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Lateinamerika
1870 - 2000
Geschichte und Gesellschaft
PR.9MEDIA
Inhalt
Hans-Jürgen PUHLE
Zwischen Diktatur und Demokratie
Stufen der politischen Entwicklung in Lateinamerika im 20. Jahrhundert 15
Walther L. BERNECKER
Die wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas in der Neuzeit 45
Peter FLEER
Mangel im Überfluss
Agrarstruktur und ländlicher Raum in Lateinamerika
seit dem späten 19. Jahrhundert 67
Silke HENSEL
Ein Kontinent in Bewegung
Bevölkerungsentwicklung und Migration in Lateinamerika,
19. und 20. Jahrhundert 91
Barbara POTTHAST
Urbanisierung und sozialer Wandel 113
Bernd HAUSBERGER
Die Teile und das Ganze
Entwürfe kontinentaler Identität und transnationaler Integration
in und für Lateinamerika von Simon Bolivar bis George W. Bush 131
Wolfgang DIETRICH
Von der Intervention zur Integration
Lateinamerika im Schatten der nordamerikanischen Hegemonialmacht und
die politisch-militärische Rolle der USA im 20. Jahrhundert 153
Holger M.MEDING
Unausweichliche Konfrontationen:
Die lateinamerikanische Staatenwelt und die USA 171
Stephan SCHEUZGER
Die Re-Ethnisierung gesellschaftlicher Beziehungen:
neuere indigene Bewegungen 191
Gerhard KRUIP
Kirchen und Religionen in Lateinamerika
Neue Ambivalenzen zwischen Modemisierungs- und
Retraditionalisierungsprozessen 213
Ursula PRUTSCH
Populismen, Mythen und Inszenierungen -
Getülio Vargas, Juan und EvaPerön im Vergleich 231
Claudius ARMBRUSTER
Film und Literatur in Lateinamerika 249
Der vorliegende Band ist eine leicht veränderte Fassung der 2004 erschienenen Aufsatz-
sammlung »Lateinamerika - Geschichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert«,
die kurz nach Erscheinen vergriffen war. Die Herausgeber haben sich entschlossen, keine
unveränderte Neuauflage vorzulegen, sondern einige Modifikationen vorzunehmen. Vor
allem die Periodisierung ist im vorliegenden Band gegenüber der ursprünglichen Fassung
verändert worden. Umfasste letztere die Entwicklung Lateinamerikas seit der Unabhän-
gigkeit im frühen 19. Jahrhundert, so setzt der vorliegende Band etwa mit dem letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts ein. Diese Periodisierung schließt einerseits an den inzwi-
schen (2005) erschienenen Vorgängerband »Lateinamerika 1492-1850/70« an; anderer-
seits markieren die Jahre um 1870 für Lateinamerika eine wichtige Umbruchphase,
insofern als - nach dem ersten halben Jahrhundert seit der Unabhängigkeit im Zeichen
politischer und gesellschaftlicher Instabilität und z. T. wirtschaftlicher Stagnation - mit
der verstärkten Integration in die Weltwirtschaft in großen Teilen des Subkontinents eine
politisch-staatliche Konsolidierung eintrat und eine neue wirtschaftlich-gesellschaftli-
che Dynamik eingeleitet wurde.
Entsprechend diesem neuen Periodisierungskonzept wurde der Beitrag von Renate
Pieper über die Unabhängigkeitsbewegung und frühe Staatsbildung weggelassen, ein
Beitrag über die Agrarentwicklung aus der Feder von Peter Fleer und ein weiterer von
Holger M. Meding über die Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika wurden
neu aufgenommen; die bisherigen Beiträge wurden, wo nötig, der neuen Periodisierung
angepasst.
Eine Gesamtdarstellung zu Lateinamerika im 19. und 20. Jahrhundert steht noch stärker
vor dem Problem der Diversität des Kontinents als eine solche für die Kolonialzeit. Denn
mit der Unabhängigkeit entfiel die institutionelle Klammer, wie sie durch die spanische
bzw. portugiesische Kolonialmacht vorgegeben war. Dennoch gibt es auch danach
Gemeinsamkeiten, parallele Verläufe oder auch Sonderentwicklungen, die sich aus den
strukturellen Faktoren ableiten lassen. So erfolgte die Unabhängigkeit der meisten ibero-
amerikanischen Staaten mit Ausnahme von Kuba und Puerto Rico etwa zum gleichen
Zeitpunkt. Die Probleme, die sich aus dem Staats- und Nationsbildungsprozess ergaben,
weisen in den unterschiedlichen Staaten viele Ähnlichkeiten auf. Andererseits waren die
lateinamerikanischen Staaten bereits zum Zeitpunkt ihrer Konstitution ethnisch, ökono-
misch und bis zu einem gewissen Grade auch politisch sehr verschieden, ein Umstand,
der die weitere Entwicklung ebenfalls bestimmte. Konkrete Einzelereignisse wie etwa
die Mexikanische Revolution oder Persönlichkeiten wie Getülio Vargas oder Juan
Domingo und Eva Peron formten die jeweiligen Staaten in ganz spezifischer Weise. Ein
Vergleich der letzten drei Personen ebenso wie derjenige verschiedener revolutionärer
Prozesse in Lateinamerika fördert auch wieder Gemeinsamkeiten zutage.
Aus diesen Gründen beabsichtigt der vorliegende Band bewusst keine umfassende
Abhandlung der historischen Entwicklung Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert,
sondern strebt einen Mittelweg zwischen allgemeiner Orientierung und der Diskussion
besonders interessierender Spezialfragen an. Berücksichtigt werden neben politischen,
gesellschaftlichen und ökonomischen Fragen auch solche der kulturellen und ethnischen
Identität sowie der kulturellen Produktion.
Im ersten Beitrag zeichnet Hans Jürgen Puhle die politische Entwicklung der ibero-
amerikanischen Staaten nach. Die Kriege und Bürgerkriege der Staats- und Nations-
bildungsphase waren am Ende des 19. Jahrhunderts in den meisten Staaten Diktaturen
gewichen, die unter dem Motto »Ordnung und Fortschritt« die am europäisch-nordameri-
kanischen Modell orientierte Entwicklung vorantrieben und von einer mehr oder weniger
großen Oligarchie beherrscht wurden. Solch exklusionäre Strukturen riefen jedoch gleich-
zeitig eine Opposition hervor, die eine Beteiligung größerer Kreise an der Macht sowie an
der Verteilung der Ressourcen forderte. Auch entwickelten sie andere, zumeist anti-
imperialistisch ausgerichtete Entwicklungsperspektiven für Lateinamerika. Breitere Parti-
zipation und andere Modelle sozio-ökonomischer Entwicklung sind die großen Forderun-
gen des 20. Jahrhunderts, und sie sollten entweder mit reformerischen oder mit revolutio-
nären Mitteln durchgesetzt werden. Wie Puhle zeigt, ist die Frage nach revolutionärer oder
reformerischer Veränderung jedoch zweitrangig. Die Grenzen zwischen beiden Modellen
10 W.L. Bernecker - M. Kaller-Dietrich - B. Potthast - H.W. Tobler
sind fließend. Viel entscheidender ist der ständige Wechsel zwischen verschiedenen
Formen demokratischer und diktatorischer Herrschaft, der als eine der Konstanten der
politischen Geschichte Lateinamerikas im 20. Jahrhundert erscheint. Am Ende des 20.
Jahrhunderts haben sich die Demokratien weitgehend durchgesetzt. Sie sind aber - von
wenigen Ausnahmen abgesehen - defizitär und anfällig für neopopulistische Regime,
denen jedoch - trotz anderslautender Rhetorik - der revolutionäre Zug und die Ent-
wicklungsperspektive der frühen populistischen Regime weitgehend fehlt.
Fragen der politischen Gewalt greift der Beitrag von Hans Werner Tobler auf. Seit
dem frühen 19. Jahrhundert stand der Subkontinent im Ruf, eine besonders gewalt-
trächtige Region zu sein. Im 19. Jahrhundert war die verbreitete (ländliche) Gewalt
allerdings hauptsächlich Konsequenz des verspäteten Staatsbildungsprozesses, während
sich im frühen 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit der spezifischen Agrarentwicklung
bäuerliche Aufstandsgewalt immer mehr ausbreitete und auch große revolutionäre
Umbrüche, wie etwa jenen in Mexiko, prägte. Mit dem wirtschaftlich-gesellschaftlichen
Wandel im Laufe des 20. Jahrhunderts verloren bäuerliche Aufstände an Bedeutung,
während zeitweise städtische Guerillabewegungen stärker in den Vordergrund traten.
Vor allem aber nahm zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren die staatliche und
parastaatliche Gewalt von oben markant zu, insbesondere in den Militärdiktaturen Süd-
und Zentralamerikas, wo die ungezügelte Repression meist wesentlich mehr Opfer
forderte als die Aufstandsgewalt von unten. Seit der Redemokratisierung der 1980er- und
der 1990er-Jahre scheint die politische Gewalt zwar abzuflauen, sie wird aber zunehmend
von einer diffusen sozialen Gewalt abgelöst. In einzelnen Ländern durchdringt sie -
besonders drastisch etwa in Kolumbien - immer mehr Lebensbereiche und ist zu einem
Alltagsphänomen geworden.
Die wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas seit der Unabhängigkeit kommt im
Beitrag von Walther L. Bernecker zur Sprache. Bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts
charakterisierte eine ausgeprägte Wachstumsschwäche, ja Stagnation, mehrheitlich die
lateinamerikanischen Wirtschaften. Dies lässt sich nicht etwa auf die außenwirtschaftliche
Verflechtung des Subkontinents zurückführen, wie die Dependenztheoretiker argumen-
tierten, als vielmehr auf vielfältige, hauptsächlich institutionelle Hindernisse, die in der
Kolonialzeit und in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit ihre Wurzeln hatten. Im
frühen 20. Jahrhundert erhielt Lateinamerika im Zeichen des »Wachstums nach außen«
zwar starke Wachstumsimpulse, die allerdings in der Weltwirtschaftskrise der 1930er-
Jahre versiegten. Dies leitete eine verstärkte »Entwicklung nach innen« ein, die vor und
nach dem Zweiten Weltkrieg in den meisten Ländern in eine beschleunigte Import-
Substitutions-Industrialisierung mündete. Seit den 1980er-Jahren wurde der Subkontinent
mit neuen Herausforderungen - der Verschuldungskrise, dem Neoliberalismus und der
Globalisierung - konfrontiert. Auch im Bereich der Wirtschaft sind in Lateinamerika zu
Beginn des 21. Jahrhunderts zahlreiche strukturelle Defizite noch nicht überwunden, die auf
die ersten Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit im frühen 19. Jahrhundert zurückverweisen.
Die wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit Lateinamerikas im 19. und 20.
Jahrhundert wird oft mit einem besonders immobilen und stagnierenden Agrarsektor in
Zusammenhang gebracht. Dabei entwickelten sich, wie Peter Fleer in seinem Beitrag
aufzeigt, gewisse Sektoren der lateinamerikanischen Landwirtschaft seit dem ausgehen-
den 19. Jahrhundert durchaus in sehr dynamischer Weise, auch wenn insbesondere die
Einleitung 11
zunehmende Partizipation an der öffentlichen Diskussion das soziale Gefüge. Dies wird
unter anderem an der Entstehung von Frauenbewegungen vornehmlich in denjenigen
Ländern deutlich, in denen auch der Modernisierungs- und Metropolisierungsprozess rasch
voranschritt, und die über ein relativ gutes Bildungssystem verfügen. Doch überwiegen
heute, wie auch um 1900, in der öffentlichen Wahrnehmung eher die sozialen, ökologischen
und gesundheitlichen Probleme, die das unkontrollierte Wachstum der lateinamerikani-
schen Großstädte mit sich gebracht hat, so dass sich heute wie damals die Reichen aus den
Zentren der Städte in abgeschottete »Wohlstandsenklaven« am Stadtrand oder im Umland
zurückziehen. Die soziale Fragmentierung der lateinamerikanischen Gesellschaften spie-
gelt sich somit in der räumlichen Gestaltung der Städte wider.
Mit der schwierigen Suche nach einer eigenen (kontinentalen) Identität Lateiname-
rikas befasst sich der Beitrag von Bernd Hausberger. Anders als im Norden Amerikas,
d.h. in den USA, kam es im Süden weder zu einem gemeinsamen lateinamerikanischen
Staat noch zu einer engen wirtschaftlichen Integration. Dennoch war die Suche nach einer
die einzelnen Staaten und Regionen übergreifenden, gemeinsamen Identität seit der
Unabhängigkeit stets lebendig. Vor dem Hintergrund der ausgeprägten Vielfalt Latein-
amerikas erörtert Hausberger die verschiedenen Identitätsoptionen und zeigt auf, wie im
Laufe des 19. Jahrhunderts die Konzepte einer kontinentalen Einheit - die Latinität, der
Panamerikanismus und der Hispanismus - hauptsächlich von außen kamen. Im 20.
Jahrhundert gewannen die lateinamerikanischen Selbstdeutungen an Gewicht. Phäno-
mene wie der indigenismo oder der mestizaje wurden als spezifische, identitätsstiftende
Faktoren ins Blickfeld gerückt; nach dem Zweiten Weltkrieg wurden aber auch im
lateinamerikanischen (Wirtschafts-)Nationalismus, dem tercermundismo und der regio-
nalen Wirtschaftsintegration Elemente einer gemeinsamen Position Lateinamerikas (vor
allem gegenüber den USA) diagnostiziert.
Das durch Dominanz der USA über Lateinamerika geprägte Verhältnis zwischen dem
Norden und dem Süden Amerikas ist Gegenstand des Beitrags von Wolfgang Dietrich.
Während sich die äußeren Formen dieser Dominanz im Laufe des 20. Jahrhunderts
veränderten - tendenziell von militärischen hin zu politischen und vor allem wirtschaftlichen
Beherrschungsstrategien -, blieb der Kern der US-amerikanischen Prädominanz über den
amerikanischen Doppelkontinent stets erhalten. Dietrich untersucht diese Entwicklung
unter Verwendung der Galtung'sehen Begriffe der »Tiefenstruktur« und »Tiefenkultur«
sowie unter Bezug auf die Weltsystemanalyse Wallersteins. Eine ausführliche Behandlung
erfahren die verschiedenen wirtschaftlichen Integrationsprojekte nach dem Zweiten Welt-
krieg, die einerseits von den USA unter dem Banner des »Panamerikanismus« als
»innerhemisphärisches Herrschaftsprojekt« (von der NAFTA bis zur FTAA) konzipiert
und bis zum Ende des Jahrhunderts schrittweise realisiert wurden und die andererseits von
den Lateinamerikanern als »emanzipatorische Initiativen« (von der CEPAL bis zum
MERCOSUR) dem nordamerikanischen Vormachtsanspruch entgegengesetzt wurden.
Auch diese Letzteren vermochten keine grundlegenden Korrekturen in der Asymmetrie des
Machtverhältnisses zwischen den USA und Lateinamerika herbeizuführen.
Auch der Beitrag von Holger M. Meding widmet sich, allerdings mit anderer
Akzentuierung, den Beziehungen zwischen den USA und der lateinamerikanischen
Staatenwelt. Er legt dar, inwiefern die expansiven Tendenzen der USA und die lateiname-
rikanischen Reaktionen zu »unausweichlichen Konfrontationen« führten. Wirtschaftli-
Einleitung 13
Am Anfang des 21. Jahrhunderts blicken die meisten Länder Lateinamerikas auf fast
zweihundert Jahre Geschichte als formal unabhängige Staaten zurück, denen weitere
dreihundert Jahre einer in politischer Hinsicht überwiegend europäisch (d.h. spanisch
und portugiesisch) geprägten Kolonialzeit vorausgegangen sind. Wenn man nach einem
zentralen Nenner dieser letzten zwei Jahrhunderte lateinamerikanischer Geschichte
sucht, dann bieten sich vor allem zwei Zusammenhänge als Erklärungsebenen an: die
Kämpfe um Teilhabe (Partizipation) an der Macht, an Entscheidungen und an der
Ressourcenverteilung und die permanente Suche nach den angemessenen Strategien und
Prioritäten für Fortschritt und Entwicklung, für mehr Selbstbestimmung, Gerechtigkeit
und Wohlstand. Und dies in einem weltweiten Kontext, der schon immer (wenn auch mit
periodisch unterschiedlichen Mitteln und Akteuren) dazu tendiert hat, die lateinamerika-
nischen Gesellschaften abhängig und marginalisiert zu halten und ihre autonome Ent-
wicklung zu bremsen.
Der folgende Überblick will vor allem die politisch-strategischen Seiten dieses
Prozesses thematisieren und, nach einer Klärung der wichtigsten Ausgangsbedingungen,
wie sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bestanden, nach den entscheidenden Stufen
der politischen Entwicklung der lateinamerikanischen Länder im 20. Jahrhundert fragen,
die jeweils durch ein charakteristisches Syndrom bestimmter Entwicklungs- und Stabi-
lisierungsstrategien gekennzeichnet gewesen sind. Dazu gehören auch die entsprechenden
Interessenbündnisse und sozialen Koalitionen, die diese Strategien unterstützten, sowie die
jeweils spezifischen >confining conditions<, Umfeldeinflüsse, Gegner und Grenzen. Dabei
hat sich das Oszillieren zwischen diktatorischen und demokratischen Regimeformen als
hartnäckiger und dauerhafter erwiesen als der im Rückblick in der Regel nur noch
scheinbare Gegensatz zwischen revolutionären und reformistischen Veränderungsstrategien.
Am Anfang des 21. Jahrhunderts überwiegen auch in Lateinamerika die Demokratien bei
weitem die Diktaturen, aber es sind durchweg problematische und mit drei Ausnahmen
(Costa Rica, Uruguay und inzwischen auch Chile) >defekte< Demokratien, so wie auch die
sektoralen Entwicklungsleistungen und die Fortschritte, die im 20. Jahrhundert gemacht
worden sind, ihre Probleme, ihre Rückschläge und ihre Grenzen haben.
16 Hans-Jürgen Puhle
Zudem sind Demokratien nicht immer gleich Demokratien und Diktaturen auch nicht
immer gleich Diktaturen. Es gibt sehr verschiedene Ausprägungen, Funktionen, Stadien
und Mischungen von beiden. Wir werden dies sehen, wenn wir uns die vier großen Wellen
von Entwicklungsstrategien vergegenwärtigen, die im 20. Jahrhundert in Lateinamerika
versucht worden sind: zunächst die >radikalen< (d.h. linksliberalen) Konzepte der ersten
Jahrhunderthälfte, sodann die der so genannten populistischen Gruppen zwischen den
1930er- und den 1970er-Jahren (in manchen Ländern auch darüber hinaus), drittens die
Strategien der neueren (und systematischen) autoritären Regime der 70er- und 80er-Jahre
sowie schließlich die Ansätze der postautoritären Demokratisierer unterschiedlicher Pro-
venienz in den letzten zwei Jahrzehnten. - Dafür, dass dabei im Interesse typologischer
Klarheit und der angemessenen Vereinfachung komplexer Zusammenhänge (hoffentlich in
die >richtige< Richtung) zahlreiche Einzelheiten und Ausnahmen auf der Strecke bleiben
werden, bitte ich schon jetzt ein für allemal um Nachsicht.
Zunächst müssen kurz die Ausgangsbedingungen skizziert werden, wie sie sich in den
letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts und in einigen Ländern noch bis weit ins 20.
Jahrhundert hinein darstellten. Sie waren vor allem gekennzeichnet durch eine lange
Kontinuität oligarchischer Herrschaft mit geringer und oft noch diktatorisch unterdrück-
ter Partizipation, entweder konservativ oder >liberal< getönt, einer Herrschaft der Fami-
lien der großen Händler und Großgrundbesitzer (gelegentlich auch durch Militärs) im
Bündnis mit und durchweg auch im Interesse von dominierenden ausländischen Rohstoff-
abnehmern, Handelshäusern, Banken und Unternehmen. Das Ergebnis insbesondere der
verschiedenen lokalen und regionalen Unabhängigkeitskämpfe in Hispanoamerika (in
Brasilien war vieles anders) während der ersten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts
waren regional und sozial hochgradig fragmentierte und instabile Staaten gewesen, die
weder in einem subjektiven noch in einem objektiven Sinne Nationen waren und die das
notwendige nation building auch im Zeichen zunehmender europäischer Einwanderung
überwiegend exklusionär und abgrenzend (und nicht integrativ) betrieben. Ihnen haftete
lange Zeit der Charakter des Artifiziellen und Provisorischen an. Vor allem blieben sie
ökonomisch und politisch abhängig von den entwickelteren Großmächten, zunächst
Europas, im-20. Jahrhundert, in Mexico schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts, von den
USA. Die Tradition des caudillismo fraktionierte und personalisierte zudem die Politik.
Die meisten der größeren Konflikte und Kriege zwischen den einzelnen Ländern
Lateinamerikas im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind entweder
provinzielle Rivalitäten gewesen oder von außen induzierte Stellvertreterkriege, die, um
die Unterentwicklung von Nationalität und Nationalbewusstsein zu kompensieren, oft
mit all den martialischen Elementen aufgeladen worden sind, die die blühenden europäi-
schen Chauvinismen anzubieten hatten, am stärksten wohl in Bolivien, Paraguay und
Chile. Dieser traditionelle >alte< Nationalismus hat zusammen mit der Langzeitwirkung
neuer Traditionen, Institutionen, Parteiensysteme und Mobilisierungsformen durchaus
auch zur vermehrten Schaffung einer nationalen Identität beigetragen, in der die subjek-
tiven, staatsnationalen Komponenten überwogen. Eine ganz andere entwicklungspolitische
Zwischen Diktatur und Demokratie 17
und strategische Funktion hatte später die zweite Welle eines >neuen<, prononciert
antiimperialistischen Nationalismus mit breiterer Mobilisierung, der im ersten Jahrzehnt
der mexikanischen Revolution nach 1910 und dann vermehrt in den 1920er-Jahren auch
in anderen größeren, entwickelteren, stärker urbanisierten und ansatzweise industriali-
sierten Ländern in Erscheinung trat, vor allem in Mexico, Argentinien, Brasilien und
Chile. Dieses Phänomen wird uns im Kontext der radikalen und populistischen Strategi-
en, zu denen es gehört, noch beschäftigen.
Die Unabhängigkeit der neuen lateinamerikanischen Staaten war jedoch keine
sozialhistorische Zäsur: Die zentralen Mechanismen der spätkolonialen Überlagerungs-
gesellschaft wirkten weiter. Dazu gehörte vor allem die charakteristische Mischung
ethnischer, ständisch-politischer und ökonomischer, marktbezogener Kriterien für die
soziale Statuszuschreibung, allmähliche Oligarchisierung (Verfestigung der kommerzi-
ellen, agrarischen und politisch-bürokratischen Eliten) seit dem 18. Jahrhundert, aber
eine Verzögerung des Übergangs zur Klassengesellschaft. Die Oligarchien blieben stark
und nach außen orientiert. Ihre Modernisierungspolitik begann in der Regel auf Initiative
und im Interesse des Auslands und sie blieb im Ganzen einseitig, partiell und selektiv.
Auch die Industrialisierung, die in einigen Ländern nach 1880 begann, blieb zunächst,
und noch lange, auf wenige Enklaven beschränkt, z.B. Monterrey/Mexico, Buenos Aires,
Uruguay, Säo Paulo, Medellin/Kolumbien oder Santiago/Chile. Die Stellung der meisten
lateinamerikanischen Länder im modernisierten kapitalistischen Weltsystem des letzten
Drittels des 19. Jahrhunderts war überwiegend gekennzeichnet durch liberale Reformpo-
litik, eine Europäisierung des Geisteslebens und die Mechanismen des neuen Imperialis-
mus der Industrieländer. Monokulturelle Exportwirtschaft, hoher Kapitalbedarf, entspre-
chend hohe ausländische Investitionen und die Zunahme des Imports industrieller
Konsumgüter favorisierten dabei vor allem die international und auf Fernmärkte orien-
tierten Kaufleute und Grundbesitzer (>OHgarchie<) und nicht die lokalen oder regionalen
industriellen oder agrarischen Bourgeoisien. Diese blieben zunächst relativ schwach und
konnten sich auch später, als sie sich politisch durchzusetzen begannen (ab 1910 in
Mexico und nach 1918 in Chile und Argentinien in den >radikalen< Bewegungen der
1920er- und 1930er-Jahre und in den auf sie folgenden populistischem oder national-
revolutionären, antiimperialistischen Reformbewegungen), nicht allein, sondern nur in
breiteren Koalitionen und gestützt auf den Staat behaupten. In den langen Phasen der
mexikanischen Revolution, die erst um 1940 beendet wurde, haben dabei der Einfluss des
Auslands und der Druck der Unterschichten eine wichtige Rolle gespielt.
Festgehalten werden sollte auch, dass die oligarchische Herrschaft sehr unterschied-
lich aussehen konnte, obwohl die überwiegend präsidentiellen Verfassungen der latein-
amerikanischen Länder nach dem Vorbild der US-Verfassung einander sehr ähnlich
waren. Die Varianten reichen hier von der repressiven, teilweise blutrünstigen Militär-
diktatur bis zu (mehr oder weniger aufgeklärter) ziviler Regierung in einem Rechts(be-
wahr)staat mit begrenztem Elitenpluralismus und dem Ziel der Stabilisierung und
Institutionalisierung. Auch begrenzte Modernisierungs- und Industrialisierungsinitiativen
konnten zu den politischen Konzepten gehören, wobei die beiden klassischen Parteien,
die Konservativen und die Liberalen, sich oft nicht sonderlich unterschieden, sondern nur
im Hinblick auf familiäre, regionale und ideologische Hintergründe. Besonders die ersten
regionalen Industrialisierungs- und Entwicklungsvorhaben sind oft von Konservativen
18 Hans-Jürgen Puhle
lanciert worden, die ja auch nicht dogmatisch auf den Freihandel festgelegt waren, z.B.
in Peru und z.T. auch in Mexico. Viele Liberale haben, in vielen Ländern, überwiegend
konservative Status-quo-Politik gemacht. Und die große liberale Reformbewegung unter
Führung von Benito Juarez, die in den 1860er-Jahren Mexico gegen das Regime des von
den Franzosen importierten habsburgischen Kaisers Maximilian geeint hatte (LaReforma),
stellte sich in ihrer späteren Phase, in den Jahrzehnten der Diktatur von Porfirio Diaz bis
1910, vielen Liberalen als ein Regime von reaktionärer interessegeleiteter Unbeweglich-
keit dar, noch dazu im Bündnis mit europäischen Mächten statt mit den >moderneren<
USA. Dabei gehörten zur politischen Elite des Porfiriats, den so genannten >cientificos<,
durchaus auch aufgeklärte und kreative Köpfe.
Charakteristisch für die Herrschaft der oligarchischen Gruppen war insgesamt das
Fehlen von Partizipation und das Fehlen von Entwicklungsimpulsen für die große Mehrheit
der Bevölkerung. In jenen Ländern, in denen die neuen Reformbewegungen, die dies
ändern wollten, nicht vorhanden oder schwach waren, blieb dies so bis weit ins 20.
Jahrhundert hinein. Ein entsprechend langes Überdauern traditioneller, nicht modernisier-
ter Politik finden wir z.B. in Paraguay, Ecuador, den meisten Ländern Zentralamerikas
(außer Costa Rica), in Peru und in Kolumbien, wo noch nach dem Ende der letzten offenen
Militärdiktatur 1957 die Konservativen und die Liberalen, ganz im Stile des 19. Jahrhun-
derts, einen Pakt zur Machtteilung schlössen, dessen Mechanismen teilweise bis in die
1990er-Jahre in Kraft blieben. In den größeren und den entwickelteren Ländern Lateiname-
rikas dagegen wurde das 20. Jahrhundert zum Experimentierfeld neuer politischer Strate-
gien mit dem Ziel vermehrter Entwicklung, Stabilisierung und Partizipation, deren Träger
zunächst im Wesentlichen Gruppen der lokalen Bourgeoisien waren.
Bevor wir uns diese Strategien und die sie in vier mehr oder weniger aufeinander
folgenden Wellen tragenden Gruppen und Bewegungen im Einzelnen vergegenwärtigen,
sollte im zweiten Abschnitt kurz auf eine Reihe allgemeiner Kennzeichen und Kontext-
bedingungen hingewiesen werden und es sollten zum besseren Überblick die wichtigsten
Periodisierungseinschnitte genannt werden.
1. Ein zentrales Vehikel der neuen modernisierungs- und entwicklungspolitischen
Strategien ist noch bis in die 1970er- und 80er-Jahre hinein ein (zunächst) moderat bis
(später) stärker ausgeprägter antiimperialistischer Nationalismus gewesen, der ebenso
integrative wie exklusionäre Züge hatte. Erst im Zuge der sich nach der Krise der 70er-
Jahre, und meist noch während der Herrschaft autoritärer Militärregime, zunehmend
durchsetzenden neoliberalen Konzepte zur Wirtschaftsreform, der verstärkten interna-
tionalen Verklammerung der Volkswirtschaften und des reduzierten Stellenwerts natio-
nalstaatlicher Wirtschaftslenkung hat sich dies geändert und die nationalistischen For-
meln sind weniger attraktiv geworden.
Es hat allerdings schon immer eine große Ausnahme gegeben, einen Fall, in dem
Entwicklung und Fortschritt in einem lateinamerikanischen Land im 20. Jahrhundert nicht
nationalistisch konnotiert gewesen sind, und der sich auch sonst unseren Verallgemeinerungen
oft entzieht: Uruguay. In diesem kleinen Land mit einem hohen Anteil europäischer
Zwischen Diktatur und Demokratie 19
Märkte, die HyperVerschuldung, das starke Aufsichtsregime von Weltbank und IWF
unter nordamerikanischem Einfluss, die Vermehrung multinationaler Korporationen und
der zunehmende Fortschritt von Globalisierung, Regionalisierung und Denationalisierung,
die zahlreiche politische Strategiewechsel erzwangen. Auch die immer wieder neu
justierten regionalen gemeinsamen Märkte und ihre internen Einfluss- und Sogwirkungen
gehören in diesen Zusammenhang, bis hin zum Mercosur und zur NAFTA, die erstmals
die Trennlinie zwischen >Erster< und >Dritter< Welt überbrückt.
Zum anderen gehören zu den Konstellationen die auswärtigen politischen Akteure.
Der stärkste von ihnen war in Lateinamerika im 20. Jahrhundert zweifellos die USA, in
jedem Land und in so gut wiejedem Reformprozess, bis hin zu der kontraproduktiven und
perversen Umkehr, sodass es die Fehleinschätzungen, Überreaktionen und self-fulfilling
prophecies der nordamerikanischen Politik gewesen sind, die in den frühen 60er-Jahren
in Cuba und in den frühen 80er-Jahren in Nicaragua überwiegend nationalrevolutionäre
Bewegungen, z.T. aus linksliberalem Geist, dazu gezwungen haben, ihr Heil in der
Abhängigkeit vom sowjetkommunistischen Modell zu suchen (und damit zu scheitern).
Die USA haben die politischen Strategiewechsel in den lateinamerikanischen Ländern
durchweg entscheidend beeinflusst und deren Dimensionen, Chancen und Grenzen
mitbestimmt, wobei der Grad des Respekts für die Autonomie der Latinos mit der
Entfernung von den USA von Norden nach Süden in der Regel leicht zunimmt. Am
meisten und am brutalsten direkt interveniert haben die USA kontinuierlich in ihrem
engeren >Hinterhof<, in Zentralamerika und der Karibik, einschließlich Venezuela und
Kolumbien, in den größeren und weiter entfernten Ländern des Südkontinents dagegen
weniger, und vor allem weniger direkt.
Auch auf Mexico hat sich traditionell die größte Aufmerksamkeit der USA gerichtet,
auch wenn dieses Land zu groß, zu heterogen und zu eigenwillig war, als dass der US-
Botschafter dort, wie anderswo, als Prokonsul hätte sichtbar herrschen und abgewirt-
schaftete Präsidenten mit nackter Gewalt an der Macht halten können, nur weil sie »our
son of a bitch« waren, wie F.D. Roosevelt (oder Harry Truman) von Batista (oder
Somoza) gesagt hat. Im langen Prozess der mexikanischen Revolution, von 1910 bis
1940, sind die USA ein ganz zentraler Akteur gewesen: Sie haben- im eigenen
Interesse - die Revolutionsbewegungen entscheidend gefördert, vor allem die Madero-
Bewegung am Anfang, später zeitweise Pancho Villa, und sie haben sie gebremst, unter
Carranza und den Generälen aus Sonora in den 1920er-Jahren. Die abschließenden
Enteignungen und Agrarreformen unter Cärdenas in der zweiten Hälfte der 30er-Jahre
sind nur im Kontext der von Roosevelt proklamierten zurückhaltenden neuen Politik der
>guten Nachbarschaft möglich gewesen. - Auch die bolivianische Revolution der 50er-
Jahre ist von den USA gebremst worden; viele ihrer Forderungen, vor allem im sozialen
Bereich, wurden nicht umgesetzt, manches schon Realisierte musste später zurückgefah-
ren werden. Als 1964 in Chile der Wahlsieg der Christdemokraten bevorstand, die (mit
Recht) sozialrevolutionärer Ziele verdächtigt wurden, patroullierte die US-Marine in
Alarmbereitschaft vor der langen chilenischen Küste; als sechs Jahre später Allende als
Kandidat des Volksfrontbündnisses gewählt wurde, hatte man sich an die unbequeme
chilenische Reformpolitik gewöhnt und war anfangs weniger aufgeregt.
Auch das allgemeine, geradezu modisch erscheinende Schwanken der wichtigsten
südamerikanischen Länder zwischen neuen Formen umfassender Militärdiktaturen (seit
Zwischen Diktatur und Demokratie 21
Verteidiger des Status quo zu bauen. Die eher elitären Bewegungen der Radikalen sind
in dieser Hinsicht deutlich begrenzter geblieben als jene der auf sie folgenden anti-
imperialistischen und nationalrevolutionären Populisten, die die Mechanismen umfas-
sender nationalistischer Agitation wesentlich mehr nutzten, von denen auch die späteren
autoritären Regime, und oft auch die auf sie folgenden Redemokratisierer, nicht mehr
absehen konnten. Organisierte Bauern und Landarbeiter, Industriearbeiterund Dienstleis-
ter, Marginalexistenzen, ländliche und städtische Unter- und Mittelschichten sowie
Studenten waren die wichtigsten Gruppen, die dabei in unterschiedlichen Mischungen
und Bündnissen in Erscheinung traten.
In der Folge sollen kurz die wichtigsten Akteure und Bewegungen skizziert werden,
die im 20. Jahrhundert in Lateinamerika bestimmte Entwicklungs- und Stabilisierungs-
strategien vorangetrieben haben. Wie schon erwähnt, taten sie dies grosso modo in vier
aufeinander folgenden, sich aber gelegentlich auch überschneidenden oder zusammen-
gezogenen Wellen: Erstens in der Politik der Radikalen (also der Linksliberalen) in den
ersten vier Jahrzehnten des Jahrhunderts; zweitens in den antiimperialistischen und
nationalrevolutionären, demokratischen oder nichtdemokratischen Populistenbe-
wegungen, beginnend mit der mexikanischen Revolution und der Gründung der APRA
in Peru in den 20er-Jahren; drittens in den umfassenden autoritären Regimen der 60er-
und 70er-Jahre, und schließlich viertens in den Transformations- und Redemokra-
tisierungsprozessen nach dem Niedergang der Militärregime.
Die Träger der Reformpolitik nach 1910 waren nicht, wie man oft lesen kann, Exponenten
der Mittelklassen, sondern Repräsentanten der vordem strukturell schwächeren lokalen
Bourgeoisien in Industrie und kommerzieller Landwirtschaft, die allmählich bestimmte
Mittelschichten integrierten. Weil sie mit den unteren Schichten in der Regel nicht
paktieren konnten und auch nicht allzu offen mit dem Ausland, haben sie sich auf den
Staat fixiert und die Staatsmacht zur Sicherung der neuen Errungenschaften der Wirtschafts-
bürger eingesetzt, die, wie schon in der Kolonialzeit, wichtige Positionen festschrieb und
sie dem Einfluss des Markts entzog. Dass die Mittel der Staatsmacht gewissermaßen als
Krücke für eine sonst noch zu schwache lokale Bourgeoisie eingesetzt werden - ein
typisches Phänomen bei den latecomers im Modernisierungsprozess - findet sich in
Lateinamerika aber nicht nur in nachrevolutionären Situationen, wie in Mexico, in
Bolivien nach 1952 oder in der ersten Phase der kubanischen Revolution. Die meisten
Fälle sind die ohne vorausgehende Revolution. Das Wesen radikaler oder später
populistischer Reformpolitik in zahlreichen Ländern seit 1920 ist gerade der Einsatz des
staatlichen Interventionismus zum Auffangen der Folgen von ökonomischen Konjunk-
turschwankungen zwecks Industrie- und Exportförderung, Infrastrukturausbau, Erzie-
hung, Sozialpolitik und Agrarreformen, also Entwicklungspolitik in einem weiten Sinne
gewesen. Zur Absicherung dieser Politik musste das lokale Bürgertum nicht nur in den
städtischen Mittelschichten und später auf dem Land um Wählerstimmen werben,
sondern vor allem auch Allianzen mit der staatlichen Bürokratie eingehen, oft auch mit
deren militärischem Flügel. In manchen Ländern, wie z.B. in Brasilien, hat diese Allianz
Zwischen Diktatur und Demokratie 23
lange Zeit deutlich korporativistische Züge gehabt und dem Typ konservativer Mo-
dernisierung< ä la Barrington Moore entsprochen.
Die typische Ideologie der lokalen Bourgeoisien in diesem Prozess war der neue
antiimperialistische Nationalismus. Die Notwendigkeit politischer Mobilisierung in den
Städten und auf dem Land erforderte eine Abkehr von der traditionellen Europazentriertheit
des kulturellen Lebens. Gleichzeitig legte der Wunsch nach Durchsetzung der lokalen
Interessen gegenüber denen der international orientierten Oligarchie auch politisch eine
Absage ans Ausland nahe und die Besinnung auf die eigenen lateinamerikanischen und
regionalen Traditionen. Wir finden dies zuerst bei Alberdi in Argentinien, bei Jose Marti
in Cuba, bei den Intellektuellen der mexikanischen Revolution und in den 20er-Jahren im
peruanischen >indigenismo< Mariäteguis und Haya de la Torres. Politisch erfolgreich war
diese neue Bewegung zuerst in Mexico.
Dass Mexico den Anfang machte, ist nicht verwunderlich: Das Land war ökono-
misch im Vergleich relativ weit und differenziert entwickelt, es war nach verlustreichen
Kämpfen gegen die USA und die Franzosen durch die (eben nicht nationalistische)
Modernisierungsdiktatur von Porfirio Diaz zunehmend in Abhängigkeit von Europa und
von dem nahen nördlichen Nachbarn geraten und die Massen waren leicht mobilisierbar.
(Mexico war bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts das einzige Land Lateinamerikas
gewesen, in dem sich breite Volksmassen an der Befreiungsbewegung beteiligt hatten.)
Die Revolution nach 1910 wurde eine soziale Revolution, deren rivalisierende Fraktio-
nen von Carranza, dem Führer der Konstitutionalisten, nur gegeneinander balanciert und
ausgespielt werden konnten, indem er eine relativ konservative Innen- und Sozialpolitik
und die Förderung des Wirtschaftswachstums mit radikaler sozialrevolutionärer Propa-
ganda und antiimperialistischer, nationalistischer Rhetorik und Politik verband. Carranza
wurde so zum Erfinder der politischen Strategie der späteren Staatspartei PRI. Die
sozialen Reformen, die dabei zu kurz gekommen waren, wurden teilweise in den 20er-
und unter Cärdenas in der zweiten Hälfte der 30er-Jahre nachgeholt, andere wieder
rückgängig gemacht.
In den größeren Ländern Südamerikas, vor allen in Argentinien und Chile, aber auch
in Brasilien, wurde die neue nationalistische Politik in den 20er-Jahren von den >Radi-
kalen< Parteien, also den Linksliberalen, begonnen und in der Reaktion auf die Weltwirt-
schaftskrise nach 1929 noch intensiviert. Diese Gruppen der lokalen Bourgeoisie, die
Radikalen der ersten Stufe, strebten ausdrücklich nach einer Verringerung der Auslands-
abhängigkeit und suchten sie durch staatsinterventionistische entwicklungspolitische
Strategien der Förderung importsubstituierender Industrie und durch Infrastrukturaus-
bau, Verfassungs-, Rechts- und Erziehungsreformen und eine behutsame Verbreiterung
der politischen Partizipation zu realisieren. Ihr Hauptaugenmerk galt dem staatlichen
Institutionenbau; ihre typischen Produkte waren die neuen Zentralbanken und staatliche
Ämter zur Industrie- und Wirtschaftsförderung (Corporaciones de Fomento). Größere
soziale Reformen oder strukturelle Veränderungen der Rechts- und Besitzverhältnisse,
besonders im Agrarsektor, gehörten jedoch nicht zu ihrem Programm.
Im Gegensatz zu den Radikalen warben die Exponenten der auf sie in einer zweiten
Stufe folgenden Bewegungen der antiimperialistischen und populistischen National-
revolutionäre oder Reformer auch um die Unterschichten. Sie mobilisierten ländliche
und städtische Arbeiter, kleine Angestellte, Bauern und Marginalexistenzen. Ihr Haupt-
24 Hans-Jürgen Puhle
den älteren Populistengruppen insbesondere dadurch, dass sie in größerem Umfang und
mit einigem Erfolg auch die arbeitslose städtische Marginalbevölkerung angesprochen
und zu mobilisieren versucht haben. An reformerischer Intensität standen sie den älteren
Gruppen keineswegs nach.
Die Populistenbewegungen haben in Lateinamerika besonders die Periode zwischen
den späten 30er- und den späten 60er-Jahren geprägt. In dieser Zeit waren sie die
entschiedensten und konkurrenzlosen Träger und Vehikel einer gerichteten progressiven
Entwicklungspolitik und haben durchweg einen erheblichen Beitrag zu nation building
und stabilisierenden Reformen geleistet, der positiv gewürdigt werden sollte, auch wenn
er längerfristig nicht ausgereicht hat. Auf der anderen Seite sind aber auch die Grenzen
dieser Strategien deutlich geworden, die vor allem mit der Staatszentriertheit und mit dem
Nationalismus der Bewegungen und Eliten zusammenhängen: Ihre Politik ist häufig ins
Konservative umgekippt, zumal der >starke Staat< oft ineffizient blieb und nicht >liefern<
konnte, und ihr Nationalismus hat durchgehend eine übernationale Solidarität der
Lateinamerikaner gegenüber der entwickelteren Welt verhindert.
Die letzten Regimewechsel vom Autoritarismus zu mehr Demokratie in den 80er- und
90er-Jahren sind auch in Lateinamerika sehr uneinheitlich verlaufen und haben unter-
schiedlich viel Zeit gebraucht. Relativ schnell und aus eigenem Entschluss (i.e. der
Einsicht, dass sie sich nicht länger halten konnten) haben sich die Militärs in Peru und
Bolivien aus der Politik zurückgezogen. In Argentinien wurden sie von allen Gruppen der
Gesellschaft nach dem verlorenen Falkland-Krieg in Schande davongejagt, z.T. vor
Gericht gestellt und haben erst viel später wieder eine begrenzte Verhandlungsmacht
erreicht. In Uruguay wurde der Regimeübergang (transition) von Anfang bis Schluss in
Zwischen Diktatur und Demokratie 27
harten Verhandlungen zwischen den Militärs und den Parteien der Opposition paktiert.
Dabei konnten die Militärs bestimmte essentials durchsetzen, vor allem die juristische
Straffreiheit für die Verbrechen des Regimes, ein Problem, das auch die moralische und
historische Aufarbeitung dieser Vergangenheit noch bis vor kurzem verzögert hat. Am
längsten dauerte der Übergang in Brasilien und Chile, den beiden Ländern, in denen die
Militärs am ungefährdetsten im Sattel saßen und beabsichtigten, auch die Weise des
Regimeübergangs zu oktroyieren, also Tempo und Modus der Demokratisierung nach
Möglichkeit bis zum Schluss von oben zu kontrollieren. Da solche Prozesse aber
spätestens dann, wenn man das Volk abstimmen lässt, eine Eigendynamik gewinnen,
konnten sie diese Absicht nicht durchhalten und mussten am Ende auch mit der
(Opposition verhandeln und paktieren, wobei sie allerdings länger am längeren Hebel
saßen als ihre Kollegen anderswo. So haben sich, ganz abgesehen von der vereinbarten
Amnestie, die brasilianischen Generäle bis in die Details in die Beratungen der neuen
Verfassung (einer der längsten der Welt) eingemischt und die Direktwahl des Präsidenten
sehr lange verzögert. Und die Chilenen mussten noch in der neuen Demokratie bis 1998
mit den militärischen Oberbefehlshabern der Diktatur (einschließlich Pinochet) leben
und bis 2005 mit einer Reihe von militärischen Privilegien und undemokratischen
Enklaven in ihrer ansonsten immer besser funktionierenden demokratischen Ordnung.
Die Transformationsprozesse haben zwangsläufig auch eine neue, vierte Welle von
politischen Strategien zur Entwicklung und Stabilisierung der lateinamerikanischen
Länder auf den Weg gebracht, da diejenigen des Autoritarismus entweder nicht mehr
anwendbar waren oder sich als erfolglos erwiesen hatten. Die beherrschende Achse
dieser Strategien bestand und besteht aus Maßnahmen des Institutionenbaus und der
Zivilisierung politischer Interaktionen zwecks Stärkung und Absicherung von Demokra-
ne und Rechtsstaatlichkeit, sozusagen als angemessene Reaktion auf die brutalsten und
härtesten Autoritarismen, die es je in Lateinamerika gegeben hat. Demgegenüber sind die
wirtschafts-, sozial- und entwicklungspolitischen Inhalte und Prioritäten diffuser und
weniger explizit geblieben, zumal die Probleme zum Teil auch sehr viel unübersichtlicher
geworden sind als in früheren Perioden. In einzelnen Bereichen und Sektoren lassen sich
auch durchaus Kontinuitäten zwischen den Regimen, deren Plänen und deren Personal
feststellen, so wie es diese auch früher zwischen den Reformplänen der Populisten und
der Militärs gegeben hatte.
Dabei sah manches zunächst eher wie ei n phantasieloser Rückfal 1 aus, da in der ersten
Phase der Transformation vielfach die alten Traditionsparteien (z.B. in Uruguay) oder die
alten populistischen Gruppen wieder aufgelebt und oft dieselben alten Führer auch an die
Macht gewählt worden sind, z.B. in Bolivien, Peru oder Chile. Manche blieben erfolglos,
wie Belaünde oder die APRA in Peru. Aber manche von ihnen haben sich auch neu
orientiert und dann ganz entscheidende Weichen in Richtung Stabilisierung gestellt, wie
Victor Paz Estenssoro in Bolivien, der 1952 die Nationalisierungspolitik des revolutio-
nären MNR durchgeführt hatte, die er 1985 im Geiste eines neoliberalen >big bang<
wieder rückgängig machte, mit großem und bis heute anhaltendem Erfolg. Selbst ein
politischer Veteran wie Uruguays Präsident (2000-05) Jorge Batlle, der schon in den
60er-Jahren Präsidentschaftskandidat gewesen war, war für kreative Überraschungen
gut, wie z.B. in der Frage der Flexibilisierung in der Staats- und Verwaltungsreform oder
der Aufarbeitung der Verbrechen des Militärregimes. Vertreter einer etwas jüngeren
28 Hans-Jürgen Puhle
Generation wie Cardoso und Lula in Brasilien oder die letzten Präsidenten des chileni-
schen Demokratiebündnisses Concertaciön (Frei, Lagos, Bachelet) haben, teilweise mit
Erfolg, versucht, substanzielle populistische Strategien unter Berücksichtigung der
ökonomischen Zwänge in mühsamer Überzeugungs- und Sacharbeit in eine veränderte,
globalisierte Umwelt hinein weiterzuentwickeln, mit deutlich reformistischen, geradezu
sozialdemokratischem Zügen. Dasselbe gilt auch für den Linksperonisten Kirchner in
Argentinien und für den altmodischen Newcomer T abare Väzquez in Uruguay, der Ende
2005 als erster Kandidat des Linksbündnisses zum Präsidenten gewählt wurde.
Die Krise der älteren Populismen, die ja vielfach die Machtergreifung der Militärs
erst ermöglicht hatte, die Strukturprobleme der Parteien und der Staaten sowie die
Kontinuitäten des endemischen Personalismus haben allerdings auch dazu geführt, dass
zunehmend >neopopulistische< Züge dominierten, unter der Ägide von Politikern, die
zwar populistische Techniken nutzten, den Staat aber eher ausbeuteten oder mar-
ginalisierten, als ihn als Vehikel einzusetzen zum Zwecke einer bestimmten Entwick-
lungsstrategie. Solche neopopulistischen Phänomene sind verbunden mit den Namen der
Präsidenten Collor de Mello in Brasilien (einem reinen Fernseh-Produkt), der 1992 in
Schande vom Parlament abgesetzt wurde, oder Fujimori in Peru, der als demokratisch
gewählter Präsident 1992 gegen Parlament und Verfassung putschte und für einige Jahre
wieder ein autoritäres Regime errichtete. In diese Reihe gehören auch derNeo-Peronist
Menem in Argentinien (1989-1999) und viele Provinzfürsten in zahlreichen Ländern.
Interessanter sind jedoch die gemischten Fälle aus alten und neuen populistischen
Zügen und Strategien, wie sie derzeit von Hugo Chävez in Venezuela und Evo Morales
in Bolivien am spektakulärsten repräsentiert werden: der eine ein früherer militärischer
Putschist, der seit 1998 demokratisch gewählter Präsident seines Landes ist, einen
versuchten Gegenputsch (2002) und ein recall referendum (2004) überlebt hat und 2006
wiedergewählt wurde; der andere, Ende 2005 gewählt, ein indigencr Gewerkschaftsfüh-
rer der Coca-Bauern, dessen Bewegung im letzten Jahrzehnt des stockenden boliviani-
schen Demokratisierungsprozesses zunehmend zu einem verantwortungsbewusst agie-
renden Kristallisationspunkt der Forderungen der Unterprivilegierten und Ausgegrenz-
ten geworden ist; beide sendungsbewusst und inspirierend, charismatisch und gelegent-
lich erratisch, durchweg vertrauenswürdiger als viele andere, und mit relativ wenig
Respekt für Institutionen. Programme und Politik von Chävez wie Morales machen
deutlich, dass es noch starke Kontinuitätslinien aus der älteren Tradition gezielter
staatlicher Entwicklungsstrategien und -instrumente gibt, die jedoch in Reaktion auf
andauernde Strukturprobleme (Armut, defiziente Infrastruktur) und neuere Herausforde-
rungen (mehr Globalisierung und Finanzspekulation) in einigen wichtigen Punkten
weiterentwickelt worden sind, und zwar sowohl im Bereich der Verteilungspolitik und
der Nationalisierung wichtiger Rohstoffe als auch, und vor allem, in einer deutlichen
Vermehrung demokratischer Partizipation von unten (gelegentlich auf Kosten der
repräsentativen Institutionen) und kultureller Autonomie für die indianischen Gemein-
schaften. Mit leichter Übertreibung könnte man sagen, dass diese neue (oder gemischte)
populistische Politik im Wesentlichen die Ausweitung der früheren Strategie auf alle
damals faktisch noch nicht berücksichtigten Bevölkerungsteile ist, mit dem erklärten Ziel
größtmöglicher Inklusion, dem man in beiden Ländern auch durch die Arbeit an einem
grundlegenden neuen Verfassungskonsens mit revolutionärer Geste und indigener Folk-
Zwischen Diktatur und Demokratie 29
lore (z.B. >Bolivarische Revolution^ näher zu kommen hofft. Das Feindbild hat sich
rhetorisch leicht verschoben, von Imperialismus und Dependenz zu Globalisierung und
>Neoliberalismus^ die politischen Fronten sind aber im Ganzen ebenso dieselben
geblieben wie die akklamativen und charismatischen Mechanismen und der antielitäre,
gelegentlich antiinstitutionelle Duktus.
Einen besonders interessanten Fall der Überlagerung von älteren populistischen
Traditionen und neopopulistischen Energien finden wir in Mexico besonders unter der
Präsidentschaft von Salinas (PRI, 1988-1994) und Fox (PAN, 2000-06). Mexico ist in
unserem Zusammenhang auch der einzige Fall einer Demokratisierung eines älteren
revolutionären populistischen Regimes. Diese hat seit Mitte der 90er-Jahre im institutionel-
len Bereich durch die Anerkennung der Ergebnisse demokratischer Wahlen 1994, die
Einrichtung einer wirksamen unabhängigen obersten Wahlbehörde (IFE), die Realität von
divided government, d.h. von unterschiedlichen Mehrheiten in Parlament und Exekutive
seit 1997, und schließlich durch den ersten Wechsel i m Präsidentenamt von der Staatspartei
PRI zum bislang oppositionellen katholischen PAN im Jahre 2000 beachtliche Fortschritte
gemacht. Auch zentrale Fragen der Föderalismus- und Steuerreform, von Infrastrukturaus-
hau und Umweltschutz werden breit debattiert und die Partizipation hat in vielen Bereichen
zugenommen, auch wenn ganz gravierende ökonomische und soziale Probleme, Rechtsstaats-
mängel und Inklusions- und Repräsentationsdefizite bleiben (vgl. die Zapatistas in Chiapas)
und die üblichen desencanto-Phänomene verbreitet sind, wie gerade zunehmende Konflik-
te und Polarisierungen rund um die Präsidentenwahl von 2006 oder in Oaxaca gezeigt
haben. Mexico hat als eines der letzten Länder Lateinamerikas den Übergang vom
autoritären Regime zur defekten Demokratie bewältigt.
Diese, die >defekte Demokratie^ ist derzeit die am meisten verbreitete Regimeform
in Lateinamerika. Der Begriff charakterisiert zweierlei: Erstens, dass es sich nicht mehr
um eine autokratische Herrschaft handelt, sondern dass der harte Kern der Demokratie
im Wesentlichen vorhanden und wirksam ist, ein Wahlregime, das dafür sorgt, dass
diejenigen regieren, die durch im Prinzip freie und faire demokratische Wahlen dazu
legitimiert wurden, und dass der Wahlausgang nicht mit Sicherheit vorhersagbar ist
elektorale Demokratie). Zweitens bedeutet >defekte Demokratie^ dass es sich nicht um
eine konsolidierte rechtsstaatliche Demokratie handelt, in der über das Wahlregime und
Jessen Voraussetzungen hinaus auch die Kriterien der Gewaltenkontrolle (horizontal
jt countability) und der Rechtsstaatlichkeit erfüllt sind. Vielmehr kann es bei allen (II)
Demokratiekriterien Defekte geben. Je nachdem, in welchem Bereich diese auftreten,
können wir es mit unterschiedlichen Varianten defekter Demokratie zu tun haben: Mit
einer illiberalen Demokratie, wenn die politischen Freiheiten oder die Rechtsstaats-
K ri terien eingeschränkt sind; mit einer Enklavendemokratie, wenn es politische Reservat-
rechte für nicht demokratisch gewählte Akteure gibt (z.B. Militärs). Von einer delegati ven
Demokratie sprechen wir, wenn das Kriterium der Gewaltenkontrolle verletzt ist, also
:> pischerweise mehr durch Dekrete der Exekutive als durch Gesetzgebung regiert wird,
•ue in Argentinien unter Menem (oder in Russland unter Jelzin), und von einer
exklusiven Demokratie, wenn es Defizite der Inklusion beim Wahlrecht gibt, um nur die
•A ichtigsten Möglichkeiten zu nennen.
Wenn wir die Länder im Einzelnen durchprüfen, ergibt sich, dass in Lateinamerika
Hnde 2006 die Variante der illiberalen Demokratie am häufigsten ist, in Brasilien und
30 Hans-Jürgen Puhle
Guatemala noch gemischt mit exklusiven Zügen. Enklavendemokratie, die zu Beginn der
Transformation ein häufiges Durchgangsstadium in zahlreichen Ländern war, gibt es
lediglich noch in Paraguay und Ecuador. Delegative Demokratie ist mit der Regierung
Menem fürs Erste verschwunden. - Gute Politik muss unter anderem darin bestehen,
diese Defekte abzubauen. Und in der Tat sind die politischen Strategien der demokrati-
schen Akteure im letzten Jahrzehnt zunehmend darauf gerichtet gewesen, das Wahl-
regime und die Institutionen zu stabilisieren, die Geltung der Menschenrechte und der
rechtsstaatlichen Sicherungen auszuweiten, die Partizipationsrechte der Bürger zu si-
chern und zu erweitern. Dabei gibt es auch z.T. beachtliche Fortschritte.
