gymnasium. Es von chemischen Elementaranalysen
ging auf eine 1824 von Karl Justus entwickelte Lehmann einen gasbetrie­
Blochmann gegründete Privatschu­ benen, kostengünstigen Heizapparat
le zurück, die 1828 mit der Stiftung auf der Grundlage von 12 Bunsen­
von Rudolph Vitzthum von Apol­ Lampen. Er führte die Arbeiten an
da verbunden wurde. Karl Justus der Polytechnischen Schule durch
Blochmann, der wie sein Bruder und publizierte sie 1857 in den „An­
Heinrich August Blochmann am nalen der Chemie und Pharmacie“
Bautzener Gymnasium bei Ludwig von Justus von Liebig. Zu Lehmanns
Gedike gelernt hatte, führte hier Schülern gehörte Hans Hübner, der
einen fundierten naturwissenschaft­ als Professor für Chemie in Göttingen
lichen Unterricht ein. Zum Lehr­ Gustav Loges examinierte, der spä­
körper gehörte vormals auch Julius ter einer von Lehmanns Nachfolgern
Adolph Stöckhardt. Lehmann lehrte in Pommritz werden sollte.
Chemie, Mineralogie, Zoologie und

191
Das v. Vitzthum-Blochmann‘sche Gymnasial-Erziehungshaus, gezeichnet
von Ernst Ferdinand Oehme, in Stahl gestochen von J. Fleischmann, um
1830, Lizenz: Deutsche Fotothek CC BY-SA.

1857 erhielt Lehmann die Berufung hier eine Methode, Mehl aus ausge­
als Vorstand der landwirtschaftlichen wachsenem Roggen mittels Kochsalz
Versuchsstation im Rittergut Weidlitz zu einem lange haltbaren Brot zu
von Paul Hermann. Wesentlichen backen. Lehmann wies für Brot mit
Einfluss besaß vermutlich Liebigs Salzzusatz eine geringere Schimmel­
Empfehlung an Theodor Reuning. bildung nach. Die Versuche wurden
Alternativ hatte sich Lehmann von zunächst in der Bäckerei Techritz und
Liebig Unterstützung für seine dann in der Militärbäckerei Dresden
Bewerbung zum sächsischen Apo­ durchgeführt. Zudem untersuchte
thekenvisitator erbeten. Lehmanns Lehmann in Weidlitz Pflanzendünger
Aufgabe in Weidlitz bestand darin, und Futtermittel auf ihren Nährstoff­
naturwissenschaftliche Erkenntnisse, gehalt. 1858 gründeten Lehmann und
vor allem der Agrikulturchemie, für Hermann in Verbindung mit Ernst
die Landwirtschaft der Oberlausitz Theodor Stöckhardt und Julius
nutzbar zu machen. Zur Wissens­ Adolph Stöckhardt die Zeitschrift
vermittlung hielt er Vorträge vor „Die Landwirtschaftlichen Versuchs­
dem landwirtschaftlichen Verein. Stationen“, die sich der Verbindung
Lehmann verfügte in Weidlitz über von landwirtschaftlicher Praxis und
ein Laboratorium und ein Gewächs­ naturwissenschaftlichen Grundlagen
haus sowie in Pannewitz über einen widmete.
Versuchsstall. Für das Laboratorium
richtete er mit der Hilfe von Rudolf Die Arbeit der Versuchsstation
Sigismund Blochmann eine kleine Weidlitz hatte sich trotz ungünstiger
Gasanstalt ein. Lehmanns erster Verkehrslage grundsätzlich bewährt,
Assistent war Conrad Wicke, dem sodass der bis 1862 laufende Kon­
Dr. Stößner folgte. Für das sächsische trakt um 6 Jahre verlängert werden
Innenministerium entwickelte er sollte, als Hermann starb. Zwei Jahre

192
nach dessen Tod erfolgte 1864 die (1864) und den USA (1865) lehnte er
Verlegung nach Pommritz, wofür das ab. Insgesamt publizierte Lehmann
dortige Rittergut durch die Landstän­ in den 10 Jahren als Vorstand von
dische Bank der Oberlausitz von den Weidlitz und Pommritz 57 Schrif­
Erben des Carl Friedrich Wilhelm ten, darunter zum Nährstoffgehalt
von Zenker für 93000 Taler erworben von Futterstoffen, zur Düngung und
wurde. Die Arbeit der Versuchsstation Analysen zu den Inhaltsstoffen von
Pommritz war anfangs in das Ritter­ Milch. Auf ihn gehen die ersten wis­
gut integriert. 1864 wurde Lehmann senschaftlichen Versuche mit Fleisch­
zum Professor ernannt. Seine futtermehl bei Schweinen zurück. Als
Assistenten waren Johann Seyffert, Futtermittelzusatz entwickelte er eine
dann Gerdemann und Kästner und Salzmischung aus phosphorsaurem
schließlich Arthur Petermann und Natron und Chlorkalium. Lehmann
Hugo Weiske. Angebote aus München führte zudem Qualitätsprüfungen von

Auf Initiative des Geheimen Regierungsrates Theodor Reuning und des


Rittergutsbesitzers Paul Hermann wurde 1857 durch den landwirtschaft-
lichen Kreisverein Bautzen auf dem Rittergut Weidlitz eine der ersten land-
wirtschaftlichen Versuchsstationen Deutschlands eingerichtet. Lehmann
war deren wissenschaftlicher Leiter, Hermann stand dem Kuratorium vor.

193
integriert. 1873 starb Justus von
Liebig. Lehmann lehrte bis zu seiner
krankheitsbedingten Emeritierung als
Professor für Agrikulturchemie.

1879 kehrte Lehmann nach Dresden


zurück. Er trat hier der Naturwis­
senschaftlichen Gesellschaft ISIS bei.
Die landwirtschaftliche Versuchs- Mitglieder zur Zeit Lehmanns waren
station in Pommritz. Walther Hempel, Edmund Fried­
rich und Heinrich Wilhelm Clemens
Düngern und Futtermitteln durch. Blochmann, den er schon seit seiner
Seine letzte Schrift, ein Gutachten im Zeit als Lehrer am Gymnasium kann­
Auftrag des sächsischen Finanzminis­ te, sowie viele bekannte Wissenschaft­
teriums, galt umweltbedingten Verun­ ler wie Oscar Drude, Hanns Bruno
reinigungen (durch Hüttenrauch) von Geinitz und Gustav Anton Zeuner.
Futtermitteln und deren Wirkungen Nach 1890 führten Lehmann und
auf den tierischen Organismus. In Walther Hesse milchwirtschaftli­
den folgenden fünf Jahrzehnten führ­ che Untersuchungen im Labor von
ten in Pommritz Eduard Heiden Walther Hempel durch. Lehmann
und Gustav Loges die von Lehmann verglich die chemische Natur von
begründete agrikulturchemische Muttermilch und Kuhmilch, um diese
Tradition fort. durch geeignete Zusätze besser für
die Säuglingsernährung nutzbar zu
1867 erhielt Lehmann den Ruf als machen. Seine Ideen wurden später
Professor an die landwirtschaftliche von Hempel und Hesse verwertet.
Akademie in Proskau/Oberschlesi­
en. 1869 wurde er auf Empfehlung Lehmann war eng mit Kipsdorf und
von Justus von Liebig, seit 1852 an dem oberen Weißeritztal verbun­
der Ludwig­Maximilians­Universität den, für dessen Erschließung er sich
München, zum Vorstand der zent­ engagierte. Er verbrachte viel Zeit im
ralen Versuchsstation des landwirt­ Julius­Alexander­Haus in Waldbä­
schaftlichen Vereins Bayerns beru­ renburg. Nach seinem Tod widmete
fen. Auch in München untersuchte ihm der „Verschönerungsverein
Lehmann Pflanzen­ und Tierernäh­ zu Kipsdorf, Bärenfels und Bären­
rung. Er führte Soja als Futterpflanze burg“ unweit der Riedelmühle einen
ein. 1872 wurde die Versuchsstation Gedenkstein mit einem Porträtrelief.
als landwirtschaftliche Abteilung in Das originale Relief fiel im Zweiten
die 1868 gegründete Polytechnische Weltkrieg der Rüstungsindustrie zum
Schule, die heutige TU München, Opfer, wurde aber inzwischen auf Ini­

194
Das Julius-Alexander-Haus Waldbärenburg (nach 1900).

tiative einer Urenkelin Lehmanns aus Schönfeld, 1877, S. 176–195, 1863, S. 223 ff.;
Walter von Boetticher: „Die Geschichte des
München und des Vereins „Freundes­
Oberlausitzschen Adels und seiner Güter“.
kreis Kurort Oberbärenburg“ origi­ Bd. 3, Oberlößnitz 1919; Neill Busse: „Der
nalgetreu wiederhergestellt. Meister und seine Schüler: Das Netzwerk Justus
Liebigs und seiner Studenten“. Georg Olms
Verlag, 2015; William Shurtleff; Akiko Aoyagi:
Quellen: Meyers Konversations­Lexikon, Bd. „History of Soybeans and Soyfoods in Eastern
12, 1908, S. 331–333; „Ueber das Verbacken Europe (Including All of Russia) (1783­2015):
des Mehls aus ausgewachsenem Getreide“. Extensively Annotated Bibliography and Sour­
Polytechnisches Journal, 1859, Nr. LXXVI., S. cebook“. Soyinfo Center, 28.10.2015; Website
309–311; Walther Hempel: „Die Milchunter­ TU München; Register der Eheschließungen,
suchungen Professor Dr. Julius Lehmann‘s“. Kirchgemeinde Hochkirch; Polytechnisches
Pflügers Archiv, Nr. 10–12, 1894, S. 558–578; Centralblatt, 15. Mai 1857; Friedrich Christian
Tina König: „Entwicklung der Ernährungsfor­ Paldamus: „Blochmann, Karl Justus“. Allge­
schung beim Schwein (bis 1930)“. Dissertation meine Deutsche Biographie, Bd. 2, 1875, S.
Tierärztliche Hochschule Hannover, 2004; 709–711; Sitzungsberichte und Abhandlungen
Joseph Stewart Fruton: „Contrasts in Scien­ der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft Isis,
tific Style: Research Groups in the Chemical 1886; Peter Salzmann: „Neues Relief über
and Biochemical Sciences“. Memoirs of the verwitterter Inschrift“. SZ Dippoldiswalde,
American Philosophical Soc., Bd. 191, 1990; 15.2.2011; Eduard Heiden: „Denkschrift zur
Friedrich Nobbe: „Statistische Revue über den Feier des fünfundzwanzigjährigen Bestehens
Bestand des land­ und forstwirthschaftlichen der agricultur­chemischen Versuchsstation
Versuchswesens nach 25­jähriger Entwicklung“, Pommritz“, Adressbücher Dresden; myheri­
„Die gegenwärtig in Deutschland thätigen tage.de; Angelika Lasius: „Wandmalereien der
landwirthschaftlichen Versuchsstationen“. Albrechtsburg Meissen: Historienbilder des 19.
Die landwirthschaftlichen Versuchsstationen, Jahrhunderts“. Edition Leipzig, 2000

195
Adolf Lier war ein führender Landschaftsmaler seiner Zeit und ein Weg-
bereiter der Freilichtmalerei in München. Erst Jahre später konnte sich die
Freilichtmalerei mit der Unterstützung des Dresdner Anzeigers (vgl. Leon-
hard Lier) auch in Dresden durchsetzen. Viele seiner Bilder befanden sich
in Privatbesitz, so in der Familie (Rosalie Lier, München; Adolf Leonhard
Lier; Oscar Lier, Apotheker Kinne, Herrnhut; Hermann Lier, Martha Lier,
Berlin) und in der Oberlausitz (Graf von Einsiedel auf Reibersdorf; Walter
von Boetticher). In Dachau ist heute eine Straße nach Adolf Lier benannt,
und in Herrnhut erinnert das Heimatmuseum an ihn.

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Lier, Heinrich Adolf
Professor, Landschaftsmaler
21.05.1826 Herrnhut – 30.09.1882 Vahrn bei Brixen

V: August Ludwig (1779–1847), Goldschmied, Inhaber einer Kolonialwarenhandlung; M: Chris­


tiane Sophie (*1789 Herrnhut, †1863); G: Louise (heiratete 1846 den Apotheker Otto Bernhard
Kinne), Hermann Gustav (übernahm 1854 das Familiengeschäft); E: September 1858 München,
Rosalie geb. Hofmann (Kinderpflegerin der späteren bayerischen Könige Ludwig und Otto); K:
1 Adoptivtochter, Pauline Hofmann (*1871 Glasgow, † nach 1928, Tochter von Liers Schwager
Peter Hofmann, Mitbesitzer einer Lithographieanstalt, Pianistin, verh. Mennacher)

Schon als Kind begeisterte sich Lier 1945). Als Lier 1846 bei einer aka­
für das Zeichnen und illustrierte seine demischen Kunstausstellung für den
Schulbücher. Mit 11 Jahren wurde „Entwurf zu einem herrschaftlichen,
er auf die Knabenerziehungsanstalt an einem Strom gelegenen Wohnge­
der Herrnhuter Brüdergemeine nach bäude“ mit einer kleinen silbernen
Niesky geschickt. Auch hier fanden Medaille ausgezeichnet wurde, fand
seine Zeichnungen nicht immer er Aufnahme im Atelier von Gott­
ungeteilten Beifall ob der Orte, wo er fried Semper an der Kunstakademie
sie anbrachte. Noch verstärkt wur­ und der Weg zum Architekten schien
de seine Neigung zur Kunst durch vorgezeichnet. Kurz nach dem Tod
Besuche bei einer Tante in Dresden. seines Vaters im Jahre 1847 erhielt
Stundenlang verweilte Lier in der Ge­ Lier das Angebot, in Basel unter
mäldegalerie, tief beeindruckt wollte Leitung von Melchior Berri am dor­
er selbst Maler werden. Seinen Vater tigen Museumsbau mitzuwirken. Zu
konnte er davon aber nicht überzeu­ seinen Pflichten gehörte der Entwurf
gen, denn der machte sich Sorgen um der Decken. In Basel begeisterte sich
die finanzielle Zukunft des Sohnes. Lier für die Revolution. Er schloss
Lier wurde 1840 auf die Baugewer­ sich Friedrich Hecker auf dessen
kenschule in Zittau geschickt, wo er bewaffnetem Freischaarenzug an, um
auch das Maurerhandwerk erlern­ in Karlsruhe die badische Regierung
te. Ein Arbeitsunfall beim Bau des zu stürzen. Nach der Niederlage der
Rathauses hätte ihn fast das Leben Revolution entdeckte Lier seine Liebe
gekostet. 1844 wechselte er auf die zur Malerei wieder, wobei er von Carl
Dresdner Baugewerkenschule unter Adolf Mende und Karl Eduard Süffert
Gustav Heine, die lose der Techni­ unterstützt wurde, der ihn 1849 nach
schen Bildungsanstalt angegliedert München empfahl. Hier lernte Lier an
war. Sie wurde später abgetrennt der Privatschule von Johann Baptist
(1873) und als Ingenieurschule der Berdellé Köpfe und Akte zeichnen.
Zittauer Einrichtung unterstellt (nach Entscheidende Anregungen vermit­

197
sich in den Malerkolonien auf der
Fraueninsel im Chiemsee um Max
Haushofer und Christian Ruben und
in Brannenburg auf. Es entstanden
Gemälde wie „Abendstimmung am
Starnberger See“, „Landschaft aus
der Umgebung von Dachau“ und
„Vom Frauenchiemsee“. 1861 un­
ternahm Lier eine erste, kurze Reise
„Am Starnberger See bei heran- nach Frankreich, 1864 reiste er ein
ziehendem Gewitter“: Zum bevor- zweites Mal nach Paris. Unter dem
zugten Motiv Liers wurde nicht das Einfluss der dortigen Meister der
Hochgebirge selbst, sondern häufig Landschaftsmalerei um Jules Dupré
die flache Ebene davor mit den Ber- malte Lier Stimmungslandschaften.
gen im Hintergrund. Man lehrte ihn hier einen ganz neuen
telte ihm der aus Zittau stammende Blick auf die Natur, die Intimität der
Richard Zimmermann. Der Schüler Empfindung und eine Natürlichkeit
von Ludwig Richter malte genre­ des malerischen Ausdrucks („Pay­
haft staffierte Landschaften. Auch sage intime“). Im Louvre studierte
Liers Bilder waren später lange reich und kopierte er die alten Meister. Mit
staffiert, mit einem Pfarrer mit rotem Dupré reiste Lier nach Isle­Adam an
Regenschirm, oder auch mit Schafen, der Oise. Die spätere Heimreise von
Weidevieh und Hochwild. 1852 ent­ England führte ihn nochmals kurz
stand als Geschenk für seine Mutter nach Herrnhut. Lier hatte bei Dupré
Liers erstes Ölbild, die „Partie bei gelernt, die Natur durch ihre schlichte
Brixen“. Im Jahre 1853 war er erstmals Einfachheit wirken zu lassen. Dies
auf einer Dresdner akademischen sollte auch seine eigene, koloristi­
Kunstausstellung als Maler vertreten sche Schule der Landschaftsmalerei
(„Hohlweg im Walde“, „Heranziehen­ in München prägen. Davon zeugten
des Regenwetter“). Zum Ende die­ zuerst „Die Oise in der Gegend von
ser Phase des Suchens und Lernens Paris im Mondschein“ (Gemälde­
wurde Liers Malstil zunehmend von galerie Dresden) und die „Partie an
Eduard Schleich und Carl Spitzweg der Elbe bei Pillnitz“. 1867 erhielt
beeinflusst. Mit seiner „Dorfpartie bei er auf der Pariser Weltausstellung
Habach“ für den Münchener Kunst­ für die „Dorfgasse in England bei
verein gelang ihm 1855 der künst­ Mondschein mit heimkehrender
lerische Durchbruch. Lier liebte die Schafherde“ eine Goldmedaille. Die
Alpen und die oberbayerischen Seen, Kunstakademie Dresden wählte Lier
die er in vielen Bildern in spätroman­ 1868 zum Ehrenmitglied. Auf der in­
tischer Manier malte. Häufig hielt er ternationalen Kunstausstellung 1869

198
Liers letztes Motiv war die Theresienwiese mit der Bavaria, die er 1882 in
drei Varianten malte. Repro: Cybershot800i (Wikimedia Commons).
in München zeigte er mit großem malte häufig Mondschein­, Nebel­
Erfolg „Vier Tageszeiten“ und „Isarge­ und Regenstimmungen. Auch wenn
gend bei München“. Lier hatte seinen er sich in seinen letzten Jahren etwas
künstlerischen Höhepunkt erreicht zurückzog, gehören gerade Gemälde
und gehörte jetzt zu den gesuchtesten aus dieser Zeit zu seinen bekanntesten
Malern. Im gleichen Jahr eröffnete er Werken, wie der „Abend an der Isar“
in München eine private Malschule, (Nationalgalerie Berlin), der „Son­
die er bis 1873 erfolgreich führte. Der nenuntergang an der schottischen
in Dresden geborene Hermann Baisch Küste“ (Museum Stuttgart) und „Die
war einer seiner bedeutendsten Schü­ Theresienwiese mit der Bavaria bei
ler. Liers „Vier Jahreszeiten“ und eine Abendlicht“ (Pinakothek München).
„Landstraße bei München im Regen“ Die Städtischen Sammlungen Gör­
wurden auf der Wiener Weltausstel­ litz besitzen drei Werke von Lier, das
lung 1873 mit einer Kunstmedaille Stadtmuseum Bautzen „Am Kanal“
ausgezeichnet. Ungeachtet beginnen­ und „Abendlandschaft am See“.
der gesundheitlicher Probleme war er
wieder freischaffend tätig und reiste Quellen: Artikel von Hermann Arthur Lier in:
Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 18, 1883, S.
nach Holland („Am Strand von Sche­ 631–636 und Sigfried Asche in: Neue Deutsche Bio­
veningen“) und 1876 nach Schottland, graphie, Bd. 14, 1985, S. 535 f.; Friedrich von Boetti­
cher: „Malerwerke des neunzehnten Jahrhunderts“.
wo die Liers die älteste Tochter des 1891, S. 867–871; Theodor Mennacher: „Adolf Lier
verstorbenen Schwagers in Pflege und sein Werk“. Piloty & Loehnle, München, 1928;
nahmen. Die Münchener Akademie „Die Kunst unserer Zeit“. F. Hanfstaengl, München,
1904; Sächsisches Staatsarchiv Dresden; www.
wählte ihn 1877 zum Mitglied und sophie­drinker­institut.de; wiki.olgdw.de; www.n­
ernannte ihn 1881 zum Professor. Lier k­b.de; Leipziger Zeitung 1854; ISIS Dresden

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Hermann Arthur Lier (1897), gemalt von Hermann Eduard Mangelsdorf
(Deutsche Fotothek, Lizenz CC BY-SA 4.0).

200
Lier, Hermann Arthur
Professor, Dr. phil., Bibliothekar und Historiker
01.02.1857 Herrnhut – 08.02.1914 Kötzschenbroda

V: Hermann Gustav, Kaufmann, übernahm 1854 das Familiengeschäft; M: Rosine geb. Chodat;
G: Leonhard (*22.3.1864 Herrnhut, †4.1.1917 Dresden, Dr. phil., Chefredakteur des Dresdner
Anzeigers), ? Oscar (ab 1896 Gemeindevorstand in Herrnhut, Namensgeber einer Straße); E:
(1) 5.5.1888 Dresden, Karola Ida Margarethe geb. Graf (*26.8.1869), (2) 17.7.1899 Dresden,
Gertrud geb. Kunitz (28.3.1871–5.7.1922)

Lier besuchte die Erziehungsanstalt Jahrbuch und deutscher Nekrolog“,


der Brüdergemeine in Niesky und ab darunter von Malern wie seinem On­
1872 das Gymnasium in Zittau. Nach kel Adolf Lier und von Gerhard
dem Abitur im Jahre 1878 studierte Heinrich Jacobjan Stöckhardt
er Geschichte in München und ab sowie Mitgliedern der Brüdergemei­
1879 in Leipzig, wo er 1882 auf der ne. Von Lier stammen wichtige Bei­
Grundlage seiner bereits in München träge zum „Allgemeinen historischen
verfassten Arbeit „Der Augsburgische Porträtwerk“ von Woldemar von
Humanistenkreis mit besonderer Be­ Seidlitz, dem Direktor der Dresdner
rücksichtigung Bernhard Adelmann‘s Kunstsammlungen. Die Zusammen­
von Adelmannsfelden“ zum Dr. phil. stellung von über 600 Biografien
promovierte. 1881 nahm Lier eine erschien in zwei mehrbändigen Aufla­
Tätigkeit als Hilfsarbeiter an der gen, zunächst nach Berufen geordnet
Königlichen öffentlichen Bibliothek in und dann nach Zeitepochen von ca.
Dresden unter Oberbibliothekar Ernst 1300 bis etwa 1840. Von 1898 bis 1906
Wilhelm Förstemann auf. 1888 wurde war Lier zudem Referent für bildende
er zum Kustos und 1896 zum Bib­ Kunst beim Dresdner Journal, später
liothekar unter dem Direktor Franz schrieb er für die Dresdner Nachrich­
Schnorr von Carolsfeld befördert. Im ten. Dem reformorientierten „Verein
selben Jahr zog Lier nach Kötzschen­ Bildender Künstler Dresdens“ gehörte
broda. Die Bibliothek befand sich im er wie sein Bruder Leonhard Lier
Japanischen Palais. 1907 übernahm als außerordentliches Mitglied an.
Hubert Ermisch die Leitung. Lier
gehörte mit Bruno Steglich dem Quellen: Adolf Hinrichsen: „Das literarische
Sächsischen Altertumsverein an. Er Deutschland“. 2. Aufl., Berlin 1891; Hermann Chris­
tern (Hrsg.): „Totenliste 1914“. In: Deutsches Biogra­
schrieb für die „Kunstchronik“, das phisches Jahrbuch. 1914/1916, 1925; August Ludwig
„Deutsche Kunstblatt“ und verfasste Degener: „Wer ist‘s?“ Bd. 5, 1911; Zentralblatt für
eine Vielzahl von Lebensbildern für Bibliothekswesen, Bd. 13; Mitgliederverzeichnis
des Sächsischen Altertumsvereins, 1890; Dresdner
die „Allgemeine Deutsche Biogra­ Adressbücher 1881, 1908; Mitglieder­Verzeichnis
phie“ bzw. für das „Biographische des Vereins Bildender Künstler Dresdens, 1898

201
Leonhard Lier (1906), fotografiert von Erwin Raupp (1863–1931).

202
Lier, Adolf Leonhard
Professor, Journalist, Literaturwissenschaftler
22.03.1864 Herrnhut – 04.01.1917 Dresden

V: Hermann Gustav, Kaufmann, übernahm 1854 das Familiengeschäft; M: Rosine geb. Chodat;
G: Hermann Arthur (*1.2.1857 Herrnhut, †8.2.1914 Kötzschenbroda, Dr. phil., Bibliothekar an
der Königl. Bibliothek in Dresden, Mitarbeiter der Allgemeinen Deutschen Biographie), ? Oscar
(ab 1896 Gemeindevorstand in Herrnhut, Namensgeber einer Straße); E: 7.1.1893 Dresden,
Agnes Johanna geb. Herrmann (*10.12.1870); K: Marie Charlotte Erica (*1.4.1894 Dresden), An­
dreas Hermann Leonhard (*1.4.1896 Dresden), Adolf Reinhard Theodor (*17.7.1898 Dresden)

Die Herrnhuter Familie Lier ging auf Werken des Dichters der Aufklärung
den Goldschmied und Kaufmann Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Seine
August Ludwig Lier zurück, Leonhard Studien der Philologie, Germanistik
Liers Großvater. Der Sohn eines Hof­ und Literaturgeschichte ab 1885 in
kürschners und Ratsherren in Schwe­ Leipzig und München schloss Lier
rin hatte nach Herrnhut geheiratet. 1889 in Leipzig mit der Dissertation
Ein Sohn aus dieser Ehe war Adolf „Studien zur Geschichte des Nürn­
Lier, ein Onkel von Leonhard Lier. berger Fastnachtspiels“ über die
Meistersinger ab. Zu seinen Professo­
Lier besuchte die Schule in Herrn­ ren gehörten Friedrich Zarncke und
hut und das Gymnasium in Zittau. Michael Bernays. Danach arbeitete er
1882/83 leistete er in Dresden seine für die Liegnitzer Zeitung. 1890 holte
Militärpflicht ab. Früh interessierte ihn Hermann Thenius, der Lier schon
er sich für Literatur. Lier gehörte der von der Offenen Loge kannte, zum
1882 gegründeten „Offenen Loge“ Dresdner Anzeiger. Thenius, seit 1878
an, einem berufsständigen Verein der Chefredakteur, setzte die 1869 von
Dresdner Schriftsteller. 1883 berichte­ Eduard Ferdinand Springer begonne­
te er im Neuen Lausitzischen Maga­ ne Entwicklung der ersten Dresdner
zin über Briefe des Zittauer Dichters Zeitung von einem Inseraten­ und
Karl Friedrich Kretschmann an Karl Amtsblatt zu einem redaktionellen
August Böttiger in der Königli­ Nachrichtenblatt fort. Schon vor sei­
chen öffentlichen Bibliothek, wo sein nem Amtsantritt gab es die Ressorts
Bruder Hermann Arthur Lier zwei Politik, Wirtschaft, Örtliches und
Jahre zuvor angestellt worden war. Feuilleton. Thenius brachte 1880 die
Auch in anderen Zeitschriften erin­ Politik auf Seite 1. Für dieses Ressort
nerte er an den brieflichen Nachlass engagierte er Lier, der zudem für das
Böttigers, so im Archiv für Literatur­ Feuilleton arbeitete. Um 1900 führte
geschichte bei Teubner. 1885 publi­ der Dresdner Anzeiger politische
zierte er bei Reclam zu ausgewählten Leitartikel ein.

203
Lier war ein wichtiger Kulturrefor­ aterreferat. Auch auf diesem Gebiet
mer und stand dem „Naturalismus“ war die Zeit reif für Veränderungen.
nahe. Er schrieb in den 1890er Jahren Das Hoftheater brachte Goethe, Schil­
viele Beiträge für die Zeitschrift „Der ler und Shakespeare, dagegen stand
Kunstwart“ von Ferdinand Avenari­ man den jüngeren Dichtern wie Ger­
us, die Literatur, Theater, Musik und hart Hauptmann zunächst skeptisch
bildende Kunst thematisierte und sich gegenüber. Lier förderte die junge
zu einem deutschlandweit angesehe­ Dichtung im Dresdner Anzeiger, aber
nen Blatt der Kulturreformbewegung auch mit Beiträgen in anderen Zei­
entwickelte. Zu Liers Themen im tungen und Zeitschriften (Norddeut­
Kunstwart gehörten theoretische und sche Allgemeine Zeitung, Münchner
historische Aspekte der Theaterkunst, Allgemeine, Bühne und Welt, Blätter
aber auch Theaterkritik und Zen­ für literarische Unterhaltung, Wage,
sur. Er war in Dresden Mitglied der Die Grenzboten u.v.m.).
„Litterarischen Gesellschaft“ und im
Dürerbund, der die Kunstwart­Inte­ Im Jahre 1902 folgte Lier Thenius als
ressenten vereinigen sollte. Die Lit­ Chefredakteur, das Theaterreferat
terarische Gesellschaft, 1886 aus der übergab er Friedrich Kummer. Der
Offenen Loge hervorgegangen, entwi­ Dresdner Anzeiger blieb einer der
ckelte sich zu Dresdens wichtigstem entschiedensten Fürsprecher von
Verein für literarisch Interessierte, Gerhart Hauptmann. Die Zeitung
indem sie sich breiten Bevölkerungs­ verdankte Lier ihren weiteren raschen
schichten öffnete, darunter Frauen, Aufstieg, von 1900 bis 1914 verdop­
Juden, Sozialdemokraten. Überall pelte sich die Auflage von 23.500 auf
hier traf Lier mit Paul Schumann zu­ 46.500 Exemplare. Besondere Unter­
sammen. Gemeinsam leiteten sie den stützung gewährte ihm Oberbürger­
Verein Dresdner Journalisten. Schu­ meister Gustav Otto Beutler. Dies war
mann, seit 1884 als Kunstkritiker fest wichtig, weil der Dresdner Anzeiger
beim Anzeiger angestellt, wurde für zwar formal unabhängig war, sich
fast 30 Jahre zu einem engen Mitstrei­ aber praktisch in städtischem Besitz
ter. Schumann engagierte sich für die befand. Angriffen auf die Pressefrei­
deutsche Sprache, den Heimatschutz, heit musste widerstanden werden.
die Freilichtmalerei und die Volksbil­ Justus Friedrich Güntz hatte 1856
dung, machte sich aber auch durch den Dresdner Anzeiger in die Dr.
vehemente Kritiken an der traditio­ Güntz‘sche Stiftung eingebracht, die
nellen Dresdner Malerei und an Karl er der Stadt Dresden übereignete
May viele Feinde. 1901 übernahm er mit der Auflage, dass alle Erträge für
die Leitung des Feuilletons. Genauso soziale Zwecke und zur Verschöne­
engagiert wie Schumann, häufig aber rung der Stadt eingesetzt werden. Der
diplomatischer arbeitete Lier im The­ jeweilige Oberbürgermeister Dres­

204
dens stand der Stiftungsverwaltung Dresdner Anzeiger eigene Korrespon­
vor. Beutler amtierte von 1895 bis denten. Zu den berühmtesten Mit­
1915. Zu den wichtigsten Projekten arbeitern zählte Ludwig Munzinger
während Liers Zeit als Chefredakteur (London, 1911).
gehörte neben der Fortführung des
sozialen Engagements (Bürgerheim, Der sächsische König verlieh Lier
Güntzheim, Maternispital) der Bau 1906 anlässlich des 50. Jahrestages
des Neuen Rathauses bis 1910, an der Gründung der Dr. Güntz‘schen
dem sich die Stiftung mit 600.000 Stiftung den Professorentitel. Lier
Mark beteiligte. leitete den Landesverband der säch­
sischen Presse und war Vorstands­
Der Dresdner Anzeiger unter Lier mitglied des Reichsverbandes. Dem
engagierte sich in besonderer Weise reformorientierten „Verein Bildender
für die im neu erbauten Ausstel­ Künstler Dresdens“ gehörte er wie
lungspalast stattfindenden Groß­ sein Bruder Hermann Arthur Lier
Ausstellungen. Die Erste Deutsche als außerordentliches Mitglied an.
Städte­Ausstellung 1903 wie auch die
Internationale Hygieneausstellung Der Dresdner Anzeiger unterstütz­
1911 wurden nicht nur umfassend te die deutsche Kolonialpolitik in
journalistisch begleitet, sondern der Südwestafrika. Als 1914 der Erste
Dresdner Anzeiger unterhielt jeweils Weltkrieg ausbrach, bediente auch der
einen eigenen Pavillon. Lier entwi­ Dresdner Anzeiger die ganz Deutsch­
ckelte aber auch das Zeitungskonzept land erfassende patriotische Begeis­
weiter. Sein Hauptaugenmerk galt terung.
der Politik. Lier bemühte sich um
Überparteilichkeit. Er selbst schrieb Quellen: Herbert Zeißig: „Eine deutsche
als Chefredakteur meist nur in den Zeitung. Zweihundert Jahre Dresdner An­
„Wochenschauen“. Den Wirtschafts­ zeiger“. Verlag der Dr. Güntzschen Stiftung,
1930; „Lier, Hermann Arthur“. Wer ist‘s?, Bd.
teil baute er mit einer internationalen 5, Verlag von H.A. Ludwig Degener, 1910;
Börsenberichterstattung aus. 1902 Siegfried Asche: „Lier, Adolf “. Neue Deutsche
gewann er Professor Harry Gravelius Biographie, Bd. 14, 1985, S. 535–536; Gerhard
von der TH Dresden, um erstmals in Kratzsch: „Kunstwart und Dürerbund. Ein
Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im
Dresden zeitnahe Wettervorhersagen
Zeitalter des Imperialismus“. Vandenhoeck
anzubieten. In Berlin wurde 1905 eine u. Ruprecht, Göttingen 1969; Dirk Hempel:
eigene Redaktion eingerichtet, um „Literarische Vereine in Dresden. Kulturelle
besser aus dem Reichstag berichten zu Praxis und politische Orientierung des Bür­
können. Auch die Auslandsberichter­ gertums im 19. Jahrhundert“. Walter de Gru­
yter – Max Niemeyer Verlag, 2008; Deutsches
stattung wurde intensiviert. In Wien, Biographisches Jahrbuch, Bd. 2, 1917–1920;
Paris, London, St. Petersburg, Rom Leonhard Lier: „Studien zur Geschichte des
und Konstantinopel verpflichtete der Nürnberger Fastnachtspiels“. Dissertation

205
Unter Gustav Loges entwickelte sich die landwirtschaftliche Versuchssta-
tion Pommritz zu einem Zentrum der Dünge- und Futtermittelkontrolle im
Königreich Sachsen. So stieg von 1893 bis 1913 die Anzahl der untersuchten
Düngerlieferungen von 700 auf 3209 im Jahr.

206
Loges, Gustav Adolph
Professor, Agrarwissenschaftler in Pommritz
21.07.1854 Marne (Schleswig­Holstein) – 20.03.1919 Pommritz

V: Johann Jacob (*7.8.1800 Marne, †8.3.1871 Marne), Tischlermeister; M: Margarethe geb. Tagge
(*22.7.1809 Westerdeich, †8.11.1865 Marne); G: Anna Christina (*11.6.1845 Marne), Maria
Magdalena verh. Ibs (*23.2.1847 Marne, †28.5.1907 Marne), Carl Theodor (*19.7.1850 Marne,
Tischler in Altona) sowie 5 ältere Halbgeschwister aus der 1. Ehe des Vaters mit Catharina geb.
Peters (Margaretha Catharina, Johann Jacob, Hermann Peter, Wilhelm Hinrich, Julius Friedrich)

Loges besuchte ab 1870 das Chris­ Sie führten u. a. Analysen von Wasser
tianeum in Altona, wo er ein Sti­ und Waldböden durch. Loges erwarb
pendium erhielt. Als jüngstes von sich einen wissenschaftlichen Namen
insgesamt neun Kindern der Fami­ mit Arbeiten auf den Gebieten Kris­
lie war er das einzige, das auf eine tallographie und Elektrochemie. Er
höhere Schule gehen konnte. Nach­ schrieb „Ueber die durch Einwirkung
dem wenige Jahre zuvor die Mutter von Kaliumhydrat auf Traubenzucker
gestorben war, verstarb 1871 auch der entstehende reducirende Substanz“,
Vater. In Altona konnte Loges aber „Ueber die Bildung von Acetol aus
weiterhin auf familiäre Unterstützung Zucker“ und „Bestimmung der Härte
zählen. Zwei Halbbrüder wie auch des Wassers“. Über seine alte Heimat
der Bruder Carl Theodor arbeiteten im Kreis Dithmarschen publizierte
dort als Tischler. Nach dem Abitur er „Die Bezahlung der Zuckerrüben
studierte Loges Chemie in Göttingen. nach Zuckergehalt in der Fabrik zu
Hier promovierte er 1878 mit der St. Michaelisdonn und die Anbauver­
Arbeit „Über eine Darstellungsweise hältnisse der Rüben in der Marsch“.
der Nitranilide, über ein Bromnitra­ Ab 1890 leitete Loges in der Nachfol­
cetanilid und ein Bibromnitraceta­ ge des nach Brasilien gewechselten
nilid“. Referent und Vorsitzender der Carl Brunnemann die landwirtschaft­
mündlichen Prüfung in Chemie war liche Versuchsstation Posen.
Hans Hübner (Co­Direktor des Allge­
meinen Chemischen Laboratoriums 1893 übernahm Loges die Leitung
neben Friedrich Wöhler). Die münd­ der landwirtschaftlichen Versuchssta­
liche Prüfung in Physik legte Loges tion Pommritz in der Nachfolge von
bei Johann Benedict Listing ab. Paul Bretschneider. Hier führte er die
von Julius Lehmann und Eduard
Nach dem Studium arbeitete Loges Heiden begründete agrikulturche­
an der landwirtschaftlichen Versuchs­ mische Tradition weiter. Zu seinen
station Kiel mit deren langjährigem Mitarbeitern zählten Fritz Glaser,
Leiter Adolph Emmerling zusammen. Hugo Neubauer und Arthur Strigel.

207
Loges publizierte seine Arbeiten wiederholt in den jährlichen Schriften des
Verbandes landwirtschaftlicher Versuchs-Stationen (Stand 1898).

Loges veröffentlichte „Tierkörpermehl Futtermittelausschuss mit seinem frü­


als Futtermittel“, „Düngerkonservie­ heren Direktor Emmerling und mit
rungsmittel“ und „Fettbestimmung Oscar Kellner (Möckern) zusammen.
in Nahrungs­ und Futtermitteln“. Zudem wirkte Loges im Verband
Im Mittelpunkt der Arbeit standen als Revisor. Wie Bruno Steglich,
aber weniger die wissenschaftlichen dessen Nachfolge an der Dresdner
Untersuchungen, sondern die immer Versuchsanstalt später sein ehema­
zahlreicher werdenden Qualitätsprü­ liger Assistent Neubauer übernahm,
fungen von Dünge­ und Futtermit­ gehörte Loges der landwirtschaftli­
teln. Zudem engagierte sich Loges für chen Sektion der Gesellschaft deut­
eine Unfallversicherung der Assisten­ scher Naturforscher und Ärzte an.
ten an den Versuchsstationen. Im Landeskulturrat vertrat Loges von
1911 bis 1919 die landwirtschaftli­
Loges war Mitglied der Deutschen chen Versuchsstationen. Der Landes­
Landwirtschafts­Gesellschaft, der kulturrat, 1850 von Paul Hermann
Deutschen Chemischen Gesellschaft, mitbegründet, bestand bis 1925 und
des Naturwissenschaftlichen Vereins stellte ein Bindeglied zwischen den
für Sachsen und Thüringen in Hal­ regionalen landwirtschaftlichen Ver­
le, der Deutschen Gesellschaft für einen und den Regierungsbehörden
Züchtungskunde und des Vereins für Sachsens dar. Neben Vertretern der
Socialpolitik. Im Verband landwirt­ Kreisvereine Dresden, Leipzig, Erzge­
schaftlicher Versuchs­Stationen im birge Chemnitz, Vogtland Auerbach
Deutschen Reich unter der Leitung und Oberlausitz Bautzen gehörten
von Friedrich Nobbe arbeitete er im ihm weitere Vertreter unterschied­

208
Die landwirtschaftliche Versuchsstation Pommritz (vor 1920). Unter Gustav
Loges standen wie schon seit der Gründung der Versuchsstation 1864, unter
den Direktoren Julius Lehmann, Cuno Frisch, Eduard Heiden und Paul
Bretschneider, die Agrikulturchemie sowie die Ernährung von Schweinen
im Mittelpunkt. Zu den Aufgaben der Station gehörten zudem die Weiter-
bildung der praktischen Landwirte durch Vorträge in den Vereinen und die
Qualitätsprüfung von Dünge- und Futtermitteln.
licher Fachrichtungen an, so Max Mineralogie“, 1880; Johann Leopold Just: „Just‘s
botanischer Jahresbericht“. Gebr. Borntraeger, 1885;
Neumeister für das Forstwesen und Verein Deutscher Chemiker: „Repertorium der
Bruno Steglich für die Fischzucht. analytischen Chemie“, 1887; „Repertorium der tech­
Das landwirtschaftliche Versuchswe­ nischen Journal­Literatur“, C. Heymann, 1887; Peter
Erasmus Müller, Christian F. Tuxen: „Studien über
sen vertraten von 1872 bis 1889 Julius die natürlichen Humusformen“. Springer 1887; Ru­
Adolph Stöckhardt, bis 1904 Friedrich dolf Biedermann: „Technisch­chemisches Jahrbuch“.
Springer, 1888; Friedrich Nobbe, Oscar Johann Kell­
Nobbe, bis 1911 Oscar Kellner und ner: „Die landwirtschaftlichen Versuchs­Stationen“.
von 1919 bis 1925 Bruno Steglich. 1890, 1894, 1898, 1902, 1912, 1914; Hans Niklas,
Den Vorsitz während Loges‘ Mitglied­ Albert Hock, F. Czibulka: „Literatursammlung aus
dem Gesamtgebiet der Agrikulturchemie“. Agri­
schaft hatte Rudolf Elwir Hähnel auf kulturchemisches Institut Weihenstephan der TH
Kuppritz inne. 1912 wurde Loges für München, 1931; Chemiker­Zeitung, Bd. 43, 1919;
seine Verdienste um die Landwirt­ Adressbuch der Stadt Dresden, 1912; Bruno Schöne
(Bearb.): „Die Sächsische Landwirtschaft: ihre
schaft der Titel Hofrat verliehen. Entwickelung bis zum Jahre 1925, sowie Einrich­
tungen und Tätigkeit des Landeskulturrats Sachsen
Quellen: Universitätsarchiv Göttingen; The Church zu Dresden“. Verlag des Landeskulturrates Sachsen,
of Jesus Christ of Latter­day Saints; Paul Heinrich 1925, 517 S.; Dresdner Salonblatt 1912; Bericht über
von Groth: „Zeitschrift für Krystallographie und das Königliche Christianeum, Altona, 1875

209
Während Marloths Amtszeit von 1860 bis 1875 fanden keine wesentlichen
Umbauten an der Großdrebnitzer Martinskirche statt. Die alte Kirche hatte
bis 1852 zusätzliche bzw. vergrößerte Fenster erhalten, der damalige Kirch-
turm, der mit seiner Spitze nur unwesentlich über das Kirchendach reichte,
Fenster und einen Eingang. Erst 1894 erfolgte der Ausbau des Kirchturms
bis zu seiner heutigen Höhe.

210
Marloth, Carl Julius
Sorbe, Pfarrer, Schriftsteller
24.11.1807 Postwitz – 11.04.1884 Dresden

V: Carl Gottlob (*5.6.1772 Bautzen, †9.12.1833 Postwitz), Pfarrer; M: Friederike Rahel geb.
Martini, Tochter eines Kaufmanns aus Pulsnitz; G: Robert (studierte Jura), Louise; E: 5.11.1837,
Konkordia Wilhelmine geb. Auerswald (6.11.1820–25.10.1894, älteste Tochter des Pfarrers
zu Ponickau, Schwester des Pfarrers und Schriftstellers Oskar Theodor Auerswald, bis zuletzt
in Dresden ansässig); K: Malwina Concordia (*2.10.1838), Julius Richard (*8.12.1840, verh.
7.5.1869 Bernsdorf mit Berta Rosalie Koppelt, Kaufmann), Thrila Johanna (14.1.1842–30.
5.1842), Meta Franziska (*15.10.1843, verh. 5.11.1867 Großdrebnitz mit Friedrich August
Schumann aus Dresden), Maximilian Johannes Balduin (2.8.1845–26.5.1847), Reinhold Otto­
mar (*4.8.1848, verh. 1874 Dresden mit Henriette Auguste Elisabeth Schaff, Buchbinder und
Spielwarenhändler), Olga Theodora (*25.5.1850), Anna Margaretha (*18.3.1852, verh. 10.5.1874
Großdrebnitz mit Ernst Hugo Uhlig), Fanny Nathalie (4.8.1853–27.5.1856), Martha Kathinka
(22.10.1855–28.5.1856)

Marloth entstammte einer sorbischen Mädchenlehrer war. Das Predigeramt


evangelischen Theologenfamilie. an der Hospitalkirche, Königsbrücks
Sein Vater, vorheriger Diakon in Begräbniskirche, war mit dem Rekto­
Neschwitz, war 1807 als Pfarrer nach rat der seit 1836 vereinigten Knaben­
Postwitz berufen worden. Der Jun­
ge lernte schon früh die Schrecken
des Kriegs kennen – die Familie floh
1813 nach Schirgiswalde. Von 1820
bis 1828 besuchte er das Gymnasium
in Bautzen unter Karl Gottfried
Siebelis. Danach studierte er bis 1831
Theologie in Leipzig, wo er auch der
Lausitzer Predigergesellschaft ange­
hörte. Seinen pädagogischen Nei­
gungen folgend – ein Großvater war
Lehrer in Bautzen gewesen – nahm
Marloth eine Stellung als Hauslehrer
in Nedaschütz an. Frühzeitig interes­
sierte er sich für soziale Belange und
arbeitete als Diakon in Pirna. In den
Jahren von 1835 bis 1860 wirkte Mar­
loth in Königsbrück als Schuldirektor
und Hospitalprediger, ab 1845 als
Diakon, wobei er gleichzeitig erster Hospitalkirche Königsbrück.

211
und Mädchenschule und mit dem
Diakonat verbunden. Bibliografie
„Praktische Gedächtnislehre, oder die
In Königsbrück entstanden viele Kunst, ein ganz vorzügliches Gedächtnis zu
schriftstellerische Arbeiten, häufig erlangen“. Reichel Bautzen, 1842
unter dem Pseudonym „Lothmar“. „Wunderkuren eines unstudirten Dorfdoc­
Die ersten Werke wurden bei Reichel tors. Eine Volksschrift“. Reichel Bautzen,
1844
in Bautzen verlegt. Davon sind die „Die Wünschelruthe. Eine Volksschrift“.
„Praktische Gedächtnislehre“ und Reichel Bautzen, 1844
die „Wunderkuren eines unstudirten „Reisen eines Verstorbenen in Sonne,
Dorfdoctors“ in der British Library Mond u. Sterne. Eine populäre Astrono­
mie“. Reichel Bautzen, 1844
nachgewiesen. Viele Werke Marloths „Einige durch Zeitumstände nöthig gewor­
galten sozialen und pädagogischen dene Bemerkungen über Verbesserung des
Themen. Sie fanden Eingang in wich­ Erfinderwesens“. Orthaus Leipzig, 27 S.,
tige Fachbibliografien der Medizin, 1844
Mathematik, Astronomie, Philo­ „Stimmen über Grab, Tod u. Scheintod.
Eine Volksschrift“. O. Wigand Leipzig,
sophie, Pädagogik und Philologie. 195 S., 1845
Mit seinen theologischen Schriften „Ueber das Lebendigbegraben. Erzählungen
wandte er sich zumeist an spezielle für das deutsche Volk“. O. Wigand Leipzig,
Zielgruppen wie Kranke, Soldaten 1847
„Predigt am Charfreitage“. Teubner Leipzig,
und Auswanderer, denen Marloth 15 S., 1847
geistlichen Beistand leistete. 1847 „Ueber Emancipation der Schullehrer“.
unterstützte er das „Dresdner Album“ Pulsnitz, 12 S., 1848
für die Hungernden im Erzgebirge, „Sittenspiegel für Dienstboten männlichen
im Vogtland und in der Oberlausitz, und weiblichen Geschlechts in der Stadt
und auf dem Lande“. Verlag der Theodor
das insgesamt 1700 Taler erbrachte. Schmidtchen Kunst­ und Buchhandlung, 93
Im Zusammenhang mit den revolu­ S. sowie Ferdinand Rühle Dresden, 1851
tionären Ereignissen 1848/49 gibt es „Lebens­Portefeuille Gaben der Liebe und
Hinweise auf erhebliche persönliche Freundschaft“. Schmid Querfurt, 1853
Manuskripte zu „Biblische Sprüche für Ehe­
und berufliche Probleme. So wurde leute“, „Biblischer Wegweiser für Auswan­
er noch 1851 als ehemaliger Aktivist derer“, „Biblische Sprüche für die Verhält­
der sogenannten „Umsturzpartei“ in nisse des Soldatenstandes“, Sammlung von
Königsbrück polizeilich überwacht: Liedern, Sprüchen und Betrachtungen für
„...Individuen wurden im Jahre 1848 Kranke
„Episoden aus dem Kriegsjahr 1866“. In:
als Führer der Umsturzpartei auch Beilage „Unsere Heimat“ zum „Sächsischen
bemerkbar, sind aber von ihren frü­ Erzähler“, Nr. 27, 8.6.1926, veröff. von F.
heren Ansichten schon im Jahre 1850 Marloth, Halle/Saale (Enkel von Marloth)
gänzlich abgegangen.“ (Die seinerzeit „Chronik von Groß­ und Kleindrebnitz“
(1504–1869).
radikale Umsturzpartei gehörte zu
den Vorläufern der Sozialdemokra­

212
tie.) Das Verhältnis zum damaligen bezirks Trebista nicht identisch mit
ersten Pfarrer von Königsbrück, Karl einem Ort ähnlichen Namens in
Kirsch, muss schlecht gewesen sein. dieser Gegend gewesen sein muss.
Davon zeugen mehr als kritische Die Chronik wurde am 18. Mai 1869
Vermerke des königstreuen Kirsch in in den Grundstein des neuen Schul­
Königsbrücker Kirchenschriften, in gebäudes gelegt. In Bruno Barthel
denen dieser z. B. die schriftstelleri­ fand Marloth einen würdigen Nach­
sche Kompetenz Marloths verneinte, folger als Heimatforscher. Die Grab­
deren Anerkennung aber verschwieg. platte in der Martinskirche Großdreb­
nitz erinnert noch heute an Marloth.
Von 1860 bis zu seiner Emeritierung
Quellen: Bruno Barthel: „Altes und Neues aus
1875 arbeitete Marloth als Pfarrer Groß­ und Kleindrebnitz“. Friedrich May Bischofs­
in Großdrebnitz. Er war hier wegen werda, 1907; Pf. Sebastian Führer: „Gedenkblatt zur
seines sozialen Engagements hoch Wiedereinweihung der Martinskirche Großdreb­
nitz am 4. Sonntag nach Trinitatis, 19. Juni 2005“;
geachtet. So gründete er 1869 die Martinskirche Großdrebnitz, Pfarrarchiv; Werner
Volksbibliothek und schuf mit seiner Lindner: Auszüge aus dem Seelenregister der Stadt
Chronik wichtige Grundlagen für die Königsbrück; Wilhelm Haan: „Sächsisches Schrift­
steller­Lexicon“. Robert Schaefer‘s Verlag Leipzig,
Großdrebnitzer Ortsgeschichtsschrei­ S. 208, 1875; Erhard Hartstock, Peter Kunze: „Die
bung. Der chronologischen Darstel­ bürgerlich­demokratische Revolution von 1848/49
in der Lausitz“. Domowina­Verlag, S. 248, 1977;
lung ab 1504 vorangestellt hatte Mar­ Reinhold Grünberg: „Sächsisches Pfarrerbuch. Die
loth den damaligen Kenntnisstand bis Parochien und Pfarrer der Ev.­luth. Landeskirche
zurück in die Zeit der Ortsgründung. Sachsens (1539–1939)“. Ernst Mauckisch Freiberg,
1940; Emil Weller, Emil Ottokar Weller: „Lexi­
Er berichtete über wiederholte Drang­ con Pseudonymorum“. Georg Olms Verlag, 1997;
sale der Dorfbevölkerung während Wilhelm Engelmann, Theodor Christian Friedrich
der Kriege, beschrieb aber auch Enslin: „Bibliotheca medico­chirurgica et anato­
mico“. 1848; Ludwig Adolph Sohncke: „Bibliotheca
Bemerkenswertes aus dem Dorfalltag, Mathematica“. 1854; Johann Samuel Ersch, Chris­
z. B. klimatische Besonderheiten mit tian Anton Geissler: „Bibliographisches Handbuch
der philosophischen Literatur“. F.A. Brockhaus,
ihren Auswirkungen auf die örtliche 1850; Jean­Charles Houzeau, Albert Lancaster:
Landwirtschaft. Hervorzuheben ist „Bibliographie générale de l‘astronomie“. 1882; Neue
ein Eintrag zur gebräuchlichen Orts­ Jahrbücher für Philologie und Pädagogik, B. G.
Teubner, 1842; „Dresdner Album: Zur Unterstüt­
angabe in ehemals hiesiger Volksspra­ zung der Nothleidenden im Sächsischen Erzgebir­
che: „in der Drebnitz“ statt „in Dreb­ ge, im Voigtlande und in den Weberdörfern der
nitz“. Diese Formulierung legt nahe, Oberlausitz“. Verlag Meinhold, 1847; „Die Diöcesen
Bautzen und Kamenz“. Neue Sächsische Kirchenga­
dass die Ortsbezeichnung Drebnitz lerie, Verlag Arved Strauch, Leipzig; Neues lausit­
aus der Umgebung abgeleitet wurde. zisches Magazin: Zeitschrift der Oberlausitzischen
Gesellschaft der Wissenschaften, Verlag Oettel, S.
Im Zusammenhang mit der strittigen 130f., 1834; Adressbücher der Stadt Dresden; „Ab­
Lokalisierung des Castellums Trebis­ schrift der in dem Grundstein des Schulgebäudes
ta, das 1007 urkundlich ersterwähnt am 18. Mai 1869 gesetzte Kurzgefaßte Chronik von
Groß­ und Kleindrebnitz, gesammelt und aufgesetzt
wurde, bedeutet dies, dass ein Kastell von Carl Julius Marloth Pfarrer daselbst.“; Lausitzer
als Zentrum des späteren Burgward­ Prediger­Gesellschaft zu Leipzig, Jahresbericht 1875

213
August Gottlieb Meißner, Kupferstich von Christian Gottlob Scherf nach
einem Bild von Anton Graff.
Quellen: Franz Schnorr von Carolsfeld: Artikel „Meißner, August Gottlieb“ und „Quandt, Gottlob
von“. Allgemeine Deutsche Biographie; Rudolf Fürst: „August Gottlieb Meißner. Eine Darstellung
seines Lebens und seiner Schriften“. 1900; Walter Weber: „Meißner, August Gotllieb“. Neue Deutsche
Biographie, Bd. 16, 1990, S. 694; Oskar Ludwig Bernhard Wolff: „Encyclopädie der deutschen Natio­
nalliteratur“. Bd. 5, O. Wigand, 1840; Brockhaus Conversations­Lexikon, Bd. 8, Leipzig 1811, S. 48–49;
Brockhaus‘ Kleines Konversations­Lexikon, Bd. 2, Leipzig 1911, S. 160; Woldemar von Biedermann:
„Goethe und Dresden“. Books on Demand, 2012; wiki2.olgdw.de

214
Meißner, August Gottlieb
Professor, Schriftsteller, Begründer der deutschen Kriminalliteratur
03.11.1753 Bautzen – 18.02.1807 Fulda

V: Abraham Gottlieb (†16.10.1761 Bautzen), Regimentsquartiermeister beim Minckwitz‘schen


Kürassierregiment, Senator für Militärangelegenheiten; M: Charlotte Ernestine geb. Sergnitz
(†1779), Tochter des Arztes Johann Gottlob Sergnitz aus Löbau; E: 13.11.1783 Johanna Christi­
ana Elisabeth geb. Becker (*1764, †30.3.1807 Fulda, Tochter des Hofrats Ernst Gotthelf Becker
aus Dresden); K: 1 Sohn, Eduard (*1785 Dresden, †1868 Prag, Dr. med., Badearzt in Teplitz und
Karlsbad, Senior der Ärzte in Prag), und 3 Töchter, Bianca (*24.11.1790 Prag, †24.3.1862 Dres­
den, verwitwete Kriegsrätin Low, ab 2.6.1819 in 2. Ehe mit dem Schriftsteller und Kunstmäzen
Johann Gottlob von Quandt verheiratet), Elvira (*1793, †1806 Fulda) und Natalie (†1807 Fulda);
Enkel: Alfred Meißner (*15.10.1822 Teplitz, †29.5.1885 Bregenz, schrieb „Gedichte“, das Epos
„Ziska“ und die Romane „Sansara“ und „Schwarzgelb“)

Meißner zog drei Jahre nach dem historische Schriften zur Geschichte
Tod des Vaters mit seiner Mutter von Englands, dessen gesellschaftliches
Bautzen nach Löbau, wo er bis 1772 System er bewunderte, und Deutsch­
das Lyzeum besuchte. Rektor war hier lands heraus.
Johann Gottfried Heinitz, der zuvor
Gotthold Ephraim Lessing in Kamenz Weil sich die Mutter Sorgen um die
unterrichtet hatte. 1773 bezog Meiß­ wirtschaftliche Zukunft ihres Sohnes
ner die Universität und studierte bis machte, entschied sich Meißner für
1776 in Wittenberg und Leipzig zu­ eine Beamtenlaufbahn am sächsi­
nächst Jura und später auch Rhetorik schen Hof in Dresden, wo er eine
und Geschichte. In Leipzig vermit­ Anstellung als Geheimer Kanzellist
telte ihm Ernst Platner Grundlagen im Geheimen Konsilium und wenig
der psychosomatischen Medizin, die später am Geheimen Archiv erhielt.
Meißners spätere Kriminalerzählun­ Seine schauspielerischen Neigungen
gen maßgeblich beeinflussen sollten. lebte er am Societaetstheater aus.
Bereits während des Studiums begeis­ In Dresden erreichte Meißner den
terte sich Meißner für Theater und Höhepunkt seiner schriftstellerischen
Dichtung und pflegte Umgang mit Laufbahn. Mit Karl Christian Canz­
den Mimen Conrad Ekhof, Friederike ler gab er die Quartalsschrift „Für
Sophie Seyler und Ester Charlotte ältere Litteratur und neuere Lectüre“
Brandes. Seine ersten Versuche als heraus. Es entstanden die Romane
Dramatiker wurden von Johann Jacob „Alcibiades“ und „Bianca Capello“,
Engel gefördert. 1776 erschienen die Persönlichkeiten der italienischen
einige erfolgreiche Werke Meiß­ Renaissance bzw. der griechischen
ners, darunter die komische Oper Antike gewidmet waren, das Singspiel
„Das Grab des Mufti“. Er gab zudem „Alchemist“ und die Schauspiele „Ar­

215
te, Joseph Schuster und Franz Seyde­
lmann, die mehrere Stücke Meißners
vertonten, dem aus Zittau stam­
menden Schriftsteller Karl Friedrich
Kretschmann und der Dichterin Elisa
von der Recke sowie den Malern Jo­
hann Eleazar Zeissig und Crescen­
tius Jakob Seydelmann. Um die Hand
der Malerin Dora Stock, einer Tante
von Theodor Körner, bemühte er sich
vergeblich. Als Vertreter der Aufklä­
rung kritisierte Meißner wiederholt
den Hofstaat. Zwei Söhne von Hein­
rich von Brühl, Hanns Moritz und
Alois Friedrich, gehörten trotzdem
zu seinem engen Bekanntenkreis. Seit
1780 war Meißner Mitglied der Ober­
Seinen Roman Alcibiades von 1781 lausitzischen Gesellschaft der Wissen­
widmete Meißner dem Maler Jo- schaften in Görlitz. Von 1780 bis 1787
hann Eleazar Zeissig (Schenau). gehörte er der von Johann Samuel
Schenau schuf die Zeichnung zum Petermann, einem Sohn von Georg
Titelbild, die von Ephraim Gottlieb Petermann, geleiteten Freimaurer­
Krüger gestochen wurde. Loge „Zum goldenen Apfel“ an. Mit
der Loge „Herkules“ in Schweidnitz
sene“ und „Johann von Schwaben“. war er zuvor affiliiert.
Seine Kantate „Das Lob der Musik“
wurde von Hofkapellmeister Joseph 1785 erhielt Meißner die Professur
Schuster vertont. Zudem startete der Philosophie an der Universität
Meißner 1778 seine „Skizzen“ (pro­ Prag, vermutlich auf Empfehlung
saische Aufsätze, Anekdoten, Erzäh­ von Ernst Platner. Er übernahm aber
lungen, Fabeln), die schließlich in 14 schließlich die Ästhetik und klassi­
Sammlungen erschienen. Sie zeichne­ sche Literatur. Meißner gab in Prag
ten sich durch eine angenehme Art zu die Zeitschrift „Apollo“ heraus und
erzählen, Einbildungskraft und Witz gründete ein Buchgeschäft. Er ver­
aus und begründeten maßgeblich fasste Biografien zur griechisch­rö­
seinen Ruf. Meißner hielt in Dres­ mischen Geschichte wie „Spartacus“,
den enge Beziehungen zu führenden „Epaminondas“ und „Leben des Julius
Künstlern seiner Zeit, darunter den Caesar“ sowie 1796 als Sammelband
Hofkapellmeistern Johann Gottlieb seine „Kriminal­Geschichten“. In Prag
Naumann, dessen Biografie er verfass­ herrschte unter Kaiser Joseph II. ein

216
tolerantes, aufgeklärtes Klima, das
auch die Berufung eines protestanti­
schen Professors wie Meißner zuließ.
Mit dem Tod des Kaisers 1790 gewan­
nen jedoch an der Universität restau­
rative Bestrebungen um den katho­
lischen Klerus an Einfluss, die auch
Meißners Lehrtätigkeit erschwerten.
1805 wechselte Meißner nach Fulda
als Konsistorialrat und Direktor des
Gymnasiums. Wie in Prag kam er als
protestantischer Lehrer in ein streng
katholisches Umfeld, in dem erst
1802 die Säkularisierung eingeführt
worden war. Weil Friedrich Wilhelm
von Nassau auf Seiten der Preußen
gekämpft hatte, besetzten nach der
Schlacht von Jena napoleonische
Truppen Fulda. Mit ihnen kam der
Typhus, der Meißner 1807 im Alter
von 53 Jahren, seiner Frau und zwei Clara Bianca von Quandt mit Laute,
Töchtern das Leben kostete. 1820 von Julius Schnorr von Ca-
rolsfeld gemalt. Meißners Tochter
Meißner war seinerzeit einer der heiratete zwölf Jahre nach dem
Lieblingsschriftsteller des Publikums Tod des Vaters in Dresden Johann
und insbesondere bei der weiblichen Gottlob von Quandt. Zu den regel-
Leserschaft angesehen. Seine ausge­ mäßigen Gästen im Hause Quandt
zeichenten Fremdsprachenkennt­ gehörten Ernst Rietschel, Gott-
nisse ermöglichten ihm anerkannte fried Semper, Karl August Böt-
Übersetzungen und Bearbeitungen tiger und Gottlob Adolf Ernst
aus dem Französischen, Englischen, von Nostitz und Jänkendorf.
Italienischen, Lateinischen und Grie­ Quandt übte großen Einfluss auf
chischen. Die berühmten Schriftstel­ das Kunstgeschehen in ganz Sachsen
ler seiner Zeit wie Johann Wolfgang aus. Er war einer der Mitbegründer
von Goethe und Ludwig Tieck sahen des Sächsischen Altertumsvereins
ihn dagegen kritisch mit Hinweisen und des Sächsischen Kunstvereins
auf sprachliche Mängel und fehlende sowie Mitglied des akademischen
Originalität. Nach Meißners Tod gab Rats an der Kunstakademie und der
Christoph Kuffner dessen gesammelte Dresdner Galeriekommission. 1830
Werke in 56 Bänden heraus. kaufte er das Rittergut Dittersbach.

217
Karl Wilhelm Mittag veröffentlichte mehrere Gedichte im „Sächsischen
Erzähler“.

218
Mittag, Karl Wilhelm
Stadtchronist von Bischofswerda
24.12.1813 Rammenau – 29.04.1864 Langebrück

V: Johann Gottlieb, Häusler in Rammenau; M: Eva Rosina geb. Häntsche (*1.9.1785 Rauschwitz,
†24.11.1840 Rammenau), Tochter eines Freibauern; G: Johann Gottlieb (*24.3.1808 Rammenau,
† nach 1840), Hanne Eleonore (*13.8.1822 Rammenau, † nach 1840); E: 1843, Emilie Paulina
geb. Lommatzsch (Tochter von Karl Gottfried Lommatzsch, Rittergutspächter und Gutsbesitzer
in Burkhardswalde; ? Pferdezüchter Gottfried Leberecht Lommatzsch, *1803 Burkhardswalde)

Karl Mittag stammte aus einfachen Frommen 1539 im albertinischen


Verhältnissen. Er besuchte an seinem Sachsen eingeführt, unter dem Pat­
Geburtsort Rammenau die Schu­ ronat von Christian Gottlob Adolph
le und blieb der Heimat zeitlebens von Heynitz mitverantwortlich. 1842
verbunden. Mit seinem ehemaligen wurde die Heynitzer Kirche umgebaut
Kirchschullehrer Johann Gott­ und dabei die Orgel umgesetzt. Am
lob Riedel war er befreundet. Von 30. April 1849 gehörte Mittag zu den
1830 bis 1834 besuchte Mittag das Rednern einer Volksversammlung
Fletcher‘sche Lehrerseminar in Dres­ in Meißen, die zur Anerkennung der
den. Zurückgehend auf eine Stiftung Frankfurter Verfassung aufriefen.
von Friederica Christiana Elisabeth
Freifrau von Fletcher aus dem Jahre Mittag war wissenschaftlich sehr
1769 war es 1825 gegründet worden. interessiert. In Meißen gehörte er der
Es sollte Kindern aus einfachen Fa­ Naturwissenschaftlichen Gesellschaft
milien den Zugang zum Lehrerberuf ISIS an und auch zur Oberlausitzi­
ermöglichen. Unterricht und Woh­ schen Gesellschaft der Wissenschaf­
nung waren kostenlos. Das Seminar ten zu Görlitz hatte er Kontakt. (Die
stand unter der Administration von zitierte korrespondierende Mitglied­
Detlev Graf von Einsiedel, der wenige schaft konnte in den Mitgliederver­
Jahre zuvor als sächsischer Kabinetts­ zeichnissen nicht bestätigt werden.)
minister der Stadt Bischofswerda eine Die ISIS Meißen wurde zu jener Zeit
Denkmalbüste für König Friedrich vom Mediziner Dr. Körner und die
August den Gerechten gestiftet hatte. Muttergesellschaft in Dresden von
1835 erhielt Mittag seine erste An­ dem bedeutenden Naturwissenschaft­
stellung als Hilfslehrer in Siebenlehn. ler Ludwig Reichenbach geleitet.
Ab 1837 arbeitete er als Kirchschul­ Zu den bekanntesten Projekten in
lehrer und Organist in Heynitz bei Meißen zählte die „Chronik des Gar­
Meißen. Hier zeichnete Mittag für tenwesens und Feuilleton der Isis“, he­
die Ausgestaltung der 300­Jahr Feier rausgegeben von Karl Andreas Geyer.
der Reformation, von Heinrich dem Mittag selbst überarbeitete 1853 das

219
„Religions­ und Spruchbuch für Detailliert schilderte er historische
evangelisch­lutherische Volksschulen Ereignisse wie die Einführung der Re­
mit Rücksicht auf Dr. Mart. Luthers formation und den großen Stadtbrand
kleinen Katechismus“ von Karl W. von 1813, aber auch die wirtschaft­
Lotze, erschienen in der 8. Auflage bei liche Tätigkeit über mehrere Jahr­
Klinkicht Meißen. Bei diesem Verlag hunderte. Mittags Chronik von 1861,
publizierte er 1858 auch sein „Hand­ dem 500. Jahr seit der Erteilung des
buch zur Gewichtsreform in Sachsen: Stadtrechts an Bischofswerda, ging in
Die gesetzlichen Bestimmungen. ihrer Detailtreue und Vollständigkeit
Über Einführung eines allgemeinen weit über ihre Vorgänger hinaus und
Landesgewichts“ im Zusammenhang hat bis heute keinen entsprechenden
mit den Standardisierungsbestrebun­ Nachfolger gefunden. Diese Chronik,
gen des Deutschen Zollvereins, das deren Erscheinen sich am 30. Juni
sich sowohl an Geschäftsleute wie 2011 zum 150. Mal jährte, ist ein noch
auch an Privatpersonen richtete. heute häufig zitiertes historisches
Werk und wurde inzwischen wieder
Von dem befreundeten Verleger neu aufgelegt.
Friedrich May, seinerzeit kurz vor
dem Eintritt in die Dresdner Frei­ 1862 ging Mittag als Kirchschullehrer
maurerloge „Zu den drei Schwertern“, nach Langebrück. In seinen letzten
der auch Christian Gottlob Adolph Jahren veröffentlichte er bei May
von Heynitz angehört hatte, ließ sich im „Sächsischen Erzähler“ mehrere
Mittag überzeugen, für Bischofswer­ Gedichte, darunter im Februar 1864
da eine neue Chronik anzufertigen. zu Ehren seines ehemaligen Lehrers
Die vormalige aus dem Jahre 1713 Johann Gottlob Riedel anlässlich
ging auf den Bischofswerdaer Kan­ dessen 50­jährigen Amtsjubiläums.
tor Christian Heckel zurück. Heckel Schon zwei Monate später mussten
schrieb darin die Arbeit von Michael Riedel und May an gleicher Stelle dem
Pusch, Archidiakonus in Pirna, fort, Freund mit einem Nachruf gedenken.
die dieser in zwei Auflagen 1658
und 1659 in Dresden veröffentlicht Quellen: Kirchenarchiv Rammenau; www.h­
hatte. Mittag ergänzte nicht nur die conrad.de (Die Schüler des Lehrerseminars von
letzten anderthalb Jahrhunderte, 1825 bis 1925); „Bischofswerda in der Chronik,
sondern führte eigene umfangreiche Erinnerungen an Mittags­Chronik, die vor 70
Jahren am 30. Juni erschien“. Unsere Heimat,
Recherchen im königlich­sächsischen Beilage zum Sächs. Erzähler, Nr. 26, 29. Juni
Hauptstaatsarchiv, im Meißner Stifts­ 1931; Allgemeine deutsche naturhistorische
archiv und im geheimen Finanzarchiv Zeitung, Gesellschaft Isis in Dresden, Jg. 1846,
1856; Sächsisches Kirchen­ und Schulblatt, Bd.
durch und übersetzte vielfach origi­
12, Verlag Dörffling und Franke, 1862, S. 112;
nale Urkunden aus dem Lateinischen Der Sächsische Erzähler, Nr. 86/31. Oktober
und dem mittelalterlichen Deutsch. 1863, Nr. 92/21. November 1863, Nr. 13/13. Feb­

220
Nachruf im „Sächsischen Erzähler“, Wochenblatt für Bischofswerda, Stol-
pen und Umgegend, Nr. 37/ 7. Mai 1864.

ruar 1864, Nr. 37/ 7. Mai 1864; Carl Ramming: „Ramming‘s Kirchlich­statistisches Handbuch für das
Königreich Sachsen ... Nach handschriftlichen Angaben und amtlichen Quellen bearbeitet‘‘. Ausg. 6,
Ramming‘sche Buchdruckerei, 1859; Franz Otto Stichart: „Jubelchronik der dritten kirchlichen Säcu­
larfeier der Einführung der Reformation in Sachsen: zur Erinnerung für das kommende Geschlecht
auf das Jubeljahr 1939“. Grimma, 1841; Wilhelm Haan: „Kirchlich­statistisches Handbuch für das
Königreich Sachsen oder Verzeichnis der in dem Königreiche Sachsen angestellten Geistlichen,
Schulmeister, Schullehrer, Cantoren aller Confessionen‘‘. Bd. 3, Dresden, 1838; Cornelius Gurlitt:
„Beschreibende Darstellung der älteren Bau­ und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen“. Bd. 41,
1923, Meinhold Dresden; Dresdner Journal. Herold für sächsische und deutsche Interessen. Redigirt
von Karl Biedermann, Bd. 5, Teubner, 1849; Friedrich Adolf Peuckert: „Die ger. und vollk. St. Johan­
nisloge zu den drei Schwertem und Asträa zur grünenden Raute im Orient Dresden 1738–1882“.
Bruno Zechel, 1883; Adressbücher der Stadt Dresden

221
Johann Gottfried Nake.

222
Nake, Johann Gottfried
Amtsverwalter und Schafzüchter der Wettiner
06.05.1770 Dresden – 18.04.1855 Kleindrebnitz

V: Johann Gottfried (*13.1.1726 Pillnitz, †4.4.1780 Dresden), kurfürstlicher Holzanweiser im


Ostraer Holzhof, Sohn von Georg Nake aus Pillnitz und Sabine geb. Kegel aus Mühlsdorf bei
Lohmen; M: Johanne Charlotte geb. Klippgen (*1735 Meißen ?, †15.12.1807 Dresden), Tochter
eines Schneidermeisters aus Meißen; G: Karl Friedrich (*29.10.1771 Dresden, Inhaber einer
Materialwarenhandlung in Dresden, verh. mit Sophie Friederike Ursinus, Tochter des Wils­
druffer Bürgermeisters), Christoph Traugott (*4.1.1773, †11.10.1847, kurfürstlicher Geheimer
Registrator beim Geheimen Rat), Eva Charlotte Gertraude (*9.6.1775 Dresden, †8.5.1827, verh.
mit dem kursächsischen Pagenmeister und Pfarrer in Wachau Heinrich Benjamin Eras), Chris­
tine (13.9.1776–17.9.1776), Marie Elisabeth (14.2.1778–1.5.1782); E: 7.9.1797 Wachau, Friede­
rike Auguste geb. Schmaltz (*25.12.1773 Stolpen, †8.2.1864 Kleindrebnitz); K: Ernst Wilhelm
(*3.9.1798, †13.10.1876 Pirna, langjähriger Gerichtsamtmann in Altenberg), Auguste Wilhelmi­
ne (*8.4.1800 Rennersdorf, †24.6.1870 Bischofswerda, verh. mit Ernst Traugott von Zenker, Rit­
tergutsbesitzer auf Steinigtwolmsdorf und Ringenhain), Hermann Ludwig (27.6.1801–21.4.1877,
Gymnasium Schulpforte, Advokat, Gerichtsdirektor, Mitarbeit in der Kommission für Ablösun­
gen und Gemeinheitsteilungen, Stadtrat in Dresden, Vater des 2. Bürgermeisters Dr. jur. Ernst
Heinrich Nake), Auguste Louise (*3.11.1802, †28.9.1882 Radeberg, verh. mit dem Pfarrer von
Wachau Ernst Albert Eras), Julius Moritz (25.1.1804–30.11.1811), Pauline Charlotte (*22.8.1805,
†26.4.1903 Pirna, verh. mit dem Pfarrer von Podelwitz Johann Karl Gottlieb Lohse), Laura
Heloise (20.1.1807–12.11.1862, verh. mit dem Direktor der Königstädtischen Realschule Berlin
Gabriel Marie Theodor Dielitz), Bernhard Theodor (1.4.1808– 1.10.1859, Advokat in Radeburg,
Neustadt, Bischofswerda, Ebersbach), Bruno Maximilian (10.8.1810–1.9.1811), Alwin Bruno
Julius (*14.4.1812, †29.9.1868 Bischofswerda, aufgrund einer geistigen Erkrankung erwerbsun­
fähig), Moritz Theophron (*6.12.1813, † um 1870 in Brasilien, Studium an der Forstakademie
Tharandt, Pächter landwirtschaftlicher Güter, Landesproduktenhändler in Dresden, angestellt in
der Mineralwasseranstalt seines Schwagers Dietrich Reh), Oswald Theodor (31.8.1818–
18.1.1883, Advokat in Leisnig, Mitglied des sächsischen Landtags 1849/1850)

Nake verlor früh seinen Vater. Die im Vorwerk Lohmen und ab Dezem­
Mutter konnte ihren Kindern den­ ber 1795 in Rennersdorf, den zwei
noch eine gute Ausbildung ermög­ sächsischen Stammzuchtstellen für
lichen. In Dresden, wo die Familie Merinoschafe.
das Haus Wilsdruffer Gasse 16 besaß,
besuchte Nake die Kreuzschule. Ab 1796 übernahm Nake das Kammer­
1791 studierte er zusammen mit gut Rennersdorf als Administrator
seinem Bruder Christoph Traugott in im Range eines Amtsverwalters. Er
Leipzig Kameralwissenschaften. Da­ gehörte damit neben dem in Stolpen
nach absolvierte Nake im Kammergut residierenden Justizamtmann Benja­
Rennersdorf ein Praktikum. Ab 1794 min August Scheibner und dem Rent­
arbeitete er als Wirtschaftsschreiber beamten Johann Gottfried Traugott

223
„Vorwerk“ Kleindrebnitz: Histori-
sche Torausbildung der mit Kreuz-
gewölben gedeckten Hofeinfahrt
(oben); heutige Ansicht (rechts).