Allerdings sind die Handlungsspielräume oft noch eingeengt, insbesondere durch die
defizitäre und nachhinkende Leistungsfähigkeit der traditionellen Institutionen und vor
allem des ökonomischen und sozialen Umfelds. Die meisten Länder bedürfen insgesamt
noch gezielter Entwicklungspolitik mit langem Atem und der entsprechenden Anreize
dafür, auch wenn man besondere Ausreißer wie das Ordnungs- und Staatlichkeitsdefizit
im gegenwärtigen Kolumbien (das auch mit der internationalen Drogenpolitik zu tun
hat), das zeitweise Absinken großer Teile Argentiniens in soziale Anomie im Gefolge der
letzten Krise oder provinzielle Sezessionsdrohungen in Bolivien für mittelfristig rever-
sibel hält und für bearbeitbar durch angemessene Politik und ernsthaft daran arbeitende
Eliten. Es scheint nur zu Beginn des 21. Jahrhunderts viel schwieriger zu sein als im
ganzen Jahrhundert davor, die richtigen und angemessenen Entwicklungs- und
Stabilisierungsstrategien und die ihnen entsprechenden politischen Mobilisierungs-
formen und Legitimationsmechanismen zu finden. Im Zeichen von HyperVerschuldung,
Globalisierung und Entstaatlichung und unter der Hegemonie des Weltbank- und WTO-
Regimes empfehlen sich grundsätzlich liberale Rezepte, die auf freien Handel und
Kapitalverkehr, eine neue diversifizierte und intelligente Exportorientierung, interne
Sparsamkeit und Privatisierung setzen, also die strategischen Prioritäten des letzten
Jahrhunderts völlig umkehren, vor allem in der Abwendung vom Staat und der Verklei-
nerung des Staats, mit der viele Lateinamerikaner, und besonders die Eliten, sich
mindestens ebenso schwer tun wie viele Europäer. Vor allem erscheint die Umsetzung
planerischer Konzepte in politische Strategien zur Mobilisierung von hinreichenden
Mehrheiten zu deren Unterstützung prekär. Und die Bestimmung der >richtigen<, also
politisch zu bewältigenden Reihenfolge einzelner Maßnahmen, das berühmte sequencing,
ist ohnehin ein weites Feld.
Am Anfang des 21. Jahrhunderts sieht es so aus, als wäre es nicht mehr möglich, so
klare und in Grenzen verallgemeinerbare Aussagen über die politischen Entwicklungs-
tendenzen in Lateinamerika, deren Stufen, strategische Prioritäten und sozialen Träger zu
machen wie für das 20. Jahrhundert. Die Dinge sind weniger festgebunden, kurzfristig im
Wandel, weniger in großen Dimensionen projekthaft organisiert und strukturiert; sie sind
fragmentierter und vor allem weniger einheitlich an der nationalen Ebene ausgerichtet:
Lokale, regionale und supranationale Faktoren und Einflüsse wirken schneller und
unvermittelter ineinander. Selbst in Uruguay, das dafür berühmt war, ist die klassische
>Stoßdämpfergesellschaft< (sociedad amortiguadora) passe. Die größere Flexibilität
vermehrt sicher auch die Möglichkeiten und Alternativen der Problembewältigung. Die
neue Fragmentierung und Gemengelage kann ein ideales Feld für Planer und >Macher<
in engen Bereichen sein, aber möglicherweise ebenso für wendige und schillernde
Zwischen Diktatur und Demokratie 31
neopopulistische Führer von der Provinz bis zur nationalen Ebene, die zeitgemäße und
pflegeleichte Version des caudillo.
Lateinamerika ist in letzter Zeit demokratischer geworden. Aber die Qualität der
Demokratie ist durchweg noch verbesserungsfähig. Welche Qualität sie mittelfristig
haben wird, liegt in vielen Fällen zu einem großen Teil noch im Dunkeln. Das birgt
Gefahren, aber auch Chancen.
Hans Werner Tobler
Die Geschichte Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert scheint in besonders hohem
Maße durch das Phänomen der Gewalt geprägt worden zu sein. Schon im 19. Jahrhundert
gehörten z.B. Berichte europäischer und nordamerikanischer Reisender über verbreitete
Gewalttätigkeit, Gesetzlosigkeit und endemischen Banditismus in den jungen Staaten
Lateinamerikas zur Tagesordnung. Im 20. Jahrhundert prägten zahlreiche Revolutionen,
Bauernaufstände und Guerillabewegungen, aber auch häufige Militärrebellionen und
Gewaltexzesse mancher Staaten das Bild einer außerordentlich hohen Gewaltintensität
in dieser Region.
Rückt man diese Erscheinungen allerdings in eine überregionale oder gar globale
Perspektive, so werden die scheinbaren Besonderheiten und Dimensionen der lateiname-
rikanischen Violenz deutlich relativiert. Jedenfalls lassen sich diese kaum auf eine
angeblich besonders ausgeprägte Disposition der Lateinamerikaner zur Gewalt oder gar
eine besonders gewaltträchtige spanische Kolonialtradition zurückführen. Die verbreite-
te Gewalt in den jungen Staaten Lateinamerikas, im ersten halben Jahrhundert nach der
Independencia, war vielmehr Ausfluss eines nur unvollständigen oder gescheiterten
Staatsbildungsprozesses, der vornehmlich auf strukturelle Gegebenheiten der späten
Kolonialzeit und auf die besonderen Verlaufsformen und Auswirkungen der lateiname-
rikanischen Unabhängigkeitsbewegungen zurückzuführen war. Die lateinamerikanische
Gewalt im 20. Jahrhundert wiederum verblasst angesichts der neuartigen Gewaltexzesse
dieses Jahrhunderts in anderen Weltregionen, wenn man an die Massenvernichtungen
und Genozide, aber auch an die Verwüstungen des modernen »totalen Kriegs« denkt.
Dennoch wäre es verfehlt, die Bedeutung der Gewaltproblematik in der ferneren und
jüngeren Geschichte Lateinamerikas als gering einzuschätzen. In unterschiedlichen
Formen war Gewalt stets gegenwärtig, sei es in Form politischer Gewalt von »unten«
oder von »oben«, diffuser sozialer Gewalt oder - bis in die Gegenwart - einer schon
»alltäglich« gewordenen Gewalt, wie sie seit Jahren etwa in einem Land wie Kolumbien
grassiert.
Einige Aspekte dieser lateinamerikanischen Gewalttradition seit dem frühen 19.
Jahrhundert seien im Folgenden knapp umrissen.
36 Hans Werner Tobler
castas«, suchte in den 1840er- und 1850er-Jahren Yucatän heim, aufständische campesinos
attackierten benachbarte Haciendas und im Norden des Landes bewirkten häufige
Apacheneinfälle die Entstehung von Siedlermilizen, die eine eigene Gewaltkultur, nicht
unähnlich jener an der nordamerikanischen fremder, hervorbrachten.
Auch in Mexiko setzte im späten 19. Jahrhundert eine nachhaltige Stärkung des
Zentralstaates ein. Einerseits war diese Entwicklung auf innermexikanische Faktoren -
die Reformbewegung der 50er-Jahre und ihre Folgen - zurückzuführen, andererseits, wie
im übrigen Lateinamerika, auf exogene Einflüsse, d.h. die zunehmende wirtschaftliche
Integration des Landes in den Weltmarkt. Mit der Zunahme des Außenhandels und dem
Einsetzen von Auslandsinvestitionen flössen dem mexikanischen Staat neue finanzielle
Mittel zu, die u.a. in die Modernisierung der Infrastruktur und den Ausbau des adminis-
trativen Apparates investiert wurden. Unter der Herrschaft des Generals Porfirio Dfaz
(1876-1911) setzte so eine markante Konsolidierung des Nationalstaates ein, die von
einer nachhaltigen gesellschaftlichen Pazifizierung - der Pax Porfiriana - begleitet war,
die u.a. durch die wirksamere Banditenbekämpfung durch die neu geschaffene nationale
Polizeitruppe der rurales erreicht wurde (Tobler 1984; Vanderwood 1992).
Mit der Konsolidierung des mexikanischen Staates im späten 19. Jahrhundert, der
einsetzenden wirtschaftlichen Modernisierung und den damit verbundenen gesellschaft-
lichen Veränderungen erfolgte auch ein gewisser Wandel in den vorherrschenden
Gewaltmustern. Die bis in die 1860er-Jahre besonders verbreiteten Gewalterscheinungen,
wie etwa das Bandenunwesen, konnten nun dank verbesserter Infrastruktur (Eisenbah-
nen, Telegraf) und neuer Polizeikräfte (rurales) wirksamer bekämpft werden; ähnlich
verloren die mit der Institution der caudillos verbundenen Formen der Gewalt immer
mehr in dem Maße an Bedeutung, als den »klassischen« caudillos durch die politische,
wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung des Landes zunehmend der Nähr-
boden entzogen wurde.
Während der politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel also gewisse
traditionelle Gewaltformen zurückdrängte, bewirkte er gleichzeitig neue Formen der
Gewalt. In gewissem Sinne kann man in diesem Formenwandel eine Parallele zu jenem
sequenziellen Ablaufmuster sehen, das etwa Charles Tilly im Wandel kollektiver Protest-
und Gewaltformen in Europa unter dem Einfluss grundlegender wirtschaftlicher und
gesellschaftlicher Veränderungen, wie etwa der Industrialisierung und Urbanisierung,
erkannte (Tilly 1972). Am augenfälligsten in dieser Hinsicht war in Mexiko der Wandel
bäuerlicher Gewalt im Laufe des 19. Jahrhunderts. Während im frühen 19. Jahrhundert
Bauern unter Ausnützung der staatlichen Schwäche häufig von sich aus, also durchaus
offensiv, benachbarte Haciendas oder lokale Staatsorgane angriffen, war ihr Protest- und
Gewaltverhalten gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein vornehmlich
reaktiv-defensives. Im Verlauf des späten 19. Jahrhunderts hatte eben nicht nur der Staat
erheblich an Stärke gewonnen; mit der zunehmenden Kommerzialisierung und Moder-
nisierung der Landwirtschaft versuchten auch die Großgrundbesitzer ihr Land in die
angestammten Domänen der Kleinbauern auszudehnen und bedrohten so deren traditio-
nelle Lebensformen.
Während die bäuerlichen Proteste gegen die Expansion der Haciendas bis zum Ende
des Diaz-Regimes (1910/11) noch in überwiegend legalen Formen erfolgten, griffen die
Bauern nach dem Sturz von Dfaz vermehrt zu den Waffen, um ihre Anliegen gewaltsam
38 Hans Werner Tobler
durchzusetzen. Bereits die erste große Revolution Lateinamerikas im 20. Jahrhundert, die
mexikanische, erhielt so von Anfang an einen stark bäuerlichen Anstrich, ein Merkmal,
das, gemäß dem Titel der bekannten Studie von Eric Wolf - Peasant Wars of the
Twenüeth Century - für gewaltsame politisch-gesellschaftliche Umwälzungen in zahl-
reichen, noch vornehmlich agrarischen Ländern der weltwirtschaftlichen »Peripherie« in
diesem Jahrhundert prägend werden sollte (Wolf 1969).
Bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts sollten Bauernaufstände und bewaffnete
Bauernbewegungen eine zentrale Rolle in den revolutionären Umwälzungen und anti-
kolonialen Befreiungskriegen dieser Periode spielen. Auch dort, wo revolutionäre
Bewegungen oder antikoloniale Aufstände von nicht bäuerlichen Kadern angeführt
wurden, und letztlich andere Ziele als bäuerlich-agrarische im Vordergrund standen, kam
bäuerlicher Gewaltbercitschaft und bäuerlichem Aufstandsverhalten meist eine Schlüssel-
rolle zu. Dies lässt sich im lateinamerikanischen Kontext wiederum besonders deutlich
am Beispiel Mexikos in der Revolutionsperiode zwischen 1910 und 1920 aufzeigen.
Obwohl Kommerzialisierung und Modernisierung der Landwirtschaft einen allgemeinen
Trend in der lateinamerikanischen Entwicklung seit dem späten 19. Jahrhundert darstell-
ten, kam es nur in Mexiko im frühen 20. Jahrhundert zur Ausbildung großer bewaffneter
Bauernbewegungen. Dafür verantwortlich waren sowohl strukturelle Gründe als auch
prozessuale Faktoren im Verlauf der mexikanischen Revolutionsentwicklung.
Strukturell zeichnete sich die Situation Mexikos dadurch aus, dass hier, im Unter-
schied zum übrigen Lateinamerika »das enge, antagonistische Nebeneinander von
kommerziell orientierten Haciendas, Ranchos und einer bedeutenden, lokal fest verwur-
zelten Bauernschaft (wie es in Morclos, großen Teilen des zentralen Hochlandes und
gewissen Schlüsselregionen des übrigen Mexiko anzutreffen war) charakteristisch und
Grundvoraussetzung bäuerlicher Aufstände« war (Knight 1986,1:157).
In besonders ausgeprägtem Maße waren diese strukturellen Voraussetzungen im
Zuckeranbaugebiet von Morelos gegeben, und so erstaunt es denn auch nicht, dass diese
Region zur Wiege der bedeutendsten Bauernerhebung in der mexikanischen Revolution,
jener unter Führung Emiliano Zapatas, werden sollte. Grundlegende Bedeutung kam
dabei der Institution des freien Dorfes, dem pueblo libre, zu. Dieses vermochte seinen
kleinbäuerlichen Bewohnern, selbst wenn sie wirtschaftlich zunehmend in Abhängigkeit
von den Haciendas gerieten, einen Freiraum autonomer Tätigkeit zu bewahren, wie er für
die fest auf den Haciendas ansässigen Landarbeiter nicht mehr existierte. Es waren denn
auch vornehmlich die in solchen Dörfern lebenden Kleinbauern, die zum Kern der
bäuerlichen Aufstandsbewegungen wurden.
Prozessuale Faktoren, d.h. der Verlauf und die Dynamik der Revolution als ganzer,
spielten für die Ausbreitung bäuerlicher Aufstände ebenfalls eine zentrale Rolle. Die
mexikanische Revolution war ja insgesamt ein sehr komplexes Phänomen, das sich aus
ganz unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen und regionalen Kräften und Teil-
bewegungen zusammensetzte. Bäuerliche Kontingente spielten darin eine unterschied-
Politik und Gewalt 39
geringer, und auch die soziale Zusammensetzung der castristischen »Bewegung des 26.
Juli« unterschied sich stark von den mexikanischen Revolutionsbewegungen, insbeson-
dere was den Anteil und die Rolle eigentlicher Bauernbewegungen betraf. Die »Bewe-
gung des 26. Juli«, deren Führung mehrheitlich dem urbanen, studentisch-intellektuellen
Milieu entstammte, hatte sich zwar in der Sierra Maestra Ende 1956 als ländliche
Guerillatruppe formiert. Aber bis weit ins Jahr 1958 blieb diese Rebellenformation
zahlenmäßig ausgesprochen schwach; für die Mitte des Jahres 1958 hat z.B. Boris
Goldenberg die Zahl der um Castro gescharten Partisanen lediglich auf etwa 300
geschätzt (Goldenberg 1963).
Eine eigentliche Bauernerhebung stellte die kubanische Revolution, ungeachtet
späterer Legendenbildung, jedenfalls keineswegs dar, und die späteren kubanisch bzw.
guevaristisch inspirierten Versuche, in Südamerika bäuerlich-ländliche Aufstände aus-
zulösen, scheiterten bekanntlich.
Das abnehmende Gewicht eigentlicher Bauernbewegungen in revolutionären Um-
brüchen nach dem Zweiten Weltkrieg war in Lateinamerika Folge jenes wirtschaftlichen,
politischen und gesellschaftlichen Wandels, der sowohl unterschiedliche Muster politi-
scher und gesellschaftlicher Gewalt von unten als auch neuartige Formen staatlicher und
parastaatlicher Gewalt von oben hervorbrachte. Einsetzende Industrialisierung, Moder-
nisierung der Landwirtschaft, Bevölkerungsdruck, Emigration, Landflucht und beschleu-
nigte Urbanisierung waren Faktoren, die, mit ihrer Tendenz zur Autlösung traditioneller
Solidarbeziehungen, natürlich nicht ohne Einfluss auf die Erfolgschancen populärer
Aufstandsstrategien blieben, insbesondere des gleichsam »klassischen« Typs bäuerlich-
ländlicher Erhebungen. Hinzu kam, dass die lateinamerikanischen Staaten unter dem
Einfluss der Polarisierungen des »Kalten Krieges« und mit militärtechnischer Unterstüt-
zung durch die regionale Hegemonialmacht, die USA, ihre Sicherheitsapparate in einem
Maße ausbauten und professionalisierten, dass sich lokale Aufstände kaum mehr zu
regionalen oder gar nationalen Erhebungen ausweiten konnten.
Zwar kam es, wie oben angedeutet, auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
noch zu gewaltsamen Umstürzen und Bürgerkriegssituationen, die - wie in Kuba,
Bolivien, Nicaragua und anderen zentralamerikanischen Staaten - stärker den älteren
Formen bewaffneter Konflikte entsprachen. Dennoch zeichnete sich in diesen Jahrzehn-
ten ein Wandel der Konflikt- und Gewaltmuster deutlich ab. Während ländliche Guerilla-
bewegungen in Südamerika in den 60er- und 70er-Jahren von staatlichen Armee- und
Polizeitruppen meist aufgerieben wurden, kam es gleichzeitig zur Ausbildung neuartiger
Formen von politischer Gewalt von unten, wie etwa der südamerikanischen Stadt-
Guerilla, als auch - und insbesondere - zu neuen Erscheinungen von staatlicher und
parastaatlicher Gewalt von oben.
Das Auftreten der Guerilla in Argentinien in den 1960er-Jahren, in einem gesell-
schaftlich als besonders »modern« geltenden Land Lateinamerikas, markierte den
Beginn eines neuen Typus einer politischen Gewaltbewegung von unten, die sich nicht
nur in ihren Kampfformen veränderte, sich z.B. städtischen Aktionsmilieus anpasste,
sondern sich auch in ihrer gesellschaftlichen Zusammensetzung - vornehmlich junge
Angehörige der Mittelschicht (zu einem beträchtlichen Teil Studenten und Priester) -
deutlich vom sozialen Profil älterer lateinamerikanischer Aufstandsbewegungen abhob
(Waldmann 1978).
42 Hans Werner Tobler
Mit dem Ende der Militärregimes in Südamerika in den 1980er-Jahren und der
Beilegung der Bürgerkriege in Zentralamerika sind allerdings auch diese extremen
staatlichen Gewaltsysteme überwunden worden. Überhaupt scheint es, dass die im
engeren Sinne politische Gewalt insgesamt in der Region seit den 1990er-Jahren
tendenziell auf dem Rückzug ist. Heißt dies auch, dass die grundlegenden Ursachen
dieser politischen Gewalt in der Vergangenheit - eine einseitig bestimmte Schichten
begünstigende wirtschaftliche Entwicklung, krasse soziale Ungleichheiten und politi-
sche Marginalisierung breiter Bevölkerungsgruppen - und damit Gewalt überhaupt,
heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ebenfalls am Verschwinden seien?
Ein flüchtiger Blick auf die Gegenwartsrealität Lateinamerikas belehrt uns eines
Besseren. Das Abflauen der politischen Gewalt hat nämlich vermehrt den Blick auf jene
zwar schon früher existierenden, im Laufe der 1990er-Jahre aber immer dominanteren
Formen einer weniger polarisierten, dafür stärker diffusen sozialen Gewalt gelenkt, die
immer mehr Lebensbereiche durchdringt und sich im dramatischen Anstieg der
Kriminalitätsraten und einem allgemeinen Abbau der Sicherheit im Alltag äußert.
Kolumbien, ein lateinamerikanisches Land mit einer außergewöhnlich intensiven, säku-
laren Gewalttradition, mit den gegenwärtig weltweit höchsten Mordraten, ist ein beson-
ders drastisches Beispiel für diese Entwicklung; nicht zufällig hat man hier geradezu eine
»Veralltäglichung der Gewalt« diagnostiziert (Waldmann 1997).
Ein Ende der verbreiteten Gewalt in Lateinamerika lässt sich deshalb auch zu Beginn
des 21. Jahrhunderts nicht feststellen. Die äußeren Formen der Gewalt haben sich zwar
seit dem 19. Jahrhundert stark verändert, aber auch die gegenwärtige, komplexe Gewalt-
problematik bedarf zu ihrer Eindämmung nach wie vor nicht nur tiefgreifender gesell-
schaftlicher Reformen (also eines Abbaus jener Ungleichheiten, die man auch als
»strukturelle« oder »institutionelle« Gewalt bezeichnet hat), sondern vorrangig auch
einer weitreichenden Staatsreform (Waldmann 1994). Letzterer wäre aufgetragen, nicht
nur das historisch nur unvollkommen verwirklichte Gewaltmonopol des Staates zu
vollenden, sondern vor allem auch, im Zuge der gegenwärtigen Demokratisierung,
rechtsstaatliche Garantien für den Einsatz dieser Staatsgewalt sicherzustellen.
Literatur
Zur Problemstellung
Das 19. Jahrhundert lässt sich für Lateinamerika- im Hinblick auf die Beziehung des
Subkontinents zu den »entwickelteren« Nordatlantikstaaten - als eine Periode zwischen
»altem« und »neuem« Imperialismus bezeichnen. Denn: Zu Beginn des Jahrhunderts
konnte Lateinamerika zwar die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft abschütteln
und politisch unabhängig werden; gegen Ende des Jahrhunderts aber war der Subkontinent
in eine neue, diesmal primär wirtschaftliche Abhängigkeit geraten. In diesem »europäi-
schen Jahrhundert« erlebten die lateinamerikanischen Staaten das zunehmende Vordringen
der neueren imperialistischen Mächte Europas, vor allem Großbritanniens, etwas später
und in modifizierter Form auch Frankreichs und Deutschlands, in das durch den erzwun-
genen Rückzug Spaniens hervorgerufene Vakuum; gegen Ende des Jahrhunderts wurden
die europäischen Mächte sodann immer deutlicher von den USA als dem dominanten
Partner in den lateinamerikanischen Außen- und Außenwirtschaftsbeziehungen abgelöst.
Die entwicklungstheoretische Diskussion der letzten Jahrzehnte ist immer wieder
auf die für die Wirtschaftsentwicklung »rückständiger« oder »unterentwickelter« Länder
zentrale Frage nach den Beziehungen zwischen »Entwicklungsland« und Weltwirtschaft
zurückgekehrt. Dabei lautet in der Historiographie eine gängige Annahme, dass europäi-
sches Kapital und europäische Wirtschaftsinteressen vor allem nach den liberalen
46 Walther L. Bernecker
in der zweiten Jahrhunderthälfte setzte sich das liberale Konzept einer »Entwicklung
nach außen« durch; das Ergebnis dieser Modernisierungsstrategie wird sodann an
mehreren Beispielen aufgezeigt: am Handel zwischen Europa und Lateinamerika sowie
am Problem von Kapitalinvestitionen und Auslandsverschuldung.
Lateinamerikanische Entwicklungskonzepte
Insgesamt setzten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die USA nicht nur immer
deutlicher als dominanter Handelspartner der lateinamerikanischen Staaten durch. (Die
Bindung der mexikanischen Exportwirtschaft an die USA beispielsweise betrug in den
1870er-Jahren etwas über 50 Prozent, gegen Ende des Jahrhunderts schon 75 Prozent.)
Zugleich war auch ein Wandel der Außenhandelsstruktur zu registrieren: Im lateiname-
rikanischen Import sank die Bedeutung der Gebrauchsgüter, vor allem der Textilien,
dafür stieg die der Produktionsgüter (Maschinen, Eisenbahnzubehör) und Brennstoffe.
Hatten 1850 noch 63 Prozent der britischen Exporte nach Lateinamerika aus Textilien
bestanden und nur 18 Prozent aus Metallen und Maschinen, so änderte sich diese Relation
bis 1913 drastisch, als nunmehr ein Drittel der britischen Exporte nach Lateinamerika aus
Textilien, 27 Prozent jedoch aus Metallen und Maschinen bestanden (Safford 1974). Die
Umschichtungen in der Warenstruktur spiegeln die wirtschaftlichen Veränderungen
Lateinamerikas - nach dem Bau von Eisenbahnen, der Herausbildung von Exportland-
wirtschaften und der allmählichen Entstehung einheimischer Fertigindustrien - wider.
Als Folge ihrer einseitigen wirtschaftlichen Entwicklung zu Agrar- und Rohstoff-
exportländern waren die lateinamerikanischen Staaten jetzt allerdings von den Einfuhren
ausländischer Industrieprodukte für ihre weitere Erschließung abhängig.
Zum Handel trat die Rolle Europas als Investor. Auch hier spielte Großbritannien zuerst
die Hauptrolle, gefolgt von Frankreich und Deutschland. Weit abgeschlagen waren
Belgien, das in einige Versorgungsbetriebe und Eisenbahnen (in Argentinien und Brasilien)
investierte, oder Holland, das bestimmten Regierungen Darlehen gewährte. Im 19. Jahr-
hundert investierte Großbritannien in Lateinamerika mehr langfristiges Kapital als in
irgendeiner anderen Region. 1914 gingen, Fred Rippy zufolge, 20 Prozent der britischen
Auslandsinvcstitionen, rund eine Milliarde Pfund, nach Lateinamerika (Rippy 1959).
Die meisten lateinamerikanischen Regierungen hatten unmittelbar nach den
Unabhängigkeitskriegen, 1822-1825, am Londoner Kapitalmarkt Auslandsanleihen
aufgenommen, die damals mehr als die Hälfte aller wichtigen Staatsanleihen umfassten,
die an der Londoner Börse emittiert wurden. Der größte Teil dieser Staatsanleihen wurde
zur Rückzahlung von Altschulden aus den Unabhängigkeitskriegen und zum Waffen-
erwerb - somit unproduktiv - verwendet. Da die Nationalwirtschaften und damit die
Staatseinnahmen langsamer als erhofft wuchsen, mussten die meisten lateinamerikani-
schen Länder schon sehr bald (1827) ihren Auslandsschuldendienst einstellen, womit
eine lange Zwischenphase mit zahlreichen Konversionen der Altschulden und nicht
gezahlten Zinsen begann.
Ab etwa 1870 setzte in Lateinamerika eine zweite Phase öffentlicher Auslands-
verschuldung ein. »Die Erlöse dieser zweiten Welle von Staatsanleihen wurden mehrheit-
lich für Transport- und Versorgungsunternehmen, vor allem im Eisenbahnbau, verwendet.
Voraussetzung für die zweite Phase der öffentlichen Auslandsverschuldung war das
Wachstum der Exportökonomien der Länder und deren Integration in den expandierenden
Weltmarkt.« (Liehr 1988:153) Der Höhepunkt dieser zweiten Phase der Auslands-
verschuldung lag in Mexiko zwischen 1885 und 1910 - somit in der Zeit der porfiristischen
Diktatur, in der, Friedrich Katz zufolge, »Mexiko ein geradezu klassisches Beispiel für das
Eindringen des Auslandskapitals in Lateinamerika« bildete (Katz 1964 und 1981) -, in
Kolumbien und Ecuador etwas später. In dieser Phase sahen sich die Briten immer stärker
den konkurrierenden Kapital- und Warenexportinteressen der übrigen Großmächte USA,
52 Walther L. Bernecker
Die Antwort auf die Frage nach den Langzeitwirkungen der lateinamerikanischen
Außenwirtschaftsbeziehungen muss somit differenziert ausfallen. Diese Beziehungen
sollten weder ausschließlich negativ als Hauptverursacher der lateinamerikanischen
Unterentwicklung noch ausschließlich positiv als reine Modernisierungselemente von
ansonsten entwicklungsunfähigen Nationalwirtschaften betrachtet werden.
Neuere Untersuchungen (Coatsworth 1992) haben darauf verwiesen, dass in nahezu
allen Ländern Lateinamerikas gegen Ende des 19. Jahrhunderts die wichtigsten Hinder-
nisse für wirtschaftliches Wachstum überwunden waren. Seither sind die Wachstumsra-
ten des lateinamerikanischen Bruttosozialprodukts in etwa denen der Vereinigten Staaten
vergleichbar. Ein besonders signifikantes Beispiel zum Beleg dieser These ist Mexiko:
Ende des 17. Jahrhunderts lag das mexikanische Pro-Kopf-Einkommen ungefähr gleich
hoch wie das in Großbritannien und den 13 britischen Kolonien in Nordamerika.
54 Walther L. Bernecker
Zwischen 1700 und 1800 entsprach das Wachstum der mexikanischen Wirtschaft in etwa
dem des Bevölkerungswachstums, es konnte aber mit dem Produktivitätsanstieg im
nordatlantischen Raum nicht Schritt halten. Um das Jahr 1800 belief sich das mexikani-
sche Pro-Kopf-Einkommen nur noch auf ungefähr 50 Prozent von dem der USA und auf
ein Drittel von dem Großbritanniens. Zwischen 1800 und 1867 stagnierte die mexikani-
sche Wirtschaft, das Pro-Kopf-Einkommen fiel um mindestens 30 Prozent und betrug
schließlich ein Achtel dessen der Vereinigten Staaten. Auf diesem Niveau ist es seither,
mit leichten Schwankungen, geblieben. Das aber bedeutet: Zwischen dem letzten Drittel
des 19. und dem des 20. Jahrhunderts wuchs die mexikanische Wirtschaft in etwa im
gleichen Rhythmus wie die der USA. Eine ähnliche Entwicklung durchliefen auch die
meisten andinen Länder. Wenn nach den Gründen für die Unterentwicklung Lateiname-
rikas gefragt wird, darf somit nicht so sehr auf das späte 19. und das 20. Jahrhundert
geschaut werden, vielmehr müssen die Gründe in der Kolonialzeit und in den ersten
Jahrzehnten der Unabhängigkeit bis ungefähr Mitte des 19. Jahrhunderts gesucht werden.
Das Dependenzmodell geht von der Annahme aus, dass Lateinamerika sich nahezu
ausschließlich auf die Produktion von Primärgütern für den Export konzentrierte und
diese Konzentration zu einem Einkommensverlust führte, der vermieden hätte werden
können, wenn die lateinamerikanischen Wirtschaften eine größere Fähigkeit zu produk-
tiven Aktivitäten entwickelt hätten. Diese dependcnztheoretische Annahme aber lässt
sich nicht beweisen. Vielmehr stiegen die Preise für viele exportierte Primärprodukte
Lateinamerikas im Verhältnis zu den Manufakturexporten Europas zwischen der Mitte
des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts an, d. h. in einer Zeit, in der Lateinamerika in
der Entwicklung hintan blieb. Die einheimischen Märkte Lateinamerikas hatten somit
nicht die Dynamik der auswärtigen Märkte und konnten nicht an deren Stelle treten. Die
Struktur der außenwirtschaftlichen Beziehungen Lateinamerikas hat somit das Wachs-
tum seiner Wirtschaft nicht entscheidend behindert, die terms of trade legen eher die
entgegengesetzte Hypothese nahe: Lateinamerika hätte von seiner Außenwirtschaft
profitieren können, wenn es in der Lage gewesen wäre, seine Exporte zu expandieren und
die wirtschaftlichen Bindungen an den Nordatlantikraum zu intensivieren. Das wirt-
schaftliche Wachstum, das vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte,
korrelierte außerordentlich mit den außenwirtschaftlichen Bindungen Lateinamerikas.
Die Annahme der Dependenztheoretiker, die außenwirtschaftlichen Beziehungen hätten
negative Auswirkungen auf die Entwicklung Lateinamerikas gehabt, dürfte falsch sein.
Die Stagnation des Subkontinents lässt sich vielmehr mit den prä-modernen institutio-
nellen Strukturen erklären, deren Wirkung auf die produktive Arbeit durchwegs negativ
war. Es fehlte an Regierungen, welche die bürgerlichen Prinzipien gleicher Rechte
durchgesetzt hätten, es fehlte ein Rechtssystem, das das Privateigentum und geltende
Verträge geschützt hätte, schließlich hätte es einer Politik zur Förderung von Investoren
bedurft. Diese Bedingungen, die im »Norden« vorhanden waren, führten dort zu allgemei-
nem Fortschritt, während sie im »Süden« weitestgehend fehlten. Die Unabhängigkeit zu
Beginn des 19. Jahrhunderts bedeutete für Lateinamerika vor allem eine Änderung des
völkerrechtlichen Status, nicht sosehr eine Änderung der Institutionen. Die notwendigen
Reformen im institutionellen und wirtschaftlichen Bereich wurden erst nach Jahrzehnten
heftiger Bürgerkriege in Angriff genommen. Diese gesetzgeberischen Veränderungen
waren von Land zu Land ähnlich: Es verschwanden die Kasten- und Sklavensysteme
Die wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas in der Neuzeit 55
Zur Reduktion des Export- und Importvolumens kam die globale Verschlechterung
der externen terms of trade. Allerdings muss zwischen Ländern und Exportprodukten
differenziert werden: Die Ausfuhr von argentinischem Weizen, brasilianischer Baum-
wolle, venezolanischem Erdöl, peruanischem Gold und mexikanischem Silber erholte
sich rascher als der Export von chilenischem Kupfer, brasilianischem Zucker oder
zentralamerikanischem Kaffee. Jedoch blieben selbst in den günstigeren Fällen die
Weltmarktperspektiven wenig verheißungsvoll, da die Industriestaaten inzwischen pro-
tektionistische Zollmauern errichtet und diskriminierende Handelsabkommen geschlos-
sen hatten, was den Marktzugang für lateinamerikanische Produkte erheblich erschwerte.
Im Verlauf der Weltwirtschaftskrise erfuhren nahezu alle lateinamerikanischen
Staaten auch eine drastische Verschlechterung ihrer Zahlungsbilanz. 1929 verließen
Argentinien und Uruguay, in den folgenden Jahren zahlreiche weitere Staaten den
Goldstandard. Der Wert der Währungen Boliviens, Chiles, Uruguays fiel bis 1933 um
mehr als 50 Prozent. Viele lateinamerikanische Staaten verloren einen Großteil ihrer
Gold- und Devisenreserven, was zur Reduktion oder Einstellung der Schuldcnzahlungen
ins Ausland führte. Ausländische Kredite wurden abgezogen, neue Anleihen konnten
nicht aufgelegt werden, die meisten Regierungen führten (1931) die Devisenkontrolle zur
Erleichterung der Zahlungsbilanzprobleme ein.
Die im Gefolge der Weltwirtschaftskrise erfolgenden Maßnahmen stellten keine
gezielte Abkoppelung aus der Weltwirtschaft dar; es waren vielmehr pragmatische
Notstandsmaßnahmen, die allerdings zu einer wirtschaftspolitischen und entwicklungs-
strategischen Neuorientierung vieler lateinamerikanischer Länder in Richtung einer
verstärkten »Entwicklung nach innen« führten.
Die Erholung von der Wirtschaftsdepression ab 1932 hing eng mit dem Aufschwung
des Außensektors zusammen. Der erneute Anstieg der Exporte und die damit einherge-
hende Exportkapazität bedeuteten aber nicht unbedingt eine Zunahme des Umfangs des
Außenhandels. Staatseinnahmen aus Handelszöllen blieben weiterhin relativ begrenzt,
was in allen Staaten zu Steuerreformen und einer aktiveren Steuerpolitik führte. Ein
leichter Trend in Richtung auf direkte Steuern und die Einführung zahlreicher indirekter
Steuern sollten den Ausgleich bewirken. Gegen Ende der 193()er-Jahre war die direkte
Korrelation zwischen dem Wert des Außenhandels und den Staatseinnahmen deutlich
gelockert worden, damit entbehrte das außenorientierte Wachstumsmodell einer wichti-
gen Grundlage.
Die nachhaltige Erschütterung der zentralen Exportsektoren während der Weltwirt-
schaftskrise hatte weitreichende Auswirkungen auf die lateinamerikanischen Volkswirt-
schaften und löste schließlich starke Impulse für eine importsubstituierende Industriali-
sierung aus, welche den allmählichen Übergang von einem Modell des »Wachstums nach
außen« zu einer Strategie der verstärkten »Entwicklung nach innen« markiert (Bulmer-
Thomas 1994).
Gestützt auf eine starke Inlandsnachfrage, die durch die Erholung der Exportwirt-
schaft und zum Teil durch ein keynesianisch inspiriertes staatliches deficit spending
angeregt wurde, setzte vor allem in jenen Ländern, die bereits über eine industrielle Basis
verfügten, ein erhebliches Wachstum der Industrieproduktion ein. Argentinien erhöhte
seine Industrieproduktion zwischen 1932 und 1939 um jährlich mehr als 7 Prozent, einen
ähnlichen Wert verzeichneten Brasilien und Chile, während Mexiko und Kolumbien gar
58 Walther L. Bernecker
jährliche Wachstumsraten von mehr als 10 Prozent erzielten. Außerdem erfuhr die
Industrie in den 1930er-Jahren eine deutliche Diversifizierung. Zwar blieben Textil- und
Nahrungsmittelindustrien die wichtigsten Branchen, aber neue Industriezweige wie die
Metallverarbeitung, die Chemie- und Papierindustrie sowie die Herstellung dauerhafter
Konsumgüter konnten sich nun stärker entwickeln.
Bei diesem industriewirtschaftlichen Aufschwung spielte der Staat eine nicht unwe-
sentliche Rolle, indem er einerseits durch seine Währungs- und Zollpolitik besonders
günstige Voraussetzungen für eine auf den Binnenmarkt ausgerichtete Industrieproduk-
tion schuf und andererseits selbst unmittelbar als Unternehmer in Aktion trat, wie im Falle
der 1938 nationalisierten Erdölindustrie Mexikos.
Die in den 1930er-Jahren eingeleitete Wirtschaftsentwicklung wurde durch den
Zweiten Weltkrieg unterbrochen, der nach dem Ersten Weltkrieg und den Auswirkungen
der Weltwirtschaftskrise den dritten großen externen Schock für die lateinamerikanische
Wirtschaft im 20. Jahrhundert bedeutete. In Fortsetzung der Entwicklung, die bereits in
den 30er-Jahren eingesetzt hatte, kam es in Lateinamerika während des Kriegs zu einer
verstärkten Wirtschaftskooperation zwischen dem Staat und der Privatwirtschaft; dieser
Trend sollte das Kriegsende überleben und zu einem wichtigen Fundament der Nach-
kriegsindustrialisierung werden.
Der Zweite Weltkrieg verschob in ganz entscheidender Weise das wirtschaftliche
Gravitationszentrum nach den USA. Die Außenhandelsströme Lateinamerikas richteten
sich nun immer stärker auf die Vereinigten Staaten aus. Während in der zweiten Hälfte
der 1920er-Jahre erst 43 Prozent des lateinamerikanischen Außenhandels auf die USA
entfallen waren, erreichte dieser Wert 1950 bereits 56 Prozent.
Nach dem Krieg verlor Lateinamerika für die USA an politischer Bedeutung. Vor
diesem Hintergrund entstand jene neue Wirtschaftsdoktrin, die eine radikale Abkehr vom
bisherigen außenorientierten Wirtschaftsmodell postulierte. Sprachrohr dieser neuen
Wirtschaftsstrategie wurde die 1948 als Unterorganisation der UNO gegründete »Wirt-
schaftskommission für Lateinamerika« CEPAL (Comision Econömica para America
Latina), die in den späten 1940er- und 1950er-Jahren eine aus den spezifischen Erfahrun-
gen »peripherer« Länder abgeleitete Wirtschaftstheorie entwickelte, die die Notwendig-
keit der lateinamerikanischen Industrialisierungsstrategie begründete. Während die
vorherrschende neoklassische Theorie von der Vorstellung einer für beide Seiten des
weltwirtschaftlichen Systems vorteilhaften internationalen Arbeitsteilung ausging, wies
CEPAL-Generalsekretär Raul Prebisch diese optimistische Erwartung für die Entwick-
lungsländer zurück. Er stützte sich vor allem auf die für die rohstoffexportierenden
Länder nachteiligen, weil angeblich längerfristig fallenden realen Austauschverhältnisse,
die terms of trade. Die Schwäche eines primär auf Rohstoffexporte ausgerichteten
Wirtschaftsmodells lag nach Prebisch nicht nur in dessen extremer Anfälligkeit gegen-
über negativen äußeren Einflüssen, sondern vor allem in der asymmetrischen Verteilung
der Wachstums- und Entwicklungseffekte dieses herkömmlichen Systems internationa-
ler Arbeitsteilung, also in der Förderung der industriellen Zentren auf Kosten der
peripheren Rohstofflieferanten. Überwunden werden konnte diese Form wirtschaftlicher
Abhängigkeit und blockierter Entwicklung nur durch eine Industrialisierung, die wesent-
lich durch den Staat gefördert und gelenkt wurde, also durch eine entschlossene Politik
der »Entwicklung nach innen«.
Die wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas in der Neuzeit 59
Zwischen 1950 und dem Beginn der lateinamerikanischen Wirtschaftskrise der 1980er-
Jahre erlebte der Subkontinent ein starkes Wachstum des industriellen Sektors mit durch-
schnittlichen jährlichen Zuwachsraten von 6,1 Prozent. Im Unterschied zur Zeit vor 1930
war jetzt der Industriesektor der wichtigste Wachstumsmotor. Gegenüber der Zeit vor 1930
kann man geradezu von einer Umkehr des Wachstumsmodells sprechen, indem der
Großteil der verfügbaren wirtschaftlichen Ressourcen in die Industrie geleitet wurde,
während der traditionell bevorzugte Exportsektor nun eine starke Vernachlässigung erfuhr.
Tempo und Umfang der Industrialisierung der folgenden Jahrzehnte waren in den
einzelnen Sparten bzw. Regionen recht unterschiedlich (Ffrench-Davis/Munoz/Palma
1994). Das stärkste industrielle Wachstum wiesen in den drei Jahrzehnten nach 1950 die
beiden großen Staaten Brasilien und Mexiko auf; in den kleineren Staaten, etwa in
Zcntralamerika, setzte die Industrialisierung erst später ein. Ende der 1950er- und Anfang
der 1960er-Jahre erlebte die eigentliche Importsubstitution ihren Höhepunkt; die Fortset-
zung der industriellen Wachstumsdynamik setzte eine verstärkte Ausrichtung auf den
Export von Industriegütern und den Ausbau der eigenen Kapitalgüterindustrie voraus.
In den 1960er-Jahren verlor die bis dahin vorherrschende lateinamerikanische
Wachstumsstrategie, die importsubstituierende Industrialisierung, zunehmend ihre an-
fängliche Dynamik. Neben dem Aufbau einer eigenen Kapitalgüterindustrie wurde vor
allem in der lateinamerikanischen Wirtschaftsintegration ein Mittel zur Ausdehnung der
Märkte und damit zur Aufrechterhaltung der industriellen Wachstumsdynamik gesucht.
Tatsächlich waren seit den 1960er-Jahren zahlreiche regionale Integralionsbestrebungen
zu beobachten (Mols 1981), die insgesamt aber keinen starken und nachhaltigen Wachs-
tumsschub auszulösen vermochten. Dies bewirkte in den 1970er-Jahren eine allmähliche
Abwendung vom Modell der Importsubstitution und verstärkte Anstrengungen, im
Ausland neue Absatzmärkte zu erschließen.
Literatur
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nischer Staat im 19. Jahrhundert. Stuttgart
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(Hg.): The Cambridge History of Latin America, Bd. 6/1. Cambridge: 65-115
Bulmer-Thomas, Victor (2003): The Economic History of Latin America since Independence.
Cambridge
Peter Fleer
Mangel im Überfluss
Agrarstruktur und ländlicher Raum in Lateinamerika
seit dem späten 19. Jahrhundert
In Mexiko, das diesen Zusammenhang beispielhaft illustriert, konnten zwar die Liberalen
1855 vorerst die Macht ergreifen und zwei Jahre später eine moderne Verfassung
erlassen, erst mit der Stabilisierung der zentralen Staatsmacht ab 1876 unter der Diktatur
von Porfirio Dfaz erfasste die wirtschaftliche Dynamisierung doch alle Bereiche der
Landwirtschaft. Die Liberalen hatten sich am Vorbild der ländlichen Entwicklung in den
USA orientiert und davon geträumt, die Produktivität der mexikanischen Landwirtschaft
auf der Basis von eigenständigen kleineren und mittleren marktorientierten Landwirten,
Mangel im Überfluss 69
südlichen Hochlandes, sondern es setzte sich die »Revolution des Nordens« durch, deren
Anführer aus den aufstrebenden Mittelschichten stammten und die ihre neuen Machtposi-
tionen unter anderem dazu nutzten, selbst zu wohlhabenden Großgrundbesitzern aufzustei-
gen. Die in den 30er-Jahren von Läzaro Cärdenas durchgeführte umfassende Agrarreform
besiegelte zwar das endgültige Ende der traditionellen porfiristischen hacienda und
verschaffte einer beachtlichen Zahl von verarmten Bauern und Taglöhnern Zugang zu
Land. Die nach 1940 verfolgte Wirtschaftspolitik, deren Hauptziel die rasche Industriali-
sierung Mexikos war, maß der Weiterführung der cardenistisehen Agrarreform jedoch
keine Priorität mehr bei. Die Produktion des Agrarsektors sollte im Gegenteil auf der
Grundlage kapitalistischer Mittel- und Großbetriebe nachhaltig gesteigert werden. Als
Folge dieser Neuorientierung kam es zu einem eigentlichen neolatifundismo, der das
ländliche Mexiko erneut in technologisch rückständige Klein- und Kleinstbetriebe einer-
seits und Großbetriebe mit kapitalintensiven modernen Produktionsmethoden andererseits
spaltete (Stavenhagen 1970:233-235). Das starke Bevölkerungswachstum mit jährlichen
Wachstumsraten von über 3 Prozent während der 50er- und 60er-Jahre verschärfte die
Situation in der Kleinlandwirtschaft zusätzlich und führte zu wachsender Unterbeschäf-
tigung und Proletarisierung (Chevalier 1993:131). Womit der Agrarsektor auch im
nachrevolutionären Mexiko bei allen Unterschieden die für Lateinamerika typischen
Grundzüge hervorbrachte: krasse Einkommens- und Reichtumsunterschiede, Unterbe-
schäftigung und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Verarmung und Landflucht.
Natürlich kann es sich bei einem solchen Befund nur um eine grobe Verallgemeine-
rung handeln. Der ländliche Raum Lateinamerikas zeichnet sich nicht durch Uniformität,
sondern durch strukturelle Heterogenität und historische Dynamik aus. Besonders
eindrücklich kam dies in Argentinien zum Ausdruck. Ähnlich der frontie r-Situatkm in
den USA und Kanada lockten in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Argentinien jenseits
der etablierten Siedlungsgebiete um Buenos Aires die fruchtbaren Weiten der Pampas.
Obschon diese Gebiete den Lebensraum für nomadisierende Indianerstämme darstellten,
sahen die Argentinier darin unbewohntes freies Land, das es zu besiedeln galt. Der
großangelegte Feldzug von 1879, der die militärische Niederwerfung und fast vollstän-
dige Ausrottung der indianischen Bevölkerung bedeutete, wurde denn auch verharmlo-
send als Conquista del Desierto (Eroberung der Wüste) bezeichnet. Der Eroberungsfeld-
zug vergrößerte das argentinische Territorium fast schlagartig um etwa 350.000 km2 und
löste eine beispiellose wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik aus (Giberti
1981:157). Hatte um 1865 die gesamte bebaute Ackerfläche Argentiniens kaum mehr als
1.000 km2 betragen, umfasste sie am Ende des Jahrhunderts mehr als 200.000 km2 (Taylor
1948:141). Bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs nahm der Wert der argentinischen
Agrarexporte um mehr als das Fünffache zu. Dabei handelte es sich nicht um einen
kontinuierlichen Wachstumsprozess, sondern um einen dynamischen sozio-ökonomi-
schen Wandel, mit dem eine Diversifizierung der Produktionsstruktur einherging (Zeberio
1999:293-362). Die argentinische Landwirtschaft reagierte jeweils rasch auf veränderte
Konjunkturen auf den Weltmärkten und neue Absatzmöglichkeiten. Bereits vor der
Conquista del Desierto hatte die Schafzucht infolge hoher Nachfrage nach Wolle die
traditionelle Viehzucht im Hinterland von Buenos Aires in die Randgebiete derfrontier-
Regionen verdrängt (Sabato 1990:26). Mitte der 1860er-Jahre weideten 40 Millionen
Schafe auf den Pampas, Wolle war zum wichtigsten Exportprodukt aufgestiegen.
Mangel im Überfluss 71
Exportsteuern an. Zusammen mit den erhöhten Schutzzöllen, die die Importe verteuerten,
bedeutete diese Maßnahme empfindliche Gewinneinbußen für den Agrarexportsektor.
Insgesamt nahm das politische Gewicht des Agrarsektors ab. In den erfolgreich industria-
lisierenden Ländern dominierten nun die Interessen der Industrie die Politik. Auf der
anderen Seite breiteten sich Kommerzialisierung und kapitalistische Produktionsweisen
durch den weiteren Ausbau der Verkehrsverbindungen im kleinbäuerlich geprägten
Subsistenzsektor immer weiter aus. Diese Entwicklung erfolgte vor dem Hintergrund
eines gewandelten Verständnisses von der Rolle der Landwirtschaft. Unter den Prämis-
sen der Importsubstitution wurde diese nicht mehr als Entwicklungsmotor wahrgenom-
men, sondern es wurde ihr nun eine zudienende Rolle als Lieferant von günstigen
Nahrungsmitteln und Arbeitskräften für die aufstrebenden urbanen Industriezentren
zugedacht (Long/Roberts 1994:326). Dies schlug sich unmittelbar in einem Rückgang
des agrarischen Anteils an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung nieder. Hatte etwa
in Mexiko der Anteil des Agrarsektors am Bruttoinlandsprodukt 1913 noch 24 Prozent
ausgemacht, so betrug dieser Wert 1990 nur noch gut 8 Prozent (Bulmer-Thomas
1994:10,122). Selbst in kleineren, stärker agrarisch geprägten Ländern war dieser Trend
festzustellen. In Nicaragua sank der Wert von knapp 56 Prozent (1920) auf unter 32
Prozent (1990). Als Folge dieser Entwicklung ging der Anteil der in der Landwirtschaft
Beschäftigten markant zurück. In ganz Lateinamerika reduzierte sich dieser Wert
zwischen 1950 und 1980 von knapp 54 auf weniger als 32 Prozent. Ein besonders
dramatisches Beispiel der Beschleunigung dieses säkularen Trends ist Mexiko. Zwi-
schen 1913 und 1950 hatte der Anteil der agrarischen Arbeitskräfte lediglich von knapp
64 auf gut 60 Prozent abgenommen. Bis 1990 halbierte sich dieser Wert auf weniger als
28 Prozent (Bulmer-Thomas 1994:122).
Als das Modell der importsubstituierenden Industrialisierung in den 60er- und 70er-
Jahren zunehmend an Grenzen stieß, begann man, der Exportlandwirtschaft politisch
wieder mehr Beachtung zu schenken. Die Finanzkrise zu Beginn der 80er-Jahre und die
Orientierung der Wirtschaftspolitik an den vorherrschenden neoliberalen Vorstellungen
dieser Jahre verhinderten aber, dass sich die Staaten in größerem Umfang aktiv im
Agrarsektor engagierten. Dieser hatte sich vor allem seit den 60cr-Jahren infolge von
veränderten technischen und betriebswirtschaftlichen Rahmenbedingungen beschleu-
nigt gewandelt. Im Zuge der »Grünen Revolution« erhöhte sich in den marktorientierten
Sektoren unter Einsatz von Maschinen, Kunstdünger, chemischen Pflanzenschutzmitteln
und modernen Anbaumethoden die Produktivität markant. Zugleich nahm der Anteil von
»neuen« Produktionszweigen wie Fleisch, Gemüse, Früchte, Schnittblumen und Getrei-
de für die wachsende städtische Bevölkerung im Inland oder für den Export ständig zu.
Die Erzeugnisse wurden nicht mehr hauptsächlich direkt an die Endverbraucher, sondern
an weiterverarbeitende Unternehmen abgesetzt. Die kommerzielle Landwirtschaft wur-
de dadurch zunehmend Teil einer hochtechnisierten Agro-Industrie, deren richtungwei-
sende Entscheidungen in den Sitzungszimmern multinationaler Konzerne gefällt wur-
den. In scheinbarem Gegensatz dazu stand in Ländern mit bedeutenden indigenen
Bevölkerungsgruppen das Überdauern eines kleinbäuerlichen Subsistenzsektors. Des-
sen Existenz ist jedoch weniger Ausdruck von traditionellen Beharrungskräften als von
risikominimierenden Überlebensstrategien des Teils der ländlichen Bevölkerung, der am
stärksten von Marginalisierung, Armut und ökonomischer Unsicherheit betroffen ist.
74 Peter Fleer
die Ernte mit dem Grundeigentümer meist hälftig teilen, aber auch ungünstigere Tei-
lungsverhältnisse waren nicht unbekannt. Im Falle des colonato, das im nächsten
Abschnitt eingehender zur Sprache kommen wird, beruhte die Nutzung einer Pacht-
parzelle auf der Arbeit, die der Pächter für den Eigentümer erbrachte. So unterschiedlich
die konkreten Ausprägungen der Pachtverhältnisse waren, blieb ihnen doch gemeinsam,
dass sie den Pächtern nur in den seltensten Fällen ermöglichten, sich eine eigene solide
Existenz aufzubauen und zu mittleren oder gar größeren Grundeigentümern aufzustei-
gen. Meist waren die Pachtverträge zu kurzfristig ausgelegt, als dass sie den Pächtern
Anreize geboten hätten, Maßnahmen zur dauerhaften Verbesserung des Bodens zu
ergreifen. Häufig reichten die Ernteerträge kaum für die Pachtabgaben und die Selbstver-
sorgung aus, und die Pächter verschuldeten sich gegenüber den Grundeigentümern.
höheren als den Marktpreisen verkauft. Der Lohn wurde in Form von Waren, und wenn
noch etwas übrig blieb, der Rest in Münzen der geltenden Währung ausgezahlt. Meist
steckte der peön tief in Schulden; diese gingen von den Eltern auf die Kinder über, ein
besonderer Vorteil für den patrön, der sie auf diese Weise fest an seine Hazienda band«
(Beyhaut 2000:127).
Dieses »klassische« populäre Bild der hacienda ist durch zahlreiche empirische
Studien in verschiedener Hinsicht korrigiert und ergänzt worden (Florescano 1975;
Siebenmann 1979; Nickel 1978). So erreichten nicht alle hacendados den Reichtum, um
sich den geschilderten luxuriösen Lebensstil zu erlauben. Die meisten haciendas boten
auch für die Herrschaft nur einfache ländliche Lebensbedingungen (Bauer 1986:157f).