Conradi zu den höchsten Vertretern darin, die feudalen Fronleistungen


des Kurfürsten im Amt Stolpen. Das der Bauern und Häusler aus den
Kammergut unterstand direkt dem Amtsdörfern einzufordern. Allerdings
Geheimen Finanzkollegium ohne profitierte das Kammergut davon
zwischengeschaltete Mittelbehörde. in geringerem Maße als das Amt in
Nake verantwortete mehrere Vorwer­ Stolpen. Die umliegenden Dörfer
ke und Schafzüchtereien sowie die hatten dem Kammergut Gesinde zu
Schäfereischule in Stolpen. Das Amt stellen und mussten aushelfen, wenn
Stolpen ging auf ehemals bischöf­ dessen eigenes Personal die Arbeit
lichen Besitz um Stolpen und Bi­ nicht schaffte. Viele Fronarbeiten
schofswerda zurück, der seit 1559 den wurden auch in den dem Kammer­
Kurfürsten gehörte. Die Amtsschösser gut zugeordneten Vorwerken, z. B.
oder Amtsverwalter fungierten als in Altstadt, und den Schäfereien
unmittelbare Vertreter der jeweiligen geleistet. Erich Barth schreibt: „Die
Landesherren, wobei den örtlichen Ackerdörfer waren gehalten, alle zum
Erbrichtern, wie beispielsweise in Vorwerk Rennersdorf gehörenden
Kleindrebnitz, relativ große Eigen­ Getreidefelder allein zu bestellen und
ständigkeit gewährt wurde. abzuernten“ (zu den Ackerdörfern
gehörten beispielsweise Lauterbach
Eine Aufgabe des Amtsverwalters und Wilschdorf) sowie: „Das große
im Kammergut Rennersdorf bestand Kammergut Rennersdorf bestellte

224
seine eigenen Felder und die der an­
gegliederten Schäferei selbst.“

Auf den kurfürstlichen Besitzungen


Lohmen und Rennersdorf sowie
nach der Aufhebung eines völligen
Verkaufsverbots auch von verschiede­
nen Rittergütern wurden besonders
feinwollige Merinoschafe („Elektoral­
schafe“) gezüchtet. Die Qualität der
„Elektoralwolle“ überstieg jene der
seit 1765 unter dem Prinzregenten
Xaver aus Spanien eingeführten Me­ Das Kammergut Rennersdorf
rinos und machte Sachsen zu einem (Gustav Täubert/Wilhelm Riedel,
führenden Exportland für Schafwol­ Deutsche Fotothek, Lizenz CC BY-
le, die außerdem die Grundlage der SA 4.0).
prosperierenden sächsischen Textil­
industrie darstellte. Nakes Zuchtleis­ Schafe in Sachsen belief sich 1800 auf
tungen machten ihn international 90.000. 1804 befanden sich in den
bekannt und wohlhabend. Von 1779 kurfürstlichen, ab 1806 königlichen
bis 1811 wurden von Rennersdorf Schäfereien 3.400 reinblütige Merinos
insgesamt 10.000 Tiere an inländische spanischer Abstammung. Eingeführt
Schäfereien abgegeben. Der Gesamt­ hatte man anfangs etwa 200 Tiere.
bestand durch Merinos veredelter
Neben seiner beruflichen Tätigkeit
in Rennersdorf betrieb Nake privat
Karpfenteichwirtschaft. Er hatte dazu
den Goldbacher und Weickersdorfer
Teich aus dem Besitz des Amtes Stol­
pen gepachtet. Um die Teiche besser
bewirtschaften zu können, erwarb
er 1810 eine benachbarte Fläche der
Gemeinde Kleindrebnitz. Statt der
geplanten einfachen Hilfsgebäude
ließ er sich hier 1811 von Gottlob
Friedrich Thormeyer ein größeres
1802 gab es in ganz Australien erst Anwesen mit Wohnhaus, Scheune
33.000 Schafe. 1812 gelang es John und Zugviehstall errichten. Die im
Macarthur, die ersten sächsischen Ort dafür heute übliche Bezeichnung
Merinos zu importieren. als „Vorwerk“ ist nicht korrekt. Der

225
Johann Gottfried Nake kaufte das Erbgericht Kleindrebnitz 1822 von Jo-
hann George Steglich, 1849 verkaufte er es an Carl Gottfried Gnauck. Das
Foto wurde von Uwe Fiedler der Wikipedia zur Verfügung gestellt.

Gebäudekomplex war das private sein privates Anwesen in Kleindreb­


Anwesen des Verwalters des königli­ nitz durch den Kauf benachbarter
chen Kammergutes und nicht dessen Flächen erheblich. Die Teiche legte er
Außenstelle. Es wurde zur Grün­ schrittweise still und er begann, auf
dungszeit auch nur als „Anbau“ (zu eigene Rechnung Schafe zu züchten.
den Amtsteichen) bezeichnet. Der Komplex umfasste schließlich
sieben Gebäude einschließlich zweier
Nakes Schäfereien wurden während Schafställe und einer Brennerei.
des napoleonischen Kriegs bis 1813 1819 gelang es Nake, die Flächen der
geplündert und verwüstet, weil mehr­ Amtsteiche für 2.100 Taler zu kau­
mals Truppenverbände durch die fen. Der zuständige Amtshauptmann
Gegend um Stolpen zogen. Um die von Stolpen war seinerzeit Eduard
Herden aufzufrischen, ergänzte man Gottlob von Nostitz und Jänken­
danach den Rennersdorfer Bestand dorf. Als Mitarbeiter beim Geheimen
mit Tieren aus dem Ausland. Auch Finanzkollegium blieb jener auch in
die fronpflichtigen Dörfer litten unter den Folgejahren eine wichtige Be­
den Nachwirkungen des Kriegs. In zugsperson für Nake.
den Folgejahren vergrößerte Nake

226
Nake bewirtschaftete sein Anwesen Wegen der Bedeutung der Schafzucht
nicht selbst, sondern übertrug dies für Sachsen bestand in den 1820er
einem Vogt. 1822 kaufte er zusätzlich Jahren „Die wegen Veredelung der
das Kleindrebnitzer Erbgericht. Nakes Schäfereien im Königreiche Sachsen
Motive bestanden darin, zum Vor­ Verordnete Commission“. Sie unter­
werk benachbarte landwirtschaftliche stand direkt dem Geheimen Kabinett
Flächen zu erwerben und neben der unter Detlev Graf von Einsiedel und
Schafzucht auch herkömmliche Land­ wurde von Peter Carl Graf von Ho­
wirtschaft betreiben zu können. Eine
Rolle spielte vermutlich aber auch,
dass der Unternehmer in Kleindreb­
nitz und hohe königliche Vertreter in
Rennersdorf dadurch zusätzlich Ein­
fluss auf die örtliche Gerichtsbarkeit
in Kleindrebnitz erlangte. Zu Nakes
Obliegenheiten gehörte die Organisa­
tion der Fronleistungen, die das Dorf
gegenüber Kammergut Rennersdorf
und Amt Stolpen zu erfüllen hatte.
Als „Dungdorf “ war Kleindrebnitz
für die Düngung der königlichen „Dem Elektoralschafe war eigen:
Felder zuständig, man musste Ge­ eine kleine Figur von feinem Kno-
höftarbeiten leisten, die Flachsfelder chenbau; langer schwacher Kopf,
bearbeiten, Holz­ und Transportar­ feiner Hals, hoher scharfer Stock
beiten übernehmen und die Jagden mit schmalem Rücken, schmales
unterstützen. Die Fluren sollten von abgeschliffenes Kreuz; seichte enge
den Schafen des Kammergutes „be­ Brust mit solchem Bauche; hohe
hütet“ werden. Als Grundbesitzer in Beine mit mageren Schultern und
Kleindrebnitz war Nake Fronpflichti­ Schenkel; ein feines Fell ohne Falten
ger, als Administrator in Rennersdorf mit schwachem Köder“ (Georg May:
Kontrolleur. Sein Versuch, Ausschank „Das Schaf: seine Wolle, Rassen,
und Beherbergung sowie die Durch­ Züchtung, Ernährung und Benut-
führung von Versammlungen vom zung, sowie seine Krankheiten“, Bd.
Erbgericht in das Vorwerk zu verle­ 1, Breslau 1868, S. 181–182; Abb.:
gen, scheiterte am Widerstand der vierjähriges Mutterschaf, Rudolph
Kleindrebnitzer. Damit musste er André 1824). Der in Wilschdorf bei
auch seinen Plan aufgeben, die Erbge­ Rennersdorf aufgewachsene Ro-
richtsgebäude komplett zu vermieten bert Heller erwähnte die Elek-
und die Flächen ausschließlich vom toralwolle in seinem Roman „Der
Vorwerk aus zu betreiben. Schleichhändler“.

227
Auf dem Territorium des Amtes Stolpen (AS) lebten 1832 etwa 28.500 Men-
schen, davon ungefähr 24.000 in Dörfern.

henthal geleitet. Neben Nake gehörte ein Drittel auf etwa 400.000. Zudem
ihr auch der Lohmener Amtsverwal­ verursachte die Hochzüchtung der
ter Edmund Sison an. Elektoralschafe Inzuchtprobleme.
Kritiker bemängelten eine einseiti­
Nakes private Schafzucht blieb ge Überbetonung der Wollqualität
wirtschaftlich weniger erfolgreich als zulasten eines stabilen Körperbaus.
gehofft. König Friedrich August der Verteidigt wurde Nake von August
Gerechte wollte nach den napoleo­ Gottfried Schweitzer, der ab 1830 an
nischen Kriegen mit dem kurzfristig der Forstakademie Tharandt eine neu
ertragreichen Export von Zucht­ geschaffene landwirtschaftliche Ab­
schafen die Not im Land lindern, teilung leitete und den Stammzucht­
beförderte damit aber gleichzeitig stellen Lohmen und Rennersdorf als
verstärkte Konkurrenz, beispielsweise Schäferei­Kommissar vorstand.
aus Australien. Auch in den USA und
Russland waren sächsische Merinos Die 1830er Jahre waren in Sachsen
gesucht. Die immer populärer wer­ durch tiefgreifende Reformen unter
dende Baumwolle und billige Importe König Anton dem Gütigen und dem
aus England verminderten die Nach­ neu ernannten Mitregenten Friedrich
frage der Textilindustrie nach Schaf­ August II. geprägt, die auch die Arbeit
wolle. Der sächsische Schafbestand Nakes beeinflussten. Bruno Barthel
sank in zwei Jahrzehnten bis 1855 um schrieb 1907 in „Altes und Neues aus

228
Groß­ und Kleindrebnitz“ mit Bezug Nake beteiligte sich seit den 1820er
auf die Wirkungen des von Heinrich Jahren aktiv an der Arbeit mehre­
August Blochmann mitverfass­ rer elitärer Vereine. Wie Gottlob
ten Gesetzes über „Ablösungen und Friedrich Thormeyer und Gott­
Gemeinheitsteilungen“, das Sachsens lob Adolf Ernst von Nostitz
Bauern bis 1852 schrittweise von und Jänkendorf gehörte er der
vielen Frondiensten und Abgaben Ökonomischen Gesellschaft im Kö­
befreite: „Nachdem alle diese Ablö­ nigreiche Sachsen an. Mitglied war
sungen geordnet waren, wurden die auch Peter Carl Graf von Hohenthal,
Grundstücksbesitzer hier und an­ dessen Vater, ein Konferenzminis­
dernwärts eigentlich erst freie Herren ter, zu den Gründern gehört hatte.
ihres Eigentums und hatten nun ein Nake beantwortete hier Fragen zu
ganz anderes Interesse an der Verbes­ Klee und Kohlgewächsen und kom­
serung desselben wie früher. Deshalb mentierte Artikel zur Schafzucht.
wurde dadurch auch ein gewaltiger 1823 hatte er in der „Deputation für
Fortschritt in der sächsischen Land­ landwirtschaftliches Bau­ und Ma­
wirtschaft eingeleitet und damit in schinenwesen“ mit Georg Heinrich
der Hauptsache auch ein erfreulicher von Carlowitz, Gustav von Flotow,
Aufschwung der ganzen wirtschaft­ Landbaumeister Friedrich Gottlob
lichen Lage unseres Vaterlandes her­ Röber, Rudolf Sigismund Blochmann
vorgerufen.“ Wenn die Grundbesitzer und Wilhelm Gotthelf Lohrmann
die Ablösesummen nicht aufbringen zusammengearbeitet. Sie bewerte­
konnten, erhielten sie von der Land­ ten die Einrichtung der Ställe und
rentenbank Kredit. Hinsichtlich der Düngerstätten. 1837 nahm Nake an
Verpflichtungen gegenüber dem der ersten Versammlung deutscher
Kammergut Rennersdorf begannen Landwirte in Dresden teil. Zu den
beispielsweise die Rentenzahlungen sächsischen Teilnehmern der von Au­
in Großdrebnitz 1838. Das Kam­ gust Gottfried Schweitzer maßgeblich
mergut Rennersdorf unterstand seit organisierten Veranstaltung zählten
1831 dem neu eingerichteten Finanz­ auch Nakes Sohn Moritz Theophron
ministerium unter Heinrich Anton aus Kleinwolmsdorf, Julius Gott­
von Zeschau. Nake gehörte dem von lob von Nostitz und Jänkendorf
Zeschau geleiteten Verein für Statistik und Heinrich August Bloch­
des Königreichs Sachsen an, für den mann. Nakes Ehrenmitgliedschaft
auch Paul Hermann arbeitete und im Sächsischen Altertumsverein ist
dessen Aufgabe darin bestand, mit insofern sehr bemerkenswert, dass
statistischen Erhebungen zur Bevöl­ sich dieser Verein durch eine erlesene
kerung und Wirtschaft die Regierung Mitgliederschaft auszeichnete. Karl
zu unterstützen. August Böttiger und Gottlob
Adolf Ernst von Nostitz und Jän­

229
von Nake durchschnitten. 1849 ver­
kaufte er das Erbgericht Kleindrebnitz
an Carl Gottfried Gnauck, den Vater
von Ernst Gnauck. Seit der sächsi­
schen Landgemeindereform von 1838
stand Carl Gottfried Gnauck als erster
gewählter Gemeindevorstand dem
Dorf vor.

Weil er weiterhin in Rennersdorf


Schafherde vor der Cicorienfabrik wohnte, hatte Nake seine Anwesen
Goldbach (1859), nahe dem Klein- in Kleindrebnitz zeitweilig vermietet
drebnitzer „Vorwerk“ gelegen. bzw. verpachtet. 1849 wurde Max
(Deutsche Fotothek, CC BY-SA 4.0) Neumeister im Vorwerk geboren.
Der Vermerk bei Bruno Barthel zu
kendorf waren maßgeblich an der einer Wohnung der Familie Neumeis­
Gründung beteiligt gewesen. In den ter dort ist sehr glaubwürdig. Der
1830er und 1840er Jahren gehörten Vater von Max Neumeister, Heinrich
Oberhofprediger Christoph Friedrich Neumeister, war königlicher Jäger
Ammon, der Pädagoge Karl Justus in Revieren der Stolpener Amtsdör­
Blochmann, Theodor Hell, Ernst fer. 1851, im Jahr des Wegzugs der
Rietschel und Gottfried Semper Neumeisters nach Leubsdorf, bezog
zu den berühmtesten Mitgliedern. Nake selbst sein Anwesen, nachdem
Kronprinz Johann stand dem Präsi­ er sich in seinem 82. Lebensjahr hatte
dium vor. Die Ehrenmitgliedschaft pensionieren lassen, weil das Ren­
ist vermutlich vor dem Hintergrund nersdorfer Kammergut verpachtet
zu sehen, dass Nake 1841 dem im worden war. Aus Altstadt bei Stolpen
Großen Garten neu eingerichteten stammte der Orgelbauer Wilhelm
Museum des Altertumsvereins das Leberecht Herbrig. Für ihn wird ab
Wochenbett der Kurfürstin Anna 1852 eine Werkstatt in Kleindrebnitz
sowie Gemälde übereignete, die er angegeben, ohne dass es Hinweise auf
während des letzten napoleonischen die genaue Ortslage gibt. Auch hier
Kriegs aus Schloss und Schlosskapelle ist denkbar, dass er Räumlichkeiten
Stolpen geborgen und danach aufbe­ im Vorwerk angemietet hatte. Schon
wahrt hatte. 1828 besaß dessen Vater, Christian
Gottfried Herbrig, eine – ebenfalls
1844/45 wurden beim Bau der nicht lokalisierte – Werkstatt in
Sächsisch­Schlesischen Eisenbahn Kleindrebnitz, als er die Großdrebnit­
Kleindrebnitzer und Weickersdorfer zer Orgel baute. Wilhelm Leberecht
Flur und damit auch Weideflächen Herbrig zog 1864 von Kleindrebnitz

230
Die ehemals königlich-sächsische Zucht bildet eine der fünf Hauptstamm-
linien der australischen Merinos. Schafe dieser Rasse gelten nach wie vor
als die besten Wolllieferanten. Foto: Steven Walling (Wikimedia Commons,
CC BY-SA 3.0)
nach Neudrebnitz, im selben Jahr, als 2, 1822; Schöne: „Die Sächsische Landwirtschaft“.
1925; Schriften und Verhandlungen der Ökonomi­
die Witwe Nake in Kleindrebnitz ver­ schen Gesellschaft im Königreiche Sachsen, 1828;
storben war. Das Vorwerk befand sich Bruno Barthel: „Altes und Neues aus Groß­ und
seit 1857 im Besitz von Nakes Enkel Kleindrebnitz“. Friedrich May Bischofswerda,
1907; Amtlicher Bericht Versammlung deut­
Ernst Julius von Zenker und wurde scher Land­ und Forstwirthe in Dresden, 1838;
später als Industriestandort genutzt. Heinrich Janke: „Die Wollproduktion unserer
Erde und die Zukunft der deutschen Schafzucht:
Nebst praktischen Züchtungsregeln“. Joh. Urban
Quellen: Heinrich Nake: „Angehörige der Familien Kern, Breslau, 1864; August Gottfried Schweitzer:
Nake und Schmaltz vom Ausgange des 18. Jahrhun­ „Ausführlicher Bericht über einen in der königl.
derts bis 1912“; Roland Paeßler: „Zur wechselvollen sächsischen Stammschäferei zu Rennersdorf mit
Geschichte der sächsischen Schafzucht“. In: Aus der Erziehung zweijähriger Kammwolle gemach­
Natur und Volksweisheit, hrsg. vom Landesver­ ten Versuch“. In: Oekonomische Neuigkeiten
ein Sächsischer Heimatschutz, Bautzen 2003, S. und Verhandlungen, Zeitschrift für alle Zweige
201–205; Roland Paeßler: „Nake, Johann Gottfried“. der Land­ und Hauswirthschaft, des Forst­ und
Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Säch­ Jagdwesens im Oesterreichischen Kaiserthum, Bd.
sische Geschichte und Volkskunde e.V., bearb. von 39, S. 129–135, Calve, 1835; Mittheilungen des
Martina Schattkowsky, 2006; Roland Paeßler: „Die Statistischen Vereins für das Königreich Sachsen,
Erbrichter in der Umgebung von Bischofswerda“. 1833; Sächsischer Altertumsverein: Mittheilungen,
In: Mathias Hüsni (Hrsg.), Schiebocker Landstrei­ Ausg. 7–14; Bericht über die Arbeiten des Königl.
cher, H. 3, Burkau 2008, S. 8–16, zusammengestellt Sächsischen Vereins für Erforschung und Erhaltung
und bearbeitet von Dr. Uwe Fiedler; Dresdner Vaterländischer Alterthümer, 1841, 1842; Bruno
Adressbücher, 1799, 1862, 1868; Churfürstlich­ Barthel: „Die Stolpener Amtsteiche und das Vor­
Sächsischer Hof­ und Staatscalender, 1799, 1826; werk Kleindrebnitz“. Beilage „Unsere Heimat“ zum
Cornelius Gurlitt: „Beschreibende Darstellung der „Sächsischen Erzähler“, Nr. 6–7, 1922; Dr. Klaus
älteren Bau­ und Kunstdenkmäler des Königreichs Mann, Mitteilungen zur Orgelbauerfamilie Herbrig;
Sachsen“; Wilhelm Adolf Lindau: „Dresden und Erich Barth: „Frondienste für die Burg und das
die Umgegend“. Arnoldische Buchhandlung, Bd. Amt Stolpen“. Stolpner Hefte, H. 9, 2001

231
Max Neumeister (Archiv Fachrichtung Forstwirtschaft Tharandt, TU Dresden).

232
Neumeister, Max Heinrich August
Professor, Forstwissenschaftler in Tharandt
15.05.1849 Kleindrebnitz – 01.12.1929 Dresden

V: Johann Heinrich (*7.9.1819 Baruth, †11.1.1878 Kleinröhrsdorf), Geodät bei der Königl. Lan­
desvermessung Wartha, 1844 Absolvent der Forstakademie Tharandt, 1848 Jäger im Altstädter
Revier, 1851 Unterförster in Leubsdorf, 1858 Königl. Sächs. Oberförster in Landesgemeinde,
später Kleinröhrsdorf; M: Auguste Caroline Sophie geb. Geisler (*27.2.1830 Weickersdorf,
†1910 Sebnitz), lebte als Witwe bis 1908 in Dresden; G: Curt Willinwald (*16.9.1851 Leubsdorf,
†8.3.1931 Leubsdorf, 1873 Absolvent der Forstakademie Tharandt, Königl. Förster), Richard
Eugen (*26.12.1852 Leubsdorf, † Cannstatt bei Stuttgart, Sprachlehrer), Arthur Heinrich
(*26.4.1857 Leubsdorf, besuchte die Kreuzschule Dresden), Rosa Concordia (*24.4.1858 Lan­
desgemeinde, Technische Zeichnerin), Sophie Elisabeth verh. Stein (*1860, †14.3.1920 Sebnitz),
Ernst Alexander (*17.4.1863 Landesgemeinde, †21.6.1918 Ostrau, Annenschule Dresden, Kö­
nigl. Förster), Selma Maria (*10.3.1866 Kleinröhrsdorf); E: 20.10.1876 Dresden, Agnes Owella
Franziska geb. Fincke (*7.1.1852 Schöneck, †13.1.1938 Dresden), Tochter des Rentamtmanns in
Marienberg und vormaligen Bürgermeisters von Schöneck Friedrich Wilhelm Fincke; K: keine

Der Försterberuf hatte in der Fami­ Die Familie Neumeister verließ


lie von Max Neumeister Tradition. bereits 1851 Kleindrebnitz, nach­
Schon sein Urgroßvater Peter Chris­ dem der Vater eine neue Anstellung
tian August Neumeister (*11.10.1755 in Leubsdorf im Vogtland erhalten
Putzkau, †10.3.1811 Crosta) war hatte. Nach dem Besuch des Real­
hochgräflicher Förster und Schloss­ gymnasiums Annaberg absolvierte
verwalter. Der Großvater Johann Max Neumeister ein Vorpraktikum
Heinrich Neumeister (*21.1.1783 im Forstamt Landesgemeinde sei­
Gleina bei Guttau, †22.11.1839 Neu­ nes Vaters und arbeitete ein Jahr im
Callenberg) arbeitete als Revierförster Staatsforstrevier Kleinröhrsdorf, der
und Schlossverwalter. nächsten Dienststelle des Vaters.

Neumeisters Geburtshaus, das so­


genannte „Vorwerk“, war 1811 nach
Plänen von Gottlob Friedrich
Thormeyer errichtet worden. Der
Rennersdorfer Kammergutsverwalter
und Schafzüchter des sächsischen
Königs Johann Gottfried Nake
versuchte, auf den Flächen der stillge­
legten Amtsteiche von Goldbach und Das Kleindrebnitzer Vorwerk war
Weickersdorf auf eigene Rechnung nach Bruno Barthel Neumeisters
Merinoschafe zu züchten. Geburtshaus.

233
Während des Studiums der Forst­ zu den Voraussetzungen für eine
wirtschaft von 1867 bis 1869 an Laufbahn im höheren sächsischen
der Akademie Tharandt gehörten Staatsforstdienst. Aus dem Jahr
Johann Friedrich Judeich („Sächsi­ 1871 stammt die erste Publikation
sche Bestandeswirtschaft“) und Max Neumeisters mit Beobachtungen in
Preßler („Bodenreinertragslehre“) Langebrück zu Generationen des
zu Neumeisters wichtigsten Lehrern. Fichtenborkenkäfers. 1872 bestand
Julius Adolph Stöckhardt unterrichte­ er die Staatsprüfung für den höheren
te Chemie, Friedrich Nobbe Botanik Forstdienst mit Auszeichnung und
und Pflanzenphysiologie. Seit ihrer wurde an der Forsteinrichtungsanstalt
Gründung durch Heinrich Cotta im Dresden angestellt. Entsprechend
Jahre 1816 hat die Forstakademie gehörten Forsteinrichtungsarbeiten
unser heutiges Waldbild entscheidend zu seinen Hauptaufgaben. Neumeister
geprägt: Die ungeplante Bewirtschaf­ arbeitete in Görlitz, auf den fürstlich­
tung des Bauernwaldes, Ursache für reußischen Besitzungen, auf den
den damals verbreiteten Verfall der fürstlich­claryschen Besitzungen in
Wälder, wurde ersetzt durch plan­ Böhmen und in verschiedenen Staats­
volle Aufforstung und Ernte. Ein forstrevieren. 1877 beteiligte er sich
systematisches Wegenetz war für die mit dem Beitrag „Windmantel oder
wirtschaftliche Nutzung des Waldes Waldmantel‘‘ an der Versammlung
besser geeignet als Jagdwege, die sich sächsischer Forstvereine in Zittau.
spinnenförmig von einem Zentrum
ausbreiteten. Seit ca. 1860 verband 1880 vertrat Neumeister den zweiten
die „Sächsische Bestandeswirtschaft“ forstlichen Professor Max Weißwan­
wirtschaftliche Kriterien mit wald­ ge in Tharandt bei Vorlesungen zu
baulichen Aspekten wie Altersklassen Waldbau und Forstschutz. Zu den
und räumliche Ordnung. Aufgabe der Pflichten des zweiten forstlichen Pro­
Absolventen war es, das Gelernte in fessors gehörte auch die Verwaltung
die Praxis überzuführen. Für her­ des Staatsforstreviers Tharandt, das
vorragende Studienleistungen wurde als Lehr­Forstrevier der Verbindung
Neumeister eine Medaille verliehen. von Theorie und Praxis diente. Als
Weißwange nach Tharandt zurück­
Nach dem Studium wechselte Neu­ gekehrt war, trat Neumeister dessen
meister in die Praxis und arbeitete Nachfolge als Forstmeister beim
zwei Jahre im Langebrücker Staats­ Fürsten Hermann von Hatzfeldt in
forstrevier, benachbart gelegen zum Trachenberg (Schlesien) an. Er leitete
Kleinröhrsdorfer Revier des Vaters. dort das fürstliche Kameralamt und
Diese wie eine einjährige Tätigkeit an wurde Generalbevollmächtigter der
der Königlich­Sächsischen Forstein­ Forstverwaltung. In dieser Funkti­
richtungsanstalt Dresden gehörten on vermittelte er vielen sächsischen

234
Die Forstakademie Tharandt, Lithografie von E. Müller, 1850, Lizenz: Deut-
sche Fotothek CC BY-SA.

Forstdienstanwärtern eine Anstellung leitete er in der Nachfolge des verstor­


in Schlesien. benen Johann Friedrich Judeich die
Königlich­Sächsische Forstakademie
Nach Weißwanges Weggang 1882 in Tharandt als Direktor.
erhielt Neumeister den Ruf an die
Forstakademie Tharandt, wo er zum Neumeister zählte zu den herausra­
Professor ernannt wurde. An der genden Persönlichkeiten der Forst­
Universität Leipzig verteidigte er akademie Tharandt des 19. Jahr­
1887 seine Dissertation zum „Dr. hunderts. Er ist aber weniger durch
phil.“ mit der Arbeit „Wie wird man bahnbrechende wissenschaftliche
Forstwirth?“. Durch Entwicklung Leistungen als durch Bewahrung
verbesserter Lehrinhalte und Lehrme­ und Fortschreibung des Erbes seiner
thodik wollte er zu einer sozialen und beiden ehemaligen Lehrer Judeich
wissenschaftlichen Hebung des Forst­ und Preßler bekannt geworden. Diese
fachs beitragen. Neumeister lehrte hatten 26 bzw. 43 Jahre in Tharandt
bis 1906 Waldbau, bis 1894 außer­ gelehrt und geforscht und die Aka­
dem Jagdkunde, Forstschutz, Forst­ demie zur Weltgeltung geführt. Zu
verwaltung und von 1894 bis 1906 Neumeisters Zeit betrug der Anteil
Forsteinrichtung. Von 1894 bis 1904 ausländischer Studenten nahezu

235
kontrollstation unter Friedrich Nobbe
an die Forstakademie angegliedert
war, und Dresden hinsichtlich
Landwirtschaft unter der Leitung von
Bruno Steglich vereinigt. Neu­
meister wirkte in Tharandt zudem als
Stadtrat.

In Judeichs Nachfolge gehörte Neu­


meister von 1894 bis 1925 dem
sächsischen Landeskulturrat als
gewählter Vertreter für das Forstwe­
sen an. Ebenfalls in der Nachfolge
seines ehemaligen Lehrers gab er den
jährlichen „Forst­ und Jagdkalender
für Deutschland“ heraus. Zudem
beteiligte sich Neumeister als Autor
an Lehrbüchern und Enzyklopädien
(z. B. am Brockhaus) zur Forst­ und
Jagdwissenschaft. Besondere Bedeu­
Neumeisters Berufsweg wurde ent- tung besaßen seine Überarbeitungen
scheidend von seinem Vater geprägt und Neuauflagen mehrerer Bücher
– 1878 setzte er diesem ein ehrendes von Preßler und Judeich, so der
Grabmal in Kleinröhrsdorf. „Forst­ und Forstbetriebseinrichtung“
zum Hochwaldideal nach Preßler,
50%. 1904 stellte er im Rahmen eines der „Preßlerschen Kubierungstafeln“
umfassenden Werks zum Unterrichts­ und Judeichs „Forsteinrichtung“. Mit
wesen im Deutschen Reich anlässlich seinem wichtigsten eigenen Werk,
der Weltausstellung in St. Louis die „Die Forsteinrichtung der Zukunft“,
Forstakademie vor. Während seiner schrieb Neumeister Judeichs grund­
Amtszeit als Akademiedirektor schu­ legendes Buch fort, welches viele
fen die Bildhauer Johannes Schilling Länder im Sinne der „Sächsischen
und Reinhard Schnauder Büsten zur Bestandeswirtschaft“ beeinflusst hatte
Erinnerung an Judeich und Preßler, und in mehrere Sprachen übersetzt
dem Neumeister auch einen Bei­ worden war. Die Forsteinrichtung
trag in der Allgemeinen Deutschen galt zu jener Zeit als die Königs­
Biographie widmete. Unter seinem disziplin der Forstwissenschaft. Sie
Kuratoriumsvorsitz wurden 1904 die sollte durch planvolle Gestaltung des
landwirtschaftlichen Versuchsstatio­ Waldes dessen langfristigen Ertrag
nen Tharandt, die zuvor als Samen­ sichern. Schon im 19. Jahrhundert

236
hatten vorausschauende Menschen
erkannt, dass nur durch nachhaltige
Bewirtschaftung der Reichtum des
Waldes zukünftigen Generationen
erhalten werden kann. Besonderes
Augenmerk lag bei Neumeister auf
der Minimierung von Sturmschä­
den. Quer zur Hauptwindrichtung
verlaufende, lange schmale Schläge
blieben durch Altbestand abge­
deckt. Hinter dem Schlag sicherte
ein stufenweise ansteigender, nach
Altersgruppen geordneter Baumbe­
stand ein Aufgleiten des Windes. Im
Tharandter Forstlichen Jahrbuch und
in den Berichten zu den Versamm­
lungen des sächsischen Forstvereins
erschienen regelmäßig Beiträge von
Neumeister. Seine Arbeiten betrafen
forstmathematische Fragen, aber z.
B. auch die „Laub­ und Kalkfütte­ „Die Forsteinrichtung der Zukunft“.
rung des Edel­ und Rehwildes“. Der Dresden Schönfeld, Sonderabdruck
Preßler‘sche Zuwachsbohrer ist von aus: Thar. Forstl. Jahrb., 50. Jg.,
Neumeister weiterentwickelt worden. 1900, 122 S.
In abgewandelter Form kommt er
noch heute zum Einsatz, um anhand Staaten verliehen ihm hohe Aus­
von Jahresringen Zuwachs und Alter zeichnungen, z. B. 1897 die Königin­
von Bäumen zu bestimmen, ohne sie Regentin der Niederlande und der
zu fällen. griechische König das Offizierskreuz
des Königlich Griechischen Erlöser­
Neumeisters Leistungen sind vielfach Ordens. 1901 bekam er den serbi­
gewürdigt worden. 1895 wurde er schen St. Ava­Orden und 1903 die
zum Mitglied der Deutschen Akade­ Ernennung zum Großoffizier des Bul­
mie der Naturforscher Leopoldina in garischen Civilverdienstordens. Auch
Halle/Saale gewählt, 1896 erhielt er in Spanien, Norwegen und Rumänien
die Ernennung zum Geheimen Forst­ erhielt Neumeister hohe staatliche
rat, 1902 zum Geheimen Oberforstrat und forstliche Auszeichnungen.
und 1904 zum Ehrenmitglied der
Sächsischen Gesellschaft für Botanik Die Amtszeit Neumeisters in Tha­
und Gartenbau Flora. Verschiedene randt vollendete sich 1904 mit der

237
Erhebung der Forstakademie zur in der insgesamt 31 Jahre währenden
Hochschule. Wie Gustav Anton Zugehörigkeitsperiode von Neumeis­
Zeuner an der TH Dresden legte er ter zum Landeskulturrat in diesem
als langjähriger Akademiedirektor Gremium die landwirtschaftlichen
mit der Einführung des Wahlrektorats Versuchsstationen.
sein Amt nieder, das jetzt jährlich
befristet neu besetzt wurde. Auch noch in seiner Dresdner Zeit er­
innerte sich Neumeister seiner Ober­
Von 1906 bis 1919 leitete Neumeister lausitzer Wurzeln. Als Mitglied des
den Forstbezirk Dresden als Ober­ sächsischen Eisenbahnrats erreichte
forstmeister. Zu seinem Forstbezirk er im Zusammenwirken u. a. mit dem
gehörte die Dresdner Heide, seit Kleindrebnitzer Gemeindevorstand
1906 auch Moritzburg. Von 1910 bis Ernst Gnauck 1909 die Errichtung
1920 war Neumeister Vorsitzender eines Bahnhofs in Weickersdorf. Aus
des sächsischen Forstvereins und Anlass der 350 Jahre zuvor im Dorf
er leitete das Prüfungsamt für den eingeführten Reformation spendete er
höheren sächsischen Staatsforstdienst. 1909 der Martinskirche Großdrebnitz
1907 beteiligte sich Neumeister mit einen kunstvollen Deckel zum neuen
einem Beitrag zur Dresdner Heide Taufstein. Den hatten die Angehöri­
an einem wissenschaftlichen Füh­ gen der letzten vier Großdrebnitzer
rer durch Dresden. Im selben Jahr Pastorenfamilien, darunter von Carl
erstellte er für den Landeskulturrat Julius Marloth, gestiftet.
ein Gutachten zu einem geplanten
Preisausschreiben für Rauchgas­ Während des Ersten Weltkriegs
Neutralisierungsanlagen zur Ver­ verfasste Neumeister ein „Merkblatt
meidung von Schäden in Land­ und zur Gewinnung von Laubreisigfutter“.
Forstwirtschaft. Der Wettbewerb 1917 leitete er die Hauptversammlung
wurde von den zuständigen Minis­ des Deutschen Forstvereins, dem
terien grundsätzlich positiv bewer­ er viele Jahre angehörte, in Erfurt.
tet, obwohl Experten vor einem Bei dieser Gelegenheit befürwortete
absehbaren Scheitern warnten. Die er eine Kriegsbewirtschaftung der
Gutachter, neben Neumeister auch Wälder. Zuletzt wohnte Neumeister in
Bruno Steglich und Oskar Kellner Dresden, Wilhelmplatz 10 (vormals
aus Möckern, empfahlen zwar einen Hermann von Nostitz­Wallwitz).
solchen Wettbewerb mit einem Preis­ Nach seinem Tod wurde er auf dem
geld von bis zu 20000 Mark, doch Inneren Neustädter Friedhof beige­
auch sie warnten vor Erfolgsrisiken. setzt. An seine Verdienste erinnert in
Das schließliche Scheitern gab ihnen Tharandt noch heute ein nach ihm
recht. Gustav Loges und Bruno benannter Wanderweg durch das Tal
Steglich vertraten von 1911 bis 1925 der Wilden Weißeritz.

238
Grabstein für Neumeister und seine Frau auf dem Inneren Neustädter
Friedhof in Dresden.

Quellen: Prof. Dr. Harald Thomasius (1966–1992 Lehrstuhlinhaber Waldbau, 1978–1982 Di­
rektor der Sektion Forstwissenschaft der TU Dresden): Unterlagen und Mitteilungen; Geheimer
Forstrat Groß: „Dem Andenken Dr. Max Neumeister“. Tharander Forstliches Jahrbuch, S. 1–5,
1930; Adolf Hinrichsen: „Das literarische Deutschland“. Carl Hinstorf ‘s­Verlag, S. 431, 1887;
Ehregott Bruno Barthel: „Die Stolpener Amtsteiche und das Vorwerk Kleindrebnitz“. „Unsere
Heimat“, Beilage zum Sächsischen Erzähler, 5./12.3.1922; Deutsche Akademie der Landwirt­
schaftswissenschaften zu Berlin: „Archiv für Forstwesen“. 1966; Kirchenarchiv Großdrebnitz;
Innerer Neustädter Friedhof Dresden, Friedhofsverwaltung; Deutsche Akademie der Naturfor­
scher Leopoldina, Mitteilungen, 16.8.2007; Henry Holder Stephenson: „Who‘s who in Sci­
ence“. The Macmillan Company, 1912; Sitzungsberichte und Abhandlungen „Flora, Sächsische
Gesellschaft für Botanik und Gartenbau“; Tharander Forstliches Jahrbuch 1844, 1848, 1852,
1891, 1897, 1901, 1903; Dieter Bulling, Kleinröhrsdorf: Mitteilungen, 13.5.2010; Martin Bem­
mann: „Beschädigte Vegetation und sterbender Wald: Zur Entstehung eines Umweltproblems
in Deutschland 1893–1970“. Vandenhoeck & Ruprecht, 2012; Ottfried Bloßfeld: „Tharandt um
1900 – ein blühendes Gemeinwesen“; F. Schöne: „Ueber Shaksperes Julius Cäsar mit besonderer
Berücksichtigung des Verhältnisses zur Quelle des Stückes“. Gymnasium zum heiligen Kreuz in
Dresden, 1878; Dresdner Adressbücher; gw.geneanet.org; Schöne: „Die Sächsische Landwirt­
schaft“. 1925; „Wer ist‘s?“ Degener, 1908

239
Porträt von Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänkendorf, gezeichnet
von Carl Christian Vogel von Vogelstein (1824).

240
Nostitz und Jänkendorf, Gottlob Adolf Ernst von
Dr. E.h., sächsischer Konferenzminister und Schriftsteller
21.04.1765 See (Oberlausitz) – 15.10.1836 Oppach

V: Wolf Gottlob (*30.12.1718 See, †25.1.1768 Moholz), Erb­, Lehn­ und Gerichtsherr auf
Oppach und Moholz; M: Juliane Eleonore Ernestine geb. von Kiesewetter (*13.10.1740 Wanscha,
†20.2.1824 Dresden), 2. Ehe von Nostitz, Tochter des Landesältesten des Görlitzer Fürstentums
Ernst Ludwig von Kiesewetter; G: Ernestine Caroline (*21.2.1761, †21.2.1834 Dresden), Chris­
tiane Augusta (*21.10.1767), 2 Halbgeschwister aus 2. Ehe der Mutter; E: 31.5.1786 Schkeuditz,
Henriette Sophie geb. von Bose (*18.2.1769 Oberthau, †3.3.1848 Dresden, Ehrenstiftsdame);
K: Traugott Adolph Karl (*24.3.1787, †1787 Dresden), Elise (*1788, †23.8.1853 Aszod, heiratete
1812 nach Ungarn Karl von Podmanitzky, in erster Ehe mit Julie Charpentier aus Freiberg ver­
heiratet, ihre Tochter Julie war Schriftstellerin und musste 1849 mit ihrem Mann Miklos Josika
aus Ungarn fliehen), Therese Clementine (*7.11.1789 Dresden, †21.3.1870 Dresden, verh. mit
Karl Alexander Graf von Rex), Eduard Gottlob (*31.3.1791 Bautzen, †8.2.1858 Oppach, 1836–
1844 sächsischer Innenminister), Theodor (*,† 1792 Bautzen), Lydia Augustina (*18.8.1794 Do­
berschau, †17.11.1810 Dresden), Ida Rosalie (*9.1.1796 Bautzen, †28.3.1796 Doberschau), Julius
Gottlob (*12.7.1797 Doberschau, †18.3.1870 Dresden, 1838–1848 und 1849–1864 Gesandter
beim Deutschen Bundestag), Agnes Luise (*10.9.1798 Bautzen, †17.5.1875 Altengottern, verh.
mit Julius von Marschall), Klara Minona (29.12.1799–11.2.1882, verh. mit Viktor Julius von
Bülow, Besitzer von Schloss Beyernaumburg), Klothilde Septimie (*27.1.1801 Bautzen, †1852
Oppach, Dichterin, schrieb auch für Carl Maria von Weber), Heliodora Oktavia (*23.6.1805
Doberschau, †18.2.1871 Dresden, verh. mit Geheimrat Bruno von Schimpff)

Die Nostitz sind eines der ältesten 16. Geburtstag auf die Universität
Oberlausitzer Adelsgeschlechter. Seit Leipzig, wo er Rechts­ und Staatswis­
dem 15. Jahrhundert ist die Familie senschaften studierte. Besonders der
in mehrere Linien verzweigt, der Re­ Philosoph Ernst Platner gehörte zu
formation schlossen sie sich schon in seinen Förderern. In Leipzig schloss
der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sich Nostitz Studentenvereinen an, in
an. Die Linie Nostitz und Jänkendorf denen die Dichtkunst gepflegt wurde.
bildete sich um 1600. Über mehrere Nach seinem Examen erhielt er eine
Jahrhunderte wirkten die Nostitz Anstellung als Auditor am Oberhof­
in der Oberlausitz als Hauptleute, gericht, 1785 ging er als Finanzrat
Oberamtsmänner und Landesälteste. nach Dresden.
Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und
Jänkendorf hatte früh seinen Vater 1789 übernahm Nostitz die Ver­
verloren. Seine Mutter und sein Stief­ waltung der Familiengüter in der
vater (seit 1770, Wedig Christoph von Oberlausitz. Das Rittergut Oppach
Kayserling) ließen ihn von August hatte er in 4. Generation von seinem
Wilhelm Hauswald privat unterrich­ Vater geerbt, Doberschau nach seiner
ten und schickten ihn noch vor dem Heirat erworben. Moholz, See (1791)

241
Gut See bei Niesky, wo Nostitz 1765 geboren wurde.
und das Bautzener Burglehnhaus menversorgungsanstalten in Dörfern“
(1793) verkaufte er. Nostitz wirkte (1801). Lange vor dem von seinem
in der Oberlausitz als Gerichtsbei­ Sohn Julius Gottlob von Nostitz
sitzer, war Mitglied der Kriminal­ und Jänkendorf mitverantworteten
Kassen­Deputation und Beisitzer des Gesetz zu „Ablösungen und Gemein­
landständischen Waisenamtes. 1792 heitsteilungen“ erließ er Frondienste
wurde er zum Landesältesten des gegen kleine Geldzahlungen. Der
Kreises Bautzen gewählt, ab 1804 lei­ Oberlausitzischen Gesellschaft der
tete er die Provinzverwaltung auf der Wissenschaften zu Görlitz, der er seit
Ortenburg als Oberamtshauptmann. 1790 angehörte, stand Nostitz von
In Zittau gründete er nach dem Vor­ 1795 bis 1817, zwei Jahre nach der
bild von Ludwig Gedike in Leipzig Teilung der Oberlausitz, als Präsident
die erste Bürgerschule. Besonderes vor. Schon in dieser Zeit bemühte er
Augenmerk widmete Nostitz sozialen sich um Kunst und Kultur und zählte
Belangen. Seit 1793 war er Ritter des Friedrich Schiller zu seinen Bekann­
St. Johanniter­Maltheser­Ordens. Auf ten. Mit Karl August Böttiger,
seinem Gut Oppach stiftete Nostitz 1790/91 Direktor des Gymnasiums in
1794 ein Armenhaus und 1799 ein Bautzen, blieb er fast fünf Jahrzehnte
Armeninstitut. Seine Überlegungen freundschaftlich verbunden. Nostitz
beschrieb er in „Versuch über Ar­ erwarb sich besondere Verdienste

242
um die Förderung der Sorben und Anstalten verordnete Commission“.
übersetzte sorbische Volkslieder ins 1811 initiierte er die Gründung
Deutsche. Seine eigenen Gedichte, einer „Irren­Heilungsanstalt“ auf der
aber auch heimatgeschichtliche Bei­ vormals königlichen Festung Sonnen­
träge („Über die in Königswartha ent­ stein in Pirna. In ihr gingen frühere
deckten Lausizischen Alterthümer“) sächsische Anstalten in Waldheim
wurden in der „Lausizischen Monats­ und Torgau auf, in denen wesent­
schrift“ gedruckt, mehrere Gedichte lich weniger humane Bedingungen
in Liedertafeln und Oratorien vertont. geherrscht hatten. Die Entscheidung
Aus dem Französischen übersetzte er war aber auch kriegsbedingt, weil
griechische und römische Mythen. Torgau zur Festung erklärt worden
1805 zählte Nostitz zu den Grün­ war. Insgesamt wurden in der An­
dungsmitgliedern des Gesellschafts­ fangszeit etwa 200 Personen auf dem
vereins „Bautzner Societät“, die 1808 Sonnenstein untergebracht. Unter
sein Stadthaus kaufte. Nostitz‘ Oberaufsicht entwickelte sich
die neue Anstalt zu einer Einrichtung
Am 26. September 1807 kehrte von europäischem Ruf. Während der
Nostitz als Oberkonsistorialpräsident Befreiungskriege ging Nostitz auf
nach Dresden zurück, wo er bis 1815 Distanz zu Napoleon, den er zuvor
im Coselpalais „Hinter der Frauen­ unterstützt hatte. Sein Sohn Eduard
kirche“ 5 wohnte, wie auch Karl Gottlob von Nostitz und Jän­
August Böttiger. In dieser für das kendorf kämpfte sogar mit Theodor
Kirchen­ und Schulwesen Sachsens Körner in der Lützow‘schen Freischar.
bedeutsamen Funktion überarbeitete
er zusammen mit Oberhofprediger Im nach­napoleonischen Reformstreit
Franz Volkmar Reinhard die Verfas­ 1817 unterlagen die Konferenzmi­
sung der Universität Leipzig. König nister dem Kabinettsminister Detlev
Friedrich August der Gerechte berief Graf von Einsiedel. Statt dass das
ihn 1809 als Konferenzminister ins Geheime Konsilium mit dem Gehei­
Geheime Konsilium, den vormaligen men Kabinett vereinigt und damit
und später auch wieder so genann­ aufgewertet wurde, verblieben dem
ten Geheimen Rat. Als „Wirklicher Geheimen Rat als Nachfolgeeinrich­
Geheimrath“ gehörte Nostitz zu den tung des Konsiliums nur beratende
höchsten Vertretern der Staatsver­ Funktionen und die Vertretung
waltung. Er beteiligte sich in ver­ ständischer Interessen. Zudem hatte
schiedenen Funktionen bzw. Kom­ sich Einsiedel mittels Gefolgsleuten
missionen maßgeblich an sozialen die Stimmenmehrheit im Ratscol­
und politischen Reformprojekten. legium gesichert. Nostitz organi­
Nostitz leitete die „zur Besorgung der sierte Entschädigungsleistungen für
allgemeinen Straf­ und Versorgungs­ Lasten aus dem Krieg, bereitete eine

243
Ansicht von Pirna mit Festung Sonnenstein, Ausschnitt eines Gemäldes von
Canaletto (1753–1755).

Steuerreform vor, erarbeitete einen für 150 Kinder, die zu Landarbeitern,


militärischen Strafkodex und stand Handwerkern oder Soldaten erzo­
den Armen­ und Waisenhausanstal­ gen wurden. 1826 widmete Robert
ten Sachsens vor. 1824 gründete er in Stöckhardt Nostitz seine Habili­
Bräunsdorf eine Landeswaisenanstalt tationsschrift. Als Friedrich August

244
der Gerechte 1827 starb, drängten in sächsischen Verfassung von 1831
Sachsen überfällige Reformen. König unter dem liberalen Kabinettsminister
Anton der Gütige beauftragte neu ein­ Bernhard von Lindenau beteiligt. Den
gesetzte Kommissionen, Gesetze zur von König Anton unterschriebenen
Abschaffung von Feudallasten („Ab­ Text zeichnete Nostitz gegen. Die
lösungen und Gemeinheitsteilungen“) Szene wurde von Ernst Rietschel
und eine neue Gewerbeordnung in einem Relief für das Augusteum in
vorzubereiten. Andererseits wurde die Leipzig dargestellt. Erstmals räumten
Zensur verschärft und die polizeiliche die Wettiner ihrem Volk einige Mit­
Willkür und die Allmacht des Gehei­ bestimmungsrechte ein. Anton der
men Kabinetts bestanden fort. Nostitz Gütige wurde zum ersten konstituti­
war Mitglied der Ökonomischen Ge­ onellen Monarchen Sachsens, Nostitz
sellschaft im Königreiche Sachsen, die stand dem neu geschaffenen Staatsrat
sich hauptsächlich der Förderung der als oberster Instanz des Zivilstaates
Landwirtschaft widmete, aber auch vor. Unter der Präsidentschaft von
für die Planungen zur Gründung der Prinz Johann gehörten dem Staatsrat
Technischen Bildungsanstalt im Jahre auch der Leiter des Gesamtministeri­
1828 als Vorläufer der heutigen TU ums Lindenau sowie weitere Minis­
Dresden verantwortlich zeichnete. ter an. Nostitz erwarb sich den Ruf
Die Initiative dazu ging auf den Ge­ eines gemäßigten, toleranten und der
heimen Rat um Nostitz zurück. Wohlfahrt, Wissenschaft und Kunst
aufgeschlossenen Schöngeistes. Auf
Anlässlich der 300­Jahr­Feier der seine Anregung hin wurden aber
Augsburger Konfession kam es im auch die ersten landwirtschaftlichen
September 1830 in Sachsen zu Unru­ Vereine in Sachsen gegründet.
hen, die durch ein tiefes Misstrauen
der überwiegend protestantischen Neben seiner politischen Tätigkeit
Bevölkerung gegen die katholische war Nostitz Schriftsteller unter dem
Obrigkeit geprägt waren. Nostitz Pseudonym „Arthur vom Nordstern“.
gehörte mit Lindenau, Könneritz Die Dichtkunst sah er eher als Hobby
und Zezschwitz zu jenem Minis­ an, wobei er sich durch dichterische
terquartett, das am 13. September Gewandtheit und Vertrautheit mit
König Anton den Gütigen veranlasste, den Klassikern auszeichnete. Seine
Friedrich August II. als Mitregenten Werke waren überwiegend roman­
einzusetzen. Dies, die Entlassung tischer Natur. 1820 übersetzte er
von Detlev Graf von Einsiedel und George Gordon Byron, dem er sich
die Ankündigung einer Verfassung sehr verbunden fühlte. Viele Eindrü­
halfen, die Lage zu befrieden. Nostitz cke gewann Nostitz auf einer Reise
war als Vorsitzender des Geheimen nach der Schweiz, Oberitalien und
Rats an der Ausarbeitung der ersten Ungarn („Erinnerungsblätter eines

245
Reisenden im Hochsommer 1822“, Friedrich Kind zusammen. Auf Einla­
1824). Seine Werke erschienen ver­ dung des Freiherrn von Seckendorf­
streut in verschiedenen Zeitungen, Zingst trafen sich ab 1814 Künstler,
darunter der Dresdner Abendzeitung Schriftsteller und Beamte bei „Thee
und der Dresdner Morgenzeitung, und Butterbrod“, weswegen der Kreis
sowie in Taschenbüchern wie von zunächst Dichter­Thee hieß. Unter
Johann Friedrich Kind oder wurden Leitung von Nostitz schloss man sich
unter Freunden verteilt. Er schrieb enger zusammen. Man hörte Litera­
aber auch für Carl Maria von Weber, tur, Dichtung und Musik und disku­
der ihm mit großer Wertschätzung tierte zwanglos darüber. Der Verein
begegnete. Nostitz war zudem maß­ besaß mit der Dresdner Abendzei­
geblich am Entstehen eines elitären, tung ein eigenes Publikationsorgan.
literarisch­kulturellen Vereinslebens Sie wurde von Johann Christoph
in Dresden beteiligt. Solche Vereine Arnold verlegt und von Theodor Hell
boten seinerzeit wichtige Möglichkei­ und Johann Friedrich Kind herausge­
ten zur Teilhabe am gesellschaftlichen geben. Die Treffen des Liederkreises
Leben. Nostitz kam als Adeligen eine fanden zumeist bei den verheira­
wichtige Mittlerrolle zwischen der teten Vereinsmitgliedern statt und
Hofgesellschaft und dem aufstreben­ Nostitz lud oft in sein Sommerhaus
den Bürgertum zu. Er besuchte wie nach Loschwitz ein. Eine kolorierte
Karl August Böttiger und Ludwig Radierung des Anwesens mit Wein­
Tieck den informellen literarischen berg, heutige Plattleite 18, von Carl
Zirkel von Elisa von der Recke und Heinrich Beichling befindet sich im
Christoph August Tiedge. In der Kupferstich­Kabinett. Eng verbunden
Hofgesellschaft um Prinz Johann, wo mit dem Liederkreis war der 1825
sich Adel und Bildungsbürgertum in gegründete Sächsische Altertumsver­
Vorträgen und Gesprächen zu Kunst ein. Seine Gründung ging auf einen
und Geschichte näher kamen, traf er Vorschlag von Karl August Bötti­
auf Carl Gustav Carus, Theodor Hell ger zurück, den dieser bereits 1819 in
(Winkler) und wiederum Ludwig der Dresdner Abendzeitung publiziert
Tieck. Nostitz leitete den Dresdner hatte. Nostitz gehörte zu den Un­
Liederkreis, war Mitglied im Kunst­ terzeichnern eines Gesuchs an den
verein und im Verein Albina, der in König mit der Bitte um Zulassung des
der Tradition des Liederkreises stand, Vereins.
und gehörte zu den Initiatoren des
Sächsischen Altertumsvereins. In Bautzen war Nostitz Freimaurer
in der Loge „Zur goldnen Mauer“, in
Im spätromantischen Liederkreis Dresden Ehrenmitglied der Logen
kam Nostitz u. a. mit Karl August „Zum goldnen Apfel“, „Zu den drei
Böttiger, Theodor Hell und Johann Schwertern“ und „Asträa zur grü­

246
nenden Raute“. Mit den Freimau­ Ehrenamt des Ordenskanzlers sämtli­
rern Gerhard Heinrich Jacobjan cher sächsischer Orden bekleidete er
Stöckhardt und Karl Gottfried später bis zu seinem Tod. Nostitz war
Siebelis stand er auch über die seit 1814 Senior des Hochstifts Merse­
Bautzner Societät in Verbindung. burg. 1836 verlieh ihm die Universität
Nostitz leitete in Dresden den sozia­ Leipzig die Ehrendoktorwürde. Kurz
len Unterstützungsverein „Rath und vor dem Ende seines Lebens gedachte
That“, der 1803 von Carl Graf Bose er dem 1835 verstorbenen Freund
und Oberhofprediger Franz Volkmar Karl August Böttiger mit einem
Reinhard gegründet worden war und Gedicht. Sein Sohn Eduard Gott­
den Freimaurern nahe stand. 1815 lob von Nostitz und Jänkendorf
brachte Nostitz ein Freimaurer­Lie­ nutzte 1840 als sächsischer Innenmi­
derbuch heraus. Die Mitglieder von nister die Vorarbeiten des Vaters als
„Rath und That“, darunter mit Karl Grundlage seiner Armenordnung.
August Böttiger und Theodor Hell
führende Mitglieder von Freimaurer­ Quellen: Allgemeine deutsche Real­Encyclopädie,
Bd. 11–12, Brockhaus, 1825; Franz Brümmer:
Logen, linderten mit Mitgliedsbei­ „Nostitz­Jänkendorf, Gottlob Adolf Ernst von“.
trägen und gesammelten Spenden ADB Bd. 24, 1886; Neues lausitzisches Magazin,
1836; Gottlieb Friedrich Otto: „Lexikon der seit
die Not wegen Krankheit, Unfällen
dem fünfzehenden Jahrhunderte verstorbenen und
und Alter. Den Bautzener Ortsver­ jetztlebenden Oberlausizischen Schriftsteller und
ein gründete Gerhard Heinrich Künstler‘‘. Burkhart Görlitz; Robert Luft: „Nostitz“.
Neue Deutsche Biographie, 1998; Hans Mirtschin:
Jacobjan Stöckhardt 1820 auf „Die Gesellschaft Societät zu Bautzen“. Altstadtver­
Nostitz‘ Veranlassung. 1823 richtete ein Bautzen, Vortrag 26.10.2010; Sanct Johannis
der Dresdner Verein „Rath und That“ Freimaurer­Loge zur goldnen Mauer, Mitglieder­
verzeichnisse 1816, 1832; Lausizisches Magazin,
eine Freischule für 300 Kinder ein, die 1775; Friedrich August Schmidt, Bernhardt Fried­
evangelisch gebundenen Eltern eine rich Voigt: „Neuer Nekrolog der Deutschen“. Bd.
Alternative zur katholischen Frei­ 14, Teil 2, 1838; Cornelius Gurlitt: „Beschreibende
Darstellung der älteren Bau­ und Kunstdenkmäler
schule bot. 1830 wurde Nostitz in der des Königreichs Sachsen“. Bd. 34; Dirk Hempel: „Li­
Nachfolge von Heinrich Wilhelm von terarische Vereine in Dresden“. Walter de Gruyter,
Zeschau zum Großmeister der Lan­ 2008; „Die Freimaurerloge zum goldenen Apfel im
Orient Dresden 1776–1876“. Heinrich Dresden,
desloge Sachsen gewählt. Seine Söhne 1876; Gothaisches genealogisches Taschenbuch der
Eduard Gottlob von Nostitz und briefadeligen Häuser, 1913; August Wilhelm Bern­
hardt von Uechtritz: „Diplomatische Nachrichten
Jänkendorf und Julius Gottlob adeliche Familien betreffend“. 1790, 1792; Dresdner
von Nostitz und Jänkendorf Adressbücher; Maria Görlitz: „Parlamentarismus in
gehörten in Dresden der Loge „Zum Sachsen“. LIT Münster, 2011; Lausitzisches Magazin
oder Sammlung verschiedener Abhandlungen
goldenen Apfel“ an. und Nachrichten zum Behuf der Natur­, Kunst­,
Welt­ und Vaterlandsgeschichte, der Sitten, und der
Für seine Verdienste erhielt Nostitz schönen Wissenschaften, Bd 1, Fickelscherer, 1768,
Boris Böhm: „...daß es mir gewiß angenehm ist,
1817 das Großkreuz des königlich euch nützlich zu werden...“. Elbhang­Kurier, H. 9,
sächsischen Civilverdienstordens. Das 2015; Zita Szylagyi, Aszod, Mitteilungen

247
Eduard Gottlob von Nostitz und Jänkendorf wurde mit dem Großkreuz
des sächsischen Civilverdienstordens, des russischen Annenordens und
des sachsen-ernestinischen Hausordens sowie mit dem preußischen roten
Adlerorden ausgezeichnet, Lizenz: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel,
http://www.portraitindex.de/documents/obj/34013970, CC BY-SA.

248
Nostitz und Jänkendorf, Eduard Gottlob von
Sächsischer Innenminister, Rittergutsbesitzer auf Oppach
31.03.1791 Bautzen – 08.02.1858 Oppach

V: Gottlob Adolf Ernst (*21.4.1765 See, †15.10.1836 Oppach), Rittergutsbesitzer auf Oppach,
Konferenzminister, Schriftsteller; M: Henriette Sophie geb. von Bose (*18.2.1769 Oberthau,
†3.3.1848 Dresden); G: Traugott Adolph Karl (*24.3.1787, †1787 Dresden), Elise (*1788,
†23.8.1853 Aszod, heiratete 1812 nach Ungarn Karl von Podmanitzky, dessen erste Ehe mit Julie
Charpentier aus Freiberg), Therese Clementine (*7.11.1789 Dresden, †21.3.1870 Dresden, verh.
mit Karl Alexander Graf von Rex), Theodor (*,† 1792 Bautzen), Lydia Augustina (*18.8.1794
Doberschau, †17.11.1810 Dresden), Ida Rosalie (*9.1.1796 Bautzen, †28.3.1796 Doberschau), Ju­
lius Gottlob (*12.7.1797 Doberschau, †18.3.1870 Dresden, 1838–1848 und 1849–1864 Gesandter
beim Deutschen Bundestag), Agnes Luise (*10.9.1798 Bautzen, †17.5.1875 Altengottern, verh.
mit Julius von Marschall), Klara Minona (29.12.1799–11.2.1882, verh. mit Viktor Julius von
Bülow, Besitzer von Schloss Beyernaumburg), Klothilde Septimie (*27.1.1801 Bautzen, †1852
Oppach, Dichterin, schrieb für Carl Maria von Weber), Heliodora Oktavia (*23.6.1805 Dober­
schau, †18.2.1871 Dresden, verh. mit Bruno von Schimpff, Zollvereinsbeamter und Kreisdirektor
in Zwickau) E: (1) 27.11.1816 Dresden, Wilhelmine Friederike Erdmuthe geb. von Beschwitz
(*28.1.1796 Sornitz, †17.7.1821 Dresden), (2) 31.5.1824 Merseburg, Therese Freiin von Gut­
schmid (*26.12.1797 Merseburg, †19.12.1863 Dresden, Tochter des Stiftskanzlers von Merseburg
Christian Friedrich Freiherr von Gutschmid); K: Marie Amalie (*2.9.1817 Dresden, †1.1.1893
Rom, verh. mit Rudolf von Metzradt auf Zedtlitz und Hermsdorf, nach 1859 Ferdinand von
Platner, Bibliotheca Platneriana des Deutschen Archäologischen Instituts Rom), Wolf Gottlob
Adolf (*23.10.1819 Dresden, †15.6.1874 Taubenheim, Hauptmann, Rittergutsbesitzer auf Tau­
benheim, verh. mit Marie Elisabeth geb. von Polenz), Anna (*30.6.1825 Dresden, †21.12.1899
Wiesbaden, verh. mit Hermann von Witzleben, Besitzer des Ritterguts Kitzscher), Fürchtegott
Richard (*1.6.1826, † in Pirna, bis 1862 Rittmeister, danach Kammerherr), Helene Sophie Hen­
riette (*3.11.1827 Dresden, †18.8.1891 Dresden, verh. mit General Alban von Montbé), Gottwalt
Arthur (*18.1.1829 Dresden, †21.7.1905 Nieder­Lößnitz, Hauptmann, verh. mit Elisabeth geb.
Freiin von Uexküll, Besitzer des Gotischen Hauses Radebeul), Gotthold Eduard Leo (*15.8.1831
Dresden, †31.7.1871 Pirna, verh. mit Ida geb. von Arnim, Rittergutsbesitzer auf Oppach, Premi­
erleutnant, Landtagsabgeordneter), Meta (*10.10.1839 Dresden, †3.10.1880, verh. mit Richard
Freiherrn von Berlepsch, Sohn des Oberlandforstmeisters August Adolph von Berlepsch, Besit­
zer des Klosterguts Seebach, heiratete 1882 eine Tochter von Anna verh. von Witzleben)

Eduard Gottlob von Nostitz und der Ortenburg als Oberamtshaupt­


Jänkendorf wurde 1791 in Bautzen mann. Der Sohn besuchte unter Karl
geboren. Sein Vater, Gottlob Adolf Gottfried Siebelis das Gymnasium
Ernst von Nostitz und Jänken­ in Bautzen und ab 1806 das Landes­
dorf, war 1789 aus Dresden in die gymnasium in Schulpforte. 1807 zog
Oberlausitz zurückgekehrt und erhielt die Familie wieder nach Dresden. Bis
1792 die Berufung zum Landesäl­ 1815 wohnten sie wie Karl August
testen des Kreises Bautzen und 1804 Böttiger im Coselpalais „Hinter
zum Leiter der Provinzverwaltung auf der Frauenkirche“ 5. Nostitz, dessen

249
Vater als Oberkonsistorialpräsident
sowohl für die Landesgymnasien wie
beispielsweise Schulpforte als auch
die Universität Leipzig verantwortlich
zeichnete, studierte ab 1809 in Leipzig
und ab 3. Oktober 1811 in Heidelberg
Jura. Der Wechsel war vom Vater
veranlasst worden, um den Sohn
dem Einfluss des Studentenordens in
Leipzig zu entziehen. Die Universität
in Heidelberg galt als „Juristenuni­
versität“ mit Schwerpunkt Römi­
sches Recht, die Stadt Heidelberg als
Zentrum der Romantik. Seit 1809 (bis
1844) gehörte Nostitz der Freimaurer­
Loge „Zum goldenen Apfel“ an.

Nach Napoleons gescheitertem Russ­


landfeldzug lavierte der preußische
König Friedrich Wilhelm III. zwi­
schen dem vormaligen Verbündeten
Frankreich und Russland. Aus Angst,
Das ehemalige Bautzener Stadthaus von den französischen Truppen
seiner Familie, Burglehn 1, war verhaftet zu werden, ging der König
möglicherweise das Geburtshaus Anfang 1813 nach Breslau. Er er­
von Eduard Gottlob von Nostitz und mächtigte Ludwig Adolf Wilhelm von
Jänkendorf. Es beherbergt heute die Lützow zum Aufruf für ein Freikorps,
Gaststätte „Mönchshof “. Im Hinter- in dem sich die patriotisch gesinnte
grund sieht man die Michaeliskir- Jugend Deutschlands sammeln sollte.
che. Die Grundstücke wurden dem Im Februar, noch vor dem offiziellen
Landadel vormals durch den auf der Seitenwechsel Preußens, erfolgte die
Ortenburg residierenden Landvogt Gründung. Neben Nostitz, der sein
als landesherrliches Lehen über- Studium in Heidelberg unterbrochen
geben. 1734 erwarb Wolf Gottlob hatte, kamen unter anderem der
Traugott von Nostitz auf Oppach, Dichter Theodor Körner und der spä­
See, Sproitz und Moholz, ein Ur- tere Turnvater Friedrich Ludwig Jahn.
großvater von Eduard Gottlob, das Nostitz‘ Vater diente währenddessen
Haus. Sein Vater, Gottlob Adolf dem mit Napoleon verbündeten säch­
Ernst von Nostitz und Jänken- sischen König Friedrich August dem
dorf, verkaufte es 1793. Gerechten als Minister. Am 26. Au­

250
von Thielemann, dem Nostitz als
Ordonnanzoffizier diente, hatte das
sächsische Heer neu organisiert, um
sich an Preußens Seite am Feldzug
gegen Frankreich zu beteiligen. Nach
Kriegsende quittierte Nostitz den Ar­
meedienst und schloss sein Studium
an der Universität Wittenberg ab.

1817 wurde Nostitz als Kammerrat


beim Geheimen Finanzkollegium
unter Wilhelm Friedrich von Gut­
schmid, einem Onkel seiner späteren
zweiten Frau, angestellt. Er traf hier
auf Gustav von Flotow, mit dem er
über viele Jahre in Kontakt bleiben
Eduard Gottlob von Nostitz und sollte. Ab 1819 wirkte Nostitz im
Jänkendorf wurde für seinen Dienst Meißnischen Kreis als Amtshaupt­
in der Lützow‘schen Freischar im mann unter dem Kreishauptmann
Krieg gegen Napoleon mit dem Ei- Heinrich Sigismund von Zeschau mit
sernen Kreuz 2. Klasse ausgezeich- Zuständigkeiten für Dresden, Pirna
net (Ölbild Schloss Taubenheim). rechts der Elbe, Radeberg, Stolpen,
Hohnstein und Lohmen. Zu seinem
gust 1813 half der Sohn, den gefalle­ Gebiet gehörte auch Bischofswer­
nen Theodor Körner aus dem Gefecht da, das in jener Zeit von Gottlob
gegen Napoleons Truppen zu bergen Friedrich Thormeyer wieder aufge­
und in Wöbbelin zu begraben. Am 10. baut wurde. Ab 1821 arbeitete Nos­
Oktober verhinderte ein Posten unter titz als Geheimer Referendar bei der
dem Befehl von Nostitz in Hohnstorf Geheimen Ratskanzlei. Sie war dem
– Teile der Freischar waren inzwi­ Geheimen Ratskollegium zugeordnet,
schen in die Nordarmee unter Ludwig dem Nostitz‘ Vater angehörte. 1825
von Wallmoden­Gimborn eingeglie­ kehrte Eduard Gottlob von Nostitz
dert worden – die Elbquerung der und Jänkendorf als Kammerkredit­
feindlichen Truppen aus Lauenburg. kassen­Kommissar und Geheimer
Nostitz wurde dabei durch eine Finanzrat zum Geheimen Finanz­
Kartätschenkugel schwer verwundet. kollegium um Prinz Johann, George
1814, nach dem Sieg gegen Napoleon Ernst August Friedrich von Manteuf­
in der Völkerschlacht zu Leipzig, trat fel und Günther von Bünau zurück.
er als Volontär des Ulanen­Regiments Gustav von Flotow war einer seiner
in sächsische Dienste. Johann Adolf Mitarbeiter.

251
Nostitz vertrat anlässlich der Eröffnung der Leipzig-Dresdner Eisenbahn
am 7. April 1839 die sächsische Staatsregierung. Er erinnerte in seiner Rede
an die großen Erwartungen, die der König und die Regierung mit dem
Projekt verbinden.

Nach Inkrafttreten der von seinem lob von Nostitz und Jänkendorf
Vater, Gottlob Adolf Ernst von mit Heinrich August Blochmann
Nostitz und Jänkendorf, maßgeb­ und anfangs Paul hermann). Zu
lich mitgeprägten ersten sächsischen seinem Zuständigkeitsbereich zählten
Verfassung von 1831 ersetzten Fach­ das Gewerbewesen, die Polizeibe­
ministerien die ehemaligen Kollegi­ hörden, die Zensur, die Amtsärzte,
albehörden. Nostitz arbeitete ab 1832 die Angelegenheiten der jüdischen
als Abteilungsvorstand und Direktor Gemeinden, mehrere Lehreinrich­
unter dem Finanzminister Heinrich tungen (Technische Bildungsanstalt,
Anton von Zeschau. die Baugewerkenschulen, Chirur­
gisch­medicinische Akademie mit
1836 wurde Nostitz zum Minister Thier­Arzney­Schule, v. Vitzthum­
des Innern unter dem Vorsitzenden Blochmann‘sches Gymnasial­Erzie­
des Gesamtministeriums Bernhard hungshaus) und das Wirken der Ver­
von Lindenau bestellt und kraft eine (Gewerbeverein, Gesellschaft für
dieses Amtes Mitglied des Staatsrats. Natur­ und Heilkunde, Ökonomische
Die Minister wurden vom König Gesellschaft im Königreiche Sachsen,
ernannt, waren ihrerseits aber dem Statistischer Verein, Altertumsverein;
Landtag berichtspflichtig. Nostitz siehe Ernst Rietschel und Johann
unterstanden als permanente Mit­ Gottfried Nake). Sein ehemaliger
telbehörden die Kreisdirektionen Mitarbeiter Gustav von Flotow war
und Amtshauptmannschaften, aber Vorstand in mehreren dieser Vereine.
auch wichtige temporär eingerichtete Mit weiteren Ministern zeichnete
Kommissionen (Vorbereitung eines Nostitz zudem für das sächsische
neuen Grundsteuersystems, Ablö­ Kirchenwesen „in Evangelicis“ verant­
sungen und Gemeinheitsteilungen wortlich. Einige Verantwortlichkeiten
unter seinem Bruder Julius Gott­ aus dem Ressort Inneres hatte sich

252
Lindenau vorbehalten (die Kunstaka­
demien in Dresden und Leipzig, die
königlichen Sammlungen sowie die
Versorgungs­ und Strafanstalten, dar­
unter die von Gottlob Adolf Ernst
von Nostitz und Jänkendorf in
Pirna und Bräunsdorf gegründeten
sowie die Landeswaisenanstalt in
Großhennersdorf).
1840 wurde die von Gottfried Sem-
Nostitz führte in Sachsen zur Zeit per erbaute Synagoge in Dresden
von König Friedrich August II. eine geweiht (Gustav Täubert, um 1850).
Landgemeindeordnung (1838), eine Als der für Dresden und Leipzig
Armenordnung (1840) und Gesetze zuständige Oberrabbiner Zacharias
zur Teilbarkeit des Grundeigentums, Frankel 1836 nach Sachsen kam,
zum Schutz von künstlerischen und durften die Juden hier ihre Religion
literarischen Werken sowie zu einer noch nicht öffentlich ausüben, die
besseren Rechtsstellung der jüdischen Errichtung einer Synagoge war ih-
Bevölkerung ein. In einer Zeit des nen untersagt. Sie besaßen kein Bür-
wirtschaftlichen Aufschwungs kam gerrecht, ihr Eid keine Glaubwür-
insbesondere den Bereichen Indus­ digkeit. Die vom Innenministerium
trie, Handwerk, Handel und Verkehr unter Nostitz erlassenen Gesetze
große Bedeutung zu. So betrafen der stellten einen bedeutenden Beitrag
Bau der Eisenbahnstrecke Leipzig­ zur Emanzipation der jüdischen
Dresden und deren Einweihung 1839 Bevölkerung in Sachsen dar.
sowie die Planungen für die Säch­
sisch­Schlesische Eisenbahn Nostitz‘ als Grundsatz feststellen wird.“) und
Zuständigkeitsbereich. liberaler Tendenzen unter Linde­
nau als Innenminister nahm unter
Auch in Sachsen gärte die gesell­ Nostitz die Zensur wieder zu. Ge­
schaftliche Unzufriedenheit des setzentwürfe zur Pressefreiheit traten
Vormärz. Entgegen der vorgesehenen nicht in Kraft. Weil aber verglichen
weitreichenden Pressefreiheit nach mit anderen deutschen Staaten in
der Sächsischen Verfassung („Die Sachsen noch relativ tolerante Rege­
Angelegenheiten der Presse und des lungen galten, konnte sich Leipzig
Buchhandels werden durch ein Gesetz zu einem Zentrum liberaler Dichter
geordnet werden, welches die Freiheit und Schriftsteller entwickeln. Der von
derselben, unter Berücksichtigung Robert Heller 1842 maßgeblich
der Vorschriften der Bundesgesetze mitbegründete Literatenverein forder­
und der Sicherung gegen Mißbrauch, te vergeblich weitere Verbesserungen

253
ein. Der bereits aus Preußen vertrie­ Anstalten unter Führung karitativer
bene Arnold Ruge verließ nach der Vereine. 1853 wurden für die Ober­
Beschlagnahme einer Ausgabe seiner lausitz in Berthelsdorf für Mädchen
„Deutschen Jahrbücher für Wissen­ und von Nostitz in Oppach für etwa
schaft und Kunst“ 1843 Sachsen und 20 Jungen solche Rettungshäuser
schloss sich in Paris mit Karl Marx gegründet. Der Gründung in Oppach
zusammen. Sein Mitarbeiter Michail voraus ging 1852 ein Vortrag von
Bakunin ging nach Zürich. Nostitz über „Rettungsanstalten für
arme verwahrloste Kinder insbe­
Aus gesundheitlichen Gründen legte sondere auf dem Lande“ vor einer
Nostitz 1844 sein Ministeramt nieder Oppacher Gemeindeversammlung.
und zog sich auf sein Gut Oppach Neben Spenden, beispielsweise von
zurück. Bis 1847 gehörte er dem Karl Traugott Kanig und in
Staatsrat an, bis 1850 war er Richter Dresden von Gustav von Flotow,
am Staatsgerichtshof. Die Familie war flossen in den Fonds auch Einnahmen
von dieser revolutionären Zeit unmit­ aus dem Druck jenes Vortrags sowie
telbar betroffen. Nostitz‘ Nichte Julie, weiterer Schriften wie des von Nos­
eine Tochter seiner Schwester Elise, titz herausgegebenen dichterischen
und ihr Mann, Miklos Josika, waren Nachlasses seiner Schwester Klothil­
als Revolutionäre 1849 aus Ungarn de Septimie. Nach dem Vorbild des
geflohen, fanden aber nur kurzzeitig Rauhe­Hauses in Hamburg wurden
Aufnahme in Sachsen und emigrier­ drei Grundsätze verfolgt: Erziehung
ten schließlich nach Brüssel. im Familienleben, zur Religiosität
und Sittlichkeit und zur Arbeit. Das
Um das Schicksal verwahrloster Rettungshaus in Oppach strahlte eine
Kinder zu lindern, entstand im 19. große Vorbildwirkung in die Umge­
Jahrhundert deutschlandweit eine bung aus. Von den 26 evangelischen
„Rettungshausbewegung“. Bereits in Rettungshäusern Sachsens im Jahre
seiner Zeit als Minister in Dresden 1895 lagen allein 7 in der Oberlausitz,
war Nostitz mit dieser christlich­ neben Oppach und Berthelsdorf jene
sozialen Bewegung in Berührung ge­ in Zittau, Göda, Dittelsdorf, Elstra
kommen, als im Rahmen der Verant­ und Neukirch.
wortlichkeiten Lindenaus innerhalb
des Ressorts „Inneres“ beispielsweise Nostitz war Kanoniker des Kollegiat­
Bräunsdorf und Großhennersdorf stifts in Wurzen (ab 1810), Domherr
als Rettungshäuser genutzt wurden. und Senior des Hochstifts zu Meißen
Neben diesen staatlich organisierten (ab 1828) und Propst des Domcapi­
Einrichtungen entstanden in Sachsen tularkollegiums St. Petri in Bautzen
ab 1850 in Stollberg, Lößnitz, Riesa, (ab 1841). Das Hochstift Meißen
Waldkirchen und Schwarzenberg vertrat er Anfang der 1830er und in

254
Nostitz‘ Vater, Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänkendorf,
hatte 1786 auf alten Gewölben des Oppacher Niederhofs ein Herrenhaus er-
richten lassen. Eduard Gottlob von Nostitz und Jänkendorf baute das Haus
1844 im neogotischen Stil um.

den 1850er Jahren im sächsischen stellung der älteren Bau­ und Kunstdenkmäler des
Königreichs Sachsen, Bd. 34, 1910; Gustav Poenicke:
Landtag. Um sich einer besseren me­ „Expedition des Albums Sächsischer Rittergüter
dizinischen Behandlung unterziehen und Schlösser“. Bd. 3, 1859; Felix Wilhelm: „Die
zu können, verbrachte Nostitz sein Geschichte des Luttitz­Nostitzschen Burglehnhau­
ses“. Bautzen, 1937; Dresdner Adressbücher 1817,
letztes Lebensjahr in Dresden. Alle 1820, 1822, 1826, 1832, 1837; Königlich­Sächsischer
vier Söhne von Nostitz verfolgten eine Hof­ und Staats­Kalender, 1810; Staats­Handbuch
für das Königreich Sachsen, 1843; Zita Szylagyi,
militärische Karriere. Sein Sohn Leo Aszod, Mitteilungen 2016; Leipziger Zeitung, 4.
führte zudem das karitative Engage­ Juli 1852, 28. Februar 1858; Herbert Zeißig: „Eine
ment des Vaters in Oppach mit der deutsche Zeitung. Zweihundert Jahre Dresdner
Anzeiger.“ Verlag der Dr. Güntzschen Stiftung,
Gründung eines Armenvereins fort. 1930; Christian Ludwig Enoch Zander: „Geschichte
des Kriegs an der Nieder­Elbe im Jahre 1813“. Bd.
Quellen: Bernhard Pfeiffer: „Die Parochie Oppach“. 1, 1839; Immatrikulationsverzeichnisse Universität
Neue Sächsische Kirchengalerie, 1904; Neues Heidelberg; „Die Leipzig­Dresdner Eisenbahn in
lausitzisches Magazin, 1874; „Genealogisches Ta­ den ersten fünfundzwanzig Jahren ihres Bestehens“.
schenbuch der uradeligen Häuser“. Perthes Gotha, 1864; „Statistik der evangelischen Rettungshäuser
1903; „Beiträge zur Geschichte des Geschlechtes Deutschlands“. Berlin 1897; René Sternke, Klaus
von Nostitz“. Gressner & Schramm Leipzig, 1876; Gerlach: „Karl August Böttiger – Briefwechsel mit
Cornelius Gurlitt: „Oppach“. Beschreibende Dar­ Christian Gottlob Heyne“. Walter de Gruyter, 2015

255
Julius Gottlob von Nostitz und Jänkendorf trug den Titel „Wirklicher Ge-
heimrat“. Für seine Verdienste wurden ihm der sächsische Zivilverdienstor-
den, der hannoversche Guelphen-Orden, der württembergische Friedrich-
Orden, der badische Zähringer Löwen-Orden, der kurfürstlich-hessische
Wilhelmsorden, der großherzoglich-hessische Orden von Philipp dem
Großmüthigen, der sächsisch-ernestinische Hausorden, der luxemburgische
Orden der Eichenkrone sowie die Ehrenbürgerschaft Bremens verliehen.
Lizenz: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, http://www.portraitindex.
de/documents/obj/34014839, CC BY-SA.

256
Nostitz und Jänkendorf, Julius Gottlob von
Sächsischer Gesandter beim Deutschen Bundestag
12.07.1797 Doberschau – 18.03.1870 Dresden

V: Gottlob Adolf Ernst (*21.4.1765 See, †15.10.1836 Oppach), Rittergutsbesitzer auf Oppach,
Konferenzminister, Schriftsteller; M: Henriette Sophie geb. von Bose (*18.2.1769 Oberthau,
†3.3.1848 Dresden); G: Traugott Adolph Karl (*24.3.1787, †1787 Dresden), Elise (*1788,
†23.8.1853 Aszod, heiratete 1812 nach Ungarn Karl von Podmanitzky, in erster Ehe mit Julie
Charpentier aus Freiberg verheiratet), Therese Clementine (*7.11.1789 Dresden, †21.3.1870
Dresden, verh. mit Karl Alexander Graf von Rex), Eduard Gottlob (*31.3.1791 Bautzen,
†8.2.1858 Oppach, 1836–1844 sächsischer Innenminister), Theodor (*,† 1792 Bautzen), Lydia
Augustina (*18.8.1794 Doberschau, †17.11.1810 Dresden), Ida Rosalie (*9.1.1796 Bautzen,
†28.3.1796 Doberschau), Agnes Luise (*10.9.1798 Bautzen, †17.5.1875 Altengottern, verh. mit
Julius von Marschall), Klara Minona (29.12.1799–11.2.1882, verh. mit Viktor Julius von Bülow,
Besitzer von Schloss Beyernaumburg), Klothilde Septimie (*27.1.1801 Bautzen, †1852 Oppach,
Dichterin, schrieb auch für Carl Maria von Weber), Heliodora Oktavia (*23.6.1805 Doberschau,
†18.2.1871 Dresden, verh. mit Geheimrat Bruno von Schimpff); E: 31.5.1825 Wurschen, Erdmu­
the Charlotte Luise geb. von Rex­Thielau (*20.12.1805 Lautitz, †18.7.1884 Dresden); K: Gottlob
Adolf (*27.5.1826 Bautzen, †4.8.1880 Nadelwitz, Hauptmann, verh. mit Luise geb. Demisch),
Hertha Gertrud Charlotte (*9.11.1827 Bautzen, †17.11.1914 Dresden, verh. mit Carl Alexan­
der von Schwerin), Georg Gottlob (*30.1.1829 Lautitz, †10.8.1896 Würzburg, Oberfinanzrat,
beteiligt am Ausbau des Eisenbahnwesens in Sachsen, verh. mit Hedwig Karoline Marie geb. von
Larisch), Margarete Marie (*14.8.1830 Lautitz, Stiftsdame von Joachimstein), Charlotte Dorothee
(*27.1.1832 Lautitz, †16.3.1906 Dresden, verh. mit dem russischen Diplomaten Alexander Baron
von Mengden), Otto Gottlob (*28.3.1836 Lautitz, †19.12.1870 Lagny, Hauptmann), Sophie Elisa­
beth (*13.1.1844 Frankfurt/M., Stiftsdame von Joachimstein)

Nostitz begann seine Berufslauf­ Als Direktor der Kommission für


bahn 1820 als Kammerjunker am Ablösungen und Gemeinheitsteilun­
Ober­Hof­Marschallamt. Seit 1815 gen ab 1837 zeichnete Nostitz für die
gehörte er der Freimaurer­Loge „Zum Reform der sächsischen Landwirt­
goldenen Apfel“ an, seit 1822 der schaft mitverantwortlich. Dabei ar­
Oberlausitzischen Gesellschaft der beitete er eng mit Heinrich August
Wissenschaften. 1823 wurde er zum Blochmann sowie anfangs mit Paul
Vogt des Klosters Marienthal bestellt. Hermann, aber auch dem zustän­
1829 beriefen ihn die Oberlausitzer digen Innenminister, seinem Bruder
Landstände zum Landesbestallten. In Eduard Gottlob von Nostitz und
den 1830er Jahren vertrat Nostitz die Jänkendorf, zusammen. 1837 nahm
Oberlausitz im sächsischen Landtag Nostitz an der ersten Versammlung
und führte das Rittergut Lautitz. 1835 deutscher Landwirte in Dresden teil.
wurde er zum Landesältesten der Zu den sächsischen Teilnehmern der
Oberlausitz gewählt. von August Gottfried Schweitzer von

257
Nostitz besaß das Rittergut Lautitz von 1828 bis 1841.

der Forstakademie Tharandt maßgeb­ außenpolitische sowie militärische


lich organisierten Veranstaltung zähl­ Angelegenheiten. Sachsen besaß eine
ten auch Johann Gottfried Nake „Virilstimme“ im engeren Rat, also
und Heinrich August Blochmann. ein volles Mandat. Nostitz vertrat in
den 1840er Jahren Sachsen zudem in
Von 1840 bis 1848 vertrat Nostitz Stuttgart als Gesandter. Die nationale
Sachsen beim Deutschen Bundestag. Bewegung von 1848 forderte notwen­
Der Bundestag bildete das höchste dige Reformen ein und die Deutsche
Organ des Deutschen Bundes. Der Nationalversammlung („Paulskir­
1815 nach der Niederlage Napoleons chenparlament“) erklärte den Bun­
gegründete Deutsche Bund war eher destag am 28. Juni 1848 für aufgelöst.
ein Staatenbund als ein Bundesstaat Nach der Zerschlagung der Deut­
und stand im Zeichen des Konflikts schen Nationalversammlung wurde
zwischen Preußen und Österreich um Nostitz 1849 wieder nach Frankfurt
die Vorherrschaft in Deutschland. Zur entsandt. Er vertrat Sachsen zudem in
Gründung gehörten ihm 35 Mo­ Kassel, Karlsruhe und Darmstadt als
narchien und 4 Freie Städte an. Im Gesandter. Die Dresdner Verhandlun­
Bundestag in Frankfurt a. M. berie­ gen vom 23. Dezember 1850 bis zum
ten die bevollmächtigten Gesandten 15. Mai 1851 über eine neue Verfas­
national bedeutsame innen­ und sung des Deutschen Bundes blieben

258
ergebnislos. Nostitz unterstützte in
Frankfurt die österreichfreundliche
Politik von Friedrich Ferdinand von
Beust, des sächsischen Gegenspielers
von Otto von Bismarck. Auch im
Zusammenhang mit einer geplanten
Verschärfung des Bundespressege­
setzes vertrat Nostitz sehr konserva­
tive Positionen. 1855 wurde ihm die
Ehrenbürgerschaft Bremens zuteil.
Die Bürgerschaft hatte es zunächst
verhindern können, dass die fort­
schrittliche Verfassung der Stadt nach
dem Scheitern der Revolution wieder
außer Kraft gesetzt wurde. Der kon­
servative Senat der Stadt verband sich
jedoch mit dem Deutschen Bundes­
tag, die Bürgerschaft wurde aufgelöst
und die Verfassung geändert. Nostitz
war daran als Referent in der zustän­
digen Kommission des Bundestags Nostitz wohnte zuletzt in Dresden
beteiligt. „An der Bürgerwiese 15b“ (spätere
Nr. 22) im 1. OG. Der Hauseigentü-
1864 übernahm Carl Gustav Adolph mer, der Naturforscher Otto Stau-
von Bose Nostitz‘ Mandat. Mit dem dinger, betrieb parterre ein Dampf-
preußisch­österreichischen Krieg bad.
von 1866 lösten sich Deutscher Bund
cher der Stadt Dresden; Heinz Georg Holldack:
und Bundestag auf. Seit 1864 wohnte „Untersuchungen zur Geschichte der Reaktion in
Nostitz‘ Nichte Julie Josika geb. Pod­ Sachsen, 1849–1855“. Kraus Reprint, 1965; Joseph
Bernhard Schönfelder: „Urkundliche Geschichte
manitzky, eine Tochter seiner Schwes­
des Königlichen Jungfrauenstifts und Klosters St.
ter Elise, mit ihrem Mann, Miklos Marienthal, Cistercienser­Ordens, in der König­
Josika, in Dresden. Julie Josika war lichen Sächsischen Oberlausitz“. Schöps, 1834;
Tobias C. Bringmann: „Handbuch der Diplomatie,
Schriftstellerin und hatte 1849 mit 1815–1963“. Walter de Gruyter, 2001; Zita Szylagyi,
ihrem Mann aus Ungarn fliehen und Aszod, Mitteilungen 2016; Amtlicher Bericht
über Leipzig nach Brüssel emigrieren Versammlung deutscher Land­ und Forstwirthe in
Dresden, 1838; Gustav Adolf Poenicke: „Album der
müssen. Rittergüter und Schlösser im Königreiche Sachsen“.
Bd. 3; Richard Kohnen­Vogell: „Pressepolitik des
Quellen: Robert Luft: „Nostitz“. Neue Deutsche Deutschen Bundes: Methoden staatlicher Pressepo­
Biographie, 1998; Neues lausitzisches Magazin, litik nach der Revolution von 1848“. 1995; Wilhelm
1835, 1838, 1839; „Genealogisches Taschenbuch der von Bippen: „ Aus Bremens Vorzeit“. BoD – Books
uradeligen Häuser“. Perthes Gotha, 1903; Adressbü­ on Demand, 2015

259
Hans Volkmann: „Johannes Pache, ein Meister des deutschen Chorliedes“.
Unsere Heimat, Beilage zum Sächs. Erzähler, Nr. 49, 6. Dezember 1937.

260
Pache, Johannes Fürchtegott Jonathan
Dirigent, Komponist, Kantor
09.12.1857 Bischofswerda – 24.12.1897 Limbach

V: Emil (*1822 Grimma, †20.8.1892 Bischofswerda), Vater Chausseegeldeinnehmer in Wen­


disch­Paulsdorf, 1843 Hilfslehrer Strahwalde, 1845 Lehrer Sebnitz, ab 1850 Lehrer Bischofswer­
da, Oberlehrer; M: Ottilie geb. Gerdessen, Arzttochter aus Strahwalde; G: Alfred Emil Immanuel
(*2.11.1846 Sebnitz, †16.7.1913 Dresden­Tolkewitz, 1874 Diakon Bischofswerda, 1877 Pfarrer
Steinigtwolmsdorf, 1888 Direktor Pädagogium Langebrück, 1905 Direktor Realschule Altstadt,
1908 Pfarrer Waldkirchen, dessen Sohn Alexander Pache, *31.12.1878 Steinigtwolmsdorf, Prof.
Dr. phil., Lehrer und Schriftsteller in Dresden und Zwickau), 1 Schwester († Nov. 1848 Sebnitz),
Martin Moritz Georg (*26.10.1853 Bischofswerda, †4.3.1923 Dresden, 1879 Vikar Reinhardts­
dorf, 1880 Diakon Döhlen, 1882 Pfarrer Wildenfels, 1894 erster Pfarrer der Heilig­Kreuz­Kirche
Leipzig, 1900 Superintendent Großenhain, 1915 Geheimer Rat im Landeskonsistorium); E: (1)
13.4.1885 Strasburg/Westpreußen, Martha geb. Heinrich (*23.1.1862, †1893 Limbach), (2) Mar­
tha geb. Knackfuß (Tochter von Emil Knackfuß, Teilhaber der Strumpfwarenfabrik Reinhold
Esche in Limbach, Klavier­ und Sprachlehrerin, verschwägert mit Diakon Bernhard Dinter, als
Witwe bis 1921 in Dresden ansässig); K: Wolfgang (*12.2.1890, Lehrer in Limbach)

Paches Vater galt als ausgesprochen Lust hätte, antwortete der Sohn zum
tätige Persönlichkeit und gründete Entsetzen des strengen Vaters jedoch:
z. B. den örtlichen Frauenverein und „Nein, nur zur Musik.“ Daraufhin
den Militärverein. Er wollte auch wurde Pache auf das Gymnasium in
seinen Jüngsten, wie dessen Brüder, Bautzen geschickt. Er sang im Schul­
auf eine theologische Berufslaufbahn chor, musizierte mit Freunden und
vorbereiten und schickte ihn deshalb verdiente sich etwas Geld als Klavier­
1870 auf das Gymnasium in Zittau lehrer. Es entstanden verschiedene
unter Heinrich Julius Kämmel. Hier Kompositionen, die später unverän­
zeigte sich schon bald Paches musika­ dert gedruckt wurden.
lische Begabung. Er übte regelmäßig
Klavier und sang als Solosopranist im Ab 1877 ließ sich Pache in Dresden
Chor von Kantor Paul Fischer, dem bei Hoforganist Theodor Berthold im
er wichtige musikalische Anregungen Orgelspiel und in der Theorie sowie
zu verdanken hatte. Es entstanden bei dem kurz zuvor aus München von
erste Lied­ und Klavierkompositio­ Hans von Bülow gekommenen Herr­
nen. Darunter litten seine schulischen mann Scholtz im Klavierspiel ausbil­
Leistungen. Nachdem er das zweite den. 1879 fand er eine erste Anstel­
Mal sitzen geblieben war, wollte ihn lung als Organist und Musikdirektor
der Vater in Dresden am Lehrerse­ in Herisau bei St. Gallen. Aus privaten
minar anmelden. Auf die Frage des Gründen kehrte Pache schon 1881
Direktors, ob er zum Lehrerberuf nach Dresden zurück. Um seinen Le­

261
Blick über den Mühlteich zur Christuskirche Bischofswerda, davor Paches
Geburtshaus (linkes Eckhaus). Das Foto wurde von Uwe Fiedler der Wiki-
pedia zur Verfügung gestellt.
bensunterhalt zu verdienen, arbeitete wirtschaftlich lohnende Tätigkeit
er als Begleiter an der Gesangschule eröffnete ihm einigen künstlerischen
von Augusta Götze, als Lehrer an Freiraum. Pache hatte die Jahre der
der Zillmann‘schen Musikschule und Not in Dresden nie vergessen und un­
zeitweise als Liedermeister von sechs terstützte später vielfach Bedürftige.
Vereinen gleichzeitig. Trotzdem litt er
Not und wechselte 1884 nach Leip­ Pache war ein Meister des deutschen
zig, wo er in Konzerten als Organist Chorliedes und schuf vorwiegend
und Pianist auftrat. Hier entstanden Männerchöre, v. a. in den frühen
vielbeachtete Kompositionen. 1885 Jahren mit sehr romantischem
wechselte Pache als Kapellmeister an Charakter. 1886 entstand z. B. „Ein
das Saisontheater in Naumburg. Er Winzerfest am Rhein“, eine bekannte
gründete hier zudem einen Männer­ Walzer­Idylle für Männerchor mit
gesangverein, der noch lange später Begleitung des Pianoforte (op. 38).
seinen Namen trug. Ab 1886 beriet Opus 169 vereinte den „Waldeszau­
er in Leipzig Musikverlage. Diese ber“ (Solo mit Männerchor) mit der

262
Frühlingsbegeisterung in „Lenzwon­ Um wieder mehr Musik praktizieren
ne“. Sein vokalmusikalisches Schaffen zu können, trat Pache 1889 in Lim­
ging jedoch weit darüber hinaus. bach eine Stelle als Kantor und Orga­
Neben Frauen­ und gemischten nist an. Er führte in den wenigen ihm
Chören gehörten dazu auch Sologe­ verbleibenden Jahren den Kirchen­
sänge und Duette. Für gemischten chor zu hoher Blüte und gilt als Be­
Chor vertonte Pache „Wohlauf, es gründer der traditionsreichen Limba­
ruft der Sonnenschein“ von Ludwig cher Kirchenmusik. Hier entstanden
Tieck (op. 44). Zu den beliebtesten auch verschiedene kirchliche Kompo­
Frauenchören zählten „Frau Holle“ sitionen, darunter op. 183 „Nocturne"
(op. 135) als Kupplerin, mit einem für Orgel. Höhepunkt der Limbacher
Text von Otto Hausmann, und die Tätigkeit war die Aufführung seines
märchenhafte „Frau Sage“ mit einem 150. Werkes, des Oratoriums „Ka­
Text von Frieda Schanz. Seine durch­ pernaum“ mit einem Text von Diakon
aus nationalpatriotische Gesinnung Bernhard Dinter, anlässlich seines 35.
wurde deutlich in „Niederwaldfahrt“ Geburtstages. Die Aufführung wurde
und v. a. in „Die Germanenschlacht“ zu einem großen Erfolg – das Werk
(op. 106); diesen Chor widmete Pache blieb aber ungedruckt. In seinen
dem Universitäts­Sängerverein zu St. letzten Jahren plante Pache auch eine
Pauli in Leipzig und dessen Diri­ Oper mit den Hauptpersonen Goethe
genten Hermann Kretzschmar. Das und Friderike von Sesenheim; Anton
bedeutendste Einzelwerk Paches war Ohorn hatte schon begonnen, dafür
sicher seine Oper „Tobias Schwalbe“ ein Textbuch zu schreiben. Der frühe
mit einem Text von ihm selbst nach Tod des Komponisten verhinderte
„Der Nachtwächter“ von Theodor schließlich die Fertigstellung und der
Körner. Zu den Höhepunkten seines Stoff wurde später von Franz Lehar in
instrumentalmusikalischen Schaffens der Operette „Friderike“ behandelt.
zählten Duette für zwei Violinen,
Streichquartette, eine Suite für Klavier In seinem kurzen Leben schuf Pache
und Violine sowie Bearbeitungen eine Vielzahl von Kompositionen, die
von auserlesenen Vortragsstücken seinerzeit sehr erfolgreich waren. Das
berühmter Meister wie Bach, Händel, Gesamtwerk reicht bis op. 185. In vie­
Haydn für Harmonium, darunter von len Werken widerspiegelte sich sein
Ludwig van Beethoven: Larghetto aus volkstümliches und lebensbejahendes
der 2. Sinfonie D­Dur op. 36, Andan­ Wesen. Wirtschaftlichen Zwängen
te aus der Sonate op. 26 und Andante folgend entstanden auch „leichte“
aus der Sonate F­Moll op. 57 (Beetho­ Musikstücke, die dem damaligen
ven­Haus Bonn). Zeitgeist entsprachen. Dazu zählten
unterhaltsame Salonstücke unter dem
falschen Namen Johannes Gerdessen

263
bei den deutschen Einwanderern in
den USA beliebt. Die New York Times
berichtete am 25. Juni 1894 auf Seite
1 unter „Prize Singers and Singers
Who Got Only Money and Fame“ von
einem Gesangswettbewerb, für den
u. a. Paches „Waldeinsamkeit“ als
Wettbewerbsstück ausgewählt worden
war. Seine Kompositionen erschie­
nen z. B. in New York (Carl Fischer,
1898–1904; unter „Sacred Choruses“
bei H.W. Gray; Schirmer) und in Bos­
ton (A.P. Schmidt, Orgelmusik, 1897).
Der Verleger Gamble Hinged Mu­
sic Chicago stellte 1936 in „Graded
masterworks for strings“ u. a. Werke
von Edvard Grieg, Charles Gounod
und Pache zusammen. Beim gleichen
Verleger erschien im selben Jahr
auch eine musikalische Partitur zum
Das Pachedenkmal in Limbach steht Thema „Freischütz“ (Carl Maria von
heute unter Denkmalschutz. Weber) mit Beteiligung von Pache.
Einige Musikstücke des Komponisten
(Gerdessen war der Mädchenname befinden sich in der US­Library of
der Mutter). Pache geriet zuneh­ Congress. Noch in der ersten Hälfte
mend in Vergessenheit, als sich der des 20. Jahrhunderts wurde Pache in
Geschmack des Publikums wandelte. vielen einschlägigen internationalen
Gesundheitlich von einer Lungen­ Lexika zitiert.
krankheit schon schwer gezeichnet,
dirigierte er in Bischofswerda in An seiner letzten Wirkungsstätte Lim­
seinem letzten Lebensjahr einen bach ist Pache 1902 mit der Einwei­
seiner Chöre anlässlich des Bundesge­ hung eines Denkmals im Stadtpark,
sangsfestes und musste erleben, dass vermutlich nach einem Entwurf des
man sich in seiner Geburtsstadt nicht Wiener Bildhauers Wilhelm Leissring,
mehr zu ihm bekannte. geehrt worden. Es wurde in Sandstein
gestaltet und ist über 3 Meter hoch.
Auch nach Paches Tod gehörten seine Unterhalb des in Erz gegossenen
Chöre noch lange zum Repertoire vie­ Bildnisses erinnert die Zeile „Der
ler Gesangvereine. Er war nicht nur in liebe Herrgott hält die Wacht“ an ein
Deutschland bekannt, sondern auch Lied von Pache. Für das Denkmal

264
bacher Stadtkirche im Jahre 2014
des berühmten Kreuzkantors Rudolf
Mauersberger gedacht wurde, erklan­
gen Werke von Mauersberger selbst,
der Kreuzkantoren Ernst Julius Otto
und Gottfried August Homilius sowie
von Pache.

In der Geburtsstadt Bischofswerda er­


innert eine auf Initiative des Heimat­
Erinnerungstafel am Geburtshaus forschers Hermann Steudtner ange­
in Bischofswerda: „Am 9. Dezember brachte Gedenktafel am Geburtshaus
1857 wurde hier geboren Johannes Pfarrgasse 8 an den Sohn der Stadt.
Fürchtegott Jonathan Pache.“
Quellen: Hans Volkmann: „Johannes Pache,
trafen Spenden auch aus Indianapolis ein Meister des deutschen Chorliedes“. Unsere
und Syrakus in den USA ein. Die von Heimat, Beilage zum Sächs. Erzähler, Nr. 49,
6. Dezember 1937; E.W.: „Erinnerungen an
Pache begründete Kirchenmusiktra­ Johannes Pache“. Unsere Heimat, Nr. 10, 9. März
dition führten u. a. Franciscus Nagler, 1924; Meyers Konversationslexikon, Verlag des
Alfred Stier (späterer Landeskirchen­ Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien,
Vierte Auflage, 1885–1892, 18. Band: Jahres­
musikdirektor in Sachsen) und Rudolf Supplement 1890–1891; Hermann Schnurr­
Levin erfolgreich fort. 2004 wurde die busch: „Johannes Pache zum 100. Todestag“.
ehemalige Kirchstraße in Limbach Journal für das Limbacher Land, Survival
nach Pache benannt. Im Jahre 2007 Verlag Limbach­Oberfrohna, 5 (1997), S. 16–17;
„Matinee zum 150. Geburtstag – Musikalischer
erinnerten mehrere Veranstaltungen Gottesdienst mit Werken Limbacher Kantoren“,
an seinen 150. Geburtstag: Am 6. Mai „Musikalische Referenz für Johannes Pache“,
fand eine Matinee statt. Es erklan­ Stadtspiegel, Amtsblatt der Großen Kreisstadt
Limbach­Oberfrohna, 17. Jg., Nr. 9 (26.4.2007),
gen ausschließlich Werke Limbacher Nr. 11 (24.5.2007); „Der Kantatesonntag – eine
Kantoren – von Pache wurde „Herr, besondere Geburtstagsfeier“, Gemeindebrief
auf dich traue ich“ aufgeführt. Am Ev.­Luth. Kirchgemeinde Limbach­Kändler,
April/Mai 2007, Nr. 51, S. 8; Gemeindebrief
Geburtstag selbst, dem 9. Dezember,
Ev.­Luth. Kirchgemeinde Limbach­Kändler
erinnerten ein Posaunengottesdienst Dezember 2007 / Januar 2008, Nr. 55; Franz
in der Stadtkirche mit anschließender Kössler: „Personenlexikon von Lehrern des 19.
Feier des Heiligen Abendmahls, eine Jahrhunderts“. Berufsbiographien aus Schul­Jah­
resberichten und Schulprogrammen, 1825–1918,
Kranzniederlegung am Pachedenkmal Bd. Paalhorn–Pyrkosch; Reinhold Grünberg:
im Stadtpark und eine CD „Limba­ „Sächsisches Pfarrerbuch“. Freiberg 1939–1940;
cher Komponisten und Interpreten Neues Archiv für Sächsische Geschichte, 1920,
S. 152; Dresdner Adressbücher; „Die Limbacher
von Bach bis Pache, von Barock bis Fabrikanten­Familie Esche“ (www.graenz.name);
Pop“ an den ersten hauptamtlichen „Es war eine Schule fürs Leben“ (www.blick.de);
Kantor in Limbach. Als in der Lim­ Die Gartenlaube, 1902; www.westpreussen.de

265
266
Petermann, Georg
Pietistischer Pfarrer in Berlin, der Lausitz und Dresden
auch: Petermannus, Georgius; Petrman, Jiri; Petrmann, György

19.03.1710 Pukanz – 19.12.1792 Dresden

V: Daniel, Kürschner in Pukanz; G: George (*1709 Pukanz, †12.11.1782 Zibelle, studierte zusam­
men mit seinem Bruder in Halle, 1739 Substitut und ab 1751 Pfarrer in Zibelle, verheiratet mit
Elisabeth geb. Zenker, ihr Sohn George, *9.8.1750 Zibelle, Kaufmann in Löbau, verheiratet mit
Johanne Eleonora Rahel geb. Fröhnel, *26.5.1755 Walddorf, †29.12.1794 Löbau, Tochter des Chi­
rurgen Johann Gottlieb Fröhnel, ein weiterer Sohn Daniel, *1747 Zibelle, 26.9.1760 Aufnahme
in die Lateinische Schule in Halle); E: (1) †1745; K: Johann Samuel (*1747 Dresden, †1811 Han­
nover, Theologe, Hofmeister beim Freiherren von Mengden in Wildenfels, 1776 Gründer der
Freimaurer­Loge zum Goldenen Apfel – ab 1781 in Dresden, wo später Karl August Böttiger
Meister vom Stuhl war, ab 1778 Lehrer an der Pagenschule Dresden, ab 1786 Hofmeister beim
Prinzen von Mecklenburg­Strelitz, ab 1791 Postkommissarius beim Generalpostamt Berlin)

Petermann musste an seinem damals Seine Berufslaufbahn begann er 1734


ungarischen Heimatort Pukanz (heute als Lehrer an der Mägdlein­Schule der
Pukanec, Westslowakei) eine katholi­ Francke‘schen Stiftungen.
sche Schule besuchen. Um den Sohn
zu schützen, schickten ihn die protes­ Im Oktober 1734 erhielt der Student
tantischen Eltern später nach Bohn­ Petermann auf Empfehlung von
witz und Bagdan. Ab 1724 besuchte er Francke an den Geheimen Finanz­,
das Gymnasium in Schemnitz (Bans­ Kriegs­ und Domänenrat Christi­
ká Štiavnica), 1728 wechselte er nach an von Herold eine Anstellung als
Pressburg (Bratislava). Lehrer und zeitweise als Prediger der
böhmischen Exulantengemeinde in
Am 1. Oktober 1733 bezog Peter­ Berlin. Der vormalige Pfarrer der
mann die Universität Halle zum Böhmen vor ihrem Weggang 1732 aus
Studium der Theologie. Er hörte Großhennersdorf in der Oberlausitz,
Vorlesungen von Siegmund Jakob Johann Liberda, war auf Betreiben
Baumgarten, Johann Gottlieb Heinec­ von Henriette Sophie von Gersdorff
cius und Johann Heinrich Michaelis. in Sachsen verhaftet worden und so
Gotthilf August Francke prägte ihn hatte die Gemeinde in Berlin keinen
nachhaltig im Sinne des Pietismus eigenen Pfarrer mehr. Petermann
seines 1727 verstorbenen Vaters, geriet jedoch zunehmend in theologi­
August Hermann Francke. Petermann sche Meinungsverschiedenheiten mit
blieb mit Francke, Direktor des Wai­ seiner Gemeinde, die sich wieder stär­
senhauses Halle, auch nach dem Stu­ ker den Traditionen der Brüderlehre
dium in langjährigem Briefkontakt. zuwandte. So wurden Betstunden

267
auch ohne Pfarrer abgehalten. Geist­
lichen Beistand erhielt die Gemeinde Oberlausitzer Wurzeln
vom reformierten Oberhofprediger der böhmischen
von Berlin, Daniel Ernst Jablonsky.
Petermann, der zunächst nur für Gemeinde in Berlin
ein Jahr in Berlin hatte bleiben und
1729 begann der preußische König
danach nach Halle zurückkehren
Friedrich Wilhelm I., in der Fried­
wollen, beschränkte sich bald auf
richstadt protestantische Böhmen
seine Aufgaben als Lehrer. Andreas
anzusiedeln. Ein großer Teil der seit
Macher, zuvor Konrektor in Teschen,
etwa 1717 in Großhennersdorf un­
übernahm 1735 die Pfarrstelle.
tergekommenen und ursprünglich
Petermann unterrichtete in Berlin
aus den Landkreisen Leitomischl
etwa 70 Kinder. Die Organisation
und Landskron an der Grenze zu
des Schul­ und Katechismusunter­
Mähren stammenden Flüchtlinge,
richts erfolgte nach dem Vorbild des
etwa 500 Personen, wollte 1732
Halleschen Waisenhauses. Von hier
ebenfalls nach Berlin. Sie verließen
besorgte sich Petermann die benö­
ihre zwischenzeitliche Oberlausitzer
tigten Schulbücher in deutscher und
Heimat aus Unzufriedenheit über
tschechischer Sprache. Wegen der
die materiellen und rechtlichen
Armut der böhmischen Exulanten bat
Verhältnisse, aber auch aus litur­
er Gotthilf August Francke um Hilfe,
gischer Opposition. Ihr Katechet
die dieser auch gewährte. Geeignete
Johann Liberda reichte ihnen zwar
Schüler bereitete Petermann auf ein
beim Abendmahl nach Tradition der
Universitätsstudium vor. Dafür grün­
Brüder­Unität Brot statt Oblaten,
dete er mit Unterstützung von Adolph
doch der Druck, sich der in Sachsen
Gebhard Manitius eine „Anstalt der
vorherrschenden lutherischen Kir­
studierenden Böhmen“. 1737 wurde
che anzupassen, blieb groß. Liber­
die in der Tradition der Prager Beth­
da war ein Anhänger von August
lehemskapelle des Jan Hus stehende
Hermann Francke in Halle, welcher
Bethlehemkirche der böhmischen
die Fluchtbewegung aus Böhmen
Exulantengemeinde in Berlin ge­
förderte und dafür Großhennersdorf
weiht (im Zweiten Weltkrieg schwer
als Stützpunkt auserkoren hatte. Die
beschädigt, in der DDR abgetragen).
Herrin auf Großhennersdorf, Hen­
Gemeinsam mit Andreas Macher
riette Sophie von Gersdorff, stand
und dem ehemaligen Großhenners­
zwar dem Pietismus nahe, im Unter­
dorfer Augustin Schultze verfasste
schied zum benachbarten Herrnhu­
Petermann anlässlich der Kirchweihe
ter Nikolaus Ludwig von Zinzendorf
Lobgedichte auf den König („Das
und Pottendorf wollte sie aber an der
kleine Bethlehem als ein geistlich Brot
Leibeigenschaft nicht rütteln
– Haus für hungrige Selen“). Schon in

268
als Pfarrer in Uhyst/Spree an. 1741
und so kam es zum Bruch mit ihren
holte ihn Kabinettsminister Erdmann
Böhmen. Nachdem der preußische
Graf von Promnitz als Archidiakon in
König die Großhennersdorfer Ex­
Vetschau und Pfarrer in Missen. An
ulanten zunächst nicht aufnehmen
diesen Wirkungsstätten hatte es der
wollte, siedelte er sie und Glaubens­
pietistische Petermann nicht leicht.
brüder aus Zittau auf Vermittlung
In Gebhardsdorf gab es schon unter
von Liberda in Neu­Cölln und der
seinem Vorgänger theologische Kon­
Friedrichstadt an. Obwohl in Berlin
flikte, die wegen der Einführung eines
insgesamt eine größere Toleranz als
neuen Gesangbuchs durch Peter­
in Sachsen herrschte, blieben auch
mann erneut aufbrachen, bis sich die
hier Konflikte unvermeidlich.
Gemeinde sogar beschwerte. In Uhyst
wurde er als „Heuchler aus Halle“
dieser Zeit traten Konflikte zwischen diffamiert und auch in Vetschau gab
verschiedenen protestantischen Strö­ es Anfeindungen und Beschwerden
mungen hervor. Petermann wurde in beim Konsistorium in Lübben.
der Folge wiederholt in Streitigkeiten
zwischen Nikolaus Ludwig von Zin­
zendorf und Pottendorf sowie Fran­
cke verwickelt, bei denen es z. B. um
Eifersüchteleien im Zusammenhang
mit den Missionen in Amerika ging,
wo sowohl die Herrnhuter als auch
die Lutheraner in Halle die Führungs­
rolle beanspruchten.

Anfang 1738 ging Petermann als böh­


mischer Prediger nach Gebhardsdorf
(Giebułtów) am Queis zu Gottlob
Friedrich von Gersdorff. Augustin
Schultze hatte ihm die Berufung
überbracht. Diese Entscheidung
durch den Standesherren statt durch
das Konsistorium sorgte für Unmut.
Vor allem fürchtete man aber eine
Hinwendung der hiesigen Exulanten Die Kirche in Uhyst/Spree wurde
zu den Brüdergemeinen Großhen­ bis 1716 fertiggestellt, der Bau des
nersdorf und Herrnhut. Am 24. März Turms dauerte jedoch bis 1735,
1738 wurde Petermann in Leipzig or­ also wenige Jahre vor Petermanns
diniert, kurz darauf trat er seine Stelle Amtsantritt.

269
Petermann wurde 1747 zum Prediger bestand zwischen Petermann und
der böhmischen und deutschen Johann Christian Schlipalius, 1746
Gemeinde der Johanniskirche in Katechet und Mittagsprediger an der
Dresden berufen. Die Kirche („die Frauenkirche, 1754 Prediger an der
Böhmische“) befand sich in der Nähe Sophienkirche und 1756 Prediger an
des Pirnaischen Tores am Stadtrand der Kreuzkirche in Dresden.
des alten Dresdens und war seit 1650
nach einer Stiftung von Kurfürst Jo­ Zur damaligen Zeit war der Kirchhof
hann Georg I. Heimstatt der ab 1620 der Johanniskirche die bevorzugte
massenhaft aus Böhmen geflüchteten Begräbnisstätte des Dresdner Bürger­
Protestanten. Auch hier war Peter­ tums. Die Begräbnisse wurden jedoch
mann wegen seines Pietismus nicht zumeist nicht von den Pfarrern der
unumstritten. Schon seine Wahl wur­ Johanniskirche durchgeführt, de­
de von heftigen Auseinandersetzun­ nen die Kirchenleitung Calvinismus
gen überschattet. Den ursprünglichen unterstellte, sondern von der Stadt­
Kandidaten des Oberkonsistoriums, geistlichkeit. 1752 fand hier Johann
Interimspfarrer Wenceslaus Grego­ Christoph Knöffel, Architekt der
rius, lehnte die Gemeinde ab. Auf Brühlschen Terrasse und des Barock­
Drängen von August III. kam es zu schlosses Rammenau, die letzte Ruhe,
einer Kampfabstimmung, bei der sich 1753 der Orgelbauer Gottfried Silber­
Petermann klar gegen Georg Körner mann und 1762 der Zeitungspionier
durchsetzte. Das Oberkonsistorium Johann Christian Crell.
hatte skeptische Gemeindemitglieder
beschwichtigt, bei diesem Petermann Der Siebenjährige Krieg bis 1763
handele es sich nicht um jenen in stellte die böhmische Gemeinde in
Gebhardsdorf und Zibelle missliebig Dresden vor große Probleme. Das
aufgefallenen, bezüglich Gebhards­ Pfarrhaus war abgebrannt, Kirchenge­
dorf offenbar fälschlicherweise. Viele räte und Geldspenden aus Hamburg
Mitglieder verließen die Johannisge­ gingen verloren. Kollekten in Regens­
meinde, aber Petermann konnte auch burg und Lübeck, Beiträge des Ober­
viele einflussreiche Persönlichkeiten konsistoriums, aber auch Spenden der
als Besucher seiner Gottesdienste deutschen Gemeinde, bei der Peter­
und als Spender gewinnen, was das mann sehr angesehen war, machten
Überleben und den weiteren Ausbau den Wiederaufbau des Pfarrhauses
der Gemeinde sicherte. 1756 gründete 1770 möglich. Petermann blieb bis
die böhmische Gemeinde in Dresden­ zum Schluss mit den Francke‘schen
Neustadt die Neidesche Stiftsschule, Stiftungen in Halle eng verbunden
zusätzlich zu einer in der Pirnai­ und sammelte z. B. Spenden für die
schen Gasse betriebenen Schule. Missionen in Indien und Nordame­
Ein persönlich gutes Einvernehmen rika.

270
Bibel heraus. Schon 1775 publizierte
Petermann beim Intelligenz­Comp­
toir (ehemals Siegmund Ehrenfried
Richter) die theologische Streit­
schrift „Erlaubte Beleuchtung“ gegen
bibelkritische Abhandlungen des
Engländers Eduard Harwood, wobei
er auch auf Antithesen des Berliner
Oberkonsistorialrats Wilhelm Abra­
ham Teller zurückgriff.

Die aus Holz gebaute Johannis- Quellen: Christian Adolph Pescheck: „Die
kirche (Zeichnung Moritz Krantz, böhmischen Exulanten in Sachsen“. Hierzel,
Leipzig 1857; Franckesche Stiftungen zu Halle
Deutsche Fotothek, CC BY-SA 4.0) (Saale): Datenbank zu den Einzelhandschrif­
musste 1784 abgerissen werden. Die ten in den historischen Archivabteilungen;
Gottesdienste fanden danach in der Digitalisierte „Bergmann‘sche Exulanten­
nahen Waisenhauskirche statt. sammlung“, in Zusammenarbeit der Ludwig­
Maximilians­Universität München und des
Hauptstaatsarchivs Dresden; Paul Flade:
1784 gründete sich unter Petermanns „Neue Sächsische Kirchengalerie, Ephorie
Leitung eine Dresdner Partikularge­ Dresden 1“. 1906; Christian Gottlieb Jöcher,
sellschaft aus mehreren „erweckten“ Johann Christoph Adelung, Heinrich Wilhelm
Pfarrern. Zuletzt war Petermann Rotermund: „Allgemeines Gelehrten­Lexicon“.
Gleditsch, 1816; Gottfried Lebrecht Richter:
Senior des geistlichen Ministeri­
„Allgemeines biographisches Lexikon alter
ums. 1789 begann unter Leitung von und neuer geistlicher Liederdichter“. 1804;
Ratsbaumeister Christian Heinrich Lausitzisches Magazin“. Bd. 25, Fickelscherer
Eigenwillig der Neubau der Johan­ 1792; Karl Gottlob Dietmann: „Die gesamte
niskirche. Ihre Weihe im Jahre 1795 der ungeänderten Augsp. Confeßion zuge­
thane Priesterschaft in dem Churfürstenthum
erlebte Petermann nicht mehr. Sachsen und denen einverleibten, auch einigen
angrenzenden Landen“. Bd. 1, 1752; Website
Petermann verfasste in seiner Dresd­ Johannes­Kantorei; www.apfelloge.de; www.
ner Zeit eine Reihe theologischer genbo.de; Ursula Bach: „Auszug und Ankunft.
Der Weg der Evangelischreformierten Beth­
und sprachwissenschaftlicher Bücher.
lehemsgemeinde durch drei Jahrhunderte“;
Unter seinen Werken ragen das böh­ Thomas Keller: „Das tolerante Brandenburg/
mische Gesangbuch von 1748 („Ho­ Preußen? Toleranzpolitik am Beispiel der
spodina Srdcem y Rty Chwáleni“), böhmischen Exulanten in Brandenburg/Preu­
eine böhmische Grammatik sowie ßen“. GRIN Verlag, 2007; Frank Metasch: „Die
Einwanderung und Integration von Exulanten
ein Buch mit böhmischen Postillen in Dresden während des 17. und 18. Jahrhun­
von 1783 („Krestanske Wjry Základ“) derts“. Dissertation TU Dresden, 2006; www.
hervor. Er gab zudem eine böhmische uhyst.de; Lausitzisches Magazin, 15.12.1782

271
Titelblatt von Richters Zeitung (später „Dresdner Anzeiger“) aus dem Jahre
1752. Diese Gestaltung blieb gültig bis 1760. Der Druck erfolgte in Löbau.

272
Richter, Siegmund Ehrenfried
Buchdrucker in Görlitz, Verleger in Dresden
16.03.1711 Bautzen – 01.06.1762 Dresden

V: Gottfried Gottlob (*21.2.1682 Bautzen, †18.10.1738 Bautzen, Buchdrucker); G: Karl Gottfried


(*13.1.1716 Bautzen, †16.11.1745 Bautzen, Buchdrucker); E: (1) 22.2.1736 Johanna Christiana
geb. Herguth (†15.3.1736, Pfarrerstochter aus Henneberg), (2) 26.2.1737 Görlitz, Friederica
Christiana († Ende 12/1796, Tochter des Buchdruckers Nicolaus Schill in Lauban, verschwägert
mit dem Historiker Karl Gottlob Dietmann, 2. Ehe mit Hofrat Johann Gottfried Haymann,
Assessor an der Kommerzien­Deputation Dresden)

Richter stammte aus einer Bautzener David Hollaz und Christoph Hay­
Buchdruckerfamilie. Sein Großvater mann mit Schriften zur Religions­
Andreas Richter (1639–1719) hatte geschichte sowie Gymnasialdirektor
1676 die Familientradition mit der Friedrich Christian Baumeister.
Übernahme der Buchdruckerei von 1745 ergänzte er sein Geschäft um
Christoph Baumann begründet. einen Buchhandel, indem er sich
1707 übergab er das Geschäft seinem mit Johann Friedrich Fickelscherer
Sohn Gottfried Gottlob Richter. Dem verband. Die Görlitzer Firma Richter
folgte 1738 dessen jüngerer Sohn Karl & Co. ging nach Richters Tod in den
Gottfried Richter. Richters Buch­ alleinigen Besitz Fickelscherers über,
druckerei ist insbesondere für eine der das Geschäft bis 1794 fortführte
Vielzahl von Drucken in sorbischer und u. a. das „Lausitzische Magazin“
Sprache bekannt geworden. Siegmund und die „Lausizische Monatsschrift“
Ehrenfried Richter, der ältere Sohn der Oberlausitzischen Gesellschaft
von Gottfried Gottlob Richter, lernte der Wissenschaften herausbrachte.
bis 1729 beim Vater und ging dann
nach Altdorf, Würzburg und Augs­ 1746 nahm Richter in Dresden eine
burg. 1734 nahm er eine Stelle in der Stelle als Hoffaktor an. Hoffaktoren
Druckerei von Christoph Zipper & wurden an Fürstenhäusern mit der
Söhnen in Görlitz an, 1736 übernahm Regelung finanzieller Angelegenhei­
er die Druckerei. Auf sein Erbrecht ten betraut. Dazu zählte inbesondere
an der Familiendruckerei in Bautzen die Beschaffung von Geldmitteln für
verzichtete er. Richter hat 66 Schrif­ Luxusgüter – während der Regent­
ten produziert, die für ihren klaren schaft von August III. mit seinem
Druck sowie für schöne Initial­ und Minister Heinrich von Brühl eine
Finalstöcke und Zierleisten gerühmt besonders anspruchsvolle Tätigkeit.
wurden. Zu seinen Autoren zählten Am 25. Januar 1749 stellte Richter in
der Historiker Christian Knauth, die Dresden ein Gesuch an August III.
Theologen Karl Gottlob Dietmann, um Erteilung des Privilegs für das

273
Adreß­Comptoir, einer Vermittlungs­ sprüngliche Verbote. Damit machte er
anstalt zu Produkten, Dienstleistun­ seinerseits Crell und dessen „Dresd­
gen und Informationen, und dem ner Merkwürdigkeiten“ Konkurrenz.
damit verbundenen Anzeigenblatt. Er druckte auch Preislisten und
Weder die Erben des wirtschaftlich kirchliche Nachrichten neben Fami­
erfolglosen Vorbesitzers Gottlob lien­, Stellen­ und Gerichtsanzeigen
Christian Hilscher noch dessen und Wohnungsangeboten. Die „Ge­
ehemaliger Konkurrent Johann lehrten Anzeigen“ richteten sich an
Christian Crell wollten die 1730 Wissenschaftler, die ihr Wissen und
gegründete, erste Zeitung Dresdens ihre Gedanken auf unterhaltsame Art
fortführen. Andererseits wuchs mit einem breiten Leserkreis nahebringen
der zunehmenden Bevölkerung und wollten. Neben Theologie, Jura, Me­
wirtschaftlichen Aktivität der Bedarf dizin, Wirtschaft, Naturwissenschaf­
daran. Die landesherrliche Zustim­ ten, Landwirtschaft und Geschichte
mung beinhaltete die Übertragung fand sich auch Raum für Poesie und
der Hilscher‘schen Konzession, ohne Literatur. Richter selbst beteiligte sich
den Abdruck von Kirchennachrichten mit einigen Gedichten. In der Hoch­
zu gestatten. Die strikte Trennung von zeit der Kleinstaaterei bildeten Artikel
Anzeigenblättern, politischen Zei­ über das Münzwesen einen gewissen
tungen und speziellen Nachrichten­ Schwerpunkt. Ein solcher Beitrag
zetteln wie jenen der Kirchner wurde erregte 1752 das Missfallen des Hofes,
eifersüchtig verteidigt. Bei Richter der sich bei der Zensur, also dem
erschien das Anzeigenblatt ab dem 1. Stadtrat, beschwerte. Der Autor hatte
Juli 1749 wöchentlich. Es sollte bis zur Sachsen zwar gegen Kritiken in einer
Gründerzeit vorrangig ein Inseraten­ Berliner Zeitung wegen der Qualität
und Amtsblatt bleiben, bis es ab 1869 sächsischer Münzen verteidigt, somit
die Redakteure Eduard Ferdinand aber publik gemacht, dass es eine
Springer, Hermann Thenius und solche Kritik gab. Richter redete sich
Leonhard Lier zu einer führenden damit heraus, dass er das Manuskript
Zeitung heutigen Zuschnitts machten. anonym erhalten habe. Den Autor
Bereits Richter hatte aber das Konzept konnte oder wollte er nicht nennen.
der Zeitung erweitert. Als Neuerung Die Recherche in der Druckerei in
gab es die „Gelehrten Anzeigen“ als Löbau nach dem Originalmanuskript
Beilage. Zudem tauchten unter „Ver­ blieb erfolglos. Richter weitete auch
mischtes“ aktuelle Nachrichten auf. den Vertrieb aus, allerdings musste
Richters Credo bestand darin, „Vielen er die meisten Ausgabestellen, wie in
zu nutzen, einen jeden zu vergnü­ Berlin, Breslau, Hamburg und Wien,
gen und niemanden zu beleidigen“. wieder schließen. Neben Leipzig
Er publizierte lokale und regionale verblieben nur Görlitz und Löbau.
Nachrichten und ignorierte dabei ur­ Letztere waren naheliegend, weil die

274
Produktion der Zeitung in der Löbau­ Christoph Arnold verwickelt waren.
er Zweigstelle von Richters eigenem Verschiedene Anwartschaften wurden
Druckhaus in Görlitz erfolgte. Mit für den Fall des Ablebens oder des
seinem erweiterten Zeitungskonzept Wegzugs der Witwe Richter zugesagt.
hatte Richter das Anzeigenblatt zum Gültig blieb jene für Breitkopf, der
Mittelpunkt des geistigen Lebens in den Anzeiger inzwischen druckte und
Dresden gemacht. Mit Beginn des der die Anwartschaft 1790 zusammen
Siebenjährigen Krieges 1756 stand mit Buchhandlungen in Dresden,
er vor einer neuen Herausforderung. Görlitz und Bautzen (Drachstedt)
Wechselnde Besatzungsmächte be­ an Carl Christian Richter weiterver­
dienten sich der Zeitung für ihre Ver­ äußerte. Mit dem Tod von Richters
lautbarungen, Friedenssehnsucht und Witwe trat die Option in Kraft, wobei
Kriegsberichterstattung musste Raum dies Carl Christian Richter nicht
gegeben werden. Richter rief in seinen mehr erlebte. Johann August Tode,
Gedichten göttliche Hilfe gegen die ein Verwandter der Witwe Siegmund
Schrecken des Krieges an. Durch den Ehrenfried Richters, wurde mit der
Beschuss mit Kanonen während der Administration beauftragt. Aber erst
Belagerung Dresdens durch preußi­ mit dem Verkauf im Jahre 1837 durch
sche Truppen im Jahre 1760 wurde Carl Christian Richters Enkelin,
auch das Domizil von Richters Zei­ der Freiin von Schlichten, an Justus
tung in der Landhausstraße zerstört, Friedrich Güntz für 17.000 Taler kam
die daraufhin auf das Areal der spä­ die inzwischen „Dresdner Anzeiger“
teren Kunstakademie zog. Nachdem genannte Zeitung in ruhigere Bah­
sich die Lage etwas beruhigt hatte, nen. Nach Güntz‘ Stiftung im Jahre
dokumentierte man den Ablauf der 1856 ging der Anzeiger in städtischen
Kampfhandlungen und deren Folgen Besitz über und die Erträge wurden
ausführlich. Den Hubertusburger fast 100 Jahre lang für die Wohlfahrt
Friedensschluss von 1763 hat Richter und die Verschönerung Dresdens
nicht mehr erlebt. Wenige Tage nach eingesetzt. Richters großer Verdienst
seinem Tod wandte sich die Witwe bestand darin, die Zeitung zu einem
an den Hof mit dem Appell, ihr das wirtschaftlich gesunden Unterneh­
Anzeigerprivileg zu übertragen, auch men geführt zu haben.
im Hinblick auf die wirtschaftlichen
Quellen: J. Braun: „Richter, Andreas“. Allgemeine
Folgen des anhaltenden Krieges. Deutsche Biographie, Bd. 28, 1889, S. 446–447;
Dem Gesuch wurde am 23. Juni 1762 Herbert Zeißig: „Eine deutsche Zeitung. Zwei­
hundert Jahre Dresdner Anzeiger“. Verlag der Dr.
stattgegeben. Damit begann eine Zeit Güntzschen Stiftung, 1930; Gottlieb Friedrich Otto:
heftiger Auseinandersetzungen, in die „Lexikon der seit dem 15. Jahrhundert verstorbenen
auch renommierte Druck­ und Ver­ und jetztlebenden Oberlausizischen Schriftsteller
und Künstler“. Görlitz, 1800 ff.; Christian Friedrich
lagshäuser wie die von Johann Gott­ Gessner u. a.: „Der so nöthig als nützliche Buchdru­
lob Immanuel Breitkopf und Johann ckerkunst und Schriftgiesserey“. 1741

275
Ernst Rietschel, im Bild porträtiert von seinem Studienfreund Julius Thae-
ter, war ein Bildhauer von internationalem Rang. Zusammen mit Ernst
Hähnel gilt er heute als Begründer der bedeutenden Dresdner Bildhauer-
schule. Rietschel hat maßgeblich den Übergang vom Klassizismus zum
Realismus geprägt und wurde für sein Schaffen vielfach ausgezeichnet. So
war er Mitglied einer Vielzahl von nationalen und internationalen Kunst-
akademien.

276
Rietschel, Ernst Friedrich August
Professor, Bildhauer
15.12.1804 Pulsnitz – 21.02.1861 Dresden

V: Friedrich Ehregott (*8.2.1768, †21.12.1828), Beutler und Handschuhmacher, Küster an der


St. Nicolai­Kirche Pulsnitz; M: Caroline Salome geb. Röllig (*6.9.1770 Gersdorf, †11.10.1834);
G: 5, darunter Karoline Friederike (*10.10.1795), Juliane Friederike (*9.2.1800); E: 1) 12.10.1832
Lauchhammer, Albertine geb. Trautscholdt (*1811, †11.7.1835, Tochter eines Oberhüttenmeis­
ters und Buchhalters von Detlev Graf von Einsiedel), 2) 2.11.1836 Dresden, Charlotte geb. Carus
(*1810, †12.5.1838, Tochter von Carl Gustav Carus), 3) 2.5.1841 Jena, Marie geb. Hand (*1819,
†18.7.1847), 4) 30.4.1851 Dresden, Friederike geb. Oppermann (1841–1906, Schwester von An­
dreas Oppermann, Advokat in Zittau, Kunstschriftsteller); K: 2 Töchter aus erster Ehe (Adelheid,
*20.9.1833; Johanna, *,†1835), 1 Sohn aus zweiter Ehe (Wolfgang, *28.8.1837, †1874, Arzt in
Dresden), 2 Söhne und 1 Tochter aus dritter Ehe (Georg, *10.5.1842 Dresden, †13.6.1914 Leip­
zig, 1868 Pastor in Rüdigsdorf bei Borna, 1874 in Zittau, 1878 Superintendent und 1884 erster
Direktor des Predigerseminars in Wittenberg, 1887 Pfarrer an der Matthäikirche Leipzig, 1889
ordentlicher Professor der praktischen Theologie in Leipzig, 1890 Universitätsprediger und Di­
rektor des Predigerkollegiums zu St. Pauli; Margarethe Charlotte, *8.10.1845, †1846; Hermann,
*19.4.1847 Dresden, †18.2.1914 Berlin, Nestor der Heizungs­ und Klimatechnik, Rektor der TH
Berlin), 1 Tochter aus vierter Ehe (Gertrud, *4.7.1853, †1937, verh. mit Ernst Rudorff, Professor
an der Musikhochschule Berlin, 1904 Mitbegründer des Deutschen Bundes Heimatschutz)

Rietschel wuchs in ärmlichen Ver­ als Modelleur für seine Eisengießerei


hältnissen auf. Er erhielt von einem in Lauchhammer. Rietschel nahm
Pulsnitzer Lehrer unentgeltlich dafür Unterricht bei Hofbildhauer
Zeichenunterricht und konnte mit Franz Pettrich. Er beteiligte sich er­
kleineren künstlerischen Arbeiten folgreich mit Zeichnungen und ersten
zum Familieneinkommen beitragen, plastischen Arbeiten an Dresdner
eine kaufmännische Lehre brach akademischen Kunstausstellungen.
er früh ab. Johann Gottlob Seyffert Gleichfalls vertreten war hier später
vermittelte ihm 1820 eine Freistelle sein Namensvetter und Schüler Ernst
an der Kunstakademie in Dresden. Wilhelm Rietschel (*11.2.1824 Geiß­
In den offiziellen Matrikellisten mannsdorf, †2.12.1860 München),
taucht sein Name allerdings nicht mit dem er seitdem mehrfach ver­
auf. Rietschel wurde in Dresden wechselt wurde.
von den Malern Johann Friedrich
Matthäi, Ferdinand Hartmann und 1826 ging Rietschel statt nach Lauch­
Crescentius Jakob Seydelmann sowie hammer mit Empfehlungsschreiben
dem Kunsthistoriker Karl August von Einsiedel, der ihn auch finanzi­
Böttiger unterrichtet. Der sächsi­ ell unterstützte, und Böttiger nach
sche Kabinettsminister Detlev Graf Berlin zu dem berühmten Bildhauer
von Einsiedel verpflichtete ihn 1823 Christian Daniel Rauch. Als erste

277
selbstständige Arbeit schuf er die seiner oft weinerlich ängstlichen
Neptun­Statue für den Marktbrunnen Ausdrucksweise konnte von mir
in Nordhausen. 1828 gewann Riet­ eigentlich nur schwer als Bildhau­
schel den Wettbewerb für ein Reise­ er begriffen werden; doch da nicht
Stipendium nach Italien, konnte unähnliche Eigenschaften mich schon
den Preis als Nichtpreuße aber nicht bei Schnorr nicht abgehalten hatten,
erhalten. Er wurde ihm stattdessen diesen als gewaltigen Maler aufzufas­
1830 von der sächsischen Regierung sen, so gelang mir die Befreundung
ausgezahlt. Zuvor besuchte er zusam­ mit Rietschel um so mehr, als ich an
men mit Rauch München, wo er am diesem keinerlei Affektation wahr­
Monument von König Maximilian I. nahm und eine seelenvolle, zärtliche
Joseph mitwirkte. Wärme mich immer geneigter zu ihm
hinzog. Von ihm entsinne ich mich
1831 kehrte Rietschel aus Italien nach auch zuerst sehr warme, ja begeis­
Deutschland zurück. Er begann in ternde Anerkennung meines Wesens,
Rauchs Atelier mit Arbeiten an der namentlich auch als Dirigent gehört
kolossalen Statue von König Friedrich zu haben. Trotz aller Kollegialität
August dem Gerechten für Dresden. unseres reichen Künstlerkreises kam
Das Denkmal ging auf die Initiative es sonst nämlich niemals zu dem, was
eines Vereins um Prinz Johann, Karl ich hier meine, und es war im Grunde
August Böttiger, Gottlob Fried­ genommen eigentlich immer, als ob
rich Thormeyer und Johann Gott­ keiner etwas von dem andern hielte.“
lob von Quandt zurück, die eigentlich
Rauch gewinnen wollten, der jedoch Ab 1832/33 lehrte Rietschel als außer­
Rietschel empfahl. Als Kabinetts­ ordentlicher Professor der Kunstaka­
minister Detlev Graf von Einsiedel demie Bossier­ und Modellierkunst
nach den Unruhen des Jahres 1830 an der Technischen Bildungsanstalt
sein Amt verlor, schien der Auftrag unter Wilhelm Gotthelf Lohrmann.
zunächst gefährdet. Rietschels erstes Diese hatte ihren Sitz zunächst in
großes Werk konnte schließlich 1843 einem Pavillon auf der Brühlschen
im Zwingerhof eingeweiht werden.
Für die musikalische Umrahmung Das Denkmal für König Friedrich
der Festveranstaltung waren Richard August den Gerechten auf dem
Wagner und Felix Mendelssohn Schloßplatz in Dresden ist das
Bartholdy verantwortlich. Seit 2008 heute am häufigsten gesehene Werk
steht das Denkmal auf dem Dresdner Rietschels (Foto rechts). Es steht ne-
Schloßplatz zwischen Hofkirche und ben der Freitreppe zur Brühlschen
Brühlscher Terrasse. Richard Wagner Terrasse von Gottlob Friedrich
erinnerte sich später an Rietschel: Thormeyer. Der Sockel des Denk-
„der krankhafte bleiche Mann mit mals stammt von Gottfried Semper.