Insbesondere die Vorstellung eines autarken, quasi feudalen Gutsbetriebs erwies sich als
irreführend. Es hat sich anhand der empirischen Untersuchungen herausgestellt, dass die
haciendas in vielfältige und dynamische Beziehungen mit lokalen und regionalen
Märkten eingebunden waren, wo sie einen Teil ihrer Produktion verkauften und sich mit
Waren und Gerätschaften versorgten. Dass sie eigene Schmieden, Zimmereien und
Sattlerwerkstätten unterhielten, war mehr den großen Distanzen zu den nächstgelegenen
Ortschaften und dem Vorhandensein einer genügend großen Zahl ansässiger Knechte
geschuldet als herrschaftlichen Autarkieprinzipien. Auch der Befund, dass es einen
offenen dynamischen Markt für hacienda-Lund gab und die nicht selten mit hohen
Krediten belehnten Güter häufig die Hand wechselten, aufgeteilt oder mit anderen
haciendas zusammengeführt wurden, passt nicht ins »klassische« Bild. Die hacendados
entsprachen nicht den bloß an Sozialprestige interessierten Feudalherren, sondern waren
durchaus profitorientierte Unternehmer, die die gegebenen Marktbedingungen zum
eigenen Vorteil auszunutzen suchten. Viele von ihnen investierten auch in andere
Wirtschaftszweige, wie etwa den Bergbau oder den Handel. Der Absentismus der
hacendados, der vielfach als Indiz für deren Desinteresse an Profit und Akkumulation
gedeutet wurde, machte unter diesen Gesichtspunkten wirtschaftlich Sinn. In den Städten
konnten sie Märkte und Finanzverbindungen besser bewirtschaften als auf den abgele-
genen Gütern. Zudem waren sie weniger unmittelbar in Arbeitskonflikte auf ihren Gütern
involviert, was ihnen erlaubte, sich im Falle einer Eskalation zumindest dem Anschein
nach als Vermittler hervorzutun (Feder 1973:1390-
Eric R. Wolf (1971) sah den Archetyp des porfiristischen hacendado in der Person
von Luis Terrazas verkörpert, der im nördlichen Gliedstaat Chihuahua zusammen mit
seinem Schwiegerson Enrique Creel ein wirtschaftliches Familienimperium aufgebaut
hatte, das weit über den Besitz von fünfzig haciendas mit insgesamt über zweieinhalb
Millionen Hektar Land hinausging. Der Terrazas-Creel-Clan kontrollierte nahezu alle
Wirtschaftszweige Chihuahuas von der Textil- und Kleiderproduktion über das Trans-
port- und Kommunikationswesen bis zu Bergbau und Erdölförderung. Zugleich mono-
polisierte der Familienclan die politische Macht in Chihuahua und übte auf nationaler
Ebene großen Einfluss aus (Wassermann 1984). Die Konzentration von wirtschaftlicher,
politischer und informell-sozialer Macht machte Terrazas zu einem der mächtigsten
regionalen Machthaber Mexikos.
Der Terrazas-Creel-Clan fungierte einerseits als Schaltstelle zwischen den ausländi-
schen Investoren und der staatlichen Bürokratie, andererseits spielte er eine wichtige
Rolle als Vermittler zwischen der sich rasch modernisierenden urbanen Gesellschaft und
Mangel im Überfluss 77
United Fruit Company (UFCO), einer der größten Bananenkonzerne, der nicht nur die
Produktion in Costa Rica, Guatemala und Honduras kontrollierte, sondern auch großen
Einfluss auf die Politik dieser Länder ausübte (Posas 1993:113-132). Der Ausdruck
»Bananenrepublik« geht auf diese Dominanz ausländischer Konzerne gegenüber schwa-
chen und korrupten Staaten zurück.
In den Bananenplantagen des zentralamerikanischen Tieflandes arbeitete vornehm-
lich die dort ansässige mestizische und schwarze Bevölkerung. Es kam aber auch vor,
dass die Unternehmen Arbeitskräfte von den karibischen Inseln anheuerten. Mehrheitlich
handelte es sich um alleinstehende junge Männer, für die die Arbeit auf den Plantagen nur
eine vorübergehende Beschäftigung darstellte. Sie wurden auf Akkordbasis entlohnt und
waren einer strengen Arbeitsdisziplin unterworfen. Sie lebten auf den Plantagen in
Gemeinschaftsunterkünften, die vom Unternehmen bereitgestellt wurden, und kauften
im unternehmenseigenen Laden ein. Die Bananenplantagen stellten einen eigentlichen
Staat im Staate dar. Sie nahmen zentrale öffentliche Aufgaben wahr und verfügten über
eigene Polizeikräfte und Spitäler. Letzteren kam besondere Bedeutung zu, da sich die in
den Tieflandzonen grassierenden tropischen Krankheiten wie Malaria, Ruhr und Gelb-
fieber infolge der beengten und unhygienischen Wohn- und Lebensverhältnisse leicht
ausbreiten konnten. Die unmenschlichen, von Gewalt geprägten Arbeits- und Lebensbe-
dingungen haben in zahlreichen literarischen Werken ihren Niederschlag gefunden.
Die ethnischen Unterschiede zwischen mestizischen und schwarzen Arbeitern
unterschiedlicher kultureller Herkunft und die konsequente Repression verhinderten die
Bildung von wirksamen Arbeiterorganisationen. So begannen sich die Arbeits- und
Lebensbedingungen auf den Plantagen erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf Druck der
öffentlichen Meinung in den USA und der einsetzenden Sozialgesetzgebung der zentral-
amerikanischen Regierungen zu verbessern. Zum Teil gelang es den Konzernen, diesen
Anforderungen auszuweichen, indem sie die Produktion auslagerten und ihre Plantagen
aufteilten und an eigenständige Bauern verpachteten oder verkauften. Diese produzier-
ten, das unternehmerische Risiko nun selbst tragend, auf Kontraktbasis für die Bananen-
konzerne, von denen sie in Bezug auf Absatz, Transport und Kredite abhängig blieben.
Zum Mittel der Produktionsauslagerung griffen die Konzerne insbesondere auch dann,
wenn sich abzuzeichnen begann, dass die Böden ausgelaugt waren und die Produktivität
sank. Tatsächlich wirkten sich die agroindustriellen Monokulturen auf das sensible
Gleichgewicht der tropischen Ökologie verheerend aus. Zogen sich die Bananen-
konzerne aus einer Region zurück, hinterließen sie eine zerstörte Umwelt, entwurzelte
Gesellschaften und eine unbrauchbar gewordene Infrastruktur.
Schon früh wurden die Bananenplantagen aus entwicklungspolitischer Sicht als
»Enklavenwirtschaften« apostrophiert, die in den betroffenen Ländern und Regionen
keine - der von Vertretern der Modernisierungstheorie behaupteten - Entwicklungs-
impulse auszulösen vermochten, weil sie von der regionalen und nationalen Wirtschaft
vollständig abgeschottet waren. Diese Sichtweise ist seit den 1980er-Jahren aufgrund
empirischer Studien relativiert worden. Ohne die insgesamt negativen oder zumindest
wenig nachhaltigen Auswirkungen auf die Entwicklung der betroffenen Länder zu
leugnen, konnten diese Studien nachweisen, dass von einer weitgehenden oder gar
vollständigen Abschottung der »Enklave« nicht die Rede sein konnte. Vielmehr bestan-
den eine ganze Reihe von »linkages« und »leakages« zwischen der »Enklave« und der
Mangel im Überfluss 79
regionalen und nationalen Wirtschaft (Viales Hurtado 2006:99). Inwiefern sich diese auf
die nationale Entwicklung auswirkten, ist jeweils im konkreten Fall zu untersuchen.
Deutlich andere Züge als die Bananenplantagen im dünnbesiedelten tropischen
Tiefland wiesen die Plantagen in den dichter besiedelten gemäßigten und subtropischen
Regionen auf. Ihr janusköpfiger Charakter verwischte die Unterschiede zum ideal-
typischen Bild der traditionellen hacienda. Auf der einen Seite waren diese Betriebe, die
sich meist in der Hand von einheimischen oder eingewanderten Mitgliedern der nationa-
len Eliten befanden, kapitalistische gewinnoptimierende Unternehmen, auf der anderen
Seite organisierten sie die Produktion auf der Basis von vor-kapitalistischen Arbeits-
beziehungen, die extra-ökonomische Zwangsarbeit und klientelistische Abhängigkeits-
beziehungen mit einschlössen. Diesem Typus sind auch die morelensischen Zucker-
haciendas zuzuordnen, deren Landkonflikte mit den kleinbäuerlichen Dorfgemeinschaf-
ten zum Auslöser des zapatistischen Bauernaufstandes von 1910 wurden (Womack
1974). Die zahlreichen Bauernerhebungen während der mexikanischen Revolution
leiteten in diesem Land die erste große Agrarreform Lateinamerikas ein.
1954) die gesetzliche Grundlage für die Enteignung und Umverteilung von ungenügend
oder nicht genutzten Ländereien von Großgrundbesitzern. Zu den Hauptbetroffenen
dieses Gesetzes zählte die UFCO, deren große Ländereien enteignet und verteilt werden
sollten. Schon vor Inangriffnahme der Landreform hatten die USA die Arbenz-Regie-
rung beargwöhnt, weil man glaubte, das guatemaltekische Regime sei kommunistisch
unterwandert. Unter dem Einfluss der UFCO billigte die US-Regierung 1954 den
gewaltsamen Sturz von Arbenz durch eine vom CIA unterstützte kleine Gruppe reaktionärer
Militärs. Unter den folgenden Militärregimes wurden die Reformen wieder rückgängig
gemacht. Die extrem ungleichen Landbesitzverhältnisse, die damit fortgeschrieben
wurden, stellten einen wichtigen Faktor im über 30 Jahre dauernden Bürgerkrieg in
Guatemala dar.
Im Gegensatz zur guatemaltekischen konnte die ebenfalls 1952 beginnende bolivia-
nische Landreform auf die wohlwollende Unterstützung der USA zählen, da sich die
Regierung jeglicher kommunistischer Rhetorik enthielt und keine unmittelbaren US-
amerikanischen Interessen betroffen waren. Ausgelöst wurde die Reform durch einen
Machtkampf zwischen dem populistischen Movimiento Nacionalista Revolutionärin
(MNR) und der republikanischen Partei der Oligarchie, die ihre Wahlniederlage nicht
anerkennen wollte. Der MNR löste daraufhin mit Unterstützung von Teilen der Polizei
und des Militärs einen bewaffneten Umsturzversuch aus, dem sich alsbald in unvorher-
gesehenem Ausmaß Bergarbeiter und Bauern anschlössen. Was als bloßer Aufstand zur
Durchsetzung eines legitimen Machtanspruchs begonnen hatte, endete als eigentliche
Revolution, in deren Verlauf es auch zu spontanen Landbesetzungen kam. Die neue
MNR-Regierung verstaatlichte die großen Bergwerke und verabschiedete ein Gesetz zur
Agrarreform, das in erster Linie dazu diente, die bereits erfolgten Landbesetzungen zu
sanktionieren (De la Pena 1994:424^27).
In den anderen Ländern hingen die in den 60er-Jahren unternommenen Agrarrefor-
men mit der Kubanischen Revolution von 1959, die zu einer raschen Kollektivierung der
kubanischen Landwirtschaft führte (Gutelman 1967), und der als Antwort darauf von der
Kennedy-Regierung initiierten »Allianz für den Fortschritt« zusammen. Hauptziel dieser
Programme, die in begrenzten Agrarreformen ein Mittel zur Entschärfung der gespann-
ten sozialen Lage auf dem Land sahen, war die Modernisierung der Landwirtschaft
(Long/Roberts 1994:360-374). Sozialpolitische Ziele verfolgten sie nur insofern, als sie
in Ergänzung der intensivierten militärischen Guerillabekämpfung eingesetzt wurden,
um der politischen Mobilisierung der ländlichen Massen den sozialen Boden zu entzie-
hen. Die Reformprogramme blieben denn auch ohne nachhaltige Auswirkungen (de
Janvry/Ground 1987:96f). Allein in Chile und Peru kam es in den späten 60er- und frühen
70er-Jahren zu größeren Landumverteilungen. In Chile intensivierte die sozialistische
Regierung unter Salvador Allende (1970-1973) die bereits während der Präsidentschaft
des Christdemokraten Eduardo Frei (1964-1970) begonnene Landreform (Kay 1977:123-
130). Bis 1973 waren etwa 30 Prozent der Landarbeiter zu eigenem Grund und Boden
gekommen. Mit der Machtübernahme der Militärs unter General Augusto Pinochet
(1973-1990) fand die Landreform jedoch ein abruptes Ende, und die meisten Begünstig-
ten verloren ihre Rechtstitel wieder. Peru stellt insofern einen Sonderfall dar, als es hier
das Militär war, das die Landreform vorantrieb. 1968 beendete die Armee unter General
Juan Velasco (1968-1975) durch einen Putsch den Zustand der politischen Blockierung,
Mangel im Überfluss 81
in dem sich das Land seit Mitte des Jahrzehnts befunden hatte. Die Militärs waren
entschlossen, mit einem progressiven Reformprogramm die importsubstituierende Indus-
trialisierung anzukurbeln und die Vorherrschaft der Großgrundbesitzer zu brechen.
Bereits kurz nach der Machtübernahme leiteten sie eine weitreichende Landreform ein,
die die Enteignung der Großgrundbesitzer vorsah. Die enteigneten Ländereien wurden
jedoch nicht an einzelne Landarbeiterfamilien verteilt, sondern in kollektive Produkti-
onseinheiten umgewandelt, die unter unmittelbarer staatlicher Aufsicht standen (De la
Pena 1994:458^67; Long/Roberts 1994:363).
In Nicaragua ebnete die erfolgreiche Sandinistische Revolution von 1979 gegen das
von den USA unterstützte Somoza-Regime den Weg für eine umfassende Landreform.
Entsprechend der allgemeinen Entwicklung der Revolution lassen sich im Wesentlichen
zwei Reformphasen unterscheiden. Zu Beginn zielte die sandinistische Politik darauf ab,
die nationalisierten Güter aus dem Eigentum des Somoza-Clans in leistungsfähige
Staatsbetriebe zu überführen, deren Produktion vornehmlich für den Export und die
städtischen Märkte bestimmt sein sollte. Erst ab 1986 begann die Regierung, auch Land
an einzelne Bauern zu verteilen. Die Sandinisten ermunterten die Bauern, sich zu
Kooperativen zusammenzuschließen. Bei vielen Kleinbauern, die im Bodenbesitz in
erster Linie eine Grundlage zur eigenen Existenzsicherung sahen, stieß die zentralistische
Agrarpolitik der Sandinisten jedoch auf Ablehnung. Unter den Auswirkungen des
Krieges gegen die Contra-Rebellen und der sich verschärfenden Wirtschaftskrise kam die
Landreform ab 1988 bereits zwei Jahre vor der Wahlniederlage der Sandinisten ins
Stocken.
Der Konflikt zwischen kleinbäuerlichen Produzenten, die von der Landreform die
Erfüllung ihrer Forderung nach Selbstbestimmung erwarteten, und dem Staat, der in der
Landwirtschaft einen volkswirtschaftlichen Faktor sah, dessen Exporte Devisen ein-
brachten und dessen Nahrungsmittelproduktion dazu beitrug, die Lebenshaltungskosten
der städtischen Bevölkerung tief zu halten, lag allen Reformprogrammen in Lateiname-
rika zugrunde. Bis heute ist es keiner Agrarreform gelungen, die prekäre Lage der
lateinamerikanischen Landbevölkerung nachhaltig zu verbessern.
Ergänzung zum Maisanbau im Hochland, da sie zwei bis drei Produktionszyklen im Jahr
ermöglichten.
Die wichtigsten und konfliktreichsten Austauschbeziehungen zwischen Export- und
Subsistenzsektor ergaben sich im Rahmen der Rekrutierung von Arbeitskräften für die
Kaffeefincas. Die indigenen Kleinbauern des Hochlandes waren für die Kaffeeplantagen
der boca costa ein unverzichtbarer Produktionsfaktor. Um eine ausreichende Versorgung
ihrer Plantagen mit Arbeitskräften sicherzustellen, schreckten die finqueros auch vor
Zwangsmaßnahmen nicht zurück. Unter Rückgriff auf eine koloniale Praxis rekrutierte
der Staat noch Ende des 19. Jahrhunderts in den Hochlandgemeinden Zwangskontingente
für die Arbeit in den Kaffeeplantagen. Wichtiger waren jedoch Mechanismen, die darauf
abzielten, den Kleinbauern Lohnbevorschussungen zu gewähren, die sie dann abzuarbei-
ten hatten. Diese unter dem Namen Schuldknechtschaft (peonaje, debt peonage, debt
bondage, debtslavery) bekannte Praxis stellte im agrarischen Kerngebiet Lateinamerikas
bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine weit verbreitete Methode dar, um Arbeitskräfte
für den Exportsektor anzuwerben, wobei die Arbeitsverhältnisse im konkreten Fall
verschiedene Ausprägungen annehmen konnten. Anhand der Kaffeeproduktion im
Westen Guatemalas lassen sie sich exemplarisch darstellen. Zunächst ist zwischen den
auf den Kaffeefincas ansässigen Arbeitskräften, den colonos permanentes (in Mexiko
peones acasiüados, in Chile inquilinos, in Peru huasipungueros genannt), und den
eigenständigen Kleinbauern zu unterscheiden (Barraclough/Domike 1970:52).
Die colonos lebten mit ihren Familien dauerhaft auf den Plantagen. Die finca stellte
ihnen eine Parzelle zum Anbau der eigenen milpa zur Verfügung. Dafür mussten die
colonos bestimmte Arbeitsleistungen auf der Plantage erbringen. Das Abhängigkeitsver-
hältnis der colonos gegenüber dem Plantagenbesitzer beruhte allerdings nicht nur auf
dem Nutzungsrecht der Subsistenzparzellen, sondern meist ebenso sehr auch auf der
Verschuldung der colonos. Den größten Teil der Erntearbeiter rekrutierten die Kaffeefincas
in Guatemala jedoch aus den Reihen der selbstständigen Kleinbauern in den Hochland-
dörfern. Zu diesem Zweck gewährten sie den Kleinbauern Lohnvorschüsse. Durch diese
so genannten habilitaciones (in Peru als enganches bekannt) verpflichteten sich die
verschuldeten Kleinbauern für bestimmte Zeiten zu bestimmten Arbeitsleistungen auf
der Kaffeeplantage. Weil man sie zur Erntezeit in Trupps (cuadrillas) zu den Kaffeefincas
schaffte, wurden diese saisonalen Arbeitskräfte auch cuadrilleros genannt.
Zur Anwerbung der selbstständigen Kleinbauern setzten die Kaffeefincas Agenten
(so genannte habilitadores, enganchadores oder contratistas) ein, die mit den sprachli-
chen, kulturellen und sozialen Verhältnissen im indianischen Hochland vertraut waren
(McCreery 1994:225-226). Nicht selten mit unlauteren Mitteln brachten diese die
Kleinbauern dazu, Lohnbevorschussungen entgegenzunehmen. Eine besondere Bedeu-
tung kam dabei den lokalen religiösen Feierlichkeiten zu, bei denen gewöhnlich große
Mengen Alkohol konsumiert wurden. Die habilitadores traten bei solchen Anlässen als
großzügige Spender auf und schenkten entweder den Alkohol auf Kredit aus oder liehen
den Kleinbauern das nötige Geld. Auf der Basis der habilitaciones ergaben sich zwischen
der durch den habilitador repräsentierten finca und den verschuldeten Kleinbauern
verhältnismäßig stabile Abhängigkeitsbeziehungen. Deren Dauerhaftigkeit beruhte je-
doch nicht in erster Linie auf der Höhe des Schuldbetrags. Eine Anhäufung von Schulden
bildete die seltene Ausnahme. Es war vielmehr die fortwährende Bevorschussung der
84 Peter Fleer
Arbeitskraft, die die dauerhafte Bindung der Knechte an die finca bzw. deren Besitzer als
patrön ausmachte.
Einmal verschuldet, war es den mozos von Gesetzes wegen verboten, die finca zu
verlassen. Taten sie es dennoch, wurden sie als mozos fugos (flüchtige Knechte) verfolgt.
Dennoch kamen solche Fluchtversuche besonders während der Erntezeit immer wieder
vor. Sie waren ein Mittel der mozos, den finqueros Konzessionen abzuringen. Die
Abgeschiedenheit vieler Dörfer und die schlechten Verkehrs verbindungen im Hochland
machten die Verfolgung eines Flüchtigen oft zu einer langdauernden und kostspieligen
Angelegenheit.
Im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten verstanden es die Knechte, auch für
sich Vorteile aus dem System zu schlagen. Angesichts der Wucherzinsen lokaler
Geldvermittler, die zudem meist auf Sicherheiten in Form von Haus oder Land bestanden,
stellten die habilitaciones eine geradezu günstige und risikoarme Möglichkeit dar, Geld
aufzunehmen. Der Sozialanthropologe Sol Tax (1953), der in den 1930er-Jahren ausge-
dehnte Feldforschungen im indianischen Hochland Guatemalas durchführte, vermutete,
dass aufgrund des Verbotes der habilitaciones Mitte der 1930er-Jahre viele indianische
Kleinbauern gezwungen wurden, ihr Land zu belehnen, und in der Folge von Enteignung
bedroht waren. Verschiedentlich setzten sich finqueros auch für die Freilassung ihrer
Knechte ein, wenn diese wegen geringer Vergehen eingesperrt worden waren, oder sie
sorgten dafür, dass sie vom Militärdienst oder der Pflicht, beim Straßenbau mitzuarbei-
ten, entbunden wurden. Besonders in Notsituationen beriefen sich die mozos mitunter
sogar auf einen gewohnheitsrechtlichen Anspruch auf Lohnbevorschussung als Teil der
patronalen Pflicht der finqueros, ihren Landarbeitern Beistand zu leisten.
Unter dem Stichwort »Schuldknechtschaft« wurden solche Arbeitsverhältnisse als
Ausdruck kolonialistischer Ausbeutung gedeutet. Der einflussreiche Historiker Frank
Tannenbaum hat dieses Bild, das vor allem in Mexiko und Peru zur allgemeinen
Lehrmeinung wurde, in den 1920er-Jahren im Hinblick auf die mexikanische hacienda
geprägt (Bauer 1986:172). Empirische Forschungen seit den 1960er-Jahren haben zu
einem differenzierteren Verständnis der »Schuldknechtschaft« geführt. Diese wurde nun
als Patron-Klientel-Beziehung gedeutet, in der alle Beteiligten Rechte und Pflichten
hatten, die zwar asymmetrisch verteilt waren, aber gleichzeitig gewohnheitsrechtlichen
Reziprozitätsregeln gehorchten (Nickel 1989). Insbesondere konnte die populäre Vor-
stellung widerlegt werden, dass die lebenslange, sogar auf die Kinder übertragbare
Verschuldung die Regel darstellte. Diese Sichtweise erlaubte es ferner, die verschuldeten
Knechte nicht bloß als untätige Opfer zu sehen, sondern deren Interessen und Handlungs-
spielräume zu untersuchen.
In Guatemala wurde die Praxis der Lohnbevorschussung Mitte der 1930er-Jahre
gesetzlich verboten. Dabei ging es nicht etwa um die Befreiung der indianischen
Bevölkerung von Unterdrückung und Ausbeutung, sondern um die Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes. Die Maßnahmen spiegelten den allgemeinen Trend hin zur Lohnarbeit,
der sich nach dem Zweiten Weltkrieg weiter beschleunigte. Für die colonos und
Kleinbauern war der Übergang vom abhängigen »Schuldknecht« zum »freien« Lohn-
arbeiter indessen ein zweifelhafter Fortschritt, denn die Subsistenzbedingungen began-
nen sich in derselben Zeit infolge des kontinuierlichen Bevölkerungswachstums und
zunehmender ökologischer Probleme in den kleinbäuerlichen Siedlungszonen gegen sie
Mangel im Überfluss 85
chen Unterentwicklung der Region eine entscheidende Rolle zukommt, hat der Wirtschafts-
historiker John H. Coatsworth in zahlreichen Aufsätzen dargelegt (z.B. Coatsworth
2000). Hohe politische Risiken und unsichere Eigentumsrechte verhinderten nachhaltige
Investitionen und Produktivitätssteigerungen. Hinzu kam die beschränkte Kapazität des
Staates, zentrale öffentliche Güter wie ein zuverlässiges Justiz- und Polizeiwesen oder
eine leistungsfähige Transportinfrastruktur zur Verfügung zu stellen. Die institutionelle
Schwäche der staatlichen Organe wirkte sich auf die verschiedenen Gesellschaftsschich-
ten unterschiedlich aus. Auf dem Land verstanden es die mächtigen Großgrundbesitzer,
individuellen Nutzen daraus zu ziehen, währen die Kleinbauern unter Korruption und
bürokratischer Willkür litten. Bezogen auf die verzerrte Entwicklung des Agrarsektors
waren diese institutionellen Faktoren daher letztlich bedeutender als die krassen Größen-
unterschiede zwischen den landwirtschaftlichen Betrieben.
Die Strategien der ländlichen Unterschichten gegen die fortschreitende Proletarisie-
rung und Verelendung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hießen Arbeits-
diversifizierung, Migration und Organisation. Angesichts des Versagens der staatlichen
Institutionen begann sich die Bevölkerung selber in Basisorganisationen zu sammeln
(McCreery 2000:172-178). Zum Teil mit Hilfe von internationalen Hilfsorganisationen
gründeten sie Kooperativen oder Genossenschaften, um die gemeinschaftliche Land-
nutzung und den Einsatz von Maschinen besser zu koordinieren, den Zugang zu Krediten
zu verbessern oder die Produktevermarktung effizienter zu organisieren. Besonders in
Gebieten, wo sich krasse Ungleichheit und extensive Landnutzung überlagerten, kam es
seit den 60er-Jahren trotz der meist gewaltsamen Gegenreaktionen von Staat und
Großgrundbesitzern vermehrt zu organisierten Landbesetzungen. In Brasilien führte
diese Entwicklung 1984 zur Gründung der Landlosenorganisation Movimento dos
Trabalhadores Rurais Sem Terra (gewöhnlich kurz Movimento Sem Terra, MST ge-
nannt), die wegen einiger spektakulärer Landbesetzungen, geschickter politischer Agi-
tation und der beachtlichen Mitgliederzahl weit über die Landesgrenzen Aufmerksam-
keit erregte (Harnecker 2002:33-59). Eine besondere Form des organisierten Widerstan-
des stellten die Bewegungen der indigenen Bevölkerungsgruppen dar, deren ethnisch
begründetes Sclbstbewusstsein seit Anfang der 90er-Jahre stark gewachsen ist. Die
Forderungen dieser Gruppen reichen über die traditionellen wirtschaftlichen und sozia-
len Anliegen ländlicher Unterschichten hinaus, indem sie aufgrund ethnisch-kultureller
Merkmale weitreichende territorial abgestützte Autonomierechte beanspruchen (Arias
1990:235-243, vgl. auch den Beitrag von Stephan Scheuzger in diesem Band).
Individuelle Migrations- und Diversifizierungsstrategien bildeten ebenso Vorstufen
wie Alternativen zur genossenschaftlichen oder politischen Organisation. Das Bestreben
der Kleinbauern, zusätzliche Einkommensquellen zu erschließen, umfasste einerseits den
Anbau von neuen Produkten mit überdurchschnittlichen Marktchancen, seien dies Nischen-
produkte wie Saatkartoffeln für die nationalen Märkte oder illegale Coca-Pflanzungen für
den internationalen Drogenhandel. Die andere Dimension der Diversifizierungsstrategien
äußerte sich insbesondere in der Zunahme der weiblichen Erwerbsarbeit. Das Geldein-
kommen, das die Frauen mit außerhäuslicher Lohnarbeit oder der selbstständigen Herstel-
lung und Vermarktung von handwerklichen Erzeugnissen erwirtschafteten, stellte einen
immer wichtiger werdenden Beitrag zum Familienbudget darund war für viele Kleinbauern-
familien eine wichtige Voraussetzung zum Überleben auf ihren Kleinstbetrieben und zum
88 Peter Fleer
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Silke Hensel
Das 19. Jahrhundert begann mit einem Bevölkerungsrückgang bzw. einem nur langsa-
men Wachstum. Die Unabhängigkeitsbewegungen führten in den meisten Ländern
wegen der Kampfhandlungen, aber auch Epidemien und geringerer Nahrungsmittel-
produktion zu sinkenden Einwohnerzahlen, allerdings fehlen hier verlässliche Daten.
Außerdem führten die kriegerischen Auseinandersetzungen zu Flüchtlingsbewegungen.
Ein Kontinent in Bewegung 93
Schließlich brachte die Zeit nach der Unabhängigkeit nicht den erhofften wirtschaftli-
chen Aufschwung. Deshalb stieg die Bevölkerungszahl nur geringfügig. Für die erste
Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich eine Wachstumsrate von ca. 1 Prozent jährlich
verzeichnen, allerdings bestanden regionale Unterschiede. Während die argentinische
Bevölkerung von 1836-1855 immerhin um 4,2 Prozent wuchs, betrug die Steigerung in
Zentralmexiko in den Jahren nach 1825 lediglich zwischen 0,4 Prozent und 1 Prozent, im
Norden des Landes lag die Rate etwas höher, auf Yucatän sank die Einwohnerzahl
hingegen bis in die 1870er-Jahre (Sanchez-Albornoz 1986:121; vgl. auch Tabelle 1).
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte ein schnelleres, wiederum
regional unterschiedliches Bevölkerungswachstum ein. Zwischen 1850 und 1930 ver-
zeichneten Argentinien, Chile und Uruguay die größte Zunahme ihrer Bevölkerungen. In
Paraguay wirkten sich hingegen der Tripelallianzkrieg gegen Argentinien, Brasilien und
Uruguay (1865-1870) und eine nachfolgende Choleraepidemie negativ aus. Das Land
verlor etwa die Hälfte seiner Einwohner. In Mexiko und Zentralamerika war die
Wachstumsrate am niedrigsten und lag für den gesamten Zeitraum von 1850-1930 bei
etwa einem Prozent (Sanchez-Albornoz 1986:122f). In Mexiko führte der Bürgerkrieg
während der Revolution (1910-1917) zum Rückgang der Bevölkerung um fast eine
Million Menschen. Viele starben in den Kämpfen oder in der Folge von Epidemien,
andere flüchteten in die USA. Die Andenländer verzeichneten in der gleichen Periode ein
Wachstum zwischen ein und zwei Prozent jährlich. In der Karibik lagen die Zuwächse
etwas darüber.
nen Menschen. Darin sind die so genannten »golondrinas« nicht enthalten, die als
Saisonarbeiter vor allem nach Argentinien reisten und danach in ihre Heimat zurückkehrten
(Sänchez-Albornoz 1994:133). Die meisten Europäer wanderten nach Argentinien, Brasi-
lien, Kuba, Uruguay und Chile. Etwa vier Millionen von ihnen ließen sich bis 1930 in
Argentinien nieder, zwei Millionen wählten Brasilien als neue Heimat, 600.000 wanderten
nach Kuba und eine ebenso große Zahl ging nach Uruguay. Die Nettoeinwanderung für
Chile wird auf ca. 200.000 Migranten geschätzt. Angesichts der geringen Einwohnerzahl
nahm Uruguay prozentual gesehen die meisten europäischen Migranten auf. Bereits 1843
bestand die Bevölkerung des Landes zu 63 Prozent aus Ausländern (Sänchez-Albornoz
1986:126). Obwohl die lateinamerikanischen Regierungen nordeuropäische Migranten
bevorzugten, kamen vor allem Einwanderer aus Italien, Portugal und Spanien. Deutsche
wanderten im 19. Jahrhundert in nennenswertem Umfang lediglich nach Brasilien ein,
einige Kolonien entstanden auch in Chile (Luebke, Blancpain). Weiterhin suchten Ost- und
Südeuropäer, unter ihnen viele Juden, die vor Verfolgung flüchteten, in Lateinamerika eine
neue Heimat. Neben europäischen Einwanderern stellten die so genannten »turcos«, die
hauptsächlich aus dem Libanon und Syrien stammten, in einigen Ländern eine relativ
bedeutende Gruppe (The Americas 1996). Im 20. Jahrhundert verzeichnete Brasilien
schließlich eine hohe japanische Einwanderung. Sie begann 1908 und stieg zwischen 1924-
1935 auf 140.000 Immigranten. In dieser Dekade stellten Japaner nach Einwanderern aus
Portugal die zweitgrößte Gruppe (Lesser 1999:91,95).
Schwankungen in der Entwicklung der Einwanderung ergaben sich einerseits
aufgrund von wirtschaftlichen Krisen in den Aufnahmeländern. Andererseits spielten
Bedingungen in Europa eine Rolle. So waren z.B. die Schiffslinien während des Ersten
Weltkrieges unterbrochen, weshalb von 1916-1920 nur relativ wenige Europäer nach
Amerika kamen. In einzelnen Ländern führten auch politische Entscheidungen zu
sinkenden Migrantenzahlen. So erließ Italien 1902 ein Gesetz, das seinen Staatsangehö-
rigen die von brasilianischer Seite subventionierte Migration untersagte. Deshalb sank
die Zahl der italienischen Migranten nach Brasilien vorübergehend (Holloway 1980:42).
1881-1885 133.400 32 47 8 8
1885-1890 391.600 19 59 8 3
1891-1895 659.700 20 57 14 1
1896-1900 470.300 15 64 13 1
1901-1905 279.700 26 48 16 1
1906-1910 391.600 37 21 22 4 1
1911-1915 611.400 40 17 21 3 2
1916-1920 186.400 42 15 22 3 7
1921-1925 386.600 32 16 12 13 5
1926-1930 453.600 36 9 7 6 13
insgesamt 3 964.300 29 36 14 5 3
Quelle: Sänchez-Albornoz 1994:135.
96 Silke Hensel
Seit 1930 erlebte Lateinamerika ein starkes Bevölkerungswachstum, das bisweilen als
Explosion beschrieben wird (Sänchez-Albornoz 1994:156ff). Von 1960 bis 1990 wuchs
die Bevölkerung durchschnittlich über 4 Prozent jährlich und vervierfachte sich von ca.
Ein Kontinent in B e w e g u n g 97
110 Millionen Menschen auf fast 450 Millionen. Weltweit verzeichnete der Kontinent
zusammen mit Afrika die höchsten Wachstumsraten. Diese Entwicklung hing vor allem
mit der sinkenden Mortalität bei weiterhin hohen Geburtenraten zusammen. Lediglich in
den Ländern, in denen bis 1930 eine starke Einwanderung zu verzeichnen war, sank die
Geburtenrate seit den 1950er-Jahren, in den restlichen Ländern blieb sie auf relativ
hohem Niveau.
Die Mortalitätsrate sank seit den 1950ern besonders aufgrund von medizinischen Verbes-
serungen rapide. So wurden z.B. die Malaria übertragenden Mosquitos mit Pestiziden
bekämpft. Medikamente ermöglichten eine erfolgreichere Behandlung von Krankheiten
wie der Tuberkulose, Lungenentzündung und Grippe. Schließlich wurden Impfungen
gegen Masern, Diphtherie, Tetanus und Typhus in großem Umfang durchgeführt. Zwi-
schen 1950 und 1973 konnte die Mortalitätsrate um über 20 Prozent gesenkt werden.
Großen Anteil daran hatte die wirkungsvollere Bekämpfung von Infektionen der Atemwe-
ge und von Durchfallerkrankungen, die besonders Kinder gefährdeten. Insgesamt erhöhte
sich so die Lebenserwartung der Bevölkerung erheblich, wenn auch regional unterschied-
lich. In den 1980er-Jahren betrug das durchschnittliche Höchstalter um die 70 Jahre, in
Bolivien und Haiti allerdings nur etwas über 50 Jahre (Merrick 1994:13ff).
Das Bevölkerungswachstum stellte neue Anforderungen an die Staaten, so musste
das Bildungswesen stärker ausgebaut werden und der Bedarf an Arbeitsplätzen stieg
98 Silke Hensel
ständig. Die Suchenach Überlebensmöglichkeiten trieb viele Menschen seit Mitte des 20.
Jahrhunderts zunächst vom Land in die Städte und führte zur Entstehung von Megalopolis.
Mexiko-Stadt wuchs von 1,5 Mio. Einwohnern im Jahr 1940 auf 8,5 Mio. im Jahr 1970.
Im Großraum lebten in den 1980er-Jahren über 20 Mio. Menschen, d.h. fast ein Viertel
der Landesbevölkerung wohnte in der Hauptstadt. Die Einwohnerdichte betrug in der
Stadt in den 1990er-Jahren durchschnittlich 5.494 Menschen pro Quadratkilometer (vgl.
Kandell 1996). Der Zuwanderungsprozess verlief dabei ohne Steuerung und der Politik
gelang es nicht, die dadurch auftretenden Probleme zu lösen. Arbeitsplätze standen nicht
in ausreichendem Umfang zur Verfügung, es entstanden Armensiedlungen, in denen die
Infrastruktur schlecht bis nicht vorhanden war. Die mangelhafte Wasserversorgung, die
ungenügende Müllbeseitigung ebenso wie das enorme Verkehrsaufkommen führten zu
einer gesundheitsschädlichen Umgebung. Zusätzliche ökologische Probleme wie etwa das
Ausgreifen der Siedlungen auf sensible Hanglagen oder in Niederungen, die sich in der
Regenzeit in Seen verwandeln, erschweren das Leben in der Stadt (Gilbert/Gugler 1992).
Häufig stellten die Städte nur eine Etappe im Wanderungsprozess dar, der von dort
weiter ins Ausland führte. Diese, der Masseneinwanderung der 1870er- bis 1930er-Jahre
entgegengesetzte Migrationsrichtung ist bezeichnend für die demographischc Entwick-
lung im vergangenen Jahrhundert. Fehlten zunächst in vielen ländlichen Gebieten
Arbeiter in einer auf den Export ausgerichteten Landwirtschaft, die im Ausland angewor-
ben wurden, so boten die Bedingungen auf dem Land seit der Mitte des Jahrhunderts
vielfach keine ausreichenden Lebenschancen mehr. Neben der Landflucht kam es in
vielen lateinamerikanischen Ländern zu einer stark ansteigenden Auswanderung. Beson-
ders betroffen davon ist Mexiko. Seine direkte Nachbarschaft zur so genannten Ersten
Welt hat ebenso wie die historische Verbindung des nördlichen Landesteils mit den
Gebieten des heutigen Südwestens der USA dazu geführt, dass die Migration in die
Vereinigten Staaten bereits vor der Jahrhundertmitte einen wichtigen Faktor darstellte
(vgl. Gonzales 1999). Innerhalb Lateinamerikas fanden und finden ebenfalls grenzüber-
schreitende Bevölkerungsbewegungen statt. Nach Argentinien wanderten lange Zeit
Arbeitskräfte aus den Nachbarländern ein. Venezuela, Costa Rica und Mexiko stellen
traditionelle Zielländer für Migranten aus der Region dar. In Venezuela führte vor allem
der Ölboom der 1970er-Jahre zu steigenden Einwandererzahlen (Pellegrino 2000:397f).
Zu einer beständigen Arbeitsmigration, die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-
derts eine wichtige Rolle spielte, zählt auch die Wanderung von Haitianern in die
Dominikanische Republik, wo sie vorwiegend in der Zuckerwirtschaft tätig waren. Der
Anteil der innerkontinentalen Migration an der gesamten lateinamerikanischen Emigra-
tion sank allerdings von 42 Prozent 1960 auf nur noch 19 Prozent in den frühen 1990er-
Jahren. Gleichzeitig stieg die absolute Anzahl von lateinamerikanischen Migranten im
selben Zeitraum von ca. 1,6 auf über 11 Millionen Menschen (Pellegrino 2000:399).
Wanderungen stellen komplexe Prozesse dar, deren Ursachen in den meisten Fällen aus
einem Bündel von Faktoren bestehen. Die Gründe von Migrationen sind dabei auf
Ein Kontinent in Bewegung 99
Migranten bzw. häufig die Migrantin in der ersten Phase der Eingewöhnung in der neuen
Umgebung unterstützt und umgekehrt ein Teil des Gehaltes der Gewanderten an die
Familie geschickt wird, die damit z.B. Missernten teilweise ausgleichen kann (Baud
1994).
Neben ökonomischen Gründen, die zur Wanderung führen, spielen häufig politische,
religiöse oder rassistisch motivierte Verfolgungen eine wichtige Rolle bei der Entschei-
dung, die Heimat zu verlassen. Viele Juden aus Osteuropa flohen im 19. und zu Beginn
des 20. Jahrhunderts vor Pogromen, weitere kamen aufgrund der antisemitischen
Verfolgungen durch die Nationalsozialisten hinzu (Elkin 1996). Allein nach Argentinien
wanderten von 1920-1947 120.000 Juden ein (Mörner 1992:240). Die Anhänger der
Pariser Kommune ebenso wie spanische Republikaner oder Anarchosyndikalisten ver-
ließen ihre Länderaufgrund politischer Verfolgung (Sänchez-Albornoz 1994:132). Auch
ein Teil der Migrationsbewegungen innerhalb Lateinamerikas sowie in Länder anderer
Kontinente war bzw. sind politisch motiviert und durch Bürgerkriege ausgelöst. Dies gilt
für die Exilanten, die vor politischer Verfolgung während der Militärdiktaturen aus Chile,
Argentinien, Brasilien und Uruguay flüchten mussten, wie für Zentralamerikaner, die
ihre Länder in den 1970er- und 1980er-Jahren während der dort tobenden Bürgerkriege
verließen. Hunderttausende Guatemalteken brachten sich beispielsweise vor der Strate-
gie der »verbrannten Erde« des Militärs in Sicherheit, indem sie nach Mexiko gingen, wo
viele offiziell als Flüchtlinge anerkannt wurden und Hilfe von den Vereinten Nationen
erhielten. Andere befanden sich ohne Papiere und ohne offiziellen Status im Land, ihre
Lage war dementsprechend prekärer (Garbers 2001:136ff). Unter den verschiedenen
Flüchtlingsgruppen stellen die Kubaner, die nach der Revolution auf Kuba die Insel
verließen und in den USA Asyl erhielten, einen Sonderfall dar, da sie in den Vereinigten
Staaten aufgrund politischer Erwägungen lange Zeit eine Bevorzugung genossen (Masud-
Piloto 1996).
Die Auswahl des Ziellandes hing wesentlich von den zur Verfügung stehenden
Informationen ab. Für europäische Migranten, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert nach
Lateinamerika gingen, stellten Zeitungen und vor allem die Werbung von Kolonisations-
oder Schifffahrtsgesellschaften sowie von staatlichen Stellen ebenso wichtige Informa-
tionsquellen dar wie die Briefe von bereits ausgewanderten Verwandten, Nachbarn und
Freunden. Mit der Ausweitung der Massenkommunikationsmittel boten das Radio und
Fernsehen und heute wohl auch das Internet weitere Informationsmöglichkeiten. Neben
einer Vorstellung über die Zielregion, die aufgrund von Desinformationen nicht immer
den tatsächlichen Bedingungen entsprach, spielte die Erreichbarkeit eines Landes eine
wichtige Rolle. Die Einrichtung von Schiffs-, Eisenbahn- oder Fluglinien führte häufig
zur Kanalisierung von Migrationsbewegungen (Nugent 1992:31). Grenzüberschreitende
Migrationen sind schließlich den gesetzlichen Bestimmungen der beteiligten Länder und
der Form ihrer Durchsetzung durch staatliche Behörden unterworfen.
Entgegen der älteren Konzeption von Wanderungen als Folge individueller Entscheidun-
gen der einzelnen Migranten auf der Suche nach besseren Löhnen oder Arbeitsbedingun-
Ein Kontinent in Bewegung 101
gen, heben neuere Studien die aktive Anwerbung durch potenzielle Arbeitgeber bzw.
staatliche Institutionen hervor. Dieser Aspekt lässt sich im 19. und 20. Jahrhundert
tatsächlich rekonstruieren. Neben einer positiven Einwanderungsgesetzgebung förder-
ten staatliche Institutionen häufig die Migration. Argentinien und Brasilien bemühten
sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße um europäische Arbeits-
kräfte. Bereits die Verfassung von 1859 verpflichtete die Regierung Argentiniens,
europäische Einwanderung zu unterstützen und übertrug Immigranten aus Europa die
Bürgerrechte, von denen lediglich das Wahlrecht ausgenommen war. Dafür mussten
Einwanderer keinen Militärdienst leisten (Moya 1998:49f). 1876 erließ die Regierung ein
Einwanderungsgesetz, das im folgenden Jahr und 1889 erneut überarbeitet wurde. Es
schaffte fast alle Restriktionen für Immigranten ab und sah außerdem deren Unterstüt-
zung mit Unterkunft und Verpflegung in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft vor
(Nugent 1992:1120-
Der brasilianische Bundesstaat Säo Paulo richtete zu Beginn der 1880er-Jahre
ebenfalls eine Aufnahmestation für Einwanderer ein, nachdem bereits 1871 und 1872
erlassene Gesetze die Plantagenbesitzer bei der Anwerbung europäischer Arbeitskräfte
unterstützen sollten. 1884, also vier Jahre vordem Ende der Sklaverei, wurde in Säo Paulo
der Besitz von Sklaven besteuert, um mit den Einnahmen die Anwerbung freier Arbeiter
zu bezahlen. 1894 ging der Bundesstaat dazu über, Verträge mit Schiffsgesellschaften zu
schließen und bezahlte die Überfahrt von europäischen Einwanderern. Damit konnten
staatliche Institutionen einen relativ großen Einfluss darauf nehmen, wer angeworben
wurde. Sie forderten vor allem die Anwerbung von Familien, von denen man annahm,
dass sie eher auf den Plantagen bleiben würden als allein stehende Migranten. Zwischen
80 und 100 Prozent der Einwanderer, deren Überfahrt subventioniert wurde, verbrachten
ihre ersten Tage in Brasilien in der Aufnahmestation. Dort erhielten sie neben der
Unterkunft Mahlzeiten und medizinische Versorgung. Allerdings war die für 4.000
Personen ausgelegte Einrichtung mit 10.000 Migranten häufig hoffnungslos überfüllt.
Von hier aus suchten die Einwanderer einen Arbeitgeber. War ein Arbeitsvertrag
geschlossen, erhielten sie die Zugfahrt zu einem Bahnhof in der Nähe ihres künftigen
Arbeitsorts bezahlt, sofern es sich um eine Kaffeeplantage handelte. Dieses System der
staatlich geförderten Einwanderung wurde 1927 aufgelöst. Bis dahin hatte der Bundes-
staat eine wichtige Rolle in der Anwerbung von Migranten gespielt und als Instrument
der Kaffeeplantagenbesitzer fungiert. Die Ausgaben Säo Paulos zur Unterstützung von
Einwanderern beliefen sich in den ersten Jahrzehnten der Alten Republik (1889-1930)
auf etwa 9 Prozent der Steuereinnahmen (vgl. Holloway 1980).
Ohne die finanzielle Unterstützung bei der Überfahrt hätten sich vermutlich weniger
Wanderer nach Brasilien gewandt, nur die hohe Anzahl von Einwanderern gewährleiste-
te aber das enorme Wachstum des Kaffeeanbaus seit Ende des 19. Jahrhunderts, das von
den ehemaligen Sklaven auch dann nicht hätte getragen werden können, wenn alle auf den
Plantagen geblieben wären. Die Anwerbung europäischer Immigranten hatte allerdings
noch weitere Gründe. Die brasilianische Elite bevorzugte sie aufgrund rassistischer
Vorstellungen über die angebliche Minderwertigkeit der afrikanischstämmigen Bevöl-
kerung.
Die staatliche Unterstützung reichte jedoch nicht aus, um ein Land tatsächlich zum
Einwanderungsland werden zu lassen. So stellt Jose Moya (1998:51 f) fest, dass argenti-
102 Silke Hensel
nische Agenten zwar zwischen 1888 und 1890 133 428 freie Schiffspassagen für
europäische Migranten ausstellten, insgesamt nutzten aber von 1840-1930 lediglich zwei
Prozent der Einwanderer dieses Angebot. Neben die strukturellen Bedingungen, die
überhaupt erst die Wanderung an einen bestimmten Ort sinnvoll erscheinen ließen,
mussten weitere wichtige Faktoren treten, die Einfluss auf die Wanderungsentscheidung
nahmen. Moya misst der Existenz von Migrantennetzwerken, die zur Informations-
verbreitung entscheidend beitrugen, eine herausragende Bedeutung bei. Allerdings
bleibt anzumerken, dass der argentinische Staat hier nicht unbeteiligt war. So ernannte
Argentinien in Spanien vor allem in Auswanderungsregionen konsularische Vertreter,
deren Hauptaufgabe eben in der Werbung für Argentinien als möglichem Aus wanderungs-
ziel lag (Moya 1998:6011). Außerdem konnten staatliche Programme der Einwanderungs-
förderung dazu beitragen, dass überhaupt erst eine Immigrantengemeinde entstand,
deren Mitgliederdann wiederum Informationen über die Situation vor Ort an Verwandte
und Freunde schickten. Einige argentinische Provinzen förderten in den 1860er- und
1870er-Jahren die Einwanderung von Europäern, indem sie landwirtschaftliche Koloni-
en gründeten, wo jeder eingewanderte Farmer 30 bis 40 Hektar Land und außerdem Tiere,
Saatgut und Werkzeuge erhielt. 1880 bestanden in den Provinzen Santa Fe, Cördoba und
Entre Rfos 695 solcher Kolonien mit über 53.000 Farmen (Rock 1987:137). Die
Hochphase der staatlichen Unterstützung von Einwanderern lag in den späten 1880er-
und frühen 1890er-Jahren, die meisten Einwanderer kamen aber erst in den ersten
Dekaden des 20. Jahrhunderts. Insofern muss die Bedeutung der staatlichen Ein-
wanderungsförderung als Anschub von konkreten Migrationsbewegungen u.U. höher
bewertet werden, als ihr quantitativer Anteil an dem Prozess vermuten lässl.
Darüber hinaus gab es Beispiele, in denen staatliches Eingreifen wesentlich für den
gesamten Wanderungsprozess war. Dies trifft beispielsweise auf diejapanischc Einwan-
derung nach Brasilien zu. Zu Beginn der Migration unterstützte wiederum der Bundes-
staat Säo Paulo die Anwerbung japanischer Arbeitskräfte für die Kaffeewirtschaft. 1908
kam das erste Schiff mit japanischen Arbeitern. Bis 1914 folgten weitere Migranten,
deren Überfahrt staatlich mitfinanziert war. Dann beendete Säo Paulo seine Förderung
von Japanern, da zu viele von ihnen es den Europäern gleich taten, und die Kaffeeplan-
tagen wegen der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen vor Vertragsende wieder
verließen. Als jedoch mit dem Ersten Weltkrieg kaum noch europäische Migranten
kamen, nahm Säo Paulo die Förderung japanischer Einwanderung wieder auf und als
Brasilien endgültig davon abrückte, übernahm der japanische Staat diese Rolle, da die
Auswanderung als ein Ventil für die internen Probleme galt (Lone 2001:103).
Staatliche Initiativen spielten auch bei der Auswanderung von Lateinamerikanern
eine Rolle. Dies traf für das sogenannte »bracero«-Programm zu. das auf der Grundlage
eines Vertrages zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko die temporäre Arbeits-
migration von Mexikanern in die USA regulierte. Ein erster Vertrag kam 1942 zustande,
als die Umstellung der US-amerikanischen Wirtschaft auf die Kriegsanforderungen zur
erhöhten Nachfrage nach Arbeitern in der Landwirtschaft führte. Bis 1947 kamen etwa
250.000 Mexikaner - ausschließlich Männer - in den Südwesten der USA. Nach Been-
digung des Vertrages lief das Programm auf der Basis informeller Vereinbarungen
zunächst weiter, bis es 1951 per Gesetz wieder aufgenommen und bis 1964 fortgeführt
wurde. Offiziellen Schätzungen zufolge kamen in den 22 Jahren des Bestehens insgesamt
Ein Kontinent in Bewegung 103
fast fünf Millionen braceros in die USA. Die tatsächliche Zahl dürfte jedoch darunter
liegen, da viele braceros mit jedem Vertragsabschluss erneut gezählt wurden, auch wenn
es sich de facto um eine Vertragsverlängerung handelte. Dieses Rekrutierungsprogramm
führte zum Ansteigen der Immigration von Mexikanern in die USA insgesamt. Bei der
Anwerbung gab es regelmäßig mehr Interessenten, als die vertraglich festgelegte Zahl
von Arbeitern vorsah. Die Informationen über Arbeitsmöglichkeiten in den USA brach-
ten aber viele Mexikaner dazu, alleine nach Norden zu ziehen und auch ohne die
notwendigen Papiere die Grenze zu überschreiten. In der Zeit des Bracero-Programms
griff die fro/x/er/rafro/etwa fünf Millionen Mexikaner auf. Die Anzahl derjenigen, denen
es gelang, ihr zu entkommen, lag wesentlich höher, sie ist aufgrund der Natur des
Phänomens aber schwer zu bestimmen (Gonzales 1999:170ff).
Einen wichtigen Bereich der Migrationsforschung bildet die Frage nach der Integration
der Wanderer in die Aufnahmegesellschaften. Das Verständnis von Integration ebenso
wie das der verwandten Begriffe von Assimilation, Akkulturation oder Anpassung sind
dabei keineswegs eindeutig und haben in den vergangenen Jahrzehnten einen erheblichen
Wandel durchgemacht. Besonders die Soziologie und die Anthropologie sind mit der
Untersuchung entsprechender Phänomene und der Formulierung von Modellen befasst
gewesen. Dies trifft dabei für die Forschung in Einwanderungsgesellschaften stärker zu
als für solche, die sich zumindest nicht so verstanden haben. In den USA beschäftigten
sich die Mitglieder der Chicago School seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit der
Integralion von Einwanderern, sie fassten den Prozess meistens unter dem Begriff der
Assimilation. Dieser Prozess wurde als eine einseitig verlaufende Anpassungsleistung
der Einwanderer an die neue Gesellschaft bis hin zur völligen Angleichung in allen
Lebensbereichen verstanden. Es ging dabei auch um die Frage, welche Gruppen über-
haupt in der Lage zu einer solchen Assimilation seien und welche per se als nicht dazu
fähig betrachtet wurden. Inder Anthropologie stellten sich ähnliche Fragen, Anpassungs-
prozesse erhielten hier allerdings die Bezeichnung Akkulturation, womit die stärkere
Gewichtung kultureller Entwicklungen zum Ausdruck kam. Die Modelle von Akkultu-
ration ähnelten jedoch denen der Assimilation insofern, als auch hier ein einseitig
verlaufender Prozess gemeint war, in dem eine Minderheit sich der Mehrheitsgesellschaft
anpassen sollte. In Lateinamerika spielten die Konzepte von Akkulturation und Assimi-
lation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem im Hinblick auf die indigene
(Mexiko) bzw. die afrikanischstämmige Bevölkerung (Brasilien) ein wichtiges Unter-
suchungsfeld. In Brasilien vertraten Anthropologen neben anderen Wissenschaftlern die
These von der »Weißwerdung« der brasilianischen Gesellschaft. Danach würden die
Afrobrasilianer über die Vermischung mit Weißen in der Zukunft verschwinden, da ihre
Geburtenrate gering und ihre Kultur schwach sei und sich deshalb nicht gegenüber der
Kultur der Weißen würde behaupten können. Diese rassistischen Überlegungen blieben
nicht auf akademische Kreise beschränkt, sondern stiegen zur offiziellen Ideologie des
Landes auf. Um den Prozess der Aufhellung der Bevölkerung zu unterstützen, förderte
Brasilien die Einwanderung von europäischen Migranten (Skidmore 1993).
104 Silke Hensel
Gegenüber den umfassenden Modellen von Assimilation und Akkulturation, die von
einer vollkommenen Angleichung - bis hin zur Unsichtbarkeit - der Migranten an die
Aufnahmegesellschaft ausgingen, untersuchten einige Historiker die Anpassung. Darun-
ter verstanden sie den Prozess, der es Migranten ermöglichte, sich in der neuen
Umgebung zu bewegen und ihr Leben zu organisieren (Bailey 1983:283; Klein 1983).
Ein Vergleich der italienischen Einwanderer in Argentinien und den Vereinigten Staaten
kommt zu dem Schluss, dass die Anpassung der Italiener in Argentinien - gemessen am
ökonomischen Erfolg der Migranten, ihrer Wohnsituation und dem Organisationsgrad
der Einwanderergemeinden - in Argentinien schneller und erfolgreicher verlief als in den
USA. Die Gründe dafür lagen nicht etwa in einer unterschiedlich geprägten Einwanderer-
bevölkerung, sondern vor allem in den Bedingungen, die sie vorfanden. Während die
argentinische Wirtschaft in der Phase der starken italienischen Einwanderung expandier-
te und Italiener zu den ersten, großen Einwanderergruppen zählten, gehörten Italiener in
den USA zu den späteren Einwanderergruppen, weshalb sich die Bedingungen für sie
schlechter darstellten. Die unterschiedliche Anpassung zeigte sich weiterhin in der
Gründung von Organisationen, die die kulturellen, sozialen und politischen Interessen
der Migrantengemeinden vertraten. In Argentinien bzw. in Buenos Aires existierten eine
ganze Reihe von Vereinen und Clubs, in denen sich die italienischstämmige Bevölkerung
zusammenfand, in den USA war dagegen der Organisationsgrad geringer und die
Vereinszugehörigkeit und -tätigkeit nach der regionalen Herkunft der Italiener aufge-
spalten. Letzteres führte dazu, dass die Italiener in den USA ihre Interessen weniger gut
gegenüber der Aufnahmegesell schaff artikulieren konnten als dies den italienischen
Migranten in Argentinien möglich war (Klein 1983).