278
279
Ab 1834 lehrte Rietschel als Professor
für Bildhauerkunst an der Kunstaka­
demie unter Heinrich Carl Graf Vitz­
thum von Eckstädt, seinem früheren
Lehrer Ferdinand Hartmann (künstle­
rische Leitung) und Theodor Winkler
(Hell) für die Expedition, blieb aber
zunächst zusätzlich an der Tech­
nischen Bildungsanstalt tätig. Der
Kunstakademie gehörten seinerzeit
Karl August Böttiger und Franz
Pettrich als Mitglieder an. Schon kurz
nach Rietschels Amtsantritt geriet
die Kunstakademie in eine Krise. Der
Landtag stellte sogar ihre Existenz
in Frage. Hartmann verteidigte sie
schließlich erfolgreich mit dem Hin­
weis auf die Kunst als Staatsaufgabe.
Zudem unterbreitete er Vorschläge,
Der Gartenpavillon auf der Brühl-
wie die Arbeit effektiver zu gestalten
schen Terrasse wurde von Johann
sei. Ab 1836 wurden der Atelierunter­
Christoph Knöffel 1747 erbaut (im
richt eingeführt, die Generaldirektion
selben Jahr von Canaletto gemalt).
aufgelöst und ein Akademischer Rat,
1828 erfolgte hier die Gründung der
dem auch Rietschel angehörte, als
Technischen Bildungsanstalt, der
Leitungsgremium berufen. In dieser
heutigen Technischen Universität.
Funktion zeichnete Rietschel mitver­
Nach dem Wegzug der Bildungsan-
antwortlich für die Weiterentwicklung
stalt gehörte der Gartenpavillon zur
der Kunstakademie. So wurden aus
Kunstakademie, die seit 1791 in der
Düsseldorf die Maler Julius Hübner
umgebauten Brühlschen Bibliothek
und Eduard Bendemann geholt, die er
(im Bildhintergrund) angesiedelt
schon aus seiner Berliner Zeit kannte,
war. Rietschel, der selbst an der
und Julius Schnorr von Carolsfeld,
Kunstakademie studiert hatte, besaß
mit dem er seit seinem Aufenthalt in
im Gartenpavillon sein Atelier.
München freundschaftlich verbunden
Terrasse gegenüber der Brühlschen war. Bekannteste Schüler in Rietschels
Bibliothek, wo die Kunstakademie Atelier für Bildhauerei waren Johan­
untergebracht war, zog jedoch noch nes Schilling (1842), Gustav Adolf
1833 in die Rüstkammer am Jüden­ Kietz (nach 1844), Adolf Donndorf
hof. (1853) und Robert Henze (1858).

280
Prägend für Rietschels Karriere Rietschel war ein Meister der
war das ambivalente Verhältnis zu baubezogenen Plastik. In Bautzen
dem Architekten Gottfried Semper, erinnert daran der Rietschelgiebel
seit 1834 Professorenkollege an der am Puppentheater des Deutsch-
Kunstakademie. Mit ihm arbeitete sorbischen Volkstheaters auf der Or-
Rietschel nach dem Denkmal für tenburg. Es handelt sich dabei um
Friedrich August den Gerechten auch die Figuren des Orestgiebels („Alle-
beim Hoftheater (1838–1841) und gorie der Tragödie“, Orestie-Trilogie
der Gemäldegalerie (1847–1855, nach von Aischylos) des 1869 abgebrann-
Sempers Flucht aus Dresden fertigge­ ten Semper‘schen Hoftheaters in
stellt) zusammen. Bei beiden Vorha­ Dresden. Das Werk befand sich ab
ben schuf Rietschel den Bildschmuck 1905 am Bautzener Stadttheater am
gemeinsam mit Ernst Hähnel. Semper Lauengraben, fand aber nach dessen
sah in den zwei Bildhauern die ideale Abriss 1969 keine Verwendung. Die
Ergänzung, um seine Anschauung Figuren kamen nach Quatitz und
vom Zusammenwirken der Künste Nadelwitz. Seit der Eröffnung des
zu realisieren. Beim Hoftheater hatte Burgtheaters im Jahre 2003 ist das
er Hähnel ausdrücklich empfohlen. Werk, durch Glas geschützt, am
Rietschel schmückte am Hoftheater heutigen Standort zu sehen. Neben
zwei Giebel mit einer „Allegorie der der Ausschmückung von Hoftheater
Tragödie“ bzw. der Musik auf dem und Gemäldegalerie von Gottfried
Rücken eines Adlers emporgetra­ Semper in Dresden schuf Rietschel
gen, und schuf die beiden sitzenden Reliefs und Statuen für das Haupt-
Figuren Schillers und Goethes (heute gebäude der Universität Leipzig
am Eingang der Semperoper). An der (Augusteum), das Giebelfeld an der
Ausschmückung der Gemäldegalerie Berliner Oper, die Quadriga für das
war auch der Rietschel­Schüler Jo­ Braunschweiger Schloss und Plasti-
hannes Schilling beteiligt. Hier hatte ken für das Logenhaus der Dresdner
Rietschel jedoch zunächst die Calber­ Freimaurer.
lasche Zuckersiederei von Gottlob

281
Friedrich Thormeyer Sempers
Neubau­Entwurf vorgezogen. Der
Fassadenschmuck der Gemäldegalerie
erinnerte an bedeutende Vertreter
der Künste. Von Rietschel stammte
der Entwurf der Nordseite, für die
er u. a. die Statuen des Perikles und
Phidias, von Holbein, Dürer, Giotto
und Goethe sowie zahlreiche Reliefs
schuf. In den 1840er Jahren wechsel­
te Gustav Adolph Kietz von Semper
zur Bildhauerei bei Rietschel. Sem­
per und Rietschel gehörten zu den
Gründungsmitgliedern des Dresdner
Gewerbe­Vereins und bemühten sich
dort um die Gründung einer Gewer­
beschule für junge Handwerker.

Rietschel pflegte in Dresden gute


Kontakte zum Hof, vor allem zum
späteren König Johann, hatte aber
auch vielfältige Beziehungen zu
bedeutenden Künstlern und Literaten Rietschels Denkmal für Carl Ma-
seiner Zeit. In den 1830er und 1840er ria von Weber (1860) steht vor der
Jahren gehörte er neben Carl Gustav Dresdner Gemäldegalerie und ist
Carus, Theodor Winkler, Johann der Semperoper zugewandt. Der
Gottlob von Quandt, Karl Gutz­ Unterbau stammt von Sempers
kow, Gottfried Semper und Richard Nachfolger an der Kunstakade-
Wagner zu den aktiven Mitgliedern mie, Hermann Nicolai. Rietschels
in verschiedenen Vereinen, die er Bildwerke haben zum kulturellen
teilweise sogar mit initiiert hatte. Früh Antlitz Deutschlands als Land der
fand Rietschel Anschluss an die von Dichter und Denker beigetragen. In
Quandt und Friedrich Anton Serre Leipzig schuf er 1850 ein Denkmal
organisierten Gesprächskreise. In der für Albrecht Daniel Thaer. 1853
Dresdner Neustadt und auf dem Gut stellte Rietschel die Statue für Gott-
Maxen kam er bei Serre u. a. auch mit hold Ephraim Lessing in Braun-
Gottlob Friedrich Thormeyer schweig und 1857 die kolossale
zusammen. Rietschels Umfeld war Doppelstatue mit Johann Wolfgang
teilweise noch dem konservativen von Goethe und Friedrich Schiller
Spektrum zuzurechnen, zunehmend (rechts) in Weimar fertig.

282
widerspiegelte sich aber auch hier die Eduard Bendemann, die ebenfalls
Aufbruchstimmung des Vormärz, so mehreren dieser Vereine angehörten,
im Kreis um Julius Mosen. Im Säch­ wohnte er in einem Haus. Die Söh­
sischen Kunstverein mit seinen etwa ne der drei Künstler lernten an der
2000 Mitgliedern besaß Rietschel, der Schule von Karl Justus Blochmann,
dem Direktorium angehörte, wesent­ einem Bruder von Heinrich August
lichen Einfluss auf die Förderung der Blochmann, die für ihre naturwis­
bildenden Kunst und der Künstler senschaftliche Ausbildung bekannt
in Sachsen. Der Verein organisierte war. In seinem Haus erlebte Rietschel
Ausstellungen und kaufte Kunst auf. hautnah den erbitterten Streit zwi­
Rietschel gehörte den ebenfalls eher schen Hübner und Julius Schnorr von
unpolitischen Albina und Sächsischer Carolsfeld als Vertreter der Düssel­
Altertumsverein an, war aber auch dorfer bzw. Münchner Malschule in
Mitglied im Literarischen Museum Dresden – ihm kam wiederholt eine
und der Montagsgesellschaft. Erst als Vermittlerrolle zu.
es hier im Zusammenhang mit der
Revolution von 1848/49 für ihn zu Im Unterschied zu Semper sah Riet­
politisch zuging, blieb er fern. Mit schel die revolutionäre Entwicklung
den befreundeten Julius Hübner und in Deutschland eher skeptisch. Er
gehörte wie Bendemann und Hübner
dem Deutschen Verein an, der sich
am 11. April 1848 gegründet hatte. Sie
strebten grundsätzlich ein „einiges,
freies und starkes Deutschland“ an,
standen aber weiterhin zu einer kon­
stitutionellen Monarchie in Sachsen,
die sie auf eine breite demokratische
Grundlage stellen wollten. Eine wirk­
liche Revolution lehnte man ab. Dem
radikaleren Vaterlandsverein trat
Rietschel nicht bei. Als es am 3. Mai
1849 die ersten Toten gab, verteidigte
er zusammen mit seinem Schüler
Kietz in der Akademischen Legion
der Bürgerwehr das Rathaus der Stadt
gegen „Militär und Proletariat“.

Ein erstes wegen seiner Perfektion


gerühmtes Werk Rietschels war die
1850 bis 1854 im Auftrag von König

283
Friedrich Wilhelm IV. geschaffene Pi­ strebenden Schiller die Hand auf die
età für die Friedenskirche in Potsdam. Schulter. Drei Jahre später wurde in
Vom Protestantismus geprägt, stellte Dresden das Denkmal für Carl Maria
der Künstler nicht mehr nur eine Ver­ von Weber enthüllt. Wegen der Flucht
herrlichung der Gottesmutter Maria von Richard Wagner als einem der
mit dem in ihrem Schoße ruhen­ wichtigsten Fürsprecher hatte es hier
den Leichnam Christi dar, sondern Verzögerungen gegeben.
betonte die Verehrung des heiligen
Leichnams selbst, indem er ihn auf Als letztes Hauptwerk entwarf Riet­
den Boden legte und Maria neben schel in Worms ein monumentales
ihm niederknien ließ. Danach schuf Reformationsdenkmal. Es erinnert
Rietschel mit der Statue für Gotthold an das Erscheinen Luthers vor dem
Ephraim Lessing in Braunschweig Reichstag in Worms im Jahre 1521,
ein für seine realistische Darstellung um vor Kaiser Karl V. seine Thesen zu
gerühmtes Werk. Dieser Realismus verteidigen. Um die Gestalt Luthers
prägte auch das 1857 eingeweihte Mo­ gruppierte Rietschel Laien­ und Pries­
numentalwerk für Johann Wolfgang tervertreter sowie Stätten der Refor­
von Goethe und Friedrich Schiller mation. Mit diesem Ensemble wollte
in Weimar. Rietschel setzte sich bei er „eine feste Burg“ des Glaubens
diesem Auftrag gegen seinen früheren symbolisieren. Rietschel selbst schuf
Lehrer Rauch durch, dessen Entwurf, neben dem Entwurf der Gesamtan­
die beiden Dichter in einem anti­ lage auch die Lutherfigur und die
ken Kostüm darzustellen, abgelehnt Statue des John Wiclef, eines Wegbe­
wurde. Das Doppel­Monument sollte reiters der Reformation aus dem 14.
ebenso realistisch werden wie die Jahrhundert. Die anderen Bildwerke
Lessing­Statue in Braunschweig und wurden nach Rietschels Tod von sei­
so fiel die Wahl auf Rietschel. Der nen Schülern Adolf Donndorf (Savo­
war sich ob seines Entwurfs selbst narola, Friedrich der Weise, Reuchlin,
nicht sicher und schickte Gustav Petrus Waldaus, Magdeburg), Gustav
Adolph Kietz mit den Modellen nach Adolph Kietz (Hus, Philipp der Groß­
München in die Erzgießerei, weil er mütige, Melanchthon, Augsburg) und
die Kritik des bayerischen Königs Johannes Schilling (Speyer) entwor­
fürchtete. Am 3. September 1857, fen. Beteiligt war zudem der Architekt
dem 100. Geburtstag von Großherzog Hermann Nicolai, Sempers Nachfol­
Karl August, wurde sein Goethe­ ger als Professor für Baukunst an der
Schiller­Denkmal enthüllt. Rietschel Kunstakademie Dresden. Rietschel
stellte die beiden Dichter gleichrangig selbst ist in Worms mit einem Porträt
nebeneinander, ein in sich ruhender an der rechten Ecke des Reichstagsre­
Goethe legt dabei als Zeichen seiner liefs dargestellt.
Freundschaft dem jüngeren, voran­

284
Vor allem mit seinen monumentalen
Hauptwerken hat Rietschel Identi­
fikationsfiguren des Strebens nach
deutscher Einheit verewigt. Dane­
ben schuf er eine große Anzahl von
kleineren Plastiken, so von Karl
August Böttiger (s. Seite 65) und
dem berühmten Mineralogen Abra­
ham Gottlob Werner. Die Abgüsse
seiner Werke wurden zunächst im
Rietschel­Museum, um das sich nach
seinem Tod Hermann Hettner, Julius
Schnorr von Carolsfeld, Carl Gustav
Carus und Ernst Hähnel maßgeblich
bemüht hatten, im Palais im Großen
Garten gezeigt. Das repräsentative
Palais beherbergte seit 1841 im Unter­
geschoss den Sächsischen Altertums­
verein, dem auch Rietschel angehörte.
Der Verein präsentierte hier sakrale
Bildwerke. 1869 wurde das Rietschel­
Museum im Obergeschoss unterge­
bracht, wo es bis 1889 verblieb. Seit
Das Luther-Denkmal vor der 1861 hatte ein Komitee zur Gründung
Dresdner Frauenkirche stammt vom eines solchen Museums eine nahezu
Rietschel-Schüler Adolf Donndorf.
Es lehnt sich am Vorbild des großen
Reformationsdenkmals seines Leh-
rers in Worms an. Der Kopf Luthers
beim Dresdner Denkmal geht auf
einen Entwurf von Rietschel selbst
zurück. Das Wormser Luther-Denk-
mal wurde häufig, teilweise nach
abweichenden Entwürfen Rietschels,
nachgegossen. Zu den bekanntesten Martin Luther steht im Zentrum des
Luther-Denkmalen nach Rietschel Wormser Reformationsdenkmals
gehören neben jenem an der Frau- mit einer Bibel im Arm (siehe auch
enkirche Monumente in Washing- Abb. links). Die Lutherfigur hat
ton und in Görlitz. Für die Walhalla Ernst Rietschel geschaffen, der Kopf
schuf Rietschel eine Büste Luthers. stammt von Adolf Donndorf.

285
vollständige Sammlung von Modellen Gipsabgüssen. 1990 wurde der Ernst­
zu Rietschels Bildwerken zusam­ Rietschel­Kulturring gegründet, der
mengetragen. Aus Worms kamen als alle zwei Jahre einen von Rietschels
Geschenk die Modelle zum dortigen Nachfahren gestifteten Kunstpreis
Reformationsdenkmal. König Johann für Bildhauerei vergibt, und im Jahre
stellte die Räumlichkeiten im Palais 2000 öffnete in Rietschels Geburts­
zur Verfügung. Das Museum stand haus eine Galerie.
unter der Leitung von Hermann Hett­
ner. Heute befinden sich Rietschels
Werke in der Dresdner Skulpturen­
sammlung.

Seine letzte Ruhe fand Rietschel in


Dresden auf dem Trinitatisfriedhof.
Das Medaillon schuf sein Schüler
Adolf Donndorf. Die nach dem Zwei­
ten Weltkrieg rekonstruierte Grabstät­
te befindet sich in unmittelbarer Nähe
zum Grab von Carl Gustav Carus, für
das Rietschel Reliefs angefertigt hatte.

Besonders in Rietschels Heimatstadt


Pulsnitz wird sein Andenken in
Ehren gehalten. An seinem Geburts­
haus erinnert eine Gedächtnistafel
an ihn. Zudem werden hier einige
Gipsabgüsse und Dokumente aufbe­
wahrt. Der Stein am Grab der Eltern
auf dem Pulsnitzer Friedhof stammt
von Rietschel. Seit 1890 steht auf
dem Marktplatz ein Denkmal, von
seinem Schüler Gustav Adolph Kietz Das Rietschel-Denkmal in Pulsnitz
geschaffen, eine Straße sowie Grund­ stammt von Gustav Adolph Kietz.
und Mittelschule tragen Rietschels Es steht auf einem Sockel aus Granit
Namen. Seit 1933 gibt es in der St. und wurde aus Mitteln des Landes-
Nicolai­Kirche eine „Ernst­Rietschel­ Kunstfonds und der Stadt Pulsnitz
Kapelle“, nur wenige Schritte vom errichtet. In einer Sitzecke vor dem
Geburtshaus entfernt, mit Zeichnun­ Ratssaal des Rathauses (im Hin-
gen, Briefen, einer Kopie der Potsda­ tergrund) ist Rietschel auf einem
mer Pietà und weiteren Skulpturen in Bleiglasfenster abgebildet.

286
Das Denkmal für Ernst Rietschel
auf der Brühlschen Terrasse wur-
de von dessen Schüler Johannes
Schilling 1876 an der Stelle seines
ehemaligen Ateliers errichtet. Hier
befand sich zunächst die Technische
Bildungsanstalt, später übernahm
die Kunstakademie den Pavillon.
Rietschels Schüler haben mit ihren
Bildwerken den „Balkon Europas“
maßgeblich geprägt. Von Schilling
stammen an der Freitreppe vom
Schloßplatz die Plastiken „Abend“
und „Nacht“ (unten) und „Morgen“
und „Mittag“ (oben), das Denkmal
für Gottfried Semper in der Nähe
des Albertinums und die vergolde-
te „Saxonia“ auf einem Turm des
Oberlandesgerichts. Schilling und
Robert Henze schufen kunstvolle
Figuren bzw. Reliefs für die Kunst-
akademie. Von Henze stammt auch
die Figur der Fama auf deren Spitze.

Quellen: Richard Muther: „Rietschel, Ernst“. ADB, Bd. 28, 1889, S. 596–602; Bärbel Stephan:
„Rietschel, Ernst Friedrich August“. NDB, Bd. 21, 2003, S. 613–614; Andreas Oppermann: „Ernst
Rietschel“. Brockhaus, 1863; www.ernst­rietschel.com; Meyers Konversations­Lexikon, Bd. 16,
Leipzig 1908, S. 930; Paul Schumann: „Dresden“. Berühmte Kunststätten, Bd. 46, E. A. Seemann,
Leipzig 1909; Dirk Hempel: „Literarische Vereine in Dresden. Kulturelle Praxis und politische
Orientierung des Bürgertums im 19. Jahrhundert“. Walter de Gruyter, 2008; Christiane Thei­
selmann: „Das Denkmal Friedrich August I. von Sachsen von Ernst Rietschel“. Zeitschrift für
Kunstgeschichte, Bd. 53, H. 1, 1990, S. 1–24; Max Georg Mütterlein: „Gottfried Semper und des­
sen Monumentalbauten am Dresdner Theaterplatz“. Dissertation, TH Dresden, 1913; Friedrich
von Boetticher: „Malerwerke des 19. Jahrhunderts“. Dresden, 1898; „Allgemeine Betrachtungen
über die Pilze und chemische Beiträge zur näheren Kenntniss derselben von Dr. Julius Lehmann“.
Blochmann und Sohn, 1855; Adressbücher der Stadt Dresden, 1833, 1834, 1837.1861; Kunstchro­
nik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe, 22.10.1869, E.A. Seemann Leipzig, S. 1–2 ; Max
Maria von Weber: „Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild“. Ernst Keil Leipzig, 1866; Carl Fried­
rich Glasenapp: „Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern“. Band 2, Breitkopf & Härtel Leipzig,
1905; Wilhelm Kaulen: „Freud‘ und Leid im Leben deutscher Künstler: ihren mündlichen Mit­
teilungen nacherzählt“. Winter Frankfurt, 1878; www.worms.de; Ekkehard Mai: „Die deutschen
Kunstakademien im 19. Jahrhundert: Künstlerausbildung zwischen Tradition und Avantgarde“.
Böhlau Verlag Köln Weimar, 2010; Kunstakademie Dresden – Studentenordnung 1778–2012

287
Quelle Bildzitat:
Lebenslauf des Ma­
lers Osmar Schindler,
Maschinuskript ohne
Datum, vermutlich
verfasst von Pfarrer
Semm (1924–1935 in
Bischofswerda),
digitalisiert, leicht
bearbeitet und mit
Anmerkungen versehen
von Pfarrer Dr. Tobias
Mickel Bischofswerda,
im April 2005, http://
www.christusbote.de

Schindlers letztes Werk


war für die Sakristei der
Christuskirche in Bi­
schofswerda bestimmt.
Das Bild ist infolge
des frühen Todes des
Künstlers unvollendet
geblieben. Er stellte da­
rin auch seine Mutter,
sich selbst (links) sowie
Frau und Sohn dar.

Schindler war während des Studiums auch von dem bekannten Bildnisma-
ler Leon Pohle geprägt worden. Sein „Bildnis eines Bildhauers“ wurde 1888
bei einer Ausstellung von Studienarbeiten an der Dresdner Kunstakademie
mit einer Großen Silbernen Medaille ausgezeichnet. Nach dem Studium
verdiente sich Schindler seinen Lebensunterhalt als Porträtmaler. Bedeu-
tende Persönlichkeiten wie Christian Otto Mohr (Professor am Polytech-
nikum und der TH Dresden), Hermann Prell (Professor an der Kunstaka-
demie) und Wilhelm von Rueger (Vorsitzender des Gesamtministeriums)
ließen sich später von ihm porträtieren. Ein frühes Damenbildnis (1891,
ehemals Heimatmuseum Bischofswerda) gehört wie neun weitere Bilder
Schindlers zum Bestand der Gemäldegalerie Neue Meister Dresden.

288
Schindler, Osmar Heinrich Volkmar
Professor, Maler in Dresden
21.12.1867* Burkhardtsdorf – 19.06.1927 Dresden­Wachwitz
(* lt. Grabstein auf dem Friedhof Dresden­Loschwitz abweichend: 22.12.)

V: Carl Friedrich Julius (†20.6.1878 Bischofswerda, Kaufmann); M: Emilie Auguste geb. Arnold
aus Bischofswerda (1827–27.11.1903); G: 2 Brüder (Ottomar, Oskar); E: 1906 Emma Minna geb.
Arnold (26.5.1866–9.11.1939); K: Ernst Arnold (*1906, †1906), Heinrich Erhard (*5.4.1908,
vermisst April 1945)

Schindler wurde im erzgebirgischen schule und war Kurrendaner. Sein


Burkhardtsdorf geboren. Die Fa­ Studium an der Kunstakademie Dres­
milie besaß in dieser Gegend einst­ den ab 1882 wäre nach dem frühen
mals mehrere Spinnereien. Sein Tod des Vaters ohne die finanzielle
eigentliches Zuhause fand er aber in Unterstützung durch seinen Onkel
Bischofswerda. Von hier stammte Carl Ernst Theodor Schindler, dessen
seine Mutter und nach einer kurzen eigener Sohn in Italien verstorben
Zwischenstation bei Mittweida zog war, undenkbar gewesen. Nachdem er
die Familie 1876 hierher. Schindler zunächst bei Oskar Rassau Bildhauer
besuchte in Bischofswerda die Volks­ werden wollte, wandte sich Schind­
ler bald der Malerei zu. Er lernte an
der Kunstakademie bei Ferdinand
Pauwels, Leon Pohle, Friedrich Preller
d.J., also Vertretern der Weimarer
Malschule, und Karl Gottlob Schön­
herr, der vor allem für seine religiösen
Motive bekannt war. Schönherr malte
1889 in Bischofswerda das Altarbild.

Ab 1890 hielt sich Schindler mehr­


fach längere Zeit im Ausland auf. In
Dresden wurde er vom einflussrei­
chen Monumentalmaler Hermann
Prell inspiriert und gefördert. 1895
traf Schindler bei Florenz sein großes
Vorbild Arnold Böcklin, ebenfalls ein
ehemaliger Weimarer, mit dem er die
Vorliebe für naturnahes Malen teilte.
Wohnhaus in der Osmar-Schindler- Im selben Jahr erhielt er einen weg­
Straße Bischofswerda. weisenden Auftrag für zwei allegori­

289
len, sondern auch Ausstellungskunst
zu zeigen, durch die Art der Ausstel-
lung, durch architektonische und
dekorative Anregungen künstlerisch
zu wirken und anzuregen.“ (Paul
Schumann: „Dresden“. Berühmte
Kunststätten Bd. 46, 1909) Auf sei-
nem Ausstellungsplakat, das heute
zum Bestand des Kupferstichkabi-
netts Dresden gehört, stellte Schind-
ler einen „siegkündenden olympi-
schen Wettstreiter“, umrahmt von
einem Goldmosaik, dar. Mit der
Wahl des Motivs erinnerte er an die
in der Öffentlichkeit begeistert auf-
genommenen ersten Olympischen
Spiele der Neuzeit 1896 in Athen,
ein Gleichnis für die Aufbruch-
stimmung in Dresdens Kunstleben.
„Die erste internationale Kunstaus- Gleichzeitig steht Schindlers Werk
stellung zu Dresden im Jahre 1897 für den Aufstieg der Plakatgestal-
muß als epochemachend für Dres- tung zu einer eigenständigen Kunst-
den bezeichnet werden. Hier wurde richtung, als „Kunst für die Straße“.
zum ersten Male der Grundsatz Die „Plakatwelle“ ging Anfang des
betont und in die Tat umgesetzt, 19. Jahrhunderts von den damali-
daß es sich nicht um einen gro- gen Zentren der Industrialisierung
ßen Kunstmarkt, sondern um eine und Kunst, London und Paris, aus.
Eliteausstellung handeln dürfe, und Schindlers Plakat gehörte zu den
daß es auch nicht bloß gelte, diese ersten bedeutenden Arbeiten dieser
ausgewählten Kunstwerke auszustel- Kunstrichtung in Dresden.

sche Wandgemälde („Architektur“, 1897 gewann Schindler den Wettbe­


„Chemie“) für die Königlich­Techni­ werb für das Plakat zur I. Internatio­
sche Staatslehranstalt Chemnitz. 1897 nalen Kunstausstellung in Dresden,
wurden sie in Dresden im Canaletto­ nachdem der ursprüngliche erste
Saal an der Brühlschen Terrasse mit Preisträger disqualifiziert worden war.
großem Erfolg gezeigt. Sie gelten seit Diese Ausstellung markierte einen
dem Umbau der Chemnitzer Aula in Wendepunkt in der bildenden Kunst
einen Hörsaal in den 1950er Jahren Dresdens. Nach Jahren der Stagna­
als verschollen. tion kamen von 1895 bis 1901 mit

290
Gotthardt Kuehl, Carl Bantzer, Otto zudem das Talent von Hanns Georgi
Gussmann und Eugen Bracht Vertre­ und ließ ihn während dessen Ausbil­
ter moderner Stilrichtungen an die dung am Fletcher‘schen Lehrersemi­
Kunstakademie. Sie lösten schrittwei­ nar in seinem Atelier arbeiten. Mit
se Schindlers Lehrer, als Vertreter des dem aufkommenden Expressionismus
Kolorismus traditionell geprägt, im und später der Neuen Sachlichkeit
Leitungsgremium der Akademie, dem sowie dem Aufstieg solcher Maler wie
akademischen Rat, ab. Insbesondere Otto Dix schwand jedoch Schind­
Kuehl, ein ehemaliges Gründungsmit­ lers Reputation. Als Künstler ist er,
glied der Münchner Sezession, nahm selbst ein tiefgläubiger Christ, durch
großen Einfluss auf die Gestaltung Monumental­ und Altarbilder in
der I. Internationalen Kunstausstel­ Kirchen hervorgetreten. Sie werden
lung in Dresden, in der sich nach dem für ihre Harmonie in Farbe und
Vorbild der Münchner Sezessionisten Form gerühmt. Das Wandaltarbild in
Einflüsse von Impressionismus und Klotzsche (1905–1907) zeigt, in Kas­
Jugendstil widerspiegelten. Auch einfarben direkt auf Putz gemalt, die
Schindler schuf in jener Zeit Gemäl­ Kreuzigung Christi. Viele von Schind­
de, die diesen Stilrichtungen, teilweise lers Gemälden sind volkstümlich
in gemischten Formen, zuzuordnen gestaltet. Das Altarbild in der Luther­
sind. Aus der verbliebenen bzw. kirche Chemnitz (1908) zeigt Jesus
wieder gewachsenen Distanz zum Im­ inmitten einfacher Menschen – den
pressionismus entwickelte er später, Kirchenbesuchern im gutbürgerlichen
wie der Bautzener Hans Unger, einen Lutherviertel oblag es, das Bild zu
eigenen neorealistischen, farbintensi­ deuten. Die „Emmausjünger“ (1915)
ven Malstil. Vor allem der Dresdner in der Kirche Freital­Potschappel
Anzeiger, unter dem Kunstredakteur tragen die Kleidung von Stahlarbei­
Paul Schumann ein Fürsprecher der tern. Auch in Otterwisch, Jahnsbach
Avantgarde, gehörte zu den Kritikern. und Bischofswerda finden sich noch
heute Schindlers Kirchengemälde, das
Im Jahre 1900 erhielt Schindler eine Altarbild der Dresdner Annenkirche
Anstellung an der Kunstakademie, wurde 1945 zerstört. Ein christliches
drei Jahre später erfolgte die Beru­ Motiv zeigt zudem das monumentale
fung zum Professor. Bis 1924 bildete Wandbild im heutigen Evangelischen
er Generationen von Kunststudenten Gymnasium Annaberg.
aus. Schindler lehrte in der Mittel­
klasse (Gipssaal) und der Oberklasse Schindler ließ sich von seinen Reisen
(Aktsaal, Malsaal). Zu seinen namhaf­ („Am Gardasee“), von der Sagen­
testen Schülern zählten George Grosz, welt („Siegfried“) und der deutschen
Karl Hanusch, Bernhard Kretzschmar Geschichte („Schiller, aus Don Carlos
und Paul Wilhelm. Er entdeckte vortragend“) inspirieren, nahm aber

291
„Im Kumtlampenschein“ (oben), „David und Goliath“ (unten).

alltäglichen Leben. „Im Kumtlampen­


schein“ widerspiegelt sich ein Stück
Romantik nach (fast) vollbrachtem
Tagewerk – und die tiefe Verbunden­
heit zwischen Mensch und Pferd, als
sie noch die Mühsal des Alltags teil­
ten. Schindler, der selbst lange in der
Johannstadt wohnte, malte dafür den
Kutscher Hermann mit seinem alten
Schimmel vom Fuhrgeschäft Jank
in der Pfotenhauerstraße. Das Bild
befindet sich im Besitz der Gemälde­
galerie Neue Meister, eine Lithografie
mit demselben Motiv im Kupferstich­
kabinett. Viele Kopisten trugen dazu
bei, Schindlers Hauptwerk weltweit
bekannt zu machen. Reproduktionen
finden sich noch heute in unzähligen
auch zu Ereignissen der Zeitgeschich­ Wohnzimmern. Das Pastell „David
te Stellung mit „Weltbrand 1914“. und Goliath“ gehörte, nachdem es
Das berühmteste Werk, schon 1901 bei Aufräumungsarbeiten im Schloss
geschaffen, zeigt ein Motiv aus dem Königsbrück nach 1945 gefunden

292
worden war, ebenfalls zum Bestand hier lebte noch lange seine Mutter.
der Gemäldegalerie Neue Meister, Die Mutter malte er, wie sie vom
wurde aber 1998 an die Alteigentü­ Fenster des Wohnhauses, die Bibel
mer zurückgegeben. Trotz seiner gro­ lesend, den Blick über Bischofswerdas
ßen Arbeitsbelastung an der Akade­ Dächer streifen ließ. Die nach ihm
mie und durch Auftragsarbeiten war benannte Straße erinnert noch heute
Schindler mehrfach auf bedeutenden an Osmar Schindler.
Kunstausstellungen vertreten, z. B.
mit „Im Kumtlampenschein“ 1901 in Quellen: Falk Drechsel, Zwönitztal­Kurier,
24.2.2007; Gernot Werner: „Er schuf Gemälde, auf
Dresden (Kleine Goldene Medaille), denen Ross und Reiter bekannt sind: vor 75 Jahren
„David und Goliath“ auf der Weltaus­ verstarb Osmar Schindler“. Dresdner Neueste
Nachrichten, 12 (2002), 10.6., S. 7; Ortsverein
stellung St. Louis 1904 und „Verspot­
Pillnitz e.V.: „Künstler am Dresdner Elbhang“. Teil
tung Christi“ mit großem Erfolg in 1, Elbhang­Kurier­Verlag, 1999, S. 145; Heike Bie­
Berlin 1909. Letzteres Bild, im Besitz dermann u. a.: „Osmar Schindler in der Dresdner
Galerie“. Sandstein Verlag Dresden, 2011; Friedrich
der Kirche Fischerhude, wird heute von Boetticher: „Malerwerke des 19. Jahrhun­
wegen vermeintlich antijudaistischer derts“. Bd. 2, 1898, S. 562; Adressbücher der Stadt
Tendenzen kontrovers diskutiert. Dresden, 1892, 1904, 1913; Johannes Weber: „Aus
der Geschichte meiner Heimat“. Unveröffentlichte
Chronik von Bischofswerda, 1977, S. 100; Websites
Auch wenn Schindler Bischofswerda der Kirchen Bischofswerda, Klotzsche, Potschappel
schon in jungen Jahren verlassen hat­ und Chemnitz; Paul Schumann: „Dresden“. Be­
rühmte Kunststätten Bd. 46, Verlag E.A. Seemann
te, blieb er der Stadt doch verbunden. Leipzig, 1909; Kataloge der Kunstausstellungen St.
Hier war sein Vater begraben und Louis, Dresden und Berlin

Sakristeigemälde „Blindenheilung“ in Bischofswerda. Im Bild zu sehen sind


auch Schindlers Frau und Sohn (Mutter mit Kleinkind).

293
Johann Gottlob Schneider war einer der bekanntesten Orgelvirtuosen seiner
Zeit. Die Dresdner nannten ihn „Orgel-König“.

294
Schneider, Johann Gottlob
Hoforganist in Dresden
28.10.1789 Altgersdorf – 13.04.1864 Dresden

V: Johann Gottlob (*1.8.1753 Waltersdorf, †3.5.1840 Altgersdorf), Sohn des armen Häuslers
und Zwillichwebers Johann Christoph Schneider, der durch sein Musiktalent weit über seinen
Heimatort Waltersdorf hinaus bekannt war, musste in seiner Jugend am Webstuhl arbeiten,
lernte trotzdem Klavier und Violine, 1774 Organist, 1779 zusätzlich Unterschulmeister in
Waltersdorf, 1787 Hauptlehrer und Organist in Alt­ und Neugersdorf, 1832 Civilverdienstor­
den; M: Anna Rosina geb. Hänisch (*5.1.1762 Jonsdorf, †9.1.1832 Altgersdorf), Bleichnerin;
G: 1 vor seiner Geburt verstorbener Halbbruder, 1 Halbschwester (18.3.1774–1808, verh. 1792
mit Karl Gottlieb Krause aus Neusalza) aus der 1. Ehe des Vaters, Johann Christian Friedrich
(*3.1.1786 Waltersdorf, †23.11.1853 Dessau, 1798 Gymnasium Zittau, sang im Kirchenchor und
wirkte als Chorpräfekt, 1805 humanistische Studien an der Universität Leipzig, in der Musik bei
Johann Gottfried Schicht, unterrichtete ab 1806 Orgel und Gesang an der Ratsfreischule, 1807
Organist der Paulinerkirche, 1807 Freimauer­Loge „Balduin zur Linde“, 1810 Musikdirektor
der Operngesellschaft von Joseph Seconda, 1813 Organist an der Thomaskirche, 1816 Leitung
der Singakademie, 1817 Musikdirektor am Stadttheater Leipzig, 1820 „Elementar­Handbuch
der Harmonie und Tonsetzkunst“ bei Peters, 1822 Hofkapellmeister in Anhalt­Dessau, leitete
zahlreiche überregionale Musikfeste, 1829 Gründung der Musikschule Dessau, komponierte 16
Oratorien, darunter „Das Weltgericht“ in 3 Teilen für Soli, Chor und Orchester (1820), sowie 6
Opern und 23 Sinfonien, Mitglied, Ehrendoktor bzw. Ehrenmitglied der Universitäten Halle und
Leipzig, der Konservatorien Paris und Stockholm sowie der Oberlausitzischen Gesellschaft der
Wissenschaften), Johann Gottlieb (*19.7.1797 Altgersdorf, †4.8.1856 Hirschberg, besuchte das
Gymnasium Zittau, Studium in Leipzig, 1815 Musiklehrer in Bautzen, 1817 Organist in Sorau,
1825 Organist an der Kreuzkirche in Hirschberg), 4 früh verstorbene Geschwister; E: 12.11.1812
Julie Friederike Auguste geb. Weidisch (5.8.1789–21.6.1856), Tochter eines Zittauer Stadtrichters

Schneider war der Sohn eines Lehrers als Posaunenbläser auf. Seinen Vater
und Organisten in Alt­ und Neugers­ musste er gelegentlich an der Orgel
dorf. Den ersten Musikunterricht vertreten. 1801 kam Schneider auf
erhielt er im Alter von fünf Jahren wie das Gymnasium in Zittau, wo er wie
zuvor sein älterer Bruder Friedrich zuvor sein Bruder Friedrich musika­
und später der jüngere Bruder Johann lisch sehr gefördert wurde. Er sang als
Gottlieb vom Vater. Neben dem Or­ Sopran im Chor der Johanniskirche
gelspiel lernte Schneider auch Klavier, unter Johann Gottlieb Schönfeld, trat
übte viele Orchesterinstrumente mit Soli in Konzerten in Görlitz und
(Violine, Viola, Oboe, Klarinette, Löbau auf und wirkte als Präfekt des
Fagott, Horn, Trompete und Posaune) Chores. Orgelunterricht erhielt er
und war insbesondere ein talentierter von Johann Gottlieb Unger. 1810 gab
Cellist. Im Alter von zehn Jahren trat Schneider in Zittau ein Klavierkon­
er in Rumburk bei einem Konzert zert.
(„Die Schöpfung“ von Joseph Haydn)

295
Das Geburtshaus von Johann Schneider, heute Neugersdorf, Rudolf-Breit-
scheid-Straße 4, wurde von der Familie 1788 bezogen. Das Umgebindehaus
steht unter Denkmalschutz. Foto: Matej Batha (Wikimedia Commons,
Lizenz CC BY-SA 3.0)
Nach einem kurzen Studium der 1812 kehrte Schneider als Organist
Rechte an der Universität Leipzig an der Görlitzer Hauptkirche St. Peter
im Jahre 1810 bei Christian Gottlieb und Paul mit ihrer Sonnenorgel in
Haubold widmete sich Schneider die Oberlausitzer Heimat zurück.
ganz der Musik und interpretierte als Er studierte die Orgelbaukunde, um
Organist an der Paulinerkirche vor­ Orgeln selbst prüfen und reparieren
zugsweise Johann Sebastian Bach. Die zu können, lehrte Orgel, Klavier und
Stelle hatte er 1811 in der Nachfolge Gesang und gründete einen Gesang­
seines Bruders Friedrich erhalten. verein. Georg Ottomar Baumeister
Im selben Jahr wurde er zudem als gehörte zu seinen Schülern. Ab 1816
Gesanglehrer an der Ratsfreischule gab Schneider Orgelkonzerte, die ihn
unter Karl Gottlieb Plato angestellt. weit über die Grenzen der Oberlausitz
Wichtige musikalische Anregungen hinaus führten, beispielsweise nach
verdankte er Thomaskantor Johann Altenburg, Dessau, Freiberg, Gotha,
Gottfried Schicht. Gefördert wurde er Leipzig, Liegnitz und Weimar. Man
aber auch vom Universitätsprofessor rühmte sein Improvisationsvermögen
Ernst Platner. und die Interpretationen von Johann

296
Sebastian Bach. In Görlitz organi­
sierte er Musikfeste, so 1820 mit dem
„Weltgericht“ seines Bruders Fried­
rich. Mit dem Musikdirektor seiner
Kirche, Johann August Blüher, veran­
staltete er Konzerte, in denen Schnei­
der dirigierte, sang oder Klavier
spielte. Bei einem Gastspiel in Dres­
den begeisterte er Heinrich Vitzthum
von Eckstädt, seinerzeit Direktor von
Hofkapelle, Hoftheater und Kunstaka­
demie, und Theodor Winkler (Hell)
derart, dass man ihm die Stelle des
Hoforganisten an der katholischen
Hofkirche in der Nachfolge von An­
ton Dreyssig (aus Leutersdorf, einem
Nachbarort von Neugersdorf) anbot,
die er aber nicht annahm.
Die Görlitzer Sonnenorgel von Eu-
Bei einem Auftritt in der Dresdner genio Casparini mit einem Prospekt
Sophienkirche überzeugte Schneider von Johann Conrad Buchau wurde
Oberhofprediger Christoph Friedrich 1703 fertiggestellt und seit 1827
Ammon und anlässlich der Orgelprü­ mehrfach umgebaut. Ihren Namen
fung der Silbermann’schen Orgel in verdankt sie den 16 Sonnen, um die
der katholischen Hofkirche im Jahre herum die Orgelpfeifen wie Sonnen-
1825 Carl Maria von Weber, die ihn strahlen angeordnet sind. Foto: Za-
als Hoforganisten an die evangelische iron (Wikimedia Commons, Lizenz
Sophienkirche empfahlen. Auch an CC BY-SA 3.0)
anderen Orten wurde er wiederholt
zu Rate gezogen, um Orgelprüfungen Gütigen sowie bei privat organisierten
vorzunehmen. So spielte er 1825 auf Aufführungen wie von Carl Gustav
der von ihm geprüften neuen Orgel Carus.
in Bischofswerda. Am 12. Dezember
1825 trat Schneider die Nachfolge des Schneider war seit dem 2. November
evangelischen Hoforganisten Fried­ 1815 Freimaurer in der Görlitzer Loge
rich George Kirsten in Dresden an. „Zur gekrönten Schlange“ und ab
Er konzertierte in der Sophienkirche dem 9. Februar 1827 in Dresden in
und der Kreuzkirche, wirkte als Inst­ der Loge „Zum Goldenen Apfel“, in
ruktor der evangelischen Kapellkna­ der er auch als Musikdirektor wirkte.
ben und spielte vor König Anton dem Logenbrüder waren seinerzeit u. a.

297
1830 übernahm Schneider die Direk­
tion der Dreyssig’schen Singakade­
mie, mit der er viele öffentliche Auf­
tritte hatte. Als Lehrer für Orgelspiel
war er so anerkannt, dass die Schüler
von weit her zu ihm kamen. Theodor
Berthold, Edmund Kretschmer und
Gustav Adolf Merkel gehörten zu sei­
nen bekanntesten Dresdner Schülern.
Felix Mendelssohn Bartholdy war
mehrfach bei Schneider in Dresden
und empfahl diesen den Schülern des
Leipziger Konservatoriums. Auch
Robert Schumann nahm Stunden.
Zudem bildete Schneider Schüler
des Friedrichstädter Lehrerseminars
zu Organisten aus. 1832 wurde die
Jehmlich­Orgel in der Kreuzkirche
durch Johann Schneider und Kreuz­
kantor Ernst Julius Otto eingeweiht.

Schneider veröffentlichte nur wenige


Kompositionen. 1849 erschien bei der
Die Prüfung der Silbermann-Orgel Arnoldischen Verlagsbuchhandlung
mit Vorspiel in der katholischen sein mit dem Waldenburger Seminar­
Hofkirche von Dresden im Jah- direktor Friedrich Wilhelm Schütze
re 1825 war von entscheidender herausgegebenes „Evangelisches
Bedeutung für Schneiders Karriere. Kirchenpräludienbuch“ als Lehr­ und
Später bewahrte er sie vor einer Lernbuch für den Orgelunterricht in
von Hofkapellmeister Carl Gottlieb Schullehrer­Seminarien.
Reißiger geforderten Umstimmung.
Johann Gottlob Schneider: „So wie 1853 ging Schneider auf Initiative
diese Orgel gebaut ist, wird keine von Sigismund Ritter von Neukomm
mehr gebaut“. mit dem Kölner Männergesangverein
nach London zu zwei sehr erfolgrei­
Karl August Böttiger, Eduard chen Konzerten in der Exeter­Hall.
Gottlob von Nostitz und Jänken­ Eine in England erhoffte Konzertrei­
dorf, Julius Gottlob von Nostitz se durch das Land kam aber nicht
und Jänkendorf und Gottlob zustande.
Friedrich Thormeyer.

298
Tonkünstlerverein, die Liedertafel von
Ernst Julius Otto und Orpheus. Die
Organisten Dresdens und ehemalige
Kapellknaben gründeten eine Johann
Schneider­Stiftung, die elternlosen
Lehrersöhnen Stipendien für eine
Orgelausbildung gewährte.

Johann Gottlob Schneider wurde


auf dem Dresdner Trinitatisfriedhof
neben seiner Frau beigesetzt.

Quellen: Hans Michael Schletterer: „Schnei­


der, Johann Gottlob“/„Schneider, Friedrich“.
In: Allgemeine Deutsche Biographie, heraus­
gegeben von der Historischen Kommission
bei der Bayerischen Akademie der Wissen­
Die Sophienkirche, die protestanti- schaften, Bd. 32 (1891), S. 129–131/110–119;
sche Hofkirche, war die Wirkungs- Gustav Schilling: „Encyclopädie der ge­
sammten musikalischen Wissenschaften:
stätte Schneiders in Dresden (vor oder Universal­Lexicon der Tonkunst“. F. H.
dem Umbau, ca. 1850). Die Orgel Köhler, 1838; Königlich Sächsischer Hof­,
stammte von Gottfried Silbermann. Civil­ und Militär­Staat, 1828; www.christus­
bote.de; Wm. A. Little: „Mendelssohn and
the Organ“. Oxford University Press, 2010; C.
König Johann verlieh Schneider am 4.
Lenning (pseud. von Friedrich Mossdorf),
März 1857 anlässlich des 50. Jahres­ Hermann Theodor Schletter, Moritz Alex­
tags der Gründung der Dreyssig‘schen ander Zille, Verein Deutscher Freimaurer:
Singakademie das Ehrenkreuz des „Allgemeines Handbuch der Freimaurerei“.
Verdienstordens. Nachdem er im Bd. Quaderstein­Zytomierz. Nachträge
und Berichtigungen, F.A. Brockhaus, 1867;
Jahr zuvor nach dem Tod seiner „Johann Schneider‘s Goldnes Amtsjubiläum“.
Frau schon hatte seine Tätigkeit im Urania: Musik­Zeitschrift für Orgelbau, Orgel­
Chor ruhen lassen, gab Schneider und Harmoniumspiel, Nr. 1, 1862, S. 12–15;
die Direktion 1857 endgültig auf. Zu Neues Universal­Lexikon der Tonkunst: Für
Künstler, Kunstfreunde und alle Gebildeten,
seinem 50­jährigen Organistenjubi­
Bd. 3, Schäfer, 1861; Neuer Nekrolog der
läum am 21. August 1861 erhielt er Deutschen, Bd. 18, Ausg. 1, B.F. Voigt, 1842;
das Ritterkreuz des Albrechtsordens Friedrich August Leßke: „Johann Schneider,
und von der Universität Leipzig der Meister im Orgelspiel“. Bunte Bilder aus
die Ehrendoktorwürde. Mehrere dem Sachsenlande, Bd. 3, 1900, S. 53–66; Ber­
liner musikalische Zeitung, 6.7.1833; Moritz
Dresdner Vereine verliehen ihm eine Fürstenau: „Johann Schneider“. Leipziger
Ehrenmitgliedschaft, so der Päda­ allgemeine musikalische Zeitung, 13.2.1867,
gogische Verein (schon vorher), der S. 56–57

299
Das alte Bautzener Gymnasium auf
der Schulbastei am Kornmarkt (bis
1868, Lithographie um 1840, oben,
mit Porträt).

Medaille von Hofgraveur Reinhard


Krüger (rechts).

300
Siebelis, Karl Gottfried
Magister, Pädagoge und Philologe in Bautzen
10.10.1769 Naumburg – 07.08.1843 Bautzen

V: Johann Gottlieb (†1772), Bäckermeister in Naumburg; M: †1772; G: 4 ältere; E: (1) 16.10.1803


Juliana Wilhelmina geb. Behr († Februar 1810, Tochter eines Konsistorialassessors in Gera),
(2) bis zu seinem Tod; K: 1 Sohn aus 1. Ehe, Carl Hermann (wechselte 1819 vom Gymnasium
Bautzen nach Gera, während des Armeedienstes diszipliniert), 1 Sohn aus 2. Ehe, Johannes
(*15.5.1817 Bautzen, †8.10.1867 Hildburghausen, Mitglied der Lausitzer Predigergesellschaft,
Philologe und Gymnasialprofessor in Hildburghausen), Töchter: Anna verh. Käuffer (†1833,
Lehrerin, verheiratet mit einem ehemaligen Bautzener Conrektor, Professor am Landesgymnasi­
um Grimma und Hofprediger in Dresden), Marie (verheiratet mit Pfarrer Krüger, Purschwitz)

Siebelis verlor früh seine Eltern und Pöschmann, später Professor für Ge­
wurde von den (Stief­)Großeltern schichte in Dorpat.
Kießling aufgezogen. Der Stiefgroßva­
ter stammte aus Löbau in der Ober­ Im Jahre 1788 begann Siebelis in
lausitz und besaß in Naumburg eine Leipzig ein Studium der Theologie,
Strumpffabrik, verstarb aber noch Philosophie und Philologie, wobei
während Siebelis‘ Schulzeit, sodass ihm sein Erbteil und Stipendien aus
dieser in Kost und Logis gegeben Naumburg und Zeitz zugute kamen.
werden musste. Am Rathsgymnasium Er freundete sich mit seinem Studi­
Naumburg wurde Siebelis von seinem engenossen Gottfried Hermann an.
Lateinlehrer Friedrich Wilhelm Zu seinen Lehrern zählten neben
Döring gefördert, vor allem aber von Christian Daniel Beck auch Samuel
Rektor Müller. Befreundet war er mit Friedrich Nathanel Morus, Wolfgang
seinem Mitschüler Georg Friedrich Reiz, Karl August Gottlieb Keil, Ernst

Aus dem
Abgangs-
zeugnis.

301
Platner und Johann Georg Rosen­ anstalten. Siebelis war sozial engagiert
müller. Nach dem erfolgreichen und stets bescheiden: Er förderte Kin­
Abschluss der Magisterarbeit riet der aus wenig bemittelten sorbischen
ihm August Wilhelm Ernesti, sich zu Familien, wie z. B. Handrij Lubjensky
habilitieren. Doch Siebelis ging das und Bjedrich Adolf Klin, und grün­
kleine ererbte Vermögen aus und er dete 1810 zwei Armenschulklassen.
musste seinen Lebensunterhalt als Die Schrecken des napoleonischen
Hauslehrer verdingen. Trotzdem fand Krieges 1813 erlebte Siebelis hautnah.
er Aufnahme in der „Societas Philo­ Mehrfach wurden französische und
logica Lipsiensis“ seines Professors russische Truppen im Gymnasium
Beck, der auch Gerhard Heinrich und in seiner Wohnung einquartiert.
Jacobjan Stöckhardt angehörte. 1814 führte Siebelis neue Lehrbücher
Siebelis‘ angegriffener Gesundheitszu­ nach der Grammatik von Philipp Karl
stand verhinderte danach Anstellun­ Buttmann ein.
gen als Lehrer in Halle bzw. Eisleben.
1798 wurde Siebelis auf Vermittlung Siebelis gehörte seit 1816 zu den Frei­
seines ehemaligen Naumburger maurern der Loge „Zur goldnen Mau­
Rektors Müller zum Conrektor an er“, die sich besonders sozialen Zielen
die Stiftsschule in Zeitz berufen. Für verpflichtet fühlte. Schon 1819 war er
den Schulgebrauch schuf er hier 1800 in den dritten Rang und zum zwei­
sein bekanntes Werk „Hellenica“. Zur ten Redner unter dem Meister vom
Berufswahl als Lehrer sagte Siebelis Stuhl Gerhard Heinrich Jacobjan
selbst im Rückblick auf sein Leben: Stöckhardt befördert worden, des­
„So wurde ich, was ich wünschte, sen Söhne Robert Stöckhardt und
praktischer Schulmann und noch Ernst Theodor Stöckhardt zu
jetzt im Greisenalter bereue ich es seinen bekanntesten Schülern zähl­
nicht, sondern danke Gott, dass er ten, wie auch der spätere Philologe
mich hat Schulmann werden lassen.“ Karl Friedrich Ameis, Karl Trau­
gott Kanig und Eduard Gottlob
Siebelis trat am 30. Januar 1804 am von Nostitz und Jänkendorf. Mit
Gymnasium in Bautzen das Rekto­ Stöckhardt, Gottlob Adolf Ernst
renamt in der Nachfolge von Lud­ von Nostitz und dem katholischen
wig Gedike an. Den Tipp sich zu Bischof Franz Lock gehörte Siebelis
bewerben hatte ihm der befreundete dem Gesellschaftsverein „Bautzner
Friedrich August Carus aus Bautzen Societät“ an.
gegeben, inzwischen Philosophie­
professor in Leipzig. Das Bautzener Im Jahre 1817, nach der Gründung
Gymnasium entwickelte sich unter des Landständischen Seminars, er­
Leitung von Gedike und Siebelis zu hielt das Gymnasium den Status einer
einer der führenden deutschen Lehr­ höheren Lehranstalt zum Zwecke der

302
Vorbildung für die Universität. Es insbesondere Kritiken nicht mehr,
herrschte jedoch akuter Lehrerman­ dass Siebelis‘ strikte Orientierung am
gel. 1826 wurden von 6 Lehrern in klassischen Humanismus vermeint­
4 Klassen 270 Schüler unterrichtet, lich zulasten der deutschen Sprache
wovon innerhalb eines Jahres 36 auf und praktischer Ausbildung ginge.
die Universität gingen. Ab 1827 konn­ Im Jahre 1835 gelang es Siebelis, das
te Siebelis – nachdem das Bautzener Gymnasium zeitgemäß umzuorgani­
Gymnasium neben kommunaler auch sieren: In diesem Rahmen wurde die
staatliche Unterstützung erhielt – Prima in drei Klassen aufgeteilt. Sie
schrittweise den Lehrkörper erwei­ bildeten zusammen mit der ehema­
tern. ligen zweiten Klasse das eigentliche
Gymnasium; die neuen Quinta und
Seit 1826 war Siebelis Mitglied der Sexta bildeten das Progymnasium.
Oberlausitzischen Gesellschaft der Katholische und protestantische
Wissenschaften. Außerdem berief Schüler lernten bei ihm in Eintracht
ihn die Lateinische Gesellschaft zu und Siebelis versuchte, seine Schüler
Jena zum Ehrenmitglied. Im Jahre für das Sammeln sorbischer Kostbar­
1829 gründete er anlässlich seines keiten (Volkslieder, Märchen, Sagen,
25­jährigen Amtsjubiläums die Sprichwörter) zu begeistern. 1832
Stiftung des „Stipendiums Siebeli­ hatte er den sorbischen Sprachunter­
sianum“, das bis weit nach seinem richt eingeführt und 1839 gestattete er
Tode einem Primaner für die beste die Gründung des Vereins „Societas
prosaische oder poetische Behand­ Slavica Budissinensis“ zur Pflege der
lung eines gegebenen Themas in sorbischen Sprache und Kultur.
lateinischer Sprache gewährt wurde.
Zum Amtsjubiläum erhielt Siebelis Regelmäßig zu Ostern publizierte
u. a. eine von Hofgraveur Reinhard Siebelis seine Schulschriften, in denen
Krüger geschaffene Medaille. Nicht er das Programm des Bautzener
immer wurde er aber so geehrt: Als Gymnasiums darlegte. Hierin gab er
es darum ging, einen Teil der Stiftung wissenschaftlichen Diskussionen den
von Gregorius Mättig für die Grün­ Vorrang vor Selbstdarstellung. Sein
dung einer Bürgerschule in Bautzen ehemaliger Schüler Robert Heller
zu verwenden, zog sich Siebelis vermerkte dazu: „Die Ehre seiner
breiten Unwillen zu. Er beschwerte Schule, der sittliche Wohlstand und
sich erfolgreich beim König, dass dies der wissenschaftliche Fortschritt
nicht den Statuten der Mättig­Stiftung seiner Zöglinge ging ihm über alles“.
entspräche, die nur die Förderung der Siebelis zeichnete eine breite Gelehr­
hiesigen evangelischen Schule, inzwi­ samkeit aus, und er war ein bedeu­
schen zum Gymnasium geworden, tender Kritiker und Erklärer des
vorsähe. Seit jener Zeit verstimmten Altertums. Insgesamt gehen auf ihn

303
54 Schriften zurück. Siebelis publi­ len berechnen läßt, und nach dem
zierte in den Schulschriften eigene Reichthum, der noch größeren Vor­
Arbeiten zu philologischen und his­ theil versprechende Unternehmungen
torischen Themen, aber auch Werke unterstützen soll, wird die Achtung
mit pädagogischem und theologi­ gegenüber des Menschen hohe Würde
schem Inhalt. 1811/12 ergänzte und ... in den Hintergrund gedrängt.“
vollendete Siebelis die vom Gothaer
Professor Carl Gotthold Lenz begon­ Siebelis emeritierte am 6. April 1841.
nene Bearbeitung von Bruchstücken Für seine Verdienste wurde er zum
verschiedener Geschichtsschreiber Ritter des Königlich Sächsischen Ci­
über Attika. 1813 erörterte er die vilverdienstordens ernannt. Er galt als
Vorbildwirkung von Johannes von einer der bedeutendsten Pädagogen
Müller, einem Schweizer Geschichts­ seiner Zeit, machte sich auch interna­
schreiber und Publizisten aus dem tional einen Namen. Siebelis war ein
Umfeld von Johann Gottfried Herder, Lehrer aus Passion und bekannte sich
auf Gymnasiasten. Große Beach­ zur Liebe zur jungen Generation. Sein
tung fand 1817 „Die Bibel, die beste ehemaliger, ihn verehrender Schüler
Grundlage der Erziehung unserer Ameis schilderte in einem Nachruf
Kinder“ anlässlich der 300­Jahr­Feier die segensreiche Wirkung auf das
der Reformation. Nachdem Carl Bautzener Gymnasium, aber auch
Ludwig Fernow, Johann Heinrich für die Weiterentwicklung deutscher
Meyer und Johannes Schulze bis 1820 Schulprogramme im Sinne des klassi­
schon 7 Bände zu den Werken des schen Humanismus, und seine Erzie­
bedeutenden Kunsthistorikers Johann hungsprinzipien fern von autoritärem
Joachim Winckelmann herausgege­ Diktat: Nichts war in den Augen von
ben hatten, wurde Siebelis gebeten, Siebelis schlimmer als „ängstliche
für den achten Band ein umfassendes und erniedrigende Aufseherei“. Er
Register anzufertigen, wozu er mit verteidigte stets die humanistische
Karl August Böttiger in Kontakt Bildung, denn sie entfremde die
stand. Mit der „kritisch­exegetischen“ Schüler keineswegs dem christlichen
Ausgabe des griechischen Schriftstel­ Glauben, sondern trage im Gegenteil
lers Pausanias in 5 Bänden von 1822 zu seiner Weckung bei.
bis 1828 schuf er sich selbst ein Denk­
Quellen: Carl Friedrich Ameis: „Der Gym­
mal. In „Stimmen aus den Zeiten der nasiallehrer in seinem edlen Berufe und als
alten griechischen und römischen Mensch, als Blätter der Erinnerung an Karl
Classiker“ (1832) schrieb Siebelis Gottfr. S.“. Hennings‘sche Buchhandlung Go­
die zeitlosen Worte: „Durch das jetzt tha, 1845; Richard Hoche: „Siebelis, Karl Gott­
fried“. In: Allgemeine Deutsche Biographie,
überall vorherrschende, wetteifernde Bd. 34 (1892), S. 168; Wilhelm Pökel: Philolo­
Streben nach unmittelbarem Nutzen gisches Schriftsteller­Lexikon. A. Krüger, 1882;
und Gewinn, der sich durch Zah­ Allgemeine deutsche Real­Encyklopädie. F.A.

304
Brockhaus Verlag Leipzig, 1847; Johann Georg Meusel: „Das Gelehrte Teutschland“. 1825; Sanct
Johannis Freimaurer­Loge zur goldnen Mauer, Mitgliederverzeichnisse 1816, 1819, 1832, 1834,
1842; E. F. Wüstemann, Jahrbücher für Philologie und Paedogogik. B. G. Teubner, 1829 und 1846;
Dr. Schubart: „Zur Geschichte des Gymnasiums in Budissin“. Gedr. bei E.M. Monse, 1863; Peter
Kunze: „Siebelis, Karl Gottfried“. In: Sächsische Biografie, Institut für Sächsische Geschichte und
Volkskunde, bearb. von Martina Schattkowsky; Otto, G. F.: Lexikon d. OL Schriftst. u. Künstler,
Görlitz 1800 ff; Hans Mirtschin: „Die Gesellschaft Societät zu Bautzen“. Vortrag vor dem Altstadt­
verein, Bautzen, 26.10.2010

Bibliografie (Auswahl)
„Diatribe de Aeschyli Persis“, Leipzig, 1794
„Hellenika seu antiquissimae Graecorum historiae res insigniores usque ad primam olympia­
dem“, Barth Leipzig, 1803 und 1815
„Symbolae criticae et exegeticae“, 1803
„Übersetzung des Anfanges der Schrift des Seneca über die Wohlthaten“, Bautzen, 1806
„Einige Worte über die beiden unteren Classen des Bautzener Gymnasiums“, Bautzen, 1807
„Ueber Amtstreue, vorzüglich in Beziehung auf den Schulmann“, Bautzen, 1807
„Trauergedicht an Karl Gottfried Siebelis in Bautzen bey dem Tode seiner Gattin“, Bruder
Leipzig, Februar 1810
„Wie müssen Jünglinge auf gelehrten Schulen studiren?“, Bautzen, 1811
„Philochori fragmenta“, Schwickert Leipzig, 1811
„Phanodemi, Demonis, Clitodemi atque Istri fragmenta“, Car. Gottl. Lenz et. S., 1812
„Johannes von Müller, ein Muster für studirende Jünglinge“, Bautzen, 1813
„Vier Schulschriften“, Dresden, 1817
„Wie Johannes v. Müller über die griechischen und römischen Classiker und ihr Studium
urtheilte“, Bautzen, 1817
„Die Bibel, die beste Grundlage der Erziehung unserer Kinder“, Zittau und Leipzig 1817,
Bautzen 1834
„Haben denn auch die Gelehrtenschulen unsers Vaterlandes Ursache, an der frohen Feyer des
Regierungs­Jubiläums des Königs Antheil zu nehmen?“, Monse Bautzen, 1818
„Register zu Winckelmann‘s Werken“, Heinrich Meyer und Joh. Schulze (Hrsg.), Walther‘sche
Hofbuchhandlung Dresden, 1820
„Einige Gedanken von Luther über die alten Sprachen und Classiker, und über die Schulen
und Städte, in welchen das Studium betrieben und befördert werden soll“, Bautzen, 1822
„Pausanias“, 5 Bände, Leipzig, 1822–1828
„De Strabonis patria, genere, aetate“, Bautzen, 1828
„Disputationi de Rhiano subjuncta est brevis horum solemnium et rerum scholasticarum
hujus anni narratio“, Bautzen, 1829
„Stimmen aus den Zeiten der alten griechischen und römischen Classiker“, Bautzen, 1832
„Kleines griechisches Wörterbuch in ethymologischer Ordnung“, Leipzig, 1833
„Disputationes quinque, quibus periculum factum est. Stimmen aus den Zeiten der alten
griechischen und römischen Classiker“, ergänzte Schrift, Leipzig, E. Kummer, 1837, 196 S.
„Additamenta ad disputationes quinque, quibus periculum factum est ostendendi, in
veterum Graecorum Romanon que doctrina religionis ac morum plurima esse, quae cum
Christiana consentiant amicissime etc.“, Leipzig, 1842
„Lebensbeschreibung“, Weller Bautzen, 1843

305
Bruno Steglich (Quelle: Christa Haensel, München).

306
Steglich, Carl Bruno Max
Professor, Agrarwissenschaftler in Dresden
09.02.1857 Kleindrebnitz – 28.01.1929 Dresden

V: Carl Christian (*14.8.1815 Kleindrebnitz, †23.12.1874 Großdrebnitz), Bauerngutsbesitzer;


M: Johanna Auguste geb. Gottlöber (*2.8.1821 Großdrebnitz, †15.1.1894 Bischofswerda); G:
Auguste Alwine verh. Biebrach (*4.8.1843 Kleindrebnitz, †20.12.1885, verheiratet mit dem Lehn­
dorfer Rittergutsbesitzer), Clara Mathilde verh. Rumpelt (*3.4.1845 Kleindrebnitz, †22.7.1915
Bischofswerda, verheiratet mit einem Radeberger Fabrikbesitzer), 1 früh gestorbener Bruder;
E: 24.4.1887 Leipzig, Margaretha Therese geb. Ledig (*8.2.1864 Leipzig, †11.8.1942 Trebsen); K:
Elsa (Else) Caroline (*6.4.1885 Rochlitz, †6.3.1973 Kochel, verheiratet mit dem Papierfabrikbe­
sitzer Johannes Max Wiede in Trebsen), Olga Loddy (Lotte) (*19.7.1887 Rochlitz, †22.5.1977
Pullach, Schwiegertochter von Heinrich Gustav Haensel, Fabrikant und Ehrenbürger in Pirna),
Carl Christian (*29.9.1894 Dresden, †6.9.1914 Harre/Belgien)

Bruno Steglich hatte seine Wurzeln


in einem der größten Bauerngüter
von Kleindrebnitz und im Erbgericht
Großdrebnitz. Seine Vorfahren sind
als Bauern in Klein­ und Großdreb­
nitz über acht Generationen nach­
weisbar und hatten mehrfach das Amt
eines Gerichtsschöppen inne. Georg

Steglichs Geburtshaus (oben) und


sein Vater Carl Christian (links).
Steglich (* um 1540) wurde erstmals
1576 erwähnt als Bauerngutsbesit­
zer mit 3 Ruten und 30 Schock. Carl
Christian Steglich, Bruno Steglichs
Vater, war Bauer und Salzfuhrmann,
während des Maiaufstands 1849
Hauptmann der Kommunalgarde
in Kleindrebnitz und kaufte 1861
das Erbgericht Großdrebnitz seiner
Schwiegereltern. In Großdrebnitz
übernahm er auch die Funktion des
Gemeindevorstands. Um sich weiter­
zubilden, gehörte er dem forstwirt­
schaftlichen Verein Stolpen an.