Soweit die Konzeptionen von Assimilation und Akkulturation kulturelle Aspekte
betrafen, formulierten sie eine statische Vorstellung von Kultur und Gesellschaft. Die
Herkunfts- und Aufnahmegesellschaften wurden als zwei Pole einander gegenüberge-
stellt, zwischen denen Migranten sich gewissermaßen auf einer Schiene der Akkultura-
tion von einem Pol weg zum anderen hin bewegten. Die Pole selbst blieben davon
scheinbar unberührt (Welz 1994). Dieses Bild ist zu Recht kritisiert und durch ein
dynamischeres Konzept ersetzt worden, demzufolge erstens immer von einem Prozess
ausgegangen werden muss, der in beide Richtungen wirkt. Nicht nur die Einwanderer
verändern sich, die Einheimischen sind ebenfalls einem Wandel unterworfen. Zweitens
stellen Kultur und Gesellschaft keine statischen Einheiten dar, deren Charakteristika
abgelegt bzw. angenommen werden können wie Kleidungsstücke. Vielmehr unterliegen
auch sie einem ständigen Wandel, der durch Migrationsprozesse entscheidend beeinflusst
wird. Ein Aspekt eines solchen Wandels ergibt sich bei der Ausbildung ethnischer
Gruppen, die vielfach auf Wanderungsbewegungen folgt.
Bei ethnischen Gruppen handelt es sich um Kollektive, deren Zusammenhalt sich
nicht »automatisch« aus der gleichen Herkunft ergibt. Vielmehr entstehen sie erst in der
Interaktion mit anderen Wir-Gruppen. In Kontaktsituationen werden soziale Grenzen
gezogen, die über die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv bzw. den Ausschluss von ihm
bestimmen. Fremdheit wird hergestellt, indem einzelne kulturelle Merkmale zur umfas-
senden Charakterisierung des Anderen herangezogen werden. Nicht kulturelle Ferne als
solche bringt Exklusion hervor, sondern die Produktion und Reproduktion kollektiver
Identitäten im Wechselspiel von Fremd- und Selbstwahrnehmung führen zur Bildung
Ein Kontinent in Bewegung 105
ethnischer Gruppen. Dies bedeutet auch, dass soziale Grenzen fortbestehen können,
wenn die kulturellen Praktiken der voneinander abgegrenzten Gruppen sich verändern
und einander angleichen (Barth 1969; Jenkins 1997). Wichtig für die Ausbildung
ethnischer Gruppen ist außerdem die Schöpfung einer gemeinsamen Vergangenheit, die
sich häufig auf einen Gründungsmythos beruft. Daraus kann die Vorstellung eines quasi-
natürlichen Zusammengehörigkeitsgefühls gespeist werden. Die »gemeinsame Ge-
schichte« liefert dann den Bezugspunkt für politisches Handeln (Elwert 1989:441). Bei
ethnischen Gruppen handelt es sich also nicht um soziale Einheiten, die aufgrund eines
immer schon vorhandenen inneren Zusammenhalts bestehen würden, sondern um
Kollektive, deren Ausbildung auf soziale Konstruktionsprozesse zurückgeht. Macht-
unterschiede zwischen den sozialen Gruppen spielen dabei eine wichtige Rolle.
Ein gutes Beispiel für die Konstruktion und Rekonstruktion ethnischer Identitäten
bildet die spanischsprachige Bevölkerung New Yorks im 20. Jahrhundert. Vor dem
Zweiten Weltkrieg bildete sich eine soziale Handlungsgruppe von »hispanos« heraus, der
Migranten aus vielen lateinamerikanischen Ländern angehörten. Die drei größten natio-
nalen Gruppen waren Puertoricaner, Kubaner und Spanier. Sie alle beriefen sich auf die
prägende Kraft der spanischen Kolonisation Amerikas und ihr gemeinsames spanisches
Erbe. Dies bildete die Basis für ein Gruppenbewusstsein, das sich u.a. in einer Vielzahl
von Vereinen ausdrückte, die die Interessen der hispanischen Bevölkerung der Stadt
vertraten. Diese Wir-Gruppe brach in den 195()er-Jahren auseinander, als der Anteil der
Puertoricaner beständig stieg und viele von ihnen sich auf ihre puertoricanische Herkunft
in Abgrenzung nicht nur zur angloamcrikanischen Gesellschaft, sondern auch zur
Gruppe der »hispanos« definierten (vgl. Hcnsel 2004:206ff).
Das Konzept der Diaspora fand in der Historiographie zunächst auf die jüdische
Geschichte Anwendung, seit einiger Zeit werden damit aber auch die historischen
Erfahrungen anderer Migrantengruppen beschrieben. Dies gilt z.B. für Schwarzafrika-
ner, deren Versklavung und die nachfolgende rassistische Diskriminierung ihrer Migra-
tion einen besonderen Charakter verliehen. Ebenso wie die jüdische Diaspora bezeichnet
Cohen die afrikanische als Opferdiaspora. Zu diesem Typus einer Diaspora zählt er noch
andere Gruppen, deren Migration allerdings für Lateinamerika von geringer Bedeutung
war. Cohen unterscheidet weitere Formen von Diaspora: die Arbeitsdiaspora, die
imperiale Diaspora, die Handelsdiaspora und schließlich die kulturelle Diaspora (Cohen
1997). Wesentlich für eine Diaspora ist neben der Verbreitung einer Gruppe über mehrere
Länder hinweg, wo sie jeweils eine Minderheit darstellt, das Vorhandensein eines
vorgestellten oder tatsächlichen Heimatlandes und darauf bezogen die Ausbildung einer
gemeinsamen Identität über Ländergrenzen hinweg. Diasporagemeinden verstehen sich
als Exilanten (Skinner 1993). Für Diasporen ist es schließlich wichtig, dass die Angehö-
rigen in unterschiedlichen Ländern miteinander in Kontakt stehen.
Die afrikanische Diaspora hat wesentlichen Einfluss auf die Ausprägung der latein-
amerikanischen Gesellschaften genommen. Der Sklavenhandel führte dazu, dass in
einigen Regionen Amerikas der Anteil der Schwarzen an der Gesamtbevölkerung relativ
106 Silke Hensel
hoch ist. Die Institution der Sklaverei verband nicht nur die verschiedenen Kolonialreiche
in Amerika miteinander, sie war auch Teil eines globalen Systems und die afrikanische
Diaspora stellte einen wesentlichen Teil dieses Netzwerkes dar (Holt 1992:40). Die
Erfahrung von Zwangsmigration und Versklavung brachte für die afrikanischstämmigen
Bevölkerungsgruppen einige Gemeinsamkeiten mit sich. An erster Stelle sind hier der
Widerstand gegen die Unterdrückung und die Suche nach Freiheit zu nennen. Im 19.
Jahrhundert führten die Abschaffung von Sklavenhandel und Sklaverei zu einer Gemein-
samkeit, allerdings verliefen diese Prozesse nicht überall gleich. Neben zeitlichen Ver-
schiebungen gestaltete sich die Abolition und nachfolgende Integration der ehemaligen
Sklaven in den verschiedenen Staaten unterschiedlich. Gemeinsam ist allen Angehörigen
der afrikanischen Diaspora in Amerika, dass für ihre kollektive Identität sowohl ihre
afrikanische Herkunft als auch ihre nationale Zugehörigkeit von Bedeutung waren.
Seit Beginn der Sklaverei beeinflussten verschiedene afrikanische und europäisch-
amerikanische Traditionen, Werte und Orientierungen einander gegenseitig, und es
entstanden oftmals synkretistische Kulturen ganz eigener Prägung. Der kollektive
Zusammenhalt der afrikanischstämmigen Bevölkerung in Amerika stützte sich dabei
nach einiger Zeit auf Afrika insgesamt und nicht mehr auf die konkrete regionale
Herkunft oder ethnische Zugehörigkeitsgefühle. Hierüber ist in den letzten Jahren eine
breite Debatte entstanden, deren Ergebnis bisher ist, dass zumindest in einigen Regionen
der Einfluss von konkreten afrikanischen Kulturen stärker war als der allgemeine Bezug
auf »Afrika« (Hensel im Druck). Diese Entwicklung hielt nach der Abschaffung der
Sklaverei an, auch jetzt beeinflussten einige transnationale Tendenzen, wie etwa der
Aufstieg des wissenschaftlichen Rassismus, das Leben aller Schwarzen ohne deshalb in
jedem Land identische Ausprägungen und Folgen zu haben. Afrika blieb oder wurde zum
Bezugspunkt der Nachfahren der Sklaven und stieg häufig zum vorgestellten Heimatland
auf. Es entwickelten sich pan-afrikanischc Vorstellungen nicht nur in Afrika, sondern
auch in Amerika und Europa (Harris 1982). Außerdem bestanden die Verbindungen
zwischen Afrika, Amerika und Europa über den Sklavenhandel hinaus auch auf der
konkreten Migrationsebene. Ehemalige Sklaven aus Brasilien und Kubaentschieden sich
z.B., nach Afrika zu gehen und verstanden dies als Rückkehr, auch wenn sie sich nicht
am Ort ihrer Herkunft niederließen (Boadi-Siaw 1993; Sarracino 1988). Darüberhinaus
bestanden Handelskontakte, die zu kulturellen Transfers beitrugen. Religiöse Utensilien
und landwirtschaftliche Produkte, wie etwa die Kolanuss, der rituelle Funktionen
zukamen, bildeten einen wichtigen Teil der aus Afrika nach Brasilien importierten
Waren. Schließlich kam es seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu politischem Austausch
zwischen verschiedenen afroamerikanischen Bevölkerungen. Informationen über die
Revolution von Haiti inspirierten Sklaven und freie Schwarze anderer Kolonien und die
erfolgreichen Revolutionäre suchten teilweise den direkten Kontakt mit Schwarzen
anderer Regionen (vgl. Geggus 2001). Diese vielfältigen Gemeinsamkeiten und Ver-
flechtungen führten zur Ausbildung eines interkulturellen, transnationalen Raumes, der
auch als »Black Atlantic« bezeichnet wird (Gilroy 1993; Thornton 1992).
Die afrikanischstämmige Bevölkerung in den Amerikas bildet ein gutes Beispiel für
die beständige »Re-konstruktion« ethnischer Identitäten. Studien über Brasilien zeigen,
dass dort ein erheblicher Wandel in Bezug auf die Wir-Gruppen-Bildung der Sklaven und
deren Nachkommen stattfand. Mieko Nishida (1993) teilt das 19. Jahrhundert bis zur
Ein Kontinent in Bewegung 107
Abolition für Bahia in folgende Phasen ein: Bis 1830 überwog insgesamt die aus Afrika
stammende Bevölkerung und so lange spielte die so genannte nacäo, also die konkrete
regionale bzw. ethnische Herkunft der Sklaven ein wichtiges Element der Identifikation.
Als jedoch der Anteil der in Afrika Geborenen an der schwarzen Bevölkerung sank,
gewann von 1831-1850 die Unterscheidung zwischen Afrikanern und den crioulos, also
den in Brasilien geborenen Nachkommen der ersten Generation von Sklaven, an
Bedeutung. Zu diesem Wandel trug auch die Repression gegen »Afrikaner« ganz
allgemein nach der Revolte von 1835 bei. In der dritten Phase von 1851 bis 1870 kam es
zur Verfestigung einer pan-afrikanischen Identität, die nicht mehr so stark nach dem
Geburtsort unterschied, sondern auf die afrikanische Herkunft bezogen war. In der letzten
Phase von 1871-1888 überwog die Mulattenbevölkerung gegenüber den Schwarzen.
Dies brachte eine stärkere Betonung der Hautfarbe bei der Ausbildung von kollektiven
Handlungseinheiten mit sich. Diese letzte Phase zeigt, dass unter den Afrobrasilianern
brasilianische Konzepte über »Rassen« und damit auch über die Einteilung der Bevölke-
rung in Gruppen die Oberhand gewannen. In den folgenden Jahrzehnten führte dieser
zunehmende brasilianische Bezug zur Vereinheitlichung der afrobrasilianischen Kultur
(Butler 1998:47ff).
Nach der Abolition blieb für die Afrobrasilianer ebenso wie für die Angehörigen der
afrikanischen Diaspora in Amerika insgesamt das Problem bestehen, welche Strategie sie
gegenüber der jeweiligen Gesellschaft wählen wollten. Das Streben nach Integration
stand dem der Separation gegenüber, ohne dass sich beide gänzlich ausgeschlossen
hätten. Die Optionen der schwarzen Bevölkerung waren dabei entscheidend von den
neuen Formen der Exklusion geprägt, die nach der Abschaffung der Sklaverei und der
formalen Gleichstellung der ehemaligen Sklaven als Staatsbürger entstanden. Charakte-
ristisch wiederum für alle afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen war die Erfahrung
von Diskriminierung und Ausschluss. Die Suche nach einem gleichberechtigten Leben
brachte im 20. Jahrhundert neue Verbindungen innerhalb der African Diaspora. Nach
dem Ersten Weltkrieg richteten Schwarze aus den USA ihr Streben auf die Auswande-
rung, da sie nicht mehr an eine Gleichberechtigung im eigenen Land glaubten. Einige
Gruppen strebten den Auftau eines Gemeinwesens von Afroamerikanern in Brasilien an.
Diese Initiativen waren von dem allgemeinen Glauben an eine »Rassendemokratie« in
Brasilien, wie sie auch dort befürwortet wurde, geprägt. Die brasilianische Regierung war
an einer Immigration von Schwarzen allerdings nicht interessiert und erteilte deshalb
keine Visa an African Americans (Butler 1998:38). Stärkeren Einfluss als in Brasilien
konnten US-amerikanische Organisationen, die eine Emigration der Schwarzen propa-
gierten, in der Karibik nehmen (vgl. Martin 1976).
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Zwangsverschleppung afrikanischer Sklaven
nach Amerika und die Institution der Sklaverei die Neue Welt entscheidend prägten und
die Auswirkungen bis heute sichtbar sind. Der afrikanische kulturelle Einfluss ist
besonders in den Ländern mit einem hohen Anteil an Nachkommen von Sklaven, also
Brasilien, Kolumbien, Venezuela, den karibischen Staaten und den USA auffällig. Die
Sklaverei und ihre Folgen stellen außerdem einen Zusammenhang innerhalb der westli-
chen Hemisphäre dar und sie verbinden den amerikanischen Kontinent mit Afrika.
Neben der afrikanischen Diaspora gibt es weitere Migrantengruppen in Amerika, die
als Teil einer Diaspora gelten. Dies trifft nicht nur auf die jüdischen Einwanderer zu,
108 Silke Hensel
sondern auch auf Chinesen und Inder (McKeown 2001; Hollett 1999). Die letzten beiden
Gruppen werden unter dieser Kategorie gefasst, da ihre Wanderung häufig zumindest in
Teilen nicht auf freiwilliger Basis stattfand und sie außerdem in Amerika als »indentured
servants« auf Plantagen beschäftigt wurden, wo die Arbeitsbedingungen häufig nicht
besser waren als die für afrikanische Sklaven. Darüber hinaus sahen sich Chinesen und
Inder besonders krassen, rassistisch motivierten Diskriminierungen ausgesetzt. Die
Migration beider Gruppen nach Lateinamerika hing nicht nur mit der afrikanischen
Diaspora zusammen, weil chinesische und indische Arbeitskräfte die ehemaligen Skla-
ven ersetzten, sondern auch, weil mit dieser Einwanderung z.T. eine Auswanderung der
afrikanischstämmigen Bevölkerung einherging. Dies war der Fall bei der Arbeits-
migration von Schwarzen aus der englischsprachigen Karibik, die zu Beginn des 20.
Jahrhunderts von der United Fruit Company für die Arbeit auf den Bananenplantagen in
Zentralamerika angeworben wurden, während indische Arbeiter in die Karibik kamen,
um dort ebenfalls auf Plantagen zu arbeiten. Der Anreiz der Westinder, nach Zentral-
amerika zu gehen, lag dabei vor allem in höheren Löhnen (Chomsky 1996:42ff).
bewegungen beitragen, spielen die regionalen und lokalen Bedingungen ebenfalls eine
wichtige Rolle. Schließlich ist die Ebene von Familien verbänden bzw. Individuen zu
beachten. Diese Auffächerung von Makro- und Mikroebene gilt auch für die Integration
von Einwanderern in die Aufnahmegesellschaft. Sie hängt von den verschiedensten
Faktoren ab, wie z.B. dem Fremdbild der Migranten, das häufig von globalen Vorstellun-
gen mit bestimmt wird. Eine solche global wirkende Ideologie stellte der Rassismus dar,
der die Menschheit unterteilt und sie in eine vermeintlich existierende Hierarchie
einordnet. Die konkreten Ausformungen der Rassenvorstellungen hingen allerdings von
den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen ab und die Bedingungen vor Ort spielten
bei der Umsetzung dieser Vorstellungen in die alltägliche soziale Praxis eine wichtige
Rolle. Schließlich bleibt festzuhalten, dass es sich beim Integrationsprozess von Einwan-
derern weder um eine linear verlaufende Entwicklung handelt, noch dass dabei Wandel
nur in einer Richtung verläuft. Nicht nur die kulturellen Orientierungen der Einwanderer
ändern sich, sondern sie beeinflussen auch die Aufnahmegesellschaft. Nicht zuletzt
deshalb gibt es in Lateinamerika so viele unterschiedliche Kulturen.
Literatur
»Kein anderes Volk hat über die Epochen hinweg den urbanen Dimensionen [seines
Lebens] so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie die Lateinamerikaner.« (Szuchmann
1996:1) Einige autochthone Kulturen beeindruckten die Conquistadoren durch ihre
hochentwickelten Städte, und spätestens in der Kolonialzeit wurde die Stadt zum
Inbegriff allen politischen und kulturellen Lebens. Dieser Prozess intensivierte sich nach
der Unabhängigkeit, die ebenfalls von den Städten ausging und die Dominanz der Städte,
vor allem diejenige der Hauptstädte, verstärkte. Besonders deutlich wird dies in dem
einflussreichen Essay des argentinischen Schriftstellers und Präsidenten Domingo
F. Sarmiento (1811-1887) über die in der Stadt ansässige »Zivilisation«, der eine
ländliche »Barbarei« gegenübergestellt wird (Sarmiento 1975). Letztere galt es in den
Augen der städtischen Eliten zu überwinden.
Zu den politisch-administrativen und kulturellen Faktoren kam mit der beginnenden
Industrialisierung ein weiterer Faktor hinzu, der das Wachstum der Städte und deren
Dominanz begünstigte. So setzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den meisten lateiname-
rikanischen Staaten ein Verstädterungs- und Metropolisierungsprozess ein, der bis heute
anhält. Während am Ende der Kolonialzeit die weitaus überwiegende Mehrzahl der Bewoh-
ner im ländlichen Raum lebte, wohnen heute 75,3 Prozent aller Lateinamerikaner in Städten.
Dies ist etwa derselbe Anteil wie in Europa und Nordamerika, währendes in Asien und Afrika
lediglich 36,7 bzw. 27,9 Prozent sind. Lateinamerika ist somit unter den Großregionen der so
genannten Dritten Welt diejenige, in welcher der Verstädterungsprozess am weitesten
fortgeschritten ist (Bähr/Mertins 1995:6). Allerdings hat die Entwicklung hin zu Mega-
städten mit den ihnen innewohnenden Problemen in den letzten Jahren dazu geführt, dass
die uneingeschränkt positive Wertung der Stadt und des städtischen Lebens einer zuneh-
mend skeptischeren Haltung gewichen ist. In den großen Städten ballen sich nicht nur
Kultur, Bildung, politische und ökonomische Macht, sondern auch Schmutz, Armut und
Gewalt. Während sich heute der Blick auf die Verkehrs- und Umweltprobleme, diefavelas
und Straßenkinder richtet, zogen zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem die Infrastruktur-
probleme und die mangelhafte Hygiene, aber auch die »unmoralischen« Lebensverhältnisse
und Freizeitvergnügen der Unterschichten die Aufmerksamkeit der Beobachter und
Politiker auf sich. Diese Phänomene und ihre Wahrnehmung sind Indikatoren gesellschaft-
licher Veränderungen und Konflikte, und in dem physischen Erscheinungsbild der Städte
spiegeln sich die sozialen Verhältnisse der jeweiligen Gesellschaft wider.
114 Barbara Potthast
man den Zeitraum von 1869 bis 1920, kommt man sogar auf das Neunfache. Zu Beginn
des 20. Jahrhunderts war etwa ein Drittel der Bonarenser im Ausland geboren, d.h.
Migranten der ersten Generation, während dieser Anteil in den Städten des Binnenlandes
zwischen 8,5 Prozent (Cördoba) und 0,2 Prozent (Corrientes) lag (Cortes Conde 1986:335-
337). Allerdings waren die meisten Einwanderer junge Männer, so dass das zahlenmä-
ßige - und wie später noch zu zeigen wird auch das soziale - Geschlechterverhältnis in
der Stadt sehr unausgewogen war.
Nachdem Buenos Aires 1905 als erste lateinamerikanische Stadt die Millionen-
grenze überschritten hatte, erreichte sie 1926 die Zweimillionen- und 1947 beinahe die
Dreimillionengrenze. Auf diesem Niveau pendelte sich die Bevölkerung der Capital
Federal ein, die Region Groß-Buenos Aires jedoch, die aus 19 kommunalpolitisch
.selbstständigen, aber räumlich und städtebaulich kaum von der Hauptstadt zu trennenden
Randstädten besteht, beherbergte 1980 bereits 10 Millionen Einwohner (Wilhelmy/
Borsdorf 1985:1930- Die sich hierin andeutende ungebremste Flächenausdehnung der
Stadt ist typisch für viele lateinamerikanischen Großstädte, auch wenn dieser Prozess
aufgrund der geographischen Bedingungen nicht immer so gradlinig und städtebaulich
unproblematisch verläuft wie in Buenos Aires. Um die Megametropolen entwickeln sich
zudem Vorstädte und Entlastungsstädte mit hohen Wachstumsraten (Bähr/Mertins
1995:35ff).
Ein ähnlicher Wachstumsprozess lässt sich in Brasilien feststellen, wobei sich hier
allerdings nicht eine übermächtigeprimary city, sondern zwei in Funktion und demogra-
phischer Situation unterschiedliche Metropolen herausbildeten, nämlich die alte Haupt-
stadt Rio de Janeiro und die - ab der Mitte des 19. Jahrhunderts - von einem kleinen
Landstädtchen konstant anwachsende Industriemetropole Säo Paulo, die heute mit mehr
als 15 Mi llionen Einwohnern eine der größten Städte der Welt ist. Brasiliens Bevölkerung
verdreifachte sich zwischen 1872 und 1930 von etwas über 10 auf mehr als 33 Millionen
Einwohner; die jährliche Wachstumsrate betrug hier um die 2 Prozent. Rio de Janeiro,
von 1763 bis 1960 die Hauptstadt des Landes, erlebte bereits durch die Übersiedlung des
portugiesischen Königshofes als Folge der napoleonischen Kriege einen städtebaulichen,
wirtschaftlichen und demographischen Aufschwung. Zwischen 1808 und 1817 wander-
ten allein 24.000 Portugiesen ein und die Stadt zählte 113. 000 Einwohner, d.h. etwa
doppelt soviel wie Buenos Aires. Säo Paulo dagegen dürfte um diese Zeit wenig mehr als
20.000 Bewohner gehabt haben. Im Jahr 1849 war die Bevölkerung Rios auf 226.000
Einwohner angewachsen, 1872 auf 275.000 und 1890 hatte die Stadt die halbe Million
überschritten. Die Millionengrenze erreichte sie 1914, was eine Verfünffachung der
Einwohnerzahl seit 1872 bedeutete. Auch in Rio war gegen Ende des 19. Jahrhunderts
mehr als die Hälfte (55 Prozent) der städtischen Bevölkerung zugewandert, der größte
Teil von ihnen aus Portugal (29 Prozent), 26 Prozent waren auf Binnenmigration
zurückzuführen (Meade 1997:47). Nach der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888
strömte darüber hinaus eine große Zahl ehemaliger Sklaven in die Stadt, in der Hoffnung,
dort ein besseres Auskommen zu finden als auf den Plantagen.
Ähnliches gilt für Säo Paulo, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Zentrum des
Kaffeeexportes einen rapiden Aufschwung nahm. Im Jahr 1900 zählte Säo Paulo 240.000
Einwohner, am Ende des Ersten Weltkrieges etwa eine halbe, 1934 dann schon eine
Million Bewohner. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es sowohl in Rio als auch in Säo
116 Barbara Potthast
Paulo erneut zu einem erhöhten Wachstum von jährlich mehr als 4 Prozent. Die absoluten
Zahlen schnellten für Rio von 1,5 Millionen im Jahr 1940 auf 4,3 Millionen 1970 und
5 Millionen 1980 hoch; Säo Paulo wuchs von 2 Millionen 1950 auf nahezu 6 Millionen
1970 und 9,6 Millionen im Jahr 1991 (Wilhelmy/Borsdorf 1985:307, 341, 348; Novy
1997:271). Der Großraum Säo Paulo wird heute auf über 20 Millionen geschätzt.
Während im Cono Sur die Wachstumsschübe um 1900 eng mit der europäischen
Masseneinwanderung zusammenhingen und erst die wirtschaftliche Entwicklung eine
starke Binnenmigration nach sich zog, war diese im Falle Mexikos der wesentliche Motor
des Verstädterungsprozesses. Allerdings stehen wir hier vor der Schwierigkeit, dass die
erste zuverlässige Volkszählung erst 1895 durchgeführt wurde, die Zäsur der Bürgerkriegs-
jahre von 1910 bis 1920 dann jedoch Vergleiche für die nachfolgenden Jahre ungeeignet
erscheinen lässt. Insgesamt verlief der Verstädterungsprozess in Mexiko langsamer als im
Cono Sur, und 1910 lebten noch 80 Prozent der Bevölkerung im ländlichen Raum. Auch
ist in Mexiko zwar ein eindeutiges Übergewicht der Hauptstadt festzustellen, doch gibt es
mit Puebla, Guadalajara, Monterrey und Merida (neuerdings auch Tijuana und Ciudad
Juärez) mehrere wichtige städtische Zentren. In Mexiko-Stadt verdoppelte sich die Ein-
wohnerzahl zwischen 1880 und 1890 beinahe (von 230.000 auf 450.000), und im Jahr 1930
hatte auch diese Stadt die Mi 11 ionenmarke übersprungen. Die Wachstumsraten ergaben sich
fast ausschließlich aufgrund von Binnenmigration, und im Jahre 1910 waren 46,6 Prozent
der Bevölkerung im Distrito Federal aus anderen Bundesstaaten zugewandert (Gucrra
1985:307). Der Sprung zur Megastadt fand in Mexiko ebenfalls in den 50er- und verstärkt
in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts statt. In dieser Zeit stieg durch forcierte Industria-
lisierung einerseits die Anziehungskraft der Metropole, in der sich die meisten Industrie-
betriebe konzentrierten (1980: 38 Prozent des BIP), andererseits wurde die Landbevölke-
rung durch diese Industrialisierungspolitik marginalisiert und wanderte in die Städte ab. Bis
zu Beginn der 80er-Jahre hielt das »milagro mexicano« und damit die demographische und
flächenmäßige Ausdehnung der Stadt an. Ihr Territorium dehnte sich von ca. 120 km2 auf
mehr als 1.000 km2 aus, die Bevölkerung wird heute auf 17 bis 20 Millionen geschätzt,
womit Mexiko (direkt nach Säo Paulo) zu den fünf größten Städten der Welt zählt.
Bekanntermaßen geht diese Entwicklung aber mit einer hohen Anzahl von Marginal-
siedlungen und angesichts der geographischen Bedingungen des Hochlandes mit noch
schlimmeren Umweltproblemen einher, als sie in Megastädten ohnehin stets auftreten.
Mexiko-Stadt gilt als die Metropole mit der höchsten Umweltbelastung durch Emissionen
in der Welt. Dies hat, zusammen mit wirtschaftlichen Problemen, in Mexiko, aber auch in
anderen Megastädten, in den letzten zehn Jahren zu einer gewissen Trendwende geführt, die
das Wachstum der Megastädte bremst (Bähr/Mertins 1995:29-37, 77-81).
Kehren wir zurück zu den Anfängen der Metropolisierung am Ende des 19. Jahrhunderts
und betrachten wir zunächst die städtebaulichen, sodann die sozialen und kulturellen
Auswirkungen. Diese sollen hier etwas eingehender geschildert werden als die jüngsten
Entwicklungen, da sie nicht nur die unabdingbare Vorgeschichte der heutigen Situation
darstellen, sondern auch das Muster vorgaben, das bis heute weitgehend ungebrochen ist.
Urbanisierung und sozialer Wandel 117
durch den Umbau der Innenstadt weiter forciert wurde (Meade 1997:116-125). Die alte,
auf patriarchalischen Hierarchien basierende Gesellschaft hatte diese räumliche Unter-
scheidung nicht benötigt, sie war sogar eher auf das Zusammenleben mit den abhängigen
Bediensteten angewiesen. Doch nun gerieten die alten Gewissheiten durch die Aufhe-
bung der Sklaverei, die europäische Einwanderung und die Industrialisierung zuneh-
mend ins Wanken und wurden durch andere Abgrenzungskriterien und Sozialbeziehungen
ersetzt. Das Wohnviertel wurde nun zu einem Indikator sozioökonomischer Stellung.
Außer der Strukturierung neuer Sozialbeziehungen dienten die »Verschönerungen«
der Städte nach europäischem, zumeist Pariser Vorbild auch der Selbstvergewisserung
der Nation bzw. der nationalen Elite. Die neuen Prachtstraßen wurden geschmückt von
Bauten im Stil der belle epoque, die ausländischen und inländischen Investoren den
Wohlstand und die Modernität des Landes vor Augen führen sollten. Museen, Theater
und Opernhäuser dienten demselben Zweck. Die Prachtstraßen beherbergten auch die
ersten Telegraphenbüros und die neuen Regierungsgebäude, die ebenfalls als Ausweis
wirtschaftlichen und politischen Fortschritts galten. Die neuen Wirtschaftseliten wollten
mit diesen Bauten nicht nur zeigen, dass sie auf der »Höhe der Zeit« waren, sondern auch
den Stolz der Nation und damit die noch immer prekäre nationale Identität stärken. Hierzu
errichtete man entlang der Avenuen nationale Monumente wie Siegessäulen, die an die
Unabhängigkeit erinnerten, Pantheone und Denkmäler. Besonders deutlich wird dies am
mexikanischen Paseo de la Reforma, der bereits von Kaiser Maximilian angelegten
Verbindung zwischen dem Schloss von Chapultepec und dem Nationalpalast. Unter
Porfirio Diaz wurde dieses Projekt unter bürgerlichen Vorzeichen fortgeführt. So wurde
nun eine neue Glorieta (nach dem Vorbild der Pariser etoües) mit einem Monument zu
Ehren von Cuauhtemoc, dem letzten Aztekenherrscher, aber auch eines für Christoph
Kolumbus errichtet. Weitere Denkmäler aus der nationalen Epoche, vor allem der Zeit
von Benito Juarez, gaben im Alameda-Park eine neue Lesart der nationalen Geschichte
vor (Johns 1997; Tenorio Trillo 1996).
Neben den immer reicher und mächtiger werdenden Eliten forderten zunehmend
andere Gruppen Platz und Gehör im öffentlichen Raum. Dies waren die Mittel- und
Unterschichten, aber auch die Frauen, die - mit Ausnahme der Unterschichten - bislang
weitgehend auf die häusliche Sphäre beschränkt gewesen waren. Buenos Aires ist das
deutlichste Beispiel fürdiese Entwicklung. Wirtschaftswachstum und Massenimmigration
bewirkten eine allgemeine Wohlstandssteigerung; Modernisierungsverlierer hingegen
waren hauptsächlich die traditionellen Gewerbebetriebe oder veraltete Transportunter-
nehmen. Durch das Anwachsen des tertiären Sektors entstand eine neue und relativ breite
Mittelschicht, die sich zum überwiegenden Teil aus Immigrantinnen und Immigranten
rekrutierte. Obwohl es schwierig ist, anhand der Zensusdaten genaue Zahlen zu ermitteln
und die Definition von Mittelschicht in dieser Umbruchsphase ohnehin problematisch ist,
geht man davon aus, dass der Anteil der Mittelschicht von 12 bis 15 Prozent im Jahr 1869
auf 35 bis 40 Prozent im Jahr 1914 anwuchs (Gallo 1986:365-372; Alvarez 1996:140).
Auch in Buenos Aires gab es erheblichen Wohnraummangel, und die Lebensbedingun-
gen in den überfüllten conventillos wurden zu einem ernsthaften existenziellen Problem
für viele Einwanderer - nicht nur aus gesundheitlichen Gründen, sondern auch aus
ökonomischen. Die Mieten in den heruntergekommenen Häusern verschlangen nicht
selten ein Drittel des Monatslohnes, so dass es 1907 in Buenos Aires zu dem ersten
Urbanisierung und sozialer Wandel 119
lieferten, auch in ihrer eigenen Sichtweise, einen wichtigen Beitrag für die Nation und die
Gesellschaft. Die Berufstätigkeit der Frauen wurde gerade in der Mittelschicht als ein
Weg deklariert, diese aus der Abhängigkeit von den Eltern zu befreien, ihnen eine
Liebesheirat zu gestatten und die Gründung einer glücklichen Familie zu ermöglichen
(Ramosl987; Menendez 1997:92).
Um die Wende zum 20. Jahrhundert rief eine besondere Kategorie erwerbstätiger
Frauen, die Prostituierten, eine breite öffentliche Diskussion hervor. Natürlich war dieses
»älteste Gewerbe der Welt« auch in Lateinamerika nicht neu, es ist jedoch auffällig, dass
es in fast allen Staaten gerade um diese Zeit verstärkt als Problem betrachtet wurde. Durch
die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen mussten sich die traditionellen Moralvor-
stellungen verändern. Weibliche Zurückgezogenheit im Hause war für Mittel- und
Oberschichtfrauen kein gangbarer Weg mehr, um Ehrbarkeit zu demonstrieren. Sauber-
keit, Pünktlichkeit, Sparsamkeit und moralische Überlegenheit wurden nun Erkennungs-
merkmale der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Gruppen gegenüber den zunehmend
als bedrohlich empfundenen Arbeiterinnen und Arbeitern. Die Prostituierte wurde dabei
zum Symbol für die Gefahren, denen die mittleren und oberen Schichten und vor allem
deren Frauen ausgesetzt waren. Eine Erhebung für Buenos Aires aus dem Jahre 1910 zeigt
allerdings, dass - entgegen dem zeitgenössischen Diskurs - nicht diejenigen Frauen in
die Prostitution abglitten, die in den Fabriken arbeiteten, sondern vor allem solche, die
nicht in die neue Wirtschaftsstruktur integriert worden waren. Prostitution war somit
keine Folge der Industrialisierung und der Fabrikarbeit von Frauen, und die Befürchtun-
gen, die Fabriken würden zu Unmoral verführen, rührten eher aus der Angst, die
werktätigen Frauen könnten der Kontrolle ihrer Ehemänner oder Väter entgleiten. Hinzu
kam, dass sich im Zuge der allgemeinen Modernisierung in den lateinamerikanischen
Großstädten auch das gesellschaftliche Leben veränderte. Die zuvor im Wesentlichen auf
große private Häuser und Paläste konzentrierte Geselligkeit verlagerte sich in den
öffentlichen Raum. Es entstanden neue Freizeitzentren, die gerade von der Mittel- und
Oberschicht genutzt wurden, wie Opernhäuser, Theater, Cafes oder, für die unteren
Schichten, die Tangobars und andere Etablissements. Mit dieser neuen Art von Öffent-
lichkeit, die auch neue öffentliche Räume für Frauen schuf, mussten die Grenzen dessen,
was für »ehrbare Frauen« zulässig war und was nicht, neu definiert werden. Der Besuch
von Theatern und Cafes war unbedenklich, nicht jedoch derjenige einer - damals stets mit
Prostitution assoziierten - Tangobar. Daher bot sich die Prostituierte als Gegenbild zur
modernen, weltoffenen Mittel- und Oberschichtfrau an, die zwar Freizeitvergnügungen
außerhalb des Hauses suchte, jedoch die Grenzen des Zulässigen nicht überschritt (Guy
1991:44-76; Caulfield 2000:78-144; Potthast 2003:222-230).
Das Themader Prostitution wurde nicht nur von Politikern und Moralisten aufgegrif-
fen, es diente einigen gesellschaftlichen Gruppen auch dazu, ihre Position und damit
ihren Einfluss innerhalb der sich wandelnden Gesellschaft zu stärken. Ärzteschaft, Justiz,
Polizei und Gesundheitsverwaltung, aber auch der Stadtrat, der die Gesetze im Einzelnen
umsetzte und die Behörden kontrollierte, stritten um die richtigen Konzepte und um
Kompetenzen. Diese Debatten führten aber zu weiteren Reformen. Die Ärzte hatten
zunehmend erkannt, dass Epidemien wie Gelbfieber, Cholera oder Tuberkulose sich in
den unteren Schichten aufgrund der schlechten hygienischen Bedingungen und Ernäh-
rungslage am ehesten ausbreiteten. Durch ihren Einsatz kam es zu staatlichen Program-
Urbanisierung und sozialer Wandel 121
men zur Förderung der hygienischen und sanitären Wohnsituation in den ärmeren
Stadtvierteln. Die Programme richteten sich vor allem an die Frauen, denen man die
Hauptverantwortung für die Erziehung übertrug und sie dazu anhielt, die Kinder stärker
nach bürgerlichen Vorstellungen von Sauberkeit, Ordnung, Pünktlichkeit und Fleiß zu
erziehen.
»Verantwortungsvolle Mutterschaft« und Erziehung sowie Hygiene wurden immer
mehr zu den bestimmenden Themen, und die Frauen, vor allem die der Unterschicht, zum
Objekt von staatlichen Regelungen und Maßnahmen, mit denen man nicht so sehr die
Situation der Frauen verbessern als vielmehr soziale und wirtschaftliche Missstände
beheben wollte. Durch eine verbesserte Erziehung der Kinder und Maßnahmen im
medizinischen und sanitären Bereich erhoffte man sich eine physische und moralische
Gesundung der Gesellschaft insgesamt, und die Mütter als Erzieherinnen der zukünftigen
Generation galten als ihre Agenten. Dies bürdete den Frauen Lasten und neue Verantwor-
tung auf, bot aber gleichzeitig eine Möglichkeit, mehr Rechte einzufordern. Neben
politischen Rechten betraf dies vor allem das Recht auf Bildung. Da die Frauen für die
Gesundheit und das Wohlergehen ihrer Familie verantwortlich gemacht wurden, musste
man ihnen auch eine entsprechende Ausbildung zukommen lassen. »Wissenschaftliche
Kindererzichung« war das Zauberwort und erschien als eine folgerichtige Ergänzung zur
allgemeinen Erziehungsreform des späten 19. Jahrhunderts (Lavrin 1991:97—124, 3 5 7 -
362).
Die Frage der Bildung ist im Argentinien des 19. Jahrhunderts untrennbar mit dem
Namen Domingo F. Sarmiento verknüpft. Unter seiner Präsidentschaft wurde 1870 die
Escuela Normal de Paranä gegründet, in der die zukünftigen maestros und maestras
ausgebildet wurden; sie legte den Grundstein für das (lange Zeit hervorragende) argen-
tinische Bildungssystem.
Die neuen Schulen sollten zum einen die Bildung vom Einfluss der Kirche lösen, zum
anderen die Zivilisierung vor allem der ländlichen Bevölkerung erreichen, unter der
Analphabetismus noch immer die Regel war. Den Frauen kam für die Hebung des
allgemeinen Bildungsniveaus in den Augen Sarmientos und anderer lateinamerikani-
scher Staatsmänner dabei eine wichtige Aufgabe zu, sowohl in ihrer Rolle als Lehrerin
als auch als Mutter (Lozano 1996:414-424).
Für Frauen der Mittelschichten war der Beruf der Lehrerin eine der wenigen
gesellschaftlich anerkannten außerhäuslichen Beschäftigungen, zumal er als eine Aus-
weitung der Mutterrolle in den öffentlichen Raum hinein gesehen werden konnte. Zu
Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Argentinien und anderen lateinamerikanischen
Ländern bereits die ersten Akademikerinnen, die meisten von ihnen Ärztinnen, die
allerdings häufig im Ausland studiert hatten. Diese vergleichsweise gut ausgebildeten
Mittel- und Oberschichtfrauen engagierten sich nicht nur in der Diskussion um die
Gesundheitsreformen und die Prostitution, sondern waren auch Trägerinnen der sich
allmählich formierenden Frauenbewegung. So sind Bildung, außerhäusliche Erwerbstä-
tigkeit von Frauen, wissenschaftlich-medizinische Reformprojekte, Mutter- und
Arbeitsschutzgesetze für Frauen und der Beginn einer Frauenbewegung eng miteinander
verknüpft.
122 Barbara Potthast
Die Frauenbewegung
Feministische Ideen, wie sie in Europa und den Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts aufgekommen waren, fanden gegen Ende des Jahrhunderts auch in
einigen lateinamerikanischen Ländern Anklang, vor allem im Cono Sur sowie in Teilen
Mexikos. Dort hatten wirtschaftliche Modernisierung und europäische Einwanderung
einen sozialen Wandel herbeigeführt, der nach politischen und gesellschaftlichen Refor-
men verlangte. Hinzu kam der Fortschrittsglaube der liberalen und positivistischen
Staatsmänner, die gerade in den Mittelschichten und den neuen Frauenberufen wie
Telegraphistin, Stenotypistin oder Lehrerin ein Symbol der Modernität sahen und sich
daher feministische Forderungen nach besserer Bildung und mehr zivilen Rechten für
Frauen zu eigen machten.
So war die Frauenbewegung in ihren Anfängen vorrangig ein Mittel- und Oberschicht-
phänomen. Es waren zunächst vor allem die Lehrerinnen, die sich organisierten, um aus
feministischer Sicht rechtliche, politische und soziale Benachteiligung von Frauen zu
kritisieren. Schließlich stellten sie die erste Generation gebildeter Mittelschichtfrauen,
die sich zugleich in einer noch immer prekären wirtschaftlichen und sozialen Position
befanden. Darüber hinaus standen sie über die Schulen und die Berufsorganisationen
miteinander in Kontakt, wodurch nicht nur die gemeinsamen Probleme und Interessen
deutlich wurden, sondern auch ein Zusammenschluss und konzertierte Aktionen erleich-
tert wurden.
Die Tatsache, dass es sich um gebildete Frauen handelte, die immer auch allgemein
wichtige gesellschaftliche Anliegen vortrugen, ermöglichte die Ausnutzung des interna-
tionalen Parketts, das von Anfang an eine wichtige Rolle für die lateinamerikanischen
Feministinnen spielte. Den Beginn einer länderübergreifenden Frauenbewegung kann
man mit dem ersten wissenschaftlichen Frauenkongress 1910 in Buenos Aires ansetzen,
auf dem anlässlich der Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit Modernität demonstriert
werden sollte und Themen wie Gesundheit, Hygiene, Kinderernährung, Mutterschutz
sowie Erziehung und Bildung diskutiert wurden. Diese und folgende Kongresse wandel-
ten sich immer stärker zu einem Forum für gebildete Frauen der Mittel- und Oberschicht
und gipfelten in politischen Forderungen. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-
derts spielten internationale Organisationen und Bewegungen (UN-Dekade der Frauen,
Weltfrauen-Kongress in Mexiko 1975, internationale Solidaritätsbewegungen) eine
wichtige Rolle für die lateinamerikanischen Feministinnen.
Der Feminismus bettete sich, damals wie heute, ein in die politischen Strukturen der
Zeit, und der allgemeine Wille zum Wandel gab den Anliegen der Frauen neue Anstöße.
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war in den meisten lateinamerikanischen (und
vielen europäischen) Staaten nur etwa ein Zehntel der männlichen Bevölkerung an
Wahlen beteiligt. Der Ruf nach einer wirklichen Demokratisierung - das heißt einer
Erweiterung der an der Politik und dem Staat beteiligten Gruppen über die bis dahin
herrschende Oberschicht hinaus -, wie er sich in Argentinien zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts und in Brasilien mit der Ausrufung der Republik 1889 äußerte, bezog sich zwar
zunächst nur auf den männlichen Teil der Bevölkerung, gab den Frauen jedoch einen
Anlass, ihre staatsbürgerliche Rolle zu diskutieren. In diesem Zusammenhang verdeut-
lichte der Ausschluss der Frauen aus der Politik die Defizite der sich demokratisch
Urbanisierung und sozialer Wandel 123
nennenden Systeme noch stärker - ein Prozess, der sich in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts beim Übergang von diktatorischen zu demokratischen Regierungen in
ahnlicher Form wiederholen sollte; so etwa, als eine Demonstration brasilianischer
Frauen für bessere Lebensbedingungen zum ersten großen Protest gegen die Militärre-
gierung wurde oder die chilenische Frauenbewegung das Motto ausgab: democracia en
(•/ pat's y democracia en la casa (Demokratie zu Hause und Demokratie im Lande).
So entstanden Frauenbewegungen vor allem in den Ländern, die mehr oder weniger
stark von der europäischen Immigration geprägt waren und die über ein relativ modernes
Hrziehungssystem verfügten, das beiden Geschlechtern offen stand. Die Einwanderer aus
Huropa brachten neue soziale und politische Ideen ins Land und veränderten die
gesellschaftlichen Strukturen tief greifend. In diesen »modernen« und urban geprägten
lateinamerikanischen Staaten stimmten die Ziele der Frauen in vieler Hinsicht mit denen
der Männer überein. Es war gesellschaftlicher Konsens, dass ein besseres Gesundheits-
system, ein soziales Netz oder ein modernes Erziehungssystem für den Fortschritt der
Nation von Bedeutung waren, und bald sahen auch viele Männer, dass man Frauen, die
solch wichtige öffentliche Aufgaben übernahmen, die staatsbürgerlichen Rechte nicht
mehr vorenthalten konnte. Bis diese gewährt wurden, war allerdings noch eine Reihe von
Problemen zu überwinden. So erhielten die Frauen in Argentinien trotz der Tatsache, dass
sich hier eine der ersten und aktivsten Frauenbewegungen in Lateinamerika gebildet
hatte, erst 1947 die vollen politischen Rechte, in Uruguay und Brasilien wardies hingegen
schon früher geschehen (Miller 1991; Potthast 2003:251-382).
Bildung
Ein anderes, bis heute drängendes Problem vieler lateinamerikanischer Staaten ist das
defizitäre Bildungssystem. Dies hing auch damit zusammen, dass das weitgehend von der
Kirche getragene koloniale System im Zuge der Unabhängigkeitskriege, der internen
Auseinandersetzungen um die Staatsbildung und der liberalen Reformen zusammenge-
brochen war. Daher begannen die meisten Staaten nach ihrer politischen und ökonomi-
schen Konsolidierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufbau eines
staatlich geförderten Bildungssystems. In den Städten und in den wohlhabenden Ländern
wie z.B. Argentinien oder Chile erzielte man auch gute Erfolge, insgesamt jedoch blieb
fehlende Bildung für breite Schichten der Bevölkerung eines der gravierendsten Proble-
me der lateinamerikanischen Staaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Erst in den 50er-Jahren trat eine substanzielle Veränderung der Bildungssituation
ein, als sich die UNESCO und die Organisation Amerikanischer Staaten der Angelegen-
heit annahmen. Ziel der Initiative war zum einen die Steigerung der Anzahl von Schulen
und Schülern, insbesondere mit Blick auf die Grundschulen, zum anderen die Reform der
Sekundarstufenausbildung. Diese hatte bis dahin vornehmlich in der spanischen Tradi-
tion der Geisteswissenschaften gestanden, nun sollte die technische Ausbildung verbes-
sert werden. Es wurden deutschen Fachoberschulen und Fachhochschulen vergleichbare
Einrichtungen gegründet, die vor allem der städtischen Mittelklasse zugute kamen.
Männer wurden im Ingenieurbereich und in landwirtschaftlichen Berufen ausgebildet,
Frauen im Handels- und Dienstleistungssektor. Die Ergebnisse dieser Anstrengungen
124 Barbara Potthast
drücken sich in folgenden Zahlen aus: Während man 1950 die gesamte Anzahl lateiname-
rikanischer Schüler auf etwa 16 Millionen schätzte, waren es 1980 85 Millionen. Die
Grundschulabschlüsse stiegen von 14,2 auf 64,5 Millionen, die Sekundarstufenausbildung
von 1,5 auf 16,5 Millionen. Allerdings spiegeln diese Zahlen auch das allgemeine
Bevölkerungswachstum wider, denn im genannten Zeitraum kann man von einer Ver-
doppelung der Bevölkerung in den meisten lateinamerikanischen Staaten ausgehen.
Zum andern sind die regionalen Unterschiede erheblich. Länder wie Kuba, aber auch
Chile und Costa Rica, in denen bereits vor dieser Bildungsoffensive eine relativ hohe
Alphabetisierungsrate anzutreffen war, konnten ihre Werte auf ein sehr hohes Niveau
steigern; in Ländern wie Peru oder Guatemala, in denen eine Mittelklasse weitgehend
fehlte und das Land von traditionellen Eliten beherrscht wurde, konnten erst ab den 60er-
oder 70er-Jahren Fortschritte festgestellt werden, und diese waren größtenteils auf die
städtischen Zentren beschränkt. Nach wie vor besteht in Lateinamerika ein beträchtlicher
Unterschied zwischen urbaner und ländlicher Region, der in Ländern wie Peru, Guate-
mala und Bolivien, teilweise auch in Mexiko mit einem Gegensatz zwischen mestizischer
oder weißer und indianischer Bevölkerung einhergeht. In diesen Gegenden klaffen
zudem die Alphabetisierungsraten von Männern und Frauen weit auseinander. Zahlen
der UNESCO und lateinamerikanischer Organisationen ergaben für die 80er-Jahre eine
Differenz der Alphabetisierung zwischen städtischem und ländlichem Bereich von ca.
einem Viertel (25,4 Prozent bei Männern, 27,5 Prozent bei Frauen). Der gender gap, die
Differenz zwischen den Geschlechtern, betrug in den Städten »nur« 6,3 Prozent, auf dem
Lande dagegen fast das Doppelte, nämlich 12 Prozent. Zu berücksichtigen sind auch hier
wieder die regionalen Unterschiede. Haiti, Guatemala, Bolivien und Peru, gefolgt von El
Salvador, Ecuador und Mexiko weisen die größten Differenzen zwischen männlicher und
weiblicher Alphabetisierung sowie ländlicher und städtischer Bevölkerung auf. Im
Vergleich zu diesen Ländern zeigt sich in den argentinischen Städten eine annähernd
ausgewogene Bildung von Männern und Frauen, auch in Costa Rica und Chile. Im
Hinblick auf die indianische Bevölkerung ist noch einmal festzuhalten, dass in Guatema-
la eine deutliche Mehrheit der indigenen Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann,
zumal diese auch der spanischen Sprache nicht mächtig ist. Hier ist der gender gap
ebenfalls besonders groß. In Bolivien waren im Jahr 2000 20,6 Prozent der Frauen, aber
nur 7,9 Prozent der Männer Analphabeten, in Guatemala waren es sogar 38,9 Prozent
gegenüber 23,8 Prozent. In den meisten anderen Ländern, vor allem in Argentinien,
Brasilien, Chile und Kolumbien, treten dagegen so gut wie keine geschlechtsspezifischen
Unterschiede in der Alphabetisierung auf. Bei den als alphabetisiert registrierten Perso-
nen handelt es sich allerdings vielfach um funktionale Analphabeten, d.h. Personen, die
einmal lesen und schreiben gelernt haben, aufgrund mangelnder Übung inzwischen
jedoch wenig mehr als ihre eigene Unterschrift leisten können.
Was die Universitäten betrifft, so lässt sich insgesamt ein erfreulicher Trend
feststellen, da sowohl eine prozentuale Zunahme der universitären Ausbildung als auch
eine Verringerung der gender gaps zu verzeichnen sind. Während 1960 nur 2 Prozent der
Frauen und 4 Prozent der Männer eine Universität besuchten, waren es 1985 schon 17
Prozent der Frauen und 20 Prozent der Männer. Auf 100 eingeschriebene Studierende
kamen 1960 in vielen Staaten weniger als 30 eingeschriebene Frauen, etwa in Bolivien,
Ecuador, El Salvador, Guatemala, Haiti, Honduras, Mexiko und Nicaragua. Im Jahr 1985
Urbanisierung und sozialer Wandel 125
oder sie liegen, wie in Rio, zwar innerstädtisch, aber auf Territorien, die als ungeeignet
für Bauten gelten, so wie die Hügel in Rio de Janeiro oder die ausgetrockneten Seen im
Nordwesten von Mexiko-Stadt. Sie sind aber auch marginal, weil sie nicht an die
städtische Infrastruktur angebunden sind und die Qualität ihrer Behausungen völlig
unzureichend ist. Allerdings haben die favelas, barrios perdidos, oder, wie sie in Lima
euphemistisch genannt werden, barrios jovenes die Tendenz, sich im Laufe der Zeit zu
konsolidieren. Wohnstandards und Lebensqualität verbessern sich, sowohl durch Selbst-
hilfe als auch durch staatliche Sanierungsprojekte. Wie schnell dies geht, hängt vornehm-
lich von der boden- bzw. besitzrechtlichen Lage ab, d.h. vor allem davon, ob sie legal oder
semi- bis illegal sind. Die illegalen Viertel entstehen durch die - zumeist nächtliche -
Besetzung privaten oder öffentlichen Landes, auf welchem sofort Hütten errichtet
werden, um Besitzansprüche zu demonstrieren. Die legalen oder semilegalen Marginal-
viertel basieren auf genehmigter oder tolerierter Parzel lierung und Bebauung, manchmal
sogar auf dem offiziellen Verkauf von Land. In diesem Fall gelten die Marginalviertel
allerdings im engeren Sinne nicht mehr als favelas (Bähr/Mertins 1995:142-150; Pino
1997:38)
Die Semi- oder Illegalität hat jedoch neben der Rechtsunsicherheit (Gefahr der
Vertreibung) gravierende Konsequenzen für die Wohnverhältnisse, denn sie verhindert
die Anbindung an die städtische Elektrizitäts- und Wasserversorgung, die Müllabfuhr
und anderes mehr. Viele Favelabewohner helfen sich durch das illegale Abzapfen des
Stroms, was aber wiederum improvisierte und überlastete Leitungen mit den entspre-
chenden Gefahren hervorruft. Neben der schlechten technischen Infrastruktur besteht
auch ein Defizit in der Versorgung mit sozialer Infrastruktur wie Schulen, Kinderkrippen
oder Gesundheitsstationen. Auch Polizei und Justiz fehlen, so dass Drogen, Klein-
kriminalität, Banden und Schutzgelderpressungen Einzug halten. Es entsteht eine Spirale
von Armut, Illegalität und Gewalt, die durch die gesellschaftliche Stigmatisierung der
favelados noch verstärkt wird. Allerdings ist dies kein unausweichlicher Teufelskreis,
wie lange angenommen wurde. Nachbarschaftshilfe und klientel istische Netze, aber auch
Sambaschulen und Fußballvereine sind von existenzieller Bedeutung für das Leben in
den favelas. Diese gewachsenen Sozialstrukturen waren mit verantwortlich dafür, dass
in Mexiko wie in Rio oder Säo Paulo alle Versuche fehlschlugen, das Problem mit
staatlichen Wohnprogrammen in Massenwohnanlagen zu lösen, wie sie überall in der
Welt in den 60er- und zu Beginn der 70er-Jahre entstanden. Unter der Militärdiktatur in
Brasilien zeigte sich die Problematik mit besonderer Deutlichkeit, als diese versuchte, die
favelas gewaltsam zu zerstören und deren Bewohner in neue Massenquartiere umzusie-
deln. Die schlechte Bauweise der neuen Siedlungen, die mangelnde Anbindung an die
Arbeitsplätze und fehlende soziale Infrastruktur führten dazu, dass diese von den
favelados nicht angenommen wurden und bald wieder verfielen. Auch konnten viele
Bewohner selbst die staatlich subventionierten niedrigen Mieten nicht aufbringen. Erst
Versuche der neuen demokratischen Regierungen, die Viertel unter Beteiligung ihrer
Bewohner an den Entscheidungen aufzubessern, zeigen erste Erfolge (Bähr/Mertins
1995).
Doch noch immer wachsen die favelas und cortigos, und die Zahl der Obdachlosen
und Straßenkinder nimmt zu, wie sich am Beispiel von Säo Paulo zeigen lässt. Neben den
angeführten allgemeinen wirtschaftlichen Trends der letzten zwei Jahrzehnte kann man
Urbanisierung und sozialer Wandel 127
für Säo Paulo, wie auch für andere lateinamerikanische Städte, den Verlust von Arbeits-
plätzen im Industriesektor und eine zunehmende Bedeutung des tertiären Sektors
feststellen. Dieser führte zu einer Konzentration von Büro- und Handelshäusern in den
Zentren, die wiederum Wohnraum vernichteten. Wer es sich leisten konnte, zog an den
Stadtrand, wo bessere Wohnbedingungen herrschten, und die ehemals bürgerlichen
Wohnungen wurden, sofern nicht zu Büroflächen umgebaut, in corticos umgewandelt.
Noch immer stellt diese Wohnform somit eine wichtige Überlebensstrategie der Unter-
schichtbevölkerung in den Städten dar, vor allem für diejenigen, die keine Behausung in
einer der favelas finden konnten. Die favelas haben zudem den Nachteil, dass sie meist
weiter entfernt vom Zentrum liegen, wo die meisten Angehörigen der Unterschichten und
die Obdachlosen »arbeiten« (Coy 2002:16-23).
Im Südwesten Säo Paulos waren dagegen mit den jardins bereits in den 1960er- und
70er-Jahren hochwertige Wohngebiete entstanden, die nun durch Hochhauskomplexe
mit Bürogebäuden, Banken und großen Einkaufszentren ergänzt wurden. Die überall in
Lateinamerika entstandenen Einkaufszentren nach US-amerikanischem Vorbild sind
nicht nur ein Sinnbild für die Globalisierung der Lebensstile und Konsumgewohnheiten,
sondern auch für die verstärkte sozialräumliche Segregation in den lateinamerikanischen
Städten. Die Shoppings sind nicht nur Einkaufszentren, sondern beherbergen auch
Restaurants und Kinos, die vorwiegend von den Bewohnern des Viertels besucht werden.
Das öffentliche Leben, das sich früher in den Cafes, Restaurants und kulturellen
Einrichtungen des Zentrums abspielte, verlagert sich zunehmend in die »Wohlstands-
enklaven« am Stadtrand oder in die country clubs des Umlandes. Anders aber als noch
vor 100 Jahren sind diese Enklaven nur noch den Wohlhabenden und ihren Angestellten
zugänglich, da sie von hohen Mauern und eigenen Wachdiensten abgeschottet werden.
Das tägliche Leben der Privilegierten spielt sich somit vorrangig in zugangskontrollierten
Wohn-Ghettos, Shopping-Centers und Business-Parks ab, die mit dem Leben der Mittel-
und Unterschichten in der Stadt kaum noch Berührung haben - zumal wenn sich die
Superreichen angesichts der Verkehrsprobleme in Säo Paulo auch innerstädtisch nur
noch mit dem Hubschrauber fortbewegen. Im gated community-Phänomen schlägt sich
vor allem die Globalisierung der Lebensstile der Privilegierten in den lateinamerikani-
schen Städten nieder. Insgesamt werden die Trennlinien zwischen öffentlichem und
privat kontrolliertem Raum zunehmend unüberbrückbar, mit dem Ergebnis, dass die
Fragmentierung der lateinamerikanischen Stadt immer sichtbarer wird. Sie entspricht
heute mehr denn je dem Bild von den »Inseln der Reichen in Ozeanen der Armen« (Coy
2002:30).
Literatur
Alvarez, Juan (1996): Buenos Aires in the Early Twentieth Century. In: Joseph, Gilbert/Szuchmann,
Mark (Hg.): I saw a City Invincible. Urban Portraits of Latin America. Wilmington, Delaware:
SRBooks: 133-147
Bahr, Jürgen/Mertins, Günter (1995): Die lateinamerikanische Großstadt. Verstädterungsprozesse
und Stadtstrukturen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Caulfield, Sueann (2000): In Defense of Honor. Sexual Morality, Modernity, and Nation in Early-
Twentieth-Century Brazil. Durham/London: Duke Univ. Press
Bernd Hausberger
Einleitung
Wenn man von Lateinamerika spricht, dann meint man damit das Gebiet der ehemaligen
Kolonien Spaniens und Portugals in der Neuen Welt; einige werden die französischen,
englischen und niederländischen Teile der Karibik dazuzählen (und andere nicht). Dieser
Raum war nur ein einziges Mal in seiner Geschichte politisch geeint, nämlich zwischen
1580 und 1640. In diesen sechs Jahrzehnten der Verbindung von Spanien und Portugal
bildeten zumindest die von den iberischen Mächten beherrschten Teile Süd- und
Nordamerikas zusammen mit einem Netz von Stützpunkten an den afrikanischen und
asiatischen Küsten sowie den Territorien Spaniens in Italien und in den Niederlanden die
katholische Monarchie der spanischen Könige. Doch diese Einheit glich mehr einem nur
durch eine imperiale katholische Reichsideologie und dünne dynastische Bande zusam-
mengehaltenen Agglomerat verschiedener Territorien als einem integrierten Ganzen.
Die Union zwischen Portugal und Spanien zerfiel schon 1640, im karibischen Raum
gingen mehrere Gebiete an die europäischen Konkurrenten der Spanier verloren und im
frühen 19. Jahrhundert führten die Unabhängigkeitsbewegungen in den iberischen
Kolonien zu einer weiteren Zersplitterung.
Trotzdem ist der Begriff »Lateinamerika« heute zu einer allgemeinen Sprach-
konvention geworden und impliziert die Idee einer Einheit, die als gegeben angenommen
wird. Als die iberische Kolonialherrschaft in Amerika zusammenbrach, gab es den
Begriff jedoch noch gar nicht. Er entstand erst Jahrzehnte später, als die allgemeine
Desillusionierung über den Lauf der Entwicklung zu einer breiten Auseinandersetzung
über das Wesen und die Zukunft der neuen Nationen geführt hatte, deren Wurzeln freilich
teilweise weit in die Kolonialzeit zurückreichen. »Lateinamerika« bezeichnet in diesen
bis heute anhaltenden Debatten keinen primär geographisch definierten, sondern einen
mit historisch-kulturalistischen Argumenten konstruierten Raum und ist somit zuerst
einmal ein dikursives Phänomen. Wie jeder Diskurs ist aber auch der um Lateinamerika
einerseits in einer historischen Praxis verankert, in der er entstand, andererseits blieb er
132 Bernd Hausberger
nicht ohne Folgen auf die praktische Entwicklung, die er gestalten will. Statt eines
monolithischen Gedankengebäudes besteht die Debatte um Lateinamerika dabei eher aus
einer Vielzahl von Parallel- und Gegendiskursen (und Parallel- und Gegenprojekten), die
sich gegenseitig zu integrieren oder zu verdrängen versuchen.
Historisch ist die Debatte um Lateinamerika immer eine Frage nach dem »Ist« und
seinem Werden und damit eine Suche nach Identität gewesen, implizierte stets aber auch
die Frage nach einem »Soll», das heißt nach der Zukunft, und zielte damit auch auf ein
Projekt der Modernisierung. Die Teilnehmer an dieser intellektuellen wie politischen
Auseinandersetzung legten teilweise mehr Gewicht auf die Frage der Identität und
teilweise mehr auf die Aufgabe der notwendigen Veränderung. Beide Argumentations-
linien sind jedoch auf das Engste verknüpft, denn lange Zeit schien weitgehende
Übereinstimmung darüber zu herrschen, dass erst die Definition der Identität und ihrer
Grenzen die Lokalisierung der Probleme und die Entwicklung situationsgerechter
Lösungsvorschläge erlaubt (Deves Valdes 2000:15-21). Selbst die neoliberalen Techno-
kraten, die über allgemeingültige Modernisierungsrezepte zu verfügen glauben, greifen
gerne auf kulturalistische und historische Argumente zurück, wenn sie ihre Schwierig-
keiten begründen wollen.
Die im Laufe der Zeit entwickelten Diskurse über Lateinamerika werden im
Wesentlichen an zwei getrennten Schauplätzen produziert: zum einen in Lateinamerika
selbst, zum anderen in den Metropolen der westlichen Modernität. Die Problematik einer
verzerrenden Fremdbeschreibung durch einen metropolitanen »Lateinamerikanismus«,
analog zu dem von Edward Said (1979) geprägten Orientalismusbegriff, stellt sich hier
aber weniger zwischen räumlich deutlich getrennten Kulturräumen wie Orient und
Okzident, sondern innerhalb der lateinamerikanischen Gesellschaften zwischen den
Oberschichten und dem Rest der Bevölkerung. Denn bei den lateinamerikanischen
Beiträgen zur Debatte handelt es sich ganz überwiegend um Elitendiskurse. Die latein-
amerikanischen Eliten haben sich aber stets und bei allen Bemühungen, ihre distinktive
Besonderheit zu definieren, als Teil des Okzidents gesehen und haben die intellektuelle
Produktion der Zentren der abendländischen Modernität stets mehr oder weniger bereit-
willig rezipiert (Ramos 2001:241).
Trotzdem haben Kontroversen zwischen autochthonem und metropolitanem Latein-
amerikanismus nie gefehlt. In Lateinamerika verdächtigte man nicht ohne Grund die
externen Identitätszuschreibungen, Ansprüche hegemonialer oder imperialistischer
Vormacht zu transportieren, und die im Ausland geschulten lateinamerikanischen
Wissenschafter sahen sich bisweilen dem Misstrauen ausgesetzt, Agenten dieser Vorstel-
lungen zu sein. So haben sich die lateinamerikanischen Identitätskonstruktionen immer
auch als Reaktion gegen die Außenwelt entwickelt, als Antikolonialismus, Anti-
imperialismus, Antiinterventionismus oder Antiamerikanismus, als Abwehrreaktio-
nen auf Veränderungen, auf die man keinen Einfluss zu haben fürchtet (Deves Valdes
2000:80). Dies zeigt auch das Dilemma der lateinamerikanischen Modernisierung, die
von den Eliten bis heute fast immer nur mit Blick auf europäische oder US-amerikanische
Vorbilder verstanden wird und somit einen Wandel bedeutet, der fremden Vorgaben folgt
und bisweilen direkter politischer, »imperialistischer« Einflussnahme entspringt. Gegen
eine solche Vereinnahmung bildeten Ideen einen wirkungsvolleren Schutz als ein Wall
aus Stein, hatte schon 1891 der Kubaner Jose Marti (1977:37) geschrieben, und viele
Die Teile und das Ganze 133
Hinter dem Begriff »Lateinamerika« verbirgt sich eine ausgesprochene Vielfalt. Schon
ein Blick auf die große Zahl verschiedener indigener Kulturen macht das deutlich. Allein
in einem Gebiet wie dem heutigen Mexiko trafen die Spanier auf mehr Sprachfamilien
und Sprachen, Religionen und Kosmovisionen, soziale und politische Organisationsfor-
men und Wirtschaftssysteme als im Europa ihrer Zeit zu finden waren. Die europäische
Eroberung führte ohne Zweifel zu einer gewissen Vereinheitlichung, aber auch zu neuen
Differenzierungen. Die indigene Vielfalt wurde durch neue Bevölkerungsgruppen teils
ersetzt und teils überlagert. Überall entstand seit der frühen Kolonialzeit eine mehr oder
weniger breite aus Europa stammende Schicht, ursprünglich überwiegend Spanier und
Portugiesen, die ab dem 19. Jahrhundert durch anhaltende Einwanderungswellen ande-
ren Ursprungs verstärkt wurde. Zahlreiche Einwanderer aus Italien gelangten nach
Argentinien, Uruguay und Brasilien und vielerorts ließen sich Deutsche und Osteuropäer,
Levantiner, Chinesen und Japaner nieder. Weite Teile Brasiliens und der karibische und
zirkumkaribische Raum erhielten durch den massiven Import schwarzer Sklaven eine
afroamerikanische Prägung. Zwischen all diesen Gruppen, die teilweise Gefühle der
134 Bernd Hausberger
Identitätsoptionen
Im Rahmen der politischen, sozialen und kulturellen Realitäten Lateinamerikas erweist sich
die Identifikation mit dem Ganzen nur als eine unter vielen kollektiven Identitätsoptionen -
nationalen, regionalen, ethnischen, klassenspezifischen oder beruflichen -, die in unter-
schiedlichen Kontexten abgerufen werden und kontextbedingt auch unterschiedliche
Funktionen übernehmen können. Dabei ist die Identifikation mit einem Kollektiv immer
auch Folge sozialen Drucks, dem sich das Individuum auf verschiedenen Ebenen ausgesetzt
sieht, und bisweilen auch Ergebnis einer gezielten Politik, die - von innen wie von außen -
mit Methoden, die von der Propagierung erfundener Traditionen oder von Feindbildern bis
zu Gewaltmaßnahmen reichen, einer Identitätsoption eine vorrangige Stellung zuordnen
und andere verdrängen möchte (Wallman 1983; Meyer 2002).
Der Ausbau von Staat und Staatlichkeit ist ohne Zweifel eine der zentralen Entwick-
lungen Lateinamerikas der letzten zwei Jahrhunderte. Die Konstruktion einer Staats-
nation, einer Gemeinsamkeit aus der Vielheit, sieht sich in den meisten lateinamerikani-
schen Staaten jedoch bis heute zahlreichen Problemen gegenüber (König/Wiesborn
1998). Schon Bolfvar hatte den Begriff der Nation bei der Gründung der hispanoame-
rikanischcn Republiken stets verwendet (Collier 1983), und auch nach ihm war er fester
Bestandteil der bombastischen Rhetorik der verschiedenen Führer der neuen Staaten. Vor
dem Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich aber kaum von einem entwickelten Natio-
nalbewusstsein sprechen. Die politische Situation Lateinamerikas ist in der Regel zu
unerfreulich, die Gesellschaft zu hierarchisiert und die Güterverteilung zu ungleich, um
der Bevölkerung eine Identifikation mit den Strukturen und der Verfassung ihrer Staaten
abverlangen zu können. Aber auch die Konstruktion der Nation als Kultur- und Bluts-
gemeinschaft ist in Lateinamerika, und ganz besonders in den Staaten mit einer breiten
indigenen Bevölkerung, mehr als problematisch. Neben politischem Zwang sind daher
besondere diskursiv-propagandistische Anstrengungen notwendig, um die Widersprü-
che zu überbrücken und die Einheit zusammenzuhalten, wobei die einzelnen Staaten
verschiedene Wege gegangen sind.
Tatsächlich konkurriert der Nationalismus in Lateinamerika mit einer Reihe von
Parallelidentitäten, von denen die Ethnizität die vielleicht wichtigste ist. Ethnische
Identitäten, auf die neben indigenen Gruppen auch Immigranten zurückgreifen, bilden in
Lateinamerika schon wegen der ethnischen Heterogenität fast aller Länder nie eine
Grundlage des Staates und des Nationalismus. Sie existieren vielmehr parallel zur
Nationalität und manchmal auch gegen sie. Wie die Nationen geben sich ethnische
Gruppen in der Regel weit in die Geschichte zurückreichende Wurzeln, doch sind die
solcherart konstruierten Kontinuitäten meist fragwürdig, gerade auch im Fall der indigenen
Gruppen. Durch die koloniale Politik war für die Mehrheit der indigenen Bevölkerung die
Dorfgemeinschaft und nicht eine übergeordnete Ethnie oder Sprachgemeinschaft zum
entscheidenden Identifikationsbezug geworden (Meißner 1996:167). Trotzdem kam es
immer wieder zu Momenten verstärkter Ethnisierung oder Reethnisierung. Sie sind, wie
etwa unter den Zapoteken Südmexikos, meist Produkt besonderer regionaler Entwick-
lungen, die sowohl die übergreifende Solidarisierung befördern wie auch im Rahmen
eines ethnischen Diskurses schlüssige Erklärungen für herrschende Macht- und Konflikt-
verhältnisse bieten (Scheuzger 2004).
136 Bernd Hausberger
im Widerspruch zur Missachtung der noch lebenden Indianer, die man durch Moderni-
sierung und Okzidentalisierung in einer homogenen Nation aufgehen lassen wollte
(Meißner 1996).
Für den Versuch, dieses Missverhältnis zu glätten, und für eine positivere Haltung
gegenüber den indigenen Gruppen stand der allerdings in recht unterschiedliche Richtun-
gen gefächerte Indigenismus. Indios, aber auch negros, mestizos und mulatos - all die
Gruppen, die Sarmiento einst als Barbaren und Hindernis für den Fortschritt galten -
erfuhren jetzt eine Neubewertung (Deves Valdes 2000:109, 255-257). Allerdings
schwankte auch der Indigenismus zwischen einer essenzialistischen Affirmation der
indigenen Rasse als Grundlage der nationalen Entwicklung und der schonenden, aber
langfristig vollständigen Assimilation an die Nationalgesellschaften. So sind die Kam-
pagnen zu Volksbildung und Alphabetisierung, wie sie in Mexiko oder in Peru propagiert
wurden, in ihren Absichten und in ihrer Wirkung immer zweischneidig. Ob die vor-
modernen Strukturen der indigenas langfristig verschwinden oder ob kulturelle Eigen-
heiten im Rahmen einer multikulturellen Gesellschaft erhalten werden sollten, war
unklar und ist es heute mehr denn je (Larram Ibanez 1996:151-153).
Besonders nach dem Ersten Weltkrieg glaubten viele Autoren, eine Lösung der
Probleme und damit den Schlüsselprozess der lateinamerikanischen Nationsbildung in
der Mestizisierung (mestizaje) zu entdecken, der Mischung der verschiedenen Einzeltei-
le, die die Unterschiede aufhebt und zu einer Einheit zusammenfügt (Deves Valdes
2000:111-115). Zu den einflussreichsten Texten dieser Richtung gehört Casa-grande &
senzala (1990 [ 1933]) des Brasilianers Gilberto Freyre, der die kulturelle Mestizisierung
Brasiliens im Kontext einer feudalen Agrarstruktur analysierte. Freyre pries die Rassen-
mischung und die Vorzüge der Mestizen, sowohl wegen ihrer Fähigkeit zur Anpassung
wie auch als Ausdruck der rassischen Toleranz, die Brasilien gegenüber angelsächsisch-
germanischen Ländern auszeichnen sollte. Stand diese neue Mestizophilie der rassischen
Mischung positiv gegenüber, so nahm sie gegenüber der kulturellen Vermischung eine
distanzierte Haltung ein. Fast durchwegs ging sie von einem westlichen Modernitäts-
verständnis der Eliten aus und von einer recht ungleichen Gewichtung der Einzelteile bei
der Formung der gemeinsamen Kultur. Die soziale Komponente der Ungleichheit der
beteiligten Teile wurde dabei oft nur in ziemlich naiver Weise berücksichtigt. Von einer
sich verallgemeinernden Mestizisierung erhoffte man sich die quasi automatische
Emanzipation der marginalisierten unteren Schichten der Gesellschaft. Erst dadurch
erhielt das mestizaje seine endgültige Tauglichkeit als nationaler Einheitsmythos.
Gleichzeitig fehlte es aber nicht an Autoren, die den lateinamerikanischen Identitäts-
konstruktionen eine zunehmend soziale Note gaben. In Ländern wie Mexiko oder Peru
mischte sich der Indigenismus zunehmend mit dem agrarismo. Das Agrarproblem wurde
als eines der Schlüsselprobleme der Nation entdeckt und dabei mit dem Problem der
indigenas gleichgesetzt. Vom Marxismus beeinflusst entwickelte der Peruaner Jose
Carlos Mariätegui einen Indigenismus als Protest gegen die soziale Ungerechtigkeit, die
er allein mit Alphabetisierungskampagnen, wie sie im postrevolutionären Mexiko
durchgeführt wurden, nicht für lösbar hielt (Maihold 1988). Erst durch den Sozialismus
würde sich das Problem der indigenas aufheben. Gespeist wurde diese Hoffnung von der
Interpretation der inkaischen Gesellschaft und den noch existierenden indigenen Ge-
meinden als sozialistische Ordnungen (Deves Valdes 2000:119-128).
138 Bernd Hausberger
Letztendlich lässt sich die Nation in Lateinamerika kaum glaubwürdig als ethnische,
kulturelle oder soziale Einheit darstellen. Als übergreifende Klammer musste daher oft
die Geschichte herhalten: Eine Schar von Nationalhelden erfährt eine bisweilen geradezu
penetrante öffentliche Verehrung. Da die historische Entwicklung wie auch die Gegen-
wart der meisten lateinamerikanischen Staaten wenig glorreich ist, stehen als heroische
Identifikationsfiguren nur an ihren Idealen zerbrochene Märtyrer des Vaterlandes zur
Verfügung, mit deren Hilfe eine Gemeinschaft des Leidens entworfen wird. Den ewigen
Niederlagen ist jedoch die utopische Hoffnung auf eine zukünftige Umsetzung aller
bisher gescheiterten und verratenen Ziele immanent, die sich die Politik der jeweiligen
Gegenwart auf die Fahnen heften kann. Demselben Zweck dienen im Selbstverständnis
der lateinamerikanischen Staaten ihre Revolutionen. Was die Gemeinschaft eint, ist nicht
das Bewusstsein, in einer positiv gewachsenen Ordnung zu leben, sondern der Geist des
gemeinsamen Widerstands gegen das Unrecht und des gemeinsamen Kampfes um
Erneuerung und Verbesserung. Folgerichtig hat man im postrevolutionären Mexiko die
Revolution institutionalisiert und damit zu einem Dauerzustand gemacht. Die Mängel der
Gegenwart werden nicht geleugnet, aber die politische Führung - und mit ihr die
Gesellschaft - ficht ihren ewigen revolutionären Kampf zu ihrer Überwindung. So wird
mit Hilfe der Geschichte eine Utopie formuliert, in der der Wunsch nach Einheit wie auch
der Wunsch nach Besonderheit und nach Unterscheidung als Vision verankert werden
kann, deren Umsetzung freilich in eine unbestimmte Zukunft verschoben wird.
Latinität
Die Idee der Latinität kam aus Frankreich, als das zweite Kaiserreich zu Beginn der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue imperiale Ambitionen entfaltete. Vor diesem
Hintergrund entwickelte sich ein politisches Konzept, nach dem die globale Vorherr-
schaft in einem Wettstreit zwischen den angelsächsisch-germanischen und den latei-
nisch-romanischen Staaten entschieden würde (und einige Autoren vermehren dieses
Die Teile und das Ganze 139
Panamerikanismus
Ein anderes Konzept der amerikanischen Einheit entwickelten die USA: den Panameri-
kanismus. Dabei handelte es sich um einen von den USA initiierten Vorstoß, Gesamt-
amerika, die Western Hemisphere, unter US-Führung zu einer Einheit zusammenzufas-
sen. Die Idee von einer Art von Gemeinsamkeit der Neuen Welt im Gegensatz zu den
europäischen Staaten wurde in den USA schon im frühen 19. Jahrhundert vertreten, und
zum Gründungsdokument des eigenen Vormachtsanspruchs wurde die 1823 formulierte
Monroe-Doktrin. Die hegemoniale Politik nährte sich aus einem aggressiven, mit
rassistischen Elementen angereicherten Nationalismus, ausgedrückt in der Idee der
manifest destiny. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erhielt die panamerikanische Politik
der USA eine verstärkte Dynamik, und man versuchte, Vorurteile abzubauen und ein
Bcwusstsein gemeinsamer Anliegen und Ziele zu schaffen. Zu diesem Zweck wurde
1889/90 die 1. interamerikanische Konferenz in Washington durchgeführt. Ihre konkre-
ten Ergebnisse blieben freilich dürftig. In der Folge griffen die USA bei ihrer
hemispherischen Politik auf bilaterale Kooperation genauso zurück wie auf die Zusam-
menarbeit in einem Netzwerk von vielseitigen Beziehungen, die unter dem Begriff
»interamerikanisches System« locker zusammengefasst werden. Gleichzeitig scheuten
die USA sich aber nie, ihre Interessen mittels militärischer und wirtschaftlicher Macht-
mittel durchzusetzen (Krakau 1992:182-190). Die alte Kolonialmacht Spanien wurde im
Jahre 1898 aus Kuba, Puerto Rico und den Philippinen vertrieben; besonders in Zentral-
amerika und im karibischen Raum nahm der Interventionismus drastisch zu; und zur
Absicherung des Baus des Panamakanals, der 1914 beendet wurde, schuf man aus einer
kolumbianischen Provinz den neuen Staat Panama. Noch 1928, auf der 6. inter-
amerikanischen Konferenz in La Habana, wehrten sich die USA entschieden gegen die
Anerkennung des Prinzips der Nichtintervention (Fischer 2005).
In den 30er-Jahren erlebten die Bemühungen der USA einen neuen Höhepunkt, als
Washington im Zeichen eines hemispherischen Isolationismus die interamerikanische
Zusammenarbeit verstärken wollte. 1933 erklärte Franklin D. Roosevelt unter dem
Schlagwort good neighbor policy die Zeit der direkten Interventionen für beendet, und
im selben Jahr akzeptierten die USA auf der Konferenz von Montevideo das Prinzip der
Nichtintervention. Während des Zweiten Weltkriegs gelang es den USA, alle lateiname-
rikanischen Staaten, wenn auch teilweise mit einigen Schwierigkeiten, zu einem Kriegs-
eintritt gegen die Achsenmächte zu bewegen, und noch im beginnenden Ost-West-
Konflikt setzten sie neue Initiativen zur engeren Zusammenarbeit, die 1948 in der
Gründung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ihren vorläufigen Höhe-
punkt erreichten. Doch durch den Kalten Krieg gewannen zwischen 1947 und 1950 die
140 Bernd Hausberger
atlanti sehen Interessen in der US-Politik ein deutliches Übergewicht über die Belange der
Western Hemisphere. Schwankend zwischen hegemonialen, imperialistischen Maßnah-
men zur Verfolgung unilateraler Vorteile und einer kooperativen Zusammenarbeit zur
Verwirklichung gemeinsamer Interessen war die Politik der USA auch in der Folge nicht
dazu angetan, eine Stimmung der Zusammengehörigkeit aufkommen zu lassen (Krakau
1992:191-195; Hertkampf 1994).
Hispanismus
Der dritte Einheitsentwurf kam in Form des Hispanismus aus Spanien. Der Hispanismus
hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Folge der Entwicklung eines
spanischen Nationalismus allmählich zu Wort gemeldet. Einen ersten Höhepunkt er-
reichte er 1892 mit den Feiern zum 400. Jahrestag der Entdeckung Amerikas. Seit damals
beging man zuerst inoffiziell und seit 1918 als offiziellen Feiertag den Dia de la Raza am
12. Oktober, dem Tag, an dem Kolumbus amerikanischen Boden betrat. Durch den
Verlust der letzten Kolonien im Jahre 1898, den man gleichermaßen als Demütigung und
Aufrüttelung empfand, erhielt der Hispanismus als Versuch, die verlorene Größe durch
die Wiedererweckung alter kultureller Bande zurückzuerobern, deutlichen Auftrieb
(Pike 1971; Bartels 2003). Nicht selten wurde auch Portugal - und damit in Lateiname-
rika der Koloss Brasilien - in diese Überlegungen miteinbezogen und der Hispanismus
zu einem »Iberismus« erweitert (Rocamora 1994).
Lateinamerikanische Selbstdeutungen
Am Beginn des 20. Jahrhunderts waren so im Wesentlichen drei Deutungen der
Zugehörigkeit Lateinamerikas zu einem suprakontincntalen Ganzen entwickelt worden,
die sich auch in den Bezeichnungen des Raums niederschlugen: »Lateinamerika«,
»Hispanoamerika«, »Iberoamerika« oder im Sinne des ungeliebten Panamerikanismus
auch nur »Amerika« oder »die Amerikas«.
Diese Konzeptionen standen neben den Argumentationen, die bei der Konstruktion
der verschiedenen Nationalitäten erprobt worden waren (Larräin Ibafiez 1996:15), den
lateinamerikanischen Intellektuellen zur Verfügung, die sich gegen Ende des 19. Jahr-
hunderts vordem Hintergrund der beschleunigten Integration Lateinamerikas in eine sich
globalisierende Welt und des wachsenden Einflusses der Vereinigten Staaten zunehmend
gezwungen sahen, sich Gedanken über ihr gemeinsames Schicksal zu machen und dafür
das >Eigene<, seinen Inhalt und seine Grenzen zu definieren. Die supranationale Auswei-
tung des Blickfelds der lateinamerikanischen Intellektuellen wurde von der allgemeinen
Entwicklung befördert. Die deutlich verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten schu-
fen die Voraussetzungen für den Aufbau regelrechter Netzwerke des Gedankenaustau-
sches zwischen den verschiedenen Staaten, in denen einzelne Persönlichkeiten zu
Leitfiguren ganzer Bewegungen wurden (Deves Valdes 2000:163-177; Ramos 2001:244-
247). Zwei der wichtigsten von ihnen und Schlüsselautoren ihrer Epoche waren der
Kubaner Jose Marti, vor allem mit seinem Aufsatz Nuestra America (1982 [1891]), und
der Uruguayer Jose Enrique Rodö mit seinem Essay Ariel (1994 [ 1900]) (Ette/Heydenreich
2000). Der »zähe politische Kampf Lateinamerikas um seine Gleichrangigkeit, letztlich
um seine Würde« (Krakau 1992:191) suchte in diesen Debatten seine identitär-kulturelle
Grundlage.
Die Teile und das Ganze 141
1984:173-179; Pausch 1996; Mann 2001; Fleischmann 2005). Schließlich wurden auch
eigene supranationale und suprakontinentale Entwürfe präsentiert, die alle auf die eine
oder andere Weise ein transatlantisches Bewusstsein pflegen. Es gelingt ihnen aber nicht,
eine wirkliche Gemeinsamkeit aufzubauen, geschweige denn politisch übergreifend
wirksam zu machen. Selbst ein so einflussreicher Autor wie Paul Gilroy (1993) be-
schreibt seinen Black Atlantic als primär nordatlantischen Raum, in dem Afrika und
Lateinamerika nur eine sekundäre Rolle spielen.
In Lateinamerika kam es zu einem recht eklektischen Umgang mit all diesen Ideen.
So entwickelte ein Strang des Hispanismus eine ausgeprägte Mestizophilie (Larrain
Ibänez 1996:157-161; Deves Valdes 2000:219-221, 237f). Der Mexikaner Jose
Vasconcelos, einer der einflussreichsten Intellektuellen seinerzeit, vertrat neben sozial-
indigenistischen Positionen, die ihm den Vorwurf des Sozialismus einbrachten, ausge-
sprochen mestizophile und hispanistisch-katholische sowie konsequent antiimpe-
rialistische Einstellungen, die ihn letztlich zugunsten des nationalsozialistischen Deutsch-
lands zur Feder greifen ließen. Dem mestizaje gab Vasconcelos (1979 [1925]) eine
kontinentale Dimension, indem er die Entstehung einer Einheitsrasse, der raza cösmica,
voraussah. Zum Schlüssel der nationalen wie kontinentalen Integration wurde so die
Sexualität, was wiederum an die Gedankenwelt der latinite anschließt, soll sich doch der
lateinische Mensch vom angelsächsisch-germanischen vor allem auch durch eine inten-
sivere Sinnlichkeit unterscheiden.
War die Idee der raza cösmica eine in die Zukunft gerichtete »rassische Utopie«
(Scarano 1990), so zeichneten sich Hispanismus und Indigenismus, die beiden vielleicht
wichtigsten Versuche einer essenzialistischen Identitätskonstruktion, durch eine letztlich
reaktionäre Geschichtsbetrachtung aus. Beide suchten eine Lösung der Probleme in einer
Verklärung und Wiederbelebung verschütteter Traditionen der Vergangenheit und
interpretierten dagegen die Geschichte seit der Conquista bzw. seit der Unabhängigkeit
als Fehlentwicklung. Diese pessimistische Selbstsicht teilen sie auch mit mehreren
Autoren, die unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929 die Reflexion über
den Charakter der Lateinamerikaner zu einem Höhepunkt führten. Von ihnen kann
besonders Octavio Paz' Essay El laberinto de la soledad (1998 [1950]) hervorgehoben
werden. Sie sahen für eine positive Entwicklung ihrer Nationen wenig Hoffnung und
kritisierten sowohl die aus der Geschichte heraus erklärte Mentalität der Lateinamerika-
ner wie auch die Rezeption europäischer und US-amerikanischer Entwicklungs- und
Denkmodelle (Sarlo 31999:206-246; Larrain Ibänez 1996:150-162).
für eine solche Haltung kam dabei von der 1948 gegen den Willen der USA gegründeten
Comisiön Econömicapara America Latina (CEPAL) der UNO. Gemäß den Analysen der
cepalinischen Wirtschaftswissenschafter, mit Raul Prebisch, dem ersten Generalsekretär
der Kommission, an der Spitze, musste die traditionelle internationale Arbeitsteilung, die
Lateinamerika eine periphere Position in der Weltwirtschaft als Rohstoffproduzent
zuteilte, durch eine forcierte Industrialisierungspolitik überwunden werden. Obwohl der
cepalismo den Kapitalismus als Wirtschaftsform nicht ablehnte, vermischte sich die
Debatte um das Verhältnis Zentrum-Peripherie in der Folge mit einem (sozialistischen)
AntiimperialismusbishinzurDependenztheorie (Prebisch 1950; Senghaas 1974; Deves
Valdes 2000:291-303).
Durch die kubanische Revolution von 1959 erhielt diese Entwicklung eine deutliche
Militanz, und man begann, Lateinamerika in einer gemeinsamen Front einer vom
Imperialismus ausgebeuteten Dritten Welt zu situieren (tercermundismo) (Rangel 1982).
Als die USA auf die Ereignisse in Kuba in der Logik des Ost-West-Konflikts und des
panamerikanischen Hegemonieanspruchs mit Sanktionen reagierten, wurden diese von
Mexiko nicht mitgetragen. Von einer hemisphärischen Einigkeit konnte weniger denn je
die Rede sein. Auch die Allianz für den Fortschritt (Alliancefor Progress), die John F.
Kennedy 1961 ins Leben rief, um dieser Entwicklung und der befürchteten Ausbreitung
des Kommunismus gegenzusteuern, änderte daran wenig (Whitaker 1965:79-87). Für
das castristische Kuba wurde das internationale Engagement zu einer lebenswichtigen
Strategie (Bieber 1985). Gegenüber der weitgehenden Isolation in der OAS seit 1961 und
der anhaltenden US-amerikanischen Bedrohung begann Kuba ab 1962, verschiedene
lateinamerikanische Guerilla-Bewegungen zu unterstützen, teilweise im Widerspruch zu
den nationalen kommunistischen Parteien und anscheinend auch zur Politik der UdSSR.
Aber Kuba ging es darum, seinen Widerstand gegen die USA zum Kampf Lateinamerikas
und gleich der ganzen Dritten Welt zu erheben (Castro 1985). Daraus formulierte ein sich
nach und nach konsolidierender castro-guevarismo die Doktrin der revolutionären
Einigung Lateinamerikas als kompromisslosen antiimperialistischen Kampf. Die Grund-
thesen übernahm man von Victor Raul Haya de la Torre, dem Begründer der peruanischen
APRA {Alianza Populär Revolutionärin Americana, 1924), der jedoch noch eine
Verständigung mit dem US-Kapital gesucht hatte. Nun war das Ziel die Vietnamisierung
Lateinamerikas, um die militärische Übermacht der USA zu neutralisieren. Doch gelang
es nirgendwo, eine ausreichende Basis für diesen Kampf zu gewinnen. Wo es Ansätze
dazu gab, wurden sie zerschlagen, bevor sie sich entfalten konnten. Nach dem Tod von
Ernesto »Che« Guevara 1967 in Bolivien gab Kuba diese Politik vorübergehend auf,
wenngleich die Unterstützung von Guerilla-Fraktionen in Zentralamerika und in Afrika
in den 70er-Jahren wieder aufgenommen wurde und der tercermundismo in der Rhetorik
bis heute weiterlebt.
Nicht zu übersehen ist freilich, dass auch im tercermundismo zahlreiche Elemente
älterer und essenzialistischer Identitätskonstruktionen weiterlebten. Gedanken der Lati-
nität waren selbst der politisch-revolutionären Argumentation nicht fremd (Castro 1985;
Bieber 1985:79). Wichtiger war jedoch die Verknüpfung zwischen indigenistischem und
sozialistisch-anarchistischem Denken. Die alten Oppositionen des 19. Jahrhunderts,
Zivilisation und Barbarei< oder >Stadt und Land<, erfuhren in weiten Kreisen, auch der
Linken, eine Umkehrung der Bewertung, Tradition wurde gegenüber der Innovation
144 Bernd Hausberger
Wirtschaftliche Integration
Konkrete Ergebnisse brachte die Suche nach neuen Formen der Annäherung und des
Zusammenrückens nach 1945 vor allem auf wirtschaftlicher Ebene. In der Zwischenzeit
war in Lateinamerika der Nationalismus erstarkt. Er wurde getragen von einer neuen
Bourgeoisie, die nicht mehr vorrangig von Außenhandel und Exportlandwirtschaft lebte,
sondern ihre Hoffnungen auf eine zügige Industrialisierung setzte, und von einer
angewachsenen Klasse ländlicher und städtischer Arbeiter, die sich eine Verbesserung
ihrer Situation von einem populistischen Nationalismus erhoffen. Unter dem Eindruck
der Krise von 1929 und auch des indigenistischen agrarismo standen beide Gruppen einer
Integration in den Weltmarkt sehr kritisch gegenüber, und von der 1948 gegründeten
CEPAL wurde dieses Misstrauen wissenschaftlich untermauert. Importsubstitution und
Industrialisierung unter staatlicher Direktive wurden zu den Schlüsselbegriffen einer
neuen, nach innen gerichteten Entwicklungsdoktrin, die von Lateinamerika ausgehend
weltweiten Einfluss erlangte (Zimmerling 1991:93-99).
Der Einfluss der CEPAL gab Ideen zur wirtschaftlichen Integration, die ganz
wesentlich auch die Unabhängigkeit gegenüber den USA stärken sollten, einen neuen
Stellenwert. Da die meisten lateinamerikanischen Länder für eine cepalistische Moder-
nisierungspolitik offensichtlich zu klein waren, wurde zwangsläufig über Projekte
regionaler Integration nachgedacht, die ab den 60er-Jahren zu konkreten Ergebnissen
führten, ohne Zweifel, weil ihnen nun auch die USA eine positive Rolle gegenüber der
kommunistischen Gefahr zutrauten. So entstand 1960 der Mercado Comün Centro-
americano (MCCA), der zu einer beachtlichen Intensivierung des interregionalen Han-
dels führte. Allerdings stagnierte diese Entwicklung nach einigen Jahren. Die CEPAL
begriff die wirtschaftliche Integration als rein technischen Vorgang. So gingen von ihrer
Tätigkeit keine Impulse für politische Reformen aus, was sich als negativ erweisen sollte.
Die einzelnen nationalen Regierungen identifizierten sich nur ungenügend mit den
Integrationszielen, nützten das Projekt in erster Linie als Mechanismus für die Erlangung
internationaler Finanzhilfen und konnten ansonsten ihre zwischenstaatlichen Differen-
zen nicht überwinden, wie 1969 der Fußballkrieg zwischen El Salvador und Honduras
drastisch belegt (Zimmerling 1991:81-108, 117f).
In der Folge wurde mit recht unterschiedlichem Erfolg eine Reihe von weiteren
interamerikanischen Institutionen und regionalen Integrationsprojekten gestartet (Sang-
meister 2002:39f). 1969 entstand der Pacto Andino, aus Chile, Bolivien, Peru, Ecuador
und Kolumbien, dem sich 1973 auch Venezuela anschloss, während Chile den Pakt 1976
wieder verließ (Zimmerling 1991:108-119); und 1973 wurde der Caribbean Community
and Common Market (CARICOM) gegründet. Trotzdem blieb die wirtschaftliche
Integration Lateinamerikas insgesamt schwach. Zwar diversifizierten sich die Außen-
Die Teile und das Ganze 145
Ausblick
zu können; andere besänftigen ihre Sorge vor kultureller Überfremdung mit der vagen
Hoffnung auf eine zunehmende Hispanisierung der USA als Ausgleich zum wachsenden
Einfluss der US-amerikanischen Kultur zu Hause. Die in Mexiko traditionsreichen
Bemühungen, sich durch Initiativen in der Außenpolitik ein profiliertes Eigengewicht zu
wahren, leiden dagegen stark unter dem ängstlichen Bemühen, die USA nicht zu
verstimmen. Letztere, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 recht überempfind-
lich geworden, zeigen hierbei vielfach auch wenig Entgegenkommen. Auch eine von den
lateinamerikanischen Staaten angestrebte Revision des Rio-Abkommens von 1947, die
die OAS auf eine neue Grundlage stellen sollte, ist nach dem 9.11. der Forderung der USA
nach Solidarität zum Opfer gefallen (Roett 2005). Auf der anderen Seite hat sich rund um
die Regierungen von Brasilien, Venezuela und jüngst auch von Bolivien ein US-
kritisches Lateinamerika verstärkt zu Wort gemeldet, das auch dem in der Zwischenzeit
schon recht isolierten Cuba ein neues Gewicht verleiht. Was daraus werden wird, ist
freilich nicht vorauszusagen. Ob das Regime in La Habana seinen Führer Fidel Castro
überleben wird, steht in den Sternen. Hugo Chävez gilt vielen, etwa Carlos Fuentes, mehr
als Politclown denn als politische Alternative für den Kontinent. Das indigenistische
Modell des am 18. September 2005 zum Präsidenten von Bolivien gewählten Evo
Morales scheint nicht leicht auf einen anderen lateinamerikanischen Staat übertragbar
und hat zudem in einem Brasilien, das im Inneren Südamerikas, zum Beispiel mit Blick
auf die bolivianischen Erdgasreserven, recht eindeutige hegemoniale Interessen vertritt,
einen unsicheren Freund.
In der lateinamerikanischen Öffentlichkeit sitzt das Bewusstsein der Rückständig-
keit, des Unterschieds, der Ungleichheit und der Unterlegenheit jedenfalls tief. Dieser
Schwäche wird, neben der Exaltation diverser Elemente der Volks- und Populärkultur
(wobei sich unschwer Elemente der Selbstcharakterisierung der Latinität wiedererken-
nen lassen), mit anhaltenden Selbstanalysen zu begegnen gesucht, die regelmäßig die
alten Argumente der vergangenen 100 Jahre aufgreifen. Die alten Konzepte haben sich
aber als nicht tragfähig erwiesen. Erhoffte man sich einst von der Mestizisierung die
allmähliche Homogenisierung des Kontinents, stellt man heute in Frage, ob die
Mestizisierung von Identitäten überhaupt zur Vereinheitlichung und nicht vielmehr zu
ständig neuen Ausdifferenzierungen führt. Die Einigkeit der Dritten Welt hat sich außer
in isolierten Momenten nicht eingestellt. Die Dependenztheorie ist als Ablenkungs-
strategie lateinamerikanischer Oberschichten von der eigenen Verantwortung für das
Schicksal ihrer Länder in Misskredit geraten. Dafür lassen sich in letzter Zeit eine
Rückkehr zu essenzialistischen Identitätskonstruktionen und ein Wiederaufleben
hispanistischer (Jandra 2005) wie indigenistischer Vorstellungen beobachten, nicht
zuletzt unter enttäuschten Linken, die den Kapitalismus nicht mehr mit sozialistischen,
dafür aber mit indigenistischen Gegenvorschlägen bekämpfen wollen. Die Kritik am
westlichen Projekt der Moderne und dessen Dekonstruktion durch den Postmodernismus
der 80er-Jahre hat diese Entwicklung noch befördert. Gleichzeitig realisiert Spanien, das
sich als Bindeglied Europas zu Lateinamerika fühlt, ehrgeizige Investitionsprogramme
und begleitet diese mit einer Rhetorik, die gelegentlich direkt aus dem alten Hispanismus
gegriffen scheint.
Wie eh und je ist die Debatte aber äußerst vielseitig. Carlos Fuentes nimmt zum
Beispiel aus allen intellektuellen Traditionen, was er braucht, um die aktuellen Integrations-
148 Bernd Hausberger
Literatur
Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of
Nationalism. London: Verso
Wolfgang Dietrich
Prolog
Eine geschichtswissenschaftliche Analyse von militärischer Intervention und supra-
staatlicher Integration in den Amerikas des 20. Jahrhunderts, geschrieben aus einer
aktuellen europäischen Perspektive, kann methodisch nicht ohne Beachtung der histori-
schen Tiefenstrukturen und Tiefenkulturen auskommen, welche die Sichtweisen der
Akteure am Doppelkontinent ausrichten. Die Befassung damit empfiehlt sich aus der
aktuellen Sicht Europas ganz besonders, weil die politischen Eliten der USA den »Rest
der Welt« seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach einer Art behandeln, die zu
einem guten Teil am eigenen Umgang mit Lateinamerika im 20. Jahrhundert erprobt ist.
In Anbetracht des Aufstiegs der USA vom regionalen zum globalen Hegemon im Laufe
des 20. Jahrhunderts verdient die »Lateinamerikanisierung« der US-Außenpolitik aus
europäischer Sicht aufmerksame Beachtung. Die interventionistischen Argumentations-
muster der Administration George W. Bushs, etwa in Afghanistan oder im Irak, unter-
scheiden sich nicht wesentlich von denen Theodore Roosevelts hundert Jahre zuvor im
großkaribischen Raum. In beiden Fällen ging es um die Etablierung eines unbedingten
Hegemonialanspruches und in beiden Fällen sind Interessen europäischer Eliten massiv
betroffen. Dies rechtfertigt eine spezifisch europäische Perspektive auf die entsprechen-
den Vorgänge in den Amerikas.
Die Begriffe »Tiefenstruktur« und »Tiefenkultur« sind Termini, welche die kritische
Friedensforschung in der Tradition Johan Galtungs entwickelte, wobei sich Galtung
seinerseits auf Siegmund Freud, C.G. Jung, Wilhelm Reich und vor allem auf buddhisti-
sche Weltsichten berief, wenn er Tiefenkultur als Summe jener Umstände definierte, die
für die Menschen, die in einer bestimmten Zivilisation (Makro-Kultur) aufwachsen,
festlegen, was sie als normal und natürlich empfinden, und dadurch die Beziehungen
zwischen bewusster und unbewusster Aktionsebene (Innen- und Außenwelt) formen.
Anders ausgedrückt, ein zumeist unbewusstes kollektives Gedächtnis und Zeichen-
system leitet die Handlungsweisen der Akteure und deren Weltsicht (Galtung 1997:141-
154 Wolfgang Dietrich
143/ Galtung 2002:203-216). Aus diesem kulturtheoretischen Ansatz von Galtung leitet
sich unsere erste These für diesen Aufsatz ab:
• Die Konjunktur von militärischer Intervention und suprastaatlicher Integration in
den Amerikas des 20. Jahrhunderts folgt kulturellen Verhaltensmustern der beteiligten
Akteure, welche neben den jeweils aktuellen Prärogativen auch und wesentlich durch
unterschiedliche Tiefencodes bestimmt werden, welche angloamerikanische wie latein-
amerikanische Eliten leiten.
Gleichrangig mit den psychologisch-kulturellen Aspekten gilt es im Rahmen eines
systemtheoretischen Zugangs auch, die materiell-strukturellen zu beachten. Mit Galtung
könnte man dabei von Tiefenstrukturen oder den Fragen der strukturellen Gewalt sprechen.
Geschichtswissenschaftlich gelangt man damit letztlich zur post-marxistischen Welt-
systemanalyse, die nicht im Widerspruch zu den obigen, kulturtheoretischen Zugängen
steht, sondern diese ergänzt. Für die Zwecke dieses Aufsatzes werden daher auch Sprach-
regelung und Methoden der Weltsystemanalysc in der Tradition Immanuel Wallersteins
(Wallerstein 1984) verwendet, woraus sich die zweite Ausgangsthese ableitet:
• Militärische Intervention und suprastaatliche Integration in den Amerikas des 20.
Jahrhunderts sind taktische Herrschaftsmethoden der jeweiligen Eliten. Die Entschei-
dung für die jeweilige Taktik wird durch die Konjunkturzyklen im kapitalistischen
Weltsystem bestimmt. Intervention und Integration sind also nicht rivalisierende politi-
sche Strategien, sondern lediglich Ausdruck konjunkturell unterschiedlicher Taktiken
bei der Verfolgung ein und desselben Ziels - der politischen und ökonomischen Domi-
nanz dereinen über die anderen, in unserem Fall der angloamcrikanischen Eliten über die
lateinamerikanische (Semi-)Peripherie.
Diese beiden Ausgangsthesen sollen nunmehr an der Faktengeschichte von Integra-
tion und Intervention in den Amerikas des 20. Jahrhunderts geprüft werden.
der Tradition Bolivars sollte die inneramerikanischen Beziehungen durch das gesamte
20. Jahrhundert beherrschen und er bestimmt auch die Legitimationsmuster in den
konjunkturellen Wechselfällen von militärischen Inverventionen und völkerrechtlichen
Pakten.
In ideologischer Hinsicht sammelten sich die emanzipatorisch orientierten Eliten
Lateinamerikas seit der Jahrhundertwende hinter dem Schlagwort des Arielismo. Der
Begriff geht auf den berühmten, im Original 1900 publizierten Essay von Jose Enrique
Rodö zurück, in dem er das Wesen Lateinamerikas, symbolisiert durch den Luftgeist
Ariel, dem Materialismus der angelsächsischen Zivilisation, für die der Erdgeist Caliban
steht, gegenüberstellt (Rodö 1994). Wie sehr Caliban zu dieser Zeit allgemein als
Inbegriff des hässlichen Anderen und in diesem Fall des angelsächsisch Anderen
verstanden wurde, illustriert Egon Friedell (Friedeil 1927:167) in seiner Beschreibung
der »Kalibanwesen« eindrucksvoll:
»|...] diese raufenden Bauern, lauernden Hurentreiber, zerlumpten Vagabunden und
glotzenden Wüstlinge mit ihren stupiden Vogelgesichtern, geilen Schweinsschnauzen
und skurrilen Tapirrüsseln haben nichts Menschliches mehr an sich. Auch bei ernsten und
würdigen Vorwürfen frappieren die Menschen oft durch ihre Häßlichkeit.«
Der Arielismo erreichte in erster Linie als literarische Strömung Bedeutung, wirkte
aber als radikal abgrenzendes Element der lateinamerikanischen Identitätssuche von der
angelsächsischen Anmaßung auch in politischer Hinsicht und muss als Eckpfeiler der
entsprechenden Tiefenkultur angesehen werden.
Freilich gelang gerade den politischen Eliten Lateinamerikas dabei eine wirkliche
Überwindung des liberalen Positivismus europäischer Prägung und eine Abkehr von der
Denk- und Herrschaftsweise des kapitalistischen Weltsystems nicht, sondern lediglich -
aber immerhin - eine Kritik an der Legitimation ihrer damaligen wirtschaftsliberalen
Diktaturen und an deren Abhängigkeit von den USA. Sie suchten die Ursachen für die
»Rückständigkeit der lateinamerikanischen Nationen« im Autoritarismus der militäri-
schen Caudillos und in der Korruption der oligarchischen Eliten. Ihre Hervorhebung des
Bürgersinns, der Brüderlichkeit, der Werte des Rechtsstaates und der nationalen Solida-
rität strebte damit nach einer neuen, volksverbundenen Ausgestaltung des nationalen
Fortschritts.
Revolution, ein Schlüsselwort in der politischen Geschichte Lateinamerikas, wurde
in diesem Zusammenhang immer wieder als die Ergreifung der Macht durch fähigere
Eliten auf der Basis eines besseren Gesellschaftskonzepts verstanden. Aufgrund des fast
andauernden Unbehagens aller Bevölkerungsteile mit dem Bestehenden war die Neigung
zu solchen Revolutionen in fast allen Ländern und zu allen Zeiten hoch. Ob all den
gewaltsamen Herrschaftswechseln, welche in ihrer historischen Dichte das kollektive
Gedächtnis Lateinamerikas nachhaltig prägten, der Begriff »Revolution« in seiner
tieferen Bedeutung tatsächlich zusteht, muss aber angezweifelt werden. Denn Revolution
wäre dann wohl so etwas wie eine »Rousseau' sehe Wende«, also ein radikaldemokratisches
Konzept, das darauf ausgerichtet ist, politische Entscheidungen wirklich »aus dem Land«
heraus zu gestalten, wie Rodös Zeitgenosse Jose Marti es kurz vor seinem Tod 1895
ausdrückte:
»Die Regierung muß aus dem Land geboren werden. Der Geist der Regierung muß
der des Landes sein. Die Regierungsform muß mit der eigenen Verfassung des Landes
Von der Intervention zur Integration 157
übereinstimmen. Die Regierung ist nichts anderes als das natürliche Gleichgewicht des
Landes. Es gibt keinen Kampf zwischen der Zivilisation und der Barbarei, sondern
zwischen der falschen Bildung und der Natur. Die jungen Leute gehen hinaus, um die
Welt zu bewundern. Und mit nordamerikanischer oder französischer Prägung möchten
sie dann ein Volk lenken, das sie nicht kennen.« (Marti 1988:18)
Obwohl kaum eine Revolution Lateinamerikas - ob konservativ, liberal, indigen,
populistisch, faschistisch, marxistisch oder postmodern orientiert - diesen radikalen
Anspruchjemals erfüllen konnte, ist derrevolutionäre Reflex eine seit derUnabhängigkeits-
kriege fest in die lateinamerikanische Tiefenkultur eingeprägte Sehnsucht, welche die
Realpolitik immer wieder entscheidend leitet. Während nämlich Jean Jacques Rousseaus
radikaldemokratisches Konzept der Aufklärung in Europa von pragmatischen Strategen
in seine Grenzen gewiesen wurde, blieb es aufgrund seines großen Einflusses bereits auf
Simon Bolivar in Lateinamerika untrennbar mit dem Freiheitsanspruch der zumeist
kreolisch-bürgerlichen Unabhängigkeitskämpfer verbunden und wurde durch die Nach-
folgegenerationen, wie bei Rodö, Marti oder etwa auch Rüben Dan'o, als nationalistischer
Gründermythos gepflegt. Dieser Geist schlägt sich auch und sogar besonders stark in den
revolutionären Bewegungen der jüngeren Geschichte nieder. Diese Form des nationalen
Mythos bewirkte in psychologischer Hinsicht eine latente Oppositionshaltung bei
Lateinamerikas Intellektuellen. Zugleich anerkannten sie aber die Paradigmen, auf denen
politische Herrschaft in der Moderne grundsätzlich generell beruht. Der unauflösbare
Widerspruch zwischen der emanzipatorischen Ablehnung der als fremd empfundenen
Herrscher der Oberschichten und der paradigmatischen Anerkennung desselben
Herrschaftsprinzips »aus dem Volk«, also gleichsam die Sehnsucht nach Rousseau, sollte
die Tiefenkultur Lateinamerikas und damit die Frage der lateinamerikanischen Integra-
tion durch das gesamte 20. Jahrhundert bestimmen.
US-Exporte nach Kuba zwischen 1896 und 1910. Es verdreifachten sich in derselben Zeit
die nach Mexiko, die alleine schon ein Fünftel aller US-Exporte nach Lateinamerika
ausmachten, während sich die nach Brasilien nicht ganz verdoppelten (Niess 1984:82).
Obwohl das Ansteigen der US-Exporte in den großkaribischen Raum im ersten Viertel
des 20. Jahrhunderts mit der sprunghaften Zunahme der Militärinterventionen in dieser
Zone korrespondiert, wäre es aus systemtheoretischer Sicht aber irreführend, während
dieser Zeit die Exportsicherung als strukturelle Ursache für die Interventionen anzuführen.
Gerade die Geschichte Zentralamerikas steht sinnbildlich dafür, dass während einer
Expansionsphase des Weltsystems die Frage des Absatzes von Exportprodukten der
Zentren ein Selbstläufer und daher taktisch sekundär wird. In diesen Phasen fließen die in
den Zentren erwirtschafteten Gewinne als Direktinvestitionen auch an die Peripherien, wo
sie, je gravierender sich das Missverhältnis zwischen der Macht dieses Kapitalstroms und
der Stabilität der peripheren Nationalökonomie erweist, entsprechend tiefgreifende Verän-
derungen bewirken. Den Eliten des Zentrums liegt in dieser Situation in erster Linie am
wirksamen Schutz ihrer Investitionen vor dem Zugriff der peripheren Staatsorgane.
Zugleich wünschen sie infrastrukturelle und handelspolitische Vorleistungen der periphe-
ren Administrationen, die auf diese Art die Maximierung ihrer Renditen garantieren sollen.