307
Nach dem Tod des Vaters leitete die Mutter das Erbgericht Großdrebnitz
mit einem Verwalter, bis es 1887 an die Familie Hilmes verkauft wurde.
Bruno Steglich besuchte in Großdreb­ die jener seinerzeit leitete. Es ent­
nitz die Schule und erhielt Privat­ wickelte sich bei Steglich ein starkes
unterricht. Von 1867 bis 1871 ging Interesse am agrikulturchemischen
er in Bautzen auf die Bürgerschule und pflanzenphysiologischen Ver­
und das Realgymnasium, von 1871 suchswesen. Während eines Volonta­
bis 1876 besuchte er in Dresden die riats auf dem Rittergut Deutschbase­
„Dreikönigschule“, eine Realschule I. litz (1876–1877, Verwalter: Bernhard
Ordnung. Das Rüstzeug für die späte­ Müller, Eigentümer: Friedrich Theo­
re Laufbahn in der Agrarwissenschaft dor von Zezschwitz) erlernte Steglich
erwarb sich Steglich bereits in seiner die Teichwirtschaft. 1878/79 leistete
Oberlausitzer Heimat, nachdem er er in Bautzen im 4. Königlichen
ursprünglich Ingenieur werden woll­ Sächsischen Regiment Nr. 103 seine
te. Im elterlichen Erbgericht hatte die einjährige freiwillige Militärpflicht
Arbeitspferdezucht Tradition. Wäh­ ab. Steglichs Ausbildung fiel dank der
rend der Hospitanz­ und Assistenzzeit positiven Wirkungen des von Hein­
an der Landwirtschaftsschule Bautzen rich August Blochmann mitver­
(1877–1878) bei Eduard Heiden fassten Gesetzes über „Ablösungen
konnte er auch Erfahrungen in der und Gemeinheitsteilungen“ in die
Versuchsstation Pommritz sammeln, Zeit eines großen Aufschwungs der

308
sächsischen Landwirtschaft. Begin­ Oktober 1887 in Chemnitz. Beson­
nend in Leipzig­Möckern wurde das ders Rochlitz wurde zu einer wich­
landwirtschaftliche Versuchswesen in tigen Lebensstation. 1884 heiratete
Deutschland aufgebaut. Dieser Ent­ er Margaretha Therese geb. Ledig.
wicklung Rechnung trug auch eine Deren Mutter, Olga geb. Mothes,
Umgestaltung der wissenschaftlichen entstammte der Juristendynastie
Ausbildung in Sachsen. 1869 erfolgte des Advokaten Dr. August Ludwig
die Loslösung der Landwirtschaftsleh­ Mothes (15.5.1794–19.1.1856, Frei­
re von der Forstakademie Tharandt maurer „Minerva zu den drei Pal­
und die Etablierung als eigenständige men“, Namensgeber einer Straße in
Fachrichtung im Sinne von Justus Leipzig). Steglichs Schwiegervater, Dr.
von Liebig unter Leitung von Adolph Karl Hermann Ledig (17.10.1828–26.
Blomeyer an der Universität Leipzig. 9.1864), war bei Mothes zeitweise Re­
Steglich studierte von 1879 bis 1883 ferendar und übernahm nach dessen
bei Blomeyer und Friedrich Anton Tod die Praxis. Zu den Geschwistern
Zürn. Seit dieser Zeit war er Mitglied von Steglichs Schwiegermutter gehör­
der „Akademisch­Landwirtschaftli­ ten der Architekt und Kunstschrift­
chen Verbindung Agronomia“, für die steller Dr. Oskar Mothes (27.12.1828–
er das Wappen entworfen hatte und 4.10.1903) und der Rittergutspächter
der er zeitlebens verbunden blieb. Hugo Mothes in Stötteritz, mit dem
1882 reichte Steglich seine Disser­ Druckereibesitzer und Verleger Otto
tation „Über den Mechanismus des Dürr und dem Kaynaer Pfarrer Hein­
Pferdehufes“ ein, die mit „magna cum rich Trübenbach, ehemals Hauslehrer
laude“ bewertet wurde. Als schrift­ bei Mothes, war sie verschwägert.
liche Examensarbeiten verfasste er Pfarrer Trübenbach führte die Trau­
„Genaue Information über ein Land­ ung von Steglich und Margaretha
gut (Rittergut Großzschocher) mit Therese an der Nikolaikirche Leipzig
Entwerfung das den Verhältnissen am durch. Zu den angeheirateten Cousins
besten entsprechenden Wirtschafts­ von Steglich gehörte August Mothes,
planes und Begründung desselben“ Jurist in Leipzig, mit dem enge Kon­
und „Die Bedeutung des Wassers für takte bestanden. In Rochlitz wurden
die Lebensvorgänge der Pflanzen“. Mit beide Töchter des Ehepaars Steglich
dem „Großen Examen“ in Landwirt­ geboren. An der landwirtschaftlichen
schaft, Botanik und Tierheilkunde Schule in Rochlitz schrieb Steglich
von 1883 erwarb er die Berechtigung, 1884 mit seiner „Anleitung zum Plan­
die landwirtschaftlichen Fachdiszipli­ und Situationszeichnen“ zu einem
nen als Lehrer zu vertreten. Thema, das zu jener Zeit an allen
landwirtschaftlichen Lehranstalten
Ab 1883 lehrte Steglich an der land­ gelehrt wurde. Das Buch erschien
wirtschaftlichen Schule Rochlitz, ab bei dem renommierten Landwirt­

309
schaftsverlag von Paul Parey in Berlin. unter Oscar Drude einzurichten und
Zur Landwirtschaftsschule Rochlitz als Vorstand zu leiten. Er war damit
gehörte auch eine Fischzuchtanstalt. praktisch Versuchs­Kulturobergärtner
In Steglichs Rochlitzer Zeit fielen die Franz Ledien gleichgestellt. Die neue
Untersuchungen des Sächsischen Versuchsstation ergänzte die seit 1862
Fischereivereins zu den Fischereiver­ an der Tierärztlichen Hochschule
hältnissen von Zschopau und Mulde, Dresden bestehende Einrichtung zur
die in den Folgejahren auf weitere Untersuchung des Stoffwechsels von
Gewässersysteme ausgedehnt wurden. Haustieren und die 1869 von Fried­
Vermutlich hat diese Arbeit unter rich Nobbe in Tharandt gegründete
dem Protektorat von Prinz Georg, „Pflanzenphysiologische Versuchs­
Herzog von Sachsen, einen wichtigen und Samenkontrollstation“ an der
Einfluss auf Steglichs spätere Karri­ Forstakademie. Die enge Abstim­
ere gehabt. In seiner bekanntesten mung und Zusammenarbeit mit Tha­
Publikation, „Die Fischwässer im randt wurde durch ein gemeinsames
Königreiche Sachsen“ (1895), fass­ Kuratorium unter Johann Friedrich
te er die 10­jährigen, etappenweise Judeich überwacht. Während in Tha­
durchgeführten Untersuchungen des randt mikroskopische und chemische
Sächsischen Fischereivereins in einer Untersuchungen sowie Vegetations­
nahezu lückenlosen Übersicht über versuche im Gewächshaus im Mittel­
die fischereiliche Nutzung sächsischer punkt standen, wurden in Dresden
Gewässer zusammen. Steglich selbst Anbauversuche im Freien durchge­
hatte die Untersuchungen zur Wei­ führt. Dafür standen zwei Hektar zur
ßen Elster und Pleiße sowie mit den Verfügung. Steglichs Hauptaufgaben
Schwerpunkten geologische Beschaf­ bestanden in der Organisation und
fenheit, Wasserqualität und Fließ­ Durchführung von Arbeiten zur
hindernisse zur Elbe durchgeführt. Verbesserung landwirtschaftlicher
Wichtigster Mitarbeiter war Adolf Nutzpflanzen, in der Hauptsache
Endler, der weitere Gewässersysteme verschiedener Getreidesorten, durch
untersuchte und später die Landwirt­ Züchtung und zur Ertragssteigerung
schaftsschule in Meißen leitete. durch Düngung. Die von Steglich
1896 initiierte und angeleitete Pir­
Steglich war 1887 in Chemnitz der naer Saatzuchtgenossenschaft erhielt
Deutschen Landwirtschafts­Gesell­ für den „Pirnaer Roggen“ auf der
schaft (DLG) beigetreten. Zum 1. Weltausstellung in Paris 1900 eine
April 1890 erhielt er den königlichen Goldmedaille. Steglich widmete sich
Auftrag, eine landwirtschaftliche Ver­ mit Kursen für Landwirte zudem
suchsstation in Dresden als Abteilung frühzeitig der Wissensvermittlung.
einer „Versuchsstation für Pflan­ 1901 wurde ihm der Professorenti­
zenkultur“ am Botanischen Garten tel verliehen. 1904 erfolgte die Zu­

310
station zu Dresden“. Die Samenkon­
trollstation ging dabei in Steglichs
landwirtschaftlicher Abteilung auf.
Dem gemeinsamen Kuratorium stand
zu jener Zeit Max Neumeister vor.
Die Dresdner Versuchsstation führte
Samen­ und Sortenprüfungen durch
und beriet die praktischen Landwirte.
Es galt, wissenschaftliche Grundlagen
für die heimische Landwirtschaft und
den Obstbau zu schaffen und dafür z.
B. auch dendrologisch­phänologische
Beobachtungsstationen im Erzgebir­
ge zu betreiben. Auf Anregung der
„Kaiserlichen biologischen Anstalt
für Land­ und Forstwirtschaft“ zu
Dahlem wurde nach Vorschlag und
Begutachtung durch den Landeskul­
turrat, zufolge Ministerialverordnung
Steglichs wichtigstes Werk (1895). vom 23. September 1904, im König­
sammenführung der Dresdner und reich Sachsen die Organisation des
Tharandter Einrichtungen in der Pflanzenschutzdienstes unter Leitung
„Pflanzenphysiologischen Versuchs­ von Steglich gegründet. Angegliedert

Direktoriumsgebäude des Botanischen Gartens im Bau (Foto Bruno


Steglich, 1891, dessen spätere Dienstwohnung Stübelallee 2), Eröffnung des
vergrößerten Botanischen Gartens am neuen Standort Ostern 1893.

311
waren landesweite Meldestellen. In­ rung von Samen­ und Sortenprüfun­
ternational fanden Steglichs Arbeiten gen sowie beim Verkauf. Steglich war
zu Pflanzenzüchtung, Pflanzenschutz in der Ökonomischen Gesellschaft
und Obstbau in den USA und Skan­ Mitglied im Gesellschaftsausschuss
dinavien Beachtung. Im Jahre 1904 und Obmann im Sonderausschuss
unternahm er mit Unterstützung der für landwirtschaftliche Erzeugnisse
Julius Adolph Stöckhardt­Stiftung und Hilfsstoffe. Als Vorstandsmitglied
und der sächsischen Regierung eine verfasste er 1914 eine Festschrift zum
Studienreise nach Skandinavien, die 150­jährigen Bestehen der Schwes­
ihn auch in die bekannte Saatzucht­ tergesellschaft Ökonomische Societät
anstalt Svalöf (Schweden) führte. in Leipzig – sein Schwiegergroßvater
Besondere Verdienste erwarb sich Ludwig Mothes hatte die umstritte­
Steglich um den Ausbau des Feld­ ne Abtrennung der Ökonomischen
versuchswesens in Sachsen durch Gesellschaft mit Sitz in Dresden
Einrichtung zahlreicher, nach klima­ seinerzeit als Syndikus der Leipziger
tischer Lage und Bodenbeschaffen­ Societät begleitet. Steglich engagierte
heit ausgewählter Anbaustationen. sich im Landeskulturrat als Verant­
Um 1910 arbeitete er auch mit dem wortlicher für Fischzucht und ab 1919
Rittergut Schmölln des August für das landwirtschaftliche Versuchs­
Schmatz zusammen. Auf 183 Hektar wesen, in der Deutschen Landwirt­
wurden Schmöllner Gebirgsweizen, schafts­Gesellschaft (Hochzucht­
Gelbhafer, Hannagerste und Oberlau­ kommission für landwirtschaftliche
sitzer Thimotheegras angebaut. Die Pflanzenzuchten, Kommissionen für
Samenkörner dieses ertragreichen Saatenanerkennung, Sortenversuche,
und wertvollen Futtergrases unter­ Flachs­, Obst­ und Weinbau), im Ver­
schieden sich in Schwere und Größe band landwirtschaftlicher Versuchs­
vorteilhaft von den marktüblichen stationen unter Leitung von Friedrich
Sorten und wurden im Rahmen eines Nobbe im Ausschuss für Pflanzenpro­
Samenpreiswettbewerbs der Deut­ duktion und Pflanzenschutz sowie im
schen Landwirtschafts­Gesellschaft Sächsischen Fischereiverein. Unter
mit einem ersten Preis ausgezeichnet. seinem langjährigen Vorsitz stand
Zahlreiche Vorträge vor der Ökono­ insbesondere der Besatz der Gewässer
mischen Gesellschaft im Königrei­ im Vordergrund. Grundlage hierfür
che Sachsen dienten einer schnellen war eine Verbreitung der künstlichen
Verbreitung der wissenschaftlichen Fischzucht, v. a. von Forelle, aber auch
Erkenntnisse. Die Ökonomische Ge­ Lachs, Schnäpel und Felchen. Unter
sellschaft gewährte den praktischen der Leitung des Fischereivereins wur­
Landwirten seinerzeit vielfältige de die Regenbogenforelle in Sachsen
Unterstützungsleistungen, neben der eingeführt. Besonders erfolgreich war
Weiterbildung auch zur Durchfüh­ die Tätigkeit des Vereins in der Teich­

312
wirtschaft. Neben seinem Wirken in
der Versuchsstation lehrte Steglich
von 1912 bis 1921 als Professor für
Land­ und Volkswirtschaft an der
Tierärztlichen Hochschule Dresden
unter Wilhelm Ellenberger. Steglich
war Mitglied in der Gesellschaft
deutscher Naturforscher und Ärzte, in
der Deutschen Botanischen Gesell­
schaft, in der Naturwissenschaftlichen
Gesellschaft ISIS Dresden (seit 1890),
schriftwechselndes Mitglied bei FLO­
RA – Sächsische Gesellschaft für Bo­
tanik und Gartenbau (seit 1900), und
er interessierte sich für geschichtliche
Belange. So war er Mitglied im Verein
für die Geschichte Dresdens und im
Sächsischen Altertumsverein.

Der Erste Weltkrieg unterbrach


Steglichs berufliche Karriere. Nach
dem frühen Kriegstod seines Soh­ Steglich meldete sich mit 57 Jahren
nes Carl Christian in den belgischen freiwillig zum Kriegsdienst.
Ardennen – den Steglich nie vollstän­
dig verwinden konnte – trat er 1914 Steglichs großer Verdienst lag im
freiwillig als Offizier des Landsturm­ steten Ausbau der zunächst kleinen
Bataillons XII/9 in den Armeedienst Versuchsstation zu einer selbststän­
und war bis 1918 zeitweise in Ma­ digen, vom Botanischen Garten
zedonien, Ungarn und Frankreich losgelösten „Staatlichen Landwirt­
im Einsatz. 1916 erhielt Steglich die schaftlichen Versuchsanstalt“ mit den
Beförderung zum Hauptmann der drei Abteilungen Pflanzenernährung
Landwehr. Außerdem wurde ihm und Bodenchemie, Pflanzenbau und
das Kriegsverdienstkreuz verliehen. Samenkontrolle sowie Pflanzenschutz.
Fachliche Arbeiten in Dresden sollten Zu seinen wichtigsten Mitarbeitern
helfen, die Not der Bevölkerung zu gehörten Walter Baunacke (Phyto­
lindern, so 1915 im Rahmen der pathologie) und Hermann Pieper
Schädlingsbekämpfung in der Land­ (Saatgutforschung). Nach der Neu­
wirtschaft die „Anleitung zu gemein­ ordnung des landwirtschaftlichen
samer Vertilgung der Feldmäuse“ im Versuchswesens 1919/20 bestanden
Auftrag des Innenministeriums. in Sachsen insgesamt drei Versuchs­

313
anstalten, neben Dresden in Pomm­ Klavierunterricht erhielt und wo die
ritz unter der Leitung von Georg Eltern eine Vielzahl von Nachdrucken
Derlitzki und in Möckern unter berühmter Gemälde besaßen. Vom
Gustav Fingerling. Steglich führte Hofmaler Ludwig Otto befanden
die Dresdner Versuchsanstalt bis sich eine Großdrebnitzer Ansicht
zu seiner Versetzung in den Ruhe­ und ein Porträt von Steglichs Sohn
stand im November 1923 zu großem Carl Christian im Besitz der Familie
Ansehen für ihre Leistungen bei der Bruno Steglich. Ludwig Otto hatte die
Erforschung und Verbreitung der jüngste Tochter Marie des ehemaligen
wissenschaftlichen Grundlagen der Großdrebnitzer Pfarrers Carl August
Landwirtschaft und des Obst­ und Rüdiger – eine Freundin von Steglichs
Gartenbaus in Deutschland. Für seine Schwester Clara – geheiratet und kam
Verdienste um die sächsische und häufig ins Dorf, um hier zu malen.
deutsche Landwirtschaft wurden ihm Auch im Dresdner Verein „Harmo­
hohe staatliche und wissenschaftliche nie“ (Palais Hoym) bestanden vielfäl­
Auszeichnungen zuteil. 1901 erhielt tige gesellschaftliche Kontakte. Robert
er das Albrechtskreuz, 1908 verlieh Sterl schuf ab 1907 insgesamt sechs
ihm König Friedrich August III. das Porträts von Mitgliedern der Familie
Ritterkreuz erster Klasse, 1912 wurde Wiede von Steglichs Tochter Else. Das
er zum Regierungsrat ernannt und Bildnis von Else Wiede aus dem Jahre
1914 verlieh ihm der König die Krone 1925 befindet sich heute ebenso in
zum Ritterkreuz des Albrechtsordens. der Gemäldegalerie Neue Meister wie
Die DLG ehrte ihn mit der „Großen die von Ludwig Otto 1918 gemalten
Silbernen Eyth­Denkmünze“ (1910), Porträts von Else und ihrem Mann
der Landesobstbauverein (1899), Johannes Wiede. 1912 entwarf Karl
der Landwirtschaftliche Kreisverein Schulz ein Kirchenfenster in Trebsen,
Dresden (1915) und der Deutsche das u. a. Steglichs Tochter und Enkel
Fischereiverein (1919) jeweils mit zeigt und durch die Glasmalanstalt
der silbernen Verdienstmedaille. Die Bruno Urban aus Dresden realisiert
Ökonomische Gesellschaft zu Dres­ wurde.
den und der Sächsische Fischereiver­
ein ernannten Steglich zum Ehren­ Nach der Pensionierung bis zu sei­
mitglied. nem Tod wohnte Steglich in Dresden,
Blochmannstraße 21. Nach der Ein­
Bemerkenswert in seinem persön­ segnungsfeier auf dem Trinitatisfried­
lichen Leben war die Bekanntschaft hof wurde er nach Trebsen überführt.
mit namhaften Künstlern seiner Zeit. Hier erinnert noch heute ein 1930
Die musische Aufgeschlossenheit von Georg Wrba geschaffenes Grab­
Steglichs ging bis in die Zeit im Groß­ mal an ihn. An seinem Geburtsort
drebnitzer Erbgericht zurück, wo er geriet er jedoch in Vergessenheit.

314
Kirchenfenster in Trebsen mit Georg Wrba schuf: Grabmal Bruno
Steglichs Tochter Else, Schwieger- Steglich (1930, oben), Büste Johan-
sohn und Enkel. nes Wiede (1932), Halbreliefs von
Bruno Steglich (unten) und Mar-
Lediglich in den Vorarbeiten von Ri­ garetha Steglich (je 1932), Grabmal
chard Garbe für eine Dorfchronik Wiede in Trebsen (1934), Büsten für
von 1938 findet sich ein Vermerk. Da­ Johannes Wiede und Else Wiede (je
ran änderte selbst ein auszugsweiser 1935).
Nachdruck aus Steglichs unveröffent­
lichtem Manuskript „Erinnerungen
aus meinem Leben“ in den Großdreb­
nitzer Kirchenbriefen 1995 nichts, da
dies nur unter dorfgeschichtlichen
Aspekten erfolgte, ohne die Bedeu­
tung des Autors zu erkennen. Die
Wiederentdeckung geht auf Frank
Fiedler zurück, der etwa im Jahre
2000 bemerkte, dass jener Bruno
Steglich aus dem Großdrebnitzer Kir­
chenbrief mit dem Autor der „Fisch­
wässer im Königreiche Sachsen“
identisch ist. 2004 erschien in den
„Sächsischen Heimatblättern“ eine
erste Biografie von Frank Fiedler und
Mathias Hüsni, basierend auf dem
Nachruf von Walter Baunacke und
eigenen Recherchen in Großdrebnitz, landwirtschaftlichen Versuchswesens
Dresden und Trebsen. Der Wert jener in Dresden erstmals eine ausführliche
Arbeit bemaß sich v. a. darin, dass 75 Würdigung erschien. Im selben Jahr
Jahre nach dem Tode des Nestors des zitierte Theophil Gerber ihn in „Per­

315
sönlichkeiten aus Land­ und Forst­ und war 1977 in Pullach verstorben.
wirtschaft, Gartenbau und Veterinär­ In München und Umgebung wohnen
medizin, Biographisches Lexikon“, auch heute noch Nachkommen und
Band 2, mit einem kurzen Artikel (S. Verwandte von Steglich. Im „Schie­
743–744). Das Institut für Sächsische bocker Landstreicher“ erschien 2010
Geschichte und Volkskunde der TU von Uwe Fiedler der Artikel „Zwei
Dresden beauftragte Frank Fiedler Professoren aus einem kleinen Dorf “,
danach, einen Beitrag zu Steglich für der Steglich und Max Neumeister
die „Sächsische Biografie“ zu schrei­ gemeinsam gewidmet war. Zudem
ben. Die Recherchen wurden dadurch ist Uwe Fiedler federführend an den
erschwert, dass einerseits Steglichs Artikeln zu Steglich in der Wikipedia
Lebenserinnerungen nach ihrem teil­ und im Stadtwiki Dresden beteiligt.
weisen Nachdruck in Großdrebnitz
verschollen blieben, andererseits gab Quellen: Walter Baunacke: „Regierungsrat Prof.
Dr. S. †“. Die kranke Pflanze 6/1929, H. 3, S. 37
es lange keine Hinweise auf heuti­
f.; Fr. Schäfer: „Wissenschaftlicher Führer durch
ge Nachkommen, selbst in Trebsen Dresden“. v. Zahn & Jaensch, Dresden, 1907; P.
nicht. Kurz vor dem Erscheinen 2006 Hillmann: „Die deutsche landwirtschaftliche
des mit Uwe Fiedler gemeinsam ver­ Pflanzenzucht“. Berlin, 1910; Christa Haensel:
Familiennachlass Wiede/Haensel/Steglich, Mün­
fassten Online­Artikels in der Säch­
chen, mit B. Steglich: „Erinnerungen aus meinem
sischen Biografie konnte der Kontakt Leben“, Dresden 1927, Günter Kloss: „Georg Wrba
zur Familie hergestellt werden, was (1872–1939): ein Bildhauer zwischen Historismus
viele wesentliche Erkenntnisse er­ und Moderne“. Imhof, 1998, Hermann Pieper:
Nachruf Prof. Bruno Steglich, 1929; Universi­
möglichte. Steglichs erste Tochter Else tätsarchiv Leipzig; Kirchenarchiv Großdrebnitz,
war in Trebsen mit dem Papierfabrik­ Kirchenarchiv Trebsen; Evangelisch­Lutherisches
besitzer Johannes Wiede, einem Sohn Pfarramt St. Nikolai – St. Johannis Leipzig; Säch­
des bedeutenden sächsischen Firmen­ sisches Staatsarchiv Leipzig; Arbeitsgemeinschaft
für mitteldeutsche Familienforschung; Stadtarchiv
gründers Anton Wiede, verheiratet Dresden; Archiv des Rochlitzer Geschichtsver­
gewesen. Nach der Enteignung nach eins; Sächsische Landesanstalt für Landwirtschaft
dem Zweiten Weltkrieg hatte sie noch Dresden; Friedrich W. Rach, Pressereferent DLG
einige Zeit in Halle gelebt. Gestor­ Frankfurt/M.; Dr. Klaus Schmiedel, Königstein;
Roland Paeßler: „Ahnenlinie der „oberen“ Bauern
ben ist sie 1973 in Kochel am See, Steglich in Kleindrebnitz, mit Anmerkungen zur
also nicht in Bad Tölz, wie man in Verbreitung der Familie Steglich in Kleindrebnitz
Trebsen nach einem zu DDR­Zeiten und Großdrebnitz und einer Zuarbeit von Frank
abschlägig beschiedenen Umbet­ Fiedler“. 2004; Richard Garbe: „Vorarbeiten für
eine Dorfchronik von Großdrebnitz“. Unsere
tungsantrag vermutete. Identität und Heimat, Beilage zum Sächsischen Erzähler,
Verbleib der zweiten Tochter, Lotte, 11.4./18.4.1938; Dr. Karl Steinmüller: Wiede­
waren bis vor kurzem unbekannt. Sie Chronik mit Stammtafel Steglich, 1939; Die
landwirthschaftlichen Versuchsstationen, G.
hatte einen Sohn des Chemikers und
Schönfeld, 1890, S. 472–476; Dresdner Adress­
Fabrikanten Heinrich Gustav Haensel bücher 1892–1929; Schöne: „Die Sächsische
(Ehrenbürger von Pirna) geheiratet Landwirtschaft“. 1925

316
Bibliografie (Auswahl)

„Über den Mechanismus des Pferdehufes unter besonderer Berücksichtigung der Hufrotationsthe­
orie des Prof. Dr. Lechner in Wien“, Dissertation, Universität Leipzig, Julius Klinkhardt, 1883
„Anleitung zum Plan­ und Situationszeichnen: für Landwirte und landwirtschaftliche Lehranstal­
ten“, Parey, Berlin, 1884
„Schematische Darstellung des Zahnwechsels beim Pferd zur Altersbestimmung aus dem Gebiß:
für Landwirthe, Offiziere, Sportsmen und Pferdebesitzer“, Voigt, Leipzig, 1885
„Einrichtung, Ziel und Aufgaben der Versuchsstation für Pflanzenkultur zu Dresden“, Mitteilungen
der Ökonomischen Gesellschaft im Königreiche Sachsen, 1890/91
„Über Verbesserung und Veredelung landwirtschaftlicher Kulturgewächse durch Züchtung“, Mit­
teilungen der Ökonomischen Gesellschaft im Königreiche Sachsen, 1892/1893
„Die Fischwässer im Königreiche Sachsen: Darstellung der gesammten sächsischen Fischereiver­
hältnisse“, hrsg. vom Sächsischen Fischerei­Verein, Schönfeld, Dresden, 1895, 290 S.
„Sortenauswahl und Züchtung des Getreides“, Mitteilungen der Ökonomischen Gesellschaft im
Königreiche Sachsen, 1895/96
„Das Nährstoffbedürfnis der Obstbäume“, Sitzungsberichte und Abhandlungen FLORA, 1898
„Über die Züchtung des Pirnaer Roggens und Untersuchungen auf dem Gebiete der Roggenzüch­
tung im allgemeinen“, Jahrbuch der DLG, S. 198–210, 1898
„Beschaffenheit und Gewinnung guter Braugerste“, Mitteilungen der Ökonomischen Gesellschaft
im Königreiche Sachsen, 1898/1899
& v. Langsdorff, „Illustrierter landwirtschaftlicher Vereinskalender“, 1899
„Neuere Anschauungen und Erfahrungen über die Anwendung und Wirkung der künstlichen
Düngemittel“, Mitteilungen der Ökonomischen Gesellschaft im Königreiche Sachsen, 1903
„Einrichtung u. Tätigkeit der Saatzuchtanstalt Svalöf in Schweden und Fortschritte auf dem Gebiet
d. Pflanzenzüchtung“, Reichenbach, Leipzig 1905, 27 S.
„Kurze Anleitung zu Anbau und Behandlung des Flachses“, Heinrich, Dresden, 1905, 15 S.
„Organisation des Pflanzenschutzes im Königreiche Sachsen“, Sächs. Landw. Zeitschr. 54,
S. 581–587, 1906
& H. Degenkolb und M. Barth, „Statik des Obstbaues“, Deutsche Landwirtschafts­Gesellschaft und
Parey, Berlin, 1907, 147 S.
„Bearbeitung von Selektions­ und Zuchtverfahren für Roggen“, Jahrbuch der DLG, 1907
„Förderung und Hebung der Rentabilität des Pflanzenbaues durch Organisation der Pflanzenzüch­
tung“, Mitteilungen der Ökonomischen Gesellschaft im Königreiche Sachsen, 1908
„Über Düngungsversuche mit Kalkstickstoff, Stickstoffkalk und Kalksalpeter“, Verhandlungen der
Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, F.W.C. Vogel, 1908
„Das Auftreten der Bisamratte in Sachsen und ihre Bekämpfung“, Schriften Sächs. Fischereiver., 49,
S. 34–44, 1919
„Ergebnisse zwölfjähriger Düngungsversuche in der Gutswirtschaft des Herrn Richard Kirchner in
Grünbach b. Wilsdruff “, Arbeiten aus dem Gebiet der Sächsischen Landwirtschaft, H. 6, 1920
& Fingerling, G. Derlitzki, „Neuorganisation der landwirtschaftlichen Versuchsstationen in Sach­
sen und ihre Aufgaben“, Mitteilung der Ökonomischen Gesellschaft im Freistaat Sachsen, H. 47,
Dresden, 1921
„80 Jahre ohne Stalldünger“, Berichte über Düngungsversuche auf dem Staatsgute Wingendorf im
Freistaate Sachsen, Jahrbuch der DLG, S. 18–28, 1921
„Die Bedeutung der Phosphorsäurefrage für die Intensivierung der Bodenproduktion“, Schriften
der Ökonomischen Gesellschaft im Freistaat Sachsen, Reichenbach, Leipzig, 1922
„Zweck und Ziele des Pflanzenschutzes und dessen Organisation im Freistaate Sachsen“, Arbeiten
aus den Gebieten der sächs. Landwirtschaft, H. 9, S. 10–16, 1922
& Pieper, „Vererbungs­ und Züchtungsversuche mit Roggen“, Fühling‘s Landw. Zeitung, 71, 1922
„Die Einwanderung, Ausbreitung und Lebensweise der Bisamratte, ihre wirtschaftlichen Gefahren
und ihre Bekämpfung in Sachsen bis zum Jahre 1922“, Korresp.­Bl. f. Fischzüchter, 30 u. 31, S.
66–70 und 7–11, 1925
Mitarbeit bei B. W. Schöne, „Die Sächsische Landwirtschaft – ihre Entwicklung bis zum Jahre
1925, sowie Einrichtungen und Tätigkeit des Landeskulturrats Sachsen zu Dresden“, Dresden, 1925
„Erinnerungen aus meinem Leben“, unveröffentlichtes Manuskript, Dresden, 1927

317
Porträtbüste des Steudner-Denkmals im Görlitzer Stadtpark.

318
Steudner, Carl Julius Theodor Hermann
Dr. phil. h.c., Botaniker, Mediziner und Afrikaforscher
01.09.1832 Greiffenberg (Gryfów Śląski) / Schlesien – 10.04.1863 Wau / Afrika

V: Carl Theodor Hermann (*11.9.1806 Greiffenberg, †9.5.1832 Greiffenberg), Leinwandkauf­


mann, Sohn des Kaufmanns Carl Theodor Steudner (1777–1821) und Charlotte Fredericke Hen­
riette geb. Weissig (1785–1837); M: Juliane Louise Mathilde geb. von Monsterberg (*27.9.1809
Görlitz, †23.9.1876 Görlitz), Tochter eines Leutnants und Juliane geb. Gebauer

Hermann Steudner stammte als Sohn Theodor Steudner (1645–1715)


einziges Kind von Carl Theodor studierte Medizin und promovierte
Hermann Steudner, einem reichen 1669 in Leyden. Graf Schaffgotsch
Leinwandkaufmann, aus begüterten ernannte ihn zum Leibarzt. Von
Verhältnissen. Die Steudners waren 1706 bis 1715 war er Bürgermeister
im schlesischen Greiffenberg seit in Greiffenberg. Theodor Steudner
Jahrhunderten ansässig und hatten (1688–1766) in der vierten Gene­
mehrfach das Amt des Bürgermeisters ration vor Hermann Steudner war
inne. Mehrere Familienmitglieder ar­ ein preußischer Accise­Kontrolleur.
beiteten als Ärzte. Die Familie ging in Dessen Sohn Carl Friedrich Steudner
der achten Generation vor Hermann (1728–1807) war wiederum Arzt in
Steudner zurück auf Melchior Steud­ Greiffenberg, dessen Sohn Carl Theo­
ner (1507–1585), der Greiffenberg dor Steudner (1777–1821) Kaufmann.
zwischen 1549 und 1579 langjährig Ein Cousin des Vaters von Hermann
als Bürgermeister vorstand. Dessen Steudner, Johann Ernst Robert Steud­
Sohn Johann Steudner (1544–1609) ner (1810–1876), war Kreisphysikus
war Senator in Greiffenberg. Eine in Hirschberg und Meister vom Stuhl
Tochter von ihm heiratete den Na­ der dortigen Freimaurer­Loge.
turforscher Caspar Schwenckfeld, auf
den bedeutende Arbeiten zur Fauna, Hermann Steudners Vater verstarb
Flora, Geologie und Geographie schon vor der Geburt des Sohns.
Schlesiens zurückgehen. Melchior Jener besuchte in Greiffenberg die
Steudner (1586–1646) in der sechsten Elementarschule und höhere Bür­
Generation studierte Theologie und gerschule. Deren Rektor, Heinrich
Jura, war Senator, Stadtrichter und Gustav Moritz Laubichler, weckte die
von 1617 bis 1636 Bürgermeister von Begeisterung des Jungen für Botanik
Greiffenberg. In seine Amtszeit fielen und Geologie, die sich in gemeinsa­
1620 der Baubeginn am Rathausturm men Exkursionen zum benachbarten
und 1630 der Wiederaufbau der abge­ Riesengebirge weiter festigte. 1844
brannten Kirche St. Hedwig. Dessen zog die Mutter mit ihrem Sohn nach

319
Görlitz, damit er auf eines der be­ kopierkurs“ sowie Lehrveranstaltun­
rühmtesten Gymnasien Schlesiens, gen bei Franz von Rinecker und Al­
das Augustum im ehemaligen Fran­ bert von Kölliker. Außerdem hörten
ziskanerkloster, gehen konnte. 1846 sie Botanik­Vorlesungen bei August
wechselte Steudner auf die Realschule Schenk, unternahmen mit ihm
Görlitz, wo er 1850 das Abitur ableg­ botanische Exkursionen und arbei­
te. teten an dessen Herbarium. Aus der
Würzburger Zeit stammen Exponate
Steudner studierte ab 1850 Natur­ des Flechtenherbars des Senckenberg
wissenschaften in Berlin, wobei sein Museums für Naturkunde Görlitz. Im
hauptsächliches Interesse der Bota­ Februar 1854 wurde Steudner wegen
nik galt. Eigentlich hatte er Medizin Trunkenheit und Widerstands gegen
studieren wollen, tatsächlich belegte die Staatsgewalt zu einer dreimonati­
er aber neben Botanik bei Alexan­ gen Festungshaft verurteilt.
der Braun, Nathanael Pringsheim,
Carl Jessen und Karl Koch, der sich Steudner kehrte im Herbst 1854 nach
seinerzeit in Berlin habilitierte, Berlin zurück. Nach Ableistung seiner
auch Naturgeschichte, Mineralogie, Militärpflicht widmete er sich wis­
Geognosie, Versteinerungskunde, senschaftlichen Studien. Das Erbe des
Zoologie, Chemie und vergleichende Vaters sicherte ihm finanziellen Spiel­
Physiologie bei bedeutenden Lehrern raum. Er schloss sich in Berlin Karl
wie Christian Gottfried Ehrenberg Koch an. Koch war am Botanischen
(Begründer der Mikropaläontologie), Garten angestellt und Generalsekre­
Heinrich Wilhelm Dove (Begründer tär des „Vereins zur Beförderung des
der wissenschaftlichen Meteorologie Gartenbaues im Preußischen Staate“.
und Wettervorhersage) und Carl Rit­ Die Verbindung von Koch und Steud­
ter (Wegbereiter einer wissenschaft­ ner bestand wohl zum gegenseitigen
lichen Geographie). 1852 begann Vorteil, denn Koch litt mit seiner
Steudner ein Medizinstudium in vielköpfigen Familie in Berlin lange
Würzburg. Hier lernte er Rudolf Vir­ Not, da ihm die angestrebte Professur
chow kennen, der wegen seiner Betei­ zunächst verwehrt blieb und er sich
ligung an der Märzrevolution Berlin mit befristeten und schlecht bezahl­
hatte verlassen müssen und von 1849 ten Anstellungen zufrieden geben
bis 1856 in Würzburg lehrte. Steudner musste. Seine fachübergreifenden
war mit dem späteren „deutschen Arbeiten zu Botanik und Gartenbau
Darwin“, Ernst Haeckel, befreundet. fanden wenig Anerkennung. Steudner
Sie besuchten Virchows Vorlesung arbeitete in der Berliner Zeit an einer
zur „allgemeinen pathologischen umfassenden Pflanzen­Geographie.
Anatomie“ und dessen berühmten Dazu unternahm er Exkursionen in
„pathologisch­anatomischen Mikros­ alle deutschen Gebirge, in die öster­

320
Nachweis der Alge „Ulothrix variabilis Kützing“ durch Steudner in
einem Brunnen in Biesnitz am Fuß der Landeskrone. Ludwig Rabenhorst
schrieb: „Der meist quadratische Zellenkern ist hier sehr charakteristisch.“
Abbildung: University of Michigan (Lizenz CC BY-NC)

reichischen Alpen und die Lombar­ aus Muskau an einer von Carl Ritter
dei. 1857 stellte er in einem Katalog gegründeten Stiftung zur Förderung
des Botanischen Gartens Berlin die der Geographie. Dessen Nachfolger
dort vorhandenen Arten von Thalia als Präsident der Gesellschaft für
L. nach der – umstrittenen – Eintei­ Erdkunde, Heinrich Barth, weckte in
lung von Koch zusammen. Ludwig Steudner das Interesse am „Schwar­
Rabenhorst publizierte einen Algen­ zen Kontinent“. Steudner meldete
nachweis Steudners aus Görlitz. Vor sich für die von Ernst II., Herzog von
dem Gartenbauverein berichtete jener Sachsen­Coburg und Gotha, initiier­
über Gartenbauausstellungen in der te Expedition in die Nilländer. Das
Oberlausitz. 1860 wurde Steudner in Ziel der Expedition bestand in der
Berlin in die „Gesellschaft Naturfor­ Aufklärung des Schicksals des Afri­
schender Freunde“ gewählt und er kaforschers Eduard Vogel aus Leipzig,
knüpfte Kontakte zur „Gesellschaft der seit 1855 als verschollen galt. Es
für Erdkunde“ um seine früheren wurde vermutet, dass er in das für
Professoren Dove und Ehrenberg. Europäer gesperrte Sultanat Wadai
(heute östlicher Tschad) eingedrun­
Steudner beteiligte sich wie Hermann gen war.
Ludwig Heinrich Fürst von Pückler

321
Als Vorbereitung für die vom be­ route einen Umweg über Abessinien.
rühmten Afrikareisenden Theodor Die Erforschung und kartografische
von Heuglin geleitete Expedition Erfassung unbekannter Landstriche
lernte Steudner die arabische Spra­ stellte aber nur ein Nebenziel der
che. Seine Dissertation zum Thema Expedition dar. Die Reise führte von
Pfeilwurzgewächse („Marantaceae“) Kairo nach Suez [4] und gemeinsam
reichte er an der Universität Jena kurz mit Mekka­Pilgern auf einem Dampf­
vor der Abreise nach Afrika ein. Die schiff nach Dschidda [5] (heute
Promotionsurkunde „Doctoris Phi­ Saudi­Arabien), bevor man auf einer
losophiae Honores“ ist auf den 9. Mai Barke über das Rote Meer nach Mas­
1861 datiert. Burkard Wilhelm Leist saua [6] (Eritrea) übersetzte, das am
und Carl Nipperdey vertraten dabei 17. Juni 1861 erreicht wurde. Auf dem
die Universität. Während der Anfahrt nahen Dahlak­Archipel [7] führten
über Wien und Triest informierte sich sie ornithologische und botanische
Steudner in Wien bei Theodor Kot­ Studien durch. Aus dem Land der
schy über die von ihm und Wilhelm Bogos kommend, dem nächsten Ziel,
Schimper in Ostafrika gesammelten stieß der Ethnograph Werner Mun­
Pflanzen. zinger hinzu. Auf Maultieren und
Kamelen erreichte die Gruppe über
Nach der Ankunft am 4. März 1861 in Keren [8] auf ihrer Reise durch das
Alexandria [1] besuchte er zunächst raue Hochland Abessiniens am 14.
die Hafenstadt Rosette [2] im Nil­ November 1861 Adua [9]. Steudner
delta und erforschte die Umgebung interessierte sich neben der Flora v. a.
Kairos [3]. Er beabsichtigte, in Kairo für die afrikanische Naturmedizin. In
den Freimaurern beizutreten. Man Adua wurden sie schon von Wilhelm
vermutete davon Vorteile bei der Auf­ Schimper erwartet. Auch Schimper
nahme in Arabien. Neben Steudner empfahl der Expedition, statt direkt
als Botaniker und Geologe gehörten nach Khartum zu reisen, zunächst
auch der Astronom und Meteorologe beim abessinischen Kaiser Tewodros
Gottlob Theodor Kinzelbach und als freies Geleit zu erbitten. Der führte
Präparator der spätere österreichische Krieg gegen abtrünnige Stämme in
Honorarkonsul in Khartum Martin der südlich gelegenen Galla­Provinz.
Hansal zur Gruppe, die ebenfalls Auf der Suche nach dem Kaiser
Freimaurer waren bzw. wurden. Um kamen Heuglin und Steudner zuerst
ungünstigen klimatischen Verhält­ nach Gonder [10] und über Gaffat
nissen zur Reisezeit in Khartum, dem bei Debra Tabor [11] am 15. März
eigentlichen Ausgangspunkt der Su­ 1862 zur Festungsstadt Magdala [12].
che in Wadai, aus dem Weg zu gehen Nachdem sie den Kaiser im Kriegs­
und mehr Zeit zur Akklimatisierung lager auf der Hochebene Edschebet
zu gewinnen, wählte man als Reise­ bei den Kollo­Bergen erreicht hatten,

322
323
Eine Gruppe mit Heuglin, Steudner und dem Jäger Schubert bestieg Ende
September 1861 den Zad‘-Amba. Sie trafen auf Mönche, selbst Gemsjäger
nahmen den beschwerlichen Weg kaum auf sich: „Mit Händen und Füßen
uns anklammernd, oft durch das dicht verwachsene Gestrüpp auf dem Bau-
che kriechend, bald durch schachtähnliche Felsenrisse wie Schornsteinkeh-
rer senkrecht hinaufklimmend...“ (Steudner in Mitteilungen an H. Barth)

ließ dieser sie jedoch zunächst nicht ditionskollegen wiederholt medizini­


frei weiterreisen. Die Gruppe wurde sche Hilfe. Aber auch er selbst hatte
Zeuge brutaler Plünderungen. Nach mit gesundheitlichen Problemen zu
dreiwöchigem Aufenthalt durften kämpfen. Am Tanasee [13] vorbei
sie am 25. April 1862 zusammen kamen sie unterhalb der Einmündung
mit dem Dessauer Botaniker und des Rahad [14] zum Blauen Nil, über
Zeichner Christoph Eduard Zander den sie schließlich am 6. Juli 1862
aufbrechen. Heuglin und Steudner Khartum [15] im Sudan erreichten.
hatten im Unterschied zu Munzinger Hier erfuhren sie, dass Heuglin wegen
und Kinzelbach ab Adua die geplante seiner „Eigenmächtigkeit“ die Lei­
Route verlassen und nutzten die kreuz tung der Expedition – und damit die
und quer durch das nördliche Abessi­ finanzielle Unterstützung – entzogen
nien führende Suche nach dem Kaiser worden war. Während eines mehrmo­
zu systematischen wissenschaftlichen natigen Zwangsaufenthalts unternah­
Untersuchungen. Steudner gewährte men Heuglin und Steudner auf den
den Einheimischen und seinen Expe­ Spuren des österreichischen Botani­

324
kers Theodor Kotschy zunächst eine
dreiwöchige Reise nach Kurdufan.
Sie erhofften sich von dem angeneh­
meren Klima auch gesundheitliche
Besserung.

Auf Einladung der holländischen


Hofdame und Abenteurerin Alex­
andrine Tinné beteiligten sie sich ab
dem 25. Januar 1863 an deren Expe­
dition nach den im Südwesten Sudans Die Expeditionsgruppe von Heuglin
gelegenen und bis nach Zentralafrika (ganz rechts sitzend und Wasser-
reichenden Quellgebieten des Wei­ pfeife rauchend) und Steudner (im
ßen Nils. Steudner war begeistert von Bild links neben Heuglin).
der guten Ausrüstung Tinnés, die
einen Dampfer für ein Jahr gemie­ (eine Diagnose, die früher häufig im
tet hatte und der Barken, 150 Trä­ Zusammenhang mit Typhus gestellt
ger, Leibwächter und 40 Maultiere wurde) und verstarb nach drei Tagen.
zur Verfügung standen. Die Reise Seine Kameraden bestatteten ihn
führte stromaufwärts in den Bahr unter einer Baumgruppe nahe dem
al­Ghazal (Gazellenfluss), der am Fluss. Mit Steudner verlor die Gruppe
5. Februar 1863 erreicht wurde. Die nicht nur einen wichtigen Naturfor­
Gebiete entlang des Gazellenflusses scher, sondern auch den Arzt. Weitere
waren sumpfig und verseucht mit 4 der 9 Expeditionsmitglieder star­
Malaria­Mücken. Am 25. Februar ben in der Folgezeit. Die Expedition
1863 erreichte man den Rek­See [16] konnte deswegen nicht alle Ziele
(Meschra er Rek) im Quellgebiet des erreichen. Sie wurde später von Georg
Gazellenflusses. Viele Expeditions­ Schweinfurth vollendet. Die umfang­
mitglieder erkrankten. Heuglin und reichen Ergebnisse der Tinnéschen
Steudner erhielten den Auftrag, einen Expedition auf botanischem Gebiet
Landweg zum angrenzenden, ge­ publizierte Theodor Kotschy 1865
sünderen Gebirge zu suchen. Wegen unter dem Titel „Plantae Tinneanae“.
der nahenden Regenzeit war Eile Die Expedition von Heuglin und
geboten – man musste auch verlorene Steudner war seinerzeit umstritten.
Zeit aufholen, weil die Damen nicht Sie hatte das eigentliche Ziel, Vogel
auf Luxus verzichten wollten und zu finden, verfehlt – auch Munzinger
an Land in Sänften getragen werden und Kinzelbach mussten schließlich
mussten. In der Nähe des Djurflusses dessen Tod konstatieren. Es war auch
bei Waw [17] im südwestlichen Sudan Steudner zu danken, dass stattdessen
erkrankte Steudner an „Gallenfieber“ eine überaus große Zahl wichtiger

325
botanischer, mineralogischer und Görlitz. Steudners Beobachtungsgabe
faunistischer Studien sowie kartogra­ sind bemerkenswerte Entdeckun­
fische Arbeiten durchgeführt werden gen zu verdanken. An ihn erinnern
konnten. Sie hatten eigenverantwort­ die Namen vieler Pflanzenarten
lich entschieden, die aussichtslose („Steudneri“; „Steud“ ist dagegen dem
Suche nach Vogel abzubrechen und Botaniker Ernst Gottlieb von Steudel
dafür den wissenschaftlichen Unter­ zuzuordnen) sowie der Zwergwüs­
suchungen den Vorrang zu geben. tengecko („Tropiocolotes Steudneri“,
Die Expedition wurde v. a. von Alfred 1869 von Wilhelm Peters beschrie­
Brehm verteidigt. Es sei vermerkt, ben). Karl Koch hatte schon 1862 die
dass Steudner mit privaten Mitteln Gattung „Steudnera K. Koch“ aus der
von 500 Talern pro Jahr die Reise erst Familie der Aronstabgewächse nach
mit ermöglicht hatte und auch dieser Steudner benannt. Wilhelm Stricker
Beitrag nach der Routenänderung erinnerte im „Archiv für pathologi­
gesperrt wurde. sche Anatomie und Physiologie und
für klinische Medicin“ von Rudolf
Steudner leistete unter ungünstigen Virchow im „Ärztlichen Nekrolog
klimatischen Verhältnissen und von 1863“ an ihn. Die von Steudner
Krankheiten geplagt in der Kürze der gesammelten Pflanzen befinden sich
ihm zur Verfügung stehenden Zeit heute in international bedeutenden
mit seinen Expeditionskameraden Herbarien, darunter in der Sammlung
wichtige Pionierarbeit. Er gehörte afrikanischer Gewächse im Bota­
zu den ersten Opfern der deutschen nischen Museum Berlin­Dahlem,
Afrikaforschung des 19. Jahrhunderts. in den Kew Royal Botanic Gardens
Die von ihm verfassten Berichte in London, im Natural History Museum
der „Zeitschrift der Berliner Gesell­ London, Muséum national d‘histoire
schaft für Erdkunde“ und der „Zeit­ naturelle Paris, Swedish Museum of
schrift für allgemeine Erdkunde“ Natural History Stockholm und South
besaßen große Bedeutung, weil viele African National Biodiversity Institu­
der bereisten Gebiete von keinem Bo­ te, National Herbarium Pretoria. Die
taniker vor ihm erforscht worden wa­ gefundenen Gesteine hatte Steudner
ren. Er schilderte auf lebendige Weise an Alexander Sadebeck gesandt,
jedoch nicht nur die Natur, sondern der sie der Deutschen Geologischen
zudem Land und Leute, sodass die Gesellschaft zugänglich machte. Eine
Berichte auch einen hohen ethnologi­ Insektensammlung ging an das Zoo­
schen Wert besitzen. Karl Koch wurde logische Museum Berlin.
von Heuglin gebeten, Steudners
Aufzeichnungen und Sammlungen Steudner hatte nie die Bindungen
auszuwerten. Ein Teil der natur­ nach Görlitz verloren. Er war Eh­
historischen Sammlung ging nach renmitglied der Naturforschenden

326
xen. Die später angebrachte Bronze­
büste fiel im Zweiten Weltkrieg dem
Metallbedarf der Rüstungswirtschaft
zum Opfer. Der Obelisk blieb erhalten
und trägt noch immer seinen Namen.
Die Reste des Denkmals stehen heute
an der westlichen Friedhofsmauer.

Quellen: „Zur hundertjährigen Wiederkehr des


Geburtstages von Hermann Steudtner“. In: Martin
Noack, Niederschlesische Heimatblätter, 1928–1939;
Friedrich Ratzel: Allgemeine Deutsche Biographie,
Bd. 36, S. 155–156; Löwenberger Heimatgrüße
(Goldammer­Verlag Würzburg): Heinz Kulke, „Der
Frühvollendete – Zum 100. Todestage Hermann
Steudners, des aus Greiffenberg stammenden Afri­
kaforschers“ (08/63), S. 3–5, „Dr. Hermann Steud­
ner – der Afrikaforscher aus Greiffenberg“ (09/72),
S. 10–11, „Die Sippe der Steudner aus Greiffenberg“
(03/80), S. 10–11; Karl Heinrich Emil Koch: „Nach­
ruf “. Wochenschrift des Vereines zur Beförderung
des Gartenbaues in den Königlich preussischen
Staaten, Wiegandt & Hempel, Nr. 30, Berlin,
25.7.1863, S. 1; „Personalnotizen“. Plant Systematics
and Evolution, Springer Wien, Bd. 11, H. 3, 1861,
S. 101–102 u. Bd. 13, H. 1, 1863, S. 335–337; Ernst
„Aloe steudneri“ kommt in Eritrea Haeckel: „Entwicklungsgeschichte einer Jugend,
und Äthiopien im felsigen Semien- Briefe an die Eltern 1852/1856“ (8.2., 17.2., 27.2.,
1.6.1853). Leipzig, KF. Köhler, 1921; Karl Heinrich
Gebirge in Höhen um 3000 Meter Emil Koch: Wochenschrift des Vereines zur Beförde­
vor. Hermann Steudner hatte hier rung des Gartenbaues in den Königlich preussischen
das Typusexemplar gesammelt. Staaten, Wiegandt & Hempel, Berlin, 25.7.1862, S.
115; Dr. Clemens Wimmer: Mitteilungen, Bücherei
des Deutschen Gartenbaues e.V. Berlin; Sitzungs­
Gesellschaft, die aus seinem Nachlass berichte der Gesellschaft naturforschender Freunde
Briefe aus Afrika an seine Mutter auf­ zu Berlin, 1907; Annelore Rieke­Müller: „Der Blick
bewahrt. Görlitz gedachte dem früh über das ganze Erdenrund – Deutsche Forschungs­
reisen und Forschungsreisende im 19. Jahrhundert
Verstorbenen mit einem am 15. Ok­ bis zur Deutschen Afrika­Expedition 1860–1863“.
tober 1874 unweit des Parkhäuschens Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 22, Heft
im Stadtpark enthüllten Denkmal. Es 2–3, S. 113–123, Wiley­VCH Verlag GmbH & Co.
KGaA, Weinheim, 1999; Dr. Schindler: „Nekrolog.
entstand auf Initiative und auf Kosten Vorgetragen zur Hauptversammlung im October
der Mutter kurz vor ihrem eigenen 1863“. In: Abhandlungen der Naturforschenden
Gesellschaft zu Görlitz, Bd. 12, S. 201–205, 1865;
Tod und bestand nach dem Entwurf Abhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft
des Berliner Bildhauers Eduard Au­ zu Görlitz, Bd. 13, S. 8, 1868; Bo Beolens et al: „The
gust Lürssen aus einem Obelisk, einer Eponym Dictionary of Reptiles“. JHU Press, 2011;
Würzburger Abendblatt, 23.2.1854; Steudners Rei­
darauf stehenden marmornen Por­ seberichte; Universitätsarchive Würzburg und Jena,
trätbüste sowie zwei seitlichen Sphin­ Mitteilungen 29.9.2007 bzw. 24.9.2015

327
Der Turm der Putzkauer Kirche wurde von 1701 bis 1707 zu Johann Hein-
rich Stöckhardts Amtszeit errichtet.

328
Stöckhardt, Johann Heinrich
Magister, Philologe und Pfarrer in Putzkau
13.07.1657 Miltitz – 14.08.1711 Putzkau

V: Johann Gerhard (*um 1626 Dresden, †1691 Brinnis), Pfarrer in Miltitz und Brinnis; M:
Martha geb. Schütze (*2.10.1632 Friedrichswalde), Pfarrerstochter; G: David (*3.10.1658 Miltitz,
† jung), Esther Catharina (*19.11.1661 Miltitz, †1744, verh. mit Christian Laurentii, Pfarrer
in Papstdorf und Wehlen, deren Tochter Esther Christiana verh. mit Pfarrer Johann Gottfried
Metzner in Neukirch), Gottlieb (*5.4.1664 Miltitz, †1742, Pfarrer in Lauterbach, verh. mit Do­
rothea geb. Metzner aus Neukirch); E: 16.10.1683 Putzkau, Margareta Elisabeth geb. Hentschel
(*1662 Putzkau, †1709 Putzkau); K: Johann Jacob (*1684 Putzkau, †1721, ab 1711 Pfarrer in
Putzkau), Johanna Margaretha (*1685 Putzkau, verh. mit Christian Jentsch, Archidiakonus in
Bischofswerda), Johann Gerhard (*28.7.1686 Putzkau, †19.4.1745 Schwarzbach, Pfarrer in Dob­
ra, Thierbaum und Schwarzbach), Henriette Catharina (*1688, verh. mit Christoph Friedrich
Faber, Pfarrer in Klix), Esther Martha (*1693, † jung), Johann Gottfried (*1697/1698 Putzkau,
†2.10.1759 Saaleck, Pfarrer in Saaleck), Johanna Catharina (*1700, verh. mit Johann Balthasar
Lange, Pfarrer in Reichwalde und Neschwitz)

Der spätere Begründer des Putzkauer der Nachfolge seines Schwiegervaters,


Zweiges der Gelehrtenfamilie Stöck­ Jakob Hentschel, Pfarrer in Putzkau.
hardt besuchte ab 1665 die Kreuz­ 1687 gehörte er zur Erbengemein­
schule Dresden. Ab 1670 absolvierte schaft, die das großväterliche Haus in
er – wie später sein Bruder Gottlieb Dresden, zwischen Kreuzkirche und
(Begründer des Lauterbacher Zwei­ Frauenkirche gelegen, an die Familie
ges) – die Fürstenschule Grimma. An Schaffhirt verkaufte. Putzkau war
der Universität Leipzig verteidigte seinerzeit dem Freiherrn von Frie­
Stöckhardt 1678 seine „Dissertatio de sen verpflichtet. Als dessen Ehefrau
blanda mulierum rhetorica, occasione Maria Margaretha 1689 starb, hielt
axiomatis Richteriani publicae erudi­ Stöckhardt eine vielbeachtete Lei­
torum censurae & ventilationi exposi­ chenpredigt. Von 1701 bis 1707 leitete
tai“ bei Georg Schultze zur Redekunst er die Rekonstruktion der Putzkauer
der Frauen. 1679 leitete er selbst die Kirche mit dem Anbau des steinernen
Prüfungskommission Philologie zur Turms. An Stöckhardt erinnerte lange
Magisterarbeit von Johann Michael außen an der Südseite der Kirche das
Reinhold aus Freiberg. Seine Studi­ Epithaphium VIXIT, VICIT, VIVIT
en schloss Stöckhardt 1680 mit der („Jesus hat gelebt, gesiegt und lebt“).
„Publica et solemnis misericordiae Drei seiner Söhne und viele weitere
divinae promulgatio“ über die „gött­ Nachfahren wurden wiederum Pfar­
liche Barmherzigkeit“ bei Professor rer, darunter sein Urenkel Gerhard
Georg Möbius ab. Am 27. September Heinrich Jacobjan Stöckhardt in
1683 wurde er Substitut und 1685 in Bautzen.

Quellen: S. 412 ff. 329


Der Bautzener Dom 1834 – die langjährige Wirkungsstätte von Gerhard
Heinrich Jacobjan Stöckhardt.

330
Stöckhardt, Gerhard Heinrich Jacobjan
Magister, Pastor, Philologe und Freimaurer
28.03.1772 Schwepnitz b. Königsbrück – 28.10.1830 Bautzen

V: Johann Gottrau (*4.10.1717 Putzkau, †15.5.1791 Schwepnitz), wuchs bei seinem Stiefvater
Jacob Barthel in Bischofswerda auf, Gymnasium Freiburg und 1731–1737 Bautzen, Universität
Leipzig, 1741 Hospitalprediger und Mädchenlehrer in Königsbrück, 1742 Pfarrer in Schwepnitz
mit Kosel und Grüngräbchen; M: Johanna Sophia geb. Hoffmann (*1734, †7.9.1820 Klitz­
schen), Pfarrerstochter aus Glaubitz; G: Halbgeschwister (1. Ehe des Vaters) Esther Johanna
Christiana (*2.12.1754 Schwepnitz, †6.12.1754 Schwepnitz), Gerhard Samuel (*28.9.1756
Schwepnitz, †17.6.1758), Schwester (2. Ehe des Vaters) Esther Theodora (*14.10.1763 Schwep­
nitz, †18.3.1813, verh. mit Pfarrer Carl Gottlob Meyer in Klitzschen); E: (1) 9.7.1799 Oelsnitz,
Johanna Juliane Theophila geb. Pinder (*27.4.1772 Oelsnitz, †16.3.1811 Bautzen, Tochter des
Bürgermeisters Johann Christoph Pinder in Adorf), (2) 1812 Bautzen, Erdmuthe Wilhelmine
geb. von Leonhardi (*1.4.1778 Weida, †4.3.1820 Bautzen, Tochter des holländischen Flottenka­
pitäns und ehemaligen Gouverneurs von Ceylon Commodore von Leonhardi und Stieftochter
von George Leonhard von Sperl auf Gräfendorf), (3) 29.4.1821 Pirna, Henriette geb. Wintruff
(*1793 Weida, †12.10.1834 Pirna, Tochter des Advokaten Daniel Christoph Wintruff); K: (1.
Ehe, 4 Söhne und 1 Tochter) Gerhard Julius (*20.12.1800 Glauchau, †1.6.1825 Bautzen, Mitglied
der Lausitzer Predigergesellschaft, designierter Bürgerschullehrer und Freimaurer in Bautzen),
Heinrich Robert (*11.8.1802 Glauchau, †10.10.1848 St. Petersburg, Professor für römisches
Recht), Hermann Eduard (*24.10.1803 Glauchau, †24.12.1845 Lichtenstein, Gymnasium Baut­
zen, Kaufmann in Glauchau, Bautzen, Waldenburg und Lichtenstein), Gustav Albin (*20.2.1805
Bautzen, †11.2.1855, Dr. med., Gymnasium Bautzen, Lehre an der Ratsapotheke Bautzen,
Medizinstudium in Leipzig, Assistent bei Carl Gustav Carus, Verdienste als praktischer Arzt in
Glauchau während der Cholera­Epidemie 1848), Aurora (1807–1809 Bautzen), (2. Ehe, 4 Söhne)
Ernst Hermann (*1812 Bautzen,† früh), NN († früh), Hermann Constanz (*7.10.1814 Bautzen,
†8.11.1875 Dresden, Gutsverwalter, Versicherungsinspektor in Mannheim, Wien, Pest und Dres­
den), Ernst Theodor (*4.1.1816 Bautzen, †27.3.1898 Bautzen, Agrarwissenschaftler)

Gerhard Heinrich Jacobjan Stöck­ Not und Entbehrungen kennen.


hardt wurde als jüngstes von vier Brände und harte Winter betrafen die
Kindern des Schwepnitzer Pfarrers ganze Gemeinde. Die Pfarrersfamilie
Johann Gottrau Stöckhardt geboren. litt unter Erkrankungen des Vaters
Sein Vater, ein Sohn des Putzkauer und Verlusten durch Einbruch.
Pfarrers Johann Jacob Stöckhardt und
Enkel von Johann Heinrich Stöck­ Stöckhardt besuchte ab 1787 das
hardt, machte ihn schon früh mit Gymnasium in Bautzen, zunächst
Latein und Griechisch vertraut und unter dem als Lateiner gerühmten
vermittelte ihm so die Aufgeschlos­ Rektor Christoph Jeremias Rost
senheit für fremde Sprachen. Gerhard und 1790/91 unter Karl August
Heinrich Jacobjan Stöckhardt lernte Böttiger, einem Philologen, Alter­
in seiner Kindheit und Jugend früh tumsforscher und Schriftsteller der

331
Aufklärung. Böttiger lehrte Stöck­ ger und der aus Kamenz stammende
hardt die englische Sprache. In dieser Johann Friedrich Burscher in der
Zeit erwachte auch sein Interesse an Theologie. Stöckhardt schloss sich
allem Italienischen. Die Anregungen der „Societas Philologica Lipsiensis“
dazu erhielt er von Johann Gottlieb von Christian Daniel Beck an, wo er
Cober, von 1762 bis 1792 Konrektor Karl Gottfried Siebelis kennen­
in Bautzen. Cober war als vormaliger lernte. Durch seinen Vater geprägt,
Hauslehrer noch lange in Verbin­ der selbst noch in sorbischer Sprache
dung zum ehemaligen sächsischen gepredigt hatte, gehörte Stöckhardt
Gesandten in Rom Johann Ludwig der Lausitzer Predigergesellschaft als
Graf von Bianconi geblieben und galt außerordentliches Mitglied an. 1793
als ausgewiesener Philologe. Für ihn verteidigte er seine Magisterarbeit
verfasste Stöckhardt 1797 den Nach­ „Commentatione de poësi cum philo­
ruf „Canzone alla morte di Cobero“. sophia arctissime coniuncta“ bei Karl
Für seine schulischen Leistungen August Gottlieb Keil. Anschließend
erhielt Stöckhardt eine Ratsmedaille. wollte sich Stöckhardt als Privatdo­
Mit Friedrich Wilhelm Ehrenfried zent für Philosophie, Philologie und
Rost, Philosophieprofessor in Leipzig Kunsttheorie habilitieren. Zudem
und Sohn des Bautzener Schulrektors, predigte er an der Thomaskirche und
blieb er auch später noch in Kontakt, der Paulinerkirche. Auch der damals
ebenso mit Karl August Böttiger. berühmte Literaturkritiker Giralomo
Tiraboschi war schon auf ihn auf­
Kurz nach dem Tod des Vaters im merksam geworden. Sie korrespon­
Jahre 1791 begann Stöckhardt sein dierten regelmäßig und Tiraboschi
Studium an der Universität Leipzig. vermittelte 1793 Stöckhardts Aufnah­
Durch Vermittlung des späteren me in die „Societa de' Volschi“.
Ministers von Burgsdorff und seines
Professors Christian Gottlieb Seyd­ 1794 berief Graf Carl Heinrich von
litz erhielt er dafür ein königliches Schönburg auf Empfehlung Dindorfs
Stipendium. Zu seinen Lehrern Stöckhardt zum Privatlehrer der ein­
zählten neben Seydlitz Ernst Platner, zigen Tochter des Hauses, Renate Au­
Karl Adolf Caesar und Karl Heinrich guste Louise Henriette (1783–1859),
Heydenreich aus Stolpen in der Phi­ nach Vorder­Glauchau/Wechselburg.
losophie, Christoph Friedrich Loes­ Stöckhardt verzichtete daraufhin auf
ner in der Philologie sowie Samuel die Fortsetzung seiner universitären
Friedrich Nathanel Morus, Gottlieb Karriere. Sein Werdegang verlief
Immanuel Dindorf, Karl August Gott­ damit ähnlich wie der eines Cousins
lieb Keil, Christian Gottlieb Kühnöl, seines Vaters, des fast 40 Jahre als
Karl Christian Palmer, Johann Georg Diakon in Glauchau und Pastor in
Rosenmüller, Gottlieb Samuel Forbi­ Gesau wirkenden Gottfried Gerhard

332
Stöckhardt (1721–1788). Dieser war Franz Georg Lock zusammen. Im
ebenfalls nach seinem Studium in Dom St. Petri wurden während des
Leipzig zunächst beim Grafen von napoleonischen Kriegs 1813 Verletzte
Schönburg Hauslehrer, und er war versorgt und Kriegsgefangene festge­
gleichfalls schriftstellerisch tätig. Mit halten. Stöckhardt half wiederholt als
den Schönburgs hielt sich Gerhard Dolmetscher. Anlässlich der Feier zu
Heinrich Jacobjan Stöckhardt oft seiner 25­jährigen Amtseinführung
in Dresden auf und er nutzte diese im Jahre 1824 wurde seine „Begeis­
Gelegenheiten, um seine Italienisch­ terung für alles Heilige auf dem Weg
Kenntnisse zu vertiefen. Zudem durchs irdische Leben“ hervorgeho­
wurde er häufig mit der Korrespon­ ben. Stöckhardt erwarb sich große
denz des Grafen in Französisch und Verdienste um seine Gemeinde mit
Englisch betraut. Zu Schönburgs en­ der Ausarbeitung des neuen Gesang­
gen Bekannten gehörte dessen vorma­ buches („Sammlung alter und neuer
liger Hofmeister Christian Gottfried geistlicher Lieder“, 1826) und um den
Körner. Vermutlich durch Schönburg theologischen Nachwuchs mit der
und Körner kam Stöckhardt erstmals Einrichtung einer „Uebungsanstalt
mit der Freimaurerei in Berührung. in theologischen Wissenschaften“ für
In dieser Zeit erwarb er sich mit die Mitglieder des Predigerkollegiums
der Herausgabe und sachkundigen im Bautzener Bezirk (1828): „...mit
Kommentierung italienischer Lesebü­ einem zweckmässigen Plane zur Er­
cher von Giovanni Boccaccio („Scelta richtung solcher Anstalten, wodurch
delle migliori novelle di Boccaccio die Candidaten des Predigtamtes in
con annotazione“, 1794) und Ludovi­ der Oberl. zur Führung geistlicher
co Ariosto („Le commedie in prosa, Aemter zweckmässig vorbereitet wer­
l‘erbolato e le lettere di Lodovico den können ...“. Dem Magistrat der
Ariosto“, 1798) einen Namen als Stadt Bautzen diente Stöckhardt um
Philologe. 1799 wurde Stöckhardt 1829 als geistlicher Schulinspektor.
zum Archidiakonus in Glauchau und
Pastor an die Filialkirche in Gesau Eine bedeutende Rolle in Stöckhardts
bestellt. Leben spielte die Freimaurer­Loge
„Zur goldnen Mauer“. Sie war 1802
Im Jahre 1804 kehrte Stöckhardt als auch als Bildungsstätte für das auf­
Pastor Secundarius und Mittagspredi­ strebende Bautzener Bürgertum vom
ger an der Hauptkirche St. Petri nach damaligen Rektor des Gymnasiums,
Bautzen zurück. Pastor Primarius Ludwig Gedike, gegründet worden.
war hier Friedrich Wilhelm Janson Die Logenbrüder bemühten sich stets
Sartorius. Vertrauensvoll arbeitete um das Allgemeinwohl; sie waren
Stöckhardt an der Simultankirche St. mildtätig und gründeten ein Privat­
Petri mit dem katholischen Bischof seminar zur Ausbildung von Volks­

333
Der Dom in Bautzen.
schullehrern. Unter dem Meister vom Mitglieder zu entnehmen, zu denen
Stuhl August Gotthilf Taube wurde beispielsweise Karl Siegmund Borne­
Stöckhardt 1805 in die Loge aufge­ mann (Direktor der Bürgerschule),
nommen. Schnell stieg er auf, wurde Friedrich August Adolph von Gers­
schon 1806 in den 3. Rang befördert dorf (Oberamts­Regierungs­Präsi­
und stand ihr nach Taubes Tod 1816 dent), Heinrich Gottlob Gräve (Histo­
für mehr als 13 Jahre als Meister vom riker), Ernst Friedrich Hartz (späterer
Stuhl vor. Die große Bedeutung der Bürgermeister), Ernst Gottlob Monse
Freimaurer für das Bautzen des 19. (Druckereibesitzer), Gottlob Heinrich
Jahrhunderts ist den Namen ihrer Ohle (Medizinprofessor in Dresden),

334
Karl Benjamin Preusker (Bibliotheks­ sie 1827 Hilfe für die Geschädigten
gründer), Karl Gottfried Siebelis, des Stadtbrandes organisierten. Ab
Friedrich August Treutler (Professor 1827 gaben Seminardirektor Pomsel,
der Naturgeschichte in Dresden) Zeichenlehrer von Gehrsheim und
sowie die späteren Professoren für Schlossapotheker Eduard Paeßler
römisches Recht bzw. Agrarwissen­ Handwerkslehrlingen in einer Sonn­
schaft, Stöckhardts Söhne Heinrich tagsschule unentgeltlich Unterricht.
Robert Stöckhardt und Ernst Diese Schule wurde zur Keimzelle für
Theodor Stöckhardt gehörten. die Bautzener Industrie­ und Gewer­
Besonders bekannt wurde die Frei­ beschule, der Verein „Rath und That“
maurerloge „Zur goldnen Mauer“ für die Kinder­Arbeitsschule und die
– noch zu Taubes Zeiten – während Kinderbewahranstalt.
der Befreiungskriege gegen Napoleon.
Obwohl Sachsen auf der Seite Napo­ Von den vielen Schriften, Überset­
leons stand, empfing man Gebhard zungen sowie Gedichten Stöckhardts
Leberecht von Blücher und August sind die 1811 erschienene „Sprachleh­
Neidhardt von Gneisenau im Septem­ re für Italienisch­Lehrer mit Lesebuch
ber 1813 festlich: Die beiden Führer für Schüler“ und das ab 1801 mehr­
der Schlesischen Armee gehörten der fach aufgelegte Deutsch­Italienische
nationalen Mutterloge „Zu den drei Wörterbuch „Dizionario portatile,
Weltkugeln“ an. Blücher hielt bei die­ italiano – tedesco, e tedesco­italiano“
sem, seinem zweiten Besuch in Baut­ hervorhebenswert. Die Sprachlehre
zen in einem Jahr die berühmte, von wurde seinerzeit gerühmt, wie gewis­
Vaterlandsliebe und humanitärer Ge­ senhaft der Verfasser bemüht war,
sinnung zeugende Rede. Zum Schluss seine Theorie mit der Anwendung
trank man auf das Wohl der beiden zu verbinden. Noch 1838 schrieb
(gegnerischen) Könige. Im Jahre 1820 Felix Mendelssohn Bartholdy an den
gründete Stöckhardt auf Veranlassung Verlag, um ein Exemplar des Wörter­
des Repräsentanten der Freimaurer­ buchs zu erhalten. Seine Kenntnisse
Landesloge und späteren Landesgroß­ des Italienischen brachte Stöckhardt
meisters Gottlob Adolf Ernst von auch anlässlich von Festlichkeiten
Nostitz und Jänkendorf zusam­ zur Verherrlichung der sächsischen
men mit Bischof Lock den freimau­ Königsfamilie zur Geltung. Die von
rernahen Ortsverein „Rath und That“, Friedrich August dem Gerechten in
der sich der sozialen Fürsorge und öf­ Auftrag gegebene Kantate „Albino
fentlichen Wohlfahrt verpflichtet sah. und Tajo“ wurde anlässlich der Ver­
Dem Verein gehörten anfangs 25, ein mählung von Maria Josepha Amalia
Jahr später 126 Mitglieder an. Großes von Sachsen mit dem spanischen
Ansehen erwarben sich die Bautze­ König Ferdinand am 29. August 1819
ner Freimaurer unter Stöckhardt, als im großen Königlichen Konzertsaal

335
aufgeführt. Die Übersetzung des alle­ Quellen: Nekrolog im Neuen Lausitzischen
gorischen Stücks mit Bezug zur Elbe Magazin, IX, S. 435–443; Lindner und Hersch
(Bearb.): „Das Gelehrte Teutschland, oder Lexi­
stammte von Theodor Hell, die Musik kon der jetzt lebenden Gelehrten Teutschlands“
von Hofkapellmeister Francesco Mor­ (17. Nachtrag zur 4. Ausg.). Lemgo, Verlag der
lacchi und den königlichen Kammer­ Meyerschen Hof­Buchhandlung, 1825; Gottlieb
Friedrich Otto: „Lexikon der seit dem fünfze­
sängern um Sassaroli und Benincasa.
henden Jahrhunderte verstorbenen und jetzt­
Stöckhardt schrieb zudem für die lebenden Oberlausizischen Schriftsteller und
Jenaische allgemeine Literaturzeitung, Künstler‘‘. Burkhart Görlitz, Bd. 3, S. 336–337,
die Leipziger Literaturzeitung und das 1803; Hermann Arthur Lier: „Gerhard Heinrich
Jacobian Stöckhardt“. Allgemeine Deutsche
Neue Lausitzische Magazin.
Biographie, Bd. 36, S. 287–288; Reinhold Grün­
berg (Bearb.): „Sächsisches Pfarrerbuch. Die
Für seine Verdienste wurde Stöck­ Parochien und Pfarrer der Ev.­luth. Landes­
hardt 1826 mit der Aufnahme in kirche Sachsens (1539–1939)“. Verlagsanstalt
Ernst Mauckisch Freiberg, 1940; Allgemeine
die Oberlausitzische Gesellschaft Literatur­Zeitung, Nr. 66, S. 526–527, Januar­
der Wissenschaften geehrt. Er war März 1799; Jenaische allgemeine Literatur­
außerdem Ehrenmitglied der Großen Zeitung, Nr. 42, S. 329–336, 27. Februar 1812;
Landesloge von Sachsen sowie der Nr. 203, S. 1620–1621, 1825; S. 214, März 1831;
„Stammtafel der Familie Stoeckhardt, Putzkau­
nationalen Loge „Zu den drei Weltku­ er und Lauterbacher Zweig, den Verwandten zu
geln“. Vom 25. bis 27. Juni 1830, we­ Lieb zusammengestellt und mit Erläuterungen
nige Monate vor seinem Tod, konnte auf Grund handschriftlicher Mittheilungen
Stöckhardt noch an den Feierlichkei­ und sonstiger Quellen­Nachweise versehen von
Prof. Dr. Ernst Theodor Stoeckhardt“. Wagner
ten in Bautzen zum 300. Jahrestag der Weimar, 1883; The Church of Jesus Christ of
Augsburger Konfession teilnehmen. Latter­day Saints; Karin Stöckhardt, Mitteilun­
Am zweiten Tag predigte er: „Wie wir gen; Dr. Schubart: „Zur Geschichte des Gymna­
unsere Kinder zum Festhalten an der siums in Budissin“. E.M. Monse, 1863; Martin
Reuther: „Oberlausitzer Forschungen: Beiträge
evangelischen Lehre ermuthigen sol­ zur Landesgeschichte“. Koehler & Amelang,
len“. Heinrich Robert Stöckhardt 1961; Richard Wilhelm: „Die Glocken der Stadt
verfasste einen Lebenslauf seines Bautzen“. 1917; Katalog der Gemäldesamm­
Vaters, der im Neuen Lausitzischen lung Stadtmuseum Bautzen, 1954; Leipziger
Zeitung, 25.9.1820; Michael Wetzel: „Carl
Magazin als Nekrolog gedruckt wur­ Heinrich III., Graf von Schönburg“. Sächsische
de. Hermann Arthur Lier erinnerte Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische
an ihn in der Allgemeinen Deutschen Geschichte und Volkskunde e.V., bearb. von
Biographie. Gerhard Heinrich Jacob­ Martina Schattkowsky; Archivverbund Bautzen,
Stadtarchiv, 66001 Verein Rat und Tat, lfd.
jan Stöckhardt ist namentlich auf der Nr.; Morgenblatt für gebildete Leser, Bd. 13,
großen Glocke des Domes St. Petri Cotta‘sche Buchhandlung, 1819; „Beschreibung
verewigt. Das Stadtmuseum Bautzen der Feierlichkeiten, welche am dritten Jubelfeste
besitzt ein von Friedrich Freiherr von der Augsburger Confession den 25., 26. und 27.
Juni 1830 im Königreich Sachsen stattgefunden
Gersheim gemaltes Porträt. haben: nebst einigen Jubelpredigten und Anga­
be der zu diesem Feste in Sachsen erschienen
Schriften“. J.F. Glück, 1830

336
Ihrem vollendeten Meister
Gerhard Heinr. Jacobjan
Stöckhardt. Die Brüder der
Loge zur goldnen Mau-
er, E. G. Monse Bautzen,
1.11.1830.

Quellen zu den Freimaurern:


Sanct Johannis Freimaurer­Loge
zur goldnen Mauer, Mitglieder­
verzeichnisse 1805, 1806, 1808,
1816, 1819, 1829 und Jahresbe­
richt vom 24. Juni 1831; Roland
Paeßler: „Das Auftreten Blüchers
in der Bautzener Freimaurerloge“.
Vortrag, Barockschloss Rammen­
au, um 1989; Brief Blüchers an die
Bautzener Freimaurer, 15.6.1814;
Roland Baier: „Die Bautzener
Johannis­Freimaurerloge Zur
goldenen Mauer“. In: „Zwischen
Wesenitz und Löbauer Wasser“,
1997, H. 2, S. 56–61

337
Der Jura-Professor Robert Stöckhardt war auch ein talentierter Musiker
und Komponist.

338
Stöckhardt, Heinrich Robert
Professor, Jurist in St. Petersburg
11.08.1802 Glauchau – 10.10.1848 St. Petersburg

V: Gerhard Heinrich Jacobjan (*28.3.1772 Schwepnitz, †28.10.1830 Bautzen), Pastor Secunda­


rius am Dom St. Petri Bautzen; M: Johanna Juliane Theophila geb. Pinder (*27.4.1772 Oelsnitz,
†16.3.1811 Bautzen); G: Gerhard Julius (*20.12.1800 Glauchau, †1.6.1825 Bautzen, designierter
Bürgerschullehrer), Hermann Eduard (*24.10.1803 Glauchau, †24.12.1845 Lichtenstein, Kauf­
mann in Glauchau, Bautzen und Lichtenstein), Gustav Albin (*20.2.1805 Bautzen, †11.2.1855,
Dr. med., Verdienste während der Cholera­Epidemie in Glauchau 1848), Aurora (1807–1809
Bautzen), 3 Halbbrüder aus der 2. Ehe des Vaters, Ernst Hermann (*1812 Bautzen), Hermann
Constanz (*7.10.1814 Bautzen, †8.11.1875 Dresden, Gutsverwalter, Versicherungskaufmann in
Dresden, Mannheim und Wien), Ernst Theodor (*4.1.1816 Bautzen, †27.3.1898 Bautzen, Ag­
rarwissenschaftler); E: 16.5.1828 Bautzen, Emilie geb. Voigt (*17.9.1803 Naumburg, †12.8.1871
Kösen); K: Clara Henriette Marie (*13.10.1829 Bautzen, †6.2.1897 San Remo, Landschaftsmale­
rin), Julius Reinhold (*6.4.1831 Bautzen, †29.1.1901 Berlin, studierte Theologie, Volkswirtschaft
und Jura, vertrat als Düsseldorfer Regierungsrat das Deutsche Reich zur Weltausstellung 1873
in Wien, 1880 Vortragender Rat im Ministerium für öffentliche Arbeiten in Berlin, Kompo­
nist), Hermann (*18.3.1833 St. Petersburg, †6.3.1835), Carl Robert (*29.3.1835 St. Petersburg,
†7./.8.12.1880 New York, Studium Gewerbeschule Chemnitz und Polytechnikum Dresden,
Photograph und Dekorationsmaler in Gotha und den USA), Julie Emilie Louise (*26.11.1838 St.
Petersburg, †18.5.1895 Berlin, heiratete 1858 den Besitzer einer Kinderspielwarenfabrik Gerhard
Söhlke aus Berlin), Woldemar Heinrich Julius (*3.2.1840 St. Petersburg, kaufmännische Lehre
bei seinem Onkel Carl Voigt in Leipzig, Kaufmann in Mailand, Manchester und London), Fried­
rich Heinrich (*14.8.1842 St. Petersburg, †4.6.1920 Berlin/Woltersdorf, Architekturprofessor),
Ernst Friedrich Gerhard (*25.7.1845 St. Petersburg, Buchhändler und Schriftsteller in Stuttgart,
Karlsruhe und Berchtesgaden, gab die Zeitschrift Deutsche Adelschronik heraus, verfasste Reise­
berichte und kunsthistorische Beiträge, wird häufig mit Ernst Hardt verwechselt)

Robert Stöckhardt kam als Zweijäh­ Gymnasium unter dem Rektor Karl
riger zusammen mit den Eltern und Gottfried Siebelis, mit dem der
seinem älteren Bruder Gerhard Julius Vater auch über die Freimaurerloge
nach Bautzen, wo der Vater, Ger­ „Zur goldnen Mauer“ verbunden
hard Heinrich Jacobjan Stöck­ war. Besonders die musischen Fächer
hardt, eine Anstellung als Pastor sowie die Sprachen begeisterten den
Secundarius und Mittagsprediger an Jungen. Freie Phantasien am Flügel
der Hauptkirche St. Petri erhalten zeugten von seiner hohen musi­
hatte. Nach wenigen Jahren verstarb kalischen Begabung. Während der
die Mutter. Zu den Halbgeschwistern Schulzeit stand Stöckhardt seinem
aus der zweiten Ehe des Vaters gehör­ Bruder Gerhard Julius so nahe, dass
te der spätere Agrarwissenschaftler Siebelis die ihnen zuerkannte, aber
Ernst Theodor Stöckhardt. In nur einmal vorhandene Ratsprämie
Bautzen besuchte Stöckhardt das unter ihnen verloste. Zu Stöckhardts

339
Seine Habilitationsschrift von 1826 widmete Stöckhardt Gottlob Adolf
Ernst von Nostitz und Jänkendorf.

Freunden in Bautzen zählte der hielt Stöckhardt Vorlesungen zum Na­


spätere Leipziger Orientalist Heinrich tur­ und Völkerrecht, zum Römischen
Leberecht Fleischer. Recht, zur Rechtsgeschichte und
Rechtstheorie sowie zu Verbindungen
An der Universität Leipzig studierte von Recht und Philosophie und leitete
Stöckhardt ab 1820 bei seinem Vor­ juristisch­exegetische Übungen. Es
bild Christian Gottlieb Haubold und entstanden erste bedeutende Schrif­
bei Johann Christian August Hein­ ten. In „Wissenschaft des Rechtes“
roth Jura und Philosophie. 1821 trat bekannte er sich zu einem modernen
er der Lausitzer Predigergesellschaft Staat, der nach seiner Meinung die
bei, für die er als Sekretär wirkte. „... zur höchsten Einheit erhobene
Nach dem juristischen Baccalaureat Freiheit der einzelnen menschlichen
1824 und seiner Habilitation am 10. Individuen“ darstellt, und zu einem
Juni 1826 zum Privatdozenten vertei­ universell gültigen, von staatlichen
digte Stöckhardt am 26. September und geistlichen Autoritäten unabhän­
seine Dissertation mit „Analysen zum gigen Naturrecht. Auch während des
Einfluss des Klimas auf Geist, Körper Studiums und seines späteren Berufs­
und die Entwicklung von Wissen­ lebens blieb Stöckhardt Musik und
schaften und Künsten“. Der spätere Poesie gegenüber aufgeschlossen. Er
Physiologe Alfred Wilhelm Volkmann komponierte lyrische Stücke für Pia­
gehörte zu seinen Freunden. Ab 1824 no und hatte Verbindungen bis nach

340
Dresden (Elise von der Recke, Chris­ er kritisierte standesabhängige Urtei­
toph August Tiedge). Im Hause der le. Seinen jüngeren Brüdern erteilte
Witwe Voigt in Naumburg lernte er er Unterricht in Sprachen und Musik,
seine spätere Frau Emilie kennen. Die mit dem Konrektor des Gymnasiums
Familie Voigt war sehr kunstsinnig. Friedrich Gotthelf Fritsche war er
Stöckhardts Schwager Carl Friedrich befreundet. Bald merkte Stöckhardt
Eduard Voigt gehörte zu den Förde­ jedoch, dass ihn das Leben in Baut­
rern des Leipziger Gewandhaus­Or­ zen beruflich nicht ausfüllen konnte.
chesters und zum Bekanntenkreis von Sein ausgezeichneter Ruf drang bis
Robert Schumann. nach St. Petersburg. Im damaligen
Russischen Reich wurde Römisches
Stöckhardt hatte schon in jungen Recht gelehrt, das seinerzeit in vielen
Jahren viel persönliches Leid erfah­ europäischen Staaten als maßgebliche
ren. Nach seiner Mutter war 1820 Rechtsquelle galt. Stöckhardt erhielt
auch seine erste Stiefmutter, Erdmu­ 1831 die Berufung als Professor an
the Wilhelmine geb. von Leonhardi, das Pädagogische Hauptinstitut in St.
frühzeitig verstorben, 1825 sein Petersburg, wo die zukünftigen Lehrer
geliebter Bruder Gerhard Julius. Als höherer Schulen studierten. Zu seiner
der Vater wegen Krankheit seinen Familie gehörten im Jahr des Umzugs
baldigen Tod voraussah, holte er zwei kleine Kinder, die in Bautzen
seinen nunmehr ältesten Sohn nach geborenen Clara und Reinhold.
Bautzen zurück, um die Familie
zu unterstützen. Stöckhardt erhielt Stöckhardt wurde in St. Petersburg
1828 eine Anstellung als Königlicher zum Kaiserlichen Hofrat ernannt.
Sächsischer Rechts­Consulent. Von Fürst Christoph von Lieven, ein
1824 bis 1831 gehörte er den Bautze­ Ratgeber von Zar Nikolaus, unter­
ner Freimaurern an. Aus dieser Zeit richtete ihn in der russischen Sprache.
stammen zwei der bedeutendsten Stöckhardt arbeitete in der Gesetzge­
wissenschaftlichen Arbeiten Stöck­ bungskommission mit und lehrte ab
hardts. Die „Tafeln zur Geschichte 1835 als Professor an der Kaiserlichen
des Römischen Rechts“ begründe­ Rechtsschule. 1837 schrieb er als
ten seinen Ruhm. In der folgenden Lehrbuch für die juristischen Einlei­
Analyse zum Unterschied zwischen tungswissenschaften die „Allgemeine
Zivil­ und Strafrecht („Dolus civilis“ juristische Fundamentallehre“. Für
und „Dolus criminalis“) konnte er seine großen Verdienste um den Auf­
auf diese umfangreichen historischen bau einer modernen Juraausbildung
Studien zurückgreifen. Stöckhardt und Gesetzgebung in Russland wurde
diskutierte u. a. die Resozialisierung er zum Staatsrat ernannt, in den
von Straftätern als Ziel der Bestra­ russischen Adelsstand erhoben und
fung, deren Erfolg er bezweifelte, und mit dem Annen­, dem Wladimir­ und

341
1842 dem Stanislaus­Orden 2. Klasse sche. Nachdem sie mit Mutter und
ausgezeichnet. Stöckhardt bemühte Geschwistern nach Weimar überge­
sich in St. Petersburg zudem um den siedelt war, ließ Clara sich zur Male­
wissenschaftlichen und kulturellen rin ausbilden. Geprägt wurde sie von
Austausch zwischen Russland und Friedrich Preller d.Ä. (Direktor der
Deutschland. Beispielsweise übersetz­ Fürstlich freien Zeichenschule) sowie
te er 1833 einen von Unterrichtsmi­ Carl Hummel und Max Schmidt von
nister Sergei Semjonowitsch Uwarow der Weimarer Malerschule. Clara
vor der Russischen Akademie der malte bevorzugt Landschaften und
Wissenschaften gehaltenen Vortrag Architektur in Öl und Aquarell. Mit
zu Johann Wolfgang von Goethe ins ihren Werken konnte sie zum Le­
Deutsche. Im Jahre 1844 organisierte bensunterhalt der Familie beitragen.
er einen Auftritt von Clara Schumann Verschiedene Thüringen­Motive, bei­
während ihrer Russlandreise. Für spielsweise „Ilmufer mit Goethes Gar­
die St. Petersburger Zeitung schrieb tenhaus“, zeigte sie von 1870 bis 1877
Stöckhardt als Musikreferent und er auf Berliner akademischen Kunst­
war Korrespondent von Robert Schu­ ausstellungen. 1871 starb Robert
manns „Neuer Zeitschrift für Musik“. Stöckhardts Witwe, 1872 übernahm
Schumann zählte ihn zu „seinen“ sein Bruder Ernst Theodor Stöck­
auswärtigen „Davidsbündlern“. Als hardt in Weimar einen leitenden
seine Gönner Lieven und Uwarow Posten im Staatsministerium. Clara
wegen des steigenden Einflusses der Stöckhardt besuchte in Weimar oft
altrussischen Partei ihre Stellungen ihren Onkel. Die Geschwister waren
verloren, blieb davon auch Stöckhardt inzwischen selbstständig. So konnte
nicht unberührt. Gefälligkeitsempfeh­ sie sich verstärkt ihren eigenen künst­
lungen bei der Besetzung von Profes­ lerischen Ambitionen widmen und
suren widerstrebten ihm. Stöckhardt reiste zu Studienaufenthalten nach
gab 1847 die Juraausbildung ab und Italien. Auf Dresdner akademischen
vertrat bis zu seinem Tod Philologie Kunstausstellungen zeigte sie 1876
und lateinische Literatur. und 1877 mehrere Aquarelle und
Ölbilder mit Italien­Motiven. 1880
Stöckhardt wurde in St. Petersburg heiratete sie den italienischen Offizier
beigesetzt, sein Herz aber nach Gino Cantoni.
seinem Wunsch nach Naumburg
überführt. Die Ehefrau kehrte hierher Clara Stöckhardt hatte maßgebli­
mit sieben Kindern zurück. Die neun­ chen Anteil, dass ihren Geschwistern
zehnjährige Clara erteilte als ältestes – ganz im Sinne des verstorbenen
der Geschwister den jüngeren Unter­ Vaters – die Begeisterung für alles
richt. In Naumburg knüpfte sie Kon­ Schöne vermittelt wurde. Ihr Bruder
takt zur Familie von Friedrich Nietz­ Reinhold blieb auch während seiner

342
Robert Stöckhardts Familie war nach seinem Tod mehrere Jahre in Weimar
ansässig. Seine Tochter Clara malte hier „Ilmufer mit Goethes Gartenhaus“.

erfolgreichen Beamtenlaufbahn der Quellen: Karin Stöckhardt, Mitteilungen,


2009; Jenaische allgemeine Literatur­Zeitung
Musik treu, komponierte selbst und
1825, 1826, 1832, 1833, 1841; Christian Daniel
gehörte zum Freundeskreis von Theo­ Beck (Hrsg.): „Allgemeines Repertorium der
dor Fontane und Clara Schumann. Sie neuesten in­ und ausländischen Literatur“.
trafen sich auf Stöckhardts Annenhof 1826, 1832; Karl Goedeke: „Grundriss zur Ge­
in Hohenwiese bei Schmiedeberg im schichte der deutschen Dichtung“. 1859, 1862;
Virtuelle Fachbibliothek Osteuropa, Erik­
Riesengebirge und in Berlin. Fried­ Amburger­Datenbank; Nekrolog, Blätter für
rich Heinrich Stöckhardt, wie Ernst literarische Unterhaltung, Brockhaus Leipzig,
Giese ein Nicolai­Schüler, war als 1849, Bd. 2, S. 923f.; Herrmann A. L. Dege­
Architekt für seine Brunnenentwürfe ner: „Wer ist‘s?“. Berlin, 1908; Ernst Theodor
Stoeckhardt: „Stammtafel der Familie Stoeck­
in Erfurt („Am Anger“, 1890), Dessau hardt, Putzkauer und Lauterbacher Zweig“.
(von den Nazis zerstörtes Brunnen­ Wagner Weimar, 1883; Carl August Jentsch:
denkmal für Moses Mendelssohn, „Geschichte der Lausitzer Predigergesellschaft
1890) und Göttingen („Gänseliesel“, zu Leipzig und Verzeichniss aller ihrer Mit­
glieder“. Schmaler & Pech, 1867; Historisches
1901) bekannt. Aber auch die anderen Vorlesungsverzeichnis der Universität Leipzig;
Geschwister spielten Musik oder wa­ Friedrich von Boetticher: „Malerwerke des 19.
ren anderweise künstlerisch talentiert. Jahrhunderts“. Dresden, 1898

343
Das vermutliche Porträt von Ernst Theodor Stöckhardt befindet sich im
Archiv des Deutschen Museums München. Es wurde dort zunächst Julius
Adolph Stöckhardt zugeordnet (PT_03590_01_01). Zum Zeitpunkt der Be-
schaffung durch das Museum im Jahre 1928 war nur der Nachname Stöck-
hardt vermerkt. Der dokumentierte Aufnahmeort Jena spricht für eine
Abbildung von Ernst Theodor Stöckhardt.

344
Stöckhardt, Ernst Theodor
Professor, Landwirtschaftslehrer in Brösa, Chemnitz und Jena
04.01.1816 Bautzen – 27.03.1898 Bautzen

V: Gerhard Heinrich Jacobjan (*28.3.1772 Schwepnitz, †28.10.1830 Bautzen), Pastor Secunda­


rius am Dom St. Petri Bautzen, Schriftsteller, Freimaurer; M: Erdmuthe Wilhelmine geb. von
Leonhardi (*1.4.1778 Weida, †4.3.1820 Bautzen), Tochter von Commodore von Leonhardi,
holländischer Flottenkapitän und ehemaliger Gouverneur von Ceylon, und Schwester von Carl
August von Leonhardi, Stadtkommandant und Ehrenbürger von Leipzig; G: Ernst Hermann
(*1812 Bautzen), Hermann Constanz (*7.10.1814 Bautzen, †8.11.1875 Dresden, Gutsverwalter in
der Landwirtschaft, Versicherungskaufmann in Dresden, Mannheim und Wien), 4 Halbbrüder
und 1 Halbschwester aus der 1. Ehe des Vaters, Gerhard Julius (*20.12.1800 Glauchau, †1.6.1825
Bautzen, Mitglied der Lausitzer Predigergesellschaft, designierter Bürgerschullehrer, Freimau­
rer), Heinrich Robert (*11.8.1802 Glauchau, †10.10.1848 St. Petersburg, Freimaurer, Professor
für Römisches Recht), Hermann Eduard (*24.10.1803 Glauchau, †24.12.1845 Lichtenstein, Kauf­
mann in Glauchau, Bautzen und Lichtenstein), Gustav Albin (*20.2.1805 Glauchau, †11.2.1855,
Dr. med., Assistent bei Carl Gustav Carus, praktizierte in Glauchau, Verdienste während der
Cholera­Epidemie 1848), Aurora (1807–1809 Bautzen); E: 22.9.1840 Coelestine geb. Mitschke
(*24.5.1818 Purschwitz, †1894), Tochter des Pfarrers Wilhelm Mitschke; K: Gerhard Erwin
(*14.7.1841 Purschwitz, †30.7.1842 Brösa)

Ernst Theodor Stöckhardt entstamm­ Bischofswerda die beiden Hauptlinien


te der Putzkauer Linie einer weitver­ der Familie, den Putzkauer (Johann
zweigten protestantischen Theologen­ Heinrich Stöckhardt) und den
familie. Die Stöckhardts haben sich Lauterbacher Zweig. Der in Putzkau
über Generationen große Verdienste geborene Großvater von Ernst Theo­
um das geistliche Leben, aber auch dor, Johann Gottrau Stöckhardt, war
um Wissenschaft und Wohlfahrt in zuletzt Pfarrer in Schwepnitz. Sein
Sachsen und darüber hinaus erwor­ Grabmal auf dem dortigen Friedhof
ben. Die Familie geht auf den wäh­ zählte Cornelius Gurlitt zu Sachsens
rend der Religionswirren mit seinen Bau­ und Kunstdenkmälern.
Eltern aus Flandern vertriebenen und
nach Sachsen eingewanderten Kauf­ Stöckhardt verlor schon mit vier
mann Gerhard van Stoeckhardt zu­ Jahren die Mutter. Entscheidende
rück. Kurfürst August warb während Anregungen verdankte er seinem
seiner Regentschaft bis 1586 etwa Vater. Gerhard Heinrich Jacobjan
20.000 Einwanderer aus den Nieder­ Stöckhardt, ab 1821 wieder verhei­
landen an, um mit ihrer Hilfe ein leis­ ratet, war ein hochgebildeter Mann
tungsstarkes Textilgewerbe in Sachsen und seit 1804 Pfarrer am Petridom in
aufzubauen. Van Stoeckhardts Enkel Bautzen. Zur Familie gehörte u. a. der
begründeten im späten 17. Jahrhun­ ältere Halbbruder Robert Stöck­
dert als Pfarrer in der Umgebung von hardt. Der Vater wirkte in Bautzen

345
sierte sich Stöckhardt als Schüler für
die Reformationsgeschichte und die
hebräische Sprache, die Karl Friedrich
Ameis, selbst noch ein Schüler, lehrte.
Befreundet war er mit Johannes
Siebelis, gute Beziehungen bestan­
den aber auch zu dem etwas älteren
Robert Heller, dessen Urteil in
sprachlichen Dingen gefragt war.
Schloss Milkel.
Krankheitsbedingt musste Stöckhardt
als Meister vom Stuhl der Freimau­ 1832, zwei Jahre nach dem frühen
rerloge „Zur goldnen Mauer“. Die Tod des Vaters, das Gymnasium vor­
Bautzener Freimaurer machten sich zeitig verlassen. Unterstützung erhielt
seinerzeit um ihre Mitbürger verdient, er vor allem von seinem Vormund
indem sie beispielsweise unentgeltlich Johann Friedrich Schulze, gleichzeitig
naturkundlichen Unterricht erteil­ Nachfolger des Vaters als Pastor am
ten. Es wurde auch für den Sohn zur Petridom. Der Vater seines Schul­
Mission, einer breiten Bevölkerungs­ freundes Robert Pohlenz, ein Inspek­
schicht fundiertes Fachwissen zu ver­ tor der Herrschaft Milkel im Besitz
mitteln. 1838 trat er in die Bautzener von Georg Graf von Einsiedel, bildete
Freimaurerloge ein. den Jungen in der Landwirtschaft aus.
Von 1834 bis 1842 arbeitete Stöck­
Stöckhardt sollte zunächst wie sein hardt als Verwalter auf verschiedenen
Vater eine theologische Berufslauf­ Rittergütern in der Umgebung Baut­
bahn einschlagen. Er besuchte das In­ zens, bis 1837 in Jessnitz, danach in
stitut des Freimaurers Karl Siegmund Lippitsch (im Besitz der Familie von
Bornemann in Bautzen, ab 1826 das Damnitz) und ab 1839 in Purschwitz,
Gymnasium unter dem Rektor Karl
Gottfried Siebelis und er erhielt
von seinem Vater Unterricht in Italie­
nisch und Französisch. In der Familie
wurde zudem die Hausmusik gepflegt.
Von Anfang an bestand ein sehr enges
Verhältnis zu seinem wenig älte­
ren Bruder Hermann Constanz. Sie
durchliefen die Schulen gemeinsam
und später unterstützte Ernst Theodor
den Bruder durch Vermittlung beruf­ Ortsansicht von Purschwitz um
licher Kontakte. Besonders interes­ 1840.

346
das sich damals im Besitz der Stadt Rittergut Brösa: Zur Lehranstalt ge-
Bautzen befand. In Purschwitz konnte hörten ein Laboratorium, mineralo-
er erstmals mit größerer Eigenver­ gische und botanische Sammlungen
antwortung agieren. 1840 heiratete und eine Bibliothek. Ein Kurs um-
er eine Tochter des dortigen Pfarrers fasste zwei Wintersemester Theorie.
Wilhelm Mitschke. Im nahen Bautzen Im Sommersemester konnte zusätz-
besuchte er den Gesellschaftsverein lich ein Praxiskurs belegt werden.
„Societät“. Stöckhardt vervollkomm­ Das Mindestalter betrug 16 Jahre.
nete im Selbststudium seine landwirt­ Die Landwirtschaftsschule Brösa
schaftlichen Kenntnisse. Als die Stadt war die erste ihrer Art in Sach-
Bautzen das Rittergut Purschwitz sen, als erste Einrichtung in ganz
aus finanziellen Gründen verkaufen Deutschland war 1818 die Acker-
musste, pachtete er 1842 das Ritter­ bauschule in Hohenheim gegründet
gut Brösa aus dem Besitz des Grafen worden. Die landwirtschaftliche
Schall­Riaucour, wobei sich Stöck­ Ausbildung in Sachsen begann 1830
hardt zunächst vergeblich um das an der Forstakademie Tharandt
Rittergut Putzkau bemüht hatte. mit einem eigenen Lehrstuhl, den
August Gottfried Schweitzer über-
Am 18. Oktober 1847 eröffnete Stöck­ nahm. Die Bedeutung der landwirt-
hardt in Brösa ein privates landwirt­ schaftlichen Abteilung in Tharandt
schaftliches Lehrinstitut. Er hatte nahm stetig zu. 1847 begründete
Bildung als Voraussetzung für eine Julius Adolph Stöckhardt einen
Steigerung der Produktion erkannt Lehrstuhl für Agrikulturchemie.
und wollte den angehenden Landwir­ Kleinere Ausbildungseinrichtungen
ten das theoretische wie praktische gab es in Schullwitz und – von
Rüstzeug für ihr Berufsleben vermit­ Heinrich August Blochmann
teln. Als Lehrer der Naturwissen­ gegründet – in Wachau. Größere
schaften holte Stöckhardt Emil von Bedeutung erlangte die landwirt-
Wolff nach Brösa, einer seiner Schüler schaftliche Abteilung an der Gewer-
war Friedrich von Boetticher, später beschule Chemnitz ab 1850 unter
sein Schwager und in Dresden ein Ernst Theodor Stöckhardt.
bedeutender Kunsthistoriker. Anläss­

347
lich des Maiaufstandes 1849 brachte ministerium in Brösa besucht hatte,
jener Stöckhardt in Schwierigkeiten. die Berufung zum Professor und zum
Boetticher war zum Barrikadenbau Aufbau einer landwirtschaftlichen
nach Dresden gereist, zwar rechtzeitig Abteilung an der Gewerbeschule
zurückgekehrt, doch auch Stöckhardt in Chemnitz. Er folgte hier seinem
wurden jetzt Sympathien für die Re­ Cousin Julius Adolph Stöckhardt
volution unterstellt. (4. Grades, aus dem Lauterbacher
Zweig), der in Chemnitz von 1838 bis
Stöckhardt war zuerst Sekretär und 1847 gewirkt hatte und inzwischen
später Vorsitzender des 1844 gegrün­ an der Forstakademie Tharandt die
deten Klixer landwirtschaftlichen Agrikulturchemie zu hoher Blüte
Vereins, der sich neben praktischen führte. Jener gehörte über viele Jahre
Fragen der Landwirtschaft auch der zu den wichtigsten fachlichen Bezugs­
Ausbildung sowie dem Obstbau und personen von Ernst Theodor Stöck­
der Teichwirtschaft widmete, und hardt, mit dem auch enge familiäre
er beteiligte sich am „Land­ und Beziehungen gepflegt wurden. Beide
forstwirthschaftlichen Wochenblatt zählten in den Folgejahren zu den
des sächsischen Markgrafthums Schrittmachern des landwirtschaftli­
Oberlausitz“. Im landwirtschaftlichen chen Versuchswesens in Deutschland,
Kreisverein Bautzen wirkte er als dessen Ziel in der Vermeidung von
Stellvertreter von Paul Hermann. Zu Hungerkrisen wie 1847/48 durch
Stöckhardts Bekanntenkreis während Steigerung der landwirtschaftlichen
der Brösaer Zeit zählten der Bautze­ Produktion bestand. Der Brösaer
ner Organist Carl Eduard Hering und Wolff wurde 1852 zum Gründungsdi­
Pfarrer Karl Traugott Kanig aus rektor der ersten landwirtschaftlichen
dem benachbarten Klix. Versuchsstation Deutschlands in
Leipzig­Möckern bestellt, die Julius
Stöckhardts Leistungen machten ihn Adolph Stöckhardt initiiert hatte.
schnell auch außerhalb der Oberlau­
sitz bekannt. 1849 gehörte er einer Ernst Theodor Stöckhardt war ein
Kommission zur Erörterung der Wegbereiter der Landwirtschaftsaus­
Grundsteuerverhältnisse im Erzgebir­ bildung in der Oberlausitz und ganz
ge an. Dabei wurde Julius Ambrosius Sachsen. In Chemnitz entstanden
Hülße auf ihn aufmerksam, seinerzeit wichtige Schriften, so „Bemerkungen
Direktor der Königlichen Gewer­ über das landwirtschaftliche Unter­
beschule in Chemnitz, später des richtswesen“ (1851), das „Lehrbuch
Polytechnikums in Dresden. Im Jahr über Drainage“ (1852) und wenig
darauf erhielt Stöckhardt auf Hülßes später das gemeinsam mit Julius
Empfehlung, der ihn zusammen mit Adolph Stöckhardt überarbeitete
Albert Christian Weinlig vom Innen­ Standardbuch „Der angehende Pach­

348
Stöckhardts Credo, vom Titelblatt seines Lehrbuchs über Drainage.

ter“. Der landwirtschaftliche Kreisver­ tannien, Belgien, Frankreich, in die


ein im Erzgebirge unter Stöckhardts Niederlande, Schweiz und nach Ös­
Leitung gründete 1853 zusammen terreich konnte er sich weiterbilden.
mit der Chemnitzer Gewerbeschule 1855 nahm er an der Weltausstellung
eine der ersten landwirtschaftlichen in Paris teil.
Versuchsstationen Deutschlands. Als
deren Leiter erhielt Stöckhardt die Von 1855 bis 1866 war Stöckhardt
Möglichkeit, die Ausbildung der Stu­ Herausgeber und leitender Redakteur
denten mit praktischen Versuchen zu der „Zeitschrift für deutsche Land­
verbinden. Wie sein Vorbild Albrecht wirthe“ in der Nachfolge von Julius
Daniel Thaer gab Stöckhardt einer Adolph Stöckhardt. Beide gehörten
praxisorientierten, wissenschaftlich dem Landeskulturrat Sachsens als
fundierten Ausbildung den Vorrang ordentliche Mitglieder an. 1858
gegenüber der reinen Grundlagen­ gründeten die Stöckhardts u. a. mit
vermittlung. Seiner Ausstrahlung als Paul Hermann und Julius Leh­
Lehrer war es zu verdanken, dass die mann aus Weidlitz die Zeitschrift
Studentenschaft der landwirtschaft­ „Die Landwirtschaftlichen Versuchs­
lichen Abteilung bei einem Anstieg Stationen“, die sich der Verbindung
von 4 auf 60 Schüler auf fast ein von landwirtschaftlicher Praxis und
Drittel der gesamten Gewerbeschule naturwissenschaftlichen Grundlagen
anwuchs. Auf Reisen nach Großbri­ verschrieben hatte.

349
Stöckhardt wurde 1861 an die forscher und Ärzte an. Stöckhardt
Universität Jena als Direktor des leistete in Jena Bahnbrechendes. Die
landwirtschaftlichen Lehrinstituts mit ihm eingeführte Personalunion
berufen. Sein Vorgänger, Friedrich vom Direktor der Lehranstalt und
Gottlob Schulze, hatte hier 1826 das Leiter der Versuchsstation erwies sich
erste universitäre landwirtschaftliche als Erfolgsmodell, denn sie verbesser­
Institut in Deutschland gegründet. te die materiellen Möglichkeiten der
Diese Lehrtradition fortsetzen zu Studentenausbildung. Der Lehrplan
dürfen, war für Stöckhardt eine große wurde stetig erweitert und umfasste
Auszeichnung. In Chemnitz hinter­ auch naturwissenschaftliche Grund­
ließ er eine spürbare Lücke. Nahezu lagen. Stöckhardt gewann solche
parallel zu seinem Wechsel nach Jena bekannten Wissenschaftler wie Karl
kam von dort Friedrich Nobbe als Snell und Ernst Abbe für die Lehre.
Lehrer nach Chemnitz. Er entwickelte Eine Zusammenarbeit gab es zudem
sich später in Tharandt, wo ihn Julius mit Ernst Haeckel, für dessen Theorie
Adolph Stöckhardt förderte, zu einem von der Vererbbarkeit erworbener
international bedeutenden Samen­ Eigenschaften Stöckhardt Indizien
kundler. Ernst Theodor Stöckhardt lieferte. Im Nachfolgestreit um die
gründete 1862 in Jena eine landwirt­ Leopoldina­Präsidentschaft nach Ca­
schaftliche Versuchsstation, die er bis rus‘ Tod 1869 stellten sich die Jenaer
1872 leitete. Gleichzeitig war er Di­ hinter Wilhelm Friedrich Georg Behn
rektor der Ackerbauschule Zwätzen, und gegen Ludwig Reichenbach.
die unter seiner Leitung verstaatlicht
wurde, Vorstand des landwirtschaft­ Die zunächst steigenden Studenten­
lichen Vereins und der Wander­ zahlen in Jena ebneten den Weg für
versammlung Thüringer Landwirte weitere universitäre Landwirtschafts­
sowie von 1863 bis 1872 Herausgeber institute, z. B. von 1869 bis 1872 in
der „Landwirtschaftlichen Zeitung für Leipzig, Gießen und Göttingen – die
Thüringen“. deutsche Agrarwissenschaft und mit
ihr die landwirtschaftliche Produk­
1862 wurde Stöckhardt in die Deut­ tion erlebten einen großen Auf­
sche Akademie der Naturforscher schwung. Dank Stöckhardt war die
Leopoldina aufgenommen. Deren Landwirtschaftswissenschaft inzwi­
Sitz wechselte im selben Jahr von Jena schen eine gleichberechtigte Disziplin
nach Dresden, nachdem Carl Gustav in Jena. Kriegsbedingt und mit der
Carus die Nachfolge von Dietrich wachsenden Konkurrenz, z. B. durch
Georg von Kieser als Präsident ange­ Julius Kühn in Halle, sanken die Stu­
treten hatte. Ernst Theodor und Julius dentenzahlen in Jena aber wieder.
Adolph Stöckhardt gehörten zudem
der Gesellschaft Deutscher Natur­

350
1872 ernannte das Weimarer Staats­
ministerium Stöckhardt zum Refe­
renten und Vortragenden Rat für
Landwirtschaft und Gewerbe und
gleichzeitig zum Finanzkommissar
der Universität Jena. In diesen Funkti­
onen initiierte er die Gründung einer
Gewerbekammer für das Großher­
zogtum Sachsen. Ab 1872 gehörte
Stöckhardt zudem als Gründungs­
mitglied dem deutschen Landwirt­
schaftsrat an. Er war maßgeblich an
der Vorbereitung von internationalen
und nationalen landwirtschaftlichen
Ausstellungen beteiligt, beispiels­ Die Bautzener Freimaurerloge „Zur
weise anlässlich der Weltausstellung goldnen Mauer“ wurde 1802 von
in Wien 1873, bei der Stöckhardts Ludwig Gedike gegründet. Von
Neffe Reinhold, der älteste Sohn von 1816 bis zu seinem Tod 1830 leitete
Robert Stöckhardt, die Präsenta­ sie Stöckhardts Vater, Gerhard
tion des Deutschen Reiches leitete. Heinrich Jacobjan Stöckhardt,
Stöckhardts Verdienste wurden mit als Meister vom Stuhl. Mitglieder
der Ernennung zum Großherzoglich waren auch Karl Gottfried Sie-
Sächsischen Geheimen Regierungsrat belis, Gottlob Adolf Ernst von
und von der Universität Jena mit dem Nostitz und Jänkendorf und
Ehrendoktortitel gewürdigt. Robert Stöckhardt. Ernst Theo-
dor Stöckhardt wurde 1838 in die
In Weimar wohnte die Nichte Marie Loge im I. Rang aufgenommen und
von Boetticher, die spätere Ehefrau stieg 1840 bzw. 1842 in den II. bzw.
des Weimarer Oberbürgermeisters III. Rang. Von 1889 bis 1897 leitete
Karl Pabst, zeitweise bei den Stö­ er sie als Meister vom Stuhl.
ckhardts. Die ebenfalls in Weimar
wohnende Nichte Clara, eine Tochter In Chemnitz besuchte Stöckhardt
von Robert Stöckhardt und Malerin, die Freimaurer-Loge „Harmonie“.
besuchte Onkel und Tante häufig. Auch während seiner Zeit in Thürin-
gen engagierte sich Stöckhardt bei
Die Lehrjahre in der Landwirtschaft den Freimaurern. So leitete er das
der Oberlausitz hatten Stöckhardt „Maurerkränzchen“ der Weimarer
nachhaltig geprägt. Er erkannte die Loge „Amalia“.
große Bedeutung einer systemati­
schen Ausbildung von Landwirten für

351
die Hebung des Wohlstands der Men­ dern der Comenius­Gesellschaft zur
schen. Die Tätigkeit als Landwirt­ Pflege von Wissenschaft und Volks­
schaftslehrer wurde zu seiner Passion. bildung.
Die Verbindung von Ausbildung und
Praxis war ihm wichtiger als eigener Stöckhardt wohnte in Bautzen zuletzt
wissenschaftlicher Ruhm. Stöckhardt Albertstraße 8 (heutige August­Bebel­
vergaß dabei nie seine Wurzeln. Die Straße). Er wurde in der Familien­
Oberlausitzische Gesellschaft der gruft in Jena bestattet.
Wissenschaften zu Görlitz berief
ihn 1862 zum korrespondierenden Quellen: „Stammtafel der Familie Stoeck­
hardt, Putzkauer und Lauterbacher Zweig, den
Mitglied. Nachdem er 1888 in den Verwandten zu Lieb zusammengestellt und
Ruhestand getreten war, kehrte Stö­ mit Erläuterungen auf Grund handschriftli­
ckhardt nach Bautzen zurück, um in cher Mittheilungen und sonstiger Quellen­
seiner Geburtsstadt den Lebensabend Nachweise versehen von Prof. Dr. Ernst
Theodor Stoeckhardt“. Wagner Weimar, 1883;
zu verbringen. Er war weiterhin sehr
Walter Boetticher: „Ernst Theodor Stoeck­
aktiv und führte historische For­ hardt“. Leopoldina, H. 34, 1898, S. 88–91;
schungen zur Freimaurerei und zur Theophil Gerber: „Persönlichkeiten aus Land­
Oberlausitzer Adelsfamilie von Dam­ und Forstwirtschaft, Gartenbau und Veteri­
nitz durch, in einer Übersicht stellte närmedizin“. Bd. 2, NORA Dyck & Westerhei­
de, 2004, S. 753; Neues lausitzisches Magazin,
er die aus der Lausitz und Schlesien Bd. 40, 1863; Gustav Adolf Poenicke: „Album
stammenden Wissenschaftler in der der Rittergüter und Schlösser im Königrei­
Leopoldina zusammen. che Sachsen“. Bd. 3, 1859; Stephan Luther:
„Von der Kgl. Gewerbschule zur Technischen
Universität“. Chemnitz, 2003; Joachim Har­
Ab 1889 leitete Stöckhardt die Baut­
tung, Andreas Wipf: „Die Ehrendoktoren der
zener Freimaurerloge „Zur goldnen Friedrich­Schiller­Universität in den Berei­
Mauer“ als Meister vom Stuhl. In der chen Naturwissenschaften und Medizin“. hain
National­Mutterloge „Zu den drei Verlag, 2004; Wieland Berg, Michael Kaasch:
Weltkugeln“ war er ebenso Ehren­ „Halle als Sitz der Leopoldina. Zufall oder
glückliche Fügung?“ Leopoldina, H. 5, 2010, S.
mitglied wie bei „Amalia“ in Weimar, 293–330; Ernst Haeckel: „Generelle Morpho­
„Carl zu den 3 Adlern“ in Erfurt, logie der Organismen“. Reimer, 1866; Karin
„Carl August zu den 3 Rosen“ in Jena, Stöckhardt; Sanct Johannis Freimaurer­Loge
„Friedrich August zu den 3 Zirkeln“ zur goldnen Mauer, Mitgliederverzeichnisse
1808, 1819, 1840/42, 1852/53; Schöne: „Die
in Zittau, „Zur gekrönten Schlange“
Sächsische Landwirtschaft“. 1925; Nekrologe
in Görlitz, „Zum goldenen Apfel“ in Comenius­Gesellschaft und Freimaurer­Zei­
Dresden, „Apollo“ in Leipzig, „Bru­ tung; Cornelius Gurlitt: „Schwepnitz“. In: Be­
derkette zu den drei Schwanen“ in schreibende Darstellung der älteren Bau­ und
Zwickau, „Zur Harmonie“ in Chem­ Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. 35.
Heft: Amtshauptmannschaft Kamenz (Land).
nitz, „Zu den ehernen Säulen“ in C. C. Meinhold, Dresden 1912; Olaf Bastian
Dresden und „Isis“ in Lauban. 1891 u. a.: „Oberlausitzer Heide­ und Teichland­
gehörte er zu den Gründungsmitglie­ schaft“. Böhlau, 2005, S. 75

352
Ernst Stöckhardt hat sich um die Erinnerung an seine Familie mit einer
kommentierten Stammtafel verdient gemacht.

353
Porträt Thormeyers, gezeichnet von Carl Christian Vogel von Vogelstein am
25. Juni 1813 in Rom, das später mit Vogelsteins Sammlung in den Besitz
des Kupferstichkabinetts Dresden überging.

354
Thormeyer, Gottlob Friedrich
Hofbaumeister in Dresden
23.10.1775 Dresden – 11.02.1842 Dresden

V: Gottlob Friedrich (1753– 7.12.1833), Schuhmachermeister und Handelsmann; M: Christiane


Regina geb. Starcke (April 1745–20.11.1814), Tochter des Modelleurs an der Meißner Porzellan­
Manufaktur Johann Samuel Starcke; G: Christiana Dorothea (*29.3.1774), Friedrich August
(22.5.1777– 6.5.1831, Schuhmachermeister), Carl Gottlob (*12.11.1778), Johanna Carolina
(*5.9.1780), Maximilian Ludwig (*3.6.1783, Schuhmacher), Juliana Eleonora (*9.11.1785); E:
22.7.1801 Tharandt, Juliane Sophie geb. Hübler (13.5.1780–18.8.1810), Tochter des kurfürstli­
chen Hofgärtners in Übigau und im Dresdner Großen Garten Johann Gottfried Hübler (1795
Landschaftsgarten Kloster Altzella); K: Emilie (6.5.1802–27.4.1849), verheiratet mit dem Diakon
und Katecheten an der Kreuzkirche Adam Carl Georg Wagner, Juliane Adelheid (12.6.1804–
14.5.1817); Enkel: 3 Mädchen, 2 Jungen

Thormeyer lernte schon als 10­Jäh­ Nach dem Studium ließ sich Thor­
riger an der Dresdner Kunstakade­ meyer als Architekt in Dresden nie­
mie. Zunächst wurde er an der darin der, bekannt wurde er aber zunächst
integrierten Akademie für Malerei, durch seine Architekturzeichnungen.
Bildhauerei und Kupferstecherei von Er schuf Ansichten vom Dom Meißen
den Unterlehrern Christian Gott­ (1794), von Leipzig und vom Schloss
lieb Mietzsch und Christian Gottlob Pillnitz (1801), die von Christian
Fechhelm im Zeichnen unterrichtet. August Günther gestochen bzw. von
Bei ihnen kopierte er nach Origina­ François Aubertin radiert wurden.
len von Giovanni Battista Casanova, 1799 unternahm er eine Studien­
Co­Direktor neben Johann Eleazar wanderung durch Sachsen, Sachsen/
Zeissig. Später wechselte Thormeyer Anhalt und Thüringen. Es entstanden
zur parallelen Akademie für Baukunst Aquarelle und Deckfarbenbilder von
zu Friedrich August Krubsacius. Von den Parks in Wörlitz, Weimar und
1791 bis 1795 prägte ihn hier Gott­ Dieskau. Thormeyer beteiligte sich
lob August Hölzer im Sinne eines am „Ideenmagazin für Liebhaber von
barocken Klassizismus. Zeichnen, Gärten, Englischen Anlagen und für
Perspektive, Risse und Säulenordnung Besitzer von Landgütern“ des Leip­
unterrichtete Johann Alexander Da­ ziger Philosophieprofessors Johann
vid Friedrich. Hölzer und Krubsacius Gottfried Grohmann, das von 1796
waren maßgeblich am Wiederaufbau bis 1806 erschien. 1808 war er mit
der 1792 geweihten Kreuzkirche, zu 11 Zeichnungen, die u. a . Christian
deren Gemeinde die Familie Thor­ Gottlob Hammer gestochen hatte,
meyer gehörte, in einem Gemisch in dem Buch „Dresden mit seinen
von Spätbarock und Klassizismus Prachtgebäuden und schönsten Um­
beteiligt. gebungen‘‘ vertreten.

355
Johann Andreas Schubert, später
Konstrukteur der „Saxonia“, vermit­
telte er eine Anstellung.

Von 1801 bis 1830 war Thormeyer


Freimaurer, möglicherweise beein­
flusst von seinem Oberlandbaumeis­
ter Johann Gottlob Hauptmann. Für
Ignaz Aurelius Fesslers „sämmtliche
Schriften über Freymaurerey“ von
Der Canaletto-Blick auf Dresden: 1807 zeichnete er einen „magischen
Die berühmte Stadtansicht nach Teppich“. Thormeyer gehörte der
Bernardo Bellotto (1748) in einem Loge „Zum goldenen Apfel“ an, in der
Stich von Christian Gottlob Ham- Loge „Zu den drei Schwertern und
mer nach einer Zeichnung von Gott- Asträa zur grünenden Raute“ war er
lob Friedrich Thormeyer (um 1818). Ehrenmitglied. Ein führendes Mit­
glied der Apfelloge war Karl August
1800 holte der neuberufene Ober­ Böttiger, Gottlob Adolf Ernst
landbaumeister Johann Gottlob von Nostitz und Jänkendorf war
Hauptmann Thormeyer als Konduk­ Ehrenmitglied. Der befreundete Bild­
teur ins Hofbauamt, wo er zunächst hauer Franz Pettrich, ein langjähriger
für Vermessungs­ und Zeichenarbei­ Kollege Thormeyers im Hofbauamt,
ten zuständig war. Größere Bauauf­ gehörte ebenfalls der Apfelloge an.
träge blieben wegen der unsicheren
politischen und wirtschaftlichen Lage Sachsen war seinerzeit mit Napoleon
aus. Zu Thormeyers frühen Arbeiten verbündet. Die Dekorationen und Eh­
als Architekt zählte 1800 der Um­ renbauten zu dessen Besuch in Dres­
bau des Herrenhauses vom Ritter­ den im Mai 1812 entwarf Thormeyer
gut Helfenberg, für Tharandt und zusammen mit Oberlandbaumeister
Radeberg entwarf er Badhäuser, in Johann Gottlob Hauptmann. Im
Kleindrebnitz 1811 ein Anwesen für selben Jahr erhielt er in der Nachfol­
den Kammergutsverwalter Johann ge seines ehemaligen Lehrers Hölzer
Gottfried Nake und 1812 plante den Rang eines Hofbaumeisters im
er den Umbau der Meißner Fürsten­ Hofbauamt. Daraufhin bildete er sich
schule St. Afra. Auf einigen Baustel­ auf einer Reise über Süddeutschland
len beschäftigte Thormeyer den aus und die Schweiz bis nach Italien im
armen Verhältnissen stammenden Architekturzeichnen weiter, wodurch
Wilhelm Gotthelf Lohrmann, später er auch den Kriegswirren in Dresden
Gründungsvorsteher der heutigen entfloh, die schließlich in der Nieder­
TU Dresden, als Hilfsarbeiter. Auch lage Napoleons und seiner Verbünde­

356
Die Freitreppe zur Brühlschen Terrasse von Thormeyer ist heute ein vielge-
nutzter Aufgang zum „Balkon Europas“. Mit ihrer Hilfe wurde der ehemali-
ge Brühlsche Garten der Öffentlichkeit zugänglich. Seit 1791 war hier in der
Brühlschen Bibliothek die Kunstakademie ansässig, wo Thormeyer zu jener
Zeit Architektur studierte. Im Gartenpavillon gegenüber wurde 1828 unter
Thormeyers früherem Mitarbeiter Wilhelm Gotthelf Lohrmann die heuti-
ge TU Dresden gegründet. Der Figurenschmuck der Treppe stammt vom
Ernst Rietschel-Schüler Johannes Schilling.
ten in der Völkerschlacht zu Leipzig die Repnin der Allgemeinheit zu­
sowie in der Gefangenschaft des gänglich machen wollte. Das Ober­
sächsischen Königs Friedrich August militärbauamt, dem Thormeyer jetzt
I. („der Gerechte“) in Preußen mün­ angehörte, stand unter der Leitung
deten. Sachsen stand danach unter von Johann August Le Coq. Repnins
einem russisch­preußischen „Gene­ Berater war Johann Gottfried Körner,
ralgouvernement der Hohen Verbün­ Meister vom Stuhl der Freimaurerloge
deten Mächte“. Nach seiner Rückkehr „Zu den drei Schwertern“. Ebenfalls
nach Dresden erhielt Thormeyer 1814 1814 entwarf Thormeyer die Denk­
vom russischen Gouverneur Nikolai male für die Helden der Freiheits­
Grigorjewitsch Repnin­Wolkonski, kriege Theodor Körner in Wöbbelin
einem Freimaurer, Aufträge für Tor­ (im Auftrag des befreundeten Vaters)
häuser am Großen Garten und für die und Jean­Victor Moreau (im Auftrag
Freitreppe zur Brühlschen Terrasse, Repnins, zusammen mit dem Bild­

357
1815 veröffentlichte Thormeyer den
„Vorschlag zu einem Denkmahle der
Wiederkehr Sr. Majestät des Königs
von Sachsen etc. Friedrich August
nach Dresden am 7. Juni 1815, nebst
zwey Abbildungen in Steindruck“.
Pläne für ein monumentales Denkmal
in Form eines Sandsteinobelisken
anlässlich des 50­jährigen Thron­
jubiläums im Jahre 1818 lehnte der
Blick auf Dresden von Thormeyers Monarch selbst ab. Nach dem Tod
Moreau-Denkmal auf der Räcknitz- des beliebten Königs gründete sich
höhe. ein Denkmalverein um Thormeyer,
Karl August Böttiger und Johann
hauer Christian Gottlieb Kühn) auf
Gottlob von Quandt. Thormeyer
der Dresdner Räcknitzhöhe. Wegen
gehörte später dem Komitee an, das
der vielen Toten während des Kriegs
Ernst Rietschel den Zuschlag für
von 1813 wurde in Dresden ein neuer
ein Skulpturdenkmal gab, der damit
Friedhof benötigt. Thormeyer erhielt
seinen ersten großen Auftrag erhielt.
den Auftrag, die später Trinitatis­
Rietschel realisierte den Auftrag bis
friedhof benannte Begräbnisstätte am
1835 für den Zwinger, der Sockel
damaligen Stadtrand zu projektieren,
stammte von Gottfried Semper. Seit
die er schließlich – aus Kostengrün­
2008 steht das von Thormeyer maß­
den einfacher gestaltet – bis 1816
geblich geförderte Denkmal auf dem
fertigstellte.
Schloßplatz nahe seiner Freitreppe
zur Brühlschen Terrasse.

König Friedrich August I. beauftragte


Thormeyer 1815, das zwei Jahre zuvor
abgebrannte Bischofswerda wieder­
aufzubauen. Gemeinsam mit Bürger­
meister Heinrich Gottlob Süßemilch,
jener trat 1816 der Freimaurerloge
„Zum goldenen Apfel“ bei, plante er
öffentliche Gebäude und zahlreiche
Die beiden Torhäuser am Großen Bürgerhäuser. Zu den wichtigsten
Garten wurden 1945 bei den Bauten nach seinen Entwürfen zählen
Bombenangriffen auf Dresden zer- die Christuskirche, das Rathaus,
stört und 1999 nach Thormeyers der „Bischofssitz“ und das Gasthaus
Entwürfen wiederaufgebaut. „Zum Goldenen Löwen“. Auch das

358
Das Rathaus von Bischofswerda um 1900. Thormeyer hat das Antlitz der
Stadt mit ihrem klassizistischen Markt nachhaltig geprägt. Laut der Disser-
tation von Gero Schilde (1922) und nach einer unveröffentlichten Chronik
von Johannes Weber (1977) würdigte die Kirchgemeinde die Verdienste
Thormeyers 1818 mit dem Bürgerrecht.

Hofkapellmeister Francesco Mor-


lacchi nach einer Zeichnung von
Gottlob Friedrich Thormeyer. In
der historischen Literatur wird für
Morlacchi wie für Thormeyer im
Zusammenhang mit der Einweihung
der damaligen Marienkirche eine
Ehrenbürgerschaft in Bischofswerda
zitiert, die im dortigen Stadtarchiv
aber nicht nachgewiesen ist. Vgl.:
„Conversations-Lexicon der neues-
ten Zeit und Literatur“, M bis R, Bd.
3, Brockhaus, 1833, S. 173; ebenso
bei Fischer & Fuchs 1837, F. H. Köh-
ler 1840 und 1841 sowie V. Bartelli
Perugia 1860.

359
Zur Weihe am 30. Oktober 1818 der seit 1816 nach Thormeyers Plänen
errichteten Marienkirche (heutige Christuskirche) in Bischofswerda er-
klang Musik von Hofkapellmeister Francesco Morlacchi. Nach Thormeyers
Entwürfen wurden auch der Taufstein und der Kronleuchter gefertigt.

360
1818 zu Ehren des Königs aufgestellte Ab April 1817 wurden die Rückbau­
Denkmal soll nach einer unveröffent­ arbeiten an der ehemaligen Dresdner
lichten Chronik von Johannes Weber Stadtbefestigung unter einer von
von ihm entworfen sein. Thormeyer geleiteten „Demolitions­
kommission“ fortgesetzt. Die Pläne
dafür reichten bis in das vorange­
gangene Jahrhundert zurück. Erste
Arbeiten ab 1809 unter dem 1813
verstorbenen Johann Gottlob Haupt­
mann, an denen Thormeyer als des­
sen Mitarbeiter im Hofbauamt sicher
schon beteiligt gewesen war, zielten
darauf ab, Verkehrsbehinderungen
als Hemmnis der wirtschaftlichen
Entwicklung zu beseitigen. Außerdem
sah Napoleon, auf dessen Befehl dies
Heinrich Conrad Wilhelm Calberla erfolgte, damals keinen Sinn mehr
gründete neben dem Italienischen in der Dresdner Stadtfestung. Schon
Dörfchen elbwärts vom Zwinger die 1812 wurden die Arbeiten wegen der
erste sächsische Zuckersiederei. Der
Bau von Thormeyer (1817/20) war
eines der ersten Industriegebäude
Dresdens. Von Beginn an hatte
die Freimaurerloge „Zu den drei
Schwertern“ einen Flügel angemie-
tet, später war die Loge „Asträa zur
grünenden Raute“ ebenfalls hier an-
sässig. Thormeyer war wie Gottlob
Adolf Ernst von Nostitz und
Jänkendorf Ehrenmitglied der Von 1822 bis 1824 wurde im Westen
Loge „Asträa zur grünenden Raute“, der Altstadt nach Plänen von Thor-
mit dem Logenmitglied Friedrich meyer der Antonsplatz im Bie-
Anton Serre war er befreundet. dermeier-Stil als Handelszentrum
Nach Calberlas Tod 1836 wurde die angelegt. Er hieß zunächst „Demo-
Fabrik aufgegeben, die Freimau- litionsplatz“ und wurde 1828 nach
rer bauten sich zusammen mit der dem regierenden König Anton dem
Apfelloge ein eigenes Logengebäude Gütigen benannt. 1846 errichtete
und die ehemalige Zuckersiederei hier die Polytechnische Schule, die
diente nach einem Umbau ab 1853 heutige TU Dresden, einen Neubau
als erstes „Hotel Bellevue“. (Zeichnung: Thormeyer, 1826).

361
Von 1822 bis 1824 baute Thormeyer den Turm der Annenkirche.

veränderten militärischen Situation realisieren. Für die Integration von


aber für fünf Jahre wieder eingestellt. Innenstadt und Vorstädten wurden
Thormeyers Pläne reichten weit über neue Straßen und Plätze benötigt.
eine bloße Entfestigung hinaus. Trotz Eine Ringstraße sollte in der Altstadt
knapper Finanzmittel und schwieri­ den Pirnaischen Platz mit dem An­
ger Eigentumsverhältnisse konnte er tonsplatz verbinden, die ebenso neu
sein gesamtheitliches Konzept für die angelegt wurden. Von den Garten­
Neugestaltung Dresdens weitgehend anlagen am Zwinger, die Thormeyer

362
zusammen mit Hofgärtner Carl
Adolf Terscheck gestaltete, über die
Brühlsche Terrasse bis zu dem neuen
Botanischen Garten entstand ein grü­
ner Ring. Der sternförmig mit einem
Kranz von Radialstraßen angelegte
Albertplatz auf Neustädter Seite (frü­
her Bautzner Platz) gehörte zu den
schönsten Plätzen Deutschlands. Die
nahe Antonstadt (Äußere Dresdner Das Leipziger Tor beim Japanischen
Neustadt) plante Thormeyer in einem Palais mit den beiden Wachhäusern
Stilgemisch aus Klassizismus und von Gottlob Friedrich Thormeyer
Biedermeier. In diesen Jahren errich­ (Aquarell von Johann Carl August
tete er auch die „Calberlasche Zucker­ Richter, um 1830). Die vorherigen
siederei“ anstelle einer alten Elbbastei Torhäuser am Platz waren Teil der
an der Augustusbrücke und den Dresdner Befestigungsanlage und
Turm der Annenkirche. Thormeyer wurden von Thormeyer durch rein
unterbreitete zudem Vorschläge, wie klassizistische Bauten ersetzt. Die
die Straßen und Plätze zu bepflastern Ruine des südwestlichen Torhau-
seien, um eine langfristige Haltbar­ ses wurde 1969 abgebrochen, das
keit zu gewährleisten. In den 1820er nordöstliche Torhaus 2014 teilweise
Jahren stand Thormeyers Hofbauamt restauriert.
unter der Leitung von Johann Chris­
tian Schuricht, einem Freimaurer der Mitteln fehlte, um repräsentative
Schwerterloge. Die von 1827 bis 1829 Großaufträge zu vergeben. Trotzdem
gebauten Torhäuser am Weißen Tor gelang es Thormeyer, noch unter dem
nahe dem Japanischen Palais anstelle Einfluss der französischen Revoluti­
niedergerissener Festungsanlagen onsarchitektur, einen charakteristi­
waren Thormeyers letzte bedeutende schen, geradlinigen Klassizismus zu
Arbeiten in Dresden. Um 1829/1830 entwickeln.
war die Entfestigung abgeschlossen.
Sie stellte einen Meilenstein in der Um 1830 begann die Umgestaltung
Entwicklung Dresdens von einer des Theaterplatzes zwischen Resi­
barocken Residenzstadt zu einer denzschloss/Hofkirche, Zwinger
modernen Metropole dar. Diese Zeit und dem kleinen Komödienhaus am
fiel aber in eine architekturhistorisch Italienischen Dörfchen. Thormey­
relativ unbedeutende Periode Dres­ er war fast 20 Jahre maßgeblich an
dens, weil es nach den Zerstörungen den Planungen für das Hoftheater
in der Schlacht von Dresden vom 26. beteiligt gewesen, das aber schließ­
und 27. August 1813 an finanziellen lich von Gottfried Semper realisiert

363
wurde. 1816 hatte Thormeyer einen der Thronbesteigung durch Friedrich
ersten Entwurf zum Umbau des alten August II. im Jahre 1836 änderte sich
Hoftheaters von Matthäus Daniel die Situation. Auf Empfehlung von
Pöppelmann am Zwinger eingereicht. Karl Friedrich Schinkel ließ man die
Die Umbaukosten sollten bei 1150 Umbauplanungen zugunsten eines
Sitzplätzen 21154 Taler betragen. In kompletten Neubaus ab 1838, des ers­
spätere Planungen war er als Berater ten Semper‘schen Hoftheaters, fallen.
eingebunden. Es schien zunächst so, Zudem hatte Semper ein ganzheitli­
dass seine besser an die Zwingerum­ ches Konzept entwickelt, bestehend
gebung angepasste Überarbeitung der aus Hoftheater, dem Denkmal für
Entwürfe von Theodor Ottmer und Friedrich August I. und der Ergän­
Joseph Thürmer aus dem Jahre 1829 zung des Zwingers mit einer Gemäl­
realisiert werden würde. Der General­ degalerie. Der Historismus löste den
intendant des Hoftheaters, Wolf Adolf Klassizismus ab. 1839 wurde Thor­
August von Lüttichau, unterstützte meyer mit Ernst Rietschel in eine
Thormeyers Pläne, die jedoch an der Kommission berufen, die verschiede­
Finanzierung scheiterten. Da weiter­ ne Standorte für die zuvor im Stallhof
hin Handlungsbedarf bestand, auch untergebrachte Gemäldegalerie prü­
weil das verfügbare Platzangebot im fen sollte. Den Auftrag erhielt später
Theater die Nachfrage nicht deckte, wiederum Semper; Rietschel hatte
wurden die Planungen 1834 wieder für eine Nutzung der von Thormeyer
aufgenommen. Thormeyer hatte nach erbauten Zuckersiederei, für die von
Schurichts Tod im Jahre 1832 noch den Erben Calberlas nach einer neuen
kurz unter Anton Ludwig Blaßmann Nutzung gesucht wurde, plädiert. Der
im Hofbauamt gearbeitet, war danach Dresdner Kunstverein organisierte
aber zum Oberlandbaumeister ohne hier Ausstellungen.
Bezug auf das Hofbauamt berufen
worden. Zu den Planungen des Hof­ Der Schwiegersohn eines sächsischen
theaters zog man Otto von Wolframs­ Hofgärtners gehörte 1828 zu den
dorf vom Hofbauamt und Carl Gott­ Begründern der „FLORA – Sächsi­
hard Langhans hinzu, zudem wurden sche Gesellschaft für Botanik und
Neubaupläne diskutiert. Langhans Gartenbau“. Neben Thormeyer und
legte auf der Grundlage der bisheri­ dem Initiator Ludwig Reichenbach
gen Vorschläge einen neuen Entwurf zählten auch Karl August Böt­
zum Umbau des Pöppelmann‘schen tiger, Oberhofprediger Christoph
Hoftheaters vor. Er sollte die ästhe­ Friedrich Ammon, der Pädagoge Karl
tische Leitung, Thormeyer die öko­ Justus Blochmann, Hofmarschall
nomische übernehmen. 1835 erhielt Carl Graf von Bose und Kammerherr
Thormeyer den Auftrag für konkrete Georg von Carlowitz zu den Stif­
Pläne und er fertigte Stiche an. Mit tungsmitgliedern. Exklusivität war

364
ein Merkmal der Vereinsgründungen
im Dresden des frühen 19. Jahrhun­
derts, und die Botanik war unter der
Regentschaft von Friedrich August
I. zu hohem Ansehen gelangt. Erst
später traten der Gesellschaft mit Carl
Adolf Terscheck und Jakob Seidel
auch Gärtner bei. Die Publikationen
der FLORA erschienen zunächst als
Beilage der „Dresdner Abendzeitung“
von Theodor Hell. Zu den prominen­
ten Mitgliedern im Laufe der Zeit
gehörten auch Carl Gustav Carus,
Heinrich Cotta, Oscar Drude, Max
Neumeister und Bruno Steglich.
Schon 1820 hatte Reichenbach im
Zusammenwirken mit Terscheck
und mit Thormeyers Unterstützung Das Schweizerhaus auf der Bastei,
den Botanischen Garten in den alten von Hermann Krone 1857 foto-
Befestigungsanlagen gegründet. Thor­ grafiert. Besonders Maler wie die
meyer besuchte zudem literarisch und Schweizer Adrian Zingg und An-
künstlerisch geprägte Gesellschaften. ton Graff, Lehrer an der Dresdner
So zählte er wie Carl Gustav Carus, Kunstakademie zur Studienzeit
Theodor Hell und Ernst Rietschel Thormeyers und Namensgeber der
zu den häufigen Gästen beim Major Sächsischen Schweiz, erwarben sich
und Mäzen Friedrich Anton Serre. große Verdienste um deren touris-
Wie Gottlob Adolf Ernst von tische Propagierung. 1826 entstand
Nostitz und Jänkendorf gehörte nach Plänen von Thormeyer das ers-
Thormeyer zu den ersten Mitgliedern te feste Gaststättengebäude auf der
der „Ökonomischen Gesellschaft im Bastei, in dem Gäste auch übernach-
Königreiche Sachsen“. Sie war Fra­ ten konnten. Die Bastei wurde in der
gen der Volkswirtschaft und dabei Folgezeit zum Hauptausflugsziel der
besonders der Landwirtschaft ge­ Sächsischen Schweiz. Das Schwei-
widmet und stand unter der Leitung zerhaus von Thormeyer wurde 1894
von Kabinettsminister Detlev von bedeutend erweitert.
Einsiedel. 1827 war sie maßgeblich an
den Vorbereitungen zur Gründung Blochmann. 1831 übernahm Gustav
der Technischen Bildungsanstalt, der von Flotow die Leitung der Ökono­
heutigen TU Dresden, beteiligt. Das mischen Gesellschaft, die Thormeyer
Konzept erarbeitete Rudolf Sigismund zu ihrem Ehrenmitglied ernannte.

365
ansehnlichen Vermögen zeugte.
Thormeyer hatte früh seine Ehe­
frau verloren. Sie fanden mit ihren
Töchtern in einer von Thormeyer
entworfenen Grabstätte neben dem
Grab seiner Eltern auf dem Dresdner
Eliasfriedhof die letzte Ruhe. Ihre
Enkelinnen Sophie Adelheid Wagner
verh. Salles und Charlotte Elise Wag­
ner verh. Parrot de Puyroche lebten
als Malerinnen in Frankreich.