Da die Eliten der Peripherien an solchen Unterfangen ebenfalls beteiligt sein wollen, stehen
sie im permanenten Spannungsfeld von Kaufbarkeit und gewaltsamer Bedrohung. Der
periphere Staat wird somit zum Vehikel derartiger Unternehmungen (Dietrich 1998a).
Die Seeblockade, welche Deutschland, Italien und Großbritannien 1902 über Vene-
zuela verhängten, um auf diese Weise Schadenersatzzahlungen für bürgerkriegs-
geschädigte Privatunternehmer ihrer Länder abzupressen, verdeutlichte dies nachdrück-
lich. Zugleich ist es die letzte derartige Intervention, welche die USA den europäischen
Mächten in ihrer Hemisphäre gestatteten. Der Staatsbankrott in der Dominikanischen
Republik drohte der nächste Anlassfall einer solchen Intervention europäischer Mächte
zu werden, doch die big stick-Politik Roosevelts kam dem zuvor. Die US A beanspruchten
ab nun das alleinige innerhemisphärische Interventionsrecht in der gesamten Hemisphäre
stellvertretend für alle »zivilisierten« Eliten der Welt (Dietrich 1998b:32)
Zeitgleich und in derselben Logik erfolgte die gewaltsame Lösung Panamas von
Kolumbien. Sechs Tage nach der erlangten Unabhängigkeit trat der junge Staat die
spätere Kanalzone auf unbestimmte Zeit an die USA ab. Vom gleich mitvereinbarten
Interventionsrecht machten die USA 1917, 1918 und 1925 Gebrauch. Ähnliche Verhält-
nisse herrschten auf Kuba, wo die USA in der Folge des berüchtigten Platt-amendments
bis 1917 dreimal intervenierten. In Mittelamerika stiegen die US-Direktinvestitionen
zwischen 1897 und 1927 um 1 600 Prozent. Dementsprechend oft und intensiv wurden
Länder wie Nicaragua (1909, 1912) oder Honduras (1903, 1912, 1917, 1919 und 1924)
invadiert. Haiti (1915), die Dominikanische Republik (1903, 1914, 1916) und das
revolutionäre Mexiko (1914, 1916) waren weitere »unzivilisierte« Staaten, in denen die
USA mit den Worten Roosevelts »im Interesse der Humanität Polizeigewalt ausübten«.
Sobald das kapitalistische Weltsystem aber wieder in eine weltwirtschaftliche
Kontraktionsphase trat, was mit den 20er-Jahren begann und sich bis zu deren Ende zu
jener »großen Depression« des 20. Jahrhunderts auswuchs, welche die 30er-Jahre
beherrschen sollte, veränderten sich auch die Akzente im Verhältnis zwischen den USA
und ihrer Peripherie. Das Außenhandelsargument gewann mit Voranschreiten der
Von der Intervention zur Integration 159
ähnliche sehr schnell den Subsistenzbereich. Der Mehrzahl der Menschen, denen
dadurch ihre Existenzgrundlage geraubt wurde, konnte innerhalb des Systems kein
Ersatz geboten werden. Der neue Freihandel zur Rettung des so verstandenen Friedens
im Zentrum wirkte auf diese Art sehr direkt und gewalttätig in die Peripherien hinein.
Neben den menschlichen Tragödien dieser Verlagerung des leisen Kriegs von den
Produktions- und Wohnstätten der Zentren in die Peripherien bleiben in diesem Prozess
auch die materiellen Folgen, wie sie später die Dependenztheoretiker analysieren sollten,
bemerkenswert. Die sich ausweitenden Anbauflächen für den Export vereinnahmten nun
auch immer mehr die Felder für die Herstellung traditioneller Subsistenzgüter. Der viel
beschworene komparative Kostenvorteil versetzte die betroffenen Nationalökonomien
agrarischer Prägung bald in die Zwangslage, Güter wie Kartoffeln, Weizen, Reis,
Speiseöl oder Fisch importieren zu müssen (Dietrich 1998a).
Strukturell gesehen hat sich im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts also die militäri-
sche Intervention als taktisches Allheilmittel zur Investitionssicherung an den Peripherien
überlebt und sie wurde über den Zwischenschritt der »Dollardiplomatie« unter den
Nachfolgern Theodore Roosevelts vom systematischen Aufbau bilateraler Handelsverträ-
ge zur Sicherung der Exportmärkte unter Franklin Roosevelt abgelöst. Dies leitet in die
beschleunigte Ausbildung eines gesamthemisphärischen Integrationswesens über, in dem
die direkte Militärintervention nur noch in Ausnahmefällen angewendet wurde.
Der (Neo-)Realismus und der Idealismus als klassische Schulen der Disziplin der
Internationalen Beziehungen stellen den Nationalstaat, so wie er im Europa des 19.
Jahrhunderts entstanden ist, ins Zentrum ihrer Überlegungen. Der in seinem Kern auf
Immanuel Kant zurückgehende Idealismus baut dabei auf Demokratie, Souveränitäts-
prinzip und Kooperation der Staaten in internationalen Organisationen, während der zu
Thomas Hobbes zurückreichende Realismus von der Annahme ausgeht, dass die Anarchie
der Staatenwelt höchstens durch einen Weltstaat, vorläufig also überhaupt nicht, zu
überwinden wäre. Zur Durchsetzung von Wohlstand und Sicherheit müsste sich also jeder
Staat selbst die Machtmittel schaffen und gegebenenfalls einsetzen. Während die Konse-
quenzen des idealistischen Denkens Abrüstung, Freihandel und Institutionalisierung der
internationalen Beziehungen sind, führt realistisches Denken zu Protektionismus, Auf-
rüstung und Abschreckung. In der Geschichte des 20. Jahrhunderts folgte die Realpolitik
einem eigenartigen Synkretismus beider Schulen (Dietrich 2001:35-55).
Dabei schlugen sich nun die klassischen Schulen der Internationalen Beziehungen in
entsprechenden integrationstheoretischen Ansätzen nieder. Der Idealismus kehrt hier als
Föderalismus mit dem Leitsatz functionfollows form wieder. Er geht davon aus, dass die
hohe Politik zuerst den institutionellen Rahmen zu schaffen habe, und sich das alltägliche
Leben der zu integrierenden Nationen dann schrittweise in diesen Rahmen fügen werde.
Umgekehrt spiegelt sich die realistische Schule im Funktionalismus wider, der ein
gemeinsames decision making der Staaten im gemeinsamen Interesse voraussetzt und die
institutionelle Form vorerst variabel hält, um sie im Nachhinein den realen Gegebenhei-
ten anzupassen. Der Leitsatz lautet hier form follows funetion.
Von der Intervention zur Integration 161
Im Regelfall werden aber nicht Staaten integriert, sondern einzelne Sektoren der
Gesellschaften dieser Staaten. Zumeist lassen sich dabei drei Ebenen unterscheiden - die
wirtschaftliche, die politische und die militärische. Obwohl ein gewisser spill over in den
Abläufen vom einen zum anderen nicht geleugnet werden kann, gibt es in der Praxis wenige
Beispiele, in denen Integration alle drei Bereiche vollständig und erfolgreich einbezogen hat.
Wer nun diese aus der Integrationsdebatte Europas stammenden Argumente in das
Umfeld des amerikanischen Doppelkontinents überträgt, findet sich vorerst in einem
recht fremden Ambiente. Wie schon dargelegt, stehen sich hier idealtypisch zwei sehr
unterschiedliche Integrations vorstellungen gegenüber, die nicht nur als Tiefenstrukturen,
sondern auch als Tiefenkulturen das politische Handeln der jeweiligen Akteure determi-
nieren. Die Integrationsgeschichte der Amerikas ist durchgehend vom Widerspruch
zwischen emanzipatorischem und panamerikanistischem Integrationsverständnis ge-
prägt, wobei der Panamerikanismus im Sinne unserer obigen Betrachtung der funk-
tionalistischen und damit der realistischen Schule der Internationalen Beziehungen
zugeordnet werden kann, während sich der emanzipatorische Ansatz aus föderalistischen
und damit idealistischen Überlegungen ableitet. Die nachstehende Aufzählung von
Integrationsansätzen in den Amerikas während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
illustriert diese archetypisch theoretische Vorgabe.
»Allianz für den Fortschritt« ein letztes Mal, ehe sie mit der heraufdämmernden
Kontraktionsphase des Weltsystems in der Geschichte verschwand.
• Stolze 27 Jahre später verkündete die vierte Panamerikanische Gipfelkonferenz in
Miami die Schaffung einer Free Trade Area ofthe Americas FTAA von Alaska bis
Feuerland auf der Basis des seit 1988 bestehenden Freihandelsabkommens zwischen
den USA und Kanada bis zum Jahr 2005. Trotz erheblicher Widerstände gegen das
auf eine Rede George Bushs über die Iniciativa para las Americas zurückgehende
Projekt im US Kongress - vor allem während der Amtszeit Bill Clintons - gingen die
Verhandlungen erstaunlich transparent und zügig voran. Nach zwei weiteren Pan-
amerikanischen Gipfeltreffen in Santiago (1998) und Quebec (2001) publizierten die
Handelsminister der Amerikas bei ihrem Treffen in Quito am 1. November 2002
bereits den zweiten offiziellen Vertragsentwurf für das Freihandelsabkommen
(http://www.ftaa-alca.org 10.5.2003) und stellten den Abschluss bis spätestens
Dezember 2005 in Aussicht. Inhaltlich und strukturell gleicht der Entwurf auf
verblüffende Art den Intentionen der ersten Panamerikanischen Konferenz von
Washington, die ein gutes Jahrhundert zuvor stattgefunden hatte.
• Der Beitritt Mexikos zur Nordamerikanischen Freihandelszone N AFTA steht in einem
unmittelbaren Zusammenhang mit dem vorangegangenen Punkt. Hier manifestiert
sich der Panamerikanismus in einem massiven Spannungsfeld einerseits zum mexika-
nischen Verfassungsrecht und seinen sozialen Implikationen, andererseits zum Völ-
kerrecht. Ersteres drückte sich am Tage des Inkrafttretens von NAFTA im Zapatista-
Aufstand aus, der sich den Kampf um die einstmals revolutionäre Errungenschaft des
bäuerlichen Gemeinlandes (ejido) auf die Fahnen schrieb, /weiteres in der materiellen
Unvereinbarkeit der GATT (WTO-)widrigen Doppelmitgliedschaft Mexikos in zwei
verschiedenen regionalen Integrationszonen, NAFTA und ALADI (Hummer 1995:8).
Aus panamerikanisti scher Sicht war dieser Gewaltakt aus mehreren Gründen dennoch
notwendig: Zum einen diente dieser Schritt als protektionistische Maßnahme im
freihändlerischen Gewand der formellen Absicherung des mexikanischen Marktes
gegenüber den massiv hereindrängenden Konkurrenten Europa und Japan (IRELA
1997:17). Zum anderen sollte NAFTA als Vehikel für das gesamtamerikanische
Integrationsprojekt FTAA dienen. Schließlich formalisiert NAFTA in Bezug auf
Mexiko längst geschaffene Tatsachen, die eben jene ungünstigen sozialen Konsequen-
zen für die mexikanische Bevölkerung inkludieren: form follows function.
Conclusio
Um die Eingangsthese bezüglich der Tiefenkultur erschöpfend zu beantworten, müsste
eine breite kommunikationstheoretische Untersuchung an Primärquellen durchgeführt
werden, was im hier vorgegebenen Rahmen nicht zu leisten war. Dennoch lassen sich
über evidente Regelmäßigkeiten hinsichtlich der Tiefenstrukturen Aussagen treffen, die
auch Rückschlüsse auf die Tiefenkultur gestatten.
Die Geschichte der Amerikas ist strukturell von einem langfristigen, materiellen
Herrschaftsanspruch der nördlichen Eliten über die südliche Peripherie gekennzeichnet,
der von diesen Eliten - auch wenn sich ihr ausbeuterischer Charakter leicht nachweisen
lässt - im Sinne der manifest destiny als natürlich, moralisch gerecht, zivilisatorisch und
fortschrittlich wahrgenommen wird. Die formelle Ausgestaltung dieses Herrschafts-
prinzips folgt den wirtschaftlichen Konjunkturzyklen und Prärogativen des kapitalisti-
schen Weltsystems und ihren jeweils globalen politischen Leitsätzen. Deshalb wechselt
die Wahl der Mittel zwischen militärischer Gewalt, wirtschaftlichem Druck und (unglei-
chen) völkerrechtlichen Verträgen. Es verändert sich dabei jedoch nur die äußere
Erscheinungsform der Taktik, nicht das strategische Grundprinzip.
Umgekehrt reagieren die Eliten des peripheren Südens mit dem chronischen Wech-
sel zwischen trotziger Opposition und korrupter Komplizenschaft. Da militärischer
Von der Intervention zur Integration 167
Literatur
Der vorliegende Aufsatz fasst jene Thesen zusammen, welche ich in Dietrich (1998a) detailliert
ausgeführt und mit einer breiten Quellensammlung abgesichert habe. Diese Studie vergleicht auch
die Integrationskonzepte der Amerikas mit denen anderer Wellrcgionen. In den späteren Aufsätzen
wurden diese Thesen auf weitere geographische Regionen bezogen und vor den jeweils neuesten
historischen Entwicklungen getestet.
Tiefenstrukturen und Tiefenkulturen sind ein zentrales Anliegen Johan Galtungs seit der Mitte
der 90er-Jahre. Neben den hier zitierten Arbeiten wäre in diesem Zusammenhang auch auf sein
Hauptwerk »Friede mit friedlichen Mitteln«, im englischen Original 1996 erschienen, zu verweisen.
Die Weltsystemanalyse hat sich mittlerweile als eine geschichtswissenschaftliche Methode
weltweit etabliert. Deshalb wird hier nur ein relativ kurzer Text Immanuel Wallcrsteins zitiert, der
trotz seines Alters (1984) immer noch als guter Einstieg in diese Methode dient. Er stehe
stell vertretend für das umfangreiche Oeuvre dieses Autors und der ihm folgenden Schule. Zu seinen
unverzichtbaren Vorgängern gehört neben dem oft zitierten Fernand Braudel vor allem Karl
Polanyi, dessen im Original 1944 erschienenes Buch »The Great Transformation« als epochema-
chendes Werk des Postmarxismus bezeichnet werden kann.
Relativ neu ist allerdings die Tendenz, die Weltsystemanalyse methodisch mit system-
theoretischen Ansätzen aus der Psychologie und den Kulturwissenschaften zu verbinden. In
Galtungs Denken und auch in der Postmoderne läuft da einiges zusammen, aber dieser Zugang harrt
Holger M. Meding
Unausweichliche Konfrontationen:
Die lateinamerikanische Staatenwelt und die USA
Die Geschichte der USA mag als die einer fortwährenden Expansion gesehen werden, die
bereits lange vor der Gründung der Republik einsetzte und bis zur Gegenwart andauert.
Das Unbehagen am Status quo und der nicht selten missionarische Drang zur Grenzüber-
schreitung - territorial, ökonomisch, kulturell und politisch - sind eine irritierende
Konstante im US-amerikanischen Selbstverständnis. Der neokonservative Politikberater
Robert Kagan sieht in dieser beständigen Unruhe seines Landes eine zentrale Kontinuitäts-
linie und spricht - nicht ohne Stolz - von einer »Dangerous Nation« (Kagan 2006). Die
Gefährlichkeit des expansionistischen Geistes, der von einem Bewusstsein der Einzigar-
tigkeit, ja sogar der Auserwähltheit inspiriert ist, erlebten die Nachbarn dieses unruhigen
Staatswesens bei jedem Interessenkonflikt.
Vergleicht man die Entwicklung der Vereinigten Staaten mit der Lateinamerikas, so
ist die Unterschiedlichkeit eklatant. Während die USA - trotz mancher Einbrüche -
einen einzigartigen politischen und ökonomischen Aufstieg erfuhren, der sie schließlich
zur einzigen globalen Supermacht werden ließ, gab es unter den südlichen Nachbarn
hierzu kein Pendant - eher sogar gegenläufige Tendenzen.
Diese ungleiche Entwicklung, deren Ursachen vielfältig verortet wurden - man hat
sie in der protestantischen Wirtschaftsethik gesehen, in der Institutionengeschichte, in
der Besonderheit der Überwindung von Grenzräumen (frontier), im Verhältnis von
Individuum und Gesellschaft-, hat auf dem amerikanischen Kontinent ein komplexes
Beziehungsgeflecht von Anziehung, Abstoßung und Abhängigkeiten geschaffen. Bei
aller Bewunderung für die Modernität, die funktionierenden Institutionen, die prosperie-
rende Wirtschaft der nördlichen Republik herrschte unter den meisten Lateinamerika-
nern doch ein latentes Unbehagen vor, wenn der Einfluss der USA in ihren Ländern
wuchs. Und die Art und Weise der Einflussnahme, die latente Interventionsbereitschaft,
die häufige Ruchlosigkeit des Handelns und der ostentativ zur Schau getragene Dünkel
machte Konfrontationen unausweichlich.
Gleichwohl bleibt - gegenüber einer weit verbreiteten dichotomischen Sichtweise,
die das Verhältnis der USA zu Lateinamerika als Täter-Opfer-Relation beschreibt -
festzuhalten, dass die Durchsetzungsmacht der Vereinigten Staaten, die auf den ersten
Blick so unumschränkt scheint, auch ihre Grenzen kannte und dass die lateinamerikani-
172 Holger M. Meding
Venezuela und zwangen London zum Nachgeben. Die Grenzfrage wurde der American
Boundary Commission überantwortet. Den diplomatischen Sieg fasste Außenminister
Olney in dem viel zitierten Satz berstenden Selbstbewusstseins zusammen: »Today the
United States is practically sovereign on this continent, and its fiat is law upon the subjects
to which it confines its interposition.« (Holden/Zolov 2000:66). Die US-amerikanische
Außenpolitik erhielt mit diesem Vorfall eine deutlich aggressivere Note und es zeigte
sich, dass sowohl der Kongress als auch die Presse, die im Venezuela-Konflikt bereits
über einen möglichen Krieg mit Großbritannien spekuliert hatte, der Regierungslinie zu
folgen bereit waren.
Noch im selben Jahr hatte sich auf Kuba, welches unter spanischer Oberhoheit stand,
ein Aufstand der Separatisten ereignet, der inmitten einer Krise der Zuckerwirtschaft
bedrohliche Ausmaße anzunehmen drohte. Spanien reagierte mit Härte, während Exil-
Kubaner in den USA auf ein Eingreifen der Vereinigten Staaten hofften. Vor allem für
die Regenbogenpresse war dieser Konflikt ein gefundenes Fressen: Sie wandte sich
gegen das unbeliebte Spanien, gegen den europäischen Kolonialismus, gegen Unterdrü-
ckung und stritt wacker für Menschenrechte und Freiheit. Die um Sensationsmeldungen
konkurrierenden Pressekampagnen des Hearst- und des Pulitzer-Konzerns verursachten
mit z.T. frei erfundenen Gräuelberichten aus dem Aufstandsgebiet einen Aufschrei der
Empörung bei ihren Leserschaften und schufen in kurzer Zeit selbst unter den Isolationisten
der Demokratischen Partei eine interventionsgeneigte Grundstimmung. Selbst als Spa-
nien, das zwischen der Separatistenbewegung auf der Insel und dem äußeren Druck aus
dem Norden zerrieben zu werden drohte, schließlich einlenkte und Kuba, wie von den
USA gefordert, einen Autonomiestatus gab, verbesserte sich die Situation nicht. Der
regionale Konflikt in der Karibik reihte sich an Vorkommnisse kolonialistischen Vorpre-
schens von Konkurrenzmächten im pazifisch-asiatischen Raum. Die US-Regierung war
über die Bestrebungen Deutschlands und Japans, ihren Einfluss in diesem Raum
auszuweiten, in hohem Maße besorgt und wies das Marineministerium an, Pläne für einen
globalen Befreiungsschlag auszuarbeiten.
Als schließlich am 15.2.1898 das US-amerikanische Schlachtschiff Maine im Hafen
von Havanna explodierte, wiesen die USA die glaubwürdigen Unschuldsbeteuerungen
Spaniens zurück und mobilisierten die Marinestreitkräfte. Spanien wurde vernichtend
geschlagen. Es verlor seine Flotte und bot nach ersten Kämpfen die Kapitulation an. Die
USA übernahmen mit diesem »splendid little war« Kuba und Puerto Rico und drangen
mit der Besetzung der spanischen Philippinen - welche strategisch viel bedeutender
waren als die Antillen - tief in den asiatischen Raum vor, in dem man die Absatzmärkte
der Zukunft erblickte. Der spanisch-US-amerikanische Krieg wurde sowohl als eine
Zäsur als auch als eine folgerichtige Konsequenz einer kontinuierlichen Expansionspo-
litik interpretiert. Unzweideutig allerdings hatten die Vereinigten Staaten ihren An-
spruch, im Konzert der großen Mächte mitzuspielen, machtvoll unterstrichen.
Kuba selbst wurde nach einigen Jahren der militärischen Besetzung in die Unabhän-
gigkeit entlassen, die durch das so genannte Platt Amendment aber derartig konditioniert
war, dass sie eher an ein Protektorat erinnerte. Der entscheidende Passus war 1901 von
US-Kriegsminister Elihu Root und Senator Orville Platt, dem Vorsitzenden des Senats-
ausschusses für Kuba, entworfen und unter Druck der US-Militärregierung in die
kubanische Verfassung von 1902 aufgenommen worden. Den USA stand dadurch ein
Unausweichliche Konfrontationen: Die lateinamerikanische Staatenwelt und die USA 175
Jede dieser Maßnahmen hatte eine eigene Vorgeschichte und fand ihre Begründung
oft in örtlichen Fehlentwicklungen und tatsächlichem Fehlverhalten. Die humanitär
definierte Politik Wilsons, welche in Lateinamerika demokratiefördernd, friedens-
sichernd und vermittelnd wirken wollte, war aber zwischen Anspruch, eigenem Interesse
und lokaler Realität nur allzu oft in die Sackgasse geraten. Der Gesamteindruck in der
Region war ein fataler. Weniger die Intentionen wurden wahrgenommen als die Tatsa-
chen und die faktische Präsenz US-amerikanischer Soldaten und Finanzberater. Weder
der offene Imperialismus noch die Dollar-Diplomatie der republikanischen Regierungen
hatten so viel Unmut erregt wie die umfassende Einmischungspolitik, die im Gewände
der Uneigennützigkeit einherschritt und bei der das Postulat humanitären Handelns und
die interessengelenkte Durchsetzung der eigenen Ziele in den Augen der Beobachter so
weit auseinander klafften.
Ein völliger Fehlschlag war auch das von der Missionary Diplomacy getragene
mentalhygienische Experiment der Alkoholprohibition in der US-verwalteten Kanal-
zone in Panama. Getrieben von puritanischem Bestreben wurde ein Vertriebsverbot für
Alkoholika über die Zone verhängt, noch bevor in den USA landesweit entsprechende
Maßnahmen verhängt wurden. Panama war mithin ein Experiment und zwar eines, aus
dessen Scheitern man hätte lernen können. Die US-Soldaten wechselten nämlich nach
Dienstschluss über die Zonengrenze in die Republik Panama und feierten ihre Trinkge-
lage in Panama-Stadt und Colon (Meding 2002:263-267).
Zum Testfall der panamerikanischen Politik der USA wurde schließlich der Erste
Weltkrieg. Washington versuchte eine hemisphärische Allianz gegen die Mittelmächte
zu schmieden, doch es zeigte sich bald, dass die Vereinigten Staaten zwar in der Lage
waren, bei den eindeutig abhängigen Staaten Gefolgschaft zu erwirken (Panama und
Kuba folgten einen Tag nach dem Kriegseintritt der USA), doch außer im Falle Brasiliens
wollten sich die größeren Staaten Lateinamerikas nicht an die Seite Washingtons stellen.
Sie beharrten auf eigenständigen außenpolitischen Optionen. Vielfach - wie im Falle
Kolumbiens und Mexikos - wirkten zudem die Demütigungen der Vergangenheit nach.
Gleichwohl profitierten die Vereinigten Staaten enorm vom Ersten Weltkrieg. Seit
seinem Beginn war es den US-Amerikanern zunehmend gelungen, die Handelsengpässe
der Kriegsparteien auszunutzen und vielfach deren Positionen zu übernehmen. Die USA
stiegen in Lateinamerika zum ersten Handelspartner und vielfach auch zum größten
Investor auf. Europa konnte erfolgreich verdrängt werden und fiel auch nach Ende des
Krieges als Gegengewicht zu den erstarkten USA weitgehend aus (Tulchin 1971).
Wenngleich nach der republikanischen Wende der 20er-Jahre in Washington eher
ein isolationistischer Wind wehte, blieb der karibische Raum dennoch eine »sphere of
special interest« und den Raumordnungsvorstellungen der USA unterworfen. Man zielte
generell auf eine Stabilisierung der Region ab (bei Akzeptanz nicht-demokratisch
entstandener Machtverhältnisse) und unternahm dabei den Versuch, Interessenparallelen
zwischen lokaler Elite und US-amerikanischer Politik und Außenwirtschaft auszunutzen
oder zu schaffen. Dieser Versuch erstreckte sich auf Intellektuelle, Gewerkschaften, das
Rechtswesen, das Steuerwesen, Medien, Wirtschaftsverbände, ist aber auch im kulturel-
len und religiösen Bereich (baptistische Mission) zu beobachten.
Doch wurden zuweilen die Lenkungsmöglichkeiten einer Ordnungsmacht über-
schätzt und die Sogkraft der lokalen innenpolitischen Wirren hingegen unterschätzt, aus
Unausweichliche Konfrontationen: Die lateinamerikanische Staatenwelt und die USA 179
denen es mitunter kaum mehr ein Entrinnen gab. Nikaragua ist ein solches Fallbeispiel.
Dort war der langjährige liberale Präsident Jose Santos Zelaya (1893-1910) im Bürger-
krieg gegen die von den USA massiv gestützten konservativen Kräfte unterlegen, und
auch sein liberaler Nachfolger Madriz hatte sich bald geschlagen geben müssen. Doch
Washingtons dollardiplomatisch getränkte Zukunftsvision mit dem Ziel »to Substitute
dollars for bullets by arranging, through American bankers, loans for the rehabilitation
of the finances of Nicaragua« (Dietl 1996: 137) scheiterte an den innenpolitischen
Gegensätzen des Landes, welche die USA seit Jahren geschürt hatten. Die mit Hilfe der
nördlichen Vormacht an die Macht gespülten Konservativen banden ihr Land in Anleihe-
und Handelsverträgen zwar engstens an die USA, erzwangen aber gerade dadurch deren
Schutzgarantie, die zu ihrer wichtigsten Lebensversicherung wurde.
Um ihre Marionettenregierung an der Macht zu halten, blieben Marinestreitkräfte der
Vereinigten Staaten 13 Jahre lang im Lande. Als man glaubte, sich endlich zurückziehen
zu können, brachen umgehend wieder regierungsfeindliche Unruhen mit anti-US-
amerikanischer Attitüde aus und die Marines mussten nach nur einjähriger Abwesenheit
wieder zum Einsatz gebracht werden. Auch der diplomatische Versuch, die streitenden
Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen, zeitigte lediglich Teilerfolge. Das
Vertrauen in die Unparteilichkeit der USA war eben nicht übermäßig groß. Im Norden
weigerte sich der Rebellenführer Augusto Cesar Sandino standhaft, die Waffen nieder-
zulegen. Auf nahezu aussichtslosem Posten nahm er einen jahrelangen Guerillakrieg
gegen die hochgerüstete US-Armee auf, trotzte Bombardements aus der Luft, und wurde
so zu einem weltweiten Symbol des antiimperialistischen Kampfes. Die Marines mussten
schließlich abziehen, teils in Erkenntnis der Aussichtslosigkeit ihrer Dauerpräsenz, teils
als Folge der Weltwirtschaftskrise, welche die Handlungsfreiheit der USA einschränkte.
Zur Stabilisierung des Landes hatte man allerdings vorsorgend eine Nationalgarde
aufgebaut - mit Anastasio Somoza als Kommandanten. Nachdem dieser 1934 Sandino
in einem Hinterhalt hatte umbringen lassen, übernahm er die Macht im Lande.
Nikaragua war ein Desaster des US-amerikanischen Interventionismus, der zu
weltweiter Kritik führte und antiimperialistischen und Sozialrevolutionären Bewegungen
wie der Alianza Populär Revolucionaria Americana (APRA) des charismatischen
Peruaners Victor Raul Haya de la Torre Zulauf brachte. Auch stand der Einsatz in seinen
politischen und militärischen Kosten in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen oder
potenziellen Gewinnen. Selbst langfristig ist die Bilanz düster: Nikaragua sollte mehr als
40 Jahre unter der Diktatur des Somoza-Klans stehen, zwar treu an der Seite Washing-
tons, aber durch Machtmissbrauch, Korruption und Missmanagement gelähmt und zum
Armenhaus Mittelamerikas herabgewirtschaftet. Die sandinistische Revolution kam
daher 1979 als Nemesis über eine verfehlte politische Strategie.
Eine neue Phase der Beziehungen zwischen den USA und ihren südlichen Nachbarn
deutete sich schon vor der Amtsübernahme Herbert Hoovers (1929-1933) an, als der
gewählte, aber noch nicht amtierende Präsident eine good will tour durch Lateinamerika
180 Holger M. Meding
unternahm; doch erst mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise wurde eine Änderung
der Politik unvermeidlich. Durch den wirtschaftlichen Einbruch außenpolitisch einge-
engt, verzichteten die USA auf militärische Interventionen und riefen ihre verbliebenen
Streitkräfte aus Nikaragua und Haiti zurück.
Franklin D. Roosevelt (1933-1945) brachte diese neue Ausrichtung auf den einpräg-
samen Begriff der Guten Nachbarschaft (Good Neighbor Policy). Zwar änderten sich
dadurch die Interessen und mithin auch die Leitlinien der US-Politik im Hinblick auf
Lateinamerika nicht, doch wurden die Ankündigungen und Bekenntnisse Washingtons
als Hoffnungsschimmer ge wertet. So verzichteten die USA auf die Anwendung des Platt-
Amendments in Kuba sowie auf andere verbriefe Eingriffsrechte. Zur Nagelprobe dieser
postulierten Zurückhaltung aber wurde Mexiko. Das Verhältnis zum südlichen Nachbarn
war seit der Mexikanischen Revolution streckenweise hoch gespannt gewesen und nach
einem Überfall der Guerillaverbände Pancho Villas auf die US-Grenzstadt Columbus im
Jahre 1916 - man mag auch von einer militärischen Intervention sprechen - war man
einem Krieg gefährlich nahe gewesen.
Nach der Weltwirtschaftskrise revitalisierte Präsident Läzaro Cärdenas (1934-
1940) den mittlerweile erschlafften revolutionären Geist und ergriff einschneidende
Maßnahmen zur Landreform und auf dem Bildungssektor. In einem offen ausgetragenen
Streit mit den US-amerikanischen und englischen Ölmultis setzte er die Interessen des
Staates durch und verstaatlichte 1938 die Erdölreserven und petrochemischen Industrie-
anlagen der Standard Oil of'New Jersey und der Royal Dutch Shell. Obgleich daraufhin
in Washington Interventionsszenarien durchgespielt und Importverbote verhängt wur-
den, nahm Mexiko die Nationalisierung nicht zurück und fand im nationalsozialistischen
Deutschland einen dankbaren Abnehmer seiner Olprodukte. Angesichts wachsender
Kriegsgefahr in Europa und Asien sahen sich die USA zu energischerem Handeln
außerstande (Schuler 1998).
Insgesamt blieb der Ansatz der Guten Nachbarschaft vielfach im Bereich der Klima-
verbesserung stecken; statt aktiver Gestaltung eines gedeihlichen Nachbarschaftsverhält-
nisses lag tendenziell eher eine Vernachlässigung vor. Die Unterlassung wurde der
Regierung Roosevelt erst Ende der 30er-Jahre bewusst, als Washington zu der Einsicht
gelangte, dass man das Deutsche Reich als einen potenziellen ökonomischen und politi-
schen Konkurrenten in Lateinamerika unterschätzt hatte. Besonders das von Getülio
Vargas (1930-1945, 1950-1954) diktatorisch regierte Brasilien, dem faschistische Nei-
gungen unterstellt wurden, und das europaorientierte Argentinien - beides Länder mit
starken deutschen Gemeinschaften - galten als gefährdet. Überall sah man jetzt Fünfte
Kolonnen des Dritten Reiches in subversiver Tätigkeit (Lübken 2004:187-235).
Hektisch - und streckenweise hysterisch - versuchte Washington nun diplomatisch,
propagandistisch und unter Einsatz geheimdienstlicher Mittel gegenzusteuern. Doch
wenngleich die Politik der Guten Nachbarschaft alte Animositäten abgemildert hatte, war
dieses Unterfangen vor allen bei den großen Staaten komplizierter als angenommen.
Brasilien sah sich nun in der glücklichen Lage, von zwei Großmächten umworben zu sein,
und entschied sich einstweilen für eine eqüidistäncia pragmdtica. In Rio de Janeiro
wartete man auf lockende Angebote, welche die USA - als die deutsche Wehrmacht
Frankreich besetzt hatte - schließlich auch machten. Brasilien wurde damit in das
Geflecht der hemisphärischen Solidarität hineinkomplimentiert; das Land erhielt Waf-
Unausweichliche Konfrontationen: Die lateinamerikanische Staatenwelt und die USA 181
fenlieferungen und Industriekredite. Als die USA in den Weltkrieg eintraten, brach
Brasilien bereits im Januar 1942 die Beziehungen zu den Achsenmächten ab und erklärte
seinerseits im August dem Deutschen Reich den Krieg. Die USA errichteten Marine- und
Luftwaffenstützpunkte im Nordosten Brasiliens, und 1944 stellte das südamerikanische
Land ein Expeditionskorps von 25.000 Mann zusammen, welches schließlich an der
Italienfront zum Einsatz kommen sollte (Bonalume Neto 1995).
Schwieriger gestaltete sich der Fall Argentinien. Die auf betonte Eigenständigkeit
ausgerichtete Außenpolitik der Republik Argentinien hatte das Land bereits wiederholt
mit den USA in Konflikte gebracht, die in der Zwischenkriegszeit auf dem Forum der
Panamerikanischen Konferenzen ausgetragen wurden. Buenos Aires wollte sich nicht
von Europa trennen lassen und lehnte die US-Politik, einen kontinentalen Block mit
Washington als Zentrum zu etablieren, strikt ab.
Verstärkt wurden die nun offenen Spannungen einerseits durch einen hochfahrenden
argentinischen Nationalismus wie durch das zuweilen messianische Bestreben der USA,
die eigenen Strukturen und Institutionen zu exportieren. In der unmittelbaren Vorkriegs-
zeit und während des Zweiten Weltkriegs sah sich Argentinien einer wachsenden
ökonomischen und diplomatischen Aggression der USA gegenüber. Der geforderte
Kriegseintritt der La-Plata-Republik auf der Seite der Alliierten entwickelte sich für die
USA zunehmend zu einer Prestigefrage. Seit 1942 verhinderte das State Department alle
Waffenlieferungen an Argentinien und unterwarf das Land sukzessive einem Wirtschafts-
boykott. Quasi in einem symbolischen Kniefall sollte die kontinentale Führungsrolle der
Vereinigten Staaten von Amerika augenfällig demonstriert werden. Buenos Aires gab
nach, gezwungenermaßen. Das Land wäre sonst nicht als Mitglied der Vereinten
Nationen zugelassen worden. Argentinien erklärte schließlich am 27. März 1945 Deutsch-
land und Japan als letzter Staat der Welt den Krieg. Washingtons Führungsanspruch war
hemisphärisch durchgesetzt (Escude 1983).
Doch die USA versuchten nun, ihrem gewachsenen Einfluss am Rio de laPlata Dauer
zu verleihen. Als sich der erklärte Mussolini-Anhänger und Sozialpopulist Juan Domin-
go Perön zum Präsidentschaftskandidaten aufstellen ließ, mischte sich das US State
Department in massivster Weise in den Wahlkampf ein (Holden/Zolov 2000:176-177).
Perön und seine Parteigänger wurden als »Feinde der freien Welt« tituliert. Doch
Argentinien war keine zentralamerikanische Bananenrepublik. Das im höchsten Maße
beleidigte Nationalgefühl der Argentinier spülte Perön auf einer Woge der Sympathie ins
höchste Amt der Republik. Seine Partei erhielt fast zwei Drittel der Sitze in der
Abgeordnetenkammer und alle Sitze im Senat bis auf zwei. Es war die größte diploma-
tische Niederlage der USA in der Geschichte der panamerikanischen Beziehungen.
Die Stärkung der Sowjetunion nach Ende des Zweiten Weltkriegs führte in maßgeblichen
Kreisen Mittel- und Südamerikas zur Furcht vor kommunistischer Infiltration. Bereits zu
Anfang des Jahrhunderts waren insbesondere in den Einwanderungsländern legislative
Maßnahmen eingeleitet worden, um gegen landfremde Anarchisten und Sozialisten vor-
gehen zu können, so dass Anknüpfungspunkte zur nunmehr betriebenen Eindämmung
182 Holger M. Meding
den 60er- und 70er-Jahren in den meisten Staaten Lateinamerikas die Macht. Ein wenig
differenziertes Freund-Feind-Schema beherrschte in dieser Zeit den von Zensur geleite-
ten öffentlichen Diskurs. Das reaktionäre Gesellschaftsbild der Militärs wurde zur Norm
erhoben und der Kampf gegen den inneren Feind war allem anderen übergeordnet.
Aufhebung von Verfassungen, Repression, ja selbst Folter und Liquidierungen galten als
legitime Mittel. Die USA stützten solcherlei Regierungen vielfältig oder brachten sie -
wie im Falle Chiles - sogar an die Macht. Dort hatte Washington die politischen und
militärischen Kräfte des Landes massiv gegen den sozialistischen Präsidenten Allende
(1970-1973) gefördert und auf dessen Sturz hingearbeitet.
Der Kalte Krieg hatte Lateinamerika zu einem Austragungsort der Weltanschauun-
gen der Supermächte gemacht. Hier wurden, wie in anderen Weltregionen, Stell vertreter-
kriege geführt. Im Kampf gegen die Subversion erwiesen sich die Militärs weitgehend als
erfolgreich. So konnten die Tupamaros in Uruguay und die chilenische Linke niederge-
kämpft werden, allerdings nicht die Peronisten in Argentinien.
Auf dem ökonomischen Feld verdichteten sich die Beziehungen zu den Vereinigten
Staaten, die in diesem Prozess offenbar auch zu verdeckten Methoden der Übervorteilung
griffen (Perkins 2005). Parallel wuchs die finanzielle Abhängigkeit Lateinamerikas von
den USA, welche über Weltbank und Internationalen Währungsfonds die Vergabe von
Krediten dirigierten. Die größeren Staaten versuchten zuweilen erfolgreich gegenzu-
steuern und Optionen aufzubauen: So entschieden sich beispielsweise Argentinien und
Brasilien trotz massiver Pressionen aus Washington für deutsche Atomtechnologie.
Einen neuen Ansatz verkörperte US-Präsidenl Jimmy Carter. Menschenrechtsfragen
wurden unter seiner Regierung nicht nur rhetorisch gegen die Sowjetunion ins Feld
geführt, sondern auch gegenüber Diktaturen Lateinamerikas thematisiert. Die hierdurch
ausgelösten Irritationen versuchten Oppositionelle wie auch Regierungen gleichermaßen
zu nutzen. Geschickt verstand es beispielsweise der Kommandant der Nationalgarde und
hombre fuerte Panamas, General Omar Torrijos (1968-1981), die langjährigen Forde-
rungen seines Landes auf dem nunmehr gewandelten politischen Parkett zu platzieren. Es
gelang ihm, den Weltsicherheitsrat in der Kanalfrage gegen die USA zu mobilisieren und
gleichzeitig intensive Verhandlungen zu führen.
1977 wurden schließlich Verträge geschlossen, welche die Übergabemodalitäten
von Kanal und Kanalzone an Panama bis zum Ende des Jahrhunderts regelten. Damit
wurde ein Schlussstrich unter eine schwierige Staatenbeziehung gezogen und der
umstrittene Kanalvertrag von 1903 aufgehoben, der den USA die ausschließliche
Verwaltung von Zone und Kanal auf ewige Zeiten (»in perpetuity«) zugeschrieben hatte.
Das Recht, militärisch im Falle der Bedrohung der Neutralität des Kanals eingreifen zu
können, sicherten sich die USA freilich auch im neuen Vertragswerk. Gleichwohl erlebte
die Vereinbarung in Washington heftigste Anfeindungen aus den Kreisen der Republi-
kaner, die einen Ausverkauf nationaler Interessen erkannten, und passierte mit nur einer
Stimme Mehrheit denkbar knapp den US-Senat.
Weniger glücklich verlief die Entwicklung Nikaraguas. Hier entzog die Carter-
Regierung dem autokratisch und skrupellos herrschenden Somoza-Klan die Unterstüt-
zung und stärkte damit die Oppositionsgruppierungen des Landes. Zwar zählten hierzu
auch bürgerliche Kräfte, doch den Kern der aufständischen Regimegegner bildete eine
heterogene Allianz, die sich in Anlehnung an den Mythos des Rebellenführers Sandino
Unausweichliche Konfrontationen: Die lateinamerikanische Staatenwelt und die USA 185
konnten die Streitkräfte des La-Plata-Staates den Briten nur begrenzt Widerstand leisten.
Wenngleich das Militärregime kurz darauf stürzte, blieben die Beziehungen zwischen
Buenos Aires und Washington längere Zeit unterkühlt.
Das Abflauen des Kalten Kriegs entideologisierte schließlich die interamerikanischen
Beziehungen. Die strikt antikommunistische Ausrichtung hatte der Lateinamerikapolitik
der USA bei Freunden und Gegnern Berechenbarkeit verliehen. Der Niedergang des
Ostblocks ließ nun wiederum andere politische Interessen in den Vordergrund treten. So
hatten sich beispielsweise die Beziehungen zu Panama rapide verschlechtert. Der starke
Mann des Landes und Kommandant der Nationalgarde, General Noriega (1983-1989),
war von den USA jahrelang als verlässlicher Antikommunist gestützt worden und hatte
gute Dienste geleistet. Dann aber wurde er zum Hindernis der neuen Anti-Drogen-Politik
der USA, da er selber in Drogengeschäfte verwickelt war. Man wollte den Diktator
loswerden, versuchte es diplomatisch und später über Boykottmaßnahmen, jeweils ohne
Erfolg. Es folgten ein Propagandakrieg und provozierte Zwischenfälle. Schließlich
stellte Panama den Kriegszustand mit den USA fest.
Zu diesem Zeitpunkt hatten die USA bereits einen »Enthauptungsschlag« gegen die
Regierung minutiös vorbereitet und General Colin Powell, seinerzeit Stabschef der US-
Streitkräfte, setzte die Aktion kurz vor Weihnachten 1989 auf Befehl von George Bush
(1989-1993) ins Werk. US-Truppen, insgesamt 24.000 Mann, besetzten die Hauptstadt
in einem heftigen Militärschlag. Der kurz zuvor zum Regierungschef ernannte Noriega
wurde verhaftet und sitzt seitdem in einem US-Gefängnis in Haft. Erst mit der neuen, von
den USA ins Amt gebrachten Regierung wurde die stufenweise Rückgabe der Kanalzone
an Panama gemäß den Torrijos-Carter-Abkommen durchgeführt und unter den Augen
der Besatzungsmacht verlief der Aufbau einer Demokratie, die sich in der Folgezeit als
tragfähig erweisen sollte.
Globalisierung
In Lateinamerika gelten die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts vielfach als ein verlorenes
Jahrzehnt (decada perdida). 7.wav wurden in dieser Zeit mehrere zählebige Diktaturen
durch demokratische Aufbrüche abgelöst, aber die Stagnation auf dem ökonomischen
Feld lähmte die Aufschwunghoffnungen. Die 90er-Jahre brachten mit dem Zusammen-
bruch des Ostblocks einen neoliberalen Siegeszug mit sich, der zwar funktionierende
Kooperationen ins Leben rief (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und seit
kurzem auch Venezuela im MERCOSUR; Kanada, die USA und Mexiko in der
Freihandelszone NAFTA), doch die mexikanische »Tequila-Krise« (1994/95) und der
finanzielle Zusammenbruch Argentiniens (ab 2001) ernüchterte Betroffene und selbst
die Ratgeber beträchtlich. Dem US-gestützten Neoliberalismus folgte ein lateinamerika-
nischer Neopopulismus, der inzwischen weite Teile der Großregion erfasst hat.
Seit dem Fall der Mauer findet zwischen den lateinamerikanischen Staaten eine
verstärkte innere Integration statt, die alte Konflikte abzubauen trachtet und die Zusam-
menarbeit verstärkt. Der klassischen nationalstaatlichen Außenpolitik der USA steht eine
zwar schwächere, aber flexiblere Kooperationspolitik der lateinamerikanischen Staaten
gegenüber. Die iberoamerikanischen Treffen der Staats- und Regierungschefs gewinnen
Unausweichliche Konfrontationen: Die lateinamerikanische Staaten weit und die USA 187
fc
188 Holger M. Meding
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Stephan Scheuzger
Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts brachte eine neue Sichtbarkeit indigener
politischer Präsenz in Lateinamerika. Hatten in den 60er-Jahren erst vereinzelte indigene
Organisationen bestanden, so nahm die Bildung von Zusammenschlüssen auf der
Grundlage indianischer Identitäten in den 70er-Jahren erkennbar zu, um im folgenden
Jahrzehnt eine rasche weitere Verbreitung zu erfahren. Im letzten Dezennium des
Jahrhunderts etablierten sich die indigenen Organisationen schließlich auf den Ebenen
der nationalen und der internationalen Politik. Indigene Massenkundgebungen in Ecua-
dor und Bolivien, der Friedensnobelpreis für die Maya Rigoberta Menchü Tum aus
Guatemala 1992, die Proklamation des »Jahres der indigenen Völker« durch die Verein-
ten Nationen 1993, der Aufstand der größtenteils von Indigenen gebildeten Guerilla-
Organisation des Ejercito Zapatista de Liberation National (EZLN) im südöstlichen
mexikanischen Gliedstaat Chiapas, Verfassungsänderungen in Kolumbien (1991), Me-
xiko (1 992), Peru (1993), Bolivien (1994) oder Ecuador (1998), welche die betreffenden
Staaten neu als plurikulturelle, multiethnische definierten, oder der Eintritt von Indigenen
in nationale Regierungskabinette, etwa in Guatemala oder Bolivien, waren über den
Subkontinent hinaus wahrnehmbare Zeichen für die sich verändernde politische Rolle
der indigenas in Lateinamerika. Die Entwicklung nahm in den ersten Jahren des neuen
Jahrhunderts ihren Fortgang und kulminierte vorläufig im Amtsantritt des Aymara und
Führers des Movimiento al Socialismo (MAS) Evo Morales als Präsident Boliviens im
Januar 2006.
Es erscheint angebracht, diese neue Sichtbarkeit nicht nur als eine Verlaufsform
organisatorischer Durchdringung der indigenen Bevölkerungen Lateinamerikas und
deren Kapazität zu verstehen, auf sich und ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Die
indigenas waren in den vorangegangenen Jahrzehnten durchaus nicht jene apathischen,
passiven und erduldenden Gemeinschaften gewesen, als die sie von der nicht-indigenen
Gesellschaft gerne und einflussreich dargestellt wurden. Allerdings waren die Kämpfe
der Indigenen für ihre Interessen bis weit in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts
vornehmlich in den Bewegungen der Kleinbauern und der Landarbeiter für Land,
gerechtere Löhne, Zugang zu Krediten oder für die Ausschaltung des Zwischenhandels
und fairere Preise aufgegangen. Als Teil der Bauernschaft mit gemeinsamen materiellen
192 Stephan Scheuzger
lichung des Diskurses über die Indigenen aber nicht nur kulturpessimistische Deter-
minismen hervor, sondern auch namhafte bejahende Visionen der Mestizierung und
nachdrückliche Plädoyers zugunsten der Bildung der indigenas.
Neben einer Politik der Integration, der letztlich allerdings auch die Auflösung der
indigenen Gemeinschaften in einer Mischlingsgesellschaft als Ziel zugrunde lag, betrie-
ben verschiedene lateinamerikanische Staaten an ihren Siedlungsgrenzen und bei der
Bekämpfung immer wieder aufflammender indigener Aufstände auch eine Politik der
Deportation und der Exterminierung.
Unter dem Begriff des Indigenismus werden landläufig verschiedenste Phänomene
der Hinwendung der sich selbst als nicht-indigen begreifenden Teile der Gesellschaft zu
den als indigen bezeichneten Bevölkerungen zusammengefasst, seien sie politischer,
administrativer, literarischer oder künstlerischer Natur. Der Indigenismus stand zudem
oft in einer engen Beziehung zu den sozialwissenschaftlichen - insbesondere anthropo-
logischen - Entwicklungen seiner Zeit. Er war ein Komplement der lateinamerikani-
schen Nationalismen und Modernisierungsintentionen und als solches ambivalent. Zum
einen sollte die indigene Bevölkerung in den nationalen Verband eingegliedert werden:
kulturell (wozu vor allem auch die sprachliche Integration gehörte) zur Herstellung einer
Identifikation unter diesen Volksgruppen mit dem Tun und dem Wollen der entworfenen
Nation, aber auch wirtschaftlich - als Produzenten und Konsumenten. Zum anderen
stellten die indigenen Kulturen, insbesondere als geschichtliche Reminiszenz vor-
spanischer Zivilisationen, den sich auf das europäisch-US-amerikanische Entwicklungs-
vorbild hin orientierenden lateinamerikanischen Gesellschaften bereits seit dem 19.
Jahrhundert eine Ressource nationaler Identität, eine Quelle der Unterscheidbarkeit und
des Stolzes in der universalisierenden Moderne zur Verfügung. Im diskursiven Zentrum
des Indigenismus stand in der Regel der Mestize, der Mischling, der neue Protagonist
nationaler Narrationen im ausgehenden 19. und einsetzenden 20. Jahrhundert. Die
Mestizierung war zugleich Voraussetzung und Projekt des Indigenismus.
Bedeutende Indigenismen gab es namentlich in Mexiko, Peru, Bolivien und Ecuador.
In Guatemalablieb der Indigenismus indessen schwach, obwohl das zentral amerikanische
Land über einen sehr hohen indigenen Bevölkerungsanteil und das historische Legat
einer vorspanischen Hochkultur verfügte. Die herrschenden weißen Eliten sahen sich in
der Lage, ihre Interessen - nicht zuletzt über die Ausübung von Gewalt - durchzusetzen,
ohne die indigene Bevölkerung in ein nationales Projekt einzubinden. Guatemala blieb
im 19. und 20. Jahrhundert eine dramatisch desintegrierte Nation.
In Peru erreichte der Indigenismus in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts einen
ersten politischen und künstlerisch-literarischen Höhepunkt. Von einer Vielzahl ver-
schiedener Positionen aus wurde das Problem der nationalen Einheit eingekreist, mit
unterschiedlichen Gewichten auf einer andinistischen Rückwendung zum historischen
Inkareich oder auf einer neuen Mestizenkultur. Ein Merkmal dieser Phase des peruani-
schen Indigenismus stellten dessen stark sozialkritische Tendenzen und der prominente
Einbezug marxistischen Gedankengutes dar.
Der mexikanische Indigenismus entwickelte sich im 20. Jahrhundert im Kontext des
Aufbaus der postrevolutionären Gesellschaft ab den 20er-Jahren und des neuen mexika-
nischen Nationalismus. Seine (latein)amerikanische Vordenkerrolle etablierte er 1940
mit der Abhaltung des Ersten Interamerikanischen Indigenistischen Kongresses in
Die Re-Ethnisierung gesellschaftlicher Beziehungen: neuere indigene Bewegungen 195
Indigene Konturen
Die allgemeinen demographischen Umrisse der indigenas blieben trotz der neuen
politischen Sichtbarkeit auch im ausgehenden 20. Jahrhundert undeutlich. Zahlen über
indigene Bevölkerungsstärken waren Schätzungen, die je nach Quelle erheblich variieren
konnten und nicht frei von politischen Intentionen waren. Die generelle ausgewiesene
196 Stephan Scheuzger
chen. Sie schuf aber über die notwendige Kategorie der Zweisprachigkeit vor allem auch
einen unter Umständen ausgedehnten Bereich statistischer UnUnterscheidbarkeit: In
verschiedenen Gebieten Lateinamerikas war auch ein mitunter beträchtlicher Teil der
nicht-indigenen Einwohner des lokal oder regional dominierenden indigenen Idioms
mächtig, in Paraguay war und ist Guarani sogar eine Nationalsprache und wurde von
praktisch der gesamten Bevölkerung beherrscht; umgekehrt wurde der Spracherwerb von
Individuen gerade auch als Mittel gesehen, sich von einer stigmatisierten Existenz als
indio zu distanzieren.
Die akademisch dominierende Auffassung von der Konstruiertheit ethnischer Gren-
zen, von der Ethnizität nicht als Gegebenheit eines Bündels kultureller Charakteristika,
sondern als in der Auseinandersetzung mit einer sozialen Umwelt immer wieder neu
geschaffener Identität kontrastiert mit den Ansprüchen der ethnischen Akteure selbst
(Avruch 2003:72; Sierra 1997:131; vgl. auch Warren/Jackson 2002:3-13). Nachdem der
Rassebegriff bereits viel früher zur Bestimmung des Indigenen entwertet worden war,
begann noch vor der Mitte des 20. Jahrhunderts die anthropologische Forschung in
Lateinamerika, auch Vorstellungen einer indigenen kulturellen Authentizität den Boden
zu entziehen. Die Suche nach der Herkunft kultureller Manifestationen verästelte sich in
den Spuren der Wechselwirkungen zwischen den Kulturen bis zur Unübersichtlichkeit.
Indigenes Gewohnheitsrecht, Trachten, Riten, Anbauverfahren, politische Organisati-
onsformen, Ernährungsgewohnheiten und andere traditionell eingesetzte Elemente eth-
nischer (Auto-)Identifikation enthüllten bei näherer Betrachtung von kolonialen und
postkolonialen Einflüssen maßgeblich mitgeprägte Entwicklungen. Damit brauchte
nicht indigener Identitätsverlust cinherzugehen. Gruppenidentitäten können sich über
wandelnde kulturelle Eigenschaften ebenso reproduzieren wie über ein resolutes Festhal-
ten an denselben (Adams 1991:200). Eine Ethnie ist nicht der Ausdruck einer kulturellen
Essenz.
Analytisch ist der Gegensatz zwischen konstruktivistischen Konzepten der Ethnie
und dem Rekurs auf einen festen Identitätskern durch ethnische Diskurse selbst über
ihren Konnex in der Geschichte zu überwinden, dem Stoff, aus dem Ethnizität ist.
Ethnizität ist ein kulturelles Phänomen und steht als solches in der Geschichte - auch
wenn es stets zu den Strategien ethnischer Mobilisierung gehört hat, die Ethnie als eine
natürliche Gemeinschaft vorzustellen. Der Konstituierung ethnischer Identität lag eine
hochgradig selektive Lektüre der Geschichte zugrunde. Ereignisse der Vergangenheit
wurden ausgewählt und in eine sinnvolle Genealogie eingedeutet, ein Phänomen, das als
Erfindung von Tradition in der Historiographie ausführlich diskutiert worden ist
(Hobsbawm 1992). Der Akt der Erfindung bezeichnet dabei nicht einen epistemologi sehen
Gegensatz zu einem Auffinden von Geschichte, sondern eine eng fokussierte Verbindung
der selbstverständlichen Mechanismen des Erinnerns, des Ausblendens und des Interpre-
tierens. Ethnie als kollektive Vorstellung, als in der Interaktion mit anderen sozialen
Gruppen konstruierte zu verstehen, kann also nicht bedeuten, die zur Ein- und Ausgrenzung
mobilisierten kulturellen Inhalte als unerheblich zu begreifen. Diese sind zwar außeror-
dentlich wandelbar, aber keineswegs beliebig. Andererseits sind Geschichten, Mythen
und Symbole weder präexistent, noch sprechen sie für sich. Ihre Auswahl und Bedeutung
werden permanent ausgehandelt, in der Auseinandersetzung mit einer gesellschaftlichen
Umwelt. Ethnienbildung erfolgte in einem Machtzusammenhang.