In Dresden erinnern eine Straße in


Zschertnitz und die Villa Thormey­
er auf dem Gelände der ehemaligen
Neustädter Festungswerke (Oberer
Kreuzweg 8) an ihn. Die Villa war
1826 von Thormeyer für den Mu­
sikinstrumentenmacher Ernst Philip
Rosenkranz errichtet worden und ist
Grab von Gottlob Friedrich Thor-
eines der wenigen Zeugnisse der klas­
meyer auf dem Eliasfriedhof. Foto:
sizistischen Stilepoche in Dresden.
Bananenfalter (Wikimedia Com-
Das Kupferstichkabinett bewahrt eine
mons, Lizenz CC0 1.0 Universell)
Sammlung seiner Zeichnungen auf.
Manchen Neuerungen stand Thor­ In Bischofswerda trägt eine Straße im
meyer skeptisch gegenüber. Als in der Gewerbegebiet unweit des „Goldenen
Dresdner Neustadt zwischen Schwar­ Löwen“ Thormeyers Namen.
zem und Weißem Tor die Furnierfab­
rik „F. W. Schaft & Co.“ eine Dampf­ Quellen: Georg Kaspar Nagler: „Neues allgemeines
kraftanlage betrieb, wurden davon Künstler­Lexicon‘‘. Fleischmann, 1848, S. 387–388;
„Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von
nicht nur viele Schaulustige angelockt, der Antike bis zur Gegenwart‘‘. Seemann, Bd. 33,
sondern die Anwohner fühlten sich 1939, S. 87–88; Paul Ehmig: „Gottlob Friedrich
durch Lärm, Rauch und Erschütte­ Thormeyer“. Dresdner Geschichtsblätter, Nr. 1,
1896, S. 233–240; Gustav Müller: „Nachträgli­
rungen so belästigt, dass sie sich mit ches über Hofbaumeister Thormeyer“. Dresdner
Thormeyer als Wortführer dagegen Geschichtsblätter, Nr. 2, 1897, S. 31–34; Ursula Pi­
etzsch: „Er baute die bekannteste Dresdner Freitrep­
beschwerten. Thormeyer selbst war pe: vor 222 Jahren wurde Hofbaumeister Gottlob
wirtschaftlich erfolgreich gewesen. Friedrich Thormeyer geboren“. Dresdner Amts­
Nach seinem Tode veröffentlichte der blatt, 43, 1997, S. 6/8; Johannes Weber: „Aus der
Geschichte meiner Heimat“. Unveröff. Chronik von
Dresdner Anzeiger am 10. März 1842 Bischofswerda, 1977, Bd. 4, S. 22–23; Karl Wilhelm
eine Auktionsanzeige, die von einem Mittag: „Chronik der königlich sächsischen Stadt

366
„Villa Thormeyer“, zwischen Albertplatz und Albertbrücke gelegen.
Bischofswerda“. May Bischofswerda, 1861; Christi­ schen Fürst Nikolai Grigorjewitsch Repnin­Wolkon­
ane Theiselmann: „Das Denkmal Friedrich August ski“. 2009; Bastian Wienrich: „Die Querbebauung
I. von Sachsen von Ernst Rietschel“. Zeitschrift der Elbe am Beispiel der Stadt Dresden: Inwieweit
für Kunstgeschichte, Bd. 53, H. 1, 1990, S. 1–24; wirkte der ästhetische Aspekt bei der Bebauung bzw.
Arthur Weichold: „Wilhelm Gotthelf Lohrmann „Nichtbebauung“ des Dresdner Elbabschnittes“.
1796­1840“. J.A. Barth, 1985; Rudolph Zaunick: GRIN Verlag, 2007; Günter Jäckel: „Dresden zur
„Gründung und Gründer der Naturwissenschaftli­ Goethezeit: 1760–1815“. Dausien, 1988; Dresdner
chen Gesellschaft ISIS vor hundert Jahren“. Sitzungs­ Geschichtsverein (Hrsg.): „Dresden: die Geschichte
berichte und Abhandlungen der naturwissenschaft­ der Stadt von den Anfängen bis zur Gegenwart“.
lichen Gesellschaft Isis, 1934, S. 9–49; Allgemeine Junius, 2002; Petra Listewnik, Michael Schäfer, Jörg
Literaturzeitung, Bd. 1, Nr. 50, 1809; Zeitung für die Ludwig: „Wirtschaft und Staat in Sachsens Indus­
elegante Welt, Bd.12, Janke, 1812; Andrea Dietrich: trialisierung, 1750­1930“. Bd. 3 von Beiträge zur
„Zwischen Tradition und Modernität: König Johann Wirtschaftsgeschichte, Leipziger Universitätsverlag,
von Sachsen 1801­1873“. Schriften zur sächsischen 2003; Friedrich Adolf Peuckert: „Die ger. und vollk.
Geschichte und Volkskunde, Bd. 8, Leipziger St. Johannisloge zu den drei Schwertem und Asträa
Universitätsverlag, 2004; Klaus Jan Philipp: „Um zur grünenden Raute im Orient Dresden 1738­1882:
1800: Architekturtheorie und Architekturkritik in Ein Beitrag zur Geschichte der Freimaurerei in
Deutschland zwischen 1790 und 1810“. Edition Axel Dresden und Sachsen. Nach archivalischen Quellen
Menges, 1997; Max Georg Mütterlein: „Gottfried bearbeitet“. Bruno Zechel, 1883; „Die Freimau­
Semper und dessen Monumentalbauten am Dresd­ rerloge zum goldenen Apfel im Orient Dresden
ner Theaterplatz“. Dissertation, TH Dresden, 1913; 1776–1876“. Heinrich Dresden, 1876; Adressbücher
Thomas Kantschew: „Die städtebauliche Entwick­ der Stadt Dresden; Ursula Müller geb. Thormeyer,
lung Dresdens im 19. Jahrhundert“. FU Berlin, 1996; Mitteilungen 2015; Gero Schilde: „Gottlob Friedrich
www.eliasfriedhof­dresden.de; Miriam Liese: „Die Thormeyer, ein spätklassizistischer Architekt Sach­
Eröffnung der Brühlschen Terrasse durch den russi­ sens‘‘. Dissertation 1922

367
Gottfried Unterdörfer in Milkel. Foto: Burkhard Unterdörfer, Mitte der
1960er Jahre.

368
Unterdörfer, Max Gottfried Rudolf
Dichterförster in Uhyst/Spree
17.03.1921 Zschornau b. Kamenz – 09.09.1992 Uhyst

V: Otto Max (*21.9.1895 Brunndöbra, †13.8.1945 im Internierungslager Toszek/Tost, Schle­


sien), Förster in Kamenz; M: Erna Linda geb. Franke (*5.2.1900 Bernsdorf, †8.5.1981 Lö­
bau), kaufmännische Angestellte; G: Erna Johanna Erika verh. Gebler (*20.4.1924 Kamenz,
†11.3.2008 Ebersbach, kaufmännische Angestellte); E: 26.8.1950 Christa Charlotte geb. Burg­
hardt (*9.12.1920 Kamenz, †13.2.2012 Thyrow), Tochter des Maschinenfabrikanten Friedrich
Burghardt; K: Burkhard (*17.6.1951, Oberforstrat in Ludwigsfelde, Schwiegersohn eines Studien­
freundes von Richard Garbe)

Gottfried Unterdörfer wurde als seinen Schrecken kennen und wurde


erstes Kind einer Försterfamilie in mehrfach verwundet. Er kam am 9.
Zschornau bei Kamenz geboren. Mai 1945 in Bayern in amerikanische
Kurz danach zog die Familie in das Gefangenschaft. Nach seiner Entlas­
neu erbaute Kamenzer Forsthaus am sung wollte er im Februar 1946 nach
Rande der Stadt nahe Wiesa. Hier Hause zurückkehren, wurde jedoch
verlebte er Kindheit und Jugend. Es bereits in Erfurt durch die Rote Ar­
war der Vater, der in seinem Sohn mee erneut gefangen genommen und
mit gemeinsamen Pirschgängen das in ein Lager bei Moskau verbracht.
innige Verhältnis zur Natur erweck­ Hier entstanden erste Gedichte, die
te, und es war v. a. die Mutter, die bezeugen, wie sehr er sich nach seiner
den Kindern den tief verwurzelten Lausitzer Heimat sehnte. Erst am 19.
christlichen Glauben vermittelte. Von Dezember 1949 konnte er schließlich
1931 bis 1937 besuchte Unterdör­ heimkehren, durch Krieg und Gefan­
fer das Reform­Realgymnasium in genschaft gesundheitlich gezeichnet.
Kamenz. Wie seine Vorfahren über Mit der in Gefangenschaft geschriebe­
vier Generationen entschied er sich nen „Kriegssonette“ hatte Unterdörfer
für eine Laufbahn als Förster. Nach später seinen ersten großen Erfolg
einer Lehre bei der Sächsischen Lan­ als Dichter. Aus diesen Jahren des
desforstverwaltung studierte er von Schreckens wuchs jene tiefempfunde­
September bis Dezember 1940 an der ne Sehnsucht nach Frieden, die viele
Forstschule in Reichstadt. Schon in seiner späteren Werke auszeichnete.
dieser Zeit zeigte sich, dass Unterdör­
fer lieber im Wald Gedichte schrieb, 1950 zog Unterdörfer mit seiner Frau
als mit der Waffe auf Jagd zu gehen. nach Uhyst/Spree, wo er eine Stelle
als Revierförster antrat. 1955 konn­
Als Infanterieoffizier an der Ostfront ten sie das neue Forsthaus beziehen.
lernte Unterdörfer den Krieg mit allen Es lag einsam zwischen Mönau und

369
hautnah, als allein in seinem Revier
ca. 1/3 des Waldes verloren ging. Sein
Engagement für den Naturschutz
wurde zur Hoffnung für viele Gleich­
gesinnte, brachte Unterdörfer in der
DDR aber wiederholt in Konflikt mit
dem Staat. Er unterstützte die kirchli­
che Umweltarbeit, und der Kummer
über die angerichtete Naturzerstörung
und den Heimatverlust für viele
Menschen kommt in mehreren seiner
Werke zum Ausdruck. Auch wenn
die ökonomischen und politischen
Zwänge schier übermächtig waren,
hatte sein stetes Bemühen manchen
Erfolg. Mit Generationen von Uhyster

Allee mit alten Eichen zwischen Mö-


nau und Uhyst/Spree, nahe Unter-
dörfers ehemaligem Forsthaus.

Uhyst an einer Allee aus Eichen und


Birken und wurde für viele Jahre zum
geliebten Zuhause. Besonders die viel­ Bergbaufolgelandschaft Bärwalder
gestaltige Vogelwelt der umliegenden See nahe Uhyst – nach weitgehen-
Teichlandschaft hatte es ihm angetan. dem Abschluss der Sanierungsar-
Unterdörfer zählte den bedeutenden beiten (oben, 2000) und natürliche
Ornithologen Dr. Wolfgang Makatsch Wiederbesiedelung (unten, 2005).
zu seinen engen Bekannten, ebenso
den Botaniker Max Militzer. Häufig
führte er Schülergruppen durchs Re­
vier oder ging zu ihnen in die Schule.
Unterdörfer sah es als seine Mission
an, der jungen Generation die Liebe
zur Natur nahezubringen. Er erleb­
te deren Zerstörung durch den sich
ausweitenden Braunkohlentagebau

370
Schülern wurden von ihm und seinen eine junge Ringelnatter, die aufgeregt
Mitarbeiterinnen 500 Nistkästen auf­ auf einzelne losschoss, aber abdreh­
gehängt, mehr als 50 wilde Müllplätze te, weil die Schüler hoch sprangen.
beseitigt und hunderttausende Kie­ Schließlich sprang eines der Kinder
fernsämlinge gepflanzt. In Erinnerung zur Seite – und die Ringelnatter ward
an den gemeinsamen Kampf um die nicht mehr gesehen. Ein paar Tage
Erhaltung der Natur stellten Freunde später besuchte der Förster erneut die
an eine alte gerettete Eiche im März Gruppe und bot ihr eine „Kuhteich­
2000 einen Stein mit dem aus seinem rundfahrt“ mit einem Fischerkahn.
Buch „Wege und Wälder“ stammen­
den Spruch: „Wanderer, deinen Augen Zu Unterdörfers Lebzeiten erschie­
Glück.“ nen 10 Bücher in zum Teil mehreren
Auflagen. Sie waren in der DDR
Frank Fiedler ist eine Exkursion häufig nur schwer zu erhalten und
mit Bischofswerdaer Ferienschülern für innige Naturverbundenheit, die
durch das Uhyster Forstrevier im poetische Beschreibung der Oberlau­
Jahre 1964 mit vielen Einzelheiten in sitzer Heimat und die Liebe zu deren
Erinnerung geblieben. Ohne Zögern Menschen, aber auch für die Ver­
war Unterdörfer der Bitte gefolgt, die mittlung christlicher Werte bekannt.
Exkursion zu leiten. Was die Kinder Unterdörfer bezog sich in seinem
erlebten, überstieg alle Erwartungen. Wirken auf die Bekennende Kirche
Haubentaucher trugen ihre Jungen und Dietrich Bonhoeffer. Er wollte
huckepack, Zwergrallen liefen auf den stets für Andere da sein. Vielfach
Schwimmblättern des Laichkrautes basierten seine Werke auf autobiogra­
im Ochsenteich und Raubvögel flogen fischen Erinnerungen: die Schrecken
über das Gelände. Nachts im Zeltla­ des Krieges, Erlebtes und Gesehenes
ger erklang ein Schmatzen aus dem im Kreis von Familie und Kirchge­
Röhrichtgürtel – es waren die Karp­ meinde. Besonders beeindruckend
fen, die unter der Wasseroberfläche in seinem dichterischen Schaffen ist,
den Bewuchs an den Schilfhalmen mit welch feiner Beobachtungsgabe
abweideten. Unterdörfer sorgte für er selbst dem Unscheinbaren in der
weitere Höhepunkte. Er holte die Natur Sinn und Bedeutung verleihen
12­ bis 14­jährigen Schüler ab und konnte. Hier wird der christliche
führte sie durch sein Revier. Keiner Hintergrund des Dichters deutlich,
hatte bis dahin etwas von Schellenten für den auch scheinbar unbedeutende
gehört, die in Schwarzspechthöhlen Tiere und Pflanzen schön sind und
hoch in Altbuchen brüten und deren ein Lebensrecht besitzen. Unterdörfer
noch nicht flugfähige Jungen aus bis ging davon aus, dass der Einzelne kei­
zu 15 Metern hinabspringen. Auf dem nen Einfluss auf das „große“ Weltge­
Heimweg „umzingelten“ die Schüler schehen nehmen kann, sondern sich

371
stattdessen darum bemühen muss, frühen Uhyster Jahren Pfarrer Da­
an seinem Platz das Bestmögliche zu niel Hoffmann kennen gelernt hatte,
tun. Das Schöne im Alltäglichen zu gehörte damit zu den Begründern
erkennen, ist dafür eine wesentliche einer Tradition, die auch heute noch
Voraussetzung, wie Unterdörfer ver­ im „Uhyster Lesewinter“ lebt. Es war
mitteln wollte. Mit seinen Werken hat zudem für ihn selbstverständlich, sich
er vielen seiner Zeitgenossen wieder für die Belange der sorbischen Mit­
zur Heimatorientierung verholfen. menschen einzusetzen. Das Ehepaar
Dazu trugen auch häufige Schriftstel­ Unterdörfer verband eine langjäh­
lerlesungen und Lesegottesdienste in rige Freundschaft mit der Witwe
Uhyst bei. Unterdörfer, der in seinen Jutta Baudert, Schwiegertochter des

Dem Maler Hanns Georgi zeig-


te Unterdörfer auf ausgedehnten
Erkundungsfahrten aus seiner Sicht
Malenswertes: eine Wasserfläche
weiß von blühendem Hahnenfuß
(Abb. oben), Teichrallen und Hö-
ckerschwäne auf der Wasserfläche
(Abb. Mitte), aufgeforstete Kippen
eines Braunkohletagebau-Restlochs.
Unterdörfer war verwundert, dass
der Maler mit geübtem Blick noch
ganz andere Motive entdeckte: einen
Teichwinkel aus schwarzbraunem
Sumpf, vom angrenzenden Un-
terholz beschattet, und die Was-
serfläche des Braunkohletagebau-
Restlochs, spiegelnd in einer Vielfalt
von Farben. Besonders beeindruckt
hat Unterdörfer aber, wie Georgis
Bilder alles Lichtbedürftige durch-
leuchteten, so wie die Erlen in der
Verlandungszone eines Teiches
(Abb. unten): „Stehendes Wasser
wird belebt durch die auf Rabatten
hockenden, Feuchtigkeit liebenden,
einander in die Höhe treibenden
Bäume, durch deren Rinde man das
rötliche Holz ahnt.“

372
Gedenkstein an Gottfried Unterdörfer, auf private Initiative gesucht, ange-
fertigt und aufgestellt an der Straße zwischen Mönau und Lieske.

373
nen er die Liebe zur Oberlausitz und
die christliche Weltanschauung teilte.
Dies galt besonders für Gottfried
Zawadzki, mit dem Unterdörfer seit
der Schulzeit befreundet war. Mehr­
fach schrieb er Beiträge in Büchern
von oder über Johannes Lebek. Aber
auch Hanns Georgi, Maler in Sebnitz,
weilte oft bei den Unterdörfers.

Unterdörfer war Mitglied im Re­


daktionskollegium „die kirche“
Görlitz und im Gemeindekirchenrat

Unterdörfer schrieb am 18. April


1992 in sein Tagebuch: „Gang um
den Drehnaer Oberteich mit dem
breiten Damm, der ihn zum Sar-
kassenteich abgrenzt. Vielstämmige
mächtige Weiden umsäumen ihn“.
Bereits abgestorbene Exemplare
dienen Großvögeln, beispielsweise
Reihern, als Ruheplatz.

ehemaligen Bischofs der Herrnhuter


Brüdergemeine Walther Baudert, die
wiederholt mit zwei Schwestern im Gottfried Unterdörfer, selbst ein
Forsthaus Uhyst Hausmusik darbot. aktives Mitglied der Uhyster Kir-
Mit Armin Stolper, Chefdramaturg chengemeinde, verfasste 1992 einen
des Deutschen Theaters in Berlin, Beitrag zur Geschichte der Kirche.
hielt Unterdörfer engen Kontakt. Zu den ehemaligen Pfarrern zählten
Mitglied im Schriftstellerverband der Georg Petermann (1738–1741)
DDR war er nicht. Stattdessen fühlte und Karl Traugott Kanig
er sich Künstlern verbunden, mit de­ (1829–1834).

374
„Ich möchte einen Kranich sehen.“ Unterdörfer beschrieb sein Bemühen,
die beeindruckenden Vögel zu beobachten. In den Jahren 2014 und 2015
waren sie regelmäßig in der Nähe von Unterdörfers ehemaligem Forsthaus
zu sehen, teilweise nur wenige hundert Meter entfernt.
Uhyst. 50 Jahre nach Beginn seiner Unterdörfer Episoden aus seinem Le­
Arbeit im Forst trat Unterdörfer im ben, Kindheitserlebnisse, Geschehnis­
Sommer 1987 in den Ruhestand. Er se in der Familie und die Arbeiten an
war zeitlebens ein Verfechter, die einem Dorfbuch für Uhyst. Er beglei­
nachhaltige Entwicklung von Natur tete die neue Zeit durchaus kritisch,
und Landschaft nicht kurzfristigen warnte aber schon damals vor einer
wirtschaftlichen Interessen zu opfern. Verklärung der DDR­Vergangenheit
Dieses Vermächtnis wird heute im und erinnerte an deren Militarismus.
UNESCO­Biosphärenreservat Ober­ Der letzte Eintrag, einen Tag vor sei­
lausitzer Heide­ und Teichlandschaft nem Tod, ist charakteristisch für sein
bewahrt, welches sich in unmittel­ Weltbild: Er versprach den Hornissen
barer Nachbarschaft zu Unterdörfers in seinem Garten, sie zu beschützen.
früherem Revier befindet. Entsprechend seinem Wunsch wurde
Unterdörfer in Thyrow/Brandenburg
In seinem Nachlasswerk „Ich möch­ beigesetzt, wo 15 Jahre zuvor schon
te einen Kranich sehen“, mit einem sein literarisches Vorbild Heinrich
Titelbild von Zawadzki, wird der Alexander Stoll zur letzten Ruhe
Reichtum innerer Werte besonders gebettet worden war.
deutlich. Das Tagebuch seiner letzten
Monate enthält viele Begebenheiten Quellen: Heinz Pacholke: „Biographie
aus dem Alltag, erzählt mit Humor Gottfried Unterdörfer“. Internetpublikation
und Weisheit. Dazwischen reflektiert und Begleittext zu einem Lichtbildervor­

375
Das Ehepaar Unterdörfer hatte ein besonderes Verhältnis zu der östlich des
Forsthauses einsam im Wald gelegenen Neuteichgruppe (Foto: 2012). Sie
nutzten Badegelegenheit und Kahnfahrtmöglichkeiten im Kahn der Teich-
wirtschaft auch mit Sohn, Enkel oder Gästen. Hier fand Unterdörfer die
Ruhe zum Ausspannen oder zur Beobachtung bemerkenswerter Vogelarten
wie Rohrweihe, Rohrdommel, Kranich und Seeadler, aber auch Freude an
seltenen Pflanzenarten des Teichufers. Sein „Tagebuch“ weist für annähernd
ein Dreiviertel des Jahres 1992 mit 20 Einträgen auf den Neuteich hin.
Darunter befindet sich der Hinweis, dass dort die Anregung erfolgte für die
Erzählung „Die Nacht am See“ aus „Dem Holzhaus gegenüber“ (1963).

trag im Gottfried­Unterdörfer­Museum; Monika Jeschke, Stadtarchiv Kamenz, Mitteilungen


2008; Hans­Dietrich Haemmerlein: „Er war in Natur und Kirchengemeinde beheimatet, Zum
Gedenken an Gottfried Unterdörfer“. die kirche Görlitz, Nr. 43, 25.10.1992, S. 6; Jutta Baudert,
Mitteilungen, 2009; Burkhard Unterdörfer, Mitteilungen, 2011; Hans Reichelt: „Regenzeit und
Reiherruf “. die kirche Görlitz, Nr. 29 u. 42, 1984; Hans­Dietrich Haemmerlein: „Natur und Men­
schen gaben dem dichtenden Forstmann Themen“. Sächsische Zeitung Niesky, 22.9.1992, S. 12;
Elsa Niemann: „Innige Naturverbundenheit und Liebe zu den Menschen“. Sächsische Zeitung
Sebnitz, 17./18.10.1992; Rulo Melchert: „Die Freuden wachsen im Gartengeviert“. Sächsische
Zeitung Sebnitz, 5.9.2001; Tagesspiegel: „99 Zeilen Schwerk, Von Goethes Zeitungsverzicht zum
Trostbuch eines Lausitzer Försters“. 09.02.2002; Armin Stolper: „Der gute Mensch von Uhyst: Zu
Gottfried Unterdörfers 10. Todestag am 9. September 2002“. In: Oberlausitzer Kulturschau, Bd.
8, 2002, H. 9, S. 20–21

376
Bibliografie
„Du lebst vom Du“. Gedichte, Union Verlag Berlin, 1959 und 1962
„Dem Holzhaus gegenüber‘‘. Erzählungen, Union Verlag Berlin, 1960 und
1963
„Ich will den Bogen setzen“. Gedichte, Union Verlag Berlin, 1964
„Von Abend zu Abend“. Neun Liebesgeschichten, Union Verlag Berlin, 1965
und 1967
„Nicht die Bäume allein“. Erzählungen und Skizzen, Union Verlag Berlin,
1968 und 1971
„Regenzeit und Reiherruf “. Erzählungen und Betrachtungen, Evangelische
Verlagsanstalt Berlin, 1971
„Wildtaubenruf “. Erzählungen und Gedichte, Union Verlag Berlin, 1973
und 1976
„Jahresringe“. Geschichten unter Bäumen, Union Verlag Berlin, 1981
„Weltreise in das lange Holz“. Ausgewählte Prosa, Union Verlag Berlin, 1984
„Wege und Wälder“. Kleine Prosa, Union Verlag Berlin, 1986
„Ich möchte einen Kranich sehen“. Erzählungen, Gedichte und ein Tage­
buch, hrsg. vom Uhyster Heimatverein e. V., Lusatia Verlag Dr. Stübner &
Co. KG Bautzen, 2001
„Als die Sümpfe blühten“. Erzählungen, Lusatia Verlag Dr. Stübner & Co.
KG Bautzen, 2010
weitere Mitwirkungen, Auszüge bzw. Manuskripte (Auswahl):
„Kleines Wasserrad und andere ernsthafte Geschichten“. Mit anderen Auto­
ren, Evangelische Verlagsanstalt Berlin, 1963 und 1964
Dorfklub Uhyst (Hrsg.): „Uhyst und Umgebung“. September 1965
„Begegnungen mit Hanns Georgi“. In: Begleitheft zur Ausstellung zum 80.
Geburtstag von Hanns Georgi, Gemälde, Aquarelle, Illustrationen, S. 4–6,
Veranstalter: Rat der Stadt Sebnitz, August 1981
„Der Teich“. Mit Holzschnitten von Johannes Lebek, 120 Exemplare Privat­
druck, Druck und Einband von R. Walter Göttingen, 1983
„Häuser der Kindheit“. Original Holzschnitte von Johannes Lebek, als Pri­
vatdruck herausgegeben von Hubert Wegner, Druckerei Küster Hannover,
1984
„Förstertagebuch“. Manuskript, 1985
„Ein Lebensweg in Bildern“. In: Johannes Lebeck: „Der Holzschneider Jo­
hannes Lebeck. Leben und Werk“. Rudolf­Schneider Verlag München, 1988
Johannes Lebek: „Holzschnittfibel‘‘. Mit einem Beitrag von Gottfried Unter­
dörfer, Verlag der Kunst Dresden, 1991
Gemeindeverwaltung Uhyst (Hrsg.): „Uhyst an der Spree“. 1992
Gottfried Zawadzki: „Malerei – Grafik – Kirchenraum – Glasbild“. Mit
einem Vorwort von Gottfried Unterdörfer, Lausitzer Druck­ und Verlagsge­
sellschaft Bautzen, 1993

377
Es ist überliefert, dass Hermann Vetter (Porträt um 1908) in seiner Jugend
an seinen Geburtsort zurückgekommen sein soll, um auf der Herbrig-Orgel
zu spielen. Pfarrer in Großdrebnitz bis 1875 war Carl Julius Marloth.

378
Vetter, Friedrich Hermann
Professor am Dresdner Konservatorium
09.07.1859 Großdrebnitz – 21.05.1928 Dresden

V: Friedrich August, Bauerngutsbesitzer (1880–1895, Nr. 83) und Gemeinderatsmitglied in


Lauterbach; M: Wilhelmine Pauline geb. Winkler (*10.2.1837 Bühlau, † in Lauterbach), 7.7.1861
verehel. Vetter; E: 22.7.1884 Dresden, Rosa Wanda geb. Böhme (16.2.1864–25.7.1898), Toch­
ter des Lokalrichters und Gutsbesitzers Carl Friedrich Böhme; K: Eleonore Vera Wanda Edith
(*5.9.1889 Dresden, Mitbesitzerin der Erbbegräbnisstätte Böhme, Mittelweg 184, Dresden St.
Pauli; verh. mit Rechtsanwalt Dr. jur. Woldemar Erwin Schreier/Dezember 1945 letztes Begräb­
nis Familiengrabstätte; Nachbesitzerin des Hauses Elisenstraße 75/77 ihres Vaters; † nach 1945)

Vetter wurde in Großdrebnitz gebo­ Musikschulen Dresdens hervor, z. B.


ren (vermutlich im Schulhaus) und den Zillmann‘schen Musikschulen
getauft, wo sich seine damals noch und der Gesangs­ und Opernschule
ledige Mutter zeitweilig aufhielt. von Auguste Götze, bei denen sei­
Aufgewachsen ist er in Lauterbach. nerzeit Johannes Pache tätig war,
Sein Vater gab ihm den ersten Musik­ der Musikschule für Damen von
unterricht. Bernhard Rollfuß, einem Schüler
von Woldemar Heller, sowie der
Um 1880 bezog Vetter das Dresdner von Friedrich Wieck gegründeten
Konservatorium. Er blieb mit dieser Akademie für Klavierspiel. Vetter
Musikschule über 40 Jahre verbun­ lernte am Konservatorium bei Eugen
den und war ein wichtiger Akteur in Krantz, Theodor Kirchner, Wilhelm
einer Phase des Wandels der Dresd­ Rischbieter und Hofkapellmeister
ner Musikausbildung. Das Konser­ Franz Wüllner. Insgesamt waren hier
vatorium, Vorläufer der heutigen mehr als 70 Lehrer beschäftigt. Ab
Musikhochschule, war 1856 vom 1883 unterrichtete Vetter am Kon­
Kammermusiker Friedrich Tröstler servatorium selbst Klavier. Friedrich
gegründet und 1859 an Friedrich Pudor wurde als Direktor seinerzeit
Pudor verkauft worden. Unter dessen zunächst durch Franz Wüllner als
Leitung erhielt die Einrichtung 1881, künstlerischem Leiter unterstützt. Um
also etwa zur Zeit von Vetters Studi­ 1885 führte man einen akademischen
enbeginn, das Prädikat „Königliches Rat ein, dem u. a. Hofkapellmeister
Konservatorium“. Der König war Adolf Hagen, Theodor Kirchner, und
oberster Protektor, viele Lehrkräfte das Mitglied der Dresdner Hofka­
gehörten der sächsischen Hofkapelle pelle Eduard Rappoldi angehörten.
an. Damit hob sich das Konservato­ Der Unterricht erfolgte in den drei
rium nicht nur größenmäßig unter Abteilungen für (1) umfassende prak­
den damals ausschließlich privaten tische und theoretische Ausbildung

379
einschließlich Kompositionslehre für
Dirigenten, Instrumentalisten, Sänger
und Musiklehrer, (2) Ausbildung in
Einzelfächern sowie (3) Elementar­
unterricht für einzelne Instrumente
oder Gesang. Der Sitz des Konserva­
toriums befand sich langjährig in der
Landhausstraße 6 bzw. 11. 1887 über­
nahm Heinrich Pudor die Leitung
von seinem Vater. Weil Pudor mit
seinem Konzept, ausschließlich auf
deutsche Musik zu setzen, auf heftige
Kritik stieß, verkaufte er das Kon­
servatorium 1890 an Eugen Krantz.
Nach dessen Tod führten die Söhne
Johannes Krantz und Curt Krantz das
Konservatorium bis zur Verstaatli­
chung 1937 weiter. Sie entwickelten
das Profil einer Hochschule der Ton­
kunst mit verbundener Theaterschule
und staatlichem Musiklehrerseminar.
Das Konservatorium trug den Bei­
namen „Hochschule für Musik und
Theater“. Zudem wurden Kirchenmu­
Das Palais Hoym, Landhausstraße
siker ausgebildet und es bestand eine
11, war schon vor der Gründung
Volksmusikschule.
des Konservatoriums ein kulturelles
Zentrum. Der Dresdner Gesell-
Vetter machte sich als Autor und He­
schaftsverein Harmonie hatte hier
rausgeber von Musikdrucken einen
seinen Sitz. Robert Schumann gab
Namen. Seine „Technischen Studien“
Konzerte, Gottfried Semper, Ernst
von 1899 wurden von Eugen d'Albert
Rietschel und später Bruno
ausdrücklich für den Klavierunter­
Steglich gingen hier ein und aus.
richt empfohlen. Sie bestanden aus
vier Heften. Zwei hatte Vetter bereits Doppelgriffspiel“. Weitere der zumeist
1894 veröffentlicht: „Uebungen mit bei Friedrich Hofmeister in Leipzig
fortrückender und stillstehender erschienenen Vortrags­ und Studien­
Hand in kontrapunktischer Zwei­ werke Vetters für Klavier waren: „Die
stimmigkeit“ und „Der Fingerwechsel ersten Musikstückchen für Anfänger
bei unterbrochner, sowie ununter­ im Klavierspiel“ (1897, neun melo­
brochner Tonwiederholung und im dische, instruktive und progressive

380
Vortragsstücke), „24 melodische von Grund­ bis Hochschulklassen
Klavier­Etüden für gleichmässig in Musiktheorie, an Tasten­, Streich­
fortschreitende Ausbildung beider und Blasinstrumenten sowie in den
Hände, sowie des Vortrags“ (1900, Fächern Gesang und Bühne. Allge­
drei Hefte für die drei Stufen des mein Musikinteressierte konnten sich
Elementar­Unterrichts) und „Das Stu­ als Hörer einschreiben. 1908 erschien
dium der Tonleitern, Arpeggien und bei Hofmeister in Leipzig Vetters
Doppelgriffstonleitern für Klavier zu bekanntestes Werk, „Zur Technik des
2 Händen“ (1905). Daneben gab Vet­ Klavierspiels“. Weil die Ausbildung an
ter Musikdrucke bekannter Klavier­ den vielen konkurrierenden privaten
virtuosen wie Johann Baptist Cramer Musikschulen häufig mangelhaft war,
(„66 ausgewählte Klavier­Etüden“), gehörte Vetter als Vorstandsmitglied
Franz Liszt („12 Etüden op. 1“), Vic­ des Musikpädagogischen Vereins zu
tor Alphonse Duvernoy („Vorschule den Initiatoren einer Prüfungsord­
der Geläufigkeit für Pianoforte. 20 nung für Musikschullehrer, die 1913
Etudes­Exercices sans Octaves“) und in Kraft trat. Der Erste Weltkrieg und
Friedrich Burgmüller („12 brillante seine Folgen prägten einen großen
und melodische Etuden“) heraus. Teil seiner Direktoriumszeit. 1922
unterrichtete er kurz vor seiner Pen­
Das Konservatorium berief Vetter sionierung die spätere New Yorker
1907 zum Professor und Direktori­ Pianistin Irma Wolpe­Rademacher.
umsmitglied. Dem Direktorium ge­
hörten seinerzeit auch die Professoren Quellen: E. W. Fritzsch: „Musikalisches Wochen­
blatt“. 1897, 1899; Hermann Abert, Rudolf Gerber:
Karl Heinrich Döring und Felix Drae­ „Illustriertes Musiklexikon“. J. Engelhorns nachf.,
seke, die Kammermusiker Maximi­ 1927; Rudolf Maria Breithaupt: „Die natürliche
lian Gabler und Albert Wolfermann Klaviertechnik“. 1927; Hofmeisters Handbuch der
Musikliteratur, 1934; Emil Breslaur, Anna Morsch:
sowie Konzertmeister Henri Petri an. „Der Klavierlehrer“. Peiser Verlag, 1895; S. Freitag:
Klavierunterricht erteilte neben Vetter „Richard Kaden (1856–1923)“; lexm.uni­hamburg.
die bekannte Konzertpianistin Laura de; Asher (Hrsg.): „Das Unterrichtswesen im
Deutschen Reich aus Anlass der Weltausstel­
Rappoldi­Kahrer. Das Konservatori­ lung in St. Louis unter Mitwirkung zahlreicher
um arbeitete stark gewinnorientiert; Fachmänner“. Berlin 1904; Horst Gersdorf:
der „Kunstwart“ von Ferdinand Ave­ „Kultur im 770jährigen Bischofswerda“. Zwischen
Wesenitz und Löbauer Wasser, 1997, H. 2, S.
narius hatte schon 1904 hinterfragt, 8–21; Stadtarchiv Bischofswerda, Auszug aus dem
dass eine solche Schule als könig­ Taufbuch Großdrebnitz (korrigierte und ergänzte
liche Einrichtung auftreten durfte Angaben von Christfried Marschner, Ortschronist
von Großdrebnitz, 26.10.2007); M. Hesse: „Das
und für Freistellen auch finanzielle Neue Musiklexikon“. Nach: Arthur Eaglefield Hull,
Unterstützung erhielt. Mehr als 100 Alfred Einstein: „Dictionary of Modern Music and
Lehrkräfte unterrichteten Anfang des Musicians“, 1926; Der Kunstwart: Rundschau über
alle Gebiete des Schönen, Bd. 17/2, 1904; Dresdner
20. Jahrhunderts am Konservatorium Adressbücher; Friedhofsverwaltung St. Pauli Dres­
etwa 1300 Schülerinnen und Schüler den; Bert Wawrzinek, Lauterbach, 2016

381
Kardinal Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Magdeburg und
Mainz, hält eine Messe in der Stiftskirche Halle ab (Albrecht Dürer, 1523).
Einer der anwesenden Geistlichen war sicher Georg Winckler.

382
Winckler, Georg
Bacc. jur., Prediger, Märtyrer der Reformation
* um 1490/1495 in Bischofswerda oder Goldbach – 23.04.1527 im Spessart bei
Aschaffenburg

V: Bürger in Bischofswerda; E: um 1526 mit einer Adligen

Wincklers Geburtsdatum ist in der in Goldbach hätte taufen lassen, weil


Literatur unbekannt. Von der Imma­ es seinerzeit in Bischofswerda keine
trikulation im Sommersemester 1509 Stadtkirche gab. Der hier ansässige
an der Universität Leipzig kann aber Erzpriester, der dem Archidiakonat
abgeleitet werden, dass er Anfang Bautzen unterstand, war mit seinen
der 1490er Jahre geboren wurde. Kaplanen für die drei Kapellen der
Sowohl die Immatrikulation als auch Stadt zuständig und beaufsichtigte
die Bischofswerdaer Chronik von weitere Kirchen in der Umgebung.
1713 von Christian Heckel und die Vor diesem Hintergrund wäre aber
nachfolgende von Karl Wilhelm auch verständlich, wenn eine mögli­
Mittag verweisen auf eine Herkunft che Geburt von Georg Winckler noch
aus Bischofswerda, jedoch nicht die in Goldbach vor einem Umzug in die
vorherige Chronik von Michael Pusch Stadt in der Überlieferung verloren
von 1659. Einige historische Quellen gegangen wäre. Bischofswerda ge­
geben Goldbach als Geburtsort an. hörte zu jener Zeit nicht nur geistlich
Ohne tatsächlichen biografischen zum Bistum Meißen, sondern wie im
Bezug bei Georg Winckler ist die gesamten Bereich des Hochstifts übte
Zitierung dieses kleinen Dorfes kaum der Bischof zudem die weltliche Herr­
vorstellbar. Möglicherweise ist dieser schaft aus. Bischof Johann VI. von
Widerspruch dadurch zu erklären, Saalhausen bemühte sich seit seiner
dass im Mittelalter der Umzug vom Amtseinführung 1488 um wirtschaft­
Dorf in die Stadt kein einfacher Orts­ liche Fortschritte auch in der Provinz.
wechsel war. Auch wenn die Erbun­ Das Markttreiben in Bischofswerda
tertänigkeit in Sachsen weniger ausge­ belebte sich und die Innung der
prägt war, bestanden auf dem Dorf Leinenweber wurde 1491 anerkannt.
feudale Abhängigkeiten. 1559 gab In der Stadt Bischofswerda wuchs der
es unter den 29 Goldbacher Grund­ Wohlstand, was sicher Einwohner
besitzern einen Hans Winckler (mit aus den umliegenden Dörfern anzog.
identischer Schreibweise). Eventuell Die Stadt wurde in jener Zeit aber
entstammte Georg Wincklers Vater auch zum Schauplatz von Konflikten
einem parallelen Familienzweig. Dies zwischen dem Bischof und dem säch­
könnte erklären, wenn er seinen Sohn sischen Herzog Georg dem Bärtigen,

383
Bischofswerda um 1623 mit der 1497 unter Bischof Johann VI. geweihten
Marienkirche. Die vorherige, vermutlich 1076 von Benno von Meißen ge-
stiftete Kirche war 1469 abgebrannt (Blick von Osten nach Westen).

der eine Schutzherrschaft über das oder für seinen Lebensunterhalt


bischöfliche Gebiet beanspruchte. bezahlte Stellungen annehmen
Als ein ehemaliger Gefolgsmann von musste. Nach Prager Vorbild galt in
Herzog Georgs Vater 1504 Bischofs­ Leipzig eine 4­Nationen­Verfassung.
werda überfiel und eine größere Zahl Sowohl die Studenten als auch die
der Einwohner in monatelange Gei­ Lehrkräfte kamen aus Meißen (dem
ßelhaft nahm, der Bischof ihm aber heutigen Sachsen zzgl. Thüringen und
die erbetene Unterstützung versagte, Südbrandenburg), Bayern, Sachsen
ließ Herzog Georg die Stadt besetzen (einschließlich Norddeutschland,
und gab sie erst 1507 zurück. Baltikum) und Polen (einschließlich
Böhmen), wobei die Grenzen dazwi­
Wincklers Eltern waren vermutlich schen und nach außen relativ flexibel
wohlhabend, denn die finanziellen gehandhabt wurden. Die Leitungs­
Belastungen eines langen Studiums gremien waren paritätisch besetzt.
konnten sich im ausgehenden Mit­ Daraus resultierte schon damals ein
telalter nur wenige leisten und lange internationaler Charakter der Uni­
Studienzeiten waren wegen der mehr­ versität in der Messestadt. Im Som­
stufigen Graduierungsprozedur, aber mersemester 1509 wurden insgesamt
auch wegen der Reisebelastungen 353 Studenten neu immatrikuliert,
nachhause nicht ungewöhnlich. Der darunter 110 aus Meißen. Etwa 10%
Sohn wurde als Georgius Winckeler der ungefähr 8000 Einwohner Leip­
im Sommersemester 1509 an der zigs waren seinerzeit Studenten. Den
Universität Leipzig unter dem Rektor Kern der mittelalterlichen Universität
Thilo von Trotha immatrikuliert. Es Leipzig bildete die Artistische (Phi­
ist unbekannt, ob Winckler häufig losophische) Fakultät, wo im Sinne
nach Bischofswerda zurückkehrte eines Gymnasiums die Grundlagen

384
für das Studium an einer der drei Zu Wincklers Kommilitonen ge­
höheren Fakultäten (Theologie, Jura, hörte der 1497 in Leipzig geborene
Medizin) gelegt wurden. Man unter­ Christoph Kruschwitz, genannt
richtete beispielsweise Metaphysik, Türk. Nach dem Baccalaureat an der
Poesie, Grammatik und mathemati­ Artistischen Fakultät 1516 ging er
sche Grundlagen. Seit der Gründung zum Jura­Studium nach Italien. 1521
einer konkurrierenden Universität in wurde er an die Juristische Fakultät
Wittenberg (1502) im Zusammen­ in Leipzig berufen. Winckler erlangte
hang mit der Landesteilung durch die seinen Abschluss als bacc. jur. 1522 an
Wettiner bemühte sich Herzog Georg der Juristischen Fakultät bei Ludwig
der Bärtige um zeitgemäße Reformen Fachs auf dem Gebiet des kanoni­
in Leipzig. Die Hauptvorlesungen an schen Rechts.
der Artistischen Fakultät waren da­
nach kostenlos. Im Sommersemester Wincklers Studienzeit wurde theo­
1509 stand diese Fakultät unter der logisch durch die beginnende Re­
Leitung des Dekans Arnold Wöste­ formation von Martin Luther im
feld. Voraussetzung für eine Gra­ nahen Wittenberg geprägt. Jener
duierung an einer der drei höheren brandmarkte 1517 mit seinen 95
Fakultäten war im Allgemeinen ein Thesen den Ablasshandel, mit dessen
artistischer Magistergrad, wobei jener Hilfe Albrecht von Brandenburg,
aber nicht den selben Stellenwert wie als Erzbischof von Magdeburg ein
der Magister (Promotion) an einer Vorgesetzter Luthers, finanziellen
der drei höheren Fakultäten besaß. Verpflichtungen gegenüber dem
Den Übergang von der Artistenfakul­ Papst im Zusammenhang mit der
tät auf eine der drei höheren schaff­ Berufung in seine Ämter nachkam.
te nur eine kleine Elite. Die große Der Berliner Kurfürstensohn Alb­
Mehrzahl der Studenten verblieb an recht, 1513 mit 23 Jahren Erzbischof
der Artistischen Fakultät, ohne je eine von Magdeburg und Administrator
Graduierung zu erlangen. Studenten, von Halberstadt geworden, seit 1514
die es sich leisten konnten, wechselten Erzbischof und Kurfürst von Mainz,
für ihr Jura­ oder Theologiestudium residierte ab 1514 in Halle auf der
häufig die Universität. Der Wert der Moritzburg. 1518 wurde er Kardinal.
mittelalterlichen Graduierungen lag Diese Ämterhäufung war aber nicht
weniger auf wissenschaftlichem Ge­ nur Ausdruck seines persönlichen
biet, es ging vielmehr darum, neues Ehrgeizes, sondern auch von Interes­
Lehrpersonal für die Universität zu senskonflikten zwischen dem Mainzer
rekrutieren. Die Magisteruniversität Domkapitel und dem Kurfürstenhaus
des Mittelalters war mehr auf Weiter­ Brandenburg einerseits und dem
gabe des vorhandenen Wissens als auf Kurfürstentum Sachsen­Wittenberg.
neue Erkenntnisse ausgelegt. Vor allem die Zugehörigkeit von

385
Leipziger Disputation von 1519 (von Julius Hübner) mit Johannes Eck
(links) und Martin Luther (rechts), in der Mitte sitzend Herzog Barnim von
Pommern als Ehrenrektor und Herzog der Bärtige von Sachsen.

Erfurt war strittig. Im Unterschied zu Bärtigen stellte sich Martin Luther


Wittenberg, wo zwar der Erzbischof seinen Gegnern zum Streitgespräch.
von Magdeburg ebenfalls oberster Die Leipziger Universität, im Herr­
Geistlicher war, weltlicher Landesherr schaftsbereich des reformationskriti­
aber Kurfürst Friedrich der Weise, schen Georgs gelegen, stand dabei auf
unterstand Halle dem Erzbischof von der Seite von Luthers Gegnern. Jener
Magdeburg auch als Landesherrn. war von 200 bewaffneten Studenten
Trotz des persönlichen Angriffs gegen aus Wittenberg begleitet worden,
ihn hielt Albrecht lange an einer die nicht nur ihn schützen wollten,
toleranten Haltung gegenüber der sondern ihrerseits dessen Gegner
Reformation fest. Viele der erzbi­ bedrohten. Bewaffnete Kräfte ver­
schöflichen Räte sympathisierten mit suchten, gewaltsame Auseinanderset­
Luther. Albrechts abwartende Haltung zungen zwischen den Studenten aus
auf dem Wormser Reichstag von 1521 Leipzig und Wittenberg zu verhin­
rettete möglicherweise Luthers Leben. dern. Da auch Studierende die mehr­
tägige Disputation besuchen durften,
Die Universität Leipzig wurde 1519 ist stark anzunehmen, dass Winckler
zum Schauplatz einer der berühm­ Augenzeuge des Streitgesprächs wur­
testen theologischen Auseinander­ de. Im selben Jahr musste die Uni­
setzungen, der „Leipziger Disputa­ versität wegen der Pest zeitweise von
tion“. Auf Anregung von Georg dem Leipzig nach Meißen verlegt werden.

386
Nach dem Studium in Leipzig trat Wissenschaft im Erzstift Magdeburg,
Winckler als Kanoniker und Kaplan es war sogar die Gründung einer
in die Dienste von Erzbischof Alb­ Universität geplant. Um 1523 ging
recht, vermutlich von Beginn an in Albrecht zunehmend auf Distanz zur
Halle. Albrecht hatte hier 1520 ein Reformation. Als Bollwerk gegen ihr
neues Collegiatstift eingerichtet. Er rasches Ausbreiten baute er in Halle
war den Werten von Humanismus eine Stiftskirche, den heutigen Dom.
und Bildung aufgeschlossen und Albrecht benötigte zudem für seine
übergab dem „Neuen Stift des hei­ riesige Reliquiensammlung, die zuvor
ligen Moritz und der Seligen Maria in der Sankt­Maria Magdalenenkapel­
Magdalena zum Schweißtuch des le auf der Moritzburg untergebracht
Herrn“ die Verantwortung für die war, einen geeigneten Aufbewah­

Halle, im 16. Jahrhundert mit Moritzburg und Dom abgebildet, war kir-
chenpolitisch von großer Bedeutung für die Reformation. Hier residierte
mit dem Erzbischof von Magdeburg und Mainz, Kardinal Albrecht, der
nach dem Papst ranghöchste kirchliche Würdenträger im „Heiligen Rö-
mischen Reich Deutscher Nation“ und gleichzeitig einer der wichtigsten
Gegner Luthers. Halle war aber dank des Reichtums aus dem Salzhandel
auch ein Ort mit großer bürgerlicher Tradition. Erst Streitigkeiten zwi-
schen den Handwerkerinnungen und den Pfännern (Salzsiedern) hatten
dafür gesorgt, dass 1478 die Stadt nach 200-jähriger Selbstständigkeit in
erzbischöflichen Besitz gelangte. Erzbischof von Magdeburg war seit 1476
mit Ernst von Sachsen ein Wettiner. Ernst ließ in Halle mit der Moritzburg
eine neue Residenz errichten. Nach Ernsts Tod 1513 übernahm Albrecht
von Brandenburg das Erzbistum.

387
hen. Nicolaus Demuth, auch Propst
im Kloster Neuwerk, verließ am 14.
April sein Amt, um zu heiraten und
sich der Reformation anzuschließen.
Im selben Jahr wirkte Thomas Münt­
zer für einige Monate in Glaucha bei
Halle. 1524 wurde der konservative
Kruschwitz Kanzler des Erzbistums
Magdeburg.

Albrecht berief mit seinem Hofkap­


lan Winckler einen engen Vertrauten
zum Pfarrer an die am 23. August
1523 geweihte Stiftskirche in Halle.
Der rhetorisch begabte Prediger zog
zu seinen Gottesdiensten die Besu­
cher in Scharen an und sich damit
den Neid der Pfarrer der anderen
Hallenser Kirchen zu, die weitgehend
leer blieben. Aber auch Winckler
öffnete sich ab 1524 der Reformati­
Der Dom zu Halle. Der prachtlie- on, zunächst vorsichtig, ohne Luther
bende Erzbischof Albrecht ließ eine in seinen Predigten namentlich zu
einfache Dominikanerkirche zu erwähnen. Auch vermied er Kritik
seiner Stiftskirche umbauen. Die am Papst. Winckler besuchte Luthers
Innenausstattung schufen Albrecht Gottesdienste in Wittenberg, zuletzt
Dürer, Matthias Grünewald und am 20. März 1527.
Lukas Cranach d. Ä.
Winckler entwickelte sich im katho­
rungsort, um sie den Prozessionen lisch­konservativ geprägten Klerus
der Wallfahrer zu präsentieren. Dass Halles zum wichtigsten Vertreter der
für den Bau der Stiftskirche Einnah­ lutherischen Lehre. Der immer noch
men aus dem Ablasshandel fließen gemäßigte Albrecht ließ ihn gewäh­
sollten, veranlasste Martin Luther ren, auch aus Dankbarkeit für seine
1521 zu der Schmähung „Wider erfolgreiche Diplomatie während
den Abgott zu Halle“. Zu den erzbi­ des Bauernaufstandes, für den es in
schöflichen Räten gehörte ab 1522 Halles Bürgerschaft große Sympa­
Wincklers ehemaliger Studienkollege thien gab. Winckler trug mit seinen
Christoph Kruschwitz. 1523 sorgte Predigten wesentlich zur Beruhigung
ein Hofkaplan Albrechts für Aufse­ der Lage bei. Albrecht konnte direkt

388
mit Hallenser Bürgern verhandeln. So
kam es in Halle zu keinem Aufstand
wie in anderen Städten. Albrecht trat
nach der Niederschlagung der Bauern
1525 in Frankenhausen dem antilu­
therischen Dessauer Bund bei und
vertrat zunehmend radikalere Positi­
onen gegen die Reformation. Als sich
Winckler immer offener zu Luther
bekannte, wurde er zunächst für drei
Monate suspendiert, ohne dass er sich
umstimmen ließ.

Beschwerden von Konrad Hoffmann,


Kanonikus am Neuen Stift, aber auch
aus dem Kloster Neuwerk veranlass­ Um seine Macht zu zeigen, stattete
ten Albrecht, Winckler, der inzwi­ Albrecht seine Stiftskirche prunk-
schen mit ungeweihtem Wasser tauf­ voll aus. Die Kanzel wurde 1526
te, die Messen abgeschafft hatte und geschaffen, also noch zu Lebzeiten
das Abendmahl nach protestantischer Wincklers. Sie ist in Sandstein
Sitte in beiderlei Form (Brot und gemeißelt und mit viel Blattgold
Wein) reichte, 1527 in seine Residenz verziert. Das Schriftband an der
Aschaffenburg zu zitieren, wo sich der Kanzel galt vermutlich dem abtrün-
Erzbischof wegen der Reformations­ nigen Winckler: „Das ganze Wort
unruhen aufhielt. Es schien zunächst Gottes ist feurig, ein Schild denen,
so, als habe Winckler den Erzbischof die darauf hoffen; füge nichts seinen
besänftigen können. Die Heimreise Worten hinzu, damit du nicht des
verzögerte sich auf Betreiben des Irrtums überführt und als Lügner
Mainzer Domkapitels. So musste erfunden werdest.“ Foto: Barbara
Winckler ohne seinen Diener, den Wetzel (www.kirchbau.de, Lizenz
man bereits zurückgeschickt hatte, CC BY 3.0)
dafür aber auf einem „Narrenpferd“
und in Begleitung eines unbekannten der Mörder gewesen sei. Der Mord an
Reiters heimkehren. Zwei Meilen von dem beliebten Prediger rief in Halle
Aschaffenburg entfernt wurde Winck­ große Empörung hervor. Historisch
ler im Spessart von einem vermumm­ bedeutsam war Wincklers Ermordung
ten Reiter angeschossen und dann vor allem wegen seines engen Verhält­
erstochen. Es kam der Verdacht auf, nisses zu Albrecht und der kirchen­
dass Konrad Hoffmann zumindest politischen Rolle Halles als Residenz
Anstifter, vielleicht sogar eigenhändig des mächtigen Erzbischofs. Martin

389
Luther, obwohl von kursächsischer
Seite zur Zurückhaltung gedrängt,
richtete am 17. September 1527 ein
Trostschreiben an die Christen zu
Halle, in welchem er über den Mord
berichtete. Luther gab Erzbischof Al­
brecht zwar keine direkte Schuld, wies
jedoch daraufhin, dass Winckler auf
dessen Befehl hin erschienen sei, und
forderte Albrecht auf, den Mörder zu
bestrafen. Damit schrieb Luther dem
Erzbischof indirekt eine Mitverant­
wortung zu, die Philipp Melanchthon
dagegen ausschloss. Gegner der Re­
formation wie der sächsische Herzog
Georg der Bärtige erwiderten Luthers
Schrift heftig. Am 26. April 1528
erneuerte Luther seine „Trostschrift
an die Christen zu Halle“, die er zur
Standhaftigkeit aufrief. Martin Luther: „Tröstung an die
Christen zu Halle über Herrn Geor-
Vehement gegen Luthers Trostschrift gen, ihres Predigers, Tod“. 1527:
trat auch Johannes Cochläus auf. „Ich habe mir längst vorgenommen,
Während des Bauernkriegs war er meine Lieben Herrn und Freunde,
zeitweise nach Mainz, dann nach eurer Liebe zu schreiben eine Ver-
Köln geflohen. Seit 1526 war er mahnung und Trost wider den Un-
Kanonikus auf dem St. Victorsberg fall, so euch der Satan zugefügt hat
bei Mainz. Cochläus verteidigte die durch den Mord, welchen er began-
Mainzer Domherren und lenkte statt­ gen hat an dem guten und frommen
dessen den Verdacht auf die adlige Mann, Magister Georgen, und euch
Verwandtschaft von Wincklers Frau. also eures treuen Predigers und Got-
1529 berief Herzog Georg der Bärti­ tes Wort beraubet. Es hat mich aber
ge Cochläus als Privatsekretär nach allezeit verhindert, sonderlich mei-
Dresden. ne Schwachheit; und wiewohl ich
noch nicht recht heraus bin, kann
Von Winckler ist heute überliefert, ich doch nicht länger verziehen.
dass er christliche Lieder gesam­ Und wenn wir uns gleich in diesem
melt und auch selbst verfasst habe. Fall nicht trösten wollten, so wäre es
Michael Vehe, nach Wincklers Tod doch unbillig, solchen schändlichen,
vom Erzbischof als Propst nach Halle verräterischen Mord...“

390
geholt, um die Stiftskirche wieder Quellen: Adolf Brecher: „Winckler, Georg“.
Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 43, 1898,
im katholischen Sinne zu führen,
S. 365; Karl Wilhelm Mittag: „Chronik der
wird teilweise unterstellt, dass sein königlich sächs. Stadt Bischofswerda‘‘. May Bi­
historisch bedeutsames, katholisches schofswerda, 1861; Michael Pusch: „Episcopoli.
Liedbuch „Ein New Gesangbuechlin Graphia Historica. Das ist: Wahrhafftige Histori­
sche Beschreibung der Churf. Sächsischen Stadt
Geystlicher Lieder vor alle gutthe Bischoffswerda“. Wolfgang Seyffert Dreßden,
Christen nach ordenung Christli­ 1659; Michael Pusch, Christian Heckel: „Histo­
cher kirchen“ (1537) auf Wincklers rische Beschreibung der Stadt Bischoffswerda.
Sammlung zurückgehen solle. Quelle vormahls durch Michael Puschen; continuirt/
vermehret/ und an vielen Orten/ wo man nötig
hierfür ist Johann Christoph Oleari­ befunden/ geändert und verbessert nebst einem
us, ein Historiker des evangelischen Anhang von der Bischoffswerdischen Diöces /
Liedschatzes, mit seiner „Hymnologia durch Chriatian Heckel. Harpetern Dreßden,
1713; Georg Pilk. „Die Amtsdörfer bei Bischofs­
Passionalis“ (1707). Olearius wies werda im Jahre 1559“. Unsere Heimat, 9.6.1925;
dem Lied „Da Jesus an dem Kreutze Matrikel­ und Promotionsverzeichnis Univer­
stunde“ aus Vehes Sammlung eine sität Leipzig; Adolf Laube, Ulman Weiss: „Flug­
Autorenschaft Wincklers zu, dem schriften gegen die Reformation (1525–1530)“.
Akademie Verlag, 2000, S. 525; Johann George
demnach auch „Die Propheten seind Kirchner: „Historische Nachricht von dem Mär­
erfüllet“, „Zu Tisch dieses Lämmleins tyrertode der ersten Lutherischen Blutzeugen
so rein“, „Lobsinget mit Freuden alle Jesu Christi“. Waisenhaus Halle, 1755; „Martin
Rechtgläubigen“, „Vater im Himmel, Luthers Kritische Gesamtausgabe“. Böhlau, 1933;
Nicole Kuropka: „Philipp Melanchthon – Wis­
wir Deine Kinder bitten durch Christ senschaft und Gesellschaft“. Spätmittelalter und
das ewige Kind“ zuzuordnen wären. Reformation, Bd. 21, Mohr Siebeck, 2002; Otto
Bei Vehe ist tatsächlich die Mitar­ Michaelis: „Protestantisches Martyrerbuch“. J.F.
Steinkopf, 1932; Norbert Böhnke: „Renaissance
beit eines G.W. vermerkt, was heute Halle“. 2001; Armin Stein: „Die Stadt Halle a.
aber eher auf Georg Witzel bezogen d. Saale“. Eugen Strien Halle, 1901; Hallisches
wird unter Hinweis auf dessen „Odae patriotsches Wochenblatt, Bd. 2, in Commission
christianae: Etliche christliche Gesen­ der Buchhandlung des Waisenhauses, 1841;
Enno Bünz, Franz Fuchs. „Der Humanismus
ge, gebete vnd Reymen, für die Gots­ an der Universität Leipzig“. Otto Harrassowitz
förchtigen Läyen“ (1541). Witzel hatte Verlag, 2009; Johann Christian Gueinz: „Memo­
sich seinerzeit wieder von Luther ria Georgii Winckleri, veritatis divinae contra
offucias Romanae curiae apud Hallenses saeculo
abgewandt. Andererseits publizierte
post Christum natum XVI testis integerrimi, re­
Vehe deutschsprachige Liedtexte, wie novata interprete M. Io. Christ. Gueinzio“. Halle
es Martin Luther propagierte. Olea­ 1729; Werner Freitag: „Mitteldeutsche Lebens­
rius interpretierte das missverständ­ bilder: Menschen im späten Mittelalter“. Böhlau
2002; Gottfried Lebrecht Richter: „Allgemeines
liche Zitat eines Liedautors G.W. bei biographisches Lexikon alter und neuer geistli­
Vehe mit persönlichem Neid, aber cher Liederdichter“. Martini 1804; Paul Redelin:
auch mit politischer Vorsicht wegen „Cardinal Albrecht von Brandenburg und das
der Missliebigkeit des lutherischen Neue Stift zu Halle. 1520–1541“. F. Kirchheim,
1900; „Vehe, Michael“ und „Witzel, Georg“ in
Predigers Winckler im katholisch der Allgemeinen Deutschen Biographie
beherrschten Halle jener Tage.

391
Johann Eleazar Zeissig (Stich von Christian Friedrich Stölzel).

392
Zeissig, Johann Eleazar (Schenau)
Professor, Maler, künstlerischer Leiter der Kunstakademie Dresden
07.11.1737 Großschönau – 23.08.1806 Dresden

V: Elias (Damastweber); M: Anna Elisabeth geb. Paul; G: 10, wobei Zeissig während seiner Kind­
heit der einzige Sohn neben fünf Schwestern war

Zeissig wuchs in einfachen Verhält­ inzwischen als Rektor die Académie


nissen auf. Sein Vater förderte trotz­ Royale leitete. Zeissig setzte in Paris
dem das frühzeitig erwachte künst­ seine Studien bei Louis und Charles­
lerische Interesse des Sohns, den er François de Silvestre fort. Er legte
aber zunächst die Damastweberei ler­ seinen Familiennamen ab, weil ihn
nen ließ. Um 1749 durfte Zeissig nach die Franzosen nicht richtig ausspre­
Dresden gehen. Von Adam Manyoki, chen konnten, und nannte sich nach
seit 1731 sächsischer Hofmaler, er­ seinem Geburtsort Schenau. Zeissig
hoffte man sich eine Förderung. Doch war mit dem Kupferstecher Johann
dem greisen Manyoki fehlten dafür Georg Wille befreundet und wur­
die Mittel und so empfahl er Zeissig de von Jean­Siméon Chardin und
an den Rechtsanwalt Dr. Rauffuß am Jean­Baptiste Greuze beeinflusst. Der
Neumarkt. Hier konnte der Junge sächsische Gesandte in Paris, Gene­
seinen Lebensunterhalt als Schrei­ ral Fontenay, war sein Freund und
ber verdienen. Schließlich durfte er Gönner. Die Kronprinzessin Maria
bei Johann Christian Beßler, einem Josepha (Madame la Dauphine), eine
Schüler von Anton Raphael Mengs, Tochter des sächsischen Kurfürsten
an der Malerakademie Zeichenunter­ und polnischen Königs August III.,
richt nehmen. Sie stand vormals unter beauftragte ihn mit Kopien nach
der Leitung von Louis de Silvestre, Christian Wilhelm Ernst Dietrich
nach dessen Rückkehr nach Paris und dessen Nachahmung der heiligen
1748 unter der seines Sohns Charles­ Nacht von Corregio. Den Kontakt
François de Silvestre und später unter hatte Marie Maximilienne de Silvest­
jener seines Neffen Charles Hutin. re vermittelt, eine Zeichnerin und
Von Charles­François de Silvestre älteste Tochter von Louis de Silvestre,
und Hutin wurde Zeissig im Stil der die Vorleserin und eine Vertraute der
französischen Malerei geprägt. Kronprinzessin war. Nicolas­Charles
Silvestre, ein Bruder von Louis de Sil­
Nach dem Ausbruch des Sieben­ vestre und königlicher Zeichenmeis­
jährigen Kriegs im Jahre 1756 ging ter in Paris, unterstützte ihn ebenfalls.
Zeissig mit Charles­François de Zeissig schuf Porträt­ und Genre­
Silvestre nach Paris, wo dessen Vater bilder, im Louvre und in Versailles

393
te Lehreinrichtung gegründet worden
war, bestehend aus einer Akademie
für Malerei, Kupferstecherei und Bild­
hauerei und einer Akademie für Bau­
kunst in Dresden sowie einer Aka­
demie für Zeichnerei, Malerei und
Architektur in Leipzig, suchte man
in ganz Europa nach renommierten
Lehrern. Mit ihnen sollte nach dem
Siebenjährigen Krieg der Ruf Dres­
dens als Kunstmetropole aufpoliert
werden. Als sich Zeissigs Zeit in Paris
dem Ende neigte, nahm er Kontakt
mit der Dresdner Kunstakademie

Louis, Dauphin de France, Biblio-


thèque Nationale de France.

durfte er kopieren. 1765 hatte er sich


als Genremaler durchgesetzt, Stiche
nach seinen Bildern waren gesucht.
In Sèvres erlernte Zeissig zudem die
Porzellanmalerei. In einigen Quel­
len werden ihm mit Johann Daniel
Heimlich gezeichnete Arbeiten (*1740
Straßburg) als Pseudonym zugerech­
net. Zeissig blieb in der Gunst des
Hofes bis zum Ableben des Kronprin­ Für seine Genremalereien, die sen-
zen und dessen Frau (1765/67). timentale Verklärung von Alltags-
szenen, erhielt Zeissig die größte
Nachdem 1764 unter der Gene­ Anerkennung. Drucke nach dem
raldirektion von Christian Ludwig Gemälde „Die bittende Mutter“
von Hagedorn in der Nachfolge („La mère qui intercède“) von 1767
der ehemaligen Malerakademie die befinden sich in vielen Museen (z. B.
Kunstakademie als reguläre, integrier­ im British Museum).

394
auf. 1767 sandte er zwei allegorische
Zeichnungen nach Dresden: „Die
Erziehung oder Minderjährigkeit des
Durchlauchtigsten Fürsten“ und „Die
Frohlockung oder Aufmunterung
der Musen“. Sein Aufnahmestück für
die Kunstakademie, bereits 1768 von
Zeissig angekündigt, „Priamus bittet
Achill um die Leiche Hektors“, galt
einem historischen Thema. Es wurde
von der Kritik sehr negativ beurteilt
und den offiziellen Gutachtern wurde
unterstellt, dass Zeissigs Aufnahme
sowieso schon beschlossene Sache
gewesen wäre. Die kurfürstliche Familie im Jahre
1772 (Gemäldegalerie Alte Meister):
Die ersten Pläne zur Gründung einer Karl von Sachsen (Bruder), Marie
Kunstakademie in Dresden gingen Amalie von Pfalz-Zweibrücken
auf August III. zurück. Standen da­ (Ehefrau), Kurfürst Friedrich Au-
mals auf Vorschlag von Carl Hein­ gust der Gerechte, Maria Antonia
rich von Heinecken noch Louis de Walpurgis (Mutter), Maria Anna
Silvestre und die Maler der Hofkirche von Sachsen (Schwester), Maria
Stefano Torelli und Anton Raphael Amalia von Sachsen (Schwester),
Mengs (der mehr als Italiener galt) als Maximilian von Sachsen (Bruder),
Gründungsdirektoren zur Diskussion, Anton der Gütige (Bruder und
entschied man sich später, unter dem Nachfolger als sächsischer König),
Prinzregenten Xaver und der Witwe Prinz Xaver (Onkel und vormaliger
von Kurfürst Friedrich Christian, Ma­ Prinzregent).
ria Antonia Walpurgis, bewusst dafür,
die Kunstakademie mit Christian Giovanni Battista Casanova sowie der
Ludwig von Hagedorn unter die Lei­ Architekt Friedrich August Krubsaci­
tung eines Deutschen zu stellen. Der us und der Bildhauer Johann Gott­
Professorenschaft gehörten sieben fried Knöffler. 1766 holte Hagedorn
deutsche, fünf italienische und zwei noch den Bildnismaler Anton Graff
französische Lehrer an, darunter die und den Landschaftsmaler Adrian
Maler Charles Hutin, der als einziger Zingg aus der Schweiz, die sich später
aus dem ehemaligen Lehrkörper der als Propagierer der Sächsischen
Malerakademie verblieben war und Schweiz einen Namen machten. 1768,
die künstlerische Leitung inne hatte, im Jahre der Thronbesteigung Fried­
Bernardo Bellotto (Canaletto) und rich August des Gerechten, wurde

395
Zeissig auf Empfehlung von Johann
Georg Wille, auswärtiges Mitglied der
Dresdner Kunstakademie, ebenfalls
zum Mitglied gewählt. Die Kunst­
akademie bezog im gleichen Jahr das
Fürstenberg‘sche Haus gegenüber der
Hofkirche. Christian Wilhelm Ernst
Dietrich, den Zeissig in Paris kopiert
hatte, und Adam Friedrich Oeser,
Direktor des Leipziger Zweigs der
Kunstakademie, lehrten hier. Ende
1769 kam Zeissig selbst nach Dres­
den, ein Jahr später stellte er erstmals
vier Gemälde aus. Sie zeigten im
Auftrag von Maria Antonia Walpurgis
eine Epoche ihrer Genesung. Schon
um 1771 entdeckte Zeissig das Talent
des damals 12­jährigen Christian
Leberecht Vogel (später berühmt für
In seiner allegorischen Darstellung seine Kinderbildnisse), der daraufhin
auf Gotthold Ephraim Lessing ein Stipendium erhielt.
nimmt Zeissig Bezug auf dessen
Streit mit Christian Adolph Die Porzellan­Manufaktur Meißen
Klotz. Germanien hängt Lessings stand wegen der Folgen des Sieben­
Porträt am Tempel der Unsterblich- jährigen Kriegs und stärkerer inter­
keit auf, wo sich auch die Bilder von nationaler Konkurrenz seinerzeit
Shakespeare, Sophokles und Moliere vor großen Herausforderungen. Mit
befinden. Die Tragödie lehnt sich der Gründung der Kunstakademie
auf die Urne ihres Lieblings und Dresden wurde 1764 in Meißen eine
blickt auf Lessings Antlitz. Die Muse Zeichenschule eingerichtet, um die
des Lustspiels verdeckt ihr Gesicht Ausbildung zu verbessern, und unter
und die Feder entsinkt ihrer Hand. eine gemeinsame Generaldirektion
Der sitzende Genius der Antike im mit der Kunstakademie von Hage­
Vordergrund hat Klotz‘ Buch über dorn gestellt. Das Direktorium der
die Münzen verächtlich hinter sich Manufaktur um Freiherrn Maximili­
geworfen und vergleicht Lessings an Robert von Fletscher bemühte sich
Schrift über Laokoon mit einer zudem um eine neue künstlerische
kleinen Figur. Daneben enthüllt die Ausrichtung. Aus Paris wurde 1764
Fabel ihren Schleier, auf den einige Michael Victor Acier geholt und dem
von Lessings Fabeln gewebt wurden. berühmten Modellmeister des Barock

396
Das Kunstgespräch (1777, seit 1948 Gemäldegalerie Alte Meister, Leinwand
80 x 63,5): Der Mäzen Thomas Freiherr von Fritsch (rechts) im Gespräch
mit Christian Ludwig von Hagedorn (links), im Hintergrund v.l.n.r. Adrian
Zingg, Johann Eleazar Zeissig und Anton Graff. Die neue Kunstakademie
musste sich der öffentlichen Diskussion stellen und über Kunst aufklären.

397
Paris kannte, verhalf er mit Unterstüt­
zung von Marcolini in Meißen dem
Klassizismus französischer Prägung
zum Durchbruch. In der farblichen
Gestaltung übernahm man das „Bleu
du roi“ aus Sèvres. Vielfach lieferte
Zeissig die zeichnerischen Vorlagen
zu Aciers Plastiken, so bei „Die gute
Mutter“ oder den „Devisenkindern“.

Schon während seiner frühen Dresd­


ner Jahre stand Zeissig den Freimau­
rern nahe, ohne selbst beizutreten. In
den Hungerjahren von 1771 bis 1773,
aufgrund von Missernten, Hochwas­
ser und Inflation, erwarben sich die
Freimaurer große Verdienste um die
Spendenaufruf der Dresdner Frei- Dresdner Bevölkerung. Für zunächst
maurer als Beilage zum Dresdner 30 verarmte Kinder gründete die
Anzeiger. Loge „Zu den drei Schwertern“ das
Freimaurer­Institut. Finanziert wurde
und Rokoko Johann Joachim Kaend­ es teilweise aus dem Verkauf eines
ler zur Seite gestellt. Die Leitung der Drucks nach Zeissigs Gemälde „Der
Zeichenschule übernahm Christian Weise“, von Christian Friedrich Stöl­
Wilhelm Ernst Dietrich, der auch die zel gestochen. Es stellt den Stifter des
künstlerische Oberaufsicht über alle Freimaurer­Ordens dar, wie er auf ein
Modelleure und Maler der Manu­ Bild mit den Wohltaten der Freimau­
faktur ausübte. 1773 wurde Zeissig rer gegen die Armut zeigt. Mithilfe
dessen Nachfolger. Wie Acier sollte einer Beilage zum Dresdner Anzeiger,
er den „guten Geschmack“ aus Paris mit einem von Adrian Zingg gesto­
einführen, dabei die Maler in Per­ chenen Werk Zeissigs als Titelblatt,
spektive und Zeichnung anleiten sammelte man Spenden. Johann
und die Modelleure beraten. 1774 Ludwig Giesel schuf nach Zeissigs
übernahm Camillo Graf Marcolini, Zeichnung für die Loge „Zu den drei
ein Vertrauter des Kurfürsten, die Schwertern“ ein Wandgemälde.
Leitung der Porzellan­Manufaktur.
Nach Kaendlers Tod 1775 war Acier 1774 wurde Zeissig unter dem Di­
alleiniger Modellmeister in Meißen. rektor der Malereiakademie Charles
Gemeinsam mit Zeissig, den er schon Hutin zum Honorar­Professor für
seit ihrer gemeinsamen Studienzeit in Genre­ und Porträtmalerei ernannt.

398
Nach dem Tod Hutins übernahm er
ab 1777 als ordentlicher Professor die
künstlerische Leitung der Akademie
für Malerei, Bildhauerei und Kupfer­
stecherei alternierend mit Giovanni
Battista Casanova, einem Bruder des
Giacomo Casanova. Canaletto blieb
in jenen Jahren auswärtiges Akade­
miemitglied, Graff und Zingg lehrten
weiterhin, neu geholt wurde der Ma­
ler Crescentius Jakob Seydelmann.

Zu Zeissigs bekanntesten Schülern an


der Kunstakademie gehörten Chris­
tian August Lindner, der hier später
selbst lehrte, die Dresdner Brüder
Carl und August Friedrich, Johann
Daniel Dusler und Johann Gottlob
Klingner ebenfalls aus Dresden,
Ludwig August Sack aus Görlitz, Jo­
hann August Lingke aus Zittau sowie
die wie Zeissig aus Großschönau
stammenden Gottlieb Schiffner und
Gotthelf Weber. Eine Zuordnung von Porzellanen
aus Meißen zu Zeissigs Schaffens-
Der Bautzener Schriftsteller August zeit ist mittels des von 1774 bis 1815
Gottlieb Meissner, der ihm 1781 gültigen Signets möglich.
seinen „Alcibiades“ widmete, gehörte
zu Zeissigs Bewunderern. Das Ver­ 1780 übernahm Marcolini in Hage­
hältnis zu Casanova war dagegen von dorns Nachfolge auch die Generaldi­
Beginn an gespannt und verschlech­ rektion der Kunstakademie. Dessen
terte sich weiter mit der erneuten ungeachtet förderte er weiterhin
Hinwendung Zeissigs zur Histori­ besonders die Porzellan­Manufaktur
enmalerei, der Domäne Casanovas. in Meißen. Seit Johann Joachim Win­
So war es kein Zufall, dass jener im ckelmann war es Mode, die Antiken
Unterschied zu Christian Ludwig von in Porzellan nachzuahmen. Auch
Hagedorn, Adrian Zingg und An­ in Meißen wurden auf Marcolinis
ton Graff in Zeissigs Gemälde „Das Anweisung solche Porzellanfiguren
Kunstgespräch“ fehlte. hergestellt, wofür er die Modelleu­
re die von Anton Raphael Mengs

399
im Grünen Gewölbe zu Dresden.
Beteiligt waren Johann Carl Schön­
heit und Christian Gottfried Jüchzer
sowie der Juwelier Johann Christian
Neuber. Zu Zeissigs Mitarbeitern bzw.
Schülern in Meißen gehörten auch
Carl Gotthelf Starcke sen./jun. aus der
Familie der Ehefrau von Gottlob
Friedrich Thormeyer.
Tisch auf den Frieden von Teschen
im Louvre Paris: Kaiserin Maria 1786 kam es zum „Dresdner Ge­
Theresia und Friedrich August mäldekrieg“ zwischen Zeissig und
der Gerechte schenkten den Tisch Casanova, der vor allem durch deren
Louis-Auguste de Breteuil für seine Anhänger ausgetragen wurde. Anlass
Vermittlung zwischen Preußen und war ein euphorisches Lob für Zeissigs
Österreich während des Bayerischen
Erbfolgekrieges 1779. Der Tisch
wurde von Johann Christian Neuber
geschaffen und von Zeissig mit fünf
Medaillons aus Meißner Porzellan
versehen. Foto: Tangopaso (Wiki-
media Commons, Public Domain).

gesammelten Gipsabgüsse studieren


ließ. Die Eigenständigkeit der Ma­
ler der Manufaktur blieb unter der
Oberaufsicht Zeissigs gering. Dessen
ehemaliger Schüler Heinrich Gotthelf
Schaufuß erhielt eine Anstellung als
Figurenmaler und Zeichenmeister.
Auch nachdem Acier 1780 Meißen
verlassen hatte, entstanden in Zusam­
menarbeit mit Zeissig und den ver­
bliebenen Modelleuren bedeutende
Arbeiten. 1782 fertigte Johann Gott­
lob Matthäi nach Zeichnungen von „Auferstehung Christi“ in der
Zeissig und einem ersten Entwurf von Kirche Großschönau. Foto: Jwaller
Acier die Modelle der teils in Biskuit, (Wikimedia Commons, Lizenz CC
teils in glasiertem Porzellan ausge­ BY-SA 3.0, Ausschnittsvergröße-
führten Figuren für den Prunkkamin rung)

400
das er auf eigene Kosten malte, weil
der ursprünglich beauftragte August
Christoph Kirsch, ein Schüler Casa­
novas, 1787 verstorben war.

1791 bezog die Kunstakademie die


umgebaute ehemalige Brühlsche Bib­
liothek auf der Brühlschen Terrasse.
Nach dem Ableben von Casanova im
Jahre 1795 führte Zeissig die Aka­
demie der Malerei, Bildhauerei und
Kupferstecherei gemeinsam mit Cres­
centius Jakob Seydelmann. Die Stelle
in Meißen gab er auf. In den ihm

„Kreuzigung Christi“ in der Kreuz-


kirche Dresden, 1788–1792 gemalt,
1897 verbrannt.
Gemälde „Auferstehung Christi“, das
auf einer Dresdner Kunstausstellung
bei Casanovas Anhängern ein äußerst
negatives Echo fand. 1794 behandelte
Karl Friedrich Kretschmann dieses In der Literatur ist vielfach zitiert,
Werk, das sich inzwischen im Besitz dass Zeissig nach dem Ableben
der Großschönauer Kirche befand, von Casanova die alleinige künst-
ausführlich in der „Lausitzer Mo­ lerische Leitung der Dresdner
nathsschrift“. Er nahm Zeissig darin Kunstakademie inne gehabt hat.
gegen Casanovas Kritik in Schutz. Zu Dem widersprechen die jährlichen
Zeissigs bekanntesten Werken zählte Darstellungen in den historischen
zudem das Altarblatt der Kreuzkirche, Adressbüchern, z. B. im Jahre 1800.

401
die Kunstakademie und die jungen
Maler große Verdienste erworben
habe. Seine eigenen jüngeren Arbei­
ten wurden dagegen kritisiert (Dresd­
ner Abendzeitung, 30.8.1806). Das
Lexikon von Georg Kaspar Nagler
schrieb: „Schenau hatte zwar Phan­
tasie und Geschick zur Komposition,
seine Zeichnung ist aber nicht selten
unrichtig, seinen Figuren fehlt es an
wahrem Leben und Ausdruck, und
die Färbung ist bunt, selbst in den
Schatten noch glühend. Er scheint
hierin den Rubens missverstanden
zu haben.“ Zeissig wurde auf dem
Dresdner Johannisfriedhof beigesetzt,
1854 aber wegen dessen Einebnung
„Zwei Frauen und drei Männer beim nach Großschönau umgebettet. Eine
Kartenspiel“, Metropolitan Museum Vielzahl von seinen Werken befindet
of Art New York, Open Access for sich heute im Besitz von Oberlausit­
Scholarly Content (OASC). zer Museen, so in Bautzen („Mädchen
mit Tauben“, „Unterzeichnung des
verbleibenden Jahren holte Zeissig zu­ Ehevertrages“), in Görlitz („Ehepaar
sammen mit Camillo Graf Marcolini in der Laube“, „Familienszene“), in
weitere namhafte Künstler nach Dres­ Zittau („Bildnis eines jungen Man­
den, so 1799 den Porträtmaler Joseph nes“, „Christus am Ölberg“) und eine
Grassi. 1803 erhielt Adrian Zingg die größere Anzahl Bilder im Deutschen
lange verwehrt gebliebene Professur. Damast­ und Frottiermuseum Groß­
Dominierten am Beginn von Zeissigs schönau. Zeissigs Werke finden sich
akademischer Laufbahn in Dresden aber auch im Metropolitan Museum
noch Historienmalerei und Klassizis­ of Art New York und der National
mus, so begann unter seiner Leitung Gallery of Art Washington. Die Staat­
eine Erneuerung. Insbesondere Zingg lichen Kunstsammlungen Dresden
wurde zu einem Wegbereiter der Ro­ besitzen neben den Ölgemälden „Die
mantik, die später unter Caspar David kurfürstliche Familie“, „Das Kunstge­
Friedrich in Dresden zum Durch­ spräch“ und „Bildnis des sächsischen
bruch gelangte. Kurfürsten und Königs Friedrich
August des Gerechten“ vor allem
Als Zeissig starb, attestierte die zeit­ mehrere Porzellane „mit dem grünen
genössische Kritik, dass er sich um Band“ nach Zeissigs Entwürfen.

402
Unterzeichnung des Ehevertrages (1802). Katalog der Gemäldesammlung
Stadtmuseum Bautzen (1954), von Dr. Eva Schmidt: „Seine Familienbild-
nisse gehören durch ihren malerischen Reiz und die unkonventionelle
Auffassung zu seinen besten Leistungen.“ Inventarnummer 3630

Quellen: Hyacinth Holland: „Schenau, Johann Vogt: „Von Kunstworten und ­werten“. Bd.
Eleaz Zeißig genannt“. Allgemeine Deutsche 32 von Wolfenbütteler Studien zur Aufklä­
Biographie, Bd. 31, 1890, S. 36–37; Gottlob rung, Walter de Gruyter, 2010; SKD Online
Friedrich Otto: „Lexikon der seit dem 15. Collection; Taschenbuch der Freimaurer, Bd.
Jahrhundert verstorbenen und jetztlebenden 6, 1803; Willy Doenges: „Meissner Porzellan:
Oberlausitzischen Schriftsteller und Künst­ seine Geschichte und künstlerische Entwick­
ler“. Görlitz, 1800–1803; Paul Schumann: lung“. W. Jess Dresden, 1921; Heinrich Keller:
„Dresden“. Seemann Leipzig, 1909; „Professor „Nachrichten von allen in Dresden lebenden
Johann Eleazar Zeissig, genannt Schenau“ Künstlern“. 1788; Pauline Gräfin von Spee:
(www.kirche­grossschoenau.de); Kai Wen­ „Die Klassizistische Porzellanplastik der
zel: „Zeissig, Johann Eleazar, gen. Schenau Meissener Manufaktur von 1764 bis 1815“.
(Schönau)“. Sächsische Biografie, hrsg. vom Dissertation, Bonn 2004; Neue Bibliothek der
Institut für Sächsische Geschichte und Volks­ schönen Wissenschaften und freyen Künste.
kunde e.V., bearb. von Martina Schattkowsky; Bd. 27,1, 1782; gw.geneanet.org; Barbara
Adressbücher der Stadt Dresden; Staatliche Marx, Christoph Oliver Mayer: „Akademie
Kunstsammlungen Dresden: „Gemäldegalerie und/oder Autonomie: akademische Diskurse
Dresden Alte Meister“. 20. Aufl., 1978; Margrit vom 16. bis 18. Jahrhundert“. Peter Lang, 2009

403
Frank Fiedler, 1944 gezeichnet von seinem Vater.

404
Autobiografische Retrospektive von Frank Fiedler
Lehrer a. D., Heimatforscher
*29.11.1930 Dresden

V: Friedrich Kurt Fiedler (*8.3.1894 Eichbusch, †11.11.1950 Dresden), Grafiker, Meisterschüler


von Josef Goller; M: Nanny Louise geb. Schuchardt (9.11.1897–9.4.1948); G: Sonja (1922–2012),
Gert (1935–1984); E: Brunhilde geb. Gnauck (*4.4.1935, Urenkelin des ehemaligen Kleindrebnit­
zer Gemeindevorstands Ernst Gnauck); K: Uwe (*24.9.1958, Dr.­Ing.)

Meine Kindheit verbrachte ich in räumen des Dürerbundes auch die


einem künstlerisch geprägten Umfeld lokale Redaktion der Zeitschrift „Der
in Dresden­Blasewitz. Unser Wohn­ Kunstwart“. Mein Vater, Kurt Fiedler,
haus, die Heinrich­Schütz­Straße 2, war seinerzeit ein bekannter Grafiker.
spielte einstmals in der deutschen Er arbeitete u. a. für solche führenden
Kulturgeschichte als Dürerbundhaus Verlage wie Teubner, Steinkopff und
eine bedeutende Rolle. 1910 hatte Güntz und zählte Villeroy & Boch,
es Heinrich Tscharmann für Fer­ den Zirkus Sarrasani und das Dresd­
dinand Avenarius, noch unter der ner Planetarium zu seinen Kunden.
Adresse Bahnhofstraße 24, für diese
große, deutschlandweite Organisati­ Unsere Familie teilte sich eine Etage
on des Bildungsbürgertums erbaut. der großen Villa an der Elbe mit dem
Es beherbergte neben den Dienst­ Schwager Edmund Schuchardt, einem

405
bekannten Architekten und späteren heit gestaltet. So befand sich beidsei­
Dozenten an der Hochschule für Bil­ tig alter Baumbestand der natürlichen
dende Künste, und dessen jüdischer Hartholzaue mit vorwiegend ein­
Ehefrau Fanny. Ich wurde dadurch heimischen Baumarten (Spitzahorn,
schon frühzeitig mit den politischen Ulme, Hainbuche, Esche). Diese
Konflikten der Nazizeit konfrontiert. naturnahe Gartengestaltung wurde
Weil mein Onkel lieber ins Arbeitsla­ später zum Vorbild, um im eigenen
ger ging, als sich scheiden zu lassen, Garten Lebensräume für Wildbienen
und mein 1945 an der TH Dresden (regelmäßige Bruten), Bergmolche
beschäftigter Vater Ausweisdokumen­ (regelmäßig anwesend), Haselmäuse
te fälschte, überlebte meine Tante als (zeitweise anwesend), verschiedene
eine der wenigen jüdischen deutschen Vogelarten (z. B. die regelmäßigen
Mitbürger den Holocaust in Dres­ Bruten der Tannenmeise im Laub­
den. Zu den Hausbewohnern jener holzbestand) und seit einigen Jahren
Zeit zählte auch Götz Heidelberg, besonders erfolgreich für die Wald­
später maßgeblicher Erfinder der eidechse zu schaffen.
Transrapid­Technik. Hauseigentümer
waren Avenarius‘ Stiefsohn Wolf­ Nachdem ich frühzeitig die Mutter
gang Schumann und dessen Ehefrau verloren hatte, verließ ich das Gymna­
Eva. Sie lebten während der Nazizeit sium und bewarb mich um eine Aus­
zeitweise im Exil; Eva Schumann bildung zum Neulehrer. Um meine
wurde in der DDR zur Ehrenbürgerin Chancen trotz des jugendlichen Alters
von Freital ernannt. Unser Wohnhaus zu erhöhen, trat ich auch der SED bei.
fiel den Bombenangriffen des 13./14. Dabei spielte zudem eine Rolle, dass
Februar 1945 zum Opfer. Wir hatten in der Familie zunächst eine durchaus
jedoch Glück im Unglück, überlebten positive Einstellung zum Sozialismus
vollzählig und fanden Aufnahme in bestand. Mein Vater, ein ehemali­
Eichbusch, der Heimat meines Vaters. ges SPD­Mitglied und zeitweilig als
Französisch­Dolmetscher in einem
Mein lebenslanges Interesse an gewäs­ Kriegsgefangenenlager eingesetzt,
serkundlichen Themen geht auf jene hatte mir eindringlich von den
Kindheitstage in Blasewitz zurück. Verbrechen der Nazis berichtet. Es
Meinem Vater und dem im Haus war meinem Vater zu jener Zeit noch
wohnenden Oberlehrer i. R. Minkert nicht möglich, in der zunehmenden
verdankte ich vielfältige Anregungen, „Kaltstellung“ als künstlerischer
mich mit der Natur, z. B. der Fauna Mitarbeiter der SED­Landesleitung
der nahen Elbe, zu beschäftigen. Der zugunsten eines Gegenspielers aus
Garten des Blasewitzer Wohnhauses der ehemaligen KPD das kommende
war ganz im Sinne der vom Dürer­ System zu durchschauen.
bund propagierten Naturverbunden­

406
Unmittelbar nach dem Krieg hatte Lehrer für Biologie und Sport in Stei­
ich begonnen, mich für Fossilien zu nigtwolmsdorf (1950). In Großdreb­
interessieren. Aus dieser Zeit stamm­ nitz (ab 1952) lernte ich meine spätere
ten ca. 10 Fundstücke aus der Kreide Frau kennen. In dieser Zeit legte ich
des Rathsteinbruches bei Freital, auch das Staatsexamen im Fernstu­
darunter eine große Austernschale dium ab. Es folgten Anstellungen an
und ein Stein mit mehreren Seeigel­ verschiedenen Schulen Bischofswer­
stacheln. Für die Examensarbeit von das (ab 1961) und zeitweise in Burkau
1957 entstand eine Sammlung von (1969–1973). Aus gesundheitlichen
Samen tertiärer Laubgehölze vom Gründen (wegen zwei Hüftoperati­
Hasenberg bei Wiesa. Zusammen onen) schied ich 1991 vorzeitig aus
mit ca. 8 großen Stücken aus dem dem Schuldienst aus.
Karbon von Zwickau­Oelsnitz, einem
Geschenk des dortigen Steigers Kurt Außerhalb des Schulunterrichts leitete
Beier, der Examensarbeit und ei­ ich verschiedene Schüler­Arbeits­
ner Sammlung wertvoller Literatur gemeinschaften zu Biologie, Natur­
(darunter Bestimmungsbücher: „Die schutz und Landeskultur. Weniger
Laubgehölze der Braunkohlezeit“, ein erfreulich entwickelten sich die poli­
Buch der Urania­Reihe zu den Fossili­ tischen Umstände. Als Klassenlehrer
en der Schreibkreide von Rügen und versuchte ich, insbesondere christlich
ein antiquarisches Bestimmungsbuch gebundene Schüler, die sich aus Glau­
zu versteinerten Mollusken) habe ich bensgründen dem System nicht völlig
diese Fundstücke Anfang der 1990er unterordnen wollten (z. B. Teilnahme
Jahre dem Museum der Westlausitz an der Jugendweihe), vor Schikanen
Kamenz (z. Hd. Ursula Rathner) als zu bewahren. Als Sportlehrer kam ich
Geschenk übergeben. von 1971 bis 1973 sowie von 1978 bis
1986 als Rettungsschwimmer Stufe
I zum Einsatz. Auch nach meinem
Ruhestand war ich gerne behilflich,
wenn sich Schüler im Rahmen ihrer
Belegarbeiten mit Fragen zu natur­
kundlichen Themen an mich wand­
ten.

Seit meiner Kindheit war ich sport­


lich vielseitig aktiv. Um dem in der
Familie politisch verpönten Dienst in
Nach dem erfolgreichen Abschluss der HJ zu entgehen, schloss ich mich
des Neulehrerlehrgangs in Dresden 1943 in Dresden einer Leistungsklasse
erhielt ich meine erste Anstellung als Rudern an. In Großdrebnitz betrieb

407
ich von 1953 bis 1961 Leichtathle­ Auch wenn das besondere Interesse
tik und war v. a. im Speerwurf im der Gewässerfauna gilt, entstanden
Raum Ostsachsen relativ erfolgreich. zudem Publikationen zu Beobachtun­
Zwischen 1957 und 1967 spielte ich gen auf anderen Gebieten der heimi­
in Bischofswerda aktiv Handball, schen Fauna, v. a. der Ornithologie,
von 1972 bis 1986 stellte ich mich als sowie botanische Nachweise. 1994
ehrenamtlicher Übungsleiter dem verlieh mir der Landkreis Bischofs­
Bischofswerdaer Handballnachwuchs werda anlässlich dessen Vereinigung
zur Verfügung. mit dem Landkreis Bautzen eine
Silberne Gedenkmünze für Verdiens­
Nach dem Umzug in die Oberlausitz te um den Naturschutz. Viele meiner
hatte sich bei mir eine innige Ver­ Arbeiten wurden in Bibliografien der
bundenheit zur hiesigen Heide­ und Sächsischen Landes­ und Universi­
Teichlandschaft entwickelt. Sowohl tätsbibliothek Dresden, des Muse­
Gerhard Creutz (schon seit dessen ums für Tierkunde Dresden und der
Dresdner Zeit), mit dem ich zur Senckenbergischen Naturforschenden
Thematik Fischotter zusammenge­ Gesellschaft Görlitz übernommen.
arbeitet habe, als auch Gottfried Besonders die Arbeiten zum Fisch­
Unterdörfer zählte ich zu meinen otter fanden auch außerhalb Sach­
Bekannten. Meine biologischen sens Beachtung, wie verschiedene
Arbeiten beziehen sich schwerpunkt­ Anfragen aus dem In­ und Ausland
mäßig – direkt oder indirekt – auf die sowie die Bitte um Unterstützung bei
Gewässerfauna. Beobachtungen in Arbeiten zu einer Promotion an der
der Natur und historische Recherchen Universität Nürnberg­Erlangen (Lia­
werden ergänzt durch Erfahrungen, na Geidezis) zeigen.
die ich als Angler, Aquarianer und
langjähriger UTP­Lehrer („Unter­ Die heimatgeschichtlichen Arbei­
richtstag in der Produktion“) in der ten sind vorwiegend historischen
landwirtschaftlichen Variante sowie Persönlichkeiten aus dem Raum
als nebenberufliche Aushilfskraft in Bischofswerda gewidmet, vor allem
der Binnenfischerei von Kleindrebnitz aus dem heutigen Ortsteil Großdreb­
sammeln konnte. In den Jahren 1972 nitz, wohin ich auch nach meinem
und 1984 beteiligte ich mich an der beruflichen Weggang noch lange
„Aktion Fischotter“ der Martin­Lu­ enge familiäre und freundschaftliche
ther­Universität Halle unter Feder­ Bindungen besaß. Es gelang mir mit
führung von Professor Michael Stub­ einer Arbeit aus dem Jahre 1990, die
be. Bis 1989 war ich als langjähriges Verdienste des bereits in Vergessen­
Mitglied im Kreisvorstand Bischofs­ heit geratenen Kirchschullehrers und
werda des Deutschen Anglerverban­ Heimatforschers Bruno Barthel
des zuständig für Kultur und Bildung. wieder in das Bewusstsein des Dorfes

408
Viele meiner heimatgeschichtlichen Arbeiten zu Großdrebnitz betrafen die
hiesigen Pfarrer (Richard Garbe, Carl Julius Marloth) bzw. Kirch-
schullehrer (Bruno Barthel, Willy Sorber). Der langjährige Pfarrer von
Großdrebnitz Sebastian Führer gewährte mir dafür stete Hilfe.

409
zu rücken. Als Beitrag zu einer aus­ Roland Paeßler angemessene Berück­
gewogenen Erinnerung an verdienst­ sichtigung fanden. Die Sichtung und
volle Großdrebnitzer Persönlichkei­ Sicherung des Nachlasses meines
ten entstanden in den Folgejahren Vaters, Kurt Fiedler, gehört aktuell
Arbeiten für die Sächsische Biografie zu meinen wichtigsten Aufgaben.
zu dem Agrarwissenschaftler Bruno So habe ich dem Museum in Niesky
Steglich und dem Pfarrer Richard Werbegrafiken für die Fa. Christoph
Garbe. Viele weitere Arbeiten zur & Unmack übergeben. Über seine Ar­
Heimatkunde von Bischofswerda und beiten für den Waaren­Einkaufsverein
Umgebung betrafen Biografien von Görlitz wurde im Stadtwiki Dresden
verdienstvollen Natur­ und Heimat­ berichtet. Die Spur meiner Vorfah­
forschern wie Wilhelm Winkler, Ernst ren konnte ich bis in die Oberlausitz
Emil Wustmann, Johannes Weber, zurückverfolgen. Mein Ururgroßvater
August Leppelt und Hans­Werner Karl Traugott Johne war Zimmer­
Otto, aber auch solche Themen wie mann und stammte aus Rammenau,
die Stieleichen des Lutherparks mit ein anderer Zweig reicht demnach bis
ihren in der Stadtgeschichte Bi­ zur Familie Klippel aus Sohland.
schofswerdas teilweise ignorierten
Beziehungen zur früheren teichwirt­
schaftlichen Nutzung sowie die Gar­
tenanlage „Am Hunger“. Umfassend
wurde die historische Entwicklung
von Nutzung und Fauna dieses außer­
gewöhnlichen Gartenareals im Süden
der Stadt dargestellt. Im Rahmen
einer neu aufgelegten heimatkund­
lichen Schriftenreihe habe ich mich
zudem bemüht, dass der Stadtchro­
nist des 20. Jahrhunderts Johannes Erholung finden meine Frau und ich
Weber und der Heimatforscher in unserem Garten „Am Hunger“.

Bibliografie
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„Beobachtungen des Baumfalken“, Der Falke, Heft 8, S. 272–273, 1986
„Der Fischotter, Lutra lutra L., im Kreis Bischofswerda“, Bischofswerdaer Land 5, S. 41–48,
1987
„Bemerkenswerte Gehölze in Bischofswerda, Die Stieleichen des Lutherparkes“, Bischofswer­
daer Land 6, S. 78–82, 1988 (seitens Herausgeber vertauschte Werte in Tabelle)
„Erfahrungen mit Otocinclus spec.“, Aquarien Terrarien, Heft 6, S. 194–197, 1988
„Der Sperber im Neubaugebiet Bischofswerda­Süd“, Der Falke, Heft 4, S. 123–124, 1989
„Ehregott Bruno Barthel: Lehrer, Kantor und Heimatforscher“, Bischofswerdaer Land 8, S.
97–98, 1990
*durch Hrsg. verschuldete, sinnentstellende Vertauschung von Passagen zu Gründling u. Döbel
410
„Wasserqualität im Aquarium – Erfahrungen mit mehreren Arten tropischer Zierfische“,
Aquarien Terrarien, Heft 2, S. 65–66, 1990
„Zum Rückgang des Fischotters in Sachsen in den Jahren 1884–1919 – Berichte in den
Schriften des Sächsischen Fischerei­Vereins“, Abh. Ber. Naturkundemus. Görlitz, Bd. 64, Nr.
10, 1990
„Beobachtungen an Querungen von Otterwechseln mit Verkehrswegen im Landkreis Bi­
schofswerda“, Veröffentlichungen Museum der Westlausitz 16, Kamenz, S. 60–66, 1992
„Zum Vorkommen des Fischotters im Landkreis Bischofswerda“, Ber. Naturforsch. Gesell­
schaft Oberlausitz, Görlitz, H. 2, S. 35–39, 1993
„Zur Fischotterbekämpfung in Sachsen bis zum Jahr 1920“, Sächsische Heimatblätter 5, S.
304–308, 1993
& O. Zinke: „Beobachtungen zu Biologie und Verhalten des Fischotters, Lutra lutra L“, Veröf­
fentlichungen Museum der Westlausitz 17, Kamenz, S. 66–77, 1993
„Abriß der historischen Verbreitung bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts“, Freistaat Sachsen,
Landesamt für Umwelt und Geologie, Artenschutzprogramm Fischotter, S. 7–9, 1996
„Historische Teichwirtschaft im Raum Bischofswerda“, Zwischen Wesenitz und Löbauer
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„Zeugnisse früherer wirtschaftlicher Tätigkeit am Laufe des Weickersdorfer Wassers“, Zwi­
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bocker Landstreicher, Nr. 1, S. 9–10, Burkau 2006
„Erinnerungen an die historische Verbreitung des Wolfes in der Umgebung von Bischofswer­
da“, Schiebocker Landstreicher, Nr. 1, S. 44–48, Burkau 2006
„August Leppelt – Ein Wegbereiter naturkundlicher Heimatforschung nach dem 2. Welt­
krieg“, Schiebocker Landstreicher, Nr. 2, S. 43–46, Burkau 2007
„Seltenes altes Ackergerät aus dem ehemaligen Erbrichtergut Belmsdorf “, Schiebocker Land­
streicher, Nr. 2, S. 55–56, Burkau 2007
„Zum 75. Geburtstag von Hans­Werner Otto“, Schiebocker Landstreicher, Nr. 3, S. 17–20,
Burkau 2008
„Naturerlebnisse auf den Spuren des Dichterförsters Gottfried Unterdörfer“, Schiebocker
Landstreicher, Nr. 3, S. 73–78, Burkau 2008 (seitens Hrsg. Fehler in Überschrift, Bild, Tabelle)
& U. Fiedler: „Zwischen Dürerbund und Kulturbund – Aus dem Leben des Dresdner
Grafikers Kurt Fiedler“, Sächsische Heimatblätter, Jg. 55, 1/09, Klaus Gumnior Chemnitz, S.
10–18, 2009
„Zum Salzfuhrwesen in Großdrebnitz in den Lebenserinnerungen von Prof. B. Steglich“,
Schiebocker Landstreicher, Nr. 4, S. 55–56, Burkau 2009
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gelände im Süden der Stadt Bischofswerda“, NABU Landesverband Sachsen e.V.: Jahresschrift
für Feldherpetologie und Ichthyofaunistik in Sachsen, H. 11, S. 11–17, Leipzig 2009
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in einem Gartengelände und Maßnahmen zu ihrem Schutz“, NABU Landesverband Sachsen
e.V.: Jahresschrift für Feldherpetologie und Ichthyofaunistik in Sachsen H. 14, S. 24–29,
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Weitere Quellen
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413
Abbildungsverzeichnis
Seiten
Foto Uwe Fiedler 19, 33, 42, 46, 51, 57, 66 o, 69–70, 76, 90,
100u–104, 106, 116, 120–121, 127, 151, 163,
166, 170, 173, 176, 178, 186, 189–190, 224r,
226, 236, 239, 242, 250, 262, 265, 269, 279,
281–282, 285 l, 286–287, 289, 293, 298, 328,
334, 346 o, 357, 358u, 360, 362, 367, 370 l,ru,
372–376, 399, 407, 409
Grafik Uwe Fiedler 114–115, 323, 353; Montage, Vorlagen PD: 22,
300
Bildarchiv Frank Fiedler 16, 21, 66u, 92, 98 o, 107–113, 123ru, 153,
194–195, 198, 209, 228, 233, 237, 264, 283,
285r, 292 o, 308, 311 o, 315 l,ro, 324, 343,
346u–347, 354, 358 o, 359, 361, 363, 370 ro,
384, 387, 396, 405, 410, 419, 421, 423
Kurt Fiedler 2, 404

200 Jahre Dresdner Anzeiger 202, 272


Academy architecture and architectural review 10
Adressbücher der Stadt Dresden 401r
Archiv für die sächsische Geschichte 132
Bibliothèque Nationale de France 394 o
Bildarchiv Forstwirtschaft Tharandt, TU 232
Dresden
Bilder aus dem Sachsenlande 294
Christusbote Bischofswerda 288
Deichmüller: Isis, 1917 150
Deutsche Bauzeitung 122
Deutsche Fotothek 60, 63, 146, 180, 192, 200, 225r, 230, 235, 271
Deutsches Museum München 134, 344
Dresdner Salonblatt 78, 206, 378
Erika Garbe (†) 84
Gemäldekatalog Bautzen 403
Gurlitt: Kunstdenkmäler 224 l, 401 l
Christa Haensel 15r, 210, 300–301, 311u, 313, 315ru
Haifa Historical Society 27, 37, 40 ru
Harvard University Library 23, 28–29
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 248, 256
History of Medicine 164, 167
Gabriele Hollborn 174
Informationsdienst Wissenschaft 158
Jenaer Literaturzeitung 168
Gunter Kretzschmar 72
Löwenberger Heimatgrüße 318
Mennacher: Adolf Lier und sein Werk 196

414
John Moser 24, 26, 34, 36, 40 o
Metropolitan Museum of Art New York 402
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg 154
Niederrheinische Musik­Zeitung 149
Dr. Rudolf Otto (†) 128
Roland Paeßler (†) 93, 222, 337, 351, 418
Österreichische Nationalbibliothek Wien 88, 266
Sachsens Kirchen­Galerie f. 177, 211, 251
Sächsischer Erzähler 260
Wilfried Schmid 325
Schriften des Verbandes landwirtschaftlicher 208
Versuchs­Stationen
Stadtgeschichtliches Museum Leipzig 138
Stadtarchiv Bischofswerda 218, 221
Staatliche Museen zu Berlin 8
Karin Stöckhardt 338
Universitätsbibliothek Trier 425
University of Michigan 321
Burkhard Unterdörfer 368
www.kirchbau.de 389
Wikimedia Commons, Flickr (cc­Lizenz) 11–12 o, 31, 41, 53, 87, 100 o, 118, 124, 126,
231, 296–297, 366, 400r, 407
Wikimedia Commons/ Wikipedia/ Wikisour­ 12u, 15 l, 20, 39, 48, 54, 56, 62, 96, 98u, 100 o,
ce (gemeinfrei) 119, 130–131, 156, 169, 182, 193, 199, 214, 225
l, 240, 252, 255, 258–259, 276, 290, 292u, 327,
330, 356, 380, 384, 386, 392, 394–395, 397,
400 l, 426
Gemeinfrei aus öffentlichen Quellen (books. 14, 30, 35, 47, 58, 61, 65, 67, 99, 149, 216, 227,
google.com, archive.org, hathitrust.org) 301, 340, 349, 361, 363, 365, 382, 384, 386,
390, 398, 401 l
zeno.org 81, 94, 105, 123 lo, 148, 217, 244, 253, 280,
299, 365, 382, 388

Kurzbiografien von Heimatforschern aus Bischofs-


werda und Umgebung
Gnauck, Max Otto Weickersdorf. Über seine Großmutter
* 19.06.1858 in Weickersdorf Christiane Caroline Beyer bestand
† 03.06.1904 in Leisnig ein Ahnenverbund mit der Familie
Gnauck wurde als zweites von zehn von Friedrich Bayer, des Gründers
Kindern eines Bauerngutsbesitzers der Bayer AG (Wechsel der Namens­
geboren. Seine Vorfahren bis ein­ schreibweise 30.8.1849). Gnauck
schließlich des Großvaters waren über besuchte die Volksschule Goldbach,
vier Generationen Salzfuhrleute in die Bürgerschule Bischofswerda, von

415
1872 bis 1873 das Annenrealgym­ Volksschule und danach drei Jahre
nasium in Dresden und bis 1879 das im benachbarten Braunau (Broumov)
Kreuzgymnasium unter Friedrich die Bürgerschule. Erst 1936 erhielt er
Hultsch. Nach Ableistung der Militär­ eine Lehrstelle in einer Kunstlederfa­
pflicht studierte er Geschichte, Geo­ brik, zwei Jahre später erlebte er den
graphie und alte Sprachen von 1881 Einmarsch der Soldaten Hitlers. 1939
bis 1882 in Tübingen und danach in wurde Leppelt selbst eingezogen.
Leipzig. 1887 wurde er als Probeleh­
rer am Wettiner Gymnasium in Dres­ Im Sommer 1945 kam er aus ameri­
den unter dem Rektor Otto Meltzer kanischer Kriegsgefangenschaft frei.
angestellt, wo er bis 1891 Geschichte Er hielt sich kurze Zeit in Sohland auf
und Geographie unterrichtete. Nach und besuchte 1946 in Bautzen einen
einer kurzen Tätigkeit als Vikar an Neulehrerlehrgang. Arbeitsorte waren
der Realschule Plauen ging er 1892 ab 1946 die Lutherschule Bautzen,
als Lehrer an die Realschule Leisnig. ab 1948 die Grundschule Bischofs­
Gnauck war Vorstandsmitglied im werda und ab 1949 die Grundschule
Geschichts­ und Altertumsverein Schmölln. Ab 1949 leitete er eine Ar­
Leisnig, dessen Archiv aus seinem beitsgemeinschaft der Jungen Natur­
Nachlass eine wertvolle Sammlung forscher, die über einen Zeitraum von
alter Landkarten, Chroniken, Porträts mehr als 30 Jahren Bestand hatte. Im­
und Städtebilder als „Gnaucksamm­ mer neue Teilnehmer pflanzten und
lung“ übernahm. Sein bekanntestes pflegten Wald­ und Obstbäume. Die
Werk war „Odorich von Pordenone, Pappeln am Sportplatz und die Obst­
ein Orientreisender des 14. Jahrhun­ anlage am Mühlteich in Schmölln
derts“ (1895). Mit der Königlichen erinnern daran. Leppelt, der selbst die
Bibliothek in Dresden (vgl. Hermann Schmetterlingsfauna erforschte, leitete
Arthur Lier) stand er langjährig in zudem junge Imker oder allgemein
brieflichem Kontakt. an Insekten interessierte an. Jährlich
führte er mit wenigen eingearbei­
Leppelt, August teten Helfern gemeinsam für die
* 29.10.1919 in Heinzendorf (Hynčice) Schulen Schmölln, Rothnaußlitz und
† 26.09.1988 in Bischofswerda Demitz­Thumitz in den Sommerferi­
en naturkundliche Spezialistenlager
Leppelts Kindheit war überschattet durch, meist in Commerau bei Klix.
von wirtschaftlichen Schwierigkeiten Zeitweise nahmen daran auch Schü­
wegen der mehrjährigen Arbeits­ ler und Lehrer aus anderen Schulen
losigkeit des Vaters als Folge der teil, beispielsweise Frank Fiedler aus
Weltwirtschaftskrise und dessen Bischofswerda. 1958 wurde Leppelt
frühzeitigem Tod. Der Sohn besuchte als pädagogischer Mitarbeiter an die
an seinem Heimatort fünf Jahre die Station Junger Naturforscher und

416
Techniker in Bischofswerda versetzt, brachte den Beweis, dass dort der
am 1. Januar 1962 übernahm er die Wechsel von Ottern zwischen dem
Leitung der Station. 1970 kehrte er an Horkaer Teich (Bischofswerda) und
die Schmöllner Schule zurück. dem Silberwasser (Kynitzsch) verlief.
Dabei handelt es sich um einen der
Nach Ausbildung und Prüfung bei seltenen bekannten Landwechsel,
Gerhard Creutz in Neschwitz die große Gewässersysteme über die
begann Leppelt 1960 mit der Vogel­ Wasserscheide verbinden: Wesenitz
beringung. Seine Beringungsliste (Horkaer Teich) und Schwarze Elster
weist 262 Einträge auf, darunter (Silberwasser). Im Jahr 1979 erlitt
Gebirgsstelze, Drosselrohrsänger, Leppelt während des Schulunterrichts
Gartengrasmücke, Gartenrotschwanz, einen Infarkt und musste invalidisiert
Heckenbraunelle, Sumpfmeise, werden. Soweit es ihm gesundheitlich
Teichrohrsänger, Trauerfliegen­ möglich war, unterstützte er trotzdem
schnäpper und ein Kuckuck. In seiner auch weiterhin Schüler­Arbeitsge­
Wirkungszeit hatte der Niedergang meinschaften.
der Fischotterpopulation in fast ganz
Europa ein bedrohliches Ausmaß Literatur
erreicht. In der DDR stand die Art Frank Fiedler: „August Leppelt – Ein
unmittelbar vor dem Aussterben. Im Wegbereiter naturkundlicher Heimat­
Jahr 1969 erhielt Leppelt Kenntnis forschung nach dem 2. Weltkrieg“. M.
vom Verkehrstod eines Otters bei Hüsni, A. Mikus (Hrsg.), Schiebocker
Großharthau. Er erreichte, dass das Landstreicher, H. 2, Burkau 2007, S.
davon gefertigte Standpräparat an das 43–46
Museum in Schmölln kam. Es handel­
te sich um den ersten nachgewiesenen Paeßler, Roland
Verlust eines Otters in der Umgebung * 28.02.1928 in Belmsdorf
von Bischofswerda nach rund 50 † 23.01.2016 in Bühlau
Jahren. Dieser Totfund erregte auch
dank Gerhard Creutz in der Fach­ Paeßler stammte aus dem Erbrichter­
welt beträchtliche Aufmerksamkeit und Freigut Belmsdorf. Nach 1945
(irrtümliche Datierung 1971). Einige war er als Landwirtschaftslehrer und
Jahre später konnte Leppelt selbst den selbstständiger Landwirt tätig. Zwi­
Fund eines solchen Verkehrsopfers schenzeitlich floh er in die Bundesre­
sichern. Am 7. August 1985 wurde ein publik. Nach einem Fernstudium an
männlicher Otter von 106 cm Länge der Universität Leipzig von 1959 bis
und einem Gewicht von 9 kg östlich 1964 bei Kurt Rauhe leitete Paeßler
der Ortsverbindungsstraße Bischofs­ genossenschaftliche Landwirtschafts­
werda­Schmölln gefunden. Systemati­ betriebe. Von 1970 bis 1990 vertrat
sche Spurensuche durch Frank Fiedler er die Demokratische Bauernpartei

417
Spuren unserer Vorfahren. Der
Heimatforscher Roland Paeßler feiert
am 28. Februar seinen 75. Geburts­
tag“. Wochenkurier, Bischofswerda,
26.02.2003, S. 1
Frank Fiedler: „Seltenes altes Acker­
gerät aus dem ehemaligen Erbrichter­
gut Belmsdorf “. M. Hüsni, A. Mikus
(Hrsg.), Schiebocker Landstreicher,
H. 2, Burkau 2007, S. 55–56
Erbrichtergut Belmsdorf. Roland Paeßler: „Die Erbrichter in
der Umgebung von Bischofswerda“.
Deutschlands als Kreistagsabge­ Mathias Hüsni (Hrsg.), Schiebocker
ordneter. Paeßler war Mitglied der Landstreicher, H. 3, Burkau 2008, S.
Kreisfachgruppe Heimatgeschichte 8–16, zusammengestellt und bearbei­
/ Ortschronik Bischofswerda und tet von Dr. Uwe Fiedler
1981 Gründungsvorsitzender der Roland Paeßler: „Der Salzhandel und
Gesellschaft für Heimatgeschichte des das Salzfuhrwesen im ehemals Stol­
Kreises Bischofswerda. Bei der Erar­ pener Gebiet“. Mathias Hüsni (Hrsg.),
beitung der Sächsischen Verfassung Schiebocker Landstreicher, H. 4,
von 1992 war sein Rat gefragt. Paeßler Burkau 2009, S. 52–55
schuf wichtige heimatkundliche
Arbeiten zur Geschichte der Ritter­ Familie
güter, zur deutschen Ostsiedlung, Roland Paeßler war ein Nachfahre
zur sächsischen Schafzucht und zu von Johann Gottfried Nake in der
den Freimaurern, mehrere Ortschro­ 5. Generation; 1. Generation: dessen
niken und Beiträge zur Sächsischen Tochter Auguste Wilhelmine Nake,
Biografie, beispielsweise zu Johann verheiratet mit Ernst Traugott von
Gottfried Nake, sowie Ahnenta­ Zenker (Rittergutsbesitzer auf Stei­
feln, z. B. zu den Familien Steglich nigtwolmsdorf und Ringenhain); 2.
und Gnauck und zum Ahnenverbund Generation: Alwine Constanze von
lokaler Erbrichterfamilien mit dem Zenker, verheiratet mit Carl Bern­
Philosophen Johann Gottlieb Fichte hard Paeßler (Sohn des Bautzener
und der Großindustriellenfamilie Schlossapothekers Eduard Paeßler,
Bayer. Paeßler erhielt für besondere Verwalter des Familienguts Schmölln,
Verdienste um den Landkreis Bautzen Gutsbesitzer in Belmsdorf, Bezirks­
das Ehrenzeichen in Silber. Friedensrichter, 24 Jahre Mitglied des
sächsischen Landtags, Mitglied der
Literatur Oberlausitzischen Gesellschaft der
Ina Riedel, Frank Fiedler: „Auf den Wissenschaften, Auszeichnung mit

418
dem Albrechtsorden 1. Klasse); 3. mit dem er auch Operetten aufführte.
Generation: Carl Paeßler (Freigutsbe­ Mit Schulkindern wurden Singspiele
sitzer in Belmsdorf); 4. Generation: aufgeführt. Sorber war zwar Mitglied
Carl Ernst Paeßler (Gutsbesitzer in der NSDAP, ging jedoch zum Regime
Belmsdorf) zunehmend auf Distanz. Deshalb
wurde er 1937 zunächst für ein halbes
Sorber, Willy Jahr suspendiert. Schon während
* 07.09.1884 in Hohnstein seiner Zeit als Direktor hatte Sorber
† 1954 in Großdrebnitz sich an der Großdrebnitzer Ortsge­
schichtsschreibung beteiligt. Aller­
Sorber besuchte das Königliche dings konnte er bei den Nazis nicht
Lehrerseminar in Pirna. Nach einer publizieren. Erste Vorarbeiten für eine
Anstellung als Hilfslehrer wurde er neue Dorfchronik veröffentlichte der
1910 Lehrer in Gaußig, 1921 wechsel­ mit Sorber verbundene und ebenfalls
te er nach Neukirch. Die Erfahrungen nazikritische Pfarrer Richard Garbe
der Inflation prägten ihn nachhaltig. 1938. Ein Jahr später erhielt Bürger­
In Großdrebnitz engagierte er sich meister Otto Heinrich den Auftrag,
ab Oktober 1923 als Schulleiter und eine Dorfchronik im nationalsozialis­
Kantor für soziale und kulturelle tischen Sinne nach der Anleitung des
Belange. Unter seiner Leitung erhielt „Dorfbuches“ anfertigen zu lassen. Er
die Schule eine moderne Wasserver­ führte dieses Vorhaben jedoch nicht
sorgung und er leitete den Männer­ aus. Heinrich hatte die Verbindungen
chor, später den gemischten Chor, zu den in Ungnade gefallenen Sorber

Willy Sorber (links) mit Großdrebnitzer Schülern 1927 auf dem Valtenberg.
Vierte Schülerin von links in der hinteren Reihe ist Luise Gnauck, eine En-
kelin von Ernst Gnauck.

419
und Garbe nicht abreißen lassen. Es entstand eine umfangreiche Über­
Es ist zu vermuten, dass der 1939 sicht über die Geschichte der Erbhöfe
im „Sächsischen Erzähler“ anonym des Dorfes. Heinrich schrieb seine
erschienene Beitrag „Das Drebnitzer Chronik schließlich erst nach dem
Schulhaus erzählt“ auf Sorber zurück­ Tod Sorbers und bedauerte, dass die­
geht. ser sein Werk nicht mehr hatte vollen­
den können, da er dafür viel besser
Auf Sorbers Strafversetzung nach geeignet gewesen wäre als Heinrich
Sacka folgte eine Verkettung tragi­ selbst. Sorbers Arbeiten sind durch
scher Ereignisse. Erst verlor er seine ein Missgeschick in der Familie bis
Frau. Als sich von einer Gruppe auf eine Notizensammlung verloren
Schüler mehrere Kinder unerlaubt gegangen. Der Wert seines heimatge­
entfernten, kam zu einem tödlichen schichtlichen Schaffens misst sich so
Unfall. Ohne dass Sorber unmittelba­ v. a. im Einfluss, den er auf Garbe und
re Schuld trug, war er jedoch verant­ Heinrich hatte, und schließlich in der
wortlich, ein willkommener Anlass Wertschätzung des kulturellen Erbes
für weitere Maßregelungen. Schließ­ von Groß­ und Kleindrebnitz.
lich brannte auch noch die Schule in
den letzten Kriegstagen aus und er Familie
verlor sein Hab und Gut. Großdreb­ Sorbers jüngste Tochter, Lieselot­
nitz erinnerte sich seiner und holte te Grützner verw. Lenzmann, war
ihn nach dem Zweiten Weltkrieg Mitbesitzerin der Fa. Lenzmann
zurück. Er erhielt auf Vermittlung im Kleindrebnitzer Vorwerk (siehe
von Pfarrer Richard Garbe eine Johann Gottfried Nake). Unge­
Wohnung in einem Nebengebäude klärt ist, ob ein verwandtschaftlicher
der Schule und eine Anstellung als Zusammenhang bestand zu Oscar
Kantor. Hier begann Sorber, an einer Sorber, Mitarbeiter der Heilanstalt
Chronik des Dorfes zu schreiben. Sonnenstein in Pirna, Mitglied der
Zudem unterstützte er den späteren Oberlausitzischen Gesellschaft der
Bischofswerdaer Stadtchronisten Wissenschaften und Autor der Bücher
Johannes Weber, der zu jener Zeit „Geschichte der Stadt Schandau“
als Lehrer in Großdrebnitz das Dorf (1876) und „Sagenklänge aus dem
fotografisch dokumentierte. Zur Sachsenlande“ (1894).
Motivation der damaligen Arbeiten
von Sorber und Garbe verwies Otto Steudtner, Karl Hermann
Heinrich später darauf, dass Bruno * 23.01.1855 in Neugersdorf
Barthel die Bauerngüter als Träger † 13.12.1940 in Bischofswerda
des dörflichen Lebens nicht behandelt
hatte. Genau dies wurde zum Haupt­ Steudtner ging in Leutersdorf und
gegenstand der Arbeiten von Sorber. in Zittau zur Schule. In Zittau prägte

420
Oskar Friedrich nachhaltig das Inter­ Kenntnisse bei dem Naturforscher
esse des Jungen für die Naturwissen­ Michael Rostock, seinerzeit Volks­
schaften. Steudtner wohnte zu jener schullehrer in Dretschen. Mit Rostock
Zeit im Hause Karl Gottlob Moráwek, verband ihn später eine langjährige
bei dem der Heimatforscher Johann Freundschaft. Nach seiner Lehrer­
Gottlieb Korschelt, der Bibliothekar ausbildung in Bautzen bekleidete
Carl Anton Tobias, Gymnasialdi­ Steudtner Dienststellen in Sohland
rektor Heinrich Julius Kämmel und (ab 1876) und an der Bürgerschule
der Heimatforscher Alfred Mosch­ Bischofswerda (ab 1878). In Bischofs­
kau ein­ und ausgingen. Moráwek werda gab er auch Unterricht an der
weckte nicht nur sein Interesse an Fortbildungsschule. Steudtner lehrte
historischen Fragen, als Landschafts­ Religion, Deutsch, Rechnen, Geo­
gärtner konnte er dem Jungen auch graphie, Naturgeschichte und Schön­
viel botanisches Wissen vermitteln. schreiben, an der Fortbildungsschule
Auf Ratschlag eines Lehrers vertiefte auch Zeichnen, wofür er sich 1882 bei
Steudtner ab 1872 seine botanischen Adolf Clauson­Kaas weiterbildete.

Die Schule an der Kirchstraße (im Bild mit dem heutigen Goethepark) ist
eng mit dem Wirken der ehemaligen Bischofswerdaer Lehrer Hermann
Steudtner, Johannes Weber, Friedrich Wilhelm Winkler und Frank Fiedler
verbunden. Max Otto Gnauck, August Leppelt, Roland Paeßler und Johan-
nes Weber gingen hier zu Schule.

421
Besonders in Bischofswerda erwarb wird (z. B. Feldlerche „massenhaft“,
sich Steudtner einen guten Namen Nachtschwalbe „regelmäßig“, Wachtel
als Natur­ und Heimatforscher. Seine „häufig“). Bemerkenswert ist seine
detaillierten Aufzeichnungen besitzen Beschreibung des seinerzeit gemein­
große Bedeutung für das Erkennen samen Auftretens von Nebel­ und
von Veränderungen in der Flora und Rabenkrähe in und um Bischofswer­
Fauna der Oberlausitz. Von Steudt­ da. Es wird aber auch deutlich, dass
ners Belegen im Oberlausitzherbar die Greifvögel an Individuen­ sowie
des Senckenberg Museums für Natur­ Artenzahl seither gewonnen haben.
kunde Görlitz betreffen etwa die Hälf­
te das Stadtgebiet von Bischofswerda Steudtner war Mitbegründer des
und die unmittelbar benachbarten örtlichen Lehrervereins, in dessen
Dörfer. Das regelmäßige Sammel­ Vorstand er ab 1883 für 24 Jahre mit­
gebiet reichte aber bis Bautzen mit arbeitete, des Bischofswerdaer Obst­
Schwerpunkten am Valtenberg, im bauvereins und eines Naturheilvereins
Wesenitztal, in Gaußig und Göda. Er sowie Mitglied des Landesobstbau­
bearbeitete vorrangig Gefäßpflanzen vereins. Am 10. Juli 1895 gründete
und Pilze. der Großdrebnitzer Kirchschullehrer
Bruno Barthel den Bezirksverein
Neben den pflanzenkundlichen Bischofswerda des Deutschen Lehrer­
Dokumentationen sind auch die vereins für Naturkunde, den Steudt­
Arbeiten zur Fisch­ und Vogelfauna ner viele Jahre leitete. Anlässlich des
hervorzuheben. In Beiträgen zur 25­jährigen Gründungsjubiläums
Fischfauna der Wesenitz beschrieb hielt er als Vorsitzender einen vielbe­
Steudtner deren Verarmung infolge achteten Vortrag zu Bakterien. 1899
der Industrialisierung. Er stellte 15 gründete Steudtner den Naturwis­
Arten fest. Die Arbeiten zur Karpfen­ senschaftlichen Verein. Er verfasste
teichwirtschaft in Bischofswerda sind wichtige Beiträge zur Stadtgeschichte
wertvolle Literatur zur ehemaligen von Bischofswerda, darunter eine
Bedeutung dieses Wirtschaftszweigs. unvollendete Fortschreibung der
Hervorzuheben sind seine prakti­ Stadtchronik, und erwarb sich beson­
schen Hinweise für Karpfenteich­ dere Verdienste um die Bewahrung
wirte. Eine Folge von Beiträgen im des Andenkens an den Heimatfor­
Jahre 1921 wies Steudtner als soliden scher Ernst Emil Wustmann und an
Kenner und aufmerksamen Beobach­ den Komponisten Johannes Pache,
ter der heimischen Vogelwelt aus. Er dessen Vater, Emil Pache, sein Leh­
nannte 102 Arten mit ausführlicher rerkollege in Bischofswerda gewesen
Beschreibung des Vorkommens, war. Als jahrzehntelanges Mitglied
wodurch das Ausmaß der heutigen im Bischofswerdaer Promenadenaus­
Verarmung der Vogelfauna erkennbar schuss beteiligte sich Steudtner an der

422
Gestaltung des heutigen Goetheparks
unter Leitung des Dresdner Gar­
tenkünstlers Max Bertram. Ein Teil
seines Nachlasses befindet sich im
Stadtarchiv Bischofswerda.

Literatur
Frank Fiedler: „Historische Teichwirt­
schaft im Raum Bischofswerda“. Zwi­
schen Wesenitz und Löbauer Wasser
3, 1998, S. 41–49
An der Schule in Großdrebnitz
Frank Fiedler: „Zu den Veränderun­
(links von der Kirche) lehrten Bru-
gen der Fischfauna in der ehemaligen
no Barthel, Willy Sorber, Johan-
Äschenregion der Wesenitz (1591–
nes Weber und Frank Fiedler.
1989)“. Sächsische Heimatblätter 2,
Verlag Klaus Gumnior Chemnitz, mit dem Schwerpunkt Bischofswerda.
2003, S. 127–133 Ab 1970 verfasste Johannes Weber auf
der Grundlage seiner reichhaltigen
Weber, Johannes Materialsammlung das vierbändi­
* 11.11.1905 in Dresden ge Werk in dreifacher Ausführung.
† 02.02.1982 in Bischofswerda Umfang und Gehalt der Arbeit stellen
ihn in eine Reihe mit den bekannten
Weber war der Sohn eines Bahn­ Chronisten der Stadt Bischofswerda,
angestellten. Die Familie kam in wie beispielsweise Karl Wilhelm
seinem sechsten Lebensjahr nach Mittag. Neben lokalhistorischen
Bischofswerda, als der Vater hierher Themen schrieb Weber auch Beiträge
versetzt wurde. Der Sohn besuchte zur Regionalgeschichte (z. B. „Die
die Volksschule und anschließend das Oberlausitzer Grenzurkunde von
Lehrerseminar. Nach einer elfjährigen 1241“, „Zur 4. Deutschen Kunstaus­
Tätigkeit an der Dorfschule in Rackel stellung in Dresden“, „Die Schifffahrt
bei Bautzen kehrte er als Lehrer an auf der Elbe“). Er war Redaktions­
die Schule in Bischofswerda zurück. mitglied und regelmäßiger Autor
Weitere Stationen seines Berufslebens der von 1956 bis 1962 erschienenen
waren Großdrebnitz und bis zum heimatgeschichtlichen Monatsschrift
Erreichen des Rentenalters 1970 die „Der Spiegel – das kulturelle Leben
Sonderschule Bischofswerda. Beson­ im Kreis Bischofswerda“. Weber war
dere Beachtung in seinem heimat­ vielseitig interessiert und begabt. Er
geschichtlichen Schaffen verdient erstellte umfangreiche Fotodokumen­
die maschinengeschriebene Chronik tationen als Diareihen, beispielsweise
„Aus der Geschichte meiner Heimat“ zu Bischofswerda mit einer speziellen

423
Reihe zum Napoleonstein, Geiß­ betrieblicher Arbeitsgänge in der
mannsdorf, Rammenau, Großdreb­ Tuchfabrik Großmann­Herrmann.
nitz und zum Klosterberg, schrieb In vielen Arbeiten thematisierte er
Gedichte, löste gern mathematische das Leiden der einfachen Menschen
Probleme, spielte Klavier und kom­ im Krieg. Beispielsweise beschrieb er
ponierte zur eigenen Freude. Auf die Carlowitz’sche Fehde im Zusam­
Initiative von Frank Fiedler wurden menhang mit dem Testament des
mehrere seiner Arbeiten im „Schiebo­ Bischofs Nicolaus II. von Meißen, in
cker Landstreicher“ gedruckt. dessen Folge das Amt Stolpen 1559 in
den Besitz des Kurfürsten August von
Literatur Sachsen gelangte und das damit die
Frank Fiedler: „Johannes Weber zum Reformation übernahm. Darüber hin­
100. Geburtstag – Ein bedeutender aus sind mehrere Arbeiten Winklers
Chronist Bischofswerdas“. M. Hüsni, im „Gebirgsfreund“ in Zittau erschie­
A. Mikus (Hrsg.), Schiebocker Land­ nen. In Bischofswerda arbeitete er im
streicher, H. 1, Burkau 2006, S. 9–10 Naturwissenschaftlichen Verein und
im hiesigen Bezirksverein des Deut­
Winkler, Friedrich Wilhelm schen Lehrervereins für Naturkunde
* 24.01.1863 in Jahnshorn mit. Winklers Heimatverständnis
† 21.03.1918 in Bischofswerda wird deutlich in dem Zitat: „Doch
ob reich oder arm an Schönheit oder
Winkler war der Sohn eines einfachen Fruchtbarkeit deine Heimat sei, habe
Bauern. Er gehörte neben Bruno sie lieb und halte sie wert. Sie ist ein
Barthel und Hermann Steudtner Heiligtum mit dem großen Zeltdach
zu jenen Lehrern im Bischofswerdaer des Himmels darüber und das Stück­
Land, die sich um 1900 um die hei­ chen Erde, das deine Eltern und dich
mat­ und naturkundliche Forschung trägt und ernährt.“
besonders verdient gemacht haben.
Seine bekanntesten Arbeiten sind in Literatur
dem Lesebuch „Unsere Heimat – die Frank Fiedler: „Unvergessen – dank
Lausitz“ zu finden. „Ein Schreckens­ seiner Beiträge in einem heimatkund­
tag für Bischofswerda“, der sich auf lichen Lesebuch. Dem Bischofswer­
das Wüten einer kroatischen Heer­ daer Oberlehrer Wilhelm Wink­
schar am 7. Oktober 1631 bezieht, ler zum Gedenken“. Sächsische
wurde am 5./6. Oktober 1991 in der Zeitung, Ausgabe Bischofswerda,
Sächsischen Zeitung nachgedruckt. 9./10.01.1993, S. 11
Weitere Schriften betrafen den Uwe Fiedler: „Winkler, Friedrich,
Stadtbrand von 1813, die „Lage und Wilhelm“. Mathias Hüsni (Hrsg.),
Gründung der Stadt Bischofswerda“, Schiebocker Landstreicher, H. 3, Bur­
die Botanik und eine Beschreibung kau 2008, S. 145–146

424
Die Oberlausitzer Familie Baumeister
Pädagogen, Theologen, Juristen, Mediziner und Militärs in Görlitz, Bautzen,
Bischofswerda, Breslau, Glogau, Barby, Bunzlau, Dresden, Herrnhut, Hirsch­
berg, Kleinwelka, Niesky, Reibersdorf, Taubenheim, Uhyst und Zittau

(1) Die Oberlausitzer Familie Bau­ ner Magisterarbeit in der Philosophie


meister wurde durch den am 17. Juli ab. Anschließend lehrte er in Witten­
1709 in Körner im Fürstentum Gotha berg Philosophie sowie Latein und
als Sohn eines Pfarrers geborenen Hebräisch. 1734 wurde er hier zum
Friedrich Christian Baumeister Adjunkt der philosophischen Fakultät
begründet. Er besuchte von 1722 bis berufen. 1736 heiratete er eine Toch­
1727 das Gymnasium in Gotha. Seine ter des Wittenberger Theologiepro­
Studien der Philologie, Philosophie fessors Haserung. Sie hatten 10 Söhne
und Theologie in Jena sowie ab 1729 (5 früh verstorben) und eine Tochter
in Wittenberg schloss er 1730 mit ei­ (Johanne Friederike Wilhelmine,
20.8.1744–2.8.1803, verh. mit Gottlieb
Jeremias Behrnauer, Amtssekretär).

1736 übernahm Friedrich Chris­


tian Baumeister das Rektorenamt
des Gymnasiums in Görlitz („Au­
gustum“). Er wirkte hier fast 50 Jahre.
1738 war er Mitbegründer der Bei­
träger­Bibliothek. Zu seinen Schülern
gehörten Christian Adolph Klotz
sowie Vorfahren von Ernst Giese.
Mit seinen philosophischen Schriften
hat er sich um die Verbreitung der
Ideen der Aufklärung, insbesondere
von Christian Wolff, große Verdienste
erworben. Viele der Werke wurden
bei Siegmund Ehrenfried Richter
gedruckt. 1758 logierte Friedrich der
Große nach der Schlacht von Hoch­
kirch im Gartenhaus Baumeisters in
der Heilig­Grab­Straße 20 (27.­30.10.,
16./17.11.). Er starb am 8. Oktober
1785 in Görlitz.

425
Bischofswerda im 18. Jahrhundert: Vor der Kirche (A) befand sich die
Superintendentur (N). Hier wirkten der Vater von Christian Adolph
Klotz und Gottlob Ernst Ottomar Baumeister.
(2.1) Christian Friedrich Baumeister Standartenjunker im kursächsischen
(12.6.1737–30.9.1798) besuchte das Kürassierregiment, von Kaiser Franz
Görlitzer Gymnasium seines Vaters. II. 1792 in den Adelsstand erhoben),
Das Studium seit 1756 an der Uni­ Karl Friedrich (* 26.4.1778), Ernst
versität Leipzig schloss er 1760 als Friedrich (* 26.8.1785).
Dr. med. mit der Arbeit „de therapia
perjucunda“ bei Anton Wilhelm Plaz (2.2) Gottlob Ernst Ottomar Bau-
ab. 1772 wurde er Landesphysikus meister (* 12.1.1739 Görlitz, †
für Görlitz, Zittau und Lauban. Er 11.5.1797 Bischofswerda) besuchte
redigierte medizinische Beiträge für das Görlitzer Gymnasium seines
die Lausizische Monatsschrift und Vaters und studierte ab 1758 Theo­
war Mitglied der Oberlausitzischen logie und Philologie an der Univer­
Gesellschaft der Wissenschaften. sität Leipzig, u. a. bei Johann August
Seit 1770 war er verheiratet mit der Ernesti. 1762 wurde er Hofmeister in
Arzttochter Christiane Friederike Eisleben, 1767/1768 kam er als Sekre­
geb. Geißler. Sie hatten fünf Kin­ tär von Superintendent Johann Georg
der: Ottomar (12.2.1771–8.8.1773), Klotz nach Bischofswerda. 1769 wur­
Christiane Friederike (* 29.1.1774, de er hier Diakon, 1777 Archidiakon,
verh. mit Hanns Salomo Friedrich 1788 Pfarrer und Superintendent. Er
Lingke, Oberamtsadvokat in Gör­ war verheiratet mit Rahel Christiane
litz), Friedrich Ottomar (* 29.7.1776, geb. Hofmann.

426
(2.3) Karl August Baumeister (* † 24.01.1828 Glogau) besuchte das
21.8.1741 Görlitz, † 8.8.1818 Herrn­ Gymnasium Görlitz. 1794 promovier­
hut) besuchte das Görlitzer Gymna­ te er an der Universität Leipzig bei
sium seines Vaters und studierte ab Christian Gottlob Biener. Im April
1761 in Wittenberg und ab 1763 in 1796 wurde er als Advokat in Görlitz
Leipzig Theologie. Ab 1764 war er zugelassen und im Dezember dessel­
Hauslehrer in Königsberg bei einer ben Jahres als Aktuar am kurfürstli­
mit der Brüdergemeine verbundenen chen Amt in Görlitz angestellt. Am
Familie. 1769 kam er nach Görlitz 25. März 1799 heiratete er in Bautzen
zurück, wo er am Gymnasium unter­ Antonie Juliane geb. Petschke († nach
richtete. 1774 wurde er Hilfsprediger 1802), eine Tochter des Oberamts­
in Taubenheim, 1779 Schlossprediger kanzlers Karl Ehrenreich Petschke.
und Lehrer sowie 1782 Inspektor im In zweiter Ehe war er mit Charlotte
Seminar der Brüdergemeine in Barby, Gottliebe geb. Petschke († 1849)
1789 Prediger in Niesky und 1792 verheiratet. Seit 1804 war er Mitglied
Prediger in der Brüdergemeine Klein­ der Oberlausitzischen Gesellschaft
welka. Seit 1779 war er mit Johanne der Wissenschaften. 1807 diente er als
Elisabeth geb. Claviere (* 13.2.1744 Amt­Vize­Sekretarius unter Amts­
Genf, † 9.11.1801 Kleinwelka) ver­ hauptmann Ernst August Rudolph
heiratet. Sie hatten drei Töchter. 1797 von Kyaw. 1808/1810 war er Sekretär
wurde er zum Direktor des Pädago­ der OLGdW, 1813 Sekretär im Amt
giums in Uhyst berufen. 1801 ging Görlitz. 1815 kam Görlitz von Sach­
er als Prediger nach Herrnhut, 1814 sen zu Preußen. Bei seinem Wechsel
wurde er dort Bischof. 1817 als Oberlandesgerichtsrat nach
Glogau schenkte er dem Görlitzer
(2.4) Samuel Gottfried Baumeister Gymnasium 2000 in der Oberlausitz
(* 12.9.1750 Görlitz) besuchte das gesammelte und nach Linnés System
Görlitzer Gymnasium seines Vaters geordnete Pflanzen sowie 300 Mine­
und studierte ab 1770 in Leipzig ralien. Seinem Sohn Georg Ottomar,
Jura. Ab 1774 war er Amtsassessor später ein bekannter Klaviervirtuose,
in Reibersdorf. 1777 promovierte er erteilte er den ersten Musikunterricht.
in Erfurt zum Doktor beider Rechte Jener folgte ihm wie ein weiterer Sohn
(weltlich und kanonisch, Doctor iuris an das Oberlandesgericht Glogau.
utriusque). Ebenfalls 1777 wurde er
zum Amtsdirektor in Reibersdorf er­ (3.2.2) Ernst Ferdinand Baumeis-
nannt. 1796 legte er sein Amt nieder ter (* 5.4.1779 Bischofswerda, †
und praktizierte in Zittau. 28.6.1849 Dresden) besuchte die
Gymnasien Görlitz und Bautzen
(3.2.1) Friedrich Wilhelm Ottomar und studierte Jura an der Universität
Baumeister (* 1774 Bischofswerda, Leipzig, wo er als Sekretär der Lau­

427
sitzer Predigergesellschaft wirkte. Ab C. G. Förster in Breslau. 1826 erhielt
1801 war er Advokat, 1802 Aktuar am er eine Anstellung als Oberlandesge­
Stadtgericht und 1808 Stadtschreiber richtsassessor in Glogau, 1829 wurde
in Görlitz, wo er auch der Freimau­ er Direktor des Land­ und Stadtge­
rer­Loge „Zur gekrönten Schlange“ richts Hirschberg, 1832 Oberlan­
angehörte, 1810 Sekretär am Ober­ desgerichtsrat in Breslau und 1846
amt der Oberlausitz in Bautzen, 1812 Mitglied des Oberzensurgerichts.
Vize­Kanzler und 1821 Oberamtsre­ Zusammen mit Christian Friedrich
gierungsrat in Bautzen. 1818 nahm Koch gab er das „Schlesische Archiv
er an der Weihe der von Gottlob für die praktische Rechtswissenschaft“
Friedrich Thormeyer errichteten heraus. 1872 trat er als Wirklicher
Kirche in Bischofswerda teil. 1830 Geheimer Oberjustizrat in Breslau in
wurde er zum Hof­ und Justizrat in den Ruhestand. Sein Sohn Ottomar
Dresden und 1831 zum Geheimen studierte an der Landwirtschaftlichen
Justizrat am sächsischen Justizmi­ Akademie Proskau.
nisterium unter Julius Traugott von
Könneritz ernannt. 1838 erhielt er (4.2.1.2) Gustav Maximilian Bau-
den sächsischen Civilverdienstorden. meister (* 17.1.1802 Görlitz, † nach
Er war seit 1804 verheiratet mit einer 1852) besuchte unter Carl Gottlieb
Tochter von Stadtrichter Christian Anton das Gymnasium Görlitz,
Matthäus Friedrich Giese, einer Tante war Oberlandesgerichtsreferendar
von Ernst Giese. Ihre Tochter Marie in Glogau, 1827 Stadtgerichtsasses­
heiratete Major von Gößnitz. sor in Bunzlau, 1830 Assessor und
Aktuar am Inquisitoriat Görlitz und
(4.2.1.1) Georg Ottomar Baumeister damit zuständig für Görlitz, Lauban,
(* 27.10.1800 Görlitz, † nach 1872 Rothenburg, 1834 (bis 1840) Mitglied
Breslau) besuchte unter Carl Gottlieb der Oberlausitzischen Gesellschaft
Anton das Gymnasium Görlitz. In der Wissenschaften (Abteilungen
Görlitz erhielt er von seinem Vater Rechtswissenschaften, Geschichte),
auch den ersten Musikunterricht. 1835 Kriminalrichter, 1836 Inquisito­
Johann Gottlob Schneider un­ riatsdirektor, 1837 Land­ und Stadt­
terrichtete ihn ebenfalls. 1815 kam gerichtsrat in Görlitz, 1840 Kriminal­
Görlitz von Sachsen zu Preußen. richter am Inquisitoriat Breslau.
Während des Jura­Studiums in Bres­
lau ab 1818 freundete er sich mit Carl (4.2.1.3) Paul Friedrich Hugo Fer-
Schnabel an und beteiligte sich an dinand von Baumeister (* 4.7.1821
dessen Winterkonzerten. 1821 wurde Glogau, † 24.7.1887 Bad Reinerz) war
er in Berlin Mitglied der Singaka­ Major und wurde nach dem Krieg
demie von Carl Friedrich Zelter. Er 1870/1871 in den erblichen preußi­
publizierte eigene Kompositionen bei schen Adelsstand erhoben.

428

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