198 Stephan Scheuzger
Strukturelle Ursachen
Eine bemerkenswerte Ausnahme von dieser Tendenz bildete dabei das andine Peru (Albö
1995:417,418).
Das Verhältnis von Klasse und Ethnie stellte sich als ausschließendes dar. Bis in die
Dorfgemeinschaften hinein konnten die Trennungen zwischen den Mitgliedschaften in der
indianischen oder in der Klassenorganisation reichen, in Ecuador etwa der Confederaciön
de Nacionalidades lndigenas del Ecuador (CONAIE) und der Confederaciön Ecuatoriana
de Organizaciones Clasistas (CEDOC). Indigene Bewegungen konnten sich häufig nicht
über ihre Beziehungen zu den Klassenorganisationen einigen und begegneten den traditio-
nellen politischen Kräften mit misstrauischer Skepsis oder offener Ablehnung. Sehr oft
hatten ihre Basis und ihre Führer in der Vergangenheit erfahren müssen, dass die Linke sich
spezifisch indigenen Anliegen gegenüber kaum weniger blind und von evolutionistisch-
integrationistischen Ideen geleitet gezeigt hatte als deren liberale und konservative Wider-
sacher. Dass sich linke Parteien und Gewerkschaften ihrerseits vielfach schwertaten in ihrer
Positionierung vor ethnischen Postulaten, besaß einen Ursprung im Argument, ethnische
Politik berge die Gefahr, soziale Bewegungen zu spalten. Der bis in die Gegenwart
geäußerte Vorbehalt (Allebrand 1997:132, 133) ist nicht nur als Relikt marxistischer
Dogmatik abzutun, er hat auch Indizien auf seiner Seite: Gewisse Regierungen scheinen in
beschränkten Konzessionen an ethnische Forderungen durchaus auch die Möglichkeit
einer Ventilfunktion für die Ableitung eines größeren sozialen Drucks gesehen und
ethnische Mobilisation als das geringere Übel betrachtet zu haben (Wearne 1996:176).
Hinter den Entscheidungen, die Identitätspolitik zu verlangen scheint, gestalten sich
die Beziehungen zwischen Klasse und Ethnie indessen weit durchlässiger. Ethnische
Differenzierungen konnten die Entstehung eines Klassenbewusstseins unterstützen
(Schryer 1990:247-250), Klassenorganisationen halten Anteil an der Generierung ethni-
schen Selbstvcrständnisses. Die am Klassengegensatz orientierten Bauernverbände und
Gewerkschaften standen nicht einfach nur in einer hemmenden Konkurrenz zu den
aufkommenden indigenen Bewegungen, sondern reihten sich als wichtige Faktoren in
deren Entstehungsgeschichte ein. Viele indigene Kleinbauern und Landarbeiter, aber
insbesondere auch zukünftige Kader, waren in diesen Organisationen überhaupt erst
politisiert worden. Die lateinamerikanischen indigenen Bewegungen können den new
social movements zugerechnet werden (vgl. Fowerakcr 1995), und als Teil dieser
Netzwerke haben sie sich wiederholt auch in Allianzen mit nicht ethnisch konstituierten
Bewegungen zusammengeschlossen. In Mexiko gehörten beispielsweise zahlreiche
indigene Organisationen dem Dachverband unabhängiger Bauernbewegungen Coor-
dinadora Nacional Plan de Ayala (CNPA) an. Die Identitäten überlagerten sich. In Peru
übernahm die Umgangssprache im Hochland die vom offiziellen Diskurs forcierte
Bezeichnung des »campesino«, übertrug auf ihn aber einfach die bisherige Bedeutung
von »indio«, was die semantische Intention der ethnischen Neutralisierung ins Leere
laufen ließ; wer sich als nicht-indigener Bauer verstand, bezeichnete sich als »agricultor«
(Albö 1995:419,420). Die mexikanische Coaliciön Obrera Campesina y Estudiantil del
lstmo (COCEI) führte vor, wie Bewegungen politisch gezielt die in den Schnittflächen
sozialer und ethnischer Diskurse entstandenen Mehrdeutigkeiten nutzen und, statt sich
um endgültige Abgrenzung zu bemühen, situationsabhängig zwischen den Identitäten
zirkulieren konnten (Scheuzger 2005) - und damit Auffassungen stützen, wonach gerade
die (hybride) Verbindung von Klasse und Ethnizität politisch effektiv ist (vgl. Bell 1976).
Die Re-Ethnisierung gesellschaftlicher Beziehungen: neuere indigene Bewegungen 201
Forderungen
einzelnen Fällen von Gruppen, die keine autochthone Sprache mehr sprachen, auch die
konstituierende Funktion ethnischer Identität übernehmen (Adams 1991:192).
Legitimiert wurden die Forderungen nach territorialen Rechten nicht zuletzt mit der
Eigendefinition als pueblos originahos, dem Verweis auf eine Ursprünglichkeit vor der
europäischen Kolonisierung. Überhaupt gehörte ob der kolonialen Herkunft der verall-
gemeinernden Kategorie des indio und der indigenistisch-paternalistischen Festlegung
des indigena die Einforderung des Rechtes auf die Definition des Indigenen für die
Indigenen selbst als fundamentalster Akt der Selbst-Bestimmung eigentlich an den
Ausgangspunkt der Agenden indigener Bewegungen.
Mit der zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Diskussion über das
Verhältnis indigener Gruppen zu ihren nationalstaatlichen Umgebungen trat auch die
politische Ladung der verwendeten Gruppenbezeichnungen deutlicher an die diskursive
Oberfläche. Viele indigene Organisationen bezogen sich in der Selbstbezeichnung auf
indigene Völker oder sogar Nationen, um ihren Anspruch auf eine selbstbestimmte
Existenz im Sinn der UN-Charta zu unterstreichen.
Separatistische Tendenzen waren unter den neueren indigenen Bewegungen Aus-
nahmeerscheinungen. Nur von radikalen Randpositionen aus wurde beispielsweise in
Guatemala die Errichtung eines Maya-Staates (Mayab) unter Ausschluss der Mischlings-
bevölkerung gefordert (Allebrand 1997:77). Der indigene Kampf um die Anerkennung
der Differenz hatte meist den Nationalstaat in den bestehenden territorialen Grenzen zur
Referenz. In den 70er- und 80er-Jahren forderten die indigenen Diskurse in erster Linie
die allen Menschen universal zuerkannten Rechte ein - und schlössen sich so an die
internationale Menschenrechtsdiskussion an. Die säkularen Erfahrungen, dass die per-
sönlichen Rechte der Indigenen vielerorts ebenso wenig gewährleistet waren wie eine
effektive Gleichheit der Partizipationsmöglichkeiten an der gesellschaftlichen Entwick-
lung, führten zur Einforderung kollektiver Rechte durch die indigenen Bewegungen.
Anvisiert wurden gesetzlich gesicherte Räume selbstbestimmter Entwicklung in Auto-
nomielösungen. Autonomie als im internationalen Recht nicht festgelegte Kategorie
transportierte dabei unterschiedlichste politische Vorstellungen. Grundlegende Problem-
bereiche, die mit den angestrebten Autonomielösungen verbunden waren, betrafen in der
Regel die Bewahrung sozialer Organisationsformen, die Anerkennung indigener Auto-
ritäten und des praktizierten Gewohnheitsrechts, die Gestaltung der Schulbildung oder
die Kontrolle der natürlichen Ressourcen. Zu Diskussionen Anlass geben musste insbe-
sondere die Frage nach der administrativen Ebene autonomer Einheiten. Die Ideen
reichten von submunizipalen Lösungen bis zur Etablierung umfassender indigener
Regionen. Am längsten, seit 1953, kannte Panama eine territoriale Selbstverwaltung für
indigene Gruppen (Kuna). Nicaragua führte 1987 ein regionales Autonomiestatut ein,
Kolumbien anerkannte 1991 indigene resguardos als autonome Munizipien, und die
ecuadorianische Verfassung von 1998 verankerte die Möglichkeit zur Schaffung quasi-
autonomer indigener Distrikte (Van Cott 2000).
Als Rückzugsbestrebungen aus der nationalen Gesellschaft sind die Forderungen
indigener Organisationen nach Selbstbestimmung und Autonomie kaum zu verstehen,
auch wenn ihnen Hoffnungen auf garantierte Räume mit eigener politischer, sozialer und
wirtschaftlicher Normativität, auf Kontrolle der natürlichen Ressourcen oder auf ein
ethnisch homogenes eigenes Territorium zugrunde liegen mochten. Letztlich ging es den
Die Re-Ethnisierung gesellschaftlicher Beziehungen: neuere indigene Bewegungen 207
Identitätspolitik
Traditionen ihrer eigenen Gemeinschaften - eine Problematik, die weiterverweist auf die
bekannten Reibungsflächen zwischen den im Namen kultureller Identität für Gruppen
einer Gesellschaft eingeforderten kollektiven Rechten und den verfassungsmäßig allen
Mitgliedern der Gesellschaft garantierten Individualrechten.
Was Rigoberta Menchü Mitte der 90er-Jahre in einem Geleitwort zu einem Buch
über die »Rückkehr des Indianers« geschrieben hat, ist auch in der Gegenwart immer
noch als summarische Standortbestimmung zitierbar: »Trotz der enormen Schwierigkei-
ten und des langen und schmerzhaften Weges, der noch vor uns liegt, bis wir der Welt die
Rechte und Werte der indigenen Völker bewusst machen können, haben wir auch bereits
Erfolge zu verzeichnen.« (Wearne 1996:xiii). Als Zeichen zur Hoffnung dürften die
indigenen Bewegungen nicht zuletzt die Abänderungen verschiedener lateinamerikani-
scher Verfassungen zur Kenntnis genommen haben, die das Modell des ethnisch-
kulturell homogenen Nationalstaates verabschiedeten und die Nation als plurikulturelle
oder multiethnische anerkannten; die Prozesse der gesetzlichen Ausgestaltung der
Verfassungsartikel stellten sich in den einzelnen Ländern allerdings unterschiedlich und
für die indigenen Organisationen nicht nur befriedigend dar. Ein weiter Weg wird
hingegen in jedem Fall noch bis zur Beseitigung der massiven sozialen Benachteiligun-
gen der indigenen Bevölkerungen zurückzulegen sein. Und gegen nicht viel geringere
Widerstände dürfte sich in der Zukunft auch der von der legalen Anerkennung und der
sozialen Besserstellung kaum zu trennende Respekt für die indigene Andersheit in den
nicht-indigenen Gesellschaftsteilen und insbesondere in den dominierenden Eliten
durchzusetzen haben. Als Rigoberta Menchü der Friedensnobelpreis verliehen wurde,
enthielt sich der guatemaltekische Präsident Jorge Serrano einer offiziellen Gratulation
und bezeichnete die weltweite Aufmerksamkeit für eine Indianerin als nationale
Schande.
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Gerhard Kruip
Einführung
Für manche »Linke« in Europa üben der Aufstand der mexikanischen Zapatistas in
Chiapas, der erneute Wahlsieg des brasilianischen Arbeiterführers Luis Inäcio Lula da
Silva und vor allem die politischen Projekte von Hugo Chävez in Venezuela oder Evo
Morales in Bolivien noch eine gewisse Faszinationskraft aus. Trotzdem sind die Zeiten
vorbei, als sich europäische Gesellschaftskritiker ihre Utopien mit Bildern aus Latein-
amerika ausmalten, wo eine »vorrevolutionäre« Situation Veränderungen in Richtung
einer gerechteren Gesellschaftsordnung zu versprechen schien. Insbesondere junge
katholische Christen erhofften sich zudem die kreative Entwicklung eines neuen Modells
von Kirche, das alle Übel des römisch katholischen Christentums, vom notorischen
Bündnis mit konservativen oder gar reaktionären Kräften bis hin zu den internen
hierarchischen Strukturen überwinden sollte. Von diesen utopischen Energien und der
entsprechenden Projektionsdynamik ist heute kaum mehr etwas zu spüren. Die »Theo-
logie der Befreiung«, ja sogar alles, was mit Lateinamerika zu tun hat, scheint »out« zu
sein. Manche Rhetorik, die früher als »progressiv« galt, erscheint heute merkwürdig
rückwärtsgewandt. Viele Neuaufbrüche, die man »an der Basis« beobachten kann, laufen
eher auf eine Retraditionalisierung hinaus. Manche wirtschaftspolitischen Modelle, die
früher verpönt waren, erweisen sich als relativ erfolgreich und werden sogar von »linken«
politischen Kräften propagiert. Die viel geschmähte »Globalisierung« wird zumindest in
der Weise als ambivalent erkannt, als deutlich wird, dass es noch viel schlimmer ist, wenn
man von ihr ausgeschlossen bleibt.
Sich wegen dieser Ambivalenzen enttäuscht von Lateinamerika abzuwenden, wäre
erneut ungerecht, wie damals die erwähnte Projektion eigener Sehnsüchte auf Latein-
amerika. Die Menschen dort kämpfen weiter für eine Verbesserung ihrer Lebenssituati-
on, für die Achtung ihrer Rechte und für mehr Gerechtigkeit zwischen Arm und Reich.
Sie tun dies vor dem Hintergrund ihrer kulturellen Selbstverständnisse, in denen - was
manche Menschen gerade in Westeuropa irritiert - verschiedenste Formen von Religio-
sität eine große Rolle spielen.
214 Gerhard Kruip
Im folgenden Beitrag möchte ich nach einem kurzen Rückblick in die Geschichte
zunächst zu beschreiben versuchen, was aus der »Theologie der Befreiung« inzwischen
geworden ist. Dabei sind zum einen die Folgen des Falls der Mauer zu betrachten, zum
anderen ist auf Diversifizierungs- und Pluralisierungsprozesse innerhalb der Theologie
der Befreiung hinzuweisen. Der wahrscheinlich wichtigste Aspekt für die zukünftige
Entwicklung des religiösen Bereichs ist die Tatsache, dass die katholische Kirche in
Lateinamerika inzwischen ihre Monopolstellung zugunsten eines religiösen Pluralismus
verloren hat. Wie ich im Abschnitt über »religiösen Pluralismus« zeigen möchte, handelt
es sich auch hier um ein ausgesprochen ambivalentes Phänomen, dem man nicht durch
einfache Hypothesen gerecht werden kann. Welche politische, insbesondere zivil-
gesellschaftlich relevante Macht die katholische Kirche trotzdem immer noch hat,
möchte ich schließlich im letzten Kapitel am Beispiel von Mexiko und Bolivien erörtern.
Von Anfang an war die Missionierung der Ureinwohner mit dem Projekt der Eroberung
Amerikas durch Spanier und Portugiesen verbunden. Die Religion diente nicht nur der
Unterwerfung der Ureinwohner und der Legitimierung der Macht, sondern war der
entscheidende Faktor, der im Selbstverständnis der Eroberer dem Unternehmen Sinn gab.
Dabei sind regional sehr unterschiedliche Formen von kreolischen, mestizischen oder
indianischen, später auch afroamerikanischen Katholizismen entstanden, die nicht ein-
fach nur eine Kopie bekannter europäischer Frömmigkeitsformen darstellen. Deshalb
kann man - besonders in der Karibik - gar nicht davon sprechen, es habe sich mit dem
Katholizismus ein religiöses Monopol etabliert (Lampe 1998). Vielmehr haben sich
religiöse Mischformen entwickelt, die es den unterdrückten Ureinwohnern vielfach
erlaubten, trotz ihrer Unterwerfung unter eine fremde religiöse Symbolwelt eigene
Überzeugungen und Praktiken in Form einer heimlichen Widerstandskultur weiter zu
tradieren. Heiligenstatuen, in denen solche von indianischen Göttern gefunden wurden,
sind dafür nur besonders eindrucksvolle Beispiele. Neben dem intoleranten Katholizis-
mus, der durch die Reconquista gegen den Islam, später von der Gegenreformation
geprägt war und gegen jede Form von »Götzendienst« vorging, gelangten eben auch
Missionare wie Bartolome de Las Casas und - breitenwirksamer noch - die Volks-
religiosität der ärmeren Schichten Spaniens und Portugals nach Lateinamerika. Während
Erstere in ihren Versuchen, den Rechten der Ureinwohner Geltung zu verschaffen,
weitgehend scheiterten, boten ihnen Letztere zumindest Anknüpfungspunkte, um ihre
eigene Religiosität mit neuen Symbolen fortzusetzen, bzw. den neu eingeführten Formen
die eigenen Bedeutungen zu unterlegen (Marroquin 1989).
Solche Ambivalenzen lassen sich an der Figur der »Patronin der beiden Amerikas«,
der »Jungfrau von Guadalupe« in Mexiko studieren. Sie ist typisch für die Art der
lateinamerikanischen Identitätskonstitution. Denn sie ist einerseits unbestreitbar euro-
päischen Ursprungs, wurde aber mit autochthonen Wurzeln verknüpft (der Wallfahrtsort
liegt auf dem Hügel Tepeyac, der vorher der aztekischen Muttergöttin Tonantzfn
Cihuacöatl gewidmet war) und gilt heute als Inbegriff lateinamerikanischer, mindestens
Kirchen und Religionen in Lateinamerika 215
mexikanischer Identität. Das Gnadenbild geht auf eine Mariendarstellung des Wall-
fahrtsortes Guadalupe in der Extremadura/Spanien zurück, der »der« Wallfahrtsort für
die spanischen Eroberer gewesen ist und für die »Hispanidad« stand, also die spanische
Identität des Kolonialreiches. Erst im 17. Jahrhundert fand ein Umdeutungsprozess statt.
Die Jungfrau von Guadalupe wurde zum identitätsstiftenden Symbol der kreolischen
Eliten, die zum Zweck der Distanzierung von Spanien begannen, die vorkolumbische
Vergangenheit zu idealisieren. Die beiden katholischen Priester Miguel Hidalgo und Jose
Maria Morelos führten dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts den mexikanischen Unab-
hängigkeitskampf unter dem Banner der Jungfrau von Guadalupe an. Auch der sozial-
reformerische Flügel der mexikanischen Revolution 1911-1917 unter Führung von
Emiliano Zapata und Pancho Villa berief sich auf die Jungfrau von Guadalupe.
Die Unabhängigkeit, die von den meisten lateinamerikanischen Ländern Anfang des
19. Jahrhunderts errungen wurde, stürzte die katholische Kirche in eine massive institutio-
nelle Krise. Denn aufgrund des »Patronatsrechts« war die Ernennung von Bischöfen
Sache der spanischen Krone, so dass die Unabhängigkeit zu langjährigen Vakanzen und
institutioneller Stagnation führte. Außerdem trugen die Ideen der Aufklärung, der US-
amerikanischen Unabhängigkeit und der Französischen Revolution zu einer Emanzipa-
tion der Menschen von kirchlicher Autorität bei. Die Unabhängigkeitsbewegungen
spalteten zudem die katholische Kirche: Der niedere Klerus nahm die neuen Ideen oft
begeistert auf, während der höhere Klerus zu den konservativen Kräften hielt.
In der Folgezeit bildeten sich politische Systeme heraus, die von der Polarität von
eher kirchennahen Konservativen und eher antiklerikal eingestellten Liberalen gekenn-
zeichnet waren. Beide Gruppen repräsentierten die Oligarchie, wenn auch unterschied-
liche politische und ökonomische Interessen: Während die Liberalen eher das Handels-
bürgcrtum vertraten, standen die Konservativen für den Großgrundbesitz. In der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten die Liberalen politische und rechtliche Reformen
durchsetzen, vom allgemeinen Wahlrecht (für Männer) bis hin zur Trennung von Kirche
und Staat, mit besonders nachhaltigen Folgen in Mexiko. Dort enteigneten sie den
Kirchenbesitz und das indianische Gemeinschaftseigentum an Land. Für die Liberalen
repräsentierten Kirche und indianische Kulturen die Rückständigkeit ihrer Länder, die sie
u.a. durch die Förderung protestantischer Missionstätigkeit zu überwinden trachteten.
Umgekehrt sah die Kirche in den Liberalen Repräsentanten eines militant antiklerikalen
und unchristlichen Freimaurertums, das alles ablehnte, was ihr heilig war. Vermutlich
spielt ein noch aus dieser Zeit stammender antiliberaler Affekt der Kirche heute bei der
Auseinandersetzung mit dem »Neoliberalismus« eine gewisse Rolle. Von manchen
kirchlichen Dokumenten werden der »Neoliberalismus« und die Modernisierung, die das
»katholische Substrat« der lateinamerikanischen Kultur gefährde, in einen ursächlichen
Zusammenhang gebracht. Besonders heftig wurden die Konflikte in Mexiko ausgetra-
gen. Nach der mexikanischen Revolution kam es zu einer so massiven Frontstellung
zwischen Kirche und Revolution, dass viele Katholiken als »cristeros« zu den Waffen
griffen (1926-1929), um ihre Religion zu verteidigen. Der Konflikt konnte damals nur
durch einen »modus vivendi« abgekühlt werden, schwelte aber bis zur Mitte des 20.
Jahrhunderts weiter. Zu einer Normalisierung des Staat-Kirche-Verhältnisses und der
Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum Vatikan kam es in Mexiko erst 1992 (vgl.
Kruip 2004).
216 Gerhard Kruip
Lebensnähe und größerer Flexibilität und Diversität in der Entwicklung neuer Ansätze
geführt haben.
Die Befreiungstheologie hat sich inzwischen mit allen Bereichen befasst, die in der
Theologie eine Rolle spielen, sie hat sich sozusagen in den traditionellen Fächerkanon
hinein ausdifferenziert. Gleichzeitig hat ein Prozess der Ausdifferenzierung einer spezi-
fisch akademischen Form des Theologie-Treibens stattgefunden (wodurch u.a. Kompen-
dien wie Ellacurfa/Sobrino 1995 entstanden), was insgesamt das Problem der Ab-
kopplung von der Praxis der Christen jedoch eher verschärft (Palacio 2002). Zugleich
sind solche Prozesse aber notwendig, um im theologischen Diskurs sowohl hinsichtlich
der notwendigen Interdisziplinarität wie des internationalen Austausches mithalten zu
können, was der Theologie der Befreiung derzeit meinem Eindruck nach noch nicht gut
genug gelingt. Anders als in den 1960er-Jahren scheint sie heute kaum die aktuellen und
weltweit diskutierten sozialwissenschaftlichen Ansätze aufzugreifen. Eine Neujustierung
ihres Verhältnisses zu den Sozialwissenschaften ist sicherlich erforderlich (Fornet-
Betancourt 1997). Die intensive, vielfach jedoch kaum mehr in Europa wahrgenommene
Diskussion ist ein Zeichen dafür, dass der unübersichtlich gewordene Komplex
»Befreiungstheologie« durchaus noch lebendig ist (vgl. die Überblicke Gutierrez 2000;
Mette 2001; Ahrens 2002; Lienkamp 1999; Silber 2006), auch wenn ihre oft von
Fundamentalkritik gegenüber dem Bestehenden gekennzeichnete Rhetorik manchmal
arg mit Figuren wie der »Hoffnung wider alle Hoffnung« arbeitet (Richard 2004).
Am wichtigsten ist die Einsicht, dass die Gruppe derjenigen, die eine Praxis der
Befreiung vom Glauben her leben, kein einheitliches Subjekt ist, sondern aus einer
Vielzahl von Menschen mit unterschiedlichen Lebenssituationen, Kulturen und Ge-
schlechtern besteht. So wurde klar, dass »die Armen« aus sehr verschiedenen Gruppen
bestehen können und dass die Ursachen ihrer Armut genauso unterschiedlich sein können
wie die Möglichkeiten, die zu einer Verbesserung ihrer Situation führen. Zwischen
unterschiedlichen Gruppen von »Armen« können durchaus Konflikte bestehen, die eine
naive Umsetzung einer »Option für die Armen« problematisch und ideologieanfällig
machen. Dass man »die Armen« keinesfalls mehr durch ihren Ort im Produktionsprozess
bestimmen kann, wird durch die Beobachtung deutlich, dass gerade jene besonders arm
sind, die aus den ökonomischen Prozessen und der Globalisierung ausgeschlossen
bleiben. In manchen theologischen Ansätzen wird deshalb weniger von einer »Option für
die Armen« als von einer »Option für die Ausgeschlossenen« gesprochen (Schoenborn
1996). Da die Befreiungstheologie jedoch vom Grundsatz der Anerkennung der Würde
aller ausgeht, erscheint es problematisch, die Subjekte als »Ausgeschlossene« und damit
doch noch »vom System her« zu denken, und nicht von deren eigenen Potenzialen her
(vgl. Fornet-Betancourt 1997:378).
Doch damit nicht genug. Die Armen haben noch ganz andere Gesichter, weshalb
spezifisch indianische theologische Ansätze entstanden sind (vgl. Suess 2001; Wagua
1997; Huhn 2006) und eine »Option für die Anderen« eingeklagt wurde. Denn es war
nicht mehr zu übersehen, dass die besondere Unterdrückung der Indigenas eben nicht nur
von ihren sozioökonomischen Bedingungen her verstanden werden kann, sondern das
Problem der kulturellen Differenz eine entscheidende Rolle spielt. Dabei kommen hier
zwei Aspekte zusammen: der Protest gegen Formen ethnischer Diskriminierung und das
theologische Anliegen der Inkulturation des christlichen Glaubens in indigene Kulturen
Kirchen und Religionen in Lateinamerika 219
Autorität und politischer Macht zur Sprache bringen. Die Armen in ihrer Pluralität
müssen selbst Subjekte gesellschaftlicher Veränderung werden. Christen sind von ihrem
eigenen Selbstverständnis her aufgefordert, sich an dieser »Politik« zu beteiligen, die
Prozesse der Subjektwerdung der Armen solidarisch zu unterstützen und diese Praxis als
Glaubenspraxis zu begreifen. Nichts anderes als die theologische Reflexion der Glaubens-
praxis von Christen in diesen Basisbewegungen ist heute und in Zukunft die bleibende
Aufgabe der Befreiungstheologie, die dafür aus ihrer eigenen Tradition entscheidende
Lernerfahrungen mitbringt. Sie setzt einen undogmatischen Pragmatismus frei, der den
Besonderheiten eines jeden einzelnen Landes gerecht werden kann, jedoch den »trans-
zendenten« Horizont nicht aus dem Auge verliert. Die Armen auf der ganzen Welt
brauchen die Befreiungstheologie heute mehr denn je. Aber auch die Kirche selbst - und
das ist wahrscheinlich »der heikelste Punkt der gesamten Befreiungstheologie« (Moltmann
1995)- braucht sie, um sich selbst immer wieder zu reformieren, weil sie nur so
glaubwürdig allen Menschen ihre Botschaft verkünden kann. Die für 2007 im brasilia-
nischen Aparecida anstehende fünfte Generalversammlung der lateinamerikanischen
Bischöfe wird zeigen, welchen Weg die lateinamerikanische Kirche und Theologie
einschlagen werden und ob es ihnen dabei gelingt, sowohl den eigenen Wurzeln wie den
aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden (Libanio 2006).
Religiöser Pluralismus
In den vergangenen Jahren hat die katholische Kirche Lateinamerikas in einem rasanten
Prozess Gläubige an »protestantische Sekten« verloren. Viele der Konvertiten sind
katholisch getauft und werden als Katholiken gezählt. Da viele gleichzeitig Veranstaltun-
gen anderer Konfessionen besuchen oder sogar eine multiple religiöse Identität haben,
sind genaue statistische Angaben schwierig. Bezogen auf ganz Lateinamerika sprechen
Schätzungen von einem Anteil der Protestanten in Höhe von 12 bis 15 Prozent (Freston
1998:337f). In Brasilien gehören nur noch 75 Prozent der Menschen zur katholischen
Kirche (Carranza 2002:327). In Mexiko sind es noch knapp 90 Prozent, in einigen
indianisch geprägten Bundesstaaten aber teilweise schon weniger als 80 Prozent (z.B. in
Chiapas). In Costa Rica, wo im Auftrag der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für
weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz eine Fallstudie durchgeführt
worden ist (Bastian u.a. 2000:195), ist der nicht-katholische Bevölkerungsteil auf 22
Prozent gestiegen. Dabei sind es nicht die seit dem 19. Jahrhundert in Lateinamerika
gewachsenen protestantischen Kirchen der Lutheraner oder Reformierten, die den
großen Zulauf haben, sondern vor allem pfingstkirchliche Gruppen (vgl. als sehr gute
Einführung Pollak-Eltz 1998) oder auch, untereinander mehr oder weniger vermischt,
afroamerikanische Kulte, Schamanismus, Revitalisierungen indianischer Riten (Mader
2002) und das breite Spektrum dessen, was man als »New-Age«-Bewegung bezeichnen
kann. Viele der Pfingstkirchen wie etwa die »Universale Kirche vom Reich Gottes« in
Brasilien oder die über ganz Lateinamerika verbreitete »Asamblea de Dios« setzen auf
mediengerecht inszenierte »Show-Gottesdienste« mit Zungenreden, persönlichen
Bekehrungserzählungen und »Wunderheilungen«. Sie versprechen ihren Anhängern
nicht nur ein Heil im Jenseits, sondern bereits im Diesseits Gesundheit, bessere Beziehun-
Kirchen und Religionen in Lateinamerika 221
gen in der Familie, ökonomischen Erfolg und durch »positives Denken« eine leichtere
Bewältigung des Alltags (vgl. Carranza 2002). Von den Sozialstrukturdaten her findet
man die »Pfingstler« vor allem in den Vorstädten unter den Migranten, die durch ihre
Zugehörigkeit zu einer Pfingstgemeinde in einer fremden Umwelt ein enges soziales Netz
organisieren können, und vielfach auch unter kulturell verunsicherten, aber nicht apathi-
schen indigenen Bevölkerungsgruppen in benachteiligten ländlichen Regionen (Stoll
1990). Insgesamt gehören die Anhänger der Pfingstbewegung nicht zu den Ärmsten,
sondern zu denjenigen Bevölkerungsgruppen, die einen bescheidenen wirtschaftlichen
Aufschwung erfahren haben, der auch mit ihrem Religionswechsel zu tun haben kann,
ohne dass man gleich in anachronistischer Weise Weber'sehe Thesen zum Zusammen-
hang von Kapitalismus und protestantischer Ethik bestätigt sehen muss. Die erwähnte
Fallstudie zu Costa Rica hat ergeben, dass es unter den Anhängern der Pfingstgemeinden
»eine höhere Innovationsbereitschaft [gibt], gepaart mit einer geringeren Zukunftsangst
und einer stärker ausgeprägten Disposition, die Risiken von Veränderungen auf sich zu
nehmen.« (Bastian u.a. 2000:196)
Die neuen religiösen Gruppierungen sind insbesondere für Frauen attraktiv, nicht
weil sie ein emanzipatorisches Frauenbild transportierten (das Gegenteil ist meist der
Fall), sondern weil sie sich speziell um Frauen bemühen, ihnen durch diverse Angebote
das Leben erleichtern und die von ihnen propagierte Alltagsethik (Alkoholverbot,
eheliche Treue, Kritik am »machismo«) zu mehr Partnerschaft in der Ehe, insbesondere
einer höheren Verantwortungsbereitschaft der Männer beiträgt (vgl. Brusco 1995).
Manche fragen sich zudem, ob der emotional aufgeladene Gottesdienst, der von
charismatischen religiösen Führerpersönlichkeiten (»pastores caudillos«) geleitet wird
und mit moderner rhythmischer Musik unterlegt ist, weiblichen Bedürfnissen stärker
entspricht (manchmal als »Julio-lglesias-Syndrom« bezeichnet) als die oft in Routine
erstarrte, traditionelle katholische Liturgie.
Ein weiterer, wichtiger Faktor ist das Bestreben der Pfingstgemeinden, in den
modernen Massenmedien präsent zu sein. Die mediale Aufmerksamkeit den »Fernseh-
kirchen« gegenüber unterstützt zugleich die Attraktivität der Veranstaltungen und zieht
zusätzliche Teilnehmer/innen an. Massenveranstaltungen in großen Kinosälen oder
Stadien lassen sich eben besonders mediengerecht inszenieren. Über die Medienpräsenz
vernetzen sich die Pfingstgemeinden weltweit. Weltbekannte Prediger werden eingela-
den, umgekehrt erhalten Prediger ihre Anerkennung vor Ort durch Einladungen aus dem
Ausland (Bastian u.a. 2000:264f).
Von »progressiver« Seite wurden die »Sekten« in den 1980er-Jahren pauschal mit
den Interessen des »US-Imperialismus« und der jeweiligen nationalen Oberschicht in
Verbindung gebracht. Tatsächlich hatte das vielzitierte »Dokument von Santa Fe« 1980
die Förderung der »Sekten« als Mittel gegen die Theologie der Befreiung empfohlen.
Solche »Verschwörungstheorien« reichen aber nicht aus, das Phänomen zu erklären
(Ströbele-Gregor 2002:55), auch wenn in ihnen ein Körnchen Wahrheit stecken mag.
Jedenfalls sind die protestantischen Gruppen, die sich besonders dynamisch entwickeln,
von den USA weitgehend unabhängig, verfügen über ein autochthones Personal und
entwickeln sich in ähnlicher Weise in Afrika und manchen Ländern Asiens. Ihr Erfolg ist
am besten dadurch zu erklären, dass sie in einer Situation eines multireligiösen Super-
marktes, der durch gesellschaftliche Modernisierung entsteht, und dank eines neuen
222 Gerhard Kruip
möglichkeiten und fehlende Nähe zum Alltag der Menschen zu überwinden. Auch
Anhänger der Theologie der Befreiung müssen sich fragen lassen, ob sie nicht bestimmte
Aspekte religiösen Lebens vernachlässigt haben. Doch gibt es in der katholischen Kirche
viele, die Defizite erkannt haben und auf mehr Partizipation, mehr theologische Bildung
der Laien und größere Lebensnähe setzen. Dort, wo die Basisgemeinden stark sind,
scheint der Zulauf zur Pfingstbewegung nicht so massiv auszufallen - auch für konser-
vativere Bischöfe Anlass, die Förderung von Basisgemeinden in neuem Licht zu sehen
(vgl. Bastian u.a. 2000:93, 95, 307). Andere kirchliche Gruppen versuchen, die Pfingst-
bewegung katholisch zu vereinnahmen und fördern die charismatische Erneuerung,
handeln sich dadurch aber vielfach innerkirchliche Konflikte um liturgische Formen und
dogmatische Fragen ein.
Sowohl soziologische wie theologische Debatten führen inzwischen zu einer vor-
sichtigen Neubewertung. Trotz vieler Kritik wird zumindest anerkannt, dass die Pfingst-
bewegung im Kontext sozial rücksichtsloser und unvollständiger Modernisierungs-
prozesse (Ströbele-Gregor 2002:43) wirkliche Bedürfnisse der Menschen aufgreift,
Räume hilfreicher sozialer Vernetzung schafft, die es ermöglicht, die sozio-ökonomi-
schen Transformations- und Erosionsprozesse zu bewältigen und für Entwicklungen
offen ist, die ihre Gläubigen in zivilgesellschaftlichem Engagement fördert, anstatt nur
Weltflucht zu predigen (vgl. z.B. Bergunder 2000). Für Parker (1996) sind die neuen
religiösen Gruppen ein Indiz dafür, dass in Lateinamerika Modernisierung eben in keiner
Weise mit Säkularisierung einhergehen muss, sondern sich neue Formen moderner
Volksreligiösität entwickeln, die mindestens als ambivalent anzusehen seien. Verschie-
dene Autoren sehen sehr deutliche Parallelen zwischen Basisgemeinden und »Sekten«
(Seif 2000) oder verweisen darauf, dass die Grenzen zwischen Basisgemeinden und
charismatischer Erneuerung in der katholischen Kirche fließend geworden seien (Ahrens
2002:113). Es gibt einen Prozess der Rezeption befreiungstheologischen Denkens in der
Pfingsttheologie (Sepülveda 2000). Inzwischen wächst zaghaft sowohl auf protestanti-
scher wie auf katholischer Seite die Bereitschaft zu einem echten Dialog (Bergunder
2000:28-30).
Nach wie vor genießt die katholische Kirche in Lateinamerika, anders als in Westeuropa,
ein hohes Ansehen. Bei Umfragen schneidet sie sehr gut ab, ähnlich wie interessanterwei-
se die Presse, während Politik, Polizei und Justiz sehr wenig Vertrauen genießen. Leider
wird diese starke Stellung der Kirche in der Forschung wenig beachtet. So konnte die
Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerika-Forschung 1997 ihre Jahrestagung zum
Thema »Zivilgesellschaft« durchführen, ohne dass ein einziger Beitrag sich mit dem
Thema Kirche und Religion beschäftigt hätte (Hengstenberg/Kohut/Maihold 2000). Nur
Luis Inäcio Lula da Silva bekannte sich in seinem Vortrag zur Bedeutung der Befreiungs-
theologie, der »Pastoral da Terra« und der stark von der katholischen Kirche mitge-
tragenen Bewegung der Landarbeiter ohne Land (Lula 2000). Brasilien ist ein gutes
Beispiel für die spürbaren Folgewirkungen eines fortschrittlichen Katholizismus (vgl.
Whitaker 2002; Burdick 2002). Offizielle Stellungnahmen von Bischofskonferenzen in
224 Gerhard Kruip
Schluss
Die kurz dargestellten Veränderungen der religiösen Landschaft in Lateinamerika sind
in den breiteren Horizont der Analyse augenblicklicher Trends der gesellschaftlichen
Veränderungsprozesse weltweit einzuordnen, von denen auch Lateinamerika zuneh-
mend erfasst wird. Es wird heute kaum bestritten, dass sich das alte Säkularisierungs-
paradigma überholt hat, Modernisierung also durchaus mit bestimmten Formen einer
Renaissance des Religiösen einhergehen kann (Minkenberg/Willems 2002). Diese kann
je nach Ausgangslage mit einem verstärkten gesellschaftlichen Engagement dieser
religiösen Bewegungen verbunden sein, so dass es zu dem Phänomen einer Entpriva-
tisierung des Religiösen kommt (Casanova 1994 und 2006). Modernisierungsprozesse
mit funktionaler Differenzierung, Individualisierung und Pluralisierung der Lebensfor-
men, vor allem wenn dies mit massiver Migration und prekären sozialen Situationen
verbunden ist, erzeugen Probleme der Identitätskonstitution der Individuen, die diese zu
einer intensiven Suche nach Identifikationsmöglichkeiten zwingen. Da religiöse Diffe-
Kirchen und Religionen in Lateinamerika 227
renzen sich besonders zur Formulierung und Inszenierung individueller Identität eignen,
überrascht es nicht, dass auf sie zurückgegriffen wird. Freilich vollzieht sich dabei eine
Umstellung von Religion als Einheitssemantik auf die Nutzung religiöser Symbolik als
Differenzsemantik. Damit müssen dann gerade die großen, etablierten religiösen Institu-
tionen wie die katholische Kirche Schwierigkeiten haben, weil sie in ihren Strukturen und
ihrer Dogmatik noch auf Einheitssemantiken abstellen. In jedem Fall führt diese neue
Religionsproduktivität zu Formen des Synkretismus, die in der Identität von Individuen
und Gruppen höchst Disparates zusammenbinden und so zu neuen kulturellen Formen
führen. Bastian u.a. (2000:266f) ordnen die neuen protestantischen Gruppen explizit den
von Garcia Canclini (1990) als »hybride Kulturen« benannten Phänomenen zu.
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Ursula Prutsch
In den frühen Morgenstunden des 24. August 1954 beging der brasilianische Staatsprä-
sident Getülio Dornelles Vargas in seinem Amtssitz, dem Palacio Catete, Selbstmord.
Auf diese Weise entzog sich der Ende 1950 demokratisch wiedergewählte Staatsmann
seinen politischen Gegnern, den Vorwürfen der Korruption, der Misswirtschaft und den
Anschuldigungen, ein Attentat auf seinen Kritiker Carlos Lacerda in Auftrag gegeben zu
haben. Die politischen Strategien des »populistischen Taktierens«, die Vargas' Füh-
rungsstil kennzeichneten, hatten zu immer heftigeren Protestkundgebungen aufgebrach-
ter Brasilianerinnen vor dem Präsidentenpalast geführt. Sie wünschten das politische
Ende eines korrupten Demagogen. In einem »Meisterstück populistischer Rhetorik«
(Williams/Weinstein 2004:21), der vielzitierten >Carta Testamentcx an die brasilianische
Bevölkerung hatte Vargas seinen Selbstmord als Opfertat für Volk und Vaterland
dargestellt, als ultimative Reaktion auf feindliche internationale Stimmen gegen Brasi-
lien: »Ich habe Euch mein Leben gegeben. Ich gab Euch mein Leben. Nun biete ich Euch
meinen Tod. Gefasst mache ich den ersten Schritt auf der Strasse der Ewigkeit und
scheide aus dem Leben, um in die Geschichte einzugehen« (Levine/Crocitti 1999:2220.
Getülio Vargas, Meister der Inszenierung, wie sie Populisten beherrschen, hatte nach
insgesamt 18 Regierungsjahren auch seinen Tod inszeniert, jenen des Märtyrers als
Kulminationspunkt einer Heldenkarriere, eines >selbstlosen< Einsatzes für das nationale
Heil. Obwohl die Familie ein Staatsbegräbnis unterließ, ihn in seiner südbrasilianischen
Heimatstadt Säo Borja unter Ausschluss der Öffentlichkeit bestatten ließ, gestalteten sich
die von seiner Tochter und politischen Vertrauten Alzira Vargas do Amaral Peixoto
sowie der katholischen Kirche (trotz seiner unrühmlichen Todesart) betriebenen mehr-
tägigen Trauerfeierlichkeiten zu einem eindrucksvollen Beispiel der Politik des Gedächt-
nisses. Mehrere hunderttausend Brasilianerinnen defilierten am Sarg des >Vaters der
Armen< vorbei und nahmen an den Abschiedszeremonien teil. Im Museu Histörico
Nacional wurde ein Gedenkraum, die >Sala 24 de Agostcx eingerichtet. Dieser blieb
bestehen, bis die Militärdiktatur (1964-1985) den Totenkult auf ein Mindestmaß redu-
zierte (Williams/Weinstein 2004:260- 1973, in der repressivsten Phase der Diktatur,
wurde allerdings das bis heute bestehende, herausragende Forschungszentrum CPDOC
in der Fundagäo Getülio Vargas auf Initiative von Vargas' Tochter gegründet. Seine erste
232 Ursula Prutsch
(1930-1945) und seine zweite Regierungsperiode (1951-1954) sind heute die meister-
forschten Zeitabschnitte der brasilianischen Geschichte.
Das Bild der gütigen Führerfigur von Getülio Vargas war vor allem im kollektiven
Gedächtnis der Arbeiterschaft verhaftet. Im Jahr 1936 hatte Vargas den Mindestlohn als
Teil einer umfassenden Sozialgesetzgebung gesetzlich eingeführt. Er wurde 1940 erst-
mals ausgezahlt und verbesserte die Lebensbedingungen der brasilianischen Industrie-
arbeiterschaft entscheidend. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wurden mit Hilfe einer
staatlich gelenkten Gewerkschaftspolitik als loyale Staatsbürgerinnen eingebunden;
seine Wiederwahl Ende 1950 hatte Vargas vor allem der Arbeiterschaft zu verdanken.
Der während der großen staatlichen Privatisierungswelle Ende der 1990er-Jahre vom
Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) deklarierte Wunsch, die Ära
Vargas beenden zu wollen, macht das Weiterwirken des Mythos im kollektiven Gedächt-
nis deutlich. Welche Mechanismen aber setzte Vargas in Gang, um den Mythos eines
> Vaters der Armen< zu kreieren und als einer der charismatischsten lateinamerikanischen
Staatsmänner etikettiert zu werden?
Preis einer möglichen Allianz mit den USA, ihrem nach dem Deutschen Reich zweitgröß-
ten Handelspartner, zu erhöhen. Die im August 1942 getroffene Entscheidung, mit den
USA eine Waffenbrüderschaft einzugehen, eröffnete Brasilien großzügige Kredite der
Export-Import Bank, Waffenlieferungen und technische Ausrüstung für seine künftigen
industriellen Symbole nationaler >Entwicklung<: für das riesige - 1946 fertig gestellte -
Stahlwerk Volta Redonda nahe Rio de Janeiro sowie den Bergbaugiganten Companhia
Vale do Rio Doce, an dem die USA 49 Prozent der Anteile besaßen. Der nordamerika-
nische Partner verschaffte sich dagegen exklusiven Zugang zu einer Fülle von kriegs-
notwendigen Rohstoffen (wie Kautschuk, Eisenerz, Mangan, Wolfram, Quarzen, Industrie-
diamanten) und zu strategisch bedeutendem Wissen über das Amazonasgebiet. Durch die
von Brasilien gewährte Erlaubnis, mit Hilfe der zivilen Gesellschaft Panair Militärbasen
im Nordosten Brasiliens (Belem do Para, Fortaleza, Bahia u.a.) konstruieren zu lassen
und brasilianisches Territorium ungehindert zu überfliegen, schufen die USA eine
kriegswichtige Luftbrücke nach Nordafrika und damit in den mediterranen Raum. Die
finanziellen und technischen Zuwendungen des nordamerikanischen Partners, der das
größere Potenzial besaß, stärkten die Konsolidierungsbemühungen des Estado Novo in
militärischer Hinsicht (gegenüber Argentinien), im Aufbau einer Industrie und in seinen
bildungs- und kulturpolitischen Interessen.
Für die Verwirklichung des langfristig angelegten Projektes, Brasilien von einem
Agrarexportstaat zu einer modernen Nation mit einem harmonischen Gcsellschafts-
gefüge zu entwickeln (Hentschke 1996;Lippi Oliveira 1982; Pandolfi 1999), bedurfte es
einer Sozial-, Bildungs- und Infrastrukturpolitik. Sie sollte politische und administrative
Handlungsträger für die Konstruktion des »Neuen Staates« und die Formung des »neuen
brasilianischen Menschen« ausbilden. Für den Aufbau der ersten Universitäten in Säo
Paulo (1934) und Rio de Janeiro (1935) wurden zahlreiche, aus Europa vor den
Faschismen geflüchtete Wissenschafterinnen engagiert. Eine Schlüsselposition nahm
das 1930 geschaffene Ministerium für Bildung und Gesundheit (Ministerin de Educacäo
e Saude, MES) unter Gustavo Capanema (1934-1945) ein. Er schuf durch das Engage-
ment herausragender-politisch oftmals linker bzw. linksliberaler-Intellektuellereinen
Think tank für die Adaption von europäischen (demokratischen wie faschistischen) und
US-amerikanischen Konzepten, die an die brasilianischen Gegebenheiten angepasst
wurden, und zwar sowohl in Wissenschaft und Bildung, als auch in der Administration
und in Technik-Bereichen. Die Mitarbeiter Capanemas entwickelten Strategien zur
Formung eines kollektiven Gedächtnisses; sie konstruierten Geschichtsbilder zur Legi-
timierung des Regimes und erarbeiteten Möglichkeiten, eigenes kreatives Potenzial
auszuschöpfen, damit nicht nur die ökonomische, sondern auch die intellektuelle und
kulturelle Abhängigkeit von der großen »Referenzkultur« Europa minimiert werde.
Zudem band das MES potenzielle Kritiker des Regimes geschickt ein. Der Architekt
Oscar Niemeyer schuf denn auch das ultramoderne Gebäude des Ministeriums als
architektonisches Symbol des »neuen Brasilien«.
234 Ursula Prutsch
Politische Inszenierungen sind konstitutiv für den politischen, öffentlichen Raum. Die in
Szene gesetzten Repräsentationen finden auf Bühnen, Baikonen, Plätzen statt, werden als
Gesamtkunstwerke durch Architektur, Monumente, Choreographien und Dramaturgien
gestaltet, manifestieren sich in Utopien, durch Manipulation und Propaganda. Mythen
vereinfachen als Erzählungen komplexe Inhalte und werden repetitiv eingesetzt (Rivlere
1999:26f; Edelman 1976:13ff). Die Politik des Vargas-Regimes arbeitete in besonderem
Maße, gerade in der Phase der Diktatur (1937-1945), mit Inszenierungen, Symbolen und
Mythen. Schon die Ausrufung des Estado Novo am 10. November 1937 wurde symbo-
lisch gewürdigt: Die Hymnen der einzelnen Bundesstaaten wurden abgeschafft und deren
Fahnen verbrannt; eine neue brasilianische Flagge und eine Nationalhymne waren die
entsprechenden Signale der Staatserneuerung. Feiertage der »Alten Republik« (1889-
1930) wurden durch neue wie den 19. April (Vargas' Geburtstag) und den 11. November,
das Gründungsdatum des Estado Novo, ersetzt. Die Feierlichkeiten für den brasiliani-
schen Unabhängigkeitstag, den 7. September, zogen sich über eine Woche hin. In der
»Stunde der Unabhängigkeit« versammelte der Komponist Heitor Villa-Lobos 20.000
Schulkinder in einem Stadion Rio de Janeiros. Sie stimmten Lobgesänge auf das Regime
an. Dieses ließ sich durch Aufmärsche von Militär und Jugend, Sport- und Musik-
veranstaltungen, dekoriert mit Symbolen staatlicher Macht, bejubeln.
Die Politik der Nationsbildung benötigte historische Legitimation. Das Instituto
Nacional do Livro förderte die Wiederauflage bedeutender historischer Werke. Zahlrei-
che Intellektuelle arbeiteten an der Herausgabe einer brasilianischen nationalen Enzyklo-
pädie. Das Vargas-Regime zielte auf die Bewahrung architektonischer Symbole seiner
Geschichte. 1937 schul es eines der damals modernsten Denkmalpflegegesetze. Mit
Hilfe der nationalen Organisation zum Schutz des historischen und künstlerischen Erbes
(SPHAN) wurden die barocken Städte in Minas Gerais und die Jesuitenreduktion Säo
Miguel in Rio Grande do Sul restauriert. Das 1943 eingeweihte Museu Imperial in
Petropolis, der ehemaligen Sommerresidenz der brasilianischen Kaiser, beherbergt
Exponate aus dem 19. Jahrhundert und würdigt das Erbe der brasilianischen Herrscher
Dom Pedro I. und Dom Pedro II. Vargas beanspruchte durch diese Form der Würdigung
geschichtsmächtiger Helden einen symbolischen Platz in der Reihe der brasilianischen
Imperatoren (Williams 2001:91 ff).
Neben den Printmedien setzte die Regierung Vargas vor allem Radio und Film intensiv
fürdie Konstruktion einer kollektiven Identität, der >brasilidade<, ein. Anfang der 1930er-
Jahre bediente sich das Bildungs- und Gesundheitsministerium des 1922 erstmals als
Erziehungs- und Propagandamittel eingesetzten Radios und des 16mm-Lehrfilms. Mit
der Gründung des Presse- und Propagandadepartements (DIP), das zunächst dem
Justizministerium, nach seiner Restrukturierung im Jahr 1939 direkt dem Präsidenten
unterstellt war, gewann der Einsatz von Kommunikationsmitteln zur Legitimierung des
Populismen, Mythen und Inszenierungen 235
Regimes nach innen und außen eine neue Dimension. Der innenpolitische Kampf galt den
Feinden Liberalismus und Kommunismus, der außenpolitische dem Rivalen Argentinien
und - ab Ende 1941 - den Achsenmächten Deutschland, Italien und Japan und ihren
Agenten im eigenen Land. 1937 war der DIP-Direktor Louri val Fontes noch nach Italien
gereist, um sich Anregungen für eine effiziente Institution zu holen, die meinungsbildend
agiere und die Medien kontrolliere. Nach der panamerikanischen Außenministerkonfe-
renz in Rio de Janeiro im Januar 1942, bei der alle amerikanischen Staaten bis auf Chile
und Argentinien die Beziehungen zu den Achsenmächten abbrachen, entwickelte das
Presse- und Propagandadepartement gemeinsam mit dem US-amerikanischen State
Department eine Fülle kulturpolitisch relevanter, panamerikanischer Symbole, die bis
zum Kriegsende repetitiv eingesetzt wurden. Der brasilianisch-US-amerikanische Kampf
für Frieden und Einheit der westlichen Hemisphäre wurde also in die nationale Ideologie
integriert (Prutsch 2002).
Das DIP zentralisierte und koordinierte mit seinen fünf Abteilungen - Verbreitung
(nationalen Gedankenguts in Schulen und durch Feiern), Radio, Kino und Theater,
Tourismus sowie Presse - die kulturelle Produktion: Die erste Abteilung gab Schulbü-
cher, Hagiographien und Broschüren zur Formung des Vargas-Mythos in Auftrag. Der
brasilianische Diktator wurde im Gegensatz zu europäischen totalitären Führerfiguren
dabei meist in Zivil und fast immer lächelnd (weise, gütig und verständnisvoll) darge-
stellt. Ein vom DIP ediertes Kinderbuch erhielt denn auch den Titel >Das Lächeln des
Präsidenten^ Die Radioabteilung trug über die 1931 eingerichtete tägliche Sendung,
»Hora do Brasil« (brasilianische Stunde), die Mission des Regimes ins In- und Ausland.
In einem Land mit einer Analphabetenrate von 75 Prozent erwies sich das neue Medium
Radio als ein wirkungsmächtiges. Die Filmabteilung drehte Lehr- und Kommerzfilme
sowie Wochenschauen, wobei die USA mit technischer und fachlicher Beratung die
Qualität der medialen Produkte garantierten und gleichzeitig ihre Präsenz auf dem
Filmmarkt verstärkten.
Es wäre verkürzt, Radio und Film lediglich als Instrumente politischer Propaganda
und Rhetorik zu sehen. Gerade das Radio spielte ab 1942, als das Radio Nacional einen
Sender erwarb, der Kurzwellen bis in die letzten Winkel des Landes sandte, eine
bedeutende Rolle als Vermittler für die »Cultura Populär«. Der zensurierten, das heißt
von unflätigen Ausdrücken und politischer Kritik gereinigten Samba kam dabei eine
bedeutende Rolle in der Verbreitung eines gesamtbrasilianischen Identitätsgefühls zu
(McCann 1999). Das Regime bediente sich auch des Karnevals als Medium der Vermitt-
lung von Botschaften durch die Regelung, historische Themen zu präsentierten. Karne-
val, Samba und Capoeira wurden ab den 1940er-Jahren von der Tourismus-Abteilung des
DIP als Symbole brasilianischer Kultur vermarktet. Die Capoeira, die ehemals verbotene
afro-brasilianische Mischform zwischen Kampfsport und Tanz, wurde nun zum Natio-
nalsport erhoben. Diese Elemente afro-brasilianischen Erbes konnten am besten in der
politisch unbedenklichen Form der Kultur präsentiert werden; eine kritische Auseinan-
dersetzung mit der Sklavenvergangenheit fand in der Zeit bis 1945 keinen Platz im
historischen Diskurs. Im Gegenteil: Der Neue Staat präsentierte sich als Hort einer
glücklichen, pazifistischen Gesellschaft und einer einheitlichen »Rasse«. Der Soziologe
Gilberto Freyre schuf mit seinem harmonisierenden Gesellschaftsmodell der »Rassen-
demokratie«, dem Ergebnis des jahrhundertelang entwickelten Zusammenlebens indigener,
236 Ursula Prutsch
afrikanischer, europäischer und asiatischer Ethnien den bis heute wirksamen Mythos der
konfliktarmen, plurikulturellen Gesellschaft par excellence. Er wurde Anfang der 1940er-
Jahre geschickt zur positiven Abgrenzung gegenüber dem faschistischen Europa einge-
setzt, diente aber auch als Vehikel sozio-kulturellen Überlegenheitsgefühls gegenüber
dem Kriegspartner USA, indem man deren Rassismus hervorstrich.
Die populistische Kulturpolitik für die »Massen« half nicht über die programmatischen
Schwächen des Regimes und die zunehmende Kritik an der autoritären Regierungsform,
an Klientelismus und Korruption hinweg; sie kam von der Studentenschaft der Uni versidade
de Säo Paulo, von Befürwortern der Demokratie, zum Teil aus den Reihen der Militärs.
Obwohl Vargas Anfang 1945 Wahlen anordnete, Parteien zuließ und selbst zwei
Parteien, die Sozialdemokratische (PSD) und die Arbeiterpartei (PTB), ins Leben rief,
gewann er die Mehrheit der Wählerstimmen nicht für sich. Er zog sich in seine
südbrasilianische Heimat zurück, wurde allerdings fünf Jahre später mit Unterstützung
der Arbeiterschaft wiedergewählt. Er versuchte, wirtschaftspolitisch an den Estado Novo
anzuknüpfen. Der Staat übernahm planerische Funktionen: Vargas gründete die nationa-
le Entwicklungsbank und die Erdölgesellschaft Petrobras. Die beiden, von ihm geschaf-
fenen Parteien unterstützten ihn weiterhin. Wachsende Teile der Ober- und Mittelschicht
machten jedoch hinter der populistischen Rhetorik den Mangel an Programm und
Machtmissbrauch aus, die Opposition der Nationalen Demokratischen Union (UND),
allen voran der Publizist Carlos Lacerda, stempelte Vargas in permanenten medialen
Attacken zum Opportunisten und simplen Demagogen. Die Wertschätzung, er hätte
Massen mobilisiert, machte der Überzeugung Platz, dass Vargas nie wirklich ein »Mann
des Volkes« gewesen sei. Er scheiterte mit dem Versuch, »vormoderne und moderne
Gesellschaft zu versöhnen« (Hentschke 1996:571). Schließlich versagte ihm die Armee,
der frühere Alliierte, die Unterstützung. Vargas kam der politischen Niederlage durch
Selbstmord zuvor.
Der Peronismus
Im Juni 1943 putschte sich der Militär Juan Perön mit einer Gruppe von ultrakonservativen,
katholischen Offizieren in Argentinien an die Macht und stürzte den Präsidenten Ramön
Castillo, um eine »nationale Revolution« zu verwirklichen. Zwischen 1939 und 1942 hatte
Perön in Europa gelebt und unter anderem die Methoden der italienischen Armee studiert.
Und er sympathisierte mit klerikal-faschistischen Ideologien. Nach dem Putsch vom 4.
Juni 1943 übernahm Perön gleichzeitig die Ämter des Direktors der nationalen Arbeits-
behörde sowie des Staatssekretärs für Arbeit und Soziales. Ein Erdbeben, das im Januar
1944 die 1.000 km von Buenos Aires entfernte Stadt San Juan völlig zerstörte, verhalf ihm
zu plötzlicher, nationaler Aufmerksamkeit. Perön mobilisierte per Radio Spendengelder
für den Wiederaufbau der Stadt. Zu diesem Zeitpunkt verfügte Argentinien über das nach
den USA zweitgrößte Radionetzwerk der Welt. Die von Perön veranstaltete Wohlfahrts-
Populismen, Mythen und Inszenierungen 237
gala mit Radio- und Filmgrößen, bei der er seine spätere Frau Eva Duarte kennen lernte,
wurde zum Teil live im Radio übertragen (Theweleit 1994:375f).
Juan Perön hatte in nahezu allen Parteien massive Gegner - bei den Sozialisten,
Kommunisten, Radikalen, den Wirtschaftsverbänden sowie in den USA, die seine Politik
und die seiner politischen Freunde als faschistisch klassifizierten. Als Sekretär des
Ministeriums für Arbeit und Soziales stellte er die Arbeiterschaft ins Zentrum seines
politischen Programms und stützte vor allem jene Gewerkschaften, die sich kooperations-
willig zeigten. Sein Ministerium legte lohn-, tarif- und arbeitsrechtliche Konflikte bei
(Waldmann 1996:922ff). Durch diese Maßnahmen avancierte er zum »Führer der
Arbeiter«. Mit der Gründung einer staatlichen Bank für Industriekredite erfüllte Perön
zunächst auch wichtige Forderungen der Industriellen, durch seine lohn- und sozialpo-
litischen Forderungen trieb er sie allerdings ins Lager der Opposition, die auch aufgrund
des Kriegsendes und des Sieges der Alliierten in ihren Demokratieforderungen bestärkt
wurde (Waldmann 1996:923). Die innenpolitischen Konflikte eskalierten im September
1945: Eine Viertelmillion Argentinierinnen demonstrierte für Freiheit und demokrati-
sche Rechte, die sie angesichts der ultrarechten Politik gefährdet sahen. Die USA
unterstützten sie dabei vehement. Sowohl Demonstranten wie auch Peronisten symboli-
sierten ihre Interessen mit dem argentinischen Freiheitshelden San Martin. Anfang
Oktober wurde Perön von politischen Gegnern der eigenen Gruppe entmachtet und
arretiert, am 17. Oktober jedoch auf Druck des Arbeitergewerkschaftsbundes CGT
befreit, der zum Generalstreik für den 18. Oktober aufgerufen hatte, um Perön freizupres-
sen. Die im Radio übertragene Dankesrede nach seiner Freilassung verkündete Perön
vom Balkon des Präsidentenpalastes, der Casa Rosada. Der Balkon wurde auch von
seiner Frau Evita Perön immer wieder als Bühne der Machtinszenierung genutzt. Der 17.
Oktober und der 1. Mai wurden in der Folge als bedeutendste Feiertage des Peronismus
zelebriert, die mehr als eine Million Menschen auf die zentrale Plaza de Mayo brachten.
Im Februar 1946 gewann Juan Perön gegen eine Koalition der traditionellen Parteien und
mit Unterstützung von Gewerkschaften und Kirche die legal durchgeführten Prä-
sidcntschaftswahlen; nun stellten sich auch Teile des alten konservativen Patronagesystems
hinter ihn. Eine Verfassungsänderung ermöglichte ihm 1949 auch die Wiederwahl.
Gleich zu Beginn seiner ersten Präsidentschaft stellte Perön die Legitimität seines
Amtes nicht als Resultat legaler Wahlen, sondern als Ausdruck der Exklusivität seiner
»direkten Beziehung« zum argentinischen Volk dar, die der Opposition fehle. Er
benötigte deshalb reale und imaginäre Quellen für die Legitimation seines Amtes, die nun
vor allem seine Frau Evita Perön auszuschöpfen begann. Während Vargas in den 1930er-
Jahren mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit zu kämpfen
hatte, boomte die argentinische Wirtschaft bis 1949. Das Land besaß enorme Goldreser-
ven und gehörte nach Kriegsende zu den Gläubigernationen, bei denen vor allem
Großbritannien verschuldet war (Waldmann 1996:925). Perön stilisierte sich erfolgreich
zum »ersten Arbeiter der Nation« - einer in Argentinien viel früher als in Brasilien
konsolidierten Arbeiterschaft - hoch. Schon 1943 hatte Perön Maßnahmen zur Zentra-
lisierung sozialer Leistungen ergriffen, da Argentinien keine einheitlich geregelte
Gesundheits- und Altersvorsorge kannte. Die gute wirtschaftliche Situation ermöglichte
die Finanzierung sozialer Maßnahmen, die den Lebensstandard der descamisados (der
Arbeiter ohne Hemd) deutlich anhob und damit Konflikte zwischen den sozialen
238 Ursula Prutsch
Massen - Medien
Das symbolische Inventarium des Peronismus hatte umfangreicher, die politische Rhe-
torik prägnanter zu sein als die des Vargismus, da Perön Wahlen zuließ, eine nicht so
rigorose soziale Kontrolle durchführte und gegen eine viel größere Opposition zu
kämpfen hatte (Capelato 1998:55). Trotz der verfassungsmäßig festgelegten Pressefrei-
heit kaufte die Regierung Zeitungen, kontrollierte die Presse durch Repressionen,
vernichtete die linken und linksliberalen Blätter wie Vanguardia und schuf einen
effizienten Propagandaapparat mit Zensur. 1954 war mit La Nation eine einzige
unabhängige Zeitung im Land verblieben. Dadurch nahm Perön den oppositionellen
Gruppen die Möglichkeit, sich in Medien wie dem Radio zu artikulieren (z.B. Sirven
1984). Eine erste Welle der Medienzensur setzte gleich nach dem Putsch im Juni 1943
Populismen, Mythen und Inszenierungen 239
ein und dauerte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Das bedeutendste propagandis-
tische Organ war die illustrierte Zeitschrift Mundo Peronista, die ab 1951 erschien. Das
Radio avancierte jedoch zum zentralen Medium peronistischer Politik. Die Medien-
zensur richtete sich nicht nur gegen den inneren Feind, die Oligarchie und den Kommu-
nismus, sondern auch gegen die imperialistischen USA, die kulturpolitisch Einfluss zu
nehmen versuchten. Gleichzeitig instrumentalisierte der Peronismus das Radio für seine
kulturelle Nationalisierungspolitik, an der die Cultura Populär hohen Anteil hatte. Erst
im Jahr 1953, als Peröns politischer Stern zu sinken begann, wurden oppositionelle
Gruppen im Radio zugelassen. Als seine politische Lage bedrohlich wurde, ließ Perön
seinen Rücktritt wirkungsvoll über das Radio verkünden - die auf der Plaza de Mayo
zusammenströmenden Argentinierinnen riefen ihn zurück (Theweleit 1994:386). Die
argentinische Filmindustrie, Anfang der 1940er-Jahre weltweit führend in der Produkti-
on spanischsprachiger Filme, wurde von Perön staatlich gefördert, auch um den Einfluss
Hollywoods zurückzudrängen: 1947 mussten 25 Prozent der Filme, die in Buenos Aires
liefen, und 40 Prozent derjenigen im übrigen Staat argentinischer Herkunft sein. Natio-
nalen Produktionen wurden besondere Kredite gewährt, sie unterlagen allerdings der
Zensur. Raul Apold, Subsekretär für Presse und Propaganda, Counterpart des brasiliani-
schen Politikers Lourival Fontes, organisierte die ersten Filmfestspiele Argentiniens
1954 in Mar del Plata(Ciria 1983:262). 1952 geriet die Filmindustrie durch Insolvenzen
allerdings in eine massive Krise und damit in die Abhängigkeit der USA.
ihrer Begegnung mit Perön moderierte Evita bereits die tägliche Propagandasendung des
Arbeits- und Sozialministeriums »Für eine bessere Zukunft«. Durch ihre Emotionalität,
ihre Fähigkeiten zur leidenschaftlichen Rede und Übertreibung, durch die wiederholte
Verwendung prägnanter Begriffe gelang es ihr relativ rasch, den argentinischen Arbei-
tern die Fürsorge der Regierung zu versichern. Sie waren die zentralen Ansprechpartner
ihrer politischen Reden, die Eva Perön gewöhnlich mit »meine lieben Descamisados«
begann. Zusammen mit den Gewerkschaften bildeten sie die Welt der Guten, während die
»verräterische Oligarchie, die feigen Kommunisten und Intellektuellen« die Rolle des
Bösen einnahmen. Eva Perön hegte aufgrund ihrer Herkunft und ihrer mangelhaften
Bildung ein extremes Misstrauen gegenüber Intellektuellen, die ihre simple, oberfläch-
liche Rhetorik, die an das Vokabular der Radioteatros erinnerte, und ihre Fehltritte auf
internationalem Parkett durchschauten.
Zum Repertoire peronistischer Inszenierung gehörte es, eine emotional tiefe Verbin-
dung zwischen Eva und Juan Perön sowie den Descamisados in religiöser Form als
dreifaltige Einheit zu gestalten, die liturgiehaft in Diskursen wiederholt wurde. Ihre
politische Rolle sah und interpretierte Evita in ihrer Brückenfunktion zwischen Perön und
den Arbeiterinnen; die Beziehung gegenüber »ihrem General« stellte sie stets als eine
untergeordnete dar. Sic war sein »Schwert« und sein »Schatten«, er ihr »Meister und
Freund«. Die Liebe zu ihm gewann für Eva Perön eine religiöse Dimension: »Manchmal
denke ich, dass Perön als gewöhnlicher Mann nicht mehr existiert, sondern zur Inkarna-
tion eines Ideals wurde. [...] Perön verkörpert alles. Er ist die Seele, der Nerv, die
Hoffnung und die Realität des argentinischen Volkes« (Fraser/Navarro 1980:112). Eva
Perön scheute sich nicht, durch historische Vergleiche Perön als heroische Figur
darzustellen, die Napoleon und Alexander den Großen übertreffe. Ihr Fanatismus, in den
Reden wie in ihrer Arbeitsweise, steigerte sich mit den Jahren kontinuierlich: »Die
Opposition sagt, das ist Fanatismus, dass ich für Perön und das Volk fanatisch, dass ich
gefährlich sei, weil ich zu sektiererisch und fanatisch im Namen von Perön bin; aber ich
antworte ihr mit Perön: Fanatismus ist die Klugheit des Geistes. Wenn jemand fanatisch
ist, befindet er sich in Gesellschaft von Märtyrern und Heiligen« (Fraser/Navarro
1980:112). Im Jahr 1951 verlieh ihr der Nationalkongrcss den Titel »Spirituelle Chefin
der Nation«.
Eva Perön gelang die perfekte Verkörperung verschiedener Frauenrollen: Als untergebe-
ne und loyale Ehefrau des Präsidenten, dem sie »diente« und dem sie die offizielle Politik
überließ, lebte sie das traditionelle Rollenmuster; Perön schrieb sie gemäß klassischer
Zuschreibungen männlicher und weiblicher Prinzipien die Funktion des intellektuellen
Führers zu, ihr jene des Gefühls, des Herzens, ihm die Größe des Meisters, ihr die
Kleinheit einer Schülerin (vgl. Conniff 1999:35). Diese Auffassung von Geschlechter-
differenz spiegelt sich auch in »ihrer«, von einem Ghostwriter verfassten, messianischen
Autobiografie, in La Razön de mi vida, dar: »para servir a Perön y al pueblo« (vgl. Rosano
2005). Der spätere, den Schulen verordnete Bestseller wurde im September 1951
publiziert, gerade als Eva Perön sich für die Ablehnung der von ihren Anhängerinnen
Populismen, Mythen und Inszenierungen 241
Durch ihr Leiden und ihren Tod im Alter von nur 33 Jahren wurde der Mythos Eva Perön
unsterblich. Die Ikonographie verlieh ihr in der Quantität mehr Bedeutung als dem
Präsidenten selbst. Die nach der Wahlniederlage Perons und seiner Exilierung an die
Macht gekommene Regierung Aramburu setzte eine Anti-Peronisierungswelle samt
Bildersturm in Gang. Die öffentlich-rechtliche Verwendung von peronistischen Symbo-
len wie Bilder, Statuen, Plakate, Bücher, Initialen war bei Strafe verboten; Schlagworte
wie »justicialismo«, »dritter Weg«, »Peronismus« wurden aus dem öffentlichen Voka-
bular getilgt. Die Arbeiten am riesigen Evita-Monument wurden eingestellt (Navarro
1994:332). Die ersten, anti-peronistischen Biografien woben am »schwarzen Mythos«
einer Evita, die nichts weiter als eine ungebildete, machtgierige, korrupte soziale
Aufsteigerin gewesen sei, die Geld gehortet und in Luxus gelebt habe. Das Bilder- und
Symbolverbot aber rief zu Widerstand nahezu auf. Die Konstruktion zweier, so divergie-
render Evita-Bilder ist auch das Resultat des permanenten Polarisierens in den Diskursen
Evita Perons, das die Welt in Peronistlnnen und Anti-Peronistlnnen einteilte, während
Perön um einen Ausgleich zwischen beiden Fronten vergeblich bemüht war.
Eine enigmatische Komponente, Nahrung für Peronistlnnen und Romanciers bot das
Verschwinden ihres Leichnams. Die von einem spanischen Arzt kunstvoll einbalsamierte
Populismen, Mythen und Inszenierungen 243
»Führerin der Nation« ruhte nach Peröns Abgang einige Jahre in einer Kiste mit der
Aufschrift »Radioanlagen« in den Räumen der Gewerkschaft CGT. Dann wurde sie
entwendet, nach Mailand, später nach Madrid, dem Exil Peröns, gebracht und schließlich
1976 nach Argentinien überführt. Dort wurde Eva Perön im Grab der Familie Duarte
bestattet (Eloy Martinez 1995). Zur selben Zeit wurde der Mythos weltumspannend. In
den 1970er-Jahren sorgte das Musical »Evita« von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice
für eine globale Verbreitung. Die Verfilmung durch Alan Parker mit dem Popstar
Madonna in der Rolle der verehrten Evita wurde von vielen Argentinierinnen als Sakrileg
gewertet. Aufgrund heftiger Proteste von Evita-Fans verlegte das Filmteam schließlich
die Dreharbeiten von den Originalschauplätzen in Buenos Aires nach Budapest, um dort
das Beerdigungszeremoniell ohne Zwischenfälle zu drehen (Parker 1996).
schaftskrise zu überwinden hatte, konnte sich der Peronismus bis Ende der 1940er-Jahre
auf eine ausgesprochen gute Wirtschaftskonjunktur stützen. Beide Regime zielten auf
eine einheitliche, harmonische und »organisch aufgebaute« Gesellschaft, wobei die
brasilianischen Bestrebungen stärker positivistisch geprägt und durch wissenschaftliche
Theorien legitimiert waren. Beide Regime betonten den revolutionären Aufbau eines
neuen, fortschrittlichen Staates durch eine soziale Revolution. Durch ihre von oben
verordneten Sozialmaßnahmen für eine vorwiegend urbane Arbeiterschaft in den rapid
expandierenden Metropolen schufen sich beide Präsidenten gerade hier eine treue
Anhängerschaft, die zwar syndikalistisch autoritäre Strukturen zu akzeptieren hatte,
dafür jedoch weitaus verbesserte Lebensbedingungen genoss. Durch Perön und Vargas
konstituierte sich erst eine Arbeiterschaft als selbstbewusste soziale Schicht. Während
Vargas seine Sozialpolitik in einer paternalistischen Rolle als »Vater der Armen« feiern
ließ, stilisierte sich Perön zum »ersten Arbeiter«, als ein Teil von ihr. Auch diese Attribute
verdeutlichen Unterschiede im »Nahverhältnis« beider Staatsmänner zum »Volk«. Der
Großgrundbesitzer und gebildete Jurist Vargas vermittelte seine Vaterrolle vielmehr über
Medien, Publikationen, Paraden und Porträts; Perön, der seine Karriere als exzellenter
Sportler und Militär durch organisatorische Fähigkeiten vorangetrieben hatte, stilisierte
sich hingegen zum kumpelhaften »ersten Arbeiter« und medial wirksamen, attraktiven
Sportsmann mit einer Politikerin an seiner Seite, die Emanzipiertheit und Mutterrolle
zugleich verkörperte und das »Bad in der Menge« zelebrierte.
Während im Vargismus eher Texte, die meist mit Fotos unterlegt waren, eine Rolle
spielten (wie Memoiren, Hagiographien, Schulbücher, politische und theoretische Es-
says und Pamphlete), dominierten im Peronismus Bildsymbolik und Belletristik (Illus-
trationen, Preisgedichte, Erzählungen, dicht bebilderte Journale). Während sich Vargas
in die Reihe brasilianischer Imperatoren stellte, bediente sich Perön des in Buenos Aires
begrabenen Freiheitskämpfers San Martin. Wie in Brasilien traten in Argentinien vor
allem Schulkinder, Armee und Polizei als Akteure auf, um in Masseninszenierungen die
Utopie einer »glücklichen Gesellschaft« zu vermitteln. Aufgrund der größeren Freiheit
der argentinischen Medien und eines offeneren kulturellen Marktes war die Verbindung
zwischen Staat und Kulturschaffenden nicht so eng wie in Brasilien. Das Vargas-Regime
vermochte auch konservative wie liberale Intellektuelle sowie Mittelschichten weit
besser zu integrieren, während die Peröns, abgesehen von der Einbindung klerikal-
konservativer Schriftsteller und Ideologen, Intellektuelle als potenzielle Feinde ihrer
Politik wahrnahmen und behandelten.
In Brasilien dominierte das Prinzip der Vaterfigur, in Argentinien ergab sich in der
politischen Symbiose zwischen Juan und Evita Perön eine politische Macht, an der beide
gleichermaßen Anteil hatten. Entwickelte Juan Perön die politischen Diskurse, so
wiederholte diese Evita als Medienwesen par excellence und lud sie emotional auf. Beide
Regime perfektionierten die Verbindung zwischen symbolischer Politik und Medien-
populismus zur Konstruktion eines »Wir-Gefühls« und zur Mobilisierung von Emotio-
nen wie Liebe und Dankbarkeit gegenüber »guten«, großzügigen Führern, die sich für
ihre Nation aufopferten.
In den Inszenierungen spielten jeweils auch sakrale Elemente eine Rolle; die
Regime beider Länder wurden von der katholischen Kirche unterstützt. Zum kulturellen
Wertekanon zählten die katholische Religion, Familie, Geschichte, Sprache und die
246 Ursula Prutsch
cultura populär. Innerhalb der von ihnen aufgebauten Kulturindustrie gelang den beiden
Einwanderernationen, eine subalterne Volkskultur (Samba, Tango und Volkspoesie)
gerade über das Medium Radio zu vermitteln. Trotz Repression und Zensur gelang es
ihnen nicht, die Gesellschaft zu homogenisieren, die Opposition zu beseitigen, sowie
Massen und Staat zu einer Einheit verschmelzen zu lassen.
In Argentinien ist allein aufgrund der Weiterexistenz der Peronisten eine revolutio-
näre Magie noch immer präsent; die Arbeiterschaft wurde nachhaltig vom Peronismus
geprägt. Er erzeugte zudem eine Art »politische Subkultur«, die das Regime überlebte
und rechte Nationalismen ebenso wie die linke, städtische Guerilla der 1960er-Jahre im
Widerstand gegen die Militärdiktatur ideologisch beeinflusste. Das Bild von Vargas als
der väterlichen Führerfigur hält sich in breiten Bevölkerungskreisen älterer Generationen
und wird - wie der Peronismus - in der Erinnerungskultur durch die (populärwissen-
schaftliche, historische Beschäftigung sowie die mediale Aufbereitung weiter geformt
und tradiert. Vargas' Selbstmord lieferte etwa den Romanstoff für Rubem Fonsecas Buch
Agosto (1990) und wurde in Fernsehdokumentationen des TV-Giganten Rede Globo
diskutiert. Der Komponist Bezerra da Silva nahm 1997 eine Sambaversion von Vargas'
Abschiedsbrief, der »Carta Testamente«, in sein Album auf. Die Auseinandersetzung mit
der Persönlichkeit von Getülio Vargas verbleibt dabei im nationalen Rahmen. Zahlreiche
Romane, das Musical des Duos Andrew Lloyd Webber und Tim Rice mit seinen diversen
Aufführungen auf lokaler Ebene (so 2002 im österreichischen Klagenfurt) sowie die
Kinofilmversion von Alan Parker mit Madonna sorgten dagegen für ein weltweit
verbreitetes Medien-Revi val des Mythos Eva Perön. Sterben die Helden noch dazu einen
frühen, tragischen Tod, können sie leicht zu Märtyrern stilisiert werden. In den Images,
die durch Erinnerungszeremonien aufrechterhalten werden, erscheinen ihre Leben in der
Fiktionalität damit noch expliziter und exemplarischer.
Literatur
Einleitung
Der Film City of'God hat im Jahre 2003 seinen Besuchern ein realistisches und zugleich
ästhetisierendes Bild der Slums von Rio de Janeiro geboten. Nur wenige freilich wissen,
dass es sich dabei um einen Film auf literarischer Grundlage handelt, dass der Roman
Cidade de Dem den Ausgangspunkt bildet. Ähnliches gilt für einen weiteren internatio-
nalen Kinoerfolg, Michael Radfords llposüno auf der Grundlage von Antonio Skärmetas
Kurzroman Ardiente paciencia, der seinerseits auf den intertextuellen Dialog mit Pablo
Nerudas Liebesgedichten aufbaut. Beide Beispiele sind nicht nur Verfilmungen von
Literatur, sondern zeugen außer von einem transmedialcn Verhältnis von Film und
Literatur auch von der Intcrmedialität, das heißt von einem Austausch literarischer und
filmischer Techniken.
Im Folgenden sollen daher die Beziehungen zwischen zwei verschiedenen Erzähl-
formen, der Literatur und dem Film, in Lateinamerika untersucht werden. Lateinamerika
wird dabei als Kulturraum mit einigen gemeinsamen sprachlichen und historischen
Voraussetzungen betrachtet, wobei sich in einer Binnenperspektive literarische und
kinematographische Ausdifferenzierungen in den verschiedenen Ländern ergeben. Das
Hauptaugenmerk liegt auf den Literaturen und Filmen aus Brasilien, Chile und Mexiko.
Mündlichkeit und Bildlichkeit verfügen in Lateinamerika historisch gesehen über
große Kommunikations- und Narrationsfunktion, wenn auch der Schriftkultur und dem
in Schrift fixierten Erzählen seit der Conquista ein höherer und distinktiver Stellen- und
Prestigewert zukommt. Der Fi Im als modernes audiovisuelles Medium besitzt in weniger
lesekundigen und geringer alphabetisierten Gesellschaften, wie sie in Lateinamerika
immer noch anzutreffen sind, mit seinen bewegten Bildern und seiner gesprochenen
Sprache größere Bedeutung gegenüber dem traditionellen Medium der Schrift und damit
der Literatur. Gleichzeitig sind sowohl Literatur als auch Film in Lateinamerika impor-
tierte Medien: Die Literaturen Lateinamerikas gehen zurück vor allem auf die Literaturen
Europas, der Film Lateinamerikas leitet sich dagegen sowohl vom nordamerikanischen
als auch vom europäischen Kino ab.
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die Literaturen und Filme in
Lateinamerika sich vollends von europäischen und nordamerikanischen Modellen eman-
zipieren können. Ähnlich wie in der Literatur war auch im Film der Weg Lateinamerikas
250 Claudius Armbruster
zur Entwicklung einer eigenen Ästhetik weit. Im Unterschied zur Literatur konnte der
Film als »junges« und modernes Medium des 20. Jahrhunderts aber auf ein eigenes
»altes« Medium, die lateinamerikanische Literatur, zurückgreifen.
Bei den Medien des Erzählens, Literatur und Film, handelt es sich um zwei verschieden
differenzierte Aufzeichnungstechniken oder -Systeme, deren Abhängigkeits- und Aus-
tauschbeziehungen verschiedene Dimensionen umfassen: So fungierte und fungiert die
Literatur als Ideengeberin des Films - nicht nur, wenn ihre Strukturen und Techniken wie
im »literarischen Kino« assimiliert werden, sondern auch durch ihren historisch schier
endlosen »Erzählvorrat«, den der Film immer nutzen konnte. In der anderen Richtung
orientierte sich Literatur in bestimmten historischen Momenten an filmischen Schreibwei-
sen, an der Neuheit des Mediums Film und integrierte später kinematographische Struktu-
ren, Stoffe und Ikonen in das schriftliche Erzählen. In metaliterarischer Perspektive finden
sich zudem in der Literatur Reflexionen über das zunehmend »mächtigere« Medium Film
und die Folgen dieser medialen Konkurrenz für das Schreiben von Literatur.
Im Folgenden geht also nicht in erster Linie und nicht allein um Verfilmungen von
Literatur, sondern um die Untersuchung von Intermedialität in dem Sinne, dass zwei
verschiedene Mediensysteme des Erzählens interagieren und sich in ihren historischen
Transformationsprozessen wechselseitig beeinflussen. Der Film, nach Benjamin
(1977:752) »unter den Bruchstellen der künstlerischen Formation eine der gewaltig-
sten«, wirkte im 20. Jahrhundert nachhaltig innerhalb des literarischen Feldes, so dass es
in dieser Perspektive geraten erscheint, sich von dem absoluten Glauben an die Autono-
mie des literarischen Kunstwerks zu lösen.
ja com uma certa frieza, e a falta de afinidade daquele cara com a cultura que ele estä
filmando, com o assunto que ele estä tratando, ele näo tem nenhuma afinidade com aquilo.
Eu hoje tenho uma ideia sobre o Orfeu, sobre o sucesso que ele fez, sobre o que o Camus
queria. Aquilo ali, 1959, era a explosäo da Guerra Fria. A Guerra Fria tinha acabado de
atingir o seu clfmax. Estava todo mundo comprando abrigo atömico nos Estados Unidos,
a ideia de uma Guerra Mundial que ia acabar com a humanidade estava muito viva. Af,
de repente, um cara faz um filme sobre um lugar no mundo em que as pessoas dan§am -
porque ali ninguem anda: no Orfeu negro todo mundo pula e danca-, um lugar no mundo
onde as pessoas säo lindas, que so fazem dancar e cantar, e que o ünico grilo e a existencia
da morte.« (Diegues 1999:15)
»Kürzlich sah ich den Film von Camus noch einmal und war überrascht, da ich
Zärtlichkeit, ja Zuneigung zu dem entwickelte, was dort gefilmt wurde, die Kultur, die
er [d.h. Camus, A.d.V.] nicht versteht. Das bedeutet, was damals an Orfeu Negro
schockierte und was aus heutiger, kühler Sicht etwas pathetisch wirkt, ist die Tatsache,
dass dem Typen die Vertrautheit mit der Kultur, die er filmt, abgeht. Es zeigt keine Nähe
zum Gegenstand, den er behandelt. Heute habe ich eine Vorstellung von Orfeu, von
seinem Erfolg, von dem, was Camus wollte. Das damals im Jahr 1959 war die Explosion
des Kalten Krieges. Der Kalte Krieg hatte gerade seinen Höhepunkt erreicht. In den USA
kauften alle Atombunker, die Vorstellung von einem Weltkrieg, der die Menschheit
auslöschen würde, war ganz lebendig. Dann macht ein Typ einen Film über einen Ort
dieser Welt, wo die Menschen tanzen, weil dort niemand geht: In Orfeu Negro tanzen und
hüpfen alle. Es handelt sich um einen Ort, wo die Menschen schön sind, wo sie tanzen und
singen und der einzige Kummer die Existenz des Todes ist.«
Der Film organisiert den Blick auf die afrobrasilianische Kultur von »außen«, er
verschafft diesem Teil der lateinamerikanischen Kultur zweifelsfrei eine - im Dialog mit
dem griechischen Mythos - interkulturelle und internationale Visibilität, fixiert sie aber
zugleich als exotisch-lustvolle Welt, in der nicht die Lage der schwarzen Bewohner der
Elendsviertel, sondern allein ein mythischer Tod Probleme zeitigen.
Den wohl aussagekräftigsten Fall der Verzahnung von Literatur und Film stellt der
Schriftsteller Manuel Puig (1932-1990) dar. Er wurde 1932 in der argentinischen
Kleinstadt General Villegas geboren und studierte zunächst in Buenos Aires Literatur und
Philosophie, bevor er 1956 mit einem Stipendium am Centro Sperimentale di Cine-
matografia in Rom direkt mit dem Filmschaffen und der Filmanalyse in Berührung kam.
Film und Literatur in Lateinamerika 255
1962, noch während der Arbeit an einem Filmskript, verließ er, enttäuscht über den seiner
Meinung nach doktrinären Neorealismus der Zavattini-Schule, Rom und ging nach New
York, wo er sich als kleiner Verkäufer sein neues Leben als Literat ermöglichte. Puig
entschied sich also für die Schrift und die Literatur als Ausdrucksmedium, nachdem
zunächst eher Filmdiskurse seine Sozialisation und seine Ausbildung geprägt hatten.
Puig verkörpert zum einen den zirkulären Weg vom Kino zur Literatur, zum anderen die
Literatur nach dem »Boom« des magischen Realismus und der Ablehnung nordamerika-
nischer Politik und Kultur durch die Protagonisten des »Booms« und die avantgardis-
tisch-revolutionäre Filmästhetik der 60er-Jahre.
Puig schrieb neben acht Romanen einige Drehbücher und Medienadaptationen für
das Kino. In seinen Romanen ist das Kino omnipräsent. Die Auseinandersetzung mit dem
Hollywoodkino, seinen Stars und Mythen spricht zum Beispiel aus dem Romantitel
Traiciön de Rita Hayworth (1968) und dem 1993 posthum erschienenen Erzählband Los
ojos de Greta Garbo. Auch in The Buenos Aires Affair (1973), £/ beso de la mujer araha
(1976) und Pubis Angelical (1979) spielen Filmdiskurse eine wichtige erzählerische
Rolle.
Die Haltung Puigs gegenüber den Massenmedien scheint auf den ersten Blick
kritisch zu sein. Er bemüht sich zu zeigen, wie Gefühle zu Versatz.stücken medialer
Produktionen werden, wie sich das Verhalten und die Kommunikation von Menschen auf
Abziehbilder melodramatischer Filme reduziert und eine Verdrängung eigener Erfah-
rung durch die sekundär aufbereitete Wirklichkeit der Medien stattfindet (Heise 1987:147).
Auch bei Puig vernebeln Filme die Sicht auf eine triste und beschränkte Alltagsrealität
und gaukeln den Menschen ein anderes Leben in der filmischen Virtualität vor. Sie
beherrschen das Leben, vor allem das Denken, Fühlen und Sprechen der Personen aus
dem meist unteren Mittelstand der argentinischen Provinz.
Innerhalb von Puigs Romanen lässt sich eine wichtige Entwicklungslinie erkennen:
In Traiciön de Rita Hayworth (1968) konstruiert Puig einen Roman aus erlebten
paradigmatischen Filmdiskursen ohne eigentlichen Erzähler. Die Geschichte um den
Protagonisten Toto hatte er ursprünglich einmal als Kinogeschichte geplant: »Toto bin
ich. Die Geschichte, die ich für das Kino zu schreiben gedachte, war diejenige über die
Lieben meines Vetters.« (»Toto soy yo. La historia que pensaba escribir para el eine era
sobre los amores de mi primo) (Bacarisse 1988:8). Mita geht jeden Tag mit Toto ins Kino,
um ihm Filme zu zeigen, so dass Toto bereits im Alter von sechs Jahren sehr viele Filme
kennt, sich mit dem Hotelboy aus einem Film zu identifizieren und schließlich die Diva
Norma Shcarer zu verehren beginnt. In Traiciön kritisiert Puig nicht so sehr das
Hollywoodkino als »Opium des Kleinbürgertums«, sondern stellt es vielmehr als einzige
Kompensation für die erotische Entfremdung und emotionale Verarmung der Menschen
in dem kleinen Ort der Pampa dar.
Doch bleibt zu fragen, ob Puig, der ja immerauch zum Teil Fragmente seiner Lebens-
und Leidensgeschichte erzählt, nicht auch nostalgisch die eigene Entfremdung Revue
passieren lässt, der er durch seinen Weg in die Großstadt glücklich entrann. Die
Erinnerung an seine eigene kulturelle Sozialisation durch das Hollywoodkino freilich
möchte er wohl nicht missen, die Erinnerungsarbeit an diesem Stück eigenen Lebens
dient ihm nicht zuletzt doch als Stoff für seinen Beruf und seine Berufung als
Schriftsteller.
256 Claudius Armbruster
In El beso de la mujer arana (1976) tritt dies dann ganz deutlich zutage: Hier hantiert
Puig virtuos und distanziert mit Mediendiskursen, verleibt sie seinem erzählerischen
Universum ein, setzt sie als rhetorische Mittel in seiner Geschichte über politische und
sexuelle Unterdrückung ein. Der Homosexuelle Molina soll im Gefängnis den von den
Schergen der Diktatur gefolterten Guerillero Valentin aushorchen. Zwischen beiden
entwickelt sich eine Beziehung, durch die Molina zum politischen Menschen wird und
dadurch am Ende selbst sein Leben verliert. Die erzählten Filmsequenzen aus den alten
deutschen Ufa-Filmen symbolisieren und reflektieren das Fühlen der Protagonisten, ja
sie ermöglichen auch Kommunikation über noch nicht Auszusprechendes, noch nicht
direkt Sagbares. Das noch Unsagbare wird metaphorisch durch die gemeinsam erinnerten
und damit verfügbaren Filmbilder diskutiert. Paradigmatische Filme fungieren bei Puig
somit als eine Art metaphorisches kollektives Gedächtnis in den Zeiten politischer Krisen
und persönlicher Brüche und bilden damit auch ein spezifisches Kommunikationssys-
tem. Im Unterschied zu Traiciön lässt sich in El beso de la mujer arana nicht nur eine
filmnähere Art des Schreibens beobachten, sondern auch eine Haltung, die den Film und
seine Diven nicht mehr als entfremdende Virtualität präsentiert, sondern als ein die
Schrift und auch teilweise die Sprache überschreitendes, postliterarisches und metapho-
risches Ausdrucksmedium.
Die neue Dimension im Verhältnis von Literatur und Film besteht bei Manuel Puig in
dem Versuch, sich außerhalb jede literarische Tradition zu stellen und das eigene Erzählen
aus Filmen und anderen audiovisuellen Medien abzuleiten. Literatur erscheint nicht mehr
wie im traditionellen Verhältnis der Intertextualität an die Schrift- und Buchkultur gebun-
den, das Erzählen speist sich vielmehr nur aus oralen und populären Traditionen wie dem
Tango, dem Bolero und der Radionovela und vor allem aus den bewegten Bildern und
Dialogen der Filme. Puig inauguriert damit eine neue Form der Intermedialität.
Aber auch wenn Puig eine Traditionssuche in anderen Mediensystemen unternimmt,
so vollzieht sich diese Suche letztlich immer in der Schrift, in einer Art nostalgischer oder
auch aufklärerischer Ekphrasis, die Filmsequenzen mit der Kulturtechnik des bricolage
(Corbatta 1988:89) neu arrangiert und inszeniert. An die Stelle der Intertextualität, in der
sich literarische Diskurse mit anderen verbinden und der »klassischen« Intermedialität,
in der Werke der Bildenden Kunst oder Architektur ekphrastisch evoziert werden oder
Literatur nach Symphonien oder Opern »komponiert« wird, steht Puig für das Zeitalter
der populären Audiovision, mit seinem von Tangos und Boleros, dem Massenkino und
den Radionovelas ausgehenden Erzählen.
Mit Puig endet die Dämonisierung der Massenmedien und des Hollywoodkinos und
das Entfremdungsparadigma, dem viele Intellektuelle und Künstler nicht nur in Latein-
amerika jahrzehntelang anhingen. Das »große« aus Nordamerika stammende Unter-
haltungskino erscheint - fast im Vorgriff auf die Postmoderne - als Teil des kollektiven
Gedächtnisses und einer Konsumentenkultur.
Einen weiteren Punkt im inter- und transmedialen Kreislauf von Film und Literatur
stellt sodann die Verfilmung des Romans El beso de la mujer arana unter dem
internationalen Titel Kiss ofthe Spider Woman (O beijo da mulher-aranha) im lahr 1985
dar. Davor, 1974, hatte der argentinische Regisseur Leopoldo Torre Nilsson nach dem
Drehbuch Puigs dessen zweiten Roman Boquitas Pintadas und Raul de la Torre 1982
Pubis Angelical ohne größere Resonanz verfilmt.
Film und Literatur in Lateinamerika 257
Der erfolgreiche Film Kiss ofthe Spider Woman rückübersetzt nun die ekphrastisch
evozierten Bilder des Romans in bewegte Filmsequenzen und versucht damit die
Herrschaft der Schrift über das bewegte Bild wieder zu brechen. Der Film wurde 1987
von dem aus Argentinien stammenden brasilianischen Regisseur Hector Babenco (* 1946),
mit dem brasilianischen Kino- und Serienstar Sönia Braga und dem Weltstar William
Hurt an brasilianischen Schauplätzen verfilmt, die ein allgemeines Bild Lateinamerikas
unter der Diktatur evozieren.
Ähnlich wie Orfeu Negro (1959) ist Kiss ofthe Spider Woman (1985) ein auf den
internationalen Markt ausgerichteter Film, der eine Goldene Palme in Cannes und einen
Oscar (für William Hurt) in Hollywood erhielt. Und wie Orfeu Negro von Marcel Camus
nach einem Theaterstück eines intermedial ausgerichteten Schriftstellers entstand, so
ging auch die amerikanisch-brasilianische Koproduktion Kiss ofthe Spider Woman aus
dem Theaterstück, das Puig auf der Basis seines Romans schrieb, hervor (das Drehbuch
stammt von Leonard Schrader). In beiden Fällen zeigt sich das Spiel zwischen Amerikanität
und Internationalität in der Genese von Literatur und Film: Ausländische Regisseure
verfilmen nach Drehbüchern und Theatervorlagen der Autoren deren lateinamerikani-
sche Romane, die dann internationale Erfolge erzielen.
lange, ob sie den Roman in eine postmoderne literarische Kulinaristik oder eine
postmoderne Form weiblichen, postfeministischen Schreibens einordnen sollten.
Die mexikanische Revolution bildet den historischen Hintergrund dieses Erfolgs-
romans, der eine Auflage von vier Millionen errreichte. Doch der Kontext der Revolution
ist nur Beiwerk und Dekor. Die Ursprünge der Verbindung von Literatur und Kulinarik
finden sich bereits in den Essays der Kubaners AIejo Carpentiers und seinem Roman El
reeurso del metodo, in dem die frankophile Tochter des lateinamerikanischen Diktators
in Paris ihre Wurzeln beim Genuss eines typisch kubanischen Gerichts auf proustische
Weise wiederentdeckt.
Esqui vel komponiert ihr Buch in zwölf Kapiteln mit je einem Rezept für jeden Monat
und befindet sich dabei sehr nahe an der Symbolisierung und Strukturierung entlang von
kulinarischen Rezepturen, die der Brasilianer Jorge Amado bereits 1966 in seinem
Roman Dona Flor e Seus Dois Maridos eindrucksvoll vorführte. Amado stellte den
Kapiteln Rezepte der afro-brasilianischen Küche voran, seine Tochter Paloma zog daraus
1997 ein »literarisches« Kochbuch. Was sich in postmodernen Zeiten und damit bei
Esquivel verändert, ist die semantische Ausrichtung der kulinarischen und erotischen
Kontexte. Es geht nicht mehr wie in den 60er- und 70er-Jahren um eine Suche nach der
eigenen Kultur und Literatur, wie sie paradigmatisch auch aus dem Essay von Octavio
Paz IM mesa y el lecho sprach, nicht mehr um den Zusammenhang von iberoamerikani-
scher Idenität, Kultur und Kulinaristik, sondern um eine »leichte«, international aufberei-
tete und medial einfach zu reproduzierende Repräsentation lateinamerikanischer Kultur.
Auch die Produktion und Regie des gleichnamigen Films durch ihren Ehemann
Alfonso Arau im Jahre 1992 nach dem Drehbuch der Autorin weist auf eine enge
Verzahnung von Film und Literatur in der Produktion beider Medien hin. Den
Wirkungsprozess und die ökonomische Erfolgsgeschichte des Romans beförderte die
Umsetzung in das audiovisuelle Medium nachhaltig. Infolge des international erfolgrei-
chen Films schnellten die Verkaufszahlen in die Millionendimension und die Zahl der
Übersetzungen erreichte weit über 30 Sprachen.
Isabel Allendes Romane La casa de los espiritus (1982) und De amory de sombra
(1984) sind zum Teil in der Zeit von Putsch und Schreckensherrschaft der chilenischen
Militärdiktatur situiert. Die Dominanz der Liebes- und Erotikszenarien und die phantas-
tischen, mitunter fast spiritistischen Inhalte verwässern aber dabei die geschichtlichen
Kontexte. In La casa de los espiritus sind die Protagonisten mit dem politischen Kontext
verwoben, von der Vorzeit des latifundio über die Hoffnungen in die Landreform der
Unidad Populär bis zu den Grausamkeiten der Diktatur. Der Patriarch, der Senator
Trueba, durchläuft eine Entwicklung vom reaktionären Landherrn zum verstörten
Repräsentanten einer untergehenden Welt, als sein unehelicher Sohn zum Instrument der
Diktatur Pinochets wird und den Geliebten Albas, einer Enkelin Truebas, foltert.
Der gleichnamige Film, eine deutsch-dänisch-portugiesische Koproduktion von
Bernd Eichinger unter der Regie von Bille August, fokussiert die übernatürlichen Kräfte
von Pruebas Tochter Clara und die melodramatische Liebes- und Verweigerungs-
geschichte. Auch dieser international erfolgreiche Film zeigt ein weiteres Mal die
Tendenzen der Internationalisierung lateinamerikanischer Kultur. Alle Hauptrollen
wurden mit ausländischen Starschauspielern besetzt - Jeremy Irons als Esteban Prueba,
Meryl Streep als Clara, Antonio Banderas als Pedro, Vanessa Redgrave als Nivea und
Film und Literatur in Lateinamerika 259
Armin Müller-Stahl als Severo -, wodurch der Film eine seltsame Verfremdung und
Distanzierung erfährt und aus einer chilenischen und lateinamerikanischen eine interna-
tionale Geschichte wird.
Ein weiteres, etwas anders gelagertes Beispiel für das kreative Schreiben für die
Medien, für Film und Literatur liefert der 1940 geborene chilenische Autor Antonio
Skärmeta mit seinem Hörspiel, Film, Theaterstück und Roman Ardiente paciencia. Es
handelt sich dabei aber nicht nur um einen intertextuellen Roman, sondern im Grunde um
ein Musterbeispiel für intermediale Literatur - und zwar sowohl in produktionsästhetischer
als auch in rezeptionsästhetischer Perspektive. Der Roman entstand zusammen mit einer
multimedialen Kreationskette und brachte darüber hinaus noch ein Jahrzehnt danach
einen erfolgreichen Kinofilm hervor, der seinerseits die Romanfassung in der Werbung
und Wirkung modifizierte.
Betrachten wir zunächst das Schaffen des Autors und früheren chilenischen Bot-
schafters in Deutschland zwischen audiovisuellen Medien und Literatur. Nach dem
Militärputsch in Chile lebte er eine Zeit lang im Exil in Deutschland, vor allem in Berlin,
wo er einen Lehrauftrag an der Filmhochschule wahrnahm, für das Kino, für Funk und
Fernsehen arbeitete und mehrmals den Deutschen Filmpreis erhielt. Skärmetas literari-
sche Aktivitäten tragen bereits in den 70er- und 80er-Jahren in ihrer intermedialen
Gattungsausprägung postmoderne Züge, wiewohl sie gleichzeitig oft ein eindeutiges,
wenn auch nie didaktisch ausgeprägtes politisches Engagement miteinschließen. Der
literarische Weg Skärmetas nahm seinen Ausgangspunkt oft von Drehbüchern: Neben
seiner bekanntesten Arbeit Ardiente paciencia sind hier zu nennen: Sofie que la nieve
ardi'a, La insurreeeiön, No pasö nada, Match Ball, El entusiasmo, Tiro libre und Uno a
uno. Der Autor changiert und oszilliert in seinem Schreiben zwischen der Gattung und
Form des Drehbuchs und der autonomen Literatur. Im deutschen Exil zwischen 1973 und
1983 entstanden neben zahlreichen Hörspielen folgende Filme: mit Peter Lilienthal La
Victoria über das Chile der Unidad Populär Allendes, Es herrscht Ruhe im Land und Der
Aufstand über die sandinistische Revolution in Nicaragua, mit Christian Ziewer/U/.v der
Ferne sehe ich dieses Land über das Exil der Chilenen in Deutschland, mit Joachim
Kunert Die Spur des Vermissten, die Geschichte eines Vaters auf der Suche nach seinem
in Chile verschwundenen Sohn, schließlich mit Bernd Grothe die Weihnachtserzählung
Das Geschenk. Der Schriftsteller Skärmeta ist also zunächst weniger »hoher« Literat
denn Autor für die audiovisuellen Medien, Drehbuchschreiber und im Fall des Fernseh-
films Mit brennender Geduld auch dessen Regisseur.
Seinen eigentlichen Erfolg als Schriftsteller verdankt er dem multi- und transmedialen
Werk Ardiente paciencia, dessen Übersetzung Mit brennender Geduld zunächst 1982 von
SWF, BR und SFB als Hörspiel produziert wurde. 1983 führte Skärmeta selbst Regie bei
dem für das ZDF in Portugal mit chilenischen Schauspielern gedrehten gleichnamigen
Fernsehfilm. Aus einem anfänglichen Romanmanuskript mit dem Titel Ardiente paciencia
wird also zunächst ein Hörspiel- und Filmdrehbuch, jedenfalls ein primär für die audiovi-
suelle Rezeption verfasster Medientext, der freilich ohne Pablo Nerudas Liebeslyrik und die
Person des Dichters nicht existierten würde. Es handelt sich damit sowohl um eine
intertextuelle wie auch um eine intermediale Genese eines Romans.
Antonio Skärmeta führt uns in seinem Buch, das Pablo Nerudas zweiter Frau Matilde
Urrutia gewidmet ist, einen reifen, älteren Dichter vor, der zunächst zögernd, dann aber
260 Claudius Armbruster
mit wachsendem literaturdidaktischen Ethos, seine kurz vor dem Nobelpreis stehende
Dichtung dem »Volk« nahe bringt, sie für das »Volk« wirksam werden lässt. Skärmeta
spielt also auf die Frage an, ob man mit Gedichten außerhalb des literarischen Elfenbein-
turms etwas anfangen kann, zumal in einer analphabetischen oder illiteralen Umgebung
wie unter den Fischern im Dorf von Isla Negra, wo Neruda wohnt. Literarische Texte,
geschweige denn Gedichte zu lesen und zu verstehen, gehörten kaum zu den Sorgen
dieser Menschen. Doch Mario, der Sohn eines Fischers, der nicht Fischer bleiben will, ist
fasziniert von der Literatur und so nimmt er die Stelle eines Postboten an, die vor allem
darin besteht, dem berühmten Dichter körbeweise Post aus aller Welt zu bringen.
Über den pragmatischen Kontext des Postzustellens nähert sich der Briefträger und
Fischer Mario der Lyrik. Als für Neruda zuständiger Briefträger wird er von dessen
Gedichten inspiriert, just dann, als er sich in ein Mädchen aus einer bescheidenen
Strandwirtschaft in seinem Dorf am »Ende der Welt« in Isla Negra verliebt und sie mit
der Kraft der aus Nerudas Liebeslyrik entlehnten Metaphern gegen den erbitterten
Widerstand der Mutter des Mädchens zu seiner Frau macht.
Es geht also zunächst um die Macht und die Möglichkeiten des lyrischen Wortes in
seiner geschriebenen Form, die dem Dichter den Nobelpreis und Anerkennung bringen,
sodann um die Möglichkeiten des gesprochenen Wortes, der Liebeslyrik und ihrer
Metaphern, derer sich der Briefträger Mario bedient und natürlich - dies ist der politische
Kontext der Geschichte, vor allem ihres traurigen Endes - um die Ohnmacht des Wortes
und der Liebe gegenüber der Gewalt und den Waffen der Militärs: Am Ende der
Geschichte wird Mario von der Schergen der Diktatur abgeholt.
1995 adaptierte der Regisseur Michael Radford Ardiente paciencia für das »große«
Kino unter dem Titel IIpostino und veränderte dabei wesentliche Elemente der Vorlage
des Schriftstellers: Räumlich transponiert der Film die Handlung vom südchilenischen
Isla Negra auf die süditalienische Insel Capri, zeitlich aus den Jahren 1969-1973 zurück
ins Jahr 1952, als Neruda mit seiner späteren Frau Mathilde Urrutia eine Zeit im
italienischen Exil verbrachte. Der Film IIpostino modifiziert den literarischen Text nicht
in seinen Worten, aber in seiner Ausrichtung so sehr, dass nun im dritten Jahrtausend die
Neuauflage des Romans den Untertitel El cartero de Neruda trägt. Durch den erfolgrei-
chen Film wurde der Literatur Skärmetas und dem Autor selbst weltweite Popularität
zuteil. Auf der anderen Seite wissen nur wenige, dass hinter dem berühmten Film //
postino Antonio Skärmetas Kurzroman, sein Fernsehdrehbuch und sein Fernsehfilm
Ardiente paciencia (1985) stehen, unddass diese auf dem karnevalesken Spiel mitPablo
Nerudas erotischen Liebesgedichten beruhen. Die politische Geschichte Chiles und des
Militärputsches von 1973, der nicht nur Allende das Leben kostete, sondern den auch
Neruda nicht lange überlebte und der den Schriftsteller und Drehbuchautor Skärmeta ins
Exil nach Berlin zwang, tritt in der »großen« Kinoproduktion Radfords hinter die deutlich
romantischen Liebeskontexte und das ebenso romantisch besetzte Szenarium der italie-
nischen Insel Capri zurück. Diese machen damit aus einer lateinamerikanischen eine
internationale Geschichte.
Film und Literatur in Lateinamerika 261
Die Diskussionen über Ästhetik, Politik und Engagement, die das Cinema Novo und das
»Kino der Dritten Welt« aufgeworfen hatten, spielen auch in der Gegenwart weiterhin
eine herausragende Rolle. Doch die Frage der adäquaten Darstellung von Elend und
262 Claudius Armbruster
tional konsumierbar macht, nicht zuletzt auch durch die Verbindung von Gewalt und
Humor aus Kindermund. Das zweifellos gelungene Projekt des Regisseurs, zum großen
Teil mit Laienschauspielern aus den Favelas zu arbeiten, verleiht einigen Szenen des
Films eine authentische Aura, gerade in den mit dem Slang der Favela durchsetzten
Dialogen, vermag aber den dominanten Diskurs eines technisch perfekten metro-
politanen Kinos und seine ästhetische Beherrschung und mediale Vermarktung der
Favela nicht ganz zu kompensieren. Im transmedialen Gefüge von Buch und Film weist
die Neufassung des Romans, den Paulo Lins in Verbindung mit dem Film »nachlegte«,
durch die Straffung bei Handlung und Personen, die bereits das Drehbuch des Films
erforderte, etwa 200 Seiten weniger auf.
Das Beispiel City of God/Cidade de Deus stellt unter Beweis, dass der Film in
Lateinamerika weiterhin auf literarische Vorlagen rekurriert, wobei in dieser Form der
Literatur die Grenzen zwischen Wissenschaft, Dokumentation, tesümonio, Autobiogra-
phie und Fiktion im Prozess der Hybridisierung des Schreibens und Drehbuchschreibens
zusehends verschwimmen. Der Film scheint sich dabei von den »großen« paradigma-
tischen Werken der lateinamerikanischen Literatur abzuwenden und Literatur zuneh-
mend als Steinbruch zu betrachten. Eine Rolle spielt in diesem Kontext der Internationa-
lisierung und Globalisierung, dass es kaum noch neue »große« Werke der lateinameri-
kanischen Literatur gibt und die literarische Entwicklung zu einer »literatura light« und
einer Teslimonialliteratur dem Film die Möglichkeit bietet, auf der Grundlage seiner
medialen Selbstständigkeit und Macht ein eigenes Verfügungsrecht über die Literatur zu
entwickeln.
Literatur
Bacarisse, Pamela (1988): The Neccssary Dream. A Study ofthe Novels of Manuel Puig. Cardiff:
The University of Wales Press und Totowa: Barnes and Noble
Benjamin, Walter (1977): Erwiderung an Oskar A.H. Schmitz. In: Gesammelte Schriften Bd II.
Frankfurt am Main: Suhrkamp: 751—755
Corbatta, Jorgelina (1988): Mito personal y mitos colectivos en las novelas de Manuel Puig.
Madrid: Orfgcnes
Diegucs, Carlos (1999): Conceicjio a 40 graus. Carnavalizac;äo, a lögica do espetaculo e a palavra-
chave de Seculo 20. In: Cinemais, N° 17/1999: 7-47
Heise, Hans Jürgen (1987): Hollywood in der Pampa. Zu frühen Romanen von Manuel Puig. In:
Die zweite Entdeckung Amerikas. Annäherungen an die Literatur des lateinamerikanischen
Subkontinents. Kiel: Neuer Malik-Vcrlag: 147-152
Vega Alfaro, Eduardo de la (1997): Del muro a la pantalla: S.M. Eisenstein y cl arte pietörico
mexicano. Mexico: Universidad de Guadalajara, Institute Mexiquense de Cultura, Institute
Mexicano de Cinematograffa (IMCINE)
Autorinnen und Autoren
Gerhard KRUIP, Univ. Prof. für Christliche Anthropologie und Sozialethik, Universität
Mainz und Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover
Holger M. MEDING, Akademischer Rat, Privatdozent für Iberische und Lateinamerika-
nische Geschichte an der Universität zu Köln
Hans Werner TOBLER, em. Univ. Prof. für Geschichte an der Eidgenössischen Techni-
schen Hochschule (ETH) Zürich
Der vorliegende Band der „Edition Weltregionen" bietet eine Gesamt-
schau Lateinamerikas seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Mit
den 1870er-Jahren setzte in den meisten Staaten eine wirtschaftliche
und soziopolitische Modernisierung ein, die als Einbindung des
Halbkontinents in den globalisierten Warenverkehr interpretiert werden
kann. Liberalismus prägte den Außenhandel der jungen Staaten;
innenpolitisch galt es, viele Hürden auf dem Weg in die Moderne zu
überwinden.
ISBN: 978-3-85371-270-2
9
Gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung
sowie der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit.
Austrian
Development Agency
Das Unternehmen der
Österreichischen Entwicklungszuammenarbeit
ISBN: 978-3-85371-270-2